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Full text of "Selbstbewusstsein und Willensfreiheit: Die Grundvoraussetzungen des ..."

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HARVARD UNIVERSITY 




DEPARTMENT 



FHILOSOPHY 



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Selbstbewusstsein und 
Willensfreiheit, 

die Grundvoraussetzungen der christlichen 
^^^^ Lebensanschauung, isoisoisoiso 

mit besonderer Berücksichtigung ihrer 
modernen Bestreitung 

geprüft und dargesteUt 
von 

D. Georg Graue. 




BERLIN 

C. A. Schwetschke und Sohn 

1904. 



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HARVARD UNIVERSTTY. 
Phiio8.DeptUbni> 



Herrn Geh. Kirchenrat D. Dr. 

Adolf Hilgenfeld 

Senior der Universität Jena 

dem hochverdienten scharfsinnigen und gewissenhaften Forscher, 

dem edlen Streiter 

für die Wahrhaftigkeit der theologischen Wissenschaft und die 
Freiheit des evangelischen Glaubens, 

gewidmet 

vom Verfasser. 



Iiilialtsaogabe. 



Einleitung S. IX— XX. 

1. Das Selbstbewußtsein . . . . S. 1—96. 
Die Drfabmng des Henscben von dem Inhalt seines Bewußt- 
seins und den Vorgängen in seiner Seele yollzieht sich durch 
unmittelbares Erlebnis, also auf andere Weise als die von der 
Außenwelt, und ist keineswegs, was moderne Naturforscher 
fordern, nach derselben ]j[ethode wie die äußere Erfahrung zu 
untersuchen und zu würdigen (S. 1 — 18). Der wesentliche Inhalt 
des Selbstbewußtseins, von dessen Bealität auch der Sprach- 
gebrauch Zeugnis gibt, bekundet sich als ein Neues, das sich 
über die Natur erhebt (S. 18—24). Die Möglichkeit eines solchen 
Neuen wird durch den Kausalzusammenhang des Weltlebens 
nicht ausgeschlossen (S. 24—30), ebensowenig durch das Gesetz 
Yon der Erhaltung der Kraft (S. 30—33), durch die Deszendenz- 
\ebxt aber zur Wahrscheinlichkeit erhoben, wenn die in dieser 
Lehre behauptete „Entwicklung" des Menschen richtig aufgefaßt 
wird (S. 33 — 48). Die Versuche, die seelischen Erregungen und 
Vorgänge im Menschen auf OrgangefUhle , Huskelempfindungen 
u. dgl. zurückzuführen, können nicht gelingen (S. 43—51). Die 
Vorgänge und Erlebnisse des menschlichen Seelenlebens haben 
ihr Zentrum und ihren einheitlichen Träger im menschlichen Ich 
(S. 51 — 59), das in allem Wechsel das selbige Individuum bleibt 
(S. 60 — 68) und dessen Selbstbewußtsein in seinem innersten Kern 
das sittliche Bewußtsein ist (S. 68-80). Das sittliche Bewußt- 



— VI — 

sein, das durch die Einflüsse der Umgebung des Menschen zur 
Entwicklung gebracht werden muß, aber nicht aus ihnen, sondern 
aus seinem Selbstbewußtsein stammt, wird in einem sittlich ge- 
bildeten Menschen zum Bewußtsein des persönlichen Wertes 
(S. 80—92), das im christlichen Gottesbewußtsein Bestand hat 
und behält (S. 92—96). 

2. Die Willensfreiheit '8.97—189. 

Die Frage, ob das menschliche Ich Willensfreiheit im Sinne 
einer beschränkten Wahlfreiheit hat (S. 97—102), muß trotz 
ihrer Schwierigkeit erörtert werden und ist durch den vorigen 
Abschnitt nicht schon beantwortet (S. 102—107). Für die Wahl- 
freiheit, durch deren Behauptung keineswegs die Identität der 
handelnden Person fraglich wird, spricht das mit einer Ent- 
schließung des Menschen verbundene Bewußtsein, daß er auch 
eine andere hätte fassen können (S. 108—114). Der Einfluß des 
Denkens auf das Wollen ist nicht ausschlaggebend für die Ent- 
schließung (S. 114 — 117), und noch weniger ist das Denken und 
Wollen des Menschen bloßes Produkt der Vorstellungsassoziationen 
und der Innervation (S. 117 — 123). Daß durch die Naturnot- 
wendigkeit des Greschehens die menschliche Willensfreiheit aus- 
geschlossen werde, wird durch die Eant'sche Aufstellung einer 
intelligibeln Welt und eines intelligibeln menschlichen Cha- 
rakters wie durch ähnliche Annahmen anderer nicht widerlegt 
(S. 123 — 135). Aber die Herrschaft der Naturnotwendigkeit ist 
nicht schrankenlos, und Gott hat seiner eigenen Wirksamkeit 
selber Schranken gesetzt, so daß für das zufällige Geschehen in 
der Natur Raum bleibt wie für das willkürliche menschliche 
Handeln (S. 135 — 150), das übrigens eine wesentliche Einschrän- 
kung im Charakter des Menschen hat, trotzdem er auf die Ent- 
wicklung desselben mitbestimmenden Einfluß übt (S. 150—156), 
und das niemals aus völliger Leerheit und Unbestimmtheit des 
Ich und seines Willens hervorgeht, sondern allemal von Anreizen 
und Motiven bestimmt wird, ohne ein bloßes Produkt derselben 
zu werden (S. 156—161). Reue und Schuldgefühl wie das Ge- 
fühl der Verantwortlichkeit sprechen deutlich für den Bestand 
der Wahlfreiheit (S. 162—168), der durch die Moralstatistik nicht 
widerlegt wird (S. 168 — 171) und ebensowenig durch die Not- 
wendigkeit, mit der das Böse, dessen Entstehung ohne jenen 



— vn - 

Bestand erst recht unerklärlich sein würde, vielfach seine Herr- 
schaft übt (S. 171—177). Die Willensfreiheit ist trotz des aus 
ihrem Mißbrauch entstandenen massenhaften Unheils ein kost- 
bares sittliches Gut des Menschen , und der Glaube daran ge- 
fährdet den Gottesglauben so wenig, daß er ihn vielmehr ent- 
lastet und befestigt (S. 177—189). 



Einleitung. 



Es ist nicht möglich, nur durch ge- 
schichtliche Forschungen von dem Wesen 
des Christentums und seiner Lebensanschauung 
ein genügen des und fest begründetesVerständnia 
zu erlangen. Zwar hat in seiner bedeutsamen 
Schrift „das Wesen des Christentums" Ad. Hamack 
ausdrücklich erklärt, ja nachdrücklich betont, daß er 
lediglich im historischen Sinne die Frage: was ist 
Christentum? zu beantworten versuchen wolle. Aber 
er hat alsbald nicht nur erläuternd: „mit den Mitteln 
der geschichtlichen Wissenschaft", sondern auch er- 
weiternd hinzugefügt: „und mit der Lebenserfahrung, 
die aus erlebter Geschichte erworben ist". Er will 
durch das Goethesche Wort: „Die Menschheit schreitet 
immer fort und der Mensch bleibt immer derselbe",^) 
die Überzeugung bekräftigen, daß die Religion, insbe- 
sondere die christliche, nicht so sehr daraufhin ange- 



^] Daß „der Mensch immer derselbe bleibt"^, ist allerdings 
im Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte des menschlichen 
GeschlechtJi nur unter wesentlicher Einschränkung anzuerkennen. 
Doch hat du Bois-Eeymond mit Recht bemerkt, daß etwa seit 
Homers Tagen unsere Spezies ziemlich stabil geworden zu sein 
scheint. 



— X — 

sehen werden müsse, was sie für diesen oder jenen 
sozialen und kulturellen Fortschritt der Menschheit 
geleistet hat, sondern was sie für den in allem 
Wechsel und Wandel der Zeiten und der Verhältnisse 
sich im Grunde seines Wesens gleich bleibenden 
Menschen bedeutet, darbietet und leistet. Darin liegt 
die Anerkennung ausgesprochen, daß das innerste 
Wesen der Eeligion, besonders der christ- 
lichen, nur die verstehen lernen, die nicht 
bloß von der historischen Überlieferung und Forschung 
sich das Bild der religiösen Lebensentwicklung und 
Lebensgestaltung, insbesondere das Bild des Christen- 
tums, seines ersten geschichtlichen Auftretens und 
seiner späteren Ausgestaltung vorführen und erläutern 
lassen, sondern die dieses Bild auf ihr innerstes 
Seelenleben, auf dasjenige, was sie mit allen gesund 
empfindenden und denkenden Menschen gemeinsam 
haben, auf den geheimnisvollen Kern ihrer Persön- 
lichkeit einwirken lassen, etwas von dem innersten 
Wesen dessen, was in diesem Bilde zu geschichtlicher 
Erscheinung gekommen ist, in sich aufnehmen und 
von seinen heiligen Geisteskräften im 
eigenen Herzen etwas erfahren und erleben. 
Die vergleichende Religionsgeschichte, die Tröltzsch 
zur Grundlage der theologischen Wissenschaft machen 
will, kann selbst, wenn sie noch viel größeres und 
gewichtigeres Beweismaterial dafür, daß das Christen- 
tum reicher an religiösem Wahrheitsgehalt und sitt- 
licher Bildungskraft sei als alle anderen Eeligionen, 
beibringen würde, als bis jetzt vorliegt, niemals eine 
sichere Entscheidung darüber geben, ob das Christen- 
tum die für immer gültige, auch die kommenden 
Zeiten und Völker zu echter Humanität erziehende, 



- XI — 

für die höchsten Aufgaben und weihevollsten Kämpfe 
des Lebens genügend ausrüstende Menschheitsreligion 
ist. Darüber kann nur der ein zwar nicht absolut 
sicheres Urteil, aber doch eine tief und fest be- 
gründete Meinung und Überzeugung sich bilden, der 
-die von den Vätern und Vorvätern auf ihn vererbten 
-christlichen Geschichtstatsachen und Lehren geistig 
verarbeitet, ihre seelischen Eindrücke für sein ganzes 
Innenleben verwertet und ihre veredelnden, erheben- 
-den und erneuernden Ideen und Lebenskräfte sich zu 
l)leibendem Eigentum gemacht, also die Mahnung des 
Dichters beherzigt und befolgt hat: „was du ererbt 
von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!" 
Zweifellos können nicht alle geschichtlich über- 
lieferten Lebens- und Lehrgestaltungen des Christen- 
tums für immer gültig sein, die biblischen des Ur- 
<;hristentums ebensowenig wie die nicht nur von 
diesen, sondern auch von einander vielfach abweichen- 
•den der späteren christlich-kirchlichen Gemeinschaften. 
Aber was das Wesentliche, das allzeit Wahre 
und Gültige ist und was andererseits zu den unwesent- 
lichen, nur zeitweilig gültigen Formen und wechseln- 
den Schalen und Hülsen der christlichen Reli- 
gion und Moral gehört, darüber kann wiederum 
nicht die geschichtliche Forschung für 
sich alleindas entscheidende Urteil fällen. 
Es ist viel Wahres in dem schönen Worte Harnacks 
enthalten, daß das Evangelium im Evangelium etwas 
so Einfaches und so kraftvoll zu uns Sprechendes sei, 
daß, wer einen frischen Blick für das Lebendige und 
wahre Empfindung für das wirklich Große besitze, es 
sehen müsse und von den zeitgeschichtlichen Hüllen 
€S unterscheiden könne. Aber, wie Harnack selber 



— XII -^ 

zugesteht, es ist manchmal schwierig, das Wesentliche 
und Bleibende aus den wandelbaren Gebilden der ge-^ 
schichtlichen Überlieferung herauszuschälen. Werni 
Bousset („das Wesen der Religion^) sagt, es gebe „kein 
besseres und vorzüglicheres Mittel", „in den wechseln-» 
den Formen zeitlicher Ausgestaltungen den ewigen 
bleibenden Grund" sicher zu erkennen, „als die ver^ 
gleichende Religionsgeschichte", so ist das ti*otz der 
großen Förderung, die das Studium dieser Geschichte 
dem nach jener Erkenntnis Strebenden gewährt, doch 
nur dann wirklich zutreffend, wenn damit eine auf 
Grund erlebter Geschichte gewonnene Einsicht ge- 
meint ist. Einen sicher treffenden Blick und ein 
feines Gefühl für das wirkliche Lebendige und Große 
im Evangelium bekommt nur der zu eigen, der sich 
davon in tiefster Seele so ergreifen läßt, daß es von 
seinem Innenleben gleichsam Besitz nimmt und mit 
ihm Eins wird. Nur ein solcher kann das unver- 
gängliche Wesen des Christentums von seinen zeit- 
geschichtlichen Formen und wechselnden Hüllen unter- 
scheiden; und weil seine Erkenntnis nicht nur auf 
historischer, sondern auch, vermöge seiner persön- 
lichen seelischen Erfahrungen, auf psychologischer 
Grundlage ruht, kann er mit der ruhigen Klarheit 
einer tief gegründeten Überzeugung die für immer 
gültige Wahrheit und die der ganzen Menschheit Heil 
bringende Gotteskraft des Christentums d. h. seines 
wesentlichen Gehalts behaupten. 

Sind es aber nur, wie Harnack sagt, „Empf in* 
düng und Wille", die ein solches Werturteil über 
das Christentum begründen? ist das denkende Er- 
kennen des Verstandes daran nur wenig, nur unwesent- 
lich beteiligt? Daß Verstandesforschen und Ver- 



— XIII — 

Standeswissen gerade die höchsten, die kostbarsten 
Güter des Menschengeistes nicht zu erfassen noch zu 
ergründen vermag und namentlich da, wo es sich um 
die Wertschätzung der christlichen Geistesgüter handelt, 
nicht ausreicht, ist heutzutage unter einigermaßen 
sachkundigen Beiirteilem kaum noch streitig. Aber 
es ist auch ziemlich allgemein anerkannt, einmal daß 
von dem Gefühls- und Willensleben des Menschen 
das verstandesmäßige Denken nicht so abgesondert 
ist, als ob kein Zusammenhang des einen mit dem 
anderen bestände, daß vielmehr Fühlen, Denken und 
Wollen vielfältig miteinander verwachsen sind und auf 
einander einwirken, sodann daß die Verstandestätigkeit 
auch da, wo sie nicht konstitutiv, nicht schöpferisch 
zu sein vermag, Anspruch auf regulative, formgebende 
und Ordnende Wirksamkeit erhebt und auf allen Ge- 
bieten des geistigen Lebens diese Wirksamkeit tat- 
sächlich und unbeanstandet ausübt und als unentbehr- 
lich erweist. Aber das ist die alte, neuerdings wieder 
lebhaft erörterte Streitfrage, ob die wissenschaft- 
liche Verstandestätigkeit nicht bloß formale, 
für die klare und zusammenfassende Auffassung und 
Darstellung des Gemüts- und Willenslebens und seiner 
kostbaren Werte notwendige Dienste leiste, sondern 
auch die Aufgabe habe, das Welterkennen 
und die christliche Lebensanschauung mit- 
einander zu verknüpfen, möglichst harmonisch 
zu einer einheitlichen Weltanschauung zu 
verbinden und die Einwände, die das Welterkennen 
gegen die Anschauungs- und Lehrformen der christ- 
lichen Keligion und Sittlichkeit erhebt, soweit sie 
unbegründete sind, als solche aufzuzeigen, soweit sie 
aber begründete sind, zur Rektiflzierung und Umge- 



r 



— XIV — 

staltung dieser Formen zu verwerten, dadurch aber 
Religion und Sittlichkeit gegen die Zweifel und Be- 
denken des grübelnden Verstandes zu schützen und 
sicherzustellen. Diese Frage wird von hervorragenden 
Vertretern der protestantischen Theologie seit etwa 
drei Jahrzehnten entschieden verneint; und man sagt, 
um diese Verneinung zu rechtfertigen: Die weltliche 
Wissenschaft und ihr Erkennen sei zwar in ihrem 
Bereich, nämlich dem Naturleben im weitesten Sinne 
des Worts, die höchste Instanz, und ihre „Seinsurteile", 
ihre durch exakte Forschung festgestellten Resultate 
hätten da absolute Geltung; aber ebenso absolute 
Geltung habe in einer anderen Welt, in einer nicht 
nachweisbaren, sondern „nur denkbaren und in persön- 
licher Überzeugung erlebbaren Wirklichkeit" der 
Glaube mit seinen „Werturteilen", und dieser Glaube 
verzichte auf eine einheitliche Weltanschauung, ja, er 
müsse das Streben nach einer solchen für schädlich 
und verwerflich erachten. Gegen diese Stellung- 
nahme, namentlich gegen den völligen Verzicht auf 
einheitliches Zusammenfassen des Welterkennens und 
der Glaubens- und Sittenlehre erheben sich naturge- 
mäß die ernstesten Bedenken. Wenn man aber, um 
diese Bedenken zu entkräften, darauf verweist, daß 
das Streben nach einer einheitlichen Gottes- und Welt- 
anschauung sein Ziel niemals erreichen könne, also 
ein ganz vergebliches Bemühen sei, so ist zu erwidern: 
Daraus, daß es sein Ziel nie ganz erreicht, folgt durch- 
aus nicht, daß ein Streben ganz vergeblich ist. Das 
Streben nach sittlicher Vollendung kann 
sein Ziel auch nie ganz erreichen; dennoch 
bringt es dem Menschengeist hohe Förde- 
rung, reichen Gewinn. Aber selbst wenn es das 



- XV - 

nicht oder so gut wie gar nicht brächte, dürfte nie- 
mand darauf verzichten; denn zu diesem Streben 
verpflichtet den Menschen sein Gewissen. 
Ähnlich verhält es sich mit dem Streben 
nach einheitlicher Zusammenfassung der 
Werturteile des Glaubens und der Seinsurteile 
des Welterkennens. Ganz besonders der 
germanische Geist hat die Verpflichtung dazu 
von alters her tief und lebhaft empfunden. Nament- 
lich im 15. Jahrhundert, als die italienischen 
Humanisten zum großen Teile mit ihrem wieder- 
erwachten wissenschaftlichen Geiste bigotte katho- 
lische Gläubigkeit, ohne eine Vermittlung zwischen 
beiden auch nur anzustreben, in ihren Herzen hegten 
und pflegten, haben die deutschen Humanisten 
ihre neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse für ihre 
christlich-kirchlichen Lebensanschauungen zu ver- 
werten, die einen mit den anderen harmonisch zu ver- 
knüpfen gesucht und eben durch dieses Streben Großes 
dazu beigetragen, daß die Keformation einen Sieg 
nach dem anderen errungen hat. 

Damals freilich meinte man noch, durch philo- 
sophische Erkenntnis die Harmonie von Christen- 
tum und Wissenschaft und zugleich damit die 
absolute Wahrheit und Gültigkeit der christlichen 
Gottes- und Weltanschauung klar überzeugend be- 
weisen zukönnen; heutzutage ist die Wissenschaft 
bescheidener geworden; und seit Kant's Kritik der 
Erkenntnistheorie ist die Überzeugung immer fester 
begründet und immer allgemeiner verbreitet worden, 
daß nur auf dem Boden der Erfahrung, der 
sinnlichen und der geistigen, sichere Erkennt- 
nisse gewonnen werden können. Aber auch der 



— XVI — 

Boden der Erfahrung wird, namentlich von natur- 
wissenschaftlicher Seite, untergraben, insofern der Be- 
stand, die objektive Realität einer geistigen 
Erfahrung bestritten und geleugnet wird. Gegen 
die christliche Lebensanschauung, die auf diese Er- 
fahrung sich beruft und stützt, richten sich nicht nur 
leidenschaftliche, von Haß und zorniger Bitterkeit 
durchtränkte Angriffe, wie z. B. der von A. Forel, der 
sich erdreistet, alles, was über seine „Gehimseele" 
im „monistischen" Sinne hinausgeht und einen wesent- 
lichen Unterschied von Intelligenz und Nervensystem 
behauptet, „leeres Geflunker" und „spiritistischen 
Humbug" zu schelten. Er liefert dadurch, ebenso wie 
E. Häckel an vielen Stellen seiner Schriften, nament- 
lich seiner „Welträtsel", einen neuen Beweis für das 
Lukian'sche Wort: „Zeus, du hast unrecht; denn du 
wirst böse." Aber auch ruhige, von wissenschaft- 
licher Sachlichkeit getragene eingehende Unter- 
suchungen und Erörterungen bekämpfen heutzutage 
die allerersten Voraussetzungen unserer religiösen und 
sittlichen Lebensanschauung. Nicht allein das wird 
bestritten, daß dem Gottesbewußtsein eine sich darin be- 
zeugende göttliche Lebensmacht als tatsächliche Wirk- 
lichkeit zugrunde liege, sondern auch das, daß unsere 
sittlichen seelischen Erlebnisse, ja daß aUe Erfahrungen 
unseres Selbstbewußtseins mehr seien als Illusionen 
und Selbsttäuschungen. Carl Voigt's bekanntes Wort, 
daß die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum 
Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber . . ., wird 
in immer neuen Variationen wiederholt und hinzuge- 
setzt, daß, wie das ganze Leben der Natur ein bloßer 
Mechanismus sei, so auch das menschliche Seelenleben 
rein mechanisch verlaufe und daher in ihm eine selb- 



— XVII — 

ständige Betätigung des Menschengeistes nicht statt- 
haben könne. 

Gegen derartige Angriffe die Grundvoraussetzungen 
der christlichen Lebensanschauung, namentlich das 
Selbstbewußtsein und die Willensfreiheit, zu vertei- 
digen und zu sichern, ist für die theologische Wissen- 
schaft eine unabweisbare Aufgabe, der sie sich nicht 
etwa deshalb entziehen darf, weil dieselbe auf dem 
noch längst nicht genügend durchforschten, zum Teil 
unergründlichen psychologischen Gebiete liegt. Selbst-^ 
verständlich ist die Überzeugung von den unerschütter^ 
liehen Grundlagen unserer christlichen Gottes- und 
Weltanschauung nicht abhängig von den Ergebnissen 
wissenschaftlicher bzw. psychologischer Forschungen. 
Aber der dem menschlichen Denken innewohnende 
Erkenntnisdrang und Wahrheitstrieb stellt, wie an 
jeden gebildeten Protestanten, so ganz besonders an 
.jdie Theologen ernste sittliche Forderungen, begehrt 
eine möglichst gründliche Befriedigung auch auf den 
geheimnisvollen, zum Teil unzugänglichen Lebensge- 
bieten und verpflichtet uns, mit heißer Sehnsucht nach 
Klarheit über alles das zu ringen und zu trachten, was 
in den dunklen Tiefen des Gefühls- und Willenslebens 
sich als unmittelbar zu erlebender geistiger Tatbe- 
stand ankündigt. Er eröffnet uns zwar keineswegs 
die Aussicht auf allseitige und erschöpfende Erkenntnis ; 
denn so gewiß das Fühlen und Wollen etwas neben 
dem Denken Bestehendes ist, ebenso gewiß kann es 
durch dieses niemals völlig begriffen und erkannt 
werden. Wohl aber verheißt er uns eine annähernde 
und teilweise Erkenntnis und verpflichtet uns, die 
Tatsache festzustellen und nachzuweisen, daß die in 
unseren religiös-sittlichen Gemütsempfindüngen und 



— XVIII — 

Willensregungen zweifellos vorliegenden Bewußtseins- 
vorgänge und Erfahrungsinhalte wesentlich unerklärt 
und unerklärlich bleiben würden, wenn nicht über- 
sinnliche Realitäten anerkannt werden, die ihnen zu- 
grunde liegen und sich in ihnen offenbaren. Anderer- 
seits verpflichtet uns derselbe Wahrheitstrieb, jene 
Bewußtseinsvorgänge und Erfahrungsinhalte mit allen 
anderen Lebenserfahrungen zu verknüpfen und inso- 
fern mit ihnen zu vermitteln, als wir nachweisen, daß 
unauflösliche Widersprüche zwischen diesen und jenen 
nicht vorhanden sind. 

Gerade in den gebildeten Kreisen unseres Zeit- 
alters und unseres Volkes ist die Zahl derer groß, 
denen die Erfahrungstatsachen des christlichen Ge- 
fühls- und Willenslebens entweder wieder verblaßt 
und entschwunden oder von Anfang an nur schwach 
und undeutlich kund geworden sind und die deshalb 
durch die meistens mit großer Zuversichtlichkeit auf- 
tretenden Gegner der christlichen Lebensanschauung, 
die schon die ersten Ausgangspunkte derselben be- 
streiten, irre gemacht werden und unsicher hin- und 
herschwanken, im Grunde ihres Herzens aber ein 
stilles, sehnendes Verlangen haben nach dem, was 
jene bekämpfen. Um so dringender ist es geboten, 
den wissenschaftlichen Nachweis zu fuhren, daß keines- 
wegs ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen den psy- 
chologischen Voraussetzungen der christlichen Lebens- 
auffassung und den wirklich sicheren Ergebnissen der 
modernen psychologischen Forschungen besteht, daß 
vielmehr die Harmonie zwischen beiden zwar nicht 
als fertige Tatsache gleichsam augenscheinlich vor- 
geführt, aber als ein lichtes, immer deutlicher erkenn- 
bar werdendes und immer näher winkendes Lebens- 



- XIX — 

ziel aufgezeigt werden kann. Zugleich wird das 
Streben, diesen Nachweis zu führen, dazu dienlich sein, 
daß wir nicht nur vor spiritualistischen Phantasien, 
— von den Phantastereien des Spiritismus gar nicht 
zu reden — , immer sicherer bewahrt bleiben und die 
Grenzen unserer Erkenntnis immer klarer vor Augen 
haben, sondern auch des Reichtums unseres inneren 
Lebens uns immer deutlicher bewußt und immer un- 
getrübter froh werden. 

Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, 
sei noch folgendes bemerkt: Wenn Selbstbewußtsein 
und Willensfreiheit als Grundvoraussetzungen der christ- 
lichen Lebensauffassung bezeichnet werden, kann und 
soll das nicht so gemeint sein, als ob dieselben dies 
nur in demjenigen Sinne seien, in dem sie hier dar- 
gestellt werden sollen. Es gibt, insbesondere in bezug 
auf die Willensfreiheit, innerhalb der christlichen Welt 
bekanntlich sehr verschiedene Ansichten hierüber, — 
es sei nur an Augustinus, Luther's, Schleiermacher's 
Prädestinationslehre und Leugnung der menschlichen 
Willensfreiheit erinnert — , so daß es eine törichte 
Vermessenheit wäre, wollten wir unsere Auffassung 
als die einzig sichere Grundlage der christlichen 
Weltansicht hinstellen. Allein wo jedes persönliche 
Selbstbewußtsein des Menschen und jede Art seiner 
Willensfreiheit geleugnet wird, wo man an die 
Stelle des freien Willens nicht, wie die genannten 
großen Theologen u. a. tun, das Wollen einer aller- 
höchsten zwecksetzenden Vernunft und Güte setzt, 
sondern die blinde Naturnotwendigkeit, den alles be- 
herrschenden Zwang eines nur mechanisch-kausal be- 
stimmten Naturzusammenhangs, da sind allerdings die 
Grundlagen einer christlichen Lebensauffassung völlig 



- XX ~ ; 

verlassen. Die nun folgende Darstellung aber des 
Selbstbewußtseins und der Willensfreiheit wird von ^ 

dem Verfasser, unter Abweisung und Bestreitung ab- i 

weichender Meinungen, so und nicht anders darge- ; 

boten, weil er sie für die richtigste und gesicherste [ 

Voraussetzung unserer christlichen Anschauungs- und 
Denkweise hält. 



Das Selbstbewußtsein. 



„Wer will was Lebendig's erkennen und be- 
schreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben, dann 
hat er die Teile in seiner Hand, fehlt leider ! nur das 
geistige Band." Dieses Wort, das Goethe dem Me- 
phistopheles in den Mund legt, hat nirgends öfter und 
drastischer sich bewahrheitet als in der Untersuchung 
und Darstellung des menschlichen Selbstbewußtseins. 
Wie schon vor Zeiten so noch heute wird es von der 
großen Mehrzahl derer, die es erkennen und beschrei- 
ben wollen, so lange zergliedert und zerpflückt, bis 
man nichts weiter davon hat als, wie im 18. Jahrh. 
der bekannte Philosoph D. Hume es genannt hat, ein 
Bündel, eine Kollektion verschiedener Vorstellungen, 
denen das einheitlich zusammenfassende geistige Band 
mangelt und alles das, was sie über den sinnlichen 
Naturzusammenhang hinausheben kann, abgesprochen 
wird. 

Wenn wir gewohnt sind, das Selbstbewußtsein, 
von dem wir durch innere Erfahrung Kunde er- 
langen, dem Weltbewußtsein, das wir mit Hilfe der 
äußeren Er fahrung gewinnen, gegenüberzustellen, 
so wird uns vorgehalten, daß äußere und innere Er- 
fahrung zu unterscheiden gänzlich unerlaubt sei. 

Graue, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. 1 



Comte (der Begründer des Positivismus in der ersten 
Hälfte des vor. Jahrh.) habe den denkenden Menschen 
zu der Erkenntnis verhelfen, daß nur die „positiv" 
gegebenen, sinnlich wahrnehmbaren Tatsachen und 
Größen Gegenstand des Denkens sein können. Wir 
müßten darauf verzichten, über das sinnliche Material, 
das unserem Denken vorliege, hinauszugehen ; und wie 
die Fragen nach den ersten Ursachen und nach den 
Zwecken der Dinge abzulehnen seien, so sei insbe- 
sondere das eine arge Sophisterei, neben der äußeren 
Erfahrung noch eine innere anzunehmen. Der Mensch 
könne nur die Erscheinungen des äußeren Lebens, 
aber nicht die Äußerungen seines Innenlebens, seines 
Bewußtseins zum Gegenstand seiner Betrachtungen 
und Untersuchungen machen ; denn um das zu können, 
müsse er ja beides, Subjekt und Objekt, Beobachten- 
des und Beobachtetes, Vorstellendes und Vorgestelltes 
zugleich sein; und das sei undenkbar. — In neuerer 
Zeit hat E. Mach („Analyse der Empfindungen") den 
Willen des Menschen gleichgesetzt mit der Innervation 
d. h. dem Einfluß der Nerven auf die körperlichen 
Organe und ihre Betätigung, und behauptet: „Die 

Psychologie ist Hilfswissenschaft der Physiologie 

Der Gegensatz von Subjekt und Objekt (im gewöhn- 
lichen Sinne des Worts) besteht auf unserem Stand- 
punkt nicht. . . , Die Willenserscheinungen müssen 
aus den organisch-physischen Kräften allein . . . be- 
greiflich sein. ... Im wechselnden Inhalt des Be- 
wußtseins liegen die wahren Perlen des Daseins, und 
die Person ist nur wie ein gleichgültiger symbolischer 
Faden, an welchem diese Perlen aufgehängt sind." In 
ähnlicher Weise hat Avenarius, den Mach als ihm ver- 
wandten Geist gerühmt und der mit seiner „Kritik 



— 3 — 

der reinen Erfahrung" den sog. Empiriokritizismus be- 
gründet hat, als den einzig wahren Standpunkt der 
wissenschaftlichen Forschung denjenigen bezeichnet, der 
von dem Inhalt und den Aussagen des eigenen 
menschlichen Bewußtseins gänzlich absieht, z. B. die 
Aussage : „ich finde einen Baum vor", als ganz ungenau 
und irreführend abweist und an Stelle jener Aussage 
die Erklärung setzt: „das als Ich Bezeichnete und 
das als Baum Bezeichnete sind ganz gleichmäßig In- 
halt eines und desselben Vorgefundenen". Avenarius 
behauptet, das Ich und seine Aussagen seien mittel- 
bar abhängig von den Umgebungsbestandteilen, un- 
mittelbar abhängig von der Nervenzentralstelle des 
Menschen, und deshalb seien beide, das Ich und seine 
Umgebungsbestandteile, in vollständig gleicher Linie 
gegeben, und obwohl Verschiedenes in ihnen enthalten 
sei, werden sie doch von uns nicht in verschiedener 
Weise erfahren, sondern auf dieselbe Weise. Ziehen 
aber („Psychophysiologische Erkenntnistheorie") hat, 
in auffalliger Vernachlässigung aller höheren Ge- 
fühle (d. h. aller Empfindungen des Gemüts) und des 
ganzen Willenslebens des Menschen, erklärt, alles Ge- 
gebene in der äußeren und inneren Welt seien ur- 
sprünglich gleichartige Elemente, die wir als Empfin- 
dungen und Vorstellungen bezeichnen, und jede Unter- 
scheidung von physischen und außerphysischen Exi- 
stenzen sei widersinnig. 

Zunächst muß gegen die Ziehetfsche Behauptung, 
alles Gegebene seien nur Empfindungen und Vorstel- 
lungen, festgestellt werden, daß wir allerdings nur 
durch unsere Empfindungen und Vorstellungen von 
den gegebenen Dingen Kunde erlangen können, daß 
aber an dieser Tatsache nichts geändert wird, mögen 

1* 



^ 4 — 

nun diese Dinge bloß in unseren Empfindungen und 
Vorstellungen oder auch außerhalb derselben exi- 
stieren, und daß deshalb aus dieser Tatsache nicht 
gefolgert werden kann, die Dinge existieren nur in 
unseren Empfindungen und Vorstellungen. — Dann 
muß aber entschiedener Einspruch dagegen er- 
hoben werden, daß das in der Außenwelt und 
das in unserem Bewußtsein Gegebene nach 
derselben Methode (um nicht zu sagen: Schablone) 
beobachtet und beurteilt und die Art der Unter- 
suchung, die für äußere Gegenstände und sinnlich 
wahrnehmbare Tatsachen gültig ist, ohne weiteres auf 
die Untersuchung und Beurteilung der Bewußtseins- 
tatsachen und Bewußtseinsvorgänge übertragen werde. 
Die Naturwissenschaft ist durch die großen Erfolge, 
die sie erreicht hat, zu der Behauptung verleitet 
worden, die Grundsätze und Erklärungsweisen, welche 
für die Erforschung des Naturlebens sich vorzüglich 
bewährt haben, müssen für alle Gebiete der wissen- 
schaftlichen Forschung in Anwendung gebracht wer- 
den. Wie berechtigt der Protest hiegegen ist und 
wie richtig H. Lotze schon vor 50 Jahren in seiner 
medizinischen Psychologie jene Behauptung für eine 
kindische Unbesonnenheit erklärt hat, zeigt schon die 
naheliegende Erwägung, daß die Methode der Unter- 
suchung und Forschung sich nach der Art des zu 
untersuchenden und zu erforschenden Gegenstandes 
richten muß und daß dieser nicht einer Denkneigung 
zu Liebe, einer Modedenkart zu Gefallen, in ihm nicht 
angemessene Formen eingezwängt werden darf. Einer 
solchen auch von R. Eucken gerügten Einzwängung 
aber macht sich offenbar der schuldig, der, wie die 
genannten Kritiker der reinen Erfahrung, bei seiner 



— 5 — 

Beurteilung des Bewußtseinsinhalts von der unbe- 
gründeten Voraussetzung ausgeht, daß die Außenwelt, 
die sog. „Umgebungsbestandteile", und das Bewußt^ 
seinsieben, „das als Ich Bezeichnete", in ganz gleicher 
Weise erfahren werden. Denn unsere Bewußtseins- 
vorgänge und -Tatsachen sind uns unmittelbar ge- 
geben, sind mit uns selber verwachsen und uns innig 
vertraut; sie sind unser innerliches Eigentum und 
zugleich unsere innerliche Bestimmtheit, während die 
Dinge der Außenwelt uns um so mehr fern und fremd 
gegenüberstehen, als wir dieselben nicht etwa so wahr- 
uehmen, wie sie an und für sich sind, sondern so, wie 
sie uns erscheinen, wie sie von unseren Organen und 
Anschauungsformen aufgefaßt, unwillkürlich modifiziert 
und oft in einer Weise umgestaltet worden, daß die 
Dinge selber hinter ihren Erscheinungen verborgen- 
bleiben. Allerdings stehen die Erscheinungen der 
Dinge insofern uns nahe, als wir selber bei ihrer Ge- 
staltung mittätig sind; und sie drängen sich uns, 
indem wir sie wahrnehmen, so unwiderstehlich, oft so 
überwältigend auf, als wären sie allein da,, als hätten 
sie allein ein Recht auf uns. Aber wenn man des- 
halb annehmen zu müssen meint, der Mensch werde 
von den sinnlichen Wahrnehmungen und dem durch 
Experimente und Nachdenken daraus Erschlossenen 
unmittelbar ergriffen, so beruht das Wort „unmittel- 
bar" in dieser Annahme auf einer völligen Verkennung 
des wirklichen Tatbestandes. Dies zeigt sich schon 
darin, daß die heutigen Physiologen, wenn sie das 
Gehirn die „unmittelbare Außenwelt" unseres Bewußt- 
seins nennen, die durch unsere Sinnesorgane uns über- 
mittelten „Umgebungsbestandteile" als die „mittelbare 
Außenwelt" bezeichnen. Noch deutlicher aber tritt 



— 6 — 

jene Verkennung zutage, sobald wir erkennen, daß 
das sich uns unmittelbar Aufdrängende und uns un- 
mittelbar Ergreifende nicht die Außenwelt mit ihrer 
Mannigfaltigkeit, sondern unser eigenes Sein ist, und 
nicht etwa unser beseeltes Leibesleben als solches, 
sondern wir selber, die wir mittels unseres Leibes- 
lebens die Außenwelt betrachten und beobachten, 
Empfindungen von ihr haben, Vorstellungen von ihr 
bilden und mit unserem Verstände über sie nach- 
denken. Die Sache verhält sich auch nicht etwa so, 
wie der Satz des Descartes : „cogito ergo sum", anzu- 
deuten scheint oder gedeutet werden könnte, als ob 
ich erst dadurch, daß ich mich als Denkenden mir 
vergegenwärtige und über mein Denken reflektiere, 
zur Gewißheit meiner Existenz komme; denn dann 
wäre mir ja mein eigenes Sein, mein Ich nicht un- 
mittelbar gegeben, sondern erst mittelbar. Vielmehr 
ich bin vor aller Reflexion meine reigenen 
Existenz gewiß, und zwar dadurch, daß ich 
sie unmittelbar erlebe. Ich erlebe mich 
selbst; das ist das ursprünglich vor allem 
anderen Sein mir Gegebene. 

Dieser Sachverhalt wird völlig verdeckt, wenn 
Avenarius nicht von der Erfahrung und den Aus- 
sagen seines eigenen Bewußtseins ausgeht, sondern mit 
den Aussagen zweier Mitmenschen M. und D. arbeitet, 
welche Aussagen ihm nicht so sehr Ausdruck leben- 
diger Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlsregungen 
und Willensbestrebungen, als vielmehr Kundgebungen 
sprechender Automaten sind. M. und T. stehen ein- 
ander gegenüber, beobachten gegenseitig ihre Be- 
wegungen, ihre Laute und werden dadurch veranlaßt, 
einer dem anderen eine Innenwelt einzulegen, zu 



— 7 — 

„introjizieren"; sie lassen dabei außer acht, daß diese 
„Introjektion" vom Standpunkt des M. aus nur für T. 
gilt und umgekehrt, lassen dieselbe deshalb schließ- 
lich auch ein jeder für sich selber gelten und schaffen 
dadurch sich selber eine Innenwelt und was man 
innere Erfahrung nennt, was aber tatsächlich gar 
nicht existiert und deshalb wieder ausgeschaltet 
werden muß, um im Sinne des Avenarius den wirk- 
lichen Bestand der reinen Erfahrung zu erkennen. 
Wenn man ihn fragt, warum er nicht mit den Aus- 
sagen seines eigenen Bewußtseins, sondern mit denen 
zweier Mitmenschen operiert, so antwortet er, das 
tue er, um nicht subjektiv^ sondern als unparteiisch, 
objektiv urteilender Beobachter, als ein nur um der 
richtigen Erkenntnis willen gegenwärtiger unbefangener 
Zuschauer seine Meinung sich zu bilden. „Alle die 
Begriffe", schreibt er, „die zu behandeln sein werden, 
treten in der Anknüpfung an fremde Individuen für 
mich selbst in objektivere Beleuchtung, treten zu mir 
selber in ein Verhältnis reinerer Sachlichkeit". Aber 
dient denn das „reinerer „Sachlichkeit", wenn man 
nur diese „Begriffe", aber nicht sich selber, zu dem 
diese Begriffe in ein Verhältnis treten, zum Gegen- 
stand seiner Betrachtung und Erörterung macht, trotz- 
dem daß man diese Begriffe aus sich selbst heraus- 
gestaltet und sie seinen Mitmenschen M. und T. „in- 
trojiziert" hat? Erzielt man eine „objektive Be- 
leuchtung", wenn man über die Beobachtung der Aus- 
sagen zweier Mitmenschen versäumt, den unmittelbar 
gegebenen selbsterlebten Tatbestand zum Gegenstand 
sorgfältiger Untersuchungen zu machen? Will man 
z. B. über ein Kunstwerk ein richtiges Urteil ge- 
winnen, wird es sich ja empfehlen, auch die Aussagen 



— 8 — 

anderer darüber zu hören und die eigenen persön- 
lichen Eindrücke, die man davon empfangen hat, durch 
jene zu kontrollieren bzw. zu ergänzen. Aber wäre 
es nicht eine Torheit, von den Eindrücken, die man 
selber von dem Kunstwerk empfangen hat, ganz ab- 
zusehen, um statt eines subjektiven ein „objektives" 
Urteil darüber abgeben zu können? und ist es nicht 
eine ähnliche Torheit, wenn man das menschliche 
Selbstbewußtsein nur nach den Aussagen anderer 
Menschen beurteilen will ? setzt man dabei nicht schon 
voraus, was erst bewiesen werden soll, daß nämlich 
die Erfahrungen und Aussagen des eigenen seelischen 
Lebens und Erlebens gänzlich unzuverlässige, einge- 
bildete sind? Allerdings werden diese Erfahrungen 
und Aussagen mit Kecht als subjektive bezeichnet. 
Aber will man sie objektiv beurteilen, so muß man 
nicht bloße Begriffe sich darüber bilden, sondern auch 
die darin zum Ausdruck kommenden Gemütsbewe- 
gungen und Willenserregungen zum Gegenstand der 
Forschung machen ; man muß sie, will man „sachlich" 
verfahren, sich so vergegenwärtigen, wie sie sind, näm- 
lich als seelische Erlebnisse, als eigene innere Er- 
fahrungen, und sie ungeschmälert und nicht stückr 
weise, sondern so weit möglich als ein zusammen- 
hängendes Ganze, jedenfalls aber unbeeinträchtigt 
durch irgend welche von anderswoher mitgebrachte 
Tendenzen, ungetrübt durch vorgefaßte Meinuogen, zu 
ihrem Eechte kommen lassen, zu ihrem vollen Eechte, 
und deshalb nicht nur von ihnen ausgehen, sondern 
auch immer wieder auf sie als auf die Grundlage der 
psychologischen Forschung zurückkommen. 

Oder wären sie etwa doch nur unwillkürlich von 
uns selber uns eingelegte, unbewußt uns introjizierte? 



— 9 — 

Und wird dies etwa dadurch bewiesen, daß, wie man 
uns erinnert, der Mensch auch sonst zu mancherlei 
Einlegungen geneigt ist? Bekanntlich wurden auf 
der untersten Kulturstufe des menschlichen Geschlechts 
Dinge, wie z. B. Stein, Erde, Sonne, Baum, Quelle u. a. m. 
als „beseelt" gedacht; und deshalb glaubt man die 
heutigen Menschen fragen zu dürfen, ob sie nicht, 
wie sie einst über diese unterste Stufe der Vor- 
stellungen hinausgeschritten seien, so jetzt auch über 
die Vorstellung hinausschreiten müßten, der Mensch 
sei gleichsam „in zwei Individuen zerspalten", in eine 
äußere Erscheinung und in eine innere lebendige 
Seele. Darauf ist zunächst zu erwidern, daß es heut- 
zutage noch sehr fraglich ist, ob nicht in jener alten 
Vorstellung von der Beseeltheit aller Dinge ein Wahr- 
heitskern sich findet; gerade die moderne Naturwissen- 
schaft und Philosophie verhält sich, worauf wir noch 
zurückkommen müssen, gegenüber dieser Frage zum 
großen Teil abwartend, nicht völlig ablehnend. Ferner 
bezeichnet der Ausdruck „in zwei Individuen zer- 
spalten" das Verhältnis von Leib und Seele des 
Menschen so unglücklich wie möglich; nicht als ein 
Gespaltensein, als ein Zwiespalt, sondern als ein 
inniger Zusammenhang und eine lebendige und kräftige 
Wechselwirkung muß dieses Verhältnis bezeichnet 
werden. Endlich aber würde selbst dann, wenn der 
Gedanke der Beseeltheit von Dingen nur ein Erzeug- 
nis der dichtenden Phantasie wäre, die bekanntlich 
in freiem schöpferischem Walten oft Etwas gestaltet, 
was nur in ihrer eigenen Anschauung und sonst 
nirgends existiert, es trotzdem völlig willkürlich und 
unberechtigt sein, diese Phantasie für die einzige 
Ursache der Vorstellung von der Beseeltheit des 



~ 10 — 

Menschen zu halten. Denn diese Vorstellung verdankt 
ihre Entstehung einem sich stetig wiederholenden 
inneren Erlebnis, dessen Tatsächlichkeit dem Menschen 
unabweisbar aufgenötigt und dadurch in keiner Weise 
zweifelhaft wird, daß manchmal auch die produktive 
Phantasie sich seiner bemächtigt und seine Bewußt- 
seinsvorgänge zu veranschaulichen sich bemüht hat, 
dies um so weniger, weil manche Gestaltungen der 
produktiven Phantasie einen wertvollen Beitrag zur 
Wahrheitserkenntnis zu liefern imstande sind. 

Aber wie ist nun dieses innere Erlebnis, an 
dessen Tatsächlichkeit nicht zu zweifeln ist, zu deuten? 
Soll ich es richtig deuten, muß ich mich selbst, 
mein inneres Leben beobachten. Aber die Selbst- 
beobachtung hat ihre besonderen Gefahren, ihre eigen- 
tümlichen Schwierigkeiten, einmal deshalb, weil ein 
großer Teil meines Innenlebens mir überhaupt nicht 
zum Bewußtsein kommt; ein mir unbewußter ist und 
bleibt, — der Mensch ist sich selber ein Geheimnis — , 
sodann deshalb, weil von dem mir bewußt werdenden 
inneren Leben immer nur ein Teil gleichzeitig Gegen- 
stand meiner Beobachtung ist. Erst recht schwierig 
aber wird die Selbstbeobachtung, wenn dieselbe mit 
klar bewußter Absicht, mit planmäßiger Berechnung 
sich angestrengt bemüht, die inneren Wahrnehmungen 
festzuhalten, nachdenkend zu verarbeiten und in logisch 
geordneten Zusammenhang zu bringen. In richtiger 
Erkenntnis dieser Schwierigkeiten hatW. Wundt von 
der wissenschaftlichen Selbstbeobachtung geurteilt, 
sie werde nur möglich dadurch, daß man die experi- 
mentelle Psychologie zu Hilfe nehme; und lange Zeit 
vor ihm hat Kant von dem Beobachten seiner selbst 
gesagt, es sei eine methodische Zusammenstellung der 



— . 11 — 

von uns selbst gemachten Wahrnehmungen, welche den 
Stoff zu einem Tagebuch des Beobachters seiner selbst 
abgebe und leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn 
hinführe. Wenn aber auch dieses Äußerste nur aus- 
nahmsweise eintritt; — wie schwierig eine richtige 
Selbstbeobachtung ist, ergibt sich besonders deutlich 
daraus, daß das Wort des griechischen Philosophen 
Heraklit: Tcdvra qsI (alles fließt), allermeist von dem 
Seelenleben des Menschen gilt. Dasselbe ist in stetigem 
Werden, ist ein in immer neuen Veränderungen sich 
gestaltendes und seine früheren Gestaltungen, seine 
bisher von uns wahrgenommenen Erscheinungen immer 
wieder mancherlei Modifikationen unterwerfendes 
Leben; und wenn man mit gespannter Aufmerksam- 
keit den Strom dieses Lebens fixieren und festhalten 
will, wird derselbe gestört und unterbrochen; es ist, 
als ob derselbe nicht etwa stüle stehe, sondern sich 
zurückziehe und dem Beobachter sich entziehe. Da- 
durch aber daß der Beobachter seiner selbst, um 
keinen Störungen ausgesetzt zu sein, gegen die Ein- 
drücke der Außenwelt sich möglichst abschließt, wird 
auch der Zufluß neuer Vorstellungen von außen teil- 
weise gehemmt; und je mehr sich der Mensch an- 
strengt, sich selbst zu beobachten, desto weniger, wie 
Wundt treffend bemerkt hat, beobachtet er wirklich. 
Dieser Schwierigkeit wird nur in sehr beschränktem 
Maße durch die experimentelle Psychologie abgeholfen. 
Dem psychologischen Experiment entzieht sich aus 
inneren Gründen (vgl. hierzu Elsenhans „Selbstbe- 
obachtung und Experiment in der Psychologie") ein 
großer Teil des inneren Lebens, z. B. der einer mensch- 
lichen Handlung vorhergehende Willensentschluß. 
Allein trotzdem gehört eine richtige Selbstbeobach- 



— 12 — . 

tung keineswegs zu den Unmöglichkeiten. Es trifft 
hier wieder einmal das Dichterwort zu: „was kein 
Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt 
ein kindlich Gemüt". Denn den Schwierigkeiten, die 
sich der verstandesmäßigen Beobachtung seiner selbst 
entgegenstellen, unterliegt nicht die unwillkürliche 
innere Wahrnehmung der seelischen Vorgänge und 
Bewußtseinsinhalte, das unmittelbare Erleben der- 
selben, wozu keinerlei wissenschaftliche Vorbildung 
erforderlich ist. Dazu kommt die Wiedervergegen- 
wärtigung vieler früherer seelischer Vorgänge und 
Bewußtseinsinhalte, die vor allem durch die unwill- 
kürliche Erinnerung, zum Teil auch durch die ab- 
sichtliche Zurückrufung und Wiederzusammenstellung 
derselben, durch die Eekonstruktion früherer Vor- 
stellungen stattfindet. Gegen das Bedenken aber, daß 
sowohl die Erinnerungsbilder als die reproduzierten 
Vorstellungen nicht völlig mit den ursprünglichen Er- 
lebnissen übereinstimmen, ist zunächst zu sagen, daß 
die stattfindenden Abweichungen im Durchschnitt nicht 
große, sondern kleine sind; und dann hat Elsenhans 
mit Recht geltend gemacht, daß, ebensowenig wie 
die Anthropologie, um richtige Erkenntnisse zu ge- 
winnen, die Unterschiede der einzelnen menschlichen 
Individuen berücksichtigen und in Rechnung ziehen 
müsse, ebensowenig die psychologische Beobachtung 
reproduzierter Vorstellungen, um richtige Schlüsse zu 
gewinnen, von der absoluten Gleichheit der einander 
entsprechenden reproduzierten und ursprünglichen 
Vorstellungen abhängig sei; und ebensowenig, müssen 
wir hinzufügen, ist sie an die völlige Übereinstimmung 
der Erinnerungsbilder mit den entsprechenden früheren 
seelischen Erlebnissen gebunden. 



— 13 — 

Allerdings ist die hierauf fußende psychologische 
Beobachtung vor Fehlern so wenig geschützt, daß eine 
durch Erschleichung stattfindende Einschiebung eines . 
bloß Eingebildeten oder sonstwie Irrigen in den Be- 
wußtseinsinhalt nur zu leicht möglich ist. Aber wie 
•unberechtigt ist es doch, daraus, daß psychische 
Prozesse und psychische Erfahrungen dem beobachten- 
den Forscher besonders schwierige Probleme stellen, 
infolgedessen Irrungen unterlaufen und die Meinungen 
der verschiedenen Forscher öfters vonöinander ab- 
weichen, den Schluß zu ziehen, daß diejenigen 
Wissenschaften, die es mit inneren VorgäDgen, 
mit seelischen Erlebnissen zu tun haben, als 
bloß subjektive, unsicher hin- und herschwankende 
tief unter den naturwissenschaftlichen Disziplinen 
stehen, die als die objektiven ausschließlich und allein 
sicheres Wissen gewähren, und daß jene überhaupt 
nicht zu festen Eesultaten gelangen können! 

Wie es über physikalische Fragen von jeher ver- 
schiedene Meinungen und schwankende Urteile ge- 
geben hat, dennoch aber ganz sichere physikalische 
Erkenntnisse gewonnen worden sind, ebenso sind trotz 
aller Schwankungen und Verschiedenheiten der Urteile 
die Beobachter und Erforscher psychischer Prozesse und 
Erlebnisse zu einer Reihe fester Resultate gelangt. 
Die Vertreter der sog. „objektiven" Wissenschaften 
aber arbeiten alle nicht mit den Objekten an und für 
sich, sondern mit ihren Gedanken von diesen Objekten, 
und diese Gedanken sind, wie Leibniz es ausdrückt, 
symbolischer Natur, sind sehr unvollständige Vor- 
stellungen der wirklichen Dinge. Mag die Wissen- 
schaft über die naive Anschauung der Dinge, die, wie 
schon gesagt wurde, die Gegenstände der Wahrnehmung 



— 14 — 

unwillkürlich umgestaltet, sich noch so hoch erheben, 
von noch so vielen Irrtümern derselben sich frei 
mächen und manches, was jener verborgen bleibt, zu 
klarer Erkenntnis bringen, — kein wissenschaftlicher 
Begriff eines Gegenstandes vermag alle erkennbaren 
Eigenschaften desselben zusammenzufassen, dies um 
so weniger, weil die Beziehungen eines Gegenstandes 
zu anderen Gegenständen — , und nur durch diese 
wird uns derselbe im eigentlichen Sinne des Worts 
erkennbar — , unzählig viele nicht nur, sondern auch 
veränderliche sind. (Man vergleiche hierzu die von 
E. Mach bevorwortete und empfohlene Schrift von 
Stallo „Begriffe und Theorien der modernen Physik".) 
Das bereits zitierte Heraklitsche Wort: Trowa qbZ, 
das ganz besonders von dem subjektiven Leben des 
Menschen gilt, hat auch für die objektive Welt seine 
Gültigkeit. Außerdem werden die „objektiven" Wissen- 
schaften, sobald sie eine Verständigung mit den 
Forschungen und Ergebnissen anderer Disziplinen 
suchen und in das große Ganze aller menschlichen 
Erkenntnis sich einordnen, namentlich mit der die 
Resultate aller Einzelforschungen verarbeitenden und 
zusammenfassenden philosophischen Erkenntnis sich 
auseinandersetzen wollen, alsbald in Schwierigkeiten, 
Unsicherheiten und Dunkelheiten verflochten und ge- 
raten dabei oft auf die. seltsamsten Irrwege. Wollten 
sie auf eine Verständigung und ein Zusammenwirken 
mit anderen Einzelwissenschaften und insbesondere 
mit der philosophischen Forschung gänzlich Verzicht 
leisten, so könnten sie im Tempel der Erkenntnis 
höchstens levitische Knechtsdienste leisten, aber nie- 
mals als Priester der Wahrheit darin walten. Sie 
könnten eine Masse voü Wissen, eine reichhaltige 



— 15 - 

Musterkarte von Einzelkenntnissen zusammentragen 
und sich dabei der Objektivität und Sicherheit ihrer 
Resultate rühmen, auch das nur mit den eben er- 
wähnten Einschränkungen; aber wirkliche Erkennt- 
nisse, tief eindringende Einsichten und zusammen- 
hängende Gesamtanschauongen könnten sie nicht ge- 
winnen. Daß sie sich nicht auf solche Weise degra- 
dieren wollen, ist völlig begreiflich. Heutzutage aber 
scheint es bei ihnen Mode geworden zu sein, daß sie 
in Überschätzung der Tragweite ihrer Resultate sich 
zu normgebenden und tonangebenden Meistern in 
der menschlichen Gesamterkenntnis aufwerfen. Je 
weniger sie hierzu berechtigt sind, desto dreister 
treten viele ihrer Vertreter mit dem Anspruch aufj 
alle anderen Wissenschaften nicht nur, sondern auch 
die praktischen Berufstätigkeiten auf politischem und 
sozialem Gebiete zu beherrschen und zu bevormunden ; 
und aus ihrer Mitte wird die nachdrückliche Forde- 
rung erhoben, daß unsere Staatsmänner, hochstehende 
Verwaltungsbeamte, parlamentarische Parteiführer u* 
a. m. biologische und anthropologische Vorkenntnisse, 
namentlich der vergleichenden Zoologie und Entwick- 
lungsgeschichte wie der Zellentheorie und der Pro- 
tistenkunde sich aneignen sollen. Den Psychologen 
aber spricht diese Vertretung der Naturwissenschaft 
die Befähigung zu psychologischen Untersuchungen 
und Urteilen einfach ab deshalb, weil sie von den 
anatomischen Grundlagen des Seelenlebens nur eine 
unvollständige oder gar keine Kenntnis haben, keine 
anatomische Einzelkenntnisse des menschlichen Orga- 
nismus, namentlich des Gehirns besitzen. Als ob die 
heutige Naturwissenschaft mit all ihren immensen 
Fortschritten eine wirkliche Erkenntnis von dem 



^ 16 — 

innersten Wesen des im Gehirn sich konzentrierenden 
Nervenlebens besäße! als ob sie nicht hier trotz ihrer 
scharfsinnigen Untersuchungen und glänzenden Resul- 
tate doch vor undurchdringlichen Geheimnissen stände! 
Andrerseits muß selbst ein Vertreter der einseitigen, 
„die Seele im Lichte des Monismus" betrachtenden 
physiologischen Richtung, Kroell, zugestehen, daß ins 
einzelne gehende anatomische Kenntnisse nicht ein- 
mal zum physiologischen Verständnis des 
Seelen- und Nervenlebens nötig seien; und es liegt 
auf der Hand, daß sie noch weniger erforderlich sind 
für das psychologische Verständnis der seelischen 
Vorgänge und Bewußtseinstatsachen. Mag der ana- 
tomisch-physiologische Tatbestand noch so wichtig 
sein und kann derselbe nur durch naturwissenschaft- 
liche Einzelforschungen und Schlußfolgerungen er- 
mittelt werden — das sagt jedem Unbefangenen 
schon das einfachste Nachdenken, und zu der Einsicht 
bedarf es gar nicht erst besonderer erkenntnistheo- 
retischer Bildung, daß die psychologische Deutung des 
physiologisch festgestellten Tatbestandes nicht Sache 
der Physiologie, sondern der Psychologie ist. Lipps 
(„Bericht über den Kongreß f. Psychologie 1896") 
geht allerdings zu weit, wenn er die Psychologie von 
der Physiologie gänzlich unabhängig machen und 
völlig scheiden will; denn jene bedarf einer Unter- 
stützung durch diese und einer Fühlung mit ihr. Aber 
trotzdem liegt viel Wahres in seinen Worten, wenn 
er schreibt: „Eine physiologische Psychologie im 
eigentlichen Sinne, d. h. eine Einsicht in den Zu- 
sammenhang oder die Gesetzmäßigkeit der psychischen 
Vorgänge, die erst auf Grund der Physiologie ge- 
wonnen würde, gibt es nicht. Das Heil der Psycho- 



: _ 17 — 

logie, und damit zugleich das Heil der Physiologie, 
wird davon abhängen, daß die Psychologie sich mehr 
und mehr auf die eigenen Füße stellt, durch nichts 
beirrt, auf ihren eigenen Wegen ihren eigenen Zielen 
zustrebt." 

Es empfiehlt sich allerdings, wie schon oben be- 
merkt worden, für die psychologische Untersuchung 
und Würdigung des Bewußtseinslebens, mit der Beob- 
achtung der eigenen Bewußtseinsinhalte die der frem- 
den zu verbinden. So einseitig die fremden Bewußt- 
seinsaussagen bzw. -Vorgänge vom Empiriokritizismus 
in Betracht gezogen und hervorgehoben werden, — 
€s wäre ebenso einseitig, wenn man dieselben unbe- 
rücksichtigt lassen wollte. Indem wir oft und immer 
wieder beobachten, daß den Lebensäußerungen unserer 
Mitmenschen nicht nur eine Empfindungs- und Vor- 
stellungswelt, sondern auch eine in Gefühlsregungen 
und Willensstrebungen sich betätigende ihrer selbst 
bewußte Kraft zugrunde liegt, wird sich dadurch 
unsere auf unmittelbarem Erlebnis ruhende Über- 
zeugung, daß in uns selber eine solche sich selbst- 
tätig kundgebende Kraft lebt, zwar nicht so sehr be- 
festigen, weil es dessen kaum bedarf, als vielmehr zu 
größerer Klarheit erheben ; wir werden des uns inne- 
wohnenden seelischen Lebens uns dadurch deutlicher 
bewußt. Allein es bleibt trotzdem bei dem Wort des 
Dichters: „willst du die andern erkennen, schau' in 
das eigene Herz!" Wollen wir andere richtig 
beobachten und das, was andere über ihre 
Erlebnisse aussagen, richtig deuten und 
verstehen, so müssen wir von unseren eigenen 
Erlebnissen, wie sie von den ihrigen, ausgehen; 
dann können die Erlebnisse anderer zu unseren wer- 

Graue, Selbstbewußtsein und WiUensfreiheit. 2 



— 18 — 

den und unsere Erlebnisse, indem wir anderen davon 
reden, zu denen der anderen werden. 

Was aber uns und anderen, die, wie wir, sich 
selbst und andere beobachten, als das allen Beob- 
achtern gemeinsame und keiner wesentlichen Modiff.- 
kation durch den fortschreitenden Prozeß des seelischen 
Lebens unterworfene Ergebnis sich bekundet und 
unserem reflektierenden Nachdenken und Erkennen 
sich darbietet, möge hier zunächst kurz in folgendem 
zusammengefaßt werden. 

Nicht nur Bewußtsein haben wir, in dem Sinne^ 
daß Bestimmtheiten und Vorgänge unseres Leibes- und 
Seelenlebens sich zuerst als Empfindungen, dann in der 
Form von Vorstellungen uns bekunden und daß sich 
an diese Empfindungen und Vorstellungen Verstandes- 
regungen, Gefühlstriebe, Willensstrebungen anreihen, 
sondern auch Selbstbewußtsein haben wir, in 
dem Sinne, daß wir von der uns umgeben- 
den Außenwelt uns selber unterscheiden 
Dieses Selbstbewußtsein tritt gleichzeitig mit dem 
Weltbewußtsein ein ; und sein Eintreten zeigt sich 
im Kindesalter deutlich dadurch, daß das Kind an- 
fängt, von sich in der ersten Person und nicht mehr 
in der dritten, nicht mehr mit seinem Eigennamen zu 
reden, und daß es nach manchen Rückfällen in die 
alte Gewohnheit bald dauernd von sich mit „ich" 
spricht. Daß das Kind längere Zeit von sich mit 
seinem Eigennamen, also in der dritten Person redet, 
davon ist nicht etwa, wie öfters behauptet worden, 
die Ursache, daß Eltern und andere das Kind in 
seiner ersten Lebenszeit nicht mit: „Du", sondern mit 
seinem Eigennamen anreden; vielmehr umgekehrt, die 
mit dem Kinde verkehren, reden es mit seinem Eigen- 



— 19 — 

namen an, weil ihm das Welt- und Selbstbewußtsein 
noch fehlt. Es ist also ein bedeutungsvoller Fort- 
schritt in der Entwicklung des Kindes, 
wenn es, allmählich immer konstanter, von sich 
selber mit „ich" redet. 

Aber hierin bekundet sich erst das 
Selbstbewußtsein im weiteren Sinne des 
Wortes. Erst später entwickelt sich im Menschen 
mit dem immer reicher sich entfaltenden Weltbewußt- 
. sein das Selbstbewußtsein im engeren Wort- 
sinne, dann nämlich, wenn er sich selber einer- 
seits von seinem eigenen Leibe, anderer- 
seits von seinen eigenen Empfindungen, 
Vorstellungen, Gefühlen und Begehrungen 
unterscheidet und sich mehr oder weniger klar 
dessen bewußt wird, daß er nicht aus einer Eeihe 
von seelischen Vorgängen und Entwicklungen be- 
steht, sondern daß er dieselben in sich trägt und 
daß er den Bestand und die Bewegungen 
seines seelischen Lebens nicht als etwas 
nur von ihm Vorgefundenes, ohne sein Zutun 
bald so bald anders sich Gestaltendes in sich birgt, 
sondern daß er zur Gestaltung dieses Be- 
standes und dieser Bewegungen selber wesent- 
lich mitgewirkt hat, daß er also ein sich 
selber betätigendes und zwar aus sich selber 
heraus sich betätigendes Ich, eine ihrer selbst 
bewußte und selbständig wirksame Persönlichkeit 
ist. Der Selbsttätigkeit meiner Persönlichkeit werde 
ich mir am deutlichsten bewußt bei anstrengender 
Denkarbeit und bei kräftigen Willensregungen. Ein- 
mal bei anstrengender Denkarbeit; denn bei derselben 
vergegenwärtige ich mir mit bewußter Absicht dieses 

2* 



— 20 — 

oder jenes Vorstellungsmaterial — (in welchem selbst- 
verständlich auch Gefühls- und Willensregungen als 
Gegenstände der Betrachtung enthalten sein können) — , 
bearbeite dasselbe durch Trennen und Verknüpfen 
der einzelnen Vorstellungen, bilde daraus Begriffe, 
fälle Urteile, ziehe Schlußfolgerungen. Sodann bei 
kräftigen Willensregungen; denn es ist so, wie die 
herkömmliche Definition des Willens sagt, daß der- 
selbe die Selbstbestimmung eines mit Intellekt be- 
gabten Wesens zu einer Wirkung ist; nur daß es 
nicht allein intellektuelle Motive sind, wodurch der 
Wille angeregt und zu einer Bestimmung gereizt 
wird; sondern auch, und oft überwiegend, ist ein nach 
einer gewissen Eichtung hindrängendes Gefühl das 
Motiv der Selbstbestimmung. Außerdem gibt jene 
Definition des Willens oder vielmehr, präziser aus- 
gedrückt, des WoUens, indem sie das Wesen, das sich 
selbst bestimmt, vom Willen unterscheidet, dadurch 
deutlich zu verstehen, daß es falsch ist, zu sagen: 
der Wille will, und daß man sagen muß: das Ich, 
das mittels des Bewußtseins denkt und fühlt, will 
und handelt mittels des Willens.^) Ebenso ist es 
unrichtig, wenn man, wie z. B. Herbart, behauptet, 
das, was wir Ich zu nennen pflegen, sei nichts anderes 
als die Seele; schon deshalb ist das irrig und irre- 
führend, weil wir ja auch dem Tiere eine Seele zu- 
schreiben, trotzdem wir es dem Menschen durch- 



^) N. Kurt protestiert mit Recht (in seiner sonst mancherlei 
übereilte Schlußfolgerungen und unerlaubte Gedankensprünge ent- 
haltenden Schrift „WiUensprohleme") dagegen,, daß man den 
Wülen als einen selbständigen, für sich bestehenden Faktor be- 
trachte. 



— 21 — 

aus nicht gleichstellen und ihm ein menschliches 
Selbstbewußtsein nicht beilegen wollen. Wenn wir 
den Inhalt dieses Selbstbewußtseins genauer bezeichnen 
wollen, so müssen wir, anstatt zu sagen: das Ich ist 
eine Seele, vielmehr sagen: das Ich hat eine Seele. 
Denn, wie R. Rothe („Ethik") treffend geschrieben 
hat: „Das Ich steht über der Seele, wirkt auf sie 
ein, dirigiert sie und ihre Organe". In der Tat, jeder 
gesund sich entwickelnde Mensch findet in sich, wenn 
er das unmittelbare Erlebnis seines Selbstbewußtseins 
zum Gegenstande seines Nachdenkens macht, ein selbr 
ständiges Zentrum gleichsam, oder wie er es sonst 
ähnlich bezeichnen mag, das zwar von seinen Organen 
und von den Erregungen und Zuständen seiner Seele 
affiziert und oft stark beeinflußt wird, das sich aber 
immer unabhängiger davon zu machen sucht, das 
selbige menschliche Ich bleibt, wie oft auch der zeit- 
weilige Inhalt seines Bewußtseins wechselt, und je 
länger je mehr von sich aus bestimmenden Einfluß 
auf seine Seele, auf seinen leiblichen Organismus und 
durch denselben auf die umgebende Welt ausübt. 
Wenn Luthardt („Lehre vom freien Willen") schreibt: 
„.Der mathematische Punkt des Selbst ist ein neues 
Prinzip innerhalb der Natur, welches sich über die- 
selbe hinaushebt", so ist zwar der Vergleich des Selbst, 
des menschlichen Ich mit dem Punkte in der Geometrie 
deshalb bedenklich, weil dadurch der Schein entsteht, 
als sei das Ich, wie der mathematische Punkt, nur 
etwas Gedachtes ohne realen Inhalt; aber die Be- 
zeichnung des menschlichen Ich als eines neuen 
Prinzips, das sich über die Natur erhebt, ist völlig 
richtig. Unser Ich ist nicht nur selber ein 
Neues, sondern auch ein solches, das imstande 



— 22 -- 

ist, ans sich heraus als eine spontane. Kausalität 
Neues zu schaffen. 

Wenn man gegen diese kurze Darstellung dessen, 
was unserer Selbstbeobachtung und unserem Nach- 
denken als von uns erlebter Inhalt unseres Selbst- 
bewußtseins sich kundgibt, den Einwurf erhebt, dieser 
ganze scheinbar erlebte Selbstbewußtseinsinhalt be- 
ruhe auf Selbsttäuschung, so berufen wir uns zunächst 
darauf, daß der Sprachgebrauch für die Realität 
dieses Inhalts spricht und daß unsere Gegner, indem 
sie von Selbsttäuschung reden, unwillkürlich das vor- 
aussetzen, was sie bestreiten, nämlich daß der Mensch 
zugleich Subjekt und Objekt sei und deshalb nicht 
nur sich selbst betrachten, sondern auch auf sich 
selber einwirken und sogar sich selber täuschen 
könne. Nun läßt sich ja die sprachliche Ausdrucks- 
weise nicht zu einer entscheidenden Instanz in wissen- 
schaftlichen Fragen erheben. Auch ist es zu viel 
behauptet, wenn Lipps („Selbstbewußtsein") von dem 
„gemeinen Sprachgebrauch" sagt, er werde „sich 
immer als sinnvoll, jedenfalls als belehrend ausweisen". 
Der Sprachgebrauch verfährt durchaus nicht immer 
den Gesetzen der Logik entsprechend und dem ver- 
nünftigen Sinn gemäß, sondern manchmals recht will- 
kürlich und zuweilen, z. B. wenn gesagt wird: „der 
Baum" (statt: „die Sonne"), „wirft den Schatten", 
oder: „Die Sonne geht auf, geht unter", nach dem 
bloßen äußeren Schein. Am wenigsten genügt die 
Sprache für den Ausdruck tiefer Gemütserapfindungen, 
aber oft nicht einmal für die richtige Bezeichnung 
der vorhandenen Begriffe. Die Sprache ist ja nicht 
erst dann entstanden und hat ihre Ausdrucksweise 
zu gestalten nicht erst dann angefangen, als Begriffe 



- 23 — 

und Erkenntnisse bereits fertig vorlagen. Vielmehr 
mnßte schon eine noch unentwickelte Sprache einer- 
seits zur Klärung der Vorstellungen und Begriffe und 
zur Fixierung gewonnener Erkenntnisse beitragen, 
andererseits in ihrer Entwicklung darunter leiden, 
daß es oftmals Gedanken und Gefühlen an Klarheit 
und selbst deutlichen Begriffen an strenger Konsequenz, 
an folgerichtig ausgestaltender Kraft gebrach. Darum 
ist es nicht zu verwundern, wenn die in unserem 
Sprachgebrauch üblichen Worte nicht immer einen 
bestimmten logischen Gehalt präzis ausdrücken und 
es deshalb Aufgabe der Wissenschaft ist, den sprach- 
lichen Ausdruck zu reformieren oder wenigstens zu 
feilen und zu präzisieren. Aber trotzdem hat man 
mit Recht von einer Logik der Sprache geredet und 
sie als feine Philosophin bezeichnet. E. Mach zitiert 
zustimmend aus Stallo's „Reden und Abhandlungen" 
die Äußerung desselben, daß die Sprache immer eine 
Philosophie enthält, welche denen, die sich der Sprache 
bedienen, wohl zugute, aber selten zum Bewußtsein 
kommt; und Lipps (a. a. 0.) bemerkt zutreffend: „Es 
^nügt in der Psychologie nirgends, daß wir den 
gemeinen Sprachgebrauch abweisen; wir müssen ihn 
auch zu verstehen suchen". 

Wenn wir also bei der hier vorliegenden Frage 
uns erinnern, daß unsere Sprache, wie von Selbst- 
bewußtsein und Selbsttäuschung, so auch von Selbst- 
achtung, Selbstliebe, Selbstprüfung, Selbsterkenntnis, 
Selbstbeherrschung u. a. m. redet, so darf das nicht 
ohne weiteres als irrige und irreführende Ausdrucks- 
weise abgewiesen werden; sondern das verpflichtet 
uns, der Entstehung dieses Sprachgebrauchs nachzu- 
forschen und in dem seelischen Erlebnis des Selbst- 



— 24 — 

bewußtseins mehr als bloße Selbsttäuschung zu er- 
kennen zu suchen. Zwar redet der gewöhnliche 
Sprachgebrauch von dem menschlichen Selbst, dem 
Ich, insofern scheinbar ganz willkürlich, als er das 
Wort „ich" in recht verschiedenem Sinn gebraucht 
und' den selbigen Menschen bald von sich sagen läßt: 
„ich bin bestaubt", nämlich meine Kleidung, bald: 
„ich bin müde", nämlich mein Leib, bald: „ich bin 
willenskräftig und tatkräftig", nämlich ich selber. 
Aber wenn ein Mensch so redet, meint er zwar in 
gewisser Hinsicht etwas Verschiedenes, im Grunde 
aber das selbige, nämlich sich selbst, sein unmittelbar 
erlebtes Ich. Weil sowohl seine Kleidung als sein 
Leib zu diesem seinem Ich in so naher Beziehung 
stehen, daß er sich mit ihnen verwachsen und gleich- 
sam Eins fühlt, bezeichnet er sie mit demselben Wort 
wie sich selbst, redet von ihnen wie von sich selber 
mit: „ich". Jedenfalls spricht der Sprach- 
gebrauch vielmehr für als gegen die An- 
nahme, daß in jedem naturgemäß sich ent- 
wickelnden Menschen aus dem Naturzu- 
sammenhang, dem er mit seinem beseelten Leibes- 
leben angehört er selbst, sein Ich sich her- 
auslöst und als ein Neues über die Natur 
sich erhebt. 

Gegen diese Annahme macht die Natur- 
wissenschaft geltend, es könne ein ganz 
Neues, es könne absolute Anfänge in der 
Natur überhaupt nicht geben. Wenn dieser 
Satz von den Naturforschern auf ihrem Arbeitsgebiet 
nicht als ein wissenschaftlich festgestelltes Theorem^ 
sondern nur als heuristisches Hilfsmittel für ihre 
Untersuchungen aufgestellt und angewandt wird, ist 



— 25 — 

dagegen nichts zu sagen. Aber er wird als eine un- 
umstößliche Grundlage der naturwissenschaftlichen 
Weltansicht, als ein für allemal feststehender wissen- 
schaftlicher Lehrsatz proklamiert; und deshalb ist eine 
ernste Prüfung dieses Satzes dringend geboten. 

Weil auch angesehene Theologen, wie z. B. Herr- 
mann („Ethik"), vor demselben sich beugen zu müssen 
meinen, ist eine kurze Vorbemerkung hier notwendig. 
Wenn nämlich von theologischer ebenso wie von natur- 
wissenschaftlicher Seite das Eintreten völlig neuer An- 
fange innerhalb des Naturlebens als gänzlich ausge- 
schlossen bezeichnet wird, so soll dadurch auch die 
Annahme eines schöpferischen Eingreifens 
Gottes in den Naturlauf abgewiesen werden. 
Wenn wir nun diese Abweisung für unberechtigt 
halten, dürfen wir uns nicht der Gefahr aussetzen, 
denselben Fehler zu begehen, dessen die Theologen, 
welche die Möglichkeit eines schöpferischen Eingreifens 
Gottes in die Natur ablehnen, und ebenso, wie sich 
bald zeigen wird, die Naturforscher sich schuldig 
machen, die das Eintreten absoluter Anfänge im 
Naturleben für unmöglich erklären, — den Fehler 
nämlich, über das Gebiet der Erfahrung 
hinauszugehen und dadurch die einzig sichere 
Grundlage alles wissenschaftlichen Forschens und Er- 
kennens zu verlassen und zu verlieren. Das würden 
wir aber tun, wenn wir von vornhein die Behauptung 
aufstellten, es seien und es werden durch Gottes 
schöpferische Kraft absolute Anfänge in der Natur 
hervorgebracht. Deshalb haben wir uns hier vorsich- 
tiger Zurückhaltung zu befleißigen. Indes als religiös 
fühlende und denkende Menschen werden wir uns 
nicht etwa damit völlig beruhigen, daß eine mannig- 



— 26 — 

faltige Wirksamkeit der Gottesmacht im 
töenschlichen Geistesleben stattfindet und na- 
mentlich in unserem eigenen Innern sich uns kund'- 
gibt, sondern auch über die Frage, inwieweit eine 
göttliche Wirksamkeit im Leben der Natur sich 
betätigt, uns dadurch klar zu werden suchen — (so- 
weit Klarheit hierüber zu erlangen uns Menschen 
überhaupt möglich ist) — , daß wir die im Naturlauf 
hervortretenden Erfahrungstatsachen beobachten und 
aus ihnen zu lernen suchen, wie Gott, der schöpferische 
Lebensgrund des ganzen Universums, in ihnen wirkt 
lind waltet. 

Es kann scheinen, als ob der Kausalzusam- 
menhang, in welchem jedes Ding die Wirkung einer 
Ursache und seinerseits die Ursache einer Wirkung 
ist, ein so allumfassender und festgeschlossener sei, 
daß weder außerhalb desselben etwas existieren noch 
ein Neues in denselben eindringen oder aus seinem 
bisherigen Bestände sich etwas als ein Neues ent- 
wickeln und über ihn sich erheben könne. Vermöge 
einer uns innewohnenden Denknotwendigkeit setzen 
wir allemal voraus, daß jedes Geschehen in der Welt 
ein kausales, ein ursächliches sei, daß also nicht nur, 
wenn gewisse Kräfte unter gewissen Bedingungen in 
Wirksamkeit treten, dann mit schlechthiniger Not- 
wendigkeit eine bestimmte Folge als Wirkung der- 
selben eintreten muß, sondern daß überhaupt nichts 
von dem, was da ist und geschieht, ohne Ursache da 
ist und geschieht. Wir pflegen namentlich auch des- 
halb den ursächlichen Zusammenhang der Dinge tiber- 
all vorauszusetzen, weil wir, wie 0. Ritschi („Kausal- 
betrachtung in den Geisteswissenschaften") treffend 
dargelegt hat, schon in unbewußtem reflexionslosem 



— 27 - 

Zustande das Kausalitätsgesetz praktisch ToUziehen, 
indem wir irgend eine Einwirkung auf uns einer als 
Ursache wirkenden Kraft zurechnen und durch un- 
willkürliche Reflexbewegung entsprechende Gegen- 
wirkung hervorrufen und dadurch Vergeltung üben. 
Aber hierdurch ist noch kein zwingender Beweis 
dafür geliefert, daß das Kausalgesetz immer und über- 
all nicht bloß subjektiv, sondern auch objektiv gültig 
sei. Vor Jahren habe ich (vgl. meine Schrift „Die 
selbständige Stellung der Sittl. zur Religion"), um 
die Realität meines Ich, meiner Persönlichkeit zu be- 
gründen, erklärt: falls das Selbstbewußtsein, worin ich 
mich selbst als ein für sich bestehendes, aus sich 
heraus wirkendes Wesen von allen in mir sich voll- 
ziehenden psychischen Prozessen und Bewußtseinsvor- 
gängen unterscheide, zu bloßer Einbildung degradiert 
würde, könne mit demselben Rechte das Kausalgesetz, 
durch welches ich für jede stattfindende Veränderung 
eines Dinges eine sie bewirkende Ursache anzunehmen 
mich genötigt sehe, als ein aus einer gewohnheitsmäßig 
sich vollziehenden Selbsttäuschung hervorgegangenes 
bezeichnet werden. Heute aber wird mir mehr als 
Ein Vertreter der „Kritik der reinen Erfahrung" 
hierauf erwidern, das Kausalgesetz sei vielleicht tat- 
sächlich nicht mehr als das; die absolute Gültigkeit 
desselben in der Welt sei ein von der modernen 
Naturphilosophie aufgestelltes Dogma, ein von den 
gläubigen Jüngern dieser Philosophie pflichtschuldigst 
verehrter Götze; ob in irgend einem Falle zwei auf- 
einander folgende Erscheinungen in ursächlichem Zu- 
sammenhang stehen, so daß die eine die Wirkung der 
anderen sei, lasse sich erst hinterher durch Unter- 
suchung feststellen, und das post hoc bedeute keines- 



— 28 — 

wegs immer auch ein propter hoc. E. Mach erklärt 
in solchem Sinne ausdrücklich: „Der Glaube an die 
geheimnisvolle Macht „Kausalität" wird bei dem sehr 
erschüttert, der z. B. die sonderbare Wechselwirkung^ 
elektrischer Ströme und' Magnete . . . währnimmt, die 
. . . aller Mechanik zu spotten scheint." Wir wollen 
hierauf keinen besonderen Wert legen, und noch we- 
niger darauf, daß Häckel ein Zusammentreffen zweier 
Erscheinungen anerkennt, die „nicht kausal verknüpft" 
sind, und Ostwald das örtliche und zeitliche Zusammen- 
treffen von Kausalreihen, die voneinander „unab- 
hängig", also nicht ursächlich zusammenhängende sind, 
als Zufall bezeichnet Wir erkennen unsererseits voll- 
ständig an, daß die Annahme eines ursächlichen Zü-^ 
sammenhangs der Erscheinungen in der Natur un- 
zählige Male von der wissenschaftlichen Untersuchung 
in jeder Beziehung bestätigt und erwiesen ist und 
daß es daher für die Naturforscher etwas Selbstver- 
ständliches ist und bleibt, den Begriff der Kausalität 
künftig wie bisher als Führer bei ihren Unter- 
suchungen zu gebrauchen. Aber daraus, daß jener 
Erweis unzählige Male geglückt und also eine Kon- 
gruenz zwischen dem subjektiven Denken des Men- 
schen und den Weltobjekten und ihrer Entwicklung^ 
herzustellen gelungen ist, ergibt sich noch kein zwin- 
gender Beweisgrund dafür, daß dies ausnahmslos der 
Fall ist und allemal und immer der Fall sein wird; 
und insofern behält das Wort Epikurs sein Recht, 
welches sagt, die Naturforschung biete nicht einmal 
dafür Garantie, daß nicht über kurz oder lang ein 
Naturereignis oder irgend welche Veränderung eines 
solchen „ohne alle Ursache" eintreten könne. Aber 
ist ein streng wissenschaftlicher jeden Zweifel aus- 



- 29 — 

schließender Beweis schon dafür nicht zu erbringen, 
daß das Kausalgesetz in allen Lebensgebieten jeder- 
zeit ganz unbeschränkte Gültigkeit und Herrschaft 
habe, — noch viel weniger ist das zu be- 
weisen möglich, daß das Kausalgesetz 
überall auf die gleiche Weise wirksam sei. 
In welcher Weise die Ursächlichkeit diese oder jene 
Wirkung hervorbringt, hat bis jetzt kein Mensch 
deutlich zu erklären vermocht, und das ist noch heute 
eine oft erörterte, aber unentschiedene Streitfrage. 
Allein soviel scheint festzustehen, daß das kausale 
Wirken ein anderes ist bei den rein mechanischen 
Bewegungen anorganischer Materie, als bei der Be- 
wegung und Entwicklung organischen Lebens, und daß 
in dieser Entwicklung Kräfte wirksam sind, welche 
nicht bloß die Wirkung weitergeben, die auf sie aus- 
geübt ist, sondern aus ihrem Eigenen etwas hinzu- 
fügen und dadurch neue Kombinationen der Kräfte 
und zweckmäßige Bildungen hervorrufen. In dieser Be- 
ziehung ist sehr beachtenswert, was W. Wtindt über 
den Unterschied der organischen, von ihm als beseelt 
gedachten und deshalb als psychisch bezeichneten, und 
der materiell-mechanischen Kausalität gefunden zu 
haben meint. Er glaubt diesen Unterschied darin 
gefunden zu haben, daß bei der materiell-mechanischen 
Kausalität die Äquivalenz herrsche, also das Gleich- 
gewicht und die Gleichwertigkeit (?) von Ursache und 
Wirkung stattfinde, bei der psychischen aber an di^ 
Stelle der Äquivalenz das Gesetz des Wachstums der 
Energie und das der Heterogonie der Zwecke trete, 
das letztgenannte Gesetz aber darin bestehe, daß die 
seelische Ursächlichkeit in ihren Zweckhandlungen 
Nebeneflfekte erreiche, welche in den vorausgehenden 



— 30 — 

Zweckvorstellungen nicht mitgedacht waren, sondera 
über dieselben hinausgehen. Hierin liegt jedenfalls 
eine bedeutungsvolle Wahrheit. Außerdem aber ist 
nachdrücklich zu betonen, daß das Kausalgesetz in 
seiner Wirksamkeit insofern ein begrenztes ist, als es 
zulassen muß, daß mitten in der Kausalkette indi- 
viduelle Kräfte auftreten, die nicht bloß von anderen 
Kräften gesetzte und bestimmte sind, sondern auch 
sich selber setzen und sich selber bestimmen. Mit 
Recht hat E. Zeller („Die menschliche Willensfreiheit") 
darauf hingewiesen, daß im Gesetz der Kausalität 
durchaus nicht etwas liege, wodurch die Existenz 
eines sich selber Setzenden und Bestimmenden aus- 
geschlossen sei; dies sei ebensowenig der Fall, als es 
im Gesetz der Schwere liege, daß keine willkürliche 
Ortsveränderung möglich sei. 

Aber nicht allein das Kausalgesetz, sondern auch 
das Gesetz von der Erhaltung der Kraft 
wird gegen die Möglichkeit absolut neuer Anfänge 
ins Feld geführt. Wie verhält es sich also mit der 
unbedingten und allgemeinen Gültigkeit dieses Ge- 
setzes? Der moderne „Monismus" hält sich für be- 
rechtigt zu verkündigen (vgl. Häckel „Welträtsel"): 
„Die genaue Messung der Kraftmenge, welche bei 
dieser Verwandlung (der Naturkräfte) tätig ist, hat 
ergeben, daß auch sie — (wie die Stoffmenge) — 
konstant bleibt ; kein Teilchen der bewegenden Kraft 
Im Weltall geht verloren; kein Teilchen kommt neu 
hinzu". Aber mag die Betrachtung und „Messung" 
der Natur noch so „exakt" sein, unfehlbar ist sie 
nicht; vor jedem noch so kleinen Irrtum vollständig 
geschützt, jederzeit bewahrt zu sein, wird gerade die 
umsichtigste und gewissenhafteste empirische Forschung 



— 31 — 

sich nicht rühmen. Außerdem aber ist es nur ein ver- 
hältnismäßig kleiner Ausschnitt aus dem unermeßlich 
großen Universum, der, wie schon oft erinnert wordeij, 
der menschlichen Betrachtung und Beobachtung vor- 
liegt; und da bleibt es immer fraglich, ob eine Schluß- 
folgerung aus Beobachtungen, die auf kleinen und 
naheliegenden Gebieten des Naturlebens gemacht wor- 
den sind, auf das große Ganze des Universums be- 
rechtigt und zutreffend ist. Eine solche Schlußfolge- 
rung hat schon an und für sich nicht den Charakter 
einer ganz sicheren Erkenntnis, und das noch weniger 
dann, wenn sie daraus, daß das Gesetz der Erhaltung 
der Kraft innerhalb unseres Sonnensystems b^w. auf 
unserer Erde nur annähernd sich nachweisen läßt, 
folgern will, daß im „System der Systeme", wie W.Wundt 
sagt, das Universum nennt, die volle Gültig- 
keit dieses Gesetzes herrsche. Wo bleibt also die Be- 
rechtigung, aus der kosmologischen Geltung dieses Ge- 
setzes, deren sichere wissenschaftliche Begründung 
noch aussteht, alsbald den Schluß zu ziehen, es könne 
der im Universum vorhandene Kraftfonds nicht nur 
nicht vermindert, sondern auch nicht vermehrt wer- 
den, eine neue Kraft zu demselben nicht hinzukommen? 
Aber vollends unberechtigt ist es, diese Behauptung 
ohne weiteres auch auf das menschliche Seelenleben 
zu übertragen. So wenig die Naturforschung die im 
Universum vorhandene unendlich große Fülle von 
Kraft und Energie zu messen oder auch nur annähernd 
zu taxieren vermag, ebensowenig kann ein wissen^ 
schaftlicher Forscher die in einer einzigen Menschen- 
seele wirkenden und waltenden Kräfte und die un- 
endliche Mannigfaltigkeit ihrer tausendfach nuan- 
cierten Strebungen und Richtungen, Mischungen und 



— 32 — 

Wechselwirkungen ermessen oder berechnen. Selbst 
E. Häckel sieht sich wiederholt genötigt, etwas Un- 
berechenbares, der menschlichen Erkenntnis Unzugäng- 
liches anzuerkennen; und daran wird nichts geändert 
dadurch, daß er über solche Dinge leicht hinwegzu- 
gehen pflegt, mit Worten wie: „nicht weiter zu er- 
klärendes". Wer darf also die Möglichkeit leugnen, 
daß von irgendwo her, aus dieser oder jener geheim- 
nisvollen, „nicht weiter zu erklärenden" Erscheinung 
in der Natur, insbesondere im menschlichen Seelen- 
leben absolut neue Kräfte, d. h. nicht bloß solche, die 
bisher schlummernde, ruhende und daher verborgene 
waren, sondern auch solche, die in ihrer individuellen 
Art und Besonderheit bisher überhaupt nicht vorhan- 
den waren, im Universum auftreten und seinen Kraft- 
fonds verändern und vermehren?! In dieser Be- 
ziehung ist recht beachtenswert was J. Fröhlich 
(„das Gesetz von der Erhaltung der Kraft" etc.) über 
die Möglichkeit schreibt, daß auch da, wo das Gesetz 
von der unveränderten Erhaltung der Stoffmenge und 
ihrer Elemente unbeschränkt herrsche, durch eine 
andere Anordnung des Stoffs, durch Aufhebung innerer 
Widerstände und gegenseitige Ergänzung bisher 
einander widerstrebender Teile höhere Energien und 
auch neue Kräfte erzeugt werden. Wenn er hierfür 
zum Vergleich ein Beispiel aus dem Geschäftsleben 
anführt, daß nämlich manchmal zwei Kaufleute, die 
bisher Konkurrenten waren und einander Abbruch 
taten, nachdem sie sich zu gemeinsamer geschäftlicher 
Arbeit vereinigt haben, dann zusammen nicht bloß 
so viel verdienen, als die Summe dessen beträgt, was 
früher jeder von ihnen für sich allein verdiente, son- 
dern einen höheren Betrag, so ist ja dies Beispiel 



— 33 — 

trivial genug; und wie jeder derartige Vergleich, ist 
auch dieser teilweise unzutreffend. Aber ein solches 
schriftstellerisches Verfahren ist jedenfalls dienlicher 
zur Klarstellung dessen, um das es sich handelt, als 
"das des „Monismus", der das Gesetz von der Erhal- 
tung des Stoffs und das von der Erhaltung der Kraft 
zusammenwirft und als das Substanzgesetz der Welt 
verkündet, trotzdem er uns ebenso wenig sagen kann, 
was Substanz ist, als was Stoff und Kraft ist. Denn 
^as Wort „Substanz" hat zwar einen sehr wissen- 
schaftlichen Klang, aber unterliegt noch heute den 
verschiedenartigsten philosophischen Deutungen ; und 
in der Volkssprache bedeutet es, abgesehen von dem 
juristischen Gebrauch des Worts, weiter nichts, als daß 
es ein Ding ist, das irgend welche Eigenschaften hat. 
Die Deszendenzlehre aber, spricht sie nicht 
erst recht dafür, daß in der Welt neue Kräfte 
und neue Anfänge auftreten? Nach dieser 
Lehre soll ja aus den allereinfachsten und rohesten 
Uranfängen die jetzige Welt mit ihrem Eeichtum von 
Ordnung und Gesetzmäßigkeit, Harmonie und Schön- 
heit sich allmählich entwickelt, insbesondere auch der 
Mensch aus einer der höheren Tierarten sich nach 
und nach herausgebildet und immer mehr vervoll- 
kommnet haben. Wenn neuerdings mit einiger Sicher- 
heit festgestellt worden ist, daß nicht immer durch 
allmähliche, fast unmerkliche Übergänge, wie man 
früher annahm, sondern oftmals plötzlich durch eine 
gleichsam sprunghafte Entwicklung neue Gestaltungen 
hervorgetreten sind, so wird dadurch die Annahme 
«ines Eintretens neuer Kräfte erst recht nahegelegt. 
Wallace aber, der mit Darwin die Deszendenzlehre 
durch die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl er- 

Graue, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. 3 



— 34 — 

gänzt und weitergeflihrt hat, erklärt ausdrücklich^ 
daß in der sonst ununterbrochenen Reihe von der 
rohesten Materie an bis hinauf zum Menschen auch 
neue Kräfte hervorgetreten sind, und zwar zuerst bei 
dem Übergang von der unorganischen zur organischen 
Welt, — (die Versuche, eine sog. Urzeugung, d. h. die 
mechanisch - kausale Entwicklung eines organischen 
Lebewesens aus unorganischer Materie nachzuweisen^ 
sind bis heute alle mißlungen) — , sodann bei dem 
Eintritt der Empfindung und des Bewußtseins, endlich 
bei der Entwicklung der höchsten Anlagen des Men- 
schen. Heutzutage scheinen manche Naturforscher ge- 
neigt zu sein, die ganze Deszendenzlehre und mit ihr 
den Gedanken einer fortschreitenden Entwicklung des 
Naturlebens bis zur Höhe des menschlichen Seelen- 
lebens preiszugeben; mit Unrecht das, meine ich. 
Denn es wird immer vielseitiger als sehr wahrschein- 
lich angenommen und scheint sich immer mehr zu 
bestätigen, daß schon die kleinsten und auf niedrigster 
Entwicklungsstufe stehenden Lebewesen eine Art Be- 
seeltheit, die Anfänge von Empfindung und Bewußt- 
sein haben; und das gibt der Deszendenzlehre neue 
Beweisgründe an die Hand. Freilich sind zu dieser 
Annahme diejenigen Forscher nicht berechtigt, die 
alles Übersinnliche aus dem Universum so völlig ver- 
bannt zu haben sich rühmen, daß nur sinnliche Stoffe 
und materielle, mechanisch wirkende Kräfte darin 
übrig sind ; und es mutet uns als eine höchst seltsame 
Inkonsequenz geradezu abenteuerlich an, wenn die 
selbigen Männer das selbige Übersinnliche durch die 
Behauptung, daß schon die niedersten Lebewesen be- 
seelt seien, wieder in die materiellen Stoffe und Kräfte 
hineindekretieren. Allein auch ganz unbefangene 



— 35 — 

Forscher und gründliche, klare Denker, wie W. Wundt 
u. a., haben sich zu der Ansicht gedrängt gesehen, 
daß schon auf den untersten Stufen des organischen 
Lebens sich die ersten Anfänge seelischen Lebens 
finden. Außerdem ist es eine unzweifelhafte Tatsache, 
daß in der Regel mit der reicheren, feineren und 
vielseitigeren Naturausstattung der Organismen auch 
ihr psychisches Leben höhere Begabung, reichere und 
stärkere Leistungsfähigkeit gewinnt. Deshalb liegt 
der Gedanke nahe, wenn auch niemand ihn wissen- 
schaftlich nachzuweisen vermag, daß dem Menschen 
nicht etwa eine geistige Substanz, oder wie man es 
sonst nennen mag, angeboren oder anerschaffen ist, 
sondern daß dasjenige, was wir den Geist des Menschen 
nennen, mit seiner immer reicher und kunstvoller sich 
ausgestaltenden natürlichen Organisation sich allmäh- 
lich entwickelt hat 

Das Wort „Entwicklung" darf freilich nicht so 
verstanden werden, wie viele Empiriokritiker, z. B. 
Willy, es verstanden wissen wollen, indem sie be- 
haupten, das Psychische sei nur eine Begleiterscheinung 
des sinnlichen Lebens, und gleichwie bei einer elek- 
trischen Spannung der Funke aufblitze, so leuchte 
bei gewissen Nervenvorgängen das geistige Leben der 
Seele auf Wenn hier dem Aufblitzen des elektrischen 
Funkens das des Geistes gleichgestellt wird, so ge- 
schieht das durch die bekannte fierdßaaig eig &U.o 
yevog, die schon bei den Griechen für unerlaubt galt, 
noch heute von allen wissenschaftlich geschulten 
Forschern als das unberechtigte Übergreifen von 
einem Lebensgebiet auf ein ganz anders geartetes 
betrachtet und nur durch einen willkürlichen Ge- 
dankensprung ermöglicht wird. Dieser Gedanken- 

3* 



— 36 — 

Sprung aber wird noch überboten durch den salto 
mortale, welchen Ostwald, ein Vertreter der modernen 
Energetik, in seinen „Annalen der Naturphilosophie" 
sich erlaubt hat, indem er behauptet, geistige Vor- 
gänge seien Umwandlungen chemischer Energie in 
geistige, welche geistige Energie aber nur so lange 
da sei, als der geistige Vorgang dauere, und sich 
darauf wahrscheinlich in Wärme verwandle. Daß 
geistiges Geschehen nicht ohne Veränderungen der 
Nervenenergie des Gehirns stattfindet, wird niemand 
leugnen; aber welch ein halsbrecherischer Gedanken- 
sprung ist es, aus diesem Satze zu folgern, daß das 
geistige Geschehen in Umwandlung chemischer Energie 
bestehe! Die Alchimie wollte in ihren Laboratorien 
doch nur Gold und Silber aus unedlen Stoffen her- 
stellen; diese Chemie aber, die sich mit dem wissen- 
schaftlichen Namen „energetisch" geschmückt hat, ver- 
mißt sich, aus ihren materiellen Stoffen die höchsten 
Güter des Menschen, die unschätzbaren Kräfte des 
Geistes herzustellen. — Ganz anders hat im Anschluß 
an den Entwicklungsgedanken ßiehl („Zur Einführung 
in die Philosophie der Gegenwart") geurteilt, indem 
er schrieb: „Die innere Eegsamkeit dessen, was wir 
als Materie wahrnehmen, die qualitative Wirksamkeit 
der Dinge, die dem äußeren Sinne als Bewegung er- 
scheint, hat sich zu Gefühl und Empfindung gesteigert, 
zu den Elementen des Bewußtseins, mit welchen eine 
Entwicklungsreihe begonnen hat, die ununterbrochen 
bis zum Menschen reicht und an dessen geistige Ge- 
schichte heranreicht." Aber nimmer darf das in dem 
Sinne ausgelegt werden, in welchem Kiehl das 
ganze geistige Leben, auch Werte und Willen, 
die er früher als eine höhere Macht hingestellt hat, 



— 37 — 

Produkte des Organischen nennt. „Pro- 
dukte"! Die alte, schon so oft gerügte Begriffs- 
verwechslung von Bedingendem und Ver- 
ursachendem! Das geistige Leben zum Produkt 
des Organischen, dieses zur Ursache jenes Lebens 
machen, ist ebenso irrig, wie die Entwicklung eines 
organischen Keimes zu Blüte und Frucht zum Produkt 
der Wärmegrade machen, die eine Bedingung dieses 
Entwicklungsvorganges, aber nicht die ihn verur- 
sachende Kraft, nicht sein schöpferischer Lebensgrund 
sind. Denn diese Kraft und dieser Lebensgrund trägt 
den produzierenden Lebensfaktor, der aus dem Keime 
Blüte und Frucht hervortreibt, schon in sich, ehe noch 
die zur Entwicklung desselben erforderlichen Wärme- 
grade eintreten, und behält ihn als einen zeitweilig 
ruhenden, schlummernden in sich, wenn diese Grade 
nicht eintreten. Eob. Mayer, der Entdecker des Ge- 
setzes von der Erhaltung der Kraft, urteilt hierüber 
folgendermaßen: „Bekanntlich kann ohne gleichzeitigen 
chemischen Prozeß keine telegraphische Mitteilung 
stattfinden. Das aber, was der Telegraph spricht, 
also der Inhalt der Depesche, läßt sich auf keine 
Weise als Funktion einer elektrochemischen Aktion 
betrachten. Dies gilt noch mehr vom Gehirn und 
Gedanken. Das Gehirn ist nur das Werkzeug; es ist 
nicht der Geist selbst." Anstatt das Geistige zu einem 
Produkt des Organischen zu stempeln und dadurch sich 
immer aufs neue einer BegriflFsverwechslung schuldig 
zu machen, sollte man sich vielmehr darüber klar 
v^erden, daß man, um den Naturkräften des organischen 
Lebens und ihrer Mitwirkung bei der Entwicklung 
des geistigen Lebens ihre volle Bedeutung zu wahren, 
höchstens sagen darf, daß die neue Kraft, die mit 



— 38 — 

dem geistigen Leben in die Welt eintritt, einer 
Wechselwirkung des organischen und des seeli- 
schen Lebens ihre Entstehung verdanke. Nur daß 
bei dieser Annahme das seelische Leben des Menschen 
als das zunächst zwar von der organischen Natur ge- 
nährte, — (vgl. hierzu Fr. Eückert's Wort: „ein Säug- 
ling ist der Geist, Natur ist seine Amme") — , dadurch 
aber zu allmählicher Selbsterfassung befähigte, zu selb- 
ständigem geistigen Leben und Wirken erhobene und 
deshalb fortan mehr und mehr die Entwicklung des 
seelischen wie des organischen Lebens dirigierende 
und gestaltende anerkannt werden muß. Wenn durch 
solche Wechselwirkung der Geist des Menschen als 
ein Neues entsteht, wird das also, soweit wir zu sehen 
vermögen, so geschehen, daß das seelische Leben, 
das ohne wesentliche Mitwirkung des organischen 
sich nicht zu entfalten vermag, indem es den hilf- 
reichen Beistand desselben ausnützt, einerseits sich 
selbst allmählich aus der Abhängigkeit von der 
organischen Natur zu geistiger Selbsttätigkeit empor- 
ringt, andererseits dazu beiträgt, daß das organische 
Leben des Menschen sich immer feiner und reicher 
ausgestaltet. Unwillkürlich drängt sich hier der Ge- 
danke auf, daß mit diesen geheimnisvollen Vorgängen 
jener „innere Gestaltungstrieb" in Zusammen- 
hang stehe, den Vertreter des Monismus wiederholt, 
aber, wie es scheint, ohne tieferes Nachdenken darüber, 
anerkannt, auch zuweilen als einen nach Vervollkomm- 
nung strebenden Bildungstrieb gekennzeichnet haben 
und dessen Wirksamkeit schon in der Kristallisation 
unorganischer Materie, noch weit mehr in den wunder- 
baren Gestaltungen des organischen Lebens sich be- 
kundet; viele schon in den niedersten Organismen 



— 39 — 

sich zeigenden geradezu künstlerisch schönen Ge- 
staltungen dieses Triebes hat E. Häckel in seinen 
,,Kunstformen der Natur" zu vorzüglicher bildlicher 
Darstellung gebracht. Es ist recht gut denkbar, 
daß aus diesem Gestaltungstrieb, der in der 
höchstbegabten, der menschlichen Seele seine höchste 
Ausbildung und seine größte LeistungsflLhigkeit ge- 
winnt, das menschliche Geistesleben ent- 
sproßt und je länger je mehr wie zu reichem, lebens- 
vollem Weltbewußtsein, so zu klarem, in sich konzen- 
triertem Selbstbewußtsein sich entfaltet und über die 
Natur sich hoch hinaushebt. Falls es sich wirklich 
so oder ähnlich verhalten sollte, so wäre damit 
zwar für den Monismus der modernen Naturwissen- 
schaft nichts gewonnen; aber es würde sich darin etwas 
von einem einheitlichen Weltzusammen- 
hang zeigen, nach dessen Erkenntnis zu streben ein 
Bedürfnis des Menschengeistes ist, etwas von dem, was 
Kant im Auge hatte, als er die Vermutung äußerte, 
daß Verstand und Sinnlichkeit aus einer 
undderselben uns unbekannten Wurzel ab- 
stammen. (Vgl. die „E n t e 1 e c h i e" des Aristoteles.) 
R. Eothe hat es als eine Gedankenlosigkeit der 
Vertreter des Materialismus bezeichnet, daß sie trotz 
ihres Nachweises, daß im Menschen die Materie in- 
folge ihrer aufs höchste fortgeführten Organisation 
einzigartige Kräfte und Funktionen hervortreibt, nicht 
daran denken, daß diese einzigartigen Kräfte und 
Funktionen auch einzigartige Wirkungen und Ergeb- 
nisse zur Folge haben müssen. Nun wird zwar von 
weiten der dem Materialismus huldigenden bzw. zu- 
neigenden Naturforscher hiergegen geltend gemacht 
werden, daß die Naturwissenschaft zwischen den 



— 40 - 

höheren Tieren und den Menschen nicht spezifische^ 
sondern nur graduelle Unterschiede der Organisation 
und ihrer Funktionen konstatiert habe. So versichert 
noch heute E. Mach: „Ein bloßer Gradunterschied 
der Intelligenz bei Mensch und Tier erklärt alles"; 
und „die Ansicht, welche einen qualitativen Unter- 
schied zwischen Tier- und Menschenintelligenz an- 
nimmt, ist ßest eines alten Aberglaubens"; betreffs 
der menschlichen Sprache aber erklärt er einfach: 
„Woraus denn soll die Menschensprache sich ent- 
wickelt haben als aus der Tiersprache unserer Vor- 
fahren? und daß eine Tiersprache existiert, kann dem 
Unbefangenen nicht zweifelhaft sein." Aber es ver- 
breitet sich heutzutage die Erkenntnis immer allge- 
meiner, daß über das Sein und die Art der vielum- 
strittenen Tierseele eine wirklich wissenschaftliche 
Aussage kaum möglich ist, insbesondere darüber nicht 
gegeben werden kann, ob und wie weit das Tier ein 
Selbstbewußtsein habe, das dem menschlichen ähnlich 
sei. Von mancher Seite spricht man noch heute dem 
Tiere Eigenschaften ab, die es allem Anschein nach 
besitzt und durch die es die Ähnlichkeit seiner Seele 
mit der Menschenseele bekundet. Andererseits hat 
die willkürlich schaffende Phantasie mancher Natur- 
forscher menschliche Eigenschaften, welche der Tier- 
seele ganz oder fast ganz fremd sind, in sie hinein- 
gelegt, „introjiziert". Um einigermaßen klar hierüber 
zu werden, muß vor allem folgendes beachtet werden. 
Von allen Sachverständigen wird heute einge- 
räumt, daß der Mensch von keinem der jetzt lebenden 
Tiere unmittelbar abstamme und aus keinem sich ent- 
wickeln könne. Damit wird aber anerkannt, daß die 
Zwischenglieder zwischen Tier und Mensch in der 



— 41 — 

zum Menschen hinaufreichenden Entwicklungsreihe 
untergegangen sind und im günstigsten Falle nur 
noch die fossilen Überreste jener Zwischenglieder 
nachgewiesen werden können. Ob aber die Vorfahren 
der Menschen Affen waren oder ob die Stammbäume 
der Menschen und der Affen Parallelbildungen sind, 
die auf verschiedene Urzellen zurückweisen, oder ob 
der Typus der Menschen durch Heterogenesis, wie 
der Physiologe KöUiker die sprungweise Umwandlung 
einer Art in eine andere nennt, aus einer dem jetzigen 
Menschen ganz unähnlichen Vorstufe entsprungen 
sei und im Affentypus eine Konvergenzbildung einer 
anderen phylogenetischen Eeihe vorliege, das alles 
ist ungewiß, die eine Annahme im wesentlichen ebenso 
unsicher wie die andere; „die Wissenschaft", erklärt 
Reinke („Die Welt als Tat"), „hat zu sagen, daß sie 
über den Ursprung des Menschen nichts weiß", und 
darin hat er insofern Eecht, als die Wissenschaft über 
Vermutungen hier nicht hinauskommt. Was aber das 
Bewußtsein der Tierseele betrifft, so ist dasselbe bei 
den niederen Tieren im Grunde nicht mehr als Emp- 
findungs- und Triebleben, und erst bei den weiter 
ausgebildeten gesellen sich Vorstellungen zu den Emp- 
findungen und Trieben; auch die höheren Tiere aber 
sind nur teilweise imstande, ihre Vorstellungen einiger- 
maßen zu ordnen und in einen verständigen, klaren 
Zusammenhang zu bringen. Sie trachten zwar danach, 
gleichsam zur Zentralisation ihres seelischen Lebens 
zu gelangen und sich selber zu erfassen; aber auch 
ihre begabtesten und ausgebildetsten Individuen sinken 
immer wieder in seelische Verworrenheit zurück und 
gehen deshalb eines deutlichen Selbstbewußtseins, — 
wenn sie überhaupt jemals ein solches sich aneignen, — 



— 42 — 

immer wieder verlustig. Es ist eine allgemein an- 
erkannte Tatsache, daß von einem wissenschaft- 
lichen Streben, wie es der Kulturmensch zu eigen 
hat und zu dem ein gesunder Naturmensch erzogen 
und herangebildet werden kann, von dem Streben, 
nicht um eines äußeren Nutzens willen, nicht im 
Interesse der Ernährung, der Fortpflanzung, der Pflege 
der Nachkommenschaft oder des eigenen Wohlbehagens, 
sondern um der Wahrheit willen, aus Liebe zur Wahr- 
heit und aus Freude an ihrer Erkenntnis neues Wissen 
und neue Einsichten zu erlangen und zu verwerten, 
bei den Tieren so gut wie nichts vor- 
handen ist, daß das Tier auch nicht imstande 
ist, Begriffe zu bilden, und deshalb auch nicht 
vermag, in begrifflichem Gedankenzusammen- 
hang seinen Verstand zu gebrauchen oder in solchem 
Zusammenhang zusprechen. Hier zeigt sich deut- 
lich, daß nicht bloß ein quantitativer, sondern ein 
qualitativer Unterschied zwischen Mensch 
und Tier besteht. Deshalb bleibt das Tier auch da, 
wo es durch ein fest geregeltes Gemeinschaftsleben 
seine Kräfte vielfach leistungsföhiger gemacht hat, 
auf einer gewissen Entwicklungsstufe stehen oder 
sinkt gar auf eine niedere zurück; dagegen werden 
die Menschen, falls sie gesund veranlagte sind, aus 
innerer Notwendigkeit und zugleich aus freiem Herzens- 
triebe zu ihrer selbst bewußten und selbsttätig handeln- 
den Persönlichkeiten, die in lebendigem Austausch 
ihrer Erfahrungen, in gemeinsamer Übung und Ver- 
wertung ihrer Kräfte und Talente auf dem großen 
Schauplatz, Arbeitsfeld und Kampfplatz der Völker- 
geschichte immer neue Erscheinungsreihen ins Leben 
rufen und ausgestalten und wiederum ihrerseits durch 



— 43 — 

die Einwirkungen des geschichtlichen Zusammen- 
hanges, darin sie stehen, und der geschichtlichen 
Lebensmächte, von denen sie abhangen, geistig an- 
geregt und gefordert, getragen und gehoben werden. 

So tritt im Menschen der seiner selbst bewußte 
<jreist als ein selbständiges, gleichsam auf seinem 
•eigenen Lebensgrunde stehendes und aus sich selbst 
heraus wirkendes Neues der Natur gegenüber; und 
indem er dessen deutlich inne wird, trotzdem er den 
Zusammenhang mit der Natur nicht zerrissen, sondern 
nur so weit, als es zu seiner eigenen Entfaltung not- 
wendig ist, gelöst oder vielmehr gelockert hat, wird 
-er sich bewußt, ein absoluter Anfang nicht nur gegen- 
über, sondern auch in der Natur zu sein. Warum 
also selbst von theologischer Seite heutzutage das 
voreilige Zugeständnis machen, eine „über ihre Grund- 
-sätze klare Naturwissenschaft" werde immer lehren, 
daß es in der Natur keine absoluten Anfänge geben 
könne? Eine „über ihre Grundsätze klare Natur- 
wissenschaft" wird vielmehr ihrerseits das Zugeständ- 
nis machen, sie habe gar nicht die Befagnis, allein 
von sich aus mit apodiktischer Bestimmtheit darüber 
^u entscheiden, was es in der Natur geben könne und 
was nicht. Denn zu ihren wesentlichsten Grundsätzen 
gehört der, niemals über das Gebiet der Erfahrung 
hinauszugehen; und sie wird ihm untreu, sobald sie 
über eine solche Frage nicht bloß eine Vermutung 
ausspricht, sondern einen Lehrsatz darüber aufstellt, 
der durch die von ihr bisher gemachten Beobachtungen 
und Erfahrungen durchaus nicht fest und sicher be- 
gründet werden kann. 

Viele moderne Physiologen scheinen allerdings an 
derartigen Lehrsätzen ebenso zähe zu hangen wie 



- 44 ~ 

mancher bigotte Theologe an seinen Dogmen, und die 
Fähigkeit, etwas, das sich als ein Neues, als 
ein sich selbst Setzendes über den kausalen Natur- 
zusammenhang hinaushebt, auch nur als möglich 
anzuerkennen, so vollständig verloren zu haben^ 
daß sie manchmal zu höchst willkürlichen und sonder- 
baren Annahmen ihre Zuflucht nehmen, um nur als 
treue Jünger der „exakten Wissenschaft" innerhalb 
des mechanisch-kausal bestimmten sinnlichen Natur- 
lebens verbleiben und dasjenige leugnen bzw. igno- 
rieren zu können, was in dem ursprünglichen 
inneren Erleben und seinem unmittelbaren 
Wissen dem Gemüt gegenwärtig ist. Solchen 
gegenüber gilt uns das urteil Münsterberg's, der in 
seinen „Prinzipien der Psychologie" eine ganz eigen- 
artige Position eingenommen, aber treffend das Ich 
als die „stellungnehmende Aktualität" be- 
zeichnet hat, von der wir durch innere Betätigung 
wissen und die in unendlich mannigfach 
nuancierten Entscheidungen des Wollens 
und Nichtwollens als freien Akten sich Ee- 
alität schafft, und der dann erklärt: „wer für 
diese Entscheidungen des Wollens vorge- 
fundene Muskelempfindungen, Organ ge- 
fühle und ähnliches einsetzt, wer behauptet, daß 
er seinen Willen ursprünglich in derselben Art er- 
lebt, wie er der Willensobjekte bewußt ist, mit dem 
ist eine Verständigung grundsätzlich ausge- 
schlossen." Wenn trotzdem auf derartige Annahmen 
und Behauptungen hier etwas erwidert wird, so ge- 
schieht es nur, um gegen diese Velleitäten den zu 
schützen und über sie aufklären zu helfen, dem nicht 
durch physiologische oder vielmehr naturphilosophische 



- 45 - 

Dogmen die Einsicht in den vorliegenden psychologi- 
schen Tatbestand von vornherein verschlossen ist. 

Bekanntlich unterscheiden wir, wenn wir unseres 
Selbst, unseres Ich, indem wir es unmittelbar erleben, 
uns bewußt geworden sind, von unserem gegenständ- 
lichen Bewußtsein, von dem auf die Gegenstände 
unserer Außenwelt gerichteten Vorstellen und Denken, 
unser zuständliches Bewußtsein, das auf unsere inneren 
Bestimmtheiten und Zustände gerichtete Empfinden 
und Fühlen ; insbesondere unterscheiden wir noch von 
den körperlichen Empfindungen die geistigen Gefühle, 
und dieser Gefühle werden wir inne als Qualitäten 
unseres Ich. Wenn wir sie aber als solche bezeichnen 
und benennen, so entgegnet man uns von selten der 
naturalistischen Physiologen: „Das Ich ist nichts 
weiter als der Gesamtinhalt deines Bewußtseins, und 
deine Gefühle sind nichts weiter als Qualitäten deines 
Gesamtbewußtseinsinhalts." Nehmen wir, um diese 
Entgegnung zu charakterisieren und zu prüfen, irgend 
ein Beispiel aus unserer eigenen seelischen Erfahrung. 
Wenn wir ein Kunstwerk, sagen wir: ein Gemälde, 
mit großer Freude betrachten, bewundern und mit 
inniger Hingebung bei seinem Anblick verweilen, so 
werden wir uns manchmal in das Kunstwerk so ver- 
tiefen und versenken, daß wir uns selber zeitweilig 
darüber vergessen und dann ausschließlich das betr. 
Gemälde den Gesamtinhalt unseres Bewußtseins aus- 
macht. Wäre nun unser geistiges Gefühl nur eine 
Qualität unseres Gesamtbewußtseinsinhalts, so müßte 
also die Freude, die wir bei jener Betrachtung fühlen, 
eine Qualität des Gemäldes sein, das den Gesamtinhalt 
unseres Bewußtseins ausmacht; und wäre das Ich nur 
der Gesamtinhalt unseres Bewußtseins, so müßten wir 



— 46 — 

konsequenterweise zu der unsinnigen Aussage ge- 
langen, das diesen Gesamtinhalt bildende Gemälde 
fühle Freude an sich selber, oder das Gefühl der 
Freude an einem solchen Kunstwerk sei in demselben 
Sinne eine Qualität desselben, wie die Färbung, die 
Gruppierung Qualitäten des von uns betrachteten Ge- 
mäldes sind. Tatsächlich ist es, wie sich eigentlich 
von selbst versteht, völlig anders. Das freudige Wohl- 
gefallen an einem Kunstwerk ist und bleibt, auch 
wenn wir bei der bewundernden Betrachtung des- 
selben uns selber gänzlich vergessen, unser Gefühl, 
eine Qualität unseres Ich; die Selbstvergessenheit ist 
nur eine vorübergehende; und kommen wir wieder, 
wie unsere Sprache es treffend ausdrückt, zu uns 
selber, so fühlen wir uns durch die Freude an dem 
Schönen, die wir empfunden haben, innerlich bereichert 
und gehoben; unser Ichgefühl, wodurch wir uns von 
unserem eigenen Gesamtbewußtseinsinhalt unterschei- 
den, ist durch jene Freude nicht etwa geschwächt, 
sondern stärker, intensiver geworden ; und das würde 
ganz unmöglich sein, wenn die Freude nicht die unsere, 
nicht eine Qualität unseres Ich, sondern nur eine 
Qualität unseres Gesamtbewußtseinsinhalts wäre. 

Aber, so versichert uns eine Eeihe physiologischer 
Psychologen, seelische Erlebnisse und Tätigkeiten, 
seien es Gefühle oder Willensregungen oder reflek- 
tierendes Nachdenken, müssen auf körperliche Emp- 
findungen bzw. Funktionen, auf Organgefühle u. dgl. 
zurückgeführt werden, z. B. wie Eibot sagt, die Auf- 
merksamkeit auf begleitende Muskelgefühle, das Ich- 
gefühl, wie James meint, auf eine Sammlung eigen- 
tümlicher Bewegungen im Kopf oder zwischen Kopf 
und Kehle. 



— 47 — 

Sollen seelische Vorgänge darauf zurückgeführt 
"werden, so müssen sie daraus zu erklären sein. Wie 
also erklären, die das behaupten, die Tatsache, daß 
wir über den Zustand unseres Körpers im allgemeinen 
oder einzelner körperlicher Organe im besonderen re- 
flektieren, und daß wir darüber, daß dieser Zustand 
so und nicht anders ist, bald das Gefühl der Lust, 
bald das der Unlust empfinden, daß wir also unseren 
ganzen leiblichen Organismus als einen außerhalb 
unserer selbst, teilweise unabhängig von uns exi- 
stierenden, uns gegenständlich gegenüberstehenden 
haben und ihn nicht nur mit wechselnden Gefühlen 
betrachten, sondern auch in betreff seiner bald diesen, 
bald jenen Willensentschluß fassen können? Sind 
nicht diese Gefühle und diese Entschlüsse etwas ganz 
anderes als die körperlichen Empfindungen, durch die 
mir der Zustand meines Körpers zum Bewußtsein ge- 
kommen ist und durch die erst die auf diesen Zustand 
gerichteten Gefühle und Entschlüsse veranlaßt und 
hervorgerufen sind? 

Daß Gefühle des Ich und Empfindungen des Kör- 
pers etwas ganz Verschiedenes sind, tritt oftmals ganz 
besonders deutlich zutage. Zum Beispiel die Müdig- 
keit des Körpers empfinde ich, falls sie nicht durch 
verkehrte Überreizung, sondern durch normale An- 
strengung hervorgerufen ist, als etwas Angenehmes, 
das mir leibliches Behagen erregt und erquickenden 
Schlaf verheißt; manchmal aber ist sie mir gleich- 
zeitig etwas Unangenehmes, dAs ich mit seelischer 
Unlust, mit innerem Widerstreben konstatiere, nament- 
lich dann, wenn sie mich hindert, eine mir am Herzen 
liegende dringende Arbeit zu vollbringen. Hier ruft 
derselbe körperliche Zustand eine leibliche Empfindung 



- 48 - 

der Lust, ein seelisches Gefühl der Unlust hervor. — 
Tolstoi erzählt von sich, daß er nach schwerer Krank- 
heit über die eingetretene Genesung zwei ganz ent- 
gegengesetzte Gefühle empfunden habe, einerseits 
Freude über die wiederkehrende Gesundheit, andrer- 
seits Bedauern über die verlorene geistige Klarheit, 
die ihm während der Krankheit oft anhaltend zu 
eigen war und in welcher er sich eins mit Gott, frei 
und sicher geborgen in Gott fühlte. Dies ist aber, 
abgesehen davon, daß eine derartige geistige Klarheit 
nur in besonderen Arten eines Krankheitszustandes 
vorkommen kann, nur denen verständlich und als Be- 
weisgrund für die hier vorliegende Streitfrage ver- 
wendbar, die aus eigener Erfahrung religiöse Gemüts- 
empfindungen kennen und den hohen Wert derselben 
zu schätzen wissen. — Allgemein verständlich ist da- 
gegen folgendes. Bei manchen Kranken stellen sich 
die schmerzlichen Empfindungen des Krankseins und 
des durch die Krankheit Geschwächtseins erst dann 
ein, wenn die Macht der Krankheit bereits im wesent- 
lichen gebrochen ist; in diesem Falle sind jene Emp- 
findungen die Vorboten der nahenden Genesung und 
erregen in dem körperlich darunter Leidenden, wenn 
er von sachverständiger Seite hierüber aufgeklärt wird, 
manchmal, wenn auch noch so schwach, ein seelisches 
Gefühl der Lust. Besonders häufig zeigt sich dies und 
ähnliches bei Typhuskranken, die, nachdem das Fieber 
sie verlassen hat, eine große körperliche Schwäche 
und zugleich ein starkes Verlangen nach Speise emp- 
finden, ein Verlangen, das wegen ihrer Schwäche nur 
in äußerst beschränktem Maße befriedigt werden darf ^ 
und deshalb ein schmerzliches, oft quälendes ist, aber 
als sicheres Zeichen der wiederkehrenden Gesundheit 



— 49 — 

von verständigen Patienten mit herzlicher Freude be- 
grüßt wird. — Bei einer chirurgischen Operation 
empfindet ein willensstarker Patient manchmal gleich- 
zeitig die empfindlichsten körperlichen Schmerzen und 
das sittliche Gefühl innerer Befriedigung über seine 
während der Operation bewiesene tapfere Standhaffcig- 
keit. — Selbst E. Mach gesteht unwillkürlich zu, daß 
es im Menschen etwas über die Empfindungen des 
Leibeslebens, über Organgefühle u. dgl. und über die 
Verknüpfung derselben Hinausreichendes gibt. Das 
ist der von ihm sog. Vervollständigungstrieb, der 
strebt, „die halb beobachteten Tatsachen zu vervoll- 
ständigen," der uns „wie eine fremde Macht gegenüber- 
steht, die uns doch stets begleitet und hilft und die 
wir eben brauchen, um die Tatsachen zu ergänzen", 
ein Trieb, in dem, „obgleich er durch die Erfahrung 
entwickelt ist", doch „mehr liegt als in der einzelnen 
Erfahrung". Mit diesen Worten hat Mach die ideali- 
sierende, über die sinnliche Erfahrung hinausragende 
Art dieses nach Ergänzung strebenden Denkens an- 
erkannt ; und Baumann („Philosophie der letzten Jahr- 
zehnte") sagt mit Recht: „so wie Denkelemente als 
aus der körperlichen Seite unableitbare festgestellt 
sind, . . . tritt der Geist in seiner Selbstherrlichkeit 
hervor." 

Allerdings lassen sich gewisse seelische 
Erregungen und die damit verbundenen Gefühle 
und Gemütszustände durch körperliche Einwirkungen, 
durch den Genuß narkotischer Stoffe, wie Alkohol, 
Morphium, künstlich erzeugen. Aber folgt 
etwa wirklich das daraus, was man schon oft 
daraus geschlossen hat, daß jene seelischen Er- 
regungen und Gefühle körperliche Empfindungen, 

Graue, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. • 4 



— 50 - 

Organgefühle sind? Es ist eine bekannte Tat- 
sache, daß durch manche Gemütserregungen 
und die damit verbundenen seelischen Gefühle körper- 
liche Erregungen und Zustände hervorge- 
rufen werden, z. B. durch das Gefühl der Beschämung 
das brennende Erröten des Antlitzes, durch empfind- 
lichen Seelenschmerz das Hervorquellen von Tränen. 
Aber folgt aus dieser Tatsache etwa, daß 
diese körperlichen Erregungen und Er- 
scheinungen nicht leiblicher, sondern seelischer 
Art seien? Selbstverständlich nicht; und ebenso- 
wenig darf daraus, daß durch körperliche Einwirkungen 
seelische Erregungen und Gefühle hervorgerufen werden, 
gefolgert werden, daß diese Erregungen und Gefühle 
nicht seelischer, sondern körperlicher Art sind. Die 
so vielfach stattfindenden körperlichen Einwirkungen 
auf unsere seelischen Gefühle vermögen diese um so 
weniger zu körperlichen Empfindungen zu machen, 
weil sie nicht unmittelbar auf sie zu wirken ver- 
mögen, sondern nur durch Vermittlung des ganzen 
seelischen Zustandes, in welchem wir uns befinden. 
Durch den Genuß narkotischer Stoffe wird zunächst 
und unmittelbar nicht ein einzelnes seelisches Gefühl, 
das krankhafter Natur ist, hervorgerufen, sondern das 
seelische Gesamtbefinden wird dadurch ein abnormes 
und krankhaftes; und hieraus erst entstehen einzelne 
abnorme Gefühle. Sobald aber die Wirkung jener 
Stoffe auf das seelische Gesamtbefinden ein Ende hat, 
werden die aus diesem entstandenen krankhaften Ge- 
fühle von den gesunden und normalen kritisiert und 
rektifiziert bzw. als bloße Selbsttäuschungen zum Be- 
wußtsein gebracht; und hieraus ergibt sich erst recht 
deutlich, wie willkürlich und verkehrt es ist, die nor- 



— 51 — 

malen Gefühle eines gesunden Menschen als körper- 
liche Empfindungen, als Organgefühle aufzufassen und 
zu bezeichnen. Derartige Auffassungen und Behaup- 
tungen ernstlich für wahr zu halten, mag einem 
willensschwachen und geistesarmen Menschenkinde, 
-dessen seelisches Gesamtbefinden unter nervöser Ab- 
gespanntheit leidet, vielleicht nicht schwer werden. 
Wenn aber die kräftigen Gefühls- und Willensregungen 
eines gesunden Menschen eine über das gewöhnliche 
Maß hinausgehende Steigerung erfahren durch den 
Schaffensdrang und Eifer, womit er als künstlerisch 
gestaltender oder wissenschaftlich forschender oder 
mitten in einer heilsamen praktischen Lebenstätigkeit 
stehender Mensch seinen Arbeiten sich völlig hingibt, 
hohen Zielen freudig zustrebt, zu lichten Idealen be- 
geistert aufstrebt, wenn er darüber oftmals alles 
andere vergißt und insbesondere seine leiblichen Emp- 
findungen manchmals so sehr in den Hintergrund 
des Bewußtseins treten, daß er Hunger, Durst, Kopf- 
schmerzen u. dgl. unbeachtet läßt, um demjenigen, 
was ihn innerlich vollständig in Anspruch nimmt und 
beschäftigt, Gestalt zu geben, Klarheit zu schaffen, 
im praktischen Leben die Wege zu bahnen und Durch- 
führung zu schaffen, — dann hat er für die Toren 
nur ein mitleidiges Lächeln übrig, die ihm einreden 
wollen, seine mächtigen Gemütserregungen, seine starken 
Willensstrebungen seien bloße Organempfindungen, 
Muskelspannungen oder irgendwelche andere körper- 
liche Erregungen. 

Doch die Zurückführung seelischer Erlebnisse, 
geistiger Vorgänge auf bloß körperliche Empfindungen, 
Funktionen etc. mag noch so irrig und ihre Haltlosig- 
keit noch so klar erwiesen werden, es ist damit noch 

4* 



~ 52 — 

nicht erwiesen, daß die Vorgänge und Erleb- 
nisse des Seelenlebens im Ich als ihrem Träger 
gleichsam ihr Zentrum und ihren einheitlichen 
Zusammenhang haben. „Ich denke, also bin ich" 
(cogito, ergo sum), mit diesen Worten hat Descarte» 
den archimedischen Punkt der Philosophie zu fixieren 
gemeint. Wie Archimedes die Erde aus den Angeln 
heben zu können meinte, wenn er außerhalb ihrer 
einen Punkt fände, auf dem er festen Fuß fassen 
könne, so glaubte Descartes mit jenem Wort den Punkt 
außerhalb der Sinnenwelt konstatiert zu haben, auf 
dem fußend er an der Lösung der philosophischen 
Probleme mit Erfolg arbeiten könne. Lichtenbergs 
aber hat dazu die kritische Bemerkung gemacht: „„E& 
denkt", sollte man sagen, wie man sagt: „es blitzt";, 
zu sagen : cogito, ist schon zu viel, wenn man es durch : 
„ich denke", übersetzt." In ähnlicher Weise urteilt 
Drews („das Ich als Grundproblem der Metaphysik"): 
„Wie der Schatten nichts Selbständiges und Sub- 
stantielles, sondern immer nur an seinem Gegenstande 
ist und nur mit diesem sich fortbewegt, genau so ist 
es auch mit der Form des Bewußtseins — (D. ver- 
steht hier unter der Form des Bewußtseins das Selbst- 
bewußtsein in unserem Sinne) — ; sie haftet dem 
Vorstellungsinhalt unzertrennlich an und erhält nur 
von ihm aus scheinbare Lebendigkeit geliehen." Allein 
die Eigentümlichkeit der mir gegenwärtigen Vor- 
stellungsinhalte, jedesmal mir als solche zum Bewußt- 
sein zu kommen, die ich habe, die meinem Ich 
angehören, ist eine wesentliche, bleibende. Sie ist 
nicht von wechselnden Umständen abhängig, wie der 
Schatten, der nur dann da ist, wenn die Sonne un- 
verschleiert leuchtet; sondern sie ist mit allen wechseln- 



— 53 — 

den Bewußtseinsinhalten konstant und unzertrennlich 
verbunden. Auch abstrahiere ich nicht etwa erst 
durch den reflektierenden Verstand von den wechseln- 
den Bewußtseinsinhalten das Ich als die beharrende 
Form derselben; sondern mit diesen Inhalten ist mir 
unmittelbar die Tatsache gegeben, daß sie die meinigen 
sind, mir innewohnen und zum großen Teil von mir, 
durch meine Tätigkeit gestaltet sind. Jenen Ausdruck 
Lichtenberg's aber: „es denkt", hat Liebmann („Ge- 
danken und Tatsachen") zwar als einen feinen aner- 
kannt, aber sofort auch als ergänzungsbedürftig be- 
zeichnet und hat dazu erklärt: „Es fehlt noch ein 
Zusatz. Wenn die Sätze: „es denkt", oder: „es 
leuchtet", wahr sein sollen, so bedarf es eines Augen- 
zeugen. Ohne diesen Zeugen würden sie nicht nur 
unverbürgt, sondern geradezu unmöglich sein." Diese 
treffende Bemerkung nötigt uns zu der Frage: „wer 
ist dieser Zeuge?" Die Antwort muß lauten: „das 
Ich selber"; denn dieses bezeugt: „mein Bewußtsein 
denkt", oder besser ausgedrückt: „ich denke mittels 
meines Bewußtseins, und mein Bewußtsein mit all 
seinen verschiedenen Vorstellungen und Gedanken hat 
in mir selber, in meinem Ich seinen Träger, sein 
Zentrum und seine Einheitlichkeit." Diese Einheit- 
lichkeit des Bewußtseins, die ich als Tatsache in mir 
vorfinde, würde ganz unbegreiflich sein und bleiben, 
wenn das Ich nicht mehr als ein inhaltloser Schatten 
wäre, dem jede eigene, selbständige Lebendigkeit 
fehlte. Sie wird nur dadurch erklärlich, daß das Ich 
als ein für sich bestehendes Eeales fähig ist, die vielen 
verschiedenen Empfindungen, die den vielen ver- 
schiedenen Gehirnzellen jede ihr besonderes „Zeichen", 
jede ihre besondere „Spur" eindrücken, zu einheit- 



— 54 — 

liehen Vorstellungen und Begriffen zu verknüpfen und 
alle die verschiedenen Vorstellungen und Begriffe und 
andere Bewußtseinsinhalte zu der Bewußtseinseinheit 
zusammenzufassen, die wir in uns antreffen. Daß difr 
heutige Physiologie von ihrem Standpunkt aus vor 
dieser Tatsache als vor einem unlösbaren Eätsel steht^ 
hat Fr. Schnitze („vergleichende Seelenkunde") in all- 
gemein verständlicher Weise gezeigt. Aber ebenso 
müßte die Psychologie auf eine ausreichende Er- 
klärung dieser Tatsache verzichten, wenn sie bei der 
Weigerung beharrte, das Ich als eine selbständige 
eigenartige Kraft anzuerkennen, die alle die mannig- 
faltigen Bewußtseinsvorgänge und Bewußtseinszustände 
zu einem einheitlichen Ganzen gestaltet. Wie das 
Ich jedes von ihm betrachtete Ding, dessen Bestand- 
teile nebeneinander bzw. nacheinander sind, erst da- 
durch zu einer Einheit macht, daß es alle diese Be-> 
standteile zu sich in Beziehung setzt, ebenso schließt 
es alle die verschiedenen menschlichen Vorstellungen^ 
Strebungen etc. als einheitlicher Grund derselben in 
seinem zentralen Selbstbewußtsein zu einem Ganzen zu- 
sammen, indem es ^ie alle zu sich in Beziehung setzt. 
Das Ich ist also der gemeinsame Beziehungspunkt zu 
allem, was im Bewußtsein auftaucht und vorgeht. 

Aber eben deshalb, sagt man uns, kann das Ich 
nicht selber Inhalt des Bewußtseins werden. Weil 
alle Bewußtseinsinhalte sich auf das Ich wie auf ein 
Zentrum beziehen, weil also, wie Natorp („Einleitung^ 
in die Psychologie") es ausdrückt, das Ich das sub- 
jektive Beziehungszentrum ist, läßt es sich nicht zuna 
Gegenstande machen; es ist vielmehr allem Gegen- 
stande gegenüber dasjenige, dem Etwas Gegenstand 
ist. Darin liegt eine unanfechtbare W^ahrheit; und es 



— 55 — 

ist hier nicht etwa nur zuzugeben, sondern mit allem 
Nachdruck hervorzuheben, daß das Ich sich nicht 
als Gegenstand vorstellig machen läßt, und daß 
insofern der Comte'sche Satz, es sei undenkbar, 
daß der Mensch beides, Subjekt und Objekt, Vor- 
stellendes und Vorgestelltes sei, als richtig anerkannt 
werden muß. Das Ich selber kann nicht ebenso wie 
die Bestimmtheiten und Prozesse seines Seelenlebens 
betrachtet und beobachtet werden; es läßt sich nicht 
als Inhalt eines gegenständlichen Bewußtseins nach- 
weisen und nicht durch eine Denkoperation ausfindig 
machen und analysieren. Deshalb ist auch D. Hume 
von seinem Standpunkt aus im Hechte, wenn er 
schreibt: „Wenn ich für meinen Teil recht tief in 
dasjenige eindringe, was ich mein Ich nenne, so treffe 
ich allemal auf partikuläre Vorstellungen oder auf 
Empfindungen von .... Lust oder Unlust. Ich kann 
mein Ich nie allein ohne eine Vorstellung ertappen, 
und alles, was ich betrachte, ist nie etwas anderes 
als eine Vorstellung." Aber das alles nur deshalb, 
weil Hume nur mit dem reflektierenden Denken das 
Ich als einen Gegenstand desselben „ertappen" will 
und weil das Ich als Gegenstand dieses Denkens nicht 
faßbar, nicht erkennbar ist. Das Ich gibt sich 
nicht durch ein gegenständliches, sondern 
nur durch ein zuständliches Bewußtsein, 
durch ein Gefühl kund, und in diesem Gefühl 
wird es unmittelbar erlebt. Auch da aber wird es 
„nie allein", nie ohne eine Vorstellung oder Empfindung, 
nie als ein von allen Bewußtseinsvorgängen entleertes 
oder abgesondertes, sondern als ein von solchen irgend- 
wie bestimmtes und gestimmtes, beeinflußtes und affi- 
ziertes Ich erlebt. 



— 56 — 

Kant hat, wie überhaupt, so auch bei der psycho- 
logischen Untersuchung des Ichbewußtseins den In- 
tellekt auf Kosten des Gefühls bevorzugt und deshalb 
das Ich als eine „logische Einheit", als „bloße Form 
des Bewußtseins" bzw. als „bloße Form der Erkennt- 
nis" definiert. Trotzdem kommt er in anderen hierauf 
bezüglichen Aussagen dem wahren Sachverhalt ganz 
nahe, namentlich da, wo er schreibt (Kr. d. r. V.): 
„wäre das Ich ein Begriff, wodurch irgend Etwas 
gedacht würde, so würde es auch als Prädikat von 
anderen Dingen gebraucht werden können" ; nun aber 
ist es „nichts mehr als Gefühl eines Daseins ohne den 
mindesten Begriff". Setzt man für die Worte: „Ge- 
fühl eines Daseins" die Worte ein: „ein gefühltes 
Daseiendes," so kommt der vorliegende Tatbestand zu 
genauerem Ausdruck. Jeder Versuch, das Ich als 
einen logisch zu analysierenden Gegenstand begrifflich 
zu erfassen, jeder Versuch, das Ich als ein in Begriffen 
aufgefaßtes Dasein zu behandeln, bringt uns mit dem- 
selben Gefühl in Widerspruch, das dem Bewußtsein 
das tatsächliche Dasein eines persönlichen Selbst, eines 
selbständig sich betätigenden Ich aufdrängt und zur 
Anerkennung dieses Daseins uns nötigt. Deshalb 
ist auch der Begriff der Substanz auf das Ich nicht 
anwendbar. Zwar insofern ist dieser Begriff für das 
Ich zu verwerten, als er das Insichsein im Gegen- 
satze zum äußeren Geschehen bezeichnen kann. Denn 
es gehört zum Wesen des Ich, gleichsam zu sich selber 
zu kommen und in sich selber zu ruhen; und schon 
deshalb ist es nicht richtig, wenn E. Rothe im Ein- 
verständnis mit H. J. Fichte behauptet, das Ich sei 
keine Tatsache, sondern eine Tathandlung. Selbst- 
verständlich kann mit diesem Ausdruck nicht eine 



— 57 — 

einmalige Handlung gemeint sein, da ja mit jedem 
Ablauf einer solchen das Ich ein Ende haben würde 
und die psychologische Beobachtung des Ich zweifellos 
dasselbe als ein kontinuierliches, dauerndes Dasein 
erkennt. Soll aber mit jenem Ausdruck gesagt sein, 
das Ich sei eine kontinuierliche Handlung, so wird 
diese Bezeichnung des Ich, die doch nicht bloß das, 
was W. Wundt manchmal unter seiner Seelenaktualität 
zu verstehen scheint, einen fortlaufenden dauernden 
Prozeß der seelischen Wirksamkeit bedeuten soll, nur 
in beschränktem Maße zutreffend sein, weil das Ich 
nicht immer ein aktives, sondern oftmals ein passives 
ist, welches von den verschiedensten Seiten durch die 
mannigfaltigsten Elemente und Faktoren, manchmal 
durch seine eigenen Vorstellungen und Gefühle mächtig 
beeinflußt, ja beherrscht wird, zwar gegen dieselben rea- 
giert, aber öfters trotz aller seiner Eeaktionen vielmehr 
leidend als handelnd sich verhält. Es ist auch nicht ganz 
richtig, wenn Wobbermin („Metaphysik u. Theologie") 
das Ich den gemeinsamen Quellpunkt der verschiedenen 
Bewußtseinsinhalte nennt. So gewiß das Ich an dem 
Zustandekommen seiner Bewußtseinsvorgänge wesent- 
lich schaffend mitwirkt, so haben doch dieselben zum 
großen Teil ihre Quelle nicht im Ich, sondern außer- 
halb desselben; und wenn dieses Lust oder Unlust 
fühlt, so ist es sich eines Zustandes bewußt, welcher 
großenteils durch die es umgebenden Lebensverhält- 
nisse hervorgerufen worden ist. Aber obgleich das 
Ich nicht ausschließlich ein tätiges, aus sich heraus- 
gehendes und aus sich herauswirkendes, sondern einer- 
seits manchmal ein leidendes, andererseits oftmals ein 
in sich selbst seiendes, bei sich selbst Einkehr halten- 
des und in sich ruhendes Keales ist, dennoch ist der 



- 58 - 

Name Substanz für dasselbe nicht zutreifend; anch 
deshalb nicht, weil dieses Wort, noch mehr als unsere 
anderen abstrakt-sinnlichen Bezeichnungen geistiger 
Faktoren, einen materiellen Beigeschmack hat, und 
daher denjenigen, welche die Realität des Ich bestreiten^ 
immer wieder willkommene Gelegenheit zur Auffindung 
von Einwänden und zur Aufstellung von Gegengründeu 
gegen dieselbe gibt. 

Leibnitz stellt die menschliche Seele als eine 
Monade höherer Ordnung dar, die sich nur innerhalb 
ihrer selbst entwickelt und in der, wie in jeder Mo- 
nade, Alles, was ist und geschieht, sich abspiegelt^ 
aber auch das durch ihre eigene Macht, durch welche 
sie die Allheit der Dinge keimartig, ideell in sich 
trägt. Aber das ist eine über das Gebiet des Er- 
fahrungstatbestandes weit hinausgehende und deshalb 
einer festen Grundlage ermangelnde Gedankenbildung. 
Wenn er aber den Einfluß der Monade auf einander^ 
insbesondere auch den Einfluß der Seele als d^ 
Zentralmonade des menschlichen Körpers auf die 
Monaden desselben und umgekehrt völlig leugnet, so 
steht das mit zweifellosen psychischen Tatsachen in 
unversöhnlichem Widerspruch. Wenn dagegen Herbart 
die Monade der menschlichen Seele als ein einfaches^ 
unzerstörbares, schlechthin Seiendes, andererseits als 
ein Aggregat von Vorstellungsmassen bestimmt, die 
mechanisch aufeinander Wirkung und Gegenwirkung 
ausüben, so ist damit allerdings richtig das Ich als 
ein einheitliches Reales bezeichnet, das viele und 
mannigfaltige Vorstellungsinhalte in sich schließt und 
mit denselben in Wechselwirkung steht ; aber daß die 
Wirkung der Vorstellungsinhalte aufeinander eine 
mechanische sei, diese Behauptung macht den Ein- 



— 59 — 

druck, als ob Herbart unter Monade etwas ähnliches 
verstehe wie unter Atom , in welchem Fall der im 
Atombegriff liegende Widerspruch auch dem Begriff 
der Monade anhaften würde. Außerdem ist das eine 
Behauptung, die angesichts der psychologisch fest- 
gestellten Tatsachen, wenn nicht ganz haltlos erscheint, 
so doch wesentlich eingeschränkt und modifiziert zu 
werden bedarf. Wenn aber Lotze die Herbart'schen 
Monaden innerlich lebendiger aufzufassen und sie den 
Leibniz'schen ähnlicher vorzustellen bemüht war, so 
lag diesem Streben eine richtige Einsicht zugrunde; 
aber das Ziel, das damit erstrebt wurde, mußte un- 
erreicht bleiben, weil es einem der menschlichen Er- 
kenntnis überhaupt nicht zugänglichen Gebiete an- 
gehört. 

Es bleibt dabei, daß wir das innerste Wesen des 
Ich denkend zu erfassen und zu erkennen nicht im- 
stande sind. Das Gefühl aber, wodurch wir das Ich 
als ein wirksames Reales unmittelbar erleben, ist nicht 
nur ein mächtig sich aufdrängendes, unabweisbares und 
unüberwindliches, sondern auch ein Wertgefühl, 
d. h. ein auf einem Werturteil beruhendes und mit 
einem solchen unzertrennlich verbundenes Gefühl. 
Denn wir werden dessen immer deutlicher inne und 
immer klarer uns bewußt, daß es für uns von uner- 
setzlichem Werte ist, eine denkende, fühlende und aus 
sich selbst heraus wollende und handelnde Persönlich- 
keit zu sein. Zwar folgt daraus, daß Etwas für uns 
von hohem Werte ist, nicht ohne weiteres, daß es 
auch tatsächlich da ist; und manchmal kann es für 
uns ein sittliches Gebot sein , das Verlangen nach 
einem uns kostbar erscheinenden Besitztum, auch nach 
einem wertvollen geistigen Gut, zu bekämpfen und 



— 60 — 

zu unterdrücken. Aber davon kann hier nicht die 
Eede sein. Denn es handelt sich hier um den innersten 
Bestand der menschlichen Persönlichkeit, ohne welchen 
eine wahrhaft sittliche Entwicklung derselben nicht 
möglich sein würde; und das Selbstbewußtsein 
ist in seinem tiefsten Grunde das sittliche 
Bewußtsein des Menschen. 

Bevor aber diese Tatsache näher erörtert werden 
kann, muß etwas anderes sichergestellt werden, das 
auch für die sittliche Entwicklung des Menschen von 
unersetzlichem Werte ist, nämlich die in allem Wechsel 
der äußeren Lebensverhältnisse und der inneren Ent- 
wicklung sich erhaltende Selbigkeit des mensch- 
lichen Ich. 

Es gehört zu den Geheimnissen des Seelenlebens, 
daß dasselbe überall, ganz besonders in dem geistigen 
Leben der Menschenseele, individuelle Verschieden- 
heiten in unendlicher Mannigfaltigkeit ausprägt, und 
in jeder menschlichen Persönlichkeit eine eigenartige, 
von der aller anderen mehr oder weniger abweichende 
Lebensform ausgestaltet. Wenn die Physiologie dies 
als „Folge einer zufälligen besonderen Stoflfmischung" 
bezeichnet, so ist damit nichts erklärt. Wir aber 
müssen die Tatsache konstatieren, daß jedes mensch- 
liche Ich in dieser seiner individuellen Besonderheit 
wesentlich dasselbe bleibt, d. h. daß das Ich, trotzdem 
es so vielfach sich entwickelt und sich wandelt, trotz- 
dem es seinen Körper durch den stetigen Stoffwechsel 
nach gewissen Zeiträumen wiederholt wechselt, den 
alten abtut und einen neuen antut, seine Vorstellungs- 
und Gefühlswelt bereichert oder verarmen läßt, seine 
Gedankenwelt klarer und tiefer ausbaut oder um- 
gekehrt, seine Willenskraft, seine Charakterfestigkeit 



— 61 - 

stärkt oder erschlaffen läßt, auch einen Teil seiner 
individuellen Besonderheiten abstreift oder in den 
Hintergrund treten, einen anderen Teil derselben 
schärfer hervortreten läßt, dennoch dasselbe Ich, d. h. 
das selbige Individuum bleibt. 

Dies wird selbstverständlich von allen denen, die 
eine selbständige Eealität des Ich nicht gelten lassen, 
bestritten. E. Mach („Analyse der Empfindungen"), der 
das Ich eine Zusammenfassung von Elementen nennt, 
die als völlig gleichartig und gleichwertig derjenigen 
zu betrachten ist, durch welche die Körper entstehen 
bzw. bestehen, gebraucht zur Erläuterung der hier 
vorliegenden Frage folgenden massiven Vergleich: 
„Wenn meinem Tische nacheinander in jedem Monat 
je eins dei: 4 Beine abgesägt und durch ein neues 
ersetzt wird und wenn im 5. bis 12. Monate dasselbe 
mit den 8 Teilen seiner Platte geschieht, so ist fortan 
von meinem alten Tisch nichts mehr übrig; aber doch 
spreche ich wohl nach wie vor von „dem" Tisch, als 
ob er noch derselbe wäre, weil die allmähliche 
Ersetzung der einzelnen Teile eine Kontinuität der 
jeweilig gleichbleibenden Bestandteile ermöglicht, die 
mich über das schließliche Zustandekommen eines 
vollständig neuen Elementenkomplexes hinwegtäuscht. 
Genau so steht es mit dem Ich." Gegeil eine derartige 
Gleichsetzung der menschlichen Persönlichkeit mit 
einem ordinären Stück Hausrat reagieren wir mit 
um so größerem Kechte, weil sie einen schneidenden 
Gegensatz zu der nicht bloß in naiven Volksvor- 
stellungen, sondern auch in der Überzeugung scharf- 
sinniger und mit gereiftem Urteil über sich selbst 
reflektierender Männer lebendig bestehenden und fest- 
gewurzelten Gewißheit bildet, daß wir Menschen selbst 



— 62 — 

in weit voneinander liegenden Zeiträumen die selbigen 
Individuen sind. Ostwald (a. a. 0.) macht hiegegen 
geltend: „Wenn infolge irgend welcher tiefgreifender 
Erlebnisse ... die Gesamtheit unseres Bewußtseins 
eine erhebliche Änderung erleidet, so drückt dies die 
alltägliche Sprache anschaulich durch das Wort aus: 
„er ist ein anderer Mensch geworden." Aber der 
Sprachgebrauch, der ja innerhalb der christlichen Ge- 
meinde auch von einer „Wiedergeburt", von einer 
„neuen Kreatur" im Menschen redet, ist, wie schon 
festgestellt wurde, keine mit voller Sicherheit ent- 
scheidende Instanz; und wir verbinden mit dem klaren 
Bewußtsein , innerlich tiefgegründete und weitum- 
fassende Umwandlungen erlebt zu haben, das ebenso 
klare Bewußtsein der Identität unserer individuellen 
Person. Wenn aber Ostwald schreibt: „Nach langer 
Trennung sind uns unsere früheren Freunde meist 
fremd geworden, d. h. ihr Ich hat sich gegen das ge- 
ändert, was wir früher in ihnen gekannt haben," so 
ist ihm recht zu geben, wenn der letzte Satz nur be- 
deuten soll, daß in ihrem Ich dasjenige, was wir 
früher in ihnen gekannt, geliebt und geschätzt haben, 
sich geändert hat; soll er dagegen heißen: das Ich, 
das wir früher in ihnen gekannt, sei ein anderes Ich 
geworden, so widerspricht dem unser Bewußtsein, das 
uns die mit ihnen vorgegangene Änderung als etwas 
Auffälliges, Besonderes empfinden läßt deshalb, 
weil sie noch dieselben Individuen sind. — Gegen die 
Selbigkeit des Ich sind auch jene abnormen Bewußt- 
seinszustände geltend gemacht worden, in welchen 
eine „Mehrheit der Persönlichkeit", eine „Vielfältig- 
keit oder Doppeltheit des Ich" zutage zu treten scheint 
und aus welchen gefolgert worden ist, daß das Ich 



— 63 — 

nichts Einheitliches, sondern etwas ZusammeDgesetztes, 
eine Koordination sei, wie namentlich Eibot behauptet 
hat. Aber die meisten dieser Zustände geben über- 
haupt nicht das Becht, von einem gespaltenen Ich, 
von einer doppelten Persönlichkeit im wahren Sinne 
des Wortes zu reden; denn wo ein Doppelbe wußt- 
sein zweifellos vorhanden ist, darf daraus nicht etwa 
ohne weiteres ein doppeltes Ich gefolgert werden. 
Das Ich ist ja, wie in den bisherigen Erörterungen sich 
wiederholt gezeigt hat, etwas von seinen eigenen Be- 
wußtseinszuständen, Bewußtseinsinhalten und Bewußt- 
seinsvorgängen Verschiedenes; und deshalb kann ein 
und derselbe Mensch, wie das tatsächlich wiederholt 
vorgekommen ist und noch vorkommt, eine Periode 
haben, in welcher er alles kann und w^eiß, was er bis 
dahin gelernt hat, und eine andere vielleicht durch 
eine lange Schlafzeit von jener getrennte Periode 
haben, in der er alles wieder vergessen hat, wieder 
lesen, schreiben etc. lernen muß. Solche und ähnliche 
Fälle, — (diejenigen, wo dauernde und hochgradig 
ausgebildete Geisteskrankheiten vorliegen , gehören 
nicht hierher, weil sie nichts beweisen können), — 
beweisen nur, daß der Bewußtseinsinhalt und der ge- 
samte geistige Zustand wechselt, nicht aber, daß das 
Ich selber, dem diese Zustände abwechselnd zu eigen 
sind, ein zwiefaches, ein gespaltenes ist. Auch wenn 
der betreffenden Person das Bewußtsein davon fehlt, 
in diesen Zuständen ein einheitliches Individuum und 
zwar das selbige zu sein, die Einheitlichkeit und Selbig- 
keit des Ich ist trotzdem vorhanden. 

Für die Selbigkeit unserer individuellen Person 
bürgt uns besonders auch die Erinnerung. Denn mit 
jeder Erinnerung ist nicht bloß das Bewußtsein ver- 



— 64 — 

bundeD, daß wir die uns ins Gedächtnis kommenden 
seelischen Zustände nicht jetzt erleben, sondern in 
einem fi-üheren Zeitpunkt unseres Erdendaseins erlebt 
haben und daß wir sie uns jetzt, in diesem Augen- 
blicke vergegenwärtigen, sondern auch das Bewußt- 
sein, daß wir damals, als wir sie erlebten, die selbigen 
Individuen waren, die wir jetzt sind, wo wir ihrer 
gedenken. Weil wir aber an das, was wir in den 
ersten Jahren unserer Existenz erlebten, uns über- 
haupt nicht erinnern können, so liegt die Vermutung 
nahe, daß die Selbigkeit des menschlichen Individuums 
sich erst von derjenigen Kindheitszeit an erhält, von 
welcher wir noch im späteren Lebensalter eine Er- 
innerung haben. Diese Annahme empfiehlt sich . um 
so mehr, weil ja aller Wahrscheinlichkeit nach das 
geistige Leben des Ich nur nach und nach, nur all- 
mählich eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängig- 
keit vom Leibesleben erlangt und deshalb erst eine 
Entwicklungsperiode durchlaufen haben muß , bevor 
es trotz des bekanntlich im Kindesalter sich sehr 
rasch vollziehenden Stoffwechsels und der infolgedessen 
auch verhältnismäßig rasch eintretenden völligen Er- 
neuerung des Körpers die Selbigkeit seines individuellen 
Personlebens zu erhalten vermag. Doch sind wir hier 
auf Vermutungen beschränkt. 

Ebenso sind es nur Vermutungen, nicht auf dem 
sicheren Boden erfahrungsmäßig festgestellter Tatsachen 
fußende Erkenntnisse, wenn manche daraus, daß das 
Ich seine Selbigkeit im Verlauf der Zeit bewahrt, also 
einen unveränderlich beharrenden individuellen Kern 
in sich bii'gt, die Folgerung ziehen, daß dasselbe ein 
überzeitliches oder zeitloses Prinzip in sich trage. 
Auch Kant will das Ich als von Zeitbedingungen ge- 



- 65 — 

löst denken; und dasselbe steht in der Tat in gewissem. 
Sinne über der Zeit, weil es nicht nur trotz seineS; 
fortwährenden Eingehens und häufigen Sichvertiefens 
in das Nacheinander der einander drängenden Er- 
scheinungen und in die Zeitfolge seiner eigenen 
wechselnden Vorstellungen, Zustände und Bestrebungen 
durch dieses Nacheinander und durch diese Zeitfolge 
in seinem innersten individuellen Bestand keine 
Änderung erleidet, sondern auch einerseits über die 
Anschauungsform der Zeit, wie über die schnelle 
Flucht seiner Tage, Eeflexionen anstellen, anderer- 
seits von dem zeitlichen Verlauf seiner Bewußtseins- 
vorgänge sich abwenden und aus demselben sich 
gleichsam in sich selbst zurückziehen kann. Aber 
wenn man nun sagen wollte, es sei etwas Überzeit- 
liches im Ich, so hätte man für die Erkenntnis des- 
selben damit nichts Wesentliches gewonnen, weil man 
von einem Überzeitlichen weder eine Anschauung 
gewinnen noch einen klaren Begriff sich machen 
kann. Wollten wir aber sagen, das Ich habe etwas 
Zeitloses in sich, so müßten wir befürchten, uns in 
einen Widerspruch mit uns selber zu verwickeln, weil 
wir die Tatsache anerkennen müssen, daß das ganze 
Ich, also auch das in ihm enthaltene „Zeitlose", in 
die zeitliche Entwicklung seines Lebens und seines 
Charakters eingeht, daran teilnimmt und dabei mit- 
wirkt, und weil andererseits es nicht denkbar ist, daß 
etwas Zeitloses in einen zeitlichen Verlauf eingehen 
könne. Es ist deshalb nicht ratsam, die Ausdrücke 
„überzeitlich" oder „zeitlos" auf das Ich anzuwenden, 
ebenso wie es nicht ratsam ist, das Ich als über- 
räumlich oder raumlos zu bezeichnen. Wir können 
uns recht gut damit begnügen, daß wir von dem Ich 

Graue, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. 5 



— 66 — 

einmal aussagen, eine räumliche Anschauung des- 
selben sei unmöglich, und dasselbe sei nichts 
räumlich Begrenztes, sodann, daß das Ich trotz aller 
zeitlichen Wandlungen seines Bestandes doch in 
seinem individuellen Kern das selbige ist und bleibt 
Diese Selbigkeit des menschlichen Individuums 
wird auch in den Selbstbiographien vieler der hoch- 
begabtesten und reichgebildetsten Persönlichkeiten als 
etwas Selbstverständliches vorausgesetzt. Aus der 
auch von Wobbermin (a. a. 0.) als Beweismittel hier- 
für zitierten Stelle in Augustinus Konfessionen mögen 
hier die am meisten bezeichnenden Worte stehen: 
„Herr mein Gott, welche Pein erfuhr ich und welche 
Plagen, da mir als Knaben schon aufgegeben wurde, 
recht zu leben, d. h. den Erziehern zu gehorchen! 
. . . Aber du ließest mich auch Menschen finden, die 
dich anbeteten, und von ihnen lernte ich, soviel ich 
damals dazu imstande war, deine Größe zu erfassen. 
. . . Und doch habe ich gesündigt, mein Herr und 
Gott, . . . gesündigt habe ich gegen die Gebote der 
Eltern und Lehrer; denn späterhin hätte ich die 
Kenntnisse zum Guten anwenden können, die ich nach 
dem Willen der Meinigen mit oder ohne Lust lernen 
sollte." Wie viele Tausende haben schon in diesem 
Bekenntnis des großen christlichen Kirchenlehrers, nur 
wenig nuanciert, ihre eigenen Erlebnisse dargestellt 
gefunden, und mit dem bekannten Worte des Psalmisten 
gebetet: „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend!" 
in dem klaren zweifellosen Bewußtsein der Identität 
ihrer im Kindesalter stehenden Persönlichkeit mit der 
ihres gegenwärtigen Lebensalters! Daß es dasselbe 
Individuum ist, welches in seiner Kindheit mit süßem 
Ahnen und Hoffen in die Zukunft schaut und in den 



— 67 — 

Jahren der Reife oft mit schmerzlicher Wehmut an 
seine Jugendzeit sich erinnert und durch diese Er-' 
innerungen innerlich tief ergriffen und mächtig be- 
einflußt werden kann, setzt Goethe als eine unzweifel- 
hafte Tatsache voraus, wenn er dem flaust in der 
Ostemacht, als er durch die Osterglocken und -chöre 
von dem fest beschlossenen Selbstmorde abgehalten 
wird, die Worte in den Mund legt: „An diesen Klang 
von Jugend auf gewöhnt, ruft er mich jetzt zurück 
auch in das Leben. Sonst stürzte sich der Himmels- 
liebe Kuß auf mich herab in ernster Sabbatstille; 
da klang so ahnungsvoll des Glockentones Fülle, und 
«in Gebet war brünstiger Genuß." 

Aber nicht nur beim Rückblick in unsere Ver- 
^ngenheit, sondern auch beim Hinausblick in unser 
kommendes Leben haben wir das Bewußtsein der 
Selbigkeit unseres Ich. Wir sind dessen unmittelbar 
gewiß, daß wir die selbigen Individuen bleiben werden, 
wie lange unser Leben auch dauere, was uns auch 
widerfahren mag. Deshalb haben wir keinerlei Be- 
denken dagegen, uns für die Zukunft zu binden und 
durch Versprechen und Geloben uns für die kommen- 
den Tage Verpflichtungen aufzuerlegen. Der Gedanke, 
daß die bindende Kraft der Verpflichtungen, die wir 
für unser ganzes Erdenleben auf uns genommen haben, 
mit den Jahren abnehmen und wohl gar ganz er- 
löschen könne, liegt uns so fem, daß wir, je öfter wir 
diesen Verpflichtungen, auch unter erschwerenden Um- 
ständen, nachgekommen sind, le länger wir sie als die 
anserigen empfunden und ihre inneren praktischen 
Nötigungen im Herzen erfahren haben, desto fester 
ims an sie gebunden, desto unauflöslicher uns mit 
ihnen verwachsen fühlen. Wenn dagegen die Selbig- 



— 68 — 

keit der gelobenden Person nach einer gewissen Zeit 
völlig aufhörte und dieselbe dann in Wahrheit sagen 
könnte, sie sei mit Leib und Seele ein gänzlich anderes 
Menschenkind geworden, als sie damals war, wo sie 
ihr Versprechen gegeben, sie sei deshalb ebensowenig^ 
noch daran gebunden, wie ein beliebiger fremder 
Mensch, dann hätte überhaupt ein feierliches Gelöbnis^ 
das uns auf Jahre hinaus bzw. lebenslang bindet, ein 
Versprechen, womit wir für alle Wechselfälle Aes 
Lebens, die künftig eintreten können, Treue, un- 
wandelbare Treue geloben, kein Recht und keinen 
Sinn; und ob dann das gegenseitige Vertrauen unter 
den Menschen und ihr darauf fußendes inneres Ver- 
bundensein, ob insbesondere ein sittliches Gemein- 
schaftsleben der Menschen noch Bestand haben könnte^ 
diese Frage beantwortet sich von selbst. Wo aber 
das Bewußtsein lebendig ist, das selbige Indi- 
viduum zu sein und zu bleiben, da ist der 
Mensch sich auch dessen bewußt, was ihm 
mit allen anderen gesund entwickelten 
menschlichen Individuen gemeinsam ist 
und ihn auf das Innigste mit ihnen verbindet; das ist 
der sittliche Kern seines Wesens, die ihm inne- 
wohnende sittliche Norm. 

Das Selbstbewußtsein ist in seinem 
innersten Kern das sittliche Bewußtsein 
des Menschen. Was heißt das? 

Das heißt jedenfalls nicht, daß dem Selbstbewußt- 
sein sittliche Erkenntnisse u^d Ideen, Gebote und 
Vorschriften von Haus aus innewohnen, ihm angeboren 
sind. Es gibt überhaupt keine angeborenen Ideen^ 
Erkenntnisse u. dgl. Aber allerdings gibt es ange- 
borene geistige Anlagen, darunter auch eine sitt- 



— 69 — 

.liehe; und dieselbe bekundet sich, wie das Ich selber, 
-durch ein unmittelbar sich aufdrängendes Gefühl. Je 
•mehr unser Ich aus der Abhängigkeit von seinem 
Leibesleben sich losmacht, desto, stärker gibt sich uns 
^eses Gefühl als Wer tge fühl (vgl. S. 59) kund. Es 
bezeugt uns den hohen Wert, der dem Gehalt unseres 
Wesens zu eigen ist. Weil an dieses Gefühl wie an 
jedes andere im Menschen ein Wollen, zunächst als 
dunkler Trieb sich anschließt, so treibt es ihn an und 
•fordert von ihm, daß er den kostbaren Gehalt seines 
Wesens unverletzt erhalte, vor aller Herabwürdigung 
bewahre, zu gesunder Entfaltung bringe und kräftig 
betätige. Es begehrt nichts Geringeres, als daß wir 
seine Antriebe und Forderungen vor allen anderen 
berücksichtigen und als bevorzugte vor allen anderen 
befriedigen. Was in diesem Gefühl, dem sittlichen, 
sich uns offenbart, ist etwas über alle anderen Ge- 
fühle und Triebe Erhabenes und erscheint uns manch- 
mal wie ein hoch über uns schwebendes ideales Bild, 
zu dem wir uns erheben und dem immer ähnlicher zu 
werden, wir streben sollen. In Wirklichkeit aber ist 
es nicht Etwas hoch über uns, sondern Etwas tief in 
uns, und nicht Etwas, das wir nur erst werden 
sollen, sondern Etwas, das wir zwar nicht in erfah- 
rungsmäßig festzustellender und aufzuzeigender Wirk- 
lichkeit, aber unserem innersten Wesen nach schon 
sind. Es ist ein überaus treffendes Wort des großen 
griechischen Dichters Pindar, in dem er, den ahnungs- 
vollen edlen Trieben des sittlichen Gefühls bezeich- 
nenden Ausdruck gebend, dem Menschen zuruft : „Werde, 
der du bist!" 

Von alters her haben fromme Gemüter, nament- 
lich christlich fromme, sich und andere daran gewöhnt, 



— 70 — 

die Eandgebuiigen des Bittlichen Gfefilhls religiös zu 
deuten, als Stimmen Gottes aufisufassen nnd das sitt- 
liche Bewußtsein mit dem Gk)tte8bewußtsein unmittel- 
bar zu verschmelzen. Aber die Tatsache, daß manche 
Menschen ohne Gottesbewußtsein eine ehrenwerte sitt- 
liche Kraft und Haltung zeigen, beweist, daß es eine 
große Ungerechtigkeit wäre, allen religionslosen Men- 
schen alle Sittlichkeit abzusprechen; und sie nötigt 
uns, — um von allem anderen hier abzusehen (vgL 
meine Schrift „Die selbständige Stellung der Sittlich- 
keit zur Religion") — , das sittliche Bewußtsein von 
dem Gottesbewußtsein klar und bestimmt zu unter- 
scheiden und es als das tiefste und reinste Selbst- 
bewußtsein des Menschen aufzufassen. 

An das sittliche Gefühl schließen sich, wie an 
jedes andere Gefühl nicht nur Wollungen, zunächst 
als dunkle Triebe, sondern auch, und zwar zunächst 
als dunkle Ahnungen, Vorstellungen an. Es verbindet 
sich dies Gefühl schon bei seinem ersten Hervortreten 
mit den Vorstellungen menschlicher Handlungen und 
ihrer Motive; und es äußert sich in bezug auf sie als 
ein Gefühl des Wohlgefallens und des Mißfallens in 
Urteilen der Billigung oder der Mißbilligung. Diese 
Urteile werden Gewissensurteile genannt, sofern 
sie sich auf des Menschen eigene Handlungen be- 
ziehen; und aus ihnen erwachsen in dem gewissen- 
haften Menschen sittliche Grundsätze, die er selber 
aufstellt, sittliche Gesetze, die er sich selber gibt 
Dieselben Urteile, Grundsätze und Gesetze, die das 
sittliche Bewußtsein eines Menschen im Gewissen auf 
ihn selber, sein Tun und seine Beweggründe anwendet, 
bringt es auch mit Bezug auf andere Menschen zur 
Anwendung; und insofern kann das sittliche Bewußt- 



— 71 — 

sein des Menschen aueh dann, wenn es nicht über 
ihn selber, sondern über andere urteilt, sein Selbst- 
bewußtsein heißen. Allein im strengen Sinne des 
Wortes kann nur das Gewissen, dasjenige sittliche 
Bewußtsein, wodurch der Mensch sich selber beurteilt 
und sich selber Gesetze gibt, als sein Selbstbewußtsein 
und zwar als der innerste Kern und Grund desselben 
bezeichnet werden. 

Das Gewissen ist aber auch die dem Selbst- 
bewußtsein Einheitlichkeit gebende Norm 
desselben. Wenn das Ich als der gemeinsame Be- 
ziehungspunkt aller im Bewußtsein sich präsentieren- 
den wechselnden Inhalte diese zu sich in Beziehung 
setzt und dadurch sie miteinander yerknüpft, wird 
es dabei sowohl von seinen tausendfach verschiedenen 
Bewußtseinsinhalten als von den ebenso verschiedenen 
Lebensverhältnissen, in denen es sich befindet, stark 
beeinflußt und erregt; und deshalb würde trotz der 
ordnenden und zusammenfassenden Denktätigkeit des 
Verstandes das menschliche Selbstbewußtsein zu fest 
und dauernd geordneter Einheitlichkeit nicht gelangen 
können, wenn nicht die normgebende Macht des G^ 
Wissens forderte und darauf hinwirkte und hindrängte, 
daß das Ich den sittlichen Anreizungen, den sittlichen 
Trieben und Geboten alle anderen inneren Bestimmt- 
heiten und Neigungen wie alle Kücksichten auf äußere 
Verhältnisse unterordne, und dadurch, durch den Ge- 
horsam gegen die sittlichen Forderungen sein Innen- 
leben zu einem wohlgeordneten einheitlichen Ganzen 
gestalte. Dem widerstrebt die Trägheit der sinnlichen 
Natur des Menschen; und aus diesem Widerstreben 
erwächst und erstarkt der selbstsüchtige Eigenwille 
mit seinen stolzen Ansprüchen und seiner trotzigen 



— 72 — 

Auflehnung gegen das Gewissen. Die Folge aber ist 
jene innere Zerrissenheit des Menschen, worin er, mit 
sich selber im Streit, klagen muB: „awei Seelen wohnen 
ach! in meiner Brust; die eine will sich von der 
andern trennen.^* Am liebsteh zwar täuscht er sich 
über diesen Zwiespalt seines Innern hinweg; er möchte 
sich gerne einreden, daß er mit sich selber einig sei 
und mit sich selber zufrieden sein könne. Aber das 
Gewissen als der Vertreter und der Anwalt des un- 
verfälschten, reinen Selbstbewußtseins macht durch 
•das Mißfallen, das es bezeuget, durch das Gefühl der 
Unrast und Bangigkeit, das es erregtj durch das miß- 
billigende, rügende und strafende Urteil, das es kund- 
gibt, solchem Selbstbetrug ein Ende, bringt dem 
Menschen seine innere Zerfallenheit zum Bewußtsein 
und entlarvt das von Sinnenlust und Selbstsucht be- 
herrschte Ich, das im Sprachgebrauch der christlichen 
Gemeinde das fleischliche heißt, als den aufrührerischen 
Störenfried, ohne dessen Bändigung, ohne dessen Unter- 
werfung unter das wahre, geistige Ich der Mensch 
nicht wieder mit sich selber versöhnt und die har- 
monische Einheitlichkeit seines Selbstbewußtseins nicht 
wiederhergestellt werden kann. 

Wird aber diese Einheitlichkeit nicht 
von vornherein dadurch gestört, daß das sitt- 
liche Bewußtsein mannigfaltig verschie- 
dene Gebote dem Menschen auferlegt und viel- 
seitige, ja oft entgegengesetzte Anforderungen an ihn 
stellt? Zwar lassen sich manche Einzelgebote und 
Vorschriften des sittlichen Gesetzes auf eine- gemein- 
same Grundforderung zurückführen; allein zwei ver- 
schiedene Gebote desselben erheben ein jedes seinen 
besonderen unabweisbaren Anspruch an den Menschen 



- 73 - 

und scheinen so unvereinbar miteinander zu sein, als 
müßten sie nötwendig eine Zwiespältigkeit seines 
Selbstbewußtseins herbeiführen. Das eine der beiden 
fordert Konzentration des Menschen auf sich selbst 
und in sich selbst, das andere sein Herausgehen aus 
sich selbst Das eine gebietet dem Menschen, sich 
selbst, das eigene Ich und seine Seele aus der Ab- 
hängigkeit vom Leibesleben, aus dem entwürdigen- 
den und befleckenden Sinnendienst zur Geistesfreiheit, 
Herzeilsreinheit und Menschenwürde emporzuheben 
und dadurch den berechtigten Ansprüchen des Ich 
auf Selbsterfttssung und Selbstbefriedigung zu genügen; 
das andere gebietet ihm, mit einer Liebe, in welcher 
er sich selber vergißt, an andere Menschen sich an- 
zuschließen und für ihre Wohlfahrt so besorgt und 
bemüht zu sein, daß er um ihretwillen große Opfer 
zu bringen, schwere Lasten zu tragen und sich selber 
zu verleugnen willig und bereit ist. Wird dadurch 
der Mensch, wie es scheint, wirklich gleichzeitig nach 
zwei gänzlich auseinander strebenden, polar entgegen- 
gesetzten Eichtungen getrieben und gedrängt? Nein! 
Denn hangen nicht diese polar entgegengesetzten 
Eichtungen auf das Innigste zusammen? sind sie nicht 
so sehr aufeinander angewiesen, daß die eine ohne 
die andere nicht bestehen kann? Wie die beiden 
Pole der Erdkugel in ihrer Verbindung die Achse 
bilden, um die unsere Erde sich dreht, wie die beiden 
Pole der Elektrizität, der positive und der negative, 
sich vereinen und zusammenwirken müssen, wenn die 
elektrischen Kraftströme Zustandekommen und sich be- 
tätigen sollen, so muß das, was jene beiden sittlichen 
Gebote fordern, miteinander eins werden und zu ge- 
meinschaftlicher Betätigung kommen, wenn der Mensch 



— 74 — 

zu gesunder, sittlicher Entwicklong gelangen soll. 
Denn wollte der Mensch nur die reine Selbstentfaltung, 
Geistesfreiheit und SelbstbeMedigung des eigenen Ich 
anstreben, würde er im besten Falle dem Pharisäer 
gleich werden, der sich anderen als Tugendmuster 
vorstellt, von der höchsten aller Tugenden aber, von 
der Liebe nichts hat und nichts weiß. Wollte er da- 
gegen anderen zuliebe auf die Eeinerhaltung seiner 
sittlichen Persönlichkeit verzichten und seine Ehre, 
seine Menschenwürde preisgeben, so hätte er damit 
nicht nur seine eigene, sittliche Freiheit, Würde und 
Lebensfreudigkeit ernstlich geschädigt, §ondem auch 
die der anderen schwer gefährdet. — Der Mensch 
kann nach der Selbständigkeit und Beinheit seines 
geistigen Lebens gar nicht streben, ohne aus den 
Sklavenketten, darin eine schrankenlose Selbstsucht 
ihn festhalten will, und aus der unreinen Atmosphäre, 
womit diese Selbstsucht seine lautersten und edelsten 
Gefühle und Triebe zu verseuchen droht, sich loszu- 
ringen und zu der wahrhaftigen Liebe sich empor- 
zuringen, die über jeden Zwang wie über alles un- 
reine und Gemeine erhaben ist, so hoch erhaben ist, 
daß sie selbst bei den niedersten Diensten, die sie 
anderen leistet, selbst da, wo sie im Eingen und Kämpfen 
für das Heil der Menschen unterliegt und verblutet, 
wie einst Jesus von Nazareth, nicht nur ihre flecken- 
lose Lauterkeit, sondern ihre innere Hoheit, ihre sitt- 
liche Schönheit und Majestät offenbart und bewährt 
Andererseits können nur die für die Wohlfahrt anderer 
wahrhaftige Fürsorge liebend üben und leisten, die 
sich dessen klar bewußt sind und bleiben, daß die 
Wohlfahrt jedes einzelnen Menschen und noch mehr 
die eines ganzen Volkes und der gesamten Mensch- 



— 75 — 

lieit nicht bloß und nicht so sehr durch wirtschaft- 
liche Verbesserungen und nationalökonomische Fort- 
schritte, sondern auch und vor allem durch die innere 
Freiheit und sittliche Bildung der menschlichen Per- 
sönlichkeit gefördert und gewährleistet werden muß. 
Nur wenn wir in diesem Bewußtsein durch tapferes 
Bingen und Streben nach unserer eigenen sittlichen 
Freiheit und Würde unsere Gefährten und Genossen 
zu gleichem Bingen und Streben anregen und als ihre 
Vorkämpfer und Vorbilder dazu reizen und ermutigen, 
aber auch Gelegenheit suchen, unmittelbar helfend 
einzugreifen, und wo ein mühsam Bingender neben 
uns erschlafft und sinkt, ihn mit uns zur Freiheit, 
zum Licht emporzuziehen suchen, erweisen wir anderen 
die Liebe, die wir ihnen schuldig sind. Also 
Geistesfreiheit, in der ein Mensch sich selber 
beherrscht, und Nächstenliebe, in der er anderen 
dient, gehören unzertrennlich zusammen, sind im 
Grunde eins; und deshalb ist das sittliche Be- 
wußtsein nicht ein zwiespältiges, sondern 
ein einheitliches, das die harmonische Einheit 
des menschlichen Selbstbewußtseins nicht beeinträchtigt, 
sondern ihren tiefeten Grund und ihre festeste Bürg- 
schaft bildet. 

Es wohnt unaustilgbar unserem Selbstbewußtsein 
das Sehnen und Streben inne, glücklich zu werden 
und glücklich zu machen; und man hat bekanntlich 
dieses Sehnen und Streben, wenn es auf das eigene 
Glück gerichtet ist, den individuellen Eudämonis- 
mus genannt, wenn es auf das Glück der mensch- 
lichen Gesellschaft sich richtet, den sozialen Eudä- 
monismus. Aber es ist durchaus falsch, wenn 
man, was noch heutzutage viele Ethiker tun, das 



— 76 — 

Streben nacH Glück, den sozialen wie disn individuellen 
-Eudämonismus in schroffen Gegensatz zu 
-dem sittlichen Bewußtsein und dem sittlichen 
Streben stellt. Das wäre nur dann richtig, wenn 
'das höchste Gut, darin des Menschen Glück beschlossen 
liegt, im Gegensatz stände zu der höchsten Norm, der 
zu gehorchen das Wesen der Sittlichkeit ausmacht. 
Nun aber ist beides zusammengefaßt in Einem hohen 
Ideale, das einerseits als unsagbar schönes, herrlich 
, leuchtendes und beseligendes Lebensziel die Menschen 
beglückend anmutet, mächtig anzieht und ihrem Streben 
danach immer höhere Freudigkeit zuströmt, und das 
.andererseits als oberstes Sittengesetz, als „kategori- 
scher Imperativ" sie zu unbedingtem Gehorsam ver- 
pflichtet. Kant hat diesem Imperativ einen klassischen 
Ausdruck gegeben in dem Worte : „Handle so, daß 
die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als 
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." 
Dies aber bedeutet einerseits: „Handle so, daß, wenn 
alle Menschen nach denselben Grundsätzen handelten, 
dadurch das höchste sittliche Gesetz erfüllt sein 
würde!" andererseits: „Handle so, daß, wenn alle 
Menschen nach denselben Grundsätzen handelten, das 
höchste Gut, das höchste Glück für alle Menschen 
verwirklicht sein würde ! " Also steht das sittliche 
Streben, wozu das Gewissen uns verpflichtet, nicht 
imGegensatzzu dem uns von Haus aus innewohnen- 
den Glückseligkeitsstreben; vielmehr muß 
dieses, wenn es sich selber recht versteht, mit 
jenem Streben in unserem Selbstbewußtsein sich 
verbrüdern und in unserem Leben mit ihm zu- 
sammenwirken. 

Auf die oft erörterte Frage, inwieweit diese an 



— 77 — 

Kant anknüpfende Darstellung dem Sinne Kant's ent- 
spricht, kann hier nicht näher eingegangen werden, 
und ebensowenig auf die Einwände, die von J. G. Herder, 
Fr. Schleiennacher u. a. gegen den Kant'schen „kate- 
gorischen Imperativ" erhoben worden sind. Doch sei 
zu diesen Einwänden bemerkt, daß dieselben teilweise 
auf einem Mißverständnisse dessen, was Kant ver- 
treten hat, beruhen, teilweise aber, namentlich auch 
von Schleiermacher, nicht folgerichtig aufrechterhalten 
und durchgeführt sind. In seinen „Monologen" schreibt 
dieser u. a.: „Was sie Gewissen nennen, kenne ich 
nicht mehr; es straft mich kein Gefühl, es braucht 
mich keins zu mahnen." Aber dann heißt es weiter: 
„es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf 
eigene Art die Menschheit vorstellen soll, in einer 
eigenen Mischung ihrer Elemente"; und mit diesen 
Worten, namentlich mit dem „soll", gibt Schleier- 
macher selber zu, daß wir unter einem Sollen stehen, 
an das ein Gefühl uns „mahnen" muß und das durch 
unser Gewissen kategorische Forderungen an uns 
stellt, insbesondere die Forderung, unser innerstes 
Selbst, das echt Menschliche in uns, „in einer eigenen 
Mischung", in individueller Weise zur Darstellung zu 
bringen. 

Diese Forderung ist auch insofern eine echt sitt- 
liche, als sie eine dem Recht der persönlichen Eigen- 
art, des individuellen Charakters entsprechende ist. 
Für unsere Erörterung aber ist sie deshalb besonders 
beachtenswert, weil sie beweist, daß das sittliche 
Bewußtsein in vollem Einklang mit dem 
individuellen Selbstbewußtsein steht. Das 
sittliche Bewußtsein fordert ja von allen Menschen 
dasselbe, und seine Gebote haben für alle mensch- 



— 78 — 

liehen Individuen, so verschieden sie auch sein mögen, 
dieselbe Gültigkeit. Aber hieraus einen Gegensatz 
zwischen dem Selbstbewußtsein des Individuums und 
dem allgemein menschlichen sittlichen Bewußtsein ab- 
zuleiten, ist gänzlich unberechtigt. 

Neuerdings ist es vor allem Fr. Nietzsche ge- 
wesen, der das Sichausleben des menschlichen Indivi- 
duums mit begeisterten Worten gepriesen und für die 
volle Entfaltung der eigenartigen Besonderheiten des 
einzelnen mit der ganzen Wucht seiner markigen und 
packenden Beredsamkeit gestritten hat; und weil 
die Individualität des Menschen mit seiner Leiblich- 
keit eng zusammenhängt und in ihr sich deutlich aus- 
prägt, ist er auch für die Pflege und Ausbildung einer 
gesunden Leiblichkeit entschieden eingetreten. Mit 
Eecht! Aber wie ungerecht ist es, wenn er die Moral, 
besonders die christliche, dafür verantwortlich macht, 
daß die Eigentümlichkeit und gesunde Natürlichkeit der 
individuellen Persönlichkeit, anstatt sich selbständig aus- 
zugestalten, so häufig willkürlich unterdrückt und ver- 
kümmert worden ist ! Er hat krankhafte Entartungen, 
geistlose Erstarrungen, willkürliche Verrenkungen der 
Moral, an denen allerdings die kirchliche, nament- 
lich die katholische Auffassung und Ausgestaltung des 
Christentums einen großen Teil der Schuld trägt, in 
auffälliger Verkennung des geschichtlichen Tatbe- 
standes dem sittlichen Bewußtsein, das darunter selber 
am meisten zu leiden gehabt hat, angerechnet und 
zum Vorwurf gemacht. Das sittliche, namentlich das 
christlich-sittliche Bewußtsein verwirft allerdings ganz 
und gar die grausame Eücksichtslosigkeit, womit 
Nietzsche's „Übermensch" seine individuelle Über- 
legenheit, besonders auch seine leibliche, den Schwäche- 



— 79 - 

ren gegenüber geltend macht und ansnutzt. Aber es 
hemmt den individuellen Entwicklungsgang des Men- 
schen, das Sichausleben seiner natürlichen Besonder- 
heit so wenig, daß es vielmehr ihm zur Pflicht macht 
und gebieterisch von ihm fordert, nach seiner be- 
sonderen Eigenart sich zu entwickeln und zu be- 
tätigen. Die Geistesfreiheit, nach der zu ringen es 
ihm gebietet, steht allerdings in unversöhnlichem 
Gegensatze zu der Verherrlichung der Sinnlichkeit, 
die sich bei Nietzsche, allermeist in den letzten 
Perioden seiner schriftstellerischen Arbeiten findet und 
in der er öfters mit einer bis zum Wahnsinn sich 
steigernden Erbitterung die Suprematie des Geistes 
verunglimpft und verhöhnt ; sie besteht aber in nichts 
weniger als in Unterdrückung und Abtötung der sinn- 
lichen und individuellen Natürlichkeit und ihrer Kräfte 
und Triebe, sondern in einer ihrem eigenen Wesen 
entsprechenden, Gesetz und Maß auflegenden Er- 
ziehung und harmonischen Ausbildung derselben. Das 
sittliche Bewußtsein fordert auch nicht etwa, daß 
diese Erziehung und Bildung bei allen Menschen auf 
dieselbe Weise stattfinde, sondern vielmehr, daß sie 
sich den Eigenheiten des einzelnen anpasse. Es sind 
ja vermöge ihrer großen individuellen Verschieden- 
heiten die Menschen durchaus nicht alle in gleichem 
Maße dem Sinnendienste und der Selbstsucht ergeben, 
wie leider! von altkirchlicher Seite her oft behauptet 
worden. Deshalb ist die Art der Erhebung zu sitt- 
licher Geistesfreiheit eine verschiedene. Bei vielen 
Menschen ist sie eine ganz allmähliche, vollzieht sich 
ohne schwere Kämpfe gegen entartete individuelle 
Besonderheiten und ungöbändigte verderbte Triebe 
und Neigungen ihrer sinnlichen Natur, verläuft also 



— 80 — 

durchweg in gleichmäßigem Fortschreiten der Ent- 
wicklung sanft und friedlich. Allerdings ist bei der 
Mehrzahl der Menschen wegen ihres egoistischen 
Sinnendienstes die Notwendigkeit vorhanden, daß das 
geistige Ich die Gemeinschaft mit dem „fleischlichen", 
mit dem es durch vielfache Beziehungen gleichsam 
verwachsen ist, gewaltsam abbreche, um sich selber 
zu behaupten und dem ihm innewohnenden sittlichen 
Selbstbewußtsein zu seinem Kechte zu verhelfen. Aber 
auch da, wo solch ein gewaltsamer Bruch mehr als 
einmal notwendig wird, findet nach demselben, wenn 
die Oberherrschaft des wahren, des geistigen Ich 
wiederhergestellt ist, nicht ein Niedertreten, Miß- 
handeln und Ertöten der „gesunden Sinnlichkeit", der 
individuellen Herzensneigungen und Lebensrichtungen 
des Menschen statt, sondern eine innerliche Läuterung 
und Veredlung derselben, die ohne schwere Erschütte- 
rungen in ruhiger, oft unmerklicher Weise stattfindet. 
Von Seiten derer, welche die Kealität des geistigen 
Ich und deshalb auch das ihm innewohnende sitt- 
liche Selbstbewußtsein leugnen, pflegt von jeher be- 
hauptet zu werden, alles das, was sich an morali- 
schen Gefühlen, Vorstellungen und Trieben im 
Menschen finde, stamme nicht aus seinem 
eigenen Selbstbewußtsein, sondern aus den 
Einflüssen seiner Umgebung, aus den Ein- 
wirkungen, welche Erziehung, Unterweisung und Bil- 
dung, soziale Lebensstellung und wechselnde Geschicke 
von Kindheit an auf ihn ausübten. Selbst ein so her- 
vorragender Theologe wie Albr. Kitschi hat in einer 
Schrift über das Gewissen erklärt, dasselbe sei ein 
Erzeugnis guter Erziehung, also nicht etwas 
Angestammtes, sondern ein im Gemeinschaftsleben Er- 



— 81 — 

worbenÄS. Herb. Spencer will die Moral aus dea 
Staatsgesetzen ableiten und behauptet, die Un- 
bedingtheit und das autoritative Auftreten der morali- 
schen Forderungen stamme aus der Unbedingtheit 
und der Autorität, womit der Staat den Untertanen 
gegenüber seine Forderungen aufstelle und geltend 
mache. P. ßee aber bezeichnet die Moralisten, die 
Lehrer der Moral als die Urheber des Sittengesetzes 
und der Sittlichkeit in der Menschenwelt. 

Die letzterwähnte Behauptaing ist ebenso töricht, 
als wenn jemand sagen wollte, der musikalische Sinn, 
die Liebe zur Musik sei durch die Tonkünstler und 
die Musiklehrer in die Welt gekommen, die Liebe zum 
Schönen überhaupt sei durch die Ästhetiker, durch die 
Kunstakademien ü. dgl. den Menschen beigebracht, 
oder die Lehrer des Handelsrechts, die Verfasser der 
Handelsgesetzgebung hätten den Handel mit seinem 
großartigen Verkehr ins Leben gerufen. — Die Staats- 
gesetze aber haben den sittlichen Charakter, der ihnen 
durchweg zu eigen ist, erst durch das sittliche Be- 
wußtsein der Menschen, in deren Gemeinschaftsleben 
sie entstanden sind, erlangt ; und wenn sie sogar heute 
noch durch einzelne in ihnen enthaltene Bestimmungen 
zuweilen mit dem sittlichen Eechtsgefühl des Volkes 
in Widerspruch kommen und in vielen Fällen weit 
mehr auf die äußere Legalität der Handlungen als 
auf echt sittliche Gesinnung und Reinheit der Mo- 
tive abzielen, in wieviel stärkerem Grade wird das 
m jenen Zeiten der Fall gewesen sein, in denen, wie 
Spencer u. a. sagen, aus ihnen die Sittlichkeit ^- 
wachsen sein soll, in denen aber tatsächlich die 
Sittlichkeit oftmals sich trotz der be- 
stehenden Staatsgesetze mühsam Bahn ge- 

Grane, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. 6 



- 82 — 

brochen hat und nicht selten in ausgesprochenem 
Gegensatze zu diesen erwachsen ist. 

Ähnlich war oft die Stellung der Sittlichkeit zu 
den bestehenden Sitten und herkömmlichen Bräuchen 
der Gesellschaft, trotzdem diese wie die staatlichen 
Ordnungen und Institutionen, und oft noch mehr als 
diese, eine sittlich hebende, erziehende und veredelnde 
Einwirkung auf die menschlichen Individuen geübt 
haben. Manchmal verpflichtet den Menschen sein 
sittliches Bewußtsein, einem überlieferten Brauche sich 
nicht zu fügen, sondern Widerstand zu leisten; und 
das selbige Bewußtsein verbietet ihm zuzeiten eine 
Handlungsweise, um derentwillen, wenn er sie übte, 
die menschliche Gemeinschaft, der er angehört, ihm 
Lob und Anerkennung zollen würde. Andererseits 
hätten in den größeren oder kleineren Gemeinschaften, 
deren Glied der einzelne ist, die darin vorhandenen 
sittlichen Lebensmächte gar nicht entstehen und 
bleiben können, wenn nicht in den menschlichen Indi- 
viduen, aus denen sie bestehen, sittliches Bewußtsein 
sich bekundete und betätigte; und die Gemein- 
schaften hätten auf die einzelnen, die in 
ihre Mitte eintraten, nicht erziehend, sittlich 
hebend und fördernd wirken können, wenn 
diese einzelnen nicht Empfänglichkeit 
für das Moralische und einiges, wenigstens 
ahnendes Verständnis dafür, also das besaßen, 
was wir die sittliche Anlage des Menschen nannten, 
die in dem eigenartigen Wertgefühl des mensch- 
lichen Selbstbewußtseins sich mehr oder weniger 
deutlich offenbart. 

Kein Verständiger wird leugnen, daß ohne das 
menschliche Gemeinschaftsleben die sittliche Anlage 



— 83 — 

unseres Selbstbewußtseins nicht hätte zu gesunder Ent- 
wicklung und kräftiger Ausbildung gelangen können. 
Aber von gegnerischer Seite wird behauptet, zur 
Entstehung dessen, was wir das Moralische im 
Menschen zu nennen pflegen, habe es gar keiner 
l)esonderen sittlichen Anlage bedurft, son- 
dern dazu habe genügt, daß durch das Gemein- 
schaftsleben die bereits in der Tierwelt sich zeigenden 
Empfindungen der Sympathie, des Mitgefühls ge- 
weckt und die menschlichen Individuen dadurch an- 
getrieben wurden, anderen Menschen hilfreichen Bei- 
stand und nützliche Dienste zu leisten. Aber das Mit- 
gefühl, und zwar gerade in der Gestalt, in der es am 
häufigsten und am stärksten auftritt, als Mitleid, hat 
schon von Haus aus eine egoistische Beimischung, ist 
mit dem Bestreben verwachsen, die Störung des eigenen 
Behagens, die durch das dem Menschen vor Augen 
tretende Leiden anderer verursacht wird, dadurch zu 
l)eseitigen, daß man Hilfe leistet. Außerdem, wenn 
die dem Leidenden zu leistende Hilfe ohne große 
Opfer des Mitleidigen nicht gewährt werden könnte 
und mit mancherlei Belästigungen und Entbehrungen 
für ihn verbunden sein würde, wird die natürliche 
Sympathie mit anderen gegen die Wahrnehmung der 
eigenen Interessen nicht standhalten und sich nicht 
betätigen; und dies wird so lange nicht geschehen, als 
der Mensch in seinem Mitgefühl mit anderen nur 
«ine natürliche Empfindung sieht, die unter umständen 
T^n unterdrücken und zu ersticken ihm erlaubt ist und 
die Fr. Nietzsche gänzlich auszurotten seinem Über- 
menschen gebietet und einschärft, nicht aber eine 
ivertvolle Gemütsempfindung erkennt, die zu 
liegen und zu pflegen ihm durch ein erhabenes 

6* 



- 84 — 

sittliches Gebot unter allen Umständen zur 
Pflicht gemacht wird. 

Bekanntlich handelt der Mensch oft deshalb in 
gemeinnütziger Weise dienstbereit und opferwillig^ 
weil er, wenn nicht alsbald, so doch in Zukunft ein- 
mal, dafür eine Gegenleistung von den anderen zu 
erhalten hoflft, eine Praxis, die selbst in einer leidlich 
organisierten Eäuberbande gegenseitig geübt wird» 
nach dem alten Sprichwort: „eine Hand wäscht die 
andere". P. Eee will daraus, daß solche Haaidlungen^ 
die der Gemeinschaft Nutzen bringen und den Bestand 
derselben befestigen und sicherstellen, durchweg von. 
den Gliedern der Gemeinschaft besonders gelobt und 
immer allgemeiner als gute anerkannt zu werden 
pflegen, folgern, daß die Menschen sich deshalb all- 
mählich gewöhnt hätten, gemeinnützige Handlungen 
ohne egoistische Motive zu vollbringen, diese, die 
selbstsüchtigen Beweggründe, von denen sie früher 
dazu angetrieben wurden, in den Hintergrund treten 
zu lassen, zu vergessen und Motive wahrer Menschöa- 
liebe an deren Stelle zu setzen. Aber wenn die Men^ 
sehen nicht von Haus aus im eigenen Selbstbewußt- 
sein die sittliche Verpflichtung fühlen, anderen Liebe 
zu erweisen und Hilfe zu gewähren, so werden sie 
durch die Beobachtung, daß die für die 
Gemeinschaft wohltätigen Handlungen ge- 
lobt und als gute anerkannt werden, nicht etwa 
zur Menschenliebe, wohl aber oft dazu an- 
getrieben werden, in widerwärtiger heuchlerischer 
Verstellung ihre egoistischen Beweggründe 
zu verstecken und ihre in der Hoffnung auf Gegexir 
leistung vollbrachten „menschenfreundlichen" Hand- 
lungen mit dem schönen Ehrenkleide reiner, edler 



— 85 — 

Liebestaten zu schmücken zu suchen, um dann für 
ihr Tun so viel höhere Anerkennung und reichere Be- 
lohnung zu ernten. 

Durch das Gemeinschaftsleben werden auch Emp- 
. findungen der Pietät im Menschen geweckt, die Ge- 
fühle der meistens mit Vertrauen verbundenen Hoch- 
achtung und Ehrfurcht der Kinder vor ihren Eltern, 
der Stammesgenossen vor ihrem Häuptlinge, der Unter- 
tanen vor ihrer Obrigkeit usw.; und ähnliche Emp- 
findungen zeigen sich auch bei den gesellig lebenden 
Tieren. Diese Gefühle können und sollen ebenso wie 
die der Sympathie als Material für die sittliche 
Bildung des Menschen verwertet werden. Aber 
nur als Material für dieselbe. Denn die- Pietäts- 
«mpflndungen für sich allein respektieren nur die 
Eechte der Höherstehenden und bleiben von der An- 
erkennung der allgemeinen Menschenwürde und Men- 
schenrechte weit entfernt. Erst muß das sittliche 
Wertgefühl in unserem Selbstbewußtsein zu seinem 
Rechte kommen; wir müssen uns darüber klar ge- 
worden sein, daß im Innern unserer eigenen und jeder 
menschlichen Persönlichkeit ein kostbarer geistiger 
Bestand enthalten ist, dessen unversehrte Erhaltung 
und gesunde Entfaltung mehr wert ist als der Ge- 
winn einer ganzen Sinnen weit. Erst dann empfinden 
wir die rechte Achtung vor anderen Menschen wie 
vor uns selber und fühlen uns verpflichtet, wie für 
die sittliche Würde und Eeinheit der eigenen Persön- 
lichkeit so für die anderer Menschen nach Kräften 
besorgt und bemüht zu sein. 

So unentbehrlich also die Anregungen und 
Reizungen sind, die des Menschen sittliches Bewußt- 
sein und Leben durch die Gemeinschaft mit Seines- 



— Be- 
gleichen und mit Höherstehenden zu seiner Entwick- 
lung empfängt, diese Entwicklung hat ihre Grundlage 
und ihren Ausgangspunkt in seinem eigenen Selbst- 
bewußtsein, das zwar individuell bestimmt, aber 
ihm mit allen Menschen gemeinsam ist. 

Hiergegen spricht scheinbar die Tatsache, daß 
die sittlichen Vorstellungen und ßegrifte wie 
die sittlichen Gebote und Vorschriften bei ver- 
schiedenen Völkern und zu verschiedenen 
Zeiten auffällig von einander abweichen,, 
sogar in vieler Beziehung einander offenbar wider- 
sprechende sind. Deshalb behauptet z. B. N. Kurt 
(„Willensprobleme"), die ganze Weltgeschichte mit 
ihren zahllosen moralischen Irrtümern sei ein lauter 
Protest gegen die Annahme, daß die Menschen wüßten^ 
was gut und böse sei. Dies ist aber eine ganz schiefe 
Bezeichnung der Annahme, die Kurt bekämpfen will. 
Denn das nimmt unter denen, die in dieser Frage 
Sachkundige sind, niemand an, daß dem Menschen von 
Haus aus ein Wissen darüber angeboren sei, was gut 
und böse ist; streitig ist nur die Frage, ob dem 
Wesen des Menschen ursprünglich eine Anlage inne- 
wohne zu sittlichen Empfindungen des Gemüts, zu 
sittlichen Trieben und Ahnungen. Wenn wir diese 
Frage bejahen, so machen uns die „zahllosen mora- 
lischen Irrtümer" in der Weltgeschichte nicht etwa 
bedenklich, als ob wir zu solcher Bejahung kein Recht 
hätten; wir würden es vielmehr sehr auffallig finden, 
wenn jene Irrtümer, jene Verschiedenheiten und Wider- 
sprüche im moralischen Leben der Völker nicht vor- 
handen wären. Es ist ja nur eine Anlage, die wir 
behaupten, und es wäre sonderbar, wenn die Entwick- 
lung derselben überall in gleicher Weise und ohne 



— 87 — 

Abweichungen und Verirrungen stattgefunden hätte. 
Dazu kommt, daß diese Anlage bei den Kindern roher 
Naturvölker durchweg von Haus aus nicht so lebens- 
kräftig und entwicklungsfähig ist wie bei der in 
Kulturvölkern heranwachsenden Jugend. Die Anlage, 
d. h. die geheimnisvolle Eigenart der Kräfte, durch die 
sie bis zu einem gewissen Grade die künftige Entwick- 
lung des Individuums, dem sie angehören, bestimmen, 
bedarf nicht bloß mancherlei ßeize, um sich zu ent- 
falten und wirksam zu werden, sondern unterliegt auch 
den verschiedensten Variationen und ist besonders in- 
sofern der Veränderung unterworfen, als ihre Kraft, 
sich geltend zu machen und in Wirksamkeit zu treten, 
bei dem einen Individuum größer ist als bei anderen 
und in gewissen Perioden der Entwicklung stärker 
und deutlicher auftritt als vor und nach denselben. 
So verhält es sich auch mit der sittlichen An- 
lage des Menschen. Sie ist in sehr verschiedenem 
Maße ihrer Kraft den Völkern zu eigen; bei 
manchen Völkern ist sie von Haus aus ärmlich und 
schwächlich und außerdem die Quantität sowohl als 
die Qualität der Reizungen, durch welche sie zur 
Entwicklung angeregt werden muß, eine geringere 
als bei anderen. Wenn aber noch dazu kommt, daß 
auch die Beschaffenheit der äußeren Lebensverhält- 
nisse eine für gesunde Entfaltung des geistigen, 
namentlich des sittlichen Lebens ungünstige ist, so 
kann es nicht anders geschehen, als daß manche Völker 
in der Entwicklung ihrer sittlichen Gefühle und Triebe, 
Vorstellungen und Urteile hinter anderen, denen sie 
vielleicht ursprünglich gleich zu stehen oder gar zu- 
vorkommen zu wollen schienen, oft weit zurückbleiben. 
Für das Urteil hierüber ist noch besonders zu be- 



— 88 — 

achten, daß da, wo die intellektuellen Anlagen eines 
Volkes geringe, seine Verstandeskräfte von Haus aus 
yerhältnismäßig schwach sind, darunter selbstverständ- 
lich auch die Bildung der sittlichen Vorstellungen 
und Begriffe leiden muß. Aus allen diesen Ursachen 
muß eine große Verschiedenheit der sittlichen An- 
schauungen und Urteilskräfte sich bei den verschiedenen 
Völkern herausstellen, und wird auch das ganz er- 
klärlich, daß bei den in dieser Beziehung zurück- 
gebliebenen Völkern gewisse sittliche Vorstellungen 
und die daraus sich ergebenden Forderungen gänzlich 
öder teilweise fehlen und z. B. die Vorstellungen von 
Eigentum und Diebstahl, Ehe und Ehebruch, persön- 
lichem Rechtsanspruch und Rechtsverletzung, Mensch- 
heit und Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit noch 
gar nicht oder nur in sehr kümmerlichen Anfängen 
oder in häßlichen Verzerrungen vorhanden sind. 

Trotzdem zeigt sich auch eine oftmals große 
Ähnlichkeit der sittlichen Empfindungen, Anschauungen 
und Urteile bei den verschiedensten Völkern, nament- 
lich da, wo die miteinander verglichenen Völker 
schon auf einer höheren sittlichen Bildungsstufe stehen 
als die rohen Naturvölker. Was der Ethnologe 
A. Bastian im allgemeinen von Gleichmäßigkeiten im 
geistigen Zustande der Völker, von gemeinsamen 
^Elementargedanken" und „Völkerideen" beobachtet 
und berichtet hat und was er mit Recht auf gleich- 
mäßige psychologische Grundanlagen der Völker zu- 
rückführt, das gilt im besonderen von den einander 
gleichenden bzw. ähnlichen sittlichen Völker- 
gedanken; sie sind angesichts der großen Unter- 
schiede der äußeren Lebensverhältnisse und der inneren 
Veranlagung und Entwicklung der Völker nur aus 



— 89 — 

einer gemeinsamen sittlichen Grundanlage 
zu erklären. Auch wird nur hierdurch die Tat- 
sache begreiflich, daß sich unter sämtlichen christ- 
lichen Kulturtölkern ein gemeinsames sittliches Emp- 
finden und urteilen herausgebildet hat, das, trotzdem 
es natürlicherweise in vielen Einzelheiten noch mancher- 
lei Schwankungen unterliegt, im großen und ganzen 
als ein fester inteniationaler Besitz bezeichnet werden 
kann und aus dem sich allmählich ein sittliches 
Selbstbewußtsein der Menschheit heraus- 
bilden zu sollen scheint. So gewiß diese Entwicklung 
wesentlich durch den Geist des Christentums bestimmt 
worden ist, ebenso gewiß wäre sie gar nicht möglich 
gewesen ohne eine ursprüngliche gemeinsame sittliche 
Veranlagung der Menschen. 

Je reicher und klarer dieses sittliche Selbstbe- 
wußtsein in einer menschlichen Persönlichkeit zur 
Enttaltung und Darstellung gelangt, desto berechtigter 
ist sie zu dem Selbstbewußtsein im prägnanten 
Sinne des Wortes, nämlich dem Bewußtsein des 
eigenen persönlichen Wertes. 

Jedes menschliche Individuum, gleichviel ob es 
gesellschaftlich hoch oder niedrig gestellt ist, (oftmals 
gerade dann, wenn es zu den niederen Schichten der 
menschlichen Gesellschaft gehört, ganz besonders), darf 
dem beglückenden Gefühl der Selbstachtung in sich 
Eaum geben, wenn es mit redlichem Ernst seine sitt- 
lichen Verpflichtungen zu genügen bemüht ist; und 
vor allem dann darf und soll es das, wenn ihm für 
sein treues Wirken und Schaffen mit Verkennung und 
Undank, mit Geringschätzung und Herabsetzung in 
der Welt übel gelohnt wird. Da, wo höher begabte 
Tiere, die im Verkehr mit Menschen veredelt sind. 



— 90 — 

eine Art beglückenden Stolzes empfinden, weil sie 
unter großen Anstrengungen etwas Tüchtiges geleistet 
haben, muß es als ungewiß dahingestellt bleiben, ob 
diese Empfindung in der Tat auf einer Art Selbst- 
achtung beruht und auch dann Bestand hat, wenn 
das Tier statt der gehoflften Anerkennung seitens 
seines Gebieters üble Behandlung erfährt Wenn 
aber ein Mensch durch gewissenhafte Arbeit an der 
ihm gestellten sittlichen Aufgabe Wertvolles leistet 
und dafür die Ungunst der Welt zu fühlen und Un- 
recht zu leiden bekommt, dann hebt und trägt ihn 
ein edles Selbstgefühl; und mag er von der Willkür 
und Bosheit gewissenloser Feinde überwältigt am 
Boden liegen, in dem Hochgefühl seines sittlichen 
Wertes soll er um keinen Preis der Welt mit denen 
tauschen wollen, die in den angesehensten Kreisen 
hochgeehrt wandeln, aber ohne sittlichen Halt und 
ohne sittlichen Kern oftmals das Gefühl haben, nichts 
nütze und nichts wert zu sein und sich selber ver- 
achten zu müssen. 

Allerdings darf der Mensch sich nicht alles dessen 
klar bewußt zu werden suchen, was in ihm Gutes 
und Ehrenwertes lebt Er darf das schon deshalb 
nicht, weil ja auch nicht alle seine Mängel, Schwächen, 
und Schranken ihm zu klarem Bewußtsein zu kommen 
pflegen. Aber das Bewußtsein, überhaupt etwas Gutes^ 
etwas Gediegenes und Tüchtiges zu sein und zu 
leisten, darf und soll er im Herzen tragen; einen 
edlen Stolz, der vom Hochmut ebensoweit entfernt 
ist, wie von jener Afterdemut, die Goethe's bekanntes 
Wort: „bescheiden ist der Lump", gekennzeichnet hat, 
soll er manchmal empfinden. Es ist das die Grund- 
bedingung jedes echt menschlichen Glücksgefühls ; und 



- 91 — 

danach soll der Mensch streben, um mit der rechten 
Lebensfreudigkeit, mit sonniger Heiterkeit und der 
dadurch erhöhten Leistungsfähigkeit seine Pflichten 
erfüllen und seine Berufsarbeiten ausrichten zu 
können. 

Aber wie oft erfüllt der Mensch seine Pflichten, 
um das wohltuende Bewußtsein seines persönlichen 
Wertes zu erlangen und zu genießen! und wie leicht 
führt das zu eitler Selbstgefälligkeit, zu hochmütiger 
Selbstüberschätzung, durch deren Schuld das Gefühl 
des eigenen Wertes, sobald die aufrichtige Selbst- 
erkenntnis wieder zu ihrem Rechte kommt, in sein 
Gegenteil umschlägt. Aber auch da, wo das sittliche 
Selbstgefühl und Wertbewußtsein von dünkelhafter 
Selbstzufriedenheit und Selbstbespiegelung weit ent- 
fernt bleibt, wird es, weil es ein sittliches ist und je 
sittlicher es ist, desto eher, sich selber abschwächen, 
indem es sich selber kritisiert. Denn es ist ja ein 
Ideal, das dem Menschen von seinem sittlichen Be- 
wußtsein vorgehalten wird, ein Urbild der Vollkommen- 
heit, das viel Höheres und Edleres in sich befaßt, als 
die erhabensten sittlichen Gebote mit Worten auszu- 
drücken vermögen; und selbst der größten und besten 
sittlichen Tat, weil sie vor diesem idealen ürbilde und 
seinem himmlischen Lichtglanze erbleichen muß, gilt 
Schiller's Mahnung: „Vor dem Ideale fliehe mutlos 
die beschämte Tat!" Je höher der Stand unserer 
sittlichen Durchbildung, desto ungetrübter leuchtet 
wie aus Himmelshöhen das Ziel unserer sittlichen 
Laufbahn uns in die Seele; desto mächtiger aber 
empfinden wir neben dem hebenden und aufrichtenden 
Gefühl unseres persönlichen Wertes ein niederbeugendes, 
demütigendes Gefühl der Beschämung darüber. 



- 92 — 

daß nicht nur nnsere einzelnen Taten, sondern unsere 
g'anze sittliche Beschaffenheit, unser innerster seelischer 
Znstand himmelweit von dem entfernt geblieben ist, 
was aus uns hätte werden sollen. Ob diese beiden 
Gefühle nebeneinander in demselben Menschen be- 
stehen können? Ja; denn das menschliche Seelen- 
leben vermag die schärften Gegensätze in sich zu 
vereinigen; darin besteht sein größter Eeichtum, wie 
darin seine schwersten Gefahren wurzeln. Außerdem 
aber könnte ein Mensch, der ein sittliches Selbst- 
gefühl und Wertbewußtsein gar nicht mehr hätte 
noch haben könnte, auch das Gefühl der sittlichen 
Beschämung nicht mehr wahrhaft empfinden. Wer 
gänzlich niedergeworfen im Staube liegt, kann sich 
nicht mehr bücken und beugen; wer völlig in den 
Sumpf des Lasters, in den Schmutz der Gemeinheit 
versunken ist, kann das niederbeugende Gefühl sitt- 
licher Beschämung entweder gar nicht mehr empfinden 
oder nur noch ganz oberflächlich und flüchtig, während 
dasselbe Gefühl tieferregende, ja erschütternde 
Wirkung auf solche Menschen übt, die ein 
lebhaftes sittliches Wertbewußtsein und 
Ehrgefühl haben. 

Woaberbleibt gegenüber der unendlich 
erhabenen Macht dessen, den kein Name wahr- 
haft zu benennen vermag und vor dem im Gefühl 
vollendeter Abhängigkeit der Mensch an- 
betet, sein Selbstgefühl und Wertbewußtsein? 
Tritt nicht an dessen Stelle das Gefühl der eigenen 
Nichtigkeit, das Bewußtsein, dem gegenüber, dem das 
Universum zu Füßen liegt, keine persönliche Geltung, 
ja keinen wesentlichen Bestand zu haben, sondern 
nur zu sein wie eine Welle, die aus dem Gewoge des 



— i)3 - 

Unendlichen auftaucht, um alsbald wieder von ihm 
verschlungen zu werden? Waren es nicht von jeher 
die Edelsten und Besten, die dies Gefühl am mäch- 
tigsten durch wogte? sind es nicht heute noch die 
Starken im Geist, die Tapferen mit hohem, furchtlosem 
Mut,' die vor der Majestät des Unerforschlichen am 
tiefsten in ehrfurchtsvoller Scheu sich beugen? 

Wenn das menschliche Selbstbewußtsein sich 
darüber ärgert, sich dagegen aufbäumt und mit eiu/em 
Machtspruch dekretiert: „es ist kein Gott", — da, 
wo alle menschliche Wissenschaft vor den bodenlosen 
Tiefen des Weltalls wie vor schaurigen Abgründen 
steht, darin jeder Lichtstrahl menschlicher Erkenntnis 
unterzugehen droht, da, wo alle menschliche Kraft 
und Kunst trotz ihres wunderbaren Scharfsinns und 
Spürsinns, trotz ihrer genialen Erfindungen und Riesen- 
Jeistungen ohnmächtig, hilflos, wehrlos vor der rohen 
Übermacht der wie in wildem Grimm hereinbrechenden 
entfesselten Elemente die Waffien strecken muß, da 
werden auch diejenigen, die niemals nach Gott fragten, 
die nichts von ihm wissen wollten, dessen inne, daß 
der Gottesglaube nicht, wie sie wähnten, nur ein Er»- 
Zeugnis poetischer Träume und frommer Wünsche ist. 
sondern daß die allgegenwärtige Majestät des lebendigen 
Gottes alß die selbige geheimnisvolle, unendlich über" 
legene Macht sich dem Menschen herzergreifend zu 
fühlen gibt, die als die höchste sittliche Macht ihm 
gegenübei-steht, ihm vorhält, was er in seinem Herzen 
und Leben gefehlt und versäumet, und ihn davon 
ttberflihrt, daß er an seinen Verfehlungen und Ver- 
g&umnisßen selber schuld ist. Dadurch aber ver- 
wandelt sich «ein lebensmutiges Selbstbewußtsein in 
düsteres Schuldbewußtsein und in das Gefühl, 



— 94 — 

dem Gericht eines unsichtbaren Rächers, dem niemand 
entrinnen kann, verfallen zu sein. 

Allein dieselbe sittliche Macht, die als die höchste 
gebietende Norm den Menschen zu unbedingter Unter- 
werfung und zu unwandelbarem Gehorsam verpflichtet 
und anhält, ist ja (s. S. 76) zugleich das höchste Gut ; 
und indem sie als solches sich ihm zu fühlen gibt 
und ihn glückverheißend zu sich zieht, erwacht in 
ihm das sehnende Verlangen, dieses höchsten Gutes 
teilhaftig zu werden und in seinem Besitz und Genuß 
zu fleckenlos reinem und ungetrübt freudigem Selbst- 
bewußtsein sich zu erheben. Diesem Verlangen ge- 
sellt sich das ihm verwandte religiöse Sehnen zu, in 
der oft fleberhaften Rastlosigkeit des irdischen Rennens 
und Treibens eine Herberge der Ruhe, mitten in dem 
alten Streit der Welt eine Freistatt des Friedens und 
in derselben eine unendliche Erbarmung zu flnden, 
in deren Armen die müde Seele sich erquicken und 
neuen Lebensmut gewinnen kann. Dieses Sehnen aber 
wie jenes Verlangen flndet, wbs es suchet, in der 
ebenso erbarmungsvollen wie heiligen 
Gott es liebe, die einen milden Abglanz ihrer 
Herrlichkeit in dem Evangelium von Christus schim- 
mern und leuchten läßt und in dem ebenso sanft- 
mütigen wie heldenmütigen Menschensohn von Nazä- 
reth uns so leutselig, so echt menschlich nahe- 
tritt Diese Gottesliebe ist es, die als selbstbewußte 
Persönlichkeit im höchsten Sinne des Wortes dem 
ganzen von seinen untersten Lebensstufen an nach 
persönlichem Leben drängenden Weltprozeß zugrunde 
liegt und die Menschen aus den unpersönlichen 
Anfängen ihres Erdenlebens zu immer klarerem 
Selbstbewußtsein, zu immer reinerem sittlichem Be- 



- 95 — 

wußtsein und Gottesbewußtsein ^) erhebt. Sie ist 
es auch, welche, weil sie eine heilige ist, ihre 
Menschenkinder durch ernste Zucht in unbestech- 
licher Gerechtigkeit zu sittlicher Würde und Schön- 
heit erziehen will, und die, weil sie eine er- 
barmungsvolle ist, auch die Widerspenstigen und Ab- 
trünnigen geduldig und langmütig trägt, auch die 
Unwürdigen der göttlichen Huld noch wert erachtet, 
denen aber, die sich ihr vertrauensvoll hingeben, und 
wären es die Niedrigsten und Geringsten, ein edles 
Selbstgefühl, das Bewußtsein ihres persönlichen Wertes 
vergönnt und gewährt und sie durch die Zusicherung 
beseligt, daß sie als sittliche Persönlichkeiten Söhne 
und Töchter des lebendigen Gottes und Träger seiner 
heiligen Geisteskräfte sein sollen. Wo aber in solcher 
Weise das menschliche Selbstbewußtsein 
mit dem christlichen Gottesbewußtsein 
sich vermählt, da erlangt es, wie seine sicherste 
Begründung, so seine herrlichste Vollendung, und ins- 
besondere für seine sittlichen Lebenskräfte und Triebe 
die höchste Entfaltung, für sein sittliches Bewußtsein 
die tiefste und innigste Befriedigung. 

Wie aber? Wird etwa das Recht des mensch- 
lichen Selbstbewußtseins, sich zu solcher Höhe zu er- 
heben, wieder in Frage gestellt, sobald das Gottes- 
bewußtsein zu seinem Rechte gelangt? Für dieses 



') Daß das Gottesbewußtsein des Menschen nicht etwa eine 
reine Gotteserkenntnis in sich schließt, sondern daß unser religiöses 
Erkennen ein recht getrübtes und beschränktes ist, daß wir also 
nur in bildlichen, symbolischen Ausdrücken von Gott reden können, 
darüber woUe man u. a. vergleichen meine Schrift: „Die Be- 
grenztheit des reUgiösen Erkennens." 



— 96 — 

Bewußtsein muß ja, so versichern uns wenigstens hoch 
angesehene Theologen wie Philosophen, Gott das Alh 
solute sein, cLas mit schrankenloser Macht alles schafft 
und alles wirkt und seine unendliche Lebensfülle so 
ganz auswirket, alle ihm innewohnenden Kräfte so 
vollständig betätigt, daß für die selbständige Be^ 
tätigung des Menschen kein Eaum übrig bleibt, er 
vielmehr nur ein ganz unselbständiges Mittel uni 
Werkzeug des Absoluten ist. Wie es sich damit 
verhält, wird in der nun folgenden Erörterung der 
menschlichen Willensfreiheit darzulegen sein. 



Die Wülensfrelhelt. 



Das Wort „Willensfreiheit" scheint die Freiheit 
als eine wesentliche Eigentümlichkeit des Willens zu 
bezeichnen. Aber liegt es wirklich im Wesen des 
Willens, frei zu sein, wie es im Wesen des Lichtes 
liegt, zu leuchten, im Wesen des Tones zu klingen, 
im Wesen des Stoffes, ausgedehnt und teilbar zu sein? 
Ja, wenn der Wille das menschliche Ich selber wäre. 
Bekanntlich hat Schopenhauer dies behauptet; er ist 
yon dem Satze ausgegangen, daß das erkennende Sub- 
jekt sich selber unmittelbar als Wille gegeben sei, 
und er hat dann weiter in metaphysischem Sinne den 
Willen als das „Ding-an-sich" etc. definiert. Schon 
yor ihm hat der französische Philosoph Maine de Biran 
das „cogito ergo sum" des Descartes in das „volo 
€rgo sum" umgewandelt und es als die Grundtatsache 
aller inneren Erfahrung und als die Grundlage aller 
Geisteswissenschaften bezeichnet, daß wir im Willen 
zugleich unsere eigene Aktivität und den Widerstand 
des Nicht-Ich (zunächst des eigenen Leibes) unmittel- 
bar erleben. Allein so treffend der Satz: „volo ergo 

sum" das Selbstbewußtsein der wollenden Persönlich- 
Graue, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. 7 



— 98' — 

keit zum Ausdruck zu bringen scheint, es gilt hier 
dasselbe, was über den Satz des Descartes im vorigen 
Abschnitt gesagt ist. So wenig ich erst dadurch, daß 
ich mich als Denkenden mir vergegenwärtige und 
über mein Denken reflektiere, zur Gewißheit meines 
eigenen Seins, meines Ich gelange, ebensowenig erst 
dadurch, daß ich mich als Wollenden mir vergegen- 
wärtige und über mein Wollen reflektiere. Vielmehr 
vor aller Reflexion werde ich dessen, daß ich bin^ 
dadurch gewiß, daß ich mich selbst, mein Ich un- 
mittelbar erlebe. Der Wille ist, ebensowenig wie das 
Denken bzw. der Gedanke oder das Fühlen bzw. Gefiihl^ 
selber das Ich; sondern dieses hat das Vermögen des 
WoUens, wie es das Vermögen des Denkens und 
Fühlens hat. Der Wille aber ist die Selbstbestimmung 
eines denkenden und fühlenden Subjekts zu einer 
Wirkung (vgl. S. 20); und dieses Subjekt ist das Ich. 
Es ist daher nicht korrekt ausgedrückt, wenn man 
sagt, es liege im Wesen des Willens, frei zu sein; 
man muß vielmehr sagen, es liege im Wesen des Ich^ 
frei zu sein, und einen wesentlichen Bestandteil des 
menschlichen Selbstbewußtseins bilde das Bewußtseiä 
von der Willensfreiheit des Ich. 

Was ist aber unter Willensfreiheit zu verstehen? 
Spinoza, trotzdem er die ganze Welt und alles, was 
darin ist, von eherner Notwendigkeit beherrscht za 
sehen glaubt, kennt auch, in metaphysischem Sinne^ 
eine Freiheit in der Welt und schreibt darüber: Frei 
sei dasjenige, das nur durch die Notwendigkeit seiner 
eigenen Natur («x sola suae naturae necessitäte) 
existiert und nur von sich zum Wirken (ad agendum) 
bestimmt wird. In diesem Sinne sind freilich auch. 
Pflanzen und Tiere frei; denn sie existieren nur durefc 



— 99 — 

die in ihrer eigenen Natur liegende Notwendigkeit 
und werden nur von sich selbst d. h. durch ihr eigenes 
Wesen und die darin enthaltenen Triebe zu ihrem 
Wachsen, Wirken etc. bestimmt. Der Mensch da- 
gegen ist gewohnt, sich eine Freiheit in ganz anderem 
als dem spinozistischen Sinne beizulegen; und wenn 
er anerkennt, daß schon auf den niedrigsten Stufen 
des organischen Lebens eine gewisse Selbsttätigkeit 
vorhanden ist, welche sich steigert und selbständiger 
wird, sobald die organischen Lebewesen höhere Ent- 
wicklungsstufen erreichen, pflegt er zwischen seiner 
eigenen Selbstbetätigung und derjenigen der pflanz- 
liche» und tierischen Individuen einen wesentlichen 
Unterschied festzustellen. Worin aber, das ist nun 
die Frage, besteht dieser Unterschied? Um dieselbe 
zu beantworten, stellen wir die andere Frage, ob die 
Selbstbetätigung des Menschen nicht nur von äußerem 
Zwange sich frei machen und frei halten kann, sondern 
auch von dem Zwange einer inneren, in seinem Wesen 
liegenden Notwendigkeit, ob der Mensch sich 
auch anders bestimmen kann, als er in 
Wirklichkeit getan hat und tut. Muß diese 
Frage etwa ebenso verneint werden, wie jene, ob der 
Mensch auch ein anderer sein könne als er selbst? 
Solche Frage greift in das geheimste Leben der 
Menschenseele ein; sie ist zwar nicht, wie Schopen- 
hauer gesagt, eine „höchst bedenkliche", aber eine 
außerordentlich schwierige; denn es handelt sich bei 
ihr darum, ob der Mensch Wahlfreiheit hat, anders 
ausgedrückt, ob des Menschen Tun und Lassen auch 
ein willkürliches und zufälliges sein kann, noch schärfer 
und bestimmter formuliert, ob nicht nur des Menschen 
Handeln, sondern auch sein Wollen ein willkürliches, 



— 100 — 

von seiner eigenen freien Wahl bald so, bald anders 
bestimmtes sein kann. 

Die Mehrzahl der Menschen hält es für selbst- 
verständlich, daß sie, wenn nicht besonders ungünstige 
Verhältnisse eintreten, in ihrem Wollen und Tun frei 
sind und sich selber bestimmen können. Weil sie, wie 
es scheint, tun können, was sie wollen, also 
von ganz konträren, einander völlig entgegengesetzten 
Handlungen die eine oder die andere nach ihrem 
eigenen Entschluß erwählen und vollbringen können, 
so ziehen sie daraus den Schluß, daß sie 
auch ihren Entschluß, ihren Willen in 
ihrer Gewalt haben und nach ihrem eigenen Be- 
lieben dies oder das Gegenteil wollen können. Aber 
wie übereilt, wie völlig falsch ist es, daraus, daß 
ich das eine oder das andere je nach meiner Ent- 
schließung tun kann, zu folgern, daß ich auch das 
Eine oder das Andere ganz nach meinem freien Be- 
lieben wollen und mit meinem Vermögen zu wollen 
willkürlich schalten und walten kann ! Wenn ich auch 
tun kann, was ich will, so ist und bleibt trotzdem 
fraglich und muß gründlich untersucht werden, ob ich 
bei meinem Wollen, bei meinen Entschließungen Wahl- 
freiheit in dem Sinne habe, daß ich, nachdem mein 
Entschluß sich für diese oder jene Willensbetätigung 
entschieden hat, in Wahrheit, d. h. nicht bloß mit sub- 
jektiver Wahrheit, bei der Selbsttäuschung und Ein- 
bildung nicht ausgeschlossen ist, sondern auch mit 
objektiver Wahrheit, dem seelischen Tatbestand ganz 
entsprechend, sagen kann: „ich hätte auch anders 
wollen, auch anders mich entschließen und bestimmen 
können." 

Daß eine solche Wahlfreiheit eine unbe- 



— 101 — 

schränkte sein könnte, ist selbstverständlich ganz 
ausgeschlossen und muß hier nur deshalb aus- 
drücklich abgelehnt werden, weil den Verteidigern 
der Willensfreiheit von ihren Gegnern eine derartige 
falsche Voraussetzung schon oftmals nachgesagt wor- 
den ist und noch heute nicht selten zum Vorwurf ge- 
macht wird. Der Mensch kann doch nicht jederzeit 
sein Leben gleichsam von vorn anfangen; er kann 
ebensowenig plötzlich ein anderes Individuum werden. 
Seine von den Voreltern und Eltern ererbten Eigen- 
tümlichkeiten, Anlagen, Neigungen und Abneigungen, 
seine durch Erziehung und Unterweisung ausgebildeten 
Kräfte und Talente und erworbenen Kenntnisse und 
Erkenntnisse, die durch seine Umgebung und seine 
wirtschaftliche Lebenslage beeinflußte Entwicklung 
seines Charakters, die jahrelang von ihm geübten und 
zur Gewohnheit gewordenen Willensbetätigungen und 
Berufsarbeiten, dies alles und noch manches andere 
hat eine Macht über ihn, der er sich nicht völlig zu 
entziehen vermag. Insbesondere werden dadurch ge- 
wisse Antriebe und Beweggründe, die ihn nach einer 
bestimmten Richtung des Handelns hindrängen, so 
stark, oft so übermächtig, daß er ihnen Folge leisten 
zu müssen meint, manchmal, (worauf weiterhin zurück- 
zukommen sein wird), nicht bloß zu müssen meint, 
sondern wirklich muß, und, wenn er sich über sich 
selber besinnt, sich sagen muß: „ich habe nicht die 
Beweggründe, sondern sie haben mich; und ich habe 
nicht eine Vergangenheit, sondern sie hat mich." 
Diese innere Befangenheit und Gebundenheit ist oft 
wie ein Zauberbann, der den Menschengeist knechtet; 
und das ist die große Aufgabe, die der Mensch da 
vor sich sieht, diesen Bann, mag er noch so viel Ge- 



— 102 — 

walt über ihn haben, soweit zu brechen, daß er seinen 
sittlichen Pflichten genügen und als sittliche Persön- 
lichkeit selbständig handeln kann. Aber ist ihm das 
überhaupt möglich? oder muß er an der Lösung dieser 
Aufgabe von vornherein verzweifeln ? Ist die Willens- 
entscheidung des Menschen ausschließlich durch die 
eben genannten Faktoren bestimmt? oder wird sie 
auch, zu einem kleinen Teile wenigstens, bestimmt 
durch die freie Wahl, die er selber trifft, die ihm 
selber als eine zwar nicht ohne Ursache, nicht ohne 
Beweggründe stattfindende, aber doch insofern willkür- 
liche zum Bewußtsein kommt, als sie auch anders 
hätte ausfallen können, wenn er gewollt hätte? 

Die Erörterung dieser Frage deshalb, weil sie 
eine sehr schwierige ist, abzulehnen, geht sowohl aus 
theoretischen als auch aus praktischen Gründen nicht 
an. Aus theoretischen Gründen besonders deshalb 
nicht, weil es dem menschlichen Geiste nur so lange 
möglich war, sich nicht ernstlich mit der Frage nach 
der Willensfreiheit zu beschäftigen, als er noch, wie 
es in der vorchristlichen Welt zwar nicht immer und 
überall, aber durchweg der Fall war, keine absolut 
herrschende Weltmacht, deren zwingender Gewalt 
alles unterworfen ist, aufgestellt hatte. Nachdem je- 
doch im Namen der Religion bzw. der Theologie und 
Philosophie die Absolutheit der göttlichen Weltregie- 
rung, im Namen der Naturwissenschaft die Herrschaft 
der Notwendigkeit, die alles bezwingende unverbrüch- 
liche Gesetzmäßigkeit der Natur als unumstößlicher 
Lehrsatz proklamiert worden ist, drängt die Frage, 
ob und wie damit eine menschliche Willensfreiheit 
vereinbar ist, sich unabweisbar auf Will jemand 
diese Frage leichthin damit abtun, daß er die AVillens- 



— 103 — 

freiheit für bloße Einbildung erklärt, so drängt ihm 
sein Selbstbewußtsein immer wieder die Tatsache auf, 
daß wir Menschenkinder dazu berufen sind, uns selber 
zu dem zu machen, was wir werden sollen, wenigstens 
daran selber mitzuarbeiten, daß wir, wenn wir das 
nicht tun, uns dafür verantwortlich und als pflichtver- 
gessene Subjekte uns schuldig fühlen, und daß sowohl 
das Bewußtsein jenes Berufs als das Gefühl dieser 
Verantwortlichkeit und Schuld es als etwas Selbstver- 
ständliches voraussetzt, daß wir bei unseren Ent- 
schließungen Freiheit der Wahl haben und üben und 
selbst die letzte Entscheidung über sie geben. Es er- 
hellt schon daraus, daß es sich hier nicht um eine 
bloß theoretische Angelegenheit, nicht um eine aka- 
demische Doktorfrage handelt, sondern daß praktische 
Gründe die Erörterung derselben gebieterisch fordern. 
Ob wir handeln, weil wir müssen, oder weil wir 
wollen, ob das fatalistische Wort recht hat, das 
Schiller seinem Wallenstein in den Mund gelegt : 
„Ergib dich drein! wir handeln, wie wir müssen; so 
laß uns das Notwendige mit Würde, mit festem Schritte 
tun!" oder ob das Wort Jesu an Jerusalem seine er- 
schütternde Wahrheit hat und behält: „Ihr habt nicht 
gewollt", das berührt jeden gewissenhaften Menschen 
persönlich, das greift hinein in die innersten Lebens- 
interessen des einzelnen nicht nur, sondern der großen 
menschlichen Gemeinschaften, insbesondere auch des 
Staats und seiner Gesetzgebung. Denn, um hier nur 
Eins zu erwähnen, falls dem Menschen bei seinen 
Handlungen die Freiheit der Entscheidung und bei 
Terschiedenen sich seiner Entschließung darbietenden 
Möglichkeiten die Freiheit der Wahl gänzlich mangelte, 
hätte kein Richter einen Verbrecher schuldig zu 



— 104 — 

sprechen das Recht; und der Übeltäter könnte nur 
dann zur Bestrafung überantwortet werden, wenn man 
mit grausamem Hohn sagen wollte: Er war zwar nicht 
schuld an dem, was er verbrochen; aber da es nun 
einmal das ihm bestimmte Schicksal, — sein Kismet^ 
wie der Mohammedaner spricht, — gewesen ist, ein 
Verbrecher zu werden, so ist es jetzt sein ihm be- 
stimmtes Schicksal, die Strafe eines Verbrechers zu 
erleiden. Wenn Leibnitz hierzu bemerkt, in einer 
anderen Welt wäre dieser Verbrecher vielleicht 
als tugendhafter Greis, von seinen Mitbürgern geehrt 
und beweint, hochbetagt gestorben; aber Gott habe 
vorziehen müssen, diese Welt zu erschaffen, weil 
sie unter allen möglichen Welten voraussichtlich die 
verhältnismäßig beste war, so ist leicht zu sehen, daß 
diese Annahme des großen Philosophen über die 
Schwierigkeiten des Problems keineswegs hinweghilft 
und weder die Verantwortlichkeit des Menschen noch 
den Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit genügend 
zu begründen vermag. 

Wenn es daher nicht angängig ist, die Erörterung 
der vorliegenden Frage abzulehnen, so könnte doch 
die Meinung entstehen, schon im vorigen Abschnitt^ 
in welchem das Selbstbewußtsein im strengen Sinne 
des Wortes, das Ichbewußtsein, als Tatsache fest- 
gestellt wurde, sei diese Frage insofern bereits er- 
ledigt worden, als die Wahlfreiheit die notwendige 
Voraussetzung dieses Bewußtseins sei und die Ent- 
stehung wie der Bestand desselben ohne solche Frei- 
heit unerklärlich sein und bleiben würde. So be- 
hauptet in der Tat Jul. Müller („Sünde") und ähnlich 
Ed. Zeller („Freiheit des menschlichen Willens etc."). 
Nun könnte sicherlich das Selbstbewußtsein nicht 



— 105 — 

entstehen, wenn nicht das Ich, das Selbst aus dem 
Naturznsammenhang sich herausheben und der ganzen 
Welt sich als ein Subjekt gegenüberstellen würde, 
das sich selber zu bestimmen und das bloße Bestimmt- 
w erden von sich auszuschließen vermag. Allein es 
folgt daraus nur, daß das menschliche Ich nicht ein 
bloßes Produkt des Naturlebens ist, nicht gänzlich der 
objektiv gegebenen Welt, der es als Subjekt gegen- 
übersteht, seine Entstehung verdankt, sondern auch 
aus sich selber heraus durch eigene zu seinem Her- 
vortreten erforderliche Tätigkeit geworden ist. Es 
folgt aber nicht daraus, daß das Ich schon bei seiner 
ersten Selbstbetätigung nicht gemäß einer inneren 
Notwendigkeit, sondern durch ein willkürliches Handeln 
sich bestimmte. Es ist zwar richtig, wenn man sagt, 
daß es einen Punkt geben muß, an welchem die natur- 
notwendige Entwicklung des beseelten Leibeslebens 
unterbrochen wird und das Ich aus dem Strom des 
bloßen Bestimmtwerdens heraustritt und sich darüber 
erhebt. Wenn aber Zeller schreibt: „Dieser Punkt 
läßt sich nicht finden, wenn dem Ich nicht die Mög- • 
lichkeit, sich der Naturnotwendigkeit entgegenzu- 
setzen, die Möglichkeit eines zufälligen Handelns ge- 
geben ist; die Wahlfreiheit ist die notwendige Voraus- 
setzung des Selbstbewußtseins ; denn nur indem es die 
Fähigkeit hat, sich mit Zufälligkeit zu bestimmen, 
kann es vom absoluten Bestimmtwerden .... los- 
kommen," so scheint die Meinung die zu sein, daß 
die Entstehung des selbstbewußten Ich dadurch ge- 
schehe, daß es von der ihm gegebenen Wahlfreiheit 
Gebrauch macht, also durch ein willkürliches Handeln, 
das, insofern es auch ein anderes sein konnte, als 
zufällig bezeichnet werden muß. Ganz sicher vertritt 



— 106 — 

JuL Müller diese Meinung, wenn er n. a. schreibt: 
„Anfangen muß das persönliche Geschöpf von dem 
beziehungsweise Unbestimmten, um der Unbestimmt- 
heit durch Selbstbestimmung und Selbstentscheidung 
ein Ende zu machen .... Der Ausgangspunkt also 
ist eine Freiheit, die nicht innere Notwendigkeit ist, 
sondern die Möglichkeit eines anderen." Hierauf ist 
aber folgendes mr Erwägung zu stellen. Falls die 
Fähigkeit, sich der Naturnotwendigkeit entgegenzu- 
setzen, dem Ich schon durch den geistigen Gehalt 
seines Wesens gegeben wäre, — und das ist recht 
gut möglich — , und es diesem seinem Wesensgehalt 
gemäß aus dem Verflochtensein in den Naturlauf sich 
befreite, so handelte es nicht zufällig, sondern mit 
innerer Notwendigkeit; und seine Freiheit wäre nur 
eine metaphysische. Nun ist aber der Punkt, an 
welchem das Ich gleichsam geboren wird, für unser 
Erkennen überhaupt nicht aufzufinden, und E. Rothe 
(a. a. 0.) sagt sehr richtig, derselbe sei eine bloße 
Voraussetzung, freilich nicht so sehr deshalb, weil, 
wie Eothe meint, „hierbei alles durch unmerkliche 
Übergänge hindurchgeht", — denn ob das der Fall 
ist oder nicht, können wir nicht sicher erkennen — , 
sondern deshalb, weil der Entstehungspunkt des Ich 
und der Anfangspunkt seiner Entwicklung jenseits 
der Grenzen des uns zugänglichen Erfahrungsgebietes 
liegt. Da man von Dingen, die verstandesmäßig zu 
erkennen und begrifflich zu erfassen unmöglich ist, 
noch in Gleichnissen reden darf, sei hier an das 
Gleichnis Fr. Rückert's erinnert, dessen erster Teil: 
„Ein Säugling ist der Geist, Natur ist seine Amme", 
schon im vorigen Abschnitt zitiert worden ist und 
dessen zweiter Teil lautet: „sie nährt ihn, bis er fühlt. 



— 107 — 

daß er von ihr nicht stamme." Hierin ist zweifellos 
die Wahrheit enthalten, daß der kindliche Geist, der 
zunächst nur der Anlage, der Möglichkeit nach „Geist" 
genannt werden darf, einen Moment erlebt, wo er sich 
so weit entwickelt hat, daß er zum Bewußtsein seiner 
selbst, zum Bewußtsein seiner dem beseelten Leibes- 
leben überlegenen Begabung und Bestimmung gelangen 
kann. Aber es bleibt fraglich, auf welche Art und 
Weise diese seine Entwicklung vor sich gegangen ist, 
ob etwa so, daß der kindliche Geist, indem er das 
beseelte Leibesleben als sein Substrat und als seine 
Ernährungsquelle benutzte, zugleich eine Selbsttätig- 
keit übte und dadurch das, was er ursprünglich nur 
der Möglichkeit nach war, in Wirklichkeit wurde, 
nämlich selbstbewußter, aus dem Naturzusammenhang 
sich heraushebender Geist. Falls die Entwicklung so 
vor sich gegangen ist bzw. noch heute in jedem ge- 
sunden Kinde so vor sich geht, ist wahrscheinlich jede 
willkürliche und zufällige Tätigkeit des Geistes von 
der Entstehung desselben ausgeschlossen, und geschieht 
dieselbe allmählich und unmerklich durch innere Not- 
wendigkeit. Freilich auch dann, wenn sie wirklich so 
geschieht, kann das Ich schon bei seinem ersten selb- 
ständigen Hervortreten im Besitze der Wahlfreiheit sein, 
ohne noch von derselben Gebrauch gemacht zu 
haben. Nur ist die Wahlfreiheit nicht, wie Zeller 
meint, schon die notwendige Voraussetzung des Selbst- 
bewußtseins ; vielmehr bleibt die Frage, ob der Mensch 
nicht bloß die Freiheit in metaphysischem Sinne, sondern 
auch die Freiheit eines willkürlichen WoUens und Han- 
delns habe, auch da, wo der in dem Selbstbewußtsein ent- 
haltene Tatbestand, das Ich als ein selbständiges Reales, 
zur Anerkennung gekommen ist, noch unentschieden. 



— 108 — 

Gegen die Bejahung dieser Frage wird einge- 
wandt, so z. B. von Schölten („Der freie Wille"): 
Wenn man behaupte, der Mensch hätte auch 
anders wollen und handeln können, als er 
gewollt und gehandelt hat, so werde man dadurch zu 
der anderen Behauptung genötigt, das menschliche 
Individuum, wenn dasselbe A. heißt, könne auch 
Nicht-A. sein; man müsse also gegen das Gesetz 
der Identität verstoßen, nach welchem A. 
gleich A. ist und nichts anderes sein kann als A. 
Man hat dies weiter ausgeführt und gesagt: Die 
Handlung eines Menschen sei ein geistiger Akt, in 
welchem er selbst gegenwärtig sei; das Handeln des 
Menschen sei auch eine Art seines Seins, nämlich sein 
entwickeltes Sein; folglich müsse der Mensch, wenn 
er auch anders handeln könne, als er getan, im 
Handeln zugleich anders sein können als er ist; in 
Wirklichkeit aber könne der Mensch nicht anders 
handeln als nach dem, was er ist. — Was die letzte 
Behauptung betrifft, so wird auf dieselbe da geant- 
wortet werden, wo es sich um das Verhältnis der 
menschlichen Wahlfreiheit zu der Einheit und Festig- 
keit des menschlichen Charakters handelt. Hier aber ist 
auf den ersten Teil jenes Einwandes folgendes zu er- 
widern. Es ist eine unbegründete, weil übertriebene 
Behauptung, wenn man sagt, in jeder einzelnen Hand- 
lung sei der ganze Mensch gegenwärtig, und sein 
Handeln sei gewissermaßen eine Art seines Seins. In 
vielen Handlungen, die er verrichtet, betätigt sich nur 
sehr wenig von dem, was er ist, prägt sich nur ein 
sehr kleiner Bruchteil seines Seins aus. Wenn das 
menschliche Individuum A. von seiner Wahlfreiheit 
Gebrauch machen will, dann handelt es sich für das- 



— 109 — 

selbe nicht etwa um die Frage, ob es A. bleiben oder 
Nicht-A. werden will, sondern darum, ob es den A., 
ob es sich selber so bestimmen will, daß A. die Be- 
stimmtheit und den Zustand von A^ zu eigen be- 
kommt, oder so, daß A. die Bestimmtheit und den 
Zustand von A" erhält. Nicht einmal die Selbigkeit 
eines Tieres oder auch einer Pflanze wird dadurch, 
daß diese oder jene Veränderung darin vorgeht, auf- 
gehoben; vielmehr wird dadurch das pflanzliche oder 
tierische Individuum nur in eine mehr oder weniger 
modifizierte Zuständlichkeit gebracht; noch weniger 
kann die Selbigkeit des menschlichen Indi- 
viduums dadurch aufgehoben werden, daß 
es bald so, bald anders sich bestimmt. Das 
wäre nur dann denkbar, wenn seine Wahlfreiheit 
eine ganz unbeschränkte und ein Mensch . 
imstande wäre, gleichsam „aus der Haut 
zu fahren" und losgelöst von seinen Anlagen und 
Neigungen, losgelöst von seinem Charakter wie von 
seiner ganzen bisherigen Entwicklung, nur und aus- 
schließlich willkürlich zu handeln; das ist aber ein- 
fach unmöglich, deshalb, weil der Mensch nur eine 
vielfach begrenzte Wahlfreiheit hat. 

Daß er sie aber hat, dafür spricht schon die Tat- 
sache, daß wir, wenn wir einen Entschluß 
fassen, uns deutlich dessen bewußt sind, 
daßwir aucheinen anderen fassen konnten. 
Nicht so, als ob unser Bewußtsein uns sage, daß das, 
wozu wir uns entschließen, in unserem Wollen allein 
seinen Grund und seine Entstehung habe; denn, das 
muß immer wieder betont werden, die Entscheidung, 
die ein Mensch trifft, quillt oft, sehr oft größtenteils 
aus anderen bestimmenden Kräften und Beweggrün- 



— 110 — 

den, vielleicht aus sehr vielen nicht nur, sondern auch 
sehr gewichtigen anderen Motiven. Aber wir haben 
doch das Bewußtsein, zu dem Gewicht dieser Kräfte 
und Motive noch etwas, und wäre es noch so wenige 
freiwillig hinzugetan, freiwillig darauf eingewirkt und 
dadurch die Entscheidung herbeigeführt zu haben, dies 
aber insofern willkürlich getan zu haben, als wir auch 
etwas anderes hinzutun oder etwas davon wegnehmen 
oder das uns Gegebene anders ordnen, in andere Rich- 
tung bringen oder sonstwie modifizieren konnten. Der 
Determinismus, der alles als notwendig Bestimmtes 
betrachtet, erhebt hier den Einwand, in dem Bewußt- 
sein des Menschen, daß er auch anders hätte wollen 
und handeln können, zeige sich nur die Tatsache, daß 
der Entschluß der genaue Ausdruck der Beschaffenheit 
war, in welcher der Moment den Menschen vorfand, 
und der Mensch hätte anders handeln können, wenn 
zu derselben Zeit seine innere Verfassung und seine 
Lebenslage eine andere gewesen wäre. Andere Ver- 
teidiger des Determinismus drücken dies anders aus und 
sagen, weil ein gewisses ELandeln unserer 
Naturgemäß sei, so scheine es uns, als ob es ein 
Produkt unserer Willkür sei und seinen Grund 
in uns selber habe, wir also auch anders hätten handeln 
können. Aber damit ist nicht erklärt, wie es kommt, daß 
solche Tätigkeiten, die nach den Voraussetzungen des 
Determinismus notwendige sind, dem Ich als willkür- 
liche zum Bewußtsein kommen, die auch anders hätten 
sein können. Wir handeln unserer Natur gemäß, wenn 
wir durch die Lungen atmen, bilden uns aber nicht 
ein, daß wir auch durch Kiemen atmen können. Wir 
handeln der Natur unserer Denkgesetze gemäß, wenn 
wir anerkennen, daß die drei Winkel eines Dreiecks 



— 111 — 

zusammen == 2 R. sind ; aber wir lassen uns deshalb 
nicht einfallen, zu behaupten, sie könnten auch weniger 
oder mehr sein. Es ist, wie E. Zeller (a. a. 0.) 
schreibt, unserer Natur gemäß, auf der Erde zu gehen; 
aber wir meinen darum durchaus nicht, daß wir auch 
fliegen könnten. Woher kommt es also, daß dem 
Menschen, wenn sein Handeln in einem Momente „der 
genaue Ausdruck der Beschaffenheit war, in welcher 
der Moment ihn vorfand", also seiner Natur gemäß 
mit innerer Notwendigkeit geschah, trotzdem dieses 
Handeln als ein willkürliches zum Bewußtsein kommt? 
Nur daher, daß tatsächlich nicht bloß die momentane 
Beschaffenheit des Menschen, sondern auch Sein von 
dieser sich unterscheidendes selbstbewußtes Ich und 
die freie Entscheidung und Wahl dieses Ich Ursache 
jenes Handelns war. Leibnitz („Theodicee") sagt: 
„Wir werden nicht immer die oft unmerkbaren Ur- 
sachen gewahr, von denen unser Entschluß abhängt"; 
und Sigwart („Problem der Freiheit") urteilt, es sei 
eine psychologische Täuschung, wenn man sich für 
die Freiheit auf das unmittelbare Bewußtsein, auf die 
innere Erfahrung berufe; auch in dem Falle, daß wir 
uns solcher inneren uns determinierenden Beweg- 
gründe nicht bewußt würden, sei doch der Schluß von 
dem Mangel des Bewußtwerdens derselben auf ihr 
Nichtvorhandensein ungültig. Nun ist es ja eine be- 
kannte Tatsache, daß wir manchmal unbewußt handeln, 
z. B. dann, wenn wir auf einen uns treffenden Stoß mit 
Gegenstoß antworten und auf gewisse Nervenreizungen 
mit unwillkürlichen Triebhandlungen reagieren. Allein 
selbst derartige Handlungen sind nicht bloß mecha- 
nische Vorgänge in unsei'em Leibesleben, sondern, 
wenigstens viele von ihnen, ehemalige WiUensbe- 



— 112 — 

tätigungen, die wir namentlich im ersten Kindesalter 
mit Vorbedacht und Überlegung, oft mit Mühe aus- 
führten, die aber durch jahrelange Übung und Ge- 
wöhnung uns zur anderen Natur geworden sind und 
jetzt unbewußt ins Werk gesetzt werden. Falls aber 
das Bewußtsein der Selbsttätigkeit, das Gefühl der 
Freiheit daraus entstände, daß wir die oft unmerk- 
baren Ursachen, von denen unser Entschluß abhängt, 
nicht gewahr werden und die uns dazu treibenden 
Beweggründe uns nicht zum Bewußtsein kommen, so 
müßte ja jenes Freiheitsgefühl um so stärker sein, je 
mehr die Motive unseres Handelns unbewußte bleiben, 
und umgekehrt jenes Gefühl der eigenen Selbstbe- 
tätigung müßte um so schwächer sein, je mehr dem 
Menschen die Motive seines Entschlusses und seines 
Handelns zu klarem Bewußtsein gekommen sind. In 
der erfahrungsmäßig gegebenen Wirklichkeit aber 
zeigt sich das gerade Gegenteil. Dem Menschen, der 
ja gar nicht immer frei, sondern oft wie von einer 
Naturgewalt getrieben handelt, kommt es, im Gegen- 
satze dazu um so klarer zum Bewußtsein, wenn er 
frei aus sich heraus handelt. Wiederum je freier 
er handelt, je mehr sein Tun aus seiner eigenen 
Initiative hervorgeht und ihm als seine spontane, 
allen Widerstand überwindende, durch alle Hinder- 
nisse sich Bahn brechende Tat vor der Seele steht, 
desto klarer ist er sich aller Beweggründe, die ihn 
dazu führten, wie aller Folgen, die seine Handlung 
voraussichtlich haben wird, bewußt; und umgekehrt. 
Als Bismarck den Entschluß faßte, die deutsche Frage 
dadurch zu lösen, daß er seine Nation unter Preußens 
Führung mit Ausschluß Österreichs einigte, und als 
er in der klaren Voraussicht, daß dies ohne einen 



-^ 113 — 

Krieg nicht durchzuführen sein werde, die von seinem 
König unternommene Keorganisation der preußischen 
Armee gegen den leidenschaftlichen Widerstand der 
Landtags-Mehrheit durchsetzte und jahrelang ohne 
Budget die Regierungsgeschäfte erledigte, da war er 
sich der Freiheit, in der er auch anders hätte handeln 
und dann von der furchtbaren Verantwortung, die er 
Auf sich zu nehmen durch seine Handlungsweise ge- 
nötigt war, hätte frei bleiben können, mit der- 
selben lichten Klarheit bewußt, mit der er die Beweg- 
gründe, die ihn leiteten, durchschaute, namentlich die 
ihn durchglühende Vaterlandsliebe und die tief ge- 
gründete Überzeugung, daß die Idee, das durch seine 
Begabung und weltgeschichtliche Führung zu etwas 
•Gutem und Großem bestimmte deutsche Volk zu 
«inigen, auf keinem anderen Wege als durch Eisen 
und Blut verwirklicht werden könne. — Was aber 
Ton den Großtaten genialer Helden gilt, das gilt von 
den vorbedachtenHandlungen jedes gesund ent- 
wickelten Menschen, daß sie nämlich mit dem 
Bewußtsein sowohl der Motive, durch die 
sie zustande kommen, als auch der Wahl- 
freiheit, in der sie beschlossen und aus- 
geführt sind, geschehen. 

Daß es sich hier nur um körperlich und geistig 
durchweg gesunde Menschen handeln kann, ist selbst- 
verständlich und hätte nicht besonders erwähnt zu 
werden brauchen, wenn nicht viele Deterministen, 
unter ihnen kein Geringerer als Spinoza, sich darauf 
berufen, daß mancher Mensch offenbar jeder wirk- 
lichen Freiheit ermangele, weil Wahnsinn, Rausch, 
hoch aufflammende Leidenschaft seinen Geist um- 
nebelt und aller Selbstbeherrschung beraubt haben 

Grane, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. 8 



— 114 — 

oder ein Traum ihm phantastische Gebilde vor- 
gaukelt, und trotedem ein lebhaftes Freiheitsgefuhl 
habe. Als ob daraus, daß ein Mensch im abnormen 
Zustande sich Illusionen hingibt, gefolgert werden 
könnte, daß dasjenige, dessen der Mensch in normalem 
Zustande sich klar bewußt ist, auch eine Illusion sei I 
Als ob der wache, nüchterne und geistig gesunde 
Mensch nicht ein ganz anderes Freiheitsgefühl be- 
säße, als der Irre, der Trunkene, der Träumende! 
Wenn Spinoza selber schreibt, der Trunkene glaube^ 
mit freiem Entschluß das zu reden, wovon er nachher,, 
wenn er nüchtern geworden, wünsche, es verschwiegen 
zu haben, so ist schon hieraus zu ersehen, daß ebenso 
verschieden, wie das Urteil des Nüchternen von dem 
des Trunkenen betreff der im Kausche gesprochenen. 
Worte ist, auch das Freiheitsgefühl des einen von 
dem des anderen ist. Der Nüchterne erklärt, wenn er 
sich auf den vorhergegangenen trunkenen Zustand, 
besinnt, das mit ihm verbunden gewesene Freiheits- 
gefühl (vgl. S. 49 f.) für eine bloße Einbildung, sein 
eigenes Gefühl der Freiheit aber für das wahre, der 
Wirklichkeit entsprechende. 

Mit Eecht ist dafür, daß der Mensch Wahlfreiheit 
besitzt, auch die Tatsache angeführt worden, daß wir 
bei Dingen, die uns gleichgültig sind, durch unser Tun 
zu beweisen vermögen, daß wir zwischen Entgegen- 
gesetztem zu wählen die Fähigkeit besitzen. Wir 
können aufstehen oder sitzenbleiben oder uns setzen^ 
den einen oder den anderen Arm erheben oder beide 
Arme in Euhe lassen; wir können, wenn wir von 
unserer Wohnung entfernt sind, durch die eine oder 
durch die andere Straße nach Hause gehen, und 
Wobbermin (a. a. 0.) erzählt von sich, daß er, wenn 



— 115 — 

er seine Vorlesung im Universitätsgebäude beendet 
habe, gewöhnlich den angenehmeren Weg die Linden 
entlang zur Heimkehr benutze, daß er aber, mit dem 
Problem der Willensfreiheit beschäftigt, sich beim 
Heraustreten aus der Universität plötzlich dazu ent- 
schließe, um eine Probe auf seine Wahlfreiheit zu 
machen und sie durch die Tat zu beweisen, trotz der 
brennenden Sonuenglut durch die Friedrichsstraße 
heimzukehren. Von gegnerischer Seite hat man be- 
stritten, daß das ein Beweis für die Wahlfreiheit sei ; 
man hat gesagt, auch bei solchen scheinbar ganz 
willkürlichen Entscheidungen seien es unmerkliche 
Ursachen, die für eine bestimmte Handlung den Aus- 
schlag geben ; wenn aber die aus der augenblicklichen 
Lage sich ergebende Tendenz bemerkt und doch das 
Entgegengesetzte gewählt werde, so erkläre sich die 
Wahl aus dem „Druck" der Vorstellung, daß man seine 
Freiheit beweisen müsse. Allein wenn man für diese 
Meinung „unmerkliche Ursachen", die für den Ent- 
schluß entscheidend seien, ins Feld führt, so ist hie- 
gegen auf das zu verweisen, was vorhin bereits über 
die Unbewußtheit der Motive gesagt worden ist 
(S. 111 f.). Wenn man aber den „Druck" einer Vor- 
stellung als das bezeichnet, was den Entschluß be- 
stimmt, so ist ja sofort zuzugeben, daß die Vor- 
stellungen des Gewollten auf die Willensentschei- 
dungen Einfluß ausüben; dagegen ist entschieden 
zurückzuweisen die öfters aufgestellte Be- 
hauptung, daß das Vorstellen, das Denken 
die ausschlaggebende Bedeutung für den 
Ausfall der Entscheidung habe, indem es 
einen „Druck", eine Art Zwang ausübe. 

Namentlich die Herbart'sche Schule betont die 

8* 



— 116 — 

Abhängigkeit des Willens vom Vorstellen und Denken, 
weil sie das ganze geistige Leben nur für das Er- 
zeugnis der im Ich sich drängenden und verdrängenden 
Vorstellungsmassen hält. Aber auch von anderer Seite 
wird behauptet, daß der Mensch nichts wollen könne, 
als wozu er durch die Intelligenz bestimmt werde. 
Da ist nun zunächst auf die Tatsache zu verweisen, 
daß die Intelligenz des Menschen nicht bloß von seiner 
intellektuellen Begabung abhängt, nicht bloß von der 
Kraft und Schärfe seines Erkenntnisvennögens, son- 
dern auch von seinem Wollen, davon nämlich, wieviel 
Fleiß er auf die Ausbildung seines Intellekts ver- 
wendet, wie treu und ernst er seine Verstandesfahig- 
keiten geübt, benutzt und verwertet hat. Deshalb ist 
mancher Irrtum eines Menschen von ihm selber ver- 
schuldet, und während jemand eine sittlich verkehrte 
Handlung in gutem Glauben, in herzlichem Wohlmeinen, 
unverschuldeterweise tun kann, ist manchmal das irrige 
Denken eines menschlichen Individuums dadurch ent- 
standen, daß dieses es an dem rechten sittlichen Wollen, 
an Wahrhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit bei der 
Anwendung seiner intellektuellen Gaben und Kräfte 
hatte fehlen lassen. Es findet also, da ja, wie schon 
erwähnt, ein Einfluß der Vorstellungen auf das Wollen 
unzweifelhaft ist, eine Wechselwirkung zwischen Vor- 
stellen und Denken einerseits und Wollen andererseits 
statt. Weil ohne ein vorgestelltes Objekt, ohne einen 
Gegenstand des Denkens ein ernstliches Wollen gar 
nicht statthaben kann und weil die Natur der Gegen- 
stände, auf welche das Vorstellen und Denken sich 
richtet, für die Entscheidung des Willens wesentlich 
mitbestimmend ist, so ist der Einfluß des Denkens 
auf das Wollen stärker als der Einfluß des Wollens 



— 117 - 

auf das Denken. Trotzdem aber liegt die Sache nicht 
so, daß der Inhalt der Vorstellungen dem Willen 
jedesmal diese oder jene Eichtung gebe. Denn dieser 
Inhalt hat zwar anziehende oder abstoßende Kraft 
und Wirkung, weckt Lust oder Unlust im Menschen 
und übt dadurch großen Einfluß auf die Entscheidung 
des Willens; allein das menschliche Ich steht dem In- 
halt seiner Vorstellungen, wie mächtig es auch oft da- 
durch erregt, erschüttert, zuweilen ganz überwältigt 
wird, nicht etwa machtlos gegenüber, sondern erhebt 
sich immer wieder zur Betätigung seiner Willensfrei- 
heit und zeigt oftmals durch die Tat, daß ihm sein 
Handeln von seinen Vorstellungen nicht unabänderlich 
vorgeschrieben wird, sondern daß es ihre Einwirkungen, 
denen es sich nicht ganz entziehen, die es nicht aus- 
scheiden kann, doch mehr oder weniger zu modi- 
fizieren und die Eichtung, welche durch ihre Macht 
dem Willen gegeben ist, demgemäß abzuändern ver- 
mag. 

Wir können das Verhältnis des Denkens und 
Wollens hier nicht erörtern und darstellen, ohne die 
heutzutage stark vertretene Assoziations-Psycho- 
logie — vgl. Ziehen („Leitfaden der physiologischen 
Psychologie"), Münsterberg (a. a. 0., „Ursprung der 
Sittlichkeit", „die Willenshandlung") ; Simmel („Skizze 
einer Willenstheorie") — zu berücksichtigen, die zu so 
vollständiger Leugnung jeder Willensfreiheit gelangt 
ist, daß sie behauptet, ein willkürliches Denken gebe 
es gar nicht, und wir können nicht denken, wie wir 
wollen, sondern wir müssen denken, wie die gerade 
vorhandenen Assoziationen d. h. Vorstellungsvereini- 
gungen bzw. Bündel bestimmen. 

Daß wir nicht immer denken, wie wir wollen, 



— 118 — 

daß oft die Gedanken vielmehr uns haben als wir die 
Gedanken, ist zweifellos. Aber wenn man behauptet, 
es gebe überhaupt kein willkürliches Denken, wie 
steht es mit jeuer Begründung dieses Satzes, die besagt, 
bei einem sog. willkürlichen Denken tauche die Ich- 
vorstellung zwischen den einzelnen Vorstellungen und 
Urteilen auf und werde als Ursache einer Vorstellungs- 
und Urteilsreihe gedacht, wodurch der Schein entstehe, 
als ob meine Denkakte aus willkürlich betätigter Frei- 
heit hervorgingen, während sie in Wahrheit not- 
wendige Produkte meiner Vorstellungsassoziationen 
seien? Dies ist schon deshalb falsch, weil eine „Ich- 
vorstellung" gar nicht existiert, sondern nur ein künst- 
liches Gebilde der Assoziationspsychologen ist, die den 
psychologischen Tatbestand verkennen. Das Ich ist, 
woran immer wieder erinnert werden muß, nicht wie 
ein Gegenstand, den ich mir vorstellen kann, sondern 
ein gefühltes Reales, das Ichbewußtsein ein zuständ- 
liches, ein Gefühl, das durch ein unmittelbares Erleb- 
nis in mir entsteht; und dieses Gefühl sagt mir, daß 
das Ich ein begriflflich nicht zu fassendes, aber das 
selbige bleibendes Wirkliches und imstande ist, willkür- 
lich zu denken und zu handeln, also nicht etwa bloß 
„als Ursache einer Vorstellungs- und Urteilsreihe ge- 
dacht" wird, sondern die Ursache davon tatsächlich 
ist und als solche zwar nicht stetig, aber oft und 
immer wieder mir zum Bewußtsein kommt. Freilich, 
auch diese Tatsache wird von gegnerischer Seite für 
bloßen Schein erklärt; und die Vertreter der 
„reinen" Erfahrung gehen so weit, alle Ur- 
sächlichkeit im eigentlichen Sinne des Worts zu 
leugnen. Daß die Gültigkeit des Kausalgesetzes 
eine begrenzte ist, haben wir bereits (S. 26 ff.) konsta- 



— 119 — 

tiert. Aber viele Empiriokritiker wollen dieses Gesetz 
überhaupt nicht anerkennen; sie setzen an die Stelle 
der Kausalität das von dem Beobachter angenommene 
Beziehungsverhältnis, das zwischen zwei regelmäßig 
aufeinander folgenden Erscheinungen besteht, und de- 
kretieren : „Einen eigentlichen Kausalvorgang, vollends 
«inen zeitlich verlaufenden, gibt es nicht (J. Petzold). 
Oleiche Erfolge unter gleichen Umständen existieren 
nur in der Abstraktion, die wir vornehmen, nicht in 
der Wirklichkeit (E. Mach). Ursächlichkeit in dem 
Sinne, daß ein wirkliches Bewirktwerden des einen 
durch das andere stattfindet, gibt es überhaupt nicht, 
iveder in der äußeren noch in der (sogenannten) inneren 
Erfahrung; also ist es auch nur Einbildung, wenn das 
Ich mir als bewirkende Ursache meines Vorstellens 
und Denkens zum Bewußtsein kommt." Kann man den 
Tatsachen der Erfahrung noch mehr Gewalt antun, 
als es hier geschieht? Ja! man kann noch einen 
Schritt weitergehen und mit einer gewissen Folge- 
richtigkeit alle und jede Existenz außerhalb der vor- 
stellenden Subjekte einfach leugnen; und kommt nicht 
darauf der Ziehen'sche Satz hinaus : „Die Dinge, mein 
Ich, die fremden Ichs sind nur Vorstellungen"? 

Eine große EoUe spielt in dieser Psychologie die. 
{S. 2 erwähnte) sog. Innervation, der Einfluß der 
Nerven auf die Organe des Körpers und auf deren Be- 
tätigung; und sie wird dazu benutzt, das Selbsttätig- 
keitsbewußtsein des Ich, das Bewußtsein der aktiven 
Tendenz seines Willens zu bloßen „Gefühlsreflexen" 
herabzusetzen. Die äußerliche Handlung, sagt man uns, 
der äußere Bewegungsvorgang sei nur die Folge und 
Fortsetzung vorausgehender Innervationsvorgänge, und 
diese Vorgänge würden uns zum Bewußtsein gebracht 



— 120 — 

im Gefühl des Getriebenwerdens, welches Gefühl also* 
nur der Gefühlsreflex der schon stattfindenden Inner- 
vation, der beginnenden Handlung sei; und die Triebe^ 
ja auch die eigentlichen Wollungen und komplizierten 
Willensvorgänge gehen der Handlung nicht vorher^ 
sondern seien vielmehr die nachfolgenden Gef ühlsreflex^ 
der schon im Wirken begriffenen Handlung. Ziehen 
erklärt, bei scharfem Nachdenken erhalte das Denken 
den Charakter eines Aufmerkens mit der eigentümlichen 
Empfindung einer aktiven Tätigkeit; aber diese Emp- 
findung sei nur eine Bewegungsempfindung, entstanden 
durch die Innervation zahlreicher dem Fixieren dienen- 
der Muskeln. Selbst Münsterberg, der hier mit seiner 
eigenen, bereits zitierten Anerkennung eines wirk- 
liehen Ich als der stellungnehmenden Aktualität 
in Kollision kommt, unterscheidet zwar, woran es« 
namentlich bei Simmel fehlt, welcher reflektorische und 
instinktive Handlungen zum Willensleben rechnen 
will, sehr bestimmt von den Triebhandlungen die 
Wahlhandlungen, in welchen die Motive für die Wahl 
der als Zweck vorausgenommenen, antizipierten Vor- 
stellung dem Bewußtsein gegeben sind und diese Wahl 
selbst sich im Bewußtsein vollzieht, meint aber, hinzu- 
fügen zu müssen, der Wille bestehe aus nichts weiter 
als aus der von assoziierten Kopfmuskelspannungs- 
Empfindungen häufig begleiteten Wahrnehmung eines 
durch eigene Körperbewegung erreichten Effekts mit 
vorhergehender Vorstellung desselben, und diese anti- 
zipierte Vorstellung sei aus der Phantasie, in letzter 
Linie aus der Erinnerung geschöpft und, wenn der 
Effekt eine Körperbewegung sei, nur als Innervations- 
empfindung gegeben. Also der Wille soll die Wahr- 
nehmung eines mit vorhergehender Vorstellung des- 



— 121 — 

selben erreichten Effekts sein! Um von der auf- 
fälligen Bezeichnung des Willens als einer Wahr- 
nehmung hier ganz abzusehen, fragen wir nur, ob 
nicht da, wo eine Wahrnehmung stattfindet, auch ein 
wahrnehmendes Subjekt ist, und ob nicht da, wo ein 
Effekt mit vorhergehender Vorstellung desselben er- 
reicht wird, sei es durch eigene Körperbewegung, sei 
es auf andere Weise, wiederum ein Subjekt ist, das 
diesen Effekt sich vorstellt als Zweck und dann den- 
selben erreicht, und ob nicht dieses Subjekt das selbige 
ist, das die Wahrnehmung macht und durch dessen 
zwecksetzenden Willen der Gegenstand der Wahr- 
nehmung bewirkt wird. Diese Frage wird von unseren 
Gegnern verneint und behauptet, das erste sei die 
eigene Körperbewegung, und wenn ihr Effekt wieder 
eine Körperbewegung sei, so sei die Vorstellung dieses 
zu erreichenden Effekts nur eine Innervationsempfin- 
dung. Wie entsteht aber, müssen wir fragen, die 
Körperbewegung? Da dieselbe von unseren Gegnern 
die „eigene" genannt wird, so ist damit unwillkürlich 
anerkannt, daß ein Subjekt da ist, das den Körper 
zu eigen hat, dem der Körper zu eigen ist und das 
die Bewegung des Körpers verursacht. Allein das 
ist offenbar die Meinung der Assoziations-Psychologen 
nicht ; und der Sprachgebrauch ist ja, wie wir wissen, 
keine entscheidende Instanz in wissenschaftlichen 
Fragen. Woher also kommt die Körperbewegung? 
ist sie eine bloß mechanische, und ist sie nur ein 
Moment jener großen, das ganze Universum durch- 
dringenden Bewegung, als deren Urgrund mit dem 
großen Philosophen des Altertums Aristoteles die 
reine „Energie" Gottes anzunehmen der moderne 
Monismus ablehnt, und die er durch einen Macht- 



— 122 — 

Spruch für eine wesentliche Eigenschaft der Materie, 
also für eine mechanische erklärt? sollen also wir mit 
unserer „eigenen" Körperbewegung und unserer Be- 
hauptung der Willensfreiheit bloße Produkte dieser Be- 
wegung sein, Produkte, die durch blindes mechanisch- 
kausales Zusammenwirken materieller Atome entstanden 
sind ? Aber selbst namhafte Vertreter der Naturwissen- 
schaft, wie Mach u. a., auch Stallo (a. a. 0.), lehnen 
die mechanisch-atomistische Theorie als allgemeine 
Grundlage der Physik und als Weltansicht ab und 
sehen darin nur ein heuristisches Hilfsmittel der 
physikalischen Forschung und Darstellung. Woher 
also entsteht die eigene Körperbewegung? Diese 
Frage wird uns noch besonders nahegelegt dadurch, 
daß Simmel den Trieb zu einem passiven Gefiihls- 
zustand macht und den Begriff des Triebes als der 
die Handlung herbeiführenden Kausalität ganz aus- 
schalten will. Die Tätigkeitsvorstellung, die durch 
den Begriff „Trieb" ausgedrückt wird, sei, so schreibt 
er, nichts Gegebenes, sondern von uns erst Einge- 
tragenes, und dasselbe gelte vom eigentlichen Willen ; 
was als Wille zum Bewußtsein komme, sei nur der 
psychische Reflex der schon beginnenden Handlung. 
Wo ist also der oder die oder das Handelnde? Diese 
Art Psychologie weiß auf solche Frage keine Antwort. 
Ebensowenig auf die Frage, woher es kommt, daß 
Körperempfindungen, z. B. körperliche Spannungs- 
empfindungen, die bei n a t ü r 1 i c h e r Entstehung regel- 
mäßig von seelischen Erregungen z. B. Aufmerksamkeit 
begleitet sind, dann, wenn sie künstlich erzeugt 
werden, solcher Begleitung entbehren. Ebensowenig 
auf die andere Frage, woher es kommt, daß manch- 
mal seelische Gefühle und Triebe vorhanden sind. 



-- 123 — 

ohne daß die entsprechenden körperlichen Spannungs- 
empfindungen sich bemerkbar machen. In der Tat, 
als eine auffallende Verirrung des menschlichen Geistes 
muß die Neigung der Organempfindungs-Psychologen 
bezeichnet werden (vgl. S. 46 f.), seelische Vorgänge und 
Gemütserregungen auf körperliche Empfindungen oder 
auf einen Komplex von solchen zurückzuführen. Wenn 
sie z. B. Lust als die Empfindung eines leichten Haut- 
kitzels oder als einen Komplex von Streckungsempfin- 
dungen bezeichnen, dagegen von der Unlust uns ver- 
sichern, daß sie ein Komplex von Bewegungsempfin- 
dungen sei, so hat Lipps völlig recht, zu erklären 
(a. a. 0.) : Nach Analogie solcher Versicherungen müßte 
das Gefühl der Zustimmung zu einer überzeugend vor- 
getragenen Wahrheit als eine Empfindung des Kopf- 
nickens oder des Jasagens, das Gefühl der Verneinung 
als eine Empfindung des Kopfschütteins, das Gefühl 
des Zweifeins als eine Empfindung des Zuckens in 
den Schultern gedacht werden, und müßte man sagen: 
Wir nicken nicht mit dem Kopfe, weil wir einer Be- 
hauptung zustimmen, sondern wir stimmen ihr zu, weil 
wir mit dem Kopfe nicken usw. 

Der Determinismus aber erklärt, solcher morschen 
Stützen gar nicht zu bedürfen, um sich zu behaupten. 
Er beruft sich auf die nach ihm unumstößlich fest- 
stehende Tatsache, daß eine eiserne Notwendig- 
keit, ein unabwendbarer und unentrinnbarer Zwang 
die ganze Welt beherrscht, alles Geschehen, 
also auch die Handlungen der Menschen dirigiert; 
and er folgert daraus, es sei gänzlich ausgeschlossen, 
daß unsere Handlungen jemals willkürlich, zufällig 
stattfinden und verlaufen; so würden sie aber statt- 
finden und verlaufen, wenn die Menschen vermöge 



— 124 — 

ihrer Wahlfreiheit nicht nur das eine, sondern auch 
das andere, das entgegengesetzte wollen und tun 
könnten. 

Insbesondere Leibnitz mit seiner mechanischen 
Auffassung der materiellen Welt hat für ein zu- 
fälliges Geschehen oder willkürliches Handeln in der- 
selben keinen Raum übrig; denn die Geist er welt^ 
die er als eine neben der materiellen Welt bestehende 
voraussetzt, wird von ihm ebenso wie diese als 
einer unabänderlichen Notwendigkeit ge- 
horchende vorgestellt, deren Lebensprozeß in seinem 
künftigen Verlauf mit derselben Sicherheit, mit der 
seine bereits stattgehabte Entwicklung erkannt wird, 
im voraus berechnet werden kann. Die Geisterwelt, 
die Welt der Monaden, ist nach Leibnitz von Gott 
dazu vorherbestimmt, in voller Harmonie mit dem 
Prozeß der materiellen Welt („prästabilierte Harmonie") 
und nach einem ebenso unausweichlichen Zwange wie 
diese zu verlaufen; also ist Willensfreiheit überhaupt 
etwas Unmögliches; und die subjektive Überzeugung 
des Menschen, daß er solche Freiheit habe, beruht 
nach diesem Philosophen darauf, daß nach göttlicher 
Vorherbestimmung und unter göttlicher Leitung der 
Verlauf der Vorstellungen in der menschlichen Seele 
zu dieser Überzeugung führen muß. Daß diese ganze 
Theorie, mit so eminenter Intelligenz und Folgerichtig- 
keit sie ausgearbeitet und durchgeführt ist, vielmehr 
auf willkürlichen Voraussetzungen als auf erfahrungs- 
mäßig begründeten Erkenntnissen beruht, bedarf heut- 
zutage keines besonderen Beweises. Aber auch ihre 
Annahme, daß unsere Überzeugung, Willensfreiheit zu 
besitzen, aus einer in allen menschlichen Seelen mit 
Notwendigkeit verlaufenden Vorstellungsentwicklung 



- 125 — 

zu erklären sei, ist nicht zutreffend und wird durch 
die Tatsache widerlegt, daß eine sehr große Zahl 
denkender und gebildeter Menschen, unter denen her- 
vorragend begabte Geister sich finden, die Überzeugung, 
daß der Mensch Willensfreiheit habe, nicht teilt, 
sondern nachdrücklich bekämpft. Du Bois-Keymond 
hat die Stellung der großen Mehrheit der naturwissen- 
schaftlichen und philosophischen Forscher zu dieser 
Frage in präziser Weise zum Ausdruck gebracht, wenn 
er, mit Leibnitz die ganze materielle Welt als eine 
ungeheuere, rein mechanisch arbeitende Maschine auf- 
fassend, sich folgendermaßen äußert: „Der Zustand 
der ganzen Welt, auch eines menschlichen Gehirns, 
in jedem Augenblick ist die unbedingte mechanische 
Wirkung des Zustandes im vorhergehenden Augen- 
blick, und die unbedingte mechanische Ursache des 
Zustandes im folgenden Augenblick. Daß unter ge- 
gebenen Umständen von zwei Dingen entweder das 
eine oder das andere geschehen könne, ist undenk- 
bar . . . dem Monismus ist die Welt ein Mechanis- 
mus, und in einem Mechanismus ist kein Platz für 
Willensfreiheit." 

Allein auch viele Vertreter der theologischen 
Wissenschaft denken noch heute ganz ähnlich; und 
z. B. Herrmann („Ethik"), der mit seinem großen 
Lehrmeister Kant in dieser Beziehung auf Leibnitz' 
und Spinoza's Wegen wandelt, gibt diesem Denken 
besonders scharfen Ausdi'uck und erklärt, daß wir bei 
der Vorstellung, eine wahrgenommene Veränderung 
an einem Dinge sei wirklich, immer voraussetzen, 
daß sich die Umstände nachweisen lassen, die diesen 
Vorgang notwendig machten ; eine andere Vorstellungs- 
weise sei eine Art von Irrsinn; wenn das Bewußtsein 



— 126 — 

eines Menschen nicht durch Krankheit oder krank- 
hafte Wünsche vergewaltigt werde, so werde es sich 
die Vorstellung von einem in dieser Welt wirklichen 
Dinge immer dadurch befestigen, daß es den gesetz- 
mäßigen Zusammenhängen nachgeht, in denen das 
Ding stehen muß; und das gelte nicht nur von den 
Dingen und Vorgängen im Eaum, sondern auch von 
der psychischen Bewegung, von dem inneren Leben 
der Menschenseele, unter diesen Theologen aber be- 
kennen sich viele, darunter auch F. A. Lipsius, zu 
der berühmt gewordenen Annahme Kant's, von der 
K. Fischer gesagt hat, es gehe in dieser Beziehung^ 
kein Weg über Kant hinaus, daß nur einWeg übrig^ 
bleibe, die Selbständigkeit des Geistes und den Be- 
stand der menschlichen Willensfreiheit zu 
retten, der Weg nämlich, der aus der von zwingen- 
der Notwendigkeit beherrschten Erscheinungswelt in 
die „intelligible" Welt hinüberführe; denn 
diese allein sei die Heimat der wahren Freiheit des 
Menschengeistes. Indes falls wirklich, wie der De- 
terminismus sagt, in dieser Welt nirgends und nie- 
mals Zufall, Willkür, sondern nur Notwendigkeit 
herrschte, wäre dann der Weg, den Kant zur Rettung^ 
der Freiheit gewiesen hat, der richtige? ist er auch 
nur ein gangbarer Weg? Kann man mit Kant von 
der Erscheinungswelt eine intelligible Welt unter- 
scheiden, die kein Gegenstand der Erfahrung werden^ 
sondern nur durch den Intellekt, nur durch das Denken 
der Vernunft erkennbar werden kann? Diese Frage 
ist zu verneinen. 

Alle, die mit uns überzeugt sind, daß die Welt^ 
die uns erscheint, deren Luft wir atmen und deren 
Sterne uns leuchten, weder die einzige existierende 



— 127 — 

noch die am höchsten zu bewertende ist, müssen ja Kant 
recht geben, wenn er von der sinnlich wahrgenommeoen 
Welt eine andere, höhere unterscheidet. Wenn er außer- 
dem von dem durch die ErfahruDg gegebenen, dem empi- 
rischen Charakter, den intelligibeln unterscheidet, so hat 
er insofern völlig recht, als ja unser Ich, insbesondere 
der Kern desselben, das ihm eingeschriebene Sitten- 
gesetz, der höheren Welt, die Kant die intelligible 
nennt, angehört, seine ForderuDgen in formaler Un- 
bedingtheit als kategorischen Imperativ aufstellt und 
geltend macht und insofern als intelligibler Charakter 
bezeichnet werden kann. Aber Kant versteht unter 
seinem intelligiblen Charakter ein \Vesen, das durch 
freie Selbstbestimmung die Forderungen des ihm inne- 
wohnenden Sittengesetzes nicht nur aufzustellen und 
geltend zu machen, sondern auch durchzusetzen und 
zu erfüllen vermag. Er behauptet für das sittliche 
Können des Ich die intelligible Freiheit und erklärt 
einen jeden von uns: „Du kannst, denn du sollst." 
Er schreibt also dem Ich nicht etwa bloße Wahlfreiheit 
zu, sondern die sittliche Freiheit, die Kraft, das Gute 
zu vollbringen ; und wenn er durch diese Behauptung 
mit den tatsächlichen Erlebnissen der sittlich streben- 
den und ringenden Menschen in Widerspruch tritt, 
so wird das dadurch nicht geändert, daß Kant seine 
Behauptung in großartiger Weise zu begi'ünden ver- 
standen hat und, wie Schopenhauer ausdrücklich an- 
erkennt, das, was er hierüber geschrieben, als das 
schönste und tiefgedachteste bezeichnet werden muß, 
was dieser große Geist hervorgebracht hat. Wenn 
Kant die Forderung stellt, der sittlich denkende 
Mensch solle an die Freiheit seines intelligiblen 
Charakters glauben, deshalb daran glauben, weil er 



— 128 — 

das Gefühl der Verantwortlichkeit in sich trage und 
die Forderungen seines Gewissens absolut gültige seien, 
so bewirkt er damit nur zu oft das Gegenteil von dem, 
was er bezweckt; denn er bringt den Menschen nicht 
nur mit sich selber in unversöhnliche Zwiespältigkeit, 
sondern er bringt ihn auch in die Gefahr, schließlich 
die unbedingte Gültigkeit seines sittlichen SoUens 
ebenso in Zweifel zu ziehen, wie die Kraft seines sitt- 
lichen Könnens. Solcher Zweifel regt sich schon, 
wenn Kant von seiner intelligiblen Welt sagt, sie sei 
nicht durch Erfahrung, sondern nur durch das Denken 
der Vernunft zu erfassen ; denn man fragt unwillkür- 
lich, ob eine Welt, die überhaupt nicht durch Er- 
fahrung, also auch nicht durch die inneren Erfah- 
rungen des Gefühlslebens, sondern nur durch die 
denkende Vernunft zugänglich und faßbar sein soll, 
etwa nur eine gedachte, eine nur im Intellekt des 
Menschen existierende sei. Für Kant bestand an der 
objektiven Realität dieser Welt kein Zweifel; ihm 
war sie durch seinen Vernunft glauben zu voller 
Gewißheit erhoben ; und er redet von ihr manchmal so, 
daß man merkt, er habe durch tiefe Empfindungen 
des Gemüts diese Welt kennen gelernt, obwohl er be- 
kanntlich das Gemüt mit seinem sinnlichen Eindrücken 
und wechselnden Stimmungen unterworfenen Gefühls- 
leben sehr mißtrauisch betrachtet und selten zu Worte 
kommen läßt. Wenn er jedoch die ganze Erscheinungs- 
welt und alles, was mit ihr zusammenhängt, aus- 
nahmslos von mechanischrkausalem Zwange beherrscht 
sieht, dagegen in der intelligiblen Welt für die Frei- 
heit des Menschen unantastbares Recht und völlig 
zureichende Kraft, sich zu betätigen, statuiert, so 
scheidet er diese beiden Welten so völlig von 



— 129 — 

einander, daß eine unüberbrückbare Kluft 
zwischen ihnen sich zeigt-, eine Kluft, die auch 
gähnend klafft zwischen dem empirischen Charakter, 
der in allem seinem Tun ein notwendiges Produkt 
des Kausalzusammenhangs der Welt ist, und dem in- 
telligiblen Charakter, dem frei sich selber bestimmen- 
den Wesen; und es erscheint undenkbar, daß diese 
beiden in dem selbigen Menschen zusammen bestehen 
können. Dies aber widerstreitet offenbar allen den- 
jenigen Erfahrungstatsachen, die einen innigen Zu- 
sammenhang, eine vielfältige Wechselwirkung zwischen 
der höheren Geisteswelt und dem sog. intelligiblen 
Charakter der Menschen einerseits und der sinnlich 
wahrnehmbaren Erscheinungswelt und dem empiri- 
schen Charakter des Menschen andererseits bezeugen 
und verbürgen. Kant selber hat das als einen Mangel 
seiner Anschauungsweise empfunden und deshalb ver- 
sucht, das Zwiespältige in derselben zu mildern. Er hat, 
wie schon erwähnt worden (S. 39), angedeutet, daß eine 
höhere Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft vor- 
handen sein könne, und die Möglichkeit anerkannt, 
daß Körper und Geist nur als Erscheinungen so ver- 
schieden seien, als Dinge an sich aber, zwar nicht 
miteinander identisch, (wie der Spinozistische Stand- 
punkt sagte), aber einander gar nicht so fremd seien, 
i?rie es uns scheine, eine Vermutung, die durch die 
heutige Physiologie der Sinnesorgane mancherlei Stütz- 
punkte erhalten hat. Kant hat ferner sowohl den 
empirischen als den intelligibeln Charakter als für 
die Handlungen des Menschen verantwortlich be- 
.zeichnet und die Möglichkeit der Besserung eines 
Menschen, die da, wo bloße Notwendigkeit waltet, 
ausgeschlossen ist, als eine dem Philosophen selber 

Graue, Selbstbewußtsein und WUlensfreiheit. 9 



^ 130 — 

unbegreif liehe Tatsache behauptet. Wenin er außer- 
dem dem empirischen Menschen Freiheit in dem Sinne 
zuschreibt, daß er das Vermögen habe, einen Zustand, 
eine Reihe von Erscheinungen aus sich selber anzu- 
fangen, und z. B. schreibt : „Wenn ich jetzt völlig frei 
und ohne den notwendig bestimmenden Einfluß der 
Naturursachen vom Stuhle aufstehe, so fangt in dieser 
Begebenheit samt deren natürlichen Folgen ins Un- 
endliche eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der 
Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer 
vorhergehenden Reihe ist; denn diese Entschließung und 
Tat liegt gar nicht in der Abfolge bloßer Naturwirkung 
und ist nicht nur bloße Fortsetzung derselben . . .", so 
hat er damit sich zu den deterministischen 
Voraussetzungen seiner Freiheitslehre iu 
Gegensatz gestellt und die Haltlosigkeit seiner 
Position gezeigt. — Noch haltloser ist der Standpunkt 
von H. Cohen, der, in Kant's Nachfolge, den Zwang der 
Umstände, unter welchem der handelnde Mensch in dieser 
Welt steht, als einen ganz lückenlosen anerkennt, aber 
trotzdem dem Menschen zumutet, sich frei zu fühlen^ 
wie ein freies Wesen zu handeln und dadurch, daß er 
alle Momente seines Lebens als nach der Idee der 
Persönlichkeit geordnete auffaßt, alles was er auch sein 
und tun mag, dazu dienen zu lassen, daß er in seiner 
Bestimmung zur Persönlichkeit, welcher Freiheit und 
Verantwortlichkeit zukommt, erhalten bleibe. Denn 
wenn der Kausalzusammenhang alle Handlungen eines. 
Menschen mit zwingender Notwendigkeit bestimmt, 
so kann man ihn nicht für sie verantwortlich machen ; 
und man mutet ihm einfach eine fortdauernde Selbst- 
täuschung, einen immer neu zu begehenden Selbst- 
betrug zu, wenn man ihm auf der einen Seite seine 



— 131 — 

vollständige Unfähigkeit, in persönlicher Freiheit sich 
selbst zu bestimmen, zum Bewußtsein bringt und 
auf der anderen Seite von ihm fordert, alle Momente 
seines Lebens als nach der Idee der Persönlichkeit 
geordnete aufzufassen und sich mit dem, was er im 
Zwang der umstände getan hat, als mit Taten seiner 
Persönlichkeit auseinanderzusetzen, die Verantwort- 
lichkeit dafür auf sich zu nehmen und seiner Ver- 
pflichtung, nach Unmöglichem, nach persönlicher Freiheit 
zu streben nachzukommen. — Herrmann, der in 
schroffem Gegensatze zu der oben zitierten Andeutung 
Kant's, daß Sinnlichkeit und Vernunft eine höhere 
Einheit haben, das Bestreben, einen gemeinsamen 
Grund des Sittlichen und der Naturwelt zu erkennen, 
für unsittlich erklärt, behauptet, ähnlich wie Cohen: 
„Wir können an der Erkenntnis festhalten, daß unser 
Leben ein Teil der Natur ist, und doch jeden Moment 
dieses Lebens so ansehen, daß er erst durch seine 
Beziehung auf die menschliche Bestimmung zur Per- 
sönlichkeit seine von uns gewollte Bedeutung empfängt." 
Können wir das wirklich ? Nein ! Wenn wir wissen, 
daß unser Leben, in dem Sinne, in dem H. es ver- 
steht, ein Teil der Natur ist, also gänzlich und in 
jedem Moment unter der Herrschaft eines lückenlosen 
und unauflöslichen Naturzusammenhangs steht, dann 
können wir, wenn wir uns nicht mit uns selber in 
Widerspruch setzen wollen, mit diesem unserem Wissen 
nicht den Gedanken vereinigen, daß wir in jedem Moment 
unseres Lebens zu freien Persönlichkeiten bestimmt sind, 
und können noch weniger damit den Willen vereinigen, 
daß jeder Moment unseres Lebens auf unsere Bestimmung 
zur Persönlichkeit bezogen werde. Übrigens betont H. 
selber auf das Nachdrücklichste, daß die von ihm als 

9* 



— 132 — 

schrankenlose behauptete Naturnotwendigkeit und die 
trotzdem von ihm im Namen der Sittlichkeit be- 
hauptete Willensfreiheit unmöglich zu einer einheit- 
lichen Lebensanschauung zusammengefaßt werden 
können, und er schreibt kurzweg : „Das sittliche Denken 
bedeutet," weil es Willensfreiheit als etwas Selbst- 
verständliches voraussetzt, „einen Verzicht auf eine 
einheitliche Weltanschauung." 

Ganz ähnlich urteilt P. Hensel „Hauptproblem der 
Ethik", und gehe ich deshalb auf seine Ausfahrungen 
etwas näher ein, weil sie für eine heutzutage beliebt 
gewordene Richtung philosophischen Denkens beson- 
ders bezeichnend sind. Auf der einen Seite gilt es 
Hensel für zweifellos, daß das Handeln des Menschen 
vom psychologisch-wissenschaftlichen Standpunkt aus 
genau so notwendig ist, wie die Bewegung der Ge- 
stirne, und die Gedanken des Kulturmenschen genau 
so kausal erklärt werden müssen wie die Instinkte 
der Spinne. Die Wirklichkeit, unter den Wertge- 
sichtspunkt der Wahrheit gerückt, müsse not- 
wendigerweise als kausal bedingt in dem Sinne ge- 
faßt werden, daß man sage: der ganze Kausalverlauf 
der Weltgeschichte hätte anders verlaufen müssen, 
wenn irgend ein Mensch an irgend einer Stelle der 
Welt anders gehandelt hätte, als er tat. Solange 
jemand die Möglichkeit einer anderen Handlung noch 
vor sich sehe, sei dies ein sicheres Zeichen dafür, daß 
er mit der wissenschaftlichen Erkenntnis des vor- 
liegenden Objekts noch nicht fertig geworden sei 
Vollends sei es durchaus unwissenschaftlich im Sinne 
der Naturerkenntnis, diese bestimmte Handlung anders 
zu wollen, als sie geschehen; die Reue sei eine gänz- 
lich unwissenschaftliche Kategorie der Beurteilung 



— 133 — 

und sei daher konsequenterweise von all den Ethikem, 
die die Ethik auf der Grundlage des Erkennens auf- 
bauen wollten, als ein psychologisches Vorurteil an- 
gesehen und verurteilt worden. Ganz anders da- 
gegen sei es, wenn ich meine Handlungen unter den 
normativen Gesichtspunkt stelle und mich frage, 
ob ein Teil der Wirklichkeit häßlich oder schön, 
heilig oder unheilig, gut oder böse sei, besonders 
dann, wenn ich meine Handlung nach der sittlichen 
Norm beurteile. Hier reflektiere ich gar nicht darauf, 
wie meine Willensimpulse entstanden seien, sondern 
lediglich, ausschließlich sei hier zu fragen, ob mein 
Wille pflichtgemäß gewesen sei oder nicht; der Wille 
sei hier nicht wissenschaftlich zu untersuchen, sondern 
so, wie er ist, als reiner Wirklichkeitsinhalt an der 
Norm der Pflichtgebote zu messen; und wenn er 
dieser Norm nicht genüge, dann seien Reue und Ge- 
wissensbisse notwendig, seien nicht bloß ein Motiv, 
das uns für die Zukunft vom Begehen derselben 
Handlung abhalten solle; sondern die Reue über ein 
unsittliches Leben bleibe als ethisches Phänomen ge- 
nau ebenso wertvoll, ob sie sich auf dem Totenbett 
vollziehe oder den Ausgangspunkt eines neuen besseren 
Lebens büde. Unter dem sittlichen Gesichtspunkte 
erscheine die ganze Vergangenheit als eine Vor- 
bereitung und Zurechtlegung von Aufgaben, die wir 
an unserem Teile zu übernehmen und fortzuführen 
haben; es sei so, wie Carlyle in seiner originellen 
Weise gesagt: „Jahrtausende sind vergangen, damit 
du geboren werden konntest, und andere Jahrtausende 
warten schweigend, was du mit diesem deinem Leben 
beginnen wirst, da es sich nun verwirklicht hat." 
Die Zwiespältigkeit dieser Anschauungen liegt 



— 134 — 

klar zutage; und sie wird dadurch nicht beseitigt, 
daß Hensel sagt, der Mechanismus der Natur müsse 
als Mittel gedacht werden für den Zweck, die sitt- 
liche Weltordnung zu verwirklichen. Denn wenn der 
empirisch gegebene, psychologisch betrachtete Mensch 
in den Mechanismus der Natur so völlig verflochten 
ist, daß seine Handlungen ebenso notwendig und un- 
abänderlich sind wie die Bewegungen der Gestirne, 
und wenn es aller wissenschaftlichen Erkenntnis zu- 
wider und vom „Wertgesichtspunkt der Wahrheit" 
aus ganz unzulässig ist, daß ein Mensch eine be- 
stimmte Handlung anders wolle als sie geschehen ist, 
und darüber, daß sie so geschehen, Reue empfinde, 
dann haben die sittlichen Urteile, die Begriffe von 
Recht und Unrecht, das Gefühl der Pflicht usw. keine 
Grundlage in der wirklichen Welt, sind wie Seifen- 
blasen, die in der Luft schweben und zerplatzen, und 
für den Menschen ist es dann ganz unmöglich, zu 
der Verwirklichung der sittlichen Weltordnung auch 
nur das Geringste beizutragen. Wenn er sich trotz- 
dem dazu verpflichtet fühlte, so wäre das nur eine 
törichte Einbildung; und darüber, daß er dieser ein- 
gebildeten Verpflichtung nicht nachgekommen, Eeue 
zu empfinden, müßte unbedingt, wie die von H. er- 
wähnten Ethiker gesagt haben, als ein psychologisches 
Vorurteil angesehen und verurteilt werden. Wenn 
H. aber schreibt: „anders sei es, wenn ich meine 
Handlungen unter den normativen Gesichtspunkt stelle 
und frage, ob sie sittlich oder unsittlich gewesen 
seien", und anders sei es, wenn ich die Wirklichkeit^ 
und dazu gehören doch auch meine Handlungen, 
„unter den Wertgesichtspunkt der Wahrheit rücke", 
so fragt jeder unbefangen denkende Leser: ist denn 



— 135 — . 

der Gesichtspunkt der Wahrheit nicht 
normativ? So zweifellos es noch andere Wertge- 
sichtspunkte gibt als den der wissenschaftlichen Wahr- 
heit, ebenso zweifellos ist dieser insofern für alle 
Menschen „normativ", als sie alle verpflichtet sind, das 
v^as sich ihnen als sicheres und feststehendes Er- 
gebnis wissenschaftlicher Forschung erwiesen hat und 
was sie deshalb als solches selber anerkennen, so 
weit zu respektieren, daß sie ihre anderweiten An- 
schauungen und Urteile nicht im unversöhnlichen 
Gegensatz dazu setzen, und daß sie, wenn ein solcher 
Gegensatz zutage tritt, dann entweder ihre ander- 
weiten Anschauungen und Urteile oder das, was sie 
für sichere und wissenschaftliche Erkenntnis gehalten 
haben, revidieren und rektifizieren. Wenn anerkannter- 
maßen unter allen Wertgesichtspunkten der sittliche 
der höchste, im vollsten Sinne des Wortes „normative" 
ist, — nun, gerade dieser fordert auf das Bestimmteste 
auch das von uns, daß wir eine Einheitlichkeit unserer 
wissenschaftlichen und unserer ethischen, ästhetischen 
und religiösen Überzeugungen mit ehrlichem Bemühen 
ernstlich erstreben. Im vorliegenden Falle aber wird 
solches Streben nur dann nicht ganz vergeblich sein, 
wenn der Lehrsatz, den Leibnitz und Spinoza, Kant 
Tind die Mehrzahl der heutigen Wissenschaftslehrer 
für einen zweifellos und ausnahmslos gültigen halten, 
auf seine Richtigkeit hin gründlich geprüft und die 
Frage aufgeworfen wird: 

Ist die Herrschaft der Naturnotwendig- 
keit wirklich eine schrankenlose? Das 
Gegenteil des Notwendigen ist das Zufällige; gibt 
es also gar nichts Zufälliges in der Welt. 
Zufällig ist für uns etwas, das auch nicht sein könnte, 



— 136 — 

oder das auch anders sein könnte, als es ist; nnci 
wenn wir ein Ding zufallig nennen, pflegen wir da- 
durch zu erkennen zu geben, daß wir nicht wissen^ 
warum es ist und warum es so ist, wie es ist, nicht 
wissen, ob es der Willkür eines Subjekts oder dem 
ungeordneten Zusammentreffen von Vorkommnissen 
und Erscheinungen in der Natur oder beidem seine 
Entstehung und die Art seines Geschehens und seiner 
Gestaltung verdankt. Wir suchen aber auch für das 
Zufällige einen zureichenden Grund seines Daseins 
und seines Soseins ; und wenn wir einen solchen nicht 
zu finden vermögen, erinnern wir uns mit Recht 
daran, daß dem menschlichen Erkennen unüberschreit- 
bare Grenzen gesetzt sind und daß daher vieles 
zeitweilig, vieles für immer uns verschlossen und un- 
aufgeklärt bleibt Aber hat deshalb der Determinismus 
das Recht zu sagen: nur die Begrenztheit 
unseres Erkenntnisvermögens sei die Ur- 
sache davon, daß uns vieles als zufällig er- 
scheint? Er sagt das, und er behauptet, in Wirk- 
lichkeit gebe es nur Notwendiges, nichts Zufälliges, 
in der ganzen Welt gebe es nichts, zu dessen Ent- 
stehung und Erhaltung nicht ein genügender Grund 
vorhanden sei ; und wenn wir Menschen diesen Grund 
oft nicht zu finden vermögen, er sei doch da. Wenn 
es aber eine höchste Intelligenz in der Welt gebe, so 
durchschaue sie den ganzen Verlauf der Welt als einen 
aus dem einheitlichen Grunde der Welt mit Not- 
wendigkeit hervorgehenden. Liebmann („Analysis 
der Wirklichkeit") glaubt, die Weltformel gefunden 
zu haben, aus der das ganze Weltgeschehen als ein 
notwendiges ableitbar ist; er denkt sich eine Welt- 
intelligenz, für die die Zeit fortfällt und das Uni- 



— 137 — 

versum „als logisch gegliederte Totalität offen zutage 
liegt". Dies ist offenbar nach Analogie des Laplace- 
schen Weltgeistes bei Du Bois-Eeymund gedacht, 
dem, indem er die richtige Weltformel setzt, „der 
rätselhafte Urzustand der Dinge" sich enthüllt. Wenn 
es dem Menschengeiste, trotzdem ihm in mancher Be- 
ziehung enge Schranken gezogen sind, durch die 
Astronomie gelungen ist, längst vergangene, weit 
rückwärts liegende Vorgänge in der Natur und ebenso 
noch nicht geschehene, erst nach Verlauf größerer oder 
kleinerer Zeiträume zu erwartende Naturereignisse ge- 
nau berechnen zu können, so kann der Weltgeist 
sicherlich, sagt man uns, das ganze Weltge- 
schehen rückwärts und vorwärts in allen 
seinen Einzelheiten überschauen und mit untrüg- 
licher Sicherheit erkennen. Daß bei dieser Annahme, 
weil sie ein unfehlbares Vorherwissen alles Geschehens 
in sich schließt, eine menschliche Willkür, die bald 
so, bald anders sich entscheidet und bestimmt, völlig 
undenkbar ist, kann nicht zweifelhaft sein. Dasselbe 
aber ist da der Fall, wo die Allwissenheit Gottes von 
den Theologen so definiert wird, daß das göttliche 
Wissen um die zukünftigen Handlungen als ein wirk- 
liches Vorherwissen derselben in unbeschränkter Voll- 
ständigkeit gedacht werden muß; denn so gewiß 
Gott nicht irren kann in seinem Vorherwissen, ebenso 
gewiß ist es undenkbar, daß die Menschen anders 
handeln können, als er in seiner Allwissenheit sie 
schon längst hat handeln sehen. Gegen diese ganze 
Anschauung erheben sich indes die größten Be- 
denken. 

Zunächst ist es falsch, wenn ohne weiteres vor- 
ausgesetzt wird, daß alles, wofür ein zureichender 



— 138 — 

Grund vorhanden ist, deshalb notwendig sei, und daß 
etwas, wovon wir einen zureichenden Grund seines 
Entstehens und Geschehens gefunden haben, alsbald 
aufhöre, zufällig zu sein. Das Gesetz vom zureichen- 
den Grunde ist ja nur ein Denkgesetz unseres Intellekts, 
und ob diesem Denkgesetz das tatsächliche Welt- 
geschehen vollständig entspreche, ganz konform sei, 
ist eine Frage, die mit Sicherheit zu beantworten uns 
Menschen nicht möglich ist. Wenn aber die Er- 
klärungsgründe für eine Erscheinung zureichende sind, 
so folgt daraus noch nicht, daß die betreffende Er- 
scheinung nicht auch anders auftreten, anders sich 
gestalten konnte. Nicht ganz richtig ist, was E. Zeller 
(a. a. 0.) schreibt, das menschliche Denken, das auch 
in dem Zufälligen den Faden der Notwendigkeit zu 
verfolgen und es aus seinen allgemeinen Gründen ab- 
zuleiten suche, werde da, wo die Möglichkeit einer 
solchen Ableitung aufhöre, merken, daß das einzelne 
als solches eine zufällige Seite der Erscheinung und 
nicht Objekt des Denkens, sondern der Beobachtung, 
der Erfahrung zu überlassen sei. Denn zunächst ist 
zu erinnern, daß auch das, was der Beobachtung und 
Erfahrung überlassen worden ist, deshalb keineswegs 
aufhört, ein Objekt des Denkens zu sein, — sodann, wo 
das Denken zureichende Gründe für eine Erscheinung 
und ein Geschehen gefunden hat, sind diese Gründe 
ebennur zureichende, aber nicht zwingende, 
zureichend, um die Möglichkeit und Wirklichkeit eines 
Dinges begreiflich zu machen, aber nicht zureichend, 
um seine Notwendigkeit zu beweisen. Wenn auch in 
der Regel das Zufällige zugleich dasjenige ist, 
dessen Erscheinen und Bestehen sich nicht genügend 
erklären läßt, dies ist nicht immer der Fall. Ins- 



- 139 — 

besondere aber betreff der menschlichen HandluDgen 
wäre es vollständig falsch, daraus, daß ich dieselben 
genügend zu erklären vermag, die Folgerung zu ziehen, 
daß sie nicht freie, sondern notwendige seien. 

Was sodann das Vorherwissen des Weltgeschehens 
betrifft, so hat R. Eothe zur Verteidigung des In- 
determinismus mit vollem Eechte geltend gemacht, das 
göttliche Vorherwissen sei nicht als eine Anschauung 
der konkreten Wirklichkeit der Weltentwicklung in 
der ganzen Fülle ihres Details zu denken ; und wenn 
er hinzufügt, dasselbe sei als die Anschauung der 
abstrakten Formel für den Verlauf der Entwicklung 
der Welt aufzufassen, so liegt darin jedenfalls etwas 
Wahres. Völlig zutreffende Aussagen hierüber zu 
machen, ist, da die Gottheit für unser Denken unfaß- 
bar und unergründlich ist und bleibt, ganz unmöglich; 
etwas annähernd Richtiges scheint mir aber unter 
anderen auch Wobberrain (a. a. 0.) zum Ausdruck zu 
bringen, wenn er schreibt, die Allwissenheit Gottes 
bestehe darin, daß Gott ein Wissen habe von allem, 
was seine Zweckabsichten irgendwie berührt. Wenn 
dagegen Zeller einwendet, daß dadurch die Idee des 
Absoluten aufgehoben werde, daß nach Rothe Gott 
gleichsam nur das logische Gerippe der Weltgeschichte 
vorhersehe und daß R. betreff des konkreten Details 
der Weltgeschichte Gott ein von dem Weltverlauf 
abhängiges, bloß empirisches Wissen zuschreibe, was 
mit der ünveränderlichkeit und Unabhängigkeit des 
göttlichen Wesens unvereinbar sei, so ist folgendes 
zur Erwägung zu geben. 

Daraus, daß das Wesen Gottes von der Welt un- 
abhängig ist, folgt nicht, daß Gott dem Weltleben 
und der Weltentwicklung gar keine Selbständigkeit 



— 140 - 

und Selbsttätigkeit vergönnt und gewährt habe und 
daß das, was einem mit unbeschränkter Unabhängig- 
keit und Machtvollkommenheit regierenden weltlichen 
Gebieter möglich ist, seinen Untertanen gewisse Frei- 
heiten einzuräumen, dem Herrn aller Herrn, dem Ge- 
bieter des Universums unmöglich gewesen sei und 
unmöglich bleibe; denn mit solcher Folgerung würde 
Gott unter das Niveau eines menschlichen, planmäßige 
handelnden Machthabers hinabgedrückt auf das Niveau 
der bewußtlos und planlos wirkenden Naturgewalten, 
denen es unmöglich ist, sich und ihrer Wirksamkeit 
Schranken zu setzen. Ebenso folgt daraus, daß Gotte» 
Wesen unveränderlich, unwandelbar das selbige ist,, 
keineswegs, daß Gott aus dem zeitlichen Verlauf des 
wandelbaren und wechselvollen Weltlebens nichts in 
sich aufnehmen, in diesen Verlauf niemals eintreten, 
an seiner Entwicklung gar nicht teilnehmen und diese 
Entwicklung nicht in seinem Bewußtsein sich gleich- 
sam abspiegeln lassen könne. Insbesondere ist hier 
vor den großen Gefahren zu warnen, die es 
mit sich bringt, wenn man die Idee des Abso- 
luten auf Gott überträgt. Was an dieser Über- 
tragung berechtigt ist, nämlich das Bestreben, alles 
Endliche und Beschränkte von Gott fernzuhalten, 
leistet schon der dem religiösen Gefühl unmittelbar 
naheliegende Gedanke, daß Gottes Wesen und Gottes 
Eigenschaften alle den Charakter des Unendlichen 
in sich tragen. Wenn man aber, von der Idee des Abso- 
luten ausgehend, nicht nur die Allwissenheit, sondern 
auch die Allmacht Gottes für absolut erklärt, so fuhrt 
das zu Konsequenzen, die für das religiöse wie das sitt- 
liche Interesse höchst bedenkliche sind. (Vgl. hiezu meine 
S. 95 zitierte Schrift, S. 50—58.) In diesem Sinne be- 



— 141 — 

haupten Schleiermacher u. a., daß Gott nicht nur alles 
könne, was er wolle, oder was seinen Gedanken und 
Plänen entspreche und diene, sondern auch alles wolle 
und wirke, was er könne, daß also zwischen Können 
nnd Wollen Gottes gar kein Unterschied bestehe und 
deshalb nicht nur alles, was da ist, seine Ursächlich- 
keit in Gott habe, sondern daß alles wirklich werde 
und geschehe, wozu es eine Ursächlichkeit in Gott gebe. 
Wäre dem so, dann könnte irgend eine menschliche 
Selbständigkeit und Selbsttätigkeit nicht statthaben; 
und es ist für den, der diese Auffassung der Absolut- 
heit Gottes teilt, ganz folgerichtig, wenn er mit 
Augustinus zur Prädestinationslehre fortschreitet, nach 
der alle Menscheu, die einen zur Seligkeit, die anderen 
zur Unseligkeit von Gott vorherbestimmt sind. Luther 
hat im Kampfe gegen die mittelalterlich katholische 
Lehre von der Verdienstlichkeit der guten Werke, 
durch die der Mensch die Seligkeit sich selbst er- 
werben solle, sich zur Prädestinationslehi-e lebenslang 
bekannt, in dem doppelten Bestreben, einerseits für 
die Errettung und Beseligung der Menschen Gott 
allein die Ehre zu geben, andererseits das Heil des 
gläubigen Christen von menschlichem Tun und Lassen 
unabhängig zu machen und dadurch unbedingt sicher- 
zustellen. Aber in sehr vielen Stellen seiner Schriften 
hat er in mannigfaltiger Verschiedenheit, aber doch 
ganz unzweideutig anerkannt, daß der Mensch, wenn 
seine Beseligung zustande kommen solle, selber dazu 
mitwirken und eine Ausschlag gebendeSelbstbestimmung 
.dabei üben müsse; nachdrücklich ermahnt er: du 
mußt „selber auf der Schanze stehen" ! „Du mußt es 
bei dir selbst beschließen; es gilt dein Leben!" Auch 
haben die Bekenntnisschriften der von ihm gegründeten 



— 142 ^ 

Kirch« mit Melanchthon, wenn auch nicht ganz ohne 
Selbstwidersprüche, zu der Anschauung sich bekannt,, 
daß nicht ausschließlich und allein Gott die Ursache 
davon sei, daß ein Mensch selig, der andere unselige 
werde, sondern auch im Menschen selber dfer Grund 
davon liege, weil jeder unter uns die beseligende 
Gnade Gottes auf sich wirken lassen oder sich gegen 
sie verschließen könne, wodurch die Wahlfreiheit des 
menschlichen Subjekts tatsächlich zugegeben wird. 
Dagegen hat Schleiermacher seine Lehre, daß alle 
Menschen zu mehr oder weniger, größerer oder ge- 
ringerer Seligkeit von Gott vorher bestimmt seien,, 
dahin verschärft, daß er geradezu erklärt, es sei sinn- 
los zu fragen, warum auf der Stufenleiter des geistigen^ 
also auch des sittlichen Lebens dieser Mensch diese 
Stelle, jener Mensch jene Stelle einnehme; denn wenn 
es umgekehrt wäre, so würde eben dieser jener, und 
jener dieser sein, und die Unterschiede der sittlichen 
Beschaffenheit seien an und für sich notwendig. Auf 
diesem Wege aber kommt man schließlich dahin, nicht 
nur Gott zu einer bloßen Naturgewalt herabzusetzen,, 
sondern auch das Sittliche, dessen Wesen und einzig- 
artiger Wert gerade darin besteht, aus der innersten 
Gesinnung des Menschen und der freien Selbstbetäti- 
gung seines Geistes hervorzugehen, zu einem bloßen. 
Naturprodukt zu machen, das ohne eigene Tätigkeit 
des Menschengeistes, ja vor der Existenz des Menschen^^ 
unabänderlich festgestellt worden ist. Und ist man 
damit nicht unrettbar dem Fatalismus ver- 
fallen, der den Menschen zum haltlosen und willen- 
losen Spielball dunkler Schicksalsmächte herabsetzt? 
Wenn Paulsen („Einleitung in die Philosophie"} 
schreibt, keine Allmacht könne ihren Geschöpfea 



— 143 — 

Selbständigkeit sich selber gegenüber geben, sie müßte 
denn ihren Geschöpfen die Unerschaffenheit geben 
können, so ist das, — davon zn schweigen, daß eine 
unbeschränkte Selbständigkeit der Geschöpfe Gott 
gegenüber überhaupt nicht in Frage kommt — , eine 
jener mohammedanischen Lebensanschauung nahe ver- 
wandte Meinung, nach der die Menschen dem Schick- 
sal, Allah gegenüber nur scheinbar einen Rest von 
eigenem Wollen und eigener Aktionsfähigkeit besitzen, 
in Wahrheit aber zum Kismet, zu blinder Unter- 
werfung unter die Schicksalsfügungen im kleinen wie 
im großen genötigt sind. Die christliche Lebensan- 
schauung dagegen hat, trotz aller deterministischen 
Strömungen, die auf sie zeitweilig einwirkten, imma:» 
wieder darauf als auf eine ihrer Grundvoraussetzungen 
sich besonnen, daß der Mensch durch seinen Schöpfer 
selber diesem gegenüber ein gewisses Maß von Selb- 
ständigkeit empfangen habe ; insbesondere hat sie sich 
immer wieder gesagt, daß, wenn alles notwendig, alles 
vorher bestimmt ist, dann auch alles Böse, alles Un- 
sittliche, selbst das scheußlichste Verbrechen und das* 
schmutzigste Laster, vorherbestimmt, notwendig sei. 
Wenn das Absolute in dem oben bezeichneten Sinne 
gefaßt wird, dann steht alle menschliche Tätigkeit so 
vollständig unter den unmittelbaren und unwidersteh- 
lichen Einwirkungen der allmächtigen Gotteskraft, 
daß mit diesen Einwirkungen die menschliche Tätig- 
keit tatsächlich aufhört, nur scheinbar noch eine 
menschliche, in Wirklichkeit eine göttliche ist; und 
demnach wären auch alle bösen Taten eine 
Folge und zwar eine unmittelbare Folge gött- 
licher Einwirkung. Es ist eine Verlegenheits- 
ausrede, wenn man gesagt hat, Gott wirke bei bösen 



— 144 — 

Handlungen nur mit in dem Materiellen, nicht in der 
Form der Handlung. Denn wenn die wirksame Kraft 
und ihre Tätigkeit das Materielle, die Richtung dieser 
Kraft die Form der Handlung ist und die wirksame 
Kraft und ihre Tätigkeit gänzlich unter dem un- 
mittelbaren und unwiderstehlichen göttlichen Einfluß 
steht, so ist auch die Richtung dieser Kraft und die 
Art ihrer Betätigung von demselben Einfluß bestimmt. 
Ob die Richtung einer Handlung als die bloße Form 
derselben bezeichnet werden darf, schon das ist zweifel- 
haft. Jedenfalls aber ist, wie Zeller (a. a. 0.) richtig 
bemerkt, diejenige Tätigkeit, durch welche diese Rich- 
tung bewirkt worden ist, auch eine Kraftäußerung, 
die ohne die Mitwirkung Gottes nicht zustande kommen 
kann. Es bleibt also dem Determinismus nichts übrig, 
als Gott selber die Verursachung des Bösen zuzu- 
schreiben ; und nur aus Gründen, die im menschlichen 
Gemüte und seiner Ehrfurcht vor Gott ihren Ursprung 
haben, setzt man an die Stelle Gottes das Fatum, in 
dessen blindlings verhängte Notwendigkeiten man 
blindlings sich ergibt. 

Freilich weist der moderne Determinismus diesen 
Fatalismus energisch zurück. Laas („Kausalität des 
Ich"), ein positivistischer Determinist, sucht ihm da- 
durch zu entgehen, daß er das Ich mit einer Fülle 
von Aktionskräften ausstattet, durch die es „sein 
eigener Herr" wird, „den fatalistischen Ring des Ge- 
schehens durchbricht", bei konträren Winden „lavieren" 
und „dem Weltbild, auf wenn, auch noch so kleinem 
Raum, auf wenn auch noch so kleine Zeit den Stempel 
.seiner . . . Individualität aufdrücken", ja „sich vom 
-Mutterboden der Natur loslösen" und eine „selb- 
ständige numerische Einheit, eine Substanz" werden 



— 145 — 

IcanD. Laas bekämpft üb Meiimng,. als »ei der Mensch 
mir em Kanal, durch den das Fatam sich ergieüt^ 
und er will anerkannt wissen^ daß ein Ich eidstiert, 
das „neben, und über d^n: Nieht-Ich^ oft wider das- 
selbe*^ „als selbsteigener Täter in dem nnendtichen 
Eaosalnexus! der Ding^ sich geltend maeht^^ Also 
Laas, um nichtFatalist znrwerden, bekennt 
sich zur Willensfreiheit des lieh. Wandt, der 
als entachiedener Determinist schön das, daß die 
Frage nach der Wülensfreibeit überhaupt aufgeworfen: 
wird, für eine verkehrte FragesteUung» erklärt hat^ 
schreibt trotzdem („Logik"): „So bildet das mensch- 
liche Bewußtsein im Naturlauf einen Knot^punkt^ 
in welchem die Welt sich auf ück selbst besinnt'* 
Liebmanr („IndiTidueller Beweis") erklärt, daß das 
sonst in jedem Äugenblick determinierte Ich „Einheit 
des Bewußtseins" habe, der es Grundsätze Air sein 
Handeln entnehme, Grundsätze, vermöge deren es 
sednen Charakter völlig umändern, ja sogar „exstir- 
pieren*^ könne. — Nur durch mehi' oder weniger g^oße 
Inkonsequenzen und Selbstwidersprüche könn^ die 
Deterministen dem Fatalismus zu entrinnen sich be- 
mühen; und sie haben deshalb so dringende Veran- 
lassung zu diesem Bemühen, weil die Eonsequenz 
ihres Systems sie dahin fuhren müßte, auch die uur 
ättlicfasten Begebmngem, Lüste und Leideirachaften 
des Menschen für notwendige,, für unabweisbare und 
UBbe»egbare zu erklären^ denen er keinen Widerstand 
zu leisten vermöge. 

Aber die ganze Position des Detenninisnni& ist 
eine unhaltbara AUmlings wird schwerlich Jemand 
leugnen^, daß die Notwendigkeit mit ihrem unwider- 
stehlichen Zwange in dem unabsehbar großen Ganzen 

Oraue, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. 10 



— 146 — 

der Welt eine mächtige Herrschaft ausübt und daß 
namentlich die rein mechanischen Bewegungen der 
Weltkörper im Himmelsraum und die Ergebnisse 
dieser Bewegungen mit unfehlbarer Sicherheit be- 
rechnet und konstatiert werden können; denn ob die 
Abweichungen, die ein namhafter Astronom der Neu- 
zeit an diesen Bewegungen beobachtet zu haben meint^ 
wirklich stattgeftinden haben bzw. noch stattfinden, 
ist in der astronomischen Wissenschaft eine bis jetzt 
nicht entschiedene Streitfrage. Aber darum ist es 
noch lange nicht über allem Zweifel erhaben, daß auch, 
in allen Teilen des Weltganzen, ja daß auch nur 
in einem Forschungsgebiet der Naturwissenschaft es 
möglich ist, alle darin auftretenden Erscheinungen als 
notwendige mit Sicherheit zu berechnen und vorauszu- 
bestimmen. Mögen manche Naturforscher so fest von 
dem allmächtigen Walten der alles beherrschendem 
und alles bezwingenden Naturnotwendigkeit überzeugt 
sein, daß sie, wie E. Häckel einmal schreibt, das 
Gegenteil sich gar nicht mehr vorstellen können, 
andere werden fragen, ob nicht selbst da, wo eine 
rein mechanische Kausalität stattfindet, wo alles un- 
abänderlich vorgezeichnet zu sein scheint, so daß auch 
das Eingreifen einer Sphäre der Natur in eine andere 
innerhalb des unzerreißbaren Zusammenhanges des 
Naturganzen und gemäß den in diesem Zusammenhangs 
bestehenden unumstößlichen Ordnungen stattfinden 
muß, dennoch kleine Abweichungen vorhanden seien, 
Abweichungen, die deshalb, weil sie kleine und 
unwesentliche sind, auch nicht alle in derselben Eich- 
tung stattfinden, sondern in vielen verschiedenen, also 
auch entgegengesetzten Kichtungen, einander ab- 
schwächen und deshalb den gesetzmäJSigen Verlauf 



— 147 — 

des Ganzen so gut wie gar nicht alterieren, die aber, 
wenn sie da seien, als solche da seien, die auch 
anders sein könnten, als zufällige. Noch viel mehr 
ist diese Frage berechtigt in der organischen Natur, 
die nicht bloß durch äußere mechanische Wirkungen, 
sondern auch von innen heraus durch den ihr eigenen 
Bildungstrieb sich gestaltet, der sich zwar anfönglich 
fremden Einflüssen gegenüber meistens passiv verhält 
und sehr bildsam zeigt, allmählich aber immer wider- 
standskräftiger und immer befähigter zu schöpferischem 
Wirken wird; und die Naturwissenschaft hat bei der 
von ihr selber zugestandenen Begrenztheit ihres Er- 
kennens keinerlei Recht, die Möglichkeit zu bestreiten, 
daß die Selbständigkeit des organischen Bild ungstriebes 
manchmal willkürlich wirken und Abweichungen von 
dem gesetzmäßigen Naturverlauf hervorrufen kann. 
Jedenfalls ist nicht alles im strengen Sinne des Wortes 
notwendig; denn in diesem Sinne ist nur das not- 
wendig, dessen Gegenteil undenkbar ist; und 
das ist meistens nicht der Fall. Im Gegenteil 
steht alles Sein und alles Geschehen in der Welt in 
unzählig vielen und verschiedenen Beziehungen, 
und diese Beziehungen wechseln unzählige Male 
und verändern sich ganz wesentlich, so daß von dem, 
was ist und geschieht, unzählige Male das Gegenteil 
sein und geschehen kann. Man beruft sich hiegegen 
auf die Naturgesetze, die ihrem Begriff nach un- 
bedingte allgemeine Geltung haben. Aber man er- 
innere sich doch, daß vom „Gesetz", streng genommen, 
nur auf dem Gebiete des Willens die Rede sein kann, 
daß also auf dem Gebiete der Natur, die einen 
Wille» im wahren Sinne des Wortes nicht hat, von 
,;Öeset2" nur in bildlichem Sinne geredet 

10* 



^ 148 ^ 

werdcB daif (vgl. meii^e Schrift „Die scdH^tsMudie^ 
Stellung d. SHtliebkeit 2i Beligim''). WeBnai^i^cb} 
richtig s^gt, das Naturgesetz $ei nur der Erk^aiit- 
nisgruQö für die zii$aiaineBh|^Bgeiide X)eiitiiB|^ de9 
eii^zelnen Yort^omiidiiisses , md dieses $ei i\ur in- 
soferB erkannt; als es aich m den geäiet9i9A&ige& 
Ziisammenba^g einfügen lasse« so ist biiizRis^i^efiL^ 
daß tatsäcUich oft nur iu recht b^scbrduktem Ma^e 
die Einfaguug eines Vorkommnisses in den gesetz- 
mäßigen Zusammenhaog möglich i&t^ ub4 daJi jed^ih 
falls viel Wahres ist an dem Worte B. v. Hartiiani^'s: 
„Alle sog. Naturgesetze beruhen auf den äußersten 
Abstraktionen von der Wirklichk^t d. h. auf so ein- 
fachen Voraussetzungen, wie sie in der WirkliclUi^eit 
nie gegeben sind." Ähnlich, zwar mit wenig glück- 
licher Ausdrucksweise, aber richtig urteilt Baumaim 
(a. a. 0.) von den Naturgesetzen: „Alle Gesetze sind 
doch auf Grund regelmäßiger Erfahrungen erdacht 
als eine Annahme darüber, warum solche Begelmäßiig- 
keit sich finde, daß sie eine hesoiudere Ursache habe, 
die unter ähnlichen Bedingungen ähnliche Folgen 
bieten werde." Boutroux (Vorlesungen von 18921) 
erklärt ausdrücklich, die ErfahruUig stelle Grenzen 
der Naturgesetze, Ausnahmen fest, es gehe njeue Er- 
scheinungen in der Welt, bei dene« eine Art Sehöpfung 
stattfinde, weil in der Wirkung mehr s^ als ini der 
Ursache, und vß^n müsse zugehe«,» daß nirgends in 
der kojQikreten und realen Welt das Kai^salitätspräizip 
sich streng anwenden lasse. Nach aUedem i$t es 
nicht zu verwundere, weuA Vorkoop^mdos^^ stottfinde«^ 
die von der naturgesetzlichen Segelmäßigkeit pehr 
oder minder abweichen un4 in manche« Be^h^^en 
den Charakter des Zufölligen an sich tragen., in 



^ 149 — 

»ettester Zeit M% Ostwald, der Vertreter der Energetik 
ift d^ NatUrwissenscbaft, sich übfer das hier Vor^ 
hege&d« Problem in seinen „Annaleii'' dahin geäufierl, 
däS %r den Zufall ohne weiteres als eine t'atsachie 
to^rkennt und dazu feemerkt, dersdbe sei xeitliehieis 
UM ^rllieh%« Znsammentreffen unabhILngiger Eaüsal- 
Mhen. Derselbe ,jM o n i s m a s", der in seiner ttnhall- 
baren r^in mechanischen Auffassung des ganzen Welt- 
alls die Natttrnotwendigkeit alles Geschehens 
behauptet, operiert ganz unbefangen, als 
stimme das mit dieser Behauptung auf das schönste 
iiusammen, mit dem Begriff des Zufalls und 
läßt die Welt durch ein zufälliges Zusammentreffen 
und Zusammenspiel dei" unzähligen Atome entstanden 
sein; E. Häckd aber versichert uns außerdem, der 
ZnML spide im Leben des Menschen wie in jedem 
anderen Naturkörper „die größte Rolle". Wenn F. 
A. Lange („Geschichte des Materialismus") fragt, 
woher es geschehen sei, daß die Uranfänge der Welt, 
die ütatome nicht in einem Chaos oder ewiger Starr- 
heit geblieben seien, sondern allmählich zu der in der 
jetzigen Welt sich zeigenden Ordnung, Zweckmäßigkeit 
und Schönheit gelangt seien, und wenn er zu der An- 
nahme gfeneigt ist, daß diese Uranfänge von einer über- 
sinnlichen Macht nach einer Art von „Weltplan" an- 
gelegt und durch diese Anläge mit innerer Notwendig- 
keit in eine bestimmte Eichtung der Bewegung und 
Wirksamkeit getrieben worden seien, so will er, wie 
es scheint, das Zufällige ebenso Wie das Notwendige 
bei der Weltentwicklung mitwirken lassen; denn er 
setzt voraus, daß eine ganze Menge „mißlungener 
Proben" vorangegangen sind, ehe das zustande kom- 
men konnte, was in der gegenwärtigen Welt vorliegt. — 



— 150 — ' 

Sind aber nicht alle die ungeordneten und unbe- 
rechenbaren Vorkommnisse, alle die Unregelmäßig- 
keiten, Abnormitäten, krankhaften Verbildungen und 
Rückbildungen in der Natur ein Anzeichen davon, 
daß heute noch ein zufälliges Wirken von Natur- 
kräften stattfindet? und wird nicht in der Menschen- 
welt der Zufall einen noch weit größeren Spielraum 
haben als in der Natur, einen Spielraum, innerhalb 
dessen die menschliche Willensfreiheit sich oftmals 
willkürlich betätigen kann? 

Man hat hier eingewendet, wenn der Mensch will- 
kürlich handele, also auch in das Naturleben 
willkürlich eingreifen könne, werde dadurch 
aller Naturzusammenhang zerrissen, gleichsam durch- 
löchert und jede sichere Erkenntnis der Natur un- 
möglich. Theologische Verteidiger der Willensfreiheit 
haben, um diesen Einwand zu entkräften, ein unaus- 
gesetztes Eingreifen göttlicher Vorsehung behauptet, 
durch das jenes Durchlöchern wieder gut gemacht und 
der regelmäßige Naturlauf wieder hergestellt werde; 
als ob nicht durch solches Eingreifen eines verborgenen, 
der menschlichen Beobachtung unzugänglichen, deshalb 
unberechenbaren göttlichen Wirkens der gesetzmäßige 
Verlauf der Natur erst recht zweifelhaft und eine 
sichere Naturerkenntnis erst recht unmöglich gemacht 
würde. Allein wie oft auch des Menschen Willkür 
höchst unzweckmäßig in die Natur eingreift, sie miß- 
braucht und mißhandelt, quält und verheert, er kann 
die in der Natur bestehenden Ordnungen 
nicht umstoßen und die Naturkräfte ebenso- 
wenig vernichten, wie er sie hervor- 
bringen kann. Andererseits hat es von jeher ein 
wohltätig wirkendes, die Entwicklung des Naturlebens 



— 151 — 

förderndes Eingreifen des Menschen in die Natur ge- 
gegeben, durch das Harmonie, Schönheit und Zweck- 
mäßigkeit in ihr wesentlich vermehrt ist. Außerdem 
bleibt selbst die willkürlichste und törichste Ver- 
geudung ihrer Lebenskräfte und die gewaltsamste 
Verwüstung ihres samen- und fruchttragenden Nähr- 
bodens nicht ohne eine heilende Gegenwirkung aus 
dem unerschöpflich reichen und lebensvollen Mutter- 
schoße der Natur. Will aber der Mensch ihre Lebens- 
und Kraftfülle sich wirklich dienstbar machen, zu 
seiner Lebensförderung ausnützen und mit ihrer Hilfe 
etwas Eechtes schaifen, muß er ihre geheimsten Ord- 
nungen, ihre verborgensten Lebensgänge belauschen 
und erforschen, um dann mit seiner Arbeit in diese 
Ordnungen sich einzufügen und auf diesen Gängen 
ihr zu folgen zu suchen. 

Ist es aber nicht ebenso mit dem oft willkür- 
lichen Eingreifen des Menschen in die sozialen 
Lebensverhältnisse? Setzen ihm nicht auch 
diese einen oft nur passiven, aber mächtigen Wider- 
stand entgegen ? Muß er nicht, um dauernde Erfolge 
im sozialen Leben zu erreichen, an die Gesetze des- 
selben bzw. an seine Sitten und Bräuche, oft mit 
innerem Widerstreben, sich anpassen? Wird nicht 
sein rücksichtslosestes und willkürlichstes Vorgehen 
teils durch die still und unscheinbar, aber unaufhaltsam 
wirkende Gewalt der geschichtlich überlieferten Lebens- 
mächte mehr oder minder betreff seiner schädlichen 
Folgen abgeschwächt, teils durch ebenso willkürliches 
und rücksichtsloses Auftreten anderer Menschen ge- 
hemmt und gelähmt? Ja; aber damit ist diese Frage 
nicht erledigt und deshalb weiterhin noch näher zu 
erörtern. 



— 132 — 

Nicht allein in d«r Matur und in den sozialeii Ver^ 
Mltmssen seiaer Umgebnng hat der Meniäck ane 
Sehranke seiner Freiheit^ scmdern ganz be- 
sonders in seinem Charakter, injieinem Temperar 
ment, in seinen teils erworbenen, teils ererbten and 
nberkoanmenen Anlagen, Neigungen, öewohiilieiten and 
LiebhabCTBien {\g[. &. 31). Wie viel Wahres liegt in 
den Worten Gk>etbe's: „Neigung besiegen ist sch-wer, 
gesellet sich aber Gewohnheit wurzelnd aDmalig daizn, 
unüberwindlich ist sie.'^ Die Menschen stehen ihrer 
groiien Mehrzahl nach in der Gefahr, zu blofien Erzeug- 
nissen ihrer von anderen ererbten und durch gute oder 
schiechte Erziehung entwickelten Anlagen und Cäia- 
raktereigentunüichkeiten, (dand>en auch ihrer änßeren, 
sie innerlich beeinflussenden LebensverhättnisseX zu 
werden und dadurch ihre Willensfreiheit und die Mög- 
lichkeit zu verlieren, daß sie, wovon writerhin noch zu 
reden ist, ihre sittliche Bestimmung er&llen und ^tt- 
liche Charaktere werden, die nach festen Grundsätzen 
-sich selber bestimmen, sich selber ein Gesetz sind. Gänz- 
lich iirig ist die Meinung, der Mensch könne sein» 
natürlichen, angeborenen Charakter wiUkfirlidh bald 
so, bald anders gestalten und formen oder w(M gir 
ganz „exstirpieren". Wenn die Willensfreiheit darin 
bestände, dann hätten die stets neu auftretenden An« 
kläger derselben recht, die da sagen, daS, wenn wirk- 
liche Willensfreiheit (imJSinne der schrankenlosen WiU- 
kär) bestände, dann gar keiine Erziehung des Mensdien 
miglic^ sei, man überhaupt mit dem Mense<hen nichts 
erreichen, ihm kein Vertrauen schenken könnte und 
jede Hoffnung auf eine bessesre Zukunft des mensch- 
lichen Geschlechts hinfeUig sdin wurde. RieM („Kri- 
tizismus") sagt völlig richtig, die Kunst der Erzielamg 



— 153 — 

mSßte immer erfolglos bleiben, wenn der Mensch von 
nichts als von sich selber abhängig wäre; und ähn- 
lich urteilt Beneke („System der praktischen Philo- 
sophie"), bei einer solchen Willensfreiheit könne 
Freundschaft, Vertrauen u. dgl. keinen Bestand haben. 
Nein, der Mensch muß seinem Charakter ge- 
mäß handeln; das ist notwendig, wenn er nicht ein 
zusammenhangsloses, der Willkür seiner wechselnden 
Triebe preisgegebenes, unberechenbares und gemein- 
gefährliches Wesen Werden soll, das man, wie E. v. 
Hartmann riditig bemerkt hat, ebenso wie heutzutage 
die Irrsinnigen durdi Einq)errung und Bewachung 
unschädlich machen muß. 

Andrerseits ist es nicht so, wie Schopenhauer 
meint, der den Charakter starr und unveränderlich 
nennt und u. a. schreibt: „so wenig man Blei in Gold 
verwandeln kann, so wenig den Charakter." Vielmehr 
trägt der Mensch selber zur Entwicklung 
und Bildung seines Charakters etwas bei. 
Oftmals vermag er nur wenig Einfluß darauf zu tlben, 
und das namentlich in seinen ersten Einderjahren; 
aber seine Selbsttätigkeit pflegt bei leidlich gesunder 
Entwicklung immer reger und einflußreicher zu werden, 
namentlich dann, wenn die Erziehung den Zögling zur 
Selbständigkeit anzuleiten bemüht ist. Je öfter ein 
Menschenkind in freier Entscheidung zwischen ent- 
gegengesetzten Anreizungen und Motiven die Wahl 
trifft, desto mehr erstarkt die Willenskraft des Ich, 
vorausgesetzt, daß die getroffene Wahl eine richtige, 
vernünftige ist und für die edleren Motive sich ent- 
scheidet; denn im umgekehrten Falle wird der Mensch, 
je öfter er für unvernünftige und unedle Antriebe sich 
entscheidet, desto mehr von seinen niederen Trieben 



— 154 - 

und unwürdigen Beweggründen beherrscht. Wenn 
Dunkmann (a. a. 0.) schreibt: „Der Charakter . . . 
gleicht dem Filter, durch welches das Motiv hindurch 
muß. Unedle Motive werden vom edlen Charakter 
nicht durchgelassen, edle nicht vom unedlen", so ist 
das ein treffendes Gleichnis. Aber wenn er dann 
fragt: „Wie denn nun? gibt es vielleicht irgendwo 
doch ein Prinzip, welches den Charakter in der Ge- 
walt hat?" so ist die Fragestellung falsch. Nicht 
nach einem „Prinzip", das, wenn es „irgendwo" sein 
soll, im Ich sein und wirken müßte, sondern nach dem 
seiner selbst bewußten und sich selbst bestimmenden 
Ich selber ist zu fragen, das den Charakter zwar nicht 
„in der Gewalt hat", aber bei der Ausbildung desselben 
mitzuwirken vermag und für die Eichtung, in der er 
sich entwickelt, mitbestimmend ist. In eine „Zwick- 
mühle" hat sich Dunkmann nur dadurch gebracht, 
weil er über die aus sich selbst heraus wirkende 
Ursächlichkeit des realen Ich sich nicht genügende 
Klarheit verschafft hat und deshalb nur die beiden 
I'älle, entweder den strengen Determinismus oder die 
Freiheit eines ganz entleerten Willens, das liberum 
arbitrium indifferentiae der Scholastiker, die grund- 
lose Laune, einander gegenüberstellt, den dritten Fall 
aber, nämlich das Nebeneinander und Miteinander 
einer unbedingt notwendigen Bestimmtheit und einer 
willkürlich handelnden Wahlfreiheit unberücksichtigt 
läßt. Viel Wahres liegt darin, wenn Dunkmann in 
seiner interessanten Erörterung des Freiheitsproblems 
schreibt, die Entwicklung des Charakters gehe wie 
die Entwicklung in der Natur vor sich nach dem Prin- 
zip des kleinsten Kraftmaßes; dieselbe geschieht tat- 
sächlich in der Eegel ganz allmählich und ist das Er- 



— 155 — 

gebnis „unzähliger kleiner und kleinster Freiheitsakte." 
Aber doch nur in der Regel; und es gibt eine nicht 
kleine Zahl solcher Fälle, wo ein kleines Kraftmaß 
nicht genügt, um irgend eine auch noch so geringe 
Änderung des Charakters herbeizuführen. Je mehr 
derselbe in einer bestimmten falschen Richtung sich 
befestigt und eingewöhnt hat, desto größerer Kraft- 
aufwand ist nötig, um ihn in die entgegengesetzte 
Richtung zu bringen ; und wiewohl das nicht auf ein- 
mal, sondern nur nach und nach geschehen kann, das 
kleinste Kraftmaß oder auch ein kleines, das mehr ist 
als dies, wird ihn ebensowenig allmählich wie plötzlich 
dahin bringen. Auch das ist nicht richtig, daß, wie 
Dunkmann meint, die formale Freiheit, also die Wahl- 
freiheit des Ich „stets eine sich gleichbleibende Größe" 
bleibt. Dieselbe ist vielmehr, wie bei den verschiedenen 
Individuen so auch auf den verschiedenen Stufen der 
Charakterentwicklung von verschiedenem Kraftmaß. 
Je mehr ein Mensch die materiale, die sittliche Frei- 
heit erwirbt, desto geringer ist für ihn die Möglichkeit, 
in freier Wahl sich für das Böse zu entscheiden; je 
mehr er aber ein Knecht seiner niederen Triebe, seiner 
ungebändigten Begierden ist, desto geringer wii*d seine 
Fähigkeit, unter Abweisung des Bösen das Gute zu 
erwählen und seinem Wollen die Richtung auf Voll- 
bringen des Guten zu geben. Nicht zu jeder Zeit 
und auf j e d e r Entwicklungsstufe vermag dasich 
in gleichem Maße die Bildung seines Cha- 
rakters zu überwachen und zu bestimmen. Da 
aber kein Mensch das Ziel der sittlichen Vollendung 
in dieser Welt erreicht und ebensowenig ein Mensch 
in diesem Leben vollständig demoralisiert wird, 
so bleibt ein gewisses Maß von Wahlfreiheit jedem 



— 156 — 

auf Erden lebendeti M^sch«» ku <e>ig^n. Wenn Wir 
einem Menschen Vertrauen schenken^, setzeti wif eiÄ 
geivisses Maß von sittlicher Selbständigkeit nnd Festig- 
keit in ihm voraus. Aber wenn ein moderner Ethifcer 
(Hf^rmann), der von dieser Tatsache ausgeht, Am rein 
empirisch den Inhalt des sittlichen Denkens zti er- 
mitteln, dabei zu der Behauptung fortschmtet, wir 
nehmen in solchem Vertrauen zu einem Menschen an, 
„daß ihn aus der Haltung, die wir im Auge haben, 
kein Wechsel der Umstände und keine durch sdche 
Änderang veranlaßte Regung des Selbsterhaltungs- 
triebes verdrängen werde," so behauptet er etwas, 
das nicht nur „unbeweisbar" ist, sondern wesentli<5her 
Einschränkung bedarf; denn auch wo wir eitiem Man- 
schen verta-anen , halten wir es zwar für etwas im 
höchsten Grade Wahrscheinliches, aber, weil die Mög- 
lichkeit, willkürlich zu handeln, ihm noch zu eigen 
ist, nicht für absolut zweifellos, daß er sich selber treu 
bleiben werde. 

Gibt es aber, wie Dunkmann meint, eine unterste 
Stufe der Wiilensindifferenz, auf der das Ich 
mit seinem Willen noch in keiner Welise determiniert, 
bestimmt und beschränkt ist, sondern schrankenlose 
Freiheit hat, mit derselben Leichtigkeit sich zu ga^z 
entgegengesetzten Handlungen bestimmen kann und 
insofern wie eine Wage ist, deren Schalen sich in 
völligem Gleichgewicht halten? Man hat ein solches 
liberum arbitrium aequUibrii oder indifferent 
tiae öfters behauptet und verteidigt; insbesondre 
aber die Gegner der Wahlfreiheit haben es mit dieser 
Verwechselt und aus ihm gewichtige Gegengrfinde 
gegen die Annahme der Wahlfreiheit entnommen. In 
Wirklichkeit aber ist eine solche völlige Leerheit und 



— 157 — 

XJnbestiaimtheit des p^söaUchea Wolleas gar nkkt 
vorliaBde»^ Dem Buridan'scteu E^el — (der übrigen» 
niiCbt erst dem Scholastiker Baridan s^ine sophistische 
VerwertuHg verdankt) —^ der zwischen zwei Bitadelu 
Heu jämmerlich verhungert, weil von beiden Seiten 
alle» so vollständig gleich auf ihn einwirkt, dafi er, 
der keine eigene Initiative des Willens hat, sich für 
keijQie Seite entscheiden, keiner sich zuwenden kann, 
darf eine Möglichkeit der Existenz nicht zugeschrieben 
werden. Denö, wie schon Leibnitz bemerkt hat, durch 
eine den Esel der Länge nach hälftende senkrechte 
Ebene könnte nicht auch das Weltall so gehälftet 
werden, daß beiderseits alles gleich wäre; „weder die 
Teile des Weltalls noch die Eingeweide des Tieres 
sind auf beidien Seiten jener senkrechten Ebene ein- 
ander gleich un4 gleich gelegen.^ Ebensowenig kann 
in einem Menschen der Fall vorkommen, daß die zwei 
Beweggründe, die ihn, der eine zu diesem, der andere 
zu jenem Entschluß antreiben, von völlig gleichem 
Gewichte sind. Selbst wenn sie an und für sich von 
völlig gleicher Stärke wären, würden sie für das 
menschliche Ich nur diann von ganz gleichem Gewichte 
sein, wenn dieses Ich ganz inhaltlos^, jeder Bestimmt- 
heit entbehrend und deshalb für den einen Beweg- 
grund in ganz gleicher Weise empfänglich wäre wie 
tm den anderen; ein solches menschliches Ich aber 
es:istiei*t tatsächlich nie und nirgends. Wenn RRothe 
sagt, eine völlige UnbestijB^mtbeit und Leerheit des 
Ich könue nur in den absoluten An&ngspunkt der 
moralischen Entwicklung des Menschen, d. h. seiner 
selbstöndig^n geistigen Entwicklung fallen, so ist 
ei:stens^ zu erinnern» daß wir von einem solchen An^ 
f9i2g!S9unkt niichts wissen können, weil er vor unserer 



— 158 - 

ErfahruDg und Beobachtung liegt; zweitens aber ist 
dazu zu bemerken, daß auch der erste Anfang dieser 
Entwicklung deshalb irgendwie bestimmt sein wird^ 
weil ein völlig jeder Bestimmtheit entbehrender ein 
bloßes Gedankending, eine leere Abstraktion ist. So 
oft wir, — das wurde schon bei unserer Erörterung 
des Selbstbewußtseins hervorgehoben — , das Ich un- 
mittelbar erleben, wird es nicht als ein für sich allein 
existierendes, von allen Bewußtseinsvorgängen abge- 
sondertes und entleertes, sondern als ein irgendwie 
bestimmtes und affiziertes Ich erlebt. Deshalb ist die 
Frage: Wie kann aus der qualitätslosen Unbestimmt- 
heit des persönlichen WoUens eine qualitativ be- 
stimmte Handlung hervorgehen, die nicht als not- 
wendige Folge in ihr enthalten ist? dahin zu beant- 
worten, daß diese Unbestimmtheit des Wollens gar 
nicht existiert. Das Ich, das wollende Subjekt be- 
findet sich in jedem Augenblick in einem irgendwie 
qualifizierten Zustande, und (vgl. Zeller a. a. 0.) die 
neuen Zustände und Tätigkeiten, die es aus sich her- 
vorruft, sind ein Übergang nicht aus der Unbestimmt- 
heit in die Bestimmtheit, sondern aus einer Bestimmt- 
heit in die andere. Dieser Übergang findet zwar oft 
unwillkürlich, aber sobald das Ich mit bewußter Ab- 
sicht handelt, mehr oder weniger willkürlich statt. 
Auch dann ist ja das Wollen des Ich niemals ganz un- 
motiviert; aber wer ist berechtigt zu sagen, daß ein 
Wollen und Handeln, wenn es aus bestimmten 
Motiven stattfindet, deshalb gänzlich determi- 
niert, also unfrei sei? wer kann mit Recht be- 
haupten, daß unter den verschiedenen Beweggründen 
und Antrieben des Wollens allemal der stärkste den 
Sieg davontrage, so daß der Mensch diesem folgen 



— 159 — 

müsse wie die Welle des Meeres dem Druck des 
Felsens oder des Windes? Wenn Luthardt das mensch- 
liche Ich mit dem mathematischen Punkt vergleicht, so 
ist das Bedenklichste an diesem Vergleich, daß da- 
durch der Schein hervorgerufen wird, als ob das Ich 
wie der Mittelpunkt eines Kreises sei, in dem, wie in 
der Mathematik die von der Peripherie nach dem 
Zentrum gezogenen Linien sich treffen, so die von 
allen Seiten und Richtungen kommenden Anregungen 
und Reizungen und Bestimmungsgründe zusammen- 
treffen, ohne daß der Mittelpunkt einen Einfluß auf 
sie ausüben und über sie bestimmen könnte. Das 
Ich ist aber in Wirklichkeit nicht bloß wie ein 
mathematischer Punkt, sondern ein lebendiges, sich 
selbst betätigendes Reales, und es übt durch seine 
Tätigkeit eine Gegenwirkung gegen die 
auf es einwirkenden Beweggründe und An- 
triebe aus, eine Gegenwirkung, durch die das Ge- 
wicht des einen verstärkt, das des anderen verringert 
bzw. aufgehoben wird. Außerdem kann dasselbe Ich, 
das unter den verschiedenen Reizungen, die es zu 
diesem oder jenem Entschluß bewegen wollen, die einen 
unterstützen und kräftigen, die anderen abschwächen 
kann, aus dem ihm gegebenen Impulsen sich selber 
Motive bilden und die von ihm gebildeten 
mitHilfe anderer von ihm herbeigerufenen 
und vergegenwärtigten Beweggründe wieder um- 
formen. 

Etwas Wahres aber liegt darin, wenn man von 
einer Indifferenz, von einer Unbestimmtheit, von einem 
Schweben des Ich und seines Willens geredet hat. 
Der Mensch handelt doch in der Regel nicht wie ein 
von seinen Trieben zu plötzlichem Zufahren gereiztes 



— 160 — 

mid ohne längere Überlegung diesem Seize folgende» 
Tier; sondern ehe der Mensch anf die maAnigfacheii 
Impulse und Beweggründe, dwen WeHenschlag an Um 
kommt und ihn zn einer Oegenwbrknng anregt, so 
oder anderes zu antworten und zu reagieren sich, ent- 
schließt, überlegt er, beratschlagt er mit sdch selber, 
sinnt oft lange nach, indem er auf die Erfah- 
rungen, die er gemacht und aus denen er gelernt hat, 
sich besinnt und die Wirkungen, die seine Wahl, seine 
Entscheidung haben wird, sich vorstellt. Diese Über- 
legung, — Aristoteles hat sie ßüvlevoig gensijxnt — , 
ist eine Art des Schwebens, der Unbe- 
stimmtheit. Von physiologischer Seite kommt hier 
Eibot („essai sur Timagination cröatrice") der psycho- 
logischen Auffassung entgegen, indem er u. a. schreibt: 
„Das Ganze (l'ensemble) der Neuronen (Nerven) emp- 
fange von außen und gebe nach außen wieder ab. Je- 
doch schieben sich zwischen diese zwei Augenblicke, 
die in den Beflex- und instinktiven Aktionen in Kon- 
tinuität scheinen, ein dritter Zeitraum ein, der für die 
höheren psychischen Akte von langer Dauer sein könne. 
So habe die Reflexion über eine zu treffende Entscheidung 
eine schwache Tendenz, sich in Handlung umzusetzen; 
ihre motorischen Effekte seien indirekt und von langer 
Verfallzeit (ä la longue 6ch6ance), und es sei dieses 
Zwischenmoment par excellence das der Psychologie." 
Wie weit diese Äußerungen Eibot's mit seinen, sonstigen 
Anschauungen hannonieren oder zu ihnen in. Gegen- 
satz stehen, ist hier nicht zu erörtern; aber der 
zwischeneintretende „dritte Zeitraum" ist aläs deij^ige 
zu statuieren, in welchem da» Überlegen und Sehweben 
des Ich stattfindet Nur darf dies nicht so aul^faßt 
werden, als ob während dieses Zwiflchenmoments^ not* 



— 161 — 

wendigerweise das Ich anderweit gar nicht affiziert 
sei, gar keine Bestimmtheit habe. Das zeitweilige 
Schweben des Ich ist ja eine Art Unbestimmtheit, 
kann aber recht wohl mit einem Bestimmtsein des 
Ich dnrch andere Objekte verbunden sein; nur daß 
diese Objekte nicht im Vordergrund des Bewußtseins 
stehen, sondern während des Besinnens und Über- 
legens in den Hintergrund desselben zurückgetreten 
«ind. Eine völlige Leerheit des vor einer Wahl 
gleichsam schwebenden, überlegenden, noch nicht zu 
•einem Entschlüsse vorgehenden Ich ist aber schon 
-deshalb nie vorhanden, weil dasselbe, während es mit 
sich selber zu Eate geht und sinnt, vorwärts und rück- 
wärts schaut und von den dabei in ihm auftauchenden 
Vorstellungen und Bildern affiziert wird. Auch ein 
Schwanken des zwischen entgegengesetzten Möglich- 
keiten stehenden Ich findet oftmals statt, was Rothe 
ausschließen zu wollen scheint; nur liegt es, wie er 
richtig bemerkt, nicht im Begriff der Wahl, von der 
hier die Rede ist, muß also nicht etwa immer, not- 
wendig stattfinden. Wenn R. A. Lipsius (Dogmatik) 
meint, überall wo ein inneres Schwanken oder ein 
innerer Kampf eintrete, sei die werdende Tat, solange 
sie noch eine werdende sei, niemals schon schlechthin 
vorherbestimmt, so ist das für uns auch da unzweifel- 
haft, wo kein Schwanken, kein Kämpfen eintritt, son- 
dern nur mit ruhiger Sicherheit stetig zum Ziele führende 
Überlegung und Erwägung stattfindet. Wenn er aber 
hinzufügt: „nach vollendeter Tat läßt sich zeigen, 
daß sie genau das Produkt der jeweilig in Wirksam- 
keit getretenen Kräfte war", so gilt das nicht in dem 
von ihm gemeinten deterministischen Sinne, sondern 
nur dann, wenn man in unserem Sinne hinzusetzt: 

Graue, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. H 



— 162 — 

„zu welchen Kräften auch das den Ausschlag gebende 
Ich zu rechnen ist". 

Besonders einleuchtend tritt die Tatsache, daß 
das Ich Herr seiner Handlungen ist und die Eichtun^ 
seines Tuns zu unterbrechen und zu verändern ver- 
mag, in der Eeue zutage, in der nicht, wie Zeller 
ungenau und daher leicht zu Mißverständnissen führend 
es ausdrückt, „der Wille sich aus der Tat zurück- 
zieht", sondern das Ich von dem Wollen, das die Tat 
vollbrachte, das Wollen unterscheidet, das es nach 
der Tat hat. Das Ich sucht in der Reue sich von 
seiner Tat loszulösen; und obwohl ihm das zunächst 
nicht gelingt, weil sie ihm als seine eigene anhaftet^ 
erhebt es sich doch über seine Tat und bekundet sich 
insofern als ihren Herrn. Wie alle Tatsachen des 
sittlichen Bewußtseins, die des Pflichtgefühls, der 
Scham, des Verantwortlichkeitsgefühls, so auch die 
beiden Tatsachen der Eeue und des Schuldbewußt- 
seins fordern mit Notwendigkeit oder vielmehr setzen 
als etwas ganz Zweifelloses voraus : die Wahlfreiheit. 
Wenn moderne Ethiker, wie z. B. Höffding, Eeue und 
Schuldgefühl „als bloßes Nachbrüten über das, was 
sich nun einmal nicht ungeschehen machen läßt", be- 
zeichnen, so heißt das, offenkundige Tatsachen igno- 
rieren und gegen die unzweideutige Sprache, die von 
diesen Tatsachen geredet wird, sich verschließen. 
Wenn freilich eines Menschen Eeue in nichts anderem; 
bestände als in dem Wunsche: hätte ich doch anders 
gehandelt, und könnte ich doch das Unrecht, das ich 
begangen, ungeschehen machen ! dann hätte sie keiner- 
lei Wert, sondern brächte vielmehr Schädigung als 
Besserung. Denn jener Wunsch ist ein völlig frucht- 
loses, vergebliches Verlangen, das schließlich auf ein 



- 163 — 

sittlicli erschlaffendes Jammern, Seufzen und Stöhnen 
hinausläuft. Aber wenn Höfifding Keue und Schuld- 
bewußtsein ohne weiteres für „unethisch" erklärt, so 
zeigt er damit nur, daß er von der wahren Keue und 
den von ihr unzertrennlichen sittlichen und sittigenden 
Gefühlen, von ihrer reinigenden und veredelnden Kraft 
so gut wie gar nichts weiß. Denn in der wahren 
Eeue sucht sich der Mensch von der Handlung, durch 
die er, wie er schmerzlich fühlt, seine sittliche Kraft 
geschwächt, die Reinheit und Würde seiner sittlichen 
Persönlichkeit befleckt und herabgezogen hat, so völlig 
innerlich zu scheiden, daß er sie niemals zu wieder- 
holen, sondern eine ihr völlig entgegengesetzte pflicht- 
mäßige Handlung zu vollbringen imstande sei. Da 
er aber bei tieferem Nachsinnen und klarerer Selbst- 
erkenntnis sich in der Eegel sagen muß, daß die ein- 
zelne pflichtwidrige Handlung größtenteils, in manchen 
Fällen vielleicht ganz, durch seine gesamte sittliche 
Beschaffenheit determiniert und ein deutliches Anzeichen 
davon war, daß sein ganzer Seelenzustand an bedenk- 
lichen Schäden und Fehlern leidet, daß er aber selber 
einen erheblichen Beitrag zu dem geliefert hat, was 
ihn in diesen Zustand brachte, daß ohne sein Zutun 
derselbe nicht so bedenklich und bedauerlich geworden 
wäre, so sucht er in der Reue sich von diesem Zu- 
stande innerlich loszumachen und strebt nach Um- 
wandlung seiner ganzen sittlichen Beschaflfenheit, seines 
ganzen Charakters. Dieser aber ist so wenig ein kon- 
stanter, ein nach Schopenhauer's mythologischer Vor- 
stellung schon durch eine vorzeitliche Freiheitstat des 
Menschen ein für allemal unabänderlich deteiminierter, 
daß vielmehr der Mensch unter Umständen imstande 
ist, seine bisherige Charakterentwicklung nicht etwa 

11* 



— 164 — 

nur allmählich durch das ^kleinste Eraftmaß^ (s. S. 154 f.), 
sondern mit der vollen Gewalt eines aus der Reue 
geborenen freien Entschlusses gleichsam abzulenken 
und sie in anderer Richtung wie von vorne anzufangen, 
wodurch der alte Charakter zwar nicht, weil ja die 
individuellen Besonderheiten und das Temperament 
und die Beanlagung desselben im wesentlichen unver- 
ändert bleiben, auch die Nachwirkungen der vorherigen 
Entwicklung nicht gänzlich ausgelöscht werden können, 
völlig umgewandelt oder gar „exstirpiert", aber so 
wesentlich modifiziert, gebessert und veredelt werden 
kann, daß er als ein sittlich erneuerter bezeichnet 
werden muß. Ob und wie bei solcher sittlichen Er- 
neuerung eine Mitwirkung Gottes stattfinde, davon 
soll an anderer Stelle die Rede sein. 

Es würde aus der Reue das kräftige Streben nach 
sittlicher Erneuerung nicht hervorgehen, wenn nicht 
durch das Gewissen das Ich sich selber sein Tun zu- 
rechnete, sich selber dafür verantwortlich machte. 
Aber gerade hierdurch wird die Tatsache der mensch- 
lichen Willensfreiheit so deutlich und zweifellos zum 
Bewußtsein gebracht, wie durch nichts anderes. 
Denn wie könnte das Ich sich für eine Tat verant- 
wortlich machen, die in keiner Weise und in keiner 
Beziehung auf seiner eigenen freien Entschließung 
beruhte, sondern nur von äußeren und inneren Not- 
wendigkeiten ihm aufgedrängt und aufgezwungen 
wäre? wie könnten wir anderen ein von ihnen be- 
gangenes Unrecht als ihre Schuld zurechnen, wenn, 
wie der Determinismus sagt, aus derselben Notwendig- 
keit, vermöge deren sich der gute Wille für das Gute 
bestimmt, im bösen Willen das Böse hervorgeht? 
Nach deterministischer Ansicht entspringt die Hand- 



— 165 — 

lung nicht im handelnden Subjekt, sondern sie ist 
nur ein Ereignis, das sich in diesem Subjekt voll- 
zieht, sich deshalb darin vollzieht, weil die Welt so 
beschaflfen ist, wie sie ist; wirkt aber nicht der 
Mensch in solcher Handlung, sondern die Welt, die 
sich darin ausprägt, so ist es völlig unberechtigt, dem 
Menschen die Handlung zuzurechnen, ihn dafür ver- 
antwortlich zu machen. Die deterministische Ansicht 
hat, wenn man den Sachverhalt gründlich prüft, nie- 
manden, dem sie die sog. „Handlung" zurechnen 
kann, weil diese nur ein ähnliches Ereignis ist, wie 
jenes, daß eine Blüte trotz aller ihr zuteil gewordenen 
treuen sachverständigen Pflege abfällt, ohne Frucht- 
samen hervorzubringen; und jenes Ereignis, kann wie 
dieses, wenn es überhaupt zugerechnet werden soll, 
dann nur der Welt zugerechnet werden, die nun 
einmal so beschaffen ist, wie sie ist, und die sich in 
dem Menschen und seinem Willen gleichsam ab- 
spiegelt. Wenn Eomang („Willensfreiheit und Deter- 
minismus") erklärt, die Zurechnung habe auch auf 
deterministischem Standpunkt ihr gutes Recht und 
bestehe in sittlicher Hinsicht darin, daß erkannt 
werde, dasjenige, was durch den Menschen geschieht, 
habe in ihm selber, in dem für sich seienden Wesen 
und Tun der Person seinen Grund und ursprünglichen 
Sitz, so ist alsbald zu erwidern, daß der Determinist 
folgerichtigerweise ein „für sich seiendes Wesen 
und Tun" des Menschen, eine „Person" des Menschen 
nicht anerkennen darf und sich selber untreu wird, 
wenn er das, was in allen Stücken mit Notwendig- 
keit bestimmt und nur die im voraus mit Sicherheit 
zu berechnende Wirkung unwiderstehlich wirkender 
Ursächlichkeiten ist, als die persönliche Handlung 



— 166 — 

eines für sich seienden Wesens bezeichnet. Romano 
behauptet weiter, daß der menschlichen Person zwar 
ein sittlicher Fehler aus dem von ihm angegebenen 
Grunde als selbstverschuldeter auch vom Deterministen 
zugerechnet werden müsse, daß aber ein unver- 
schuldeter Irrtum, trotzdem auch er in der Person 
und ihrem Tun seinen Grund habe, deshalb nicht zu- 
gerechnet werde, weil der, den die Zurechnung treffen 
müßte, nicht der wahrhaft Handelnde, vielmehr nur 
ein Durchgangspunkt für fremde Wirksamkeit sei. 
Die Eichtigstellung dieses Satzes liegt unmittelbar 
nahe. Denn wenn der Irrtum nicht die eigene 
Tat des Irrenden, sondern teils die Folge seiner bis- 
herigen mangelhaften, intellektuellen Entwicklung 
und beschränkten Leistungsfähigkeit, teils die Folge 
fremder irreführender Einwirkungen ist, und er ist 
das in der Tat, ausgenommen die S. 116 erwähnten 
Fälle, so muß ein Determinist wie Eg. dieselbe Ent- 
schuldigung für sittliche Fehler ins Feld führen, 
die ja nach seiner Auffassung auch nur das Produkt 
der jeweiligen mangelhaften sittlichen Entwicklung 
und beschränkten Leistungsfähigkeit einerseits, der 
ungünstigen Einwirkungen der Umgebung andererseits 
sein sollen. Dem Determinismus ist die menschliche 
„Person" in moralischer Beziehung ebenso wie in 
intellektueller nur ein „Durchgangspunkt für fremde 
Wirksamkeit", und mit welchem Kechte kann er ihr 
dann ihre sittliche Fehler als selbstverschuldete zu- 
rechnen? Sehr richtig hat vom Standpunkte des 
Indeterminismus aus E. Zeller hierzu bemerkt, daß 
auch die intellektuelle Tätigkeit des Menschen aus 
dem Zentrum der Persönlichkeit und ihrer Selbst- 
bestimmung hervorgehe, daß wir aber dennoch einen 



— 167 — 

Irrtum ganz anders beurteilen als einen sittlichen 
Fehler; „wir geben zu, daß aus Liebe zur Wahrheit 
Irrtum entstehen könne, aber niemals werden wir zu- 
geben, daß aus Liebe zum Guten Unsittlichkeit ent- 
stehen könne." Herrmanns Ethik geht so weit, uns 
Indeterministen die Behauptung eines Willens ohne 
sittliche Qualität, eines sittlich indifferenten Willens 
zuzuschreiben und dann hinzuzufügen : „Es ist sinnlos, 
einem sittlich indifferenten Wesen sittlich bestimmte 
Handlungen zuzurechnen". Darauf antworten wir: 
„Sinnlos ist es, einen sittlich indifferenten Willen an- 
zunehmen, dem Gutes und Böses von ganz gleichem 
Werte ist, nämlich von gar keinem, und der sich 
gegen Gutes und Böses in ganz gleicher Weise ver- 
hält, nämlich in gar keiner. Anstatt eines solchen 
Undings von „freiem" Willen konstatieren wir als 
Tatsache das Ich, das, weil es eine für sich be- 
stehende eigene Ursächlichkeit mit sittlicher Bestimmt- 
heit ist, sich selber sein Tun und Lassen zurechnet 
und dem eben deshalb auch von anderen seine Hand- 
lungen zugerechnet werden. Zwar ist mit dem sitt- 
lichen Bewußtsein, das uns sagt, was von uns ge- 
fordert wird, durchaus nicht immer der Glaube an 
die Fähigkeit verbunden, die sittlichen Forderungen 
zu gegebener Zeit erfüllen zu können; das Kant'sche 
Wort: „Du kannst, denn du sollst!" ist, wie schon 
bemerkt, nicht stichhaltig, so groß es gedacht ist. 
Der Mensch kann sich zuzeiten einem sittlichen 
Gebote gegenüber, dessen er sich ganz klar bewußt 
ist, unfähig fühlen, es zu erfüllen, trotzdem er nicht 
versäumt, etwas Ähnliches zu tun, wie das, was 
E. V. Hartmann („Sittlicher Wille"), dem Indeterminis- 
mus unwillkürlich recht gebend, schreibt: „zu rechter 



— 168 — 

Zeit die bewußte Aktivität der Vorstellungsbewegimg' 
ins Spiel zu setzen" und durch „die Selbstbeherrschung^ 
... als eine Art List des bewußten Willens . . . die 
Naturkräfte, die in der Seele schlummern, nach seinen 
Intentionen zu dirigieren und zu verwerten." Aber 
wenn der Mensch sich dann gründlich über sich selber 
besinnt, wird er sich gestehen, daß er diese Unfähig* 
keit zur Erfüllung einer sittlichen Forderung, diese 
innere Unfreiheit selber mitverschuldet hat, weil er 
in früheren Zeiten, wo er derselben Forderung gegen- 
über die Kraft zu ihrer Erfüllung zu besitzen sich 
bewußt war, diese Kraft nicht sorgfältig gepflegt^ 
nicht vorsichtig vor abschwächenden Vorstellungen 
und Erinnerungsbildern behütet, nicht treu kultiviert,, 
benutzt und geübt hat. Deshalb muß der Mensch 
auch in solchem Falle an sich selber durch 
Selbstanklagen und Selbstgericht Zurechnung und 
Vergeltung üben. Selbst ein Positivist wie Laas 
bekennt unumwunden: „Der Mensch ist verantwort- 
lich, entweder weil und soweit die Tat der Aus- 
druck seines souveränen Wollens und durchgängigen 
Strebens ist, oder weil er leichtfertige Triebe 
und Eeize zu einer verhängnisvollen Herrschaft über 
sich hat kommen lassen." Derselbe sagt ausdrücklich^ 
daß auch dann, wenn das schlechte Individuum nicht 
anders könne, als böse handeln, ein Bruchteil der 
Schuld für dieses Individuum immer übrig bleibe; 
denn unsere Verantwortlichkeit beruhe auch darauf^ 
daß, . wenn wir jetzt unvollkommen und fehlerhaft 
sind, wir wissentlich dazu beigetragen haben, daß wir 
so blieben oder so wurden und daß wir nicht allmäh- 
lich anders wurden. 

Es gab eine Zeit, wo man aus der Moral- 



— 169 — 

Statistik beweisen zu können meinte, daß die 
menschlichen Handlungen mit absoluter Notwendig- 
keit regelmäßig wiederkehren, und zwar so regelmäßig, 
daß man z. B. die Zahl der Ehescheidungen, der un- 
ehelichen Geburten, der Selbstmorde, der Diebstähle 
usw. für jedes Jahr mit einiger Sicherheit voraus- 
sagen könne. Wäre dem so, dann würde das Recht, 
jemanden für seine sittlichen Vergehungen zur Rechen- 
schaft zu ziehen und zu bestrafen, notwendigerweise 
hinfällig werden; und insbesondere würde dann die 
Bestrafung der Übertretungen bürgerlicher Gesetze 
ihren vergeltenden und sühnenden Charakter ganz 
verlieren, und das um so völliger, falls Lombroso 
recht hätte, der nicht nur manche, sondern sämtliche 
Verbrechen als moral insanity, als eine Krankheit des 
Moralischen im Menschen bezeichnet; es würde dann 
die Behandlung derer, die eines Verbrechens überfahrt 
sind, nur darauf hinzuwirken haben, daß einerseits die 
menschliche Gesellschaft in Familie, Gemeinde, Staat 
usw. vor den Gefahren, die ihr durch solche Subjekte 
drohen, möglichst geschützt, gegen sie gesichert würde, 
andererseits die verbrecherischen Subjekte nicht in 
Strafanstalten, sondern in Versorgungs- und Er- 
ziehungsanstalten untergebracht und womöglich von 
ihrer moralischen Erkrankung befreit, geheilt würden. 
Aber immer mehr kommt man heutzutage zu der Er- 
kenntnis, ein Beweis dafür, daß dem so ist, könne aus 
den Zahlen der Statistik nicht erbracht werden, 
schon deshalb nicht, weil die Zahlen der einzelnen 
Jahre nicht die gleichen, regelmäßig wiederkehrenden 
sind, sondern bald geringere, bald größere Unterschiede 
zeigen, weil aber, soweit eine gewisse Regelmäßigkeit 
darin sich zeigt, diese sich einfach dadurch erklärt, 



— 170 — 

daß das, was die persönliche Wahlfreiheit des einzelnen 
Individuums zum Zustandekommen einer Handlung bei- 
trägt, oft ein sehr Geringes ist im Vergleich zu dem, 
was Naturanlagen, Erziehung, wirtschaftliche Lebens- 
verhältnisse, gesellschaftliche Zustände usw. dazu bei- 
tragen, und daß die letztgenannten Faktoren für die 
große Mehrzahl in einem Volke im wesentlichen gleich 
sind und deshalb als gleiche Ursachen gleiche Wir- 
kungen zur Folge haben. Sodann aber ist zu be- 
denken, daß die Statistik nur mit den bekannt ge- 
wordenen, ans Licht der Öffentlichkeit getretenen 
Handlungen rechnet und rechnen kann, aber die ver- 
borgenen, unbekannt gebliebenen außer acht läßt und 
lassen muß, erst recht aber die verborgenen Trieb- 
federn, die so oft ganz geheim bleibenden Motive der 
Handlungen (und davon hängt doch der ganze sitt- 
liche Wert oder Unwert der menschlichen Taten ab) 
zu berechnen außerstande ist. Wie wenig vermag 
daher ein Statistiker die Beweggründe, die z. B. zu 
einer Eeihe von Eigentumsvergehen geführt haben, 
mit einiger Sicherheit richtig anzugeben ! selbst dann, 
wenn er mit einem gewissen Rechte die in Zeiten 
wirtschaftlicher Depression vorkommenden Eigentums- 
vergehen auf das Bestreben der unter dieser Depression 
leidenden Individuen zurückführt, sich gegen Hungern, 
Frieren u. dgl. zu schützen, er wird auch dann in 
vielen Fällen dem Irrtum verfallen, weil oft gerade 
in besonders günstigen wirtschaftlichen Perioden die 
Neigungen zu zügellosem und verschwenderischem 
Leben und damit die Versuchungen zu Übergriffen 
in fremdes Eigentum ganz besonders stark zunehmen 
— (denn bei günstiger Witterung wächst auch das 
Unkraut rascher, nicht bloß der Weizen) — , während 



— 171 — 

viele Menschen durch die Notwendigkeit, in Zeiten, 
wo der Kampf ums Dasein besonders schwer ist, alle 
ihre Spannkraft und Tatkraft aufzubieten und anzu- 
strengen, sittlich gestählt und deshalb gegen die 
Reize zum Bösen widerstandsfähiger werden. 

Wenn uns aber die moralstatistischen Zahlen die 
Summe der zutage getretenen verschiedenartigen 
Irrungen, Vergehungen und Verbrechen vor Augen 
stellen, so können sie uns das zum Bewußtsein bringen, 
daß nicht nur die sittlich bedenklichen, sondern auch 
die sittlich verwerflichen Erscheinungen des Welt- 
lebens zum großen Teil wie eine Art Naturprozeß sich 
abspielen und daß, so gewiß die persönliche Selbst- 
bestimmung der einzelnen Täter des Bösen niemals 
gänzlich aufgehört hat, bei diesen Erscheinungen mit- 
zuwirken, so groß auch bei manchen einzelnen Ver- 
gehungen der Spielraum des freien Willens und seiner 
Betätigung war und ist, das Böse im allgemeinen 
mit einer Art von Notwendigkeit geschieht. 
Woher diese Notwendigkeit? Wie ist sie zu 
erklären in einer Welt, als deren Schöpfer und Herr 
von uns die höchste sittliche Macht, die heilige Macht 
Gottes vorgestellt wird? und wird sie etwa dadurch 
erklärlich, daß Gott dem Menschen Willensfreiheit im 
Sinne von Wahlfreiheit geg;eben hat? Herrmann's 
Ethik verkündet zwar in hochfahrender und ab- 
sprechender Weise: „die vermeintlich tief grabende 
Spekulation, die das Böse zu erklären unternimmt, 
entbehrt in Wahrheit der elementarsten Einsicht 
in das Verhältnis des Natürlichen und Sittlichen", 
und behauptet, das sittliche Bewußtsein könne 
„in dem Bösen nichts anderes sehen als die un- 
begreifliche Tat des mit sich selbst im Widerspruch 



— 172 — 

befindlichen freien Willens." Wenn wir aber trotz- 
dem die Frage zu beantworten suchen, wie das 
Böse zu erklären sei, so folgen wir dabei dem 
Beispiel großer Vertreter des sittlichen Idealismus, 
unter ihnen der Verfasser der „Reden an die deutsche 
Nation" J. G. Fichte, und sind uns zugleich dessen 
klar bewußt, hiermit eine unzweideutige sittliche 
Forderung, ein Pflichtgebot zu erfüllen. Denn es ist 
eine Forderung unseres Gewissens, von den durch 
willkürliche Machtsprüche anderer Menschen errichteten 
Schlagbäumen und Grenzwällen unseren Erkenntnis- 
trieb nicht eindämmen zu lassen, sondern ernstlich 
bemüht zu sein bis an die wirklichen Grenzen 
menschlicher Erkenntnis vorzudringen; und es ist 
Pflicht, das Anstößige, das die unheimliche Macht und 
Herrschaft des Bösen in der Welt für uns Menschen 
hat und das schon oft in den Gemütern den Gottes- 
glauben und das Gottvertrauen erschütterte, aus dem 
Wege zu räumen, soweit das irgend möglich ist. 

Wenn man gesagt hat, das Böse sei ein Nega- 
tives, ein Mangel, ein Nochnichtsein des Guten, so 
genügt das nicht für die Bestimmung seines eigentlichen 
Wesens. Aber es ist darin die Wahrheit enthalten, daß 
das Böse aus einem Mangel, aus einem Nochnicht- 
sein entsteht. Wie die Finsternis dadurch hervor- 
gerufen wird, daß es an Licht fehlt, daß die das Licht 
erzeugenden Kräfte unentwickelt und unwirksam sind, 
so entsteht das Böse daraus, daß die edelsten, die 
sittlichen Kräfte des Menschen noch in unentwickeltem 
und ungebildetem Zustande sich befinden, im Zustande 
der Roheit befangen sind und deshalb noch gleichsam 
schlafen und ruhen. Dieser Zustand der Roheit ist 
an und für sich nicht etwas Böses, sondern vielmehr 



— 173 — 

von Grott gewollt; denn auf allen anderen Lebens- 
gebieten, also auch auf dem des menschlichen Wesens, 
soll eine allmähliche, bald in minimalen, bald in größeren 
Fortschritten aufsteigende Entfaltung, Bildung und 
Ausgestaltung stattfinden, und zwar so stattfinden, 
daß die einzelnen Lebewesen dabei selber mitwirken, 
durch ihre Mängel und Mißgriffe manchmal Eück- 
schritte und Eückbildungen verursachen, aber dadurch 
daß sie mitwirken, die ihnen innewohnenden Kräfte 
zu möglichster Entwicklung bringen. Während aber 
bei den pflanzlichen und tierischen Individuen diese 
Entwicklung wahrscheinlich, — etwas Sicheres hier- 
über können Menschen nicht wissen, — stattfindet 
durch eine Tätigkeit, die ihnen selber nicht oder nur 
wenig bewußt, eine instinktive ist, und durch ein Be- 
wußtsein — falls bei pflanzlichen Lebewesen über- 
haupt davon die Rede sein kann — , das nur passiv 
ist (vgl. hierzu den grundlegenden Teil von Rothe's 
Ethik), soll der Mensch von allen seinen Tätigkeiten 
und von allen seinen Bewußtseinsvorgängen sich selber 
unterscheiden lernen und mehr und mehr mit selbst- 
bewußter, sich selber Zwecke setzender Tätigkeit bei 
seiner Entwicklung und Ausbildung selbständig und 
selbsttätig mitwirken. Das könnte er gar nicht, wenn 
er bereits so, wie er werden und sein soll, also ohne 
Mangelhaftigkeit von Gott geschaffen und wenn ihm 
nicht die Möglichkeit gegeben wäre, willkürlich sich 
selbst zu bestimmen, willkürlich, also eventuell auch 
falsch und unvernünftig, im Widerspruch mit der ihm 
gestellten Aufgabe und in einer dem ihm gesteckten 
Ziele entgegengesetzten Richtung, tätig zu sein, also 
in verkehrter Willensrichtung zu handeln. Der Mensch 
handelt oftmals so, aber zunächst, ohne sich desseii 



— 174 — 

bewußt zu werden, daß sein Wollen ein verkehrte» 
ist. Sein Wollen steht ja in innigem Zusammenhang 
mit den natürlichen Trieben des sinnlichen Leben» 
und namentlich auch mit seinem Temperament, sei e» 
das heißblütige des Cholerikers oder das kaltblütige 
des Phlegmatikers, sei es das leichtblütige des Sangui- 
nikers oder das schwerblütige des Melancholikers; 
und unwillkürlich läßt der Mensch sich davon leiten. 
Das natürliche Wollen des Menschen hat aber auch, 
und besonders das des Cholerikers und das des Sangui- 
nikers, die Eigenschaft, auf mehr oder weniger rück- 
sichtslose Durchsetzung und Durchführung der eigenen 
Absichten und Pläne gerichtet zu sein; es ist mehr 
oder weniger von Haus aus, ebenso wie das sinnliche 
Triebleben , selbstsüchtig. Diese natürliche , naive 
Selbstsucht ist durchaus nicht schon das Unsittliche, 
das Böse; sie ist das so wenig, daß sie vielmehr bis 
zu einem gewissen Grade für die gesunde Entwick- 
lung des Menschen, auch für die sittliche, notwendige 
ist; sie ist im Kampfe ums Dasein, wo sie sich als 
Selbsterhaltungstrieb bekundet, in vieler Beziehung- 
unentbehrlich. Wenn Zeller die in ihrer Natürlich- 
keit sich behauptende Selbstsucht als das Böse be- 
zeichnet, so ist das insofern nicht zutreffend, als in 
der Selbstsucht die Selbstliebe, in dem Egoismus die 
Egoität nicht nur sittliche Berechtigung, sondern 
hohen sittlichen Wert hat. Wenn Dunkmann die 
durch Vererbung und Erziehung, durch Umgebung^ 
und Gewöhnung überkommene Eichtung des Menschen 
auf das Natürliche, Irdische, Sinnliche, die den höheren 
Aufgaben und Pflichten und den großen Geistesgütern 
abgewendet ist, eine sündhafte nennt, so liegt darin 
zwar eine ernste Wahrheit; aber streng genommen 



— 175 - 

darf man von dieser Richtung so wenig wie von der 
natürlichen Selbstsucht sagen, sie sei schon das Böse, 
das Sündhafte selber; sie ist erst der Mutterschoß 
gleichsam, aus dem es geboren wird, aus dem aber 
auch vieles hervorgehen kann und soll, das dem sitt- 
lichen Leben des Menschen förderlich ist. Das Böse 
im eigentlichen Sinne des Worts kommt, wie 
auch Zeller zugibt, dem Menschen als solches 
zumBewußtsein, weshalb eine dem Menschen von 
seinem Stammeltern überkommene und ohne sein Wissen 
ihnen anhaftende „Erbsünde", von der die altpro- 
testantische Dogmatik redet, nicht als Sünde gelten kann. 
Das Böse kann aber dem Menschen erst dann zum Be- 
wußtsein kommen, wenn er sich der Anforderungen 
des Sittengesetzes bewußt geworden ist und aus Träg- 
heit oder Genußsucht, aus Trotz oder Hochmut oder 
aus irgend einem anderen selbstsüchtigen Beweg- 
grunde diese Anforderungen unberücksichtigt gelassen 
hat; dann hat er gesündigt, dann hat er an sich selbst 
erfahren, wie das Böse im Menschen entsteht. Je 
klarer der Mensch sich der Forderungen des Sitten- 
gesetzes und der ihm eigenen persönlichen Willens- 
freiheit bewußt wird, desto deutlicher tritt in ihm 
eine Zwiespältigkeit hervor (s. S. 72): auf der einen 
Seite ein Wohlgefallen an diesen Forderungen, auf 
der anderen Seite ein Widerstreben gegen sie, das 
bis zu klar bewußtem Widerspruch dagegen fortschreitet 
und ihn trotz seines Wohlgefallens am sittlich-guten 
mit sich fortreißt, so daß er mit den Worten des 
Paulus (Rom. 7) klagen muß: „Das Gute, das ich will, 
das tue ich nicht; und das Böse, das ich nicht will, 
das tue ich." Wenn aber der Mensch diese schmerz- 
liche Erfahrung öfter macht, erhebt sich die Selbst- 



— 176 - 

sucht immer trotziger gegen die klar bewußten sitt- 
lichen Forderungen, setzt ihren Willen immer leichter 
und immer vollständiger durch, und die Gewalt des 
Bösen tritt als eine positive Macht immer drohender 
zutage. Der Mensch ist schließlich der Gefahr aus- 
gesetzt, durch eigene Schuld die Freiheit und Fähig- 
keit, sittlich zu denken und zu handeln, zu verlieren, 
sich seiner sittlichen Selbstbestimmung selber zu be- 
rauben, sich gegen alles Gute zu verhärten und zu 
„verstocken" und selbst gegen die Gnade Gottes, die 
ihn aus der Knechtschaft des Bösen erlösen will, sich 
zu verschließen und ihre dargebotenen Gaben zu ver- 
schmähen und zurückzuweisen. Wo aber das geschieht, 
da herrscht fortan das Böse über den Menschen mit 
einer Art von Notwendigkeit, die da, wo das Böse 
einem Individuum zur anderen Natur geworden ist, 
als Naturnotwendigkeit bezeichnet werden kann. 

Damit ist freilich noch lange nicht das unheim- 
liche Dunkel gelichtet, davon die Macht des Bösen 
umhüllt ist ; und welcher Mensch darf sich vermessen, 
in alle finstere Tiefen desselben aufklärendes Licht 
zu bringen! Für die hier stattfindende Erörterung 
aber ist insbesondere die schwierige Frage zu beant- 
worten, ob nicht durch die dem Menschen von Gott 
gewährte Willensfreiheit weit mehr Störendes, Ver- 
wirrendes und Verderbliches als harmonisch und heil- 
sam Wirkendes verursacht worden sei. Schwierig ist 
diese Frage nicht deshalb, weil durch die Gewährung 
der menschlichen Willensfreiheit die Wirksamkeit der 
göttlichen Macht eingeschränkt worden ist und weil 
das für fromme Gottesverehrer etwas Störendes und 
Verwirrendes haben müßte. Denn die Gott in Wahr- 
heit anbeten, können ruhig der Überzeugung sein, daß 



— 177 — 

^ie unendliche Erhabenheit und Majestät Gottes da- 
durch nichts von ihrer Herrlichkeit einbüßt, daß Gott 
freiwillig seiner Wirksamkeit Schranken setzt; es ist 
«0, wie Jul. Müller (a. a. 0.) es schön ausgedrückt hat: 
vDie Macht in Gott verträgt jede Schranke, die der 
heilige Wille der Liebe ihrem Wirken setzt." Aber 
hat der heilige Wille der göttlichen Liebe, der doch 
immer das Beste, das Heilbringendste für seine 
Welt schaffen will, wirklich dies dadurch 
geschaffen, daß er dem Menschen Willens- 
freiheit gab? 

Wenn die Geschichte der Völker uns in er- 
schütternden Bildern unzählige Male zeigt, daß der 
Mensch die ihm gegebene Freiheit auf das schmäh- 
lichste und unheilvollste zu entsetzlichen Greueltaten, 
zn wahnsinnigen Ausschweifungen, zu widerlichen 
Entartungen, zu grausamen Verheerungen mißbraucht 
hat, kann es uns dann nicht zumute werden, als ob 
die Selbstbestimmung, die Wahlfreiheit, die Gott ihm 
Terliehen, ein rechtes Danaergeschenk sei? und scheint 
■^s uns nicht oft erst recht so dann, wenn wir, einer 
Versuchung unterlegen, von unserer Selbstbestimmung 
-einen verkehrten Gebrauch gemacht haben und uns 
um dessentwillen mit bitteren Selbstanklagen und Vor- 
würfen die Seele abängstigen? Wie treffend ist das 
Schelling'sche Wort, das vom Menschen sagt: „Er ist 
durchaus ein Wesen, das die tote Natur ihrer Vor- 
mundschaft entlassen und der Gefahr seiner eigenen 
(unter sich streitenden) Kräfte überantwortet hat. 
Seine ganze Fortdauer ist eine immer wiederkehrende, 
immer neue Gefahr, eine Gefahr, in die er sich 
durch eigenen Impuls begibt" ! Wenn aber Schelling 
alsbald hinzufügt: ,,und aus der er sich selbst wieder 

Graue, Selbstbewußtsein und Willensfreiheit. 12 



— 178 — 

rettet", so steht das mit den Tatsachen der Wirklich- 
keit in schneidendem Widerspruch. Wie oft rettet 
der Mensch sich nicht aus den Gefahren, darein er 
durch sein willkürliches Handeln geraten ist! Wie 
oft bewahrheitet sich vielmehr das bekannte Dichter- 
wort, das den himmlischen Mächten vorhält: „Ihr 
schickt in's Leben ihn hinein; ihr laßt den Armen 
schuldig werden und überlaßt ihn seiner Pein; denn 
jede Schuld rächt sich auf Erden." Im Hinblick auf 
die Seelenqualen, die dem Menschen daraus erwachsen, 
daß das aus dem Bewußtsein seiner Wahlfreiheit not- 
wendig entspringende Gefühl der Verantwortlichkeit 
für eine begangene Übeltat sich oft wie Bergeslast 
auf seine Seele legt, wird es ganz verständlich, daß 
ein Vertreter des Determinismus, Duboc („Grundriß 
einer einheitlichen Trieblehre"), die Frage aufwirft^ 
ob es. denn durchaus notwendig sei, daß ein Mensch^ 
der sich eines ihn umstrickenden Geschicks nicht er- 
wehren konnte, sich auch noch nach begangener Tat 
mit dem Gedanken zermartere, daß er das, was er 
getan, ebensogut hätte lassen können, einem Ge- 
danken, der durchaus danach angetan sei, jemanden 
bis zum Wahnsinn zu zerschmettern. Aber Duboe 
hätte nur dann das Recht, die Befreiung des Menschen 
von solchen Seelenqualen zu fordern, wenn der Glaube 
des Menschen an seine persönliche Wahlfreiheit nur 
auf Selbsttäuschung beruhte. F. Galiani („Korrespon- 
denz") mit seiner ebenso pikanten wie herzlosen Ver- 
höhnung des moralischen wie des religiösen Glaubens 
erklärt, es könne keine Moral in der Welt bestehen^ 
wenn der Mensch nicht glaube, frei zu sein ; zwar 
besitze er keine Willensfreiheit; aber der Glaube, daß 
er sie habe, genüge, um alles zu schaffen, was zur 



— 179 — 

Moral notwendig ist. (La conviction de la libertö 
50uffit pour etablir une conscience, un remords, une 
justice, des recompenses et des peines.) Verhielte sich 
die Sache wirklich so, und würden dann alle, die wie 
Galiani die Grundlosigkeit des Glaubens an Willens- 
freiheit und Verantwortlichkeit zu durchschauen meinen, 
sich über die von diesem Glauben „geschaffene" Moral 
hinwegsetzen, von Selbstanklagen und Gewissens- 
bissen über ihre Verfehlungen sich emanzipieren, so 
wäre es allerdings eine verabscheuungswürdige Grau- 
samkeit, das Volk in seinem Glauben an sittliche Zu- 
rechnung und Vergeltung zu belassen und den Qualen 
des strafenden Gewissens preiszugeben. Aber der 
leichtfertige französische Abbe G. schlägt sich mit 
seinen eigenen Worten, wenn er weiterhin schreibt, 
die Überzeugung von der Freiheit konstituiere das 
Wesen des Menschen. Denn daraus folgt, daß die, 
denen diese Überzeugung fehlt, aufhören, rechte Men- 
schen zu sein, sich selber untreu werden, mit sich 
selber in Widerspruch stehen. Oder ob etwa G. 
meinte, wenn der Mensch jene Überzeugung verleugne, 
erhebe er sich über sein eigenes Wesen, werde als 
„Übermensch" sein eigener Gott? Aber welch ein 
„Gott", der auch nicht Ein Mal der Welt selbständig 
gegenübertreten könnte, auch nicht Ein Mal mehr sein 
und mehr werden könnte als ein Sklave der die ganze 
Welt und ihn in ihr beherrschenden Naturnotwendig- 
keit ! Dagegen erhebt sich der Mensch zu wirklicher 
Gottähnlichkeit, zu wahrer göttlicher Würde, wenn er 
alles das, was der höchsten sittlichen Macht Ver- 
wandtes in ihm lebt, alle Keime sittlicher Kraft, 
Tugend und Schönheit in der Lebensluft der F r e i h e i t 
zu fröhlichem Gedeihen zu bringen lernt, an seiner 

12* 



— 180 — 

eigenen Vervollkommnung wie an derjenigen der ihn 
umgebenden Welt arbeitet, dadurch, daß er sich selber 
veredelt, zur Veredlung der Welt etwas beizutragen 
immer tüchtiger wird, und dadurch, daß er auf seine 
Umgebung heilsamen Einfluß übt, sein eigenes Glück 
und Heil erhöht und immer reicher an allem dem 
sich macht, was seinem Leben inneren Gehalt und 
Wert verleiht. Unser Leben würde seiner lichtesten 
Höhepunkte verlustig gehen, wenn wir nicht manchmal 
auf wertvolle Errungenschaften unseres Strebens als 
auf solche, die wir durch selbsteigene Willens- 
entscheidungen, durch freiwillig dargebrachte 
Opfer und aufgewandte sittliche Arbeit und Mühe er- 
worben haben, zurückschauen und etwas von dem er- 
leben könnten, was jenes Dichterwort sagt: „Wem 
wohl das Glück die schönste Palme beut? Wer freudig 
tut, sich des Getanen freut." 

Zwar selbst das Beste, das wir schaffen, 
entsteht nur im Gegensatze und Kampfe 
gegen unsittliche Neigungen; Tugend ent- 
wickelt sich nur aus dem Widerstreit gegen die ihr 
feindlichen menschlichen Triebe , weshalb man von . 
Gott mit Eecht gesagt hat, er habe, da in ihm nichts 
ihr Feindliches ist, keine Tugend (Aristoteles: „Seov 
ovY, eoTiv igsTtf). Auch kann Tugend, obwohl sie manch- 
mal bei ganz religionslosen, auf göttliche Hilfe Ver- 
zicht leistenden Menschen bis zu einem gewissen Grade 
sich kräftig entwickeln kann (vgl. hierzu und zum 
folgenden meine Schrift „Die selbstdge Stellung der 
Sittlichkeit zur Religion" S. 166 ff.), zu vollendeter 
Entfaltung nur gelangen unter Gottes Beistand, durch 
Gottes hilfreiche Einwirkungen auf den 
Menschen. Wenn Kant in einer seiner Schriften 



— 181 — 

(„Streit der Fakultäten") die Tatsache, daß solche 
göttlichen Gnadenwirkungen stattfinden, ausdrücklich 
zugesteht , so erscheinen diese , weil Kant das Ver- 
hältnis von Gott und Welt äußerlich, deistisch, wie 
ein Nebeneinander auffaßt, als von außen willkürlich 
und stoßweise eingreifende oder als magische, mit be- 
strickender Zaubermacht überwältigende, durch die 
eine gesetzmäßige Entwicklung des menschlichen 
Geisteslebens und seiner Selbstbetätigung vielmehr 
gestört und gehindert als unterstützt und gefördert 
und die von Kant selber geforderte sittliche Freiheit 
und Unabhängigkeit, ja Selbstherrlichkeit des von der 
„praktischen Vernunft" geleiteten Menschen ernstlich 
in Frage gestellt wird, ja als unmöglich erscheint. 
Wenn andererseits pantheistisch das Weltall Gott 
gleichgestellt und der Satz proklamiert wird: das 
Universum ist Gott, so kommt man fast unvermeidlich 
zu derjenigen Auffassung der göttlichen Gnadenwir- 
kungen, nach der sie unwiderstehliche sind, so daß 
schließlich der Mensch mit seinen Tugenden nur als 
ihr willenloses Produkt erscheint. In Wahrheit aber 
geht Gott in der Welt, in die er fort und fort, soweit 
er will, und innerhalb der von ihm selber gesetzten 
Schranken eingeht, nicht auf, sondern zieht sich aus ihr 
immer wieder in sich selber gleichsam zurück und erfaßt 
als selbstbewußte Persönlichkeit sich immer neu selbst. 
Wenn wir dies im Auge behalten und uns außerdem da- 
ran erinnern, daß der Menschengeist „göttlichen Ge- 
schlechts" ist und als sittliche Persönlichkeit zu Gott 
als der höchsten sittlichen Macht in unmittelbarer 
persönlicher Beziehung steht und daß die Einwirkungen 
der göttlichen Gnade auf den Menschengeist nicht un- 
vermittelte sind, sondern sich der in Natur und Ge- 



— 182 — 

schichte gegebenen Mittel und Vermittlungen be* 
dienen, so erscheinen sie ebensowenig als willkürliche 
oder magische wie als solche, die unwiderstehlich 
wirken, weil sie alles wirken müssen, was sie 
können, wie Blitz, Sturm, Meereswogen und andere 
Naturgewalten. Vielmehr wir dürfen dann sagen: 
Gott wirket auf den Menschen ein, wie eine sittliche 
Persönlichkeit auf eine andere wirket, also trotz seiner 
unendlichen Macht nicht mit zwingender Gewalt, nicht 
mit unbeschränkter Gotteskraft, sondern, — wenn 
es erlaubt ist, in recht menschlicher und recht unzu- 
länglicher Weise von Gott zu reden — , mit groß- 
mütiger Zurückhaltung und zarter Schonung, so daß 
die Kräfte des Menschengeistes nicht lahmgelegt und 
unterdrückt, sondern zu eigener Tätigkeit und zu 
selbständiger Wirksamkeit angeregt und gestärkt 
werden. Zwar wird da, wo der Menschengeist dem 
göttlichen widerstrebt und seinen Forderungen sich 
nicht nur zu entziehen sucht, sondern sich direkt gegen 
sie auflehnt, oftmals die Einwirkung Gottes eine so 
mächtig andringende und so tief eindringende, daß 
der Mensch sich von Gott gleichsam überwältigt fühlt. 
Aber auch dann ist dem menschlichen Geistesleben 
von Gott nicht Gewalt angetan worden. Sondern in- 
dem er Gottes Kraft so stärk, so gewaltig zu fühlen 
bekommt, wie z. B. der alttestamentliche Prophet 
Jeremias (20, 7), der von sich bekannte: „Herr, du 
bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen," wird 
er selbst dann, wenn er zu so schweren Aufgaben 
berufen wird wie jener, zugleich dessen inne, daß die 
Macht Gottes ihm nicht wie ein fremder Eindringling 
gegenübersteht, sondern daß sie dem innersten Gesetz 
seines eigenen Wesens, insbesondere den Forderungen 



— 183 — 

seines eigenen sittlichen Bewußtseins entgegenkommt, 
entspricht und Erfüllung bringt. Das sind daher die 
freudehellsten Höhepunkte unseres Lebens, auf denen 
wir uns in Wahrheit sagen können, daß wir, von 
Oottes heiligen Kräften gehoben und getragen, von 
Oottes Himmelslicht durchströmt und durchleuchtet, 
Aber doch nicht nur seine Mittel und Werkzeuge, 
sondern seine Mitarbeiter sind und etwas zustande 
gebracht haben, das bleibenden sittlichen Wert und 
blieibende heilsame Wirkungen hat. 

Der vorhin zitierte F. Galliani schreibt einmal 
In seiner paradox pointierten Weise, es würde keinen 
Oott geben, wenn in der Welt ein einziges freies 
Wesen existierte. Aber die Voraussetzung, von der 
AUS er zu dieser Behauptung kommt, daß nämlich 
Oott als das Absolute immer und überall nur 
absolut, d. h. nur in völlig schrankenloser und jede 
selbständige Mitwirkung eines anderen Wesens aus- 
schließender Weise wirken könne, ist bereits von uns 
{S. 140) abgewiesen worden ; und es ist hohe Zeit, sie 
endgültig fallen zu lassen und die Eeligions- 
philosophie, die seit Spinoza mit ihr unzertrennlich 
verwachsen zu sein schien, nach Albr. RitschFs ver- 
dienstvollem Vorgange, ein für allemal von ihr loszu- 
lösen und zu befreien. Und nicht bloß die Religions- 
philosophie, sondern auch die christliche Dogmatik 
muß aus der Befangenheit in dieser irrigen Vor- 
aussetzung immer völliger heraustreten und jede 
Lehre von der göttlichen Vorsehung abweisen, die 
Gott als die alleinige Ursache alles Geschehens in 
der Welt darstellt und deshalb auch alles, was dem 
Menschen begegnet und widerfährt, auf Gott zurück- 
fuhrt. Ja, hohe Zeit ist es, dagegen Einspruch zu 



— 184 — 

erheben. Wenn man die Frage aufwirft, ob etwa 
auch die Versuchung, die Beizung und Lockung zum 
Bösen von Gott komme, — der Jakobusbrief im neuen 
Testament hat längst die richtige Antwort darauf 
gegeben: „Niemand sage, wenn er versuchet wird^ 
daß er von Gott versuchet werde, . . , sondern ein 
jeglicher wird versuchet, wenn er von seiner eigenen 
Lust gereizet und gelocket wird." Man muß aber 
weiter gehen und die Frage aufwerfen: Hat nicht 
Gott, indem er in freier Selbstbestimmung seinem 
Wirken gewisse Schranken setzt, die von ihm ge- 
schaffene Welt bis zu einem gewissen Grade sich 
selber und ihrer eigenen Entwicklung überlassen, so 
daß durchaus nicht jedes Vorkommnis und Ereignis 
in der Welt, wenn es^uch wie alles Sein den letzten 
Grund seiner Existenz in Gott hat, die Wirkung eines 
göttlichen Wollens und Handelns ist, sondern teils aus 
willkürlichem Tun der Menschen, teils aus zufällig 
zusammentreffenden und zusammenwirkenden Kräften 
hervorgeht? Wenn wir wagen, diese Frage zu be- 
jahen, werden viele behaupten, daß wir dadurch gegen 
das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit von Gott, 
wie es namentlich von Schleiermacher zu klassi- 
schem Ausdruck gebracht worden ist, uns versündigen 
und die Gott gebührende Ehre verkleinem. In Wahr- 
heit aber befreien wir dadurch den Gottesglauben 
von einer Menge verwirrender Schwierigkeiten, in die 
er unausbleiblich verwickelt werden muß, sobald man 
Gott für alles Weltgeschehen, also auch für alleVer- 
irrungen und Verderbnisse desselben die Ursächlich- 
keit und die Verantwortung zuschreibt. Allerdings 
würde das der wahren Religiosität eigene Gefühl 
der schlechthinigen Abhängigkeit von Gott und der 



— 185 — 

unbedingten Unterordnung unter Gott nicht zu seinem 
vollen Eechte kommen, wenn man, wie Zarathustra 
in der Religion der Perser tut, dem Gott des Lichts 
und der Güte, dem Ormuzd, einen Gott der Finsternis 
und des Bösen, den Ahriman, zur Seite stellte und 
dabei die Vorstellung hegte, daß jenem der Sieg über 
diesen und die Oberherrschaft über ihn nicht ohne 
die hilfreiche Tätigkeit sittlich guter Menschen zu- 
teil werden könnte. Aber wenn Nachklänge und Nach- 
bildungen dieses Gedankens in die jüdischen und dann 
auch in die christlichen Religionslehren eingedrungen 
sind und noch bei Luther die Vorstellung von der 
ungeheuerlichen Macht des Teufels, die zahllose mora- 
lische wie physische Übel verursacht, eine große Rolle 
spielt, — alle solche dualistische Neigungen 
werden von der siegreichen Macht der im Monotheismus 
zu reinerem Ausdruck kommenden echten Frömmig- 
keit auch da, wo sie sich eingebürgert haben, fast 
ganz unschädlich gemacht, ihre Einflüsse immer weiter 
zurückgedrängt und die von ihnen aufgerichteten 
Schranken, die der unendlichen Machtvollkommenheit 
des allein wahren Gottes durch ihm gegenüberstehende 
feindliche Mächte entgegengestellt werden sollen, 
immer völliger zu Fall gebracht und beseitigt. 
Dagegen liegt darin sicherlich keinerlei Verkleinerung 
und Einschränkung der göttlichen Machtvollkommen- 
heit, daß wir ihm zutrauen, er könne seine erhabenen 
Weltpläne, seine ewigen Gedanken auch dann verwirk- 
lichen, wenn er den Weltmächten, denen er ein gewisses 
Maß von Selbständigkeit gegeben, öfters gleichsam die 
Zügel schießen läßt und dem wilden Aufbäumen ent- 
fesselter Naturgewalten wie trotziger Leidenschaften 
oder finsterer Wahnvorstellungen zeitweilig freien 



— 186 — 

Spielraum gewährt. Oder welches Göttesbild 
ist ehrfurchtgebietender, majestätischer und an»- 
betungswürdiger, das Bild dessen, der, um seine 
Zwecke zu erreichen^ fort und fort alles, auch 
das Geringste selber regieren und leiten, 
selber wirken und schaffen muß? oder das 
Bild dessen, gegen den die Toren sich auf- 
lehnen und die Abtrünnigen sich empören, dem ganze 
Völker den Gehorsam aufkündigen und große Men- 
schenmassen statt des schuldigen Tributs ehrfurchtiger 
Anbetung freche Verhöhnung darbieten, von dem aber, 
weil er seines künftigen Sieges über alle Widersacher 
vollkommen sicher und gewiß ist, der Psalmen- 
sänger sagen kann: „Der im Himmel wohnet, 
lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer?" 
Kein erschaffener Geist vermag die Wege zu er- 
forschen, auf denen der Allmächtige einen Sieg naöh 
dem anderen über die ihm Widerstrebenden erringt 
und die er endlich alle zu Einer großen Via trium- 
phalis verklären wird! Aber das gewahren wir oft 
deutlich, daß dieselben Mächte, die gegen Gott und 
seine sittliche Weltordnung im Kampfe stehen, sich 
auch einander bekämpfen und gegenseitig die einen 
die Kräfte der anderen schwächen und aufreiben. 
Auch das sehen wir: Sittliche Verirrungen und Ent- 
airtungen, die ohne Schuld der Menschen, die ihnen 
verfallen sind, nur durch Vei-erbung, falsche Ge- 
wöhnung, ungünstige Umgebung und umstände ent- 
standen, werden von den betreffenden Menschen eine 
Zeitlang nicht als moralische Übel empfunden und 
erkannt und lassen während dieser Zeit ihre ver- 
derblichen Wirkungen nicht in das innerste Seelen- 
leben eindringen. Aber, sobald sie als das, was sie 



— 187 - 

sind, als unsittlich, als sündhaft von den Menschen 
empfunden werden, erwacht in den Herzen alsbald 
auch ein starker Widerwille gegen sie, ein un- 
aufhaltsamer Trieb, sie zu bekämpfen, zu besiegen 
uiid zu beseitigen, welchen Trieb die Macht des Ge- 
wissens, so oft er zu erschlaffen oder einzuschlummern 
droht, immer wieder anregt und aufweckt. Wir er- 
fahren das an uns selber, indem wir unsittliche 
Segungen irgendwelcher Art, die ohne unser Ver- 
schulden in uns entstanden sind, zu bekämpfen uns 
innerlich getrieben fühlen; und wir können in solchen 
Kampf mit der Zuversicht eintreten, daß Gottes hilf- 
reiche GnadenwirkuDgen (S. 180 f.) uns nicht fehlen 
werden, wenn wir die in Natur und Geschichte, 
namentlich in dem biblischen Evangelium und der 
christlichen Gemeinde uns gegebenen Heilsmittel 
gebrauchen und im Gebet durch eigene freie Tat 
unsere innerste Seele vor Gott gleichsam weit auf tun 
in demütigem Sehnen und Verlangen. 

. Dieselbe Zuversicht aber tröstet uns, wenn die 
Willkür anderer Menschen oder ein zufälliges Zu- 
sammentreffen in unser Leben störend und schmerz- 
lich verwirrend eingreift. Der Gedanke, von Zufall 
und Willkür abhängig zu sein, mag manchmal im 
• Menschen das Gefühl wachrufen, in solcher Lage von 
Gott verlassen zu sein. In Wirklichkeit aber ist es 
nicht so. Was zufälliger- oder willkürlicher- 
weise geschieht, ist darum, weil es so ge- 
schieht, dem Einwirken Gottes nicht etwa 
gänzlich entrückt. Es liegt vielmehr jedenfalls 
etwas Wahres in dem kühnen, von E. Kothe („Zur 
Dogmatik") zitierten und acceptierten Worte, das den 
Zufall als „Domäne" bezeichnet, „die Gott sich in 



— 188 — 

der Welt vorbehalten hat"; nur daß dies nicht so 
verstanden werden darf, als ob die göttliche Vor- 
sehung ausschließlich oder vorzugsweise im Bereich 
des zufälligen und des willkürlichen Geschehens 
walte, und nicht hauptsächlich durch ihre unabänder- 
lichen, gesetzmäßig sich vollziehenden Ordnungen be- 
stimmend und regierend auf Welt und Menschen ein- 
wirke, oder als ob auf alles Zufällige und Willkür- 
liche Gottes Einwirkung und Leitung sich erstrecke. 
Mag aber die menschliche Freiheit, wie Lotze meint, 
nur in außerordentlich geringer Weise den Weltplan 
Gottes durchkreuzen oder in größerem Maße und Um- 
fange, und mag manchmal die Ungewißheit, ob eine 
bittere Not und Trübsal vielleicht durch eine ganz 
geringfügige Willkürhandlung eines anderen Menschen 
verursacht sei, sich recht schmerzlich fühlbar machen, 
— jede Not, wodurch sie auch hervorgerufen sein 
mag, soll, abgesehen von der Anregung, Anspannung 
und Ausbildung, die des Menschen intellektuelle Kräfte 
durch sie erfahren, seine sittliche Tatkraft stählen und 
dazu beitragen, daß seine Wahlfreiheit über sich 
hinaus zu der sittlichen Freiheit erhoben 
werde, in der sein Plflichtgefühl und seine Herzens- 
neigungen, die Forderungen seines Gewissens und die 
tiefsten Bedürfnisse seines Gemüts so sehr Eins ge- 
worden sind, daß der Mensch gar nicht anders kann, 
als den Geboten der Pflicht und des Gewissens nach- 
zukommen, daß es ihm gleichsam zur anderen Natur 
geworden ist, Gutes zu tun und Liebe zu üben, Liebe 
wie zu den Menschen so auch zu Gott. 

„Wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß 
Gott ihn wieder liebt." In diesem Worte Spinoza's 
ist eine bedeutsame Wahrheit enthalten. Zwar be- 



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darf es einer wesentlichen Ergänzung. Denn nur 
wer selber keine wahre Liebe hat, ist geneigt, auch 
anderen solche nicht zuzutrauen; wer aber Liebe im 
eigenen Herzen hegt und pflegt, glaubt gern und 
leicht auch an die Liebe anderer, auch an die Liebe, 
die Gott zu uns hat. Es ist ihm etwas Selbstver- 
ständliches, daß das, was für uns Menschen die Mutter 
und die Krone aller sittlichen Vorzüge ist, die Liebe, dem 
Wesen Gottes in unendlicher Fülle und Vollkommen- 
heit innewohnt. Aber er will nicht „verlangen", 
nicht fordern, nicht als sein Eecht in Anspruch 
nehmen, „daß Gott ihn wieder liebt". Er ist sich 
demütig bewußt, schon weit mehr Liebeserweisungen 
von Gott, namentlich durch Christum, empfangen zu 
haben, als er verdient hat; und in diesem Bewußtsein 
begehrt er vielmehr, Gott etwas zu geben, als un- 
aufhörlich nur von ihm zu empfangen. Obwohl er 
Gott gegenüber sich arm und bedürftig fühlt, drängt 
es ihn, das Wenige, das er hat, das armselige Stück- 
werk und Flickwerk, das er das Seine nennt, Gott dar- 
zubieten, ihm Opfer zu bringen, die Opfer dankbarer 
Liebe. Darum begehrt er, selbst in den schwersten 
Bedrängnissen und Kümmernissen, in denen er davon, 
daß Gott ihn liebet, gar nichts fühlt, gar nichts er- 
fährt, kindliches Vertrauen und innige Liebe zu Gott 
im Herzen zu hegen und zu pflegen und seine Willens- 
freiheit dadurch zur würdigsten und erhebendsten 
Betätigung zu bringen, daß er ebenso freudig den 
leidenden Gehorsam opferwilliger Gottergebenheit 
beweist, wie er dem Gott, der gar keines Helfers bedarf 
der aber aus Gnaden ihn zum Mitarbeiter bei Bekämp- 
fung alles Bösen und Förderung alles Guten berufen 
und angenommen hat, tatkräftigen Gehorsam leistet. 



Drnckfehlerberichtigttng. 

S. 6 Z. 8 V. u. ist zu lesen: T. statt D. 



58 „ 16 „ 


» 


„ „ „ „Monaden" statt Monade. 


89 „ 7 „ 


n 


„ „ „ „seinen" statt seine. 


160 „ 16 „ 


n 


„ „ „ „schiebe" statt schieben. 


173 „ 1 „ 


0. 


„ nach „denn" einzufügen: „wie". 


173 , 2 „ 


n 


„ zu lesen statt „also": „so". 


175 „ 10 „ 


n 


„ „ „ „ „seinem": „seinen". 


175 „ 11 „ 


n 


„ „ „ „ „ihnen": „ihm". 



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