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Full text of "Sehnsucht und Liebe; Geschichte Eduarts von ... aus den Papieren seines Freundes"

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Aue Verlage der Tee, E Ae bee, Buchhandl. 


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Vorrede. 


reer, 


Man erwarte nicht in dieſen Blättern eines je⸗ 
ner Phantaſiegebilde zu finden, das nie exiſtirte, 
nur aus der ſchöpferiſchen Einbildungskraft des 
Dichters entſprang, der es uns mahlt, deſſen 
Held, Handlung und Verwickelung, ganz ins 
Reich der Dichtung gehören. Was ich hier vor: 
lege, iſt die Geſchichte eines Menſchen, der war; 
Begebenheiten, die ſich zutrugen; Empfindun⸗ 
ger, Gefühle, die wirklich eine Bruſt durchflo⸗ 
gen, ſie erhoben und — zerriſſen. Ich habe ſie 
ſo treu wieder zu geben mich beſtrebt, als ſie ge⸗ 
fühlt wurden und — iſt es mir gelungen, durch 
die einfache Darſtellung nicht abenteuerlich⸗bun⸗ 
ter, aber wahrer Ereigniſſe, Theilnahme zu er⸗ 
regen, zu zeigen, wie oft im Gewinde des Le— 
bens ein kleiner, unbedeutend ſcheinender Um⸗ 
A 2 


ſtand, Folgen für das ganze Daſeyn hat: wie 
aus einem gerade ſo geformten Charakter, Sol— 
ches ſich entwickeln mußte; wie oft ein gutes, 
ſelbſt edles Herz, durch zu warmes Gefühl, durch 
zu große Weiche, fehlen, irren, ſelbſt fallen 
kann — fo iſt meine Abſicht bey Herausgabe die- 
ſes Werks erfüllt. 

Wer der Held dieſer Geſchichte, wer die 
mit eingreifenden Perſonen waren, wie ich dazu 
kam, ſein und ihr Geſchick zu ſchreiben, wird dem 
Leſer gleichgültig ſeyn, ſo wie dem Kritiker, da ich 
keine Biographie, ſondern eine Darſtellung von 
Empfindungen, Eindrücken, daraus entſpringen— 
den Handkungen und Folgen gebe, die jedes 
warm organiſirte Herz, jedes Weſen, dey dem 
Gefühl und Phantaſie über kalte Vernunft die 
Oberhand hat, ergreifen und bedrohen kann. 

Dem Auge des Leſers den Held der Hand— 
lung näher zu bringen, ließ ich ihn ſelbſt erzählen. 


Sehnſucht und Liebe. 


Geſchichte Eduards von ** 
aus 


den Papieren feines Freundes. 


— — — . 


Aus kleiner That oft ſchwere Folge blüht; 
Ein einzig Haar gewähr' den finſtern Mächten, 
Es iſt genug die Kette d'raus zu flechten, 
Die tief hinab dich in den Abgrund zieht. 


Ven meer früheften Jugend an lag eine Sehne 
ſucht, ein inneres, wunderbares Gefühl in meiner 
Bruſt, das mich ſtets aus den Reihen anderer Kin— 
der trieb, weg von ihren Spielen, denen ich wohl 
augenblicklich mich nahen mochte, die aber bald mich 
nur mit Leere erfüllten, und meinen Sinn und 
meine Blicke in die Ferne, nach Unbekannten, mir 
völlig Fremden zogen — ſo, daß ich unempfindlich 
ſchien, und wohl es auch mitunter war, Allen, die 
mich kannten. 

Früh der Altern beraubt, kam als werdender 
Jüngling ich in das Haus eines Verwandten, und 
mehr wie je bemächtigte ſich hier meiner, in den 
Jahren, wo bey allen Menſchen die Keime der Em— 
pfindungen deutlicher zu entwickeln ſich anfangen, 
wo gleichſom über dem friſchen Morgentraum der 

indeswelt die warme Lebensſonne jo golden und 
ſchön aufgeht, ein geheimer Hang zur Schwer— 
muth, zu ſüßen Träumen, die nur ein tiefes füh— 
lendes Gemüth, eine rege Phantaſie gewährt. 8 

Dieſer Seelenſtimmung ungeachtet war ich aber 
Leinesweges fo fühllos und kalt bey meinen Umge⸗ 


8 
bungen, bey dem raſchen Treiben und Leben, wel: 
ches im Hauſe meiner Verwandten herrſchte, wie 
der oberflächliche Beobachter meines Thuns glau— 
ben mochte. Ich war gern allein, entfernte mich oft 
und abſichtlich aus den Geſellſchaften der Menſchen, 
mir Gegenden aufzuſuchen, wo ungeſtört ich meine 
Schlöſſer mir erbauen, wo in einer abenteuerlichen 
Welt ich leben und handeln konnte. Die Gegend, 
worin meines Onkels Wohnſitz lag, begünſtigte noch 
mehr, wie jene, in der ich geboren ward, meine 
Neigung. Es war eine jener romantiſch ſchönen, 
auf einzelnen Stellen ſchauerhaft wilden, die die Ge— 
birge Deutſchlands fo vorzüglich charakteriſiren. Die 
Nitterburgen, die auf ſchroffen Felſenmaſſen unſere 
Vorfahren mit kühner Hand hingepflanzt, die rau— 
ſchenden Bergwaſſer, die das Ganze, wie mit ge— 
heimnißvollen Schleyern, umgebenden Waldungen, 
waren die Lieblingspunete meiner jugendlichen 
Wallfahrten, und ſicher konnten meine Angehöri— 
gen darauf rechnen, wenn ſie mich vermißten, was 
oft zu ganzen Tagen geſchah, mich in den wildeſten 
Schluchten oder auf den ſchroffſten Höhen, die die 
Gegend hatte, zu finden. — Aber es konnten auch 
Tage kommen, wo ich recht emſig mich in den Kreis 
der Menſchen drängte, ja ich möchte ſagen, wo ich 
mich hinein ſtürzte, und ſo ernſt und wortkarg ich 
ſonſt zu ſeyn pflegte, ſo ausgelaſſen, ſo redſelig war 
ich dann. 
Es begegnet vielen Menſchen, daß ſie von ih— 


3 
ren Umgebungen, von denen, die ihnen am nächiten 
ſtehen, verkannt und falſch beurtheilt werden; eine 
Sache, die nur ſo lange befremdet, bis man er— 
wägt: daß die Mehrſten, zu ſehr mit ſich ſelbſt be— 
ſchäftigt, nach ſich den Maßſtab modeln, den an 
Andre ſie legen, und daß Menſchenkeuntniß gerade 
nicht das Wiſſen iſt, das die meiſte Ausbreitung hat. 
Mir ging es vorzüglich ſo, und ſchon imälterlichen 
Hauſe war dieß zum Theil mein Loos. 

Meinem Vater, einem ſtrengen Geſchäftsmanne, 
konnte unmöglich ein Knabe nach ſeinem Sinne ſeyn, 
der mit einer gewiſſen tief gewurzelten Schüchtern— 
heit, die oft in linkiſche Blödigkeit ausartete, ſich 
bey jeder Gelegenheit benahm, der ſtatt wie andre 
Kinder, nach vollendetem Unterricht mit lautem Ju— 
bel die Spielplätze zu ſuchen, allein durch die Al— 
leen des Gartens zog, deſſen dunkelſte Stellen ihm 
die liebſten waren, oder auf dem dritten Boden des 
altfränkiſchen Hauſes von zerbrochenen Geräthen ſich 
einen Schlupfwinkel baute, worin er Stunden lang 
ſitzen und einen abenteuerlichen Roman, in dem 
Geſpenſter und Ritter gewaltig Weſen trieben, mit 
Begeiſterung und thränenden Augen leſen konnte. 
Ich will hierbey einer Scene aus jener Zeit erwäh— 
nen, die noch recht lebendig vor meinen Augen ſteht, 
und eines Schmerzes, den ich damahls empfand, 
wie ich ihn im Laufe des Lebens kaum wieder ſo 
fühlte, der ſogar einige Zeit aus meinem hohen 


10 
Aſyle mich vertrieb, bis doch die unüberwindliche 
Neigung ihm mich wieder zuführte. 

Mehrmahl ſchon war mir von meinem Vater 
ſehr ſtreng das Leſen aller Nitterromane, deren 
Entſtehungsperiode in die Zeit meiner Jugend fiel, 
unterſagt, und den ſämmtlichen Hausgenoſſen be— 
fohlen worden, mir bey harter Ahndung kein fol: 
ches Buch mehr zu verſchaffen, die, wie auch mein 
Vater nicht ganz mit Unrecht bemerkte, meinen 
ohnedem ſchon genug ſich äußernden Hang zu Träu— 
mereyen nur mehrten, und mich vom Erlernen 
nützlicher Dinge abzogen. Da aber immer ich doch 
liſtig genug war, dergleichen für Contrebande er— 
klärte Waaren mir zu verſchaffen, ſo ſtellte, in hei— 
ligem Eifer und zu meinem unſäglichen Schmerz, 
mein Vater ein förmlich Auto da Fe an, ſobald 
Zufall oder Nachſuchen ihm eins jener gehaßten 
Bücher in die Hand führte. Meiner entſchiedenen 
Neigung zum Lefen aber doch nicht ganz ſich in den 
Weg zu ſtellen, gab er mir dafür des großen Frie— 
drichs hinterlaſſene Schriften und Marquis d' Ar— 
gents jüdiſche Briefe: Werke, die wohl nicht leicht 
unpaſſender für einen Knaben meiner Jahre, enk— 
wickelten Fähigkeiten und Neigungen, ausgeſucht 
ſeyn konnten. Mit einem Seufzer empfing ich ſie, 
und mit einem Seufzer nach meinen geliebten Kit: 
tern und Geiſtern legte ich ſie wieder aus der Hand, 
wenn lange Weile oder Bedürfniß ſie mir hatte her— 
vorſuchen laſſen. Mit Sehnſucht im Herzen wan⸗ 


11 
derte ich täglich an des Leihbibliothekars Hauſe vor— 
über, das ja ſo viele Schätze in ſich ſchloß, die um 
ſo reitzender meiner Einbildung ſich darſtellten, da 
gleich einem furchtbaren Wächter, der heſperiſche, 
goldene Früchte verwahrt, zwiſchen mir und ihnen 
ſich des Vaters ſtrenger Wille ſtellte, und nicht ohne 
Neid ſah ich die Glücklichen da ein- und ausgehen, 
denen kein Machtgeboth den ſüßen Genuß verpönte. 
Als endlich das Verlangen jede Bedenklichkeit über— 
wand, und ich ſchüchtern und furchtſam es wagte, 
die Stube zu betreten, wo meine Wünſche thron— 
ten, erklärte mir der Bücherverleiher ziemlich hart, 


wie er mir nichts mehr geben würde, da mein Va— 


ter ihm habe ſagen laſſen, er würde ſeine Bücher 
verbrennen, ohne etwas dafür zu erſtatten, wenn 
er mir ferner welche lieh, doch, ſetzte er hinzu, wenn 
ich mir welche kaufen wollte, ſo ſtänden ſie gern zu 
Dienſten. Bey dieſen Worten ging ein neues Licht 
in meiner Seele auf. Für reich und glücklich hatte 
ich bisher alle die gehalten, die Bücher beſaßen; 
für den Begünſtigtſten unter ihnen den Befitzer eis 
ner Leſebibliothek, der ja alle Wände ſeines Zim⸗ 
mers damit beſetzen konnte. Und nun ſollte ich ſelbſt 
ein ſolcher Glücklicher werden! Mit geflügelten 
Schritten eilte ich heim, mein Paar von meinem 
Taſchengelde erſparte Groſchen zu hohlen. Es war 
wenig, denn nie habe ich die Kunſt verſtanden, die 
man Haushalt nennt, und ohne Verſchwender ge— 
nannt werden zu können, ja ſelbſt bey entſchiedenem 


— 


22 
Widerwillen gegen alles Verbringen, bin ich doch 
nie dahin gekommen, das Geld zu achten. 

Ich erhielt einige alte, ſchon längſt unter die 
Cathegorie der Maculatur gehörige Romane, die 
ſo abgeſchmackt, ſteif und precios geſchrieben waren, 
daß ſelbſt meinem Heißhunger ſie nicht ſonderlich 
zuſagten, aber ich nannte ſie ja doch mein, und ich 
kann verſichern, daß mit Herzklopfen und recht in— 
niger Liebe ich ſie an mich drückte. Von jetzt an 
waren mir des großen Königs Werke und die jüdi⸗ 
ſchen Briefe willkommen, denn unter ihrer Ägide 
konnte ich ja Anderes leſen. Triumphirend und mit 
einem Gefühl, ähnlich dem, mit dem der Liebende 
die Heißgeliebte in ſeine Wohnung zum ewigen 
Vereine führt, brachte ich meine Schätze in mein 
Aſyl, und hier, hinter einer Verpaliſadirung von 
alten ſpaniſchen Wänden, Tiſchen und dergl. wur— 
den ſchön geordnet ſie aufgeſtellt. Jedes kleine Geld— 
geſchenk, das die älterliche Liebe mir reichte und das 
ſonſt wohl in die Hände der Obſthändlerinnen floß, 
ging nun den Weg nad dem Bücherverleiher, und 
bald ſah' ich mich im Beſitz einer kleinen Zahl von 
der übrigen Leſewelt längſt vergeſſener Romane, 
Nitter- und Volksgedichte. Da trat einſt, als ich 
eben recht mich wieder vertieft in meine Schätze 
und rund um mich alles, alles vergeſſen hatte, mein 
Vater plötzlich, wie eine ſchreckende Erſcheinung, 
vor mich, nahm mir, dem ganz bewußtlos daſtehen— 
den, das Buch aus der Hand, und ſprach ſogleich 


— 


13 


darüber, fo wie über alle andere, fo zierlich geord— 
neten, das ſchreckliche Wort: „in's Feuer mit den 
Wiſchen, aus, das auch gleich darauf an allen voll— 
zogen wurde. Ich bath, ich weinte, ich fiel zu Fü— 
ßen — umſonſt! ſie mußten brennen und mein Aſyl, 
meine kleine Welt, in der ich ſo glücklich war, 
wurde zerſtört. — Das Schickſal gab mir im Lauf 
meines Lebens viele Schmerzen, vieles Weh hat 
dieſe Bruſt durchzuckt, aber die völlige Troſtloſig— 
keit, die in jenen Augenblicken mich ergriff, habe 
ich faſt nie wieder empfunden. Ich war mehrere 
Tage wie vernichtet, und ſchon damahls zeigte ſich 
an mir, was nachher durch's ganze Leben mich be— 
gleitete, daß kein Schmerz meine Seele treffen 
konnte, ohne daß meine Bruſt, wie von krampf— 
haften Empfindungen ergriffen litt, die, übrigens 
geſund und dauerhaft, nur dann zum Zerſpringen 
weh mir immer that. In den Armen meiner Mut— 
ter fand ich Troſt und Beruhigung. Sie war die 
Einzige, die mich richtig beurtheilte, deren leiſeſtes 
Wort und Wink hinreichte, mich zu zügeln, dahin— 
gegen oft ich den Befehlen Anderer einen ſtarren 
Trotz entgegenſetzte und daher auch für ein eigen— 
ſinnig, unbeugſam Geſchöpf von beynahe allen mei— 
nen Lehrern gehalten wurde. Aber dafür hatte ich 
auch eine Liebe zu meiner Mutter, die an Vergöt— 
terung gränzte und die dem Tode mich nahe brachte, 
als ſie das Leben verließ. Doch — ich breche ab 
davon, denn zu ſchmerzlich tönt dieſe Saite noch 


14 
immer in mir, als daß lang ich vermöchte, ſie an— 
zuſchlagen; und ich nehme nach dieſer Abſchweifung. 
in meine frühere Kindeszeit, den Faden meiner Er— 
zählung wieder auf. 

So wenig als Knabe mein Thun und Trei— 
ben den Beyfall meines Vaters fand, ſo wenig 
fand das Ziel, das ich mir als Jüngling ſteckte, 
den meiner Verwandten. Wenn jener ſchon trotz 
dem Widerwillen, der oft in ſeiner Bruſt ſich wohl 
gegen mich regen mochte und gegen meine Neigung. 
zum Betrachtenden, Schwärmeriſchen, die ſo grell 
abſtach gegen die praktiſche Thätigkeit, in der fein 
ganzes Leben ihm verfloſſen — hatte doch der hei— 
ßen Wißbegierde des Kindes und den leichtfaſſen— 
den, alles, waslnur irgend ihm zuſagte, mit Feuer— 
eifer ergreifenden Kopf, müſſen Gerechtigkeit wider— 
fahren laſſen; Dinge, die denn auch immer ihn 
mir wieder verſöhnten, und das oft loſer werdende 
Band der Liebe wieder feſter knüpften, — fo mufe 
ten bey mehr entwickelter Fähigkeit, die letztern 
um ſo mehr es bedauern, daß ich nicht in die Ideen 
trat, die fie für mich — mehr wohl noch für ſich, 
hegten. 

Mein Onkel hatte früher eine Hofcharge be— 
kleidet und, da keinen Sohn er hatte, wohl aber 
eine Tochter, ſo war ſein und ſeiner Gattinn Wunſch, 
daß ich in die Dienſte des Landesherrn treten möchte, 
in die, durch ihre frühern Verbindungen, ſie mich 
leicht zu bringen hofften, und alſo mir glaubten eine 


15 


Laufbahn zu eröffnen, auf der es nicht ſchwer ſeyn 
würde, den etwas geſunkenen Glanz unſerer Fa— 
milie wieder aufzufriſchen, dem dann durch eine 
künftige Vereinigung zwiſchen mir und Amalien — 
ihrer Tochter — das Siegel der Vollendung aufge— 
drückt werden ſollte. 

Obgleich nicht mit dürren Worten erklärt, 
hatte ich doch Scharfſinn genug, dieſe ganze Anſicht 
zu durchſchauen, als in meinem achtzehnten Jahre, 
kurz vor Abgang nach der hohen Schule, mein On— 
kel mir vertraute, wie nach Vollendung meiner 
akademicchen Laufbahn, er ſchon im voraus geſorgt 
habe, mir eine Hofſtelle zu ſichern und nun in höchſt 
gewählten Worten die ſchimmernden Bilder meines 
zukünftigen glänzenden Geſchicks, wie aus der Ferne, 
an mir vorübergehen ließ. 

War gleich meiner Bruſt der Stolz nicht fremd, 
der Ruhm durchaus mir nicht gleichgültig, ſo ſtand 
doch die Anſicht, die von meiner Zukunft ich mir 
gemacht hatte, in zu ſchneidendem Widerſpruch mit 
dieſen hier eröffneten Ausſichten, als daß ich gün— 
ſtig dafür mich hätte erklären ſollen. Mir ſchwebten 
andere Bilder vor, als in den Spiegelwänden der 
Vorzimmer ich finden konnte, und gefiel gleich mei— 
nem das Elegante, Feine, Zierliche wohl liebenden 
Gemüth, jene Glätte und Politur, fo vermißte doch 
zu ſehr die herzliche Innigkeit, das warme Anſchlie— 
ßen des Lebens am Leben, ich darin, um wünſchens— 
werth ein Daſeyn da zu finden. Zwar kannte ich 


16 


jene mir verheißene Welt faſt nur vom Hörenſagen, 
von den täglichen Unterhaltungen meiner Hausge⸗ 
noſſen und aus Büchern — denn zwey- oder drey— 
mahl nur hatte ich in Begleitung meines Onkels 
die Wohnungen der Mächtigen gefehen, wo ich denn 
vermöge der mir bis in ſpätere Jahre anhängenden 
Blödigkeit, eine gar traurige Figur machen mochte 
— aber doch glaubte ich ſie genug beurtheilen zu 
können, um entſcheidend gegen fie zu ſeyn, ein Aus— 
ſpruch, zu dem wohl das Gefühl meines unbehag— 
lichen erſten Auftretens daſelbſt, viel beytragen 
mochte, da ja ſo gern der Menſch nach den erſten 
Eindrücken handelt, ſich von ihnen beſtimmen läßt 
und — beynahe ausſchließend, nad! 1 auch wie⸗ 
der beurtheilt wird. — 
ſcit hoher Mißbilligung wurde meine Erklä— 
rung aufgenommen. „Deine ſchimäriſchen Einbil— 
dungen,“ ſprach mein Onkel zu mir, „werden hof— 
fentlich, wenn reiferes Einſehen dir wird ſchwinden, 
ſonſt müßte ich bedauern, daß du meiner Schwe— 
ſter Sohn biſt, die leider ich nicht ganz freyſprechen 
kann von dem Vorwurf, daß ſie dich zu ſehr ihren 
Weg gehen ließ.“ 2 
Mehr bedurfte es nicht, um in dieſem Augen⸗ 
blick die Außerung, die mit jugendlich befangener 
Anſicht ich gemacht hatte, zum feſten, eiſernen Ent— 
ſchluß in meiner Seele reifen zu laſſen. Ich ver⸗ 
gaß in dem überwallend bitteren Gefühl, das der 
tadelnde Seitenblick auf eine ſo innig geliebte Mut⸗ 


15 
ter erregte, daß eben ich vor dem Bruder dieſer 
Mutter ſtand, der Vaterſtelle bey mir vertrat, der 
mich lieb hatte und nach ſeiner Art mein Wohl 
gründen wollte, obgleich er nicht meine Geſinnun— 
gen theilte. 

Mit einer kalten Verbeugung ohne ein Wort 
zu erwiedern, verließ ich ihn, ſetzte mich auf mein 
Pferd und kam erſt am ſpäten Abend wieder zurück, 
wo ich mich ſogleich auf mein Zimmer begab, ohne 
vorher mit jemand noch zu ſprechen. Mein Onkel 
war Menſchenkenner genug, um ſogleich den Ein: 
druck zu bemerken, den ſeine Unterredung auf mich 
gemacht hatte, und ihn einſehen zu laſſen, welchen 
Fehlgriff er ben mir gethan; und da meine ruhige 
Kälte ihm bekannt, die ich allem mir Hinderlichen 
entgegen zu ſetzen gewohnt war, die durch keinen 
Widerſtand ſich überwinden ließ, ja ſich dann nur 
zu ſtarrem Trotz erhöhte, ſo beſchloß er durch Rüh⸗ 
rung meines Innern mich feinem Ziele zu nähern, 
ein Mittel, welches unfehlbar tg »irks gaben würde, 
da nie im ganzen Lauf meines Wbens ich mein 
Herz den weicheren Empfindungen des Gefühls 
verſchließen konnte; ein freundlich Wort, ein naſſer 
Blick ſtets Sieger über mich waren — wenn nicht 
feine mir bekannte Geringſchätzung der Empfind⸗ 
ſamkeit, die Empfindeley er nur nannte, und ſeine 
Auferung über meine Mutter, der mein Herz ja 
einen unvergänglichen Altar der ſchwärmeriſchen 


18 

Liebe in ſeinem innerſten Heiligthum erbaut hatte, 

wie mit einer Eisrinde mich dagegen waffnete. 

5 Was früher bloß eigner Wille, eigene Anſicht 
war, hob ſich nun zu dem Rang der Anſicht der ge— 

liebten Mutter auf. Denn hatte er nicht geſagt: 

»„ſie hat mich ihren Weg gehen laſſen? und ich, ich 

hätte ſollen den Weg verlaſſen, den ſie ging? eher 

wäre ich vom Leben gewichen. 

Vor dem Bilde der Seligen kniend, mit glü: 
hender Inbrunſt es an Herz und Lippen drückend, 
ſchwor ich mir und — wie ich meinte, auch ihr — 
mich nicht in Formen zwängen zu laſſen, die mei⸗ 
nem warmen Herzen ſo wenig zuſagten, in denen 
meine aufgeregte Einbildung nur das gemüthloſe 
Leben eines glatten Höflings ſah. Was noch mehr 
mich beſtärkte, war, daß mir einfiel, wie öfter meine 
Mutter mit ihrem Bruder nicht in Streit, denn 
dazu war ihre milde Seele zu weich, nur in Unter— 
handlung möchte ich ſagen, kam, wo ſie dann mit 
ihrer liebevollen Stimme ſtets alle Züge des Ge— 
fühls der Liebe ifres ſtillen Aufopferns, pries und 
in Schutz nahm gegen ihn, der nur dem berechnen— 
den, kalten Verſtande huldigte, und oft durch eine 
harte Wendung eine Thräne in ihr ſchönes Auge 
brachte. Ach! ich vergaß, indem ich ihr zu folgen 
glaubte und nur der eigenen Neigung gehorchte, 
daß ihr ganzes Leben ja nur eine Kette i 
render Aufopferung der liebſten Wünſche für 


2 


19 
Zufriedenheit, die Ruhe aller ſie Umgebenden war, 
und daß nicht ihren Schutz und Beyfall ich mir in 
dieſem Augenblicke erwerben mochte. 

So vergißt der Menſch, ſelbſt der beſſere, in 
gereitzter Empfindlichkeit die Pflicht der Unbefan— 
genheit, und wird da ſo leicht ungerecht und hart, 
wo einem heiligen Gefühle er zu folgen wähnt. — 


2. 

Es gibt Charakter, die ein ſo wunderbares 
Gemiſch von Stolz und Demuth, von Weiche und 
Härte, von Selbſtſtändigkeit und Hingebung in ſich 
tragen, daß gar leicht an ihnen der Beobachter irre 
wird und oft, indem er nicht vermag, in ihre indi⸗ 
viduelle Lage ſich zu ſetzen, ſie gänzlich falſch und 
ſchief beurtheilt, und, geblendet von einſeitiger Ans 
ſicht, ſie wohl verwirft, ohne zu bedenken, daß ein 
Herz den weichſten Anklängen der Empfindungen 
offen ſtehen, und doch ſich wieder mit einem Har— 
niſch waffnen kann, wenn rohe Gewalt oder — wenn 
auch nur gemuthmaßte — Liſt ſich ihm naht, ähn⸗ 
lich den Saiten einer Aolsharfe, die bey ſanftem 
Windeswehen freundlich erklingen, im Nachtſturm 
aber nur Mißtöne von ſich geben. 

Am andern Morgen trat, gegen ſeine Gewohn— 
heit, mein Onkel in mein Zimmer und ſprach: „Ich 
vermuthe, Eduard, daß die Überlegung einer Nacht 
dich eines Beſſern wird belehrt haben, und daß du 


20 


dem Mann, den Natur dir zum Nächſten ſtellte, 
der ja dein zweyter Vater iſt“ — bier legte er mit 
ſehr wohlwollenden Blicken ſeine Hand auf meine 
Schulter — „nicht zutrauen wirſt, daß etwas ande— 
res als dein Glück er will, das' deine Altern ja in 
ihren letzten Augenblicken ſeiner Sorge empfahlen.“ 

Ich machte eine ſtumme Verbeugung und 
ſchwieg. 

„Du biſt zu jung,“ fuhr er fort, „und zu befan— 
gen noch in deinen Anſichten, um das, was ich für 
dich thun will, würdigen zu können; auch bedarf 
es jetzt deines Entſchluſſes noch nicht, da du un: 
ſerm und deinem Wunſche gemäß noch einige Jahre 
zu deiner Ausbildung vor dir haſt; ſind die zurück— 
gelegt, dann wird das Übrige ſich finden und einer 
guten Schweſter Sohn wird nicht anſtehen, ſich ih— 
rer und unſrer würdig zu zeigen, indem er für das 
Wohl der Familie forget. Ich erwarte dich im Wohn: 
zimmer, um dich dem Manne vorzuſtellen, den ich 
ausgewählt habe zu deinem Begleiter.“ 

Als ich allein war, überlief ich ſchnell in Ge— 
danken noch einmahl die Worte meines Onkels, 
ſeine Erwartungen von mir, ſeine Plane, die ich 
freylich nur ahnte, die aber doch immer mir klar 
genug zu ſeyn ſchienen und — gelobte noch ein— 
mahl mir im Herzen, meinen eignen Weg zu gehen— 
den ich ja, nach feinen Worten, für den der gelieb— 
ten Mutter hielt. 

Ich fand, als ich unten ins Zimmer kam, meine 


21 


Tante ſchon im völligen Staat, in den ſie nie ver— 
ſäumte, ſich täglich zu ſetzen, als lebe ſie noch, wie 
ehedem, in den Zirkeln des Hofes, obgleich ſeit län— 
ger als zehn Jahren aus jenen Kreiſen entfernt, 
ſie nur noch in den monotonen Zuſammenkünften 
der Landftadt — unſers Wohnorts — fie ihn ſich 
ſelbſt oder den Weibern einiger Honoratioren und 
umliegenden Landjunker, zur Schau ſtellen konnte, 
in welchen Geſellſchaften ſie denn aber auch die 
prima Donna machte. Ihr zur Seite auf dem So— 
fa ſaß mein Couſinchen Amalie, eine ganz hübſche 
Brünette von ſechzehn Jahren, mit der, trotz unſe— 
rer nahen Verwandtſchaft, ich ſeit weinem Aufent— 
halt in ihrer Altern Hauſe, in einem ewigen Krieg 
lebte, da unſere beyden Charaktere himmelweit ver— 
ſchieden, wir ſchwerlich uns ein anderes Gefühl, als 
das des Widerwillens, gegenſeitig einflößen konn— 
ten. Sie wird öfter in dieſer Schilderung meines 
Lebens vorkommen, und ich werde nachher Gelegen— 
heit nehmen, Mehreres über ſie zu agen. Eben ſo 
ſteif elegant ausſtaffirt, wie ihre Mutter, ſtach dieß 
Paar gar feltfam ab gegen eine ihnen gegenüber 
auf einem Tabouret ſitzende Figur, in der ich ſogleich 
meinen zukünftigen Mentor erkannte. 

Ich muß hier bemerken, daß zu den mitunter 
ſich widerſprechenden Eigenheiten meines Ich's ei— 
ne Miſchung von — Satyre möchte ich es nennen, 
gehörte, die mich mit großer Leichtigkeit die Fehler 
und das Lächerliche an Andern auffinden ließ, die 


22 


ich dann. einmahl aufgefaßt, mit manchen Spott, 
der freylich oft beißend und verwundend für den 
wurde, den er traf, zu beleuchten mir erlaubte. Ei: 
ne Unart, die mir oft und viele Feinde erweckt hat, 
und wofür manchmahl ich ſchwer habe büßen müſ⸗ 
ſen. Ich meinte es immer gut mit den Menſchen, 
habe nie haſſen können, und wenn dieſes Gefühl 
ja einmahl mein Inneres durchzuckte, ſo that es 
mir gewiß gleich immer wieder leid, und ich ſuchte 
ſtets begangenes Unrecht durch wahre Zeichen des 
Wohlwollens und der Reue zu vergüten; aber von 
dem in mir wohnenden Satyr habe ich mich oft, 
wider Willen, fortziehen laſſen, Menſchen weh zu 
thun, die gerechte Anſprüche auf meine und Aller 
Hochachtung hatten. 

Herr von Bergſtern hatte als Seeofficier in 
.. ſchen Dienſten geſtanden, als ſolcher die Schlacht 
bey... mitgemacht, und darin fein Gehör fo gänz— 
lich verloren, daß ich bey näherer Bekanntſchaft 
und längerem Zuſammenleben mit ihm, oft zwei⸗ 


felte, daß am Ende aller Tage die Poſaune des 


Gerichts ihn aus ſeinem Grabe erwecken würde. 
Er hatte bisher in einem entfernten Provinzſtädt⸗ 
chen, bey völligem Mangel eigenen Vermögens, 
von einer ſehr kleinen Penſion gelebt und war nun 
von meinem Onkel, deſſen Landsmann und einſti⸗ 
ger Jugendbekannter er war, aufgefordert wor— 
den, als Hüter und Geſellſchafter mich zur Univer⸗ 
ſität zu begleiten, welchen Ruf er um ſo freudiger 


— 


23 


annahm, da dadurch fih ihm ein ſorgenfreyeres Da⸗ 
ſeyn eröffnete; und ich kann ſagen, ſo lächerlich 
und zuwider mir der Mann in den erſten Augen: 
blicken erſchien, ſo lieb wurde er in der Folge mir 
durch ſeine herzliche Liebe, die er zu mir faßte, und 
den richtig rechnenden Verſtand, mit dem er, ohne 
daß ich oft es ſelbſt bemerkte, wußte meine erwa— 
chende Lebendigkeit, die ſtete Gefährtinn eines phan- 
taſiereichen Gemüthes, in den Schranken des Anſtan⸗ 
des zu erhalten. Sein Anzug war ſehr rein, aber 
altmodiſch und arm, ſeine Manier hatte etwas Stei⸗ 
fes, Militäriſches, das vergebens er in die leichte 
Geſchmeidigkeit der feinern Welt zu zwängen ſuchte, 
wodurch ein höchſt ſonderbarer Contraſt darin her— 
vorging, der meinem beobachtenden Auge nicht 
entſchlüpfte und mir — ich bekenne es — als ich ihn 
hier zum erſten Mahl ſah, ein ſehr bemerkbar ſarca— 
ſtiſches Lächeln entlockte, welches ſich beynahe zum 
ungezogenen Lachen erhöhte, als ich Zeuge der 
Unterhaltung wurde, in der er gerade mit den 
beyden Damen begriffen war. Meine Tante redete 
ſtets ſehr leiſe und abgezirkelt, liſpelte ein wenig, 
betonte aber auch manchmahl Worte und Phraſen, die 
Gefühl kund thun ſollten, da ſie es gern ſah, wenn 
man ihr Sentimentalität zuſprach. Amalie war ganz 
das Ebenbild ihrer Mutter, und hatte, da ſie ſich ſo 
vernehmen zu laſſen für die einzig ſchickliche Art 
von einem Frauenzimmer guter Erziehung hielt, 
ihrer Außerfi vollen, recht metallreichen Stimme 


24 

dieſe fremde Form aufgedrungen. Man denke ſich 
dieſen Beyden, die nun mit höchſter Anſtrengung 
ihrer Lungen redeten, gegenüber einen ältlichen, 
langen, ſehr hagern Mann mit finſterer Miene und 
ſteifer Geberde, an deſſen, beynahe jedem Klang 
verſchloſſenen Ohren, die Stimmen ſeiner Geſell— 
ſchafterinnen ſpurlos vorüber gehen, wie Zephyre 
an alten Eichen, uicd der doch ſich bemüht, Te zu 
verſtehen und in horchender, weit vorgebogener 
Stellung, die widerſprechendſten Dinge erwiedert, 
und man wird begreiflich finden, daß es mehr als 
eines mißbilligenden Winkes meiner Tante bedurf-— 
te, meine Laune im Zügel zu halten, die er 
von neuem ausbrechen wollte, wenn ich der Damen 
Verlegenheit und Mißbehagen ſah, in das fie fo ſicht— 
lich bey den verkehrten Antworten meines künftigen 
Führers geriethen. Der Eintritt meines Onkels ers 
löste endlich das ſprechende Kleeblatt aus einer La— 
ge, die nicht anders als peinlich ſeyn konnte, und 
in dieſem Augenblick fing an ein wohlwollendes 
Gefühl für den Fremden in mir aufzugehen, da ich 
ſah, mit welcher Wärme der, der ſo hölzern mir 
erſchienen war, auf einen Bekannten beſſerer Zei— 
ten zuging und ihn begrüßte. Ich wurde ihm nun 
von meinen Onkel vorgeſtellt, als der, den er ins 
Leben begleiten ſollte, und ich kann ſagen, es rühr⸗ 
te mich recht tief und innig, als der alte Mann mei— 
ne Hand ergriff und mir mit herzlichen, kunſtloſen 
Worten verſicherte, wie er mein Freund ſeyn werde 


25 
and wie er hoffe und wünſche, daß ich dasſelbe 
Gefühl für ihn hegen und fo ihm betrachten möchte 

Der Tag unſerer Abreiſe nach ... wurde nun 
beſtimmt, die bis dahin aber noch liegende Zeit 
von meinen Verwandten benutzt, mir, wo möglich 
noch vor Entfernung aus ihrem Haufe, die eröffns⸗ 
ten Ideen lieb und annehmlich zu machen. 

So wenig meiner Umgebung die oft ſich recht 
deutlich äußernde Abneigung, die ich gegen meine 
Couſine hegte, entgehen konnte, ſo wenig war ih— 
nen auch unbemerkt geblieben, daß dieß keineswegs 
aus Mangel an Gefühl für das andere Geſchlecht 
herkam, ſondern daß im Gegentheil durch meine 
blöde Linkheit, mit der ich mich in Frauenzimmer⸗ 
Geſellſchaft mehr noch, als in der Männer, zu be— 
nehmen pflegte, oft ein Strahl innerer Empfindung 
hervorblitzte der auf Augenblicke intereffiren und 
mich intereſſant machen konnte. und deutlich ver— 
ricth, daß mein Herz nicht zu den ehernen, un— 
verwundbaren gehörte. Nur gegen Amalien, um 
die ich doch täglich war, die mancher Neitz ſchmück⸗ 
te, die feldft geiſtreich ſeyn konnte — ich ſage konn⸗ 
te, denn durch eine ſchiefe Idee verleitet, hatte ſie 
ſich in den Kopf geſetzt, nur naiv zu ſeyn, welches 
weder zu ihrer aͤußern noch innern Form paßte — 
war ich ſtets trocken, kalt, völlig herzlos, ja mit⸗ 
unter höhniſch⸗ gleichgültig geweſen und hatte mir 
dadurch, wie natürlich, ihren Widerwillen zugezo— 
gen, dem ſie durch manche verächtliche Bemerkung 

Untech. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. B 


26 
über mich und mein Treiben Luft machte und die 
zu vergelten und zu erwiedern ich nicht ſäumte. 
Den Grund zu dieſem gegen fe vorherrſchenden Ge- 
fühl hatte mein erſtes Auftreten in ihrer Altern 
Haufe gelegt, wo fie den, über den ſchnell nach 
einander erfͤlgten Tod ſeiner Altern, ganz verwein⸗ 
ten, troſtloſen Kaben, mit kränkenden Erinnerun⸗ 
gen an feine verlaſſene Lage — in der ein Kind ja im⸗ 
mer iſt, wenn das Grab ihm feine einzigen, theuerſten 
Weſen raubt — gewiß nicht aus böſem Herzen, 
deun das hatte fie nicht aber aus kindiſchem Leichts 
ſinn und U Ubedachtheit, verwundete, und überhaupt 
nie verſtand, ſelbſt in ſpätern Jahren nicht, mein 
Gefühl in Anſpruch zu nehmen, das noch und nach 
ſich gewöhnte, eine Antipodinn in ihr zu erblicken. 
Schon ihre Geſtalt die, wie bemerkt, nichts weni— 
ger als reitzlos war und die Blicke anderer junger 
Männer gar oft mit Wohlgefallen auf ſich lenkte, 
war nicht die, die meinem Ideal weiblicher Schön⸗ 
heit zuſagte. Sie hatte bey ſehr dunklem Haar 
und Augen eine blendend weiße Farbe, eine zier— 
lich kleine Hand und Fuß; aber ihr Auge war ohne 
Seele, ohne Empfindung, und faſt nie habe ich dar— 
in, was das weibliche Auge ſo himmliſch verklärt, 
die Thränen des Gefühls perlen ſeyen; die Grazie, 
der Duft der Anmuth, der wie von Götterhard 
gewoben, manche minder begünſtigte Geſtalt um— 
ſchwebt, war ihr fremd, ihre ganze Figur für mich 
zu groß, zu ſtark. Ihr Inneres entſprach dem Au⸗ 


27 
Bern fo ziemlich. Sie war kalt und herzlos, ohne 
gerade böſe zu ſeyn, nicht ohne Geiſt, aber ohne 
Liebreitz, nicht hart und unmitleidig, aber kleinlich, 
und vor allem war die affectirte Naivetät, die doch 
in ſo grellem Abſtich mit dem Übrigen ſtand, mir 
an ihr zuwider. 

Es war daher wohl natüriich, daß wir uns 
gern von einander entfernt hielten, denn ſchonungs⸗ 
los ließ öfter ich meinen ſatyriſchen Bemerkungen 
gegen ſie den Lauf, doch nur dann, wenn keine Frem— 
den da waren, welches nicht ſowohl, ich muß es des 
kennen, aus feiner Empfindung, fondern aus Blö— 
digkeit geſchah, die meine Zunge in Gegenwart 
Unbekannter ſtets in Feſſeln hielt. Ließ ich es aber 
ja einmahl mir einfallen, in dem Kreiſe ihrer Freua— 
dinnen zu erſcheinen, jo vergalt hier fie mir reich— 
lich, was vorher ich verſchuldet, durch manche, eben 
nicht gut meinende, Neckerey, da ſie ſchlau genug 
war, bald einzufehen, wie hier völlig waffenlos, 
ihr Hohn mich doppelt treffen mußte, den beſon⸗ 
ders ſie über mich zu ergießen pflegte, wenn einmahl, 
wie fie ſich ausdrückte, dem Ritter Don Quixotte 
es gefiel, gegen eine der Anweſenden galant zu 
werden; wodurch ſie es denn zuletzt dahin brachte, 
daß nicht allein ich mich gar nicht mehr ſehen ließ, 
wenn ihre Geſpielinnen bey ihr waren, ſondern auch 
von ihnen allen mit jenem Nahmen beehrt wurde. 
Daß hierdurch weder meine Abneigung gegen ſie 
geſchwächt, noch mein Benehmen in weiblichen 

N 2 2 


28 
Kreiſen beſſer wurde, darf ich wohl kaum be⸗ 
merken. 

Ich habe jetzt die Überzeugung, wie Amaliens 
Altern, obgleich mit großer Vorliebe für den eine 
mahl gefaßten Plan, mich dereinſt in einer Hofbe⸗ 
dienung zu ſehen und dann durch eine Verbindung 
zwiſchen ihr und mir, der der letzte und einzige 
Sprößling unſerer ziemlich alten Familie war, das, 
getrennt eben nicht ſehr bedeutende, Vermögen zu 
vereinen, um fo den Naͤhmen, an dem ihr ganzes 
Herz hing, mit neuem Schimmer zu umgeben — 
dennoch ſelbſt die Mutter nicht, nichts thaten, als 
was auch die ſtrengſte Anſicht nicht verwerfen konn— 
te, uns zu nähern, und daß, wenn Amalie die letz— 
ten Tage meines Aufenthaltes in ihrer Altern 
Hauſe benutzte, ein beſſer Verhältniß unter uns 
zu gründen, ſolches nur aus dem Triebe entjland, 
in der Bruſt eines jungen, nicht abſchreckenden 
Mannes, der dazu ihr Verwandter war, ein gün⸗ 
fig Andenken zu hinterlaſſen; höchſtens daß ihr ge⸗ 
heim der ihrem Geſchlechte eigene Scharfſinn ſagte, 
was wohl der Familie Wunſch war, dem entgegen 
ſich zu ſetzen, fie damahls eben keinen Beweggrund 
haben konnte. Sie ward zuſehends freundlicher, 
beſſer gegen mich, und ich, der nie einem Worte wi- 
derſtehen konnte, ward es gleichfalls, wiewohl mit 
fehr ſcheuer Zurückhaltung gegen fie, und würde es 
moch mehr geworden ſeyn, wenn nicht das geän⸗ 
derte Benehmen meiner Tante, die zwar immer gü⸗ 


9 
tig, aber nie zärtlich gegen mich geweſen war, mich 
wieder zurückgeſchreckt hätte. In Beyden glaubte 
ich damahls eine Veranſtaltung zu ſehen, und nichts 
auf Erden hat immer mich mehr mit Kälte waffnen 
können, als die Muthmaßung eines verborgenen 
auf und gegen mich gegründeten Plans. 

Mein Nahmenstag fiel in dieſe Zeit, und es war 
eine herköngmliche Sitte im Haufe meines Onkels, 
alle dergleichen feyerlich Tage zu begehen. Dieſer, als 
der letzte, den ich gleichſam als Sohn des Hauſes 
verlebte, ſollte nun ganz beſonders ausgezeichnet 
werden, um fo mehr, da den nächſtfolgenden Tag 
ich abreiſen wollte, und er zugleich alſo auch als ein 
Abſchiedsjeſt betrachtet wurde, das zu meiner Ehre 
man gab. Die Honoratioren der Stadt und meh: 
rere umwohnende Landadelige mit ihren lieben Fa— 
milien wurden eingeladen und; der Vorkehrungen 
gar mancherley getroffen. f 

Von je an waren mir Prunffefte, ſolche häus⸗ 
liche Haupt- und Staatsactionen, ein Dorn im 
Auge, weil immer ſie mir als Tragi-Komödien er— 
ſchienen, worin die lange Weile den Vorſitz führt; 
ich kann daher wohl ſagen, daß dieſes ſo recht für 
mich veranftaltete, mir gewaltig zuwider war. Als 
die Folge mich die zierliche Anumath, die Gefügig⸗ 
keit guter Geſellſchaften kennen lehrte, mich ſelbſt 
gefügiger machte, hatte meine Anſicht hiervon ſich 
freplich etwas geändert, doch waren und find mie 


Su 
ſtets kleinere Zirkel die erfreulichſten geblieben, 
in denen ich ullch am liebſten, ſie am liedſten um 
mich, ſah. er 

Der feſtliche Tag erſchien. Meines Onkels 
männliche Dienerſchaft, in zwey Bedienten und eis 
nein Kutſcher beſtehend, däuchte an einem fo ausge: 
zeichneten Tage und bey der Menge der geladenen 
Gäſte ihm nicht hinreichend, er hatte zeßwegen noch 
zwey lange Kerls angenommen und ſie in abgeleg— 
te Livreen ſtecken laſſen. Mir erſchienen fie, als ich 
fie an der Hausthüre ſtehend und der Fremden harz 
rend in ihrem, nach allen Seiten hin zu kurzen 
Staat, mit gewaltigen Puderzöpfen erblickte, wie 
ein Paar Ungethüme, ähnlich denen, die man als 
Schildhalter auf Siegeln und Wappen ſieht. Mein 
Onkel ſelbſt, ſo wie wir Andern alle, erwarteten im 
höchſten Staat die Ankunft der Gäſte, die zur gehö— 
rigen Stunde ſich denn auch einfanden. Als alle 
verſammelt waren, führte mein Onkel mich etwas 
vor in den umgebenden Kreis, umarmte mich, mir 
Glück wünſchend zu dem heutigen Tage, mit fo vie: 
ler Herzlichkeit, als fein Charakter und fein cere⸗ 
moniöfes Weſen erlaubte, ermahnte mich dann in 
einer kleinen Rede zur Bravheit und guten Auffüh— 
rung in der neu zu betretenden Bahn uad hing, 
nachdem er mich der Geneigtheit aller Anweſenden 
empfohlen, mir einen kleinen Galanterie-Degen, 
als Zeichen meiner nun erlangten Selbſtſtändigkeit 
um; meine Tante beehrte mich aber eben fo feyer— 


31 


lich mit ein Paar weißen Handſchuhen, um den 
Ritter vollftändig zu machen. Die Gäſte umringten 
mich nun, jeder brachte mir nach ſeiner Art ſeinen 
Glückwunſch, ſo daß ich, im eigentlichen Sinne, 
aus einer Hand in die andere ging. Dieß alles hat— 
te mich ſehr kalt gelaſſen, ja es würde mich verle— 
gen gemacht, und, was bey mir dasſelbe war, mich 
verſtimmt haben, hätte nicht der Anblick jener zwe 
langen, unbehülflichen Maſchinen in Livree, die mit 
der andern Hausgenoſſenſchaft am Eingange des 
Saales in Reih' und Glied ſtanden, meine gute 
Laune erhalten, denn in der That, ſie gewährten 
einen fo barroken Anblick, daß nicht gut ohne La⸗ 
chen man ſie ins Auge faſſen mochte. Ganz zuletzt, 
als ich ſchon die Runde vollendet, trat Amalie zu 
mir und mit einem ſo freundlichen, wirklich weichen 
Blick, wie ich nie an ihr geſehen hatte, überreichte 
ſie mir eine von ihrer Arbeit geſtickte Brieftaſche, 
indem ſie ſagte: „zum Andenken an heut, guter 
Eduaged!“ wobey eine leiſe Röthe fie überflog. Sie war 
mir nie fo hübſch erſchienen wie jetzt und ein in Wahr⸗ 
heit ſehr wohlwollendes Gefühl für fie durchflog 
mich. Ich beuge mich, was ſonſt mir nicht im 
Traum eingefallen war, auf ihre Hand nieder, zum 
erſten Mahl nannte ich jie: meine liebe Amalie! ich 
fühlte, daß die kleine Hand in der meinen bebte, blick⸗ 
‚te auf und ſah bey einem ſehr ſchönes Erröthen, 
ein feuchtes Auge. Wären wir ohne Zeugen ge— 
weſen, ich big's gewiß, ich hätte fie aus Herz ges 


32 

drückt, und vielleicht hätte dieſer Augenblick den 
Wunſch ihrer Altern in Erfüllung gebracht; denn 
wie leicht ſchließt in jenen Jahren das Herz ſich 
an, wie leicht läßt es da noch Vorürthene und 
Meinungen fahren! — So mußte ich mich begnü⸗ 
gen, ihre Hand noch einmahl zu küſſen und mit der 
ſchwindenden Stunde ſchwand auch größten Theils 
das aufgeglommene Gefühl wieder. 

Der Tag der Abreife kam heran. Wohlver⸗ 
ſorgt mit Geld und Empfehlungsſchreiben ſaßen 
wir, Herr von Bergſtern, ich und ein Diener, 
bereits im Wagen, als mein Onkel noch einmahl 
herantrat, mir die Hand reichte, die ich kindlich 
küßte, und mit höchſt wohlwollender Stimme gu— 
tes Benehmen anempfahl. Ich kann ſagen, daß dies 
. fer kleine Zug von Liebe mich innig rührte von 
ihm, der ſonſt nicht leicht aus dem Tact der Förmlich— 
keit wich. Ich verließ jetzt ein Haus, in dem einen 
großen Theil meiner Jugend ich zugebracht, Ver— 
wandte, die doch immer mit Liebe für mich ger 
ſorgt hatten, und ſollte erſt nach drey Jahren zu; 
rückkehren; eine lange Zeit, wenn ſie beſtimmt vor 
einem liegt, und man wird es natürlich finden und 
einem guten Herzen gemäß, daß mir, trotz 
dem Verlangen mit dem in die Welt, nach Frem— 
dem, Neuen, ich mich ſehnte, doch der Abſchied 
sicht leicht ward. Ach! ich glaubte nicht, als ich 
euch damahls verließ, daß viele Jahre entſchwin— 
den würden, ehe ich Einen von euch wiederſah und 


daß der, der mir fo freundlich von euch zuletzt die 


Hand noch both, dann kängſt im Grabe modern 
würde, wenn ich mit zerriſſenem Herzen die Gegen— 
den wieder betrat, wo ich als Knabe und Jüng— 
ling ſo oft mich froh und glücklich träumte — und 
es ja auch war. — 5 


3. 


Unſere Reiſe hatte nichts Merkwürdiges; eben 
‘jo wenig das erſte Jahr meines Aufenthalts in ... 
in dem ich fleißig meinen Studien obliegend, faſt ims 
mer zu Hauſe in Geſellſchaft meiner Bücher und 
Bergſterns war, der ſich meine Liebe in hohem 
Grade erwarb, ſo wie mir durch mein regelmäßi⸗ 
ges Betragen die ſeine wurde. Ich trachtete um 
ſo mehr darnach, etwas zu lernen, da ich nicht um— 
hin konnte, einzuſehen, wie in Vielem, ja beynghe 
Allem, ich zurück war hinter andern jungen Leuten 
meines Alters und Standes, die, bey zum Theil 
weniger natürlichen Anlagen, doch durch einen 
mehr geordneten Jugendunterricht weiter gekommen 
waren, als ich, dem fein Erlernen in früß erer Zeit 
öfters ganz ſelbſt überlaſſen blieb. Bisher hatte ich 
faſt nichts, als Romane, deren viele ſchlecht, man— 
che wohl gar für die Sittenreinheic eines jungen 
Menſchen gefährlich waren, und deren kleinſter Theil 
nur eine würdige Leetüre gab, geleſen; jetzt fing ich 
an Geſchichte, die ſchöne Erzeugerinn edler Gefühle, 


NER 


34 

zu ſtudieren, und bald warf ich mich mit eben dem 
Heißhunger wie ehedem an Ritter- und Geiſterbü— 
cher, auf die Annalen einer großen Vergangenheit. 
Wirkliche, wahre Wißbegierde und der löbliche Ehr— 
geitz, meinen Bekannten im Wiſſen nicht nachzuſte— 
hen, brachten bey regem Fleiße mich denn auch bald 
dahin, daß ich nicht mehr vor mir ſelbſt erröthen 
mußte, wenn ein Gegenſtand, der in meinen Kreis 
gehörte, berührt wurde, und bald verlor, durch 
meine Bekanntſchaft mit Beſſerem, ſich der Geſchmack 
an den ehemahls ſo heißgeliebten abenteuerlichen, 
oft durch mehrere Bände ſchleppend hingezogenen 
dialogiſicten Sturm- und Drangromanen fo gänz— 
lich, daß, brachte Zufall mir einen ſolchen ehemah— 
ligen Vertrauten in die Hand, ich mich ſelbſt wun⸗ 
derte, wie daran ich hatte Gefallen finden können. 

Bergſtern, der mir zwar nicht als Lehrer und 
Repetent, wohl aber als Freund und Führer zuge— 
ſellt war, that, was in ſeinen Kräften ſtand, mein 
gutes Beginnen zu unterſtützen, und da auch ihn 
Geſchichte anzog und gefiel, ſo ſaßen manche halbe 
Nacht wir beyſammen, bey irgend einem neu auf— 
getriebenen Werk oder bey Vergleichung verſchiede— 
ner Schriftſteller. 

Ich hatte in dieſer Zeit keinen andern Wunſch, 
als recht viel zu wiſſen, und ich kann ſagen, daß 
das erſte Jahr meines Aufenthalts in *“ das glück- 
lichſte meines Lebens war, wo die vollkommenſte 
Gemüthsruhe in mir waltete und kein Abend kam, 


35 
an dem ich nicht mit dem Gefühl nützlicher Thätig— 
keit mich niedergelegt, kein Morgen mich anders als 
ſorglos und heiter wieder aufſtehen ſah. Zwarkannte 
ich damahls noch nicht aus Erfahrung die zarten 
Freuden des Herzens, aber auch nicht ihren Schmerz, 
der mir ja ſo reichlich wurde, ſobald mein Geſchick 
den ſüßen Zauberkelch mir reichte! — 

Die Gewohnheit, oft tief in die Nacht hinein 
zu ſitzen, zog mir eine Augenentzündung zu. Ich 
mußte auf einige Zeit von meinen freuen Geſell⸗ 
ſchaftern, den Büchern, mich trennen, und dieß gab 
Veranlaſſung zu einer ſich bald äußernden Umwand— 
lung meines Lebens. 

Der Arzt, den, ganz gegen meinen Willen, 
Bergſtern in zärtlicher Beſorgung für mein Wohl, 
mir aufdrang, rieth, nachdem einige Wochen in völ— 
liger Dunkelheit er mich hatte ſchmachten laſſen und 
meine Augen ſo ziemlich wieder hergeſtellt waren, 
mir mehr den Genuß der freyen Luft und der Mor— 
genſtunden an, die bisher ich nicht gern anders als 
ſchlafend begrüßte, und da eben die Wiederkehr des 
Frühlings das Leben außer den Ringmauern der 
Städte ſehr annehmlich machte, ſo mietheten Berg— 
ſteen und ich uns eine kleine Wohnung in einem 
eine halbe Stunde von *** höchſt anmuthig gele— 
genen Dörfchen, wo den Sommer über wir bleiben 
wollten. Hier fingen wir bald wieder das Leben an, 
welches wir in der Stadt getrieben hatten, das 
Heißt, ohne irgend einen Umgang lebten wir bloß 


1 


56 

uns und den Büchern, aur daß jetzt ſtatt der Abende 
und Nächte, die frühen Morgen an die Reihe ka— 
men und ich dann und wann mit meinem Mentor 
kleine Excurſtionen theils zu Fuß, theils zu Pferde, 
mehr auf Bergſterns Verlangen als eignem Antried 
machte, der dadurch meine nicht ſchwache, aber zarte 
Geſundheit ſtärken wollte. Anfänglich waren dieſe 
Ausflüge mir nicht recht zu Sinn, denn, obgleich 
Freund und Liebhaber der Natur, ſagte doch eine 
Gegend, wie dieſe, nicht ſonderlich meinem Geſchmack 
zu, der nur in großen, wilden Gebirgsgründen ſich 
gefiel und an den flachen, aber übrigens nicht reitz— 
loſen Gefilden von *** mit ziemlicher Gleichgültig— 
keit vorüber ging Bald aber ſollte ein neues In 
tereſſe mich beleben. 

Eine leichte Unpäßlichkeit hielt meinen Führer 
mehrere Tage im Hauſe, und auf ſein dringendes 
Begehren ritt ich eines Morgens allein aus. Ich 
hatte mich bisher wenig um das Ziel unſerer jedes— 
mahligen Streifereyen bekümmert, da gänzlich gleich— 
gültig es mir war und ich mehr dem Willen Berg— 
ſterns, als eigenem folgte. Dieß Mahl beſchloß ich 
meinen Weg nach einer Gegend hin zu nehmen, die 
ich noch nicht kannte. Es war ein herrlicher Früh— 
lingsmorgen und die hell aufgehende Sonne vers 
ſprach einen ſchönen, warmen Tag. Ich war kaum 
eine Stunde im langſamſten Schritt geritten, als 
die Gegend anfing hügelig und abwechſelnder als 
gewöhnlich zu werden. Die Neuheit dieſes Anblicks, 


— 


97 
das wahrhaft herrliche Wetter, die reine Frühlinas— 
luft, alles wirkte ſehr freundlich auf mich; ich gab 
meinem Pferd die Sporen und fing an im ſcharfen 
Trab die Felder und kleinen Gehölze zu durchſchwei— 
fen, die mir immer anmuthiger erſchienen. So mochte 
ich wohl ein Paar Meilen zurück gelegt haben, als 
ich plötzlich mich am Eingang eines freundlichen 
Thales ſah, das von lachenden Hügeln umkränzt, 
ein ſtilles Dörfchen in ſich ſchloß, das wirklich recht 
romantiſch mir erſchien. . 

Überraſcht halte ich am Saum eines Birken— 
wäldchens mein Pferd an und laſſe vergnügt die 
Blicke durch die Gegend ſchweifen, als ſehr nahe 
bey mir ich eine melodiſche Stimme veruehme, die 
einen Morgengeſang mit vieler Reinheit ſingt. Ich 
ſpringe ab, leite mein Pferd am Zügel und dringe 
quer durch's Gehölz der Stimme nach. Noch weiß 
ich nicht, wie dieſer Entſchluß in meiner Seele ent⸗ 
ſtand, wie meine Schüchternheit ihn erlaubte aus: 
zuführen. Ich war noch nicht weit gegangen, als das 
Gehölz ſich wieder öffnet und mir eine freye, mit 
den Kindern des Frühlings geſchmückte kleine Wieſe 
zeigt, die rings von Holz umgeben, einen höchſt an— 
muthigen Anblick gewährte. Da rauſcht etwas ne⸗ 
ben mir, ich ſehe auf und eine weſßgekleidete, ju⸗ 
gendliche Mädchengeſtalt ſteht wenige Schritte vor 
mir. Erſchrocken, als hätte ich einen Baſiltsken er- 
blickt, bleibe ich ſteßen, meine ganze furchtſame Blö— 
digkeit kehrt zurück und mehrt ſich mit jedem Anz 


genblick, da ich wohl fühle, daß ich etwas ſagen 
muß, denn auch fie war bey meinem Erſcheinen bes 
troffen ſtehen geblieben, und ſchlechterdings nicht 
weiß, was? Ein dritter, der in dieſem Moment 
mich geſehen, würde gewiß an meiner traurigen Fi⸗ 
gur ſich ergetzt haben, die ſo ſichtbar die äußerſte 
Verlegenheit zeigte. Sie ſchien auch nicht den Bli⸗ 
cken des Mädchens zu entgehen, deren Wangen eine 
leiſe Röthe, den Mund ein kaum merkbares Lächeln 
überflog. „Sie ſuchen wohl den Fußpfad ins Dorf,” 
hob ſie endlich mit ſehr wohlklingender Stimme an, 
da ich durchaus nichts herausbrachte. „Ja, ſagte 
ich, und es war, als wenn ein Berg bey dieſem 
Wörtchen von mir abſiel, ſo erleichterte es mich; 
„it es hier in der Nähe?“ „Nicht weit,” antwortete 
ſie, „wollen Sie mir folgen, ich gehe hin.“ Eine 
ſtumme linkiſche Verbeugung war alles, was ich er: 
wiederte, doch kam nun wieder etwas Leben in 
meine hölzerne Geſtalt, denn ich hatte ja geſprochen 
und wußte nun, wovon ich reden konnte. Einige 
Fragen und Antworten belehrten mich über die Ge— 
gend, den Nahmen des Dorfes, und bald gewann 
ich fo viel Dreiſtigkeit, mich nach dem meiner Be— 
gleiterinn zu erkundigen. Mit unbefangener Offen» 
herzigkeit erzählte fie mir, ihr Vater ſey Hofgärt⸗ 
ner beym Fürſten geweſen, lange ſchon todt, ihre 
Mutter und ſie aber lebten hier in Waldheim ſeit 
mehreren Jahren. „Und wer ſind Sie denn?“ fragte 
fie mich, nachdem der kleine Bericht beendet war » 


söhft naiv. Die Natürlichkei des reitzenden Mid⸗ 
chens, ihre freundlich unſchuldigen Black hatten 
mich von allen Banden meiner gewohnten Zurück- 
haltung befreyt, und eben ſo munter, wie ſie, er— 
wiederte ich: „ich hieße Bergſtern, ſey eines Kauf— 
manns Sohn, ſtudiere jetzt zu“ ““ und wäre heute 
durch die ſchöne Umgebung und Wetter in dieſe Ge— 
gend gekommen, die ich ſonſt noch gar nicht gekannt 
hätte.“ Ich weiß nicht, welcher Dämon mir den 
Gedanken einhauchte, meinen wahren Nahmen und 
Stand zu verbergen, eine Unwahrheit, die ſonſt 
nicht in meinem Charakter lag, zu ſagen, und von 
Folgen war, die leider ſo traurig für uns beyde 
wurden. Damahls fiel es mir freylich nicht ein, 
hierüber nachzudenken, und ich ſagte dieſe Lüge bloß 
in der Überrafhung der ſchnell an mich gerichteten 
Frage, höchſtens um durch mehr Gleichſetzung mei— 
ner Perſon mit der ihrigen er mir nicht zu ent⸗ 
fremden. 

Als wir am Ausgang des Gehölzes ſtanden, 
wollte ſie ſich auf einen Nebenpfad entfernen und 
zeigte mir den übrigen Weg ins Dorf. „Doch,“ 
ſetzte Sie plötzlich hinzu, „Sie ſind hier fremd, viel— 
leicht ermüdet und das Wirthshaus iſt ſo ſchlecht; 
wollen Sie in unſer Haus kommen und ein Glas 
Milch trinken, meine Mutter wird es Ihnen gerne 
geben, ſie iſt recht gut.“ Dieſe Einladung war zu 
ſehr meinen geheimen Wünſchen gemäß, als daß ich 
ſie hätte ausſchlagen ſollen, denn ſchon entſtand für 


40 

Marien ein Gefühl, welches bisher mir gänzlich 
fremd geblieben war und mit Betrübniß dachte ich 
daran, ſie ſo ſchnell wieder zu verlaſſen. Sie führte 
mich nun an's jenſeitige Ende des Dorfs vor ein 
kleines aber recht nett erbautes Haus, an das ein 
freundliches Gärtchen ſich anſchloß« Unter der Thür 
trat uns Mariens Mutter entgegen, eine gutmüthige 
Alte, die mit vieler Gaſtlichkeit den Fremden auf— 
nahm. Ich wiederhohlte auf ihr Befragen, meine 
einmahl ausgeſprochene Unwahrheit und ſetzte 
hinzu: „wie ich mich freute, durch dieſen Ausflug 
eine ſo brave Familie gefunden zu haben.“ Dieß 
Lob, fo unbefangen und abſichtlos ich es that, ver— 
fehlte auf die gute Frau nicht ſeine Wirkung. Mit 
großer Redſeligkeit, im Charakter ihrer Jahre — 
ſie war gewiß ſchon nahe an funfzig und Marie ein 
ſpäter Sprößling — ſetzte ſie mir nun aus einander, 
wie nach ihres Mannes Tode ſie hierher ſich bege— 
ben, um in dieſer ruhigen Abgeſchiedenheit nur ſich 
und ihrer Tochter zu leben, die von mehreren Kin⸗ 
dern das Einzige ihr geblieben ſey, und wie dieſe 
Gegend, fo ſchön fte auch wäre, doch nar höchſt ſel— 
ten von Fremden betreten würde, da von allen 
Landſtraßen ſie ziemlich entfernt liege. Während 
deſſen hatte Marie ſich entfernt, kam aber bald mit 
einem einfachen, ländlichen Früßhſtück beladen zu— 
rück, das ſie mir lächelnd both. Mein ſcharfer Ritt, 
die Morgenluft, meine vergnügte Stimmung hatten 
mir Appetit gegeben und ich ließ mich daher nicht 


. 


41 
lange nöthigen. Bald fand ich mich ganz einhei⸗ 
miſch und ſo wohl in dieſem Hauſe, als wäre Jahre 
lang ich ſchon da aus- und eingegangen. Meine 
Offenherzigkeit, die ſo gern ſich zeigte, wenn ich ſah, 
daß mit Vertrauen man ſich mir näherte, erwachte 
nerd mit ihr die fröhliche, unbefangene Luſttgkeit 
meiner Jahre. Die Paar Stunden des Vormittags 
flogen mit Blitzesſchnelle hin. Ich wollte mich nun 
empfehlen. Mutter und Tochter nöthigten mich zu 
bleiben und ich blieb gern. Nach dem Eſſen machten 
die beyden Frauenzimmer und ich einen Spatzier— 
gang durch die äußerſt mannigfach abwechſelnde, 
in vollem Blüthenglanz des Frühlings, prangende 
Gegend. Ich kann ſagen, es war einer meiner glück 
lichſten Tage und meine gute Laune übertraf ſich 
ſelbſt. Marie war ein ſehr hübſches Mädchen. Ihr 
Wuchs war ſchlank und zart, ihr ſchwarzes Haar 
fiel in natürlichen, kunſtloſen Locken über die ſchöne 
Stirn herein, eine feine, kaum merkbare Röthe er» 
höhte den Neig des lieblichen Geſichts und ein Paar 
ſehr milde braune Augen zeigten eine lebhefte, 
ſanfte Seele. Ihr Geiſt war nicht ungebildet, ſie 
ſprach höchſt unbefangen, aber gut und richtig und 
ſe n bſt mitunter feiner, als man ihrer Erziehung nach 
hätte erwarten ſollen. 
Die Sonne fing ſchon an nach Abend ih zu 
neigen als ich erſt an meinen Aufbruch dachte. Mit 
den freundlichſten Gefühlen nahm ich Abſchied von 


42 
meinen gütigen Bewirtherinnen, bath und erhielt 
die Erlaubniß, wiederkommen zu dürfen. 

In vollem Galopp flog ich den Weg nach Hauſe 
zu, denn zum erſten Mahl an dieſem Tage fiel mir 
ein: „was mag Bergſtern denken, wo du geblie— 
ben, wie mag er ſich um dich geängſtet haben.“ 
Dieß trieb mich noch mehr zur Eil und eh' es an⸗ 
fing zu dunkeln, ſah ich ſchon von fern die Häuſer 
meines Wohnorts. Da überfiel mich plötzlich der 
Gedanke: „wenn du gefragt wirſt, wo du warſt, 
was ſollſt du ſagen? Die Wahrheit natürlich,“ ant⸗ 
wortete ich mir ſelbſt. „Ja,“ überlegte ich aber wei⸗ 
ter, „wird Bergſtein es gern ſehen, wenn du öf— 
ter nach Waldheim reiteſt?“ Ich wußte ſelbſt nicht, 
warum er es nicht gern ſehen ſollte und doch war 
mir, als wenn eine Stimme in mir rief: „er wird 
es nicht gern ſehen, er wird dich abhalten. So mußt 
du wegbleiben — aber von Waldheim wegbleiben? 
unmöglich! Marie hat ja auch gewünſcht, daß ich 
wiederkehre“ und — bey dieſen Gedanken überlief 
ich flüchtig noch einmahl die Begebenheiten des Ta⸗ 
ges; vor meinem Geiſt ſtand Marie, den Stroh— 
hut auf dem Haupt, die freuudlichen, hellen Augen 
auf mich gerichtet, wie ſie vor mir ſtand, als ich 
die Mutter bath, wiederkommen zu dürfen, und, 
wie dieſe es erlaubte, fo vergnügt lächelte. — Nein! 
nach Waldheim mußte ich wieder. Aber Bergſtern 
kann ja mit reiten, er liebt ſchöne Gegenden. Ich 
weiß nicht, warum dieſer Einfall mir ſo zuwider 


43 
war, daß ich ihn weit weg warf. Überdieß hatte ich 
ja dort mir ſeinen Nahmen gegeben, hatte geſagt, 
ich wäre eines Kaufmanns Sohn; kam er mit hin, 
ſo erfuhr man dort meine Unwahrheit, was mußte 
dann Marie, was ihre Mutter von mir denken! 
dieſer letzte Grund beſtimmte mich. Ich überſah daß 
das Schlimmere ich wahlte, indem ich den Trug 
fortſpielte. Demnach beſchloß ich, mein kleines Aben— 
teuer ihm zu verſchweigen. Man ſieht, ein böſes 
Princip hatte meine ſonſt ſo offene Seele erfaßt. 
Eine kleine, in Unbeſonnenheit hingeſagte Unwahr— 
heit zog mich zur andern; ſie wurden die Kette, an 
die mein Schickſal die Streiche anknüpfte, die mich 
treffen ſollten. 

Ich war zu unerfahren, zu wahrhaft unſchul— 
dig, um nur von fern zu ahnen, daß das, was ich 
für Marien fühlte, die erſte jugendliche Liebe, das 
Aufblühen der Empfindungen meines Herzens war. 
Ich war bis dahin wenig mit Mädchen umgegan— 
gen; meine Couſine Amalie war mir bis zuletzt 
höchſt unangenehm geweſen, ihre Geſpielinnen, durch 
ihren Einfluß gleichfalls; in *** hatte ich bis jetzt 
nur meinen Büchern gelebt, faſt nie mit einem weib⸗ 
lichen Weſen geſprochen. Marie war die erſte, in des 
ren Geſellſchaft ich einen ganzen Tag verbracht, 
der mir ſo ſchön ſchien, wie ich noch nie einen er— 
lebt hatte; ſie war fo gut, fo offen, fo ſchweſterlich 
gegen mich geweſen, und war dabey ſo ſchön! Ich 
hätte müſſen kein Gefühl haben, wenn ihr Bild 


44 
mich nicht ganz erfüllt hätte, und ich überließ mei⸗ 
nen Träumen von ihr mich mit ſo größerer Nei⸗ 
gung, da ſie die erſten dieſer Art waren, ich nicht 
die Schmerzen ahnen konnte, die ſie mir bereiten 
würden. 

Ich war abgeſtiegen während dieſer Überlegun⸗ 
gen und ſchlenderte nun langſam ins Dorf hinein. 
Als ich ins Haus trat, kam mir Bergſtern entgegen. 
Er war meinetwegen in taufend Angſten geweſen, 
da er ganz und gar nicht begreifen konnte, wo ich 
mochte Ende genommen haben. Ich ſtotterte, ſo gut 
es ging, eine Erzählung her, an der nicht ein ge⸗ 
gründet Wort war, und begab mich auf mein Zim⸗ 
mer. Es war ein Glück, daß es ſchon dunkelte, fonft 
hätte er an der flammenden Gkuth meines Geſichts 
den Nothbehelf erkennen müſſen, mit dem ich ihn 
abfertigte, der ihn aber völlig zu befriedigen ſchien. 
Hier überließ ich mich meinen Gedanken aufs neue. 
Ich war gewohnt mir eigne Welten zu bauen, im 
Gebiethe der Phantaſie'n zu leben, und man kann 
denken, welchen neuen Reitz das Finden Mariens 
in dieſe Schöpfungen meiner Einbildung brachte. 
O, ſchöne Zeit des erſten Erwachens der Gefühle! 
Mit welchem Zauber umgibt die Empfindung Al⸗ 
les, Alles um ſich her, wie heiter gehen da die Tage 
auf, wie rein find da die Lüfte, wie froh und ſelig 
ſchlägt da das Heiz, das ſelbſt nicht kennt, was es 
wünſcht, und in wehmüthiger Sehnſucht fo glück⸗ 
lich iſt. 


45 
4. | 

Von dieſem Augenblick an verließ mich das Bild 

des Schönen Mädchens nicht mehr und weg war auf 
ein Mahl der emſige Trieb zu den Büchern. Ob ich 
gleich ſelbſt nicht recht wußte, was ich wünſchte, 
was ich wollte, ſo war mir doch ſehr deutlich, daß 
alles, was mich umgab, die plötzlich entſtandene Leere 
meiner Bruſt nicht auszufüllen vermochte. So ver⸗ 
gingen einige Tage in unendlicher La gſamkeit; 
mehrmahl hatte ich auf dem Punet geſtanden, wie⸗ 
der nach Waldheim zu eilen, immer hatte eine ges 
wife Scheu mich zurückgehalten, als müßten Marie 
und ihre Mutter ſehen, was in meinem Innern vor⸗ 
ging, wenn ſo ſchnell ich widerkehrte. Endlich über— 
wand die Begierde jede Bedenklichkeit, ich ſchwang 
mich auf mein Pferd und ſprengte, als wenn Gei— 
ſter mich verfolgten, dem Ziele meiner Sehnſucht 
zu. Als ich die Höhe vor dem Dorfe erreicht hatte, 
hielt ich plötzlich an, und zog nun eben ſo langſam 
und zögernd, als vorher mit ſtürmiſcher Eile, dem 
Fußwege nach. Je näher chi dem Hauſe kam, je hö⸗ 
her pochte mein Herz und mit einem Gefühl von 
Bangigkeit, als trüge ich ein Verbrechen auf der 
Bruſt, trat ich ins Haus. Man hatte mich nicht 
bemerkt, ich ging in die Stube und ſah niemand; 
als ich wieder heraus trete, erblicke ich durch die 
offene, nach dem Garten führende Thür, Marien in 
einer Laube am Stickrahm ſitzen, die Mutter war, 
wie ich nachher hörte, ins Dorf gegangen. Da eile 


48 


ich mit aller Heftigkeit und Sehnſucht der erſten 
Liebe dem Garten zu und ſtehe plötzlich, überraſchend 
vor dem holden Mädchen, die über das Geräuſch, 
was ich mache, erſchrocken aufſieht und mir nun, 
glühend wie eine Mayenroſe, entgegen tritt. 

O, daß ſie ewig grünen bliebe, 

Die goldne Veit der erſten Liebe! 

Ich ſaß noch bey Marien, als einige Zeit nach- 
her die Mutter zurückkehrte und lächelnd und fteund— 
lich mich bewillkommte. Muß ich es noch fager, mir 
floh dieſer Tag und ſo mancher folgender, den ich 
in immer kürzern Zwiſchenräumen wiederkehrte, 
wie Blitze hin und oft breitete ſchon Dämmerung 
ſich über die Gegend aus, eh' an Aufbruch ich 
dochte. 

Es konnte nicht fehlen, daß mein öfteres Tage 
langes Wegſeyn, mein fo durchaus geändert Ber 
tragen, die Unruhe, die mich verfolgte, wenn ich zu 
Haufe war, Beraſterns Aufmerkſamkeit erregen 
mußte. Er fing eines Abends an, als ich in ſeinem 
Zimmer war, dieſe Saite zu berüh u en, ich hatte aber 
ſchon Muth und Dreiſtigkeit genug gewonnen, mit 
mancherley ſcheinbar wahrſcheinlichen Ausflüchten 
ihn abzuſpeiſen, und ſeine Seele war zu arglos, 
ſein Vertrauen in mich zu feſt, Zweifel dagegen zu 
hegen, und als die Folge wohl ihm ein wahres 
Licht geben mochte hielt fortwährendes körperliches 
Übelbefinden, vielleicht auch die feinem frühern 
Stande oft eigene Liberalität der Grundſätze in ges 


47 
wiſſen Puneten — denn daß mehr, als eine flüch⸗ 
tige Intrigue mich band, glaubte er gewiß nicht — 
ihn ab ſich näher und geuauer um mein Thun zu 
bekümmern. 

Ich muß hier eines Mannes erwähnen, deſſen 
nähere Bekanntſchaft wit mir ungefähr in dieſelbe 
Periode fiel, als mein Herz zum erſten Mahl aufing, 
die Regungen wärmerer Gefühle zu erfahren. 

Zu den wenigen Zerſtreuungen, die bisher ich 
mir erlaubt hatte, gehörte, daſt ich dann und wann 
ein Kaffehhaus in * beſuchte, dort auf dem Bil: 
lard zu ſpielen, eine Unterhaltung, die mie immer 
ſehr lieb war und in der ich bald einen gewiſſen 
Grad von Vollkommenheit mir zueignete. Hier traf 
ich öfters einen Herrn von Arlfort, der reich und 
durchaus unabhängig, faſt immer auf Reiſen be— 
griffen war, und nur ſo lange an einem Orte zu 
weilen pflegte, als dieſer durch Neuheit ſeinen Lau— 
nen und Neigungen zuſagte. Er mochte nahe an 
dreyßig ſeyn, war wohlgebilden, trug ſich ohne Zie⸗ 
rerey immer ſehr-modiſch, achtete das Geld wenig, 
ſobald er ſich Vergnügen damit erkaufen konnte, und 
war ein ungemein fröhlicher, unterhaltender Geſell— 
ſchafter. Es läßt ſich denken, daß ein ſolcher der 
Liebling aller Zirkel ſeyn mußte, denen er durch 
ſeinen mit mancherley Kenntniſſen und auf Reifen 
geſchmückten und gebildeten Geiſt, ein neues Leben 
zu geben wußte, und daß beſonders das ſchöne Ge— 
ſchlecht ihm nicht abhold war. Doch ſchien dieſes 


48 

Glück Arlfort eben nicht ſehr zu rühren, und wollte 
gleich die Fama von *** manches geheime Aben— 
teuer von ihm auf Koften einiger Damen zu erzäh⸗ 
len wiſſen, ſo war ſein Betragen doch äußerlich ge⸗ 
gen Alle ſich ſehr gleich: eine glatte, nichts weni« 
ger als warme Artigkeit, die mehr den Mann von 
Welt und Ton, als den bejonderen Verehrer des 
zweyten Geſchlechts zeigte. 

Die gleiche Neigung für den erwähnten Zeit⸗ 
vertreib führte uns zuſammen, und da auch er kein 
Unerfahrener hierin war, fo ſpielten wir gemeinig⸗ 
lich nur zuſammen. N 

Arlfort ſchloß ſich mit vieler Zuvorkommenheit“ 
mir an, obgleich ich nicht zu ſagen vermag, was 
hierzu ihn bewegen mochte, da von allen jenen Tas 
lenten, die ihn ſo glänzend in den Kreiſen der Men⸗ 
ſchen auszeichneten, mir damahls auch nicht eins 
geläufig war und von meiner Seite gewiß nichts 
geſchah, ihm beſonders näher zu treten, wie der Le⸗ 
fer aus der früher gemachten Schilderung meiner 
Individualität wird vermuthen können. Doch laugn⸗ 
ich nicht, daß dieß Zuvorkommen eines Mannes, 
der ſo allgemein als geiſtreich und fein bekannt 
war, meiner Eitelkeit nicht wenig wohl that, und 
ich vergalt fein Annähern bald durch warme An⸗ 
hänglichkeit und die Offenheit, die meinen Jahren, 
meinem Gemüthe ſo eigen war. Dennoch erfuhr er 
von meinem kleinen Verhältniſſe mit Marien von 
mir nichts, welches ich im Gegentheil recht geflif- 


49 
ſentlich feinen Augen zu verbergen ſuchte, nicht aus 
Mißtrauen, das kannte ich nicht — aber aus un— 
ſchuldiger Scham, und aus einem geheimen Ju— 
ſtinet, der mich antrieb dazu, gleich als ſagte mir eine 
innere Stimme vorher: dieſer wird einſt dein Ver— 
derber ſeyn. — 

Daß einem Manne von ſeiner Erfahrung und 
Menſchenkenntniß dennoch nicht mein verwandeltes 
Ich entgehen konnte, war aber um ſo natürlicher, 
da mir die Gabe des Verbergens nie eigen, in je— 
nen Zeiten gänzlich freind noch war und mehr die 
Unbefangenheit Bergſterns als mein Benehmen 
Schuld hatte, daß dieſer mich eee ſchnell 
durchſchaute. 

Arlfort pflegte mich manchmahl in meinem 
ländlichen Wohnſitz zu beſuchen wo er ſtets mir 
ſowohl als meinem Mentor eine erfreuliche Erſchei⸗ 
nung war, der an ihm einen tapfern Schachſpieler 
fand, eine Erhohlung, die Bergſtern leidenſchaft— 
lich liebte. . 

Während ich nun meine Ausflüge nach Wald: 
heim fo oft erneute, hatte es ſich einige Mahl ge: 
ſchickt, daß Arlfort mich nicht traf und als das 
nächſte Mahl wir in der Stadt uns gegegneten, 
richtete er nach einigen unbedeutenden Hin- und Her: 
reden plötzlich die Frage an mich: wohin denn jetzt 
ich immer zöge, daß man ſo ſelten das Vergnügen 
hätte, mich vorzufinden; wobey er mich ziemlich 
ſcharf fixirte. Schon die flammende Röthe, die mich 

Unterh. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. 68 


50 
überflog bey dieſen Worten, mußte ihm mein Ge: 
heimniß verrathen, mehr noch die lahme Ausflucht 
und Antwort, die ich gab. „Ich wette, fuhr er lä— 
chelnd fort, „mein junger Miſogyn“ — eine Be— 
nennung, die er mir ſcherzend oft wegen meiner 
Schüchternheit gab — „iſt verliebt und reitet in 
aller Empfindſamkeit zu irgend einem girrenden 
Landtäubchen hin, die feiner Philoſophie einen are 
gen Streich geſpielt hat.“ War ich erſt roth gewor— 
den über ſeine ſchnelle Frage, ſo wurde ich es jetzt 
noch mehr für Arger, denn indem ich mich durch: 
schaut ſah, glaubte ich auch zugleich verſpottet zu 
ſeyn. „Herr von Arlfort, erwiederte ich daher ver— 
drießlich, „Sie ſcherzen.“ FREE »Keineswegs,“ un⸗ 
terbrach er mich, „es iſt mein voller Ernſt und“ — 
dabey fing er laut an zu lachen — „ich gäb' etwas 
darum, ein ſolch verliebtes tete a téte unbemerkt 
mit anſehen zu können, beſonders, wenn die Erko— 
rene eben eine ſolche Unſchuld iſt, wie mein kleiner 
Freund.“ Ich platzte beynahe vor Bosheit bey die— 
ſem Ausbruch ſeiner guten Laune, der er ganz und 
gar keinen Zügel mehr anlegte, und in manchen 
drolligen Bemerkungen äußerte, ſo daß ich gar nicht 
zu Wort kommen konnte. „Ich will ſterben, fuhr 
er im Strome ſeiner Rede fort, „wenn Sie ihr ſchon 
einen Kuß gegeben haben, denn ein ſolch Unterfan- 
gen, ha! ha! ha!“ Nun hielt ich mich nicht mehr. 
Mit Wildheit riß ich mich von ihm los — er hatte 
während des Geſprächs meine Hand gefaßt — und 


Ir 
ſagte: „Herr von Arlfort! dieſe Beleidigung — — 
Ich erwarte Sie morgen am Rehberg.“ — Er fah 
mich mit großen Augen an, dann ſagte er höflich, 
aber kalt, faſt ſpöttiſch: „Ich glaubte nicht, daß der 
Scherz eines Freundes ſo Ihr Mißfallen erregen 
würde; doch — ich habe mich geirrt und — werde 
nicht ermangeln, mich einzuſtellen.“ Bey dieſen Wor- 
ten entfernte er ſich mit einer leichten Verbeugung 
und ließ mich ſtehen. Mit kochender Wuth im Her⸗ 
zen ging ich nach Haufe. Hier fing ich an das Ver⸗ 
gangene zu überdenken, und immer, wie von einem 
Zauber verleitet, tönten mir Arlfort's Worte in's 
Ohr: „Er hat ihr ſicher noch keinen Kuß gegeben.“ 
Ich hatte Stunden, halbe Tage lang bey Marien 
allein zugebracht, und nie war mir dieſer Gedanke 
gekommen, ſelbſt in meinen wachen Träumen nicht, 
die ſie ja doch ſo ausſchließend belebte, war der 
Wunſch darnach in mir aufgeſtiegen. Ich war zu⸗ 
frieden, ich war glücklich geweſen, wenn ich an ſie 
denken, wenn ich dann und wann bey ihr ſeyn 
konnte. — Ihr Daſeyn hatte mir genügt, ohne alle 
andere Nebenideen und Wünſche, fo wie einem fin: 
desherzen das Daſeyn eines Engels genügt, mit 
dem es in bunter Mährchenwelt, in feinen Phanta⸗ 
ſien, ſpielt. Ich hatte bisher kaum ein oder zwey 
Mahl Mariens Hand gefaßt, und dieß auch nur 
ganz zufällig; jetzt zogen auf einmahl eine Menge 
neuer Wünſche. Begierden und Hoffnungen in meine 
Bruſt ein. Ich dachte Marien in meinem Arm, die 

* & 2 ö 


32 


zarten, feinen Lippen an den meinigeu, ich fühlte 
ihr Herz an meinem ſchlagen und breitete trunken, 
als wär' ſie mir nah', voll Sehnſucht und heißer 
Gluth die verlangenden Arme nach ihr aus. Ente 
flohen war das Bild der Schweſter, des geſchlecht— 
loſen Engels — denn alſo war fie mir bisher er⸗ 
ſchienen, fo hatte ich fie geliebt — und das Mäd— 
chen, die mit allem Sinnenreitz umgebene Geliebte, 
ſtand, verkörperter mehr, ſchöner und lockender nur 
dadurch vor meiner Seele. 

Ich kann nicht ſagen, daß dieſe Betrachtungen 
dazu dienten, meinen gefaßten Widerwillen gegen 
Arlfort zu erhöhen, im Gegentheil ſchmolz er von 
Stunde zu Stunde faſt bis zum Nichts zuſammen; 
denn, hatte er mich dadurch beleidigt, daß er ver: 
muthe, ich hätte eine geheime Liebſchaft? War es 
denn etwas Entehrendes, daß er von einem Kuß 
ſprach? Meine Eitelkeit fing ſich an zu regen und 
es dauerte nicht lange, fo ſchmeichelte mi der Ge: 
danke nicht wenig: von einem Arlfort als der Held 
einer Intrigue erkannt zu werden. Wie ineonſequent 
iſt doch das Herz! Was kurz vorher meinen Zorn 
erregte, gefiel mir nun, und nicht ohne Wohlgefal— 
len fing ich an daran zu denken, daß der Spötter, 
wenn er mich einmahl bey Marien ſähe, nicht über 
meine Furcht amkeit lächeln ſollte. 

So hatte ein Wort in meinem Innern die 
Gluth der Begierden angefacht, die bisher ich nicht 
kannte, die ohnedieß vielleicht noch lange geſchlum⸗ 


33 


mert hätten, ohne daß ich vielleicht ein gebrochenes 
Herz weniger auf dem meinigen tragen würde. 

Am andern Morgen begab ich mich, der Ehre we— 
gen, deun mein Zorn war längſt verflogen, nach dem 
Nehberg. Dieß war ein kleines, anmuthiges Gehölz 
nahe bey ***, wo gewohnlich mit den Waffen ſtrei— 
tige Puncte verhandelt wurden. Mein Gegner ließ 
mich nicht lange warten; er hatte, jo wie ich, Pi: 
ſtolen mitgebracht. Bey dem kalten Morgengruß, 
den er mir machte, der, wie mich dünkte, von einem 
ſarkaſtiſchen Lächeln begleitet wurde, fing mein Blut 
wieder an, ſich gegen ihn zu erhitzen, ich nahm, ohne 
etwas zu ſagen, Weite und brachte meine Piſtolen 
in Ordnung. 

Mit großer Ruhe ſah er meinem Beginnen zu, 
dann hob er an: „Herr von ***, wollen Sie mir 
erlauben, eh' wir unſern Gang anfangen, Ihnen 
einige Worte zu ſagen?“ 

„Sehr gern,“ erwiederte ich, „doch muß ich 
bitten —“ Eu 

„Sorgen Sie nicht,“ fiel Arlfort mir in's Wort, 
„was ich zu ſagen habe, iſt wenig. Sie haben ge— 
ſtern einen vielleicht nicht ganz zarten, aber —“ hier 
legte er ſeine Hand auf die Bruſt — „gewiß nicht 
boshaften Scherz, als Beleidigung gedeutet. Sie 
verlangen dafür Genugthuung, und ich ſtehe hier, 
jie Ihnen nicht zu weigern, wenn Sie ſie noch begehren 
ſollten, nachdem ich Ihnen vorher feyerlich erkläre, 
daß bloß in fröhlicher Laune, ohne die geringite 


54 

Abſicht Sie zu beſchimpfen, ich, was ich ſagte, als 
Freund zum Freunde glaubte ſprechen zu dürfen, 
und daß es mir weh thun würde, unſer Vechältniß 
ſo geloy’t zu ſehen.“ 

Da ich nicht gleich antwortete, fuhr er fort: 
„Ich ehre Sie zu ſehr, um nur den Gedanken zu 
denken, daß Sie hierin eine Jämmerlichkeit von 
mir ahnen könnten, die um fo weniger vorauszuſe— 
tzen iſt, da ich den erſten Schuß habe und meines 
Armes, wie Sie wiſſen, vollkommen gewiß bin. — 
Er war in der That ein trefflicher Schütze und 
fehlte, ſelbſt mit Piſtolen, faſt nie nur auf eine Fin⸗ 
gerbreite ſein Ziel. 

„Sie wollten alſo nicht mich beleidigen?“ 

„Nicht im Traum war es mein Gedanke.“ 

„Ihre Reden waren dloß der Scherz des 
Freundes?“ 

„Der jetzt mir weh thut, da einem Freunde eine 
unangenehme Minute er verurſachte.“ f 

„So habe ich nichts mehr zu verlangen.“ 

Bey dieſen Worten brannte ich mein Piſtol ab und 
ging auf Arlfort zu, der mit anſcheinender Herzlickkeit 
mir entgegen kam und ſeine Arme um mich ſchlug. 

Brauche ich es noch zu ſagen? Ich hatte noch 
keine halbe Stunde neben ihm im Schatten eines 
Baumes geſeſſen, ſo wußte er alles, was mein 
Herz in ſeinen innerſten Tiefen verſchloß, wie ich 
Marien gefunden, wie ich ſie liebte, wie ich ohne ſie 
nicht mehr leben könne. — 


95 

Arlfort hörte mir lächelnd mit Aufmerkſamkeit 
zu. Er wußte ſo geſchickt von einem auf das andere 
mich zu leiten, mir die Worte gleichſam in den 
Mund zu legen, durch gewandte Fragen den Strom 
meiner Rede im Gange zu erhalten, durch aufmun— 
ternden Beyfall mir zu ſchmeicheln, daß, hätte ein 
heiliger Geheimniß noch in meiner Gruft geruht, er 
von dem Unerfahrenen es würde vernommen haben. 
Beſonders ſchien er ſich an der warmen, dichteriſchen 
Beſchreibung, die von den Reitzen meiner Erwähi⸗ 
ten ich im Feuer des Gefühls machte, zu ergetzen, 
und als ich mit der pathetiſchen Ausrufung ſchloß: 
wie ich nie, ſo lange mein Herz klopfte, ſie laſſen 
würde, fragte er mich: „Sie wollen ſie alſo hei⸗ 
rathen?“ f 

Ich geſtehe, daß dieſe mir ſo unerwartete doch 
natürliche Frage, mich dermaßen überraſchte, daß 
nicht gleich ich antworten konnte. Hatte gleich ſeit 
dem Tage vorher ich mir Marien unter andern Be— 
ziehungen gedacht, ſo war dieß doch mir noch nicht 
eingefallen, und meiner Phantaſie eröffnete ſich hier— 
bey abermahls ein weites, neues Feld. 

„In Ihren Jahren,“ fuhr Arlfort fort, „finde ich 
es ſehr natürlich, daß das erſte ſchöne Mädchen, dem 
Zufall Sie nähert, einen Eindruck auf Sie machen 
muß, und daß das, was eben Sie mir ſagten, Ihres 
Herzens wahre Empfindung iſt. Auch ich habe ſo ge— 
dacht, gefühlt und geliebt; auch ich wollte der Er— 
ſten, die mich fühlen lehrte, gleich auf ewig die 


56 
Hand geben, doch glauben Sie mir, das verfliegt ſehr 
bald und es iſt gut, wenn man damit ſich nicht über⸗ 
eilt, denn — doch das wird Ihnen elbſt die Folge 
klar machen. Glauben laſſen, lieber Eduard, kann 
man dieß auf geſchickte Art gern; es iſt klug und 
führt zum Ziel“ — ich wußte nicht, was er damit 
meinte — „und glücklicher Weiſe kommt die Leicht⸗ 
gläubigkeit der Mädchen hierin uns trefflich entge- 
gen, aber der Mann von Stande und Welt, der le⸗ 
ben und genießen will, darf nicht an ein Paar jugend⸗ 
licher Wangen gleich das Letzte einſetzen.“ ö 

So dunkel mir im Ganzen dieſe Rede war, ſo 
ging mir doch daraus hervor, doß Täuſchung erlaub— 
te Klugheit hier benannt wurde, und, zur Ehre meis 
nes beſſeren Selbſt kann ich fagen, daß mein In⸗ 
neres ſich dagegen empörte. Ich ſollte Marien täu⸗ 
ſchen? Sie, die meine phantaſie mit einer Strah— 
lenglorie umgab, ollte ich hintergehen? Nimmers 
mehr! Ich äußerte dieſe Empfindungen unverhohs 
len Arlfort, der mich ruhig anhörte und dann lä⸗ 
chelnd erwiederte: „Wer ſagt denn, daß Sie täuſchen 
ſollen? Glauben Sie mir, wir haben ſo leicht nicht 
nöthig, unſere Zuflucht zu dieſem Mittel zu nehmen; 
die Liebe und die Eitelkeit der Weiber thun dieß 
ſelbſt und — je unerfahrener, je unſchuldiger das 
Herz noch iſt, je ſtärker ſind dieſe unſere Bundesge— 
noſſen darin.“ 

Ich ſchauderte zuruck. Mit einem wahrhaften 
Gefühl von Abſcheu ſtand ich auf, und betrachtete den 


7 
Mann, der mir in dieſem Augenblick ein Geſandter 
der Hölle zu ſeyn ſchien. 

Mir ging ein furchtbares Licht auf; o, warum 
folgte ich nicht der Stimme meines Herzens, die mir 
zurief: fliehe dieſen! Warum lieh' ich in der Folge 
ſeinen Reden noch öfter mein Ohr! — 

Es gibt Menſchen, denen — man ſollte es 
glauben — es Freude macht, den Samen des Un- 
krautes in ein reines Herz auszuſäen, die, ohne 
vaß andere Zwecke fie leiten können, eine Beruhi— 
gung darin zu finden ſcheinen, edlere Weſen zu ſich 
herab zu ziehen. Ich will nicht behaupten, daß ein 
reiner böſer Wille, ein bloßes Gefallen am Schlech⸗ 
ten, ſie hierzu treibt, das hieße in einer Menſchen⸗ 
bruſt das Princip eines Teufels legen, und dieß 
habe ich nie annehmen können und mögen; ich glau— 
be mehr, daß der Trieb ſeine durch Erfahrungen ge— 
wandteren Anſichten, ſeiner im Leben erworbenen 
Lebensphiloſophie mitzutheilen ſie antreibt, und daß 
ſo ſie das Böſe thun, ohne das Böſe gerade zu be— 
zwecken. Wenigſtens iſt dieß gewiß — wir können es 
zur Ehre der Menſchheit annehmen — bey den Mehr⸗ 
ſten der Fall, und war es auch bey Arlfort, der wohl 
kein Reiner, Schuldloſer, aber doch ſonſt kein Bö— 
ſewicht war; der den leider fo allgemeinen Grund- 
ſatz auch hegte, daß Verſündigungen gegen ein un⸗ 
ſerer Rechtlichkeit vertrauendes weibliches Herz, die 
Ehre des Mannes nicht ſchändet — ein Glaube, 
der ſo manches harmloſe, einem friedlichen Blumen⸗ 


“58 

leben ähnliche Daſeyn fo fürchterlich zerſtört; der 
mehr Böſes ſtiftet, als kalte überlegte Schlechtig⸗ 
keit oft zu ſtiften vermag, um ſo leichter, da er ſchon 
gewöhnlich nur dem geſchliffenen Menſchen, dem ſo⸗ 
genannten Manne von Welt und Ton eigen iſt, 
der eben dadurch fo überwiegend ſo gefährlich 
wird. 

Ich wollte mich entfernen, Arlfort hielt mich 
zurück. „Sie deuten meine Reden falſch,“ ſagte er, 
„mehrere Erfahrung, längeres Leben in der Welt 
wird Sie eines anderen belehren, ich bin es um fo 
mehr überzeugt, denn“ — mit einem liſtigen Blick 
ſetzte er hinzu — „Sie haben ohne die geringſte Welt— 
kenntniß doch eine gute Anlage von Schlauigkeit 
dargethan, als Sie Ihrer Geliebten Ihren wah— 
ren Nahmen verſchwiegen, und dadurch ihren Ver— 
hältniſſen, folglich auch ihrem Herzen, ſich näher 
ſetzten, welches der umgekehrte Fall ſeyn dürfte, 
wäre ſie und ihre Mutter nicht die, die Sie mir 
ſchildern.“ ; 

Diefe Bemerkung war mir unſäglich ſchmerzli 
und Arlfort mußte den Eindruck, den ſie auf mich 

machte, ſehen. Er lächelte darüber und fuhr fort, 
in Auseinanderſetzung laxer Grundfäge mir ein Sy: 
ſtem des Lebens zu entfalten, vor dem mein unver⸗ 
dorbenes Gemüth ſich empörte, das aber doch nicht 
verfehlte, einige unheilreiche Samenkörner in mir 
zu laſſen, die hinreichten, meinen Frieden zu vers 
giften. ö A % 


59 


Als ich mich zu Haufe fo allein ſah, paarte ſich 
mit den Schon erſt erregten brennendern Wünf.em: 


nach Marien der Gedanke an eine ernſte, für das 


Leben dauernde Verbindung. So füß und ſchmei— 


chelnd mir dieſer war, ſo konnte ich mir doch nice! 


verhehlen, daß nimmermehr meine Familie in dieſe 


Idee eintreten würde; es wurde mir deutlich und 


gewiß, daß ihr ich eutſagen oder alle Hoffnung auf 


den rechtmäßigen Beſitz der Geliebten aufgeben muß— 


te, und obgleich kein Alternwille mich band, ob⸗ 


gleich in kurzer Zeit meines Landes Geſetze die ei— 


gene, freye Selbſtſtändigkeit mir gaben, ſo war doch | 
die Scheu vor dem Aufruhr und dem Geſchrey, das 


ein ſolch Unternehmen erregen würde; der Gedan- 


ke an meinen alten Onkel, den ich zwar gerade nicht! 


liebte, aber doch ehrte, und den ich dadurch ja dop— 


pelt kränken wußte, nicht zu verbannen, und jtellte: 
ſich mir als ein gewaltiges Hinderniß in den Weg.“ 
Welche Plane, welche abenteuerlichen Wege ſchuf 


ich nicht, ſuchte ich nicht auf, um ohne das Eine 


zu verwunden, das Andere zu erlangen; wenn aber 


die Phantaſie ſich erſchöpft hatte, nun Einen glaub⸗ 
te entdeckt zu haben, ſo ſchwand gar bald vor dem 


prüfenden Blick das luftige Gebäude wieder, und 


ich ſah mich auf dem alten Punct. Den nächſten 
Tag eilte ich nach Waldheim. Im Birkenwäldchen, 
wo der Fußpfad nach dem Dorfe abbog, rauſcht 
mir etwas Weißes entgegen. Ich ſpringe ab; es iſt 
Marie. — Ich war länger, als gewöhnlich nicht ge⸗ 


50 i 

kommen; ein Verlangen hatte die unſchuldige Bruſt 
erfaßt; ſie war auf die Höhe gegangen, nach mir 
aus zu ſehen. Mit ſchweſterlichem, unbefangenen 
Zutrauen erzählt ſie es mir, während das holdeſte 
Erröthen die zarten Wangen überfliegt, die kleine 
Hand in der meinigen ruht. Sie war ſo ſchön, der 
Ton ihrer Stimme ſo weich, als ſie beſorgt mich 
fragte, was mich denn abgehalten hätte, eine gan— 
ze Woche nicht zu kommen; der Blick ihres Auges 
war fo beredt — — Ich ſchlang meinen Arm um 
ihren Leib und drückte ſie an meine vor Liebe und 
Sehnſucht klopfende Bruſt — meine Lippen berüh⸗ 
ren die ihrigen — — ein Gluthſtrom ergießt ſich 
durch meine Adern und ihr feuchtes Auge zeigt mir, 
daß ſie mein Gefühl theilt. Ich vermag nur „meine 
geliebte Marie” zu ſtammeln und brennende Küſſe bes 
decken den zarten Mund. Verſchämt windet ſie ſich 
aus meinen Armen, ihre Hand bleibt mir, und ſo 
gehen wir dem Haufe zu. 

Bisher hatte es mir genügt, Marien zu fehen, 
jetzt wollte ich ſie allein ſehen, und zum erſten Mahl 
war mir die geſchwätzige Gegenwart der Mutter zur 
Laſt. So kettet durchs Erdenleben ſich der Wunſch au 
den Wunſch, bis den letzten das Grab ſtillt, oder — 
traurig genug — früher noch das Leben ſelbſt dem 
erſt ſo glühend Begehrten, nicht mehr ſeinen Nimbus 
leiht! — 

Se war der Sommer vergangen und der Herbſt 


61 
fing an mit feinen Stürmen bis oden Felder zu durch⸗ 
toten. 

Ich war mit Baggern wieder in die Stadt 
gezogen, ritt wöchentlich aber wenigſtens zweymahl 
nach Waldheim, um, wenn auch nur auf eine Stun— 
de, die Geliebte zu ſehen, an die mit immer inni⸗ 
gerer Gluth mein Herz ſich ſchloß. Weithin konnte 
ich ſchon immer ihr weißes Gewand, ihr im Winde 
flatterndes Tuch erkennen, mit dem ſie mich begrüß— 
te, mir freudigen Willkommen zuwinkte, wenn ſie 
von der kleinen Anhöhe mich kommen ſah, denn nur 
das unfreundlichſte Wetter vermochte ſie abzuhalten, 

bis dahin mir entgegen zu gehen. 

Vermag ich ſie zu ſchildern jene ſchöne Zeit der 
reinſten, ſchuldloſen Liebe, jenes offene Kindesver— 
trauen, mit dem ſie ihr liebes Geſicht an meine Bruſt 
drückte, mich tauſendmahl ihren Eduard nannte; in 
denen ich, ſie an mich ſchmiegend, die Schläge ihres 
klopfenden Buſens fühlte, den Hauch, den füßen 
Zauber ihrer Lippen trank, mein Bild in ihrem 
Auge, ihrem ſeelenvollen, liebeflammenden, ſo rein 
ſah, wie in ihrem Herzen es thronte; die weichen, 
ſchmelzenden Acecente ihrer Liebe, ihrer Sehnſucht hör— 
te, ſie wegküßte von dem geliebten Munde! — Nein! 
ich vermag es nicht! Man muß ſelbſt geliebt haben 
mit dem ganzen Feuer jugendlicher Empfindung, 
mit warmer ſchöpferiſcher Phantaſie das geliebte 
Bild mit allen Kränzen geſchmückt haben, die das 
Herz ihm leihen kann — man muß das Glück einer 


62 


ſchuloloſen, gänzlich hingebenden, eben ſo rein und 
glühend erwiederten Liebe kennen, um zu wiſſen, was 
Glück heißt. Des Dichters Feder und Saite iſt da 
nur todter Nachhall. 8 N 

Ja! ich war as Sec ſo rein! ſo 
ſchuldlos, wie nie wieder ich es war, und die Thrä⸗ 
ne, die deiner Erinnerung, geliebtes Mädchen, 
jetzt noch fließt, ſie ſey dir, vermagſt du mich aus 
jenen beſſeren Räumen zu ſehen, ein Denkmahl 
meiner Liebe, meines Schmerzes. — Was ich nun 
noch von dir werde zu ſagen haben, ſind nicht mehr 
die Schilderungen jener Stunden einer unſchuld— 
vollen Liebe — es ſind die Anklänge eines von Be— 
gierden hingeriſſenen Herzens, aber ich weiß, du 
haſt mir vergeben, dein letzter Hauch war ja noch. 
ein Gebeth für mich, und wenn jetzt dein Bild mei⸗ 
ner Phantaſie erſcheint, ſo iſt es nicht mehr die 
zürnende Nemeſis, es iſt der Friedensengel, der 
mit feinen Palmen die Schläfe des Müden kühlt. — 


5. 


Die Leere der Stunden, wo ich Marien nicht 
ſehen konnte, mehr mir vergeſſen zu machen, fing 
ich jetzt an häufig Zerſtreuung zu ſuchen, deren Bedürf— 
niß ich früher nie gefühlt. Es konnte nicht fehlen, 
daß ich hiebey öfter wieder auf Arlfort ſtieß, von 
dem ich angefangen mich etwas zurück zu ziehen, 
da in der That ein Widerwille gegen ihn ſich in 


63 
mir erzeugt hatte; auch der übrige Kreis meiner 
Bekanntſchaften fing dadurch an ſich bedeutend zu 
vermehren, und die linkiſche Unbeholfenheit meines 
Benehmens machte einer mehr geſchliffenen Manier 
Platz. 

An einem ſtürmiſchen, trüben Novembertag 
komme ich bey einbrechender Dunkelheit von Wald— 
heim zurück. Bergſterns, ſeit einiger Zeit ſich im— 
mer mehrendes Übelbefinden hat ihn gezwungen, ſich 
niederzulegen, ich bin allein auf meinem Zimmer 
und überlaſſe mich meinen Träumereyen; da tritt 
Arlfort plötzlich zu mir ein und ruft mir freudig zu: 
„Es iſt mir ungemein angenehm, lieber * * *, daß 
> Sie zu Haufe finde, Sie müſſen mich in eine 

eſellſchaft ee ‚mo Sie gewiß Vergnügen fin⸗ 
= werden.“ 

Ich fange an zu fragen, mich zu enſchuldigen, 
ich wäre in Wahrheit lieber zurückgeblieben, er drängt 
aber mit ſolcher Eil und Beredſamkeit in mich, daß 
ich nachgebe und ihm folge. 

Er führt mich in ein Haus, und wir treten in 
ein hellerleuchtetes Zimmer, in dem mehrere Da: 
men und Herren, theils einzeln gruppict, theils im 
Geſpräch auf- und abgihead ich finde. Dem Einen 
der letztern, einem etwas bejahrten Manne, ſtellt 
Arlfort mich als ſeinen Freund vor, der wünſcht 
heute und für die Folge. Theilnehmer ihrer Unter— 
haltung zu werden. Der Fremde nimmt dieß ſehr. 
artig auf, und fängt gn 'von dem Vergnügen zu re⸗ 


\ 
64 
den, welches ihm und der Geſellſchaft dieß verurſa⸗ 
chen wird, und ich, der noch immer nicht weiß, was 
denn eigentlich der Zweck des Ganzen iſt, mache in 
großer Verlegenheit eine ſtumme Verbeugung über 
die andere, als die Thür ſich abermahls öffnet und 
ein ganz ſchwarz und höchſt zierlich gekleidetes Mäuns 
chen hereintritt, der nach einigen flüchtigen Ber: 
beugungen ſich einem im Vordergrund ſtehenden 
Tiſchchen nähert, ein Buch hervorzieht und nach ei= 
ner abermahligen Verbeugung ſich niederläßt. Die 
ganze Geſellſchaft thut dasſelbe, und ich fange an 
zu begreifen, daß eine Vorleſung Statt finden ſoll. 
Ich hatte mich nicht geirrt. Es war dieß ein Verein von 
Freunden der ſchönen Literatur, die wöchentlich an 
einem beſtimmten Tage hier zuſammenkamen, um 
gemeinſchaftlich ſich an der Anhörung irgend eines 
neu erſchienenen oder vorzüglichen Kunſtwerks, be— 
ſonders aus dem dramatiſchen Fache, zu ergetzen, 
und deren ein- für allemahl beſtimmter Lector der 
eben erwähnte ſchwarze Herr war. Eine Einrich— 
fung, die um fo mehr Zweck und Beyfall hatte, da 
im Orte kein Schauſpiel, wie in ſo manchem akade⸗ 
miſchen Städten Deutſchlands, ſeyn durfte, und die 
Bewohner daher nur ſelten in dem benachbarten ... 
ſich dieſen Genuß verſchaffen konnten, oder ſich auf 
die peregrinirenden kleinen Truppen beſchränken 
mußten, die dann und wann in nahgelegenen Dör⸗ 
fern ihr Weſen trieben. 

Hatte ich gleich mit Begierde geleſen, ſo war 


63 
dieſer Zweig der jhonen Künste mir doch durchaus 
fremd und neu, und perfehlte um fo weniger einen 
regen Eindruck auf mich zu machen, da Herr Brun 
— dieß war der Nahme des Leſers — mit eben 
ſo viel Gefühl als Wahrheit und Geſchmack die 
herrlichen Werke der dramatiſchen Schriftſteller las, 
die damahls gerade anfingen, eine neue Morgens 
röthe in dieſer Hinſicht über ihr Vaterland herauf 
zu führen. 

Mit wahrhafter eee dankte ich Arl⸗ 
fort für den mir ſo überraſchend zugewendeten Ge— 
nuß, und verfäumte, da der Verein mir die Er- 
laubniß ertheilte, von nun an keinen ſolchen Abend 
mehr. 

Mein Verhältniß zu Arlfort gewann dadurch die 
erſte Herzlichkeit wieder, und bald ſah er ſich aber. 
mahls im Beſitz meines vollen Vertrauens. 

So verging dieſer Winter und ich bezog zu 
Anfang des Frühlings meine ländliche Wohnung 
wieder. Bergſterns immer mehr abnehmende Kräf— 
te verhinderten ihn jetzt faſt gänzlich, das Zimmer 
zu verlaſſen, und ich theilte, da nur wenigen aka— 
demiſchen Vorleſungen ich beywohnte, zwiſchen ihm 
und Marien meine ganze übrige Zeit, zu der meine 
Liebe und Neigung mit jedem Mahl, daß ich ſie ge⸗ 
ſehen, zu ſteigen ſchien, die aber nicht mehr den rei— 
nen ſchuldloſen Charakter hatte, der ihr erſtes Er: 
wachen bezeichnete. 

Das Beyſpiel Arlforts, deſſen Thun und Trei⸗ 


66 
ben im letzten Winter ich genauer und ofter zu beob⸗ 

achten Gelegenheit hatte, feine laxen Grundſätze, 
die in ſo mancher traulichen Unterredung, mit der 
Feinheit eines Weltmanns er mir mittheilte, die 
Schilderungen, die er, obgleich nicht ohne Zark— 
heit, doch glühend und lockend genug, um meine 
ſo leicht erregbare Phantaſie in Feuer zu bringen, 
von manchen feiner Lebensfcenen mir machte, und 
endlich Mariens vertrauenvolles, durchaus hinge- 
bendes Anſchmiegen an mich, hatte einen Sturm 
in meiner Bruſt angefacht, den ich zu unterdrücken 
nicht Kraft, Marie zu widerſtehen zu viel Liebe 
hatte. N 
Am Jahrestag unſerer Bekanntſchaft eile ich 
nach Waldheim. Mancherley Begegniſſe hatten mich 
länger als gewöhnlich entfernt gehalten. Meine 
Sehnſucht, mein Verlangen nach der Geliebten war 
gränzenlos, der Gedanke: es iſt heut der Tag, wo 
du ſie zum erſten Mahle ſaheſt, wo die geliebte 
ſchöne Geſtalt zum erſten Mahle dir erſchien, das 
Morgenroth der Gefühle in dein Leben heraufzu— 
führen, begeiſtert, entflammt mich noch mehr; ich 
ſprenge den Hügel vor ihrem Dorfe hinan — ſie 
iſt nicht da — mit verdoppelter Gluth und Eile 

fliege ich dem Hauſe zu, aus einer Stube in die 
andere — ſie ſind leer, die Mutter iſt ausgegangen 
und Marien ſeh' ich nicht. — Meine Ungeduld er⸗ 
reicht den höchſten Gipfel; da hör' ich die Saiten 
anſchlagen, und meines Mädchens ſüße Stimme, 


1 
die Hurka's zärtliches Lied: „an den Entfernten, 
ſingt. Ich horche einen Augenblick entzückt ihren 
ſanften Tönen, dann will ich auf das Cabinet zu, 
woher fie mir erſchollen. Mein Geräuſch hat mich 
ihr verrathen; ſie tritt mir von allem Glanz der 
Liebe, der Sehnſucht, des heißen Verlangens um— 
floſſen, an der Thür entgegen. — Im Schmuck der 
ſüßeſten Thränen der Freude, des reinſten Entzü— 
ckens, ſtrahlen mir ihre Augen — unfere ausgebreiz 
teten Arme verſchlingen ſich; — Worte hat eine 
ſolche Minute nicht — meine glühenden, brennen⸗ 
den Küſſe rauben ihr Beſinuung und Widerſtand, 
ihre Erwiederung jagt Flammen durch mein Blut, 
und läßt mich Alles, Alles vergeſſen. — Darf ich 
deiner noch denken, du ſüßeſte meiner Stunden! 
Augenblick des Vergehens und des höchſten irdiſchen 
Entzückens! Ach! ich habe nicht die Kraft dich zu 
verdammen, ſelbſt die nicht, dich zu bereuen; du 
warſt fo ſchön, und wenn der Schutzgeiſt der Uns 
ſchuld in dieſem Moment uns trauernd verließ, ſo 
ſegnete doch die Liebe den geheimen, den ſeligen 
Bund und nur die harte Hand der Menſchen, ihr 
kaltes, ſo gern ein Glück, für das ſelbſt ſie keinen 
Sinn haben, das ſelbſt ſie herabziehen aus ſeiner 
Höhe zum Gemeinen — zerſtorendes Herz, führte 
die Verkettungen herbey, die das Daſeyn eines 
Engels trübten, verkürzten; die über mein Le⸗ 
ben einen Flor warfen, den Jahre und mannigfache 


88 
Veränderungen kaum hinreichten ihm wieder zu ent: 
ziehen. . 

Mehr mit der ſchüchternen Verſchämtheit einer 
jungen Frau, als mit dem zürnenden Blick der bes 
leidigten Unſchuld, entwindet Marie ſich endlich 
meinen ſie noch immer umfaſſenden Armen. Sie 
vermochte ja den Liebling, dem ihr ganzes liebendes 
Herz, ihr Alles ſie weihte, auch nicht nur eine Se⸗ 
eunde zu zürnen; fie hatte ſich ja als mein ſchon im- 
mer betrachtet, ſie war ja meines, ihres Herzens 
gewiß! — 

Spät erſt trenne ich mich von ihr, und nun 
erſt, da im einſamen Zimmer ich allein den Bes 
trachtungen meines Glückes mich überlaſſe, hebt leiſe 
und ſtrafend in der Bruſt eine Stimme ſich empor. 
Es waren die erſten Anklänge eines Schmerzes, den 
ich noch nie gekannt, denn nie hatte ich ja noch ei⸗ 
nen ernſten Vorwurf des Gewiſſens zu tragen. Aber 
konnte dieſe Reue Beſtand haben? Noch braunten 
ja auf meinen Lippen ihre Küſſe, noch tönten ja in 
mein Ohr die Schmeichelworte ihres Mundes — 
noch fühlte ich ja den Druck ihrer lieben Hand, die 
fle beym Abſchied mir reichte — Ich hätte nicht 
Menſch ſeyn müſſen, nicht lieben, wie ich liebte, 
wenp etwas anderes, als Glück, als Freude, als 
die ſeligſten Träume, Platz in meiner Seele gehabt 
hätte. 

Verdammt mich nicht, ihr, denen der Schöpfer 
glelleicht ein kälteres Blut, vielleicht mehr überlegen⸗ 


69 
den Verſtand, und weniger Empfindung gab; die 
ihr vielleicht nie kanntet, was Liebe iſt, denen Ber: 
hältniſſe, Schickſal, vielleicht nie ein glühend lie— 
bend Herz entgegenführte, in den Jahren des er— 
wachenden Gefühles — uyd auch fie richt, die dem 
Liebling ihres Lebens, dem, deſſen Erſcheinen in ihre 
Kindestrage den Morgen eines neuen Daſeyns her— 
aufführte, ſich hingab mit zärtlicher Innigkeit; die 
ihm Alles opferte, weil ſie Alles ja von ihm er— 
wartete, weil ohne ihn ihr keine Welt mehr war; 
die nur leben in ihrer Liebe konnte, wie eine Blu— 
me nur blüht im Hauch der wärmeren Lüfte, und 
welkt und vergeht, wenn der Sturm des Winters ſie 
triffe. — 

Nicht ohne Beklemmung mache ich mich wenig 
Tage nachher wieder nach Waldheim auf. Schon 
von fern erblicke ich Mariens flatterndes, mir zu— 
winkendes Tuch, und ſanft und liebevoll wie ein En⸗ 
gel, mit der reinſten Zärtlichkeit, empfängt ſie mich. 
Weggewiſcht war in dieſem Augenblick auch die klein— 
ſte Spur von Beſorgniß, und fröhlich wie ein Gott, 
nur der ſüßen Gegenwart lebend, ſchwand jedes an⸗ 
dere Bild aus meiner Bruſt. Und, was hatte ich 
denn auch zu fürchten? Das Geſchrey, die Mißbilli⸗ 
gung ven Verwandten? Sie waren von je an mei⸗ 
nem Herzen zu fremd, als daß ihr Für oder Gegen 
mich hätte beſtimmen können. Meine bürgerlichen 
Verhältniſſe? Ich war wohlhabend genug, unab— 
hängig bey mäßigen Wünſchen von Anderen zu 


= 


79 

ſeyn, und ein Jahr bedurfte es nur, um geſetz⸗ 
lich es auch meinen Willen zu machen. Dieß ei⸗ 
ne Jahr wollte ich noch abwarten, dann ſollte 
Marie mein — mein auf ewig feyn. Ach! ich ahn⸗ 
te nicht, indem ich dem Freunde glaubte mein 
volles, überſtrömendes Herz mitzutheilen, daß ich 
ſelbſt die Wege zeigte, auf denen man mir Wunden 
ſchlug. 

Arlfort wollte in dieſer Zeit eine Reife nach..., 
dem Wohnort meines Onkels, machen, und da 
mein ganzes Vertrauen er wieder beſaß, da in ihm 
ich den wahren Freund zu beſitzen glaubte, fo hatte 
nicht allein ich Briefe an meine Verwandten ihm mit 
gegeben, ſondern den Auftrag ertheilt: leiſe meine 
Angehörigen zu erforſchen, wie meinen feſten Ent⸗ 
ſchluß, mit Marien mich zu verbinden, ſie aufnehmen 
würden — ihn gebethen, darauf ſie vorzubereiten. 
Zwar verſuchte mehrere Mahl er, dieſe Grille — wie 
er es naunte — mir auszureden, mein Wille aber 
hatte feine Einwendungen überwunden, und er vers 
ſprach meine Wünſche zu erfüllen. 

Ich muß hier bemerken, daß Marie ſowohl als 
ihre Mutter mich immer nur noch unter dem Nah— 
men Bergſtern kannten, eine Täuſchung, die um fo 
leichter mir war zu erhalten, da völlig abgeſondert 
von der Welt Beyde lebten, mein ſonſtiges Beneh— 
men ihnen aber keinen Zweifel erwecken konnte. 
Man wird fragen, warum ich dieſen — beym rech— 
ten Rahmen benannt — Betrug fortdauern ließ 


7⁴ 
gegen ein Mädchen, an der meine ganze Seele hing, 
mit der ich redlich es meinte — und ich kann nur 
erwiedern, daß anfänglich die Furcht, Marie mod: 
te ſich zurückziehen, ihr Herz ſich mir eutfremden; 
in der Folge der Gedanke, ſie angenehm zu überra— 
ſchen, der meinen Jahren, meiner Unerfahrenheit ſo 
natürlich, der gewiß ſo verzeihlich war — mich ab— 
hielt, und — daß, wenn ich bey ihr war, ich daran 
gar nicht mehr dachte; wo hätte ich auch Zeit dazu 
nehmen ſollen? — Dieß alles wußte Arlfort, und 
bald durch ihn, wie die Folge zeigen wird, mein 
Onkel. 

Mich welcher ängſtlichen Erwartung ſah ich nicht 
Arlforts Rückkehr entgegen; wie hoffend, wie freu— 
dig ging ich zu ihm, als endlich er wiederkehrte! — 
Meine Fragen beſtürmten ihn, denn — ich läugne 
nicht — es würde mein Glück um ein Großes ge: 
mehrt haben, hätte, was ich kaum erwartete, Zu— 
ſtimmung er mir gebracht. 

„Sie kennen Ihren Onkel ſowohl als Ihre Tan— 
te, ſagte er mir, „ſelbſt zu gut, als daß ich Ihnen 
Nachrichten, wie Sie fie wünſchen, bringen konn— 
te; doch laſſen Sie deßwegen den Muth nicht ſinken, 
ein Baum fällt nicht auf einen Hieb, und wahrlich 
Ihrer Verwandten Stammbaum gehört nicht zu den 
kleinen; doch überlaſſen Sie es mir, ich bin ſo glück— 
lich geweſen, die Gunſt Ihrer Familie mir zu er— 
werben. Mit der Zeit kaan man viel thun und“ — 
ſagte er lächelnd und bedeutend hinzu — „in Jahr 


72 

und Tag find Sie ja vollkommen freyer Herr Ih⸗ 
res Willens und ein Jahr vergeht bald, befonders 
wenn ſo glücklich man es verträumt, wie Sie jetzt Ihre 
Zeit. d 

Entſprach gleich dieß nicht ganz meinen Erwar⸗ 
tungen, ſo ſchlug es ſie doch auch nicht nieder, um 
ſo weniger, da meine Menſchenkunde noch zu ſchwach 
war, um die mir wohl daun und wann auffallenden, 
alle meine Schritte beobachtenden Blicke Arlforts 
richtig zu erklären. 

Ich lebte demnach ruhig um die Zukunft in mei⸗ 
ner ſchönen Gegenwart fort. Meiner Marie Bild im 
Herzen, wanden die Tage ſich mir im heiteren Gleich— 
maß, wie ein blumengeſchmückter Bach durch la— 
chende Ebenen hin und meinem Sinne war die Sor— 
ge fern. 

Da erhalte ich plötzlich einen Brief von Hauſe, 
worin mein Onkel mir ſchreibt, wie ein entfernter 
Verwandter im e ſchen ohne Kinder geſtorben, 
dadurch der nicht unbedeutende Nachlaß au uns fiele, 
dieß aber nothwendig mache, daß einer der Erben nach 
dem Wohnort des Abgeſchiedenen reiſe, und wie 
hierzu ich mich wohl entſchließen würde, da ihm Al⸗ 
ter, Schwäche und Verhältniſſe dieß nicht erlaub⸗ 
ten, mir aber, der ja immer Luſt bezeigt hätte, 
fremde Gegenden, beſonders den Süden Deutſch— 
lands zu ſehen, dieſe :welegenheit doppelt angenehm 
ſeyn dürfte, indem zugleich ich mit einem weſentli— 
chen, mir und der Familie erzeigten Dienſt, meine 


AR 
Wünſche befriedigen könnte, und wie ich mich ein— 
richten ſolle, in wenig Wochen abzugehen. Ein Blitz 
aus heiterer Höhe vermag den einſamen Wanderer 
nicht ſo aufzuſchrecken, als mich dieſer Brief. War 
gleich mein heißer Wunſch es früher geweſen zu rei⸗ 
ſen, ſo war jetzt doch, gerade jetzt, jeder Gedanke 
daran entſchwunden. Eine noch fo kurze Trennung 
von Marien machte mich ſchaudern, und zum erſten 

Nahl trat die Ahnung, ich könnte ſie verlieren, vor 
meine Seele. 

Mit trüber Beſorgniß teile ich Arlfort die 
empfangene Nachricht mit, indem ich zugleich mei⸗ 
nen Vorſatz äußere, wo möglich den Auftrag abzu— 
lehnen. 5 

„Sie würden ſehr Unrecht daran thun,“ erwie⸗ 
dert er mir, „um eine kurze Trennung von der Ger 
liebten zu vermeiden, den Ihrigen dieſen kleinen, ſs 
höchſt gerechten Wunſch zu verſagen, und — welche 
Nachgiebigkeit für Ihren Plan können Sie mit Necht 
erwarten, wenn Sie zuerſt das Beyſpiel einer Un- 
dienſtfertigkeit geben, die Ihnen ja doch ſo viel Auf— 
opferung nicht koſten kann, da ein ſolches Ges 
ſchäft bey emſiger Betreibung in kurzem ſich been: 
den läßt.“ — 

Ich fing an nachzudenken und er fuhr fort: 
„Ich will von dem Vergnügen, von dem Nutzen 
ſelbſt nicht ſprechen, die eine Reiſe einem jungen 
Mann jederzeit gewährt, ich will Sie bloß aufmerk⸗ 
ſam machen, daß doch wohl billig es iſt, indem den 

Untech. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. D 


74 
Lieblingsplan, den lange gehegten, ihres Onkels 
Sie zerſtören, Sie doch ſein und ſeiner Tochter Beſtes 
berückſichtigen, wenn auch das Eigene Sie nicht beob— 
achten wollen, und daß die Familie, die Alternſtelle 
bey Ihnen vertrat, gerechten Anſpruch auf dieſen 
Dienft mindeſtens hat.“ 

Vermochte dieſen Gründen ich etwas entgegen 
zu ſetzen? Mit ſchmerzlicher Vorahnung im Herzen, 
antwortete ich meinem Onkel: ich wäre bereit, 
wenn es durchaus ſeyn müßte, nach *** zu rei⸗ 
ſen, aber nur in der Hoffnung, daß wenige Mo⸗ 
nathe hinreichen würden, dort Alles zu beſorgen. 
So wie ich dieſen Brief obgeſendet, ritt ich ſogleich 
nach Waldheim, das Bevorſtehende Marien zu ver⸗ 
künden. Ä - 

Wir hatten ſaſt nie zuſammen über unfere ges 
genſeiten bürgerlichen Verhältniſſe geſprochen; Feis 
nes hatte von dem Anderen bisher einen Aufſchluß 
verlangt über Dinge, die außer dem Kreiſe unſerer 
Herzen lagen, und Marie horchte daher hoch auf, 
als heut ich anfing unſerm Geſpräch dieſe Wendung 
zu geben. Als ich bemerkte, wie unerwartet einge⸗ 
tretene Verhältniſſe mich leicht zwingen dürften, auf 
kurze Zeit eine Reiſe nach ““ zu machen, überzog 
eine plötzliche Bläſſe das ſchöne Geſicht. Sie ſchlug den 
ſonſt fo hellen, freundlichen Blick zu Boden und müh— 
te ſich vergebens die hervorquellenden Thränen zu⸗ 
ruck zu drängen. Ich ſchloß fie an meine Bruſt und 
unter tauſend Schmeichelworten und. Küſſen ſuchte 


75 

seinen Troſt ich ihr einzuſprechen, der ſelbſt zu ſehr 
mie nur fehlte. Da ſchlang fie ihre Arme um mei: 
nen Hals und mit dem ganzen Zagen, dem verſchäm— 

ten Errösthen, der Liebe, der Furcht, des Schmer— 
zes und der Hoffnung, geſtanden mir ihre bebenden 
Lippen, wie ſie Mutter ſich fühle. 

Soll ich ſagen, welches Gefühl dieß in dieſem 
Augenblick bey mir erregte? Ich hatte es geahnt, 
gehofft, gewünſcht ſelbſt und doch, gefürchtet. — 
Alles dieß beſtürmte jetzt auf einmahl meine Bruſt, 
in der Freude und Schmerz ſich tief und wun⸗ 
derbar verſchlangen, ich fühlte mich glückliche, 
ſehr glücklich und doch auch wieder traurig bewegt 
in Einer Minute, und indem ein Vorgefühl der hei— 
ligſten Freuden des Lebens mir ward, ſchien eine 

trübe, drohende Geſtalt im fernen Hintergrund der 
Zukunft aufzugehen, deren Nahen mir Entſetzen 
brachte, fo wie wenn über eine heitere, blumenvolle 
Flur am dämmernden Horizont ein ſchweres, blitze⸗ 

ſchwangeres Wetter aufzuſteigen droht. 

Doch ſammelte ich mich bald. Ich fühlte, was 

ich zu thun hatte, und ich durfte ja hierin auch nur 
der Stimme meines Herzens folgen. Erneuerte Ver— 
ſicherungen meiner Liebe, meiner Treue Marien zu 
machen, hatte ich nicht nöthig; ſie kannte mich, und 
wahre, reine Liebe erlaubt ſich keinen Zweifel in die 
Geſinnungen des Lieblings. Vor den Augen der Welt 
aber herzuſtellen, was ſo gern ſte beſchmitzt, ſo viel 
ts jetzt noch in meinen Kräften ſtand, war meine 
D 2 


776 
Pflicht, und mein feſter Wille ließ mich nicht ſäumen. 

n.der Hand meines Mädchens trat ich vor ihre 
Mutter hin und bath um ihren Segen, bath, noch 
in dieſen Tagen, . müßte, fie ganz mir 
zu geben. i 

Hier hätte ich ſollen die⸗ Decke der Täuſchung 

ſinken laſſen, die Mutter und Tochter noch über 
meinen wahren Nahmen und Stand umhüllte — 
ſchon hatte ich das Wort auf der Zunge — ein Dä— 
mon, mein böſes Geſchick hielt mich zurück und der 
unſelige Entſchluß meiner Eitelkeit, erſt am Altare 
der Geliebten dieſe, wie ich mir einbildete, überra— 
ſchende Freude zu machen, e das Wort von 

reinen Lippen weg. 

Nan richte nicht zu ſtreng über dieſe jetzt wirk— 
lich lächerliche Eitelkeit eines jungen Mannes auf 
ſeine Geburt. Damahls war ſie es weniger, denn 

e Verhältniſſe jener Zeit waren andere, als die 
e jener Wahn allgemeiner, als, Dank ſey 
dafür der Vernunft, jetzt, wenigſtens in manchen 
Ländern, und noch mehr wird man mich entſchuldi— 
gen, wenn man bedenkt, daß in und aus einer Tas 
milie ich entſproß, die es ſich angelegen ſeyn ließ, 
früh ſie mir einzuprägen. 

Ihren Segen, ihre Einwilligung gab Mariens 
Mutter uns freudig und gern; die Erlaubniß zu un: 
ſerer ſo ſchnellen Verbindung ſchlug ſie aber be— 
ſtimmt ab. Vergebens bath ich, vergebens beſchwor 
ich fie, vergebens geſtand ich ihr ſogar Mariens 


77 
ſichere Erwartung. — Sie zog vor, ihre Tochter 
dem Tadel der Welt auszuſetzen, als ohne Bewil— 
ligung meiner Familie ſie mir zu geben. Ich ſtell⸗ 
te ihr vor, daß keine Altern ich mehr hätte, daß— 
wenig Monathe mich ſelbſtſtändig machten, daß ich— 
reich genug wäre, um keinen zu brauchen; ſie blieb 
unerſchütterlich. Alles, was ich erhalten konnte, 
war, daß nach Umlauf der Zeit, die mich dem. 
direrten Einfluß meiner Angehörigen noch unterwarf, 
ſie mir kein Hinderniß mehr entgegenſetzen wolle, 
und ich mußte, indem ich mich gezwungen ſah, 
die Feſtigkeit ihrer Grundſätze zu bewundern, in 
mein Loos mich ergeben, froh nur, daß in der 
Folge fie wenigſtens nicht fo ſtreng mehr feyn, 
daß ich Marien ferner ſehen, und an ſie ſchreiben 
durfte. 

Wenige Tage nach dieſer Unterredung, die ich 
Unſeliger in meiner Argwohnloſigkeit mit allen Hoffe 
nungen und Vorſätzen Arlforten mitgetheilt hatte, 
erhielt ich abermahls Briefe von meinem Onkel und 
einigen anderen Gliedern meiner Familie, die in 
einem höͤchſt verbindlichen Ton mir alle die größte 
Eile anempfahlen und zugleich mit allem Erforder— 
lichen mich ausrüſteten. Ich fing alſo, treu dem ge- 
gebenen Wort, an, mich fertig zu machen und bei 
ſtimmte den Morgen meiner Abreiſe. Den Tag vor- 
her brachte ich noch in Waldheim zu und ſpät erſt, 
von den Thränen, den Wünſchen der Geliebten be= 
gleitet, verließ ich fie. Ach! ich dachte nicht, als 


Y 


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78 ) 

ihren umſchlingenden Armen ich mich entwand, daß“ 
dieß der letzte glückliche Tag war, den an ihrer 
Seite ich verlebte, daß unſer Wiederſehen nur 
Schmerz, nur Verzweiflung in meine Bruſt wer— 
zen würde. 

Ich reiſete allein, nur von einem neuangenom⸗ 
menen Bedienten, den Arlfort mir zugewieſen, bes 
gleitet ab, da mein bisheriger bey Bergſtern zu- 
rückblieb, den Krankheit mit zu reiſen verhinderte. 
War gleich die Trennung von Marien mir ſehr ſchwer, 
durchzog gleich manches Mahl eine ſorgen de Beklom— 
menheit, wie ein Schatten, mein Inneres, ſo ver— 
fehlte doch die Abwechſelung der Umgebung, die 
reiche herrliche Natur, die im vollen Schmucke ei⸗ 
nes geſegneten Herbſtes, an meinen Blicken vor— 
überzog, nicht meine Gedanken zu zerſtreuen, eine 
fröhlich heitere Stimmung mir zu geben. Wo wäre 
auch das noch in jugendlicher Bruſt ſchlagende Herz, 
das dem Frohſinn ſich nicht erſchlöſſe, wenn die 
wahrhaft ſchönen romantiſchen Gegenden des ſüd— 
lichen Theiles unferes Vaterlandes ihm ſich zum ers 
ſten Mahl zeigen und — worüber hätte ich auch Ur⸗ 
ſache gehabt, anhaltendem Teübſinn Raum zu ge⸗ 
ben? Ich entfernte mich zwar von der Geliebten, 
aber in wenig Monathen, in Wochen vielleicht ſah 
ich ſie ja wieder, dann wurde ſie mein, mein auf 
immer und im vollen Roſenglanz der Hoffnung brei⸗ 
tete ſich die Zukunft vor mir aus. Nichts konnte 
mich auf den ernſten Gedanken bringen, daß dieß 


5 79 
ſich wohl ändern könne; es hing ja nur von mie 
daun ab, meine Wünſche zu verwirklichen, und nicht 
vermochte die Netze ich zu ahnen, in die mit unbe⸗ 
fangenem Sinn ich ſelber ging. 

Gleich nach meiner Ankunft in ... gab ich 
meine Empfehlungsbriefe ab, und fing an mit allem 
Eifer das übernommene Geſchäft zu betreiben. War 
ich mit der fröhlichen Ausſicht angekommen, bald und 
ſchnell alles zu beendigen, fo zeigten nach wenig Tas. 
gen Aufenthalt ſich mir doch eine ſolche Menge vor- 
geblicher Hinderniſſe, daß ich nicht umhin konnte 
mir zu geſtehen, wie in Betreff der mir gedachten 
Zeit ich mich gewaltig verrechnet hatte. Was that— 
ich nicht, den langſamen, ſchleppenden Gang der 
Verhandlungen zu beſchleunigen, die immer von 
neuem, wenn ich endlich dem Ziele mich zu nähern 
glaubte, ſich mir eatgegenthürmenden Hinderniſſe 
zu beſeitigen — umſonſt! es reihte Tag an Tag ſich, 
Woche an Woche, es entſchwanden Monden, und ich 
ſtand faſt noch auf dem erſten Punet. Man denke 
weine Lage, meine kochende, an Verzweiflung grän- 
zende Ungeduld. — Mariens liebevolle Briefe 
waren in dieſer Periode der Thau, der meine Seele 
erquickte, ihr zu ſchreiben, die einzige Freude, die 
ich hatte. Am Tage trieb ich mich von einem Sad: 
walter zum andern umher, mit Worten, Verſpre⸗ 
chungen, Geſchenken, ſie zu beflügeln, des Abends ſaß 
ich einſam in meinem Gemach, oft bis ſpät in die 
Nacht, an Marien zu ſchreiben, oder ihre Briefe, 


80 

die Züge ihrer geliebten Hand zum tauſendſten Mahl 
zu lejen, mich hinzuträumen zu ihr, mir zurück zur 
zaubern in die dürre Wirklichkeit, die ſeligen, ent⸗ 
flohenen Stunden meiner Liebe, meines Glücks „ mir 
eine goldene Zukunft zu bauen. Entſchwunden war 
der Eindruck, den die ſchönen Umgebungen von .. 
die großen, herrlichen Ufer des Rheins auf mich ge: 
macht hatten; ich ſah fie nicht mehr, ich dachte nur 
fie — und fort! fort! tönte unaufhörlich eine Stim⸗ 
me in mir. — 

Plötzlich bleiben Mariens Briefe aus — ich war 
beynahe drey Monathe ſchon in * ** — es ver⸗ 
gehen mehrere Poſttage und keiner bringt mir 
Nachricht. Ich ſchreibe Brief über Brief und erhal⸗ 
te dennoch keine Antwort, und verwickelter, lang⸗ 
weiliger, als je, geht der Gang meiner Geſchäfte. 
Wen je ſein Geſchick in ähnliche Lagen führte auf 
eine ähnliche Tortur ſpannte, der wird mit mir em: 
pfinden, was ich empfand. Welche Gedanken durch— 
kreutzen nicht meine Seele! Mit welchen Erwar— 
tungen ſah ich nicht, hoffe ich nicht immer der An⸗ 
kunft einer neuen Poſt entgegen, welches war mein 
Schmerz, wenn Franz — fo hieß mein Bedienter 
— mit leeren Händen zu mir eintrat! — Sie hat 
dich vergeſſen, ſie liebt dich nicht mehr, rief es in 
meinem Innern. Nein! Nein! das kann ſie nicht, 
dann wäre das Leben eine Lüge — Sie iſt krank — 
todt! Ja! fie iſt todt, nur das Grab kann fie 
nir entreißen! und zur fürchterlichen Gewißheit wird 


* 


gt 
mir der entſetzliche Gedanke. Ich kenne mich nicht. 
mehr vor Schmerz; zu ihrem Grabe, zu dem hei— 
ligen Grabe meiner Liebe will ich hin, und jede an⸗ 
dere Rückſicht ſchwindet. Mag erben, wer Luft hat, 
was kümmert's mich! Sie iſt todt und ich — ich 
brauche ja dann auch nichts mehr. Fort! fort! rufe 
ich und ſtürze in meines Bedienten Zimmer, ihn nach 
Pferden zu ſchicken. Bey meinem Eintritt fährt der 
Burſche erſchrocken zuſammen und will einen Brief, 
den er eben hält, meinen Blicken verſtecken. Dieß 
fällt mir ſonderbar auf, und indem mit einer Hand 
ich ihn zur Thür dränge, und die höchſte Eile anem- 
pfehle, nehme ich mit der andern, ohne eine feſte 
Idee dabey gerade zu haben, ihm den Brief weg. 
Mächte des Himmels! die Aufſchrift zeigt mir Ma: 
riens Hand. Verräther! rufe ich und ſchleudre den 
Zitternden in die Ecke, wo kömmt dieſer Brief her? 
Da fällt der Unglückliche mir zu Füßen und be⸗ 
kennt, wie von Arlfort er gedungen ſey, Mariens 
Briefe zu unterſchlagen, ſo wie die meinigen, und 
ihm ſie zu ſenden. Wenn der Hölle grauſendee 
Schlund ſich plötzlich vor des harmloſen Pilgers Ti: 
ßeu öffnete, wenn alle Schrecken vereint auf ihn 
einſtürmten, ſo würde er nur ein Bild meines Ent— 
ſetzens haben. Das war es alſo — darum war ich 
ohne Nachrichten — darum hatte man mich hierher 
geſchickt, in ein Gewirr von Händeln mich zu ſtür— 
zen, um dich, Geliebte, mir zu rauben, unſere 
Herzen fo giftig, fo hämiſch zu trennen. O! jest 


* 
v 


82 

ſehe ich alles klar durch, den ganzen Plan, und ich 
glaube, ein Teufel kann die Gefühle der Rache, der 
Wuth nicht hegen, die meine Bruſt durchzucken. 
Pferde! rufe ich dem noch immer auf den Knien 
liegenden und Vergebung bittenden zu, ſchaff' Pfer— 
de, oder ich morde dich! und ſo ſtoß ich ihn zur 
Thür. 

Während er fort eilt, reiße ich den Brief auf, 
es ſind nur wenige, mit fliegender Hand geſchriebe— 
ne Zeilen: „Du haſt mich vergeſſen, Eduard!“ — 
klagte ſie — „verſtoßen — du haſt deiner Marie 
in die Hand der harten Menſchen geben können, 
und mein Herz iſt gebrochen. Wie konnteſt du das? 
Ich hatte dich ſo lieb! Ach! wenn die Geliebte 
dir nichts mehr war, fo hätte die Mutter deines 
Kindes — — doch ich ſchweige — Lebe wohl! Du 
haſt mich getäuſcht — ich bin fürchterlich erwacht — 
doch — möge es dir gut gehen, ich kann, ich will 
bethen für dich, denn mein Herz liebt dich ja doch 
noch!“ 

Leſer! haſt du einen Begriff von meinem 
Schmerz? von meiner an Wahnſinn gränzenden 
Verzweiflung? Möge eine gute Gottheit dich dafür 
behüten. — 

Nach einer halben Stunde ſaß ich im Wagen. 
Ich verſchwende Geld, Verſprechungen, Drohun— 
gen, die Poſtillone zu beflügeln, und nach zwey 
durchjagten Tagen und Nächten halte ich, bey Ein— 
tritt der dritten, vor Mariens Hauſe. Ich ſpringe 


85 
ab, ich ſtürze ins Haus — es iſt leer — Marie! 
ruf' ich, Marie! und nur der Wiederhall tönt mir 
entgegen. Wie ein Raſender rüttte ich an der ver— 
ſchloſſenen Stubenthür, ſie ſpringt auf und ein altes 
Weib taumelt ſchlaftrunken mir mit Licht entgegen. 
Wo iſt meine Marie, ruf' ich nochmahls und packe 
das Weib am Arm, daß ſie entſetzt und kreiſchend 
zurückſpringt, denn mein Benehmen, mein blaſſes 
Geſicht, meine rollenden Augen laſſen ſie einen 
Wahnſinnigen vermuther.„ Das weiß ich nicht, ſtam⸗ 
melt fie zitternd endlich auf meine wiederhohlten 
Fragen, „ſeit drey Wochen iſt die Frau Hofgärtne— 
rinn mit ihrer Tochter fortgereiſet und hat mir das 
Haus in Obhut gegeben.“ 

„Wo iſt ſie hin, welche Straße haben ſie ge— 
nommen?“ 

Ich weiß es nicht,“ entgegnete die Alte; „ganz 
gegen Abend kam ein Herr mit einem Wagen, und 
da fuhren ſie weit weg, weit, weit, ſagte Mamſell 
Mariechen, die ſehr weinte.“ 

„Und wer war der Herr, wie ſah er aus?“ 

„Ich kenne ihn nicht, doch war er jung und vor: 
nehm, wie Sie, aber etwas größer.“ | 

„Hatte er nicht große Augen und blondes Haar, 
frage ich abermahls.“ 

„Das weiß ich nicht, gnädiger Herr,“ erwiedert 
die bebende Alte, die in meiner Wuth bey dem Ge— 
danken an Arlfort ich wieder gepackt hatte; „es ging 
alles ſo ſchnell.“ 


96 . 

„Ja, ſo ſah er aus, ſpricht neben mir die Toch— 
ter des Weibes, die ungeſehen ins Zimmer getreten 
war; „auch hatte er einen blauen Rock an, fo wie 
Sie und auf dem einen Finger einen großen, ſchö— 
nen Ring.” 

Er war es, es war Arlfort der Verräther, dem 
ich zutrauenvoll mein offenes Freundesherz gab, und 
der nichtswürdig, heimlich den Dolch in meine Bruſt 
bohrte. Jetzt fühlte ich erſt, wie elend ich war. Bis— 
her hatte doch noch Ein Hoffnungsſchimmer mir ges 
leuchtet, nun war eine völlig troſtloſe Nacht. Ich 
zog Mariens Brief hervor, er war ohne Datum 
und ohne Ortbeſtimmung. Wo ſollte ich ſie finden, 
ſie die Arme, die Unglückliche! in des Buben Hän⸗ 
den. — Ja, ich geſtehe, daß in dieſem Augenblick 
das Gefühl für Rache die Schmerzen meiner Liebe 
überwog, und willig hätte ich mein ganzes Daſeyn 
hingeworfen, auf ewig entſagt, Marien wieder zu 
ſehen, hätte nur Eine, nur Eine Minute meines 
Feindes Leben in meiner Gewalt geſtanden. 

Endlich verlange ich, daß man mir Mariens 
Zimmer aufſchließt. Das Mädchen nimmt das Licht 
und führt mich hin. Kaum vermag ich noch mich 
auf den Füßen zu erhalten, als ich eintrete. Hier ſah' 
ich ſie zum letzten Mahl — hier ſaß ich ſo oft mit 
ihr Hand in Hand, hier war ich fo glücklich gewe- 
fen, hier hatte fo oft ihre liebe, geliebte Stimme 
mir getönt; hier hatten ſo oft wir uns ewige Liebe 
und Treue geſchworen und nun — — — Ich winke 


85 
dem Mädchen zu gehen, und mit heißen Thränen 
warf ich vor dem Stuhl mich nieder, auf dem am 
Fenſter ſie gewohnlich ſaß; ich umfaßte ihn, als 
wenn ich die Geliebte umfaßt hielt, und es war, als 
wenn meinem Herzen leichter würde, indem ſo dem 
Lebloſen ich meinen Schmerz und meine Liebe be— 
zeigte. Da ſeh ich endlich auf und erblicke in einem 
Winkel des Zimmers ein kleines ſeidenes Tuch, das 
Marie oft zu kragen pflegte. Mit Begierden nahm 
ich es auf, drück' es an mich, bedecke es mit Küſſen 
und — Leſer, lächle nicht — ein Strahl von Freude 
blitzte durch meine zerriſſene Bruſt, denn ich glaubte 
Thränenſpuren darauf zu entdecken; es waren wohl 
nur meine eigenen geweſen, aber ich glaubte es 
und ein Tropfen Troſt rann in meinen Schmerz, 
denn ſie hatte je geweint um mich, fie liebte mich 
ja wohl noch. 

Gegen RE warf ich 1 wieder in den 
Wagen und befahl nach“ ““ zu fahren. Von Berg⸗ 
ſtern, den ich feſt vertraute, glaubte ich vielleicht 
einige Nachricht zu erhalten. Mit welch andern Ge— 
fühlen, als vor ungefähr fünf Monathen, zog ich 
jetzt dieſe Straße. Damahls ſo reich an Glück und 
Hoffnungen, und nun ſo arm! — 

Meinen Geiſt glaubte Bergſtern zu ſehen, als 
ich ins Zimmer trat, ſo waren meine Züge entſtellt. 
Er wußte von all dem nichts, was vorgegangen; 
man hatte abſichtlich es ihm zu verheimlichen ge⸗ 
ſucht, da man ſeine Liebe, ſeine Anhänglichkeit für 


85 


mich kannte. Zwar hatte mein Onkek, der einige 
Tage in *** geweſen war, iha ſcharf befragt über 
mein zeitheriges Thun und Leben, ſich aber weiter 
nichts merken laſſen, und war kurz darauf mit Arl⸗ 
fort nach Haufe, wie es hieß, gereift. In wenig 
Worten machte ich den alten, ehrlichen Mann mit 
allem bekannt, und theilte ihm zualeich meinen Ent- 
ſchluß mit. Marien aufzuſuchen, und müßte ich mein 
ganzes Leben auf den Heerwegen zubringen. Er 
ſah wohl, daß es vergebens ſeyn würde, mich abzu— 
halten, und empfahl mir nur Vorſicht und Mäßi⸗ 
gung. Es war mir nicht ſchwer, in “**, wo ich 
und meine Familie, fo wie unſere Umſtände, bekannt 
waren, ſchnell eine ziemlich bedeutende Summe mir 
zu verſchaffen, die ich hinreichend hielt, fürs erſte 
für mich ſowohl als Bergſtern, deſſen Liebe und— 
Anhänglichkeit ich nicht glaubte durch Hinweiſung 
auf eines Verwandten Güte belohnen zu dürfen, 
der ſicher nicht verfehlen würde, ihm es entgelten 
zu laſſen, daß er ſich nicht ernſtlicher meiner Reiſe 
widerſetzt hatte. 

Am folgenden Morgen ſchon ritt ich, von mei— 
nem alten Bedienten begleitet, auf deſſen Treue ich 
bauen konnte, fort, wohin? Das mußte ich dem 
Zufall, dem Glück überlaſſen. 

Mechaniſch hatte ich den Weg, ohne einen Plan 
noch gefaßt zu haben, nach Waldheim eingeſchlagen. 
Als ich von fern die Höhe erblicke, wo Marie ſonſt 
mich immer erwartete, wo ihr flatternd Tuch von 


87 
fern fie mir ſchon verkündete, gab ich wie ſonſt mei— 
nem Pferde die Spornen und flog den Hagel hinau. 
Ach! ich glaubte, ich müßte ſie da finden; jedes 
einzeln liegende Schneefleckchen glaubte ich, wär' 
ihr Tuch, jeder mir enigegenſchimmernde Birken- 
ſtamm, ihr weißes Gewand. — Und als ich nun 
oben hielt und die naſſen Augen umherwarf und 
nichts ſah — und der Wind ſo kalt und eiſig durch 
den entblatterten Wald ſtrich, wie der Schmerz 
durch meine Bruſt, da warf ich laut ſchluchzend 
mich vom Pferde auf die Erde nieder, wo all mein 
Glück und all mein Gram feinen Anfang genom— 
men hatte. 

Mit etwas mehr Ruhe und Zuſammenhang 
forſchte ich nun bey den Leuten im Dorf und in 
Mariens Hauſe nach allen Umſtänden, einiges Licht 
mir zu verſchaffen. Es war wenig, reichte aber doch 
hin, die Hoffnung in mir wieder aufleben zu laſſen. 
Mein Onkel und Arlfort waren mehrere Mahle da 
geweſen, letzterer am öfteſten. Am Tage vor ihrer 
Abreiſe hatte Marie viel geſchrieben an mich, wie 
das Mädchen im Hauſe ſagte, den Brief hatte Arl— 
fort genommen und verſprochen, ihn mir einzuhän— 
digen; ich habe ihn nie geſehen, nie ſeinen Inhalt 
erfahren. Über das Wohin? der Reiſe konnte ich 
durchaus weiter nichts erfahren, als daß ein Fuhr— 
mann aus dem nur eine Meile entlegenen Städt— 
chen ſie gefahren habe. Doch dieß war mir genug, 
mußte doch dieſer wiſſen, wohin er ſie gebracht. 


88 

Ich ritt alſo nach dem Ort, erfrage den Fuhr— 
mann glücklich, doch der iſt nicht zu Hauſe, ſondern 
auf einige Wochen nach einer entlegenen Handels- 
ſtadt gereiſ't, nach der er Fremde bringt. Sein 
Weib kann ſich erſt gar nicht darein finden, was ich 
meine, endlich entſiunt fie ſich doch, daß vor eini⸗ 
gen Wochen ihr Mann zwey Frauenzimmer und ei— 
nen Herrn nach Wr gefahren hat, und ich ſchlage 
ſogleich den Weg dahin ein. 

Mein erſtes Geſchäft iſt, alle Gaſthöfe der 
Stadt zu durchſtreifen, und ich bin endlich fo glück— 
lich, den zu finden, wo ſie abgetreten waren. Zwar 
ſtehen ihre Nahmen nicht im Fremdenbuch, aber des 
Wirths Beſchreibung paßt doch ganz e auch 
war es ein Fuhrmann aus jenem Ort, der ſie ge⸗ 
bracht hatte. Ich laſſe mir das Zimmer geben, wo 
die ſchöne junge Frau, wie der Wirth ſich aus— 
drückte, die ſo viel geweint hat, wohnte, und fange 
nun an, mit den Blicken eines Viſitators die 
Schriftzüge und Nahmen des Fremdenregiſters 
durchzuſehen, ob nichts ich zu entdecken vermag, 
denn von hier aus hatten ſie Poſt genommen, und 
von der konnte ich bey der großen Befahrenheit die: 
fer Landſtroßen keine Auskunft erhalten. Endlich 
finde ich einen Herrn Grünbach und zwey Damen, 
Harting und Fels von ** kommend und nach 
D“ im Geſſiſchen reiſend, aufgezeichnet, und bald 
erkenne ich in den ungewiſſen Zügen Arlforts Hand. 
Jetzt hatte ich Gewißheit. Mit Anſtrengung aller 


49 
Kräfte eile ich dem Ziele zu, wo das Ende meiner 
Schmerzen ich erwarte, wo Troſt und Freude ich 
zu bringen hoffe. Nach fünf Tagen bin ich in D*** 
und quartiere mich wieder in das Zimmer ein, wo 
Marie gewohnt hat. Hier geht aber auch jede Spur 
mir verloren und troſtloſer, wie am Anfang meiner 
Reiſe, ſtehe ich da. Zwar waren ſie hier geweſen, 
aber ein auswärtiges Fuhrwerk hatte am zweyten 
Tage ihres Aufenthalts die Frauenzimmer abgehohlt 
und niemand wußte, wohin. Arlfort war allein 
weiter gereiſ't, nach München, wie der Wirth mir 
ſagte. Mein erſter Gedanke war, dieſem zu folgen 
und mit dem Degen in der Fauſt Genugthuung 
und Gewißheit mir zu verſchaffen. Schon hatte ich 
am nächſten Morgen, entſchloſſen dazu, den Fuß im 
Bügel, als der Hausmädchen eines mir eine ge— 
preßte Karte bringt, die die junge Dame, nach der 
ſo emſig ich mich erkundigt, hat liegen laſſen. Be: 
gierig nehme ich fie, es war eine gewöhnliche Bis 
ſitenkarte, worauf das Wort „Homburg,“ mit Bley— 
ſtift mir unverkennbar von Mariens Hand geſchrie— 
ben war. Das Mädchen hatte des zierlichen Anſehns 
wegen ſie aufgehoben. Mir war ſie jetzt ein Stern in 
der Nacht und ich belohnte die Finderinn reich⸗ 
lich dafür. 

Nach Homburg alſo geht meine Reiſe. Ich 
frage nach zwey unter oben bemerkten Nahmen an 
gekommenen Damen — niemand kennt, erinnert 
ſich ihrer, und abermahls ſteh' ich getäuſcht in mei⸗ 


90 

ner Erwartung da. Waren ſie hierher gereiſ't? 
Konnte Marie nicht jenes Wort bedeutungslos ge— 
ſchrieben haben.? Dieſe und andere Zweifel ſtiegen 
jetzt in mir auf und werden, da all mein Forſchen 
umſoönſt iſt, beynah' zur Gewißheit. Nach Müns 
chen, ruf' ich aus, nach München muß ich, da oder 
nirgends kann ich es nur erfahren, und ich ſchicke 
meinen Bedienten, mir ſogleich Poſtpferde zu be⸗ 
ſtellen, da die meinigen völlig erſchöpft, keinen ſol 
chen Weg mehr zu machen im Stande ſind. Wäh— 
rend im Zimmer auf und abgehend ich meiner Phan 
taſie das traurige Vergnügen mache, die Ausſicht 
der Rache, die an Arlfort ich zu nehmen denke, mir 
auszumahlen, ſtürzt haſtig mein Johann bey mir 
ein, mir zu ſagen: fo eben habe er Mariens Mut- 
ter geſehen, die ſehr ſchnell an ihm vorüber zum 
Thor hinaus gefahren wäre. Dieß hören und mich 
mit neu auflebenden Hoffnungen auf's Pferd ſchwin— 
gen, war Eins. Jeder mir Begegnende wird ge— 
fragt und raſtlos verfolge ich die Spur, bis gegen 
Abend in ein Dorf ich gelange, wo ich — man 
denke ſich meine Freude — endlich höre: Die Ge: 
ſuchten find ſeit einigen Wochen hier. Ich laſſe mir 
das Haus bezeichnen, ich ſtürze hin und Mariens 
Mutter tritt mir entgegen. „Wo iſt ſie! wo iſt Ma⸗ 
rie!' rufe ich athemlos und dränge die Mutter zur 
Thür. „Herr von erwiedert mir dieſe, „Sie. 
wagen es noch, hier zu erſcheinen? War es Ihnen 
nicht genug, den Frieden guter Menſchen zu unter⸗ 


91 
graben, wollen Sie auch noch am gelungenen Werk 
ſich höhnend erfreuen?“ — Dieſe Worte, dieſer 
entſetzliche Vorwurf betäuben mich, ich ſtehe ſprach⸗ 
los, jeder Bewegung beraubt da, wie einer, dem 
plötzlich ein ungeheurer Schrecken alle Glieder lähmt. 
„Gehen Sie,“ fährt ſie fort, „gehen Sie; Sie ſind 
uns verächtlich geworden;“ und fo will fie ſich ent⸗ 
fernen. „Mutter!“ ruf ich, „Mutter! um Gottes 
willen, hören Sie mich, Sie umſtrickt eine ſchänd— 
liche Vosheit.“ 5 

„Nein,“ entgegnet fir kalt, „nur die Wahrheit 
ward uns, und aus Ihren eigenen Briefen ſehen wir 
Ihr boſes Herz.“ 5 

Jetzt fing mir aa ein Licht aufzugehen. — 

Ich verlange mit Beſtimmtheit Briefe zu fer 
hen, die ich geſchrieben haben ſoll und die dieß von 
mir bezeugen, und ſie entſchließt ſich endlich die 
Documente meiner Schande, wie fie glaubt, mie 
vorzulegen. 3 N 

Tod und Hölle! es war meine Hand, fo fäu: 
ſchend, ſo treffend nachgemacht, daß ich ſelbſt einen 
Augenblick verſteint davor ſtehe. 

Schon glaubt man mich überwieſen zu haben, 
mein Erſtarren gilt als Bekenntniß, als ich endlich 
Beſinnung, Leben wieder erhalte, und mit der ſie⸗ 
genden Kraft der Unſchuld anfauge, mich zu ver⸗ 
theidigen. Es drängt ſich Frage an Frage, Antwort 
an Antwort, und eh' eine Stunde vergeht, ſtehe ich 
gerechtfertigt, ſo weit ich es vermochte, vor Mariens 


92 
Mutter und ſehe über alles Vorgegangene mich im 
Klaren, und mein Schmerz, meine Wuth erſteigen 
auf's neue ihren höchſten Gipfel. Wenig Tage nach 
meiner Abreiſe von *** war Arlfort nach Wald> 
heim gekommen und hatte unter einem ſcheinbaren 
Vorwand ſich Eintritt verſchafft. Sein zuvorkom— 
mend einſchmeichelndes Weſen hatte ihm bald das Zu— 
trauen der Mutter erworben, und mit anſcheinen— 
der gänzlicher Unwiſſenheit aller ihrer Verhältniſſe 
hatte nach wenigen wiederhohlten Beſuchen von 
ihrer erfahren, daß der Tochter Bekümmerniß von der 
kürzlich erfolgten Abreiſe ihres verſprochenen Ge— 
liebten herrühre, daß dieſer Bergſtern hieße, eines. 
Kaufmanns Sohn ſey, ſtudiere u. ſ. w. Jetzt hatte 
er fie auf dem bezweckten Punct. Seine ernſte Ver⸗ 
ſicherung, daß in ** kein junger Mann dieſes 
Nahmens ſey, wurde zwar anfänglich nicht gleich 
geglaubt, doch ging das Korn des Zweifels, das er 
ausſtreute, nicht verloren. Nach wenig Tagen kömmt 
er abermahls wieder, winkt mit beſtürzter Miene 
die Mutter abſeits, und entdeckt ihr, wie ſie und 
ihr Kind ſchändlich getäuſcht und hintergangen ſind, 
wie ich nicht Bergſtern, ſondern Eduard von *** 
hieße, und wie meine äußerſt ſtolze und einflußrei- 
che Familie nimmermehr einwilligen würde in. 
eine Verbindung mit einer Bürgerlichen, ich aber 
ganz in der Macht und Gewalt der Meinigen ſtände, 
die gewiß nicht verſäumen würden, ihre Rache an. 
der zu nehmen, die einen langgehegten Plan ihnen 


93 
zu zerſtören drohe, indem, feit langer Zeit ſchon 
mit einer Verwandten verlobt, meine Einwilli— 
gung ich gegeben hätte, und er daher glaube, daß eine 
Verbindung mit ihrer Tochter nie ernſtlich mein 
Wille geweſen wäre, da, länger er mich ſchon ken— 
nend, meine Grundſätze ihm ſtets nicht die beſten 
geſchienen hätten. 

Man denke der Mutter Beſtürzung, ihren 
Schmerz; man denke ſich Mariens Lage, die im⸗ 
mer noch zweifelnd, immer noch meinem Herzen, 
meiner Liebe vertrauend, vergebens verſucht, mich 
zu vertheidigen. Noch hat fie ja meine Briefe, aus 
denen ſo unverkennbar mein Gefühl ſpricht. Aber 
bald ſollte auch dieſer letzte Troſt ihr ſchwinden. 
Sie bleiben aus, und nun erſt fühlt mit Entſetzen 
die Unglückliche, daß doch wohl ſie hintergangen, 
ſie furchtbar getäuſcht iſt. Sie ſchreibt an mich, 
und Thränen mehr als Worte mahlen mir ihren 
Gram; doch ich erhalte ihre Briefe nicht mehr. Zu 
gut waren die Maßregeln genommen, als daß ſie 
mich noch erreichen konnten. Endlich, nach Wochen 
langem Hoffen, nach mancher durchweinten Nacht, 
kömmt ein Brief von mir. Es iſt meine Hand bis 
auf die kleinſten Züge. Zitternd erbricht fie ihn, 
wirft einen flüchtigen Blick hinein, und ſinkt mit eis 
nem Schrey des höchſten Schmerzes der Mutter 
ohnmächtig in die Arme. 

Er war von Arlforts Fabrik, und man kaun 
denken, was er enthielt, 


94 

Jetzt erwacht der gekränkten, der mißhandel⸗ 
ten Liebe ganzer Stolz und zu dem entſetzlichen 
Gefühl ihrer Schmerzen geſellt ſich noch das: den 
einſt Geliebten verachten zu müſſen. Hat früher 
die Mutter nur gegen mich geſprochen, ſo iſt ſie es 
nun, die im Bewußtſeyn ihrer Würde mich verdam— 
men muß, und ihr weiches Engelherz ringt mit al: 
len Kräften, ſelbſt das Andenken des Elenden zu 
verbannen. War es möglich, ihrer fürchterlichen Lage 
noch ein Gewicht mehr zu geben? und doch ſollte 
ſie es noch empfinden. — Mein Onkel tritt, von 
Arlfort begleitet, eines Nachmittags bey ihr ein, 
und indem mit ſchonungsloſer Kälte er das unglück⸗ 
liche Mädchen betrachtet und anredet, entblödet er 
ſich nicht, gleich einer gemeinen Buhlerinn ihr Geld 
zu biethen, in fein und meinem Nahmen, daß diefe 
Gegenden auf ewig fie verlaſſe. Dieß war zu viel. 
Mit dem Aufwand der letzten Kräfte weißt, wie es 
ſich gebührt, das niedere Anerbiethen ſie ab, in ihr 
Herz aber ergoß ſich in dieſer Stunde des Todes 
Keim, um bald in einem Jenſeits den Frieden ihr 
finden zu laſſen, den der Mann ihrer Liebe auf Er— 
den brach. 

Den Vorſchlag, dieſe Gegenden zu verlaſſen, 
nimmt ſie an, und Arlfort, der ganz in ihr und ih⸗ 
rer Mutter Vertrauen ſich eingeſchlichen, erbierhet 
ſich, ſie in eine ſtille Gegend, wo Bekannte er hat, 
zu bringen, und wo ſie, entfernt von mir, ruhig zu 
‚sterben hofft. Die Anſtalten zur Reiſe ſind bald ge⸗ 


95 
kroffen, der letzte Morgen ihres Aufenthalts in 
Waldheim tagt, und Marie — ſo treu liebt ein 
weiblich Herz — kann den ſchmerzlichen Genuß ſich 
nicht verſagen, nur ein Mahl noch in dieſem Leben 
die Stelle zu beſuchen, wo ſie mich zum erſten 
Mahle ſah. Da erwacht mit erneuter Stärke mein 
Bild, das Andenken der entflohenen Stunden in 
ihrer wunden Bruſt, und vergebens ringen Abſcheu 
und Verachtung, die ſtärkere Gottheit nieder zu 
kämpfen; ſie hebt noch ein Mahl ſich ſiegend empor 
und in dieſem Moment ſchreibt ſie mir die letzten 
Zeilen, die günſtiger Zufall mir auch zuführt, die 
aus meinem unſeligen Schlummer mich erwecken. 

Dieß vernahm ich von der Mutter und bald 
darauf auch von Marien. 

Wo ſoll ich Worte nehmen, ihr Mächte des 
Himmels, mein Wiederſehen zu ſchildern! Die im 
Jugendglanze, mit blühenden Wanger ich verließ, 
deren Augen mir wie Sonnen ſtrahlten, die wankte 

jest, ein Schatten, den Tod auf dem blaſſen, ach, 
noch immer ſchönen Geſicht mir entgegen, und ihr 
Auge hatte kaum noch eine Thräne für den Wie: 
dergefundenen. — 8 
Doch ich eile über eine Periode meines Lebens 
hinweg, in der alle Gefühle des Schmerzes zu— 
gleich mein Herz beſtürmten, wo, wenn ein Augen⸗ 
blick einen Hoffnungsſchein mir ſchwach und ent- 
fernt aufgehen ließ, der nächſte grauſam ihn wie⸗ 
der tödtete, wo ein uaunterbrochener Kampf. jeder 


95 

Gedauke meiner Seele war, und die zärtlichen, 
milden Worte meiner Marie meinen Gram nur 
mehrten, denn fie zeigten mir, was ich mit jedem 
Tage zu verlieren erwarten mußte, was am näch— 
ſten ich vielleicht ſchon im Grave nur noch ſuchen 
durfte. 

Meinen Bitten, meinem Willen gemäß, hatte 
der Segen der Kirche uns verbunden, auf kurze 
Zeit nur, denn, gleich als hätte dieſer ihr gefehlt 
noch, um völlig gereinigt die Unſchuldsſeele vor den 
Thron der unendlichen Liebe zu führen, trat den 
dritten Tag darauf der ſtille Genius eines ewigen 
Friedens zu ihrem Herzen, und hauchte von den 
bleichen Lippen, deren letzter Ton mein Nahme noch 
war, das Leben hinweg, ſo ſanft und leiſe, wie im 
Abendwinde eine Frühlingsblüthe fällt. Mit ihm 
zugleich die erſten Athemzüge eines Knaben, der, 
Momente nur lebend, mit der Mutter entſchlief, 
um an ihrer treuen Bruſt ewig zu ruhen. 


6. 


Es vergingen Wochen, eh' ich im Stande war, 
mein Zimmer zu verlaſſenz Monathe, ehe Plan und 
Kraft ich zu ſammeln vermochte, wohin ich mich be— 
geben, was ich unternehmen wollte. 

Wie oft hatte ich in dieſer Zeit den Tod ange— 
fleht, mich zu befreyen, ihr mich nachzuführen, ohne 
die das Leben eine Strafe, ein endloſes Elend mir 


9 - 
ſchien. Vor meinem durch fo viele Schmerzen ge— 
beochenen Geiſte zogen in bunten grauenvollen Bil— 
dern ſchreckliche Phantome vorüber. Laut klagte 
ich mich als Mariens Mörder an, denn, hatte ich 
ſie nicht aus ihrer friedlichen Stille geriſſen? War 
mein Erſcheinen nicht der Wendepunet ihres Schick— 
ſals geweſen? Hatte meine Gluth nicht den Brand 
in die Blumenflur ihres Herzens geworfen? Hatte 
das unſelige Verſchweigen meines Nahmens, mein 
unbedachtes Vertrauen in die Redlichkeit eines Fal— 
ſchen, nicht die Kataſtrophe herbeygeführt, die fe 
verdarb? Und zu den Leiden meiner Bruſt geſell⸗— 
ten ſich die Mahnungen des Gewiſſens, die, wie die 
Geißeln der Furien, mein Inneres zerriſſen. O! es 
iſt ein entſetzlich Gefühl: alles, was manliebt, alles, 
woran das Herz ſich geſchloſſen hat mit allen Em— 
pfindungen, im Grabe zu wiſſen; ſo verlaſſen, ſo 
allein — fo gränzenlos allein zu ſtehen; aber dieſe 
Nacht des Grames iſt ein Tag gegen die Finſter⸗ 
niß, gegen die Verzweiflung, die die Seele durch— 
zuckt, wenn eine richtende Stimme unaufhörlich 
einem zuruft: „Du biſt der Verderber, du biſt der 
Mörder der Geliebten! —” 

Der ſorgſamen, liebevollen Pflege von Ma⸗ 
riens Mutter verdanke ich die Wiederkehr meiner 
Geſundheit; ihrer ſtrengen Beobachtung meiner 
Perſon, daß in den Stunden meines an Wahnſinn 
gränzenden Schmerzes ich nicht der Mörder mei⸗ 
nes eignen Ichs wurde. 

Unterh. Bibi. 3. Jahrg. 2. BV. S 


95 

So wie meine Kräfte ſich wieder einſtellten, 
fe ward das vorherrſchende Gefühl meiner Seele, 
Rache an den Störern meines Glücks zu nehmen; 
es war dieſer Gedanke ein Tropfen Troſt in mei: 
nen Gram; er erhob ſich zum Zweck meines Lebens.“ 

Am Morgen meiner Abreiſe äußerte ich ihn 
unverhohlen, gleich als ſollte, fo wie bey mir er in 
die ja aller ihrer Freuden beraubte Bruſt der Mut— 
ter Linderung träufeln, doch dieſe ſprach: „Wenn 
Sie mich, wenn Sie das Andenken meiner Toch— 
ter im Grabe ehren, die Ihnen ja im Leben doch ſo 
lieb war, ſo laſſen Sie dieſe Ideen ſchwinden, die 
nur, vermögen Abgeſchiedene das Thun und Trei⸗ 
ven der Lebenden zu ſehen, Marien auch noch jen⸗ 
ſeite Kummer erregen können. Sie ſah' es vor⸗ 
aus, daß Sie dieſen Entſchluß faſſen würden und 
ſie beſtimmte daher dieſe Zeiten —“ hier übergab. 
ſie mir ein Blatt — „die mit der ſchwindenden 
Kraft ihres Lebens fie ſchrieb, für Sie. Nehmen 
Sie, ich weiß, Mariens Gedächtniß iſt Ihnen zu 
heilig, als daß ihren letzten Wunſch, ihre letzte fle 
hende Bitte, Sie unerfüllt laſſen werden. Reiſen⸗ 
Sie mit Gott und mögen Sie nach Jahren, wenn 
einſt Sie wiederkehren, wenn einſt der Schmerz 
Ihrer Bruſt ſanfter und linder geworden iſt, auf. 
mein und meiner Marie Ecab, oder — wenn ich 
noch athme, an mein Herz, Sie ſchuldlos ſinken 
können.“ 

Ich überlief die an mich gerichteten Worte Ma⸗ 


99° 
riens, und wenn bey diefer Leſung mein Herz auf's 
neue ſich ſeinen zerreißenden Gefühlen hingab, ſo 
vermochte doch der heiße Durſt nach Vergeltung 
nicht Stand zu halten gegen die Anklänge einer 
Engelsſeele, die mit dem Troſt hinübergegangen 
war, den Frieden noch auszuſäen im letzten Lebens⸗ 
blick, der ihres Daſeyns Bedingung war. 

Ich gelobte ihrem Schatten das einzige Ge— 
fühl zu opfern, das jetzt mich bewegt hatte, und fort, 
ohne beſtimmten Plan, wohin? denn mir war es 
gleich. end überall für mich nur Ode, eilte ich in 
eine Welt, von der wenig anders als Schmerzen 
ich kannte. 

Ein ganzes Jahr beynahe brachte ich damit zu, 
Deutſchland von einem Ende zum andern zu durch— 
ziehen. Ach! wenn eine neue Gegend mich aufnahm, 
wenn am dämmernden Horizont die Thürme einer 
neuen Stadt aufſtiegen, dann wagte ich wohl zu— 
weilen zu hoffen: „Hier magſt du ja Hohl Ruhe fin: 
den: hier mag dir eine Friedensſtunde wohl wer— 
den!“ Umſonſt! Überall folgte mir das Gefühl 
meines Verluſtes, überaft ſah ich mich allein und 
auch nicht ein flüchtiges Intereſſe konnte mir die 
Schönheit der Natur oder der Kunſt abgewinnen. 

Die Verbindung mit meinen Angehörigen hatte 
ich gänzlich abgebrochen. Wie hätte ich auch die 
Züge von Händen leſen können, die mir ja alles 
nahmen: Der Gedanke an mein Vaterland, fe lieb 
und theuer ſonſt dem Herzen, erfüllte mich mit 

* E 2 


a 


Grauen und eine ſtarre Eiſeskälte hatte angefangen, 
wie mit einer Rinde mich zu umziehen, ſeit dem ich 
mich verpflichtet hatte, die Ideen einer gerechten 
Vergeltung zu unterdrücken: jo, daß das Äußere 
alles fait spurlos an mir vorüber ging, und ich 
kann wohl ſagen, daß ich die Nachricht von der 
Verbindung meiner Couſine Amalie mit Arlfort, 
die in dieſer Zeit ich empfing, und die man doch 
ſchicklicher Weiſe glaubte, mir melden zu müſſen, 
mit einer Gleichgültigkeit empfing, als ware die 
Rede von ein Paar Menſchen im Monde. Sie diente 
nur dazu, einen Schluſſel zu Aelforts ſchändlichem 
Benehmen mir zu geben, der, indem er meiner Fa- 
milie den Dienſt erzeigte, durch feine Verrätherey 
vor einer, von ihnen ſo tief verabſcheuten Mißver— 
bindung, fie zu ſichern, ſich die Hand Amaliens und 
den Einfluß ihres Vaters am ** ſchen Hofe erwer⸗ 
ben wollte; Dinge, die ihm nöthig zu ſeyn ſchie⸗ 
nen, feine durch mancherley Verſchwendungen zer⸗ 
rütteten Umſtände zu beſſern, und fi. in den Zir⸗ 
keln der großen Welt zu erhalten. 

Mein Weg brachte mich endlich nach Wien. 
Kalt und theilnahmlos, wie gewöhnlich, erneuerte 
ich auch hier meine jetzige Art zu leben, d. h. ich 
ſaß Tage lang einſam, mit nichts beſchäftigt, für 
nichts mich intereſſirend, in dumpfem Hinbrüten 
auf meinem Zimmer, oder ich trieb eben fo zweck⸗ 
als planlos in den Straßen und öffentlichen Orten 
mich unher, um — mit keinem zu ſprechen, an 


— 


101 
keinen mich zu ſchließen und jeden Abend mit dem— 
ſelben Gefühl der Leere, des Schmerzes, dem hei— 
ßen Wunſch: erwachteſt du doch nicht wieder! mich 
niederzulegen. So war ich auch eines Tages nach 
dem Prater gegangen; da aber die Menge fröhli— 
cher, lebensluſtiger Menſchen, auf die mein Blick 
hier traf, mich anfing zu beläſtigen, ſo ſuchte bald 
ich mie ein einſameres Plätzchen, wo weniger 
geſtört durch das Anſehen Glücklicher ich war. Ich 
hatte noch nicht lange auf einer Bank Platz genom— 
men, als ein junger Mann von meinen Jahren 

langſam den Weg herabkam, einige Mahl an mir 
vorüberging und dann neben mir ſich niederließ. So 
wie ich, überließ er ſich hier bald ſeinem Ideengan⸗ 
ge, und indem mit dem Stock er Figuren und Nah: 
men in den Sand ſchrieb, ſchienen wir beyde unſer 
beyderſeitiges Daſeyn zu vergeſſen. Ich hatte den Tag 
vorher in einer Sammlung italieniſcher Dichter ge— 
blättert und die Sehnſucht eines Verbannten nach 
ſeinem Vaterlande von Monti hatte mich beſonders 
angeſprochen. War ich nicht auch ein Verbannter, 
der nach feinem Voterlande, nach den Gefilden des 
Friedens ſeufzte? Meine Gedanken fallen jetzt auf 
dieß Gedicht, und mir unbewuüßt recitire ich laut den 
Schluß einer Strophe: | 


— — — Trema in petto é si confonde, 
Lalma opressa d’al piaser. — 


202 

Bey dieſen Worten ſieht mein Nachbar auf; 
es waren die Tine ſeines Heimathlaudes, die nie 
verfehlen, in der Fremde zum Herzen zu ſprechen. 

Er redet mich in ſeiner Mutterſprache an und 
ich antworte ihm. So entſpinnt ſich ein Geſpräch 
zwiſchen uns, das nach und nach mir anfängt eini⸗ 
ge Theilnahme abzugewinnen, durch die Wendung, 
die es bald nimmt. Der bittere Groll gegen die 
Menſchen, der in meiner Sruſt angefangen hat zu 
wurzeln, findet hier eine ihm verwandte Saite, 
die harmoniſch zu ihm tönt, den beißenden, verach— 
tenden Spott über das Leben und feine Verhältniſſe. 
Seit langer Zeit zum erſten Mahl fange ich an mit 
Wärme zu reden und, indem meine Anſichten mit 
Wärme aufgenommen und erwiedert werden, fängt 
nein Herz ſich an zu öffnen, und die Zeit, die ſo 
furchtbar bleyern mir bisher ſchlich, entrinnt endlich 
einmahl wieder mir ſchnell und unbewußt. 

Es hatte dieſe Unterredung mich zu wohlthätig 
angeſprochen, als daß der Wunſch in mir nicht hät— 
te entſtehen ſollen, ſie zu erneuern, und ich frage 
beym Gehen meinen Geſellſchafter nach feinen Nah— 
men, indem den meinigen ich ihm ſage, und unver: 
hohlen äußere, wie lieb mir die Fortſetzung unſerer 
Bekanntſchaft ſeyn wird. „Es iſt mir angenehm,“ er— 
wiederte er, „wenn als Menſch ich Ihr Intereſſe er— 
regt habe, denn anders dürfte ich es wohl nicht er⸗ 
werben, ich bin weder reich noch vornehm, noch ein— 


flußreich, und kann daher keinem nützen. Wollen 


109 
Sie mich aber beſuchen um mein Selbſt willen, fo 
werden Sie mir willkommen ſeyn; mein Nahme iſt 
Francesco, mein Stand ein Muſieus, der auf feine 
Kunſt die Welt durchzieht.“ 

Ich dars tte ihm für die Bewilligung meines Be— 
gehrs und nahm mir vor, ſchon am nächſten Tage ſie 
zu benutzen. 

Als ich meinem Vorſatz getreu mich in Franz 
cesco's Wohnung einfinde, höre ich eine weibliche 
Stimme, die zu einem Pianoforte in den reinſten 
Silberklängen ſingt, mir entgegenſchallen. Ich hor⸗ 
che einige Augenblicke den ſchönen, ſonoren Tönen 
zu, und als der Geſang geendet, klopfe ich an die 
Thür. Da tritt eine ſchlanke, zarte Geſtalt, das 
wahre Abbild ihres ſchönen vaterländiſchen Himmels, 
Gluth und Milde, mir entgegen und fragt nach mei— 
nem Begehren. Ich nenne dieß und meinen Nahmen, 
und das Madchen erwiedert freundlich mir: „Ach! 
mein Bruder hat mir von Ihnen erzählt; er iſt jetzt 
ausgegangen, doch wird er bald wiederkehren, wol⸗ 
len Sie ihn erwarten? Dieß thue ich, und Chia⸗ 
ra — dieß war, wie nachher ich vernahm, ihr 
Nahme — ſetzt ſich ohne ſich weiter ſonderlich um 
mich zu befümmera, wieder zum Inſtrument und 
fängt nach einigen Fragen, die ich ziemlich einſyl⸗ 
big beantworte, ihre muſikaltſche Unterhalrung wie⸗ 
der an. 

Gleichgültig gegen Alles ſeit Mariens Verluſt, 
hatte es in der Natur meiner e ge⸗ 


101 
legen, beſonders zurückhaltend gegen ihr Geſchlecht 
zu ſeyn, ja deſſen Umgang zu fliehen, gleich als 
träten, beym Erblicken eines weiblichen Weſens, die 

alten Bilder meiner Schmerzen in erneuten Farben 
vor den Sinn. Während Chiara mit Fertigkeit und 
Geſchmack präludirte, war ich in ein Fenſter getre— 

‚ten, fo daß ich ihr den Rücken zuwende, denn ich 
nochte eine Geſtalt nicht ſehen, die in Wuchs und 
Jorm meinem betrauerten Idole glich; da tönt nach 
einigen Paſſagen ihre volle, reine Stimme, wie ei⸗ 
nes Engels Ruf in der Wüſte, zu meinen Ohren, 
und ich wende mich, wahrlich unwillkuͤhrlich, mit 
dem Geſicht nach der Sängerinn hin. Ich war im⸗ 
mer leidenſchaftlicher Liebhaber der ſanfteſten aller 
Künſte geweſen, die ja zu jedem fühlenden Gemüth 
mit fo holdem Zauber ſpricht, und die jetzt zum er= 
ſten Mahl ſeit jener trüben Periode, ihren Einfluß 
auf mich zeigt. So wie die Töne ſich an einander rei⸗ 
hen, ſcheint die Rinde der Erſtarrung von meinem 
Herzen wegzuſchmelzen, und eine lange nicht mehr 
gekannte weiche Wehmuth geht in mir auf, die mich 
vergeſſen läßt, daß nicht allein ich bin. Ich fühle mein 
Auge naß werden; indem ich mich dem Zauber der 
Klänge hingebe, iſt es mir, als ſchwebe Mariens ges 
liebter Schatten meinem Geiſte vorüber, ſo mild 
und ſanft, wie in den Blüthentagen unſerer Liebe 
fie mir erſchien, und mein Herz fängt an den Ges 
danken zu faſſen: daß doch wohl fie mir nicht zür⸗ 
ne, daß, wenn durch meine Schuld ihr ſtilles Leben 


105 
vach, ich doch mit treuer Liebe an ihr hing. Ein 
Troſt, der meiner Bruſt bisher fremd war, mit deſ— 
ſem erſten Einziehen in ihr das Leben ſich mir auch 
wieder anfing zu ſchmücken. 

Chiara hatte aufgehört zu ſpielen; ich ſtand 
noch in halb vorgebogener Stellung, verloren in 
meinen Ideen, während Thränen uber meine Wan— 
gen herabrannen; da trat ſie zu mir und ſprach 
mit unendlich milder Stimme: „Sie ſind wohl un— 
glücklich?“ 

Wie aus einem Traum erwacht, ſtarrte ich ſie 
an, und meinen Lippen entfuhr unwillkührlich der 
Ausruf: „Marie!“ — Mit dem weichen Blick des 
Mitleids betrachtete mich das Mädchen eine Weile, 
dann ſagte fie: „Sie lieben ohne Hoffnung?” „Ohne 
Hoffnung!“ ſeufzte ich ihr nach und deutete auf die 
Erde. Da ſah' ich, wie ihre ſchönen Augen vom Thau 
des Mitgefühls ſich netzten, wie ihre Hand ſie auf 
ihr Herz drückte, und ihr Mund leiſe liſpelte: „Ar— 
mer Unglücklicher!“ und die ſchmerzlich ſüße Wonne, 
die Theilnahme erregt, durchzittert meine Seele. 

Mein gerührter Blick nur dankte ihr, als ihr 
Bruder ins Zimmer mit einer Eil und Verwirrung 
trat, die ſelbſt mir nicht entging. „Chiara,“ ruft er 
ſeiner Schweſter zu, „er iſt hier!“ und ich ſehe dieſe, 
plotzlich erblaſſend, die Verwirrung ihres Bruders 
theilen und mit einer ſchmerzlichen Bewegung ſich 
abwenden. „Verzeihen Sie, ſagt mir hierauf Fran⸗ 
cesco, „daß in dieſem Augenblick gerade — — Ein 


106 
Vorfall — — Meine Schweſter — — „Ich will nicht 
ſtören,“ entgegne ich und greife nach meinem Hut, 
„wir fehen uns wohl wieder.“ „Das meine ich nicht, 
ſpricht Francesco, „bleiben Sie Herr von **, wenn 
Geſchäfte nicht Sie forttreiben; es dürfte ohnedieß 
das letzte Mahl ſeyn, daß wir uns ſehen. Nicht wahr, 
Chiara?“ wendet er ſich fragend zu dem Mädchen. 
„Wohl,“ erwiedert dieſe mit einem Seufzer und ſucht 
umſonſt die Bewegung ihrer Seele zu verbergen. 
„Wir reifen alſo Chiara?“ fährt Francesco fort. „Du 
zweifelteſt doch an mir nicht,“ antwortet ihm dieſe, 
und helle Thränen entſtürzen ihren Augen. Da 
ſchlägt der Bruder ſeinen Arm um ſie und ſagt ge— 
rührt: „Gutes, unglückliches Mädchen!“ dann gegen 
mich ſich wendend fährt er ſort: „Wir verlaſſen heut 
noch Wien, iſt es Ihnen nicht zuwider, die wenigen 
Stunden in Geſellſchaft von Menſchen zuzubringen, 
die nicht glücklich, aber ſchuldlos ſind, ſo werden Sie 
uns eine Freude machen; denn es iſt angenehm, die 
Augenblicke des Scheidens noch ſich zu ſchmücken, 
und wir glauben, daß Sie zu den Edlen Ihres 
Standes gehören, nicht wahr Chiara?“ Das Mäd— 
chen nickt ein beyfällig Ja, und ich gewähre gern 
einen Wunſch, der mein eigener war, denn zu bey— 
den Geſchwiſtern fühle ich mich, ſeit lange zum erſten 
Mahl, mit wohlthuendem Gefühl hingezogen. 
Während Chiara anfängt Anſtalten zur Reiſe 
zu treffen, wobey oft ein halbunterdrückter Seuf— 
zer ihr entſchlüpft und dann des Bruders freundli⸗ 


— 


107 
cher Blick ihr Muth einzuſprechen ſcheint, hat mit 
mir er ein Geſpräch über feine Kunſt angeknüpft, und 
des Vorhergegangenen wird nicht gedacht. Plötzlich 
frage ich ihn: „Wohin wird Ihr Weg Sie jetzt füh— 
ven ?” Er ſieht mich einen Augenblick prüfend an, 
dann erwiedert er: „Ich weiß es nicht.“ „Es iſt nicht 
Neugier,” fahre ich fort, „die dieſe Frage mich thun 
läßt; es iſt der Wunſch, Menſchen, die mir lieb ge— 
worden ſind, einmahl wieder zu ſehen, denn auch 
ich, wie Sie, habe kein beſtimmtes Ziel meiner Reiſen, 
und bleibe nicht gern lange an einem Ort.“ „Wir has 
ben uns zufällig gefunden, antwortet mir Fran— 
cesco, „und der Augenblick ſcheidet uns wieder; doch 
was hindert uns zu glauben, daß eben ſo zum zwey— 
ten Mahl wir uns wieder treffen können, denn in 
Wahrheit, ich kann Ihnen nicht beitimmen, wohin 
wir uns wenden werden, doch — es iſt möglich, 
daß die Schweiz“ — „Die Schweiz !’ ruft Chiara mit 
einem verklärten Blick der Freude aus,, die Schweiz!“ 
„Habe ich dich errathen?' ſagt lächelnd der Bruder, und 
eine ſtumme Pantomime Chiarens beantwortet ſeine 
Frage 

„Die Schweiz, wiederhohle ich langſam,, was 
hält mich ab auch dahin zu gehen? Reiſen wir 
ee den ich glauße, gleiches Schickſal verbindet 
uns. 

„Sie irren ſich vielleicht hierin,“ erwiedert mir 
Francesco, „und ich rathe Ihnen nicht dazu, Ibr 
Loos an Menſchen zu knüpfen, denen die geheime 


4 


108 
Macht, die unſere Tage lenkt, nicht gewogen zu ſeyn 
ſcheint. Sie kennen uns überdiez zu wenig und” 
— — — „Ich ehre Ihre Geheimniſſe,“ entgegne ich, 
und es ſey fern, mich aufzudrängen. Erlauben Sie, 
daß ich Ihnen mittheile, was mich ſo unſtät und 
flüchtig umhertreibt, vielleicht gewinnt mir dieß das 
Vertrauen, was dem Fremden Sie ſonſt nicht ſchen— 
ken können — wenigſtens wird Ihre Theilnahme mir 
eine Minute erhellen.“ i 
Eine freundliche und herzliche Bejahung der 
Geſchwiſter war die Antwort, und ich fange an, nach 
einer flüchtigen Schilderung meiner früheren Um— 
gebungen und Verhältniſſe, den Verlauf meiner 
letzten zwey Jahre ihnen zu erzählen, meine Luſt und 
mein Leid. Dieſe Erinnerung reißt alle alten Schmer— 
zen in meiner Bruſt wieder auf, und indem ich noch 
einmahl durchempfinde, was in jener Zeit mein Herz 
bewegte, ſah in den Augen meiner Hörer ich ihr 
Mitgefühl, das nicht verfehlt, wohlthätig mir zuzu— 
ſprechen. Als ich den Nahmen Arlfort nenne, über— 
zieht eine plötzliche Bläſſe Chiarens ſchönes Geſicht, 
fie lehnt ſich an ihren Bruder, wie die ſchwache 
Rebe an die Alme ſich ſtützt, und dieſer gibt ihr 
einen bedeutenden Wink. Mir war dieß nicht ent⸗ 
gangen und ich halte an, Francesco bittet mich 
aber fortzufahren und ſelbſt Chiara ſtimmt in dieſen 
Wunſch. 
So wie Arlfort im Laufe der Erzählung meiner 
Geſchichte bedeutender wird, verderblicher in den 


465 
Gang meines Lebens eingreift, fo ſpannt ſich das 
Intereſſe, die Bewegung der Geſchwiſter, beſonders 
Chiarens, und wie ich nun geendet, wie ich umſonſt 
verſucht habe, den Zuſtand meiner Seele zu ſchildern, 
deutlicher gemacht durch den ſichtbaren Schmerz, der 
mein Inneres durchtobt, als durch Worte, ſteht Fran— 
cesco auf, umarmt mich und ſagt mir leiſe: „Un⸗ 
glücksbruder meiner Chiara, Ihr Troſt ſey dieſes 
Mädchens Gram,“ und laut fährt er fort: „Wenn noch 
Ihr erſter Vorſatz Sie belebt, ſo ſage ich Ihnen, 
daß wir jetzt wüuſchen, uns nicht fo bald von Jhnen 
trennen zu dürfen.“ 

Ich wende mich zu Chiaren, ihre Meinung in 
ihrega Augen zu leſen; fie verſteht mich und ihr fees 
lenvoller Blick beſtätigt des Bruders Wort. 

Mit Eile entferne ich mich nun, meine Abreiſe zu 
ordnen und ehe noch der Abend dämmert, liegen 
Wiens Thürme ſchon hinter uns, find wir auf dem 
Wege zum uralten Lande der Freyheit, der erhabenſt— 
romantiſchen Natur. 


I’ 


„Sie werden wünſchen zu wiſſen,“ fängt nach eis 
nigen Reiſetagen Francesco eines Abends, da ich 
mit ihm allein bin, an, „was meine Schweſter und 
mich bewog, ſo ſchnell von Wien aufzubrechen, 
wo länger zu verweilen unfere erſte Abſicht war, 

ind woher, die Bewegung Chiarens bey Nen— 


110 
nung eines Nahmens kam, deſſen Beſitzer fo un 
glücklich in Ihr Schickſal griff. Ihr Vertrauen hat 
dem unſern die Bahn gebrochen, es iſt Chiarens 
Wunſch, wenn unſere Vergangenheit ich Ihnen mit⸗ 
theile.“ d 

„Unſer Vater hatte früher in der Marine Vene— 
digs gedient; die Bekanntſchaft, die glühende Liebe 
zu unſerer Mutter, der Tochter einer der älteſten 
ſenatoriſchen Familien der Republik, trieb ihn, dieſe 
Dienſte zu verlaſſen, da innerhalb dem Gebiethe der 
Lagunenſtadt er nimmermehr darauf rechnen durfte, 
als ein armer Familienloſer, die Hand Eleonorens 
von ihren ſtolzen Verwandten zu erhalten. Er ging 
nach Raguſa, ſuchte und fand eine kleine Anſtellung 
auf den Schiffen dieſes Freyſtaats und entführte 
unterm Schirm der Nacht in feine neue Heimath 
»die Geliebte. Wenige glückliche Ehejahre waren un— 
ſeren Altern beſchieden. Die Geburt Chiarens, die 
zwey Jahr jünger denn ich iſt, koſtete Eleonoren das 
Leben, und wir beyde wurden ſchon damahls Wai— 
ſen, da unſer Vater, faſt immer auf dem Meere, 
wenig Zeit behielt, anders als durch die dritte Hand 
für uns zu ſorgen. Als ich acht, Chiara ſechs Jahre 
zählte, entriß aber das Schickſal uns auch ihn, die 
einzige Stütze, die in der Welt wir hatten. Unſer 
Vater fiel unter dem Dolchſtoß eines venetianifchen 
Bravo, den ſeiner Gattinn Familie gedungen hatte, 
die den Flecken, den ihrer alten Geburt er angehan— 
gen, ihm nicht verzeihen konnte. Wir waren zu 


111 


jung, kannten unſern Vater zu wenig, als daß dieß 
Ereigniß uns ſehr hätte beugen ſollen, und die 
glückliche Unbefangenheit unſerer Jahre ließ uns 
nicht bemerken, wie ſehr der Tod unſers einzigen 
Verſorgers uns den Stürmen des Lebens ausſetzte. 
Da ohne alles Vermögen wir waren, der wenige 
Schmuck unſerer Mutter aber eben hinreichen moch— 
te, die gerade fällige Penſion in der Erziehungs⸗ 
anſtalt, worin wir uns befanden, zu bezahlen, ſo 
übergab deren Vorſteher uns den Händen der Re— 
publik zur weitern Verſorgung. In Betracht der zwar 
nicht ſehr langen, aber treuen Dienſte unſeres Va— 
ters that dieſe ein Übriges an uns Berlaffenen, gab 
mich in ein Klofter, Chiaren aber nahm ſich die Witz 
we eines reichen Patriziers an und verſprach ihr Mut— 
terſtelle zu vertreten. 

„Es war ohne Zweifel die Abſicht der frommen 
Brüder, in deren Schooß ich kam, ein würdiges Glied 
ihres Ordens aus mir zu bilden, wozu die Leichtig— 
keit, mit der ich lernte, mein gehorſames Betragen 
und die gänzliche Verlaſſenheit von der Welt, in der 
ich war, fie berechtigten; doch konnte mit zunehmen— 
den Jahren meinem lebhaſten Gemüth ein Stand 
nicht zuſagen, der, auf ſtrenge Regeln ſich beſchrän— 
kend, dieſem fo enge Gränzen ſetzte. Meine anfangs 
ſich ſo ſchön äußernde Begierde nach dem Wiſſen 
klöſterlicher Gelehrſamkeit verlor ſich nach und nach, 
und es trat dafür der Sinn für meine Kunſt an 
die Stelle, der bald bey der Gelegenheit ihn auszu— 


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112 
bilden, die ſich mir zeigte, mir alles andere vergef 
fen ließ. 

„Wer die Einrichtung der Klöſter, beſonders 
der meiner Nation kennt, wird wiſſen, wie ſehr in 
ihnen die Muſtk, als Schmückerinn eines feyerlichen 
Cultus, gepflegt wird, und wie ſelten eins iſt, in 
dem nicht einige Glieder des frommen Vereins als 
Meiſter dieſer holden Kunſt glänzen. Dieß war 
auch der Fall in dem, wohin mein Geſchick mich ge— 

racht. Der Bruder Geraldo, einer der aälteſten 
und ehrwürdigſten des Hauſes, trieb als Lieblings— 
beſchaftigung das Studium und die Ausübung der 
Muſik, und beſorgte gewöhnlich die Anordnung und 
Direction der an den Feſttagen üblichen Oratorien. 
Ihm war meine Neigung zu feinem Fach nicht ent— 
gangen, der Eindruck nicht, den die Harmonie der 
Töne auf meine Seele machte; er nahm von da an 
ſich meiner Erziehung und Ausbildung an, und mein 
Eifer belohnte ſeine Mühe.“ 
„Meine Schweſter ſah' ich nur ſelten, doch vergönn— 
te man mir dann und wann ſie zu beſuchen und — 


obgleich faſt immer getrennt, hingen doch mit recht 


inniger Liebe unſere Herzen an einander, ſo daß für 
uns beyde ein ſolcher Tag des Sehens immer ein 
recht heiteres Freudenfeſt war.“ 

„So hatte ich mein ſechzehntes Jahr erreicht, 
als der Tod mir meinen Schützer Lehrer und Freund, 
Geroldo, nahm und mich zum zweyten Mahl zur 
Waiſe machte, denn der Bruder Ignatio, der dem 


— 


113 


Verſtorbenen in feiner Stelle folgte, war nicht der 

Mann, mie ihn vergeſſen zu machen, meine Liebe und 
mein Vertrauen ſich zu erwerben; im Gegentheil 
ſing ſeine oft unbillig harte Behandlung an, den 
Gedanken in mir zu befeſtigen, mein ſtilles Kloſter 
zu verlaſſen, um in einer Welt, die mit allen glän⸗ 
zenden Farbenzugendlicher Phantaſie ich mir mahlte, 
mein Glück zu ſuchen.“ 

„Meine Unerfahrenheit beredete mich leicht, mei— 
ne damahls erſt keimende Geſchicklichkeit und Talent 
für hinreichend zu halten, mir fortzuhelfen, und ich 
vertraute Chiaren, bey unſerer erſten Zuſammen⸗ 
kunft, wie ich geſonnen ſey, mich heimlich zu ent- 
fernen, da ich an der Einwilligung der frommen 
Brüder hierzu verzweifelte. Meine Schweſter hatte 
mich zu lieb, um ohne Schmerzen dieſen Entſchluß 
zu vernehmen, doch war auch ſie zu wenig mit dem 
Gange der Welt bekannt, um die Gefahren einzuſe— 
hen, in die ich mich durch einen ſo übereilten Schritt 
ſtürzen konnte, als daß ſie ſehr verſucht hätte, von 
dem, was ich mein Glück nannte, mich abzuhalten; 
und ſo führte ich bald darauf meinen Vorſatz aus, 
und verließ meines Kloſters ſtille Mauern, mit 1 
nigen Liren, dem Beſtand von Chiarens kleiner 
Gele, meiner Violine, einem Packet Muſikalien 
und vielen Hoffnungen ausgerüſtet.“ 

„Die erſtͤn Tage nur eilte ich, fo lange ich nähm⸗ 
lich glaubte in Gefahr zu ſeyn, eingebhohlt zu wer⸗ 
den; dann ließ ich mir Zeit und zog fröhlich und 


114 0 


wohlgemuth meine Straße. Mein Geldvorrath war 
gar bald erſchöpft, doch dieß kümmerte mich wenig, 
ich verließ mich auf die Madonna, die heilige Aga— 
tha, und nebenbey ein wenig auf Gott, und meine 
Erwartungen täuſchten mich nicht. Hungerte mich 
oder bedurfte ich eines Nachtlagers, ſo trat ich in 
das erſte beſte Haus, gleich viel Villa oder Hütte, 
ſpielte im Nahmen der Himmelsmutter oder ſonſt 
einer Heiligen ein Stück aus einer Miſſa, oder 
eine eigene Phantaſie, und nie wurde auf dieſe 
Anweiſung dem jungen Pilger Dach und Labung 
verſagt.“ 

„So war ich die dalmatiſchen Küſtenländer durch— 
zogen, über die juliſchen Alpen in die Lombardey 
gelangt und bis Florenz gekommen. Eines Tages 
ſtelle ich mich an den Eingang eines Pallaſtes und 
fange an auf meiner Geige zu phantaſiren, in der 
Hoffnung, den Bedarf des Tages mir dadurch zu er— 
werben. Da öffnet ſich, nachdem ich einige Tacte 
geſpielt habe, über mir ein Fenſter, ich blicke auf 
und ſehe ein jugendliches Mädchengeſicht, die mit 
ſichtbarem Wohlgefallen meinen Tönen horcht. Der 
uuverkennbare Beyfall, den mein Spiel bey ihr fin— 
det, ſchmeichelt mir; ich fühle zum erſten Mahl das 
ſüßbelohnende Gefühl, das die Bruſt des Künſtlers 
durchdringt, wenn Anerkennung ſeinem Talente 
wird, und ich ſtrebe mit aller Wärme meines Gei— 
fies, mich deſſen würdig zu machen, immer unvers 
wandt die Augen nach dem freundlichen Mädchen 


— 


145 
gerichtet. Einen Augenblick entfernt ſie ſich vom 
Fenſter, dann kommt ſie in Begleitung eines ältli— 
chen Herrn, ihres Vaters, wieder zum Vorſchein, 
und auch dieſem ſcheint mein Spiel zu behagen. Als 
ich endlich endige, ſah ich, daß das Mädchen wie 
bittend zu dem alten Herrn ſich wendet, dieſer lä— 
chelnd bejaht, und gleich darauf erſcheint ein Diener, 
beauftragt, feiner Herrſchaft mich vorzuführen. Ich 
werde durch einige prächtige Zimmer geführt, deren 
nie geſehener Glanz mir einen ungeheuren Begriff von 
der Macht und dem Reichthum ihres Beſitzers gibt, 
und gelange ganz erfüllt von ſtaunender Bewunde— 
rung, vor ih.“ 

„Die offene, naive Art, mit der ich feine Fra⸗ 
gen beantworte, gefällt ihm, und bald weiß er 
meine ganze Seſchichte. Auf feine Frage: wohin 
und was ich denn in Zukunft wollte, erwiedere ich 
treuherzig, ich wüßte es nicht, und dieſe Unbefan— 
genheit entlockt ihm ein Lächeln.“ „Willſt du bey mir 
bleiben,“ ſagt er mir nach einigem Nachſinnen. 
„Nein,“ entgegne ich, „ich will kein Bedienter ſeyn. 
„Das ſollſt du auch nicht,“ fährt er fort, „du kannſt 
einen platz in meiner Hauscapelle erhalten, wo 
du Gelegenheit haben wieſt, dein Talent weiter aus— 
zubilden. ” 

„Dieß leuchtet mir ein, und ich nehme fein groß= 

üthiges Anerbiethen an. Von nun an widme ich mei⸗ 
ne Zeit ganz der Vervollkommnung in meiner Kunſt 
und mein ſich mehr und mehr durch große Muſter 


116 

geleäutertes und gebildetes Talent verſpricht mir eine 
ehrenvolle und freye Selbſtſtändigkeit für die Zu⸗ 
kunft.“ 

„Marcheſe S“** hatte außer der vorhin erwähn⸗ 
ten Tochter, Roſalie, einen Sohn, Guido, mit 
dem bald, in gleichen Jahren mit ihm ſtehend, eine 
enge Bekanntſchaft ich ſchloß. Der alte Herr war 
ein ſtrenger Vater, beſonders gegen Guido, deſſen 
sft in mancherley Ausſchweifungen ausartende Leb— 
haftigkeit ihm Verdruß erregte und er manches 
Mahl ſeines ganzen Anſehens bedurfte, den ſich 
leichtſinnig in Gefahr ſtürzenden Jüngling heraus 
zu ziehen. Es dauerte nicht lange, ſo war ich auf 
dieſer eben nicht lobenswürdigen Bahn Guido's 
treuer Gefährte, und da ſo leicht es ihm nicht an 
Geld fehlte, indem die ſchweſterliche Liebe öfters ſei⸗ 
nen Bedürfniſſen abhalf, ſo iſt es leicht zu erach— 
ten, daß in unſerm tollen übermuth wir manches 
Abenteuer anzettelten und beſtanden, das leicht 
uns hätte Geſundheit und Leben koſten können, 
da in meinem Vaterlande, wofür Italien mir 
immer gelten konnte, das Stilet ſehr häufig der 
Velgelter jugendlicher Streiche iſt, und nur un⸗ 
ſerem mit Lift gepaarten Muth und dem ziemlis 
chen Anhang junger Pflaſtertreter, den Guido ſich 
erworben, verdanken wir die Befreyung von eini⸗ 
gen nahe über unſern Häuptern wegſchwebenden 
Gefahren.“ 

„Ich hatte gleich nach der Aufnahme in des Mar⸗ 


117 
cheſe Haus meiner Schweſter mein gäanftiges Geſchick 
verkündet, und ſeit jener Zeit auch nicht verfehlt, ihr 
öfter Nachricht von mir zu ertheilen.“ 

„Zwey Jahre mochte ich ungefähr in Florenz 
ſeyn, als Chiara mir ſchreibt, ihre Wohlthäterinn 
ey geſtorben und ihr plötzlich erfolgter Hintritt habe 
ſie verhindert, für ihre Zukunft etwas zu thun. Ver: 
laſſen, wie fie ſey, und arm, ſäghe ſie keinen andern 
Weg in der Welt vor, ols in irgend einem Kloſter 
den Schleyer zu neymen. Guido war gerade auf 
meinem Zimmer, als dieſen Brief ich erhalte, und ich 
theile ihm unbedenklich ſeinen Inhalt mit, der mich 
betrübt. „Da fen Gott vor,” entgegnet er mir,, daß 
deine Schweſter, die, wie du mir geſagt, jung und 
ſchön if, ſich lebendig vergrabe; laß ſie herkommen.“ 
„Ich mache ihn aufmerkſam, wie mein Verdienſt 
kaum hinreicht für meine Bedürniffe, und wie Chia⸗ 
ren es beſſer ſey, dem Himmel als den Menſchen 
ihre wenig Ausſicht darbiethenden Tage zu weihen!“ 
„Du biſt ein Thor,” antwortet er mir, „laß mich nur 
machen, ich werde mit Roſalien reden,“ und ſomit 
lief er fort ohne mich weiter zu hören, und kam bald 
mit der Nachricht zurück, daß diefe mich ſprechen 
wolle. Indem er mich zu den Zimmern ſeiner Schwe⸗ 
ſter begleitet, fliſtert er mir zu: „Noſalie wird für 
deine Schweſter ſorgen, denn ſie iſt dir herzlich gut, 


das habe ich lange gemerkt, und ich wette, ſie nähme . 
dich ein ganz Theil lieber zum Mann, als den alten 


— 


118 


kachektiſchen Gbebglienen dem ſie bald ausgeliefert 
werden wird.“ 

„Dieſe Mittheilung diente wahrlich nicht dazu, 
die Schüchternheit zu vertreiben, die mich ſtets be— 
fiel, wenn Roſalien ich mich nahte, noch ihr Nach⸗ 
ſatz von dem Chevalier, den recht innig ich haßte, 
die Freude meiner Bruſt zu erhöhen. Begegneten 
Noſaliens Augen zufällig einmahl meinen Blicken 
die mit verſtohlener, mir ſelbſt unbekannter Sehns 
ſucht ich ſo gern auf ihrer holden Geſtalt weilen ließ, 
fo flohen ſcheu, wie verrathene Verbrecher, fie zur 
Erde, um nach wenig Minuten von neuem den Ge⸗ 
genſtand ihrer Wünſche ſich zu ſuchen. Roſaliens 
gleichfalls unſtäte Blicke, die zarte Röthe, die die 
lieblichen Wangen überzog, ihr ſchnelles Wegwen— 
den in ſolchen Momenten, hatte weine Unerfahren- 
heit ſich als Zeichen von Zorn und Mißfallen ge— 
dacht, und eine geraume Zeit verging dann immer, 
ehe ich es wieder wagte, ins Angeſicht ihr zu ſehen. 
Deſto eifriger war ich aber in Beſchauungen ver: 
tieft, wenn unbemerkt von ihr ich mich glaubte, 
und dieſe Minuten waren in jener Zeit die ſeligſten 
meiner Genüſſe. Dennoch war ich weit entfernt zu 
ahnen, daß das in meiner Bruſt erglimmende Ge: 
fühl Liebe ſey; Anhänglichkeit, Dankbarkeit gegen 
meine Bönnerinn nannte ich es, deren Vorwort ich 
den Eintritt in dieß Haus, die Ausſichten, die für 


mein übriges Leben dadurch ſich mir eröffnet hatten, 


ja ſchuldig war.“ 


119 

„angelangt vor feiner Schweſter Zimmer ſchibt 
mich der leichtſinnig muthwillige Guide mit den 
Worten in die Thür: „da haft du deinen Liebling, 
Roſalie!“ und ſchließt dieſe, indem er draußen bleibt, 
den Kammerjungfern einſtweilen einige Schwänke 
vorzumachen, hinter mir. Es würde in der That 
eine recht hübſche Aufgabe für einen Charakter— 
mahler geweſen ſeyn, uns Beyde in dieſem Augen- 
blick zu zeichnen, wie verwirrt, beſchämt, unwillig 
über Guido's Unart, und doch ſo himmliſch lieb und 
mild, Roſalie am Fenſter, ich an der Thür, ein 
kreues Bild unſäglicher Angſt und Verlegenheit, 
ſtehe; keines die Blicke zu erheben wagt, aus Furcht, 
denen des Andern zu begegnen, im Herzen es doch 
hoffend, wünſchend! keines ſpricht, und erwartet 
doch, das Andere ſoll reden. Ich geſtehe, mein Muth 
war völlig dahin, und unſere ſtatuenähnliche Stel— 
lung dürfte ſich ſehr verlängert haben, hätte No— 
ſalie nicht zuerſt das Stillſchweigen gebrochen, und 
keiſe die Worte: „Ihre Schweſter, Francesco,“ 
hervorgehaucht. Bey der Erinnerung an Chiaren 
kam wieder Leben in meine Bruſt, ich wußte, war— 
um ich hier war, und nach einigen Minuten war 
unſer Geſpräch in recht lebhaftem Gang. Nofalie 
bittet mich, Chiara nach Florenz kon men zu laſſen, 
wenn nicht beſondere Neigung zum abgeſchiedenen 
Kloſterleben fie hat, und verſpricht, indem fie mir. 
ein Beutelchen mit Zechinen in die Hand ſteckt, die 
Reiſekoſten einer guten Schweſter zu beſtreiten, ihr 


120 r 
treue Freundinn und Schützerinn zu ſeyn. Die Be 
rührung von Roſaliens Hand wirkt gleich dem 
Schlage einer Elektriſirmaſchine auf meine Nerven, 
durch die ein Gefühl ſich ergießt, das ſo mir gänz⸗ 
lich fremd war. Ich laſſe das Beutelchen fallen, 
bücke mich aber ſogleich darnach, Roſalie auch; doch 
fie verſieht's, ihr Fuß gleitet auf dem glatten Mar- 
morboden aus, und indem ich fie auffangen will, 
ruht die zärtliche Geſtalt an meiner Bruſt; ich fühl’ 
das Wehen ihres Athems, den Schlag ihres Her⸗ 
zens und — hätte die Hölle ſich gähnend vor mir 
eröffnet mit allen ihren Schrecken, ſo hätte ich nicht 
anders gekonnt — meine Lippen berühren die ihri— 
gen; meine Adern durchrollen Flammen, ich drücke 
fie. an mich mit der glühenden Kraft der Liebe; 
„Francesco!“ ſtammelt ihr Mund unter meinen 
Küſſen und ihre Arme umſchlingen einen Augenblick 
im ſüßen Vergeſſen mich Glücklichen. —“ 

„Guido's im Vorzimmer ertönende Stimme 
reißt uns aus einander. Lachend tritt er ein und 
fragt: „Nu, wie iſt die Unterredung ausgefallen, 
ich ſchwöre darauf, ihr habt verdammt wenig ge: 
ſprochen; wird Chiara kommen? Ich bejahe es, 
und er fährt fort: „Das iſt ſchön, ich werde mich 
auch ſogleich, wie ſie ankommt, in ſie verlieben. 
Santa Madonna, das kann Spaß geben, ich in 
deine Schweſter und du in meine,” und ſo fährt er 
fort, ohne ſich an unſre Verlegenheit, an Roſaliens 
ernſtes Zürnen zu kehren, tauſenderley Poſſen, zu 


121 


ſprechen und zu treiben, bis er mich endlich unterm 
Arm faßt, und mit den Worten zur Thüre zieht: 
„Komm Francesco, geſtern hat mich Don Seba— 
ſtiand, der Gauner, rein ausgeplündert; er geht 
heut Abend zur Meſſe nach San Spirito, und du 
ſollſt mir den frommen Mann im Dunklen mit 
einigen Fußtritten regaliren helfen. Auf Wiederfe- 
hen Schweſter ſey nicht böſe, ich bring' ihn dir 
gelegentlich wohl wieder. Ach! per anima mia, bald 
hätt' ich's vergeſſen. Du mußt mir Geld geben, ich 
habe nicht einen Soldini, und muß doch ſeh'n, ob 
ich nichts wieder gewinnen kann.“ 

„Den Überläftigen nur los zu werden, öffnet 
Roſalie ihren kleinen Schatz, und ſo geht er, mich 
forttreibend, mit mir ab, und ich muß, will ſeine 
Gunſt ich nicht verſcherzen, ſeinen Spott auf mich 
und Roſalien lenken, meinen ſüßen Träumen, die 
wie heſperiſche Gärten golden vor dem Sinn mir 
ſchweben, entſagen und in den Strudek leichtſinni— 
ger Vergnügungen mich mit ihm ſtürzen.“ 

„Chiara, an die ich ſogleich geſchrieben, kam 
endlich in Florenz an, und von dieſem Augenblick 
ging ein neues Leben, eine ſchöne Blüthenzeit der 
Lieb' und Luſt, ihrem glücklichen Bruder auf. Hatte 
bisher ich Roſalien nur ſelten mich nahen können, 
fo gab die Anweſenheit meiner Schweſter, die ihr, 
faſt tägliche Geſellſchafterinn wor, mir Vorwand 
genug, oft und zu ganzen Stunden in ihrer Nähe 
zu ſeyn. Glückliche Momente! in denen, froh ge— 

Unterh. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. . 


122 
mießend, eine roſige Gegenwart, die Zukunft, die 
nur finſter ſeyn konnte, meinen Blicken entihwand. 
und meinen nicht allein — auch Roſaliens, fo 
gänzlich, daß das mit jedem fliehenden Tage nä⸗ 
hernde Ziel, wo ſie dem von ihrem Vater erkore— 
nen Gemahl auf ewig Herz und Hand reichen ſollte, 
uns gauz aus den Augen entwich.“ 

„Um dieſe Zeit kömmt ein fremder Reiſender, 
mit Empfehlungsbriefen an den Marcheſe verſehen, 
bey uns an. Es war Arlfort, derſelbe, den zu ih⸗ 
rem Unglück Ihr Herz Sie einſt öffneten. Sehr 
bald entſteht zwiſchen ihm und Guido eine innige, 
Vereinigung und Arlfort theilt fortan die Zerſtreuun⸗ 
gen, die bisher wir beyde allein aufſuchten. Die. 
Lebhaftigkeit feines Witzes, feine Gewandtheit, fein, 
Eingehen in alle noch ſo bizarren und waglichen 
Ideen Guido's, macht ihn bald zum Führer und 
Anordner unſerer Streifereyen, bey denen nur der 
Reihifinn, mit welchem wir uns Ahndungen aus- 
ſetzten, und die Verſchwendung, die Guido ſich zu 
Schulden kommen läßt, Rüge verdienten, nicht un⸗ 
der ſonſtig Betragen, da mich meine Liebe ſchützt, 
durch mich Guido zurückgehalten wird.“ 

» Arlfort bemerkte meine Schweſter bald, und, 
— fen es, daß das jugendlich erblühende, von klö⸗ 
ſterlicher Schüchternheit umſchwebte Mädchen Ein⸗ 
druck auf ſein Herz macht; ſey es, daß nur flüchti⸗ 
Zer Sinnenreitz ihn antreibt — er nähert ſich ihr, 
zeichnet fie aus, und indem von Liebe und Gluth, 


123 


er ſpricht, wird es ihm nicht ſchwer, unterſtützt von 
feinem Benehmen und ſchöner Geſtalt, das uner- 
fahrne Herz Chiarens zu beſtricken, eine heiße Lei- 
denſchaft in ihre reine Bruſt zu pflanzen.“ 

„»Ich war zu ſehr mit mir ſelbſt, meiner Liebe 
und meinem Glück beſchäftigt, als daß hiervon ich 
hätte etwas ahnen ſollen, bis Chiara mir ſchwe⸗ 
ſterlichem Vertrauen und mädchenhaftem Jagen, es“ 
mir entdeckt.“ 

„So naht ſich uns die Zeit des Carnevals, jene‘ 
Periode fröhlich luſtiger Ausgelaſſenheit, wo Stand’ 
und Verbaltniſſe vergeſſend, alle Sorgen und Mür 
heu des gewöhnlichen Lebens hinter ſich werfend, 
ein allgemeiner Taumel lärmender Freude Alle zu 
ergreifen ſcheint. Für Guido war dieß fo recht ein 
Element, jene Wochen ihm der Aufruf zu den aus! 
gelaſſenſten Schwänken. Als Arkequino ausſtaffirt, 
ſtürmt er eines Abends in das Zimmer, wo wir, 
Roſalie, Chiara, Arlfort und ich, im Geſpräch figen; 
neckt und treibt uns ſo lange, bis uns alle ſein 
phantaſtiſcher Taumel anſticht, und im aufſprudeln⸗⸗ 
den Muth der Luſtigkeit- die Frauenzimmer ſei— 
nem Vorſchlag Gehör geben, in Charaktermasken 
auf dem Piazza maggiore ſich ein Weilchen zu er 
gehen. Es werden alle Anſtalten getroffen, und nach⸗ 
dem der Marcheſe zur Ruh, die Dienerſchaft bes > 
ſeitigt iſt, fchlüpfen wir, ich Roſakien, Arlfort Chia 
sen, am Arm, als Pantalon und Colombina 
Brighella und Fiametta, gekleidet, durch eine Mes 

32. 


124 
benpforte hinaus, unſer Arlequino voraus, der kei⸗ 
nen Vorübergehenden ungeneckt läßt.“ 

„Angelangt auf dem Hauptſammelplatz aller 
Masken, umringt uns bald eine ſchau- und lach 
luſtige, eben fo wunderlich, wie wir, angethane 
Menge, end indem jeder hier in unzähligen Schwän— 
ken feinen Witz und feine Laune zeigt, vergeht uns 
wie Blitze ſchnell eine Stunde. Die Damen ver⸗ 
langen nach Haufe, aber weder ich noch die Andern 
gedachten, ſo fruy eine Freude uns entziehen zu 
laſſen, die fo fehr uns behagt, und leicht find die 
Erſtern überreret, noch ein Stündchen zuzugeben. 
Wir treten in die hellerleuchteten, mit Masken 
überfüllten Kaffehhäuſer und Dfierien, und indem 
in das Gedränge wir uns miſchen, kommen wir 
unvermerkt von einander ab, ohne, nachdem das 
gegenfeitige Verſchwinden wir bemerken, uns wie 
der finden zu können.“ 

„Roſalien am Arm, bebend vor Freude und 
Luſt, durchziehe ich noch einige Säle, und da unſer 
Bemühen vergeblich it, unſere Gefährten wieder zu - 
erblicken, Roſalie ſich aber ermüdet fühlt, fo führe 
ich fie in ein, dem Geräuſch und Zugang weniger 
ausgeſetztes Gemach. Glückliche, ſchoͤne Lebensmo— 
mente! So warm und traulich hatte nie ſie an 
mich ſich geſchmiegt, ſo rein von jeder trüben Mah⸗ 
nung nie ich ſie an mein klopfend Herz gedrückt, 
denn hier war fie mir ja gleich, die Geliebte dem: 
Webenden; hier war ja auf Minuten die finfire > 


125 


Scheidewand geſunken, die drohend zwiſchen uns 
ſonſt ſtand. — Endlich entwindet ſie ſich mir, und 
bittet mich, ſie nach Hauſe zu begleiten. Wir finden 
Chiaren ſchon uns erwartend. Arlfort und Guido 
hatten ſie zurückgebracht, ſich aber auf's neue 
entfernt.“ ö 
„Am andern Tag erzählt mir Chiara, wie Arl— 
fort geſtern neuerdings mit Verſicherungen ſeiner 
Liebe ſie erfreut, wie er ihr Hand und Herz auf 
ewig angetragen, ſie das ihrige ihm geweiht habe. 
Ich hatte keine Urfahe, in Arlforts Redlichkeit 
Mißtrauen zu ſetzen. Er kannte unſern Urſprung, 
unſere Armuth, aber auch unſere Rechtlichkeit und 
mein und meiner Schweſter argwohnloſem Herzen 
war der Gedanke fremd: an ein ſchändliches Spiel 
mit den heiligſten Empfindungen. Ach! nur zu bald 
ſollten wir Beyde aus unſern frohen Träumen ers 
wachen, und — konnte vernünftiger Weiſe ich nichts 
anderes vorausſehen, ſo traf der längſt erwartete 
Schlag doch mich nicht minder als meine, den fro— 
heiten Hoffnungen hingegebene, Schweſter. Uabe⸗ 
merkt, wie Glücklichen ja immer, war uns der 
Frühling und Sommer vergangen und der Herbſt 
nahte heran, als im Haufe des Marcheſe, die Ane 
kunft des Chevalier **, des beſtimmten Bräuti⸗ 
gams Roſaliens, bekannt gemacht wurde, und daß 
binnen kurzem die Vermählung aefenert werden 
ſolle. Darf ich erſt noch mein, darf ich der unglück⸗ 
lichen Rofalie Gefühl ſchildern, die im blühenden 


426 
„Jugendlenze, mit einem heißen Herzen voll Liebe 
in die Arme eines Mannes geliefert werden ſollte, 
der ihr Großvater ſeyn konnte, deſſen bekannter 
Charakter, die Eiferſucht eines Türken mit niede— 
rem Geitz gepaart war? An Eatrinnen aus dieſem 
Schickſal war nicht zu denken; ihres Vaters eher: 
ner Wille, ſeine furchtbare Härte gegen Alles, was 
ſeinen Planen ſich widerſetzte, uns zu wohl bekaunt. 
Sollte ich mit ihr entfliehen? Aber wohin? Inner⸗ 
halb Italiens Gränzen würde die Rache des belei— 
digten Vaters uns gefunden, und.fte mit mir per⸗ 
nichtet haben. Außerhalb? welch Loos konnte ich 
ihr biethen? Ich, der Arme, ihr, die an Reichthum 
und Überfluß von zarter Jugend gewohnt, vom 
Fluch des alten Vaters beladen, im rauhen Aus— 
lande, im Gewaude der Dürftigkeit, ermangelud 
alles früher Gewohnten, bald erlegen ſeyn würde 
unter der Laſt der Schmerzen; und ſelbſt — hätte 
ihre unendliche Liebe zu mir dieß Alles ſie tragen 
gelehrt, konnte ich die Thränen, die Seufzer auf 
mich laden, der Geliebten, die doch-früh oder ſpät 
in einſamer Stunde ihrer Bruſt, ihrem Auge ent⸗ 
ſchlüpft wären? Nein! hier galt nur furchtbares 
Entſagen auf ewig an alle — alle Lebenshoffaune 
gen; und der einzige Troſt: daß noch, getrennt 
durch Verhältniſſe und Gebirge, doch die Herzen 
für einander ſchlagen, das Andenken, das heilige, 
reine, nicht geraubt werden kann; blieb uns fo. —“ 
„Den eigenen Gram mir zu mehren, mußten 


127 


um dieſelbe Zeit die erſten Wolken über Chiarens 
Lebenshimmel ziehen. Auch ſie ſollte von dem Mann 
ihrer Liebe ſich trennen, zwar nicht lange, wie er 
ſagte, da nur auf einige Zeit — in ſein Vaterland 
zurück zu kehren er vorgab, um ſeine Angelegenhei— 
ten in Ordnung zu bringen; dann wollte er in der 
Schweiz ſich ankaufen und an ihrer Seite in fried: 
licher Stille ſeine Tage verleben. Der bange Schmerz 
ihrer Bruſt beym Scheiden war eine Vorahnung 
ihres künftigen Geſchicks.“ 

„Ich übergehe die Empfindung, die die Tren⸗ 

nung von Roſalien in mir erregte, und wenn es 
Troſt gewähren kann, dem eigenen ſchmerzlichen 
Gefühl in der Seele der Geliebten wieder zu be— 
gegnen, wie chromatiſche Töne ſich finden, ſo ward 
mir wenigſtens der, die ſüße Überzeugung min⸗ 
deſtens, daß unvergeſſen, wie ihr Bild in meinem 
Herzen, das meine in dem ihren fortlebt.“ 

„Ich begab mich mit meiner Schweſter nach 
Verona. Es war Chiarens Wunſch, indem, 5 
den deutſchen und ſchweizeriſchen Gränzen ſich w 

ſend, fie minder glaubte, getrenar von dem zu 05 
der ihr Alles war. 

„Wir verlebten hier ein Jahr; ich in tiefer, 
jede Zerſtreuung verſchmähender, Trauer; Chiara 
in Hoffnung, in Beſorgniß über die von einer Zeit 
zur andern ſich verzögernde Wiederkehr Arlforts, 
deſſen damahls noch oft einlaufende Briefe ihre ein- 
zigen Freuden waren. Es läßt ſich denken, daß ich 


128 

in meiner Lage der ſchlechte Geſellſchafter eines 
Herzens ſeyn mußte, das Troſt und Beruhigung 
bedurfte, für die ſich ihm, wie Schatten, aufdrin— 
genden Ahnungen trüber Zukunſt; daß mein Auge 
ſich nicht eignete zu bemerken, wie mehr und mehr 
das offene, freundliche Geſicht der Schweſter ſich 
umflorte, die, als ſchon beynahe Gewißheit ihr ward, 
daß mit ihrer Bruſt heiligſten Gefühlen nur ein 
Spiel getrieben worden, alles anwendete, dem Bru— 
der ihrer Seele Stimmung zu verbergen, um we— 
nigſtens ihm dieſen Schmerz zu erſparen. Als aber 
endlich Arlforts Briefe, nachdem ſtufenweiſe fie käl⸗ 
ter, kürzer geworden waren, ganz ausblieben, da 
vermochte das arme Mädchen nicht länger allein zu 
tragen. Mit dem ganzen Gewicht ihres Leids warf 
fie ſich an das eim ige Herz, das in der weiten 
Welt ihr ſchlug, das feibft fo gebrochen, fo arm 
war — und ſtrömte ihre Klagen au. Damahls 
fühlte ich, was es heißt, wenn kalte Verzweiflung 
ſtarr und eiſig zu uns tritt, wenn man auf den 
Punct kömmt, zu wähnen: daß Unglückliche gebo⸗ 
ren werden, um ſchadenfrohen Schickſalsmächten 
zum Spiel zu dienen. Ich ging mit meiner Schwe- 
ſter nach Deutſchland, Ruhe für fie, oder für den, 
der fo grauſam den Frieden der Harmloſen ſtörte, 
und für mich ein Grab zu finden. Wir kamen nach 
“rich erkundigte mich nach Arlfort, feinem Thun 
und Treiben, denn Beyde, Chiara und ich, wir 
hofften noch — und höre — daß kurz vorher er ſich 


7 


129 
verheirathet hat. Ich gehe in ſeine Wohnung, mit 
dem feſten Vorſatz, ihn ſelbſt in den umſchlingenden 
Armen ſeiner Gattinn zu morden, und — bey dem 
ewigen Gott! er wäre mir nicht entgangen — aber 
zu ſeinem, zu meinem Heil, treſſe ich ihn nicht, 
höre, daß in einigen Tagen erſt von einer kleinen 
Reiſe er wiederkehrt.“ 

„Es war unmöglich, Chiaren ihr Geſchick zu 
verbergen, eben ſo, daß meinen finſteren Vorſatz ſie 
nicht durchſchaute. Zu wohl kannte ſie des Bruders 
Herz, um nicht zu wiſſen, wie Liebe zu ihr, wie 
beleidigtes Ehrgefühl, gepaart mit innerem, eigenem 
Schmerz, nicht zu allem mich hinreißen konnten, 
und ihr Flehen, ihre Thränen, ihre Vorſtellungen 
rufen und beſchwören eine beſſere Empfindung, die 
Vernunft wieder in mir auf.“ 

„Erlaſſen Sie mir die Schilderung der Lage, 
in der, von bitterm Haſſe gegen alle Weſen ergrif— 
fen, ich mit meiner unglücklichen Schweſter *** 
verließ. Die Ausübung meiner Kunſt, ſonſt mein 
Troſt, war jetzt mir Pein und nur die Sorge um 
ein theures Daſeyn, um Chiaren, deren einzige 
Stütze ich war, vermochte mich aufrecht zu halten. 
So kamen wir endlich nach Wien. Hatte mein, 
hatte Chiarens Gefühl an innerer Stärke nichts 
verloren, ſo hatte doch Zeit und Veränderung nicht 
verfehlt, wohlthätig in äußerer Ruhe wenigſtens, 
auf uns zu wirken und die gute Aufnahme, die 
mein Talent dort fand, uns bewogen, auf länger 


150 

da zu bleiben, ein Vorſatz, der nur geſtört wurde 
durch Arlforts Ankunft in demſelben Ort. „Arlfort 
in Wien!“ rief ich erſchüttert aus. 

„So it 85,” entgegnete mir Francesco, „und 
Sie werden leicht begreifen, wie es mie, wie es 
Chiaren unmöglich war, in den Ringmauern einer 
Stadt mit dem zu leben, ohne — — 

„Ja wohl,“ nahm ich das Wort, „und dop— 
pelten Dank ſage ich Ihnen nun dafür, daß Sie 
mir vergönnten, Sie zu begleiten; ich fühl's, ich 
wäre dem Schatten Mariens meineidig geworden.“ 


8. 


In der Gegend von Zürich ließen wir uns nie— 
der. Ich wandte einen Theil meines Vermögens, 
über den ſchnell ich diſponiren koante, an, auf 
längere Zeit uns in einer kleinen, in romantiſcher 
Gebirgsſchlucht verſteckt gelegenen, Villa einzurich— 
ten, deren Lage mir gefiel, und wo ich in Geſell— 
ſchaft Francesco's und Chiarens, die ich nicht mehr 
zu laſſen dachte, leben wollte. 

Die Thätigkeit, in die ich durch Beſorgung 
alles dazu Nöthigen gerieth; der Geſchwiſter mir 
ſo ſehr zuſagender Umgang, die gleiches Schickſal 
meinem Herzen näherte; die mich umgebende, er— 
habene, große Natur, vor allem das Gefühl, doch 
wieder Menſchen zu haben, an die ich mich ſchlie— 
ßen konnte, die meine Empfindungen erwiederten — 


131 
ungen an, wie Lichtblicke die Nacht zu zerſtreuen, 
die bisher mich umhüllte, und eh' ein halbes Jahr 
verfloß, fühlte ich von neuem Leben mich durchs 
drungen. 

Waren unſere Geſpräche anfänglich nur Ergie⸗ 
gungen gegenfeitigen Leides geweſen, fo fingen nun 
nach und nach fie an, einen heiterern Charakter an- 
zunehmen bey Chiaren und mir, und auch auf den 
fonft nur trüben und bitteren Francesco verfehlte 
nicht dieß günſtig einzuwirken und ſeine oft bis zum 
ſchroffen gehende Kälte minderte ſich vor dem wär— 
meren Lebenshauch, in dem er anfing ein Paar Her— 
zen ſchlagen zu ſehen, an die Natur, Liebe und 
Freundſchaft ihn band; denn unmerklich und leiſe, 
gezeitigt von zartem Vertrauen und gegenſeitiger 
Achtung, war in Chiarens und meiner Vruſt die 
Bekanntſchaft in Freundſchaft übergegangen, und 
ſtieg an meinem Lebenshimmel die Aurora ſüßer 
Gefühle wieder auf, ſo durfte dieß Mahl ich mit 
Zuverſicht hoffen, daß ſie, die ſo leiſe, klar und 
milde mir erſchien, zu einem dauernd ſchönen Tage 
ſich verklären würde. Mich band kein hindernd Bers 
hältniß, und — was an Erfahrung der Jahre mir 
abging, glaubte in der Schule des Schmerzes, die 
ich durchwandelt war, ich mir erworben zu haben. 
Bis auf die letzte Spur ſchwanden in meiner Seele 
die trüben Bilder der Vergangenheit, nur ein ſanf— 
tes Mahnen, wie das gefühlvollen Herzen fo theure 
Angedenken lieber Hingeſchiedener iſt, blieb mir, 


132 


und Chiara's Gemüth erſchloß ſich zu neuem Leben, 
wie die zarte Blume ſich erſchließt, wenn vor mils 
deren Frühlingslüften des Winters eiſige Stürme 
entfliehen. 

Ich entdeckte Francesco den in mir erftandenen 
Wunſch, auf ewig mit ſeiner Schweſter mich zu ver— 
binden. „Haben Sie,“ entgegnete er mir, nachdem 
er mich angehört, „ſchon mit ihr geſprochen?“ „Ich 
wünſchte,' war meine Antwort, „daß Sie es thä⸗ 
ten; zwar hoffe ich, ja ich glaube es, Chiara theilt 
mein Gefühl; dennoch möchte ich, wenn frohe Er: 
wartungen mich vielleicht irre führten, wenn, was 
Liebe mir zu ſeyn ſcheint, nur warme Freundſchaft 
wäre, nicht Chiara in die unangenehme Lage ſetzen, 
in die nothwendig ein weiblich Herz geräth, wenn 
ein Mann, dem Freundſchaft es ſchenkte, und mei: 
ter nichts ihm gewähren kann, wärmere Empfin— 
dungen in Anſpruch nimmt. Ich erwarte,“ fuhr ich 
fort, „von der Hand ihrer Schweſter das Glück mei— 
nes Lebens, die goldenen Tage wieder, die ein trau— 
riges Verhängniß mir nahm, aber — wenn gleich mit 
bitterem Schmerz, würde doch lieber ich dieſer 
mir ſo ſüßen, einzigen Hoffnung entſagen, würde 
lieber von Menſchen, die mir ſo lieb, die die ein— 
zig mir theueren, find, auf ewig mich trennen, wenn 
es nöthig wäre, und aufs neue unſtät und flüchtig 
meine dunkle Bahn allein gehen, als das Gefühl 
tragen wollen: daß nicht frey und fröhlich auch ihr 


135 
Herz mir gewährt, was mit Sehnſucht das meine 
wünſcht.“ 8 

Da drückte mir Francesco die Hand, ſpre— 
chend: „Sie ſind ein guter, rechtlicher Mann, und 
glauben Sie mir, es würde auch mir ein Strahl 
von Freude wieder aufgehen, wenn zwey mir theure 
Weſen verbunden ein Glück endlich fänden, das ſo 
lange ihre Tage floh. Ich gehe ſogleich zu Chiaren 
und der Freund wird dem Freunde nicht ſäumen 
Nachricht zu geben.“ 

Er ging, und mit wahrem Herzklopfen ſah ich 
feiner Wiederkehr entgegen. War gleich die Empfine 
dung, die ich damahls für Chiaren fühlte, nicht 
ganz jene, die früher mein Herz bewegte; durch— 
ſchauerte mein Inneres nicht jetzt ſo, wie damahls 
eine glühende, brennende Sehnſucht, ſo war es doch 
gewiß nicht minder gut, als das Gefühl, was an 
Marien mich band. Jenes war das erſte, ſtürmi— 
ſche Erwachen aller Triebe, dieſes mehr die ruhig 
heitere Gemüthlichkeit einer Serle, die nach ſchwe— 
ren Leiden endlich anfängt, ſich wieder empor zu 
richten, des Lebens ſich zu freuen. Zu Marien zog 
mich ein Strom, zu Chiaren ein janfter Bach, und 
jene Unruh, jene Beklommenheit, jene Angſt ſelbſt, 
die das Übermaß der veidenſchaft ertheilt, wenn fern 
der Geliebten man ſich fühlt, war mir hier fremd. 
Hätte man nicht glauben ſollen, daß ein ſo ſanft 
erquickliches Gefühl, wie meine Bruſt jetzt hegte, 
ein ewig dauerndes hätte ſeyn müſſen? Ich glaubte 


134 

es, ich glaubte es wahrlich damahls, handelte dar⸗ 
nach und — gründete auf's neue mein Elend, ins 
dem ich mein Glück zu bauen wähnte, riß auf's neue 
ein Herz in den Strudel hinab, der, wie ein Schick⸗ 
ſalsfluch, jedes ergriff, das mir ſich mit Liebe 
nahte. f 

Wenn ich hier meiner Geſchichte vorgreife, eine 
Kataſtrophe andente, die ſpäter erſt eintrat, fo ger 
ſchieht es mit Aufopferung des Intereſſe, das die, 
die dieſe Blätter leſen, vielleicht an dem Lauf mei⸗ 
nes Lebens nehmen; ich thue es aber, um eben ih: 
nen eindringlicher zu zeigen, wie leicht man ſelbſt 
ſich täuſcht, und wie tief und ſchrecklich man ſo oft 
dafur büßen muß; und wie das Gefühl hohen Wohl— 
wollens, das als Liebe ſo leicht erſcheint, noch nicht 
hinreicht für ein ganzes Leben einer tief empfinden— 
den, nur für ſchwärmeriſche, auf dem höchſten Gi— 
pfel ſtehende, Liebe geſchaffenen Bruſt, das ruhi— 
gern, minder tieferen Gemüthern wohl genügen 
mag, dieſe aber bald leer läßt, und das Leere bey 
einem Herzen, organifirt wie das meine, nur auf 
Abwege führt. 

Genug — ich glaubte Chiaren zu lieben, in⸗ 
dem die Empfindung meiner Bruſt nur Freund⸗ 
ſchaft war; ich zweifle ſogar nicht, daß mein Ge⸗ 
fühl, weil es auf Hochachtung gegründet war, die 
das wahrhaft liebenswürdige, reine Mädchen ſo ſehr 
verdiente, würde ein ewiges geworden ſeyn, hätte 
nur ſie ich noch geſehen, hätte mein Geſchick mich 

1 


150 
nie aus ihrer Nähe geführt. — Doch der Berfolg 
meines Lebens wird die Verirrungen zeigen, in die 
ich gerieth, in die ein Herz geſtürzt ward, und ſich 
ſtürzte, deſſen einziger Fehler zu glühende Leidens 
ſchaftlichkeit war — und ich nehme den Faden der Er— 
zählung wieder auf. 

Ich war ausgeritten, während der Zeit, daß 
Francesco mit ſeiner Schweſter ſprach; theils, um 
die Erwartung meiner Bruſt zu beſänftigen, theils 

durch mein im Hauſeſeyn des ſo zorten Mädchens 
Gefuhl weniger zu beängſtigen, wenn vielleicht, 
was ich in dieſem Augenblick wahrlich fürchtete, ſie 
gegen mich entſcheiden ſollte. Ich erhielt es über 
mich, erſt gegen Abend zuruck zu kehren. Mit 
freundlichem Geſicht trat mir Francesco entge— 
gen, und drückte mich an fein Herz. Dieſer, ob— 
wohl ſtumme Empfang, zeigte mic doch, daß mei— 
ne Wuünſche ihrer Erfüllung ſich nahten. An feis 
ner Hand betrat ich Chiarens Zimmer und wie 
ein Engel, mild und ſanft, ſchwehte die liebliche Ge⸗ 
ftalt auf mich zu. Da legte Francesco unſere Hän⸗ 
de zuſammen und mein Arm umſchlang das bebende 
Madchen. 

Ich fühlte mich glücklich, denn ich 139, Chiara 
war es. Längſt hatte der Funke der Zuneigung zu 
mir in ibrer Bruſt geglimmt; ſie liebte mich wahr⸗ 
haft rein und treu, und ihre unſchuldige Kindesſeele 
überzog ein goldener Morgen. — 

Längſt hatten unſere Nachbarn mit denen in 


136 


einigem Umgang wir ſtanden, gemuthmaßet, daß 
ein zarter Gefühl Chiaren und mich vereinte, ſelbſt 
Hals in uns Beyden wohl noch nicht der Gedanke 
daran entſtanden war; wie denn ſo gern und all— 
gemein, beſonders das weibliche Geſchlecht, dieß ſo— 
gleich vorausſetzt, ſobald ein Mann öfter in der Nä— 
he eines Mädchens erſcheint, und wie viel mehr muß— 
te es hier der Fall ſeyn. Ich verfehlte daher nicht, 
da dieß mir nicht entgangen war, einige Tage 
nachher mit Chiaren und Francesco fie zu beſuchen, 
und die Schweſter meines Freundes als meine Braut 
vorzuſtellen. Unter den wenigen Häuſern, in denen 
ich öfter mich einzuſtellen pflegte, war das des Hof— 
raths W ', der mit feinen Angehörigen ſeit meh— 
reren Jahren in dieſer Gegend lebte, dasjenige, ſo 
ich am häufigſten beſuchte. 

Der ſchon ziemlich bejahrte Hausherr und feine 
Gattinn gehöcten unter die in jeder Hinſicht gebil⸗ 
detſten Menſchen, die ich kennen lernte, und nie 
verließ ich ihr Haus, ohne in ihrer liebenswürdig 
angenehmen Unterhaltung Nahrung für Kopf und 
Herz gefunden zu haben. Ihre Familie beſtand aus 


einer Tochter und einer entfernteren älternloſen 


Verwandtinn, beyde ſchon erwachſen. So wie zwi— 
ſchen mir und dieſer Familie, hatte ſich auch zwi— 


ſchen Chiaren und jenen beyden Mädchen, ein an 


genehm freundſchaftliches Verhältniß gegründet, 
und es läßt ſich denken, daß Wins Haus nicht 


/ 


das letzte war, wo wir jetzt vorfuhren, und die 


137 


aufrichtige Theilnahme dieſer guten Menſchen trug 
nicht wenig! zur Erhöhung unſeres beyderſeitigen 
Glückes bey. 

Ich hatte den plan gemacht, mein ſämmtli— 
ches Vermögen aus meinem Vaterlande zu nehmen 
und mich in irgend einer anmuthigen Gegend Deutſch— 
lands, am liebſten an den Rheinufern, anzukaufen. 
Chiaren und ihrem Bruder war es recht, obgleich mir 
nicht entging, daß gern die erſtere an unſerm jetzi— 
gen Wohnort geblieben wäre. Dieſes Vorhaben theil— 
te ich auch dem Hofrath mit, und obſchon gegen die 
Vernünftigkeit dieſer Idee gerade nichts einzuwen— 
den war, fo nieinte er doch auch: er hielte für mich 
beſſer, den Ankauf eines Landgutes zu unterlaſſen, 
lieber, wie bisher, als Particulier zu leben, da, ſo 
weit er mich kenne, ich gar keine Kenntniſſe von 
ländlicher Wirthſchaft hätte, und ihm auch nicht ge= 
eignet ſchien, mir welche zu erwerben. Doch in mei⸗ 
nem Innern hatte ſich dieſe Anſicht einmahl feſtge— 
ſetzt, und ich beſchloß dabey zu verharren; auch wolle 
te ich nur dann erſt, nach ihrer Ausführung, meiz 
nem Glück die Krone aufſetzen, mich mit Chiaren zu 
verbinden. 

Es könnte ſcheinen, als wenn dieſes freywilli— 
ge, durch nichts nöthig gemachte Aufſchieben mei⸗ 
ner Vereinigung mit der Geliebten, ſchon einen An— 
ſtrich von Kaltſinn verriethe, doch man würde mir 
Unrecht thun, bey dieſer Muthmußung. Der Gedan— 
danke, Chiaren ein freundliches Eigenthum zu be⸗ 


en 


138 

reiten, ſie als die ſchmückende Gottheit, als meines 
Herdes Palladium in mein Haus zu führen, war der 
einzige, der mich dazu trieb, und ich geſtehe offen — 
daß nur der Reitz, mit dem ich mir ihn ausmahlte, 
die Entſagung mir konnte vergeſſen machen, die das 
durch ich mir auflegte, und die nothwendig nicht ganz 
kurz feyn konnte, Daß eine Trennung von Chiaren 
dadurch würde veranlaßt werden, ahnete ich nicht, 
indem alles mit Briefen in meiner Heimath ich 
glaubte abzumachen, die ich auch ohne Säumen forts 
ſchickte. 

Um dieſe Zeit erhielt Francesco plötzlich ein 
Schreiben aus Italien. Es war von einem Freun⸗ 
de, der ihm die Nachricht ertheilte, wie der Vater 
feiner Mütter geftorben, deſſen Gattinn aber, menſch— 
licher geſinnt und jetzt die Stimme der Natur in ih⸗ 
rer Bruſt höher ehrend., als eitler Vorurtheile jäm— 
merlichen Wahn, ſich ſehne, an den Kindern ihrer 
Tochter gut zu machen, was an ihr, was an der 
Geſchwiſter Vater ſie verſchuldet. Sie möchten daher 
nach Venedig eilen, den Wunſch der akten Frau zu 
erfüllen, deren einziges Verlangen noch wäre, vor 
ihrem Ende ihre Enkel zu ſehen. Francesco theilte 
mir ſogleich dieſen Brief mit und ich kann ſagen, 
daß, mußte ich mich gleich freuen über den uner— 
warteten Sonnenblick im Leben mir lieber Menſchen, 
doch ſein Inhalt mir höchſt zuwider war, da eine 
Trennung von Chiaren er mir ankündigte, deren 
Nothwendigkeit zu ihrem Glück weſentlich ſchien, 


139 
denn nimmer würde des frommen Mädchens zart: 
fühlende Seele ſich beruhigt haben, hätte den Wunſch 
einer alten, ſo nahen Verwandten ſie unerfüllt ge— 
laſſen. 

Die Reiſe der Geſchwiſter ward alſo beſchloſſen 
und verabredet, wie die Zeit ihrer Abweſenheit ich 
benutzen wollte, den Plan zu unſerem ferneren 
Leben auszuführen, und dann, wenn alles ich been: 
det, von Venedig ſie abhohlen ſollte, wenn nicht etwa 
eher noch an unſern jetzigen Wohnort ſie zurückkehren 
würden. 

Mit Heiterkeit und Ruhe der Seelen ſchieden 
wir alſo von einander, und nicht jener Sturm durch— 
zuckte uns, der wohl die Herzen zu ergreifen pflegt, 
wenn Trennung die Loſung iſt, denn wir Alle glaubs 
ten ja bald auf ewig uns wiederzuſehen; wir Alle 
ſahen in dieſem Moment des Scheidens ja nur ein 
leicht vorübergleitendes Wölkchen, hinter dein deſto 
ſchöͤner unferes Lebens Sonne hervortreten würde, 
da eine heilige Pflicht es herãfgeführt hatte, da 
keiner von uns das dunkle Loos ahnen konnte, das 
bald einen treffen, keiner erwarten konnte, daß 

ein fremdes Weſen zerſtörend zwiſchen uns treten 
würde. f 


9. 


So ſah ich mich denn wieder allein und mau 
Wird mir glauben, daß der mir ſonſt fo liebe Auf: 


140 
enthalt in meinem Hauſe, das ſo verödet nun mir 
ſchien, ſeit keine befreundeten Geſtalten darin mir 
mehr entgegenkamen, mir drückend und zuwider 
war. 

Dieſem wohlthuenden Gefühl zu entfliehen, fuchs 
te ich meine Nachbarn fleißig heim, beſonders Hof: 
rath W.“, und bald war ich der tägliche Geſellſchaf— 
ter dieſer Familie, deren Liebenswürdigkeit ich ſchon 
oben bemerkt habe. 0 

Hatte in früherer Zeit mich hauptſächlich und 
ausſchließend Ws Unterhaltung da gefeſſelt, fo 
fand jetzt mein neuerwachter Lebensſinn ſelbe nicht 
minder in der der Frauenzimmer des Hauſes. Be— 
ſonders zog mich Antoniens — der bereits erwähn— 
ten Verwandtinn der Familie — geiſtvolles, mit 
glänzendem Witz und Lebhaftigkeit gepaartes Weſen 
an, und nie vergingen mir Stunden ſo ſchnell, ſo 
heiter, als die, die ich mit ihr verplauderte. Die 
zarte Empfindſamkeit ihres Herzens, ihre Beleſen— 
heit, die feine Art der Wendungen ihrer Geſpräche, 
die Lebendigkeit, mit der jeden hervorſtechenden Ge— 
danken fie auffaßte, ihr freundlich neckender, ja muth— 
williger, aber nie hämiſcher Spott, den fo gern fie 
ergoß und der einen rechten verwandten Anklang in 
meinem Janern fand — alles dieß feſſelte mich mit 
jedem Tage mehr, und ohne daß auch nur im min⸗ 
deſten ein ander Gefühl, als das des Gernſehens in 
meiner Bruſt entſtanden wäre, konnte ich recht ſorg⸗ 
ſam die Stunden zählen, bis die ertönte, in der ich 


144 


fie wiederſah, die die wahrhaft heiteren meines Le⸗ 
bens wurden. 

Mit Chiaren unterhielt ich, wie leicht zu den— 
ken, einen lebhaften Briefwechſel, und hatte frü— 
her mich des ſanften Maochens ſtill beſcheidene Lie— 
benswürdigkeit angezogen, ſo waren ihre geiſtvollen, 
das tiefſte Gemüth athmende Briefe, jetzt ein neues 
Band, das um mein Herz ſich legte. Sie war in 
der That eines jener in ſich lebenden Weſen, die eine 
Welt des Schönen in den geheimen Tiefen des Bus 
ſens tragend, mehr mittel- als unmittelbar ſich aus⸗ 
zuſprechen wiſſen, deren lebendige Gluth und zartes 
Gefühl jenen antpruchloſen Blumen gleicht, die nur 
in milder Abendkühle, in verſchwiegenem Schatten, 
ihre reinen Düfte verbreiten, und daher ſo leicht von 
den oſt minder werthreichen mit ſtolzem Prunk ſich 
erhebenden Geſchwiſterpflanzen verdunkelt, von dem 
Auge der Menſchen verkannt werden. 

Sie war mit ihrem Bruder glücklich in Vie 
dig angekommen und von offenen Liebesarmen eme 
pfangen worden, denn was frühere Härte verſchul— 
det an ihre Altern, ſuchte nun den Kindern man zu 
vergüten, da eine beſſere Einſicht heiliger Geſuge 
in der Bruſt ihrer Großmutter aufgegangen war, 
und Chiarens frommes kindliches Herz ſchwamm in 
einem Meer von Wonne, das ſelbſt die Eutfernung 
von mir nicht zu trüben vermochte, da ihr ſtilles 
Gemüth mit feſtem, ruhigem Vertrauen nur einer 
heiteren, belohnenden Zukunft, eutgegenſah. Ach! 


212 

hätte der Friede, der in ihrer Kindesſeele jetzt lag, 
auch in meinem leidenſchaftlichen Buſen einen Strahl 
feiner beſeligenden Ruhe geworfen, wie viel Schmer⸗ 
zen wären ihr, wären mir erſpart worden. — Doch 
— andere Fiebern hatte mein Herz, und fortgetrie⸗ 
ben vom Wirbel ſtürmiſcher Empfindungen, begann 
jetzt eine Lebensperiode, wo bald, aeriifen aus ge— 
träumten Paradieſen, ich zerfallen ſollte mit mir 
ſeloſt: ein berzweifelnder Schmerz, wie nie ich ihn 
gefühlt, geahnt früher, mich ergreifen ſollte, furcht- 
barer dadurch noch, daß jeder Blick auf mich zur 
Hölle mir ward, jede Erinnerung mir „ſchuldig!““ 
zurief, und ich, verzagend an Allem, einem Ab 
grunds rande zutaumelte, vom dem nur eines Engels 
rettende Hand mich zu ziehen vermochte. 

Ich habe bereits erwähnt, wie Antoniens hei 
terer Umgang mich feſſelte. Mit jedem Tage war 
dieß der Fall mehr, und wenn meinem Innern 
auch die Idee einer aufkeimenden Leidenſchaft nicht! 
klar wurde, ja, wenn ſelbſt in jenen Tagen ſie 
wirklich mir noch fremd war, ſo näherte ſich doch 
meine Empfindung für das geiſtreich liebenswürdige 
Mädchen der Freundſchaft höchſter, wärmſter Stufe, 
und jeder wird wiſſen, aus ſeines Lebens eigener 
Erfahrung, wie klein von dieſer der Schritt zur 
Liebe iſt, wie ein Zufall, ein Augenblick, unbewußt 
uns ſelber, dahin führen kann. — Schon war es 
dahin mit mir gekommen, daß, faſt wider Willen, 
das Herz Vergleichungen anfing: daß Tage und 


145 
Wochen vergehen konnten, in denen Chiarens Bild 
mir ſelten vor das innere Auge trat, dafür Anto— 
niens milde Stimme wie Flötentöne ſo ſüß, in 
meiner Einſamkeit mich umwehte, ihre belebte, mir 
ſo wie noch nie eines Frauenzimmers Unterhaltung, 
Genuß gewährenden Reden, mich ganz erfüllten, 
und die oft wortkarge Chiara in Schatten zu kre— 
ten anfing, und aus der Geliebten, für die mein 
Herz ſie ja erklärt, eine theure, verehrte Freundinn 
wurde; ein heiliges Weſen, aber doch nur — eine 
Freundinn! — 

Antoniens Seele war zu rein, um nur zu 
muthmaßen, welche bedeutende Veränderung ihr 
Umgang in meinem Verhältniß zu Chiaren hervor— 
brachte, und augenblicklich würde ſie ſich auf immer 
von mir entfernt haben, hätte die leiſeſte Ahnung 
davon ſie gehabt; ſo betrachtete ſie mich als einen 
lieben Freund, werth ihr durch den Einklang ge— 
genſeitiger Ideen, durch zarte Theilnahme an ſei⸗ 
nem Loos, am meiſten durch die Liebe und Neigung 
eines Mädchens, das fie wahrhaft ſchätzte feiner. 
Engelsgüte wegen, deren treue Freundinn ſie war, 
und deren Lebensglück ich ja gründen follte. Der 
Erfolg wird zeigen, wie dieß damahls gewiß Anz. 
toniens Anſicht war. Von nichts lieber unterhielt 
ſie ſich mit mir, als von Chiaren, von dem Gange 
unſerer Verhältniſſe, von unſerer Zukunft und von 
der Betreibung meiner hierauf Bezug habenden An: 
gelegenheiten. 


— 


144 

Meinem erſt entworfenen Lebensplane treu, 
hatte ich mit emſiger Eile ihn auszuführen geſucht. 
Hinderniſſe mancher Art aber verzögerten deſſen fo 
ſchnelle Vollführung, wie ich ſie mir gedacht, und 
ich ſah bald, wollte ich raſch zum Ziele, daß der 
Weg des bloßen Briefwechſels nicht hinreichen 
würde, und daß eine Reiſe weit zweckmäßiger ſeyn 
dürfte, die ich ja jetzt, getrennt ohnehin von Chia 
ren, um ſo leichter und fröhlicher zu unternehmen 
beſchloß, da mit der Wiederkehr einer heiteren Le— 
bensanſicht, auch der Wunſch ſich in mir verjüngte, 
jene ſchönen Gegenden meines Vaterlandes noch ein 
Mahl zu durchſtreifen, jetzt fie zu genießen, die früs 
her ich, verloren in meinem Schmerz, nicht beach— 
tet hatte. 9 

War gleich Antonie mir werth und lieb, W* s 
ganzes Haus theuer, ſo war doch meine Neigung 
noch nicht tief genug gegründet für die erſte, um 
mich abhalten zu können, und die meinem Herzen 
noch immer gegenwartige Idee eines Lebens an 
Chiarens Hand beſchleunigte dieſen Entſchluß, da 
er mich der Erfüllung nähern follte. Ich verfehlte 
nicht Chiaren ihn mitzutheilen, fo wie Antonien; 
Beyde ſtimmten mir bey und ich ſaͤumte nun nicht, 
ihn auszuführen. An mehrere Bekannte hatte ich 
mich bereits, wie ſchon erwähnt, gewendet, mir ei⸗ 
nen freundlichen, ländlichen Wohnſitz im ſüdlichen 
Deutſchland vorzuſchlagen. Manche Anerbiethungen 
waren mir deßwegen gemacht worden, mit eigenen 


145 
Augen ſie zu prüfen, nahm ich mir daher vor, zuerſt 
in jene Gegenden zu ziehen, und dann die nöthigen 
Ausgleichungen im Vaterlande zu beſorgen. 

Die Anſtalten zu meiner Reiſe waren bald ge— 
troffen, der Freundſchaft des Hofrath W*** über⸗ 
gab ich die Auffiht über meine bisherige Wohnung, 
ein freundlicher und ſteter Briefwechſel zwiſchen den 
Gliedern jener Familie und mir wurde verabredet, und 
mit fröhlichen Ausſichten und heiterem Gemüth 
verließ ich die Schweiz, den deutſchen Boden wie— 
der zu betreten. 

Es liegt nicht im Plan dieſer Blätter, die eine 
Darſtellung meines Lebens, meiner Empfindungen 
geben, eine Beſchreibung jener, für mich ſo fröhlich 
heiteren Neiſe zu liefern; es ſey mir bloß erlaubt, 
anzuführen, daß, wenn bey meinem erſten Durch— 
fluge dieſe lachenden Gefilde meiner umflorten Phan— 
taſie nur Grabesfluren ſchienen, jetzt dafür mit alk 
ihrem Zauber ſie zu meinem Geiſte ſprachen, denn 
ich war ja ruhig, glücklich jetzt. — Die Ausfiche 
auf Chiarens Hand war mir lieb und theuer, der 
Sinn für zarte Freundſchaft war in mir entglom— 
men; ich wußte, es gibt Weſen, die dich lieb haben, 
Herzen, die für dich ſchlagen, die dich verſtehen, 
dich ſchätzen, denen dein Gedächtniß ein theueres 
iſt, und wahrlich, der muß nie erkannt haben im 
Gemüth das heilig Hohe reiner Empfindungen, 
den dieſer Gedanke nicht froh zu machen vermag— 

Mit fröhlicher Eile hatte ich bereits mehrere 
Unterh. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. G 


146 9 

der Rheingauen durchſtreift, theils geleitet von dem 
Plan meiner Zukunft, theils durch den Augenblick 
beſtimmt, und in faſt poſttäglichen Briefen nach der 
Schweiz und Venedig die kleinen Ereigniſſe meiner 
Reife, meine Anſichten und Aus ſichten, mitgetheilt, 
als ich in Allinch, wo eine mir aus früheren Zeis 
ten entfernt bekannt gewordene Familie ich wieder— 
fand, einige Tage ich zu bleiben beſchloß. Die ro— 


mantiſche Schönheit der Gegend, die Artigkeit, mit 


der ich, eingeführt durch jene Dekannten, in den 
Zirkeln des Orts aufgenommen wurde, vor allem 
die Ausſicht, die ſich mir eröffnete, hier vielleicht fo 
ein ländlich ruhig Plätzchen, wie ich ſuchte, billig 
und ſchnell zu erhalten, verlängerten mein Daſeyn 
von Tagen zu Wochen, und bald ſollte noch ein 
Beweggrund mir werden, der, nicht zu meinem 
Heil, mich auf lange band. 

Unter denen, die ich kennen lernte, befand ſich 
auch ein Baron von ***, ein ältlicher Mann, eine 
mir anfangs höchſt unintereſſante Erſcheinung, die 
mic aber nur zu bedeutend wurde. Er hatte in 
jüngern Jahren an einem deutſchen Fürſtenhofe eine 
nicht unanſehnliche Rolle geſpielt, war ein Lebemann 
erſter Claſſe geweſen, zum Theil, ſo viel Jahre und 
Umſtände es zuließen, noch ein feiner Hofmonn 
nicht gunz ohne Gutmüthigkeit, ſogar Herzlichkeit 
zuweilen, ein freundlicher Geſellſchafter, und lei: 
Denſchaftlicher, aber böchſt unintereſſirter Spieler. 

Seine häufigen Einladungen, ihn auf ſeinem 


147 
nur zwey Stunden von A “'ich gelegenen Gute 
zu beſuchen, ließ ih anfänglich völlig unbeachtet, 
und nur nach mehrmahliger Wiederhohlung ent⸗ 
ſchloß ich mich endlich, mehr um dem Anſchein von 
Unart zu entgehen, dem ſtetes Verweigern mich 
ausſetzen mußte, als in der Erwartung, Genuß und 
Vergnügen an einem Orte zu finden, deſſen Beſitzer 
im Ganzen ſo wenig Übereinſtimmendes mit mir 
hatte — ſein Begehr zu erfüllen. Ich ſetze mich da— 
her eines Tages, an einem beſonders ſchönen More 
gen auf's Pferd, und ritt ohne weitere Begleitung 
nach Hochberg. Angekommen daſelbſt, finde ich in 
einer höchſt anmuthigen und geſegneten Gegend ein 
freundliches, faſt ganz neu erbautes Dorf, an deſ— 
ſen Ende ein geſchmackvolles, aber einfaches Land— 
haus — die Wohnung des Barons — liegt. Auf 
mein Befragen höre ich, der Herr ſey gerade nicht 
vorhanden, ſeine Gemahlinn aber gegenwärtig. 
Gleichgültig bin ich eben im Begriff, mein Pferd 
zurückzuwenden, als ich in den dunklen Alleen des 
an das Haus ſtoßenden Gartens, ein weibliches 
Weſen ſich ergehen ſehe, deren zierlich anmuthige 
Geſtalt meine Neugier erregt. Ich hielt ſie für eine 
Tochter des Hauſes, und wende mich fragend deß— 
wegen an den noch in der Thür ſtehenden Diener, 
als die Pforte des Gartens ſich öffnet, und die 
Dame heraustritt. Noch in der Meinung, eine 
Tochter des Barons vor mir zu ſehen, ſpringe ich 
ab, und mache ihr als ſolcher mein Compliment. 

G 2 


148 

Mit einem feinen Lächeln berichtet ſie meine Vor⸗ 
ausſetzung dahin, daß ſie die Gemahlinn von dem 
iſt, fur deſſen Nachkömmlinginn ich ſie halte und 
erſucht mich ſehr artig, die Zurückkunft ihres Mans 
nes zu erwarten, die gewiß nicht lange ſich verzö— 
gern wird, und ich nehme freudig die Einla— 
dung an. 

Ich muß bekennen, daß Valeriens Erſcheinen 
— dieß war, wie die Folge mich lehrte, ihr Nah— 
me — bedeutend auf mich wirkte im erſten Augen- 
blicke. Sie war das vollendet ſchönſte Weib, das 
ich je ſah, und der leichte Zug von geheimer Trauer, 
der wie ein zarter Flor ihr wahrhaft den Himmel 
ſpiegelndes Auge umwehte, erhöhte mit unwider— 
ſtehlich magiſcher Kraft den holden Reitz ihrer lieb— 
lichen Geſtalt, und zeugte deutlich, daß nicht glück— 
lich ſie war. 

Es iſt nichts hinreißender für ein männlich 
Herz, als in dem klaren Kryſtall eines ſchönen Au— 
ges jenen ſtillen, wehmüthig ergreifenden Anklang 
eines verhehlten, umfonſt bekämpften inneren 
Schmerzes zu leſen, der, wie ein matter Perlen⸗ 
ſchimmer, einen unendlichen Zauber verbreitet, ſo 
wie ja auch an Frühlingsmorgen die Blume am 
ſchönſten ſcch darſtellt, wenn ein leichter Thau ihren 
zarten Kelch und Blätter noch umzieht. 

Ich fand an ihr nach einigen Stunden Unters 
haltung zwar keinen hochgebildeten, durch Leetüre 
geſchmückten Geiſt, aber Natürlichkeit und jenes 
lebendige Auffaffen mitgetheilter Ideen, das nie 


149 
verfehlt zu intereſſiren, und ich geſtand mir mit in— 
nerer Zufriedenheit das Vergnügen zu, das ihre 
Unterhaltung mir gewährte, wozu denn freylich der 
Zauberton ihrer ſchönen Stimme und die Anmuth, 
die die herrliche Geſtalt wie ein Duft umfloß, das 
ihrige ſehr beytrugen. f 

Des Herrn Barons langes Außenbleiben war 
von mir faſt gar nicht bemerkt worden, und als er 
endlich erſchien, und mich mit freundſchaftlichen Um— 
armungen überhäufte, kang ich wohl ſagen, daß 
nicht ganz mit derſelben innern Herzlichkeit ich ſie 
erwiederte, wie wohl ſonſt in meinem Charakter 
lag, da ſchnell bey feinem Eintritt in's Zimmer mie 
ein vergleichend Bild zwiſchen ihm und ſeiner Gat— 
tinn aufſtieg, die in dieſem Augenblick mir, wie die 
an einen dürren Felſen geſchmiedete weinende Aus 
dromeda vorkam; ein Vergleich, den der dunkel— 
trüve Blick, den fie auf ihren Gatten warf, eben 
nicht entkräftete, denn er zeigte mir, was aus ih— 
rem Weſen ich nur geahnt, daß ihr aus dem gold— 
nen Ringe keine Blumentage ſproßten. 

Der Bitte um baldige Wiederhohlung meines 
Beſuchs hätte es faſt nicht bedurft. Zu tief war 
der Eindruck, den mein Herz bey dieſem erſten em— 
pfangen hatte, als daß ich nicht hätte ihn wieder— 
hohlen ſollen, und wenn tadelnd bey dieſer Ride 
tung, die mein Inneres hier nahm, der Leſer auf 
mich blickt, fo kann ich nichts als die Schwäche ei⸗ 
nes menſchlichen Herzens ihm entgegeaſetzen, das 


150 

ſo gern, verſteckend ſich hinter Scheingründe und 
ſich ſelbſt täuſchend, ſeinem geheimen Zuge folgt, 
und die Stimme der warnenden Vernunft überhört. 

Man glaube nicht, daß dieſe bey mir ſchwieg, 
aber anfangs fürchtete ich nichts, und als hinge⸗ 
riſſen vom Strudel der Gefühle mit ernſtem Nich⸗ 
terton mein beſſeres Selbſt noch rief, da war die 
Kraft zum Widerſtande ſchon entflohen, der Tau⸗ 
mel der Sinne zu groß. — 

Wenige Mahle Wiederkehr nach Hochberg reich— 
ten hin, mir zu zeigen, wie auch in Valeriens 
Bruſt eine ähnliche Empfindung aufkeimte, und 
füllte dieſer Gedanke gleich mit einem unendlich ſü⸗ 
ßen Schauer mein Herz, ſo darf ich doch auch nicht 
verſchweigen, wie damahls der Entſchluß in mir 
entſtand, dieſe Gegenden zu fliehen; wie mit männ⸗ 
lichem Ernſt ich Anſtalten traf, ihn auszuführen, 
wie ein unvorhergeſehener Fall daran mich nur 
verhinderte. 

Ich war am Abend vor dem beſtimmten Tage 
meiner Abreiſe, nachdem mein Koffer gepackt, die 
Pferde beſtellt waren, in meinem Zimmer, das ich 
mit großen Schritten auf- und niedergehend maß, 
als ein Wagen vor der Thür des Hauſes, wo ich 
wohne, hält, und gleich darauf eine lange, in einem 
Mantel gehüllte Figur bey mir eintritt. Da es 
ſchon dämmerte, ſo erkenne ich nicht eher den Mann, 
bis er anfängt zu ſprechen. Es iſt Bergſtern. Meine 
Freude, meine Überraſchung war groß. Man wird 


191 
ſich erinnern, daß ich ihn bey meinem Abgang von 
*ziurückließ, doch auch daß ich einen Theil mei— 
ner ihm ſchuldigen Pflicht erfüllte, und für ſein 
Wohl ſorgte nach Kräften. Unſer Briefwechſel war 
nie unterbrochen worden, und von allen meinen 
Schickſalen hatte ich ihn immer treulich unterrich⸗ 
tet. So war ihm auch mein künftiger Lebensplan 
bekannt, in den es mit gehörte, ihn, wenn einſt 
ich mich nach Wunſch feſtgeſetzt, auf immer bey mir 
zu ſehen. Nun hatte ſich der alte Mann aufgemacht, 
wohl wiſſend, daß er mir eine Freude bereite, wenn 
er unvorgeſehen mich überraſchte, und war hierher 
gereiſ't, da eine gute Gelegenheit er fand, und ſeine 
Geſundheit es erlaubte. Ach! er ahnte nicht, indem 
er an ſein redlich Herz mich ſchloß, daß ſein Kom— 
men mich auf's neue dem Abgrundsrande zuführte, 
dem mein Genius mich ſchon a e denn konnte 
ich denn nun gleich am nächſten Morgen reiſen ? 
Konnte ich dem von dem langen Wege ſo ſchon ſo 
Angegriffenen zumuthen, gleich wieder ohne Raſt 
mir zu folgen? Konnte ich ihn, der ſo innig ſich 
freute, mich wieder zu ſehen, gleich in den erſten 
Stunden wieder verlaſſen? Auf einige Tage mußte 
wenigſtens ich nun meinen Vorſatz aufſchieben, und 
einige Tage, wie viel ändern die! — 

Meine Abſicht war geweſen, ohne perſö— 1 
Abſchied von Hochbergs Bewohnern zu nehmen, 
dieſe Gegend zu verlaſſen; ich hatte beßwegen einige 
Zeilen an ſie geſchrieben, die gleich nach meiner 


152 
Abfahrt ein Bothe überbringen ſollte. Sie lagen 
noch geſiegelt auf meinem Tiſch, und ich erbrach ſie 
jetzt als unnütz geworden. Es begann ein ſeltſamer 
Kampf in meiner Seele, als ich ſie flüchtig wieder 
durchlas. Vor meinem inneren Blick ſtand Valerie 
von all' ihren Reigen umfloffe: , wie von einer Strah— 
lenglorie, und indem ich mir nur eine Thräne in 
ihrem ſchönen Auge dachte, die vielleicht bey Leſung 
dieſer Zeilen ihr entrann, flammte auf ein Mahl, 
wie mit Rieſengewalt, eine Leidenſchaft für ſie em⸗ 
por, gegen die jede andre Stimme ſchwieg. Wohl 
ſah ich auch im Geiſte Chiarens ſanfte Geſtalt, 
vernahm Ankoniens ernſte Warnung, aber — nur 
ein Mahl, ein Mahl will ich ſie noch ſehen, das wird 
mir ja wohl erlaubt ſeyn, ſagte ich mir ſelbſt, und 
dann, dann will ich fliehen. — 

Die ruhige Überlegung einer ſchlafloſen Nacht 
hatte denn doch wieder den Entſchluß in mir auf— 
keimen laſſen, nicht mehr nach Hochberg zu gehen, 
ſondern in höchſtens zwey oder drey Tagen mit 
Bergſtern weiter zu reiſen, aber der erſte Vorſatz 
war zerſtört worden; den zweyten auszuführen, ließ 
mein Geſchick mir nicht mehr Zeit. 

Am frühen Morgen trat der Baron bey mir 
ein. „Sie ſind heute mein Gaſt,“ rief er mir gleich 
entgegen, „bey einer Waſſerfahrt nach Waldkirch 
(dieß war ein ſehr beſuchter Vergnügungsort der 
Einwohner dieſer Gegend), und ich hoffe, Sie wer— 
den ſich gut unterhalten, die Geſellſchaft iſt zahlreich.“ 


153 
Meine Entſchuldigungen, denen freylich das Geſuch— 
te anzuſehen ſeyn mochte, wurden als gänzlich un— 
gültig verworfen, und ich konnte zuletzt, ohne unhöf— 
lich zu ſeyn, nicht anders, als einwilligen. 

Der Sammelplatz, wo die Geſellſchaft ſich, von 
verſchiedenen Gegenden kommend, einſchiffen wollte, 
wurde mir bezeichnet und — ich darf es nicht ver— 
hehlen — ich überließ mich, nachdem der Baron 
ſich wieder entfernt, mit ſtrafbarem Hingeben der 
geheimen Freude, die mein Herz empfand, ſo, wie 
ich mir einbildete, gegen meinen Willen doch mei— 
nen ſehnſüchtigen Wunſch in Erfüllung gehen zu ſehen, 
ja meine Verblendung ging ſo weit, daß ich von nun 
an glaubte, von mir ſelbſt die ſtillen Vorwürfe mit 
Recht abwälzen zu können, die ich mir zu machen 
hatte, und meinem Schickſal, das mich ja führte, 
ſie aufzubürden. So täuſcht mit Trugſchlüſſen ſich 
das Herz, wenn die Sluth einer heftigen Leiden— 
ſchaft es erfaßt, es raub macht gegen ſeinen gehei— 
men Richter. 

Mit brennender Ungeduld erwartete ich die 
zur Abfahrt beſtimmte Stunde und zu Bley, glaub— 
te ich, hätten heute ſich die Schwingen der Zeit 
gewandelt. Endlich erſchien fie und mit ihr Va— 
letie. Sie war fo ſchön heute, eine zarte Bläſſe 
überzog das holde Geſicht, und in dem himmliſchen 
Auge glaubte ich Spuren von Thränen zu ſehen. 
Als ich auf ſie zutrat, ſie zu bewillkommen, richte— 
te ſie einen langen, trüben Blick auf mich, dann 


154 0 

ſchlug ſie die ſeidenen Wimpern nieder und ein 
kaum merkliches Roth überflog einen Augenblick ihre 
Wangen. . 

Die Geſellſchaft trat unterdeß in das Schiff. 
Ich erhielt meinen Platz Valerien gegenüber, und 
man kann denken, daß dieß nicht beytrug, den Gang 
meiner Phantaſie zu hemmen. Sie hatte ihren 
Schleyer niedergeſchlagen und ſprach wenig, ſich mit 
Übelbefinden entſchuldigend. Ich ſuchte mich fo gut 
es gehen wollte mit meinen Nachbarinnen rechts 
und links, ein Paar beynah kugelrunden wohlge— 
nährten Landfräulein, zu unterhalten, deren ewi— 
ges Ja und Nein dieſes Beſtreben mir gerade nicht 
erleichterte. Von Zeit zu Zeit nur wagte ich einen 
verſtohlenen Blick auf Valerien zu werfen, fo ſchüch— 
tern und zagend, als müſſe jeder und ſelbſt die mich 
einſchließenden Gänschen ſehen, was mein Inneres 
beunruhigte. Trotz dem verhüllenden Flor erſpähte 
ich doch einige Mahl, daß auch Valeriens Blicke auf 
mir hafteten, mit Bewegung, wie ich glaubte, und 
faſt hörbar klopfte mir das Herz. 

Als wir an dem Beſtimmungsort angekommen 
waren, uns erfriſcht hatten, und die älteren Mit- 
glieder der Geſellſchaft, mit ihnen der Baron, nach 
einem kurzen Spatziergang zu ihrem gewöhnlichen 
Zeitverkürzungsmittel, den Karten, griffen, die ich 
ausſchlug, erhoben wir Übrigen uns zu einem klei⸗ 
nen Streifzug durch das anmuthige Gehölz. Träus 


mend ſchlenderte ich hinter dem Zuge her, immer 


135 
nur das Auge auf die vor mir her ſchwebende geliebte 
Geſtalt gerichtet, deren im ſanften Winde fla:ternder 
Schleyer mier wie die Verklärungsfittige eines En— 
gels erſchienen. 

So waren wir ein gutes Stück bereits gewan— 
delt und immer kleiner wurde die Geſellſchaft, denn 
nach allen Seiten hin in das mit recht anmuthigen 
Gängen durchzogene Holz, hatten welche, Blumen 
oder Erdbeeren, die gerade zu reifen anfingen, zu 
pflücken ſich zerſtreut, und ehe ich es denke, ſah ich 
mich mit Valerien allein. Nicht ohne Velegenheit be— 
merke ich es und gehe einige Schritte ſtamm nebe 
ihr her, da ich fürchte, durch meine bewegte Stim— 
me mich zu verrathen. Endlich, um doch etwas zu 
ſprechen, überreiche ich ihr eine kleine, eben gepflückte 
Wieſenblume mit einem nichtsſagenden Compliment. 
Sie blickt auf, ſieht mich an und ſagt leiſe, faſt zit: 
ternd: „Zum Abſchied, nicht wahr?“ 

Sie wußte alfo darum, was ich vorhatte; das 
trübe Auge galt mir; ſie liebte mich, um mich hatte 
mit einem Seufzer ſich der ſchöne Buſen gehoben! 
Dieß alles fuhr wie ein Blitz meiner Seele vorüber 
und ſetzte die ohnehin ſo bewegte in den füßeſten 
Taumel. Entſchwunden waren in dieſem Augenblick 
alle beſſeren Vorſätze, Chiarend Bild, der Vergan— 
genheit Erinnerung. Ich ſah nur das himmliſch 
ſchöne, von Gluth, Liebe und Trauer wie von ſchmü⸗ 
ckenden Genien umfloſſene Weib, und indem meine 
entzündete Phantaſie vergaß, daß heilige Geſetze, 


* 


156 

Ehre und Pflicht zwiſchen ſie und mich unüberſteig⸗ 
bar ſich thürmten, hatte ich Unſeliger Willen und 
Kraft verloren, ſie und mich zu retten. 

Ich erwiederte nichts auf ihre Rede Ein treues 
Bild der Gefühle, die mein Inneres durchtobten, 
ſtand ich ſprachlos mehrere Secunden vor ihr, bis 
das Nahen einiger aus der Geſellſchaft aus meiner 
Stellung mich ſchreckte. Indem den Rückweg nach 
Walokirch wir begannen, erzählte ich einem neben 
mir gehenden jungen Mann, wie zufällig, daß dieſen 
Sommer ich dieſe Gegenden nicht verlaſſen würde, und 
indem ich dabey ſeitwärts Valerien aablickte, ſah ich 
mit der ganzen Zufriedenheit eines Herzens, das ſeine 
Wünſche fern empordämmern ſieht, wie ein lebhafter 
Strahl von Freude in ihren Augen glänzte, und eine 
Seligkeit von Wolluſt und Entzücken ergoß ſich durch 
meine Bruſt. 

Soll ich hier noch einmahl denen erinnern, die 
dieſe Blätter leſen, daß keinen Roman ich ihnen nie— 
derſchrieb, in denen nur ſtrenge Tugendhelden und 
weibliche Weſen ſonder Makel auftreten. Ich war 
ein Menſch und lebte unter Menſchen, und hat gleich 
nie, ich kann auf den höchſten Richter mich berufen 
— die Achtung und der Sinn für Tugend mich ver— 
laſſen, fo war ich doch nicht ſtark genug, den Lockun— 
gen meiner Gefühle immer zu widerſtehen, und ich 
fiel, wie Tauſende fallen, ohne daß deßwegen mein 
Herz verwilderte und die tiefe Reue, der gränzen— 
loſe Schmerz, der beym Erwachen aus meinem 


157 
Nauſche mich ergriff, wird zeigen, daß wohl die 
Ideale der Reinheit mir ſich verhüllen, aber nie 
meiner Bruſt entſchwinden konnten. Das Urtheil 
über Valerien überlaſſe ich denen, die gefühlt, die 
geliebt haben und — die ihr Geſchick auf Proben 
ſtellte, denn wohl leicht iſt es im ſichern Hafen, bey 
kaltem Blute, bey vielleicht nie erſchienenen Lockun— 
gen, mit ſchönen Floskeln hervorzurücken; ein an— 
deres iſt aber das Reden als das Thun und — ine 
dem es weit entferat von mir iſt, rechtfertigen zu 
wollen, was nicht ſtreng Recht iſt, will ich nur andeu— 
teu, daß der, der richte, in den eigenen Buſen erſt 
greife, denn alſo fordert es der Menſchheit heilig billi— 
ges Geſetz. 

Ich verfehlte nicht, am folgenden Tage unter 
dem Vorwand, zu ſehen, wie die Waſſerfahrt bekom— 
men ſey, mich ia Hochberg einzufinden, und wenn 
von jetzt an ich begann, enger mich an den Baron 
zu ſchließen, ſeine Parthien öfter zu theilen, und 
dadurch mich bald ihm fett unentbehrlich zu machen, 
ſo wird der Leſer darin den Fortſchritt bemerken, 
den mein ſonſt ſo offenes Herz, geleitet von glühen— 
den Trieben, in der Kunſt der Verſtellung machte. 

Sah ich gleich Valerien jetzt faſt täglich, ſo nä— 
herte ich mich ihr doch darum um nichts mehr, und 
kämpfend zwiſchen Leidenſchaft und Pflicht war, 
wenn Zufall uns allein zuſammen ließ, unſere Un— 
terhaltung ſo geſpannt, ängſtlich und abgemeſſen, daß 
dem Unkundigen ſich wohl gar die Idee eines feind⸗ 


= 

158 
lichen Verhältniſſes aufdringen mochte, ſtatt deſſen in 
unſerm Innern die allerheißeſte Gluth der Neigung 
loderte. 5 

Mit wenigen Zügen will ich den Jule mei⸗ 
ner Seele in dieſer Periode ſchildern, ſie werden hin— 
reichen, zu zeigen, daß ich ſelbſt damahls nicht glück- 
lich war, wie enn nie wahres Glück erblühen kann in 
Lagen, wo der ernſte Richter in der Bruſt den Trieb 
des Herzens verdammen muß, und wie, indem zu 
feige ich war, mit einem männlichen Entſchluß mich 
zu befreyen, ſelbſt die Nachgiebigkeit gegen meine 
Leidenſchaft, mir keine reine Freude gewährte. War 
ich nicht in Hochberg, ſo trieb und peinigte mich 
eine Unruhe, die durchaus zu keiner Stätigkeit mich 
gelangen ließ, von einem Ort zum andern, von ei— 
ner Beſchäftigung zur andern, und Alles war mir 
zuwider; befand ich mich endlich in Valeriens Nähe, 
ſo war es darum nicht beſſer mit mir. An die Stelle je⸗ 
ner Raſtloſigkeit trat dann eine ſo ſeltſame Spannung, 
ein fo wunderbar Gemiſch von Freude fie zu ſehen, 
von Schmerz, nie, nie ſie erlangen zu können, daß 
wahrhaft mein Gemüth jene Pein empfand, die der 
Mythos der Alten dem Ixion andichtet. Sprach fie 
mit mir, ſo war ich verlegen, denn ich fürchtete eben 
ſo ſehr, daß ſie mich ganz durchſchauen möchte, als 
ich es von andern etwa Gegenwärtigen beſorgte, und 
unterhielt ſie ſich mit einem Andern, ſo peinigte 
Neid, Eiferſucht gegen den Glücklichen, dem ihre 


159 
fäße Stimme tönte, meine Seele. Beſonders ers 
griff wie eine Furie dieß Gefühl mich, wenn dann 


und wann — was freylich ſehr ſelteu war — ihr 
Gemahl mit einer unſchuldigen Liebkoſung ſich ihr 
nahte. 


Daß in dieſem Sturm, in dieſem Strudel, der 
gleichſam wie ein Wirbel mich umherdreht, das 
Entfernte alles meinen Blicken entſchwand, war 
wohl natürlich, und ſo wird es keinem auffallend 
ſeyn, wenn ich ſage: daß jetzt Chiarens Briefe, mei— 
ne Freude ſonſt, mir unwillrommen waren; daß ich 
ſtatt wie ehedem mit genauer Pünctlichkeit fie zu 
beantworten, Wochen, Monathe verſtreichen ließ, ehe 
ich zu dem ſauern Geſchäft mich entſchließen konnte. 
Denn mußte ich hier nicht ganz die Larve der Ver— 
ſtellung annehmen ? Mußte ich nicht Gefühle ſchrei— 
ben, die meinem Herzen fremd geworden waren? 
Waren ihre Briefe voll Liebe und Sehnſucht nicht 
Dolchſtiche, die mein mit Mühe übertäubtes Ge: 
wiſſen ſchrecklich aufweckten? Ach! daß ſie nicht da— 
mahls ſchon aus meinem Schreiben, in denen ſtatt 
der ſonſtigen, offenen Herzlichkeit, geſchrobene Phra— 
ſen ſtanden, meine Verirrung erkannte, läßt nur 
durch ihre vertrouende Liebe, die reine Argloſigkeit ihe 
res Herzens ſich erkläcen Anders war es mit Aato— 
nien. Nicht getäuſcht wie Chiara durch Herzeusems 
pfindung, ſchlauer, möchte ich ſagen, von Natur, er⸗ 
Eazute fie bald an den kürzer und Seltener einlau— 
fenden Nachrichten von mir, an ihrem gezwungenen 

2 


16⁰ 

Styl, daß eine mächtige Veränderung mit mir vor— 
gegangen ſey, und aus einigen mir unfreywillig 
entſchlüpften Andeutungen, errieth ſie bald das Wah— 
re. Ihre leiſen Anſpielungen, ihre eben fo herzlichen 
als zarten Warnungen verfehlten gänzlich ihres Zwe— 
des. Zu mächtig hatte es mich ſchon ergriffen, die 
ſchwache Hand der Freundinn vermochte entfernt mich 
nicht mehr zu retten. 

Die Zeit der Jagd war gekommen, eine für 
den Weidmann ſo erfreuliche Periode, und der Ba— 
ron, deſſen Schatten ich geworden, ſchlug mir vor, 
einen Theil derſelben auf ſeinem Gute zuzubringen. 
Nie hat dieſe Ergetzung auch nur den geringſten 
Reitz für mich gehabt, aber — in Hochberg wohnen, 
Valerien immer ſehen — ich hätte müſſen noch der 
ehemahlige ſchuldloſe Menſch ſeyn, um Nein ſagen 
zu können; ſo nahm ich es an, und ſtatt zu fliehen, 
da noch Zeit es war, ſchlang ich ſelbſt die verderben— 
de Kette feſter. 


10. 


Mehrere Wochen war ich bereits in meinem 
neuen Wohnort, der Spätherbſt bleichte ſchon das 
Laub, und unter Zerſtreuungen mancher Art war 
mir die Zeit ſchnell dahin geſchwunden, als eines 
Tages, da wie gewöhnlich der Baron, einem zwey— 
ten Nimrod gleich, mit andern rüſtigen Jagdge— 
fährten in die Wälder gezogen, ich aber von einem 


161 
leichten Kopfweh befallen, der Parthie mich ent: 
ſagt und auf mein Zimmer zurückgezogen hatte, wo 
ich in dem angränzenden Cabinet auf einen Soffa 
mich warf, öffnet bey ſchon einbrechender Abend: 
dämmerung ſich die Thür der Stube, und ich ſehe 
Valerien ſchüchtern hereintreten. Meine erfe Bes 
wegung war natürlich aufzuſpringen und ihr ents 
gegen zu gehen, doch weiß ich nicht, welch ein plötz— 
licher Gedanke mich davon abhält und mich neugie— 
rig macht zu ſehen, was ſie hierher führt, die ſonſt. 
nie bier war, und die jetzt, wie ich gewiß wußte, mich 
nicht im Hauſe vermuthen konnte, da eine Stunde 
vorher ich, von ihr gefeben, ein wenig ausgeritten 
und erſt ſeit karzem wiedergekommen war, ohne 
daß ein Menſch mich bemerkt hätte. Ich bleibe alſo 
ruhig in meiner Stellung und beobachte durch die 
halb offene Cabinetthüre ihr Thun. Sie tritt zu mei: 
nem am Fenſter ſtehenden Schreibtiſch hin und legt 
eine fpäte Blume, nachdem vorher fie fie an Herz 
und Lippe gedrückt, hin, dann nähert ſie ſich dem 
beynahe völlig dunklen Cabinet und nichts weni⸗ 
ger als glaubend, ſich verrathen zu ſehen, bemerke 
ich, wie ſie eine kleine von ihrer Hand gearbeitete 
Börſe auf einen vorne au in einer Ecke ſtehenden 
Tiſch legt, auf dem gewöhnlich ich Bücher hatte; 
in dieſem Augenblick erinnere ich mich, daß heute 
mein Jahrestag iſt, ein Umstand der mir entfal⸗ 
len war, den ſie aber mit liebevoller Theilnahme 
beachtet hatte, und man wir d mir glauben, wie von 


152 

dieſer zarten Aufmerkſamkeit ich mich ergriffen fühl⸗ 
te, man wird denken können, wie die ohnehin lo⸗ 
dernde Gluth meiner Gefühle, ermuthet durch ma— 
giſches Dunkel und Einſamkeit, durch fo einen ſpre— 
chenden Beweis von Liebe, zur Rieſenflamme em⸗ 
porſchlug. 

„Valerie!“ rufe ich hingeriſſen aus, und mitei— 
nem Ausdruck des Schreckens flieht ſie der Thür 
zu. Da umſchlingen ſie meine Arme, und zu ſchwach 
der wilden Heftigkeit meiner Leidenſchaft zu wider: 
ſtehen, entflammt von inneren, eigenen Gefühlen, 
ſinkt bebend mit um Schonung ſtammelnden Lip— 
pen, deren ſüße Töne nur heißere Begierden durch 
meine Bruſt jagen, ſie an mein Herz, und den trun⸗ 
kenen Sinnen entſchwand Verhältviß, Gegenwart 
und Zukunft. 

Spät gegen Abend warf ich mich auf das Pferd 
und jagte nach der Stadt, dort einige Tage zu 
bleiben, denn — konnte ich jetzt des Barons Anz 
blick ertragen? konnte ich ihn ſehen, der mit Liebe 
in ſein Haus mich nahm? der nach ſeiner Art mit 
wohlwollender Freundſchaft mich überbäufte? — 
Aber obgleich dieß Gefühl noch in mir glimmte, ſo 
war ich doch weit entfernt, Reue zu empfinden, durch 
ſchnelles und ewiges Entfernen nicht zu verbeſſern 
— das konnte ich ja nicht mehr — nein! nur weni⸗ 
ger ſtrafbar noch zu werden; ach! ſie war mir zu 
lieb, als daß ich es vermocht hätte, und willig hätte 
ich im Taumel meiner Gluth für ein einziges Jahr 


165 
Redlichkeit eines Menſchenherzens kaute. Hören 
werden Sie nie wieder etwas von mir, mich ſehen 
ſoll ſelbſt das Auge der Welt nicht mehr. In dem 
ſtrengſten Orden will ich bis zu der Stunde, wo 
mein Richter mich ruft, beweinen, daß meine Bruſt 
je anderen, als den Gefühlen zu Gott Raum 
gab. Sie können ruhig leben, auch für die gerech— 
ten Ahndungen eines Bruders über das zerſtörte 
Glück der Schweſter. Francesco iſt nicht mehr. Er 
fiel von der Hand eines beleidigten Gatten, ſchuldig 
zwar, doch bedauernswerth, denn er liebte treu, 
und kein heiliges Band knüpfte die, für die er ſtarb, 
als fein Herz ſich ihr hingab.“ 

Gleich einem Erſtarrten ſaß ich da, und der 
erſte Lichtblick, der über mein Thun in meine Seele 
fiel, ſchien mich zu verſteinern. Eine gräßliche Stim— 
me tönte in meiner Bruſt: „Verworfener!' und 
Hand in Hand ſchien Chiarens verweinte Geſtalt 
mit Mariens Schatten an mir vorüber zu ziehen, 
und drohend die kalten Hände zum Himmel zu er— 
heben, als riefen ſie für ihr durch mich gebrochenes 
Lebensglück die Rache des Ewigen auf mein ſchul— 
diges Haupt. Indem dieſe Idee mich mit Verzweif— 
lung erfaßte, kettete meine Phantaſie Bilder an 
Bilder! Ich ſah Valerien, der ich den Frieden des 
Bewußtſeyas geraubt, von der Welt verachtet, von 
den Ihrigen verſtoßen, ihr Leben in trauriger Ab— 
geſchiedenheit verbringen, unglücklich als Gattinn, 
unglücklich als Mutter, unglücklich als Liebende, 


155 

und indem ich allein mich anklagte, mir allein ich 
alle Schuld beymaß, ging in fürchterlicher Bewer 
gung, mit wilden verſtörten Blicken ich im Zimmer 
auf und ab, und die tiefſte Verachtung meiner ſelbſt 
ergriff mich. Vergebens rief ich mir einige Mahl 
alle Troſtgründe, alle Beruhigungen hervor, die 
noch vor kurzer Zeit meine Verhältniſſe mir in ſo 
täuſchendem Lichte hatten erſcheinen laſſen; fie was 
ren zu ſeicht, um jetzt, da das Gefühl der Wahr— 
heit mir aufgegangen war, noch Stand zu halten, 
und tiefer wurzelte nur in meiner Bruſt der Ab— 
ſcheu, den ich gegen mich empfand. 

Konnte ich in dieſer Lage Valerien noch ſehen? 
konnte ich ihrem Gatten noch vor Augen treten? — 
Vermochte ich gleich jetzt nicht, einen Entſchluß zu 
faſſen, fo war doch der Gedanke vorherrſchend bey 
mir: „Du mußt fort! du darfſt Valerien nimmer 
wieder ſehen! —” 

Ich warf mich auf's Pferd, und ohne Jemand 
ein Wort zu ſaͤgen, ſprengte ich, als jagten Furien 
mich, den Weg nach Ani ch zu. Als ich in meine 
Wohnung trat, rief ich dem erſtaunten Bergſtern 
zu, ich wolle reifen, heute noch, jetzt, den Augen: 
blick, und mein verſtörtes Anſehen, meine Eile, 
meine halb abgebrochenen, von ihm nur ſelten ver— 
ſtandenen Worte, ließen die Idee bey ihm entſtehen, 
ih fen in einem Duell der Mörder irgend eines 
meiner Bekannten geworden, vielleicht gar des Ba— 
rous, denn es war dem alten Mann nicht ganz ent⸗ 


157 
gangen das Verhältniß, in dem ich in Hochberg 
ſtand. Mit gutmüthiger Beſoralichkeit theilte er 
mir dieſe Vermuthung mit, und goß, ohne daß er's 
ahnte, dadurch ein neues Gift in mein Herz. Ich 
hatte bisher in einer ſolchen trunkenen Verblen— 
dung gelebt, daß ich mich faſt übe redet hatte, kein 
Menſch vermuthe, auch nur auf die entfernteſte 
Weiſe, wie nahe Valerie mir, ich ihr war; ein Ger 
danke, der nun auf einmahl dal inſchwand, da ich 
vernahm, daß ſogar dem ungeübten Auge eines 
Bergſterns nicht entgangen war, was verſchleyert 
ich der ganzen Welt glaubte. Meine mich foltern de 
Einbildungskraft bekam dadurch einen neuen Spiels 
raum. Ich glaubte nun bemerkt zu haben, wie des 
Barons Betragen ſeit kurzer Zeit ein anderes als 
ſonſt geworden ſey, wie ſeine wich oft heimlich 
beobachtenden Blicke — eige Sache, die wirklich 
ſich fo verhielt — einen geheimen Argwohn bezeig— 
ten, der in ſeiner Seele Wurzel gefaßt hatte, und 
zu den gerechten Gewiſſensbiſſen geſellte ſich nun die 
gegründete Angſt um der armen, geliebten, ange— 
betheten Valerie Loos. 

Ich kannte den Baron. Er gehörte zu jener 
Claſſe Menſchen, die durch nichts eraltiet werden, 
im Genuſſe ihrer Lieblingsvergnügungen fortleben, 
und gewöhnlich, weder viel Liebe noch viel Haß 
empfinden; die aber, aufgeregt einmahl, gefaͤhrli⸗ 
cher, hörter, wilder ſind, als der, deſſen Blut leicht 
aufledend, eben fo ſchnell wieder ſich kühlt. Ich 


168 

war überzeugt, daß bey der leiſeſten Ahnung eines 
gegründeten Verdachts auf Valeriens übrige Tage 
ein trübes Schickſal er verhängen würde, und konnte 
ich ſie, wenn es geſchah, ihm entziehen? Und wie— 
der, konnte ich fie fo ſchnell, fo ſchonungslos ver— 
laſſen, ſie ſo ganz unvorbereitet den Launen eines 
wahrlich weder zarten noch geliebten Mannes über— 
laſſen? — Meine Seele ſchwankte hin und her ge— 
trieben wie ein Schiff auf ſtürmendem Meere, und 
rang vergebens nach einem feſten Entſchluß. — 

So verging mir der Abend, ſo die Nacht, und 
der Morgen dämmerte wieder, ohne daß deßwegen 
eine feſte Idee in mir geworden wäre. 

Von neuem warf ich mich auf's Pferd, mir 
Ruhe zu erjagen. Es war ein kalter, trüber und 
ſtürmiſcher Wintertag, und recht ſo ſchneidend, wie 
der Wind durch die Locken Det ziellos dahin Spren— 
genden ſtrich, ſtrich auch der Schmerz, die Reue 
durch meine Bruſt, und umzog meine Seele mit 
ſtarrer Rinde, vor der zitternd das innere, warme 
Leben floh. — Gegen Mittag kehrte ich in meine 
Wohnung nach A***h zurück, und der erſte Menſch 
der mir entgegentrat, war Valeriens Kammerjung— 
fer, die Vertraute unſeres Geheimniſſes. Sie über: 
reichte mir einen Brief von ihrer Herrſchaft, und 
ehe ich ihn noch erbrach, ſagte mir ihr verweintes 
Auge ſchon feinen Inhalt. 

„Unbegreiflich“ ſchrieb Valerie, „iſt mir Ihr 
Entfernen; noch unbegreiflicher die Unvorſichtigkeit, 


169 
mit der Ihren Schreibtiſch Sie offen ließen, in dem 
meine Briefe lagen, die nun in meines Mannes 
Händen ſind. Eduard, Eduard, wie konnten Sie 
mir dieß thun, wie ſo mich Preis geben, ſo elend 
machen, die ich Sie ſo innig liebte! Wiederſehen 
darf ich Sie nie; reiſen Sie, leben Sie wohl, le— 
ben Sie glücklich, Eduard — ich werde es nie wie— 
der ſeyn. Reifen Sie, ehe meines Mannes Rache 
Sie ereilt, und — denken Sie zuweilen — Nein! 
Nein! vergeſſen Sie die arme Valerie, die ewig um 
Sie weinen wird.“ 

Ich geſtehe, daß dieſe Zeilen, nicht wie man 
vermuthen ſollte, des Lebens letzte Kraft mir raub— 
ten, nein! ſie ſtählten mich gegen mein Geſchick, 
und mit feinem wahrhaft hölliſchen Gefühle von 
ſchroffer, furchtbarer Kälte faltete ich den Brief 
mit einer Ruhe wieder zuſammen, als brächte er 
mir die gleichgültigſte Nachricht von der Welt. Ich 
ſtand jetzt auf dem Gipfel, nichts Übleres vermochte 
mehr, mir zu begegnen, kein Schmerz meine Seele 
mehr zu treffen, uud es beſtätigte ſich in dieſem 
Augenblick an mir die pſychologiſche Bemerkung: 
daß auf dem Scheitelpunet des Weh's das Herz 
gleichſam wieder Ruhe erringt. Aber welche Ruhe? 
die Ruhe modernder er vor der Re ſich 
das tröhliche Leben verbirgt. 

Ich wußte, Chiarens Thränen floſſen um mich; 
ich wußte, Valeriens auf immer zerſtörtes Lebens— 
glück klagte mich an; ich wußte, daß nur h 

Unterh. Bibl. 3. Jahrg 2. B. 8 


170 

der Rache gegen mich, der verdienten, des Barons 
Bruſt bewegen konnten, — daß er nicht zögern 
würde, e: auszulaſſen; und kalt wie ein Marniges 
block war mein Herz. Keine Thräne, kein Seufzer 
entquoll mir; ich hatte nur das Bewußtſeyn eines 
Gefühls, der gränzenloſeſten, völligſten Verachtung 
meiner Selbſt, des bitterſten Haſſes gegen Alles, 
was athmet. 

Ich hatte früher Pferde beſtellen Taffen, um zu 
reiſen. Mein Bedienter kam mir anzukundigen, ſie 
wären da und wollten aufpaden In dieſem Aus 
genblick fuhr mir der Gedanke durch den Sinn, 
der Baron könne glauben, ich flöhe vor ihm, wie 
wohl ich hätte thun ſollen — und ich ſchickte den 
Poſtillon wieder fort, trotzig entſchloſſen, zu blei⸗ 
ben. Zum erſten Mahl wies ich mit Harte Berg— 
ſterns gutmeinende Worte zurück, und der bedau— 
ernde Blick, den ich in des Mannes Augen zu ſehen 
glaubte, erbitterte mich noch mehr. 

In dieſer Stimmung hatte ich zwey Tage zu⸗ 
gebracht, ohne mir deutlich bewußt zu ſeyn, was 
ich hier, was ich ſonſt wo in der Welt noch wollte: 
ohne Valerien zu antworten, ja ſelbſt, ohne ein 
Mahl den Wunſch zu hegen, ſie wiederzuſehen oder 
überhaupt in einer durchaus veränderten Lage mich 
zu erblicken; da trat am dritten Morgen der Bar 
ron in mein Zimmer, und ſtellte ſich vor mich hin, 
mit einem Blick mich meſſend, vor dem doch einen 
Augenblißk die ſtarre Gleichgültigkeit meiner Bruſt 


ö 171 
wich. Ich ſaß am Fenſter, als er eintrat, und hatte 
meinen Platz nicht verlaſſen. „Herr von ***,” hob 
er endlich nach einer langen Pauſe an, „es gebricht 
mir an Worten, meine Empfindungen Ihnen zu 
ſagen; ich hoffe deßwegen, Sie werden ſich nicht 
weigern, das Einzige mir zu gewähren, was ich 
noch begehren kann, und mir folgen.“ 

Meine Apathie war unter dieſen Worten wies 
dergekehrt. Ohne eine Sylbe zu erwiedern, ſtand 
ich auf, machte eine leichte Verbeugung und ging 
meine Piſtolen zu hohlen, und mein Pferd zu bes 
ſtellen. Mein Diener wollte mich begleiten, ich ver— 
both es, ſteckte eine Summe Geld zu mir, ſchwang 
mich auf und ritt eben ſo ſtumm und fühllos, als 
mein Begleiter der Baron, brennend war, mit 
ihm, nach der eine Stunde von A“ ch geleges 
nen Gränze. 5 

Wir waren kaum daſelbſt angekommen, als 
wir einem kleinen Gehölz uns näherten, abſtiegen 
und unſer Schießgewehr in Ordnung brachten. In 
dieſer Minute, als ich das Pulver auf die Pfanne 
ſchüttete, und der Baron dabey mir ſo nahe ſtand, 
daß unwillkührlich meine Blicke den ſeinen begeg— 
nen mußten, ſtand auf einmahl der Gedanke, wie 
von Dämonen feſtgezaubert, vor meinem Sinn: 
„Wenn dieſe Kugel den rechten, geraden Weg geht, 
iſt Valerie dein — ihr Beyde glücklich!“ und der 
glühende Wunſch, meinem Gegner das Leben zu 
nehmen, war die Folge davon. 


8.2 


172 

Wir hatten unterdeſſen Weite genommen, und 
als ich nun aufblickte und den Mann vor mir ſte— 
hen ſah, Haß und Verachtung gegen mich im Ge— 
ſicht, der doch ſonſt mein Freund war, der mich 
lieb hatte, den ich ſo empfindlich, ſo unentſchuldbar 
beleidigt hatte, und den ich jetzt bereit war, meis 
nem ſchönen Thun die Krone aufzuſetzen, das Le— 
ben zu rauben, wie die Ehre ich ihm nahm, da 
zuckte plötzlich, wie ein Blitz, das gräßliche Gefühl 
meiner Schuld vor mir auf, mein Auge trübte ſich, 
und mein Arm fing an zu beben. 8 
Dieſe Gemüthsbewegung entging dem Baron 
nicht; er legte ſie aber falſch als Furcht aus, und 
vermahnte mich grimmig, nicht ſo zu zittern, wenn 
es das Leben eines Mannes gälte, deſſen beſſeres 
Daſeyn ich ja doch kaltblütig hätte vernichten 
können. Ä 

Der gräßliche Vorwurf diefer Worte, die un: 
ſägliche Bitterkeit, mit der ſie ausgeſprochen wur— 
den, gab mir mein erſtes Gefühl wieder. „Sie ſind 
verloren,” ſagte ich ihm, „wenn ich auf Sie anlege; 
ich gebe Ihnen den erſten Schuß“ und mit dieſen 
Worten brannte ich ſeitwärts los. Es war nicht 
Groß mu th, was hierzu mich trieb, denn von neuem 
wurzelte das Verlangen nach meines Gegners Le— 
ben in meiner Bruſt — es war Stolz, gereitzte Gi: 
telkeit, dem Baron zu zeigen, daß ich Furcht nicht 
kenne, und kühn mein Leben auf einen Wurf zu 
etzen im Stande wäre. 


173 
„Sie fpielen den Sroßmüthigen ſehr zur Un— 
zeit, Herr von ***” entgegnete mir der Baron, 
„ih werde nicht alſo thun; mich verlangt nach 
Blut.“ Bey dieſen Worten drückte er ab, und ſau— 
ſend pfiff die Kugel an meinem Ohr vorüber, daß 
unwillkührlich einen Schritt ich ſeitwärts trat. 
Gänzlich entſchwand jetzt meinem Blick der Ge— 
danke an Schonung, da ich meines Gegenparts 
Streben nach meinem Verderben ſah — ich bedachte 
nicht, wie natürlich dieß war, noch daß wenige Se: 
cunden vorher dieſelbe Idee in mir gekeimt hatte, 
und mit furchtbarer Bitterkeit im Herzen ſchoß ich 
auf den Baron. Ich ſah ihn bluten, taumeln, hin— 
ſinken, und ohne gerade ein Gefühl von Neue zu 
verſpüren, ging ich auf ihn zu, ihn zu unterſtützen. 
Meine Kugel hatte ſeine rechte Bruſt tief geſtreift 
und eine Ohnmacht war die Folge davon. Als ich 
ihm beyſpringen wollte, ſtieß er mich heftig zurück, 
und erſt als ſeine Sinne ſchwanden, gelang es mir, 
mit ſeinem und meinem Tuche ſeine Wunde eini— 
ger Maßen zu verbinden. Aber jetzt mußte ich auch 
auf meine Sicherheit denken, und konnte, ferner 
ohne Gefahr, eingezogen zu werden, nichts zu ſei— 
nem Beyſtande thun; denn ſchon nahten ſich von 
mehreren Seiten Leute, die, Holz im Walde fällend, 
durch das Schießen waren herbeygelockt worden. 
Nicht ohne Anſtrengung ſchleppte ich den großen 
und ſchwerfälligen Baron, den ich für todt oder 


174 

doch rettungslos verwundet hielt, unter einen Baum, 
gab ihm eine ſitzende Stellung, den Fluß des Blu— 
tes dadurch zu vermindern, und ſchwang mich nun 
auf mein Pferd, in vollem Galopp über die Gränze 
ſprengend, während ich noch deutlich hinter mir her 
die Stimme der Landleute hörte, die mit dem Wort 
„Mörder“ mich bezeichneten. 

Soll ich ſagen, Leſer, wie mir ward, als ich 
dieß furchtbare Wort aus dieſer harmloſen Men- 
ſchen Munde ſchallen hörte? Ich fühlte in dieſem 
Lebensaugenblick, was Kain einſt mag empfunden 
haben, da der Fluch: „ſey unſtät und flüchtig,“ ihm 
erſcholl. Mir war, als pfiffen die winterlichen 
Winde unaufhörlich gellend: „Mörder“ an meinem 
Ohr vorüber. Ich ſah Valerie als Witwe, und ihr 
Anblick entſetzte mich. Die Züge, in denen ſo oft 
ich des höchſten Entzückens Seligkeit gefunden, an 
der nie ohne Trunkenheit mein Auge vor Freude 
und Wolluſt naß gehangen hatte, erfüllten mich 
jetzt mit Grauen, denn neben ihnen, hinter ihnen 
ſtanden wie auf Grabeshügeln kalte ſteinerne Denk— 
mahle, die bleiche, von Wuth und Schmerz verzo— 
gene Geſtalt ihres Gatten, die mit todten, ſtieren 
Augen durchbohrend auf mich blickte, und untrenns 
bar eins vom andern, verfolgte mich dieß Bild. 

Ich war bis ſpät in die Dunkelheit geritten, 
ohne zu wiſſen, welcher Straße ich folgte, ohne mich 
auch darum zu bekümmern, und würde mit raſtlo⸗ 


179 


fer Eile die Nacht fo durchzogen haben, hätte nicht 
die Erſchöpfung meines Pferdes mich gezwungen, 
ein Obdach zu ſuchen. 

Ein einſam an der Heerſtraße gelegenes 
Wirthshaus, auf das ich bald ſtieß, nahm mich 
auf, und indem für mein Pferd ich dem Wirth zu 
ſorgen auftrug, warf ich in der einzigen vorhande— 
nen Stube mich auf einen Stuhl in die Ecke, und 
überließ mich meinen troftlefen Ideen, die recht, 
als hätten fie den Zeitpunet abgepaßt, wo der er⸗ 
ſchöpfte Körper ſtill halten mußte, mit verſtärktem 
Schmerzesgefühl jetzt auf mich eindrangen. 

Durch die Geſpräche des Wirths mit einigen 
Reiſenden, die einen andern Theil des Zimmers 
eingenommen hatten, erfuhr ich, daß ich nahe bey 
M“ im * ſchen mich befand, und alſo über 
acht Meilen von A***d entfernt war. — Meine 
Einſylbigkeit, verbunden mit dem Verſtörten meis 
nes Außeren, mochte eben keine fonderlih gute 
Meinung meinen Stubengefährten von mir bey— 
bringen, und deutlich bemerkte ich, wie durch abs 
gebrochene Worte und Winke ſie ſich ihr Mißtrauen 
gegenſeitig zu erkennen gaben. Doch dieß kümmerte 
mich jetzt wenig: allein beſchäftigt mit meinem ver- 
worren trüben Innern war Alles Außere mir gleich— 
gültig, und es würde ganz und gar nicht mich be- 
fremdet haben, wenn Einer der Anweſenden mich 
für einen Räuber oder Mörder gehalten, und als 
ſolchen angeredet hätte; denn könte doch fort und 


176 

fort das letztere Wort in meine Ohren und in mei⸗ 
nen unſtäten Zügen wähnte ich, müßte jeder leſen, 
was mir begegnet. 


11. 


Des folgenden Tages erreichte ich ziemlich früh 
M'“ und indem ich beſchloß, einige Tage hier zu 
bleiben und meinen Diener mir nachkommen zu 
laſſen, ſchrieb ich an Bergſtern mein bisherig Ges 
ſchick, und wies ihn an, nach der Schweiz, in meine 
dort befindliche Wohnung, ſich zu begeben, um da 
feine Tage in Ruhe zu verleben, bis ich einſt wies 
derkehren oder etwas von mir hören laſſen würde. 
Zugleich erſuchte ich ihn, mir wo möglich einige 
Nachricht von Valerien und dem Baron zu geben. 
Wegen ſeines Aufenthalts in der Schweiz verſah' 
ich ihn mit Briefen au W“ Is und allem ſonſtig 
Nothigen. Die Zeit, ehe mein Diener mit meinem 
Wagen und der Antwort von Bergſtern eintreffen 
konnte, wandte ich an, mich in einen Strudel von 
Zerſtreuungen zu ſtürzen, von denen ich nicht Lin- 
derung, nein — nur Betäubung meines innern 
Gefühls hoffte. 

So fremd und außer meinem ſonſtigen Cha— 
rakter dieſe Lebensweiſe auch lag, fo wenig wie an: 
fangs gewünſchte Wirkung davon ich verſpürte, ſo 
ließ ich doch nicht ab, ſie fortzuſetzen, und wirklich 
gelang es mir, nach einigen Tagen, wenn hinterm. 


177 
Spieltiſch oder in Geſellſchaft junger Sauſewinde, 
bey vollen Gläſern ich die Stunde vertobte, daß 
auf kurze Zeit, wie verſcheucht vor dem Lärm der 
Umgebung, die traurigen Bilder meiner Seele ver— 
ſchwanden. Aber kehrte ich dann oft um Mitter— 
nacht erſt auf mein Zimmer zurück, und ſah mich 
hier allein, dann war es, als träten aus allen Ecken 
die Geſtalten meiner Qualen hervor wie nächtlich 
grauenvolle Geſpenſter, und ſchaudernd, die Hand 
vor die Augen, die Blicke, die ich doch nicht zu er— 
heben wagte, von Thränen getrübt, warf ich ſchluch— 
zend mich auf mein Lager und ſuchte vergebens 
Troſt und Ruhe in Schlafesarmen, die mich nur 
zu umfangen ſchienen, um verworrener noch die 
ſeltſamſten Gebilde meinem Geiſte vorzuführen. 

Nach Verlauf von acht Tagen kam mein Die— 
ner an. Er hatte dieſe Zeit gebraucht durch Um— 
wege, die mir Nachforſchenden zu täuſchen. Das 
Schreiben, ſo er mir von Bergſtern brachte, ent— 
hielt dem Wenſentlichen nach, folgendes: 

„Der Baron war zwar ſtark, doch nicht tödt— 
lich verwundet, und die Arzte zweifelten nicht an 
ſeiner Wiederherſtellung. Valerie, umlagert und 
überhäuft von der ganzen Sippſchaft ihres Man— 
nes: ſich ſelbſt auf's fürchterlichſte quälend, mit Vor— 
würfen, kämpfend mit Liebe und von heiligen Pflich— 
ten gebothenem Entſagen, fen kaum noch zu erken- 
nen, ſo hätten dieſe wenigen Tage zerſtörend auf 
ſie gewirkt, und man fürchte alles für ſie. Mei⸗ 


178 

nem Wunſch gemäß würde er (Bergſtern) in wenig 
Tagen nach der Schweiz abgehen, dort mich zu er— 
warten, dem er Ruhe, und, wenn es moglich, Ver⸗ 
geſſen wünſche. Noch rieth er mir, mich nicht in 
M“ aufzuhalten, da es zu nahe an A***c ger 
legen, und des Barons zahlreiche Freunde und 
Verwandte einſtimmig mir Rache geſchworen hätten. 

Man kann denken, daß dieſe Nachrichten, bis 
auf die erfte, von des Barons zu hoffender Gene: 
ſung, nicht dienten, meinen Seelenzuſtand zu än— 
dern. Beſtimmter als vorher noch traten jetzt die 
Bilder aller derer, die mit heißer Liebe ich einſt 
umfing, und die mein Nahen elend gemacht hatte, 
vor meinen Geiſt, und mit grauenhaftem Entſetzen 
klagte ich mich unaufhörlich als den ruchloſeſten 
der Menſchen an, ſah ich in mir ein Weſen, auf 
dem der Fluch des Verderbens ruht, das nur ge— 
ſchaffen iſt, um Alles, was vertrauend ihm ſich nä— 
hert, in die unglücksvollen Strudel ſeines Geſchicks 
hinein zu reißen. 

Die Fortſetzung und das ewige Brüten über 
dieſe Ideen machten mich binnen kurzem zum ent— 
ſchiedenſten Menſchenhaſſer, denn mit dem Verluſt 
der Liebe und Achtung zu mir ſelbſt, verband ſich 
der zugleich des Wohlwollens gegen alle Menſchen. 
Mit mehr als furchtbarer Kälte, mit gräßlichem 
Haß fing ich an, Weſen zu betrachten, denen ich in. 
meinem verworren trüben Sinu die Urſache al 
meines Leids zuſchrieb, und ganz vergaß, daß nur 


179 
ich allein die einizige Quelle desſelben war, ſo daß, 
indem Andern ich aufbürdete, was mir nur gehörte, 
ich gleichſam dadurch anfing, mich vor mir ſelbſt zu 
rechtfertigen, und je ſchwärzer ich meine Mitge— 
ſchöpfe betrachtete, je weniger beſchattet mein Ich 
mir erſchien. Strafbare, aber natürliche Verirrung 
von Schlüſſen, gegründet auf die in jeder Bruſt 
verborgene Tendenz, mit verklärenden Augen ſich 
zu betrachten. — 

Es konnte nicht fehlen, daß dieſe, nach und 
nach ſich ſehr feſt wurzelnde Anſicht, mich zu einem 
der unleidlichſten Geſchöpfe machen mußte, das denk— 
bar war, um ſo mehr, da ganz und gar ich mir 
keine Mühe gab, das ſchrofffinſtere meiner Seele zu 
verbergen, ſondern im Gegentheil bey jeder Gele— 
genheit, ja faſt ununterbrochen meiner Laune den 
Zügel hießen ließ. Nur dann war mir wohl, wenn 
ich ſpielte; jede andere Zeit, jede andere Unterhals 
tung, alles, was ich einſt ſo geliebt, Lectüre, Muſik, 
Theater haßte ich, floh ich. Denn tauſend Erinne— 
rungen, die mit allen Kräften ich niederzudrücken 
ſtrebte, wachten in mir auf, bey dieſen einſt ſo ge— 
liebten Genüſſen, die in beſſeren, glücklichern Tas 
gen, da mein Herz noch liebte, ach! da auch für 
mich ja noch ein Herz ſchlug, mich erfreut hatten. 
Wohl traten mir oft mitten in der ſtarren Kälte, in 
die ich mich hüllte, Thränen ins Auge, bey plötzlich 
zufälliger Mahnung an vergangene Zeit; wohl 
brach zuweilen ein warmer Lebensfunke durch die 


1868 

Rinde, mit der ich meine Bruſt umgab; aber ge— 
gewaltſam drückte ich den Thautropfen der Me ſch— 
heit zurück, erſtickte ich den aufglimmenden Strahl, 
und härter und bitter wurde mein Herz. Mehr um 
aus Gegenden mich zu entfernen, deren Anblick nicht 
anders als zerreißend auf mich wirken konnte, als 
aus Beſorgniß der gedrohten Ahndungen von des 
Barons Anhängern, hatte ich M*“ verlaſſen, 
und war dem Norden Deutſchlands zugezogen. Alle 
früher einſt geknüpften Bande der Freundſchaft 
mit Menſchen, deren Umgang mir ſonſt lieb und 
ergötzlich war, hakte ich zerriſſen, denn — riefen ſie 
nicht eine Vergangenheit mir zurück, der ewig zu 
entfliehen der einzige Wunſch meiner Seele war? 
Ich ſchrieb an Keinen, ſelbſt nicht an Bergſtern, 
und mit Gewalt vergeſſend, alle Geſtalten verflof— 
ſener Tage, war mein Hoffen, daß auch ſie mich 
vergeſſen möchten, da ich fühlte, daß man mich 
nicht mehr lieben, nicht mehr achten konnte. — 
Die neuen Bekanntſchaften, die ich machte, 
waren von der Art, daß ſtets und ohne Empfin— 
dung ich mich zu trennen vermochte, und eben ſo 
liebeleer, als ich an einen Oct kam, verließ ich ihn 
auch, mit dem drückenden Bewußtſeyn, auch dich 
vermißt Niemand, und ſchließen heute deine Au— 
gen ſich auf ewig, ſo fließt auch nicht Eine Thräne 
um dich. — O, unter allen Schmerzen, die die 
Erde hat, iſt das der größte, zu wiſſen, daß man 
völlig allein, völlig ungeliebt im weiten, weiten 


181 


Naum daſteht, der ohne Liebe ja fo todt und leer 
iſt, und zu fühlen: du haſt es verdient! — — 

In der Nähe einer norddeutſchen größeren 
Stadt hielt ich mich länger als gewöhnlich auf, denn 
ünſtät, wie Kain, war ich bisher umhergezogen, 
Es war nicht Gefallen an dieſem Ort oder dieſer 
Gegend, die mich feſthielt; zu wenig Anmuthsvol— 
les haben die flachen Küſten unſers Vaterlandes! 
als daß dem ſie ſonderlich zuſagen könnten, der 
der deutſchen Erde ſüdliche Paradieſesauen, die 
reichen Fluren der Mitte dieſes Landes ſah; es war 
vielmehr jene Abſpannung, die uns gleichgültig 
macht, gegen die umgebenden Gegenſtände, und der 
es völlig eins iſt, in welcher Zone ſie athmet. 

Hier ergab ich mich gänzlich jener unſeligen 
Leidenſchaft zum Spiel; doch Leidenſchaft kann ich 
es nicht neunen. Nie im ganzen Laufe meines Le— 
bens hat mir dieſe Zeittödtung wahres Vergnügen 
gemacht, nie habe ich nach ihr verlanbt, ſobald ein 
freundliches Gefühl meine Bruſt erfüllte. Nur dann 
griff ich zu den Karten, wenn wie damahls, zerfal⸗ 
len mit mir ſelbſt, mit Gott und Welt, Ruhe mei— 
ner Seele fremd, das Schöne und Zarte alles von 
mir gewichen war, und als das einzige Mittel den 
tobenden Sturm meiner Empfindungen auf Augen— 
blicke mir vergeſſen zu machen, ergriff mit jener 
stammenden Heftigkeit, die ſtets bey allen Hands 
lungen und Bewegungen mich begleitete, ich die 


182 


bunten Blätter, die wenigſtens keinen 58 
ton vergangener Zeiten in mir aufriefen. 

Des Morgens ſchon ſuchte ich mir die Geſell⸗ 
ſchaften auf, wo ich wußte, Menſchen zu finden, die 
ſtets bereit waren, in meiner jetzigen Lieblingsbe— 
ſchäftigung mit mir die Stunden zuzubringen, und 
oft bis wieder in den neuen Tag ſaß ich, alles, 
alles um mich vergeſſend, alle geliebten Bilder, die 
wie goldne Träume einſt mich umgaben, nur das 
Gefühl meines Elends nicht — hinter dem grü— 
nen Tiſch. 

Sichtbar litt meine, von Natur nur zarte, 
durch Schmerz und Gram ſo heftig erſchütterte Ge— 
ſundheit bey dieſem unordentlichen Leben, und ich 
geſtehe, nicht ohne geheimes Wohlgefallen ſah' ich 
meine blaſſen, zerſtörten Züge, das erloſchene Feuer 
meiner Augen, denn es beurkundete mir, daß viel— 
leicht bald über mich, auf immer Freudeuloſen, die 
grüne Decke ſich breiten würde, die allen Herzen 
Ruhe gibt; und ſtatt durch geregeltern Wandel 
mich ſelbſt aufzuſparen, ſetzte ich mit einem Gefühl 
von Zufriedenheit eine Lebensweiſe fort, die mir 
baldige Befreyung hoffen ließ. 

Zwey Jahre waren mir alſo vergangen, und 
um nichts hatte ich mich geändert. Noch wurzelte 
in mir derſelbe Haß gegen mich, und alle Andere 
wie anfangs; noch umlagerten meine, durch Z. 
ſtreuungen nicht übertäubten Augenblicke, die Ges 


183 
ſtalten und Bilder meiner Schmerzen; noch floh 
ich wie ehedem jede, jede Erinnerung, jeden Ton, 
der zu meinem Herzen ſprechen konnte — als eine 
Anordnung über meine Vermögensumſtände, die 
wahrlich nicht gewonnen hatten in dieſer trüben 
Periode, mich zwang mein Vaterland nach fo lan⸗ 
ger Zeit wiederzuſehen. 

Mit welchen Gefühlen betrat ich den Boden 
der Heimath wieder! Ihn, auf den ich einſt ge⸗ 
wandelt war als barmlojer Knabe, wo ich die ſchöne 
goldene Zeit einer ſchuldfreyen Jugend verlebt 
hatte, wo fo viele ſüße Träume mich einſt umga— 
ben, wo das Leben mir erſchienen war in der Strah— 
lenglorie einer hoffnungsvollen Zukunft, wo tau— 
ſend, tauſend lichte Bilder mich umgeben hatten, 
ſo leicht und ſonnenhell, ſo freundlich milde — und 
nun! — — Ihr wißt es, Mächte des Schickſals, 
was ich empfand, als ich ſie wieder betrat, die 
blühenden Fluren meines Morgens, arm — arm 
am Herzen, liebeleer, fremd, kalt — ſtatt des ein— 
ſtigen Tages finſtre Nacht in der Seele, Verach— 
tung meiner felbit in der Braſt, die einſt fo hoch, 
ſo warm erglühte; die einſt ſo freudig dem Leben 
entgegen klopfte, und nun — nun!! Mariens 
Bild, das ewig heilige Idol meines Sehnens, 
ſchien auf der Gränze mich zu empfangen — ach! 
nicht tröſtend, wie wohl dem Dulder die Manen 
Heißgeliebter erſcheinen, um die dürre Wirklichkeit 
den Rofenduft einer friſchen Morgenröthe webend, 


184 


liebend hinweiſen auf ein befferes Land jenſeits der 
Thränen, wo der letzte, kange Seufzer verhallt und 
zum heiligen Halleluja der Freude wird. — Nein! 
zürnend — ach nein! zürnend nicht — aber wei— 
nend ſich perhüllend, ob dem Gefallenen, wie ein 
trauernder Genius am Sarkophage eines edlen 
Daſeyus, ſchwebte ſie mir vor, und in Reue und 
Schmerz, in Sehnſucht, Gram und Liebe zerfloß 
mein kaltes, von ſtarren Gefühlen nur durchzucktes 
Herz. — O, warum erſchien damahls nicht eine 
tröſtende Geſtalt mir Verlaſſenen? Warum reichte 
damahls nicht eine warme Freundeshond dem Ein— 
ſamen zur Stütze ſich dar! — Doch ich ſollte nun; 
erſt bitter noch empfinden, bitterer wie jemahls, 
was es heißt, allein — gräßlich, allein, ohne Liebe 
und Theilnahme zu ſtehen! — 

Meine Verhältniſſe zwangen mich, mit meinen 
Angehörigen zuſammen zu kommen. Ich trat in 
meines Onkels Haus — er war längſt todt; Ama: 
lie ſeit Jahren fhon mit ihrem Mann in einem ans 
dern Ort wohnhaft; nur meine Tante und einige 
alte Hausgenoſſen von ehemahls, fand ich wieder. 

Als ich in das Zimmer kam, wo ſo oft ich einſt 
geweilt, wo bey meinem Abgang nach“ ““ jener 
mir nun feyerlich ernſt erſcheinende Aetus des Abs, 
ſchiedes aus dem Hauſe Statt gefunden hatte, wo 
ich zum letzten Mahl mit Liebe von Menſchen war 
umarmt worden, die damahls einen Theil ihrer 
Hoffnungen auf mich gebaut hatten, die ja nun alle 


> 


185 
— alle zertrümmert waren, fo wie mein eigenes 
Lebensglück, und meine Tante — die freylich nie 
mit warmer Gluth mein Herz erkannt hatte, die 
aber doch nun wie ein Schatten einer Frühlings— 
zeit vor meinem Geiſte ſtand — auf mich zutrat, 
und mit fremdem, ſchneidenden Ton mein ohnedem 
blutendes Herz kalt anſprach: da war es, als fühlte 
jetzt erſt ich das Getrennte meiner Lage. Mit Thrä— 
nen im Auge, mit gebrochener Seele küßte ich der 
die Hand, die einſt doch Mutterſtelle bey mir ver— 
trat, und gern waͤr' ich zu ihren Füßen geſunken, 
hätte um Liebe, ach, nur um einen Tropfen Zunei- 
gung gefleht von der, die jetzt mir fo lieb, fo chener 
erſchien — doch ihr ernſter, verachtender Blick, die 
faſt unwillige Bewegung, mit der ihre Hand ſie 
mir entzog, die voll Inbrunſt an die Lippen ich 
drückte, ſagte mir deutlich, daß für mich kein Ge— 
fühl in der Bruſt derer mehr glühe, die Natur am 
nächſten mir geſtellt hatte, und mit gräßlicher Er— 
bitterung gegen Welt und mich, zog ſich verſtärkt 
der Harniſch von Haß um mein Herz, der kaum be— 
gann, in dieſem Augenblick abzutbauen. 

Die Höflichkeit erforderte, daß in dem Hauſe, 
das ſonſt mir Heimath war, eine Wohnung wäh— 
rend meines Aufenthalts mir angebothen wurde, 
und ſo läſtig mir dieß jetzt ſeyn mußte, ſo konnte 
ich es nicht ablehnen. Ich bezog das Zimmer wie— 
der, das einſt ich bewohnt hatte, und getrieben 
von Verlangen, eine Gegend wieder zu verlaſſen, 


186 

Menſchen, die nur ſchmerzlich durch ihren Anblick 
auf mich wirken konnten, eilte ich mit allen zu Ge⸗ 
both ſtehenden Mitteln meinen Aufenthalt, ſo viel 
ſich thun ließ, zu verkürzen. — Auch hier ſuchte 
und fand ich bald meine gewohnte Zerſtreuung, und 
indem hier mehr, wie irgendwo, ich mich ihr ergab, 
diente mein Benehmen nur, den Widerwillen mei— 
ner Umgebung gegen mich zu mehren. 

Ich kehrte einſt ſpät des Nachts aus meinen 
gewöhnlichen Zirkeln zurück, als mein Diener, der 
mich erwartete, mir anzeigte, wie Amalie mit ih: 
rem Mann Arlfort angekommen ſey. Ich geſtehe, 
daß der Gedanke, mit Arlfort, dem Schöpfer und 
der erſten Quelle meines Leids unter einem Dache 
zu hauſen, gräßlich mich ergriff. Betroffen, voll 
unendlich widerſtreitender Gefühle, brachte ich faſt 
den Reſt der Nacht auf- und abgehend in meinem 
Zimmer zu, indem ich nicht einig werden konnte 
mit mir ſelbſt, wie mein Benehmen bey der nun 
nicht zu vermeidenden Zuſammenkunft mit ihm ich 
einrichten ſollte. Denn war er es nicht, der durch 
ſeinen Verrath, durch ſeinen heillos treuloſen, mich 
in all' die Begebenheiten geſtürzt hatte, die jetzt 
mein Clend machten? War Er nicht Mariens 
Mörder? — Alle Gefühle der Rache, die einſt 
meine Bruſt gegen ihn durchtobt hatten, und die 
nur gewichen waren vor eigenen Empfindungen des 
Schmerzes, wachten jetzt wieder in mir auf, und 
gräßlich blutige Vorſätze zogen wie düſtre Schatten 


187 
auf trübem Grunde vor meiner Seele vorüber. 
Daun trat wieder, wenn ich ihnen mich überlaſſen 
wollte, das Erkennen eigener Schuld vor mein in— 
neres Auge, und indem ich ſchmerzhaft die Hand 
die an kramphaft bewegte Bruſt drückte, fühlte ich, 
wie wenig mir zieme, zu richten. 

So nahte ſich endlich die Stunde, in der ich 
mit ihm und feiner Gattinn zuſammentreffen ſollte, 
And ich geſtehe, der Verbrecher, der gefoltert von 
Gewiſſensbiſſen vor feinen Richter treten ſoll, mag 
ein angenehmer Gefühl empfinden, als ich empfand, 
da ich mich nach dem Wohnzimmer begab. 

Mit einer freundlich höflichen Verbeugung kam 
Arlfort mir bey meinem Eintritte entgegen, und 
indem mit dem Titel des Verwandten und einer 
Umarmung er mich begrüßte, war mir, der ich doch 
dieß Ehren halber erwiedern mußte, welches frey⸗ 
lich hölzern und gezwungen genug geſchah, als 
würgte mir ein Strick die Kehle zu, aus der ein kaum 
hörbarer Ton, der einen Dank bedeuten ſollte, mit 
Mühe ſich hervordrängte. 

Es läßt ſich erachten, daß in einer ſolchen Stim- 
mung kein erfreulich zerſtreuend Geſpräch aufkom— 
men könnte, und, indem ſich die Rede bald auf Fa⸗ 
milien- und Vermögensangelegenheiten lenkte, hatte 
ich noch Gelegenheit, zu bemerken, wie ein jäm— 
merlid, knickeriſcher Geitz in Arlforts Seele herr— 
ſchend geworden war in den Jahren, da wir uns 
nicht ſahen. 


188 

Nicht ohne Bewegung hatte ich mich bald nach 
meinem Eintritte ins Zimmer an Amalien gewen— 
det, die, war fie gleich meinen Herzen in früheren 
Tagen nichts, oder doch nur äußerſt wenig geweſen, 
jetzt ja doch die Einzige war, deren Wiederauftreten 
vor meinen Blicken ein minder ſchroffes und trübes 
Gefühl in mir erregte, als die Andern. 

Ich habe ſrüher ſchon einmahl erwähnt, daß 
Amalie zwar anmuthlos, doch nicht unſchön war, 
und die Zeit, die ich ſie nicht geſehen, hatte ihren 
Blüthen nichts geraubt, im Gegentheile war durch 
einen gewiſſen ernſten, ſinnigen Zug und Blick, den 
ich früher nie an ihr bemerkte, der Ausdruck ihres 
Geſichtes merklich erhöht worden. Als ich ſie jetzt ins 
Auge faßte, fiel lebhaft mir die Scene bey meinem 
einſtigen Abſchiedsfeſte ein, wo fie mir die für mich 
zum Andenken geſtickte Brieftaſche überreichte und 
ich gerührt ihre zitternde Hand an meine brennende 
Lippen brachte. Es war dieſelbe Stube, und zufäls 
lig ſtand Amalie und ich, als ich nun ſie anredete, 
auf derſelben Stelle, wo wir damahls ſtanden, ein 
Paar alten Ohlgemählden gegenüber, die ausgezeich— 
nete Vorfahren unſers Hauſes darſtellten — und 
unwillkührlich fing meine Stimme an zu beben, 
mein Auge ſich zu benetzen; denn wie ſo anders, 
anders war jetzt alles gegen damahls — wie ſo ganz 
andere Menſchen ſtanden wir jetzt hier, mit ſo ver— 
änderten Anſichten, Hoffnungen und Wünſchen, und 


189 


es waren ja doch nur wenige Jahre, die das Da 
mahls und Jetzt trennten! 

Freundlich und artig, aber kalt beantwortete 
Amalie meine Anrede; ach! und abermahls mußte 
ich fühlen, daß ich allein und ungeliebt in der wei— 
ten Welt war. 

Mit vieler Gewandtheit unterhielten während 
der Zeit, ehe wir zu Tiſche uns ſetzten, Mutter und 
Tochter ein gleichgultiges, nichtsſagendes Geſpräch, 
und klang ja in Alforts oder meinen Worten eine 
Saite an, die zu Erörterungen hätte fuhren können, 
fo wußten ſie ſchnell einzulenfen, jedes Unangenehme 
zu vermeiden, für welches Bemühen, geſchah es gleich. 
wohl gerade nicht meinetwegen, ich doch im Stillen 
innigen Dank ihnen zollte; denn zu gut fühlte ich, 
wie nur des leiſeſten Hauches es bedurfte, die Gluth 
zur hellen Flamme aazufachen, die in mir tobte, fo 

oft mein ſcheuer Blick auf den Mann ſiel, den ich 
nicht ohne Recht als den Vernichter meines b 
glücks betrachtete. 

So waren die Vormittaagsſtunden noch leidlich 
genug vergangen. Die Angelegenheiten, über die ich 
mit meinen Verwandten zu ſrrechen gehabt hatte, 
waren, freylich nicht ohne Opfer von meiner Seite, 
abgemacht, die ich aber willig gegeben hatte, da mei— 
ner Seele Eigennutz ſtets fremd, jetzt beſonders mir 
daran lag, ſchnell und gut davon abzukommen, und 
wir begaben uns zu Tiſche, welches erfreuliche Mahl 

noch durch die Gegenwart einiger weitſchichtigen 


299 

Vettern verſchönt wurde, die lebenslang nicht weis 
ter von ihren Höfen ſich entfernt hatten, als nach 
der nächſten Stadt, um dort auf dem Markte ihre 
Ochſen und ihr Korn zu verhandeln, und jetzt durch 
ihre anmuthigen Reden und zierliches Benehmen an= 
fingen, mir einigen Spaß zu gewähren, beſonders 
durch den Contraſt, den fie mit dem gezierten Wer 
ſen meiner Tante und den etwas lahm erſcheinenden 
Ton der Libertinage Arlforts machten. 

Bis hierher war alles gut gegangen. Ich hatte 
mehrentheils, eine ſtumme Rolle ſpielend, oder nur 
Einzelnes erwiedernd, theils den Beobachter ges 
macht, und ſchon näherte ſich das Mahl ſeinem En⸗ 
de, als einer jener Landvettern auf die unſelige Idee 
kam, einige abgedroſchene Geſundheiten auszubrins 
gen. Arlſort, der während der ganzen Zeit viel ges 
ſprochen und noch mehr getrunken hatte, nahm die 
faden Späße mit Freuden auf, und ergänzte durch 
eigene Einfälle noch das Mangelnde. So waren ſchon 
mehrere ſolche Toaſts in die Nunde gegangen, und von 
mir ziemlich gleichgültig, faſt nur gezwungen, mitge⸗ 
macht worden, als Arlfort abermahls ſein Glas er— 
hob, ſich gegen mich wandte und ausrief: „Herr 
Vetter, dem Andenken der Zeit in *** und unſerer 
Bekanntſchaft!“ Ein Stich fuhr bey dieſen Worten 
durch meine Bruſt. Alle jene Bilder, die ich bisher 
gewaltſam unterdrückte, theils meinen Gedanken 
nachgehangen, traten mitRieſenſtärke, wie durch einen 
Zauberſpruch belebt, auf einmahl vor meine Seele, 


rar 
und Zeit, Ort und Umgebung vergeſſend, ſah ich 
nur den feindlichen Dämon vor mir, dem, mit 
unſchuldsvollen Sinn einſt vertrauend, ich mich bite 
gab, und der teufliſch alle meine Blüthen brach. Mit 
dem Ausruf: „Daß ſie zur Hölle fahre“ — war ich 
aufgeſprungen, und weithin ſchleuderte ich das Glas 
aus feiner Hand, das klirrend auf den Voden fiel. 
Ein allgemeiner Aufftand erfolgte; taumelnd von 
Wein und Überraſchung, näherte ſich Arlfort mir, 
und lallte mehr, als er es ſprach, einige Schimpf- 
worte. Ich war in dieſem Augenblicke auch des letz 
ten Funkens von ruhigem Nachdenken beraubt. Wü— 
thend packte ich ihn an der Gurgel, und indem ich 
den Wankenden gegen die Wand drückte, ſchien 
mein Arm zu verſteinen, als ſollte er nimmer ſeine 
Beute fahren laſſen. 

Die Damen ſchrien nach Hülfe, Arlfort röchelte 
dem Erſticken nah unter meiner Hand, und immer 
krampfhafter drückten meine Finger ſich zuſammen, 
bis endlich die andern Anweſenden mich gewaltſam 
von meinem Opfer losriſſen, und nach dem Neben⸗ 
zimmer ſchoben. 

Mein Gemüth war zu aufgeregt, um ſegleich 
zur kalten Beſinnung wieder kommen zu können, 
und Arlforts drohende Worte, die ich deutlich ver⸗ 
nahm, dienten eben nicht, dieſe Wirkung hervor zu 
bringen. Ich wollte in meiner Ungezügeltheit mehr⸗ 
mahls wieder in den Saal mich ſtürzen, indem ich 
mich theuer vermaß, wie der Bube mit feinem Le⸗ 


192 
ben mir zahlen follte, und nur die angeſtrengten 
Kräfte unſerer Geſellſchafter vermochten mich zur 
rück zu halten. Endlich hörte ich, daß man aus dem 
Nebenzimmer ſich entfernte, und nicht lange darauf 
fuhr Arlforts Wagen vor, und er, feine Frau und 
Schwiegermutter ſetzten ſich ein. Ich war während 
deſſen im Zimmer auf, und abgerannt, und erſt eine 
geraume Zeit, nachdem jene abgefahren, kam einige 
Überlegung mir wieder. Ich fing an, mich zu ſchä— 
men über dieſen rohen Ausbruch meines Gefühls, 
von dem ich mich hatte hinreißen laſſen, die Ge— 
ſetze des Anſtandes zu vergeſſen, und wohl einfe: 
hend, wie nur mir die Schuld dieſes widrigen Auf— 
trittes wurde beygelegt werden, gegen den einmahl 
die Stimme beynahe aller meiner Angehörigen war, 
fühlte ich, wie unmöglich länger ich in einem Hauſe 
bleiben konnte, deſſen Beſitzer inn am mehrſten wi: 
der wich eingenommen ſeyn mußte. Zugleich erin— 
nerte ich mich, was ich Mariens Mutter einſt ſo 
heilig gelobt, was ich dem Schatten der geliebten 
Abgeſchiedenen geſchworen hatte, und mit jedem. 
Augenblicke, der mein wallendes Blut abkühlte, 
ſchwanden auch mehr und mehr die Bilder und 
Entwürfe der Rache, die, erſt in mir aufſteigend, 
ich mir vorgenommen hatte, noch auszuführen. 
Die Herren Vettern waren gleichſam als eine 
Wache bey mir geblieben; jetzt, da ſie ſahen, daß 
ich kälter geworden war, und mein em Diener den 
Befehl ertheilte, zu meiner baldigen Abreiſe alles 


193 
in Stand zu ſetzen, empfahlen auch fie ih, und 
nicht ohne Bewegung bemerkte ich, ſo gleichgültig 
mir dieſe Menſchen ſonſt auch waren und ihr Ur— 
theil — daß als ein verlornes, durchaus nur Un— 
heil ſtiftendes Weſen ſie mich betrachteten, den im 
Herzen ſie gewiß gern aus ihrer, nach ihrer Art 
rechtlich ordentlichen und ſtets im gleichen Gleiſe 
wandelnden Sippſchaft verbannt hätten. 

Es dauerte nicht lange, nachdem ich mich al— 
lein auf meinem Zimmer ſah, als Georg, der alte 
Kammerdiener meines verſtorbenen Onkels, der 
jetzt eine Art von Haushofmeiſter vorſtellte, mit 
vielen Verbeugungen bey mir eintrat und mir ein 
Briefchen von meiner Tante überreichte. 

Den Inhalt konnte ich mir leicht denken, und 
ich war jetzt abgekühlt genug, um nicht ein leiſes 
Lächeln zu unterdrücken über die Angſtlichkeit des 
alten Mannes, mit der er mir das Schreiben 
überreichte, und die mir klar machte, daß auch ihm 
der Inhalt nicht unbewußt war. 

Folgendes waren die Worte, die meine Tante 
mir ſchrieb: 

„Ob Sie gleich mich ſeit Jahren ſchon gewöhnt 
haben, nichts Erfreuliches von Ihnen zu erwarten, 
ſo hatte ich doch die Hoffnung, daß Sie wenigſtens 
das Haus Ihrer nächſten Verwandten, das Ihnen 
doch einſt Vaterhaus war, nicht zum Schau⸗ 
platze eines Betragens machen würden, das, ich be= 
kenne es Ihnen, eben ſo viel Kummer als Unwillen 

Unterh. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. 3 


191 

längſt uns allen ſchon machte, und wohl den Wunſch 
hätte entſtehen laſſen können, nicht ſo nahe durch 
Blutsbande mit einem Manne verbunden zu ſeyn, 
deſſen Streben dahin zu gehen ſcheint, die, die 
einige Rechte auf ſeine Achtung haben, zu kränken, 
und den Nahmen, der ſonſt ſo unbeſcholten war, 
ſeines Vorrechtes zu berauben. Ich zweifle nicht, 
daß Sie ſelbſt fühlen werden, daß nach dem heute 
Vorgefallenen ich wohl nicht wünſchen kann, durch 
Wiederſehen Ahnlichem zu begegnen; um fo mehr, 
da das, was noch von gemeinſchaftlichen Angelegen— 
heiten unter uns auszugleichen war, abgemacht iſt, 
und ich habe deßwegen Georg den Auftrag ertheilt, 
im Hauſe alles zu beſorgen, da ich ſo lange bey 
meinen Kindern verweilen werde.“ 

Ich läugne nicht, dieſer Brief, hatte ich gleich 
ſeinen Inhalt vermuthet, erſchütterte mich doch ſehr; 
und erregten ſchon Vorwürfe, die ich nicht fo vers 
dient, meinen Zorn und meine Verachtung, fo er— 
griff mich doch auch ein unendlich ſchmerzliches Ge— 
fühl. Längſt ſchon hatte ich mich gewöhnt gehabt, 
außer Beziehung mit meiner Familie mich zu den= 
ken; aber nun erſt fühlte ich mich ausgeſtoßen von 
ihr, und aller Empfindungen leer muß der ſeyn, 
dem bey dieſem Gedanken doch das Herz ſich nicht 
beengt, wären die Menſchen ihm auch noch ſo gleich— 
gültig, die die Natur an ihn knüpfte. 

Eine Thräne ſtahl ſich in mein Auge, und mit 
einem Tone von Weichheit, wie ſeit langen Zeiten 


\ 13) 
er mir nicht entquoll, wendete ich mich zu dem al: 
ten Diener, der ſo oft als Kind auf ſeinem Arme 
mich gehabt, der als Knabe und Jüngling mich ge: 
kannt, und ſagte ihm: „Man will mich hier nicht 
mehr, George, wie hat ſich das alles ſo geändert!“ 

„Ach, Gott, ja!” ſeufzte der alte Mann,, aber 
nehmen Sie mir es nur nicht ungnädig, ich — ich 
habe Sie doch immer lieb gehabt; und bey dieſen 
Worten griff er nach meiner Hand und führte fie.gu 
ſeinem Munde, indem er ſich die Augen wiſchte. 

Ich kann nicht ſagen, wie dieß Zeichen von 
Anhänglichkeit in dieſem Augenblicke mir wohl that. 
So war doch noch Einer aus meiner Jugend un— 
ſchuldsvollen Tagen, der Theil an mir nahm, und 
je feſter die Idee ſich mir eingedrückt hatte: du ſtehſt 
gänzlich verlaſſen auf der weiten Erde, je werther 
mußte jetzt dieß Zeichen von Liebe mir ſeyn. 

„Guter George,“ ſagte ich, und machte eine 
Bewegung, als wollte ich ihn umarmen, der er aber 
durch eine demüthige Verbeugung auswich, „guter 
George, Er wird ſich doch manchmahl noch meiner 
erinnern, und nicht ſo, wie die Andern, mich ver— 
dammen.“ . 

„Da ſey Gott vor!” entgegnete er, „Sie wa⸗ 
ren ja immer gut, ſchon als Kind, und ſind jetzt 
gewiß auch nicht fo — ſo — —” 

Hier ſtockte der alte Mann, als wäre er verle⸗ 
gen über den zu wählenden Ausdruck, dana fuhr er 
fort; „Malchen, Frau von Arlfort wollte ich ſagen. 

J 2 


169 

meinfe das auch, als Ihre gnädige Frau Tante mir 
den Brief an Sie übergab; aber ſie durſte es nicht 
recht laut werden laſſen, denn die Frau Mutter 
und der Herr Gemahl waren ganz erſtaunlich auf— 
gebracht.“ 

So hatte alſo Amalie doch auch für mich ge— 
ſprochen, gefühlt vielleicht, wie wehe meinem Her— 
zen Arlforts Anblick ſchon thun mußte; und wahr: 
iich ein Tropfen Zufriedenheit rann in das Bittere 
meiner Seele bey dem Gedanken, daß ſie, die un⸗ 
ter allen meinen Angehörigen von mir am meiſten 
mit war zurückgeſetzt worden, doch noch ein Gefühl 
der Billigkeit für mich hegte. 

Meinem Willen gemäß hatte mein Diener alles 
zu meiner Abreiſe noch denſelben Abend beſorgt— 
Jetzt trat er ein, mich zu fragen, wohin er die 
Pferde beſtellen ſollte, und ſo natürlich dieſe Frage 
war, fo ſehr ſetzte fie mich in Verlegenheit. 

Wo ſollte ich hin? So weit die Sonne ſchien, 
ſtand mir die Welt offen, aber auch eben ſo weit 
ſah meine trübe Phantaſie nur ein einſames, liebe: 
leeres Daſeyn — nirgends auch nur eine Seele, die 
für mich empfand; denn hatte ich nicht die, denen 
theuer ich einſt war, getäuſcht, elend gemacht? 
Ach! als ich mich jetzt wieder kummervoll in den 
Wagen warf und der erſten Station nach Wien 
zueilte, ruhte ſolch Dunkel in meiner Seele, wie 
auf der Gegend, die um mich war, und indem ich 
zum Abſchiede dem alten Georg noch die Hand drückte, 


197 
fühlte ich ſchaudernd, wie von dem letzten mir nähern 
Weſen ich mich auf immer trennte, und das Bild 
jenes Tages, da auf derſelben Stelle mein Onkel 
mir einſt noch Lebewohl ſagte, als ich die Akademie 
bezog, trat wie eine Flammenſchrift brennend, ver: 
zehrend vor meinen inneren Blick. 


— 
5 12. 

Nach einigen Wochen Aufenthalt in Wien er— 
hielt ich auf ein Schreiben von mir Briefe von Berg— 
ſtern, und obgleich nicht wiſſend, was ich eigentlich 
in der Schweiz beginnen wollte, ja ſelbſt mich vor 
dem Wiederſehen von Menſchen fürchtend, in deren 
Blicken ich die ſtillen Vorwürfe meines Benehmens 
zu leſen erwartete, ſo entſchloß ich mich dennoch, 
dahin zu reiſen; denn zu ſehr rief ein Ton vergan— 
gener Zeiten in der Kaiſerſtadt zu meinem Herzen, 
den alle wilde Zerſtreuungen, in die ich mich mehr 
wie je ſtürzte, nicht übertäuben konnten. Auch meine 
ökonomiſchen Umſtände, auf die doch dann und 
wann ich einen Blick zu werfen begann, ließen den 
Entſchluß reifen, einen ſtillern Aufenthalt mir zu 
ſuchen, wo weniger Preis gegeben einer Menge Be— 
dürfniſſen, als in einem ſo volkreichen Orte, ich an— 
fangen wollte, durch Eingezogenheit das zu erſetzen, 
was die Sehnſucht nach Entfliehen vor mir ſelbſt in 
den letzten Jahren mich hatte verbringen laſſen. — 
Schon einmahl hatte wohlthätig der Anblick un: 


198 

endlich erhabener Natur auf mich gewirkt, und wenn 
ich auch nicht Heilung erwartete, ſo hoffte ich doch 
Linderung zu finden zwiſchen jenen ewigen Felſen— 
wänden, die wie Züge von eines Gottes Hand, 
hehr und unendlich zu den Wolken ſich empor gipfeln. 

Ich ſäumte nicht, den gefaßten Entſchluß aus⸗ 
zuführen, und bald umſchloß mich wieder das ſtille 
Thal, das ich einſt an Chiarens Hand mit neu er— 
wachenden Lebenshoffnungen betreten hatte. 

Mit offenen Armen, voll inniger Zuneigung, 
empfing mich Bergſtern, und indem ich weinend an 
ſeine Bruſt ſank, zuckte ein freundlicher Strahl durch 
meine Seele, daß ich doch nicht ſo ganz, ſo ganz 
verlaſſen war, daß doch ein Weſen mit immer glei— 
cher Liebe und Anhänglichkeit an mir hing. 

Auch im W. .. ſchen Haufe machte ich bald 
nach meiner Ankunft meine Aufwartung. Ach mit 
welchen Gefühlen ging ich das erſte Mahl hin! — 
Ich wußte, daß feinen Bewohnern alle die Verfr— 
rungen nicht unbekannt geblieben waren die ich mir 
hatte zu Schulden kommen laſſen, und ich fühlte 
wohl, daß ich ihnen das als Menſch nicht mehr ſeyn 
konnte, was ehedem ich ihnen war; daß der, der 
auf das ſtille Blumenleden eines guten Mädchens, 
das ihnen allen ſo lieb war, verzehrenden Schmerz 
geworfen hatte, nicht verdiente, von dieſen guten 
Menſchen noch geachtet zu werden. Beſonders klopfte 
mir das Herz bey dem Gedaaken an Antonien. Sie 
war mir ein? eine ho fheuere, fo treue Freundinn 


199 
geweſen; auch ich hatte einſt ihr ſo nahe geſtanden; 
ich hatte fo ſchöne, fo reine Stunden in Ihrer Nähe, 
geehrt durch ihrer ſchönen Seele Vertrauen, ge— 
lebt; ſie hatte, als an einen anten Menſchen, ſich 
an mich geſchloſſen, und wie ſchlecht hatte ihren 
Glauben ich bewährt! Denn, wie ſchon erwähnt, 
auch ſie hatte in jenem Taumel, der in Valeriens 
Nähe mich ergriff, ich mit ſchnödem Undank und 
Kälte mir entfremdet, und natürlich war wohl, daß 
nicht entſchuldigend fie mich beurtheilen konnte. 

Unverändert mit dem alten Ausdruck der Herz— 
lichkeit nahm mich der Hofrath auf, und kein Wink, 
kein Ton, der mich verwunden konnte, ließ mich 
fühlen, was zwiſchen jetzt und ehemahls lag. Aber 
anders war es mit den weiblichen Bewohnern, und 
ſchmerzlich drückend, wie eine Bergeslaſt empfand 
ich mit Wehmuth erſt, in der Folge mit herber 
Bitterkeit, daß nur des Anſtandes Geſetze die Das 
men des Hauſes zwangen, mich nicht das ganze 
Gewicht ihrer Meinung von mir fühlen zu laſſen. 

Es iſt eine, auf die Erfahrung aller Zeiten ge— 
ſtützte Sache, daß unſer Geſchlecht weit nachſichti— 
ger richtet, als das zarte, weit duldſamer gegen 
Verirrungen iſt, als dieſes, und in des Weibes rei— 
ner Bruſt weit tiefer der Unwille eingreift gegen 
Fehler, als in der des Mannes; wie ja auch auf 
eine zarte Blumenflur das Verletzende mehr und 
länger wirkt, als auf ein ſchrofferes Gefilde. 

Beſonders, wie ich ja auch mit Recht nicht anders 


208 


erwarten konnte, war Antonie mir abgeneigt, ja 
feindlich ſelbſt, und oft, wenn ich bey wiederhohl: 
tem Zuſammentreffen mit ihr, einen bittenden Blick 
auf ſte richtete, ſie anredete, las ich in ihren Augen, 
in dem Ton der Stimme, die ſonſt voll Huld mir 
erklungen, den Abſcheu, den gegen mich ſie hegte, 
und nicht vermag ich zu ſagen, wie es mich ergriff, 
die ſo gegen mich zu ſehen, die meinem Herzen 
doch ſo theuer immer war, von der ich Troſt nicht 
gehofft, nicht erwartet, ach! nur geahnt hatte in 
ſtillen Augenblicken, wenn einmahl mir es gelang, 
aus dem Wuſt trüber, verworrener Empfindungen, 
auf eine kurze Minute mich empor zu arbeiten. 
Mein Gemüth war durch zu langes Erſtarren 
zu ſehr einem weichen Hingeben entfremdet wor— 
den, zu lange hatte eine dunkle Lebensanſicht aus— 
ſchließend ſich meiner bemächtigt, um gerecht noch 
ſeyn zu können, und die Bitterkeit, mit der ich ſelbſt 
mich im Auge hielt, hatte nicht verfehlt, auf Alles, 
außer mir ihren verdüſternden Schleyer zu werfen. 
Es wird daher begreiflich ſeyn, wie jetzt in meinem 
Herzen eine Schroffheit gegen Antonien ſich einzu— 
wurzeln begann, die oft in wirklicher Härte ſich 
anfing zu äußern, und um ſo krampfhafter mein 
Inneres ergriff, da dieſer, ich möchte ſagen, erzwun: — 
gene Haß, mit geheim glimmender Lieb’ und Reis 
gung kämpfte. War früher ſchon durch meine faft 
ſtets herrſchende trübe Laune ich ein unleidlich We— 
ſen geworden, das ſich ſowohl, wie Andern zur 


201 


Laſt war, ſo wehrte ſich jetzt dieß noch bey weitem, 
und oft ließ von meiner feindlichen Stimmung ich 
mich hinreißen, ſogar die äußern Formen des geſel— 
ligen Tons zu vergeſſen, und mit einer, an Roh: 
heit gränzenden Nauhigkeit, meine Umgebungen zu 
verwunden. Eine natürliche Folge war, daß Alle, 
die ſonſt wohl noch einigen, wenn auch nur höchſt 
oberflächlichen Antheil an mir genommen hatten, 
ſich nun gänzlich von mir zurückzogen, und immer 
tiefer, immer ſchmerzlicher ich fühlen mußte, wie 
jo nichts ich mehr war. Nur der Hofrath blieb une 
ter allen meinen Bekannten mir mit immer glei⸗ 
cher Empfindung treu, und nur er allein übernahm 
es, mich zu vertheidigen, zu entſchuldigen, wenn 
Alle mich verurtheilten. 

Meinen, ſeit geraumer Zeit angenommenen 

erſtreuungen hatte ich anfangs etwas entfagt, mich 
En wieder dem ehemahls fo warmen Trieb nach 
Wiſſen genähert; aber bald fiel ich von neuem in 
jenen Wuſt zurück, der immer unentbehrlicher mir 
zu werden anfing. Das einzige, täglich um mich les 
bende Weſen, zu dem noch, mit einiger Neigung 
ich mich gezogen fühlte, Bergſtern, wurde um dieſe 
Zeit mir auch entriſſen. Mit ihm fiel das letzte 
Band, fo mi noch an ein Herz knüpfte. Seit Zah: 
ren ſchon fortwährend kränkelnd, verſchied er in 
meinen Armen, und mein aufrichtig tiefer Schmerz 
ehrte ſein Grab, wie das eines Vaters. 

Abermahls war beynahe ein Jahr vergangen 


202 

wie im dumpfen, ängſtlichen Traum, aus dem ver: 
gebens ich zu ringen ſtrebte, vergebens den trüben 
Bildern zu entfliehen ſuchte, die unaufhörlich mir 
folgten, als einſt zu einer Familie in die Nachbar: 
ſchaft zur Begehung eines kleinen, häuslichen Fe— 
ſtes ich geladen wurde. 

Ehedem waren ſolche Licht- und Freudentage 
in traulichen Kreiſen die liebſten meiner Genüſſe 
geweſen, weil da unter gebildet guten Menſchen 
mit des Frohſinns heiterem Spiel ſich am lieblich— 
ſten die Grazie vereint, und des Herzens warmer 
Ton nicht fo leicht verklingt, wie in geräuſchvoll 
größeren Vereinen, wo ſchnell und glatter der 
Menſch am Menſchen vorübergeht. Jetzt war auch 
dieß anders. In das Stillleben liebender Freund— 
lichkeit erklang zu laut der Mißton meiner Seele, 
und die Bande der Herzlichkeit, die Andere um— 
ſchlangen, erregten meinen Neid. — Dennoch nahm 
ich die Einladung an, denn mehr noch als dieß, 
ſcheute ich Alleinſeyn. 

Ich traf, wie ich auch vermuthet hatte, die Fa— 
milie des Hofraths gleichfalls da, und indem Alle 
ſich freundlich an einander ſchloſſen, in tranlichee 
Hingebung ſich gegenſeitig erheiterten, ſtand nur 
ich — nur ich allein theilnahmlos, herzlos da; ich, 
der Einzige in einem Kreiſe Froher, der mit trü— 
ber Nacht in der Seele wie eine ſchwarze Felſen⸗ 
klippe auf grünender Flur war. 

Es war in den kurzen Tagen des Jahres und 


/ 


. 203 


des Genuſſes' freyen Natur beraubt, begann die 
Geſellſchaft mit einbrechendem Dunkel zu mancher— 
ley Spielen ſich zu gruppiren. Ich weiß ſelbſt nicht, 
wie es kam, daß heute ich die dargebothenen Kar— 
ten ausſchlug, und während in den hellerleuchteten 
Zimmern Jeder ſich beſtmöglichſt unterhielt, zog ich 
von einem ins andere, bald hier bald dort mich 
niederlaſſend, wie ein unholder Geiſt umher. Je 
länger, je mehr wurde mir das muntere Geplauder 
der Anweſenden läſtig, und da ich nicht gut mich 
entfernen konnte, ſo ſetzte ich mich endlich in ein 
nur ſchwach beleuchtet Rebengemach, wo vorher der 


Peerſon, der zu Ehren dieß kleine Feſt von der Be⸗ 


ſitzerinn des Haufes war veranſtaltet worden, auf 
einem, wie ein Altar geformten Tiſchchen, die Ges: 
ſchenke der Liebe und Zuneigung waren gebracht 
worden von den Theilnehmern, und die nun noch 
alle da lagen. Es waren durchgehends werthloſe 
Kleinigkeiten, die nur durch Art und Form des 
Überreichens Bedeutung erhielten; eine Blume, 
eine ſeltene Frucht oder dergleichen. Jetzt, da ich 
mich allein ſah, vor mir das bekränzte Tiſchchen, 
das Liebe und Neigung guter Menſchen Einem aus 
ihrer Mitte geſchmückt hatte, fing meine Bruſt 
mächtig an zu arbeiten, und ein unendlich, weh— 
muthsvolles Gefühl ergriff mich bey dem ſo natür— 
lich aufkeimenden Gedanken: es lebt keiner, dem 
nicht Ein Herz, wenigſtens in Liebe ſchlägt, an dem 
nicht Einer Seele fromme Wünſche hängen, und 


204 


nur du, du nur biſt allein, und ſey dein Geſchick, 
welches es will, fo rinnt auch nicht Eine Thräne 
um dich, und winkt heute dir noch die letzte deiner 
Stunden, yo lebt dein Andenken in keinem Herzen 
fort. Wie der Abendwind die Blätter über dein 
Grab jagen wird, ſo wird dein Gedächtniß ſpurlos 
entſchwinden, und du tratſt doch mit einem war— 
men Herzen voll Liebe ins Leben, und haſt ja doch 
nur menſchlich, jugendlich gefehlt. 

Ich drückte überwältigt von Schmerz die Hände 
vor die Augen, und wahrhaft in Wehmuth rann 
meine Seele hin. Da trat Antonie, an der Hand 
der Wirthinn des Hauſes, in das Zimmer, und un— 
möglich war es, meine Bewegung ihnen zu ver⸗ 
bergen. 

Mit einer Freundlichkeit, wie lange ich von 
Menſchen nicht gehort, nähert ſich mir die letztere, 


und ſagte: „Wir ſind Alle ſo froh heute, ſeyn Sie 


es doch auch einmahl. — Kaum vermochte ich zu 
antworten, mit gepreßter Stimme erwiederte ich 
nur, indem ich die Hand auf mein zuckend Herz 
legte: „Kann ich, darf ich es denn?“ und zum Zim- 
mer eilte ich hinaus, den Sturm meiner Gefühle 
in der ſtürmenden Natur verwehen zu laſſen. 

In dem anſtoßenden Garten durchlief ich die 
Gänge, und während mit wahrhafter Hingebung 
mein Herz nach Faſſung rang, nach Kraft aus dem 
trüben Chaos feiner zorreißenden Ideen ſich loszu⸗ 
winden, fing an ein Lichtſtrahl, wie von Verge⸗ 


209 
bung in mir aufzugehen. Es fhien, als wenn am 
fernen Lebenshorizont durch die Nacht mir noch ein- 
mahl eine Aurora von Hoffnung aufgehen wollte, 
und der Haß gegen mich und Alles, der ſo lange 
mich verſteint, begann vor reineren Empfindungen 
zu ſchmelzen. 

Da trat ich wieder in das unlängſt verlaſſene 
Zimmer, und mein ſcheuer Blick fiel auf Antonien. 
Sie ſaß auf der Stelle, wo ich zuvor geſeſſen, in 
nachdenkender, ernſter Stellung, als kämpfte ihre 
Seele mit einem aufſtrebenden Entſchluß, und mein 
Eintritt ward nicht ſogleich von ihr bemerkt. Ich 
ſtand ihr gegenüber, die Hand auf's Herz, das Auge 
von Thränen naß, und betrachtete, verloren in Bil— 
dern der Vergangenheit, jener ſüßen, theuren Zeit, 
da ſie mich Freund nannte, da mit Wohlgefallen 
ihre Blicke auf mir weilten, da ihr Umgang mir 
das Leben ſchmückte: die zarte anmuthumfloſſene 
Geſtalt, der ich ſo gern, ſo gern mit Liebe, Ver— 
trauen, mit Reue mich genaht hätte, von der allein 
ich auf Erden meinen verlorenen Himmel wieder 
erwartete. , 

Ein kleines Geräufh, das ich unwillkührlich 
machte, ſchreckte ſie aus ihrem Nachſinnen auf. Sie 
blickte empor, ſtand auf, ſah mich mit einem Blick 
voll weichen Mitleids an, wie bedauernd, und 
wollte ſich entfernen. Da ſprach ich leiſe, zagend; 
„Antonie!“ und das Überwallen meines Herzens 
erſtickte meine Sprache. Noch einmahl ſah ſie auf 

Unterh. Bibi, 3, Jahrg. 2. B. K 


— 


206 5 


2 


mich, und unwilkkühelich reichte fie mir ihre 


Hand. 

In alten frommen Legenden wird erzählt, wie 
oft die Engel des Herrn hernieder ſchweben, den 
Müden, den Verirrten aufzurichten, und durch die 
Nacht und Wüſten, in denen zagend und verzwei⸗ 
felnd er irrt, ihn zu führen, bis eines neuen Tages 
goldene Morgenröthe ihm-ſcheint, und beruhigt, 
verſöhnt mit ſich und ſeinem Geſchick, der Gefallene 
ſich wieder aufrichtet, voll Glaube und Hoffnung 


und den Sternen Gottes gleich, die alten Unſchulds⸗ 


gefühle feiner verlorenen Jugendzeit neu in ihm er- 
wachen. — Was jene gläubig frommen Sagen 


— 


ſchildern, empfand ich jetzt. Ich hatte auf ihre Hand, 


die in der meinen bebte, mich niedergebeugt, und 
die fallenden Tropfen meines Auges beurkundeten 
ihr das Innere meiner Seele. Da liſpelte leiſe ihr 
Mund ſo tröſtend, wie wohl die verzeihenden Töne 
der ewigen Liebe ſeyn mögen: „Armer Unglückli⸗ 
cher!“ und hin zu ihren Füßeu ſank ich und ſtam⸗ 
melte: „Vergebung!“ 


Es ſchwang aber in dieſem Augenblick der ver⸗ 


ſöhnte Genius meines beſſern Seyns feine Frie— 
denspalme über mich, und wie gereinigt von Schuld, 
wie neu erſtanden zu neuem Leben rann in meinen 
Gram, den ich ſo lange trug, der Freude erſter 
Tropfen wieder. 

An Anteniens Bruft fand ich mich wieder, um⸗ 


ſchlung en von ihrem Arm, wie rettende Engel müde 


* 


U 


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Erdenkinder umſchlingen und halten, und die lang— 
verſchloſſenen, gewaltſam, unter erzwungenem Haß 
verſteckten Gefühle der reinſten Liebe brachen mit lich— 
ten Flammen hervor, und rötheten, wie ein ſchöner 
Frühlingsmorgen, meiner Seele trübes Dunkel. 
O heiliger Moment meines Lebens! wie ſchön 
vergüteſt du mir die Schmerzen, die ich empfunden, 
die ich mir ſelbſt bereitet zum Theil, für die ich ja 
aber durch die Trauer blühender Lebensjahre ge— 
büßt habe. — Ja, jetzt erſt wurde mir klar, was 
Liebe und was Leben iſt, und indem in meiner Bruſt 
alle Strahlen der Freude aufgingen, ſchien ich mich 
zurück verſetzt in der erſten Jugend heitre Tage, 
wo, goldner Hoffnungen voll, das Leben mich an⸗ 
lachte, wie eine blumenbedeckte Flur. 0 
Wohl klang noch zuweilen in den erſten 
Zeiten ein Mißton der Vergangenheit in einſamen 
Stunden leiſe in mir auf, aber als hätte mit dem 
vergebenden, liebevollen Erſcheinen eines reinen, 
fleckenloſen Weſens ſich mein Geſchick ausgeſöhnt; 
als hätte die Wehmuthsthraͤne des Mitgefühls, ih⸗ 
rem Auge entronnen, aus dem großen Schuldbuche 
meine aufgezeichneten Verirrungen weggeſpühlt; wie 
ja auch das Herz zu hoffen wagt, daß einſt vor dem 
Hauche ewiger Liebe die finſteren Flecken des irdie 
ſchen Lebens, angemerkt von ſtrenger Gerechtigkeit, 
dahin ſchwinden werden — ſo ſollten auch dieſe 
letzten, trüben Klänge mir veraehn, denn nicht 
lange nach dem Tage, der Ruhe und Zufriedenheit 


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mir wiedergab, erfuhr ich, daß auch Chiara mir 
verföhnt, fortan an mich, ohne trüben Schmerz zu 
denken vermochte, oder vielmehr: daß ein neu an 
ihrem Lebeushimmel aufgegangenes Gefühl ſie 
hatte vergeſſen gelehrt. N 


Dre 


So weit gehen der ſchriftlichen Mochte 
Eduards von ***; wenige Worte feyen uns nur } 
erlaubt noch hinzuzufügen, 

Seit dem Augenblick, der zum Wendepunck 
ſeines Geſchicks wurde, der dem mit ſo manchem 
Schönen und wahrhaft Guten Ausgeſtatteten, der 
nur an des Lebens ſchroffen Klippen, wie ſo Viele, 
ſtrandete, hingeriſſen von warmen, lebendigem Ge— 
fühl und leichter Leidenſchaftlichkeit — ſich ſelbſt 
wiedergab, floß ſein Daſeyn, ſturmvoll und trübe 
bisher, einem ruhigen Bache gleich nun hin, und 
die Bilder, die früher ſein Inneres zerriſſen, aden 
wie ferne, in Abendnebeln gehüllte Gebirge, ſanft 
aber warnend vor feinem Sinn, und oft, wenn im g 
traulichen Kreis ſeiner Freunde das Vergangene 
er überblickte, ſagte er: „Ich danke dem Geſchick, 
dem gütigen, das, durch Leid und Nacht mich füh⸗ 
rend, den Strauchelnden nicht gänzlich ſinken ließ, 
hart am letzten Gipfel und Gränzpunet die Han 
einer reinen, treuen Liebe ihm rettend reichte, un 
taumelnd ſchos am Abgrundsrand des Verder 
bens, alles Lebens Höchſtes ihm gewährte. 4 


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