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Vorrede.
reer,
Man erwarte nicht in dieſen Blättern eines je⸗
ner Phantaſiegebilde zu finden, das nie exiſtirte,
nur aus der ſchöpferiſchen Einbildungskraft des
Dichters entſprang, der es uns mahlt, deſſen
Held, Handlung und Verwickelung, ganz ins
Reich der Dichtung gehören. Was ich hier vor:
lege, iſt die Geſchichte eines Menſchen, der war;
Begebenheiten, die ſich zutrugen; Empfindun⸗
ger, Gefühle, die wirklich eine Bruſt durchflo⸗
gen, ſie erhoben und — zerriſſen. Ich habe ſie
ſo treu wieder zu geben mich beſtrebt, als ſie ge⸗
fühlt wurden und — iſt es mir gelungen, durch
die einfache Darſtellung nicht abenteuerlich⸗bun⸗
ter, aber wahrer Ereigniſſe, Theilnahme zu er⸗
regen, zu zeigen, wie oft im Gewinde des Le—
bens ein kleiner, unbedeutend ſcheinender Um⸗
A 2
ſtand, Folgen für das ganze Daſeyn hat: wie
aus einem gerade ſo geformten Charakter, Sol—
ches ſich entwickeln mußte; wie oft ein gutes,
ſelbſt edles Herz, durch zu warmes Gefühl, durch
zu große Weiche, fehlen, irren, ſelbſt fallen
kann — fo iſt meine Abſicht bey Herausgabe die-
ſes Werks erfüllt.
Wer der Held dieſer Geſchichte, wer die
mit eingreifenden Perſonen waren, wie ich dazu
kam, ſein und ihr Geſchick zu ſchreiben, wird dem
Leſer gleichgültig ſeyn, ſo wie dem Kritiker, da ich
keine Biographie, ſondern eine Darſtellung von
Empfindungen, Eindrücken, daraus entſpringen—
den Handkungen und Folgen gebe, die jedes
warm organiſirte Herz, jedes Weſen, dey dem
Gefühl und Phantaſie über kalte Vernunft die
Oberhand hat, ergreifen und bedrohen kann.
Dem Auge des Leſers den Held der Hand—
lung näher zu bringen, ließ ich ihn ſelbſt erzählen.
Sehnſucht und Liebe.
Geſchichte Eduards von **
aus
den Papieren feines Freundes.
— — — .
Aus kleiner That oft ſchwere Folge blüht;
Ein einzig Haar gewähr' den finſtern Mächten,
Es iſt genug die Kette d'raus zu flechten,
Die tief hinab dich in den Abgrund zieht.
Ven meer früheften Jugend an lag eine Sehne
ſucht, ein inneres, wunderbares Gefühl in meiner
Bruſt, das mich ſtets aus den Reihen anderer Kin—
der trieb, weg von ihren Spielen, denen ich wohl
augenblicklich mich nahen mochte, die aber bald mich
nur mit Leere erfüllten, und meinen Sinn und
meine Blicke in die Ferne, nach Unbekannten, mir
völlig Fremden zogen — ſo, daß ich unempfindlich
ſchien, und wohl es auch mitunter war, Allen, die
mich kannten.
Früh der Altern beraubt, kam als werdender
Jüngling ich in das Haus eines Verwandten, und
mehr wie je bemächtigte ſich hier meiner, in den
Jahren, wo bey allen Menſchen die Keime der Em—
pfindungen deutlicher zu entwickeln ſich anfangen,
wo gleichſom über dem friſchen Morgentraum der
indeswelt die warme Lebensſonne jo golden und
ſchön aufgeht, ein geheimer Hang zur Schwer—
muth, zu ſüßen Träumen, die nur ein tiefes füh—
lendes Gemüth, eine rege Phantaſie gewährt. 8
Dieſer Seelenſtimmung ungeachtet war ich aber
Leinesweges fo fühllos und kalt bey meinen Umge⸗
8
bungen, bey dem raſchen Treiben und Leben, wel:
ches im Hauſe meiner Verwandten herrſchte, wie
der oberflächliche Beobachter meines Thuns glau—
ben mochte. Ich war gern allein, entfernte mich oft
und abſichtlich aus den Geſellſchaften der Menſchen,
mir Gegenden aufzuſuchen, wo ungeſtört ich meine
Schlöſſer mir erbauen, wo in einer abenteuerlichen
Welt ich leben und handeln konnte. Die Gegend,
worin meines Onkels Wohnſitz lag, begünſtigte noch
mehr, wie jene, in der ich geboren ward, meine
Neigung. Es war eine jener romantiſch ſchönen,
auf einzelnen Stellen ſchauerhaft wilden, die die Ge—
birge Deutſchlands fo vorzüglich charakteriſiren. Die
Nitterburgen, die auf ſchroffen Felſenmaſſen unſere
Vorfahren mit kühner Hand hingepflanzt, die rau—
ſchenden Bergwaſſer, die das Ganze, wie mit ge—
heimnißvollen Schleyern, umgebenden Waldungen,
waren die Lieblingspunete meiner jugendlichen
Wallfahrten, und ſicher konnten meine Angehöri—
gen darauf rechnen, wenn ſie mich vermißten, was
oft zu ganzen Tagen geſchah, mich in den wildeſten
Schluchten oder auf den ſchroffſten Höhen, die die
Gegend hatte, zu finden. — Aber es konnten auch
Tage kommen, wo ich recht emſig mich in den Kreis
der Menſchen drängte, ja ich möchte ſagen, wo ich
mich hinein ſtürzte, und ſo ernſt und wortkarg ich
ſonſt zu ſeyn pflegte, ſo ausgelaſſen, ſo redſelig war
ich dann.
Es begegnet vielen Menſchen, daß ſie von ih—
3
ren Umgebungen, von denen, die ihnen am nächiten
ſtehen, verkannt und falſch beurtheilt werden; eine
Sache, die nur ſo lange befremdet, bis man er—
wägt: daß die Mehrſten, zu ſehr mit ſich ſelbſt be—
ſchäftigt, nach ſich den Maßſtab modeln, den an
Andre ſie legen, und daß Menſchenkeuntniß gerade
nicht das Wiſſen iſt, das die meiſte Ausbreitung hat.
Mir ging es vorzüglich ſo, und ſchon imälterlichen
Hauſe war dieß zum Theil mein Loos.
Meinem Vater, einem ſtrengen Geſchäftsmanne,
konnte unmöglich ein Knabe nach ſeinem Sinne ſeyn,
der mit einer gewiſſen tief gewurzelten Schüchtern—
heit, die oft in linkiſche Blödigkeit ausartete, ſich
bey jeder Gelegenheit benahm, der ſtatt wie andre
Kinder, nach vollendetem Unterricht mit lautem Ju—
bel die Spielplätze zu ſuchen, allein durch die Al—
leen des Gartens zog, deſſen dunkelſte Stellen ihm
die liebſten waren, oder auf dem dritten Boden des
altfränkiſchen Hauſes von zerbrochenen Geräthen ſich
einen Schlupfwinkel baute, worin er Stunden lang
ſitzen und einen abenteuerlichen Roman, in dem
Geſpenſter und Ritter gewaltig Weſen trieben, mit
Begeiſterung und thränenden Augen leſen konnte.
Ich will hierbey einer Scene aus jener Zeit erwäh—
nen, die noch recht lebendig vor meinen Augen ſteht,
und eines Schmerzes, den ich damahls empfand,
wie ich ihn im Laufe des Lebens kaum wieder ſo
fühlte, der ſogar einige Zeit aus meinem hohen
10
Aſyle mich vertrieb, bis doch die unüberwindliche
Neigung ihm mich wieder zuführte.
Mehrmahl ſchon war mir von meinem Vater
ſehr ſtreng das Leſen aller Nitterromane, deren
Entſtehungsperiode in die Zeit meiner Jugend fiel,
unterſagt, und den ſämmtlichen Hausgenoſſen be—
fohlen worden, mir bey harter Ahndung kein fol:
ches Buch mehr zu verſchaffen, die, wie auch mein
Vater nicht ganz mit Unrecht bemerkte, meinen
ohnedem ſchon genug ſich äußernden Hang zu Träu—
mereyen nur mehrten, und mich vom Erlernen
nützlicher Dinge abzogen. Da aber immer ich doch
liſtig genug war, dergleichen für Contrebande er—
klärte Waaren mir zu verſchaffen, ſo ſtellte, in hei—
ligem Eifer und zu meinem unſäglichen Schmerz,
mein Vater ein förmlich Auto da Fe an, ſobald
Zufall oder Nachſuchen ihm eins jener gehaßten
Bücher in die Hand führte. Meiner entſchiedenen
Neigung zum Lefen aber doch nicht ganz ſich in den
Weg zu ſtellen, gab er mir dafür des großen Frie—
drichs hinterlaſſene Schriften und Marquis d' Ar—
gents jüdiſche Briefe: Werke, die wohl nicht leicht
unpaſſender für einen Knaben meiner Jahre, enk—
wickelten Fähigkeiten und Neigungen, ausgeſucht
ſeyn konnten. Mit einem Seufzer empfing ich ſie,
und mit einem Seufzer nach meinen geliebten Kit:
tern und Geiſtern legte ich ſie wieder aus der Hand,
wenn lange Weile oder Bedürfniß ſie mir hatte her—
vorſuchen laſſen. Mit Sehnſucht im Herzen wan⸗
11
derte ich täglich an des Leihbibliothekars Hauſe vor—
über, das ja ſo viele Schätze in ſich ſchloß, die um
ſo reitzender meiner Einbildung ſich darſtellten, da
gleich einem furchtbaren Wächter, der heſperiſche,
goldene Früchte verwahrt, zwiſchen mir und ihnen
ſich des Vaters ſtrenger Wille ſtellte, und nicht ohne
Neid ſah ich die Glücklichen da ein- und ausgehen,
denen kein Machtgeboth den ſüßen Genuß verpönte.
Als endlich das Verlangen jede Bedenklichkeit über—
wand, und ich ſchüchtern und furchtſam es wagte,
die Stube zu betreten, wo meine Wünſche thron—
ten, erklärte mir der Bücherverleiher ziemlich hart,
wie er mir nichts mehr geben würde, da mein Va—
ter ihm habe ſagen laſſen, er würde ſeine Bücher
verbrennen, ohne etwas dafür zu erſtatten, wenn
er mir ferner welche lieh, doch, ſetzte er hinzu, wenn
ich mir welche kaufen wollte, ſo ſtänden ſie gern zu
Dienſten. Bey dieſen Worten ging ein neues Licht
in meiner Seele auf. Für reich und glücklich hatte
ich bisher alle die gehalten, die Bücher beſaßen;
für den Begünſtigtſten unter ihnen den Befitzer eis
ner Leſebibliothek, der ja alle Wände ſeines Zim⸗
mers damit beſetzen konnte. Und nun ſollte ich ſelbſt
ein ſolcher Glücklicher werden! Mit geflügelten
Schritten eilte ich heim, mein Paar von meinem
Taſchengelde erſparte Groſchen zu hohlen. Es war
wenig, denn nie habe ich die Kunſt verſtanden, die
man Haushalt nennt, und ohne Verſchwender ge—
nannt werden zu können, ja ſelbſt bey entſchiedenem
—
22
Widerwillen gegen alles Verbringen, bin ich doch
nie dahin gekommen, das Geld zu achten.
Ich erhielt einige alte, ſchon längſt unter die
Cathegorie der Maculatur gehörige Romane, die
ſo abgeſchmackt, ſteif und precios geſchrieben waren,
daß ſelbſt meinem Heißhunger ſie nicht ſonderlich
zuſagten, aber ich nannte ſie ja doch mein, und ich
kann verſichern, daß mit Herzklopfen und recht in—
niger Liebe ich ſie an mich drückte. Von jetzt an
waren mir des großen Königs Werke und die jüdi⸗
ſchen Briefe willkommen, denn unter ihrer Ägide
konnte ich ja Anderes leſen. Triumphirend und mit
einem Gefühl, ähnlich dem, mit dem der Liebende
die Heißgeliebte in ſeine Wohnung zum ewigen
Vereine führt, brachte ich meine Schätze in mein
Aſyl, und hier, hinter einer Verpaliſadirung von
alten ſpaniſchen Wänden, Tiſchen und dergl. wur—
den ſchön geordnet ſie aufgeſtellt. Jedes kleine Geld—
geſchenk, das die älterliche Liebe mir reichte und das
ſonſt wohl in die Hände der Obſthändlerinnen floß,
ging nun den Weg nad dem Bücherverleiher, und
bald ſah' ich mich im Beſitz einer kleinen Zahl von
der übrigen Leſewelt längſt vergeſſener Romane,
Nitter- und Volksgedichte. Da trat einſt, als ich
eben recht mich wieder vertieft in meine Schätze
und rund um mich alles, alles vergeſſen hatte, mein
Vater plötzlich, wie eine ſchreckende Erſcheinung,
vor mich, nahm mir, dem ganz bewußtlos daſtehen—
den, das Buch aus der Hand, und ſprach ſogleich
—
13
darüber, fo wie über alle andere, fo zierlich geord—
neten, das ſchreckliche Wort: „in's Feuer mit den
Wiſchen, aus, das auch gleich darauf an allen voll—
zogen wurde. Ich bath, ich weinte, ich fiel zu Fü—
ßen — umſonſt! ſie mußten brennen und mein Aſyl,
meine kleine Welt, in der ich ſo glücklich war,
wurde zerſtört. — Das Schickſal gab mir im Lauf
meines Lebens viele Schmerzen, vieles Weh hat
dieſe Bruſt durchzuckt, aber die völlige Troſtloſig—
keit, die in jenen Augenblicken mich ergriff, habe
ich faſt nie wieder empfunden. Ich war mehrere
Tage wie vernichtet, und ſchon damahls zeigte ſich
an mir, was nachher durch's ganze Leben mich be—
gleitete, daß kein Schmerz meine Seele treffen
konnte, ohne daß meine Bruſt, wie von krampf—
haften Empfindungen ergriffen litt, die, übrigens
geſund und dauerhaft, nur dann zum Zerſpringen
weh mir immer that. In den Armen meiner Mut—
ter fand ich Troſt und Beruhigung. Sie war die
Einzige, die mich richtig beurtheilte, deren leiſeſtes
Wort und Wink hinreichte, mich zu zügeln, dahin—
gegen oft ich den Befehlen Anderer einen ſtarren
Trotz entgegenſetzte und daher auch für ein eigen—
ſinnig, unbeugſam Geſchöpf von beynahe allen mei—
nen Lehrern gehalten wurde. Aber dafür hatte ich
auch eine Liebe zu meiner Mutter, die an Vergöt—
terung gränzte und die dem Tode mich nahe brachte,
als ſie das Leben verließ. Doch — ich breche ab
davon, denn zu ſchmerzlich tönt dieſe Saite noch
14
immer in mir, als daß lang ich vermöchte, ſie an—
zuſchlagen; und ich nehme nach dieſer Abſchweifung.
in meine frühere Kindeszeit, den Faden meiner Er—
zählung wieder auf.
So wenig als Knabe mein Thun und Trei—
ben den Beyfall meines Vaters fand, ſo wenig
fand das Ziel, das ich mir als Jüngling ſteckte,
den meiner Verwandten. Wenn jener ſchon trotz
dem Widerwillen, der oft in ſeiner Bruſt ſich wohl
gegen mich regen mochte und gegen meine Neigung.
zum Betrachtenden, Schwärmeriſchen, die ſo grell
abſtach gegen die praktiſche Thätigkeit, in der fein
ganzes Leben ihm verfloſſen — hatte doch der hei—
ßen Wißbegierde des Kindes und den leichtfaſſen—
den, alles, waslnur irgend ihm zuſagte, mit Feuer—
eifer ergreifenden Kopf, müſſen Gerechtigkeit wider—
fahren laſſen; Dinge, die denn auch immer ihn
mir wieder verſöhnten, und das oft loſer werdende
Band der Liebe wieder feſter knüpften, — fo mufe
ten bey mehr entwickelter Fähigkeit, die letztern
um ſo mehr es bedauern, daß ich nicht in die Ideen
trat, die fie für mich — mehr wohl noch für ſich,
hegten.
Mein Onkel hatte früher eine Hofcharge be—
kleidet und, da keinen Sohn er hatte, wohl aber
eine Tochter, ſo war ſein und ſeiner Gattinn Wunſch,
daß ich in die Dienſte des Landesherrn treten möchte,
in die, durch ihre frühern Verbindungen, ſie mich
leicht zu bringen hofften, und alſo mir glaubten eine
15
Laufbahn zu eröffnen, auf der es nicht ſchwer ſeyn
würde, den etwas geſunkenen Glanz unſerer Fa—
milie wieder aufzufriſchen, dem dann durch eine
künftige Vereinigung zwiſchen mir und Amalien —
ihrer Tochter — das Siegel der Vollendung aufge—
drückt werden ſollte.
Obgleich nicht mit dürren Worten erklärt,
hatte ich doch Scharfſinn genug, dieſe ganze Anſicht
zu durchſchauen, als in meinem achtzehnten Jahre,
kurz vor Abgang nach der hohen Schule, mein On—
kel mir vertraute, wie nach Vollendung meiner
akademicchen Laufbahn, er ſchon im voraus geſorgt
habe, mir eine Hofſtelle zu ſichern und nun in höchſt
gewählten Worten die ſchimmernden Bilder meines
zukünftigen glänzenden Geſchicks, wie aus der Ferne,
an mir vorübergehen ließ.
War gleich meiner Bruſt der Stolz nicht fremd,
der Ruhm durchaus mir nicht gleichgültig, ſo ſtand
doch die Anſicht, die von meiner Zukunft ich mir
gemacht hatte, in zu ſchneidendem Widerſpruch mit
dieſen hier eröffneten Ausſichten, als daß ich gün—
ſtig dafür mich hätte erklären ſollen. Mir ſchwebten
andere Bilder vor, als in den Spiegelwänden der
Vorzimmer ich finden konnte, und gefiel gleich mei—
nem das Elegante, Feine, Zierliche wohl liebenden
Gemüth, jene Glätte und Politur, fo vermißte doch
zu ſehr die herzliche Innigkeit, das warme Anſchlie—
ßen des Lebens am Leben, ich darin, um wünſchens—
werth ein Daſeyn da zu finden. Zwar kannte ich
16
jene mir verheißene Welt faſt nur vom Hörenſagen,
von den täglichen Unterhaltungen meiner Hausge⸗
noſſen und aus Büchern — denn zwey- oder drey—
mahl nur hatte ich in Begleitung meines Onkels
die Wohnungen der Mächtigen gefehen, wo ich denn
vermöge der mir bis in ſpätere Jahre anhängenden
Blödigkeit, eine gar traurige Figur machen mochte
— aber doch glaubte ich ſie genug beurtheilen zu
können, um entſcheidend gegen fie zu ſeyn, ein Aus—
ſpruch, zu dem wohl das Gefühl meines unbehag—
lichen erſten Auftretens daſelbſt, viel beytragen
mochte, da ja ſo gern der Menſch nach den erſten
Eindrücken handelt, ſich von ihnen beſtimmen läßt
und — beynahe ausſchließend, nad! 1 auch wie⸗
der beurtheilt wird. —
ſcit hoher Mißbilligung wurde meine Erklä—
rung aufgenommen. „Deine ſchimäriſchen Einbil—
dungen,“ ſprach mein Onkel zu mir, „werden hof—
fentlich, wenn reiferes Einſehen dir wird ſchwinden,
ſonſt müßte ich bedauern, daß du meiner Schwe—
ſter Sohn biſt, die leider ich nicht ganz freyſprechen
kann von dem Vorwurf, daß ſie dich zu ſehr ihren
Weg gehen ließ.“ 2
Mehr bedurfte es nicht, um in dieſem Augen⸗
blick die Außerung, die mit jugendlich befangener
Anſicht ich gemacht hatte, zum feſten, eiſernen Ent—
ſchluß in meiner Seele reifen zu laſſen. Ich ver⸗
gaß in dem überwallend bitteren Gefühl, das der
tadelnde Seitenblick auf eine ſo innig geliebte Mut⸗
15
ter erregte, daß eben ich vor dem Bruder dieſer
Mutter ſtand, der Vaterſtelle bey mir vertrat, der
mich lieb hatte und nach ſeiner Art mein Wohl
gründen wollte, obgleich er nicht meine Geſinnun—
gen theilte.
Mit einer kalten Verbeugung ohne ein Wort
zu erwiedern, verließ ich ihn, ſetzte mich auf mein
Pferd und kam erſt am ſpäten Abend wieder zurück,
wo ich mich ſogleich auf mein Zimmer begab, ohne
vorher mit jemand noch zu ſprechen. Mein Onkel
war Menſchenkenner genug, um ſogleich den Ein:
druck zu bemerken, den ſeine Unterredung auf mich
gemacht hatte, und ihn einſehen zu laſſen, welchen
Fehlgriff er ben mir gethan; und da meine ruhige
Kälte ihm bekannt, die ich allem mir Hinderlichen
entgegen zu ſetzen gewohnt war, die durch keinen
Widerſtand ſich überwinden ließ, ja ſich dann nur
zu ſtarrem Trotz erhöhte, ſo beſchloß er durch Rüh⸗
rung meines Innern mich feinem Ziele zu nähern,
ein Mittel, welches unfehlbar tg »irks gaben würde,
da nie im ganzen Lauf meines Wbens ich mein
Herz den weicheren Empfindungen des Gefühls
verſchließen konnte; ein freundlich Wort, ein naſſer
Blick ſtets Sieger über mich waren — wenn nicht
feine mir bekannte Geringſchätzung der Empfind⸗
ſamkeit, die Empfindeley er nur nannte, und ſeine
Auferung über meine Mutter, der mein Herz ja
einen unvergänglichen Altar der ſchwärmeriſchen
18
Liebe in ſeinem innerſten Heiligthum erbaut hatte,
wie mit einer Eisrinde mich dagegen waffnete.
5 Was früher bloß eigner Wille, eigene Anſicht
war, hob ſich nun zu dem Rang der Anſicht der ge—
liebten Mutter auf. Denn hatte er nicht geſagt:
»„ſie hat mich ihren Weg gehen laſſen? und ich, ich
hätte ſollen den Weg verlaſſen, den ſie ging? eher
wäre ich vom Leben gewichen.
Vor dem Bilde der Seligen kniend, mit glü:
hender Inbrunſt es an Herz und Lippen drückend,
ſchwor ich mir und — wie ich meinte, auch ihr —
mich nicht in Formen zwängen zu laſſen, die mei⸗
nem warmen Herzen ſo wenig zuſagten, in denen
meine aufgeregte Einbildung nur das gemüthloſe
Leben eines glatten Höflings ſah. Was noch mehr
mich beſtärkte, war, daß mir einfiel, wie öfter meine
Mutter mit ihrem Bruder nicht in Streit, denn
dazu war ihre milde Seele zu weich, nur in Unter—
handlung möchte ich ſagen, kam, wo ſie dann mit
ihrer liebevollen Stimme ſtets alle Züge des Ge—
fühls der Liebe ifres ſtillen Aufopferns, pries und
in Schutz nahm gegen ihn, der nur dem berechnen—
den, kalten Verſtande huldigte, und oft durch eine
harte Wendung eine Thräne in ihr ſchönes Auge
brachte. Ach! ich vergaß, indem ich ihr zu folgen
glaubte und nur der eigenen Neigung gehorchte,
daß ihr ganzes Leben ja nur eine Kette i
render Aufopferung der liebſten Wünſche für
2
19
Zufriedenheit, die Ruhe aller ſie Umgebenden war,
und daß nicht ihren Schutz und Beyfall ich mir in
dieſem Augenblicke erwerben mochte.
So vergißt der Menſch, ſelbſt der beſſere, in
gereitzter Empfindlichkeit die Pflicht der Unbefan—
genheit, und wird da ſo leicht ungerecht und hart,
wo einem heiligen Gefühle er zu folgen wähnt. —
2.
Es gibt Charakter, die ein ſo wunderbares
Gemiſch von Stolz und Demuth, von Weiche und
Härte, von Selbſtſtändigkeit und Hingebung in ſich
tragen, daß gar leicht an ihnen der Beobachter irre
wird und oft, indem er nicht vermag, in ihre indi⸗
viduelle Lage ſich zu ſetzen, ſie gänzlich falſch und
ſchief beurtheilt, und, geblendet von einſeitiger Ans
ſicht, ſie wohl verwirft, ohne zu bedenken, daß ein
Herz den weichſten Anklängen der Empfindungen
offen ſtehen, und doch ſich wieder mit einem Har—
niſch waffnen kann, wenn rohe Gewalt oder — wenn
auch nur gemuthmaßte — Liſt ſich ihm naht, ähn⸗
lich den Saiten einer Aolsharfe, die bey ſanftem
Windeswehen freundlich erklingen, im Nachtſturm
aber nur Mißtöne von ſich geben.
Am andern Morgen trat, gegen ſeine Gewohn—
heit, mein Onkel in mein Zimmer und ſprach: „Ich
vermuthe, Eduard, daß die Überlegung einer Nacht
dich eines Beſſern wird belehrt haben, und daß du
20
dem Mann, den Natur dir zum Nächſten ſtellte,
der ja dein zweyter Vater iſt“ — bier legte er mit
ſehr wohlwollenden Blicken ſeine Hand auf meine
Schulter — „nicht zutrauen wirſt, daß etwas ande—
res als dein Glück er will, das' deine Altern ja in
ihren letzten Augenblicken ſeiner Sorge empfahlen.“
Ich machte eine ſtumme Verbeugung und
ſchwieg.
„Du biſt zu jung,“ fuhr er fort, „und zu befan—
gen noch in deinen Anſichten, um das, was ich für
dich thun will, würdigen zu können; auch bedarf
es jetzt deines Entſchluſſes noch nicht, da du un:
ſerm und deinem Wunſche gemäß noch einige Jahre
zu deiner Ausbildung vor dir haſt; ſind die zurück—
gelegt, dann wird das Übrige ſich finden und einer
guten Schweſter Sohn wird nicht anſtehen, ſich ih—
rer und unſrer würdig zu zeigen, indem er für das
Wohl der Familie forget. Ich erwarte dich im Wohn:
zimmer, um dich dem Manne vorzuſtellen, den ich
ausgewählt habe zu deinem Begleiter.“
Als ich allein war, überlief ich ſchnell in Ge—
danken noch einmahl die Worte meines Onkels,
ſeine Erwartungen von mir, ſeine Plane, die ich
freylich nur ahnte, die aber doch immer mir klar
genug zu ſeyn ſchienen und — gelobte noch ein—
mahl mir im Herzen, meinen eignen Weg zu gehen—
den ich ja, nach feinen Worten, für den der gelieb—
ten Mutter hielt.
Ich fand, als ich unten ins Zimmer kam, meine
21
Tante ſchon im völligen Staat, in den ſie nie ver—
ſäumte, ſich täglich zu ſetzen, als lebe ſie noch, wie
ehedem, in den Zirkeln des Hofes, obgleich ſeit län—
ger als zehn Jahren aus jenen Kreiſen entfernt,
ſie nur noch in den monotonen Zuſammenkünften
der Landftadt — unſers Wohnorts — fie ihn ſich
ſelbſt oder den Weibern einiger Honoratioren und
umliegenden Landjunker, zur Schau ſtellen konnte,
in welchen Geſellſchaften ſie denn aber auch die
prima Donna machte. Ihr zur Seite auf dem So—
fa ſaß mein Couſinchen Amalie, eine ganz hübſche
Brünette von ſechzehn Jahren, mit der, trotz unſe—
rer nahen Verwandtſchaft, ich ſeit weinem Aufent—
halt in ihrer Altern Hauſe, in einem ewigen Krieg
lebte, da unſere beyden Charaktere himmelweit ver—
ſchieden, wir ſchwerlich uns ein anderes Gefühl, als
das des Widerwillens, gegenſeitig einflößen konn—
ten. Sie wird öfter in dieſer Schilderung meines
Lebens vorkommen, und ich werde nachher Gelegen—
heit nehmen, Mehreres über ſie zu agen. Eben ſo
ſteif elegant ausſtaffirt, wie ihre Mutter, ſtach dieß
Paar gar feltfam ab gegen eine ihnen gegenüber
auf einem Tabouret ſitzende Figur, in der ich ſogleich
meinen zukünftigen Mentor erkannte.
Ich muß hier bemerken, daß zu den mitunter
ſich widerſprechenden Eigenheiten meines Ich's ei—
ne Miſchung von — Satyre möchte ich es nennen,
gehörte, die mich mit großer Leichtigkeit die Fehler
und das Lächerliche an Andern auffinden ließ, die
22
ich dann. einmahl aufgefaßt, mit manchen Spott,
der freylich oft beißend und verwundend für den
wurde, den er traf, zu beleuchten mir erlaubte. Ei:
ne Unart, die mir oft und viele Feinde erweckt hat,
und wofür manchmahl ich ſchwer habe büßen müſ⸗
ſen. Ich meinte es immer gut mit den Menſchen,
habe nie haſſen können, und wenn dieſes Gefühl
ja einmahl mein Inneres durchzuckte, ſo that es
mir gewiß gleich immer wieder leid, und ich ſuchte
ſtets begangenes Unrecht durch wahre Zeichen des
Wohlwollens und der Reue zu vergüten; aber von
dem in mir wohnenden Satyr habe ich mich oft,
wider Willen, fortziehen laſſen, Menſchen weh zu
thun, die gerechte Anſprüche auf meine und Aller
Hochachtung hatten.
Herr von Bergſtern hatte als Seeofficier in
.. ſchen Dienſten geſtanden, als ſolcher die Schlacht
bey... mitgemacht, und darin fein Gehör fo gänz—
lich verloren, daß ich bey näherer Bekanntſchaft
und längerem Zuſammenleben mit ihm, oft zwei⸗
felte, daß am Ende aller Tage die Poſaune des
Gerichts ihn aus ſeinem Grabe erwecken würde.
Er hatte bisher in einem entfernten Provinzſtädt⸗
chen, bey völligem Mangel eigenen Vermögens,
von einer ſehr kleinen Penſion gelebt und war nun
von meinem Onkel, deſſen Landsmann und einſti⸗
ger Jugendbekannter er war, aufgefordert wor—
den, als Hüter und Geſellſchafter mich zur Univer⸗
ſität zu begleiten, welchen Ruf er um ſo freudiger
—
23
annahm, da dadurch fih ihm ein ſorgenfreyeres Da⸗
ſeyn eröffnete; und ich kann ſagen, ſo lächerlich
und zuwider mir der Mann in den erſten Augen:
blicken erſchien, ſo lieb wurde er in der Folge mir
durch ſeine herzliche Liebe, die er zu mir faßte, und
den richtig rechnenden Verſtand, mit dem er, ohne
daß ich oft es ſelbſt bemerkte, wußte meine erwa—
chende Lebendigkeit, die ſtete Gefährtinn eines phan-
taſiereichen Gemüthes, in den Schranken des Anſtan⸗
des zu erhalten. Sein Anzug war ſehr rein, aber
altmodiſch und arm, ſeine Manier hatte etwas Stei⸗
fes, Militäriſches, das vergebens er in die leichte
Geſchmeidigkeit der feinern Welt zu zwängen ſuchte,
wodurch ein höchſt ſonderbarer Contraſt darin her—
vorging, der meinem beobachtenden Auge nicht
entſchlüpfte und mir — ich bekenne es — als ich ihn
hier zum erſten Mahl ſah, ein ſehr bemerkbar ſarca—
ſtiſches Lächeln entlockte, welches ſich beynahe zum
ungezogenen Lachen erhöhte, als ich Zeuge der
Unterhaltung wurde, in der er gerade mit den
beyden Damen begriffen war. Meine Tante redete
ſtets ſehr leiſe und abgezirkelt, liſpelte ein wenig,
betonte aber auch manchmahl Worte und Phraſen, die
Gefühl kund thun ſollten, da ſie es gern ſah, wenn
man ihr Sentimentalität zuſprach. Amalie war ganz
das Ebenbild ihrer Mutter, und hatte, da ſie ſich ſo
vernehmen zu laſſen für die einzig ſchickliche Art
von einem Frauenzimmer guter Erziehung hielt,
ihrer Außerfi vollen, recht metallreichen Stimme
24
dieſe fremde Form aufgedrungen. Man denke ſich
dieſen Beyden, die nun mit höchſter Anſtrengung
ihrer Lungen redeten, gegenüber einen ältlichen,
langen, ſehr hagern Mann mit finſterer Miene und
ſteifer Geberde, an deſſen, beynahe jedem Klang
verſchloſſenen Ohren, die Stimmen ſeiner Geſell—
ſchafterinnen ſpurlos vorüber gehen, wie Zephyre
an alten Eichen, uicd der doch ſich bemüht, Te zu
verſtehen und in horchender, weit vorgebogener
Stellung, die widerſprechendſten Dinge erwiedert,
und man wird begreiflich finden, daß es mehr als
eines mißbilligenden Winkes meiner Tante bedurf-—
te, meine Laune im Zügel zu halten, die er
von neuem ausbrechen wollte, wenn ich der Damen
Verlegenheit und Mißbehagen ſah, in das fie fo ſicht—
lich bey den verkehrten Antworten meines künftigen
Führers geriethen. Der Eintritt meines Onkels ers
löste endlich das ſprechende Kleeblatt aus einer La—
ge, die nicht anders als peinlich ſeyn konnte, und
in dieſem Augenblick fing an ein wohlwollendes
Gefühl für den Fremden in mir aufzugehen, da ich
ſah, mit welcher Wärme der, der ſo hölzern mir
erſchienen war, auf einen Bekannten beſſerer Zei—
ten zuging und ihn begrüßte. Ich wurde ihm nun
von meinen Onkel vorgeſtellt, als der, den er ins
Leben begleiten ſollte, und ich kann ſagen, es rühr⸗
te mich recht tief und innig, als der alte Mann mei—
ne Hand ergriff und mir mit herzlichen, kunſtloſen
Worten verſicherte, wie er mein Freund ſeyn werde
25
and wie er hoffe und wünſche, daß ich dasſelbe
Gefühl für ihn hegen und fo ihm betrachten möchte
Der Tag unſerer Abreiſe nach ... wurde nun
beſtimmt, die bis dahin aber noch liegende Zeit
von meinen Verwandten benutzt, mir, wo möglich
noch vor Entfernung aus ihrem Haufe, die eröffns⸗
ten Ideen lieb und annehmlich zu machen.
So wenig meiner Umgebung die oft ſich recht
deutlich äußernde Abneigung, die ich gegen meine
Couſine hegte, entgehen konnte, ſo wenig war ih—
nen auch unbemerkt geblieben, daß dieß keineswegs
aus Mangel an Gefühl für das andere Geſchlecht
herkam, ſondern daß im Gegentheil durch meine
blöde Linkheit, mit der ich mich in Frauenzimmer⸗
Geſellſchaft mehr noch, als in der Männer, zu be—
nehmen pflegte, oft ein Strahl innerer Empfindung
hervorblitzte der auf Augenblicke intereffiren und
mich intereſſant machen konnte. und deutlich ver—
ricth, daß mein Herz nicht zu den ehernen, un—
verwundbaren gehörte. Nur gegen Amalien, um
die ich doch täglich war, die mancher Neitz ſchmück⸗
te, die feldft geiſtreich ſeyn konnte — ich ſage konn⸗
te, denn durch eine ſchiefe Idee verleitet, hatte ſie
ſich in den Kopf geſetzt, nur naiv zu ſeyn, welches
weder zu ihrer aͤußern noch innern Form paßte —
war ich ſtets trocken, kalt, völlig herzlos, ja mit⸗
unter höhniſch⸗ gleichgültig geweſen und hatte mir
dadurch, wie natürlich, ihren Widerwillen zugezo—
gen, dem ſie durch manche verächtliche Bemerkung
Untech. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. B
26
über mich und mein Treiben Luft machte und die
zu vergelten und zu erwiedern ich nicht ſäumte.
Den Grund zu dieſem gegen fe vorherrſchenden Ge-
fühl hatte mein erſtes Auftreten in ihrer Altern
Haufe gelegt, wo fie den, über den ſchnell nach
einander erfͤlgten Tod ſeiner Altern, ganz verwein⸗
ten, troſtloſen Kaben, mit kränkenden Erinnerun⸗
gen an feine verlaſſene Lage — in der ein Kind ja im⸗
mer iſt, wenn das Grab ihm feine einzigen, theuerſten
Weſen raubt — gewiß nicht aus böſem Herzen,
deun das hatte fie nicht aber aus kindiſchem Leichts
ſinn und U Ubedachtheit, verwundete, und überhaupt
nie verſtand, ſelbſt in ſpätern Jahren nicht, mein
Gefühl in Anſpruch zu nehmen, das noch und nach
ſich gewöhnte, eine Antipodinn in ihr zu erblicken.
Schon ihre Geſtalt die, wie bemerkt, nichts weni—
ger als reitzlos war und die Blicke anderer junger
Männer gar oft mit Wohlgefallen auf ſich lenkte,
war nicht die, die meinem Ideal weiblicher Schön⸗
heit zuſagte. Sie hatte bey ſehr dunklem Haar
und Augen eine blendend weiße Farbe, eine zier—
lich kleine Hand und Fuß; aber ihr Auge war ohne
Seele, ohne Empfindung, und faſt nie habe ich dar—
in, was das weibliche Auge ſo himmliſch verklärt,
die Thränen des Gefühls perlen ſeyen; die Grazie,
der Duft der Anmuth, der wie von Götterhard
gewoben, manche minder begünſtigte Geſtalt um—
ſchwebt, war ihr fremd, ihre ganze Figur für mich
zu groß, zu ſtark. Ihr Inneres entſprach dem Au⸗
27
Bern fo ziemlich. Sie war kalt und herzlos, ohne
gerade böſe zu ſeyn, nicht ohne Geiſt, aber ohne
Liebreitz, nicht hart und unmitleidig, aber kleinlich,
und vor allem war die affectirte Naivetät, die doch
in ſo grellem Abſtich mit dem Übrigen ſtand, mir
an ihr zuwider.
Es war daher wohl natüriich, daß wir uns
gern von einander entfernt hielten, denn ſchonungs⸗
los ließ öfter ich meinen ſatyriſchen Bemerkungen
gegen ſie den Lauf, doch nur dann, wenn keine Frem—
den da waren, welches nicht ſowohl, ich muß es des
kennen, aus feiner Empfindung, fondern aus Blö—
digkeit geſchah, die meine Zunge in Gegenwart
Unbekannter ſtets in Feſſeln hielt. Ließ ich es aber
ja einmahl mir einfallen, in dem Kreiſe ihrer Freua—
dinnen zu erſcheinen, jo vergalt hier fie mir reich—
lich, was vorher ich verſchuldet, durch manche, eben
nicht gut meinende, Neckerey, da ſie ſchlau genug
war, bald einzufehen, wie hier völlig waffenlos,
ihr Hohn mich doppelt treffen mußte, den beſon⸗
ders ſie über mich zu ergießen pflegte, wenn einmahl,
wie fie ſich ausdrückte, dem Ritter Don Quixotte
es gefiel, gegen eine der Anweſenden galant zu
werden; wodurch ſie es denn zuletzt dahin brachte,
daß nicht allein ich mich gar nicht mehr ſehen ließ,
wenn ihre Geſpielinnen bey ihr waren, ſondern auch
von ihnen allen mit jenem Nahmen beehrt wurde.
Daß hierdurch weder meine Abneigung gegen ſie
geſchwächt, noch mein Benehmen in weiblichen
N 2 2
28
Kreiſen beſſer wurde, darf ich wohl kaum be⸗
merken.
Ich habe jetzt die Überzeugung, wie Amaliens
Altern, obgleich mit großer Vorliebe für den eine
mahl gefaßten Plan, mich dereinſt in einer Hofbe⸗
dienung zu ſehen und dann durch eine Verbindung
zwiſchen ihr und mir, der der letzte und einzige
Sprößling unſerer ziemlich alten Familie war, das,
getrennt eben nicht ſehr bedeutende, Vermögen zu
vereinen, um fo den Naͤhmen, an dem ihr ganzes
Herz hing, mit neuem Schimmer zu umgeben —
dennoch ſelbſt die Mutter nicht, nichts thaten, als
was auch die ſtrengſte Anſicht nicht verwerfen konn—
te, uns zu nähern, und daß, wenn Amalie die letz—
ten Tage meines Aufenthaltes in ihrer Altern
Hauſe benutzte, ein beſſer Verhältniß unter uns
zu gründen, ſolches nur aus dem Triebe entjland,
in der Bruſt eines jungen, nicht abſchreckenden
Mannes, der dazu ihr Verwandter war, ein gün⸗
fig Andenken zu hinterlaſſen; höchſtens daß ihr ge⸗
heim der ihrem Geſchlechte eigene Scharfſinn ſagte,
was wohl der Familie Wunſch war, dem entgegen
ſich zu ſetzen, fie damahls eben keinen Beweggrund
haben konnte. Sie ward zuſehends freundlicher,
beſſer gegen mich, und ich, der nie einem Worte wi-
derſtehen konnte, ward es gleichfalls, wiewohl mit
fehr ſcheuer Zurückhaltung gegen fie, und würde es
moch mehr geworden ſeyn, wenn nicht das geän⸗
derte Benehmen meiner Tante, die zwar immer gü⸗
9
tig, aber nie zärtlich gegen mich geweſen war, mich
wieder zurückgeſchreckt hätte. In Beyden glaubte
ich damahls eine Veranſtaltung zu ſehen, und nichts
auf Erden hat immer mich mehr mit Kälte waffnen
können, als die Muthmaßung eines verborgenen
auf und gegen mich gegründeten Plans.
Mein Nahmenstag fiel in dieſe Zeit, und es war
eine herköngmliche Sitte im Haufe meines Onkels,
alle dergleichen feyerlich Tage zu begehen. Dieſer, als
der letzte, den ich gleichſam als Sohn des Hauſes
verlebte, ſollte nun ganz beſonders ausgezeichnet
werden, um fo mehr, da den nächſtfolgenden Tag
ich abreiſen wollte, und er zugleich alſo auch als ein
Abſchiedsjeſt betrachtet wurde, das zu meiner Ehre
man gab. Die Honoratioren der Stadt und meh:
rere umwohnende Landadelige mit ihren lieben Fa—
milien wurden eingeladen und; der Vorkehrungen
gar mancherley getroffen. f
Von je an waren mir Prunffefte, ſolche häus⸗
liche Haupt- und Staatsactionen, ein Dorn im
Auge, weil immer ſie mir als Tragi-Komödien er—
ſchienen, worin die lange Weile den Vorſitz führt;
ich kann daher wohl ſagen, daß dieſes ſo recht für
mich veranftaltete, mir gewaltig zuwider war. Als
die Folge mich die zierliche Anumath, die Gefügig⸗
keit guter Geſellſchaften kennen lehrte, mich ſelbſt
gefügiger machte, hatte meine Anſicht hiervon ſich
freplich etwas geändert, doch waren und find mie
Su
ſtets kleinere Zirkel die erfreulichſten geblieben,
in denen ich ullch am liebſten, ſie am liedſten um
mich, ſah. er
Der feſtliche Tag erſchien. Meines Onkels
männliche Dienerſchaft, in zwey Bedienten und eis
nein Kutſcher beſtehend, däuchte an einem fo ausge:
zeichneten Tage und bey der Menge der geladenen
Gäſte ihm nicht hinreichend, er hatte zeßwegen noch
zwey lange Kerls angenommen und ſie in abgeleg—
te Livreen ſtecken laſſen. Mir erſchienen fie, als ich
fie an der Hausthüre ſtehend und der Fremden harz
rend in ihrem, nach allen Seiten hin zu kurzen
Staat, mit gewaltigen Puderzöpfen erblickte, wie
ein Paar Ungethüme, ähnlich denen, die man als
Schildhalter auf Siegeln und Wappen ſieht. Mein
Onkel ſelbſt, ſo wie wir Andern alle, erwarteten im
höchſten Staat die Ankunft der Gäſte, die zur gehö—
rigen Stunde ſich denn auch einfanden. Als alle
verſammelt waren, führte mein Onkel mich etwas
vor in den umgebenden Kreis, umarmte mich, mir
Glück wünſchend zu dem heutigen Tage, mit fo vie:
ler Herzlichkeit, als fein Charakter und fein cere⸗
moniöfes Weſen erlaubte, ermahnte mich dann in
einer kleinen Rede zur Bravheit und guten Auffüh—
rung in der neu zu betretenden Bahn uad hing,
nachdem er mich der Geneigtheit aller Anweſenden
empfohlen, mir einen kleinen Galanterie-Degen,
als Zeichen meiner nun erlangten Selbſtſtändigkeit
um; meine Tante beehrte mich aber eben fo feyer—
31
lich mit ein Paar weißen Handſchuhen, um den
Ritter vollftändig zu machen. Die Gäſte umringten
mich nun, jeder brachte mir nach ſeiner Art ſeinen
Glückwunſch, ſo daß ich, im eigentlichen Sinne,
aus einer Hand in die andere ging. Dieß alles hat—
te mich ſehr kalt gelaſſen, ja es würde mich verle—
gen gemacht, und, was bey mir dasſelbe war, mich
verſtimmt haben, hätte nicht der Anblick jener zwe
langen, unbehülflichen Maſchinen in Livree, die mit
der andern Hausgenoſſenſchaft am Eingange des
Saales in Reih' und Glied ſtanden, meine gute
Laune erhalten, denn in der That, ſie gewährten
einen fo barroken Anblick, daß nicht gut ohne La⸗
chen man ſie ins Auge faſſen mochte. Ganz zuletzt,
als ich ſchon die Runde vollendet, trat Amalie zu
mir und mit einem ſo freundlichen, wirklich weichen
Blick, wie ich nie an ihr geſehen hatte, überreichte
ſie mir eine von ihrer Arbeit geſtickte Brieftaſche,
indem ſie ſagte: „zum Andenken an heut, guter
Eduaged!“ wobey eine leiſe Röthe fie überflog. Sie war
mir nie fo hübſch erſchienen wie jetzt und ein in Wahr⸗
heit ſehr wohlwollendes Gefühl für fie durchflog
mich. Ich beuge mich, was ſonſt mir nicht im
Traum eingefallen war, auf ihre Hand nieder, zum
erſten Mahl nannte ich jie: meine liebe Amalie! ich
fühlte, daß die kleine Hand in der meinen bebte, blick⸗
‚te auf und ſah bey einem ſehr ſchönes Erröthen,
ein feuchtes Auge. Wären wir ohne Zeugen ge—
weſen, ich big's gewiß, ich hätte fie aus Herz ges
32
drückt, und vielleicht hätte dieſer Augenblick den
Wunſch ihrer Altern in Erfüllung gebracht; denn
wie leicht ſchließt in jenen Jahren das Herz ſich
an, wie leicht läßt es da noch Vorürthene und
Meinungen fahren! — So mußte ich mich begnü⸗
gen, ihre Hand noch einmahl zu küſſen und mit der
ſchwindenden Stunde ſchwand auch größten Theils
das aufgeglommene Gefühl wieder.
Der Tag der Abreife kam heran. Wohlver⸗
ſorgt mit Geld und Empfehlungsſchreiben ſaßen
wir, Herr von Bergſtern, ich und ein Diener,
bereits im Wagen, als mein Onkel noch einmahl
herantrat, mir die Hand reichte, die ich kindlich
küßte, und mit höchſt wohlwollender Stimme gu—
tes Benehmen anempfahl. Ich kann ſagen, daß dies
. fer kleine Zug von Liebe mich innig rührte von
ihm, der ſonſt nicht leicht aus dem Tact der Förmlich—
keit wich. Ich verließ jetzt ein Haus, in dem einen
großen Theil meiner Jugend ich zugebracht, Ver—
wandte, die doch immer mit Liebe für mich ger
ſorgt hatten, und ſollte erſt nach drey Jahren zu;
rückkehren; eine lange Zeit, wenn ſie beſtimmt vor
einem liegt, und man wird es natürlich finden und
einem guten Herzen gemäß, daß mir, trotz
dem Verlangen mit dem in die Welt, nach Frem—
dem, Neuen, ich mich ſehnte, doch der Abſchied
sicht leicht ward. Ach! ich glaubte nicht, als ich
euch damahls verließ, daß viele Jahre entſchwin—
den würden, ehe ich Einen von euch wiederſah und
daß der, der mir fo freundlich von euch zuletzt die
Hand noch both, dann kängſt im Grabe modern
würde, wenn ich mit zerriſſenem Herzen die Gegen—
den wieder betrat, wo ich als Knabe und Jüng—
ling ſo oft mich froh und glücklich träumte — und
es ja auch war. — 5
3.
Unſere Reiſe hatte nichts Merkwürdiges; eben
‘jo wenig das erſte Jahr meines Aufenthalts in ...
in dem ich fleißig meinen Studien obliegend, faſt ims
mer zu Hauſe in Geſellſchaft meiner Bücher und
Bergſterns war, der ſich meine Liebe in hohem
Grade erwarb, ſo wie mir durch mein regelmäßi⸗
ges Betragen die ſeine wurde. Ich trachtete um
ſo mehr darnach, etwas zu lernen, da ich nicht um—
hin konnte, einzuſehen, wie in Vielem, ja beynghe
Allem, ich zurück war hinter andern jungen Leuten
meines Alters und Standes, die, bey zum Theil
weniger natürlichen Anlagen, doch durch einen
mehr geordneten Jugendunterricht weiter gekommen
waren, als ich, dem fein Erlernen in früß erer Zeit
öfters ganz ſelbſt überlaſſen blieb. Bisher hatte ich
faſt nichts, als Romane, deren viele ſchlecht, man—
che wohl gar für die Sittenreinheic eines jungen
Menſchen gefährlich waren, und deren kleinſter Theil
nur eine würdige Leetüre gab, geleſen; jetzt fing ich
an Geſchichte, die ſchöne Erzeugerinn edler Gefühle,
NER
34
zu ſtudieren, und bald warf ich mich mit eben dem
Heißhunger wie ehedem an Ritter- und Geiſterbü—
cher, auf die Annalen einer großen Vergangenheit.
Wirkliche, wahre Wißbegierde und der löbliche Ehr—
geitz, meinen Bekannten im Wiſſen nicht nachzuſte—
hen, brachten bey regem Fleiße mich denn auch bald
dahin, daß ich nicht mehr vor mir ſelbſt erröthen
mußte, wenn ein Gegenſtand, der in meinen Kreis
gehörte, berührt wurde, und bald verlor, durch
meine Bekanntſchaft mit Beſſerem, ſich der Geſchmack
an den ehemahls ſo heißgeliebten abenteuerlichen,
oft durch mehrere Bände ſchleppend hingezogenen
dialogiſicten Sturm- und Drangromanen fo gänz—
lich, daß, brachte Zufall mir einen ſolchen ehemah—
ligen Vertrauten in die Hand, ich mich ſelbſt wun⸗
derte, wie daran ich hatte Gefallen finden können.
Bergſtern, der mir zwar nicht als Lehrer und
Repetent, wohl aber als Freund und Führer zuge—
ſellt war, that, was in ſeinen Kräften ſtand, mein
gutes Beginnen zu unterſtützen, und da auch ihn
Geſchichte anzog und gefiel, ſo ſaßen manche halbe
Nacht wir beyſammen, bey irgend einem neu auf—
getriebenen Werk oder bey Vergleichung verſchiede—
ner Schriftſteller.
Ich hatte in dieſer Zeit keinen andern Wunſch,
als recht viel zu wiſſen, und ich kann ſagen, daß
das erſte Jahr meines Aufenthalts in *“ das glück-
lichſte meines Lebens war, wo die vollkommenſte
Gemüthsruhe in mir waltete und kein Abend kam,
35
an dem ich nicht mit dem Gefühl nützlicher Thätig—
keit mich niedergelegt, kein Morgen mich anders als
ſorglos und heiter wieder aufſtehen ſah. Zwarkannte
ich damahls noch nicht aus Erfahrung die zarten
Freuden des Herzens, aber auch nicht ihren Schmerz,
der mir ja ſo reichlich wurde, ſobald mein Geſchick
den ſüßen Zauberkelch mir reichte! —
Die Gewohnheit, oft tief in die Nacht hinein
zu ſitzen, zog mir eine Augenentzündung zu. Ich
mußte auf einige Zeit von meinen freuen Geſell⸗
ſchaftern, den Büchern, mich trennen, und dieß gab
Veranlaſſung zu einer ſich bald äußernden Umwand—
lung meines Lebens.
Der Arzt, den, ganz gegen meinen Willen,
Bergſtern in zärtlicher Beſorgung für mein Wohl,
mir aufdrang, rieth, nachdem einige Wochen in völ—
liger Dunkelheit er mich hatte ſchmachten laſſen und
meine Augen ſo ziemlich wieder hergeſtellt waren,
mir mehr den Genuß der freyen Luft und der Mor—
genſtunden an, die bisher ich nicht gern anders als
ſchlafend begrüßte, und da eben die Wiederkehr des
Frühlings das Leben außer den Ringmauern der
Städte ſehr annehmlich machte, ſo mietheten Berg—
ſteen und ich uns eine kleine Wohnung in einem
eine halbe Stunde von *** höchſt anmuthig gele—
genen Dörfchen, wo den Sommer über wir bleiben
wollten. Hier fingen wir bald wieder das Leben an,
welches wir in der Stadt getrieben hatten, das
Heißt, ohne irgend einen Umgang lebten wir bloß
1
56
uns und den Büchern, aur daß jetzt ſtatt der Abende
und Nächte, die frühen Morgen an die Reihe ka—
men und ich dann und wann mit meinem Mentor
kleine Excurſtionen theils zu Fuß, theils zu Pferde,
mehr auf Bergſterns Verlangen als eignem Antried
machte, der dadurch meine nicht ſchwache, aber zarte
Geſundheit ſtärken wollte. Anfänglich waren dieſe
Ausflüge mir nicht recht zu Sinn, denn, obgleich
Freund und Liebhaber der Natur, ſagte doch eine
Gegend, wie dieſe, nicht ſonderlich meinem Geſchmack
zu, der nur in großen, wilden Gebirgsgründen ſich
gefiel und an den flachen, aber übrigens nicht reitz—
loſen Gefilden von *** mit ziemlicher Gleichgültig—
keit vorüber ging Bald aber ſollte ein neues In
tereſſe mich beleben.
Eine leichte Unpäßlichkeit hielt meinen Führer
mehrere Tage im Hauſe, und auf ſein dringendes
Begehren ritt ich eines Morgens allein aus. Ich
hatte mich bisher wenig um das Ziel unſerer jedes—
mahligen Streifereyen bekümmert, da gänzlich gleich—
gültig es mir war und ich mehr dem Willen Berg—
ſterns, als eigenem folgte. Dieß Mahl beſchloß ich
meinen Weg nach einer Gegend hin zu nehmen, die
ich noch nicht kannte. Es war ein herrlicher Früh—
lingsmorgen und die hell aufgehende Sonne vers
ſprach einen ſchönen, warmen Tag. Ich war kaum
eine Stunde im langſamſten Schritt geritten, als
die Gegend anfing hügelig und abwechſelnder als
gewöhnlich zu werden. Die Neuheit dieſes Anblicks,
—
97
das wahrhaft herrliche Wetter, die reine Frühlinas—
luft, alles wirkte ſehr freundlich auf mich; ich gab
meinem Pferd die Sporen und fing an im ſcharfen
Trab die Felder und kleinen Gehölze zu durchſchwei—
fen, die mir immer anmuthiger erſchienen. So mochte
ich wohl ein Paar Meilen zurück gelegt haben, als
ich plötzlich mich am Eingang eines freundlichen
Thales ſah, das von lachenden Hügeln umkränzt,
ein ſtilles Dörfchen in ſich ſchloß, das wirklich recht
romantiſch mir erſchien. .
Überraſcht halte ich am Saum eines Birken—
wäldchens mein Pferd an und laſſe vergnügt die
Blicke durch die Gegend ſchweifen, als ſehr nahe
bey mir ich eine melodiſche Stimme veruehme, die
einen Morgengeſang mit vieler Reinheit ſingt. Ich
ſpringe ab, leite mein Pferd am Zügel und dringe
quer durch's Gehölz der Stimme nach. Noch weiß
ich nicht, wie dieſer Entſchluß in meiner Seele ent⸗
ſtand, wie meine Schüchternheit ihn erlaubte aus:
zuführen. Ich war noch nicht weit gegangen, als das
Gehölz ſich wieder öffnet und mir eine freye, mit
den Kindern des Frühlings geſchmückte kleine Wieſe
zeigt, die rings von Holz umgeben, einen höchſt an—
muthigen Anblick gewährte. Da rauſcht etwas ne⸗
ben mir, ich ſehe auf und eine weſßgekleidete, ju⸗
gendliche Mädchengeſtalt ſteht wenige Schritte vor
mir. Erſchrocken, als hätte ich einen Baſiltsken er-
blickt, bleibe ich ſteßen, meine ganze furchtſame Blö—
digkeit kehrt zurück und mehrt ſich mit jedem Anz
genblick, da ich wohl fühle, daß ich etwas ſagen
muß, denn auch fie war bey meinem Erſcheinen bes
troffen ſtehen geblieben, und ſchlechterdings nicht
weiß, was? Ein dritter, der in dieſem Moment
mich geſehen, würde gewiß an meiner traurigen Fi⸗
gur ſich ergetzt haben, die ſo ſichtbar die äußerſte
Verlegenheit zeigte. Sie ſchien auch nicht den Bli⸗
cken des Mädchens zu entgehen, deren Wangen eine
leiſe Röthe, den Mund ein kaum merkbares Lächeln
überflog. „Sie ſuchen wohl den Fußpfad ins Dorf,”
hob ſie endlich mit ſehr wohlklingender Stimme an,
da ich durchaus nichts herausbrachte. „Ja, ſagte
ich, und es war, als wenn ein Berg bey dieſem
Wörtchen von mir abſiel, ſo erleichterte es mich;
„it es hier in der Nähe?“ „Nicht weit,” antwortete
ſie, „wollen Sie mir folgen, ich gehe hin.“ Eine
ſtumme linkiſche Verbeugung war alles, was ich er:
wiederte, doch kam nun wieder etwas Leben in
meine hölzerne Geſtalt, denn ich hatte ja geſprochen
und wußte nun, wovon ich reden konnte. Einige
Fragen und Antworten belehrten mich über die Ge—
gend, den Nahmen des Dorfes, und bald gewann
ich fo viel Dreiſtigkeit, mich nach dem meiner Be—
gleiterinn zu erkundigen. Mit unbefangener Offen»
herzigkeit erzählte fie mir, ihr Vater ſey Hofgärt⸗
ner beym Fürſten geweſen, lange ſchon todt, ihre
Mutter und ſie aber lebten hier in Waldheim ſeit
mehreren Jahren. „Und wer ſind Sie denn?“ fragte
fie mich, nachdem der kleine Bericht beendet war »
söhft naiv. Die Natürlichkei des reitzenden Mid⸗
chens, ihre freundlich unſchuldigen Black hatten
mich von allen Banden meiner gewohnten Zurück-
haltung befreyt, und eben ſo munter, wie ſie, er—
wiederte ich: „ich hieße Bergſtern, ſey eines Kauf—
manns Sohn, ſtudiere jetzt zu“ ““ und wäre heute
durch die ſchöne Umgebung und Wetter in dieſe Ge—
gend gekommen, die ich ſonſt noch gar nicht gekannt
hätte.“ Ich weiß nicht, welcher Dämon mir den
Gedanken einhauchte, meinen wahren Nahmen und
Stand zu verbergen, eine Unwahrheit, die ſonſt
nicht in meinem Charakter lag, zu ſagen, und von
Folgen war, die leider ſo traurig für uns beyde
wurden. Damahls fiel es mir freylich nicht ein,
hierüber nachzudenken, und ich ſagte dieſe Lüge bloß
in der Überrafhung der ſchnell an mich gerichteten
Frage, höchſtens um durch mehr Gleichſetzung mei—
ner Perſon mit der ihrigen er mir nicht zu ent⸗
fremden.
Als wir am Ausgang des Gehölzes ſtanden,
wollte ſie ſich auf einen Nebenpfad entfernen und
zeigte mir den übrigen Weg ins Dorf. „Doch,“
ſetzte Sie plötzlich hinzu, „Sie ſind hier fremd, viel—
leicht ermüdet und das Wirthshaus iſt ſo ſchlecht;
wollen Sie in unſer Haus kommen und ein Glas
Milch trinken, meine Mutter wird es Ihnen gerne
geben, ſie iſt recht gut.“ Dieſe Einladung war zu
ſehr meinen geheimen Wünſchen gemäß, als daß ich
ſie hätte ausſchlagen ſollen, denn ſchon entſtand für
40
Marien ein Gefühl, welches bisher mir gänzlich
fremd geblieben war und mit Betrübniß dachte ich
daran, ſie ſo ſchnell wieder zu verlaſſen. Sie führte
mich nun an's jenſeitige Ende des Dorfs vor ein
kleines aber recht nett erbautes Haus, an das ein
freundliches Gärtchen ſich anſchloß« Unter der Thür
trat uns Mariens Mutter entgegen, eine gutmüthige
Alte, die mit vieler Gaſtlichkeit den Fremden auf—
nahm. Ich wiederhohlte auf ihr Befragen, meine
einmahl ausgeſprochene Unwahrheit und ſetzte
hinzu: „wie ich mich freute, durch dieſen Ausflug
eine ſo brave Familie gefunden zu haben.“ Dieß
Lob, fo unbefangen und abſichtlos ich es that, ver—
fehlte auf die gute Frau nicht ſeine Wirkung. Mit
großer Redſeligkeit, im Charakter ihrer Jahre —
ſie war gewiß ſchon nahe an funfzig und Marie ein
ſpäter Sprößling — ſetzte ſie mir nun aus einander,
wie nach ihres Mannes Tode ſie hierher ſich bege—
ben, um in dieſer ruhigen Abgeſchiedenheit nur ſich
und ihrer Tochter zu leben, die von mehreren Kin⸗
dern das Einzige ihr geblieben ſey, und wie dieſe
Gegend, fo ſchön fte auch wäre, doch nar höchſt ſel—
ten von Fremden betreten würde, da von allen
Landſtraßen ſie ziemlich entfernt liege. Während
deſſen hatte Marie ſich entfernt, kam aber bald mit
einem einfachen, ländlichen Früßhſtück beladen zu—
rück, das ſie mir lächelnd both. Mein ſcharfer Ritt,
die Morgenluft, meine vergnügte Stimmung hatten
mir Appetit gegeben und ich ließ mich daher nicht
.
41
lange nöthigen. Bald fand ich mich ganz einhei⸗
miſch und ſo wohl in dieſem Hauſe, als wäre Jahre
lang ich ſchon da aus- und eingegangen. Meine
Offenherzigkeit, die ſo gern ſich zeigte, wenn ich ſah,
daß mit Vertrauen man ſich mir näherte, erwachte
nerd mit ihr die fröhliche, unbefangene Luſttgkeit
meiner Jahre. Die Paar Stunden des Vormittags
flogen mit Blitzesſchnelle hin. Ich wollte mich nun
empfehlen. Mutter und Tochter nöthigten mich zu
bleiben und ich blieb gern. Nach dem Eſſen machten
die beyden Frauenzimmer und ich einen Spatzier—
gang durch die äußerſt mannigfach abwechſelnde,
in vollem Blüthenglanz des Frühlings, prangende
Gegend. Ich kann ſagen, es war einer meiner glück
lichſten Tage und meine gute Laune übertraf ſich
ſelbſt. Marie war ein ſehr hübſches Mädchen. Ihr
Wuchs war ſchlank und zart, ihr ſchwarzes Haar
fiel in natürlichen, kunſtloſen Locken über die ſchöne
Stirn herein, eine feine, kaum merkbare Röthe er»
höhte den Neig des lieblichen Geſichts und ein Paar
ſehr milde braune Augen zeigten eine lebhefte,
ſanfte Seele. Ihr Geiſt war nicht ungebildet, ſie
ſprach höchſt unbefangen, aber gut und richtig und
ſe n bſt mitunter feiner, als man ihrer Erziehung nach
hätte erwarten ſollen.
Die Sonne fing ſchon an nach Abend ih zu
neigen als ich erſt an meinen Aufbruch dachte. Mit
den freundlichſten Gefühlen nahm ich Abſchied von
42
meinen gütigen Bewirtherinnen, bath und erhielt
die Erlaubniß, wiederkommen zu dürfen.
In vollem Galopp flog ich den Weg nach Hauſe
zu, denn zum erſten Mahl an dieſem Tage fiel mir
ein: „was mag Bergſtern denken, wo du geblie—
ben, wie mag er ſich um dich geängſtet haben.“
Dieß trieb mich noch mehr zur Eil und eh' es an⸗
fing zu dunkeln, ſah ich ſchon von fern die Häuſer
meines Wohnorts. Da überfiel mich plötzlich der
Gedanke: „wenn du gefragt wirſt, wo du warſt,
was ſollſt du ſagen? Die Wahrheit natürlich,“ ant⸗
wortete ich mir ſelbſt. „Ja,“ überlegte ich aber wei⸗
ter, „wird Bergſtein es gern ſehen, wenn du öf—
ter nach Waldheim reiteſt?“ Ich wußte ſelbſt nicht,
warum er es nicht gern ſehen ſollte und doch war
mir, als wenn eine Stimme in mir rief: „er wird
es nicht gern ſehen, er wird dich abhalten. So mußt
du wegbleiben — aber von Waldheim wegbleiben?
unmöglich! Marie hat ja auch gewünſcht, daß ich
wiederkehre“ und — bey dieſen Gedanken überlief
ich flüchtig noch einmahl die Begebenheiten des Ta⸗
ges; vor meinem Geiſt ſtand Marie, den Stroh—
hut auf dem Haupt, die freuudlichen, hellen Augen
auf mich gerichtet, wie ſie vor mir ſtand, als ich
die Mutter bath, wiederkommen zu dürfen, und,
wie dieſe es erlaubte, fo vergnügt lächelte. — Nein!
nach Waldheim mußte ich wieder. Aber Bergſtern
kann ja mit reiten, er liebt ſchöne Gegenden. Ich
weiß nicht, warum dieſer Einfall mir ſo zuwider
43
war, daß ich ihn weit weg warf. Überdieß hatte ich
ja dort mir ſeinen Nahmen gegeben, hatte geſagt,
ich wäre eines Kaufmanns Sohn; kam er mit hin,
ſo erfuhr man dort meine Unwahrheit, was mußte
dann Marie, was ihre Mutter von mir denken!
dieſer letzte Grund beſtimmte mich. Ich überſah daß
das Schlimmere ich wahlte, indem ich den Trug
fortſpielte. Demnach beſchloß ich, mein kleines Aben—
teuer ihm zu verſchweigen. Man ſieht, ein böſes
Princip hatte meine ſonſt ſo offene Seele erfaßt.
Eine kleine, in Unbeſonnenheit hingeſagte Unwahr—
heit zog mich zur andern; ſie wurden die Kette, an
die mein Schickſal die Streiche anknüpfte, die mich
treffen ſollten.
Ich war zu unerfahren, zu wahrhaft unſchul—
dig, um nur von fern zu ahnen, daß das, was ich
für Marien fühlte, die erſte jugendliche Liebe, das
Aufblühen der Empfindungen meines Herzens war.
Ich war bis dahin wenig mit Mädchen umgegan—
gen; meine Couſine Amalie war mir bis zuletzt
höchſt unangenehm geweſen, ihre Geſpielinnen, durch
ihren Einfluß gleichfalls; in *** hatte ich bis jetzt
nur meinen Büchern gelebt, faſt nie mit einem weib⸗
lichen Weſen geſprochen. Marie war die erſte, in des
ren Geſellſchaft ich einen ganzen Tag verbracht,
der mir ſo ſchön ſchien, wie ich noch nie einen er—
lebt hatte; ſie war fo gut, fo offen, fo ſchweſterlich
gegen mich geweſen, und war dabey ſo ſchön! Ich
hätte müſſen kein Gefühl haben, wenn ihr Bild
44
mich nicht ganz erfüllt hätte, und ich überließ mei⸗
nen Träumen von ihr mich mit ſo größerer Nei⸗
gung, da ſie die erſten dieſer Art waren, ich nicht
die Schmerzen ahnen konnte, die ſie mir bereiten
würden.
Ich war abgeſtiegen während dieſer Überlegun⸗
gen und ſchlenderte nun langſam ins Dorf hinein.
Als ich ins Haus trat, kam mir Bergſtern entgegen.
Er war meinetwegen in taufend Angſten geweſen,
da er ganz und gar nicht begreifen konnte, wo ich
mochte Ende genommen haben. Ich ſtotterte, ſo gut
es ging, eine Erzählung her, an der nicht ein ge⸗
gründet Wort war, und begab mich auf mein Zim⸗
mer. Es war ein Glück, daß es ſchon dunkelte, fonft
hätte er an der flammenden Gkuth meines Geſichts
den Nothbehelf erkennen müſſen, mit dem ich ihn
abfertigte, der ihn aber völlig zu befriedigen ſchien.
Hier überließ ich mich meinen Gedanken aufs neue.
Ich war gewohnt mir eigne Welten zu bauen, im
Gebiethe der Phantaſie'n zu leben, und man kann
denken, welchen neuen Reitz das Finden Mariens
in dieſe Schöpfungen meiner Einbildung brachte.
O, ſchöne Zeit des erſten Erwachens der Gefühle!
Mit welchem Zauber umgibt die Empfindung Al⸗
les, Alles um ſich her, wie heiter gehen da die Tage
auf, wie rein find da die Lüfte, wie froh und ſelig
ſchlägt da das Heiz, das ſelbſt nicht kennt, was es
wünſcht, und in wehmüthiger Sehnſucht fo glück⸗
lich iſt.
45
4. |
Von dieſem Augenblick an verließ mich das Bild
des Schönen Mädchens nicht mehr und weg war auf
ein Mahl der emſige Trieb zu den Büchern. Ob ich
gleich ſelbſt nicht recht wußte, was ich wünſchte,
was ich wollte, ſo war mir doch ſehr deutlich, daß
alles, was mich umgab, die plötzlich entſtandene Leere
meiner Bruſt nicht auszufüllen vermochte. So ver⸗
gingen einige Tage in unendlicher La gſamkeit;
mehrmahl hatte ich auf dem Punet geſtanden, wie⸗
der nach Waldheim zu eilen, immer hatte eine ges
wife Scheu mich zurückgehalten, als müßten Marie
und ihre Mutter ſehen, was in meinem Innern vor⸗
ging, wenn ſo ſchnell ich widerkehrte. Endlich über—
wand die Begierde jede Bedenklichkeit, ich ſchwang
mich auf mein Pferd und ſprengte, als wenn Gei—
ſter mich verfolgten, dem Ziele meiner Sehnſucht
zu. Als ich die Höhe vor dem Dorfe erreicht hatte,
hielt ich plötzlich an, und zog nun eben ſo langſam
und zögernd, als vorher mit ſtürmiſcher Eile, dem
Fußwege nach. Je näher chi dem Hauſe kam, je hö⸗
her pochte mein Herz und mit einem Gefühl von
Bangigkeit, als trüge ich ein Verbrechen auf der
Bruſt, trat ich ins Haus. Man hatte mich nicht
bemerkt, ich ging in die Stube und ſah niemand;
als ich wieder heraus trete, erblicke ich durch die
offene, nach dem Garten führende Thür, Marien in
einer Laube am Stickrahm ſitzen, die Mutter war,
wie ich nachher hörte, ins Dorf gegangen. Da eile
48
ich mit aller Heftigkeit und Sehnſucht der erſten
Liebe dem Garten zu und ſtehe plötzlich, überraſchend
vor dem holden Mädchen, die über das Geräuſch,
was ich mache, erſchrocken aufſieht und mir nun,
glühend wie eine Mayenroſe, entgegen tritt.
O, daß ſie ewig grünen bliebe,
Die goldne Veit der erſten Liebe!
Ich ſaß noch bey Marien, als einige Zeit nach-
her die Mutter zurückkehrte und lächelnd und fteund—
lich mich bewillkommte. Muß ich es noch fager, mir
floh dieſer Tag und ſo mancher folgender, den ich
in immer kürzern Zwiſchenräumen wiederkehrte,
wie Blitze hin und oft breitete ſchon Dämmerung
ſich über die Gegend aus, eh' an Aufbruch ich
dochte.
Es konnte nicht fehlen, daß mein öfteres Tage
langes Wegſeyn, mein fo durchaus geändert Ber
tragen, die Unruhe, die mich verfolgte, wenn ich zu
Haufe war, Beraſterns Aufmerkſamkeit erregen
mußte. Er fing eines Abends an, als ich in ſeinem
Zimmer war, dieſe Saite zu berüh u en, ich hatte aber
ſchon Muth und Dreiſtigkeit genug gewonnen, mit
mancherley ſcheinbar wahrſcheinlichen Ausflüchten
ihn abzuſpeiſen, und ſeine Seele war zu arglos,
ſein Vertrauen in mich zu feſt, Zweifel dagegen zu
hegen, und als die Folge wohl ihm ein wahres
Licht geben mochte hielt fortwährendes körperliches
Übelbefinden, vielleicht auch die feinem frühern
Stande oft eigene Liberalität der Grundſätze in ges
47
wiſſen Puneten — denn daß mehr, als eine flüch⸗
tige Intrigue mich band, glaubte er gewiß nicht —
ihn ab ſich näher und geuauer um mein Thun zu
bekümmern.
Ich muß hier eines Mannes erwähnen, deſſen
nähere Bekanntſchaft wit mir ungefähr in dieſelbe
Periode fiel, als mein Herz zum erſten Mahl aufing,
die Regungen wärmerer Gefühle zu erfahren.
Zu den wenigen Zerſtreuungen, die bisher ich
mir erlaubt hatte, gehörte, daſt ich dann und wann
ein Kaffehhaus in * beſuchte, dort auf dem Bil:
lard zu ſpielen, eine Unterhaltung, die mie immer
ſehr lieb war und in der ich bald einen gewiſſen
Grad von Vollkommenheit mir zueignete. Hier traf
ich öfters einen Herrn von Arlfort, der reich und
durchaus unabhängig, faſt immer auf Reiſen be—
griffen war, und nur ſo lange an einem Orte zu
weilen pflegte, als dieſer durch Neuheit ſeinen Lau—
nen und Neigungen zuſagte. Er mochte nahe an
dreyßig ſeyn, war wohlgebilden, trug ſich ohne Zie⸗
rerey immer ſehr-modiſch, achtete das Geld wenig,
ſobald er ſich Vergnügen damit erkaufen konnte, und
war ein ungemein fröhlicher, unterhaltender Geſell—
ſchafter. Es läßt ſich denken, daß ein ſolcher der
Liebling aller Zirkel ſeyn mußte, denen er durch
ſeinen mit mancherley Kenntniſſen und auf Reifen
geſchmückten und gebildeten Geiſt, ein neues Leben
zu geben wußte, und daß beſonders das ſchöne Ge—
ſchlecht ihm nicht abhold war. Doch ſchien dieſes
48
Glück Arlfort eben nicht ſehr zu rühren, und wollte
gleich die Fama von *** manches geheime Aben—
teuer von ihm auf Koften einiger Damen zu erzäh⸗
len wiſſen, ſo war ſein Betragen doch äußerlich ge⸗
gen Alle ſich ſehr gleich: eine glatte, nichts weni«
ger als warme Artigkeit, die mehr den Mann von
Welt und Ton, als den bejonderen Verehrer des
zweyten Geſchlechts zeigte.
Die gleiche Neigung für den erwähnten Zeit⸗
vertreib führte uns zuſammen, und da auch er kein
Unerfahrener hierin war, fo ſpielten wir gemeinig⸗
lich nur zuſammen. N
Arlfort ſchloß ſich mit vieler Zuvorkommenheit“
mir an, obgleich ich nicht zu ſagen vermag, was
hierzu ihn bewegen mochte, da von allen jenen Tas
lenten, die ihn ſo glänzend in den Kreiſen der Men⸗
ſchen auszeichneten, mir damahls auch nicht eins
geläufig war und von meiner Seite gewiß nichts
geſchah, ihm beſonders näher zu treten, wie der Le⸗
fer aus der früher gemachten Schilderung meiner
Individualität wird vermuthen können. Doch laugn⸗
ich nicht, daß dieß Zuvorkommen eines Mannes,
der ſo allgemein als geiſtreich und fein bekannt
war, meiner Eitelkeit nicht wenig wohl that, und
ich vergalt fein Annähern bald durch warme An⸗
hänglichkeit und die Offenheit, die meinen Jahren,
meinem Gemüthe ſo eigen war. Dennoch erfuhr er
von meinem kleinen Verhältniſſe mit Marien von
mir nichts, welches ich im Gegentheil recht geflif-
49
ſentlich feinen Augen zu verbergen ſuchte, nicht aus
Mißtrauen, das kannte ich nicht — aber aus un—
ſchuldiger Scham, und aus einem geheimen Ju—
ſtinet, der mich antrieb dazu, gleich als ſagte mir eine
innere Stimme vorher: dieſer wird einſt dein Ver—
derber ſeyn. —
Daß einem Manne von ſeiner Erfahrung und
Menſchenkenntniß dennoch nicht mein verwandeltes
Ich entgehen konnte, war aber um ſo natürlicher,
da mir die Gabe des Verbergens nie eigen, in je—
nen Zeiten gänzlich freind noch war und mehr die
Unbefangenheit Bergſterns als mein Benehmen
Schuld hatte, daß dieſer mich eee ſchnell
durchſchaute.
Arlfort pflegte mich manchmahl in meinem
ländlichen Wohnſitz zu beſuchen wo er ſtets mir
ſowohl als meinem Mentor eine erfreuliche Erſchei⸗
nung war, der an ihm einen tapfern Schachſpieler
fand, eine Erhohlung, die Bergſtern leidenſchaft—
lich liebte. .
Während ich nun meine Ausflüge nach Wald:
heim fo oft erneute, hatte es ſich einige Mahl ge:
ſchickt, daß Arlfort mich nicht traf und als das
nächſte Mahl wir in der Stadt uns gegegneten,
richtete er nach einigen unbedeutenden Hin- und Her:
reden plötzlich die Frage an mich: wohin denn jetzt
ich immer zöge, daß man ſo ſelten das Vergnügen
hätte, mich vorzufinden; wobey er mich ziemlich
ſcharf fixirte. Schon die flammende Röthe, die mich
Unterh. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. 68
50
überflog bey dieſen Worten, mußte ihm mein Ge:
heimniß verrathen, mehr noch die lahme Ausflucht
und Antwort, die ich gab. „Ich wette, fuhr er lä—
chelnd fort, „mein junger Miſogyn“ — eine Be—
nennung, die er mir ſcherzend oft wegen meiner
Schüchternheit gab — „iſt verliebt und reitet in
aller Empfindſamkeit zu irgend einem girrenden
Landtäubchen hin, die feiner Philoſophie einen are
gen Streich geſpielt hat.“ War ich erſt roth gewor—
den über ſeine ſchnelle Frage, ſo wurde ich es jetzt
noch mehr für Arger, denn indem ich mich durch:
schaut ſah, glaubte ich auch zugleich verſpottet zu
ſeyn. „Herr von Arlfort, erwiederte ich daher ver—
drießlich, „Sie ſcherzen.“ FREE »Keineswegs,“ un⸗
terbrach er mich, „es iſt mein voller Ernſt und“ —
dabey fing er laut an zu lachen — „ich gäb' etwas
darum, ein ſolch verliebtes tete a téte unbemerkt
mit anſehen zu können, beſonders, wenn die Erko—
rene eben eine ſolche Unſchuld iſt, wie mein kleiner
Freund.“ Ich platzte beynahe vor Bosheit bey die—
ſem Ausbruch ſeiner guten Laune, der er ganz und
gar keinen Zügel mehr anlegte, und in manchen
drolligen Bemerkungen äußerte, ſo daß ich gar nicht
zu Wort kommen konnte. „Ich will ſterben, fuhr
er im Strome ſeiner Rede fort, „wenn Sie ihr ſchon
einen Kuß gegeben haben, denn ein ſolch Unterfan-
gen, ha! ha! ha!“ Nun hielt ich mich nicht mehr.
Mit Wildheit riß ich mich von ihm los — er hatte
während des Geſprächs meine Hand gefaßt — und
Ir
ſagte: „Herr von Arlfort! dieſe Beleidigung — —
Ich erwarte Sie morgen am Rehberg.“ — Er fah
mich mit großen Augen an, dann ſagte er höflich,
aber kalt, faſt ſpöttiſch: „Ich glaubte nicht, daß der
Scherz eines Freundes ſo Ihr Mißfallen erregen
würde; doch — ich habe mich geirrt und — werde
nicht ermangeln, mich einzuſtellen.“ Bey dieſen Wor-
ten entfernte er ſich mit einer leichten Verbeugung
und ließ mich ſtehen. Mit kochender Wuth im Her⸗
zen ging ich nach Haufe. Hier fing ich an das Ver⸗
gangene zu überdenken, und immer, wie von einem
Zauber verleitet, tönten mir Arlfort's Worte in's
Ohr: „Er hat ihr ſicher noch keinen Kuß gegeben.“
Ich hatte Stunden, halbe Tage lang bey Marien
allein zugebracht, und nie war mir dieſer Gedanke
gekommen, ſelbſt in meinen wachen Träumen nicht,
die ſie ja doch ſo ausſchließend belebte, war der
Wunſch darnach in mir aufgeſtiegen. Ich war zu⸗
frieden, ich war glücklich geweſen, wenn ich an ſie
denken, wenn ich dann und wann bey ihr ſeyn
konnte. — Ihr Daſeyn hatte mir genügt, ohne alle
andere Nebenideen und Wünſche, fo wie einem fin:
desherzen das Daſeyn eines Engels genügt, mit
dem es in bunter Mährchenwelt, in feinen Phanta⸗
ſien, ſpielt. Ich hatte bisher kaum ein oder zwey
Mahl Mariens Hand gefaßt, und dieß auch nur
ganz zufällig; jetzt zogen auf einmahl eine Menge
neuer Wünſche. Begierden und Hoffnungen in meine
Bruſt ein. Ich dachte Marien in meinem Arm, die
* & 2 ö
32
zarten, feinen Lippen an den meinigeu, ich fühlte
ihr Herz an meinem ſchlagen und breitete trunken,
als wär' ſie mir nah', voll Sehnſucht und heißer
Gluth die verlangenden Arme nach ihr aus. Ente
flohen war das Bild der Schweſter, des geſchlecht—
loſen Engels — denn alſo war fie mir bisher er⸗
ſchienen, fo hatte ich fie geliebt — und das Mäd—
chen, die mit allem Sinnenreitz umgebene Geliebte,
ſtand, verkörperter mehr, ſchöner und lockender nur
dadurch vor meiner Seele.
Ich kann nicht ſagen, daß dieſe Betrachtungen
dazu dienten, meinen gefaßten Widerwillen gegen
Arlfort zu erhöhen, im Gegentheil ſchmolz er von
Stunde zu Stunde faſt bis zum Nichts zuſammen;
denn, hatte er mich dadurch beleidigt, daß er ver:
muthe, ich hätte eine geheime Liebſchaft? War es
denn etwas Entehrendes, daß er von einem Kuß
ſprach? Meine Eitelkeit fing ſich an zu regen und
es dauerte nicht lange, fo ſchmeichelte mi der Ge:
danke nicht wenig: von einem Arlfort als der Held
einer Intrigue erkannt zu werden. Wie ineonſequent
iſt doch das Herz! Was kurz vorher meinen Zorn
erregte, gefiel mir nun, und nicht ohne Wohlgefal—
len fing ich an daran zu denken, daß der Spötter,
wenn er mich einmahl bey Marien ſähe, nicht über
meine Furcht amkeit lächeln ſollte.
So hatte ein Wort in meinem Innern die
Gluth der Begierden angefacht, die bisher ich nicht
kannte, die ohnedieß vielleicht noch lange geſchlum⸗
33
mert hätten, ohne daß ich vielleicht ein gebrochenes
Herz weniger auf dem meinigen tragen würde.
Am andern Morgen begab ich mich, der Ehre we—
gen, deun mein Zorn war längſt verflogen, nach dem
Nehberg. Dieß war ein kleines, anmuthiges Gehölz
nahe bey ***, wo gewohnlich mit den Waffen ſtrei—
tige Puncte verhandelt wurden. Mein Gegner ließ
mich nicht lange warten; er hatte, jo wie ich, Pi:
ſtolen mitgebracht. Bey dem kalten Morgengruß,
den er mir machte, der, wie mich dünkte, von einem
ſarkaſtiſchen Lächeln begleitet wurde, fing mein Blut
wieder an, ſich gegen ihn zu erhitzen, ich nahm, ohne
etwas zu ſagen, Weite und brachte meine Piſtolen
in Ordnung.
Mit großer Ruhe ſah er meinem Beginnen zu,
dann hob er an: „Herr von ***, wollen Sie mir
erlauben, eh' wir unſern Gang anfangen, Ihnen
einige Worte zu ſagen?“
„Sehr gern,“ erwiederte ich, „doch muß ich
bitten —“ Eu
„Sorgen Sie nicht,“ fiel Arlfort mir in's Wort,
„was ich zu ſagen habe, iſt wenig. Sie haben ge—
ſtern einen vielleicht nicht ganz zarten, aber —“ hier
legte er ſeine Hand auf die Bruſt — „gewiß nicht
boshaften Scherz, als Beleidigung gedeutet. Sie
verlangen dafür Genugthuung, und ich ſtehe hier,
jie Ihnen nicht zu weigern, wenn Sie ſie noch begehren
ſollten, nachdem ich Ihnen vorher feyerlich erkläre,
daß bloß in fröhlicher Laune, ohne die geringite
54
Abſicht Sie zu beſchimpfen, ich, was ich ſagte, als
Freund zum Freunde glaubte ſprechen zu dürfen,
und daß es mir weh thun würde, unſer Vechältniß
ſo geloy’t zu ſehen.“
Da ich nicht gleich antwortete, fuhr er fort:
„Ich ehre Sie zu ſehr, um nur den Gedanken zu
denken, daß Sie hierin eine Jämmerlichkeit von
mir ahnen könnten, die um fo weniger vorauszuſe—
tzen iſt, da ich den erſten Schuß habe und meines
Armes, wie Sie wiſſen, vollkommen gewiß bin. —
Er war in der That ein trefflicher Schütze und
fehlte, ſelbſt mit Piſtolen, faſt nie nur auf eine Fin⸗
gerbreite ſein Ziel.
„Sie wollten alſo nicht mich beleidigen?“
„Nicht im Traum war es mein Gedanke.“
„Ihre Reden waren dloß der Scherz des
Freundes?“
„Der jetzt mir weh thut, da einem Freunde eine
unangenehme Minute er verurſachte.“ f
„So habe ich nichts mehr zu verlangen.“
Bey dieſen Worten brannte ich mein Piſtol ab und
ging auf Arlfort zu, der mit anſcheinender Herzlickkeit
mir entgegen kam und ſeine Arme um mich ſchlug.
Brauche ich es noch zu ſagen? Ich hatte noch
keine halbe Stunde neben ihm im Schatten eines
Baumes geſeſſen, ſo wußte er alles, was mein
Herz in ſeinen innerſten Tiefen verſchloß, wie ich
Marien gefunden, wie ich ſie liebte, wie ich ohne ſie
nicht mehr leben könne. —
95
Arlfort hörte mir lächelnd mit Aufmerkſamkeit
zu. Er wußte ſo geſchickt von einem auf das andere
mich zu leiten, mir die Worte gleichſam in den
Mund zu legen, durch gewandte Fragen den Strom
meiner Rede im Gange zu erhalten, durch aufmun—
ternden Beyfall mir zu ſchmeicheln, daß, hätte ein
heiliger Geheimniß noch in meiner Gruft geruht, er
von dem Unerfahrenen es würde vernommen haben.
Beſonders ſchien er ſich an der warmen, dichteriſchen
Beſchreibung, die von den Reitzen meiner Erwähi⸗
ten ich im Feuer des Gefühls machte, zu ergetzen,
und als ich mit der pathetiſchen Ausrufung ſchloß:
wie ich nie, ſo lange mein Herz klopfte, ſie laſſen
würde, fragte er mich: „Sie wollen ſie alſo hei⸗
rathen?“ f
Ich geſtehe, daß dieſe mir ſo unerwartete doch
natürliche Frage, mich dermaßen überraſchte, daß
nicht gleich ich antworten konnte. Hatte gleich ſeit
dem Tage vorher ich mir Marien unter andern Be—
ziehungen gedacht, ſo war dieß doch mir noch nicht
eingefallen, und meiner Phantaſie eröffnete ſich hier—
bey abermahls ein weites, neues Feld.
„In Ihren Jahren,“ fuhr Arlfort fort, „finde ich
es ſehr natürlich, daß das erſte ſchöne Mädchen, dem
Zufall Sie nähert, einen Eindruck auf Sie machen
muß, und daß das, was eben Sie mir ſagten, Ihres
Herzens wahre Empfindung iſt. Auch ich habe ſo ge—
dacht, gefühlt und geliebt; auch ich wollte der Er—
ſten, die mich fühlen lehrte, gleich auf ewig die
56
Hand geben, doch glauben Sie mir, das verfliegt ſehr
bald und es iſt gut, wenn man damit ſich nicht über⸗
eilt, denn — doch das wird Ihnen elbſt die Folge
klar machen. Glauben laſſen, lieber Eduard, kann
man dieß auf geſchickte Art gern; es iſt klug und
führt zum Ziel“ — ich wußte nicht, was er damit
meinte — „und glücklicher Weiſe kommt die Leicht⸗
gläubigkeit der Mädchen hierin uns trefflich entge-
gen, aber der Mann von Stande und Welt, der le⸗
ben und genießen will, darf nicht an ein Paar jugend⸗
licher Wangen gleich das Letzte einſetzen.“ ö
So dunkel mir im Ganzen dieſe Rede war, ſo
ging mir doch daraus hervor, doß Täuſchung erlaub—
te Klugheit hier benannt wurde, und, zur Ehre meis
nes beſſeren Selbſt kann ich fagen, daß mein In⸗
neres ſich dagegen empörte. Ich ſollte Marien täu⸗
ſchen? Sie, die meine phantaſie mit einer Strah—
lenglorie umgab, ollte ich hintergehen? Nimmers
mehr! Ich äußerte dieſe Empfindungen unverhohs
len Arlfort, der mich ruhig anhörte und dann lä⸗
chelnd erwiederte: „Wer ſagt denn, daß Sie täuſchen
ſollen? Glauben Sie mir, wir haben ſo leicht nicht
nöthig, unſere Zuflucht zu dieſem Mittel zu nehmen;
die Liebe und die Eitelkeit der Weiber thun dieß
ſelbſt und — je unerfahrener, je unſchuldiger das
Herz noch iſt, je ſtärker ſind dieſe unſere Bundesge—
noſſen darin.“
Ich ſchauderte zuruck. Mit einem wahrhaften
Gefühl von Abſcheu ſtand ich auf, und betrachtete den
7
Mann, der mir in dieſem Augenblick ein Geſandter
der Hölle zu ſeyn ſchien.
Mir ging ein furchtbares Licht auf; o, warum
folgte ich nicht der Stimme meines Herzens, die mir
zurief: fliehe dieſen! Warum lieh' ich in der Folge
ſeinen Reden noch öfter mein Ohr! —
Es gibt Menſchen, denen — man ſollte es
glauben — es Freude macht, den Samen des Un-
krautes in ein reines Herz auszuſäen, die, ohne
vaß andere Zwecke fie leiten können, eine Beruhi—
gung darin zu finden ſcheinen, edlere Weſen zu ſich
herab zu ziehen. Ich will nicht behaupten, daß ein
reiner böſer Wille, ein bloßes Gefallen am Schlech⸗
ten, ſie hierzu treibt, das hieße in einer Menſchen⸗
bruſt das Princip eines Teufels legen, und dieß
habe ich nie annehmen können und mögen; ich glau—
be mehr, daß der Trieb ſeine durch Erfahrungen ge—
wandteren Anſichten, ſeiner im Leben erworbenen
Lebensphiloſophie mitzutheilen ſie antreibt, und daß
ſo ſie das Böſe thun, ohne das Böſe gerade zu be—
zwecken. Wenigſtens iſt dieß gewiß — wir können es
zur Ehre der Menſchheit annehmen — bey den Mehr⸗
ſten der Fall, und war es auch bey Arlfort, der wohl
kein Reiner, Schuldloſer, aber doch ſonſt kein Bö—
ſewicht war; der den leider fo allgemeinen Grund-
ſatz auch hegte, daß Verſündigungen gegen ein un⸗
ſerer Rechtlichkeit vertrauendes weibliches Herz, die
Ehre des Mannes nicht ſchändet — ein Glaube,
der ſo manches harmloſe, einem friedlichen Blumen⸗
“58
leben ähnliche Daſeyn fo fürchterlich zerſtört; der
mehr Böſes ſtiftet, als kalte überlegte Schlechtig⸗
keit oft zu ſtiften vermag, um ſo leichter, da er ſchon
gewöhnlich nur dem geſchliffenen Menſchen, dem ſo⸗
genannten Manne von Welt und Ton eigen iſt,
der eben dadurch fo überwiegend ſo gefährlich
wird.
Ich wollte mich entfernen, Arlfort hielt mich
zurück. „Sie deuten meine Reden falſch,“ ſagte er,
„mehrere Erfahrung, längeres Leben in der Welt
wird Sie eines anderen belehren, ich bin es um fo
mehr überzeugt, denn“ — mit einem liſtigen Blick
ſetzte er hinzu — „Sie haben ohne die geringſte Welt—
kenntniß doch eine gute Anlage von Schlauigkeit
dargethan, als Sie Ihrer Geliebten Ihren wah—
ren Nahmen verſchwiegen, und dadurch ihren Ver—
hältniſſen, folglich auch ihrem Herzen, ſich näher
ſetzten, welches der umgekehrte Fall ſeyn dürfte,
wäre ſie und ihre Mutter nicht die, die Sie mir
ſchildern.“ ;
Diefe Bemerkung war mir unſäglich ſchmerzli
und Arlfort mußte den Eindruck, den ſie auf mich
machte, ſehen. Er lächelte darüber und fuhr fort,
in Auseinanderſetzung laxer Grundfäge mir ein Sy:
ſtem des Lebens zu entfalten, vor dem mein unver⸗
dorbenes Gemüth ſich empörte, das aber doch nicht
verfehlte, einige unheilreiche Samenkörner in mir
zu laſſen, die hinreichten, meinen Frieden zu vers
giften. ö A %
59
Als ich mich zu Haufe fo allein ſah, paarte ſich
mit den Schon erſt erregten brennendern Wünf.em:
nach Marien der Gedanke an eine ernſte, für das
Leben dauernde Verbindung. So füß und ſchmei—
chelnd mir dieſer war, ſo konnte ich mir doch nice!
verhehlen, daß nimmermehr meine Familie in dieſe
Idee eintreten würde; es wurde mir deutlich und
gewiß, daß ihr ich eutſagen oder alle Hoffnung auf
den rechtmäßigen Beſitz der Geliebten aufgeben muß—
te, und obgleich kein Alternwille mich band, ob⸗
gleich in kurzer Zeit meines Landes Geſetze die ei—
gene, freye Selbſtſtändigkeit mir gaben, ſo war doch |
die Scheu vor dem Aufruhr und dem Geſchrey, das
ein ſolch Unternehmen erregen würde; der Gedan-
ke an meinen alten Onkel, den ich zwar gerade nicht!
liebte, aber doch ehrte, und den ich dadurch ja dop—
pelt kränken wußte, nicht zu verbannen, und jtellte:
ſich mir als ein gewaltiges Hinderniß in den Weg.“
Welche Plane, welche abenteuerlichen Wege ſchuf
ich nicht, ſuchte ich nicht auf, um ohne das Eine
zu verwunden, das Andere zu erlangen; wenn aber
die Phantaſie ſich erſchöpft hatte, nun Einen glaub⸗
te entdeckt zu haben, ſo ſchwand gar bald vor dem
prüfenden Blick das luftige Gebäude wieder, und
ich ſah mich auf dem alten Punct. Den nächſten
Tag eilte ich nach Waldheim. Im Birkenwäldchen,
wo der Fußpfad nach dem Dorfe abbog, rauſcht
mir etwas Weißes entgegen. Ich ſpringe ab; es iſt
Marie. — Ich war länger, als gewöhnlich nicht ge⸗
50 i
kommen; ein Verlangen hatte die unſchuldige Bruſt
erfaßt; ſie war auf die Höhe gegangen, nach mir
aus zu ſehen. Mit ſchweſterlichem, unbefangenen
Zutrauen erzählt ſie es mir, während das holdeſte
Erröthen die zarten Wangen überfliegt, die kleine
Hand in der meinigen ruht. Sie war ſo ſchön, der
Ton ihrer Stimme ſo weich, als ſie beſorgt mich
fragte, was mich denn abgehalten hätte, eine gan—
ze Woche nicht zu kommen; der Blick ihres Auges
war fo beredt — — Ich ſchlang meinen Arm um
ihren Leib und drückte ſie an meine vor Liebe und
Sehnſucht klopfende Bruſt — meine Lippen berüh⸗
ren die ihrigen — — ein Gluthſtrom ergießt ſich
durch meine Adern und ihr feuchtes Auge zeigt mir,
daß ſie mein Gefühl theilt. Ich vermag nur „meine
geliebte Marie” zu ſtammeln und brennende Küſſe bes
decken den zarten Mund. Verſchämt windet ſie ſich
aus meinen Armen, ihre Hand bleibt mir, und ſo
gehen wir dem Haufe zu.
Bisher hatte es mir genügt, Marien zu fehen,
jetzt wollte ich ſie allein ſehen, und zum erſten Mahl
war mir die geſchwätzige Gegenwart der Mutter zur
Laſt. So kettet durchs Erdenleben ſich der Wunſch au
den Wunſch, bis den letzten das Grab ſtillt, oder —
traurig genug — früher noch das Leben ſelbſt dem
erſt ſo glühend Begehrten, nicht mehr ſeinen Nimbus
leiht! —
Se war der Sommer vergangen und der Herbſt
61
fing an mit feinen Stürmen bis oden Felder zu durch⸗
toten.
Ich war mit Baggern wieder in die Stadt
gezogen, ritt wöchentlich aber wenigſtens zweymahl
nach Waldheim, um, wenn auch nur auf eine Stun—
de, die Geliebte zu ſehen, an die mit immer inni⸗
gerer Gluth mein Herz ſich ſchloß. Weithin konnte
ich ſchon immer ihr weißes Gewand, ihr im Winde
flatterndes Tuch erkennen, mit dem ſie mich begrüß—
te, mir freudigen Willkommen zuwinkte, wenn ſie
von der kleinen Anhöhe mich kommen ſah, denn nur
das unfreundlichſte Wetter vermochte ſie abzuhalten,
bis dahin mir entgegen zu gehen.
Vermag ich ſie zu ſchildern jene ſchöne Zeit der
reinſten, ſchuldloſen Liebe, jenes offene Kindesver—
trauen, mit dem ſie ihr liebes Geſicht an meine Bruſt
drückte, mich tauſendmahl ihren Eduard nannte; in
denen ich, ſie an mich ſchmiegend, die Schläge ihres
klopfenden Buſens fühlte, den Hauch, den füßen
Zauber ihrer Lippen trank, mein Bild in ihrem
Auge, ihrem ſeelenvollen, liebeflammenden, ſo rein
ſah, wie in ihrem Herzen es thronte; die weichen,
ſchmelzenden Acecente ihrer Liebe, ihrer Sehnſucht hör—
te, ſie wegküßte von dem geliebten Munde! — Nein!
ich vermag es nicht! Man muß ſelbſt geliebt haben
mit dem ganzen Feuer jugendlicher Empfindung,
mit warmer ſchöpferiſcher Phantaſie das geliebte
Bild mit allen Kränzen geſchmückt haben, die das
Herz ihm leihen kann — man muß das Glück einer
62
ſchuloloſen, gänzlich hingebenden, eben ſo rein und
glühend erwiederten Liebe kennen, um zu wiſſen, was
Glück heißt. Des Dichters Feder und Saite iſt da
nur todter Nachhall. 8 N
Ja! ich war as Sec ſo rein! ſo
ſchuldlos, wie nie wieder ich es war, und die Thrä⸗
ne, die deiner Erinnerung, geliebtes Mädchen,
jetzt noch fließt, ſie ſey dir, vermagſt du mich aus
jenen beſſeren Räumen zu ſehen, ein Denkmahl
meiner Liebe, meines Schmerzes. — Was ich nun
noch von dir werde zu ſagen haben, ſind nicht mehr
die Schilderungen jener Stunden einer unſchuld—
vollen Liebe — es ſind die Anklänge eines von Be—
gierden hingeriſſenen Herzens, aber ich weiß, du
haſt mir vergeben, dein letzter Hauch war ja noch.
ein Gebeth für mich, und wenn jetzt dein Bild mei⸗
ner Phantaſie erſcheint, ſo iſt es nicht mehr die
zürnende Nemeſis, es iſt der Friedensengel, der
mit feinen Palmen die Schläfe des Müden kühlt. —
5.
Die Leere der Stunden, wo ich Marien nicht
ſehen konnte, mehr mir vergeſſen zu machen, fing
ich jetzt an häufig Zerſtreuung zu ſuchen, deren Bedürf—
niß ich früher nie gefühlt. Es konnte nicht fehlen,
daß ich hiebey öfter wieder auf Arlfort ſtieß, von
dem ich angefangen mich etwas zurück zu ziehen,
da in der That ein Widerwille gegen ihn ſich in
63
mir erzeugt hatte; auch der übrige Kreis meiner
Bekanntſchaften fing dadurch an ſich bedeutend zu
vermehren, und die linkiſche Unbeholfenheit meines
Benehmens machte einer mehr geſchliffenen Manier
Platz.
An einem ſtürmiſchen, trüben Novembertag
komme ich bey einbrechender Dunkelheit von Wald—
heim zurück. Bergſterns, ſeit einiger Zeit ſich im—
mer mehrendes Übelbefinden hat ihn gezwungen, ſich
niederzulegen, ich bin allein auf meinem Zimmer
und überlaſſe mich meinen Träumereyen; da tritt
Arlfort plötzlich zu mir ein und ruft mir freudig zu:
„Es iſt mir ungemein angenehm, lieber * * *, daß
> Sie zu Haufe finde, Sie müſſen mich in eine
eſellſchaft ee ‚mo Sie gewiß Vergnügen fin⸗
= werden.“
Ich fange an zu fragen, mich zu enſchuldigen,
ich wäre in Wahrheit lieber zurückgeblieben, er drängt
aber mit ſolcher Eil und Beredſamkeit in mich, daß
ich nachgebe und ihm folge.
Er führt mich in ein Haus, und wir treten in
ein hellerleuchtetes Zimmer, in dem mehrere Da:
men und Herren, theils einzeln gruppict, theils im
Geſpräch auf- und abgihead ich finde. Dem Einen
der letztern, einem etwas bejahrten Manne, ſtellt
Arlfort mich als ſeinen Freund vor, der wünſcht
heute und für die Folge. Theilnehmer ihrer Unter—
haltung zu werden. Der Fremde nimmt dieß ſehr.
artig auf, und fängt gn 'von dem Vergnügen zu re⸗
\
64
den, welches ihm und der Geſellſchaft dieß verurſa⸗
chen wird, und ich, der noch immer nicht weiß, was
denn eigentlich der Zweck des Ganzen iſt, mache in
großer Verlegenheit eine ſtumme Verbeugung über
die andere, als die Thür ſich abermahls öffnet und
ein ganz ſchwarz und höchſt zierlich gekleidetes Mäuns
chen hereintritt, der nach einigen flüchtigen Ber:
beugungen ſich einem im Vordergrund ſtehenden
Tiſchchen nähert, ein Buch hervorzieht und nach ei=
ner abermahligen Verbeugung ſich niederläßt. Die
ganze Geſellſchaft thut dasſelbe, und ich fange an
zu begreifen, daß eine Vorleſung Statt finden ſoll.
Ich hatte mich nicht geirrt. Es war dieß ein Verein von
Freunden der ſchönen Literatur, die wöchentlich an
einem beſtimmten Tage hier zuſammenkamen, um
gemeinſchaftlich ſich an der Anhörung irgend eines
neu erſchienenen oder vorzüglichen Kunſtwerks, be—
ſonders aus dem dramatiſchen Fache, zu ergetzen,
und deren ein- für allemahl beſtimmter Lector der
eben erwähnte ſchwarze Herr war. Eine Einrich—
fung, die um fo mehr Zweck und Beyfall hatte, da
im Orte kein Schauſpiel, wie in ſo manchem akade⸗
miſchen Städten Deutſchlands, ſeyn durfte, und die
Bewohner daher nur ſelten in dem benachbarten ...
ſich dieſen Genuß verſchaffen konnten, oder ſich auf
die peregrinirenden kleinen Truppen beſchränken
mußten, die dann und wann in nahgelegenen Dör⸗
fern ihr Weſen trieben.
Hatte ich gleich mit Begierde geleſen, ſo war
63
dieſer Zweig der jhonen Künste mir doch durchaus
fremd und neu, und perfehlte um fo weniger einen
regen Eindruck auf mich zu machen, da Herr Brun
— dieß war der Nahme des Leſers — mit eben
ſo viel Gefühl als Wahrheit und Geſchmack die
herrlichen Werke der dramatiſchen Schriftſteller las,
die damahls gerade anfingen, eine neue Morgens
röthe in dieſer Hinſicht über ihr Vaterland herauf
zu führen.
Mit wahrhafter eee dankte ich Arl⸗
fort für den mir ſo überraſchend zugewendeten Ge—
nuß, und verfäumte, da der Verein mir die Er-
laubniß ertheilte, von nun an keinen ſolchen Abend
mehr.
Mein Verhältniß zu Arlfort gewann dadurch die
erſte Herzlichkeit wieder, und bald ſah er ſich aber.
mahls im Beſitz meines vollen Vertrauens.
So verging dieſer Winter und ich bezog zu
Anfang des Frühlings meine ländliche Wohnung
wieder. Bergſterns immer mehr abnehmende Kräf—
te verhinderten ihn jetzt faſt gänzlich, das Zimmer
zu verlaſſen, und ich theilte, da nur wenigen aka—
demiſchen Vorleſungen ich beywohnte, zwiſchen ihm
und Marien meine ganze übrige Zeit, zu der meine
Liebe und Neigung mit jedem Mahl, daß ich ſie ge⸗
ſehen, zu ſteigen ſchien, die aber nicht mehr den rei—
nen ſchuldloſen Charakter hatte, der ihr erſtes Er:
wachen bezeichnete.
Das Beyſpiel Arlforts, deſſen Thun und Trei⸗
66
ben im letzten Winter ich genauer und ofter zu beob⸗
achten Gelegenheit hatte, feine laxen Grundſätze,
die in ſo mancher traulichen Unterredung, mit der
Feinheit eines Weltmanns er mir mittheilte, die
Schilderungen, die er, obgleich nicht ohne Zark—
heit, doch glühend und lockend genug, um meine
ſo leicht erregbare Phantaſie in Feuer zu bringen,
von manchen feiner Lebensfcenen mir machte, und
endlich Mariens vertrauenvolles, durchaus hinge-
bendes Anſchmiegen an mich, hatte einen Sturm
in meiner Bruſt angefacht, den ich zu unterdrücken
nicht Kraft, Marie zu widerſtehen zu viel Liebe
hatte. N
Am Jahrestag unſerer Bekanntſchaft eile ich
nach Waldheim. Mancherley Begegniſſe hatten mich
länger als gewöhnlich entfernt gehalten. Meine
Sehnſucht, mein Verlangen nach der Geliebten war
gränzenlos, der Gedanke: es iſt heut der Tag, wo
du ſie zum erſten Mahle ſaheſt, wo die geliebte
ſchöne Geſtalt zum erſten Mahle dir erſchien, das
Morgenroth der Gefühle in dein Leben heraufzu—
führen, begeiſtert, entflammt mich noch mehr; ich
ſprenge den Hügel vor ihrem Dorfe hinan — ſie
iſt nicht da — mit verdoppelter Gluth und Eile
fliege ich dem Hauſe zu, aus einer Stube in die
andere — ſie ſind leer, die Mutter iſt ausgegangen
und Marien ſeh' ich nicht. — Meine Ungeduld er⸗
reicht den höchſten Gipfel; da hör' ich die Saiten
anſchlagen, und meines Mädchens ſüße Stimme,
1
die Hurka's zärtliches Lied: „an den Entfernten,
ſingt. Ich horche einen Augenblick entzückt ihren
ſanften Tönen, dann will ich auf das Cabinet zu,
woher fie mir erſchollen. Mein Geräuſch hat mich
ihr verrathen; ſie tritt mir von allem Glanz der
Liebe, der Sehnſucht, des heißen Verlangens um—
floſſen, an der Thür entgegen. — Im Schmuck der
ſüßeſten Thränen der Freude, des reinſten Entzü—
ckens, ſtrahlen mir ihre Augen — unfere ausgebreiz
teten Arme verſchlingen ſich; — Worte hat eine
ſolche Minute nicht — meine glühenden, brennen⸗
den Küſſe rauben ihr Beſinuung und Widerſtand,
ihre Erwiederung jagt Flammen durch mein Blut,
und läßt mich Alles, Alles vergeſſen. — Darf ich
deiner noch denken, du ſüßeſte meiner Stunden!
Augenblick des Vergehens und des höchſten irdiſchen
Entzückens! Ach! ich habe nicht die Kraft dich zu
verdammen, ſelbſt die nicht, dich zu bereuen; du
warſt fo ſchön, und wenn der Schutzgeiſt der Uns
ſchuld in dieſem Moment uns trauernd verließ, ſo
ſegnete doch die Liebe den geheimen, den ſeligen
Bund und nur die harte Hand der Menſchen, ihr
kaltes, ſo gern ein Glück, für das ſelbſt ſie keinen
Sinn haben, das ſelbſt ſie herabziehen aus ſeiner
Höhe zum Gemeinen — zerſtorendes Herz, führte
die Verkettungen herbey, die das Daſeyn eines
Engels trübten, verkürzten; die über mein Le⸗
ben einen Flor warfen, den Jahre und mannigfache
88
Veränderungen kaum hinreichten ihm wieder zu ent:
ziehen. .
Mehr mit der ſchüchternen Verſchämtheit einer
jungen Frau, als mit dem zürnenden Blick der bes
leidigten Unſchuld, entwindet Marie ſich endlich
meinen ſie noch immer umfaſſenden Armen. Sie
vermochte ja den Liebling, dem ihr ganzes liebendes
Herz, ihr Alles ſie weihte, auch nicht nur eine Se⸗
eunde zu zürnen; fie hatte ſich ja als mein ſchon im-
mer betrachtet, ſie war ja meines, ihres Herzens
gewiß! —
Spät erſt trenne ich mich von ihr, und nun
erſt, da im einſamen Zimmer ich allein den Bes
trachtungen meines Glückes mich überlaſſe, hebt leiſe
und ſtrafend in der Bruſt eine Stimme ſich empor.
Es waren die erſten Anklänge eines Schmerzes, den
ich noch nie gekannt, denn nie hatte ich ja noch ei⸗
nen ernſten Vorwurf des Gewiſſens zu tragen. Aber
konnte dieſe Reue Beſtand haben? Noch braunten
ja auf meinen Lippen ihre Küſſe, noch tönten ja in
mein Ohr die Schmeichelworte ihres Mundes —
noch fühlte ich ja den Druck ihrer lieben Hand, die
fle beym Abſchied mir reichte — Ich hätte nicht
Menſch ſeyn müſſen, nicht lieben, wie ich liebte,
wenp etwas anderes, als Glück, als Freude, als
die ſeligſten Träume, Platz in meiner Seele gehabt
hätte.
Verdammt mich nicht, ihr, denen der Schöpfer
glelleicht ein kälteres Blut, vielleicht mehr überlegen⸗
69
den Verſtand, und weniger Empfindung gab; die
ihr vielleicht nie kanntet, was Liebe iſt, denen Ber:
hältniſſe, Schickſal, vielleicht nie ein glühend lie—
bend Herz entgegenführte, in den Jahren des er—
wachenden Gefühles — uyd auch fie richt, die dem
Liebling ihres Lebens, dem, deſſen Erſcheinen in ihre
Kindestrage den Morgen eines neuen Daſeyns her—
aufführte, ſich hingab mit zärtlicher Innigkeit; die
ihm Alles opferte, weil ſie Alles ja von ihm er—
wartete, weil ohne ihn ihr keine Welt mehr war;
die nur leben in ihrer Liebe konnte, wie eine Blu—
me nur blüht im Hauch der wärmeren Lüfte, und
welkt und vergeht, wenn der Sturm des Winters ſie
triffe. —
Nicht ohne Beklemmung mache ich mich wenig
Tage nachher wieder nach Waldheim auf. Schon
von fern erblicke ich Mariens flatterndes, mir zu—
winkendes Tuch, und ſanft und liebevoll wie ein En⸗
gel, mit der reinſten Zärtlichkeit, empfängt ſie mich.
Weggewiſcht war in dieſem Augenblick auch die klein—
ſte Spur von Beſorgniß, und fröhlich wie ein Gott,
nur der ſüßen Gegenwart lebend, ſchwand jedes an⸗
dere Bild aus meiner Bruſt. Und, was hatte ich
denn auch zu fürchten? Das Geſchrey, die Mißbilli⸗
gung ven Verwandten? Sie waren von je an mei⸗
nem Herzen zu fremd, als daß ihr Für oder Gegen
mich hätte beſtimmen können. Meine bürgerlichen
Verhältniſſe? Ich war wohlhabend genug, unab—
hängig bey mäßigen Wünſchen von Anderen zu
=
79
ſeyn, und ein Jahr bedurfte es nur, um geſetz⸗
lich es auch meinen Willen zu machen. Dieß ei⸗
ne Jahr wollte ich noch abwarten, dann ſollte
Marie mein — mein auf ewig feyn. Ach! ich ahn⸗
te nicht, indem ich dem Freunde glaubte mein
volles, überſtrömendes Herz mitzutheilen, daß ich
ſelbſt die Wege zeigte, auf denen man mir Wunden
ſchlug.
Arlfort wollte in dieſer Zeit eine Reife nach...,
dem Wohnort meines Onkels, machen, und da
mein ganzes Vertrauen er wieder beſaß, da in ihm
ich den wahren Freund zu beſitzen glaubte, fo hatte
nicht allein ich Briefe an meine Verwandten ihm mit
gegeben, ſondern den Auftrag ertheilt: leiſe meine
Angehörigen zu erforſchen, wie meinen feſten Ent⸗
ſchluß, mit Marien mich zu verbinden, ſie aufnehmen
würden — ihn gebethen, darauf ſie vorzubereiten.
Zwar verſuchte mehrere Mahl er, dieſe Grille — wie
er es naunte — mir auszureden, mein Wille aber
hatte feine Einwendungen überwunden, und er vers
ſprach meine Wünſche zu erfüllen.
Ich muß hier bemerken, daß Marie ſowohl als
ihre Mutter mich immer nur noch unter dem Nah—
men Bergſtern kannten, eine Täuſchung, die um fo
leichter mir war zu erhalten, da völlig abgeſondert
von der Welt Beyde lebten, mein ſonſtiges Beneh—
men ihnen aber keinen Zweifel erwecken konnte.
Man wird fragen, warum ich dieſen — beym rech—
ten Rahmen benannt — Betrug fortdauern ließ
7⁴
gegen ein Mädchen, an der meine ganze Seele hing,
mit der ich redlich es meinte — und ich kann nur
erwiedern, daß anfänglich die Furcht, Marie mod:
te ſich zurückziehen, ihr Herz ſich mir eutfremden;
in der Folge der Gedanke, ſie angenehm zu überra—
ſchen, der meinen Jahren, meiner Unerfahrenheit ſo
natürlich, der gewiß ſo verzeihlich war — mich ab—
hielt, und — daß, wenn ich bey ihr war, ich daran
gar nicht mehr dachte; wo hätte ich auch Zeit dazu
nehmen ſollen? — Dieß alles wußte Arlfort, und
bald durch ihn, wie die Folge zeigen wird, mein
Onkel.
Mich welcher ängſtlichen Erwartung ſah ich nicht
Arlforts Rückkehr entgegen; wie hoffend, wie freu—
dig ging ich zu ihm, als endlich er wiederkehrte! —
Meine Fragen beſtürmten ihn, denn — ich läugne
nicht — es würde mein Glück um ein Großes ge:
mehrt haben, hätte, was ich kaum erwartete, Zu—
ſtimmung er mir gebracht.
„Sie kennen Ihren Onkel ſowohl als Ihre Tan—
te, ſagte er mir, „ſelbſt zu gut, als daß ich Ihnen
Nachrichten, wie Sie fie wünſchen, bringen konn—
te; doch laſſen Sie deßwegen den Muth nicht ſinken,
ein Baum fällt nicht auf einen Hieb, und wahrlich
Ihrer Verwandten Stammbaum gehört nicht zu den
kleinen; doch überlaſſen Sie es mir, ich bin ſo glück—
lich geweſen, die Gunſt Ihrer Familie mir zu er—
werben. Mit der Zeit kaan man viel thun und“ —
ſagte er lächelnd und bedeutend hinzu — „in Jahr
72
und Tag find Sie ja vollkommen freyer Herr Ih⸗
res Willens und ein Jahr vergeht bald, befonders
wenn ſo glücklich man es verträumt, wie Sie jetzt Ihre
Zeit. d
Entſprach gleich dieß nicht ganz meinen Erwar⸗
tungen, ſo ſchlug es ſie doch auch nicht nieder, um
ſo weniger, da meine Menſchenkunde noch zu ſchwach
war, um die mir wohl daun und wann auffallenden,
alle meine Schritte beobachtenden Blicke Arlforts
richtig zu erklären.
Ich lebte demnach ruhig um die Zukunft in mei⸗
ner ſchönen Gegenwart fort. Meiner Marie Bild im
Herzen, wanden die Tage ſich mir im heiteren Gleich—
maß, wie ein blumengeſchmückter Bach durch la—
chende Ebenen hin und meinem Sinne war die Sor—
ge fern.
Da erhalte ich plötzlich einen Brief von Hauſe,
worin mein Onkel mir ſchreibt, wie ein entfernter
Verwandter im e ſchen ohne Kinder geſtorben,
dadurch der nicht unbedeutende Nachlaß au uns fiele,
dieß aber nothwendig mache, daß einer der Erben nach
dem Wohnort des Abgeſchiedenen reiſe, und wie
hierzu ich mich wohl entſchließen würde, da ihm Al⸗
ter, Schwäche und Verhältniſſe dieß nicht erlaub⸗
ten, mir aber, der ja immer Luſt bezeigt hätte,
fremde Gegenden, beſonders den Süden Deutſch—
lands zu ſehen, dieſe :welegenheit doppelt angenehm
ſeyn dürfte, indem zugleich ich mit einem weſentli—
chen, mir und der Familie erzeigten Dienſt, meine
AR
Wünſche befriedigen könnte, und wie ich mich ein—
richten ſolle, in wenig Wochen abzugehen. Ein Blitz
aus heiterer Höhe vermag den einſamen Wanderer
nicht ſo aufzuſchrecken, als mich dieſer Brief. War
gleich mein heißer Wunſch es früher geweſen zu rei⸗
ſen, ſo war jetzt doch, gerade jetzt, jeder Gedanke
daran entſchwunden. Eine noch fo kurze Trennung
von Marien machte mich ſchaudern, und zum erſten
Nahl trat die Ahnung, ich könnte ſie verlieren, vor
meine Seele.
Mit trüber Beſorgniß teile ich Arlfort die
empfangene Nachricht mit, indem ich zugleich mei⸗
nen Vorſatz äußere, wo möglich den Auftrag abzu—
lehnen. 5
„Sie würden ſehr Unrecht daran thun,“ erwie⸗
dert er mir, „um eine kurze Trennung von der Ger
liebten zu vermeiden, den Ihrigen dieſen kleinen, ſs
höchſt gerechten Wunſch zu verſagen, und — welche
Nachgiebigkeit für Ihren Plan können Sie mit Necht
erwarten, wenn Sie zuerſt das Beyſpiel einer Un-
dienſtfertigkeit geben, die Ihnen ja doch ſo viel Auf—
opferung nicht koſten kann, da ein ſolches Ges
ſchäft bey emſiger Betreibung in kurzem ſich been:
den läßt.“ —
Ich fing an nachzudenken und er fuhr fort:
„Ich will von dem Vergnügen, von dem Nutzen
ſelbſt nicht ſprechen, die eine Reiſe einem jungen
Mann jederzeit gewährt, ich will Sie bloß aufmerk⸗
ſam machen, daß doch wohl billig es iſt, indem den
Untech. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. D
74
Lieblingsplan, den lange gehegten, ihres Onkels
Sie zerſtören, Sie doch ſein und ſeiner Tochter Beſtes
berückſichtigen, wenn auch das Eigene Sie nicht beob—
achten wollen, und daß die Familie, die Alternſtelle
bey Ihnen vertrat, gerechten Anſpruch auf dieſen
Dienft mindeſtens hat.“
Vermochte dieſen Gründen ich etwas entgegen
zu ſetzen? Mit ſchmerzlicher Vorahnung im Herzen,
antwortete ich meinem Onkel: ich wäre bereit,
wenn es durchaus ſeyn müßte, nach *** zu rei⸗
ſen, aber nur in der Hoffnung, daß wenige Mo⸗
nathe hinreichen würden, dort Alles zu beſorgen.
So wie ich dieſen Brief obgeſendet, ritt ich ſogleich
nach Waldheim, das Bevorſtehende Marien zu ver⸗
künden. Ä -
Wir hatten ſaſt nie zuſammen über unfere ges
genſeiten bürgerlichen Verhältniſſe geſprochen; Feis
nes hatte von dem Anderen bisher einen Aufſchluß
verlangt über Dinge, die außer dem Kreiſe unſerer
Herzen lagen, und Marie horchte daher hoch auf,
als heut ich anfing unſerm Geſpräch dieſe Wendung
zu geben. Als ich bemerkte, wie unerwartet einge⸗
tretene Verhältniſſe mich leicht zwingen dürften, auf
kurze Zeit eine Reiſe nach ““ zu machen, überzog
eine plötzliche Bläſſe das ſchöne Geſicht. Sie ſchlug den
ſonſt fo hellen, freundlichen Blick zu Boden und müh—
te ſich vergebens die hervorquellenden Thränen zu⸗
ruck zu drängen. Ich ſchloß fie an meine Bruſt und
unter tauſend Schmeichelworten und. Küſſen ſuchte
75
seinen Troſt ich ihr einzuſprechen, der ſelbſt zu ſehr
mie nur fehlte. Da ſchlang fie ihre Arme um mei:
nen Hals und mit dem ganzen Zagen, dem verſchäm—
ten Errösthen, der Liebe, der Furcht, des Schmer—
zes und der Hoffnung, geſtanden mir ihre bebenden
Lippen, wie ſie Mutter ſich fühle.
Soll ich ſagen, welches Gefühl dieß in dieſem
Augenblick bey mir erregte? Ich hatte es geahnt,
gehofft, gewünſcht ſelbſt und doch, gefürchtet. —
Alles dieß beſtürmte jetzt auf einmahl meine Bruſt,
in der Freude und Schmerz ſich tief und wun⸗
derbar verſchlangen, ich fühlte mich glückliche,
ſehr glücklich und doch auch wieder traurig bewegt
in Einer Minute, und indem ein Vorgefühl der hei—
ligſten Freuden des Lebens mir ward, ſchien eine
trübe, drohende Geſtalt im fernen Hintergrund der
Zukunft aufzugehen, deren Nahen mir Entſetzen
brachte, fo wie wenn über eine heitere, blumenvolle
Flur am dämmernden Horizont ein ſchweres, blitze⸗
ſchwangeres Wetter aufzuſteigen droht.
Doch ſammelte ich mich bald. Ich fühlte, was
ich zu thun hatte, und ich durfte ja hierin auch nur
der Stimme meines Herzens folgen. Erneuerte Ver—
ſicherungen meiner Liebe, meiner Treue Marien zu
machen, hatte ich nicht nöthig; ſie kannte mich, und
wahre, reine Liebe erlaubt ſich keinen Zweifel in die
Geſinnungen des Lieblings. Vor den Augen der Welt
aber herzuſtellen, was ſo gern ſte beſchmitzt, ſo viel
ts jetzt noch in meinen Kräften ſtand, war meine
D 2
776
Pflicht, und mein feſter Wille ließ mich nicht ſäumen.
n.der Hand meines Mädchens trat ich vor ihre
Mutter hin und bath um ihren Segen, bath, noch
in dieſen Tagen, . müßte, fie ganz mir
zu geben. i
Hier hätte ich ſollen die⸗ Decke der Täuſchung
ſinken laſſen, die Mutter und Tochter noch über
meinen wahren Nahmen und Stand umhüllte —
ſchon hatte ich das Wort auf der Zunge — ein Dä—
mon, mein böſes Geſchick hielt mich zurück und der
unſelige Entſchluß meiner Eitelkeit, erſt am Altare
der Geliebten dieſe, wie ich mir einbildete, überra—
ſchende Freude zu machen, e das Wort von
reinen Lippen weg.
Nan richte nicht zu ſtreng über dieſe jetzt wirk—
lich lächerliche Eitelkeit eines jungen Mannes auf
ſeine Geburt. Damahls war ſie es weniger, denn
e Verhältniſſe jener Zeit waren andere, als die
e jener Wahn allgemeiner, als, Dank ſey
dafür der Vernunft, jetzt, wenigſtens in manchen
Ländern, und noch mehr wird man mich entſchuldi—
gen, wenn man bedenkt, daß in und aus einer Tas
milie ich entſproß, die es ſich angelegen ſeyn ließ,
früh ſie mir einzuprägen.
Ihren Segen, ihre Einwilligung gab Mariens
Mutter uns freudig und gern; die Erlaubniß zu un:
ſerer ſo ſchnellen Verbindung ſchlug ſie aber be—
ſtimmt ab. Vergebens bath ich, vergebens beſchwor
ich fie, vergebens geſtand ich ihr ſogar Mariens
77
ſichere Erwartung. — Sie zog vor, ihre Tochter
dem Tadel der Welt auszuſetzen, als ohne Bewil—
ligung meiner Familie ſie mir zu geben. Ich ſtell⸗
te ihr vor, daß keine Altern ich mehr hätte, daß—
wenig Monathe mich ſelbſtſtändig machten, daß ich—
reich genug wäre, um keinen zu brauchen; ſie blieb
unerſchütterlich. Alles, was ich erhalten konnte,
war, daß nach Umlauf der Zeit, die mich dem.
direrten Einfluß meiner Angehörigen noch unterwarf,
ſie mir kein Hinderniß mehr entgegenſetzen wolle,
und ich mußte, indem ich mich gezwungen ſah,
die Feſtigkeit ihrer Grundſätze zu bewundern, in
mein Loos mich ergeben, froh nur, daß in der
Folge fie wenigſtens nicht fo ſtreng mehr feyn,
daß ich Marien ferner ſehen, und an ſie ſchreiben
durfte.
Wenige Tage nach dieſer Unterredung, die ich
Unſeliger in meiner Argwohnloſigkeit mit allen Hoffe
nungen und Vorſätzen Arlforten mitgetheilt hatte,
erhielt ich abermahls Briefe von meinem Onkel und
einigen anderen Gliedern meiner Familie, die in
einem höͤchſt verbindlichen Ton mir alle die größte
Eile anempfahlen und zugleich mit allem Erforder—
lichen mich ausrüſteten. Ich fing alſo, treu dem ge-
gebenen Wort, an, mich fertig zu machen und bei
ſtimmte den Morgen meiner Abreiſe. Den Tag vor-
her brachte ich noch in Waldheim zu und ſpät erſt,
von den Thränen, den Wünſchen der Geliebten be=
gleitet, verließ ich fie. Ach! ich dachte nicht, als
Y
ws
78 )
ihren umſchlingenden Armen ich mich entwand, daß“
dieß der letzte glückliche Tag war, den an ihrer
Seite ich verlebte, daß unſer Wiederſehen nur
Schmerz, nur Verzweiflung in meine Bruſt wer—
zen würde.
Ich reiſete allein, nur von einem neuangenom⸗
menen Bedienten, den Arlfort mir zugewieſen, bes
gleitet ab, da mein bisheriger bey Bergſtern zu-
rückblieb, den Krankheit mit zu reiſen verhinderte.
War gleich die Trennung von Marien mir ſehr ſchwer,
durchzog gleich manches Mahl eine ſorgen de Beklom—
menheit, wie ein Schatten, mein Inneres, ſo ver—
fehlte doch die Abwechſelung der Umgebung, die
reiche herrliche Natur, die im vollen Schmucke ei⸗
nes geſegneten Herbſtes, an meinen Blicken vor—
überzog, nicht meine Gedanken zu zerſtreuen, eine
fröhlich heitere Stimmung mir zu geben. Wo wäre
auch das noch in jugendlicher Bruſt ſchlagende Herz,
das dem Frohſinn ſich nicht erſchlöſſe, wenn die
wahrhaft ſchönen romantiſchen Gegenden des ſüd—
lichen Theiles unferes Vaterlandes ihm ſich zum ers
ſten Mahl zeigen und — worüber hätte ich auch Ur⸗
ſache gehabt, anhaltendem Teübſinn Raum zu ge⸗
ben? Ich entfernte mich zwar von der Geliebten,
aber in wenig Monathen, in Wochen vielleicht ſah
ich ſie ja wieder, dann wurde ſie mein, mein auf
immer und im vollen Roſenglanz der Hoffnung brei⸗
tete ſich die Zukunft vor mir aus. Nichts konnte
mich auf den ernſten Gedanken bringen, daß dieß
5 79
ſich wohl ändern könne; es hing ja nur von mie
daun ab, meine Wünſche zu verwirklichen, und nicht
vermochte die Netze ich zu ahnen, in die mit unbe⸗
fangenem Sinn ich ſelber ging.
Gleich nach meiner Ankunft in ... gab ich
meine Empfehlungsbriefe ab, und fing an mit allem
Eifer das übernommene Geſchäft zu betreiben. War
ich mit der fröhlichen Ausſicht angekommen, bald und
ſchnell alles zu beendigen, fo zeigten nach wenig Tas.
gen Aufenthalt ſich mir doch eine ſolche Menge vor-
geblicher Hinderniſſe, daß ich nicht umhin konnte
mir zu geſtehen, wie in Betreff der mir gedachten
Zeit ich mich gewaltig verrechnet hatte. Was that—
ich nicht, den langſamen, ſchleppenden Gang der
Verhandlungen zu beſchleunigen, die immer von
neuem, wenn ich endlich dem Ziele mich zu nähern
glaubte, ſich mir eatgegenthürmenden Hinderniſſe
zu beſeitigen — umſonſt! es reihte Tag an Tag ſich,
Woche an Woche, es entſchwanden Monden, und ich
ſtand faſt noch auf dem erſten Punet. Man denke
weine Lage, meine kochende, an Verzweiflung grän-
zende Ungeduld. — Mariens liebevolle Briefe
waren in dieſer Periode der Thau, der meine Seele
erquickte, ihr zu ſchreiben, die einzige Freude, die
ich hatte. Am Tage trieb ich mich von einem Sad:
walter zum andern umher, mit Worten, Verſpre⸗
chungen, Geſchenken, ſie zu beflügeln, des Abends ſaß
ich einſam in meinem Gemach, oft bis ſpät in die
Nacht, an Marien zu ſchreiben, oder ihre Briefe,
80
die Züge ihrer geliebten Hand zum tauſendſten Mahl
zu lejen, mich hinzuträumen zu ihr, mir zurück zur
zaubern in die dürre Wirklichkeit, die ſeligen, ent⸗
flohenen Stunden meiner Liebe, meines Glücks „ mir
eine goldene Zukunft zu bauen. Entſchwunden war
der Eindruck, den die ſchönen Umgebungen von ..
die großen, herrlichen Ufer des Rheins auf mich ge:
macht hatten; ich ſah fie nicht mehr, ich dachte nur
fie — und fort! fort! tönte unaufhörlich eine Stim⸗
me in mir. —
Plötzlich bleiben Mariens Briefe aus — ich war
beynahe drey Monathe ſchon in * ** — es ver⸗
gehen mehrere Poſttage und keiner bringt mir
Nachricht. Ich ſchreibe Brief über Brief und erhal⸗
te dennoch keine Antwort, und verwickelter, lang⸗
weiliger, als je, geht der Gang meiner Geſchäfte.
Wen je ſein Geſchick in ähnliche Lagen führte auf
eine ähnliche Tortur ſpannte, der wird mit mir em:
pfinden, was ich empfand. Welche Gedanken durch—
kreutzen nicht meine Seele! Mit welchen Erwar—
tungen ſah ich nicht, hoffe ich nicht immer der An⸗
kunft einer neuen Poſt entgegen, welches war mein
Schmerz, wenn Franz — fo hieß mein Bedienter
— mit leeren Händen zu mir eintrat! — Sie hat
dich vergeſſen, ſie liebt dich nicht mehr, rief es in
meinem Innern. Nein! Nein! das kann ſie nicht,
dann wäre das Leben eine Lüge — Sie iſt krank —
todt! Ja! fie iſt todt, nur das Grab kann fie
nir entreißen! und zur fürchterlichen Gewißheit wird
*
gt
mir der entſetzliche Gedanke. Ich kenne mich nicht.
mehr vor Schmerz; zu ihrem Grabe, zu dem hei—
ligen Grabe meiner Liebe will ich hin, und jede an⸗
dere Rückſicht ſchwindet. Mag erben, wer Luft hat,
was kümmert's mich! Sie iſt todt und ich — ich
brauche ja dann auch nichts mehr. Fort! fort! rufe
ich und ſtürze in meines Bedienten Zimmer, ihn nach
Pferden zu ſchicken. Bey meinem Eintritt fährt der
Burſche erſchrocken zuſammen und will einen Brief,
den er eben hält, meinen Blicken verſtecken. Dieß
fällt mir ſonderbar auf, und indem mit einer Hand
ich ihn zur Thür dränge, und die höchſte Eile anem-
pfehle, nehme ich mit der andern, ohne eine feſte
Idee dabey gerade zu haben, ihm den Brief weg.
Mächte des Himmels! die Aufſchrift zeigt mir Ma:
riens Hand. Verräther! rufe ich und ſchleudre den
Zitternden in die Ecke, wo kömmt dieſer Brief her?
Da fällt der Unglückliche mir zu Füßen und be⸗
kennt, wie von Arlfort er gedungen ſey, Mariens
Briefe zu unterſchlagen, ſo wie die meinigen, und
ihm ſie zu ſenden. Wenn der Hölle grauſendee
Schlund ſich plötzlich vor des harmloſen Pilgers Ti:
ßeu öffnete, wenn alle Schrecken vereint auf ihn
einſtürmten, ſo würde er nur ein Bild meines Ent—
ſetzens haben. Das war es alſo — darum war ich
ohne Nachrichten — darum hatte man mich hierher
geſchickt, in ein Gewirr von Händeln mich zu ſtür—
zen, um dich, Geliebte, mir zu rauben, unſere
Herzen fo giftig, fo hämiſch zu trennen. O! jest
*
v
82
ſehe ich alles klar durch, den ganzen Plan, und ich
glaube, ein Teufel kann die Gefühle der Rache, der
Wuth nicht hegen, die meine Bruſt durchzucken.
Pferde! rufe ich dem noch immer auf den Knien
liegenden und Vergebung bittenden zu, ſchaff' Pfer—
de, oder ich morde dich! und ſo ſtoß ich ihn zur
Thür.
Während er fort eilt, reiße ich den Brief auf,
es ſind nur wenige, mit fliegender Hand geſchriebe—
ne Zeilen: „Du haſt mich vergeſſen, Eduard!“ —
klagte ſie — „verſtoßen — du haſt deiner Marie
in die Hand der harten Menſchen geben können,
und mein Herz iſt gebrochen. Wie konnteſt du das?
Ich hatte dich ſo lieb! Ach! wenn die Geliebte
dir nichts mehr war, fo hätte die Mutter deines
Kindes — — doch ich ſchweige — Lebe wohl! Du
haſt mich getäuſcht — ich bin fürchterlich erwacht —
doch — möge es dir gut gehen, ich kann, ich will
bethen für dich, denn mein Herz liebt dich ja doch
noch!“
Leſer! haſt du einen Begriff von meinem
Schmerz? von meiner an Wahnſinn gränzenden
Verzweiflung? Möge eine gute Gottheit dich dafür
behüten. —
Nach einer halben Stunde ſaß ich im Wagen.
Ich verſchwende Geld, Verſprechungen, Drohun—
gen, die Poſtillone zu beflügeln, und nach zwey
durchjagten Tagen und Nächten halte ich, bey Ein—
tritt der dritten, vor Mariens Hauſe. Ich ſpringe
85
ab, ich ſtürze ins Haus — es iſt leer — Marie!
ruf' ich, Marie! und nur der Wiederhall tönt mir
entgegen. Wie ein Raſender rüttte ich an der ver—
ſchloſſenen Stubenthür, ſie ſpringt auf und ein altes
Weib taumelt ſchlaftrunken mir mit Licht entgegen.
Wo iſt meine Marie, ruf' ich nochmahls und packe
das Weib am Arm, daß ſie entſetzt und kreiſchend
zurückſpringt, denn mein Benehmen, mein blaſſes
Geſicht, meine rollenden Augen laſſen ſie einen
Wahnſinnigen vermuther.„ Das weiß ich nicht, ſtam⸗
melt fie zitternd endlich auf meine wiederhohlten
Fragen, „ſeit drey Wochen iſt die Frau Hofgärtne—
rinn mit ihrer Tochter fortgereiſet und hat mir das
Haus in Obhut gegeben.“
„Wo iſt ſie hin, welche Straße haben ſie ge—
nommen?“
Ich weiß es nicht,“ entgegnete die Alte; „ganz
gegen Abend kam ein Herr mit einem Wagen, und
da fuhren ſie weit weg, weit, weit, ſagte Mamſell
Mariechen, die ſehr weinte.“
„Und wer war der Herr, wie ſah er aus?“
„Ich kenne ihn nicht, doch war er jung und vor:
nehm, wie Sie, aber etwas größer.“ |
„Hatte er nicht große Augen und blondes Haar,
frage ich abermahls.“
„Das weiß ich nicht, gnädiger Herr,“ erwiedert
die bebende Alte, die in meiner Wuth bey dem Ge—
danken an Arlfort ich wieder gepackt hatte; „es ging
alles ſo ſchnell.“
96 .
„Ja, ſo ſah er aus, ſpricht neben mir die Toch—
ter des Weibes, die ungeſehen ins Zimmer getreten
war; „auch hatte er einen blauen Rock an, fo wie
Sie und auf dem einen Finger einen großen, ſchö—
nen Ring.”
Er war es, es war Arlfort der Verräther, dem
ich zutrauenvoll mein offenes Freundesherz gab, und
der nichtswürdig, heimlich den Dolch in meine Bruſt
bohrte. Jetzt fühlte ich erſt, wie elend ich war. Bis—
her hatte doch noch Ein Hoffnungsſchimmer mir ges
leuchtet, nun war eine völlig troſtloſe Nacht. Ich
zog Mariens Brief hervor, er war ohne Datum
und ohne Ortbeſtimmung. Wo ſollte ich ſie finden,
ſie die Arme, die Unglückliche! in des Buben Hän⸗
den. — Ja, ich geſtehe, daß in dieſem Augenblick
das Gefühl für Rache die Schmerzen meiner Liebe
überwog, und willig hätte ich mein ganzes Daſeyn
hingeworfen, auf ewig entſagt, Marien wieder zu
ſehen, hätte nur Eine, nur Eine Minute meines
Feindes Leben in meiner Gewalt geſtanden.
Endlich verlange ich, daß man mir Mariens
Zimmer aufſchließt. Das Mädchen nimmt das Licht
und führt mich hin. Kaum vermag ich noch mich
auf den Füßen zu erhalten, als ich eintrete. Hier ſah'
ich ſie zum letzten Mahl — hier ſaß ich ſo oft mit
ihr Hand in Hand, hier war ich fo glücklich gewe-
fen, hier hatte fo oft ihre liebe, geliebte Stimme
mir getönt; hier hatten ſo oft wir uns ewige Liebe
und Treue geſchworen und nun — — — Ich winke
85
dem Mädchen zu gehen, und mit heißen Thränen
warf ich vor dem Stuhl mich nieder, auf dem am
Fenſter ſie gewohnlich ſaß; ich umfaßte ihn, als
wenn ich die Geliebte umfaßt hielt, und es war, als
wenn meinem Herzen leichter würde, indem ſo dem
Lebloſen ich meinen Schmerz und meine Liebe be—
zeigte. Da ſeh ich endlich auf und erblicke in einem
Winkel des Zimmers ein kleines ſeidenes Tuch, das
Marie oft zu kragen pflegte. Mit Begierden nahm
ich es auf, drück' es an mich, bedecke es mit Küſſen
und — Leſer, lächle nicht — ein Strahl von Freude
blitzte durch meine zerriſſene Bruſt, denn ich glaubte
Thränenſpuren darauf zu entdecken; es waren wohl
nur meine eigenen geweſen, aber ich glaubte es
und ein Tropfen Troſt rann in meinen Schmerz,
denn ſie hatte je geweint um mich, fie liebte mich
ja wohl noch.
Gegen RE warf ich 1 wieder in den
Wagen und befahl nach“ ““ zu fahren. Von Berg⸗
ſtern, den ich feſt vertraute, glaubte ich vielleicht
einige Nachricht zu erhalten. Mit welch andern Ge—
fühlen, als vor ungefähr fünf Monathen, zog ich
jetzt dieſe Straße. Damahls ſo reich an Glück und
Hoffnungen, und nun ſo arm! —
Meinen Geiſt glaubte Bergſtern zu ſehen, als
ich ins Zimmer trat, ſo waren meine Züge entſtellt.
Er wußte von all dem nichts, was vorgegangen;
man hatte abſichtlich es ihm zu verheimlichen ge⸗
ſucht, da man ſeine Liebe, ſeine Anhänglichkeit für
85
mich kannte. Zwar hatte mein Onkek, der einige
Tage in *** geweſen war, iha ſcharf befragt über
mein zeitheriges Thun und Leben, ſich aber weiter
nichts merken laſſen, und war kurz darauf mit Arl⸗
fort nach Haufe, wie es hieß, gereift. In wenig
Worten machte ich den alten, ehrlichen Mann mit
allem bekannt, und theilte ihm zualeich meinen Ent-
ſchluß mit. Marien aufzuſuchen, und müßte ich mein
ganzes Leben auf den Heerwegen zubringen. Er
ſah wohl, daß es vergebens ſeyn würde, mich abzu—
halten, und empfahl mir nur Vorſicht und Mäßi⸗
gung. Es war mir nicht ſchwer, in “**, wo ich
und meine Familie, fo wie unſere Umſtände, bekannt
waren, ſchnell eine ziemlich bedeutende Summe mir
zu verſchaffen, die ich hinreichend hielt, fürs erſte
für mich ſowohl als Bergſtern, deſſen Liebe und—
Anhänglichkeit ich nicht glaubte durch Hinweiſung
auf eines Verwandten Güte belohnen zu dürfen,
der ſicher nicht verfehlen würde, ihm es entgelten
zu laſſen, daß er ſich nicht ernſtlicher meiner Reiſe
widerſetzt hatte.
Am folgenden Morgen ſchon ritt ich, von mei—
nem alten Bedienten begleitet, auf deſſen Treue ich
bauen konnte, fort, wohin? Das mußte ich dem
Zufall, dem Glück überlaſſen.
Mechaniſch hatte ich den Weg, ohne einen Plan
noch gefaßt zu haben, nach Waldheim eingeſchlagen.
Als ich von fern die Höhe erblicke, wo Marie ſonſt
mich immer erwartete, wo ihr flatternd Tuch von
87
fern fie mir ſchon verkündete, gab ich wie ſonſt mei—
nem Pferde die Spornen und flog den Hagel hinau.
Ach! ich glaubte, ich müßte ſie da finden; jedes
einzeln liegende Schneefleckchen glaubte ich, wär'
ihr Tuch, jeder mir enigegenſchimmernde Birken-
ſtamm, ihr weißes Gewand. — Und als ich nun
oben hielt und die naſſen Augen umherwarf und
nichts ſah — und der Wind ſo kalt und eiſig durch
den entblatterten Wald ſtrich, wie der Schmerz
durch meine Bruſt, da warf ich laut ſchluchzend
mich vom Pferde auf die Erde nieder, wo all mein
Glück und all mein Gram feinen Anfang genom—
men hatte.
Mit etwas mehr Ruhe und Zuſammenhang
forſchte ich nun bey den Leuten im Dorf und in
Mariens Hauſe nach allen Umſtänden, einiges Licht
mir zu verſchaffen. Es war wenig, reichte aber doch
hin, die Hoffnung in mir wieder aufleben zu laſſen.
Mein Onkel und Arlfort waren mehrere Mahle da
geweſen, letzterer am öfteſten. Am Tage vor ihrer
Abreiſe hatte Marie viel geſchrieben an mich, wie
das Mädchen im Hauſe ſagte, den Brief hatte Arl—
fort genommen und verſprochen, ihn mir einzuhän—
digen; ich habe ihn nie geſehen, nie ſeinen Inhalt
erfahren. Über das Wohin? der Reiſe konnte ich
durchaus weiter nichts erfahren, als daß ein Fuhr—
mann aus dem nur eine Meile entlegenen Städt—
chen ſie gefahren habe. Doch dieß war mir genug,
mußte doch dieſer wiſſen, wohin er ſie gebracht.
88
Ich ritt alſo nach dem Ort, erfrage den Fuhr—
mann glücklich, doch der iſt nicht zu Hauſe, ſondern
auf einige Wochen nach einer entlegenen Handels-
ſtadt gereiſ't, nach der er Fremde bringt. Sein
Weib kann ſich erſt gar nicht darein finden, was ich
meine, endlich entſiunt fie ſich doch, daß vor eini⸗
gen Wochen ihr Mann zwey Frauenzimmer und ei—
nen Herrn nach Wr gefahren hat, und ich ſchlage
ſogleich den Weg dahin ein.
Mein erſtes Geſchäft iſt, alle Gaſthöfe der
Stadt zu durchſtreifen, und ich bin endlich fo glück—
lich, den zu finden, wo ſie abgetreten waren. Zwar
ſtehen ihre Nahmen nicht im Fremdenbuch, aber des
Wirths Beſchreibung paßt doch ganz e auch
war es ein Fuhrmann aus jenem Ort, der ſie ge⸗
bracht hatte. Ich laſſe mir das Zimmer geben, wo
die ſchöne junge Frau, wie der Wirth ſich aus—
drückte, die ſo viel geweint hat, wohnte, und fange
nun an, mit den Blicken eines Viſitators die
Schriftzüge und Nahmen des Fremdenregiſters
durchzuſehen, ob nichts ich zu entdecken vermag,
denn von hier aus hatten ſie Poſt genommen, und
von der konnte ich bey der großen Befahrenheit die:
fer Landſtroßen keine Auskunft erhalten. Endlich
finde ich einen Herrn Grünbach und zwey Damen,
Harting und Fels von ** kommend und nach
D“ im Geſſiſchen reiſend, aufgezeichnet, und bald
erkenne ich in den ungewiſſen Zügen Arlforts Hand.
Jetzt hatte ich Gewißheit. Mit Anſtrengung aller
49
Kräfte eile ich dem Ziele zu, wo das Ende meiner
Schmerzen ich erwarte, wo Troſt und Freude ich
zu bringen hoffe. Nach fünf Tagen bin ich in D***
und quartiere mich wieder in das Zimmer ein, wo
Marie gewohnt hat. Hier geht aber auch jede Spur
mir verloren und troſtloſer, wie am Anfang meiner
Reiſe, ſtehe ich da. Zwar waren ſie hier geweſen,
aber ein auswärtiges Fuhrwerk hatte am zweyten
Tage ihres Aufenthalts die Frauenzimmer abgehohlt
und niemand wußte, wohin. Arlfort war allein
weiter gereiſ't, nach München, wie der Wirth mir
ſagte. Mein erſter Gedanke war, dieſem zu folgen
und mit dem Degen in der Fauſt Genugthuung
und Gewißheit mir zu verſchaffen. Schon hatte ich
am nächſten Morgen, entſchloſſen dazu, den Fuß im
Bügel, als der Hausmädchen eines mir eine ge—
preßte Karte bringt, die die junge Dame, nach der
ſo emſig ich mich erkundigt, hat liegen laſſen. Be:
gierig nehme ich fie, es war eine gewöhnliche Bis
ſitenkarte, worauf das Wort „Homburg,“ mit Bley—
ſtift mir unverkennbar von Mariens Hand geſchrie—
ben war. Das Mädchen hatte des zierlichen Anſehns
wegen ſie aufgehoben. Mir war ſie jetzt ein Stern in
der Nacht und ich belohnte die Finderinn reich⸗
lich dafür.
Nach Homburg alſo geht meine Reiſe. Ich
frage nach zwey unter oben bemerkten Nahmen an
gekommenen Damen — niemand kennt, erinnert
ſich ihrer, und abermahls ſteh' ich getäuſcht in mei⸗
90
ner Erwartung da. Waren ſie hierher gereiſ't?
Konnte Marie nicht jenes Wort bedeutungslos ge—
ſchrieben haben.? Dieſe und andere Zweifel ſtiegen
jetzt in mir auf und werden, da all mein Forſchen
umſoönſt iſt, beynah' zur Gewißheit. Nach Müns
chen, ruf' ich aus, nach München muß ich, da oder
nirgends kann ich es nur erfahren, und ich ſchicke
meinen Bedienten, mir ſogleich Poſtpferde zu be⸗
ſtellen, da die meinigen völlig erſchöpft, keinen ſol
chen Weg mehr zu machen im Stande ſind. Wäh—
rend im Zimmer auf und abgehend ich meiner Phan
taſie das traurige Vergnügen mache, die Ausſicht
der Rache, die an Arlfort ich zu nehmen denke, mir
auszumahlen, ſtürzt haſtig mein Johann bey mir
ein, mir zu ſagen: fo eben habe er Mariens Mut-
ter geſehen, die ſehr ſchnell an ihm vorüber zum
Thor hinaus gefahren wäre. Dieß hören und mich
mit neu auflebenden Hoffnungen auf's Pferd ſchwin—
gen, war Eins. Jeder mir Begegnende wird ge—
fragt und raſtlos verfolge ich die Spur, bis gegen
Abend in ein Dorf ich gelange, wo ich — man
denke ſich meine Freude — endlich höre: Die Ge:
ſuchten find ſeit einigen Wochen hier. Ich laſſe mir
das Haus bezeichnen, ich ſtürze hin und Mariens
Mutter tritt mir entgegen. „Wo iſt ſie! wo iſt Ma⸗
rie!' rufe ich athemlos und dränge die Mutter zur
Thür. „Herr von erwiedert mir dieſe, „Sie.
wagen es noch, hier zu erſcheinen? War es Ihnen
nicht genug, den Frieden guter Menſchen zu unter⸗
91
graben, wollen Sie auch noch am gelungenen Werk
ſich höhnend erfreuen?“ — Dieſe Worte, dieſer
entſetzliche Vorwurf betäuben mich, ich ſtehe ſprach⸗
los, jeder Bewegung beraubt da, wie einer, dem
plötzlich ein ungeheurer Schrecken alle Glieder lähmt.
„Gehen Sie,“ fährt ſie fort, „gehen Sie; Sie ſind
uns verächtlich geworden;“ und fo will fie ſich ent⸗
fernen. „Mutter!“ ruf ich, „Mutter! um Gottes
willen, hören Sie mich, Sie umſtrickt eine ſchänd—
liche Vosheit.“ 5
„Nein,“ entgegnet fir kalt, „nur die Wahrheit
ward uns, und aus Ihren eigenen Briefen ſehen wir
Ihr boſes Herz.“ 5
Jetzt fing mir aa ein Licht aufzugehen. —
Ich verlange mit Beſtimmtheit Briefe zu fer
hen, die ich geſchrieben haben ſoll und die dieß von
mir bezeugen, und ſie entſchließt ſich endlich die
Documente meiner Schande, wie fie glaubt, mie
vorzulegen. 3 N
Tod und Hölle! es war meine Hand, fo fäu:
ſchend, ſo treffend nachgemacht, daß ich ſelbſt einen
Augenblick verſteint davor ſtehe.
Schon glaubt man mich überwieſen zu haben,
mein Erſtarren gilt als Bekenntniß, als ich endlich
Beſinnung, Leben wieder erhalte, und mit der ſie⸗
genden Kraft der Unſchuld anfauge, mich zu ver⸗
theidigen. Es drängt ſich Frage an Frage, Antwort
an Antwort, und eh' eine Stunde vergeht, ſtehe ich
gerechtfertigt, ſo weit ich es vermochte, vor Mariens
92
Mutter und ſehe über alles Vorgegangene mich im
Klaren, und mein Schmerz, meine Wuth erſteigen
auf's neue ihren höchſten Gipfel. Wenig Tage nach
meiner Abreiſe von *** war Arlfort nach Wald>
heim gekommen und hatte unter einem ſcheinbaren
Vorwand ſich Eintritt verſchafft. Sein zuvorkom—
mend einſchmeichelndes Weſen hatte ihm bald das Zu—
trauen der Mutter erworben, und mit anſcheinen—
der gänzlicher Unwiſſenheit aller ihrer Verhältniſſe
hatte nach wenigen wiederhohlten Beſuchen von
ihrer erfahren, daß der Tochter Bekümmerniß von der
kürzlich erfolgten Abreiſe ihres verſprochenen Ge—
liebten herrühre, daß dieſer Bergſtern hieße, eines.
Kaufmanns Sohn ſey, ſtudiere u. ſ. w. Jetzt hatte
er fie auf dem bezweckten Punct. Seine ernſte Ver⸗
ſicherung, daß in ** kein junger Mann dieſes
Nahmens ſey, wurde zwar anfänglich nicht gleich
geglaubt, doch ging das Korn des Zweifels, das er
ausſtreute, nicht verloren. Nach wenig Tagen kömmt
er abermahls wieder, winkt mit beſtürzter Miene
die Mutter abſeits, und entdeckt ihr, wie ſie und
ihr Kind ſchändlich getäuſcht und hintergangen ſind,
wie ich nicht Bergſtern, ſondern Eduard von ***
hieße, und wie meine äußerſt ſtolze und einflußrei-
che Familie nimmermehr einwilligen würde in.
eine Verbindung mit einer Bürgerlichen, ich aber
ganz in der Macht und Gewalt der Meinigen ſtände,
die gewiß nicht verſäumen würden, ihre Rache an.
der zu nehmen, die einen langgehegten Plan ihnen
93
zu zerſtören drohe, indem, feit langer Zeit ſchon
mit einer Verwandten verlobt, meine Einwilli—
gung ich gegeben hätte, und er daher glaube, daß eine
Verbindung mit ihrer Tochter nie ernſtlich mein
Wille geweſen wäre, da, länger er mich ſchon ken—
nend, meine Grundſätze ihm ſtets nicht die beſten
geſchienen hätten.
Man denke der Mutter Beſtürzung, ihren
Schmerz; man denke ſich Mariens Lage, die im⸗
mer noch zweifelnd, immer noch meinem Herzen,
meiner Liebe vertrauend, vergebens verſucht, mich
zu vertheidigen. Noch hat fie ja meine Briefe, aus
denen ſo unverkennbar mein Gefühl ſpricht. Aber
bald ſollte auch dieſer letzte Troſt ihr ſchwinden.
Sie bleiben aus, und nun erſt fühlt mit Entſetzen
die Unglückliche, daß doch wohl ſie hintergangen,
ſie furchtbar getäuſcht iſt. Sie ſchreibt an mich,
und Thränen mehr als Worte mahlen mir ihren
Gram; doch ich erhalte ihre Briefe nicht mehr. Zu
gut waren die Maßregeln genommen, als daß ſie
mich noch erreichen konnten. Endlich, nach Wochen
langem Hoffen, nach mancher durchweinten Nacht,
kömmt ein Brief von mir. Es iſt meine Hand bis
auf die kleinſten Züge. Zitternd erbricht fie ihn,
wirft einen flüchtigen Blick hinein, und ſinkt mit eis
nem Schrey des höchſten Schmerzes der Mutter
ohnmächtig in die Arme.
Er war von Arlforts Fabrik, und man kaun
denken, was er enthielt,
94
Jetzt erwacht der gekränkten, der mißhandel⸗
ten Liebe ganzer Stolz und zu dem entſetzlichen
Gefühl ihrer Schmerzen geſellt ſich noch das: den
einſt Geliebten verachten zu müſſen. Hat früher
die Mutter nur gegen mich geſprochen, ſo iſt ſie es
nun, die im Bewußtſeyn ihrer Würde mich verdam—
men muß, und ihr weiches Engelherz ringt mit al:
len Kräften, ſelbſt das Andenken des Elenden zu
verbannen. War es möglich, ihrer fürchterlichen Lage
noch ein Gewicht mehr zu geben? und doch ſollte
ſie es noch empfinden. — Mein Onkel tritt, von
Arlfort begleitet, eines Nachmittags bey ihr ein,
und indem mit ſchonungsloſer Kälte er das unglück⸗
liche Mädchen betrachtet und anredet, entblödet er
ſich nicht, gleich einer gemeinen Buhlerinn ihr Geld
zu biethen, in fein und meinem Nahmen, daß diefe
Gegenden auf ewig fie verlaſſe. Dieß war zu viel.
Mit dem Aufwand der letzten Kräfte weißt, wie es
ſich gebührt, das niedere Anerbiethen ſie ab, in ihr
Herz aber ergoß ſich in dieſer Stunde des Todes
Keim, um bald in einem Jenſeits den Frieden ihr
finden zu laſſen, den der Mann ihrer Liebe auf Er—
den brach.
Den Vorſchlag, dieſe Gegenden zu verlaſſen,
nimmt ſie an, und Arlfort, der ganz in ihr und ih⸗
rer Mutter Vertrauen ſich eingeſchlichen, erbierhet
ſich, ſie in eine ſtille Gegend, wo Bekannte er hat,
zu bringen, und wo ſie, entfernt von mir, ruhig zu
‚sterben hofft. Die Anſtalten zur Reiſe ſind bald ge⸗
95
kroffen, der letzte Morgen ihres Aufenthalts in
Waldheim tagt, und Marie — ſo treu liebt ein
weiblich Herz — kann den ſchmerzlichen Genuß ſich
nicht verſagen, nur ein Mahl noch in dieſem Leben
die Stelle zu beſuchen, wo ſie mich zum erſten
Mahle ſah. Da erwacht mit erneuter Stärke mein
Bild, das Andenken der entflohenen Stunden in
ihrer wunden Bruſt, und vergebens ringen Abſcheu
und Verachtung, die ſtärkere Gottheit nieder zu
kämpfen; ſie hebt noch ein Mahl ſich ſiegend empor
und in dieſem Moment ſchreibt ſie mir die letzten
Zeilen, die günſtiger Zufall mir auch zuführt, die
aus meinem unſeligen Schlummer mich erwecken.
Dieß vernahm ich von der Mutter und bald
darauf auch von Marien.
Wo ſoll ich Worte nehmen, ihr Mächte des
Himmels, mein Wiederſehen zu ſchildern! Die im
Jugendglanze, mit blühenden Wanger ich verließ,
deren Augen mir wie Sonnen ſtrahlten, die wankte
jest, ein Schatten, den Tod auf dem blaſſen, ach,
noch immer ſchönen Geſicht mir entgegen, und ihr
Auge hatte kaum noch eine Thräne für den Wie:
dergefundenen. — 8
Doch ich eile über eine Periode meines Lebens
hinweg, in der alle Gefühle des Schmerzes zu—
gleich mein Herz beſtürmten, wo, wenn ein Augen⸗
blick einen Hoffnungsſchein mir ſchwach und ent-
fernt aufgehen ließ, der nächſte grauſam ihn wie⸗
der tödtete, wo ein uaunterbrochener Kampf. jeder
95
Gedauke meiner Seele war, und die zärtlichen,
milden Worte meiner Marie meinen Gram nur
mehrten, denn fie zeigten mir, was ich mit jedem
Tage zu verlieren erwarten mußte, was am näch—
ſten ich vielleicht ſchon im Grave nur noch ſuchen
durfte.
Meinen Bitten, meinem Willen gemäß, hatte
der Segen der Kirche uns verbunden, auf kurze
Zeit nur, denn, gleich als hätte dieſer ihr gefehlt
noch, um völlig gereinigt die Unſchuldsſeele vor den
Thron der unendlichen Liebe zu führen, trat den
dritten Tag darauf der ſtille Genius eines ewigen
Friedens zu ihrem Herzen, und hauchte von den
bleichen Lippen, deren letzter Ton mein Nahme noch
war, das Leben hinweg, ſo ſanft und leiſe, wie im
Abendwinde eine Frühlingsblüthe fällt. Mit ihm
zugleich die erſten Athemzüge eines Knaben, der,
Momente nur lebend, mit der Mutter entſchlief,
um an ihrer treuen Bruſt ewig zu ruhen.
6.
Es vergingen Wochen, eh' ich im Stande war,
mein Zimmer zu verlaſſenz Monathe, ehe Plan und
Kraft ich zu ſammeln vermochte, wohin ich mich be—
geben, was ich unternehmen wollte.
Wie oft hatte ich in dieſer Zeit den Tod ange—
fleht, mich zu befreyen, ihr mich nachzuführen, ohne
die das Leben eine Strafe, ein endloſes Elend mir
9 -
ſchien. Vor meinem durch fo viele Schmerzen ge—
beochenen Geiſte zogen in bunten grauenvollen Bil—
dern ſchreckliche Phantome vorüber. Laut klagte
ich mich als Mariens Mörder an, denn, hatte ich
ſie nicht aus ihrer friedlichen Stille geriſſen? War
mein Erſcheinen nicht der Wendepunet ihres Schick—
ſals geweſen? Hatte meine Gluth nicht den Brand
in die Blumenflur ihres Herzens geworfen? Hatte
das unſelige Verſchweigen meines Nahmens, mein
unbedachtes Vertrauen in die Redlichkeit eines Fal—
ſchen, nicht die Kataſtrophe herbeygeführt, die fe
verdarb? Und zu den Leiden meiner Bruſt geſell⸗—
ten ſich die Mahnungen des Gewiſſens, die, wie die
Geißeln der Furien, mein Inneres zerriſſen. O! es
iſt ein entſetzlich Gefühl: alles, was manliebt, alles,
woran das Herz ſich geſchloſſen hat mit allen Em—
pfindungen, im Grabe zu wiſſen; ſo verlaſſen, ſo
allein — fo gränzenlos allein zu ſtehen; aber dieſe
Nacht des Grames iſt ein Tag gegen die Finſter⸗
niß, gegen die Verzweiflung, die die Seele durch—
zuckt, wenn eine richtende Stimme unaufhörlich
einem zuruft: „Du biſt der Verderber, du biſt der
Mörder der Geliebten! —”
Der ſorgſamen, liebevollen Pflege von Ma⸗
riens Mutter verdanke ich die Wiederkehr meiner
Geſundheit; ihrer ſtrengen Beobachtung meiner
Perſon, daß in den Stunden meines an Wahnſinn
gränzenden Schmerzes ich nicht der Mörder mei⸗
nes eignen Ichs wurde.
Unterh. Bibi. 3. Jahrg. 2. BV. S
95
So wie meine Kräfte ſich wieder einſtellten,
fe ward das vorherrſchende Gefühl meiner Seele,
Rache an den Störern meines Glücks zu nehmen;
es war dieſer Gedanke ein Tropfen Troſt in mei:
nen Gram; er erhob ſich zum Zweck meines Lebens.“
Am Morgen meiner Abreiſe äußerte ich ihn
unverhohlen, gleich als ſollte, fo wie bey mir er in
die ja aller ihrer Freuden beraubte Bruſt der Mut—
ter Linderung träufeln, doch dieſe ſprach: „Wenn
Sie mich, wenn Sie das Andenken meiner Toch—
ter im Grabe ehren, die Ihnen ja im Leben doch ſo
lieb war, ſo laſſen Sie dieſe Ideen ſchwinden, die
nur, vermögen Abgeſchiedene das Thun und Trei⸗
ven der Lebenden zu ſehen, Marien auch noch jen⸗
ſeite Kummer erregen können. Sie ſah' es vor⸗
aus, daß Sie dieſen Entſchluß faſſen würden und
ſie beſtimmte daher dieſe Zeiten —“ hier übergab.
ſie mir ein Blatt — „die mit der ſchwindenden
Kraft ihres Lebens fie ſchrieb, für Sie. Nehmen
Sie, ich weiß, Mariens Gedächtniß iſt Ihnen zu
heilig, als daß ihren letzten Wunſch, ihre letzte fle
hende Bitte, Sie unerfüllt laſſen werden. Reiſen⸗
Sie mit Gott und mögen Sie nach Jahren, wenn
einſt Sie wiederkehren, wenn einſt der Schmerz
Ihrer Bruſt ſanfter und linder geworden iſt, auf.
mein und meiner Marie Ecab, oder — wenn ich
noch athme, an mein Herz, Sie ſchuldlos ſinken
können.“
Ich überlief die an mich gerichteten Worte Ma⸗
99°
riens, und wenn bey diefer Leſung mein Herz auf's
neue ſich ſeinen zerreißenden Gefühlen hingab, ſo
vermochte doch der heiße Durſt nach Vergeltung
nicht Stand zu halten gegen die Anklänge einer
Engelsſeele, die mit dem Troſt hinübergegangen
war, den Frieden noch auszuſäen im letzten Lebens⸗
blick, der ihres Daſeyns Bedingung war.
Ich gelobte ihrem Schatten das einzige Ge—
fühl zu opfern, das jetzt mich bewegt hatte, und fort,
ohne beſtimmten Plan, wohin? denn mir war es
gleich. end überall für mich nur Ode, eilte ich in
eine Welt, von der wenig anders als Schmerzen
ich kannte.
Ein ganzes Jahr beynahe brachte ich damit zu,
Deutſchland von einem Ende zum andern zu durch—
ziehen. Ach! wenn eine neue Gegend mich aufnahm,
wenn am dämmernden Horizont die Thürme einer
neuen Stadt aufſtiegen, dann wagte ich wohl zu—
weilen zu hoffen: „Hier magſt du ja Hohl Ruhe fin:
den: hier mag dir eine Friedensſtunde wohl wer—
den!“ Umſonſt! Überall folgte mir das Gefühl
meines Verluſtes, überaft ſah ich mich allein und
auch nicht ein flüchtiges Intereſſe konnte mir die
Schönheit der Natur oder der Kunſt abgewinnen.
Die Verbindung mit meinen Angehörigen hatte
ich gänzlich abgebrochen. Wie hätte ich auch die
Züge von Händen leſen können, die mir ja alles
nahmen: Der Gedanke an mein Vaterland, fe lieb
und theuer ſonſt dem Herzen, erfüllte mich mit
* E 2
a
Grauen und eine ſtarre Eiſeskälte hatte angefangen,
wie mit einer Rinde mich zu umziehen, ſeit dem ich
mich verpflichtet hatte, die Ideen einer gerechten
Vergeltung zu unterdrücken: jo, daß das Äußere
alles fait spurlos an mir vorüber ging, und ich
kann wohl ſagen, daß ich die Nachricht von der
Verbindung meiner Couſine Amalie mit Arlfort,
die in dieſer Zeit ich empfing, und die man doch
ſchicklicher Weiſe glaubte, mir melden zu müſſen,
mit einer Gleichgültigkeit empfing, als ware die
Rede von ein Paar Menſchen im Monde. Sie diente
nur dazu, einen Schluſſel zu Aelforts ſchändlichem
Benehmen mir zu geben, der, indem er meiner Fa-
milie den Dienſt erzeigte, durch feine Verrätherey
vor einer, von ihnen ſo tief verabſcheuten Mißver—
bindung, fie zu ſichern, ſich die Hand Amaliens und
den Einfluß ihres Vaters am ** ſchen Hofe erwer⸗
ben wollte; Dinge, die ihm nöthig zu ſeyn ſchie⸗
nen, feine durch mancherley Verſchwendungen zer⸗
rütteten Umſtände zu beſſern, und fi. in den Zir⸗
keln der großen Welt zu erhalten.
Mein Weg brachte mich endlich nach Wien.
Kalt und theilnahmlos, wie gewöhnlich, erneuerte
ich auch hier meine jetzige Art zu leben, d. h. ich
ſaß Tage lang einſam, mit nichts beſchäftigt, für
nichts mich intereſſirend, in dumpfem Hinbrüten
auf meinem Zimmer, oder ich trieb eben fo zweck⸗
als planlos in den Straßen und öffentlichen Orten
mich unher, um — mit keinem zu ſprechen, an
—
101
keinen mich zu ſchließen und jeden Abend mit dem—
ſelben Gefühl der Leere, des Schmerzes, dem hei—
ßen Wunſch: erwachteſt du doch nicht wieder! mich
niederzulegen. So war ich auch eines Tages nach
dem Prater gegangen; da aber die Menge fröhli—
cher, lebensluſtiger Menſchen, auf die mein Blick
hier traf, mich anfing zu beläſtigen, ſo ſuchte bald
ich mie ein einſameres Plätzchen, wo weniger
geſtört durch das Anſehen Glücklicher ich war. Ich
hatte noch nicht lange auf einer Bank Platz genom—
men, als ein junger Mann von meinen Jahren
langſam den Weg herabkam, einige Mahl an mir
vorüberging und dann neben mir ſich niederließ. So
wie ich, überließ er ſich hier bald ſeinem Ideengan⸗
ge, und indem mit dem Stock er Figuren und Nah:
men in den Sand ſchrieb, ſchienen wir beyde unſer
beyderſeitiges Daſeyn zu vergeſſen. Ich hatte den Tag
vorher in einer Sammlung italieniſcher Dichter ge—
blättert und die Sehnſucht eines Verbannten nach
ſeinem Vaterlande von Monti hatte mich beſonders
angeſprochen. War ich nicht auch ein Verbannter,
der nach feinem Voterlande, nach den Gefilden des
Friedens ſeufzte? Meine Gedanken fallen jetzt auf
dieß Gedicht, und mir unbewuüßt recitire ich laut den
Schluß einer Strophe: |
— — — Trema in petto é si confonde,
Lalma opressa d’al piaser. —
202
Bey dieſen Worten ſieht mein Nachbar auf;
es waren die Tine ſeines Heimathlaudes, die nie
verfehlen, in der Fremde zum Herzen zu ſprechen.
Er redet mich in ſeiner Mutterſprache an und
ich antworte ihm. So entſpinnt ſich ein Geſpräch
zwiſchen uns, das nach und nach mir anfängt eini⸗
ge Theilnahme abzugewinnen, durch die Wendung,
die es bald nimmt. Der bittere Groll gegen die
Menſchen, der in meiner Sruſt angefangen hat zu
wurzeln, findet hier eine ihm verwandte Saite,
die harmoniſch zu ihm tönt, den beißenden, verach—
tenden Spott über das Leben und feine Verhältniſſe.
Seit langer Zeit zum erſten Mahl fange ich an mit
Wärme zu reden und, indem meine Anſichten mit
Wärme aufgenommen und erwiedert werden, fängt
nein Herz ſich an zu öffnen, und die Zeit, die ſo
furchtbar bleyern mir bisher ſchlich, entrinnt endlich
einmahl wieder mir ſchnell und unbewußt.
Es hatte dieſe Unterredung mich zu wohlthätig
angeſprochen, als daß der Wunſch in mir nicht hät—
te entſtehen ſollen, ſie zu erneuern, und ich frage
beym Gehen meinen Geſellſchafter nach feinen Nah—
men, indem den meinigen ich ihm ſage, und unver:
hohlen äußere, wie lieb mir die Fortſetzung unſerer
Bekanntſchaft ſeyn wird. „Es iſt mir angenehm,“ er—
wiederte er, „wenn als Menſch ich Ihr Intereſſe er—
regt habe, denn anders dürfte ich es wohl nicht er⸗
werben, ich bin weder reich noch vornehm, noch ein—
flußreich, und kann daher keinem nützen. Wollen
109
Sie mich aber beſuchen um mein Selbſt willen, fo
werden Sie mir willkommen ſeyn; mein Nahme iſt
Francesco, mein Stand ein Muſieus, der auf feine
Kunſt die Welt durchzieht.“
Ich dars tte ihm für die Bewilligung meines Be—
gehrs und nahm mir vor, ſchon am nächſten Tage ſie
zu benutzen.
Als ich meinem Vorſatz getreu mich in Franz
cesco's Wohnung einfinde, höre ich eine weibliche
Stimme, die zu einem Pianoforte in den reinſten
Silberklängen ſingt, mir entgegenſchallen. Ich hor⸗
che einige Augenblicke den ſchönen, ſonoren Tönen
zu, und als der Geſang geendet, klopfe ich an die
Thür. Da tritt eine ſchlanke, zarte Geſtalt, das
wahre Abbild ihres ſchönen vaterländiſchen Himmels,
Gluth und Milde, mir entgegen und fragt nach mei—
nem Begehren. Ich nenne dieß und meinen Nahmen,
und das Madchen erwiedert freundlich mir: „Ach!
mein Bruder hat mir von Ihnen erzählt; er iſt jetzt
ausgegangen, doch wird er bald wiederkehren, wol⸗
len Sie ihn erwarten? Dieß thue ich, und Chia⸗
ra — dieß war, wie nachher ich vernahm, ihr
Nahme — ſetzt ſich ohne ſich weiter ſonderlich um
mich zu befümmera, wieder zum Inſtrument und
fängt nach einigen Fragen, die ich ziemlich einſyl⸗
big beantworte, ihre muſikaltſche Unterhalrung wie⸗
der an.
Gleichgültig gegen Alles ſeit Mariens Verluſt,
hatte es in der Natur meiner e ge⸗
101
legen, beſonders zurückhaltend gegen ihr Geſchlecht
zu ſeyn, ja deſſen Umgang zu fliehen, gleich als
träten, beym Erblicken eines weiblichen Weſens, die
alten Bilder meiner Schmerzen in erneuten Farben
vor den Sinn. Während Chiara mit Fertigkeit und
Geſchmack präludirte, war ich in ein Fenſter getre—
‚ten, fo daß ich ihr den Rücken zuwende, denn ich
nochte eine Geſtalt nicht ſehen, die in Wuchs und
Jorm meinem betrauerten Idole glich; da tönt nach
einigen Paſſagen ihre volle, reine Stimme, wie ei⸗
nes Engels Ruf in der Wüſte, zu meinen Ohren,
und ich wende mich, wahrlich unwillkuͤhrlich, mit
dem Geſicht nach der Sängerinn hin. Ich war im⸗
mer leidenſchaftlicher Liebhaber der ſanfteſten aller
Künſte geweſen, die ja zu jedem fühlenden Gemüth
mit fo holdem Zauber ſpricht, und die jetzt zum er=
ſten Mahl ſeit jener trüben Periode, ihren Einfluß
auf mich zeigt. So wie die Töne ſich an einander rei⸗
hen, ſcheint die Rinde der Erſtarrung von meinem
Herzen wegzuſchmelzen, und eine lange nicht mehr
gekannte weiche Wehmuth geht in mir auf, die mich
vergeſſen läßt, daß nicht allein ich bin. Ich fühle mein
Auge naß werden; indem ich mich dem Zauber der
Klänge hingebe, iſt es mir, als ſchwebe Mariens ges
liebter Schatten meinem Geiſte vorüber, ſo mild
und ſanft, wie in den Blüthentagen unſerer Liebe
fie mir erſchien, und mein Herz fängt an den Ges
danken zu faſſen: daß doch wohl fie mir nicht zür⸗
ne, daß, wenn durch meine Schuld ihr ſtilles Leben
105
vach, ich doch mit treuer Liebe an ihr hing. Ein
Troſt, der meiner Bruſt bisher fremd war, mit deſ—
ſem erſten Einziehen in ihr das Leben ſich mir auch
wieder anfing zu ſchmücken.
Chiara hatte aufgehört zu ſpielen; ich ſtand
noch in halb vorgebogener Stellung, verloren in
meinen Ideen, während Thränen uber meine Wan—
gen herabrannen; da trat ſie zu mir und ſprach
mit unendlich milder Stimme: „Sie ſind wohl un—
glücklich?“
Wie aus einem Traum erwacht, ſtarrte ich ſie
an, und meinen Lippen entfuhr unwillkührlich der
Ausruf: „Marie!“ — Mit dem weichen Blick des
Mitleids betrachtete mich das Mädchen eine Weile,
dann ſagte fie: „Sie lieben ohne Hoffnung?” „Ohne
Hoffnung!“ ſeufzte ich ihr nach und deutete auf die
Erde. Da ſah' ich, wie ihre ſchönen Augen vom Thau
des Mitgefühls ſich netzten, wie ihre Hand ſie auf
ihr Herz drückte, und ihr Mund leiſe liſpelte: „Ar—
mer Unglücklicher!“ und die ſchmerzlich ſüße Wonne,
die Theilnahme erregt, durchzittert meine Seele.
Mein gerührter Blick nur dankte ihr, als ihr
Bruder ins Zimmer mit einer Eil und Verwirrung
trat, die ſelbſt mir nicht entging. „Chiara,“ ruft er
ſeiner Schweſter zu, „er iſt hier!“ und ich ſehe dieſe,
plotzlich erblaſſend, die Verwirrung ihres Bruders
theilen und mit einer ſchmerzlichen Bewegung ſich
abwenden. „Verzeihen Sie, ſagt mir hierauf Fran⸗
cesco, „daß in dieſem Augenblick gerade — — Ein
106
Vorfall — — Meine Schweſter — — „Ich will nicht
ſtören,“ entgegne ich und greife nach meinem Hut,
„wir fehen uns wohl wieder.“ „Das meine ich nicht,
ſpricht Francesco, „bleiben Sie Herr von **, wenn
Geſchäfte nicht Sie forttreiben; es dürfte ohnedieß
das letzte Mahl ſeyn, daß wir uns ſehen. Nicht wahr,
Chiara?“ wendet er ſich fragend zu dem Mädchen.
„Wohl,“ erwiedert dieſe mit einem Seufzer und ſucht
umſonſt die Bewegung ihrer Seele zu verbergen.
„Wir reifen alſo Chiara?“ fährt Francesco fort. „Du
zweifelteſt doch an mir nicht,“ antwortet ihm dieſe,
und helle Thränen entſtürzen ihren Augen. Da
ſchlägt der Bruder ſeinen Arm um ſie und ſagt ge—
rührt: „Gutes, unglückliches Mädchen!“ dann gegen
mich ſich wendend fährt er ſort: „Wir verlaſſen heut
noch Wien, iſt es Ihnen nicht zuwider, die wenigen
Stunden in Geſellſchaft von Menſchen zuzubringen,
die nicht glücklich, aber ſchuldlos ſind, ſo werden Sie
uns eine Freude machen; denn es iſt angenehm, die
Augenblicke des Scheidens noch ſich zu ſchmücken,
und wir glauben, daß Sie zu den Edlen Ihres
Standes gehören, nicht wahr Chiara?“ Das Mäd—
chen nickt ein beyfällig Ja, und ich gewähre gern
einen Wunſch, der mein eigener war, denn zu bey—
den Geſchwiſtern fühle ich mich, ſeit lange zum erſten
Mahl, mit wohlthuendem Gefühl hingezogen.
Während Chiara anfängt Anſtalten zur Reiſe
zu treffen, wobey oft ein halbunterdrückter Seuf—
zer ihr entſchlüpft und dann des Bruders freundli⸗
—
107
cher Blick ihr Muth einzuſprechen ſcheint, hat mit
mir er ein Geſpräch über feine Kunſt angeknüpft, und
des Vorhergegangenen wird nicht gedacht. Plötzlich
frage ich ihn: „Wohin wird Ihr Weg Sie jetzt füh—
ven ?” Er ſieht mich einen Augenblick prüfend an,
dann erwiedert er: „Ich weiß es nicht.“ „Es iſt nicht
Neugier,” fahre ich fort, „die dieſe Frage mich thun
läßt; es iſt der Wunſch, Menſchen, die mir lieb ge—
worden ſind, einmahl wieder zu ſehen, denn auch
ich, wie Sie, habe kein beſtimmtes Ziel meiner Reiſen,
und bleibe nicht gern lange an einem Ort.“ „Wir has
ben uns zufällig gefunden, antwortet mir Fran—
cesco, „und der Augenblick ſcheidet uns wieder; doch
was hindert uns zu glauben, daß eben ſo zum zwey—
ten Mahl wir uns wieder treffen können, denn in
Wahrheit, ich kann Ihnen nicht beitimmen, wohin
wir uns wenden werden, doch — es iſt möglich,
daß die Schweiz“ — „Die Schweiz !’ ruft Chiara mit
einem verklärten Blick der Freude aus,, die Schweiz!“
„Habe ich dich errathen?' ſagt lächelnd der Bruder, und
eine ſtumme Pantomime Chiarens beantwortet ſeine
Frage
„Die Schweiz, wiederhohle ich langſam,, was
hält mich ab auch dahin zu gehen? Reiſen wir
ee den ich glauße, gleiches Schickſal verbindet
uns.
„Sie irren ſich vielleicht hierin,“ erwiedert mir
Francesco, „und ich rathe Ihnen nicht dazu, Ibr
Loos an Menſchen zu knüpfen, denen die geheime
4
108
Macht, die unſere Tage lenkt, nicht gewogen zu ſeyn
ſcheint. Sie kennen uns überdiez zu wenig und”
— — — „Ich ehre Ihre Geheimniſſe,“ entgegne ich,
und es ſey fern, mich aufzudrängen. Erlauben Sie,
daß ich Ihnen mittheile, was mich ſo unſtät und
flüchtig umhertreibt, vielleicht gewinnt mir dieß das
Vertrauen, was dem Fremden Sie ſonſt nicht ſchen—
ken können — wenigſtens wird Ihre Theilnahme mir
eine Minute erhellen.“ i
Eine freundliche und herzliche Bejahung der
Geſchwiſter war die Antwort, und ich fange an, nach
einer flüchtigen Schilderung meiner früheren Um—
gebungen und Verhältniſſe, den Verlauf meiner
letzten zwey Jahre ihnen zu erzählen, meine Luſt und
mein Leid. Dieſe Erinnerung reißt alle alten Schmer—
zen in meiner Bruſt wieder auf, und indem ich noch
einmahl durchempfinde, was in jener Zeit mein Herz
bewegte, ſah in den Augen meiner Hörer ich ihr
Mitgefühl, das nicht verfehlt, wohlthätig mir zuzu—
ſprechen. Als ich den Nahmen Arlfort nenne, über—
zieht eine plötzliche Bläſſe Chiarens ſchönes Geſicht,
fie lehnt ſich an ihren Bruder, wie die ſchwache
Rebe an die Alme ſich ſtützt, und dieſer gibt ihr
einen bedeutenden Wink. Mir war dieß nicht ent⸗
gangen und ich halte an, Francesco bittet mich
aber fortzufahren und ſelbſt Chiara ſtimmt in dieſen
Wunſch.
So wie Arlfort im Laufe der Erzählung meiner
Geſchichte bedeutender wird, verderblicher in den
465
Gang meines Lebens eingreift, fo ſpannt ſich das
Intereſſe, die Bewegung der Geſchwiſter, beſonders
Chiarens, und wie ich nun geendet, wie ich umſonſt
verſucht habe, den Zuſtand meiner Seele zu ſchildern,
deutlicher gemacht durch den ſichtbaren Schmerz, der
mein Inneres durchtobt, als durch Worte, ſteht Fran—
cesco auf, umarmt mich und ſagt mir leiſe: „Un⸗
glücksbruder meiner Chiara, Ihr Troſt ſey dieſes
Mädchens Gram,“ und laut fährt er fort: „Wenn noch
Ihr erſter Vorſatz Sie belebt, ſo ſage ich Ihnen,
daß wir jetzt wüuſchen, uns nicht fo bald von Jhnen
trennen zu dürfen.“
Ich wende mich zu Chiaren, ihre Meinung in
ihrega Augen zu leſen; fie verſteht mich und ihr fees
lenvoller Blick beſtätigt des Bruders Wort.
Mit Eile entferne ich mich nun, meine Abreiſe zu
ordnen und ehe noch der Abend dämmert, liegen
Wiens Thürme ſchon hinter uns, find wir auf dem
Wege zum uralten Lande der Freyheit, der erhabenſt—
romantiſchen Natur.
I’
„Sie werden wünſchen zu wiſſen,“ fängt nach eis
nigen Reiſetagen Francesco eines Abends, da ich
mit ihm allein bin, an, „was meine Schweſter und
mich bewog, ſo ſchnell von Wien aufzubrechen,
wo länger zu verweilen unfere erſte Abſicht war,
ind woher, die Bewegung Chiarens bey Nen—
110
nung eines Nahmens kam, deſſen Beſitzer fo un
glücklich in Ihr Schickſal griff. Ihr Vertrauen hat
dem unſern die Bahn gebrochen, es iſt Chiarens
Wunſch, wenn unſere Vergangenheit ich Ihnen mit⸗
theile.“ d
„Unſer Vater hatte früher in der Marine Vene—
digs gedient; die Bekanntſchaft, die glühende Liebe
zu unſerer Mutter, der Tochter einer der älteſten
ſenatoriſchen Familien der Republik, trieb ihn, dieſe
Dienſte zu verlaſſen, da innerhalb dem Gebiethe der
Lagunenſtadt er nimmermehr darauf rechnen durfte,
als ein armer Familienloſer, die Hand Eleonorens
von ihren ſtolzen Verwandten zu erhalten. Er ging
nach Raguſa, ſuchte und fand eine kleine Anſtellung
auf den Schiffen dieſes Freyſtaats und entführte
unterm Schirm der Nacht in feine neue Heimath
»die Geliebte. Wenige glückliche Ehejahre waren un—
ſeren Altern beſchieden. Die Geburt Chiarens, die
zwey Jahr jünger denn ich iſt, koſtete Eleonoren das
Leben, und wir beyde wurden ſchon damahls Wai—
ſen, da unſer Vater, faſt immer auf dem Meere,
wenig Zeit behielt, anders als durch die dritte Hand
für uns zu ſorgen. Als ich acht, Chiara ſechs Jahre
zählte, entriß aber das Schickſal uns auch ihn, die
einzige Stütze, die in der Welt wir hatten. Unſer
Vater fiel unter dem Dolchſtoß eines venetianifchen
Bravo, den ſeiner Gattinn Familie gedungen hatte,
die den Flecken, den ihrer alten Geburt er angehan—
gen, ihm nicht verzeihen konnte. Wir waren zu
111
jung, kannten unſern Vater zu wenig, als daß dieß
Ereigniß uns ſehr hätte beugen ſollen, und die
glückliche Unbefangenheit unſerer Jahre ließ uns
nicht bemerken, wie ſehr der Tod unſers einzigen
Verſorgers uns den Stürmen des Lebens ausſetzte.
Da ohne alles Vermögen wir waren, der wenige
Schmuck unſerer Mutter aber eben hinreichen moch—
te, die gerade fällige Penſion in der Erziehungs⸗
anſtalt, worin wir uns befanden, zu bezahlen, ſo
übergab deren Vorſteher uns den Händen der Re—
publik zur weitern Verſorgung. In Betracht der zwar
nicht ſehr langen, aber treuen Dienſte unſeres Va—
ters that dieſe ein Übriges an uns Berlaffenen, gab
mich in ein Klofter, Chiaren aber nahm ſich die Witz
we eines reichen Patriziers an und verſprach ihr Mut—
terſtelle zu vertreten.
„Es war ohne Zweifel die Abſicht der frommen
Brüder, in deren Schooß ich kam, ein würdiges Glied
ihres Ordens aus mir zu bilden, wozu die Leichtig—
keit, mit der ich lernte, mein gehorſames Betragen
und die gänzliche Verlaſſenheit von der Welt, in der
ich war, fie berechtigten; doch konnte mit zunehmen—
den Jahren meinem lebhaſten Gemüth ein Stand
nicht zuſagen, der, auf ſtrenge Regeln ſich beſchrän—
kend, dieſem fo enge Gränzen ſetzte. Meine anfangs
ſich ſo ſchön äußernde Begierde nach dem Wiſſen
klöſterlicher Gelehrſamkeit verlor ſich nach und nach,
und es trat dafür der Sinn für meine Kunſt an
die Stelle, der bald bey der Gelegenheit ihn auszu—
a
a ur
r m.
E
112
bilden, die ſich mir zeigte, mir alles andere vergef
fen ließ.
„Wer die Einrichtung der Klöſter, beſonders
der meiner Nation kennt, wird wiſſen, wie ſehr in
ihnen die Muſtk, als Schmückerinn eines feyerlichen
Cultus, gepflegt wird, und wie ſelten eins iſt, in
dem nicht einige Glieder des frommen Vereins als
Meiſter dieſer holden Kunſt glänzen. Dieß war
auch der Fall in dem, wohin mein Geſchick mich ge—
racht. Der Bruder Geraldo, einer der aälteſten
und ehrwürdigſten des Hauſes, trieb als Lieblings—
beſchaftigung das Studium und die Ausübung der
Muſik, und beſorgte gewöhnlich die Anordnung und
Direction der an den Feſttagen üblichen Oratorien.
Ihm war meine Neigung zu feinem Fach nicht ent—
gangen, der Eindruck nicht, den die Harmonie der
Töne auf meine Seele machte; er nahm von da an
ſich meiner Erziehung und Ausbildung an, und mein
Eifer belohnte ſeine Mühe.“
„Meine Schweſter ſah' ich nur ſelten, doch vergönn—
te man mir dann und wann ſie zu beſuchen und —
obgleich faſt immer getrennt, hingen doch mit recht
inniger Liebe unſere Herzen an einander, ſo daß für
uns beyde ein ſolcher Tag des Sehens immer ein
recht heiteres Freudenfeſt war.“
„So hatte ich mein ſechzehntes Jahr erreicht,
als der Tod mir meinen Schützer Lehrer und Freund,
Geroldo, nahm und mich zum zweyten Mahl zur
Waiſe machte, denn der Bruder Ignatio, der dem
—
113
Verſtorbenen in feiner Stelle folgte, war nicht der
Mann, mie ihn vergeſſen zu machen, meine Liebe und
mein Vertrauen ſich zu erwerben; im Gegentheil
ſing ſeine oft unbillig harte Behandlung an, den
Gedanken in mir zu befeſtigen, mein ſtilles Kloſter
zu verlaſſen, um in einer Welt, die mit allen glän⸗
zenden Farbenzugendlicher Phantaſie ich mir mahlte,
mein Glück zu ſuchen.“
„Meine Unerfahrenheit beredete mich leicht, mei—
ne damahls erſt keimende Geſchicklichkeit und Talent
für hinreichend zu halten, mir fortzuhelfen, und ich
vertraute Chiaren, bey unſerer erſten Zuſammen⸗
kunft, wie ich geſonnen ſey, mich heimlich zu ent-
fernen, da ich an der Einwilligung der frommen
Brüder hierzu verzweifelte. Meine Schweſter hatte
mich zu lieb, um ohne Schmerzen dieſen Entſchluß
zu vernehmen, doch war auch ſie zu wenig mit dem
Gange der Welt bekannt, um die Gefahren einzuſe—
hen, in die ich mich durch einen ſo übereilten Schritt
ſtürzen konnte, als daß ſie ſehr verſucht hätte, von
dem, was ich mein Glück nannte, mich abzuhalten;
und ſo führte ich bald darauf meinen Vorſatz aus,
und verließ meines Kloſters ſtille Mauern, mit 1
nigen Liren, dem Beſtand von Chiarens kleiner
Gele, meiner Violine, einem Packet Muſikalien
und vielen Hoffnungen ausgerüſtet.“
„Die erſtͤn Tage nur eilte ich, fo lange ich nähm⸗
lich glaubte in Gefahr zu ſeyn, eingebhohlt zu wer⸗
den; dann ließ ich mir Zeit und zog fröhlich und
114 0
wohlgemuth meine Straße. Mein Geldvorrath war
gar bald erſchöpft, doch dieß kümmerte mich wenig,
ich verließ mich auf die Madonna, die heilige Aga—
tha, und nebenbey ein wenig auf Gott, und meine
Erwartungen täuſchten mich nicht. Hungerte mich
oder bedurfte ich eines Nachtlagers, ſo trat ich in
das erſte beſte Haus, gleich viel Villa oder Hütte,
ſpielte im Nahmen der Himmelsmutter oder ſonſt
einer Heiligen ein Stück aus einer Miſſa, oder
eine eigene Phantaſie, und nie wurde auf dieſe
Anweiſung dem jungen Pilger Dach und Labung
verſagt.“
„So war ich die dalmatiſchen Küſtenländer durch—
zogen, über die juliſchen Alpen in die Lombardey
gelangt und bis Florenz gekommen. Eines Tages
ſtelle ich mich an den Eingang eines Pallaſtes und
fange an auf meiner Geige zu phantaſiren, in der
Hoffnung, den Bedarf des Tages mir dadurch zu er—
werben. Da öffnet ſich, nachdem ich einige Tacte
geſpielt habe, über mir ein Fenſter, ich blicke auf
und ſehe ein jugendliches Mädchengeſicht, die mit
ſichtbarem Wohlgefallen meinen Tönen horcht. Der
uuverkennbare Beyfall, den mein Spiel bey ihr fin—
det, ſchmeichelt mir; ich fühle zum erſten Mahl das
ſüßbelohnende Gefühl, das die Bruſt des Künſtlers
durchdringt, wenn Anerkennung ſeinem Talente
wird, und ich ſtrebe mit aller Wärme meines Gei—
fies, mich deſſen würdig zu machen, immer unvers
wandt die Augen nach dem freundlichen Mädchen
—
145
gerichtet. Einen Augenblick entfernt ſie ſich vom
Fenſter, dann kommt ſie in Begleitung eines ältli—
chen Herrn, ihres Vaters, wieder zum Vorſchein,
und auch dieſem ſcheint mein Spiel zu behagen. Als
ich endlich endige, ſah ich, daß das Mädchen wie
bittend zu dem alten Herrn ſich wendet, dieſer lä—
chelnd bejaht, und gleich darauf erſcheint ein Diener,
beauftragt, feiner Herrſchaft mich vorzuführen. Ich
werde durch einige prächtige Zimmer geführt, deren
nie geſehener Glanz mir einen ungeheuren Begriff von
der Macht und dem Reichthum ihres Beſitzers gibt,
und gelange ganz erfüllt von ſtaunender Bewunde—
rung, vor ih.“
„Die offene, naive Art, mit der ich feine Fra⸗
gen beantworte, gefällt ihm, und bald weiß er
meine ganze Seſchichte. Auf feine Frage: wohin
und was ich denn in Zukunft wollte, erwiedere ich
treuherzig, ich wüßte es nicht, und dieſe Unbefan—
genheit entlockt ihm ein Lächeln.“ „Willſt du bey mir
bleiben,“ ſagt er mir nach einigem Nachſinnen.
„Nein,“ entgegne ich, „ich will kein Bedienter ſeyn.
„Das ſollſt du auch nicht,“ fährt er fort, „du kannſt
einen platz in meiner Hauscapelle erhalten, wo
du Gelegenheit haben wieſt, dein Talent weiter aus—
zubilden. ”
„Dieß leuchtet mir ein, und ich nehme fein groß=
üthiges Anerbiethen an. Von nun an widme ich mei⸗
ne Zeit ganz der Vervollkommnung in meiner Kunſt
und mein ſich mehr und mehr durch große Muſter
116
geleäutertes und gebildetes Talent verſpricht mir eine
ehrenvolle und freye Selbſtſtändigkeit für die Zu⸗
kunft.“
„Marcheſe S“** hatte außer der vorhin erwähn⸗
ten Tochter, Roſalie, einen Sohn, Guido, mit
dem bald, in gleichen Jahren mit ihm ſtehend, eine
enge Bekanntſchaft ich ſchloß. Der alte Herr war
ein ſtrenger Vater, beſonders gegen Guido, deſſen
sft in mancherley Ausſchweifungen ausartende Leb—
haftigkeit ihm Verdruß erregte und er manches
Mahl ſeines ganzen Anſehens bedurfte, den ſich
leichtſinnig in Gefahr ſtürzenden Jüngling heraus
zu ziehen. Es dauerte nicht lange, ſo war ich auf
dieſer eben nicht lobenswürdigen Bahn Guido's
treuer Gefährte, und da ſo leicht es ihm nicht an
Geld fehlte, indem die ſchweſterliche Liebe öfters ſei⸗
nen Bedürfniſſen abhalf, ſo iſt es leicht zu erach—
ten, daß in unſerm tollen übermuth wir manches
Abenteuer anzettelten und beſtanden, das leicht
uns hätte Geſundheit und Leben koſten können,
da in meinem Vaterlande, wofür Italien mir
immer gelten konnte, das Stilet ſehr häufig der
Velgelter jugendlicher Streiche iſt, und nur un⸗
ſerem mit Lift gepaarten Muth und dem ziemlis
chen Anhang junger Pflaſtertreter, den Guido ſich
erworben, verdanken wir die Befreyung von eini⸗
gen nahe über unſern Häuptern wegſchwebenden
Gefahren.“
„Ich hatte gleich nach der Aufnahme in des Mar⸗
117
cheſe Haus meiner Schweſter mein gäanftiges Geſchick
verkündet, und ſeit jener Zeit auch nicht verfehlt, ihr
öfter Nachricht von mir zu ertheilen.“
„Zwey Jahre mochte ich ungefähr in Florenz
ſeyn, als Chiara mir ſchreibt, ihre Wohlthäterinn
ey geſtorben und ihr plötzlich erfolgter Hintritt habe
ſie verhindert, für ihre Zukunft etwas zu thun. Ver:
laſſen, wie fie ſey, und arm, ſäghe ſie keinen andern
Weg in der Welt vor, ols in irgend einem Kloſter
den Schleyer zu neymen. Guido war gerade auf
meinem Zimmer, als dieſen Brief ich erhalte, und ich
theile ihm unbedenklich ſeinen Inhalt mit, der mich
betrübt. „Da fen Gott vor,” entgegnet er mir,, daß
deine Schweſter, die, wie du mir geſagt, jung und
ſchön if, ſich lebendig vergrabe; laß ſie herkommen.“
„Ich mache ihn aufmerkſam, wie mein Verdienſt
kaum hinreicht für meine Bedürniffe, und wie Chia⸗
ren es beſſer ſey, dem Himmel als den Menſchen
ihre wenig Ausſicht darbiethenden Tage zu weihen!“
„Du biſt ein Thor,” antwortet er mir, „laß mich nur
machen, ich werde mit Roſalien reden,“ und ſomit
lief er fort ohne mich weiter zu hören, und kam bald
mit der Nachricht zurück, daß diefe mich ſprechen
wolle. Indem er mich zu den Zimmern ſeiner Schwe⸗
ſter begleitet, fliſtert er mir zu: „Noſalie wird für
deine Schweſter ſorgen, denn ſie iſt dir herzlich gut,
das habe ich lange gemerkt, und ich wette, ſie nähme .
dich ein ganz Theil lieber zum Mann, als den alten
—
118
kachektiſchen Gbebglienen dem ſie bald ausgeliefert
werden wird.“
„Dieſe Mittheilung diente wahrlich nicht dazu,
die Schüchternheit zu vertreiben, die mich ſtets be—
fiel, wenn Roſalien ich mich nahte, noch ihr Nach⸗
ſatz von dem Chevalier, den recht innig ich haßte,
die Freude meiner Bruſt zu erhöhen. Begegneten
Noſaliens Augen zufällig einmahl meinen Blicken
die mit verſtohlener, mir ſelbſt unbekannter Sehns
ſucht ich ſo gern auf ihrer holden Geſtalt weilen ließ,
fo flohen ſcheu, wie verrathene Verbrecher, fie zur
Erde, um nach wenig Minuten von neuem den Ge⸗
genſtand ihrer Wünſche ſich zu ſuchen. Roſaliens
gleichfalls unſtäte Blicke, die zarte Röthe, die die
lieblichen Wangen überzog, ihr ſchnelles Wegwen—
den in ſolchen Momenten, hatte weine Unerfahren-
heit ſich als Zeichen von Zorn und Mißfallen ge—
dacht, und eine geraume Zeit verging dann immer,
ehe ich es wieder wagte, ins Angeſicht ihr zu ſehen.
Deſto eifriger war ich aber in Beſchauungen ver:
tieft, wenn unbemerkt von ihr ich mich glaubte,
und dieſe Minuten waren in jener Zeit die ſeligſten
meiner Genüſſe. Dennoch war ich weit entfernt zu
ahnen, daß das in meiner Bruſt erglimmende Ge:
fühl Liebe ſey; Anhänglichkeit, Dankbarkeit gegen
meine Bönnerinn nannte ich es, deren Vorwort ich
den Eintritt in dieß Haus, die Ausſichten, die für
mein übriges Leben dadurch ſich mir eröffnet hatten,
ja ſchuldig war.“
119
„angelangt vor feiner Schweſter Zimmer ſchibt
mich der leichtſinnig muthwillige Guide mit den
Worten in die Thür: „da haft du deinen Liebling,
Roſalie!“ und ſchließt dieſe, indem er draußen bleibt,
den Kammerjungfern einſtweilen einige Schwänke
vorzumachen, hinter mir. Es würde in der That
eine recht hübſche Aufgabe für einen Charakter—
mahler geweſen ſeyn, uns Beyde in dieſem Augen-
blick zu zeichnen, wie verwirrt, beſchämt, unwillig
über Guido's Unart, und doch ſo himmliſch lieb und
mild, Roſalie am Fenſter, ich an der Thür, ein
kreues Bild unſäglicher Angſt und Verlegenheit,
ſtehe; keines die Blicke zu erheben wagt, aus Furcht,
denen des Andern zu begegnen, im Herzen es doch
hoffend, wünſchend! keines ſpricht, und erwartet
doch, das Andere ſoll reden. Ich geſtehe, mein Muth
war völlig dahin, und unſere ſtatuenähnliche Stel—
lung dürfte ſich ſehr verlängert haben, hätte No—
ſalie nicht zuerſt das Stillſchweigen gebrochen, und
keiſe die Worte: „Ihre Schweſter, Francesco,“
hervorgehaucht. Bey der Erinnerung an Chiaren
kam wieder Leben in meine Bruſt, ich wußte, war—
um ich hier war, und nach einigen Minuten war
unſer Geſpräch in recht lebhaftem Gang. Nofalie
bittet mich, Chiara nach Florenz kon men zu laſſen,
wenn nicht beſondere Neigung zum abgeſchiedenen
Kloſterleben fie hat, und verſpricht, indem fie mir.
ein Beutelchen mit Zechinen in die Hand ſteckt, die
Reiſekoſten einer guten Schweſter zu beſtreiten, ihr
120 r
treue Freundinn und Schützerinn zu ſeyn. Die Be
rührung von Roſaliens Hand wirkt gleich dem
Schlage einer Elektriſirmaſchine auf meine Nerven,
durch die ein Gefühl ſich ergießt, das ſo mir gänz⸗
lich fremd war. Ich laſſe das Beutelchen fallen,
bücke mich aber ſogleich darnach, Roſalie auch; doch
fie verſieht's, ihr Fuß gleitet auf dem glatten Mar-
morboden aus, und indem ich fie auffangen will,
ruht die zärtliche Geſtalt an meiner Bruſt; ich fühl’
das Wehen ihres Athems, den Schlag ihres Her⸗
zens und — hätte die Hölle ſich gähnend vor mir
eröffnet mit allen ihren Schrecken, ſo hätte ich nicht
anders gekonnt — meine Lippen berühren die ihri—
gen; meine Adern durchrollen Flammen, ich drücke
fie. an mich mit der glühenden Kraft der Liebe;
„Francesco!“ ſtammelt ihr Mund unter meinen
Küſſen und ihre Arme umſchlingen einen Augenblick
im ſüßen Vergeſſen mich Glücklichen. —“
„Guido's im Vorzimmer ertönende Stimme
reißt uns aus einander. Lachend tritt er ein und
fragt: „Nu, wie iſt die Unterredung ausgefallen,
ich ſchwöre darauf, ihr habt verdammt wenig ge:
ſprochen; wird Chiara kommen? Ich bejahe es,
und er fährt fort: „Das iſt ſchön, ich werde mich
auch ſogleich, wie ſie ankommt, in ſie verlieben.
Santa Madonna, das kann Spaß geben, ich in
deine Schweſter und du in meine,” und ſo fährt er
fort, ohne ſich an unſre Verlegenheit, an Roſaliens
ernſtes Zürnen zu kehren, tauſenderley Poſſen, zu
121
ſprechen und zu treiben, bis er mich endlich unterm
Arm faßt, und mit den Worten zur Thüre zieht:
„Komm Francesco, geſtern hat mich Don Seba—
ſtiand, der Gauner, rein ausgeplündert; er geht
heut Abend zur Meſſe nach San Spirito, und du
ſollſt mir den frommen Mann im Dunklen mit
einigen Fußtritten regaliren helfen. Auf Wiederfe-
hen Schweſter ſey nicht böſe, ich bring' ihn dir
gelegentlich wohl wieder. Ach! per anima mia, bald
hätt' ich's vergeſſen. Du mußt mir Geld geben, ich
habe nicht einen Soldini, und muß doch ſeh'n, ob
ich nichts wieder gewinnen kann.“
„Den Überläftigen nur los zu werden, öffnet
Roſalie ihren kleinen Schatz, und ſo geht er, mich
forttreibend, mit mir ab, und ich muß, will ſeine
Gunſt ich nicht verſcherzen, ſeinen Spott auf mich
und Roſalien lenken, meinen ſüßen Träumen, die
wie heſperiſche Gärten golden vor dem Sinn mir
ſchweben, entſagen und in den Strudek leichtſinni—
ger Vergnügungen mich mit ihm ſtürzen.“
„Chiara, an die ich ſogleich geſchrieben, kam
endlich in Florenz an, und von dieſem Augenblick
ging ein neues Leben, eine ſchöne Blüthenzeit der
Lieb' und Luſt, ihrem glücklichen Bruder auf. Hatte
bisher ich Roſalien nur ſelten mich nahen können,
fo gab die Anweſenheit meiner Schweſter, die ihr,
faſt tägliche Geſellſchafterinn wor, mir Vorwand
genug, oft und zu ganzen Stunden in ihrer Nähe
zu ſeyn. Glückliche Momente! in denen, froh ge—
Unterh. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. .
122
mießend, eine roſige Gegenwart, die Zukunft, die
nur finſter ſeyn konnte, meinen Blicken entihwand.
und meinen nicht allein — auch Roſaliens, fo
gänzlich, daß das mit jedem fliehenden Tage nä⸗
hernde Ziel, wo ſie dem von ihrem Vater erkore—
nen Gemahl auf ewig Herz und Hand reichen ſollte,
uns gauz aus den Augen entwich.“
„Um dieſe Zeit kömmt ein fremder Reiſender,
mit Empfehlungsbriefen an den Marcheſe verſehen,
bey uns an. Es war Arlfort, derſelbe, den zu ih⸗
rem Unglück Ihr Herz Sie einſt öffneten. Sehr
bald entſteht zwiſchen ihm und Guido eine innige,
Vereinigung und Arlfort theilt fortan die Zerſtreuun⸗
gen, die bisher wir beyde allein aufſuchten. Die.
Lebhaftigkeit feines Witzes, feine Gewandtheit, fein,
Eingehen in alle noch ſo bizarren und waglichen
Ideen Guido's, macht ihn bald zum Führer und
Anordner unſerer Streifereyen, bey denen nur der
Reihifinn, mit welchem wir uns Ahndungen aus-
ſetzten, und die Verſchwendung, die Guido ſich zu
Schulden kommen läßt, Rüge verdienten, nicht un⸗
der ſonſtig Betragen, da mich meine Liebe ſchützt,
durch mich Guido zurückgehalten wird.“
» Arlfort bemerkte meine Schweſter bald, und,
— fen es, daß das jugendlich erblühende, von klö⸗
ſterlicher Schüchternheit umſchwebte Mädchen Ein⸗
druck auf ſein Herz macht; ſey es, daß nur flüchti⸗
Zer Sinnenreitz ihn antreibt — er nähert ſich ihr,
zeichnet fie aus, und indem von Liebe und Gluth,
123
er ſpricht, wird es ihm nicht ſchwer, unterſtützt von
feinem Benehmen und ſchöner Geſtalt, das uner-
fahrne Herz Chiarens zu beſtricken, eine heiße Lei-
denſchaft in ihre reine Bruſt zu pflanzen.“
„»Ich war zu ſehr mit mir ſelbſt, meiner Liebe
und meinem Glück beſchäftigt, als daß hiervon ich
hätte etwas ahnen ſollen, bis Chiara mir ſchwe⸗
ſterlichem Vertrauen und mädchenhaftem Jagen, es“
mir entdeckt.“
„So naht ſich uns die Zeit des Carnevals, jene‘
Periode fröhlich luſtiger Ausgelaſſenheit, wo Stand’
und Verbaltniſſe vergeſſend, alle Sorgen und Mür
heu des gewöhnlichen Lebens hinter ſich werfend,
ein allgemeiner Taumel lärmender Freude Alle zu
ergreifen ſcheint. Für Guido war dieß fo recht ein
Element, jene Wochen ihm der Aufruf zu den aus!
gelaſſenſten Schwänken. Als Arkequino ausſtaffirt,
ſtürmt er eines Abends in das Zimmer, wo wir,
Roſalie, Chiara, Arlfort und ich, im Geſpräch figen;
neckt und treibt uns ſo lange, bis uns alle ſein
phantaſtiſcher Taumel anſticht, und im aufſprudeln⸗⸗
den Muth der Luſtigkeit- die Frauenzimmer ſei—
nem Vorſchlag Gehör geben, in Charaktermasken
auf dem Piazza maggiore ſich ein Weilchen zu er
gehen. Es werden alle Anſtalten getroffen, und nach⸗
dem der Marcheſe zur Ruh, die Dienerſchaft bes >
ſeitigt iſt, fchlüpfen wir, ich Roſakien, Arlfort Chia
sen, am Arm, als Pantalon und Colombina
Brighella und Fiametta, gekleidet, durch eine Mes
32.
124
benpforte hinaus, unſer Arlequino voraus, der kei⸗
nen Vorübergehenden ungeneckt läßt.“
„Angelangt auf dem Hauptſammelplatz aller
Masken, umringt uns bald eine ſchau- und lach
luſtige, eben fo wunderlich, wie wir, angethane
Menge, end indem jeder hier in unzähligen Schwän—
ken feinen Witz und feine Laune zeigt, vergeht uns
wie Blitze ſchnell eine Stunde. Die Damen ver⸗
langen nach Haufe, aber weder ich noch die Andern
gedachten, ſo fruy eine Freude uns entziehen zu
laſſen, die fo fehr uns behagt, und leicht find die
Erſtern überreret, noch ein Stündchen zuzugeben.
Wir treten in die hellerleuchteten, mit Masken
überfüllten Kaffehhäuſer und Dfierien, und indem
in das Gedränge wir uns miſchen, kommen wir
unvermerkt von einander ab, ohne, nachdem das
gegenfeitige Verſchwinden wir bemerken, uns wie
der finden zu können.“
„Roſalien am Arm, bebend vor Freude und
Luſt, durchziehe ich noch einige Säle, und da unſer
Bemühen vergeblich it, unſere Gefährten wieder zu -
erblicken, Roſalie ſich aber ermüdet fühlt, fo führe
ich fie in ein, dem Geräuſch und Zugang weniger
ausgeſetztes Gemach. Glückliche, ſchoͤne Lebensmo—
mente! So warm und traulich hatte nie ſie an
mich ſich geſchmiegt, ſo rein von jeder trüben Mah⸗
nung nie ich ſie an mein klopfend Herz gedrückt,
denn hier war fie mir ja gleich, die Geliebte dem:
Webenden; hier war ja auf Minuten die finfire >
125
Scheidewand geſunken, die drohend zwiſchen uns
ſonſt ſtand. — Endlich entwindet ſie ſich mir, und
bittet mich, ſie nach Hauſe zu begleiten. Wir finden
Chiaren ſchon uns erwartend. Arlfort und Guido
hatten ſie zurückgebracht, ſich aber auf's neue
entfernt.“ ö
„Am andern Tag erzählt mir Chiara, wie Arl—
fort geſtern neuerdings mit Verſicherungen ſeiner
Liebe ſie erfreut, wie er ihr Hand und Herz auf
ewig angetragen, ſie das ihrige ihm geweiht habe.
Ich hatte keine Urfahe, in Arlforts Redlichkeit
Mißtrauen zu ſetzen. Er kannte unſern Urſprung,
unſere Armuth, aber auch unſere Rechtlichkeit und
mein und meiner Schweſter argwohnloſem Herzen
war der Gedanke fremd: an ein ſchändliches Spiel
mit den heiligſten Empfindungen. Ach! nur zu bald
ſollten wir Beyde aus unſern frohen Träumen ers
wachen, und — konnte vernünftiger Weiſe ich nichts
anderes vorausſehen, ſo traf der längſt erwartete
Schlag doch mich nicht minder als meine, den fro—
heiten Hoffnungen hingegebene, Schweſter. Uabe⸗
merkt, wie Glücklichen ja immer, war uns der
Frühling und Sommer vergangen und der Herbſt
nahte heran, als im Haufe des Marcheſe, die Ane
kunft des Chevalier **, des beſtimmten Bräuti⸗
gams Roſaliens, bekannt gemacht wurde, und daß
binnen kurzem die Vermählung aefenert werden
ſolle. Darf ich erſt noch mein, darf ich der unglück⸗
lichen Rofalie Gefühl ſchildern, die im blühenden
426
„Jugendlenze, mit einem heißen Herzen voll Liebe
in die Arme eines Mannes geliefert werden ſollte,
der ihr Großvater ſeyn konnte, deſſen bekannter
Charakter, die Eiferſucht eines Türken mit niede—
rem Geitz gepaart war? An Eatrinnen aus dieſem
Schickſal war nicht zu denken; ihres Vaters eher:
ner Wille, ſeine furchtbare Härte gegen Alles, was
ſeinen Planen ſich widerſetzte, uns zu wohl bekaunt.
Sollte ich mit ihr entfliehen? Aber wohin? Inner⸗
halb Italiens Gränzen würde die Rache des belei—
digten Vaters uns gefunden, und.fte mit mir per⸗
nichtet haben. Außerhalb? welch Loos konnte ich
ihr biethen? Ich, der Arme, ihr, die an Reichthum
und Überfluß von zarter Jugend gewohnt, vom
Fluch des alten Vaters beladen, im rauhen Aus—
lande, im Gewaude der Dürftigkeit, ermangelud
alles früher Gewohnten, bald erlegen ſeyn würde
unter der Laſt der Schmerzen; und ſelbſt — hätte
ihre unendliche Liebe zu mir dieß Alles ſie tragen
gelehrt, konnte ich die Thränen, die Seufzer auf
mich laden, der Geliebten, die doch-früh oder ſpät
in einſamer Stunde ihrer Bruſt, ihrem Auge ent⸗
ſchlüpft wären? Nein! hier galt nur furchtbares
Entſagen auf ewig an alle — alle Lebenshoffaune
gen; und der einzige Troſt: daß noch, getrennt
durch Verhältniſſe und Gebirge, doch die Herzen
für einander ſchlagen, das Andenken, das heilige,
reine, nicht geraubt werden kann; blieb uns fo. —“
„Den eigenen Gram mir zu mehren, mußten
127
um dieſelbe Zeit die erſten Wolken über Chiarens
Lebenshimmel ziehen. Auch ſie ſollte von dem Mann
ihrer Liebe ſich trennen, zwar nicht lange, wie er
ſagte, da nur auf einige Zeit — in ſein Vaterland
zurück zu kehren er vorgab, um ſeine Angelegenhei—
ten in Ordnung zu bringen; dann wollte er in der
Schweiz ſich ankaufen und an ihrer Seite in fried:
licher Stille ſeine Tage verleben. Der bange Schmerz
ihrer Bruſt beym Scheiden war eine Vorahnung
ihres künftigen Geſchicks.“
„Ich übergehe die Empfindung, die die Tren⸗
nung von Roſalien in mir erregte, und wenn es
Troſt gewähren kann, dem eigenen ſchmerzlichen
Gefühl in der Seele der Geliebten wieder zu be—
gegnen, wie chromatiſche Töne ſich finden, ſo ward
mir wenigſtens der, die ſüße Überzeugung min⸗
deſtens, daß unvergeſſen, wie ihr Bild in meinem
Herzen, das meine in dem ihren fortlebt.“
„Ich begab mich mit meiner Schweſter nach
Verona. Es war Chiarens Wunſch, indem, 5
den deutſchen und ſchweizeriſchen Gränzen ſich w
ſend, fie minder glaubte, getrenar von dem zu 05
der ihr Alles war.
„Wir verlebten hier ein Jahr; ich in tiefer,
jede Zerſtreuung verſchmähender, Trauer; Chiara
in Hoffnung, in Beſorgniß über die von einer Zeit
zur andern ſich verzögernde Wiederkehr Arlforts,
deſſen damahls noch oft einlaufende Briefe ihre ein-
zigen Freuden waren. Es läßt ſich denken, daß ich
128
in meiner Lage der ſchlechte Geſellſchafter eines
Herzens ſeyn mußte, das Troſt und Beruhigung
bedurfte, für die ſich ihm, wie Schatten, aufdrin—
genden Ahnungen trüber Zukunſt; daß mein Auge
ſich nicht eignete zu bemerken, wie mehr und mehr
das offene, freundliche Geſicht der Schweſter ſich
umflorte, die, als ſchon beynahe Gewißheit ihr ward,
daß mit ihrer Bruſt heiligſten Gefühlen nur ein
Spiel getrieben worden, alles anwendete, dem Bru—
der ihrer Seele Stimmung zu verbergen, um we—
nigſtens ihm dieſen Schmerz zu erſparen. Als aber
endlich Arlforts Briefe, nachdem ſtufenweiſe fie käl⸗
ter, kürzer geworden waren, ganz ausblieben, da
vermochte das arme Mädchen nicht länger allein zu
tragen. Mit dem ganzen Gewicht ihres Leids warf
fie ſich an das eim ige Herz, das in der weiten
Welt ihr ſchlug, das feibft fo gebrochen, fo arm
war — und ſtrömte ihre Klagen au. Damahls
fühlte ich, was es heißt, wenn kalte Verzweiflung
ſtarr und eiſig zu uns tritt, wenn man auf den
Punct kömmt, zu wähnen: daß Unglückliche gebo⸗
ren werden, um ſchadenfrohen Schickſalsmächten
zum Spiel zu dienen. Ich ging mit meiner Schwe-
ſter nach Deutſchland, Ruhe für fie, oder für den,
der fo grauſam den Frieden der Harmloſen ſtörte,
und für mich ein Grab zu finden. Wir kamen nach
“rich erkundigte mich nach Arlfort, feinem Thun
und Treiben, denn Beyde, Chiara und ich, wir
hofften noch — und höre — daß kurz vorher er ſich
7
129
verheirathet hat. Ich gehe in ſeine Wohnung, mit
dem feſten Vorſatz, ihn ſelbſt in den umſchlingenden
Armen ſeiner Gattinn zu morden, und — bey dem
ewigen Gott! er wäre mir nicht entgangen — aber
zu ſeinem, zu meinem Heil, treſſe ich ihn nicht,
höre, daß in einigen Tagen erſt von einer kleinen
Reiſe er wiederkehrt.“
„Es war unmöglich, Chiaren ihr Geſchick zu
verbergen, eben ſo, daß meinen finſteren Vorſatz ſie
nicht durchſchaute. Zu wohl kannte ſie des Bruders
Herz, um nicht zu wiſſen, wie Liebe zu ihr, wie
beleidigtes Ehrgefühl, gepaart mit innerem, eigenem
Schmerz, nicht zu allem mich hinreißen konnten,
und ihr Flehen, ihre Thränen, ihre Vorſtellungen
rufen und beſchwören eine beſſere Empfindung, die
Vernunft wieder in mir auf.“
„Erlaſſen Sie mir die Schilderung der Lage,
in der, von bitterm Haſſe gegen alle Weſen ergrif—
fen, ich mit meiner unglücklichen Schweſter ***
verließ. Die Ausübung meiner Kunſt, ſonſt mein
Troſt, war jetzt mir Pein und nur die Sorge um
ein theures Daſeyn, um Chiaren, deren einzige
Stütze ich war, vermochte mich aufrecht zu halten.
So kamen wir endlich nach Wien. Hatte mein,
hatte Chiarens Gefühl an innerer Stärke nichts
verloren, ſo hatte doch Zeit und Veränderung nicht
verfehlt, wohlthätig in äußerer Ruhe wenigſtens,
auf uns zu wirken und die gute Aufnahme, die
mein Talent dort fand, uns bewogen, auf länger
150
da zu bleiben, ein Vorſatz, der nur geſtört wurde
durch Arlforts Ankunft in demſelben Ort. „Arlfort
in Wien!“ rief ich erſchüttert aus.
„So it 85,” entgegnete mir Francesco, „und
Sie werden leicht begreifen, wie es mie, wie es
Chiaren unmöglich war, in den Ringmauern einer
Stadt mit dem zu leben, ohne — —
„Ja wohl,“ nahm ich das Wort, „und dop—
pelten Dank ſage ich Ihnen nun dafür, daß Sie
mir vergönnten, Sie zu begleiten; ich fühl's, ich
wäre dem Schatten Mariens meineidig geworden.“
8.
In der Gegend von Zürich ließen wir uns nie—
der. Ich wandte einen Theil meines Vermögens,
über den ſchnell ich diſponiren koante, an, auf
längere Zeit uns in einer kleinen, in romantiſcher
Gebirgsſchlucht verſteckt gelegenen, Villa einzurich—
ten, deren Lage mir gefiel, und wo ich in Geſell—
ſchaft Francesco's und Chiarens, die ich nicht mehr
zu laſſen dachte, leben wollte.
Die Thätigkeit, in die ich durch Beſorgung
alles dazu Nöthigen gerieth; der Geſchwiſter mir
ſo ſehr zuſagender Umgang, die gleiches Schickſal
meinem Herzen näherte; die mich umgebende, er—
habene, große Natur, vor allem das Gefühl, doch
wieder Menſchen zu haben, an die ich mich ſchlie—
ßen konnte, die meine Empfindungen erwiederten —
131
ungen an, wie Lichtblicke die Nacht zu zerſtreuen,
die bisher mich umhüllte, und eh' ein halbes Jahr
verfloß, fühlte ich von neuem Leben mich durchs
drungen.
Waren unſere Geſpräche anfänglich nur Ergie⸗
gungen gegenfeitigen Leides geweſen, fo fingen nun
nach und nach fie an, einen heiterern Charakter an-
zunehmen bey Chiaren und mir, und auch auf den
fonft nur trüben und bitteren Francesco verfehlte
nicht dieß günſtig einzuwirken und ſeine oft bis zum
ſchroffen gehende Kälte minderte ſich vor dem wär—
meren Lebenshauch, in dem er anfing ein Paar Her—
zen ſchlagen zu ſehen, an die Natur, Liebe und
Freundſchaft ihn band; denn unmerklich und leiſe,
gezeitigt von zartem Vertrauen und gegenſeitiger
Achtung, war in Chiarens und meiner Vruſt die
Bekanntſchaft in Freundſchaft übergegangen, und
ſtieg an meinem Lebenshimmel die Aurora ſüßer
Gefühle wieder auf, ſo durfte dieß Mahl ich mit
Zuverſicht hoffen, daß ſie, die ſo leiſe, klar und
milde mir erſchien, zu einem dauernd ſchönen Tage
ſich verklären würde. Mich band kein hindernd Bers
hältniß, und — was an Erfahrung der Jahre mir
abging, glaubte in der Schule des Schmerzes, die
ich durchwandelt war, ich mir erworben zu haben.
Bis auf die letzte Spur ſchwanden in meiner Seele
die trüben Bilder der Vergangenheit, nur ein ſanf—
tes Mahnen, wie das gefühlvollen Herzen fo theure
Angedenken lieber Hingeſchiedener iſt, blieb mir,
132
und Chiara's Gemüth erſchloß ſich zu neuem Leben,
wie die zarte Blume ſich erſchließt, wenn vor mils
deren Frühlingslüften des Winters eiſige Stürme
entfliehen.
Ich entdeckte Francesco den in mir erftandenen
Wunſch, auf ewig mit ſeiner Schweſter mich zu ver—
binden. „Haben Sie,“ entgegnete er mir, nachdem
er mich angehört, „ſchon mit ihr geſprochen?“ „Ich
wünſchte,' war meine Antwort, „daß Sie es thä⸗
ten; zwar hoffe ich, ja ich glaube es, Chiara theilt
mein Gefühl; dennoch möchte ich, wenn frohe Er:
wartungen mich vielleicht irre führten, wenn, was
Liebe mir zu ſeyn ſcheint, nur warme Freundſchaft
wäre, nicht Chiara in die unangenehme Lage ſetzen,
in die nothwendig ein weiblich Herz geräth, wenn
ein Mann, dem Freundſchaft es ſchenkte, und mei:
ter nichts ihm gewähren kann, wärmere Empfin—
dungen in Anſpruch nimmt. Ich erwarte,“ fuhr ich
fort, „von der Hand ihrer Schweſter das Glück mei—
nes Lebens, die goldenen Tage wieder, die ein trau—
riges Verhängniß mir nahm, aber — wenn gleich mit
bitterem Schmerz, würde doch lieber ich dieſer
mir ſo ſüßen, einzigen Hoffnung entſagen, würde
lieber von Menſchen, die mir ſo lieb, die die ein—
zig mir theueren, find, auf ewig mich trennen, wenn
es nöthig wäre, und aufs neue unſtät und flüchtig
meine dunkle Bahn allein gehen, als das Gefühl
tragen wollen: daß nicht frey und fröhlich auch ihr
135
Herz mir gewährt, was mit Sehnſucht das meine
wünſcht.“ 8
Da drückte mir Francesco die Hand, ſpre—
chend: „Sie ſind ein guter, rechtlicher Mann, und
glauben Sie mir, es würde auch mir ein Strahl
von Freude wieder aufgehen, wenn zwey mir theure
Weſen verbunden ein Glück endlich fänden, das ſo
lange ihre Tage floh. Ich gehe ſogleich zu Chiaren
und der Freund wird dem Freunde nicht ſäumen
Nachricht zu geben.“
Er ging, und mit wahrem Herzklopfen ſah ich
feiner Wiederkehr entgegen. War gleich die Empfine
dung, die ich damahls für Chiaren fühlte, nicht
ganz jene, die früher mein Herz bewegte; durch—
ſchauerte mein Inneres nicht jetzt ſo, wie damahls
eine glühende, brennende Sehnſucht, ſo war es doch
gewiß nicht minder gut, als das Gefühl, was an
Marien mich band. Jenes war das erſte, ſtürmi—
ſche Erwachen aller Triebe, dieſes mehr die ruhig
heitere Gemüthlichkeit einer Serle, die nach ſchwe—
ren Leiden endlich anfängt, ſich wieder empor zu
richten, des Lebens ſich zu freuen. Zu Marien zog
mich ein Strom, zu Chiaren ein janfter Bach, und
jene Unruh, jene Beklommenheit, jene Angſt ſelbſt,
die das Übermaß der veidenſchaft ertheilt, wenn fern
der Geliebten man ſich fühlt, war mir hier fremd.
Hätte man nicht glauben ſollen, daß ein ſo ſanft
erquickliches Gefühl, wie meine Bruſt jetzt hegte,
ein ewig dauerndes hätte ſeyn müſſen? Ich glaubte
134
es, ich glaubte es wahrlich damahls, handelte dar⸗
nach und — gründete auf's neue mein Elend, ins
dem ich mein Glück zu bauen wähnte, riß auf's neue
ein Herz in den Strudel hinab, der, wie ein Schick⸗
ſalsfluch, jedes ergriff, das mir ſich mit Liebe
nahte. f
Wenn ich hier meiner Geſchichte vorgreife, eine
Kataſtrophe andente, die ſpäter erſt eintrat, fo ger
ſchieht es mit Aufopferung des Intereſſe, das die,
die dieſe Blätter leſen, vielleicht an dem Lauf mei⸗
nes Lebens nehmen; ich thue es aber, um eben ih:
nen eindringlicher zu zeigen, wie leicht man ſelbſt
ſich täuſcht, und wie tief und ſchrecklich man ſo oft
dafur büßen muß; und wie das Gefühl hohen Wohl—
wollens, das als Liebe ſo leicht erſcheint, noch nicht
hinreicht für ein ganzes Leben einer tief empfinden—
den, nur für ſchwärmeriſche, auf dem höchſten Gi—
pfel ſtehende, Liebe geſchaffenen Bruſt, das ruhi—
gern, minder tieferen Gemüthern wohl genügen
mag, dieſe aber bald leer läßt, und das Leere bey
einem Herzen, organifirt wie das meine, nur auf
Abwege führt.
Genug — ich glaubte Chiaren zu lieben, in⸗
dem die Empfindung meiner Bruſt nur Freund⸗
ſchaft war; ich zweifle ſogar nicht, daß mein Ge⸗
fühl, weil es auf Hochachtung gegründet war, die
das wahrhaft liebenswürdige, reine Mädchen ſo ſehr
verdiente, würde ein ewiges geworden ſeyn, hätte
nur ſie ich noch geſehen, hätte mein Geſchick mich
1
150
nie aus ihrer Nähe geführt. — Doch der Berfolg
meines Lebens wird die Verirrungen zeigen, in die
ich gerieth, in die ein Herz geſtürzt ward, und ſich
ſtürzte, deſſen einziger Fehler zu glühende Leidens
ſchaftlichkeit war — und ich nehme den Faden der Er—
zählung wieder auf.
Ich war ausgeritten, während der Zeit, daß
Francesco mit ſeiner Schweſter ſprach; theils, um
die Erwartung meiner Bruſt zu beſänftigen, theils
durch mein im Hauſeſeyn des ſo zorten Mädchens
Gefuhl weniger zu beängſtigen, wenn vielleicht,
was ich in dieſem Augenblick wahrlich fürchtete, ſie
gegen mich entſcheiden ſollte. Ich erhielt es über
mich, erſt gegen Abend zuruck zu kehren. Mit
freundlichem Geſicht trat mir Francesco entge—
gen, und drückte mich an fein Herz. Dieſer, ob—
wohl ſtumme Empfang, zeigte mic doch, daß mei—
ne Wuünſche ihrer Erfüllung ſich nahten. An feis
ner Hand betrat ich Chiarens Zimmer und wie
ein Engel, mild und ſanft, ſchwehte die liebliche Ge⸗
ftalt auf mich zu. Da legte Francesco unſere Hän⸗
de zuſammen und mein Arm umſchlang das bebende
Madchen.
Ich fühlte mich glücklich, denn ich 139, Chiara
war es. Längſt hatte der Funke der Zuneigung zu
mir in ibrer Bruſt geglimmt; ſie liebte mich wahr⸗
haft rein und treu, und ihre unſchuldige Kindesſeele
überzog ein goldener Morgen. —
Längſt hatten unſere Nachbarn mit denen in
136
einigem Umgang wir ſtanden, gemuthmaßet, daß
ein zarter Gefühl Chiaren und mich vereinte, ſelbſt
Hals in uns Beyden wohl noch nicht der Gedanke
daran entſtanden war; wie denn ſo gern und all—
gemein, beſonders das weibliche Geſchlecht, dieß ſo—
gleich vorausſetzt, ſobald ein Mann öfter in der Nä—
he eines Mädchens erſcheint, und wie viel mehr muß—
te es hier der Fall ſeyn. Ich verfehlte daher nicht,
da dieß mir nicht entgangen war, einige Tage
nachher mit Chiaren und Francesco fie zu beſuchen,
und die Schweſter meines Freundes als meine Braut
vorzuſtellen. Unter den wenigen Häuſern, in denen
ich öfter mich einzuſtellen pflegte, war das des Hof—
raths W ', der mit feinen Angehörigen ſeit meh—
reren Jahren in dieſer Gegend lebte, dasjenige, ſo
ich am häufigſten beſuchte.
Der ſchon ziemlich bejahrte Hausherr und feine
Gattinn gehöcten unter die in jeder Hinſicht gebil⸗
detſten Menſchen, die ich kennen lernte, und nie
verließ ich ihr Haus, ohne in ihrer liebenswürdig
angenehmen Unterhaltung Nahrung für Kopf und
Herz gefunden zu haben. Ihre Familie beſtand aus
einer Tochter und einer entfernteren älternloſen
Verwandtinn, beyde ſchon erwachſen. So wie zwi—
ſchen mir und dieſer Familie, hatte ſich auch zwi—
ſchen Chiaren und jenen beyden Mädchen, ein an
genehm freundſchaftliches Verhältniß gegründet,
und es läßt ſich denken, daß Wins Haus nicht
/
das letzte war, wo wir jetzt vorfuhren, und die
137
aufrichtige Theilnahme dieſer guten Menſchen trug
nicht wenig! zur Erhöhung unſeres beyderſeitigen
Glückes bey.
Ich hatte den plan gemacht, mein ſämmtli—
ches Vermögen aus meinem Vaterlande zu nehmen
und mich in irgend einer anmuthigen Gegend Deutſch—
lands, am liebſten an den Rheinufern, anzukaufen.
Chiaren und ihrem Bruder war es recht, obgleich mir
nicht entging, daß gern die erſtere an unſerm jetzi—
gen Wohnort geblieben wäre. Dieſes Vorhaben theil—
te ich auch dem Hofrath mit, und obſchon gegen die
Vernünftigkeit dieſer Idee gerade nichts einzuwen—
den war, fo nieinte er doch auch: er hielte für mich
beſſer, den Ankauf eines Landgutes zu unterlaſſen,
lieber, wie bisher, als Particulier zu leben, da, ſo
weit er mich kenne, ich gar keine Kenntniſſe von
ländlicher Wirthſchaft hätte, und ihm auch nicht ge=
eignet ſchien, mir welche zu erwerben. Doch in mei⸗
nem Innern hatte ſich dieſe Anſicht einmahl feſtge—
ſetzt, und ich beſchloß dabey zu verharren; auch wolle
te ich nur dann erſt, nach ihrer Ausführung, meiz
nem Glück die Krone aufſetzen, mich mit Chiaren zu
verbinden.
Es könnte ſcheinen, als wenn dieſes freywilli—
ge, durch nichts nöthig gemachte Aufſchieben mei⸗
ner Vereinigung mit der Geliebten, ſchon einen An—
ſtrich von Kaltſinn verriethe, doch man würde mir
Unrecht thun, bey dieſer Muthmußung. Der Gedan—
danke, Chiaren ein freundliches Eigenthum zu be⸗
en
138
reiten, ſie als die ſchmückende Gottheit, als meines
Herdes Palladium in mein Haus zu führen, war der
einzige, der mich dazu trieb, und ich geſtehe offen —
daß nur der Reitz, mit dem ich mir ihn ausmahlte,
die Entſagung mir konnte vergeſſen machen, die das
durch ich mir auflegte, und die nothwendig nicht ganz
kurz feyn konnte, Daß eine Trennung von Chiaren
dadurch würde veranlaßt werden, ahnete ich nicht,
indem alles mit Briefen in meiner Heimath ich
glaubte abzumachen, die ich auch ohne Säumen forts
ſchickte.
Um dieſe Zeit erhielt Francesco plötzlich ein
Schreiben aus Italien. Es war von einem Freun⸗
de, der ihm die Nachricht ertheilte, wie der Vater
feiner Mütter geftorben, deſſen Gattinn aber, menſch—
licher geſinnt und jetzt die Stimme der Natur in ih⸗
rer Bruſt höher ehrend., als eitler Vorurtheile jäm—
merlichen Wahn, ſich ſehne, an den Kindern ihrer
Tochter gut zu machen, was an ihr, was an der
Geſchwiſter Vater ſie verſchuldet. Sie möchten daher
nach Venedig eilen, den Wunſch der akten Frau zu
erfüllen, deren einziges Verlangen noch wäre, vor
ihrem Ende ihre Enkel zu ſehen. Francesco theilte
mir ſogleich dieſen Brief mit und ich kann ſagen,
daß, mußte ich mich gleich freuen über den uner—
warteten Sonnenblick im Leben mir lieber Menſchen,
doch ſein Inhalt mir höchſt zuwider war, da eine
Trennung von Chiaren er mir ankündigte, deren
Nothwendigkeit zu ihrem Glück weſentlich ſchien,
139
denn nimmer würde des frommen Mädchens zart:
fühlende Seele ſich beruhigt haben, hätte den Wunſch
einer alten, ſo nahen Verwandten ſie unerfüllt ge—
laſſen.
Die Reiſe der Geſchwiſter ward alſo beſchloſſen
und verabredet, wie die Zeit ihrer Abweſenheit ich
benutzen wollte, den Plan zu unſerem ferneren
Leben auszuführen, und dann, wenn alles ich been:
det, von Venedig ſie abhohlen ſollte, wenn nicht etwa
eher noch an unſern jetzigen Wohnort ſie zurückkehren
würden.
Mit Heiterkeit und Ruhe der Seelen ſchieden
wir alſo von einander, und nicht jener Sturm durch—
zuckte uns, der wohl die Herzen zu ergreifen pflegt,
wenn Trennung die Loſung iſt, denn wir Alle glaubs
ten ja bald auf ewig uns wiederzuſehen; wir Alle
ſahen in dieſem Moment des Scheidens ja nur ein
leicht vorübergleitendes Wölkchen, hinter dein deſto
ſchöͤner unferes Lebens Sonne hervortreten würde,
da eine heilige Pflicht es herãfgeführt hatte, da
keiner von uns das dunkle Loos ahnen konnte, das
bald einen treffen, keiner erwarten konnte, daß
ein fremdes Weſen zerſtörend zwiſchen uns treten
würde. f
9.
So ſah ich mich denn wieder allein und mau
Wird mir glauben, daß der mir ſonſt fo liebe Auf:
140
enthalt in meinem Hauſe, das ſo verödet nun mir
ſchien, ſeit keine befreundeten Geſtalten darin mir
mehr entgegenkamen, mir drückend und zuwider
war.
Dieſem wohlthuenden Gefühl zu entfliehen, fuchs
te ich meine Nachbarn fleißig heim, beſonders Hof:
rath W.“, und bald war ich der tägliche Geſellſchaf—
ter dieſer Familie, deren Liebenswürdigkeit ich ſchon
oben bemerkt habe. 0
Hatte in früherer Zeit mich hauptſächlich und
ausſchließend Ws Unterhaltung da gefeſſelt, fo
fand jetzt mein neuerwachter Lebensſinn ſelbe nicht
minder in der der Frauenzimmer des Hauſes. Be—
ſonders zog mich Antoniens — der bereits erwähn—
ten Verwandtinn der Familie — geiſtvolles, mit
glänzendem Witz und Lebhaftigkeit gepaartes Weſen
an, und nie vergingen mir Stunden ſo ſchnell, ſo
heiter, als die, die ich mit ihr verplauderte. Die
zarte Empfindſamkeit ihres Herzens, ihre Beleſen—
heit, die feine Art der Wendungen ihrer Geſpräche,
die Lebendigkeit, mit der jeden hervorſtechenden Ge—
danken fie auffaßte, ihr freundlich neckender, ja muth—
williger, aber nie hämiſcher Spott, den fo gern fie
ergoß und der einen rechten verwandten Anklang in
meinem Janern fand — alles dieß feſſelte mich mit
jedem Tage mehr, und ohne daß auch nur im min⸗
deſten ein ander Gefühl, als das des Gernſehens in
meiner Bruſt entſtanden wäre, konnte ich recht ſorg⸗
ſam die Stunden zählen, bis die ertönte, in der ich
144
fie wiederſah, die die wahrhaft heiteren meines Le⸗
bens wurden.
Mit Chiaren unterhielt ich, wie leicht zu den—
ken, einen lebhaften Briefwechſel, und hatte frü—
her mich des ſanften Maochens ſtill beſcheidene Lie—
benswürdigkeit angezogen, ſo waren ihre geiſtvollen,
das tiefſte Gemüth athmende Briefe, jetzt ein neues
Band, das um mein Herz ſich legte. Sie war in
der That eines jener in ſich lebenden Weſen, die eine
Welt des Schönen in den geheimen Tiefen des Bus
ſens tragend, mehr mittel- als unmittelbar ſich aus⸗
zuſprechen wiſſen, deren lebendige Gluth und zartes
Gefühl jenen antpruchloſen Blumen gleicht, die nur
in milder Abendkühle, in verſchwiegenem Schatten,
ihre reinen Düfte verbreiten, und daher ſo leicht von
den oſt minder werthreichen mit ſtolzem Prunk ſich
erhebenden Geſchwiſterpflanzen verdunkelt, von dem
Auge der Menſchen verkannt werden.
Sie war mit ihrem Bruder glücklich in Vie
dig angekommen und von offenen Liebesarmen eme
pfangen worden, denn was frühere Härte verſchul—
det an ihre Altern, ſuchte nun den Kindern man zu
vergüten, da eine beſſere Einſicht heiliger Geſuge
in der Bruſt ihrer Großmutter aufgegangen war,
und Chiarens frommes kindliches Herz ſchwamm in
einem Meer von Wonne, das ſelbſt die Eutfernung
von mir nicht zu trüben vermochte, da ihr ſtilles
Gemüth mit feſtem, ruhigem Vertrauen nur einer
heiteren, belohnenden Zukunft, eutgegenſah. Ach!
212
hätte der Friede, der in ihrer Kindesſeele jetzt lag,
auch in meinem leidenſchaftlichen Buſen einen Strahl
feiner beſeligenden Ruhe geworfen, wie viel Schmer⸗
zen wären ihr, wären mir erſpart worden. — Doch
— andere Fiebern hatte mein Herz, und fortgetrie⸗
ben vom Wirbel ſtürmiſcher Empfindungen, begann
jetzt eine Lebensperiode, wo bald, aeriifen aus ge—
träumten Paradieſen, ich zerfallen ſollte mit mir
ſeloſt: ein berzweifelnder Schmerz, wie nie ich ihn
gefühlt, geahnt früher, mich ergreifen ſollte, furcht-
barer dadurch noch, daß jeder Blick auf mich zur
Hölle mir ward, jede Erinnerung mir „ſchuldig!““
zurief, und ich, verzagend an Allem, einem Ab
grunds rande zutaumelte, vom dem nur eines Engels
rettende Hand mich zu ziehen vermochte.
Ich habe bereits erwähnt, wie Antoniens hei
terer Umgang mich feſſelte. Mit jedem Tage war
dieß der Fall mehr, und wenn meinem Innern
auch die Idee einer aufkeimenden Leidenſchaft nicht!
klar wurde, ja, wenn ſelbſt in jenen Tagen ſie
wirklich mir noch fremd war, ſo näherte ſich doch
meine Empfindung für das geiſtreich liebenswürdige
Mädchen der Freundſchaft höchſter, wärmſter Stufe,
und jeder wird wiſſen, aus ſeines Lebens eigener
Erfahrung, wie klein von dieſer der Schritt zur
Liebe iſt, wie ein Zufall, ein Augenblick, unbewußt
uns ſelber, dahin führen kann. — Schon war es
dahin mit mir gekommen, daß, faſt wider Willen,
das Herz Vergleichungen anfing: daß Tage und
145
Wochen vergehen konnten, in denen Chiarens Bild
mir ſelten vor das innere Auge trat, dafür Anto—
niens milde Stimme wie Flötentöne ſo ſüß, in
meiner Einſamkeit mich umwehte, ihre belebte, mir
ſo wie noch nie eines Frauenzimmers Unterhaltung,
Genuß gewährenden Reden, mich ganz erfüllten,
und die oft wortkarge Chiara in Schatten zu kre—
ten anfing, und aus der Geliebten, für die mein
Herz ſie ja erklärt, eine theure, verehrte Freundinn
wurde; ein heiliges Weſen, aber doch nur — eine
Freundinn! —
Antoniens Seele war zu rein, um nur zu
muthmaßen, welche bedeutende Veränderung ihr
Umgang in meinem Verhältniß zu Chiaren hervor—
brachte, und augenblicklich würde ſie ſich auf immer
von mir entfernt haben, hätte die leiſeſte Ahnung
davon ſie gehabt; ſo betrachtete ſie mich als einen
lieben Freund, werth ihr durch den Einklang ge—
genſeitiger Ideen, durch zarte Theilnahme an ſei⸗
nem Loos, am meiſten durch die Liebe und Neigung
eines Mädchens, das fie wahrhaft ſchätzte feiner.
Engelsgüte wegen, deren treue Freundinn ſie war,
und deren Lebensglück ich ja gründen follte. Der
Erfolg wird zeigen, wie dieß damahls gewiß Anz.
toniens Anſicht war. Von nichts lieber unterhielt
ſie ſich mit mir, als von Chiaren, von dem Gange
unſerer Verhältniſſe, von unſerer Zukunft und von
der Betreibung meiner hierauf Bezug habenden An:
gelegenheiten.
—
144
Meinem erſt entworfenen Lebensplane treu,
hatte ich mit emſiger Eile ihn auszuführen geſucht.
Hinderniſſe mancher Art aber verzögerten deſſen fo
ſchnelle Vollführung, wie ich ſie mir gedacht, und
ich ſah bald, wollte ich raſch zum Ziele, daß der
Weg des bloßen Briefwechſels nicht hinreichen
würde, und daß eine Reiſe weit zweckmäßiger ſeyn
dürfte, die ich ja jetzt, getrennt ohnehin von Chia
ren, um ſo leichter und fröhlicher zu unternehmen
beſchloß, da mit der Wiederkehr einer heiteren Le—
bensanſicht, auch der Wunſch ſich in mir verjüngte,
jene ſchönen Gegenden meines Vaterlandes noch ein
Mahl zu durchſtreifen, jetzt fie zu genießen, die früs
her ich, verloren in meinem Schmerz, nicht beach—
tet hatte. 9
War gleich Antonie mir werth und lieb, W* s
ganzes Haus theuer, ſo war doch meine Neigung
noch nicht tief genug gegründet für die erſte, um
mich abhalten zu können, und die meinem Herzen
noch immer gegenwartige Idee eines Lebens an
Chiarens Hand beſchleunigte dieſen Entſchluß, da
er mich der Erfüllung nähern follte. Ich verfehlte
nicht Chiaren ihn mitzutheilen, fo wie Antonien;
Beyde ſtimmten mir bey und ich ſaͤumte nun nicht,
ihn auszuführen. An mehrere Bekannte hatte ich
mich bereits, wie ſchon erwähnt, gewendet, mir ei⸗
nen freundlichen, ländlichen Wohnſitz im ſüdlichen
Deutſchland vorzuſchlagen. Manche Anerbiethungen
waren mir deßwegen gemacht worden, mit eigenen
145
Augen ſie zu prüfen, nahm ich mir daher vor, zuerſt
in jene Gegenden zu ziehen, und dann die nöthigen
Ausgleichungen im Vaterlande zu beſorgen.
Die Anſtalten zu meiner Reiſe waren bald ge—
troffen, der Freundſchaft des Hofrath W*** über⸗
gab ich die Auffiht über meine bisherige Wohnung,
ein freundlicher und ſteter Briefwechſel zwiſchen den
Gliedern jener Familie und mir wurde verabredet, und
mit fröhlichen Ausſichten und heiterem Gemüth
verließ ich die Schweiz, den deutſchen Boden wie—
der zu betreten.
Es liegt nicht im Plan dieſer Blätter, die eine
Darſtellung meines Lebens, meiner Empfindungen
geben, eine Beſchreibung jener, für mich ſo fröhlich
heiteren Neiſe zu liefern; es ſey mir bloß erlaubt,
anzuführen, daß, wenn bey meinem erſten Durch—
fluge dieſe lachenden Gefilde meiner umflorten Phan—
taſie nur Grabesfluren ſchienen, jetzt dafür mit alk
ihrem Zauber ſie zu meinem Geiſte ſprachen, denn
ich war ja ruhig, glücklich jetzt. — Die Ausfiche
auf Chiarens Hand war mir lieb und theuer, der
Sinn für zarte Freundſchaft war in mir entglom—
men; ich wußte, es gibt Weſen, die dich lieb haben,
Herzen, die für dich ſchlagen, die dich verſtehen,
dich ſchätzen, denen dein Gedächtniß ein theueres
iſt, und wahrlich, der muß nie erkannt haben im
Gemüth das heilig Hohe reiner Empfindungen,
den dieſer Gedanke nicht froh zu machen vermag—
Mit fröhlicher Eile hatte ich bereits mehrere
Unterh. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. G
146 9
der Rheingauen durchſtreift, theils geleitet von dem
Plan meiner Zukunft, theils durch den Augenblick
beſtimmt, und in faſt poſttäglichen Briefen nach der
Schweiz und Venedig die kleinen Ereigniſſe meiner
Reife, meine Anſichten und Aus ſichten, mitgetheilt,
als ich in Allinch, wo eine mir aus früheren Zeis
ten entfernt bekannt gewordene Familie ich wieder—
fand, einige Tage ich zu bleiben beſchloß. Die ro—
mantiſche Schönheit der Gegend, die Artigkeit, mit
der ich, eingeführt durch jene Dekannten, in den
Zirkeln des Orts aufgenommen wurde, vor allem
die Ausſicht, die ſich mir eröffnete, hier vielleicht fo
ein ländlich ruhig Plätzchen, wie ich ſuchte, billig
und ſchnell zu erhalten, verlängerten mein Daſeyn
von Tagen zu Wochen, und bald ſollte noch ein
Beweggrund mir werden, der, nicht zu meinem
Heil, mich auf lange band.
Unter denen, die ich kennen lernte, befand ſich
auch ein Baron von ***, ein ältlicher Mann, eine
mir anfangs höchſt unintereſſante Erſcheinung, die
mic aber nur zu bedeutend wurde. Er hatte in
jüngern Jahren an einem deutſchen Fürſtenhofe eine
nicht unanſehnliche Rolle geſpielt, war ein Lebemann
erſter Claſſe geweſen, zum Theil, ſo viel Jahre und
Umſtände es zuließen, noch ein feiner Hofmonn
nicht gunz ohne Gutmüthigkeit, ſogar Herzlichkeit
zuweilen, ein freundlicher Geſellſchafter, und lei:
Denſchaftlicher, aber böchſt unintereſſirter Spieler.
Seine häufigen Einladungen, ihn auf ſeinem
147
nur zwey Stunden von A “'ich gelegenen Gute
zu beſuchen, ließ ih anfänglich völlig unbeachtet,
und nur nach mehrmahliger Wiederhohlung ent⸗
ſchloß ich mich endlich, mehr um dem Anſchein von
Unart zu entgehen, dem ſtetes Verweigern mich
ausſetzen mußte, als in der Erwartung, Genuß und
Vergnügen an einem Orte zu finden, deſſen Beſitzer
im Ganzen ſo wenig Übereinſtimmendes mit mir
hatte — ſein Begehr zu erfüllen. Ich ſetze mich da—
her eines Tages, an einem beſonders ſchönen More
gen auf's Pferd, und ritt ohne weitere Begleitung
nach Hochberg. Angekommen daſelbſt, finde ich in
einer höchſt anmuthigen und geſegneten Gegend ein
freundliches, faſt ganz neu erbautes Dorf, an deſ—
ſen Ende ein geſchmackvolles, aber einfaches Land—
haus — die Wohnung des Barons — liegt. Auf
mein Befragen höre ich, der Herr ſey gerade nicht
vorhanden, ſeine Gemahlinn aber gegenwärtig.
Gleichgültig bin ich eben im Begriff, mein Pferd
zurückzuwenden, als ich in den dunklen Alleen des
an das Haus ſtoßenden Gartens, ein weibliches
Weſen ſich ergehen ſehe, deren zierlich anmuthige
Geſtalt meine Neugier erregt. Ich hielt ſie für eine
Tochter des Hauſes, und wende mich fragend deß—
wegen an den noch in der Thür ſtehenden Diener,
als die Pforte des Gartens ſich öffnet, und die
Dame heraustritt. Noch in der Meinung, eine
Tochter des Barons vor mir zu ſehen, ſpringe ich
ab, und mache ihr als ſolcher mein Compliment.
G 2
148
Mit einem feinen Lächeln berichtet ſie meine Vor⸗
ausſetzung dahin, daß ſie die Gemahlinn von dem
iſt, fur deſſen Nachkömmlinginn ich ſie halte und
erſucht mich ſehr artig, die Zurückkunft ihres Mans
nes zu erwarten, die gewiß nicht lange ſich verzö—
gern wird, und ich nehme freudig die Einla—
dung an.
Ich muß bekennen, daß Valeriens Erſcheinen
— dieß war, wie die Folge mich lehrte, ihr Nah—
me — bedeutend auf mich wirkte im erſten Augen-
blicke. Sie war das vollendet ſchönſte Weib, das
ich je ſah, und der leichte Zug von geheimer Trauer,
der wie ein zarter Flor ihr wahrhaft den Himmel
ſpiegelndes Auge umwehte, erhöhte mit unwider—
ſtehlich magiſcher Kraft den holden Reitz ihrer lieb—
lichen Geſtalt, und zeugte deutlich, daß nicht glück—
lich ſie war.
Es iſt nichts hinreißender für ein männlich
Herz, als in dem klaren Kryſtall eines ſchönen Au—
ges jenen ſtillen, wehmüthig ergreifenden Anklang
eines verhehlten, umfonſt bekämpften inneren
Schmerzes zu leſen, der, wie ein matter Perlen⸗
ſchimmer, einen unendlichen Zauber verbreitet, ſo
wie ja auch an Frühlingsmorgen die Blume am
ſchönſten ſcch darſtellt, wenn ein leichter Thau ihren
zarten Kelch und Blätter noch umzieht.
Ich fand an ihr nach einigen Stunden Unters
haltung zwar keinen hochgebildeten, durch Leetüre
geſchmückten Geiſt, aber Natürlichkeit und jenes
lebendige Auffaffen mitgetheilter Ideen, das nie
149
verfehlt zu intereſſiren, und ich geſtand mir mit in—
nerer Zufriedenheit das Vergnügen zu, das ihre
Unterhaltung mir gewährte, wozu denn freylich der
Zauberton ihrer ſchönen Stimme und die Anmuth,
die die herrliche Geſtalt wie ein Duft umfloß, das
ihrige ſehr beytrugen. f
Des Herrn Barons langes Außenbleiben war
von mir faſt gar nicht bemerkt worden, und als er
endlich erſchien, und mich mit freundſchaftlichen Um—
armungen überhäufte, kang ich wohl ſagen, daß
nicht ganz mit derſelben innern Herzlichkeit ich ſie
erwiederte, wie wohl ſonſt in meinem Charakter
lag, da ſchnell bey feinem Eintritt in's Zimmer mie
ein vergleichend Bild zwiſchen ihm und ſeiner Gat—
tinn aufſtieg, die in dieſem Augenblick mir, wie die
an einen dürren Felſen geſchmiedete weinende Aus
dromeda vorkam; ein Vergleich, den der dunkel—
trüve Blick, den fie auf ihren Gatten warf, eben
nicht entkräftete, denn er zeigte mir, was aus ih—
rem Weſen ich nur geahnt, daß ihr aus dem gold—
nen Ringe keine Blumentage ſproßten.
Der Bitte um baldige Wiederhohlung meines
Beſuchs hätte es faſt nicht bedurft. Zu tief war
der Eindruck, den mein Herz bey dieſem erſten em—
pfangen hatte, als daß ich nicht hätte ihn wieder—
hohlen ſollen, und wenn tadelnd bey dieſer Ride
tung, die mein Inneres hier nahm, der Leſer auf
mich blickt, fo kann ich nichts als die Schwäche ei⸗
nes menſchlichen Herzens ihm entgegeaſetzen, das
150
ſo gern, verſteckend ſich hinter Scheingründe und
ſich ſelbſt täuſchend, ſeinem geheimen Zuge folgt,
und die Stimme der warnenden Vernunft überhört.
Man glaube nicht, daß dieſe bey mir ſchwieg,
aber anfangs fürchtete ich nichts, und als hinge⸗
riſſen vom Strudel der Gefühle mit ernſtem Nich⸗
terton mein beſſeres Selbſt noch rief, da war die
Kraft zum Widerſtande ſchon entflohen, der Tau⸗
mel der Sinne zu groß. —
Wenige Mahle Wiederkehr nach Hochberg reich—
ten hin, mir zu zeigen, wie auch in Valeriens
Bruſt eine ähnliche Empfindung aufkeimte, und
füllte dieſer Gedanke gleich mit einem unendlich ſü⸗
ßen Schauer mein Herz, ſo darf ich doch auch nicht
verſchweigen, wie damahls der Entſchluß in mir
entſtand, dieſe Gegenden zu fliehen; wie mit männ⸗
lichem Ernſt ich Anſtalten traf, ihn auszuführen,
wie ein unvorhergeſehener Fall daran mich nur
verhinderte.
Ich war am Abend vor dem beſtimmten Tage
meiner Abreiſe, nachdem mein Koffer gepackt, die
Pferde beſtellt waren, in meinem Zimmer, das ich
mit großen Schritten auf- und niedergehend maß,
als ein Wagen vor der Thür des Hauſes, wo ich
wohne, hält, und gleich darauf eine lange, in einem
Mantel gehüllte Figur bey mir eintritt. Da es
ſchon dämmerte, ſo erkenne ich nicht eher den Mann,
bis er anfängt zu ſprechen. Es iſt Bergſtern. Meine
Freude, meine Überraſchung war groß. Man wird
191
ſich erinnern, daß ich ihn bey meinem Abgang von
*ziurückließ, doch auch daß ich einen Theil mei—
ner ihm ſchuldigen Pflicht erfüllte, und für ſein
Wohl ſorgte nach Kräften. Unſer Briefwechſel war
nie unterbrochen worden, und von allen meinen
Schickſalen hatte ich ihn immer treulich unterrich⸗
tet. So war ihm auch mein künftiger Lebensplan
bekannt, in den es mit gehörte, ihn, wenn einſt
ich mich nach Wunſch feſtgeſetzt, auf immer bey mir
zu ſehen. Nun hatte ſich der alte Mann aufgemacht,
wohl wiſſend, daß er mir eine Freude bereite, wenn
er unvorgeſehen mich überraſchte, und war hierher
gereiſ't, da eine gute Gelegenheit er fand, und ſeine
Geſundheit es erlaubte. Ach! er ahnte nicht, indem
er an ſein redlich Herz mich ſchloß, daß ſein Kom—
men mich auf's neue dem Abgrundsrande zuführte,
dem mein Genius mich ſchon a e denn konnte
ich denn nun gleich am nächſten Morgen reiſen ?
Konnte ich dem von dem langen Wege ſo ſchon ſo
Angegriffenen zumuthen, gleich wieder ohne Raſt
mir zu folgen? Konnte ich ihn, der ſo innig ſich
freute, mich wieder zu ſehen, gleich in den erſten
Stunden wieder verlaſſen? Auf einige Tage mußte
wenigſtens ich nun meinen Vorſatz aufſchieben, und
einige Tage, wie viel ändern die! —
Meine Abſicht war geweſen, ohne perſö— 1
Abſchied von Hochbergs Bewohnern zu nehmen,
dieſe Gegend zu verlaſſen; ich hatte beßwegen einige
Zeilen an ſie geſchrieben, die gleich nach meiner
152
Abfahrt ein Bothe überbringen ſollte. Sie lagen
noch geſiegelt auf meinem Tiſch, und ich erbrach ſie
jetzt als unnütz geworden. Es begann ein ſeltſamer
Kampf in meiner Seele, als ich ſie flüchtig wieder
durchlas. Vor meinem inneren Blick ſtand Valerie
von all' ihren Reigen umfloffe: , wie von einer Strah—
lenglorie, und indem ich mir nur eine Thräne in
ihrem ſchönen Auge dachte, die vielleicht bey Leſung
dieſer Zeilen ihr entrann, flammte auf ein Mahl,
wie mit Rieſengewalt, eine Leidenſchaft für ſie em⸗
por, gegen die jede andre Stimme ſchwieg. Wohl
ſah ich auch im Geiſte Chiarens ſanfte Geſtalt,
vernahm Ankoniens ernſte Warnung, aber — nur
ein Mahl, ein Mahl will ich ſie noch ſehen, das wird
mir ja wohl erlaubt ſeyn, ſagte ich mir ſelbſt, und
dann, dann will ich fliehen. —
Die ruhige Überlegung einer ſchlafloſen Nacht
hatte denn doch wieder den Entſchluß in mir auf—
keimen laſſen, nicht mehr nach Hochberg zu gehen,
ſondern in höchſtens zwey oder drey Tagen mit
Bergſtern weiter zu reiſen, aber der erſte Vorſatz
war zerſtört worden; den zweyten auszuführen, ließ
mein Geſchick mir nicht mehr Zeit.
Am frühen Morgen trat der Baron bey mir
ein. „Sie ſind heute mein Gaſt,“ rief er mir gleich
entgegen, „bey einer Waſſerfahrt nach Waldkirch
(dieß war ein ſehr beſuchter Vergnügungsort der
Einwohner dieſer Gegend), und ich hoffe, Sie wer—
den ſich gut unterhalten, die Geſellſchaft iſt zahlreich.“
153
Meine Entſchuldigungen, denen freylich das Geſuch—
te anzuſehen ſeyn mochte, wurden als gänzlich un—
gültig verworfen, und ich konnte zuletzt, ohne unhöf—
lich zu ſeyn, nicht anders, als einwilligen.
Der Sammelplatz, wo die Geſellſchaft ſich, von
verſchiedenen Gegenden kommend, einſchiffen wollte,
wurde mir bezeichnet und — ich darf es nicht ver—
hehlen — ich überließ mich, nachdem der Baron
ſich wieder entfernt, mit ſtrafbarem Hingeben der
geheimen Freude, die mein Herz empfand, ſo, wie
ich mir einbildete, gegen meinen Willen doch mei—
nen ſehnſüchtigen Wunſch in Erfüllung gehen zu ſehen,
ja meine Verblendung ging ſo weit, daß ich von nun
an glaubte, von mir ſelbſt die ſtillen Vorwürfe mit
Recht abwälzen zu können, die ich mir zu machen
hatte, und meinem Schickſal, das mich ja führte,
ſie aufzubürden. So täuſcht mit Trugſchlüſſen ſich
das Herz, wenn die Sluth einer heftigen Leiden—
ſchaft es erfaßt, es raub macht gegen ſeinen gehei—
men Richter.
Mit brennender Ungeduld erwartete ich die
zur Abfahrt beſtimmte Stunde und zu Bley, glaub—
te ich, hätten heute ſich die Schwingen der Zeit
gewandelt. Endlich erſchien fie und mit ihr Va—
letie. Sie war fo ſchön heute, eine zarte Bläſſe
überzog das holde Geſicht, und in dem himmliſchen
Auge glaubte ich Spuren von Thränen zu ſehen.
Als ich auf ſie zutrat, ſie zu bewillkommen, richte—
te ſie einen langen, trüben Blick auf mich, dann
154 0
ſchlug ſie die ſeidenen Wimpern nieder und ein
kaum merkliches Roth überflog einen Augenblick ihre
Wangen. .
Die Geſellſchaft trat unterdeß in das Schiff.
Ich erhielt meinen Platz Valerien gegenüber, und
man kann denken, daß dieß nicht beytrug, den Gang
meiner Phantaſie zu hemmen. Sie hatte ihren
Schleyer niedergeſchlagen und ſprach wenig, ſich mit
Übelbefinden entſchuldigend. Ich ſuchte mich fo gut
es gehen wollte mit meinen Nachbarinnen rechts
und links, ein Paar beynah kugelrunden wohlge—
nährten Landfräulein, zu unterhalten, deren ewi—
ges Ja und Nein dieſes Beſtreben mir gerade nicht
erleichterte. Von Zeit zu Zeit nur wagte ich einen
verſtohlenen Blick auf Valerien zu werfen, fo ſchüch—
tern und zagend, als müſſe jeder und ſelbſt die mich
einſchließenden Gänschen ſehen, was mein Inneres
beunruhigte. Trotz dem verhüllenden Flor erſpähte
ich doch einige Mahl, daß auch Valeriens Blicke auf
mir hafteten, mit Bewegung, wie ich glaubte, und
faſt hörbar klopfte mir das Herz.
Als wir an dem Beſtimmungsort angekommen
waren, uns erfriſcht hatten, und die älteren Mit-
glieder der Geſellſchaft, mit ihnen der Baron, nach
einem kurzen Spatziergang zu ihrem gewöhnlichen
Zeitverkürzungsmittel, den Karten, griffen, die ich
ausſchlug, erhoben wir Übrigen uns zu einem klei⸗
nen Streifzug durch das anmuthige Gehölz. Träus
mend ſchlenderte ich hinter dem Zuge her, immer
135
nur das Auge auf die vor mir her ſchwebende geliebte
Geſtalt gerichtet, deren im ſanften Winde fla:ternder
Schleyer mier wie die Verklärungsfittige eines En—
gels erſchienen.
So waren wir ein gutes Stück bereits gewan—
delt und immer kleiner wurde die Geſellſchaft, denn
nach allen Seiten hin in das mit recht anmuthigen
Gängen durchzogene Holz, hatten welche, Blumen
oder Erdbeeren, die gerade zu reifen anfingen, zu
pflücken ſich zerſtreut, und ehe ich es denke, ſah ich
mich mit Valerien allein. Nicht ohne Velegenheit be—
merke ich es und gehe einige Schritte ſtamm nebe
ihr her, da ich fürchte, durch meine bewegte Stim—
me mich zu verrathen. Endlich, um doch etwas zu
ſprechen, überreiche ich ihr eine kleine, eben gepflückte
Wieſenblume mit einem nichtsſagenden Compliment.
Sie blickt auf, ſieht mich an und ſagt leiſe, faſt zit:
ternd: „Zum Abſchied, nicht wahr?“
Sie wußte alfo darum, was ich vorhatte; das
trübe Auge galt mir; ſie liebte mich, um mich hatte
mit einem Seufzer ſich der ſchöne Buſen gehoben!
Dieß alles fuhr wie ein Blitz meiner Seele vorüber
und ſetzte die ohnehin ſo bewegte in den füßeſten
Taumel. Entſchwunden waren in dieſem Augenblick
alle beſſeren Vorſätze, Chiarend Bild, der Vergan—
genheit Erinnerung. Ich ſah nur das himmliſch
ſchöne, von Gluth, Liebe und Trauer wie von ſchmü⸗
ckenden Genien umfloſſene Weib, und indem meine
entzündete Phantaſie vergaß, daß heilige Geſetze,
*
156
Ehre und Pflicht zwiſchen ſie und mich unüberſteig⸗
bar ſich thürmten, hatte ich Unſeliger Willen und
Kraft verloren, ſie und mich zu retten.
Ich erwiederte nichts auf ihre Rede Ein treues
Bild der Gefühle, die mein Inneres durchtobten,
ſtand ich ſprachlos mehrere Secunden vor ihr, bis
das Nahen einiger aus der Geſellſchaft aus meiner
Stellung mich ſchreckte. Indem den Rückweg nach
Walokirch wir begannen, erzählte ich einem neben
mir gehenden jungen Mann, wie zufällig, daß dieſen
Sommer ich dieſe Gegenden nicht verlaſſen würde, und
indem ich dabey ſeitwärts Valerien aablickte, ſah ich
mit der ganzen Zufriedenheit eines Herzens, das ſeine
Wünſche fern empordämmern ſieht, wie ein lebhafter
Strahl von Freude in ihren Augen glänzte, und eine
Seligkeit von Wolluſt und Entzücken ergoß ſich durch
meine Bruſt.
Soll ich hier noch einmahl denen erinnern, die
dieſe Blätter leſen, daß keinen Roman ich ihnen nie—
derſchrieb, in denen nur ſtrenge Tugendhelden und
weibliche Weſen ſonder Makel auftreten. Ich war
ein Menſch und lebte unter Menſchen, und hat gleich
nie, ich kann auf den höchſten Richter mich berufen
— die Achtung und der Sinn für Tugend mich ver—
laſſen, fo war ich doch nicht ſtark genug, den Lockun—
gen meiner Gefühle immer zu widerſtehen, und ich
fiel, wie Tauſende fallen, ohne daß deßwegen mein
Herz verwilderte und die tiefe Reue, der gränzen—
loſe Schmerz, der beym Erwachen aus meinem
157
Nauſche mich ergriff, wird zeigen, daß wohl die
Ideale der Reinheit mir ſich verhüllen, aber nie
meiner Bruſt entſchwinden konnten. Das Urtheil
über Valerien überlaſſe ich denen, die gefühlt, die
geliebt haben und — die ihr Geſchick auf Proben
ſtellte, denn wohl leicht iſt es im ſichern Hafen, bey
kaltem Blute, bey vielleicht nie erſchienenen Lockun—
gen, mit ſchönen Floskeln hervorzurücken; ein an—
deres iſt aber das Reden als das Thun und — ine
dem es weit entferat von mir iſt, rechtfertigen zu
wollen, was nicht ſtreng Recht iſt, will ich nur andeu—
teu, daß der, der richte, in den eigenen Buſen erſt
greife, denn alſo fordert es der Menſchheit heilig billi—
ges Geſetz.
Ich verfehlte nicht, am folgenden Tage unter
dem Vorwand, zu ſehen, wie die Waſſerfahrt bekom—
men ſey, mich ia Hochberg einzufinden, und wenn
von jetzt an ich begann, enger mich an den Baron
zu ſchließen, ſeine Parthien öfter zu theilen, und
dadurch mich bald ihm fett unentbehrlich zu machen,
ſo wird der Leſer darin den Fortſchritt bemerken,
den mein ſonſt ſo offenes Herz, geleitet von glühen—
den Trieben, in der Kunſt der Verſtellung machte.
Sah ich gleich Valerien jetzt faſt täglich, ſo nä—
herte ich mich ihr doch darum um nichts mehr, und
kämpfend zwiſchen Leidenſchaft und Pflicht war,
wenn Zufall uns allein zuſammen ließ, unſere Un—
terhaltung ſo geſpannt, ängſtlich und abgemeſſen, daß
dem Unkundigen ſich wohl gar die Idee eines feind⸗
=
158
lichen Verhältniſſes aufdringen mochte, ſtatt deſſen in
unſerm Innern die allerheißeſte Gluth der Neigung
loderte. 5
Mit wenigen Zügen will ich den Jule mei⸗
ner Seele in dieſer Periode ſchildern, ſie werden hin—
reichen, zu zeigen, daß ich ſelbſt damahls nicht glück-
lich war, wie enn nie wahres Glück erblühen kann in
Lagen, wo der ernſte Richter in der Bruſt den Trieb
des Herzens verdammen muß, und wie, indem zu
feige ich war, mit einem männlichen Entſchluß mich
zu befreyen, ſelbſt die Nachgiebigkeit gegen meine
Leidenſchaft, mir keine reine Freude gewährte. War
ich nicht in Hochberg, ſo trieb und peinigte mich
eine Unruhe, die durchaus zu keiner Stätigkeit mich
gelangen ließ, von einem Ort zum andern, von ei—
ner Beſchäftigung zur andern, und Alles war mir
zuwider; befand ich mich endlich in Valeriens Nähe,
ſo war es darum nicht beſſer mit mir. An die Stelle je⸗
ner Raſtloſigkeit trat dann eine ſo ſeltſame Spannung,
ein fo wunderbar Gemiſch von Freude fie zu ſehen,
von Schmerz, nie, nie ſie erlangen zu können, daß
wahrhaft mein Gemüth jene Pein empfand, die der
Mythos der Alten dem Ixion andichtet. Sprach fie
mit mir, ſo war ich verlegen, denn ich fürchtete eben
ſo ſehr, daß ſie mich ganz durchſchauen möchte, als
ich es von andern etwa Gegenwärtigen beſorgte, und
unterhielt ſie ſich mit einem Andern, ſo peinigte
Neid, Eiferſucht gegen den Glücklichen, dem ihre
159
fäße Stimme tönte, meine Seele. Beſonders ers
griff wie eine Furie dieß Gefühl mich, wenn dann
und wann — was freylich ſehr ſelteu war — ihr
Gemahl mit einer unſchuldigen Liebkoſung ſich ihr
nahte.
Daß in dieſem Sturm, in dieſem Strudel, der
gleichſam wie ein Wirbel mich umherdreht, das
Entfernte alles meinen Blicken entſchwand, war
wohl natürlich, und ſo wird es keinem auffallend
ſeyn, wenn ich ſage: daß jetzt Chiarens Briefe, mei—
ne Freude ſonſt, mir unwillrommen waren; daß ich
ſtatt wie ehedem mit genauer Pünctlichkeit fie zu
beantworten, Wochen, Monathe verſtreichen ließ, ehe
ich zu dem ſauern Geſchäft mich entſchließen konnte.
Denn mußte ich hier nicht ganz die Larve der Ver—
ſtellung annehmen ? Mußte ich nicht Gefühle ſchrei—
ben, die meinem Herzen fremd geworden waren?
Waren ihre Briefe voll Liebe und Sehnſucht nicht
Dolchſtiche, die mein mit Mühe übertäubtes Ge:
wiſſen ſchrecklich aufweckten? Ach! daß ſie nicht da—
mahls ſchon aus meinem Schreiben, in denen ſtatt
der ſonſtigen, offenen Herzlichkeit, geſchrobene Phra—
ſen ſtanden, meine Verirrung erkannte, läßt nur
durch ihre vertrouende Liebe, die reine Argloſigkeit ihe
res Herzens ſich erkläcen Anders war es mit Aato—
nien. Nicht getäuſcht wie Chiara durch Herzeusems
pfindung, ſchlauer, möchte ich ſagen, von Natur, er⸗
Eazute fie bald an den kürzer und Seltener einlau—
fenden Nachrichten von mir, an ihrem gezwungenen
2
16⁰
Styl, daß eine mächtige Veränderung mit mir vor—
gegangen ſey, und aus einigen mir unfreywillig
entſchlüpften Andeutungen, errieth ſie bald das Wah—
re. Ihre leiſen Anſpielungen, ihre eben fo herzlichen
als zarten Warnungen verfehlten gänzlich ihres Zwe—
des. Zu mächtig hatte es mich ſchon ergriffen, die
ſchwache Hand der Freundinn vermochte entfernt mich
nicht mehr zu retten.
Die Zeit der Jagd war gekommen, eine für
den Weidmann ſo erfreuliche Periode, und der Ba—
ron, deſſen Schatten ich geworden, ſchlug mir vor,
einen Theil derſelben auf ſeinem Gute zuzubringen.
Nie hat dieſe Ergetzung auch nur den geringſten
Reitz für mich gehabt, aber — in Hochberg wohnen,
Valerien immer ſehen — ich hätte müſſen noch der
ehemahlige ſchuldloſe Menſch ſeyn, um Nein ſagen
zu können; ſo nahm ich es an, und ſtatt zu fliehen,
da noch Zeit es war, ſchlang ich ſelbſt die verderben—
de Kette feſter.
10.
Mehrere Wochen war ich bereits in meinem
neuen Wohnort, der Spätherbſt bleichte ſchon das
Laub, und unter Zerſtreuungen mancher Art war
mir die Zeit ſchnell dahin geſchwunden, als eines
Tages, da wie gewöhnlich der Baron, einem zwey—
ten Nimrod gleich, mit andern rüſtigen Jagdge—
fährten in die Wälder gezogen, ich aber von einem
161
leichten Kopfweh befallen, der Parthie mich ent:
ſagt und auf mein Zimmer zurückgezogen hatte, wo
ich in dem angränzenden Cabinet auf einen Soffa
mich warf, öffnet bey ſchon einbrechender Abend:
dämmerung ſich die Thür der Stube, und ich ſehe
Valerien ſchüchtern hereintreten. Meine erfe Bes
wegung war natürlich aufzuſpringen und ihr ents
gegen zu gehen, doch weiß ich nicht, welch ein plötz—
licher Gedanke mich davon abhält und mich neugie—
rig macht zu ſehen, was ſie hierher führt, die ſonſt.
nie bier war, und die jetzt, wie ich gewiß wußte, mich
nicht im Hauſe vermuthen konnte, da eine Stunde
vorher ich, von ihr gefeben, ein wenig ausgeritten
und erſt ſeit karzem wiedergekommen war, ohne
daß ein Menſch mich bemerkt hätte. Ich bleibe alſo
ruhig in meiner Stellung und beobachte durch die
halb offene Cabinetthüre ihr Thun. Sie tritt zu mei:
nem am Fenſter ſtehenden Schreibtiſch hin und legt
eine fpäte Blume, nachdem vorher fie fie an Herz
und Lippe gedrückt, hin, dann nähert ſie ſich dem
beynahe völlig dunklen Cabinet und nichts weni⸗
ger als glaubend, ſich verrathen zu ſehen, bemerke
ich, wie ſie eine kleine von ihrer Hand gearbeitete
Börſe auf einen vorne au in einer Ecke ſtehenden
Tiſch legt, auf dem gewöhnlich ich Bücher hatte;
in dieſem Augenblick erinnere ich mich, daß heute
mein Jahrestag iſt, ein Umstand der mir entfal⸗
len war, den ſie aber mit liebevoller Theilnahme
beachtet hatte, und man wir d mir glauben, wie von
152
dieſer zarten Aufmerkſamkeit ich mich ergriffen fühl⸗
te, man wird denken können, wie die ohnehin lo⸗
dernde Gluth meiner Gefühle, ermuthet durch ma—
giſches Dunkel und Einſamkeit, durch fo einen ſpre—
chenden Beweis von Liebe, zur Rieſenflamme em⸗
porſchlug.
„Valerie!“ rufe ich hingeriſſen aus, und mitei—
nem Ausdruck des Schreckens flieht ſie der Thür
zu. Da umſchlingen ſie meine Arme, und zu ſchwach
der wilden Heftigkeit meiner Leidenſchaft zu wider:
ſtehen, entflammt von inneren, eigenen Gefühlen,
ſinkt bebend mit um Schonung ſtammelnden Lip—
pen, deren ſüße Töne nur heißere Begierden durch
meine Bruſt jagen, ſie an mein Herz, und den trun⸗
kenen Sinnen entſchwand Verhältviß, Gegenwart
und Zukunft.
Spät gegen Abend warf ich mich auf das Pferd
und jagte nach der Stadt, dort einige Tage zu
bleiben, denn — konnte ich jetzt des Barons Anz
blick ertragen? konnte ich ihn ſehen, der mit Liebe
in ſein Haus mich nahm? der nach ſeiner Art mit
wohlwollender Freundſchaft mich überbäufte? —
Aber obgleich dieß Gefühl noch in mir glimmte, ſo
war ich doch weit entfernt, Reue zu empfinden, durch
ſchnelles und ewiges Entfernen nicht zu verbeſſern
— das konnte ich ja nicht mehr — nein! nur weni⸗
ger ſtrafbar noch zu werden; ach! ſie war mir zu
lieb, als daß ich es vermocht hätte, und willig hätte
ich im Taumel meiner Gluth für ein einziges Jahr
165
Redlichkeit eines Menſchenherzens kaute. Hören
werden Sie nie wieder etwas von mir, mich ſehen
ſoll ſelbſt das Auge der Welt nicht mehr. In dem
ſtrengſten Orden will ich bis zu der Stunde, wo
mein Richter mich ruft, beweinen, daß meine Bruſt
je anderen, als den Gefühlen zu Gott Raum
gab. Sie können ruhig leben, auch für die gerech—
ten Ahndungen eines Bruders über das zerſtörte
Glück der Schweſter. Francesco iſt nicht mehr. Er
fiel von der Hand eines beleidigten Gatten, ſchuldig
zwar, doch bedauernswerth, denn er liebte treu,
und kein heiliges Band knüpfte die, für die er ſtarb,
als fein Herz ſich ihr hingab.“
Gleich einem Erſtarrten ſaß ich da, und der
erſte Lichtblick, der über mein Thun in meine Seele
fiel, ſchien mich zu verſteinern. Eine gräßliche Stim—
me tönte in meiner Bruſt: „Verworfener!' und
Hand in Hand ſchien Chiarens verweinte Geſtalt
mit Mariens Schatten an mir vorüber zu ziehen,
und drohend die kalten Hände zum Himmel zu er—
heben, als riefen ſie für ihr durch mich gebrochenes
Lebensglück die Rache des Ewigen auf mein ſchul—
diges Haupt. Indem dieſe Idee mich mit Verzweif—
lung erfaßte, kettete meine Phantaſie Bilder an
Bilder! Ich ſah Valerien, der ich den Frieden des
Bewußtſeyas geraubt, von der Welt verachtet, von
den Ihrigen verſtoßen, ihr Leben in trauriger Ab—
geſchiedenheit verbringen, unglücklich als Gattinn,
unglücklich als Mutter, unglücklich als Liebende,
155
und indem ich allein mich anklagte, mir allein ich
alle Schuld beymaß, ging in fürchterlicher Bewer
gung, mit wilden verſtörten Blicken ich im Zimmer
auf und ab, und die tiefſte Verachtung meiner ſelbſt
ergriff mich. Vergebens rief ich mir einige Mahl
alle Troſtgründe, alle Beruhigungen hervor, die
noch vor kurzer Zeit meine Verhältniſſe mir in ſo
täuſchendem Lichte hatten erſcheinen laſſen; fie was
ren zu ſeicht, um jetzt, da das Gefühl der Wahr—
heit mir aufgegangen war, noch Stand zu halten,
und tiefer wurzelte nur in meiner Bruſt der Ab—
ſcheu, den ich gegen mich empfand.
Konnte ich in dieſer Lage Valerien noch ſehen?
konnte ich ihrem Gatten noch vor Augen treten? —
Vermochte ich gleich jetzt nicht, einen Entſchluß zu
faſſen, fo war doch der Gedanke vorherrſchend bey
mir: „Du mußt fort! du darfſt Valerien nimmer
wieder ſehen! —”
Ich warf mich auf's Pferd, und ohne Jemand
ein Wort zu ſaͤgen, ſprengte ich, als jagten Furien
mich, den Weg nach Ani ch zu. Als ich in meine
Wohnung trat, rief ich dem erſtaunten Bergſtern
zu, ich wolle reifen, heute noch, jetzt, den Augen:
blick, und mein verſtörtes Anſehen, meine Eile,
meine halb abgebrochenen, von ihm nur ſelten ver—
ſtandenen Worte, ließen die Idee bey ihm entſtehen,
ih fen in einem Duell der Mörder irgend eines
meiner Bekannten geworden, vielleicht gar des Ba—
rous, denn es war dem alten Mann nicht ganz ent⸗
157
gangen das Verhältniß, in dem ich in Hochberg
ſtand. Mit gutmüthiger Beſoralichkeit theilte er
mir dieſe Vermuthung mit, und goß, ohne daß er's
ahnte, dadurch ein neues Gift in mein Herz. Ich
hatte bisher in einer ſolchen trunkenen Verblen—
dung gelebt, daß ich mich faſt übe redet hatte, kein
Menſch vermuthe, auch nur auf die entfernteſte
Weiſe, wie nahe Valerie mir, ich ihr war; ein Ger
danke, der nun auf einmahl dal inſchwand, da ich
vernahm, daß ſogar dem ungeübten Auge eines
Bergſterns nicht entgangen war, was verſchleyert
ich der ganzen Welt glaubte. Meine mich foltern de
Einbildungskraft bekam dadurch einen neuen Spiels
raum. Ich glaubte nun bemerkt zu haben, wie des
Barons Betragen ſeit kurzer Zeit ein anderes als
ſonſt geworden ſey, wie ſeine wich oft heimlich
beobachtenden Blicke — eige Sache, die wirklich
ſich fo verhielt — einen geheimen Argwohn bezeig—
ten, der in ſeiner Seele Wurzel gefaßt hatte, und
zu den gerechten Gewiſſensbiſſen geſellte ſich nun die
gegründete Angſt um der armen, geliebten, ange—
betheten Valerie Loos.
Ich kannte den Baron. Er gehörte zu jener
Claſſe Menſchen, die durch nichts eraltiet werden,
im Genuſſe ihrer Lieblingsvergnügungen fortleben,
und gewöhnlich, weder viel Liebe noch viel Haß
empfinden; die aber, aufgeregt einmahl, gefaͤhrli⸗
cher, hörter, wilder ſind, als der, deſſen Blut leicht
aufledend, eben fo ſchnell wieder ſich kühlt. Ich
168
war überzeugt, daß bey der leiſeſten Ahnung eines
gegründeten Verdachts auf Valeriens übrige Tage
ein trübes Schickſal er verhängen würde, und konnte
ich ſie, wenn es geſchah, ihm entziehen? Und wie—
der, konnte ich fie fo ſchnell, fo ſchonungslos ver—
laſſen, ſie ſo ganz unvorbereitet den Launen eines
wahrlich weder zarten noch geliebten Mannes über—
laſſen? — Meine Seele ſchwankte hin und her ge—
trieben wie ein Schiff auf ſtürmendem Meere, und
rang vergebens nach einem feſten Entſchluß. —
So verging mir der Abend, ſo die Nacht, und
der Morgen dämmerte wieder, ohne daß deßwegen
eine feſte Idee in mir geworden wäre.
Von neuem warf ich mich auf's Pferd, mir
Ruhe zu erjagen. Es war ein kalter, trüber und
ſtürmiſcher Wintertag, und recht ſo ſchneidend, wie
der Wind durch die Locken Det ziellos dahin Spren—
genden ſtrich, ſtrich auch der Schmerz, die Reue
durch meine Bruſt, und umzog meine Seele mit
ſtarrer Rinde, vor der zitternd das innere, warme
Leben floh. — Gegen Mittag kehrte ich in meine
Wohnung nach A***h zurück, und der erſte Menſch
der mir entgegentrat, war Valeriens Kammerjung—
fer, die Vertraute unſeres Geheimniſſes. Sie über:
reichte mir einen Brief von ihrer Herrſchaft, und
ehe ich ihn noch erbrach, ſagte mir ihr verweintes
Auge ſchon feinen Inhalt.
„Unbegreiflich“ ſchrieb Valerie, „iſt mir Ihr
Entfernen; noch unbegreiflicher die Unvorſichtigkeit,
169
mit der Ihren Schreibtiſch Sie offen ließen, in dem
meine Briefe lagen, die nun in meines Mannes
Händen ſind. Eduard, Eduard, wie konnten Sie
mir dieß thun, wie ſo mich Preis geben, ſo elend
machen, die ich Sie ſo innig liebte! Wiederſehen
darf ich Sie nie; reiſen Sie, leben Sie wohl, le—
ben Sie glücklich, Eduard — ich werde es nie wie—
der ſeyn. Reifen Sie, ehe meines Mannes Rache
Sie ereilt, und — denken Sie zuweilen — Nein!
Nein! vergeſſen Sie die arme Valerie, die ewig um
Sie weinen wird.“
Ich geſtehe, daß dieſe Zeilen, nicht wie man
vermuthen ſollte, des Lebens letzte Kraft mir raub—
ten, nein! ſie ſtählten mich gegen mein Geſchick,
und mit feinem wahrhaft hölliſchen Gefühle von
ſchroffer, furchtbarer Kälte faltete ich den Brief
mit einer Ruhe wieder zuſammen, als brächte er
mir die gleichgültigſte Nachricht von der Welt. Ich
ſtand jetzt auf dem Gipfel, nichts Übleres vermochte
mehr, mir zu begegnen, kein Schmerz meine Seele
mehr zu treffen, uud es beſtätigte ſich in dieſem
Augenblick an mir die pſychologiſche Bemerkung:
daß auf dem Scheitelpunet des Weh's das Herz
gleichſam wieder Ruhe erringt. Aber welche Ruhe?
die Ruhe modernder er vor der Re ſich
das tröhliche Leben verbirgt.
Ich wußte, Chiarens Thränen floſſen um mich;
ich wußte, Valeriens auf immer zerſtörtes Lebens—
glück klagte mich an; ich wußte, daß nur h
Unterh. Bibl. 3. Jahrg 2. B. 8
170
der Rache gegen mich, der verdienten, des Barons
Bruſt bewegen konnten, — daß er nicht zögern
würde, e: auszulaſſen; und kalt wie ein Marniges
block war mein Herz. Keine Thräne, kein Seufzer
entquoll mir; ich hatte nur das Bewußtſeyn eines
Gefühls, der gränzenloſeſten, völligſten Verachtung
meiner Selbſt, des bitterſten Haſſes gegen Alles,
was athmet.
Ich hatte früher Pferde beſtellen Taffen, um zu
reiſen. Mein Bedienter kam mir anzukundigen, ſie
wären da und wollten aufpaden In dieſem Aus
genblick fuhr mir der Gedanke durch den Sinn,
der Baron könne glauben, ich flöhe vor ihm, wie
wohl ich hätte thun ſollen — und ich ſchickte den
Poſtillon wieder fort, trotzig entſchloſſen, zu blei⸗
ben. Zum erſten Mahl wies ich mit Harte Berg—
ſterns gutmeinende Worte zurück, und der bedau—
ernde Blick, den ich in des Mannes Augen zu ſehen
glaubte, erbitterte mich noch mehr.
In dieſer Stimmung hatte ich zwey Tage zu⸗
gebracht, ohne mir deutlich bewußt zu ſeyn, was
ich hier, was ich ſonſt wo in der Welt noch wollte:
ohne Valerien zu antworten, ja ſelbſt, ohne ein
Mahl den Wunſch zu hegen, ſie wiederzuſehen oder
überhaupt in einer durchaus veränderten Lage mich
zu erblicken; da trat am dritten Morgen der Bar
ron in mein Zimmer, und ſtellte ſich vor mich hin,
mit einem Blick mich meſſend, vor dem doch einen
Augenblißk die ſtarre Gleichgültigkeit meiner Bruſt
ö 171
wich. Ich ſaß am Fenſter, als er eintrat, und hatte
meinen Platz nicht verlaſſen. „Herr von ***,” hob
er endlich nach einer langen Pauſe an, „es gebricht
mir an Worten, meine Empfindungen Ihnen zu
ſagen; ich hoffe deßwegen, Sie werden ſich nicht
weigern, das Einzige mir zu gewähren, was ich
noch begehren kann, und mir folgen.“
Meine Apathie war unter dieſen Worten wies
dergekehrt. Ohne eine Sylbe zu erwiedern, ſtand
ich auf, machte eine leichte Verbeugung und ging
meine Piſtolen zu hohlen, und mein Pferd zu bes
ſtellen. Mein Diener wollte mich begleiten, ich ver—
both es, ſteckte eine Summe Geld zu mir, ſchwang
mich auf und ritt eben ſo ſtumm und fühllos, als
mein Begleiter der Baron, brennend war, mit
ihm, nach der eine Stunde von A“ ch geleges
nen Gränze. 5
Wir waren kaum daſelbſt angekommen, als
wir einem kleinen Gehölz uns näherten, abſtiegen
und unſer Schießgewehr in Ordnung brachten. In
dieſer Minute, als ich das Pulver auf die Pfanne
ſchüttete, und der Baron dabey mir ſo nahe ſtand,
daß unwillkührlich meine Blicke den ſeinen begeg—
nen mußten, ſtand auf einmahl der Gedanke, wie
von Dämonen feſtgezaubert, vor meinem Sinn:
„Wenn dieſe Kugel den rechten, geraden Weg geht,
iſt Valerie dein — ihr Beyde glücklich!“ und der
glühende Wunſch, meinem Gegner das Leben zu
nehmen, war die Folge davon.
8.2
172
Wir hatten unterdeſſen Weite genommen, und
als ich nun aufblickte und den Mann vor mir ſte—
hen ſah, Haß und Verachtung gegen mich im Ge—
ſicht, der doch ſonſt mein Freund war, der mich
lieb hatte, den ich ſo empfindlich, ſo unentſchuldbar
beleidigt hatte, und den ich jetzt bereit war, meis
nem ſchönen Thun die Krone aufzuſetzen, das Le—
ben zu rauben, wie die Ehre ich ihm nahm, da
zuckte plötzlich, wie ein Blitz, das gräßliche Gefühl
meiner Schuld vor mir auf, mein Auge trübte ſich,
und mein Arm fing an zu beben. 8
Dieſe Gemüthsbewegung entging dem Baron
nicht; er legte ſie aber falſch als Furcht aus, und
vermahnte mich grimmig, nicht ſo zu zittern, wenn
es das Leben eines Mannes gälte, deſſen beſſeres
Daſeyn ich ja doch kaltblütig hätte vernichten
können. Ä
Der gräßliche Vorwurf diefer Worte, die un:
ſägliche Bitterkeit, mit der ſie ausgeſprochen wur—
den, gab mir mein erſtes Gefühl wieder. „Sie ſind
verloren,” ſagte ich ihm, „wenn ich auf Sie anlege;
ich gebe Ihnen den erſten Schuß“ und mit dieſen
Worten brannte ich ſeitwärts los. Es war nicht
Groß mu th, was hierzu mich trieb, denn von neuem
wurzelte das Verlangen nach meines Gegners Le—
ben in meiner Bruſt — es war Stolz, gereitzte Gi:
telkeit, dem Baron zu zeigen, daß ich Furcht nicht
kenne, und kühn mein Leben auf einen Wurf zu
etzen im Stande wäre.
173
„Sie fpielen den Sroßmüthigen ſehr zur Un—
zeit, Herr von ***” entgegnete mir der Baron,
„ih werde nicht alſo thun; mich verlangt nach
Blut.“ Bey dieſen Worten drückte er ab, und ſau—
ſend pfiff die Kugel an meinem Ohr vorüber, daß
unwillkührlich einen Schritt ich ſeitwärts trat.
Gänzlich entſchwand jetzt meinem Blick der Ge—
danke an Schonung, da ich meines Gegenparts
Streben nach meinem Verderben ſah — ich bedachte
nicht, wie natürlich dieß war, noch daß wenige Se:
cunden vorher dieſelbe Idee in mir gekeimt hatte,
und mit furchtbarer Bitterkeit im Herzen ſchoß ich
auf den Baron. Ich ſah ihn bluten, taumeln, hin—
ſinken, und ohne gerade ein Gefühl von Neue zu
verſpüren, ging ich auf ihn zu, ihn zu unterſtützen.
Meine Kugel hatte ſeine rechte Bruſt tief geſtreift
und eine Ohnmacht war die Folge davon. Als ich
ihm beyſpringen wollte, ſtieß er mich heftig zurück,
und erſt als ſeine Sinne ſchwanden, gelang es mir,
mit ſeinem und meinem Tuche ſeine Wunde eini—
ger Maßen zu verbinden. Aber jetzt mußte ich auch
auf meine Sicherheit denken, und konnte, ferner
ohne Gefahr, eingezogen zu werden, nichts zu ſei—
nem Beyſtande thun; denn ſchon nahten ſich von
mehreren Seiten Leute, die, Holz im Walde fällend,
durch das Schießen waren herbeygelockt worden.
Nicht ohne Anſtrengung ſchleppte ich den großen
und ſchwerfälligen Baron, den ich für todt oder
174
doch rettungslos verwundet hielt, unter einen Baum,
gab ihm eine ſitzende Stellung, den Fluß des Blu—
tes dadurch zu vermindern, und ſchwang mich nun
auf mein Pferd, in vollem Galopp über die Gränze
ſprengend, während ich noch deutlich hinter mir her
die Stimme der Landleute hörte, die mit dem Wort
„Mörder“ mich bezeichneten.
Soll ich ſagen, Leſer, wie mir ward, als ich
dieß furchtbare Wort aus dieſer harmloſen Men-
ſchen Munde ſchallen hörte? Ich fühlte in dieſem
Lebensaugenblick, was Kain einſt mag empfunden
haben, da der Fluch: „ſey unſtät und flüchtig,“ ihm
erſcholl. Mir war, als pfiffen die winterlichen
Winde unaufhörlich gellend: „Mörder“ an meinem
Ohr vorüber. Ich ſah Valerie als Witwe, und ihr
Anblick entſetzte mich. Die Züge, in denen ſo oft
ich des höchſten Entzückens Seligkeit gefunden, an
der nie ohne Trunkenheit mein Auge vor Freude
und Wolluſt naß gehangen hatte, erfüllten mich
jetzt mit Grauen, denn neben ihnen, hinter ihnen
ſtanden wie auf Grabeshügeln kalte ſteinerne Denk—
mahle, die bleiche, von Wuth und Schmerz verzo—
gene Geſtalt ihres Gatten, die mit todten, ſtieren
Augen durchbohrend auf mich blickte, und untrenns
bar eins vom andern, verfolgte mich dieß Bild.
Ich war bis ſpät in die Dunkelheit geritten,
ohne zu wiſſen, welcher Straße ich folgte, ohne mich
auch darum zu bekümmern, und würde mit raſtlo⸗
179
fer Eile die Nacht fo durchzogen haben, hätte nicht
die Erſchöpfung meines Pferdes mich gezwungen,
ein Obdach zu ſuchen.
Ein einſam an der Heerſtraße gelegenes
Wirthshaus, auf das ich bald ſtieß, nahm mich
auf, und indem für mein Pferd ich dem Wirth zu
ſorgen auftrug, warf ich in der einzigen vorhande—
nen Stube mich auf einen Stuhl in die Ecke, und
überließ mich meinen troftlefen Ideen, die recht,
als hätten fie den Zeitpunet abgepaßt, wo der er⸗
ſchöpfte Körper ſtill halten mußte, mit verſtärktem
Schmerzesgefühl jetzt auf mich eindrangen.
Durch die Geſpräche des Wirths mit einigen
Reiſenden, die einen andern Theil des Zimmers
eingenommen hatten, erfuhr ich, daß ich nahe bey
M“ im * ſchen mich befand, und alſo über
acht Meilen von A***d entfernt war. — Meine
Einſylbigkeit, verbunden mit dem Verſtörten meis
nes Außeren, mochte eben keine fonderlih gute
Meinung meinen Stubengefährten von mir bey—
bringen, und deutlich bemerkte ich, wie durch abs
gebrochene Worte und Winke ſie ſich ihr Mißtrauen
gegenſeitig zu erkennen gaben. Doch dieß kümmerte
mich jetzt wenig: allein beſchäftigt mit meinem ver-
worren trüben Innern war Alles Außere mir gleich—
gültig, und es würde ganz und gar nicht mich be-
fremdet haben, wenn Einer der Anweſenden mich
für einen Räuber oder Mörder gehalten, und als
ſolchen angeredet hätte; denn könte doch fort und
176
fort das letztere Wort in meine Ohren und in mei⸗
nen unſtäten Zügen wähnte ich, müßte jeder leſen,
was mir begegnet.
11.
Des folgenden Tages erreichte ich ziemlich früh
M'“ und indem ich beſchloß, einige Tage hier zu
bleiben und meinen Diener mir nachkommen zu
laſſen, ſchrieb ich an Bergſtern mein bisherig Ges
ſchick, und wies ihn an, nach der Schweiz, in meine
dort befindliche Wohnung, ſich zu begeben, um da
feine Tage in Ruhe zu verleben, bis ich einſt wies
derkehren oder etwas von mir hören laſſen würde.
Zugleich erſuchte ich ihn, mir wo möglich einige
Nachricht von Valerien und dem Baron zu geben.
Wegen ſeines Aufenthalts in der Schweiz verſah'
ich ihn mit Briefen au W“ Is und allem ſonſtig
Nothigen. Die Zeit, ehe mein Diener mit meinem
Wagen und der Antwort von Bergſtern eintreffen
konnte, wandte ich an, mich in einen Strudel von
Zerſtreuungen zu ſtürzen, von denen ich nicht Lin-
derung, nein — nur Betäubung meines innern
Gefühls hoffte.
So fremd und außer meinem ſonſtigen Cha—
rakter dieſe Lebensweiſe auch lag, fo wenig wie an:
fangs gewünſchte Wirkung davon ich verſpürte, ſo
ließ ich doch nicht ab, ſie fortzuſetzen, und wirklich
gelang es mir, nach einigen Tagen, wenn hinterm.
177
Spieltiſch oder in Geſellſchaft junger Sauſewinde,
bey vollen Gläſern ich die Stunde vertobte, daß
auf kurze Zeit, wie verſcheucht vor dem Lärm der
Umgebung, die traurigen Bilder meiner Seele ver—
ſchwanden. Aber kehrte ich dann oft um Mitter—
nacht erſt auf mein Zimmer zurück, und ſah mich
hier allein, dann war es, als träten aus allen Ecken
die Geſtalten meiner Qualen hervor wie nächtlich
grauenvolle Geſpenſter, und ſchaudernd, die Hand
vor die Augen, die Blicke, die ich doch nicht zu er—
heben wagte, von Thränen getrübt, warf ich ſchluch—
zend mich auf mein Lager und ſuchte vergebens
Troſt und Ruhe in Schlafesarmen, die mich nur
zu umfangen ſchienen, um verworrener noch die
ſeltſamſten Gebilde meinem Geiſte vorzuführen.
Nach Verlauf von acht Tagen kam mein Die—
ner an. Er hatte dieſe Zeit gebraucht durch Um—
wege, die mir Nachforſchenden zu täuſchen. Das
Schreiben, ſo er mir von Bergſtern brachte, ent—
hielt dem Wenſentlichen nach, folgendes:
„Der Baron war zwar ſtark, doch nicht tödt—
lich verwundet, und die Arzte zweifelten nicht an
ſeiner Wiederherſtellung. Valerie, umlagert und
überhäuft von der ganzen Sippſchaft ihres Man—
nes: ſich ſelbſt auf's fürchterlichſte quälend, mit Vor—
würfen, kämpfend mit Liebe und von heiligen Pflich—
ten gebothenem Entſagen, fen kaum noch zu erken-
nen, ſo hätten dieſe wenigen Tage zerſtörend auf
ſie gewirkt, und man fürchte alles für ſie. Mei⸗
178
nem Wunſch gemäß würde er (Bergſtern) in wenig
Tagen nach der Schweiz abgehen, dort mich zu er—
warten, dem er Ruhe, und, wenn es moglich, Ver⸗
geſſen wünſche. Noch rieth er mir, mich nicht in
M“ aufzuhalten, da es zu nahe an A***c ger
legen, und des Barons zahlreiche Freunde und
Verwandte einſtimmig mir Rache geſchworen hätten.
Man kann denken, daß dieſe Nachrichten, bis
auf die erfte, von des Barons zu hoffender Gene:
ſung, nicht dienten, meinen Seelenzuſtand zu än—
dern. Beſtimmter als vorher noch traten jetzt die
Bilder aller derer, die mit heißer Liebe ich einſt
umfing, und die mein Nahen elend gemacht hatte,
vor meinen Geiſt, und mit grauenhaftem Entſetzen
klagte ich mich unaufhörlich als den ruchloſeſten
der Menſchen an, ſah ich in mir ein Weſen, auf
dem der Fluch des Verderbens ruht, das nur ge—
ſchaffen iſt, um Alles, was vertrauend ihm ſich nä—
hert, in die unglücksvollen Strudel ſeines Geſchicks
hinein zu reißen.
Die Fortſetzung und das ewige Brüten über
dieſe Ideen machten mich binnen kurzem zum ent—
ſchiedenſten Menſchenhaſſer, denn mit dem Verluſt
der Liebe und Achtung zu mir ſelbſt, verband ſich
der zugleich des Wohlwollens gegen alle Menſchen.
Mit mehr als furchtbarer Kälte, mit gräßlichem
Haß fing ich an, Weſen zu betrachten, denen ich in.
meinem verworren trüben Sinu die Urſache al
meines Leids zuſchrieb, und ganz vergaß, daß nur
179
ich allein die einizige Quelle desſelben war, ſo daß,
indem Andern ich aufbürdete, was mir nur gehörte,
ich gleichſam dadurch anfing, mich vor mir ſelbſt zu
rechtfertigen, und je ſchwärzer ich meine Mitge—
ſchöpfe betrachtete, je weniger beſchattet mein Ich
mir erſchien. Strafbare, aber natürliche Verirrung
von Schlüſſen, gegründet auf die in jeder Bruſt
verborgene Tendenz, mit verklärenden Augen ſich
zu betrachten. —
Es konnte nicht fehlen, daß dieſe, nach und
nach ſich ſehr feſt wurzelnde Anſicht, mich zu einem
der unleidlichſten Geſchöpfe machen mußte, das denk—
bar war, um ſo mehr, da ganz und gar ich mir
keine Mühe gab, das ſchrofffinſtere meiner Seele zu
verbergen, ſondern im Gegentheil bey jeder Gele—
genheit, ja faſt ununterbrochen meiner Laune den
Zügel hießen ließ. Nur dann war mir wohl, wenn
ich ſpielte; jede andere Zeit, jede andere Unterhals
tung, alles, was ich einſt ſo geliebt, Lectüre, Muſik,
Theater haßte ich, floh ich. Denn tauſend Erinne—
rungen, die mit allen Kräften ich niederzudrücken
ſtrebte, wachten in mir auf, bey dieſen einſt ſo ge—
liebten Genüſſen, die in beſſeren, glücklichern Tas
gen, da mein Herz noch liebte, ach! da auch für
mich ja noch ein Herz ſchlug, mich erfreut hatten.
Wohl traten mir oft mitten in der ſtarren Kälte, in
die ich mich hüllte, Thränen ins Auge, bey plötzlich
zufälliger Mahnung an vergangene Zeit; wohl
brach zuweilen ein warmer Lebensfunke durch die
1868
Rinde, mit der ich meine Bruſt umgab; aber ge—
gewaltſam drückte ich den Thautropfen der Me ſch—
heit zurück, erſtickte ich den aufglimmenden Strahl,
und härter und bitter wurde mein Herz. Mehr um
aus Gegenden mich zu entfernen, deren Anblick nicht
anders als zerreißend auf mich wirken konnte, als
aus Beſorgniß der gedrohten Ahndungen von des
Barons Anhängern, hatte ich M*“ verlaſſen,
und war dem Norden Deutſchlands zugezogen. Alle
früher einſt geknüpften Bande der Freundſchaft
mit Menſchen, deren Umgang mir ſonſt lieb und
ergötzlich war, hakte ich zerriſſen, denn — riefen ſie
nicht eine Vergangenheit mir zurück, der ewig zu
entfliehen der einzige Wunſch meiner Seele war?
Ich ſchrieb an Keinen, ſelbſt nicht an Bergſtern,
und mit Gewalt vergeſſend, alle Geſtalten verflof—
ſener Tage, war mein Hoffen, daß auch ſie mich
vergeſſen möchten, da ich fühlte, daß man mich
nicht mehr lieben, nicht mehr achten konnte. —
Die neuen Bekanntſchaften, die ich machte,
waren von der Art, daß ſtets und ohne Empfin—
dung ich mich zu trennen vermochte, und eben ſo
liebeleer, als ich an einen Oct kam, verließ ich ihn
auch, mit dem drückenden Bewußtſeyn, auch dich
vermißt Niemand, und ſchließen heute deine Au—
gen ſich auf ewig, ſo fließt auch nicht Eine Thräne
um dich. — O, unter allen Schmerzen, die die
Erde hat, iſt das der größte, zu wiſſen, daß man
völlig allein, völlig ungeliebt im weiten, weiten
181
Naum daſteht, der ohne Liebe ja fo todt und leer
iſt, und zu fühlen: du haſt es verdient! — —
In der Nähe einer norddeutſchen größeren
Stadt hielt ich mich länger als gewöhnlich auf, denn
ünſtät, wie Kain, war ich bisher umhergezogen,
Es war nicht Gefallen an dieſem Ort oder dieſer
Gegend, die mich feſthielt; zu wenig Anmuthsvol—
les haben die flachen Küſten unſers Vaterlandes!
als daß dem ſie ſonderlich zuſagen könnten, der
der deutſchen Erde ſüdliche Paradieſesauen, die
reichen Fluren der Mitte dieſes Landes ſah; es war
vielmehr jene Abſpannung, die uns gleichgültig
macht, gegen die umgebenden Gegenſtände, und der
es völlig eins iſt, in welcher Zone ſie athmet.
Hier ergab ich mich gänzlich jener unſeligen
Leidenſchaft zum Spiel; doch Leidenſchaft kann ich
es nicht neunen. Nie im ganzen Laufe meines Le—
bens hat mir dieſe Zeittödtung wahres Vergnügen
gemacht, nie habe ich nach ihr verlanbt, ſobald ein
freundliches Gefühl meine Bruſt erfüllte. Nur dann
griff ich zu den Karten, wenn wie damahls, zerfal⸗
len mit mir ſelbſt, mit Gott und Welt, Ruhe mei—
ner Seele fremd, das Schöne und Zarte alles von
mir gewichen war, und als das einzige Mittel den
tobenden Sturm meiner Empfindungen auf Augen—
blicke mir vergeſſen zu machen, ergriff mit jener
stammenden Heftigkeit, die ſtets bey allen Hands
lungen und Bewegungen mich begleitete, ich die
182
bunten Blätter, die wenigſtens keinen 58
ton vergangener Zeiten in mir aufriefen.
Des Morgens ſchon ſuchte ich mir die Geſell⸗
ſchaften auf, wo ich wußte, Menſchen zu finden, die
ſtets bereit waren, in meiner jetzigen Lieblingsbe—
ſchäftigung mit mir die Stunden zuzubringen, und
oft bis wieder in den neuen Tag ſaß ich, alles,
alles um mich vergeſſend, alle geliebten Bilder, die
wie goldne Träume einſt mich umgaben, nur das
Gefühl meines Elends nicht — hinter dem grü—
nen Tiſch.
Sichtbar litt meine, von Natur nur zarte,
durch Schmerz und Gram ſo heftig erſchütterte Ge—
ſundheit bey dieſem unordentlichen Leben, und ich
geſtehe, nicht ohne geheimes Wohlgefallen ſah' ich
meine blaſſen, zerſtörten Züge, das erloſchene Feuer
meiner Augen, denn es beurkundete mir, daß viel—
leicht bald über mich, auf immer Freudeuloſen, die
grüne Decke ſich breiten würde, die allen Herzen
Ruhe gibt; und ſtatt durch geregeltern Wandel
mich ſelbſt aufzuſparen, ſetzte ich mit einem Gefühl
von Zufriedenheit eine Lebensweiſe fort, die mir
baldige Befreyung hoffen ließ.
Zwey Jahre waren mir alſo vergangen, und
um nichts hatte ich mich geändert. Noch wurzelte
in mir derſelbe Haß gegen mich, und alle Andere
wie anfangs; noch umlagerten meine, durch Z.
ſtreuungen nicht übertäubten Augenblicke, die Ges
183
ſtalten und Bilder meiner Schmerzen; noch floh
ich wie ehedem jede, jede Erinnerung, jeden Ton,
der zu meinem Herzen ſprechen konnte — als eine
Anordnung über meine Vermögensumſtände, die
wahrlich nicht gewonnen hatten in dieſer trüben
Periode, mich zwang mein Vaterland nach fo lan⸗
ger Zeit wiederzuſehen.
Mit welchen Gefühlen betrat ich den Boden
der Heimath wieder! Ihn, auf den ich einſt ge⸗
wandelt war als barmlojer Knabe, wo ich die ſchöne
goldene Zeit einer ſchuldfreyen Jugend verlebt
hatte, wo fo viele ſüße Träume mich einſt umga—
ben, wo das Leben mir erſchienen war in der Strah—
lenglorie einer hoffnungsvollen Zukunft, wo tau—
ſend, tauſend lichte Bilder mich umgeben hatten,
ſo leicht und ſonnenhell, ſo freundlich milde — und
nun! — — Ihr wißt es, Mächte des Schickſals,
was ich empfand, als ich ſie wieder betrat, die
blühenden Fluren meines Morgens, arm — arm
am Herzen, liebeleer, fremd, kalt — ſtatt des ein—
ſtigen Tages finſtre Nacht in der Seele, Verach—
tung meiner felbit in der Braſt, die einſt fo hoch,
ſo warm erglühte; die einſt ſo freudig dem Leben
entgegen klopfte, und nun — nun!! Mariens
Bild, das ewig heilige Idol meines Sehnens,
ſchien auf der Gränze mich zu empfangen — ach!
nicht tröſtend, wie wohl dem Dulder die Manen
Heißgeliebter erſcheinen, um die dürre Wirklichkeit
den Rofenduft einer friſchen Morgenröthe webend,
184
liebend hinweiſen auf ein befferes Land jenſeits der
Thränen, wo der letzte, kange Seufzer verhallt und
zum heiligen Halleluja der Freude wird. — Nein!
zürnend — ach nein! zürnend nicht — aber wei—
nend ſich perhüllend, ob dem Gefallenen, wie ein
trauernder Genius am Sarkophage eines edlen
Daſeyus, ſchwebte ſie mir vor, und in Reue und
Schmerz, in Sehnſucht, Gram und Liebe zerfloß
mein kaltes, von ſtarren Gefühlen nur durchzucktes
Herz. — O, warum erſchien damahls nicht eine
tröſtende Geſtalt mir Verlaſſenen? Warum reichte
damahls nicht eine warme Freundeshond dem Ein—
ſamen zur Stütze ſich dar! — Doch ich ſollte nun;
erſt bitter noch empfinden, bitterer wie jemahls,
was es heißt, allein — gräßlich, allein, ohne Liebe
und Theilnahme zu ſtehen! —
Meine Verhältniſſe zwangen mich, mit meinen
Angehörigen zuſammen zu kommen. Ich trat in
meines Onkels Haus — er war längſt todt; Ama:
lie ſeit Jahren fhon mit ihrem Mann in einem ans
dern Ort wohnhaft; nur meine Tante und einige
alte Hausgenoſſen von ehemahls, fand ich wieder.
Als ich in das Zimmer kam, wo ſo oft ich einſt
geweilt, wo bey meinem Abgang nach“ ““ jener
mir nun feyerlich ernſt erſcheinende Aetus des Abs,
ſchiedes aus dem Hauſe Statt gefunden hatte, wo
ich zum letzten Mahl mit Liebe von Menſchen war
umarmt worden, die damahls einen Theil ihrer
Hoffnungen auf mich gebaut hatten, die ja nun alle
>
185
— alle zertrümmert waren, fo wie mein eigenes
Lebensglück, und meine Tante — die freylich nie
mit warmer Gluth mein Herz erkannt hatte, die
aber doch nun wie ein Schatten einer Frühlings—
zeit vor meinem Geiſte ſtand — auf mich zutrat,
und mit fremdem, ſchneidenden Ton mein ohnedem
blutendes Herz kalt anſprach: da war es, als fühlte
jetzt erſt ich das Getrennte meiner Lage. Mit Thrä—
nen im Auge, mit gebrochener Seele küßte ich der
die Hand, die einſt doch Mutterſtelle bey mir ver—
trat, und gern waͤr' ich zu ihren Füßen geſunken,
hätte um Liebe, ach, nur um einen Tropfen Zunei-
gung gefleht von der, die jetzt mir fo lieb, fo chener
erſchien — doch ihr ernſter, verachtender Blick, die
faſt unwillige Bewegung, mit der ihre Hand ſie
mir entzog, die voll Inbrunſt an die Lippen ich
drückte, ſagte mir deutlich, daß für mich kein Ge—
fühl in der Bruſt derer mehr glühe, die Natur am
nächſten mir geſtellt hatte, und mit gräßlicher Er—
bitterung gegen Welt und mich, zog ſich verſtärkt
der Harniſch von Haß um mein Herz, der kaum be—
gann, in dieſem Augenblick abzutbauen.
Die Höflichkeit erforderte, daß in dem Hauſe,
das ſonſt mir Heimath war, eine Wohnung wäh—
rend meines Aufenthalts mir angebothen wurde,
und ſo läſtig mir dieß jetzt ſeyn mußte, ſo konnte
ich es nicht ablehnen. Ich bezog das Zimmer wie—
der, das einſt ich bewohnt hatte, und getrieben
von Verlangen, eine Gegend wieder zu verlaſſen,
186
Menſchen, die nur ſchmerzlich durch ihren Anblick
auf mich wirken konnten, eilte ich mit allen zu Ge⸗
both ſtehenden Mitteln meinen Aufenthalt, ſo viel
ſich thun ließ, zu verkürzen. — Auch hier ſuchte
und fand ich bald meine gewohnte Zerſtreuung, und
indem hier mehr, wie irgendwo, ich mich ihr ergab,
diente mein Benehmen nur, den Widerwillen mei—
ner Umgebung gegen mich zu mehren.
Ich kehrte einſt ſpät des Nachts aus meinen
gewöhnlichen Zirkeln zurück, als mein Diener, der
mich erwartete, mir anzeigte, wie Amalie mit ih:
rem Mann Arlfort angekommen ſey. Ich geſtehe,
daß der Gedanke, mit Arlfort, dem Schöpfer und
der erſten Quelle meines Leids unter einem Dache
zu hauſen, gräßlich mich ergriff. Betroffen, voll
unendlich widerſtreitender Gefühle, brachte ich faſt
den Reſt der Nacht auf- und abgehend in meinem
Zimmer zu, indem ich nicht einig werden konnte
mit mir ſelbſt, wie mein Benehmen bey der nun
nicht zu vermeidenden Zuſammenkunft mit ihm ich
einrichten ſollte. Denn war er es nicht, der durch
ſeinen Verrath, durch ſeinen heillos treuloſen, mich
in all' die Begebenheiten geſtürzt hatte, die jetzt
mein Clend machten? War Er nicht Mariens
Mörder? — Alle Gefühle der Rache, die einſt
meine Bruſt gegen ihn durchtobt hatten, und die
nur gewichen waren vor eigenen Empfindungen des
Schmerzes, wachten jetzt wieder in mir auf, und
gräßlich blutige Vorſätze zogen wie düſtre Schatten
187
auf trübem Grunde vor meiner Seele vorüber.
Daun trat wieder, wenn ich ihnen mich überlaſſen
wollte, das Erkennen eigener Schuld vor mein in—
neres Auge, und indem ich ſchmerzhaft die Hand
die an kramphaft bewegte Bruſt drückte, fühlte ich,
wie wenig mir zieme, zu richten.
So nahte ſich endlich die Stunde, in der ich
mit ihm und feiner Gattinn zuſammentreffen ſollte,
And ich geſtehe, der Verbrecher, der gefoltert von
Gewiſſensbiſſen vor feinen Richter treten ſoll, mag
ein angenehmer Gefühl empfinden, als ich empfand,
da ich mich nach dem Wohnzimmer begab.
Mit einer freundlich höflichen Verbeugung kam
Arlfort mir bey meinem Eintritte entgegen, und
indem mit dem Titel des Verwandten und einer
Umarmung er mich begrüßte, war mir, der ich doch
dieß Ehren halber erwiedern mußte, welches frey⸗
lich hölzern und gezwungen genug geſchah, als
würgte mir ein Strick die Kehle zu, aus der ein kaum
hörbarer Ton, der einen Dank bedeuten ſollte, mit
Mühe ſich hervordrängte.
Es läßt ſich erachten, daß in einer ſolchen Stim-
mung kein erfreulich zerſtreuend Geſpräch aufkom—
men könnte, und, indem ſich die Rede bald auf Fa⸗
milien- und Vermögensangelegenheiten lenkte, hatte
ich noch Gelegenheit, zu bemerken, wie ein jäm—
merlid, knickeriſcher Geitz in Arlforts Seele herr—
ſchend geworden war in den Jahren, da wir uns
nicht ſahen.
188
Nicht ohne Bewegung hatte ich mich bald nach
meinem Eintritte ins Zimmer an Amalien gewen—
det, die, war fie gleich meinen Herzen in früheren
Tagen nichts, oder doch nur äußerſt wenig geweſen,
jetzt ja doch die Einzige war, deren Wiederauftreten
vor meinen Blicken ein minder ſchroffes und trübes
Gefühl in mir erregte, als die Andern.
Ich habe ſrüher ſchon einmahl erwähnt, daß
Amalie zwar anmuthlos, doch nicht unſchön war,
und die Zeit, die ich ſie nicht geſehen, hatte ihren
Blüthen nichts geraubt, im Gegentheile war durch
einen gewiſſen ernſten, ſinnigen Zug und Blick, den
ich früher nie an ihr bemerkte, der Ausdruck ihres
Geſichtes merklich erhöht worden. Als ich ſie jetzt ins
Auge faßte, fiel lebhaft mir die Scene bey meinem
einſtigen Abſchiedsfeſte ein, wo fie mir die für mich
zum Andenken geſtickte Brieftaſche überreichte und
ich gerührt ihre zitternde Hand an meine brennende
Lippen brachte. Es war dieſelbe Stube, und zufäls
lig ſtand Amalie und ich, als ich nun ſie anredete,
auf derſelben Stelle, wo wir damahls ſtanden, ein
Paar alten Ohlgemählden gegenüber, die ausgezeich—
nete Vorfahren unſers Hauſes darſtellten — und
unwillkührlich fing meine Stimme an zu beben,
mein Auge ſich zu benetzen; denn wie ſo anders,
anders war jetzt alles gegen damahls — wie ſo ganz
andere Menſchen ſtanden wir jetzt hier, mit ſo ver—
änderten Anſichten, Hoffnungen und Wünſchen, und
189
es waren ja doch nur wenige Jahre, die das Da
mahls und Jetzt trennten!
Freundlich und artig, aber kalt beantwortete
Amalie meine Anrede; ach! und abermahls mußte
ich fühlen, daß ich allein und ungeliebt in der wei—
ten Welt war.
Mit vieler Gewandtheit unterhielten während
der Zeit, ehe wir zu Tiſche uns ſetzten, Mutter und
Tochter ein gleichgultiges, nichtsſagendes Geſpräch,
und klang ja in Alforts oder meinen Worten eine
Saite an, die zu Erörterungen hätte fuhren können,
fo wußten ſie ſchnell einzulenfen, jedes Unangenehme
zu vermeiden, für welches Bemühen, geſchah es gleich.
wohl gerade nicht meinetwegen, ich doch im Stillen
innigen Dank ihnen zollte; denn zu gut fühlte ich,
wie nur des leiſeſten Hauches es bedurfte, die Gluth
zur hellen Flamme aazufachen, die in mir tobte, fo
oft mein ſcheuer Blick auf den Mann ſiel, den ich
nicht ohne Recht als den Vernichter meines b
glücks betrachtete.
So waren die Vormittaagsſtunden noch leidlich
genug vergangen. Die Angelegenheiten, über die ich
mit meinen Verwandten zu ſrrechen gehabt hatte,
waren, freylich nicht ohne Opfer von meiner Seite,
abgemacht, die ich aber willig gegeben hatte, da mei—
ner Seele Eigennutz ſtets fremd, jetzt beſonders mir
daran lag, ſchnell und gut davon abzukommen, und
wir begaben uns zu Tiſche, welches erfreuliche Mahl
noch durch die Gegenwart einiger weitſchichtigen
299
Vettern verſchönt wurde, die lebenslang nicht weis
ter von ihren Höfen ſich entfernt hatten, als nach
der nächſten Stadt, um dort auf dem Markte ihre
Ochſen und ihr Korn zu verhandeln, und jetzt durch
ihre anmuthigen Reden und zierliches Benehmen an=
fingen, mir einigen Spaß zu gewähren, beſonders
durch den Contraſt, den fie mit dem gezierten Wer
ſen meiner Tante und den etwas lahm erſcheinenden
Ton der Libertinage Arlforts machten.
Bis hierher war alles gut gegangen. Ich hatte
mehrentheils, eine ſtumme Rolle ſpielend, oder nur
Einzelnes erwiedernd, theils den Beobachter ges
macht, und ſchon näherte ſich das Mahl ſeinem En⸗
de, als einer jener Landvettern auf die unſelige Idee
kam, einige abgedroſchene Geſundheiten auszubrins
gen. Arlſort, der während der ganzen Zeit viel ges
ſprochen und noch mehr getrunken hatte, nahm die
faden Späße mit Freuden auf, und ergänzte durch
eigene Einfälle noch das Mangelnde. So waren ſchon
mehrere ſolche Toaſts in die Nunde gegangen, und von
mir ziemlich gleichgültig, faſt nur gezwungen, mitge⸗
macht worden, als Arlfort abermahls ſein Glas er—
hob, ſich gegen mich wandte und ausrief: „Herr
Vetter, dem Andenken der Zeit in *** und unſerer
Bekanntſchaft!“ Ein Stich fuhr bey dieſen Worten
durch meine Bruſt. Alle jene Bilder, die ich bisher
gewaltſam unterdrückte, theils meinen Gedanken
nachgehangen, traten mitRieſenſtärke, wie durch einen
Zauberſpruch belebt, auf einmahl vor meine Seele,
rar
und Zeit, Ort und Umgebung vergeſſend, ſah ich
nur den feindlichen Dämon vor mir, dem, mit
unſchuldsvollen Sinn einſt vertrauend, ich mich bite
gab, und der teufliſch alle meine Blüthen brach. Mit
dem Ausruf: „Daß ſie zur Hölle fahre“ — war ich
aufgeſprungen, und weithin ſchleuderte ich das Glas
aus feiner Hand, das klirrend auf den Voden fiel.
Ein allgemeiner Aufftand erfolgte; taumelnd von
Wein und Überraſchung, näherte ſich Arlfort mir,
und lallte mehr, als er es ſprach, einige Schimpf-
worte. Ich war in dieſem Augenblicke auch des letz
ten Funkens von ruhigem Nachdenken beraubt. Wü—
thend packte ich ihn an der Gurgel, und indem ich
den Wankenden gegen die Wand drückte, ſchien
mein Arm zu verſteinen, als ſollte er nimmer ſeine
Beute fahren laſſen.
Die Damen ſchrien nach Hülfe, Arlfort röchelte
dem Erſticken nah unter meiner Hand, und immer
krampfhafter drückten meine Finger ſich zuſammen,
bis endlich die andern Anweſenden mich gewaltſam
von meinem Opfer losriſſen, und nach dem Neben⸗
zimmer ſchoben.
Mein Gemüth war zu aufgeregt, um ſegleich
zur kalten Beſinnung wieder kommen zu können,
und Arlforts drohende Worte, die ich deutlich ver⸗
nahm, dienten eben nicht, dieſe Wirkung hervor zu
bringen. Ich wollte in meiner Ungezügeltheit mehr⸗
mahls wieder in den Saal mich ſtürzen, indem ich
mich theuer vermaß, wie der Bube mit feinem Le⸗
192
ben mir zahlen follte, und nur die angeſtrengten
Kräfte unſerer Geſellſchafter vermochten mich zur
rück zu halten. Endlich hörte ich, daß man aus dem
Nebenzimmer ſich entfernte, und nicht lange darauf
fuhr Arlforts Wagen vor, und er, feine Frau und
Schwiegermutter ſetzten ſich ein. Ich war während
deſſen im Zimmer auf, und abgerannt, und erſt eine
geraume Zeit, nachdem jene abgefahren, kam einige
Überlegung mir wieder. Ich fing an, mich zu ſchä—
men über dieſen rohen Ausbruch meines Gefühls,
von dem ich mich hatte hinreißen laſſen, die Ge—
ſetze des Anſtandes zu vergeſſen, und wohl einfe:
hend, wie nur mir die Schuld dieſes widrigen Auf—
trittes wurde beygelegt werden, gegen den einmahl
die Stimme beynahe aller meiner Angehörigen war,
fühlte ich, wie unmöglich länger ich in einem Hauſe
bleiben konnte, deſſen Beſitzer inn am mehrſten wi:
der wich eingenommen ſeyn mußte. Zugleich erin—
nerte ich mich, was ich Mariens Mutter einſt ſo
heilig gelobt, was ich dem Schatten der geliebten
Abgeſchiedenen geſchworen hatte, und mit jedem.
Augenblicke, der mein wallendes Blut abkühlte,
ſchwanden auch mehr und mehr die Bilder und
Entwürfe der Rache, die, erſt in mir aufſteigend,
ich mir vorgenommen hatte, noch auszuführen.
Die Herren Vettern waren gleichſam als eine
Wache bey mir geblieben; jetzt, da ſie ſahen, daß
ich kälter geworden war, und mein em Diener den
Befehl ertheilte, zu meiner baldigen Abreiſe alles
193
in Stand zu ſetzen, empfahlen auch fie ih, und
nicht ohne Bewegung bemerkte ich, ſo gleichgültig
mir dieſe Menſchen ſonſt auch waren und ihr Ur—
theil — daß als ein verlornes, durchaus nur Un—
heil ſtiftendes Weſen ſie mich betrachteten, den im
Herzen ſie gewiß gern aus ihrer, nach ihrer Art
rechtlich ordentlichen und ſtets im gleichen Gleiſe
wandelnden Sippſchaft verbannt hätten.
Es dauerte nicht lange, nachdem ich mich al—
lein auf meinem Zimmer ſah, als Georg, der alte
Kammerdiener meines verſtorbenen Onkels, der
jetzt eine Art von Haushofmeiſter vorſtellte, mit
vielen Verbeugungen bey mir eintrat und mir ein
Briefchen von meiner Tante überreichte.
Den Inhalt konnte ich mir leicht denken, und
ich war jetzt abgekühlt genug, um nicht ein leiſes
Lächeln zu unterdrücken über die Angſtlichkeit des
alten Mannes, mit der er mir das Schreiben
überreichte, und die mir klar machte, daß auch ihm
der Inhalt nicht unbewußt war.
Folgendes waren die Worte, die meine Tante
mir ſchrieb:
„Ob Sie gleich mich ſeit Jahren ſchon gewöhnt
haben, nichts Erfreuliches von Ihnen zu erwarten,
ſo hatte ich doch die Hoffnung, daß Sie wenigſtens
das Haus Ihrer nächſten Verwandten, das Ihnen
doch einſt Vaterhaus war, nicht zum Schau⸗
platze eines Betragens machen würden, das, ich be=
kenne es Ihnen, eben ſo viel Kummer als Unwillen
Unterh. Bibl. 3. Jahrg. 2. B. 3
191
längſt uns allen ſchon machte, und wohl den Wunſch
hätte entſtehen laſſen können, nicht ſo nahe durch
Blutsbande mit einem Manne verbunden zu ſeyn,
deſſen Streben dahin zu gehen ſcheint, die, die
einige Rechte auf ſeine Achtung haben, zu kränken,
und den Nahmen, der ſonſt ſo unbeſcholten war,
ſeines Vorrechtes zu berauben. Ich zweifle nicht,
daß Sie ſelbſt fühlen werden, daß nach dem heute
Vorgefallenen ich wohl nicht wünſchen kann, durch
Wiederſehen Ahnlichem zu begegnen; um fo mehr,
da das, was noch von gemeinſchaftlichen Angelegen—
heiten unter uns auszugleichen war, abgemacht iſt,
und ich habe deßwegen Georg den Auftrag ertheilt,
im Hauſe alles zu beſorgen, da ich ſo lange bey
meinen Kindern verweilen werde.“
Ich läugne nicht, dieſer Brief, hatte ich gleich
ſeinen Inhalt vermuthet, erſchütterte mich doch ſehr;
und erregten ſchon Vorwürfe, die ich nicht fo vers
dient, meinen Zorn und meine Verachtung, fo er—
griff mich doch auch ein unendlich ſchmerzliches Ge—
fühl. Längſt ſchon hatte ich mich gewöhnt gehabt,
außer Beziehung mit meiner Familie mich zu den=
ken; aber nun erſt fühlte ich mich ausgeſtoßen von
ihr, und aller Empfindungen leer muß der ſeyn,
dem bey dieſem Gedanken doch das Herz ſich nicht
beengt, wären die Menſchen ihm auch noch ſo gleich—
gültig, die die Natur an ihn knüpfte.
Eine Thräne ſtahl ſich in mein Auge, und mit
einem Tone von Weichheit, wie ſeit langen Zeiten
\ 13)
er mir nicht entquoll, wendete ich mich zu dem al:
ten Diener, der ſo oft als Kind auf ſeinem Arme
mich gehabt, der als Knabe und Jüngling mich ge:
kannt, und ſagte ihm: „Man will mich hier nicht
mehr, George, wie hat ſich das alles ſo geändert!“
„Ach, Gott, ja!” ſeufzte der alte Mann,, aber
nehmen Sie mir es nur nicht ungnädig, ich — ich
habe Sie doch immer lieb gehabt; und bey dieſen
Worten griff er nach meiner Hand und führte fie.gu
ſeinem Munde, indem er ſich die Augen wiſchte.
Ich kann nicht ſagen, wie dieß Zeichen von
Anhänglichkeit in dieſem Augenblicke mir wohl that.
So war doch noch Einer aus meiner Jugend un—
ſchuldsvollen Tagen, der Theil an mir nahm, und
je feſter die Idee ſich mir eingedrückt hatte: du ſtehſt
gänzlich verlaſſen auf der weiten Erde, je werther
mußte jetzt dieß Zeichen von Liebe mir ſeyn.
„Guter George,“ ſagte ich, und machte eine
Bewegung, als wollte ich ihn umarmen, der er aber
durch eine demüthige Verbeugung auswich, „guter
George, Er wird ſich doch manchmahl noch meiner
erinnern, und nicht ſo, wie die Andern, mich ver—
dammen.“ .
„Da ſey Gott vor!” entgegnete er, „Sie wa⸗
ren ja immer gut, ſchon als Kind, und ſind jetzt
gewiß auch nicht fo — ſo — —”
Hier ſtockte der alte Mann, als wäre er verle⸗
gen über den zu wählenden Ausdruck, dana fuhr er
fort; „Malchen, Frau von Arlfort wollte ich ſagen.
J 2
169
meinfe das auch, als Ihre gnädige Frau Tante mir
den Brief an Sie übergab; aber ſie durſte es nicht
recht laut werden laſſen, denn die Frau Mutter
und der Herr Gemahl waren ganz erſtaunlich auf—
gebracht.“
So hatte alſo Amalie doch auch für mich ge—
ſprochen, gefühlt vielleicht, wie wehe meinem Her—
zen Arlforts Anblick ſchon thun mußte; und wahr:
iich ein Tropfen Zufriedenheit rann in das Bittere
meiner Seele bey dem Gedanken, daß ſie, die un⸗
ter allen meinen Angehörigen von mir am meiſten
mit war zurückgeſetzt worden, doch noch ein Gefühl
der Billigkeit für mich hegte.
Meinem Willen gemäß hatte mein Diener alles
zu meiner Abreiſe noch denſelben Abend beſorgt—
Jetzt trat er ein, mich zu fragen, wohin er die
Pferde beſtellen ſollte, und ſo natürlich dieſe Frage
war, fo ſehr ſetzte fie mich in Verlegenheit.
Wo ſollte ich hin? So weit die Sonne ſchien,
ſtand mir die Welt offen, aber auch eben ſo weit
ſah meine trübe Phantaſie nur ein einſames, liebe:
leeres Daſeyn — nirgends auch nur eine Seele, die
für mich empfand; denn hatte ich nicht die, denen
theuer ich einſt war, getäuſcht, elend gemacht?
Ach! als ich mich jetzt wieder kummervoll in den
Wagen warf und der erſten Station nach Wien
zueilte, ruhte ſolch Dunkel in meiner Seele, wie
auf der Gegend, die um mich war, und indem ich
zum Abſchiede dem alten Georg noch die Hand drückte,
197
fühlte ich ſchaudernd, wie von dem letzten mir nähern
Weſen ich mich auf immer trennte, und das Bild
jenes Tages, da auf derſelben Stelle mein Onkel
mir einſt noch Lebewohl ſagte, als ich die Akademie
bezog, trat wie eine Flammenſchrift brennend, ver:
zehrend vor meinen inneren Blick.
—
5 12.
Nach einigen Wochen Aufenthalt in Wien er—
hielt ich auf ein Schreiben von mir Briefe von Berg—
ſtern, und obgleich nicht wiſſend, was ich eigentlich
in der Schweiz beginnen wollte, ja ſelbſt mich vor
dem Wiederſehen von Menſchen fürchtend, in deren
Blicken ich die ſtillen Vorwürfe meines Benehmens
zu leſen erwartete, ſo entſchloß ich mich dennoch,
dahin zu reiſen; denn zu ſehr rief ein Ton vergan—
gener Zeiten in der Kaiſerſtadt zu meinem Herzen,
den alle wilde Zerſtreuungen, in die ich mich mehr
wie je ſtürzte, nicht übertäuben konnten. Auch meine
ökonomiſchen Umſtände, auf die doch dann und
wann ich einen Blick zu werfen begann, ließen den
Entſchluß reifen, einen ſtillern Aufenthalt mir zu
ſuchen, wo weniger Preis gegeben einer Menge Be—
dürfniſſen, als in einem ſo volkreichen Orte, ich an—
fangen wollte, durch Eingezogenheit das zu erſetzen,
was die Sehnſucht nach Entfliehen vor mir ſelbſt in
den letzten Jahren mich hatte verbringen laſſen. —
Schon einmahl hatte wohlthätig der Anblick un:
198
endlich erhabener Natur auf mich gewirkt, und wenn
ich auch nicht Heilung erwartete, ſo hoffte ich doch
Linderung zu finden zwiſchen jenen ewigen Felſen—
wänden, die wie Züge von eines Gottes Hand,
hehr und unendlich zu den Wolken ſich empor gipfeln.
Ich ſäumte nicht, den gefaßten Entſchluß aus⸗
zuführen, und bald umſchloß mich wieder das ſtille
Thal, das ich einſt an Chiarens Hand mit neu er—
wachenden Lebenshoffnungen betreten hatte.
Mit offenen Armen, voll inniger Zuneigung,
empfing mich Bergſtern, und indem ich weinend an
ſeine Bruſt ſank, zuckte ein freundlicher Strahl durch
meine Seele, daß ich doch nicht ſo ganz, ſo ganz
verlaſſen war, daß doch ein Weſen mit immer glei—
cher Liebe und Anhänglichkeit an mir hing.
Auch im W. .. ſchen Haufe machte ich bald
nach meiner Ankunft meine Aufwartung. Ach mit
welchen Gefühlen ging ich das erſte Mahl hin! —
Ich wußte, daß feinen Bewohnern alle die Verfr—
rungen nicht unbekannt geblieben waren die ich mir
hatte zu Schulden kommen laſſen, und ich fühlte
wohl, daß ich ihnen das als Menſch nicht mehr ſeyn
konnte, was ehedem ich ihnen war; daß der, der
auf das ſtille Blumenleden eines guten Mädchens,
das ihnen allen ſo lieb war, verzehrenden Schmerz
geworfen hatte, nicht verdiente, von dieſen guten
Menſchen noch geachtet zu werden. Beſonders klopfte
mir das Herz bey dem Gedaaken an Antonien. Sie
war mir ein? eine ho fheuere, fo treue Freundinn
199
geweſen; auch ich hatte einſt ihr ſo nahe geſtanden;
ich hatte fo ſchöne, fo reine Stunden in Ihrer Nähe,
geehrt durch ihrer ſchönen Seele Vertrauen, ge—
lebt; ſie hatte, als an einen anten Menſchen, ſich
an mich geſchloſſen, und wie ſchlecht hatte ihren
Glauben ich bewährt! Denn, wie ſchon erwähnt,
auch ſie hatte in jenem Taumel, der in Valeriens
Nähe mich ergriff, ich mit ſchnödem Undank und
Kälte mir entfremdet, und natürlich war wohl, daß
nicht entſchuldigend fie mich beurtheilen konnte.
Unverändert mit dem alten Ausdruck der Herz—
lichkeit nahm mich der Hofrath auf, und kein Wink,
kein Ton, der mich verwunden konnte, ließ mich
fühlen, was zwiſchen jetzt und ehemahls lag. Aber
anders war es mit den weiblichen Bewohnern, und
ſchmerzlich drückend, wie eine Bergeslaſt empfand
ich mit Wehmuth erſt, in der Folge mit herber
Bitterkeit, daß nur des Anſtandes Geſetze die Das
men des Hauſes zwangen, mich nicht das ganze
Gewicht ihrer Meinung von mir fühlen zu laſſen.
Es iſt eine, auf die Erfahrung aller Zeiten ge—
ſtützte Sache, daß unſer Geſchlecht weit nachſichti—
ger richtet, als das zarte, weit duldſamer gegen
Verirrungen iſt, als dieſes, und in des Weibes rei—
ner Bruſt weit tiefer der Unwille eingreift gegen
Fehler, als in der des Mannes; wie ja auch auf
eine zarte Blumenflur das Verletzende mehr und
länger wirkt, als auf ein ſchrofferes Gefilde.
Beſonders, wie ich ja auch mit Recht nicht anders
208
erwarten konnte, war Antonie mir abgeneigt, ja
feindlich ſelbſt, und oft, wenn ich bey wiederhohl:
tem Zuſammentreffen mit ihr, einen bittenden Blick
auf ſte richtete, ſie anredete, las ich in ihren Augen,
in dem Ton der Stimme, die ſonſt voll Huld mir
erklungen, den Abſcheu, den gegen mich ſie hegte,
und nicht vermag ich zu ſagen, wie es mich ergriff,
die ſo gegen mich zu ſehen, die meinem Herzen
doch ſo theuer immer war, von der ich Troſt nicht
gehofft, nicht erwartet, ach! nur geahnt hatte in
ſtillen Augenblicken, wenn einmahl mir es gelang,
aus dem Wuſt trüber, verworrener Empfindungen,
auf eine kurze Minute mich empor zu arbeiten.
Mein Gemüth war durch zu langes Erſtarren
zu ſehr einem weichen Hingeben entfremdet wor—
den, zu lange hatte eine dunkle Lebensanſicht aus—
ſchließend ſich meiner bemächtigt, um gerecht noch
ſeyn zu können, und die Bitterkeit, mit der ich ſelbſt
mich im Auge hielt, hatte nicht verfehlt, auf Alles,
außer mir ihren verdüſternden Schleyer zu werfen.
Es wird daher begreiflich ſeyn, wie jetzt in meinem
Herzen eine Schroffheit gegen Antonien ſich einzu—
wurzeln begann, die oft in wirklicher Härte ſich
anfing zu äußern, und um ſo krampfhafter mein
Inneres ergriff, da dieſer, ich möchte ſagen, erzwun: —
gene Haß, mit geheim glimmender Lieb’ und Reis
gung kämpfte. War früher ſchon durch meine faft
ſtets herrſchende trübe Laune ich ein unleidlich We—
ſen geworden, das ſich ſowohl, wie Andern zur
201
Laſt war, ſo wehrte ſich jetzt dieß noch bey weitem,
und oft ließ von meiner feindlichen Stimmung ich
mich hinreißen, ſogar die äußern Formen des geſel—
ligen Tons zu vergeſſen, und mit einer, an Roh:
heit gränzenden Nauhigkeit, meine Umgebungen zu
verwunden. Eine natürliche Folge war, daß Alle,
die ſonſt wohl noch einigen, wenn auch nur höchſt
oberflächlichen Antheil an mir genommen hatten,
ſich nun gänzlich von mir zurückzogen, und immer
tiefer, immer ſchmerzlicher ich fühlen mußte, wie
jo nichts ich mehr war. Nur der Hofrath blieb une
ter allen meinen Bekannten mir mit immer glei⸗
cher Empfindung treu, und nur er allein übernahm
es, mich zu vertheidigen, zu entſchuldigen, wenn
Alle mich verurtheilten.
Meinen, ſeit geraumer Zeit angenommenen
erſtreuungen hatte ich anfangs etwas entfagt, mich
En wieder dem ehemahls fo warmen Trieb nach
Wiſſen genähert; aber bald fiel ich von neuem in
jenen Wuſt zurück, der immer unentbehrlicher mir
zu werden anfing. Das einzige, täglich um mich les
bende Weſen, zu dem noch, mit einiger Neigung
ich mich gezogen fühlte, Bergſtern, wurde um dieſe
Zeit mir auch entriſſen. Mit ihm fiel das letzte
Band, fo mi noch an ein Herz knüpfte. Seit Zah:
ren ſchon fortwährend kränkelnd, verſchied er in
meinen Armen, und mein aufrichtig tiefer Schmerz
ehrte ſein Grab, wie das eines Vaters.
Abermahls war beynahe ein Jahr vergangen
202
wie im dumpfen, ängſtlichen Traum, aus dem ver:
gebens ich zu ringen ſtrebte, vergebens den trüben
Bildern zu entfliehen ſuchte, die unaufhörlich mir
folgten, als einſt zu einer Familie in die Nachbar:
ſchaft zur Begehung eines kleinen, häuslichen Fe—
ſtes ich geladen wurde.
Ehedem waren ſolche Licht- und Freudentage
in traulichen Kreiſen die liebſten meiner Genüſſe
geweſen, weil da unter gebildet guten Menſchen
mit des Frohſinns heiterem Spiel ſich am lieblich—
ſten die Grazie vereint, und des Herzens warmer
Ton nicht fo leicht verklingt, wie in geräuſchvoll
größeren Vereinen, wo ſchnell und glatter der
Menſch am Menſchen vorübergeht. Jetzt war auch
dieß anders. In das Stillleben liebender Freund—
lichkeit erklang zu laut der Mißton meiner Seele,
und die Bande der Herzlichkeit, die Andere um—
ſchlangen, erregten meinen Neid. — Dennoch nahm
ich die Einladung an, denn mehr noch als dieß,
ſcheute ich Alleinſeyn.
Ich traf, wie ich auch vermuthet hatte, die Fa—
milie des Hofraths gleichfalls da, und indem Alle
ſich freundlich an einander ſchloſſen, in tranlichee
Hingebung ſich gegenſeitig erheiterten, ſtand nur
ich — nur ich allein theilnahmlos, herzlos da; ich,
der Einzige in einem Kreiſe Froher, der mit trü—
ber Nacht in der Seele wie eine ſchwarze Felſen⸗
klippe auf grünender Flur war.
Es war in den kurzen Tagen des Jahres und
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des Genuſſes' freyen Natur beraubt, begann die
Geſellſchaft mit einbrechendem Dunkel zu mancher—
ley Spielen ſich zu gruppiren. Ich weiß ſelbſt nicht,
wie es kam, daß heute ich die dargebothenen Kar—
ten ausſchlug, und während in den hellerleuchteten
Zimmern Jeder ſich beſtmöglichſt unterhielt, zog ich
von einem ins andere, bald hier bald dort mich
niederlaſſend, wie ein unholder Geiſt umher. Je
länger, je mehr wurde mir das muntere Geplauder
der Anweſenden läſtig, und da ich nicht gut mich
entfernen konnte, ſo ſetzte ich mich endlich in ein
nur ſchwach beleuchtet Rebengemach, wo vorher der
Peerſon, der zu Ehren dieß kleine Feſt von der Be⸗
ſitzerinn des Haufes war veranſtaltet worden, auf
einem, wie ein Altar geformten Tiſchchen, die Ges:
ſchenke der Liebe und Zuneigung waren gebracht
worden von den Theilnehmern, und die nun noch
alle da lagen. Es waren durchgehends werthloſe
Kleinigkeiten, die nur durch Art und Form des
Überreichens Bedeutung erhielten; eine Blume,
eine ſeltene Frucht oder dergleichen. Jetzt, da ich
mich allein ſah, vor mir das bekränzte Tiſchchen,
das Liebe und Neigung guter Menſchen Einem aus
ihrer Mitte geſchmückt hatte, fing meine Bruſt
mächtig an zu arbeiten, und ein unendlich, weh—
muthsvolles Gefühl ergriff mich bey dem ſo natür—
lich aufkeimenden Gedanken: es lebt keiner, dem
nicht Ein Herz, wenigſtens in Liebe ſchlägt, an dem
nicht Einer Seele fromme Wünſche hängen, und
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nur du, du nur biſt allein, und ſey dein Geſchick,
welches es will, fo rinnt auch nicht Eine Thräne
um dich, und winkt heute dir noch die letzte deiner
Stunden, yo lebt dein Andenken in keinem Herzen
fort. Wie der Abendwind die Blätter über dein
Grab jagen wird, ſo wird dein Gedächtniß ſpurlos
entſchwinden, und du tratſt doch mit einem war—
men Herzen voll Liebe ins Leben, und haſt ja doch
nur menſchlich, jugendlich gefehlt.
Ich drückte überwältigt von Schmerz die Hände
vor die Augen, und wahrhaft in Wehmuth rann
meine Seele hin. Da trat Antonie, an der Hand
der Wirthinn des Hauſes, in das Zimmer, und un—
möglich war es, meine Bewegung ihnen zu ver⸗
bergen.
Mit einer Freundlichkeit, wie lange ich von
Menſchen nicht gehort, nähert ſich mir die letztere,
und ſagte: „Wir ſind Alle ſo froh heute, ſeyn Sie
es doch auch einmahl. — Kaum vermochte ich zu
antworten, mit gepreßter Stimme erwiederte ich
nur, indem ich die Hand auf mein zuckend Herz
legte: „Kann ich, darf ich es denn?“ und zum Zim-
mer eilte ich hinaus, den Sturm meiner Gefühle
in der ſtürmenden Natur verwehen zu laſſen.
In dem anſtoßenden Garten durchlief ich die
Gänge, und während mit wahrhafter Hingebung
mein Herz nach Faſſung rang, nach Kraft aus dem
trüben Chaos feiner zorreißenden Ideen ſich loszu⸗
winden, fing an ein Lichtſtrahl, wie von Verge⸗
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bung in mir aufzugehen. Es fhien, als wenn am
fernen Lebenshorizont durch die Nacht mir noch ein-
mahl eine Aurora von Hoffnung aufgehen wollte,
und der Haß gegen mich und Alles, der ſo lange
mich verſteint, begann vor reineren Empfindungen
zu ſchmelzen.
Da trat ich wieder in das unlängſt verlaſſene
Zimmer, und mein ſcheuer Blick fiel auf Antonien.
Sie ſaß auf der Stelle, wo ich zuvor geſeſſen, in
nachdenkender, ernſter Stellung, als kämpfte ihre
Seele mit einem aufſtrebenden Entſchluß, und mein
Eintritt ward nicht ſogleich von ihr bemerkt. Ich
ſtand ihr gegenüber, die Hand auf's Herz, das Auge
von Thränen naß, und betrachtete, verloren in Bil—
dern der Vergangenheit, jener ſüßen, theuren Zeit,
da ſie mich Freund nannte, da mit Wohlgefallen
ihre Blicke auf mir weilten, da ihr Umgang mir
das Leben ſchmückte: die zarte anmuthumfloſſene
Geſtalt, der ich ſo gern, ſo gern mit Liebe, Ver—
trauen, mit Reue mich genaht hätte, von der allein
ich auf Erden meinen verlorenen Himmel wieder
erwartete. ,
Ein kleines Geräufh, das ich unwillkührlich
machte, ſchreckte ſie aus ihrem Nachſinnen auf. Sie
blickte empor, ſtand auf, ſah mich mit einem Blick
voll weichen Mitleids an, wie bedauernd, und
wollte ſich entfernen. Da ſprach ich leiſe, zagend;
„Antonie!“ und das Überwallen meines Herzens
erſtickte meine Sprache. Noch einmahl ſah ſie auf
Unterh. Bibi, 3, Jahrg. 2. B. K
—
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mich, und unwilkkühelich reichte fie mir ihre
Hand.
In alten frommen Legenden wird erzählt, wie
oft die Engel des Herrn hernieder ſchweben, den
Müden, den Verirrten aufzurichten, und durch die
Nacht und Wüſten, in denen zagend und verzwei⸗
felnd er irrt, ihn zu führen, bis eines neuen Tages
goldene Morgenröthe ihm-ſcheint, und beruhigt,
verſöhnt mit ſich und ſeinem Geſchick, der Gefallene
ſich wieder aufrichtet, voll Glaube und Hoffnung
und den Sternen Gottes gleich, die alten Unſchulds⸗
gefühle feiner verlorenen Jugendzeit neu in ihm er-
wachen. — Was jene gläubig frommen Sagen
—
ſchildern, empfand ich jetzt. Ich hatte auf ihre Hand,
die in der meinen bebte, mich niedergebeugt, und
die fallenden Tropfen meines Auges beurkundeten
ihr das Innere meiner Seele. Da liſpelte leiſe ihr
Mund ſo tröſtend, wie wohl die verzeihenden Töne
der ewigen Liebe ſeyn mögen: „Armer Unglückli⸗
cher!“ und hin zu ihren Füßeu ſank ich und ſtam⸗
melte: „Vergebung!“
Es ſchwang aber in dieſem Augenblick der ver⸗
ſöhnte Genius meines beſſern Seyns feine Frie—
denspalme über mich, und wie gereinigt von Schuld,
wie neu erſtanden zu neuem Leben rann in meinen
Gram, den ich ſo lange trug, der Freude erſter
Tropfen wieder.
An Anteniens Bruft fand ich mich wieder, um⸗
ſchlung en von ihrem Arm, wie rettende Engel müde
*
U
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Erdenkinder umſchlingen und halten, und die lang—
verſchloſſenen, gewaltſam, unter erzwungenem Haß
verſteckten Gefühle der reinſten Liebe brachen mit lich—
ten Flammen hervor, und rötheten, wie ein ſchöner
Frühlingsmorgen, meiner Seele trübes Dunkel.
O heiliger Moment meines Lebens! wie ſchön
vergüteſt du mir die Schmerzen, die ich empfunden,
die ich mir ſelbſt bereitet zum Theil, für die ich ja
aber durch die Trauer blühender Lebensjahre ge—
büßt habe. — Ja, jetzt erſt wurde mir klar, was
Liebe und was Leben iſt, und indem in meiner Bruſt
alle Strahlen der Freude aufgingen, ſchien ich mich
zurück verſetzt in der erſten Jugend heitre Tage,
wo, goldner Hoffnungen voll, das Leben mich an⸗
lachte, wie eine blumenbedeckte Flur. 0
Wohl klang noch zuweilen in den erſten
Zeiten ein Mißton der Vergangenheit in einſamen
Stunden leiſe in mir auf, aber als hätte mit dem
vergebenden, liebevollen Erſcheinen eines reinen,
fleckenloſen Weſens ſich mein Geſchick ausgeſöhnt;
als hätte die Wehmuthsthraͤne des Mitgefühls, ih⸗
rem Auge entronnen, aus dem großen Schuldbuche
meine aufgezeichneten Verirrungen weggeſpühlt; wie
ja auch das Herz zu hoffen wagt, daß einſt vor dem
Hauche ewiger Liebe die finſteren Flecken des irdie
ſchen Lebens, angemerkt von ſtrenger Gerechtigkeit,
dahin ſchwinden werden — ſo ſollten auch dieſe
letzten, trüben Klänge mir veraehn, denn nicht
lange nach dem Tage, der Ruhe und Zufriedenheit
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mir wiedergab, erfuhr ich, daß auch Chiara mir
verföhnt, fortan an mich, ohne trüben Schmerz zu
denken vermochte, oder vielmehr: daß ein neu an
ihrem Lebeushimmel aufgegangenes Gefühl ſie
hatte vergeſſen gelehrt. N
Dre
So weit gehen der ſchriftlichen Mochte
Eduards von ***; wenige Worte feyen uns nur }
erlaubt noch hinzuzufügen,
Seit dem Augenblick, der zum Wendepunck
ſeines Geſchicks wurde, der dem mit ſo manchem
Schönen und wahrhaft Guten Ausgeſtatteten, der
nur an des Lebens ſchroffen Klippen, wie ſo Viele,
ſtrandete, hingeriſſen von warmen, lebendigem Ge—
fühl und leichter Leidenſchaftlichkeit — ſich ſelbſt
wiedergab, floß ſein Daſeyn, ſturmvoll und trübe
bisher, einem ruhigen Bache gleich nun hin, und
die Bilder, die früher ſein Inneres zerriſſen, aden
wie ferne, in Abendnebeln gehüllte Gebirge, ſanft
aber warnend vor feinem Sinn, und oft, wenn im g
traulichen Kreis ſeiner Freunde das Vergangene
er überblickte, ſagte er: „Ich danke dem Geſchick,
dem gütigen, das, durch Leid und Nacht mich füh⸗
rend, den Strauchelnden nicht gänzlich ſinken ließ,
hart am letzten Gipfel und Gränzpunet die Han
einer reinen, treuen Liebe ihm rettend reichte, un
taumelnd ſchos am Abgrundsrand des Verder
bens, alles Lebens Höchſtes ihm gewährte. 4
* u *
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University of
Connecticut
Libraries
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