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LG
,, S c in m e r i n y /p/2'"
von
Peter Altenberg
S. Fischer , Ferlag^ Berlin
1913
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1913 S. Fischer, Verlag, Berlin.
INHALT
Idylle 13
Bergeswelt 15
Bozen 16
Gartengedanken 17
Frühstück in Klagenfurt 21
Die Tänzerin 22
Zwei Skizzen 27
Erziehung 29
Poliere 31
Forellenfang 33
So wurde ich 35
Loca Minorum resistentium 37
Dolomiten 39
Mama 41
Moderne Annonce 43
Semmering 44
Winter auf dem Semmering 45
Vollkommenheit 46
Nachwinter 47
Heimliche Liebe 49
Das Kino 51
Lebensbild 52
Im Jänner, auf dem Semmering 53
Noch nicht einmal Gedankensplitter 54
Die Kostüme auf dem Semmering in der Silvester-
nacht 57
Fortschritt 58
Abschied 60
Besuch 61
Buchbesprechung 63
7
Ein Brief . 65
Das Hotel-Stubenmädchen 67
Gespräch 68
Bobby 69
Psychologie 71
Hotelregisseure 73
Das Glück 75
Das Duell 76
Stammgäste T]
Sanatoriimi für Nervenkranke ^^
Die Romantikerin 1 83
Erbleichet! Errötet! 85
Ostermontag auf dem Semmering 86
Berghotel-Front 88
Landpartie 89
Psychologie 91
Vor- Vorfrühling 93
Gedenkblatt 95
Oberflächlicher Verkehr 97
Beaute 99
Die Spielereien der reichen Leute 100
Richtige, aber eben deshalb wertlose Betrach-
tungen lOI
Die Probe 102
Ereignis 103
Ende 104
Nach abwärts 105
Abschied 106
Kranken-Toilette 107
Kusine 109
Lied iio
Echt III
8
Gespräch 112
Bilanz 113
Sehr geehrtes Fräulein! 115
Herbsthed 116
Ewige Erinnenmg 117
Gesang 118
Souper 119
Die Wagenfahrt 120
Konzertpause 121
Schönheits- Konkurrenz auf dem Semmering,
Sommer 1912 122
Auf Wache 123
22. August 124
Wie ist es?! 125
Vom Rendezvous 126
Examen 127
Les Lärmes 128
Testament 129
Aconitum Napellus 130
Manövers 131
Gift 132
Luftveränderung 133
Ein Nachtrag 135
Buchbesprechung 137
An— 138
Nekrolog (Fritz Strauß) I39
Erster Schnee 140
Der Maler 141
Betrachtungen 143
Ur-Seele 144
Frage 145
Letzte Unterredtmg 146
9
Landpartie 147
L'amour 148
Kleine Mittel 149
Nervenärzte 151
Plauderei 153
Richtig 154
Reminiszenzen 155
Werte 157
Zu den „Olympischen Spielen" 159
Brief vom Semmering 161
Fahrt 163
Lied 166
Abschied 167
Gespräch mit einer Baronin, Exzellenz-Frau,
über ihren herrlichen zwölfjährigen Sohn . . 168
Entzweit 169
Gespräch mit der sechsjährigen Sonja Dun-
gyersky 170
Gleich beim Hotel 171
Gespräch mit einer wunderschönen Dame von
30 Jahren . 172
Plauderei 173
Gegen 174
Rompe! 175
Waschungen 176
Respekt 177
Falzarego-Paß-Höhe 178
Enterbte des Schicksals 179
Frühhng 180
Erlebnis 181
Die Tänzerin 182
Meine Ehrungen 183
10
Klara 184
Berghotel-Terrasse, Semmering 185
Erkenntnis 186
Klara 187
Ein Komtessen-Brief 188
Märchen des Lebens 189
Worüber man noch immer weint, und ewig
weinen wird! 190
Besuch 191
Liebesgedicht 192
Das größte Kompliment 193
Le monde 194
Ein Regentag 195
In 24 Stunden 196
Hotel-Stubenmädchen 197
Modemer Dichter 198
Natur 199
Noch nicht einmal Splitter von Gedanken. . . 200
II
IDYLLE
Merkwürdig ist diese „bürgerliche Liebe", nie ein
Höhepunkt, und alles überfüllt mit süßer Pflicht.
Immer, immer schreiben sie sich, vergessen nie die
kleinsten Details der täglichen Lebensführung. Zum
Beispiel: ,, Denke Dir, Karl, heute mittag gab es
Obers-Scheiterhaufen in Himbeersaft, Deine Lieb-
lingsspeise!" Oder: ,, Gestern abend war mir nicht
ganz wohl, aber heute morgen schon war es vorüber."
Oder: ,,Du gehst mir halt an allen Ecken und Enden
ab. Du zärtlich Besorgter!" Immer schreiben sie sich,
um aus dem lauen Dauerbade ihrer faden Zusammen-
gehörigkeit ja nicht herauszukommen! Ein ödes
Nichts wird ihnen eine Lebensfrage, immer muß ein
Teil den anderen erretten aus irgend einer schwierigen,
fatalen Situation, zum Beispiel, wie man am besten
die englischen Hemden hier zum Putzen geben könne,
ohne befürchten zu müssen . Ich verstehe
nur nicht, wie zwei Menschen diese Rolle durchführen
können bis ans Lebensende ! ? Es ist ein mysteriöser
Kitt vorhanden von unbedeutenden Wichtig-
keiten, eine perfide Solidarität, ein Frontmachen
gegen die Umwelt mit ihren hunderttausend Kompli-
kationen, eine geniale Vogel-Strauß-Politik der
Seele! Sie wollen nur sehen, was ihnen zu sehen
frommt! Wenn es sich wenigstens um einen treuen
Hund handeln würde; aber um Menschen, um Men-
schen ? ! ? Liebe, die keine ist, Aufmerksamkeiten, die
keine sind, Besorgnisse, ohne besorgt zu sein, Freuden,
ohne freudvoll zu sein. Und beneidet wollen sie sein,
anerkannt! Oscar Wilde, Paul Verlaine, und Ihr
13
anderen Ungetüme der Lebensführung, seid gepriesen
und gesegnet! August Strindberg war ein Anar-
chist, mit einer ,,bürgerHchen Seele"! Das war sein
Verhängnis! Man muß ein Anarchist sein, mit einer
anarchistischen Seele!
14
BERGESWELT
Bergesregionen, dort wo ,, nichts mehr gedeiht"
als Krummholz, sturmgebogen, ist seit jeher meine
,, Märchen weit"! Nach 40 Jahren fand ich das wieder
auf dem ,,Falzarego-Passe", ,,Tre Croce", ,,Pordoi-
joch-Paß". Weißgraue Felstrümmer, schwarze trie-
fende Erde, Zirbelkieferwälder bis an die Hotels
herankriechend. Von Felsen träufelt, rieselt es, Nebel-
fetzen überall. Nichts will gedeihen als die Edel-
Einsamkeit. Vor dem Pordoijoch-Hotel grau-
schwarze Wälder von dichtem Erlengebüsch, dem der
Bergsturm nichts antut. Es braust nur und er-
schauert. Daß hier nichts mehr gedeiht, ist die
Düster- Romantik der Bergeswelt. Keine Farbe
einer Blume, kein Schrei eines Vogels, kein Schmetter-
ling, kein Käfer. Diese tönende Eintönigkeit!
Eine schrieb ins Fremdenbuch ein: ,,Ohne Jemanden
nicht leben können und wollen, selbst werm man es
vorher bestimmt geglaubt hatte hier ver-
gißt man darauf!"
15
BOZEN
Auf dem Hauptplatze in Bozen steht das Walther
von der Vogel weide-Denkmal aus Sandstein. Er hat
die Stellung des Wolfram von Eschenbach, bevor er
das Lied singt an die selbstlos Geliebte. Das ist sehr
gut. Denn auch Vogelweide war so Einer. Er besaß
die Kraft, zu singen und zu weinen! Nun setzten sich
gerade auf seine Kappe zwei Tauben, und pflogen
emsig der Liebe! Vogelweide hielt ganz still dabei,
in seine Träumereien versunken von Liebesleid,
gönnte den Tauben ihr billiges, leicht erreichbares
Vergnügen.
i6
GARTENGEDANKEN
Ich habe nichts hinzugelernt durch das ausge-
zeichnete Buch „Gartengestaltung der Neuzeit", und
dennoch habe ich das Höchste profitiert — die Festi-
gung meiner Intuitionen! Gärten wirkten seit jeher
auf mich wie die Natur selbst; so eine eingefangene
und dennoch freigelassene Natur, ein Extrakt der-
selben! Unser Wiener Rathauspark ist mir ein Muster,
nur fehlt ihm die romantische Verwendung von Wasser
in Form von unregelmäßigen Bassins und Wiesen-
bächlein samt Wasser- und Sumpfpflanzen! Ich
schrieb schon vor 15 Jahren eine Skizze : „Der Farben-
garten". Zum Beispiel Graufichte, Picea pungens
glauca, graue Bodenbedeckungspflanzen, grauer
Steinbrunnen und Rosen, Rosen, Rosen. Irgendwo
an einem Baumast ein silberner großer Käfig mit
einem grauen Papagei, Lori! Zwei-Farben-Gärten!
Nun einige Anregungen: weite Rasenflächen sind still-
aristokratisch, werden aber durch alte, knorrige, spär-
lich unregelmäßig hingesetzte Obstbäume sofort be-
wegt-romantisch! Es dürfte nie heißen: ein Garten,
sondern immer nur: sein Garten. Goethe hat einen
andern Garten als Victor Hugo.
Wasserpflanzen und Steinpflanzen erfordern Bas-
sins und Mauern. Diese können aber nicht diskret
bescheiden genug sein. Der Kurpark in Baden bei
Wien entspringt gleichsam einer dunklen, echten
Waldquelle, die die Wiesenabhänge herabstürzt, sich
zerteilend und winzige Tümpel bildend. Hier ist die
Natur am allerdiskretesten organisiert! Ein enragier-
ter Feind jedoch bin ich seit jeher der Teppichbeete,
17
die mir wie als Smymateppiche mißbrauchte Blumen-
pracht erscheinen. Man überlasse diese stilisierten
Farbensymphonien den Webern und Knüpf ern. Ich
bin gegen die Riesenlineale, Riesenzirkel, gespannten
Stricke der Gartenkunst! Rhabarber erscheint im
Gemüsegarten als Nutzpflanze, an Teichen jedoch als
Wildstaude, pittoresk. Jeder Platz eine andere Welt!
Waldrebe, Klematis, ist, an alten Bäumen, unsre
,, Liane des Urwalds". Der Boden ist so reich, daß
er auch noch die Schmarotzer in Üppigkeit erhalten
kann, Immergrün als Bodenbedeckung ist ein natür-
licher Rasen. Rasen braucht doch Schneiden, Spritzen,
Walzen und Düngen. Rasen will ,, gepflegt, gehegt"
werden. Immergrün ist einfach immer grün. Es läßt
den Wurzeln aller andern Pflanzen das Regenwasser,
das Gießwasser, das Tauwasser, das Schneewasser,
während der Rasen sich vollsauft und andre ver-
dursten läßt ! Selbst im Winter gibt Sedum spurium
noch einen lebendigen brävmüchgrünen Bodenüber-
zug, während unser Rasen dann nur ,, Winterlieder
zum Cello" in der Seele hervorbringt. Sedum spurium
wirkt körperlicher, plastischer, naturgemäßer, dich-
ter, verworrener als Rasen, der mir stets den Eindruck
von geschnittenem Samt und Plüsch hinterläßt.
Ich bin sehr für Trockenmauerwerk mit schmiede-
eisernen Geländern und dicht bepflanzt mit Kapu-
zinerkresse. Wie wenn die überstarke Natur auch da
noch Stein und Eisen schmücken möchte mit Grün
und Dunkelgelb. Zur Schlingpflanze gehört ihre
Stütze. Man soll sie sehen, sie ist ein naturgemäßer
Schmuck. Ihr Holzgitterwerk kann daher sogar aus
Edelholz sein, oder in diskreten Ölfarben, Ocker, Ruß,
i8
steingrau. Ich weiß nicht, weshalb man nicht an
niederen Ästen von exotischen Bäumen, Tulpen-
baum, Trompetenbaum, herrliche Käfige mit exoti-
schen Vögeln aufhängt , so als Urwaldstaffage ? !
Brombeere, Himbeere, Kletterrose sind mir ein sym-
pathisches Dickicht, so Domröschen wald, undurch-
dringlich einsam. Weshalb sind Villen nicht dicht
bedeckt mit Bauerngärtengeranke ? ! Ein Überfluß
der Reichen und der Armen.
Steinplattcnwege im Garten, in deren Fugen
Blumen sprießen, sind romantisch. Das Haus ströme
gleichsam in den Garten aus, erweitere sich, erhöhe
sich zum Garten, verliere seine Bedachungen, an
deren Stelle der blaue Himmel, die graue Wolke
tritt. Ich sah an einem Lindenpark ein dickes rotes
Backsteinportal mit eichener Holztür. Da können
keine Talmimenschen wohnen, sondern nur gediegene.
Grellrote Holzpforte zwischen Granitmauern. Gelbe
Eschenholzpforte zwischen weiß-schwarzen Beton-
mauem.
Weiße Rankrosen geben Märchenstimmung. Gar-
tenlaube am Wasser, Nachmittagstraumplatz. Bu-
chenjungwald, wunderbar im Vorfrühling und im
Spätherbst. Ein Teppich von raschelnden braunen
Blättern darunter. ,, Warte nur, balde, ruhest du
auch!"
Weshalb bepflanzt man die Bergwiesen in Berg-
gärten (Semmering) nicht dicht mit Wacholder,
Rhododendron, Zirbelkiefer, das, was Rax und
Schneeberg von selbst leisten in ihrem künstlerischen
Naturgeschmack?! Stauden vor Gebüsch, ein ideales
Ausklingen! Birken, Schlehen, Eriken, und schon
19
ahnst du den Sandboden der „Mark". Mit gewissen
Pflanzen kannst du ferne Gegenden herzaubern!
Meine LiebHngsbäume : Lärche, Graufichte, Knieholz,
Blutbirke, Rotbuche, Weide. Wasser, Wasser, fließend
oder stehend, du bist der Dichter in dieser Realität:
Landschaft !
20
FRÜHSTÜCK IN KLAGENFURT
6 Uhr. Im Cafegarten stehen sechs uralte Kasta-
nienbäiime. Über einer riesigen ganz flachen Brunnen-
schale aus (iranit steht ein splitternacktes 15-jähriges
Mädchen aus Bronze, die ihre Haare trocknet. Die
Haare entlang, die mit den Händchen zusammen-
gedreht sind, fließen langsam ununterbrochen Wasser-
tropfen in das Granitbassin. Das lieblichste Antlitz
erinnert mich an sie. Ich starre ihr Gesicht an, und
dann, plötzlich, eine andere Stelle ihres herrlichen
Leibes.
Siehe, ihr Gesicht ist sie, sie, von Allen unter-
schieden. Das Andere aber sind Alle, Alle, Alle.
Ich wiederhole diesen Blick -Wechsel, und erkenne
die Tragödie unseres Lebens!
21
DIE TÄNZERIN
Das Kind, allein in der Garderobe der Tänzerin,
ordnet liebevollst alles .
Sie setzt sich dann in eine Ecke auf ein niedriges
Stockerl, kauernd in sich versunken.
Die Tänzerin kommt, erhitzt, erregt vom Tanzen.
Sie setzt sich an den Toilettetisch.
Sie wendet sich um, erblickt das kauernde Kind.
,, Immer, Marie, kauerst du da in der Ecke in
meiner Garderobe, stundenlang. Wird dir denn das
nicht langweilig ? ! ? "
„Nie, Fräulein! Nur Menschen, die ich nicht lieb
habe, langweilen mich. Menschen, die ich lieb habe,
langweilen mich nie ! Wodurch soUten sie es ? ! ?
Alles an ihnen ist mir wert und teuer. Ich könnte
ihnen zuschauen von früh bis abends."
Die Garderobiere blickt herein:
,,Was ist das, Mizerl, schon wieder da?! Das
Fräulein wird sich bedanken. Entschuldigen Sie,
Fräulein, der Fratz ist gar so romantisch veranlagt.
Der Vater sagt immer: ,Wie du zu uns ehrsamen
Bürgersleuten kommst — — — .' Gestern hat sie
beim Nachtmahl gesagt: , Jetzt verbrenn' ich alle
meine dummen Märchenbücher ich habe eine
lebendige Fee gefunden!* So ein Fratz, was?! Man
soUt's nicht für möglich halten. Aber bitt' Sie, lo
Jahre!? Sie wird's schon billiger geben als mit den
,lebendigen'Feen'! Die Männer tun' uns beizeiten die
Märchen austreiben ." Ab.
Das Kind : , .Meine Mutter blamiert mich vor Ihnen.
Sie versteht gar nichts von meiner Andacht. Ich habe
22
eine Andacht für Sie, obwohl Sie nur eine Tänzerin
sind!"
Es klopft.
„Blumen abzugeben von einem Herrn von Wil-
ligsdorf ."
Türe zu.
Es klopft.
„Ah. Max ."
„Ich bin entzückter von dir als je. Du hast dich,
gestatte mir die konventionelle Phrase, selbst über-
troffen. Aber das empfinde ich! Gott, daß diese
kalten Kerls das mitgenießen dürfen ! ? Aber Gott
sei Dank, sie könnens nicht! Nur ich kann es, nur
ich kann es, nur, nur ich ! Wenn du mir das wenigstens
glauben könntest, H61^n, nur das wenigstens. Es wäre
fast alles! Mehr brauchte man ja eigentlich gar
nicht!"
,,Ich glaube es dir, Max, sonst könntest du es
unbedingt nicht so leidenschaftlich überhaupt vor-
bringen!"
„Diese schönen Blumen! Irgend jemand versucht
es mit 50 Kronen mein Lebensglück zu zerstören!"
„Jawohl, Max, alle versuchen das, andere wollen
es sogar noch billiger unternehmen und geschickter.
Aber alles hängt bei uns Frauen von unserem guten
Willen ab; und den habe ich nur für dich! Es ist
vielleicht ein Zufall, aber es ist so, Max!"
Er führt ihre Hand tief gerührt zum Munde. Das
Kind steht auf, küßt ihm ehrerbietigst die Hand.
„Wer ist dieses Kind?!?"
,,Es ist das Töchterchen unserer Garderobiere!
Sie kauert immer in der Ecke meiner Garderobe, hält
23
alle meine Sachen in bester peinlichster Ordnung
t<
,,Hast du die Tänzerin auch so lieb wie ich ."
„Das kann ich nicht wissen ."
„Möchtest du ihr alles, alles verzeihen, sogar wenn
sie dir ganz ohne Grund eine schreckliche Ohrfeige
gäbe?!?"
,,Ja, ich möchte es ihr ganz gewiß verzeihen,
wegen ihres Tanzens, das ich gesehen habe. Ich
möchte mir nur denken : Weshalb tust du das einem
Menschen an, der dich so lieb hat ? ! Wenn du eine
Ohrfeige austeilen willst, gib sie doch lieber einem,
dem du gleichgiltig bist! Der spürt es doch weniger
schmerzlich ."
,,Ich glaube, du bist eine gefährlichere Konkur-
rentin für mich als die Herren, die Blumen schicken
(C
Ab.
Es klopft.
Der Theatermeister.
,,Herr Theatermeister, Sie haben wieder zu spät
hell gemacht, wenn die Sonne bei meinem Tanze
endlich sieghaft durchdringen sollte. Es ist schreck-
lich. Ich glaube, Sie machen es absichtlich ."
„Fräulein, so etwas lasse ich mir von niemandem
sagen. Das ist eine Gemeinheit, Sie verzeihen
schon ."
Die Tänzerin legt ihren Kopf auf den Toilettetisch,
beginnt bitterlich zu weinen. Das Kind erhebt sich
langsam, macht einen Schritt gegen den Theater-
meister, streckt sich, hebt den Arm, sagt: , .Hinaus,
Sie roher Mensch!"
24
Der Theatermeister geht langsam ab.
Das Kind kauert wieder in seiner Ecke. Die
Tänzerin weint wie ein Kind. Dann trocknet sie ihre
Tränen.
Sie wendet sich nach dem Kinde um.
„Niemand hat mich so Heb wie du, niemand
ii
Das Kind erhebt sich, steht kerzengerade: „Ich
möchte alle töten, die Ihnen etwas Böses antun,
Fräulein !"
Ein Diener bringt eine Karte.
„Bitte ."
Ein älterer Herr tritt ein.
,,Mein Sohn hat sich gestern erschossen, Ihret-
wegen — — — . Konnten Sie ihm wirklich nicht
helfen, daß er diese seelische Krankheit besiege?!?"
,,Nein, ich konnte es nicht, obzwar ich ihm dezi-
diert sagte, daß er mir völlig unsympathisch sei!"
,, Vielleicht hätten Sie es ihm eben nicht so dezi-
diert sagen sollen ."
,, Pardon, mein Herr, ich mußte es! Ich bin eine
arme Tänzerin, ausgesetzt ununterbrochen allen Ge-
fahren, die es überhaupt für eine Frau gibt! Über-
lassen Sie mir das heilige Recht, gegen Eindringlinge,
gegen ,,Buschklepper der Seele", ,, Rowdys der Seele",
mich zu wehren!"
,,Ich bitte Sie um Verzeihung, Fräulein. Ich bin
aber der unglückselige Vater ."
Ab.
Das Kind stürzt zu den Füßen der Tänzerin hin:
,,Was haben Sie da angestellt, Fräulein?!?"
,,Kind, das verstehst du nicht, das verstehst du
25
nicht . Das Leben stellt so viel Schreckliches
mit uns an, und wir, wir können es nicht hindern —
((
Das Kind kauert weinend in seiner Ecke.
Der Theatermeister erscheint:
„Fräulein, es kommt gleich Ihr Tanz in der
Krinoline ."
,,So, ich danke Ihnen. Bringen Sie aber die Be-
leuchtung richtig diesmal."
„Gewiß Fräulein ."
,,Und du, Kind, warte auf mich hier. Ich kann
dich nicht mehr entbehren ."
Vorhang.
26
ZWEI SKIZZEN
Das kleine Leben
Ich sah Arbeiter an einer Telegraphenstange ar-
beiten, die im Hochwald der Nachtsturm zerbrochen
hatte, von 7 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Es frap-
pierte mich, wie sorgenlos sie waren, keine Spur eines
Gedankens darüber, ob es denn dafürstehe, auf die Welt
gekommen zu sein, um abgebrochene Telegraphen-
stangen im Hochwald, der dem Fürsten gehört,
wieder praktikabel zu machen. Im Gegenteil, sie
schienen es für das Wichtigste von der Welt zu halten,
daß die Telegraphenstange sobald als nur irgend mög-
lich wieder hergestellt werde. Es waren Telegraphen-
stangenärzte. Um sie herum waren Gimpel und Eich-
kätzchen auf Altfichten, Regen kam, Nebel und wie-
der Sonne ; aber immer war alles konzentriert auf die
Errichtung der Telegraphenstange. Ihr gehörte ihre
ganze Sorge, sie war ein Teil des Weltgetriebes. Es
gab Genies unter diesen Arbeitern, die alles mit einem
Schlag erfaßten, was zu tun war; dann waren Be-
dächtige, Vorsichtige; und dann waren Tagarbeiter
nach vorgeschriebener Pflicht. Die ganze Menschheit
also war eigentlich um diese Telegraphenstange im
fürstlichen Hochwald versammelt. Ich ging vorüber
und verteilte Trabukos, a la Kaiser Josef, nur billiger.
Weshalb nicht ? ! Das Prager Tagblatt hatte mir doch
gerade für Nachdruckhonorare 9 Kr. geschickt. Nach'
drucken ist doch schon Ehre genug. Das Geld setzte
ich teilweise in Mäzenatentum und in Menschheits-
beglückung um. Die Arbeiter waren ganz verblüfft.
Einer sagte: ,,Auf der Liechtensteinstraße hat der
27
Sturm einen halben Meter dicke Bäume abgeschla-
gen!" Diese Mitteilung war eine Art von Revanche
für meine Liebens\vürdigkeit. ,,Ist es möglich?!"
sagte ich freundlich erstaunt, und ging befriedigt von
dannen.
Liebesgedicht
Niemand beachtete dich, edle, verschwiegene
Goldrote, in dienender Stellung
Ich zog dich hervor aus deinem Versteck und seg-
nete dich.
Da wurden die anderen aufmerksam, schickten
Blumen und Briefe ....
Da zog ich mich zurück.
„Sind Sie eifersüchtig?!" sagte sie.
,,Nein, aber ich hasse die elende Dummheit
der Männer, die erst einen alten kranken glatzköpfi-
gen Bettler brauchen .... Wer, wer sagte mir, daß
man um Sie sich grämen dürfe . . .?!?"
,,Aber um Gotteswillen, irgend jemand muß einen
doch entdecken, wozu sind denn die Dichter da?! ?"
28
ERZIEHUNG
Ich habe einen scharfen Bhck für Mütter, die die
„PersönUchkeit" ihres gehebten Kindchens achten
und berücksichtigen . Es sind das sogenannte Künst-
lernaturen des Lebens selbst! Siebetrachten ihr
Kindchen als ein von ihnen geschaffenes „lebendiges
Kunstwerk", apart und vor allem den meisten un-
verständlich, die mit dem Ausspruche: ,,ein ganz
nettes Kind, nichts weiter", ihre künstlerische Un-
fähigkeit klar erweisen. Merkwürdigerweise funk-
tionieren so brutal-verallgemeinemd fast alle Väter,
ciic immer nur den Herrn Hofrat wittern, der einst,
in der Ferne, erscheinen soll und zu dem Kindchen
sagen soll: ,,Du bist mein alles!" Daß das gar kein
Kompliment sein wird für das Töchterchen, spüren
sie nicht! Du bist mein alles, ja, aber wessen alles,
darauf kommt es an! Viele Mütter hingegen haben
eine künstlerische melancholische Zärtlichkeit. Sie
teilen das Leben ihres Kindchens in ,, interessante,
spannende, merkwürdige Lebenskapitel" ein, sind
selbst äußerst gespannt, wie der Roman enden werde,
während die Väter ein biblisches Dogma aufstellen,
über das das Leben jedoch nur ein flüchtiges Lächeln
hat. Mütter wissen, wie ihr Kindchen geht, steht,
sitzt, wann es verlegen ist oder düster, Väter wissen
höchstens, ob es ,, Stuhl" gehabt habe, und das wissen
sie nicht einmal. Ein schreckliches Wort leitet sie
durchs ganze Leben ihres Kindes, das Wort ,,gedie-
gen". Alles soll ,, gediegen" sein, die Lehrer, die Gou-
vernanten, der ,, Zukunft ige", der ,, Charakter". Das
ganze kommt mir vor, wie das Wort ,, gediegenes
29
Gold", das auszusprechen schon eine Art Berau-
schungsmittel ist! Ich glaube nicht, daß Eleonora
Düse, Sarah Bernhardt, Yvette Guilbert, Fanny Els-
1er, Adelina Patti, Bird Millman, Barbarina Cam-
panini sehr ,, gediegen" waren, jedesfalls war es eine
höchst nebensächliche Eigenschaft dieser Damen,
deren Väter jedesfalls auch nur sich ,, Gediegenheit"
erwünscht hatten für ihre Töchterchen! Mütter
„beobachten" das Leben ihrer Kinder, Väter
schreiben es ihnen vor! Sie sind selbst durch
Beruf, Sorge, Eitelkeit, Ehrgeiz, Konkurrenz, Rück-
sichten Geknechtete des Daseins, erwünschen das-
selbe daher ihren Sprößlingen. Künstlerisch empfind-
same Mütter hingegen trauern um ihr eigenes Le-
bensgefängnis, möchten ihren geliebten Töchter-
chen den weißen Flug gönnen ins ,, romantische
Land"!
30
POLIERE
Ein Märtyrer unserer , .Neubauten" ist der Polier.
So ein stiller kleiner Feldherr, der alles Wichtigste
überwacht, und den niemand, niemand kennt und
anerkennt. Wir haben da den Bauherrn, den leiten-
den Architekten, den verantwortlichen Baumeister
mit seinem Stab, aber den Polier kennt niemand.
Und doch, hier muß unbedingt ,,und doch" kommen,
und doch ist er ebenso verantwortlich wie die, deren
Namen man, wenigstens in Fachkreisen, mit Ehr-
furcht ausspricht, oder mit Geringschätzung, was das-
selbe ist. Die modernen Betonbauten bedürfen in
jeglicher Minute den Sperber blick der Über-
wachung! Freilich ist die gesetzmäßig verlangte
zwanzigfache Tragfähigkeit eine Garantie. Aber ge-
gen Schlamperei gibt es, wie eine jede gute Hausfrau
aus Erfahrung weiß, keine Garantie. Der Poher muß
zur Stelle sein, bei Tag und Nacht, und, obzwar es
naturgemäß unmöglich zu sein scheint, noch dazu an
mehreren Orten zu gleicher Zeit. Ja, sonst ist er kein
brauchbarer Polier! Auch pflegt man ihm gern den
Vorwurf zu machen, daß die Arbeit nicht vom Fleck
rücke, und fragt ihn teilnahmsvoll, ob seine Arbeiter
einen gesunden Schlaf hätten und die Mittagspausen
auch hübsch einhielten, da das sehr hygienisch sei.
Dem Polier gegenüber hat man stets den Ton eines
vorwurfsvollen Erstaunens, man greift sich quasi an
den Kopf, und kann sich nicht hineinfinden, daß die
Sache so langsam vorwärts gehe. ,,Ein jeder Tag
kostet uns Tausende", sagt man, während der Polier
nicht beweisen darf, daß es schneller nicht gehe bei
31
absolut sicherer Arbeit, und schuldbeladen etwas
stammelt, was niemanden befriedigt, da man nicht
zugehört hat. Die großen Herren machen Fehler,
die man ihnen verzeiht, weil man sich nicht vor sie
hinpflanzen kann und sagen: ,,Aber Herr, Herr, was
ist Ihnen denn da wieder passiert?!" Die kleinen
Poliere machen aber nie Fehler, das gehört ja eben
zu ihrem Beruf, kei ne zu machen. Trotzdem ist man
oft über sie ,, vorwurfsvoll erstaunt", und läßt sie
indigniert mitten im Gespräche stehen.
32
FORELLENFANG
75 Kilometer lang ist das gesamte Gebirgswasser
in Naßwald. Es ist flaschengrün, weiß und graugrün;
es steht mäuschenstill in winzigen Felsbuchten, es
schäumt bösartig weiß, es zieht gemächlich graugrün
über flachen Kiesboden. Hinter jedem Stein eine
Forelle! Kein Stein ohne Forelle dahinter, es wäre
denn, daß sie gerade weggeangelt wurde. Hinter
jedem Stein also lauert der heimtückische Insekten-
mörder. Plötzlich wird er von der Angelrute heraus -
geschnellt im Bogen. Man sieht etwas herrliches Sil-
bernes und schon liegt es auf der Wiese. Man schlägt
es an dem Fußabsatz ab, wenn es ein Regenwurm-
fang war, setzt es in den Botticli, wenn es ein Kunst-
fliegenfang war. Es gibt berühmte Kunstfliegen-
angler. Ihre Kunst besteht darin, die Kunstfliege so
auf das Wasser hinzuwerfen, daß es wie eine echte
aussieht. Das ist ja im Leben überhaupt oft so. So
wird man berühmt. Man wirft den Köder aus, und
die Forelle nimmt es für eine echte, und man
hat sie! Forellenangeln und Naturfreund sein, ist
eines! Denn man muß wandern, wandern von Stein
zu Stein. Hinter jedem hockt eben eine. Und diese
Wanderung befriedigt nur, wenn man die umgebende
Natur herzlich lieb hat. Der Hecht verlangt keine
Naturfreude vom Angler. Er steht irgendwo und man
hat zu warten. Man wartet, wartet, bis das Ereignis ein-
tritt. Dann beginnt die Geschicklichkeit. Aber mit
der Natur hat es nichts zu tun. Es ist nur aufregend.
Der Forellenfänger liebt das Gebirgswasser leiden-
schaftlich, er vergißt darüber Weib und Kind, oft
3 33
sogar das Essen. Er versenkt sich in die Details
der Umgebung, ein einziges Zeichen wirklichen
Genießens! Denn ,,in Bausch und Bogen", ist es
brutal und wertlos! Er zieht dahin, von Stein zu
Stein, er sieht alles, alles. ' Und wenn er ermüdet heim-
kehrt mit seiner reichen Beute, glaubt er etwas ge-
leistet zu haben. Ja, denn er hat sich sogar einen ur-
gesunden tiefen Schlaf verschafft!
34
so WURDE ICH
Ich saß im 34. Jahre meines gottlosen Lebens,
Details kann eine Tageszeitung unmöglich bringen,
ich saß im Cafe Central, Wien, Herrengasse, in einem
Räume mit gepreßten englischen Goldtapeten. Vor
mir hatte ich das ,, Extrablatt" mit der Photographie
eines auf dem Wege zur Klavierstunde für immer ent-
schwundenen fünfzehnjährigen Mädchens. Sie hieß
Johanna W. Ich schrieb auf Quartpapier infolge-
dessen, tieferschüttert, meine Skizze , »Lokale Chro-
nik". Da traten Arthur Schnitzler, Hugo von Hof-
mannsthal, Felix Saiten, Richard Beer-Hofmann,
Hermann Bahr ein. Arthur Schnitzler sagte zu mir:
,,Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie dichten!? Sie
schreiben da auf Quartpapier, vor sich ein Porträt,
das ist verdächtig!" Und er nahm meine Skizze
,, Lokale Chronik" an sich. Richard Beer-Hofmann
veranstaltete nächsten Sonntag ein ,, literarisches
Souper" und las zum Dessert diese Skizze vor. Drei
Tage später schrieb mir Hermann Bahr: ,,Habe bei
Herrn Richard Beer-Hofmann Ihre Skizze vorlesen
gehört über ein verschwundenes fünfzehnjähriges
Mädchen. Ersuche Sie daher dringend um Bei-
träge für meine neugegründete Wochenschrift ,Die
Zeit!'" Später sandte Karl Kraus, auch der Fackel-
Kraus genannt, weil er in die verderbte Welt die
Fackel seines genial-lustigen Zornes schleudert, um
sie zu verbrennen oder wenigstens ,,im Feuer zu
läutern", an meinen jetzigen Verleger S. Fischer,
Berlin W., Bülowstraße 90, einen Pack meiner „Skiz-
zen", mit der Empfehlung, ich sei ein Original, ein
3*
35
Genie, Einer, der anders sei, nebbich. S. Fischer
druckte mich, und so wurde ich! Wenn man bedenkt,
von welchen Zufälhgkeiten das Lebensschicksal eines
Menschen abhängt! Nicht?! Hätte ich damals, im
Cafe Central, gerade eine Rechnung geschrieben, über
die seit Monaten nicht bezahlten Kaffees, so hätte
Arthur Schnitzler sich nicht für mich erwärmt, Beer-
Hofmann hätte keine literarische Soiree gegeben,
Hermann Bahr hätte mir nicht geschrieben. Karl
Kraus freilich hätte meinen Pack Skizzen unter allen
Umständen an S. Fischer abgeschickt, denn er ist ein
, »Eigener", ein ,, Unbeeinflußbarer". Alle zusammen
jedoch haben mich ,, gemacht". Und was bin ich ge-
worden ? ! Ein Schnorrer !
36
LOCA MINORUM RESISTENTIUM
Jeder Organismus hat seine sogenannte „Achilles-
ferse", das heißt eine Stelle, an der er besonders leicht
und empfindlich verwundbar ist! Ich zum Beispiel
habe meine Achillesferse im Gehirn, aber nicht, wie
meine boshaften und heimtückischen Freunde (Feinde
sind viel milder gestimmt, indem sie einen in Bausch
und Bogen ein für allemal verurteilen) glauben wer-
den, in meinen Denkpartien, sondern in jener mysteriö-
sen Partie des Gehirns, wo die Eifersucht ihren
Höllensitz aufgeschlagen hat, und zwar die Eifersucht
in bezug auf Männer, die mehr Haare, mehr Geld und
weniger Intelligenz als ich besitzen, also drei den
Frauen besonders wertvoU erscheinende Eigenschaf-
ten! Sobald ich nur ein solches Ungetüm irgendwo
erblicke, das mehr Haare, mehr Geld und weniger
Intelligenz besitzt als ich, bekomme ich sofort, wie
der technische Ausdruck lautet, einen sogenannten
,, roten Kopf", und ich denke nur mehr an Browning-
pistolen, Arsenik oder die Hundspeitsche, natürlich
für den anderen! Ich betrachte meine mich bisher
fanatisch vergötternde Geliebte als bereits endgültig
verloren, und treffe Anstalten, sie grundlos durch-
zuprügeln! Das sind also meine ,,loca minorum resi-
stentium", das heißt zu deutsch, jene Partien unseres
komplizierten Organismus, die auf Reizungen beson-
ders empfindlich reagieren, und zwar sofort! Solche
Partien haben viele Menschen Kellnern gegenüber
oder Raseuren, die sie schlecht bedienen; obzwar in
solchen weniger gefährlichen Fällen ein erhöhtes
Trinkgeld meistens gute Dienste leistet.
37
Die ,,loca minorum resistentium" haben in neue-
ster Zeit einen besonderen Wert gewonnen für die
Herren Ärzte; denn jede Partie des Körpers, über die
ein Patient sich heutzutage beklagt, wird vom Arzt
sogleich ernst und verständnisvoll als: ,,Aha, das sind
Ihre loca minorum resistentium, mein Lieber !
bezeichnet, worauf der Patient sich, zwar nicht ge-
heilt, aber um ein Bedeutendes, vor allem um das
ärztliche Honorar erleichtert, entfernt. Viele Damen
haben solche loca minorum resistentium in ihrem
Organismus, im Augenblick, wo sie an einer Dame
einen kostbarem Pelz bemerken, als sie selbst besitzen.
Aber hier fange ich bereits an banal zu werden, und
deshalb schließe ich hiermit rasch diese immerhin
interessante Plauderei.
3«
DOLOMITEN
Ich hatte mein ganzes Leben lang von den Dolo-
miten gehört, einem „Märchen der Natur". Nun kam
ich, per Auto, halb 8 Uhr abends, ii. August, in
Toblach an. Eine riesige ungepflegte, ja verwahrloste
Bergwiese, die ein feenhafter Berggarten leicht hätte
sein können. Ich ging ein paar Schritte die Fahr-
straße entlang, die ins Gebirge, Monte Cristallo,
führt. Ich sah in die weiße Waldstraße hinein, und war
ganz ergriffen. Jahrelang im ,,Cafe Central", Ecke
Herrengasse — Strauchgasse, und nun am Eingang in
die ,, Dolomiten"! Ich sah Wälder im Abendschatten
und in der Feme einen leuchtenden riesigen Felsen.
Ich kehrte zurück und dachte mir die riesige schreck-
lich ungepflegte Bergwiese vor dem Riesenhotel, be-
wachsen mit Zirbelkiefer, Rhododendron, Speik, so
ein botanischer Berggarten, mit Murmeltieren und
Schneehasen. Aber Toblach begnügt sich, ein , .Ein-
gang" zu sein, und selbst die Geschäftsläden erinnern
an ,,Praterbuden". Nur irgendwo sah ich in einer
Ansichtskartenbude eine 14jährige Verkäuferin. Ich
blickte sie an: „Du, du allein paßt in diesen Dolo-
miten-Märchen-Eingang ! " Da ich den schönen grauen
Gems- Kaiser-Lodenhut auf hatte und sehr gebräunt
war, blickte sie mich freudig-erstaunt an. Ich wollte
etwas sagen, das heißt, ich wollte eben gar nichts
sagen, aber als die Ansichtskartengeschäfte abge-
wickelt waren, blickte ich sie noch immer gerührt an.
Sie sagte auch nichts, aber sie spürte ihre Wirkung
auf mich. Es war nicht sehr lange, und doch vielleicht
oder wahrscheinlich eine besondere Welt, die nie nie
39
mehr wiedererstehen wird. Es ging nicht an, sie
länger anzublicken. Und infolgedessen ging ich. Ich
lüftete nicht den Hut, damit sie nicht sehe, daß ich
kahlköpfig sei ; denn ich mußte auf ihre Träumereien
Rücksicht nehmen, daß ein verhältnismäßig apart
aussehender Herr sie beim Ansichtskartenverkaufe
liebevollst angeblickt hatte . So wie wenn er
ihr Glück wünschte zu ihrem künftigen Schicksale
und sie getreulich segnete mit seinen Augen. Sie hat
gewiß niemand davon erzählt, was gab' es auch darüber
zu erzählen?! Und doch blieb es in ihr. Und doch
wird sie, unmittelbar vor einem ersten Kuß der
Jugendsinne fühlen: „Nein! Ich sehe nicht auf
Deinem Antlitz, Mann, den Zug von Rührung, den der
fremde Herr mit dem grauen Gems-Kaiser-Lodenhute
damals hatte ." Am nächsten Morgen ging
es nach Cortina. Rotgraue Bergwelt, sei bedankt,
gesegnet! Es türmt sich auf, lichtgrau und rosig,
es wächst ins Himmelblau hinein und überall ist
Friede .
40
MAMA
Meine Mama wollte ,,ein großes Haus" führen, um
ihre wunderschönen Töchter reich zu verheiraten.
Das nahm ich ihr übel. Denn, wenn es gelingt, ist es
wie ein Haupttreffer auf eine in der Tabaktrafik ge-
kaufte Promesse. Ich bin gegen das ,, Spiel" im Leben.
Man riskiert zu viel. Das ist es. Also, wie gesagt, ich
war sehr dagegen. Aber in meiner Kindheit hatte ich
einen vollkommen krankhaften Fanatismus für sie,
und meine Liebe zu ihr war keine ruhig-selbstver-
ständliche eines guten anhänglichen Kindes, sondern
zehrte an mir, wie wenn ich ein unglücklich Liebender
wäre, der an ,, inneren Zärtlichkeitsgefühlen" zu-
grunde geht, während doch Mama mich sehr, sehr,
sehr lieb hatte und meinen ,, kindlichen begeisterten
Hlick" zu würdigen verstand. Oft sagte sie: ,,Du
dummer Kerl, was willst du denn, ich hab' dich ja so
wie so riesig gern und außerdem bin ich mit dir sehr
zufrieden, der Hofmeister, die Gouvernante, der
Violinlehrer und Mr. Palotta, alle, alle loben und
lieben dich ." Aber meine Zärtlichkeit für
Mama zehrte an mir. Vor ihr niederknien und den
Saum ihres Kleides mit den Lippen berühren, daran
dachte ich nicht. Ich sah sie an und war voll über-
triebener Zärtlichkeit, als ob ich noch überhaupt be-
wußtlos in ihrem Schöße läge, von ihren Kräften
innerlichst behütet, genährt, gepflegt, so vorzeitig
herausgestellt in eine Welt, in die ich noch nicht
hineingehörte! Mama! Mama! Als ich mit zehn
Jahren, gerade der Primus im Gymnasium, an einer
Fußbeinhautentzündung schwer erkrankte, hatte sie
41
ein Jahr lang ihr Bett neben dem meinen und nahm
nächtelang meine Seufzer in ihr Herz auf. Nach-
mittags sang sie im Nebenzimmer Schubertlieder.
„Ihre Stimme klingt etwas ermüdet !" sagte der liebe-
volle junge Gesangsmeister. „Mein Sohn hat heute
Nacht wieder sehr gestöhnt" erwiderte sie. Eines
Tages sagte Professor Dittel: „Es muß geschnitten
werden, der Fuß ist ganz in Eiterung." Da saß sie
nachmittags an meinem Bette und zupfte aus Lein-
wandfetzen Charpiewolle. „Was machst du da,
Mama?!" — ,Daß die Zeit vergeht" erwiderte sie.
Am nächsten Tage sagte Professor Billroth: ,,Ich
pflege in einem solchen Falle noch nicht zu schneiden,
es wird sich aufsaugen!" Da kniete meine Mama vor
meinem Bette nieder, aber nur für einen Augenblick.
Dann ging sie ins Nebenzimmer und spielte und sang
am Klavier die ,, Forelle" von Schubert. Der Gesangs-
meister sagte: „Heute klingt Ihre Stimme frischer.
Sie dürften gestern eine ruhigere Nacht gehabt
haben!" — „Nein," sagte sie, ,,aber ich werde sie
heute nacht haben!"
42
MODERNE ANNONCE
Semmering, looo Meter Höhe.
Page 69: „C'est ä Saint-Gervais que je devais faire
ce que les Allemands appellent: „Die Nachkur", et
4 laquelle ils attachent ,nonsansraison, une grande
importance."
Die Nachkur ist wichtiger als die Kur!
Eine meiner Thesen, auf die ich mir mehr einbilde
als auf alle meine Dichtungen zusammen, obzwar alle
Ärzte sie seit lange, die These nämlich, kennen.
Die Kur ist der melancholische und mühselige
Versuch, eine gebrochene Maschinerie zu reparieren.
Höchstens bringt man sie da mit Müh' und Not wie-
der auf gleich, kleistert sie zusammen. Aber die
Nachkur ist bereits eine freudige künstlerische
Angelegenheit : man ist daran, einer wiederhergerich-
teten Maschine höchste Energien, Spannkraft, Be-
wegung, Elastizität, Lebendigkeiten zu verleihen!
Aus einem Invaliden einen neuen feurigen Kämpfer
zu machen!
Die Kur ist eine ernste Notwendigkeit, die Nach-
kur ist ein heiteres Fest! Gerade der erst kürz-
lich gesundete Körper bedarf bei seinen zarten Ver-
narbungen allerzärtlichster Rücksicht. Geld und Zeit
für die N ach kur sind wichtiger als für die Kur, Keine
Kur ohne Nachkur! Die Nachkur ist erst die Kur!
Semmering, 1000 Meter Höhe.
43
SEMMERING
Es wurde wieder Winter, November 1912. Über-
flüssig, die Berglandschaft zu schildern. Das können
Russen, Schweden, Dänen viel, viel besser. Sie ken-
nen das Gepräge jedes Baumes, und wie der Schnee
sich ansetzt, je nachdem. Sie kennen die Eintönigkeit
und ihre Poesien, sie kennen die Melodie der Stille,
und der Krähen Mißton wird ein schaurig-melancho-
lisches Leitmotiv: Winter! Ich liebte den Sommer,
weil ich gesund war, und seinen Symphonien von
Farben, Düften lauschen konnte, unbeirrt durch
etwas, was mich drückt und niederzwingt. Nun ist
es Winter. Ich sehe alles nur so, wie wenn ein gütiges
Schicksal den Abschied mir nicht schwer machen
wollte. Eine einzige Begeisterung ist geblieben und
ringt sich durch, wie wenn mein Bestes mir erhalten
bleiben sollte. Ich sah meine kleine Heilige im roten
Wintersportkostüm. Der Wintertag leuchtete auf
ihrem geliebten Antlitz. Ich sah sie rodeln, ich hörte
ihr geliebtes jauchzendes Gekicher, sie flog davon,
den scharfen Kurven nach im weißen Ficht enwalde.
Ich hatte sie gesehen! Ich ging zurück ins Zimmer
und versank in düsteres Sinnen . . . Und es ward
Winter iqi2!
44
WINTER AUF DEM SEMMERING
Ich habe zu meinen zahlreichen unglückhchen
Lieben noch eine neue hinzubekommen den
Schnee! Er erfüllt mich mit Enthusiasmus, mit
Melancholie. Ich will ihn zu nichts Praktischem be-
nützen, wie Scheemgleiten, Rodeln, Bobfahren; ich
will ihn betrachten, betrachten, betrachten, ihn mit
meinen Augen stundenlang in meine Seele hinein-
trinken, mich durch ihn und vermittelst seiner aus
der dummen, realen W'elt hinwegflüchten in das so-
genannte ,, weiße und enttäuschungslose Zauber-
reich"! Jeder Baum, jeder Strauch wird durch ihn
zu einer selbständigen Persönlichkeit, während im
Sommer ein allgemeines Grün entsteht, das die Per-
sönlichkeiten der Bäume und Sträucher verwischt.
Ich liebe den Schnee auf den Spitzen der hölzernen
Gartenzäune, auf den eisernen Straßengeländern, auf
den Rauchfängen, kurz überall da am meisten, wo
er für die Menschen unbrauchbar und gleichgültig
ist. Ich liebe ihn, wenn die Bäume ihn abschütteln
wie eine unerträglich gewordene Last, ich liebe ihn,
wenn der graue Sturm ihn mir ins Gesicht nadelt und
staubt und spritzt. Ich liebe ihn, wenn er in sonnigen
Waldlachen zerrinnt, ich liebe ihn, wenn er pulverig
wird vor Kälte wie Streuzucker. Er befriedigt mich
nicht, ich will ihn nicht benützen zu Zwecken der
süßen Ermüdung und Erlösung, ich will nicht krei-
schen und jauchzen durch ihn, ich will ihn anstarren
in ewiger Liebe, in Melancholie und Begeisterung. Er
ist also eine neue letzte ,, unglückliche Liebe" meiner
Seele !
45
VOLLKOMMENHEIT
Vollkommenheit ist ein heutzutage ganz mißver-
standenes Wort. Man sagt: Gustav Klimt, der voll-
kommene moderne Maler ; Frau Bahr-Mildenburg, die
vollkommene Wagner-Darstellerin; Oberbaurat Otto
Wagner, der vollkommene Architekt ; Peter Altenberg,
der vollkommene Skizzenschreiber ! Aber vollkommen
kann ein jeder sein, in jeglicher Sache! Ein Orangen-
verkäufer kann vollkommen sein, wenn er den Ge-
schmack, denSaf tgehalt , den Zuckergehalt j ederOrange
oder Mandarine schon von außen, gleichsam durch die
Schale hindurch, erkennt mit unfehlbarer Sicherheit!
Ein Kastanienbrater kann vollkommen sein, wenn er
das Gefühl dafür hat, wann und unter welchen Um-
ständen seine Kastanien schön gleichmäßig goldgelb ge-
braten sind, ohne bräunliche schwarze harte Stellen zu
bekommen. Ein Bar-Mixer kann vollkommen sein, eine
liebende Frau, ein stichelhaariger Foxterrier, eine
Hemdenputzerin, ein Kommis, in seiner Art zu bedie-
nen, ein Koch, eine Stenographin, kurz: alle, alle, alle,
insofern sie in ihrer Sache das Vollkommenste leisten !
Pereant die protokollierten Firmen des allgemeinen suc-
cös ; es leben hoch die Unbekannten, die göttlich singen
beim Waschen und Anziehen, ohne an der Hofoper en-
gagiert zu sein! Es leben die exzeptionellen Weber
und Tuchfabrikanten, es lebe die kroatische, bosnische,
ungarische, schottische, irländische, dänische, schwe-
dische Hausindustrie! Was vollkommen ist, ist voll-
kommen, worin immer es sich auch betätige ! Nur das
Unvollkommene, und sei es noch so sehr eine „proto-
kollierte, akkreditierte Firma", pereat, pereat, pereat!
46
NACHWINTER
9. März. Mein 53. Geburtstag. Es ist schon wieder
Schnee gefallen die ganze Nacht, Hochwinter im
März. Man kann noch nicht „rodeln", denn der
Schnee ist noch flaumig wie flaumige Eiderdaunen.
Aber das Auge weiß davon nichts. Nur die Fußspuren
sind braungrau. Es hat null Grad im Schatten. Es ist ein
Winterbild, an das man nicht recht glaubt. So Nach-
züglereiner Armee,, Winter" ! Meine Schneeschuhe, ein
Geschenk des berühmten Architekten Adolf Loos, vor
fünf Jahren, sind mir gestern abhanden gekommen.
Der anständige Dieb hat wahrscheinlich nicht mit
diesem Winter-Rückfall gerechnet, der mich nun in
Verlegenheiten bringt! Sie waren mir teuer, obzwar
sie mich nichts gekostet haben. Ich hatte fünf Jahre
lang den Ehrgeiz, sie mir weder vertauschen, noch
stehlen zu lassen. Der Kellner sagte mir oft : ,, Lassen
Sie Ihre Schneeschuhe ruhig irgendwo stehen, es ge-
schieht ihnen nichts!" Nun, es ist ihnen wirklich
nichts geschehen, sie haben nur ihren Besitzer ge-
wechselt. Möge er sie ebenso zärtlich rücksichtsvoll
behandeln wie ich, und möge ich eine neue Seh nee -
schuh-Wurzen baldigst finden! Einer machte
schon eine leise Anspielung, aber es stellte sich
heraus, daß er mir nur mitteilen wollte, dieser Nach-
winter könne ja ohnedies nicht mehr von langer
Dauer sein, und da genügten dann gewöhnliche Ga-
loschen. Als ich bemerkte, daß ich auch solche nicht
besitze, erklärte er, Galoschen seien ungesund und
verhinderten die Hautausdünstung. Also, in dieserWin-
terpracht feiere ich meinen 53. Geburtstag. Es wird
47
kein Geld regnen, da ich keine Danae bin. Aber in die
schlechte Bilanz des Jahres 1912 muß ich doch den
Plus-Kontoposten meines Lebens einrechnen: „Nach-
winter im März auf dem Semmering, und eine roman-
tische „Petrarca- Liebe!"
Hier ist es friedvoll, vertauschte Haselnußberg-
stöcke, vertauschte Schneeschuhe, vertauschte Frauen
sind das einzige bemerkenswerte Ereignis. Aber man
findet sich in alles. Eine Dame sagte mir: ,, Sehen Sie,
dieser von Ihnen gestern so gepriesene Herr ist doch
kein Gentleman. Er trägt abends zu Lackpantoffeln,
pumps, Wollsocken!" — ,, Pardon," erwiderte ich,
,,ich habe das im Drang meiner Begeisterung über-
sehen!" — „Ein so scharfer Beobachter wie gerade
Sie, Herr Altenberg?!" — ,,Ja, auch wir sind nur
irrende Menschenkinder!"
48
HEIMLICHE LIEBE
Wir müssen von den Gefühlen unserer eigenen
Seele leben können! Das ist die ,,neue Religion"
für unsere, sonst zum Leiden verurteilten impressio-
nablen Nerven. Man kann uns alles wegnehmen,
alles rauben, alles verhindern, alles verbieten
nur nicht unsere Gefühle, die wir für geliebte
Menschen haben! Hier beginnt unsere unbesieg-
bare Macht unserer Seele! Man wünscht es, unsere
Tränen nicht zu sehen, nicht zu spüren, nichts darüber
in alle Ewigkeit zu vernehmen und sie rinnen
dennoch auf den Kopfpolster, zum Preise der Ent-
fernten! Könnt Ihr uns verbieten, in dem Berg-
kirchlein für ihr Heil zu beten?! Könnt Ihr uns es
verbieten, im Schnee des ,, Hochwegs" ihre Fußspuren
zu ahnen?! Vielleicht sind es fremde, gleichgültige.
Aber wir, wir träumen sie uns als die ihrigen, ver-
mittels der Kraft unserer unzähmbaren, unbesieg-
baren Seele! Kann sie zu uns sprechen: ,,Knie vor
meinen Fußspuren nicht in den Schnee hin!?!" Nein,
das kann, das darf niemand zu uns sprechen. In
diesen ,, Gefilden der entrückten Seele" verliert die
verbietende Menschenstimme ihre Macht und Gott
sagt: „Du darfst!"
Ich habe Dein Glas in mein Zimmer mitgenommen,
aus dem Du getrunken hast. Ich habe dem Kellner
gesagt: ,,Ich habe ein Glas zufällig zerbrochen, da
haben Sie zwei Kronen dafür!" Er sagte: ,,Auf ein
Glas mehr oder weniger kommt es, bitte, bei uns nicht
an ." Also besaß ich das „geheiligte Glas"
umsonst. Ich ließ ihm ein Postamentchen machen
' 49
aus Zirbelholz, ließ eingravieren: „Deine Lippen be-
rührten es," Kann mir das irgend jemand verbie-
ten?! Niemand kann mir meine Leiden ver-
bieten, er kann sie nur steigern, und das ist gut
für meine Seele . Wen, wen wollt Ihr
schützen vor meinen Tränen, die niemand, nie-
mand sieht?!
50
DAS KINO
Ich schleudere hiermit meinen Bannfluch gegen
a 1 1 e j e n e , die , in , .bestgemeinter Absicht ' ' oder aus Ge-
schäftsinteresse, sich in neuerer Zeit gegen die Ki no-
t h e a t e r wenden ! Es ist die beste, einfachste , vom öden
IchablenkendsteErziehung, besser jedenfalls, tausend-
mal besser als die bereits als „freche Gaunerei" ent-
larvte,, Kunstdarbietung", ausgeheckt in ehrgeizigen,
verdrehten Gehirnen und präpariert für den ., seelischen
Poker-Bluff"; infame Düpierung einfach-gerader
Menschenseelen! Im Kino erlebe ich die Welt; und
selbst die erfundenen Sketches sind schon, der Natur der
Sache nach, auf edel- primitive Wirkung hin gearbei-
tet , Seelenkonflikte ala,,3und2macht5", nicht aber
absichtlich 6 oder 7 ! DasVolk soll sich erheben für
die Kinotheater und sich nicht neuerdings in klein-
sten und belanglosesten Angelegenheiten beschwat-
zen und betören lassen von den,, psychologischen
Clowns" der Literatur ! Meine zarte 15 jährige Freun-
din und ich, 52 jähriger, haben bei dem Natursketch:
„Unter dem Sternenhimmel", in dem ein armer
französischer Schiffzieherseine tote Braut flußaufwärts
zieht, schwer und langsam, durch blühende Gelände,
heiß geweint ! Wehe euch , deren ,,trockenenGeist"
wir ,,trockenen Herzens" angeblich begeistert ge-
nießen müssen! Wir müssen und wollen nicht!
Ein , »berühmter Schriftsteller" sagte zu mir:
„Wir sind jetzt unter uns, was finden Sie eigentlich
Besonderes an den Kinovorstellungen ?!? "
„Nein," sagte ich, „wir sind nicht unter uns,
sondern Sie sind unter mir!"
51
LEBENSBILD
Wesen der Engländerin:
,,0, mein geliebter Freund, was nützte mir denn
deine ganze tiefe Liebe, wenn du mir bei der Tür nicht
den Vortritt ließest?!?
Wesen der Amerikanerin:
,,Natürlich zu sein, so wie man eben einfach
ist!"
Dies schrieb ich einer jungen, edlen Amerikanerin
ins Stammbuch.
,,0," sagte sie, ,,sehr, sehr schön; und vor allem
sehr, sehr wahr! Aber, bitte, was würden Sie einer
jungen Engländerin in ihr Stammbuch hineinschrei-
ben?!?"
,,Ich? Natürlich gerade das Umgekehrte!"
52
IM JÄNNER, AUF DEM SEMMERING
25. Jänner. Die Sonne versucht es, den Schnee zu
schmelzen. Da und dort wird er grau, löst sich anf,
bereitet den Frühling vor. In Gloggnitz wachsen
Schneerosen, stoßen sich durch den Schnee hindurch.
Sonst ist alles, alles begraben, still. Auf das bereifte
Glas eines Auslagekastens schrieb ich mit der Stahl-
spitze meines Bergstockes einen Mädchennamen.
Welchen?! Was kümmert es euch?! Meine Seele
leidet. Ich beherberge ein Marienkäferlein seit vier
Tagen. Es lebt an der Warmwasserheizung unter
einem Glase. Es spannt sogar die Flügel aus. Ich
werde ihm einen Mimosenstrauß kaufen, gelbe, duf-
tende Blüten mit graugrünen Blättchen. Wie hat es
bis jetzt überwintern können, alle Schrecknisse
durcherleben können?! Ich weiß es nicht. Es gab
doch schon 18 Grad Kälte, ohne Beschützer P. A. ? !
Wie habe ich selbst alles durcherleben können?!
Ich weiß es nicht. Ich schreibe in das bereifte Glas
eines Auslagekastens auf dem ,, Hoch weg" einen
Mädchennamen ein. Welchen?! Was kümmert
es euch?!? Meine Seele leidet, also sie lebt, sie
lebt! Das Marienkäferlein unter dem Glase denkt:
,,Ha, ha, ha, hier ist es warm, aber wenig zu essen;
nun, warten wir noch bis zum Februar; da dürfte sich
schon irgendetwas finden ." Für Tierchen
findet sich immer etwas.
53
NOCH NICHT EINMAL GEDANKEN-
SPLITTER
Wenn deine Ausdünstung, o Frau, mich un-
glücklich macht, kann deine Seele mich nicht glück-
lich machen! Von deinem heiligen Leibe strömt
die Kraft aus deines Mysteriums!
Sie wählte einen Hut, wie alle noblen Frauen ihn
tragen könnten und ich war verzweifelt!
Sie wählte einen Hut, wie nur sie ihn tragen konnte
und ich war selig!
*
Sie sagte: ,, Dichter, Tyrann, ich will endlich ein-
mal ,mein eigenes, mein ganz eigenes Leben'
leben!"
Da lebte sie das Leben aller Millionen Gänse!
*
Sie wollte zu sich selbst kommen, im Wirbel
des Lebens; da ging sie zu ihm! Da verlor sie sich
ganz und fand sich!
*
Eine ,, Weltdame" sein, heißt, lieber mit
Männern verkehren, die ihre hundert eleganten An-
züge schuldig bleiben, als mit solchen, die einen
einzigen uneleganten Anzug bar bezahlen!
Wenn du gute Zähne hast, genügt laues Wasser;
und wenn du schlechte hast, versagt sogar ..Odol"!
54
Mefiez vous des bottines et des gants chers, mes-
dames! Les beaux pieds, les mains fines n'ont pas
besoin de cercueils elegants!
*
,,Wenn man seinen Zwicker mit seinem Taschen-
tuche putzt und er wird nicht reiner, so ist nicht der
Zwicker daran schuld, sondern das Taschentuch!"
So geht es mit manchen Dingen im Leben, sagt der
Philosoph, der sich immer darauf verläßt, daß man
seine Aussprüche tiefer auslegt, als er selbst es kann!
*
Ich habe in fremden Hotels ein Mißtrauen gegen
,, Gutsbesitzer". Wenn jemand mir hingegen sagt, er
sei ein Hausierer, so glaube ich es ihm, sogar, wenn er
ein Automobil besitzt. Aber von einem „Gutsbe-
sitzer" habe ich stets die jedenfalls übertriebene Idee,
er könne mich um lo K. anpumpen!
*
Damen haben zwei ganz praktische Ausdrucks-
weisen für ihre Geschmacksverirrungen: ,,Er ist häß-
lich, aber geistreich!" und ,,Er ist blöd, aber schön!"
*
Eine jede Sache, die man ernstlich lieb hat, muß
für den Liebevollen zu einer ,,Idee fixe" auswachsen,
mit einem Wort ein Irrsinn werden der Seele! Es
wäre denn, daß etwas einen wirklich reellen Wert
hätte. Aber das gibt es nicht. O doch, mein Hasel-
nußstock, auf den ich mich stütze!
*
Ältere Damen mit kleinen Füßen und schmalen
Gelenken sind am medisantesten ! Sie wollen mit
55
diesem Minimum von Anziehungskraft alle jungen
Schönen besiegen!
*
„Weshalb schwärmen vSie so sehr für kurze
Stumpfnäschen?!" . . . ,,Da habe ich die Sicherheit,
daß sie in vorgerückteren Jahren sich nicht senken
können!"
56
DIE KOSTÜME AUF DEM SEMMERING
IN DER SILVESTERNACHT
Ich sah ein ockergelbes Miissehnkleid-Hemd,
mit breitem lila Samtband geputzt. An der Brust eine
große lila- weiße Kamee. Dann sah ich an dem herr-
lichen Fräulein Schw . . . eine weiße seidene Wolke,
am Rande bestickt mit grellem vSilberschimmer aus
viereckigen Silberplättchen. Dann sah ich an der
braunen Frau S. eine schwarze Tüllrobe, mit schwar-
zem Hut, mit einer schwarzen samtenen Tulpe an
der Brust. Kardinalfarbene Seidenrobe, bestickt mit
kardinalfarbigen Glasperlen. Eine staubgraue, nebel-
graue Tüllrobe, mit breiten ockergelben Samtbändern.
Eine erbsengrüne Tüllrobe, mit hechtgrauen Glas-
perlen bestickt; braungelbe Orchideen an der Brust.
Frauenschuh. Dann sah ich eine da wußte
ich gar nicht, was sie anhatte; denn ich sah nur ihr
Antlitz, ihr süßes, süßes Antlitz, mit den klaren
schimmernden Madonnenaugen . Da sagte
eine ältere Dame zu mir: ,, Nicht wahr, das bemerke
ich sofort, die Toilette dieser jungen Dame ist ganz
nach Ihrem etwas aparten und übertriebenen Ge-
schmack !?! " — ,, Jawohl", erwiderte ich,
,,obzwar ich gar nicht sah, was sie anhatte ."
— „Ja, Sie urteilen eben auch nur nach dem Äußeren,
mein Lieber, sehen Sie wohl?!? " — ,,Ja, leider", er-
widerte ich und starrte die Madonnenaugen an .
Sie hieß Kl. P. und dennoch kann niemand ahnen,
wer es ist -.
57
FORTSCHRITT
Es gibt Leute, die heutzutage nicht mehr auf den
Boden eines Kaffeehauses spucken können, und solche
die es noch ganz gut können. Diese Zweiteilung
ist ein Zeichen eines wenn auch geringen allgemeinen
Fortschrittes. Es gibt Leute, die selbst bei einer auto-
matisch von selbst schließenden Tür ängstlich hinter
sich blicken, ob die Maschinerie auch wirklich funk-
tioniere. Das sind bereits ,,Gentlemen der Entwick-
lung". Beim ,, Sport" darf man keiner Dame helfen,
irgendwie behilflich sein in einer schwierigen Situa-
tion. Dadurch gewöhnt man sich allmählich auch das
sklavische ,, Pakettragen" oder ,, Schirmaufheben"
oder ,,Zigarettenanzünden" ab. Wieder ein kleiner
Fortschritt! Jetzt fehlt noch der hohe englische
Fußschemel beim Friseur, und die Ventilatoren in
jeder Fensterscheibe, wobei niemand rufen darf:
„Es zieht!" Preise an Schriftsteller-Millionäre zu
vergeben, ist noch rückschrittlich. Mit Geld kann
man nur Künstler ehren, die keines haben! Turbot
samt seiner dunklen schuppigen Haut essen und
noch dabei behaupten, das gebe dem edlen Fische erst
den Geschmack, ist eine mittelalterliche Zurückge-
bliebenheit, die man eventuell einem eisengepanzer-
ten Recken oder Drachentöter nachsehen könnte!
Eine übertrieben deutliche Schrift haben, ist einer der
wenigen zu begrüßenden Snobismen. Man schreibt
für den, der es lesen soll! Eine Frau in der Weise
bewundern, daß es dem zugute kommt, dem sie
angehört, und nicht dem, der sie bewundert,
ist , .höchste Kultur"! Mehr als zweimal im Tag mit-
58
teilen, man habe im rechten Knie beim Drücken einen
Schmerz, ist nicht ,,fortschritthch". ,,Tamar Indien
Grillon" anpreisen, ist höchste Kultur. Aber auch
hierin gibt es zarte Grenzen. Ich hörte einmal an
einem herrlichen Herbstmorgen einen jungen Grie-
chen eine junge Serbin fragen: ,,0h bonjour, made-
moiselle, combien de pilules ,, Purgen" est-ce-qu'on
ose prendre ä la fois?!" ,,36" erwiderte die junge
Dame schlagfertig, worauf man den Griechen acht
Tage lang nicht mehr erblickte. Leute ins Gespräch
ziehen, um ihnen Ansichten herauszulocken, zum
Zwecke, sie ihnen widerlegen zu wollen, ist un-
kultivirt. Um ,,Proselyten" zu machen, gehört
mindestens die Entschuldigung eines „heiligen Fana-
tismus". Zwischen Tee und ,, kleiner Bäckerei" hat
solches nicht stattzufinden! ,, Anonyme Briefe"
sind eine Gemeinheit. ,, Nicht anonyme Briefe" sind
eine noch größere Gemeinheit. Man hat zu schreiben:
,,Ich verehre Sie!" Im allgemeinen aber zeigt sich
doch in der ,,vie quotidienne" ein beträchtlicher Fort-
schritt. ,,In der Nase bohren" findet man sogar bei
Kindern verhältnismäßig nur mehr selten, obzwar es
noch vor 20 Jahren zu den sogenannten ,, billigen Freu-
den des Daseins" gehörte ! Häufiger kommt es vor, daß
Liebesleute vor Fremden sich gegenseitig zu blamieren,
zu desavouieren suchen, kurz den Anschein eines
Täubchen Verhältnisses zu bewahren, für Augenblicke
außer acht lassen. Den , »Dritten" dabei als Richter an-
zurufen, ist aber eine der allergrößten Infamien, be-
sonders falls er auf die Frau ein oder mehrere Augen
bereits geworfen hat. Es gibt also noch immer eine An-
zahl von verbesserungsbedürftigen Dingen !
59
ABSCHIED
Herr Altenberg, ich danke Ihnen noch zuletzt für
alles, für alles!"
, »Wofür, das verstehe ich nicht ."
,,Das kann man nicht so sagen, wofür man Ihnen
in einem wochenlangen Verkehr zu danken hat ! Man
ist gleichsam von sich selbst erst zu sich selbst ge-
kommen, erblickt das Leben einfacher, selbstver-
ständlicher und klarer als bisher. Deshalb muß man
zu Ihnen sagen: ,,Ich danke Ihnen für alles, für alles
— obzwar man durchaus nicht weiß, worin es be-
steht!"
Es war der tiefste Abschied, eigentlich aber ein
ewiges Zusammenbleiben !
60
BESUCH
Mein Freund, der Doctor philosophiae aus Heidel-
berg, schrieb mir, er sei in tief deprimierter Stimmung,
wolle in den Frieden ,,der Berge flüchten", höchst
moderne Ausdrucksweise, und vor allem beim Dichter
eine Art von ,, seelisch-geistigen" Reinigungsbad neh-
men. Als er ankam, begann ich daher von Rax und
Schneeberg, Pinkenkogel und Sonnwendstein zu
schwärmen. Er erwiderte: ,, Lasse gefälligst diese
Marlittiaden einer überwundenen Epoche und zeige
mir lieber eine Dame, mit der man stundenlang über
Ibsen, Hofmannsthal, Stephan George und ähnliche
Geschöpfe seine endgültigen Ansichten los werden
kann." Er war glücklich, als ich ihm mitteilte, daß
ich zufälligerweise gerade jetzt drei solcher Damen
auf Lager habe, leider aber eine jede in einem anderen
Berghotel. Er meinte, er wolle gern den Wagen be-
zahlen, und wir sollten von einer zur anderen fahren.
Auf dem Wege könne man ohne weitere Schwierig-
keiten die Schönheit, den Frieden der Bergwelt, aber
ohne Exaltationen über jeden einzelnen Baum, son-
dern in Bausch und Bogen genießen. Dieser annehm-
bare Plan wurde zu allgemeiner Zufriedenheit aus-
geführt. Eine vierte Dame, die sich anschloß, konnte
wegen Zeitmangels nicht ins Gespräch gezogen werden
über die Philosophie in der Musik des Debussy. Der
Doktor sagte zu mir: ,,Ist es also wirklich wahr, daß
man nur bis ii Uhr abends hier Getränke bekommt ? !'
— ,,Nein," erwiderte ich, ,,das ist eine Verleumdung,
man erhält bis Mitternacht Limonade und Soda-
Himbeer!" — ,Esel," sagte er, ,,ich meine schweren
6i
Burgunder!" Er schlug nun vor, schon um 7 Uhr
abends anzufangen, damit man bis zur Schank-
Sperrstunde das Nötige absolviert haben könne. Ich
erklärte ihm, daß ich seit anderthalb Jahren Anti-
alkoholiker sei und daher vor halb 8 Uhr abends nicht
anfangen könne! Er sagte, er sei einverstanden, da
er mich von meinen schwer errungenen Grundsätzen
nicht abbringen wolle. Im Laufe des Abends ge-
sellten sich einige Herren zu uns, die er in liebens-
würdigster Weise anstänkerte, indem er sie fragte, ob
sie sich ernstlich von der Bergluft und der Enthalt-
samkeit eine Heilung ihrer anscheinend doch unheil-
baren Leiden erwarteten ? ! ? Bald waren wir allein,
und später erklomm er mit meiner Bergführerhilfe
die Treppe. Er sagte noch: Rax, Schnee — berg,
Sonn — wend — stein, Pin — ken — ko — gel . . ., dann
verschwand er hinter der gepolsterten Tür.
62
BUCHBESPRECHUNG
Ich lese jetzt Tolstois „Chadschi Murat", aus dem
Nachlaß. Es ist immer dieselbe Art, plastisch-histo-
risch, lebendig gewordene Wachsfigurenkabinette,
psychologische Wachsfiguren, z. B. der großartig
geschilderte wachsbleiche fette Kaiser mit dem nichts-
sagenden streng-starrenden Antlitz, der weiß, daß er
nichts weiß, und dennoch die Geschicklichkeit besitzt,
sich immer, in jeder Situation, es einzureden, daß er
,,zum Heile und zur Ordnung der Welt" unentbehr-
lich sei. Aber auf Seite i6i fand ich ein besonderes
imd bisher, vor allem mir, unbekanntes Sprichwort :
,,Der Hund bewirtet den Maulesel mit Fleisch
und der Maulesel den Hund mit Heu — in-
folgedessen bleiben beide hungrig!" Ich finde
das wunderbar; es ist ein Bild unseres ganzen tra-
gischen Lebens, besonders dessen zwischen Mann
und Frau! Ein jeder bewirtet uns mit einer Kost,
die für ihn die beste, für den Bewirteten meistens
jedoch die allerschlechteste ist!
Einer meiner sogenannten ,, Freunde", andere als
,, sogenannte" gibt es nämlich hienieden nicht,
würde natürlich sagen, daß dieses Sprichwort einen
natürlich ganz anderen Sinn habe als den ihm von
mir willkürlich unterlegten, ferner, daß es längst
allgemeinst, vor allem ihm selbst, bekannt sei; daß
es schon im ,, Sanskrit" erwähnt werde und nichts
anderes bedeuten könne als die „Güte des Schöpfers
allen seinen Kreaturen gegenüber" ! Du Esel! Trotz-
dem halte ich das erwähnte Sprichwort für überaus
wertvoll und sinnvoll und glaube nicht, daß ich bis
63
Seite 203, Ende, etwas annähernd Tiefes finden
werde.
Wenn man einmal so weit ist, die Menschen des
übrigens alltäghchen Lebens ebenso scharf aufs Korn
zu nehmen, wie Tolstoi es tut in seinen Romange-
bilden, oder wie Charles Dickens und Thackeray in
milderer Form, so verringert sich naturgemäß die
Distanz zwischen Künstler und Leser. Der Leser
weiß einfach ganz dasselbe, ohne sich die lächer-
liche Mühe zu nelimen, es niederzuschreiben!
64
EIN BRIEF
Sehr geehrte gnädige Frau!
Sie wollen „glückhch" sein? Das ist schrecklich!
Beethoven, Schiller, Hugo Wolf, Novalis, Lenau
waren nicht glücklich. Mit welchem Rechte wollen
Sie also glücklich sein? Mit dem Rechte der ,, In-
feriorität?" Aber darauf haben Sie keinen legitimen
Anspruch, da Sie es doch nicht sind! Sie erzählen
mir, daß irgend jemand um Sie bange war, um Sie
geweint hat? Erzählen Sie mir doch lieber, daß Sie
um irgend jemand besorgt waren, geweint haben!
Sie sagen mir, was man von Ihnen halte ? Sagen Sie
mir doch lieber, was Sie von den andern halten!
Sagen Sie mir, von wem Sie schwärmen, und sagen
Sie mir nicht, wer von Ihnen schwärmt! Ihre eigene
Welt ist gerade so wie sie ist, aber die Welt der andern,
der ,, Nicht-Sie-Seienden", die ist eine Bereicherung
Ihres Denkens, Ihres Fühlens! Zeugnisse mit aus-
gezeichneten Referenzen sich von Nichtverst ehern
ausstellen lassen, ist eine allzu billige Befriedigung!
Sind Sie die Düse, die Yvette Guilbert, die Else Leh-
mann! Nun also! Sagen Sie stets: „Ich verehre!"
sagen Sie niemals: ,,Ich werde verehrt!" Ein ,, labiles
Selbstbewußtsein" ist an und für sich ,, unkünstle-
risch"! Sei, der du bist! Nicht mehr, nicht weniger!
Wenn Sie vom ,, Russischen Ballett" schwärmen, von
Nidjinsky, von der Karsawina, von der Nieder-
metzelung der Haremswächter, von den russischen
Volksmelodien, von den Damen in den Logen und
den Silberreifen um ihre süßen Lockenköpfe, von
Samthemden in Violett und Grasgrün, die alles ver-
65
bergen wie edel-verschwiegene schwere Portieren —
dann, dann sind Sie Sie selbst ! Eine Auf saugerin der
Schönheiten der Welt, eine Bereicherte! Aber
wenn Sie von sich selbst sprechen, werden Sie arm-
selig! Eine, die erzählt, man habe ihr ein Almosen
gegeben; eine Bettlerin an der Brücke, die hinüber-
führt ins „Versorgungshaus des Lebens"!
66
DAS HOTEL-STUBENMÄDCHEN
Sie saß nachts, ganz zerpatscht von Stiegensteigen,
Sorgsamsein für fremde Menschen, Aufmerken auf
fremde Wünsche, in der Portiersloge, zählte einen
Haufen Trinkgelder in ihre Schürze. Ich wußte, daß
sie ein entzückendes dreijähriges Mäderl habe, und
der Gatte war verschollen.
Ich sagte: „Woher sind Sie, Marie?!"
,,Aus Kärnten."
„Sie müssen ja die Dorfschönheit gewesen sein
((
„Das war ich!"
,,Und alle Jünglinge müssen sich um Sie beworben
haben ."
„Das haben sie getan."
,,Und da haben Sie sich den gerade aussuchen
müssen?!"
,,Er mich!"
,,Und Sie sind so ruhig, so gesichert ."
,,Da kann man nicht aufbegehren. Es ist das
Schicksal!"
,,Nein, die Dummheit war es, die Borniertheit
, Das ist ja unser Schicksal!"
Später sagte sie: ,, Rühren Sie mich nicht an, es
paßt mir nicht. Weshalb streicheln Sie meine Haare ? !
An mir ist nichts mehr zum Streicheln ."
Ich schenkte ihr eine Krone.
„Wofür geben Sie mir das?!"
„Gewesene Dorfschönheit!" erwiderte ich. Da
begann sie zu weinen.
5' 67
GESPRÄCH
,,Sie, sagen Sie, mein lieber Peter Altenberg, wie
lang sind Sie eigentlich schon da, auf diesem Sem-
mering?!?"
„Elf Wochen?!"
„So? No, und das können Sie so aushalten, so
ganz ohne Weiber?!?"
„Nur ohne Weiber! Mit Weibern könnt' ich's
gar nicht aushalten!"
„Komischer Mensch, was Sie sind!"
„Weshalb komisch?!?"
,,No, Sie sind doch der größte Troubadour für die
Weiber, was wir haben heutzutage?!?"
,,No, könnt' ich denn ihr größter Troubadour sein,
wenn ich alleweil mit ihnen beisammen war'?!?"
68
ßOBBY
Ich habe sowieso nichts mehr zu vediereii, nichts
mehr zu gewinnen, ich stehe vor der „großen Ab-
rechnung" meines Lebens. Jetzt erkläre ich, daß ich
die weiße, hellbraungefleckte echtrassige Foxterrier-
hündin Bobby, mit ihren acht rosigen Brust- und
Bauchwarzen (selbst die edelsten Damen haben nur
deren zwei), für schöner, graziöser, liebenswürdiger,
herzlicher, menschenfreundlicher halte als die meisten
Frauen. Sie erregt nie in mir Eifersuchtsqualen und
Verzweiflung, hat eine unbeschreibliche Freude, wenn
ich nett zu ihr bin, sagt nie bei einer solchen fein-
fühligen Gelegenheit: ,,Zahr lieber an Kaviar und
laß die billigen Faxen — — — ." Denn erstens
frißt sie Gott sei Dank gar nicht Kaviar, und
zweitens , »fliegt sie" grad auf meine , »billigen
Faxen", d. h. meine seelische Verehrung, Anerken-
nung und Liebe!
Ich ziehe also Bobby allen Frauen vor, freilich
sage ich das erst öffentlich am Ende meiner soge-
nannten ,, Liebeslaufbahn", mit einem Wort: nach
meiner Schlacht von Sedan. Bobby hat um mich
geweint, gewinselt, sich gekränkt, den Appetit ver-
loren. Die übrigen Weibchen hatten gerade in meiner
Gesellschaft stets einen riesigen Appetit, während
ich kaum die Absicht hatte, ihnen ein ,, Kalbsgulasch"
zu bezahlen. Und dann, Bobby hat noch einen großen
Vorteil, sie gehört nämlich gar nicht einmal mir, son-
dern einer reizenden bekannten Dame, der die Für-
sorge für sie obliegt. Ich selbst schmeichle mich nur
bei Bobby ein, um ihre zärtliche Freundschaft zu
69
genießen. Ich will keine Spesen haben, und „äußerln"
führe ich auch nicht. Frauen haben immer irgend-
welche Bedürfnisse! Aber ich bin nicht in der Lage,
sie zu befriedigen . Das nimmt zu viel Kräfte
weg und Zeit ! Liebe ohne alle Spesen ist meine letzte
Erkenntnis auf Erden.
70
PSYCHOLOGIE
Mich interessiert an einer Frau meine Beziehung
zu ihr, nicht ihre Beziehung zu mir!
*
Daß ich ihr eine exzeptionelle Achatbrosche
schenken darf, macht mich glücklich, nicht daß sie
es gerührt annimmt!
*
Ich küsse ihre Haarlocke in meinem Zimmer an-
betend, aber ihre braunroten Haarsträhne mögen im
Winde flattern für alle Welt!
*
Sie hat Migräne, und ich renne nachts in die
Apotheke. Für mich hat sie Kopfweh, da ich be-
sorgt bin, es ihr zu lindem!
*
Wenn sie ,, Wintersport" treibt, zittere ich um
ihre zarten geliebten Gazellenglieder! Für mich
allein betreibt sie daher „Wintersport"!
*
Ein Hut, der ihr schlecht steht, macht mich
unglücklich, ein Hut, der ihr zu fesch-kokett steht,
macht mich ebenfalls unglücklich! Für mich al-
lein also trägt sie alle, alle ihre Hüte!
Die Speise, die ihr nicht schmeckt, macht mich
unglücklich, die Speise, die ihr schmeckt, macht
mich glücklich. Für mich, für mich allein daher
ißt sie!
71
Der Blick, mit dem sie einen anderen liebens-
würdig anschaut, macht mich, mich allein unglück-
lich! Daher gehört dieser Blick mir, mir, und nicht
ihm, dem eitlen Laffen.'
Mir, mir allein gehört alles, was von ihr kommt,
Böses und Gutes, denn ich, ich allein empfinde es!
72
HOTELREGISSEURE
Ich schlage vor: Hotelregisseure. Natürlich
meine ich da vor allem mich. Wie in einem bestge-
leiteten Theater soll nunmehr in einem erstklassigen,
bestgeleiteten Sommerhotel oder VVintersporthotel
ein Regisseur sein, unabhängig vom Besitzer, Direk-
tor, und ebenso aber vom Publikum. Ein Hotel-
führungsidealist neuester Art, dem das Hotel als sol-
ches lieb und betreuenswert erscheint! Sein Gehalt
muß minimal sein, wegen der absoluten ,, inneren Un-
abhängigkeit" vom Besitzer und vom Publikum!
Freie Station, freie Getränke (Bier), freies Logis und
ein Taschengeld für ,, repräsentatives Äußere in Klei-
dung, Wäsche, Chaussure" usw. usw. Kurz, ein unab-
hängiger Gentleman! Er belausche die Wünsche, die
Beschwerden der Gäste, erkenne einen jeden seiner
Individualität nach, mit femblickendem Sperberblick,
Turmfalkenblick. Er versuche es, sanft- diplomatisch,
alle Beschwerden dem Besitzer des Etablissements
begreiflich zu machen, da er eigentlich von Unpartei-
lichkeit lebt. Da ist es schon gar keine Kunst, ein
Cato zu sein, wenn Logis, Essen und Getränke frei
sind.
Zum Beispiel, ein reicher Graf murrt darüber, daß
eine Salzgurke eine Krone kostet, während sie am
Markte zwanzig Heller, in Ungarn jedoch minus NuU
koste, ja man direkt fast für die Erstehung derselben
noch etwas darauf bekomme, wie bei Wassermelonen
oder in China bei überflüssigen Töchtern. Da muß
dann eben der Hotelregisseur intervenieren und trotz
aller sich ergebenden Schwierigkeiten es durchsetzen,
73
daß die Salzgurke auf achtzig Heller reduziert werde.
Das Wort ,,eine Krone" irritiert bereits nämlich die
meisten Menschen, während man in Hellem ihnen
Unsummen entlocken kann. Zu allen diesen Finessen
gehört also heutzutage in einem klassischen Hotel ein
Hotelregisseur, und niemand wird nach Durchlesung
dieser flüchtigen Zeilen daran zweifeln, daß ich ein
solcher sein könnte. Es werden infolgedessen in aller-
nächster Zeit zahlreiche Gesuche an mich gelangen.
Ich werde sie sichten, prüfen, begutachten. Ich werde
mich dem ergeben, der nicht den für mich günstigsten,
sondern den für die Menschheit zweckdienlichsten und
idealsten Antrag enthält. In der Getränkefrage frei-
lich bin ich schwach, aber auch das kann durch strenge
Selbstzucht überwunden werden.
74
DAS GLÜCK
Ich erwartete das Glück vergeblich Jahre und Jahre
lang. Endlich kam es und setzte sich zutraulich an
mein Bett. Es hatte gelbbraunen Teint wie die Java-
nerinnen, schmale, lange Hände und Finger, Gazellen-
beine und bewegliche lange Zehen. Ich sagte: ,,0,
bist du wirklich, wirklich endlich das Glück, das lang
ersehnte, tief entbehrte?!?" — ,,Ich werde es dir
morgen schreiben, ob ich es wirklich bin oder nicht.
Du wirst selbst urteilen ."
Am nächsten Morgen fand ich einen Zettel, auf
dem geschrieben stand: ,, Adieu, auf Nimmerwieder-
sehen ." Ja, es war also wirklich und wahr-
haftig ,,das Glück" gewesen!
75
DAS DUELL
Ich, als „Outsider" der Gesellschaft, die sich an-
maßend und fälschlich die ,,gute" nennt, begreife
überhaupt naturgemäß nur eine einzige Art, zum
Duell seine Zuflucht zu nehmen. Das ist, wenn man
in bezug auf eine Frau in seinem Lebensglücke so sehr
geschädigt wurde, daß man unbedingt zum Mörder
und nachher zum Selbstmörder werden will ! Da hat
man im ,, Duell" die Chance, den Kerl umzubringen
und nach ,, vollendet er Sühne" sogar ganz fröhlich am
Leben zu bleiben und zu sagen: ,,Sixst' es, Annerl,
Mauserl, Herzerl, jetzt wirst net so bald wieder dich
einlassen, einer von die Herren Kavaliere is schon
kalt geworden trotz deiner heißen Liebe!"
76
STAMMGÄSTE
Die „Stammgäste" eines Hotels haben eine eigen-
tümliche Art von Sicherheit, die ein wenig an „Grö-
ßenwahn" erinnert. Sie haben die Ansicht, daß alles
glücklich sei, daß sie wieder da sind, und daß bisher
in dem gesamten Hotelbetrieb eine Art von empfind-
licher Stockung eingetreten sei, die nun glücklicher-
weise schwinden werde! Sie haben eine ,, falsche Lie-
benswürdigkeit" mit dem Bedienungspersonal, erkun-
digen sich nicht ungern nach Dingen, die sie nichts an-
gehen. Auch ihre eventuellen ,, Beschwerden" gegen
die Hotelusancen bringen sie in einem gütig-väterlich-
wohlwollenden Tone an, als wollten sie das ganze
Etablissement vor dem Ruine schützen! In J. war
ein reicher Stammgast, der jeden ,, Eingeborenen"
mit der Frage beglückte: ,,Nun, wie war der Winter
bei Euch heuer?!" Obzwar ein jeder darauf mit
Freuden geantwortet hatte: ,,Schmecks!", so sagten
doch alle, mit Rücksicht auf Trinkgelder, die niemals
stattfanden: ,, Heuer besonders hart, gnä' Herr — ."
Worauf der Stammgast leutselig erwiderte, daß da-
für der Sommer zur Erholung, nämlich für ihn, diene !
Trotz aller dieser Eigenheiten möchte dennoch
keine Gegend ihre Stammgäste missen, denn sie ge-
hören dazu und machen das Ganze sogar heimlich,
wie die Schwalben, Störche und anderes stets wieder-
kehrendes Getier!
77
SANATORIUM FÜR NERVENKRANKE
(aber nicht die, in denen ich mich befand!)
Morgenvisite.
Der Doktor sitzt, wie ein Staatsanwalt ernst
blickend und forschend, an einem riesigen Schreib-
tische.
Der Delinquent (Patient) tritt ein.
,, Bitte, nehmen Sie Platz ."
Pause, in der der Staatsanwalt (Arzt) den Ver-
brecher mustert, ob Paralyse oder Simulation vor-
handen sei .
,,Also, mein lieber Peter Altenberg, ich keime Sie
nämlich schon seit langem aus Ihren interessanten
Büchern, und erlaube mir daher den konventionellen
Titel ,,Herr" bei einem berühmten Manne wie Sie
wegzulassen. Ihre Verehrerinnen apropos sollen Sie
ja direkt mit ,P. A.' titulieren!? Diese Ehrenab-
kürzung wage ich bisher noch nicht .
Aber zur Sache! Also, mein lieber Peter Alten-
berg, was werden wir denn zum Frühstück nehmen ? ! ? "
„Wir?! Das weiß ich nicht. Aber ich selbst nehme
Kaffee, hellen Milchkaffee ."
„Kaffee?! So?! Also Kaffee, hellen Milchkaffee
?!? Also schön, Kaffee !"
„Ja, bitte, es ist mein gewöhnliches Getränk, an
das ich seit dreißig Jahren gewöhnt bin ."
„Ganz gut. Aber Sie sind eigentlich hier, um sich
von Ihrer bisherigen Lebensweise, die Ihnen an-
scheinend bisher nicht besonders genützt hat, zu
entwöhnen, vielmehr die nötige Energie zu
78
akquirieren, solche Veränderungen Ihrer gewohn-
ten, ja vielleicht allzu gewohnten Lebensweise
allmählich wenigstens vorzunehmen!?! Nun, blei-
ben wir also vorläufig beim Milchkaffee. Aber wes-
halb diese dezidierte Aversion gegen Tee?! Man
kann auch Tee mit Milch verdünnt trinken —
?!'
,,Ja, aber ich pflege Milchkaffee zu trinken ."
,, Haben Sie, Herr Altenberg, einen bestimmten
Grund, den Genuß von Tee des Morgens für Ihre
Nerven für unzukömmlich zu halten?!?"
„Ja; weil er mir nicht schmeckt ."
,,Aha, das wollte ich eben nur wissen. Also, mein
lieber Herr, was nehmen Sie denn zu Ihrem so
geliebten und anscheinend unentbehrlichen
Milchkaffee dazu?!?"
„Dazu?! Nichts!"
,,Nun, irgend etwas Konsistentes müssen Sie
doch dazu nehmen! Ein leerer Kaffee schmeckt
einem ja gar nicht ."
,,Nein, ich nehme nichts dazu; mir schmeckt nur
ein leerer Milchkaffee ."
„Nun, mein sehr geehrter Herr, bei uns geht das
eben nicht. Sie werden mir freundlichst die Kon-
zession machen müssen von zwei Buttersemmeln
((
,,Ich hasse Butter, ich hasse Semmeln, aber noch
mehr hasse ich Buttersemmeln!"
,,Nun, diesen Haß werden wir schon noch be-
siegen! Ich habe schon schwierigere Kunst-
stücke fertiggebracht, mein Lieber . So,
und jetzt begeben Sie sich stillvergnügt zu Ihrem
79
Frühstück in der Veranda. Noch eins: Pflegen Sie
nach dem Frühstück auszuruhen?!?"
, Je nachdem ."
„Je nachdem gibt es nicht. Entweder Sie ruhen
oder Sie machen Bewegung — ."
„Also dann werde ich ruhen ."
„Nein, dann werden Sie eine halbe Stunde lang
gehen !"
Der Delinquent verläßt wankend das Amtszim-
mer und begibt sich zum Strafantritte auf die
Veranda zum Frühstücke, verschärft durch zwei
Buttersemmeln.
Einige Tage später. Der Staatsanwalt: ,,Nun,
sehen Sie, mein lieber berühmter Dichter, Ihr Ge-
sichtsausdruck ist schon ein viel freierer, ich möchte
sagen, ein menschlicherer, nicht so präokkupiert von
fixen Ideen . Haben Ihnen die zwei Butter-
semmeln geschadet?! Na also!"
Nein, sie hatten ihm nicht geschadet, denn er
hatte sie täglich im Hühnerhofe verteilt .
N ach mit tags vis ite.
,,Herr Peter Altenberg möchten sogleich zum
Herrn Direktor kommen ."
„Setzen Sie sich, bitte.
Ich habe Ihnen den Alkoholgenuß strengstens
untersagt ."
,, Jawohl, Herr Direktor ."
,, Kennen Sie diese ganze Batterie von leeren
Sliwowitz-Flaschen ? ! ?"
,, Jawohl, es sind die meinen ."
„Man hat sie heute unter Ihrem Bette aufgefun-
den ."
80
,,Ja, wo sollte man sie denn sonst auffinden?!
Ich habe sie ja dort deponiert ."
„Wie haben Sie sich das Gift in meiner Anstalt
verschafft?!"
,,Ich bestach jemanden. Sein ehrliches Gewissen
ließ es bei zwei Kronen nicht zu. Da offerierte ich
ihm drei Kronen."
„Sie sind also unschuldig an der ganzen Sache,
sondern der ungetreue Diener ist der Schuldige! Ich
werde ihn zur Rechenschaft ziehen, obzwar er bereits
fünfundzwanzig Jahre im Hause ist und er sich,
soweit ich es übersehen konnte, stets einer
tadellosen Konduite erfreut hat ."
,,Herr Direktor, Sie haben mir doch noch gestern
gesagt, daß ich in Ihrer Anstalt und durch das regel-
mäßige solide Leben hier mich um zwanzig Jahre
direkt verjüngt hätte und fast gar nicht mehr wieder-
zuerkennen sei ? ! ?"
,,Das sagte ich aus pädagogischen Gründen,
um Ihr Selbstbewußtsein zu stärken ."
,.Herr Direktor, darf ich mir die leeren Sliwowitz-
Flaschen bei Ihnen später abholen lassen ? ! ? Ich
bekomme nämlich für jede sechs Heller retour ."
Direktor zu dem unredlichen Angestellten: ,,Sie
Anton, wie konnten Sie sich unterstehen, nach fünf-
undzwanzig tadellosen Dienst Jahren, einem Patienten,
und sei es auch ein berühmter Dichter mit Eigen-
heiten, solche Mengen Branntwein gegen Bestechung
zu verschaffen?!?"
,,Aber Herr Direktor, wenn ich das nicht schon
seit Jahren bei hundert Alkoholikern getan hätte-
wäre uns ja ein jeder schon am dritten Tag davon
' 8i
gegangen, und wir hätten unsere Anstalt leer stehen
gehabt!"
„Nun gut, Anton, aber sorgen Sie wenigstens
dafür von nun an, daß die leeren Flaschen nicht ge-
funden werden ."
,,Herr Direktor, das hat mir der Diener Franz
angetan, aus Rache, weil ich mir soviel nebenbei ver-
diene ."
Direktor zum Diener Franz: ,,Sie, Franz, küm-
mern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten! Sie
verdienen genug, indem Sie unsere Alkoholiker mit
unseren Hysterikerinnen ein wenig , anbandeln'
lassen . Ein jeder hat sein Ressort. In einer
Anstalt muß Ordnung herrschen!"
82
DIE ROMANTIKERIN I.
Ich hielt diese Fünfzehnjährige wirklich für ein
Ideal slawischer Schönheit, Stumpf nase natürlich,
aschblondes Haar, hechtgraue oder taubengraue
Augen. Alles an ihr gefiel mir, und nichts an ihr miß-
fiel mir. Ihr Schweigen war düster-merkwürdig, ihre
Interesselosigkeit an den Dingen des Lebens erschien
mir wie die versteckte Weisheit eines vorausahnenden,
gleichsam seherischen jungen Geschöpfes, an das
doch heutzutage, wie die Dinge einmal stehen und
liegen, sich in jedem Augenblick irgendeine Nie-
derträchtigkeit heranschleichen könnte! Aber
vorläufig war sie geborgen, beschützt, geborgen!
Nun, trotz alledem war ich nur ein kühler Beobachter,
den das alles absolut gar nichts anging, und der sich
höchstens einmal zu einem Veilchensträußchen für
60 Heller aufschwang. Ich sagte zwar, es habe eine
Krone gekostet, aber mit gutem Recht, da die Pro-
zente, die mir die Blumenhändlerin als einem Dichter
gab, eine Privatangelegenheit bilden für sämtliche
Beteiligte. Nun, eines Tages bat mich die Süße, ob
sie für ein Stündchen in meinem Zimmerchen aus-
ruhen dürfe, während ich auf dem Spaziergang be-
findlich wäre. Ich erlaubte es ihr. Als ich abends
mein Zimmer betrat, lagen, nett angeordnet im Kreise,
sieben Haarnadeln auf der weißen Marmorplatte
meines Nachtkästchens, als stiller Dank für die Be-
herbergung. Seitdem bin ich ein anderer Mensch ge-
worden. Diese kindlich-zarte, spielerisch-nette Ro-
mantik hat mich gerührt. Diese sieben Haarnadeln
sind etwas Positives von ihr, sie befanden sich vordem
6« 83
in ihren aschblonden seidenweichen Haaren. Ich
empfand es als eine kolossale Belohnung, ich bewahrte
die Haarnadeln in Seidenpapier und schrieb das
Datum darauf. Ich nehme sie oft heraus und be-
trachte sie. Ich bin kein objektiver Beurteiler mehr
seitdem. Ich denke immer, wie nett sie diese sieben
Haarnadeln im Kreise angeordnet hatte, wie eine
Zeichnung für Anfänger, strahlender Stern. Ich
werde mich schon wieder ,,zur Objektivität" durch-
ringen, denn es ist das Einzige, was man hat, wenn
man gar nichts hat !
84
ERBLEICHET! ERRÖTET!
Ich kann es immer nur wiederholen und wieder-
holen: „Suchet Zugluft auf!" Es gibt eine ganz ein-
fache Art für reiche Leute, 150 Jahre alt zu werden,
das ist, neben dem Chauffeur, bei jeglichem Wetter,
mit freiem Halse und ohne Hut durch die Welt zu
fahren, und nur nachts in ruhigen Zimmern, bei
weit geöffneten Fenstern, zu rasten. Zugluft ist
das Heilmittel! Alles daran zu setzen, sie vertra-
ge n zu können, ist das Wesen des modernen „Höchst-
kultivierten"! Angst vor Rheumatismus oder Bron-
chialkatarrh ist das absolut untrügliche Zeichen
eines tief rückständigen unaristokratischen Or-
ganismus! Da helfen weder Ahnen, noch sogenannte
künstlerische Qualitäten! Der betreffende Or-
ganismus ist in jeglicher Beziehung ,, geschnapst".
Ein Sänger, der seinen Kragen hochstellt, ist kein
Sänger. Seine Kunst kann ihn in jedem Augenblick
im Stiche lassen! Regen, Sturm müssen dem echten
Sänger Labsal, ja Erquickung sein! Er setze sich auf
dem herrlichen Plateau der Rax tagelang dem Ge-
brause aus! Was die Legföhre aushält und das Rho-
dodendron, gerade eben dasselbe muß auch er aus-
halten! Abgehärtete Frauen sind bereits dadurch
allein schon in einer „höheren Rangsklasse"! Ver-
wöhnte sind Gänse, in jeder Beziehung! Ich kenne
alle Seelen und Gehirne der nicht absolut abgehärteten
Menschen. Es ist Talmi und Pofel! Schein-
Existenzen !
85
OSTERMONTAG AUF DEM SEMMERING
Die Lärchenbäume haben sich jedenfalls noch
nicht verändert. Sie sind gelb-grau geblieben wie im
Winter. Sie lassen keine Hoffnung zu. Bis alles ge-
schehen sein wird, der geordnete sichere Frühling,
dann erst werden sie ernstlich ,, ergrünen". Sie sind
,, voraussichtige Genies" unter den Gewächsen, so
Bismarcks, Moltkes der Pflanzenwelt. Andere sind
allzu hoffnungsvoll, stecken den Kopf heraus, glau-
ben, es wird sich schon machen, zum Teufel!, und,
hast du nicht gesehen, sie verwelken! Aber die Lär-
chenbäume sagen: ,,Wenn wir einmal anfangen, grün
zu werden, dann, dann gibt es kein Zurück mehr,
verstanden ? ! Und dann bis in den Spätherbst hinein,
hurra!" Der rote Vogelbeerbaum macht etwas Ähn-
liches, erhält sich sogar mit weißen Schneehütchen
seine grellroten Vogelbeeren, die letzte Nahrungs-
stätte der gedrungenen farbigen Gimpel!
Ostermontag. Ein Arbeiter spielt auf der Harmo-
nika, und eine Frau ruft: ,,Zum Essen!" Irgend
etwas Besonderes gibt es heute, etwas, was die ,, ge-
wöhnlichen Ausgaben" übersteigt! Romantik des
Feiertagsessens! So hatten wir in unserer Kindheit
Sonntags stets „Juliennesuppe", Poulard mit Erd-
äpfelsalat, und Karamelpudding mit Himbeersaft.
Der Himbeersaft war nie gewässert, verdünnt, wie
stets in anderen Bürgerhäusern; denn meine Mama
hatte die Absicht, eine jede Hausfrau zu demütigen,
zu blamieren, indem sie erklärte, in ihrem Hause
werde der Himbeersaft, direkt aus der Original-
flasche, unverdünnt serviert ! Viele Damen hielten
86
sie infolgedessen für verschwenderisch, ja sogar in
gewisser Hinsicht für exzentrisch. Andere aber be-
wunderten sie als eine Art von zwar unverständlichem,
aber dennoch höherem Wesen; Himbeersaft direkt
aus der Originalflasche ! ?
Vor meinem Fenster ist ein Reh in einem Holz-
verschlage. Es ist so ein Plakat für ,, Wildreichtum
der umliegenden Waldungen"! Es schnuppert wie
eine Ziege, es denkt : ,,Die Freiheit habe ich eingebüßt,
da will ich wenigstens kulinarisch genießen!"
Im ,,Kino" schießt ein kleiner Knabe alles aus
einer von einem Onkel geschenkten Büchse zusam-
men. Zuletzt schießt er den schweren Lüster vom
Plafond herunter. Da sagte ein dreijähriges Mäderl
neben mir: ,,Ist der Lüster jetzt gestorben ? !" ,,Nein,"
erwiderte ich, ,,er hat sich nur ein bißchen weh
getan!"
Es ist Ostermontag. Ein jeder glaubt es zu spüren
direkt, weil er es nach dem Kalender weiß! Morgen,
9. April, ist ihr zwölfjähriger Geburtstag. Aber ich
darf ihr nicht gratulieren; erstens, weil die Herren
Eltern es nicht erlauben, zweitens, weil ich weder
ihren Namen noch ihre Adresse weiß ! Aber ich habe
sie gehen gesehen, das genügt für meinen Turm-
falkenblick! Ich würde ihr schreiben: ,, Dante
Alighieris Beatrice, 1912"! Aber wozu?! Bin ich
Dante?! Nach 500 Jahren soll man sie mit mir in
Beziehung bringen! Siehe, meine Seele hat Zeit,
über ihren eigenen Tod hinaus zu warten! —
^7
BERGHOTEL-FRONT
Sechs Uhr morgens . Ein nebeHger J ulimorgen .Alles
duftet nach feuchtigkeitsdurchsogenem Waldboden.
Alle Fenster sind geschlossen, bis auf die der jungen
Schönheit, die vor den Toren der Lungentuberkulose
angelangt ist. An diesem Fenster hängt, vom gestri-
gen Abendprunke, ein tiefblau seidenes Gewand,
bewegt sich im Morgenwinde. Irgendwo singt eine
Kinderfrau ein Kindchen wieder in den unterbroche-
nen Morgenschlaf ein. Ein Hund kriecht vorüber, als
käme er von einer Sündennacht außer Hause. Ich
denke: „Klara, Franziska, Sonja ", und be-
lausche ihre geliebten Kinderatemzüge, die ich nicht
höre!
88
LANDPARTIE
Ich bin „radikal" geworden. Ich mache mit einer
mir sympathischen Dame eine Eisenbahnfahrt von
25 Minuten nach M. Wenn sie nicht am Fenster lehnt
und in die Landschaft hinausstarrt, bin ich bereits
enttäuscht, nicht mehr ganz ,,ä mon aise". Sie er-
wartet also ,, anregende Konversation", pfui! Wenn
sie sagt: ,,Es zieht, machen Sie, bitte, das vis-a-vis-
Fenster zu", bin ich mit ihr fertig. Rheumatismus
zieht nicht bei mir, das ist schlechtrassig, so 1870, zur
Krachzeit. Wenn ich ihr in M. das herzige, brausende,
dunkle Flüßchen zeige, muß sie entzückt sein, ja sie
muß, sie muß, sie muß ! Wenn ich ihr den Frieden der
langen Dorfstraße zeige, muß sie selbst ,,friedevoir'
werden ! Wenn ich ihr das niedere, schneeweiße Haus
zeige mit den schwarzen Eisengittern und den vergol-
deten Schleifen und sage: ,,Hier hatten die Generäle
Napoleons des Ersten Quartier ! " , so muß es ihr wie hei-
liger Schauer über ihren rosigen Rücken laufen ! Bil-
liger gebe ich es nicht. Es sind schlechte Zeiten ange-
brochen für wirklich zarte Seelen, und daher muß man
prüfen, ehe man ewig Landpartien macht! Wenn sie
in dem kleinen, traulichen Dorf-Kaffeehaus ihren Tee
selbst bezahlt, ist es gut. Wenn nicht, ist es be-
denklich. Wenn sie den Soimenuntergang nicht be-
achtet, sondern lieber von einem erzählt, der sie einst
sehr, sehr geliebt hat, ist es vollkommen verfehlt.
Auch der Rauch der Lokomotiven sogar hat sie zu
interessieren. Wenn sie sagt: „Ich möchte nicht gar
zu spät nach Hause kommen", so ist es falsch. Mit
mir kommt man immer zu früh, und nie zu spät
89
nach Hause. Auf der Rückfahrt hat sie eine andere
zu sein wie auf der Hinfahrt! Wie sie das macht, ist
ihre Sache! In dem „langen Tunnel" hat nichts zu
geschehen! Aber sie hat es innerlich zu bedauern,
daß es so war! Ich bin „radikal" geworden. Eine
Fahrt von 25 Minuten; Aufenthalt; retour; und ich
weiß alles!
90
PSYCHOLOGIE
Ich beurteile schon seit längerer Zeit die Menschen
nach den Gegenständen, die sie tragen, lieb haben
und für hübsch finden. Das ist ein ,,biografical
essay" über ihr eigenes . Wesen ! Zum Beispiel sind
mir Männer höchst suspekt, die Stöcke tragen mit
oxydierten Silbergriffen, die irgend etwas vorstellen,
wie Hundekopf, Schlange oder gar ein reizendes
Frauenköpfchen mit Lockengewirr. Freilich haben die
Kerls dann die Ausrede, sie hätten es von einem lieben
Freund geschenkt erhalten; aber erstens hat man
keine solchen geschmacklosen Freunde eben nicht zu
haben (zwei Verneinungen geben leider eine Beja-
ung), und zweitens kann man das Geschenk einem
guten Freund auch über den Schädel hauen. Über-
haupt bin ich unter kultivierten Menschen nur
für ,,Bons" in einem bestimmten Geschäft! Suspekt
ist mir auch rosa, hellblaue und grellrote Seide,
während Atlas, Samt oder Damast bereits zu den
,, leichten Vergehen wider die Sittlichkeit" zu zählen
sind. Bedruckte, nicht gewebte Krawatten, erregen
ziemliches Bedenken, obzwar hier die ,,Natur-Bauem-
muster" noch zu pardonnieren sind. In , .einer
einzigen Farbe" gekleidet sein, vom Hut bis zu den
Schuhen, ist ,, letzte Aristokratie" 1913! Schirme
haben nur Naturgriffe zu haben. Ein freier
Hals ist edelrassig. Hohe Kragen sind ein Non-
sens, außer für Störche. In einem Kleidungsstücke
nicht sämtliche Bewegungen eines erstklassigen
Parterreakrobaten im ,, Apollotheater" machen zu
können, ist schlechtrassig! Hosen können nie
91
breit genug sein, und sind immer noch viel zu eng!
Letzte Knöpfe am Gilet offen zu lassen, ist eine
miserable Vergeßlichkeit. Jemandem, der sagt, er
wolle nicht auffallen, dem erwidere ich, daß auch
Beethovens Adagios auffallend waren, nämlich auf-
fallend schön! ,,Die Herde ist das, wovon man
sich in allem zu unterscheiden hat!" ,,Man trägt
jetzt " ist ein hundsordinärer Blödsinn.
,, Guten Morgen, mein Herr, wie steht Ihr wertes
Befinden?!" sagte ich zu einem Fremden, der auf
dem ,,Semmeringer Hoch weg" mit Zylinder spa-
zieren ging.
„O sehr gut, in dieser herrlichen Gebirgswelt;
aber woher kennen Sie mich denn?!"
,,Ich kenne Sie seit Ihrer Geburt wie meine eigene
Tasche, da ich sehe, daß Sie hier einen Zylinder
tragen "
„Ich bin das meiner Stellung in der Welt schuldig,
mein Herr "
„Auch das habe ich sogleich bemerkt, daß Sie
irgend jemandem irgend etwas schuldig sind ! "
92
VOR-VORFRÜHLING
II. Februar. Semmering. Ich versuchte es, nach
drei Wochen Krankheit auszugehen. Alles schwamm
in Nebel und Nässe. Die Rodel wege waren nicht mehr
vorhanden, ein grauer Schlamm mit ein wenig Glatt-
eis waren an ihrer Stelle. Alles war schmutzig, un-
gepflegt, bereitete sich vor für sonnige F"rühlingstage,
die trocknen, fegen und beleben sollten, vor allem
aber mit der Winterwirtschaft ein Ende machen.
Denn weshalb noch hinziehen, was ohnedies vergehen
soll?! Um jedes Gebüsch herum waren tiefe Schnee-
löcher, die Dächer trieften vor glänzender Nässe,
ebenso die eisernen Straßengeländer. Schneerosen-
knospen wuchsen überall, man stellte sie in Gefäße,
aber sie erblühten nicht, aus irgendeinem versteckten
Grund. Man bedauerte die Vögel nicht mehr, Krähen
und Gimpel, obzwar sie jetzt ebensowenig zu fressen
hatten wie im starren Winter. Die, die das überstehen
hatten können, würden auch das noch überstehen.
,,Ein miserables Wetter", sagen alle, obzwar es in
seiner Miserablität gerade rührend schön ist. Die
Menschen ziehen sich zurück, wie vor einem Menschen,
der nicht mehr ,,sein Bestes" leistet. Es ist nicht
Fisch, nicht Fleisch, sagen sie einfach. Nein, aber es
ist rührendes Patschwetter. Ich finde es nicht,
daß es weniger anziehend ist als der starre Winter und
der helle, klingende Frühling. Der zerrinnende Schnee
ergreift mich. Er war einst so herrschsüchtig, so un-
erbittlich, so zäh-fest. Die ,, Champions" liebten ihn,
nun sind sie von ihm abgefallen. Sie können ihre
überschüssigen Lebenskräfte nicht mehr an ihm er-
93
proben, schwächlich geworden, sucht er, gleichsam
verlegen, in Bächlein abzurinnen, zu verschwinden.
Und man hatte ihn doch so sehr geliebt, direkt ver-
hätschelt, als er noch brauchbar war. Jetzt könnte
man singen:
,, Schnee, du wirst grau und schmutzig
was ist mit dir?!
Zu nichts mehr bist du nütze .
Willst du vielleicht sogar meinem geliebten Kinde
einen Schnupfen bringen?!?
Du Schnee, dann, dann mag ich dich auch nicht
mehr, verschwinde!"
Uiid im Gelände werden bald Primeln und Veil-
chen stehn,
und ich werde sie pflücken und sie dir nicht geben,
das heißt äußerlich, vor den Menschen. Aber vor
Gott!
94
GEDENKBLATT
Es ist merkwürdig in meinem Leben. Immer das-
selbe. Als ob ich nicht älter, nicht reifer würde. Und
ich bin doch schon uralt und todeskrank. In meinem
35. Lebensjahr, an meinem heißgeliebten Gmundener
See, schlössen sich zwei Kinder, von 9 und 11 Jahren,
mit ihren zarten Seelen leidenschaftlich an mich an.
Dadurch entstand meine überhaupt erste Skizze, die
ich je geschrieben habe, in der Nacht nach dem Ab-
schied der Kinder von mir, ,,9 und 11". Eines Abends
erklärte die 9jährige unter Tränen, indem sie das
Nachtessen verweigerte, sie würde nichts mehr essen,
bis ich nicht zu ihnen ins Haus zöge. Daraufhin
schrieb mir der Vater, er verbitte sich von nun an
jeglichen mündlichen und brieflichen Verkehr, ja
sogar den Gruß auf der Straße, da er meinetwegen
doch nicht auswandern wolle. Und so geschah es,
strikte nach seinem Befehl. Acht Jahre später er-
schien nach einer Burgtheaterpremiere der Vater mit
seinen, zu herrlichen Geschöpfen erblühten Töchtern
an meinem Stammtisch im ,, Löwenbräu". „Ich
komme zu Ihnen, denn mein Töchterchen A. hat sich
gerade so, von selbst, entwickelt, als ob Sie wirklich,
ihrem heißen Wunsch gemäß, damals zu uns gezogen
wären; eine weltenferne Träumerin!"
Drei Tage später traf sie in der Kämtnerstraße,
bei ,, Schwarz und Steiner", der Gehirnschlag. Sie
hatte gerade vorher gesagt: ,,Da geht mein Loge-
Sänger ,,Schmedes", mit seinem gazellenfüßigen,
herrlichen Töchterchen . . . !" Sie wankte und war tot.
Ich fuhr mit den Eltern im Trauerwagen.
95
Da sagte der weinende Vater, der nun auch schon
tot ist: ,,Wenn ich das hätte ahnen können, hätten
Sie vor acht Jahren unbedingt zu uns ziehen
müssen !"
,,Nein", erwiderte ich, ,,auch wenn Sie das hätten
ahnen können, wäre Ihnen eine tote Tochter heber
gewesen als eine, die den Dichter verehrt!"
96
OBERFLÄCHLICHER VERKEHR
Ein Herr, den ich zehn Jahre lang nicht gesehen
liattc, kam im Berghotel per Automobil an und sagte
zu mir: „Gut. daß ich gerade Sie hier begrüßen kann.
Sie kennen sich doch auf dem Semmering gewiß gut
aus. Wo ist hier der Rase ur ? !" — „Gleich im Hause
daneben", erwiderte ich. — „Ich wußte es ja," sagte
er beglückt, ,,daß ich mich an die richtige Adresse
gewendet habe; adieu ."
Ein Herrschreibt mir aus Prag: ,, Teurer verehrter
Meister, in Ihrem Buche ,,Prodromos" ist ein eng-
lischer Reibhandschuh angepriesen. Kann ihn in
ganz Prag nicht finden. Bitte auch um genaue Angabe
des Preises!" Ich schrieb zurück: ,, Bürsten sind nur
in Eisenhandlungen zu finden, Preis i Krone und
IG 000, je nach der Qualität!"
Eine Dame, die mir ausnehmend gut gefiel, sagte
mir : ,,Ich habe ein diskretes Anliegen an Sie. Können
Sie mich nicht mit Ihrem reizenden Freunde bekannt
machen?!" — ,,Nein!" erwiderte ich schlagfertig.
Ein Herr aus Berlin schrieb mir: ,,Wie lange
wollen Sie noch uns Leser mit Ihren Brocken von
angeblicher Seelentiefe anöden?!" Ich erwiderte,
ich sei zwar schon ziemlich abbröckelnd, aber den
genauen Zeitpunkt des definitiven Endes könne
ich nicht angeben, er möge sich noch ein wenig ge-
dulden .
Jemand fragte mich, wo denn eigentlich meine
Bücher zu haben seien ? ! Worauf ich erwiderte : ,,Ich
glaube, der Bäckermeister oder der Schuster dürfte
noch einige Exemplare auf Lager haben ."
7 97
Jemand schrieb mir aus Klein-Höflein, wo ich
nie gewesen war und auch niemanden kenne:
„Falls Sie nicht innerhalb acht Tagen Ihre Schuld von
II Kronen 60 Heller bezahlen, werde ich die Sache
meinem Advokaten übergeben!" Infolgedessen be-
zahlte ich II Kronen 60 Heller nach Klein-Höflein.
Wenn ich nur wüßte, wo dieser Ort liegt?!
Jemand sagte zu mir; ,,Ah, Sie sind der berühmte
Herr Paul Altenberger, über den so viele gute Witze
kursieren?!" Ich sagte, ich hätte noch andere Quali-
täten, und entfernte mich hoheits voll-gelassen.
Eine junge Dame sagte zu mir : ,, Einmal und nicht
wieder!" Ich hatte sie nämlich ihr Nachtmahl selbst
bezahlen lassen. Freilich hatte ich die vergebliche
Hoffnung gehabt, sie würde auch meines gleich mit-
bezahlen .
Eine reiche Familie, der ich es mitteilte, daß
heute, 9. März, mein Geburtstag sei, sagte im Chore,
daß man es mir wirklich gar nicht ansehe, ich schaute
aus wie ein guterhaltener Fünfziger. Mir wäre es
lieber gewesen, ich hätte den ,, Fünfziger" gut er-
halten !
Das sind lauter oberflächliche Bekanntschaften,
nichts Solides dahinter, kein Gemüt und kein Geld.
Es ist sehr, sehr schwer, Menschen zu finden, die sich
wirklich und ernstlich an einen anschließen .
98
BEAUTE
So wenig also hältst du von der Schönheit
deines nackten weißen oder braunen Edelleibes, daß
du dich verpflichtet fühlest, ihn zu schmücken, sagen
wir , .behängen" und ,, belasten" mit hundert Edel-
fellchen wertvoller Tierchen??
Stolz nennst du die Summe, die es gekostet
hat .
Erhöht es deinen Wert, daß man für dich be-
zahlte?!
Du weißt, die Besten gehen in geflickten Kit-
teln,
ihr Pelz ist Demut und Bescheidenheit.
Oder sie tragen das heilig-einfache Gewand
der Pflegeschwestem.
Schwarz weiß und eine große Brosche in Email
mit einem Kreuz,
zierten euch mehr! -
Von innen strahlt der Wert nach außen aus,
mit Mardermänteln bleibst du roh und nichtig!
Ich hasse jene Männer, die euch lieben,
in eurem stinkenden Prunke!
Nein, ich hass' sie nicht,
denn ihre Liebe ist derselbe Schein wie Eure
Fetzen,
sie lieben nicht sie hassen und ver-
achten Euch
vielleicht noch mehr, berechtigter als ich!!!
Jedoch, sie müssen!
7*
99
DIE SPIELEREIEN DER REICHEN
LEUTE
In einem ersten „Cercle" der Residenz kam man
auf die Idee, einen Preis von lo Flaschen Champagner
auszuschreiben für die allerstupideste Frage. Ein
Graf gewann den Preis mit der Frage: ,,Comment mi
homme de tacte et de goüt doit-il se comporter,
lorsqu'il rencontre la nuit dans une foret un accent
circonflexe?!"
100
RICHTIGE, ABER EBEN DESHALB
WERTLOSE BETRACHTUNGEN
Es ist eigentlich ganz widersinnig, auf eine Frau
eifersüchtig zu sein, die einem noch gar keine Kon-
zessionen gemacht hat. Denn je mehr Konzessionen
sie den anderen macht, desto größer ist die
Chance, daß sie einem dieselben mache, und even-
tuell noch größere! Es ist die falsche ewige Hoff-
nung, sie für sich allein erlangen zu können! Aber
das kann man nicht. Denn es hängt nicht von dem
ab, was sie gewähren, oder nicht gewähren will,
sondern von der ewigen Reizung ihres Nervensystems,
daß tausend Männer das und das von ihr sich er-
sehnen! Das allein läßt sie nicht ,,zur Treue"
kommen. Es wäre denn, daß man alle anderen über-
biete! Aber solche ,, Coups" gelingen selten auf der
Lebensbörse!
loi
DIE PROBE
Es gibt, eine sichere Probe für Sympathie . Ich denke
mir alle schönen Mädchen hier in dem Berghotel, die
mir gefallen, der Reihe nach quer über eine breite
weiße Landstraße aufgestellt. Plötzlich rast von einer
scharfen Kurve her ein riesiges Automobil. Welche
wirst du instinktiv zurückreißen, erretten ? ! ? Von
allen nur Klara, Franziska und die blonde 13 jährige
süße Ungarin!
102
EREIGNIS
x\m 24. Juli haben sie die Bergwiesen ge-
mäht
hingeschnitten die diskreten Farben eines alten
Perserteppifhs
die Duft-Symphonien abgebrochen unserer „mu-
sikalischen Nasen"! Wie ein Kapellmeister „ab-
klopft".
Frischer einfacher Heuduft wurde sogleich, und
schon ahnte man feiste Kühe mit den Stampfmühlen
ihrer feuchten Mäuler für die rosigen Euter es vor-
bereiten !
Wie Urkraftrausch wäret ihr, Bergwiesen, bis
zum 24. Juli.
Es dröhnte von Hummeln ; es schimmerte braun-
wolkig, distellila, schafgarbenweiß, königskerzen-
gelb, arnikagold; es roch wie ,, Menagerie", ,, Apo-
theke"; wie Bienenhonig schmeckt, so roch es im
vorhinein.
Es betäubte süß und belebte.
Es vermittelte: sanft einschlummern, frisch er-
wachen !
Nun ist es nicht mehr.
103
ENDE
Vom 17. September 1911 bis 19. Oktober 1912
war sie seine kleine Heilige. Sie war geboren 9. April
1900.
Dann erzählte ihr eine Dame der sogenannten
,, guten Gesellschaft", daß er ein Säufer sei, und schon
zwei Jahre im Irrenhaus interniert gewesen sei.
Hatte er sie seitdem weniger lieb?! Das war ja
unmöglich.
Aber sie schämte sich seitdem seiner Vereh-
rung .
Die Liebe eines besoffenen Tollhäuslers?! Pfui
Teufel!
Da wollte er ihr das ersparen, und mied sie von
nun an.
Hie und da hörte er in den Korridoren des Hotels
ihre geliebte jauchzende Kinderstimme.
Da schloß er denn die beiden Türen seines Zim-
mers und warf sich, in unmeßlichen körperlichen und
seelischen Qualen, auf sein Sofa hin.
So endete eines seiner schönsten, seiner tiefsten
Lebensgedichte, das viel Leid, viel Begeisterung
und viel, viel Liebe in sich ein Jahr lang geborgen
hatte !
104
NACH ABWÄRTS
Niemand beschrieb noch körperhchc Qualen
weißt du, wie Brandwunden sind am zarten Fin-
gerballen?! So brennt es dir im ganzen Leibe,
und keine Linderung durch aufgelegtes Leinöl;
es brennt Tag und Nacht.
Wie eine mittelalterliche Folter, der du unter-
liegst; die Folterknechte aber sind im Innern; und
unsichtbar ereignet sich das Schreckliche.
Scheinbar friedlich sitzest du in deinem Zimmer-
chen,
und draußen ist der braune Bergwald.
Er kann dir nicht mehr helfen, er, der dir einst
half zu den Begeisterungen, dem besten Mittel, jung
und stark zu sein!
Und nachmittags irr' ich in den langen, schmalen,
düsteren Korridoren,
das Antlitz meiner kleinen Heiligen zu sehn.
Wenn ich sie erschaue, ergreift mich der Gram.
,,Wie geht es Ihnen heute?!" sagt sie sanft, und
blickt erstaunt auf diese menschliche Ruine, die ihr
fast täglich tiefe Hymnen singt .
105
ABSCHIED
Mein geliebter Pinkenkogel, hart an meinem
Fenster aufsteigend,
ich sage dir Adieu!
Ich muß nun wieder ins Exil hinter vier Mauern;
die Menschen wollen „langsam Sterbende" nicht
sehn. Und diese wieder nicht die Menschen!
Dazu sind diese „Institute" da, daß nur der weite
stark die Klagen höre.
Der ,, Pfleger" sieht die Träne ungerührt. Wo
kam' er hin, wenn er sich rühren ließe?!
Geliebter Pinkenkogel, lebewohl .
Und sag' auch ihr
wie liebt sie deine Bäume und deine Pfade auf-
wärts zu der Alm
und sag' auch ihr
nein, sag' ihr nichts!
Sie weiß, daß unter allen Abschiedstränen
die qualvollste für sie vergossen ist — — — .
io6
KRANKEN-TOILETTE
Wenn die Anverwandten zu Besuch kommen,
wird der Kranke „herausstaffiert". Das geschieht
nicht etwa aus irgendeinem Versuche, die Verwandten
über den Zustand des Kranken irrezuführen, sondern
aus einem ganz einfachen Grunde: Man läßt den
Kranken eben solange als möglich in seinem ihm not-
wendigen, ja zuträglichen Zustande von Apathie,
Man zwingt ihn zu nichts, wartet es geduldig ab, bis
er von selbst wieder zum gewöhnlichen Leben er-
wache. Aber gerade den Anverwandten darf man
diesen Zustand von organischer und infolgedessen
nützlicher Apathie des Kranken nicht vor Augen füh-
ren. Denn hierin ersehen sie nur eine traurige Stag-
nation des Leidens, was ihnen in Anbetracht ihrer
Sorge und ihrer eventuellen Geldopfer, auch Zeit ist
Geld, sagt der Engländer, nicht erwünscht sein kann.
Auch erhofft sich der Pfleger ein größeres Trinkgeld,
falls der Patient den Eindruck von ,, rücksichtsvoll-
ster Pflege" macht. Das ist doch ganz natürlich und
selbstverständlich. Es ihm zu verübeln, wäre albern.
Infolgedessen wird der apathische Kranke aus seiner
wohltuenden Ruhe plötzlich aufgescheucht, gesäu-
bert, rasiert und nimmt sich in seinem frisch über-
zogenen Bette aus, wie ein krankes Geburtstagskind.
Alle Besucher sind einig darüber, daß er sich fabel-
haft erholt habe, und schauen voll Bewunderung und
Rührung einmal auf den bescheidenen Arzt, und ein-
mal auf den stolzen Pfleger. Nach dem Besuchtage
verfällt der Kranke wieder. Gesundheit, Lebens-
fähigkeit, Energie hängen leider nicht von Besuchs-
107
tagen ab der Anverwandten. Man schleppt sich hin,
eine zerbrochene Maschine, und eines Tages steht
man auf und ist gesund. Oder man steht
nicht mehr auf. Dann ist auch wieder Besuchstag.
Man ist gewaschen, rasiert, Hegt in einem frisch über-
zogenen Bette wie ein Geburtstagskind, aber wie ein
totes. Nein, das sind Utopien. Bei Nacht wird man
insgeheim weggeführt, denn niemand in der Anstalt
soll wissen, daß ,, etwas sich ereignet" hat, was keine
Hoffnung zuläßt .
io8
KUSINE
Mit 52 Jahren stürzte meine Kusine ab vom See-
kofel, beim Blumenpflücken.
Mit 16 erhielt sie ihr erstes Ballkleid von „Maison
Marisson".
„Sie muß die Schönste sein!" sagte die Direktrice
des Ateliers zuversichtlich.
Zum ersten Male dichte Rüschen in gelbem
Musselin. Bis dahin trug man nur weiße Ballkleider.
Sie war die Schönste. Sie erregte Neid. Sie
glaubte, ein Prinz werde kommen oder etwas Ähn-
liches, z. B. ein Bankdirektor. Was hätte sie anderes
sich erträumen können, in gelben Musselin-Rüschen
von der , .Marisson", und entouriert von allen?!
Zum Souper meldeten sich 14 Herren.
,,Ich hab' nur eine rechte Seite und eine linke",
sagte sie glückstrahlend.
Mit 52 Jahren stürzte sie vom Seekofel ab, beim
Blumenpflücken .
Was sie erlebt, von 16 bis 52, ich weiß es nicht.
Ich kenne nur ihren ersten Triumph und ihren letzten
Absturz . Dazwischen dürfte so eine Me-
lange gewesen sein von beiden!
109
LIED
Was nützt des Herbstes braune Symphonie?!
Ich bin zu krank.
Sonst sah ich alles mit dem Blick der Liebe, dem
Blicke einer namenlosen Zärtlichkeit.
Ich wußte wie die Buche sich verfärbt im frühen
Froste,
und wie ihre Röte allmählich erbräunt.
Die Amsel raschelte im dürren Laub, die schwarze
Schnecke zog über die Wege.
Du sagtest mir, holdestes Kind, du müßtest nun
in ein Institut, für 2, 3 Jahre .
Ja, es ist Herbst geworden, und ich bin zu krank.
iio
ECHT
Ich bin sehr skeptisch in bezug auf Empfin-
dungen. FestUche Stimmung bei Geburtstags j ausen ,
bedenkhche Gesichter bei schweren Krankheitsfällen
können mir noch lange nicht imponieren. Ich kenne
diese „Rolle" wohlerzogener Leute. Darüber mehr
zu sagen, wäre eine Banalität, obzwar auch dieses
wenige schon eine beträchtliche ist. Aber eine
Empfindung gibt es, die nicht unecht ist, das ist
das klägliche Aufheulen, ähnlich wie Hunde beim
Klavierspielen, der allernächsten Angehörigen, in
dem Augenblicke, da der Sarg aus dem Schlafzimmer
hinausgetragen wird. Da gibt es kein Schluchzen,
kein adieu, kein Lebewohl, kein oh und kein ach.
Da gibt es nur ein klägliches erschreckendes Auf-
heulen, ein Winseln, wie wenn man den liebevollen
Hund aussperrt, ihm die Türe vor der Nase zuschlägt.
Freilich ,,derfangt" man sich sogleich wieder, von
den ,, nicht allernächsten" Verwandten liebevoll ge-
stützt, und wankt zu Hut, Handschuhen und Schirm.
Der Leichenwagen wartet nämlich.
Aber dieser eine kurze Augenblick ist echt, da
der Tote sein Schlafzimmer verläßt, getragen von
vier fremden Männern. Da sagt man nämlich wirk-
lich Adieu und heult auf, und winselt und spürt es
daß eigentlich alles, alles auf der Welt nicht dafür-
steht .
III
GESPRÄCH
„Wie ist das also, Peter, mit dem ,Geben', wie
Sie immer behaupten, das seliger sein soll als das
,Nehmen'?! Wie ist das ?!"
,,Das ist also so : wenn du an einem Bettler vorbei-
gehest, und du bist nur erfüllt, gehoben, durchwärmt
von dem Gefühle, eine exzeptionelle Freude jemandem
bereiten zu wollen, die in deiner Macht steht, sie zu
spenden, und du schenkst ihm da eine Krone, während
er dich ansieht, anstarrt, als hättest du dich nur in
der Münzsorte vergriffen, du aber gehest, ihm zu-
nickend, hinweg das ist: Geben ist seliger
denn nehmen! Wenn du aber denkst: ,,Pfui, diese
Belästigung! Dieser alte zerfetzte, demütige Hund!"
Und du gibst ihm dennoch 20 Heller, so hochnäsig-
widerwillig, dann, dann ist: Geben unseliger denn
nehmen!"
,, Peter, also da hast du 20 Heller! Nein,
ich habe nur Spaß gemacht. Ich will dir eine Krone
schenken, hole sie dir heute nacht von meinem Nacht-
kästchen ab ."
112
BILANZ
Es gibt Dinge, die unvergeßlich sind. Mit
diesen hat man seine Seele zu beschäftigen und
alle anderen Dinge zurücktreten, verblassen, ver-
schwinden, also allmählich absterben zu lassen.
Unvergeßlich ist das Vöslauer laue Schwimmbas-
sin mit Lindengeruch. Dann der „Lackaboden",
Alm vor dem Schneeberg; die Bodenwiese mit den
Kolröserln; Austern ä discretion, also sechs Dutzend ;
die kleine ,, Veilchenfeld", die kleine Magda S.,
Evelyn H., Klara und Frantzi P, und Eva Leo-
pold und Sonja Dunjersky. Dann Richard Wagner,
Beethoven, Mozart, Bach, Grieg, Hugo Wolf, Ri-
chard Strauß, Johannes Brahms, Puccini, Massenet.
Dann die ,, Topfen -Pastete" und ,, Filet de Sole
ä la Momy" und ,,Poires bonne femme" und
,,pommes concierge". Dann ,, Hamsun", ,,Strind-
berg", ,, Maeterlinck", ,, Gerhart Hauptmann". Dann
„Van Dyck" als ,,Des Grieux" in ,,Manon", ,, Ma-
ria Renard" als ,, Lotte" in ,, Werther", ,, Her-
mann Winkelmann", in allen seinen Rollen. Dann
der ,,Semmering", zu allen Jahreszeiten. Man
muß ,,Buch führen" über ,, reelle Werte", im sonst
leicht ,, passiv werdenden" Dasein! Frauen haben
eine perfide Geschicklichkeit, ,, unreelle Werte", wie
Schmuck, Pelz, Kleider, in ihr ,, Plus-Konto" des
Lebens frech einzutragen. Da müssen sie halt die
ganze Bilanz plötzlich durch einen ,, feschen Offi-
zier" wieder ins Gleichgewicht bringen! Auch ,, un-
glückliche Spieler" legen sich plötzlich eine ,, Ge-
liebte" zu, um sich es in ihrem falschen Buch-
* 113
Konto zu verrechnen, daß sie „an ihr" zugrunde
gegangen sind!
Eine richtige, anständige, ehrhche ,, Bilanz des
Daseins" führen nur die Selbstmörder. Aber wie
wenige, helas, gibt es noch heutzutage ? !
114
SEHR GEEHRTES FRÄULEIN!
Sie lieben also Albert ! ?
Sie suchen also eigentlich einen Mann, dem Sie
,,sein Alles" sind; der durch Sic es vergißt, daß die
Welt erfüllt ist von herrlichen, merkwürdigen, an-
mutigen und originellen Geschöpfen ! ? Sie suchen
also einen Idioten! Einen, dem Sie die Schmach
antun, ihn in einen Zustand zu versetzen, wie der
Auerhahn auf der Morgenbalze. Einen, der vor Ge-
fühl nichts anderes mehr sieht und hört um ihn
herum! Um ihm etwas bieten zu können, rauben,
stehlen Sie ihm seine Weltenseele, und für eine Haar-
nadel aus Ihren Haaren gibt er das Glück von Tau-
senden eventuell hin! Und diese Scheuklappen-
politik nennt Ihr dann ,, Liebe"! Ein verdoppelter
Egoismus, dem zum , »heiligen Dreibund" nur noch
der miserable Köter ,,Putz" fehlt, an den Ihr Euch
gemeinsam attaschiert !
115
HERBSTLIED
Die Ahornblätter sind wieder goldgelb, man kann
die einzelnen goldenen Bäume zählen im dunklen
Forste. Also ist es Herbst.
Gerade vor einem Jahre sah ich sie, 25. September
1911.
Sie war 11 Jahre alt. 11! Was macht es?!?
Der Wald bot damals alles, was er heute bietet,
und immer bieten wird .
Nur ich bin düsterer geworden, weil ich zuviel
an ihre Zukunft denke.
Als ich sie damals sah, da ging ich in den Wald,
um mir es einfach jauchzend mitzuteilen: ,,Du hast
das Herrlichste erschaut!"
Jetzt aber, tieferfüllt von ihr, seh' ich im düsteren
Herbstwald dunkle Schatten kommender Eroberer!
Oh, Gnade, Gnade, Ihr Herren, für mein geliebtes
Kindchen !
Tut ihr nichts!
Die Ahomblätter sind wieder goldgelb geworden,
man kann die goldenen Bäume einzeln zählen im
dunklen Forste. Also ist es Herbst.
116
EWIGE ERINNERUNG
Von Kortina brachen wir auf, Automobil, 9 Uhr
morgens, und schlängelten uns hinauf, auf den Fal-
zaregopaß, 21 17 Meter. Hinter dem Hotel pflückte
ich ,,Speik", diese weiße duftende Bergblume, Kind-
heitserinnerung. Der Boden war schwarz, weich und
und feucht ; und überall rieselte Schneewasser. Und
dann hinab ins Tal. Und von da aus sogleich wieder
auf den Pordochjochpaß, Kristomanos-Schutzhaus,
2250 Meter. Da gab es gar keine Blumen mehr, wie
herrlich. Der starre Sturm verbat sich alles Blühen.
Er stöhnte und beherrschte ! Wie wenn man als Kind
eine große Seemuschel ans Ohr dicht anlegt, so
brauste es. Nur sagt man in jenem Falle, das Tosen
des Meeres sei in der Muschel eingefangen. Hier aber
ist nichts eingefangen; man sieht das Brausen über
die kahlen gelb-braunen Wiesen; ganz aus erster
Hand vernimmt man den Sturm. Im wunderbar
warmen geschützten Speisezimmererker, nahm ich
ihr Bild heraus (Kl. P.), betrachtete es lange. Ich
dachte: ,,Mit dir hier zu sein!" Aber es wird nie,
nie, nie, nie sein . Wie schade.
117
GESANG
In allem hatte sie treffsicheres Urteil.
In allem. Nur sein Gesang gefiel ihr,
obzwar die Töne wie laues Regenwasser seinem
geziert ovalen Mund enttropften.
Er sang mit ihr, sie spielte das Klavier, er sang
für sie!
Und deshalb fand sie seine Stimme lieblich,
obzwar sie selbst das C-moll-Adagio Beethovens
unaussprechlich zärtlich spielen konnte,
und für alles sonst aristokratisch-feine Ohren
hatte.
Und einmal sagte sie zu mir:
,,Ist es Ihr Ernst, daß Sie seine Stimme für tonlos
halten, oder steckt da etwas dahinter. Lieber?!"
,,Es steckt etwas dahinter!" sagte ich, ,,das Vor-
urteil des dummen Weibchens!"
ii8
SOUPER
Es war ein Nichts .
Immer ist es ein Nichts, aus dem zuletzt ein
Etwas wird!
Törichte Frauen, die ihr mit dem Leben tändelt,
mit uns und mit euch selbst!
Er sagte einen dummen Scherz,
so um den Bann zu brechen öder Stimmung.
Da gössest du aus deinem Glase ein wenig Wasser
ihm auf sein Gewand .
,,Zur Strafe!" sagtest du lächelnd.
Koketter Kerkermeister!
Jede Intimität ist eine perfide Brücke zu einer
Seele oder zu unedleren Teilen.
Er fühlte sich geehrt durch das Begießen,
und seine Augen sagten gleichsam: ,, Es kam von
dir!"
Es war ein Nichts
immer ist es ein Nichts, wie Frauen nämlich
denken, ein Nichts, das uns tief unglückselig
macht !
119
DIE WAGENFAHRT
Alle sagten zu ihm sehr bald „Herr Peter" oder
„Peter". Aber sie sagte nach langer Bekanntschaft
„Herr Altenberg". Er schrieb ihr das. Sie sagte
weiter wie bisher: „Herr Altenberg", obzwar er eine
zärtliche Freundschaft für sie hatte. Eines Tages
fuhren sie im Wagen durch seine geliebte Berggegend.
Da erzählte sie von der Krankheit ihres Kindchens,
erzählte, weinte, erzählte, weinte, verstummte. Er
sagte: ,,Ich liebe hier jeden Strauch, ich kenne jeden
Acker, jeden Wiesenzaun ." Beim Abschied
sagte sie: ,, Adieu, Peter ."
I20
KONZERTPAUSE
Gerade hatte Germaine Schnitzer den Todesritt
Mazeppas von Liszt gespielt. Ich war begeistert, ent-
führt in wilde Welten. Da brachte mir der Diener
deine Karte, daß du draußen wartest.
Im Berg-Nacht-Sturm warst du heraufgekommen,
um mich ängstlich zu fragen, ob ich dir noch freund-
lich gesinnt sei. Ich sagte: ,,Ich komme von einem
Todesritte, ich hörte ein keuchendes, sterbendes
Pferd! Komtesse Esterhazy trug eine aschblonde
Krone, aber es waren ihre eigenen Haare. Die Lieb-
lichste!"
Da sagte sie: ,,Und für mich haben Sie nichts
mehr übrig?! Ich kam in Nacht und Sturm!"
Da reiste er denn wieder zurück ins Land der
milden Freundschaft .
121
SCHÖNHEITS- KONKURRENZ AUF DEM
SEMMERING, SOMMER 1912
Preisrichter: Herr Peter Altenberg.
Hors concours: Klara Panhaus, Stella S., kleine
Leopold (6 Jahre), 3 kleine Simon, die ,, Unbekannte",
Frau Machlup, Wilma Kempf, Ada Königsgarten,
die Tennisspielerin.
I. Preis:
Der Preisrichter prämiierte keine, die prämiier-
bar war!
122
AUF WACHE
Er wußte, daß ihr brauner Leib
er liebte jedes Härchen ihrer dunklen Achsel-
höhlen, die er ein einziges Mal bei ausgestrecktem
Arm und weiten Seidenärmeln erblickt hatte
er wußte, daß ihr brauner Leib
in Zärtlichkeiten triefte bei dem anderen.
Dies nahm er als unabwendbares Geschick,
wie Verarmung, Krankheit, Sterben.
Ja, es erzeugte sogar der süßen Selbstlosigkeit
bittere Wollust!
Er war gewappnet, stand, ein düsterer Ritter, an
den schweren Toren ihrer leichten Seele!
Doch, als sie dem Dritten aus seinem Wermut-
glase den Zwiebackbrocken mit dem Finger fischte,
und jener den geheiligten Wein ihr zutrank,
da wurde er entwaffnet, zog sich zurück von
seinem gefahrvollen Posten am schweren Tore ihrer
leichten Seele,
ging langsam die weiße Landstraße hinab, und
seine Schritte zogen müd dahin .
123
22. AUGUST
In deinen geliebten Augen lag ein milder Schim-
mer von Edeltraurigkeit.
Du lauschtest ernst den Melodien meines alten
Herzens, das zu dir sang.
Und immer blieb der milde Schimmer.
Wie wenn du in Fernen blicktest kommender Tage,
du Zwölfjährige,
lauschtest du bei mir Alten dem Frühlings jauch-
zen zukünftiger Kavaliere!
Wenn Dichter sich dir nah'n in deinem zwölften
Jahre,
wirst du dem Kavalier in holder Demut zum
Lebensbunde deine Finger reichen,
die jener schon gerührt besungen hat!
124
WIE IST ES?!
Wie ist es?! Soll man ein besonderes schönes
Mädel,
in strenger, grauer Härte halten!?
„Immer zu früh noch wird man sie verwöhnen",
fühlen die Eltern.
Siehe, eines Tages strömt plötzlich das Licht in
der Bewunderung,
das ihre ungewohnten Augen blendet, schädigt!
Wäre sie gewohnt, seit ihrem zehnten Lebensjahr,
an dieses Licht des Lebens,
ertrüge sie nun das gesteigerte blendende,
in edler Fassung und dankbar gerührt!
125
VOM RENDEZVOUS
Sie ging den steilen Wiesenpfad hinab,
zum Rendezvous,
Ich sah braune Stauden ihre Röcke streifen. Ich
sah ihr nach.
Bald kam Himbeergebüsch, das sie begrub.
Um V4I sollte ich sie erwarten.
Sie kam zurück, von Küssen ganz bedeckt.
Wie wenn die rechte Hand geheiligt wäre,
reichte sie mir die linke,
die ich an die Lippen hielt,
solang bis Wehmut kam und übertropfte .
12 D
EXAMEN
Ich unterwarf sie einer strengen Prüfung:
Die Hände?!
Die Augen?!
Die Stime?!
Die Schultern?!
Die Füße?!
Die Zehen?!
Die Stimme ? !
Die Bewegung ? !
Der Teint?!
Die Seele?!
Die Intelligenz?!
Die Brüste?!
Vollkommen
Nicht vorhanden.
Endresultat : Vollkommen !
127
LES LÄRMES
Also, nach vielen Jahren, habe ich wieder geweint.
Freilich war es bei dem Liede von Johannes
Brahms: „Sapphische Ode".
Aber ich hätte nicht geweint, wenn ich sie nicht
kennen gelernt hätte .
Ich wäre entzückt gewesen, gerührt, ergriffen.
Aber geweint hätte ich nicht .
Also weinte ich dennoch ihretwegen!
128
TESTAMENT
Er hatte in sein Testament (der Ertrag seiner
neun Bücher nach seinem Tode) die 12 jährige Schön-
heit mit der jauchzenden, khngenden, bezaubernden
Stimme eingesetzt. Aber da sie Milhonärstöchterlein
war, hatte er bestimmt, daß von dem Gelde soge-
nannte ,, Geschenke eines Verstorbenen" zu kaufen
seien, außergewöhnliche Dinge, z. B. eine be-
sondere Bergkristalldruse, oder ein besonderes holz-
geschnitztes Christuskreuz. Da erfuhr er, daß man
eine Kollekte gemacht hatte im intimen Kreise für
einen V^^interrock seines Bruders, eines modernen
Diogenes. Da stieß er das Testament um, bestimmte
nur, daß der Bruder an jedem 9. April, dem Geburts-
tage seiner kleinen Heiligen, derselben eine exzep-
tionelle Sache als ,, Geschenk eines Verstorbenen" zu
senden habe! Der Bruder dachte Tag und Nacht
über solch ein Geschenk nach. Da schrieb die Heilige :
,,Ich will Ihnen Ihre Mission erleichtern. Schenken
Sie mir nur das Manuskript des ,,Ein schweres Herz".
Er nahm es aus dem Schreine von gelbem Eibenholz,
küßte es innig, und schickte es fort. Erfühlte: ,, Ich bin
der Vermittler eines letzten Willens. Sie hat mir
meine Aufgabe erleichtert, indem sie sie erschwert
hat! NurOpfer belohnensich! Ich hatte schon eine
herrliche Bergkristalldruse aus den Tauern erstanden,
mit Kristallen wie geschliffenes, gefrorenes Bergwasser.
Aber das ist nun also für den nächsten 9. April!"
Sie schrieb: ,,Nunhabe ich das Herz Ihres Bruders!"
,,Nein", fühlte er, ,,irh habe es, indem ich es
weggegeben habe!"
0 129
ACONITUM NAPELLUS
In meiner letzten Verzweiflung körperlicher Qua-
len nahm ich Aconitum Napellus, Ich hatte ihn
vor acht Wochen blühen gesehen, auf dem Wege von
Schluderbach nach Misurinasee, von dort nach „Tre
croce", von Kortina auf den Falzaregopaß. Überall
hatte ich diese giftige Bergblüte gesehen, oft in Men-
gen wie kleine Felder. Und eigentümlich haftete mein
Auge auf diesen Blüten, als ahnte ich, daß ich sie
bald in meinem Zimmerchen als winzige durchschei-
nende Kügelchen, als letzte Hoffnung sterbender
Nerven schlucken würde! Damals erlebte ich sie als
Zeichen der Bergflora, neben Rhododendron und
Legföhre. Wie romantisch kam mir die Blüte vor in
ihrer mysteriösen Giftigkeit. Nun aber schlucke ich
zwei PiUen, viertelstündlich. Wird es nützen?! Ich
gedenke der herrlichen Tage, da ich die Blüte be-
wundern durfte, in Höhen, wo es karg ist und der
Nachtsturm braust .
130
MANÖVERS
Die Herren „Verehrer", die wie Toreros aussehen
oder wie kühne Cowboys oder wie französische Ritter
ausdem i8. Jahrhundert, sei es von dem Bug ihrer Nase
Gnaden oder von Schneiders ; die treten selbstsicher-
nonchalant auf, sitzen oft mit dem Rücken gegen die
Dame und sagen sogar, daß dieser oder jener Spazier-
gang ihnen nicht konveniere und sie es daher vor-
zögen, sich nicht anzuschließen und lieber in Ruhe
ein gutes Buch zu lesen ! Wenn man eine schöne Nase
hat, kann man das allerdings wagen. Aber die Mißge-
wachsenen müssen eine andere Taktik einschlagen. Pa-
kete tragen. Schirme aufheben und zu allem ,,Amen"
sagen, ist ihre kleine, süße Aufgabe. Auch damit kann
man nette Erfolge einheimsen, und Opfer sind für ,, Op-
ferfähige" nicht allzu groß. Im ganzen genommen sind
die armen Damen von einer wohlberechneten ,, Rou-
tine" umgarnt, wie die italienischen Singvögel von den
feinmaschigen Netzen. Selten schlüpft eines der herzi-
gen Vögelchen durch, durch die engen Maschen, die
ihrer Eitelkeit gelegt sind. In dieser Gesellschaft von
Eroberern sticht besonders hervor der immerhin selte-
nere ,, Salonplattenbruder", der ,, seelische" Mes-
serstecher. Erstichtgleich in die Ehre, in den Ruf , in
das Glück hinein, macht sich nichts aus drei Monaten
Kerker, wollte sagen, aus Frauenverachtung. Diese
,, Verachtung " sind seine , .Geschäftsspesen ' ' . Dafür hat
er sie ,, gehabt"! Einer drang um i Uhr nachts in das
Zimmer ein : , ,Ich sage in j edem Falle morgen , Fräulein ,
daß Sie mich bestellt haben! Also ist es schon ganz
egal für Sie!"
Das leuchtete ihr ein .
9' 131
GIFT
Es gibt ein Gift, das ewig wirkt,
ja sich vertausendfacht in seiner ^^^irkung
durch unablässiges Erinnern.
Das sind die deplaziert liebenswürdigen Worte der
Geliebten zu fremden Männern.
Es ist ja richtig, sie hat sich nichts Besonderes da-
bei gedacht.
Doch weshalb hat sie nicht an das Besondere ge-
dacht, uns tief zu quälen?!
Ihre gekränkte Miene bei unserm Vorwurf
kann uns nicht eines Besseren belehren,
so daß wir tief zerknirscht von hinnen schleichen.
Ein jeder Apotheker ist verpflichtet, das Gift
zu kennen, das er uns reicht!
Und so die Frau.
Will sie uns vergiften?!
Vielleicht, für Augenblicke, um uns dann, in ihrer
Gnade, Gegenmittel zu verabreichen!
Erinnern ist ein Gift, das ewig wirkt,
und sich vertausendfacht in seiner Wirkung,
durch unablässige Erinnerung!
132
LUFTVERÄNDERUNG
Es ist merkwürdig, wie sich Familienangehörige in
Kurorten begrüßen, die vielleicht kaum acht Tage
lang getrennt waren voneinander. Als ob sie von
einer monatelangen Weltreise gekommen wären!
Ein ganz neuer Ton von zärtlicher Freude, von
intensivstem Interesse wird angeschlagen. ,, Findest
du unser Püppchen besser aussehend, Papa?" —
,,Na, ich bin noch nicht so ganz zufrieden, sie ist halt
ein .Zarterl', was, Minnerl?" — „Kinder, laßt euch
in euren Gewohnheiten (von acht Tagen) ja nicht
stören, ich werde mich allem akkommodieren (alter
Jesuit!)."
,,Baby will hier das zweite Ei zum Frühstück
nicht essen, ich habe ihr gedroht, ich würde es Papa
melden (haste wichtige Meldung!), wenn er kommt!"
— ,,Nun, das macht wahrscheinlich die Luftverände-
rung!" In besserer Luft kann man also kein zweites
Ei essen? Auch die Bonne wird netter, rücksichts-
voller behandelt als zu Hause. ,,Was, Marie, hier ist
es schön?" — ,,Bitt', gnä' Herr, ja ." Eine
ewige Sorge um Paletots, Jacken, Schals, als ob alle
plötzlich tuberkulös geworden wären. ,,Annie häkelt
hier (weshalb plötzlich hier?) schon so nett, sogar
ohne Aufforderung (sie scheint also hier zu ver-
blöden!)." — ,, Schlaft ihr hier nach dem Speisen?'*
Auf einmal weiß er nicht, ob seine Familienmitglieder
schlafen oder nicht. Die Luftveränderung scheint
ihm nicht gut zu tun, dem Erhalter und Ernährer.
Man verkehrt miteinander wie Fremde bei einer
Jour-Jause. , .Angenehme Nachrichten?" fragt man
133
bei der Morgenpost. Der Kassier ist ihm durchge-
gangen. „Alles in schönster Ordnung zu Hause, mein
Täubchen!" Der Arzt hat nämHch gesagt: „Zwanzig
Bäder kosten zweihundert Kronen. Aber vor allem
keinerlei Aufregung, darauf muß ich strengstens be-
stehen!" Nämlich auf den zweihundert Kronen.
134
EIN NACHTRAG
Ich habe letztes Mal, wahrscheinlich vor einigen
Jahren, etwas geschrieben zur ,, Psychologie der bür-
gerlichen Liebe". Es war ein ,, Torso". Wenn ich
nur wüßte, was ein Torso ist. Aber viele einsichts-
volle Menschen sagten es mir direkt ins Gesicht
hinein, daß es ein ,, Torso", wenn auch ein sehr wert-
voller, gewesen sei. Nun, infolgedessen muß ich die
Nachtragsbemerkung machen, daß ,, jemanden wirk-
lich zärtlich lieb haben", unmöglich eine fort-
dauernde Sache sein könne, sondern eine durch
Haß-, Verachtungs- und vor allem Gleichgültig-
keits-Stadien (Stadien ist gut!) unterbrochene, sagen
wir, sogar angenehm unterbrochene Angelegenheit der
Seele und der übrigen verfügbaren Sinne sein müsse !
Man kann niemanden auf die Dauer gleich-
mäßiggernhaben! Das sollte in goldenen Lettern
auf der Fassade eines Venustempels prangen, in
deutlicher Adolf -Loos-Schrift, so wie von Vorzugs-
schülerinnen in Schreibheften! Die bürgerliche Ge-
sellschaft will etwas äußerlich, ä tout prix (das ist
französisch!) erzwingen, was es in der Welt aber tat-
sächlich nicht gibt! Nämlich eine anständige
Stetigkeit und Verläßlichkeit der Gefühls-
welt, ja sogar der Sinnen weit, was eine noch ent-
setzlichere Stupidität ist! Die ,, Mehrheit" will
uns eben blöde machen! Strindberg ist tot, Ibsen,
Bjömson, Tolstoi. Ja, da müssen wir Flöhe uns
halt aufraffen, und stechen und Blut saugen, wo und
wie wir nur es können! Wir können auch verwun-
den, ohne Genies zu sein ! Wir haben den gesunden
135
Menschenverstand! Das ist auch eine Waffe,
wenn auch eine zartere, Uebenswürdigere als die
Maximkanonen der Genies, die meistens doch nur
Idioten waren! Und ich sage euch daher, ihr
Glücklichen, ihr wart niemals auch nur eine
Stunde lang wirklich glücklich! Geschäfte habt
ihr. gemacht und Bilanzen berechnet! Ihr ,, Ak-
tiven" seid ewig ,, passiv" gewesen!
136
BUCHBESPRECHUNG
Ich habe mir das Buch schenken lassen vom Ver-
^^g J- J- Weber, Leipzig: „Rosen und Sommer-
blumen". Ich lese es, ich betrachte die i6o Photo-
graphien, wie ein Werk von Maeterlinck! Jede Rose
erblüht mir, als wandelte ich in einem Märchengarten.
Alles wird Wirklichkeit. Ich sehe die Kletterrosen
über alle Mauern, Wände, Gitter sich hinaufschwingen,
blühend rosigweiße Pracht verbreitend über kahle,
harte, notwendige Dinge ! Ich sehe das Kletterröschen :
,, Maidens blush, Mädchens Erröten", ich sehe die
Immergrünrose: ,,Felicite et perpetuite". Ich sehe
,,soleil d'or", goldgelb mit rosigen Rändern. Ich sehe
, .Memorialrose ' ' ,f ürGrabdenkmäler , , ,Minnehaha" , die
mich an Wedekinds herrliches Buch erinnert, das von
der Nackterziehung erlesener Geschöpfe handelt, ich
sehe die Rose ,, Katharina Zeimet", mit Wildrosen-
charakter, wie manche scheinbar zarte Frauen, die
Rose ,, Konrad Ferdinand Meyer", die ,,Beauty of the
Prairies", die weiße Rose ,,Frau Karl Druschki", die
Bourbonrose , ,Sou venir de la Malmaison " (in der Todes-
stunde getauft der Kaiserin Josefine). Ich sehe Rank-
rosen in düsterem Hohlweg glühen ; Crimson Rambler-
rose in riesigen rostrot lasierten ausgebauchten Töpfen,
Japan vorzaubemd und seine Gärten; vergeblich
suche ich eine Rose ,,KronprinzessinCecilie"! Rosen-
züchter, dichtet mir in der ganzen weiten Welt eine
Rose, die dieser Herrlichsten wert wäre! ,, Kron-
prinzessin Cecilie", du müßtest einen Platz erhalten im
Garten, daß man schon von weitem deine deutsche
und dennoch internationale Pracht verspürte!
^Z7
AN -
Ich liebe dich .
S' ist keine Frage mehr.
Solange ich dich sah und sah und sah, und sah,
wüßt' ich es nicht, könnt' ich es nicht wissen!
Nun, da ich dich den ganzen Vormittag nicht sah,
zum ersten Male,
und ich auch nicht weiß, ob ich des Abends dich
wiedersehen werde,
nun ist die Bangigkeit in mir!
Mit wem bist du?! Wer nützt die Pause aus?!
Kommst du vielleicht jetzt eben zur Besinnung,
daß es noch heißere Leidenschaften gibt
als die meiner Bewunderungsblicke?!
Oh, wärst du hier, ich sänke dir zu Füßen,
du würdest spüren, was ich bisher nicht wußte,
und was doch war, vom ersten Tage an !
Und was du vielleicht wußtest, eh' es war!
Was liegt dir dran, vielleicht freut es dich doch!
138
NEKROLOG (FRITZ STRAUSS)
Siehe, es sind schon Leute gestorben, denen ich
hätte nachtrauern sollen, und ich tat es nicht. Andere
wieder sind noch am Leben und ich wünsche ihnen
nur nicht gleich fluchen ! Aber um einen mir
verhältnismäßig ganz Fremden trauere ich jetzt. Er-
stens sehe ich gar nicht ein, weshalb gerade ein 24 jähri-
ger Millionärssohn weggerafft werden soll, der genug
Kultur hatte, Geld in wirkliche Werte, ohne Pflanz,
umzuwandeln. Zweitens besaß er Humor, obzwar er
wußte, daß es mit ihm schief gehen könne bei einer
zweiten Operation. Er war ein ,, Gentleman-Musi-
cal-Clown", so benannte ich ihn sogleich. Jeden
Abend nach dem Souper erfreuten er und Herr H., der
es auch ,, nicht nötig" hatte, das elegante Publikum des
Sanatoriums ,,Wolfsbergkoger' mit ihren unübertreff-
lichen Knock-about-Einf allen, bei Klavier und Violine.
Sie ersetzten eine ganze Varietevorstellung. Die reichen
Damen vergaßen ihrer Leiden, was ihnen umso leichter
fiel, als sie gar keine hatten; die kranken Herren ver-
gaßen, den kranken Damen den Hof zu machen. Das
Lachen war da, das Lachen, in diesen heiligen, ernsten
Gesundheitsräumen, und die Langeweile der Liege-
kuren, dieser neuen Art, sich noch mehr auf sein
armes Ich zu konzentrieren, war vergessen, gelöscht!
Ich bat den jungen Mann, doch ja als ,, Gentleman-
Champion" in großen Varietes, ohne Gage, aufzu-
treten, und er sagte es mir lächelnd zu. Nun ist er
tot. Um den trauere ich. 24 Jahre alt, unabhängig,
mit Humor gesegnet, begnadet, gutmütig, bescheiden.
Der hätte bleiben dürfen! Nur der!
139
ERSTER SCHNEE
12. September 1912. Es regnete und es schneite
zugleich. Der Sonn wendstein war bedeckt mit
Schnee. Das war ein Lokalereignis. Jedermann be-
sprach es eifrig. Die herrliche 14jährige, wie eine
Venetianerin aus dem 18. Jahrhundert, stellte sich
an die Fensterscheibe und sah hinaus. Alles andere
ward sogleich dagegen lächerlich und gleichgültig.
Für sie war Schnee gefallen auf dem Sonnwendstein
denn sie interessierte sich dafür. Ich hätte ihr zwei
Meter hohen Schnee gewünscht, ganze weiße Hügel
und Abgründe, damit sie sich besser amüsiere bei dem
Anblick! Sie sah hinaus, und ich beneidete die Fen-
sterscheibe um den Hauch ihres unbeschreiblich
schön modellierten Mundes. Überall zogen Nebel-
fetzen dahin, dorthin, zerfetzten, verwischten die
Landschaft, ertränkten sie in Grau. Das junge Mäd-
chen begann sich zu langweilen. Es wird ein öder
Tag werden in diesem Berg-Hotel. Mir erschien er
licht und wertvoll! Sie setzte sich hin, um mit einem
Kinde ein Spiel mit gelben, grünen, lila Würfelchen
zu spielen. Sie ließ das Kind absichtlich gewinnen.
Das Kind sagte: ,,Mit dir spiele ich nicht mehr, du
spielst zu schlecht, immer verlierst du, du Unge-
schickte!"
140
DER MALER
Die kleine 6jährige Tatarenkönigin Sonja D.
sagte zu dem Dichter, der sie anbetete: „Mein Bruder
Bogdan und ich, wir schlafen immer mit einem geöff-
neten Jagdmesser, einem Kindergewehre für Schrot
und einer Pistole mit echten Kapseln, unter dem
Kopipolster! Aber die Banditen wollen nicht kom-
men, sich abschlachten zu lassen! Die Feiglinge!"
Der Dichter nahm das vergötterte Königinchen in
seine zärtlichen Arme .
Der Maler kam. Da sagten die Damen:
,,Was finden Sie denn so Besonderes an dieser
6jährigen Sonja Dungyersky, die Sie jetzt malen für
500 Kronen? Sie ist doch viel unliebenswürdiger,
eigenwilliger, unsanfter als die meisten anderen rei-
zenden Kindchen hier?"
Der Maler: ,,Ich male sie von heute an umsonst,
verstehen Sie mich, umsonst! Für mich und für
die Welt! Also ausnahmsweise diesmal nicht um-
sonst! Ich werde sie malen auf einem niedrigen,
schmiedeeisernen, schweren Trone, mit ihren braunen
Gazellenbeinen und ihren braungoldenen Locken!
Umgeben von gebleichten Tatarenschädeln! Einer
muß an einer goldenen Kette herabbaumeln und in
einer Ecke muß ein Jüngling den grünen Giftbecher
trinken und sie anblicken. Das Ganze heißt: , Kleine
winzige Tatarenkönigin, Wildkatze, Besiegerin!'
Wie aus einer entschwundenen Zeit von Kraft,
Trotz, Schönheit, Unbesiegbarkeit stammt sie, und
dennoch könnte man über ihre Anmut, über ihre
Stimme, ja über ihre zarten Handbewegungen allein
141
schon tagelang weinen und sich momentan hin-
opfern!"
So sprach der Maler; und die Mütter der wohl-
erzogenen, folgsamen Kinder erbleichten und schli-
chen fast krank von dannen!
Am nächsten Tage schrieben sie: „Wollen Sie
unser Kindchen für 2000 Kronen malen?"
Und er schrieb zurück: „Nein!"
Aber am dritten Tage schrieb er zurück: ,Ja!"
Und er malte die Kindchen und alle Tanten und
Kusinen, und die Großeltern waren entzückt!: ,,Ja,
ja, so ist unser Schätzchen, unser liebes, goldiges
Geschöpfchen! Die Sanftmut schaut ihr aus den
Augen heraus !"
Ja, es waren sanfte Kälber von dummen
Kühen, richtig porträtiert ! Und ein jedes Kälbchen
kostete 2000 Kronen, billigst berechnet!
142
BETRACHTUNGEN
Der Schlitten war leicht wie eine Nußschale, aus
braunem Stroh; die Landschaft prangte weiß in weiß,
die roten Ebereschen und die bunten Gimpel, die
schwarzen Krähen bemalten sie diskret und vornehm,
fast nach japanischem Geschmacke. Ich sprach mit
der edlen Dame über zarte Dinge des Lebens. Die
edlen rehbraunen gedrungenen Pferde gaben die be-
kannten Verdauungsgeräusche von sich, schienen
also nicht nach ,,Prodromos" sich zu ernähren, son-
dern viel Unnötiges, BeschwerHches zu sich ge-
nommen zu haben, wie Hafer samt den Spelzen,
fi donc!
Wir überhörten gleichsam diese Geräusche, und
dennoch kam es wie ,, allgemeine Unzulänglich-
keit" der Lebewesen über uns, eventuell sogar fana-
tisch geliebter Damen. Ich liebte einst ein wunder-
bar schönes I3jähriges Schlossergesellentöchterchen,
die mir einst sagte: ,,Behalten's Ihre Briefe, es steht
ja eh immer nur dasselbe drin, ich weiß schon, Sie
haben wieder wegen mir die ganze Nacht geweint!
Hab' i Ihnen was angetan ? ! Na also, nur g'scheit
sein! Kaufens mir lieber V2 Kilo Ringlotten, wann's
mich schon so gern haben!" Bei einer solchen Ge-
legenheit ließ sie dann in der herzlichsten Weise
kleine kurze fast piepsende Geräusche hören, infolge
des Ringlottengenusses. Ich sagte: ,,No, no, was sind
denn das für Liebeserklärungen?!" Sie erwiderte:
,,Ah da schau' her, wär's Ihnen lieber, i sollt's in mein
Baucherl behalten, daß's mich druckt?! A schöne
Lieb' is das!"
143
UR-SEELE
„Herr Peter", sagte die herrliche 5 jährige- zu mir,
,, weshalb beschenken Sie Stella immer?! Stella ge-
hört mir, ich bin eifersüchtig."
,,Auf wen?!"
,,Auf überhaupt ."
,,Du solltest dich doch darüber freuen, wenn Stella
beschenkt wird?!" sagte ich.
,,Ja, ich sollte. Aber ich freue mich eben nicht,
sondern ich bin nur eifersüchtig!"
,, Würdest du Stella dieselben Geschenke nicht
geben, wenn du Geld hättest?!"
„Nein, Stella soll mich von selbst heb haben. Ich
habe sie auch von selbst lieb, sie braucht mir gar
nichts zu schenken!"
,,Aber Kind", sagte die Großmutter, ,,du bist sehr
herzlos und ungezogen!"
,,Aber was braucht der Herr Peter meine Stella
zu beschenken ? ! Meine Stella gehört mir, sie braucht
nichts geschenkt, ich habe sie lieb!"
,,Du solltest dich freuen, wenn ."
,,Ich sollte mich freuen, ich sollte mich freuen,
aber ich kränke mich!"
Sie weint. Worüber?! Niemand weint um-
sonst .
144
FRAGE
Was ist ein Dichter?!
Einer, der schon weinen kann,
wenn noch die andern trockenen Herzens sind
Einer, der die sechsjährige Prinzessin Sonja Dun-
gyersky
so zärthch lieb hat wie die eigene Großmama sie
heb hat!
Einer, der abends im Gebirge den eingefangenen
Oleanderschwärmer
auf das einzige Oleanderbäumchen setzt im
Garten,
das ihn aus femer Ebene hierhergelockt hat!
Einer, der die braune Nacktschnecke behutsam
vom Waldweg ins Gebüsch trägt .
Einer, der Rosen schenkt und sie bezahlt mit
seinem Nachtmahlgelde .
Einer, der die geliebte Hand berührt vmd dabei
Hochzeitnächte spürt von Seligkeiten!
Einer, der leidet, leidet
und alle sagen: ,,Was fehlt ihm denn zu seinem
Glücke?!"
Einer, der die Schale kauft, aus der sie Kakao
getrunken hat.
Einer, der ein ,, innerer Bomben werfer" ist,
und dabei doch so sanft, so mild verständnisvoll
für alles!
Einer, den alle verlachen,
und um den sie trauern, wenn er nicht mehr
ist!
145
LETZTE UNTERREDUNG
„Peter, was ist Ihnen?! Sie schauen so verzwei-
felt aus, und vor allem so bleich ."
Er schweigt.
„Peter, ist es wegen des jungen Architekten?!"
Er schweigt.
„Peter, Sie lieben mich seit meinem 12. Lebens-
jahre. Von Eltern, von Gouvernanten, vernahm ich
nur: ,,Du mußt, du sollst!"
In Ihren Augen lag von jeher eine unermeßliche
Zärtlichkeit. Das darf ich Ihnen nicht vergessen,
Peter. Es war der Lichtblick meiner düsteren Kind-
heit. Und oft wenn ich dachte: Wozu bist du?! da
dachte ich sogleich: Er hat mich lieb! Von Ihrem
Blicke lebte ich, das sag' ich Ihnen nun."
Er senkt das Haupt .
,, Peter, ich kann erst ganz glücklich sein, bis Sie
mich wieder anschaun, lichten, liebevollen Antlitzes,
wie eh und je ."
Da schaute er sie an, an, an, lichten, liebevollsten
Antlitzes, wie eh und je, so wie sie es brauchte und
verlangte .
146
LANDPARTIE
Wir fuhren im Automobile von Mürzzuschlag nach
Mürzsteg. Täler öffneten sich, weiteten sich, schlössen
sich wieder unmerklich. Und immer kamen neue Über-
raschungen. Z. B. Wiesen mit lauter goldgelben Blu-
men, dann solche mit safrangelben, mit roten, mit lila
Blumen, mit weißen, dann ganz grüne Wiesen, eine war
schöner als die andere . Und die Täler öffneten sich , wei-
teten sich, ließen Bäche durchrinnen oder blieben trok-
ken und schlössen sich, verschwanden. Wir fuhren hin
und staunten. Irgendeiner sagte : ,,Nehmen's mich mit
bis Edlach!" Und er fuhr mit und sagte, der Weg sei
länger als man glaube, aber in Edlach wäre ein feines
Restaurant für reiche Leute. ,,Können's mehr fressen
als sie fressen können ? ! Na also. Bitt' um Vergebung.
Ich weiß auch was sich schickt ." Hermine
lachte nicht. Sie sah die Wiesen, gelbe, weiße, rote,
blaue, lila und ganz grüne. Sie sagte: ,,Gebt ihm doch
ein Trinkgeld!" ,,Wofür?!" ,, Nun, über irgendetwas
scheint er doch verletzt zu sein ." Da gab
man dem blinden Passagiere zwei Kronen. Hermine
fühlte: „Dieser Mann kann die Wiesen nicht be wun-
dem, weil er kein Geld hat. Und wenn er Geld hat,
trinkt er Schnaps und schimpft auf uns. Er kann
nicht klar schauen, er hat einen düsteren Blick. Man
kann ihm nicht helfen, sondern nur sich den An-
schein geben als könnte man momentan .
Ich habe Sympathie für diese Leute, ich gehöre also
eigentlich zu ihnen, öbzwar meine Kleider looo Kro-
nen kosten . Wohin gehöre ich denn also?!
Zu den Enterbten, denen es glänzend geht — !"
147
L'AMOUR
„Mir geht es sehr, sehr schlecht."
„Gestern mittags war eine wunderbare russische
Pastete."
„Das Adagio der C-moll-Sonate ist herrUch."
„Meine grüne Seidenbluse ist zerrissen."
„Ich habe heute ein Gedicht gemacht : ,Früh-Spät-
herbst'!"
„Was wirst du mir zum Geburtstag schenken?"
„Der Arzt sagt, ich brauche große Schonung."
,,Ich weiß nicht, ob man heuer Sealskin noch
wird tragen können?"
,,Der Graf hat uns eingeladen!" ,,Der Graf?
O, da werden wir also gemeinsam hingehen!"
1:48
KLEINE MITTEL
Das Leben, um Gottes willen, ist sowieso schwer
genug, mit tausend unberechenbaren Komplika-
tionen, z. B. ein Bleistift bricht dir ab mitten im
Niederschreiben eines , .göttlichen Gedankens", Weißt
du, ob er noch da ist, bis du ihn gespitzt hast?!
Ich meine, ob der Bleistift noch da ist, bis du den
göttlichen Gedanken gespitzt hast!? Deshalb sollte
ein jeder das wunderbare einzige französische papier
gomme, ich darf die Marke nicht nennen, weil es
sonst so aussieht wie eine Reklame, auf seinem
Schreibtische liegen haben, ein nettes kleines Röll-
chen zum Abwickeln. Denn wenn man schon keine
beschädigten Hundertkronenscheine zum völligen un-
kenntlichen durchscheinenden Reparieren hat, so
klebt man doch gerne Skizzen, a drei Kronen Wert,
in ein Büchlein ein, um es später in ,, Buchform" zu
verwerten! Die , »Verwertung" soll mir nicht schaden.
Aber immerhin dieses Röllchen, dieses Röllchen soll
jeder auf seinem Schreibtische liegen haben. Es kann
auch im Notfalle als „Englisch Pflaster" bei Ver-
wundungen dienlich sein, denn die eventuelle Blut-
vergiftung, die daraus resultiert, kann doch heutzu-
tage soviel versteckte und geheimnisvolle Ursachen
haben, z. B. der Urgroßvater hat liederlich gelebt,
daß man dem unschuldigen Klebepapierchen keine
Schuld beimessen wird. Auch sollst du stets Englisch
Violet Carhou, ich darf die Firma leider nicht nennen,
obzwar man einen ganzen Frühlingsveilchenwald da-
durch in den Mund bekommt, immer auf deinem
Schreibtisch liegen haben. Nicht wegen der geistigen
149
Arbeit, sondern falls zugleich dabei ein Mädchen
einen herzhaften Kuß von dir verlangt. Bei
weniger herzhaften wird sie Bier, Zigaretten, Schnaps
nicht so spüren. Es gibt so viele kleine Mittel, die
einem dieses schwierige Problem ,, Leben" erleichtem,
ja lösen helfen!
150
NERVENÄRZTE
Kein Nervenarzt sagt: ,,Ich verstehe leider nichts
davon!" Denn davon, daß er das nicht sagt, lebt
er und seine ganze Familie!
Symptome einer tieferen unerforschlichen Er-
krankung will man wegbringen, und so den armen
Idioten von Kranken irreführen, vor allem aber
ihm ein unberechtigtes Honorar entreißen! Ek-
zeme z. B. sind Mitteilungen des genialen Organis-
mus, daß im Innersten nicht alles so recht mehr
stimme! Also eine , .liebevolle Warnung" der Natur,
die immer , .christlich vergebend, warnend vorsichtig"
ist. Aber der Arzt ,, unterdrückt" das ,,Ekzem", wie
wenn man im alten Rom die armen warnenden Gänse
abgeschlachtet hätte, die vor der Mauererstürmung
des Feindes, nächtlich mit ihrem Gekacker gewarnt
haben! Die Gänse, die Gänse, das sind die warnen-
den Symptome, und der Arzt ist der Ochs! Er
beachtet nicht die Symptome der Krankheit,
er dreht ihnen den Hals um, damit sie nichts ver-
raten darüber, daß er von inneren beginnenden
Desorganisationen absolut nichts versteht! Der
Körper will sich um Gottes willen ,,Luft machen",
erzeugt Fieber, Ekzeme, Geschwüre, um die Gifte
in sich los zu werden! Nein, der Arzt aber unter-
drückt das alles, um den herbeigeführten Tod durch
,,Fügung höherer Mächte", in frecher Weise zu
entschuldigen! Symptome einer Krankheit be-
seitigen wollen, ist eine feige dumme Gemein-
heit. Eine ,, Honorarerpressung"! Eine Krank-
heit muß ich an , .ihrer Wurzel" fassen können, oder
151
ich erkläre mich anständigerweise für inkom-
petent! Einem jungen, schönen, blühenden Millio-
närssohn verschrieb man für eine ,, unglückliche
Liebe" zu einem armen Mädchen, eine ,,Welt reise"
als Heilmittel. Er kam zurück und erschoß sich!
So funktionieren unsere Ärzte. Aber sie haben es
„gut gemeint" nämlich mit dem Hono-
rare!
152
PLAUDEREI
Rs kommt der Augenblick träge herangeschlichen,
da man nichts mehr wird schreiben können. Man hatte
doch etwas zu sagen, was dem anderen nützte. Und
wäre es nur: „Schlafet bei weit geöffneten Fenstern!"
Man hatte unbedingt eine Mission, eine winzige, eine
nichtige Mission, aber eine Mission! Das hält einen
in Zusammenhang mit allen Menschen, die man nicht
kennt. Den Bekannten gegenüber hat man ja keine
Mission. Für die ist man ein Narr oder ein Schwindler.
Manche sagen sogar: ,,Nein, diese Ehre tun wir ihm ja
doch nicht an !" Wofür also halten sie uns ? ! Ich könnte
meine Sachen widerrufen, aber Tausende würden sie als
Wahrheiten in sich aufnehmen. Ich könnte es verkün-
den : ,,Nein, die Frauenseele ist doch nicht so, wie ich
sie sehe!" Aber Tausende würden jammern: ,,0, bitte,
wir sind doch so!" Mein Talent war klein, aber mein
Fühlen war groß. Die meisten haben kein Talent und
kein Gefühl, nämlich für allgemeine Dinge, obzwarsie
im besonderen, in ihrem trauten Nestchen, beträcht-
liche Gefühle aufbringen, die irgend jemandem mit Vor-
und Zunamen recht sehr zugute kommen. Jemand
schwärmte mir immer und immer von seinem Ciarten
vor, schilderte ihn mit wirklicher Liebe und Begeiste-
rung. „Ja," sagte ich, ,,aberauf der Strecke so und so
der Bahn so und so habe ich einen noch viel schöneren
Garten geseh'n." — ,,Und was haben S' davon?!" —
, .Nichts", erwiderte ich. Es gibt Menschen, die schöne
Gärten lieben, und es gibt solche, die ihre schönen
Gärten lieben! Das ist der ganze Unterschied. Na,
und was haben s' davon?! Nichts!
153
RICHTIG
Ich verkehrte mit einer sehr intelligenten, gebilde-
ten Dame, die viel mit Aristokraten beisammen war.
Da sagte mir eine andere Dame, mit der die Aristo-
kraten nicht verkehrten: ,, Peter, wenn Sie nicht der
Peter wären, würde die Dame auch Sie nicht so
oft in ihrer wunderbaren Equipage abholen!" Ich
erzählte das meiner Freundin. Sie erwiderte : ,, Sicher-
lich ; weshalb sollte ich nicht lieber mit einem feinfüh-
ligen Dichter als mit einem Kommis beisammen sein
wollen ? Der Kommis kann gewiß ebenso intelligent
und wertvoll sein, aber ich lerne ihn nur kennen als
den, der mir Seide anpreist. Den Dichter kenne ich
im voraus aus seinen Werken. Beide könnten mich
im Nahverkehre gleichmäßig enttäuschen. Aber
von dem einen habe ich dann wenigstens seine Werte
noch in meinem Bücherschranke und kann bei der
Lektüre vergessen, daß er ein gemeiner Kerl ist!"
154
REMINISZENZEN
Eine angenehme Abwechslung während des Ler-
nens war das Anzünden der Öllampe am Wintemach-
mittage. Draußen sah man undeutlich graue Häuser
wie fremde Welten. Da kam das Stubenmädchen und
zündete die Öllampe an. Vorsichtig nahm sie die
Milchglaskugel ab, den glänzenden Zylinder aus Glas.
Sie drehte den bereits vormittags richtig abgeschnit-
tenen Docht hoch mit der Messingschraube, legte zwei
fadendünne harz-imprägnierte Hölzchen (eine ganz
neue Erfindung der Technik) im Kreuz über den
gelben Docht und zündete diese an den Enden an.
Oft brannte der Docht, oft brannte er nicht. Endlich
brannte er. Da stülpte das Stubenmädchen vorsich-
tig den Glaszylinder auf und dann die Milchglas-
kugel. Nun wurde noch ein wenig an der Messing-
schraube, auf welcher der Name ,,Ditmar, und zwei
Merkurflügel" waren, hin und her gedreht, damit die
Lampe nicht rauche. Endlich brannte sie mit einem
dottergelben matten Schein. Da saß man denn, und
schrieb die Einleitung zu dem Aufsatze: ,, Charakter
des Wallenstein": ,,Wenn wir die großen Helden ver-
gangener Zeiten an unserem geistigen Auge vorüber-
ziehen lassen "
,,Sie, Marie, der Docht raucht auf der linken
Seite "
,,Aber junger Herr, das ist eine Sekkatur. Ich
habe ihn heute vormittags ganz gerade abgeschnit-
ten."
Charakter des Wallenstein: ,,Auf der Höhe seiner
Macht angelangt, überfiel ihn wie die meisten Sterb-
155
liehen die Sehnsucht nach noch Höherem, Unerreich-
barem "
Die Lampe brannte mit dottergelbem, mattem
Schein, und richtig, links rauchte sie ein wenig und
schwärzte sogar den Glaszylinder an.
156
WERTE
Ich finde, daß die Dichter so „ästhetisch-sentimen-
tale" und übertrieben eingebildete, und von ihrer so-
genannten Aufgabe, rekte ,,idee fixe", besessene , .Er-
zieher der Menschheit" sind, die doch bis heute durch
sie nicht um ein Stückchen vorwärtsgekommen,
das heißt, von irgendeinem Leid befreit worden
ist! Die wirklichen großen Wohltaten jedoch über-
sieht man, hält sie für nichts und ist vor allem nicht
dankbar. Als mein geliebter Vater 69 Jahre alt ge-
worden war, gaben ihn sämtliche Professoren infolge
von unheilbaren Alterserscheinungen für verloren,
und meine Mama, die seit zehn Jahren tot ist. weinte
sich die Augen aus. Da sandte ich meinem Vater zwei
Schachteln „Tamar Indien Grillon", mit der Auf-
forderung, jeden Morgen vor dem Frühstück un-
bedingt eine Pastille zu nehmen.
Seitdem ist er ein Jüngling geworden, ist 83
Jahre alt, hat nicht eine einzige Beschwerde des
Alters. Verdauung jünglingshaft, ewiger Appetit,
rosige Laune, Schlaf zehn Stunden ohne Unterbre-
chung. Er fühlt nicht, daß er alt ist. Sein einziger
Kummer ist, daß er nicht mittags und abends, aus
ökonomischen Gründen, besondere Leckerbissen ha-
ben kann, wie Rebhühner, Rehrücken kalt, kalte
Poularden, Straßburger Gänseleberpastete, Kaviar,
Krebse usw. usw. Er liest von morgens bis abends
französische Romane (deutsche versteht er nicht, sie
sind ihm zu ,,vertrackt"), ohne Augenglas, geht nie
aus seinem Zimmer, und bedarf absolut keiner
Bewegung. Schmerzen, Melancholie, Schwächege-
157
fühle und Langeweile kennt er nicht. Jetzt schrieb
er mir kurz: „Du, ich nehme noch immer pünkt-
lich Dein berühmtes „Tamar". Es ist besser als
Deine Dichtungen; die sind für mich ganz unver-
daulich. Du hättest doch vielleicht Mediziner werden
sollen!"
158
zu DEN „OLYMPISCHEN SPIELEN"
Ich lese lauter Ratschläge, die vollkommen wert-
los und daher stupid sind! Dieses Wort „Training"
ist ein Unglückswort. Mehr kann man aus dem
Organismus bei bestem Willen eben nicht heraus-
pressen an Lebensenergien als darin aufgestapelt, auf
Lager sich befindet! Die Zentrale „Rückenmark
und Gehirn" muß im , »Training" sein, nicht die aus-
übenden Organe! Eine einfach künstlerisch-minu-
tiöse Sorge um den gesamten Verdauungsapparat ist
die Quelle der Akkumulation von Milliarden
Lebenspotenzen ! Keine Speise darf genossen werden,
die nicht, fast ohne Rückstand, in i — 3 Stunden
vollkommen verdaut ist! Essen und verdauen ist an
und für sich, unter allen Umständen, eine Schwä-
chung, eine verhindernde lähmende Tätig-
keit für die Energien des Gesamt Organismus. Von
anderen angeblich notwendigen Niaiserien gar nicht
zu reden! Nur der vollkommen nüchterne pur-
gierte, restlos ausgeschlafene, keusche Or-
ganismus ist zu ganz exzeptionellen, ja fast
exzentrischen Leistungen an Elastizität, Kraft, Aus-
dauer befähigt ! , .Training" aber ist bei uns, aus einer
Maschine, die nicht mehr leisten kann als sie eben
kann, durch ,, Arbeit" mehr herausschinden wol-
len! So wird man nicht Sieger in Olympia-Stock-
holm! Aus der Zentrale ,, Rückenmark-Gehirn"
müssen die unerschöpflichen Energien von selbst
der Motor sein, der an Herz, Lunge, Arme, Beine seine
Kräfte hinaussendet! Bei uns will man es von der
Peripherie aus richten! Das ist eine grausame
159
Stupidität. Man will seinem Organismus Opfer
auferlegen, aber von außen durch Bewegung, nicht
von innen in bezug auf Essen, Trinken, Purgieren und
noch etwas anderes. Man will nichts unterlassen,
sondern ,, trainieren", ein entsetzlicher Blödsinn, nur
geeignet für Schwergewichtsstemmer und Ringer,
nicht aber für ,, Marathon-Lauf er"! Schlafe bei weit
geöffneten Fenstern lo — 15 Stunden lang, bestäube
deinen Leib mit Menthol-Franzbranntwein, nähre
dich von Erbsenpüree, Kartoffelpüree, weichgekoch-
tem Karolinen-Reis, Fisch, rohen Eidottern, Sana-
togen, Gelees, Biocithin, Gervais, Neufchateller, Spi-
nat, Topfen, saurem Obers, mürbem Geflügel,
mürbem Wild usw. usw., nimm täglich nach dem
Frühstück eine halbe Pastille ,,Tamar Indien Gril-
lon" und liebe die Frauen ohne Erfolg, in zehrender
Sehnsucht und du wirst Milliarden von Le-
bensenergien in deinem Organismus aufstapeln ! Mehr
als mit dem öden , »Training", und wirst, jedenfalls in
Sprung und Lauf und Dingen, die nicht von „Go-
rilla- Kräften" abhängen, eher ein Olympiasieger
werden, als durch die faden Ratschläge, die nur
überwundene, gestorbene, verweste Vorurteile in sich
bergen! Die Zentrale des Lebens, Gehirn und
Rückenmark, muß man ,, trainieren", die ausübenden
Organe tun dann ihre Exzeptionsleistung ganz von
selbst!
160
BRIEF VOM SEMMERING
Liebe Frau Lotte Fr.,
habe Ihre beiden Bücher erhalten, freue mich be-
sonders auf Sehet Sjchrin. Er kann aber auch
Schtedrin heißen. Hier auf dem Semmering hegt
jetzt, im März, ,,unbe nützbarer" Schnee. Man
schaut gleichmütig zu, wie er grau zerfließt. Alle
Stubenmädchen der Hotels haben in Wassergläsern
Schneerosen stehen, und irgendeine teilt mit: ,, Meine
san schon aufgeblüht!" Als wir von Mariaschutz
Weidenkätzchen (Palmkatzerln) nach Haus brachten,
meinte jemand pathetisch, das bedeute einen schlech-
ten Sommer, daß sie schon heraußen seien, so ,, Früh-
geburten" der voreiligen, schwächlichen Natur! Vor
März dürfe es keine ,, Palmkatzerln" geben, alles sei
eben schon dekadent veranlagt. Man kann hier viel
lernen von den natürlichen Menschen, nämlich daß
sie noch blöder sind als die unnatürlichen. Gestern
sagte eine wunderbar gewachsene junge Dame zu
mir: ,,Herr Dichter, darf ich auf eine schöne wert-
volle Stunde in Ihrer Gesellschaft hoffen?!?" ,,Für
Sie oder für mich?!" erwiderte ich schlagfertig.
Die meisten Leute hier sprechen darüber, daß,
falls sie vor 20 Jahren den ganzen Semmering aufge-
kauft hätten, sie heute ,, nichts mehr zu arbeiten
brauchten", wie der technische Ausdruck lautet
von Leuten, die überhaupt nie in ihrem ganzen öden
Dasein etwas gearbeitet haben! In einer stockfin-
stem Nacht, Va^^, traf ich einen verwilderten Mann
mit einer kleinen Eisenbahnwächterlateme an einer
langen Stange. Ich bot ihm eine Krone an, mich ins
" 161
„Hotel Panhans" zu geleiten, da ich nicht wieder auf
dieselben vier Rippen auffallen wollte, die ich mir
vor sechs Wochen gebrochen hatte.
Er erwiderte: ,, Barmherzigkeit, gnä' Herr, ich
bin der Wächter vom großen Semmeringtunnel, mein
neugeborenes Kind verblutet sich, von der Nabel-
schnur aus ."
Ich erwiderte: ,,Ist es ein Knabe oder ein Mäd-
chen?! Für Knaben habe ich nämlich keinerlei
Interesse. Die sollen verbluten!"
,,Es ist ein Mädchen, gnä' Herr, helfen's mir an
Arzt suchen!"
Natürlich war es ein Knabe, und der Mann hatte
mich schmählich betrogen. Zola hätte diese Sache
schildern müssen, auf 4000 Druckseiten. Bei mir ist
alles schon zu Ende, bevor ich recht anfange, alles!
Der Himmel ,, blaut" heute wie an der ,,Riviera";
da er aber keine Monatsrenten bezahlt, hat er für
mich keinerlei Interesse. Die roten Vogelbeeren
waren der allerletzte Winterschmuck, sie waren so
zäh, selbst bei minus 10° hielten sie sich noch tapfer
als Nahrung für verhungernde Vögel. Wie die Ja-
paner für ihr Vaterland. Ein wunderschönes Mäderl
verkauft Schneerosen an der Straße für 10 Heller.
In sieben Jahren wird sie schon eine höhere Taxe
haben. Ihr ergebener
Peter Altenberg.
162
FAHRT
Ich bin nicht gereist, ich weiß bis heute es nicht,
wie ein Schlafwagen ausschaut, verstehe nichts da-
von, daß man nachts in seinem Bett, auf einem Kopf-
polstcr, unter einer Decke und mit anderen nützhchen
und bequemen Utensihen, durch die Welt getragen
wird und morgens, ganz ausgeruht, irgendwo sich
befindet, wo man, mit Respekt zu melden, noch
niemals auch nur annähernd gewesen ist. Nun
brachte man mich an einem frischen Julimorgen, per
Automobil, 70 Kilometer die Stunde, nach Wiener-
Neustadt. Alle Wiesen begossen uns fortwährend
mit ihren Parfüms. Wind und Duft, das allein spürte
man. Lioschka sagte nur einmal: ,,Wenn etwas ge-
schieht, gehen die Splitter der Autobrille vorerst in
die Augen und zerreißen sie!" Dann nahm sie lang-
sam die Autobrille ab. Dann sagte sie : ,,Ihre geliebten
weißen Kartoffelblütenfelder! Früher habe ich mich
nicht getraut, sie schön zu finden! Es hätte sich
auch nicht für mich geschickt!" Dann sagte sie:
,, Haben Sie auch den roten Mohn in den Wiesen gern,
obzwar es ein Unkraut ist und schädlich für die armen
Kühe?!"
Ich berührte leise ihre Hand in den hellbraunen
Rehlederhandschuhen. In Wiener-Neustadt setzte
man mich ab. Gerade fiel einer von einem Gerüste,
brach sich das Genick. Ich kaufte mir Bergblumen-
ansichtskarten und fünffarbige Hülsen für Bleistifte.
Ich ließ mir ein Zimmer aufsperren im Hotel neben
dem Bahnhof, um zu schlafen. Alle Bediensteten
waren wie besorgte Kindermädchen, obzwar ich nicht
"• 163
nach „reichlichem Trinkgeld" aussah. Aber der
Schein trügt. Das ist vielleicht die letzte Philosophie
dieser dienenden Menschen.
Er ist vielleicht doch ein reicher Narr! Das letz-
tere stimmte. Man brachte mir alles, das heißt zehn
Flaschen Pilsner Bier. Das ist doch alles! Ja und
einen Roßhaarpolster. Wenn ich nur wüßte, weshalb
man noch nicht auf polierten Granitsteinen schläft ? !
Diese Eiderdaunen aus zusammengedrückter Watte
sind doch nur für die ,, Prinzessinnen in den Kinder-
märchen"! Wir Erwachsenen wollen hart schlafen,
wie die Kaiser in ihren einfachen Feldbetten im
Kriege. Amen I
Ich erwachte und fuhr sogleich auf den Semmering
zurück. Aus dem Dunst ins Gebirge. In Pottschah
stieg eine ein, in einem braungrün schillernden seide-
nen Bauemkostüme. Die hatte ein Gesicht wie eine
14jährige Eleonora Düse. Aber in Payerbach stieg
sie wieder aus. Sie sah meinen Blick nicht voll Trauer
und Verzweiflung. Besser für sie und mich. Vielleicht
hätte sie gedacht: „Alter Hund!" Die Lokomotive
,, pustete", wie man zu sagen pflegt, in die Bergwelt-
kurven hinauf. Man glaubt immer, daß sie es nicht
überwältigen wird. Aber das ist ein laienhafter Irr-
tum. Sie ist dazu geschaffen, konstruiert und aus-
probiert. Gerade so ist es wie mit der ,, unglücklichen
Liebe". Unser Herz ist dazu konstruiert. Manchmal
zerbricht es. Das sind ,, unvorhergesehene Fälle", die
auch der genialste Maschinentechniker nicht voraus-
berechnen kann. Die Luft wurde immer frischer, und
ich gedachte des genialen Erbauers dieser Bahn,
Ritter von Ghega, der sie in die Felsen mit Gewalt
164
hineinbohrte, damit der Naturfreund alles genieße,
Abgründe, Urwälder, Ausblicke, kurz die Dekoration
der Bergeswelten ! Auf dem Semmering dachte ich :
,,In Pottschah ist eine eingestiegen, in einem braun-
grün schillernden seidenen Bauernkostüme. Weshalb
hat sie meinen Blick nicht gesehen von namenloser
Begeisterung ? ! Vielleicht hätte er sie geschützt vor
dem Herrn so und so, dem sie jetzt unbefangen die
Hand reichen wird zum ,, ewigen Bunde"?! Unsere
Blicke sind nicht da, um zu ,, zünden", sondern um
zu ,, schützen", vor Blicken, die ,, seelisch stargrau"
sind! Wir sind nicht da, um zu ,, erobern", sondern
um zu ,, schützen"! Ein jeder hat seine Aufgabe im
Leben! Er erfülle sie!
165
LIED
Die I5jähnge Anna war sein Ideal. Strohgelbe
leuchtende Weizen wogen ihre Haare!
Franziska hieß die jüngere Schwester.
Annas Lachen war wie tausend jubilierende Her-
zen .
Franziska hieß die jüngere Schwester.
Immer war Anna vorhanden, in seiner Seele,
noch mehr, wenn sie abwesend war .
Franziska hieß die jüngere Schwester.
Anna bekam den ,, Scharlach". Er wurde bleich.
Franziska bekam auch den Scharlach.
Anna genas .
Doch er blieb bleich.
i66
ABSCHIED
Nun bist du fort .
Nun wirst, nun kannst du mich nicht mehr
quälen.
Ich sehe deinen Bhck nicht mehr, der ins Leere
starrt,
das heißt, auf alle Männer, die sich gerade
finden!
Ich sehe nicht mehr, daß du frech ,, schachern"
willst,
mit dem immerhin geringen Kapitale, das dir
mitgegeben !
Und daß du ,, Wucherzinsen" begehrst für einen
annehmbaren Leib!
Ich bin erlöst, weil ich dich nicht mehr sehe.
Was du mir bist, kannst du niemandem sein!
Das aber kannst du erst verstehen,
bis du allen, allen nichts mehr sein wirst!
S' ist eine Frage nur der Zeit, der Monate, der
Stunden .
Und ich kann warten.
Ich habe die Tränen kraft, zu warten.
Und wenn du weinend zu mir flüchten wirst,
werde ich, trocknen Auges, deine zerstörte Seele
schützen, schirmen!
Denn irgend etwas bleibt doch stets unzerstört
167
GESPRÄCH MIT EINER BARONIN, EX-
ZELLENZ-FRAU, ÜBER IHREN HERR-
LICHEN ZWÖLFJÄHRIGEN SOHN
,,Je crains dejä maintenant nuit et jour les fem-
mes qui viendront plus tard — !"
„Eh, madame, craignez donc les hommes qui
viendront plutot!"
i68
ENTZWEIT
Oft sagte ich ihr, was mir an ihr nicht recht
war
ganz verzweifelt starrte sie mich mit bösem Blicke
an.
Ein Abgrund öffnete sich; meine Liebe und ihre
Freundschaft aufzunehmen.
Dunkel ward's und kalt.
Hilflos ist die Frau in solchen Augenblicken,
glaubt stets sich etwas zu vergeben, falls sie milde
wird,
fällt der bangen Stunde hilflos stumm anheim.
Ich sagte: ,, Hörst du die Holzfäller, den Schwarz-
specht, riechst du der feuchten Wurzelstämme brau-
nen Moder, siehst du die Bläue des letzten Enzians,
fühlst du meinen Schmerz?"
Sie sagte: „Mit solchen Reden wollen Sie mich
versöhnen?!"
,,Mit solchen Reden nicht, doch überhaupt. Und
irgendetwas muß gesprochen werden, sei's dies, sei's
jenes. Vielleicht findet sich ein Wort . Es
muß ein Wort einfach gefunden werden, das sich
wie eine Notbrücke von meiner Seele zu der deinen
spannt!"
Und sie: , .Siehst du, du bereust .
,,Ja, ich bereue, daß meine Liebe größer als
meine Sehnsucht, dich zu bessern, ist!"
169
GESPRÄCH MIT DER SECHSJÄHRIGEN
SONJA DUNGYERSKY
,,Das ist ein Pastellstift zum Malen. Oh, ich weiß
alles, sehen Sie! ?"
,, Alles, alles weißt du, angebetetes Kindchen, aber
wie sehr ich dich lieb habe, das, das weißt du doch
nicht !"
,,Und gerade das weiß ich. Sie haben mich sogar
lieber als meine Großmama mich lieb hat ."
170
GLEICH BEIM HOTEL
Gleich beim Hotel, links von der weißen Straße
ist eine abschüssige Wiese, die niemand betritt.
Im Urzustände ist das vielfarbige Fleckchen.
Auf roten Disteln wiegte sich der Distelfink,
und graue Brennesseln bargen gelbe Schnecken.
Es war ein Gewirr von braun und grau und weiß,
mannshoch und dicht. Im Mondlicht lag es düster.
Hier erschaute ich der holden Jahreszeiten holden
Wechsel.
Oberhalb wurde gebaut mit hunderttausend
weißen Beton würfeln,
und unten war das Bahngeleise nach Triest.
Hier aber, auf dem abschüssigen unzugänglichen
Wiesenfleckchen, gab ein Monat dem anderen die
Tür.
Ein jeder kam in seinem Prachtge wände.
Und jeden grüßte ich dankbaren Blicks.
Es war mein Kalender. Ich erkannte jeden Monat,
jede Woche, ja jeden Tag an den Veränderungen.
Als alles blühen wollte, sah ich es voraus;
ich sah voraus, als alles sterben mußte!
171
GESPRÄCH MIT EINER WUNDER-
SCHÖNEN DAME VON 30 JAHREN
,,Nach kaum 14 Tagen wollen Sie schon wieder
vom heiligen Semmering abreisen, Sie mit Ihren
empfindlichen N er ven ? ' '
,Ja, ich spüre es, daß der Semmering mir nicht
hilft ."
„Ein berühmter Homöopath hat gesagt: ,,0,
Mensch, die Heilprozesse deiner Krankheit dauern
immer gerade so lange, alsduZeit gebraucht hast,
siedurchdeineSündenzuakquirieren !"
,,Mein lieber Herr Altenberg, 16 Jahre lang kann
ich nicht auf dem Semmering bleiben! "
172
PLAUDEREI
Ausspruch eines fünfjährigen Mäderls:
,,Wenn man alleweil brav ist, wissen die Leut'
dann gar nicht mehr, ob man noch auf der Welt ist!"
Die Eltern tragen mir ununterbrochen Anekdoten
über ihre vergötterten Kindchen zu. Sie sind tief
überzeugt davon, daß es gerade mich interessiere!
Ich interessiere mich auch wirklich dafür, daß sie
alle so tief überzeugt davon sind, daß ich mich
dafür interessiere! Denn diesen schönen Schein
zu erwecken, heißt eben ein Dichter sein! Und als
das möchte man doch gerne gelten, wenn man schon
weder Beruf noch Geld hat, nicht?!?
„Mein Knabe sagte mir gestern", ,,mein Mäderl
sagte mir vorgestern", höre ich alle Tage zehnmal.
Ob eines dieser kleinen Mistviecherl einmal zu der
reichen Mama den genialen Ausspruch täte: ,,Mama,
wenn du mich wirklich lieb hast, dann gibst du
diesem entzückenden alten kranken Dichter eine
Monatsrate von fünfzig Kronen !"
Ausspruch eines sechsjährigen Mäderls beim Ab-
schied vom Semmering: ,,Ach, wie werde ich für der
ohne meinen geliebten Pinkenkogel und Sonnwend-
stein existieren können?!"
Ich hätte gerne geantwortet: ,,Sehr gut wirst du
fürder existieren können, indem ich dir fürder für
jeden affektierten, verlogenen, manierierten Aus-
spruch deinen Hintern aushauen werde !"
173
GEGEN
Es ist eine der infamsten Lügen der „Moder-
nen", daß es ,, ewigen Fortschritt" gäbe! Wenn ich
das schon sage, will es etwas heißen! Die Kremoneser
Geigen, die Amati, Guameri, sind nicht zu übertref-
fen, ja nicht einmal ihr „Spiegel- Lack" und ihre
,, Schnecke". Der Seiltänzer Blondin, der vor 40
Jahren über den Niagara tanzte und mitten über dem
Katarakte auf einem zusammenlegbaren Sparherde
sich eine Eierspeise kochte und aß, auf einem Klapp-
sessel sitzend, ist nicht zu übertreffen. Ebenso
nicht die Koloratur der Adelina Patti, die Lack-
arbeiten, Seidenstickereien der Japaner und Goethes
Gedichte. Aber diese Herren, nomina sunt bekannt,
wollen in Malerei, Musik und Dichtkunst ,, ewige
Fortschritte" uns einreden ? Und gerade ausgerech-
net sie? Schmeck's!
174
ROMPE!
Bevor nicht jeder deiner einstigen Kavaliere von
dir sagt:
,,Was ist an ihr? Sie ist gewöhnhch, dumm und
ohne Anmut, ohne Reiz",
glaub' ich dir deine absolute innere Treue nicht!
Zu deinen Feinden mußt du sie erst machen
wollen,
um mir zu zeigen, daß du mir gehörst!
Solange sie siegreich Besiegte sind,
die Waffe senkend schwärmerischen Blickes,
bin ich besiegter Sieger!
Treibe sie zum Hasse, zur Verachtung!
Dann erst liebst du mich!
Und so geschah's.
Nur einer von den Rittern sagte zu mir, nach
langem Schweigen, eines Abends:
,,Und wissen Sie, was ihre größte Tugend ist?
Daß sie Sie liebgewonnen hat, und uns den Laufpaß
gab!"
Ich sagt' ihr das.
Und sie erwiderte: ,,Der Arme, Gute. Ich hab'
ihn vorgemerkt. Nach Ihnen kommt er dran!"
175
WASCHUNGEN
„Ich wasche mich täghch unmittelbar nach dem
Aufstehen vom Kopfe bis zu den Zehen, zuerst lau
und dann kalt," sagte das wertvolle moderne Mäd-
chen zu mir.
„Sehr gut," erwiderte ich, ,,aber ich glaube nicht,
daß Jeanne d'Arc dazu immer Zeit hatte, als sie
in die Schlacht mußte, um Frankreich zu erretten!"
Als ich sehr krank lag, nahm es mich immer
,, Wunder", daß meine Gehebte, nach einer durch-
wachten und durchsorgten Nacht, noch immer die
Energie fand, sich morgens vom Kopf bis zu den
Zehen einzuseifen und abzuspülen.
Sie sagte zwar: ,,Das tue ich, um mich für dich
frisch zu erhalten!"
Aber, siehe, ich glaubte ihr das nicht.
Es war das ,, gottlose Weibchen" in ihr, das trotz
allem und unter allen Umständen, sich appetit-
hch erhalten wollte! Für wen?! Nun für
alle!
176
RESPEKT
Er war immer, immer gerührt, ergriffen durch ihre
„PersönHchkeit", die auch die lange Krankheit nicht
in ihr vernichten konnte. Er hatte immer die Idee,
sie würde mit dem letzten Atemzuge noch einen über-
aus herzigen und aparten Clowntrick machen, und
z. B. sagen: ,,0, Peter, ich werde also, wenn ich
hinkomme morgen, den Petrus bitten, er soll, wenn
du ankommst, dir deine vielen Sünden verzeihen,
schon weil du sein Namensvetter bist!"
Infolgedessen konnte er sich nicht enthalten, sie
im Gespräche hie und da zärtlichst bei der Hand, am
Arme, am Haupte, anzurühren. Wie ein süßes Kind-
chen.
Da sagte sie eines Tages: ,,Frau Lilly rührst du
nie an, obzwar du sie auch sehr gern hast! Du hast
aber mehr Respekt vor ihr! Siehst du?"
Seitdem habe ich die süße kindliche Frau nie
mehr angerührt.
Einmal sagte sie zu mir: ,,Hast du mich also nicht
mehr so gern wie früher, Peter? "
,,0 ja, aber ich habe Respekt vor dir bekom-
men!"
,,Du dummer Mensch!" sagte sie und lächelte —
177
FALZAREGO-PASS-H ÖHE
2250 Meter. Also zum erstenmal seit meiner
jauchzenden Kindheit wieder auf steinbesäter Berg-
alm mit dunklen Latschenkiefern, weißem Speck und
Geruch von Ziegen.
Irgendein Wässerlein tropfte, sickerte von aus-
gelaugten Felsenplatten. Meine Hand berührte zärt-
lich die polierten Nadeln des Zirbelholzes. Ich
lauschte dem Rauschen im Legf Öhren walde. Das Knie-
holz schwankt nicht im Bergföhnstöhnen. Die
Stämme sind wie Kautschuk. Der schwarze Weg ist
feucht und klebrig.
Ich gedachte des ,, Ochsenbodens" auf dem Schnee-
berg, Märchen meiner Kindheit. Wie liebte ich diese
fahlen blumenlosen Matten mit Geruch von weiden-
den Tieren!
Wie wenn der Kreis sich schlösse meines Daseins.
Auf Bergmatten begann es mit unbewußtem Jauchzen,
auf Bergmatten endet es mit ernster Wehmut. Falza-
rego!
178
ENTERBTE DES SCHICKSALS
Sie hatte eine kleine reizende Blumenhandlung
im Berghotel. Das heißt, sie hatte sie nicht, sondern
sie war nur Verkäuferin. Die Besitzer waren in Wien,
reiche Leute.
Sie liebte die Blumen, die man ihr von den un-
gangbaren Felsgraten brachte, sie liebte die Blumen,
die man ihr aus Ziergärten schickte in Watte und
Holzbaumwolle. Alles, alles mußte sie aber doch ver-
kaufen. Ihre besten Kunden waren die ,, Hotel-Don
Juans" und die ,, Neuvermählten". Und sogenannte
notwendige Abschiedsbuketts, von denen man dachte :
,,Ich will nicht, aber ich muß!" Diese verkaufte sie
am liebsten, schlug, so weit es ging, mit dem Preise
auf, unerbittlich. Abschied ohne Abschieds-
tränen muß teuer bezahlt werden! Einmal kam ein
Dichter, bestellte für die sechsjährige Sonja Dungyers-
ky einen Strauß von hellrosigen ,,Rosa Crimson
Rambler". Diesen ließ sie sich nicht bezahlen.
„Weshalb denn nicht?!" fragte der Dichter. ,,Wir
wollen doch auch um Gottes willen einmal eine Freude
haben! Etwas miterleben!" erwiderte die Verkäufe-
rin; ,,auf die Blumenbörse gehen wir ja von früh
bis abend!"
179
FRÜHLING
Also jetzt weiß ich alles zuerst kommen
die Kätzchen der Haselstaude, dann kommt primula
acaulis, dann gentiana brachyphylla, dann kommt
ein grüner Schimmer über die Birken, dann kommt
Leontodon taraxacum, dann kommt ein weißer
Schimmer über die Birnbäume, dann erwachen die
Kastanienbäume, und zuletzt die Lärchen. Jetzt
weiß ich alles, so wird es! Hotels werden gebaut aus
weißen Betonziegeln, und man projektiert ein Ton-
taubenschießen. Gleichsam ein lebendiger Protest
gegen das Massakrieren von lebenden Tauben. Frei-
lich der Turmfalke, der Sperber, der Wanderfalke,
die Eule?!? Aber die tun es aus Instinkt, den wir
Gott sei Dank verloren haben. So viele Leute jedoch
ersehnen sich ihn wieder. Sie haben aber leider noch
genug davon!
180
ERLEBNIS
Ich kaufte mir für eine Krone eine PorzeUan-
kaf feeschale mit gemalter Ansicht: ,,Semmering,
Hotel Panhans", steckte eine große Rolle Papier
hinein, auf dem geschrieben stand: ,,Das sind die
,, Andenken", die die reichen Damen ihren un-
glücklichen Dienstboten vom Semmering mitzu-
bringen pflegen!
Und das Dienstmädchen sagt gerührt: „Aber
gnä' Frau, nein so was !"
Aber sie meint: ,,Nein, so was Billiges, Scheuß-
liches!"
Kaum hatte ich die Sache auf meinem Tische auf-
gestellt, besuchte mich ein reicher Gutsbesitzer.
„Großartig," sagte er, ,,wir fahren heute weg. Meine
Frau hat drei solcher Kaffeeschalen für unsere Dienst-
boten gekauft! Und ich sag' Ihnen doch, mein lieber
Altenberg, solche Leut' freut das am meisten!" „Ja,
Schnecken!" wollte ich sagen, aber ich sagte: ,, Selbst-
verständlich, sicherlich." Dann sagte er: ,, Zeigen
Sie's doch meiner Frau, vielleicht gift' sie sich."
i8i
DIE TÄNZERIN
Ja, gut, ich war von meinem achten Jahre an bis
zu meinem siebzehnten eine englische Tänzerin in
Varietes.
Aber darf ich nur denen sagen, die es als meine
Ehre betrachten, daß ich schön tanzte und mir mein
Geld verdiente und meiner Mutter davon gab, näm-
lich Geschenke. Sonst nahm sie nichts.
Aber den Damen darf man es nicht sagen,
die kalt und bös im dummen Leben stehn!
Sie wissen nichts von unserer hohen Ehre,
daß wir der Kunst gedient und dennoch stets
Herrinnen geblieben sind über uns selbst!
Sie glauben, man müsse im Kampfe unterliegen,
denn siehe, sie imt erlägen im ersten Vorposten -
gefecht!
182
MEINE EHRUNGEN
Die Frau eines berühmten Operettenkomponisten
sagte zu mir: „Herr Altenberg, Sie wissen doch alles
von den wichtigen Sachen im Leben, ich bitte, soll
man Rhabarber in einem Garten anpflanzen?"
,,Nein, unter keiner Bedingung! Rhabarber ver-
braucht alle Bodenkraft ringsumher, er ist, gleich
dem Rasen, der Egoist in der Pflanzenwelt!"
Die Frau eines berühmten Schriftstellers sagte zu
mir: ,,Ich bitte sehr, soll man den Reis schon die
Nacht vorher einweichen in einem Wasserwandel?"
,, Jedenfalls! Reis bedarf der Vorbereitung, wie
jede zarte Sache!"
Eine dritte Dame sagte: ,, Alles was in Ihren
Büchern ist, ist längst vorher in unseren Herzen!
Aber wir sind feig, behalten es bei uns. Es ist gut,
daß jemand den Mut habe!"
183
KLARA
Es gibt Mädchen, deren ewige Verehrer wir
bereits sind durch die Art wie sie ihre Haare zurück-
streichen an den Schläfen. Eine unermeßHche Anmut
ist es, eine kindlich-lässige, nichts bedeutend und
für uns ein Schicksal!
Hätte ich nicht gesehen, wie sie ihre Haare
zurückstreicht aber ich habe es gesehn und
bin verloren!
Von nun an für sie beten und weinen .
V^ie hob sie die Arme, wie hielt sie die Schultern,
wie waren ihre Hände, ihre Finger, wie stand sie
da, und wie besiegte sie alle Nixenreigen im Mond-
lichte am Waldsee der Märchen?!
Sie strich die aschblonden Haare zurecht, eine Be-
wegung, die so natürlich, selbstverständlich ist wie
Atmen, Gehen, Sprechen. Ich aber beugte mein Knie
vor Gottes Weite nanmut, die er mich Armseligen
in seiner unerschöpflichen Gnade, an einem Juli-
vormittag erschauen ließ!
184
BERGHOTEL -TERRASSE, SEMMERING
Daß ich da bin, ist mir ein ewiges Rätsel .
Ich war schon in der Gruft, durch Schuld der
Ärzte !
Heimtückische Mörder ihr, nein, schrecklicher,
Idioten!
Nun hab' ich den Bergwald vor meinem Fenster,
und die Stimme der K. P. jauchzt und singt und
spricht Gesänge; bloß wenn sie nur sagt, was alle
Menschen sagen; Gewöhnlichstes wird zum ewigen
Ereignis. Wie man es sagt, ist alles, was, ist
nichts !
Und die Komtesse schreitet, fliegt, schwebt,
schlängelt sich über die Terrasse .
Das süße Kindchen Sonja Dungyersky steht da
in braunen Locken und ihre Beine sind dünn und
braun wie von Gazellen .
Daß ich noch bin, ist mir ein ewiges Rätsel. Gott,
schütze mir die, deren Schönheit mich berauscht!
An denen ich krank werde und gesund zugleich!
lS=
ERKENNTNIS
Alle Frauen rächen sich am Manne für irgendeine
Unzulänglichkeit, die sie besitzen! Häßliche Finger-
nägel machen sie bereits boshaft und gereizt. Von
einem „unidealen Busen" gar nicht zu sprechen! Da
begehren sie Tag und Nacht auf mit dem grausamen
Schicksal, verzehren sich in Leid, und lassen sich's
nicht merken! Deshalb muß eigentlich jeder
Mann milde sein, gerührt, gestimmt zum Ver-
zeihen! Wenn eine die Genialität hätte, es zu sagen:
,,Ich bin unglücklich über mich selbst!" Aber das
wagen sie nicht, es sich selbst einzugestehen. Sie
verlassen sich auf die Güte des Mannes, der sich
„sekieren, quälen, ungerecht behandeln" läßt! Sie
haben aber recht, denn seine Liebe ist von Gott
eingegeben, und ihr Schicksal ist irdisch und ein
bißchen vom Teufel! Er hat die göttliche Kraft
zu leiden mitbekommen, sie die irdische Schwä-
che, glücklich sein zu wollen!
i86
KLARA
13. Juli, vormittag. Sie ging, in weißem Kleide,
langsam den Wiesenweg hinauf. Ich sah sie ; und sah
sie wieder nicht. Sie grüßte, und ein Gebüsch ver-
deckte sie. Dann sah ich sie wieder. Langsam sah ich
ihr weißes Kleid und ihre blonden Haare dem Wald
zuschweben. Ich stand gebannt und grüßte nicht.
Sie wußte, wie mir zumut war. Sie grüßte noch
einmal. Wenn man sagte: ,,Du bist der erste, der
gebannt steht und es vergißt, zu grüßen !"
Sie wußte dennoch nichts von ihrer heiligen,
schrecklich-süßen Macht. Ich aber warf mich aufs
Bett und weinte . Dann kam sie zurück. Ich
sah ihr weißes Kleid und ihre blonden Haare. Ge-
büsch verbarg sie, mochte sie entschwinden. Dann
sah ich sie wieder. Ich verneigte mich. Sie ging
vorüber; und wie eine Regenwolke kam es über die
lichte Landschaft .
187
EIN KOMTESSEN-BRIEF
Lieber Peter Altenberg,
weshalb sagen Sie mir das über die „göttliche
Vollkommenheit meines Leibes", den Sie unbedingt
unter allen Hüllen nackt sehen?! Ich habe doch
schon alle Untugenden, die unser Stand, unsere
Sorgenlosigkeit, unsere Verwöhnung von früh bis
abends, mit sich bringen ohne unser Hinzutun ! ?
Jetzt kommt noch die Begeisterung eines Dichters
hinzu, also eines Menschen, der nichts will als be-
geistert, berauscht, gerührt sein ? ! So ein Beschenker !
Sie werden mich nicht eitel machen, Edler, ich werde
nur denken: ,, Vielleicht verhilft es ihm zu einem Ge-
dichte, das wieder anderen hilft, wenn sie es lesen! ?"
Und dennoch habe ich mich abends in dem Steh-
spiegel angeschaut und gedacht: ,, Dichter wissen
alles!"
i8«
MÄRCHEN DES LEBENS
Der größte Beweis von Kultur und Takt einer
Frau ist es, sich die ihr immerhin ganz angenehme
Verehrung eines ungchebten Mannes gefallen zu
lassen, ohne ihn je zu kränken! Eine Dame ließ sich
durch sechs Wochen meine schwärmerische Be-
geisterung sanft lächelnd gefallen. Beim Abschied
bat ich sie, doch den Rehlederhandschuh abzustreifen,
damit ich zum ersten- und zum letztenmal ihre ge-
liebte Hand küssen könne .
,,Schau'ns, Peter, was haben's davon, nix. Das hat
gar keinen Zweck. Hab' ich recht?!"
, »Vollkommen", erwiderte ich.
,, Leicht sind Sie getröstet!" erwiderte sie.
„Im Gegenteil, ich bin untröstlich darüber, daß
Sie in Ihrer Kindheit zu wenig französische und eng-
hsche Gouvernanten gehabt haben!"
189
WORÜBER MAN NOCH IMMER WEINT,
UND EWIG WEINEN WIRD!
Die Frau verließ den Mann .
Hundert Millionäre lagen ihr zu Füßen.
Da bekam ihr Kindchen Scharlach.
Ihr Mann schrieb ihr: „Marie schreit auf aus
tiefem Schlaf, ruft Deinen Namen!"
Da kam sie.
Und bheb!
190
BESUCH
Nun gut, ich bin ewig begeistert, trotz meiner
53 Jahre und meiner Krankheit, die doch schheßlich
unmerkhch die Kräfte wegfrißt wie ein irrsinniger
Jaguar, der nie genug hat und im Blute wühlt und
trinkt ganz ohne Durst ! Mir gegenüber, auf Zimmer
142, 143, wohnt seit gestern ein kleines Mädchen,
Ungarin, Bulgarin oder Serbin; im Nationalkostüm
mit ganz nackten, herrlichsten Beinen geht sie. Als
ich sie heute auf der Stiege traf, lächelte ihre Mama
über mein begeistertes Gesicht. Ich stand und schaute.
Weshalb reisen, wenn die fremden Länder in ihrer
Märchenpracht sich zu uns bemühen ? ! Das Hotel-
stubenmädchen ließ mich in das unaufgeräumte
Zimmer. Ich kniete an dem Bett des Kindes nieder,
küßte das Linnen, auf dem ihr heiliger Leib geruht!
Das Stubenmädchen sagte: ,,VVann sollen denn die
Menschen schön sein als so lang sie klein sind?!
Später , .wachsen sie sich aus", da wird eine wie die
andere ."
Ich schenkte ihr zwei Kronen, denn sie war meine
Mitarbeiterin geworden an dieser Skizze, die zwar
noch nicht angenommen und bezahlt ist. Aber man
muß etwas riskieren .
191
LIEBESGEDICHT
Ich wußte es, sie hatte mich betrogen .
Betrogen? Nein. Sie hatte nur vergessen, es mir
zu sagen, es mir mitzuteilen — — — .
Denn ich hätte es ihr gestattet; wie einem Kind-
chen Kugler-Gerbauld-Bonbons, von denen man nicht
wissen kann, wie zart sie schmecken .
Das Stubenmädchen brachte mir ihren, meinen
armsehgen Ring, zehn Kronen, den sie auf Zimmer
109, im Bett gefunden hatte.
Dann ging ich in die Bergwiesen, in den Wald, zu
unserem heiligen Ruheplätzchen.
Hochgelbe Arnika wuchs, weißer Klee, braune
Schuppenwurz, lila Orchideen, ein Liebesteppich.
Sie hatte mich betrogen. Nein.
Dort, siehe, war es ein weißes Bett gewesen wie
tausend Betten . Ein weißes, weißes, nichts-
sagendes Bett.
Hier aber war Bergwiesen-Liebesteppich , in Gottes
bunter Pracht! Hier blieb sie mir treu!
192
DAS GRÖSSTE KOMPLIMENT
(Der Komtesse T. W. geweiht.)
Einige Herren saßen beim Frühstück auf der
herrlichen Bergterrasse, sprachen über die junge
Gräfin.
Der erste: ,,Sie ist so hebreizend, daß man krank
und gesund zugleich wird bei ihrem Anblick!"
Der Zweite: ,,Ich habe ein Gedicht gemacht, es
ist das erste in meinem Leben. Puccini will es mir
in Musik setzen."
Der Dritte: ,,Ich schrieb an meine geliebte alte
Mutter nur über sie, acht Ouartseiten ."
Der Vierte: ,,Sie ist da, und selbst der Bergwald
ist seitdem schöner, melancholischer, düster-verhäng-
nisvoll geworden!"
Der Fünfte: ,,Wenn sie abends 8 Uhr, beim Kon-
zerte, in den Speisesaal treten würde, splitter-
nackt, sich hinsetzen, essen, trinken, sprechen
würde, so würde der ganze Saal es für natürlich,
selbstverständlich finden, als ob man längst darauf
gewartet hätte! Man spürte es direkt als etwas Un-
schickliches, daß sie früher angekleidet gekommen
war!"
193
LE MONDE
Die Schaukel war weitausgebaucht und braunrot.
Im Winter sah sie nach nichts aus, im Sommer
wurde sie mir eine hebte Welt! Klara, Franziska
schaukelten darin, vormittags, nachmittags bis zum
Abend, in weißen Batistge wandern, mit blondgolde-
nen, wehenden Seidenhaaren.
Im Winter sah die braunrote Schaukel nach nichts
aus, im Sommer wurde sie mir eine lichte Welt .
Dann kam der Herbst und dann der erste Schnee.
Da blickte ich denn oft dankbar hinaus zur Schaukel,
so tief dankbar für das einst Gebotene.
194
EIN REGENTAG
Es regnet. 9. Juli 191 2, nachmittags 5 Uhr.
Ganze dichte graue Schleier ziehen über den Berg-
vvald vor meinen Fenstern. Alles trieft, ist unter-
getaucht in Nebel. Die Blumen haben ihre Farbe
verloren, die Blechdächer glänzen, sind von Staub
gereinigt, naß-poliert. Die Schaukel, die Schaukel.
Vormittags schaukelte noch die sonnigste Frau, die
blondgelichtete, die musiksprechende, in der
Sonne! Ich sah sie schweben und weinte. Mir ist
nichts anderes geboten als zu weinen. Ich kann keine
Lieder komponieren zum Preise, wie Brahms, Hugo
Wolf, Grieg. Ich kann nur eine Melodie
weinen. Klara, Klara. Es regnet. Graue Schleier
ziehen über den Bergwald vor meinem Fenster. Es
duftet nach nassem Wald natürlich. Alles ist wie er-
tränkt. Klara, Klara, du sitzest in deinem Zimmer,
lernst wichtige Dinge, fürs nächste Jahr, für die
Prüfung, für das Leben. Deine blonden Lockenwol-
ken streifen das weiße Papier, auf dem du schreibst
. Du sagst: ,,An einem solchen faden Nach-
mittag ist's noch am besten zu lernen !"
13*
IQ5
IN 24 STUNDEN
,,Ich bitte, nehmen Sie mich um Gotteswillen
heute nacht in Ihr Zimmer!"
„Was interessiert Sie an meinem Zimmer?! Sie
haben es doch schon oft bei Tag besichtigt?!"
„Bei Nacht muß es viel schöner sein!"
„Mein Mann wird Sie erschießen!"
„Das macht nichts!"
„Mein Mann wird mich erschießen!"
Infolgedessen sah er nie ihr Zimmer bei Nacht.
Nun werdet ihr mich fragen: „Und bei Tage?!"
Frauen sind so kindlich, das Tageslicht als neu-
tralisierend zu betrachten; die Sonne kann mit
ihrem lichten Strahl die dunklen Sünden bleichen!
Sie läßt sich erzählen und beichten! Und verzeiht!
Nur die Finsternis ist heimtückisch, macht zur
Verbrecherin und verrät! ,, Kommen Sie, mein Herr,
bei Tageslicht!"
iq6
HOTEL-STUBENMÄDCHEN
Ich sagte zu meinem Hotel-Stubenmädchen: „Jo-
hanna, Sic werden von Tag zu Tag unaufmerksamer
gegen mich. Gestern waren sogar keine Zündhölzer
vorhanden." Sie sagte: „Jetzt wird es schon wieder
besser werden. Ich habe nämlich meine Schwester,
27 Jahre alt, verloren, man hat ihr zum Schluß das
ganze linke Bein abgenommen. Sie hat gesagt: „Ich
möchte auch mit einem Bein leben!" Aber es ist
doch nicht gegangen." Sie brachte mir zehn Pakete
Zündhölzchen. Sie sagte: „Wenn man nur wüßte,
wofür man so schwer bestraft wird ! ? Die Dame auf
Nr. 32 hat sicherlich mehr gesündigt als wir, und wie
fein lebt sie?!"
Ich sagte: ,, Johanna, wenn es auf Erden richtig
zuginge, brauchten wir ja nicht die Hoffnung aufs
Himmelreich "
Sie sagte: ,, Entschuldigen Sie vielmals die zahl-
reichen Versäumnisse der letzten Tage. Meine arme
Schwester hat ausgerungen. Jetzt kann ich wieder
meine Pflicht erfüllen!"
197
MODERNER DICHTER
In unserm Leben gibt's so viel Nuancen
Die eine sagt: „Arzt meiner kranken Seele!"
Die andre sagt: „Wie schrecklicher nur aussieht!'
Die eine lauscht begierig der Persönlichkeit,
die andre sieht pikiert den Gegensatz zu den
andern !
Die eine schreibt : „Darf ich zu Ihnen kommen ? !"
Die andre hält's für zynisch, wenn er im Gespräch
sanft -zärtlich ihre Hand berührt.
Die eine sagt: „Ein Romantiker ohne Herz!"
Die andre sagt: „Ein Herzlicher ohne Romantik!'
Und eine jede sieht ein „für "und „wider"
und keine spürt, daß ,,für" und „wider" eins ist
in einem, in dem ,,für" und ,, wider" zugleich
sind!
198
NATUR
Naturempfinden ist wie die Mutterliebe eine
ewige rastlose Emotion. Man kann nicht sagen : Hier
ist es schön! Man muß erfüllt sein, krank, von allem
anderen losgelöst, begeistert, gerührt, dankbar und
erstaunt! Man muß sich sagen: Wie komme ich da-
zu, das zu erleben, zu erschauen?! Es muß ein
,, Nervenrausch" sein, sonst ist es nichts, nichts! Es
darf keinerlei Zweck haben für die werte Gesundheit,
es muß von selbst wirken und beglücken, wie das
Antlitz der jungen Mutter, die sich über die Wiege
des soeben erwachten Kindchens beugt. Ein Glücks-
schimmer ist da über seinem Antlitz, weshalb, das
weiß niemand. So muß die Natur wirken! Sie ist
kein hygienisches Heilmittel, pfui, sie ist ein Myste-
rium. Nimm gewisse Vögel aus dem Wald, und sie
sterben vor Gram. Gib sie zurück, und sie zwit-
schern Dankgebete. So ist das Naturempfinden.
Eine heiße, süße, zehrende Leidenschaft der Seele!
Sport und Hygiene sind Börsenmanöver, die die
modernen Menschen mit dieser Kirche ,, Natur" effek-
tuieren !
199
NOCH NICHT EINMAL SPLITTER VON
GEDANKEN
Dialog
„Sie haben erklärt, ich hätte die f einstmodellier-
ten Nasenlöcher, die es gäbe ? ! Das ist nicht sehr
viel ."
,,Nein, es ist nur Edelrassigkeit ! "
Extrakt eines Königinnenlebens:
„Die Königin fühlte sich am wohlsten, wenn sie
bei einer edlen Zigarette, mit Gräfin P. A. über
ihr Lieblingsthema, die Krankenpflege, plaudern
konnte."
Die Philosophie:
Sie war die Lieblingsschülerin des berühmten alten
Professors E. in Pr. Und dennoch sagte sie: ,,Zu
braunem Musselinkleide gehören eben unbedingt
braune Strümpfe, braune Schuhe, brauner Schirm!"
Dennoch?! Nein, deshalb!
Leben des Alternden
Immer bissiger und innerlich immer voller
Tränen !
Leben des reichen Mädchens
,,Ohne Beschäftigung könnte ich es nicht aus-
halten. Man muß es sich doch beweisen, daß man
auch ein Mensch ist!"
Es gibt Frauen, die von der Natur so luxuriös
ausgestattet wurden, daß sie sich den Luxus
200
der I.iixuslosigkeit erlauben dürfen! (Komtesse
T W. E.).
Aus dem „Englischen'*:
„Man sieht, wie wenig Gott von (ield hält, an den
Leuten, die er damit ausstattet!"
Aus dem ,, Wienerischen":
,,Sö haben gar ka Idee, wie unangenehm i werd'n
kann, wann i will!"
„Versuchen Sie es einmal, es nicht zu wollen!"
Aus dem ,, Französischen":
Um ganz Pariserisch zu sprechen, braucht man
es nur ununterbrochen ganz einfach innezuhaben,
daß es vier e gibt, das e muet, das e grave, das
e egu, das e circonflexe, und sich danach zu richten!
Aber das kann nur der geborene Pariser!
Als ich dem jungen Offizier mitteilte, ich hielte
ihn für den Typus des ,, Eroberers" und beneidete
ihn um sein Glück bei Frauen, erwiderte er : ,,Schau'ns
Peter, schau'ns, Glück gibt's nicht! Die, bei denen
man Glück hat, da ist es doch kein Glück. Die hat
man von selbst. Dort erst wäre es erst ein Glück, wo
man kein Glück hat. Und grad' da hat man kein
Glück!"
Das Geständnis auf dem Sterbebett.
28./8. 1912.
Aus Nyiregyhaza wird gemeldet : Das Mitglied des
Munizipalrates und Direktor der Volksbank Anton
F. wurde verhaftet. Seine Frau hat auf ihrem Sterbe-
201
bette gestanden, daß er vor vier Jahren ein Haus in
Brand gesteckt habe, um die Versicherungssumme
zu erhalten für ihren Sommeraufenthalt!
Konklusion: Weihe deine Frau in nichts ein, sie
könnte aus Rache oder religiösem Bedenken
oder aus allgemeiner Stupidität dich verraten!
*
Moderne Gemäldegalerie der Armen: Farbiger
Kunstdruck der ,, Jugend", 50 — 25 Zentimeter, Emil
Hoess: Rehe. Text von P. A.: ,,Es gibt Menschen,
die sich an der Anmut dieser edlen Tiere berau-
schen! Es gibt Menschen, die der Leidenschaft
der Jagd ergeben sind! Es gibt Menschen, die,
ohne Rausch und Leidenschaft, gern Rehrücken
mit Sauce Cumberland fressen! Es gibt Dichter,
Don Juans und normale Männer!
*
Nur mit dir, Geliebte, hat das Leben für mich noch
einen Reiz, aber ohne dich hat es noch mehr Reiz!
*
Sie bewunderten sich gegenseitig da war
es ein Mißton! Sie bewunderten gemeinsam einen
Schildkröt-Schirmgriff da war es ein Akkord!
*
,, Haben Sie mich noch gern?!" fragt sie immer
innerlich nach der ersten Umarmung. Weshalb fragt
der herrliche Idiot nie: ,, Haben Sie mich noch
gern?!"
Schamgefühl ist ,,ein Schutz für Unzu-
länglichkeiten". Man verbirgt, was zu verber-
202
gen ist! Treue ist auch ein Schutz. Wenn ich nur
wüßte, wogegen?! Ah, ja, gegen die (jefahren der
Treulosigkeit !
*
Essen, um das Vergnügen zu haben, zu essen!
Hungern, um das Vergnügen zu haben, zu essen!
Hungern, um das Vergnügen zu haben, zu hun-
gern!
Philister, Lebenskünstler, Dichter!
«
Es gibt kein laues Bad von 27 Grad und keine gute
Kernseife, die nicht jede Sünde der Frau hinweg-
wüschen !
Eine Frau, der ich ihr Alles bin pfui
Teufel !
*
Sie sagte: ,,Nie, nie, nie, werde ich Ihnen genug
dankbar sein können!"
,,0h ja, Fräulein, wenn Sie mich Ihre Achsel-
höhlen küssen lassen!"
*
Das Schrecklichste ist, irgendeinen pathologischen
Zustand, wie Rausch oder Eifersucht, nicht ,,aus-
schlafen" zu können! Denn dazu ist ja der Schlaf
da, daß man wieder „zur Besinnung" komme, daß
man ,,ein Vieh war"!
Schlaf ist der Verzeiher aller Sünden, die man
dem armen Körper antut! Man darf daher nicht
mehr Sünden begehen als man Schlaf hat! Einige
203
Sünden jedoch lassen sich nicht „ausschlafen", z. B.
zähes Fleisch mit Kohl. Auch die „Sünde der Faul-
heit" läßt sich schwer ausschlafen. Je mehr man
begeht, desto schläfriger wird man!
♦
Es gibt zwei Sorten modemer Musiker die
Ehrlichen, das sind die, die den Richard Wagner
bestehlen! Und die Unehrlichen, das sind die,
die originell sind!
*
Es gibt Dinge, die man nicht ,, modernisieren"
kann, z. B. den Kuckucknif. Oh ja, man macht ein
Rabengekrächze und nennt es ,, Kuckuckruf"!
*
,,Der gute alte Richard Wagner", sagen schon
manche Vorge-trottelten !
*
Mit 82 Jahren ist man mit dem Tode schon so
befreundet, daß er einem die unangenehmsten
Wahrheiten ungeniert ins Gesicht sagt!
*
Ein Gymnasialdirektor sagte zu jedem Abiturien-
ten beim Abschiede: ,, Werden Sie General!" Er
meinte, in jedem Berufe könne man es zum General
bringen !
Es war direkt interessant, wie völlig uninteressant
die Dame war!
Es gibt keinen größeren Idealismus als den einer
zärtlich liebevollen Mama. Selbst eine unangenehme
204
Erkenntnis hat bei ihr noch die Gloriole von roten
Herzbluttropfen !
Millionäre trösten uns immer damit, man könne
sich auch an Austern „überessen". Aber in diesen
Zustand eben einmal zu gelangen, ist ja das Glück!
*
Ich fahre lieber in einem gefährlichen Automobil
als in einem ungefährlichen Omnibus.
*
Man ist häufig genötigt, in der guten Gesellschaft
das Wort ,, entzückend" auszusprechen. Ich habe
daher im Tonfall dabei bereits so viele Nuancen mir
zurechtgelegt, daß eine Dame mir einmal, als ich
etwas ,, entzückend" fand, sagte: ,,Sie grober unver-
schämter Kerl! So ekelhaft ist es ja doch nicht, wie
Sie es finden!"
Als der Kutscher uns liebenswürdig die Gegend
erklärte, notierte ich bei jedem Bergnamen zehn
Heller Trinkgeld. Als er die ,,Hohe Veitsch" nannte,
waren es bereits theoretisch 3 Kronen 70. Wir run-
deten es auf I Krone 50 ab!
*
Die Art deines Gehens, o Fraue, wenn du eine
Hoteltreppe langsam hinauf-, langsam heruntersteigst ,
ist bereits dein ,,Biografical essay", eine Offenbarung
deiner wirklichen untrüglichen Werte!
*
Ich sah sie im Speisesaal eine Zigarette rauchen
und war entzückt. Ich wußte noch gar nicht, was
205
und wie sie sprechen würde. Sie hätte ewig schweigen
dürfen, sitzen, rauchen, bücken .
*
Das, was die Menschen uns nicht vortäuschen
können, nicht vortäuschen wollen, das sind sie!
Ich habe Kinder gesehen, bei denen das ,,Nießen"
sogar entzückend war!
*
Man kann auch elegant zanken, elegant verzwei-
felt sein, man kann elegant langweilig sein, und sogar
elegant ungezogen! Aber das ist das schwerste!
*
Sie bezahlte Champagner und beleidigte mich
durch die Art, wie sie es tat!
Ich zahlte Champagner, und sie versöhnte mich
durch die Art, wie sie es annahm!
Eine Dame sagte: ,,Ich bitte, Herr Peter, welches
ist das idealste Mundwasser?!"
,,Ein idealer Zahnarzt! Denn dann braucht man
gar kein Mundwasser, ja nicht einmal eine Zahn-
bürste!"
*
Der Luxus der Frauen steht theoretisch im um-
gekehrten Verhältnis zur Vollkommenheit
ihres Leibes! Dem Leinenkleide für 25 Kronen
entspricht der Leib der Pauline Bonaparte! Eine
Dame sagte zu mir: ,, Diese blöden teuren Fetzen!
Mich müssen's nackert sehen! Dö Sachen verschan-
deln einen ja nur!"
206
Wenn ein Blumenmädchen in einem Vergnügungs-
lokale an deinen Tisch tritt, dir für deine Dame eine
Rose anzubieten, so muß die Dame sofort erklären,
daß sie keine wünsche. Sonst macht sie sich eben-
falls einer Erpressung schuldig!
*
Wenn in einem Geschäfte eine Kundschaft nach
einer Ware sich erkundigt, die nicht vorhanden ist,
so haben die Verkäufer nicht stolz-abweisend zu
erklären; ,,Nein, das führen wir nicht — — — !",
sondern zerknirscht-reuevoll.
*
Weshalb erhält man bei uns hölzerne Fuß-
schemel nur in den Spielereihandlungen, wäh-
rend die Geschäfte für Kücheneinrichtungen
sich beharrlich sträuben, dieselben zu führen ? ! Fuß-
schemel sind keine Spielerei, und in der Küche braucht
man Schemel . Das sind unergründliche Ge-
heimnisse der Geschäftswelt!
*
In Berlin kann man von März bis Oktober die
riesigen Spiegelscheibenfenster in die Keller hinab-
lassen, und man sitzt im Lokal gleichsam im Freien
in guter Luft. Bei uns kann man das nicht. Wundert
Sie das?! Mich nicht!
*
Unsere Auslage-Arrangeure wollen immer so viel
als möglich vom Lager hinauszwängen, während
gerade ein einzelnes, besonderes Stück die
ganze Führung des Geschäftes, seinen Geist be-
reits dokumentierte!
207
Die Klosettfrauen sollten gezwungen werden, lose,
einzelne Seifenblätter zu verkaufen. Die gemein-
same Seife erinnert fast an ein ,, gemeinsames Zahn-
bürstchen"!
*
Alle Menschen leben ,,über ihre Verhältnisse", über
ihre ökonomischen, sexuellen und vor allem über
die ihres Verdauungsapparates! Daher ihre ewige
Reizbarkeit und Unduldsamkeit. Irgend etwas be-
drückt sie!
*
Ich sagte einst einem befreundeten jungen Restau-
rateur in G.: ,,Vor allem nimm jede nicht konvenie-
rende Speise zurück, selbst im Falle einer krassen
Ungerechtigkeit. Du machst immer noch das bes-
sere Geschäft, wenn du dieses eine Mal bei dem
Hundskerl draufzahlst. Sonst redet er dir noch
Hunderte ab!"
In den gutgehenden Geschäften sind die Be-
dienenden nervös, weil zu viel zu tun ist, und in
den schlechtgehenden, weil zu wenig zu tun ist!
*
Wenn ein Zyniker in der Gesellschaft von Damen
zynisch ist, so ist er es n u r , weil alle diese Damen ihm
keinerlei Hochachtung einflößen. Ich kann mir
einen jeden Zyniker denken, der vor einer ,,inner-
Hchen Kaiserin des Daseins" verstummte! Tut
er es aber auch in diesem Falle nicht, dann ist er ein
Zyniker !
208
,,Ich verehre Euch, Meister Altenberg, seit Jahren.
Aber wozu die Worte?! Ich möchte Euer letztes
Werk erstehen. Was kostet es?!"
,,Fünf Kronen."
,,Für drei Kronen würde ich es nehmen .
Aber eine schöne ,, persönliche Widmung" erbitte ich
mir natürlich!"
Ich schrieb eine persönliche Widmung: ,,Sie haben
mirzweiKronen abgehandelt ,i c h habe es mir abhandeln
lassen ; j etzt wissen Sie, was an I h n e n und an m i r ist ! "
3 jähriger Wahrheitsfanatiker, aus dem noch was
werden kann:
,,Wen hast du denn besonders lieb, Bubi?! Die
Mama?!"
,, Nicht besonders ."
, ,Dein Schwesterchen ? ! "
,, Nicht besonders ."
,,Wen also hast du besonders lieb?!"
„Die Schokolade!"
*
Liebesbrief :
,,0h, ich habe ein so grenzenloses Vertrauen zu
Ihnen, daß ich es auch dann nicht verlieren könnte,
wenn Sie es mißbrauchen würden!"
Höchstes Lob (Frau Dr. Eugenie Schw.):
„Mein lieber Peter Altenberg, mit keinem der
sogenannten ,, Modernen" könnten Sie sich ver-
tragen! Mit Gottfried Keller hätten Sie sich ver-
tragen, obzwar Ihr von früh bis abend erbittert
gestritten hättet!"
309
Ausspruch :
„Wissen'.i, bei uns in derHofoper, ich mein' beim
Ballet, teilen wir die Künstlerinnen, Sängerinnen,
natürlich nicht ein nach dem, was sie können, das is
uns Tänzerinnen doch ganz egal, sondern nach dem,
ob sie ,,betamt" (liebenswürdig-menschenfreund-
lich) oder ,,unbetamt" sind! Die Jüdinnen also sind
alle unbetamt natürlich, aber es gibt sogar unbetamte
Christinnen bei uns! Und die sind noch ärger!"
*
Für 500 Kronen Honorar erklären dir die Ärzte,
du habest „eine leichte Blutzirkulationsstörung". Es
sei nichts von Bedeutung. Für drei Kronen erklären
sie dir, es sei ein leichter Schlaganfall. Die Haupt-
sache wäre, er solle sich ja nicht wiederholen!
*
Ein genialer Arzt verlor seine Stelle und erschoß
sich, weil er sich iungen Patientinnen gegenüber
schamlos benommen hatte. Sie fragen mich, was ich
über den Fall dächte?! Ich rechne mir es aus:
57 Patientinnen in ihrer ,,Ehre" gekränkt, 57 Tausend
durch den Verlust des genialen Arztes effektiv ge-
schädigt !
*
,,0, Herr von Altenberg, wie geht es Ihnen?!
Noch immer nicht verheiratet ? ! Woran arbeiten Sie
jetzt momentan?! Schwärmen Sie noch immer für
schöne schlanke 15-Jährige?! Und überhaupt, was
gibt es Neues in Ihrem reichbewegten Leben?!"
,, Genehmigt!" erwiderte ich gelassen und ent-
fernte mich.
210
Jemand sagte zu mir (jeden Tag ist es ein anderer) :
„Sie sind der glücklichste Mensch! Sie haben keine
Bedürfnisse!"
„Nein, ich habe keinerlei Bedürfnis, Bedürfnisse
zu haben, die ich ja doch nicht befriedigen kann!"
Die Forelle, der Hecht sind gefährliche, ewig auf
der Raublauer liegende Tiere. Aber man fängt sie
geschickt mit irgendeinem Köder. Bei Frauen
macht man es aber ungeschickt. Meistens reißen sie
sich los und verspeisen nur den Köder!
*
Die Prinzessin sagte: ,,Man macht dem Suder-
mann immer den Vorwurf, daß er theatralisch sei.
Das finde ich ungerecht. Wenn man das meinem
Cousin, dem Louis Liechtenstein, nachsagen dürfte,
so wäre es gerecht. Denn der hat's nicht nötig. Aber
der arme Sudermann, der ist doch dazu da, theatra-
lisch zu sein!"
Ich sandte dem herrlichen ii jährigen Kinde Margit
Kr. einen selbstgebundenen Strauß von hellblauen
Skabiosen und gelben Teerosen. Die Mama sandte den
Strauß zurück mit dem Bemerken, ihr Töchterchen sei
noch minderjährig. Ich schrieb: ,, Gnädige Frau,
wann erfolgt die Volljährigkeitserklärung für Schön-
heit und Anmut?! Gott, Jesus Christus imd die
Dichter verstehen nichts von Kalenderberechnung!"
Das mystisch schöne Kind hatte eine unschöne
Mama. Alle Damen sagten zu mir: ,,Sie wird der
'4* 211
Mutter nachgeraten!" Endlich kam der wunderbare
Vater an, wie ein Sieger-Torero. „Für einen Mann
ist er viel, viel zu schön!" sagten alle Damen. ,,Nun
und das Kind?!" sagte ich. ,, Weshalb soll es gerade
ihm nachgeraten?! Weil Sie es sich erwünschen?! ?"
Bestien !
Zwei Schwestern.
,,Die eine kenn' ich noch nicht so genau, ich hab'
noch nicht so viel mit ihr gesprochen .
Die andere kenn' ich ganz genau, ich hab' noch
nicht so viel mit ihr gesprochen ,"
♦
Je lustiger, je übermütiger die Geliebte, desto ver-
stimmter der Geliebte. Alles geht auf seine Kosten,
Unkosten. Aber manche Männer nehmen regen An-
teil an diesem Diebstahl vor ihren Augen!
Amüsement ist ,, Ablenkung des Herzens!" Gut-
mütigkeit des Mannes — — — verbrecheri-
scher Idiotismus!
*
Was nützt es dir, o Jüngling, daß du mit Sorgfalt
und Geschmack ein Bukett zusammenstellest aus
herrlichen Bergblumen und Gartenrosen ? ! Die Dame
fühlt: ,,Die Bergblumen kosten nichts, und die sieben
Rosen je eine Krone!"
*
Nur Juden haben die Ungezogenheit, mich zu
fragen, weshalb ich stets an dickem, grünem, seidenem
Kordon zwei herrliche Automobilpfeifen, Sirenen,
trage!? Christen fragen das nie. Sie denken gleich:
212
„Weil er ein Narr ist!" Die Juden lassen sich durch
die Frage noch wenigstens die Hoffnung offen!
Mein Gehirn hat Wichtigeres zu leisten als darüber
nachzudenken, was Bernard Shaw mir zu verbergen
wünscht, indem er mir es mitteilt!
*
Die modernen Damen verlängern sich die Finger-
nägel statt des Gehirnes. Das erstere scheint leichter
zu sein!
*
Die Männer suchen ihre Damen von 8 Uhr mor-
gens bis II Uhr nachts bei guter Laune zu erhalten!
Wahrscheinlich wegen der übrigen Stunden!
*
Körperliche Vollkommenheit verpflichtet zu jeder
anderen, geistig-seelischen Vollkommenheit! Aber
glücklich die, die zu dieser Verpflichtung verpflich-
tet sind!
Ein runder Rücken ist nicht nur ein runder
Rücken. Es bedeutet auch einen flachen Brust-
kasten !
Weshalb dieses unintelligente Sträuben gegen
Nährmittelpräparate wie ,,Sanatogen"?! Jedenfalls
wird es euch mehr nützen als Rostbratl mit Erd-
äpfelsalat ! Ihr fürchtet euch vor zu viel Kräften ? !
Na ja, ihr müßt es ja wissen, wofür ihr sie dann doch
nur verwendet!
213
Nährmittel haben zur Voraussetzung „eine ganze
verfeinerte Kultur". Sonst bleibe man bei dem a la
Hunnen auf dem Sattel weichgerittenen Roastbeef!
*
Ich habe gelesen: Den Engländern fehlen leider
zwei Sachen: Sinn für „feine zarte Küche" und
Sinn für „feine zarte Musik". Jetzt weiß ich, weshalb
sie die Welt unterjocht, viel Geld und viel Ehre
gemacht haben!
Ich habe meinen Gatten lieb, weil er mich reich
ausstattet! Ich habe meinen Geliebten lieb, obwohl
er mich nicht reich ausstattet ! Wie lieb hätte ich erst
einen Geliebten, der mich reich ausstattet! Aber das
gibt es ja gar nicht; der hat das doch nicht nötig, das
wäre ja ein idiotischer Verschwender, den man unter
Kuratel setzen müßte!
*
„Ich denk' über so viele Sachen nach, Gustav, und
da werd' ich ganz blöd. Wann ich einmal gar nicht
nachdenk', und was ganz Blödes sag', dann sagen die
Leut', daß es riesig g'scheit is. Aber unbewußt sagen
sie. Das heißt also, daß es doch blöd is, nicht,
Gustav?!"
Die 5 jährige Edith sagte abends beim Abschiede
zu mir: „Also wann, wann, wann ?!"
Da ergänzte die Mutter: ,, werden Sie morgen
wiederkommen ? ! "
,,Aber geh', Mutti, das weiß er ja, was ich gemeint
hab'!"
*
214
Je tiefer die seelische Liebe der Frau, desto
geringer ihre „physiologische" Erregbarkeit. Das
scheint schauerlich paradox zu sein! Die „Liebe"
verteilt ihre Erregung auf den Gesamt Organismus,
während minderwertige Gefühle nicht diese Kraft
haben, sondern sich lokalisieren!
*
In jeder schönen Frau, in jeder wohlgestalteten,
steckt die ,,Hure". Sie kann nicht anders als Tag und
Nacht von dem Gefühle gereizt, gekitzelt, erregt zu
werden als dem: ,,Ich könnte jeden Mann selig
machen, ihn in die letzten Räusche bringen!" Eine
Frau von diesem Weltenempfinden weg auf sich
konzentrieren wollen und können, ist das Wesen der
glücklichen Liebe! Ich bezweifle, daß es bei einer
wirklich vollkommen schönen Frau gelinge!
Aber wie viel solcher gibt es ? ! Also gibt es doch viele
,, glückliche Liebende". Und dann: die Frau rechnet
mit ihrem allmählichen ,, schäbig- werden". Das ver-
mehrt die Chancen der Idioten! Übrigens
gibt es noch die sogenannte ,,gute Erziehung". Ja,
die Idioten haben Chancen!
,,Ich bin gewitzigt'', heißt: ,,lch bin gewitzigt
über die Dinge, über die ich gewitzigt bin. Aber
über die Dinge, über die ich noch nicht gewitzigt
bin, über die bin ich noch nicht gewitzigt!"
♦
,, Glauben Sie, daß ich die Dinge nicht ebenso
wenig ernst nehme, wie Sie, Dichter?!"
„Ich glaube es, weil Sie kein Dichter sind!"
*
215
Ist denn nur das „sich nicht mehr anschmieren
lassen", im Leben wertvoll?!
Nein, man kann auch wissentlich einem alten
schäbigen Hausierer für ein Paar Hosenträger fünf
Kronen bezahlen!
,,Sie reizen uns unnötig auf mit Ihren anar-
chistischen Theorien!" sagte eine junge Dame
zu mir.
Wie würde ich es erst tun, werm ich es für nötig
hielte!
Ich zeigte jemandem, der mich besuchte, mein
geliebtes Ansichtskartenalbum. Auf einer Seite
waren : Napoleon, Hugo Wolf , Beethoven-Totenmaske,
Peter Altenberg.
,,Was, gut plaziert!?" sagte ich.
„Gewiß!" erwiderte verlegen und verbindlich
lächelnd der Gast.
„Woher nehmen Sie ununterbrochen Ihre Be-
geisterung für Frauen, Kinder, die Natur?!" sagte
jemand zu mir.
„Von Abführmitteln! Tamar Indien Grillon! Von
meiner ,, inneren Unbeschwertheit"!
,,Sie scherzen!"
„Gewiß. Denn Sie würden davon nur Diarrhöen
kriegen!"
,,Wir sind eben noch keine „chemischen Retor-
ten! Schauen Sie doch die ,, Roßknödel" an auf der
216
Straße, woraus das Pferd seine ganze riesige Kraft
gezogen hat! ?"
,,Ja, es ist eine wahre Roßnatur!"
*
„Was verstehen Sie eigentlich unter „Kunst"?!"
sagte ein Herr um Mitternacht, bei Champagner, zu
mir.
,,Da müssen Sie noch ein bisserl was bar drauf-
zahlen, wenn ich Ihnen die Frag' jetzt beantworten
soll!"
*
Wenn jemand magenkrank ist, so muß ein moder-
ner Arzt ihn sogar fragen: ,, Haben Sie mit Ihrer
Wäscherin nie so ,, leichte Konflikte", oder verkehren
Sie nicht mit ärmeren Leuten als Sie sind, oder
schläft Ihre Geliebte nicht gern bei anderen?!"
Solche Kleinigkeiten schon können einen über-
empfindlichen Organismus aus dem sogenannten
Gleichgewichte bringen.
Was du nicht willst, daß man dir tut,
das tu' geschwind den andern an,
denn sie tun dir's jedenfalls an!
2 IC
Druck der Spamerschen Bucbdruckerei in Leipzig
WERKE
VON
PETER ALTEN BERG
71^
Wie ich es sehe
Siebente vennehrte Auflage. Geh. 5 Mark, geb. 6 Mark.
Was der Tag mir zuträgt
Vierte vermehrte Auflage. Geh. 5 Mark, geb. 6 Mark.
Prodromos
Dritte Auflage. Geh. 3.50 Mark, geb. 4.50 Mark.
Märchen des Lebens
Vierte vermehrte Auflage. Geh. 4 Mark, geb. 5 Mark.
Die Auswahl aus meinen Büchern
Vierte Auflage. Geh. 3 Mark, geb. 4 Mark.
Neues Altes
Dritte Auflage. Geh. 3,60 Mark, geb. 4,50 Mark.
Wie ich es sehe
Es ist ein schönheitstrunkenes Evangelium raffiniert
gesteigerten und doch kindlich -reinen und seelenvoll-
heiteren Lebensgenusses der Sinne und des Geistes. Und
dabei eine ganz neue Gattung in Stil und Vortrag. Die
Ausdrucksweise subtilster Gefühlsregungen ist dadurch
wesentlich bereichert worden. Schattierungen im Emp-
findungsleben spricht es aus, die bisher unausgesprochen
waren, in deutscher Sprache wenigstens. Dadurch gewinnt
das Buch eine besondere Bedeutung. Die Mittel der Dar-
stellungskunst werden ganz einfach dadurch erweitert. Es
ist wie ein neues Instrument, mit Saiten, die man noch
nicht kennt und die, nur leise und linde berührt, eine
ganze Welt von Tönen hören lassen, (Grazer Tagespost)
Was der Tag mir zuträgt
Um seine Altenbergereien, seine eigenen Nuancen, von
Humor, von Liebe, von Heldenverehrung, von Sinnlichkeit,
von Trauer gut auszudrücken, hat Peter Altenberg seine
persönliche Kunstform erfunden, und sie feiert in diesem
Band voll bunter, amüsanter, zusammengetragener kleiner
Skizzen wieder große Triumphe. Er läßt eine Tischrunde
ruhmhungeriger junger Leute eine Zeitschrift begründen
und den Herausgeber mit der großen Brieftasche um-
schwärmen; da zittert und schwirrt es bei scheinbar sach-
lichen Gesprächen nur so durcheinander von allen mög-
lichen Ober- und Untergedanken der ungeduldigen Jüng-
linge. Oder er liest einem jungen Mädchen, das den ersten
Tag seines Dienstes am Postschalter hat, die ganz und
gar nicht zur Sache und zum Dienst gehörigen, zwischen
Federeintauchen und Auskunftgeben vorüberblitzenden Vor-
J2(
Stellungen ab. Ganz ohne Romantik, wie sie früher in solchen
Fällen beliebt war — früher hätte eine solche Postnovize
zumindest ein sterbendes Kind zu Haus gehabt — ganz
ohne äußeren Aufputz ; ganz den wirklichen Beobachtungen
und ihren verborgenen Geheimnissen entsprechend; ganz
wie der Tag es ihm zuträgt. (Die Zeit, Wien)
Prodromos
Peter Altenberg gibt in seinem neuesten Aphorismen-
werk eine Anleitung zum Lebensgenuß. Er sagt uns, was
wir essen und trinken sollen, wie wir unseren Körper pflegen
sollen, indem er die Behaglichkeit und die Beweglichkeit
des Seelenlebens schildert, die wir dadurch gewinnen. Es
sprüht in diesem Buch auf allen Seiten, und dieser Funken-
regen eines lustigen Philosophen zerstört die lasse Moral
eines satten PhiUstertums so unerbittlich, wie die Müdig-
keit einer Nur-Ästhetik. Es ist ein Lebensbuch von uner-
schöpflicher Klarheit, eine ganz moderne Philosophie von
Leib und Seele, wie sie gleich einheitlich nur im Athen
eines Plato oder im Rom des Neuplatonismus geschrieben
werden konnte, wie sie in den Religionen Buddhas und
Alexandrias vorherrscht, er baut den Vorhof zu einem
Tempel der zukünftigen Menschheit. (Leipziger Neueste Nachrichten)
Märchen des Lebens
Im Hinhören, im Aufmerken, in einer neidenswerten
Fähigkeit des Staunens liegen Altenbergs ursprünglichste
Dichtergaben. Die Welt ist so reich. Jeden Tag sehen
wir — ja, wie kann man das alles aufzälüen? — , wir sehen
Wolken über den Himmel gehen, ein Füllen auf der Weide
springen, eine Blume blühen, eine schöne Frau lächeln.
Aber wenige von uns haben die Gabe, über das alles nach
Gebühr zu staunen. Vielleicht muß man vom Leben
etwas zur Seite gestellt sein, um das alles so gierig, so
dankbar, so heiß und schmachtend aufzufassen, wie es
Peter Altenberg tut. Wir gehen die Straße des Lebens,
ungeduldig, präokkupiert von der Sehnsucht nach den
großen Sensationen. Wir suchen am Horizont nach den
gewaltigen Gebilden der Berge. Peter Altenberg aber bückt
sich indes, hebt einen Kiesel von der Straße auf und weist
ihn lächelnd, liebevoll, mit einer fast preziösen Geste dar.
Und siehe da, der Kiesel ist ein wahres Wunder, und wir
müssen tun als sähen wir ihn zum ersten Male. Liegt es
nur an der preziösen, entzückten Geste, mit der er dar-
gereicht und uns endlich einmal eindringlich ins Bewußt-
sein gerückt wird ? {Münchener Neueste Nachrichten)
Die Auswahl aus meinen Büchern
über Peter Altenberg ein Urteil in gemessenen Zeilen
abzugeben kann ich mich nicht erkühnen. Man kann über
diese personifizierte Absonderlichkeit denken, wie man will,
verweilen wird man bei ihr müssen. Er hat die feinsten
Nerven in ganz Wien. Darum muß man ihn lesen, ablesen
wie einen Thermometer, Barometer, Hydrometer, kurz wie
irgendein Kunstwerk physikalischer Feinmechanik. Viel-
leicht gehört das Urteil über Peter Altenberg wirklich der
Zukunft? Vielleicht hat er instinktiv das getan, was nur
er sich erlauben durfte: seinem Buche eine Selbstanzeige
mitgegeben, eine Selbstanzeige, worin es heißt: ,,Ich habe
vier Bücher herausgegeben: ,Wie ich es sehe', ,Was der
Tag mir zuträgt', .Prodromos', .Märchen des Lebens'.
Ich hielt dieselben für , Extrakte', für Extrakte meines
eigenen Innenlebens und eigentlich des Lebens überhaupt!
Ich hielt mich für das kurzgefaßteste Herz, für das kurz-
gefaßteste Gehirn eines modernen Schriftstellers, für das
Unbelästigendste, Zeit nicht Raubendste, das es gäbe!
Aber ich habe mich geirrt. Man kann aus den vier Büchern
noch die .wertvollsten' Perlen herausfischen und so dem einen
Leser die Mühe ersparen, überhaupt je wieder etwas von
mir zu lesen, den anderen jedoch dazu verführen, nun alle
Werke zu erstehen! — Man warnt also menschenfreund-
lichst dadurch seine Nichtversteher, während man mit
seinen Verstehem ein glänzendes Geschäft vielleicht zu
machen in der Lage ist I Deshalb, aus Menschenfreund-
lichkeit und Gewinnsucht zugleich, veröflfentüche ich die
, Auswahl'!" . . . Hat man die feinen Sächelchen, diesen
Seelenhauch gelesen, scheint das Leben eine unüberwind-
Üche Brutalität. (Wiener Abendpost)
Neues Altes
Eben habe ich ein wundervolles Buch gelesen, keines
für Philister, die finden nichts darin, keine Geschichten,
keine Moral und keine Unmoral. Es sind Perlen und
wieder nicht Perlen, wie man sie sich gewöhnlich vorstellt,
sondern wie sie aus der Hand einer feinen, innerlich vor-
nehmen Klavierspielerin aus den Tasten oder über die
Tasten des Flügels rollen, unsagbar rund, unsagbar matten
Glanzes — reine Kunst. Das Buch ist von Peter Altenberg
und heißt , Neues Altes'. Was drin steht sind Briefstellen,
Tagebuchnotizen, Skizzen, manchmal nur eine Bücher-
widmung, selten mehr als eine Seite lang, oft ein paar
wenige Zeilen, ein Nichts für den Philister, eine Perlenschnur
für den Liebhaber. (Nationalzeitung, Basel)
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^.3T f^w^A"^ '^^
University of Toronto
Library
Acme Library Card Pocket
LOWE-MARTIN CO. UMITED