Skip to main content

Full text of ""Semmering 1912""

See other formats


2> 


LG 

,,  S c  in  m  e  r  i  n y  /p/2'" 


von 


Peter    Altenberg 


S.  Fischer ,  Ferlag^  Berlin 
1913 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung,  vorbehalten. 
Copyright  1913  S.  Fischer,  Verlag,  Berlin. 


INHALT 

Idylle 13 

Bergeswelt 15 

Bozen 16 

Gartengedanken 17 

Frühstück  in  Klagenfurt 21 

Die  Tänzerin 22 

Zwei  Skizzen 27 

Erziehung 29 

Poliere 31 

Forellenfang 33 

So  wurde  ich 35 

Loca  Minorum  resistentium 37 

Dolomiten      39 

Mama 41 

Moderne  Annonce 43 

Semmering 44 

Winter  auf  dem  Semmering 45 

Vollkommenheit 46 

Nachwinter 47 

Heimliche  Liebe       49 

Das  Kino 51 

Lebensbild 52 

Im  Jänner,  auf  dem  Semmering 53 

Noch  nicht  einmal  Gedankensplitter 54 

Die  Kostüme  auf  dem  Semmering  in  der  Silvester- 
nacht    57 

Fortschritt 58 

Abschied 60 

Besuch 61 

Buchbesprechung 63 

7 


Ein  Brief .  65 

Das  Hotel-Stubenmädchen 67 

Gespräch 68 

Bobby 69 

Psychologie 71 

Hotelregisseure 73 

Das  Glück 75 

Das  Duell      76 

Stammgäste T] 

Sanatoriimi  für  Nervenkranke      ^^ 

Die  Romantikerin  1 83 

Erbleichet!  Errötet! 85 

Ostermontag  auf  dem  Semmering 86 

Berghotel-Front 88 

Landpartie 89 

Psychologie 91 

Vor- Vorfrühling 93 

Gedenkblatt 95 

Oberflächlicher  Verkehr 97 

Beaute 99 

Die  Spielereien  der  reichen  Leute 100 

Richtige,  aber  eben  deshalb  wertlose  Betrach- 
tungen      lOI 

Die  Probe      102 

Ereignis 103 

Ende       104 

Nach  abwärts 105 

Abschied 106 

Kranken-Toilette      107 

Kusine 109 

Lied iio 

Echt III 

8 


Gespräch 112 

Bilanz 113 

Sehr  geehrtes  Fräulein!      115 

Herbsthed      116 

Ewige  Erinnenmg 117 

Gesang 118 

Souper 119 

Die  Wagenfahrt 120 

Konzertpause 121 

Schönheits- Konkurrenz    auf   dem   Semmering, 

Sommer  1912 122 

Auf  Wache 123 

22.  August 124 

Wie  ist  es?!      125 

Vom  Rendezvous 126 

Examen 127 

Les  Lärmes 128 

Testament 129 

Aconitum  Napellus 130 

Manövers 131 

Gift 132 

Luftveränderung 133 

Ein  Nachtrag 135 

Buchbesprechung 137 

An—      138 

Nekrolog  (Fritz  Strauß) I39 

Erster  Schnee 140 

Der  Maler      141 

Betrachtungen 143 

Ur-Seele 144 

Frage      145 

Letzte  Unterredtmg 146 

9 


Landpartie 147 

L'amour 148 

Kleine  Mittel 149 

Nervenärzte 151 

Plauderei 153 

Richtig 154 

Reminiszenzen 155 

Werte 157 

Zu  den  „Olympischen  Spielen" 159 

Brief  vom  Semmering 161 

Fahrt      163 

Lied 166 

Abschied 167 

Gespräch   mit   einer   Baronin,    Exzellenz-Frau, 

über  ihren  herrlichen  zwölfjährigen  Sohn   .    .  168 

Entzweit 169 

Gespräch    mit    der  sechsjährigen   Sonja   Dun- 

gyersky 170 

Gleich  beim  Hotel       171 

Gespräch  mit  einer  wunderschönen  Dame  von 

30  Jahren      . 172 

Plauderei 173 

Gegen 174 

Rompe!      175 

Waschungen      176 

Respekt 177 

Falzarego-Paß-Höhe 178 

Enterbte  des  Schicksals 179 

Frühhng 180 

Erlebnis 181 

Die  Tänzerin 182 

Meine  Ehrungen 183 

10 


Klara      184 

Berghotel-Terrasse,  Semmering 185 

Erkenntnis 186 

Klara      187 

Ein  Komtessen-Brief 188 

Märchen  des  Lebens 189 

Worüber  man  noch  immer  weint,  und  ewig 

weinen  wird! 190 

Besuch 191 

Liebesgedicht 192 

Das  größte  Kompliment 193 

Le  monde      194 

Ein  Regentag 195 

In  24  Stunden 196 

Hotel-Stubenmädchen 197 

Modemer  Dichter 198 

Natur 199 

Noch  nicht  einmal  Splitter  von  Gedanken.    .    .  200 


II 


IDYLLE 

Merkwürdig  ist  diese  „bürgerliche  Liebe",  nie  ein 
Höhepunkt,  und  alles  überfüllt  mit  süßer  Pflicht. 
Immer,  immer  schreiben  sie  sich,  vergessen  nie  die 
kleinsten  Details  der  täglichen  Lebensführung.  Zum 
Beispiel:  ,, Denke  Dir,  Karl,  heute  mittag  gab  es 
Obers-Scheiterhaufen  in  Himbeersaft,  Deine  Lieb- 
lingsspeise!" Oder:  ,, Gestern  abend  war  mir  nicht 
ganz  wohl,  aber  heute  morgen  schon  war  es  vorüber." 
Oder:  ,,Du  gehst  mir  halt  an  allen  Ecken  und  Enden 
ab.  Du  zärtlich  Besorgter!"  Immer  schreiben  sie  sich, 
um  aus  dem  lauen  Dauerbade  ihrer  faden  Zusammen- 
gehörigkeit ja  nicht  herauszukommen!  Ein  ödes 
Nichts  wird  ihnen  eine  Lebensfrage,  immer  muß  ein 
Teil  den  anderen  erretten  aus  irgend  einer  schwierigen, 
fatalen  Situation,  zum  Beispiel,  wie  man  am  besten 
die  englischen  Hemden  hier  zum  Putzen  geben  könne, 

ohne  befürchten  zu  müssen .    Ich  verstehe 

nur  nicht,  wie  zwei  Menschen  diese  Rolle  durchführen 
können  bis  ans  Lebensende !  ?  Es  ist  ein  mysteriöser 
Kitt  vorhanden  von  unbedeutenden  Wichtig- 
keiten, eine  perfide  Solidarität,  ein  Frontmachen 
gegen  die  Umwelt  mit  ihren  hunderttausend  Kompli- 
kationen, eine  geniale  Vogel-Strauß-Politik  der 
Seele!  Sie  wollen  nur  sehen,  was  ihnen  zu  sehen 
frommt!  Wenn  es  sich  wenigstens  um  einen  treuen 
Hund  handeln  würde;  aber  um  Menschen,  um  Men- 
schen ? !  ?  Liebe,  die  keine  ist,  Aufmerksamkeiten,  die 
keine  sind,  Besorgnisse,  ohne  besorgt  zu  sein,  Freuden, 
ohne  freudvoll  zu  sein.  Und  beneidet  wollen  sie  sein, 
anerkannt!    Oscar  Wilde,    Paul   Verlaine,   und   Ihr 

13 


anderen  Ungetüme  der  Lebensführung,  seid  gepriesen 
und  gesegnet!  August  Strindberg  war  ein  Anar- 
chist, mit  einer  ,,bürgerHchen  Seele"!  Das  war  sein 
Verhängnis!  Man  muß  ein  Anarchist  sein,  mit  einer 
anarchistischen  Seele! 


14 


BERGESWELT 

Bergesregionen,  dort  wo  ,, nichts  mehr  gedeiht" 
als  Krummholz,  sturmgebogen,  ist  seit  jeher  meine 
,,  Märchen  weit"!  Nach  40  Jahren  fand  ich  das  wieder 
auf  dem  ,,Falzarego-Passe",  ,,Tre  Croce",  ,,Pordoi- 
joch-Paß".  Weißgraue  Felstrümmer,  schwarze  trie- 
fende Erde,  Zirbelkieferwälder  bis  an  die  Hotels 
herankriechend.  Von  Felsen  träufelt,  rieselt  es,  Nebel- 
fetzen überall.  Nichts  will  gedeihen  als  die  Edel- 
Einsamkeit.  Vor  dem  Pordoijoch-Hotel  grau- 
schwarze Wälder  von  dichtem  Erlengebüsch,  dem  der 
Bergsturm  nichts  antut.  Es  braust  nur  und  er- 
schauert. Daß  hier  nichts  mehr  gedeiht,  ist  die 
Düster- Romantik  der  Bergeswelt.  Keine  Farbe 
einer  Blume,  kein  Schrei  eines  Vogels,  kein  Schmetter- 
ling, kein  Käfer.  Diese  tönende  Eintönigkeit! 
Eine  schrieb  ins  Fremdenbuch  ein:  ,,Ohne  Jemanden 
nicht  leben  können  und  wollen,  selbst  werm  man  es 
vorher  bestimmt  geglaubt  hatte hier  ver- 
gißt man  darauf!" 


15 


BOZEN 

Auf  dem  Hauptplatze  in  Bozen  steht  das  Walther 
von  der  Vogel weide-Denkmal  aus  Sandstein.  Er  hat 
die  Stellung  des  Wolfram  von  Eschenbach,  bevor  er 
das  Lied  singt  an  die  selbstlos  Geliebte.  Das  ist  sehr 
gut.  Denn  auch  Vogelweide  war  so  Einer.  Er  besaß 
die  Kraft,  zu  singen  und  zu  weinen!  Nun  setzten  sich 
gerade  auf  seine  Kappe  zwei  Tauben,  und  pflogen 
emsig  der  Liebe!  Vogelweide  hielt  ganz  still  dabei, 
in  seine  Träumereien  versunken  von  Liebesleid, 
gönnte  den  Tauben  ihr  billiges,  leicht  erreichbares 
Vergnügen. 


i6 


GARTENGEDANKEN 

Ich  habe  nichts  hinzugelernt  durch  das  ausge- 
zeichnete Buch  „Gartengestaltung  der  Neuzeit",  und 
dennoch  habe  ich  das  Höchste  profitiert  —  die  Festi- 
gung meiner  Intuitionen!  Gärten  wirkten  seit  jeher 
auf  mich  wie  die  Natur  selbst;  so  eine  eingefangene 
und  dennoch  freigelassene  Natur,  ein  Extrakt  der- 
selben! Unser  Wiener  Rathauspark  ist  mir  ein  Muster, 
nur  fehlt  ihm  die  romantische  Verwendung  von  Wasser 
in  Form  von  unregelmäßigen  Bassins  und  Wiesen- 
bächlein  samt  Wasser-  und  Sumpfpflanzen!  Ich 
schrieb  schon  vor  15  Jahren  eine  Skizze :  „Der  Farben- 
garten". Zum  Beispiel  Graufichte,  Picea  pungens 
glauca,  graue  Bodenbedeckungspflanzen,  grauer 
Steinbrunnen  und  Rosen,  Rosen,  Rosen.  Irgendwo 
an  einem  Baumast  ein  silberner  großer  Käfig  mit 
einem  grauen  Papagei,  Lori!  Zwei-Farben-Gärten! 
Nun  einige  Anregungen:  weite  Rasenflächen  sind  still- 
aristokratisch, werden  aber  durch  alte,  knorrige,  spär- 
lich unregelmäßig  hingesetzte  Obstbäume  sofort  be- 
wegt-romantisch!  Es  dürfte  nie  heißen:  ein  Garten, 
sondern  immer  nur:  sein  Garten.  Goethe  hat  einen 
andern  Garten  als  Victor  Hugo. 

Wasserpflanzen  und  Steinpflanzen  erfordern  Bas- 
sins und  Mauern.  Diese  können  aber  nicht  diskret 
bescheiden  genug  sein.  Der  Kurpark  in  Baden  bei 
Wien  entspringt  gleichsam  einer  dunklen,  echten 
Waldquelle,  die  die  Wiesenabhänge  herabstürzt,  sich 
zerteilend  und  winzige  Tümpel  bildend.  Hier  ist  die 
Natur  am  allerdiskretesten  organisiert!  Ein  enragier- 
ter  Feind  jedoch  bin  ich  seit  jeher  der  Teppichbeete, 

17 


die  mir  wie  als  Smymateppiche  mißbrauchte  Blumen- 
pracht erscheinen.  Man  überlasse  diese  stilisierten 
Farbensymphonien  den  Webern  und  Knüpf ern.  Ich 
bin  gegen  die  Riesenlineale,  Riesenzirkel,  gespannten 
Stricke  der  Gartenkunst!  Rhabarber  erscheint  im 
Gemüsegarten  als  Nutzpflanze,  an  Teichen  jedoch  als 
Wildstaude,  pittoresk.  Jeder  Platz  eine  andere  Welt! 

Waldrebe,  Klematis,  ist,  an  alten  Bäumen,  unsre 
,, Liane  des  Urwalds".  Der  Boden  ist  so  reich,  daß 
er  auch  noch  die  Schmarotzer  in  Üppigkeit  erhalten 
kann,  Immergrün  als  Bodenbedeckung  ist  ein  natür- 
licher Rasen.  Rasen  braucht  doch  Schneiden,  Spritzen, 
Walzen  und  Düngen.  Rasen  will  ,, gepflegt,  gehegt" 
werden.  Immergrün  ist  einfach  immer  grün.  Es  läßt 
den  Wurzeln  aller  andern  Pflanzen  das  Regenwasser, 
das  Gießwasser,  das  Tauwasser,  das  Schneewasser, 
während  der  Rasen  sich  vollsauft  und  andre  ver- 
dursten läßt !  Selbst  im  Winter  gibt  Sedum  spurium 
noch  einen  lebendigen  brävmüchgrünen  Bodenüber- 
zug, während  unser  Rasen  dann  nur  ,, Winterlieder 
zum  Cello"  in  der  Seele  hervorbringt.  Sedum  spurium 
wirkt  körperlicher,  plastischer,  naturgemäßer,  dich- 
ter, verworrener  als  Rasen,  der  mir  stets  den  Eindruck 
von  geschnittenem  Samt  und  Plüsch  hinterläßt. 

Ich  bin  sehr  für  Trockenmauerwerk  mit  schmiede- 
eisernen Geländern  und  dicht  bepflanzt  mit  Kapu- 
zinerkresse. Wie  wenn  die  überstarke  Natur  auch  da 
noch  Stein  und  Eisen  schmücken  möchte  mit  Grün 
und  Dunkelgelb.  Zur  Schlingpflanze  gehört  ihre 
Stütze.  Man  soll  sie  sehen,  sie  ist  ein  naturgemäßer 
Schmuck.  Ihr  Holzgitterwerk  kann  daher  sogar  aus 
Edelholz  sein,  oder  in  diskreten  Ölfarben,  Ocker,  Ruß, 

i8 


steingrau.  Ich  weiß  nicht,  weshalb  man  nicht  an 
niederen  Ästen  von  exotischen  Bäumen,  Tulpen- 
baum, Trompetenbaum,  herrliche  Käfige  mit  exoti- 
schen Vögeln  aufhängt ,  so  als  Urwaldstaffage  ? ! 
Brombeere,  Himbeere,  Kletterrose  sind  mir  ein  sym- 
pathisches Dickicht,  so  Domröschen wald,  undurch- 
dringlich einsam.  Weshalb  sind  Villen  nicht  dicht 
bedeckt  mit  Bauerngärtengeranke  ? !  Ein  Überfluß 
der  Reichen  und  der  Armen. 

Steinplattcnwege  im  Garten,  in  deren  Fugen 
Blumen  sprießen,  sind  romantisch.  Das  Haus  ströme 
gleichsam  in  den  Garten  aus,  erweitere  sich,  erhöhe 
sich  zum  Garten,  verliere  seine  Bedachungen,  an 
deren  Stelle  der  blaue  Himmel,  die  graue  Wolke 
tritt.  Ich  sah  an  einem  Lindenpark  ein  dickes  rotes 
Backsteinportal  mit  eichener  Holztür.  Da  können 
keine  Talmimenschen  wohnen,  sondern  nur  gediegene. 
Grellrote  Holzpforte  zwischen  Granitmauern.  Gelbe 
Eschenholzpforte  zwischen  weiß-schwarzen  Beton- 
mauem. 

Weiße  Rankrosen  geben  Märchenstimmung.  Gar- 
tenlaube am  Wasser,  Nachmittagstraumplatz.  Bu- 
chenjungwald, wunderbar  im  Vorfrühling  und  im 
Spätherbst.  Ein  Teppich  von  raschelnden  braunen 
Blättern  darunter.  ,, Warte  nur,  balde,  ruhest  du 
auch!" 

Weshalb  bepflanzt  man  die  Bergwiesen  in  Berg- 
gärten (Semmering)  nicht  dicht  mit  Wacholder, 
Rhododendron,  Zirbelkiefer,  das,  was  Rax  und 
Schneeberg  von  selbst  leisten  in  ihrem  künstlerischen 
Naturgeschmack?!  Stauden  vor  Gebüsch,  ein  ideales 
Ausklingen!    Birken,   Schlehen,   Eriken,   und  schon 

19 


ahnst  du  den  Sandboden  der  „Mark".  Mit  gewissen 
Pflanzen  kannst  du  ferne  Gegenden  herzaubern! 
Meine  LiebHngsbäume :  Lärche,  Graufichte,  Knieholz, 
Blutbirke,  Rotbuche,  Weide.  Wasser,  Wasser,  fließend 
oder  stehend,  du  bist  der  Dichter  in  dieser  Realität: 
Landschaft ! 


20 


FRÜHSTÜCK  IN  KLAGENFURT 

6  Uhr.  Im  Cafegarten  stehen  sechs  uralte  Kasta- 
nienbäiime.  Über  einer  riesigen  ganz  flachen  Brunnen- 
schale  aus  (iranit  steht  ein  splitternacktes  15-jähriges 
Mädchen  aus  Bronze,  die  ihre  Haare  trocknet.  Die 
Haare  entlang,  die  mit  den  Händchen  zusammen- 
gedreht sind,  fließen  langsam  ununterbrochen  Wasser- 
tropfen in  das  Granitbassin.  Das  lieblichste  Antlitz 
erinnert  mich  an  sie.  Ich  starre  ihr  Gesicht  an,  und 
dann,  plötzlich,  eine  andere  Stelle  ihres  herrlichen 
Leibes. 

Siehe,  ihr  Gesicht  ist  sie,  sie,  von  Allen  unter- 
schieden. Das  Andere  aber  sind  Alle,  Alle,  Alle. 
Ich  wiederhole  diesen  Blick -Wechsel,  und  erkenne 
die  Tragödie  unseres  Lebens! 


21 


DIE  TÄNZERIN 

Das  Kind,  allein  in  der  Garderobe  der  Tänzerin, 
ordnet  liebevollst  alles . 

Sie  setzt  sich  dann  in  eine  Ecke  auf  ein  niedriges 
Stockerl,  kauernd  in  sich  versunken. 

Die  Tänzerin  kommt,  erhitzt,  erregt  vom  Tanzen. 

Sie  setzt  sich  an  den  Toilettetisch. 

Sie  wendet  sich  um,  erblickt  das  kauernde  Kind. 

,, Immer,  Marie,  kauerst  du  da  in  der  Ecke  in 
meiner  Garderobe,  stundenlang.  Wird  dir  denn  das 
nicht  langweilig  ? !  ? " 

„Nie,  Fräulein!  Nur  Menschen,  die  ich  nicht  lieb 
habe,  langweilen  mich.  Menschen,  die  ich  lieb  habe, 
langweilen  mich  nie !  Wodurch  soUten  sie  es  ? !  ? 
Alles  an  ihnen  ist  mir  wert  und  teuer.  Ich  könnte 
ihnen  zuschauen  von  früh  bis  abends." 

Die  Garderobiere  blickt  herein: 

,,Was  ist  das,  Mizerl,  schon  wieder  da?!  Das 
Fräulein  wird  sich  bedanken.  Entschuldigen  Sie, 
Fräulein,  der  Fratz  ist  gar  so  romantisch  veranlagt. 
Der  Vater  sagt  immer:  ,Wie  du  zu  uns  ehrsamen 
Bürgersleuten  kommst  —  —  — .'  Gestern  hat  sie 
beim  Nachtmahl  gesagt:   , Jetzt  verbrenn'   ich  alle 

meine  dummen  Märchenbücher ich  habe  eine 

lebendige  Fee  gefunden!*  So  ein  Fratz,  was?!  Man 
soUt's  nicht  für  möglich  halten.  Aber  bitt'  Sie,  lo 
Jahre!?  Sie  wird's  schon  billiger  geben  als  mit  den 
,lebendigen'Feen'!  Die  Männer  tun' uns  beizeiten  die 
Märchen  austreiben ."  Ab. 

Das  Kind :  ,  .Meine  Mutter  blamiert  mich  vor  Ihnen. 
Sie  versteht  gar  nichts  von  meiner  Andacht.  Ich  habe 

22 


eine  Andacht  für  Sie,  obwohl  Sie  nur  eine  Tänzerin 
sind!" 

Es  klopft. 

„Blumen  abzugeben  von  einem  Herrn  von  Wil- 
ligsdorf ." 

Türe  zu. 

Es  klopft. 

„Ah.  Max ." 

„Ich  bin  entzückter  von  dir  als  je.  Du  hast  dich, 
gestatte  mir  die  konventionelle  Phrase,  selbst  über- 
troffen. Aber  das  empfinde  ich!  Gott,  daß  diese 
kalten  Kerls  das  mitgenießen  dürfen !  ?  Aber  Gott 
sei  Dank,  sie  könnens  nicht!  Nur  ich  kann  es,  nur 
ich  kann  es,  nur,  nur  ich !  Wenn  du  mir  das  wenigstens 
glauben  könntest,  H61^n,  nur  das  wenigstens.  Es  wäre 
fast  alles!  Mehr  brauchte  man  ja  eigentlich  gar 
nicht!" 

,,Ich  glaube  es  dir,  Max,  sonst  könntest  du  es 
unbedingt  nicht  so  leidenschaftlich  überhaupt  vor- 
bringen!" 

„Diese  schönen  Blumen!  Irgend  jemand  versucht 
es  mit  50  Kronen  mein  Lebensglück  zu  zerstören!" 

„Jawohl,  Max,  alle  versuchen  das,  andere  wollen 
es  sogar  noch  billiger  unternehmen  und  geschickter. 
Aber  alles  hängt  bei  uns  Frauen  von  unserem  guten 
Willen  ab;  und  den  habe  ich  nur  für  dich!  Es  ist 
vielleicht  ein  Zufall,  aber  es  ist  so,  Max!" 

Er  führt  ihre  Hand  tief  gerührt  zum  Munde.  Das 
Kind  steht  auf,  küßt  ihm  ehrerbietigst  die  Hand. 

„Wer  ist  dieses  Kind?!?" 

,,Es  ist  das  Töchterchen  unserer  Garderobiere! 
Sie  kauert  immer  in  der  Ecke  meiner  Garderobe,  hält 

23 


alle  meine  Sachen  in  bester  peinlichster  Ordnung 
t< 

,,Hast  du  die  Tänzerin  auch  so  lieb  wie  ich ." 

„Das  kann  ich  nicht  wissen ." 

„Möchtest  du  ihr  alles,  alles  verzeihen,  sogar  wenn 
sie  dir  ganz  ohne  Grund  eine  schreckliche  Ohrfeige 
gäbe?!?" 

,,Ja,  ich  möchte  es  ihr  ganz  gewiß  verzeihen, 
wegen  ihres  Tanzens,  das  ich  gesehen  habe.  Ich 
möchte  mir  nur  denken :  Weshalb  tust  du  das  einem 
Menschen  an,  der  dich  so  lieb  hat  ? !  Wenn  du  eine 
Ohrfeige  austeilen  willst,  gib  sie  doch  lieber  einem, 
dem  du  gleichgiltig  bist!   Der  spürt  es  doch  weniger 

schmerzlich ." 

,,Ich  glaube,  du  bist  eine  gefährlichere  Konkur- 
rentin für  mich  als  die  Herren,  die  Blumen  schicken 

(C 

Ab. 

Es  klopft. 

Der  Theatermeister. 

,,Herr  Theatermeister,  Sie  haben  wieder  zu  spät 
hell  gemacht,  wenn  die  Sonne  bei  meinem  Tanze 
endlich  sieghaft  durchdringen  sollte.  Es  ist  schreck- 
lich.   Ich  glaube,  Sie  machen  es  absichtlich ." 

„Fräulein,  so  etwas  lasse  ich  mir  von  niemandem 
sagen.  Das  ist  eine  Gemeinheit,  Sie  verzeihen 
schon ." 

Die  Tänzerin  legt  ihren  Kopf  auf  den  Toilettetisch, 
beginnt  bitterlich  zu  weinen.  Das  Kind  erhebt  sich 
langsam,  macht  einen  Schritt  gegen  den  Theater- 
meister, streckt  sich,  hebt  den  Arm,  sagt:  , .Hinaus, 
Sie  roher  Mensch!" 

24 


Der  Theatermeister  geht  langsam  ab. 

Das  Kind  kauert  wieder  in  seiner  Ecke.  Die 
Tänzerin  weint  wie  ein  Kind.  Dann  trocknet  sie  ihre 
Tränen. 

Sie  wendet  sich  nach  dem  Kinde  um. 

„Niemand   hat   mich   so   Heb   wie   du,   niemand 

ii 

Das  Kind  erhebt  sich,  steht  kerzengerade:  „Ich 
möchte  alle  töten,  die  Ihnen  etwas  Böses  antun, 
Fräulein !" 

Ein  Diener  bringt  eine  Karte. 

„Bitte ." 

Ein  älterer  Herr  tritt  ein. 

,,Mein  Sohn  hat  sich  gestern  erschossen,  Ihret- 
wegen —  —  — .  Konnten  Sie  ihm  wirklich  nicht 
helfen,  daß  er  diese  seelische  Krankheit  besiege?!?" 

,,Nein,  ich  konnte  es  nicht,  obzwar  ich  ihm  dezi- 
diert  sagte,  daß  er  mir  völlig  unsympathisch  sei!" 

,, Vielleicht  hätten  Sie  es  ihm  eben  nicht  so  dezi- 
diert  sagen  sollen ." 

,, Pardon,  mein  Herr,  ich  mußte  es!  Ich  bin  eine 
arme  Tänzerin,  ausgesetzt  ununterbrochen  allen  Ge- 
fahren, die  es  überhaupt  für  eine  Frau  gibt!  Über- 
lassen Sie  mir  das  heilige  Recht,  gegen  Eindringlinge, 
gegen  ,,Buschklepper  der  Seele", ,, Rowdys  der  Seele", 
mich  zu  wehren!" 

,,Ich  bitte  Sie  um  Verzeihung,  Fräulein.    Ich  bin 

aber  der  unglückselige  Vater ." 

Ab. 

Das  Kind  stürzt  zu  den  Füßen  der  Tänzerin  hin: 
,,Was  haben  Sie  da  angestellt,  Fräulein?!?" 

,,Kind,  das  verstehst  du  nicht,  das  verstehst  du 

25 


nicht .  Das  Leben  stellt  so  viel  Schreckliches 

mit  uns  an,  und  wir,  wir  können  es  nicht  hindern  — 
(( 

Das  Kind  kauert  weinend  in  seiner  Ecke. 

Der  Theatermeister  erscheint: 

„Fräulein,   es   kommt   gleich    Ihr   Tanz   in   der 
Krinoline ." 

,,So,  ich  danke  Ihnen.    Bringen  Sie  aber  die  Be- 
leuchtung richtig  diesmal." 

„Gewiß  Fräulein ." 

,,Und  du,  Kind,  warte  auf  mich  hier.    Ich  kann 

dich  nicht  mehr  entbehren ." 

Vorhang. 


26 


ZWEI  SKIZZEN 

Das  kleine  Leben 

Ich  sah  Arbeiter  an  einer  Telegraphenstange  ar- 
beiten, die  im  Hochwald  der  Nachtsturm  zerbrochen 
hatte,  von  7  Uhr  morgens  bis  6  Uhr  abends.  Es  frap- 
pierte mich,  wie  sorgenlos  sie  waren,  keine  Spur  eines 
Gedankens  darüber,  ob  es  denn  dafürstehe,  auf  die  Welt 
gekommen  zu  sein,  um  abgebrochene  Telegraphen- 
stangen im  Hochwald,  der  dem  Fürsten  gehört, 
wieder  praktikabel  zu  machen.  Im  Gegenteil,  sie 
schienen  es  für  das  Wichtigste  von  der  Welt  zu  halten, 
daß  die  Telegraphenstange  sobald  als  nur  irgend  mög- 
lich wieder  hergestellt  werde.  Es  waren  Telegraphen- 
stangenärzte. Um  sie  herum  waren  Gimpel  und  Eich- 
kätzchen auf  Altfichten,  Regen  kam,  Nebel  und  wie- 
der Sonne ;  aber  immer  war  alles  konzentriert  auf  die 
Errichtung  der  Telegraphenstange.  Ihr  gehörte  ihre 
ganze  Sorge,  sie  war  ein  Teil  des  Weltgetriebes.  Es 
gab  Genies  unter  diesen  Arbeitern,  die  alles  mit  einem 
Schlag  erfaßten,  was  zu  tun  war;  dann  waren  Be- 
dächtige, Vorsichtige;  und  dann  waren  Tagarbeiter 
nach  vorgeschriebener  Pflicht.  Die  ganze  Menschheit 
also  war  eigentlich  um  diese  Telegraphenstange  im 
fürstlichen  Hochwald  versammelt.  Ich  ging  vorüber 
und  verteilte  Trabukos,  a  la  Kaiser  Josef,  nur  billiger. 
Weshalb  nicht  ? !  Das  Prager  Tagblatt  hatte  mir  doch 
gerade  für  Nachdruckhonorare  9  Kr.  geschickt.  Nach' 
drucken  ist  doch  schon  Ehre  genug.  Das  Geld  setzte 
ich  teilweise  in  Mäzenatentum  und  in  Menschheits- 
beglückung um.  Die  Arbeiter  waren  ganz  verblüfft. 
Einer  sagte:   ,,Auf  der  Liechtensteinstraße  hat  der 

27 


Sturm  einen  halben  Meter  dicke  Bäume  abgeschla- 
gen!" Diese  Mitteilung  war  eine  Art  von  Revanche 
für  meine  Liebens\vürdigkeit.  ,,Ist  es  möglich?!" 
sagte  ich  freundlich  erstaunt,  und  ging  befriedigt  von 
dannen. 

Liebesgedicht 

Niemand  beachtete  dich,  edle,  verschwiegene 
Goldrote,  in  dienender  Stellung 

Ich  zog  dich  hervor  aus  deinem  Versteck  und  seg- 
nete dich. 

Da  wurden  die  anderen  aufmerksam,  schickten 
Blumen  und  Briefe  .... 

Da  zog  ich  mich  zurück. 
„Sind  Sie  eifersüchtig?!"  sagte  sie. 

,,Nein,  aber  ich  hasse  die  elende  Dummheit 
der  Männer,  die  erst  einen  alten  kranken  glatzköpfi- 
gen Bettler  brauchen  ....  Wer,  wer  sagte  mir,  daß 
man  um  Sie  sich  grämen  dürfe  .  .  .?!?" 

,,Aber  um  Gotteswillen,  irgend  jemand  muß  einen 
doch  entdecken,  wozu  sind  denn  die  Dichter  da?!  ?" 


28 


ERZIEHUNG 

Ich  habe  einen  scharfen  Bhck  für  Mütter,  die  die 
„PersönUchkeit"  ihres  gehebten  Kindchens  achten 
und  berücksichtigen .  Es  sind  das  sogenannte  Künst- 
lernaturen des  Lebens  selbst!  Siebetrachten  ihr 
Kindchen  als  ein  von  ihnen  geschaffenes  „lebendiges 
Kunstwerk",  apart  und  vor  allem  den  meisten  un- 
verständlich, die  mit  dem  Ausspruche:  ,,ein  ganz 
nettes  Kind,  nichts  weiter",  ihre  künstlerische  Un- 
fähigkeit klar  erweisen.  Merkwürdigerweise  funk- 
tionieren so  brutal-verallgemeinemd  fast  alle  Väter, 
ciic  immer  nur  den  Herrn  Hofrat  wittern,  der  einst, 
in  der  Ferne,  erscheinen  soll  und  zu  dem  Kindchen 
sagen  soll:  ,,Du  bist  mein  alles!"  Daß  das  gar  kein 
Kompliment  sein  wird  für  das  Töchterchen,  spüren 
sie  nicht!  Du  bist  mein  alles,  ja,  aber  wessen  alles, 
darauf  kommt  es  an!  Viele  Mütter  hingegen  haben 
eine  künstlerische  melancholische  Zärtlichkeit.  Sie 
teilen  das  Leben  ihres  Kindchens  in  ,, interessante, 
spannende,  merkwürdige  Lebenskapitel"  ein,  sind 
selbst  äußerst  gespannt,  wie  der  Roman  enden  werde, 
während  die  Väter  ein  biblisches  Dogma  aufstellen, 
über  das  das  Leben  jedoch  nur  ein  flüchtiges  Lächeln 
hat.  Mütter  wissen,  wie  ihr  Kindchen  geht,  steht, 
sitzt,  wann  es  verlegen  ist  oder  düster,  Väter  wissen 
höchstens,  ob  es  ,, Stuhl"  gehabt  habe,  und  das  wissen 
sie  nicht  einmal.  Ein  schreckliches  Wort  leitet  sie 
durchs  ganze  Leben  ihres  Kindes,  das  Wort  ,,gedie- 
gen".  Alles  soll ,, gediegen"  sein,  die  Lehrer,  die  Gou- 
vernanten, der  ,,  Zukunft  ige",  der  ,, Charakter".  Das 
ganze  kommt   mir  vor,   wie  das  Wort   ,, gediegenes 

29 


Gold",  das  auszusprechen  schon  eine  Art  Berau- 
schungsmittel ist!  Ich  glaube  nicht,  daß  Eleonora 
Düse,  Sarah  Bernhardt,  Yvette  Guilbert,  Fanny  Els- 
1er,  Adelina  Patti,  Bird  Millman,  Barbarina  Cam- 
panini sehr  ,, gediegen"  waren,  jedesfalls  war  es  eine 
höchst  nebensächliche  Eigenschaft  dieser  Damen, 
deren  Väter  jedesfalls  auch  nur  sich  ,, Gediegenheit" 
erwünscht  hatten  für  ihre  Töchterchen!  Mütter 
„beobachten"  das  Leben  ihrer  Kinder,  Väter 
schreiben  es  ihnen  vor!  Sie  sind  selbst  durch 
Beruf,  Sorge,  Eitelkeit,  Ehrgeiz,  Konkurrenz,  Rück- 
sichten Geknechtete  des  Daseins,  erwünschen  das- 
selbe daher  ihren  Sprößlingen.  Künstlerisch  empfind- 
same Mütter  hingegen  trauern  um  ihr  eigenes  Le- 
bensgefängnis, möchten  ihren  geliebten  Töchter- 
chen den  weißen  Flug  gönnen  ins  ,, romantische 
Land"! 


30 


POLIERE 

Ein  Märtyrer  unserer  , .Neubauten"  ist  der  Polier. 
So  ein  stiller  kleiner  Feldherr,  der  alles  Wichtigste 
überwacht,  und  den  niemand,  niemand  kennt  und 
anerkennt.  Wir  haben  da  den  Bauherrn,  den  leiten- 
den Architekten,  den  verantwortlichen  Baumeister 
mit  seinem  Stab,  aber  den  Polier  kennt  niemand. 
Und  doch,  hier  muß  unbedingt  ,,und  doch"  kommen, 
und  doch  ist  er  ebenso  verantwortlich  wie  die,  deren 
Namen  man,  wenigstens  in  Fachkreisen,  mit  Ehr- 
furcht ausspricht,  oder  mit  Geringschätzung,  was  das- 
selbe ist.  Die  modernen  Betonbauten  bedürfen  in 
jeglicher  Minute  den  Sperber  blick  der  Über- 
wachung! Freilich  ist  die  gesetzmäßig  verlangte 
zwanzigfache  Tragfähigkeit  eine  Garantie.  Aber  ge- 
gen Schlamperei  gibt  es,  wie  eine  jede  gute  Hausfrau 
aus  Erfahrung  weiß,  keine  Garantie.  Der  Poher  muß 
zur  Stelle  sein,  bei  Tag  und  Nacht,  und,  obzwar  es 
naturgemäß  unmöglich  zu  sein  scheint,  noch  dazu  an 
mehreren  Orten  zu  gleicher  Zeit.  Ja,  sonst  ist  er  kein 
brauchbarer  Polier!  Auch  pflegt  man  ihm  gern  den 
Vorwurf  zu  machen,  daß  die  Arbeit  nicht  vom  Fleck 
rücke,  und  fragt  ihn  teilnahmsvoll,  ob  seine  Arbeiter 
einen  gesunden  Schlaf  hätten  und  die  Mittagspausen 
auch  hübsch  einhielten,  da  das  sehr  hygienisch  sei. 
Dem  Polier  gegenüber  hat  man  stets  den  Ton  eines 
vorwurfsvollen  Erstaunens,  man  greift  sich  quasi  an 
den  Kopf,  und  kann  sich  nicht  hineinfinden,  daß  die 
Sache  so  langsam  vorwärts  gehe.  ,,Ein  jeder  Tag 
kostet  uns  Tausende",  sagt  man,  während  der  Polier 
nicht  beweisen  darf,  daß  es  schneller  nicht  gehe  bei 

31 


absolut  sicherer  Arbeit,  und  schuldbeladen  etwas 
stammelt,  was  niemanden  befriedigt,  da  man  nicht 
zugehört  hat.  Die  großen  Herren  machen  Fehler, 
die  man  ihnen  verzeiht,  weil  man  sich  nicht  vor  sie 
hinpflanzen  kann  und  sagen:  ,,Aber  Herr,  Herr,  was 
ist  Ihnen  denn  da  wieder  passiert?!"  Die  kleinen 
Poliere  machen  aber  nie  Fehler,  das  gehört  ja  eben 
zu  ihrem  Beruf,  kei ne  zu  machen.  Trotzdem  ist  man 
oft  über  sie  ,, vorwurfsvoll  erstaunt",  und  läßt  sie 
indigniert  mitten  im  Gespräche  stehen. 


32 


FORELLENFANG 

75  Kilometer  lang  ist  das  gesamte  Gebirgswasser 
in  Naßwald.  Es  ist  flaschengrün,  weiß  und  graugrün; 
es  steht  mäuschenstill  in  winzigen  Felsbuchten,  es 
schäumt  bösartig  weiß,  es  zieht  gemächlich  graugrün 
über  flachen  Kiesboden.  Hinter  jedem  Stein  eine 
Forelle!  Kein  Stein  ohne  Forelle  dahinter,  es  wäre 
denn,  daß  sie  gerade  weggeangelt  wurde.  Hinter 
jedem  Stein  also  lauert  der  heimtückische  Insekten- 
mörder. Plötzlich  wird  er  von  der  Angelrute  heraus - 
geschnellt  im  Bogen.  Man  sieht  etwas  herrliches  Sil- 
bernes und  schon  liegt  es  auf  der  Wiese.  Man  schlägt 
es  an  dem  Fußabsatz  ab,  wenn  es  ein  Regenwurm- 
fang war,  setzt  es  in  den  Botticli,  wenn  es  ein  Kunst- 
fliegenfang war.  Es  gibt  berühmte  Kunstfliegen- 
angler. Ihre  Kunst  besteht  darin,  die  Kunstfliege  so 
auf  das  Wasser  hinzuwerfen,  daß  es  wie  eine  echte 
aussieht.  Das  ist  ja  im  Leben  überhaupt  oft  so.  So 
wird  man  berühmt.    Man  wirft  den  Köder  aus,  und 

die  Forelle  nimmt  es  für  eine  echte,  und  man 

hat  sie!  Forellenangeln  und  Naturfreund  sein,  ist 
eines!  Denn  man  muß  wandern,  wandern  von  Stein 
zu  Stein.  Hinter  jedem  hockt  eben  eine.  Und  diese 
Wanderung  befriedigt  nur,  wenn  man  die  umgebende 
Natur  herzlich  lieb  hat.  Der  Hecht  verlangt  keine 
Naturfreude  vom  Angler.  Er  steht  irgendwo  und  man 
hat  zu  warten.  Man  wartet,  wartet,  bis  das  Ereignis  ein- 
tritt. Dann  beginnt  die  Geschicklichkeit.  Aber  mit 
der  Natur  hat  es  nichts  zu  tun.  Es  ist  nur  aufregend. 

Der  Forellenfänger  liebt  das  Gebirgswasser  leiden- 
schaftlich, er  vergißt  darüber  Weib  und  Kind,  oft 

3  33 


sogar  das  Essen.  Er  versenkt  sich  in  die  Details 
der  Umgebung,  ein  einziges  Zeichen  wirklichen 
Genießens!  Denn  ,,in  Bausch  und  Bogen",  ist  es 
brutal  und  wertlos!  Er  zieht  dahin,  von  Stein  zu 
Stein,  er  sieht  alles,  alles. '  Und  wenn  er  ermüdet  heim- 
kehrt mit  seiner  reichen  Beute,  glaubt  er  etwas  ge- 
leistet zu  haben.  Ja,  denn  er  hat  sich  sogar  einen  ur- 
gesunden tiefen  Schlaf  verschafft! 


34 


so  WURDE  ICH 

Ich  saß  im  34.  Jahre  meines  gottlosen  Lebens, 
Details  kann  eine  Tageszeitung  unmöglich  bringen, 
ich  saß  im  Cafe  Central,  Wien,  Herrengasse,  in  einem 
Räume  mit  gepreßten  englischen  Goldtapeten.  Vor 
mir  hatte  ich  das  ,, Extrablatt"  mit  der  Photographie 
eines  auf  dem  Wege  zur  Klavierstunde  für  immer  ent- 
schwundenen fünfzehnjährigen  Mädchens.  Sie  hieß 
Johanna  W.  Ich  schrieb  auf  Quartpapier  infolge- 
dessen, tieferschüttert,  meine  Skizze  , »Lokale  Chro- 
nik". Da  traten  Arthur  Schnitzler,  Hugo  von  Hof- 
mannsthal, Felix  Saiten,  Richard  Beer-Hofmann, 
Hermann  Bahr  ein.  Arthur  Schnitzler  sagte  zu  mir: 
,,Ich  habe  gar  nicht  gewußt,  daß  Sie  dichten!?  Sie 
schreiben  da  auf  Quartpapier,  vor  sich  ein  Porträt, 
das  ist  verdächtig!"  Und  er  nahm  meine  Skizze 
,, Lokale  Chronik"  an  sich.  Richard  Beer-Hofmann 
veranstaltete  nächsten  Sonntag  ein  ,, literarisches 
Souper"  und  las  zum  Dessert  diese  Skizze  vor.  Drei 
Tage  später  schrieb  mir  Hermann  Bahr:  ,,Habe  bei 
Herrn  Richard  Beer-Hofmann  Ihre  Skizze  vorlesen 
gehört  über  ein  verschwundenes  fünfzehnjähriges 
Mädchen.  Ersuche  Sie  daher  dringend  um  Bei- 
träge für  meine  neugegründete  Wochenschrift  ,Die 
Zeit!'"  Später  sandte  Karl  Kraus,  auch  der  Fackel- 
Kraus  genannt,  weil  er  in  die  verderbte  Welt  die 
Fackel  seines  genial-lustigen  Zornes  schleudert,  um 
sie  zu  verbrennen  oder  wenigstens  ,,im  Feuer  zu 
läutern",  an  meinen  jetzigen  Verleger  S.  Fischer, 
Berlin  W.,  Bülowstraße  90,  einen  Pack  meiner  „Skiz- 
zen", mit  der  Empfehlung,  ich  sei  ein  Original,  ein 


3* 


35 


Genie,  Einer,  der  anders  sei,  nebbich.  S.  Fischer 
druckte  mich,  und  so  wurde  ich!  Wenn  man  bedenkt, 
von  welchen  Zufälhgkeiten  das  Lebensschicksal  eines 
Menschen  abhängt!  Nicht?!  Hätte  ich  damals,  im 
Cafe  Central,  gerade  eine  Rechnung  geschrieben,  über 
die  seit  Monaten  nicht  bezahlten  Kaffees,  so  hätte 
Arthur  Schnitzler  sich  nicht  für  mich  erwärmt,  Beer- 
Hofmann  hätte  keine  literarische  Soiree  gegeben, 
Hermann  Bahr  hätte  mir  nicht  geschrieben.  Karl 
Kraus  freilich  hätte  meinen  Pack  Skizzen  unter  allen 
Umständen  an  S.  Fischer  abgeschickt,  denn  er  ist  ein 
, »Eigener",  ein  ,, Unbeeinflußbarer".  Alle  zusammen 
jedoch  haben  mich  ,, gemacht".  Und  was  bin  ich  ge- 
worden ? !   Ein  Schnorrer ! 


36 


LOCA  MINORUM  RESISTENTIUM 

Jeder  Organismus  hat  seine  sogenannte  „Achilles- 
ferse", das  heißt  eine  Stelle,  an  der  er  besonders  leicht 
und  empfindlich  verwundbar  ist!  Ich  zum  Beispiel 
habe  meine  Achillesferse  im  Gehirn,  aber  nicht,  wie 
meine  boshaften  und  heimtückischen  Freunde  (Feinde 
sind  viel  milder  gestimmt,  indem  sie  einen  in  Bausch 
und  Bogen  ein  für  allemal  verurteilen)  glauben  wer- 
den, in  meinen  Denkpartien,  sondern  in  jener  mysteriö- 
sen Partie  des  Gehirns,  wo  die  Eifersucht  ihren 
Höllensitz  aufgeschlagen  hat,  und  zwar  die  Eifersucht 
in  bezug  auf  Männer,  die  mehr  Haare,  mehr  Geld  und 
weniger  Intelligenz  als  ich  besitzen,  also  drei  den 
Frauen  besonders  wertvoU  erscheinende  Eigenschaf- 
ten! Sobald  ich  nur  ein  solches  Ungetüm  irgendwo 
erblicke,  das  mehr  Haare,  mehr  Geld  und  weniger 
Intelligenz  besitzt  als  ich,  bekomme  ich  sofort,  wie 
der  technische  Ausdruck  lautet,  einen  sogenannten 
,, roten  Kopf",  und  ich  denke  nur  mehr  an  Browning- 
pistolen, Arsenik  oder  die  Hundspeitsche,  natürlich 
für  den  anderen!  Ich  betrachte  meine  mich  bisher 
fanatisch  vergötternde  Geliebte  als  bereits  endgültig 
verloren,  und  treffe  Anstalten,  sie  grundlos  durch- 
zuprügeln! Das  sind  also  meine  ,,loca  minorum  resi- 
stentium",  das  heißt  zu  deutsch,  jene  Partien  unseres 
komplizierten  Organismus,  die  auf  Reizungen  beson- 
ders empfindlich  reagieren,  und  zwar  sofort!  Solche 
Partien  haben  viele  Menschen  Kellnern  gegenüber 
oder  Raseuren,  die  sie  schlecht  bedienen;  obzwar  in 
solchen  weniger  gefährlichen  Fällen  ein  erhöhtes 
Trinkgeld  meistens  gute  Dienste  leistet. 

37 


Die  ,,loca  minorum  resistentium"  haben  in  neue- 
ster Zeit  einen  besonderen  Wert  gewonnen  für  die 
Herren  Ärzte;  denn  jede  Partie  des  Körpers,  über  die 
ein  Patient  sich  heutzutage  beklagt,  wird  vom  Arzt 
sogleich  ernst  und  verständnisvoll  als:  ,,Aha,  das  sind 

Ihre  loca  minorum  resistentium,  mein  Lieber ! 

bezeichnet,  worauf  der  Patient  sich,  zwar  nicht  ge- 
heilt, aber  um  ein  Bedeutendes,  vor  allem  um  das 
ärztliche  Honorar  erleichtert,  entfernt.  Viele  Damen 
haben  solche  loca  minorum  resistentium  in  ihrem 
Organismus,  im  Augenblick,  wo  sie  an  einer  Dame 
einen  kostbarem  Pelz  bemerken,  als  sie  selbst  besitzen. 
Aber  hier  fange  ich  bereits  an  banal  zu  werden,  und 
deshalb  schließe  ich  hiermit  rasch  diese  immerhin 
interessante  Plauderei. 


3« 


DOLOMITEN 

Ich  hatte  mein  ganzes  Leben  lang  von  den  Dolo- 
miten gehört,  einem  „Märchen  der  Natur".  Nun  kam 
ich,  per  Auto,  halb  8  Uhr  abends,  ii.  August,  in 
Toblach  an.  Eine  riesige  ungepflegte,  ja  verwahrloste 
Bergwiese,  die  ein  feenhafter  Berggarten  leicht  hätte 
sein  können.  Ich  ging  ein  paar  Schritte  die  Fahr- 
straße entlang,  die  ins  Gebirge,  Monte  Cristallo, 
führt.  Ich  sah  in  die  weiße  Waldstraße  hinein,  und  war 
ganz  ergriffen.  Jahrelang  im  ,,Cafe  Central",  Ecke 
Herrengasse — Strauchgasse,  und  nun  am  Eingang  in 
die  ,, Dolomiten"!  Ich  sah  Wälder  im  Abendschatten 
und  in  der  Feme  einen  leuchtenden  riesigen  Felsen. 
Ich  kehrte  zurück  und  dachte  mir  die  riesige  schreck- 
lich ungepflegte  Bergwiese  vor  dem  Riesenhotel,  be- 
wachsen mit  Zirbelkiefer,  Rhododendron,  Speik,  so 
ein  botanischer  Berggarten,  mit  Murmeltieren  und 
Schneehasen.  Aber  Toblach  begnügt  sich,  ein  , .Ein- 
gang" zu  sein,  und  selbst  die  Geschäftsläden  erinnern 
an  ,,Praterbuden".  Nur  irgendwo  sah  ich  in  einer 
Ansichtskartenbude  eine  14jährige  Verkäuferin.  Ich 
blickte  sie  an:  „Du,  du  allein  paßt  in  diesen  Dolo- 
miten-Märchen-Eingang ! "  Da  ich  den  schönen  grauen 
Gems- Kaiser-Lodenhut  auf  hatte  und  sehr  gebräunt 
war,  blickte  sie  mich  freudig-erstaunt  an.  Ich  wollte 
etwas  sagen,  das  heißt,  ich  wollte  eben  gar  nichts 
sagen,  aber  als  die  Ansichtskartengeschäfte  abge- 
wickelt waren,  blickte  ich  sie  noch  immer  gerührt  an. 
Sie  sagte  auch  nichts,  aber  sie  spürte  ihre  Wirkung 
auf  mich.  Es  war  nicht  sehr  lange,  und  doch  vielleicht 
oder  wahrscheinlich  eine  besondere  Welt,  die  nie  nie 

39 


mehr  wiedererstehen  wird.  Es  ging  nicht  an,  sie 
länger  anzublicken.  Und  infolgedessen  ging  ich.  Ich 
lüftete  nicht  den  Hut,  damit  sie  nicht  sehe,  daß  ich 
kahlköpfig  sei ;  denn  ich  mußte  auf  ihre  Träumereien 
Rücksicht  nehmen,  daß  ein  verhältnismäßig  apart 
aussehender  Herr  sie  beim  Ansichtskartenverkaufe 

liebevollst  angeblickt  hatte .   So  wie  wenn  er 

ihr  Glück  wünschte  zu  ihrem  künftigen  Schicksale 
und  sie  getreulich  segnete  mit  seinen  Augen.  Sie  hat 
gewiß  niemand  davon  erzählt,  was  gab'  es  auch  darüber 
zu  erzählen?!  Und  doch  blieb  es  in  ihr.  Und  doch 
wird  sie,  unmittelbar  vor  einem  ersten  Kuß  der 
Jugendsinne  fühlen:  „Nein!  Ich  sehe  nicht  auf 
Deinem  Antlitz,  Mann,  den  Zug  von  Rührung,  den  der 
fremde  Herr  mit  dem  grauen  Gems-Kaiser-Lodenhute 

damals  hatte ."   Am  nächsten  Morgen  ging 

es  nach  Cortina.  Rotgraue  Bergwelt,  sei  bedankt, 
gesegnet!  Es  türmt  sich  auf,  lichtgrau  und  rosig, 
es  wächst  ins  Himmelblau  hinein  und  überall  ist 
Friede . 


40 


MAMA 

Meine  Mama  wollte  ,,ein  großes  Haus"  führen,  um 
ihre  wunderschönen  Töchter  reich  zu  verheiraten. 
Das  nahm  ich  ihr  übel.  Denn,  wenn  es  gelingt,  ist  es 
wie  ein  Haupttreffer  auf  eine  in  der  Tabaktrafik  ge- 
kaufte Promesse.  Ich  bin  gegen  das  ,, Spiel"  im  Leben. 
Man  riskiert  zu  viel.  Das  ist  es.  Also,  wie  gesagt,  ich 
war  sehr  dagegen.  Aber  in  meiner  Kindheit  hatte  ich 
einen  vollkommen  krankhaften  Fanatismus  für  sie, 
und  meine  Liebe  zu  ihr  war  keine  ruhig-selbstver- 
ständliche eines  guten  anhänglichen  Kindes,  sondern 
zehrte  an  mir,  wie  wenn  ich  ein  unglücklich  Liebender 
wäre,  der  an  ,, inneren  Zärtlichkeitsgefühlen"  zu- 
grunde geht,  während  doch  Mama  mich  sehr,  sehr, 
sehr  lieb  hatte  und  meinen  ,, kindlichen  begeisterten 
Hlick"  zu  würdigen  verstand.  Oft  sagte  sie:  ,,Du 
dummer  Kerl,  was  willst  du  denn,  ich  hab'  dich  ja  so 
wie  so  riesig  gern  und  außerdem  bin  ich  mit  dir  sehr 
zufrieden,  der  Hofmeister,  die  Gouvernante,  der 
Violinlehrer  und  Mr.   Palotta,  alle,  alle  loben  und 

lieben  dich ."    Aber  meine  Zärtlichkeit  für 

Mama  zehrte  an  mir.  Vor  ihr  niederknien  und  den 
Saum  ihres  Kleides  mit  den  Lippen  berühren,  daran 
dachte  ich  nicht.  Ich  sah  sie  an  und  war  voll  über- 
triebener Zärtlichkeit,  als  ob  ich  noch  überhaupt  be- 
wußtlos in  ihrem  Schöße  läge,  von  ihren  Kräften 
innerlichst  behütet,  genährt,  gepflegt,  so  vorzeitig 
herausgestellt  in  eine  Welt,  in  die  ich  noch  nicht 
hineingehörte!  Mama!  Mama!  Als  ich  mit  zehn 
Jahren,  gerade  der  Primus  im  Gymnasium,  an  einer 
Fußbeinhautentzündung  schwer  erkrankte,  hatte  sie 

41 


ein  Jahr  lang  ihr  Bett  neben  dem  meinen  und  nahm 
nächtelang  meine  Seufzer  in  ihr  Herz  auf.  Nach- 
mittags sang  sie  im  Nebenzimmer  Schubertlieder. 
„Ihre  Stimme  klingt  etwas  ermüdet !"  sagte  der  liebe- 
volle junge  Gesangsmeister.  „Mein  Sohn  hat  heute 
Nacht  wieder  sehr  gestöhnt"  erwiderte  sie.  Eines 
Tages  sagte  Professor  Dittel:  „Es  muß  geschnitten 
werden,  der  Fuß  ist  ganz  in  Eiterung."  Da  saß  sie 
nachmittags  an  meinem  Bette  und  zupfte  aus  Lein- 
wandfetzen Charpiewolle.  „Was  machst  du  da, 
Mama?!"  —  ,Daß  die  Zeit  vergeht"  erwiderte  sie. 
Am  nächsten  Tage  sagte  Professor  Billroth:  ,,Ich 
pflege  in  einem  solchen  Falle  noch  nicht  zu  schneiden, 
es  wird  sich  aufsaugen!"  Da  kniete  meine  Mama  vor 
meinem  Bette  nieder,  aber  nur  für  einen  Augenblick. 
Dann  ging  sie  ins  Nebenzimmer  und  spielte  und  sang 
am  Klavier  die  ,, Forelle"  von  Schubert.  Der  Gesangs- 
meister sagte:  „Heute  klingt  Ihre  Stimme  frischer. 
Sie  dürften  gestern  eine  ruhigere  Nacht  gehabt 
haben!"  —  „Nein,"  sagte  sie,  ,,aber  ich  werde  sie 
heute  nacht  haben!" 


42 


MODERNE  ANNONCE 

Semmering,  looo  Meter  Höhe. 

Page  69:  „C'est  ä  Saint-Gervais  que  je  devais  faire 
ce  que  les  Allemands  appellent:  „Die  Nachkur",  et 
4  laquelle  ils  attachent  ,nonsansraison,  une  grande 
importance." 

Die  Nachkur  ist  wichtiger  als  die  Kur! 

Eine  meiner  Thesen,  auf  die  ich  mir  mehr  einbilde 
als  auf  alle  meine  Dichtungen  zusammen,  obzwar  alle 
Ärzte  sie  seit  lange,  die  These  nämlich,  kennen. 

Die  Kur  ist  der  melancholische  und  mühselige 
Versuch,  eine  gebrochene  Maschinerie  zu  reparieren. 
Höchstens  bringt  man  sie  da  mit  Müh'  und  Not  wie- 
der auf  gleich,  kleistert  sie  zusammen.  Aber  die 
Nachkur  ist  bereits  eine  freudige  künstlerische 
Angelegenheit :  man  ist  daran,  einer  wiederhergerich- 
teten Maschine  höchste  Energien,  Spannkraft,  Be- 
wegung, Elastizität,  Lebendigkeiten  zu  verleihen! 
Aus  einem  Invaliden  einen  neuen  feurigen  Kämpfer 
zu  machen! 

Die  Kur  ist  eine  ernste  Notwendigkeit,  die  Nach- 
kur ist  ein  heiteres  Fest!  Gerade  der  erst  kürz- 
lich gesundete  Körper  bedarf  bei  seinen  zarten  Ver- 
narbungen allerzärtlichster  Rücksicht.  Geld  und  Zeit 
für  die  N  ach  kur  sind  wichtiger  als  für  die  Kur,  Keine 
Kur  ohne  Nachkur!  Die  Nachkur  ist  erst  die  Kur! 
Semmering,  1000  Meter  Höhe. 


43 


SEMMERING 

Es  wurde  wieder  Winter,  November  1912.  Über- 
flüssig, die  Berglandschaft  zu  schildern.  Das  können 
Russen,  Schweden,  Dänen  viel,  viel  besser.  Sie  ken- 
nen das  Gepräge  jedes  Baumes,  und  wie  der  Schnee 
sich  ansetzt,  je  nachdem.  Sie  kennen  die  Eintönigkeit 
und  ihre  Poesien,  sie  kennen  die  Melodie  der  Stille, 
und  der  Krähen  Mißton  wird  ein  schaurig-melancho- 
lisches Leitmotiv:  Winter!  Ich  liebte  den  Sommer, 
weil  ich  gesund  war,  und  seinen  Symphonien  von 
Farben,  Düften  lauschen  konnte,  unbeirrt  durch 
etwas,  was  mich  drückt  und  niederzwingt.  Nun  ist 
es  Winter.  Ich  sehe  alles  nur  so,  wie  wenn  ein  gütiges 
Schicksal  den  Abschied  mir  nicht  schwer  machen 
wollte.  Eine  einzige  Begeisterung  ist  geblieben  und 
ringt  sich  durch,  wie  wenn  mein  Bestes  mir  erhalten 
bleiben  sollte.  Ich  sah  meine  kleine  Heilige  im  roten 
Wintersportkostüm.  Der  Wintertag  leuchtete  auf 
ihrem  geliebten  Antlitz.  Ich  sah  sie  rodeln,  ich  hörte 
ihr  geliebtes  jauchzendes  Gekicher,  sie  flog  davon, 
den  scharfen  Kurven  nach  im  weißen  Ficht enwalde. 
Ich  hatte  sie  gesehen!  Ich  ging  zurück  ins  Zimmer 
und  versank  in  düsteres  Sinnen  .  .  .  Und  es  ward 
Winter  iqi2! 


44 


WINTER  AUF  DEM  SEMMERING 

Ich   habe  zu   meinen   zahlreichen   unglückhchen 

Lieben  noch  eine  neue  hinzubekommen den 

Schnee!  Er  erfüllt  mich  mit  Enthusiasmus,  mit 
Melancholie.  Ich  will  ihn  zu  nichts  Praktischem  be- 
nützen, wie  Scheemgleiten,  Rodeln,  Bobfahren;  ich 
will  ihn  betrachten,  betrachten,  betrachten,  ihn  mit 
meinen  Augen  stundenlang  in  meine  Seele  hinein- 
trinken, mich  durch  ihn  und  vermittelst  seiner  aus 
der  dummen,  realen  W'elt  hinwegflüchten  in  das  so- 
genannte ,, weiße  und  enttäuschungslose  Zauber- 
reich"! Jeder  Baum,  jeder  Strauch  wird  durch  ihn 
zu  einer  selbständigen  Persönlichkeit,  während  im 
Sommer  ein  allgemeines  Grün  entsteht,  das  die  Per- 
sönlichkeiten der  Bäume  und  Sträucher  verwischt. 
Ich  liebe  den  Schnee  auf  den  Spitzen  der  hölzernen 
Gartenzäune,  auf  den  eisernen  Straßengeländern,  auf 
den  Rauchfängen,  kurz  überall  da  am  meisten,  wo 
er  für  die  Menschen  unbrauchbar  und  gleichgültig 
ist.  Ich  liebe  ihn,  wenn  die  Bäume  ihn  abschütteln 
wie  eine  unerträglich  gewordene  Last,  ich  liebe  ihn, 
wenn  der  graue  Sturm  ihn  mir  ins  Gesicht  nadelt  und 
staubt  und  spritzt.  Ich  liebe  ihn,  wenn  er  in  sonnigen 
Waldlachen  zerrinnt,  ich  liebe  ihn,  wenn  er  pulverig 
wird  vor  Kälte  wie  Streuzucker.  Er  befriedigt  mich 
nicht,  ich  will  ihn  nicht  benützen  zu  Zwecken  der 
süßen  Ermüdung  und  Erlösung,  ich  will  nicht  krei- 
schen und  jauchzen  durch  ihn,  ich  will  ihn  anstarren 
in  ewiger  Liebe,  in  Melancholie  und  Begeisterung.  Er 
ist  also  eine  neue  letzte  ,, unglückliche  Liebe"  meiner 
Seele ! 

45 


VOLLKOMMENHEIT 

Vollkommenheit  ist  ein  heutzutage  ganz  mißver- 
standenes Wort.  Man  sagt:  Gustav  Klimt,  der  voll- 
kommene moderne  Maler ;  Frau  Bahr-Mildenburg,  die 
vollkommene  Wagner-Darstellerin;  Oberbaurat  Otto 
Wagner,  der  vollkommene  Architekt ;  Peter  Altenberg, 
der  vollkommene  Skizzenschreiber !  Aber  vollkommen 
kann  ein  jeder  sein,  in  jeglicher  Sache!  Ein  Orangen- 
verkäufer kann  vollkommen  sein,  wenn  er  den  Ge- 
schmack, denSaf  tgehalt ,  den  Zuckergehalt  j  ederOrange 
oder  Mandarine  schon  von  außen,  gleichsam  durch  die 
Schale  hindurch,  erkennt  mit  unfehlbarer  Sicherheit! 
Ein  Kastanienbrater  kann  vollkommen  sein,  wenn  er 
das  Gefühl  dafür  hat,  wann  und  unter  welchen  Um- 
ständen seine  Kastanien  schön  gleichmäßig  goldgelb  ge- 
braten sind,  ohne  bräunliche  schwarze  harte  Stellen  zu 
bekommen.  Ein  Bar-Mixer  kann  vollkommen  sein,  eine 
liebende  Frau,  ein  stichelhaariger  Foxterrier,  eine 
Hemdenputzerin,  ein  Kommis,  in  seiner  Art  zu  bedie- 
nen, ein  Koch,  eine  Stenographin,  kurz:  alle,  alle,  alle, 
insofern  sie  in  ihrer  Sache  das  Vollkommenste  leisten ! 
Pereant  die  protokollierten  Firmen  des  allgemeinen  suc- 
cös ;  es  leben  hoch  die  Unbekannten,  die  göttlich  singen 
beim  Waschen  und  Anziehen,  ohne  an  der  Hofoper  en- 
gagiert zu  sein!  Es  leben  die  exzeptionellen  Weber 
und  Tuchfabrikanten,  es  lebe  die  kroatische,  bosnische, 
ungarische,  schottische,  irländische,  dänische,  schwe- 
dische Hausindustrie!  Was  vollkommen  ist,  ist  voll- 
kommen, worin  immer  es  sich  auch  betätige !  Nur  das 
Unvollkommene,  und  sei  es  noch  so  sehr  eine  „proto- 
kollierte, akkreditierte  Firma",  pereat,  pereat,  pereat! 

46 


NACHWINTER 

9.  März.  Mein  53.  Geburtstag.  Es  ist  schon  wieder 
Schnee  gefallen  die  ganze  Nacht,  Hochwinter  im 
März.  Man  kann  noch  nicht  „rodeln",  denn  der 
Schnee  ist  noch  flaumig  wie  flaumige  Eiderdaunen. 
Aber  das  Auge  weiß  davon  nichts.  Nur  die  Fußspuren 
sind  braungrau.  Es  hat  null  Grad  im  Schatten.  Es  ist  ein 
Winterbild,  an  das  man  nicht  recht  glaubt.  So  Nach- 
züglereiner Armee,, Winter"  !  Meine  Schneeschuhe,  ein 
Geschenk  des  berühmten  Architekten  Adolf  Loos,  vor 
fünf  Jahren,  sind  mir  gestern  abhanden  gekommen. 
Der  anständige  Dieb  hat  wahrscheinlich  nicht  mit 
diesem  Winter-Rückfall  gerechnet,  der  mich  nun  in 
Verlegenheiten  bringt!  Sie  waren  mir  teuer,  obzwar 
sie  mich  nichts  gekostet  haben.  Ich  hatte  fünf  Jahre 
lang  den  Ehrgeiz,  sie  mir  weder  vertauschen,  noch 
stehlen  zu  lassen.  Der  Kellner  sagte  mir  oft :  ,, Lassen 
Sie  Ihre  Schneeschuhe  ruhig  irgendwo  stehen,  es  ge- 
schieht ihnen  nichts!"  Nun,  es  ist  ihnen  wirklich 
nichts  geschehen,  sie  haben  nur  ihren  Besitzer  ge- 
wechselt. Möge  er  sie  ebenso  zärtlich  rücksichtsvoll 
behandeln  wie  ich,  und  möge  ich  eine  neue  Seh  nee - 
schuh-Wurzen  baldigst  finden!  Einer  machte 
schon  eine  leise  Anspielung,  aber  es  stellte  sich 
heraus,  daß  er  mir  nur  mitteilen  wollte,  dieser  Nach- 
winter könne  ja  ohnedies  nicht  mehr  von  langer 
Dauer  sein,  und  da  genügten  dann  gewöhnliche  Ga- 
loschen. Als  ich  bemerkte,  daß  ich  auch  solche  nicht 
besitze,  erklärte  er,  Galoschen  seien  ungesund  und 
verhinderten  die  Hautausdünstung.  Also,  in  dieserWin- 
terpracht  feiere  ich  meinen  53.  Geburtstag.   Es  wird 

47 


kein  Geld  regnen,  da  ich  keine  Danae  bin.  Aber  in  die 
schlechte  Bilanz  des  Jahres  1912  muß  ich  doch  den 
Plus-Kontoposten  meines  Lebens  einrechnen:  „Nach- 
winter im  März  auf  dem  Semmering,  und  eine  roman- 
tische „Petrarca- Liebe!" 

Hier  ist  es  friedvoll,  vertauschte  Haselnußberg- 
stöcke, vertauschte  Schneeschuhe,  vertauschte  Frauen 
sind  das  einzige  bemerkenswerte  Ereignis.  Aber  man 
findet  sich  in  alles.  Eine  Dame  sagte  mir:  ,, Sehen  Sie, 
dieser  von  Ihnen  gestern  so  gepriesene  Herr  ist  doch 
kein  Gentleman.  Er  trägt  abends  zu  Lackpantoffeln, 
pumps,  Wollsocken!"  —  ,, Pardon,"  erwiderte  ich, 
,,ich  habe  das  im  Drang  meiner  Begeisterung  über- 
sehen!" —  „Ein  so  scharfer  Beobachter  wie  gerade 
Sie,  Herr  Altenberg?!"  —  ,,Ja,  auch  wir  sind  nur 
irrende  Menschenkinder!" 


48 


HEIMLICHE  LIEBE 

Wir  müssen  von  den  Gefühlen  unserer  eigenen 
Seele  leben  können!  Das  ist  die  ,,neue  Religion" 
für  unsere,  sonst  zum  Leiden  verurteilten  impressio- 
nablen  Nerven.  Man  kann  uns  alles  wegnehmen, 
alles  rauben,  alles  verhindern,  alles  verbieten 

nur  nicht  unsere  Gefühle,  die  wir  für  geliebte 

Menschen  haben!  Hier  beginnt  unsere  unbesieg- 
bare Macht  unserer  Seele!  Man  wünscht  es,  unsere 
Tränen  nicht  zu  sehen,  nicht  zu  spüren,  nichts  darüber 

in  alle  Ewigkeit  zu  vernehmen und  sie  rinnen 

dennoch  auf  den  Kopfpolster,  zum  Preise  der  Ent- 
fernten! Könnt  Ihr  uns  verbieten,  in  dem  Berg- 
kirchlein für  ihr  Heil  zu  beten?!  Könnt  Ihr  uns  es 
verbieten,  im  Schnee  des  ,, Hochwegs"  ihre  Fußspuren 
zu  ahnen?!  Vielleicht  sind  es  fremde,  gleichgültige. 
Aber  wir,  wir  träumen  sie  uns  als  die  ihrigen,  ver- 
mittels der  Kraft  unserer  unzähmbaren,  unbesieg- 
baren Seele!  Kann  sie  zu  uns  sprechen:  ,,Knie  vor 
meinen  Fußspuren  nicht  in  den  Schnee  hin!?!"  Nein, 
das  kann,  das  darf  niemand  zu  uns  sprechen.  In 
diesen  ,, Gefilden  der  entrückten  Seele"  verliert  die 
verbietende  Menschenstimme  ihre  Macht  und  Gott 
sagt:  „Du  darfst!" 

Ich  habe  Dein  Glas  in  mein  Zimmer  mitgenommen, 
aus  dem  Du  getrunken  hast.  Ich  habe  dem  Kellner 
gesagt:  ,,Ich  habe  ein  Glas  zufällig  zerbrochen,  da 
haben  Sie  zwei  Kronen  dafür!"  Er  sagte:  ,,Auf  ein 
Glas  mehr  oder  weniger  kommt  es,  bitte,  bei  uns  nicht 

an ."    Also  besaß  ich  das  „geheiligte  Glas" 

umsonst.    Ich  ließ  ihm  ein  Postamentchen  machen 

'  49 


aus  Zirbelholz,  ließ  eingravieren:  „Deine  Lippen  be- 
rührten es,"  Kann  mir  das  irgend  jemand  verbie- 
ten?! Niemand  kann  mir  meine  Leiden  ver- 
bieten, er  kann  sie  nur  steigern,  und  das  ist  gut 

für  meine  Seele .    Wen,  wen  wollt  Ihr 

schützen  vor  meinen  Tränen,  die  niemand,  nie- 
mand sieht?! 


50 


DAS  KINO 

Ich  schleudere  hiermit  meinen  Bannfluch  gegen 
a  1 1  e  j  e  n  e ,  die ,  in ,  .bestgemeinter  Absicht ' '  oder  aus  Ge- 
schäftsinteresse, sich  in  neuerer  Zeit  gegen  die  Ki  no- 
t  h  e  a t  e  r  wenden !  Es  ist  die  beste,  einfachste ,  vom  öden 
IchablenkendsteErziehung, besser  jedenfalls,  tausend- 
mal besser  als  die  bereits  als  „freche  Gaunerei"  ent- 
larvte,, Kunstdarbietung",  ausgeheckt  in  ehrgeizigen, 
verdrehten  Gehirnen  und  präpariert  für  den  ., seelischen 
Poker-Bluff";  infame  Düpierung  einfach-gerader 
Menschenseelen!  Im  Kino  erlebe  ich  die  Welt;  und 
selbst  die  erfundenen  Sketches  sind  schon,  der  Natur  der 
Sache  nach,  auf  edel- primitive  Wirkung  hin  gearbei- 
tet ,  Seelenkonflikte  ala,,3und2macht5",  nicht  aber 
absichtlich  6  oder  7 !  DasVolk  soll  sich  erheben  für 
die  Kinotheater  und  sich  nicht  neuerdings  in  klein- 
sten und  belanglosesten  Angelegenheiten  beschwat- 
zen und  betören  lassen  von  den,, psychologischen 
Clowns"  der  Literatur !  Meine  zarte  15  jährige  Freun- 
din und  ich,  52 jähriger,  haben  bei  dem  Natursketch: 
„Unter  dem  Sternenhimmel",  in  dem  ein  armer 
französischer  Schiffzieherseine  tote  Braut  flußaufwärts 
zieht,  schwer  und  langsam,  durch  blühende  Gelände, 
heiß  geweint !  Wehe  euch ,  deren  ,,trockenenGeist" 
wir  ,,trockenen  Herzens"  angeblich  begeistert  ge- 
nießen müssen!    Wir  müssen  und  wollen  nicht! 

Ein  , »berühmter  Schriftsteller"  sagte  zu  mir: 
„Wir  sind  jetzt  unter  uns,  was  finden  Sie  eigentlich 
Besonderes  an  den  Kinovorstellungen  ?!? " 

„Nein,"  sagte  ich,  „wir  sind  nicht  unter  uns, 
sondern  Sie  sind  unter  mir!" 

51 


LEBENSBILD 

Wesen  der  Engländerin: 

,,0,  mein  geliebter  Freund,  was  nützte  mir  denn 
deine  ganze  tiefe  Liebe,  wenn  du  mir  bei  der  Tür  nicht 
den  Vortritt  ließest?!? 

Wesen  der  Amerikanerin: 

,,Natürlich  zu  sein,  so  wie  man  eben  einfach 
ist!" 

Dies  schrieb  ich  einer  jungen,  edlen  Amerikanerin 
ins  Stammbuch. 

,,0,"  sagte  sie,  ,,sehr,  sehr  schön;  und  vor  allem 
sehr,  sehr  wahr!  Aber,  bitte,  was  würden  Sie  einer 
jungen  Engländerin  in  ihr  Stammbuch  hineinschrei- 
ben?!?" 

,,Ich?    Natürlich  gerade  das  Umgekehrte!" 


52 


IM  JÄNNER,  AUF  DEM  SEMMERING 

25.  Jänner.  Die  Sonne  versucht  es,  den  Schnee  zu 
schmelzen.  Da  und  dort  wird  er  grau,  löst  sich  anf, 
bereitet  den  Frühling  vor.  In  Gloggnitz  wachsen 
Schneerosen,  stoßen  sich  durch  den  Schnee  hindurch. 
Sonst  ist  alles,  alles  begraben,  still.  Auf  das  bereifte 
Glas  eines  Auslagekastens  schrieb  ich  mit  der  Stahl- 
spitze meines  Bergstockes  einen  Mädchennamen. 
Welchen?!  Was  kümmert  es  euch?!  Meine  Seele 
leidet.  Ich  beherberge  ein  Marienkäferlein  seit  vier 
Tagen.  Es  lebt  an  der  Warmwasserheizung  unter 
einem  Glase.  Es  spannt  sogar  die  Flügel  aus.  Ich 
werde  ihm  einen  Mimosenstrauß  kaufen,  gelbe,  duf- 
tende Blüten  mit  graugrünen  Blättchen.  Wie  hat  es 
bis  jetzt  überwintern  können,  alle  Schrecknisse 
durcherleben  können?!  Ich  weiß  es  nicht.  Es  gab 
doch  schon  18  Grad  Kälte,  ohne  Beschützer  P.  A.  ? ! 
Wie  habe  ich  selbst  alles  durcherleben  können?! 
Ich  weiß  es  nicht.  Ich  schreibe  in  das  bereifte  Glas 
eines  Auslagekastens  auf  dem  ,, Hoch  weg"  einen 
Mädchennamen  ein.  Welchen?!  Was  kümmert 
es  euch?!?  Meine  Seele  leidet,  also  sie  lebt,  sie 
lebt!  Das  Marienkäferlein  unter  dem  Glase  denkt: 
,,Ha,  ha,  ha,  hier  ist  es  warm,  aber  wenig  zu  essen; 
nun,  warten  wir  noch  bis  zum  Februar;  da  dürfte  sich 

schon  irgendetwas  finden ."    Für  Tierchen 

findet  sich  immer  etwas. 


53 


NOCH  NICHT  EINMAL  GEDANKEN- 
SPLITTER 

Wenn  deine  Ausdünstung,  o  Frau,  mich  un- 
glücklich macht,  kann  deine  Seele  mich  nicht  glück- 
lich machen!  Von  deinem  heiligen  Leibe  strömt 
die  Kraft  aus  deines  Mysteriums! 

Sie  wählte  einen  Hut,  wie  alle  noblen  Frauen  ihn 

tragen  könnten und  ich  war  verzweifelt! 

Sie  wählte  einen  Hut,  wie  nur  sie  ihn  tragen  konnte 
und  ich  war  selig! 

* 

Sie  sagte:  ,, Dichter,  Tyrann,  ich  will  endlich  ein- 
mal ,mein  eigenes,  mein  ganz  eigenes  Leben' 
leben!" 

Da  lebte  sie  das  Leben  aller  Millionen  Gänse! 

* 

Sie  wollte  zu  sich  selbst  kommen,  im  Wirbel 

des  Lebens;  da  ging  sie  zu  ihm!   Da  verlor  sie  sich 

ganz  und  fand  sich! 

* 

Eine  ,, Weltdame"  sein,  heißt,  lieber  mit 
Männern  verkehren,  die  ihre  hundert  eleganten  An- 
züge schuldig  bleiben,  als  mit  solchen,  die  einen 
einzigen  uneleganten  Anzug  bar  bezahlen! 

Wenn  du  gute  Zähne  hast,  genügt  laues  Wasser; 
und  wenn  du  schlechte  hast,  versagt  sogar  ..Odol"! 

54 


Mefiez  vous  des  bottines  et  des  gants  chers,  mes- 
dames!  Les  beaux  pieds,  les  mains  fines  n'ont  pas 
besoin  de  cercueils  elegants! 

* 

,,Wenn  man  seinen  Zwicker  mit  seinem  Taschen- 
tuche putzt  und  er  wird  nicht  reiner,  so  ist  nicht  der 
Zwicker  daran  schuld,  sondern  das  Taschentuch!" 
So  geht  es  mit  manchen  Dingen  im  Leben,  sagt  der 
Philosoph,  der  sich  immer  darauf  verläßt,  daß  man 
seine  Aussprüche  tiefer  auslegt,  als  er  selbst  es  kann! 

* 

Ich  habe  in  fremden  Hotels  ein  Mißtrauen  gegen 
,, Gutsbesitzer".  Wenn  jemand  mir  hingegen  sagt,  er 
sei  ein  Hausierer,  so  glaube  ich  es  ihm,  sogar,  wenn  er 
ein  Automobil  besitzt.  Aber  von  einem  „Gutsbe- 
sitzer" habe  ich  stets  die  jedenfalls  übertriebene  Idee, 
er  könne  mich  um  lo  K.  anpumpen! 

* 

Damen  haben  zwei  ganz  praktische  Ausdrucks- 
weisen für  ihre  Geschmacksverirrungen:  ,,Er  ist  häß- 
lich, aber  geistreich!"  und  ,,Er  ist  blöd,  aber  schön!" 

* 

Eine  jede  Sache,  die  man  ernstlich  lieb  hat,  muß 
für  den  Liebevollen  zu  einer  ,,Idee  fixe"  auswachsen, 
mit  einem  Wort  ein  Irrsinn  werden  der  Seele!  Es 
wäre  denn,  daß  etwas  einen  wirklich  reellen  Wert 
hätte.  Aber  das  gibt  es  nicht.  O  doch,  mein  Hasel- 
nußstock, auf  den  ich  mich  stütze! 

* 

Ältere  Damen  mit  kleinen  Füßen  und  schmalen 
Gelenken  sind  am  medisantesten !    Sie  wollen  mit 

55 


diesem  Minimum  von  Anziehungskraft  alle  jungen 

Schönen  besiegen! 

* 

„Weshalb  schwärmen  vSie  so  sehr  für  kurze 
Stumpfnäschen?!" .  .  .  ,,Da  habe  ich  die  Sicherheit, 
daß  sie  in  vorgerückteren  Jahren  sich  nicht  senken 
können!" 


56 


DIE  KOSTÜME  AUF   DEM  SEMMERING 
IN  DER  SILVESTERNACHT 

Ich  sah  ein  ockergelbes  Miissehnkleid-Hemd, 
mit  breitem  lila  Samtband  geputzt.  An  der  Brust  eine 
große  lila- weiße  Kamee.  Dann  sah  ich  an  dem  herr- 
lichen Fräulein  Schw  .  .  .  eine  weiße  seidene  Wolke, 
am  Rande  bestickt  mit  grellem  vSilberschimmer  aus 
viereckigen  Silberplättchen.  Dann  sah  ich  an  der 
braunen  Frau  S.  eine  schwarze  Tüllrobe,  mit  schwar- 
zem Hut,  mit  einer  schwarzen  samtenen  Tulpe  an 
der  Brust.  Kardinalfarbene  Seidenrobe,  bestickt  mit 
kardinalfarbigen  Glasperlen.  Eine  staubgraue,  nebel- 
graue Tüllrobe,  mit  breiten  ockergelben  Samtbändern. 
Eine  erbsengrüne  Tüllrobe,  mit  hechtgrauen  Glas- 
perlen bestickt;  braungelbe  Orchideen  an  der  Brust. 

Frauenschuh.    Dann  sah  ich  eine da  wußte 

ich  gar  nicht,  was  sie  anhatte;  denn  ich  sah  nur  ihr 
Antlitz,   ihr   süßes,   süßes  Antlitz,   mit   den    klaren 

schimmernden  Madonnenaugen .    Da  sagte 

eine  ältere  Dame  zu  mir:  ,, Nicht  wahr,  das  bemerke 
ich  sofort,  die  Toilette  dieser  jungen  Dame  ist  ganz 
nach  Ihrem  etwas  aparten  und  übertriebenen  Ge- 
schmack   !?!  " —  ,, Jawohl",  erwiderte  ich, 

,,obzwar  ich  gar  nicht  sah,  was  sie  anhatte ." 

—  „Ja,  Sie  urteilen  eben  auch  nur  nach  dem  Äußeren, 
mein  Lieber,  sehen  Sie  wohl?!?  " —  ,,Ja,  leider",  er- 
widerte ich  und  starrte  die  Madonnenaugen  an . 

Sie  hieß  Kl.  P.  und  dennoch  kann  niemand  ahnen, 
wer  es  ist -. 


57 


FORTSCHRITT 

Es  gibt  Leute,  die  heutzutage  nicht  mehr  auf  den 
Boden  eines  Kaffeehauses  spucken  können,  und  solche 
die  es  noch  ganz  gut  können.  Diese  Zweiteilung 
ist  ein  Zeichen  eines  wenn  auch  geringen  allgemeinen 
Fortschrittes.  Es  gibt  Leute,  die  selbst  bei  einer  auto- 
matisch von  selbst  schließenden  Tür  ängstlich  hinter 
sich  blicken,  ob  die  Maschinerie  auch  wirklich  funk- 
tioniere. Das  sind  bereits  ,,Gentlemen  der  Entwick- 
lung". Beim  ,, Sport"  darf  man  keiner  Dame  helfen, 
irgendwie  behilflich  sein  in  einer  schwierigen  Situa- 
tion. Dadurch  gewöhnt  man  sich  allmählich  auch  das 
sklavische  ,, Pakettragen"  oder  ,, Schirmaufheben" 
oder  ,,Zigarettenanzünden"  ab.  Wieder  ein  kleiner 
Fortschritt!  Jetzt  fehlt  noch  der  hohe  englische 
Fußschemel  beim  Friseur,  und  die  Ventilatoren  in 
jeder  Fensterscheibe,  wobei  niemand  rufen  darf: 
„Es  zieht!"  Preise  an  Schriftsteller-Millionäre  zu 
vergeben,  ist  noch  rückschrittlich.  Mit  Geld  kann 
man  nur  Künstler  ehren,  die  keines  haben!  Turbot 
samt  seiner  dunklen  schuppigen  Haut  essen  und 
noch  dabei  behaupten,  das  gebe  dem  edlen  Fische  erst 
den  Geschmack,  ist  eine  mittelalterliche  Zurückge- 
bliebenheit, die  man  eventuell  einem  eisengepanzer- 
ten Recken  oder  Drachentöter  nachsehen  könnte! 
Eine  übertrieben  deutliche  Schrift  haben,  ist  einer  der 
wenigen  zu  begrüßenden  Snobismen.  Man  schreibt 
für  den,  der  es  lesen  soll!  Eine  Frau  in  der  Weise 
bewundern,  daß  es  dem  zugute  kommt,  dem  sie 
angehört,  und  nicht  dem,  der  sie  bewundert, 
ist  , .höchste  Kultur"!   Mehr  als  zweimal  im  Tag  mit- 

58 


teilen,  man  habe  im  rechten  Knie  beim  Drücken  einen 
Schmerz,  ist  nicht  ,,fortschritthch".  ,,Tamar  Indien 
Grillon"  anpreisen,  ist  höchste  Kultur.  Aber  auch 
hierin  gibt  es  zarte  Grenzen.  Ich  hörte  einmal  an 
einem  herrlichen  Herbstmorgen  einen  jungen  Grie- 
chen eine  junge  Serbin  fragen:  ,,0h  bonjour,  made- 
moiselle,  combien  de  pilules  ,, Purgen"  est-ce-qu'on 
ose  prendre  ä  la  fois?!"  ,,36"  erwiderte  die  junge 
Dame  schlagfertig,  worauf  man  den  Griechen  acht 
Tage  lang  nicht  mehr  erblickte.  Leute  ins  Gespräch 
ziehen,  um  ihnen  Ansichten  herauszulocken,  zum 
Zwecke,  sie  ihnen  widerlegen  zu  wollen,  ist  un- 
kultivirt.  Um  ,,Proselyten"  zu  machen,  gehört 
mindestens  die  Entschuldigung  eines  „heiligen  Fana- 
tismus". Zwischen  Tee  und  ,, kleiner  Bäckerei"  hat 
solches  nicht  stattzufinden!  ,, Anonyme  Briefe" 
sind  eine  Gemeinheit.  ,, Nicht  anonyme  Briefe"  sind 
eine  noch  größere  Gemeinheit.  Man  hat  zu  schreiben: 
,,Ich  verehre  Sie!"  Im  allgemeinen  aber  zeigt  sich 
doch  in  der  ,,vie  quotidienne"  ein  beträchtlicher  Fort- 
schritt. ,,In  der  Nase  bohren"  findet  man  sogar  bei 
Kindern  verhältnismäßig  nur  mehr  selten,  obzwar  es 
noch  vor  20  Jahren  zu  den  sogenannten  ,, billigen  Freu- 
den des  Daseins"  gehörte !  Häufiger  kommt  es  vor,  daß 
Liebesleute  vor  Fremden  sich  gegenseitig  zu  blamieren, 
zu  desavouieren  suchen,  kurz  den  Anschein  eines 
Täubchen Verhältnisses  zu  bewahren,  für  Augenblicke 
außer  acht  lassen.  Den  , »Dritten"  dabei  als  Richter  an- 
zurufen, ist  aber  eine  der  allergrößten  Infamien,  be- 
sonders falls  er  auf  die  Frau  ein  oder  mehrere  Augen 
bereits  geworfen  hat.  Es  gibt  also  noch  immer  eine  An- 
zahl von  verbesserungsbedürftigen  Dingen ! 

59 


ABSCHIED 

Herr  Altenberg,  ich  danke  Ihnen  noch  zuletzt  für 
alles,  für  alles!" 

, »Wofür,  das  verstehe  ich  nicht ." 

,,Das  kann  man  nicht  so  sagen,  wofür  man  Ihnen 
in  einem  wochenlangen  Verkehr  zu  danken  hat !  Man 
ist  gleichsam  von  sich  selbst  erst  zu  sich  selbst  ge- 
kommen, erblickt  das  Leben  einfacher,  selbstver- 
ständlicher und  klarer  als  bisher.  Deshalb  muß  man 
zu  Ihnen  sagen:  ,,Ich  danke  Ihnen  für  alles,  für  alles 
—  obzwar  man  durchaus  nicht  weiß,  worin  es  be- 
steht!" 

Es  war  der  tiefste  Abschied,  eigentlich  aber  ein 
ewiges  Zusammenbleiben ! 


60 


BESUCH 

Mein  Freund,  der  Doctor  philosophiae  aus  Heidel- 
berg, schrieb  mir,  er  sei  in  tief  deprimierter  Stimmung, 
wolle  in  den  Frieden  ,,der  Berge  flüchten",  höchst 
moderne  Ausdrucksweise,  und  vor  allem  beim  Dichter 
eine  Art  von  ,, seelisch-geistigen"  Reinigungsbad  neh- 
men. Als  er  ankam,  begann  ich  daher  von  Rax  und 
Schneeberg,  Pinkenkogel  und  Sonnwendstein  zu 
schwärmen.  Er  erwiderte:  ,, Lasse  gefälligst  diese 
Marlittiaden  einer  überwundenen  Epoche  und  zeige 
mir  lieber  eine  Dame,  mit  der  man  stundenlang  über 
Ibsen,  Hofmannsthal,  Stephan  George  und  ähnliche 
Geschöpfe  seine  endgültigen  Ansichten  los  werden 
kann."  Er  war  glücklich,  als  ich  ihm  mitteilte,  daß 
ich  zufälligerweise  gerade  jetzt  drei  solcher  Damen 
auf  Lager  habe,  leider  aber  eine  jede  in  einem  anderen 
Berghotel.  Er  meinte,  er  wolle  gern  den  Wagen  be- 
zahlen, und  wir  sollten  von  einer  zur  anderen  fahren. 
Auf  dem  Wege  könne  man  ohne  weitere  Schwierig- 
keiten die  Schönheit,  den  Frieden  der  Bergwelt,  aber 
ohne  Exaltationen  über  jeden  einzelnen  Baum,  son- 
dern in  Bausch  und  Bogen  genießen.  Dieser  annehm- 
bare Plan  wurde  zu  allgemeiner  Zufriedenheit  aus- 
geführt. Eine  vierte  Dame,  die  sich  anschloß,  konnte 
wegen  Zeitmangels  nicht  ins  Gespräch  gezogen  werden 
über  die  Philosophie  in  der  Musik  des  Debussy.  Der 
Doktor  sagte  zu  mir:  ,,Ist  es  also  wirklich  wahr,  daß 
man  nur  bis  ii  Uhr  abends  hier  Getränke  bekommt  ? !' 
—  ,,Nein,"  erwiderte  ich,  ,,das  ist  eine  Verleumdung, 
man  erhält  bis  Mitternacht  Limonade  und  Soda- 
Himbeer!"  —    ,Esel,"  sagte  er,  ,,ich  meine  schweren 

6i 


Burgunder!"  Er  schlug  nun  vor,  schon  um  7  Uhr 
abends  anzufangen,  damit  man  bis  zur  Schank- 
Sperrstunde  das  Nötige  absolviert  haben  könne.  Ich 
erklärte  ihm,  daß  ich  seit  anderthalb  Jahren  Anti- 
alkoholiker sei  und  daher  vor  halb  8  Uhr  abends  nicht 
anfangen  könne!  Er  sagte,  er  sei  einverstanden,  da 
er  mich  von  meinen  schwer  errungenen  Grundsätzen 
nicht  abbringen  wolle.  Im  Laufe  des  Abends  ge- 
sellten sich  einige  Herren  zu  uns,  die  er  in  liebens- 
würdigster Weise  anstänkerte,  indem  er  sie  fragte,  ob 
sie  sich  ernstlich  von  der  Bergluft  und  der  Enthalt- 
samkeit eine  Heilung  ihrer  anscheinend  doch  unheil- 
baren Leiden  erwarteten  ? !  ?  Bald  waren  wir  allein, 
und  später  erklomm  er  mit  meiner  Bergführerhilfe 
die  Treppe.  Er  sagte  noch:  Rax,  Schnee — berg, 
Sonn — wend — stein,  Pin — ken — ko — gel  .  .  .,  dann 
verschwand  er  hinter  der  gepolsterten  Tür. 


62 


BUCHBESPRECHUNG 

Ich  lese  jetzt  Tolstois  „Chadschi  Murat",  aus  dem 
Nachlaß.  Es  ist  immer  dieselbe  Art,  plastisch-histo- 
risch, lebendig  gewordene  Wachsfigurenkabinette, 
psychologische  Wachsfiguren,  z.  B.  der  großartig 
geschilderte  wachsbleiche  fette  Kaiser  mit  dem  nichts- 
sagenden streng-starrenden  Antlitz,  der  weiß,  daß  er 
nichts  weiß,  und  dennoch  die  Geschicklichkeit  besitzt, 
sich  immer,  in  jeder  Situation,  es  einzureden,  daß  er 
,,zum  Heile  und  zur  Ordnung  der  Welt"  unentbehr- 
lich sei.  Aber  auf  Seite  i6i  fand  ich  ein  besonderes 
imd  bisher,  vor  allem  mir,  unbekanntes  Sprichwort : 
,,Der  Hund  bewirtet  den  Maulesel  mit  Fleisch 
und  der  Maulesel  den  Hund  mit  Heu  —  in- 
folgedessen bleiben  beide  hungrig!"  Ich  finde 
das  wunderbar;  es  ist  ein  Bild  unseres  ganzen  tra- 
gischen Lebens,  besonders  dessen  zwischen  Mann 
und  Frau!  Ein  jeder  bewirtet  uns  mit  einer  Kost, 
die  für  ihn  die  beste,  für  den  Bewirteten  meistens 
jedoch  die  allerschlechteste  ist! 

Einer  meiner  sogenannten  ,, Freunde",  andere  als 
,, sogenannte"  gibt  es  nämlich  hienieden  nicht, 
würde  natürlich  sagen,  daß  dieses  Sprichwort  einen 
natürlich  ganz  anderen  Sinn  habe  als  den  ihm  von 
mir  willkürlich  unterlegten,  ferner,  daß  es  längst 
allgemeinst,  vor  allem  ihm  selbst,  bekannt  sei;  daß 
es  schon  im  ,, Sanskrit"  erwähnt  werde  und  nichts 
anderes  bedeuten  könne  als  die  „Güte  des  Schöpfers 
allen  seinen  Kreaturen  gegenüber" !  Du  Esel!  Trotz- 
dem halte  ich  das  erwähnte  Sprichwort  für  überaus 
wertvoll  und  sinnvoll  und  glaube  nicht,  daß  ich  bis 

63 


Seite   203,   Ende,    etwas   annähernd   Tiefes   finden 
werde. 

Wenn  man  einmal  so  weit  ist,  die  Menschen  des 
übrigens  alltäghchen  Lebens  ebenso  scharf  aufs  Korn 
zu  nehmen,  wie  Tolstoi  es  tut  in  seinen  Romange- 
bilden, oder  wie  Charles  Dickens  und  Thackeray  in 
milderer  Form,  so  verringert  sich  naturgemäß  die 
Distanz  zwischen  Künstler  und  Leser.  Der  Leser 
weiß  einfach  ganz  dasselbe,  ohne  sich  die  lächer- 
liche Mühe  zu  nelimen,  es  niederzuschreiben! 


64 


EIN  BRIEF 

Sehr  geehrte  gnädige  Frau! 
Sie  wollen  „glückhch"  sein?  Das  ist  schrecklich! 
Beethoven,  Schiller,  Hugo  Wolf,  Novalis,  Lenau 
waren  nicht  glücklich.  Mit  welchem  Rechte  wollen 
Sie  also  glücklich  sein?  Mit  dem  Rechte  der  ,, In- 
feriorität?" Aber  darauf  haben  Sie  keinen  legitimen 
Anspruch,  da  Sie  es  doch  nicht  sind!  Sie  erzählen 
mir,  daß  irgend  jemand  um  Sie  bange  war,  um  Sie 
geweint  hat?  Erzählen  Sie  mir  doch  lieber,  daß  Sie 
um  irgend  jemand  besorgt  waren,  geweint  haben! 
Sie  sagen  mir,  was  man  von  Ihnen  halte  ?  Sagen  Sie 
mir  doch  lieber,  was  Sie  von  den  andern  halten! 
Sagen  Sie  mir,  von  wem  Sie  schwärmen,  und  sagen 
Sie  mir  nicht,  wer  von  Ihnen  schwärmt!  Ihre  eigene 
Welt  ist  gerade  so  wie  sie  ist,  aber  die  Welt  der  andern, 
der  ,, Nicht-Sie-Seienden",  die  ist  eine  Bereicherung 
Ihres  Denkens,  Ihres  Fühlens!  Zeugnisse  mit  aus- 
gezeichneten Referenzen  sich  von  Nichtverst ehern 
ausstellen  lassen,  ist  eine  allzu  billige  Befriedigung! 
Sind  Sie  die  Düse,  die  Yvette  Guilbert,  die  Else  Leh- 
mann! Nun  also!  Sagen  Sie  stets:  „Ich  verehre!" 
sagen  Sie  niemals:  ,,Ich  werde  verehrt!"  Ein  ,, labiles 
Selbstbewußtsein"  ist  an  und  für  sich  ,, unkünstle- 
risch"! Sei,  der  du  bist!  Nicht  mehr,  nicht  weniger! 
Wenn  Sie  vom  ,, Russischen  Ballett"  schwärmen,  von 
Nidjinsky,  von  der  Karsawina,  von  der  Nieder- 
metzelung  der  Haremswächter,  von  den  russischen 
Volksmelodien,  von  den  Damen  in  den  Logen  und 
den  Silberreifen  um  ihre  süßen  Lockenköpfe,  von 
Samthemden  in  Violett  und  Grasgrün,  die  alles  ver- 

65 


bergen  wie  edel-verschwiegene  schwere  Portieren  — 
dann,  dann  sind  Sie  Sie  selbst !  Eine  Auf  saugerin  der 
Schönheiten  der  Welt,  eine  Bereicherte!  Aber 
wenn  Sie  von  sich  selbst  sprechen,  werden  Sie  arm- 
selig! Eine,  die  erzählt,  man  habe  ihr  ein  Almosen 
gegeben;  eine  Bettlerin  an  der  Brücke,  die  hinüber- 
führt ins  „Versorgungshaus  des  Lebens"! 


66 


DAS  HOTEL-STUBENMÄDCHEN 

Sie  saß  nachts,  ganz  zerpatscht  von  Stiegensteigen, 
Sorgsamsein  für  fremde  Menschen,  Aufmerken  auf 
fremde  Wünsche,  in  der  Portiersloge,  zählte  einen 
Haufen  Trinkgelder  in  ihre  Schürze.  Ich  wußte,  daß 
sie  ein  entzückendes  dreijähriges  Mäderl  habe,  und 
der  Gatte  war  verschollen. 

Ich  sagte:  „Woher  sind  Sie,  Marie?!" 

,,Aus  Kärnten." 

„Sie  müssen  ja  die  Dorfschönheit  gewesen  sein 

(( 

„Das  war  ich!" 

,,Und  alle  Jünglinge  müssen  sich  um  Sie  beworben 
haben ." 

„Das  haben  sie  getan." 

,,Und  da  haben  Sie  sich  den  gerade  aussuchen 
müssen?!" 

,,Er  mich!" 

,,Und  Sie  sind   so  ruhig,  so  gesichert ." 

,,Da  kann  man  nicht  aufbegehren.  Es  ist  das 
Schicksal!" 

,,Nein,  die  Dummheit  war  es,  die  Borniertheit 

,  Das  ist  ja  unser  Schicksal!" 

Später  sagte  sie:  ,, Rühren  Sie  mich  nicht  an,  es 
paßt  mir  nicht.  Weshalb  streicheln  Sie  meine  Haare  ? ! 
An  mir  ist  nichts  mehr  zum  Streicheln ." 

Ich  schenkte  ihr  eine  Krone. 

„Wofür  geben  Sie  mir  das?!" 

„Gewesene  Dorfschönheit!"  erwiderte  ich.  Da 
begann  sie  zu  weinen. 

5'  67 


GESPRÄCH 

,,Sie,  sagen  Sie,  mein  lieber  Peter  Altenberg,  wie 
lang  sind  Sie  eigentlich  schon  da,  auf  diesem  Sem- 
mering?!?" 

„Elf  Wochen?!" 

„So?  No,  und  das  können  Sie  so  aushalten,  so 
ganz  ohne  Weiber?!?" 

„Nur  ohne  Weiber!  Mit  Weibern  könnt'  ich's 
gar  nicht  aushalten!" 

„Komischer  Mensch,  was  Sie  sind!" 

„Weshalb  komisch?!?" 

,,No,  Sie  sind  doch  der  größte  Troubadour  für  die 
Weiber,  was  wir  haben  heutzutage?!?" 

,,No,  könnt'  ich  denn  ihr  größter  Troubadour  sein, 
wenn  ich  alleweil  mit  ihnen  beisammen  war'?!?" 


68 


ßOBBY 

Ich  habe  sowieso  nichts  mehr  zu  vediereii,  nichts 
mehr  zu  gewinnen,  ich  stehe  vor  der  „großen  Ab- 
rechnung" meines  Lebens.  Jetzt  erkläre  ich,  daß  ich 
die  weiße,  hellbraungefleckte  echtrassige  Foxterrier- 
hündin Bobby,  mit  ihren  acht  rosigen  Brust-  und 
Bauchwarzen  (selbst  die  edelsten  Damen  haben  nur 
deren  zwei),  für  schöner,  graziöser,  liebenswürdiger, 
herzlicher,  menschenfreundlicher  halte  als  die  meisten 
Frauen.  Sie  erregt  nie  in  mir  Eifersuchtsqualen  und 
Verzweiflung,  hat  eine  unbeschreibliche  Freude,  wenn 
ich  nett  zu  ihr  bin,  sagt  nie  bei  einer  solchen  fein- 
fühligen Gelegenheit:  ,,Zahr  lieber  an  Kaviar  und 
laß  die  billigen  Faxen  —  —  — ."  Denn  erstens 
frißt  sie  Gott  sei  Dank  gar  nicht  Kaviar,  und 
zweitens  , »fliegt  sie"  grad  auf  meine  , »billigen 
Faxen",  d.  h.  meine  seelische  Verehrung,  Anerken- 
nung und  Liebe! 

Ich  ziehe  also  Bobby  allen  Frauen  vor,  freilich 
sage  ich  das  erst  öffentlich  am  Ende  meiner  soge- 
nannten ,, Liebeslaufbahn",  mit  einem  Wort:  nach 
meiner  Schlacht  von  Sedan.  Bobby  hat  um  mich 
geweint,  gewinselt,  sich  gekränkt,  den  Appetit  ver- 
loren. Die  übrigen  Weibchen  hatten  gerade  in  meiner 
Gesellschaft  stets  einen  riesigen  Appetit,  während 
ich  kaum  die  Absicht  hatte,  ihnen  ein  ,, Kalbsgulasch" 
zu  bezahlen.  Und  dann,  Bobby  hat  noch  einen  großen 
Vorteil,  sie  gehört  nämlich  gar  nicht  einmal  mir,  son- 
dern einer  reizenden  bekannten  Dame,  der  die  Für- 
sorge für  sie  obliegt.  Ich  selbst  schmeichle  mich  nur 
bei  Bobby  ein,  um  ihre  zärtliche  Freundschaft  zu 

69 


genießen.  Ich  will  keine  Spesen  haben,  und  „äußerln" 
führe  ich  auch  nicht.  Frauen  haben  immer  irgend- 
welche Bedürfnisse!   Aber  ich  bin  nicht  in  der  Lage, 

sie  zu  befriedigen .  Das  nimmt  zu  viel  Kräfte 

weg  und  Zeit !  Liebe  ohne  alle  Spesen  ist  meine  letzte 
Erkenntnis  auf  Erden. 


70 


PSYCHOLOGIE 

Mich  interessiert  an  einer  Frau  meine  Beziehung 
zu  ihr,  nicht  ihre  Beziehung  zu  mir! 

* 

Daß    ich    ihr    eine    exzeptionelle    Achatbrosche 

schenken  darf,  macht  mich  glücklich,  nicht  daß  sie 

es  gerührt  annimmt! 

* 

Ich  küsse  ihre  Haarlocke  in  meinem  Zimmer  an- 
betend, aber  ihre  braunroten  Haarsträhne  mögen  im 
Winde  flattern  für  alle  Welt! 

* 

Sie  hat  Migräne,  und  ich  renne  nachts  in  die 
Apotheke.  Für  mich  hat  sie  Kopfweh,  da  ich  be- 
sorgt bin,  es  ihr  zu  lindem! 

* 

Wenn  sie  ,, Wintersport"  treibt,  zittere  ich  um 
ihre  zarten  geliebten  Gazellenglieder!  Für  mich 
allein  betreibt  sie  daher  „Wintersport"! 

* 

Ein  Hut,  der  ihr  schlecht  steht,  macht  mich 
unglücklich,  ein  Hut,  der  ihr  zu  fesch-kokett  steht, 
macht  mich  ebenfalls  unglücklich!  Für  mich  al- 
lein also  trägt  sie  alle,  alle  ihre  Hüte! 

Die  Speise,  die  ihr  nicht  schmeckt,  macht  mich 
unglücklich,  die  Speise,  die  ihr  schmeckt,  macht 
mich  glücklich.  Für  mich,  für  mich  allein  daher 
ißt  sie! 


71 


Der  Blick,  mit  dem  sie  einen  anderen  liebens- 
würdig anschaut,  macht  mich,  mich  allein  unglück- 
lich! Daher  gehört  dieser  Blick  mir,  mir,  und  nicht 
ihm,  dem  eitlen  Laffen.' 

Mir,  mir  allein  gehört  alles,  was  von  ihr  kommt, 
Böses  und  Gutes,  denn  ich,  ich  allein  empfinde  es! 


72 


HOTELREGISSEURE 

Ich  schlage  vor:  Hotelregisseure.  Natürlich 
meine  ich  da  vor  allem  mich.  Wie  in  einem  bestge- 
leiteten Theater  soll  nunmehr  in  einem  erstklassigen, 
bestgeleiteten  Sommerhotel  oder  VVintersporthotel 
ein  Regisseur  sein,  unabhängig  vom  Besitzer,  Direk- 
tor, und  ebenso  aber  vom  Publikum.  Ein  Hotel- 
führungsidealist neuester  Art,  dem  das  Hotel  als  sol- 
ches lieb  und  betreuenswert  erscheint!  Sein  Gehalt 
muß  minimal  sein,  wegen  der  absoluten  ,, inneren  Un- 
abhängigkeit" vom  Besitzer  und  vom  Publikum! 
Freie  Station,  freie  Getränke  (Bier),  freies  Logis  und 
ein  Taschengeld  für  ,, repräsentatives  Äußere  in  Klei- 
dung, Wäsche,  Chaussure"  usw.  usw.  Kurz,  ein  unab- 
hängiger Gentleman!  Er  belausche  die  Wünsche,  die 
Beschwerden  der  Gäste,  erkenne  einen  jeden  seiner 
Individualität  nach,  mit  femblickendem  Sperberblick, 
Turmfalkenblick.  Er  versuche  es,  sanft-  diplomatisch, 
alle  Beschwerden  dem  Besitzer  des  Etablissements 
begreiflich  zu  machen,  da  er  eigentlich  von  Unpartei- 
lichkeit lebt.  Da  ist  es  schon  gar  keine  Kunst,  ein 
Cato  zu  sein,  wenn  Logis,  Essen  und  Getränke  frei 
sind. 

Zum  Beispiel,  ein  reicher  Graf  murrt  darüber,  daß 
eine  Salzgurke  eine  Krone  kostet,  während  sie  am 
Markte  zwanzig  Heller,  in  Ungarn  jedoch  minus  NuU 
koste,  ja  man  direkt  fast  für  die  Erstehung  derselben 
noch  etwas  darauf  bekomme,  wie  bei  Wassermelonen 
oder  in  China  bei  überflüssigen  Töchtern.  Da  muß 
dann  eben  der  Hotelregisseur  intervenieren  und  trotz 
aller  sich  ergebenden  Schwierigkeiten  es  durchsetzen, 

73 


daß  die  Salzgurke  auf  achtzig  Heller  reduziert  werde. 
Das  Wort  ,,eine  Krone"  irritiert  bereits  nämlich  die 
meisten  Menschen,  während  man  in  Hellem  ihnen 
Unsummen  entlocken  kann.  Zu  allen  diesen  Finessen 
gehört  also  heutzutage  in  einem  klassischen  Hotel  ein 
Hotelregisseur,  und  niemand  wird  nach  Durchlesung 
dieser  flüchtigen  Zeilen  daran  zweifeln,  daß  ich  ein 
solcher  sein  könnte.  Es  werden  infolgedessen  in  aller- 
nächster Zeit  zahlreiche  Gesuche  an  mich  gelangen. 
Ich  werde  sie  sichten,  prüfen,  begutachten.  Ich  werde 
mich  dem  ergeben,  der  nicht  den  für  mich  günstigsten, 
sondern  den  für  die  Menschheit  zweckdienlichsten  und 
idealsten  Antrag  enthält.  In  der  Getränkefrage  frei- 
lich bin  ich  schwach,  aber  auch  das  kann  durch  strenge 
Selbstzucht  überwunden  werden. 


74 


DAS  GLÜCK 

Ich  erwartete  das  Glück  vergeblich  Jahre  und  Jahre 
lang.  Endlich  kam  es  und  setzte  sich  zutraulich  an 
mein  Bett.  Es  hatte  gelbbraunen  Teint  wie  die  Java- 
nerinnen, schmale,  lange  Hände  und  Finger,  Gazellen- 
beine und  bewegliche  lange  Zehen.  Ich  sagte:  ,,0, 
bist  du  wirklich,  wirklich  endlich  das  Glück,  das  lang 
ersehnte,  tief  entbehrte?!?"  —  ,,Ich  werde  es  dir 
morgen  schreiben,  ob  ich  es  wirklich  bin  oder  nicht. 
Du  wirst  selbst  urteilen ." 

Am  nächsten  Morgen  fand  ich  einen  Zettel,  auf 
dem  geschrieben  stand:  ,, Adieu,  auf  Nimmerwieder- 
sehen   ."  Ja,  es  war  also  wirklich  und  wahr- 
haftig ,,das  Glück"  gewesen! 


75 


DAS  DUELL 

Ich,  als  „Outsider"  der  Gesellschaft,  die  sich  an- 
maßend und  fälschlich  die  ,,gute"  nennt,  begreife 
überhaupt  naturgemäß  nur  eine  einzige  Art,  zum 
Duell  seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Das  ist,  wenn  man 
in  bezug  auf  eine  Frau  in  seinem  Lebensglücke  so  sehr 
geschädigt  wurde,  daß  man  unbedingt  zum  Mörder 
und  nachher  zum  Selbstmörder  werden  will !  Da  hat 
man  im  ,, Duell"  die  Chance,  den  Kerl  umzubringen 
und  nach  ,,  vollendet  er  Sühne"  sogar  ganz  fröhlich  am 
Leben  zu  bleiben  und  zu  sagen:  ,,Sixst'  es,  Annerl, 
Mauserl,  Herzerl,  jetzt  wirst  net  so  bald  wieder  dich 
einlassen,  einer  von  die  Herren  Kavaliere  is  schon 
kalt  geworden  trotz  deiner  heißen  Liebe!" 


76 


STAMMGÄSTE 

Die  „Stammgäste"  eines  Hotels  haben  eine  eigen- 
tümliche Art  von  Sicherheit,  die  ein  wenig  an  „Grö- 
ßenwahn" erinnert.  Sie  haben  die  Ansicht,  daß  alles 
glücklich  sei,  daß  sie  wieder  da  sind,  und  daß  bisher 
in  dem  gesamten  Hotelbetrieb  eine  Art  von  empfind- 
licher Stockung  eingetreten  sei,  die  nun  glücklicher- 
weise schwinden  werde!  Sie  haben  eine  ,, falsche  Lie- 
benswürdigkeit" mit  dem  Bedienungspersonal,  erkun- 
digen sich  nicht  ungern  nach  Dingen,  die  sie  nichts  an- 
gehen. Auch  ihre  eventuellen  ,, Beschwerden"  gegen 
die  Hotelusancen  bringen  sie  in  einem  gütig-väterlich- 
wohlwollenden Tone  an,  als  wollten  sie  das  ganze 
Etablissement  vor  dem  Ruine  schützen!  In  J.  war 
ein  reicher  Stammgast,  der  jeden  ,, Eingeborenen" 
mit  der  Frage  beglückte:  ,,Nun,  wie  war  der  Winter 
bei  Euch  heuer?!"  Obzwar  ein  jeder  darauf  mit 
Freuden  geantwortet  hatte:  ,,Schmecks!",  so  sagten 
doch  alle,  mit  Rücksicht  auf  Trinkgelder,  die  niemals 
stattfanden:  ,, Heuer  besonders  hart,  gnä'  Herr  — ." 
Worauf  der  Stammgast  leutselig  erwiderte,  daß  da- 
für der  Sommer  zur  Erholung,  nämlich  für  ihn,  diene ! 

Trotz  aller  dieser  Eigenheiten  möchte  dennoch 
keine  Gegend  ihre  Stammgäste  missen,  denn  sie  ge- 
hören dazu  und  machen  das  Ganze  sogar  heimlich, 
wie  die  Schwalben,  Störche  und  anderes  stets  wieder- 
kehrendes Getier! 


77 


SANATORIUM  FÜR  NERVENKRANKE 

(aber  nicht  die,  in  denen  ich  mich  befand!) 
Morgenvisite. 

Der  Doktor  sitzt,  wie  ein  Staatsanwalt  ernst 
blickend  und  forschend,  an  einem  riesigen  Schreib- 
tische. 

Der  Delinquent  (Patient)  tritt  ein. 

,, Bitte,  nehmen  Sie  Platz ." 

Pause,  in  der  der  Staatsanwalt  (Arzt)  den  Ver- 
brecher mustert,  ob  Paralyse  oder  Simulation  vor- 
handen sei . 

,,Also,  mein  lieber  Peter  Altenberg,  ich  keime  Sie 
nämlich  schon  seit  langem  aus  Ihren  interessanten 
Büchern,  und  erlaube  mir  daher  den  konventionellen 
Titel  ,,Herr"  bei  einem  berühmten  Manne  wie  Sie 
wegzulassen.  Ihre  Verehrerinnen  apropos  sollen  Sie 
ja  direkt  mit  ,P.  A.'  titulieren!?  Diese  Ehrenab- 
kürzung wage  ich  bisher  noch  nicht . 

Aber  zur  Sache!  Also,  mein  lieber  Peter  Alten- 
berg, was  werden  wir  denn  zum  Frühstück  nehmen  ? !  ?  " 

„Wir?!  Das  weiß  ich  nicht.  Aber  ich  selbst  nehme 
Kaffee,  hellen  Milchkaffee ." 

„Kaffee?!  So?!  Also  Kaffee,  hellen  Milchkaffee 
?!?    Also  schön,  Kaffee !" 

„Ja,  bitte,  es  ist  mein  gewöhnliches  Getränk,  an 
das  ich  seit  dreißig  Jahren  gewöhnt  bin ." 

„Ganz  gut.  Aber  Sie  sind  eigentlich  hier,  um  sich 
von  Ihrer  bisherigen  Lebensweise,  die  Ihnen  an- 
scheinend bisher  nicht  besonders  genützt  hat,  zu 
entwöhnen,    vielmehr    die   nötige    Energie   zu 

78 


akquirieren,  solche  Veränderungen  Ihrer  gewohn- 
ten, ja  vielleicht  allzu  gewohnten  Lebensweise 
allmählich  wenigstens  vorzunehmen!?!  Nun,  blei- 
ben wir  also  vorläufig  beim  Milchkaffee.  Aber  wes- 
halb diese  dezidierte  Aversion  gegen  Tee?!  Man 
kann  auch  Tee  mit  Milch  verdünnt  trinken  — 
?!' 

,,Ja,  aber  ich  pflege  Milchkaffee  zu  trinken ." 

,, Haben  Sie,  Herr  Altenberg,  einen  bestimmten 
Grund,  den  Genuß  von  Tee  des  Morgens  für  Ihre 
Nerven  für  unzukömmlich  zu  halten?!?" 

„Ja;  weil  er  mir  nicht  schmeckt ." 

,,Aha,  das  wollte  ich  eben  nur  wissen.  Also,  mein 
lieber  Herr,  was  nehmen  Sie  denn  zu  Ihrem  so 
geliebten  und  anscheinend  unentbehrlichen 
Milchkaffee  dazu?!?" 

„Dazu?!    Nichts!" 

,,Nun,  irgend  etwas  Konsistentes  müssen  Sie 
doch  dazu  nehmen!  Ein  leerer  Kaffee  schmeckt 
einem  ja  gar  nicht ." 

,,Nein,  ich  nehme  nichts  dazu;  mir  schmeckt  nur 
ein  leerer  Milchkaffee ." 

„Nun,  mein  sehr  geehrter  Herr,  bei  uns  geht  das 
eben  nicht.  Sie  werden  mir  freundlichst  die  Kon- 
zession machen  müssen  von  zwei  Buttersemmeln 
(( 

,,Ich  hasse  Butter,  ich  hasse  Semmeln,  aber  noch 
mehr  hasse  ich  Buttersemmeln!" 

,,Nun,  diesen  Haß  werden  wir  schon  noch  be- 
siegen! Ich  habe  schon  schwierigere  Kunst- 
stücke fertiggebracht,  mein  Lieber .    So, 

und  jetzt  begeben  Sie  sich  stillvergnügt  zu  Ihrem 

79 


Frühstück  in  der  Veranda.  Noch  eins:  Pflegen  Sie 
nach  dem  Frühstück  auszuruhen?!?" 

,  Je  nachdem ." 

„Je  nachdem  gibt  es  nicht.  Entweder  Sie  ruhen 
oder  Sie  machen  Bewegung — ." 

„Also  dann  werde  ich  ruhen ." 

„Nein,  dann  werden  Sie  eine  halbe  Stunde  lang 
gehen !" 

Der  Delinquent  verläßt  wankend  das  Amtszim- 
mer und  begibt  sich  zum  Strafantritte  auf  die 
Veranda  zum  Frühstücke,  verschärft  durch  zwei 
Buttersemmeln. 

Einige  Tage  später.  Der  Staatsanwalt:  ,,Nun, 
sehen  Sie,  mein  lieber  berühmter  Dichter,  Ihr  Ge- 
sichtsausdruck ist  schon  ein  viel  freierer,  ich  möchte 
sagen,  ein  menschlicherer,  nicht  so  präokkupiert  von 
fixen  Ideen .  Haben  Ihnen  die  zwei  Butter- 
semmeln geschadet?!    Na  also!" 

Nein,  sie  hatten  ihm  nicht  geschadet,  denn  er 
hatte  sie  täglich  im  Hühnerhofe  verteilt . 

N  ach  mit  tags  vis  ite. 

,,Herr  Peter  Altenberg  möchten  sogleich  zum 
Herrn  Direktor  kommen ." 

„Setzen  Sie  sich,  bitte. 

Ich  habe  Ihnen  den  Alkoholgenuß  strengstens 
untersagt ." 

,, Jawohl,  Herr  Direktor ." 

,, Kennen  Sie  diese  ganze  Batterie  von  leeren 
Sliwowitz-Flaschen  ? !  ?" 

,, Jawohl,  es  sind  die  meinen ." 

„Man  hat  sie  heute  unter  Ihrem  Bette  aufgefun- 
den   ." 

80 


,,Ja,  wo  sollte  man  sie  denn  sonst  auffinden?! 
Ich  habe  sie  ja  dort  deponiert ." 

„Wie  haben  Sie  sich  das  Gift  in  meiner  Anstalt 
verschafft?!" 

,,Ich  bestach  jemanden.  Sein  ehrliches  Gewissen 
ließ  es  bei  zwei  Kronen  nicht  zu.  Da  offerierte  ich 
ihm  drei  Kronen." 

„Sie  sind  also  unschuldig  an  der  ganzen  Sache, 
sondern  der  ungetreue  Diener  ist  der  Schuldige!  Ich 
werde  ihn  zur  Rechenschaft  ziehen,  obzwar  er  bereits 
fünfundzwanzig  Jahre  im  Hause  ist  und  er  sich, 
soweit  ich  es  übersehen  konnte,  stets  einer 
tadellosen  Konduite  erfreut  hat ." 

,,Herr  Direktor,  Sie  haben  mir  doch  noch  gestern 
gesagt,  daß  ich  in  Ihrer  Anstalt  und  durch  das  regel- 
mäßige solide  Leben  hier  mich  um  zwanzig  Jahre 
direkt  verjüngt  hätte  und  fast  gar  nicht  mehr  wieder- 
zuerkennen sei  ? !  ?" 

,,Das  sagte  ich  aus  pädagogischen  Gründen, 
um  Ihr  Selbstbewußtsein  zu  stärken ." 

,.Herr  Direktor,  darf  ich  mir  die  leeren  Sliwowitz- 
Flaschen  bei  Ihnen  später  abholen  lassen  ? !  ?  Ich 
bekomme  nämlich  für  jede  sechs  Heller  retour ." 

Direktor  zu  dem  unredlichen  Angestellten:  ,,Sie 
Anton,  wie  konnten  Sie  sich  unterstehen,  nach  fünf- 
undzwanzig tadellosen  Dienst  Jahren,  einem  Patienten, 
und  sei  es  auch  ein  berühmter  Dichter  mit  Eigen- 
heiten, solche  Mengen  Branntwein  gegen  Bestechung 
zu  verschaffen?!?" 

,,Aber  Herr  Direktor,  wenn  ich  das  nicht  schon 
seit  Jahren  bei  hundert  Alkoholikern  getan  hätte- 
wäre  uns  ja  ein  jeder  schon  am  dritten  Tag  davon 

'  8i 


gegangen,  und  wir  hätten  unsere  Anstalt  leer  stehen 
gehabt!" 

„Nun  gut,  Anton,  aber  sorgen  Sie  wenigstens 
dafür  von  nun  an,  daß  die  leeren  Flaschen  nicht  ge- 
funden werden ." 

,,Herr  Direktor,  das  hat  mir  der  Diener  Franz 
angetan,  aus  Rache,  weil  ich  mir  soviel  nebenbei  ver- 
diene   ." 

Direktor  zum  Diener  Franz:  ,,Sie,  Franz,  küm- 
mern Sie  sich  um  Ihre  eigenen  Angelegenheiten!  Sie 
verdienen  genug,  indem  Sie  unsere  Alkoholiker  mit 
unseren   Hysterikerinnen   ein   wenig    , anbandeln' 

lassen .   Ein  jeder  hat  sein  Ressort.   In  einer 

Anstalt  muß  Ordnung  herrschen!" 


82 


DIE  ROMANTIKERIN  I. 

Ich  hielt  diese  Fünfzehnjährige  wirklich  für  ein 
Ideal  slawischer  Schönheit,  Stumpf nase  natürlich, 
aschblondes  Haar,  hechtgraue  oder  taubengraue 
Augen.  Alles  an  ihr  gefiel  mir,  und  nichts  an  ihr  miß- 
fiel mir.  Ihr  Schweigen  war  düster-merkwürdig,  ihre 
Interesselosigkeit  an  den  Dingen  des  Lebens  erschien 
mir  wie  die  versteckte  Weisheit  eines  vorausahnenden, 
gleichsam  seherischen  jungen  Geschöpfes,  an  das 
doch  heutzutage,  wie  die  Dinge  einmal  stehen  und 
liegen,  sich  in  jedem  Augenblick  irgendeine  Nie- 
derträchtigkeit heranschleichen  könnte!  Aber 
vorläufig  war  sie  geborgen,  beschützt,  geborgen! 
Nun,  trotz  alledem  war  ich  nur  ein  kühler  Beobachter, 
den  das  alles  absolut  gar  nichts  anging,  und  der  sich 
höchstens  einmal  zu  einem  Veilchensträußchen  für 
60  Heller  aufschwang.  Ich  sagte  zwar,  es  habe  eine 
Krone  gekostet,  aber  mit  gutem  Recht,  da  die  Pro- 
zente, die  mir  die  Blumenhändlerin  als  einem  Dichter 
gab,  eine  Privatangelegenheit  bilden  für  sämtliche 
Beteiligte.  Nun,  eines  Tages  bat  mich  die  Süße,  ob 
sie  für  ein  Stündchen  in  meinem  Zimmerchen  aus- 
ruhen dürfe,  während  ich  auf  dem  Spaziergang  be- 
findlich wäre.  Ich  erlaubte  es  ihr.  Als  ich  abends 
mein  Zimmer  betrat,  lagen,  nett  angeordnet  im  Kreise, 
sieben  Haarnadeln  auf  der  weißen  Marmorplatte 
meines  Nachtkästchens,  als  stiller  Dank  für  die  Be- 
herbergung. Seitdem  bin  ich  ein  anderer  Mensch  ge- 
worden. Diese  kindlich-zarte,  spielerisch-nette  Ro- 
mantik hat  mich  gerührt.  Diese  sieben  Haarnadeln 
sind  etwas  Positives  von  ihr,  sie  befanden  sich  vordem 

6«  83 


in  ihren  aschblonden  seidenweichen  Haaren.  Ich 
empfand  es  als  eine  kolossale  Belohnung,  ich  bewahrte 
die  Haarnadeln  in  Seidenpapier  und  schrieb  das 
Datum  darauf.  Ich  nehme  sie  oft  heraus  und  be- 
trachte sie.  Ich  bin  kein  objektiver  Beurteiler  mehr 
seitdem.  Ich  denke  immer,  wie  nett  sie  diese  sieben 
Haarnadeln  im  Kreise  angeordnet  hatte,  wie  eine 
Zeichnung  für  Anfänger,  strahlender  Stern.  Ich 
werde  mich  schon  wieder  ,,zur  Objektivität"  durch- 
ringen, denn  es  ist  das  Einzige,  was  man  hat,  wenn 
man  gar  nichts  hat ! 


84 


ERBLEICHET!   ERRÖTET! 

Ich  kann  es  immer  nur  wiederholen  und  wieder- 
holen: „Suchet  Zugluft  auf!"  Es  gibt  eine  ganz  ein- 
fache Art  für  reiche  Leute,  150  Jahre  alt  zu  werden, 
das  ist,  neben  dem  Chauffeur,  bei  jeglichem  Wetter, 
mit  freiem  Halse  und  ohne  Hut  durch  die  Welt  zu 
fahren,  und  nur  nachts  in  ruhigen  Zimmern,  bei 
weit  geöffneten  Fenstern,  zu  rasten.  Zugluft  ist 
das  Heilmittel!  Alles  daran  zu  setzen,  sie  vertra- 
ge n  zu  können,  ist  das  Wesen  des  modernen  „Höchst- 
kultivierten"! Angst  vor  Rheumatismus  oder  Bron- 
chialkatarrh ist  das  absolut  untrügliche  Zeichen 
eines  tief  rückständigen  unaristokratischen  Or- 
ganismus! Da  helfen  weder  Ahnen,  noch  sogenannte 
künstlerische  Qualitäten!  Der  betreffende  Or- 
ganismus ist  in  jeglicher  Beziehung  ,, geschnapst". 
Ein  Sänger,  der  seinen  Kragen  hochstellt,  ist  kein 
Sänger.  Seine  Kunst  kann  ihn  in  jedem  Augenblick 
im  Stiche  lassen!  Regen,  Sturm  müssen  dem  echten 
Sänger  Labsal,  ja  Erquickung  sein!  Er  setze  sich  auf 
dem  herrlichen  Plateau  der  Rax  tagelang  dem  Ge- 
brause  aus!  Was  die  Legföhre  aushält  und  das  Rho- 
dodendron, gerade  eben  dasselbe  muß  auch  er  aus- 
halten! Abgehärtete  Frauen  sind  bereits  dadurch 
allein  schon  in  einer  „höheren  Rangsklasse"!  Ver- 
wöhnte sind  Gänse,  in  jeder  Beziehung!  Ich  kenne 
alle  Seelen  und  Gehirne  der  nicht  absolut  abgehärteten 
Menschen.  Es  ist  Talmi  und  Pofel!  Schein- 
Existenzen  ! 


85 


OSTERMONTAG  AUF  DEM  SEMMERING 

Die  Lärchenbäume  haben  sich  jedenfalls  noch 
nicht  verändert.  Sie  sind  gelb-grau  geblieben  wie  im 
Winter.  Sie  lassen  keine  Hoffnung  zu.  Bis  alles  ge- 
schehen sein  wird,  der  geordnete  sichere  Frühling, 
dann  erst  werden  sie  ernstlich  ,, ergrünen".  Sie  sind 
,, voraussichtige  Genies"  unter  den  Gewächsen,  so 
Bismarcks,  Moltkes  der  Pflanzenwelt.  Andere  sind 
allzu  hoffnungsvoll,  stecken  den  Kopf  heraus,  glau- 
ben, es  wird  sich  schon  machen,  zum  Teufel!,  und, 
hast  du  nicht  gesehen,  sie  verwelken!  Aber  die  Lär- 
chenbäume sagen:  ,,Wenn  wir  einmal  anfangen,  grün 
zu  werden,  dann,  dann  gibt  es  kein  Zurück  mehr, 
verstanden  ? !  Und  dann  bis  in  den  Spätherbst  hinein, 
hurra!"  Der  rote  Vogelbeerbaum  macht  etwas  Ähn- 
liches, erhält  sich  sogar  mit  weißen  Schneehütchen 
seine  grellroten  Vogelbeeren,  die  letzte  Nahrungs- 
stätte der  gedrungenen  farbigen  Gimpel! 

Ostermontag.  Ein  Arbeiter  spielt  auf  der  Harmo- 
nika, und  eine  Frau  ruft:  ,,Zum  Essen!"  Irgend 
etwas  Besonderes  gibt  es  heute,  etwas,  was  die  ,, ge- 
wöhnlichen Ausgaben"  übersteigt!  Romantik  des 
Feiertagsessens!  So  hatten  wir  in  unserer  Kindheit 
Sonntags  stets  „Juliennesuppe",  Poulard  mit  Erd- 
äpfelsalat, und  Karamelpudding  mit  Himbeersaft. 
Der  Himbeersaft  war  nie  gewässert,  verdünnt,  wie 
stets  in  anderen  Bürgerhäusern;  denn  meine  Mama 
hatte  die  Absicht,  eine  jede  Hausfrau  zu  demütigen, 
zu  blamieren,  indem  sie  erklärte,  in  ihrem  Hause 
werde  der  Himbeersaft,  direkt  aus  der  Original- 
flasche, unverdünnt  serviert !  Viele  Damen  hielten 

86 


sie  infolgedessen  für  verschwenderisch,  ja  sogar  in 
gewisser  Hinsicht  für  exzentrisch.  Andere  aber  be- 
wunderten sie  als  eine  Art  von  zwar  unverständlichem, 
aber  dennoch  höherem  Wesen;  Himbeersaft  direkt 
aus  der  Originalflasche !  ? 

Vor  meinem  Fenster  ist  ein  Reh  in  einem  Holz- 
verschlage. Es  ist  so  ein  Plakat  für  ,, Wildreichtum 
der  umliegenden  Waldungen"!  Es  schnuppert  wie 
eine  Ziege,  es  denkt :  ,,Die  Freiheit  habe  ich  eingebüßt, 
da  will  ich  wenigstens  kulinarisch  genießen!" 

Im  ,,Kino"  schießt  ein  kleiner  Knabe  alles  aus 
einer  von  einem  Onkel  geschenkten  Büchse  zusam- 
men. Zuletzt  schießt  er  den  schweren  Lüster  vom 
Plafond  herunter.  Da  sagte  ein  dreijähriges  Mäderl 
neben  mir:  ,,Ist  der  Lüster  jetzt  gestorben  ? !"  ,,Nein," 
erwiderte  ich,  ,,er  hat  sich  nur  ein  bißchen  weh 
getan!" 

Es  ist  Ostermontag.  Ein  jeder  glaubt  es  zu  spüren 
direkt,  weil  er  es  nach  dem  Kalender  weiß!  Morgen, 
9.  April,  ist  ihr  zwölfjähriger  Geburtstag.  Aber  ich 
darf  ihr  nicht  gratulieren;  erstens,  weil  die  Herren 
Eltern  es  nicht  erlauben,  zweitens,  weil  ich  weder 
ihren  Namen  noch  ihre  Adresse  weiß !  Aber  ich  habe 
sie  gehen  gesehen,  das  genügt  für  meinen  Turm- 
falkenblick! Ich  würde  ihr  schreiben:  ,, Dante 
Alighieris  Beatrice,  1912"!  Aber  wozu?!  Bin  ich 
Dante?!  Nach  500  Jahren  soll  man  sie  mit  mir  in 
Beziehung  bringen!  Siehe,  meine  Seele  hat  Zeit, 
über  ihren  eigenen  Tod  hinaus  zu  warten!  — 


^7 


BERGHOTEL-FRONT 

Sechs  Uhr  morgens .  Ein  nebeHger  J  ulimorgen  .Alles 
duftet  nach  feuchtigkeitsdurchsogenem  Waldboden. 
Alle  Fenster  sind  geschlossen,  bis  auf  die  der  jungen 
Schönheit,  die  vor  den  Toren  der  Lungentuberkulose 
angelangt  ist.  An  diesem  Fenster  hängt,  vom  gestri- 
gen Abendprunke,  ein  tiefblau  seidenes  Gewand, 
bewegt  sich  im  Morgenwinde.  Irgendwo  singt  eine 
Kinderfrau  ein  Kindchen  wieder  in  den  unterbroche- 
nen Morgenschlaf  ein.  Ein  Hund  kriecht  vorüber,  als 
käme  er  von  einer  Sündennacht  außer  Hause.  Ich 
denke:  „Klara,  Franziska,  Sonja ",  und  be- 
lausche ihre  geliebten  Kinderatemzüge,  die  ich  nicht 
höre! 


88 


LANDPARTIE 

Ich  bin  „radikal"  geworden.  Ich  mache  mit  einer 
mir  sympathischen  Dame  eine  Eisenbahnfahrt  von 
25  Minuten  nach  M.  Wenn  sie  nicht  am  Fenster  lehnt 
und  in  die  Landschaft  hinausstarrt,  bin  ich  bereits 
enttäuscht,  nicht  mehr  ganz  ,,ä  mon  aise".  Sie  er- 
wartet also  ,, anregende  Konversation",  pfui!  Wenn 
sie  sagt:  ,,Es  zieht,  machen  Sie,  bitte,  das  vis-a-vis- 
Fenster  zu",  bin  ich  mit  ihr  fertig.  Rheumatismus 
zieht  nicht  bei  mir,  das  ist  schlechtrassig,  so  1870,  zur 
Krachzeit.  Wenn  ich  ihr  in  M.  das  herzige,  brausende, 
dunkle  Flüßchen  zeige,  muß  sie  entzückt  sein,  ja  sie 
muß,  sie  muß,  sie  muß !  Wenn  ich  ihr  den  Frieden  der 
langen  Dorfstraße  zeige,  muß  sie  selbst  ,,friedevoir' 
werden !  Wenn  ich  ihr  das  niedere,  schneeweiße  Haus 
zeige  mit  den  schwarzen  Eisengittern  und  den  vergol- 
deten Schleifen  und  sage:  ,,Hier  hatten  die  Generäle 
Napoleons  des  Ersten  Quartier ! " ,  so  muß  es  ihr  wie  hei- 
liger Schauer  über  ihren  rosigen  Rücken  laufen !  Bil- 
liger gebe  ich  es  nicht.  Es  sind  schlechte  Zeiten  ange- 
brochen für  wirklich  zarte  Seelen,  und  daher  muß  man 
prüfen,  ehe  man  ewig  Landpartien  macht!  Wenn  sie 
in  dem  kleinen,  traulichen  Dorf-Kaffeehaus  ihren  Tee 
selbst  bezahlt,  ist  es  gut.  Wenn  nicht,  ist  es  be- 
denklich. Wenn  sie  den  Soimenuntergang  nicht  be- 
achtet, sondern  lieber  von  einem  erzählt,  der  sie  einst 
sehr,  sehr  geliebt  hat,  ist  es  vollkommen  verfehlt. 
Auch  der  Rauch  der  Lokomotiven  sogar  hat  sie  zu 
interessieren.  Wenn  sie  sagt:  „Ich  möchte  nicht  gar 
zu  spät  nach  Hause  kommen",  so  ist  es  falsch.  Mit 
mir  kommt  man  immer  zu  früh,  und  nie  zu  spät 

89 


nach  Hause.  Auf  der  Rückfahrt  hat  sie  eine  andere 
zu  sein  wie  auf  der  Hinfahrt!  Wie  sie  das  macht,  ist 
ihre  Sache!  In  dem  „langen  Tunnel"  hat  nichts  zu 
geschehen!  Aber  sie  hat  es  innerlich  zu  bedauern, 
daß  es  so  war!  Ich  bin  „radikal"  geworden.  Eine 
Fahrt  von  25  Minuten;  Aufenthalt;  retour;  und  ich 
weiß  alles! 


90 


PSYCHOLOGIE 

Ich  beurteile  schon  seit  längerer  Zeit  die  Menschen 
nach  den  Gegenständen,  die  sie  tragen,  lieb  haben 
und  für  hübsch  finden.  Das  ist  ein  ,,biografical 
essay"  über  ihr  eigenes .  Wesen !  Zum  Beispiel  sind 
mir  Männer  höchst  suspekt,  die  Stöcke  tragen  mit 
oxydierten  Silbergriffen,  die  irgend  etwas  vorstellen, 
wie  Hundekopf,  Schlange  oder  gar  ein  reizendes 
Frauenköpfchen  mit  Lockengewirr.  Freilich  haben  die 
Kerls  dann  die  Ausrede,  sie  hätten  es  von  einem  lieben 
Freund  geschenkt  erhalten;  aber  erstens  hat  man 
keine  solchen  geschmacklosen  Freunde  eben  nicht  zu 
haben  (zwei  Verneinungen  geben  leider  eine  Beja- 
ung),  und  zweitens  kann  man  das  Geschenk  einem 
guten  Freund  auch  über  den  Schädel  hauen.  Über- 
haupt bin  ich  unter  kultivierten  Menschen  nur 
für  ,,Bons"  in  einem  bestimmten  Geschäft!  Suspekt 
ist  mir  auch  rosa,  hellblaue  und  grellrote  Seide, 
während  Atlas,  Samt  oder  Damast  bereits  zu  den 
,, leichten  Vergehen  wider  die  Sittlichkeit"  zu  zählen 
sind.  Bedruckte,  nicht  gewebte  Krawatten,  erregen 
ziemliches  Bedenken,  obzwar  hier  die  ,,Natur-Bauem- 
muster"  noch  zu  pardonnieren  sind.  In  , .einer 
einzigen  Farbe"  gekleidet  sein,  vom  Hut  bis  zu  den 
Schuhen,  ist  ,, letzte  Aristokratie"  1913!  Schirme 
haben  nur  Naturgriffe  zu  haben.  Ein  freier 
Hals  ist  edelrassig.  Hohe  Kragen  sind  ein  Non- 
sens, außer  für  Störche.  In  einem  Kleidungsstücke 
nicht  sämtliche  Bewegungen  eines  erstklassigen 
Parterreakrobaten  im  ,, Apollotheater"  machen  zu 
können,   ist  schlechtrassig!     Hosen  können  nie 

91 


breit  genug  sein,  und  sind  immer  noch  viel  zu  eng! 
Letzte  Knöpfe  am  Gilet  offen  zu  lassen,  ist  eine 
miserable  Vergeßlichkeit.  Jemandem,  der  sagt,  er 
wolle  nicht  auffallen,  dem  erwidere  ich,  daß  auch 
Beethovens  Adagios  auffallend  waren,  nämlich  auf- 
fallend schön!  ,,Die  Herde  ist  das,  wovon  man 
sich  in  allem  zu  unterscheiden  hat!"  ,,Man  trägt 
jetzt "  ist  ein  hundsordinärer  Blödsinn. 

,, Guten  Morgen,  mein  Herr,  wie  steht  Ihr  wertes 
Befinden?!"  sagte  ich  zu  einem  Fremden,  der  auf 
dem  ,,Semmeringer  Hoch  weg"  mit  Zylinder  spa- 
zieren ging. 

„O  sehr  gut,  in  dieser  herrlichen  Gebirgswelt; 
aber  woher  kennen  Sie  mich  denn?!" 

,,Ich  kenne  Sie  seit  Ihrer  Geburt  wie  meine  eigene 
Tasche,  da  ich  sehe,  daß  Sie  hier  einen  Zylinder 
tragen " 

„Ich  bin  das  meiner  Stellung  in  der  Welt  schuldig, 
mein  Herr " 

„Auch  das  habe  ich  sogleich  bemerkt,  daß  Sie 
irgend  jemandem  irgend  etwas  schuldig  sind ! " 


92 


VOR-VORFRÜHLING 

II.  Februar.  Semmering.  Ich  versuchte  es,  nach 
drei  Wochen  Krankheit  auszugehen.  Alles  schwamm 
in  Nebel  und  Nässe.  Die  Rodel wege  waren  nicht  mehr 
vorhanden,  ein  grauer  Schlamm  mit  ein  wenig  Glatt- 
eis waren  an  ihrer  Stelle.  Alles  war  schmutzig,  un- 
gepflegt, bereitete  sich  vor  für  sonnige  F"rühlingstage, 
die  trocknen,  fegen  und  beleben  sollten,  vor  allem 
aber  mit  der  Winterwirtschaft  ein  Ende  machen. 
Denn  weshalb  noch  hinziehen,  was  ohnedies  vergehen 
soll?!  Um  jedes  Gebüsch  herum  waren  tiefe  Schnee- 
löcher, die  Dächer  trieften  vor  glänzender  Nässe, 
ebenso  die  eisernen  Straßengeländer.  Schneerosen- 
knospen wuchsen  überall,  man  stellte  sie  in  Gefäße, 
aber  sie  erblühten  nicht,  aus  irgendeinem  versteckten 
Grund.  Man  bedauerte  die  Vögel  nicht  mehr,  Krähen 
und  Gimpel,  obzwar  sie  jetzt  ebensowenig  zu  fressen 
hatten  wie  im  starren  Winter.  Die,  die  das  überstehen 
hatten  können,  würden  auch  das  noch  überstehen. 
,,Ein  miserables  Wetter",  sagen  alle,  obzwar  es  in 
seiner  Miserablität  gerade  rührend  schön  ist.  Die 
Menschen  ziehen  sich  zurück,  wie  vor  einem  Menschen, 
der  nicht  mehr  ,,sein  Bestes"  leistet.  Es  ist  nicht 
Fisch,  nicht  Fleisch,  sagen  sie  einfach.  Nein,  aber  es 
ist  rührendes  Patschwetter.  Ich  finde  es  nicht, 
daß  es  weniger  anziehend  ist  als  der  starre  Winter  und 
der  helle,  klingende  Frühling.  Der  zerrinnende  Schnee 
ergreift  mich.  Er  war  einst  so  herrschsüchtig,  so  un- 
erbittlich, so  zäh-fest.  Die  ,, Champions"  liebten  ihn, 
nun  sind  sie  von  ihm  abgefallen.  Sie  können  ihre 
überschüssigen  Lebenskräfte  nicht  mehr  an  ihm  er- 

93 


proben,  schwächlich  geworden,  sucht  er,  gleichsam 
verlegen,  in  Bächlein  abzurinnen,  zu  verschwinden. 
Und  man  hatte  ihn  doch  so  sehr  geliebt,  direkt  ver- 
hätschelt, als  er  noch  brauchbar  war.  Jetzt  könnte 
man  singen: 

,, Schnee,  du  wirst  grau  und  schmutzig 

was  ist  mit  dir?! 

Zu  nichts  mehr  bist  du  nütze . 

Willst  du  vielleicht  sogar  meinem  geliebten  Kinde 
einen  Schnupfen  bringen?!? 

Du  Schnee,  dann,  dann  mag  ich  dich  auch  nicht 
mehr,  verschwinde!" 

Uiid  im  Gelände  werden  bald  Primeln  und  Veil- 
chen stehn, 

und  ich  werde  sie  pflücken  und  sie  dir  nicht  geben, 
das  heißt  äußerlich,  vor  den  Menschen.  Aber  vor 
Gott! 


94 


GEDENKBLATT 

Es  ist  merkwürdig  in  meinem  Leben.  Immer  das- 
selbe. Als  ob  ich  nicht  älter,  nicht  reifer  würde.  Und 
ich  bin  doch  schon  uralt  und  todeskrank.  In  meinem 
35.  Lebensjahr,  an  meinem  heißgeliebten  Gmundener 
See,  schlössen  sich  zwei  Kinder,  von  9  und  11  Jahren, 
mit  ihren  zarten  Seelen  leidenschaftlich  an  mich  an. 
Dadurch  entstand  meine  überhaupt  erste  Skizze,  die 
ich  je  geschrieben  habe,  in  der  Nacht  nach  dem  Ab- 
schied der  Kinder  von  mir,  ,,9  und  11".  Eines  Abends 
erklärte  die  9jährige  unter  Tränen,  indem  sie  das 
Nachtessen  verweigerte,  sie  würde  nichts  mehr  essen, 
bis  ich  nicht  zu  ihnen  ins  Haus  zöge.  Daraufhin 
schrieb  mir  der  Vater,  er  verbitte  sich  von  nun  an 
jeglichen  mündlichen  und  brieflichen  Verkehr,  ja 
sogar  den  Gruß  auf  der  Straße,  da  er  meinetwegen 
doch  nicht  auswandern  wolle.  Und  so  geschah  es, 
strikte  nach  seinem  Befehl.  Acht  Jahre  später  er- 
schien nach  einer  Burgtheaterpremiere  der  Vater  mit 
seinen,  zu  herrlichen  Geschöpfen  erblühten  Töchtern 
an  meinem  Stammtisch  im  ,, Löwenbräu".  „Ich 
komme  zu  Ihnen,  denn  mein  Töchterchen  A.  hat  sich 
gerade  so,  von  selbst,  entwickelt,  als  ob  Sie  wirklich, 
ihrem  heißen  Wunsch  gemäß,  damals  zu  uns  gezogen 
wären;  eine  weltenferne  Träumerin!" 

Drei  Tage  später  traf  sie  in  der  Kämtnerstraße, 
bei  ,, Schwarz  und  Steiner",  der  Gehirnschlag.  Sie 
hatte  gerade  vorher  gesagt:  ,,Da  geht  mein  Loge- 
Sänger  ,,Schmedes",  mit  seinem  gazellenfüßigen, 
herrlichen  Töchterchen  .  . . !"  Sie  wankte  und  war  tot. 

Ich  fuhr  mit  den  Eltern  im  Trauerwagen. 

95 


Da  sagte  der  weinende  Vater,  der  nun  auch  schon 
tot  ist:  ,,Wenn  ich  das  hätte  ahnen  können,  hätten 
Sie  vor  acht  Jahren  unbedingt  zu  uns  ziehen 
müssen !" 

,,Nein",  erwiderte  ich,  ,,auch  wenn  Sie  das  hätten 
ahnen  können,  wäre  Ihnen  eine  tote  Tochter  heber 
gewesen  als  eine,  die  den  Dichter  verehrt!" 


96 


OBERFLÄCHLICHER  VERKEHR 

Ein  Herr,  den  ich  zehn  Jahre  lang  nicht  gesehen 
liattc,  kam  im  Berghotel  per  Automobil  an  und  sagte 
zu  mir:  „Gut.  daß  ich  gerade  Sie  hier  begrüßen  kann. 
Sie  kennen  sich  doch  auf  dem  Semmering  gewiß  gut 
aus.  Wo  ist  hier  der  Rase  ur  ? !"  —  „Gleich  im  Hause 
daneben",  erwiderte  ich.  —  „Ich  wußte  es  ja,"  sagte 
er  beglückt,  ,,daß  ich  mich  an  die  richtige  Adresse 
gewendet  habe;  adieu ." 

Ein  Herrschreibt  mir  aus  Prag:  ,, Teurer  verehrter 
Meister,  in  Ihrem  Buche  ,,Prodromos"  ist  ein  eng- 
lischer Reibhandschuh  angepriesen.  Kann  ihn  in 
ganz  Prag  nicht  finden.  Bitte  auch  um  genaue  Angabe 
des  Preises!"  Ich  schrieb  zurück:  ,, Bürsten  sind  nur 
in  Eisenhandlungen  zu  finden,  Preis  i  Krone  und 
IG  000,  je  nach  der  Qualität!" 

Eine  Dame,  die  mir  ausnehmend  gut  gefiel,  sagte 
mir :  ,,Ich  habe  ein  diskretes  Anliegen  an  Sie.  Können 
Sie  mich  nicht  mit  Ihrem  reizenden  Freunde  bekannt 
machen?!"  —  ,,Nein!"  erwiderte  ich  schlagfertig. 

Ein  Herr  aus  Berlin  schrieb  mir:  ,,Wie  lange 
wollen  Sie  noch  uns  Leser  mit  Ihren  Brocken  von 
angeblicher  Seelentiefe  anöden?!"  Ich  erwiderte, 
ich  sei  zwar  schon  ziemlich  abbröckelnd,  aber  den 
genauen  Zeitpunkt  des  definitiven  Endes  könne 
ich  nicht  angeben,  er  möge  sich  noch  ein  wenig  ge- 
dulden   . 

Jemand  fragte  mich,  wo  denn  eigentlich  meine 
Bücher  zu  haben  seien  ? !  Worauf  ich  erwiderte :  ,,Ich 
glaube,  der  Bäckermeister  oder  der  Schuster  dürfte 
noch  einige  Exemplare  auf  Lager  haben ." 

7  97 


Jemand  schrieb  mir  aus  Klein-Höflein,  wo  ich 
nie  gewesen  war  und  auch  niemanden  kenne: 
„Falls  Sie  nicht  innerhalb  acht  Tagen  Ihre  Schuld  von 
II  Kronen  60  Heller  bezahlen,  werde  ich  die  Sache 
meinem  Advokaten  übergeben!"  Infolgedessen  be- 
zahlte ich  II  Kronen  60  Heller  nach  Klein-Höflein. 
Wenn  ich  nur  wüßte,  wo  dieser  Ort  liegt?! 

Jemand  sagte  zu  mir;  ,,Ah,  Sie  sind  der  berühmte 
Herr  Paul  Altenberger,  über  den  so  viele  gute  Witze 
kursieren?!"  Ich  sagte,  ich  hätte  noch  andere  Quali- 
täten, und  entfernte  mich  hoheits voll-gelassen. 

Eine  junge  Dame  sagte  zu  mir :  ,, Einmal  und  nicht 
wieder!"  Ich  hatte  sie  nämlich  ihr  Nachtmahl  selbst 
bezahlen  lassen.  Freilich  hatte  ich  die  vergebliche 
Hoffnung  gehabt,  sie  würde  auch  meines  gleich  mit- 
bezahlen   . 

Eine  reiche  Familie,  der  ich  es  mitteilte,  daß 
heute,  9.  März,  mein  Geburtstag  sei,  sagte  im  Chore, 
daß  man  es  mir  wirklich  gar  nicht  ansehe,  ich  schaute 
aus  wie  ein  guterhaltener  Fünfziger.  Mir  wäre  es 
lieber  gewesen,  ich  hätte  den  ,, Fünfziger"  gut  er- 
halten ! 

Das  sind  lauter  oberflächliche  Bekanntschaften, 
nichts  Solides  dahinter,  kein  Gemüt  und  kein  Geld. 
Es  ist  sehr,  sehr  schwer,  Menschen  zu  finden,  die  sich 
wirklich  und  ernstlich  an  einen  anschließen . 


98 


BEAUTE 

So  wenig  also  hältst  du  von  der  Schönheit 
deines  nackten  weißen  oder  braunen  Edelleibes,  daß 
du  dich  verpflichtet  fühlest,  ihn  zu  schmücken,  sagen 
wir  , .behängen"  und  ,, belasten"  mit  hundert  Edel- 
fellchen  wertvoller  Tierchen?? 

Stolz  nennst  du  die  Summe,  die  es  gekostet 
hat . 

Erhöht  es  deinen  Wert,  daß  man  für  dich  be- 
zahlte?! 

Du  weißt,  die  Besten  gehen  in  geflickten  Kit- 
teln, 

ihr  Pelz  ist  Demut  und  Bescheidenheit. 

Oder  sie  tragen  das  heilig-einfache  Gewand 
der  Pflegeschwestem. 

Schwarz  weiß  und  eine  große  Brosche  in  Email 
mit  einem  Kreuz, 

zierten  euch  mehr!    - 

Von  innen  strahlt  der  Wert  nach  außen  aus, 

mit  Mardermänteln  bleibst  du  roh  und  nichtig! 

Ich  hasse  jene  Männer,  die  euch  lieben, 

in  eurem  stinkenden  Prunke! 

Nein,  ich  hass'  sie  nicht, 

denn  ihre  Liebe  ist  derselbe  Schein  wie  Eure 
Fetzen, 

sie  lieben  nicht sie  hassen  und  ver- 
achten Euch 

vielleicht  noch  mehr,  berechtigter  als  ich!!! 
Jedoch,  sie  müssen! 


7* 


99 


DIE  SPIELEREIEN  DER  REICHEN 
LEUTE 

In  einem  ersten  „Cercle"  der  Residenz  kam  man 
auf  die  Idee,  einen  Preis  von  lo  Flaschen  Champagner 
auszuschreiben  für  die  allerstupideste  Frage.  Ein 
Graf  gewann  den  Preis  mit  der  Frage:  ,,Comment  mi 
homme  de  tacte  et  de  goüt  doit-il  se  comporter, 
lorsqu'il  rencontre  la  nuit  dans  une  foret  un  accent 
circonflexe?!" 


100 


RICHTIGE,  ABER  EBEN  DESHALB 
WERTLOSE  BETRACHTUNGEN 

Es  ist  eigentlich  ganz  widersinnig,  auf  eine  Frau 
eifersüchtig  zu  sein,  die  einem  noch  gar  keine  Kon- 
zessionen gemacht  hat.  Denn  je  mehr  Konzessionen 
sie  den  anderen  macht,  desto  größer  ist  die 
Chance,  daß  sie  einem  dieselben  mache,  und  even- 
tuell noch  größere!  Es  ist  die  falsche  ewige  Hoff- 
nung, sie  für  sich  allein  erlangen  zu  können!  Aber 
das  kann  man  nicht.  Denn  es  hängt  nicht  von  dem 
ab,  was  sie  gewähren,  oder  nicht  gewähren  will, 
sondern  von  der  ewigen  Reizung  ihres  Nervensystems, 
daß  tausend  Männer  das  und  das  von  ihr  sich  er- 
sehnen! Das  allein  läßt  sie  nicht  ,,zur  Treue" 
kommen.  Es  wäre  denn,  daß  man  alle  anderen  über- 
biete! Aber  solche  ,, Coups"  gelingen  selten  auf  der 
Lebensbörse! 


loi 


DIE  PROBE 

Es  gibt,  eine  sichere  Probe  für  Sympathie .  Ich  denke 
mir  alle  schönen  Mädchen  hier  in  dem  Berghotel,  die 
mir  gefallen,  der  Reihe  nach  quer  über  eine  breite 
weiße  Landstraße  aufgestellt.  Plötzlich  rast  von  einer 
scharfen  Kurve  her  ein  riesiges  Automobil.  Welche 
wirst  du  instinktiv  zurückreißen,  erretten  ? !  ?  Von 
allen  nur  Klara,  Franziska  und  die  blonde  13  jährige 
süße  Ungarin! 


102 


EREIGNIS 

x\m  24.  Juli  haben  sie  die  Bergwiesen  ge- 
mäht   

hingeschnitten  die  diskreten  Farben  eines  alten 
Perserteppifhs 

die  Duft-Symphonien  abgebrochen  unserer  „mu- 
sikalischen Nasen"!  Wie  ein  Kapellmeister  „ab- 
klopft". 

Frischer  einfacher  Heuduft  wurde  sogleich,  und 
schon  ahnte  man  feiste  Kühe  mit  den  Stampfmühlen 
ihrer  feuchten  Mäuler  für  die  rosigen  Euter  es  vor- 
bereiten ! 

Wie  Urkraftrausch  wäret  ihr,  Bergwiesen,  bis 
zum  24.  Juli. 

Es  dröhnte  von  Hummeln ;  es  schimmerte  braun- 
wolkig, distellila,  schafgarbenweiß,  königskerzen- 
gelb, arnikagold;  es  roch  wie  ,, Menagerie",  ,, Apo- 
theke"; wie  Bienenhonig  schmeckt,  so  roch  es  im 
vorhinein. 

Es  betäubte  süß  und  belebte. 

Es  vermittelte:  sanft  einschlummern,  frisch  er- 
wachen ! 

Nun  ist  es  nicht  mehr. 


103 


ENDE 

Vom  17.  September  1911  bis  19.  Oktober  1912 
war  sie  seine  kleine  Heilige.  Sie  war  geboren  9.  April 
1900. 

Dann  erzählte  ihr  eine  Dame  der  sogenannten 
,, guten  Gesellschaft",  daß  er  ein  Säufer  sei,  und  schon 
zwei  Jahre  im  Irrenhaus  interniert  gewesen  sei. 

Hatte  er  sie  seitdem  weniger  lieb?!  Das  war  ja 
unmöglich. 

Aber  sie  schämte  sich  seitdem  seiner  Vereh- 
rung   . 

Die  Liebe  eines  besoffenen  Tollhäuslers?!  Pfui 
Teufel! 

Da  wollte  er  ihr  das  ersparen,  und  mied  sie  von 
nun  an. 

Hie  und  da  hörte  er  in  den  Korridoren  des  Hotels 
ihre  geliebte  jauchzende  Kinderstimme. 

Da  schloß  er  denn  die  beiden  Türen  seines  Zim- 
mers und  warf  sich,  in  unmeßlichen  körperlichen  und 
seelischen  Qualen,  auf  sein  Sofa  hin. 

So  endete  eines  seiner  schönsten,  seiner  tiefsten 
Lebensgedichte,  das  viel  Leid,  viel  Begeisterung 
und  viel,  viel  Liebe  in  sich  ein  Jahr  lang  geborgen 
hatte ! 


104 


NACH  ABWÄRTS 

Niemand  beschrieb  noch  körperhchc  Qualen 

weißt  du,  wie  Brandwunden  sind  am  zarten  Fin- 
gerballen?!   So  brennt  es  dir  im  ganzen  Leibe, 

und  keine  Linderung  durch  aufgelegtes  Leinöl; 

es  brennt  Tag  und  Nacht. 

Wie  eine  mittelalterliche  Folter,  der  du  unter- 
liegst; die  Folterknechte  aber  sind  im  Innern;  und 
unsichtbar  ereignet  sich  das  Schreckliche. 

Scheinbar  friedlich  sitzest  du  in  deinem  Zimmer- 
chen, 

und  draußen  ist  der  braune  Bergwald. 

Er  kann  dir  nicht  mehr  helfen,  er,  der  dir  einst 
half  zu  den  Begeisterungen,  dem  besten  Mittel,  jung 
und  stark  zu  sein! 

Und  nachmittags  irr'  ich  in  den  langen,  schmalen, 
düsteren  Korridoren, 

das  Antlitz  meiner  kleinen  Heiligen  zu  sehn. 

Wenn  ich  sie  erschaue,  ergreift  mich  der  Gram. 

,,Wie  geht  es  Ihnen  heute?!"  sagt  sie  sanft,  und 
blickt  erstaunt  auf  diese  menschliche  Ruine,  die  ihr 
fast  täglich  tiefe  Hymnen  singt . 


105 


ABSCHIED 

Mein  geliebter  Pinkenkogel,  hart  an  meinem 
Fenster  aufsteigend, 

ich  sage  dir  Adieu! 

Ich  muß  nun  wieder  ins  Exil  hinter  vier  Mauern; 
die  Menschen  wollen  „langsam  Sterbende"  nicht 
sehn.    Und  diese  wieder  nicht  die  Menschen! 

Dazu  sind  diese  „Institute"  da,  daß  nur  der  weite 
stark  die  Klagen  höre. 

Der  ,, Pfleger"  sieht  die  Träne  ungerührt.  Wo 
kam'  er  hin,  wenn  er  sich  rühren  ließe?! 

Geliebter  Pinkenkogel,  lebewohl . 

Und  sag'  auch  ihr 

wie  liebt  sie  deine  Bäume  und  deine  Pfade  auf- 
wärts zu  der  Alm 

und  sag'  auch  ihr 

nein,  sag'  ihr  nichts! 

Sie  weiß,  daß  unter  allen  Abschiedstränen 

die  qualvollste  für  sie  vergossen  ist  —  —  — . 


io6 


KRANKEN-TOILETTE 

Wenn  die  Anverwandten  zu  Besuch  kommen, 
wird  der  Kranke  „herausstaffiert".  Das  geschieht 
nicht  etwa  aus  irgendeinem  Versuche,  die  Verwandten 
über  den  Zustand  des  Kranken  irrezuführen,  sondern 
aus  einem  ganz  einfachen  Grunde:  Man  läßt  den 
Kranken  eben  solange  als  möglich  in  seinem  ihm  not- 
wendigen, ja  zuträglichen  Zustande  von  Apathie, 
Man  zwingt  ihn  zu  nichts,  wartet  es  geduldig  ab,  bis 
er  von  selbst  wieder  zum  gewöhnlichen  Leben  er- 
wache. Aber  gerade  den  Anverwandten  darf  man 
diesen  Zustand  von  organischer  und  infolgedessen 
nützlicher  Apathie  des  Kranken  nicht  vor  Augen  füh- 
ren. Denn  hierin  ersehen  sie  nur  eine  traurige  Stag- 
nation des  Leidens,  was  ihnen  in  Anbetracht  ihrer 
Sorge  und  ihrer  eventuellen  Geldopfer,  auch  Zeit  ist 
Geld,  sagt  der  Engländer,  nicht  erwünscht  sein  kann. 
Auch  erhofft  sich  der  Pfleger  ein  größeres  Trinkgeld, 
falls  der  Patient  den  Eindruck  von  ,, rücksichtsvoll- 
ster Pflege"  macht.  Das  ist  doch  ganz  natürlich  und 
selbstverständlich.  Es  ihm  zu  verübeln,  wäre  albern. 
Infolgedessen  wird  der  apathische  Kranke  aus  seiner 
wohltuenden  Ruhe  plötzlich  aufgescheucht,  gesäu- 
bert, rasiert  und  nimmt  sich  in  seinem  frisch  über- 
zogenen Bette  aus,  wie  ein  krankes  Geburtstagskind. 
Alle  Besucher  sind  einig  darüber,  daß  er  sich  fabel- 
haft erholt  habe,  und  schauen  voll  Bewunderung  und 
Rührung  einmal  auf  den  bescheidenen  Arzt,  und  ein- 
mal auf  den  stolzen  Pfleger.  Nach  dem  Besuchtage 
verfällt  der  Kranke  wieder.  Gesundheit,  Lebens- 
fähigkeit, Energie  hängen  leider  nicht  von  Besuchs- 

107 


tagen  ab  der  Anverwandten.  Man  schleppt  sich  hin, 
eine  zerbrochene  Maschine,  und  eines  Tages  steht 

man  auf  und  ist  gesund.    Oder man  steht 

nicht  mehr  auf.  Dann  ist  auch  wieder  Besuchstag. 
Man  ist  gewaschen,  rasiert,  Hegt  in  einem  frisch  über- 
zogenen Bette  wie  ein  Geburtstagskind,  aber  wie  ein 
totes.  Nein,  das  sind  Utopien.  Bei  Nacht  wird  man 
insgeheim  weggeführt,  denn  niemand  in  der  Anstalt 
soll  wissen,  daß  ,, etwas  sich  ereignet"  hat,  was  keine 
Hoffnung  zuläßt . 


io8 


KUSINE 

Mit  52  Jahren  stürzte  meine  Kusine  ab  vom  See- 
kofel, beim  Blumenpflücken. 

Mit  16  erhielt  sie  ihr  erstes  Ballkleid  von  „Maison 
Marisson". 

„Sie  muß  die  Schönste  sein!"  sagte  die  Direktrice 
des  Ateliers  zuversichtlich. 

Zum  ersten  Male  dichte  Rüschen  in  gelbem 
Musselin.   Bis  dahin  trug  man  nur  weiße  Ballkleider. 

Sie  war  die  Schönste.  Sie  erregte  Neid.  Sie 
glaubte,  ein  Prinz  werde  kommen  oder  etwas  Ähn- 
liches, z.  B.  ein  Bankdirektor.  Was  hätte  sie  anderes 
sich  erträumen  können,  in  gelben  Musselin-Rüschen 
von  der  , .Marisson",  und  entouriert  von  allen?! 

Zum  Souper  meldeten  sich  14  Herren. 

,,Ich  hab'  nur  eine  rechte  Seite  und  eine  linke", 
sagte  sie  glückstrahlend. 

Mit  52  Jahren  stürzte  sie  vom  Seekofel  ab,  beim 
Blumenpflücken . 

Was  sie  erlebt,  von  16  bis  52,  ich  weiß  es  nicht. 
Ich  kenne  nur  ihren  ersten  Triumph  und  ihren  letzten 
Absturz .  Dazwischen  dürfte  so  eine  Me- 
lange gewesen  sein  von  beiden! 


109 


LIED 

Was  nützt  des  Herbstes  braune  Symphonie?! 

Ich  bin  zu  krank. 

Sonst  sah  ich  alles  mit  dem  Blick  der  Liebe,  dem 
Blicke  einer  namenlosen  Zärtlichkeit. 

Ich  wußte  wie  die  Buche  sich  verfärbt  im  frühen 
Froste, 

und  wie  ihre  Röte  allmählich  erbräunt. 

Die  Amsel  raschelte  im  dürren  Laub,  die  schwarze 
Schnecke  zog  über  die  Wege. 

Du  sagtest  mir,  holdestes  Kind,  du  müßtest  nun 
in  ein  Institut,  für  2,  3  Jahre . 

Ja,  es  ist  Herbst  geworden,  und  ich  bin  zu  krank. 


iio 


ECHT 

Ich  bin  sehr  skeptisch  in  bezug  auf  Empfin- 
dungen. FestUche  Stimmung  bei  Geburtstags j  ausen , 
bedenkhche  Gesichter  bei  schweren  Krankheitsfällen 
können  mir  noch  lange  nicht  imponieren.  Ich  kenne 
diese  „Rolle"  wohlerzogener  Leute.  Darüber  mehr 
zu  sagen,  wäre  eine  Banalität,  obzwar  auch  dieses 
wenige  schon  eine  beträchtliche  ist.  Aber  eine 
Empfindung  gibt  es,  die  nicht  unecht  ist,  das  ist 
das  klägliche  Aufheulen,  ähnlich  wie  Hunde  beim 
Klavierspielen,  der  allernächsten  Angehörigen,  in 
dem  Augenblicke,  da  der  Sarg  aus  dem  Schlafzimmer 
hinausgetragen  wird.  Da  gibt  es  kein  Schluchzen, 
kein  adieu,  kein  Lebewohl,  kein  oh  und  kein  ach. 
Da  gibt  es  nur  ein  klägliches  erschreckendes  Auf- 
heulen, ein  Winseln,  wie  wenn  man  den  liebevollen 
Hund  aussperrt,  ihm  die  Türe  vor  der  Nase  zuschlägt. 
Freilich  ,,derfangt"  man  sich  sogleich  wieder,  von 
den  ,, nicht  allernächsten"  Verwandten  liebevoll  ge- 
stützt, und  wankt  zu  Hut,  Handschuhen  und  Schirm. 
Der  Leichenwagen  wartet  nämlich. 

Aber  dieser  eine  kurze  Augenblick  ist  echt,  da 
der  Tote  sein  Schlafzimmer  verläßt,  getragen  von 
vier  fremden  Männern.  Da  sagt  man  nämlich  wirk- 
lich Adieu  und  heult  auf,  und  winselt  und  spürt  es 
daß  eigentlich  alles,  alles  auf  der  Welt  nicht  dafür- 
steht   . 


III 


GESPRÄCH 

„Wie  ist  das  also,  Peter,  mit  dem  ,Geben',  wie 
Sie  immer  behaupten,  das  seliger  sein  soll  als  das 
,Nehmen'?!   Wie  ist  das  ?!" 

,,Das  ist  also  so :  wenn  du  an  einem  Bettler  vorbei- 
gehest, und  du  bist  nur  erfüllt,  gehoben,  durchwärmt 
von  dem  Gefühle,  eine  exzeptionelle  Freude  jemandem 
bereiten  zu  wollen,  die  in  deiner  Macht  steht,  sie  zu 
spenden,  und  du  schenkst  ihm  da  eine  Krone,  während 
er  dich  ansieht,  anstarrt,  als  hättest  du  dich  nur  in 
der  Münzsorte  vergriffen,  du  aber  gehest,  ihm  zu- 
nickend, hinweg das  ist:  Geben  ist  seliger 

denn  nehmen!  Wenn  du  aber  denkst:  ,,Pfui,  diese 
Belästigung!  Dieser  alte  zerfetzte,  demütige  Hund!" 
Und  du  gibst  ihm  dennoch  20  Heller,  so  hochnäsig- 
widerwillig,  dann,  dann  ist:  Geben  unseliger  denn 
nehmen!" 

,, Peter,  also  da  hast  du 20  Heller!   Nein, 

ich  habe  nur  Spaß  gemacht.  Ich  will  dir  eine  Krone 
schenken,  hole  sie  dir  heute  nacht  von  meinem  Nacht- 
kästchen ab ." 


112 


BILANZ 

Es  gibt  Dinge,  die  unvergeßlich  sind.  Mit 
diesen  hat  man  seine  Seele  zu  beschäftigen  und 
alle  anderen  Dinge  zurücktreten,  verblassen,  ver- 
schwinden, also  allmählich  absterben  zu  lassen. 
Unvergeßlich  ist  das  Vöslauer  laue  Schwimmbas- 
sin mit  Lindengeruch.  Dann  der  „Lackaboden", 
Alm  vor  dem  Schneeberg;  die  Bodenwiese  mit  den 
Kolröserln;  Austern  ä  discretion,  also  sechs  Dutzend ; 
die  kleine  ,, Veilchenfeld",  die  kleine  Magda  S., 
Evelyn  H.,  Klara  und  Frantzi  P,  und  Eva  Leo- 
pold und  Sonja  Dunjersky.  Dann  Richard  Wagner, 
Beethoven,  Mozart,  Bach,  Grieg,  Hugo  Wolf,  Ri- 
chard Strauß,  Johannes  Brahms,  Puccini,  Massenet. 
Dann  die  ,, Topfen -Pastete"  und  ,, Filet  de  Sole 
ä  la  Momy"  und  ,,Poires  bonne  femme"  und 
,,pommes  concierge".  Dann  ,, Hamsun",  ,,Strind- 
berg",  ,, Maeterlinck",  ,, Gerhart  Hauptmann".  Dann 
„Van  Dyck"  als  ,,Des  Grieux"  in  ,,Manon",  ,, Ma- 
ria Renard"  als  ,, Lotte"  in  ,, Werther",  ,, Her- 
mann Winkelmann",  in  allen  seinen  Rollen.  Dann 
der  ,,Semmering",  zu  allen  Jahreszeiten.  Man 
muß  ,,Buch  führen"  über  ,, reelle  Werte",  im  sonst 
leicht  ,, passiv  werdenden"  Dasein!  Frauen  haben 
eine  perfide  Geschicklichkeit,  ,, unreelle  Werte",  wie 
Schmuck,  Pelz,  Kleider,  in  ihr  ,, Plus-Konto"  des 
Lebens  frech  einzutragen.  Da  müssen  sie  halt  die 
ganze  Bilanz  plötzlich  durch  einen  ,, feschen  Offi- 
zier" wieder  ins  Gleichgewicht  bringen!  Auch  ,, un- 
glückliche Spieler"  legen  sich  plötzlich  eine  ,, Ge- 
liebte" zu,  um  sich  es  in  ihrem  falschen  Buch- 

*  113 


Konto  zu  verrechnen,  daß  sie  „an  ihr"  zugrunde 
gegangen  sind! 

Eine  richtige,  anständige,  ehrhche  ,, Bilanz  des 
Daseins"  führen  nur  die  Selbstmörder.  Aber  wie 
wenige,  helas,  gibt  es  noch  heutzutage  ? ! 


114 


SEHR  GEEHRTES  FRÄULEIN! 

Sie  lieben  also  Albert !  ? 

Sie  suchen  also  eigentlich  einen  Mann,  dem  Sie 
,,sein  Alles"  sind;  der  durch  Sic  es  vergißt,  daß  die 
Welt  erfüllt  ist  von  herrlichen,  merkwürdigen,  an- 
mutigen und  originellen  Geschöpfen !  ?  Sie  suchen 
also  einen  Idioten!  Einen,  dem  Sie  die  Schmach 
antun,  ihn  in  einen  Zustand  zu  versetzen,  wie  der 
Auerhahn  auf  der  Morgenbalze.  Einen,  der  vor  Ge- 
fühl nichts  anderes  mehr  sieht  und  hört  um  ihn 
herum!  Um  ihm  etwas  bieten  zu  können,  rauben, 
stehlen  Sie  ihm  seine  Weltenseele,  und  für  eine  Haar- 
nadel aus  Ihren  Haaren  gibt  er  das  Glück  von  Tau- 
senden eventuell  hin!  Und  diese  Scheuklappen- 
politik nennt  Ihr  dann  ,, Liebe"!  Ein  verdoppelter 
Egoismus,  dem  zum  , »heiligen  Dreibund"  nur  noch 
der  miserable  Köter  ,,Putz"  fehlt,  an  den  Ihr  Euch 
gemeinsam  attaschiert ! 


115 


HERBSTLIED 

Die  Ahornblätter  sind  wieder  goldgelb,  man  kann 
die  einzelnen  goldenen  Bäume  zählen  im  dunklen 
Forste.    Also  ist  es  Herbst. 

Gerade  vor  einem  Jahre  sah  ich  sie,  25.  September 
1911. 

Sie  war  11  Jahre  alt.    11!    Was  macht  es?!? 

Der  Wald  bot  damals  alles,  was  er  heute  bietet, 
und  immer  bieten  wird . 

Nur  ich  bin  düsterer  geworden,  weil  ich  zuviel 
an  ihre  Zukunft  denke. 

Als  ich  sie  damals  sah,  da  ging  ich  in  den  Wald, 
um  mir  es  einfach  jauchzend  mitzuteilen:  ,,Du  hast 
das  Herrlichste  erschaut!" 

Jetzt  aber,  tieferfüllt  von  ihr,  seh'  ich  im  düsteren 
Herbstwald  dunkle  Schatten  kommender  Eroberer! 

Oh,  Gnade,  Gnade,  Ihr  Herren,  für  mein  geliebtes 
Kindchen ! 

Tut  ihr  nichts! 

Die  Ahomblätter  sind  wieder  goldgelb  geworden, 
man  kann  die  goldenen  Bäume  einzeln  zählen  im 
dunklen  Forste.    Also  ist  es  Herbst. 


116 


EWIGE  ERINNERUNG 

Von  Kortina  brachen  wir  auf,  Automobil,  9  Uhr 
morgens,  und  schlängelten  uns  hinauf,  auf  den  Fal- 
zaregopaß,  21 17  Meter.  Hinter  dem  Hotel  pflückte 
ich  ,,Speik",  diese  weiße  duftende  Bergblume,  Kind- 
heitserinnerung. Der  Boden  war  schwarz,  weich  und 
und  feucht ;  und  überall  rieselte  Schneewasser.  Und 
dann  hinab  ins  Tal.  Und  von  da  aus  sogleich  wieder 
auf  den  Pordochjochpaß,  Kristomanos-Schutzhaus, 
2250  Meter.  Da  gab  es  gar  keine  Blumen  mehr,  wie 
herrlich.  Der  starre  Sturm  verbat  sich  alles  Blühen. 
Er  stöhnte  und  beherrschte !  Wie  wenn  man  als  Kind 
eine  große  Seemuschel  ans  Ohr  dicht  anlegt,  so 
brauste  es.  Nur  sagt  man  in  jenem  Falle,  das  Tosen 
des  Meeres  sei  in  der  Muschel  eingefangen.  Hier  aber 
ist  nichts  eingefangen;  man  sieht  das  Brausen  über 
die  kahlen  gelb-braunen  Wiesen;  ganz  aus  erster 
Hand  vernimmt  man  den  Sturm.  Im  wunderbar 
warmen  geschützten  Speisezimmererker,  nahm  ich 
ihr  Bild  heraus  (Kl.  P.),  betrachtete  es  lange.  Ich 
dachte:  ,,Mit  dir  hier  zu  sein!"  Aber  es  wird  nie, 
nie,  nie,  nie  sein .    Wie  schade. 


117 


GESANG 

In  allem  hatte  sie  treffsicheres  Urteil. 

In  allem.    Nur  sein  Gesang  gefiel  ihr, 

obzwar  die  Töne  wie  laues  Regenwasser  seinem 
geziert  ovalen  Mund  enttropften. 

Er  sang  mit  ihr,  sie  spielte  das  Klavier,  er  sang 
für  sie! 

Und  deshalb  fand  sie  seine  Stimme  lieblich, 

obzwar  sie  selbst  das  C-moll-Adagio  Beethovens 
unaussprechlich  zärtlich  spielen  konnte, 

und  für  alles  sonst  aristokratisch-feine  Ohren 
hatte. 

Und  einmal  sagte  sie  zu  mir: 

,,Ist  es  Ihr  Ernst,  daß  Sie  seine  Stimme  für  tonlos 
halten,  oder  steckt  da  etwas  dahinter.  Lieber?!" 

,,Es  steckt  etwas  dahinter!"  sagte  ich,  ,,das  Vor- 
urteil des  dummen  Weibchens!" 


ii8 


SOUPER 

Es  war  ein  Nichts . 

Immer  ist  es  ein  Nichts,  aus  dem  zuletzt  ein 
Etwas  wird! 

Törichte  Frauen,  die  ihr  mit  dem  Leben  tändelt, 
mit  uns  und  mit  euch  selbst! 

Er  sagte  einen  dummen  Scherz, 

so  um  den  Bann  zu  brechen  öder  Stimmung. 

Da  gössest  du  aus  deinem  Glase  ein  wenig  Wasser 
ihm  auf  sein  Gewand . 

,,Zur  Strafe!"  sagtest  du  lächelnd. 

Koketter  Kerkermeister! 

Jede  Intimität  ist  eine  perfide  Brücke  zu  einer 
Seele  oder  zu  unedleren  Teilen. 

Er  fühlte  sich  geehrt  durch  das  Begießen, 

und  seine  Augen  sagten  gleichsam:  ,,  Es  kam  von 
dir!" 

Es  war  ein  Nichts 

immer  ist  es  ein  Nichts,  wie  Frauen  nämlich 
denken,  ein  Nichts,  das  uns  tief  unglückselig 
macht ! 


119 


DIE  WAGENFAHRT 

Alle  sagten  zu  ihm  sehr  bald  „Herr  Peter"  oder 
„Peter".  Aber  sie  sagte  nach  langer  Bekanntschaft 
„Herr  Altenberg".  Er  schrieb  ihr  das.  Sie  sagte 
weiter  wie  bisher:  „Herr  Altenberg",  obzwar  er  eine 
zärtliche  Freundschaft  für  sie  hatte.  Eines  Tages 
fuhren  sie  im  Wagen  durch  seine  geliebte  Berggegend. 
Da  erzählte  sie  von  der  Krankheit  ihres  Kindchens, 
erzählte,  weinte,  erzählte,  weinte,  verstummte.  Er 
sagte:  ,,Ich  liebe  hier  jeden  Strauch,  ich  kenne  jeden 

Acker,  jeden  Wiesenzaun ."   Beim  Abschied 

sagte  sie:  ,, Adieu,  Peter ." 


I20 


KONZERTPAUSE 

Gerade  hatte  Germaine  Schnitzer  den  Todesritt 
Mazeppas  von  Liszt  gespielt.  Ich  war  begeistert,  ent- 
führt in  wilde  Welten.  Da  brachte  mir  der  Diener 
deine  Karte,  daß  du  draußen  wartest. 

Im  Berg-Nacht-Sturm  warst  du  heraufgekommen, 
um  mich  ängstlich  zu  fragen,  ob  ich  dir  noch  freund- 
lich gesinnt  sei.  Ich  sagte:  ,,Ich  komme  von  einem 
Todesritte,  ich  hörte  ein  keuchendes,  sterbendes 
Pferd!  Komtesse  Esterhazy  trug  eine  aschblonde 
Krone,  aber  es  waren  ihre  eigenen  Haare.  Die  Lieb- 
lichste!" 

Da  sagte  sie:  ,,Und  für  mich  haben  Sie  nichts 
mehr  übrig?!    Ich  kam  in  Nacht  und  Sturm!" 

Da  reiste  er  denn  wieder  zurück  ins  Land  der 
milden  Freundschaft . 


121 


SCHÖNHEITS- KONKURRENZ  AUF  DEM 
SEMMERING,  SOMMER  1912 

Preisrichter:  Herr  Peter  Altenberg. 

Hors  concours:  Klara  Panhaus,  Stella  S.,  kleine 
Leopold  (6  Jahre),  3  kleine  Simon,  die  ,, Unbekannte", 
Frau  Machlup,  Wilma  Kempf,  Ada  Königsgarten, 
die  Tennisspielerin. 

I.  Preis: 

Der  Preisrichter  prämiierte  keine,  die  prämiier- 
bar war! 


122 


AUF  WACHE 

Er  wußte,  daß  ihr  brauner  Leib 

er  liebte   jedes   Härchen   ihrer  dunklen   Achsel- 
höhlen, die  er  ein  einziges  Mal  bei  ausgestrecktem 

Arm  und  weiten  Seidenärmeln  erblickt  hatte 

er  wußte,  daß  ihr  brauner  Leib 
in  Zärtlichkeiten  triefte  bei  dem  anderen. 
Dies  nahm  er  als  unabwendbares  Geschick, 
wie  Verarmung,  Krankheit,  Sterben. 
Ja,  es  erzeugte  sogar  der  süßen  Selbstlosigkeit 
bittere  Wollust! 

Er  war  gewappnet,  stand,  ein  düsterer  Ritter,  an 
den  schweren  Toren  ihrer  leichten  Seele! 

Doch,  als  sie  dem  Dritten  aus  seinem  Wermut- 
glase den  Zwiebackbrocken  mit  dem  Finger  fischte, 
und  jener  den  geheiligten  Wein  ihr  zutrank, 
da  wurde  er  entwaffnet,  zog  sich  zurück  von 
seinem  gefahrvollen  Posten  am  schweren  Tore  ihrer 
leichten  Seele, 

ging  langsam  die  weiße  Landstraße  hinab,  und 
seine  Schritte  zogen  müd  dahin . 


123 


22.  AUGUST 

In  deinen  geliebten  Augen  lag  ein  milder  Schim- 
mer von  Edeltraurigkeit. 

Du  lauschtest  ernst  den  Melodien  meines  alten 
Herzens,  das  zu  dir  sang. 

Und  immer  blieb  der  milde  Schimmer. 

Wie  wenn  du  in  Fernen  blicktest  kommender  Tage, 

du  Zwölfjährige, 

lauschtest  du  bei  mir  Alten  dem  Frühlings  jauch- 
zen zukünftiger  Kavaliere! 

Wenn  Dichter  sich  dir  nah'n  in  deinem  zwölften 
Jahre, 

wirst  du  dem  Kavalier  in  holder  Demut  zum 
Lebensbunde  deine  Finger  reichen, 

die  jener  schon  gerührt  besungen  hat! 


124 


WIE  IST  ES?! 

Wie  ist  es?!  Soll  man  ein  besonderes  schönes 
Mädel, 

in  strenger,  grauer  Härte  halten!? 

„Immer  zu  früh  noch  wird  man  sie  verwöhnen", 
fühlen  die  Eltern. 

Siehe,  eines  Tages  strömt  plötzlich  das  Licht  in 
der  Bewunderung, 

das  ihre  ungewohnten  Augen  blendet,  schädigt! 

Wäre  sie  gewohnt,  seit  ihrem  zehnten  Lebensjahr, 
an  dieses  Licht  des  Lebens, 

ertrüge  sie  nun  das  gesteigerte  blendende, 

in  edler  Fassung  und  dankbar  gerührt! 


125 


VOM  RENDEZVOUS 

Sie  ging  den  steilen  Wiesenpfad  hinab, 
zum  Rendezvous, 

Ich  sah  braune  Stauden  ihre  Röcke  streifen.    Ich 
sah  ihr  nach. 

Bald  kam  Himbeergebüsch,  das  sie  begrub. 

Um  V4I  sollte  ich  sie  erwarten. 

Sie  kam  zurück,  von  Küssen  ganz  bedeckt. 

Wie  wenn  die  rechte  Hand  geheiligt  wäre, 

reichte  sie  mir  die  linke, 

die  ich  an  die  Lippen  hielt, 

solang  bis  Wehmut  kam  und  übertropfte . 


12  D 


EXAMEN 


Ich  unterwarf  sie  einer  strengen  Prüfung: 


Die  Hände?! 
Die  Augen?! 
Die  Stime?! 
Die  Schultern?! 
Die  Füße?! 
Die  Zehen?! 
Die  Stimme  ? ! 
Die  Bewegung  ? ! 
Der  Teint?! 
Die  Seele?! 
Die  Intelligenz?! 
Die  Brüste?! 


Vollkommen 


Nicht  vorhanden. 


Endresultat :  Vollkommen ! 


127 


LES  LÄRMES 

Also,  nach  vielen  Jahren,  habe  ich  wieder  geweint. 

Freilich  war  es  bei  dem  Liede  von  Johannes 
Brahms:  „Sapphische  Ode". 

Aber  ich  hätte  nicht  geweint,  wenn  ich  sie  nicht 
kennen  gelernt  hätte . 

Ich  wäre  entzückt  gewesen,  gerührt,  ergriffen. 

Aber  geweint  hätte  ich  nicht . 

Also  weinte  ich  dennoch  ihretwegen! 


128 


TESTAMENT 

Er  hatte  in  sein  Testament  (der  Ertrag  seiner 
neun  Bücher  nach  seinem  Tode)  die  12  jährige  Schön- 
heit mit  der  jauchzenden,  khngenden,  bezaubernden 
Stimme  eingesetzt.  Aber  da  sie  Milhonärstöchterlein 
war,  hatte  er  bestimmt,  daß  von  dem  Gelde  soge- 
nannte ,, Geschenke  eines  Verstorbenen"  zu  kaufen 
seien,  außergewöhnliche  Dinge,  z.  B.  eine  be- 
sondere Bergkristalldruse,  oder  ein  besonderes  holz- 
geschnitztes Christuskreuz.  Da  erfuhr  er,  daß  man 
eine  Kollekte  gemacht  hatte  im  intimen  Kreise  für 
einen  V^^interrock  seines  Bruders,  eines  modernen 
Diogenes.  Da  stieß  er  das  Testament  um,  bestimmte 
nur,  daß  der  Bruder  an  jedem  9.  April,  dem  Geburts- 
tage seiner  kleinen  Heiligen,  derselben  eine  exzep- 
tionelle Sache  als  ,, Geschenk  eines  Verstorbenen"  zu 
senden  habe!  Der  Bruder  dachte  Tag  und  Nacht 
über  solch  ein  Geschenk  nach.  Da  schrieb  die  Heilige : 
,,Ich  will  Ihnen  Ihre  Mission  erleichtern.  Schenken 
Sie  mir  nur  das  Manuskript  des  ,,Ein  schweres  Herz". 
Er  nahm  es  aus  dem  Schreine  von  gelbem  Eibenholz, 
küßte  es  innig,  und  schickte  es  fort.  Erfühlte:  ,, Ich  bin 
der  Vermittler  eines  letzten  Willens.  Sie  hat  mir 
meine  Aufgabe  erleichtert,  indem  sie  sie  erschwert 
hat!  NurOpfer  belohnensich!  Ich  hatte  schon  eine 
herrliche  Bergkristalldruse  aus  den  Tauern  erstanden, 
mit  Kristallen  wie  geschliffenes,  gefrorenes  Bergwasser. 
Aber  das  ist  nun  also  für  den  nächsten  9.  April!" 
Sie  schrieb:  ,,Nunhabe  ich  das  Herz  Ihres  Bruders!" 
,,Nein",  fühlte  er,  ,,irh  habe  es,  indem  ich  es 
weggegeben  habe!" 

0  129 


ACONITUM  NAPELLUS 

In  meiner  letzten  Verzweiflung  körperlicher  Qua- 
len nahm  ich  Aconitum  Napellus,  Ich  hatte  ihn 
vor  acht  Wochen  blühen  gesehen,  auf  dem  Wege  von 
Schluderbach  nach  Misurinasee,  von  dort  nach  „Tre 
croce",  von  Kortina  auf  den  Falzaregopaß.  Überall 
hatte  ich  diese  giftige  Bergblüte  gesehen,  oft  in  Men- 
gen wie  kleine  Felder.  Und  eigentümlich  haftete  mein 
Auge  auf  diesen  Blüten,  als  ahnte  ich,  daß  ich  sie 
bald  in  meinem  Zimmerchen  als  winzige  durchschei- 
nende Kügelchen,  als  letzte  Hoffnung  sterbender 
Nerven  schlucken  würde!  Damals  erlebte  ich  sie  als 
Zeichen  der  Bergflora,  neben  Rhododendron  und 
Legföhre.  Wie  romantisch  kam  mir  die  Blüte  vor  in 
ihrer  mysteriösen  Giftigkeit.  Nun  aber  schlucke  ich 
zwei  PiUen,  viertelstündlich.  Wird  es  nützen?!  Ich 
gedenke  der  herrlichen  Tage,  da  ich  die  Blüte  be- 
wundern durfte,  in  Höhen,  wo  es  karg  ist  und  der 
Nachtsturm  braust . 


130 


MANÖVERS 

Die  Herren  „Verehrer",  die  wie  Toreros  aussehen 
oder  wie  kühne  Cowboys  oder  wie  französische  Ritter 
ausdem  i8.  Jahrhundert,  sei  es  von  dem  Bug  ihrer  Nase 
Gnaden  oder  von  Schneiders ;  die  treten  selbstsicher- 
nonchalant  auf,  sitzen  oft  mit  dem  Rücken  gegen  die 
Dame  und  sagen  sogar,  daß  dieser  oder  jener  Spazier- 
gang ihnen  nicht  konveniere  und  sie  es  daher  vor- 
zögen, sich  nicht  anzuschließen  und  lieber  in  Ruhe 
ein  gutes  Buch  zu  lesen !  Wenn  man  eine  schöne  Nase 
hat,  kann  man  das  allerdings  wagen.  Aber  die  Mißge- 
wachsenen müssen  eine  andere  Taktik  einschlagen.  Pa- 
kete tragen.  Schirme  aufheben  und  zu  allem  ,,Amen" 
sagen,  ist  ihre  kleine,  süße  Aufgabe.  Auch  damit  kann 
man  nette  Erfolge  einheimsen,  und  Opfer  sind  für ,, Op- 
ferfähige" nicht  allzu  groß.  Im  ganzen  genommen  sind 
die  armen  Damen  von  einer  wohlberechneten  ,, Rou- 
tine" umgarnt,  wie  die  italienischen  Singvögel  von  den 
feinmaschigen  Netzen.  Selten  schlüpft  eines  der  herzi- 
gen Vögelchen  durch,  durch  die  engen  Maschen,  die 
ihrer  Eitelkeit  gelegt  sind.  In  dieser  Gesellschaft  von 
Eroberern  sticht  besonders  hervor  der  immerhin  selte- 
nere ,, Salonplattenbruder",  der  ,, seelische"  Mes- 
serstecher. Erstichtgleich  in  die  Ehre,  in  den  Ruf ,  in 
das  Glück  hinein,  macht  sich  nichts  aus  drei  Monaten 
Kerker,  wollte  sagen,  aus  Frauenverachtung.  Diese 
,,  Verachtung  "  sind  seine ,  .Geschäftsspesen ' ' .  Dafür  hat 
er  sie  ,, gehabt"!  Einer  drang  um  i  Uhr  nachts  in  das 
Zimmer  ein : ,  ,Ich  sage  in  j  edem  Falle  morgen ,  Fräulein , 
daß  Sie  mich  bestellt  haben!  Also  ist  es  schon  ganz 
egal  für  Sie!" 

Das  leuchtete  ihr  ein . 

9'  131 


GIFT 

Es  gibt  ein  Gift,  das  ewig  wirkt, 

ja  sich  vertausendfacht  in  seiner  ^^^irkung 

durch  unablässiges  Erinnern. 

Das  sind  die  deplaziert  liebenswürdigen  Worte  der 
Geliebten  zu  fremden  Männern. 

Es  ist  ja  richtig,  sie  hat  sich  nichts  Besonderes  da- 
bei gedacht. 

Doch  weshalb  hat  sie  nicht  an  das  Besondere  ge- 
dacht, uns  tief  zu  quälen?! 

Ihre  gekränkte  Miene  bei  unserm  Vorwurf 

kann  uns  nicht  eines  Besseren  belehren, 

so  daß  wir  tief  zerknirscht  von  hinnen  schleichen. 

Ein  jeder  Apotheker  ist  verpflichtet,  das  Gift 
zu  kennen,  das  er  uns  reicht! 

Und  so  die  Frau. 

Will  sie  uns  vergiften?! 

Vielleicht,  für  Augenblicke,  um  uns  dann,  in  ihrer 
Gnade,  Gegenmittel  zu  verabreichen! 

Erinnern  ist  ein  Gift,  das  ewig  wirkt, 

und  sich  vertausendfacht  in  seiner  Wirkung, 

durch  unablässige  Erinnerung! 


132 


LUFTVERÄNDERUNG 

Es  ist  merkwürdig,  wie  sich  Familienangehörige  in 
Kurorten  begrüßen,  die  vielleicht  kaum  acht  Tage 
lang  getrennt  waren  voneinander.  Als  ob  sie  von 
einer  monatelangen  Weltreise  gekommen  wären! 
Ein  ganz  neuer  Ton  von  zärtlicher  Freude,  von 
intensivstem  Interesse  wird  angeschlagen.  ,, Findest 
du  unser  Püppchen  besser  aussehend,  Papa?"  — 
,,Na,  ich  bin  noch  nicht  so  ganz  zufrieden,  sie  ist  halt 
ein  .Zarterl',  was,  Minnerl?"  —  „Kinder,  laßt  euch 
in  euren  Gewohnheiten  (von  acht  Tagen)  ja  nicht 
stören,  ich  werde  mich  allem  akkommodieren  (alter 
Jesuit!)." 

,,Baby  will  hier  das  zweite  Ei  zum  Frühstück 
nicht  essen,  ich  habe  ihr  gedroht,  ich  würde  es  Papa 
melden  (haste  wichtige  Meldung!),  wenn  er  kommt!" 
—  ,,Nun,  das  macht  wahrscheinlich  die  Luftverände- 
rung!" In  besserer  Luft  kann  man  also  kein  zweites 
Ei  essen?  Auch  die  Bonne  wird  netter,  rücksichts- 
voller behandelt  als  zu  Hause.    ,,Was,  Marie,  hier  ist 

es  schön?"  —  ,,Bitt',  gnä'  Herr,  ja ."   Eine 

ewige  Sorge  um  Paletots,  Jacken,  Schals,  als  ob  alle 
plötzlich  tuberkulös  geworden  wären.  ,,Annie  häkelt 
hier  (weshalb  plötzlich  hier?)  schon  so  nett,  sogar 
ohne  Aufforderung  (sie  scheint  also  hier  zu  ver- 
blöden!)." —  ,, Schlaft  ihr  hier  nach  dem  Speisen?'* 
Auf  einmal  weiß  er  nicht,  ob  seine  Familienmitglieder 
schlafen  oder  nicht.  Die  Luftveränderung  scheint 
ihm  nicht  gut  zu  tun,  dem  Erhalter  und  Ernährer. 

Man  verkehrt  miteinander  wie  Fremde  bei  einer 
Jour-Jause.    , .Angenehme  Nachrichten?"  fragt  man 

133 


bei  der  Morgenpost.  Der  Kassier  ist  ihm  durchge- 
gangen. „Alles  in  schönster  Ordnung  zu  Hause,  mein 
Täubchen!"  Der  Arzt  hat  nämHch  gesagt:  „Zwanzig 
Bäder  kosten  zweihundert  Kronen.  Aber  vor  allem 
keinerlei  Aufregung,  darauf  muß  ich  strengstens  be- 
stehen!"   Nämlich  auf  den  zweihundert  Kronen. 


134 


EIN  NACHTRAG 

Ich  habe  letztes  Mal,  wahrscheinlich  vor  einigen 
Jahren,  etwas  geschrieben  zur  ,, Psychologie  der  bür- 
gerlichen Liebe".  Es  war  ein  ,, Torso".  Wenn  ich 
nur  wüßte,  was  ein  Torso  ist.  Aber  viele  einsichts- 
volle Menschen  sagten  es  mir  direkt  ins  Gesicht 
hinein,  daß  es  ein  ,, Torso",  wenn  auch  ein  sehr  wert- 
voller, gewesen  sei.  Nun,  infolgedessen  muß  ich  die 
Nachtragsbemerkung  machen,  daß  ,, jemanden  wirk- 
lich zärtlich  lieb  haben",  unmöglich  eine  fort- 
dauernde Sache  sein  könne,  sondern  eine  durch 
Haß-,  Verachtungs-  und  vor  allem  Gleichgültig- 
keits-Stadien (Stadien  ist  gut!)  unterbrochene,  sagen 
wir,  sogar  angenehm  unterbrochene  Angelegenheit  der 
Seele  und  der  übrigen  verfügbaren  Sinne  sein  müsse ! 
Man  kann  niemanden  auf  die  Dauer  gleich- 
mäßiggernhaben!  Das  sollte  in  goldenen  Lettern 
auf  der  Fassade  eines  Venustempels  prangen,  in 
deutlicher  Adolf -Loos-Schrift,  so  wie  von  Vorzugs- 
schülerinnen in  Schreibheften!  Die  bürgerliche  Ge- 
sellschaft will  etwas  äußerlich,  ä  tout  prix  (das  ist 
französisch!)  erzwingen,  was  es  in  der  Welt  aber  tat- 
sächlich nicht  gibt!  Nämlich  eine  anständige 
Stetigkeit  und  Verläßlichkeit  der  Gefühls- 
welt, ja  sogar  der  Sinnen  weit,  was  eine  noch  ent- 
setzlichere Stupidität  ist!  Die  ,, Mehrheit"  will 
uns  eben  blöde  machen!  Strindberg  ist  tot,  Ibsen, 
Bjömson,  Tolstoi.  Ja,  da  müssen  wir  Flöhe  uns 
halt  aufraffen,  und  stechen  und  Blut  saugen,  wo  und 
wie  wir  nur  es  können!  Wir  können  auch  verwun- 
den, ohne  Genies  zu  sein !  Wir  haben  den  gesunden 

135 


Menschenverstand!  Das  ist  auch  eine  Waffe, 
wenn  auch  eine  zartere,  Uebenswürdigere  als  die 
Maximkanonen  der  Genies,  die  meistens  doch  nur 
Idioten  waren!  Und  ich  sage  euch  daher,  ihr 
Glücklichen,  ihr  wart  niemals  auch  nur  eine 
Stunde  lang  wirklich  glücklich!  Geschäfte  habt 
ihr.  gemacht  und  Bilanzen  berechnet!  Ihr  ,, Ak- 
tiven" seid  ewig  ,, passiv"  gewesen! 


136 


BUCHBESPRECHUNG 

Ich  habe  mir  das  Buch  schenken  lassen  vom  Ver- 
^^g  J-  J-  Weber,  Leipzig:  „Rosen  und  Sommer- 
blumen". Ich  lese  es,  ich  betrachte  die  i6o  Photo- 
graphien, wie  ein  Werk  von  Maeterlinck!  Jede  Rose 
erblüht  mir,  als  wandelte  ich  in  einem  Märchengarten. 
Alles  wird  Wirklichkeit.  Ich  sehe  die  Kletterrosen 
über  alle  Mauern,  Wände,  Gitter  sich  hinaufschwingen, 
blühend  rosigweiße  Pracht  verbreitend  über  kahle, 
harte,  notwendige  Dinge !  Ich  sehe  das  Kletterröschen : 
,, Maidens  blush,  Mädchens  Erröten",  ich  sehe  die 
Immergrünrose:  ,,Felicite  et  perpetuite".  Ich  sehe 
,,soleil  d'or",  goldgelb  mit  rosigen  Rändern.  Ich  sehe 
,  .Memorialrose ' '  ,f  ürGrabdenkmäler , ,  ,Minnehaha" ,  die 
mich  an  Wedekinds  herrliches  Buch  erinnert,  das  von 
der  Nackterziehung  erlesener  Geschöpfe  handelt,  ich 
sehe  die  Rose  ,, Katharina  Zeimet",  mit  Wildrosen- 
charakter, wie  manche  scheinbar  zarte  Frauen,  die 
Rose  ,, Konrad  Ferdinand  Meyer",  die  ,,Beauty  of  the 
Prairies",  die  weiße  Rose  ,,Frau  Karl  Druschki",  die 
Bourbonrose ,  ,Sou  venir  de  la  Malmaison  "  (in  der  Todes- 
stunde getauft  der  Kaiserin  Josefine).  Ich  sehe  Rank- 
rosen in  düsterem  Hohlweg  glühen ;  Crimson  Rambler- 
rose  in  riesigen  rostrot  lasierten  ausgebauchten  Töpfen, 
Japan  vorzaubemd  und  seine  Gärten;  vergeblich 
suche  ich  eine  Rose  ,,KronprinzessinCecilie"!  Rosen- 
züchter, dichtet  mir  in  der  ganzen  weiten  Welt  eine 
Rose,  die  dieser  Herrlichsten  wert  wäre!  ,, Kron- 
prinzessin Cecilie",  du  müßtest  einen  Platz  erhalten  im 
Garten,  daß  man  schon  von  weitem  deine  deutsche 
und  dennoch  internationale  Pracht  verspürte! 

^Z7 


AN  - 

Ich  liebe  dich . 

S'  ist  keine  Frage  mehr. 

Solange  ich  dich  sah  und  sah  und  sah,  und  sah, 

wüßt'  ich  es  nicht,  könnt'  ich  es  nicht  wissen! 

Nun,  da  ich  dich  den  ganzen  Vormittag  nicht  sah, 
zum  ersten  Male, 

und  ich  auch  nicht  weiß,  ob  ich  des  Abends  dich 
wiedersehen  werde, 

nun  ist  die  Bangigkeit  in  mir! 

Mit  wem  bist  du?!    Wer  nützt  die  Pause  aus?! 

Kommst  du  vielleicht  jetzt  eben  zur  Besinnung, 
daß  es  noch  heißere  Leidenschaften  gibt 

als  die  meiner  Bewunderungsblicke?! 

Oh,  wärst  du  hier,  ich  sänke  dir  zu  Füßen, 

du  würdest  spüren,  was  ich  bisher  nicht  wußte, 

und  was  doch  war,  vom  ersten  Tage  an ! 

Und  was  du  vielleicht  wußtest,  eh'  es  war! 

Was  liegt  dir  dran,  vielleicht  freut  es  dich  doch! 


138 


NEKROLOG  (FRITZ  STRAUSS) 

Siehe,  es  sind  schon  Leute  gestorben,  denen  ich 
hätte  nachtrauern  sollen,  und  ich  tat  es  nicht.  Andere 
wieder  sind  noch  am  Leben  und  ich  wünsche  ihnen 

nur  nicht  gleich  fluchen !  Aber  um  einen  mir 

verhältnismäßig  ganz  Fremden  trauere  ich  jetzt.  Er- 
stens sehe  ich  gar  nicht  ein,  weshalb  gerade  ein  24  jähri- 
ger Millionärssohn  weggerafft  werden  soll,  der  genug 
Kultur  hatte,  Geld  in  wirkliche  Werte,  ohne  Pflanz, 
umzuwandeln.  Zweitens  besaß  er  Humor,  obzwar  er 
wußte,  daß  es  mit  ihm  schief  gehen  könne  bei  einer 
zweiten  Operation.  Er  war  ein  ,, Gentleman-Musi- 
cal-Clown", so  benannte  ich  ihn  sogleich.  Jeden 
Abend  nach  dem  Souper  erfreuten  er  und  Herr  H.,  der 
es  auch  ,, nicht  nötig"  hatte,  das  elegante  Publikum  des 
Sanatoriums  ,,Wolfsbergkoger'  mit  ihren  unübertreff- 
lichen Knock-about-Einf  allen,  bei  Klavier  und  Violine. 
Sie  ersetzten  eine  ganze  Varietevorstellung.  Die  reichen 
Damen  vergaßen  ihrer  Leiden,  was  ihnen  umso  leichter 
fiel,  als  sie  gar  keine  hatten;  die  kranken  Herren  ver- 
gaßen, den  kranken  Damen  den  Hof  zu  machen.  Das 
Lachen  war  da,  das  Lachen,  in  diesen  heiligen,  ernsten 
Gesundheitsräumen,  und  die  Langeweile  der  Liege- 
kuren, dieser  neuen  Art,  sich  noch  mehr  auf  sein 
armes  Ich  zu  konzentrieren,  war  vergessen,  gelöscht! 
Ich  bat  den  jungen  Mann,  doch  ja  als  ,, Gentleman- 
Champion"  in  großen  Varietes,  ohne  Gage,  aufzu- 
treten, und  er  sagte  es  mir  lächelnd  zu.  Nun  ist  er 
tot.  Um  den  trauere  ich.  24  Jahre  alt,  unabhängig, 
mit  Humor  gesegnet,  begnadet,  gutmütig,  bescheiden. 
Der  hätte  bleiben  dürfen!    Nur  der! 

139 


ERSTER  SCHNEE 

12.  September  1912.  Es  regnete  und  es  schneite 
zugleich.  Der  Sonn  wendstein  war  bedeckt  mit 
Schnee.  Das  war  ein  Lokalereignis.  Jedermann  be- 
sprach es  eifrig.  Die  herrliche  14jährige,  wie  eine 
Venetianerin  aus  dem  18.  Jahrhundert,  stellte  sich 
an  die  Fensterscheibe  und  sah  hinaus.  Alles  andere 
ward  sogleich  dagegen  lächerlich  und  gleichgültig. 
Für  sie  war  Schnee  gefallen  auf  dem  Sonnwendstein 
denn  sie  interessierte  sich  dafür.  Ich  hätte  ihr  zwei 
Meter  hohen  Schnee  gewünscht,  ganze  weiße  Hügel 
und  Abgründe,  damit  sie  sich  besser  amüsiere  bei  dem 
Anblick!  Sie  sah  hinaus,  und  ich  beneidete  die  Fen- 
sterscheibe um  den  Hauch  ihres  unbeschreiblich 
schön  modellierten  Mundes.  Überall  zogen  Nebel- 
fetzen dahin,  dorthin,  zerfetzten,  verwischten  die 
Landschaft,  ertränkten  sie  in  Grau.  Das  junge  Mäd- 
chen begann  sich  zu  langweilen.  Es  wird  ein  öder 
Tag  werden  in  diesem  Berg-Hotel.  Mir  erschien  er 
licht  und  wertvoll!  Sie  setzte  sich  hin,  um  mit  einem 
Kinde  ein  Spiel  mit  gelben,  grünen,  lila  Würfelchen 
zu  spielen.  Sie  ließ  das  Kind  absichtlich  gewinnen. 
Das  Kind  sagte:  ,,Mit  dir  spiele  ich  nicht  mehr,  du 
spielst  zu  schlecht,  immer  verlierst  du,  du  Unge- 
schickte!" 


140 


DER  MALER 

Die  kleine  6jährige  Tatarenkönigin  Sonja  D. 
sagte  zu  dem  Dichter,  der  sie  anbetete:  „Mein  Bruder 
Bogdan  und  ich,  wir  schlafen  immer  mit  einem  geöff- 
neten Jagdmesser,  einem  Kindergewehre  für  Schrot 
und  einer  Pistole  mit  echten  Kapseln,  unter  dem 
Kopipolster!  Aber  die  Banditen  wollen  nicht  kom- 
men, sich  abschlachten  zu  lassen!  Die  Feiglinge!" 
Der  Dichter  nahm  das  vergötterte  Königinchen  in 
seine  zärtlichen  Arme . 

Der  Maler  kam.    Da  sagten  die  Damen: 

,,Was  finden  Sie  denn  so  Besonderes  an  dieser 
6jährigen  Sonja  Dungyersky,  die  Sie  jetzt  malen  für 
500  Kronen?  Sie  ist  doch  viel  unliebenswürdiger, 
eigenwilliger,  unsanfter  als  die  meisten  anderen  rei- 
zenden Kindchen  hier?" 

Der  Maler:  ,,Ich  male  sie  von  heute  an  umsonst, 
verstehen  Sie  mich,  umsonst!  Für  mich  und  für 
die  Welt!  Also  ausnahmsweise  diesmal  nicht  um- 
sonst! Ich  werde  sie  malen  auf  einem  niedrigen, 
schmiedeeisernen,  schweren  Trone,  mit  ihren  braunen 
Gazellenbeinen  und  ihren  braungoldenen  Locken! 
Umgeben  von  gebleichten  Tatarenschädeln!  Einer 
muß  an  einer  goldenen  Kette  herabbaumeln  und  in 
einer  Ecke  muß  ein  Jüngling  den  grünen  Giftbecher 
trinken  und  sie  anblicken.  Das  Ganze  heißt:  , Kleine 
winzige  Tatarenkönigin,  Wildkatze,  Besiegerin!' 
Wie  aus  einer  entschwundenen  Zeit  von  Kraft, 
Trotz,  Schönheit,  Unbesiegbarkeit  stammt  sie,  und 
dennoch  könnte  man  über  ihre  Anmut,  über  ihre 
Stimme,  ja  über  ihre  zarten  Handbewegungen  allein 

141 


schon  tagelang  weinen  und  sich  momentan  hin- 
opfern!" 

So  sprach  der  Maler;  und  die  Mütter  der  wohl- 
erzogenen, folgsamen  Kinder  erbleichten  und  schli- 
chen fast  krank  von  dannen! 

Am  nächsten  Tage  schrieben  sie:  „Wollen  Sie 
unser  Kindchen  für  2000  Kronen  malen?" 

Und  er  schrieb  zurück:  „Nein!" 

Aber  am  dritten  Tage  schrieb  er  zurück:  ,Ja!" 

Und  er  malte  die  Kindchen  und  alle  Tanten  und 
Kusinen,  und  die  Großeltern  waren  entzückt!:  ,,Ja, 
ja,  so  ist  unser  Schätzchen,  unser  liebes,  goldiges 
Geschöpfchen!  Die  Sanftmut  schaut  ihr  aus  den 
Augen  heraus !" 

Ja,  es  waren  sanfte  Kälber  von  dummen 
Kühen,  richtig  porträtiert !  Und  ein  jedes  Kälbchen 
kostete  2000  Kronen,  billigst  berechnet! 


142 


BETRACHTUNGEN 

Der  Schlitten  war  leicht  wie  eine  Nußschale,  aus 
braunem  Stroh;  die  Landschaft  prangte  weiß  in  weiß, 
die  roten  Ebereschen  und  die  bunten  Gimpel,  die 
schwarzen  Krähen  bemalten  sie  diskret  und  vornehm, 
fast  nach  japanischem  Geschmacke.  Ich  sprach  mit 
der  edlen  Dame  über  zarte  Dinge  des  Lebens.  Die 
edlen  rehbraunen  gedrungenen  Pferde  gaben  die  be- 
kannten Verdauungsgeräusche  von  sich,  schienen 
also  nicht  nach  ,,Prodromos"  sich  zu  ernähren,  son- 
dern viel  Unnötiges,  BeschwerHches  zu  sich  ge- 
nommen zu  haben,  wie  Hafer  samt  den  Spelzen, 
fi  donc! 

Wir  überhörten  gleichsam  diese  Geräusche,  und 
dennoch  kam  es  wie  ,, allgemeine  Unzulänglich- 
keit" der  Lebewesen  über  uns,  eventuell  sogar  fana- 
tisch geliebter  Damen.  Ich  liebte  einst  ein  wunder- 
bar schönes  I3jähriges  Schlossergesellentöchterchen, 
die  mir  einst  sagte:  ,,Behalten's  Ihre  Briefe,  es  steht 
ja  eh  immer  nur  dasselbe  drin,  ich  weiß  schon,  Sie 
haben  wieder  wegen  mir  die  ganze  Nacht  geweint! 
Hab'  i  Ihnen  was  angetan  ? !  Na  also,  nur  g'scheit 
sein!  Kaufens  mir  lieber  V2  Kilo  Ringlotten,  wann's 
mich  schon  so  gern  haben!"  Bei  einer  solchen  Ge- 
legenheit ließ  sie  dann  in  der  herzlichsten  Weise 
kleine  kurze  fast  piepsende  Geräusche  hören,  infolge 
des  Ringlottengenusses.  Ich  sagte:  ,,No,  no,  was  sind 
denn  das  für  Liebeserklärungen?!"  Sie  erwiderte: 
,,Ah  da  schau'  her,  wär's  Ihnen  lieber,  i  sollt's  in  mein 
Baucherl  behalten,  daß's  mich  druckt?!  A  schöne 
Lieb'  is  das!" 

143 


UR-SEELE 

„Herr  Peter",  sagte  die  herrliche  5  jährige- zu  mir, 
,, weshalb  beschenken  Sie  Stella  immer?!  Stella  ge- 
hört mir,  ich  bin  eifersüchtig." 

,,Auf  wen?!" 

,,Auf  überhaupt ." 

,,Du  solltest  dich  doch  darüber  freuen,  wenn  Stella 
beschenkt  wird?!"  sagte  ich. 

,,Ja,  ich  sollte.  Aber  ich  freue  mich  eben  nicht, 
sondern  ich  bin  nur  eifersüchtig!" 

,, Würdest  du  Stella  dieselben  Geschenke  nicht 
geben,  wenn  du  Geld  hättest?!" 

„Nein,  Stella  soll  mich  von  selbst  heb  haben.  Ich 
habe  sie  auch  von  selbst  lieb,  sie  braucht  mir  gar 
nichts  zu  schenken!" 

,,Aber  Kind",  sagte  die  Großmutter,  ,,du  bist  sehr 
herzlos  und  ungezogen!" 

,,Aber  was  braucht  der  Herr  Peter  meine  Stella 
zu  beschenken  ? !  Meine  Stella  gehört  mir,  sie  braucht 
nichts  geschenkt,  ich  habe  sie  lieb!" 

,,Du  solltest  dich  freuen,  wenn ." 

,,Ich  sollte  mich  freuen,  ich  sollte  mich  freuen, 
aber  ich  kränke  mich!" 

Sie  weint.  Worüber?!  Niemand  weint  um- 
sonst   . 


144 


FRAGE 

Was  ist  ein  Dichter?! 

Einer,  der  schon  weinen  kann, 

wenn  noch  die  andern  trockenen  Herzens  sind 

Einer,  der  die  sechsjährige  Prinzessin  Sonja  Dun- 
gyersky 

so  zärthch  lieb  hat  wie  die  eigene  Großmama  sie 
heb  hat! 

Einer,  der  abends  im  Gebirge  den  eingefangenen 
Oleanderschwärmer 

auf  das  einzige  Oleanderbäumchen  setzt  im 
Garten, 

das  ihn  aus  femer  Ebene  hierhergelockt  hat! 

Einer,  der  die  braune  Nacktschnecke  behutsam 

vom  Waldweg  ins  Gebüsch  trägt . 

Einer,  der  Rosen  schenkt  und  sie  bezahlt  mit 
seinem  Nachtmahlgelde . 

Einer,  der  die  geliebte  Hand  berührt  vmd  dabei 
Hochzeitnächte  spürt  von  Seligkeiten! 

Einer,  der  leidet,  leidet 

und  alle  sagen:  ,,Was  fehlt  ihm  denn  zu  seinem 
Glücke?!" 

Einer,  der  die  Schale  kauft,  aus  der  sie  Kakao 
getrunken  hat. 

Einer,  der  ein  ,, innerer  Bomben werfer"  ist, 

und  dabei  doch  so  sanft,  so  mild  verständnisvoll 
für  alles! 

Einer,  den  alle  verlachen, 

und  um  den  sie  trauern,  wenn  er  nicht  mehr 
ist! 

145 


LETZTE  UNTERREDUNG 

„Peter,  was  ist  Ihnen?!  Sie  schauen  so  verzwei- 
felt aus,  und  vor  allem  so  bleich ." 

Er  schweigt. 

„Peter,  ist  es  wegen  des  jungen  Architekten?!" 

Er  schweigt. 

„Peter,  Sie  lieben  mich  seit  meinem  12.  Lebens- 
jahre. Von  Eltern,  von  Gouvernanten,  vernahm  ich 
nur:  ,,Du  mußt,  du  sollst!" 

In  Ihren  Augen  lag  von  jeher  eine  unermeßliche 
Zärtlichkeit.  Das  darf  ich  Ihnen  nicht  vergessen, 
Peter.  Es  war  der  Lichtblick  meiner  düsteren  Kind- 
heit. Und  oft  wenn  ich  dachte:  Wozu  bist  du?!  da 
dachte  ich  sogleich:  Er  hat  mich  lieb!  Von  Ihrem 
Blicke  lebte  ich,  das  sag'  ich  Ihnen  nun." 

Er  senkt  das  Haupt . 

,, Peter,  ich  kann  erst  ganz  glücklich  sein,  bis  Sie 
mich  wieder  anschaun,  lichten,  liebevollen  Antlitzes, 
wie  eh  und  je ." 

Da  schaute  er  sie  an,  an,  an,  lichten,  liebevollsten 
Antlitzes,  wie  eh  und  je,  so  wie  sie  es  brauchte  und 
verlangte . 


146 


LANDPARTIE 

Wir  fuhren  im  Automobile  von  Mürzzuschlag  nach 
Mürzsteg.  Täler  öffneten  sich,  weiteten  sich,  schlössen 
sich  wieder  unmerklich.  Und  immer  kamen  neue  Über- 
raschungen. Z.  B.  Wiesen  mit  lauter  goldgelben  Blu- 
men, dann  solche  mit  safrangelben,  mit  roten,  mit  lila 
Blumen,  mit  weißen,  dann  ganz  grüne  Wiesen,  eine  war 
schöner  als  die  andere .  Und  die  Täler  öffneten  sich ,  wei- 
teten sich,  ließen  Bäche  durchrinnen  oder  blieben  trok- 
ken  und  schlössen  sich,  verschwanden.  Wir  fuhren  hin 
und  staunten.  Irgendeiner  sagte :  ,,Nehmen's  mich  mit 
bis  Edlach!"  Und  er  fuhr  mit  und  sagte,  der  Weg  sei 
länger  als  man  glaube,  aber  in  Edlach  wäre  ein  feines 
Restaurant  für  reiche  Leute.  ,,Können's  mehr  fressen 
als  sie  fressen  können  ? !  Na  also.  Bitt'  um  Vergebung. 

Ich  weiß  auch  was  sich  schickt ."    Hermine 

lachte  nicht.  Sie  sah  die  Wiesen,  gelbe,  weiße,  rote, 
blaue,  lila  und  ganz  grüne.  Sie  sagte:  ,,Gebt  ihm  doch 
ein  Trinkgeld!"  ,,Wofür?!"   ,, Nun,  über  irgendetwas 

scheint  er  doch  verletzt  zu  sein ."    Da  gab 

man  dem  blinden  Passagiere  zwei  Kronen.  Hermine 
fühlte:  „Dieser  Mann  kann  die  Wiesen  nicht  be wun- 
dem, weil  er  kein  Geld  hat.  Und  wenn  er  Geld  hat, 
trinkt  er  Schnaps  und  schimpft  auf  uns.  Er  kann 
nicht  klar  schauen,  er  hat  einen  düsteren  Blick.  Man 
kann  ihm  nicht  helfen,  sondern  nur  sich  den  An- 
schein geben  als  könnte  man  momentan . 

Ich  habe  Sympathie  für  diese  Leute,  ich  gehöre  also 
eigentlich  zu  ihnen,  öbzwar  meine  Kleider  looo  Kro- 
nen kosten .    Wohin  gehöre  ich  denn  also?! 

Zu  den  Enterbten,  denen  es  glänzend  geht  — !" 

147 


L'AMOUR 

„Mir  geht  es  sehr,  sehr  schlecht." 

„Gestern  mittags  war  eine  wunderbare  russische 

Pastete." 

„Das  Adagio  der  C-moll-Sonate  ist  herrUch." 

„Meine  grüne  Seidenbluse  ist  zerrissen." 

„Ich  habe  heute  ein  Gedicht  gemacht :  ,Früh-Spät- 

herbst'!" 

„Was  wirst  du  mir  zum  Geburtstag  schenken?" 
„Der  Arzt  sagt,  ich  brauche  große  Schonung." 
,,Ich  weiß  nicht,   ob  man  heuer  Sealskin  noch 

wird  tragen  können?" 

,,Der   Graf   hat   uns   eingeladen!"     ,,Der  Graf? 

O,  da  werden  wir  also  gemeinsam  hingehen!" 


1:48 


KLEINE  MITTEL 

Das  Leben,  um  Gottes  willen,  ist  sowieso  schwer 
genug,  mit  tausend  unberechenbaren  Komplika- 
tionen, z.  B.  ein  Bleistift  bricht  dir  ab  mitten  im 
Niederschreiben  eines  , .göttlichen  Gedankens",  Weißt 
du,  ob  er  noch  da  ist,  bis  du  ihn  gespitzt  hast?! 
Ich  meine,  ob  der  Bleistift  noch  da  ist,  bis  du  den 
göttlichen  Gedanken  gespitzt  hast!?  Deshalb  sollte 
ein  jeder  das  wunderbare  einzige  französische  papier 
gomme,  ich  darf  die  Marke  nicht  nennen,  weil  es 
sonst  so  aussieht  wie  eine  Reklame,  auf  seinem 
Schreibtische  liegen  haben,  ein  nettes  kleines  Röll- 
chen zum  Abwickeln.  Denn  wenn  man  schon  keine 
beschädigten  Hundertkronenscheine  zum  völligen  un- 
kenntlichen durchscheinenden  Reparieren  hat,  so 
klebt  man  doch  gerne  Skizzen,  a  drei  Kronen  Wert, 
in  ein  Büchlein  ein,  um  es  später  in  ,, Buchform"  zu 
verwerten!  Die  , »Verwertung"  soll  mir  nicht  schaden. 
Aber  immerhin  dieses  Röllchen,  dieses  Röllchen  soll 
jeder  auf  seinem  Schreibtische  liegen  haben.  Es  kann 
auch  im  Notfalle  als  „Englisch  Pflaster"  bei  Ver- 
wundungen dienlich  sein,  denn  die  eventuelle  Blut- 
vergiftung, die  daraus  resultiert,  kann  doch  heutzu- 
tage soviel  versteckte  und  geheimnisvolle  Ursachen 
haben,  z.  B.  der  Urgroßvater  hat  liederlich  gelebt, 
daß  man  dem  unschuldigen  Klebepapierchen  keine 
Schuld  beimessen  wird.  Auch  sollst  du  stets  Englisch 
Violet  Carhou,  ich  darf  die  Firma  leider  nicht  nennen, 
obzwar  man  einen  ganzen  Frühlingsveilchenwald  da- 
durch in  den  Mund  bekommt,  immer  auf  deinem 
Schreibtisch  liegen  haben.   Nicht  wegen  der  geistigen 

149 


Arbeit,  sondern  falls  zugleich  dabei  ein  Mädchen 
einen  herzhaften  Kuß  von  dir  verlangt.  Bei 
weniger  herzhaften  wird  sie  Bier,  Zigaretten,  Schnaps 
nicht  so  spüren.  Es  gibt  so  viele  kleine  Mittel,  die 
einem  dieses  schwierige  Problem  ,, Leben"  erleichtem, 
ja  lösen  helfen! 


150 


NERVENÄRZTE 

Kein  Nervenarzt  sagt:  ,,Ich  verstehe  leider  nichts 
davon!"  Denn  davon,  daß  er  das  nicht  sagt,  lebt 
er  und  seine  ganze  Familie! 

Symptome  einer  tieferen  unerforschlichen  Er- 
krankung will  man  wegbringen,  und  so  den  armen 
Idioten  von  Kranken  irreführen,  vor  allem  aber 
ihm  ein  unberechtigtes  Honorar  entreißen!  Ek- 
zeme z.  B.  sind  Mitteilungen  des  genialen  Organis- 
mus, daß  im  Innersten  nicht  alles  so  recht  mehr 
stimme!  Also  eine  , .liebevolle  Warnung"  der  Natur, 
die  immer  , .christlich  vergebend,  warnend  vorsichtig" 
ist.  Aber  der  Arzt  ,, unterdrückt"  das  ,,Ekzem",  wie 
wenn  man  im  alten  Rom  die  armen  warnenden  Gänse 
abgeschlachtet  hätte,  die  vor  der  Mauererstürmung 
des  Feindes,  nächtlich  mit  ihrem  Gekacker  gewarnt 
haben!  Die  Gänse,  die  Gänse,  das  sind  die  warnen- 
den Symptome,  und  der  Arzt  ist  der  Ochs!  Er 
beachtet  nicht  die  Symptome  der  Krankheit, 
er  dreht  ihnen  den  Hals  um,  damit  sie  nichts  ver- 
raten darüber,  daß  er  von  inneren  beginnenden 
Desorganisationen  absolut  nichts  versteht!  Der 
Körper  will  sich  um  Gottes  willen  ,,Luft  machen", 
erzeugt  Fieber,  Ekzeme,  Geschwüre,  um  die  Gifte 
in  sich  los  zu  werden!  Nein,  der  Arzt  aber  unter- 
drückt das  alles,  um  den  herbeigeführten  Tod  durch 
,,Fügung  höherer  Mächte",  in  frecher  Weise  zu 
entschuldigen!  Symptome  einer  Krankheit  be- 
seitigen wollen,  ist  eine  feige  dumme  Gemein- 
heit. Eine  ,, Honorarerpressung"!  Eine  Krank- 
heit muß  ich  an  , .ihrer  Wurzel"  fassen  können,  oder 

151 


ich  erkläre  mich  anständigerweise  für  inkom- 
petent! Einem  jungen,  schönen,  blühenden  Millio- 
närssohn  verschrieb  man  für  eine  ,, unglückliche 
Liebe"  zu  einem  armen  Mädchen,  eine  ,,Welt reise" 
als  Heilmittel.  Er  kam  zurück  und  erschoß  sich! 
So  funktionieren  unsere  Ärzte.  Aber  sie  haben  es 
„gut  gemeint" nämlich  mit  dem  Hono- 
rare! 


152 


PLAUDEREI 

Rs  kommt  der  Augenblick  träge  herangeschlichen, 
da  man  nichts  mehr  wird  schreiben  können.  Man  hatte 
doch  etwas  zu  sagen,  was  dem  anderen  nützte.  Und 
wäre  es  nur:  „Schlafet  bei  weit  geöffneten  Fenstern!" 
Man  hatte  unbedingt  eine  Mission,  eine  winzige,  eine 
nichtige  Mission,  aber  eine  Mission!  Das  hält  einen 
in  Zusammenhang  mit  allen  Menschen,  die  man  nicht 
kennt.  Den  Bekannten  gegenüber  hat  man  ja  keine 
Mission.  Für  die  ist  man  ein  Narr  oder  ein  Schwindler. 
Manche  sagen  sogar:  ,,Nein,  diese  Ehre  tun  wir  ihm  ja 
doch  nicht  an !"  Wofür  also  halten  sie  uns  ? !  Ich  könnte 
meine  Sachen  widerrufen,  aber  Tausende  würden  sie  als 
Wahrheiten  in  sich  aufnehmen.  Ich  könnte  es  verkün- 
den :  ,,Nein,  die  Frauenseele  ist  doch  nicht  so,  wie  ich 
sie  sehe!"  Aber  Tausende  würden  jammern:  ,,0,  bitte, 
wir  sind  doch  so!"  Mein  Talent  war  klein,  aber  mein 
Fühlen  war  groß.  Die  meisten  haben  kein  Talent  und 
kein  Gefühl,  nämlich  für  allgemeine  Dinge,  obzwarsie 
im  besonderen,  in  ihrem  trauten  Nestchen,  beträcht- 
liche Gefühle  aufbringen,  die  irgend  jemandem  mit  Vor- 
und  Zunamen  recht  sehr  zugute  kommen.  Jemand 
schwärmte  mir  immer  und  immer  von  seinem  Ciarten 
vor,  schilderte  ihn  mit  wirklicher  Liebe  und  Begeiste- 
rung. „Ja,"  sagte  ich,  ,,aberauf  der  Strecke  so  und  so 
der  Bahn  so  und  so  habe  ich  einen  noch  viel  schöneren 
Garten  geseh'n."  —  ,,Und  was  haben  S'  davon?!"  — 
, .Nichts",  erwiderte  ich.  Es  gibt  Menschen,  die  schöne 
Gärten  lieben,  und  es  gibt  solche,  die  ihre  schönen 
Gärten  lieben!  Das  ist  der  ganze  Unterschied.  Na, 
und  was  haben  s'  davon?!    Nichts! 

153 


RICHTIG 

Ich  verkehrte  mit  einer  sehr  intelligenten,  gebilde- 
ten Dame,  die  viel  mit  Aristokraten  beisammen  war. 
Da  sagte  mir  eine  andere  Dame,  mit  der  die  Aristo- 
kraten nicht  verkehrten:  ,, Peter,  wenn  Sie  nicht  der 
Peter  wären,  würde  die  Dame  auch  Sie  nicht  so 
oft  in  ihrer  wunderbaren  Equipage  abholen!"  Ich 
erzählte  das  meiner  Freundin.  Sie  erwiderte : ,, Sicher- 
lich ;  weshalb  sollte  ich  nicht  lieber  mit  einem  feinfüh- 
ligen Dichter  als  mit  einem  Kommis  beisammen  sein 
wollen  ?  Der  Kommis  kann  gewiß  ebenso  intelligent 
und  wertvoll  sein,  aber  ich  lerne  ihn  nur  kennen  als 
den,  der  mir  Seide  anpreist.  Den  Dichter  kenne  ich 
im  voraus  aus  seinen  Werken.  Beide  könnten  mich 
im  Nahverkehre  gleichmäßig  enttäuschen.  Aber 
von  dem  einen  habe  ich  dann  wenigstens  seine  Werte 
noch  in  meinem  Bücherschranke  und  kann  bei  der 
Lektüre  vergessen,  daß  er  ein  gemeiner  Kerl  ist!" 


154 


REMINISZENZEN 

Eine  angenehme  Abwechslung  während  des  Ler- 
nens war  das  Anzünden  der  Öllampe  am  Wintemach- 
mittage.  Draußen  sah  man  undeutlich  graue  Häuser 
wie  fremde  Welten.  Da  kam  das  Stubenmädchen  und 
zündete  die  Öllampe  an.  Vorsichtig  nahm  sie  die 
Milchglaskugel  ab,  den  glänzenden  Zylinder  aus  Glas. 
Sie  drehte  den  bereits  vormittags  richtig  abgeschnit- 
tenen Docht  hoch  mit  der  Messingschraube,  legte  zwei 
fadendünne  harz-imprägnierte  Hölzchen  (eine  ganz 
neue  Erfindung  der  Technik)  im  Kreuz  über  den 
gelben  Docht  und  zündete  diese  an  den  Enden  an. 
Oft  brannte  der  Docht,  oft  brannte  er  nicht.  Endlich 
brannte  er.  Da  stülpte  das  Stubenmädchen  vorsich- 
tig den  Glaszylinder  auf  und  dann  die  Milchglas- 
kugel. Nun  wurde  noch  ein  wenig  an  der  Messing- 
schraube, auf  welcher  der  Name  ,,Ditmar,  und  zwei 
Merkurflügel"  waren,  hin  und  her  gedreht,  damit  die 
Lampe  nicht  rauche.  Endlich  brannte  sie  mit  einem 
dottergelben  matten  Schein.  Da  saß  man  denn,  und 
schrieb  die  Einleitung  zu  dem  Aufsatze:  ,, Charakter 
des  Wallenstein":  ,,Wenn  wir  die  großen  Helden  ver- 
gangener Zeiten  an  unserem  geistigen  Auge  vorüber- 
ziehen lassen " 

,,Sie,  Marie,  der  Docht  raucht  auf  der  linken 
Seite " 

,,Aber  junger  Herr,  das  ist  eine  Sekkatur.  Ich 
habe  ihn  heute  vormittags  ganz  gerade  abgeschnit- 
ten." 

Charakter  des  Wallenstein:  ,,Auf  der  Höhe  seiner 
Macht  angelangt,  überfiel  ihn  wie  die  meisten  Sterb- 

155 


liehen  die  Sehnsucht  nach  noch  Höherem,  Unerreich- 
barem   " 

Die  Lampe  brannte  mit  dottergelbem,  mattem 
Schein,  und  richtig,  links  rauchte  sie  ein  wenig  und 
schwärzte  sogar  den  Glaszylinder  an. 


156 


WERTE 

Ich  finde,  daß  die  Dichter  so  „ästhetisch-sentimen- 
tale" und  übertrieben  eingebildete,  und  von  ihrer  so- 
genannten Aufgabe,  rekte  ,,idee  fixe",  besessene  , .Er- 
zieher der  Menschheit"  sind,  die  doch  bis  heute  durch 
sie  nicht  um  ein  Stückchen  vorwärtsgekommen, 
das  heißt,  von  irgendeinem  Leid  befreit  worden 
ist!  Die  wirklichen  großen  Wohltaten  jedoch  über- 
sieht man,  hält  sie  für  nichts  und  ist  vor  allem  nicht 
dankbar.  Als  mein  geliebter  Vater  69  Jahre  alt  ge- 
worden war,  gaben  ihn  sämtliche  Professoren  infolge 
von  unheilbaren  Alterserscheinungen  für  verloren, 
und  meine  Mama,  die  seit  zehn  Jahren  tot  ist.  weinte 
sich  die  Augen  aus.  Da  sandte  ich  meinem  Vater  zwei 
Schachteln  „Tamar  Indien  Grillon",  mit  der  Auf- 
forderung, jeden  Morgen  vor  dem  Frühstück  un- 
bedingt eine  Pastille  zu  nehmen. 

Seitdem  ist  er  ein  Jüngling  geworden,  ist  83 
Jahre  alt,  hat  nicht  eine  einzige  Beschwerde  des 
Alters.  Verdauung  jünglingshaft,  ewiger  Appetit, 
rosige  Laune,  Schlaf  zehn  Stunden  ohne  Unterbre- 
chung. Er  fühlt  nicht,  daß  er  alt  ist.  Sein  einziger 
Kummer  ist,  daß  er  nicht  mittags  und  abends,  aus 
ökonomischen  Gründen,  besondere  Leckerbissen  ha- 
ben kann,  wie  Rebhühner,  Rehrücken  kalt,  kalte 
Poularden,  Straßburger  Gänseleberpastete,  Kaviar, 
Krebse  usw.  usw.  Er  liest  von  morgens  bis  abends 
französische  Romane  (deutsche  versteht  er  nicht,  sie 
sind  ihm  zu  ,,vertrackt"),  ohne  Augenglas,  geht  nie 
aus  seinem  Zimmer,  und  bedarf  absolut  keiner 
Bewegung.    Schmerzen,  Melancholie,  Schwächege- 

157 


fühle  und  Langeweile  kennt  er  nicht.  Jetzt  schrieb 
er  mir  kurz:  „Du,  ich  nehme  noch  immer  pünkt- 
lich Dein  berühmtes  „Tamar".  Es  ist  besser  als 
Deine  Dichtungen;  die  sind  für  mich  ganz  unver- 
daulich. Du  hättest  doch  vielleicht  Mediziner  werden 
sollen!" 


158 


zu  DEN  „OLYMPISCHEN  SPIELEN" 

Ich  lese  lauter  Ratschläge,  die  vollkommen  wert- 
los und  daher  stupid  sind!  Dieses  Wort  „Training" 
ist  ein  Unglückswort.  Mehr  kann  man  aus  dem 
Organismus  bei  bestem  Willen  eben  nicht  heraus- 
pressen an  Lebensenergien  als  darin  aufgestapelt,  auf 
Lager  sich  befindet!  Die  Zentrale  „Rückenmark 
und  Gehirn"  muß  im  , »Training"  sein,  nicht  die  aus- 
übenden Organe!  Eine  einfach  künstlerisch-minu- 
tiöse Sorge  um  den  gesamten  Verdauungsapparat  ist 
die  Quelle  der  Akkumulation  von  Milliarden 
Lebenspotenzen !  Keine  Speise  darf  genossen  werden, 
die  nicht,  fast  ohne  Rückstand,  in  i — 3  Stunden 
vollkommen  verdaut  ist!  Essen  und  verdauen  ist  an 
und  für  sich,  unter  allen  Umständen,  eine  Schwä- 
chung, eine  verhindernde  lähmende  Tätig- 
keit für  die  Energien  des  Gesamt  Organismus.  Von 
anderen  angeblich  notwendigen  Niaiserien  gar  nicht 
zu  reden!  Nur  der  vollkommen  nüchterne  pur- 
gierte, restlos  ausgeschlafene,  keusche  Or- 
ganismus ist  zu  ganz  exzeptionellen,  ja  fast 
exzentrischen  Leistungen  an  Elastizität,  Kraft,  Aus- 
dauer befähigt !  , .Training"  aber  ist  bei  uns,  aus  einer 
Maschine,  die  nicht  mehr  leisten  kann  als  sie  eben 
kann,  durch  ,, Arbeit"  mehr  herausschinden  wol- 
len! So  wird  man  nicht  Sieger  in  Olympia-Stock- 
holm! Aus  der  Zentrale  ,, Rückenmark-Gehirn" 
müssen  die  unerschöpflichen  Energien  von  selbst 
der  Motor  sein,  der  an  Herz,  Lunge,  Arme,  Beine  seine 
Kräfte  hinaussendet!  Bei  uns  will  man  es  von  der 
Peripherie  aus  richten!    Das  ist  eine  grausame 

159 


Stupidität.  Man  will  seinem  Organismus  Opfer 
auferlegen,  aber  von  außen  durch  Bewegung,  nicht 
von  innen  in  bezug  auf  Essen,  Trinken,  Purgieren  und 
noch  etwas  anderes.  Man  will  nichts  unterlassen, 
sondern  ,, trainieren",  ein  entsetzlicher  Blödsinn,  nur 
geeignet  für  Schwergewichtsstemmer  und  Ringer, 
nicht  aber  für  ,, Marathon-Lauf  er"!  Schlafe  bei  weit 
geöffneten  Fenstern  lo — 15  Stunden  lang,  bestäube 
deinen  Leib  mit  Menthol-Franzbranntwein,  nähre 
dich  von  Erbsenpüree,  Kartoffelpüree,  weichgekoch- 
tem Karolinen-Reis,  Fisch,  rohen  Eidottern,  Sana- 
togen, Gelees,  Biocithin,  Gervais,  Neufchateller,  Spi- 
nat, Topfen,  saurem  Obers,  mürbem  Geflügel, 
mürbem  Wild  usw.  usw.,  nimm  täglich  nach  dem 
Frühstück  eine  halbe  Pastille  ,,Tamar  Indien  Gril- 
lon"  und  liebe  die  Frauen  ohne  Erfolg,  in  zehrender 
Sehnsucht und  du  wirst  Milliarden  von  Le- 
bensenergien in  deinem  Organismus  aufstapeln !  Mehr 
als  mit  dem  öden  , »Training",  und  wirst,  jedenfalls  in 
Sprung  und  Lauf  und  Dingen,  die  nicht  von  „Go- 
rilla- Kräften"  abhängen,  eher  ein  Olympiasieger 
werden,  als  durch  die  faden  Ratschläge,  die  nur 
überwundene,  gestorbene,  verweste  Vorurteile  in  sich 
bergen!  Die  Zentrale  des  Lebens,  Gehirn  und 
Rückenmark,  muß  man  ,, trainieren",  die  ausübenden 
Organe  tun  dann  ihre  Exzeptionsleistung  ganz  von 
selbst! 


160 


BRIEF  VOM  SEMMERING 

Liebe  Frau  Lotte  Fr., 

habe  Ihre  beiden  Bücher  erhalten,  freue  mich  be- 
sonders auf  Sehet Sjchrin.  Er  kann  aber  auch 
Schtedrin  heißen.  Hier  auf  dem  Semmering  hegt 
jetzt,  im  März,  ,,unbe nützbarer"  Schnee.  Man 
schaut  gleichmütig  zu,  wie  er  grau  zerfließt.  Alle 
Stubenmädchen  der  Hotels  haben  in  Wassergläsern 
Schneerosen  stehen,  und  irgendeine  teilt  mit:  ,, Meine 
san  schon  aufgeblüht!"  Als  wir  von  Mariaschutz 
Weidenkätzchen  (Palmkatzerln)  nach  Haus  brachten, 
meinte  jemand  pathetisch,  das  bedeute  einen  schlech- 
ten Sommer,  daß  sie  schon  heraußen  seien,  so  ,, Früh- 
geburten" der  voreiligen,  schwächlichen  Natur!  Vor 
März  dürfe  es  keine  ,, Palmkatzerln"  geben,  alles  sei 
eben  schon  dekadent  veranlagt.  Man  kann  hier  viel 
lernen  von  den  natürlichen  Menschen,  nämlich  daß 
sie  noch  blöder  sind  als  die  unnatürlichen.  Gestern 
sagte  eine  wunderbar  gewachsene  junge  Dame  zu 
mir:  ,,Herr  Dichter,  darf  ich  auf  eine  schöne  wert- 
volle Stunde  in  Ihrer  Gesellschaft  hoffen?!?"  ,,Für 
Sie  oder  für  mich?!"  erwiderte  ich  schlagfertig. 

Die  meisten  Leute  hier  sprechen  darüber,  daß, 
falls  sie  vor  20  Jahren  den  ganzen  Semmering  aufge- 
kauft hätten,  sie  heute  ,, nichts  mehr  zu  arbeiten 
brauchten",  wie  der  technische  Ausdruck  lautet 
von  Leuten,  die  überhaupt  nie  in  ihrem  ganzen  öden 
Dasein  etwas  gearbeitet  haben!  In  einer  stockfin- 
stem  Nacht,  Va^^,  traf  ich  einen  verwilderten  Mann 
mit  einer  kleinen  Eisenbahnwächterlateme  an  einer 
langen  Stange.    Ich  bot  ihm  eine  Krone  an,  mich  ins 

"  161 


„Hotel  Panhans"  zu  geleiten,  da  ich  nicht  wieder  auf 
dieselben  vier  Rippen  auffallen  wollte,  die  ich  mir 
vor  sechs  Wochen  gebrochen  hatte. 

Er  erwiderte:  ,, Barmherzigkeit,  gnä'  Herr,  ich 
bin  der  Wächter  vom  großen  Semmeringtunnel,  mein 
neugeborenes  Kind  verblutet  sich,  von  der  Nabel- 
schnur aus ." 

Ich  erwiderte:  ,,Ist  es  ein  Knabe  oder  ein  Mäd- 
chen?! Für  Knaben  habe  ich  nämlich  keinerlei 
Interesse.    Die  sollen  verbluten!" 

,,Es  ist  ein  Mädchen,  gnä'  Herr,  helfen's  mir  an 
Arzt  suchen!" 

Natürlich  war  es  ein  Knabe,  und  der  Mann  hatte 
mich  schmählich  betrogen.  Zola  hätte  diese  Sache 
schildern  müssen,  auf  4000  Druckseiten.  Bei  mir  ist 
alles  schon  zu  Ende,  bevor  ich  recht  anfange,  alles! 
Der  Himmel  ,, blaut"  heute  wie  an  der  ,,Riviera"; 
da  er  aber  keine  Monatsrenten  bezahlt,  hat  er  für 
mich  keinerlei  Interesse.  Die  roten  Vogelbeeren 
waren  der  allerletzte  Winterschmuck,  sie  waren  so 
zäh,  selbst  bei  minus  10°  hielten  sie  sich  noch  tapfer 
als  Nahrung  für  verhungernde  Vögel.  Wie  die  Ja- 
paner für  ihr  Vaterland.  Ein  wunderschönes  Mäderl 
verkauft  Schneerosen  an  der  Straße  für  10  Heller. 
In  sieben  Jahren  wird  sie  schon  eine  höhere  Taxe 
haben.    Ihr  ergebener 

Peter  Altenberg. 


162 


FAHRT 

Ich  bin  nicht  gereist,  ich  weiß  bis  heute  es  nicht, 
wie  ein  Schlafwagen  ausschaut,  verstehe  nichts  da- 
von, daß  man  nachts  in  seinem  Bett,  auf  einem  Kopf- 
polstcr,  unter  einer  Decke  und  mit  anderen  nützhchen 
und  bequemen  Utensihen,  durch  die  Welt  getragen 
wird  und  morgens,  ganz  ausgeruht,  irgendwo  sich 
befindet,  wo  man,  mit  Respekt  zu  melden,  noch 
niemals  auch  nur  annähernd  gewesen  ist.  Nun 
brachte  man  mich  an  einem  frischen  Julimorgen,  per 
Automobil,  70  Kilometer  die  Stunde,  nach  Wiener- 
Neustadt.  Alle  Wiesen  begossen  uns  fortwährend 
mit  ihren  Parfüms.  Wind  und  Duft,  das  allein  spürte 
man.  Lioschka  sagte  nur  einmal:  ,,Wenn  etwas  ge- 
schieht, gehen  die  Splitter  der  Autobrille  vorerst  in 
die  Augen  und  zerreißen  sie!"  Dann  nahm  sie  lang- 
sam die  Autobrille  ab.  Dann  sagte  sie :  ,,Ihre  geliebten 
weißen  Kartoffelblütenfelder!  Früher  habe  ich  mich 
nicht  getraut,  sie  schön  zu  finden!  Es  hätte  sich 
auch  nicht  für  mich  geschickt!"  Dann  sagte  sie: 
,, Haben  Sie  auch  den  roten  Mohn  in  den  Wiesen  gern, 
obzwar  es  ein  Unkraut  ist  und  schädlich  für  die  armen 
Kühe?!" 

Ich  berührte  leise  ihre  Hand  in  den  hellbraunen 
Rehlederhandschuhen.  In  Wiener-Neustadt  setzte 
man  mich  ab.  Gerade  fiel  einer  von  einem  Gerüste, 
brach  sich  das  Genick.  Ich  kaufte  mir  Bergblumen- 
ansichtskarten und  fünffarbige  Hülsen  für  Bleistifte. 
Ich  ließ  mir  ein  Zimmer  aufsperren  im  Hotel  neben 
dem  Bahnhof,  um  zu  schlafen.  Alle  Bediensteten 
waren  wie  besorgte  Kindermädchen,  obzwar  ich  nicht 

"•  163 


nach  „reichlichem  Trinkgeld"  aussah.  Aber  der 
Schein  trügt.  Das  ist  vielleicht  die  letzte  Philosophie 
dieser  dienenden  Menschen. 

Er  ist  vielleicht  doch  ein  reicher  Narr!  Das  letz- 
tere stimmte.  Man  brachte  mir  alles,  das  heißt  zehn 
Flaschen  Pilsner  Bier.  Das  ist  doch  alles!  Ja  und 
einen  Roßhaarpolster.  Wenn  ich  nur  wüßte,  weshalb 
man  noch  nicht  auf  polierten  Granitsteinen  schläft  ? ! 
Diese  Eiderdaunen  aus  zusammengedrückter  Watte 
sind  doch  nur  für  die  ,, Prinzessinnen  in  den  Kinder- 
märchen"! Wir  Erwachsenen  wollen  hart  schlafen, 
wie  die  Kaiser  in  ihren  einfachen  Feldbetten  im 
Kriege.    Amen  I 

Ich  erwachte  und  fuhr  sogleich  auf  den  Semmering 
zurück.  Aus  dem  Dunst  ins  Gebirge.  In  Pottschah 
stieg  eine  ein,  in  einem  braungrün  schillernden  seide- 
nen Bauemkostüme.  Die  hatte  ein  Gesicht  wie  eine 
14jährige  Eleonora  Düse.  Aber  in  Payerbach  stieg 
sie  wieder  aus.  Sie  sah  meinen  Blick  nicht  voll  Trauer 
und  Verzweiflung.  Besser  für  sie  und  mich.  Vielleicht 
hätte  sie  gedacht:  „Alter  Hund!"  Die  Lokomotive 
,, pustete",  wie  man  zu  sagen  pflegt,  in  die  Bergwelt- 
kurven hinauf.  Man  glaubt  immer,  daß  sie  es  nicht 
überwältigen  wird.  Aber  das  ist  ein  laienhafter  Irr- 
tum. Sie  ist  dazu  geschaffen,  konstruiert  und  aus- 
probiert. Gerade  so  ist  es  wie  mit  der  ,, unglücklichen 
Liebe".  Unser  Herz  ist  dazu  konstruiert.  Manchmal 
zerbricht  es.  Das  sind  ,, unvorhergesehene  Fälle",  die 
auch  der  genialste  Maschinentechniker  nicht  voraus- 
berechnen kann.  Die  Luft  wurde  immer  frischer,  und 
ich  gedachte  des  genialen  Erbauers  dieser  Bahn, 
Ritter  von  Ghega,  der  sie  in  die  Felsen  mit  Gewalt 

164 


hineinbohrte,  damit  der  Naturfreund  alles  genieße, 
Abgründe,  Urwälder,  Ausblicke,  kurz  die  Dekoration 
der  Bergeswelten !  Auf  dem  Semmering  dachte  ich : 
,,In  Pottschah  ist  eine  eingestiegen,  in  einem  braun- 
grün schillernden  seidenen  Bauernkostüme.  Weshalb 
hat  sie  meinen  Blick  nicht  gesehen  von  namenloser 
Begeisterung  ? !  Vielleicht  hätte  er  sie  geschützt  vor 
dem  Herrn  so  und  so,  dem  sie  jetzt  unbefangen  die 
Hand  reichen  wird  zum  ,, ewigen  Bunde"?!  Unsere 
Blicke  sind  nicht  da,  um  zu  ,, zünden",  sondern  um 
zu  ,, schützen",  vor  Blicken,  die  ,, seelisch  stargrau" 
sind!  Wir  sind  nicht  da,  um  zu  ,, erobern",  sondern 
um  zu  ,, schützen"!  Ein  jeder  hat  seine  Aufgabe  im 
Leben!    Er  erfülle  sie! 


165 


LIED 

Die  I5jähnge  Anna  war  sein  Ideal.  Strohgelbe 
leuchtende  Weizen  wogen  ihre  Haare! 

Franziska  hieß  die  jüngere  Schwester. 

Annas  Lachen  war  wie  tausend  jubilierende  Her- 
zen   . 

Franziska  hieß  die  jüngere  Schwester. 

Immer  war  Anna  vorhanden,  in  seiner  Seele, 
noch  mehr,  wenn  sie  abwesend  war . 

Franziska  hieß  die  jüngere  Schwester. 

Anna  bekam  den  ,, Scharlach".   Er  wurde  bleich. 

Franziska  bekam  auch  den  Scharlach. 

Anna  genas . 

Doch  er  blieb  bleich. 


i66 


ABSCHIED 

Nun  bist  du  fort . 

Nun  wirst,  nun  kannst  du  mich  nicht  mehr 
quälen. 

Ich  sehe  deinen  Bhck  nicht  mehr,  der  ins  Leere 
starrt, 

das  heißt,  auf  alle  Männer,  die  sich  gerade 
finden! 

Ich  sehe  nicht  mehr,  daß  du  frech  ,, schachern" 
willst, 

mit  dem  immerhin  geringen  Kapitale,  das  dir 
mitgegeben ! 

Und  daß  du  ,, Wucherzinsen"  begehrst  für  einen 
annehmbaren  Leib! 

Ich  bin  erlöst,  weil  ich  dich  nicht  mehr  sehe. 

Was  du  mir  bist,  kannst  du  niemandem  sein! 

Das  aber  kannst  du  erst  verstehen, 

bis  du  allen,   allen  nichts  mehr  sein  wirst! 

S'  ist  eine  Frage  nur  der  Zeit,  der  Monate,  der 
Stunden . 

Und  ich  kann  warten. 

Ich  habe  die  Tränen  kraft,  zu  warten. 

Und  wenn  du  weinend  zu  mir  flüchten  wirst, 

werde  ich,  trocknen  Auges,  deine  zerstörte  Seele 
schützen,  schirmen! 

Denn  irgend  etwas  bleibt  doch  stets  unzerstört 


167 


GESPRÄCH  MIT  EINER  BARONIN,  EX- 
ZELLENZ-FRAU,   ÜBER   IHREN   HERR- 
LICHEN ZWÖLFJÄHRIGEN  SOHN 

,,Je  crains  dejä  maintenant  nuit  et  jour  les  fem- 
mes  qui  viendront  plus  tard  — !" 

„Eh,  madame,  craignez  donc  les  hommes  qui 
viendront  plutot!" 


i68 


ENTZWEIT 

Oft  sagte  ich  ihr,  was  mir  an  ihr  nicht  recht 
war 

ganz  verzweifelt  starrte  sie  mich  mit  bösem  Blicke 
an. 

Ein  Abgrund  öffnete  sich;  meine  Liebe  und  ihre 
Freundschaft  aufzunehmen. 

Dunkel  ward's  und  kalt. 

Hilflos  ist  die  Frau  in  solchen  Augenblicken, 
glaubt  stets  sich  etwas  zu  vergeben,  falls  sie  milde 
wird, 

fällt  der  bangen  Stunde  hilflos  stumm  anheim. 

Ich  sagte:  ,, Hörst  du  die  Holzfäller,  den  Schwarz- 
specht, riechst  du  der  feuchten  Wurzelstämme  brau- 
nen Moder,  siehst  du  die  Bläue  des  letzten  Enzians, 
fühlst  du  meinen  Schmerz?" 

Sie  sagte:  „Mit  solchen  Reden  wollen  Sie  mich 
versöhnen?!" 

,,Mit  solchen  Reden  nicht,  doch  überhaupt.  Und 
irgendetwas  muß  gesprochen  werden,  sei's  dies,  sei's 

jenes.    Vielleicht  findet  sich  ein  Wort .    Es 

muß  ein  Wort  einfach  gefunden  werden,  das  sich 
wie  eine  Notbrücke  von  meiner  Seele  zu  der  deinen 
spannt!" 

Und  sie:  , .Siehst  du,  du  bereust . 

,,Ja,  ich  bereue,  daß  meine  Liebe  größer  als 
meine  Sehnsucht,  dich  zu  bessern,  ist!" 


169 


GESPRÄCH  MIT  DER  SECHSJÄHRIGEN 
SONJA  DUNGYERSKY 

,,Das  ist  ein  Pastellstift  zum  Malen.  Oh,  ich  weiß 
alles,  sehen  Sie!  ?" 

,, Alles,  alles  weißt  du,  angebetetes  Kindchen,  aber 
wie  sehr  ich  dich  lieb  habe,  das,  das  weißt  du  doch 
nicht !" 

,,Und  gerade  das  weiß  ich.  Sie  haben  mich  sogar 
lieber  als  meine  Großmama  mich  lieb  hat ." 


170 


GLEICH  BEIM  HOTEL 

Gleich  beim  Hotel,  links  von  der  weißen  Straße 

ist  eine  abschüssige  Wiese,  die  niemand  betritt. 

Im  Urzustände  ist  das  vielfarbige  Fleckchen. 

Auf  roten  Disteln  wiegte  sich  der  Distelfink, 

und  graue  Brennesseln  bargen  gelbe  Schnecken. 

Es  war  ein  Gewirr  von  braun  und  grau  und  weiß, 

mannshoch  und  dicht.  Im  Mondlicht  lag  es  düster. 

Hier  erschaute  ich  der  holden  Jahreszeiten  holden 
Wechsel. 

Oberhalb  wurde  gebaut  mit  hunderttausend 
weißen  Beton  würfeln, 

und  unten  war  das  Bahngeleise  nach  Triest. 

Hier  aber,  auf  dem  abschüssigen  unzugänglichen 
Wiesenfleckchen,  gab  ein  Monat  dem  anderen  die 
Tür. 

Ein  jeder  kam  in  seinem  Prachtge wände. 

Und  jeden  grüßte  ich  dankbaren  Blicks. 

Es  war  mein  Kalender.  Ich  erkannte  jeden  Monat, 
jede  Woche,  ja  jeden  Tag  an  den  Veränderungen. 

Als  alles  blühen  wollte,  sah  ich  es  voraus; 

ich  sah  voraus,  als  alles  sterben  mußte! 


171 


GESPRÄCH  MIT  EINER  WUNDER- 
SCHÖNEN DAME  VON  30  JAHREN 

,,Nach  kaum  14  Tagen  wollen  Sie  schon  wieder 
vom  heiligen  Semmering  abreisen,  Sie  mit  Ihren 
empfindlichen  N  er ven  ? ' ' 

,Ja,  ich  spüre  es,  daß  der  Semmering  mir  nicht 
hilft ." 

„Ein  berühmter  Homöopath  hat  gesagt:  ,,0, 
Mensch,  die  Heilprozesse  deiner  Krankheit  dauern 
immer  gerade  so  lange,  alsduZeit  gebraucht  hast, 
siedurchdeineSündenzuakquirieren !" 

,,Mein  lieber  Herr  Altenberg,  16  Jahre  lang  kann 
ich  nicht  auf  dem  Semmering  bleiben!  " 


172 


PLAUDEREI 

Ausspruch  eines  fünfjährigen  Mäderls: 

,,Wenn  man  alleweil  brav  ist,  wissen  die  Leut' 
dann  gar  nicht  mehr,  ob  man  noch  auf  der  Welt  ist!" 

Die  Eltern  tragen  mir  ununterbrochen  Anekdoten 
über  ihre  vergötterten  Kindchen  zu.  Sie  sind  tief 
überzeugt  davon,  daß  es  gerade  mich  interessiere! 
Ich  interessiere  mich  auch  wirklich  dafür,  daß  sie 
alle  so  tief  überzeugt  davon  sind,  daß  ich  mich 
dafür  interessiere!  Denn  diesen  schönen  Schein 
zu  erwecken,  heißt  eben  ein  Dichter  sein!  Und  als 
das  möchte  man  doch  gerne  gelten,  wenn  man  schon 
weder  Beruf  noch  Geld  hat,  nicht?!? 

„Mein  Knabe  sagte  mir  gestern",  ,,mein  Mäderl 
sagte  mir  vorgestern",  höre  ich  alle  Tage  zehnmal. 
Ob  eines  dieser  kleinen  Mistviecherl  einmal  zu  der 
reichen  Mama  den  genialen  Ausspruch  täte:  ,,Mama, 
wenn  du  mich  wirklich  lieb  hast,  dann  gibst  du 
diesem  entzückenden  alten  kranken  Dichter  eine 
Monatsrate  von  fünfzig  Kronen !" 

Ausspruch  eines  sechsjährigen  Mäderls  beim  Ab- 
schied vom  Semmering:  ,,Ach,  wie  werde  ich  für  der 
ohne  meinen  geliebten  Pinkenkogel  und  Sonnwend- 
stein existieren  können?!" 

Ich  hätte  gerne  geantwortet:  ,,Sehr  gut  wirst  du 
fürder  existieren  können,  indem  ich  dir  fürder  für 
jeden  affektierten,  verlogenen,  manierierten  Aus- 
spruch deinen  Hintern  aushauen  werde !" 


173 


GEGEN 

Es  ist  eine  der  infamsten  Lügen  der  „Moder- 
nen", daß  es  ,, ewigen  Fortschritt"  gäbe!  Wenn  ich 
das  schon  sage,  will  es  etwas  heißen!  Die  Kremoneser 
Geigen,  die  Amati,  Guameri,  sind  nicht  zu  übertref- 
fen, ja  nicht  einmal  ihr  „Spiegel- Lack"  und  ihre 
,, Schnecke".  Der  Seiltänzer  Blondin,  der  vor  40 
Jahren  über  den  Niagara  tanzte  und  mitten  über  dem 
Katarakte  auf  einem  zusammenlegbaren  Sparherde 
sich  eine  Eierspeise  kochte  und  aß,  auf  einem  Klapp- 
sessel sitzend,  ist  nicht  zu  übertreffen.  Ebenso 
nicht  die  Koloratur  der  Adelina  Patti,  die  Lack- 
arbeiten, Seidenstickereien  der  Japaner  und  Goethes 
Gedichte.  Aber  diese  Herren,  nomina  sunt  bekannt, 
wollen  in  Malerei,  Musik  und  Dichtkunst  ,, ewige 
Fortschritte"  uns  einreden  ?  Und  gerade  ausgerech- 
net sie?    Schmeck's! 


174 


ROMPE! 

Bevor  nicht  jeder  deiner  einstigen  Kavaliere  von 
dir  sagt: 

,,Was  ist  an  ihr?  Sie  ist  gewöhnhch,  dumm  und 
ohne  Anmut,  ohne  Reiz", 

glaub'  ich  dir  deine  absolute  innere  Treue  nicht! 

Zu  deinen  Feinden  mußt  du  sie  erst  machen 
wollen, 

um  mir  zu  zeigen,  daß  du  mir  gehörst! 

Solange  sie  siegreich  Besiegte  sind, 

die  Waffe  senkend  schwärmerischen  Blickes, 

bin  ich  besiegter  Sieger! 

Treibe  sie  zum  Hasse,  zur  Verachtung! 

Dann  erst liebst  du  mich! 

Und  so  geschah's. 

Nur  einer  von  den  Rittern  sagte  zu  mir,  nach 
langem  Schweigen,  eines  Abends: 

,,Und  wissen  Sie,  was  ihre  größte  Tugend  ist? 
Daß  sie  Sie  liebgewonnen  hat,  und  uns  den  Laufpaß 
gab!" 

Ich  sagt'  ihr  das. 

Und  sie  erwiderte:  ,,Der  Arme,  Gute.  Ich  hab' 
ihn  vorgemerkt.    Nach  Ihnen  kommt  er  dran!" 


175 


WASCHUNGEN 

„Ich  wasche  mich  täghch  unmittelbar  nach  dem 
Aufstehen  vom  Kopfe  bis  zu  den  Zehen,  zuerst  lau 
und  dann  kalt,"  sagte  das  wertvolle  moderne  Mäd- 
chen zu  mir. 

„Sehr  gut,"  erwiderte  ich,  ,,aber  ich  glaube  nicht, 
daß  Jeanne  d'Arc  dazu  immer  Zeit  hatte,  als  sie 
in  die  Schlacht  mußte,  um  Frankreich  zu  erretten!" 

Als  ich  sehr  krank  lag,  nahm  es  mich  immer 
,, Wunder",  daß  meine  Gehebte,  nach  einer  durch- 
wachten und  durchsorgten  Nacht,  noch  immer  die 
Energie  fand,  sich  morgens  vom  Kopf  bis  zu  den 
Zehen  einzuseifen  und  abzuspülen. 

Sie  sagte  zwar:  ,,Das  tue  ich,  um  mich  für  dich 
frisch  zu  erhalten!" 

Aber,  siehe,  ich  glaubte  ihr  das  nicht. 

Es  war  das  ,, gottlose  Weibchen"  in  ihr,  das  trotz 
allem  und  unter  allen  Umständen,  sich  appetit- 

hch  erhalten  wollte!    Für  wen?!    Nun für 

alle! 


176 


RESPEKT 

Er  war  immer,  immer  gerührt,  ergriffen  durch  ihre 
„PersönHchkeit",  die  auch  die  lange  Krankheit  nicht 
in  ihr  vernichten  konnte.  Er  hatte  immer  die  Idee, 
sie  würde  mit  dem  letzten  Atemzuge  noch  einen  über- 
aus herzigen  und  aparten  Clowntrick  machen,  und 
z.  B.  sagen:  ,,0,  Peter,  ich  werde  also,  wenn  ich 
hinkomme  morgen,  den  Petrus  bitten,  er  soll,  wenn 
du  ankommst,  dir  deine  vielen  Sünden  verzeihen, 
schon  weil  du  sein  Namensvetter  bist!" 

Infolgedessen  konnte  er  sich  nicht  enthalten,  sie 
im  Gespräche  hie  und  da  zärtlichst  bei  der  Hand,  am 
Arme,  am  Haupte,  anzurühren.  Wie  ein  süßes  Kind- 
chen. 

Da  sagte  sie  eines  Tages:  ,,Frau  Lilly  rührst  du 
nie  an,  obzwar  du  sie  auch  sehr  gern  hast!  Du  hast 
aber  mehr  Respekt  vor  ihr!    Siehst  du?" 

Seitdem  habe  ich  die  süße  kindliche  Frau  nie 
mehr  angerührt. 

Einmal  sagte  sie  zu  mir:  ,,Hast  du  mich  also  nicht 
mehr  so  gern  wie  früher,  Peter?  " 

,,0  ja,  aber  ich  habe  Respekt  vor  dir  bekom- 
men!" 

,,Du  dummer  Mensch!"  sagte  sie  und  lächelte  — 


177 


FALZAREGO-PASS-H  ÖHE 

2250  Meter.  Also  zum  erstenmal  seit  meiner 
jauchzenden  Kindheit  wieder  auf  steinbesäter  Berg- 
alm mit  dunklen  Latschenkiefern,  weißem  Speck  und 
Geruch  von  Ziegen. 

Irgendein  Wässerlein  tropfte,  sickerte  von  aus- 
gelaugten Felsenplatten.  Meine  Hand  berührte  zärt- 
lich die  polierten  Nadeln  des  Zirbelholzes.  Ich 
lauschte  dem  Rauschen  im  Legf Öhren walde.  Das  Knie- 
holz schwankt  nicht  im  Bergföhnstöhnen.  Die 
Stämme  sind  wie  Kautschuk.  Der  schwarze  Weg  ist 
feucht  und  klebrig. 

Ich  gedachte  des  ,, Ochsenbodens"  auf  dem  Schnee- 
berg, Märchen  meiner  Kindheit.  Wie  liebte  ich  diese 
fahlen  blumenlosen  Matten  mit  Geruch  von  weiden- 
den Tieren! 

Wie  wenn  der  Kreis  sich  schlösse  meines  Daseins. 
Auf  Bergmatten  begann  es  mit  unbewußtem  Jauchzen, 
auf  Bergmatten  endet  es  mit  ernster  Wehmut.  Falza- 
rego! 


178 


ENTERBTE  DES  SCHICKSALS 

Sie  hatte  eine  kleine  reizende  Blumenhandlung 
im  Berghotel.  Das  heißt,  sie  hatte  sie  nicht,  sondern 
sie  war  nur  Verkäuferin.  Die  Besitzer  waren  in  Wien, 
reiche  Leute. 

Sie  liebte  die  Blumen,  die  man  ihr  von  den  un- 
gangbaren Felsgraten  brachte,  sie  liebte  die  Blumen, 
die  man  ihr  aus  Ziergärten  schickte  in  Watte  und 
Holzbaumwolle.  Alles,  alles  mußte  sie  aber  doch  ver- 
kaufen. Ihre  besten  Kunden  waren  die  ,, Hotel-Don 
Juans"  und  die  ,, Neuvermählten".  Und  sogenannte 
notwendige  Abschiedsbuketts,  von  denen  man  dachte : 
,,Ich  will  nicht,  aber  ich  muß!"  Diese  verkaufte  sie 
am  liebsten,  schlug,  so  weit  es  ging,  mit  dem  Preise 
auf,  unerbittlich.  Abschied  ohne  Abschieds- 
tränen muß  teuer  bezahlt  werden!  Einmal  kam  ein 
Dichter,  bestellte  für  die  sechsjährige  Sonja  Dungyers- 
ky  einen  Strauß  von  hellrosigen  ,,Rosa  Crimson 
Rambler".  Diesen  ließ  sie  sich  nicht  bezahlen. 
„Weshalb  denn  nicht?!"  fragte  der  Dichter.  ,,Wir 
wollen  doch  auch  um  Gottes  willen  einmal  eine  Freude 
haben!  Etwas  miterleben!"  erwiderte  die  Verkäufe- 
rin; ,,auf  die  Blumenbörse  gehen  wir  ja  von  früh 
bis  abend!" 


179 


FRÜHLING 

Also  jetzt  weiß  ich  alles zuerst  kommen 

die  Kätzchen  der  Haselstaude,  dann  kommt  primula 
acaulis,  dann  gentiana  brachyphylla,  dann  kommt 
ein  grüner  Schimmer  über  die  Birken,  dann  kommt 
Leontodon  taraxacum,  dann  kommt  ein  weißer 
Schimmer  über  die  Birnbäume,  dann  erwachen  die 
Kastanienbäume,  und  zuletzt  die  Lärchen.  Jetzt 
weiß  ich  alles,  so  wird  es!  Hotels  werden  gebaut  aus 
weißen  Betonziegeln,  und  man  projektiert  ein  Ton- 
taubenschießen. Gleichsam  ein  lebendiger  Protest 
gegen  das  Massakrieren  von  lebenden  Tauben.  Frei- 
lich der  Turmfalke,  der  Sperber,  der  Wanderfalke, 
die  Eule?!?  Aber  die  tun  es  aus  Instinkt,  den  wir 
Gott  sei  Dank  verloren  haben.  So  viele  Leute  jedoch 
ersehnen  sich  ihn  wieder.  Sie  haben  aber  leider  noch 
genug  davon! 


180 


ERLEBNIS 

Ich  kaufte  mir  für  eine  Krone  eine  PorzeUan- 
kaf feeschale  mit  gemalter  Ansicht:  ,,Semmering, 
Hotel  Panhans",  steckte  eine  große  Rolle  Papier 
hinein,  auf  dem  geschrieben  stand:  ,,Das  sind  die 
,, Andenken",  die  die  reichen  Damen  ihren  un- 
glücklichen Dienstboten  vom  Semmering  mitzu- 
bringen pflegen! 

Und  das  Dienstmädchen  sagt  gerührt:  „Aber 
gnä'  Frau,  nein  so  was !" 

Aber  sie  meint:  ,,Nein,  so  was  Billiges,  Scheuß- 
liches!" 

Kaum  hatte  ich  die  Sache  auf  meinem  Tische  auf- 
gestellt, besuchte  mich  ein  reicher  Gutsbesitzer. 
„Großartig,"  sagte  er,  ,,wir  fahren  heute  weg.  Meine 
Frau  hat  drei  solcher  Kaffeeschalen  für  unsere  Dienst- 
boten gekauft!  Und  ich  sag'  Ihnen  doch,  mein  lieber 
Altenberg,  solche  Leut'  freut  das  am  meisten!"  „Ja, 
Schnecken!"  wollte  ich  sagen,  aber  ich  sagte:  ,, Selbst- 
verständlich, sicherlich."  Dann  sagte  er:  ,, Zeigen 
Sie's  doch  meiner  Frau,  vielleicht  gift'  sie  sich." 


i8i 


DIE  TÄNZERIN 

Ja,  gut,  ich  war  von  meinem  achten  Jahre  an  bis 
zu  meinem  siebzehnten  eine  englische  Tänzerin  in 
Varietes. 

Aber  darf  ich  nur  denen  sagen,  die  es  als  meine 
Ehre  betrachten,  daß  ich  schön  tanzte  und  mir  mein 
Geld  verdiente  und  meiner  Mutter  davon  gab,  näm- 
lich Geschenke.    Sonst  nahm  sie  nichts. 

Aber  den  Damen  darf  man  es  nicht  sagen, 
die  kalt  und  bös  im  dummen  Leben  stehn! 
Sie  wissen  nichts  von  unserer  hohen  Ehre, 
daß  wir  der  Kunst  gedient  und  dennoch  stets 
Herrinnen  geblieben  sind  über  uns  selbst! 
Sie  glauben,  man  müsse  im  Kampfe  unterliegen, 
denn  siehe,  sie  imt  erlägen  im  ersten  Vorposten - 
gefecht! 


182 


MEINE  EHRUNGEN 

Die  Frau  eines  berühmten  Operettenkomponisten 
sagte  zu  mir:  „Herr  Altenberg,  Sie  wissen  doch  alles 
von  den  wichtigen  Sachen  im  Leben,  ich  bitte,  soll 
man  Rhabarber  in  einem  Garten  anpflanzen?" 

,,Nein,  unter  keiner  Bedingung!  Rhabarber  ver- 
braucht alle  Bodenkraft  ringsumher,  er  ist,  gleich 
dem  Rasen,  der  Egoist  in  der  Pflanzenwelt!" 

Die  Frau  eines  berühmten  Schriftstellers  sagte  zu 
mir:  ,,Ich  bitte  sehr,  soll  man  den  Reis  schon  die 
Nacht  vorher  einweichen  in  einem  Wasserwandel?" 

,, Jedenfalls!  Reis  bedarf  der  Vorbereitung,  wie 
jede  zarte  Sache!" 

Eine  dritte  Dame  sagte:  ,, Alles  was  in  Ihren 
Büchern  ist,  ist  längst  vorher  in  unseren  Herzen! 
Aber  wir  sind  feig,  behalten  es  bei  uns.  Es  ist  gut, 
daß  jemand  den  Mut  habe!" 


183 


KLARA 

Es  gibt  Mädchen,  deren  ewige  Verehrer  wir 
bereits  sind  durch  die  Art  wie  sie  ihre  Haare  zurück- 
streichen an  den  Schläfen.  Eine  unermeßHche  Anmut 
ist  es,  eine  kindlich-lässige,  nichts  bedeutend  und 
für  uns  ein  Schicksal! 

Hätte    ich    nicht    gesehen,    wie    sie    ihre    Haare 

zurückstreicht aber  ich  habe  es  gesehn  und 

bin  verloren! 

Von  nun  an  für  sie  beten  und  weinen . 

V^ie  hob  sie  die  Arme,  wie  hielt  sie  die  Schultern, 
wie  waren  ihre  Hände,  ihre  Finger,  wie  stand  sie 
da,  und  wie  besiegte  sie  alle  Nixenreigen  im  Mond- 
lichte am  Waldsee  der  Märchen?! 

Sie  strich  die  aschblonden  Haare  zurecht,  eine  Be- 
wegung, die  so  natürlich,  selbstverständlich  ist  wie 
Atmen,  Gehen,  Sprechen.  Ich  aber  beugte  mein  Knie 
vor  Gottes  Weite nanmut,  die  er  mich  Armseligen 
in  seiner  unerschöpflichen  Gnade,  an  einem  Juli- 
vormittag erschauen  ließ! 


184 


BERGHOTEL -TERRASSE,  SEMMERING 

Daß  ich  da  bin,  ist  mir  ein  ewiges  Rätsel . 

Ich  war  schon  in  der  Gruft,  durch  Schuld  der 
Ärzte ! 

Heimtückische  Mörder  ihr,  nein,  schrecklicher, 
Idioten! 

Nun  hab'  ich  den  Bergwald  vor  meinem  Fenster, 

und  die  Stimme  der  K.  P.  jauchzt  und  singt  und 
spricht  Gesänge;  bloß  wenn  sie  nur  sagt,  was  alle 
Menschen  sagen;  Gewöhnlichstes  wird  zum  ewigen 
Ereignis.  Wie  man  es  sagt,  ist  alles,  was,  ist 
nichts ! 

Und  die  Komtesse  schreitet,  fliegt,  schwebt, 
schlängelt  sich  über  die  Terrasse . 

Das  süße  Kindchen  Sonja  Dungyersky  steht  da 
in  braunen  Locken  und  ihre  Beine  sind  dünn  und 
braun  wie  von  Gazellen . 

Daß  ich  noch  bin,  ist  mir  ein  ewiges  Rätsel.  Gott, 
schütze  mir  die,  deren  Schönheit  mich  berauscht! 
An  denen  ich  krank  werde  und  gesund  zugleich! 


lS= 


ERKENNTNIS 

Alle  Frauen  rächen  sich  am  Manne  für  irgendeine 
Unzulänglichkeit,  die  sie  besitzen!  Häßliche  Finger- 
nägel machen  sie  bereits  boshaft  und  gereizt.  Von 
einem  „unidealen  Busen"  gar  nicht  zu  sprechen!  Da 
begehren  sie  Tag  und  Nacht  auf  mit  dem  grausamen 
Schicksal,  verzehren  sich  in  Leid,  und  lassen  sich's 
nicht  merken!  Deshalb  muß  eigentlich  jeder 
Mann  milde  sein,  gerührt,  gestimmt  zum  Ver- 
zeihen! Wenn  eine  die  Genialität  hätte,  es  zu  sagen: 
,,Ich  bin  unglücklich  über  mich  selbst!"  Aber  das 
wagen  sie  nicht,  es  sich  selbst  einzugestehen.  Sie 
verlassen  sich  auf  die  Güte  des  Mannes,  der  sich 
„sekieren,  quälen,  ungerecht  behandeln"  läßt!  Sie 
haben  aber  recht,  denn  seine  Liebe  ist  von  Gott 
eingegeben,  und  ihr  Schicksal  ist  irdisch  und  ein 
bißchen  vom  Teufel!  Er  hat  die  göttliche  Kraft 
zu  leiden  mitbekommen,  sie  die  irdische  Schwä- 
che, glücklich  sein  zu  wollen! 


i86 


KLARA 

13.  Juli,  vormittag.  Sie  ging,  in  weißem  Kleide, 
langsam  den  Wiesenweg  hinauf.  Ich  sah  sie ;  und  sah 
sie  wieder  nicht.  Sie  grüßte,  und  ein  Gebüsch  ver- 
deckte sie.  Dann  sah  ich  sie  wieder.  Langsam  sah  ich 
ihr  weißes  Kleid  und  ihre  blonden  Haare  dem  Wald 
zuschweben.  Ich  stand  gebannt  und  grüßte  nicht. 
Sie  wußte,  wie  mir  zumut  war.  Sie  grüßte  noch 
einmal.  Wenn  man  sagte:  ,,Du  bist  der  erste,  der 
gebannt  steht  und  es  vergißt,  zu  grüßen !" 

Sie  wußte  dennoch  nichts  von  ihrer  heiligen, 
schrecklich-süßen  Macht.    Ich  aber  warf  mich  aufs 

Bett  und  weinte .  Dann  kam  sie  zurück.   Ich 

sah  ihr  weißes  Kleid  und  ihre  blonden  Haare.  Ge- 
büsch verbarg  sie,  mochte  sie  entschwinden.  Dann 
sah  ich  sie  wieder.  Ich  verneigte  mich.  Sie  ging 
vorüber;  und  wie  eine  Regenwolke  kam  es  über  die 
lichte  Landschaft . 


187 


EIN  KOMTESSEN-BRIEF 

Lieber  Peter  Altenberg, 

weshalb  sagen  Sie  mir  das  über  die  „göttliche 
Vollkommenheit  meines  Leibes",  den  Sie  unbedingt 
unter  allen  Hüllen  nackt  sehen?!  Ich  habe  doch 
schon  alle  Untugenden,  die  unser  Stand,  unsere 
Sorgenlosigkeit,  unsere  Verwöhnung  von  früh  bis 
abends,  mit  sich  bringen  ohne  unser  Hinzutun !  ? 
Jetzt  kommt  noch  die  Begeisterung  eines  Dichters 
hinzu,  also  eines  Menschen,  der  nichts  will  als  be- 
geistert, berauscht,  gerührt  sein  ? !  So  ein  Beschenker ! 
Sie  werden  mich  nicht  eitel  machen,  Edler,  ich  werde 
nur  denken:  ,, Vielleicht  verhilft  es  ihm  zu  einem  Ge- 
dichte, das  wieder  anderen  hilft,  wenn  sie  es  lesen!  ?" 
Und  dennoch  habe  ich  mich  abends  in  dem  Steh- 
spiegel angeschaut  und  gedacht:  ,, Dichter  wissen 
alles!" 


i8« 


MÄRCHEN  DES  LEBENS 

Der  größte  Beweis  von  Kultur  und  Takt  einer 
Frau  ist  es,  sich  die  ihr  immerhin  ganz  angenehme 
Verehrung  eines  ungchebten  Mannes  gefallen  zu 
lassen,  ohne  ihn  je  zu  kränken!  Eine  Dame  ließ  sich 
durch  sechs  Wochen  meine  schwärmerische  Be- 
geisterung sanft  lächelnd  gefallen.  Beim  Abschied 
bat  ich  sie,  doch  den  Rehlederhandschuh  abzustreifen, 
damit  ich  zum  ersten-  und  zum  letztenmal  ihre  ge- 
liebte Hand  küssen  könne . 

,,Schau'ns,  Peter,  was haben's davon,  nix.  Das  hat 
gar  keinen  Zweck.    Hab'  ich  recht?!" 

, »Vollkommen",  erwiderte  ich. 

,, Leicht  sind  Sie  getröstet!"  erwiderte  sie. 

„Im  Gegenteil,  ich  bin  untröstlich  darüber,  daß 
Sie  in  Ihrer  Kindheit  zu  wenig  französische  und  eng- 
hsche  Gouvernanten  gehabt  haben!" 


189 


WORÜBER  MAN  NOCH  IMMER  WEINT, 
UND  EWIG  WEINEN  WIRD! 

Die  Frau  verließ  den  Mann . 

Hundert  Millionäre  lagen  ihr  zu  Füßen. 
Da  bekam  ihr  Kindchen  Scharlach. 
Ihr   Mann  schrieb  ihr:    „Marie  schreit   auf  aus 
tiefem  Schlaf,  ruft  Deinen  Namen!" 
Da  kam  sie. 
Und  bheb! 


190 


BESUCH 

Nun  gut,  ich  bin  ewig  begeistert,  trotz  meiner 
53  Jahre  und  meiner  Krankheit,  die  doch  schheßlich 
unmerkhch  die  Kräfte  wegfrißt  wie  ein  irrsinniger 
Jaguar,  der  nie  genug  hat  und  im  Blute  wühlt  und 
trinkt  ganz  ohne  Durst !  Mir  gegenüber,  auf  Zimmer 
142,  143,  wohnt  seit  gestern  ein  kleines  Mädchen, 
Ungarin,  Bulgarin  oder  Serbin;  im  Nationalkostüm 
mit  ganz  nackten,  herrlichsten  Beinen  geht  sie.  Als 
ich  sie  heute  auf  der  Stiege  traf,  lächelte  ihre  Mama 
über  mein  begeistertes  Gesicht.  Ich  stand  und  schaute. 
Weshalb  reisen,  wenn  die  fremden  Länder  in  ihrer 
Märchenpracht  sich  zu  uns  bemühen  ? !  Das  Hotel- 
stubenmädchen ließ  mich  in  das  unaufgeräumte 
Zimmer.  Ich  kniete  an  dem  Bett  des  Kindes  nieder, 
küßte  das  Linnen,  auf  dem  ihr  heiliger  Leib  geruht! 
Das  Stubenmädchen  sagte:  ,,VVann  sollen  denn  die 
Menschen  schön  sein  als  so  lang  sie  klein  sind?! 
Später  , .wachsen  sie  sich  aus",  da  wird  eine  wie  die 
andere ." 

Ich  schenkte  ihr  zwei  Kronen,  denn  sie  war  meine 
Mitarbeiterin  geworden  an  dieser  Skizze,  die  zwar 
noch  nicht  angenommen  und  bezahlt  ist.  Aber  man 
muß  etwas  riskieren . 


191 


LIEBESGEDICHT 

Ich  wußte  es,  sie  hatte  mich  betrogen . 

Betrogen?  Nein.  Sie  hatte  nur  vergessen,  es  mir 
zu  sagen,  es  mir  mitzuteilen  —  —  — . 

Denn  ich  hätte  es  ihr  gestattet;  wie  einem  Kind- 
chen Kugler-Gerbauld-Bonbons,  von  denen  man  nicht 
wissen  kann,  wie  zart  sie  schmecken . 

Das  Stubenmädchen  brachte  mir  ihren,  meinen 
armsehgen  Ring,  zehn  Kronen,  den  sie  auf  Zimmer 
109,  im  Bett  gefunden  hatte. 

Dann  ging  ich  in  die  Bergwiesen,  in  den  Wald,  zu 
unserem  heiligen  Ruheplätzchen. 

Hochgelbe  Arnika  wuchs,  weißer  Klee,  braune 
Schuppenwurz,  lila  Orchideen,  ein  Liebesteppich. 

Sie  hatte  mich  betrogen.    Nein. 

Dort,  siehe,  war  es  ein  weißes  Bett  gewesen  wie 
tausend  Betten .  Ein  weißes,  weißes,  nichts- 
sagendes Bett. 

Hier  aber  war  Bergwiesen-Liebesteppich ,  in  Gottes 
bunter  Pracht!    Hier  blieb  sie  mir  treu! 


192 


DAS  GRÖSSTE   KOMPLIMENT 

(Der  Komtesse  T.  W.  geweiht.) 

Einige  Herren  saßen  beim  Frühstück  auf  der 
herrlichen  Bergterrasse,  sprachen  über  die  junge 
Gräfin. 

Der  erste:  ,,Sie  ist  so  hebreizend,  daß  man  krank 
und  gesund  zugleich  wird  bei  ihrem  Anblick!" 

Der  Zweite:  ,,Ich  habe  ein  Gedicht  gemacht,  es 
ist  das  erste  in  meinem  Leben.  Puccini  will  es  mir 
in  Musik  setzen." 

Der  Dritte:  ,,Ich  schrieb  an  meine  geliebte  alte 
Mutter  nur  über  sie,  acht  Ouartseiten ." 

Der  Vierte:  ,,Sie  ist  da,  und  selbst  der  Bergwald 
ist  seitdem  schöner,  melancholischer,  düster-verhäng- 
nisvoll geworden!" 

Der  Fünfte:  ,,Wenn  sie  abends  8  Uhr,  beim  Kon- 
zerte, in  den  Speisesaal  treten  würde,  splitter- 
nackt, sich  hinsetzen,  essen,  trinken,  sprechen 
würde,  so  würde  der  ganze  Saal  es  für  natürlich, 
selbstverständlich  finden,  als  ob  man  längst  darauf 
gewartet  hätte!  Man  spürte  es  direkt  als  etwas  Un- 
schickliches, daß  sie  früher  angekleidet  gekommen 
war!" 


193 


LE  MONDE 

Die  Schaukel  war  weitausgebaucht  und  braunrot. 

Im  Winter  sah  sie  nach  nichts  aus,  im  Sommer 
wurde  sie  mir  eine  hebte  Welt!  Klara,  Franziska 
schaukelten  darin,  vormittags,  nachmittags  bis  zum 
Abend,  in  weißen  Batistge wandern,  mit  blondgolde- 
nen, wehenden  Seidenhaaren. 

Im  Winter  sah  die  braunrote  Schaukel  nach  nichts 
aus,  im  Sommer  wurde  sie  mir  eine  lichte  Welt . 

Dann  kam  der  Herbst  und  dann  der  erste  Schnee. 
Da  blickte  ich  denn  oft  dankbar  hinaus  zur  Schaukel, 
so  tief  dankbar  für  das  einst  Gebotene. 


194 


EIN  REGENTAG 

Es  regnet.  9.  Juli  191 2,  nachmittags  5  Uhr. 
Ganze  dichte  graue  Schleier  ziehen  über  den  Berg- 
vvald  vor  meinen  Fenstern.  Alles  trieft,  ist  unter- 
getaucht in  Nebel.  Die  Blumen  haben  ihre  Farbe 
verloren,  die  Blechdächer  glänzen,  sind  von  Staub 
gereinigt,  naß-poliert.  Die  Schaukel,  die  Schaukel. 
Vormittags  schaukelte  noch  die  sonnigste  Frau,  die 
blondgelichtete,  die  musiksprechende,  in  der 
Sonne!  Ich  sah  sie  schweben  und  weinte.  Mir  ist 
nichts  anderes  geboten  als  zu  weinen.  Ich  kann  keine 
Lieder  komponieren  zum  Preise,  wie  Brahms,  Hugo 

Wolf,  Grieg.    Ich  kann  nur  eine  Melodie 

weinen.  Klara,  Klara.  Es  regnet.  Graue  Schleier 
ziehen  über  den  Bergwald  vor  meinem  Fenster.  Es 
duftet  nach  nassem  Wald  natürlich.  Alles  ist  wie  er- 
tränkt. Klara,  Klara,  du  sitzest  in  deinem  Zimmer, 
lernst  wichtige  Dinge,  fürs  nächste  Jahr,  für  die 
Prüfung,  für  das  Leben.  Deine  blonden  Lockenwol- 
ken streifen  das  weiße  Papier,  auf  dem  du  schreibst 
.  Du  sagst:  ,,An  einem  solchen  faden  Nach- 
mittag  ist's  noch  am  besten  zu  lernen !" 


13* 


IQ5 


IN  24  STUNDEN 

,,Ich  bitte,  nehmen  Sie  mich  um  Gotteswillen 
heute  nacht  in  Ihr  Zimmer!" 

„Was  interessiert  Sie  an  meinem  Zimmer?!  Sie 
haben  es  doch  schon  oft  bei  Tag  besichtigt?!" 

„Bei  Nacht  muß  es  viel  schöner  sein!" 

„Mein  Mann  wird  Sie  erschießen!" 

„Das  macht  nichts!" 

„Mein  Mann  wird  mich  erschießen!" 

Infolgedessen  sah  er  nie  ihr  Zimmer  bei  Nacht. 

Nun  werdet  ihr  mich  fragen:   „Und  bei  Tage?!" 

Frauen  sind  so  kindlich,  das  Tageslicht  als  neu- 
tralisierend zu  betrachten;  die  Sonne  kann  mit 
ihrem  lichten  Strahl  die  dunklen  Sünden  bleichen! 
Sie  läßt  sich  erzählen  und  beichten!    Und  verzeiht! 

Nur  die  Finsternis  ist  heimtückisch,  macht  zur 
Verbrecherin  und  verrät!  ,, Kommen  Sie,  mein  Herr, 
bei  Tageslicht!" 


iq6 


HOTEL-STUBENMÄDCHEN 

Ich  sagte  zu  meinem  Hotel-Stubenmädchen:  „Jo- 
hanna, Sic  werden  von  Tag  zu  Tag  unaufmerksamer 
gegen  mich.  Gestern  waren  sogar  keine  Zündhölzer 
vorhanden."  Sie  sagte:  „Jetzt  wird  es  schon  wieder 
besser  werden.  Ich  habe  nämlich  meine  Schwester, 
27  Jahre  alt,  verloren,  man  hat  ihr  zum  Schluß  das 
ganze  linke  Bein  abgenommen.  Sie  hat  gesagt:  „Ich 
möchte  auch  mit  einem  Bein  leben!"  Aber  es  ist 
doch  nicht  gegangen."  Sie  brachte  mir  zehn  Pakete 
Zündhölzchen.  Sie  sagte:  „Wenn  man  nur  wüßte, 
wofür  man  so  schwer  bestraft  wird !  ?  Die  Dame  auf 
Nr.  32  hat  sicherlich  mehr  gesündigt  als  wir,  und  wie 
fein  lebt  sie?!" 

Ich  sagte:  ,, Johanna,  wenn  es  auf  Erden  richtig 
zuginge,  brauchten  wir  ja  nicht  die  Hoffnung  aufs 
Himmelreich " 

Sie  sagte:  ,, Entschuldigen  Sie  vielmals  die  zahl- 
reichen Versäumnisse  der  letzten  Tage.  Meine  arme 
Schwester  hat  ausgerungen.  Jetzt  kann  ich  wieder 
meine  Pflicht  erfüllen!" 


197 


MODERNER  DICHTER 

In  unserm  Leben  gibt's  so  viel  Nuancen 

Die  eine  sagt:  „Arzt  meiner  kranken  Seele!" 

Die  andre  sagt:  „Wie  schrecklicher  nur  aussieht!' 

Die  eine  lauscht  begierig  der  Persönlichkeit, 

die   andre   sieht   pikiert   den   Gegensatz   zu   den 

andern ! 

Die  eine  schreibt :  „Darf  ich  zu  Ihnen  kommen  ? !" 

Die  andre  hält's  für  zynisch,  wenn  er  im  Gespräch 

sanft -zärtlich  ihre  Hand  berührt. 

Die  eine  sagt:  „Ein  Romantiker  ohne  Herz!" 

Die  andre  sagt:  „Ein  Herzlicher  ohne  Romantik!' 

Und  eine  jede  sieht  ein  „für  "und  „wider" 

und  keine  spürt,  daß  ,,für"  und  „wider"  eins  ist 
in  einem,  in  dem  ,,für"  und  ,, wider"  zugleich 
sind! 


198 


NATUR 

Naturempfinden  ist  wie  die  Mutterliebe  eine 
ewige  rastlose  Emotion.  Man  kann  nicht  sagen :  Hier 
ist  es  schön!  Man  muß  erfüllt  sein,  krank,  von  allem 
anderen  losgelöst,  begeistert,  gerührt,  dankbar  und 
erstaunt!  Man  muß  sich  sagen:  Wie  komme  ich  da- 
zu, das  zu  erleben,  zu  erschauen?!  Es  muß  ein 
,, Nervenrausch"  sein,  sonst  ist  es  nichts,  nichts!  Es 
darf  keinerlei  Zweck  haben  für  die  werte  Gesundheit, 
es  muß  von  selbst  wirken  und  beglücken,  wie  das 
Antlitz  der  jungen  Mutter,  die  sich  über  die  Wiege 
des  soeben  erwachten  Kindchens  beugt.  Ein  Glücks- 
schimmer ist  da  über  seinem  Antlitz,  weshalb,  das 
weiß  niemand.  So  muß  die  Natur  wirken!  Sie  ist 
kein  hygienisches  Heilmittel,  pfui,  sie  ist  ein  Myste- 
rium. Nimm  gewisse  Vögel  aus  dem  Wald,  und  sie 
sterben  vor  Gram.  Gib  sie  zurück,  und  sie  zwit- 
schern Dankgebete.  So  ist  das  Naturempfinden. 
Eine  heiße,  süße,  zehrende  Leidenschaft  der  Seele! 
Sport  und  Hygiene  sind  Börsenmanöver,  die  die 
modernen  Menschen  mit  dieser  Kirche  ,, Natur"  effek- 
tuieren ! 


199 


NOCH   NICHT  EINMAL  SPLITTER   VON 
GEDANKEN 

Dialog 

„Sie  haben  erklärt,  ich  hätte  die  f einstmodellier- 
ten Nasenlöcher,  die  es  gäbe  ? !  Das  ist  nicht  sehr 
viel ." 

,,Nein,  es  ist  nur  Edelrassigkeit ! " 

Extrakt  eines  Königinnenlebens: 
„Die  Königin  fühlte  sich  am  wohlsten,  wenn  sie 
bei   einer  edlen  Zigarette,    mit   Gräfin    P.  A.   über 
ihr  Lieblingsthema,  die  Krankenpflege,  plaudern 
konnte." 

Die   Philosophie: 

Sie  war  die  Lieblingsschülerin  des  berühmten  alten 
Professors  E.  in  Pr.  Und  dennoch  sagte  sie:  ,,Zu 
braunem  Musselinkleide  gehören  eben  unbedingt 
braune  Strümpfe,  braune  Schuhe,  brauner  Schirm!" 
Dennoch?!    Nein,  deshalb! 

Leben  des  Alternden 
Immer    bissiger     und     innerlich     immer    voller 
Tränen ! 

Leben  des  reichen  Mädchens 
,,Ohne  Beschäftigung  könnte  ich  es  nicht  aus- 
halten.   Man  muß  es  sich  doch  beweisen,  daß  man 
auch  ein  Mensch  ist!" 

Es  gibt  Frauen,  die  von  der  Natur  so  luxuriös 
ausgestattet    wurden,    daß    sie    sich    den    Luxus 

200 


der  I.iixuslosigkeit  erlauben  dürfen!     (Komtesse 
T W.  E.). 

Aus  dem  „Englischen'*: 

„Man  sieht,  wie  wenig  Gott  von  (ield  hält,  an  den 
Leuten,  die  er  damit  ausstattet!" 

Aus  dem  ,, Wienerischen": 

,,Sö  haben  gar  ka  Idee,  wie  unangenehm  i  werd'n 
kann,  wann  i  will!" 

„Versuchen  Sie  es  einmal,  es  nicht  zu  wollen!" 

Aus  dem  ,, Französischen": 

Um  ganz  Pariserisch  zu  sprechen,  braucht  man 
es  nur  ununterbrochen  ganz  einfach  innezuhaben, 
daß  es  vier  e  gibt,  das  e  muet,  das  e  grave,  das 
e  egu,  das  e  circonflexe,  und  sich  danach  zu  richten! 
Aber  das  kann  nur  der  geborene  Pariser! 

Als  ich  dem  jungen  Offizier  mitteilte,  ich  hielte 
ihn  für  den  Typus  des  ,, Eroberers"  und  beneidete 
ihn  um  sein  Glück  bei  Frauen,  erwiderte  er :  ,,Schau'ns 
Peter,  schau'ns,  Glück  gibt's  nicht!  Die,  bei  denen 
man  Glück  hat,  da  ist  es  doch  kein  Glück.  Die  hat 
man  von  selbst.  Dort  erst  wäre  es  erst  ein  Glück,  wo 
man  kein  Glück  hat.  Und  grad'  da  hat  man  kein 
Glück!" 

Das  Geständnis  auf  dem  Sterbebett. 

28./8.  1912. 

Aus  Nyiregyhaza  wird  gemeldet :  Das  Mitglied  des 
Munizipalrates  und  Direktor  der  Volksbank  Anton 
F.  wurde  verhaftet.  Seine  Frau  hat  auf  ihrem  Sterbe- 

201 


bette  gestanden,  daß  er  vor  vier  Jahren  ein  Haus  in 
Brand  gesteckt  habe,  um  die  Versicherungssumme 
zu  erhalten  für  ihren  Sommeraufenthalt! 

Konklusion:  Weihe  deine  Frau  in  nichts  ein,  sie 
könnte  aus  Rache  oder  religiösem  Bedenken 
oder  aus  allgemeiner  Stupidität  dich  verraten! 

* 

Moderne  Gemäldegalerie  der  Armen:  Farbiger 
Kunstdruck  der  ,, Jugend",  50 — 25  Zentimeter,  Emil 
Hoess:  Rehe.  Text  von  P.  A.:  ,,Es  gibt  Menschen, 
die  sich  an  der  Anmut  dieser  edlen  Tiere  berau- 
schen! Es  gibt  Menschen,  die  der  Leidenschaft 
der  Jagd  ergeben  sind!  Es  gibt  Menschen,  die, 
ohne  Rausch  und  Leidenschaft,  gern  Rehrücken 
mit  Sauce  Cumberland  fressen!  Es  gibt  Dichter, 
Don  Juans  und  normale  Männer! 

* 

Nur  mit  dir,  Geliebte,  hat  das  Leben  für  mich  noch 
einen  Reiz,  aber  ohne  dich  hat  es  noch  mehr  Reiz! 

* 

Sie  bewunderten  sich  gegenseitig da  war 

es  ein  Mißton!    Sie  bewunderten  gemeinsam  einen 

Schildkröt-Schirmgriff da  war  es  ein  Akkord! 

* 

,, Haben  Sie  mich  noch  gern?!"  fragt  sie  immer 
innerlich  nach  der  ersten  Umarmung.  Weshalb  fragt 
der  herrliche  Idiot  nie:  ,, Haben  Sie  mich  noch 
gern?!" 

Schamgefühl  ist  ,,ein  Schutz  für  Unzu- 
länglichkeiten".   Man  verbirgt,  was  zu  verber- 

202 


gen  ist!    Treue  ist  auch  ein  Schutz.    Wenn  ich  nur 

wüßte,  wogegen?!    Ah,  ja,  gegen  die  (jefahren  der 

Treulosigkeit ! 

* 

Essen,  um  das  Vergnügen  zu  haben,  zu  essen! 
Hungern,  um  das  Vergnügen  zu  haben,  zu  essen! 
Hungern,  um  das  Vergnügen  zu  haben,  zu  hun- 
gern! 

Philister,    Lebenskünstler,    Dichter! 
« 

Es  gibt  kein  laues  Bad  von  27  Grad  und  keine  gute 
Kernseife,  die  nicht  jede  Sünde  der  Frau  hinweg- 
wüschen ! 

Eine  Frau,  der  ich  ihr  Alles  bin pfui 

Teufel ! 

* 

Sie  sagte:  ,,Nie,  nie,  nie,  werde  ich  Ihnen  genug 
dankbar  sein  können!" 

,,0h  ja,  Fräulein,  wenn  Sie  mich  Ihre  Achsel- 
höhlen küssen  lassen!" 

* 

Das  Schrecklichste  ist,  irgendeinen  pathologischen 
Zustand,  wie  Rausch  oder  Eifersucht,  nicht  ,,aus- 
schlafen"  zu  können!  Denn  dazu  ist  ja  der  Schlaf 
da,  daß  man  wieder  „zur  Besinnung"  komme,  daß 
man  ,,ein  Vieh  war"! 

Schlaf  ist  der  Verzeiher  aller  Sünden,  die  man 
dem  armen  Körper  antut!  Man  darf  daher  nicht 
mehr  Sünden  begehen  als  man  Schlaf  hat!    Einige 

203 


Sünden  jedoch  lassen  sich  nicht  „ausschlafen",  z.  B. 
zähes  Fleisch  mit  Kohl.  Auch  die  „Sünde  der  Faul- 
heit" läßt  sich  schwer  ausschlafen.  Je  mehr  man 
begeht,  desto  schläfriger  wird  man! 

♦ 

Es  gibt  zwei  Sorten  modemer  Musiker die 

Ehrlichen,  das  sind  die,  die  den  Richard  Wagner 
bestehlen!  Und  die  Unehrlichen,  das  sind  die, 
die  originell  sind! 

* 

Es  gibt  Dinge,  die  man  nicht  ,, modernisieren" 
kann,  z.  B.  den  Kuckucknif.  Oh  ja,  man  macht  ein 
Rabengekrächze  und  nennt  es  ,, Kuckuckruf"! 

* 

,,Der  gute  alte  Richard  Wagner",  sagen  schon 

manche  Vorge-trottelten ! 

* 

Mit  82  Jahren  ist  man  mit  dem  Tode  schon  so 
befreundet,  daß  er  einem  die  unangenehmsten 
Wahrheiten  ungeniert  ins  Gesicht  sagt! 

* 

Ein  Gymnasialdirektor  sagte  zu  jedem  Abiturien- 
ten beim  Abschiede:  ,, Werden  Sie  General!"  Er 
meinte,  in  jedem  Berufe  könne  man  es  zum  General 
bringen ! 

Es  war  direkt  interessant,  wie  völlig  uninteressant 
die  Dame  war! 

Es  gibt  keinen  größeren  Idealismus  als  den  einer 
zärtlich  liebevollen  Mama.    Selbst  eine  unangenehme 

204 


Erkenntnis  hat  bei  ihr  noch  die  Gloriole  von  roten 
Herzbluttropfen ! 

Millionäre  trösten  uns  immer  damit,  man  könne 
sich  auch  an  Austern  „überessen".  Aber  in  diesen 
Zustand  eben  einmal  zu  gelangen,  ist  ja  das  Glück! 

* 

Ich  fahre  lieber  in  einem  gefährlichen  Automobil 
als  in  einem  ungefährlichen  Omnibus. 

* 

Man  ist  häufig  genötigt,  in  der  guten  Gesellschaft 
das  Wort  ,, entzückend"  auszusprechen.  Ich  habe 
daher  im  Tonfall  dabei  bereits  so  viele  Nuancen  mir 
zurechtgelegt,  daß  eine  Dame  mir  einmal,  als  ich 
etwas  ,, entzückend"  fand,  sagte:  ,,Sie  grober  unver- 
schämter Kerl!  So  ekelhaft  ist  es  ja  doch  nicht,  wie 
Sie  es  finden!" 

Als  der  Kutscher  uns  liebenswürdig  die  Gegend 
erklärte,  notierte  ich  bei  jedem  Bergnamen  zehn 
Heller  Trinkgeld.  Als  er  die  ,,Hohe  Veitsch"  nannte, 
waren  es  bereits  theoretisch  3  Kronen  70.  Wir  run- 
deten es  auf  I  Krone  50  ab! 

* 

Die  Art  deines  Gehens,  o  Fraue,  wenn  du  eine 
Hoteltreppe  langsam  hinauf-,  langsam  heruntersteigst , 
ist  bereits  dein  ,,Biografical  essay",  eine  Offenbarung 
deiner  wirklichen  untrüglichen  Werte! 

* 

Ich  sah  sie  im  Speisesaal  eine  Zigarette  rauchen 
und  war  entzückt.    Ich  wußte  noch  gar  nicht,  was 

205 


und  wie  sie  sprechen  würde.  Sie  hätte  ewig  schweigen 

dürfen,  sitzen,  rauchen,  bücken . 

* 

Das,   was  die   Menschen  uns  nicht  vortäuschen 

können,  nicht  vortäuschen  wollen,  das  sind  sie! 

Ich  habe  Kinder  gesehen,  bei  denen  das  ,,Nießen" 

sogar  entzückend  war! 

* 

Man  kann  auch  elegant  zanken,  elegant  verzwei- 
felt sein,  man  kann  elegant  langweilig  sein,  und  sogar 
elegant  ungezogen!    Aber  das  ist  das  schwerste! 

* 

Sie  bezahlte  Champagner  und  beleidigte  mich 
durch  die  Art,  wie  sie  es  tat! 

Ich  zahlte  Champagner,  und  sie  versöhnte  mich 
durch  die  Art,  wie  sie  es  annahm! 

Eine  Dame  sagte:  ,,Ich  bitte,  Herr  Peter,  welches 
ist  das  idealste  Mundwasser?!" 

,,Ein  idealer  Zahnarzt!  Denn  dann  braucht  man 
gar  kein  Mundwasser,  ja  nicht  einmal  eine  Zahn- 
bürste!" 

* 

Der  Luxus  der  Frauen  steht  theoretisch  im  um- 
gekehrten Verhältnis  zur  Vollkommenheit 
ihres  Leibes!  Dem  Leinenkleide  für  25  Kronen 
entspricht  der  Leib  der  Pauline  Bonaparte!  Eine 
Dame  sagte  zu  mir:  ,, Diese  blöden  teuren  Fetzen! 
Mich  müssen's  nackert  sehen!  Dö  Sachen  verschan- 
deln einen  ja  nur!" 


206 


Wenn  ein  Blumenmädchen  in  einem  Vergnügungs- 
lokale an  deinen  Tisch  tritt,  dir  für  deine  Dame  eine 
Rose  anzubieten,  so  muß  die  Dame  sofort  erklären, 
daß  sie  keine  wünsche.  Sonst  macht  sie  sich  eben- 
falls einer  Erpressung  schuldig! 

* 

Wenn  in  einem  Geschäfte  eine  Kundschaft  nach 
einer  Ware  sich  erkundigt,  die  nicht  vorhanden  ist, 
so  haben  die  Verkäufer  nicht  stolz-abweisend  zu 
erklären;  ,,Nein,  das  führen  wir  nicht  —  —  — !", 
sondern  zerknirscht-reuevoll. 

* 

Weshalb  erhält  man  bei  uns  hölzerne  Fuß- 
schemel nur  in  den  Spielereihandlungen,  wäh- 
rend die  Geschäfte  für  Kücheneinrichtungen 
sich  beharrlich  sträuben,  dieselben  zu  führen  ? !  Fuß- 
schemel sind  keine  Spielerei,  und  in  der  Küche  braucht 
man  Schemel .  Das  sind  unergründliche  Ge- 
heimnisse der  Geschäftswelt! 

* 

In  Berlin  kann  man  von  März  bis  Oktober  die 
riesigen  Spiegelscheibenfenster  in  die  Keller  hinab- 
lassen, und  man  sitzt  im  Lokal  gleichsam  im  Freien 
in  guter  Luft.   Bei  uns  kann  man  das  nicht.  Wundert 

Sie  das?!    Mich  nicht! 

* 

Unsere  Auslage-Arrangeure  wollen  immer  so  viel 
als  möglich  vom  Lager  hinauszwängen,  während 
gerade  ein  einzelnes,  besonderes  Stück  die 
ganze  Führung  des  Geschäftes,  seinen  Geist  be- 
reits dokumentierte! 


207 


Die  Klosettfrauen  sollten  gezwungen  werden,  lose, 
einzelne  Seifenblätter  zu  verkaufen.  Die  gemein- 
same Seife  erinnert  fast  an  ein  ,, gemeinsames  Zahn- 
bürstchen"! 

* 

Alle  Menschen  leben  ,,über  ihre  Verhältnisse",  über 
ihre  ökonomischen,  sexuellen  und  vor  allem  über 
die  ihres  Verdauungsapparates!  Daher  ihre  ewige 
Reizbarkeit  und  Unduldsamkeit.  Irgend  etwas  be- 
drückt sie! 

* 

Ich  sagte  einst  einem  befreundeten  jungen  Restau- 
rateur  in  G.:  ,,Vor  allem  nimm  jede  nicht  konvenie- 
rende Speise  zurück,  selbst  im  Falle  einer  krassen 
Ungerechtigkeit.  Du  machst  immer  noch  das  bes- 
sere Geschäft,  wenn  du  dieses  eine  Mal  bei  dem 
Hundskerl  draufzahlst.  Sonst  redet  er  dir  noch 
Hunderte  ab!" 

In  den  gutgehenden  Geschäften  sind  die  Be- 
dienenden nervös,  weil  zu  viel  zu  tun  ist,  und  in 
den  schlechtgehenden,  weil  zu  wenig  zu  tun  ist! 

* 

Wenn  ein  Zyniker  in  der  Gesellschaft  von  Damen 
zynisch  ist,  so  ist  er  es  n  u  r ,  weil  alle  diese  Damen  ihm 
keinerlei  Hochachtung  einflößen.  Ich  kann  mir 
einen  jeden  Zyniker  denken,  der  vor  einer  ,,inner- 
Hchen  Kaiserin  des  Daseins"  verstummte!  Tut 
er  es  aber  auch  in  diesem  Falle  nicht,  dann  ist  er  ein 
Zyniker ! 


208 


,,Ich  verehre  Euch,  Meister  Altenberg,  seit  Jahren. 
Aber  wozu  die  Worte?!  Ich  möchte  Euer  letztes 
Werk  erstehen.    Was  kostet  es?!" 

,,Fünf  Kronen." 

,,Für  drei  Kronen  würde  ich  es  nehmen . 

Aber  eine  schöne  ,, persönliche  Widmung"  erbitte  ich 
mir  natürlich!" 

Ich  schrieb  eine  persönliche  Widmung:  ,,Sie  haben 
mirzweiKronen  abgehandelt  ,i  c  h  habe  es  mir  abhandeln 
lassen ;  j etzt  wissen  Sie,  was  an  I  h  n  e  n  und  an  m  i  r  ist ! " 

3 jähriger  Wahrheitsfanatiker,  aus  dem  noch  was 
werden  kann: 

,,Wen  hast  du  denn  besonders  lieb,  Bubi?!  Die 
Mama?!" 

,, Nicht  besonders ." 

,  ,Dein  Schwesterchen  ? ! " 

,, Nicht  besonders ." 

,,Wen  also  hast  du  besonders  lieb?!" 

„Die  Schokolade!" 

* 
Liebesbrief : 

,,0h,  ich  habe  ein  so  grenzenloses  Vertrauen  zu 

Ihnen,  daß  ich  es  auch  dann  nicht  verlieren  könnte, 

wenn  Sie  es  mißbrauchen  würden!" 

Höchstes  Lob  (Frau  Dr.  Eugenie  Schw.): 
„Mein  lieber  Peter  Altenberg,  mit  keinem  der 
sogenannten  ,, Modernen"  könnten  Sie  sich  ver- 
tragen! Mit  Gottfried  Keller  hätten  Sie  sich  ver- 
tragen, obzwar  Ihr  von  früh  bis  abend  erbittert 
gestritten  hättet!" 


309 


Ausspruch : 

„Wissen'.i,  bei  uns  in  derHofoper,  ich  mein'  beim 
Ballet,  teilen  wir  die  Künstlerinnen,  Sängerinnen, 
natürlich  nicht  ein  nach  dem,  was  sie  können,  das  is 
uns  Tänzerinnen  doch  ganz  egal,  sondern  nach  dem, 
ob  sie  ,,betamt"  (liebenswürdig-menschenfreund- 
lich) oder  ,,unbetamt"  sind!  Die  Jüdinnen  also  sind 
alle  unbetamt  natürlich,  aber  es  gibt  sogar  unbetamte 
Christinnen  bei  uns!     Und  die  sind  noch  ärger!" 

* 

Für  500  Kronen  Honorar  erklären  dir  die  Ärzte, 
du  habest  „eine  leichte  Blutzirkulationsstörung".  Es 
sei  nichts  von  Bedeutung.  Für  drei  Kronen  erklären 
sie  dir,  es  sei  ein  leichter  Schlaganfall.  Die  Haupt- 
sache wäre,  er  solle  sich  ja  nicht  wiederholen! 

* 

Ein  genialer  Arzt  verlor  seine  Stelle  und  erschoß 
sich,  weil  er  sich  iungen  Patientinnen  gegenüber 
schamlos  benommen  hatte.  Sie  fragen  mich,  was  ich 
über  den  Fall  dächte?!  Ich  rechne  mir  es  aus: 
57  Patientinnen  in  ihrer  ,,Ehre"  gekränkt,  57  Tausend 
durch  den  Verlust  des  genialen  Arztes  effektiv  ge- 
schädigt ! 

* 

,,0,  Herr  von  Altenberg,  wie  geht  es  Ihnen?! 
Noch  immer  nicht  verheiratet  ? !  Woran  arbeiten  Sie 
jetzt  momentan?!  Schwärmen  Sie  noch  immer  für 
schöne  schlanke  15-Jährige?!  Und  überhaupt,  was 
gibt  es  Neues  in  Ihrem  reichbewegten  Leben?!" 

,, Genehmigt!"  erwiderte  ich  gelassen  und  ent- 
fernte mich. 


210 


Jemand  sagte  zu  mir  (jeden  Tag  ist  es  ein  anderer) : 
„Sie  sind  der  glücklichste  Mensch!  Sie  haben  keine 
Bedürfnisse!" 

„Nein,  ich  habe  keinerlei  Bedürfnis,  Bedürfnisse 
zu  haben,  die  ich  ja  doch  nicht  befriedigen  kann!" 

Die  Forelle,  der  Hecht  sind  gefährliche,  ewig  auf 
der  Raublauer  liegende  Tiere.  Aber  man  fängt  sie 
geschickt  mit  irgendeinem  Köder.  Bei  Frauen 
macht  man  es  aber  ungeschickt.  Meistens  reißen  sie 
sich  los  und  verspeisen  nur  den  Köder! 

* 

Die  Prinzessin  sagte:  ,,Man  macht  dem  Suder- 
mann immer  den  Vorwurf,  daß  er  theatralisch  sei. 
Das  finde  ich  ungerecht.  Wenn  man  das  meinem 
Cousin,  dem  Louis  Liechtenstein,  nachsagen  dürfte, 
so  wäre  es  gerecht.  Denn  der  hat's  nicht  nötig.  Aber 
der  arme  Sudermann,  der  ist  doch  dazu  da,  theatra- 
lisch zu  sein!" 

Ich  sandte  dem  herrlichen  ii  jährigen  Kinde  Margit 
Kr.  einen  selbstgebundenen  Strauß  von  hellblauen 
Skabiosen  und  gelben  Teerosen.  Die  Mama  sandte  den 
Strauß  zurück  mit  dem  Bemerken,  ihr  Töchterchen  sei 
noch  minderjährig.  Ich  schrieb:  ,, Gnädige  Frau, 
wann  erfolgt  die  Volljährigkeitserklärung  für  Schön- 
heit und  Anmut?!  Gott,  Jesus  Christus  imd  die 
Dichter  verstehen  nichts  von  Kalenderberechnung!" 

Das  mystisch  schöne  Kind  hatte  eine  unschöne 
Mama.    Alle  Damen  sagten  zu  mir:  ,,Sie  wird  der 

'4*  211 


Mutter  nachgeraten!"  Endlich  kam  der  wunderbare 
Vater  an,  wie  ein  Sieger-Torero.  „Für  einen  Mann 
ist  er  viel,  viel  zu  schön!"  sagten  alle  Damen.  ,,Nun 
und  das  Kind?!"  sagte  ich.  ,, Weshalb  soll  es  gerade 
ihm  nachgeraten?!  Weil  Sie  es  sich  erwünschen?!  ?" 
Bestien ! 

Zwei  Schwestern. 

,,Die  eine  kenn'  ich  noch  nicht  so  genau,  ich  hab' 
noch  nicht  so  viel  mit  ihr  gesprochen . 

Die  andere  kenn'  ich  ganz  genau,  ich  hab'  noch 

nicht  so  viel  mit  ihr  gesprochen ," 

♦ 

Je  lustiger,  je  übermütiger  die  Geliebte,  desto  ver- 
stimmter der  Geliebte.  Alles  geht  auf  seine  Kosten, 
Unkosten.  Aber  manche  Männer  nehmen  regen  An- 
teil   an  diesem  Diebstahl  vor  ihren  Augen! 

Amüsement  ist  ,, Ablenkung  des  Herzens!"  Gut- 
mütigkeit des  Mannes  —  —  —  verbrecheri- 
scher Idiotismus! 

* 

Was  nützt  es  dir,  o  Jüngling,  daß  du  mit  Sorgfalt 
und  Geschmack  ein  Bukett  zusammenstellest  aus 
herrlichen  Bergblumen  und  Gartenrosen  ? !  Die  Dame 
fühlt:  ,,Die  Bergblumen  kosten  nichts,  und  die  sieben 
Rosen  je  eine  Krone!" 

* 

Nur  Juden  haben  die  Ungezogenheit,  mich  zu 
fragen,  weshalb  ich  stets  an  dickem,  grünem,  seidenem 
Kordon  zwei  herrliche  Automobilpfeifen,  Sirenen, 
trage!?    Christen  fragen  das  nie.    Sie  denken  gleich: 

212 


„Weil  er  ein  Narr  ist!"   Die  Juden  lassen  sich  durch 
die  Frage  noch  wenigstens  die  Hoffnung  offen! 

Mein  Gehirn  hat  Wichtigeres  zu  leisten  als  darüber 
nachzudenken,  was  Bernard  Shaw  mir  zu  verbergen 
wünscht,  indem  er  mir  es  mitteilt! 

* 

Die  modernen  Damen  verlängern  sich  die  Finger- 
nägel statt  des  Gehirnes.   Das  erstere  scheint  leichter 

zu  sein! 

* 

Die  Männer  suchen  ihre  Damen  von  8  Uhr  mor- 
gens bis  II  Uhr  nachts  bei  guter  Laune  zu  erhalten! 
Wahrscheinlich  wegen  der  übrigen  Stunden! 

* 

Körperliche  Vollkommenheit  verpflichtet  zu  jeder 
anderen,  geistig-seelischen  Vollkommenheit!  Aber 
glücklich  die,  die  zu  dieser  Verpflichtung  verpflich- 
tet sind! 

Ein  runder  Rücken  ist  nicht  nur  ein  runder 
Rücken.  Es  bedeutet  auch  einen  flachen  Brust- 
kasten ! 

Weshalb  dieses  unintelligente  Sträuben  gegen 
Nährmittelpräparate  wie  ,,Sanatogen"?!  Jedenfalls 
wird  es  euch  mehr  nützen  als  Rostbratl  mit  Erd- 
äpfelsalat !  Ihr  fürchtet  euch  vor  zu  viel  Kräften  ? ! 
Na  ja,  ihr  müßt  es  ja  wissen,  wofür  ihr  sie  dann  doch 
nur  verwendet! 


213 


Nährmittel  haben  zur  Voraussetzung  „eine  ganze 
verfeinerte  Kultur".  Sonst  bleibe  man  bei  dem  a  la 
Hunnen  auf  dem  Sattel  weichgerittenen  Roastbeef! 

* 

Ich  habe  gelesen:  Den  Engländern  fehlen  leider 
zwei  Sachen:  Sinn  für  „feine  zarte  Küche"  und 
Sinn  für  „feine  zarte  Musik".  Jetzt  weiß  ich,  weshalb 
sie  die  Welt  unterjocht,  viel  Geld  und  viel  Ehre 
gemacht  haben! 

Ich  habe  meinen  Gatten  lieb,  weil  er  mich  reich 

ausstattet!   Ich  habe  meinen  Geliebten  lieb,  obwohl 

er  mich  nicht  reich  ausstattet !  Wie  lieb  hätte  ich  erst 

einen  Geliebten,  der  mich  reich  ausstattet!  Aber  das 

gibt  es  ja  gar  nicht;  der  hat  das  doch  nicht  nötig,  das 

wäre  ja  ein  idiotischer  Verschwender,  den  man  unter 

Kuratel  setzen  müßte! 

* 

„Ich  denk'  über  so  viele  Sachen  nach,  Gustav,  und 
da  werd'  ich  ganz  blöd.  Wann  ich  einmal  gar  nicht 
nachdenk',  und  was  ganz  Blödes  sag',  dann  sagen  die 
Leut',  daß  es  riesig  g'scheit  is.  Aber  unbewußt  sagen 
sie.  Das  heißt  also,  daß  es  doch  blöd  is,  nicht, 
Gustav?!" 

Die  5 jährige  Edith  sagte  abends  beim  Abschiede 
zu  mir:  „Also  wann,  wann,  wann ?!" 

Da  ergänzte  die  Mutter:  ,, werden  Sie  morgen 
wiederkommen  ? ! " 

,,Aber  geh',  Mutti,  das  weiß  er  ja,  was  ich  gemeint 
hab'!" 

* 

214 


Je  tiefer  die  seelische  Liebe  der  Frau,  desto 
geringer  ihre  „physiologische"  Erregbarkeit.  Das 
scheint  schauerlich  paradox  zu  sein!  Die  „Liebe" 
verteilt  ihre  Erregung  auf  den  Gesamt  Organismus, 
während  minderwertige  Gefühle  nicht  diese  Kraft 
haben,  sondern  sich  lokalisieren! 

* 

In  jeder  schönen  Frau,  in  jeder  wohlgestalteten, 
steckt  die  ,,Hure".  Sie  kann  nicht  anders  als  Tag  und 
Nacht  von  dem  Gefühle  gereizt,  gekitzelt,  erregt  zu 
werden  als  dem:  ,,Ich  könnte  jeden  Mann  selig 
machen,  ihn  in  die  letzten  Räusche  bringen!"  Eine 
Frau  von  diesem  Weltenempfinden  weg  auf  sich 
konzentrieren  wollen  und  können,  ist  das  Wesen  der 
glücklichen  Liebe!  Ich  bezweifle,  daß  es  bei  einer 
wirklich  vollkommen  schönen  Frau  gelinge! 
Aber  wie  viel  solcher  gibt  es  ? !  Also  gibt  es  doch  viele 
,, glückliche  Liebende".  Und  dann:  die  Frau  rechnet 
mit  ihrem  allmählichen  ,, schäbig- werden".  Das  ver- 
mehrt die  Chancen  der Idioten!    Übrigens 

gibt  es  noch  die  sogenannte  ,,gute  Erziehung".    Ja, 
die  Idioten  haben  Chancen! 

,,Ich  bin  gewitzigt'',  heißt:  ,,lch  bin  gewitzigt 
über  die  Dinge,  über  die  ich  gewitzigt  bin.  Aber 
über  die  Dinge,  über  die  ich  noch  nicht  gewitzigt 
bin,  über  die  bin  ich  noch  nicht  gewitzigt!" 

♦ 

,, Glauben  Sie,  daß  ich  die  Dinge  nicht  ebenso 
wenig  ernst  nehme,  wie  Sie,  Dichter?!" 

„Ich  glaube  es,  weil  Sie  kein  Dichter  sind!" 

* 

215 


Ist  denn  nur  das  „sich  nicht  mehr  anschmieren 
lassen",  im  Leben  wertvoll?! 

Nein,  man  kann  auch  wissentlich  einem  alten 
schäbigen  Hausierer  für  ein  Paar  Hosenträger  fünf 
Kronen  bezahlen! 

,,Sie  reizen  uns  unnötig  auf  mit  Ihren  anar- 
chistischen Theorien!"  sagte  eine  junge  Dame 
zu  mir. 

Wie  würde  ich  es  erst  tun,  werm  ich  es  für  nötig 
hielte! 

Ich  zeigte  jemandem,  der  mich  besuchte,  mein 
geliebtes  Ansichtskartenalbum.  Auf  einer  Seite 
waren :  Napoleon,  Hugo  Wolf ,  Beethoven-Totenmaske, 
Peter  Altenberg. 

,,Was,  gut  plaziert!?"  sagte  ich. 

„Gewiß!"  erwiderte  verlegen  und  verbindlich 
lächelnd  der  Gast. 

„Woher  nehmen  Sie  ununterbrochen  Ihre  Be- 
geisterung für  Frauen,  Kinder,  die  Natur?!"  sagte 
jemand  zu  mir. 

„Von  Abführmitteln!  Tamar  Indien  Grillon!  Von 
meiner  ,, inneren  Unbeschwertheit"! 

,,Sie  scherzen!" 

„Gewiß.  Denn  Sie  würden  davon  nur  Diarrhöen 
kriegen!" 

,,Wir  sind  eben  noch  keine  „chemischen  Retor- 
ten!  Schauen  Sie  doch  die  ,, Roßknödel"  an  auf  der 

216 


Straße,  woraus  das  Pferd  seine  ganze  riesige  Kraft 
gezogen  hat! ?" 

,,Ja,  es  ist  eine  wahre  Roßnatur!" 

* 

„Was  verstehen  Sie  eigentlich  unter  „Kunst"?!" 
sagte  ein  Herr  um  Mitternacht,  bei  Champagner,  zu 
mir. 

,,Da  müssen  Sie  noch  ein  bisserl  was  bar  drauf- 
zahlen, wenn  ich  Ihnen  die  Frag'  jetzt  beantworten 

soll!" 

* 

Wenn  jemand  magenkrank  ist,  so  muß  ein  moder- 
ner Arzt  ihn  sogar  fragen:  ,, Haben  Sie  mit  Ihrer 
Wäscherin  nie  so  ,, leichte  Konflikte",  oder  verkehren 
Sie  nicht  mit  ärmeren  Leuten  als  Sie  sind,  oder 
schläft  Ihre  Geliebte  nicht  gern  bei  anderen?!" 
Solche  Kleinigkeiten  schon  können  einen  über- 
empfindlichen Organismus  aus  dem  sogenannten 
Gleichgewichte  bringen. 

Was  du  nicht  willst,  daß  man  dir  tut, 
das  tu'  geschwind  den  andern  an, 
denn  sie  tun  dir's  jedenfalls  an! 


2  IC 


Druck  der  Spamerschen  Bucbdruckerei  in  Leipzig 


WERKE 

VON 
PETER    ALTEN  BERG 


71^ 


Wie  ich  es  sehe 

Siebente  vennehrte  Auflage.    Geh.  5  Mark,  geb.  6  Mark. 


Was  der  Tag  mir  zuträgt 

Vierte  vermehrte  Auflage.     Geh.  5  Mark,  geb.  6  Mark. 


Prodromos 

Dritte  Auflage.     Geh.  3.50  Mark,  geb.  4.50  Mark. 

Märchen  des  Lebens 

Vierte  vermehrte  Auflage.     Geh.  4  Mark,  geb.  5  Mark. 

Die  Auswahl  aus  meinen  Büchern 

Vierte  Auflage.     Geh.  3  Mark,  geb.  4  Mark. 

Neues  Altes 

Dritte  Auflage.     Geh.  3,60  Mark,  geb.  4,50  Mark. 


Wie  ich  es  sehe 

Es  ist  ein  schönheitstrunkenes  Evangelium  raffiniert 
gesteigerten  und  doch  kindlich -reinen  und  seelenvoll- 
heiteren Lebensgenusses  der  Sinne  und  des  Geistes.  Und 
dabei  eine  ganz  neue  Gattung  in  Stil  und  Vortrag.  Die 
Ausdrucksweise  subtilster  Gefühlsregungen  ist  dadurch 
wesentlich  bereichert  worden.  Schattierungen  im  Emp- 
findungsleben spricht  es  aus,  die  bisher  unausgesprochen 
waren,  in  deutscher  Sprache  wenigstens.  Dadurch  gewinnt 
das  Buch  eine  besondere  Bedeutung.  Die  Mittel  der  Dar- 
stellungskunst werden  ganz  einfach  dadurch  erweitert.  Es 
ist  wie  ein  neues  Instrument,  mit  Saiten,  die  man  noch 
nicht  kennt  und  die,  nur  leise  und  linde  berührt,  eine 
ganze  Welt  von  Tönen  hören  lassen,  (Grazer  Tagespost) 

Was  der  Tag  mir  zuträgt 

Um  seine  Altenbergereien,  seine  eigenen  Nuancen,  von 
Humor,  von  Liebe,  von  Heldenverehrung,  von  Sinnlichkeit, 
von  Trauer  gut  auszudrücken,  hat  Peter  Altenberg  seine 
persönliche  Kunstform  erfunden,  und  sie  feiert  in  diesem 
Band  voll  bunter,  amüsanter,  zusammengetragener  kleiner 
Skizzen  wieder  große  Triumphe.  Er  läßt  eine  Tischrunde 
ruhmhungeriger  junger  Leute  eine  Zeitschrift  begründen 
und  den  Herausgeber  mit  der  großen  Brieftasche  um- 
schwärmen; da  zittert  und  schwirrt  es  bei  scheinbar  sach- 
lichen Gesprächen  nur  so  durcheinander  von  allen  mög- 
lichen Ober-  und  Untergedanken  der  ungeduldigen  Jüng- 
linge. Oder  er  liest  einem  jungen  Mädchen,  das  den  ersten 
Tag  seines  Dienstes  am  Postschalter  hat,  die  ganz  und 
gar  nicht  zur  Sache  und  zum  Dienst  gehörigen,  zwischen 
Federeintauchen  und  Auskunftgeben  vorüberblitzenden  Vor- 


J2( 


Stellungen  ab.  Ganz  ohne  Romantik,  wie  sie  früher  in  solchen 
Fällen  beliebt  war  —  früher  hätte  eine  solche  Postnovize 
zumindest  ein  sterbendes  Kind  zu  Haus  gehabt  —  ganz 
ohne  äußeren  Aufputz ;  ganz  den  wirklichen  Beobachtungen 
und  ihren  verborgenen  Geheimnissen  entsprechend;  ganz 
wie  der  Tag  es  ihm  zuträgt.  (Die  Zeit,  Wien) 

Prodromos 

Peter  Altenberg  gibt  in  seinem  neuesten  Aphorismen- 
werk eine  Anleitung  zum  Lebensgenuß.  Er  sagt  uns,  was 
wir  essen  und  trinken  sollen,  wie  wir  unseren  Körper  pflegen 
sollen,  indem  er  die  Behaglichkeit  und  die  Beweglichkeit 
des  Seelenlebens  schildert,  die  wir  dadurch  gewinnen.  Es 
sprüht  in  diesem  Buch  auf  allen  Seiten,  und  dieser  Funken- 
regen eines  lustigen  Philosophen  zerstört  die  lasse  Moral 
eines  satten  PhiUstertums  so  unerbittlich,  wie  die  Müdig- 
keit einer  Nur-Ästhetik.  Es  ist  ein  Lebensbuch  von  uner- 
schöpflicher Klarheit,  eine  ganz  moderne  Philosophie  von 
Leib  und  Seele,  wie  sie  gleich  einheitlich  nur  im  Athen 
eines  Plato  oder  im  Rom  des  Neuplatonismus  geschrieben 
werden  konnte,  wie  sie  in  den  Religionen  Buddhas  und 
Alexandrias   vorherrscht,    er  baut   den    Vorhof   zu    einem 

Tempel  der  zukünftigen  Menschheit.    (Leipziger  Neueste  Nachrichten) 

Märchen  des  Lebens 

Im  Hinhören,  im  Aufmerken,  in  einer  neidenswerten 
Fähigkeit  des  Staunens  liegen  Altenbergs  ursprünglichste 
Dichtergaben.  Die  Welt  ist  so  reich.  Jeden  Tag  sehen 
wir  —  ja,  wie  kann  man  das  alles  aufzälüen?  — ,  wir  sehen 
Wolken  über  den  Himmel  gehen,  ein  Füllen  auf  der  Weide 
springen,  eine  Blume  blühen,  eine  schöne  Frau  lächeln. 
Aber  wenige  von  uns  haben  die  Gabe,  über  das  alles  nach 


Gebühr  zu  staunen.  Vielleicht  muß  man  vom  Leben 
etwas  zur  Seite  gestellt  sein,  um  das  alles  so  gierig,  so 
dankbar,  so  heiß  und  schmachtend  aufzufassen,  wie  es 
Peter  Altenberg  tut.  Wir  gehen  die  Straße  des  Lebens, 
ungeduldig,  präokkupiert  von  der  Sehnsucht  nach  den 
großen  Sensationen.  Wir  suchen  am  Horizont  nach  den 
gewaltigen  Gebilden  der  Berge.  Peter  Altenberg  aber  bückt 
sich  indes,  hebt  einen  Kiesel  von  der  Straße  auf  und  weist 
ihn  lächelnd,  liebevoll,  mit  einer  fast  preziösen  Geste  dar. 
Und  siehe  da,  der  Kiesel  ist  ein  wahres  Wunder,  und  wir 
müssen  tun  als  sähen  wir  ihn  zum  ersten  Male.  Liegt  es 
nur  an  der  preziösen,  entzückten  Geste,  mit  der  er  dar- 
gereicht und  uns  endlich  einmal  eindringlich  ins  Bewußt- 
sein gerückt   wird  ?  {Münchener  Neueste  Nachrichten) 

Die  Auswahl  aus  meinen  Büchern 

über  Peter  Altenberg  ein  Urteil  in  gemessenen  Zeilen 
abzugeben  kann  ich  mich  nicht  erkühnen.  Man  kann  über 
diese  personifizierte  Absonderlichkeit  denken,  wie  man  will, 
verweilen  wird  man  bei  ihr  müssen.  Er  hat  die  feinsten 
Nerven  in  ganz  Wien.  Darum  muß  man  ihn  lesen,  ablesen 
wie  einen  Thermometer,  Barometer,  Hydrometer,  kurz  wie 
irgendein  Kunstwerk  physikalischer  Feinmechanik.  Viel- 
leicht gehört  das  Urteil  über  Peter  Altenberg  wirklich  der 
Zukunft?  Vielleicht  hat  er  instinktiv  das  getan,  was  nur 
er  sich  erlauben  durfte:  seinem  Buche  eine  Selbstanzeige 
mitgegeben,  eine  Selbstanzeige,  worin  es  heißt:  ,,Ich  habe 
vier  Bücher  herausgegeben:  ,Wie  ich  es  sehe',  ,Was  der 
Tag  mir  zuträgt',  .Prodromos',  .Märchen  des  Lebens'. 
Ich  hielt  dieselben  für  , Extrakte',  für  Extrakte  meines 
eigenen  Innenlebens  und  eigentlich  des  Lebens  überhaupt! 


Ich  hielt  mich  für  das  kurzgefaßteste  Herz,  für  das  kurz- 
gefaßteste Gehirn  eines  modernen  Schriftstellers,  für  das 
Unbelästigendste,  Zeit  nicht  Raubendste,  das  es  gäbe! 
Aber  ich  habe  mich  geirrt.  Man  kann  aus  den  vier  Büchern 
noch  die  .wertvollsten'  Perlen  herausfischen  und  so  dem  einen 
Leser  die  Mühe  ersparen,  überhaupt  je  wieder  etwas  von 
mir  zu  lesen,  den  anderen  jedoch  dazu  verführen,  nun  alle 
Werke  zu  erstehen!  —  Man  warnt  also  menschenfreund- 
lichst dadurch  seine  Nichtversteher,  während  man  mit 
seinen  Verstehem  ein  glänzendes  Geschäft  vielleicht  zu 
machen  in  der  Lage  ist  I  Deshalb,  aus  Menschenfreund- 
lichkeit und  Gewinnsucht  zugleich,  veröflfentüche  ich  die 
, Auswahl'!"  .  .  .  Hat  man  die  feinen  Sächelchen,  diesen 
Seelenhauch  gelesen,   scheint  das  Leben  eine  unüberwind- 

Üche  Brutalität.  (Wiener  Abendpost) 

Neues  Altes 

Eben  habe  ich  ein  wundervolles  Buch  gelesen,  keines 
für  Philister,  die  finden  nichts  darin,  keine  Geschichten, 
keine  Moral  und  keine  Unmoral.  Es  sind  Perlen  und 
wieder  nicht  Perlen,  wie  man  sie  sich  gewöhnlich  vorstellt, 
sondern  wie  sie  aus  der  Hand  einer  feinen,  innerlich  vor- 
nehmen Klavierspielerin  aus  den  Tasten  oder  über  die 
Tasten  des  Flügels  rollen,  unsagbar  rund,  unsagbar  matten 
Glanzes  —  reine  Kunst.  Das  Buch  ist  von  Peter  Altenberg 
und  heißt  , Neues  Altes'.  Was  drin  steht  sind  Briefstellen, 
Tagebuchnotizen,  Skizzen,  manchmal  nur  eine  Bücher- 
widmung, selten  mehr  als  eine  Seite  lang,  oft  ein  paar 
wenige  Zeilen,  ein  Nichts  für  den  Philister,  eine  Perlenschnur 

für  den    Liebhaber.  (Nationalzeitung,  Basel) 


O 


^.3T    f^w^A"^  '^^ 


University  of  Toronto 
Library 


Acme  Library  Card  Pocket 
LOWE-MARTIN  CO.  UMITED