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Full text of "Sitzungsberichte - Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Abteilung"

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Sitzung'sberichte 


der 

philosophisch-philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  JVLüncheii. 


Jahrgang   1888. 


Erster  Band,        ^ 

y   -  l 


München 

Verlag  der  k.  Akademie 
1 


In  Commission  bei  G.  Franz. 


AS 


Inhalts  -  Uebersicht. 


Die  mit  *  bezeichneten  Vorträge  sind  ohne  Auszug. 

Oeffentliche  Sitzung   der   kgl.  Akademie  der   Wissenschaften  zur 
Feier  des  129.  Stiftungstages  am  28.  März  1888. 

Seite 

*v.  Döllinger:    lieber  die   Geschichte   der  religiösen  Freiheit  248 

T.  Prantl:    Nekrologe 248 

V.  Gieseb recht:    Nekrologe 268 

*P.  Groth:   Ueber  die  Molekularbeschaffenheit  der  Krystalle    .  304 


Philosophisch -philologische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  Januar  1888. 
Scholl:   Der  Process  des  Phidias 


Sitzung  vom  4.  Februar  1888. 
Wecklein:    Ueber    fragmentarisch    erhaltene    Tragödien    des 
Euripides       


Sitzung  vom  3.  März  1888. 
Wölfflin:    Krieg  und  Frieden  im  Sprichworte  der  Römer  .     .     197 


Sitzung  vom  5.  Mai  1888. 

Oberhummer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern  .  .  . 
V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie  .  .  .  . 
West:  The  extent,  language  and  age  oi  Pahlavi  literature 
*Unger:  Ueber  den  Gang  des  altrömischen  Calenders  .  . 
Fr.  Burkhard:  Die  Nomina  der  Kä9miri-Sprache  .  .  . 
Nachtrag  zu  Ob  er  hu  mm  er' s  Abhandlung 


305 
349 
399 
443 
444 
523 


IV 


Historische  Classe. 
SitzutKi  vom  7.  Januar  1888. 

Seite 
Friedrich:   Ueber  die  Unächtheit  der  Decretale  de  recipiendis 

et  non  recipiendis  libris  des  Papstes  Gelasius  I       ...       54 
*v.  Riehl:   Ueber  angestellte  Untersuchungen  über   die  Braut- 
krone  der  polnischen   Prinzessin  Hedwig ,   Gemahlin   des 
bayerischen  Herzogs  Georg  des  Reichen 86 


Sitzung  vom  4.  Februar  1888. 

Gregorovius:  Die  erste  Besitznahme  Athens  durch  die  Re- 
publik Venedig 141 

Lossen:    Zur  Geschichte    der    päpstlichen   Nuntiatur    in    Köln 

1573—1595 159 


Sitzung  vom  3.  März  1888. 
V    Löher:    Ueber  Dolmenbauten 216 


Sitzun2:sbericlite 


der 

kniiial.  bayor.   Akademie   der   Wissenschaften. 


Philosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  Januar  1888. 

Herr  SchJWl   hielt  einen  Vortrag: 

,Der  Prozess  des  Phirlias.'" 

Die  persönlichen  Schicksale  berleutender  Künstler,  heut- 
zutage ein  beliebter  Stoff  der  Biographie  und  Novellistik, 
haben  dem  antiken  Publikum  geringes  Interesse  abgewonnen. 
Lediglich  an  die  Werke  knüpfen  und  auf  ihre  Entstehung 
beziehen  sich  die  unzusammenhängenden  Nachrichten  und 
gut  oder  schlecht  erfundenen  Anekdoten,  welche  das  per- 
sönliche Element  in  unserer  kunstgeschichtlichen  Ueber- 
lieferung  bilden.  Wenn  auf  Phidias'  Leben  ein  helleres 
Licht  föllt  oder  zu  fallen  .scheint,  .so  wird  das  seiner  Ver- 
bindung mit  Perikles  verdankt,  welche  das  künstlerische 
Schaffen  des  Meisters  als  Theil  der  politi.schen  Wirksamkeit 
des  Staatslenkers  erscheinen  Hess.  Man  weiss,  wie  diese 
Verbindung  für  den  Kün.stler  verhängnissvoll  geworden  i.st: 
eben  über  .seine  Katastrophe  in  Athen,  deren  schon  Zeitge- 
no.ssen  gedenken,  flie.sst  uns  reichlichere  Kunde.  Nur  wird 
der  Werth  der  Berichte  durch  die  starken,  ja  unlösbaren 
Widersprüche  zwi.schen    denselben    beeinträchtigt,    angesichts 

1888.  Philo8.-phUol.  u.  bist.  Gl.  1.  1 


2  Sitzunf]  der  philos.-plüJol.  Chifisc  mm  7.  Januar  JSS8. 

rleren  die  Fi'ao'e  sich  doch  wieder  antdrängt,  ob  da>  spätere 
Alterthum  die  Mittel,  oder  auch  nur  das  Bedürfniss  hatte, 
den  thatsächlichen  Hergang  solcher  persönlicher  Erlebnisse 
7Aiverlässig  zu  ergründen.  Der  Forderung,  zwischen  den 
widerspruchsvollen  Nachrichten  zu  wählen  oder  zu  vermitteln, 
sind  die  neueren  Kritiker  und  Histoi'iker  auf  sehr  verschie- 
denen Wegen  nachgekonnnen,  oline  dass  selbst  in  den  Vor- 
fragen nach  dem  Inhalt  und  Verhältniss  der  Quellenangaben 
eine  Einigung  erzielt  wäre.  Von  den  beiden  letzten  Unter- 
suchungen des  Gegenstandes,  welche  vor  fünf  Jahren  gleich- 
zeitig und  unabiiängig  von  einander  erschienen  sind,  gelangt 
die  eine  zu  dem  Ergelniiss,  dass  Phidias  in  Athen  bei  einer 
Kechnungsaldage  angeklagt,  aber  freigesprochen  worden, 
dann  zur  Ausführung  des  Zeusbikles  nach  Elis  übergesiedelt 
und  dort  in  hoiien  Ehren  gestorben  ist;  nach  der  andern 
ward  der  Künstler  erst  ein  Jahrzehnt  nach  seiner  Kück- 
kchr  von  Elis  nach  Athen  wegen  Unterschleifs  gerichtlich 
verfolgt  und  starb  im  Gefängniss  vor  der  Entscheidung 
des  Prozesses.  Beide  Darstellungen  vertragen  sich  nicht 
hesser  miteinander  als  mit  den  glaubwürdigen  Quellenzeug- 
nissen: es  scheint  kein  überflüssiges  Beginnen  die  letzteren 
durch  eine  erneute  Prül'ung  festzustellen  und  wieder  zu 
Ehren  zu  bringen. 

T. 

I)ass  zu  dem  Prozess  des  Phidias  seine  gefeiertste 
St:Ji()pfimg  in  Athen,  das  Gold(dfenlieiu-8tandhiId  der  Par- 
thenos,  den  Anlass  oder  Vorwand  bot,  ist  übereinstimmende 
Angal)i>  unserer  Gewährsmänner,  l'eber  die  Einleitung  und 
den  Verlauf  des  Prozesses  giebt  nur  Plutarch  (Perikles  :'.  1) 
einen  ausführlichen  Bericht,  von  welchem  die  skizzen halte 
Darstellung  bei   Diodor   12,  30  nicht  abweicht. 

Neider  des  einflussreichen  Meisters,  .so  heisst  es,  und 
pojiti.sche  Gegner  des   Perikles,  welche  mit  dem  Streich  gegen 


Scholl:  Der  Prozesf:  des  Phidiaa.  3 

Phidias  zugleich  .seinen  Gönner  nnd  verantwortlichen  Auftrag- 
geber zu  treffen  dachten,  stifteten  einen  (4ehilfen  des  Phidias 
Namens  Menon  zu  einer  Aussage  gegen  jenen  an.  Nach- 
dem der  Angeber  sich  als  Schutzflehender  persönliche  Sicher- 
heit erwirkt  hatte,  ward  die  Denunziation  in  der  Volks- 
versammlung verhandelt.  Die  Anschuldigung,  dass  Phidias 
sich  an  dem  für  das  Götterbild  bestimmten  Golde  vergriffen 
liabe,  war  durch  Nachwägen  leicht  zu  entkräften,  da  der 
Goldschmuck  abnehml)ar  war:  zum  Verbrechen  aber  machte 
man  dem  Künstler,  dass  er  auf  dem  Schilde  der  Göttin  des 
Perikles  nnd  sein  eigenes  Bild  angebracht  hatte.  Er  ward 
ins  Gefängniss  geworfen  und  starb  dort  an  einer  Krankheit, 
nach  anderer  Angabe  Hessen  ihn  die  Feinde  des  Perikles 
vergiften,  um  den  Verdacht  auf  diesen  zu  wälzen.  'Dem 
Angeber  Menon  aber  gewährte  die  Gemeinde  auf  Glykons 
Antrag  ?>teuerfreiheit  und  beauftragte  die  Strategen  für  seine 
Sicherheit  Sorge  zu  tragen.' 

Den  urkundlichen  Werth  dieses  Schlusssatzes  hat 
Löschcke^)  mit  Recht  hervorgehoben.  Durch  das  Dekret  des 
(übrigens  unbekannten)  Gljkon  erhält  die  Figur  des  Denun- 
zianten Bestimmtheit,  ist  wohl  auch  sein  Name  der  verdienten 
Vergessenheit  entrissen  worden.  Menon  war  Nichtbürger,  wie 
so  viele  Künstler  und  Handwerker  in  Athen:  den  Metöken  be- 
lohnte man  mit  der  Atelie,  der  Befreiung  von  der  Kopfsteuer 
und  anderen  Leistungen,  und  mit  dem  polizeilichen  Schutz.  Die 
übertreibenden  Vorstellungen  von  der  Bedeutung  dieser  Prämie 
für  ]\Ienon  berichtigt  Löschcke  durch  den  Hinweis,  dass  solche 
Privilegien  nichts  Ungewöhnliches  waren  und  besonders  ttie 
Stellung  von  Nichtbürgern  unter  den  Schutz  der  attischen 
Behörden  in   Fhrendekreten   häutig  wiederkehrt.*) 


1)  Phidias  Tod  uncl  die  l'ln-onologie  des  olympischen  Zeus  (Hist. 
Untersuchungen  A.  Schäfer  gewidmet,  Bonn  1882)  S.  28. 

2)  Die  Bedeutung  des  Privilegs  nicht  weniger  als  den  Zusammen- 
hang  der  Erzählung   verkennend  nimmt  Duncker  (Gesch.  d.  Alterth. 

1* 


4  Sitzuvp  der  philns.-philol.  Classr  mm  7.  Jmiuar  1888. 

Eine  aiiffälli«;e  Besonderheit  liegt  indessen  doch  in  nnserem 
Fall  darin,  dass  mit  diesem  Schntz  die  Strategen  beauftragt 
werden.  Wir  erwarten  dafür  den  Rath  und  die  Prytauen 
als  dasjenige  Verwaltungsorgan,  welches  herkömmlieh  und 
von  Rechtswegen  über  die  Sicherheit  der  von  der  Gemeinde 
jirivilegirten  Metöken  zu  wachen  hat.  Wo  den  Strategen 
eine  entsprechende  Weisung  ertheilt  wird,  sind  die  Geehrten 
auswärtige  Staatsangehörige,  welche  als  Wohlthäter  und 
Proxenoi  des  diplomatischen  Schutzes  der  Gemeinde  geniessen. 
Und  auch  zu  dieser  amtlichen  Fürsorge  wird  regelmässig 
der  Rath  mit  den  Feldherrn  gemeinsam  berufen:  die  letz- 
teren allein  nur  in  ganz  vereinzelten  Fällen,  wo  es  sich  um 
bestimmte  militärische  Aufgaben  handelt.^)  Fand  also  Plu- 
tarch  wirklich  in  der  Formel  des  Dekrets  für  Menon  die 
Stratt'gen  genannt,  so  wird  man  das  etwa  durch  die  An- 
nahme erklären  kihinen,  dass  Menon  nicht  in  Athen  blieb, 
vielleicht  guten  Grund  hatte,  die  Stadt  zu  verlassen  und 
mit  einem  anderen  Wohnort  im  attischen  Bundesgebiet  zu 
vertauschen.  Denn  da.ss  ein  solcher  Wechsel  des  Wohnsitzes 
divs  attische  Metökenverhältniss  und  das  Privileg  der  Steuer- 
freiheit nicht  aufhob,  wissen  wir  jetzt  aus  inschriftlicher 
(iuelle.^j     Sicherer  ist,  (his><  in  jentM-  Foruiel   der  Rath  neben 


N.  F.  2,  336  Anin.)  an,  dass  im  Dekret  'nicht  (uf/.eia,  .sondern  ä()fia 
f^eatanden  liat  und  der  Beschluss  zur  jigoßoXi]  des  Proco.sae.s  gehört', 
und  nennt  den  .\uftrag  an  die  Strategen  'eine  liei  Anzeigen  und 
Ankhigen  in  Staatsprocessen  nicht  ganz  ungewöhnliche  Massnahme.' 

1)  Vgl.  darüber  den  Anhang. 

2)  Urkunde  des  Vertrags  mit  Chalkis  C.  1.  .\.  IV  27  a,  53  tovc; 
Af  ff'roi'c  rorc  tv  Xaky.iüi  oaot  oixovvtkc;  fiy  tfIovoiv  'Adt'/ra^F  xai  ei 
Uli  fitftoTui  V7TII  rnv  fir/fiov  tov  'AdtjvaioiV  uteXeia,  rohe  ftl  n).).ovg  rs/.elv 
>'s-  XnixiAa.  Diw.s  die  Clausel  sieb  auf  attische  Metöken  bezi«^ht, 
hal>pn  V.  Wilamowitz  Hermes  22,  249  (vgl.  Aus  Kydathen  88)  und 
Unncker  2,  91  erkannt.  Die  Struktur  des  Satzes  ist  weder  durch 
Vt-rMihreibung  entstellt  noch  verwirrt.    Dass  der  vorangestellte  ll;iuj)t- 


Scholl:  Der  Prnzess  des  Phidios.  5 

den  .Strutejjfeii  nicht  fehlte  und  die  Nichterwähnung  bei  IMu- 
tunli  auf  dessen  nachlässiges  Excerpt  zurückzuführen  ist.  M 
Flutarch  entnahm  das  Psephisma  des  Glykon  wie  die 
übrigen  gleichartigen  Urkunden,  welche  seiner  Biographie 
des  Perikles  ihren  besonderen  Werth  verleihen,  der  Psephis- 
meusammlung  des  Krateros.  Dass  er  dieselbe  direkt  benützte, 
ist  nicht  zu  bezweifeln.  Löschcke  folgert  nun,  dass  mit 
jenem  Dekret  auch  der  ganze  Bericht  über  den  Hergang, 
Einleitung  und  Inhalt  der  Anklage,  Haft  und  Tod  des 
Phidias  aus  Krateros  geschöpft  sei.  und  durch  diesen  Ge- 
währsmann auch  für  unser  Urtheil  massgebende  Bedeutung 
erbalte.  Aber  weder  ist  diese  Folgerung  an  sich  berech- 
tigt, noch  würde  sie,  selbst  ihre  Berechtigung  zugegeben, 
uns  der  Pflicht  überheben  nach  der  Beglaubigung  des  Be- 
richts zu  fragen.  Der  Ehrenbeschluss  für  Menon  selbst 
hätte  dem  Krateros  die  nähere  Auskunft  nicht  bieten 
können:  mit  Motiven  pflegt  die  Fassung  solcher  Beschlüsse 
in  damaliger  Zeit  sehr  sparsam  zu  sein.  Ich  erinnere  nur 
an  das  Dekret  für  die  Mörder  des  Phrynichos.  welches  das 
Verdienst  der  Geehrten  an  keiner  Stelle  bestimmter  bezeich- 
net, ja  nicht  einmal  den  Namen  des  Phrynichos  nennt.     Und 


begriff  nacli  einer  eingefügten  Clau.sel  durrh  rovg  6s  nXlov;  wieder 
aufgenommen  wird,  entspricht  dem  alten  Curialstil.  Vgl.  Patrokleides' 
Dekret  bei  Andok.  1.  77  Jisgi  dk  röjv  EyyEyoaui.iEvo)v  -  -  -  -  Sooi  äiifiot 
tjaav  t)  6(fei}.ovT£^,  xai  ooojv  evOvrai  Tivsg  slai  xareyytoa/^ih'ai  -  -  -  -  xai 
oaa  Svofcaza  tojv  TEXQaxoaion-  rirog  iyyiyoa^Tai  -  -  -  -,  ^^.rjv  onooa  fv 
otrjhug  yiyoanrai  rwr  /</;  yvOäÖE  fiEivävTCov  -  -  -  -•  za  8e  äXla  jzavTa 
i:a/.Etij>at   xxe.     Aehnlicl;   nach   einem   Participialsatz  C.  I.  A.  II  163, 

10  y.al  vEifiavT{ag  xoig  nQvxäv\Eaiv  tievxe  fiEQiÖag  xai  xoig  ivi'ia  äQ[y_ovritv 
-  -  -  -  xat  xa[u  xart](p6goi]g  xuza  {za)  Etco[döza],  za.  8e  äü.a  xoea 
'A&r]vaio[ig   in£oi^Eii'\. 

1)  Die  Formel  mochte  im  Originale  lauten:  EmuEksa^ai  bh 
Mivoivog,  o^ojg  av  /xt)  aÖixfjzai,  zovg  ozgaztjyovg  zovg  dfl  oxoazrjyovvzag 
xai    xTjv   ßovkrjv   zrjv   dsi   ßov/.Evovoav   (die    Reihenfolge   wie   C.   I.  A. 

11  1^-  p.  396). 


6  Sitzunc)  der  philon.-jihilol.  Classe  rom  7 .  Januar  iSSS. 

was  Kniteros  etwa  aus  den  Protokollen  der  Volksversammlung 
entnehmen  konnte,  die  über  Menons  Denunziation  verhan- 
delte, waren  jedenfalls  nicht  die  Angaben,  w^elche  bei  Plutarch 
auftreten :  wie  sieh  weiterhin  ergeben  wird.  Die  Voraus- 
setzung überhaupt,  dass  der  gewissenhafte  Sammler  seine 
Urkunden  mit  ausführlichen,  nicht  aus  den  Akten  geschöpf- 
ten Schilderungen  der  Ereignisse  begleitet  habe,  steht  auf 
schwächsten  Füssen.^) 

Löschcke  macht  für  den  gediegenen  und  mit  den  athe- 
nischen Dingen  vertrauten  Gewährsmann  besonders  zwei 
Kennzeichen  geltend:  die  durch  Plutarchs  'aller  juristischen 
Präcision  ermangelnden'  Bericht  noch  durchschimmernde 
Klagform  der  l'robole,  und  die  Beschreibung  des  Schildes. 
Mit  beiden  befindet  er  sich  im  Irrthum. 

Mit  der  Probole  hat  die  Untersuchung  der  Sache  in 
der  Ekklesia  nicht  einmal  eine  scheinbare  Verwandtschaft, 
und  keine  der  bekannten  Anwendungen  jener  Klagform 
passt  auf  unsern  Fall.  Durch  die  Probole  bezweckte  der 
Kläger  fiir  einen  von  ihm  angekündigten  und  vor  Gericht 
zu  führenden  l'rozess  das  Interesse  der  Bürgergemeinde  zu 
erwecken  und  ein  gihistiges  Präjudiz  zu  erzielen.  Wer  aber 
wäre  liier  (l»-r  ;iQoßaXk6(.iEvog'i  MenonV  Der  Metöke  war 
zu  dieser  Holle  unfähig.  ül)rigens  war  er  ja  nur  das  Werk- 
zeug jener  Ankläger  [loig  xaUjyoQOVi;  nennt  Plutarch), 
welche  erst  auf  Grund  seiner  Anzeige  aus  ihrem  Dunkel 
hervortraten.  Das  Präjudiz  der  Ekklesia  in  der  Probole 
bedeutete    lediglich    eine    moralische   Unterstützung,  die  dem 

1)  Einen  (Gegenbeweis  liefert  Plutarch  selbst  im  nächsten  Ca- 
|iitel  (32)  bei  dem  Rechen8chaftsj)rozess  des  Ferikles.  Er  berichtet 
genau,  was  sich  aus  den  von  Krateros  verzeichneten  Psephismen  über 
das  einzuleitende  Kechenschaf'tsverfiihren  gewinnen  Hess,  schweigt 
aber  über  den  Gang  und  Ausgang  der  Sache,  oHcnbur  weil  ihn  seine 
•Quelle  hier  im  Stich  liesa.  Daher  die  Verlegenheit  neuerer  Histori- 
ker, dicd  Ereigni.-ia  in  den  geschichtlichen  Zusammenhang  einzureihen 


Scholl:  Der  Prozess  r/cs  Phidins.  ' 

Endurtlieil  des  Gerichtshofs  nicht  vur<^riff:  wie  konnte  dann 
das  Votum  der  \'ersammhni^  die  Haft  des  Angeschuldigten 
verfügen  ? 

Die  Anzeige  gegen  Phidias  trägt  die  Form  der  ein- 
fachen ^nlvvaig,  wie  sie  gerade  bei  Nichtbürgern  und  Skhiven 
regelmässig  vorkommt.  Ausdrücklicli  nennt  sie  Plutarch  so. 
der  demnach  das  Verfahren  richtiger  auffasst  als  sein  Kri- 
tiker. Als  i-iiji'irrjg  empfing  Menon  in  der  erwähnten  Be- 
lohnung seine  Denunziantenprämie. 

Aber  die  Inscenirung  der  Anzeige  lehrt  noch  ein 
Weiteres.  'Die  Gegner,  sagt  Plutarch,  bestimmten  Menon, 
sich  als  Schutzflehender  auf  dem  Markt  niederzusetzen  — 
am  Altar  der  zwölf  Götter,  wie  Diodor,  in  diesem  Zug  ge- 
nauer, angiebt  —  und  sich  Straflosigkeit  zu  erbitten  für 
die  Anzeige  des  Phidias'.  Dass  dieser  auffallende  Schritt 
eine  herkömmliche  Form  gewesen  sei,  sich  in  den  Schutz 
der  Gemeinde  zu  stellen,  'um  ohne  Gefahr  gegen  mächtige 
Personen  im  Staate  eine  Anklage  erheben  zu  können,'  ist 
eine  zwar  verbreitete,  aber  unhaltbare  Ansicht.  Das  Gesuch 
um  Straflosigkeit  (adeia)  setzt  eine  strafbare,  gesetzlich  ver- 
pönte Handlung  voraus:  eine  solche  war  die  Beschuldigung 
des  Künstlers  oder  seines  mächtigen  Gönners  keineswegs. 
Die  Maske  des  Schutzflehenden  passte  nur,  wenn  Menon 
selbst  compromittirt  war,  an  dem  von  ihm  zur  Anzeige  ge- 
brachten Verbrechen  sich  mitschuldig  bekannte  und  seine 
Straflosigkeit  zum  Preis  der  Anzeige  machte.  Nur  in 
diesem  Sinne  finden  wir  auch  sonst  adeia  mit  f.irjVvoig  ver- 
bunden, z.  B.  in  den  Denunziationen  der  Hermen-  und 
Mysterien  frevler  des  Jahrs  415.^) 


1)  Andok.  1.  11.  12,  besonders  15  Tevy.oo?  —  inayykV.txai  zfi 
ßov/.fj,  ei  Ol  äÖEiar  doier,  /.itjvvaeiv  :ieoi  tön-  iivaTt]oi(oi'  ovvsoyog  wv  y.ai 
xovg  äkkovg  xovg  jioiovvrag  fis^'  eavTOv,  xal  :rsoi  roiv  'Eoficör  Tijg  :rsoi- 
yo.ifj;  ä  j/dei. 


8  Sitztuifi  der  phUos.-phUoJ.  Classc  roiii  7.  Januar  1888. 

Ein  bis  in  die  Einzelnheiten  entsprechendes  Seitenstiick 
/u  unserem  Fall  bietet  der  des  Agoratos  in  Lysias'  Ivede. 
Agoratos  ist  ans  dem  Freigelassenenstande  dnrch  zweifelhafte 
Verdienste  emporgekommen  ((54.  73.  91).  Eingeweiht  in 
die  Pläne  der  Gegner  der  herrschenden  Friedenspartei  und 
durch  die  Entdeckung  dieser  Pläne  bedroht,  setzt  er  sich 
mit  seinen  Bürgen  am  Altar  der  Artemis  von  Mnnichia 
nieder  (24.  29),  lässt  sich  aber  durch  Gewährung  der  Straf- 
losigkeit (28  vgl.  55)  bestimmen,  dem  Uath  die  Namen  der 
angeblichen  Verschworenen  zn  dennnziren.  Nach  dem  Sprecher 
wäre  das  ganze  Vorgehen,  auch  der  anfängliche  Widerstand 
des  Agoratos,  al^gekartetes  Spiel  gewesen  (18  f.).  Ueber 
die  t.np'voig  gegen  die  Häupter  der  Angeschuldigten,  die 
Strategen  und  Taxiarchen,  wird  in  der  Ekklesia  verhandelt 
und  beschlossen,  dass  die  Üenmizirten  in  Haft  genommen 
(34.  55.  ()0)  und  vor  ein  Gericht  von  zweitausend  Heliasten 
gestellt  werden  sollen  (32 — 35).  An  Stelle  des  Gerichts 
.setzt  .sich  dann  der  Uath  unter  den  Dreissig:  auch  Agoratos 
wird  zur  Untersuchung  gezogen  und  allein  von  allen  Be- 
schuldigten freigesprochen,  'weil  er  die  Wahrheit  angegel)en' 
(50,  vgl.  38  TOVTor  dt  dffeh'tu  ojg  eiegyeri^v  ovra). 

Die  rebereinstimmung  springt  in  die  Augen.  Also 
stellte  sich  der  Angeber  des  Phidias  durch  seinen  Schritt 
als  Mitschuldigen  des  Beschuldigten  hin,  sei  es  als  Helfers- 
helfer oder  als  Hehler.  Ein  geschickt  ersonnener  Kunst- 
gritf,  um  die  Glaubwürdigkeit  seiner  Aussage  zu  erhöhen. 
Dass  dersell)e  seine  Wirkung  nicht  verfehlte,  beweisen  die 
Ehren  Menons,  welche,  so  gut  wie  die  Prämien  der  An- 
geber im  Hermoko])iiienprozess  und  wie  die  Belohnungen 
englischer  Kronzeugen,  zugleich  die  Sicherstelluug  des  wie 
immer  gravirten  Denunzianten  uud  die  Anerkennung  des 
Inhalts  der  Denunziation  au.ssprechen.^) 

1)  Andok.  1,  27.  45.  60,  rrilinien  für  die  als  wahr  erfundene 
iit'iiroi;  sind  ntohend.  V^gl.  unter  .\ndereni  ilic  IJeschlüsMC  von  Kcos 
über  Rötheieinfuhr  C.  I.  A.  II  646,  18.  29. 


SflKill:  Der  Prnzess  des  Phidia.'i.  ■' 

Um  so  mehr  kommt  auf  den  Inhalt  der  Denunziation  an. 
Bei  l'hitarch  werden  zwei  AnkUigepunkte  angegeben :  zuerst  j 
dass  Phidias  Gold  unterschhigen,  sodann  dass  er  die  Porträts 
auf  dem  SchiUle  angel)racht  habe.  Der  erste  wird  sofort 
glänzend  widerlegt,  da  das  Goldgewicht  des  Athenabildes  ^ 
jederzeit  zu  controliren  war.  Hier  also  hätte  Menon  nicht' 
allein  eine  ganz  grundlose  Beschuldigung  vorgebracht,  son- 
dern er  hätte  sich  selbst  des  Antheils  an  einem  Verbrechen 
geziehen,  welches  gar  nicht  begangen  worden  war.  Vollends 
bei  den  Schildporträts  war  jede  Mitschuld  ausgeschlossen: 
und  wie  konnten  überhaupt  diese  Porträts  an  dem  Allen 
sichtbaren,  vielbewunderten  Kunstwerk  Gegenstand  einer 
m[riOig  sein?  Der  ganze  Apparat  der  Denunziation,  die 
Straflosigkeit  und  s})ätere  Belohnung  des  Angebers  wie  die 
Kerkerhaft  des  Phidias  stehen  in  komischem  Contrast  zu  den 
beiden  ungereimten  und  unwirksamen  Anklagen.  Beide  kenn- 
zeichnen sich  als  spät  und  schlecht  erfunden. 

Die  Abnehmbarkeit  des  Goldschmuckes  der  Parthenos 
war  mit  nichten,  wofür  sie  Plutarch  oder  seine  Quelle  aus- 
giebt,  eine  verschmitzte  Erfindung  des  Meisters  oder  des  die 
künftige  Verdächtigung  vorausahnenden  Perikles.  Sie  war 
durch  die  Technik  ebenso  wie  durch  die  Bestimmung  des 
Standbilds  bedingt  und  für  keinen  Kenner,  geschweige  für 
einen  mitarbeitenden  Künstler  ein  Geheimniss.  Wir  wissen 
jetzt  aus  den  inschriftlichen  Inventaren,  dass  seit  Anfang 
des  vierten  Jahrhunderts  die  Parthenosstatue  alle  vier  Jahre 
bei  der  Uebernahme  der  Tempelschätze  auseinandergenommen 
und  mit  Hilfe  einer  in  Erz  gegrabenen  Muster-Beschreibung 
nachgewogen  und  stückweise  inventarisirt  wurde ^);  eine  ähn- 
liche, wenn  auch  nicht  so  regelmässige  Controle  ist  für  die 
frühere  Zeit  vorauszusetzen.  Ohne  Bedenken  zählt  der 
thukydideische    Perikles    in    der    bekannten    Uebersicht    der 


1)  Köhler  Mitth.  d.  arch.  In^t.  5,  ö9. 


!<•  SitziDifi  iler  pliiloa.-i'hilol.  Chistie  vom  7.  Jaintar  JS88. 

Fiiüni/niittel    Athens    den     im    Nothfall     zu     verwertlienden 
\\' ei hgesc henken     auch     den    Goldschmuck    der    Göttin     hei. 
Der  Hiuweiri,    dass   das  Gold    abnehmhar    sei,    soll    auch    an 
dieser  Stelle    nicht   die  Menj^e    mit   einer  Enthüllung    ül)er- 
ra.schen.    sondern    lediglich  die  Möglichkeit  der   Verwendung 
darthun    und    die  Forderung  begründen,    das  Verwendete  in 
Gewicht    und  Ausführung    gleichwerthig    wiederherzustellen. 
Aber    vermuthlich    würde    sich    Perikles    diesen   Hinweis    er- 
s})art,  ja  er  würde  ihn  vermieden   haben,  wenn  die  Abnahme 
der  Goldtheile    erst    wenige  Jahre    zuvor  in  einem  sensatio- 
nellen  Prozesse,    dessen  Spitze  sich  gegen  ihn  selbst  kehrte, 
eine  Rolle  gespielt  hätte.     Offenbar  haben  wir  vielmehr  eben 
in    dieser    Ausführung    bei    Thukydides,    durch    welche    die 
Späteren    von    der  Einrichtung   der  Parthenos  erfuhren,    die 
(^lelle    des    idutarchischen   Berichts    von    der    glücklich    ent- 
kräfteten  Anklage  des  Phidias  zu  suchen.^)     Es  war  gar  zu 
verlockend  für  die  Auekdotenkrämer,  eben  jene  Einrichtung 
des  Goldelfenbeinbildes  zur  Unschuldsprobe  für  den  des  Unter- 
schleifs  an  diesem   Werke  bezichtigten   Künstler  zu  machen. 
Nicht  anders  ist  bei  den  Schildfiguren  die  richtige  und 
wohlbekannte    Thatsache,    dass    unter    den     Kämpfern    der 
Amazonenschlacht    Perikles    und     Phidias    selbst    dargestellt 
waren,*)   zur  Motivirung  der  Anklage  gemissbraucht  worden. 
So  werthvoll    uns   Plutarchs  Schildbeschreibung   ist,    zu  dem 
Prozess    ist    sie    in    eint-    seltsam    scliiefe   Beziehung  gesetzt. 
Erst  der   rnverstand  s])äterer  Zeiten   konnte  an  die  Porträts, 
die    von   Anfang    an    und    durch    alle  Jahrhunderte  unange- 
fochten an  ihrer  Stelle  blieben,  den  Vorwurf  des  Sacrilegium 
heften. 

1)  Petersen  Arch.  Zeit.  1867,  24.  Auf  die  Stelle  bei  Thukydidun 
(2,  Vi)  geht  (ausHer  p:])horo.s  bei  Diodor  12,  40,  3)  aucli  Plutarch  de  vit. 
iiere  iil.  \>.  825  zurück,  elienso  die  Keniiniscenz  des  Fnusanias  1,  25,  7. 

21  Die  neuere  Hypcrkritik  hat  auch  diese  Thatsache  beseitigen 
wollen:  dagegen  a.  Lüachcku  »S.  31  Anni. 


SchöU:  Der  Prozess  des  PhUlin.-i.  11 

Du-ss  die  beiden  von  Piiitarch  angegebenen  Ansichuldig- 
ungen  unbrauchbar  sind,  hat  sich  wohl  auch  Löschcke  nicht 
verhehlt.  Er  meint,  dieselben  seien  in  der  Verhandlung 
nur  nebenher  zur  Sjnache  gekommen:  die  eigentliche  bei 
Pliitarch  fehlende  Begründung  der  Anklage  gegen  Phidias 
entnimmt  er  einer  anderen  Quelle.  Aber  die  von  ihm  hier 
empfohlene  'harmonistische  Behandlung  der  Nachrichten' 
macht  es  Keinem  recht:  das  regelmässige  und  verdiente 
Schicksal  jeder  Harmonistik.  Sie  traut  dem  Plutarch 
zu,  dfuss  er  ausser  zwei  schlecht  gewählten  Auklage- 
punkten  den  einzigen  ausschlaggebenden  bei  seinem  Ge- 
währsmann richtig  erwähnt  fand,  ihn  aber  im  Excerpt  unter- 
drückte; sie  traut  dem  Krateros  zu,  dass  er  zwei  in 
der  Diskussion  der  Ekklesia  wirkungslos  verpuffte  Ver- 
dächtigungen, man  sieht  nicht  woher,  auflas  und  regi- 
strirte;  sie  traut  den  Anklägern  des  Piiidias  zu,  dass  sie  den 
mit  Schein  vorgebrachten  Klagegrund  durch  die  ungeschickte 
Verbindung  mit  bodenlosen  Beschuldigungen  abschwächten 
und  in  seiner  Wirkung  gefährdeten;  sie  traut  endlich  der 
Ekklesia  zu,  dass  sie  durch  eine  so  plump  angelegte  und  auf 
der  Stelle  durchschaute  Intrigue  sich  dennoch  zum  Glauben 
an  Phidias'  Schuld  bestimmen  Hess.  Auch  für  die  be- 
scheidenere Bestimmung  als  nebensächliche  Zwischenfälle 
der  Verhandlung  sind  die  falschen  Angaben  ungeeignet;  sie 
sind  von  solchen,  denen  der  wahre  Kern  der  Denunziation 
unbekannt  geblieben  war,  aus  der  Einrichtung  und  Be- 
schreibung des  Kunstwerks,  auf  das  sich  dieselbe  bezog, 
kritiklos  erschlossen  worden. 

Krateros  i.st  an  diesen  Märchen  und  ihrer  Wiedergabe 
jedenfalls  unschuldig.  Für  die  Annahme,  dass  Plutarch  aus 
ihm  die  zusammenhängende  Erzählung  von  dem  Vorgehen 
gegen  Phidias  geschöpft  habe,  s])richt  nichts:  dagegen  spricht 
die  Uebereinstimmung  des  plutarchischeu  Berichte  mit  dem 
Diodors ,    bei    welchem    Niemand    Benutzung    des    Krateros 


12  Sitzutuf  der  ithilos.-jMoL  Classe  min  7.  Januar  ISSS. 

venmithen  wird.  Löschcke  will  diese  Uebereiiistiiuniung  als 
beweiskräftig^  nicht  gelten  la.^sen,  weil  dazu  die  Erzählung 
Diodors  zu  kurz  sei.  Die  Differenz,  welche  er  betont,  dass 
Diodor  anstatt  des  Menon  ungenau  'einige  Mitarbeiter  des 
Phidias'  nennt,  würde  bei  dem  Excerptor  ohne  Belang  sein 
—  wenn  nicht  hier  vielmehr  die  Wahrscheinlichkeit  vor- 
läge, dass  Plutarch  selbständig  den  unbestimmten  Ausdruck 
der  (.^)uelIo  durch  den  bestimmten  Namen  des  Angebers  er- 
setzt hat,  den  ihm  Glykons  Psephisma  bei  Krateros  lieferte. 
Meines  Erachtens  rückt  gerade  die  Kürze  des  diodoreischen 
Excerpts  die  den  beiden  Erzählern  gemeinsamen  Züge  in  um 
so  helleres  Licht.  Auch  Diodor  sagt,  dass  die  Denunziation 
des  Phidias  von  Perikles'  Gegnern  angestiftet  wurde,  ja  er 
giebt  bestimmter  als  Plutarch  an,  dass  sie  sich  zugleich  gegen 
Perikles  als  den  Bauvorsteher  {e/i  ifuehiTt^g)  richtete.  Er 
berichtet  ferner,  dass  die  Denunzianten,  Mitarbeiter  des 
Künstlers,  sich  als  Schutzflehende  am  Zwölfgötteraltar  nieder- 
Hessen,^)  dass  die  Ekklesia  über  die  Sache  berieth  und 
Phidias'  Verhaftung  beschloss.  Entscheidender  aber  als 
diese  Einzelnheiten  ist  die  ganze  Einkleidung  des  Berichts. 
Bei  beiden  Autoren  ist  der  Prozess  des  Phidias  in  die  Dar- 
stellung der  Ursachen  des  peloponnesischen  Kriegs  verwoben, 
dem  gleichfalls  tendenziösen  Prozess  des  Anaxagoras  an  die 
Seite  gestellt  (den  der  Aspasia  erwähnt  Diodor  nicht)  und 
zu  dem  megarischen  Psephisma  und  Perikles'  Wider.stand 
gegen  die  Zurücknahme  desselben  in  Beziehung  gesetzt,  Alles 
zu  dem  Nachweis,  dass  Pei'ikles  nur  um  seine  erschütterte 
Stellung  zu  befestigen,  den  Krieg  heraufbeschworen  habe. 
Diese  sachlich  und  chnjnologisch  gleich  verfehlte  Combination 
kennzeichnet  am  besten  die  beiden  gemeinsame  Quelle. 
Di(»dor  giebt  in  der  griechischen  Geschichte  des  ganzen  Zeit- 

1)    12,   39.    1    T(7)f  dt:  nvrgoyana/iivo)}'  to)    <pEiliirf  riveg  —  Fy.nOinnr 
iai    xov   xiüv   (jß'y   Oetöv  ßto/tiöv  nach  Suujjpe'«   richtiger   Ueratelluug. 


Scholl:   Der   Prn~e)ia  (1p f;  Pliirlinf).  13 

raums  wenig  mehr  als  ein  Excerpt  aus  Ephoros;  an  dieser 
Stelle  merkt  er  /Aim  üeberfluss  ausdrücklich  an,  dass  er  die 
Ursachen  des  peloponnesischen  Kriegs  dem  Ephoros  nach- 
erzähle^): so  behält  denn  Sauppe  Recht,  dass  auch  Plutarch 
hier  aus  Ephoros  schöpfte.^) 

Ephoros  seinerseits  hat  jene  bedenkliche  Combination 
unbedenklich  aus  dem  Phantasiestück  eines  Komikers  über- 
nommen, und  damit  seinem  kritischen  Vermögen  ein  Armuths- 
zeugniss  ausgestellt.  Die  berühmten  Verse  aus  Aristophanes' 
Frieden,  welche  zuerst  Phidias'  l'nglück  in  nachbarliche  und 
ursächliche  Berührung  mit  dem  megarischen  Beschluss  gebracht 
haben,  sind  bei  Diodor  citirt,  bei  Plutarch  erkennbar  um- 
schrieben."*) Auch  die  abweichende  und  ebenso  originelle 
Version  von  dem  Ursprung  des  megarischen  Psephisma,  welche 
derselbe  Dichter  in  den  Acharnern  vorträgt,  steht  mit  seinen 
Worten  bei  Plutarch  und  stand  wohl  auch  bei  Diodor.  sicher- 
lich bei  Ephoros.*) 

1)  Diod.  12,  41  Atrial  iihv  ovv  tov  Ue/.o.-zorrijoiaxov  iro'/.euov 
roiavzai  rtreg  v:tfJQ^av,  cog  "Effooog  dvsygatp^. 

2)  Sauppe,  Quellen  Plutarchs  für  das  Leben  des  Perikles  13  f. 
Der  Tod  des  Pheidias  (Nachr.  der  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen 
1867  n.  10)  175. 

3)  Diod.  12,  40,  6  am  Schlu>is  der  zusammenhängenden  Dar- 
stellung; ebenso  Plut.  Per.  32  nach  der  Erzählung  von  Aspasia's 
Freisprechung  und  Anaxagoras'  Flucht  mit  Rückwendung  zu  Phidias: 
d)g  8k  öia  fI>n8iov  rroontmaioe  to>  öi]fio>  (Perikles),  <f.oßyjdeig  lo  Stna- 
axrjoiov  ^üD.ovza  tov  .-id/.suoy  y.ai  vn:ojvfi  önFvor  FiF.y.avaFV,  verglichen 
mit  Aristophanes  Frieden  60-5 

.Toöira  UEV  yoLQ  ^yar'  avTrjg  (mit  Müller-Strübing 
für  avtrjg  *]Q^s)  4>ei6iag  Jigä^ag  xaxwg, 
SITU  IJFotx/Jtjg  (foßtjdeig  fit]  /lETaoxoi  Tijg  tvxrjg, 
-----  s^E(p?.£^s  rtjv  nökir 
itißa/.ojv  a-TivOtjoa  jiry.oör  Mtyaoixov  ipr^rfloitaTog 
y.u^eifvarjoei'  toaovTor  Trö/.efiov  -  -  -  -. 

4)  An  der  Verwirrung,  durch  welche  die  Acharnerstelle  53»»  I. 
mit  Versen  des  Eupolis  verschmolzen  und  diesem  Dichter  zuge- 
schrieben ist.  trägt  nicht  Diodor,  sondern  die  handschriftliche  Uebt-r- 


14  Sitzmifi  der  jihilos.-phiJnl.  (Vnsse  vom  7.  Jriinior  1SS8. 

Bei  solchen  Einzelnheiten  der  ausgeführten  Darstellunj^f 
Plntarchs,  welche  in  Diodors  Excerpt  fehlen,  ist  natürlich 
die  Herkunft  ans  Ephcn'O.s  nicht  ohne  Weiteres  vorauszusetzen. 
Das  gilt  besonders  von  den  beiden  bereits  l)esprochenen 
Anklagegründen.      Die    allerdings    farblose    Fassung   Diodors 


lieferun^j  die  Sclmld.  Hinter  den  Worten  y.al  m'Ojv  iv  äD.oiQ, 
welche  ersichtlich  ein  zweites  Citat  des  Aristophanes  einleiten,  hat 
Erno/.tc  ö  noirjTj'ic  keine  Stelle;  der  Name  gehört  vor  das  folgende 
Citat:  (^y.aly  EvjTobc  o  jtoii^t}]?'  FleiOo)  rtc  xzL  (So  bereits  Jebb  zu 
Aristides  v:ifo  röjr  rerr.  2,  129,  15,  ilhnlich  P.  Leopardi ;  verfehlt  ist 
C.  Müllers  Vorschlag  F.  H.  G.  5,  18  Anm.)  Diese  Confusion  hängt 
/iisanimen  mit  der  unverständigen  Verkürzung  des  Achamercitats : 
denn  schwerlich  liat  Diodor  blos  den  Vers  IleQix?Jt)^  ohlvficrtog  — 
'E).).nf>a  citirt,  die  vorangehenden  für  seinen  Zweck  wichtigeren  weg- 
gelassen. Auch  in  der  Stelle  des  Friedens  ist  ein  Vers  ausgefallen. 
Aristodemos  c.  16  Cmit  dessen  Fassung,  beiläufig  bemerkt,  die  aus 
einem  Aristophanes-Scholion  entlehnte  Glosse  bei  Suidas  (psi^lag 
und  Fvdvvfj  sich  nahe  berührt)  ist  nicht  blos  hier  vollständiger,  son- 
dern giebt  die  ganze  Stelle  Acharner  524 — 534,  und  zwar  richtig  als 
zweites  Citat  des  Aristophanes,  nur  dass  der  Ausdruck  >iai  .tm//)- 
i'jToßdg  sie  irrthümlich  demselben  Stück  zuweist.  Die  Komödientitel 
hatte  Ephoros  bei  den  drei  Zeugnissen  nicht  genannt,  aber  die  Autor- 
namen richtig  angegeben.  —  Ein  wunderliches  Spiel  des  Zufalls, 
nicht  mehr,  ist  es.  dass  auch  Cicero  or.  29,  wie  unser  Diodortext, 
den  Acharnervers  anfänglich  dem  Ephoros  zuschrieb  und  erst  auf 
Atticus'  Erinnerung  den  Fehler  besserte.  Die  Verwechslung  aus 
eineni  von  Cicero  und  Diodor  benutzten  älteren  Autor,  also  aus 
Hpiioros  herzuleiten  (Bücheler  Jahrb.  f.  Phil.  1868,  100:  Wachsmuth 
niiein.  Mus.  23.  591)  geht  nach  dem  Ausgeführten  nicht  an.  Ohne- 
liin  hiilt  es  schwer  zu  glauben,  dass  Cicero's  fJeminiscenz  sich  an  eine 
historische  Darstellung  der  Ursachen  des  peloponnesischen  Kriegs 
anlehnte.  Die  in  Spott  und  Bewunderung  charakteristischen  Au-<- 
lii-tsungen  der  Komiker  über  Perikles'  Kedegewalt  hat  man  früh  mid 
wiederholt  zusammengestellt,  wie  wir  sie  ohne  die  Namen  bei  Plutarcli 
Per.  8  und  Aristides  iWo  tvjv  rerr.  2,  129  .lebb  (173  Dind.)  verbunden 
linden:  das  veranla-sste  mitunter  Unsicherheit  (vgl.  Schol.  Aristid.  B  zu 
2.  129.  7  o  Evjio/.iy'  xaru  öf  ci/./.ovc:  KgazTrog,  richtig  Schol.  A  6 
KoarTroc  dij/.ordri  .-ro^>/T^/s)  und  erleichterte  die  Verwechslung. 


SchöU:  Der  Prn:rs.<)  rles  PhifJiai^.  15 

Mie  Angeber  erboten  sich  nachzuweisen,  dass  Phidias  viel 
von  dem  heiligen  Gut  sich  angeeignet  habe'  (rroXXd  tiov 
\bqiüv  yQijucxTiüt'  exovza  Oeidlav)  und  'die  Feinde  des  Perikles 
beschuldigten  auch  diesen  des  Raubes  am  Heiligen'  {/.al 
avTOv  tov  negr/.kiovg  xaTijyÖQOvv  \eQoavkiav)  macht  es  mehr 
als  zweifelhaft,  dass  Ephoros  von  der  siegreichen  Abwehr 
der  schlecht  begründeten  Anklage  wusste  oder  erzählte:  zumal 
bei  ihm  unmittelbar  darauf  im  Zusammenhang  derselben 
Erzählung  von  dem  Goldgewicht  und  dem  abnehmbaren 
Goldschmuck  der  Parthenos  ausdrücklich  die  Rede  war.  ■*) 
Auch  für  die  Schildbeschreibung  und  den  auf  die  Porträts 
gegründeten  Vorwurf,  welchem  Plutarch  das  Hauptgewicht 
l)eilegt,  hatte  Ephoros  keinen  rechten  Platz.  Die  bei  Diodor 
allein  erwähnte  Anklage  wegen  Interschlagung  fügt  sich 
auch  allein  passend  in  eine  Darstellung  ein,  welche  die 
kriegerische  Politik  des  Perikles  durch  die  Angriffe  gegen 
seine  Finanzverwaltung  und  die  Verlegenheiten  der  Hechen- 
.schaftspflicht    motiviren    will.^)     .Jene    Geschichten    konnte 


1)  Diodor  12,  40,  3  in  dem  von  Ephoros  in  die  Verhandlungen 
vor  der  Kriegserklärunor  versetzten  Expose  des  thukydideischen 
Perikles. 

2)  Diodor  12,  38,  2.  .39,  3.  Aristodenios  beschränkt  die  Rechen- 
schaftspflicht des  Perikles  thöricht  auf  den  Fall  des  Phidias:  16,  1 
dXovrog  tov   ^eidioi-  f:Ti  vooqjtaficii  Fvlaßt^dFig  6  JJfgiy/.fj?  fi!j  xai   ainui 

sv^vag    ajtaizrj&fj 4   tov    Jlegtx/.ioi'g    axsjiTOfisvov    :teol    rtjc 

dsTodöoEoog  töjv  Xöycor  vrr'eo  Tfjg  loyeriiOTaniaQ.  Man  könnte  versuchen 
wollen,  den  von  Diodor  dem  Prozess  des  Anaxagoras  angehängten 
Worten  ai'vsjT?.FHov  <5'  f.v  zaXg  xaitjyogtaig  xni  ScaßoiaTg  tov  IleonckEa, 
dtä  TOV  (fOövov  aJiFvöovzeg  diaßa/.eiv  t>jv  Tai-ögog  i'7tsQßo).t)v  re  xai  do^ar 
eine  Beziehung  auch  auf  Phidias'  Prozess  und  etwa  auf  die  Schild- 
liguren  abzugewinnen.  Aber  diese  Annahme  würde  nicht  allein  den 
Fortschritt  der  Erzählung  ignoriren.  sondern  den  Widerspruch  der 
Quellen  nur  verschärfen,  ohne  das  Auttallende  zu  erklären,  dass  die 
Ei*zählung  selbst  gerade  von  dem  unberührt  gebliel>en  wäre,  was 
bei  Plutarch  und  dem  vorausgesetzten  gemeinsamen  Autor  den  Aut- 
schlag  giebt. 


10  Sitziitifi  (Irr  philos.-philol.  Clafifir  rnni  7.  Jmmar  18S8. 

Plutarcli  ans  Memorabiliensaninilnngen  beziehen,  wie  sie  der 
belesene  und  anf  stilistische  liei/.niittel  bedachte  Schriftsteller 
vielfach  ansgebeutet  hat.  Dass  die  Künstlerfabel  sich  des 
berühmten  Prozesses  des  Phidias  bemächtigte,  begreift  sich 
leicht;  zn  ihren  Früchten  gehört  neben  den  hier  vorliegenden 
Proben  die  von  Cicero  gelieferte  Notiz,  dass  Phidias  sich 
dnrch  sein  8elbstporträt  für  das  Verbot,  seinen  Namen  unter 
das  Sta7idbild  zu  setzen,  entschädigt  habe,  sowie  die  wunder- 
same Mär,  welche  zuerst  Valerius  Maximus  und  der  wenig 
simtere  Autor  der  aristotelischen  »Schrift  vom  Weltganzen  be- 
nchten,  dass  dies  Selbstporträt  vermöge  eiues  verborgenen 
Mechanisnms  den  Zusammenhalt  der  ganzen  Statue  bedingte, 
seine  Entfernung  das  Kunstwerk  selbst  zerstört  haben  würde 
—  und  gehören  andere  Anekdoten,  die  noch  in  den  grotesken 
Erfindungen  der  Rhetorenschule  der  Kaiserzeit  nachwirken. 
Fraglicher  ist,  ob  das  Schweigen  Diodors  über  das 
Ende  des  Phidias  einen  Rückschluss  auf  seine  Quelle  ge- 
stattet. Manches  .spricht  für  Sauppc's  Meinung,  dass  auch 
Ephoros'  Bericht  init  der  Verhaftung  des  Phidias  schloss, 
das.s  Plutarch  seine  Angaben  über  den  Tod  des  Künstlers  im 
Gefängniss,  an  Krankheit  oder  Gift,  aus  anderer  Quelle  hin- 
zufügte.')    Fnd  es  wäre  gar  wohl  zu  verstehen,  dass  E])horos 

1)  Was  Müller-Strübin«,'  (die  Lef^Hnden  vom  Tode  des  Pbeidias, 
.lahrl..  r.  Phil.  1882,  314  f.),  dor  in  dem  letzten  Punkte  Sauppe's 
.Ansiclit  (heilt,  vorj^übraiht  hat  um  das  Verscliweigen  des  Ausgangs 
der  Saciie  dem  F^pitomator  aufzuVjüiden  und  aus  der  Vertheilung  des 
Krzilhlungs.stott's  hei  Ephoros  auf  mehrere  Anhontenjahre  zu  erklären, 
wiegt  leicht  und  beruht  auf  einer  falschen  Vorstellung  von  der  Com- 
positinnsweise  des  K|)horos.  Die  ungeschickt  übertreibenden  Aus- 
ilrücke  Oiodors  mmra/ifrov  y.rd  ovvFQynvrTog  tov  f:7Ti/ir/.ijT0v  FlFQixkEOVc: 
und  X'ü  avTov  tov  FlfQty.Uovi;  xaTtjyÖQOvv  legoavllav  hat  nicht  Ephoros 
zu  verantworten,  noch  weniger  ist  aus  ihnen  die  neue  Thatsache 
einer  gleichzeitig  gegen  Perikles  gerichteten  Anklage  zu  entnehmen, 
deren  Ausgang  —  nach  Müller-Sträbing  gleichfalls  eine  neue  That- 
siu  lic.  n.iiilii  h   dir   Freisprechung  des  Beschuldigten  ■—  Ephoros  ni(;lit 


Schall:  Der  Prozriis  des  PJiidias.  17 

über  da.s  weitere  Schicksal  des  Phidias  nichts  angab,  wenn 
er  weiter  nichts  anzugeben  fand:  aus  dem  gleichen  Grunde 
meldet  Phitarch  von  Perikleä'  Rechenschaftsprozess  nur  die 
vorbereitenden  Schritte,  ohne  sich  über  den  Ausgang  zu 
äussern  (S.  6  Anm.).  Aber  gerade  dann  erscheint  es  nicht 
rathsam,  die  Nachrichten  Phitarchs  über  Phidias'  Ende  auf 
eine  zeitgenössische  Tradition  zurückzuführen,  die  dem 
Ephoros  doch  schwerlicli  mibekannt  geblieben  wäre.  Denn 
anzunehmen,  dass  er  sie  zwar  kannte,  aber  mitzutheilen  ver- 
schmähte, weil  ihm  nur  darauf  ankam,  die  Anklage  in  ihrer 
Beziehung  und  Wirkung  auf  Perikles  darzustellen,^)  ver- 
bietet der  sonst  so  vollständige  Bericht  ül>er  die  Form  der 
Denunziation  und   ihren  Erfolg. 

Die  Entstehung  dieser  Nachrichten  denkt  sich  Sauppe 
>o:  nach  Phidias'  Verschwinden  aus  Athen  —  worüber 
Näheres  im  folgenden  Abschnitt  —  'mochte  man  leicht  das 
Gerede  aufbringen,  dass  er  im  Gefängniss  gestorben  sei;  die 
einen  sagten,  dass  er  krank  gewesen,  um  seine  Flucht  für 
eine  Zeit  lang  zu  decken,  die  andern,  dass  er  vergiftet  sei. 
Aus  Idomeneus  oder  Stesimbrotos,  die  solches  Gerede  aufge- 
griffen und  berichtet  hatten,  hat  es  dann  Plutarchos  .... 
aufgenommen.'  Zuversichtlicher  drückt  sich  Löschcke  aus: 
die  Version  der  Vergiftung  'trägt  völlig  den  Charakter  zeit- 
genössischer Verleunidung  an  sich,  und  als  Vermittler  der- 
selben hat  bereits  Sauppe  mit  einer  an  Sicherheit  grenzenden 
Wahrscheinlichkeit  Stesimbrotos  vermuthet'  —  freilich  um 
danach,  im  Gegensatz  zu  Sauppe,  wenigstens  die  Thatsache 
des  Todes  im  Kerker  als  durch  den  gleichzeitigen  Zeugen 
vorausgesetzt  und  beglaubigt  festzuhalten. 


habe  übergehen  dürfen.     Es  bedarf  kaum    der    Erinnerung,    dass    der 
Angriff  sich  nur  indirekt  gegen  Perikles  richtete,   und  dass  die  Ver- 
suche    ihn     zu    verdächtigen    damals   so   wenig    Erfolg    hatten,    wie 
später  im  Fall  des  Anaxagoras. 
1)  Sauppe  S.  189. 

1888.  Pliilos.-pliilol.  u.  liist.  Gl.  1.  2 


18  Sitzung  der  philnif. -philo! .  Claxae  mw  7.  Jnvnm'  18RS. 

Leider  ist  der  so  bestimmt  in  Anspruch  genommene 
Zeuge  viel  7A\  fragwürdig,  um  Lösehcke  den  erwarteten  Dienst 
zu  leisten.  Stesimbrotos,  der  verbissene  und  verlogene  An- 
klätscher  des  Perikles,  hätte  hier  einmal  zur  Abwechslung 
die  Rolle  getauscht,  den  Perikles  in  Schutz  genommen  und 
seine  Gegner  an  den  Pranger  gestellt?  Denn  nur  in  dieser 
Form  ist  von  Vergiftung  die  Rede,  als  dem  Werk  der  Feinde 
des  Perikles,  derselben  Feinde,  welche  die  Intrigue  gegen 
Phidias  angezettelt  hatten,  und  die  nun  selbst  das  Opfer 
weggeräumt  haben  sollten,  um  auf  Perikles  den  Verdacht 
der  Beseitigung  eines  unbequemen  Genossen  zu  werfeu.  Eine 
ungeheuerliche  und  dazu  ärmliche  Erfindung,  die  sich  aber 
dem  Zusanmienhang  der  Erzählung  bei  Plutarch  einknüpft. 
Wodurch  sie  sich  von  Dutzenden  ähnlicher  Skandalge- 
schichten über  das  gewaltsame  Ende  bedeutender  Männer 
auszeichnen,  und  was  ihr  das  Gepräge  einer  zeitgenössischen 
Verleumdung  verleihen  soll,  sehe  ich  nicht;  Stesimbrotos, 
wie  gesagt,  ist  schon  durch  die  mangelnde  Tendenz,  übrigens 
auch  durch  die  Ungesalzenheit  der  Fabel  als  Erfinder  wie 
als  Vertreter  ausgeschlossen.  Man  braucht  bei  den  t'vioi 
Plutarchs  nicht  nothwendig  an  Historiker  oder  einen  be- 
stimmten Historiker  zu  denken,  ebensowenig  an  einen  von 
Plutarch  selbständig  herangezogenen   Gewährsmann. 

Wenn  ich  nicht  irre,  hat  jenes  unnütze  Gerede  keinen 
Anhalt  in  einem  Thatsächlichen,  sei  es  der  Tod  im  Kerker 
oder  das  Verschwinden  aus  dem  Kerker,  sondern  einen  ganz 
anderen  Ausgangspunkt.  'Da  es  Phidias  schlimm  erging, 
und  Perikles  in  P'urcht  gerieth  sein  Loos  zu  theilen',  bekam 
der  Friede  den  ersten  Stoss  —  sagt  Aristophanes  in  den 
erwähnten  Versen  seiner  Eirene.  Die  vieldeutigen  Ausdrücke 
(Veidi'ug  7iQ(xBag  /.a/uoQ  und  lIeQr/.ltrjg  <foiiijx')eig  f-u]  fteiao/ot 
T^c,*  tiyjig  haben  schon  in  alten  Zeiten  und  noch  bis  in 
unsere  Tage  die  Neugierde  und  Phantasi(!  gereizt  und  be- 
schäftigt.    Natürlich  meinte  der  Dicliter  den  famosen  Prozess, 


Scholl:  Der  Pwze.^s  des  Phidiafi.  19 

der  also  einen  .schlimmen,  vielleicht  einen  tragischen  Aus- 
gang genommen  hatte.  An  den  Tod,  das  Schlimmste,  was 
Einem  znstossen  kann,  bei  nQcc^ag  xaxwg  zu  denken  lag 
nahe,  falls  man  dafür  sich  nicht  etwa  (was  als  Möglichkeit 
fürs  Erste  zuzugeben  ist)  auf  eine  vorhandene  Ueberlieferung 
berufen  konnte.  Die  Angaben  über  die  Todesursache,  Krank- 
heit oder  Gift,  sind  Versuche  jene  unbestimmte  Wendung  mit 
einem  bestimmten,  womöglich  pikanten  Inhalt  zu  erfüllen. 
Also  nicht  Stimmen  des  zeitgenJVssischen  Stadtklatsches, 
sondern  Ausflüsse  der  an  der  Komödie  emporwuchernden 
Mythenbihlung  aus  einer  Zeit,  der  die  vom  Dichter  berührten 
Ereignisse  bereits  ferner  lagen,  erkenne  ich  in  den  ver- 
dächtigen Angaben  bei  Plutarch.  Da  nun  aber  gerade 
Ephoros  von  den  Versen  des  Komikers  nachweisbar  einen 
ebenso  gründlichen  als  grundverkehrten  Gebrauch  für  die 
Geschichtschrt'ibung  gemacht  hat.  so  sehe  ich  einen  zwingen- 
den Grund  nicht,  ihm  die  in  Diodors  kümmerlichem  Excerpt 
fehlenden  Nachrichten  über  Phidias'  Tod  abzusprechen, 
welche  die  aus  jenen  Versen  gezogenen  Schlüsse  und  Ein- 
fälle wiedergeben. 

Aus  dem  Ausgeführten  wird  ersichtlich,  ob  Lö.schcke 
berechtigt  war  zu  sagen,  dass  'alle  Quellen'  Plutarchs  den 
Tod  im  Gefängniss  berichteten  und  nur  hin.sichtlich  der  Ur- 
.sache  des  Todes  differirten ;  dass  'Stesimbrotos,  der  Zeitge- 
nosse, und  Krateros,  der  den  Proze.ss  des  Phidias  actenmässig 
darzustellen  versuchte,  den  Künstler  im  Gefängniss  .sterben 
lassen,  Ephoros  imd  Theopomp  .  .  .  wenigstens  nicht  a'b- 
weichend  berichtH'ten.  Stesimbrotos  und  Krateros  bleiben 
ganz  aus  dem  Spiel,  gerade  so  wenig  wi.ssen  wir  von  Theo- 
pomp, ob  er  von  Phidias'  Kata.strophe  erzählte  und  was. 
Es  bleibt  der  eine  Ephoros  —  falls  wir  in  der  That  be- 
rechtio't  sind  ihn  auch  für  diese  Angaben  als  Plutarchs 
Quelle  zu  bezeichnen  — ,  der  neben  werthvollen  und  glaub- 
würdigen   Xachrichten    auch    die    übermüthigen    Phantasien 

2* 


20  Sitzuiifi  der  ]>hiJoy.-pliiJn].  Ciastsr  rn))i  7.  Jntniar  188S. 

der  Komödie  und  die  von  ihr  abhängigen  Erfindungen 
ausgebeutet  hat.  Zu  welcher  Art  von  Ueberlieferung  der 
Tod  des  Phidias  im  Kerker  gehört,  soll  einstweilen  dahin 
gestellt  bleiben:  a])er  dass  durch  die  widersprechenden  An- 
gaben über  die  näheren  Umstände  jedenfalls  schon  die  That- 
sächlichkeit  des  Ereignisses  verbürgt  sei,  wird  Niemand  ernst- 
haft behaupten. 

TT. 

An  dieselben  Verse  der  aristophanischen  TCoraödie  knüpft, 
nur  freilich  im  entgegengesetzten  Sinne  eines  Protestes  gegen 
den  Dichter  und  seine  Ausleger,  die  von  Plutarch  abweichende 
Darstellung  des  Vorgangs  an.  Es  ist  das  oft  behandelte  und 
niisshandelte  Scholion  zu  Aristophanes  Frieden  605,  werthvoU 
durch  die  mitgetheilten  Zeugnisse  des  Philochoros.  Sauppe 
hat  durch  das  überraschend  einfache  Mittel  veränderter  Inter- 
punktion die  Räthsel  des  Inhalts  gelöst  und  damit  zugleich 
eine  Reihe  alter  und  vererbter  Irrthümer  glücklich  beseitigt; 
aber  über  den  Zusammenhang  und  Werth  der  Bestandtheile 
des  Scholions  hat  er  eine  Unklarheit  bestehen  lassen,  die  in 
neueren  Untersuchungen  über  den  Gegenstand  fortgewirkt 
und  neup  Irrthümer  erzeugt  hat.  Ihn  die  richtige  Auffassung 
zu  liegründen,  luuss  ich  den  Text  des  Scholion  vollständig 
her.setzen,  unter  Beifügung  der  Varianten  der  Handschriften, 
(h'reii   wichtigste,   den   Venetus,    ich    selbst    verglichen    habe. 

Ol.  H:.,r(.  1.   (Jh'AoyoQog    e/il    QtoöioQov  aQyoviOQ  taiTO   cpi^oi'  yt ai 

10  ayu?.uic  10  ygiooir  ir^g  ^Oijvag  tGtcii)}j  eig  tov 
re<oy  lor  fityuv^  s'yor  yQvoiov  oia !)  fiov  i aXavt lov 
(.tö \  IlEQi/.Xtovg  f/i  lOTatovvtog,  (JDeidiov  dt  Jioi- 
5  Ti\öaviog'  /.ai  Üieiölag  o  7ron]aag,  d6§ag  ji  aQctXoyi- 
Ctai^cti  luv  f?.t(farTa  röv  elg  tag  (poXiöag  f:/.Qi^ii, 
y.at  (fvyujv  tlg  ^Hliv  eQyoXaßijOui  xo  (iyaX(.ia  tov 
Jiog    tov   (V   'Okvf.i7riu    Ityeiai.,    zovro   de   t^egyaoa- 

<•!. t7,i. /ticj'oi;  linoi} aveir  V7i6  'H'Aeiwv   (ni  IfrO^odcö^ov.  og  foziv 


SchöJl:  Der  Prozexs  des  PhiiUas.  21 

cc/io  toLTOc  f-'ßdofioi^,  /legt  JMeyuQHov  ehnöv,  ort  y.al  aivoi  lo 
■Kaxeßoiov  L4^i]vaUov  iraqd  yiay.eöaiiiiorioig,    ddr/.itjg 
Xiyovzeg    el'Qyeod^at    ayogäg    Kai    Xi/nsviov    rwv    7cc(Q' 
lii^r^vaioiQ'     o\    ydq    l4  ^rjvaloi    zalra     iijitjq^ioavTO 
nEQf/.XtüvQ    slrtovrog,    r?ji'    yrjv    avzovg    alriiofisvoi 
TTJv  isQor  Toh'  if^eoli'  fuEQydueoOai.    yleyovGL   de.   Tiveg  15 
wg   Oeiölov    toi     dyalLiaxonoiov    öo^arzog    7raQaloytLEO&ai 
Trjv  rroXiv    /mI    cpvyadevO-eviog  o  nsQixlrjg    (poß)]Ü^€ig   öid    t6 
STtiaTaTfjaai  tj  xaraa/.ffj   tov    dydXjuarog  /.ai  ovveyvtü'KsvaL 
rg  xAo/rj  e'yQat'>€  to  Kava  MeyaQtwp   tvivoaiov   xat  tov  no- 
Xeuov    e^i]VByyf.ar ,    iva    dni]OyohLiivoig   !Ad^)]vaioig    elg    tov  20 
TToXei-iov  firj  do)  zdg  svx^ivag,  syAaXeaag  IMeyaQEvoiv  log  ttjv 
lEQav    ogyada    ca'iv   i^Ealv   egyaoctf-tivoig.    aXoyog  di  cpaivETai 
i]  '/.axd    riEQr/JJoig   v-iövoia.    hixd   eteoi   jiqoteqov  Tr^g   tov 
7ioXif.iov  dQyi]g  Ttov  nEQi   (Dsiöiav  yEvo/iiavMv: 

2.  '0  Osidiag,  log  OiXoyoqög  (pr^oiv,  hri  Tlvd-odwQOv  25 
äg/ovTog  tu  ayaXf^a  Trjg  ^S^rjväg  xaxaa/iEvdoag  tcpEiXETO  tü 
XQVoiov  e/.  Tiov  dga-KOPTiov  Trjg  ygioslECfavTivr^g  l^d^}]vag,  hf 
oj  xaTayvojaü^Eig  f-Zi](.moi}i]  (fiyfi  '  yEv6(.iEvog  da  Eig  HXiv  v.al 
EQyoXaßi]oag  iiagd  tcov  ^HXeUov  t6  ayaXf.ta  tov  z/iog  tov 
'OXviiv/riov    /Ml    /.aiayvioaifEig    t//'    avTtiJv    ibg    voocpioa/iiEvog  30 

dvTjQE&l]. 

Rfavennas)  f.  101«-,  V(enetu8  474)  f.  134^;  G  =  Venetus  475 
saec.  XV  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  direkte  Abschrift  von  V: 
ich  theile  die  von  mir  notirten  Varianten  mit  als  Proben  der 
Freiheit,  welche  sich  Scholiencopisten  bei  Wiedergabe  ihrer  Vorlage 
gestatten.  Müller-Striibings  Angaben  über  Lesarten  dieser  Hand- 
schrift (S.  322,  323  Anm.)  sind  unrichtig. 

Als  Lemma  setzt  R  (nach  Martin  Jes  scoUes  du  manuscrit 
d' Aristophane  ä  Ravenue  p.  132)  Ilocoxa  ftkv  yao  avTfjg,  G  rjo^e  ^stSiag 
vor,  V  hat  kein  Lemma,  sondern  verweist  durch  ein  über  ^sidia; 
stehendes  B  auf  das  ebenso  numerirte  Scholion  1  Qeoöcöqov  Paul- 
mier:  nv^odcogov  äoxovTu  V^i  (p^  d.  i.  qpaot  V  6  elg  rä?  in  Rasur 
V  8  i^egynadfierov  VG  '\  9  ITvßoöwoov  Paulmier:  axv&oSoiQov 
10  .TOßct  /iisyaoeoig  G  11  :taoa  XaxF^aiiioviov.;  keycov  dSi'xtog  etgyEO&ai 
R       12    .T«oä    udijruioi;   R       15    zoTv    deoiv    habe    ich    hergestellt:    roTg 


22  Sitzmifi  der  phiJns.-jihilol.  Classe  vom  7.  Januar  1888. 

Oeotg  EJTEQyä^eadai  Sauppe:  ansQyaCeo&ai  20  E^rjvsyxsv  VG:  enrirsyxFV 
R  Vulg.  Mit  diesem  Worte  schliesst  das  Scholion  in  R  22  egyaaa- 
fisvotg  aus  egyacafiivcov  (V)  corr.  V  25  9'"  d.  i.  <paaiv  V  j|  QsodwQOV 
Paulnüer  u.  A.  26  ägy^ovra  V  27  \or 'Ad tp-ä^  in  V  Rasur  eines  Wortes 
von  5 — 6  Buchstaben  29  jcgqu  zwr  "Hhiior  fehlt  in  G  oü  vqmvTÖiv 
V,   l'.t'   ut'Tcor  TW)'  i/Äsi'cov  G. 

Der  letzte  Satz  ist  schüii  in  der  Ueberlieterung  durch 
Doiipelpunkt  von  dem  Vorhergehenden  abgesondert  als  ein 
eigenes  Scholion:^)  dasselbe  gielit  nichts  als  eine  werthlo.se, 
oberflächliche  und  durch  ein  starkes  Missverständniss  ent- 
stellte"^) Parai)hrase  des  Anfangsstücks  und  verräth  seinen 
Ursprung  auch  dadurch,  dass  es  die  Verwechslung  des 
Archontennamens  treulich  copirt.  Denn  nur  durch  Schreiber- 
versehen ist  in  dem  altern  Scholion  niihoöioQov,  das  in  der 
Vorlage  offenbar  als  Correctur  dem  verschriebenen  ^•/.vUodcoQov 
beigesetzt  war,  au  die  Stelle  des  richtigeii  Qsoöcoqov  ge- 
rathen.^) 

Sauppe  und  nach  ihm  Andere  grenzten  das  zweite 
Scholion  schon  bei  den  Worten  yteyotai  dt  tivec,  .  .  .  (15) 
rib.  mit  denen  nach  den  l'hilochoroscitaten  eine  parallele 
Fassung  in  breiterer  Ausführung  l»egiune.  Auch  Müller-Strü- 
bing,  der  jenen  Schlusssutz  einem  dritten  Scholiasten  giebt, 
scheidet  die  zwei  Fassungen:  mir  diiss  er,  im  (4egensatz  zu 
seinen  Vorgängern,  vielmehr  in  der  ersten,  dem  Philochoros- 
Excerpt,  die  unsinnige  und  willkürliche  Ausführung  dessen  er- 
kennt, was  in  der  zweiten  nach  andern  Quellen  sachgemäss 
und  korrekt  ausgesprochen  sei.  Die  Angabe  jenes  Excerpts, 
Phidias  sei  beschuldigt  worden  bei  ^'errechnung  des  Elfenbeins 

1)  ysrofiercov  (24)  bildete  in  V  ursprünglich  auch  Zeilenschlusa; 
das  Wort  war  zu  weit  über  den  zwischen  Text  und  Schoben  frei- 
bleibenden Kand  geführt,  daher  der  Schreiber  die  Endung  /livcor 
durch  Rasur  tilgte  und  am  Anfang  der  folgenden  Zeile   wiederholte. 

2)  vfpsllETO  10  yQvalov  f.x  rcöv  ÖQaxövroyv  ist  aus  den  falsch  ge- 
fa«.sten  (pokifisg  entstanden,  wie  Müller-Strübing  S.  329  bemerkt  hat. 

3)  So  erklärt  Sauppe  8.  182  mit  Hecht  den  Fehler:  den  man 
aber  eben  darum  im  zweiten  Scholion  nicht  beseitigen  durfte. 


Schall:  Der  Prozess  iles  Phidiaif. 


23 


für  die  Platten  Betrug  geübt  zu  haben,  scheint  ihm  abge- 
schmackt und  dem  Philochoros  fälschlich  zugeschrieben,  der  Aus- 
druck doBag  7taqaloyilBoi>ai  rov  elicpavta  tov  eig  rag  (foliöag 
eine  missverständliche  und  müssige  Spezialisirung  des  von  dem 
zweiten  Scholiasten  gebrauchten  richtigen  öö^avtog  naqalo- 
yl^sai^ai  rrjv  nohv.  'Dass  Phidias  den  Staat  durch  falsche 
Rechnungen  betrogen  habe',  hält  er  für  die  einzige  ver- 
nünftige Formulirung  der  Anklage:  'die  Rechnungsablage 
des  Phidias  im  Ganzen  und  Grossen  ist  nach  der  üebergabe 
der  Parthenos  beanstandet  worden'. 

Eine  originelle  Vorstellung,  welche  die  amtliche  Rechen- 
schaftspflicht ohne  Weiteres  auf  den  Künstler  überträgt. 
Die  Rechnungen  des  Phidias  zu  prüfen  und  wenn  nöthig 
zu  beanstanden  war  Sache  seiner  Vorgesetzten,  der  Regierungs- 
Commission,  an  deren  Spitze  Perikles  stand.  Von  anderer 
Seite  war  ihm  nicht  anders  beizukoramen,  als  durch  eine 
Anklage  wegen  Betrugs  oder  Diebstahls,  die  einen  bestimmten 
Inhalt  verlangt.  V)  Dem  unbestimmten  jragaloyii^eo^aL  ti]v 
Ttokiv  lässt  sich  kein  terminologischer  Werth  beilegen:  das 
beweisen  übrigens  die  von  MttUer-Strübing  selbst  angeführten 
Belege.  Auch  ist  der  Ausdruck  keineswegs  eine  bessere 
Variante  der  Wendung  66%ac  naQccloyi'C.EO^ai  tov  iXecpavTa, 
sondern  er  giebt  ausdrücklich  zurückgreifend  dieselbe  Wendung 
in  allgemeiner  Form  wieder. 

Die  ganze  Unterscheidung  nämlich  der  zwei  parallelen 
oder  gar  widersprechenden  Fassungen  ist  ungegründet.  Das 
'zweite'  Scholion  ^tyovoi  dt  rtveg  bildet  die  unentbehrliche 


1)  Nothwendig  verfehlt  ist  M.  Dunckers  Ver^such  (2,  335)  die 
Denunziation  Menons  mit  Müllei-Strübing:<  Vorlage  falscher  Rech- 
nungen zu  combiniren.  Uebrigens  braucht  der  Scholiast  ja  unmittel- 
bar darauf  selber  den  Ausdruck  y-Äoatj:  um  so  weniger  ist  seinen 
Worten  eine  Deutung  zu  entnehmen,  welche  die  ganze  Angelegenheit 
auf  eine  bei  dem  vielbeschäftigten  Künstler  begreifliche  Unordnung 
seines  Rechnungswesens  reduzivt. 


24  Sitzmn/  der  philos.-jthilol.  Chisse  cow  7.  Januar  1888. 

Erfjänzunir  der  ersten  Partie.  Die  Notizen  des  Philochoros 
über  Phidias'  Anklage  und  über  da?  megarische  Psephisma 
sind  ja  offenbar  ausgeschrieben,  um  auf  Grund  derselben 
die  Auffassung  zu  widerlegen,  als  ob  Perikles  durch  jene 
Verlegenheit  zu  diesem  Schritt  getrieben  worden  sei.  d.  h. 
die  scherzhafte  Fiktion  des  Komikers,  die  ihm  Andere  ge- 
glanbt  haben.  Dies  sind  die  nvtq,  kritiklose  Leser  und 
leichtgläubige  Erzähler  wie  Ephoros  und  Genossen,  welchen 
der  chronologische  Widersinn  dieser  Combination  entgegen- 
gehalten wird.  Das  ima  heai  nQOTeqov  würde  in  der 
Luft  schweben  ohne  die  Citate  des  Philochoros,  welche  die 
Daten  liefern;  diese  Citate  w^ieder  würden  nicht  verständlich 
sein  ohne  die  Ausführung,  um  derentwillen  sie  zusammen- 
irestellt  sind.  Sie  können,  da  das  für  den  Erklärer  Wesent- 
lichste,  die  angebliche  Gefalir  oder  Befürchtung  des  Perikles, 
bei  Philochoros  gar  nicht  berührt  ist,  eine  Beweisführung 
nicht  ersetzen,  sondern  nur  vorl)ereiten  und  einleiten. 

'Philochoros  unter  dem  Arch(m  Theodoros  sagt  dieses: 
.  .  .  (folgt  der  Bericht  über  die  Errichtung  des  Athena- 
bildes  unter  Perikles'  Oberaufsicht  und  über  Phidias'  Schick- 
sal), während  er  unter  Pythodoros,  der  von  jenem  aus  der 
siebente  ist,  über  die  Megarer  sagt,  dass  sie  wegen  der  auf 
Perikle;s'  Antrag  verhängten  Marktsperre  in  Lakedämon  Be- 
schwerde führten  u.  s.  w.  Nun  sagen  Einige,  dass  nach 
Phidias'  Anklage  und  Flucht  Perikles  in  seiner  Stellung  als 
Oberaufseher  für  sich  selbst  gefürchtet  und  daher,  um  der 
Untersuchung  zu  entgehen,  zum  Krieg  getrieben  imd  das 
Psephisma  beantragt  habe.  Aber  diese  Verdächtigung  des 
Perikles  ist  widersinnig,  da  die  Sache  mit  Phidias  sieben 
Jahre  vor  dem  Beginn  des  Krieges  spielte.'  Man  sieht,  das 
ist  eine  einheitliche,  geschlossene  Argumentation,  und  eine 
solche,  die  dem  kritischen  Urtheil  ihres  Urhebers  Ehre  macht. 
Die  wiederkehrenden  Angaben  log  (J)sidiov  lol  ayaluacorroiov 
öö^arrog    rrctQcdoyi'CeaOai    rr^v    nöXiv    y.at    fpvynöevx^fvroc   o 


SchöJl :   Der  Prozesfi  des  PJiidids.  -j5 

lh{)i/.).t^g  (foßrjiUlg  dia  t6  hiioiari]Oai  rfi  /MTaaxsvij  xov 
dyä'kf.iarog  und  ey-ÄuXeoag  MeyaQsvatv  (oq  Ti]r  )eQdr  ogyada 
ta'iv  iyeah'  Fgyaoafttvoig  variiren  nicht  oder  berichtigen  gar 
das  früher  Gesagte,  sondern  recapitnliren  und  umschreiben 
im  Zusammenhang  der  Beweisführung  genau  den  Inhalt  der 
Philochoros-Zeugnisse.  ^)  Sie  stützen  damit  zugleich  den 
Wortlaut  derselben  und  Ijeweisen,  wozu  übrigens  schon  die 
syntaktische  Verl)indung  nöthigt,'-^)  flass  die  Stellen  des  Philo- 
choros  dem  Erklärer  im  Wesentlichen  so  vorlagen  wie  sie  uns 
im  Scholientext  ül)erliefert  sind.  Wer  also  Philochoros'  Zeug- 
niss  über  Phidias  für  stark  interpolirt  oder  verderbt  hält,  wie 
E.  Curtius  und  Löschcke,  Müller-Strübing  und  M.  Duncker:  der 
muss  folgerichtig  die  Interpolation  oder  Textverderbniss  früher 
setzen  als  die  Abfassungszeit  des  Comraentars,  dessen  Autor 
sie  vorfand  und  zu  an  sich  wohlberechtigten  Schlüssen  ver- 
werthete.  Denn  dass  dieser  selbst  sich  seine  Beweismittel 
zum  Zweck  dieser  Benutzung  gefälscht  hätte,  wäre  eine 
ebenso  willkürliche  als  unwahrscheinliche  Annahme:  unwahr- 

1)  Üass  der  Erklärer  ('vielleicht  Diclymos',  nach  Sauppe)  (pvyoiv 
SIS  ^Hhv  mit  (pvyadevdirrog  gleicht,  darf  nicht  auffallen.  In  derselben 
lässlichen  Weise  wird  des  Thukydides  ^vvsßt]  1.101  <psvyecv  ri]v  ifiaviov 
in  biographischen  Notizen  durch  c/  vyadsüeo&ai  und  (fvyrj?  y.azmpt]<fi- 
a^ijyai  wiedergegeben.  Marcellin.  23.  46.  Schol.  Wesp.  947;  vgl.  Cicero 
de  or.  2,  13.  Plinius  n.  h.  7,  31.  —  tu  y.ura  MFyuQfov  nivdy.iov  19, 
nach  Müller-Strübing  Beweis  für  'die  Redaction  der  Vorlage  unserer 
Schollen  in  sehr  später  Zeit',  ist  stehende  Bezeichnung  des  megai-ischen 
Psephisma.  Ausser  Schol.  zum  Frieden  246  Xaoivov  (so  mit  v.  Wila- 
mowitz  für  xäoiv  xov)  t6  nn'äy.ior  owUhros  to  y.ar'  avröjv  vgl.  Plut. 
Per.  30.  Aelian  h.  a.  11,  27.  Die  Beziehung  auf  ein  öffentliches 
Dokument  wie  in  einer  Inschrift  perikleischer  Zeit  '£"7.  ägy-  1885, 
212  [i/t  jiiva\y.iu>i  —   {ax^oTteh-  tmi  ßov[kofiercoc\. 

2)  Dies  ist  trotz  Sauppe's  einleuchtendem  Nachweis  von  (J.  Müller 
und  wieder  von  Müller-Strübing  verkannt  worden,  die  den  Text  mit 
überflüssigen  Zusätzen  (ifp'  ov  vor  .legi  Msyaoicov  sitimv,  oder  <Pi).6xoo6g 
cfTfoi  nach  diesen  Worten)  bereichern  wollen.  Was  Michaelis  Arch. 
Zeit.  1876,  160  gegen  den  einen  erinnert  hat,  widerlegt  auch  den  andern. 


20  Sitzung  der  phüos.-iihäoJ.  Classe  vom  7 .  Januar  1888. 

scheinlich  auch  deshalb,  Aveil  für  die  Schlussfolgeruiig  des 
Scholiasten  im  (iriinde  die  ersten  Sätze  des  Philochoros  aus- 
reichten . 

Der  urkundliche  Werth  dieser  ersten  ganz  im  knappen 
Stil  der  Chronik  gehaltenen  Sätze  ist  unanfechtbar  inid  tritt 
den  anekdotenhaft  entstellten  Ausführungen  Plutarchs  gegen- 
über recht  ins  Licht.  Hier  erhalten  wir  das  Jahr  der 
Vollendung  des  Parthenosbildes,  das  Philochoros  mit  den 
begleitenden  Kinzelnheiten  sicherlich  gleichzeitigen  Auf- 
zeichnungen entnommen  hat.  Und  hier  allein  gewinnen  wir 
die  wahre  Begründung  der  Anklage  gegen  Phidias,  statt  der 
zwei  falschen,  die  Plutarch  verzeichnet.  Dass  der  Künstler 
bezichtigt  wurde  bei  Verrechnung  des  Elfenbeins  für  die 
Statue  Unterschleif  verübt  zu  haben,  hat  zwar  nach  E.  Curtius 
Vorgang  wieder  MüUer-Strübing  in  Zweifel  gezogen.  Aber 
der  Spott  über  das  unbedeutende  Profitchen,  um  deswillen 
sich  Phidias  der  Gefahr  der  Verurtheilung  ausgesetzt  hätte, 
würde  vielleicht  im  Munde  des  Advokaten  unseres  Künstlers 
nicht  übel  angebracht  gewesen  sein :  die  Thatsächlichkeit  der 
Angabe  ist  damit  nicht  weggespottet.  Nicht  darum  handelte 
sichs,  ob  der  angeblich  betrügerische  Gewinn  erheblich  oder 
gering  war.  ^)  Und  nicht,  ob  ihre  Beschuldigung  wahr  war, 
kümmerte  die  Gegner,  sondern  wie  sie  dem  Phidias  am  ge- 
schicktesten beikomnien  konnten.  Bei  dem  Elfenbein  war 
eine  genaue  Controle  der  verwendeten  Menge  der  Natur  der 
Sache  nach  unmöglich:'^)  der  Denunziant,  der.  wie  wir 
sahen,  die  M.iske  eines  Mitschuldigen  vornahm,  richtete  mit 
berf'chiicnder  Schlauheit  seine  Anklage  auf  einen  Punkt,  bei 

1)  L>aa  lieniurkt  Löschtke  Ö.  28  selir  richtig-.  Leberhau])t  ^nebt 
es  ein  minima  tinn  curat  praetor  im  öttentlichen  Tiozess  Atlions  nicht: 
der  Fall  der  TQia  y^/dwßrha  hoü  des  Melanopos  ist  ja  aus  Aristoteles 
bekannt  genug. 

2)  Dieser  Punkt  ist  von  l'etersen  Arcii.  Zeit.  1867,  24  und  Michaelis 
da.^.  1876,  159  treffend  erörtert. 


Scholl:  Der  Frozess  des  Phidias. 


27 


welchem  er  dem  Bescliuldio-ten  die  Rechtfertigung  erschwerte, 
sich  selbst  den  strikten  Nachweis  ersparte  und  vor  der  Ent- 
larvung möglichst  sicher  war. 

Nicht  den  gleichen  Werth  will  man  dem  Heste  des 
Citats  zugestehen,  der  Angabe,  dass  Phidias  nach  Elis  ge- 
flüchtet sei,  dort  die  Anfertigung  des  Zeusbildes  übernommen 
habe  und  nach  der  Vollendiuig  gestorben  sei.  Durch  die 
Einführung  mit  Uyerai  lehne  Philochoros  selbst  es  ab,  diese 
Nachrichten  'auf  (irund  eigenen  Wissens  zu  vertreten  — 
wenn  überhaupt  dieses  Uyarai  in  Verbindung  mit  der  all- 
bekannten Thatsache  der  Ausführung  des  Zeusbildes  einem 
Philochoros  zuzutrauen  wäre.  Gegen  dessen  Autorschaft 
spricht  nach  Löschcke  vornehmlich,  dass  die  Flucht,  die 
Arbeit  am  olympischen  Zeus  und  der  Tod  des  Phidias  mit 
Verletzung  des  annalistischen  Princips  unter  dem  einen  Jahr 
des  Theodoros  zusammengefasst  sind. 

Indessen  diese  Bedenken  sind  haltlos  wie  ihre  Voraus- 
setzungen. Bei  aller  Strenge  des  annalijtischen  Princips, 
und  angenommen  selbst  —  was  gar  nicht  anzunehmen  ist  — , 
dass  Philochoros  von  der  Vollendung  des  Zeus  und  dem 
Tode  des  Künstlers  die  genauen  Data  gekannt  hätte,  dürften 
wir  eine  Nachricht  über  Phidias'  Er]e))nisse  in  Elis  nur  eben 
an  dieser  Stelle  der  Atthis  erwarten.  Dergleichen  stück- 
weise anzubringen  wäre  dem  Chronisten  nicht  in  den  Sinn  ge- 
kommen, und  der  annalistische  Rahmen  hinderte  nicht  Zu- 
sammengehöriges vorgreifend  anzureihen,  wenn,  wie  hier  durch 
Toi'To  (J'  s^egyaoäi-tevog  dnod^avelv  geschehen,  das  chrono- 
logische Verhältniss  in  einer  den  Irrthum  ausschliessen den  Weise 
bezeichnet  war.  Dass  aber  diese  biographischen  Angaben  über 
Phidias  in  Elis  mit  leyerai  eingeführt  werden,^)  verräth 
weder  eine  übertriebene  Vorsicht  noch  die  versteckte  Absicht 

1)  Es  i.st  nicht  überäüssig  mit  Brunn  (Sitzungsber.  der  phil.  Gl. 
I,  1878,  463)  zu  erinnern,  dass  von  Uyezai  nicht  blos  EQyo).aßfjaai, 
sondern  eben  auch  rovro  8'  i^sgyaoä^ievos  ouio&aveTv  abhängt. 


28  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  mm  7.  Januar  1888. 

diese  Angaben  va\  verdächtigen:  Motive,  die  sich  übrigens 
gegenseitig  aufheben.  Es  ist  ja  eine  geläufige  und  mit- 
unter recht  bequeme,  aber  doch  eine  schiefe  und  un/Aitreffende 
VorstelKing,  dass  der  Geschichtschreiber  "Käyetai  als  Frage- 
zeichen brauche,  um  die  von  ihm  aufgenommene  Mittheil- 
ung /u  diskreditiren  und  den  künftigen  Zweifel  vorzubereiten, 
'v/ayera/  zeigt  nur  die  Quelle  der  Angabe,  nicht  die  Un- 
sicherheit derselben  an.'^)  Philochoros  folgt,  was  sich  bei 
dem  Inhalt  von  selbst  versteht,  einer  ihm  vorliegenden  Ueber- 
lieferung,  aber  er  giebt  sie,  eben  weil  er  sie  und  keine 
andere  giebt,  als  die  beste  ihm  erreichbare  Ueberlieferung.^) 
Noch  weniger  wollen  die  sachlichen  Bedenken  bedeuten, 
welche  Löschcke  gegen  diese  Nachrichten  ins  Feld  geführt 
und  Müller-Strübing  in  seiner  bekannten  pastosen  Manier  aus- 
gemalt hat.  Konnten  denn,  fragt  man,  die  elischen  Priester 
so  unfromm  oder  so  unklug  sein,  einem  wegen  Unterschleifs 
von  Tempelgut  in  Untersuchung  befindlichen  Künstler  ihre 
Schätze  und  die. Errichtung  ihres  Kultbildes  anzuvertrauen? 
Vermuthlich  hatten  die  elischen  Priester  geringeren  Re- 
spekt vor  der  athenischen  Justiz  und  beurtheilten  den 
Fall  kaltblütiger,  als  die  heutigen  Kritiker,  üass  Phidias, 
ein  Auserwählter  unter  den  edlen  Geistern  seiner  Nation, 
der  sicherlich  als  Mensch  so  hoch  über  Neid  und  Unglimpf 
erhaben  war  wie  als  Künstler,  den  Staatsleitern  von  Elis 
vertrauenswürdiger  erschien  als  sein  trauriger  Denunziant, 
brauchte  uns  nicht  zu  Avundern.  Er  war  —  wie  man  wusste 
und  wip  in  Athen  sell)st  nach  wenigen  Jahren  Jedermann 
zugestand   —   das  Opfer  politischer  Parteisucht:    wann   wäre 

1)  Worte  K.  W.  Kiii<rer.s  Krit.  Analekten  62.  Der  Sprachgebrauch 
des  Thiikydides  liefert  dafür  Belege  in  Menge.  —  Noch  unvergessen  ist 
der  Mi.ssbrauch,  welchen  man  mit  dem  (übrigens  anders  beschaffenen) 
rfanl  bei  Polybios  6,  45  getrieben  hat. 

2)  Die  von  E.  Curtiu.s  sonst  an  dem  Wortlaut  des  Textes  ge- 
machten Ausstellungen  hat  Brunn  a.  a.  (J.  462  durch  Vergleichung 
anderer  Citate  de-s  Philochoro.s  zurückgewiesen. 


Schön:  Der  Prn-rss  iIps  Phiih'((s.  29 

ein  so  Verfoljrter  nicht  bei  Gegnern  und  Rivalen  seiner 
Vaterstadt  frennd lieber  Aufnahme  sicher  gewesen  ;  nun  gar 
ein  solcher,  der  unendlich  mehr  brachte  als  er  empfing, 
einen  Künstlernauien  und  eine  Meisterschaft  ohne  Gleichen 
in  den  Dienst  des  Staates  stellte,  welcher  ihn  aufnahm.  — 
Auf  das  gänzliche  Fehlen  einer  lokalen  Tradition  über 
Phidias'  Tod  in  Olympia  durfte  sich  Löschcke  bei  dem 
Zustand  unserer  Ueberlieferung  nicht  berufen:  zumal  er 
weiterhin  selber  eine  lokale  Tradition  über  Phidias'  Flucht 
nach  Elis  anerkennt. 

Die  Flucht  des  Phidias  aus  Philochoros'  Zeugniss  hin- 
auszuemendiren  braucht  es  heroischer  Mittel.  Löschcke,  der 
Plutarchs  Darstellung  folgt,  hält  es  für  möglich,  dass  ein 
flüchtiger  Benutzer  des  Aristophanescommentars  in  dem  von 
Philochoros  gewählten  Ausdruck,  etwa  '/.lonrjg  (fiytiv  arri- 
iyave,  das  Wort  (fiyo'jv  missverstanden,  und  auf  die  Frage 
wohin?  sich  die  Antwort  aus  der  Legende  verschrieben  habe. 
Um  so  heillose  Verwirrung  anzurichten,  war  die  triAriale 
Wendung  xAo/r'^g  qwycüv  denn  doch  zu  harmlos;  bestand 
aber  die  Fluchtlegende  bereits,  so  wird  die  complicirende  Fehler- 
quelle entbehrlich.  Müller-Strübing  ändert  U7ioqvywv  elg 
'HXir  fld^tov  (oder  yevöiuEvog),  und  fügt  weiter  nach  anod^aveiv 
und  vor  tvro  ^HXeuov  ein  Participium  davf.iaLoi.t£vog  oder 
ähnlich  ein.  Demnach  wäre  Phidias  von  der,  ohnehin  nicht 
allzu  gefährlichen  Beschuldigung  freigesprochen  worden, 
hätte  sich  darauf  nach  Elis  begeben  und  wäre  dort  nach  Vollend- 
ung des  Zeus  in  hohen  Ehren  gestorben.  Und  diese  luftigen 
Einfälle  haben  in  Dunckers  Geschichtswerk  gläubige  Auf- 
nahme gefunden. 

Die  Möglichkeit,  dass  die  Textworte  des  Philochoros  bei 
der  Fortpflanzung  durch  zahlreiche  Scholiastenhände  Ent- 
stellungen erfahren  haben,  bestreite  ich  nicht.  Aber  diese 
vage  Möglichkeit  findet  ihre  Schranke  in  dem  Zweck  des 
Oitats.     Man  sollte  nicht  vergessen,    dass  derjenige,    welcher 


30  Sitzunij  der  phnos.-])hi1nl.  Cldftse  vom  7.  Januar  1888. 

die  Atthis  nachschlug  und  ausschrieb,  nicht  einen  Conver- 
sationslexikon- Artikel  über  Phidias  /u  liefern,  sondern  eine 
Stelle  des  Aristophanes  /u  erklären  hatte.  Die  Friedens- 
göttin, so  stand  bei  dem  Dichter,  entschwand  den  Athenern 
zuerst,  da  es  Phidias  übel  ging  und  Perikles  sein  Schicksal 
zu  theilen  fürchtete:  da  entfachte  er  mit  dem  Funken  des 
megarischen  Beschlusses  den  Kriegsbrand.  Ein  Erklärer 
dieser  Verse  konnte  unmöglich  darauf  verfallen  ein  Philo- 
choros-Citat  beizubringen,  das  (wie  E.  Curtius  will)  nur  bis  zu 
den  Worten  Oeidiov  de  7coirjoavTog  reichte:  eine  beziehungs- 
lose Notiz,  die  für  die  Hauptsache,  das  ngä^ag  /.axiog.,  nichts 
ergab.  Wer  alier  als  Commentar  zu  diesem  Tvqd^ag  -/axwc; 
ein  Zeugniss  verwerthet  glaubt,  welches  berichtete,  dass 
Phidias  in  Athen  freigesprochen  und  nachmals  in  Elis  hoch- 
gefeiert gestorben  sei:  der  setzt  sich  nicht  blos  über  den 
Scholiasten,  sondern  über  den  Dichter  selbst  hinweg.  Wenn 
der  Prozess  zu  einem  quarf  iVheiire  terrible  einschrumpft, 
einer  vorübergehenden  Verlegenheit  wegen  unordentlich  ge- 
führter Rechnungen,  die  mit  der  llechtfertigung  und  Frei- 
sprechung endete:  wie  Hess  sich  von  diesem  'ITnglück' 
Perikles'  Furcht  vor  einem  gleichen  Loos  und  das  Ver- 
schwinden  der  Friedensgöttin   ableiten? 

Die  schattenhaft  spielenden,  auch  in  der  komischen 
Verzerrung  den  Zeitgenossen  verständlichen  Hinweise  des 
Komikers  auf  ilircn  geschichtliclien  Kern  zurückzuführen, 
war  PHicht  und  Absicht  seines  späteren  Auslegers.  Dieser 
schlug  die  attische  Chronik  nach  als  den  in  solchen  Fällen 
durch  seine  bequeme  Einrichtung  und  seine  Zuverlässigkeit 
gleichfuässig  erprobten  Wegweiser.  Er  erfuhr  hier,  sicher- 
lich zu  seiner  Ueberraschung,  dass  die  beiden  bei  Aristo- 
phanes als  Ursache  und  Wirkung  verknüpften  Ereignisse  in 
Wahrheit  durch  volle  sechs  Archontenjahre  getrennt  waren, 
und  machte  von  dieser  Erkenntniss  eine  verständige  An- 
wendung zur   Kritik,   nicht  sowohl   des   Komikers,    dem  noch 


Schiill :  Dt'r  J'/orfs.s  fle.t  PJiitlia.'i.  31 

tollere  Bocksprünge  hingehen  würden,  als  der  Gläubigen, 
die  den  Spass  ernsthaft  genommen  und  beflissen  ausmalend 
auf  den  historischen   Hintergrund  übertragen  hatten. 

Die  Kechnung  fordert,  dass  bei  Philochoros,  wie  die 
letzte  Erwähnung  des  Phidias  im  Jahr  des  Theodoros,  so  im 
Jahr  des  Pythodoros  die  erste  Erwähnung  des  megarischen 
Psephisma  stand.  Dies  ist  von  Interesse,  weil  es  beweist, 
dass  Philochoros  sich  hier  wie  anderwärts  aufs  Engste  an 
Thnkydides'  Darstellung  anlehnte.  ^)  Auch  Thukydides  be- 
richtet von  dem  megarischen  Psephisma  erst  im  Zusammen- 
hantj  der  Beschwerden,  welche  die  Megarer  und  andere 
Gegner  Athens  auf  der  Tagssatzung  zu  Sparta  vorbrachten, 
um  diesen  Staat  zum  Bruch  mit  Athen  zu  l)estimmen.  Diese 
Tagssatzung  fand  im  Jahre  des  Pythodoros  statt,  wie  Philo- 
choros ausdrücklich  sagt,  und  zwar  zu  Anfang  dieses  Jahres, 
etwa  August  432.^)  Wenn  Philochoros  seiner  Quelle  folgend 
sich  mit  diesem  Datum  begnügte,  anstatt  das  Datum  des 
perikleischen  Psephisma  selbst  zu  geben,  so  wusste  er  oder 
zog  den  naheliegenden  Schluss,  dass  die  Beschwerde  über 
den  angeblich  vertragswidrigen  Gewaltakt  diesem  Akt  un- 
mittelbar folgte.  LTnd  neuere  Forscher  hätten  wohlgethan, 
sich  von    derselben    Erwägung    leiten  zu  lassen   und  für  den 

1)  So  ist  die  im  Scholion  V  zu  den  Wolken  213  citirte  Stelle 
des  Philochoros  (von  Müller  fr.  89  mangelhaft  excerpirt  und  behandelt) 
ÜEQixXFovg  fih  iyao  Dindorf)  OToazijyovrrog  xaraoTOsi/iao&ai  avzovg 
«Tttoa»'  q^tjoi  'Pi'/.öyooog ,  xal  t/jv  (ifv  ä/./.tjr  fTil  o^to'/.oyiii.  xaxaoroa(fifjvai , 
EoziEOiv  f)F.  a.TotxiadEVTOiv  (corr.  y.aranTi)oaoOai,  'Eaziatcör  8f  e^oixi- 
a^Evxcov)  avzovc  T>)r  ytöoar  Py/iv  wörtliche  Wiedergabe  von  Thuky- 
dides  1,  111. 

2)  Dies  folgt  aus  Thuk.  1.  125.  Die  Worte  sviavzog  jtih-  ov 
öiEzgißt),  E/.aaaoi-  6e,  deren  Verständniss  Lip.sius  und  Steup  er.«;chlossen 
haben,  werden  durch  Philochoros'  Zeugiiiss  genauer  bestimmt.  Von 
dem  Kriegsbeschluss,  den  eine  nach  jener  Tagssatzung  berufene 
Bundesversammlung  zu  Sparta  fasste  (schwerlich  vor  Anfang  Sep- 
tember 432)  bis  zum  Einfall  des  Archidamos  (Mitte  Juni  431)  ver- 
liefen mindestens  2V2  Monate  'weniger  als  ein  .Tahr'. 


'■^2  Sitzitnc/  ihr  philon.-phih)!.  CJa.^se  vom  7.  JrniKar  1888. 

mej^arischen  Beschhiss  an  dem  Jahr  432  festzuhalten,  anstatt 
))is  433  oder  434  oder  gar  bis  zum  samischeu  Krieg  oder 
zum  dreissigj ährigen  Frieden  hinaufzusteigen.^)  Eine  Mass- 
regel, die  man  jahrelang  ohne  Einspruch  hingenommen  hatte, 
konnte  nicht  als  der  zündende  Funke  des  Kriegsbrandes 
gelten    und    von    den    Gegnern    mit    einigem    Schein    zum 


1)  Man  wird  den  Beschluss  kurz  vor  den  Antritt  des  Pythodoros 
ins  Frühjahr  zu  setzen  haben.  Die  Reibereien  mit  dem  Nachbar- 
ländchen, die  niemals  ganz  ruhten  (ovx  oXiya  öidqjoga  Thuk.  1,  67; 
auf  diese  bezieht  sich  die  vnägyovaa  ttqötsqov  öia  Meyageag  vnoyna 
Thuk.  1,  42,  in  welcher  Steup  Thukyd.  Studien  2,  21  Anm.  eine 
direkte  Bezugnahme  auf  das  megarische  Psephisma  finden  will)  traten 
in  ein  akutes  Stadium  nach  der  .Schlacht  bei  Sybota.  Danach  muss 
noch  eine  geraume  Zeit  mit  fruchtlosen  Verhandlungen  über  die  Be- 
schwerdepunkte Athens  hingegangen  sein ,  bevor  der  vollständige 
Bruch  durch  die  Marktsperre  eintrat.  —  Es  ist  merkwürdig,  dass  der 
Erlass  des  berühmten  Psephisraa  des  Perikles  nirgends  chronologisch 
fest  bestimmt  wird.  Auch  Ephoros  gab  dasselbe,  wie  die  Ueberein- 
stimmung  Plutarchs  P.  29  mit  Diodor  12,  39  zeigt,  an  der  gleichen 
Stelle  wie  Thukydides.  Plutarch  hat  es  unterlassen,  das  für  die 
Biographie  seines  Helden  so  wichtige  Dokument  bei  Krateros  einzu- 
sehen, dem  er  c.  30  das  Psephisma  des  Charinos  vom  Jahr  431  ent- 
lehnt hat.  Von  diesem  letzteren  schweigt  Thukydides  ganz,  erwähnt 
aber  seine  Folgen  2,  31.  4,  66.  Seine  Darstellung  giebt  uns  jA^n 
Fingerzeig,  dass  er  den  Schritten  gegen  Megara  unter  den  Ursachen 
des  Kriegs  die  entscheidende  Bedeutung  nicht  beimass  wie  die  popu- 
läre Ansiclit,  welche  in  Ai'istophanes  einen  lauten  AVoi-tführer  und 
(lenigemäss  in  der  späteren  Historiographie  ein  Koho  gefunden  hat, 
sondern  nur  die  Holle  einer  wirksamen  Watte  der  Gegner  Athens  bei 
dem  Schüren  zum  Krieg  und  den  Unterhandlungen  vor  dem  Krieg 
zugestand.  Man  mag  darüber  mit  dem  Historiker  rechten:  wenn 
aber  die  jetzt  in  Mode  gekommene  Perikleshetze  es  dem  Staatsmann 
verdenkt,  dass  er  nicht  durch  die  (Joncession  der  Zurücknahme  des 
Psephisma  den  eigentlichen  Kriegsgrund  beseitigt  und  den  Frieden 
gesichert  habe,  so  hat  sie  dafür  nicht  die  Entschuldigung  wie  ihr 
Vorbild  Ephoros,  dem  die  Komödie  eine  historische  Quelle  war.  Die 
staatsmännische  Antwort  auf  diesen  naiven  Vorwurf  hat  bereits 
'J'hukydidp'i  seinem  Perikles  in  den  Mund  gelegt  1,  140,  4. 


SchöU :  Der  Prozess  des  Phidias.  33 

Friedensbrnch  gestempelt  werden,  ihre  Zurücknahme  nicht 
eine  Hauptbedingung  in  den  letzten  Unterhandlungen  der 
.streitenden  Mächte  bilden. 

Für  Phidias'  Katastrophe  steht  das  Jahr  des  Theodoros 
438  als  von  Philochoros  gegeben  fest.  Brunns  Annahme, 
dass  zwischen  der  Aufstellung  des  Athenabildes  und  dem 
Prozess  wegen  falscher  Verrechnung  des  für  dies  Bild  be- 
stinmiten  Elfenbeins  eine  Reihe  von  Jahren  verflossen  sei,^) 
vermag  ich  nicht  zu  theilen:  so  sehr  man  sich  zu  Ehren 
des  athenischen  Namens  gegen  den  Glauben  sträul)t,  dass 
unmittelbar,  nach  der  Hersteilung  des  gefeierten  Werks  der 
Meister  das  Opfer  des  Neides  und  der  Parteiintrigue  werden 
konnte,  ohne  dass  die.se  in  der  Bewunderung  dankbarer  Mit- 
bürger ein  wirksames  Gegencrewicht  sjefunden  hätten.  Diese 
Annahme  vertheidigt  den  Aristophanes  gegen  seinen  Scho- 
liasten:  aber  auf  Philochoros  kann  sie  sich  dem  Scholiasten 
gegenüber  nicht  stützen,  der  eben  für  Phidias'  Missgeschick 
das  Datum  des  Philochoros  beibringt.  Denn  dass  der 
Scholiast  seine  Quelle  missbrauche,  um  seine  Kritik  an  dem 
Dichter  zu  üben,  heisst  dem  Erklärer  eine  unbegründete 
polemisc^ie  Absicht  zutrauen.  Vielmehr  ist  er  augenscheinlich 
erst  durch  die  Darstellung  der  beiden  Begebenheiten  bei 
Philochoros  dazu  geführt  worden,  ihren  ursächlichen  Zu- 
sammenhang zu  bestreiten.^) 


1)  Sitzungsberichte  der  phil.  Cl.  der  k.  Ak.  1878,  464. 

2)  Allen  Quellenangaben  widerspricht  die  auch  in  sich  wider- 
spruchsvolle Darstellung  Dunckers  S.  335  f.  Hier  geht  Phidias  nach 
Vollendung  der  Parthenos  438  nach  Elis,  wird  433  durch  Menons 
Denunziation  genöthigt  seine  Arbeit  am  Zeusbild  zu  unterbrechen, 
um  sich  der  Anklage  zu  stellen ;  in  Athen  verhaftet,  aber  schliesslich 
freigesprochen,  kehrt  er  nach  Elis  zurück  und  bleibt  da  bis  zu 
seinem  Tode.  Die  Rückkehr  von  Elis  nach  Athen,  welche  der  früher 
herrschenden  und  noch  von  E.  Curtius  vertretenen  Ansicht  Otfried 
Müllers  als  Brücke  diente,  um  den  Prozess  und  Tod  des  Phidias  im 
Jahr  des  Pj-thodoros  festzuhalten,    erscheint   hier  noch  erweitert  um 

1888.  Philos.-pliiIol.  u.hist.Cl.  1.  3 


•>4  SitZHUf/  der  philna.-phihl.  Glosse  vom  7 .  Januar  1S88. 

Das  Quellenzeugniss  selbst  gab  ihm  mit  dem  Comnientar 
/u  den  aristophanisclien  Anspielungen  zugleich  die  Begrün- 
dung des  Zweifels  an  die  Hand.  Das  'Missgeschick'  des 
Phidias,  in  welches  Perikles  verwickelt  zu  werden  fürchten 
mochte,  gehörte  ins  Jahr  438,  sechs  Jahre  vor  dem  mega- 
rischen  Psephisma.  Ein  späteres  Ereigniss  konnte  nicht 
gemeint  sein,  da  der  Künstler  in  Elis,  wohin  er  flüchtete, 
gestorben  ist.  Man  sieht,  für  diese  Beweisführung  ist  die 
Erwähnung  des  Todes  in  Elis  ein  keineswegs  gleichgiltiges 
Moment.  Sie  schloss  die  Rückliehr  des  Phidias  nach  Athen  aus 
und  damit  die  Möglichkeit  eines  späteren  dem  peloponnesischen 
Krieg  näher  liegenden  Missgeschicks,  einer  neuen  Chikane, 
auf  die  der  Komiker  hätte  anspielen  können^):  um  so  un- 
abweislicher  war  die  Folgerung  aus  dem  Intervall  der 
sechs  Jahre. 

Das  hinter  OTto&avEiv  am  Schluss  des  Philochoroscitats 
stehende  vtto  'HXeliov  wird  von  dieser  Argumentation  nicht 
berührt.  Diese  Worte  enthalten  eine  Verlegenheit,  mehr 
noch  einen  Widersinn.  Ich  brauche  das  Ungeheuerliche 
einer  Hinrichtung  des  Phidias  durch  die  Eleer  nicht  nocli- 
mals  darzulegen:  das  ist  von  Andern  zur  Genüge  geleistet 
worden.  Eine  zweite  Auflage  oder  Spiegelung  des  athenischen 
Vorgangs  zu  Elis  gehört  zu  den  Seifenblasen  fingirter  Fälle, 
mit  denen  der  Rlietorenwitz  späterer  Jahrhunderte  sich  ver- 
gnügte: die  Historie  weiss  nichts  davon.  Wohl  aber  weiss 
•sie,   da.ss   der   Schöpfer   des  olympischen  Zeus  in  Elis  Ehren 

eine  Rückkehr  von  Athen  nach  Elis,  für  welche  die  (aus  Miiller- 
S»rübings  Combination  übernommene)  Freisprechun«^  als  Brücke  dient. 
•Jene  ältere  Ansicht,  die  an  der  unrichtif?en  Beziehuncr  der  Worte 
Kni  fJvOodo'jnov  im  Scholion  eine  scheinbare  Stütze  fand,  ist  von 
Saiippe  widerlegt;  die  neue  bedarf  keiner  Widerlegung. 

1)  Beides  hat  Petei'sen  in  den  Philochorostext  eingeführt  durch 
die  Correktur  vji'  'Ai^rjraloir  für  vno  \IIkeiojv.  ohne  zu  bedenken,  dass 
damit  der  ganzen  Argumentation  des  Scholiasten  die  Spitze  abge- 
brnrhon   würde. 


fichöll:  Der  Prozrss  des  PIndias.  oij 

empfing  und  Ansehen  genoss,  dass  seinen  Nachkommen  das 
priesterliclie  Amt  der  Wärter  des  Zeusbilds  {(paiöqcvcai) 
erblieh  durch  alle  Zeit  verblieben  ist. 

Der  Anstoss  ist  zugleich  ein  formeller.  Nachdem 
Philochoros  die  üebernahme  und  Vollendung  des  Zeus 
erwähnt  hat,  konnte  er  einem  unverfänglichen  d/roi^avelv 
nicht  den  verblüffenden  Zusatz  v/ro  'Hleitov  anhängen, 
ohne  Art  nnd  Anlass  des  Todes  von  der  Hand  der  Eleer 
mit  einem  Wort  zu  berühren.^)  Das  hat  freilich  der 
jüngere  Scholiast  nachgeholt,  aber  seine  Paraphrase  /.ai 
y.azayvtooxfeig  t//'  aviöJv  cug  voocpioauevog  avrjqtO^i]  bessert 
die  Sache  nicht  und  macht  den  Fehler  seiner  Vorlage 
nur  noch  augenfälliger.  Dem  haltlosen  tvro  ^HXeuov  würde 
durch  ein  überflüssiges  und  gar  nicht  philochoreisches 
i^atf-ta^oiiiBvog  nur  ein  künstlicher  Halt  gegeben.  Ein- 
leuchtender scheint  Brunns  Gedanke,  V7t6  ^HXeiwv  sei  aus 
einem  von  seiner  ursprünglichen  Stelle  hinter  fQyoXaßr^oai 
verschlagenen  vragd  (ndy)  ^Hlelwv  entstanden  :  in  der  That 
giebt  der  excerpirende  zweite  Scholiast  igyoXaßi^oag  naqd 
TÜv  'HAeioi'.'^)  Aber  derselbe  Scholiast  las  doch  auch  bereits 
VTto  'Hleiioy  am  Schluss  und  umschrieb  es  wie  angegeben; 
man  müsste  demnach  einen  allzu  complicirten  Weg  fort- 
schreitender Verderbniss  voraussetzen.  Ich  halte  die  Worte 
t'TTO  'HXeltov  für  ein  Glossem,  eine  Reminiscenz  aus  den 
Controversen  der  Khetorenschule,^)  die  an  den  Rand  des 
Scholions  geschrieben,  später  in  den  Text  gerathen  ist  und 
durch  die  abrupte  Fassung  sich  als  fremdartigen  Zusatz  ver- 
räth.     Der  spätere   Scholiast  hat  diese   Interpolation    so    gut 


1)  In  diesem  Punkt  befinde  ich  mich  in  Uebereinstimmung  mit 
Müller-Strübing  S.  333. 

2)  Das  übersieht  Müller-Strübing  S.  334  in  seiner  wohlfeilen 
Kritik  dieses  Vorschlags,  wie  er  bei  der  Polemik  gegen  ein  'trockenes' 
ä^Todaretr  übersieht,  dass  s^soyaaüuevo?  danebensteht. 

3)  Vgl.  Spengel  Rhet.  1,  455.  Seneca  controv.  8,  2.  Sauppe  S.  177. 

3* 


36  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Januar  188fi. 

wie  die  Versetzung  des  Archontennamens  bereits  vorgefunden 
und  in  seiner  Wiedergabe  noch  etwas  zurecht  gestutzt. 

Ich  denke  durch  die  umständliche  Prüfung  des  Haupt- 
zeugnisses, die  ich  leider  weder  mir  noch  dem  Leser  ersparen 
durfte,  das  Ergebniss  gesichert  zu  haben,  dass  Phiiochoros, 
der  einzige  Gewährsmann,  der  von  unrichtiger  Benutzung 
der  Ari,sto])hanesverse  sich  frei  gehaUen  hat,  Phidias'  Flucht 
nach  Ehs  und  seinen  Tod  in  EHs  überlieferte. 

III. 

Im  Gegensatz  zu  der  durch  Sauppe  zur  Geltung  ge- 
brachten Nachricht  des  Phiiochoros  wie  zu  älteren  Ansichten 
hat  Löschcke  mit  bestechendem  Schai'fsinn  eine  neue  Auf- 
fassung entwickelt,  welche  bei  den  archäologischen  Mit- 
forschern lebhaften  Anklang  und,  soviel  mir  wenigstens  be- 
kannt, bisher  keinen  Widerspruch  gefunden  hat.  Löschcke 
setzt  Phidias'  Aufenthalt  in  Elis  vor  den  Beginn  des  Par- 
thenonbaus (447),  in  die  Zeit  zwischen  Ol.  80  und  83;  den 
olympischen  Zeus,  nach  der  allgemeinen  Annahme  (auch 
derer,  die  Phiiochoros'  Bericht  anzweifeln)  das  letzte  Werk 
des  Künstlers,  vor  die  Parthenos.  Er  übernimmt  aus  Phiio- 
choros den  Zeitpunkt  und  Anlass  der  Katastrophe  des  Phidias, 
aus  Plutarch  den  Tod  im  Kerker,  der  also  noch  im  Jahr 
438/7  erfolgte.  Den  Tod  habe  die  Lokalsage  zu  Olympia 
durch  die  Flucht  nach  Elis  ersetzt,  weil  sie  eine  Figur  der 
Fusslei>te  des  Zeusthrons  für  den  Eleer  Pantarkes,  Sieger  im 
Knabenringen  Ol.  86  (436),  ausgab,  also  die  damalige  An- 
wesenheit des  Phidias  in  Olympia  brauchte:  während  eine 
jüngere  Version,  um  den  Anachronismus  zu  umgehen,  den 
Pantarkes  zu  einem  Argiver  machte,  dessen  Namen  Phidias 
auf  den   Finger  seines  Zeus  geschrieben   habe. 

Der  letzte  Punkt  fordert  zu  eingehender  Prüfimg  auf. 
(iewiss  mit  Pecht    identifizirt    Löschcke  den  Anadumenos  zu 


Scholl:  Der  Prozess  des  Phidias.  37 

Olympia.  ^A■elchen  Pausanias  0.  4,  5  als  Phidias'  einzige 
Porträtstatne  nennt,  mit  dem  von  demselben  Pausanias  an 
einer  späteren  Stelle  (6,  10,  (3)  erwähnten  Siegerstand bild 
des  fgioj-tevog  Oeidlov  Pantarkes  von  Elis,  den  man  auch  am 
Kelief  des  Throns  in  der  Figur  eines  Anadumenos  angebracht 
glaubte  (Paus.  5,  11,  3).  Er  nimmt  weiter  an,  das  hier 
von  Phidias  gegebene  Motiv  des  die  Stirnbinde  um  den  Kopf 
windenden  Knaben  sei  später  in  der  Statue  des  Pantarkes 
copirt  worden,  und  lediglich  diese  Uebereinstimmung  des 
Motivs  habe  dazu  verführt,  in  dem  Pantarkes  der  Statue 
ein  Werk  des  Phidias  und  in  dem  Anadumenos  des  Thrones 
den  Pantarkes  zu  erkennen,  den  man  dann  obenein  zum 
Liebling  des  Phidias  machte.  Verhält  die  Sache  sich  so  — 
und  was  ist  der  armselig- geschäftigen  Cicerone-Phantasie 
nicht  zuzutrauen!  —  so  würde  sich  denn  jeder  Zusammen- 
hang zwischen  Phidias  und  Pantarkes  in  eitel  Dunst  und 
Windbeutelei  auflösen.  Aber  eine  missliche  Voraussetzung 
ist  es,  dass  bei  Pausanias  da,  wo  von  der,  namentlich  nicht 
bezeichneten,  Porträtstatue  als  der  einzigen  des  Phidias  die 
Rede  ist,  der  Name  des  Phidias,  welcher  allein  die  Bemerkung 
veranlasst  hat,  rein  aus  der  Luft  gegriffen  sei,  nicht  wie  die 
übrigen  dicht  dabei  stehenden  Künstlernamen  durch  die 
Denkmal-Aufschrift  beglaubigt  war.  Und  warum  soll  es 
wahrscheinlicher  sein,  dass  Pantarkes  ein  Figürchen  des 
Thronfusses  lebensgross  ausführen  Hess,  als  dass  Phidias 
selbst  ein  wohlgelungenes  Motiv  des  Anadumenos,  das  er 
statuarisch  dargestellt  hatte,  auf  dem  Thronfuss  wieder- 
holte? Die  Entstehung  der  Fabel  von  dem  geliebten  Knaben 
des  Künstlers  und  seinem  Porträt  am  Thronrelief  begreift 
sich  leichter,  wenn  thatsächlich  eine  Statue  des  das  Stirn- 
band umlegenden  Pantarkes  von  Phidias'  Hand  existirte. 
Diese  Thatsache  würde  mit  Philochoros'  Angabe  vom  Aufent- 
halt des  Künstlers  in  Elis  nach  der  Flucht  438/7  im  besten 
und  uno-esuchten  Einklant;  stehen. 


38  Sitzunfi  der  jiliilos.-pliUol.  Classe  votii  7.  Januar  18SS. 

Nach    Löschcke    Aväre   vielmehr    die  Pantarkesfabel    die 
Quelle  von  Philochoros'  Angabe.     Aber  gerade  wer   die  ab- 
solute Nichtigkeit  der  Fabel  behauptet,  müsste  sich  bedenken 
ihr  eine  auf  die  Biographie  des  Phidias  rückwirkende  Kraft 
zuzuge.-^tehen.      Wenn    wirklich    um    450  Phidias    die   Figur 
des  Anadumenos  bildete,  nach   436  ein  anderer  Künstler  die- 
selbe   für    die   Statue   des    Pantarkes    copirte,   und  abermals 
nach  geraumer  Zeit  elische  Ortsantiquare  auf  so  gebrechlicher 
Basis  das  Histörchen  von  i'antarkes   dem   Liel)ling  des  Phi- 
dias construirten :  so  hatten  die  glücklichen  Erfinder  schwer- 
lich das  Bedürfniss  oder  die  Consequenz,  und  am  wenigsten 
die  Mittel,    die    Chronologie    des    Phidias    umzuarbeiten,    um 
ihr   ihren    Einfall    anzupassen.      Ebenso    wenig    ist   die    von 
Polemon  berichtete  Variante  der  Fabel,  nach  welcher  Pant- 
arkes Argiver    war    und    die  Inschrift  TIavxaQ/.rig  '/.alög  auf 
dem  Finger  des  Zeus  stand,  aus  einer  bessern  Kenntniss  der 
wirklichen  Todeszeit   des  Phidias    abzuleiten:    der   gewissen- 
haftere   Urheber    dieser    Fassung    hätte    von    seiner    bessern 
Kenntniss  einen  äusserst  pfiffigen   Gebrauch  gemacht,  um  ja 
das    \Verthvollste    zu    retten,    den    Geliebten    Pantarkes    und 
seine   Verherrlichung    am    Zeusdenkmal.      Man    thut   diesen 
Künstleranekdoten  zu  viel  Ehre  an,    wenn  mau  für  sie  eine 
tiefversteckte  oder  absichtlich  verschleierte  Bekanntschaft  mit 
historisch    Avichtigen  Daten    voraussetzt.     Zumal   mit  Daten, 
die  so  neu  sinrl   wie  Löschcke's  Ansatz  des  Todesjahrs.     Die 
antike    Teberlieferung    weiss    nichts    von    demselben.     Nicht 
allein    Philochoros    (der    freilich    nach    Löschcke    im    Banne 
der   elischen  Legende    wäre)    lässt    Phidias    nach    438    noch 
.fahre  lang  thätig  sein:  auch  Ephoros  und  seine  Nachfolger 
dehnten    das  Leben    des  Künstlers    bis  nahe    an   den  Beginn 
des     peloponnesischen    Kriegs    aus,     und    fanden    dafür    eine 
scheinbare  Stütze    au    dem  Zeitgenossen   Aristophanes.     Man 
brauchte    also    nicht  erst  eine  Flucht  luudi   Eiis  zu  erfinden, 
und  da.s  Zeusbild   um   zwei  Jahrzehnte  herunterzudatiren,   um 


Scholl:  Der  Prozess  des  Phldias.  39 

chronologischen  Skrupeln  wegen  des  Pantarlces  zu  begegnen, 
die  ohnehin  bei  einem  für  solche  Kost  empfänglichen 
Publikum  nicht  v.u  besorgen  waren.  Dass  aber  der  Zeit- 
punkt von  Phidias'  Tod  in  Athen,  wie  ihn  Löschcke  be- 
stimmt, in  der  örtlichen  Tradition  von  Elis  fester  wurzelte 
als  in  Athen  selbst,  und  elische  Anekdotenjäger  sich  mit 
demselben  wohl  oder  übel  abzufinden  hatten,  während  der 
attische  Chronist  arglos  die  elische  Fälschung  übernimmt  — 
ein  so  wunderliches  Widerspiel  verlangt  einen  starken 
Glauben. 

Mit  der  Verschiebung  der  Chronologie  des  olympischen 
Zeus  wird  der  Wirkung  der  Pantarkeslegende  zu  andern 
Lasten  eine  weitere  aufgebürdet,  für  welche  die  leichtge- 
schürzte Anekdote  durchaus  ungeeignet  ist.  Nach  Löschcke 
fiel  Phidias'  Aufenthalt  in  Elis  und  die  Arbeit  am  Zeusbild 
etwa  in  die  Jahre  460 — 448.  Der  Ansatz  gründet  sich 
auf  die  Baugeschichte  des  olympischen  Tempels,  die  jetzt 
durch  die  Ausgrabungen  des  letzten  Jahrzehnts  im  Wesent- 
lichen gesichert  ist.  Der  Tempel  war  mit  Beginn  der 
8L  Olympiade.  450  v.  Chr.  vollendet:^)  wie  kann  man 
glauben,  dass  die  Errichtung  des  Kultbildes  von  der  Voll- 
endung   des  Baues   durch    20  Jahre  und  mehr  getrennt  ge- 


1)  Die  zuerst  von  Urlichs,  zuletzt  von  PurgoUl  (Arch.  Zeit.  1882, 
184)  begründete  Auffassuncr  stützt  sich  auf  die  Denkmäler,  besonders 
den  für  den  Siej^  bei  Tanagra  gestifteten  Schild  am  Tempelgiebel 
und  die  Smikythos-Basis.  Aus  Strabon  8  p.  355  ist  ein  terminus 
post  quem  für  den  Beginn  des  Tempelbaus  nicht  zu  gewinnen. 
Diesem  angeblichen  Zeugniss  zu  Liebe  drängt  Flasch  (Olympia,  in 
Baumeisters  Denkm.  d.  kl.  Alt.  1098  f.)  den  Bau  des  Tempels  und 
zugleich  die  Ausführung  des  Götterbildes  in  die  Jahre  454—448 
zusammen.  Wenn  er  dabei  Löschcke's  Chronologie  des  Phidias  an- 
nimmt, ohne  doch  den  Liebling  Pantarkes  aufzugeben,  so  wird  dieser 
Widerspruch  dadurch  nicht  erträglicher,  dass  er  die  Statue  des 
Anadumenos  von  der  des  Pantarkes  trennt  und  (wenn  ich  seine  Be- 
merkung recht  verstehe)  nur  die  erstere  dem  Phidias  zuschreibt. 


•40         SitzuiKj  der  philos.-philoL  Classe  vom  7.  Januar  LSiSS. 

wesen  seiV  Mit  dem  Jahr  447/6  begann,  Avie  durch  die  von 
Köhler  richtig  gedeutete  Rechnungsurkunde  feststeht,  der 
Bau  des  Parthenon,  der  Phidias'  Anwesenheit  in  Athen 
fordert.  Für  die  zunächst  vorhergehenden  Jahre  sind  sicher 
datirbare  Werke,  mit  Ausnahme  der  von  den  lemnischen 
Kleruchen  nach  452/1,  spätestens  448/7  gestifteten  Athena 
Leninia,  niclit  nachzuweisen:  in  diese  Zeit  also,  zwischen  die 
Bauperioden  des  olympischen  Tempels  imd  des  Parthenon, 
wäre  die  Herstellung  des  olympischen  Zeus  zu  setzen. 

Das  lange  Intervall,  welches  zwischen  dem  Tempelbau 
und  der  Weihung  des  Götterbildes  nach  den  überlieferten 
Daten  bleibt,  ist  der  eigenthcbe  Ausgangspunkt  für  Löschcke's 
Zweifel  und  der  einzige  erwägenswerthe  Stützpunkt  seiner 
neuen  Combination.  Das  Gewicht  des  Bedenkens  verkenne 
ich  niclit:  aber  entscheidend  kann  dasselbe  nicht  sein  noch 
ausreichend,  um  klare  Zeugnisse  über  den  Haufen  zu  werfen 
und  die  Chronologie  des  Phidias  auf  den  Kopf  zu  stellen. 
Gründe  der  Verzögerung  lassen  sich  ja  manche  denken. 
Wer  mag  sagen,  ob  nach  der  durch  fünf  bis  sechs  Olympiaden 
fortgesetzten  Arbeit  an  dem  Tempel  und  seinen  Skulpturen 
die  Mittel  zur  Herstellung  des  kostspieligen  Goldelfenbein- 
bildes sofort  flüssig  waren  V^)  Näher  noch  liegt,  dass  die 
elisclien  Priester  sich  niclit  übereilten,  weil  es  ihnen  darauf 
ankam,  den  ersten  Bildhauer  der  Zeit,  den  Meister  der 
chryselephantinen  Technik  zu  gewinnen,  den  zur  Zeit  noch 
Entwürfe  und  Aufträge  in  Athen  festhielten.  Verhandlungen 
mit  Phidias  mögen  geraume  Zeit  früher  eingeleitet  worden 
.sein,  ehe  die  Vollendung  der  Parthenos  und  die  Anfechtungen 
seiner  Gegner  dem   Künstler  Aiilass  wurden   die  grosse  Auf- 


1)  Aus  Pausanius'  An^'abe  über  die  CiucUo  dieser  Mittel  (5,  lü,  2) 
f:roiT)\}i}  f>F  n  rang  xai  x6  äyaXjia  reo  Ad  ano  ?.a^vQO}v,  {}xixa  Uioav  oi 
'Il/.fioi  y.nl  naor  rioy  jrF()ioi'xcov  u)J.o  ouvajTKOT»]  TTinuioig  :to?J/i(o  xaOrlXov 
liisat  sich  eine  bejahende  Antwort  nicht  entnehmen. 


Scholl:  Der  Prozess  des  Phidüix.  41 

gäbe  ernstlich  in  Angriff  zu  nehmen.  Das  (pvyiov  elg  'Hkiv 
fQ'/olaßrioai  Xiytxai  des  Philochoros  würde  dieser  Annahme 
nicht  widersprechen.  Welche  Hemmnisse  der  stetigen  Förder- 
ujig  monnmentaler  Werke  aus  dem  Ausbleiben  oder  Stocken 
der  Mittel  nicht  minder  als  aus  überspannten  Entwürfen, 
aus  wechselnden  Ansichten  und  concurrirenden  Ansprüchen 
der  Besteller,  wie  aus  dem  Neid  der  Künstler  und  aus  ihren 
persönlichen  Stimmungen  und  Erlebnissen  entstehen  können, 
dafür  giebt  uns  die  Geschichte  so  manchen  Fassadenbaus  und 
statuarischen  Denkmals  der  Renaissancezeit,  giebt  das  Leben 
Lionardo's  und  Michelangelo's  redende  Belege. 

Auch  der  Ansatz  der  83.  Olympiade  als  Epoche  des 
Phidius  sowie  seines  Bruders  Panainos  (Plin.  84,  49.  3(3,  15. 
35,  54)  dient  Löschcke  zur  Bestätigung  seiner  Combination. 
Er  leitet  diese  Bestimmung  von  Phidias'  Hauptwerk  her, 
dem  olympischen  Zeus,  an  welchem  auch  Panainos  durch 
Malerarbeit  betheiligt  war:  das  Denkmal  sei  also  an  den 
Olympien  des  Jahrs  448  geweiht  zu  denken.  Diese  Annahme 
setzt  voraus,  was  sie  erweisen  müsste:  nicht  allein  dass  der 
Zeus  wirklich  jener  Zeit  und  damit  der  Lebenshöhe  des 
Phidias  augehörte,  sondern  auch  dass  der  Zeitpunkt  der 
antiken  Kunstforschung  genau  bekannt  war.  nichtiger  wird 
man  die  Berechnung  von  Phidias'  Blütheperiode  an  sein 
Zusammenwirken  mit  Perikles  knüpfen,  dessen  Laufbahn 
und  Thaten  sich  bis  ins  Einzelne  zeitlich  bestimmen  Hessen. 
Mit  dem  Beginn  der  83.  Olympiade  übernahm  Perikles  nach 
Kimons  Tode  als  das  anerkannte  Staatshaupt  die  Regierung, 
die  er  fast  durch  zwanzig  Jahre  ohne  Unterbrechung, 
wenn  auch  nicht  ohne  Anfechtung  leitete;  und  mit  dem 
gleichen  Zeitpunkt  nahm  das  künstlerische  Programm  der 
Akropolisbauten  feste  Gestalt  an,  als  dessen  Seele  dem 
Alterthum  Phidias  galt.  In  diese  Olympiade  konnte  man 
mit  Fug  die  Blüthe  des  Meisters  setzen:  um  so  passender, 
wenn    sich    sein  Leben  bis  gegen  Ende  der  dreissiger  Jahre 


42  Sitzitiifi  <Jrr  philos.-philol.  Clastie  mm  7.  Jaitnar  1S88. 

erstreckte.^)  P;inainos'  dy.i.irj  wiedernni  ward,  wie  längst 
gesellen  ist,  durch  diejenige  seines  berühmten  Bruders  be- 
stimmt, ohne  dass  es  für  den  gleichen  Ansatz  einer  besonderen 
Motivirung  durch  die  Mitarbeit  am  olympischen  Zeus  be- 
durft hätte.  ^) 

Dass  der  Aufenthalt  in  Elis  nicht  in  die  Mitte  von 
Phidias'  Leben  fiel,  sondern  dessen  Abschluss  bildete,  dafür 
spricht  eine  Thatsache,  deren  Gewicht  Sauppe  nicht  verkannt 
hat.  Die  Familie  des  Künstlers  ist  in  Elis  geblieben;  das 
angesehene  priesterliche  Amt  der  Pfleger  (Phaidrynten)  des 
Zeusbildes  erbte  in  Folge  einer  Ehrenschenkung  der  Ge- 
meinde unter  seinen  Nachkommen  noch  jahrhundertelang 
fort.^)  Also  hatte  Phidias  für  sich  und  seine  Nachkommen 
das   elische  Bürgerrecht    erhalten;    unzweifelhaft  nach  Voll- 


1)  Für  die  Anfertig'iinjjf  des  Zeuskolosses  wird  man  doch  zinn 
mindesten  einen  Zeitraum  von  6—8  Jahren  annehmen  müssen. 
Weni<?er  ist  darauf  zu  oreben,  dass  im  Protagoras,  dessen  Scene 
l'laton  ins  Jahr  432  verlegt,  31 1^  Phidias  als  lebend  und  schaffend 
gedacht  wird  (vgl.  Robert  Archäol.  Märchen  100):  für  Polyklet  als 
l'hidias'  Zeitgenossen  ist  die  Stelle  allerdings  in  Verbindung  mit 
328'^  beweisend. 

2)  Wenn  Plinius  an  der  betreffenden  Stelle  der  Geschichte  der 
Malerei  (35,  54  cum  et  Phidian  ipsum  initio  pictorein  fuisse  tradatur 
(•lipenmipie  Athenis  ab  co  jndum,  practerca  in  coiifcsso  sit  LXXX 
tcrtid  fuisse  fratrem  eins  Ponaenum)  die  Zeitbestimmung  bei  Panainos 
angiebt  anstatt  bei  Phidias,  für  den  sie  ursprünglich  gewonnen  war 
(vgl.  36,  15),  so  darf  das  nicht  befremden.  Plinius  (d.  h.  sein  Ge- 
währsmann Varro,  s.  Robert  a.  a.  0.  23)  wendet  sich  bekanntlich 
gegen  eine  griechische  Quelle,  in  welcher  berühmte  Maler  erst  viele 
Olympiaden  später  als  die  Bildhauer  und  Toreuten  und  nicht  vor 
Ol.  '.)0  erschienen.  In  Zusammenhang  seines  Nachweises  konnte  er 
das  Datum  passend  nur  dem  Maler  Panainos  beifügen,  nicht  dem 
l'hidias,  der  wohl  als  Maler  begonnen  hatte,  aber  seinen  Platz  na- 
türlich unter  den  P.ildhanern  lieliauptete  und  hier  bereits  von  Plinius 
datirt  war. 

3)  Paus.  .').  14,  .5.  Ueber  d'ia  'laihovvral  oder  (panSx'VTai  Sauppe 
S.  191. 


Scholl:  Der  Prozess  des  Phidius.  4o 

endung  des  Götterbildes,  dessen  Inschrift  ihn  als  Athener 
bezeichnet.  Das  Privilegium  wird  verständlich,  wenn  Phidias 
Elis  nicht  mehr  verliess:  und  so  gewinnt  JMiilochoros'  An- 
gabe von  seinem  Tode  in  Elis  eine  unangreifbare  Stütze. 

Athen  hat  seinen  grössten  Meister  nicht  wiedergesehen. 
Die  Rückkehr  nach  der  Vaterstadt  war  Phidias  durch  seine 
Flucht  und  Verurtheilung  verschlossen.  Seine  Verurtheilung: 
denn  diese  abzuleugnen  wäre  umsonst.  Löschcke  hebt  zur 
Ehrenrettung  ebenso  sehr  des  Künstlers  als  der  athenischen 
Gerichte  hervor,  dass  gegen  Phidias  nur  zwei  ihm  un- 
günstige Aeusserungen  der  Volksversammlung,  aber  kein 
richterlicher  Urtheilsspruch  vorliege.  Allein  die  Flucht  aus 
der  Untersuchungshaft  konnte  den  Gang  der  Untersuchung 
nicht  aufhalten,  auch  der  Tod  im  Kerker  hätte  diese  Wirk- 
ung nicht  haben  können.  Da  die  Anklage  auf  Unter- 
schlagung lautete,  so  blieb,  auch  wenn  der  Beschuldigte 
selbst  dem  Arm  der  Gerechtigkeit  entzogen  war,  immer  die 
Möglichkeit  seine  Erben  in  Anspruch  zu  nehmen.  Für  ein 
gerichtliches  Erkenntniss  im  Sinne  der  Anklage  aber  be- 
sitzen wir  den  Beweis  in  der  Belohnung  Menons.  Diese 
konnte  nach  dem  für  solche  Fälle  herkömmlichen  Verfahren 
nur  erfolgen,  wenn  die  von  der  Ekklesia  verlangte  Ent- 
scheidung des  Gerichtshofs  die  Denunziation  als  begründet 
anerkannt  hatte. 

Für  die  Schuldfrage  macht  das  wenig  Unterschied. 
Wir  brauchen  von  dem  Gewicht  eines  athenischen  Richter- 
spruchs im  öffentlichen  Prozess  keine  höhere  Meinung  zu 
haben  als  die  Athener  selbst  hatten,  und  lassen  besser  den 
Massstab  des  Wahrspruchs  unserer  Geschworenencollegien 
bei  Seite  —  bei  denen  übrigens  in  politisch  bewegten  Zeiten 
bekanntlich  auch  arge  Menschlichkeiten  vorkommen.  Das 
ius  imhlicum  antiker  Freistaaten  war  stets  die  anerkannte 
Arena  der  politischen  Parteikämpfe:  politische,  nichtjuristische 
Akte    waren    die  Euthynen    und  Eisangelieen,   die   Endeixeis 


44  Sitzunfj  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Januar  1888. 

und  ähnlichen  öffentlichen  Klagen  Athens  wie  die  Perduellions- 
und  Majestätsprozesse  Roms;  nicht  Rechtsfragen,  sondern 
Machtfragen  kamen  hier  zur  Entscheidung.  Kein  ange- 
sehener attischer  Staatsmann  oder  Feldherr,  gegen  den  nicht 
die  politischen  Gegner  dieses  legitime  Kam]>fmittel  gericht- 
licher Angriffe,  oft  mehrmals,  aufgeboten  hätten:  'Diebstahl 
und  Bestechung'  sind  dabei  die  unvermeidlichen,  nie  ver- 
brauchten und  selten  versagenden  Schlagworte.  Den  Perikles 
hat  seine  ü neigen nützigkeit  nicht  vor  der  Anklage  der 
Veruntreuung  von  Staatsgeldern  geschützt;  aber  seine  Ver- 
urtheilung  hat  den  Thukydides  nicht  gehindert,  ihn  als 
'erhaben  über  Geldgewinn,'  als  'offenkundig  ganz  unbestech- 
lieh'  {yQTjiuaxiov  dtaq'uvwg  ddtoQOTazog)  zu  rühmen.  Von 
Phidias'  Prozess  sagt  unsere  Ueberlieferung,  in  diesem  Punkte 
vollkommen  glaubwürdig,  dass  derselbe  das  Werk  der  Ka- 
Ijale,  von  Perikles'  Gegnern  angezettelt  und  eigentlich  auf 
diesen  gemünzt  war.  Schon  bei  Aristophanes  tritt  dieser 
Zusammenhang  durchsichtig  hervor.  Von  einer  thatsäch- 
lichen  Verschuldung  des  Künstlers  weiss  selbst  die  klatsch- 
.süchtige  Anekdote  nichts. 

Den  Elfenbeindiebstahl  des  i*hidias  ernsthaft  zu  erörtern 
oder  den  Künstler  gegen  diese  Beschuldigung  zu  vertheidigen 
verlohnt  sich  ebenso  wenig,  als  eine  Untersuchung,  ob  Dante 
sich  der  Betrügereien,  Fälschungen  und  gewinnsüchtigen  Er- 
pressungen schuldig  gemacht  habe,  wegen  deren  ihn  die 
Strafe  der  Verbannung  traf.  Gleich  dem  grossen  Florentiner 
hat  Phidias,  der  wie  kein  Anderer  den  Glanz  seiner  Vater- 
stadt in  idealen  Schöpfungen  offenbarte,  als  politischer 
FlüchtMng  in  der  Fremde  geendet;  und  gleich  jenem  hat  er 
an  der  Heimath,  die  ihn  verkannte  und  verstiess,  sich  gross- 
artig gerächt,  indem  er  ihre  geistige  Su])rematie  im  Kreise 
der    Gegner   zu   unbedingter,    neidloser    Anerkennung    erhob. 


Scholl:  Do-  Prozcfis  des  Pliidia.'^.  45 

Anhang  zu  S.  4. 

Die   amtliche   Fürsorge   als    Privilegium.^) 

Die  älteste  erhaltene  Inschrift,  welche  unter  den  Ehren 
eines  Ausländers  die  Fürsorge  der  athenischen  Behörden  auf- 
führt, ist  um  zehn  Jahre  jünger  als  das  Dekret  Glykons. 
Es  ist  der  Zusatzantrag  zum  Ehrenbeschluss  für  Aretos  von 
Kolophon,  der  (wie  Kirchhoff  erkannt  hat)  bei  der  Wieder- 
einnahme und  Neubesiedlung  von  Notion  427/(5  im  athenischen 
Interesse  gewirkt  haben  muss,  C.  I.  A.  I  3G.  Die  betreffende 
Formel  weicht  hier  von  der  später  geläufigen  in  bemerkens- 
werther  Weise  ab.  Die  Ergänzung  macht  daher  einige 
Schwierigkeit;  mir  scheint  der  ganze  Passus  Z.  8 — 15f()lgender- 
massen  herzustellen : 

T[oig  6e  ZQDjQaQyovg  7i^ooenii.(tXEOxf^ai  au- 
[t(D<  r/^c,"  y.oi-itöfjg,  "^Jo/rwg  av  oioov  rji  l40^y\v- 

10     [a'Ce  eli^elv.  fnif.ieX\£od^ai    öi  avrioL  xai 

[r^g  öiaiTi^g?,  Tiyelv^  dei  iiZvTag  otov  aV  d- 
[^erjtat,  y.ai  i-qv  ßoi'kri]v  xriv  ßovXevovoav  xa- 
[l  Toi'g  jTQvxävi-ig.    xc«]  nqoaoöov  sirat  av- 
[rioi  TiQog  re  roig  Trov^Taveig  xat  z"/]//  ßoiX)]- 

15     [v  rj   TTQog  rov  dr^f.iov  fi^gioxiOL  /.lezd  rd   aola]. 

Vortrefflich  hat  Kirchhoff  8  f.  7t^Q0Eni(.ii:l£oi)^ai  av[Tioi 
rrfi  v.Of.iidy\g  ergänzt;  dagegen  lässt  sich  12  f.  das  zweifelnd 
von  ihm  gesetzte  '/ml  xr^v  ßovl.rf\v  trjv  ßovXevotoav  yia[lelv 
£711  Bivia  nicht  halten.     Für  meinen  Vorschlag    spricht    das 


1)  Der  Gegenstand  ist  kurz  berührt  von  V.  Heydemann,  De  senatu 
Ath.  quaestt.  epigr.,  Strassb.  1880,  20,  ausführlich  und  besonnen  er- 
örtert von  J.  G.  Schubert,  De  proxenia  Attica,  Leipz.  1881,  28.  Eine 
schärfere  Sonderung  der  Kategorien  und  Zeiten  wird,  wie  ich  glaube, 
auch  der  Einsicht  in  das  Wesen  und  die  Ausdehnung  des  Privilegiums 
zu  Gute  kommen. 


4(.)  SitziDH/  (Irr  ])hilns.-])hilol.  CJarnte  r-ovi  7.  Jnmtar  1888. 

Verhältniss  zwischen  fcgoeniiLieXeodai  und  fjrjuäXeai^ai,  für 
die  Verliindnnj^  dieses  letzteren  Be;^riffs  mit  irji'  ßocXrjV  und 
TOtt:  yrgiräveig  der  Sinn  der  Bestininning  und  die  gewöhn- 
liclie  Fassung  der  Formel,  z.  B.  II  39  xat  t/jV  ßovh]v  rij»-] 
(xul  ßovlevoi[aav  hrif.ii:}.Eoi}a]i  Me'kavÜ^iov  x[at  xiov  syyovcov 
u]iov  av  öäiüviai.  40.  54.  u.  a.  Das  Satzglied  xvxeiv  — 
öt.i]tai  (vgl.  II  55  i/rijueXelodai  —  ortiog  aV,  eav  zov  dhjrat, 
Tvyyix[vrji])  ist  eng  an  ^Ttii-ielea^ai  angeschlossen  und  mit 
diesem  Begrifi"  vorangestellt:  ähnlich  cäv  tov  öh^Tai  und 
o.'iiog  uf.1  fAtjösv  ddi/.i'fcai  II  289.  115.  Bei  f7ri/.ttlE(7i)ai  öe. 
avTioi  darf  ein  Genitiv  entsprechend  dem  rijg  zoiuiö^g  nicht 
fehlen:  nur  versuchsweise  habe  ich  mit  t»]^'  öiahtjg  etwas 
dein  Zusammenhang  und  Raum  Gemässes  gegeben. 

12  Tijv  ßovlevovoav  ohne  del  wie  IV  94  (I  9,  18). 
Für  /Ml — /Ml  bei  Bule  und  Prytanen  steht  in  den  jüngeren 
Beispielen  die  einfache  Copula:  doch  findet  sich  ts — xat 
II  289.  Auch  die  Vergünstigung  des  'Zutritts  zu  Kath 
und  Gemeinde*,  welche  hier  zuerst  und  später  häufig  mit 
der  amtlichen  Fürsorge  verbunden  erscheint,  zeigt  eine 
voji  der  später  üblichen  Formel  abweichende  Fassung  nQoo- 
oöov  —  \7iQug  T£  Tovg  TiQv^Tctveig  /ml  T7]f.i  ßovXri[v  rj  7TQ6g 
TM'  drif.iov].  Die  hier  abermals  der  Bule  correlativ  gesetzten 
Prytanen  fehlen  in  der  späteren  Formel  ganz,  oder  werden 
in  einem  besonderen  Znsatz  zur  Ausführung  angehalten: 
II  41  Ol  öa  7iQvtaveig  [01  del  7rQVTa\vevovTeg  nQ0oay6vTiü[v\. 
115  y.al  tovg  7rQvxavEig  dtav  dei  7iQVTnvemooiv  FTti/utXeloOai 
ondjg  av  71QOOOÖOV  tvyydvei,.  Die  Ergänzung  tj  7iQdg  tov 
drf/.ior    jiat    bereits    Schubert    vorgeschlagen,  ^)    nach    II    52" 

li  i'<T  l>eiiios  {Tfliört  in  die  Formel.  Als  der  wichtigere  Faktor 
wird  er  IF  605,  H  im  Heferat  allein  genannt:  .-roootjyayor  avTo]v?  oi 
Ttovrärf.ii  jigöt:  tov  dr/fioi'  tr  isfiotc:.  Dagegen  kommt  .-TQÜnofiog  jtoog 
ri/r  fiov/.r'jv  allein  unter  den  zahlreichen  Beispielen  des  Privilegiums 
nur  zweimal  vor,  wohl  nur  in  Folge  nachlässiger  Formulirung:  'Ad>]v. 
VI    270,   2    au.i    dem    Anfang   des    4.    .Tahrh.    \r7rai    öf    xa]i  :toöoo^o7' 


SchöU:  Der  PnKrss  des  Phidiosi.  47 

(vom  Jalir  3G8/7)   15  xat  etrai  7TQ6ao[öov  a]vTolg 

ngog    T/j[»']  ßovXriv  ]]  röv   di^uov  7iQiö[tüLQ\   t/€T[a 

z~\q  /[ejpa.  Sonst  steht  auch  in  diesem  Falle  reu^elmässi«? 
xa/;  selten  Te—y.ai  II  209.  593,  17;  vereinzelt  y.ai  /igoc: 
ßovXrlv  /.al  yiQog  dfji.ioy  II   115. 

Während  für  die  sichere  Fahrt  des  Aretos  von  Kolophon 
nach  Athen  die  Trierarchen,  Avenn  ich  diese  richtig  Z.  8 
eingesetzt  habe,  Sorge  tragen  sollen,  geht  die  Weisung, 
sich  des  Geehrten  während  seines  Aufenthalts  in  Athen  an- 
zunehmen, an  den  Rath  und  dessen  Verwaltungsausschuss, 
die  Prytanen.  In  der  That  ist  der  Rath  die  eigentlich  und 
einzig  coinpetente  Behörde  in  allen  den  Fällen,  wo  das  Privi- 
legium der  amtlichen  Fürsorge  solchen  ertheilt  wird,  die  in 
Athen  weilen  oder  ihren  Wohnsitz  haben,  also  insbesondere 
attischen   Metöken : 


'Ao^Lt:t(oi   [xal -Toös    7/;j']   ßovj.ijv,  eür  rov   8f:<ovTa[i,    Ttgoi- 

roig  fteiu  rä  hgä.  'E\jny_fiooTOvijoai  b'f  xiL ;  und  C.  1.  A.  II  367  aus 
dem  Anfang  des  3.  Jahrb.,  wo  zu  ergänzen  sein  wird  [rovg  8s  jigosSgorg 

.   .  -  .  :To]oaayayETv  [ (der  Name)  -Tgo?    rov  öfjfiov,  orar 

rrowTor    oi]6v  r    ei-  £iva[i    8e (der   Name)    y.al    yfjg    xal 

oixt'as  Fy>cTr]]oir,  y.al  nQ6a\oöov  sivai  avxöJi,  iäv  rov  dhjrai,  .^Qog]  rijv 
ßovXijv  .-rgoilroii  fierä  zu  legä].  Schubert  irrt,  wenn  er  das  erste 
Psephisma  trotz  seines  Inhalts,  lediglich  wegen  der  Anweisung  der 
Ausfertigungskosten  auf  den  rafu'ag  rijc  ßov}.fjg,  für  ein  Rathsdekret 
hält,  und  in  dem  zweiten  :ioöo{obor  eirat  avvotg  (so)  .-rgog  rov  dijfior 
y.ai]  Ttjv  ßovhjv  in  verkehrter  Wortfolge  schreibt.  Meine  Vorschläge 
verbinden  den  Raumforderungen  folgend  ectr  rov  Öhjrai  {ÖEcovrat) 
mit  :TQ(orq}  (^gcütoig)  ftera  la  ifqol:  die  Annahme,  dass  diese  Wendungen 
sich  nebeneinander  nicht  vertragen,  scheint  mir  inhaltlich  nicht  be- 
gründet und  durch  die  zwei  von  Hartel  Studien  über  attisches  Staats- 
recht 176  angeführten  Stellen  II  41.  115  nicht  bewiesen.  Auch  in 
der  oben  mitgetheilten  Stelle  II  52^  ist  die  Lücke  schwerlich  anders 
als  durch  edr  rov  dsoirrat  auszufüllen.  Wo  dieser  Zusatz  bei 
imfiehiadai  ect.  steht,  wird  er  natürlich  für  die  andere  Formel 
entbehrlich:  .so  II  289  und  in  der  Urkunde,  von  welcher  wir 
ausgegangen  sind. 


48         Sitzioicf  der  philos.-phildl.  Classe  vom  7.  Januar  1888. 

I  59  (Ol.  92,  3/409)  Ehren  für  eine  Anzahl  an  Phry- 
nichos'  Ermordung  betheiligter  Metöken:  zat  e'y/.TrjOi]v  eivai 
aiiolg  iüi.iTieQ  L4i)r^vaioig^  [xott  f-y^EUo^v'^)  /.al  or/.(ag,  v.al 
oi/.)fiiv  !Ai)y\viat.,  [xat  Ej[Li.i&.X\ea0^aL  aixwv  ttjv  ßovXrjv  rrjv 
alel  ß[^ov?^Eioioap  /a]t  zovg  7tQVTaveig^  07iwg  av  f.i)j  aö[i/i(x)vTai. 

II  18G  (Ol.  114,  3/321)  Proxenie  für  den  in  Athen 
j)ralvtizirendon  Arzt  Enenor  ans  dem  amphilochischen  Argos: 
e.nii.iiXeoDai  öt  aizov  [xr^v  re  ßocXr^v  zrjv  dei  ßovXevojuaav 
xai  To[vg  jiQvxäveig  zotig  del  övrag.  Der  Proxenie  folgte 
später  das  Ehrenbürgerdiplom  n.  187  (von  Oberlininnier 
Akaruanien  249  übersehen). 

II  54  (Ol.  104,  2/363)  Verleihung  des  Bürgerrechts  an 
den  nach  Athen  geflüchteten  Delphier  Astykrates:  e7iLf.iilEGdai 
[dij  avxo[i  Y.ai  i^yjf-i  ßovXrjv  zrjv  ahl  /io[6']A£[t;]oraa>',  e.ai' 
[TOf]  ÖETjTai  •  Eivai  di  avxioi  xa[t  ar^iXEiav    oixovvti  l4d-r^- 

Der  amtliche  und  polizeiliche  Schutz,  der  hier  an  die 
im  ^\'erth  sehr  verschiedenen  Privilegien  der  Bodenansässig- 
keit, der  Proxenie,  des  Bürgerrechts  angeschlossen  wird,  hat 
gleichmässig  das  Domizil  in  x\then  zur  Voraussetzung.  P]in 
Anderes  ist  es,  wenn  die  Geehrten  ausserhalb  Athens  leben 
und.  wie  die  grosse  Zahl  der  Proxenoi  und  * VVohlthäter*, 
einem  andern  Staatsverbande  angehören:  wo  denn  die  zuge- 
sicherte Fürsorge  vorzugsweise  in  der  Form  diplomatischer 
oder  militärischer  Unterstützung  wirksam  wird.  Auch  in 
diesem  Falle  geht  die  Fürsorge  zunächst  den  Ratli  an,  ilas 
Initfude  Organ  für  die  auswärtigen  Angelegenheiten  und  den 
diplduiati-clit'u    Verkehr.      Aber    mit    dem    Rath    und   seinen 

1)  tjo  .Schubert  p.  42  für  das  yt]jrs(io)]r  der  Herausgeber. 

2)  Auch  II  136  ist  vielleicht  hierher  zu  ziehen:  -  -  -  e]v  Srjaioii 
Tor  un/or[Ta  -----  f.T///f/>;]i9>jij'[a]<  <5e  avTOJV  rij/i  ß[ovXi]V  öjioig  ur 
ou)ü)g  ol^xütoir  t'jötj  y.al  6>g  uaqjaXearaTa :  wiewohl  das  Bruchstück 
nicht  erkennen  lässt,  ob  bei  dem  vom  Herausgeber  geschickt  er- 
gänzten OMO)?  oixfTr  an  Athen  oder  Sestos  gedacht  ist. 


Scholl:  Der  Prozess  des  Phidia.s.  40 

Prytaneii  theileii  sich  die  Strategen  nU  die  Leiter  der  inili- 
tärisclien  Exekutive  in  die  Verpflichtung,  und  regelmässig 
werden  sie  neben  jenen  in  der  Formel  genannt.  So  in  dem 
ältesten  erhaltenen  Beispiel  (I  44,  nach  Kirchhoffs  ein- 
leuchtender Annahme  das  Proxeniedekret  für  Polystratos  von 
Phlius  aus  420,  ist  leider  nicht  herstellbar),  dem  Ehren- 
beschluss  für  Euagoras  von  Salamis  I  G4,  zwischen  410  und 
405,  wo  der  betreffende  Passus  Z.  7  f.  zu  ergänzen  ist: 

f;rifiekEo0^ai  di  aviov  ttjV  ßov\XriV  rijj'  a.lE\i  ßovXevovoav 

Kai  roCg  vigiräreic:  /.ai   lovg  ffrj^arryyoig,  6Vr[wg  av 

f-irjö'  adi/.rjTai  /<'/(J']  vfp'  f-rog.  Ein  ver- 
wandtes Schema  zeigt  der  Proxeniebeschluss  II  289  (Ende 
des  4.  oder  Anfang  des  3.  Jahrb.):  i/ii{AeXea]0^ai  öi  aixov 
e\av  Tov  derirai  nuQa  t~\ov  dri/nov  xr(v  [rje  \ßovXriv  ti^v  cei 
ßo]v'A£tovoav  xal  'f[ocg  ngiTavEig  x]a<  rote  OTgarr^yotl^g^. 

In  anderer  Reihenfolge  der  Behörden  und  veränderter 
Fassung  T  94  =  IV  p.  22  log  [a]f  /nr]  dd[^r/.rjTat  romliov 
[i.iril^d[Bi']g,  Ol  aTQC(i:>i[yol  oC\  av  töat  [ky.d^acoie  /.ai  i) 
\^{iüih]  ']/y  ßov'KEiüv[o^^u  v.ai  6i  7rQ\^ü\Tä\vEig  e'/.(x\aioTE  f[7'<]" 
(.ieXeoViov  at'[iwj'.      Aehnlicb  II   119. 

II  40  iyiijiiE/.EloÜ^ai  öf  at'[roD1  rovg  aTQaxTqyovg  xal 
taug  7iQ[vTüi'\Eig  y.al  Tt]f.i  ßor}.[ij]i'  ii]v  dsi  [ßov?J\Evoroui', 
idv  TOV  dir^iai 

Gewöhnlich  fehlen  in  den  Inschriften  des  4.  und  3.  Jahr- 
hunderts die   Prvtanen  : 

II  1«=  p.  390  (Ol.  95,  2/399)  Ehren  für  den  Proxenos 
Pythophanes  von  Karystos:  Ojiiog  d^  oV]  ravca  yiyvt]Tat, 
xovg  OT(}\_aztjyoig  xoCg  ai]El  aigati/yolvTag  hu(.i\tlEoi}ai  Aal 
iri^v  ßovli^v  trlv  ahl  ßovUv[ovoav.  15ti.  209.  Vgl.  225.  (42.) 
Oder  mit  Voranstellung  der  Bule: 

II  44,  wo  zu  lesen:  s/nf.iElE7Guai]  di  aui[oi  vijv  ßoil>]v 
ri]v  oeI  ßovXEuovoav  zat]  zovg  o[TQaTi]yovg,  07rojg  av  fn] 
ddixiiZai].      151. 

ItmS.  Fliilos.-pliilol.ii.  hist.Cl.  1.  4 


50  Sitzuvf)  der  philos.-plüloh  Classe  vom  7.  Januar  1SS8. 

II  124  (Ol.  110,  4/33(5)  Kai  8ri[i^ie]X[e]i[G]0-ai  a[v]TOv 
Tilf-i  ßov\XriV  '/.ai  tov^g  GTQaTtjyovg,  otov  ov  d[6Vyra/]. 
(Vgl.  101.) 

Bei  besonderer  Veranlassung  werden  noch  andere  mi- 
litärische Organe  neben  den  Strategen  in  Anspruch  ge- 
nommen : 

II  69  (Ol.  106,  2/354)  Proxenie  für  Philiskos:  fV/- 
jUE^elod^ai]  di  OiXia/.ov  tov  Xi\^^EVO(fQOVQOv  tov  l4^iyrjvaiiov 
h'  '^EXXriOn6v\TiüL  y.al  zovg  OQxjovrag  rovg  ^.v  '^E^hjOu[orTwi, 
l^d^r^vr^OL  (f]£  trjV  ßovXr]i'  xrjv  asl  ß\^ovXEioroai'  xat]  locg 
aiQarrjyovg,  ouiog  a[v  /urj  ddiy.rJTai]. 

II  115  (um  343/2)  Ehren  für  den  vertriebenen  Molosser- 
künig  Arybbas:  S7iii-ieme[taOai]  ö^.yiqißßov  ojuog  ai-i  ftt^dyv 
d\dr/.riTai  ttjV  ßovXi]v  ti]v  dal  ßovlsiovaav  /.ai  roCg  otqu- 
xi,yovg  tovg  dei  orqaTriyovvTag  v.ai  kav  cig  aXkog  rrov 
!Ad^rjvaUov  TzaqaxvyyavEi. 

Von  diesen  beiden  Stellen  ist  namentlich  die  erste  lehr- 
reich durch  die  bestimmte  Scheidung  des  Amtsbereichs  der 
genannten  Behörden. 

Dass  mit  der  Fürsorge  für  einen  auswärtigen  l'roxencis 
der  Rath  allein  beauftragt  wird,  ist  ungewöhnlich,  aber 
unbedenklich: 

II  39  (Anfang  4.  Jahrhunderts)  /.ai  tt]v  ßoi:h]v  Tr]v] 
alsi  ßovlavovl^oav  lni(.iElE~iGi)^ai  Dhlardiov  -/[ai  tiov  iyyoviov. 
oJroL'  (XV  deojviai. 

II  362  (das  jüngste  Beispiel  der  Formel,  aus  dem  ersten 
Drittel  des  3.  Jahrhunderts),   zu  ergänzen: 

tov  drj']iiov  tÖ[v  yidiivuuDv.    eivai   Öe   /ai  jiqo- 

^E^vov  uvxov  \ '/ai  xovg  l/yovo- 

v\g  avxol-  xov  drjf.io[v  tov  ^^Orivai'on',   07i ojg  d- 
j']   y.ai  Ol  dXloi  q'ilolxi(.iidviai  aig  xov  öi- 
^      (.lov  EiEQyETEiv  ox\^i  dv  övvcovxai  oyaO^o- 
V  tl]d6xEg  oxi  ycQ[ixag  djioXr^iliovxai   na- 


Schill:  Der  Prnzesa  des  Phidins.  51 

Qu]  Tov  dr^uou  a^ia[g  tojv  evegyenji^iarojv. 
F;(]il^iEXe~io'^ai  (J[«,  sav  tov  det^vai,  vijv  ßo- 

L'Xjrjv  ir^v  du  ßov[Xevovoav 

10      .   .  .   .   '^'^  ^  .   .   AI 

Die  letzten  erhaltenen   Reste  lassen   für  eine  andere  Behörde 
hinter  der  Bnle  keinen  Platz.  ^) 

Wo  dagegen  einmal  den  Strategen  allein  ein  ent- 
sprechender Auftrag  ertheilt  wird,  handelt  es  sich  um  speziell 
militärische  Aufgaben  auf  einem  bestimmten  auswärtigen 
Operationsgebiet,  das  daher  auch  wohl  in  der  Formel  aus- 
drücklich genannt  ist.  Dem  oben  angeführten  Beschluss  115, 
in  welchem  der  Molosserfürst  Arybbas  als  attischer  Ehren- 
bürger unter  den  Schutz  des  Raths  und  der  Militärbehörden 
gestellt  wird,  fügt  ein  Zusatzantrag  die  deutlichere  Anweis- 
ung hinzu:  e7rijLie?^€lo\  ifai  öi^  y.al  rovg  OTQanjyov\^g  o'l  av\ 
OTQaTrjy\io\ai,  oV/wg  L4Q\ißßa\g  /.ai  oi  7ia'ideg  avrov  [xo,«/]- 
öiovxai  ti]v  dqytjV  Tt]v  [//aT^]o>a»'.  Aehnliche  Bedeutung 
hat  die  dem  Pelagonenfürsten  Menelaos  gewährte  Unter- 
stützung II  55  (Ol.  104,  3/362):  irrtfueXelod^ai  \^ds  a]vTou 
v.ai  Tovg  OTQavrjyovg  tovg  ovxag  //«[^t  Mu\/.Edoviav,  onoag 
av  idv  TOV  öirjTai  Tvyya[j>r^i].^) 


1)  Ueber  II  136  s.  S.  48  Anm.  2.  —  Zweifelhaft  ist,  ob  auch  II  9 
in  diesen  Zusammenhang  gehört.  Die  Inschrift  ist  ein  Kathsdekret, 
von  ähnlichem  Inhalt  wie  1«  und  3,  das  eine  früher  verliehene  Pro- 
xenie  erneuerte.  Da  die  Zeile  des  stark  verstümmelten  Steins  nicht 
mehr  als  32,  vielleicht  blos  30  Stellen  fasste,  so  lautete  der  Schiusa  etwa: 

jrpo'^fj'ov  Pia]«  £VSQy£T)][v]   t- 
ov  8rji.iov  TOV  'Aßrjt'aicov  xai]  avzoy  xal  exy- 
ovovg.     eMi/iislsai^ai  de  x(bv  i]xyövcov  e[xäa- 
xoTE  tr]v  ßovXijv  xal  rovg  JiQ]vTdvsig. 
Der  Zusatz  rrjv  dsi  ßovXsvovoav  fehlt  auch  119.  124.  136. 

2)  Wer  II  137  neben  den  Strategen  genannt  war,  ist  bei  der 
ungleichmäs^igen  Schrift  des  Fragments  schwer  zu  sagen;  vielleicht 
hiess  es    ev  X£QQOvria\(ai.    i:jif^is/.ETadai  de  av[Tov  rovg  axQaztjyovg  rovg] 

4* 


52         Sitzung  der  iTihUos.-pMlol.  Clause  vom  7.  Januar  JS8S. 

Besonders  bezeichnend  ist  das  bestimmte  Mandat  in  den 
uns  hier  ferner  liegenden  Fällen,  wo  der  militärische  Schutz 
niflit  einem  Einzelnen,  sondern  einer  verbündeten  (lemeinde 
zugesichert  wird: 

I  51  =  IV  p.  1()  (Ol.  92,  3/409)  Lobdekret  für  die 
Neopoliten  bei  Thasos:  ....  07no(;  «7'  A*[^/  döi/.on>Tai  ji/?^J.s 
t'f/»'  evog  jt/tjrjfi  v/cd  iÖuütov  urize  vnö  ycüiyoi  JcüXecog,  rovg 
re  o\tQaTr]yov^g  oV  av  snaotore  alQyovreg  tvyxaviooiv  hn- 
ut^Xeoi^ui  avTiov  ori  av  dtLovzai,  /.at  roug  aQx[orT^ag  Tovg 
L4Ü i^vauov  uc  av  f-/.[äocoTe  agycooi,  .lävxa  tooh^ov  Tri(.i 
iiij'Uv  NEOitok'iTag  tfvkäcvovia\g\  /.ui  7Tooi)i\uocg  ovtag 
jioielv  OTL  av  [ßvvojvjai  a.yaiy6v^. 

II  110  (Ol.  109,  4/340)  Schutz  der  Elaiusier:  tov  Öe 
ai()ucrjyöv  Xd[QtiTa]  ¥.7tii.iBhjifi]vaL  avTiov  ev  rioi  [r^o/rjou 
tö)i  avitöi,  07cwg  av  l'yovil^eg  ^Eka^iouaioi  id  f-atttöv  OQ^wg 
■/.\ui  öi/.^aüog  oi^woiv  juezd  l4^r]vai[^cüv  iv  X\eQQOvriooji. 

Die  hier  gegebene  Zusammenstellung  macht  es  gewiss, 
dass  der  älteste  Beleg,  der  Ateliebeschluss  für  den  Künstler 
Menon  von  438/7,  in  Plutarchs  Bericht  lückenhaft  wieder- 
gegeben ist.  Dass  zum  Schutz  des  Metöken  nur  die  Stra- 
tegen angewiesen  werden,  ist  ohne  Beispiel.  Von  Rechts- 
wegen war  lediglich  die  Bule  mit  den  Prytanen  competent. 
Wenn  in  Glykons  Psephisma  mit  dem  h'ath,  der  gar  nicht 
zu  umgehen  war,  auch  die  Strategen  verbunden  waren,  so 
wird  man  sich  das  so  zurechtlegen  dürfen  wie  S.  4  geschehen 
ist.  Einigennassen  vergleichbar  ist  das  Verfaliren  bei  den 
akarnanischen  Freiwilligen,  welche  bei  (Jhaeronea  an  der 
Seite  Athens  gefochten  hatten  und  dafür  l)is  zu  ihrer  l{ück- 
kehr  in  die  Heimath  die  Stellung  und  Rechte  attischer 
Lsotelen    erhielten:    11    121    (Ol.    110,    3/337) x«a 


UFt  axoaTT)yovvza\<;  xni  rag  a.Q](ag  rag  hv  Xt^QQoy'ijnox,  iljitog  är  /i\y()h' 
ut)ix>JT(u.  rov  df  you/i/ia^Tsa  Tfjg  ßov).r][g  uvayQÜy'ai  rödf  rö  yn'/ffin/ia 
f'r   nn'il/.ijt    /.iO('v[>i\i    y.ui    n[Tr/oui    -    -    -. 


Scholl :  Der  P/o^c.s.s  des  PhitUas.  53 

eh'a[i}     ai;[T]o7t;,     l'ioi;     av    xaTe'Ai}^toai[r,     ty/.n^aiv    (ov    av] 
u\ly.i]iöv  ßoiXiovTai   olxovan'  J^^/y')'/^[an'  oVeAtan'  ,(/£to/]x[/]or 
------    /.cei    [h:iiiiitls~io!^^a]t   [a]i'[iiöi>  ri|]»^  ;:^oi'A/][»']    Tr]v 

dei  (iovlevüro[ay  ■/.]ai  To[i-]g  aTQaTrjyo[ig]  oc  a[)']  oei  otQa- 
tip'ioöiv,  ojiiüQ  \av  ui]  dör/.iov\rai.  (ienau  die  gleichen  Be- 
stiininuiigen  enthielt  tias  Dekret  zu  Gunsten  thessalischer 
Flüchtlinge  11  222  (nach  dem  lamischen  Krieg):  11  [^^i)-iq- 
ri^aiv  ol-/.\oioiv  Hog  6v  x[a]rfA.^w[a/],  12  [oT£A6']a[i)']  lov 
ftETOiAior,  19  [i/iiiiieksyiod^ai  de  avTiov  T[rJ]v  \^ßovXi]v  ti^v 
del  ßovXevovoav  yC\ai  rovg  oigarrjyol^vg^  -  -  -.  Freilich  gieht 
eben  der  provisori.sche  Charakter  dieser  Bewilligungen  und 
die  in  Aussicht  genommene  Rückkehr,  welche  den  Be- 
trettenden zur  Zeit  durch  das  Uebergewicht  der  make- 
donischen Partei  in  der  Heimath  verwehrt  war,  eine  unge- 
suchte Erklärung  dafür,  dass  an  dem  Schutz  der  Parteigänger 
auch  die  Strategen  betheiligt  werden.  Vgl.  das  Psephisma 
für  Arybbas  (S.  51)  und  das  ähnliche  225,  wo  auf  die 
Formel  syrtfieleiaO^ai  d[£  /.al  avriöv  zovg  orqaTt^yovg  xovg 
del  or]QaTijyovvTag  za[t  tijv  ßovXrjv  rj  av  del  rvyyarijt 
ßoi?.£iov]oa,  OTttog  av  f.ir^d''  vq)'  l[vog  ddr/uZviai^  weiterhin 
folgt  [oniog  av  ti^v  jraiqida  /.o/LtiotüVTai. 


54 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  Januar  1888. 

Herr  Friedrich  hielt  einen  Vortrag: 

„lieber  die  Uniichtheit  der  Decretale  de  re- 
cipiendis  et  non  recipiendis  libris  des 
P.    Gelasius    I." 

Eines  der  merkwürdigsten  Papstsclireiben  ist  die  in  der 
üeberschrift  genannte  Decretale  des  P.  Gelasius  I.  (492 — 
496).  Da  sie  den  Kanon  des  A.  und  N.  Testaments,  eine 
Feststellung  über  den  Primat  des  römischen  Stuhls  und 
über  sein  Verhältniss  /u  den  anderen  apostolischen  Stühlen 
von  Alexandrien  und  Antiochien,  sowie  über  die  drei  ersten 
ökumenischen  Synoden,  und  endlich  einen  Katalog  von 
Schriften,  welche  recipirt  oder  nicht  recipirt  seien,  enthält, 
so  hat  dieselbe  seit  Jahrhunderten  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich  gezogen.  Ich  gehe  jedoch  auf  ältere  Forschungen  nicht 
ein  und  bemerke  nur,  dass  nach  der  umtassenden  Tnter- 
suchung  Credner's  (Z.  Gesch.  des  Kanons,  1847,  S.  148  —  290) 
Thiel  (Epistolae  Rom.  Pontif.  genuinae,  1868)  /u  einem 
endgültigen  Resultate  gekommen  zu  sein  schien.  Dieser 
schrieb  den  Kanon  und  die  Bestimmung  über  den  Primat 
des  römischen  Stuhls  und  über  sein  Verhältniss  zu  den 
anderen  apostolischen  Stühlen  dem  P.  Damasus  zu,  das 
Tebrige  ab^r,  unter  Wiederholung  der  letzteren  Bestimmungen, 


Friedrich:  Ueher  die   Unächtheit  der  Decretale  etc.  o5 

(lern  Gelasius.  Nach  Massgabe  der  Handschriften  schien 
dieses  Resultat  auch  wirklich  gesichert,  und  Hefele  (Con- 
ciliengesch.,  2.  Aufl.,  II,  »US  Ö.)  schloss  sich  sofort  Thiel 
an.  Zu  verschiedenen  Malen  pflichtete  auch  ich  selbst  ihm 
bei.  Allein  neuestens  wies  Langen  (Gesch.  der  röm.  Kirche 
I,  572  und  II,  191)  wieder  darauf  hin,  dass  es  nicht  glaub- 
lich sei,  , schon  Daniasus  habe  so  bestimmt  den  Primat 
Roms  über  die  ganze  Kirche  auch  des  Orients  als  eine 
göttliche  Einrichtung  betont  und  den  Vorrang  Alexandriens 
und  Antiochiens  auf  die  Würde  des  Petrus  zurückgeführt, 
wie  es  hier  geschieht.  Das  Capitel  setze  seines  Erachtens 
die  Verfassungseutwicklung  des  5.  Jahrhunderts  bereits  vor- 
aus. Namentlich  die  Aeusserung,  nicht  durch  Synodal- 
beschlüsse, sondern  durch  die  Worte  Christi:  Du  bist  Petrus 
u.  s.  w.  habe  Rom  den  Primat  erhalten,  scheine  an  den 
Streit  zu  erinnern,  der  sich  auf  dem  Concil  von  Chalcedon 
(451)  über  den  Primat  Roms  entspann.  Auch  verdiene  be- 
merkt zu  werden,  dass  um  415  Innocenz  (ep.  24,  1)  für 
den  Vorrang  Antiochiens  sich  ausschliesslich  auf  das  Cuncil 
von  Nicäa  berufe."  Und  Langen  hat  Recht  gesehen  und 
gethan,  wenn  er  sich  durch  den  bisherigen  handschriftlichen 
Bestand  nicht  beirren  Hess.  Die  älteste  handschriftliche 
Notiz,  welche  nachträglich  bekannt  wurde,  bestätigt  seine 
Auffassung. 

Delisle  beschreibt  nämlich  ein  Manuscript  mit  mero- 
vingischer  Schrift,  welches  Abt  Numidius  schreiben  Hess 
und  einem  Kloster  St.  Medard  schenkte.^)  Da  es  aber  fest- 
steht, dass  es  in  merovingischer  Zeit  nur  zu  Soissons  ein 
grosses  Kloster  des  h.  Medard  gab  und  dass  dessen  Abt 
Numidius  Ende    des    7.   Jahrhunderts  etwa  bis  in  die  ersten 


1)  Delisle,  Notice  sur  un  manuscrit  luerovingien  de  l;i  bibl. 
roy.  de  Belgique,  in  Notices  et  Extraits  des  manuscrits  de  la  bibl. 
nat.  et  autres  bibliotheques,  XXXI.  33 — 47. 


'»•>  Sitzunii  der  Jiislor.  ('lasse  roin  7.  J<niHiir  1S88. 

Jalire  dos  achten  lel)te,  so  niiiss  die  bcscliriebeiie  Hundsehnft 
spätestens  aus  dieser  Zeit  stammen.  Fol.  l^iO'"  stellt  nnn 
geschrieben:  In  ("hristi  nomine  incipit  (h'cretale  de  recipiendis 
et  non  recipiendis  libris,  qui  scriptum  est  a  Gehisio  papa  cum 
septuaginta  erutissime  (sie)  urbis  episcopis  in  sede  a])0.stolica. 
Post  profiticas  et  evangelicas  (Delisle  p.  40).  Leider  felilt 
die  Fortset'/Aing  des  Decrets,  da  die  drei  folgenden  Blätter, 
welche  dasselbe  enthielten,  herausgeschnitten  und  durch  vier 
andere  ersetzt  sind,  auf  denen  in  longobardischin"  Schrift 
ans  dem  8.  Jahrhundert  eine  Exhortation  des  Cäsarius  von 
Arles  geschi'ieben  steht.  Dennoch  ist  die  Notiz  sehr  werth- 
voll,  insofern  als  jetzt  nicht  mehr  auf  das  Vorhandensein 
der  Decretale  in  dieser  Zeit  erst  geschlossen  werden  muss; 
noch  mehr  aber  insofern  als  jetzt  die  Frage  erledigt  zu 
sein  scheint,  „ob  dtus  3.  Capitel  des  Decretes  von  dem  Primate 
Iloms  und  dem  Hange  der  Kirchen  von  Alexandrien  und 
Antiochien  als  petrinischer  schon  Daniasus  angehört,  dem 
es  in  den  Handschriften  zuerkannt  wird,  oder  erst  Gelasius" 
(Langen  I,  572).  Die  von  der  Decretale  noch  erhaltenen 
Anfangsworte:  Post  profiticas  et  evangelicas,  zeigen,  dass 
das  3.  Capitel  des  ganzen  Papstbriefes  dem  (ielasius,  nicht 
dem  Damasus  angehörte.  Demnach  miissten  wir  auch  an- 
erkennen, dass  Gelasius  zum  erstenmal  es  ausgesprochen 
habe,  die  römische  Kirche  hal)e  den  Primat  über  die  ganze 
Kirche,  auch  des  Orients,  durch  Christus  selbst,  nicht  aber 
durch  Bestinnnungen  von  Synoden  erhalten. 

Ich  glaube  aber  aus  verschiedenen  Gründen  nicht,  dass 
diese  Bestimiiiuiig  von  Gelasius  ausgegangen  ist. 

Einmal  ein  rein  formeller.  Es  scheint  mir  nämlich, 
als  ob  wir  hier  ein  späteres  Einschiebsel  vor  uns  hätten. 
Es  soll  doch  von  den  aufzunehmenden  und  nicht  aufzu- 
nehmenden Schriften  die  Rede  sein,  und  dem  entsprechend 
beginnt  die  Decretale  auch  mit  den  Worten:  Post  propheticas 
et    evangelicas    atque    apostolicas   scripturas,    quibus  Ecclesia 


Fririh-ifh :    l.'clnr  die    Viiiichlhtit   drr   Dccrrtulc  etc.  'i7 

catliolica  })er  <;ratiam  Dei  fundata  est.  Statt  aber  in  doni 
Gedanken  fortznfahren,  lieisst  es  unlogisch:  etiaiu  illud 
intinianduni  putavimus.  quod  quanivis  iiniversae  per  orbeni 
catliolicae  diifiisae  Ecclesiae  uniis  tlialanius  Christi  sit,  >;. 
tarnen  Romana  ecclesia  nuUis  synodicis  constitutis  ceteris 
ecck'siis  )>raehita  est,  sed  evangelica  voce  Doniini  et  Salvatoris 
primatiuu  obtinuit:  Tu  es  Petrus,  inquiens  .  .  .  Nach 
dieser  seltsamen  Abschweifung,  wo  nicht  von  den  Büchern, 
sondern  vom  römischen  I?rimat  und  von  den  übrigen 
apostolischen  Kirchen  die  liede  ist,  Uommt  erst  die  Decretale 
auf  die  Bücher  zurück.  Man  fühlt  aber  sogleich  an  den 
Worten,  mit  welchen  das  c.  4  eingeleitet  wird,  dass  der 
Zusaumifiihang  im  Vorausgehenden  unterbrochen  worden  ist 
und  mit  Mühe  ein  Üebergang  von  dem  Einschiebsel  zu  dem 
Nachfolgenden  gesucht  wird.  Denn  c.  4  beginnt:  Et  quam- 
vis  aliud  fundamentum  nullus  possit  ponere  praeter  id,  quod 
positum  est,  quod  est  Christus  Jesus,  tamen  ad  aedificationem 
saucta  id  est  Roniana  ecclesia  post  illas  veteris  vei 
novi  Testamenti.  qiias  regulari ter  suscipimus,  etiani 
has  suscipi  non  j)rohibet  scripturas,  id  est:  Sanctam 
synodum  Nicaenam  ...  In  den  Worten:  post  illas  veteris 
vel  novi  Testamenti  soll  offenbar  an  die  Eingangsworte  des 
c.  o  wieder  angeknüpft  und  der  unterbrochene  Gedanken- 
gang weiter  geführt  werden.  Ganz  gezwungen  ist  ferner 
auch  der  Anfang  des  c.  4:  Et  quamvis  aliud  fundamentum, 
der  offenbar  darauf  sich  bezieht,  dass  c.  3  gesagt  ist,  durch 
die  h.  Schriften  sei  die  Kirche  gegründet  worden,  der  aber 
in  c.  4  zu  etwas  ganz  anderem  geworden  ist:  zu  dem 
Fundament,  das  Christus  selbst  ist.  Dagegen  erhalten  wir 
einen  vollständig  abgerundeten  Gedanken  und  Satz,  wenn 
wir  das  Einschiebsel  weglassen  und  lesen:  Po.st  propheticas 
et  evangelicas  atque  apostolicas  scripturas,  quibus  Ecclesia 
per  gratiam  Dei  fundata  est,  etiani  has  suscipi  non  prohibet 
sancta  Horaana  ecclesia  scripturas. 


58  Sitzmuj  der  histor.  Classe  vom  7.  Januar  1888. 

Als  einen  anderen  Grund  gegen  die  Autorschaft  des 
Gelasius  führe  ich  an,  dass  bis  zur  Zeit  dieses  Papstes  die 
Theorie  der  Päpste  über  ihren  Primat  eine  solche  Entwick- 
hnig  noch  nicht  erfahren  hatte,  und  dass  Gelasius  selbst 
sie  nirgends  ausspricht.  Credner,  der  diese  Entwicklung 
ebenfalls  untersuchte,  behauptete  zwar,  ,dass  der  Stand- 
punkt, welchen  der  Verfasser  des  2.  (3.)  Capitels  (der 
Decretale)  einnimmt,  durchaus  derselbe  ist  mit  dem  Stand- 
punkte, auf  welchem  Gelasius  stand",  allein  darin  kann  ich 
ihm  durchaus  nicht  beistimmen. 

Da  Credner  selbst  zugibt,  „dass  dasjenige,  was  im 
zweiten  (3.)  Kapitel  unserer  Decretale  über  den  Papst  ge- 
sagt wird,  geschichtlich  zuerst  von  des  Gelasius  Vorgänger, 
Felix,  aufgestellt  worden  ist",  so  kann  ich  mich  damit  be- 
gnügen, von  hier  auszugehen.  Credner  bezieht  sich  dabei 
auf  die  Worte  der  römischen  Synode  unter  Felix  485  (ep. 
11,  ed.  Thiel):  ünde  nunc  causa  Antiochenae  ecclesiae  apud 
beatissiniuni  Petrum  ap.  collecti,  rursum  dilectioni  vestrae 
(sc.  preshyteris  et  archimandritis  Constantinopoli  atque  in 
Bithynia  constitutis)  morem,  qui  apud  nos  semper  obtinuit, 
properavimus  indicare.  Quotiens  intra  Italiam  propter  ec- 
clesia-sticas  causas,  praecipue  fidei,  coiliguntur  Domini  sacer- 
dotes,  consuetudo  retinetur,  ut  successor  praesulum  sedis  ap. 
ex  persona  cunctorum  totius  Italiae  sacerdotum  juxta  solli- 
citudinem  sibi  ecclesiarum  oninibus  (f.  omnium)  competentem 
cuncta  constituat,  qui  caput  est  omnium  (Domino  ad  b. 
Petrum,  dicente:  Tu  es  Petrus  etc.  Quam  vocem  sequentes 
trecenti  decem  octo  sancti  patres  apud  Nicaeam  congregati, 
contirmationem  rerum  atque  auctoritatem  sanctae  Romanae 
ecclesiae  detulerunt:  ((uam  utramque  usque  'ad  aetatem 
nostram  successiones  omnes  Christi  gratia  praestante  cu- 
stodiunt).  C^uod  ergo  placuit  s.  synodo  apud  b.  Petrum  aj)., 
sicut  diximus  et  per  Tutum  ecclesiae  defensorem  beatissimus 
vir  Felix,   caput   nostrum    papa  et  archiepiscopus,    indicavit, 


Friedrich :   Ucher  die    Unächtheit  der  Decretale  etc.  59 

in  snbditis  coiitinetur.  Diese  Stelle  mit  ihrer  „sehr  selt- 
samen Art"  einer  Begründung  des  römischen  Primats  liat 
die  Gelehrten  schon  vielfach  beschäftigt,  die  einen,  um  sie 
zu  begründen,  die  anderen,  um  aus  ihr  allerlei  Rechte  für 
Rom  abzuleiten,  und  sie  kommt  wirklich  dem  c.  3  unserer 
Decretale  sehr  nahe.  Allein  vor  Allem  müsste  doch  fest- 
stehen, dass  sie  nicht  interpolirt  sei.  Wenn  man  bedenkt, 
dass  sich  schon  im  6.  Jahrhundert  an  den  Namen  des 
P.  Felix  Fälschungen  knüpften  und  ihm  ein  (unächter) 
Brief  an  Kaiser  Zeno  unterschoben  wurde  (Thiel  p.  224  n.  8), 
so  liegt  die  Verumthung  einer  Interpolation  dieser  Stelle 
sehr  nahe.  Ich  glaube  jedoch,  dass  eine  nähere  Betrachtung 
derselben  dieses  sicher  ergebe.  Die  aus  italienischen  Bischöfen 
bestehende  Synode  will  eigentlich  nur  erklären,  wie  sie  zu 
dem  römischen  Bischöfe  stehe  und  wie  es  komme,  dass 
dieser  in  ihrem  Namen  auftrete  (ex  persona  cunctorum  totius 
Italiae)  infolge  der  Sorge,  welche  ihm  hinsichtlich  aller  in 
Italien  liegenden  Kirchen  zukomme  (juxta  soUicitudinem 
sibi  ecclesiarum  omnium  competentem  cuncta  constituat), 
deren  Haupt  er  ist  (qui  caput  est  omnium,  sc.  ecclesiarum 
totius  Italiae).^)  Es  sei  aber  immer  so  gewesen,  so  oft  die 
italienischen  Bischöfe  sich  in  kirchlichen  Angelegenheiten 
versammelten,  und  so  sei  auch  jetzt  P.  Felix  verfahren 
(Quod  ergo  placuit  s.  synodo  .  .  .  vir  Felix  .  .  .  indicavit). 
Das  qui  est  caput  omnium,  wenn  es  überhaupt  ursprünglich  ist, 
bezieht  sich  also  nur  auf  die  italienischen  Bischöfe,  und  in 
diesem  Sinne  aufgefasst,  erhält  die  ."^ teile  einen  ganz  guten 
Sinn.  Erst  später  wurde  die  Stelle:  Domino  ad  b.  Petrum 
dicente:  Tu  es  Petrus  .  .  .  custodiunt,  eingeschoben  und 
so  gewaltsam    der  ursprüngliche  Sinn  verändert.     Und  diese 


1)  Der  Ausdruck  ist  zu  verstehen,  wie  bei  Siricius  ad  Hiraeriuui 
(Coustant  p.  637):  et  ad  singulas  causas,  de  quibus  ...  ad  Rom. 
Ecelesiani,  utpote  ad  caput  tui  coqiori.';,  retulisti,  suffioienter  quantum 
opiiior  responsa  reddidimus. 


60  Si(.~i(n(i  (Irr  liislor.  ('Uimc  roiii   7.  Junnar  1888. 

Aimalinie  scheint  auch  die  Beo))iichtuii<2f  nahe  zu  h:!gen, 
dass  die  Synode  nur  von  einer  „.Sitte"  sprechen  kann  und 
will,  während  in  dem  Einschiebsel  göttliche  und  menschliche 
Hechte  begründet  werden  wollen.  Zu  allem  Ueberflusse 
können  wir  aber  die  von  der  Synode  den  Orientalen  aus- 
einandergesetzte „Sitte"  noch  weiter  verfolgen  Das  Abend- 
land hatte  es  wieder  mit  der  morgenländischen  Kirche  zu 
thun,  wie  einst  unter  P.  Julius  I.  Damals  aber  setzte 
dieser  schon  den  Orientalen  auseinander:  Nam  etsi  solus 
sim,  qui  scripsi;  non  meam  tamen  solius  sententiam,  sed 
omnium  Italorum  et  (Uiniium  in  bis  regionibus  episcoporum 
scri])si.  Ego  autem  onnies  nolui  scribere,  ne  a  multis  one- 
rareutur:  certe  ad  constitutum  tempus  convenere  episcopi 
et  eorum  sententiae  fuere  quae  vobis  iterum  significo.  Qua- 
propter  dilectissimi;  etiamsi  solus  scribo,  scribere  nie  tamen 
communem  omnium  sententiam  vos  scire  volo  (Mansi  Conc. 
Coli.  II,  1219;  Coust.  p.  3()7).  Daran  ohne  Zweifel  dachte 
die  r()mische  Synode,  wie  ja  auch  der  Ausdruck:  cpii  caput 
est  onniium,  wahrscheinlich  auf  das,  wenn  nicht  ganz  un- 
ächte,  doch  interpolirte  Schreiben  der  Synode  von  Sardica 
an  den  P.  Julius  I.   hinzuweisen  scheint. 

Dass  wenigstens  noch  nicht  das  ganze  Abendland  so 
dachte,  wie  die  italienische  Synode,  wenn  die  in  Frage 
stehende  Stelle  acht  sein  soll,  das  geht  aus  einem  Schreiben 
der  Tarraconensischen  Bischöfe  an  P.  Hilarus  464  oder  465 
hervor.  Diese  wissen  nämlich  ganz  genau,  dass  die  Sorge 
der  römischen  Bischöfe  sich  nur  auf  eine  bestimmte  Anzahl 
von  Provinzen  erstreckt:  C^)uam  curam  apostolatus  vester  de 
provinciarum  suarum  sacerdotibus  gerat,  filio  nostro  illustri 
Vincentir)  duce  provinciae  nostrae  referente  cognovimus 
(Thiel  1).    l.')7).^) 

1)  Dies  ist  nocli  j,'iinz  die  Auffassung,  wie  sie  ob.  Ö.  59  1'.  Si- 
riciuM  aussprach  und  F.  Anastasius  an  B.  Johannes  von  Jerusalem, 
der   ihn    wegen   der   Uebersetzung^les    Origenes    durch    Rufinus  ,uni 


Friedrich:   lieber  die   Unächtheit  der  Deeretale  etc.  61 

Die  von  der  Synode  angeblich  ausgesprochene  Ansicht 
ist  ül)rigens  nicht  einmal  die  des  P.  Felix  selbst,  wenn  er 
in  seinem  Schreiben  an  Kaiser  Zeno  diesen  vom  Apostel 
Petrus  ansprechen  und  ihn  die  Stelle  Matth.  1(3,  1(3  ff.  so 
anwenden  lüsst:  Quaeso  te,  tili  piissime,  ne  tunicani  Domini, 
quae  desuper  contexta  per  totuni  in  ununi  corpus,  s.  Spiritu 
ubique  dirigente,  individuam  fore  Christi  figuravit  Ecclesiam. 
ulla  patiaris  sorde  violari;  neve  cujus  inter  ipsos,  qui  cruci- 
fixerant  Salvatorem,  mansit  integritas,  tuis  videatur  temporibns 
esse  discissa.  Nonne  niea  lides  est,  quam  solam  esse  veram 
et  nulla  adversitate  superandara  Dominus  ipse  monstravit, 
qui  Ecclesiae  suae  in  mea  confessione  fundandae  portas  in- 
feri  nunqiiam  praevalituras  esse  promisit?  (Thiel  p.  224). 
Oder  wenn  er  beim  Antritt  seines  Amtes  an  B.  Acacius  von 
Constantinopel  schreibt:  inter  diversas  generalis  Ecclesiae 
curas,  quas  ubique  terrarum  cunctis  populis  christianis  summi 
pastoris  voce  delegante  beatissimus  Petrus  ap.  pervigili  mode- 
ratione  dispensat,  continuo  me  sollicitudo  maxima,  quae  et 
praedecessorem  meum  incessanter  angebat  ...  Ja,  Felix 
weiss  in  demselben  Schreiben  dem  Bischof  von  Constantinopel 
gegenüber  nicht  einmal  mehr  als  „Reverenz  für  die  Vicare 
des  seligen  Apostels"  in  Anspruch  zu  nehmen.  Er  begnügt 
sich  sogar,  wenn  Acacius,  der  in  einem  Schreiben  an  P.  Sim- 
plicius  den  Päpsten  nur  eine  Sorge  um  alle  Kirchen  im 
Sinne    von    2.   Cor.    11.    28    zugestand,^)    den    „Vicaren    des 

Rath  gefragt"  hatte,  schrieb:  Mihi  certe  cura  non  deerit  evangelii 
fidem  circa  meos  custodiro  populos,  partesque  corporis  mei, 
per  spatia  diversa  terrarum,  quantum  iwssum,  litteris  convenire,  ne 
qua  profanae  interpretationis  origo  subrepat,  quae  devotas  mentes 
immissa  sui  caligine  labefactare  conetur.  Und  später:  Illud  tarnen 
teuere  te  cupio,  ita  haberi  a  nostris  partibus  alienum,  ut  quid 
agat,  et  ubi  sit,  nescire  cupiamus.     Coustant  p.  728.  730. 

1)  Sollicitudinem  omnium  ecclesiarum  secundum  apostolum 
(2.  Cor.  11,  28)  circumferentes,  nos  indesinenter  hortamini,  quamvis 
spoute    vigihmtes   ac    praecurrentes.     Sed   vos    divinum    zelnm    solito 


62  Sitzimg  der  histor.  Clnsite  vom  7.  Jnnunr  1S88. 

seligen  Apostels"  diese  Reverenz  nicht  erweisen  Avolle,  damit, 
(lass  derselbe  wenigstens,  seiner  ])isclil)flichen  Pflicht  einge- 
denk, für  die  Integrität  des  katholischen  Glaubens  und  für 
die  Bewachung  der  Bestimmungen  der  Väter  eintrete.  Gerte 
si,  ut  non  credimus,  b.  apostoli  vicariis  reverentiam  tuara 
tuis  deferre  fastidis  affectibus,  menior  salteni  sacerdotis  officii 
pro  fidei  integritate  catholicae,  pro  paternaruni  custodia 
sanctioniiin,  pro  synodi  Chalcedonensis  constitutione  servanda, 
quae  Nicaeni  conventus  pendet  arcte  articulo,  atque  eins 
ubique  hostibus  comprimendis,  sicut  orthodoxorum  urbis  illius 
Imitator  antistitum,  constanter  exurgere  debuisses  .  .  .  (Thiel 
p.  232,  234).  Und  sogar  als  er  Acacius  nach  Rom  zitirte, 
weiss  er  noch  kein  Recht,  sondern  nur  eine  „Sitte",  welche 
von  Athanasius  hergeleitet  wird,  geltend  zu  machen,  wenn 
er  auch  den  Ap.  Petrus  in  eigenthümlicher  Weise  hinein- 
zieht. B.  Johannes  von  Alexandrien,  sagt  er,  habe  eine 
Klagschrift  bei  ihm  eingereicht:  quem  morem  majoris  sui 
b.  mem.  Athanasii  exemplo  priorum  nostrorum  non  potuimus 
refutare.  Et  ideo  lectis  subditis,  frater  carissime,  ad  haec, 
quae  proposita  esse  cognoscis,  apud  b.  Petum  ap.,  cui  preces 
in  nobis  ol)latas  pervides  et  quem  ligandi  atque  solvendi  a 
Domino  potestatem  sumpsisse  non  potes  diffiteri,  in  couventu 
fratrnm  et  coepiscoporum  nostrorum  respondere  festina  (Thiel 
p.  231lj.  Es  ist  also  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich, 
dass  unter  P'elix,  der  sich  nirgends  einer  gleichen  Wendung 
bedient,  eine  römische  Synode  so  gesprochen  habe,  dagegen 
aber  ebenso  wahrscheinlich,  dass  die  oben  berührten  Worte 
erst  später  in  das  Schreiben  der  Synode  eingeschoben  wurden. 
Aehnlich,  wie  mit  P.  Felix,  verhält  es  sich  auch  mit 
seinem  Nachfolger  Gelasius  I.  selbst.  Derselbe  hebt  seinen 
Stuhl   in    den    stärksten    .\nsdrücken   hervor  und  streift  mit- 

demonstraÜH,  statuni  Alexandrinae  ecclesiae  requirentes,  ut  pro  pa- 
temis  canonibus  suscipiatis  laborem,  piissimo  stillantes  sudore  pro 
his,   sicut  semper  est  approbatum   (Thiel  p.  192 ;   ed.  Migne  59,  86). 


Friedrich:   Ueher  die   Uniichtheit  der  Bcvrrtnir  etc.  6ö 

unter  zweifellos  an  die  Worte  der  iliui  zui>-eschriebenen 
Decretale;  allein  dass  er  diese  wirklich  gebraucht  hätte,  das 
kann  Niemand  beweisen.  Vielmehr  legt  er  gerade  auf  das 
was  die  Decretale  durchaus  abweisen  will  (nullis  synodicis 
constitutis),  noch  ein  Gewicht:  auf  die  Tradition  der  Vor- 
fahren und  die  Canones.  ^)  l'ud  so  geschieht  es  auch  in 
seinem  II.  Tractate,  wenn  derselbe  überhaupt  ihm  angehört. 
Secundae  enim  .sedis  antistitem  nee  expellere  quisquam  nee 
revocare  sine  primae  sedis  assensu  vel  potuit  vel  debuit.  Nisi 
forte  confuso  jam  ordine  rerum  atque  turbato,  nee  prima 
nee  secunda  nee  tertia  sedes  debeat  observari  vel  suscipi 
.secundum  antiqua  statuta  majorum,  et  sublato  capite,  ut 
videnius,  omnia  membra  vario  inter  se  compugnent  certamine. 


1)  z.   B.    Ep.  10,    Thiel   p.   347    f.     Si    quantum    ad    religioneni 
pertinet,    non    nisi    apostolicae    sedi   juxta    canones    debetur    summa 

judicii  totius. Ineptias  itaque  suas  sibi  servent,  ni.si  resipiscant, 

potiu8  cogitantes  Christi  vocem  non  esse  superfluam,  quae  confessioni 
b.  Petri  ap.  inferni  portas  nunquam  praevalituras  asseruit.  Qua- 
propter  non  veremur,  ne  apostolioa  sententia  resolvatur,  quam  et 
vox  Christi  et  majorum  traditio  et  canonum  fulcit  auctoritas,  ut  totam 
potius  Ecclesiam  semper  ipsa  dijudicet.  Ep.  12,  Thiel  p.  351  ff.  Et 
si  cunctis  generaliter  sacerdotibus  recte  divina  tractantibus  fidelium 
convenit  corda  submitti,  quanto  potius  sedis  illius  praesuli  consensus 
est  adhibendus,  quem  cunctis  sacerdotibus  et  divinitas  summa  voluit 
praeeminere  et  subsequens  Ecclesiae  generalis  jugiter  pietas  cele- 
bravitV  Ubi  pietas  tua  evidenter  advertit,  nunquam  quolibet  penitus 
humano  consilio  elevare  se  quemquam  posse  illius  privilegio  vel  con- 
fessioni, quem  Christi  vox  praetulit  universis,  quem  Ecclesia  veneranda 
confessa  semper  est  et  habet  devota  primatem.  —  —  Apostolicae 
vero  sedis  auctoritas  quod  cunctis  saeculis  christianis  ecclesiae  prae- 
lata  sit  universae,  et  canonum  serie  paternorum  et  multiplici  traditione 
firmatur.  Sed  vel  hinc,  utrum  sibi  quisquam  contra  Nicaenae  synodi 
constituta  quidpiam  valeat  usurpare,  coUegio  potest  unius  comrauni- 
oni^^  ostendi,  non  mentibus  externae  societatis  aperiri.  Ep.  26,  Thiel 
p.  395  ..  .  pro  suo  scilicet  principatu,  quem  b  Petrus  ap.  üomini 
voce  perceptum,  Ecclesia  nihilominus  subsequente,  et  tenuit  semper 
et  retinet:  vgl.  p.  399.  406. 


04  Sitzuvff  der  histor.  Classe  vom  7.  Januar  1S88. 

fiatque  illud,  quod  de  populo  scriptum  est  Israel:  In  illo 
temi>ore  non  erat  dnx  in  Israel  etc.  Qua  enim  ratione  vel 
consequentia  aliis  sedibus  deferendum  est,  si  primae  beatissimi 
Petri  sedi  antiqua  et  vetusta  reverentia  noii  defertur,  per 
(juaiu  onniium  sacerdotum  dignitas  seraper  est  roborata  atque 
lirmata,  trecentoriimque  decem  et  octo  patriim  invicto  et 
singulari  judieio  vetustissimus  judicatus  est  honor?^)  Utpote 
qui  Domini  recordabantur  sententiam:  Tu  es  Petrus  ...  Et 
rursus  ad  eundem:  Ecce  ego  rogavi  pro  te  .  .  .,  et  illud: 
Si  amas  me,  pasce  oves  meas.  Quare  igitur  ad  Petrum  tam 
frequens  Domini  sermo  dirigitur?  Numquidnam  reliqui 
sancti  et  beati  apostoli  non  erant  siniili  virtute  succincti? 
(^uis  hoc  audeat  affirmare?  Sed  ut  capite  constituto  schis- 
matis  tolleretur  occasio,  et  una  monstraretur  conipago  cor- 
poris Christi,  quae  ad  ununi  caput  gloriosissima  dilectionis 
societate  concurreret,  et  una  esset  Ecclesia,  cui  fideliter  cre- 
deretur,  unaque  domus  unius  Domini  et  unius  redemptoris, 
in  qua  de  uno  pane  et  de  uno  calice  nutriremur.  C]ua 
ratione,  sicut  dixi,  majores  iiostri,  reverendi  illi  ecclesiarum 
magistri  clarissimaque  illa  populi  christiani  lumina,  quos 
merita  virtutum  suarum  usque  ad  confessionis  gloriosissimas 
palmus  et  niartyrii  fulgentes  extulere  Coronas,  ad  illam  sedem, 
quam  princeps  apostolorum  sederat  Petrus,  sui  sacerdotii 
sunipta  principia  repleti  Christi  caritate  mittebant,  suae  inde 
.soliditatis  gravissima  firmitatis  roboramenta  poscentes?  Ut 
per  haue  speciera  omnibus  appareat,  vere  unam  esse  per 
nniiiia  et  indissolubilem  Christi  ecclesiam,  quae  concordiae 
vinculo  miral)ili(iue  caritatis  textura  composita,  sola  et  indi- 
visa  per  totum  ostenderetur  esse  tunica  Christi,  quam  nee 
milites  ipsi,  qui  Dominum  crucifixerunt,  dividere  au.si  fuissent. 
Quae    nunc    .si    propter    perfidiam    Petri,    Acacii    tyrannicam 


1)  Es  bezieht  sich  dies,  wie  auch  Thiel  p.  528  n.  8  zugibt,  auf 
den  gcfnlschton  6.  Canon  des  Concils  von  Niciia:  Ecclesia  Honiiina 
.seniper  hal)uit   iiiiniiitniu. 


Friedrich:   Uelier  dir    Unächtheit  der  DecreUde  etc.  *'•> 

snperbiam  irapiamque  praesuraptionem  ejus  violatiir  atque 
conscinditur,  videte  et  sapienter  expendite,  in  quam  grave 
periculuiu  nostra  deducitur  conscientia,  dum  tanta  niajorum 
solvitur  observantia  V  Quis  enim  non  agat  quodeunque 
libuerit,  si  seniel  iu  consuetudinem  corruptus  ordo  pervenerit? 
Si  autem  hoc  sacrilegum  est  etiain  cogitare,  cur  non  cum 
diligentissima  observatione  teneatur  haec  forma  majorum, 
quum  sit  in  hoc  observationis  tenore  ineffabilis  indubitataeque 
unitatis  evidens  et  grande  mysterium  ?  —  —  Postremo  aequnm 
est,  ut  qui  alios  libenter  et  competenter  vultis  habere  snb- 
jpctos,  cedatis  et  ipsi  antiquo  more  majoribus,  ut  conKdenter 
imperare  possitis  minoribus  vestris.  Duodecim  certe  fuere 
apostoli,  paribus  meritis  parique  dignitate  sufFulti.  Quumque 
omnes  aequaliter  spirituali  luce  fulgerent,  unum  tamen  prin- 
eipeni  esse  ex  illis  voluit  Christus,  eumque  dispensatione 
mirabili  in  dominam  gentium  Roraam  direxit,  ut  in  praecipua 
urbe  vel  prima  primum  et  praecipuum  dirigeret  Petruni, 
Ibique  sicut  doctrinae  virtute  sublimis  emicuit,  ita  sanguinis 
gloriosa  eftusione  decoratus  aeterno  hospitio  conquiescit, 
praestans  sedi,  quam  ipse  benedixit,  ut  a  portis  inferi  nun- 
quam  pro  Domini  promissione  vincatur,  omniumque  sit  fluetu- 
antium  tutissimus  portus  (Thiel  p.  528  f.).  In  dieser  Stelle, 
welche  übrigens  aus  den  Worten  Matth.  16,  18  f.  die  Synode 
von  Nicäa  noch  nicht  so  viel  folgern  lässt,  als  die  römische 
48'),  k(jmmt  Gelasius  seiner  angeblichen  Decretale  in  manchen 
Phrasen  allerdings  nahe:  aber  man  sieht  doch  /ngleich,  wie 
er  der  historischen  Beweisführung,  die  freilich  unächte  Vor- 
aussetz.ungen  hat,  nicht  entbehren  zu  können  glaubt.  Fnd 
dann  darf  auch  das  nicht  übersehen  werden,  dass  im  Tractat 
aus  der  Sendung  und  dem  Tode  des  Petrus  in  Rom  allein 
argumentirt  wird,  während  in  der  Decretale  das  (bleiche  mit 
Paulus  versucht  wird. 

Endlich  weise  ich  noch  darauf  hin.  dass  die  Phrase  der 
Decretale:    non  habens  maculam   neque   rugam.    welche    hier 

1888.  Philos.-philol.u.  bist.  Cl.  1.  5 


66  Sitzinifi  der  hi.ttnr.  Clnsxc  com  7.  Jonuar  18SS. 

von  der  römischen  Kirche  gebraucht  wii-fl,  bis  dahin  sowolil 
von  P.  Hilarus  als  von  Gelasius  selbst  nnr  auf  die  Gesannnt- 
kirche  angewendet  wird  (Thiel  p,   140,  384). 

Fassen  wir  aber  die  folgende  Zeit  ins  Auge,  so  ist  es 
doch  im  höchsten  Grade  auffallend,  dass  nirgends  mehr  ein 
Papst  oder  ein  kirchlicher  Schriftsteller  sich  auf  c.  3  der 
üecretale  beruft,  im  Gegentheil  eine  demselben  wider- 
sprechende Autfassung  sich  geltend  macht.  So  bei  Ennodius 
in  seinem  7,ur  Vertheidignng  des  P.  iSymmachus  gescliriebenen 
Libellus  ])ro  synodo  (Hartel  p.  316):  replicabo  uni  dictum: 
tu  es  Petrus  .  .  .  soluta  et  in  coelo,  et  rursus  sanctorum 
voce  pontificum  dignitatem  sedis  eins  factam  toto  orbe  uene- 
rabilem,  dum  illi  quicquid  tidelium  est  ubique  submittitur, 
dum  totius  corporis  caput  esse  designatur,  de  qua  mihi  videtur 
dictum  per  prophetam :  si  iiaec  humiHatur,  ad  cuius  fugietis 
auxiliuui,  et  ubi  relintjuetis  gloriam  uestram?  Der  Unter- 
schied zwischen  dieser  Auffassung  und  der  der  angeblichen 
üecretale  des  Gelasius  springt  in  die  Augen;  statt  eines  jeden 
Commentars  genügt  es  jedoch,  auf  die  merkwürdige  That- 
sache  hinzuweisen,  dass  diese  Stelle  aucii  in  das  Decretum 
Gratiaui  überging  und  dass  aus  ihr  die  Glosse  den  Satz  ab- 
leitete: „die  rönn'sche  Kirche  liat  ihre  Autorität  von  dm 
Concilien."  ^)  Ennodius  zeigt  al)er  überhaupt,  wie  schwankend 
zu  seiner  Zeit  noch  die  Theorie  vom  römischen  Primat  wai-. 
Von  Athanasius  weiss  er  z.  F^.  nicht  sicher,  ob  dersellit'  dem 
römischen  Bischof  an    Würde    ungleich  sei:    sed    quamvis   b. 


1)  Index  eximrgator.  jussu  l'liilipiii  II.  Ari^entor.  160!),  p.  4GG: 
Dist.  XVII.  c.  G  Concilia.  gl.  ver.  .Inssionc  ubi  ait:  Habet  ergo  Rom. 
ecclesia  auctoritatem  a  Conciliis.  Doleantur  haec  verba  (Censnr 
Pius  V.)  una  cum  margine  posita,  quae  ait:  Papa  a  Conciliis  otc. 
Editio  Gregoriana  verba  gl.  retinet,  sed  marginem  omisifc.  Tn  eadeni 
vero  gl.  ubi  dicitur:  Ecclesia  Hom.  principaliter  habuit  a  Domino, 
secundario  a  conciliis,  Gregorius  in  margine  addi  voluit:  C!oncilia 
proprio  non  dedernnt,  priniatuni  Uoni.  P^cclesiae,  «ed  explicarnnt 
datum  a  Domino. 


Friedrich:   Ueher  die    Unäclüheit  der  Decretalc  etc.  ^7 

Athanasium  Romano  antistiti,  quantum  nosse  datur,  imparem 
locus  ostendat,  facto  tarnen  in  negotii«  conparantnr  (Hartel 
p.  802) :  und  in  seinem  Praeceptum  de  cellnlanis  spricht 
er  dem  römischen  Bischof  gar  ab,  dass  derselbe  die  Uesammt- 
kirche  leite  (cum  apostolicae  sedis  praesulem  et  omninm  pene 
ecclesiarum  gubernacula  tractantem,  Hartel  p.  412). 

Ennodins  steht  aber  mit  seiner  Auffassung  nicht  einmal 
allein,  sondern  wird  sogar  von  einem  Papste,  von  P.  Johann  IL 
in  seinem  Schreiben  an  Kaiser  Justinian,  unterstützt,  wenn 
er  sclireibt:  Inter  ehiras  ac  mansnetndinis  vestrae  laudes, 
christianissime  principum,  puriore  Ince  tanquam  aliquod  sidus 
irradiat,  quod  amore  fidei ,  quod  caritatis  studio,  edocti  ec- 
clesiasticis  disciplinis,  Rom.  sedis  reverentiam  conservatis,  et 
ei  cuncta  snbjicitis  et  ad  eius  deducitis  unitatem.  ad  cuius 
auctorem ,  hoc  est  apostolorum  primum,  Domino  loquente 
praeceptum  est:  pasce  oves  meas.  Quam  (sc.  sedem)  esse  vere 
omnium  ecclesiarum  caput  et  patrnm  regnlae  et  principum 
statuta  declarant.  et  pietatis  vestrae  reverentissimi  testantur 
affatus  (Cod.  lib.  I.  Tit.  I.  8).  Das  ist  also  im  Grunde 
noch  der  nämliche  Standpunkt,  den  P.  Zosimus  418  der 
Synode  von  Carthago  gegenüber  einnimmt  (ep.  2,  Coustant 
p.  943):  His  accedit  apostolicae  sedis  auctoritas,  cui  in  hono- 
rem beatissimi  Petri  patruni  decrota  i>ecn)iarpm  quandam 
sanxere  reverentiam. 

Es  gibt  nur  ein  Schriftstück  aus  jener  Zeit,  welches, 
abgesehen  von  einigen  unwesentlichen  Varianten ,  wörtlich 
c.  8  der  angeblich  gehisianischen  Decretale  wiedergibt,  näm- 
lich die  Stellen  über  den  römischen  Primat  sammt  dem  Zusatz 
über  den  Apostel  Paulus ,  und  über  die  drei  apostolischen 
Sitze.  Hinzugefügt  ist  dann  nur  noch  eine  Auseinander- 
setzung über  Jerusalem  und  Ephesus.  Dieses  Schriftstück 
ist  wohl  auch  die  Quelle  für  c  3  der  Decretale  des  Gelasius. 
Merkwürdigerweise  wird  aber  in  ihm  die  Be.stimmung  nicht 
auf  Gelasius,  sondern  auf  das  Concil  von  Xicäa  zurückgeführt. 


68  Sitznufi  der  hlstor.  Classe  vom  7.  Januar  1888. 

welche  dann  wieder  ein  römisches  Concil  unter  P.  Silvester, 
Avie  es  in  der  üeberschrift  heisst,  oder  die  römische  Kirche, 
nacli  dem  Texte,  angenommen  und  bestätigt  habe:  Beatissinio 
Sylvestro  in  Urbe  Roma  Apostolicae  sedis  antistite,  Constan- 
tino  quoque  Aug.  et  Licinio  Caesare  consulibus  propter  insnr- 
gentes  haereses  fides  catholica  exposita  est  apud  Nicaeam 
Bithiniae,  quam  sancta  et  reverentissima  Romana  complec- 
titur  et  veneratur  Ecclesia ,  quippe  qua  CCCXVIII  Patres 
mediantibus  Victore  atque  lubentio  religiosissimis  Romanae 
sedis  Presbyteris  inspirante  Deo  pro  destruenda  Arrii  venena 
protriverunt ,  cui  et  nonnullae  regulae  subnexa  sunt,  quas 
memorata  suscipiens  confirraavit  Ecclesia.  Sciendum  sane 
est  ab  Omnibus  catholicis,  quoniam  sancta  Ecclesia  Roniana 
nullis  Synodi  decretis  praelata  est,  sed  Evangelica  voce  Domini 
nostri  .Jesu  Christi  Primatum  obtinuit,  ubi  dixit  b.  Petro 
Apostolo:  Tu  es  Petrus  .  .  .  ^).  Das  Schriftstück  bezeich- 
net sich  selbst,  obwohl  später  an  die  Spitze  geschrieben 
wurde :  Incipiunt  canones  concilii  Romani  sub  Sylvestro 
Papa,  nur  als  Praef'atio,  da  es  am  Schhisse  heisst:  Explicit 
Praefatio.  [Teljer  diese  Praefatio  sind  wir  nun  ziemlich  genau 
unterrichtet,  indem  sie  nichts  anderes  ist,  als  die  sogenannte 
„grössere  Vorrede"  zum  Concil  von  Nicäa.  Da  sie  aber 
RuHn's  Kirchengeschichte  benutzt  und  in  der  Canonen- 
siimmhing  der  Freisinger  Handsclirift  43  und  in  der  Quesnel- 
sclieii  Samndung  steht ,  so  kann  sie  nach  Maassen's  Unter- 
suchungen nur  im  5.  .Jahrhundert  in  Rom  verfasst  si^in.  und 
zwar  als  Privatarlteit'^).  Sie  ist  gleicl)\V(ilil  liiw-hst  interessant 
und    If'lirn'icli. 


1)  Aiiinrt.  Klf'iiiPnta  jur.  oan.  T,  428  aq.  ans  Cod.  Diess.  8,  jei/t 
C!nd.  lat.  Mon.  r)0()8.  Leoiiis  Opp.  ed.  IJiillciin.  I[[,  22  sq(|.  nach  der 
(juPsnprHrlicn  Siuninbitifj.     Mansi  TT.  663. 

2)  Maassen.  GescTi.  der  Quellen  und  der  fjiteratur  des  canon. 
Rechts   im   Ahendlande  I.   10  f. 


Friedrich:  USber  die   ümä^fkfii  d<er  Decrfi-ale  fite.  ^9 

Zunä£h.^t  erfahren  wir  daraus  überhaupt,  dass  man 
schoo  im  o.  Jahrhundert  sich  mit  eicäuischen  Erdichtungen 
abgab :  dann  ermöglicht  die  Praefatio .  wie  mir  wenigstens 
scheint,  den  Gang  dieser  Erdichtungen  zu  Terfolgen.  welche 
nach  der  Meinung  der  Verfasser  die  zahlreichen  Niederlagen 
Roms  bei  seinen  Berufungen  auf  das  Concü  von  Nieäa  wieder 
ffut  machen  sc^llten.  Das  erste  Stadium  bezeichnet  die  Be- 
rufuug  Roms  auf  die  sardicensischen  Canones  als  nieänische. 
Die  Grundlosigkeit  derselben  wurde  -419  durch  die  airicajiische 
Smode  zu  Carthagc»  aufgedeckt  und  durch  die  Bischöfe  von 
Alexandrien  und  Constantinopel  bestätigt.  Da  scheint  man 
in  Rom  zur  Erdichtung  nieänischer  Canones.  welche  den 
römischen  Bischof  als  eine  Art  Oberinstanz  bestellten,  ühea:- 
segangen  zu  sein  ^).  Das  zweite  Stadium  ist  die  Interpolation 
des  6.  Canons  des  Xicänisehen  Concils  selbst  durch  Hinzu- 
fugang  einer  besonderen  Ueberscbrift:  De  primatu  eeclesiae 
Romanae.  und  durch  Hinzusetzung  der  Worte  im  Anfiange: 
Ecdesia  Romana  semf>er  habuit  primatum.  So  produzirte 
ihn  der  päpstliche  Legat  Pa^ichasinus  auf  dem  Concil  Ton 
Chalcedon,  worauf  aber  die  Synode  mit  Entgegenstellung 
des  ächten  Canons  antwortete.  Hierauf  scheint  nun  der 
Versuch  in  der  , grösseren  Vorrede'  gemacht  worden  zu 
sein,  mit  Fallenlassen  des  als  Fälschimg  au%edeckten  6.  Canons 
von  Nieäa  doch  eine  nicä,nische  Bestimmung  über  den 
römischen  Primat  einzuschmuggeln.  Und  aus  dieser  Vorrede 
ist  ohne  Bezugnahme  auf  das  Concil  Ton  Nicäa  und  auf 
P.  Silvester  die  Bestimmung  ül^er  den  Primat  und  über 
Alexandrien  und  Antiochien  in  die  sogenannte  Decretale  des 
Gelasius  nachträglich  eingeschoben  worden. 

Es  fragt  sich  jetzt  noch.  ob.  abgesehen  von  dem  oben 
besprochenen  Einschiebsel  und  einigen  späteren  Nachträgen, 


1)  Eriialt.en  im  Cod.  Kess.  8,  gedmctt.  bei  Am  ort..  Elem.  L 
Ic^  sq.  lucipit  Concilitim  Xicaenum  XX,  Episeoporom,  qui  in  Graeoo 
non  liai>entur,  sed  in  Latino  esse  inTenitmtxir  tantümmodo. 


7<>  Sitziitni  der  liistor.  CAdsse  com  7.  .honntr  1888. 

die  Decretale  de  recipiendis  et  neu  recipiendis  libris  übei-- 
liaupt  eine  ciiiitliche,  dem  P.  Gelasius  zuzuschreibende  Arbeit 
ist.     Ich  glaube,  dass  dies  verneint  werden  muss. 

Vor  Allem  scheint  Gelasius  selbst  in  seinem  IV.  Tractat 
de  anathemati.s  vinculo  (Thiel  p.  559)  nur  den  Canon  des 
Apttstels  Paulus  aufgestellt  zu  haben:  Onniia  probate,  quae 
l)ona  sunt  tenete.^)  Dann  aber  wäre  gar  nicht  aljzusehen, 
warum  Gelasius,  der  in  seinem  III.  Tractat  de  duabus  naturis 
in  Christo  eine  ganze  Reihe  von  Kirchenvätern  als  orthodoxe 
Zeugen  anführt  (Thiel  p.  544  ff.),  diese  nicht  sämmtlich  in 
seine  erst  später  abgefasste  Decretale  aufgenommen  hätte. 
Was  aber  noch  auffallender  an  der  Sache,  die  Existenz  der 
Decretale  seit  und  unter  dem  Namen  des  Gelasius  voraus- 
gesetzt, ist,  das  ist  die  unumstössliche  Thatsache,  dass  kein 
Mensch  in  der  alten  Kirche  die  Decretale  kennt  oder  gar 
sie  beobachtet. 

Zwar  hat  man  schon  früher  auf  das  Sclireiben  des 
\\  llormisdas  (ep.  124,  Thiel  p.  929  f.)  in  dem  Streite  über 
die  Autorität  des  B.  Faustus   von   Riez   hingewiesen,    als    ol) 


1)  Nuraquidnam  in  ipsorum  haereticorum  libris  non  luulta,  quae 
ad  veritatem  pevtineant,  posita  relegunturV  Nuniqiiidnaiii  ideo 
veritas  refutanda  est,  quia  illorum  libri,  ubi  pravitas  interet-t,  refu- 
tanturV  Aut  ideo  pravi  libri  suscipiendi  sunt  corum,  quia  veritas, 
quae  illic  inserta  est,  non  necfaturV  Ait  apostolas:  Omnia  probate 
etc.  .  .  .  Haec  et  hujusmotli  exempla  nos  edocent  et  testinionia  divina 
contirniant,  non  omnia  passim  a  quocunque  dicta  vel  ubicuniquc 
scripta  indifferenter  accipere,  sed  retentis  bonis,  quae  noceant  refu- 
tare.  —  Credner  S.  278  will  nun  gerade  aus  dieser  Stelle,  mit  der 
Decretale  c.  V,  4,  wo  die  Stelle  des  Paulus  sich  ebenfalls  findet,  zu- 
sammengehalten, scliliessen,  dass  im  Tractat  und  in  der  Decretale 
die  gleichen  Grundsätze  und  sogar  die  gleiche  Terminologie  herrschen. 
Allein  dieser  Schluss  ist  nicht  zulässig,  da  sicher  Langen  II,  194 
n.  2  Recht  hat,  wenn  er  diese  Stelle  als  späteres  Einschiebsel  er- 
klärt, und  da  der  paulinische  Satz  keineswegs  sich  auf  die  ganze 
Decretale  oder  auch  nur  auf  die  Schriften  der  Väter  und  Häretiker, 
.sondern  nur  auf  die  gesta  sanctoruiii  martyrum  bezieht. 


Frifilrich:    reber  die    Uniielitheit  der   Beeret  (de  etc.  t  1 

in  demselben  von  dem  (j^elasianischen  Biicherdekrete  die  Rede 
sei.  In  jüngster  Zeit  folgte  darin  Credner  nach,  der  in  dem 
Sclireil)en  des  Horuiisdas  nicht  blos  „die  erste  wenn  auch 
nur  verdeckte  Hinweisung  auf  unsere  Decretale  erkennen", 
sondern  auch  aus  demselben  herauslesen  will,  dass  die 
römische  Kirche  schon  oft  derartige  Bestimmungen  getroffen, 
und  es  „folglich  zu  des  Hormisdas  Zeit  in  der  römischen 
Kirche  schon  seit  länger  schriftliche  von  Zeit  zu  Zeit  fort- 
geführte Verzeichnisse  solcher  Bücher  gegeben  haben  muss", 
über  deren  Einrichtung  Hormisdas  ebenfalls  Aufschluss  gebe, 
,wenn  er,  ganz  so  wie  dies  in  unserer  Decretale  geschieht, 
solche,  quos  examen  catholicae  fidei  non  recipit  und  solche, 
quos  recipit,  unterscheidet"  (S.  158  f.).  Thiel  hingegen 
meint  gar,  darin  eine  Bestätigung  dafür  tiudeu  zu  können, 
dass  die  Decretale  wirklich  auf  einem  römischen  Concil  ab- 
gefasst  worden  sei.  und  dass  die  Bezeichnung  „apocryph"  in 
der  Decretale  nicht  das  Lesen  dieser  so  bezeichneten  Bücher 
überhaupt  verbiete,  sondern  nur  andeute,  sie  sollen  „mit 
einer  gewissen  Vorsicht  gelesen  werden".^) 

Allein  zu  dieser  Auffassung  des  Schreibens  des  P.  Hor- 
misdas konnte  man  doch  nur  gelangen,  weil  man  eine  ächte 
Decretale  des  Gelasius,  in  der  überdies  die  Opuscula  des 
B.  Faustus  von  Riez  als  „apocryph"  bezeichnet  sind,  voraus- 
setzte und  weil  man  namentlich  den  Ausdruck  des  Hormisdas 
„in  auctoritatem  recipere"  nicht  näher  untersuchte.  Ich 
behaupte  das  Gegentheil :  das  Schreiben  des  Hormisdas  spricht 
nicht  nur  nicht  von  der  gelasianischen  Decretale,  sondern 
beweist,  dass  sie,  wenigstens  als  ofücielles  Aktenstück,  gar 
noch  nicht  existirt  habe. 


1)  Dass  eine  solche  Auffassung  des  , apocryph "  der  Decretale 
widerspricht,  geht  aus  dieser  selbst  hervor,  da  sie  ausdrücklich  sagt, 
sie  wolle  die  von  ihr  nachhezeichneten  Bücher  ,von  den  Katholiken 
gemieden"'  wissen:  a  catholicis  vitanda  sunt  (Thiel  p.  461). 


72  SUzunii  der  histor.  Classe  vom  7.  Januar  1888. 

Die  Sache,  um  die  es  sich  liaiidelt,  wurde  von 
B.  Possessor  dem  P.  Hormisdas  so  mitgetheilt.  Es  sei  in 
Constantinopel  Streit  über  die  Schriften  des  B.  Faustus,  in 
denen  er  von  der  Gnade,  handelte,  entstanden,  und  man 
habe  sich  an  ihn  um  Uath  gewendet;  er  aljer  liabe  geant- 
wortet: Dixi  quidem  ea,  quae  a  tractatoribns  pro  captu  pro- 
prii  ingenii  disputantur,  non  ut  canonica  recipi,  aut  ad 
synodalium  vicem  pro  lege  servari;  sed  habere  nos 
certa,  scilicet  quae  veteri  lege  vel  nova  conscripta  et  gene- 
ralibus  patrum  sunt  decreta  judiciis,  ad  fundamentum  fidei 
ac  religionis  integram  firmitatem:  haec  autem,  quae  antistites 
diversi  conscripserunt,  pro  qua li täte  sui  sine  prae- 
iudicio  t'idei  solere  censeri.  Man  habe  sich  aber  bei 
seiner  Antwort  nicht  beruhigt,  sondern  sie  mehr  für  eine 
Entschuldigung  (excusatio)  betrachtet,  weshalb  er  und  mit 
ihm  die  magistri  militum  Vitalianus  und  Justinianus  eine 
Antwort  von  Hormisdas  erbitten.  Die  Antwort  des  B. 
Possessor  war  aber  in  der  That  eine  „Entschuldigung", 
oder  er  verstand  die  Frage,  um  die  es  sich  handelte,  nicht; 
denn  man  unterschied  damals  wirklich,  Avie  der  Gegner  des 
Faustus,  Johannes  Maxentius,  richtig  angibt  (Thiel  p.  930, 
n.  24),  Bücher,  welche  gelesen  werden  dürfen  und  zu 
denen  auch  anstössige  gerechnet  wurden,  Bücher,  welche 
katholisch  sind,  und  Bücher,  welche  in  auctoritateni 
recijiirt  waren.  Während  nun  die  Gegner  des  Faustus 
fragten,  ob  die  Schriften  desselben  katholisch  seien,  ant- 
wortete Possessor,  sie  seien  nicht  in  auctoritateni  recipirt 
(non  ut  canonica  recipi,  aut  ad  synadolium  vicem  pro  lege 
servari),  und  man  müsse  sie,  wenn  man  sie  lese,  wie  die 
Schriften  der  verschiedenen  Bischöfe  pro  (jualitate  sui  sine 
praeiudicio  fidei  beurtheilen.  Dies  war  allerdings  ein  Um- 
gehen der  eigentlichen  Frage,  ein  Verfahren,  das  ganz  un- 
begreiHich  wäre,  wenn  Possessor  und  die  Kirche  zu  Con- 
stantinopel   die    gelasianische    Decretale    gekannt    hätten,    in 


Friefirich:   Uehcr  die    Unäditheit  <h'r  Decretah  rfc.  7o 

welcher  die  opu.scula  Fausti  nicht  blu.s  als  ^apocryph"  be- 
zeichnet, sondern  noch  überdies  unter  die  Hubrik  gestellt 
waren:  Cetera,  quae  ab  haereticis  sive  schismaticis 
ct)nscri[>ta  vel  praedieata  sunt,  nullatenus  recipit  cathfilica 
et  apustülica  Koniana  ecclesia.  E  quibus  })auca,  quae  ad 
jiienioriani  venerunt  et  a  catholicis  vitanda  sunt,  credi- 
dinius  esse  subdenda.  Da  konnte  es  sich  doch  nicht  mehr 
darum  handeln,  ob  die  Schriften  des  Faustus  in  auctoritatem 
recipirt  seien  oder  l>los  gelesen  Averden  dürfen,  sondern  es 
war  auch  die  Frage  erledigt,  ob  sie  katholisch  seien  oder 
nicht. 

Nun  kann  man  allerdings  sagen,  dass  dem  aus  Al'rica 
vertriebenen  B.  Possessor  und  der  Kirche  in  Constantinopel 
die  gelasianische  Decretale  nicht  l)ekannt  zu  sein  brauchte, 
und  ich  anerkenne  selbst  diese  Einwendung.  Allein  das 
kann  man  doch  nicht  für  P.  Hormisdas,  der  sich  überdies 
in  der  Frage  über  die  Gnade  auf  capitula  beruft,  welche 
im  römischen  Archive  liegen,  gelten  lassen.  Da  er  sich 
auf  die  gelasianische  Decretale,  welche  den  ganzen  Streit 
beigelegt  haben  würde,  nicht  beruft,  so  kann  er  sie  auch 
unmöglich  gekannt  haben.  Das  geht  aber  auch  aus  seiner 
Antwort,  in  der  er  sich  an  die  von  Possessor  vorgelegte 
Frage  hält,  ganz  unwiderleglich  hervor:  neque  illum  (sc. 
Faustum)  neque  quemquam,  quos  in  auctoritatem  patrum 
non  recipit  examen,  catholicae  fidei  aut  ecclesiasticae  dis- 
ciplinae  ambiguitatein  posse  gignere,  aut  religiosis  praeiudi- 
cium  coraparare.  Fixa  sunt  a  patribus,  quae  tideles  sectari 
debeant  instituta,  sive  interpretatio,  sive  praedicatio,  seu 
verbum  populi  aedihcatione  compositum:  si  cum  lide  recta 
et  doctrina  sana  concordat.  admittitur,  si  discordat.  aboletur. 
Unum  est  fundamentum,  extra  quod  quaelibet  fabrica  si 
consurgit,  infirma  est,  super  illud  quisquis  aedificat  seu  vilia 
seu  pretiosa,  consideret.  Errat  autem  a  via,  qui  ab  eo  quod 
patrum  electio  monstravit,  exorbitat.     Nee  tarnen  improbatur 


74  Si(:i<iifi  (Irr  Jiisdir.   Chtsse  rinn   7.  JaiiiKir  1S8S. 

ilili'^'t.'iiti.i  {)i'r  luultii  discurrens,  .seil  iiiiiiuiis  ;i  vcritatc  dccli- 
nans.  Saepe  de  his  necessaria  providetur,  de  quibus  \\)si 
aemiili  coiivincaiitur,  instructio.  Nee  vitio  dari  putest  nosse, 
qiiüd  fugias;  atque  ideo  non  legentes  incongrüa  in  cu]])ain 
veniunt,  sed  seqnentes.  Qiiod  si  ita  non  esset,  nnnqiiaui 
doetor  ille  gentium  acquievisset  nuntiare  fidelibus:  Oninia 
antem  ])robate,  ({uod  bonnm  est  tenete.  Non  abs  re  est, 
etsi  mundanum  non  tarnen  a  ratione  diseretum  niiscere 
sermonem.  Und  später  erläutert  er  seinen  Gedanken  noch 
dahin:  Non  iniprovide  veneranda  patrura  sapientia  fideli 
posteritati  quae  essent  canonica  dogmata  definiit.  certa 
libroruni  etiani  veteruni  in  auctoritateni  recipienda,  s.  Spiritu 
instituente,  praeügens:  ne  opinioni  siiae  leetor  indulgens. 
non  quod  aedificationi  ecclesiasticae  conveniret,  sed  quod 
voluntas  sua  concepisset.  assereret.  Quid  ergo  calumniantibns 
opus  erat  extra  constitutos  Eeclesiae  terniinos  porrigere 
quaestiones,  et  de  his  quae  ita  habentur  dicta,  quasi  dicta 
non  sint,  movere  certamina,  quum  christiana  tides  canonicis 
libris  et  synodalibus  praeceptis  et  patrum  regularibus  con- 
stitutis  stabili  et  inconcusso  tramite  limitetur?  Diese  Ant- 
wort schliefst  sich  vollständig  an  die  des  Possessor  an, 
stellt  Faustus  ganz  auf  gleiche  Linie  mit  jedem  anderen 
kirchlichen  Schriftsteller,  welcher  nicht  in  auctoritateni 
recipirt  ist,  sagt  kein  Wort  davon,  dass  er,  statt  in  auc- 
toritateni recipirt  zu  sein,  sogar  unter  die  Häretiker  und 
Schismatiker  versetzt  sei,  und  gibt  überhaupt  nur  allgemeine 
Weisungen,  wie  man  sich  bei  der  Lektüre  nicht  in  auc- 
toritateni recipirter  Schriften  zu  verhalten  habe,  auf  die 
Worte  des  Apostels:  Oninia  antem  probate  etc.  verweisend. 
Und  endlich  mache  ich  noch  darauf  aufmerksam,  dass  bei 
Hormisdas  die  Worte:  I  imin  est  iiiiidanicntum,  extra  (|Uod 
quaeliliet  fabriea  si  consurgit,  iiitiruia  est,  super  iilud  (piis- 
qnis  aedificat  seu  vilia  seu  pretiosa,  consideret,  sich  auf  die 
durch  das  examen  patrum  in  auctoritateni  recipirten  Bücher 


Friedrich:    Ueher  ilir    i'iiüclillicit  der  Dtcrcfulr  etc.  ' -^ 

Ue/iehen.  iilso  etwas  ganz  anderes  sagen,  als  in  der  Deeretale. 
wo  es  c.  -4  heisst:  Et  quamvis  «aliud  fundauientmn  niillii.>< 
possit  ponere  praeter  id.  quod  positum  est,  quod  est  Christus 
Jesus",  tarnen  .  .  .  Rom.  Ecclesia  post  illas  v.  et  n.  T., 
quas  regulariter  suseipinuis.  etiam  has  suseipi  non  prohibet 
scripturas,  i.  e.  die  ökumenischen  Concilien  (uid  die  von 
ihnen,  also  durch  patrum  examen  in  auctoritatem  recipirten 
Väterschriften. 

Dieser  meiner  Ausführung  widersprächen  freilich  die 
Worte  des  Hormisdas:  quos  in  auctoritatem  patrum  non 
recipit  examen,  wenn  sie  im  Sinne  Credner's  aufgefasst  werden 
müssten:  Hormisdas  .sehe  also  das  Urtheil  über  den  Faustus 
als  ein  in  der  römischen  Kirche  bereits  festgestelltes  und 
abgemachtes  an*",  derselbe  gehöre  mit  seinen  .apocryphen" 
Schriften  unter  die  der  Häretiker  und  Schismatiker,  welche 
von  den  Katholiken  zu  meiden  seien:  und  wenn  wirklich  in 
den  Ausdrücken  des  Hormisdas:  quos  in  auctoritatem  recipit. 
quos  in  auctoritatem  non  recipit,  die  beiden  Theile  der 
gelasianischen  Decretale  de  recipiendis  et  non  recipiendis 
libris  bezeichnet  wären.  Allein  ich  habe  schon  angedeutet. 
dass  dies  nicht  der  Fall  und  der  Ausdruck  in  auctoritatem 
recipere  falsch  aufgefasst  sei.  Davor  hätte  aber  schon  der 
Ausdruck  Possessors:  non  ut  canonica  recipi,  aut  ad  syno- 
dalium  vicem  pro  lege  servari,  welchen  Hormisdas  mit:  in 
auctoritatem  recipere,  wiedergibt,  bewahren  sollen.  Denn 
es  handelt  sich  hier  nicht  um  ein  Recipiren  oder  Nicht- 
recipiren  von  Schriften,  wie  in  der  gelasianischen  Decretale, 
sondern  um  eine  ganz  besondere,  um  eine  .canonische" 
Qualität,  welche  bestimmten  Schriften  beigelegt  werde.  — 
ein  Verfahren  und  ein  Sprachgebrauch,  welche  zudem  nicht 
neu  waren.  So  sagt  z.  B.  Rufinus  Expos,  in  Symbol.: 
Sciendum  tarnen  est,  quod  et  alii  libri  sunt,  qui  non  canonici, 
sed  ecclesiastici  a  majoribus  appellati  sunt:  ut  est  Sapientia 
Sah,  et  alia  Sapientia,   quae  dicitur  filii  Sirach   ....  ejus- 


/•»  Sitiiuifi  <h'r  histor.  Chtssc  vom  7.  Januar  1888. 

dem  ordiiiis  est  libellus  Tobias  et  Judith  et  Maccabaeorum 
libri,  in  Novo  vero  Testain.  libellus,  qui  dicitur  Pastoris  .  .  . 
quae  (jiiiiiia  legi  quideiii  in  ecclesiis  voluerunt,  iion  tanien 
proterri  ad  aiictoritateni  ex  his  fidei  confirmandaiu. 
Noch  näher  kommt  dem  Ausdruck  Hieronymus  Praef.  in 
U.  Sah:  iSicut  ergo  Judith  et  Tohiam  et  Machabaeorum 
libros  legit  quidem  ecclesia,  sed  inter  canimicas  sci'ipturas 
non  recipit,  sie  et  haec  duo  volumina  (Jesu  lilii  Sirach  et 
Sapientia  8al.)  legat  ad  aedifieationem  plebis,  non  ad  auc- 
toritatem  ecclesiasticorum  dogniatum  con  fi  rmandam. 
Der  Brief  des  späteren  Bischofs  Turribius  an  die  Bischöfe 
Idacius  und  Ceponius  (Leonis  M.  Opp.  ed.  Baller.  I,  711) 
trägt  die  Ueberschrift:  Epistola  de  non  recipiendis  in 
auctoritatem  fidei  apocryphis  scripturis.  Und  nocli 
Facundus  (de  defens.  trium  capitul.  I.  5)  sagt  von  den  zu 
Hphesus  angeführten  Vätern:  ut  pote  quae  (testimonia)  synodi 
Ephesinae  sunt  auctoritate  Hrmata.  Darum  also,  ob  den 
S('hriften  des  Kaustus,  wie  es  bei  anderen  Väterschriften  der 
Fall  gewesen,  eiue  canonische  Autorität  beigelegt  werde, 
handelt  es  sich  iu  dem  Streite  zu  Constantinopel  nach  der 
Meinung  des  Possessor  und  des  P.  Hormisdas,  und  darauf 
autworten  beide  verneinend;  denn,  sagt  der  letztere,  dieses 
könne  nur  durch  patrum  examen  geschehen,  oder  Avie  er 
später  sagt,  durch  ein  Concil,  indem  es  seine  Glaubeus- 
doHuitiou  mit  Väterstellen  bekräftige:  quae  essent  canonica 
dogmata  deliniit,  certa  librorum  etiam  veterum  in  auc- 
toritatem recipienda  (sc.  patrum  sapientia),  s.  Spiritu  in- 
stituente,  praefigens.  Denn  dass  nur  dies,  kein  Bücher- 
verzeichniss  wie  die  gelasianische  Decretale  gemeiut  sein 
kann,  geht  auch  schon  daraus  hervor,  dass  nicht  von  ganzen 
Büchern,  souderu  nur  von  certa  librorum  veterum  recipienda 
die  Rede  ist. ')      Das  geschah   aber,   wie  wir  wissen,   wirklich 

1)  ITypatius  von  Ephesus  sagt  daher  auf  dem  Relif^ionsgespräch 
zu  Constantinopel  533  von  diesen   recipirten  Vätern:    orthodoxerseits 


Frit'dricli:    Uehcr  die    IJiiiivhthvit  der  Dreretoh'  etc.  77 

auf  den  ökumenischen  Concilien  zu  Ephesus  und  Chalcedon 
(Hefele,  CG.  II,  186.  474).  Und  für  wie  wichtig  man  dies 
hielt  und  welches  Ansehen  dies  den  betreuenden  Vätern 
verlieh,  darüber  belehrt  uns  ganz  ausdrücklich  Vincenz  von 
Lerins  in  seinem  Commonitorium  c.  29.  30,  indem  er  sagt, 
er  habe  alsbald  nach  dem  Concil  von  Ephesus  einen  Catalog 
der  dort  zur  Bekräftigung  des  Dogmas  angeführten  Väter 
veröffentlicht,  wolle  ihn  aber  auch  jetzt  nochmals  wieder- 
holen :  ubi  cum  de  sanciendis  fidei  regulis  discreparetur,  ne 
qua  illic  forsitan  prophana  novitas  in  modum  perfidiae  Ari- 
minensis  obreperet,  universis  sacerdotibus,  qui  illo  duccnti 
fere  numero  convenerant,  hoc  catholicissimum,  fideüssimuiu, 
atque  optimum  factu  visum  est,  ut  in  medium  ss.  Patrum 
sententiae  proferrentur,  quorum  alios  martyres,  alios  con- 
fessores,  omnes  vero  catholicos  sacerdotes  fuisse  et  permansisse 
constaret:  ut  scilicet  rite  atque  solemniter  ex  eorum  con- 
sensu  atque  decreto  antiqui  dogmatis  religio  conlirmaretur 
et  prophanae  novitatis  blasphemia  condemnaretur.  Quod 
cum  ita  factum  foret,  jure  meritoque  impius  ille  Nestorius 
catholicae  vetustati  contrarius,  b.  vero  Cyrillus  ss.  antiquitati 
consentaneus  judicatus  est.  Et  ut  ad  fidem  rerum  nihil  de- 
esset, tarn  nomina  et  numerum  (licet  ordinem  fuissenuis 
obliti)  edidimus  eorum  Patrum,  juxta  quorum  ibidem 
concinentem  sibi  concordemque  sententiam  et  legis  sacrae 
proloquia  exposita  sunt  et  divini  dogmatis  regula  constal)ilita 
est:  quos,  ad  conHrmandam  memoriam,  hie  quoque  re- 
censere  nequaquam  superfluum  est.  Man  hatte  also, 
wie  wir  hier  von  Vincentius  erfahren,  Verzeichnisse  von 
Väterschriften,  welche  von  den  ökumenischen  Concilien  in 
auctoritatem  recipirt  waren  und  ein  besonderes  Ansehen  ge- 
nossen, während  von  den   anderen   Schriften  nach  Hormisdas 


würden  nur  jene  Briefe  Cyrills,  die  von  den  Synoden  apin-obirt  seien, 
anerkannt,  die  anderen  niclit  gelobt  und  nicht  verworlen.  Hefele 
n,  750. 


78  SifziDifi  iJrr  lilstDr.  (Uassr  rmii   7.  Januar  1HS8. 

galt:  neque  illuni  neque  qnein(|nani,  qnos  in  auetoritateni 
patriiui  non  recipit  examen,  catholicae  fidei  ant  ecelesiasticae 
disciplinae  anibiguitatein  posse  gignere,  ant  religiosis  prae- 
jndifinni  cojuparare  ....  Diese  letzteren  aber  gleichwohl 
als  von  der  rinnisehen  Kirche  in  auetoritateni  recipirt  be- 
trachten nnd  von  ihnen  ])ehan])ten.  wenn  .sie  etwas  schief 
darstellten,  sie  könnten  im  katholischen  (Tlaul)en  oder  in  der 
kirchlichen  Disciplin  Zweideutigkeit  erzeugen,  wie  es  hin- 
sichtlich des  Faustus  in  Constantinopel  geschehe,  das  sei 
Verläunidung:  Quid  ergo  calumniatoribns  o))ns  erat  extra 
constitutos  Ecclesiae  terminos  jiorrigere  quaestiones  .   .   . 

Ich  glaube,  dass  die  Sache  hieniit  klar  ist,  und  dass 
ich  hinreichend  gezeigt  habe:  Horniisdas  kannte  die  angeb- 
liche gelasianische  üecretale  noch  nicht.  Nur  eines  könnte 
ich  zugeben,  dass  man  nämlich  nach  den  Worten  desselben 
einen  Catalog  in  auetoritateni  recipirter  Väter  hatte,  der 
allerdings,  wie  ich  glaube,  in  der  gelasianischen  Decretale 
erhalten  ist.  Sieht  man  sich  nämlich  das  äusserst  käi'gliche 
Väterverzeichniss  im  Anfang  des  c.  5  der  Decretale  an,  so 
ist  es  in  der  That  die  Zusammenstellung  der  von  den  Con- 
cilien  zu  Ephesus  und  Chalcedon  (von  diesem  in  der  T.  Sitzung 
namentlich)  ad  auetoritateni  ecclesiasticorum  dogmatum  con- 
tirmandam  angeführten  Väter.  Nur  sind  im  Abendlande 
weniger  oih-r  nicht  bekannte  Väter  (Petrus  von  Alexandrien 
und  (iregor  von  Nyssa,  den  erst  Dionysius  d.  Kl.  ins  La- 
teinische übersetzte:  Atticus  von  (-onstantinopel  und  Amphi- 
lociiiu.s  von  Iconium,  die  schon  in  dem  Verzeichnisse  dos 
Vincentius  Ler.  c.  ;^0  fehlen)  hinweggelassen,  und  hat  man 
diesem  so  componirten  Cataloge  noch  Hieronymns  und 
i^ro.sper  s(»wie  den  Brief  Leo\s  d.  Gr.  an  Klavian  hinzu- 
gefügt, l'ri'ilicli  b'lileii  aiicli  die  i('»mischen  Bischöfe  Felix  1. 
und  .Inlius  l.;  allein  gerade  dies  dürfte  uns  s])äter  auf  die 
Zeit  der  .Abfassung  dei"  Decretale  fülii"eii.  Merkwürdiger- 
weise   be<;innt    aber    dann    in    der   Decretale  auch   eine  ganz 


Frirtlrirli:    f^ehcr  die    ITimchthcit  drr   Drcrettilr  etc.  70 

.indere  Art  der  Bearbeitung^  des  Materials,  während  wirklich 
die  ökumenischen  Concilien  und  die  erste  Abtheilnnti:  der 
Väter  unter  einer  Rubrik  zusamniengefasst  werden. 

Denniiioh  kann  P.  Hormisdas,  obwohl  die  Handschriften 
es  naheleij;en.  die  gelasianische  Decretale  auch  nicht  mit 
neuen  Zusätzen  versehen  und  neu  veröflPentlicht  haben,  sondern 
wäre  das  einzige,  was  er  hätte  thun  können,  die  Besorgung 
der  ersten  Abfassung  derselben  überhaupt  gewesen.  Dass  er 
al)er  auch  dieses,  was  sogar  mit  den  von  ihm  aufgestellten 
Grundsätzen  (ep.  124)  in  Widerstreit  gelegen  wäre,  nicht 
gethan  hat,  dafür  bürgt  die  Inkenntniss  einer  .solchen  De- 
cretale in  der  Literatur  der  folgenden  Zeit.  Zunächst 
tritt  uns  aber  da  Dionysins  der  Kleine  entgegen,  der 
nicht  blos  auf  Veranlassung  eines  Schülers  des  P.  Gela.sius 
.seine  noch  vorhandene,  im  Auftrage  des  P.  Hormisdas 
selbst  eine  neue,  verloren  gegangene  Canonensamnilung  ver- 
fas.ste,  sondern  auch  naeh  Pitra  Zutritt  zum  lateranisclicn 
Arohiv  (V)  hatte.  ^)  Derselbe  nahm  nun  allerdings  40  Papst- 
briefe in  die  er.stere  Sanuulung  auf,  aber  obwohl  er  sagt, 
er  habe  mit  der  grö.ssten  Sorgfalt  gesammelt,  so  fehlt  dar- 
unter die  gelasiani.sche  Decretale,  sei  es  unter  dem  Namen 
des  Gelasius,  sei  es  des  Hormisdas  (Thiel  p.  41')  f.  Monita 
praev.;  Pitra  a.  a.  0.  etc.).  Und  wenn  man  etwa  einwenden 
möchte,  Hormisdas  hatte  wahrscheinlich  beim  Abschluss  der 
dionysianischen  Sammlung  seine  Decretale  noch  nicht  erlassen, 
.so  ist  es  doch  nicht  minder  merkwürdig,  dass  auch  in  der 
von  Hadrian  I.  Karl  d.  Gr.  geschenkten  Sammlung,  welche 
eine  Vermehrung  der  Papstbriefe  enthält,  sich  unsere  De- 
cretale ebenfalls  nicht  timh't  (Thiel  a.  a.   0.). 


1)  Pitra,  Analecta  novi.ss.  I,  37,  ebenda  der  üljri<(fn.s  schon 
interpolirte  Brief  des  Dionysius  an  Hormisdas  über  die  letztere  Samm- 
lung. Den  ur.sprünglirhen  Text  desselben  s.  Maassen,  üescli.  der 
Quellen  I,  964. 


80  SitziDiff  der  histor.  Ciasse  com  7.  Januar  1888. 

Dieser  merkwürdigen  Thatsache  entspricht  auch  die 
andere  Literatur  des  6.  Jahrhunderts,  aus  der  uns  gerade  ein 
Werk  erhalten  ist.  welches,  wenn  eine  solche  Decretale  vor- 
handen, nothwendig  davon  hätte  sprechen  müssen,  ich  meine 
die  Schrift  Cassiodors  De  institntione  divinarum  litteraruni, 
in  der  er  sich  mit  der  orthodoxen,  häretischen  und  apo- 
cryphen  Literatur  ex  professo  beschäftigt.  Allein  obgleich 
er  darin  von  P.  Gelasius  spricht  und  ihn  einen  ,.sehr  ge- 
lehrten Mann"  nennt,  so  weiss  er  doch  nichts  von  seiner 
Decretale,  sondern  nur  von  ihm  fälschlich  zugeschriebenen, 
häretischen  .\nnotationes  zu  den  13  Briefen  des  Paulus,^) 
und  kennt  er  nicht  einmal  einen  officiellen  römischen  Canon 
der  h.  Schriften.  Von  Hormisdas  schweigt  er  aber  ganz, 
wenn  ich  auch  nicht  zweifle,  dass  er  dessen  Schreiben  über 
die  Frage  der  Anerkennung  des  Faustus  von  Riez  kannte 
und    benutzte.^)      Doch    wie    immer,    jedenfalls    kannte    er 


1)  Die  Decretale  schreibt  Paulus  14  Briefe  zu. 

2)  Tch  mache  auf  folgende  Stellen  aufmerksam.  Opp.  ed.  Gai-ot. 
II,  509:  Quapropter  tractatores  vobis  doctissimos  indicasse  sufficiet, 
quando  ad  tales  remisisse  competens  plenitudo  probatur  es.se  doo- 
trinae.  Nam  et  vobia  quoque  erit  praestantius  praesumpta  novitato 
non  imbui,  sed  priscorum  fönte  satiari  .  .  .  Quod  genua  doctrinae  et 
nobia  arbitror  esse  proficuifm  sie  alios  imbuere,  ut  insidias  caluin- 
niantium  commodissime  declinasse  videamur.  IT,  515:  Nam  sanc- 
tiHsimi  Patres  (der  4  ökumenischen  Synoden)  injuriam  rectae  fidei 
non  ferentes,  rej^ulas  quoque  ecclesiasticas  ibidem  statuere  mahierunt, 
et  inventores  novarum  haeresum  pertinaces,  divino  gladio  perculerunt. 
decementes  nullum  ulterius  debere  novas  incurrere  quaestiones, 
sed  probatorum  veterum  auctoritate  contentos.  sine  dolo  et 
per6dia  decretis  salubribus  obedire.  Sunt  enim  nonnulli,  qui  putant 
esse  hiudabiie,  si  quid  contra  antiquos  sapiant,  et  aliquid  novi, 
unde  periti  videantur,  inveniant.  Das  ist  doch  ganz  der  Gedanken- 
gang der  ep.  124  des  Hormisdas.  sowie  auch  die  durchschossen  ge- 
druckten Worte  sich  in  denselben  finden.  Ganz  mit  dieser  ep.  stimmt 
aber  11.  522:  .  .  .  non  ad  quaestiones  vanissimas  avida  superfluitate 
tendamus.  (juod  dictum  rationiibiliter  in  tractatoribus  prnbatissimis 
invenitur,  hoc  procul  dubio  credamus  esse  divinum,  si  quid  dissonum, 


Friedrich:   Ueher  die   Uuächtheit  der  Decreiale  etc.  i^l 

noch  keinen  anderen  Grundsatz,  als:  Omnia  probate,  qnod 
bonum  est,  tenete,  oder:  Sed  si  adiutorio  Domini  adhibeatur 
cautela,  nequeunt  ejus  nocere  venenosa.  So  kommt  es, 
dass  er  auch  sonst  anrüchige,  ja  sogar  ketzerische  Schrift- 
steller empfiehlt,  z.  B.  neben  Origenes,^)  den  Donatisten 
Tychonius  und  den  Xovatianer  Eusebius.  Und  wenn  er 
auch  ihre  kirchliche  Stellung  kennzeichnet,  oder  ihre  Schriften 
purgiren  lässt,  bei  anderen  durch  Bemerkungen  das  An- 
stössige  neben  dem  Guten  bemerklich  macht,  er  verbietet 
sie  doch  nicht.  Andere  Schriften,  welche  in  der  gelasianischen 
Decretale  unter  die  Rubrik  der  Ketzer  und  Schismatiker 
gesetzt  und  als  zu  meiden  bezeichnet  werden,  wie  Victorinus 
von  Pettau,  werden  ohne  jede  tadelnde  Bemerkung  empfohlen. 
Und  ebenso  beruft  er  sich  (expos.  in  psalm.  101,  Opp.  Tl. 
350)  auf  den  nach  der  gelasianischen  Decretale  von  Häretikern 
verfassten  und  deshalb  verbotenen  Physiologus. 

Aber  auch  sonst  finden  wir  überall  die  Schriftsteller  in 
Widerspruch  mit  der  Decretale.  So  heisst  es  in  dieser  sehr 
scharf  über  den  Todestag  des  Apostels  Paulus:  qui  [non 
diverso,  sicut  haeretici  garriunt,  sed]  uno  tempore,  uno 
eodemque  die  gloriosa  morte  cum  Petro  in  urbe  Roma  sub 
Caesare  Nerone  agonizans,  coronatus  est.  Allein  schon 
Langen  (II,  192)  hat  daraufhingewiesen,  dass,  wie  Prudentius, 
Peristeph.  XII,  3.  21  beide  Apostel  zwar  au  demselben  Tage, 
aber  nicht  in  demselben  Jahre  sterben  lasse,  so  auch  der 
römische  Subdiakon  Arator  Act.  II,  1247  noch  in  der  Mitte 


aut  discordans  Patrum  regulis  contigerit  inveniri,  vitandum  esse 
judicemus.  Oi-igo  enim  saevissimi  erroris  est  in  suspectis  auctoribus 
amare  totum,  et  sine  judicio  defendere  velle  quod  invenis;  scriptum 
est  enim:  Omnia  probate,  quod  bonum  est  tenete.  Vgl.  übrigens 
auch  Gelasii  tractat.  IV.,  Thiel  p.  559. 

1)  Gerade  die  Geschicke  der  Schriften  des  Origenes  behandelt 
Cassiodor  c.  2  (II,  510)  ganz  ausführlich  bis  auf  P.  Vigilius,  aber 
kein  Wort  von  Gelasius  oder  Hormisdas. 

1SS8.  Philos.-philol.  u.  hist.  Ol.  1.  6 


82  SitZKHji  der  liistor.  Clnfibe  mm  7.  Januar   18S8. 

des  6.  Jiilirlnin(1(M-ts  die  gleiche  Ansicht  ausspreche.  Man 
kann  hinzufügen,  dass  von  Arator  berichtet  wird,  er  habe 
mit  Genehmigung  des  P.  Vigilius  sein  Gedicht  öffentlich 
vorgetragen,  und  dass  auch  Gregor.  Turon.,  miracnl.  I.  29 
bis  auf  den  Ausdruck  mit  Arator  übereinstimmt,  wobei  ich 
jedoch  bemerke,  dass  die  im  Texte  eingeklammerten  Worte 
in  der  Vorlage,  der  „grösseren  Vorrede",  nicht  stehen. 
Endlich  verbot  die  Decretale  auch  umsonst  Probae  Conto: 
dersell)e  wurde  trotzdem  sehr  häufig  abgeschrieben  und  sehr 
fleissig  gelesen.^) 

Doch  kommen  wir  jetzt  zu  einer  noch  merkwürdigeren 
Erscheinung,  nämlich  zu  der,  dass  auch  P.  Gregor  I.  sich 
nichts  um  die  angebliche  Decretale  kümmert  und  ebenfalls 
den  Physiologus  benützt,  eine  Erscheinung,  welche  noch 
heute  theologische  Schriftsteller  beunruhigt.  So  z.  B.  Pitra, 
der  meint,  dass  zur  Zeit  Gregors,  nachdem  der  Erdkreis 
erneuert  war,  der  alte  Aberglaube  nur  noch  lächerlich  er- 
schien und  das  Anatheraa  der  gelasianischen  Decretale  ge- 
mildert werden  konnte.*)  Das  mag  ja  für  die  Theologie  aus- 
reichen, welche  sich  um  die  Geschichte  nichts  kümmert; 
für  diese  steht  vielmehr  das  Gegentheil  fest,  dass,  wie  die 
übrigen  Schriftsteller  der  alten  Zeit,  so  auch  Gregor  I.  eine 
päpstliche  Decretale  de  recipiendis  et  non  recipiendis  libris 
nicht  kannte  und   darum   auch  nicht  zu  mildern  hatte. 

Erst  Isidorus  Hispalensis  verräth,  wie  schon  Thiel  (p.  468. 
n.  78,  auch  Schenkl  p.  51(3j  bemerkt,  eine  Kenntniss  un.serer 
angeblichen  Decretale,  indem  er  von  der  Schrift:  Centoneni 
de  Cliristo  Virgilianis  compaginatuni  versibus  apocry])hum, 
bemerkt:  (piod  tarnen  opusculnni  legitur  inter  apocryphas 
scripturas    insertuni    (de  vir.   ilhistr.   c.   U).      Dagegen    kennt 


1)  I'rol)ae  Centn,   cd.   f.  Schenkl  im  Corp    script.  cccl.  Vindobon. 
XVI.  1,  516. 

2)  Pitra,  Spicilegiuni   Solesni.   III.   \>.   I-\IX. 


Priedrich :    lieber  die    Uiiächthcit  der  Decretale  etc.  83 

sie  die  Collectio  canoiuim  ecclesiae  Hispana  in  ihrer  ältesten 
Form  geu'en  das  Ende  des  7.  Jahrhunderts  noch  nicht  und 
wird  sie  erst  später  als  Decretale  des  Hormisdas,  aber  auch 
da  nach  Gregor  1.  nachgetragen  (Credner  S.  164).  Credner 
will  dann  die  nächste  Spur  bei  Aldhelm  (080  —  709)  ent- 
decken (S.  162  f.).  Sicher  steht  aber  jetzt  nach  Delisle's 
Untersuchung,  dass  die  Decretale  um  die  gleiche  Zeit  im 
Fi'ankenreiche  bekannt  war,  sowie  dass  eine  Anzahl  von 
Handschriften  des  8.  Jahrhunderts  sie  enthalten  (Thiel,  Mo- 
nita  praev.  p.  54  f.)  Zum  erstenmal  ausgiebig  wird  sie 
dann  theologisch  in  den  libris  Carolinis  verwerthet. 

Wenn  also  meines  Erachtens  nicht  gesagt  werden  darf, 
dass  unsere  Decretale  ein  Erlass  des  Gelasius  oder  des  Hor- 
misdas sei,  so  möchte  ich  doch  nicht  behaupten,  dass  das 
Schriftstück  nicht  in  jener  Zeit  verfasst  Avorden  sei.  Dieses 
trägt  so  sehr  den  Charakter  derselben,  dass  es  spätestens 
um  die  Zeit  des  Hormisdas  entstanden  sein  muss.  Langen 
(H,  292)  vermuthet:  „Die  Anfrage  des  Possessor  scheint 
die  Veranlassung  gewesen  zu  sein,  weshalb  gleichzeitig  mit 
der  Beantwortung  derselben  die  Decretale  des  Gelasius  über 
die  canonischen  Schriften,  die  Autorität  der  petrinischen 
Stühle  und  die  Orthodoxie  oder  Verwerflichkeit  der  vor- 
handenen kirchlichen  Literatur  erneuert  wurde,  nicht  ohne 
einige  bemerkenswerthe  Aenderungen".  Ich  möchte  den 
Gedanken  nicht  ganz  verwerfen.  Allein  mir  scheint,  dass 
nicht  durch  Hormisdas  selbst,  sondern  infolge  des  Streites  der 
Abendländer  mit  den  scythischen  Mönchen  über  B.  Faustus 
von  Kiez  das  angebliche  Decret  als  eine  Privatarbeit 
entstand.  Und  vergegenwärtigen  wir  uns  nochmals  die 
Antwort  des  Maxentius  auf  ep.  124  des  Hormisdas:  Nam 
quum  de  ipsis  libris,  non  utrum  legendi  sint,  sed  utrum  sint 
catholici,  vertatur  quaestio,  ille  (sc.  Hormisdas)  non  de  ipsis 
quid  sentiendum  sit,  sed  eos  quamvis  non  in  auctoritate 
habendos,  tarnen  legendos  esse  decernit:  so  scheint  mir  hier 

6* 


84  Sitzung  der  liistor.  Classe  nom  7.  Januar  1888. 

das  Schema  für  das  Schriftstück  angegeben  zu  sein.  Es 
werden  in  auctoritatem  recipirte  Bücher  angenommen,  und 
dies  entspricht  in  der  angeblichen  Decretale  dem,  was  von 
den  ökumenischen  Synoden  und  den  von  ihnen  in  auctoritatem 
recipirten  Vätern  gesagt  ist  (c.  4.  5);  dann  katholische 
Bücher,  worauf  sich  c.  5  der  Absatz  bezieht:  Item  opuscula 
atque  tractatus  omnium  orthodoxorum  patrum  .  .  .  legendos, 
decernit;  und  endlich  schreibt  Maxentius  dem  Hormisdas 
ein  Urtheil  zu,  ob  die  Schriften  des  Faustus  zu  lesen  oder 
nicht  zu  lesen  seien,  und  deutet  damit,  im  Gegensatz  zu 
Hormisdas  Schreiben,  an,  dass  es  auch  nicht  zu  lesende 
Bücher  gebe,  und  diesem  wurde  der  Verfasser  des  Schrift- 
stücks gerecht  unter  c.  6  mit  der  Ueberschrift :  Notitia 
librorum  apocryphorum,  qui  non  recipiuntur  (weder  in  auc- 
toritatem noch  in  catholicitatem),  wenn  dieses  c.  6  nicht 
überhaupt  ein  späterer  Anhang  ist,  da  nach  der  Aufzählung 
der  in  catholicitatem  recipirten  Schriften  es  heisst:  Cetera, 
quae  ab  haereticis  sive  schismaticis  conscripta  vel  praedicata 
sunt,  nullatenus  recipit  catholica  et  apostolica  Koniana  ec- 
clesia,  und  es  wie  ein  späterer  Zusatz  klingt,  wenn  dann 
fortgefahren  wird:  E  quibus  pauca,  quae  ad  raemoriam 
venerunt  et  a  catholicis  vitanda  sunt,  credidimus  esse  sub- 
denda. 

Vielleicht  köiinen  wir  die  Zeit  der  Abfassung  aber  doch 
noch  näher  bestimmen.  Wenn  nämlich  meine  Vermuthung 
richtig  sein  sollte,  dass  wir  in  der  ersten  Abtheilung  der 
Väterschriften  des  c.  5  der  Decretale  die  von  den  Concilien 
von  Ephesus  und  Chalcedon  in  auctoritatem  recipirten  zu 
sehen  haben,  so  fällt  es  auf,  dass  sie  gerade  die  Päpste 
Felix  I.  und  Julius  I.  wegliess,  die  doch  zugleich  mit  den 
übrigen  Vätern  von  CyriHus  von  Alexandrien,  Vincentius 
Lir.  und  Marius  Mercator  angeführt  und  gerühmt  werden. 
Allein  gerade  in  Bezug  auf  sie,  von  denen  zudem  weitere 
dogmatische  Schriften    nicht    vorhanden    waren,    hatte    sich 


Friedrich:   lieber  die   Unächtheit  der  Decretale  efe.  85 

seitdem  eine  merkwürdige  Wandlung  zugetragen.  Schon 
Gennadiiis  spricht  von  einem  Briefe  des  Julius  I.  an  einen 
Dionysius,  von  dem  er  zu  behaupten  sich  gezwungen  sah: 
quae  illo  quidem  tempore  utilis  visa  est  adversum  eos,  qui 
ita  duas  per  incarnationera  asserebant  in  Christo  personas, 
sicut  et  naturas,  nunc  autem  perniciosa  probatur  (de  scriptor. 
eccl.  c.  2),  Er  war  inswischen  Julius  unterschoben  worden. 
Bald  aber  stellte  es  sich  auf  dem  Religionsgespräch  zu 
Constantinopel  533  heraus,  dass  sich  die  Severianer  gerade 
auf  die  in  Ephesus  approbirten  Schreiben  der  beiden  Päpste, 
als  ob  sie  ihre  Lehren  enthielten,  berufen  konnten,  da  so- 
wohl das  Fragment  des  Felix  als  das  des  Julius  zu  mono- 
physitischen  Bekenntnissen  erweitert  worden  waren.  ^)  Ob- 
wohl nun  sogleich  Hypatius  von  Ephesus  darauf  hinwies, 
dass  hier  ein  Betrug  vorliegen  müsse,  so  war  man  doch, 
wie  noch  die  Untersuchung  des  Leontius  und  die  Aeusserung 
des  Facundus  zeigen,  darüber  sehr  betroffen.  Ausser  den 
Fragmenten  in  den  Akten  des  Concils  von  Ephesus,  über 
deren  Herkunft  man  ebenfalls  nichts  weiteres  wusste,  als 
dass  sie  von  Cyrillus  von  Alexandrien  producirt  wurden, 
konnte  man  aber  nichts  entgegensetzen.  Es  mochte  daher 
am  gerathensten  scheinen,  beide  Päpste,  obwohl  sie  von 
dem  Concil  von  Ephesus  in  auctoritatem  recipirt  waren, 
fallen  zu  lassen,  und  diese  Wendung  scheint  mir  in  c.  5 
der  Decretale  zum  Ausdruck  zu  kommen.  Diese  würde  dann 
als  Privatarbeit  und  im  ersten  Entwürfe  erst  nach  dem 
J.  533  entstanden  sein,  und  dadurch  würde  auch  wieder 
ihre  eigenthümliche  Geschichte  begreiflich. 


1)  Dieselben  sind  jetzt  bekannt  geworden,  das  des  Felix  durch 
Zingerle,  Monum.  syr.  I,  2  mit  Adnionitio  p.  9  f.  u.  II,  1  tt.,  das  des 
.Julius  durch  Lagarde,  Anal.  syr.  p  67  sqq.  und  dessen  Titus  Bostrenus 
p.  114  sqq.  Ueber  die  Unterschiebung  Langen  I,  366  ff.  459.  Cou- 
stant  ep.  Rom.  Pont.  p.  293  ff.  u.  Append.  p.  57  ff.  konnte  natiiilieh 
den  Vorgang  noch  nicht  ganz  durchschauen. 


8b  Sitzinni  der  histor.  (Hiisse  roiii  7.  Jaiumr  lüSS. 

lieber  die  Entstehunof  der  Heberschrift:  Decretalis  .  .  . 
qui  scriptns  est  a  Gelasio  papa  cum  LXX  viris  eruditissimis 
episcopis  in  sede  ap.  urbis  Romae  oder  ähnlich,  wage  ich 
nichts  Bestimmtes  zu  sagen,  nur  die  Vermuthung  darf  ich 
vielleicht  aussprechen,  dass  die  Behauptung  des  Hormisdas, 
nur  patrum  examen,  das  auf  einem  Concil  vorzunehmen  sei, 
könne  Schriftsteller  in  auctoritatem  recipiren  oder  nicht  re- 
cipiren,  zu  der  Erfindung  der  Ueberschrift  Veranlassung  ge- 
geben habe.  Ein  grosses  Gewicht  braucht  man  übrigens 
auch  auf  die  Ueberschriften  erdichteter  Schriftstücke  nicht 
zu  legen.  Sind  uns  doch  in  diesem  Vortrage  zwei  ganz 
ähnliche  Fälle  begegnet.  Der  Verfasser  der  „grösseren 
Vorrede"  lässt  seine  Erfindung  von  dem  römischen  Primat 
und  den  drei  petrinischen  Stühlen  einfach  „nicänische  Regeln" 
sein  und  diese  wieder  von  der  römischen  Kirche  annehmen 
und  bestätigen;  die  handschriftliche  Ueberschrift  aber  heisst: 
Incipiunt  canones  concilii  Roniani  sub  Sylvestro  papa.  In 
unserer  Decretale  hingegen  treten  dieselben  „nicänischen 
Regeln"  unter  dem  Namen  des  Gelasius  auf.  Den  zweiten 
Fall  bildet  das  Concilium  Nicaenum  XX.  episcoporum  (oben 
S.  69).  Die  angeblichen  Canonen  desselben  sind  al)er  nichts 
anderes,  als  eine  kürzere  Recension  der  sardicensischen. 
Gleichwohl  werden  sie  einem  nicänischen  Concil  von  20 
Bischöfen  zugeschrieben,  das  nie  stattgefunden  hat,  und  will 
man  glaubhaft  machen,  dass  sie  sich  in  den  griechischen 
Exemplaren  des  nicänischen  Concils  nicht  finden,  sondern 
nur  in  den  lateinischen. 


Herr  v.  Riehl  l)enchtete  über  seine  gemeinschaftlich 
mit  Conservator  Dr.  Hugo  Graf  angestellten  Untersuchungen 
über  die  Brautkrone  der  polnischen  Prinzessin  Hedwig.  Ge- 
mahlin des  bayerischen  Herzoges  Georg  des  Reichen. 

Der   Vortrag  wird  später  veröffentlicht  werden. 


87 


o 


Pliilosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  4.  Februar  1888. 

Herr  Weck  lein  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber    fragmentarisch    erhaltene    Tragödien 
des  Euripides." 

1.  Andromeda. 

Die  durch  verschiedene  Behandlungen  des  Gegenstandes 
gewonnenen  Resultate  können  wir  nur  in  wenigen  Punkten 
ergänzen;  aber  wir  denken,  auch  das  Wenige  wird  bei  einer 
so  herrlichen  Dichtung,  deren  Verlust  im  höchsten  Grade 
bedauerlich  ist,  einigen  Wert  haben. 

Dass  die  Klageanapäste  der  an  den  Felsen  geschmiedeten 
Andromeda  den  Anfang  bildeten  und  kein  Prolog  vorausging, 
muss  feststehen.  Dass  die  Echo  als  Person  auftrete  und  den 
Prolog  spreche,  hätte  nie  behauptet  werden  sollen.  Es  kann 
nicht  etwa  demjenigen,  der  Andromeda  angeschmiedet  hat, 
der  Prolog  gegeben  werden;    denn  nach    den   Worten  (114) 

(.u  vv^  uoa, 

(ijg   ua/.Qov  hc7itiua  dtor/.eig 

doT£Qoeidta  vcoia  ÖKfoeiovo' 

aid^iQog  legäg 

rov  OEf-ivoräiov  6C  'Olv(.t7cov 

hat   Andromeda    bereits    eine    lange    schreckliche    Nacht    an) 
Felsen    duichwacht.     Andromeda    müsste    selbst    den    Prolog 


88         Sitzi(H[i  der  jjhilos.-jiltilul.  Ülas.sc  vom  4.  Febniav  lüSS. 

gesprochen  haben ;  nach  einem  langen  Berichte  aber  wäre 
das  Ausbrechen  in  die  Klage  (o  vc^  ieqo  /.le-  unnatürlich. 
Der  Schol.  zu  Aristoph.  Thesni.  10(35  bezeichnet  das  Frag- 
ment als  rov  jcQoXoyov  zr^g  !Av6Q0f.iidag  eloßoli]  und  was 
eioßoly^  bedeutet,  lehrt  z.  B.  der  Schluss  dei-  ersten  Hypo- 
thesis  zur  Medea :  hiaivelraL  de  tj  eloßoXrj  öid  zö  naOrj- 
Tixwg  ayav  e'xeiv  /.al  r)  sns^SQyaola  ,.///yd'  sv  vä/raiai^^  /.al 
Ttt  £^»jg.  Darnach  bezieht  sich  eloßoXrj  recht  eigentlich  auf 
den  ersten  Vers  des  Dramas.  Dies  heisst  sloßolrj  auch  bei 
Strabo  XIII  p.  616;  denn  wie  Pauw  gesehen  hat,  gehört 
die  dort  aus  den  Myrmidonen  des  Aeschylus  citierte  Stelle 
(xaTG  Tr]v  eloßoXr^v  rot  ev  MvQimdoai  nqoXoyov)  zu  den 
MiOül.  Der  unrichtigen  Auffassung  folgt  auch  Meineke, 
wenn  er  zu  fr.  1  der  Leucadia  des  Menander  xara  ^r^v  eio- 
ßoh)v  proximo  post  prologuni  loco  erklärt.  Vgl.  ausserdem 
Fedde  de  Perseo  et  Andromeda  p.   17  sqq. 

Das  Spiel  mit  dem  Widerhall^)  konnte  der  Dichter 
nicht  etwa  in  den  weiteren  Gesängen  fortsetzen,  wenn  es 
nicht  unerträglich  werden  sollte.  Schon  daraus  ergibt  sich 
das  Irrige  der  Annahme  von  Welcker,  dass  Perseus  vor  dem 
Chore  aufgetreten  sei ;  denn  bei  der  Anrede  der  Echo  in 
fr.   118 

jiQOOavöa)  OB  rdv  tv  avzQoig, 

dnoTvavoov  iaooi\  ^- 

yo'i^  fxe  ovv  (fiXaioiv 

yöov   rröd^ov  Xaßelv 

ist  der  Chor  bereits  gegenwärtig.  Perseus  tritt  nach  der 
Parodos  auf  und  unterredet  sich  zuerst  mit  Andromeda  (123. 
124.   127.   125.   126.   128—130). 

Man  streitet  darül)er,  ob  das  Meerungeheuer  auf  der 
Bühne  sichtbar   geworden    sei    oder  nicht.      Welcker  S.  652 


II  Bei  ffFiQtp'  in  fr.   116  nolai  /.ißdfieg,  Jtoia  OFintp'   denkt   natür- 
lich Andromeda  nicht  an  sich,  sondern  an  die  Echo. 


Wecklein:  Tragödien  des  Euripides. 


89 


meint,  es  sei  zunäclist  als  Dekoration  in  unbeweglicher  Ruhe 
sichtbar  gewesen  und  C.  Robert,  Maskengrnppen  Archäol. 
Zeitung  1878  S.  18  nimmt  in  ähnlicher  Weise  an,  ilass 
Perseus  plötzlich  das  nahende  Ungetüm  erblickt  habe.  Ihn 
bestimmt  dazu  einerseits  ein  Wandgemälde  in  Pompeji  (ebd. 
Taf.  3),  auf  welchem  links  die  Maske  des  Perseus,  rechts 
oben  am  Felsen  die  der  Audromeda,  unten  zwei  Masken,  die 
des  Kepheus  und  der  Kassiepeia,  wie  Robert  meint,  in  der 
Mitte  der  Kopf  des  y.}]Tog  dargestellt  ist,  andrerseits  fr.  134 

OQiö  de  TTQog  ^f^g  rragi^evor  d^oiva/iiara 
xjjrog  ^occLov  eE.  l4xXavTiy.r^g  dXog. 

Dabei  ist  übersehen,  dass  bei  Tiberios  ^teqI  oxr^f-tärcov  Rhet. 
VIII  p.  57(5  das  Fragment  als  Beispiel  für  die  Vertauschung 
der  Tempora  des  Yerbums  citiert  ist  (oqÜ)  . .  dvzi  lov  eidov). 
Die  Worte  müssen  also  aus  einem  Botenbericht  stammen. 
Wenn  dem  Wandgemälde  überhaupt  ein  Gewicht  beizulegen 
ist,  so  kann  man  sagen,  dass  der  Maler  seinen  Zwecken  ent- 
sprechend handelte,  wenn  er  zur  Ausfüllung  der  Lücke  den 
Kopf  des  Ungetüms  anbrachte,  welchem  in  dem  Drama  ein 
lauerer  Bericht  gewidmet  war. 

Für  den  weiteren  Verlauf  der  Handlung  interessiert  uns 
besonders  die  Frage,  welche  Rolle  Phineus,  der  Verlobte  der 
Andromeda,  spielt  und  ob  Kepheus  an  der  Hinterlist  des 
Phineus  teilnimmt,  also  auch  die  Katastrophe  teilen  muss. 
Für  die  Entscheidung  dieser  Frage  ist  es  von  Bedeutung  zu 
beobachten,  dass  sich  die  Erzählung  des  Ovid  Metam.  IV 
662  ff.  in  verschiedenen  Punkten  eng  an  die  Fragmente  des 
Euripides  anschliesst.     Aus  IV  673 

nisi  quod  levis  aura  capillos 
Moverat  et  tepido  manabant  flumina  fletu, 
Marmoreura  ratus  esset  opus 

kann  mau  die  Ergänzung   zu  fr.   124 


90  Sitztiiit/  der  ijhilos.-jiliilol.  CUisse  1:0111  4.  Februar  188b. 

t'a,  r/v'   oyß-ov  tovJ'   oqu)   jieqiqqvtoi' 
a(pQ(iJ   i^aloodi^g;  :iaQi)tvov  t'  ei/.a    riva 
F^  avTOj^iOQCfiov  Xatviov  Tvy.ioinaTWv^) 
ooffyfig  ayahf-ia  xeiQog 

entnehmen.  Denn  auch  hier  mnsste  die  Fortsetzung^;  lauten: 
„nein,  es  bewegen  sich  die  Haare  und  Thränen  rinnen  über 
ihre  Wangen".  Auf  die  Frage  des  Perseus,  wer  sie  sei,  wie 
das  Land  heisse  und  warum  sie  gefesselt  sei,  schweigt  sie 
zunächst:  primo  silet  illa  nee  audet  appellare  viruni  virgo 
((581  f.).     Von  diesem  Schweigen  spricht  fr.   127 

Gtyäg'   oiw;i  rj   d'  ottoqoc  f-Qi-np'evg  Xoycov. 

Auch  die  Frage  nach  dem  Namen  des  Landes  weist  auf 
fr.  123  10  i^Eol,  ilv'  sig  yrjv  ßagßciQWv  dcplyi-ie^a  hin.  Die 
Schilderung  des  Kampfes  mit  dem  Ungeheuer  706  ff.  erinnert 
an  Euripides  durch  die  Vermittlung  der  Fragmente  der  An- 
dromeda  des  Ennius  (IV — VIII).  Von  dem  Gastmahl  der 
vornehmen  Aethiopier :  Cepheni  proceres  ineunt  convivia  regis 
(764),  ist  in  fr.   136  die  Rede: 

0/  y.ai'   ol/.ov  d(.icpl  dalra  /.al  zgä/rs^av  rjf.tEV0f. 

Und  wenn  bei  Euripides  die  dritte  S])ende.  welche  dem  Zeus 
Soter  galt,  als  releiog  bezeichnet  war  (fr.  137),  so  hiess  es 
offenbar  in  dem  Bericht,  dass  eben  in  dem  Augenblicke,  wo 
Kepheus  die  Tischgesellschaft  aufforderte,  dem  rettenden  Zeus 
den  Weihetrunk  zu  l)ringen,  der  Ueberfall  des  Phineus  er- 
folgte, wie  Ovid  erzählt  (V  5):  inque  rejientinos  convivia 
versa  tumultus  etc.     (jiewöhnlich  legt  man  fr.   L38 

vsoTTjg  /<'   LiriQe  /.ul  ilQaaoq  toi   vor  jiXtov 

dem  Perseus  in  ilm  Mund.  Kr  würdf  damit  sein  Unter- 
nehmen gegen  die  Medusa  als  i'in  unbesonnenes  Werk  jugend- 


1)  D.  i.  „aus  dem  natürlichen  Felsen  herausgehauen" 


Weclh'in:    Tranöflicu  dex  Euripifleti.  ^' 

lieher  Verwegenheit  bezeichnen.^)  Abgesehen  davon,  dass 
Perseus  nicht  anf  eigenen  Antrieb  das  Abenteuer  bestand, 
wird  der  Held  nicht  in  so  verächtlicher  Weise  von  der  rühm- 
lichen That  .sprechen.  Ganz,  anders  lauten  die  Worte  des 
Perseiis  in  fr.  147:  er/Aemv  'ilaßov  ov/.  avec  nolhöv  novojv. 
Weit  passender  sind  die  Worte,  wenn  Phineus,  im  letzten 
Augenblicke  für  sein  Leben  bittend,  sie  als  Reuebitte  spricht, 
wie  er  bei  Ovid  ruft  (V  218):  Tolle,  precor.  Non  nos  odiuni 
regnique  cupido  Compnlit  ad  bellum:  pro  coniuge  movimus 
arma. 

Diese  Beobachtung,  dass  Ovid  sich  eng  an  Euripides 
anschliesst,  soweit  bei  Ovid  von  einer  solchen  Nachahmung 
die  Rede  sein  kann,  ist  uns  besonders  wertvoll  für  die  sichere 
Deutung  des  fr.   142 

lyw  dt   na'iddQ  oi'/.  ho  vöi/oug  Xaßeiv. 
Twv  yvr^oicüv  yccQ  ovdev  ovreg  ivdeelg 
rof-iio  voooioiv'  o  0€  (fvXd^aoi^ai  ygetov. 
Matthiä    bemerkt    dazu:     verba    esse    videntur    alicuius    qui 
Cepheum  a  filia  cum  Perseo  matrimonio    iungenda  deterrere 
cupiebat.     Ebenso  legen  Fritzsche  Aristoph.  Thesmoph.  p.  504 
und  Härtung   Eur.  rest.  II    p.  356    die   Worte  dem  Phineus 
in    den  Mund.     Welcker  (S.  600)    lässt  Kepheus  die  Worte 
an  seine  Tochter  richten.     Robert  (S.   19)  sieht  darin  einen 
Vorwurf,  welchen   Kepheus    dem   Perseus   macht.     Nach  der 
Annahme  von  Ribbeck  Rom.  Trag.  S.   172   macht  gar  Per- 
seus damit  seiner  Geliebten  Vorstellungen,  da  'er  Wert  darauf 
lege,  durch  Zustimmung  der  Eltern   Andromeda  als  legitime 
Gattin    zu    gewinnen.     Die  Worte    o   ae    cptXäBaoO^at    yoEiov 
eignen    sich    am    besten    für  eine  Mahnung,    welche  Phineus 

1)  Von  Schwungkraft  der  .Iuf,'end,  von  welcher  0.  Ribbeck 
Die  Rom.  Trag.  S.  170  spricht,  ist  in  den  Worten  nicht  die  Rede. 
Wie  gar  E.  Johne,  Die  Andromeda  des  Eurip.  Landskron,  1883 
S.  11  darin  ^jugendliche  Kraft,  gepaart  mit  Besonnenheit"  finden 
kann,  verstehe  ich  nicht. 


92         Sitziuifi  der  philot>.-plüU>L  Classc  vom  4.  Febritnr  18SS. 

dem  Kepheiis  erteilt.  Dass  aber  die  Rede  von  Bastarden  vor 
allem  dem  Phineus  zukommt,  beweist  Ovid  V  11,  wo  Phineus 
dem  Perseus  'znruft: 

Nee  mihi  te  pennae  nee  falsum  versus  in  auruni 

Juppiter  eripiet. 
Pliineus  hat  natürlich  vor  allem  Ursache,  die  Abstammung 
seines  Nebenbuhlers  von  Zeus  als  eine  Lüge  zu  erklären. 
Uebrigens  bezieht  sich  Ttaldag  voS^ovg  auf  die  zu  erwartenden 
Enkelkinder  des  Kepheus,  nicht  etwa  direkt  auf  Perseus.^) 
Das  zeigt  die  folgende  Begründung,  welche  auf  athenische 
Verhältnisse  und  die  Stellung  der  vo^oi  einen  Seitenblick 
wirft.  Die  Verhandlung  zwischen  Kepheus  und  Phineus  Avird 
bestätigt  durch  fr.    143 

XQVGOv  i-iaXiOTa  ßovXoinai  öofxoig  tyeiv. 
y.ai  doi'/yog  wr  ydo  iij-iiog  jiXovttöv  aiijQ- 
(Xev^eqog  di  XQsTog  tov  oidiv  od^tvEi. 
yqvoov  vofxiU  oavxov  uvey,''  eirvyieiv. 

Welcker  bemerkt  hiezu:  „Kepheus  fordert  einen  reichen 
Eidam  und  setzte  das  Glück  in  königliche  Schätze".  Ge- 
wöhnlich wird  das  Fragment  dem  Kepheus  gegeben,  wie  die 
Ansicht  eiuer  Sinnesänderung  und  eines  Wortbruches  des 
Kepheus  vorzugsweise  auf  diesen  Worten  beruht.  Nun  weist 
schon  der  Ausdruck  darauf  hin,  dass  fr.   141 

ygrii^aoiv  yaQ  evTvxöJ' 
Talg  üi'UffOQalot  d\  (og  oQag,  or/.  evtvyiu. 

der  gleichen  Gedankenentwicklung  angehört.  Diese  Worte, 
welche  in  Gegenwart  der  angefesselten  Andromeda  gesprochen 
sein  müssen,  können  keinem  anderen  als  dem  König  zu- 
konunen.     Es    ist    aber    klar,    dass    eiu    und    dieselbe  Person 


1)  Die  üebersetzun«,'  von  Fritzsche  (S.  504):  ego  autem  nothos 
veto  filiorum  loco  accipere,  ist  schon  mit  der  Stollunff  der  Worte 
unverträfjlich. 


WeckJciii:    Triujod'u'ii  des  Uuripides.  93 

nicht  beide  Aussprüebe  tliiiii  kann.  Selbst  wenn  man  an- 
nehmen wollte.  Kepheus  habe  vor  der  Befreiung  der  An- 
drouieda  fr.  141  zu  Perseus  gesagt,  ist  es  ganz  unpassend, 
nach  der  Lösung  denselben  Kepheus  die  Zurückweisung  des 
Perseus  in  die  Worte  von  fr.  143  kleiden  zu  lassen.  Vor 
allem  aber  ist  auch  die  Auffassung,  welche  Welcker  von 
XQiOov  eive/.a  hat,  ebenso  unrichtig  wie  die  von  ihm  als 
undeutlich  bezeichnete  Erklärung  des  H.  Grotius:  hoc  te 
beatum  crede  quod  rem  possides.  Die  Worte  können  nur 
bedeuten:  „Soviel  auf  Gold  ankommt  (was  Gold  anbelangt), 
glaube  dass  du  glücklich  bist".  Dieser  Gedanke  scheint  in 
keinem  Zusammenhang  mit  dem  Vorhergehenden  zu  stehen, 
we.shalb  Musgrave  den  vierten  Vers  von  dem  übrigen  Bruch- 
stück losgetrennt  hat.  Fritzsche  (a.  0.  S.  504)  bringt  hier- 
nach die  beiden  angeführten  Fragmente  in  folgenden  Zu- 
sammenhang: 

Kriq>Eig.    yQVöov  udXiOTa  ßovlojiiai  öo/iioig  k'^EU'. 

Y.cil  öovXoQ  lov  ydo  rijuiog  tjXoutmv  driiQ, 
sXevd-EQOg  de  xgelog  wv  ovdiv  oiferei. 

negoeig.  xqvoov  vöf.iiC.e  ouviov  eive/.^  evtvyßlv, 

<(7t»'  EVTiyoivTL  >  yot^i-iaoiv  ydq  EiTtyio, 
laig  Gvi.i(poQuioi   ö\   wg  ogag,  ovy.  EiTvyw. 

Wie  Perseus  eine  solche  Rede  führen  soll,  ist  unverständ- 
lich. Härtung  gibt  die  drei  ersten  Verse  dem  Phineus, 
mit  yQvoov  vÖlilQe  oauiov  eive/.'  EvxiyE~iv  lässt  er  den  Kepheus 
erwidern.  Fr.  141  dagegen  hat  Härtung  in  einen  ganz 
anderen  unmöglichen  Zusammenhang  gebracht.  Abgesehen 
davon  versteht  man  nicht,  inwiefern  Kepheus  den  Phineus 
'  wohlhabend  nennt.  (Gerade  die  ursprüngliche  Gestalt  von 
fr.  143  gestattet  luis.  diese  beiden  Bruchstücke  in  den  ge- 
wünschten Zusammenhang  zu  bringen;  denn  dann  ist  der- 
jenige, von  welchem  Reichtum  ausgesagt  wird,  ein  und  der- 
selbe.    Man  muss  sich  nur  fr.    143  im  Zusammenhang  einer 


94         Sitzung  der  pliiJns.-pliilol.  Clnsse  row*  4.  Februar  18S8. 

längeren  ^'~ff/c  denken  uml  darf  die  Worte  xQraop  (.laXiota 
ßorkof-iai  düiLioig  tyeiv  niclit  zn  eng  auffassen.  Phineus  — 
denn  nur  dieser,  nicht  etwa  Perseus,  kann  dem  Kepheus 
gegenüber  die  Macht  des  Reichtums  riUnnen,  da  Perseus 
natürlich  der  ideal  gesinnte  Held  ist  —  Phineus  also  sagt: 
„Nach  meinem  Grundsatze  ist  Ileichtum  das  Erstrebens- 
werteste und  Höchste  ira  Leben ;  denn  der  Reichtum  be- 
stimmt den  Wert  des  Menschen.  Was  Reichtum  anbelangt, 
ist's  mit  deinem  Hause  wohlbestellt ".  Er  kann  etwa  fort- 
fahren: „Du  darfst  aber  den  Schmuck  deines  Hauses  nicht 
dadurch  zugrunde  richten,  dass  du  deine  Schätze  in  die 
Hände  eines  armen  und  heimatlosen  Fremdlings  gibst".  In 
seiner  Gegenrede  erwidert  darauf  Kepheus:  „Allerdings  ist 
es  mit  meinem  Reichtum  wohl  bestellt,  aber  nicht,  wie  du 
siehst,  mit  meinem  Glücke.  Was  helfen  mir  die  Schätze, 
wenn  ich  die  Tochter  verliere?"  Wir  sehen,  wie  in  fr.  142 
und  143  Phineus  dem  Kepheus  gegenüber  sich  als  weiser 
Berater  geberdet.  Das  sprechendste  Zeugnis  für  eine  solche 
Streitrede  des  Phineus  und   Kepheus  ist  fr.    14') 

ji/rj   Tov  tj-iov  oi/.u  rui'V,   i-yw  yao  aQXfOio^ 

womit  Kepheiis  die  aufdringliche  VV^'isheit  des  IMiineus  ab- 
wehrt. Nur  zu  einem  Nahestehenden,  nicht  etwa  zu  Perseus 
kann  Kepheus  solche  Worte  sprechen.  Zugleich  zeigt  uns 
dieses  Fragment  recht  deutlich,  welche  Richtung  das  Zwie- 
gespräch nimmt  und  dass  es  dem  Phineus  nicht  gelingt,  den 
Kepheus  auf  seine  Seite  zu  bringen. 

Aus  dem  Gesagten  ergeben  sich  zwei  für  die  Entwick- 
lung der  Handlung  wichtige  Punkte.  Einmal  sehen  wir, 
da.ss  der  Befreiung  der  Andromeda  eine  Scene  vorherging, 
in  welcher  Phineus  den  Kepheus  zu  bestimmen  suchte,  den 
Perseus  mit  der  Forderung  der  Hand  der  Andromeda  al)zu- 
weisen.  Phineus  spielte  demnach  eine  Rolle  in  dem  Stücke 
und  wenn    von    dt'ii  zwei   Masken,    welche   auf   dem   Pompe- 


Wechleln:    TnuiöiUcn  den  Eiiripides.  9ü 

l'ünisclien  WiinHt^eiiiiiltle  rechts  unten  angebracht  sind,  die 
eine  wirklieli  weiblich  ist,  die  Maske  des  Phineus  also  fehlt, 
so  kann  da>  nni  so  weniger  Eindruck  machen,  als  ebenso 
die  Maske  der  Athena  fehlt,  wel-che  man  nach  Eratosth. 
KatiLst.  15  mit  Hecht  am  Schlüsse  als  deus  ex  machina  auf- 
treten lässt.  Auch  die  Rücksicht  auf  die  dramatische  Oeko- 
numie  legt  die  Forderung  nahe,  dass  der  üeberfall  des 
Phineus  durch  einen  vorhergehenden  Auftritt  vorbereitet  werde 
und  nicht  unvermittelt  und  jilötzlich  erfolge.  Nachdem 
Phineus  vergeblich  versucht  hat.  die  Braut  durch  Leber- 
redung  zu  gewinnen,  sucht  er  durch  Gewalt  sein  Ziel  zu 
erreichen.  Die  Art  seines  Auftretens,  wie  es  in  den  vorher 
behandelten  Fragmenten  angedeutet  ist,  passt  zu  dem  eigen- 
mächtigen und  brüsken  Wesen,  welches  ein  solcher  Üeber- 
fall voraussetzt  {veoir^g  /Mi  ^gäoog).  Noch  grössere  Bedeu- 
tung hat  das  zweite  Ergebnis,  die  Unschuld  des  Kepheus.^) 
Wir  wissen  jetzt,  dass  die  Darstellung  in  Hygin  f.  (34  „quam 
cum  abducere  vellet,  Cepheus  pater  cum  Agenore,  cuius 
sponsa  fuit,  Perseum  clam  interticere  voluerunt''  nicht  auf 
Euripides,  sondern  eher  auf  Sophokles  zurückzuführen  ist 
und  da.ss  die  Erzählung  des  Ovid  im  wesentlichen  nicht  von 
der  Euripideischen  Dichtung  abweicht.  Dass  Kepheus  bei 
Euripides  am  Leben  bleibt,  scheint  bestätigt  zu  werden  durch 
Erato.sth.  Katast.  17  otoO^e'toa  t/ro  rot  IlEQatojQ  oi-/  eiXeio 
T(7)  naiQi  atuutvEiv  ordV  if^  lojQi,  oAA'  ai  >')^ai'Qeiog  tig  to 
'^Q'/OQ  a:n^'ki}E  f.tET''  r/.eiroi  .  '/Jyei  di  y.ai  EuQi/n'6ijg  oaqiug 
^r  TO)  U6QI  aiTiig  ytyQauuH('j  dooj.iaTi.    Vgl.  Hygin  Astron. 


1)  Auf  das  tragische  Ende  des  Kepheus  bezieht  Ribbeck  a.  0. 
S.  174  fr.  1.52.  Aber  die  Worte  o  ukr  o/.ßiog  /}»-,  to  «5'  djrfxovifEv 
ÜEog  iy.ei'rcov  röjy  Ttoie  /.au-iocor  sind  uns  so  wenig  verständlich,  dass 
nicht  das  Geringste  daraus  geschlossen  werden  kann.  Gewöhnlich 
schreibt  man  mit  Valckenaer  rov  d'  und  mit  Grotius  ix  xelvoiv,  F.  W. 
Schmidt  vermutet  rov  8'  eooni'sv  &e6g  ex  xTsävon'.  Aber  bei  o  ,"f)'  • 
xov  di  erwartet  man  einen  Gegensatz. 


96         Sitzirnq  der  philns.-phUol.  Clafsse  row  4.  Febntr,r  18S8. 

IT  n,  schol.  Germanici  p.  78  Br.  Wie  bei  Ovid  V  179 
vultns  avertite  vestros,  si  qnis  aniicus  aclest,  mochte  ebenso 
bei  Euripides  Perseus  dem  Kepheiis  und  den  (Genossen  des- 
selben  zurufen. 

Aucli  im  Drama  des  Euripides  rausste  Phineus  der  Ver- 
lobte der  Andi-omeda  sein.  Nur  so  haben  die  Ansprüche  des 
Phineus  ihre  Berechtigung  (Ovid  V  220  causa  fuit  meritis 
melior  tua,  tempore  nostra)  und  ist  das  Eingreifen  desselben 
nicht  zufällig  und  willkürlich.  Ueberhaupt  hatte  der  Dichter 
die  Katastrophe  von  Anfang  an  vorzubereiten,  durch  die 
Rechte  des  Phineus  also  von  vornherein  den  Konflikt  anzu- 
bahnen. Wenn  demnach  Kepheus  in  der  Not  des  Augen- 
blicks dem  Perseus  seine  Tochter  versprach,  so  durfte  er  das 
nicht  ohne  Bedenken  thun.  Auf  diese  Bedenken  des  Königs 
weist  vielleicht  fr.   146  hin: 

T]  710V  TO  [xilXov  e.y.(poßfi  xoci?-'   rifxiqav  ' 
log  Tov  ys  jcäoyeiv  xovnidv  /.leJ'Cov  Kay.ov. 

Mau  könnte  in  diesem  Fragment  cog  tov  naQovrog  rovinov 
fAÜLov  y.av.öv  schreiben,  um  das  überflüssige  und  störende  ye 
zu  beseitigen.  Aber  eben  dieses  ys,  welches  in  der  Erwide- 
rung steht,  wenn  eine  Frage  bejaht  und  die  Bejahung  näher 
bestimmt  wird,  ist  ein  Kennzeichen,  dass  die  zwei  Verse  an 
zwei  Personen  zu  verteilen  sind,  also  wenn  unsere  vorher 
dargelegte  Annahme  richtig  ist,  so: 

fleQoevg.  r]  nov  lo  (.liXkov  h.cpoßfj  y.a!}''  rj/Lugav; 
Ki](fEvg.    wg  tov  ye  rrdaxeiv  rovrriöv  f.iElQov  y.aY.6v. 

Nachdem  sich  uns  das  Verhältnis  des  Kepheus  zu  Per- 
seus geändert  hat,  können   wir  nicht  mehr  fr.    148 

CO  rAi^jUOv,  ivg  aol  zag  xvyag  ^itv  aoO^erdg 
i'öojy''  6  6aif.wjv,  (.teya  (fQovovai  d'  oi  loyoi 

den  Kepheus  an  Perseus  richten  lassen.  Sind  die  Worte 
wirklich    an    Perseus    gerichtet,    so    könnte   sie    nur    Phineus 


Wecllein:    Triuiödlen  ilefi  Euripides. 


97 


gesprochen  haben.  Ich  kann  aber  an  einen  solchen  Anftritt, 
in  welchem  die  beiden  Nebenbnhler  sich  gegenüber  treten, 
nicht  ghinben,  weil  Zeit  und  Gelegenheit  dazu  fehlt.  Dass 
fr.   1:^9 

tQOJxa  ÖEirov  tyouev   h.  de  ron>  ^oycov 
sXov  Tcc  ßü.TiaO-\  log  a.isiOTOv  eor'  iQiog 
•/MV  Toj  /.QarioTio  vcov  cpgeviov  dqxuv  (filel 

der  Andromeda  angehört,  darf  man  aus  fr.   140 

oaoi  yaQ  slg  egiora  rrimovoiv  ßgoxiov, 
eo^liov  orav  tiyojoi  xiov  fQiof.ienov, 
OL-/.  t(Ti!l'   6/roiag  keirtEiai  rud'  7\öov7]g 

schliessen.  Auf  diese  vertrauensvollen  Reden  der  Andromeda 
(/t/f'/a  (pQOvovoi  d'  oJ  Xöyoi)  scheint  Phineus  mit  fr.  148  zu 
erwidern. 

Hiernach  können  wir  ungefähr  folgenden  Gang  der 
Handlung  annehmen:  Prolog,  Andromeda  (fr.  114  — 11(5). 
Parodo.s:  der  Chor  und  Andromeda  (fr.  117  —  122).  Erstes 
Epeisodion:  Perseus  und  Andromeda  (fr.  123.  124.  127.  125. 
129.  12<j.  128.  130.  133).  Kepheus  und  Ka.ssiepeia  (diese 
als  stumme  Person)  erscheinen  am  Morgen,  um  sich  nach 
ihrer  Tochter  umzusehen  (vgl.  Ov.  IV  691  genitor  lugubris 
et  ima  mater  adest).  Kepheus  erkundigt  sich  nach  den 
Schicksalen  des  Perseus  (fr.  131.  147)  und  sagt  dem  Perseus 
seine  Tochter  zu  (fr.  146  und  Enn.  Androm.  fr.  II).  Nach 
dem  Gebete  zum  Eros  (fr.  132)  eilt  Perseus  davon,  das  Un- 
geheuer zu  bekämpfen.  Chorgesang,  dem  fr.  153  angehören 
kann.  Zweites  Epeisodion  :  Phineus  und  Andromeda  (fr.  139. 
140.  148).  Phineus  und  Kepheus  (142.  143.  141.  145). 
Chorgesang.  Drittes  Epeisodion:  Kepheus  und  Bote  (134. 
135).  Perseus  konnut  zurück,  lost  Andromeda  vom  Felsen 
und  begibt  sich  mit  ihr  und  Kepheus  in  den  Palast  zum 
Festmahle.  Chorgesang  (fr.  136?).  Viertes  Epeisodion: 
Botenbericht    über    den   Ueberfall,    welchen  Phineus    auf  die 

188S.  Pbilos.-philol.  u.  liist.  Cl.   1.  7 


98         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Fchniar  1888. 

Festgäste  macht,  und  dessen  Untergang.  Die  Beschreibung 
der  plastischen  Momentaufnahme,  wenn  man  so  sagen  darf, 
gehört  gewiss  dem  griechischen  Dichter,  dem  für  die  bildende 
Kunst  immer  das  lebhafteste  Interesse  bekundenden  Euripides 
an.  Aus  diesem  Botenbericht  stanmien  fr.  137.  138.  149 
und  150.     Chorgesang  (fr.   151.   152).     Exodos. 

Kepheus  und  Kassiepeia  suchen  ihre  Tochter  zum  Bleiben 
zu  bewegen.  Der  Gegenrede  der  Andromeda  gehört  fr.  III 
des  Ennius  an : 

A  filiis  propter  te  obiecta  sum  innocens 
Nerei. 

Der  Streit  wird  geschlichtet  durch  Athena,  welche  den  Wider- 
stand der  Eltern  zurückweist  und  die  spätere  Versetzung  des 
Perseus  und  der  Andromeda  unter  die  Sterne  vorhersagt 
(Eratosth.  Kat.    15). 

Ob  fr.  144  von  Euripides  herrührt,  erscheint  als  sehr 
zweifelhaft.  Fr.  154  ist,  wie  Fritzsche  (S.  510)  gesehen  hat, 
in  die  Antigone  zu  setzen. 

2.    Bellerophontes  (und  Stheneboia). 

Die  Rekonstruktion  der  Handlung  wurde  früher  teil- 
weise irregeleitet  durch  fr.  326,  welches  ohne  Zweifel  der 
Danae  zugehört,  und  durch  ein  bei  Stobaeus  mit  dem  Lemma 
EiQi;n'dof  BekX£Quq>uvTr]g  citiertes  Fragment  (670  N.) 

(i't  ;i(cy/.axiOTtj  '/Mi  yvvri'   ci  yaq  Xf-yiov 
f-ttiCdv  oe  Tord'  oveidog  f.iei7roi  rig  uv. 

Meincke  hat  erkannt,  dass  eine  solche  Anrede  in  die  Sthene- 
boia zu  setzen  ist.  Auch  fr.  663  wird  bei  Stobaeus  an  einer 
Stelle  mit  Evqi/uöov  2i)^eveßoiag,  an  einer  anderen  mit  Evqi- 
niöov  BeXXegocfuvTiig  angeführt.  Die  gleiche  Verwechslung 
berichtet  zu  Aristoph.  Frie.  124  das  Schol.  des  cod.  Ven., 
wo    fr.  665    citiert    ist,    o    Xuyog    tv.  ^deveßoiag   Evqi7tiöov ' 


Wecl-lei»:   Traißdien  des  Euripides.  ^^' 

riiig  06  ol'oiTcti  h.  Be?leQ0fp6rT0v  nagiodr^ad^ai.  eOTi  de  tv 
^IHveßoiq  jiaqa  nö  TQctyr/.w  uviiog.  Die  Meinung,  dass  die 
Parodie  des  Aristophanes  den  Bellerophon tes  des  Euripides 
im  Auge  habe,  gründete  sich  auf  die  oberflächliche  Erin- 
nerung, dass  auch  im  Bellerophontes  ein  Ritt  auf  dem  Pegasus 
vorkommt.  Da  sich  die  Töchter  des  Trygäos  nach  der  Fahrt 
erkundigen,  die  stattfinden  soll,  so  kann  sich  die  Parodie 
nur  auf  die  Stheneboia  beziehen,  in  welcher  naturgemäss 
Stheneboia  Näheres  über  die  gefährliche  Fahrt,  mittels  welcher 
Bellerophontes  sie  entführen  zu  wollen  vorgibt,  erfahren  will. 
Die  Worte  7TTi]v6g  ;roQevoei,  welche  in  der  Stheneboia  vor- 
kamen wie  bei  Aristophanes,  bestätigen  diese  Beziehung  der 
Parodie.  Die  Verwechslung  der  beiden  Stücke,  die  bei  dem 
gleichen  Helden  Bellerophontes  sehr  nahe  lag,  scheint  auch 
bei  fr.  307 

■/.al  ^earov  oythor  Java'iöiov  edgaGtiaxcov 
OTüq  SV  i-iaaoioiv  ehre  y.t]Qvy.iov  <i'//o> 

stattgefunden  zu  haben.  Der  Schol.  zu  Eur.  Or.  872,  welcher 
über  die  Argivische  Gerichtsstätte  auf  einer  Anhöhe  spricht, 
führt  das  Fragment  an  mit  den  Worten  rax«  ö'  av  tovtov 
xal  £v  BeXleQoqövrrj  f.ivi]i.iovevoi  ehnov.  Wenn  man  zugibt^ 
was  Welcker  aus  dem  15.  Epigramm  des  Tempels  in  Kyzikos 
schliesst,  dass  Glaukos,  der  Sohn  des  Prötos,  als  Rächer  seiner 
Mutter  zu  Bellero])hoii  komme,  kann  man  doch  nicht  ein- 
sehen, wie  Glaukos  etwa  im  Prologe  bei  dem  Berichte  der 
vorausliegenden  Begebenheiten  angeben  soll,  dass  jemand  auf 
der  Gerichtsstätte  in  Argos  eine  feierliche  Verkündigung 
habe  ergehen  lassen.  Der  allein  passende  Platz  findet  sich 
für  dieses  Fragment  in  der  Stheneboia. 

Eine  Hypothesis  dieses  Stückes  ist  uns  in  dem  Scbolion 
einer  Handschrift  des  Gregorius  von  Korinth  zu  Hermogenes 
neQL  f.ieif6doi  öeii'orr.Tog  erhalten  (Welcker  S.  777).  Nach 
dieser    kehrte  Bellerophon    nach    der  Erlegung    der  Chimära 

7* 


100      Sitzung  der  plülos.- philo!.  Cldsse  vom  4.  Februar  1888. 

nach  Tirynth  zum  König  Prötos  zurück,  tadelte  diesen  und 
drohte  Stheneboia  aufzuknüpfen.  Als  er  erfuhr,  dass  das 
Weib  ihm  zum  zweiten  Male  nachstelle,  setzte  er  sie  auf 
den  Pegasus  und  beim  Kitt  über  das  Meer  liess  er  sie  bei 
der  Insel  Melos  herabfallen.  Fischer  fanden  die  Leiche  und 
schafften  sie  nach  Tirynth.  Bellerophon  kehrte  zurück  und 
bekannte  selber  dem  Prötos  die  That;  er  habe  damit  nur 
die  gerechte  Rache  für  die  doppelten  Nachstellungen  des 
Prötos  wie  der  Stheneboia  genommen.  Man  hat  die  Worte 
dieser  Hypothesis  (.la^cov  (jyjv  ywulxa  zovy  IIqoitov  devre- 
Qov  s.Ti(^ßovlEvovöav  avT(^y  dahin  verstanden,  dass  Sthene- 
boia zum  zweiten  Male  dem  Bellerophon  nach  dem  Leben 
strebte.  Eigentlich  ist  der  Angriff  auf  das  Leben  des  Helden 
auch  das  erste  Mal  nicht  von  der  Frau,  sondern  von  Prötos 
ausgegangen.  Ein  Schul,  zu  Aristoph.  Frie.  140  gibt  Folgen- 
des an:  doAsl  o  BeXleQorpovT r^q  zrjv  xov  IIqoizov  yvvaly.a  (.tera 
TTjv  Trjg  Xi/.iatQag  dvaiQsaiv  ETtaveXd-ojv  slg  KoQivifor  ci/ia- 
xr^oai  tag  f'^tuv  yvvalxa  /.al  hiißißäoag  rov  Uijyaoov  elg 
(.itorjv  glipai  t)]v  ^äXaooav.  Wenn  Stheneboia  dem  Bellero- 
phon nach  dem  Leben  strebt,  in  welchem  Zusanunenhang 
soll  es  dann  stehen,  dass  Bellerophon  sie  unter  dem  Vor- 
geben sie  zum  Weibe  zu  nehmen  entführt?  Der  Zusanunen- 
hang wird  nur  daim  gewonnen,  wenn  Stheneboia  zum  zweiten 
Male  nacli  der  Liebe  des  Bellerophon  strebt.  Diese  Auf- 
fassung wird,  mag  die  oben  angenommene  Ergänzung  der 
Hypothesis    richtig  sein  oder  nicht,    bestätigt   durch    fr.  GG7 

jieoov  de  viv  Xthjif^ev  ovösv  ey.  x^Qog^ 
dlV  evOvg  avö^  ,,to5  Kogivdüo  §ivc^''\ 

Weicker  (S.  779)  meint,  die  Amme  der  Stheneboia  wolle  ihre 
Gebieterin  vor  dem  (irimnie  des  Pegasusritters  dadurch  retten, 
dass  sie  ilim  die  Zärtlichkeit  beschreibe,  womit  jene  nach 
seiner  Abreise  sich  um  ihn  geängstigt,  oder  wenn  sie  seinen 
Tod  befürchten  musste,  um  ihn  getrauert  und  sein  Andenken 


Wecklein  :    Tragödien  des  Euripides.  '  '^  ' 

geehrt  habe.  Athenäos  (X  p.  427  E)  führt  das  Fragment 
an  mit  den  Worten:  rolg  de  TerelevT ii/.6oi  riov  cpihov  ant- 
vE(.iOv  Tcc  TTinxovTa  rfjg  rgocprjg  diio  tmv  XQarie^wv.  dio  y.al 
EiQuriöt]g  rteql  r^g  ^i^evsßoiag  (prjoiv,  eneiSr^  voj-iitei  i6v 
BelXeqocpövTi^v  red^vavai.  rrsoov  xx£.'  und  das  Fragment  be- 
schreibt einen  gegenwärtigen  Znstand.  Die  Worte  sind  also 
gesprochen  von  Jemanden,  der  von  der  Rückkehr  des  Beliero- 
phon  nichts  weiss  und  ihn  für  tot  hält.  Also  gehört  dieses 
Fragment  in  den  Prolog  und  nicht  Bellerophon,  wie  Welcker, 
Härtung,  H.  A.  Fischer  (Bellerophon.  Leipzig  1851  S.  47) 
annehmen,  sondern  die  Amme  spricht  den  Prolog.  Das 
Schicksal  und  der  Untergang  der  verliebten  Stheneboia  ist 
ja  auch  das  Thema  des  Dramas  und  auf  ihren  Zustand  muss 
zunächst  die  Aufmerksamkeit  gerichtet  werden.  Den  Anfang 
des  Prologs  bildeten  fr.  662  und  663: 

ovy.  eoTiv  ootig  navx'  dvrjQ  etdai/iiovEi ' 
rj  yaQ  :rE(pv/.wg  iod-Xog  ov/.  syst  ßiov, 
7j  dvoyevr^g  cov  nXovoiav  aqoT  rtXay.a. 
noXkoig  de  nkoirw  /.al  ytvu  yavqov^ivovg 
yvvi\   ■/.azTßOXLv''   iv  ö6i.ioioi  vrjTtia. 

Hieran  knüpfte  die  Amme  die  Erzählung  der  früheren  Er- 
eignisse und  des  nunmehrigen  Rückfalls  der  Stheneboia  in 
die  alte  Liebe.  Wie  man  lieben  Toten  weiht,  was  von  der 
Mahlzeit  zu  Boden  fällt,  so  gehört  bei  ihr  immer  alles 
Heral)fallende  dem  Gastfreund  aus  Korinth  (fr.  ()67).  Die 
Amme  fährt  fort  (fr.  668) : 

roiafr'  dXvef  vov^eTOVf.i€vog  ()'  "Eqtog 
l.i&kXov  7cütei. 

Die  Amme  der  Stheneboia  gleicht  also  der  Amme  der  Phädra. 
Sie  ist  über  das  unvernünftige  Wesen  ihrer  Herrin  unge- 
halten und  sucht  sie  zu  Verstand  zu  bringen;  aber  sie  wird 
auch,    wenn    sie  die  Leidenschaft    derselben    nicht   beruhigen 


102      SitziDi;/  der  jihilos.-philol.  Classc  vom  4.  Fehninr  1888. 

kann,  später,  wo  nach  Ankunft  des  tot  geglaubten  Helden 
die  Liebe  noch  mächtiger  werden  rauss,  sich  da/Ai  hergeben, 
die  geheimen  Wünsche  derselben  dem  Geliebten  vorzutragen. 
Und  wie  die  Amme  der  Phädra  schreckliche  Schmähungen 
wie  r)  y.axcuv  7iQ0f.nn\oTQia^  rj  deonörov  -jrQOÖovoa  Xixog 
(Hipp.  584  ff.)  von  Hippolytos  zu  hören  bekommt,  so  wird 
Bellerophon  die  Worte  lo  7cayxay.iaTr]  xal  yvviq  yitl.  ((570) 
nicht  der  Stheneboia,  sondern  der  Amme  derselben  zuge- 
rufen haben.  Es  ist  auch  störend,  wenn  Bellerophon  die 
Buhlerin  zuerst  als  ganz  niederträchtig  schmäht,  nachher  ihr 
aber  doch  Liebe  heuchelt.  Nachdem  Bellerophon  die  erste 
Erregung  überwunden  hat,  beschliesst  er  die  Buhlerin  in 
ihrem  eigenen  Netz  zu  fangen,  kommt  mit  ihr  zusammen 
und  überredet  sie,  mit  ihm  auf  dem  Pegasus  nach  Lykien  zu 
reiten  (fr.  ()(34.  ()65).  Dass  die  Angabe  in  Betreff  der  Fischer, 
welche  die  Leiche  bringen,  richtig  ist,  zeigt  das  schöne  Frag- 
ment G72,  welches  ein  Purpurfischer  spricht.  Wir  haben 
hier  den  seltenen  F'all,  dass  eine  grössere  Gesellschaft  von 
Menschen  auftritt,  für  welche  einer  das  Wort  führt.  Das 
Gleiche  war  im  Philoktet  des  Euripides  der  Fall,  wo  eine 
Gesandtschaft  der  Trojaner  vor  Philoktet  erschien.  Bevor 
die  Leiche  ankam,  musste  die  Aufklärung  gegeben  werden. 
Diese  Aufklärung  konnte  nur  Bellerophon  selbst  geben,  da 
kein  Diener  den  Ritt  mitgemacht  hatte.  Bellerophon  selbst 
aber  erschien,  wie  das  oben  angeführte  Scholion  des  Gregorius 
andeutet  und  wie  sich  aus  den  Worten  des  nunmehr  von  der 
Schuld  seines   Weihes  überzeugten   Protos  fr.  (173 

xü^tLj'tr'  fctffw  rrjvde '  Ttioreveiv  de  xgrj 
yvvaiY.1  liTjötv,  ooTig  ev  (pQOvei  ßqotwv 

ergibt,  erst  nachdem  die  Leiche  schon  vorlag.  Der  Be- 
richt konnte  demnach  nur  in  ähnlicher  Weise  wie  in  den 
Trachinierinnen  des  Sophokles  gegeben  werden,  in  der  Weise, 
dass  ein   Bote,   welcher  dem  Bellerophon   vorauseilte,   das  er- 


WecMein:   Tragödien  des  Euripides.  103 

zählte,  was  er  von  Belleropbon  selbst  anderswo  erfahren  hatte. 
Hieher  also  gehört  fr.  307,  von  dem  wir  ausgegangen  sind. 
Bellerophon  rechtfertigt  sich,  bevor  er  vor  Prötos  tritt,  vor 
einem  unparteiischen  Gerichtshofe  auf  jener  uralten  Ding- 
stätte, 

Ol'  (paoi  uqiltov  Javaov  ^lyvTtTi^  dUag 

didövi'  aiyQolöai  Xaov  elg  y.oivag  edoag   (Or.   872). 

Wir  kehren  nunmehr  zu  dem  Drama  Bellerophontes 
zurück.  Das  erwähnte  Epigramm  von  Kyzikos  (Anthol. 
Pal.  III  15)  stand  unter  einem  Bilde,  auf  welchem  darge- 
stellt war  RE?^leQO(fovii]g  vno  rov  7iaid6c,  rXavy.ov  ooj'Co/.iei'og, 
yivUa,  /.arevex^^iS  ^"^^  '^ov  /Irjyäoov  slg  t6  ^Xrfiov  nediov, 
t(.iEXkEv  vno  Meyarrevä-ovg  rov  Uqoltov  q^ovevsad^ai.  Hier- 
nach lässt  Welcker  den  Megapenthes  im  Auftrag  seiner 
sterbenden  Mutter  Stheneboia  einen  Angriff  auf  den  vom 
Himmel  herabgestürzten  Bellerophon  machen,  wobei  ihn  sein 
Oheim  Jobates  unterstützt.  Bei  Härtung  (Eur.  rest.  1  S.  389  ff.) 
beginnt  die  Handlung  mit  der  Himmelfahrt.  Der  herab- 
gestürzte Held  wird  geheilt  und  zieht  sich,  nachdem  sein 
Sohn  vergeblich  ihn  zu  trösten  versucht  hat,  in  die  Einsam- 
keit zurück,  wo  er  die  gewünschte  Ruhe  ebenso  wenig  findet, 
vielmehr  den  Nachstellungen  des  Megapenthes  ausgesetzt  ist. 
Er  wehrt  sich  gegen  Megapenthes,  bis  er  durch  die  Da- 
zwischenkunft  seines  Sohnes  Glaukos  gerettet  wird.  Darauf 
wird  Megapenthes  angeklagt  und  endlich  wird  Bellerophon 
durch  den  Tod  von  seinen  Leiden  erlöst.  Diese  bunte  Hand- 
lung hat  von  den  drei  Einheiten  auch  nicht  eine.  Aehnlich 
nimmt  sich  die  Handlung  aus,  welche  H.  A.  Fischer  Bellero- 
phon S.  50  ff.  rekonstruiert.  Dem  gegenüber  muss  zunächst 
festgestellt  werden,  dass  die  Himmelfahrt  und  der  Sturz  dem 
Ende  des  Dramas  angehört.  Nach  Aelian  Tiergesch.  V  34 
redet  Bellerophon  seine  Seele  also  an  (ne/coiijxe  fcgog  Ti]v 
EuvToZ   if.iixi]v  kiyovxa  aitov): 


104      Sitzmifi  der  iihiJos.-iihüol .  Classe  com  4.  Fehr^iar  1888. 

'qo^'  elg  dEovg  /tis)'  söasßrig,  oV  ija^',  aei 
^tvoig  t'  enriQy,Eig  ovö^  e'/.ajuvsg  sig  cfiXovg. 
Sein  Leben  ist  so  gut  wie  nicht  mehr  (ot'  Tjff.^a,  va^l.  die 
Worte  Aelians  toiovtov  xiva  y.al  lov  BElXsQOfpüvrrjv  jj(>w<x<ug 
'/.al  insya?Milivytog  elg  Oävarov  :i aQEO'/.Evaoatvov  o  EiQiviidt]g 
vuvel):  er  wird  also  alsbald  sterben  und  lässt  sich  zu  dem 
Zwecke  ins  Innere  bringen  (fr.  312  kojaI^st^  eioco  zovöe  tov 
övoöalf.iova).  Natürlich  kann  die  Ursache  des  Todes  nur  der 
Sturz  vom  Pegasus  sein.  Da  die  Einheit  des  Ortes  erfordert, 
dass  der  Held  vor  dem  Sturze  weile  wo  er  nach  dem  Sturze 
wieder  erscheint,  so  muss  von  Anfang  an  der  Schauplatz  der 
Handhmg  in  der  Einsamkeit,  im  Aleischen  Felde  sein.  Da- 
rauf weist  auch  das  Schol.  zu  II.  C  200  ovy  (og  o'i  vewteqoi 
(d.  i.  Euripides)  ^isXayyoXr^aag,  dX)C  odvvio/iiEvog  snl  Tg  rwjv 
eavTOv  Tvaidwv  anoAEiq  if.iüvaKE  hin  und  es  stimmt  dazu, 
dass  wir  aus  fr.  288,   13  f. 

üit.icei  ö'  av  c/i(äg,  si'  zig  aqyog  luv  0-Eolg 
e'c%oito  /.al  jLirj  xeiqI  avX'Aeyoi  ßiov 
auf  einen  Chor  von  Landleuten  schliessen  können.  Denn 
der  Gedanke,  dem  der  Schlusssatz  fehlt,  ist  nach  dem  Zu- 
sammenhang folgender:  ,ich  glaube,  dass  ihr,  wenn  ihr  nur 
heten  und  nicht  mit  der  Arbeit  eurer  Hand  euren  Unterhalt 
sammeln  würdet,  bald  Hungei-s  sterben  nu'isstet".  Augen- 
scheinlich Isoniint  der  Chor  der  Landleute  zu  ßellerophon, 
um  ihn  in  seiner  Schwermut  zu  trösten  und  ihn  zu  frommem 
Gottvertrauen  aufzufordern.  Wenn  der  Held  von  Anfang  an 
schwermütig  ist  und  zuletzt  in  seiner  Verzweiflung  an  Gott 
und  Welt  so  weit  gebracht  wird,  dass  er  in  den  Himmel  fahren 
will,  um  das  Dasein  der  (4ötter  zu  erforschen,  so  muss  die 
Entwicklung  der  Handlung  in  der  Steigerung  des  Trübsinns 
bestanden  haben.  Diese  Steigerung  wird  dadurch  erzielt, 
dass  böse  Menschen  einen  Angriff  auf  ihn  machen  und  dass 
.sie,  obwohl  ihre  Niederträchtigkeit  entlarvt  wird,  doch  der 
Strafe  entgehen.     Denn  nach   fr.  288,  5 


WecMein:   Tragödien  des  Eiiripides.  1^'> 

(ffjlii^  syw  Tvgai'viöa 
•/.leivEiv  i€  nXeiOTOvg  yQ)]i.iäTiov  t'  a/rooTegelv 
OQy.ovg  Te  jiaqßaivovrctc  e/..ioQO-sh'  noXeig 
y.ai  xaiTa  dqiovTeg  fAciXköv  elo'  evöali-ioveg 
Ttüv  evaeßovvTOJv  rjOiyri  y.ai^'  i]i,itQav 
beweist  der  Triumph  des  Bösen  in  der  Welt,    dass   es  keine 
Götter  gibt.     Wenn  man  fr.   293 

10  .7«/,  i'ifüj'  loi  dgäv  /.isv  i'viopoi  yjQsg, 
yvcoi-iai  ö'  dj^ieiroig  elot  twv  ysQaiteQiov ' 
ö  yag  ygovog  diday(.ia  norz-iXtüTarov 
vergleicht  mit  8oph.  Phil.  96 

eoO^Xov  TTUTQog  ;(ai,  -/.avTog  lov  väog  note. 
yXwaaav  (.lev  dgyöv^  yelga  d'  eiyov  sgya-ctv 
vvv  ö'  elg  ileyyor  ^Buov  ogiu  ßgotölg 
Tiqv  yhdooar,   oiyl  ragya,  7tav^'   riyovf.ievriV, 
so  erkennt  man,  dass  ein  Aelterer  einen  Jüngeren  von  offenem 
Angriff  zurückzuhalten  sucht.^)    Der  Jüngere  verwirft  Hinter- 
list und  dunkle  Mittel  fr.  290: 

öoXoi  Ö8  '/.al  o~/.oteiva  (.njyavrji-iaTa 
XQEiag  dvävöoov  cpaqiAay'    r/iQrjTai  ßgorolg. 

Der  Alte,  dessen  Q^oig  mit  fr.  293  anhebt,  zieht  die  Klug- 
heit des  Schwachen  der  Ungeschicklichkeit  des  Starken  vor 
(fr.  292)  und  empfiehlt  die  Hinterlist  fr.  291 

feUrj  yag  dvögcZv  (pövia  y.at  f.ictyag  ygeiov 
doXoioi  y(.Xt7iTeiv  xxc. 

Die  Aufdeckung  der  gemeinen  Hinterlist  verrät  fr.  305, 
der  Rest  eines  Chorgesangs: 


1)  Unrichtig  ist  die  Erklärung  von  Fischer  a.  0.  S.  53  ,Die 
Rollen  scheinen  so  verteilt  gewesen  zu  sein,  dass  .Jobates,  da  er 
schon  zu  alt  war,  um  selbst  handelnd  mit  aufzutreten,  den  Plan  an- 
legt und  Kat  gibt,  Megapenthes  aber  als  rüstiger  Jüngling  zum  Han- 
deln bestimmt  wird". 


10(5       Sitzumf  der  i>hilos.-i)hilol.  Glasse  vom  4.  Februar  1888. 

ovdtJiox''  EVTvyiav  -/.a-nov  avdqog  VTteQcpQOva  t'  oXßov 

ßeßaiov  si'/MOai  xgecüv, 

ovö^  dölaiov  yeveav  6  yccQ  ovderog  8Y.q)vg 

XQOvog  diy.aiovQ  syiayiov  Kavovag 

öeinwoiv  avi)-QO)jto)v  7<.ay.0TrjTag  alei}) 

Die  Straflosigkeit  des  Frevlers  und  deren  Wirkung  deutet 
fr.  295,  2  f.  an: 

■^vrjOy.oif.i€V  ^)  ov  yccQ  a^iov  Xevaoeiv  g^aog 
xaxot'c;  oqiovxag  ay.dly.cjg  Tiixiü(.Uvovg. 

Welcher  Art  \n;m  die  Hinterlist  gewesen  sein  ?     In  fr.  294 

TtQog  zrjv  voaov  toi  xal  rov  laxQOv  yQewv 
löovT^  dyelad^ai,  fxrj  hmciB,  rd  cfccof.iaya 
didovi\  sdv  f.irj  zavTa  t^  voaiij  ugevi  t] 

ist  von  dem  richtigen  Heilverfahren  die  Rede.  Dies  scheint 
seine  Erklärung  darin  zu  finden,  dass  einer  sich  dem  Bellero- 
phon, der  ja  krank  ist,  als  Heilkünstler  anbietet,  in  der  Ab- 
sicht ihn  mit  seinen  Heilmitteln  zu  vergiften.  Ein  Ver- 
giftungsversuch, der  aufgedeckt  wird,  kommt  auch  im  .Ion 
vor.  Nach  der  Entlarvung  des  hinterlistigen  Anschlags  mag 
Bellerophon  ausgerufen  hal)en  (fr.   302): 

ÖI/.101'  Ti  d'   ol'uoi;  O^vtjid  TOI  7iE7i6v0^af.iev. 

8ehr  gut  hat  Welcker  fr.  300 

ovx  dv  ytvoLTo  TQav(.i\  täv  Tig  hy^vatj 
\)-afxvoig  f-Xeioig,  ocd'  dv  fx  iurjTQog  xax.rjg 
tol^Xol  ytvoivTO  jialÖEg  elg  dlyiijt'  doQog 

auf  Megaiienthes,  den  Sohn  der  Stheneboia,  bezogen.  Obwohl 
iliiriini   fr.  (370   nicht  zu  diesem  Stücke  gehört,   scheint  doch 

1 )  aiei  (ael)  habe   ich    für  fiinl  sowohl    fies  Versmassea    wie  des 
Sinnes  halber  gesetzt. 

2)  ih'fjoxoi/ifv   für   Orr'ioxoi/i'  riv   hat  Härtung  geschrieben,     (.le- 
trennt  hat  die  beiden  Verse  vom  ersten  Meineke. 


Weclclein:   Tragödien  des  Euripides.  1^' 

Welcker  diiriii  IJeelit  zu  haben,  dass  er  den  Anschlag  auf 
das  Lel)en  des  Bellerophon  von  Megapenthes  ausgehen  lässt. 
in  Aristoph.  Frö.  1050  erwidert  Aeschylus  auf  die  Frage 
des  Euripides:  xat  xi  ßlaTctovo\  w  o%b%li  dvögtor,  zrlv 
jiuliv  afiai  ^d-svißoiai;  Folgendes: 

oTi  yevvaiaQ  /.al  yEvvauov  dvÖQwv  dloxovg  ave7CEioag 
•Kiüveia  7ciEh'  aloyvvd^eioag  öid  roig  aoig  BeXlEQOCfovxag. 

Der  Sehol.  bemerkt  dazu,  dass  Stheneboia,  nachdem  Bellero- 
phon bei  Jobates  als  unschuldig  befunden  worden  war,  aus 
Scham  Gift  genommen  habe.  Man  betrachtet  diese  Angabe 
als  eine  Erfindung,  zu  welcher  der  Text  des  Aristophanes 
Anlass  gegeben  habe  (vgl.  Fischer  a.  0.  S.  48  f.);  aber  ein- 
mal gibt  eigentlich  der  Text  des  Aristophanes  keinen  An- 
haltspunkt zu  einer  solchen  Erdichtung.  Zweitens  berichtet 
aucli  Hygin  f.  57  den  Selbstmord  der  Stheneboia  (Sth.  re 
audita  ipsa  se  interfecit).  Drittens  haben  natürlich  nicht 
Athenische  Frauen  sich  thatsächlich  vergiftet.  Das  That- 
sächliche  muss  demnach  in  der  Dichtung  des  Euripides  liegen 
und  der  Komiker  will  sagen:  ,so  gut  sich  Stheneboia  aus 
Scham  vergiftet  hat,  so  gut  hätten  es  viele  vornehme 
Athenerinnen  thun  dürfen,  die  Gleiches  gesündigt  haben". 
Die  Annahme  von  Welcker  also,  dass  im  Prolog  des  Bellero- 
phontes  ein  solches  Ende  der  Stheneboia  berichtet  und  daran 
das  Rachewerk  des  Megapenthes  angeknüpft  war,  ist  ganz 
glaublieh.  In  bestem  Zusammenhang  steht  damit,  wenn  der 
Rächer  Gleiches  mit  Gleichem  vergelten  und  ebenso  den  Belle- 
rophon durch  Gift  töten  will.  Als  wahrscheinlich  muss  es 
auch  erscheinen,  dass  Jobates  der  ältere  Gehülfe  des  Mega- 
penthes ist  (vgl.  Plut.  Mor.  p.  147  B  ovÖEvog  hvyyavE  xCov 
dixaUov,  all'  tjj'  ddr/.tuxaxog  nEgi  avxov  '[ußdxi^g).  Sowohl 
was  in  fr.  296.  297  über  den  Neid  gesagt  wird,  als  auch 
die  Straflosigkeit  des  Verbrechers  (fr.  295  xa/otg  ö()MVTag 
tv.di/.ojg  xif.Hüutroig)  entspricht  dieser  Annahme. 


108       Sitziou)  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Februar  1888. 

Weiteres  wird  sich  über  die  Handlung?  des  Euripideischen 
Faust  aus  den  bis  jetzt  vorliegenden  Fragmenten  und  Notizen 
schwerlich  feststellen  lassen.  Nur  zwei  Bemerkungen  können 
•noch  gemacht  werden.  Der  hinterlistige  Plan  musste  vor  der 
Anwesenheit  des  Chors,  also  im  Prolog  verabredet  werden. 
Und  wenn  man  geneigt  sein  möchte  die  qr^otg  des  Bellero- 
phon in  fr.  287^)  als  Prolog  zu  betrachten,  so  steht  damit 
nicht  im  Einklang,  dass  fr.  288  doch  wohl  in  denselben 
Zusammenhang  gehört  wie  fr.  287  und  nach  V.  13  in  An- 
wesenheit des  Chors,  also  nach  der  Parodos  gesprochen  wird. 
Die  andere  Bemerkung  betrifft  den  Bericht  der  Himmelfahrt. 
Denn  dass  ein  solcher  Bericht  erstattet  wurde,  zeigt  fr.  311 

l'yrrtjoo'  vnei/.ior  {.läXkov  ]]  /iiäXXüv   iUloi. 

Man  sollte  glauben,  dass  Bellerophon  allein  das  Nähere 
wusste.  Aber  die  dritte  Person  von  0-t'loi,  welches  sich  doch 
nur  auf  den  Ritter  beziehen  kann,^)  spricht  dagegen.  Des- 
halb denkt  Härtung  an  einen  Boten,  welcher  die  Fahrt  mit 
seinen  Augen  verfolgt  habe.  Merkwürdig,  dass  dieser  sogar 
das  7[Triooeiv  des  Pegasus  wahrnehmen  konnte!  Aber  die 
Worte  des  Fragments  sind  ja  unverständlich,  der  Text  ist  also 
nicht  in  Ordnung.  An  der  einen  Stelle  des  Plutarch,  an  der 
das  Fragment  citiert  ist,  hat  es  sich  mit  fjäXXov  rj  Ü^tXoi  dem 


1)  Im  letzten  V.  möchte  ich  iliet'  älXtov  für  iiet'  dvdgwv  vor- 
schlagen :  ixeh'o  yag  /lefii'Tjfje^' '  olog  fj  noxt,  xdyo)  just'  aklon'  rjviy.^ 
TjvTvxovv  ßia>.  Der  Gedanke  ist  allpfemein.  Im  Unglück  denken  wir 
an  das  frühere  Glück  und  sagen  uns:  „was  war  ich  ehemals  für  ein 
Mann,  als  auch  ich  glücklich  war  wie  die  anderen".  Dieser  Gedanke 
macht  den  Wechsel  des  Glücks  so  empfindlich.  Von  der  gänzlichen 
Zurückge/.ogenheit  des  Bellerophon,  wie  Wclcker  (S.  788)  meint,  kann 
keine  Rede  sein. 

2)  Das  zeigen  auch  die  Worte  des  Plutarch  Mor.  p.  529  E  ovfie 
dei  rot?  ETiaivoi?  xrjXov/iievov  ^SfoOat  .  .  jujfi'  wojieq  6  EvQimfiov  Ilriya- 
ooc:  ,,EJtTT)ao'  vtieIxcov  /jäk/.or  tj  {)e?.oi"  rw  ß e llEQoqjör  r  }j ,  zoTg  Öeo- 
fXEvoig  EavTov  ixdidövat. 


Wecklein:    Tragödien  des  Eitrijndes.  100 

Text  des  Plutarch  anbequemt,  an  der  anderen  Stelle  (Mor. 
p.  807  E)  haben  wir  obige  Form,  in  welcher  f.iäXloi'  aus 
Versehen   wiederholt  ist.     Die  richtige  Form  ist  offenbar: 

tmioo^   hcei/.i'jv  uaXXov  r^   d^eXotfx    eyio. 

So  gibt  derjenige  den  Bericht,  der  ihn  allein  geben  kann, 
Bellerophontes. 


3.  Diktys. 

Nach  der  Darstellung  des  Apollodor  II  4,  1,  welche 
von  der  Erzählung  des  Pherekydes  Schol.  zu  Apoll.  Rh.  IV 
1091  nicht  wesentlich  abweicht,  warf  Akrisios,  der  König 
von  Aruros.  seine  Tochter  Danae  mit  ihrem  Kinde  Perseus 
in  einen  Kasten  eingeschlossen  ins  Meer.  Der  Kasten  wurde 
an  die  Insel  Seriphos  getrieben,  wo  Diktys  sie  herausnahm 
und  den  Perseus  auferzog  Der  König  der  Insel  Poiydektes, 
der  Bruder  des  Diktys,  verliebte  sich  in  Danae  und  da  der 
schon  herangewachsene  Perseus  seinen  Absichten  im  Wege 
stand,  trug  er  ihm  hinterlistig  auf,  den  Kopf  der  Gorgo  zu 
holen.  Als  Perseus  nach  Seriphos  zurückkam  und  seine 
Mutter  mit  Diktys  schutzflehend  am  Altare  fand,  wohin  sie 
sich  vor  der  Gewaltthätigkeit  des  Poiydektes  geflüchtet  hatte, 
begab  er  sich  in  den  Palast,  in  welchen  Poiydektes  seine 
Freunde  versanmielt  hatte,  und  zeigte  ihnen  den  Kopf  der 
(jrorgo,  wodurch  sie  in  der  Gestalt  und  Haltung,  die  sie 
augenblicklich  hatten,  versteinert  wurden.  Darauf  machte 
er  den  Diktys  zum  König  von  Seriphos. 

Diese  Darstellung  scheint  sich  zu  einer  dramatischen 
Handlung  abzurunden  und  da  in  fr.  336  Diktys  die  Danae 
in  ihrem  Kummer  um  den  toten  Sohn  tröstet,  so  findet 
Matthiä  in  der  Erzählung  des  Apollodor  den  Stoff  des  Euri- 
pideischen  Stücks,  indem  er  annimmt,  Poiydektes  habe  das 
Gerücht    von    dem  Tode    des    Perseus    verbreiten    lassen,    um 


110      SitsuHfj  der  philo s.-phihh  Classe  vom  4.  Februar  188S. 

Dauae  leichter  zu  gewinnen.  Das  letztere  ist  gewiss  richtig 
und  man  kann  dafür  nicht  bloss  auf  ein  ähnliches  Mittel  im 
Herakles,  sondern  auch  im  Kresphontes  verweisen.  Aber 
jene  Erzählung  einfach  zur  Grundlage  der  ganzen  Handlung 
zu  machen,  wie  es  auch  Welcker  S.  008  ff',  getlian  hat,  ver- 
bieten uns  mehrere  Bruchstücke,  welche  in  einer  solchen 
Handlung  unmöglich  Platz  finden,  welche  vielmehr  auf  eine 
weitere  Ausgestaltung  des  Mythus  hinweisen.  Schon  der 
Umstand  erweckt  schwere  Bedenken  gegen  die  Auffassung 
von  Welcker,  dass  Diktys  in  demselben  eigentlich  keine 
Rolle  hat  und  nur  deshalb  dem  Stücke  seinen  Namen  gibt, 
weil  er  zuletzt  auf  den  Thron  erhoben  wird.  Eine  grosse 
Schwierigkeit  bietet  ferner  fr.  342,  in  welchem  vor  Piaton 
die  s.  g.  Platonische  Liebe  dargelegt  wird : 

cpiXog  yoQ  rjv  (xoi^  xat  ;i/'  e'iowg  "loi  ttots 

ovy.  eig  xo  /uwqov  ovda  (x'  elg  Kvtiqiv  tq^jimv. 

öAA'  bOXL  ör]   €ig  al'kog  h>  ßgorolg  tQcog 

ipvxrjg  di'Kaiag  Oiöcpqovög  xe  '/.dyadiig. 

y.ai  yqrjv  öi  xuig  ßqoioloi  roj'd'  eivai  vu/.tov, 

xwv  evaeßovrxwv  oixivtg  ye  oiocfQOvng 

fqäv,  KmcQiv  öe.  rtjV  Jiog  xaiqeiv  sav. 

Zunächst  bedarf  der  Text  einer  Verbesserung;  denn  die  Sätze 
cpiXog  ijv  f.ioi  und  ,t/'  ;'q('Jq  Vloi  vioxe  stehen  in  keinem 
logischen  Zusammenhang.  Nauck  vermutet  q>i'Xov  ydq  i]^ih', 
Ei  f.i'  tQCog  l'loi  jioxL  Aber  dass  "Ao/  dem  (fllog  i^v  ent- 
sprechend in  ultv  zu  verändern  ist,  bestätigt  das  folgende 
olV.,  wofür  man  sonst  ^iri  erwarten  würde. 

Hiernach  kann  die  schon  vorher  schwer  mit  dem  Inhalt 
vereinbare  Auffassung  von  Matthiä  „videntur  esse  verba  Dic- 
tyis,  Polydectem  coercere  cupientis"  oder  von  Ad.  Scholl  Beitr. 
zur  Kenntnis  der  tr.  P.  d.  Or.  S.  151  „üanae  sagt  so  in 
leiser  Erinnerung  der  Vergangenheit  von  ihrem  einstigen 
olympischen     Gatten    oder    im    Hinblitk     :uil'    ein     früheres 


WecMein:   Traf/ödien  des  Eiiripides.  lli^ 

besseres  Betragen  de-  Polydektes'  oder  von  Welcker  „Danae 
stellt  dem  Polydektes  auch  jetzt  noch  den  Perseus  entgegen, 
der  ihr  zu  lieb  gewesen  sei,  um  andrer  Liebe  Raum  zu  geben" 
in  keiner  Weise  mehr  gelten.  Die  Worte  kann  nur  Danae 
in  Bezug  auf  Diktys  sagen,  mit  dem  sie  zusammenlebt  und 
der  sie  ebenso  edel  behandelt  wie  in  der  Elektra  der  Land- 
niaiui  die  Elektra.  Das  ganze  Bruchstück  gehörte  also  augen- 
scheinlich zum  Prolog  des  Dramas,  an  welchen  sich  wahr- 
scheinlich der  Auftritt  anschloss,  in  welchem  Diktys  die 
Danae  tröstet  ffr.  336).     Etwas  Weiteres   lehrt  uns  fr.  343 

LiTj  ver/.og,  w  yegaie,  y.oiQavoig  zid^ov ' 
aeßeiv  da  rovg  /.gavoivTag  agyalog  v6(.iog. 

Scholl  und  Welcker  legen  diese  Mahnung  der  Danae  in  den 
Mund,  welche  dieselbe  an  Diktys  oder  an  den  Pädagogen 
des  Perseus  richten  soll.  Es  kann  kein  Zweifel  sein,  dass 
Matthiä  das  Richtige  getroffen  hat:  verba  esse  videntur  chori 
Dictvn  a  iurgio  cum  Polydecte  persequendo  avocans.  Wenn 
aber  der  Chorführer  den  Diktys  in  solcher  Weise  anredet, 
kann  dieser  nicht  der  Bruder  des  Königs  sein.  Diktys  ist 
ein  gemeiner  Mann,  ein  Fischer,  wie  er  in  der  63.  Fabel  des 
Hygin  bezeichnet  ist:  Danae  .  .  Quam  (arcam)  piscator  Dictys 
cum  invenisset,  effracta  vidit  mulierem  cum  infante ;  quos  ad 
regem  Polydectem"  perduxit  etc.,  vgl.  Stat.  silv.  II  1,  95 
fluctivagus  .  .  Dictys.  Dieser  niedrige  Stand  des  Diktys 
wird  bestätigt  durch  fr.  347 

TtokXolg  7iäqog  toi  y.a(fi^6vi]Oa  drj  ßgoTiuv 
ooTig  /m/jAoiv  io&Xog  lov  Of.i0iog  jjv.^) 
KÖyiov  ituTuior  elg  auilKav  s^iojv 
ro  6'   rjV  Öq'  oly.  axotorov  ovo''  Oivaoyetoy 
or/ctv  vJ.voYiu  öeivu  /iQog  xaxiovojv. 


1)  .Tdoo?  TOI  habe  ich  für  ,-rdoförj  (.vielen  habe  ich  es  bisher 
sogar  übel  genommen,  wenn  einer"  u.  s.  w.)  und  ^v  für  das  gram- 
matisch unhaltbare  //  geschrieben. 


112      Sitzung  der  phihs.-philol.  Cla.sse  vo»!  4.  Februar  1888. 

Diktys  ist  dem  König  in  heftiger  Rede  entgegengetreten.  In 
den  gewöhnlichen  zwei  Versen  verweist  ihm  der  Chorführer, 
wenn  er  aucli  wahrscheinlich  das  Gerechtfertigte  des  Inhalts 
anerkennen  muss,  die  Form  der  Rede  und  das  respektwidrige 
Auftreten  gegen  den  König.  Dieser  erwidert  die  Heftigkeit 
mit  gleicher  Heftigkeit  —  am  Anfang  der  Erwiderung  mochte 
fr.  344  stehen 

^ev  q)ev,  7ialai6g  alvog  wg  /.aXwg  k'xei' 
0V7.  av  yävoLTO  yQrjGTog  ez  ytanov  TtazQog  — 

mid  entschuldigt  dem  Chore  gegenüber  seine  Heftigkeit  mit 
den  oben  angeführten  Worten,  er  habe  es  schon  manchen 
Edlen  verargt,  wenn  sie  sich  mit  gemeinen  Menschen  in 
Schelten  und  Zanken  einliessen;^)  in  diesem  Falle  aber  habe 
er  nicht  schweigen  und  den  Hohn  von  Niedrigeren  uner- 
widert lassen  können.  Der  Entgegnung  des  Diktys,  welche 
auf  diese  Rede  folgte,  entstammt  fr.  345 

elg  d'  evylveiav  oli'y'  lyto  <pQaoai  ym/m' 
6  luiv  ycLQ  so^Xog  evyevi^g  t/AOiy''  dvi^q, 
0  d'  ov  diKaiog  /.av  dfUEivovog  rcatQog 
Zr]v6g  71  ecfvv.rj,'^)  dvayevrig  eivai  öoKel. 

Dass  Diktys  in  dieser  Streitrede  den  auf  die  Danae  gerich- 
teten Absichten  des  Königs  entgegentritt,  lehrt  fr.  339 

ovTiov  di  Tiaidiüv  -/.al  7ie(frvx6Tog  yevovg 
■/.aivoig  (ftrevoai  /caldag   l.v  do/uoig  d^äXeig, 
e'x^gav  (.lEyioir^v  oo'ioi  ovfißdKlon'  rr/voig. 


1)  Vf^l.  fr.  1037  all'  ov  tiqetcei  Tvgavvov,  (hg  yyw  cpQovw,  ov8' 
ärbou  j^ijtjOTÖv  VF.Ty.og  aiQeo&ni  (aQaoOui  '0  y.anoTg  '  rif-ii]  yäg  avrt}  roToir 
äodsvsoTegoig. 

2)  Aenderungen  dieses  Textes  sind  entschieden  abzuweisen;  die 
Uyperbf'l  ist  ganz  an  ihrer  Stelle  und  dass  aiiei'vovog  sich  aiit'  edle 
Abkunll  bezieht,  lehrt  der  Zusammenhang. 


Wecklexn:  Tragödien  des  Euripides.  H3 

Der  König  will  den  Diktys  durch  Geld  bestimmen,  ihm  die 
Danae  auszuliefern.  Darauf  beziehen  sich  die  Worte  des 
Diktys  fr.  84G 

,«rj   uoi   rrox'  eifj  xoijUazuyv  rr/.coueviü 
y.a/.Co  yEvioiyca   liir^d'   ö(.iiXoi}]v  '/.a-/.o~ig. 

Ob  übrigens  die  Einrede  von  fr.  339,  auf  welche  Polydektes 
mit  fr.  340  und  341  erwidert,  dem  Diktys  oder  vielmehr 
einer  vorausgehenden  Seene  angehört,  in  welcher  Danae  selbst 
den  König  von  der  beabsichtigten  Heirat  abzubringen  suchte, 
lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  erkennen. 

In  dem  eben  erwähnten  fr.  340  ist  von  dem  Verhältnis 
des  Vaters  zu  den  Kindern  die  Rede: 

rravega  te  ;raiah'  rjditog  ovve/.q^tQEiv 
0(fe).og^)  igtorag  fZ/iaAovr'   aiii^aöiav 
na'iddg  re  rcargi '  -/.ai  yoQ  ovy.  ai-d^aiqeToi 
ßqoToig  igtoTeg  ovo'  e/.ovöia  vöoog  y.ia. 

Dass  der  Vater,  auf  welchen  sich  die  Worte  beziehen,  Poly- 
dektes ist,  steht  nach  fr.  339  fest.  Nun  aber  behandeln 
noch  zwei  Bruchstücke  das  Verhältnis  von  Kindern  und  Vater, 
beziehungsweise  Eltern,  338 

iyoj  vouiCcü  /taTQt  (pikraTOv  xiv.va 
jtOLio'iv  TB   rovg  Texovrag,   ocdi   oiuuaxovg 
äkkovg  yevia&ai  g>i]f-t^  oi'  evöi/.vneQOvg 


und  334 


Eig  yäq  rlg  eoti  -/.oivog  dvO^gtuTioig  vöi-iog 
y.ai  ifeolai  tovto  öo^av,  wg  aacpwg  )Jyoj, 
d-r^gaiv  re  rraoi,  xh.va  zi-Atovaiv  (fiXelp. 
To   d'  dXla  X(jgig  ygoniei^^  ci)M[Xojr  v6f.ioig. 


1)  oqs/.o;  habe  ich  für  rfi/.o;  /(ft'/.ov.;!  geschrieben. 
1888.  Philos.-philol.u.hist.Cl.  1.  8 


114       Sitzung  der  philos.-philol.  Claaae  vom  4.  Februar  18S8. 

Das  letztere  Bruchstück  kann  flein  Gespräch  der  Danae  mit 
Diktys  angehören,  von  welchem  fr.  33(3  herrührt.  Anders 
steht  es  mit  dem  ersten.  Nach  fr.  340  kann  man  geneigt 
sein,  in  dem  Vater  gleichfalls  Polydektes  zu  sehen  und  Scholl 
wie  Welcker  bringen  die  beiden  Bruchstücke  in  Zusammen- 
hang. Aber  es  handelt  sich  hier  um  gegenseitigen  Schutz, 
nicht  um  Unterstützung  in  der  Liebe.  Der  Vater,  welcher 
seine  Kinder  beschützen  will,  kann  nicht  Polydektes  sein, 
dem  es  nur  darauf  ankommt,  den  Anstoss,  welchen  eine 
zweite  Heirat  bei  seinen  Kindern  erregen  kann,  abzuleugnen. 
Man  kann  nur  —  denn  ein  anderer  Vater  kommt  nicht  in 
Betracht  —  an  Akrisios,  den  Vater  der  Danae,  denken.  Dies 
führt  uns  wieder  auf  die  Fabel  des  Hygin  zurück,  in  welcher 
es  heisst:  quod  cum  Acrisius  rescisset,  eos  ad  Polydectem 
morari,  re]ietitura  eos  profectus  est.  Es  gab  also  eine  Form 
des  Mythus,  nach  der  Akrisios  seine  Tochter  von  Seriphos 
nach  Arges  zurückholen  will.  Das  Gleiche  hat  Scholl  ge- 
schlossen aus  fr.  349 

eI  d'  r^od^a  i^rj  xd-Kiazog,  ovttot'  av  Ttatqav 
Tr\v  öy\v  driCtov  rrjj'd'  dv  evloyeig  7ioXiv ' 
wg  €v  y'  si-iol  y.qivoiz'  dv  ov  'Aalcog  (fQOveh' 
ooTig  7raTQ(/)ag  yr^g  drii^d/^iov  oqovg 
d'kXrjV  artaivsT  y.cti  TQonoiaiv  rjöeTai. 

Scholl  glaubt,  Akrisios  in  seinem  Reiche  von  Prötos  beein- 
trächtigt, wolle  jetzt  die  verstossene  Tochter  anerkennen  und 
im  Enkel  einen  Erben  finden,  der  ihm  die  Herrschaft  sichern 
solle.  xMit  den  angeführten  Worten  rede  er  den  Perseus  an, 
der  nicht  ins  Vaterland  zurückkehren,  sondern  auf  der  Insel 
bleiben  wolle.  Mag  Euripides  den  Akrisios  von  noch  so 
rauher  und  heftiger  Gemütsart  dargestellt  haben,  die  Schmäh- 
ung el  J'  tjoO^a  i^iij  xdxiaTog  würde  in  einer  solchen  Situation 
nicht  denkbar  sein.  Welcker  gibt  die  Worte  dem  Polydektes, 
der    einen    Unbekannten,    welcher    um    einen    Wohnsitz    in 


Wecklein:  Tragödien  des  Euripides.  H-'j 

Seriphos  zai  unterhandeln  scheine,  znrückweise.  Aber  Poly- 
dektes  hat  keinen  Grund,  einen  Mann  der  sein  Land  preist, 
als  niederträchtig  zu  bezeichnen.  Es  muss  meiner  Ansicht 
nach  feststehen,  dass  Akrisios  die  Worte  spricht.  Was  den 
Angeredeten  betrifft,  so  muss  dieser  ein  Argiver  sein  und 
es  ist  zweierlei  möglich.  Entweder  tritt  Perseus  dem  Akri?iios 
gegenüber  ohne  von  diesem  gekannt  zu  sein,  nachdem  er  nur 
sein  Vaterland  angegeben  hat,  oder  Diktys  ist  von  Euripides 
nicht  als  ein  eingeborener  Seriphier,  sondern  als  ein  über- 
gesiedelter Argiver  dargestellt  worden.  Man  kann  sich  aber 
nicht  recht  denken,  wie  Perseus,  wenn  er  sein  Verhältnis 
zur  Danae  nicht  angibt,  sich  in  einen  solchen  Streit  mit 
Akrisios  verwickeln  soll.  Perseus  kennt  auch  die  Sitten  von 
Argos  nicht,  kann  also  nicht  über  dieselben  losziehen.  Dem- 
nach bleibt,  wie  es  scheint,  nur  das  eine  denkbar,  dass 
Diktys  dem  Akrisios  von  früher  her  bekannt  ist  und  diesem, 
da  er  aus  irgend  welchem  Grunde  sich  seiner  Tochter  be- 
mächtigen will,  energischen  Widerstand  leistet.  Sehr  passend 
kann  sich  dabei  Diktys  über  die  Sitten  ^)  seiner  neuen  Heimat 
rühmend  äussern  und  dieselben  in  Gegensatz  zu  Argivischen 
Sitten  stellen. 

Nunmehr  fällt  Licht  auf  das  oben  behandelte  Fragment 
(342),  nach  welchem  seit  langer  Zeit  zwischen  Danae  und 
Diktys  ein  platonisches  Verhältnis  besteht.  Danae,  die  Braut 
des  Zeus,  ist  mit  Diktys  verheiratet  und  war  es  schon  in 
Argos,  aber  nur  zum  Scheine,  so  wie  in  der  Elektra  der 
Landmann  mit  der  Königstochter.  Wenn  Akrisios  seine 
Tochter  nach  Argos  zurückholen  will,  so  kann  er  vorgeben, 
da.s.s  er  sie  mit  einem  reichen  Manne  verheiraten  wolle.     Da- 


1)  zgö.Totaiv  TJSsTai  heisst  nicht  „sich  über  den  Wechsel  freut", 
wie  es  Scholl  übersetzt,  sondern  „sich  der  Sitten  erfreut",  .sich  den 
Sitten  des  anderen  Landes  gerne  anbequemt  und  seiner  Nationalität 
ent  äussert". 

8* 


116      Sitzung  der  phiJos.-philol.  Classe  vom  4.  Februar  18SS. 

mit  erhiilten  wir  eine  Sitii.ition,  in  welche  das  von  H.  Weil, 
un  papyrus  inedit  de  la  bibliotheque  de  M.  Ambroise  Firmin- 
Didot.  Paris  1879  veröffentlichte  grosse  Fragment  des  Euri- 
pides  passt.  Dieses  enthält  die  Rede  einer  Frau,  in  welcher 
sie  in  edlen  Worten  die  Pläne  ihres  Vaters  zurückweist,  der 
sie  aufgefordert  hat,  ihren  armen  Gatten  zu  verlassen  und 
den  ihr  zugedachten  reichen  Bräutigam  zu  heiraten.  Bisher 
kannte  man  unter  den  Heldinnen  der  Furipideischen  Dramen 
nur  eine  einzige  Frau,  die  einem  solchen  Ansinnen  wider- 
strebte, die  Hyrnetho  in  den  Temeniden,  Nach  Paus.  11 
28,  3  wollten  die  Söhne  des  Temenos  den  von  ihrem  Vater 
bevorzugten  Deiphontes,  den  Gemahl  der  Hyrnetho,  dadurch 
kränken,  dass  sie  Hyrnetho  von  ihm  trennten.  Sie  kamen 
mit  Ausnahme  des  jüngsten,  der  sich  fernhielt,  vor  Epidauros 
und  liessen  ihre  Schwester  vor  die  Stadt  rufen.  Sie  erhoben 
schwere  Anklagen  gegen  Deiphontes  und  baten  H^^rnetho 
nach  Argos  zu  kommen,  wo  sie  einen  besseren,  reicheren 
und  mächtigeren  Gemahl  erhalten  solle.  Diese  erwiderte,  sie 
sei  mit  Deiphontes  zufrieden,  der  ein  würdiger  Schwieger- 
sohn des  Temenos  sei,  während  sie  eher  Mörder  als  Kinder 
des  Temenos  zu  heissen  verdienten  (vgl.  Apollod.  11  8,  5,  ?>). 
Darauf  führten  die  Temeniden  ihre  Schwester  gewaltsam  fort. 
Deiphontes  eilte  ihnen  nach ;  in  dem  Kampfe,  der  nachher 
entstand,  verlor  Hyrnetho  das  Leben.  Wir  haben  in  diesem 
Mythus  allerdings  das  Motiv,  welches  in  dem  Fragmente  her- 
vortritt, und  man  müsste  sagen,  dass  Euripides  den  Mythus 
dahin  geändert  habe,  dass  er  an  die  Stelle  der  Söhne  den 
Vater  setzte.  Allein  damit  steht  der  Titel  Ttjf.ievidai  in 
Widerspruch,  welcher  die  Hau])trolle  den  Söluien  des  Temenos 
zuweist,  mit  der  gewöhnlichen  Gestalt  der  Sage  also  über- 
einstimmt. Man  niusste  sich  über  dieses  Bedenken  hinweg- 
setzen, solange  Hyrnetho  als  die  einzige  Heldin  bekannt  war, 
an  die  jenes  Ansinnen  gestellt  wurde.  Nachdem  uns  aber 
Danae  in  ähnlicher  Lage  entgegentritt,   werden  wir  zu  dieser 


WecMein:   Tntfiüdien  Jes-  Eitripides.  1"^ 

Auskunft  «:feni  unsere  Zuflucht  nehmen.  Nunmehr  erscheinen 
uns  die  Worte  des  Fragments  V.   17 

yiyovEv  s-Kshog  elg  tu    olov  i^^iovv 

in  anderem  Lichte :  Danae  deutet  damit  an,  dass  Diktys  sieh 
der  eheliehen  Gemeinschaft  enthielt.  Wenn  Cobet  richtig 
gesehen  hat,  dass  in  dem  rätselhaften  EvQiniör]g  CMOJPE- 
FATHC,  welches  die  eine  Abschrift  des  Bruchstücks  bietet, 
aXog  eQyctTi]g  d.  i.  aXiEig  enthalten  ist,  so  liegt  darin  eine 
sehr  willkommene  Bestätigung  für  den  Diktys,  den  Fischer 
xar'  i^oyrjv.  Immerhin  bleibt  noch  manches  Dunkel,  wie 
ich  nunmehr  nicht  weiss,  wie  das  Fragment  einer  Römischen 
Tragödie  (ad  Herenn.  II  24,  38) 

iniuria  abs  te  adficior  indigna.  pater ; 
nam  si  improbum  esse  Cresphontem  existunuis, 
cur  nie  liuic  locabas  nuptiis?  sin   est  probus, 
cur  talem  invitam  invitura  cogis  liuquere  ? 

zu  verbessern  ist  (vgl.  Philol.  39  S.  408). 

Wenn  wir  von  dieser  vermuteten  Ausgestaltung  des 
Mythus  absehen,  so  scheint  nach  den  bisher  bekannten  Resten 
festzustehen,  dass  Danae  in  ihrer  neuen  Heimat  zwei  An- 
griffen ausgesetzt  ist :  in  dem  ersten  Teile  des  Stücks  will 
Polydektes  ihre  Liebe  gewinnen,  in  dem  zweiten  macht 
Akrisios  den  Versuch  sie  nach  Argos  zurückzuholen.  Dem 
Uebergang  von  dem  einen  zum  anderen  Teile,  von  der  einen 
Bedrängnis  zur  anderen  gehören  die  Worte  der  Danae 
fr.  337  an  : 

OQi^olg ; 
Perseus,  auf  welchen  sich  fr.  335  bezieht, 

veog,  rcövoioi  d'  ov/.  dyvfxvaotog  cpqevag, 


IIb       Sifzu)i(/  cicv  philos.-philol.  Chtsse  vom  4.  Februar  1888. 

muss,  nachdem  er  anfänglich  für  tot  ausgegeheii  worden  ist, 
erscheinen  und  seine  Mutter  von  ihren  beiden  Bedrängern 
befreien.  Diktys  aber,  welcher  sich  als  treuer  Beschützer 
der  Danae  erwiesen  hat,  ist  würdig,  aus  einem  Fischer  ein 
König  zu  werden. 

4.  Phaethon. 

Die  Aufdeckung  auch  des  unbedeutendsten  Punktes 
dieses  Dramas  kann  uns  erfreuen,  wenn  wir  an  die  schöuen 
Worte  Goethes  denken:  „Möge  die  Folgezeit  noch  Einiges 
von  dem  höchst  Wünschenswerten  entdecken  und  die  Lücken 
authentisch  ausfüllen ;  ich  wünsche  Glück  denen,  die  es  er- 
leben und  ihre  Augen,  auch  hiedurch  angeregt,  nach  dem 
Altertum  wenden,  wo  ganz  allein  für  die  höhere  Menschheit 
und  Menschlichkeit^)  reine  Bildung  zu  hoffen  und  zu  er- 
warten ist".  Der  Wunsch  Goethes  ist  uns  insofern  in  Er- 
füllung gegangen,  als  durch  die  Bemühung  von  Blass  (de 
Phaethontis  Euripideae  fragmentis  Claromontanis.  Kiel  1885) 
aus  dem  Palimpsest  noch  allerlei  Reste  zutage  gekommen 
sind,  welche,  wenn  auch  unbedeutend,  doch  verschiedene 
Momente  der  Handlung  aufklären. 

Da  vor  die  Parodos  eine  Unterredung  zwischen  Mutter 
und  Sohn  fällt,  so  muss  entweder  Klymene  oder  Phaethon 
den  Prolüg  im  engeren  Sinne  sprechen.  Denn  das  ist  die 
gewöhnliche  Weise  des  Euripides,  dass  zu  der  Person,  welche 
den  Prolog  hat,  eine  zweite  hinzutritt  und  der  Monolog  in 
Dialog  übergeht.  So  in  der  Alkestis,  Andromache,  Helena, 
Elektra,  den  Herakliden,  der  Medea,  dem  Orestes,  den  Troades, 
im  Philoktetes.  Nur  iu  wenigen  Stücken  folgt  unmittelbar 
auf   den  Monolog    die   Parodos,    in    den  Bakchen,  Hiketiden, 


1)  Die  Zusammenstellung  von  Menschheit  und  Menschlichkeit 
kann  uns  überraschen;  aVier  Menschheit  ist  nicht  j^enus  humanuni, 
sondern  humanitas. 


Wccl-Jciii :   Traf/öilien  des  Eurijndes.  1 1  •' 

im  Kyklops,  auch  in  der  Androuiedci,  in  welcher  an  die 
Stelle  des  jambischen  Monologs  eine  anapästische  Partie  ge- 
treten ist.  Manchmal  spricht  ein  Gott  oder  ein  ähnliches 
Wesen  den  Prolog  und  erst  nach  dessen  Abgang  treten  Per- 
sonen der  Handlung  auf,  im  Jon,  in  der  Hekabe,  im  Hippolyt. 
Nur  in  der  Taur.  Iphigenie  erscheint  zuerst  die  Priesterin 
und  nachdem  sie  in  den  Tempel  zurückgegangen  ist,  kommen 
Orestes  und  Pylades.  Man  kann  überall  leicht  erkennen, 
dass  der  Dichter  sich  durch  die  besonderen  Verhältnisse  der 
Handlung  von  seiner  gewöhnlichen  Weise  abbringen  liess. 
Da  sich  nun  im  Phaethon  Klymene,  welche  von  den  Personen 
der  Handlung  am  besten  unterrichtet  war,  für  die  Mitteilung 
der  vorausliegenden  Begebenheiten  bestens  eignete,  so  dürfen 
wir  gewiss  an  der  gewöhnlichen  Weise  des  Euripides  fest- 
halten. Auch  scheinen  die  Worte  fr.  771.  4  /.alovoi  d' 
arTTjv  yeiroveg  [.iBlöf-ißgoToi  besser  einem  Menschen  als  einem 
Gotte  zuzukommen.  Blass  meint,  Klymene  trete  gleich  mit 
Phaethon  auf.  Auch  das  würde  von  der  Gewohnheit  des 
Euripides  abweichen;  denn  nur  in  einem  einzigen  der  er- 
haltenen Stücke,  im  Herakles,  ist  die  zweite  Person  von  An- 
fang an  anwesend.  Hier  rauss  Megara  mit  Amphitryon 
schutzflehend  am  Altare  sitzen;  fern  vom  Altare  würde  sie 
schutzlos  sein.  Da  im  Phaethon  gar  kein  Grund  ersichtlich 
ist,  weshalb  Phaethon  von  Anfang  an  auf  der  Bühne  zugegen 
sein  müsste,  so  werden  wir  ihn  erst  nach  dem  Monologe  zur 
Klymene  hinzutreten  lassen.  Es  lässt  sich  auch  aus  den  von 
Blass  veröffentlichten  Zeilenresten  die  Stelle  entnehmen,  bei 
welcher  Phaethon  auftritt,  nämlich   bei  Zeile  9 

all'  aiiov  lüde  y.toXov  evi^v]vovd^'  oqoj, 
;iQÖg  fiHjTiQ'   r/.rög  diofidztov  6Qf.i^a.i.tevov. 

Allerdings  stehen  schon  vorher  am  Schluss  von  Zeile  2  und  »3 
die  zwei  Punkte,  welche  nach  der  Bemerkung  von  Blass 
Personenwechsel  andeuten  sollen.     Aber   diese  Interpunktion 


120     SitzuHf/  der  p]iilo.s.-jihilo].  Clussc  vom  4.  Februar  1888. 

findet  sich  auch  Z.  55  (fr.  775,  14),  wo  von  einem  Personen- 
wechsel keine  Rede  ist.  Sie  bezeichnet  also  nur  den  Schluss 
eines  Gedankens.  Der  folgende  Versrest  oijXiovg  d.  i.  offen- 
bar yaf.ft]Xlovg  passt  zu  der  Begrüssung  des  Phaethon  vonseiten 
der  Klymene.  Da  zwischen  der  letzten  verstümmelten  Zeile 
und  dem  Anfang  der  erhaltenen  Partie  nur  vier  Zeilen  ver- 
loren gegangen  sind,  so  kann  weder  fr.  773  noch  auch  772 
dieser  Partie  angehört  haben,  weil  selbst  für  das  zweizeilige 
fr.  772  der  Raum  von  vier  Zeilen  zu  eng  ist,  um  Vermitt- 
lung und  Anschluss  an  das  Erhaltene  aufzunehmen.    Fr.  778 

deivov  ye,  tolg  jtXovzovoi  tovto  d'  l'(.icpvTov, 
o/.aioioLv  Eivaf  ti  noxE  Tovö'  i/rahwv; 
(xq'  o'Aßog  avzolg  ort  TvcfXög  Gvvi)Q£T£i, 
tvcplccg  t'xovOL  rag  cfQtvag  /.ai  dvoTvxe~ig\'^) 

eignet  sich  auch  dem  Inhalte  nach  wenig  für  die  Unter- 
redung der  Mutter  und  des  vSohnes.  Goethe  lässt  die  Worte 
den  Phaethon  im  später  folgenden  Zwiegespräch  mit  dem 
Vater  sprechen.  Rau  gibt  das  Fragment  dem  Merops  in  den 
Mund,  Blass  denkt  an  Hehos,  der  diesen  Ausruf  gethan 
haben  soll,  nachdem  Phaethon  den  Wagen  gefordert  hat. 
Aber  der  Ausruf  des  Helios  müsste  berichtet  sein  und  für 
einen  Bericht  passen  die  Fragen  ti  noze  xxf,.,  a^'  ölßog  /.ra. 
wenig.  Der  Ton  des  Fragments  eignet  sich  am  besten  für 
den  Boten,  welcher  den  Untergang  des  Phaethon  erzählt  und 
zwar  für  den  Anfang  der  Q^oig,  während  wir  dem  Schlüsse 
fr.  778 

fv  Toloi  /jWQOig  TOit'  iyw  y.Qivoi  (igoTOJv, 
ooTig  7caTr]Q  lov  naioi  (xr^  cpQovovaiv  ev 
7]  xat  jcoXixaLg  Tcagadidcoo^  s^ovoiav. 


1)  In  Z.  2  liiibe  ich  rnTifi'  FTiairior  für  xovüs  (zornov)  raltiov 
(Nauck  tovbi  ■/"  ai'jinri  ;,'ps(hiiHb(,'n,  in  Z.  4  mit  Halm  SvarvxeT?  für 
rrjg   ivxV^- 


Wcelleiii:   Tra/jödicn  den  Euripidcs.  i-l 

zuweisen.  Gerne  treten  die  Boten  mit  Khi^ren  und  Ausrufen 
auf  und  werden  durch  Fragen  auf  den  Bericht  geführt  und 
am  Schlüsse  geben  sie  gewöhnlich  eine  allgemeine  Lehre. 
Fr.  772 

iXeid^EQog  d'  cor  öülXög  soti  tov  Uyovg 
ne/iQCit.dvov  tö  aü)/.ia  r^t;  (feQvrig  t^iov. 

würde  dem  Inhalte  nach  sich  für  das  Zwiegespräch  vun 
Mutter  und  Sohn,  in  das  es  Goethe,  Rau,  Matthiä,  Welcker, 
Blass  u.  a.  setzen,  sehr  gut  eignen.  Denn  offenbar  macht 
Klymene  ihrem  Sohne  die  Mitteilung,  dass  er  von  Helios 
stammt,  deshalb,  weil  er  sich  der  Heirat  einer  (löttin  un- 
würdig erklärt  und  dem  Grundsatz  t/jV  xara  oavxov  tla 
huldigt.  Da  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Raum  fehlt, 
müssen  wir  Wilamowit/  beistimmen,  wenn  er  (Hermes  XVHI 
S.  400)  das  Bruchstück  der  Unterredung  von  Vater  und  Sohn 
nach  der  Parodos  zuweist.     Auch  für  fr.  774 

wg  iiavxaxov  ye  Jiaxqig  r)  ß6o'/.oioa  yrj, 

welches  Goethe  mit  Recht  dem  Phaethon  gibt,  scheint,  nach- 
dem keine  Spur  davon  in  den  Versresten  sich  findet,  selbst 
in  der  vierzeiligen  Lücke  kein  Platz  zu  sein.  Darum  dürfte 
Goethe  Recht  behalten,  wenn  er  es  in  das  Gespräch  zwischen 
Vater  und  Sohn  setzt.     Goethe  reiht  fr.  77G 

O^EQfAT]  d'  ava/.Tog  cplö^  VTteQxüJkovoa  yijg 
■/MUi  ra  noQQw,  Tayyv^ev  d'  ety.Qar'  lyei. 

an  das  erste  Fragment  an.  Blass  schliesst  sich  Goethe  an 
in  Widerspruch  mit  Matthiä  und  anderen,  welche  die  Worte 
in  den  Bericht  von  dem  Untergang  des  Phaethon  setzen.  Mit 
Recht  bemerkt  Blass,  dass  die  Verse  zur  Motivierung  dienen 
und  erklären,  warum  ein  Land  in  solcher  Nähe  des  HeHos 
bewohnbar  sei,  also  in  den  Prolog  gehören.    Auch  fr.  775,  5 

(D^E.  fiiüg  oh'  7iq6o£ii.ii   6wfja  ^eq(x6v  H'kiov ; 
KAY.  /.eivijj  fteXr'^aei  otü/ua  fxt]  ßXäuTEiv  x6  aov. 


122      Sitzung  der  philos.-phUol.  Classe  vom  4.  Februar  188S. 

setzt  jene  Motivieniii<if  voraus.  Wenn  sicli,  wie  es  wahr- 
scheinlich ist,  fr.  77()  an  fr.  771  unmittelbar  angeschlossen 
hat,  so  kann  man  auch  in  der  Aufeiiianderfolo'e  von  XQvoia 
(ployi  .  .  y'tEQf.iri  (fiXüB  ein  Anzeichen  dafür  linden,  dass  die 
Emendation  von  Valckenaer  in  fr.   771,  3 

'^'Hliog  avioyMv  yqvotq  ßwXw  q^ltyei 

richtig  ist.  Diese  Emendation,  welche  sich  auf  die  Notiz 
des  Diog.  L.  II  10  stützt,  dass  Euripides  im  Phaethon  den 
Ausdruck  x?'-'^*«  /:/wAoc;  gebraucht  habe,  ist  an  und  für  sich 
wahrscheinlich  und  die  Auslegung  von  Goethe,  welcher 
XQvoia  ßöjloi;  auf  den  aus  der  Sonne  herabstürzenden  bren- 
nenden Jüngling  bezieht,  ist  nicht  in  Einklang  mit  der  An- 
gabe des  Diogenes,  nach  welcher  von  dem  Dichter  die  Sonne 
so  bezeichnet  ist. 

Die  von  Goethe  trefflich  bearbeitete  Parodos  stellt  dem 
Natursinn  des  Euripides  ein  schönes  Zeugnis  aus.  In  der  sich 
daran  schliessenden  Ankündigung  des  Auftretens  iles  Königs, 
des  Phaethon  und  des  Herolds,  heisst  es  am  Schluss  (57): 

fie()i  yoQ  /Lieyakioi'  yvwf.iac.  deiBei 
Tiaiö^  v/jevaioig,  wc  fftjoi,  ^ihov 
l^ei^ai  vvf^Kfriq  te  Xenadvoig. 

Hierin  ist  mir  immer  das  unnütze  und  matte  wc,*  (pi]Oi  störend 
gewesen ;  ich  glaubte  früher,  üg  cfaoi  besage  etwas  mehr. 
Aber  nach  der  hohen  Ankündigung  neql  f-ieyälmv  yvwf.iaQ 
dei^ei  erwartet  man  entschieden  die  Angabe,  dass  es  sich  um 
die  Heirat  einer  Göttin  handle.  Bekker  las  loacfiiOi,  Blass 
glaultt  oiO(fijGi  zu  entdecken.  Es  wird  jedenfalls  ursprüng- 
lich ifjevai'oig  'Jeiokti  geheissen  habeu.  Die  richtige  Aut- 
fassung von  O^eioiai  geben  die  vorhergehenden  Worte  (50) 
O^eog  t'(5('ixfi,  XQorog  l'y.gave  X^yog  efnoloiv  oQXfTccig  an  die  Hand. 
In  dem  folgenden  Heroldsruf  hat  Blass  das  überlieferte  avriii 
d'    avdüi'    richtig    erklärt:    /.ijQi'ooo)  aviw    (seil,   ««p  (iaodel) 


Weckleiit:   Trafiödien  des  Earipides.  1-"J 

avööv,    „die    anderen    sollen  schweigen,    während    der  König 
spricht".     Der    daranf  folgenden    längeren   Rede   des  Merops 
hat  schon   Hau  de  Eur.  Phaeth.   1832  S.  26  Adesp.  450  zu- 
zuweisen im  Sinne  gehabt,  jedoch  Bedenken  getragen,    weil 
nach  dem  Citat  bei  Stobaeus  (flor.  43,  3)  die  Zugehörigkeit 
zum  Phaethon  des  Euripides  sehr  zweifelhaft  erscheinen  musste. 
Es    gehört    zu    den    schönsten    Ergebnissen   der    Arbeit   von 
Blass,    dass  man  nuumehr  weiss,    dass   dieses  Bruchstück  die 
11.— 13.  Zeile    der    langen    oija^c,-    des   Königs    bildete.     Der 
König  sagt:    „Wie  ein  SchiflF  sicherer  auf  drei  Ankern  ruht 
als   auf  einem,   so  ist   es  heilsam,    wenn    dem  Vorstand  des 
Staates   noch    ein    zweiter    als  Stütze    zur  Seite  steht".     Die 
Meinung    von    Goethe,    dass    der  Widerstreit    zwischen    Ein- 
und  Mehrherrschaft  umständlich   verhandelt  werde,  hat  nicht 
das    Richtige    getroffen.     Den   Botenbericht   hat    Nauck    mit 
Recht    vor   dem    ZAveiten    grossen    Fragment    angesetzt    (vgl. 
Wilamowitz    a.  0.    S.  407    und    meine  Bemerkungen   gegen 
Blass  in  der  Berl.  Philol.  Wochenschr.   1885  S.  1323).    Der 
Bericht  wurde  nicht  in  (iegenwart   des   Leichnams  erstattet; 
denn    die  ängstliche  Eile,    mit  welcher  Klymene    in  fr.  781 
die  Leiche  zu  verstecken  und  die  Blutspuren  zu  tilgen  sucht, 
lässt    erkennen,    dass    dieselbe    es    nicht    über    sich    gebracht 
haben  würde  in  Anwesenheit  des  rauchenden  Leichnams  einen 
umständlichen    Bericht    anzuhören.      Ja    schon    der    Rauch, 
der  von  der  Leiche  ausgehen  soll,   gestattet  nicht,   dass  die- 
selbe längere  Zeit  auf  der  Bühne  liege.    Zunächst  also  wird 
erzählt,  wie  Phaethon  zu  Helios  kam,  seinen  Wunsch  vortrug 
in  Erinnerung  an  das  der  Mutter  gegebene  Versprechen,  den 
Warnungen    des   Helios    kein  (Jehör    gab,    dann    von    Helios 
Verhaltungsbefehle    für   die    Fahrt   erhielt,    wie    er    begleitet 
von  Helios,  der  hinter  dem  Wagen  herritt,  die  Fahrt  unter- 
nahm und  dabei  zugrunde  ging  (fr.  773,  779,  888,  780,  901, 
778).      Der    Berichterstatter    ist    wahrscheinlich    ein    Diener 
des  Helios.     Einem  solchen  kommt  der  Ton  von  fr.  778  zu. 


124      Sitzumj  der  philos.-philol.  Classc  mm  4.   Februar  1888. 

Der    folgenden  Klage    der   Mutter    wird    mit    Recht   fr.  782 
und  783 

cfiXog  de  f.ioi 
aXovzog  ev  rpagay^L  ori^texuL  vi'Avg 

zugewiesen.  Der  Leichnam  wird,  vielleicht  von  Hirten,  ge- 
bracht. Nach  kurzem  Ausdruck  ihres  Entsetzens  und  ihrer 
Ratlosigkeit^)  lässt  ihn  Klymene  in  die  Schatzkammer  schaffen: 
damit  tritt  der  Hauptehor  ab.  um  sich  schnell  hinter  der 
Bühne  in  einen  Jungfrauenchor  zu  verwandeln,  welcher  in 
Begleitung  des  Königs  das  Hochzeitslied  anstimmt.^)  Er 
besingt  Aphrodite  und  Eros  als  die  Ehe  stiftenden  Gott- 
heiten, nicht  aber  etwa  Aphrodite  als  Braut,  wie  man  selt- 
samer Weise  aus  diesem  Fragment  geschlossen  hat.  Wer 
aber  ist  die  göttliche  BrautV  Rau  (S.  55)  dachte  an  Eos, 
Welcker  (8.  598)  an  eine  Tochter  des  Okeanos.  Wir  dürfen 
gewiss  annehmen,  dass  Euripides  nicht  willkürlich  irgend  eine 
Gottheit  zur  Braut  des  Phaethon  machte,  sondern  sich  auf 
einen  alten  Mythus  stützte.  Dieser  Mythus  sagte  demnach 
aus,  dass  eine  Göttin  den  Phaethon  zum  Bräutigam  erhalten 
sollte,  dass  dieser  aber  vor  der  Hochzeit  unterging.  Wir 
erhalten  damit  den  Mythus  von  Phädra  und  Hippolytos  (vgl. 
Einl.  zu  meiner  Ausgal)e  von  Eur.  Hipp.  S.  1  f.),  nur  in 
anderer  Motivierung.  Phaethon,  der  Sohn  des  Helios,  ist  wie 
Hipi)olytos  ein  anderer  Helios.  Der  Phädra,  der  Mondgöttin, 
steht  Selene  gleich.  Selene  betrachten  wir  als  die  Braut 
des  Phaethon  und  erblicken  eine  Bestätigung  dafür  in  dem 
eben  behandelten  Fragment  V.  25  doTEQo/coloiv  ööfAOioi 
XQuaioig  aqyov.  Phaethon  soll  Begründer  eines  sternfunkelnden 
goldenen  Hauses  werden.    Passend  wird  das  Haus,  in  welchem 


1)  In  Ziff.  29  H.  .t|o/o)  roi/v/)  .  .  y.Qi^(p§r]]aF.tai ;  .  .  Jihjoi'n]}-  fV 
aoTEOjg  .  .  fiolntp'  .  .  yanyßiov  erkennt  man  einen  ähnlichen  Inhalt 
wie  in  fr.  781,  4  f. 

2)  Vgl.  die  Einl.  /,ii  meiner  Ausg.  des  Hipj).  8.  20. 


WecMein:    Trnfiörlie»  des  Eitripiäes.  l25 

Selene  als  Gattin  walten  soll,  so  bezeichnet,  wenn  es  auch 
Hipp.  8")1  nicht  wz-xog  doTEQto;tug  oeXävci,  wie  ii herliefert 
ist,  sondern  doieqoj.iov  aelag  geheissen  hat.  Die  Brant  muss, 
wenn  die  Hochzeit  stattfinden  soll,  in  der  Nähe  sein.  Sie 
wohnt  als  Schwester  (Hes.  Theog.  371)  oder  Tochter  (Äescli. 
frg.  445)  des  Helios  in  seinem  nahen  Palaste.  Helios  kann 
seine  Schwester  zur  Braut  geben  (^£og  s'dwxs  fr.  775,  50). 
Der  König  lässt  den  Jungfrauenchor  durch  seinen  Diener 
in  das  Hau-  geleiten,  damit  er  mit  Klymene  allen  Göttern 
Reigentänze  aufführe.  Im  Innern  verwandelt  sich  derselbe 
wieder  in  den  Chor  der  Dienerinnen,  um  nachher  neuerdings 
aufzutreten.  Ein  Diener  kommt  aus  dem  Hause  und  meldet 
dem  König,  dass  Rauch  aus  der  Schatzkammer  dringe.  Der 
König  erwidert: 

;icZq  (fi\g;  OQu  m]  O^vfioTcoi'  nvoovuevo)v 
■/All''  oiv.ov  d.t\.i6v  '/.eJo''  a/rooTalevz''  idrjg 
QEP.   a;iuria  Tavr'  TqVQijOS  -/(.avjiiOTOvoeyu. 

Ich  vermute  anavta  ravT'  i'iO^QijOa  -/.äxanvoc,  Gtiyr^. 

Nachdem  Merops  in  den  Palast  getreten  ist,  um  in  der 
Schatzkammer  die  Ursache  des  Rauches  zu  untersuchen,  stürzt 
der  Chor  in  grösster  Angst  heraus  (Epiparodos).  , Könnte 
ich  in  den  Aether  verschwinden,  sagt  er,  oder  in  die  Erde 
mich  verkriechen;  alles  Schlimme  wird  offenkundig  werden, 
der  versteckte  Leichnam  des  Sohnes,  der  Blitzschlag  des  Zeus 
und  die  Buhlschaft  mit  Helios.  0  Tochter  des  Okeanos, 
falle  dem  Vater  zu  Füssen,  auf  dass  er  den  Todesstoss  von 
deinem  Halse  abwehre".  Mit  diesen  Worten  des  Chors  ist 
der  weitere  Verlauf  der  Handlung  angegeben :  Der  König 
stellt  den  Thatbestaud  fest  und  Klymene  soll  ihre  Un- 
treue mit  dem  Tode  büssen.  Okeanos  tritt  dazwischen. 
Man  vernimmt  zunächst  den  Weheruf  des  Königs  aus  dem 
Innern.  Der  Chorführer:  r^/.ovoax'  doydg  ösotvotov  ozevay- 
fidrcor.    Der  König  ruft  wieder:   ]io  xr/.vov.    Der  Chorführer: 


12(3      Sitzmifi  der  pliilns.-philol.  CInfise  mm  4.  Februar  18SS. 

y.aXel  tov  ov  y.KvovTa  duOTvyrj  yövov.^) 
ovrjv  d'  hor/.ei'  ^Qy/.i \oto)v  Öquv  aacpi]. 

Die  Amme  tritt  auf  und  bejammert  in  einer  Monodie  das 
Geschehene,  den  tragischen  Umschlag  aus  dem  Jubel  der 
Hochzeitsfeier  in  Wehklagen  um  den  Tod  des  kurz  vorher 
glücklich  gepriesenen  Bräutigams.  Soviel  kann  etwa  aus  den 
dürftigen  Zeilenresten  entnommen  werden.  Der  Chorführer 
kündigt  das  Auftreten  des  Königs  mit  der  Leiche  des  Sohnes 
an :  od'  h.  dö{ucov)  .  .  naiöog  (fitQCov)  .  .  Das  erste  Wort 
des  Königs  kann  unmöglich  eiev  gelautet  haben,  wie  Blass 
gelesen  hat.  Eher  könnte  man  oiav  sich  gefallen  lassen, 
womit  die  dritte  Zeile  beginnt.  Aber  auch  dieses  oiav 
scheint  nicht  auf  einen  Ausruf  hinzuweisen,  sondern  sich  auf 
loQ  Elo6{iit€0^a)  der  zweiten  Zeile  zu  beziehen.  Dann  erwartet 
man  in  der  ersten  Zeile  slg  y.aiQOv  .  .  udgei :  ,es  ist  mir  ge- 
rade gelegen,  dass  du  zugegen  bist;  denn  nun  werde  ich 
erfahren,  was  es  mit  dem  Tode  meines  Sohnes  für  eine  Be- 
wandtnis hat" : 

diu  vey-lQog  iruirio/.e  Jialg  fiiog  tvxjli 
d^eäg  de  [q^gotdog  ^ariv  evv.Taiog  ya/xog. 

Die  Amme  klagt  bloss  und  will  sich  nicht  zu  Geständnissen 
herbeilassen.  Aber  die  Drolmngen  des  Königs  zwingen 
sie  dazu. 

Soweit  ist  uns  der  Gang  des  Stückes  im  allgemeinen 
klar,  lieber  die  Bestrafung  der  Klymene  und  das  Dazwischen- 
treten eines  Gottes,  des  Okeanos  wie  wir  nach  fr.  781,  68  ff. 
annehmen,  ist  uns  nichts  weiter  bekannt.  Die  Frage,  ob  im 
Auftrage  des  Gottes  die  Leiche  des  Phaethon  an  den  Eridanos 
gebracht    worden    sei    und    die  Sa<re    von  den  Heliaden    und 


1)  Vgl.  Alk.  415  Ttjv  ov  yj.vovoar  (seil.  xu'/.f.T).  Ovid  Mft.  11  .341 
caesae  (Heliades)  pectora  palmis  non  auditiirmn  iniHcras  Pliaetlionta 
rpHTflln'«  nocte  dieque  vocant. 


Wecklein:    Tragödien  (left  Eiiripides.  127 

ihren  in  Bernstein  sich  verwandelnden  Thränen  das  Schicksal 
des  l'haetlion  beschlossen  habe  oder  nach  der  Annahme  von 
Lnzac  (Exerc.  acad.  p.  r,2)  die  Notiz  des  Plin.  H.  N.  XXXVII 
2,  31  sich  nnr  nui'  Hipp.  730  ff.  beziehe,  ist  mit  ziemlicher 
Sicherheit  im  Sinne  Luzacs  entschieden  worden  (vgl.  Berl. 
Philül.  Wochenschr.  a.  0.  S.  1324).  Die  Leiche  des  Phaethon 
kommt  an  den  Eridanos,  weil  sie  dort  von  dem  Sonnenwagen 
niederfällt.  Wenn  sie  aber  ura  der  dramatischen  Oekonomie 
willen  schon  in  Aethiopien  herabfallen  muss,  so  dürfte  die 
Motivierung  für  das  Verbringen  derselben  nach  dem  fernen 
Westen  schwer  zu  finden  sein.  Mit  Recht  hat  Meineke 
fr.  784 

<oi'>   iluy.TrjQia 
öfvÖQwr  (fiXuioiv  lüXevaioi  de^erai. 

auf  die  von  dem  Boten  berichtete  Rede  des  Helios  zurück- 
geführt: Ovid  Met.  II  7()  forsitan  et  lucos  iJlic  urbesque 
deoruni  concipias  animo  erinnert  daran  ebenso  wie  319  at 
Phaethon  .  .  volvitur  in  praeceps  longoque  per  aera  tractu 
fertur,  ut  interdum  de  caelo  stella  sereno  etsi  non  cecidit, 
potuit  cecidisse  videri  an  das  von  Rau  diesem  Stücke  zuge- 
wiesene fr.  961  0  ö'  ccQTi  daXXcov  oidjiia  öioiTexrig  oVrwc 
doTTfiQ  djieaßij  iivslf^''  dq^eig  elg  ald^iQa. 

5.  Philoktetes. 

Im  Prolog  dieses  Stückes,  von  welchem  Dion  Chryso- 
stomos  in  der  59.  Abhandlung  eine  Paraphrase  gegeben  hat. 
folgte  dem  Monologe  des  Odysseus  ein  Zwiegespräch  zwischen 
Odysseus  und  Philoktetes.  Der  Uebergang,  die  Beschreibung 
des  auftretenden  Philoktet  in  §  5  najrcu  ngöoeiaiv  6  dv/jg- 
avTog  oöe  6  Uoiavrog  jraig  xre.,  trägt  so  sehr  dramatisches 
Gepräge,  dass  0.  Ribbeck  Rom.  Trag.  S.  388  nicht  eine 
Trennung  der  beiden  paraphrasierten  Scenen  hätte  für  mög- 
lich halten  sollen.     Die  wenigen  Fragmente  zeigen,  dass  der 


128      SitzuHf)  der  pliilos.-phihl.  Classe  vom  4.  Fehrnar  188H. 

Inhalt  ^enau  wiederg-ei^eben  ist,  wenn  der  Klietor  auch  den 
engen  ZusanHuenschlnss  der  (bedanken  gelockert  hat.  Die 
eloßoXr]  lautet  also :  cpoßov(.iaL  /itrj  nore  (.laxrjv  y.ax''  e(.iov 
cpaviooi  tavtriv  o\  ovi.ij.iayoi  rrjv  d6$ap  elhjg^oreg  tog  d()locov 
öi]  ymI  oocpiDTatov  xiov  '^EXkijvojv.  -/.aiToi  7voia  zig  rj  TOtauTtj 
öocpia  v.al  q^QOvtjOig,  öi'  rjV  zig  dvay/iäCerai  7rXsico  nov  aXXiov 
jioveTv  inaq  xr^g  -/.oivr^g  ocoTi^Qi'ag  /.ai  rr/.t]g,  ^:^6p  f'va  lol 
7r}.rii}ovg  doxocvra  fUjöspog  tlaitov  er  rovroig  kyeiv  rcov 
dgiOKop;  Dem  zweiten  Teile  dieser  Paraphrase  entspricht 
fr.  785 

/Ttog  d»'  av  qiQOvoiriV,   uj  ytagr^v  djiQayf.iöviüg 
Fv  ToloL  fioXXolg  riQi0^f.irji.ievix)  azQaTov 
laov  ueraoyeh'  XiZ  oocfioiaxitj  rvyjrjg ; 

Hierin  befremdet  der  Begriff  aog^iordzii).  Odyssens  sagt : 
„Man  nennt  mich  den  weisesten  Hellenen ;  ich  fürchte,  es 
möchte  mit  meiner  Weisheit  nicht  weit  her  sein.  Denn  wie 
sollte  es  verständig  sein,  sich  freiwillig  allen  möglichen  Mühen 
und  Gefahren  zu  unterziehen,  AA'ährend  man  zurückgezogen 
ohne  Mühe  leben  und  doch  das  gleiche  Schicksal  mit  den 
Besten  des  Heeres  haben  könnte '■.^)  Nur  der  Gegensatz  des 
gew(')hnlichen  und  des  vornehmsten  Mannes  entspricht  dem 
Gedanken,  nicht  aber  der  des  gewöhnlichen  und  des  weise- 
sten Mannes.  In  der  Paraphrase  heisst  es  also  ganz  richtig 
(.irjöevog  eXazzov  fv  zovzoig  tyeiv  ziov  dgiöZiov  und  darnach 
müssen   wir  das  Fragment  verbessern : 

iöoj'  utzaoxfTiv  zw  nQOcpEQzdzw  zvyijg ; 


1)  Vgl.  die  52.  Abii.  §  11  evOvg  yom'  7iF.jioit]Tai  TiQoXoyli^ojv  avifp 
6  'Odvaaevg  xui  ul/.n  re.  ir&vfi^fiaTa  noXiTixa  OTQE(pcüV  sv  tavzäi  xal 
jTQÖiröv  yg  dtujrofjojv  vjikfj  avxov,  /nij  äga  doxfi  /^kv  roT?  noXXoTg  oorpdg 
rig  Eivui  xal  dtuffegior  ttjv  ovreaiv,  f/  ös  Tovrarriov '  f^ov  yäg  avxM 
uXvJiiog  xal  djigayfiövojg  Cf/r,  o  äk  txojv  ael  tV  Tiody/iuot  xui  xirhvvoig 
yiyvetai.  ^ 


Weclleiir.    Tragödien  rles  J'Jiiripidett.  l-j-' 

In  »gleicher  Weise  ist  oocponeQa  für  TiQocfEoztqa  Aesch. 
Euni.  S.')!  überliefert,  wie  vielleicht  auch  Sopli.  El.  1370 
;ion(fEQTeQOig  für  aoqwr^Qoig  gesetzt  werden  muss.    In  fr.  787 

oy.i'co  de  fioxlfcov  rwi-  :rQU'  e/.yeai  yäqiv 
•/ML  Tovg  /lagoriac  ov/.  unioi^ovf.iai  novovg 

ist  o/.viov  zu  schreiben,  nicht  etwa  weil  die  Paraphrase 
ÜY.VLOV  bietet,  wo  die  Verbindung  der  Gedanken  anders  ge- 
wendet ist,  sondern  weil  der  Sinn  es  erfordert.  Man  liat 
o/.voj  geschrieben,  weil  nnin  /.ai  in  der  Bedeutung  von  „und" 
nahm.  Aus  §  11  oll'  o>  diori^re  (Philoktet  spricht),  ttqoq 
loiovxov  Vteoov  rj/.eig  iiituuyov  ccviov  le  arcoQor  /.ai  iQt^,uov 
(filiüv  Eni  TqoÖE  Tijg  axrrji,-  iggifit-itrot'  will  Nauck  Adesp.  483 

slg  ao^Evoiviag  doi^Eviov  Elr^lvd^ag- 

als  Fragment  dieses  Prologs  erschliessen.  In  der  That 
scheinen  die  Worte  sehr  gut  zu  passen,  sobald  man  nqog 
doi^Evovviag  setzt.  Aber  der  verallgemeinernde  1  Mural  ist 
nicht  am  Platze;  Philoktet  könnte  etwa  nur  sagen:  rigug 
diOTL'yoivTa  dvoTvywv  lltjlvd^ag. 

An  dem  Prologe  muss  uns  ein  Punkt  sehr  auffallen. 
die  Nichterwähnung  des  Diomedes.  In  der  Vergleichung  der 
Philoktete  der  drei  grossen  Tragiker  (52)  gibt  uns  Dion  an, 
dass  Euripides  dem  Odysseus  den  Diomedes  gesellte  (ov  (.lövor 
de  7rE/roii]/t  rov  'Oöioota  7caqayr/vöi.iEV0v,  dlld  f.iEicc  tov 
Jioi.iijdovg).  E.  Petersen  de  Philoct.  Euripidea.  Erlangen 
1862  S.  10  meint,  nach  dem  Schol.  zu  Soph.  Phil.  1  7iao' 
ooov  6  f.iEv  Evqutidr^g  7iävia  rw  'OdvooE'i  7rEQiciDijOn;  ohog 
de  TOV  NeoriTolEiior  7iaQEioccyEi  habe  Diomedes  keine  Ivolle 
gehabt.  Aber  das  Schol.  heisst  vollständig  so:  /.ai  7iaQd 
TOVTiiJ  (Sophokles)  7iQoloyi'CEi  6  'OdiooEig,  /.ai^d  /ai  nag" 
EvQuriÖT]  •  h.Elvo  fXEVTOi  öiacfEQEt,  7Taq'  ooov  6  [xtv  EvQiniötjg 
TidvTu  rw  'Oölooe'i  7CEQiTii)i]Oiv,  ovTog  öi  tov  NeohtÖIeliov 
7iaQEiodyiov    did    xoiioi    oi/oroftEuai.     Der    Schol.    spricht 

18S8.  PhilüS.-pbilol.  u.  bist.  Cl.  1.  9 


130       Sitznnfi  der  philns.-phUol.  Clnsse  vom  4.  Februar  188S. 

also  nur  von  dem  Prolog  und  rühmt  es,  dass  So])hokles  an 
die  Stelle  des  Euripideischen  Monologs  ein  kunstgerechtes 
Zwiegespräch  gesetzt  habe.  Diomedes  wäre  ganz  zwecklos 
gewesen,  wenn  er  nicht  im  Stücke  irgend  eine  Rolle  gespielt 
hätte.  Dann  aber  musste  er  vor  dem  Auftreten  des  Chors 
den  Zuschauern  angekündigt  werden,  da  der  Chor  der  Lemnier 
auf  Seite  des  Haupthelden  stand.  Dion  hat  also  wohl  die 
Angabe  über  Diomedes.  welche  der  Beschreibung  des  auf- 
tretenden Philoktet  unmittelbar  vorausgegangen  sein  wird, 
beiseite  gelassen. 

Obwohl  wir  aus  Dion  ein  Hauptstück  der  Anlage  des 
Euripideischen  Dramas  kennen,  nämlich  das  Auftreten  einer 
Trojani'^chen  Gesandtschaft,  welche  mit  dem  Anerbieten  von 
Reichtum  und  Herrschaft  den  Philoktet  zu  bestimmen  suchte 
nach  Troja  zu  kommen,  und  deren  Einführung  dem  Dichter 
Stoff  zu  einem  dycoi'  aorpiag  lieferte,  ist  uns  über  den  Gang 
der  Handlung  noch  vieles  unklar.  Leider  gibt  uns  Dion 
gerade  über  das  erhaltene  Drama  des  Sophokles  mehr  an. 
obwohl  er  auch  hievon  Wichtiges,  z.  B.  das  Auftreten  des 
Handelsmannes  und  den  Krankheitsanfall  unberührt  lässt. 
Petersen  a.  0.  sucht  darzuthun,  dass  Odysseus  sich  zunächst 
durch  Hinterlist  in  den  Besitz  des  Bogens  gesetzt  und  sich 
zu  erkennen  gegeben  habe,  worauf  dann  die  Trojanischen 
Gesandten  aufgetreten  seien.  Diese  Anordnung  kann  schon 
deshalb  nicht  richtig  sein,  weil  Philoktet  ohne  seinen  Bogen 
für  die  Trojaner  keinen  Wert  hat  (vgl.  Dion  59  §  4  nvv- 
i^ävoiiai  dl-  -/Ml  jiaQcc  xCov  Qiqvycov  ngtoßsig  aneoräXyi^ai 
y.qiipu,  läv  inog  övvojvvai  rov  (l)iXov.TrjTrjv  nelaavTeg  öcögoig 
a/ita  y.ai  dia  trji'  f-'yJ)^Qar  rrjv  /rgog  rjjLiag  avaXaßelv  elg  Tr\v 
icöXiv  avTOv  /.al  rd  rö^a  und  52  §  13  TiQEoßeiav  .  .  derjoo- 
fjivTjv  avtov  T€  y.al  ra  onXa  sxeivoig  iTagaoye'iv  87tl  rfj  rrjg 
Tgoiag   ßaciXelu).^)     Wenn   Philoktet    bei    der  Ankunft    der 


1)  Darauf  hat  auch  Milani   il   mito  di   Filottete.   1879   S.  38  f. 
N.  3  (und  S.  37  N.    I)  iuifmfirksam  gemacht. 


Wccideiii:   Tniijöilicii  den  Eariindcfi.  i^l 

Trojaiii.sclien  Ge.saiulteii  .seinen  Bogen  noch  besitzen  muss, 
so  kann  sieh  Odysseus  auch  noch  nicht  zu  erkennen  gegeben 
haben.  Denn  wenn  Philoktet  im  Prolog  den  Odysseus  er- 
schiessen  will  bloss  weil  er  hört,  dass  er  vom  griechischen 
Heere  herkommt,  so  wird  er  ihn  um  so  mehr  erschiessen, 
wenn  er  in  ihm  seinen  schlimmsten  Peiniger,  von  dem  er 
neuerdings  schmählich  betrogen  worden  ist,  erkennt.  Gerade 
deshalb  war  ja  die  Verwandlung  des  Odysseus,  welche  sich 
Euripides  nach  Homerischer  Weise  erlaubt  hat,  nötig,  weil 
Odysseus  sonst  vor  den  unentrinnbaren  Geschossen  nicht  sicher 
war  (Soph.  Phil.  105  f.).  Einen  wichtigen  Anhaltspunkt  für 
das  Auftreten  der  Trojanischen  Gesandtschaft  bietet  uns  das 
richtige  Verständnis  von  fr.  794 

Kä^io  ö'  lyio,  xav  (.toc  öiacfdeigag  öox^ 
Xoyovg  VTtoorag  avxög  T^di/.rf/.ivaL. 
all'  s^  Bf-iov  yoQ  rdf-ia  /.laOrjOr]  y.liiov, 
0  (5'  avTÖg  avrov  if.i(paviei  ooi  Xeyiov. 

Der  Text  leidet  an  grammatischen  und  metrischen  Verstössen 
und  wir  würden  kaum  imstande  sein  das  Ursprüngliche  fest- 
zustellen, wenn  wir  nicht  aus  Aristot.  Rhet.  an  Alex.  c.  19, 
wo  die  Stelle  citiert  ist,  wüssten,  dass  in  den  Worten  die 
rhetorische  Figur  der  nQO/.caäh^ipLg  enthalten  ist  {/.äxQifiai 
ÖS  xai  EvQmiöt]g  ev  0do/,zr]rr]  xeiviÄiog  toitiü  zo)  eiösL  dia 
TOvÖE  ^U^io  .  .  Uyojv').  Weil  schreibt  vnoqiO^äg  für  V7C0- 
atäg,  womit  der  Text  kaum  verständlich  wird.  Ribbeck  a.  0. 
S.  392  will  i(piOTdg  lesen  nach  Hesych.  vcpiOTag,  v7ioiLi>eig: 
, obwohl  er,  wie  ich  glaube,  Unrecht  gethan  hat,  indem  er 
meine  (noch  zu  erwartenden)  Worte  durch  Unterstellung 
eigener  entstellte".  Für  diesen  an  und  für  sich  unklaren 
Gedanken  erscheint  avtög  als  unpassend.  Augenscheinlich 
ist  öiacpd^eiQag  in  öiacpÜe'iQai  zu  ändern:  ,Ich  will  reden, 
obwohl  er  meine  Reden  verdorben  zu  haben  scheint,  indem 
er  selber  .sich  zu  dem  Geständnisse  Unrecht  gethan  zu  haben 


lo2      SitziDxj  der  iihilos.-philol.  Classe  com  4.  Februar  18S8. 

lit'rheiliess"  d.  h.  „obwohl  er  mir  den  üauptstoff  der  Ent- 
gegnung durch  das  eigene  Geständnis  seiner  Schuld  vorweg- 
genommen hat".  Recht  eigentlich  ist  also  damit  eine  ante- 
occupatio  oder  praesumptio  gekennzeichnet  und  zwar  in  der 
Form  einer  confessio  (ut  pro  Ivabirio  Fostumo,  quem  sua 
quo(|ue  sententia  reprehendendum  tatetur,  quod  pecuniani 
regi  crediderit  Quint.  IX  2,  lO).  Gewöhnlich  hat  npioiaoOuL 
mit  dem  Infin.  die  Bedeutung  „auf  sich  nehmen,  versprechen, 
etwas  zu  thun"  (Alk.  3(5  vnioiij  .  .  nqoO-aveiv,  Iph,  A.  360 
aoi-itvog  i}iaeiv  vneaz7]g  nalda),  aber  das  Wort  passt  auch 
auf  das  beste  für  die  Bedeutung  „eine  Scliuld  auf  sich  nehmen". 
Dieser  Sinn  gestattet  uns  nunmehr  auch  die  Fehler  der  zwei 
letzten  Verse  zu  verbessern.  Für  rdf-ia  f.iad^y\orj  will  Matthiä 
Taf-C  d/.ovoETai,  Meineke  ra/m  jidvr^  eioei,  Enger  Taj.i'  av 
a/.f^(ai}oig,  für  fj-icpaviü  ooi  Heath  und  neuerdings  Sauppe 
^(fpca'i'Cei  Goi,  was  eine  metrische  Härte  ergibt,  Boissonade 
oder  Jacol)s  e/iirfavfj  i^r^oei,  FHugk  ^iiKpanCiTw  lesen.  Da 
der  andere  bereits  das  Geständnis  über  -seine  Fers<jn  abge- 
legt hat,  so  kann  von  dem  Fut.  Ijucpavrj  Orjoei  keine  Kede 
sein;  dagegen  passt  vortrefflich  ^Kpavi'Qico)  „mag  der  über 
seine  eigene  Person  Erklärungen  abzugeben  haben"..  Nun 
ergibt  sich  von  selbst,  dass  tdud  dem  Sinne  nicht  entspricht; 
denn  wenn  sich  der  Sprechende  darüber  ungünstig  und 
spöttisch  äussert,  dass  der  andere  über  seine  eigene  Person 
sich  ausgelassen  liat,  so  kann  er  niciit  selber  auf  seine  per- 
sönlichen \'erhältnisse  eingehen.  Der  Gegensatz  kann  nur 
folgender  sein:  „während  der  über  seine  Person  zu  sprechen 
hat,  werde  ich  nur  die  Thatsachen  darlegen".  Sonach  er- 
fordert der  Sinn:  dXV  l^  8f.iov  yoQ  7iQ(xyf.iai''  avi^  ei'or]  xXviov. 
Sofort  leuchtet  jetzt  ein,  wer  der  Sprechende  und  wer  der 
andere  ist,  der  ein  Geständnis  seiner  Schuld  abgelegt  hat. 
Odysseus  spricht  gegen  einen  Trojanischen  Gesandten,  welcher 
kein  anderer  als  Paris  sein  kann,  der  am  ganzen  Kriege  und 
so   auch   an    dem  Unglücke    des  Philoktet  allein   die  Schuld 


]Vccl'hin:    Traiiödioi  des   I'Jiiriiiidcs.  loo 

trjij^'t.  Scliciii  lliirtuno-  (Kur.  rest.  l  p.  ;35 4  iiiul  ;i50  f.)  Ii:it 
uns  (,)iiintil.   V    10.  84   l'liilocteta   Puriili 

,si  iini)ar  e.s.so.s  tibi,  ego  nunc  nun  esseni   niiser, 

wek-lies  Bruchstück  Hermann  dcni  l'liilocteta  des  Accius  /u- 
gewieseii  hat  (XVIII  Ribb.),  geschlossen,  dass  Paris  an  der 
Spitze  der  Trojanischen  Gesandtschaft  steht.  Aber  man  hat 
den  Text  des  (.^uintilian  geändert,  hat  Philocteta:  Pari  Dys- 
pari,  dispar  esses  tibi  oder  Philocteta:  Pari  dyspari,  dispar 
si  esses  und  anders  geschrieben,  so  dass  man  mit  Spalding 
und  Schneidewin  (Philol.  IV  S.  655  f.)  in  den  Worten  einen 
Flucli  auf  den  abwesenden  Paris  Hnden  konnte,  wie  etwa 
Philoktet  in  seinem  Schmerze  bei  Sophokles  701  ruft: 
oj  5c'j'£  KE(falh'ji',  eiUe  ooi  diaf-inegig  oreotov  b^oit'  ah/i]Oi<; 
Tjöt  .  .  OJ  öisilol  ozQUTfjXäiai,  l4yä(.iE^ivov  w  MeveXae  ktb. 
Nunmehr  nuiss  die  Rolle  des  Paris  im  p]uripideisclien  Drama 
feststehen  und  es  wird  sich  damit  auch  der  Streit,  ob  sich 
Accius  vorzugsweise  an  Sophokles  oder  Euripides  angeschlossen 
habe,  zu  Gunsten  des  Euripides  entscheiden.  Eine  gewisse 
Bestätigung  erhält  die  Rolle  des  Paris  durch  drei  Darstellungen 
etruskisclier  Aschenkisten  Brunn  I  rilievi  delle  urne  Etrusche. 
I.  Taf.  ()9f.  nr.  1  —  3.  Wir  sehen  in  der  Mitte  Philoktet 
mit  Pfeil  und  Bogen  vor  seiner  (irotte,  im  Gespräche  be- 
griffen mit  zwei  rechts  stehenden  jugendlichen  Männern,  von 
denen  der  vordere  eine  Phrygische  Mütze  trägt ;  links  ist 
Odysseus  im  Begriff  hervorzutreten,  noch  zurückgehalten  von 
einem  Gefährten.  Wir  geben  Ribbeck  a.  0.  S.  396  ff.^) 
durchaus  Becht,  wenn  er  in  AV'iderspruch  mit  Brunn  (a.  0. 
S.  81  f.)  und  Schlie  (S.  140),  welche  nur  Griechen  darge- 
stellt sehen  und  die  Tragödie  des  Sophokles  als  Vorbild  be- 
trachten,   in    den    zwei  Männern  rechts   die  Trojanische  Ge- 


ll X^].  auch  Milani  a.  0.  8.  07  f. 


I  oi      Sitzamj  der  iihilds.-pJtilol.  Cl<isse  com  4.  Februar  IHHS. 

Scindtscliat't  erblickt.  Wir  können  nunnielu'  mit  Sicherheit 
den  Mann  mit  der  Phrygischen  Mütze  als  Paris  bezeichnen, 
niao-  auch  auf  Etrnskischen  Bildwerken  dieses  Attribut  kein 
zuverlässiges  Merkmal  sein.  Was  wir  oben  als  notwendig 
erkannten,  dass  Philoktet  bei  dem  Erscheinen  der  Gesandt- 
schaft noch  im  Besitze  seines  Bogens  sei,  das  sehen  wir  auch 
durch  die  bildliche  Darstellung  bestätigt.  Odysseus  gibt  sich 
in  seiner  Gegenrede  nicht  zu  erkennen ;  er  spricht  nur  von 
den  Thatsachen,  nicht  von  seiner  Person,  Seine  Kede  wird 
vor  allem  den  Verrat  am  Vaterlande  gebrandmarkt  haben 
und  fr.   705 

/iccTQig  -/.aXotg  Ttoäooovoa  roj'  rvy/ji'i''  äei 
/iieiCw  Tid^rjOi,  dvoivyovoa  ö'  aoÖevri. 

gehört  sicher  dieser  Rede,  nicht  wie  Welcker  »S.  514  meint, 
dem   Prologe  an.     Dagegen  wird  fr.  796 

ioO/'i€Q  di  ÜviiTov  /.al  lö  awf.C  i^f.uov  sffv, 
00 CCD  7CQ0orj-/.€i  /iiijdi  cr^v  OQyrjv  tyeiv 
di/avarov  ootig  oonpQoveiv  Hilacacai 

besser  seine  Stelle  in  einer  späteren  {)iiOig  des  Odysseus  rinden. 
Die  bildliche  Darstellung  kennzeichnet  den  Moment,  wo 
Odysseus  hervortritt,  um  der  verführerischen  Rede  des  Paris 
(fr.  792)  entgegenzuwirken.  Er  kann  sich  nicht  länger 
halten,  wie  diese  Stimmung  in  Adesp.  8 

vritQ  ye  {.livioi   naviog  '^EXhr^viov  axqctiov 
(dayqov  0H'J7rai\  ßaQjiaQOig  ()'  fär  Xt-.yeiv 

recht  gut  ausgedrückt  ist.  Aus  Cic.  de  orat.  III  35,  141  und 
<)uint.  III  1,  14  wi.ssen  wir,  dass  dieses  Fragment  einem 
Philoktet  angehört;  dass  es  der  Philoktet  des  Euripides  ist, 
geht  aus  ßaQßctQOvg  (3'  iav  Xeyeiv  hervor.  Nun  heisst  es 
freilich   bei  Cicero:    versumque   quemdain   Philoctetae   paullo 


WecMeiv:    lyafiödieii  r?fs  Euripides.  l'>'> 

s(>cns  dixit  (sc.  Aristoteles).  Ille  enim  turpe  sibi  ait  asse 
tacere  cum  barbaros,  bic  auteni  cum  Isocratem  ]>ateretur 
(licere.  Darnach  kann  es  scheinen,  als  ob  die  Worte  dem 
l'hiloktet  in  den  Mund  /.u  legen  seien,  und  Matthiä  und 
andere,  neuerdings  Ribbeck  (S.  393)  haben  die  Verse  wirk- 
lich dem  Philoktet  beigelegt.  Aber  merkwürdig  wäre  es, 
wenn  Philoktet  als  Verteidiger  des  Heeres  aufträte,  er  der 
das  Heer  ingrimmig  hasst  und  einen  Mann  erschiessen  will 
bloss  deshalb,  weil  der  vom  Heere  herkommt.  Schrm  die 
Worte  aloxQOv  ouon&v  lassen  deutlich  erkennen,  dass  nicht 
Philoktet  sie  gesprochen  haben  kann.  „Nachdem  er  lange 
schweigend  zugehört  hatte,  meint  Ribbeck,  Odysseus  und 
Diomedes  ihre  Sache  schon  fast  verloren  gaben,  brach  er 
hervor  mit  dem  berühmten  Wort".  Wenn  Philoktet  Rede 
und  Gegenrede  schweigend  angehört  hat,  hat  er  keinen 
Grund  zu  sagen  aloxQOv  oiiojiäv^  zumal  da  für  das  Griechische 
Heer  bereits  gesprochen  worden  ist.  So  kann  sich  nur  der- 
jenige ausdrücken,  der  eigenthch  schweigen  müsste,  da  er 
Feindscbaft  gegen  das  Griechenheer  geheuchelt  hat,  der  aber 
jetzt  sich  stellt,  als  werde  er  durch  patriotische  Entrüstung 
zum  Reden  gedrängt.  Kurz  nur  Odysseus  kann  die  Worte 
gesprochen  haben  und  bei  Cicero  muss  man  eine  in  diesem 
Falle  ganz  natürliche  Ungenauigkeit  des  Ausdrucks  annehmen, 
wenn  man  die  Worte  nicht  so  erklären  kann:  „einen  Vers 
des  Stückes  Philoktet  (noto  illo  ex  Philocteta  versu  heisst  es 
bei  Quintilian);  denn  jener  (Sprechende)  sagt  d.  i.  denn  dort 
sagt  einer".  Wir  können,  nachdem  wir  gesehen  haben,  dass 
fr.  794  dem  Anfang  der  Gegenrede  des  Odysseus  angehört, 
in  welchen  auch  dieses  Fragment  zu  setzen  ist,  noch  weiter 
gehen  und  in  Rücksicht  auf  Inhalt  und  Form  die  beiden 
Fragmente  verbiuden: 

vntQ  yE  (itvTOi  jcarrug  '^EXh'^vtüv  özqutov 
aloxQOv  Giiü/cäv.  ßagßagoi-g  ö'   föv  kiyuv. 


13(^)      SitzHHfi  der  philos.-pMlnJ.  Classc  rom  4.  Februar  1S88. 

XeBio  (J'   aytu,  xaV  /.lov  diacpd^elQai  (3'o"/^ 
Xoyovg  v/fOOTog  avxdg  rjöi/.tf/.ivai. 
aXV  fB  ki.(Ov  yaQ  /iQay/iiai'  avi'  el'o)]  ■/.Xviov. 
0  d^  avTog  avTov  ef.(Cfai'iCtT(o  Itywr. 

„Wenn  es  nur  Einzelne,  /,.  B.  Odysseus  oder  Diomedes,  be- 
träfe, würde  ich  schweigen ;  nun  es  aber  das  ganze  Heer 
angeht,  ist  es  eine  Schande  zu  schweigen  und  Barbaren  reden 
zu  lassen.  Nein,  ich  werde  reden,  wenn  er  mir  auch  die 
Rede  zerstört  hat,  indem  er  selber  seine  Schuld  eingestand. 
Aber  von  mir  ja  sollst  du  nur  Thatsachen  vernehmen,  wäh- 
rend dieser  seine  eigene  Person  au  den  Pranger  stellen  mag**. 
Auf  der  angeführten  bildlichen  Darstellung  erscheint 
neben  Odysseus  sein  Begleiter,  Diomedes.  Wir  haben  schon 
oben  dem  Diomedes  eine  Kolle  vindiciert.  Wie  aber  soll  er 
eingeführt  worden  sein  ?  Dem  Philoktet  gegenüber  gibt 
Odysseus  vor,  er  sei  in  der  vergangenen  Nacht  heimlich  den 
Nachstellungen  des  Odysseus  entwichen  und  allein  herüber 
gekonnnen.  Er  kann  hiernach  nur  auf  einem  kleinen  Fahr- 
zeuge angekommen  sein,  wie  im  Folgenden  Philoktet  auch 
nicht  annimmt,  dass  er  auf  dem  gleichen  Fahrzeuge  in  die 
Heimat  gelangen  könne.  Odysseus  muss  aber  von  vornherein 
daran  denken,  den  Philoktet  zu  bestimmen  auf  das  Schiff'  zu 
gehen,  das  ihn  nach  Troja  bringen  soll.  Woher  soll  das 
Schiff'  gekommen  sein?    Fr.  791 

luayMQiog  ooiig  evzvywi'  ol'/.oi   uerei ' 

H'  yfi   6'  (I  (f'OQiog  y.ai  7rähv  vavziXXexai 

scheint  darüber  Auskunft  zu  geben.  Den  zweiten  Vers  er- 
klärt Welcker  (S.  513):  „So  ist  der  Mensch,  kaum  ist  die 
Ladung  geborgen,  so  segelt  er  von  neuem  aus".  Aber  für 
diesen  Gedanken  ist  die  Verbindung  mit  öt  zu  schwach.  Ich 
möchte,  woran  schon  Oesner  gedacht  hat,  v.ov  für  v.ai 
schreil)cn,  so  dass  der  zweite  Vers  die  Ausführung  zu  evxv- 
yiov  oiy.oi  \.dvu  enthält:    „froh  die  Ladung  geborgen  zu  haben, 


Weckleiii:    Trntjödien  den  Eurijndes.  lo7 

segelt  er  nicht  wieder  aus".  Man  könnte  daran  denken, 
uiit  Welcker  die  Verse  dem  Prolog"  zuzuweisen ;  aber  sie 
hätten  eine  passende  Stelle  nur  am  Anfang  desselben,  wo 
Dion  einen  anderen  Gedanken  angibt,  und  wären  überhaupt 
nicht  von  Dion  beiseite  gelassen  worden.  Vergebens  aber 
werden  wir  uns  im  übrigen  Stücke  nach  einem  passenden 
Platze  umsehen,  wenn  wir  nicht  einen  Handelsmann  auf- 
treten lassen,  der  an  die  Insel  verschlagen  in  Missmut  über 
sein  Handwerk  in  Klagen  ausbricht  und  entweder  die  mensch- 
liche Ungenügsamkeit  tadelt,  welche  den  Schiffer  durch  die 
Gefahren  des  Meeres  treibt,  oder  den  Entschluss  kund  gibt, 
wenn  er  noch  einmal  glücklich  heimkehre,  kein  Ruder  mehr 
anzurühren.  So  konnte  Diomedes  als  Matrose  verkleidet  sich 
bei  Philoktet  einführen  und  so  stand  das  Schiff  bereit  den 
Philoktet  aufzunehmen.  Wir  sind  überrascht,  die  Sophokleische 
"E^7iOQog-Scene  bereits  bei  Euripides  zu  finden ;  aber  den 
guten  Gedanken  eines  Vorgängers  Hess  sich  der  Nachfolger 
nicht  leicht  entgehen.  Sophokles  hat  ja  auch  die  Erfindung 
bedeutend  umgestaltet.  Wenn  aber  Diomedes  zunächst  unter 
fremder  Gestalt  auftrat,  musste  umsomehr  sein  Auftreten  im 
Prolog  angekündigt  werden.  Bei  Sophokles  berichtet  sowohl 
Neoptolemos  als  auch  der  falsche  Handelsmann  dem  Philoktet 
Wahrheit  und  Dichtung  über  Ereignisse  und  Verhältnisse 
vor  Troja.  Eine  solche  Erzählung  scheint  auch  bei  Euri- 
pides vorgekommen  und  durch  dieselbe  dem  Philoktet  der 
Ausruf  entlockt  worden  zu  sein  fr.  793: 

Tt  drJTa   Oä/.uig   uaiii/iuJi;  e(fr./Lteroi  ^) 
oaq^öjg  öwj-inaO^^  elöivai  rd  öaif-ioviov, 
Ol  TtZrde  yeiQiöva/.ieg  avd-QConoi  Xoyiov; 


1)  irfijfisroi  habe  ich  für  Frt'jiieyoi  geschrieben.  Vgl.  Hom.  C  3U'J 
Ooovoc  .  .  ziö  .  .  i(pi)iievog.  Dagegen  d  272  i.T.-rfo  iri  ^eoiro,  IV  fvi]- 
juda  uävxES  ägioroi.  Im  letzten  V.  habe  ich  djzazäv  für  JisiOei  und 
mit  F.  W.  Schmidt  oyj.ov  für  ).iya>v  gesetzt. 


l'iS      Sitzuny  der  iHiilos.-philol.  Classc  vom  4.  Februar  1888. 

oOTig  yaQ  avxel  d^ecov  snioTctoi^ai  716qi^ 
oidev  TL  /.ioXXov  oiöev  rj  anazav  oyXov. 

Die    Mitteilung    also,    dass    die   Waffen    des    Achilleus    dem 
Odyt^seus  zugefallen  seien,   Acc.  fr.  XVI 

heu  Mulciber ! 
arma  ergo  ignavo  invicta  es  fabricatus  manu 

kann  immerhin  auf  Euripides  zurückgehen. 

Nach  dem  Abgang  der  Trojanischen  Gesandten  könnte 
Diomedes  aufgetreten  sein  —  dass  auf  dem  erwähnten  Bilde 
Odysseus  einen  Begleiter  hat,  hindert  nicht;  denn  dieser 
dient  nur  der  Symmetrie  — ;  dann  könnte  ein  Anfall  der 
Krankheit  erfolgt  sein  und  dieser  dem  Odysseus  und  Diomedes 
die  erwünschte  Gelegenheit  geboten  haben,  sich  in  den  Besitz 
der  Waffen  zu  setzen.  Mit  Recht  scheinen  nämlich  Brunn 
a.  0.  S.  84  und  Schlie  S.  146  eine  zweite  Abbildung  etrus- 
kischer  Aschenkisten  (ebd.  Taf.  70  —  72  nr.  4  —  7),  welche 
den  Raub  der  Waffen  darstellt,  auf  Euripides  zurückzuführen. 
Während  Odysseus  dem  in  seiner  Grotte  sitzenden  Helden 
den  kranken  Fuss  pflegt,  nimmt  —  ich  sage  gleich  — 
Diomedes  hinterrücks  den  Bogen  weg.  Allerdings  möchte 
man  glauben,  dass  eine  solche  Handlung  mehr  einem  Pulci- 
nello  als  einem  Diomedes  zukomme;  allein  der  Raub  ging 
offenbar  nicht  vor  den  Augen  der  Zuschauer  vor  sich,  son- 
dern wurde  von  dem  aus  der  Grotte  tretenden  Diomedes  er- 
zählt. Petersen  fa.  0.  S.  10)  will  aus  der  von  Welcker 
l)eigebrachten  Stelle  des  Himerios  (or.  14,  1)  (IiiloxiriTiji> 
f.iiv  ovv  t:/.eivov  xal  hil  tov  aO^Xov  r^yeiQEV  'Odvaoevg  jtaQcov 
xal  diöorg  Trjg  riyvrjq  xo  ovvd^ru.ia  entnehmen,  dass  bei 
Euripides  Odysseus  den  Philoktet  zu  einem  Wettkampf  im 
Bogenschiessen  aufgefordert  und  bei  dieser  Gelegenheit  sich 
in  den  Besitz  des  Bogens  gesetzt  habe.  Aber  Petersen  hat 
sieb  entgehen  lassen,  was  Schneidewin  a.  0.  S.  (358  ff.  über 
die  Stelle    des  Himerios   ausführt.     Das  Probeschiessen   fand 


Wecklein:  Tragödien  des  Euripides.  139 

vor  Troja,  nicht  auf  Lemnos  statt.  Führt  mau  die  bildliclie 
Darstellunor  auf  Euripides  zurück,  dann  versteht  man  den 
zweifelnden  Ausdruck  des  Dion  (52  §  2)  r^v  yaq  (nämlich 
v7f6^eoig  der  drei  Stücke)  Tj  tcov  (Ddo-Kzrjrov  xö'iiov  elzb 
TiXonri  ehe  oQyrayrj  dsi  Xiyeiv.  Der  Ausdruck  xAottt^  passt 
in  diesem  Falle  recht  eigentlich  für  Euripides.  Ferner  er- 
kennt man,  dass  die  Worte  ebd.  §  10  ot  Xoyoi,  öi'  wv  Ttgoot]- 
yäysTO  (Odysseus  bei  Aeschylus)  airov,  ov  (.lovov  Evoyr^f.iovi- 
öTEQOi  /Ml  iJQiüt  ;iQe7€0VTeg,  alX'  ot'x  EiQvßaTco  xal  Uavai- 
■Aiiori  ihre  Spitze  gegen  Euripides  kehren,  bei  welchem  das 
Benehmen  des  Odysseus  und  Diomedes  gegen  Philoktet  einen 
gaunerhaften  Anstrich  hatte.  Ebenso  wirft  Sophokles  mit 
dem  Rate,  welchen  der  Chor  Phil.  833  dem  Neoptolemos 
gibt,  die  Gunst  des  Augenblicks,  wo  der  Kranke  schläft,  zu 
benützen  und  mit  dem  Bogen  davon  zu  gehen,  einen  Seiten- 
blick auf  die  Art,  wie  sich  bei  Euripides  Odysseus  den  Bogen 
aneignet.  Die  Macht  der  Rede  musste  das  Unrecht  wieder 
gut  machen  und  die  Aussöhnung  herbeiführen  (fr.  790);  nur 
scheint  am  Schlüsse  die  Aufgabe  des  deus  ex  machina 
(AthenaVj,  welcher,  wie  Petersen  (S.  16)  gesehen  hat,  sich 
aus  fr.   797 

<f£L,  (Ar\7ioT'  eXiiV  oXXo  nXriv  i^eolg  (fiXoig, 
cog  71&V  zelolot,   /.av  ßgadcviooiv,  XQOvio. 

ergibt,  eine  andere  als  bei  Sophokles  gewesen  zu  sein  und 
die  Handlung  des  Stückes  selbst  bedeutend  mehr  beeinflusst 
zu  haben.     Das    deutet   auch    der  Inhalt  des  Fragments  an. 


Sitzungsberichte 

der 

k^niiil.  baver.   Akademie   der   Wissenschaften. 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  4.  Februar  1888. 

Hen*  Gregorovius  hielt  einen  Vortrag: 

,Die    erste    Besitznahme    Athens    durch    die 
Republik  Venedig." 

Der  wesentliche  Zweck  meiner  Mitteilung  ist  die  Ver- 
öffentlichung zweier  von  mir  im  Frühjahr  1887  im  venetiani- 
schen  Staatsarchiv  copirter  Urkunden ,  welche  sich  auf  die 
erste  Besitzergreifung  Athens  durch  die  Republik  von  S.  Marco 
beziehen. 

Die  Stadt  Athen  war  von  dieser  bei  der  Teilung  des 
byzantinischen  Reiches  unter  die  Häupter  des  lateinischen 
Kreuzzuges  nicht  beansprucht,  sondern  durch  Bonifazio,  den 
Markgrafen  von  Montferrat  und  König  von  Thessalonich,  nebst 
Theben  dem  burgundischen  Ritter  Otto  de  la  Roche  zu 
Lehn  gegeben  worden.  Sie  wurde  aber  seit  dem  Ende  des 
vierzehnten  Jahrhunderts  dreimal  von  den  Venetianern  in 
Besitz  genommen,  und  nur  das  erste  Mal  (1394 — 1408)  einige 
Jahre  lang  wirklich   von  ihnen   beherrscht  und   regiert. 

1S88.  Philos.-philol.  u.  liist.  Cl.  2.  10 


142  Sitzung  der  Idstor.  Classe  vom  4.  Februar  1888. 

Zum  zweiten  Mal  erschienen  sie  wieder  in  Athen,  als 
sich  die  Stadt  gleich  dem  ganzen  Griechenland  schon  in 
der  Gewalt  der  Türken  befand.  Der  venetianische  General- 
capitän  Vettere  Capello  landete  im  Sommer  146G  im  Piräus 
und  bemächtigte  sich  der  Unterstadt  Athen.  Allein  er  wagte 
keinen  Sturm  auf  die  mit  hinreichender  osmanischer  Besatz- 
ung versehene  Akropolis,  und  zog  deshalb  ohne  anderen  Er- 
folg alsbald  wieder  ab. 

Das  dritte  Mal  eroberten  die  Venetianer  auch  die  Akro- 
polis. Das  Andenken  des  schwedischen  Grafen  Königsmark, 
jenes  tapfern  Condottiere,  welcher  unter  dem  Befehl  Fran- 
cesco Morosini's  die  ehrwürdige  Burg  der  Pallas  Athene  den 
Türken  entriss,  hat  freilich  eine  unglückliche  Thatsache  der  ge- 
bildeten Welt  verhasst  gemacht,  die  am  20.  September 
1(387  durch  eine  Bombe  bewirkte  Zertrümmerung  des  Par- 
thenon. 

Die  erste  Besitznahme  Athens  durch  die  Republik 
wurde  durch  folgende  Ereignisse  veranlasst. 

Nerio ,  der  erste  Herzog  von  Athen  aus  dem  Floren- 
tiner Hause  der  Acciajoli ,  starb  ohne  legitime  männliche 
Erben  zu  hinterlassen,  im  September  1394,  nachdem  er  am 
17.  desselben  Monats  zu  Koriuth  sein  Testament  gemacht 
hatte  1). 

Die  Bestimmungen  dieses  sehr  merkwürdigen,  in  italieni- 
scher Sprache  verfassten  Acts  waren  folgende.  Seinem  Ba- 
stard Antonio  vermachte  der  Herzog  Theben  und  das  Castell 
Livadia,  demnach  die  Herrschaft  über  Böotien.  Seine  älteste 
Tochter  Bartolomea,  die  Gemalin  des  griecliischen  Despoten 
Morea's,  Theodor  Paleologos,  betrachtete  er  als  hinreichend 
versorgt,  und  fand  sie  mit  einer  Schuhlforderung  von  9700 
Ducaten  ab.     Seine  zweite  Tochter,  die  Basilissa  Francesca, 


1)  Abgedruckt  bei  Buchon  Nouv.  Recli.  TI,  251  f.  Diitinu  Corinto 
a.   1».   ia9»,  die  17"  !u.  Sept.  Jiid.  III. 


Gregnrovius:  Besitznahme  Athens  durch  die  Bepuhlik  Venedig.    l4.S 

die  schönste  und  berühmteste  Frau  in  j^janz  Griechenland, 
welche  Gemalin  des  Carlo  Tocco,  Herzogs  von  Leukadia  und 
Pfalzofrafen  von  Kephalonia  war,  setzte  er  zu  seiner  Universal- 
erbin  ein.  Sie  sollte  die  Landschaft  Megara  und  Basilika 
(Sicyon)  nebst  allen  anderen  ihm  gehörigen  Ländern  erhalten, 
so  weit  uänilich  diese  nicht  schon  testamentarisch  vergeben 
waren;  im  Falle  sie  einen  Erben  erhielt,  oder  auch  ohne 
dies,  sei  sie  innerhalb  drei  Jahren  in  den  Besitz  jener  Orte 
zu  setzen.  Korinth  aber  sollte  sie  an  den  damaligen  Gross- 
seneschal  Siciliens  Roberto  Acciajoli,  den  Sohn  des  Nicolö, 
zurückgeben,  wenn  derselbe  die  schuldige  Pfandsumme  aus- 
zahlen würde. 

Nerio  stiftete  vielerlei  Legate  für  andre  Verwandte,  setzte 
Summen  für  Kirchen  und  fromme  Stiftungen  aus,  und  be- 
dachte vor  allen  mit  überschwänglicher  Pietät  die  berühmte 
Parthenon kirche,  S.  Maria  von  Athen,  wo  er  selbst  begraben 
sein  wollte.  Er  wies  ihr  seinen  reichlich  versehenen  Mars- 
stall zu,  bestimmte  nicht  nur  zu  ihrer  Herstellung  und  Er- 
haltunsr  Renten  aus  den  Einkünften  der  Stadt,  sondern  er 
vermachte  diese  Stadt  Athen  selbst  jener  Marienkirche  als 
Eigentum .  indem  er  alle  derselben  von  ihm  verliehenen 
Rechte  unter  den  Schutz  der  Republik  Venedig  stellte^). 

Wenn  Nerio  Acciajoli  den  ungeheuerlichen  Gedanken 
fassen  konnte,  Athen  zum  Besitztum  der  lateinischen  Priester- 
sehaft  des  Parthenon  zu  machen,  so  darf  man  daraus  schlies- 
-en,  dass  die  Hauptstadt  des  Herzogtums  damals  weder  gross, 
noch  reich,    noch  eine  selbständige  Gemeinde  gewesen  ist*). 


1)  Item  lasäamo  all'  ecclesia  di  S.  Maria  di  Athene  la  citta  di 
Athene  con  tutte  le  sue  pertinentie  e  ragioni. 

2)  Pius  II  Piccoloraini  sagte  von  Athen:  eadem  nostro  tempore 
parvi  oppidi  speciem  gerit  (Europa,  Attica  c.  XI);  was  später  Cru- 
siu.s  (Annot.  in  Hist.  Eccl.  Const  p.  193)  wunderlicher  Weise  bestritt, 
weil  ihm  Simon  Kabasylas  a.  1578  versichert  hatte ,  Athen  besitze 
einen  Umfang  von  6  oder  7  Millien  und  etwa  12000  Einwohner. 

10* 


144  Sitzung  der  Imtor.  Clasae  rom  4.  Februar  1888. 

Als  der  sterbende  Herzog  die  Jungfrau  Maria  zur  Eigen- 
tümerin der  erlauchtesten  Stadt  der  geschichtlichen  Erde 
machte,  erinnerte  er  sich  kaum  daran,  dass  einst  die  Par- 
thenos  desselben  Tempels  auf  der  Akropolis  die  Herrin 
Athens  gewesen  war.  Die  Stadt  des  Theseus  trat  plötzlich 
wieder  in  ein  Patronalverhältnis  zu  einer  göttlichen  Jung- 
frau, und  immerhin  Avar  es  für  sie  ehrenvoller,  einer  von 
der  ganzen  christlichen  Welt  verehrten  Heiligen  des  Him- 
mels zu  eigen  zu  gehören,  welche  schon  seit  acht  Jahrhun- 
derten ihre  heidnische  Vorgängerin  Pallas  Athene  aus  dem 
Parthenon  verdrängt  hatte,  als  die  Domäne  des  Kislar  Aga 
zu  werden,  des  Hauptes  der  schwarzen  Eunuchen  im  Serail 
zu  Stambul,  denn  zu  dieser  tiefen  Schmach  sollte  die  Stadt 
der  Weisen  wirklich  herabsinken.  Und  zwar  hat  sie  sich 
dies  um  1()40  als  eine  Gunst  vom  Sultan  selber  ausgebeten  ^). 
In  derselben  Zeit  Nerio's  befand  sich  übrigens  das  einst  die 
Welt  beherrschende  Capitol  Rora's  grösstenteils  im  Besitze 
der  Franziskanermönche  von  Aracöli,  ohne  dass  die  Römer 
dies  als  eine  Erniedrigung  der  erhabensten  Malstatt  ihrer 
Geschichte  empfanden. 

Nach  dem  Wortlaut  der  Schenkung  Nerio's  sollte  also 
die  Stadt  Athen  etwa  in  ein  solches  Verhältnis  der  Abhän- 
gigkeit zum  lateinischen  Erzbischof  und  dem  Capitel  der 
Parthenonkirche  treten,  wie  es  die  Stadt  Rom  zum  Papst 
und  zu  Sanct  Petrus  besass.  Sie  sollte  fortan  als  ein  eximirtes 
Kirchengut  zu  einer  geistlichen  Baronie  unter  päpstlicher 
Autorität  werden,  wie  dies  damals  die  Metropole  Achajas 
Patras  wirklich   war^V 


1)  Spon,  Voyage  de  Grece  TI,  242.  Auch  die  heuligen  Griechen 
betrachten  das  nicht  als  einen  Schimpf,  sondern  als  eine  Bevorzugung 
Athens.  Nicolaus  Moschobeki  rö  h  'Elh'tl^i  (h)iiöoioy  öixaior  tnl 
Tovoxoxoariag,  Athen   1882,  p.   115. 

2)  Finlay  Hiat.  of  Greece  IV,  159  behauptet  ganz  widersinnig, 
dass  Athen    durch    diese    Schenkung  Nerio's   nach    14  Jaiirhunderten 


G-regornmis:  Besitznahme  Athens  durch  die  Republik   Venediij.    14o 

Nun  aber  hatte  der  Herzo«^  nicht  nur  diese  neuen  Rechte 
der  Marienkirche,  sondern  sein  ganzes  Land  dem  Schutze 
der  Kepubiik  Venedig  testamentarisch  empfohlen^).  Da  diese 
sehr  wichtige  Bestimmung  nebst  allen  andern  praktischen 
Verhältnissen  die  Ausführung  der  Schenkung  des  athenischen 
Pipin  unmöglich  machen  miisste ,  so  hat  das  Testament 
Nerio's  nur  eine  psychologische  Bedeutung  als  Vorgang  im 
Kopfe  eines  wahrscheinlich  von  vieler  Sündenschuld  bedrückten 
und  l)igott  gewordenen   Phantasten. 

Die  Zumutung  an  die  eingeborenen  Athener,  ihr  städti- 
sches Vermögen  durch  ihnen  verhasste  lateinische  Priester 
verwalten  zu  lassen,  und  fortan  vom  Erzbischof  ihre  Rectoreii 
und  Richter,  und  die  Capitäne  der  Akropolis  anzunehmen, 
war  so  abnorm,  dass  sie  auch  ein  schwaches  Volk  zum  Auf- 
stande hätte  treiben  müssen,  wenn  das  Domcapitel  den  Willen 
des  Herzogs  durchzuführen  unternahm.  Die  Nationalpartei 
der  Griechen  in  der  Stadt  war  damals  erstarkt,  weil  derselbe 
Nerio ,  bald  nachdem  er  die  Herrschaft  erlangte ,  um  die 
Athener  für  sich  zu  gewinnen,  ihre  von  allen  seinen  fränki- 
schen Vorgängern  nicht  geduldete ,  erzbischöfliche  Kirche 
hergestellt  hatte.  Zum  ersten  Mal  seit  der  Eroberung  Athens 
durch  die  Franken  sass  wieder  ein  griechischer  Metropolit 
in  der  Stadt,  wo  man  ihm  eine  Basilika  und  ein  Episcopiuni 
eingeräumt  hatte,  während  der  lateinische  Erzbischof  neben 
dem  Parthenon  auf  der  Akropolis  residirte. 

Der    Dosje    Antonio  Venier   schickte    am    4.  Dec.   1394 


der  Sclaverei  für  einen  Moment  einen  Schein  von  Freiheit  unter  dem 
Schatten  des  päpstlichen  Einflusses  erhalten  habe. 

1)  Im  Testament  heisst  es  :  Item  volemo  che  nostro  paese  sia 
in  recommissione  et  in  recomandatione  dell'  eccelsa  et  illustre  du- 
cale  signoria  di  Venetia,  et  che  li  essecutori  nostri  dello  nostro  testa- 
mento  debbiano  et  possano  ricorrere  alla  detta  signoria  per  ajuto  et 
favore.  Chalcocondylas  IV.  213  sagt,  dass  Nerio  die  Stadt  Athen  den 
Venetianern  überliess. 


146  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  1888. 

eine  Abschrift  des  Testaments  Nerio's  an  die  Signorie  in 
Florenz  ^).  Dort  war  Donato  Acciajoli  der  Erbe  der  floren- 
tinischen  Güter  seines  älteren  Bruders  Nerio,  und  zugleich, 
gemäss  dem  Investitur- Di])lom  des  Königs  Ladislaus  von 
Neapel,  des  Oberlehnsherrn  des  Herzogtums  Athen,  sein 
rechtmässiger  Nachfolger  in  diesem.  Allein  er  Hess  sich  nicht 
herbei,  seine  Ansprüche  auf  das  ferne  Land  wahrzunehmen, 
entweder  weil  er  es  vorzog,  Gonfaloniere  in  Florenz  als 
Herrscher  in  Attika  zu  sein,  oder  weil  ihn  unvorhergesehene 
Ereignisse  hinderten.  Denn  die  Willensbestimmung  Nerio's 
wurde  sofort  der  Gegenstand  des  Haders  der  nächstberech- 
tigten Verwandten  und  Erben. 

Drei  Prätendenten  standen  in  Griechenland  bereit ,  das 
Testament  zu  ihren  Gunsten  auszulegen,  oder,  wo  möglich, 
umzustossen:  der  kluge  Bastard  Antonio,  jetzt  wirklicher 
Herr  in  Böotien,  der  mächtige  Dynast  Carlo  Tocco  als  Gemal 
Francesca's,  und  die  RepubUk  Venedig,  deren  Bailo  in  dem 
nahen  Negroponte  die  Dinge  beobachtete.  Tocco  besetzte  zu- 
erst Megara,  kam  im  Nov.  11394  nach  Korinth,  und  zwang 
die  Executoren  des  Testaments  durch  List  und  Gewalt  ihm 
diese  Stadt  zu  überlassen.  Sie  eilten  hierauf  nach  Venedig 
und  Florenz,  wo  sie  ihre  Proteste  niederlegten*). 

Die  Republik  Sau  Marco  sah  sich  unterdess  genothigt,  ihr 
testamentarisch  verbrieftes  Schutzrecht  über  Athen  geltend 
zu  machen  luid  der  steigenden  Verwirrung  im  attischen  Lande 
Einhalt  zu  thun,  welches  die  Beute  der  Türken  zu  werden 
drohte.  Der  gewaltige  Bajazet  war  der  Schiedsrichter  Griechen- 
lands, wo  nichts  mehr  ohne  seine  Genehmigung  geschehen 
konnte,  wo  nicht  nur  jeder  griechische  und  fränkische  Dynast, 
sondern  der  ))yzantinische  Kaiser  selbst  im  Vasallenverhältnis 


1)  Buchon,  N.  W.  II,  261. 

2)  Protest  in   Venedig,   1.  .Sept.   1395;  in  Floronz  IG.  Sept.  1395, 
Buchon  N.  R.  II,  264.  265. 


Gregorovius:  Besitz naiime  Athens  durch  die  Republik  Vcncdirf.     147 

zu  ihm  .stand .  seine  Gunst  ilurcli  Tribut  erkaufte ,  und  zu 
seiner  Selbsterhaltung  oder  Vergrösserung  die  türkische  Inter- 
vention anzurufen  pflegte.  Der  Sultan  hatte  jetzt  den  Grie- 
chen und  Lateinern  gegenüber  die  gebietende  Stellung  der 
alten  römischen  Kaiser  erlangt:  seine  Kühnheit  und  Gross- 
artigkeit  und  seine  Staatskunst  flössten  der  ganzen  Christen- 
heit Schrecken  und  Bewunderung  ein. 

Im  Bunde  mit  den  Türken  war  selbst  Carlo  Tocco, 
welcher  nach  dem  Besitz  der  unlängst  venetianisch  gewor- 
denen Argolis  strebte  und  dorthin  kriegerische  Streifzüge 
unternahm,  während  er  sich  von  seinem  Schwager  Theodor 
überreden  Hess,  ihm  Korinth  abzutreten.  Dort  zog  griechische 
Besatzung  ein,  und  so  wurde  der  Isthmus  mit  dem  Pelo- 
ponnes  wieder  vereinigt. 

In  Athen  regte  sich  die  lange  unterdrückte  National- 
partei. Einheimische  Archontengeschlechter  waren  dort  wieder 
emporgekommen,  und  sie  schlössen  sich  an  das  griechische 
Erzbistum  an.  Der  Metropolit  Makarios  musste  durch  die 
Schenkung  Athens  an  die  lateinische  Kirche  in  Wut  versetzt 
sein ;  von  Nationalhass  verblendet  unterhandelte  er  heimlich 
mit  den  Türken,  und  einige  Monate  nach  dem  Tode  Nerio's 
rückte  der  Pascha  Timurtasch  von  Thessalien  mit  einem 
Heerhaufen  in  Attika  ein.  Er  besetzte  ohne  Widerstand  die 
Unterstadt  Athen.  Nur  die  von  den  Spaniern  während  ihrer 
Herrschaft  durch  Schanzen  verstärkte  Äkropolis  hielt  der 
tapfre  Burgvogt  Matteo  de  Montona ,  einer  der  Executoren 
des  Testaments  Nerio's^). 

In  seiner  Bedrängnis  schickte  er  Boten  nach  Negroponte, 
und  trug  dem  dortigen  venetianischen  Bailo  Andrea  Bembo 
an,  ihn  durch  einen  Entsatz  zu  befreien    und  die  Burg  wie 


1)  In  venetianischen  Urkunden  wird  der  Name  durchaus  Mon- 
tona, nicht  Mentona  geschrieben.  E.s  gab  in  Istrien  ein  Castell  Mon- 
tona, von  woher  Matteo  stammen  mochte. 


148  Sitzung  der  histnr.  Ciasse  vom  4.  Februar  1888. 

die  Stadt  Athen  für  die  Republik  in  Besitz  zu  nehmen, 
unter  Bedingungen,  Aveiche  die  Freiheiten  und  Rechte  der 
Athener  gewährleisteten.  Bembo  genehmigte  diesen  Antrag 
mit  dem  Vorbehalt  der  Bestätigung  des  Dogen.  Er  schickte 
von  Euböa  Kriegsvolk  hinüber,  welches  die  Türken  zum 
Abzüge  aus  Athen  und  aus  Attika  nöthigte.  Montona 
öflfnete  hierauf  den  Venetianern  die  Akropolis,  und  am  Ende 
des  Jahres  1394  wurde  das  Löwenbanner  von  S.  Marco  zum 
ersten  Mal  auf  den  Zinnen  der  Burg  des  Cecrops  aufge- 
zogen^). Die  altersgraue  Akropolis,  seit  den  Römerzeiten 
eine  Festung,  wie  die  Kadmea  Thebens,  hatte  damals  und 
schon  längst  ihren  antiken  Namen  verloren ;  die  skandinavischen 
Seefahrer  nannten  sie  Athenisborg,  die  Franken  castrum 
Athenarum  oder  im  gewöhnlichen  Vulgär  „Castell  Sethines. " 
Kein  günstigeres  Los  konnte  damals  den  Athenern  zufallen, 
als  venetianisch  zu  werden. 

Andrea  Bembo  meldete  das  wichtige  Ereigniss  dem 
Dogen,  und  Matteo  de  Montona  schickte  zu  diesem  als 
seinen  eigenen  Boten  und  Bevollmächtigten  Leonardo  von 
Bologna,  lun  die  Republik  aufzufordern,  die  vollendete  That- 
sache  der  Besitznahme  Athens  anzuerkennen  und  die  ver- 
tragsmässigen  Zusagen  des  Bailo  zu  bestätigen.  Die  Signorie 
Venedigs  konnte  die  kühne  That  ihres  ersten  Ministers  in 
der  Levante  nur  mit  Genugthuung  aufnehmen,  wenn  auch 
die  Folgen  derselben  vielerlei  Bedenken  erregen  mussten; 
denn  der  Erwerb  Athens  und  Attikas  musste  bei  allen 
Feinden  der  Republik  auf  heftigen  Widerspruch  stossen, 
bei  dem  Sultan,  den  Byzantinern  im  Peloponnes,  und  den 
Erben    Nerio's.       Allein    Venedig     hatte    das    unbestrittene 


1)  Navagero  Stor.  vcnet.  (Munitori  XXIIT,  1075).  Da  in  dem 
venetianisclien  Senatsbe.schluss  vom  18.  März  1395  pfesagt  wird,  dasa 
der  Bote  des  Montona  schon  seit  mehren  Monaten  in  Venedig  sei, 
so  kann  die  Besetzung  Athens  durch  den  Bailo  nicht,  wie  Hopf  an- 
nimmt, Anfangs  1395  geschehen  sein. 


Gregorovins :  Besitznahme  Athens  (hirch  die  Eepuhlik  Veuedi;/.     1  ^•' 

Keclit  und  die  [Pflicht,  Athen  zu  schützen  und  zu  retten. 
Ani  18.  März  1395  fasste  der  Senat  den  Beschlu.ss,  den  Be- 
sitz der  Stadt  zu  behaupten.^) 

In  diesem  Act  erklärte  er,  dass  es  unstatthaft  sei,  di«.' 
Stadt  Athen  aufzugeben,  weil  sie  sonst  in  die  Gewalt  der 
Türken  fallen  müsse,  wodurch  dann  die  benachbarten  Be- 
sitzungen, welche  der  Republik  so  teuer  seien,  wie  die  Pupille 
des  Auges,  dem  Untergänge  ausgesetzt  sein  würden.  Venedig 
übernahm  die  Stadt  Athen  mit  der  ausdrücklichen  Aner- 
kennung aller  ihrer  Rechte,  Freiheiten  und  Privilegien  und 
althergebrachten  Gewohnheiten,  deren  Aufrechthaltung  bereits 
der  Bailo  Negropoute's  dem  Matten  de  Montona  in  seinem 
mit  ihm  gemachten  Vertrage  eidlich  zugesagt  hatte.  Zum 
Lohn  für  die  Dienste  dieses  tapfern  Capitäns,  „welcher  der 
wesentliche  Urheber  der  Uebergabe  Athens  au  Venedig  sei", 
wurde  ihm  aus  den  Einkünften  der  Stadt  eine  jährliche 
Rente  von  400  Hyperpern  ausgesetzt;  eine  geringere  erhielten 
Leonardo  von  Bologna  und  zwei  andre  Athener,  Giacopo 
Columbino  und  der  Notar  Makri ,  ein  Grieche,  welche  gleich- 
falls für  die  Venetianer  bemüht  gewesen  waren. 

Die  Neuordnung  der  Verhältnisse  Athens  behielt  sicli 
die  Republik  für  die  Zeit  vor,  wo  sie  über  den  Betrag  der 
Einkünfte  der  Stadt  genügend  werde  aufgeklärt  sein.  In 
dem  Beschluss  des  Rates  wurde  ausdrücklich  auf  das  Testa- 
ment Nerio's  Bezug  genommen,  kraft  dessen  die  Republik  die 
Herrschaft  Athens  zu  übernehmen  habe.  Die  Schenkung  der 
Stadt  an  die  Kirche  wurde  mit  Schweigen  übergangen.  Da 
der  Marsstall  des  verstorbenen  Herzogs,  aus  welchem  die 
Marienkirche  ihre  wesentlichen  Einkünfte  beziehen  sollte, 
durch  Diebstahl    der    Pferde    geschmälert    worden    war,    die 


1)  Intromissio  Athenai-um,  Archiv  Venedig,  üeliber.  Miste  del  Se- 
nate I,  vol.  43,  fol.  50*.  Intromissio  ist  so  viel  als  acceptatio  und  die 
Negation  von  intromittere  ist  dimittere. 


1  50  Sitzunfi  der  histor.  Clanse  vom  4.  Februar  1888. 

Beschützung'  Athens  aber  gerade  jetzt  grössere  Kosten  ver- 
ursachte, so  ward  bestimmt,  dass  die  Zahl  der  Domherren 
vorläufig  auf  8  herabzusetzen  sei.  Der  künftige  venetianische 
Rector  Athens  sollte  mit  zwei  Bevollmächtigten  oder  Pro- 
curatoren  der  Marienkirche  die  Einkünfte  und  den  Unterhalt 
des  Capitels  regeln. 

Wie  Nauplia  und  Argos,  sollte  jetzt  auch  Athen  durch 
einen  venetianischen  Edeln  regiert  werden,  welcher  den 
Titel  Podesta  und  Capitän  erhielt^).  Der  erste  dieser  Po- 
destaten  Athens  war  Albano  vom  alten  Hause  der  Contarini. 
Er  wurde  dazu  am  27.  Juli  1395  auf  zwei  Jahre  ernannt, 
mit  einem  Gehalt  von  70  Pfund,  wovon  er  einen  Notar, 
einen  venetianischen  Gehülfen  (socius),  einen  Diener,  zwei 
Knechte,  und  ein  Pferd  zu  unterhalten  hatte  ^).  Zugleich 
wurden  für  die  Akropolis  zwei  Schützencapitäne,  Vivianus 
de  la  Spata  und  Johannes  Valacho,  mit  sechs  Ducaten  mo- 
natlichen Soldes  eingesetzt.  Von  ihnen  nuisste  wenigstens 
einer  am  Tage,  zur  Nachtzeit  aber  mussten  beide  in  der 
Burg  sich  befinden^).  Da  die  Besatzungen  der  Burgen  in 
jener  Zeit  äusserst  gering  waren,  so  schien  es  der  Republik 
ausreichend,  wenn  Contarini  jene  der  Akropolis  mit  20  Arm- 
brustschützen   verstärkte.     Im    Falle    des    grösseren    Bedürf- 


1)  Scrihatnr  potestati  et  cai)itanoo  Athenarum  (in  einer  Person), 
wird  in  Erlassen  Venedigs  gesagt;  Sathas  Mon.  Hell.  Hist.  11,  n.  212; 
oder  auch  einfach  Potestas.  Ser  Nicolaiis  Victori  iterum  potestas 
Athenarura  (3.  Aug.  1400,  ibid.  n.  222). 

2)  Der  Bailo  Negroponte's  erhielt  .jahrlich  1000  Hyp<M-pern, 
muHste  1  Sociu.s  halten,  dem  er  jährlich  20  Hyperpern  und  2  Kleider 
7A\  geben  hatte,  ferner  1  Notar  und  8  Diener.  .\rch.  Venedig,  Bit'rons 
fol.  71. 

3)  Duo  capita  ballistariorum.  Sie  finden  sich  auch  als  castellani 
bezeichnet.  Am  20.  April  1400  befiehlt  die  Republik  dem  Podesta 
Athens  an  Stelle  des  entlassenen  .Tohannea  Valacho  unius  ex  castel- 
lanis,  alium  castellannm  sive  caput  zu  ernennen.  Sathas  a.  a.  0. 
II,  212. 


Greßorocins :  Besitznahme  Athens  durch  die  Repuhlil-  Venedi/j.     l-'ii 

nisses  von  Krieg'svolk  und  Geld  zum  Seliutze  Atliens  wurde 
der  Podesta  angewiesen,  sich  an  die  Castellane  von  Modoii 
und  Coron,  oder  an  den  Bailo  Negroponte's  um  Unterstütz- 
ung zu  wenden. 

Im  Sommer  1895  langte  Alhano  Contarini  in  Athen 
an,  wo  er  im  herzoglichen  Palast  der  Acciajoli  auf  der 
Akropolis  seinen  Sitz  nahm.  Wahrscheinlich  empfand  die 
Stadt,  deren  bisherige  Geraeindeverfassung  keine  Aenderung 
erfuhr,  al.sbald  die  Wohltliaten  der  starken  venetianischeii 
Regierung,  aber  sie  und  Attika  waren  in  solche  Armutii 
versunken,  dass  Contarini  im  folgenden  Jahre  von  der  Re- 
publik ein  Anlehen  im  Betrage  von  8000  Ducaten  begehrte, 
welches  diese  auch  auf  zwei  Jahre   bewilligte  V). 

Sicherlich  war  es  die  Hoffnung  der  veuetianischen  Partei 
unter  den  Athenern,  dass  die  Republik  die  Stadt  dauernd  be- 
haupten werde  ;  allein  sie  war  damals  durch  kostspielige  Kriege 
und  vielerlei  t^nternehmungen  erschöpft  und  nicht  stark  ge- 
nug. Nur  wenig  mehr  als  sieben  Jahre  lang  blieb  sie  im 
Besitze  Athens,  und  nur  vier  venetianische  Edle  halben  dort 
auf  der  Akropolis  das  gering  besoldete  Amt  des  Podcstä  und 
Capitäns  verwaltet,  welchem  nichts  anderes  als  der  erlauchte 
Name  Glanz  verleihen  konnte*). 

Albano  Contarini  trat  nach  zwei  Jahren  von  seinem 
Posten  ab,  und  wurde  später  am  18.  Juli  1398   als  Podestä 

1)  Considerata  paupertate  dictc  terre,  ut  non  perveniafc  ad  ex- 
tremitatem.  Archiv  Venedig,  Misti  XLIIl.  carf.  155.  6.  Oct.  1396. 
Ind.  V. 

2)  Die  Wahl  dei-  Capitäne  Athens  fand  durch  viermaliges  Scru- 
tinium  des  grossen  Rathes  statt.  Vadit  pars  quod  potestas  et  capi- 
taneus  Sitines  fiat  per  quatuor  manus  electionum  in  ipso  consilio  cum 
salario  et  condicione,  quibus  erat  ser  hermolaus  contareno  ibi  defunc- 
tus.  Maggior  Cons.  Deliber.  Leona  fol.  105*.  Die  Liste  der  venetiani- 
schen  Podestaten  Athens  bei  Hopf  Chron.  tireco-Romanes,  Berlin  1873. 
p.  371. 


152  SitzuiKj  der  lüstor.  Clause  com  4.  Februar  1S88. 

und  Capitän  nach  Argos  geschickt.  Sein  Nachfolger  war 
Lorenzo  Venier  (1397);  dann  folgte  Ermolao  Contarini  (1399), 
welcher  auf  der  Akropolis  starb.  Der  letzte  venetianische 
Podesta  Athens  war  nach  ihm  Niccolo  Vetturi.  Wäh- 
rend seiner  Verwaltung  gelang  es  dem  Bastard  Nerio's, 
jenem  in  dessen  Testament  mit  dem  reichen  Lande  Böotien 
ausgestatteten  Antonio  Acciajoli,  am  Ende  des  Mai  1402 
durch  einen  geschickt  ausgeführten  Handstreich  die  Unter- 
stadt Athen  zu  bewältigen.  Er  belagerte  dann,  nachdem  er 
einen  Entsatz  durch  den  Bailo  Negroponte's  vereitelt  hatte, 
die  Akropolis.  Niccolo  Vetturi  ergab  sich  erst,  nachdem  er, 
ohne  jede  Unterstützung  und  der  Hungersnot  preisgegeben, 
siebzehn  Monate  lang  sich  heldenhaft  vertheidigt  hatte  ^). 
So  zog  der  zweite  x4cciajoli  am  Ende  des  Jahres  1403  trium- 
lirend  in  das  Propyläenschloss  der  Herzoge  Athens  ein.  Er 
verdiente  sein  Glück,  denn  er  war  ein  hervorragender,  zum 
Herrschen  geborener  Mann. 

I. 

Die  XVlll"  Martii. 

(^uod  viri  uol)iles  ser  Philippus  Sanuto,  ser  Marcus  Mauro- 
ceno ,  ser  Stadins  Caucho,  ser  .Johannes  Lauredano  et  ser 
Franciscus  Bembo,  (|ui  sunt  vocati  pro  factis  Athenaruni 
[»ropter  informationein  (juam  habent  de  dictis  factis,  possint 
starp  in  isto  consilio  arrengare  et  dicere  opinionem  suam  super 
partibus  quae  ponuntur,  non  ponendo  balotam  nee  capiendo 
partem   nisi    l'uerint  de  ipso  consilio. 

1)  Ciun  [H'ius  cüiuudent  equos  et  omnia  alia  couicstiljilia  quae 
reperere  potuit.  unque  ad  urfcicam.  Arch.  Ven.  Grazie  Lib.  XX  fol. 
:$1.  27.  März  1409.  Vetturi  starb  bald  darauf:  seiner  Wittwe  und 
Tochter  setzte  die  Republik  eine  Pension  aus. 


Gregoroviuft:  Befiit::nahme  Atlie)»i  durch  die  RepubUk  Venedig.     153 

Intromissio  A  tlienaruni. 

Capta. 

Quia  uon    taceret    pro    nobis    nee  pro  statu    nostro  nllo   ^^•^  ^T"^;/' 
modo  diraittere  civitateiii  Athenarum,  considerato  qaantum  est 
contigua  locis  nostris  et  quod,  si  ad  manus  turchorum  vel  ad 
alienas  main;s  ])erveniret,  posset  esse   causa  destructionis  dic- 
toruni  locorum  quae  rationabiliter  cara  habere  debemus  velut 
pupillam  oculi,    vadit    pars  quod    in    nomine  Jesu  Christi  et 
S.  Marci  Evangelistae ,    asumatur    et  acceptetur  libere  domi- 
nium dicte  civitatis   cum    omnibus    locis    et   pertinentiis  suis 
cum  illis  pactis,  modis  et  conditionibus  in  totum,  cum  quibus 
regimen  nostrum  Nigropontis  dominium  dicte  civitatis  intro- 
misit,  et  cum  quibus  dicta  civitas  dicto  regimini  libere  tradita 
fuit.  Verum  quia  Matheus  de  Montona,  capitaneus  olim  ejus- 
dem  civitatis  Athenarum,    qui  fuit  potissima    causa    dationis 
ipsius    nostro    dominio,  jam    pluribus    mensibus    ad    nostrani 
presentiam  quemdam  suum  oratorem  destinavit,    cum  quam- 
pluribus  capitulis  quae  tarnen  nostro  libero  arbitrio  et  volun- 
tati  reliquit  corrigenda,  modificanda  et  minuenda,    ordinetur 
quod  dicatur  et  respondeatur  dicto  ambaxatori  super  onmibus 
dictis  capitulis.    quod   infradictos    fideles   nostros  Athenienses 
habere  ]n-o])itiis    favoribus    recommissos    placet    nobis,    et  sie 
mandabimus  rectoribns  nostris,  qui  in  dicta  civitate  erunt  per 
tempora.  quod  debeant  ipsos  conservare  in  omnibus  franchi- 
siis,  libertatibus  privilegiis  et  juribus  suis,  ac  in  suis  antiquis 
et  solitis  consnetudinibus,  prout  eis  promissum  fuit  per  regi- 
men nostrum  Nigropontis,  eisque  complacere  in  his,  quae  non 
possint  redundare    in    detriraentum    neque    damnum    alicujus 
specialis  persone,    et  insuper  vollumus    non  ingrati  de  fideli- 
tate    et    affectione    maxima    quam    erga    nostrum    dominium 
cognovimus  dictos  Matheum  et  Leonardum   de  Bononia  ora- 
torem predictum    habere    operum    per  effectum ,    cpiod  dictus 
Matheus  pro  bono  exemplo  aliorum  habeat  et  percipiat  sin- 


154  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  4.  Fehruar  1888. 

gulo  anno  in  vita  sua  pro  sua  provisioue  de  introitibus  dicte 
civitatis  yperpera  quadringenta,  dictus  vero  Leonardus  orator 
ducenta,  et  sie  mandabimns  rectoribus  nostris  (|ui  in  dicto 
loco  erunt  per  tempora,  quod  debeant  observare  et  de  hoc 
fiant  littere  patentes  et  necessarie  sicnt  fuerit  opportunnm. 
De  recoo-uitione  vero  dicte  civitatis  et  de  exactione  introitunni 
ejus  providebitur  mature  et  soleniter  per  i.stud  eonsilinni,  si- 
cnt fuerit  opportunnm. 

De  parte  —40  —  55  — 

Marcus  Volunt  quod  respondeatur    et  dicatur    dicto  anibaxatori, 

'tw^"'"^"  quod  nos  examinavinius  litteras  nobis  missas  per  regimen 
Johannes  nostruui  Nigropontis  de  modo,  quem  servaverunt  in  accipiendo 
B^nedic-  «^o»!!"^'"^!  *^^  possessionem  civitatis  Athenarum  predicte,  et 
Superan-  iUud  quod  proniiserunt  civitati  predicte,  seil,  de  conservando 
ip.consil.  ^^^  ^^_^  ^^-g  juribus,  franehisiis,  privilegiis  et  libertatibus,  se- 
eundum  quae  erant,  donee  per  nos  deliberate  provideretur, 
si  volemus  illam  acceptare  vel  non ,  quod  facere  et  servare, 
ac  üeri  facere  et  servari  dispositi  sumus,  sed  quia  ipse  am- 
baxator  asserit  nobis ,  quod  ipsa  capitula  nobis  presentata 
fuerunt  eis  promissa  et  jurata  per  nostruni  vicarium  et  rec- 
torem,  et  de  hoc  nos  nullam  informacionem  habemus  a  rec- 
toribus nostris  Nigropontis,  nee  a  vicario  antedicto,  videtur 
nobis  pro  possendo  clarius  in  facto  procedere  et  nemini  facere 
quod  fieri  non  deberet ,  mittere  in  inscriptis  ordiiiate  .ipsis 
nostris  rectoribus  capitula  antedicta  et  habere  suam  infor- 
macionem et  declarationem  tarn  super  illis,  quam  super  qui- 
buscunque  aliis,  (pie  necessariu  forcnt,  nt  ])0stea  possimus  cla- 
rius et  melius  providere,  declarantes  ipsuni  ambasiatorem  (sie), 
quod  inspecta  sincera  dispositione  dicti  Mathei ,  ad  nostros 
honores  et  etiam  sua  (sie !)  inteneio  nostra  est  ex  nunc  in 
omni  casu  habere  ipsos  apud  nos  recommissos,  et  acceptando 
dictum  loonn  per  viam  ca})itiiloram  predictoruin  aut  per  aiiam 


Gregoroviua :  Besitznahme  Athens  durch  die  RejnibWc  Venedig.    155 

viam  providere  taliter  de  eis,  quod  ipsi  habebunt  rationabiliter 
et  merito  comendari. 

De  parte  —18-23  — 


Vult  quod  respoudeatur  dicto  anibaxiatori  secunduiu  eon- 

tineutiani    partis    ser    Symeouis    Dalmario    et    sap.    ordinum 

existentiuni  iu  parte   cum  eo,  et   quod  Matheus  de  Montona 

et  Leonardus  de  Bononia  habeant  de  provisione  prout  in  dicta 

parte  cavetur ,    verum    vult ,    quod    dominium    dicte    civitatis 

Athenarum  recipiatur  et  asumatur  gubernandum  et  regendum 

l>er  dominatiouem  nostram,  secundum  formam  testamenti  do- 

mini  Nerii  de  Azaiolis ,  sed  quia  raza  equarum  suarum,    que 

furtive  ablate  fueruut,  defticit ,  ex  qua   dicta  ecclesia  maiorem 

partem    suorum  reddituum  percipiebat,  et  de  ipsa  fieri  debe- 

bant  expense  necessarie,  et  etiam  quia  tempora  sunt  suspecta, 

et  dicta  civitas  Athenarum  eget  maiori  custodia    et  expensis, 

quam    si  tempora    forent    tranquilla,    et   presentialiter    quot 

sint  ejusdera  civitatis   introitus    et  expense  ignoremus,    ordi- 

netur  quod  pro  nunc  deputari  debeant  ad  divina  offitia  cele- 

branda  in  ecclesia  S.  Marie  de  Athenis  soktmmodo  sacerdotes 

octo,  quibus    per  nostrum    rectorem    provideatur    pro  eoruni 

victu  et  rebus  eis  necessariis    sicut  fuerit  opportunum  ,    nam 

reconciliatis  temporibus  et  conditionibus    demum  existentibus 

in  pacifico  statu  de  maiori  numero  sacerdotum   habita  plena 

informatione  de  omnibus  postea  poterit  provideri.  Et  ex  nunc 

sit  captum.  quod  in  nostro  maiori  consilio  fieri  debeat  unus 

rector  dicte  civitatis    et  unus    procnrator   dicte    ecclesie,    qui 

habeat  recipere  et  dispensare  redditus  dicte  ecclesie  cum  uno 

alio  procuratore  dicte  ecclesie,  quod  demum  fieri  deljeat  j^er 

nostros  rectores,    qui  erunt    per  tempora  de  anno    in  annum 

cum  modis    et  conditionibus    qui  ordinabuntur    per   maiorem 

partem  hujus  consilii.     Ita  quod  comune  nostrum   de  introi- 

tibus  dicte  ecclesie  seu  civitati  spectantibus  non  sentiat  emo- 


150  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  1888. 

lumentuni  necque  daimium.  Vult  et  ultra  hec,  quod  Jacobus 
Columbino  et  Notarins  Macri,  qui  bene  se  gesserunt  in  hoc 
facto,  habeant  etiam  de  provisione  singulo  anno  ypperpera 
CL  pro  ntroque  eorum  et  quod  douentur  dicto  Leonardo  de 
Bononia  ambaxiatori  pro  suis  expensis  ducati  quinquaginta 
auri.  De  parte  —11,  de  non  — 5,  non  sinceri  — 17  — 15  — 
(Arch.  Vened.  Misti.  vol.  43,  cart.  50'). 


II. 

Quod  fiat  comniissio  viro  nobili    ser  Albano  Contareno  pote- 
stati  et  capitaneo  Athenanuu  in  hoc  forma  vd. 

Capta. 

Nos  Antonius  Venerio  dei  gratia  dux  Venetiarum  etc. 
Coniittinius  tibi  nobih  viro  Albano  Contareno  dilecto  et  hon. 
civi  nostro,  qucnl  de  nostro  niandato  in  bona  gratia  ire  de- 
beas  in  potestateni  et  capitaneum  civitatis  nostre  Athenarnni, 
quam  civitatem  cum  omnibus  pertinentiis  suis  reges  et  guber- 
nabis,  ad  honorem  nostrum,  habendo  et  haberi  faciendo  die 
noctuqne  bonam  et  vigilem  custodiam  de  locis  ))redictis  til)i 
commissis  ut  sinixtrum  ue(|uoat  evenire  ,  sicut  de  prndentia 
tua  plene  confidinius. 

In  ((U()  quideni  n-giniine  esse  debes  per  duos  annos  et 
tantum  plus  quantum  successor  tuus  illuc  venire  distullerit, 
diem  auteni  qua  dictum  regimen  intrabis  nobis  debeas  tnis 
literis  denotare. 

FA.  debes  ipsam  civitatem  et  oiiuk^s  liabitatores  in  ca 
regere  et  gnbernare  in  ratione  et  jusiitia,  prout  til)i  vido- 
bitur,  secundum  deum  et  lionorem  nostri  dominii,  verum 
tarnen  pro  contentamento  habitantiuni  in  dicto  loco  voUumus 
quod  debeas  te  iulliiltere  quantum  poteris  consuetudinibus  et 
ritibus  dicte  terri',  in  (|uibuscunc|ue  videris  spectare  et  esse 
secundum   lionorem  nostri  d(»minii ,    et  quando   tibi  videretur 


Gref/oroviiif: :  Besit::)iahme  Athciifi  durch  die  liepnhliJc  Vevedif/.     157 

aliter  facienduni,  quam  secunduin  consuetudines  et  ritus  ip- 
.sorum,  deheas  Iiabendo  deum  et  honorem  no.strum  ante  ocii- 
los  ]irocedere  sicut  tue  sapientie  videbitur. 

Introitus  autem  dicte  terra  et  districtus  exigi  facies  Or- 
dinate secundum  quod  hactenus  extitit  observatum  ad  utili- 
tatem  et  proticuum  nostri  comunis  fatiendo  Ordinate  scribi 
introitus  et  expensas,  de  quibus  mostrabis  rationem  nostris 
officiis  rationum,  et  nichilo-minus  debes  nobis  scribere  quan- 
tocius  poteris  introitus  et  expensas  quae  rationabiliter  pote- 
rnnt  exigi  et  expendi  pro  nostra  informatione. 

In  super  vollumus  quod  cum  omnibus  nobilibus  civitatis 
et  habitantibus  dicti  loci  debeas  te  curialiter  gerere  et  quiete 
cum  honore  nostro  et  habere  illos  in  quibuscunque  poteris 
fideliter  commendatos. 

VoHumus  etiam  quod  quando  eris  ad  dictum  regimen, 
si  indigeres  gentibus  vel  pecuuia  pro  custodia  civitatis  pre- 
dicte,  debeas  requirere  castellanos  nostros  Coroni  et  Mothoni 
ac  regimen  nostrum  Nigropontis  quod  tibi  subveniant  sicut 
fuerit  expediens,  quibus  scribimus  efficaciter,  quod  in  cunctis 
possibilibus  debeant  tibi  dare  Subventionen!,  subsidium  et  fa- 
vorem. 

Et  applicato  ad  regimen  predictum,  si  videres  quod  foret 
aliquid  expediens  et  f'acere  aliqnam  provisionem  pro  l)ono  et 
conservatione  dictorum  locorum,  debeas  nobis  omnia  scribere 
particulariter  et  destincte,  et  opinionera  tuam ,  ut  possimus 
providere  superinde  sicut  fuerit  opportunum. 

Item  debeas  notificare  nobis  et  mittere  in  scriptis  quan- 
tocius  poteris  statuta ,  et  consuetudines  deinde ,  ut  possint 
corrigi  et  fieri  superinde  sicut  fuerit  opportunum. 

Et  scribas  nobis  de  tempore  in  tempus  de  conditionibus 
et  novis  deinde,  et  omnia  que  cognoveris  spectare  et  esse  pro 
nostra  informatione. 

Habere  quidem  debes  de  salario  in  anno  et  ratione  anni 
libr.  LXX'"  grossorum,    tenendo    ad   tuum    salarium    et    ex- 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Gl.  2.  1 1 


158  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  1888. 

pensas  iinnni  notarinm  et  iinum  sotium  venetum,  qui  placeat 
nostro  dominio,  cui  dare  teneris  in  anno  yppr.  L**,  quatiior 
famulos,  dnos  ragacios,  et  quatnor  equos,  et  ante  tuuni  re- 
cessum  de  Venetiis  habere  debes  salariura  diraidii  anni. 

Pro  custodia  autem  et  secnritate  castri  dicti  loci  cum 
nostro  collegio  ordinato  constituimus  duo  capita  ballistariornni 
videlicet  Vivianum  de  la  spata  et  Johannera  Valacho  cum 
salario  ducatorum  sex  in  mense  pro  quolibet,  similiter  tu 
deinde  facere  debes  ballistarios  viginti  ad  custodiani  dicti 
castri  de  Venetiis  vel  de  locis  nostris  Crete,  Coroni  aut  Mo- 
thoni  et  Nigropontis,  cum  soldo  yppr.  duodecim  in  mense 
pro  quolibet,  adhibendo  talem  ordinem,  quod  continuo  in 
dicto  Castro  sit  saltem  unns  dictorura  duorum  capitum  de 
die,  sed  de  nocte  anibo  continuo  dorniiant  intus  castrum. 

Et  ponantur  onniia  alia  capitula  solita  poni  in  commis- 
sioiiibus  Kectorum. 

(Fehlt  das  Datum.  Vorher  steht  ein  Erlass  vom  27.  Juli 
1395,   welchem  Tage  demnach  diese  Bestallung  angehört.) 

(Misti  Vo'l.  43,  cart.  7(V.) 


150 


Herr  Max  Lossen  hielt  einen  Vortrag: 

„Zur  Geschichte    der    pä])st liehen    Nuntiatur 
in  Köln  1578-1595." 

Die  Frage,  wer  der  erste  ständige  Nuntius  in  Köln  ge- 
wesen ist  und  welche  Befugnisse  er  hatte,  ist  in  dem  vor 
gerade  100  Jahren  zwischen  den  deutschen  Erzbischöfen 
und  dem  römischen  Stuhl  geführten  Streit  über  das  Recht 
des  Papstes,  ständige  Nuntien  mit  Jurisdiktionsgewalt  zu  er- 
nennen, häufig  aufgeworfen  worden.  Auf  römischer  Seite  be- 
zeichnete man  als  den  ersten  Nuntius  solcher  Art  den  Bischof 
von  Vercelli,  Johann  Franz  Bonomi  ^),  welcher  im  Jahre  1583 
die  Exkommunikationsbulle  gegen  Erzbischof  Gebhard  Truch- 
seß  in  Köln  publiciert  hatte,  sodann,  im  Frühjahr  1585, 
wieder  dahin  kam,  mit  einem  vom  19.  Januar  1585  datierten 
])äpstlichen  Breve,  welches  ihm  für  einen  sehr  ausgedehnten 
I3e/irk  die  Rechte  eines  legatus  de  latere  verleiht  und  die 
ihm  als  solchem  zustehenden  Befugnisse  einzeln  aufzählt^). 
In  einer   damals    viel    gelesenen    anonymen  Streitschrift    des 


1)  So  Papst  Pius  VI.  bei  der  Konsekration  des  Kölner  Nuntius 
BeUiaomi  am  24.  Sept.  1775 ;  s.  (Feller)  Reflexions  sur  les  73  articles 
du  Pro  Memoria  ....  touchant  les  Nonciatures.  1788.  p.  47;  ferner 
Pii  Papae  Sexti  Responsio  ad  Metropolitanos.  Ed.  2».  Romae  1790. 
p.  273:  qui  quidem  Bonomius  primus  fuit  stabilis  ad  tractum  Rheni 
Nuncius. 

2)  Bei  Hartzheim,  Concilia  Germaniae.  Tom.  VIII.  Col.  Agripp. 
1769.  p.  498. 

11* 


160  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  4.  Fehrnnr  18S8. 

Exjesniten  Feller  wird  dieses  Breve  als  die  „Stiftungsurknnde 
der  Kölner  Nuntiatur"   bezeichnet  ^). 

Abgesehen  von  ihrer  geschichtlichen  Begründung  diente 
diese  Behauptung  dazu,  dem  Ursprung  der  kölnischen  Nun- 
tiatur gleichsam  einen  idealen  Charakter  zu  verleihen,  wel- 
chen auch  die  Verteidiger  der  bischöflichen  Rechte  nicht 
zu  bestreiten  wagten :  denn  auch  sie  konnten  nicht  umhin, 
den  Abfall  des  Erzbischofs  Gebhard  Truchseß  von  der  römisch- 
katholischen  Kirche  als  eine  beklagenswerthe  Abirrung  der 
kölnischen  Kirche  von  ihrer  viel  gepriesenen  Stand haftigkeit 
im  alten  Glauben  zu  betrachten,  und  demnach  jede  Maßregel 
des  römischen  Stuhles,  welche  diese  Verirrung  gut  zu  machen 
suchte ,  als  ein  um  das  Erzstift  Köln  erworbenes  Verdienst 
anzuerkennen  ^). 

Umgekehrt  hatten  die  kölnischen  Gegner  der  Nuntiatur 
ein  Interesse  daran,  den  Bischof  von  Vercelli  noch  nicht  als 
ständigen  Nuntius  gelten  zu  lassen,  als  solchen  vielmehr  erst 
den  Bischof  von  Ossero,  Coriolan  Garzadoro ,  der  im  Jahre 
1595    zwischen    dem    Kölner    Domkapitel    und    dorn    Hause 


1)  On  peut  regarder  ce  Bref  comme  rinstrument  de  la  fondation 
de  cette  Nonciature.  Rdflexions  1.  c  p.  52. 

2J  In  seiner  ersten  anonymen  Streitschrift,  Veritable  J<]tat  du 
difterent  etc.  1787  p.  18,  polemisiert  Feller  gegen  die  in  einem  kur- 
triorischcn  Mandat  enthaltene  Bezeichnung  des  Kölner  Nuntius  als 
eines  „Au-sländers"  folgendermaßen:  „Le  successeur  d'un  nonce  auquel 
on  doit  la  con.servation  de  la  foi  catholique  dans  l'electoi'at  de  Co- 
logncj  peut-etre  dan.s  toute  la  hasse  Alleraagne,  lors  de  l'apostasie 
du  metropolitain  Truchses,  qui  renia  sa  foi  pour  les  yeux  de  la  helle 
Agnha,  seroit-il  si  etranger  dans  nos  contrees"  etc.  —  Einer  der 
Vertheidiger  der  erzbischöflichen  Rechte,  der  pseudonyme  P.  Calo, 
Calophorie  ou  Materiaux  pour  la  reponse  au  .  .  .  Veritable  Etat  1787 
p.  53,  .sucht  dieser  Ruhmredigkeit  mit  der  Behauptung  zu  begegnen, 
der  Bischof  von  Vercelli  sei  post  festum  gekommen,  nachdem  durch 
das  Domkapitel,  die  rheinischen  Landstiinde,  Herzog  Ernst  von  Bayern 
und  andere  bereits  die  Erhaltung  der  kiitholischen  ÜHligion  gesichert 
gewesen  sei. 


Lossen:  Zur  Geschkhlc  der  piiputJ.  Nuntiatur  in  Köln.        !•>! 

nuyi-rn  jenen  Vertrug  vermittelt  h;it,  durcli  welchen  der  junge 
Her/og  Ferdinand  von  Bayern  als  Koadjutor  seines  Ohoims, 
des  Erzbischofs  Ernst,  angenommen,  und  in  welchem  die  Be- 
stellung eines  apostolischen  Nuntius  für  die  kölnische  Kirchen- 
provinz  vom  Papste  förmlich  angeboten ,  vom  Domkapitel 
<;utueheißen  wurde  ^). 

Diese  Koadjutorie  und  die  Bemühungen  der  beiden  Nun- 
tien Octavio  Mirto  Frangipaui  und  Coriolan  Garzadoro  um 
ihr  Zustandekommen  sind  vor  etwa  zehn  Jahren  ausführlich 
von  Stieve  im  1.  Band  seiner  Politik  Baierns  1591  — 1607^), 
und  in  jüngster  Zeit,  mit  Benützung  vatikanischer  Archiva- 
lien, neuerdings  von  K.  ünkel  im  historischen  Jahrbuch  der 
Görresgesellschaft  behandelt  worden'). 


1)  In  der  sobongenannten  Calo  phorie  heisst  es  p.  74:  ^comrue 
Erneste  avoit  en  viie  de  faire  suoceder  ce  prince  (Ferdinand),  son  ne- 
veu,  au  siege  de  Cologne,  il  falloit  bien  se  soumettre  aveugleiuent  a 
la  discretion  du  Pape  atin  de  se  le  menager"  —  und  p.  76:  , Quelle 
invention  rusee  .  .  .  on  s'efiForce  de  persuader  le  bon  Erneste  a  ceder 
.  .  .  le  siege  archiepiscopal  de  Cologne  a  son  neveu  Ferdinand,  age 
de  17  ans,  et  Tun  donne  ä  celui-ci  un  curateur  et  directeur,  lequel 
en  digne  eTeve  de  Tecole  de  Rorae  ne  souft'rira  jamais  la  moindre 
cbose  qui  pourrait  nuire  aux  vues  de  cette  cour."  —  Die  Calophorie 
mit  ihren  vielen  groben  historischen  Schnitzern  ist  übrigens  ein  be- 
redtes Muster  der  von  Otto  Mejer  (Die  Propaganda  2,  193)  gerügten 
, rohen  Oberfliichlichkeit  der  damaligen  episcopalistischen  Streit  weise". 
—  Auch  der  sonst  sorgfältigere  Jac.  Abel  in  seiner  Disquisitio  de 
jure  et  officio  summorum  iniperii  tribunalium  circa  usurpatoriara 
nuntiorum  pontificiorum  .  .  .  Jurisdictionen!.  Wetzlariae  1787  p.  102  ss. 
bezeichnet,  der  Calophorie  folgend,  —  die  von  Abel  cit.  , Materialien" 
sind  die  mir  nicht  vorliegende  deutsche  Ausgabe  der  Calophorie  — 
den  Bischof  von  Ossero  als  den  ersten  ständigen  Nuntius  zu  Köln. 
Auf  Abel  beruft  sich  Stieve,  die  Politik  Baierns  1591—1607.1.  351 
Anra.  2  u.  354  A.  2. 

2)  Stieve  a.  0.  S.  330—359. 

3)  Karl  Unkel,  Die  Coadjutorie  des  Herzogs  Ferdinand  von 
Bayern  im  Erzstift  Köln  -  im  Histor.  Jahrbuch.  Bd.  VIll.  1887. 
Heft  2  u.  4. 


162  SitzuHU  der  histor.  Classe  mm  4.  Februar  1888- 

Mir  haben  meine  Studien  fiir  die  Geschichte  des  kölni- 
schen Krieges  vielfach  Anlaß  geboten,  auch  die  Thätigkeit 
der  ersten  päpstlichen  Nuntien  in  Köln  zu  beachten.  Dabei 
hatte  ich  manchmal  Gelegenheit,  Angaben,  welche  sich  nicht 
nur  in  verbreiteten  kirchengeschichtlichen  Handbüchern,  son- 
dern auch  in  den  eingehenderen  Erzählungen  von  Stieve  und 
ünkel  finden,  zu  berichtigen  oder  zu  ergänzen.  Was  mir  an  jener 
Thätigkeit  besonders  beachtenswerth  erscheint,  will  ich  hier 
kurz  zusammenstellen.  —  Bei  der  großen  Bedeutung,  welche  die 
Kölner  Nuntiatur  für  die  Geschichte  der  katholischen  Kirche 
Deutschlands  in  den  letzten  zwei  Jahrhunderten  des  alten 
Reiches  erlangt  hat,  darf  eine  solche  Zusammenstellung  ein 
gewisses  allgemeines  Interesse  in  Anspruch  nehmen. 


Zunächst  muss  konstatiert  werden,  dass  weder  Garzadoro 
der  erste  ständige  Nuntius  in  Köln  gewesen  ist,  noch  auch 
der  Bischof  von  Vercelli ,  sondern,  bereits  zehn  Jahre  vor 
diesem  letzteren,  Dr. Kaspar  Gropper,  welchen  Papst  GregorXIII. 
im  Jahre  1573,  mit  der  unzweifelhaften  Absicht,  daß  sein 
Amt  einen  ständigen  Charakter  haben  sollte,  als  päpstlichen 
Nuntius  für  das  Gebiet  der  Metropolitan- Verbände  Mainz, 
Trier  und  Köln  und  mit  dem  Sitze  in  der  Stadt  Köln  al)- 
ordnete  ^). 

Allerdings  wird  Gropper  von  Maifei ,  dem  Biogra]dien 
Gregorys  XIH.,  als  „außerordentlicher  Nuntius"  bezeichnet*) 
und  auch  ich   habe,  Maffei  folgend,  in   meiner  Vorgeschichte 


1)  Durch  eine  fast  unbo},'reifliclio  Vei-wcchslung  macht  die  Calo- 
phorie  p.  41  u.  74  Kaspar  (Jroppor  um  das  .fahr  1590,  als  Nachfolger 
Krangipani's,  zum  ersten,  cum  iiotestatc  legati  de  latcre  ausgestatteten 
Nuntius  in  Köln. 

2)  Giarapietro  Maffei,  Annali  di  üregorioXIll.  P.M.  Homa 
1712.    Tom.   I.   77  und   135. 


Losseil. ■  Zur  Geschichte  der  päpstl.  Nuntiatur  in  Köln.       l'»-"'» 

des  Kölnischen  Krieges  ihn  so  genannt^);  aber  Kaspar Gropper 
war  docli  nur  in  dem  Sinne  ein  außerordentlicher  Nuntius, 
als  es  bis  dahin  nur  einen  ordentlichen  Nuntius  im  deutschen 
Reiche,  nämlich  den  am  kaiserlichen  Hofe,  gegeben  hatte. 
Die  ziemlich  zahlreichen  Briefe  von  und  an  Gropper  aus  den 
Jahren  1573  —  70,  welche  Theiner  in  seinen  Annales  eccle- 
siastici  abgedruckt  hat^),  sodann  die  verschiedenen  Amts- 
handlungen Gropper's,  welche  in  meiner  Vorgeschichte,  fer- 
ner im  1.  Band  von  Keller's  Gegenreformation^)  mitgeteilt 
sind,  machen  es  unzweifelhaft,  dass  Gropper  und  der  gleich- 
zeitig in  das  Gebiet  des  Salzburger  Metropolitausjjrengels 
abgeordnete  Nuntius  Bartholomäus  Graf  von  Porzia,  sowie 
etwas  später  Frater  Felician  Ninguarda,  nicht  minder  dazu 
bestimmt  waren,  als  ständige  Vertreter  des  päpstlichen  Stuhles 
in  den  ihnen  zugewiesenen  Bezirken  zu  walten ,  wie  der  im 
Jahre  1579  zu  den  katholischen  Schweizer  Orten  gesandte 
Nuntius  Bonomi*).  Der  Plan,  mittels  solcher  ständigen  Nun- 


1)  Der  Kölnische  Krieg.  Vorgeschichte  1565—1581.  S.  200—202, 
245  u.  a.   Vgl.  Register. 

2)  Aug.  Theiner,  Annales  Ecclesiastici.  Koraae  1856.  Tom.  l. 
94—100.  104.  122—124.  212—222.  233—236.  242.s.  258—262.  271. 
Tom.  II.  30.  37-49.  74—76.  164  ss.  470—476. 

3)  L.  Keller,  Die  Gegenreformation  in  Westfalen  und  am 
Niederrhein.  I.  Bd.  Leipzig  1881.  No.  155.  157.  159/172.  175.  177/9. 
218.  300/1.  304/8.  360.  366.  369.  371.  375/6.  384.  Dazu  meine  Be- 
merkungen in  der  Zeitschrift  des  Berg.  Geschichtsvereins,  Bd.  19. 
Jahrg.  1883.  S.  12/15. 

4)  Dass  Gropper's  Nuntiaturbezirk  mit  dem  Gebiet  der  rheini- 
schen Metropolitansprengel  zusammenfiel,  schließe  ich  daraus,  daß 
er  auch  für  .\ugsburg  und  Würzburg  beglaubigt  war  (Theiner  I. 
98/104),  welche  örtlich  dem  Nuntius  Porzia  bequemer  gelegen  hätten, 
aber  Suffragane  des  Mainzer  Erzbischofs  waren.  —  Das  Protokoll  des 
Kölner  Domkapitels  (im  St.  .Archiv  zu  Düsseldort)  berichtet  über  G's 
erstes  Erscheinen  im  Kapitel  am  26.  Oktober  1573:  „D.  Caspar  Groppenis, 
doctor  et  auditorrotae  et  nuncius  apostolicus,  comparuit  et  proposuit: 
quod    Pontifex    Gregorius    X[1I. ,    dum   ad    pontificalem    dignitatem 


1<)  1  Sitz  Hilf)  der  hislor.  Classe  vom  4.  Februar  JS88. 

tiaturt'U  die  einzelnen  Landeskirchen  eng'er  an  [vom  zn  ketten, 
entspricht  durchaus  dem  unter  Papst  Gregor  XIII.  in  Ivoni 
zur  Herrschaft  gelangten  jesuitisclien  Geist  der  Zentrali- 
sation. 

Dass  die  Befugnisse  dieser  neuen  Nuntien  noch  nicht 
genau  begrenzt  erscheinen ,  daß  es  ihnen  insbesondere  noch 
an  jenen  „F^akultäten"  fehlte,  welche  nachmals  in  dem  Kampf 
der  deutschen  Bischöfe  gegen  die  römischen  Nuntiaturen  eine 
so  große  Rolle  gespielt  haben,  erklärt  sich  einfach  durch 
die  Neuheit  der  Sache,  welche  erst  durch  die  Praxis  bestimmte 
Gestalt  gewinnen  sollte. 

Die  allgemeinen  Gesichtspunkte,  von  welchen  Papst  Gre- 
gor's  Ratgeber  bei  der  Abordnung  der  genannten  Nuntien 
geleitet  waren,  ersehen  wir  deutlich  aus  einem  bei  Theiner 
abiiedruckten  Brief  des  zu  Rom  wie  in  Deutschland  ho('h 
angesehenen  Jesuitenpaters  Peter  Canisius  vom  10.  Mai  1574^) 
—  also  ungefähr  ein  Jahr  nach  der  Absendung  der  beiden 
Nuntien   l*orzia  und  Gropper  geschrieben. 

Die  Sendung  dieser  beiden  Nuntien  ,  schreibt  Canisius 
an  Papst  Gregor  XIII.,  habe  schon  viel  genutzt  uiul  werde 
dieß  noch  mehr,  je  länger  sie  in  ihrem  Amt  blieben.  Denn 
Fürsten  und  Bischöfe  Deutschlands  bedürften  häuüger  Er- 
mahnungen, jene,  damit  sie  die  Verwegenheit  der  Häretiker 
unterdrückten,  den  geistlichen  Stand  aber  in  ihren  Schutz 
nähmen  ;  -  diese,  damit  sie  ihren  Klerus  reformierten  und 
Schulen  errichteten.      Hiebei  seien  apostolische  Nuntien  sehr 


est  evectus,  ut  aliorum  regnovum  curam  ^essit,  ita  ad  Germaniam 
tuendam  contra  haereticos  re.spexit.  Et  ob  id  dominum  nuncium  ad 
l)rincipe.9  electorea  et  alios  statua  Germaniae  catholicos  ablegavit"  — 
u.  s.  w.  Versteht  man  hier  unter  den  katholischen  Kurfürsten  die 
Metropohtan-Erzbischöfe  und  unter  den  anderen  katholischen  .Ständen 
die  weltlichen  Fürsten  in  den  3  Sprongeln,  sowie  die  Stadt  Köln,  so 
bezeichnet  das  Protokoll  kurz  aber  zutreffend  G's  Nuntiaturbezirk. 
1}  IJci  Thcin.M-  I.   212s. 


Li>sseii:  Zur  Geschichte  der  jiHiistl.  Nuntiatur  in  Köln.       !<)•> 

niit/licli,  wenn  nicht  notwendi«;;  /u  !i;cseli\vei<reii,  wie  wicliti«^ 
e's  .sei,  iliiß  durch  sie  der  iipostolisclic  Stulil  über  die  deutschen 
An»^elegenheiten  wohl  unterrichtet,  die  Gemüter  vieler  ihm 
irewonnen,  die  Anschläge  der  Häretiker  aber  vereitelt  würden. 
Seine  Heiligkeit  möge  ermessen ,  ob  nicht  die  Wirksamkeit 
dieser  Nuntien  noch  größer  wäre ,  wenn  ihre  Befugnisse  er- 
weitert würden,  insbesondere  in  Bezug  auf  das  Recht,  ihre 
\'()llmacht,  bußfertige  Häretiker  in  den  gewöhnlichen  Fällen 
zu  absolvieren,  auch  auf  andere  zu   übertragen. 

Welche  Befugnisse  Gropper  im  einzelneu  besaß  und 
welche  nicht,  ergibt  .sich  aus  den  in  unseren  Quellen  von 
ihm  berichteten   Amishandlungen. 

An  alle  Bi.schöfe  und  geistlichen  Landesfürsten  ,  für 
welche  er  Beglaubiguug.sschreiben  erhalten  hatte ^),  sollte  er 
das  Ansinnen  richten,  die  Trienter  Konzilsdekrete  zu  publi- 
cieren  und  im  Anschluß  an  dieselben  gewisse  Reformen  im 
Kult  und  in  der  kirchlichen  Di.sciplin  durchzuführen,  regel- 
mäßige Diöcesansynoden  abzuhalten, Visitationen  vorzunehmen, 
Seminarien  für  die  Erziehung  der  Jugend  zum  geistlichen 
Stande,    gemäß    den  Trienter  Vorschriften,    zu    errichten^). 


1)  Die  I3eglaubi<?unga.schreiben  G's  waren  vom  11.  Juni  73  d;i- 
ficrt,  z.  B.  T  Hein  er  I.  97.  102.  122;  Keller  No.  15.5. 

2)  Einen  Ueberblick  über  G's  Aufträge  gewährt  ein  Vortrag, 
welchen  er  am  23.  November  1574  im  Kölner  Domkapitel  vor  den 
Vertretern  des  gesanimten  kölni.schen  Klerus  gehalten  hat.  Das  Pro- 
tokoll berichtet  hierüber:  ,De  capituli  constantia  in  religione  spem 
magnam  habere.  Unum  vero  esse,  de  quo  nihil  Pontifici  sit  respon- 
sum,  nempe  de  seminario  theologico  erigendo,  quemadmodum  Mogun- 
tini et  alii  fecerint.  .  .  .  Hinc  Pontifex  nuncio  dedit  in  mandatis  ut 
hoc  proraoveret.  .  .  .  Xon  est  quod  obiiciatur  satis  collegiorum  hie 
esse ;  nam  cum  nuncius  nuper  ageret  cum  üniversitate,  repperit  quos- 
dam  promotos,  qui  nunquam  habuerant  praeceptores.  Parisiis,  Bono- 
niae,  Romae,  Mediolani  etiam  multa  sunt  collegia  nova  erecta.  Clerus 
non  debet  se  opponere  concilio  Tridentino.  .  .  .  Non  debet  obiici,  quod 
Concilium  Tridentinum  hie  non  sit  publicatum,  Pontifex  enim  per  duas 


IGß  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  1888. 

llieinit  hing  der  weitere  Auftrag  zusammen,  eine  Anzahl 
entsprechend  vorgebildete  junge  Leute,  namentlicli  adeliche, 
aus  verschiedenen  Diöcesen,  als  Alumnen  des  Collegium  Gcr- 
manicum  nach   Rom  zu  senden^).  —  Mit  dem  Rat  der  Stadt 


l)ullas  publicavit.  Tnquirat  clerus,  quid  a  Leodiensi  et  aliis  factum 
sit;  non  l)ene  cedit,  si  Pontifici  vel  concilio  non  pareatur.  Rmus  noster 
D.  Nuncio  ostendit  Visitationen!  in  hoc  ai-chiepiscopatu  nuper  coeptam, 
et  Nuncius  repperit  150  ecclesias  pastore  egentes.  Interim  collegia 
decimas  percipiunt  et  mittunt  animas  ad  interitum.  —  Secundo  Pon- 
tifex  scribit  magnas  querelas  esse  de  clericali  vita  et  honestate;  hie 
monet  ut  decani  et  abbates  et  alii  praelati  suura  faciant  officium  ut 
reformatio  fiat  .  .  —  Tertio  Pontifex  scribit,  quod  libri  et  breviaria  in 
clero  et  templis  desiderentur,  itaque  S^^s  S.  mandat  ut  ecclesiae  diu- 
tius  non  careant  libris  breviarii.s  et  missalibus.  Si  utantur  more  Ro- 
mano, bene  est;  si  habeant  privates  libros  ducentorum  annorum,  bis 
utantur  purgatis.  —  Postremo  Pontifex  Societatem  Jesu  in  suam  de- 
fensionem  suscepit,  qui  huic  ecclesiae  attulerunt  fructum  non  poeni- 
tendum  suis  stipendiis.  Uli  hie  egent  et  pressi  sunt  aere  alieno;  si 
illis  non  succuratur,  ipsis  discedendum  erit.  Itaque  clerus  adhortatur 

ut  ipsis  velint  subvenire Nuncius  post  discessum  cleri  capitulo 

proponit,  deweil  ex  parte  R™'  kein  inquisitor  haereticae  pravitatis, 
das  ca])itulum  H'"""!  ermanen  wol  inquisitorem  zu  stellen."  Viel  Er- 
folg hat  (iropper  mit  seinen  Heformvorschlägen  in  Köln  nicht  ge- 
habt (vgl.  Prot,  vom  22.  .lanuar  75) ;  vielleicht  konnte  man  von  ihm 
sagen:  quia  nemo  propheta  acceptus  est  in  patria  sua. 

1)  Theiner  I,  94/98,  vgl.  Maffei  I,  135.  Im  Mai  1575  be- 
schwerten sich  die  Gesandten  einiger  protestantischen  Fürsten  bei 
dem  alten  Herzog  von  .Tülich  u.  a.  auch  darüber,  daß  der  Nuntius 
zu  Köln  die  Kinder  adelicher  und  anderer  vornehmen  Leute  nach 
Hom  und  sonst  nach  Italien  schicke,  damit  sie  dort  „uf  iren  schrägen 
abgerichtet  und  fürter  wider  heraus,  das  vatterlant  anzuzinden,  abge- 
fertigt werden."  Vgl.  Keller  I.  No.  296.  Und  schon  ein  Jahr  vorher 
schreibt  der  kurpfiilzisclie  Kanzler  Eheni  an  Landgraf  Wilhelm  von 
Hessen  (bei  Groen  van  Pr  inster  er,  Archives  I''»«  Serie  IV.  337): 
„derselbig  nuncius  practicirt  executioncm  Tridentini  concilii  und  fürt 
vil  deutscher  jungen  in  Italiam  uf  des  bapsts  neu  angerichte  schul , 
das  er  Teutschlant  damit  wieder  vergiften  und  sein  reich  erhalten 
möge." 


Lassen:  Zur  Geschichte  der  jiiijistl.  Nuntiatur  iu  Köln.        1()7 

\\ö\n  und  mit  der  Univcrsitiit  seihst  hat  (Irojjper  üher  eine 
,L,a-ündliche  Keforni  der  Köhier  Universität  verhandelt^).  Ans- 
ilrncklich  als  innerhalb  seiner  Befugnisse  liegend  wird  der 
Auftrag  bezeichnet,  die  Statuten  der  Kollegiatkirchen  zu  re- 
vidieren, ungehöriges  daraus  zu  entfernen,  das  gut  befundene 
mit  päpstlicher  Autorität  zu  bestätigen^). 

Der  Nuntius  kann  seine  Befugnisse  auch  auf  Substitute 
übertragen,  wie  denn  in  Gropper's  Auftrag  seine  Beigeord- 
neten Nicolaus  Elgard  und  Alexander  Trivius  einen  großen 
Teil  der  bereits  ganz  oder  halb  protestaiitisierten  norddeut- 
schen Hochstifter  durchwandert  haben,  um  Anknüpfungs- 
punkte für  die  katholische  Restauration  zu  suchen^).  —  Da- 
gegen wird  einmal  erwähnt,  daß  Gropper  die  Erlaubnis, 
verbotene  Bücher  zu  lesen,  nicht  erteilen  durfte ,  sondern 
deshalb  erst  ein  Indult  von  Rom  erlangen   mußte*). 

Roms  Absicht,  die  Nuntiatur  Gropper's  zu  einer  stän- 
digen zu  machen,  erhellt  besonders  auch  daraus,  daß  die 
Erledigung  oder  wenigstens  die  Erörterung  der  durch  die 
Konkordate  der  deutschen  Nation  dem  Papste  reservierten 
Causae  majores,  insbesondere  also  der  Inforniativprozess  für 
die  Bestätigung  der  deutschen  Bischofswahlen,  ihm  über- 
tragen war*). 


1)  S.  Gropper's  Berichte  an  den  K.ird.  von  Como  vom  15.  Au«,', 
u.  6.  Okt.  74  bei  T Heiner  I.  212/221  u.  die  Verhandlungen  selbst 
bei  Bianco.Die  alte  Universität  Köln.  I.  503/11  und  Anlagen 
F.  u.  G. 

2)  Keller  I.  No.  179;  anderes  derart  in  meinen  Auszügen  aus 
Düsseldorfer  und  Münchener  Archivalien. 

3)  Ausführliche  und  interessante  Berichte  dieser  beiden  Substi- 
tute bei  Theiner   Tom.  I  u.  II. 

4)  Vgl.  in  dem  oben  erwähnten  Schreiben  Gropper's  vom  15. 
Aug.  74  die  Bemerkung  üher  den  Abt  von  Fulda. 

5)  In  den  von  Theiner  abgedruckten  Berichten  Gropper's  werden 
Verhandlungen  erwähnt  über  die  Konfirmation  der  erwählten  Bischöfe 
von  Würzburg,  Köln,  Osnabrück,  Münster,  Minden,  Halberstadt. 


108  Sitzumj  der  histor.  Classc  vom  4.  Februar  1S8S. 

Ant'iiiiglich  besaß  Gropper  auch  die  Vollmacht,  die  in 
den  sogenannten  apostolischen  Monaten  frei  werdenden  Pfrün- 
den selbst  zu  vergeben.  Aber  dieses  wichtige  Recht  wurde 
ihm  bereits  im  Jahre  1575  wieder  entzogen ,  angeblich  auf 
Betreiben  der  Zöglinge  des  CoUegium  Germanicuni ,  welche 
es  vorteilhafter  fanden,  wenn  ihnen  bereits  in  Rom  deutsche 
Pfriniden  verliehen   wurden  ^). 

Wie  es  nun  gekommen ,  daß  sich  aus  diesen  Anfängen 
einer  ständigen  Nuntiatur  in  Köln  nicht  sofort  eine  bleibende 
Einrichtung  entwickelte ,  sondern  eine  Unterbrechung  von 
etwa  8  Jahren  eintrat ,  läßt  sich  aus  den  zur  Zeit  vorliegen- 
den Nachrichten  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen.  Schon  in 
meiner  Vorgeschichte  des  Kölnischen  Krieges  (1882)  habe 
ich  darauf  hingewiesen,  dass  Gropper  im  Jahre  1570  zu  Rom 
in  halbe  Ungnade  gefallen  sei^);     nachher  (1883)  habe  ich 


1)  Stephan  Winantl  Pighius,  der  Hofmeister  des  zu  Rom  ver- 
.storljenen  Herzogs  Kavl  Friedrich  von  Jülich,  hatte  vor  der  Abreise 
von  dort,  im  Februar  1575,  ein  päpstliches  Brcve  an  den  Nuntius 
liropper  erlangt,  welches  diesem  befahl,  dem  wohlverdienten  Mann 
die  erste  freiwerdende  Pfründe  an  einer  der  Kölner  oder  Bonner 
Kollegiatkirchen  zu  verleihen.  Bevor  aber  Pighius  die  gewünschte 
Pfründe  erlangt  hatte,  erfuhr  er,  dass  Gropper's  Vollmacht  widerrufen 
sei.  Am  30.  August  75  schreibt  er  darüber  an  die  Kardiniile  Morone 
undHosius:  „Romae,  sicut  nunc  intelligo,  facultatum  eius  (Gropperi) 
Caput  praecipuum  de  praebendis  et  dignitatibus  conferendis  revo- 
catura  fuit,  quo  citius  Germanici  coUegii  studiosis  provideretur."  In 
einem  anderen  Briefe  vom  selben  Tag  heißt  es  noch  bestimmter: 
^petentibus  Germanici  coUegii  studiosis,  quo  citius  ipsis  provideatur." 
Zwei  Monate  danach  berichtet  dann  Gropper  wieder  an  einen  Freund 
in  Rom,  das  Gerücht  gehe,  G's  Vollmacht,  Pfründen  im  Erzstift  Köln 
zu  verleihen,  sei  dem  Erzbischof  (Salcntin  von  Tsenl)urg)  übertragen. 
Pighii  Epistolae,  Ms.  der  Hamburger  Stadtbibliothek,  Wolfiana. 
Vol.  VII.  No.  61.  74.  79.  48.  47.  Falls  das  letzte  Gerücht  begründet, 
so  war  dieses  Indult  wohl  auch  eine  der  von  Rom  dem  Kurfürsten 
Salcntin  für  die  Aldegung  der  Profcssio  fidei  Tridentina  erwiesenen 
Begünstigungen;  vgl.  meinen  Köln.  Krieg  I.  204  f. 

2)  Köln.  Krieg  I.  472  Anm. 


Lassen:  Zur  Geschichte  der  päpstl.  Nuntiatur  in  Köln.       1<>9 

in  einem  Anfsat/  im  10.  Bande  der  Zeitschrift  des  Bergischen 
Gescliichtsvereins  die  Vermutung  ausoesprochen ,  der  Grund 
sei  vielleicht  in  Gropper'.s  allzu  großer  Nachgiebigkeit  in 
l)ezug  auf  den  Laienkelch  zu  suchen  ^) ;  —  doch  genügt  mir 
jetzt  diese  Vermutung  noch  weniger  als  früher :  ich  meine, 
wenn  sie  begründet,  würden  sich  in  den  von  mir  benutzten  Akten 
irgend  welche  sichere  Anhaltspunkte  gefunden  haben.  Auch 
für  die  Annahme,  Gropper  habe  sich  vielleicht  eines  persön- 
lichen Vergehens  schuldig  gemacht,  etwa  der  Bestechlichkeit 
oder  dergleichen,  liudet  sich  kein  bestimmter  Beweis.  Ich 
muß  es  also  einstweilen  dahingestellt  sein  lassen,  ob  lediglich 
das  durch  die  Verminderung  seiner  Vollmachten  geschwächte 
Ansehen  Gropper's,  oder  eine  von  ihm  verschuldete  Ungnade, 
oder  was  sonst  etwa  die  Kurie  bestimmt  haben  mag,  im 
•Jahre  1577  nicht  ihm,  sondern  seinem  früheren  Kollegen, 
dem  Grafen  Porzia,  die  Vertretung  Roms  zu  übertragen,  als 
es  sich  darum  iiandelte,  die  Bewerbung  des  bayrischen  Her- 
zogs Ernst  um  das  Erzstift  Köln  zu  unterstützen  und  gleich- 
zeitig die  Frage  der  Administration  im  Stift  Münster  zu  ent- 
scheiden ^). 

Porzia's  kölnische  Nuntiatur  war  wirklich  eine  außer- 
ordentliche, d.  h.  eine  auf  einen  bestimmten,  vorübergehen- 
den Zweck  beschränkte,  was  nicht  ausschloß,  daß  ihm,  als 
er  einmal  am  Rhein  sich  befand,  auch  allerlei  andere,  neben 
seiner  eigentlichen  Aufgabe  zu  erledigende  Geschäfte  über- 
trac^en  wurden :  so  weitere  Verhandlungen  über  die  Reform 
der  Kölner  Universität  ^),  so  die  Ermahnung  an  Herzog  Wil- 
helm von  Jülich-Cleve-Berg,  seinen  ünterthanen    die  Augs- 

1)  Zur  Gesch.  des  Laienkelch.s  am  Hofe  des  Herzogs  Wilhelm 
von  Jülich-Cleve-Berg  1570—1579.  S.  20  f. 

2)  Ueber  Porzia's  Nuntiatur  am  Rhein  s.  meinen  Köln.  Krieg  I. 
Register  s.  v.  Porzia  Gr.  Bai-thol. 

3)  Bianco  a.  O.  I.  511/511  u.  Anlage  H  (S.  358'368);  Theiner 
II.  281/7. 


170  Sitzunf/  der  histor.  Clnssc  vom  4.  Februar  1888. 

bnrger  Konfession  nicht  freizustellen^).  Dass  Porzia  nicht 
ständiger  Nuntius  zu  Köln  werden  sollte,  ersieht  man  am 
sichersten  daraus ,  dass  er  bereits  während  seines  dortigen 
Aufenthaltes  zum  ordentlichen  Nuntius  am  kaiserlichen  Hofe 
ernannt  war  ^). 

Wenn  dann  Rom  während  der  Friedensjahre  des  neuen 
Kurfürsten  Gebhard  Truchseß  nicht  wieder  einen  ständigen 
Nuntius  nach  Köln  schickte,  so  erklärt  sich  das  wohl  einfach 
daraus,  daß  Gebhard's  Bestätigung,  in  folge  des  Widerspruches 
des  Hauses  Bayern ,  erst  etwa  3  Jahre  nach  seiner  Wahl 
erfolgen  konnte.  Inzwischen  verweilte  als  außerordentlicher 
Nuntius  der  Erzbischof  von  Ro.ssano,  Joh.  Bapt.  Castagna, 
im  Jahre  1579  einige  Monate  in  Köln,  um  den  römischen 
Stuhl  beim  Kölner  Pacifikationskongreß  zu  vertreten ,  hat 
aber  in  die  inneren  Verhältnisse  der  deutschen  Kirche,  so- 
viel ersichtlich ,  kaum  eingegriffen,  oder  doch  nur  indirekt, 
in.soferne  als  (jebhard  Truchseß  vorzüglich  seiner  Empfeh- 
lung die  päpstliche  Bestätigung  verdankte^).  In  den  Pro- 
tokollen des  Kölner  Domkapitels  wird  Castagna's  nur 
einmal  gedacht:  — am  18.  November  1579,  kurz  vor  seiner 
Abreise  von  Köln,  erschien  er  nämlich  im  Kapitel,  überreichte 
ein  päpstliches  Beglaubigungsschreiben  und  ermahnte  das 
Domkapitel  in  allgemeinen  Worten  ,  nur  Katholiken  aufzu- 
nehmen, Synoden  zu  halten  und  darauf  zu  achten,  daß  der 
Klerus  ein  gutes  Beispiel  gebe,  den  Gottesdienst  würdig  feiere 
und  Reformen,  gemäß  dem  Trienter  Konzil,  durchführe. 

1)  S.  meinen  Köln.  Krieg  I.  592  u.  Zur  Geschichte  des  Laien- 
kelchs S.  26. 

2j  Maffei  1.  c.  I.  311.  327/338.  343.  In  dem  Verzeichnis  der 
römischen  Nuntien  am  kaiserlichen  Hofe  von  1513 — 1789  in  Pii  Papae 
Sexti  Kesponsio  p.  259  fehlt  Porzia;  dagegen  hat  Feller  in  den  o. 
Seite  159  Anni.  1  titierten  Eeflexions  p.  174  seinen  Namen  richtig 
unter  den  Nuntien  zu  Gratz. 

3;  Köln.  Krieg  1.  641.  649  f.  699. 


Zossen:  Zur  Geschichte  der  püpstl.  Nivitinlitr  iu  Köln.       17  l 

Bald  darauf  hatte  der  römische  Stuhl  seine  ganze  Auf- 
uierksamkeit  dem  während  längerer  Zeit  vorbereiteten,  so- 
dann im  Jahre  1582  zu  Augsburg  wirklich  abgehaltenen 
Ueichstag  zuzuwenden,  auf  welchem  ein  eigener  Kardinal- 
Legat,  Ludwig  Madruzzo,  und  zu  seiner  Unterstützung  sämt- 
liche damals  in  Deutschland  befindlichen  römischen  Nuntien 
erschienen  ^). 

Unmittelbar  nach  dem  Augsburger  Reichstag  erfolgte 
(hmu  der  Abfall  des  Gebhard  Truchseß  und  nötigte  deu 
])iipstlichen  Stuhl,  wenn  er  nicht  auf  seinen  Einfluß  am 
Khein  ganz  verzichten  wollte,  dort  einzuschreiten. 

Das  geschah  spät  genug  —  allem  Anschein  nach  des- 
halb so  spät,  weil  man  lange  Zeit  in  Rom  zu  keinem  festen 
Kutschluß  kommen  konnte,  ob  man  den  Sohn  des  Erzher- 
zogs Ferdinand,  Kardinal  Andreas  von  Oesterreich,  oder  den 
bayrischen  Herzog  Ernst  an  Gebhard's  Stelle  befördern  solle. 

Zwar  kam  Minuccio  dei  Minucci,  damals  noch  Sekretär 
des  Kardinals  Madruzzo,  schon  im  Januar  1583  nach  Köln, 
aber  ohne  jeden  amtlichen  Auftrag  von  Rom,  eigentlich  mehr 
als  bayrischer  denn  als  päpstlicher  Agent;  ei-st  einen  Monat 
später  und  nachdem  sich  Rom  bereits  für  Herzog  Ernst  ent- 
schieden liatte,  fand  es  Minucci  an  der  Zeit  —  oder  auch 
wurde  er  ermächtigt  —  sich  dem  Domkapitel  als  päpstlichen 
Gesandten  vorzustellen  ^). 


1)  Maffei  1.  c.  II.  128  f.  233/244. 

2)  Zum  18.  Febr.  1583  berichtet  das  Domkapitel-Protokoll  (DA.)  : 
,Minutiu8  de  Minutio,  nuncius  Ap'><:"s,  exhibet  breve  ap'>cum,  pro- 
ponit :  optaret  mandata  ap''<=a  per  aliura  maiore  cum  autoritate  ex- 
poni;  ait  a  Pontifice  deputatos  D.  Cardinalem  Tridentinum  et  D.  Car- 
dinalem  Austriacum ;  Tridentinu.s  Roma  di.scidere  non  potest,  Austria- 
cus  in  itinere  est,  ipse  Minutius  hie  ad  mensem  haesit,  sed  autori- 
tatis  causa  expectavit  adventum  D.  Austriaci."  Minutius  vertheidigt 
weiterhin  den  Papst  gegen  den  Vorwurf,    daß  dieser  sich  der  külni- 


172  SitziDUj  der  hislor.  Classe  vom  4.  Februar  1SS8. 

Der  eigentliche  Vertreter  Roms  hätte  der  Kardinal  An- 
dreas von  Oesterreich  sein  sollen,  als  legatus  de  latere,  mit 
der  Vollmacht,  Gebhard  den  Prozeß  zu  machen  und  ihn  ab- 
zusetzen. Als  Gehülfen  waren  ihm  zAvei  Nuntien  beigeordnet, 
der  am  kaiserlichen  Hof,  Johann  Franz  Bonomi,  Bisehof  von 
Vercelli,  und  Germanicus  Markgraf  von  Malaspina,  Porzia's 
Nachfolger  als  Nuntius  bei  Erzherzog  Karl  von  Steiermark. 
Oft  ist  erzählt,  wie  dann  dem  Kardinal  Andreas  durch  den 
Pfalzgrafen  Johann  Casimir  der  Durchzug  durch  die  Rhein- 
pfalz verwehrt  wurde  und  er  unverrich teter  Dinge  nach  Inns- 
bruck zurückkehrte.  Andreas  selbst  und  sein  Vater,  der  Erz- 
herzog ,  hatten  wenig  Lust ,  Handlangerdienste  in  Köln 
zu  thun ,  für  das  Emporsteigen  des  verhaßten  bayrischen 
Herzogs. 

Als  Kardinal  Andreas  die  Weiterreise  aufgab,  setzte  zu- 
erst Malaspina,  bald  nachher  auch  Bonomi  auf  Umwegen 
die  Reise  nach  Köln  fort.  Von  Bayern  gedrängt,  entschloß 
sich  nun  der  Papst  selbst,  in  einem  Konsistorium  der  Kardi- 
näle ,  die  Exkommunikation  und  Privation  gegen  Gebhard 
auszusprechen.  Bonomi  wurde  mit  der  Exekution  betraut  und 
erhielt  zugleich  die  Vollmachten  eines  legatus  de  latere.  Als 
solcher  insinuierte  er  am  3.  Mai  dem  Domkapitel  die  Pri- 
vationsbulle gegen  Gebhard  und  half  eifrig  mit  bei  den  Vor- 
bereitungen zu  der  am  23.  Mai  a.  St.  erfolgten  Neuwahl  des 
Herzogs  Ernst  von  Bayern.  Mit  Zustimnmng  des  Domkapi- 
tels hatte  er  am  Tag  vor  der  Wahl  die  Suspension  zweier 
notorisch  häretischen  Domherren,  des  Grafen  Hermann  Adolf 
von  Sohns  und  des  Freiherrn  .Johunn  von  Winneberg,  aus- 
gesprochen ;     nach  der   Wahl  entsetzte  er ,    auf  Grund  eines 


sehen  Kirche  nicht  genügend  angenommen  habe,  und  überreicht 
schließlich  ein  zweites  päpstliches  Breve  de  removondis  ex  capitulo 
haereticis.  —(Genauer  werde  ich  auf  die  mit  dem  Kölnischen  Krieg  /u- 
.sammenhängenden  Dinge  im  2.  Bande  meiner  Geschichte  desselben 
eingehen,  unterlasse  deshalb  hier  specielle  Quellennachweise. 


Lossen:  Zur  Geschichte  der  pnpstl.  Nuntiritur  /»  Köln.       Wo 

förmlichen  Prozesses,  den  gleichfalls  häretischen  Dompropst, 
(irafen  (leor*;  von  Wituenstein.  sowie  den  zwar  damals  noch 
nicht  protestantischen,  aber  dem  Truchsessen  entschieden  an- 
hängenden Domherrn  Thomas  Freiherrn  von  Kriechingen,  und 
rndlich .  angel)lich  wegen  Simonie ,  den  Priesterkanonikus 
•lakob  Middendorp,  welcher  vormals  der  Vertraute  des  Truch- 
sessen gewesen  war,  bei  der  Neuwahl  aber  seine  Stimme  für 
Herzog  Ernst  abgegeben  hatte. 

Im  Wortlaut  sind  die  Fakultäten .  welche  Bonomi  als 
Nuntius  cum  potestate  legati  de  latere  damals  besaß,  zwar 
nicht  bekannt,  in  der  Hauptsache  ergeben  sie  sich  aber  aus 
den  von  ihm  vorgenommenen  Amtshandlungen :  vor  allem 
also  aus  der  Absetzung  des  Erzbischofs  Gebhard  Truchseß 
und  der  ihm  anhängenden  Domherren^).  Auf  Grund  dieser, 
im  Namen  des  Papstes  vollzogenen  Privation  behauptete  Bo- 


1)  Der  Dompropst  hatte  in  seinem  Protest  gegen  die  durch  Bo- 
nomi ihm  angedrohte  Exkommunikation  und  Privation  u.  a.  auch  die 
Legitimation  des  Nuntius  bestritten;  darauf  erwidert  dessen  Proku- 
rator (promotor  et  fisci  procurator) :  Bonomi  brauche  als  Ordinarius 
nuntius  cum  potestate  legati  de  latere  keine  Vollmacht  aufzulegen. 
Ordentlicher  Nuntius  am  kaiserlichen  Hofe  war  Bonomi  seit  dem 
Herbst  1581,  s.  Gius.  Colombo,  Notizie  e  documenti  ined.  sulla 
vita  di  M.  Giovanni  Francesco  Bonorao  vescovo  di  Vercelli,  in  Miscel  1. 
di  Storia  Ital.  T.  XVIU.  Torino  1879.  p.  523/623.  Colombo's  An- 
gaben über  Bonomi's  kölnische  Nuntiatur  sind  übrigens  äußerst 
dürftig  und  ungenau.  C.  entschuldigt  sich  gleichsam  (p.  593)  mit  der 
Bemerkung:  „Nessuna  sua  lettera,  che  si  riferisca  al  negozio  di  Co- 
lonia,  mi  fu  dato  di  scoprire  nella  Biblioteca  AmVjrosiana."  Aber  Co- 
lombo hätte,  um  grobe  Fehler  zu  vermeiden,  nur  allgemein  zugäng- 
liche, auch  von  ihm  selbst  citierte  Bücher,  wie  die  von  Tsselt  und 
Eyzinger,  besser  benutzen  dürfen.  —  Bonomi's  erste  Reise  nach  Köln 
ist  eingehend,  aber  auch  nicht  ohne  In-tümer,  behandelt  in  dem  von 
Lucas  Burgius  (Borgo)  seiner  Ausgabe  vonTo.  Francisci  Bonhomii 
Cremonensis  Vercellarum  Ep.Borromei  s.  Mediolani  1589  angehängten 
Brevis  Commentarius  rerum  ab  Auetore  iBonhomio)  p.  m.  cliir»' 
gestarum. 

1888.  Pbilos.-philol.  u.  bist.  Cl.  2.  12 


174  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  1S88. 

nomi  dem  Domkapitel  gegenüber,  jedenfalls  ganz  im  Ein- 
klang mit  den  betreffenden  Bestimmnngen  des  kanonischen 
Rechtes  nnd  der  Konkordate  der  deutschen  Nation  :  der  Papst, 
beziehungsweise  er  selbst,  als  dessen  Stellvertreter,  sei  berech- 
tigt, sowohl  einen  neuen  Erzbischof  wie  andere  Domherren, 
anstatt  der  entsetzten,  zu  ernennen.  Der  Papst  habe  aber 
freiwillig  auf  dieses  Recht,  zu  Gunsten  der  Wahlfreiheit  des 
Domkapitels,  verzichtet,  und  nur  die  Verleihung  der  durch 
die  Privationssentenzen  frei  gewordenen  Propsteien  sich  vor- 
behalten ^).  Demnach  verlieh  Bonomi ,  nachdem  mehrere 
Domherren  ein  solches  Geschenk  abgelehnt  hatten,  die  Dom-, 
propstei  dem  jungen  Herzog  Philipp  von  Bayern,  die  Propstei 
S.  Gereon  dem  Kardinal  Andreas  von  Oesterreich  und  die 
Propstei  von  Aposteln  dem  Minucci.  Später  ging  er  aber 
doch  noch  einen  Schritt  hinaus  über  seine  erste  Erklärung, 
indem  er  auch  eine  der  Domkapitelstellen  selbst ,  die  von 
Middendorp,  kraft  päpstlicher  Vollmacht  dem  Utrechter  De- 
chant  Dr.  Johann  Bruhesen  verlieh,  —  Avas  dann  zu  großem 
Verdruß  des  Domkapitels  gegen  ihn  Anlaß  gab  ^). 


1)  26.  Juni  83  übersendet  Bonomi  dem  Domkapitel  die  Priva- 
tionssentenzen  gegen  den  Donqiropst,  Grafen  Georg  von  Witgenstein, 
und  den  Domherrn  Thomas  von  Kriechingen  und  .schreibt  dazu:  Päp.st. 
Heil*  habe  aus  Wohlwollen  von  ihrem  Recht,  nach  der  Absetzung  des 
Truchsessen  einen  neuen  Bischof  einzusetzen,  keinen  Gebrauch  ge- 
macht, sondern  dem  Domkapitel  die  freie  Wahl  gelassen,  und  wolle 
diesem  aucli  die  \Viederl)esetzuTig  der  durch  Privation  erledigteu 
Präl)enden  und  Kanonikate  überlassen,  mit  Ausnahme  der  Dompropstei : 
rad  quam  tamen  non  nisi  illustrem  personam  atque  a  capitulo  vestro 
iam  approbatam  ])romoveri  non  vult  (S.  S*^''"),  hocque  ipsum  consili- 
um  non  tam  eam  ab  causam  iniit,  quod  eibi  ius  de  illa  provideiidi 
competere  iudicet,  quam  ut  vos  haud  levi  molestia  atque  onere  levet, 
praepositique  ipsius  et  amicorum  invidiam  atque  odium  a  DD.  VV. 
avertat. "  DA.  Erzb.  Gebh.  'l'ruchseß  2''  fol.  1(19.  (Archivalien  citiere 
ich  mit  den  Abkürzungen  meines  Kölnischen  Krieges.) 

2)  Domkaj).  Prot.  (D  A.)  6.  u.  27.  Juni.  6.  Jnli  1584  und  17.  Apr. 
1585.  Am  letztgenannten  Tag  erklärt  Bonomi  im  Domkapitel :   „se  iutel- 


Loüsen:  Zur  Geschichte  der  päpstl.  Niüüiatur  in  Köln.       W^) 

Schon  vor  der  neuen  Bischofswalil  hatte  Bonomi  im 
Domkapitel  die  Eintuhrmijjj  des  Gregorianischen  Kalenders 
verlaiiirt :  dieselbe  ist  dann  auch  am  15.  Oktober  1583  ver- 
kündigt  und  durch  üebergang  vom  2.  auf  den  13.  November 
vollzogen  worden,  jedoch  nicht  durch  den  Nuntius  und  nicht 
im  Namen  des  Papstes,  sondern,  angeblich  im  Auftrag  des 
Kaisers,  durch  den  Kurfürsten  Ernst  selbst,  mit  Zustinnunng 
seines  Domkapitels  ^). 

Bonomi  beanspruchte  auch  das  Recht,  in  die  Statuten 
des  Domkapitels  ändernd  einzugreifen ;  nach  seinem  Entwurf 
wurde  ein  eigenes  Statut  gemacht,  welches  den  neuen  Kanoni- 
kern den  Eid  auf  das  Trienter  Glaubensbekenntnis  auferlegte, 
also  dazu  bestimmt  war,  künftighin  protestantische  Fürsten- 
und  Grafensühue  vom  Erzstift  auszuschließen ;    doch  ist  mir 


ligere  quod  aliquos  offendisset  per  collationem  praepositurae  S.  Gereonis 
et  privationem  Middendorpü.  Quoad  praeposituram  nihil  magis  fuisse  in 
ipsius  animo,  quam  ut  illam  conferrefc  alicui  ex  capitularibus.  liefert 
se  ad  D.  Scholasticum  et  D.  Choriepiscopum,  quod  ipsis  sit  oblatum, 
ut  et  D.  De^ano.  Illos  expeetatos  ad  aliquot  dies  non  rediisse  nee 
instetisse.  (Jum  itaque  D.  Austriacus  instaret,  ipsi  collationem  factam 
esse.  Facta  nunc  infecta  fieri  non  posse.  Non  fuisse  suum  proposituni 
statuta  violare;  si  statuta  et  iura  deducaniur  apud  ipsum,  paratus 
est  illa  confirmare  et  declarare,  ut  pro  hac  vice  tantum  hoc  factum 
sit,  salvia  atatutis  etc.  —  Quoad  Middendorpium  fecit  quod  de  jure 
licuit,  appellatio  in  criniine  symoniae  prohibita"  u.  s.  w.  —  Wiewohl 
Middendorp  .sich  in  Rom  selbst  Absolution  von  der  Exkommunikation 
und  ihren  Folgen  erwirkte  (Domkap.  Prot.  23.  Dez.  84)  und  wie- 
wohl das  Domkapitel  sich  wiederholt  für  ihn  verwendete  (z.  B.  Prot. 
17.  .A.pril  85) ,  blieb  es  doch  bei  der  durch  Bonomi  verfügten  Pri- 
vation. 

1)  Domkap.  Prot.  1583,  3.  u  8.  Mai,  15.  Okt.  u.  13.  Nov.  Ge- 
nauere Anordnung  hierüber  enthält  ein  unter  dem  kurkölnischen 
Wappen  ausgegangener,  gedruckter  kurfürstlicher  Befehl,  ohne  Datum, 
,getruckt  zu  Coln  auf  dem  Katzenbauch  durcii  Niclaus  Schreiber". 
StA.  130/6  f.  83. 

12* 


176  SitzHiK/  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  ISSS. 

zweifelhaft,  ob  dieses  in  seinem  Wortlaut  mir  nicht  bekannte 
Statut  nachher  buchstäblich  durchgeführt  worden  ist  ^). 

1)  Domkap.  Prot.  158.3,  14.  u.  21.  .Tuni.  13.  Ang.  Söhne  aus 
protestaiitischen  Grafenfamilien,  z.  B.  ein  Graf  von  Limburg-Styrum 
und  ein  Freiherr  von  Hohensachsen,  sind  in  den  nächsten  Jahren 
wiederholt  als  Kanoniker  aufgenommen  worden,  ohne  daß  im  Proto- 
koll ausdrücklich  erwähnt  wii-d,  ob  sie  das  Trienter  Glaubensbekennt- 
nis zuvor  besehworen  hatten.  Zur  Erörterung  aber  nicht  zur  Ent- 
scheidung kam  die  Frage  unter  besonders  vei'wickelten  Umständen 
im  Oktober  1587.  Damals  ersuchte  Herzog  Moriz  von  Sachsen-Lauen- 
burg, während  er  mit  dem  Domkapitel  wegen  der  Erbschaft  seines 
verstorbenen  Bruders,  des  Chorbischofs  Herzog  Friedrich,  in  Streit 
lag,  ganz  plötzlich  den  Junior  Diaconus,  Grafen  Johann  Gerhard  von 
Manderscheid-Keil,  ihm  ein  erledigtes  Kanonikat  zu  verleihen.  Graf 
Keil  trug  die  Sache  am  24.  Okt.  dem  Domkapitel  vor,  welches  ant- 
wortete: „Capitulum  suadet,  ut  D.  Mauritius  prius  sub  manu  et  si- 
gillo  promittat  se  catholicum  et  sub  obedientia  sedis  Apiic^e  mansu- 
rum,  prout    a  maioribus    apud  hanc   ecclesiam    observatum  est."  Am 

26.  Okt.  ließ  der  (notorisch  protestantische)  Herzog  erwidern  :  „das 
er  urputich  catholice  sich  zu  verhalten ,  und  wo  andere  sich  sub 
manu  et  sigillo  obligeret.  istwillich;  wo  aber  solchs  beßhero  nit  ge- 
schehen,   bit  ire  g.  mit  solcher    neuerung    nit  zu    beschweren".     Am 

27.  Oktober  beriet  das  Kapitel  über  den  Fall,  „et  lectum  rescriptura 
seu  declaratio  D.  Nuncii  Ap'ic',  episcopi  Vercellensi.s  Anno  1583,  13. 
Augusti.  D.  pi'esbyteri  canonici  putant,  sine  periculo  D.  Mauritiuni 
admitti  non  posse,  nisi  praestet  professionem  lidei  et  iuret  iuxta  or- 
dinationem  D.  Nuncii.  Finaliter  tamen  negocium  suspensum  est  usque 
ad  praesentiam  D.  praelatorum  et  aliorum  illustrium  "  Dieser  Be- 
schluß wird  dem  Herzog  in  folgender  Form  mitgeteilt:  „deweil  ire 
g.  l)egeret  a  D.  Job.  Gebhardo  a  Mänderscheit  Keil,  juniore  diacono, 
nominari  und  ad  possessionem  admittieret  zu  werden,  das  Anno  1583 
13.  Augusti  nuncius  Aplit^u^  befolen,  ut  novi  canonici  praestent  pro- 
fessionem fidei  et  iurent  manere  in  catholica  religione  sub  obedientia 
sedis  Ap''*^"'',  iuxta  certam  formam  praescriptani;  deweil  den  anwe- 
senden hern  in  geringer  anzal  bedenklich  contra  mandata  Ap''''»  zu 
tuen,  80  dan  ire  f.  g.  professionem  fidei  zu  tuen  und  zu  jurieren  wil- 
lich,  hat  eß  seinen  beschält,  sonst  müsse  capitulum  solchs  einstellen 
beß  zu  merer  hern  gegenwerticheit.  —  Dux  Mauritius  ist  zufriden, 
das  solchs  werde  ingestelt."  Der  Herzog  kam  nachher  nicht  wieder, 
so  daß  die  Frage  unentschieden   blieb,  l'ie  ganze  Verliandlung  macht 


Lnsi<e)i:  Zur  Geschichte  der  j)ä2)stl.  Xuiitiidiir  in  Köln.       177 

Ausufesprochenem  Widerspruch  begegnete  Bonomi  l)ei 
(lern  Versuch,  kraft  seiner  päpstlichen  Vollmcichten ,  aber 
auch,  wie  behauptet  wird,  „auf  Verlangen  des  Rates  der 
Stadt"  die  kölnischen  Kollegiatkirchen  und  Klöster  zu  visi- 
tieren und  zu  reformieren:  am  9.  Juli  1583  erschien  eine 
Deputation  des  sogenannten  Clerus  secundarius  im  Domkapitel, 
um  sich  über  diese  Visitation  zu  beschweren ,  welche  den 
Rechten  des  Ordinarius  der  Diöcese  (des  Erzbischofs)  nach- 
teilig sei.  Das  Domkapitel  selbst  scheint  sich  dieser  Oppo- 
sition nicht  angeschlossen  zu  haben,  da  es  noch  ein  Jahr 
später  (am  22.  August  1584)  dem  Doniklerus  ein  Mandat 
des  Nuntius  , contra  concubinarios"  publicierte.  Eine  weitere 
p]ntwickelung  dieser  Irrung  wird  wohl  dadurch  verhütet 
worden  sein,  dass  Bonomi  bereits  im  August  1583  Köln  ver- 
ließ, um  sich  zunächst  zu  dem  Prinzen  von  Parma  in  die 
Niederlande,  und  sodann  wieder  auf  seinen  Posten,  als  ordent- 
licher Nuntius  am  kaiserlichen  Hof,  nach  Wien  und  Prag  zu 
begeben. 

Bisher  war  also  die  päpstliche  Nuntiatur  zu  Köln  noch 
nicht  wieder  zu  einer  ständigen  geworden.  Der  Gedanke,  sie  dazu 
zu  machen,  war  aber  nicht  aufgegeben  :  es  begegneten  sich  viel- 
mehr in  demselben  die  \^'ünsche  des  römischen  Stuhles  mit  denen 
des  regierenden  Herzogs  Wilhelm  von  Bayern,  welcher  schon 
damals  gesonnen  war,  das  mit  schweren  Opfern  erkaufte  Erz- 
stift Köln  nicht  so  leicht  wieder  aus  den  Händen  seines 
Hauses  kommen  zu  lassen.  Bonomi  selbst  hatte  während 
seines  Aufenthaltes  in  Köln  dem  Papst  vorgeschlagen ,  Mi- 
nucci  ,cum  apostolici  commissarii  autoritate",  also  als  stän- 
digen Nuntius,  nach  den  Rheinlanden  zu  senden  ^).  Als  Minucci 


aber  den  Eindruck,  al.s  hätte  sich  das  Kapitel  in  gewöhnlichen  Fällen 
damit  begnügt,  den  neuen  Kanonikern  nur  den  alten  Eid,  und  nicht 
die  Professio  fidei  Tridentina,  abzuverlangen. 

1)  Am  21.131.  Juli    1583    schreibt  Bonomi    an   Herzog  Wilhelm 
von  Bayern  (00.  Münch.  StA.  38/20  f.  52  u.  130/11  f.  265)  ,  er  habe 


178  SUziDig  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  18SS. 

l)ald  darauf  ganz  in  bayrische  Dienste  trat,  scheint  Herzog 
Willi ehn  von  Bayern ,  durch  Vermittelung  des  Kardinals 
Madrnzzo,  in  Rom  empfohlen  zu  haben,  daß  Bonomi  selbst, 
einer  der  eifrigsten  Vorkämpfer  der  Trienter  Reform,  der 
Schüler  und  Genosse  des  Kardinals  und  Erzbischofs  Karl 
Borromeo,  zugleich  ein  zuverlässiger  Freund  des  bayrischen 
Hauses,  zum  ständigen  Nuntius  für  die  Rheinlande  ernannt 
werde  ^). 

Spätestens  im  Oktober  1584  war  es  bereits  beschlossene 
Sache,  dass  der  Bischof  von  Vercelli  die  Nuntiatur  am  kaiser- 
lichen Hofe  aufgeben  und  wieder  an  den  Rhein  gehen  sollte. 
Da  jedoch  Bonomi  von  Prag  aus  erst  noch  einmal  in  seine 
Diöcese  Vercelli  zurückkehrte,  so  wurde  es  Ende  März  1585, 
ehe  er  wieder  nach  Köln  kam  ^). 

In  dem  schon  Eingangs  erwähnten  päpstlichen  Breve 
vom   19.  Januar    1585^),    welches   Bonomi    für    eine    große 


sich  schon  früher  einverstanden  erklärt,  tlans  Minutius  zur  Iilrlangung 
spanischer  Hilfe  nach  Madrid  gesendet  werde,  „quanquam  addubitaram 
ego  etiam,  ne  id  per  Summum  Pontificem,  quem  antea  enixe  roga- 
veram,  ut  illura  cum  Ap'*«'  commissarii  auctoritate  in  his  partibus 
mandaret,  esse  diutius  liceret." 

1)  Am  15./25.  Aug.  84  schreibt  Kard.  Ludw.  Madruzzo  an  Herz. 
Wilhelm  (StA.  9/6  f.  354):  ,Quod  ad  alterum  caput  attinet,  de  Nun- 
cio  ad  ))artes  Rhenanas  ablegando,  commemoravi  S*^'  S.  qualitates, 
quas  in  eo  his  temporibus  requiri  Dil.  V.  censeat,  et  habuit  S.  S. 
gratam  hanc  admonitioncm." 

2)  Theiner  III.  G13  f.  —Colombo  1.  c.  Cap.  XIV  gibt,  vermut- 
lich richtig,  an,  dass  Bonomi  am  23.  Dez.  84  nach  Vercelli  gekommen 
sei,  zu  Anfang  des  J.  1.585  in  seiner  Vaterstadt  Cremona  sich  auf- 
gehalten habe,  läßt  ihn  aber  gleich  darauf,  irrtümlich,  bis  zum  Herbst 
15i-i5  in  Vercelli  bleiben.  -  Unke  1  a.  0.  S.  264  Anm.  3  erwähnt,  daß 
IJ.'s  Beghiubigungac-hreiben  an  den  Hat  zu  Köln  untl  an  den  Kurfürsten 
Ernst  vom  20.  u.  24.  Okt.  84  datiert  seien. 

3)  Hei  Hartzheini,  Concilia  Germaniao.  VIII.  408,  mil  der  rich- 
tigen .Jahreszahl  1585,  während  die  sich  auf  ihn  licrutenden  Geschicht- 
schreiVier  und  Polemiker  meist  1.584  setzen;  «o  selbst  Otto  Me.jer, 
Propaganda.  2,  184  und  noch  Unkel  a.  0. 


Losscn:  Zur  Geschielitc  der  päpstJ.  Nuntiatur  in  Knbi.       179 

Anzahl  namentlich  anfgezählter  Erzstit'ter  nnd  Stifter  im 
Westen  des  dentschen  Reiches,  ferner  für  die  Lande  des 
Herzogs  von  Cleve  und  Jülich,  sowie  für  alle  anderen  Länder, 
Städte  und  Orte  von  Niederdeutschland  und  Belgien,  zum 
apostolischen  Nuntius  mit  der  Vollmacht  eines  legatus  de 
latere  bestellt,  ist  eine  stattliche  Menge  von  sehr  weitgehen- 
den speciellen  Fakultäten  verzeichnet,  so  daß  ein  späterer 
Nuntius  zu  Köln,  Peter  Aloys  Carafa,  bedauern  konnte,  daß 
keiner  von  Bonomi's  Nachfolgern  so  große  Fakultäten  be- 
sessen habe,  wie  jener ^). 

Am  17.  April  1585  erschien  der  Bischof  von  Vercelli 
zuerst  wieder  im  Kölner  Donika])itel  und  teilte  mit,  daß 
ihm  der  Papst  zwar  ganz  Belgien  und  Rheinland  anvertraut 
habe ,  daß  er  aber  vorzugsweise  in  Köln  residieren  wolle  ^). 
Diese  Absicht  hat  jedoch  Bonomi  nachher  nicht  ausgeführt ; 
auch  wird  von  seinem  Eingreifen  in  innere  kirchliche  Ver- 
hältnisse der  rheinischen  Erzstifter  nicht  viel  berichtet:  haupt- 
sächlich wohl  darum ,  weil  die  Fortdauer  des  kölnischen 
Krieges  und  dessen  Verquickung  mit  den  niederländischen 
Kriegs-Ereignissen  den  Nuntius  nötigte,  sich  vorzüglich  mit 
politischen  Dingen  zu  befassen.  Wiederholt  bemühte  er  sich, 
von  dem  Prinzen  von  Parma  Ijewaifnete  Hilfe  für  Kurfürst 
Ernst,  zur  Wiedereroberung  der  am  10.  Mai  1585  von  Graf 
Adolf  von  Neuenar  überrumpelten  Stadt  Neuß,  zu  erlangen  ; 
mit  den  Erzbischöfen  von  Mainz  uiul  Trier  verhandelte 
er,  um  sie  zu  bewegen,  zum  besten  des  Erzstifts  Köln 
ihrem  Klerus    eine  Decimation    aufzuerlegen ;     zwischen  den 


1)  Legatio  Apostolica  Petri  Aloysii  Cara  t'ae  Ep.  Tricaricensis 
.  .  .  1624—1634,  quam  denuo  ed.  Jos.  Aug.  Ginzel.  Wirceburgi  1840 
p.  183. 

2)  Pontificem  mandasae  ut  D.  Nuncius  rediret  Coloniam  et  totuni 
Belgium  etRenum  ei  commisisse;  .  .  .  non  posse  quidera  ipsum  semper 
hie  mauere,  sed  tarnen  potisaimum  liic  sedem  habere  velle.  Domkap. 
Prot.  DA. 


180  Sitznil fj  der  Imtor.  Cldsse  vom  4.  Februar  tS88. 

beiden  Brüdern  Kurfürst  Ernst  und  Herzog'  Wilhelm  von 
Bayern  machte  er  den  Vermittler  in  Geldangelegenheiten. 
Von  einer  kirchlichen  Thätigkeit  Bonorai's  im  Erzstift  Köln 
hören  wir  nur  einmal :  im  August  1585  verlangt  er  vom 
Domkapitel,  auf  Grund  eines  päpstlichen  Breves,  die  Abhal- 
tung von  Jubiläumsprozessionen,  sowie  die  Durchführung  ein- 
zelner gottesdienstlicher  Reformen  im  Dom,  namentlich  die 
regelmäßige  Feier  eines  Hochamtes  an  den  Sonntagen  und 
gewissenhaftere  Teilnahme  der  Domherren  an  den  kanonischen 
Tagzeiten  ^). 

Tiefer  hat  Bonomi  im  Stift  Lüttich  luul  in  den  spani- 
schen Niederlanden  in  kirchliche  Dinge  eingegriffen.  In  Lüt- 
tich wurde  unter  seinem  Vorsitz  im  Oktober  1585  eine  Diöcesan- 
synode  gehalten;  ein  Jahr  später  zu  Mons  im  Hennegau  eine 
Provinzialsynode  für  den  Metropolitansprengel  von  Cambrai  ^). 

Ganz  irrtümlich  haben  in  den  Nuntiaturstreitigkeiten 
des  vorigen  Jahrhunderts  mehrere  Polemiker  auf  erzbischöf- 
lieber  Seite  —  und  ihnen  folgend  auch  neuere  Kirchen- 
historiker, z.  B.  Gieseler  —  behauptet,  Papst  Sixtus  V.  habe 
die  zu  weit  gehenden  Fakultäten,  welche  Gregor  XIII.  dem 
Nuntius   Bonomi     verliehen    hatte,    wieder    eingeengt^).     — 


1)  Domkap.  Prot.  16.  Aug.  85.  „Ad  S""  D.  N.  aures  porvenit  cli- 
vina  ottlcia  non  peragi  iuxta  statuta  ecclesiae  et  morem  antiquuiii, 
et  propter  absentiam  nolnlium  missam  saepe  legi  etiani  festivis  diebus, 
undescandalum  magnum."  Schon  bei  seinem  ersten  Kölner  Aufenthalt 
hatte  Bonomi  dem  Domkapitel  vorgehalten:  ^saepe  missam  summam 
in  hac  celebri  ecclesia  legi  non  cantavi,  quod  tanta  ecclesia  indignum 
putat  et  statutis  contrarium,  petit  ut  hoc  corrigatuv."  Domkap.  Prot. 
21.  .luni  83.  Stieve  a.  0.  S.  338  hat  entsprechende  Bemerkungen 
bei  Tempesti  (aus  dem  .T.  1587)  jedenfalls  mißverstanden,  indem  er 
anninnnt.  ,daß  im  Dome  seit  vielen  Jain-en  kein  GottesdicMist  nielir 
gehalten  worden"  sei. 

2)  Hartzheim  Conc.  Germ.  VIII.  504/516  und  VII.  !)95/lÜ35; 
vgl.  Chapeaville,  Gesta  Pontificum  Leodiensium.  III,  536/540. 

3)  Vgl,  z.B.  (Weideufeld)  Gründliche  Entwicklung  der  Dispens- 


Lassen:  Zur  Geschichte  der  i)iii)stl  Nioitiatur  in  Köln.       181 

(tenule  ilas  Gegentheil  ist  der  FiiU !  Bonouii'sj  Volluiachteii 
liliebeii  nach  Gregor's  Tod  vollständig  in  Kraft;  Sixtus  V. 
liat  sie  durch  das  in  Hart/.heini's  Konzilieusauimlung  abge- 
drnckte  Breve  vom  12.  Oktober  1585  nicht  beschränkt,  son- 
dern noch,  in  vier  einzehien  Punkten,  erweitert:  erstens 
durch  die  Volhnacht  geistlichen  Personen  zu  gestatten,  meh- 
rere Beneticia  incompatibilia  auf  gewisse  Zeit  zu  vereinigen, 
sodann  durch  die  Ausdehnung  seiner  Befugnisse  für  Ehedis- 
})ensen,  weiter  durch  die  Ermächtigung  geistliche  Pfründen 
zu  unieren,  endlich  durch  eine  erweiterte  Absolutionsgewalt 
für  Häretiker  und  Schismatiker^). 

Bonomi  starb  zu  Lüttich  während  seiner  rheinisch-nieder- 
ländischen Nuntiatur,  bereits  am  25.  Februar  1587  '-'),  —  zum 
großen  Bedauern  des  Herzogs  von  Bayern,  welcher  auf  Bo- 
uomi's  Hilfe  gebaut  haben  mochte,  um  seinem  Hause  den 
Besitz  des  Erzstitfe  Köln  zu  sichern  ").    Die  Betreibung  und 

und  Nuntiatui-streitigkeiten.  1788  S.  338;  ferner  begründete  Gegenbe- 
merkungen über  die  Betracht ungen  wider  die  73  Artikeln  des  Pro 
Memoria.1789  S.90;  hiernachGieseler,  Lehrbuch  d. Kirchengeschichte. 
III,  2.  S.  599.  Anm.  47. 

1)  Hartzheim  1.  c.  VIII.  503.  Auch  Mejer  a.  0.  2,  185  irrt 
mit  der  Annahme,  Bonomi  habe  bereits  durch  das  Breve  vom  19.  Ja- 
nuar 1585  die  allgemeine  Volbuacht  erlangt,  von  der  Häresie  zu  absol- 
vieren. 

2)  Chapeaville  III.  540. 

3)  Als  Bonomi  im  April  85  wieder  an  den  Khcin  kam,  redete 
(jJraf  Salentin  von  Isenburg  ihm  anfänglich  ein  ,  daß  es  im  eigenen 
Interesse  des  bayerischen  Hauses  liege,  wenn  Kurfürst  Ernst  zu  Gun- 
sten des  Chorbisehots,  Herzogs  Friedrich  von  Sachsen,  von  der  Be- 
werbung um  Münster  abstehe ;  es  bedurfte  aber  nur  eines  Briefes 
von  Herzog  Wilhelm ,  um  den  Nuntius  wieder  völlig  auf  bayrische 
Seite  zu  bringen.  —  Minutius  schreibt  in  einem  Brief  an  Herzog 
Wilhelm  (vom  9.  Juli  1586  StA.  9/2  f.  607):  „Vercellensem  non 
poterit  Ser.  V.  ad  tantam  dignitatem  evehere,  quin  ipse  ob  suam 
in  Bavaricam  Ser™»™  domum  tidem  et  observantiam  optinie  pro- 
meruerit.''    —    Bononii's  eigene  Briefe    an  Herzog  Wilhelm    strömen 


J  82  Sitziiiifi  der  hislor.  Classc  com  4.  Februar  1888. 

Erledigung  dieses  Anliegens,  in  einer  Weise,  welche  zugleich 
den  Interessen  des  römischen  Stuhles  und  denen  des  bayri- 
schen Hauses  entsprach,  ohne  doch  der  Kölner  Kirche  uner- 
trägliche Lasten  aufzubürden,  wurde  für  die  beiden  nächsten 
Nachfolger  Bononii's  in  der  Kölner  Nuntiatur,  Octavio  Mirto 
Frangipani,  Bischof  von  Cajazzo,  später  von  Tricarico,  und 
Coriolan  Garzadoro,  Bischof  von  Ossero,  die  wichtigste  Auf- 
gabe ihrer  Amtsthätigkeit. 

Verhältnisse  mannigfacher  Art  trugen  dazu  bei,  diese 
Aufgabe  zu  einer  sehr  verwickelten  und  schwierigen  zu 
machen. 

Schon  längst  hatte  die  Vereinigung  einer  ganzen  Reihe 
von  Bistümern  und  Abteien:  von  Freising,  Hildesheim,  Lüt- 
tich und  Köln,  dann  Stablo  und  Malmedy  —  von  den  nicht 
reichsständischen  Pfründen  ganz  abgesehen  —  in  der  einen 
Hand  des  Herzogs  Ernst  von  Bayern  in  Rom  und  überall 
großen  Anstoß  gegeben.  Lag  darin  doch  eine  gar  zu  grobe 
Verletzung  derTrienter  Reformdekrete ^),  deren  Durchführung 
im  deutschen  Reiche  man  sonst  so  eifrig  betrieb. 

Als  nun  die  bevorstehende  Erledigung  des  Stifts  Münster, 
—  in  Folge  der  Verniählung  des  bisherigen  Administrators, 
des  Herzogs  Johann  Wilhelm  von  Jülich-Cleve-Berg  —  die 
begründete  Aussicht  eröffnete,  daß  abermals  eine  große  und 
reiche  Kirche  dem  Kurfürsten  Ernst  zufallen  werde ,  wollte 
man  das  in  Rom  nur  unter  der  Bedingung  genehmigen,  daß 
Herzog  Ernst    auf  ein  anderes  seiner  Stifter,    und  zwar  zu- 


iiber  von  Versicherungen  der  Ergelicnheit  und  Dienstwilligkeit  gegen 
das  bayrische  Haus.  Herzog  Wilhelm  antwortet  am  23.  April  1587 
seinem  Bruder,  Kurfürst  Ernst,  auf  die  Nachricht  von  Honomi's 
Ab3terl)cn,  er  habe  dieselbe  mit  Betriilmis  vernommen  „seitemol  wir 
an  ime  einen  ser  getreuen  wolmainendon  gueten  freunt  verloren". 
Ogl.  eigh.    HA.   Erzst.  Köln  H.  489. 

1)  Conc.  Trident.    Ses.  VII.  de  Reform,    c.  II.  u.  .Ses.   XVII.  de 
Kef.  c.  XVII. 


Lassen:  Zur  Geschichte  der  piipsll.  Ninifiatur  in  Köhi.       183 

nächst  auf  Freising,  verzichte.  Mit  dieser  Forderung  begeg- 
nete die  Kurie  an  ränglich  den  Wünschen  des  regierenden 
Herzogs  von  Bayern,  welcher  sich  Hoffnung  machte,  Kurfürst 
Ernst  werde  einem  seiner  eigenen  (Herz.  Wilhelni's)  Söhne  das 
Stift  Freising  abtreten.  Schon  im  Jahre  1583,  bald  nach 
der  Kölner  Wahl,  war  davon  die  Hede  gewesen  ^),  ernstlicher 
aber  im  folgenden  Jahr,  als  die  Erledigung  von  Münster 
nahe  schien*).  Aber  Kurfürst  Ernst  lehnte  diese  Zumutung 
mit  der  größten  Entschiedenheit  ab ;  nur  dazu  wollte  er  be- 
hiltiich  sein,  daß  nach  seinem  Tode  kein  anderer  als  einer 
seiner  Neffen    in  Freising    ihm  nachfolgen    solle,    oder   daß 


1)  In  einer  im  Juli  1583  für  Minucci  und  von  ihm  niederge- 
schriebenen Instruktion  des  Kurf.  Ern3t  zu  einer  Sendung  nach  Rom 
kommt  folgende  Stelle  vor:  ,Se  S.  S*»  mi  facesse  parola  di  risegna 
d'alcuni  de  vescovati  di  V.  A.,  le  mostrerö  come  la  malvagita  de 
tempi  non  permetta  che  si  possa  pensare  per  hora  a  separare  quel 
di  Lieggi  da  questo  di  Colonia,  per  il  bisogno  ch'  hanno  d'aiutarsi 
Tun  l'altro  in  questi  pericolosi  tempi.  —  Di  quel  di  Lildesia  [d.  i. 
Hildesheiml  che  quando  si  truovi  soggetto  a  proposito,  V.  A.  non  si 
rendera  difficile  di  ubbedire  a  commandamento  di  S.  S  **.  —  L)i  quel 
di  Frisinga  mostrerö  che.  stando  egli  nel  centro  dela  Baviera,  non  b 
il  dovere  cavarlo  dala  casa  per  ricevere  in  seno  alcuno  straniero,  et 
cosi  secondo  l'occasioni  m'anderö  schermando  con  parole  generali." 
StA.  9/4  f.  154. 

2)  Im  .Juli  1.584  sandte  Herzog  Wilhelm  seinen  Kämmerer  Guido- 
bon Freih.  zu  Liechtenberg  zu  Kurf.  Ernst  und  Heß  melden:  Der 
Tapst  habe  sich  bereit  erklärt,  wenn  Ernst  zu  Münster  postuliert 
werde,  ihn  zu  konfirmieren;  doch  müsse  Ernst  dagegen  llildesheim 
und  Freising  aus  den  Händen  geben,  ^dan  es  nit  allein  bei  den  ketzern 
sondern  vilmer  bei  den  catholischen  .  .  .  ganz  ergerlich  und  res  pes- 
aimi  exempli  sein  wurd.  ainer  person  sovil  bistumb  zu  verleichen." 
Da  nun  die  Erwerbung  von  Münster  zur  Erhaltung  des  Erzstifts  Köln 
und  der  Kurwürde  sehr  nützlich  sei,  so  möge  Herzog  Ernst  einem 
seiner  Söhne  Freising  abtreten  oder  wenigstens  zu  einer  Koadjutorie 
behilflich  sein  (StA.  38/22  f.  1).  —  Kurf.  Ernst  wies  dieses  Ansinnen 
sofort  und  später  wiederholt  mit  aller  Entschiedenheit  zurück,  oder 
stellte  solche  Bedingungen  (Abtretung  von  Aibling  oder  Traunstein 
u.  dergl.),   daß  Herzog  Wilhelm  darauf  unmöglich    eingehen  konnte. 


18  1  Sitziuu)  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  18S8. 

einer  von  diesen  sein  Koacljiitor  Averde,  jedoch  ohne  jeden 
Anteil  an  der  Regierung.  Hieven  wollte  aber  wieder  das 
Freisinger  Domkapitel  nichts  wissen.  —  Herzog  Wilhelm 
stand  denn  auch,  da  er  den  festen  Entschluß  seines  Bruders 
kannte,  lieber  auf  Köln  und  Münster  als  auf  Freising  zu 
verzichten ,  für  seine  Person  von  diesem  Plan  ab  und  be- 
mühte sich  fortan,  auch  in  Rom  demselben  entgegenzuwirken. 

Nicht  so  schnell  aber  gab  sich  der  am  1.  Mai  1585 
auf  Gregor  XHI.  gefolgte  neue  Papst  Sixtus  V.  zufrieden. 
Er  erteilte  wirklich  die  Konfirmation  für  die  Münster'sche 
Wahl  nur  unter  der  ausdrücklichen  Bedingung,  daß  Herzog 
Frnst  binnen  6  Monaten,  das  hieß  bis  zum  Oktober  158G, 
die  P^reisinger  Kirche  aufgeben  müsse,  welcher  Termin  dann, 
in  folge  einer  besonderen  Abordnung  nach  Rom,  um  ein 
weiteres  Jahr,  also  bis  zum  Oktober  1587,  verlängert  wurde  ^). 

Als  der  neue,  wieder  mit  den  Fakultäten  eines  legatus 
de  latere  ausgestattete  Nuntius  Frangipani  im  Sommer  1587 
nach  Köln  reiste,  brachte  er  den  gemessenen  Auftrag  mit, 
ernstlich  auf  die  Resignation  von  Freising  zu  dringen''*). 

In  München  mußte  man  befürchten,  daß  es,  wenn  der 
Papst  auf  seiner  Forderung  bestehe,  um  die  Herrschaft  des 
bayrischen  Hauses  im  Erzstift  Köln,  zugleich  aber  vielleicht 
auch  um  den  Fortbestand  der  katholischen  Kirche  daselbst 
geschehen  sein  werde;  deshalb  ließ  Herzog  Wilhelm  zuerst 
dem  Nuntius,  als  dieser  Italien  noch  nicht  verlassen  hatte, 
den  Wunsch  nach  einer  persönlichen  Zusammenkunft,  vor 
dessen  Weiterreise  nach   Köln,  aussprechen,  besann  sich  dann 

1)  Dieß  berichtot  der  nach  lioin  gcsiindte  Froisin^ei-  llofiiiei.stci' 
Hieronyinus  Stör  am  19.  April  86  an  Herzog  Wilhehn  (Stor's  Briefe 
HtA.  .390/46);  vgl.  Sti.-ve  a.  0.  S.  330  Anm.  2. 

2)  Firiefe  Frangipani's  an  Herzog  Wilhelm  von  Bayern  aus  den 
.lahren  1587—92,  von  Stieve  fast  nicht  benutzt,  iui  Münch.  StA. 
487/34;  vgl.  Tenipesti,  Storia  della  Vita  e  Geste  di  Sisto  Quinto. 
Roma  1754.  1.  348/355. 


Ijossen:  Zur  Geschichte  der  pdp^tl.  Nuntiafiir  in  Köln.       18ö 

aber  anders  —  wohl  um  nicht  bei  seinem  Bruder  das  ohne- 
hin schon  vorhandene  Mißtrauen  zu  bestärken,  als  ob  er 
mit  dem  Papste  unter  der  Decke  stecke  —  und  schickte  nur 
seinen  Sekretär  Ulrich  Speer  nach  Innsbruck,  welcher,  wie 
es  scheint,  auch  den  Nuntius  Frangipani  zu  überzeugen 
wußte,  dciss  es  ebenso  sehr  für  den  römischen  Stuhl  wie  für 
das  Haus  Bayern  sehr  bedenklich  sein  würde ,  auf  Ernst's 
Verzicht  auf  Freising  zu  beharren.  —  Möglich ,  daß  Speer 
schon  damals  dem  Nuntius  zu  verstehen  gab,  daß  zu  Köln 
die  Koadjutorie  eines  der  jungen  bayrischen  Herzoge  leichter 
zu  erlangen  sein  werde,  als  zu  Freising.  Gewiß  ist  jeden- 
falls, daß  sowohl  Herzog  Wilhelm  und  seine  Räte,  wie 
auch  Kurfürst  Ernst  selbst,  von  Anfang  au  gesonnen  waren, 
das  Erzstift  Köln ,  einmal  im  Besitz  des  Hauses  Bayern, 
nicht  so  leicht  wieder  aus  demselben  kommen  zu  lassen^). 


1)  In  einem  Discurs  Minucci's  aus  dem  Sommer  1586  (StA. 
9/2  f.  602)  kommt  folgende  Stelle  vor:  ,Deliberandum  tandem,  an  ex- 
pediat  arcem  et  ditionem  in  Bedbour  accipere,  quam  Ser^us  Elector 
offert,  et  videtur  in  accipiendo  nuUum  esse  periculum ;  et  locus  talis 
est,  qui  possit  etiam  principem  aleve  cum  dignitate,  praecipue  si  ac- 
cedat  praelatura  aliqua  in  ecclesia  Coloniensi.  De  Coadjutoria  tam 
Coloniae  quam  Leodii  res  essent  paulatim  disponendae.  Et  urgendum 
iraprimis,  ut  Barvitius,  quandoquidem  Coloniensem  canonicatum  ac- 
ceptare  non  vult,  illum  quam  primum  renuntiet  et  curet  ut  in  illum 
cadat,  qui  nobis  usui  esse  possit.''  —  Schon  gegen  Ende  des  .Jahres 
1586  wurde  Hieronymus  Stör  von  Herzog  Wilhelm  beauftragt,  mit 
dem  Kurfürsten  über  eine  kölnische  Koadjutorie  in  Verbindung  mit 
der  Regelung  der  bayrischen  Schuldforderung  zu  sprechen ;  am  6. 
Januar  87  (n.  St.)  berichtet  Stör  aus  Arnsberg  über  den  Erfolg  an 
Herzog  Wilhelm:  ,Furs  andere,  so  seien  ir  cf.  g.  der  coadjutorien 
ganz  wol  zufriden,  deliberieren  alberait,  wie  die  sachen  anzugreiöen. 
vermeinen  schier  den  antang  bei  diesem  erzstift  zu  machen,  wie  es 
dan  desto  eher  von  statten  gehen  möcht,  dieweil  des  chorbischofs 
hinderung  nit  mer  zu  befaren;  würts  auch  die  grosse  summa,  die 
e.  f.  g.  ufm  stift,  und  da  sie  den  tractat  mit  Bedbur  und  annemung 
anderer  stuck  im  stift  fortgehn  lassen,  also  solchen  starken  fuß  diser 
ort   setzen,    vil  befurdern,    und    verhof  gute  weg  sein,    das  aller  orts 


186  Sitzimg  der  liistor.  Classe  i?om  4.  Fchruar  1S88. 

Als  Frangipani  Anfangs  November  1587  zum  ersten 
mal  Gelegenheit  hatte ,  mit  Knrfürst  Ernst  persönlich  zu 
sprechen,  ließ  ihn  dieser  keinen  Augenblick  im  Zweifel  dar- 
über, daß  das,  was  ihm  Speer  wegen  des  Stifts  Freising 
gesairt  haben  mochte,  die  volle  Wahrheit  sei.  Ernsterklärte 
aufs  bestimmteste,  dass  er  sich  auch  durch  deu  Papst  nicht 
aus  Frei.sing  verdrängen  lassen  wolle ;  nicht  einmal  von  einer 
weiteren  Terminverlängerung  wollte  er  sprechen  hören:  lieber 
als  daß  er  auf  Freising  verzichte,  sagte  er  im  Eifer  des  Ge- 
.sprächs,  wolle  er  alle  seine  anderen  Kirchen  den  Domkapi- 
teln wieder  anheimgeben  und  dabei  weder  an  Papst  noch 
Kaiser  sich  kehren.  —  Wenn  man  ihm  dagegen  in  diesem 
Punkt  den  Willen  thue,  versprach  er  dem  Nuntius  hinsicht- 
lich der  von  Rom  gewünschten  Reformen  in  der  kölnischen 
Kirche  freie  Hand  zu  lassen  und  ihn  auf  alle  Weise  zu 
unterstützen  ^). 

In  der  That  hat  dann  Frangipani  während  seiner  bis 
zum  Jahre  1594  dauernden  Nuntiatur  mit  einer  Art  von 
selbstgefälliger  Vielgeschäftigkeit  eine  Menge  von  Reforin- 
verordnungen  über  Gegenstände  des  Kultus  und  der  kirch- 
lichen Disciplin  erlassen,  in  bezug  auf  welche  jedoch  zweifel- 
haft bleibt,  in  wie  weit  ihnen  der  Charakter  von  förmlich 
verpflichtenden  Dekreten  zukommt,  oder  nur  der  von  bloßen 
Ratschlägen.  Dieselben  grihiden  sich  teils  auf  die  Trienter 
Reformdekrete,  teils  und  mehr  noch  auf  die  Verordnungen 
der  älteren  Kölner  Diöcesan-  und   Provincialsynoden. 

villeicht  bald  zu  erwinachtem  intento  zu  gelangen."  StA.  l)/8  f.  59. 
—  Aehnliche  Andeutungen  macht  Knrf.  Ernst  selbst  gleichzeitig 
seinem  Bruder.  I.e.  f.  62.  —  Stor's  kurz  nachher  erfolgter  Tod,  neben 
den  anderen  oben  erwähnten  inneren  Schwierigkeiten,  unterbrach 
diuin  für  einige  Zeit  diese  Verhii-ndlungcn. 

1)  Temi)esti  1.  c.  p.  353/5,  nach  einem  Hericlit  Fningipani's 
an  den  Papst.  F.'s  Krief  an  den  Herzog  von  Bayern  vom  1!>.  Novbr,  87 
(StA.  487/34  f.  12)  stimmt  im  wesontlichon ,  mntjitis  mntnndis,  da- 
mit überein. 


Xns.sT/r  Zur  Gcsichichti'  der  jy'ipstl.  Nuntiatur  in  Köln.       187 

Nachdem  Franpfipaiii  bereits  einige  Jahre  das  Erzstift 
K()hi  verhisseu  hatte  und  seine  Nuntiatur  auf  die  spanischen 
Niederlande  beschränkt  war,  hat  er  alle  seine  wirklich  er- 
lassenen oder  größtenteils  wohl  nur  geplanten  Reformdekrete, 
unter  dem  Titel  eines  Directorium  ecclesiasticae  disciplinae 
Coloniensi  praesertim  ecclesiae  acconiodatuni,  in  Köln  drucken 
lassen  (1597)  und  dem  damaligen  kölnischen  Koadjutor, 
Herzog  Ferdinand  von  Bayern,  gewidmet.  Das  Interessanteste 
in  diesem  dickleibigen  Buch  ist  die  Vorrede  an  den  Leser, 
in  welcher  sich  Frangipani  in  geschraubten  Worten  entschul- 
digt, daß  er  sein  Buch  jetzt  erst  veröffentliche,  und  daß  er 
es  Directorium  genannt  habe  —  also  etwa  soviel  wie  Rat- 
schläge und  Hilfsmittel  für  die  Wiederherstellung  der  kirch- 
lichen Disciplin  — ,  während  doch  die  einzelnen  Verfügungen 
desselben  eher  den  Charakter  von  Statuten  und  Strafgesetzen 
trügen.  —  Der  Grund  sei,  meint  er,  weil  es  eigentlich  mehr 
ideale  Vorschriften  gebe,  welche  in  der  Praxis  nur  nach  und 
nach  durchzuführen  seien  ^). 

Frangipani's  Vorgänger,  Bonomi,  hatte  als  Bischof  von 
Vercelii,  nach  dem  Muster  der  von  seinem  Meister,  dem  Erz- 
bischof Karl  Borromeo,  veröffentlichten  Akten  der  Mailänder 
Provincial-  und  Diöcesansynoden,    die  Dekrete    der  von  ihm 


1)  Noch  interessanter  würde  Frangipani's  Vorrede  sein,  falls  sich 
folgende  Stelle  in  einem  Briefe  desselben  an  den  Kurf.  Ernst  vom 
1.  April  1591  (StA.  487/34  f.  67)  auf  eine  etwa  damals  schon  ge- 
plante Herausgabe  von  eigenmächtigen  Reformdekreten  beziehen  sollte  : 
,l)eir  altro  particolar'  di  quel  libro,  che  si  credeva  fusse  per  uscir' 
fuora,  scrissi  a  pleno  di  mi  pugno  a  V.  A.,  et  la  mia  lettera  la  trovö 
partita  di  Lieggi ;  subito  donai  ordine  che  si  consignasse  al  So«"  I5i- 
leo,  perche  non  havendo  io  voluto  confidarlo  a  corriero  ordinario. 
l'indirizzai  con  altre  lettere  a  un'  di  la,  quäl  se  le  ritenne,  fin  tanto 
che  non  se  gli  dicesse  da  me,  se  doveva  rimandarlo  o  consignarlo 
ad  altri.  II  libro  non  si  manda  fuora  altrimente  et  e  stata  una  voce 
vana,  come  in  due  altre  lettere  n'ho  dato  conto  al  S^r  Bileo,  che  do- 
vera  avertire  V^  A." 


188  Sitzung  der  histor.  Classe  mm  4.  Februar  18S8. 

gehaltenen  Üiöcesansynoden  drucken  lassen ,  desgleichen  die 
Reformdekrete,  welche  er  bei  einer  in  Borromeo's  Auftrag 
in  der  Diöcese  Como  vorgenommenen  Visitation  erlassen  hatte. 
Diese  letzteren  waren,  mit  Zustimmung  Bonomi's,  im  Jahr 
1584  auf  85  durch  den  kölnischen  Geistlichen  Melchior  Hit- 
torp  neu  herausgegeben  worden^);  weiter  war  im  Jahre  1587, 
ebenfalls  in  Köln,  ein  von  Bonomi  angefertigter  AuszAig  aus 
den  in  Borromeo's  Mailänder  Akten  enthaltenen  Instruktionen 
für  Seelsorger  und  Prediger  erschienen  ^).  Diese  beiden  letzten 
Publikationen  werden  es  vermutlich  gewesen  sein,  welche 
Frangipani  zur  Herausgabe  seines  Directorium  angeeifert 
und  ihm  als  Muster  vorgeschwebt  hatten. 

In  der  vorhin  erwähnten  Vorrede  zu  Frangipani's  Direc- 
torium und  auch  im  Text  desselben  kommen  ein  paar  Stellen 
vor,  welche  so  lauten,  als  hätte  er  selbst  eine  Diöcesansynode 
in  Köln    abgehalten  ^).     Von  einer  solchen    wird    aber  sonst 


1)  Reformationis  ecclesiasticae  decreta  generalia.  ...  a  Jo. 
Francisco  Bonhomio,  Dei  et  Ap''"  Sedis  gr.  episcopo  Vercel- 
larum,  eiusdemque  S.  Sedis  apud  S.  Oaes.  Mte™  cum  potestate  legati 
de  latere  nuncio,  nuper  in  Comensis  civitatis  et  dioecesis  visitatione 

aedita,  nunc  autem Melchioris    Hittorpii,    S.   Cuniberti 

docano,  cura  ac  diligentia  revisa  et  recusa.  Coloniae  1585;  mit  einer 
Widmung  Hittorp's  an  Bonomo,  vom  1.  October  (1584),  ;ils  Vorwort. 

2)  Pastorum  concionatorumque  Instructiones ab  111'""  et 

R"i'J  s.  m.  Dno    Carolo    Borromaeo  ....    editae,  nunc  auteui 

opera  R"''  et  111'"'  D"'  Joannis  Francisci  Nuncii  Ap'i'^'  episcopi  Ver- 
cellensis  excerptae  ....  Coloniae  1587;  mit  einem  Vorwort  des 
Druckers  Mat.  Cholinus  an  den  Dechant  ad  gradus  D.  V.  Georg 
Braun,  worin  der  Beziehungen  beider  zu  Bonomo  gedacht  wird. 

3)  Directorium,  Praef.  ad  Lectorem.  Bl.  3'';  ferner  die  nachher 
erwähnte  Verordnung  vom  21.  Juli  15Ü1  im  Anhang,  welche  so  be- 
ginnt: „(.^uiaparum  esset  nos  Dioecesanam  Synodum  Coloniensein  an- 
nis  aliquot  intennissaiu  in  usum  revocasse,  atque  aliquatenus  nd  pri- 
stinum  reduxisse  vigorem.  nisi  etiam  debitam  ilHus  decretorum  ex<!- 
cutionem  curaremus:     ideo  cum  inter  alia  in  ultima  synodo  proniul- 


LoAsen:  Zur  Geschichte  der  piipstL  XKutintur  in  Köln.       189 

«rar  nichts  berichtet.  Die  erste  seit  dem  Jahre  1553  wieder 
abgehaltene  Köhier  Diöcesansynode,  von  welcher  Hartzheim 
Akten  gefunden  und  veröäentlicht  hat,  fand  vielmehr  erst 
im  Oktober  1598  statt  und  zwar,  soviel  ersichtlich,  ohne 
jede  Teilnahme  des  damaligen  päpstlichen  Nuntius  zu  Köln, 
Garzadoro^). 

Die  einzige  Verordnung  in  dem  ganzen  Directorium 
Krangipani's,  welche  den  Charakter  eines  kraft  päpstlicher 
Autorität  erlassenen  Dekrets  bestimmt  aufgedrückt  trägt,  ist, 
soviel  ich  bemerkt  habe,  eine  in  den  Anhang  verwiesene, 
vom  2.  (oder  11.?)  Juli  1591  datierte  und  am  21.  Juli  in 
der  Stadt  Köln  publicierte  Konstitution,  durch  welche  ein- 
zelne Vorschriften  früherer  Kölner  Diocesanstatuten  und  des 
Trienter  Konzils  gegen  Haus-Taufen  und  gegen  clandestine 
Ehen  eingeschärft  werden. 

Dagecren  lassen  es  die  Protokolle  des  Kölner  Domkapitels 
kaum  als  zweifelhaft  erscheinen,  daß  Frangipani,  in  ausge- 
dehntem Maße  und  ohne  Widerspruch  zu  finden,  kii-chliche 
Jurisdiktion  im  Erzstift  Köln  geübt  hat^). 

Die  wichtigste  Aufgabe,  welche  sich  Frangipani  zu  An- 
fang seiner  Nuntiatur  gestellt  hatte  —  die  Ordnung  der  ganz 
zerrütteten  finanziellen  Verhältnisse  im  Erzstift,    neben  und 

gata,  illud  urgentibus  nobis,  ....  etiam  publicatum  fuerit,  ut  omnes 
in  animarum  cura  et  ministerio  constituti  sedulo  et  accurate  incum- 
bant  in  divinorum  sacramentorum  dispensatione"  etc. 

1)  Hartzheim,  Conc.  Germ.  VIIT  p.  517/522.  Die  Dekrete 
dieser  Synode  scheinen  kaum  Raum  zu  lassen  für  die  Jurisdiktion 
eines  päpstlichen  Nuntius;  vgl.  Unkel  S.  259  über  die  bereits  im 
Jahre  1594  hervorgetretene  Empfindlichkeit  des  Kurf.  Ernst  gegen 
Eingriffe  des  Nuntius  in  seine  Jurisdiktion. 

2)  So  läßt  z.  B.  der  Nuntius  3.  Jan.  1590  dem  Kapitel  mitteilen, 
daß  der  Clerus  secundarius  von  ihm  ein  mandatum  inhibitionis  contra 
capitulum  ratione  contributionis  verlangt  habe;  —  28.  Mai  1590  wird 
im  Domkapitel  beschlossen,  „a  quodam  decreto  competentiae  a  D. 
Nuncio  lato  in  causa  cleri  appellationem  zu  interponieren."  Domkap. 
Prot.  DA. 

1888.  Philos.-philol.  u.  hist.  Gl.  2.  13 


190  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  188S. 

mit  der  Sicherung  der  Nachfolge  durch  AufsteUuug  eines 
Koadjutors  für  Erzbischof  Ernst  —  erreichte  Frangipani 
während  seines  Kölner  Aufenthaltes  nicht,  sondern  erst  sein 
Nachfolger  Garzadoro.  Ich  lasse  dahin  gestellt,  ob  Frangi- 
pani, wie  Stieve  zu  glauben  geneigt  ist,  durch  irgend  welches 
Vergehen  sich  in  Köln  unmöglich  gemacht  hatte,  oder  ob 
es  ihm  nur,  wie  ünkel  lieber  annimmt,  an  der  nötigen  Ge- 
schicklichkeit fehlte  ^) :  —  die  Hauptursache  seiner  Beiseite- 
schiebung lag  jedenfalls  viel  weniger  an  einer  Schwäche 
seiner  Person,  als  an  den  inneren  Schwierigkeiten  der  Sache 
selbst,  welche  zu  ihrer  Hebung  längere  Zeit  bedurften  und 
die  Kräfte  eines  jeden ,  sonst  nicht  ungeschickten  Mannes 
abnützen  mußten,  so  daß  man  in  Rom  klug  daran  that, 
zum  Abschluß  einen  neuen  Vertreter  zu  senden ,  der  noch 
nicht  in  der  einen  oder  andern  Richtung  kompromittiert  war. 
An  Eifer  es  allen  recht  zu  machen,  dem  Erzbischof  wie  dem 
Domkapitel  und  dem  Klerus,  dem  Rat  der  Stadt  Köln  und 
den  (j laubigem  des  Erzstifts,  hat  es  Frangipani  jedenfalls 
nicht  fehlen  lassen;  mehrere  Jahre  hindurch  hat  er  als  ein 
von  allen  Seiten  angerufener  Vermittler  eine  sehr  einfluß- 
reiche und  angesehene  Stellung  in  Köln  eingenommen  ^). 

Durch  die  Erfahrung  vieler  Jahre  kannte  man  am  bay- 
rischen Hofe  das  Kölner  Domkapitel  gut  genug,  um  zu  wissen, 
daß  dieses  sich  gegen  jede  Verletzung  seiner  alten  Privi- 
legien aufs  äußerste  sträuben  würde.  Das  wichtigste  dieser 
Privilegien  war,  daß  als  Koadjubn*  so  gut  wie  als  Erzbischof 
nur  ein  Mitglied  des  Domkapitels  gewählt  werden  dürfe.  Um 
Donikapitular  zu  werden,  mußte  der  zum  Kanonikus  ernannte 
Fürst,  Graf  oder  Freiherr  die  Anni  carentiae  überstanden,  die 
Ahnenprobe  geleistet,  Residenz  gehalten  ,  die  Subdiakonats 
weihe  empfangen  haben  und   schließlich  an    der  Reihe  sein, 

1)  Stieve  a.  0.  S.  346.  Anm.  2;  Unkel  S.  256. 

2)  Dieß  ergeben  die  Kölner  Donikaijitelprotokolle  aus  der  Zeit 
seiner  Nuntiatur. 


Lassen:  Zur  Geschichte  der  päpstl.  Nuntiatur  in  Köln.       101 

einen  freigewordenen  Kapitelplatz  wirklich  einzunehmen  ^). 
Behält  man  dieß  im  Auge  und  erinnert  man  sich  insbeson- 
dere, mit  welchen  Schwierigkeiten  Kurfürst  Ernst  selbst  seiner 
Zeit  Domkapitular  zu  Köln  geworden  war,  so  wird  man  sich 
nicht  wundern,  daß  Jahre  darüber  vergingen,  ehe  der  junge 
Herzog  Ferdinand  von  Bayern  nur  in  der  Lage  war,  Koad- 
jutor  seines  Oheims,  des  Kurfürsten  Ernst,  werden  zu  können. 
Frangipani  hat  diese  Schwierigkeiten  zu  Anfang  seiner  Nun- 
tiatur vermutlich  unterschätzt,  wie  er  sich  denn  eine  Zeit- 
lang sogar  einbildete,  das  Domkapitel  werde  sich  bestimmen 
lassen,  neben  Grafen  und  Fürsten  auch  ritterbürtige  Dom- 
herren aufzunehmen  ^). 

Für  das  Einzelne  verweise  ich  auf  die  Erzählung  bei 
Stieve  und  die  kleinen  Ergänzungen  bei  Unkel,  und  erinnere 
hier  nur  daran,  daß  die  erste  Residenz  der  beiden  bayrischen 
Prinzen  Philipp  und  Ferdinand,  durch  welche  sie  sich  die 
Fähigkeit  erwarben,  Domkapitulareu  zu  werden,  nicht  vor 
dem  Winter  1590  auf  91  gehalten  werden  konnte.  Dom- 
kapitular selbst  ist  Herzog  Ferdinand  erst  am  15.  März  1595 
geworden  ^). 

Die  zweite  HauptschAvierigkeit  lag  sodann  in  der  Ord- 
nung der  finanziellen  Verhältnisse  im  Erzstift.  Während  des 
kölnischen  Krieges  hatte  sich  das  Domkapitel  für  die  Rück- 


1)  Vgl.  m.  Köln.  Krieg.  I.  19.  26.  73/76.  106/110.  412  f.  467/471. 
486.  491. 

2)  Tempesti.  I.  355.  Stieve  S.  335  Anm.  Unter  dem  ,Straß- 
burger",  dessen  Ansicht  erforscht  werden  soll  (bei  Stieve  a.  0.),  wird 
das  Straßburger  Domkapitel  zu  verstehen  sein,  dessen  Statuten  in 
bezug  auf  die  Nichtzulassung  ritterbürtiger  Domherren  mit  denen 
des  Kölner  Domkapitels  übereinstimmten  (s.  Köln.  Krieg  S.  38.  300. 
392);  dazu  passen  dann  die  Bemerkungen  Metternich's  über  die  beiden 
Stifter  Straßburg  und  Köln,   bei  Stieve  a.  0. 

3)  Unkel  S.  263;  irrig  ist  aber  jedenfalls  U.'s  Angabe,  daß 
Herzog  F.  Domcustos  gewesen  sei,  ehe  er  Kapitular  wurde. 

13* 


192  Sitzung  der  Uistor.  Classe  vom  4.  Februar  1SS8. 

erstattung  eines  Teiles  der  von  Herzog  Wilhelm  seinem 
Bruder  geleisteten  Darlehen  im  Betrag  von  150,000  Gulden 
verbürgt.  Für  weitere  Darlehen  im  Betrag  von  über  200,000 
Gulden  hatte  Kurfürst  Ernst  versprochen  ,  nachträglich  den 
Cousens  und  die  Bürgschaft  seines  Domkapitels  beizubringen, 
stieß  aber  bei  seinen  Bemühungen  hiefür  auf  den  hart- 
näckigsten Widerstand  bei  der  Majorität  des  Kapitels^).  Mit 
der  Forderung  der  Rückerstattung  oder  genügender  Sicher- 
stellung hielt  Herzog  Wilhelm  das  Domkapitel  an  der  Hand, 
forderte  aber  auch  den  begründeten  Verdacht  und  Vorwurf 
heraus,  daß  er  sich  dieser  Geldschuld  eigennützig  bedienen 
wolle,  um  das  Erzstift  Köln  seinem  Hause  für  immer  zu 
unterwerfen  ^).  Das  Domkapitel  war  unbedingt  nicht  im 
stände,    die  bayrische  Schuld  zu  tilgen,    da  es  nicht  einmal 


1)  Die  Bemerkung  von  Stieve  S.  351  f.  ist  hienach  zu  berich- 
tigen. Eine  von  Kurf.  Ernst  anerkannte  bayrische  Abrechnung  vom 
2.  November  1587  (StA.  9/8  f.  1U2)  ergibt :  Summe  der  Dsirleihen 
von  1583—86  sammt  Zinsen  .     .     .  352,180  fl.  35  kr.     2  h. 

Dazu  Zinsen  von  Ende  86/87    .     17,609  „  —     ,     —  ^ 

369,789  fl.  35  kr.  2  h., 
wovon  150,000  fl.  bereits  durch  das  Domkapitel  verbürgt  waren,  der 
Rest  noch  nicht;  um  diesen  durch  die  auflaufenden  Zinsen  stets  an- 
wachsenden Rest  drehen  sich  die  langwierigen  und  peinlichen,  schließ- 
lich durch  den  Koadjutorievertrag  niedergeschlagenen  Verhandlungen 
de.s  Herzogs  Wilhelm  mit  dem  Kurfürsten  und  dem  Domkapitel. 

2)  In  einem  seiner  Briefe  an  Frangipani  (vom  3.  Juni  90  StA. 
487/34  f.  53)  sucht  Herzog  Wilhelm  sich  in  folgender  Weise  von  dem 
oben  erwähnten  Vorwurf  zu  reinigen:  „Illum  vero  malitiose  stultum 
esse  oportet,  si  quis  finxit  non  desiderare  nos  pecuniam,  sed  hoc  tan- 
tum  ut  ecclesia  ista  nobis  in  perpetuum  obligetur  et  subiiciatur. 
Obligatam  quideni  iam  ante  putanius  esse.  An  vero  ecclesiam  nobis 
subiiciamus,  quam  ab  aliorum  tyrannide  liberavimusV  Reddatur  nobis 
nostra  pecnnia,  et  ne  obligatam  quidem  amplius  dicemus;  premium 
enim  ab  eo  expectabimus,  qui  nobis,  ut  aliquid  possemus,  vires  et 
facultates  dedit."  —  Um  das  Gewicht  solcher  Phrasen  richtig  zu 
schätzen,  halte  man  damit  naive  Bemerkungen,  wie  die  o.  S.  185 
Anm.  angeführte  von  Hieronymus  Stör  zusammen. 


Lossen:  Zur  Geschichte  der  päputl.  Nuntiatur  in  Köln.      103 

seinen  und  des  Erzstifts  älteren  Hypothekar-Gläubigern,  den 
sogenannten  alten  und  neuen  Donirentnern,  ihre  seit  Jahren 
rückständigen  Pensionen  aus  den  in  folge  des  fortdauernden 
Krieges  fast  nichts  mehr  einbringenden  Zöllen  entrichten 
konnte^).  Hinter  den  Domrentnern  aber  stand  der  Rat  der 
Stadt  Köln,  mit  der  Drohung,  dieselben  in  den  Besitz  der 
als  Bürgschaft  beanspruchten  Einkünfte  des  Domkapitels  '/u 
setzen. 

Um  diese  Schuldsachen  drehen  sich  endlose,  erbitterte 
N'erhandlungen ,  welche  zwischen  Kurfürst  und  Domkapitel, 
zwischen  beiden  und  den  Landständen,  sodann  mit  den  Gläu- 
bigern selbst  und  mit  dem  Rat  von  Köln  in  den  Jahren 
1587  bis  1594  gepflogen  wurden.  Ehe  hier  Rat  geschafft, 
wollte  und  konnte  sich  das  Domkapitel  auf  keine  Koadjutorie 
einlassen. 

Die  Vereinbarung  erfolgte  schließlich  dadurch,  daß  nicht 
nur  der  Kurfürst  und  der  künftige  Koadjutor  versprachen, 
alle  Einkünfte  aus  den  Zöllen  bis  zur  Schuldentilgung  dem 
Domkapitel  zu  überlassen ,  sondern  daß  auch  das  Haus 
Bayern  stillschweigend  auf  die  Einbringung  seiner  Forde- 
rungen verzichtete  ^). 


1)  Auch  die  kurfürstlichen  Räte  klagten  noch  in  den  neunziger 
Jahren  oftmals,  daß  sie  seit  10  oder  12  Jahren  kein  Salaire  mehr  er- 
halten hätten  und  begehrten  ihrerseits,  vor  den  Domrentnern  bezahlt 
zu  werden. 

2)  S.  den  Art.  V  des  Koadjutorievertrages  bei  Unkel  S.  587  f. 
In  dieser,  nicht  endgiltigen,  Redaktion  des  Vertrags  heißt  es  noch:  Jtem 
Pontifex  curabit  sua  autoritate .  .  .  ut  ille  (sc.  Bavariae  dux)  actiones  suas, 
quas  conti-a  archiepiscopatum  habet,  eius  calamitosissimo  statu  attento, 
ex  singulari  pietate  reraittaf  ;  in  dem  Revers ,  welcher  von  den  bay- 
rischen Herzogen  Wilhelm  und  Maximilian  am  19.  November  1595 
ausgestellt  wurde  (bei  Are t in,  Gesch.  Maximilians  des  Ersten 
S.  512/516),  fehlt  der  betr.  Abschnitt  ganz;  vgl.  Stieve  S.  352. 
Anm.  2. 


194  Sitzuufj  der  histor.  Classe  vom  4.  Februar  188S. 

Die  dritte  große  Schwierigkeit  lag  endlich  in  der  Frage, 
wie  der  feste  Entschluß  des  Erzbischofs  Ernst,  Kurfürst  zu 
I>leiben,  mit  des  Domkapitels  Weigerung,  die  kurfürstliche 
Würde  von  der  erzbischöflichen  trennen  zu  lassen,  und  mit 
dem  von  Rom  geforderten  und  auch  vom  Kapitel  gewünsch- 
ten Uebergang  der  Verwaltung  des  Erzstifts  in  die  Hände 
des  Koadjutors,  sich  vereinigen  ließ  ^).  In  diesem  Punkt  wurde 
durch  vollständiges  Nachgeben  gegen  die  Forderungen  des 
Kurfürsten  eine  Einigung  erzielt.  Der  entscheidende  Schritt 
in  dieser  Richtung  erfolgte  —  was  Stieve  und  Unkel  übersehen 
haben  —  bereits  am  18.  Oktober  1594  durch  einen  Vertrag, 
welchen  Kurfürst  Ernst  und  Herzog  Wilhelm  })ersönlich  zu 
München  mit  einander  abschlössen^). 

Wie  sich  danach,  im  April  1595,  unter  Vermittelung 
des  Nuntius  Garzadoro,  das  Kölner  Domkapitel  und  der  Ver- 
treter des  Hauses  Bayern,  Adolf  Wolf  von  Metternich,  über 
die  Koadjutorie  des  Herzogs  Ferdinand,  seine  Uebernahme 
der  Verwaltung  des  Erzstifts  und  die  Ordnung  der  Schuld- 
sachen vertrugen ,  hat  ünkel  aus  Akten  des  vatikanischen 
Archivs  neuerdings  mitgeteilt  —  jedoch  war  es  in  der  Haupt- 
sache schon  in  den  Nuntiaturstreitifflieiten  des  voriffcn  Jahr- 


1)  Unkel  S.  269  Anm.  2  behauptet  ganz  mit  Unrecht  gegen 
Ennon,  ^daß  der  Wahlvertrag  die  Trennung  der  kurfürstlichen  von 
der  erzbischöflichen  Gewalt  ausspreche"  ;  in  der  nicht  von  Unkel, 
aber  bereits  im  vorigen  Jahrhundert  von  einigen  orzbischötiichen 
Parteigängern  mitgeteilten  endgiltigen  Fassung  des  Koadjutoriever- 
trages  heißt  es  im  Eingang  ausdrücklich :  „Coadjutor  cum  futura  suc- 
cessione  in  archiepiscopatu  eique  annexo  electoratu  S.  R.  Imperii, 
quem  electoratum  S.  S****  ab  archiepiscopatu  separare  non  intendit, 
.  .  .  .  eligatur."  Er  örterung  der  kölnischen  Nuntiatursti-eitigkeit ...  . 
H.  1.  1788.  Beil.  I.  S.  99;  Kurze  Widerlegung  der  Keflexions  sur 
les  73  articles  ....  s.  I.  1789.  Beilagen  No.  1 ;  weniger  genau  auch 
in  der  o.  S.  160  cit.  Calophorie  S.  78/81. 

2)  Gedruckt  bei  Aretin  a.  0.  S.  510  f. 


Lassen:  Zur  Geschichte  der  pnpstl.  Nuntiatur  in  Köln.       195 

hunderts  und  dann  wieder,  vor  mehr  als  vierzig  Jahren,  durch 
Aretin  bekannt  gemacht  worden  ^). 

Der  päpstliche  Unterhändler  hat  es  verstanden,  in  diesen 
Vertrag  einen  eigenen,  die  kölnische  Nuntiatur  betreffenden 
Artikel  hineinzubringen,  welcher  deren  Fortbestand  gleich- 
sam als  einen  besonderen  Wunsch  des  Domkapitels  erscheinen 
ließ'^). 

1)  UnkeTs  Beilage  1  a.  0.  S.  583  gibt  den  von  dem  Nuntius 
Garzadoro  vorgelegten  Vertragsentwurf  vom  15.  (oder  18.)  April 
1595;  der  Vertrag  selbst,  vom  29.  April  1595  datiert,  ist  in  den 
0.  S.  194  cit.  Schriften  des  vorigen  Jahrhunderts  gedruckt  und  ent- 
hält eine  Anzahl  Bestimmungen,  welche  ohne  Zweifel  auf  Verlangen 
des  Domkapitels  zugefügt  wurden,  größtenteils  auch  in  der  von 
Unkel  als  Beilage  2,  S.  585  tf.  abgedruckten  Koadjutorie-rrkunde  sich 
finden  und  ebenso  in  dem  vorhin  (S.  193)  erwähnten  Revers  der  Herzoge 
Wilhelm  und  Maximilian  von  Bayern  vom  19.  Nov.  95.  —  Der  Vertrag 
vom  29.  April  95  ist  unterzeichnet  von  dem  Nuntius  Garzadoro,  dem 
Herrn  von  Metternich  und  dem  Kapitelssekretär,  wonach  alsoStieve 
S.  354  gegen  Unkel  S.  268  Anm.  2  Recht  hat. 

2)  Der  Artikel  lautet:  „Secundo,  quod  ad  spirituale  attinet,  con- 
fidit  (sc.  S.  S«^)  de  coadiutore  et  capitulo,  quod  pro  zelo  christianae 
religionis  et  pietatis  decorem  domus  Dei  inprimis  cordi  habebunt; 
attamen,  si  quidem  [im  Entwurf  sicutiV]  capitulo  ita  videbitur ,  pro 
maiori  [auctoritate  et]  securitate  rerum  tam  temporalium  quam  spiri- 
tualium,  offert  S.  S^^s  habere  in  hac  provincia,  salva  tarnen  semper 
ordinaria  iurisdictione,  virum  gravem  ac  pium,  cum  titulo  et  digni- 
tate  nuntii  apostolici,  cum  facultatibus  opportunis,  pro  salute  [aedi- 
ficatione]  ecclesiae  et  cum  expresso  mandato  sanctae  sedis  aposto- 
licae,  ut  ea  quae  unioni  patriae  iuratae,  quae  iuratis  capitulationihus, 
quae  etiam  antiquis  ecclesiae  consuetudinibus  repuynant ,  per  omnia 
tolli,  et  quae  eis  conveniunt,  observari  procuret." 

Die  hier  cursiv  gedruckten  Stellen  fehlen  in  Garzadoro's  erstem 
Entwurf  des  Artikels,  und  sind,  wie  der  Inhalt  ergibt,  sicherlich  erst 
auf  besonderes  Verlangen  des  Domkapitels  zugefügt  worden,  um  der 
Gewalt  des  Nuntius  gewisse,  in  den  Rechten  des  Erzbischofs,  der 
Landstände  und  vor  allem  des  Domkapitels  begründete  Schranken 
zu  setzen.  Die  gleiche  Absicht  läßt  sich  wohl  auch  aus  der  Beseiti- 
gung oder  Abänderung  der  hier  in  eckige  Klammern  gesetzten,  in 
Garzadoro's  Entwurf  stehenden  Worte  erkennen. 


196  Sitzung  der  Imtor.  Classc  vom  4.  Februar  1S8S. 

Die  päpstliche  Nuntiatur  zu  Köln  ist,  bis  zum  Unter- 
«ranjr  des  Erzstifts  selbst  in  den  Stürmen  der  französischen 
Revolution,  eine  ständige  geblieben  und  hat  ihre  Befugnisse 
immer  mehr  auszudehnen  oder  zu  befestigen  verstanden.  So- 
lange im  Erzstift  das  Haus  Bayern  herrschte,  dessen  Inter- 
essen zu  dienen  sie  ja,  fast  von  Anfang  an,  zunächst  berufen 
war,  bestand,  mit  seltenen  Ausnahmen,  das  beste  Einver- 
nehmen zwischen  dem  Erzbischof  und  Landesherrn  einerseits 
und  dem  Vertreter  des  römischen  Stuhles  anderseits;  Hand 
in  Hand  arbeiteten  beide  an  der  gewaltsamen  Unterdrückung 
jeder  häretischen  liegung  im  Erzstift.  Erst  in  dem  seit  der 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  zur  Herrschaft  gelangenden 
Geist  rehgiöser  Auf klärung  und  Toleranz,  mit  welchem  sich 
das  allgemeine  Streben  der  Staatsgewalten  verband,  auch  das 
kirchliche  Leben  unter  staatliche  Leitung  zu  bringen,  er- 
wuchs der  Kölner  Nuntiatur  eine  gefährliche  Gegnerschaft. 
Ehe  aber  dieser  Kampf  zur  vollen  Entscheidung  geführt 
war,  bereitete  die  französische  Revolution  den  geistlichen 
Kurfürstentümern  am  Rhein  und  der  römischen  Nuntiatur 
zugleich  ein  unrühmliches  Ende. 

Doch  hat  der  letzte  ständige  Nuntius  von  Köln ,  Bar- 
tholomäus Pacca,  in  seinen  erst  im  Jahre  1832  veröffent- 
lichten Memoiren  über  seine  rheinische  Nuntiatur  den  Wunsch 
und  die  Hoffnung  niclit  verhehlt,  dass  diese  dereinst  ihr 
Haupt  wieder  erheben  möge  ^). 


1)  Bartol.  Pacca,  Memorie  storiche  .  .  .  sul  tli  hii  soggiorno  in 
Germania  1786—94.  Koma  1832.  p.  31;  vgl.  Me.jer.  Propaganda. 
2.  191). 


197 


Philosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  3.  März  1888. 

Herr  Wölfflin  liielt  einen   Vortrag: 
, Krieg  und  Frieden  im  Spriciiworte  der  Römer. " 

Seit  Jahren  bringen  die  Leitartikel  unserer  Zeitungen 
vorwiegend  Variationen  über  das  Thema  Si  vis  pacem,  para 
bellum.  Gestatten  Sie  mir  heute  auch  ein  Wörtchen  dazu 
zu  reden,  natürlich  nicht  vom  politischen  Standpuncte  aus, 
sondern  vom  philologischen.  Wer  war  es  denn,  der  jenen 
Satz  zuerst  aussprach,  in  welchem  sich  heute  alle  Völker, 
so  verschieden  sie  auch  sonst  sein  mögen,  einmüthig  zusam- 
mentinden  ?  Oder  wer  hat  zuerst  jene  Wahrheit  wenigstens 
in  ähnlichen  Worten  ausgesprochen?  Der  Instinct  wird  uns 
auf  das  grosse  Kriegsvolk  des  classischen  Alterthums ,  auf 
die  Römer  führen ,  obschon  sie  in  ihrer  Praxis  weit  über 
das  Sprichwort  hinausgegangen  sind,  wie  das  seltene  Schliessen 
des  Janustempels  beweist.  Um  daher  das  Thema  gleich  etwas 
weiter  zu  fassen ,  möchte  ich  fragen :  Was  sagt  uns  das 
römische  Sprichwort  von  Krieg  und  Frieden  V 

Wenn  man  mit  Recht  behauptet,  dass  schon  die  Sprache 
und  das  Sprichwort  im  Besondern  den  Geist  einer  Nation 
"wiederspiegeln,  so  wird  man  wie  bei  den  Griechen  etwa  die 
von  der  Schiffahrt  entlehnten  Tropen,  so  in  der  lateinischen 


lOS         Sitsumj  der  phUoü.-iMlol.  Classe  com  3.  März  18t:i8. 

Sprache    den  Ausdruck    des  kriegerischen  Sinnes  des  Volkes 
suchen  wollen.     Und   allerdings  lehrt    uns  schon   die  Wort- 
l)ildung,  dass  den  Römern  der  Krieg  näher  lag  als  der  Frieden. 
Denn  von  pax  haben  sie  kein   Ädiectiv  abgeleitet,  so  geläu- 
fig uns    auch    das  Wort  ^friedlich'  ist,    von  bellum  dagegen 
nicht  weniger  als  vier,   beilax,    bellicus,    bellicosus,  bellosus. 
Bei  dem  vereinzelt   stehenden ,    von  einem  Grammatiker  aus 
Coelius  Antipater  notierten  bellosus  ist  es  allerdings  streitig, 
()])  nicht  das  Versbedürfniss  zu  der  neuen  Form  geführt  hat, 
wenn    anders  Lucian  Müller    mit  Recht  Caelius    in   Caecilius 
(nämlich  Caecilius  Statius)  geändert  und  in  den  Worten  contra 
l)ellosum  genus    den  Schluss    eines   trochäischen  Tetrameters 
erkannt  hat,  zu  welchem  die  vorangehenden  Worte:  täntum 
bellum    süscitare    conari    adversärios    gut    stimmen    würden. 
Vgl.  Rhein.  Mus.    187;}.    508.     Dass    die    epischen    Dichter, 
welche    das  trochäische  bellicosus    unmöglich    in   den   Hexa- 
meter brachten,    zum  Ersätze    das    in    der  Bedeutung    etwas 
verschiedene    bellicus   heranziehen    mussten ,    ist    über   jeden 
Zweifel  erhaben  :  gelegenthch  griffen  sie  auch  zu  Zusammen- 
setzungen   wie  Ennius  annal.   188  Vahl.  bellipotens  im  An- 
fange   des   Hexameters,    welches   bei   Vergil.  Aen.    11,  8  an 
gleicher  Versstelle  wiederkehrt;  ebenso  zu  bellifer  und  belliger. 
Vgl.  Köne ,    über  die  Sprache  der  römischen  Epiker.    1840. 
S.  213.  Auch  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  die  Licenz  bellator 
als  Ädiectiv  zu  verwenden  von  den  Dichtern  ausgegangen  ist. 
Gegenüber  diesem   Reichthume  erschrickt  man  über  die 
Verkümmerung   der  Al)leitung    von  pax.     Konnte    man   von 
lex  bilden  legalis,  warum  nicht  v(m  pax  ein  pacalis?    Aber 
nicht  einmal  der  Sänger  des   Friedens,    Tibull,    sondern  nur 
Ovid  hat  an  drei  Stellen  diese  Bildung  gewagt,     Metam.  0, 
101.  15,  591.  fast.  1,  710,  ohne  einen  Nachfolger  zu  finden. 
Cicero  fühlte  einmal,    in  einem   Briefe  an  Attikus  8,    12,   4, 
dass  ihm    ein  elgrimög  oder  elgi/ralog  fehle,    und  er  behalf 
sich  zur  Bezeichnung  eines  als  Friedensvermittler  geeigneten 


Wü1f/U)t:  Kricij  und  Frieden  im  Sprichtcorte  der  Eöiner.      109 

Diplomaten  mit  dem  neugebildeten  pacifica  persona,  wovon 
er  niemand  i,^laul)te  Reclienschaft  schuldig  zu  sein ,  da  er 
eine  Veröffentlichung  seiner  Privatcorrespondenz  nicht  träumte. 
Aber  auch  pacificus  blieb  anderthalb  Jahrhunderte  lang  ein 
schüchterner  Versuch,  bis  namentlich  im  Spätlatein  die  Ab- 
leitungen auf  -ficus  nebst  den  Verben  auf  -ficare  massenhaft 
durchdrangen.  Das  Particip  pacatus  kann  kaum  als  Lücken- 
büsser  in  Betracht  kommen,  schon  darum  nicht,  weil  es 
nicht  von  Personen  gebraucht  wird  ,  wie  auch  Ovid 
sein  pacalis  nur  auf  Sachen  l)ezogen  hatte.  Da  wird  man 
doch  sagen  müssen ,  dass  die  Sprache,  wenn  das  Bedürfnis« 
vorhanden  gewesen  wäre,  die  Eigenschaft  des  Friedlichen 
und  Friedfertigen  zu  bezeichnen ,  ihren  Weg  hätte  finden 
müssen  ;  so  aber  ging  es  den  Römern  wie  mit  der  Dankbar- 
keit, die  sie  nicht  fertig  brachten.  Sie  kannten  wohl  die 
Dankbarkeit  und  Achtung,  welche  die  Kinder  den  Eltern 
schulden  und  nannten  sie  pietas;  aber  die  Dankbarkeit,  auch 
von  oben  nach  unten,  hat  kein  Wort  gefunden  ;  eine  grati- 
tudo,  oder  wie  das  Substantiv  sonst  hätte  lauten  müssen,  hat 
kein  Kömer  über  die  Lippen  gebracht,  und  das  Wort  ist 
daher,  obschon  im  Italiänischen  gebildet,  als  neulateinisch 
für  den  Stilisten  zu  vermeiden.  Man  ist  von  aequus  animus, 
magnus  animus  auf  aequanimitas  und  magnanimitas  gekom- 
men, aber  nie  von  gratus  animus  auf  gratanimitas.  Cicero 
spricht  de  orat.  2,  182  von  facilitas,  liberalitas,  mansuetudo, 
pietas,  und  fährt  gegen  das  Gesetz  der  Symmetrie  fort  mit 
gratus  animus;  Valerius  Maximus  überschreibt  die  Capitel 
seiner  Dicta  et  facta  memorabilia  beispielsweise  De  humani- 
tate  et  dementia,  aber  das  über  den  Dank  und  Undank  De 
gratis,  de  ingratis ,  weil  ihm  das  betreffende  abstracte  Sub- 
stantiv offenbar  fehlte. 

Man  wird  nach  dieser  einleitenden  Betrachtung,  welche 
nur  daran  erinnern  soll,  dass  die  moderne  Wortforschung 
hinter  den  Wörtern    auch  Gedanken    sieht,    geneigt  sein  zu 


200         Sitzung  der  plülos.-phüol.  Classe  vom  3.  März  1SS8. 

glauben,  dass  das  römische  Sprichwort  über  den  Krieg  viel 
v.u.  sagen  habe,  und  es  ist  auch  bereits  nachgewiesen  worden, 
dass  die  Ausdrücke ,  welche  die  Thätigkeit  des  Redners  be- 
zeichnen, mit  Vorliebe  der  Krieger-  und  Fechtersprache  ent- 
lehnt sind^).  So  Hesse  sich  weiter  verfolgen,  dass  Ausdrücke 
wie  proeliari,  militare,  stipendia  facere,  excubare  namentlich 
von  Dichtern  gerne  auf  die  Erotik  übertragen  worden  sind, 
übertrug  doch  Elagabal  (Lamprid.  2ß)  auf  seine  meretrices 
den  Titel  commilitones.  (Vgl.  (*ic.  Verrin.  5,  104  illud  con- 
tubernium  muliebris  militiae.)  Ja  das  ganze  Leben  erscheint  dem 
Homer  als  ein  fortwährender  Krieg,  wie  wir  von  dem  Kampfe 
des  Lebens  sprechen  :  Seneca,  epist.  96,  5  vivere,  mi  Lucili, 
est  militare,  oder  mit  ähnlichem  Bilde  Plinius  nat.  bist.  prol.  18 
profecto  vita  vigilia  est ;  denn  der  Mensch  ist  nur  eine  Schild- 
wache, die  nach  Ablauf  ihrer  Zeit  abgelöst  wird.  Freilich 
ist  diese  Anschauung  nicht  speciell  römisch ,  da  schon  Hiob 
7,  1  nach  der  Vulgata  des  Hieronymus  sagt:  militia  est  vita 
hominis,  und  auch  die  christliche  Kirche  hat  sich  gern  als 
uiilitans  bezeichnet.  Aber  jedenfalls  darf  man  den  Versuch 
wagen,  eine  genauere  Umschau  in  der  römischen  Litteratur 
zu  halten. 


Dem  in  der  Einleitung  angeführten  Satze  von  der  Noth- 
wendigkeit  der  Kriegsbereitschaft  geht  der  andere,  noch  näher 
liegende  voran,  dass  man  Krieg  führe  um  Frieden  zu 
haben.  Ob  er  die  feste  Form  eines  Sprichwortes  angenom- 
men, ist  schwer  zu  sagen ;  denn  er  begegnet  uns  so  oft  in 
der  Litteratur,  dass  er  Gemeingut  geworden  zu  sein  scheint, 
kleidet  sich  aber  bei  den  verschiedenen  Autoren  in  verschie- 
dene Worte.     So  sagt  Cicero   in  der  siebenten  })hilippischen 

1)  David  Wollner:  Die  von  der  BeredtHiimkeit  au»  der  Kriej^er- 
und  Fechtereprache  entlehnten  bildlichen  Wendungen  in  den  rhetori- 
schen Schriften  des  Cicero,  Quintilian  und  'l'iuitus.  TTymn.  Progr. 
Landau  188(5. 


Wölffli»:  Kricfi  und  Frieden  im  S]>ricJiirnrte  der  Ixnmer.      201 

Rede  §  19  Si  puce  fnii  volumus,  bellum  gerendum  est,  und 
in  derselben  Zeit  de  offic.  1,  23,  80  Bellum  ita  suscipiatur, 
ut  nihil  ciliud  nisi  pax  quaesita  videatur.  Er  ahnte  den  Aus- 
brneh  eines  neuen  Bürgerkrieges,  wünschte  aber,  dass  der- 
selbe nur  als  das  nothwendige  Mittel  zum  Frieden  sein  möge. 
Kürzer  drückt  sich  Nepos  aus  im  Leben  des  Epaminondas  5,  4 
Paritur  pax  bello,  und  ähnlich  Statins  Theb.  7,  554  Saevis 
pax  quaeritur  armis;  dem  Gedanken  nach  hat  sich  ihnen 
auch  Augustin  angeschlossen  de  civitate  dei  19,  12  Omnis 
homo  etiam  belligerando  pacem  requirit.  Durch  Ausweichen 
vermeidet  man  den  Krieg  nicht  nur  nicht,  sondern  man  be- 
schwört ihn  herauf,  wie  Curtius  sagt  7,  30  Bellum  vitando 
alemus  und  auch  ein  Redner  bei  Tacitus  zieht  den  Krieg 
einem  elenden  oder  faulen  Frieden  vor,  Annal.  3,  44  miseram 
pacera  vel  bello  bene  mutari.  Die  reichen  Kaufherrn  in 
Karthago  meinten  freilich  umgekehrt,  wie  uns  Augustin  in 
einer  Predigt^)  meldet,  ein  pekuniäres  Opfer  sei  immer  gut 
angebracht,  wenn  man  dadurch  Ruhe  bekomme,  ein  ent- 
schieden unrömischer  Gedanke. 

Allein  man  braucht  nicht  immer  Krieg  zu  führen,  um 
zum  Frieden  zu  gelangen ;  man  kann  den  Frieden  erhalten, 
wenn  man  nur  zum  Kriege  gerüstet  ist.  Man  hat 
den  Spruch  Si  vis  pacem,  para  bellum,  bei  allen  Autoren 
gesucht  und  nirgends  gefunden.  Vermuthlich  könnte  man  noch 
lange  umsonst  die  römische  Litteratur  durchforschen ;  denn 
die  Form  scheint  mir  nicht  klassisch  zu  sein.  So  häufig  Sen- 
tenzen mit  Si  vis  anfangen,  so  oft  folgt  darauf  ein  Infinitiv. 
wie  Seneca  de  moribus  24  Si  vis  beatus  esse;  und  wenn 
man  auch  zugibt,  dass  pacem  velle  an  sich  nicht  gerade  un- 
lateinisch sei  (Seneca  Herc.  für.  3(38  pacem  velle;  Livius  30, 

1)  August.  Sermon.  167.  Proverbium  notum  est  Punicuni,  quod 
quidein  latine  vobis  dicam,  quia  Punice  non  omnes  nostis.  Punicum 
proverbium  est  antiquum:  Nummum  quaerit  pestileutia;  duos  illi  da 
et  ducat  se.  V^l.  Ephes.  5,  15. 


202         Sitzuny  der  phüos.-j^hiloL  Classe  vom  3.  März  1888. 

30,  15  victoriam  quam  pacem  malle) ,  so  würde  doch  der 
rhetorische  Gegensatz  eine  Form  empfehlen  wie :  Si  vis  habere 
(retinere)  pacem ,  para  bellum,  wie  ja  Cicero  in  der  eben 
angeführten  Stelle  Philipp.  •  7 ,  19  geschrieben  hat:  Si  pace 
frui  volumus. 

Wenn  ich  nun  auch  den  Spruch  in  dieser  Form  nicht 
für  antik  halten  kann,  so  ist  doch  längst  nachgewiesen,  dass 
das  Alterthum,  und  gerade  das  römische,  denselben  Gedanken 
in  ähnlichen  Worten  ausgesprochen  hat.  Zuerst  vielleicht 
Publilius  Syrus  465,  wenn  sich  auch  der  Sinn  nicht  voll- 
kommen deckt:  Prospicere  in  pace  oportet,  quod  bellum  iu- 
vet;  genauer  anklingend  Vegetius  r.  mil.  3  praef. :  qui  de- 
siderat  pacem,  praeparet  bellum,  qui  victoriam  cupit,  railites 
inibuat  diligenter.  Dio  Chrysost.  de  regn.  orat.  1  zolg  f.id- 
hoza  /lolef-iEU'  n aqEOy.evao(.üvotg ,  rovTOig  {.tahoTO.  s^soziv 
eiQf'jvrjV  ayeiv.  Ist  man  gerüstet,  so  kann  man  drohen  und 
dadurch  den  Gegner  entwalfnen :  Livius  G,  18,  7  Ostendite 
modo  bellum ;  pacem  habebitis.  Kriege  wollen  von  langer 
Hand  vorbereitet  sein,  Piiblil.  Syr.  12G  Diu  apparandum  est 
bellum,  ut  vincas  celerius;  und  nicht  nur  für  das  Materielle 
muss  vorgesorgt  sein,  auch  der  Plan  will  vorher  überlegt 
sein.  Was  das  Sprichwort  von  dem  Gladiator  sagt,  dass  er 
seinen  Plan  erst  in  der  Arena  fasse  (Seneca  epist.  22,  1  ve- 
tus  proverbium  est  gladiatorem  in  arena  consilium  capere), 
gilt  nicht  vom  Kriege,  und  Publilius  625  polemisiert  dagegen 
mit  den  Worten :  Sero  in  periclis  est  consilium   quaerere. 

Freilich  ist  jeder  Krieg  ein  Unglück,  und  wie  man  von 
mala  belli,  spricht,  so  von  bona  pacis.  Den  Frieden  preisen 
nicht  nur  die  Dichter  des  augusteischen  Zeitalters,  wie  Verg. 
Aen.  11,  362  nulla  salus  hello,  pacem  te  poscimus  omnes, 
oder  Silius  Italiens  11,  595  pax  ojjtima  reruin,  sondern  auch 
die  Prosaiker  wie  Cic.  de  leg.  agr.  2,  4  (juid  est  tam  popu- 
läre quam  paxV,  derselbe  in  seinem  l)ekannten  auf  die  Unter- 
drückung der  catilinarischen  Verschwörung  bezüglichen  Verse 


WolfjUn:  Kvuii  n)iil  Frieden  im  Siirichirnrle  der  Wmer.      203 

Cedant  arma  too-ae :  Tacitus  im  Dial.  37  quis  ignorat  iitiliiis 
ac  melius  esse  frui  pace  quam  hello  vexari?  Und  da  man 
die  Bürgerkriege  oft  euphemistisch  discordia  civilis  nannte, 
so  verstehen  wir  den  Ausdruck  des  von  Cäsar  begünstigten 
Mimendichters  Pul)lilius  Syrus  125 

Discordia  fit  carior  concordia, 
wohl  eine  Anspielung  auf  die  glücklich  überstandenen  Bürger- 
kriege. Friede  und  Eintracht  erhalten  und  ernähren  ;  so  ist 
das  Wort  Sallusts  Jug.  10,0  sprichwörtlich  geworden:  con- 
cordia parvae  res  crescunt,  discordia  maximae  dilabuntur, 
und  Marcus  Agrippa,  der  Sieger  bei  Actium  und  Schwieger- 
sohn des  Auguötus,  pflegte  nach  Sen.  epist.  94,  40  zu  sagen, 
er  verdanke  diesem  Spruche  sehr  viel.  Bekannt  ist  auch  das 
Wort  Ovids  fast.  1,  704  pax  Cererem  nutrit. 

Den  Krieg  stellen  sich  nur  diejenigen  angenehm  vor, 
die  noch  nichts  davon  wissen;  Vegetius  sagt  3,  14  von  den 
tirones:  inexpertis  dulcis  est  pugna:  allein  diess  ist  schon 
von  Pindar  ausgesprochen,  Frgm.  110  (70) :  ylvy(,vQ  -/.ancolEf-iog 
mieiQoiai.  Der  Krieg  ist  schon  darum  ein  üebel ,  weil  er 
die  bürgerliche  Ordnung  aufhebt.  Cic.  Mil.  4,  10  sagt  be- 
kanntlich Silent  leges  inter  arma ,  ohne  freilich  anzudeuten, 
dass  die.ss  ein  Sprichwort  sei;  aber  jedenfalls  ist  es  durch 
ihn  ein  geflügeltes  Wort  geworden,  da  nicht  nur  Quiutilian 
5,  14,  17  die  Stelle  citiert  und  bespricht,  sondern  auch  Lu- 
kan  dem  Dictum  Versform  gegeben  hat  1,  277  Leges  hello 
siluere  coactae  ;  und  nur  eine  freiere  Variation  ist  es,  wenn 
Livius  34,  0,  0  einen  Redner  von  Gesetzen  sagen  lässt  (^uae 
in  pace  lata  sunt,  plerumque  bellum  abrogat,  oder  Seneca 
im  Hercules  furens  401  sagt  Arma  vincunt  leges.  Auch  galt 
im  Alterthume  der  Grundsatz,  dass  der  Krieg  sich  selbst  er- 
nähren müsse;  der  alte  Cato  entliess  einmal  nach  Livius 
34,  9,  12  die  Lieferanten  mit  der  Bemerkung  Bellum  se  ip- 
suni  alet.  Daher  versucht  nicht  nur  der  philosophisch  Ge- 
bildete   alles  Mögliche,    bevor  er  zum  Schwerte  greift  (Ter. 


204         Sitzung  der  philos.-philoh  Classe  vom  3.  März  1888. 

Eun.  789  omnia  prius  experiri  quam  armis  sapientem  decet), 
sondern  selbst  Attila  vermied  den  Krieg,    wenn  er  sein  Ziel 
durch  List  erreichen  konnte,  nach  Agnellus  Script,  Langob.  37 
In  proverbiis  dicitur,    Attila  rex,    priusquam    arma  sumeret, 
arte  pugnabat.  Man  kommt  manchmal  mit  der  Liebe  ebenso 
weit    als    mit    dem  Kriege,    Avie  das    in  dem    östreichischen 
Wahlspruche    ausgedrückt   ist:     Bella   gerant    alii ,    tu  felix 
Austria  nube;  nach  dem  Vorgänge  des  Ovid  Heroid.  13,  84 
Bella  gerant  alii,  Protesilaus  amet.  Der  Aasgang  des  Krieges 
ist  eben  immerhin    eine    unsichere  Sache,    wie  schon  Livius 
30,  30,   19    den  Hannibal    vor   der   Schlacht    bei  Zama   zu 
Scipio  sprechen  lässt:     Melior  tutiorque  est  certa  pax  quam 
sperata  victoria;  haec  in  tua,  illa  in  deorum  manu  est,  und 
selbst  den  an  Siege  gewöhnten  Römern  hatte  sich  von  alten 
Zeiten  her    die  Wahrheit   eingeprägt,    dass  das  Kriegsglück 
veränderlich  sei.    (Cic.  pro  Marc.  5,15  anceps  fortuna  belli; 
Livius  2,  60,  4    varia   fortuna  belli.)     Einer    ihrer   grössten 
Feldherrn,  Cäsar,    hat  es  im  bellum  Gallicum  wie  im  civile 
deutlich  ausgesprochen,  dass  im  Kriege  viel,  sogar  sehr  viel 
auf  das  Glück  ankomme;    bell.  Gall.  6,  30  multum  cum  in 
Omnibus  rebus,  tum  in  re  militari  potest  fortuna;  civ.  3,38 
fortuna,    quae  plurimum    potest  cum  in  reliquis  rebus,   tum 
in  praecipne  hello,  während  ein  anderer,  minder  kriegskun- 
diger Autor,  Curtius,    wiederholt  hervorhebt,    ein  besonders 
wichtiger  Factor  im  Kriege    sei  die  fama,    d.  h.  die  öjffent- 
liche  Meinung.     3,  8,  7  iama  stant  bella;    8,  8,   15.  5,   13, 
14  fama  raaximum   utique    in    hello    momentum ,    d.  h.   das 
"Ausschlaggebende.      Jeder    militärische  Erfolg    ist    aber    nur 
dann    von  Werth ,    wenn    ihm    eine   vernünftige  Politik    im 
Frieden  entspricht;     Cic.  offic.    1,    22,    76    parvi  sunt  foris 
arma,  nisi  est  consilium  domi,  wahrscheinlich  ein  trochäischer 
Tetrameter  eines  Dichters,  der  geschrieben   hatte  nisi  sit  con- 
silium domi;     Val.  Max.  9,  2,    Einleit.     Quid  enini  prodest 
foris  esse  strenuum,  si  domi  male  viviturV 


Wölfflin:  Krieg  und  Frieden  im  Sprichworte  der  Römer.      205 

Zum  Kriegführen  braucht  man  Waffen.  Zu  denSchutz- 
w äffen  (arma  im  engeren  Sinne,  im  Gegensatze  zu  tela, 
Trutzwaffen)  gehören  bei  den  Römern  Helm ,  Panzer  und 
Schild.  Sie  belasten  den  schon  durch  Proviant  und  Schanz- 
pfähle beladenen  Krieger  sehr  stark ;  allein  der  Römer  rechnete 
nach  Cic.  Tasc.  2,  37  scutum  oder  galea  ebenso  wenig  zu 
den  Lasten  als  Schultern,  Arme,  Hände:  arma  membra  mi- 
litis  esse  dicunt.  Eine  sprichwörtliche  Redensart  knüpft  sich 
an  eine  besondere  Art  von  Gladiatorenhelm.  Der  sogenannte 
Andabata  hatte  einen  Helm  mit  geschlossenem  Visier,  so 
dass  er,  offenbar  zur  Belustigung  des  Publikums,  seine  Hiebe 
vollkommen  ins  Blinde  schlug.  Schon  zu  Ciceros  Zeit  war 
dieses  Schauspiel  in  Rom  sehr  beliebt  (Cic.  epist.  7,  10)  und 
Hieronymus  sagt  adv.  Helvid.  3  more  andabatarum  gladium 
in  tenebris  ventilans.  Die  üebertragung  auf  die  Verblendung 
der  Menschen  findet  sich  schon  bei  Varro,  der  eine  menip- 
peische  Satire  Andabata,  de  hominum  caecitate  et  errore  ge- 
schrieben hatte  (Riese,  pg.  100),  und  ebenso  ist  bildlich  zu 
verstehen  Hieron.  adv.  .Jovin.  1,  36  Melius  est  clausis  quod 
dicitur  oculis  andabatarum  more  pugnare  quam  directa  spi- 
cula  clipeo  non  repellere  veritatis. 

Das  recht  eigentlich  Schützende  ist  der  Schild,  wie 
auch  bei  uns.  Abicere  scutum,  clipeum  sagte  man  von  den 
Fliehenden,  die  um  schneller  vorwärts  zu  kommen,  den  Schild 
wegwerfen  (dupda/Tiöeg),  und  daher  dann  auch  bildlich  Cic. 
Attic.  15,  29,  1  von  Sextus  Pompeius,  von  dem  es  einmal 
hiess,  er  habe  die  Kriegsgedanken  aufgegeben.  Vorsichtiger 
war  es  reiecto  scuto  zu  fliehen,  indem  man  mit  dem  rund- 
lichen Schilde  den  Rücken  schützte  (Hom.  Iliad.  8,  94  /rrj 
(pevyeig  luerd  vtoxa  ßaXcov  y.rX.).  und  so  äusserte  sich  Cicero 
von  dem  Rückzuge  des  Redners  de  orat.  2,  294  confiteor  nie, 
si  qua  premat  res  vehementius ,  ita  cedere  solere ,  ut  non 
modo  non  abiecto,  sed  ne  reiecto  quidem  scuto  fugere  videar, 
sed  adhibere  quandam  in  dicendo  speciem  atque  pompam  et 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  CL  2.  14 


206         Sitzung  der  philos.-phUol.  Clause  vom  3.  März  1888. 

pugnae  similem  t'ugam ;  ähnlich  Ovid.  Trist.  1,  3,  35  sero 
clipeum  post  vulnera  sumo.  Arch.  IV  539.  Bei  Petron  sat.  61 
ist  per  scatum  per  ocream  eine  nicht  recht  klare  und  auch 
bisher  nicht  erklärte  sprichwörtliche  Redensart.  Für  die  mo- 
derne Kanzelberedtsaiukeit  ist  vorbildlich  geworden  Genesis 
15,  1  ne  timeas,  ego  clipeus  tibi  (so  die  Itala;  die  Yulgata 
protector  tuus) ;  II  Reg.  22,  3  sperabo  in  deum,  scutum 
meuni :  II  23,  31  deus  scutum  est  omnium  sperantium  in  se. 
Psalm  5,  13  domine,  scuto  bonae  voluntatis  tuae  coronasti 
nos  u.  s.  w.  Auch  die  Sprache  des  neuen  Testamentes  kennt 
dieses  Bild,  wie  Ephes.  6,  16  scutum  fidei. 

Die  beiden  Angriffs  waffen,  Schwert  und  Wurfspiess, 
hat  die  Soldatensprache  oft  genug  verbunden:  Veget.  r.  mil. 
1,  20,  12  cum  ad  pila ,  ut  appellant,  venitur  et  manu  ad 
manum  gladiis  piignatur;  3,  14.  17  cum  ad  spathas  et  ad 
pila.  ut  dicitur,  ventum  fuerit,  wo  an  die  Stelle  von  gladius 
das  vulgäre  spatha  (ital.  spada,  franz.  epee)  getreten  ist.  Für 
gladius  kann  der  Lateiner  auch  ferrum  oder  telum  gebrau- 
chen;  wo  wir  aber  im  Sprichworte  machaera  finden,  wird 
man  doch  an  griechischen  Ursprung  ^)  denken  müssen.  Diess 
ist  der  Fall  bei  der  von  Ambrosius  angeführten  Redensart 
quod  proverbialiter  dicitur  quasi  puero  machaeram ;  diess  ist 
gerade  so,  d.  h.  so  verkehrt,  wie  wenn  man  einem  Knaben 
ein  Schwert  (modern  einen  Revolver)  in  die  Hände  geben 
wollte;  oder  in  der  Form  des  Verbotes  bei  Augu>tin  epist. 
104,  7  unde  illud  proverbium  :  Ne  puero  gladium.  Die  griech- 
ische Fassung  findet  sich  denn  auch  bei  Apostolius. 

Auch  dem  Rasenden  und  dem  mit  Selbstmordsgedanken 
Umgehenden  soll  man  das  Schwert  entreissen,  beziehungs- 
weise   nicht    geben    und  Cicero    entscheidet    daher    den    Fall 


1)  Vgl.  auch  Hör.  Sat.  2,  3,  276  Adde  cruorem  Stultitiae  atque 
ignem  gladio  scrutare,  was  eine  Ueberaetzung  des  pythagoreischen 
Symbolums  ist  nvg  juaxaigrf  /itj  axakevEiv ,  Diog.   Laert.  8,   17. 


Wölfflhi:  Kriefj  und  Frieden  iiu  Sprichworte  der  Bömer.      207 

collidierender  PÜiehten,  wenn  jemand  sana  mente  ein  Schwert 
deponiert  und  es  insaniens  zurückverlangt ,  in  dem  Sinne. 
dass  die  Rückgabe  eine  Sünde  wäre.  De  offic.  3,  95.  Publil. 
Syr.  157  Eripere  telum,  non  dare  irato  decet.  Tertull.  de 
fuga  13  Tu  mihi  videris  gladium  mortem  desideranti  daturus. 
Dass  diess  aber  schon  in  ältester  Zeit  sprichwörtlich  war  und 
bildlich  gebraucht  wurde,  zeigt  uns  schon  Plautus ,  der  die 
Verkehrtheit  einem  liederlichen  Jünglinge  Geld  in  die  Hand 
zu  geben,  mit  Dare  gladium,  qui  se  occideret,  bezeichnet. 
Trin.  129.  Vorsis  gladiis  depugnare  bedeutet  so  viel  als  ad- 
ver.sis,  iufestis,  mit  gegeneinander  gekehrten  Schwertern,  in 
offenem  Kampfe,  bildlich  gebraucht  bei  Plautus  Gas.  2,  5,  36. 
Nicht  auf  ein  Schlachtschwert  ist  das  von  Hieronymus  in 
einem  Briefe  an  Augustiii  (=  epist.  Aug.  72,  2)  erwähnte 
Sprichwort  zu  beziehen  :  ut  vulgi  de  quibusdam  proverbium 
est  Melle  litum  gladium ,  weil  dafür  el;ensogut  ein  Rasier- 
messer gesetzt  sein  könnte,  was  fuayaiga  auch  bedeuten  kann. 
Der  Sinn  ist,  dass  unter  dem  süssen  Köder,  dem  auf  das 
Messer  gestrichenen  Honig,  eine  drohende  Gefahr  verborgen 
sei.  Untauglich  aber  zum  Kampfe  sind  die  bleiernen 
Schwerter,  Cic.  ad  Att  1,  1<5,  2  cum  iüum  plumbeo  gladio 
iugulatum  iri  diceret;  wesshalb  man  von  schwachen  AngrifiPen 
oder  Beweisen  sagte  plumbei  pugiones.  Augustin  contra  Ju- 
lian. 1,  4,  12.  3,  7,  16.  Arch.  f.  Lexikogr.  IV.  33.  Jeman- 
den mit  seinen  eigenen  Waffen  schlagen,  heisst  aliquem  sno 
sibi  gladio  iugulare  bei  Terenz  Adelph.  958  ;  mit  Anspielung 
auf  dieses  Sprichwort  sagt  daher  Cic.  pro  Caec.  29,  82 :  aut 
tuo,  quemadmodum  dicitur,  gladio  aut  nostro  defensio  tua 
conficiatur  necesse  est.  Lactant.  instit.  3,  28,  20  Quid  pug- 
uas  adversus  eos  homines ,  qui  suo  sibi  gladio  pereunt.  Da 
die  Häufung  von  suus  sibi  (=  selbsteigen)  nur  der  Vulgär- 
sprache angehört,  so  müssen  auch  die  genannten  Wendungen 
volksthümlich  gewesen  sein.  Die  gute  Latinität  vermeidet 
diese  Häufung.   Publil.  Syr.  66  Bis  interimitur,  qui  suis  ar- 

14* 


208        Sitzung  der  pMlos.-philol.  Classe  vom  3.  März  1888. 

mis  perit;  Hieron.  adv.  Rulin.  3,  25  ut  suomet  potissimum 
mucrone  feriantur;  Hieron.  epist.  117,  4  Dnrus  dolor  est  et 
meo  mucrone  me  vulnerans.  —  Im  Kirchenlatein  ist  die 
Sprache  der  Weltkinder  ein  zweischneidiges  Schwert  Psalm. 
56,  5 ;  der  falsches  Zeugniss  ablegende  gladius  et  sagitta 
acuta  nach  Prov.  25,  18  u.  s.  w. ;  aber  auch  sermo  dei  gla- 
dius est  ex  utraque  parte  acutus  nach  Gaudentius  Patr.  Migii. 
20,  864;  Ambros.  enarr.  psalm.  36,  24  gladius  verbum  dei 
dicitur. 

Die  hasfa  ist  später  bekanntlich  durch  das  pilum  zu- 
rückgedrängt worden ;  aber  dass  im  Sprichworte  fast  nur 
die  hasta  vorkommt ,  beziehungsweise  der  allgemeine  Aus- 
druck telum  und  nicht  pilum,  ist  wohl  ein  Beweis  für  das 
hohe  Alter  dieser  Ausdrücke.  Plautus  gebraucht  neben  pilum 
inicere  in  aliquem  (Mostell.  570)  auch  tragulam  inicere  in 
■dU{m.  Pseud.  407 ,  Epid.  690 ,  einen  Schlag  gegen  jemand 
führen;  Apuleius  Met.  1,  10  iniecto  non  scrupulo,  sed  lan- 
cea;  aber  bei  Cicero  heisst  es  nur  hastas  abicere,  die  Flinte 
ins  Korn  werfen,  pro  Mur.  45.  Arch.  IV  539.  Von  den 
ersten  Angriffen  des  Redners  sagt  Cicero  de  orat.  2  primas 
iactare  hastas,  nicht  prima  pila,  was  für  seine  Zeit  der  mili- 
tärisch richtige  Ausdruck  gewesen  wäre;  jemanden  mit  Grün- 
den unterstützen  heisst  Cic.  Top.  17,  65  iudicia  patronis 
diligentibus  ad  eorum  prudentiam  confugientibus  hastas  mi- 
nistrant;  bei  Quint.  inst.  12,  3,  4  velut  ad  arculas  sedent  et 
tela  agentibus  (egentibus  ?)  subministrant.  An  dem  Wurfspiesse 
war  bekanntlich  ein  Riemen  (amentum)  befestigt,  vermittelst 
dessen  das  Geschoss  eine  rotierende  Bewegung  erhielt,  und 
diese  hastae  amentatae  sind  in  der  Rhetorik  ein  stehender 
Tropus.  Cic.  de  orat.  1,  242  erhält  der  Redner  solche  vom 
Juristen  :  u  (juo  cum  amentatas  hastas  acceperit ,  ipse  eas 
oratoris  lacertis  viribusque  tonjuebit;  Cic.  Brut.  271  werden 
gewisse  Beweise  des  Rhetors  Hermagoras  mit  den  hastae 
amentatae    der  Veliten    verglichen;     Quintil.  9,  4,  9  quare 


Wölfflit}:  Krieg  und  Frieden  im  Sprichworte  der  Römer.        200 

mihi  compositione  velnt  amentis  quibusdam  intendi  et  con- 
citari  sententiae  videntur.  Tertull.  adv.  Marc.  4,  32  amen- 
tavit  hanc  sententiam,  mit  der  Note  von  Fr.  Oehler.  Am- 
bros.  epist.  888,  3  intorquenda  est  amentata  illa  non  mani- 
pularis  sententia. 

Keine  Waffe  für  den  Legionär  waren  die  Schleuder, 
sowie  Pfeil  und  Bogen;  sie  blieben  den  socii,  oder  gar  den 
Söldnern  überlassen.  Man  hat  desshalb  mit  besonderer  Vor- 
sicht zu  erwägen ,  ob  nicht  solche  Sprichwörter  aus  dem 
Griechischen  stammen.  Ganz  sicher  ist  der  Satz,  dass  der  zu 
straff  gespannte  Bogen  springe,  durch  Aesop  und  die 
griechische  Litteratar  vermittelt.  Aesop  verglich  ja  die  Kinder- 
spiele mit  dem  abgespannten  Bogen,  und  seine  Weisheit 
spricht  zu  uns  bei  Phädrus,  fab.  3,   14,  10 

cito  rumpes  arcum,  semper  si  tentum  habucris; 
at  si  laxaris,  cum  voles,  erit  utilis. 

Ebenso  entspricht  der  Sentenz  bei  dem  sogen.  Seneca  de 
mor.  138  arcum  intentio  frangit,  aniraum  remissio,  genau 
die  Stelle  bei  Plutarch  an  seui  etc.  16:  to^op  ,«£»',  ag  g)aoiy, 
STtiTeivofisvov  qrjyvvxaL,  ipvx^  de  dvisfxavrj.  Was  wir  bei 
Horaz  in  der  Poetik  Vers  350  lesen:  non  semper  feriet, 
quodcunqne  minabitur  arcus,  erinnert  doch  daran ,  dass  der 
etwas  zielbewusst  Erstrebende  schon  in  der  griechischen  Phi- 
losophie (z.  B.  Plut.  adv.  Stoic.  26)  vielfach  mit  dem  Bogen- 
schützen verglichen  wird ;  daher  auch  bei  Cic.  fin.  3,  6,  22 
coUineare  hastam  aliqiio  aut  sagittam.  Doch  scheint  das  Bild 
populär  geworden  zu  sein,  wie  man  aus  Persius  sat.  3,  60 
schliessen  möchte :  est  aliquid,  quo  tendis  et  in  quo  Dirigis 
arcum.  Bekanntlich  aber  prallt  der  Pfeil  unter  Umständen 
auf  den  Schützen  zurück ,  wenn  er  ein  zu  hartes  Object 
findet.  So  sagt  Hiei'onymus,  der  überhaupt  besonders  reich 
ist  an  sprichwörtlichen  Wendungen,  epist.  52,  14 :  sagitta 
in  lapidera  nunquam  figitur,  interdum  revertens  percutit  diri- 
gentem ;    oder  in  Versform  Ausonius  epigr.  68,  8  auctorem 


210         Sitzung  der  pMos.-phüol.  Classe  vom  .9.  März  1888. 

ut  feriant  Tela  retorta  suum,  und  nochmals  epigr.  72,  8  fac- 
torem  ut  feriant  Tela  relata  suum.  Ausdrücklich  bezeugt 
diess  als  sprichwörtlich  Cassiodor  hist.  trip.  6,  17  propriis 
pennis  secundum  proverbium  vulneramur.  Die  Pfeile  Amors 
oder  der  Venus  sind  wohl  den  Dichtern  geläufig,  nicht  aber 
in  die  Prosa  aufgenommen ;  um  so  häufiger  sind  die  tela 
fortunaeM,  schon  bei  Cic.  epist.  5,  10,  2  (homines  nos  ut 
esse  meminerimus  ea  lege  natos ,  ut  omnibus  telis  fortunae 
proposita  sit  vita  nostra) ;  nur  wird  man  diess  nicht  mit 
Pfeile  des  Schicksals'  übersetzen  dürfen,  weil  die  Fortuna 
keinen  Bogen  führt,  und  weil  das  altrömische  Sprichwort 
überhaupt  den  Pfeil  und  Bogen  nicht  kennt;  vielmehr  denkt 
der  Römer  überhaupt  an  jede  Art  von  Geschossen,  verschie- 
den von  dem  Deutschen,  der,  wenn  er  von  den  Schlägen  des 
Schicksales  spricht,  sich  die  Fortuna  mit  einem  Schwerte 
ausgerüstet  vorstellt.  Ebensowenig  ist  gerade  von  Pfeilen  zu 
verstehen,  was  Sen.  dial.  6,  16,  5  als  sprichwörtlich  anführt: 
nulluni  aiunt  frustra  cadere  telum,  quod  in  confertum  agnien 
immissum  est;  denn  die  altrömische  Phrase  Extra  telorum 
iactum  esse  (z.  B.  Sen.  dial.  2,  1,  2;  wir  sagen:  weit  vom 
Geschütz)  bezieht  sich   zunächst  auf  Lanzen. 

Die  auf  die  Defensive  beschränkte  Armee  .steht  im 
Lager  hinter  Wall  und  Graben;  die  grösste  Schande  ist  es 
daher  im  eigenen  Lager  eine  Niederlage  zu  erleiden.  So  ist 
ali(iuem  in  suis  castris  caedere  sprichwörtlich  geworden,  und 
auch  auf  andere  Gebiete  übertragen.  Nach  dem  Khetor  Seneca 
besteht  ein  Hauptvorzug  des  Thukydides  in  seiner  Kürze, 
und  doch  hat  ihn  gerade  in  diesem  Punkte  sein  Nachahmer 
Sallu.st  übertrolfen,  controv.  9,  1,  13  in  suis  illum  castris 
cecidit.  Im  freien  Felde  steht  das  Fu.ssvolk  bekanntlich  in 
drei  Treffen;  im  dritten,  die  Triarier.  die  erst  im  äussersten 
Nothfalle  in  den  Kampf  eingriffen.   Inde  ^rem  ad  triarios  re- 

1)  .'Vuson.  15,  (),  21  8cli.  ^ymmacli.  npist,  9,  10,  1.  IJoet.  con- 
.sol.  3.   1. 


Wülfflhi:  Knefi  loid  Frieden  im  Sprivhu-orte  der  Römer.        211 

disse',  cum  laboratnr,  proverbio  increbuit,  sagt  Livius  8,  8, 
11.  Unklar  war  schon  den  Alten  der  Ausdruck  post  prin- 
cipia.  In  dem  Eunuchus  des  Terenz,  V.  781  sagt  der  Soldat 
Thraso,  dessen  Name  freilich  zu  erklären  ist  wie  lucus  a  non 
lucendo  :  Tu  hosce  instrue ;  ego  ero  post  principia,  inde  Om- 
nibus Signum  dabo.  An  die  principia  des  römischen  Lagers, 
den  Hauptplatz  und  das  Generalquartier ,  zu  denken,  ver- 
bietet wohl  der  Umstand ,  dass  das  Lager  nicht  zur  Schlacht 
passt ;  eher  wird  der  Raum  hinter  der  Front  gemeint  sein. 
wo  der  Generalstab  sich  aufhält.  Donat  giebt  daher  zwei 
Erklärungen :  post  principia]  magnifice  ad  risum  commoven- 
dum ;  nam  dicere  debuit  post  vos';"  und  nochmals:  militare 
dictum  est,  et  ambigunt  multi ,  an  in  extremo  agmine  sit 
hie  locus  an  in  medio.  Bemerkenswerth  aber  ist  die  Stelle, 
weil  hier  ohne  Zweifel  der  dem  griechischen  Texte  eng  sich 
anschliessende  Terenz  einen  acht  römischen  Zug  oder  Ausdruck 
in  seine  Vorlage  eingesetzt  hat.  Man  könnte  Bestimmteres 
behaupten,  wenn  die  Lesart  und  Erklärung  einer  andern 
Stelle  bei  Varro  de  re  rust.  8,  4  nicht  ebenfalls  zweifelhaft 
wäre^).  Varro  fragt  den  Theilnehmer  am  Dialoge,  von  wo 
er  die  Darstellung  beginnen  solle,  und  dieser  antwortet :  ut 
aiunt  post  principia  in  castris,  id  est  ab  bis  temporibus  (er- 
gänze: potius)  quam  rfuperioribus,  wo  Scaliger  änderte  :  a  post- 
principiis,  mir  aber  der  Verdacht  aufsteigt,  in  castris  sei  ein 
erklärender  Zusatz.  Livius  2,  65,  1.  Nonius  pg.  135.  Jeden- 
falls war  der  Ausdruck  post  principia  in  der  Militärsprache 
so  häutig ,  dass  er  zu  einem  Compositum  postprincipia  zu- 
sammenwuchs, welches  dann  meist  auf  die  Zeit  übertragen, 
den  weiteren  Verlauf  einer  Sache  bezeichnete. 

Bevor  die  Schlacht  beginnt,  gürtet  man  das  Schwert, 
und  daher  wird  in  procinctu  von  dem  schlagfertigen  Redner 


1)  Vgl.  Otto  Kössner,  De  praepositionum   ab  de  ex  usu  Varro- 
niauo.  Ualis.  1888.  pg.  14. 


212  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  3.  März  1888. 

oder  der  schlagfertigen  Beredtsamkeit  gesagt;  Quintil.  12,9, 
21  armatum  ac  veliit  in  procinctu  stantem  (oratorem);  10, 
1,  2.  Am  heftigsten  ist  der  erste  Anprall;  Ter.  Phorm.  346 
prima  coitio  est  acerrima.  Dass,  wer  sich  feige  zurückzieht, 
darum  dem  Tode  nicht  entrinnt,  hat  schon  Simonides  ge- 
sagt und  nach  ihm  Horaz  carm,  3,  2,  14  Mors  et  fugacem 
persequitur  virum ;  aber  die  Römer  gehen  nun  noch  viel 
weiter ,  und  noch  über  den  muharaedanischen  Fatalismus 
hinaus ,  indem  sie  behaupten ,  in  dem  Muthe  und  in  der 
Tapferkeit  liege  der  beste  Schutz.  Eine  bestimmte  sprich- 
wörtliche Form  kann  ich  dafür  zwar  nicht  nachweisen ;  aber 
der  Gedanke  kehrt  bei  Historikern  so  oft  wieder,  dass  er 
kaum  Sondereigenthum  jedes  Einzelnen  sein  kann.  Vgl.  Sal- 
lust  Jug.  87  fortissimum  quemque  tutissimum ;  Livius  22, 
5,  2  quo  timoris  minus  sit,  eo  miuus  ferme  periculi  esse ; 
Gurt.  4,  14,  25  effugit  mortem,  quisquis  contempserit;  timi- 
dissimum  quemque  consequitur.  Freilich  sind  nicht  alle 
Löwen ;  Manche  sind,  wie  Tertull.  de  cor.  1  und  Sidon.  epist. 
5,  7  sagt :  in  pace  leones,  in  proelio  cervi.  Diess  ist  eine 
Variation  eines  griechischen  Sprichwortes,  welches  bei  Petron 
Sat.  44  lautet :  domi  leones ,  foras  vulpes  und  schon  bei 
Aristophanes  im  Frieden'  uns  begegnet.  In  offener,  ordent- 
licher Feldschlacht  kämpfen  heisst  collatis  signis,  viris  equis- 
que  decertare  u.  ä..  Ausdrücke ,  welche  auch  auf  Streitig- 
keiten im  bürgerlichen  Leben  angewendet  werden.  Plaut. 
Gas.  248  Nunc  nos  collatis  signis  depugnabimus ;  Gic.  offic. 
3,  116  viris  equisque,  ut  dicitur,  decertandum  est.  Gic.  epist. 
9,  7,  1.  Ennod.  p.  59,  6  Vog.  aperta,  ut  aiunt,  pugna  con- 
fligere.  Rückzug  ist  keine  Schande,  sobald  man  nur  von 
Neuem  angreift;  so  schon  bei  den  Griechen  avrlq  6  (pevywr 
y.al  TtciXiv  ua/rjoevai,  ,  wie  sich  Demostheues  in  der 
Schlacht  bei  Chäronea  tröstete.  Tac.  Germ  6.  Schwache 
Ghristen,  welche  in  der  Verfolgung  nicht  Stand  hielten, 
pflegten    diesen   Vers    zu    ihrer    Entschuldigung    anzuführen, 


Wölfflin:   Krieg  und  Frieden  im  Sprichivorte  der  Homer.       213 

nach  TertuU.  de  fu<]fa  10.  Das  römische  Sprichwort  sagte 
für  dieses  fortgesetzte  Zurückweichen  und  wieder  Anpacken 
serra  pugnare^  mit  der  Säge  kämpfen.  Festus  p.  344  M. 
Serra  proeliari  dicitur,  cum  assidue  acceditur  recediturque 
neque  ullo  consistitur  tempore.  Der  wirkliche  Flüchtling 
aber  hat  das  Recht  verloren,  Andere  zu  kritisieren;  Augustin. 
Patrol.  42,  195  Mig.  Qui,  ut  dici  solet,  desertor  arguas  mili- 
teni  ?  Receptui  canere,  zum  Rückzuge  blasen,  ist  in  beiden 
Sprachen  gleich  üblich  von  dem  Aufgeben  eines  Planes :  Cic. 
Tusc.  3,  33.  Ovid.  Trist.  4,  9,  31.  Quintil.  12,  11,  4.  Plin. 
epist.  3,  1,  11. 

Es  ist  bezeichnend,  dass  die  drei  Schlachten  der  Römer, 
welche  sprichwörtlich  geworden  sind,  drei  Niederlagen 
sind,  und  dass  keiner  der  vielen  glänzenden  Siege  zur  Be- 
zeichnung von  Erfolgen  auf  anderem  Gebiete  gedient  hat : 
tiefer  hat  sich  also  dem  Bewusstsein  des  Volkes  das  Unglück 
eingeprägt.  Die  Schlacht  von  Cannä  war  sprichwörtlich  wegen 
des  beispiellosen  Blutbades,  so  dass  Cicero  die  sullanischen 
Proscriptionen  eine  Schlacht  von  Cannä  nennen  konnte,  p. 
Rose.  Amer.  89,  und  in  den  Verrinen  5,  28  hat  der  näm- 
liche Autor  ein  üppiges  Gelage,  dessen  Theilnehmer  schliess- 
lich wie  todt  am  Boden  lagen,  als  Cannensem  pugnam  ne- 
quitiae  bezeichnet.  Der  Sieg  des  Brennus  erinnerte  mehr  da- 
ran, dass  die  Besiegten  keine  Gerechtigkeit  mehr  zu  erwarten 
haben;     das  harte  Wort    des  Galliers    Vae  victis'  hat  schon 

c 

der  Pseudolus  des  Plautus  V.  1322  sprichwörtlich  angewendet, 
wo  er  den  alten  Simo  überlistet  hat,  und  Festus  p.  372  be- 
stätigt es :  Vae  victis  in  proverbium  venisse  existimatur,  cum 
Roma  capta  a  Senonibus  Gallis  aurum  ex  conventione  et 
pacto  adpenderetur,  ut  recederent,  quod  iniquis  ponderibus 
exigi  a  barbaris  querente  Aj).  Claudio,  Brennus  rex  ad  pon- 
dera  adiecit  gladium  et  dixit:  vae  victis.  Quem  postea  per- 
.secutus  Furius  Camillus,  cum  insidiis  circumventum  concideret 
et  quereretur   contra   foedus   fieri,    eadem    voce   remunerasse 


214  SitzniHi  der  philos.-philol.  Classe  rom  3.  März  1888. 

dicitur.  Es  ist  mit  dieser  Plantnsstelle  von  vorneherein  die 
Vermuthung  abgeschnitten,  als  hätten  die  ausschmückenden 
Annalisten  der  Gracchenzeit  und  der  nächstfolgenden  Gene- 
ration wie  Valerius  Antias  den  Vorgang  nach  eigener  Phan- 
tasie ausgemalt  und  dem  Brennns  die  stolze  Drohung  in  den 
Mund  gelegt.  Dass  Varro  eine  Satiira  Menippea  ^Vae  victis' 
geschrieben  haben  sollte,  ist  eine  falsche  Angabe  von  G. 
Büchmann  (Geflügelte  Worte)  und  wahrscheinlich  eine  Ver- 
wechslung mit  Andabata.  Dagegen  bemerkt  derselbe  richtig, 
dass  unsere  Redensart  ^sein  Schwert  in  die  Wagschale  werfen' 
auf  Brenuus  zurückgeht.  Und  endlich  die  Niederlage ,  die 
Fyrrus  den  Römern  beibrachte,  in  Wahrheit  ein  Sieg  des 
Unterliegenden  und  das  Ende  des  Siegers,  Dieser  noch  mo- 
derne Pyrrussieg  ist  die  pugna  Osculana  der  Fiömer ,  eigent- 
lich Asculana,  nach  der  Schlacht  bei  Asculum ,  auch  Aus- 
culana,  wie  eine  Münze  bei  Mionnet  I.  Suppl.  262  die  In- 
schrift trägt  ^  r^Ä^/ßiV.  Vgl.  Fleckeisens  Jahrb.  f.  Philo!. 
71,  334  ff.  Im  Vulgärlatein  wurde  au  durchweg  zu  o.  wo- 
raus sich  die  Form  pugna  Osculana  erklärt ,  welche  selbst- 
verständlich mit  den  Oskern  nichts  zu  thun  hat.  Festus 
p.  197  Osculana  pugna  in  proverbio,  quo  significabatur  vic- 
tos  vincere. 

Einen  leichten  Sieg  bezeichnet  allerdings  Cäsars  ^Veni, 
vidi,  vici';  allein  diess  ist  eben  nur  ein  geflügeltes  Wort, 
welches  bei  uns  proverbiellen  Charakter  angenommen  hat, 
nicht  ein  vom  Volksgeiste  geschaffenes  Sprichwort.  Die  sprich- 
wörtlichen Redensarten,  welche  sich  an  den  Sieg  knüpfen, 
wie  die  von  der  Palme,  beziehen  sich  auf  die  Sieger  in  gyni- 
nischen  u.  a.  Spielen  ;  herbam  do  =  victoriam  concedo  nach 
Mythogr.  Vatic.  3,  10,  6  auf  den  Streit  der  Minerva  mit 
Neptun. 

Es  ist  nur  wenig,  w^as  ich  habe  bieten  können,  allein 
ich  fürchte,  dass  auch  nicht  viel  mehr  überliefert  sei.  Immer- 
hin  muss  man   bedauern,  dass  seit  Erasmus  eigentlich  nichts 


Wölfflin  :  Kriefi  und  Frieden  iw  Sprichtrorte  der  Römer.       215 

Zusammen  hängendes  für  die  römischen  Sprichwörter  geleistet 
worden  ist,  und  dass  die  meisten  neueren  Schriftsteller,  wie 
Düringsfeld.  ohne  Kritik  zusammengestellt  haben,  was  sie  in 
beliebigen  Büchern  fanden,  ohne  die  Quellen  anzugeben ,  ohne 
die  Originalform  der  Ueberlieferung  festzustellen,  ohne  zwi- 
schen Ausspruch  eines  Einzelnen  und  allgemein  Angenom- 
menem streng  zu  unterscheiden.  Büchmann,  der  das  Beste 
geleistet,  hat  sein  Augenmerk  mehr  auf  geflügelte  Worte 
als  auf  Sprichwörter  gerichtet.  Möge  dieser  Versuch,  der  die 
Lücke  nicht  ausfüllt,  sondern  im  Gegentheile  auf  dieselbe 
hinweist,  dazu  beitragen,  dass  wir  nicht  mehr  zu  lange  auf 
eine  kritische  Geschichte  der  lateinischen  Sprichwörter  warten 
müssen. 


216 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  3.  März  1888. 

Herr  v.  Löher  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber  Dolmenhauten." 

Vergleicht  man  bei  Völkern  von  uralter  Vergangenheit 
die  verschiedenen  Arten  der  Todtenbestattung .  so  öffnet  sich 
ein,  wenn  auch  nur  dämmernder,  Einblick  in  die  religiösen 
Ideen,  von  denen  sie  in  ihrer  ältesten  Zeit  ausgingen,  und 
zuffleich  finden  wir  in  den  Grabresten  Merkzeichen,  um  das 
Lebensalter  solcher  Völker  zu  schätzen. 

Da  schauen  nun  aus  der  Vorzeit  Dunkel  von  einsamen 
Hügeln  und  Höhenbreiten  bleichgraue  seltsame  Denkmale 
herüber.  Ihr  deutscher  Name  —  Hünengräber  oder  Hünen- 
betten, auch  Teufelskanzeln  —  erweckt  die  Vorstellung  von 
Riesen,  die  darin  bestattet  wurden ;  denn  Hünen  bedeuteten 
im  späteren  Mittelalter  rohe  riesige  Recken.  Der  englische 
Name  ist  Dolmen  oder  Tafelsteine,  von  dem  keltischen  daul 
Tafel  und  men  Stein,  der  Walliser  Cromlech  d.  h.  gewölbte 
Steine.  Die  Dänen  nennen  sie  Jettestuer  d.  h.  Riesenstuben. 
Ein  keltischer  Name  für  die  einzeln  stehenden  ist  Menhir 
von   men  Stein  und  hir  hoch. 

Es  ist  über  solche  Dolmenbauten  —  denn  dies  ist  der 
am    meisten  verbreitete  Name  dafür  —  schon   sehr  viel  ge- 


V.  Löher:   lieber  Dolmenbauten.  217 

schrieben  und  geräthselt  worden,  insbesondere  von  welchem 
Volke  sie  herstammen.  Ueberschauen  wir  zuerst  die  äusser- 
liche  Einrichtimg  und  was  sich  noch  darin  vorfand,  sodann 
die  Fundstätten  dieser  Denkmale,  die ^  sich  in  drei  Welttheilen 
zeigen,  endlich  ihren  gleichmässigen  Charakter,  und  treten 
dann  in  die  Untersuchung  ein,  von  welchem  Volke  sie  her- 
rühren und  welchen  Zwecken  sie  dienten. 

1.  Zwei  Arten. 

Es  gibt  zweierlei  Dolmenbauten.  Die  einen  bilden  eine 
Art  von  Steinkammern ,  zusammengesetzt  aus  rohen  ,  meist 
tafelförmigen  Blikken,  die  Tragsteine  in's  Geviert  oder  im 
Umkreis  gestellt,  darüber  gelegt  eine  kolossale  Deckplatte, 
oder  auch  mehrere  Decksteine ,  ein  einziger  oft  ein  paar 
hundert  Zentner  schwer.  Zu  den  mächtigen  Deckplatten 
wählte  man  häufig  solche ,  die  nach  oben  hin  mehr  oder 
weniger  dachförmig,  —  zu  den  Tragsteinen  solche,  die  nach 
der  inneren  Seite  möglichst  flach  waren  oder  sich  zu  einiger 
Fläche  behauen  Hessen. 

Reichlich  die  Hälfte  dieser  Hünenbetten  steckt  noch  in 
solchen  Hügeln ,  wie  sie  die  Germanen  hoch  über  ihren 
Todten  aufschütteten.  Wo  die  Steinblöcke  halb  oder  ganz 
aus  der  Erde  hervorschauen ,  da  kann  im  Laufe  der  Zeit 
die  Deckerde  durch  langen  Stromregen  weggeschwemmt, 
oder,  wenn  sie  durch  heisse  Sonnenjahre  ausgetrocknet  war, 
durch  den  Wind  weggeweht  sein.  Ein  grosser  Theil  aber 
dieser  Dolmenbauten,  und  das  sind  gerade  die  gewaltigsten, 
ist  offenbar  von  vorn  herein  unter  freiem  Himmel  errichtet 
und  niemals  bestimmt  gewesen,  unter  der  Erde  verborgen 
zu  liegen ;  die  Grutt  selbst  aber  mochte  schon  bei  der  An- 
lage mit  Erde  ausgefüllt  sein. 

Der  Boden  in  den  Steinkammern  ist  öfter  mit  kleinen 
Steinen ,  besonders  Feuersteinen ,  gepflastert ,  und  sind  die 
Zwischenräume     zwischen    den    grossen     Blöcken     wohl    mit 


218  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

kleinen  Brocken  ausgefüllt.  Auch  trifft  man  in  den  Erd- 
hügeln selbst  allerlei  Befestigungen  von  Steinen,  und  aussen 
i.st  der  Bau  häufig  umgeben  mit  Reihen  kleinerer  Blöcke, 
die  im  Kreise  oder  Geviert  umher  gesetzt  sind ,  auch  wohl 
einen  länglichen  Zugang  bilden,  oder  am  Zugang  gleichsam 
wie  Schildwachen  stehen. 

Im  Innern  der  Kammer  treffen  wir  hin  und  wieder  auf 
einzelne  Gerippe,  liegend  oder  auch  in  sitzender  oder  hocken- 
der Stellung,  dagegen  höchst  selten  Urnen  mit  Asche  oder 
verbranntem  Gebein.  In  den  meisten  aber  lagern  lose  Menschen- 
knochen. Daneben  und  dazwischen  finden  sich  Waffen  und 
Geräthe  von  Stein  und  Bein,  selten  von  Metall,  etwas  irdenes 
Gesehirr,  das  meist  in  Scherben ,  besonders  Trinkschalen, 
endlich  Kügelchen  von  Tiion  und  Bernstein ,  die  einst  an 
Schnüren  aufgereihet  zum  Schmucke  dienten,  auch  Thier- 
zähne,  Meermuscheln  und  Scheiben  aus  Muscheln  zum  selben 
Zweck,  dabei  Knochen  von  Pferden  und  Hunden,  Ebern, 
Hirschen  und  Elchen.  Die  Waffen  bestehen  in  steinernen 
Aexten,  Hämmern,  Keilen,  Messern  und  Meissein  und  Spitzen 
von  Pfeilen  und  Lanzen,  die  Werkzeuge  dienten  zum  Schnei- 
den und  Stechen  und  bestehen  aus  Bein  oder  Hörn.  Auch 
Mörser  mit  Keulen  und  Schleifsteine  zeigten  sich.  Die  Ge- 
schicklichkeit und  Ausdauer,  mit  welcher  aus  hartem  Stein 
die  Geräthe  gemacht  worden,  muss  fast  eben  so  grosse  Be- 
wunderung erregen ,  als  die  Arbeit ,  welche  es  kostete ,  die 
ungeheueren  Tragsteine  und  zwar  oft  weit  her  zusammen- 
zubringen, zurecht  zu  richten  und  mit  den  noch  viel  gewalti- 
geren Decksteinen  zu  belasten. 

Die  Urnen  und  Töpfe  haben  die  Gestalt  von  Bechern 
und  kleinhenkligen  Kannen,  sie  sind  zwar  ohne  Drehscheibe 
und  Brennofen  hergestellt,  jedoch  nicht  in  plumpen  Formen, 
auch  verziert  mit  allerlei  Strichen,  Schuppen-,  Kreis-  und 
Schlangenlinien. 


I'.  Löher:    Ueber  DolmeuJmuten.  219 

Wo  sich  Waffen  und  Geräthe  von  Kupfer,  sodann  von 
Bronze  oder  Eisen  linden,  rühren  sie  höchst  wahrscheinlich 
nicht  von  den  Erbauern  der  Steinkamniern  her,  sondern  sind 
zu  dem  dürftigen  I)ihalt  aus  früherer  Zeit  erst  in  späterer 
hineingelegt.  Ausserhalb  Deutschlands  und  Skandinaviens 
hat  man  auch  hin  und  wieder  Goldsacben  herausgeholt,  so- 
wie römische,  fränkische  und  byzantinische  Münzen,  jedoch 
nur  vereinzelt :  ohne  Zweifel  waren  sie  von  Schätzen  zurück- 
geblieben, die  man  längst  nach  der  Aufrichtung  in  diesen 
mit  religiöser  Scheu  betrachteten  Kammern  geborgen;  denn 
das  Erdreich  im  Innern  derselben  fand  sich  auf-  und  durch- 
gewühlt. 

Hin  und  wieder  bilden  die  ragenden  Steinblöcke  bloss 
ein  offenes  Thor.  Auf  zwei  oder  drei  Tragsteinen  ist  eine 
mächtige  Deckplatte  aufgethürmt,  oder  auch  nur  schräg  auf- 
i'elecjt,  als  hätten  die  Eri)auer  bloss  ein  Denkmal  ihrer  An- 
Wesenheit  aufrichten  oder  sich  an  einem  Ausdruck  ihrer 
Kraft  vergnügen  wollen.  — 

Die  andere  Art  von  Dolmenbauten  besteht  einfach  aus 
rohen  Blöcken  oder  aufrecht  gerichteten  Steinen,  die  einzeln 
stehen,  oder  auch  im  Kreis-  oder  Eirund  gesetzt  sind  und 
alsdann  kleine  oder  grössere  Flächen  umfrieden.  Die  Kreise 
schlingen  sich  um  einander,  oder  ein  Viereck  enthält  regel- 
mässige innere  Kreise.  Der  Raum,  welcher  in  solcher  Weise 
umschlossen  ist,  erstreckt  sich  wohl  über  ein  Tagwerk  und 
mehr. 

Auch  giebt  es  Stellen,  die  mit  einer  Menge  einzeln 
stehender  länglicher  Felsstücke  besetzt  sind.  Bald  stehen 
diese  näher,  bald  weiter  auseinander,  und  zwischen  ihnen 
erhebt  sich  dann  wohl  etwas  wie  Thorhallen  und  Kammern. 
Am  reichlichsten  finden  diese  Menhirs  sich  in  Morbihan  in 
der  Normandie,  wo  man  ihrer  Tausende  zählen  kann,  darunter 
ein  Stück  von  über  fünfzig  Fuss  Höhe.  — 


220  Sitzung  der  histor.  Glasse  vom  3.  März  1888. 

Alle  diese  Bauten  und  Kreise  und  Sammelpunkte  von 
riesigen  Steinblöcken  sind  in  einem  und  demselben  rohen 
Stil  errichtet.  Wozu  sie  dienten  ?  Schon  der  Erzbischof  Olaus 
Magnus  von  Upsala  giebt  uns  1555  in  seinem  Werke  von 
den  nördlichen  Völkern  eilien  A.ufschluss ,  der  auch  heute 
noch  gelten  muss,  „Einige",  sagt  er,  „sind  Denkmale  von 
Schlachtfeldern,  andere  Familienbegräbnisse,  andere  Gräber 
von  sehr  bedeutenden  Männern."  Die  Grabmale  aber  bilden 
die  grosse  Mehrzahl,  gut  neun  Zehntel  von  all  diesen  Werken. 
Die  übrigen  wurden  zum  Andenken  an  grosse  Schlachten 
und  denkwürdige  Ereignisse  errichtet.  Einige  bezeichneten 
wohl  auch  die  Stätten,  wo  regelmässig  Volks-  und  Gerichts- 
versammlungen Statt  fanden ,  oder  eine  religiöse  Feier  be- 
gangen wurde. 

2.  Verbreitungsgebiet. 

Die  Todtenkammern  aus  Steinblöcken  über  und  in  der 
Erde  sind  nun  über  viele  Länder  zerstreuet ,  jedoch  keines- 
wegs nach  irgend  einer  Regel.  In  einigen  Gegenden  erscheinen 
sie  auch  mehr  oder  weniger  zerstört ,  in  andern  noch  nicht 
hinlänglich  untersucht  und  verzeichnet.  Jedoch  stellt  sicli 
ein  Ueljerblick  etwa  wie  folgt  zusammen. 

Ihr  Hauptland,  in  welchem  sie  sich  am  weitesten  im 
Innern  ausbreiten  und  von  welchem  sie  sich  am  meisten  nach 
allen  Richtungen  hin  verbreiten,  liegt  zu  beiden  Seiten  der 
unteren  Elbe,  dort  sieht  man  sie  in  grosser  Anzahl.  Je  weiter 
von  der  untern  Elbe  entfernt,  um  so  mehr-  nimmt  die  Menge 
ab.  Man  trifft  sie  nach  Westen  hin  l)is  an  die  Zuydersee, 
sodann  besonders  auf  seeländischen  Insehi ;  —  nach  Osten 
hin  bis  ül)er  den  Pregel  liimius  und  vereinzelt  noch  am 
ägäischen  Meerbusen  ;  —  nach  Norden  liin  sind  sie  reichlich 
ül)er  Holstein,  Schleswig,  .lütland,  die  dänischen  Inseln  und 
die  südliche  Spitze  von  Schweden  ausgestreuet,  und  zwar  be- 
sonders an  der  Ostküste  der  jütischen  Halbinsel  und  an  den 


r.  Löher:   Ueher  Dolmenhaxten.  --  i 

Westküsten  von  Fünen,  Seeland,  Schonen  und  Gothland  ;  — 
nach  Süden  gehen  sie  die  Ems,  Weser,  Elbe  und  Oder  hinauf 
bis  zu  den  Flussquellen,  mindern  sich  aber  jenseits  des  Rhei- 
nes und  des  Thüringer  Waldes  an  Zahl  sehr  bedeutend,  und 
finden  sich  noch,  aber  vereinzelt,  in  Luxemburg  und  Elsass 
und  im  Alpenlande.  Sie  mögen  indessen  in  den  Niederlanden, 
in  den  süddeutschen  und  Rheinlanden,  die  schon  von  der 
Römer  Zeiten  her  fleissig  angebaut  wurden,  vielfach  abge- 
tragen sein,  um  Erde  und  Bausteine  zu  gewinnen. 

Einen  zweiten  Sammelpunkt  bieten  die  beiden  nördlichen 
Halbinseln  von  Frankreich,  die  normannische  und  noch  mehr 
die  l)retoni6che,  nebst  den  zugehörigen  Inseln.  Sodann  zieht 
in  auffallender  Weise  sich  ein  breiter,  dicht  besetzter  Strich 
von  Dolmen  quer  durch  Frankreich  von  der  Nordspitze  der 
Bretagne  bis  zur  Mitte  des  Löwengolfs. 

Auch  das  rechte  Ufer  der  untern  Rhone  und  die  schmalen 
Vorlande  der  Pyrenäen  zeigen  Dolmen  auf.  Das  ganze  übrige 
Frankreich  ist  an  eigentlichen  Dolmenbauten  ziemlich  leer, 
es  sei  denn,  man  wolle  darunter  auch  all  die  einzeln  aufge- 
richteten Steinblöcke  verstehen,  welche  französische  Gelehrte 
als  Dolmen  aufzählen. 

Ein  drittes,  jedoch  viel  geringer,  als  die  beiden  vorigen, 
besetztes  Verbreitungsgebiet  ist  das  englische.  Hier  gehören 
dazu,  ausser  einigen  Punkten  an  der  Themse,  die  ganze 
Westhälfte  von  England,  besonders  Cornwall  und  Nordwales 
mit  den  Liseln  Man  und  Anglesea,  sodann  von  Irland  die 
ganze  Ostküste,  und  von  Schottland  die  Inselgruppe  der  Ork- 
neys und  die  Nordspitze,  die  langgestreckte  Halbinsel  von 
Argyll  und  Campbell  auf  der  westlichen  und  die  Uferlande 
bei  den  Einfahrten  des  Tay  und  Forth  auf  der  östlichen 
Seite. 

Eisenthümlichen  Zug  nimmt  die  Kette  der  Dolmen  in 
der  spanischen  Halbinsel.  Von  den  Pyrenäen  an  halten  sie 
sich  immer  längs  der  Nordküste  und  überschreiten  nur  ein- 

1888.  PhUos.-phUol.  u.  bist.  Ol.  2.  15 


222  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

mal,  von  Biscaya  nach  Alava ,  das  asturische  Gränzgebirge, 
streichen  dann,  immer  sich  in  den  Küstengegenden  haltend, 
die  ganze  Westseite  von  Spanien  und  Portugal  hinunter, 
und  lassen  nur  die  Mündungslande  des  Tajo  und  des  Guadal- 
quivir  unbesetzt,  während  sie  sich  im  herrlichen  Küsten- 
lande von  Granada  wieder  reichlicher  zeigen  und  von  hier 
auch  nach  Cordova  hinübersetzen.  Im  Ganzen  aber  steht  in 
Spanien  und  Portugal  die  Zahl  der  Dolmen  weit  zurück 
hinter  ihrer  Menge  in  den  vorgenannten  Ländern. 

Endlich  entdeckt  man  sie  auch  im  weitgedehnten  Mittel- 
meergebiet, hier  jedoch,  Granada  ausgenommen,  nur  ganz 
vereinzelt  und  zerstreut,  so  in  der  Südspitze  von  Corsika, 
gegenüber  bei  Orbitello  auf  dem  Festlande ,  in  den  beiden 
Halbinseln  von  Argolis  und  Lakonien,  die  nach  Osten  schauen, 
endlich  längs  der  afrikanischen  Nordküste,  soweit  ehemals 
Vandalen  gekommen ,  bis  an  die  Grenze  des  Herrschaftsge- 
biets der  Aegypter,  und  zwar  sind  die  afrikanischen  Dolmen- 
bauten stellenweise  sehr  zahlreich. 

Seltener  lassen  sie  in  den  Ostländern  des  Mittelmeers 
sich  blicken,  und  zeigen  sich  in  der  Krim ,  bei  den  Tscher- 
kessen  und  in  den  benachbarten  Küstenlanden,  selbst  in  Syrien 
und  Palästina  vereinzelt. 

Einige  meinen ,  am  rothen  Meer  Dolmen  gesehen  zu 
haben.  Jedenfalls  findet  man  einzelne  an  der  Westküste  von 
Vorderindien  bis  in's  Dekan  hinein ;  jedoch  haben  sie  in  In- 
dien etwas  Eigenthüinliches,  das  sie  von  den  europäischen 
unterscheiden  lässt. 

3.  G  leicli  massiger  Charakter. 
Es  ist  also,  wenn  man  auch  bloss  Europa  und  Nord- 
afrika überschauet,  ein  ungeheueres  Gebiet,  in  welchem  sich 
Dolmen  finden.  Trotzdem  imd  obwohl  sie  oft  weit  von  ein- 
ander entlegen  sind,  ])leil)tsich  jedoch  hier  der  Charakter  ganz 
gleich,  wo  immer  man    Dohnenbauten  antrifft.     Dieser  Cha- 


?'.  Löher:   Ueber  Dolmenbnuten.  223 

rakter  hat  so  entschiedene,  so  ausgesprochene  Züge,  ist  so 
gleichniässig  in  all  jenen  Ländern,  dass  man  gar  nicht  an- 
ders kann,  als  bekennen,  trotz  ihrer  Entlegenheit  von  ein- 
ander müssen  diese  Steinbauten  von  einem  und  demselben 
Volke  herrühren. 

Die  Auswahl  der  Steine,  die  Art  ihres  Behauens,  wo 
die  Erbauer  dies  noch  für  nöthig  hielten,  die  Weise,  wie  die 
Blöcke  neben  einander  gesetzt  oder  über  einander  gelegt 
wurden,  —  alles  das  ist  so  eigenthümlich  und  doch  überall 
so  gleichmässig,  dass,  wer  nur  einige  dieser  Dolmenbauten 
gesehen,  sie  anderswo  gleich  wieder  erkennt.  Verfasser  dieser 
Skizze  hatte  einmal  Gelegenheit,  kurz  nach  einander  die  so- 
genannten cyclopischen  Bauten  bei  St.  Ottilien  im  Elsass, 
bei  Fiesole  in  Italien  und  auf  der  einsamen  Insel  Samothrake 
zu  vergleichen ,  und  war  erstaunt  über  die  Aehnlichkeit 
dieser  Denkmale,  so  weit  sie  auch  von  einander  getrennt 
lagen. 

Allein  nicht  bloss  im  Charakter,  auch  in  ihren  Fund- 
orten, besonders  in  Lieblingsstätten ,  wo  die  mächtigsten 
düster  emporragen,  herrscht  eine  höchst  auffallende  Ueberein- 
stimmung.  Sie  liegen ,  Norddeutschland  und  einen  Strich  in 
Frankreich  ausgenommen,  selten  weit  vom  Meer  entfernt, 
gewöhnlich  halten  sie  sich  in  der  Nähe  der  Küste. 

Ihre  Lieblingsstätten  sind  kleine  Liseln  und  schmale 
Landzungen,  die  sich  in's  Meer  hinausstrecken.  Dort  erheben 
sich  die  bedeutendsten. 

Sodann  stellen  sie  sich  häufig  da  ein ,  wo  Flüsse  und 
Buchten  tiefe  und  bequeme  Einfahrten  in's  Land  gewähren. 
Der  Platz  an  der  Küste  aber  ist  beständig  so  gewählt, 
dass  er  zwei  Gesichtspunkten  entspricht.  Die  auf  der  See 
Schiffenden  sollten  das  Denkmal  schon  von  ferne  wahrneh- 
men, und  sie  sollten  auch  einen  möglichst  ruhigen  Anblick 
desselben  geniessen.  Desshalb  sind  die  Dolmen  fast  immer 
auf  erhöhten  Punkten  errichtet  und  stets  dort,    wo  man  sie 

15* 


224  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

von  allen  Seiten  vom  Meere  aus  erblicken  kann,  jedoch  fast 
niemals  an  Orten,  wo  die  Wogen  der  Nordsee  oder  des  atlan- 
tischen Ozeans  wild  anbranden.  Wo  dies  der  Fall,  findet  man 
solche  Bauten  gewöhnlich  an  der  entgegengesetzten  Küste, 
an  welcher  das  Gewässer  ruhiger  steht.  Offenbar  gefielen 
den  Erbauern  am  meisten  kleine  Inseln  und  Vorsprünge,  wo 
in  stiller  Bucht  sich  das  Gestade  spiegelte. 

Bei  solcher  Gleichmässigkeit  des  Charakters  und  der 
Fundstätten  der  Dolmen  bauten  sind  die  meisten  Forscher 
darüber  einig,  dass  sie  nur  von  einem  und  demselben  Volke 
herrühren.  Welches  Volk  aber  hat  diese  gewaltigen  Todten- 
kannnern  aufgethürmtV  Welches  Volk  hat  diese  riesenhaften 
Erinnerungssteine  im  Kreis  oder  Geviert  oder  auch  einzeln 
aufgerichtet  ?  Diese  Frage  hat  schon  manches  Kopfzerbrechen 
verschuldet.  Die  Zeit,  wo  man  die  Dolmen  höchst  fabelhaften 
Druiden  oder  einem  ebenso  fabelhaften  Riesen volke  zuschrieb, 
ist  vorüber,  die  alte  Dämmerung  aber  noch  wenig  gelichtet. 
Gerade  darin,  dass  nur  ein  und  dasselbe  Volk  diese  in  drei 
Welttheilen  zerstreueten  Bauten  errichtet  hat,  liegt  das  An- 
ziehende, ein  Fingerzeig  in  die  älteste  Vorzeit  hinein.  War 
jenes  Volk  ein  Wandervolk,  das  nach  und  nach  die  Länder 
zwischen  dem  indischen  und  atlantischen  Ozean  überzog 
und  wieder  verliess?  Wo  steckt  es  denn  jetzt?  Oder  war 
es  ein  sesshaftes  Volk,  das,  wenn  auch  noch  so  dünn,  über 
solch  ein  Ländergebiet  zerstreuet  war  ?  Warum  hat  es  denn 
nichts  Anderes  zurückgelassen,  als  diese  Dolmenbauten? 

4.  Verschiedene  Ansichten. 
Einer  der  verständigsten  Forscher,  v.  Bonstetten,  glaubt, 
dass  ein  Hirtenvolk  von  unbekannter  Sprache  und  Religion, 
das  höchlich  seine  Todten  verehrte,  vom  Kaukasus  und  der 
Krim  nach  den  europäischen  Gegenden  am  schwarzen  Meere 
kam  und  dort  sich  ausbreitete,  bis  es  von  andern  asiatischen 
Horden  verdrängt  sich  theilte,  und  ein  Theil  nach  Griechen- 


r.  Löher:   Ueher  Dnlmenhaiiten..  22.) 

land.  Palästina.  Italien  und  Korsika,  ein  anderer  Theil  nach 
Nürddeiitschland  abzog.  Auch  von  hier  nach  einiger  Zeit 
wieder  vertrieben  ging  das  Dolmenvolk  durch  die  Nieder- 
lande nach  der  Normandie  und  Bretagne,  später  von  da  nach 
den  brittischen  Inseln,  und  noch  später  wanderte  es  durch 
Frankreich  nach  der  pyrenäischen  Halbinsel,  von  wo  es  nicht 
mehr  weit  hatte  nach  Nordafrika. 

Der  Franzose  Bertrand  sah  im  Geiste  das  Dolmenvolk 
von  der  Ostsee  über's  Meer  ziehen  nach  England,  und  als 
es  sich  dort  nach  Irland  und  Schottland  hin  ausgebreitet 
hatte,  segelte  es  ab  nach  Frankreich  und  Spanien,  und  setzte 
über  nach  Afrika,  um  hier  zu  verschwinden.  Alfred 
Maury  meint,  es  sei  ein  sesshaftes  Urvolk  gewesen,  das 
überall  von  den  Kelten  unterjocht  wurde  und  in  ihnen  auf- 
ging; —  Faid herbe:  es  sei  von  der  Ostseeküste  ausge- 
gangen und  habe  sich  Afrika  zum  Ziel  genommen;  —  De- 
sor :  umgekehrt,  es  sei  von  Süden  nach  Norden  gezogen. 

Mortillet,  Quatrefages,  Broca,  ebenso  der  Eng- 
länder Westropp  und  der  Deutsche  Bastian  nehmen  an, 
die  Dolmen  seien  von  verschiedenen  sesshaften  Völkern  ge- 
baut; jedoch  glauben  die  drei  Franzosen,  diese  hätten  einander 
nachgeahmt,  während  die  beiden  Letzteren  es  für  richtiger 
halten,  jene  Völker  seien  durch  einen  gewissen  natürlichen 
Instinkt,  der  bei  Erreichung  gleichen  Bildungsgrades  gleich- 
massig  gewirkt  habe,  darauf  verfallen. 

Das  dickste  Werk  über  diese  Frage  schrieb  der  Schotte 
Ferguson:  es  wimmelt  von  allerlei  seltsamen  Vermuth- 
ungen.  Er  erklärt:  den  Dolmenstil  habe  irgend  ein  unbe- 
kanntes, wahrscheinlich  turanisches  Volk  erfunden,  und  dann 
hätten  ihn  Kelten  und  Iberier,  Britten  und  Skandinaven  an- 
genommen, ähnlich  wie  der  gothische  Stil  von  einem  Lande 
zum  andern  gekommen.  In  Spanien  seien  die  Dolmenerbauer 
Iberier  gewesen,  die  um  der  römischen  Sklaverei  zu  entgehen. 


226  Sitzung  der  hisfor.  Ctasse  vom  3.  März  1888. 

aus  der  Mitte  des  Landes  nach  seinen  Rändern,  und,  um  sich 
vor  den  Verfolgungen  der  christlichen  Glaubensboten  zu 
retten,  nach  Irland  flüchteten  und  von  dort  sich  weiter  aus- 
breiteten. Von  Frankreich  aber  sei  man  noch  im  Mittelalter 
unaufhörlich  nach  Afrika  geflüchtet  und  habe  dort  die  Dol- 
men erbauet. 

Unser  Weinhold,  der  wohl  jede  Quellenstelle  über 
Leben  und  Empfinden  im  hohen  Norden  und  frühestem  Mittel- 
alter kennt  und  vergleicht,  antwortet  auf  die  Frage:  „Wel- 
chem Volke  mögen  wohl  diese  Denkmale  angehören?"  Fol- 
gendes: „In  den  Ländern,  welche  sie  enthalten,  wohnten 
und  wohnen  Iberer,  Kelten,  Romanen,  Germanen  und  Slaveu, 
Stämme,  die  mit  Ausnahme  der  Iberer  der  kaukasischen  Rasse 
angehören,  zu  der  jenes  „Hünenvolk"  nach  seiner  Schädel- 
bildung nicht  zählte,  und  die  überdies,  wie  die  Sjirachver- 
gleichung  lehrte,  schon  vor  ihrer  Einwanderung  nach  Europa 
Erz  und  Eisen  kannten ,  Avährend  die  Hünengräber  keine 
Metallsachen  enthalten.  Das  „ Hünenvolk "  war  ein  euro- 
päisches Urvolk.  Abgesehen  von  den  südöstlichen  Urstämmen 
unseres  Erdtheils  bieten  sich  zwei  grosse  Völker  zur  Wahl 
dar :  Die  Iberer  und  die  Finnen.  Ich  habe  früher  selbst  die 
Finnen  für  die  Errichter  der  Steinbauten  gehalten,  nehme 
aber  diese  Meinung  hiermit  völlig  zurück.  Denn  eine  Aus- 
dehnung der  Finnen  über  den  ganzen  Westtheil  Europas 
müsste  geschichtliche  Zeugnisse  hinterlassen  haben  und  streitet 
überdies  gegen  die  bekannte  Ausbreitung  der  Iberer  daselbst. 
Ebenso  wäre  nicht  abzusehen,  wesshalb  ganz  Norwegen  und 
Schweden  bis  auf  ihre  südlichsten  Gegenden  ohne  diese  Stein- 
denkmale sind.  Das  Volk ,  das  sie  errichtete ,  hatte  seine 
Hauptmasse  im  Westen,  während  die  Finnen  sie  im  Osten 
hatten ;  es  streckte  sich  von  der  pyrenäischen  Halbinsel  in 
einem  Dreieck,  dessen  Schenkel  die  Küsten  des  atlantischen 
Meeres  und  der  Nord-  und  Ostsee,  dessen  Basis  eine  Linie 
von    der  Rhone    bis    zum  Pregel    bilden ,    gen  Nordost   und 


r,  höher:   Ueber  Dolmenbauten.  227 

hatte  auch  die  brittischen  und  dänischen  Inseln  sammt  Schwe- 
dens Südspitze  besetzt.  Bekanntlich  sind  die  Iberer,  deren 
letzte  Reste  in  den  Basken  leben,  die  ältesten  geschichtlich 
sicheren  Bewohner  des  Pyrenäenlandes.  Da  sie  östlich  bis 
zu  der  Rhone  reichten,  wo  sie  mit  den  Ligurern  gräuzten, 
und  da  in  der  Gegend  von  Marseille  die  Steindenkmalo  gegen 
Südost  enden,  so  liegt  der  Schluss  nahe,  dass  sie  jenes  Volk 
sind,  das  seine  Todten  in  den  Hünengräbern  und  Riesenstuben 
begrub.  Aus  der  geographischen  Verbreitung  dieser  Bauten 
erhalten  wir  demnach  das  geschichtlich  wichtige  Ergebniss, 
dass  der  iberische  Stamm  vor  dem  Eindringen  der  Kelten 
ausser  Spanien  und  Südfrankreich  bis  zur  Rhone,  auch  Nord- 
frankreich, Britannien,  Norddeutschland,  Dänemark  und 
Schonen  bewohnte." 

5.   Von   angeblichen   iberischen  Erbauern. 

Weinhold's  Ansicht  hat  sich  nun  bei  uns  ein-  und  fest- 
gebürcfert.  Die  uralten  Grab-  und  Kammerbauten  aus  Stein- 
blocken  rühren  von  dem  unbekannten  Volke  der  Iberer  her, 
—  so  heisst  es  einmal ,  und  dass  es  allgemein  so  heisst, 
scheint  ein  Hauptgrund  zu  sein,  wesshalb  man  sich  leicht 
damit  zufrieden  giebt.  Im  Uebrigen  hat  diese  Meinung  auch 
nicht  einen  Faden  von  geschichtlichem  Anhalt  für  sich,  nicht 
eine  einzige  schwache  trübe  Ueberlieferung,  nicht  eine  ein- 
zige sichere  Spur  entnommen  aus  Schädel-  und  Knochen- 
bildung der  Basken ,  auch  nicht  die  leiseste  Hindeutung  aus 
der  Gegenwart  dieser  iberischen  Reste  auf  ihre  Vergangen- 
heit. Denn  dieser  kleine  baskische  Volksrest  hat  durchaus 
nichts  in  seiner  Natur  oder  Geschichte,  was  auf  uralte  grosse 
Bedeutung  hinweiset,  zeichnet  sich  auch  weder  durch  Genie 
noch  durch  ungewöhnliche  Thatkraft  besonders  aus. 

Seltsam,  ein  und  dasselbe  Volk  soll  sich  über  fast  ganz 
Europa  bis  zum  schwarzen  Meer  und  über  fast  ganz  Nord- 
afrika verbreitet,    soll   auf  so  weit    entlegenen  Punkten    die 


228  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

gewaltigsten  Arbeiten  verrichtet  haben,  und  dann  —  soll  es 
bis  auf  einen  winzigen   Rest   spurlos  verschwunden  sein? 

Hier  und  da  wird  dann  auch  angenommen ,  es  hätte  in 
Handwerk  und  mechanischen  Künsten  sich  viel  grösserer 
Fortschritte  erfreuet,  als  die  späteren  Völker,  die  aller  Orten 
an  seine  Stelle  traten.  Und  es  soll  ihnen  nichts,  gar  nichts  von 
seinen  Künsten  hinterlassen  haben  ? 

Noch  wunderlicher,  es  soll  nicht  das  schöne  und  frucht- 
bare Innere  der  Länder  begehrt  haben,  sondern  fast  beständig 
eigenthüralichen  Drang  zum  Meere  hin  gefühlt,  es  soll  dess- 
halb  immer  wieder  an  den  Meeresküsten  gesiedelt  und  ge- 
wohnt haben:  so  an  der  Ost-  und  Nordsee,  am  Kanal,  am 
atlantischen  Ozean,  am  Mittelmeer  und  am  schwarzen  Meer. 

Wenn  es  aber  ein  iberisches  Volk  war,  das  Spanien  be- 
wohnte, so  ist  bei  aller  noch  so  mächtigen  Anziehungskraft, 
welche  das  Meer  auf  dasselbe  übte ,  dennoch  unbegreiflich, 
warum  es  seine  Dolmen  immer  nur  in  den  Küsteulanden 
rings  um  die  pyrenäische  Halbinsel,  und  niemals  in  deren 
breitem  Innern  aufrichtete,  und  warum  es,  wenn  auch  Frank- 
reich von  ihm  bewohnt  war,  bloss  die  Strecke  von  der  Bre- 
tagne bis  zur  Rhonemündung  mit  seinen  (irabsteinen  besetzte? 

Gerade  jenes  unbekannte  Erbauervolk,  das  doch  unge- 
wöhnlicher Kräfte  mächtig  war,  soll  dennoch  immer  und 
immer  wieder  verdrängt  worden  sein  und  gezwungen,  seine 
Wohnsitze  aufzugeben  und  wieder  weiter  zu  wandern :  so 
vom  schwarzen  Meer  zur  Ost-  und  Nordsee ,  von  da  nach 
Nordf rankreich,  von  da  rings  um  die  pyrenäische  Halbinsel 
herum,  von  da  nach  Marocco,  Algier,  Tunis,  Tripolis,  und 
dort  soll   es  sich  dann  in  den   Wüsten   verloren  haben  ? 

Alles  das  ist  doch  schwer  zu  glaul)en,  und  widerspricht 
aller  geschichtlichen,  insbesondere  kulturgeschichtlichen  Er- 
fahrung. 

Da  hält    man   sich    doch  besser   an    historisch  bekannte 


r.  Löher:   lieber  Dohnenhnute».  229 

Völker  und  untersucht  /unächst,    ob  denn  nicht  jene  Stein- 
bauteu  von  diesen  herrühren  können  V 

6.  Arische  Herkunft. 

Der  erste  Gedanke  geht  auf  arische  Völker.  In  der 
That  tritft  man  auf  Steinbauten ,  wie  sie  uns  hier  beschäf- 
tigen, in  allen  Gebieten,  wo  Arier  wohnten,  also  nicht  bloss 
beinahe  in  ganz  Europa,  sondern  auch  in  Persien  und  Indien. 
Wohin  dagegen  keine  Arier  kommen,  da  giebt  es  keine 
Dolmenbauten.  Sie  fehlen  also  in  Aegypten,  in  den  Ländern 
der  Semiten,  nur  einige  Plätze  in  Syrien  und  Palästina  aus- 
genommen, sie  fehlen  auch  in  all  den  weiten  Gebieten  der 
Turanier,  Mongolen  und  Malayen. 

Allein  es  werden  zwei  Thatsachen  angeführt,  welche 
gegen  die  arische  Herrkunft  sprechen  sollen :  diese  That- 
sachen sind  der  Mangel  an  Erz  und  Eisen  in  den  Grab- 
kammern, und  die  Verschiedenheit,  welche  zwischen  den  da- 
rin gefundenen  Schädeln  und  denen  der  Arier  bestehen  soll. 

Es  ist  richtig,  in  den  ältesten  Steinkamraern  in  Deutsch- 
land ,  Dänemark  und  Skandinavien  fehlt  das  Eisen.  Dieses 
aber  ist  ein  Metall,  das  Jahrtausendlang  von  feuchter  Erde 
umgeben  sich  auflöst  bis  auf  die  letzte  Spur,  während  Waffen 
und  andere  Geräthe  aus  Stein  und  Knochen  und  Hörn,  wie 
sie  ja  neben  den  metallenen  noch  lange  Zeit  fortgeführt 
wurden,  sich  erhielten.  Das  Fehlen  aber  von  Bronze  beweist 
nur,  dass  die  ältesten  Gräber  zu  einer  Zeit  gebauet  wurden, 
in  welcher  der  Erzhandel  bis  zu  ihren  Fundorten  noch  nicht 
vorgedrungen  war.  In  Dolmen  aber  im  Innern  von  Frank- 
reich, .sowie  in  England ,  Spanien  und  Nordafrika  hat  sich, 
und  zwar  nicht  gerade  selten ,  metallenes  Geräthe  vorge- 
funden. 

Dürfen  wir  nun  schliessen,  dass  die  metallosen  Grab- 
kammern, die  zugleich  auch  die  einfachste  Bauart  zeigen, 
die  ältesten  sind,  s©  haben  wir  diese  entschieden  im  deutschen 


230  Sitzunfi  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

Verbreitungsgebiet  zu  suchen.  Dazu  stimmt  auch,  dass  in 
einigen  deutschen  Hünenbetten  sich  Keile  von  Kupfer  fan- 
den, welche  in  der  Form  denen  von  Stein  nachgeahmt  waren 
und  zwar  in  einem  Metall,  das  sich  am  leichtesten  schmelzen 
und  formen  Hess.  Im  holländischen  Seeland  begegnet  uns  be- 
reits ein  mit  Bildwerk  verzierter  Bau,  weiter  westlich  neh- 
men die  Verzierungen  und  Inschriften  zu ,  während  Deck- 
und  Tragsteine  in  Deutschland  ihrer  entbehren.  Viel  präch- 
tiger, als  hier ,  und  kunstvoller  wird  der  Bau  der  Dolmen 
in  der  Bretagne  und  auf  den  englischen  und  schottischen 
Inseln,  reicher  auch  der  Inhalt:  diese  sind  also  später  ent- 
standen. Die  jüngsten  Steinbauten  solcher  Art  sind  jedenfalls 
die  afrikanischen,  deren  Stätten  weit  auseinander  liegen ,  die 
auf  diesen  aber  gehäuft  sind,  in  ihrer  ganzen  äusseren  Ein- 
richtung auch  mehr  künstlich  Erdachtes  verrathen  und  im 
Innern  öfter  Gold-  und  Bronzesachen  und  Münzen  ergaben. 
Was  aber  die  Schädel  betrifft,  so  haben  sie  sich  von 
sehr  verschiedener  Bildung  gefunden,  mächtige  arische  neben 
schmalen  oder  kurzen  von  scheinbar  nicht  arischer  Art. 
Quatrefages  fand  in  französischen  und  brittischen  Dolmen 
kleine  Brachykephalen  und  grosse  Dolichokephalen,  Faidherbe 
in  afrikanischen  Schädel  und  Knochenbau  wie  bei  den  stärk- 
sten Grenadieren. 

üeberhaupt  aber  hat  noch  keine  Messung  und  Vergleich- 
ung  all  der  in  Betracht  kommenden  Schädel  so  allgemein 
durch  wissenschaftliche  Fachmänner  Statt  gefunden,  dass  man 
daraufhin  sichere  Schlüsse  in  die  Vergangenheit  hinein  bauen 
möchte. 

Eines  aber  ist  gewiss:  das  Volk,  das  die  Dolmen  und 
verwandten  Bauten  errichtete,  musste  ein  seefahrendes  und 
mit  der  See  vertrautes  Volk  sein.  Denn  sonst  hätte  es  nicht 
so  beständig  rings  umher  die  Kiistenlande,  nicht  so  kundig 
die  guten  An-  und  Einfahrten,  nicht  mit  solcher  Vorliebe 
gerade  die  Inseln  und  Landspitzen  aufgesucht.   Nur  zur  See 


V.  Loher:    Ueher  Dolmenhauten.  231 

Hessen  sich  die  weit  entlegenen  Kilstenplätze ,  welche  mit 
Dolmen  geschmückt  sind,  leicht  erreichen.  Auf  den  Dolmen 
bei  Herrestrup  auf  Seeland  findet  man  Bilder  von  Schiffen 
mit  zehn  und  dreissig  Mann  eingehauen. 

Welche  Völker  waren  nun  im  frühesten  Alterthum 
rüstige  Seefahrer  ?  Phönizier,  Griechen  ,  Germanen ,  nicht 
Iberer  und  Kelten,  nicht  Slaven  und  Finnen.  Phönizier  aber 
können  die  Erbauer  der  Dolmen  nicht  gewesen  sein,  sonst 
fänden  sich  der  letzteren  mehr  in  ihrem  eigenen  Lande  und 
dessen  Nachbarschaft.  Aach  würden  sie  ebenso  wenig  wie 
homerische  Helden,  wenn  jemals  ihre  Flotten  vom  Mittel- 
meere aus  sich  so  weit  vorgewagt  hätten ,  am  atlantischen 
Ozean,  an  der  Nord-  und  Ostsee,  am  wenigsten  bis  tief  in 
Deutschland  hinein  Herrschaft  und  Ansiedlungen  gehabt 
haben,  ohne  dass  geschichtliche  Spuren  und  Nachrichten  da- 
ran erinnerten. 

Man  kann  also  nur  au  Germanen  denken.  Was  auf  ent- 
fernten nördlichen  Meeren  und  Küsten  vor  sich  ging,  konnte 
lange  Zeit  hindurch  den  Völkern  am  mittelländischen  Meer 
völlig  verborgen  bleiben  ,  Avährend  wir  sofort,  als  die  Ger- 
manen aus  dem  historischen  Dunkel  etwas  an's  Licht  traten, 
hören  von  weiten  Raubfahrten  der  Chauken  und  Sachsen 
zur  See  nach  Gallien  und  Brittannien ,  und  von  gothischen 
Heimsuchungen  am  schwarzen  Meer,  am  Bosporus  und  an 
den  Gestaden  des  östlichen  Mittelmeers.  Aus  früherer  Zeit 
ist  nur  die  einzige  Nachricht  überliefert,  welche  sich  von 
den  Tamehu-Nordvölkern,  die  weisse  Haut,  meist  blaue  Augen 
und  blondes  Haar  hatten,  auf  der  Inschrift  von  Karnak  findet. 
Ihr  Angriff  auf  das  Nilland  fällt  etwa  fünfzehnhundert  Jahre 
vor  Christus. 

7.  Germanische  Gräber. 
Für  die   Vermuthung  aber,  dass  Germanen  die  Erbauer 
der  Dolmen  gewesen,  sprechen  nicht  wenige  Thatsacheu. 


232  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

Keine  gräulichere  Vorstellung  gab  es  bei  Germanen,  als 
dass  Gatte  oder  Kind,  Verwandter  oder  Nachbar  todt  da 
liege  und  unbestattet  im  wilden  Wald  oder  auf  offenem  Feld. 
Wer  in  Island  von  einem  todten  Gefährten  fortging,  ohne 
ihm  die  Augen  zuzudrücken  und  eine  Hülle  überzuwerfen, 
rausste  das  Land  meiden.  Das  Aergste,  was  der  Hass  über 
den  Tod  hinaus  einem  Feinde  anthun  konnte,  war,  ihn  selbst 
des  Grabes  zu  berauben.  Als  im  Eddalied  von  der  Gudrun 
der  Brüder  Neid  und  Hass  den  herrlichen  Sigurd ,  ihren 
Gatten,  erschlugen,  sagt  ihr  Högin  voll  grimmigen  Hohnes: 

Er  liegt  verhauen 
Jenseits  des  Stromes 
Der  Mörder  Guthorms. 
Den  Wölfen  zum  Frass. 
Sieh  dort  den  Sigurd 
Auf  südlichen  Wegen, 
Da  hörest  Du, 
Wie  die  Raben  krächzen 
Die  Adler  schreien, 
Der  Atzung  froh. 
Die  Wölfe  heulen 
Um  Deinen  Gemahl. 
,Wie  magst  Du  mir,  Högin, 
Der  Freudenlosen, 
So  bitteres  Leid 
Erzählen  und  sagen! 
Es  sollen  die  Raben 
Dein  Herz  zerfleischen. 
Weit  über  die  Lande, 
Wo  Niemand  Du  kennst!" 

Um  die  landesfeindlichen  Anhänger  des  Königs  Olaf 
öffentlich  noch  im  Tode  zu  treffen,  zur  Abschreckung  für 
.Tedermann,  beschloss  in  Norwegen  das  siegreiche  Volk :  „Ks 
sollten  alle  Die,  welche  mit  König  Olaf  gefallen,  keine  Leichen- 
hülfe  haben,  wie  sie  guten  Männern  ziemte.  Diejenigen  aber, 
welche   mächtig  waren    und  Freunde    hatten    unter  den  Ge- 


r.  LiHier:   Ueher  Dnhnoihauten.  283 

fallenen  auf  der  Walstätte,  achteten  dessen  nicht.  Sie  brachten 
ihre  Freunde  zur  Kirche  und  gewährten  ihnen  Leichenhülfe"; 
denn  sie  wollten  nicht  die  Schmach  auf  sich  nehmen,  dass 
sie  ihre  Blutsfreunde  liegen  Hessen  unbestattet. 

„Ihre  Gefallenen  tragen  sie  zurück,  auch  wenn  das 
Treifen  noch  schwankt"  —  berichtete  Tacitus.  Als  der  kühne 
Held  Ammatas  gefallen  war,  da  liess  der  Vandalenkönig 
Gelimer  vom  Feinde  ab,  um  Jenem  erst  die  Leichenfeier  zu 
halten,  obwohl  die  Zögerung  ihm  und  seinem  Heere  ver- 
hänsnissvoll  wurde  und  verderblich. 

Des  Todten  sollen  sich  nicht  bloss,  die  in  seiner  Sippe 
stehen,  erbarmen,  sondern  jeder  gute  Mensch  soll  ihm  Leichen- 
hülfe  leisten. 

So  heisst  es  im  Sigurdarliede  der  Edda : 

Begrabe  den  Todten, 

Wenn  auf  dem  Feld  Du  ihn  findest, 

Sei  er  an  Krankheit  gestorben, 

Oder  im  Meere  ertrunken, 

Oder  mit  Waifen  erschlagen. 

Einen  Hügel  errichte 

Dem  Heimgegangenen, 

Wasch  Hände  und  Haupt  ihm, 

Kämme  und  trock'ne  ihn. 

Ehe  er  in  den  Sarg  kommt, 

Und  bete,  dass  selig  er  schlafe. 

Aber  nicht  nur  Bestattung  war  Pflicht,  sondern  auch 
äusserste  Sorgfalt,  dass  der  Todte  nicht  verletzt  oder  beun- 
ruhigt werde.  Wenn  Einer  die  Raubvögel ,  die  auf  einem 
Leichnam  sassen,  wegschiessen  wollte  und  traf  den  Körper, 
musste  er  nach  bayerischem  Gesetz  zwölf  Solidi  zahlen.  Das 
alemannische  strafte  das  Ausgraben  jeder  Leiche  und  wäre 
es  auch  nur  die  eines  Knechtes  oder  einer  Magd.  Nach 
fränkischem  Volksrecht  war  schon  straffällig,  wer  den  Todten 
beunruhigte,  indem  er  in  dessen  Grab  eine  andere  Leiche 
legen  wollte,  oder  etwas,  was  auf  dem  Grabe  errichtet  war, 


234  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

umwarf.  Damit  ihr  grosser  Alarich  niemals  im  Grabe  beun- 
ruhigt werde,  gruben  die  Westgothen  den  Busento  ab,  Hessen 
durch  Gefangene  im  Flussbette  dem  König  das  Grab  machen, 
leiteten  den  Fluss  wieder  darüber  und  tödteten  jene  Gefan- 
genen sämmtlich,  auf  dass  Niemand  die  Stätte  wisse,  wo  der 
König  ruhe. 

Wesshalb  nun  die  innere  starke  Mahnung  an  Leichen- 
hülfe  ?  Wesshalb  die  Gesetze  gegen  Leichenschändung  ?  Wess- 
halb überhaupt  so  viel  Sorge,  um  durch  Steinkammern,  Grab 
und  Hügelaufschüttung  und  Dornenhecken  jede  Beunruhigung 
der  Todten  zu  verhüten  ?  Die  starre  Leiche  war  ja  empfind- 
ungslos. Offenbar  war  ein  Glaube  da ,  etwas  vom  Todten 
lebe  noch ,  und  dies  Fortlebende  werde  durch  Schändung 
seiner  Leiche  schwer  getroffen.  Noch  stärker  gab  sich  dieser 
Glaube  kund  in  der  Ausstattung,  mit  welcher  der  Todte  in's 
Grab  gesenkt  wurde. 

Ausser  den  Hünenbetten  giebt  es  auf  deutschem  Boden 
noch  eine  zahllose  Menge  von  Gräbern  der  Vorzeit.  Soweit 
und  soviel  ihrer  aufgedeckt  sind,  können  wir  nicht  zweifeln, 
dass  Germanen  darin  bestattet  wurden. 

Es  finden  sich  zwei  Formen  :  hohe  runde  Einzelhügel, 
und  Friedhöfe,  auf  welchen  die  Todten  in  Reihen  neben 
einander  liegen ,  wie  noch  heutzutage ,  —  jene  für  Fürsten, 
Grafen ,  Gefolgsführer  und  reiche  Leute ,  diese  für  das 
Volk  überhaupt,  —  wo  von  jenen  Drei  oder  Fünf,  diese  zu 
Tausend. 

Beide  haben  ihre  Stätte  gewöhnlich  nicht  weit  von  Heer- 
strassen. Selten  trifft  man  sie  in  tiefen  Gründen,  um  so  häu- 
tiger auf  Hochflächen,  oder  am  Abhang  von  Anhöhen ,  die 
eine  weite  Rundsicht  darboten. 

Die  frühesten  diaser  Gräber  sind  leicht  daran  zu  er- 
kennen ,  dass  die  Gebeine  verwittert  sind  und  neben  ihnen 
bloss  steinerne  Aexte  und  anderes  Geräth  von  Stein  oder 
Bein  oder  Hörn  sich  erhalten  haben. 


r.  Löher:   Ueber  Dnlmeuhauter}.  -35 

Die  Form  aber  bleibt  sich  bei  Hügel-  wie  bei  den 
Reihengräbern  gleich  von  den  ältesten  bis  zu  den  jüngsten 
zu  Anfang  der  Franken-  und  Alemannenzeit,  und  noch  be- 
merkenswerther  ist  die  Uebereinstimmung ,  die  sich  soweit 
findet,  als  deutscher  Boden  reicht. 

Im  Uebrigen  herrschte,  sowohl  was  den  Bau  als  die  Be- 
nützung der  Gräber  betraf,  eine  Freiheit,  die  den  Einzelnen 
wie  den  Gemeinden  zustand. 

Die  Hügel  zeigen  ganz  verschiedene  Grössen.  Ihre  Höhe 
wechselt  von  4  bis  zu  40  Fuss,  ihr  Durchmesser  am  Boden 
von  14  bis  70  Fuss.  Die  Gestalt  ist  rund  oder  länglich  rund. 
Oft  liegen  sie,  besonders  die  mächtigsten,  einsam  auf  der 
Haide  oder  im  Walde,  häufig  da,  m^o  offenes  Feld  und  Wald 
sich  berühren.  Xicht  selten  sieht  man  mehrere,  ja  eine 
Menge  beisammen.  Auch  dicht  bei  den  alten  Friedhöfen 
wurden  sie  errichtet.  Die  Erde  ist  künstlich  aufgeschüttet 
und  es  kommt  vor,  dass  eine  Schicht  Erde  auch  anders  wo- 
her, als  aus  der  unmittelbaren  Nähe,  geholt  ist. 

Das  Innere  des  Hügels  ist  nicht  selten  zu  grösserer 
Festigkeit  mit  grossen  oder  kleinen  Steinblöcken  durchsetzt. 
Manchmal  zeigen  diese  sich  rings  um  den  Hügel  in  regel- 
mässigen Zwischenräumen,  mitunter  sind  sie  inwendig  rings 
um  den  Todten,  oder  oben  auf  dem  Hügel  angebracht.  Auf 
der  Höhe  desselben  oder  im  Umkreis  auf  dem  Grunde  wurde, 
um  die  Annäherung  von  wilden  und  zahmen  Thieren  zu 
hindern,  öfter  ein  kleines  Dickicht  angepflanzt,  besonders  von 
Weissdorn,  Hainbuchen  und  Hasel.  Auch  künstlich  herge- 
stelltes Flechtwerk  diente  zum  Schutze. 

Die  Grabkammer  befindet  sich  stets  tief  in  der  Erde, 
mehr  oben  oder  mehr  unten  im  Hügel.  Häufig  ist  sie  aus 
rohem  Gestein  zusammengesetzt,  ein  andermal  aus  tafelför- 
migem, dessen  Fugen  durch  kleinere  Steine  verdeckt  sind, 
oder  aus  gebrannten  Ziegeln.   Auch  bekunden  sich  Reste  von 


23fi  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

Holzverschalung  aus  starken  Eichenbohlen  ,  welche  das  Be- 
hältniss  umgab.  Der  Boden  der  Grabkaramer  entbehrt  meist 
eines  Pflasters ,  jedoch  ist  ein  solches  auch  wohl  hergestellt 
aus  kleinen  runden  Steinen  oder  Steinplatten  oder  aus  ge- 
schlagenem Thon.  Kurz,  je  nach  Neigung  und  Keichthum 
sind  die  Grabhügel  bald  höher,  fester  und  ebenmässiger,  bald 
niedriger  und  lockerer  gebauet,  und  die  Todtenkammern  in 
der  einen  oder  andern  Weise  oder  auch  gar  nicht  einge- 
richtet. 

Ebenso  grosse  Verschiedenheit  zeigt  sich  in  der  Benütz- 
ung der  Todtenhügel.  In  einem  war  nur  Einer  beigesetzt, 
im  andern  waren  es  Mehrere.  Viele  haben  gar  keine  Stein- 
kammer, dagegen  mehrere  Gräber  neben  und  über  einander. 
Auch  findet  sich  wohl  einmal  noch  ein  Gerippe  aussen  an 
der  Grabkammer.  Desgleichen  giebt  es  in  einigen  Hoch- 
hügeln Thierknochen,  in  andern  fehlen  sie. 

Ueber  die  sogenannten  Reihengräber  ist  wenig  mehr  zu 
sagen.  Sie  waren  von  altersher  Friedhöfe  der  Gemeinden, 
auf  welchen  sich  die  Gräber  oft  zu  mehreren  Tausenden 
beisammen  finden.  Auch  längs  des  Strandes  der  Ostsee 
hat  man  Reihen  von  Gerippen  mit  Steinmessern  im  Sande 
entdeckt. 

Diese  Sitte  der  germanischen  Friedhöfe  hat  sich  so  weit 
verbreitet,  als  gebildete  Völker  wohnen.  Sie  war  ja  auch 
die  natürlichste  und  einfachste.  Aehnlich,  wie  früher  die 
hohen  Leichenhügel  sich  neben  der  Menge  der  kleinen  er- 
hoben, giebt  es  jetzt  grosse  ausgemauerte  Erbbegräbnisse  auf 
dem  F)-iedhofe.  Der  Unterschied  jener  alten  Friedhöfe  gegen 
die  heutige  Gewohnheit  bestand  haupisächlich  in  drei  Stücken. 
Man  legte  die  Gräber  ehemals  weiter  auseinander,  in  Zwischen- 
räumen von  vier  bis  fünf  Fuss.  Die  Richtung  von  Westen 
nach  Osten ,  so  dass  das  Haupt  gegen  Sonnenaufgang  lag, 
wurde  gewöhnlich  beobaclitet.  Die  Leichen  wurden,  wenn 
Platz  mangelte ,    schichtweise  über  einander  begraben  ,    weil 


r.  Löher:   Ueber  Dolmenbauten.  237 

von  der  theuren  Stätte,  wo  ihre  Verwandten  und  Voreltern 
ruheten,  die  Nachkommenden  nicht  weichen  wollten.  Ob 
von  den  in  Reihen  liegenden  Gräbern  jedes  seinen  niedrigen 
länglichen  Hügel  hatte,  wie  heutzutage,  lässt  sich  nicht  mehr 
feststellen :  wahrscheinlich  ist  es  wohl. 

So  scharf,  wo  es  auf  Recht  und  P'reiheit  ankam  ,  die 
Standesunterschiede  bei  Germanen  gewahrt  wurden,  und  so 
unzweifelhaft  die  hohen  Einzelhügel  nur  Solchen  gehörten, 
die  im  Leben  durch  Macht  und  Ansehen  hervorragten,  —  auf 
den  Friedhöfen  gab  es  keinen  Unterschied  in  den  Gräbern 
von  hoch  und  niedrig  Geborenen.  Adelige,  Gemeinfreie, 
Hörige,  Knechte  erhalten  hier  gleiche  Gräber :  nur  der  ärmere 
oder  reichere  Inhalt  an  Beigaben  unterscheidet  Arm  und 
Reich,  Freie  und  Hörige.  Mitten  zwischen  den  Gräbern  der 
Wohlhabenden  finden  sich  ganz  ärmlich  ausgestattete.  Im 
Tode  theileii  Alle  dieselbe  Stätte:  das  weiset  auch  darauf 
liin,  wie  Herrenleute  und  Dienstleute  im  Leben  auf  freund- 
lichem Fusse  verkehrten. 

Im  Uebrigen  gab  sich  hervorragender  Stand  wohl  in 
den  Grabmalen  zu  erkennen.  Grosse  Steinkammern  auf  An- 
höhen und  in  mächtigen  Hügeln ,  —  niedrigere  Hügel  mit 
engeren  Steinkammern  im  Innern,  welche  den  Dolmenbau  in 
kleinerem  Massstabe  wiederholten,  —  Reihengräber  mit  ge- 
ringen länglichen  Hügeln  oder  gar  keiner  Erhöhung,  —  alle 
drei  Formen  kommen  neben  einander  vor,  so  lange  die  Ger- 
manen nicht  zum  Christenthum  übergingen,  und  auch  unter 
dem  letzteren  ist  die  Form  der  Einzelhügel  noch  lange  Zeit 
nicht  ganz  aufgegeben.  Der  mächtige  Dolmenbau  aber  ziemte 
für  Fürsten  und  Könige,  die  geringeren  Einzelhügel  wurden 
mächtigen  angesehenen  Herren  zu  Theil ,  das  niedrige  Grab 
in  der  Reihe  der  Gemeindegenossen  allen  Andern. 

Uebrigens  war  es  keineswegs  ein  Gesetz,  dass  man  jeden 
Todten,  dem  man  nicht  einen  Hochhügel  schichten  wollte, 
zum  Friedhof  brachte.    Zahllos  wurden  Leichen  auf  der  Stelle 

1888.  Philos.-philol.  u.  List.  Ol.  2.  16 


238  Sitzung  der  histor.  Classe  mm  3.  Mäzr  1888. 

eingegraben,  auf  welcher  sie  den  letzten  Seufzer  ausgehaucht. 
In  Torfmooren  hat  man  hier  und  dort  vereinzelt  Gerippe 
gefunden ,  die  in  Fellen  sorgfältig  mit  Riemen  eingebunden 
waren . 

Durch  eine  besondere  Art  von  Bestattung  wurde  wohl 
einmal  der  Seeheld  geehrt.  Mau  setzte  den  todten  Herrn  in 
sein  Schiff  auf  den  Hochplatz,  von  welchem  einst  sein  Kom- 
mando schallte,  und  liess  das  Fahrzeug  auf  den  Wellen  trei- 
ben in  unbekannte  Gewässer.  Oder  man  zog  das  Schiff,  das 
er  im  Leben  heiss  geliebt,  an's  Land,  machte  ihm  darin 
sein  Gemach  zurecht,  und  überschüttete  das  ganze  Fahrzeug 
mit  Erde,  bis  aus  der  Höhe  des  Hügels  nur  noch  die  Mast- 
spitze hervorragte. 

8.    (Germanische   Bestattungsweise. 

Wie  zum  Feste  sollte  der  Todte  eingehen  zum  Grabe. 
Deslialb  musste  er  gereinigt  werden  und  gewaschen,  wenig- 
stens an  Haupt  und  Händen,  dann  sorgfältig  getrocknet,  ge- 
kämmt und  an  den  Nägeln  beschnitten.  Darauf  wurde  er 
augethau  mit  seinem  vollen  (irewande,  mit  seinem  Heer-  und 
Werkgeräth,  die  Schuhe  festgebunden  zur  Wanderung  in's 
unbekannte  Land. 

Das  Behältniss,  in  welchem  die  Leiche  beigesetzt  wurde, 
war  der  Regel  nach  der  Baumsarg  ,  der  sich  in  dem  wald- 
reichen Lande  von  selbst  darbot  und  leicht  hergestellt  war. 
Man  fällte  einen  dicken  Eich-,  Buchen-  oder  andern  Baum 
von  liartem  Holz,  nahm  ein  Mittelstück  von  über  Mannslänge 
heraus  und  spaltete  es  durch  eingetriel)ene  Keile  der  Länge 
nach  in  zwei  gleiche  Theile.  Dann  wurde  mit  der  Axt  in 
der  einen  Hälfte  oder  auch  in  beiden  Hälften  eine  längliche 
Hölmig  ansgehauen ,  geräumig  genug,  um  die  Leiche  mit 
den  Beigaben  aufzunehmen.  Die  Rinde  wurde  vom  Baume 
abgeschält,  weil  ihr  Verwittern  das  Holz  rascher  angriff.   In 


r.  Löher:   Ueber  Dolmenhaiden.  -•'■' 

späterer  Zeit  nahm  man  auch  Sargkisten,  die  mit  Eisen  be- 
schlagen wurden. 

Da  sich  öfter  nur  ganz  geringe  oder  gar  keine  Holz- 
überreste  bei  den  Gerippen  finden,  so  scheint  es,  dass  Leichen 
von  Armen  und  Dienstleuten  nur  mit  einem  Brette  bedeckt 
oder  rings  von  Erde  umgeben  beigesetzt  wurden.  Jedoch  ist 
noch  kein  ganz  sicheres  Gesetz  ermittelt,  in  wie  vielen  Jahren 
Holz  in  feuchter  Erde  spurlos  verwittert.  Leichen  von  Ange- 
hörigen, die  weder  verachtet  noch  feindlich  gewesen  ,  bloss 
mit  Erde  zu  bewerfen,  es  sei  denn  in  grosser  Eile  und  Noth, 
das  widersprach  wohl  dem  Gefühl  der  Germanen,  welche 
Todtenbestattung  nicht  leicht  nahmen. 

Im  Baumsarg  lag  der  Todte  auf  dem  Rücken.  War 
ihm  dajieoren  eine  Kammer  von  Steinen  erbauet  oder  von  Pfäh- 
Jen  und  Brettern  gezimmert,  so  gab  man  der  Leiche  darin 
verschiedene  Stellungen.  Bald  findet  man  sie  sitzend  ,  bald 
kauernd.  Das  Haupt  ist  öfter  durch  untergelegte  Steine  etwas 
erhöht.  Waren  Kinder  mit  den  Eltern  gestorben,  so  wurden 
sie  diesen  im  Sarge  beigegeben.  In  einem  Grabe  fanden  sich 
Vater  und  Mutter  und  zwischen  ihnen  in  Beider  verschränkten 
Armen  das  Kind,  —  ein  rührender  Ausdruck  der  elterlichen 
Zärtlichkeit. 

War  nun  der  Todte  im  steinernen  oder  hölzernen  Sarg 
gebettet,  so  wurde  im  irdenen  Geschirr  Speis  und  Trank  ihm 
beigesetzt.  Die  Speise  bestand  gewöhnlich  in  Eiern  und  Hüh- 
nern. Auch  Haselnüsse  finden  sich  beigegeben. 

Ein  Mann  wurde  bestattet,  als  zöge  er  in  den  Krieg, 
eine  Frau,  als  machte  sie  Hochzeit.  Dem  Manne  fehlten  also 
nicht  Schwert  und  Beil  und  Messer,  Schild  und  Lanze  und 
Pfeil  und  Bogen,  das  Wehrgehänge,  Kamm  und  Rasirmesser, 
Mantel-  und  Gürtelspangen,  Zierscheiben  und  Ringe,  und  der 
Sporn  am  linken  Fuss ,  je  nachdem  er  solche  Stücke  im 
Leben  getragen,  dabei  sein  Trinkbecher,  Meissel,  Angelhaken 
und  anderes  Werkgeräth,  das  er  gebrauchte.  Die  Frauen- 
IG* 


240  Sitzung  der  Msfor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

gräber  enthalten  Stirnbänder,  Gärtelgehänge,  Fibeln,  Ringe 
für  Hals  und  Ober-  und  Unterarm  ,  für  Finger  und  Ohren, 
Gehänge  von  Glas-,  Bernstein-  und  Thonkügelchen  und  an- 
dere Schmucksachen,  Spindeln,  Nadeln  und  Scheeren,  Kessel, 
Becken  und  Schüsseln. 

Das  meiste  Geräth  dieser  Art  ist  aus  Bronze,  einiges 
aus  Kupfer  und  Gold.  In  der  That  hielt  man  Edelmetall 
keineswegs  zurück,  im  Gegentheil  war  es  fromme  Sitte, 
Kleinode  und  Kostbarkeiten  dem  Todten  mit  in's  Grab  zu 
geben.  Mit  Fürsten  und  Königen  wurde  ihr  Schätzehort  ver- 
graben. Die  dunkle  Erde  verschlang,  was  das  Leben  glän- 
zend geziert  hatte.  Im  Gefühl  tiefster  Achtung  und  Liebe 
entäusserten  sich  die  Erben  der  Schätze,  die  ihnen  der  Todte 
hinterlassen  hatte.  Dieser  Brauch  nahen  so  Ueberhand,  dass 
König  Theodorich  glaubte,  mit  Gesetzen  dagegen  eifern  zu 
müssen. 

Auf  dem  Grabe  wurden  häufig ,  wenn  der  Hügel  nicht 
schon  für  sich  redete,  dass  hier  ein  angesehener  Mann  be- 
stattet war,  allerlei  Gerüste  errichtet,  Stangen,  Bretter,  Denk- 
steine. Von  dieser  Sitte  finden  wir  Spuren  in  Gesetzen  und 
Sagen,  jedoch  nichts  Näheres   angegeben. 

Wie  aber,  so  wird  man  fragen,  verhielt  es  sich  mit  dem 
Verbrennen  der  Leichen  ?  Allgemein  wird  jetzt  angenommen : 
bei  den  Germanen  habe  Beides  neben  einander  geherrscht, 
Feuerbestattung  und  Beisetzung  in  der  Erde.  Man  weiss  nur 
nicht,  ob  blosse  Willkür  oder  ein  besonderer  Grund  für  das 
Eine  oder  Andere  den  Ausschlag  gab. 

In  der  That  finden  wir  schon  in  Dolinenljauten  Brand- 
reste, wenn  auch  äusserst  spärlich.  Li  Kannnern,  welche  in 
Hügeln  stecken ,  sind  Urnen  mit  Asche  und  verbrannten 
Knochenresten  nicht  selten.  Die  Keihengräber  zeigen  dagegen 
viel  häufiger  nur  Gerippe,  ohne  A.sche  und  Urnen  ganz  auszu- 
schliessen.     Wo  an  gemeinsamen  Begräbnissstätten  Leichen- 


V.  Löher:   Ueber  Dohnenbauten.  241 

braiul  vorkommt,  da  sind  Asche  und  Urnen ,  in  ähnlicher 
Weise  wie  die  Gebeine,  beigesetzt  in  Behältnissen  von  Stein 
oder  Holz  oder  Thon.  bald  mit  bald  ohne  Unterlagen  oder 
Decken  von  Stein. 

Gleichwohl  erheben  sich  gegen  die  Annahme,  Fener- 
oder  Leichenbestattung  seien  von  jeher  neben  einander  Brauch 
gewesen,  gewichtige  Bedenken. 

Es  ist  an  sich  schwer  glaublich,  dass  solche  Zweiung  in 
so  ernster  Angelegenheit  in  der  Volkssitte  von  Anfang  hei- 
misch gewesen.  Mit  ihr  will  auch  nicht  recht  stimmen  die 
Zugabe  von   Waffen,  (leräthen  und  Kleinoden. 

Die  ältesten  Dolmen  und  Einzelhügel  enthalten  auf- 
fallend selten  Leichenbrand,  und  nur  zerstreut  zeigt  er  sich, 
keineswegs  allgemein .  in  den  Reihengräbern,  die  wir  doch 
als  die  eigentlichen  Volksgräber  ansehen  müssen.  Wäre  das 
Verbrennen  der  Todten  in  alter  germanischer  Volkssitte  be- 
gründet gewesen,  so  raüssten  die  Reihengräber  viel  häufiger, 
als  es  der  Fall  ist,  die  Spuren  nachweisen. 

In  den  schriftlichen  Nachrichten  begegnet  uns  äusserst 
spärlich  etwas,  das  sich  auf  Feuerbestattung  deuten  Hesse. 
Jakob  Grimm  hat  eifrig  danach  gesucht  und  seine  Ausbeute 
sorgfältig  in  der  Schrift  „Ueber  das  Verbrennen  der  Leichen" 
dargelegt,  aber  gerade  die  Dürftigkeit  der  Ausbeute  spricht 
dagegen. 

Li  Norwegen  kommt,  wie  Engelhardt  berechnete,  auf 
acht  Gräber  aus  der  frühesten  Zeit  mit  Knochen  erst  eines 
mit  Leichen brand.  Auch  in  Schweden  findet  er  sich  gerade 
in  den  ältesten  Gräbern  selten. 

Ausser  bei  den  Sachsen  enthalten  die  Volksgesetze  der 
Franken,  Alemannen,  Burgunder,  Bayern,  Gothen  und  Lango- 
barden keine  Spur  von  Leichenbrand.  Wäre  er  nationale 
Sitte  gewesen ,  so  hätte  sie  nicht  so  leicht  verschwinden 
können,  und  wäre  noch  nach  Jahrhunderten  hier  und  dort 
hervortjetreten. 


242  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

Auffallend  ist  endlicb  ,  dass  gerade  in  den  Urnen  sich 
öfter  römische  Münzen  finden:  sie  scheinen  der  Obolus  ge- 
wesen, welchen  man  nach  Römerart  dem  Todten  mitgab. 

Vielleicht  lässt  sich  das  Räthsel  folgender  Gestalt  lösen. 
Manches  spricht  dafür,  dass  bei  Germanen  es  uralter  Brauch 
war,  dem  Todten  die  inneren  Weichtheile  zu  entnehmen,  sie 
zu  verbrennen  und  in  einem  Gefässe  beizusetzen,  den  Leib 
aber  mit  Holz  und  Beeren  von  Wachholder  und  anderen 
harzigen  Stoffen  zu  füllen  ,  damit  die  Verwesung  möglichst 
fern  gehalten  werde.  Man  wüsste  sonst  nicht,  warum  Wach- 
holder den  Todten  heilig  war,  und  warum  sich  Stücke  wohl- 
riechenden Harzes  in  Gräbern  finden.  Auch  war  es  noch  im 
späten  Mittelalter  Sitte,  dass  eines  Fürsten  Herz  und  Einge- 
weide an  dem  einen,  sein  Körper  an  dem  anderen  Orte  bei- 
gesetzt wurde :  im  Fürstenstande  aber  hat  sich  manche  ger- 
manische Sitte  erhalten,    die  sonst   im  Volke  verschwunden. 

Eine  Menge  Urnen  mag  die  Bestimmung  gehabt  haben, 
die  Asche  der  Eingeweide  zu  bergen :  daza  passt  auch  ihre 
auffallende  Kleinheit.  Eine  andere  Anzahl  von  Aschenurnen, 
die  wir  jetzt  finden,  mag  Römern  und  Romanisirten  ange- 
hört haben:  darauf  deuten  auch  Fläschchen  und  Lampen 
in  den  Gräbern.  Viele  Germanen  und  Slaven,  besonders  vor- 
nehmere, nahmen  ja  römische  Sitte  als  höhere  Kultur  an,  und 
deshalb  lassen  sich  Reihengräber  mit  Urnen  und  einer  römi- 
schen Münze  darin  selbst  in  Brandenburg,  Obersachsen  und 
Schlesien  antreffen.  So  konnte  auch  Tacitus  von  der  Feuer- 
bestattung bei  den  Germanen  reden ,  obgleich  ihm  gerade 
dabei  begegnete,  dass  er  einer  schönen  Redefigur  wegen 
schrieb:  „Das  Grab  erhöht  ein  Rasenhügel,  der  Denkmale 
harte  und  mühselige  Ehre,  als  drückten  sie  die  Todten,  ver- 
schmähen sie",  während  doch  keine  grössere  Last,  als  ein 
mächtiger  Erdhügel,  drückend  auf  dem  Todten  liegen  konnte. 
Wenn  aber  noch  Karl  des  Grossen  Sachsen-Gesetz  gegen  den 
Leichenbrand  eifern  musste,    so  finden  wir  vielleicht  gerade 


c,  Löhtr:   Ueber  Dnlmenhauten.  243 

in  dieser  Stelle  eine  Andeutung  der  ursprünglichen  Sitte. 
Denn  das  Gesetz  will  nicht  schon  Denjenigen  mit  dem  Tode 
bestrafen,  „der  eine  Leiche  verbrennt",  sondern  es  setzt  hin- 
zu, ,und  die  Knochen  in  Asche  verwandelt."  Das  Ver- 
brennen bloss  der  Weichtheile  blieb  straflos,  weil  in  alter 
Sitte  begründet. 

9.   Wikinger  in  grauer  Vorzeit. 

Alles  dies,  was  wir  über  die  Gräberformen  und  Beisetz- 
ung bei  den  Germanen  wissen,  stimmt  wohl  zum  Dolmenbau. 
Können  wir  einer  besseren  Schilderung  eines  solchen  Grab- 
mals begegnen,  als  im  Beowulf?  Sie  beweist  uns,  wie  die 
Todtenburg  an  der  Brandungsklippe  in  der  Vorstellung  ger- 
manischer Seefahrer  lebte ;  denn  so  bittet  der  sterbende  Beo- 
wulf seinen  Gefährten   VVeohstan : 

„Lasst  durch  die  Streitberühmten 

mir  nach  dem  Brand  am  Vorgebirg  des  Meeres 

den  Grabeshügel  bauen.  Meinem  Volke 

zum  Angedenken  mag  er  hoch  empor 

am  WaJltischkape  ragen,   dass  von  nun  an 

ihn  Berg  des  Beowulf  Schiffer  nennen, 

die  durch  der  Fluthen  Nebel  steuern  fernhin 

die  hohen  Schiffe." 

Ein  solcher  Hügel  wurde  noch  um  das  Jahr  900  nach 
Christus  dem  norwegischen  König  Harald  Schönhaar  erbauet. 
Zu  Häupten  und  zu  Füssen  standen  grosse  Tragsteine,  und 
darüber  wurde  ein  Deckstein  gelegt,  der  zwei  Ellen  breit 
und  mehr  als  zwölf  lang  war.  Die  Leiche  des  gewaltigen 
Königs  wurde  hinein  gelegt  und  darüber  Erde  aufgeschüttet 
bis  der  Hügel  hoch  und  rund  war. 

Das  Ungeschlachte  Riesige  Kühne  solcher  Steinbauten 
lag  ganz  im  Charakter  der  Germanen,  es  forderte  die  höchste 
Anspannung  der  Kräfte  heraus.  Das  Zustandekommen  des 
Werkes  haben  wir  uns  etwa  in  folgender  Weise  zu  denken. 


244  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

Mühsam  schleppten  sie,  uud  zwar  öfter  weit  her,  die  mäch- 
tigen Stein bänke ,  die  sie  zu  Tragsteinen  wollten ,  richteten 
sie  her  und  festigten  sie  im  Erdboden,  dass  sie  aufrecht 
standen.  Dann  schütteten  sie  Erde  darüber  und  stampften 
sie  fest,  jedoch  so,  dass  vom  Hügel  eine  lauge  schiefe  Ebene 
herablief.  Nun  kam  die  schwerste  Arbeit.  Der  ungeheuere 
Dachstein  musste  auf  Walzen  den  sclirägen  Abhang  herauf 
geschafft  werden.  Hunderte  spannten  sich  mit  ihren  Pferden 
an  die  Bast-  und  Lederseile  und  zogen  mit  Macht,  während 
die  Gefährten  an  den  Walzen  und  Hebeln  arbeiteten.  War 
der  Deckstein  oben  und  war  er  scharf  auf  die  Träger  ge- 
passt,  so  wurde  der  Hügel  entweder  ringsum  abgerundet, 
oder  überall  die  Erde  abgetragen,  dass  der  Steinbau  nackt 
von  der  Höhe  auf's  Meer  sah.  Wenn  ein  Deckstein  sehr 
gross  war,  erschien  es  vielleicht  einfacher  und  weniger  müh- 
selig ,  ihn  auf  seinem  Lagerort  mit  Hebebäumen  bald  an 
einem  bald  am  anderen  Ende  zu  heben  und  auf  Rollen  zu 
schieben,  während  er  abwechselnd  mit  Baumstämmen,  klei- 
neren Steinen  und  Erde  gestützt  wurde,  bis  man  ihn  soweit 
empor  hatte,  dass  sich  die  Tragsteine  darunter  anbringen 
Hessen.  Vielleicht  verstand  man  in  den  Nordländern  auch, 
die  hebende  und  sprengende  Kraft  des  Eises  und  andere 
Naturkräfte  zu  benützen,  eine  Erfahrung,  die  später  Leben- 
den, die  auf  feinere  Werkzeuge  vertrauen  konnten,  verloren 
ging. 

Germanischen  Ursprung  beweisen  die  Inschriften  in 
Runen ,  wie  sie  auf  dem  prächtigen  Bau  zu  Maeshove  auf 
einer  Orkneyinsel ,  auf  der  Isle  of  Man,  und  zu  Mane  Lud 
in  der  Bretagne  unzweifelhaft  vorkommen,  jedoch  noch  nicht 
mit  Sicherheit  entziffert  sind.  Inschriften  wie  auf  den  Dolmen 
in  Brecknoshire  in  Nordwales  oder  bei  Bona  in  Algier  wur- 
den dort  als  willkürliche  Verzierungen,  hier  als  Berberschrift 
gedeutet,  scheinen  aber  Runen  zu  sein.  Nicht  selten  be- 
gegnen uns  auf  den  Dolraensteinen  eingehauen  Thorshämraer, 


V.  Loher:   Ueber  Dolmenbauten. 


245 


die  man  in  Deutschland  Donnerkeile,  in  Dänemark  und  Eng- 
land Donnersteine,  und  in  der  Bretagne  Meu  juru  d.  li.  eben- 
falls Donnersteine,  benennt.  Ausdrucksvoll  sind  sie  in  der 
Steinkammer  zu  Mane  er  H'roek  ausgeprägt. 

Die  ganze  Anlage  endlich  und  der  Inhalt  der  Todten- 
burgen  ist  im  Wesentlichen  aller  Orten  vollständig  so,  wie 
in  den  gleichen  Steinkammern  in  Deutschland,  mögen  sie 
unbedeckt  sein  oder  in  einzelnen  mächtig  aufragenden  Grab- 
hügeln stecken,  die  wir  aus  früherer  oder  späterer  Zeit  in 
so  grosser  Menge  finden.  Bau  und  Inhalt  sind  in  den  offen 
liegenden  Steinkammern  in  Deutschland  nur  roher  und  ein- 
facher, als  anderwärts:  Einzelhügel  dagegen  ergeben  hier 
häufig  Schmucksachen  und  Geräth  aus  einer  mehr  vorge- 
schrittenen Zeit.     Der  Charakter  aber  ist  immer  derselbe. 

Da  nun  die  Dolmenbanten  wie  die  hohen  Einzelhügel 
durch  ganz  Xorddeutschland  verbreitet  sind,  während  sie 
—  mit  Ausnahme  des  westlichen  Frankreich  —  anderswo 
nur  auf  Inseln  oder  auf  Landspitzen  oder  doch  nicht  weit 
von  Küstenlinieu  sich  antreffen  lassen,  —  da  wir  ferner 
wissen,  dass  in  dem  Winkel,  welchen  die  jütische  Halbinsel 
mit  der  Nordsee  bildet,  und  in  den  anstossenden  Landen  die 
Raub-  und  Eroberungsfahrten  der  Sachsen,  Angeln,  Dänen 
und  Nordmannen  oder  unter  welchem  Sammelnamen  immer 
dieses  germanische  Seevolk  erscheint,  Heimstätte  und  Aus- 
gangspunkt hatten,  —  so  liegt  wohl  der  Schluss  nahe,  dass 
diese  Raub-  und  Eroberungszüge  schon  längst  vor  Christus 
ungemessene  Zeiten  hindurch  fort  und  fort  Statt  fanden,  dass 
germanische  Seefahrer  —  in  einem  Jahre  waren  es  viele,  im 
andern  weniger  —  die  niederländischen,  französischen ,  eng- 
lischen, spanischen  und  portugiesischen  Küsten  entlang  und 
weiter  zwischen  den  Säulen  des  Herkules  hindurch  und 
die  nordafrikanische  Küste  entlang  steuerten,  dass  sie  hier 
und  dort  sich  eine  Zeitlang  herrschend  festsetzten  und  hoch 


246  Sitzunfi  der  histor.  Classe  vom  3.  März  1888. 

an  der  Küste   zum  Andenken    ihrer  Kämpfe   Denk-    und   zu 
Ehren  ihrer  Helden  Grabmäler  errichteten. 

Mit  dieser  Ansicht  fällt  ein  grosser  Theil  der  ünbe- 
greiflichkeiten  weg,  die  sich  ohne  dieselbe  an  die  Fundstätten 
und  Anlagen  der  Dolmen    und  verwandten  Bauten  knüpfen. 

Die  Dolmenkette  abe**,  die  von  der  Bretagne  durch 
Frankreich  hin  bis  in  die  Gegend  der  lihonemündung  noch 
jetzt  wahrzunehmen,  bezeichnet  den  Heer  weg,  welchen  die 
wilden  Freischaaren  nahmen,  wollten  sie  im  geraden  Striche 
rasch  und  leicht  vom  atlantischen  in's  Mittelmeer  gelangen, 
während  ihre  Schiffe  die  sturmvollen  Buchten  und  Spitzen 
der  pyrenäischen  Halbinsel  zu  umsegeln  hatten.  Auf  diesem 
Landwege  aber  durch  das  Innere  von  Frankreich  wurden  nur 
Denksteine,  Menhirs,  sehr  selten  grosse  Grabkammern  gesetzt. 

In  Italien  und  Griechenlaud  konnte  sich  das  germanische 
Räubervolk  niemals  festsetzen,  weil  sich  dort  ihm  gebildetere 
waffenkundige  Völker  entgegenstellten. 

Im  armen  Schweden  und  Norwegen,  wo  früher  Finnen 
und  Lappen  wohnten,  fand  sich,  mit  Ausnahme  der  von  Ger- 
manen wohlbebauten  Südspitze,  kein  Raub  zu  holen  und  zu 
bergen.  Desshalb  sind  in  den  genannten  Ländern  Dolmen 
so  selten. 

Wenn  aber  Dolnienbauten  sich  im  östlichen  England 
.so  viel  weniger,  als  an  der  Westküste,  zeigen,  so  erklärt  sich 
dies  vielleicht  daraus,  dass  sie  theils  aus  Hass  gegen  die 
Dänen  zertrümmert,  theils  die  Steinblöcke,  weil  es  an  solchen 
im  wohlbebaueten  Lande  mangelte,  abgetragen  und  verbraucht 
wurden. 

Im  östlichen  Bereich  des  Mittelmeers  aber  sind  es  wohl 
Gothen  gewesen,  welche  die  Küsten  heimsuchten;  ihre  See- 
herrschaft war  jedoch  vorübergehend;  desshalb  finden  sich 
auch  dort  viel  weniger  die  Dolmen. 

Auf  die  Züge  endlich  der  Alanen,  Sueven  und  Vandalen 
nach  Frankreich,  Spanien  und  Afrika,  der  Sachsen  und  Dänen 


r.  Löher:    Ueher  Dnlmexhauten.  247 

nach  Engliind.  der  Nonnannen  nach  den  Niederlanden ,  der 
Norraandie,  Spanien  und  Italien,  die  zur  Zeit  der  sogenannten 
Völkerwanderung  Statt  fanden  und  in  den  drei  folgenden 
Jahrhunderten  noch  nicht  aufhörten,  fällt  etwas  mehr  Licht, 
sobald  man  sich  sagen  muss,  dass  sie  Heerwege  aufsuchten, 
die  sie  schon  durch  ihrer  Vorfahren  mündliche  Ueberliefer- 
ung  kannten.  Ohne  Zweifel  haben  alle  diese  Völker,  so  lange 
sie  noch  nicht  zum  Christenthum  übergingen,  in  den  Land- 
strichen, die  sie  zeitweise  inne  hatten  ,  ebenfalls  ihre  Denk- 
und  Grabmäler  von  riesigen  Steinblöcken  aufgethürmt. 


248 


Oeffentliehe  Sitzung  der  königl.  Akademie 
der  Wissenschaften 

zur  Feier  des  129.  Stiftungstages 
am  28.  März  1888. 


Der  Präsident  Herr  von  Döllinger  hielt  einen  Vortrag; 
, lieber  die  Geschichte  der  religiösen  Freiheit." 


Der  Classensecretär  Herr  v,  Prantl  erwähnte  die  Ver- 
luste, welche  die  philosophisch-philologische  Ciasse  im  abge- 
laufenen Jahre  durch  den  Tod  dreier  auswärtiger  Mitglieder 
erlitten  hatte,  indem  am  ().  Juli  1887  in  Halle  der  Geheime 
Rath  August  Friedrich  Pott,  am  14.  September  1887 
in  Gmunden  der  Professor  der  Aesthetik  zu  Stuttgart  Fried- 
rich Theodor  Vischer  und  am  10.  Februar  1888  in 
Leipzig  der  Geheime  Rath  Heinrich  Lebrecht  Fleischer 
starben.  Bezüglich  des  Näheren  über  die  genannten  drei 
Gelehrten  wurde  auf  die  hiemit  folgenden  Nekrologe  ver- 
wiesen. 

Augrust  Friedrich  Pott, 

geboren  am  14.  November  1802  in  dem  Dorfe  Nettelrede 
bei  Hanniiverisch-Münden ,  als  Sohn  eines  Predigers,  kam 
nach  dem  frühen  Tode  seiner  Eltern  /u  einem  Pastor  (Lauen- 


V.  Pratül:  Nel'roJog  auf  August  Friedrich  Pott.  249 

stein)  in  dem  hannoverischen  Dorfe  Adensen,  wo  er  für  das 
Gymnasium    vorbereitet    wurde,    dessen    Studiengang    er    in 
Hannover  durchmachte,    unterstützt    von  einem  mütterlichen 
Onkel,    welcher  ihm  auch    die  Mittel  gewährte,  die  Studien 
noch  weiter   fortzusetzen.     So  wurde    er    im  Jahre  1821  an 
der  Universität  Göttingen  als  Studirender  der  Theologie  im- 
matriculirt,    hörte   jedoch    ausschliesslich    nur   philologische 
Vorlesungen ;    neben  Dissen  und  Otfr.  Müller  war  besonders 
Georg  Friedr.  Benecke ,  der  Vertreter  des  Altdeutschen  und 
Mittelhochdeutschen    von   entscheidendem    Einflüsse    auf  ihn. 
Nach  absolvirter  Universität    erhielt  er  (1825)   eine  Lehrer- 
stelle am  Gymnasium  zu  Celle,    woselbst  er  die  Dissertation 
,De  relationibus,  quae  propositionibus  in  linguis  denotantur" 
ausarbeitete,  mittelst  deren  er  am  17.  October  1827  promo- 
virte.     Er  begab  sich    nun  nach  Berlin ,    wo  er   in    näheren 
Verkehr  mit  Wilh.  v.  Humboldt  und  Franz  Bopp  trat    und 
(1831)   sich   als    Privatdocent    habilitirte.      Im    .Jahre    1833 
wurde    er    als    ausserordentlicher    Professor    der    allgemeinen 
Sprachwissenschaft  nach  Halle  berufen,  worauf  1838  die  Ver- 
leihung der  ordentlichen  Professur  erfolgte.  Seine  Lehrthätig- 
keit  erstreckte  sich  auf  einzelne  classische  Autoren  (Herodot, 
Theokrit,  Plato's  Kratylos,  Catullus,  Persius,  Juvenalis),  auf 
Sprachphilosophie     und    allgemeine    Sprachwissenschaft,    auf 
Grammatik  des  Griechischen  und  des  Lateinischen,  Anfangs- 
gründe des  Sanskrit,  auch  Zend,  Gothisch,  Keltisch,    Roma- 
nisch, später  auch  ägyptische  Hieroglyphen    und  Chinesisch. 
Mit    dem  Beginne    seiner  Hallenser  Lehrthätigkeit ,    welcher 
er  bis  zum  Ende  seines  Lebens  treu  blieb,    fällt  zeitlich  die 
Entstehung    seines   Hauptwerkes    zusammen    „Etymologische 
Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  indogermanischen  Sprachen 
unter  Berücksichtigung   ihrer  Hauptformen  Sanskrit ,    Zend- 
Persisch,  Griechich-Lateinisch,  Littauisch-Slavisch,  Germanisch 
und  Keltisch'   (1833  —  36),    welches  in  2.  Auflage    in  sechs 
Theilen  erschien  (1859  —  70)  und  vom  zweiten  Theile  an  den 


250  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

Titel  „Wurzel Wörterbuch  der  iudocrermauisclien  Sprachen" 
erhielt.  Pott  hat  hauptsächlich  durch  die  erste  Auflage  dieses 
Werkes,  welches  auf  ausgedehnter  Gelehrsamkeit  beruht  und 
sich  in  kritischer  Erforschung  sprachlicher  Gesetze  bewegt, 
seinen  bleibenden  Fiuhm  begründet.  Anknüpfend  an  J.  Grimra's 
Lautverschiebung  erkannte  er  die  Wichtigkeit  der  Lautgesetze 
für  alle  etymologische  Forschung  überhaupt,  insoferne  die- 
selbe von  dem  Charakter  eines  geistreichen  Spieles  befreit 
werden  soll;  und  indem  er  in  scheinbaren  Kleinigkeiten  einen 
bis  dahin  ungeahnten  Zusammenhang  entdeckte,  wurde  er 
der  Schöpfer  der  vergleichenden  Lautlehre,  durch  welche  ein 
reiches  Arbeitsfeld  für  eine  jüngere  Generation  gegeben  war, 
von  welcher  allerdings  er  selbst  sich  vielfach  geschieden 
fühlte.  Auf  die  Lautlehre  sich  stützend,  beschäftigte  er  sich 
eingehendst  mit  den  Fragen  der  Etymologie,  wobei  er  natür- 
lich auf  den  Bestand  von  Wurzeln  geführt  wurde,  welche 
jedoch  nicht  etwa  in  irgend  einer  Zeit  als  fertige  Gebilde 
existirt  haben  sollen,  sondern  nur  als  Abstractionen  aus  den 
allein  wirklich  existirenden  Worten  zu  gelten  haben.  In 
diesem  Sinne  durchforschte  er  den  ganzen  Sprachschatz  des 
Indogermanischen  zum  Behufe  seines  von  den  Fachkundigen 
hoch  ireschätzten  Wurzel- Wörterbuches ,  durch  welches  eine 
Fülle  von  Untersuchungen ,  aber  auch  mancher  Zweifel  und 
manches  Bedenken  angeregt  wurden  (z.  B.  von  Gg.  Curtius). 
In  die  Zwischenzeit  vom  Beginne  der  Etymologischen  Forsch- 
ungen bis  zur  Vollendung  der  2.  Auflage  derselben  fällt  eine 
staunenswerth  reiche  Thätigkeit  Pott's.  Zunächst  waren  es 
Untersuchungen  über  den  litauisch- lettischen  Sprachzweig, 
welche  er  in  einer  Hallenser  Festgabe  zum  hundertjährigen 
•Tubiläum  der  Universität  Göttingen  (1837)  niederlegte:  „De 
Htjrusso-Litliuanicae  tarn  in  Slavicis  quam  in  Letticis  princi- 
patu",  womit  später  zusamraeuhieng  „De  linguarum  letticarum 
cum  vicinis  nexu"  (1841).  Im  Jahre  1840  erschien  in  der 
Ersch-Gruber'schen  Encyclopädie  sein  Artikel  „Indogermani- 


r.  Pravtl :  Xrl^rolnfi  auf  AiifiKst  Friedrich  Pott.  251 

sehe  Sprachen"  (ebendaselbst  flössen  ans  seiner  Feder  die 
Artikel :  Geschlecht ,  Piirticipium  ,  Patronymica  ,  Personen- 
Namen),  und  zugleich  begann  er  seine  „Kurdischen  Studien" 
in  mehreren  Jahrgängen  der  Zeitschrift  für  Kunde  des  Mor- 
genlandes (1840 — 46).  Damals  auch  erhielt  er  ein  von  dem 
Prediger  Zippel  in  Preussisch-Lithauen  gesammeltes  Material 
über  die  Zigeuner,  woraus  er  bereits  in  den  deutschen  Jahr- 
büchern (1841)  Einiges  veröffentlichte;  dann  aber  folgte  das 
wichtige  Werk  ,Die  Zigeuner  in  Europa  und  Asien,  ethno- 
graphisch-linguistische Untersuchung  ihrer  Herkunft  und 
Sprache  nach  gedruckten  und  ungedruckten  Quellen"  (2  Bände, 
1844  f.),  wofür  er  von  der  Pariser  Akademie  den  Volney'- 
schen  Preis  erhielt.  Er  gab  den  Nachweis,  dass  die  Zigeuner 
nicht  etwa  eine  Gaunersprache  reden,  sondern  in  ihrem  Ur- 
sprünge auf  Indien  zurückweisen,  und  hieran  anknüpfend 
»ab  er  noch  mehrere  kleinere  Abhandlungen  über  die  Zi- 
geuner  in  Syrien,  Persieu  u.  s.  w.  (in  der  Zeitschrift  der 
deutschen  morgenl.  Gesellsch.  Jahrg.  1846,  1848,  1852, 
1857,  1870),  sowie  auch  gewissem! assen  damit  zusammen- 
hieng  sein  Artikel  „Rotwelsch"  in  Brockhaus'  Convers.-Lexi- 
con.  Bald  nach  dem  Erscheinen  der  kleinen  Schrift  „Die 
Malbergische  Glosse  keltisch  oder  germanisch?"  (1844)  machte 
sich  bei  Pott  eine  Wendung  bemerklich,  vermöge  deren  er 
immer  weiter  über  das  Gebiet  des  Indogermanischen  hinaus- 
griff und  sich  dem  Zuge  nach  linguistischer  Universalität 
hingab.  Entschieden  zeigte  sich  diese  Richtung  in  der  Alex. 
V.Humboldt  gewidmeten  Schrift  „Die  quinäre  und  vigesimale 
Zählmethode  bei  Völkern  aller  Welttheile  nebst  ausführhchen 
Bemerkungen  über  die  Zahlwörter  indogermanischen  Stammes 
und  einem  Anhange  über  die  Fiugernamen"  (1847),  worin 
er  im  Gegensätze  gegen  die  Ableitung  der  Zahlwörter  aus 
den  Pronomina  auf  concrete  körperliche  Vorstellungen  hin- 
wies. Es  folgte  „Gesammt-Ueberblick  über  die  Sprachwissen- 
schaft  (1849    im  Jahrb.  d.  freien  d.   Akad.).    sowie    die    als 


252  Oeffentliche  Sitzung  vom  38.  März  1888. 

grundlegend  geltenden  Untersuchungen  über  africanisclie  und 
besonders  die  Bantu-Sprache  (1850—53  in  genannter  Zeit- 
schr.).  Eine  bewundernswerthe  Fülle  des  Material  es  nach 
leitenden  Gesichtspuncten  geordnet  bietet  die  Schrift  ,Die 
Personen-Namen,  insbesondere  die  Farailien-Nanien  und  ihre 
Entstehungsarten,  auch  unter  Berücksichtigung  der  Ortsnamen 
(1853,  2.  Aufl.  1859),  worin  er  hauptsächlich  germanische, 
aber  ausserdem  auch  griechische ,  arabische  und  indische 
Namen  erörterte;  hieran  knüpfte  sich  „Ueber  altpersische 
Eigen-Namen"  (1859  in  obiger  Ztschr.)  und  noch  später 
„lieber  Vaskische  Familien-Namen"  (1875).  üeber  romanische 
Sprachen  äusserte  er  sich  in  der  Zeitschr.  f.  Alterthuras- 
wssschft  (1853  f.).  Durch  die  universelle  Behandlung  der 
Linguistik  war  ihm  immer  mehr  der  grundsätzliche  Gedanke 
in  den  Vordergund  getreten  ,  dass  nothwendiger  Weise  ein 
polyphyletischer  Anfang  der  Sprachen  angenommen  werden 
müsse,  und  so  wandte  er  sich  in  Bekämpfung  der  Annahme 
einer  einzigen  Ursprache  auch  gegen  Max  Müller  (1855  in 
genannter  Ztschr.).  Die  gleiche  Polemik  gegen  den  „todt- 
gebornen  Gedanken  einer  lingua  primaeva"  erscheint  auch 
in  der  Schrift  „Die  Ungleichheit  verschiedener  Racen  haupt- 
sächlich vom  sprachwissenschaftlichen  Standpuncte  unter  be- 
sonderer Berücksichtigung  von  des  Grafen  Gobineau  gleich- 
namigem Werke"  (1856),  worin  er  nicht  bloss  den  auf  alt- 
testamentlichen  Anschauungen  beruhenden  Pessimismus  des 
französischen  Grafen  zurückwies,  sondern  auch  entschieden 
hervorhob ,  dass  es  noch  nicht  an  der  Zeit  sei ,  die  sämmt- 
lichen  Sprachen  etwa  nach  Analogie  des  natürlichen  Pflanzen- 
Systems  säuberlich  in  Familien  und  Gattungen  einzutheilen. 
Sowie  schon  die  „Etymologischen  Spähne"  (in  Kulin's  Zeit- 
schrift 1885  f.)  vielfach  in  das  Gebiet  der  Mythologie  hin- 
überstreiften ,  so  gab  Pott  auch  „Studien  zur  griechischen 
Mythologie  (1859  in  d.  Jahrb.  f.  class.  Piniol.);  daneben 
erschien   „Die  japanische  Sprache    in  ihren  Verhältnissen  zu 


V.  PranÜ :  Nekrolog  auf  August  Friedrich  Pott.  253 

anderen  Asiatinnen"  (1858  in  d.  Ztschr.  d.  d.  morg.  Ges.) 
nnd  hierauf  ,Naturo;e.schichtliches"  und  „Zur  Culturgeschichte" 
(1861  —  65  in  Kuhn  und  Schleicher.  Beiträge).  Wieder  der 
universellen  Richtung  gehörte  an  :  „Dopplung  (Reduplication, 
Gemination)  als  eines  der  wichtigsten  Bildungsmittel  der 
Sprache,  beleuchtet  aus  Sprachen  aller  Welttheile"  (1862). 
Da  Franz  Kaulen  vom  Standpunkte  katholischer  Orthodoxie 
aus  ,  Die  Sprachverwirrung  zu  Babel,  linguistisch-theologische 
rntersuchungen  über  Gen.  XI "  (-1861)  veröffentlicht  hatte, 
trat  ihm  Pott  entgegen  durch  „Anti-Kaulen  oder  mythische 
Vorstellungen  vom  Ursprünge  der  Völker  und  Sprachen  nebst 
Beurtheilung  der  zwei  sprachwissenschaftlichen  Abhandlungen 
H.  V.  Ewald's*  (1863) ,  worin  er  die  Unabhängigkeit  der 
Sprachforschung  wahrte,  welche  sich  von  keinerlei  theologi- 
schen Meinungen  beeinflu.ssen  lassen  dürfe.  Ein  in  Fichte's 
Zeitschrift  f.  Philos.  (Bd.  43,  1863)  erschienener  Aufsatz 
„Zur  Geschichte  und  Kritik  der  sog.  allgemeinen  Grammatik" 
betrifft  die  Frage  über  die  Möglichkeit  und  Nothwendigkeit 
einer  Sprachphilosophie,  welche  sich  auf  dem  breiten  Unter- 
bau sämmtlicher  Einzeln-Sprachen  erheben  soll,  während  in 
der  Festschrift  zur  Begrüssung  der  in  Halle  (1867)  tagenden 
Philologen- Versammlung  „Die  Sprachverschiedenheit  in  Eu- 
ropa an  den  Zahlwörtern  nachgewiesen ,  sowie  die  quinäre 
und  vigesimale  Zählmethode"  (1868)  die  Untersuchung  unter 
Anknüpfung  an  die  frühere  Schrift  über  die  Zahlwörter 
(1847)  nur  auf  einen  kleinen  Umkreis  beschränkt  blieb. 
Auch  in  seiner  neuen  Ausgabe  von  W.  v.  Humboldt's  Schrift 
„üeber  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues" 
(1876,  2  Bände,  und  abermals  1880  in  Calvary's  Bibliothek) 
verbreitete  er  sich  in  der  Einleitung  ausführlich  über  Hum- 
boldt's Verdienste  und  über  die  Nothwendigkeit  einer  philo- 
sophischen Sprachlehre.  Und  nach  einigen  kleineren  Abhand- 
lungen über  das  indogermanische  Pronomen  (1878  in  d.  Ztschr. 
d.  d.  morg.  Ges.)    und    über  Mass-    und  Zahl-Wörter  (1880 

1888.  Philo8.-philoI.  u.  bist.  Ol.  2.  17 


254  Oeffeiitliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

und  82  in  Sfceiuthars  Zeitschrift),  sowie  über  Lantiinterschiede 
des  Griechischen  und  des  Lateinischen  (1883  in  Kuhn's  Zeit- 
schrift) gab  er  zur  Eröffnung  der  neu  gegründeten  inter- 
nationalen Zeitschrift  Techmer's  (1884)  eine  , Einleitung  in 
die  allgemeine  Sprachwissenschaft"  ,  welche  abermals  den 
weit  ausblickenden  philosophischen  Standpunct  betonte  und 
ihre  Portsetzung  fand  in  Pott's  Berichten  „Zur  Literatur  der 
Sprachenkunde"  (in  Techmer's  Zeitschritt  1885  —  87).  Seine 
Schrift  „Allgemeine  Sprachwissenschaft  und  Carl  AbePs 
egyptische  Sprachstudien"  (1886)  scheint  nur  eine  ablehnende 
Beurtbeilung  gefunden  zu  haben  ^).  —  Wenn  auch  durch 
Pütt's  erstes  Hauptwerk ,  d.  h.  die  Etymologischen  Forsch- 
ungen, seine  übrigen  darauf  folgenden  Schriften  an  wissen- 
schaftlicher Wirksamkeit  überragt  werden ,  so  gab  er  doch 
stets  und  überall  Belelirung  oder  wenigstens  Anregung.  Zu 
der  jüngeren  Generation  der  Sprachforscher,  welche  mehr 
eine  historische  Richtung,  als  eine  philosophische,  einschlugen, 
kam  er  allerdings  nie  in  ein  rechtes  Verhältniss,  und  er  ver- 
werthete  gerne  seine  Lautlehre  und  seine  Laut-Symbolik  gegen 
die  jüngere  Schule ,  von  welcher  er  besonders  durch  die 
Fragen  über  den  Vocalismus  getrennt  war.  Aber  seine  in 
der  Geschichte  der  Wissenschaft  bleibende  hohe  Bedeutung 
liegt  darin ,  dass  die  jetzige  Sprachforschung  in  vieler  Be- 
ziehung eben  auf  seinen  Schultern  steht,  und  diese  Bedeutung 
fand  auch  ihre  allseitige  Anerkennung ,  indem  zahlreiche 
Akademien  (die  unsrige  im  Jahre  1870)  und  sprachwissen- 
schaftliche Gesellschaften  ihn  unter  ihre  Mitglieder  aufnah- 
men, wozu  noch  gegen  Ende  seines  Lebens  (Jun.  188())  die 
Ehrenbezeugung  kam,  dass  er  zum  stimmfähigen  Kitter  des 
Ordens    Pour  le  merite    ernannt    wurde.   —  Eine  Erkältung 


1)  Ein  Verzeichniss  der  sämmtlichen  einzelnen  Schriften  Pott's 
findet  sich  in  einem  von  P.  Hörn  verfassten  Nekrologe  in  Bezzen- 
berger's  Beiträgen  zur  Kunde  der  indogernian.  Sprachen,  Bd.  XITT, 
S.  317  tf. 


V.  Pnuitl:  Nekrolog  auf  Friedrich   Theodor   Vischer.  255 

legte  Anfangs  Mai  des  vorigen  Jahres  den  Keim  zn  einem 
heftigen  Bronchialkatarrh  mit  asthmatischen  Anfällen,  welche 
der  Körper  des  Fünfiuulachtzigjährigen  nicht  zu  überwinden 
vermochte,  und  am  5.  Juli  erlöste  ihn  der  Tod  von  seinem 
letzten  scliweren  Leiden. 

Friedrich  Theodor  Vischer, 

geboren    am    30.  Juni   1807    in   Ludvtdgsburg    als  Sohn    des 
dortigen  Archidiaconus,    kam    nach    dem    frühen    Tode    des 
Vaters  (1814)  nach  Stuttgart,  wo  er  das  Gymnasium  besuchte. 
Seiner    inneren   Neigung   nach    wollte    er   sich    der   Malerei 
widmen,  aber  die  Nothlage,  in  welcher  sich  die  B'amilie  be- 
fand, enthielt  die  Nöthigung,  auf  diesen  Plan  zu  verzichten, 
und  der  junge  Vischer  musste  zu  dem  gewöhnlichen  Studien- 
i^ange  greifen,  welcher  die  Aussicht  auf  eine  baldige  festere 
SteUung  gab.  So  trat  er  im  Herbst  1821  in  das  Seminar  zu 
Blaubeuren  ein,  von  wo  er  1825  in  das  Tübinger  Stift  über- 
gieng;     dort  beschäftigte    er   sich    neben    den    theologischen 
Vorlesungen    auch    mit  Philosophie,    und  zwar  zunächst  mit 
Schelling's  theosophischen  Ansichten,  dann  mit  Schleiermacher 
und  Spinoza  und  hierauf  mit  Hegel's  Phänomenologie.  Nach 
absolvirter  Universität    erhielt    er    eine    Stelle    als  Vicar    in 
Horrheim  bei   Vaihingen,    wo  er  die  Mussezeit    zur  Vervoll- 
ständigung  des  Studiums   der   Hegel'schen  Philosophie    ver- 
wandte und  sich  auch  in  dichterischen  Schöpfungen  versuchte 
(dieselben  erschienen  später,  183G,    im  Jahrbuche   schwäbi- 
scher Dichter) ;  von  dort  kam  er  im  Herbst  1831  als  Repe- 
tent nach  Maulbronn,  wo  er  seine  Doctor-Dissertation  „lieber 
die  Gliederung   der  Dogmatik^    ausarbeitete.     Im    folgenden 
Jahre  begab  er  sich  auf  Reisen,    welche  ihn  zunächst   nach 
Göttingen  führten,    wo  er   sich    näher  mit  Shakespeare    be- 
schäftigte und  hiemit  den  Grund  zu  jener  Begeisterung  legte, 
welche  er  fortan  für  denselben  empfand;    dann  verweilte  er 
einige  Zeit  in  Berlin,  wo  er  bei  Gans,   Henning  und  Hotho 

17* 


256  OeffentUche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

Vorlesungen  hörte,  sich  aber  von  Schleiermacher  durchaus 
nicht  angezogen  fühlte ;  von  dort  führte  ihn  der  Weg  nach 
Dresden,  Prag,  Wien  und  über  Tirol  nach  München,  wo  er 
in  den  Kunst-Sammlungen  seine  Kenntnisse  bereicherte.  In 
die  Heimat  zurückgekehrt,  erhielt  er  im  Juli  1833  die  Stelle 
eines  Repetenten  am  Tübinger  Stift,  an  welchem  er  mit 
David  Strau.ss,  Märklin  und  Binder  zusammen  war,  und  da 
er  als  Repetent  die  Berechtigung  hatte,  Vorlesungen  zu  halten, 
las  er  im  Sommer  1834  über  Göthe's  Faust  und  im  folgen- 
den Winter-Semester  zum  ersten  Male  über  Aesthetik.  Eine 
im  Herbst  1834  erfolgte  Ernennung  zum  Diaconus  in  Herren- 
berg machte  er  mit  mannhaftem  Entschlüsse  rückgängig,  da 
er  in  seinem  Inneren  bereits  von  Theologie  und  Kirche  los- 
gelöst war  und  es  ihm  widerstrebte,  ein  heuchlerisches  Spiel 
zu  spielen.  Im  Jahre  1836  arbeitete  er  seine  Habilitations- 
Schrift  „Ueber  das  Erhabene  und  Komische"  aus,  rückte  aber 
bald,  nachdem  Eschenmayer  von  seiner  Professur  zurückge- 
treten war,  vom  Privatdocenten  zum  ausserordentlichen  Pro- 
fessor vor  (1837);  damals  las  er  noch  über  Hegel  und  Enc}'- 
clopädie  der  Philosophie,  daneben  auch  über  Göthe's  Faust. 
In  einem  Aufsatze  „Dr.  Strauss  und  die  Wirtem berger "  (in 
den  Halle'schen  Jahrbüchern,  1838)  äusserte  er  sich  über 
die  pietistische  Richtung  und  über  die  landesübliche  Seminar- 
Erziehung,  welch'  letztere  er  auch  später  (in  seiner  Selbst- 
biographie in  ,Die  Gegenwart",  1874  und  in  „Altes  und 
Neues",  Heft  3,  1882)  mit  köstlichem  Humor  schilderte. 
Der  lebhafte  Drang  nach  kunstgeschichtlichen  Studien  führte 
ihn  im  Jahre  1839  zum  ersten  Male  nach  Italien  (hernach 
besuchte  er  es  noch  achtmal),  von  wo  er  im  Frühjahre  1840 
über  Sicilien  nach  Griechenland  reiste,  woselbst  er  mit  Ott- 
fried Müller,  Urlich's  und  Göttling  zusammentraf.  Nach 
Tübingen  zurückgekehrt  las  er  über  (beschichte  der  Malerei, 
sowie  über  Shakespeare,  und  eine  literarische  Frucht  jener 
Reise  war  ein  Aufsatz  „Populäre  Archäologie"   (in  den  Jahr- 


V.  Prautl  ■  Nekrolog  auf  Friedrich  Theodor   Vischer.        257 

büchern  der  Gegenwart,  1844,  jetzt  vermehrt  durch  eiixen 
zweiten  Artikel  ,Ans  einer  griechischen  Reise"  in  , Altes 
und  Neues",  Heft  1).  Nachdem  er  zum  ordentlichen  Pro- 
fessor ernannt  worden  war,  hielt  er  am  21.  November  1844 
seine  Antrittsrede,  in  welcher  er  das  Verhältniss  der  Aesthetik 
zu  den  einzelnen  Facultäten  besprach  und  zugleich  seinen 
theologischen  Gegnern  „offenen  Hass"  ankündigte.  In  Folge 
hievon  Hess  sich  das  württembergische  Ministerium  durch  die 
Dunkelmänner  dazu  drängen,  den  so  eben  ernannten  Pro- 
fessor Vischer  auf  zwei  Jahre  zu  suspendiren.  Derselbe  be- 
nutzte diese  unfreiwillige  Müsse  dazu,  die  Ausarbeitung  seines 
grossen  Lebens-Werkes  zu  beginnen.  Abgesehen  von  klei- 
neren Aufsätzen  über  die  Caricaturen -Zeichner  Gavarni  und 
Töpffer  (Jahrb.  d.  Gegenwart  1846)  und  über  Fischart's 
Glückhaft  Schiff  von  Zürich  unter  dem  Titel  „Ein  maleri- 
scher „Stoff"  (ebend.  1847)  war  es  die  Darstellung  der 
Aesthetik,  welcher  er  ausschliesslich  zwölf  Jahre  angestreng- 
tester geistiger  Arbeit  widmete.  Eine  Unterbrechung  trat 
nur  ein,  als  er  von  dem  Wahlkreise  Reutlingen  in  das  Frank- 
furter Parlament  gewählt  wurde,  wo  er  sich  der  gemässigten 
Linken  anschloss  und,  wenn  auch  unbefriedigt,  doch  gewissen- 
haft bis  zum  Stuttgarter  Rumpf-Parlamente  ausharrte  (unter 
dem  Eindrucke  des  Jahres  1848  schrieb  er  voll  Humor  „Das 
Bürgerwehr-Institut,  oder  ist  der  Jammer  noch  länger  anzu- 
sehen", 1849).  Von  der  „Aesthetik  oder  Wissenschaft  des 
Schönen"  erschien  der  erste  Theil  „Metaphysik  des  Schönen" 
184(3,  hierauf  der  zweite  Theil  „Das  Schöne  in  einseitiger 
Existenz"  als  „Das  Naturschöne"  (1847)  und  „Die  Phan- 
tasie" (1848),  der  dritte  Theil  „Die  Kunst  überhaupt  und 
ihre  Theilung"  (1851),  Avorauf  die  Einzeln-Künste,  nemhch 
„Baukunst-  (1852),  „Bildnerkunst"  (1853),  „Malerei" (1854), 
„Musik"  (1857)  und  „Dichtkunst"  (1857).  Dabei  ist,  wie 
Vischer  in  der  Vorrede  zur  Schlussabtheilung  ausdrücklich 
bemerkt,  die  Musik,  abgesehen  von  den  einleitenden  20  Para- 


258  Oeff entliche  Sitzwiff  rani  28.  März  1888. 

graphen,    welche  er  selbst  schrieb,  nicht  von  ihm,    sondern 
von  seinem  Amts-  und  Gesinnungsgenossen,  Prof.  Karl  Köst- 
lin,  dargestellt.     Man  kann    bedauern,    dass   der  erste  Band 
des  grossartigen  Werkes   in  einer  wahrhaft    abstrusen  Form 
geschrieben  ist,    was  sich  dadurch  erklärt,    dass  ihm  vorge- 
worfen worden  war,    er  habe  eine  feuilletonistische  Methode 
und  könne   jedenfalls  nicht    in  richtiger  hegelianischer  Dar- 
stellungsweise sich  bewegen,  worauf  Vischer  beschloss,  augen- 
scheinlich zu  zeigen,    dass  er  es  auch  verstehe,    in  dem  ab- 
stossendsten  Hegel'schen  Jargon    zu    schreiben.     Aber  wenn 
man  sich  durch  das  dialektische  Gestrüpp  des  ersten  Bandes 
hindurchgearbeitet  hat,    wird  man    in   dem  Folgenden  freu- 
digst überrascht   durch    die   staunenswerthe  Ausdehnung  des 
Wissens,    mittelst  dessen  massenhaftes  Detail   aufgehäuft  ist, 
ebenso  aber  auch  durch  die  stets  geistvolle  ästhetische  Auf- 
fassung, welche  diesen  Schatz  des  Einzelnen  durchdringt  und 
durchbaut,  sowie  durch  die  zutreffende  scharfe  Charakteristik 
der  Künstler    und    der  Kunstwerke.     Vischer  hatte    an  den- 
ienigen  Theil  des  Hegel'schen  Systems  angeknüpft,  welcher 
unter  Allem,    was  Hegel    geleistet  hat,    gleichsam  aus  Ver- 
sehen, d.  h.  durch  eine  grundsätzhche  Inconsequenz,  das  beste 
o-eworden    war,    nemlich    eben    an    die  Aesthetik    desselben, 
welche    er  jedoch    in    vielen  Puncten   wesentlich    modificirte. 
Es  steht  durchaus    nicht  so ,    wie  zuweilen    aus  den  Kreisen 
der  Herbart'schen  Formalisten  verlautet,   dass  Vischer's  Aes- 
thetik  bereits  überh(jlt  sei  und  jetzt  nach   'M)  Jahren  zu  den 
Antiquitäten  gerechnet  werden  müsse;      wenn  ihm    auch  die 
Psychologie  nicht  in  gleicher  Weise  wie  vielen  Herbartianern 
als  der  Zauberstab  galt,  welcher  alle  Fragen  richtig  löst,  so 
hat  er  doch  vielfach  in  einer  wahrhaft  feinen  Auffassung  an 
Psychologie  angeknüpft.    Ja  gewiss  waren  es  psychologische 
Erwägungen,  w-elche    ihn  veranlassten ,    das  wirklich  seltene 
Beispiel   eines  Selbstbekenntnisses    zu   geben,    wornach    eine 
frühere    systematische  Ueberzeugung    nach  reiflicher  Erwäg- 


r.  Praiill :  NekroUn/  auf  Friedrich    Thanlor    Visclier.  259 

unfj  aufgegeben  werden  soll.  Vischer  nämlich  sprach  es 
im  5.  Hefte  seiner  «Kritischen  Gänge'  unier  der  Ueber- 
schrift  ,  Kritik  meiner  Aesthetik"  selbst  aus  (18<3()),  dass 
der  Abschnitt  „Das  Naturschöne"  (s.  oben)  auszuwerfen 
sei,  da  zugegeben  werden  müsse,  dass  das  Naturschöne 
nie  ohne  Phantasie  empfunden  werde ,  folglich  also  die 
letztere  grundsätzlich  an  den  Anfang  der  Aesthetik  ge- 
stellt werden  müsse,  d.  h.  von  der  „Anschauung"  auszugehen 
sei.  Die  vielfach  erwartete  zweite  Auflage  der  Aesthetik,  in 
welcher  diese  Aenderung  durchzuführen  gewesen  wäre,  kam 
nicht  zu  Stande,  gewiss  aber  behält  auch  ohnediess  das  stau- 
nenswerthe  Werk  seine  bleibende  Wirkung  auf  Alle,  welche 
nicht  in  einseitiger  Befangenheit  verweilen.  —  Im  Jahre  1855 
folgte  Vischer  einem  Rufe  nach  Zürich,  wo  er  sowohl  an 
der  Universität  als  auch  am  Polytechnicum  Vorlesungen  zu 
halten  hatte.  Einige  Jahre  später  wurde  auch  in  München 
und  in  Karlsruhe  die  Frage  angeregt,  ob  man  nicht  diese 
hervorragende  Lehrkraft  gewinnen  solle.  Bei  der  Schillerfeier 
(1859)  hielt  er  die  Festrede,  und  bald  hernach  erschien  ein 
Aufsatz  über  Alfred  Rethel  (im  lUustrirten  Familienbuch  18G0). 
Kin  eigentbümlicher  Grundzug  lag  stets  in  Vischer's  Stell- 
ung zu  Göthe,  welchen  er  bald  günstig  bald  ungünstig,  bald 
bewundernd  bald  verwerfend  betrachtete  ;  höher  stand  ihm 
jedenfalls  Shakespeare ,  dessen  markige  Gestalten  ihn  sym- 
pathisch anzogen,  während  er  bei  Göthe  die  mannhafte  That- 
kraft  vermisste  und  z.  B.  in  „Dichtung  und  Wahrheit'  das 
Erzeugniss  einer  allzuweichen  Künstlerhand  erblickte,  welche 
nicht  untersciieiden  lässt,  was  wirklich  und  was  hinzugedichtet 
sei.  Er  war  überhaupt  der  Ansicht,  dass  man  gerne  Göthe 
in  unberechtigter  Weise  allseitigst  vergöttere  und  gegen  die 
Schwächen  desselben  sich  blind  verhalte,  was  namentlich  be- 
züglich des  zweiten  Theiles  des  Fau.st  gelte ,  von  welchem 
Vischer  einmal  (vielleicht  mit  Recht)  sagte,  derselbe  sei 
„frostig  allegorisch,  das  todtgeborne  Kind  einer  welken  Phan- 


260  Oeffentliche  Sitzung  vom  38.  März  1888. 

tasie."  So  Hess  er  denn  auch  seinem  Humor  die  Zügel  bei 
Abfassung  von  „Faust,  der  Tragödie  dritter  Theil  treu  im 
Geiste  des  zweiten  Theiles  des  Göthe'schen  Faust  gedichtet 
von  Deutobold  Symbolizetti  Allegoriowitsch  Mystifizinsky" 
(1862,  2.  und  3.  Aufl.  1886).  Im  Jahre  1866  wurde  er  durch 
den  Minister  Golther  wieder  nach  Tübingen  zurückgerufen, 
wobei  ihm  die  Pflicht  auferlegt  wurde ,  in  jeder  zweiten 
Woche  einige  Vorlesungen  am  Stuttgarter  Polytechnicum  zu 
halten ;  in  den  späteren  Jahren  aber  verblieb  er  ausschliess- 
lich in  Stuttgart,  sowie  er  auch  mehrfach  seine  persönliche 
Ueberzeugung  aussprach,  dass  die  Universität  in  die  Landes- 
hauptstadt verlegt  werden  solle.  Einen  im  Jahre  1869  an 
ihn  ergangenen  Ruf  an  die  polytechnische  Hochschule  zu 
München  lehnte  er  in  der  Erwägung,  in  seinem  Vaterlande 
rehabilitirt  worden  zu  sein ,  mit  pietätvoller  Gesinnung  ab. 
Rüstig  fuhr  er  immerhin  fort,  eine  reiche  Saat  kleinerer 
Schriften  zu  veröff'entlichen :  „Oberschwäbische  Zeitbilder" 
(im  Schwab.  Mercur  1866),  „Epigramme  aus  Baden-Baden" 
(1867),  sodann  über  eine  Schrift  BenelH's  „Ein  nationaler 
Gruss"  (Ueber  Land  und  Meer  1868),  „Voltaire,  sechs  Vor- 
träge von  D,  Strauss"  (Deutsche  Vierteljahrsschr.  1870), 
„Der  Krieg  und  die  Künste"  (1872).  In  den  „Kritischen 
Gängen",  welche  in  6  Heften  1860 — 73  erschienen,  flnden 
sich  ausser  der  oben  erwähnten  Selbstkritik  Aufsätze  über 
seine  Reisen,  über  das  Parlament,  über  ühland,  über  Rott- 
mann, und  insbesondere  (1872)  über  D.  Strauss'  Alter  und 
neuer  Glaube,  sowie  auch  über  die  politische  Wandlung,  durch 
welche  er,  der  früher  entschieden  grossdeutsch  gewesen,  sich 
seit  1870  freudig  an  das  neue  Reich  anzuschliessen  ver- 
mochte. Ferner  erschienen :  „Reuschle,  Philosophie  und  Natur- 
wissenschaft" (Jenaer  Lit. -Zeitung  1874),  „Gottfried  Keller" 
(Allg.  Zeitung  1874),  „Studien  über  den  Traum"  (ebd.  1875)^ 
„Noch  ein  Wort  über  Thiermisshandlung  in  Italien"  (ebd. 
1875)     und     „Ein    italienisches    Bad"     (ebd.),     gleichzeitig 


1-.  Pra»tl:  Nelcrolflfj  auf  Friedrich    Theodor   Vischer.  261 

„Göthe's  Faust;  neue  Beiträge  zur  Kritik  des  Gedichtes' 
(1875)  und  biezu  später  ,Zur  Vertheidigung  meiner  Schritt 
Göthe's  Faust"  (Deutsche  Revue  1880);  ferner  „Nachruf  an 
Moerike's  Grab"  (1875)  und  Jiede  bei  Einweihung  des 
Moerike-Denkmales"  (1880),  „Publicistisches"  (Allg.  Zeitung 
1877),  ,Mode  und  Cynismus"  (1878,  3.  Aufl.  1887),  , Wie- 
der einmal  über  die  Mode"  (Nord  und  Süd  1878),  „Ludwig 
Weisser"  (d.  h.  über  einen  Kunst-Sammler.  Im  neuen  Reich 
1879).  Dann  folgte  die  höchst  originelle  Novelle  ,Aucli 
Einer"  (1879,  3.  Aufl.  1884),  in  welcher  eine  Reihe  specu- 
iativ  allgemeiner  Anschauungen  den  Grundton  bildet  (die 
kleinen  menschlichen  Leiden,  Verwerflichkeit  der  Thierquä- 
lerei,  Fortschritt  der  Menschheit,  Pfahlbauten-Zeit  u.  dgl.), 
und  gegenüber  einer  missliebigen  Recension  über  diese  Schrift 
verfasste  Vischer  ein  Scherz-Gedicht  „Einhart's  Schicksal", 
sowie  er  auch  eine  ästhetische  Rechtfertigung  des  ganzen 
Planes  derselben  versuchte  (Altes  und  Neues,  Heft  3).  Be- 
züglich der  „Lyrischen  Gänge"  (1882)  mag  ausdrücklich  be- 
merkt werden,  dass  Vischer  in  dieser  Gedicht-Sammlung  mit 
ergötzlichem  Spotte  jene  ultramontanen  Kundgebungen  (Alex. 
Baumgartner,  Soc.  Jes.)  behandelte,  welche  über  Göthe  fana- 
tisch herfallen  zu  dürfen  glaubten.  Im  Jahre  1882  vereinigte 
Vischer  unter  dem  Titel  „Altes  und  Neues"  die  Mehrzahl  der 
oben  erwähnten  kleineren  Abhandlungen.  Es  erschien  dann 
noch  ein  Lustspiel  „Nicht  la"  (1884),  sowie  ein  Festspiel 
zur  Uhland-Feier  (1887).  Dass  aber  Vischer  trotz  der  vielen 
und  sehr  verschiedenen  Einzel-Schriften  den  Grundgedanken 
seines  Lebens-Werkes  nicht  ausser  Augen  liess,  ersehen  wir 
nicht  ohne  Rührung  aus  dem  letzten  Erzeugnisse  seiner  frucht- 
reichen Thätigkeit;  nemlich  in  der  Sammel-Schrift  „Philo- 
sophische Aufsätze ,  Ed.  Zeller  zu  seinem  fünfzigjährigen 
Doctorjubiläum  gewidmet"  (1887)  hat  er  —  abgesehen  von 
der  so  wohlthuend  warmen  „Widmung"  an  Zeller  —  unter 
dem  Titel  „Das  Symbol"   auf  diese  vielbesprochene  Kernfrage 


262  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

aller  Aesthetik  zurückgegriffen  und  an  eine  Analyse  des 
Symbolbegriffes  die  Darlegung  dreier  Entwicklungsstufen  des 
Symbolischen  geknüpft.  —  Vischer,  welcher  seit  1864  unserer 
Akademie  als  Mitglied  angehörte,  zeigte  sicli  in  seinen  hoch- 
bedeutenden Leistungen  als  einen  Mann  von  ganz  eigenartiger 
Natur,  in  welcher  künstlerische  Begabung  und  philosophische 
Schulung  vereinigt  waren  und  die  grösste  Schärfe  des  Den- 
kens sich  mit  der  vollen  Wärme  des  Gemüthes  paarte ,  so- 
wie als  einen  stets  sich  treubleibenden  Charakter  und  schnei- 
digen Verfechter  seiner  Ueberzeugung.  Im  Leben  wie  in  der 
Wissenschaft  bethätigte  er  den  Muth  der  Wahrheit  und  den 
Glauben  an  die  Macht  der  Ideale.  Alles,  was  er  schrieb, 
niuss  als  geistvoll  bezeichnet  werden,  und  mit  dieser  unmittel- 
baren Begabung  verband  sich  jener  Blick  auf  das  Einzelne, 
welcher  auch  nicht  das  scheinbar  Geringfügige  als  unbedeu- 
tend übergeht ;  hiezu  kam  noch ,  dass  er  des  Humors  in 
hohem  Grade  mächtig  war  und  hiedurch  in  eigenthümlicher 
Weise  den  Genuss  seiner  ernsteren  Schriften  zu  würzen  ver- 
stand. Einen  selbständigen  humoristischen  Zweck  verfolgte 
er,  abgesehen  von  Einigem ,  was  bereits  oben  angeführt 
worden,  auch  unter  dem  Pseudonyui  , Schartenmayer"  (wel- 
chen Neben-Namen  er  in  Freundeskreisen  schon  früher  er- 
halten hatte)  in  der  Schrift  „Der  deutsche  Krieg  1870 — 1871, 
ein  Heldengedicht"  (1874,  5.  Aufl.  1878).  -  In  welch' 
hohem  Grade  die  Bedeutung  dieses  hervorragenden  Mannes 
anerkannt  war,  ergiebt  sich  aus  der  übergrossen  Zahl  der 
Freunde  und  Verehrer,  welche  ihm  zu  seinem  achtzigsten 
Gebnrtstage  ein  Zeichen  ihrer  (hinkbarsten  Gesinnung  dar- 
brachten. —  Auf  einer  Erholungsreise  in  den  Ferien  hatte 
er  sich  eine  Erkältung  zugezogen,  in  Folge  deren  er  am 
14.  September  in  Gnmnden  verschied. 


V.  Prantl :  Xekrolniß  auf  Heinrich  Lebrecht  Fleischer.  2<i3 

Heinrich  Lebrecht  Fleischer, 

u;eb(»ren  am  21.  Februar  1801  zu  Schandau  in  der  sächsi- 
schen Schweiz,  besuchte  1814  das  Gymnasium  in  Bautzen 
und  studirte  von  1819 — 24  an  der  Universität  Leipzig  Tlieo- 
logie  und  orientalische  Sprachen.  Im  Jahre  1824  begab  er 
sich  nach  Paris,  wo  er  durch  De  Sac}'  in  tieferes  Studium 
des  Arabischen  eingeführt  wurde  und  sich  mit  den  reichen 
Schätzen  der  dortigen  Bibliotheken  beschäftigte ;  auch  lernte 
er  die  lebende  arabische  Sprache  durch  Caussin  de  Perceval 
kennen  und  trat  in  Verkehr  mit  den  jungen  Aegyptern, 
welche  Mehmed  Ali  nach  Paris  geschickt  hatte.  In  die  Hei- 
mat zurückgekehrt  veröffentlichte  er  als  Erstlings  -  Schrift 
,  Remarques  eritiques  sur  le  I.  tome  de  l'edition  des  1001 
nuits  de  Mr.  Hal)icht''  (1827),  worauf  eine  Ausgabe  von 
,Abulfedae  historia  auteislamica"  (1831)  folgte,  und  als  er 
1831  eine  Anstellung  als  Lehrer  an  der  Kreuzschule  zu 
Dresden  gefunden  hatte,  bearbeitete  er  den  „Catalogus  codi- 
cum  manuscriptorum  orientalium  bibliothecae  regiae  Dres- 
densis"  (1831),  und  es  folgte  dann  ,Samachschari's  Goldene 
Halsbänder  (Deutsche  üebersetzung  1835),  worüber  er  in 
einen  Ideibenden  Conflict  mit  Hammer-Purgstall  kam,  welcher 
ein  gleichnamiges  Internehmen  veröffentlicht  hatte.  Im  .Jahre 
1835  wurde  ihm  in  Petersburg  ein  Lehrstuhl  des  Persischen, 
verbunden  mit  der  Stelle  eines  Adjuncten  an  der  Akademie, 
angeboten,  und  er  war  eben  im  Begriffe,  dorthin  behufs 
näherer  Einsichtnahme  abzureisen,  als  in  Leipzig  (17.  Sep- 
tember) Rosenmüller  starb ,  an  dessen  Stelle  Fleischer  (am 
19.  October  1835)  zum  ordentlichen  Professor  ernannt  wurde. 
Hiemit  begann  eine  langdauernde  äusserst  segensreiche  Wirk- 
samkeit sowohl  in  Bezug  auf  Lehrthätigkeit  al.s  auch  in 
zahlreichen  literarischen  Leistungen.  In  ersterer  Beziehung 
kämpfte  er  gegen  die  üblich  gewordene  Einrichtung,  dass 
der  Orientalist  nicht  bloss  die  lebenden  und  todten  Sprachen 


264  Oeffentliche  Sitzung  iwn  28.  März  1888. 

als  solche,  sondern  auch  die  Exegese  des  alten  Testamentes 
vertrat,  und  indem  er  sich  lediglich  auf  Arabisch,  Persisch 
und  Türkisch  beschränkte,  errang  er  von  der  Regierung  die 
Errichtung  zweier  anderweitiger  neuer  Lehrstühle.  Was  er 
als  Lehrer  in  einer  mehr  als  t'ünzigjährigen  ununterbroche- 
nen Thätigkeit  wirkte,  wird  von  den  zahlreichen  hervor- 
ragenden Orientalisten,  welche  aus  seiner  Schule  hervorgien- 
gen ,  dankbarst  anerkannt ,  und  die  Leipziger  Universität 
durfte  sich  Glück  wünschen ,  als  Fleischer  im  Jahre  1860 
den  von  Berlin  an  ihn  ergangenen  Ruf  ablehnte.  Die  be- 
gonnene schriftstellerische  Arbeit  setzte  er  fort  zunächst  durch 
„De  glossis  Habichtiaiiis  in  IV  priores  tomos  MI  noctium 
disputatio  critica"  (1836),  dann  folgte  „Ali's  liundert  Sprüche, 
arabisch  und  persisch  paraphrasirt  von  Watwat ,  herausge- 
geben, übersetzt  und  mit  Anmerkungen  begleitet"  (1837); 
auch  vollendete  er  Naumann's  „Catalogus  librorum  manu- 
scriptorum ,  (pii  in  bibliotheca  senatoria  civitatis  Lipsiensis 
asservantur",  d.  h.  die  dritte  Abtheilung  , Codices  arabici, 
persici,  turcici",  (1838),  und  nach  Habicht's  Tod  besorgte  er 
die  Fortsetzung  der  arabischen  Ausgabe  von  1001  Nacht, 
nemlich  Bd.  IX— XII  (1842  f.).  Bei  der  im  Jahre  1844  in 
Dresden  tagenden  Philologen-Versammlung  waren  zum  ersten 
Male  die  deutschen  Orientalisten  vereinigt,  deren  Vorsitz 
Fleischer  übernahm,  wobei  er  die  Gründung  einer  deutschen 
Orientalisten-Gesellschaft  vorschlug,  und  in  der  That  consti- 
tuirte  sich  im  folgenden  Jahre  (1845)  zu  Darmstadt  die 
deutsche  morgenländische  Gesellschalt,  deren  Jahresberichte 
von  1846  bis  1849  Fleischer  verfasste,  sowie  er  auch  die 
von  der  Gesellschaft  gegründete  Zeitschrift  in  den  ersten 
zwei  Jahren  (1847  f.)  redigirte  und  später  fortan  durch  zahl- 
reiche Beiträge  zierte^).  Er  veröffentlichte   „Beidhawii  Com- 


1)  Im  Folgenden  bezeichne  ich  die  in  der  , Zeitschrift  der  deut- 
schen morgenländischen  Gesellschaft"  erschienenen  Aufsätze  Fleischer'a 


V.  Pra>itl :  Nel-rolng  auf  Heinrich  l.ebrccht  Flei.<tcher.         265 

mentarius  in  Corauum  ex  codicibns  Parisiensibus"  (2  Bände 
1846—48),  wobei  er  nach  dem  Urtheile  der  Fachkundigen 
ausserordentliche  Schwierigkeiten  in  staunenswerther  Weise 
überwand;  hierauf  folgte :  „Mirza  Mohammed  Ibrahim,  Gram- 
matik der  lebenden  persischen  Sprache,  aus  dem  Englischen" 
(1847,  2.  Aufl.  1875);  sodann  „Die  ersten  orientalischen 
Druckwerke  der  k.  k.  Staatsdruekerei  in  Wien"  (1847.  Z), 
,Ueber  eiuen  griechisch-arabischen  Codex  rescriptus  der  Leip- 
ziger Universitäts- Bibliothek  (1847.  Z),  „Ueber  Ableitung 
und  Bedeutung  des  semitischen  Namens  des  Wolfes  (1848. 
B),  „Ueber  den  türkischen  Volksroman  Sireti  Seyid  Bathäl" 
(1848.  B),  .Ueber  das  vorbedeutende  Gliederzucken  bei  den 
Morgenländern"  (1849.  B),  „Literarisches  aus  Beirut"  und 
,Eine  neu-arabische  Kaside  von  Färis  esh-Shidiäk"  (1851. 
Z.),  , Ueber  das  syrische  Fürstenhaus  der  Benu-Shihäb" 
(1851.  B),  „Ueber  d.  türkische  Chatäi-Näme"  (1851.  B), 
,Zur  Geographie  und  Statistik  des  nördlichen  Libanon" 
(1852.  Z),  „Michael  Meschäka's  Culturstatistik  von  Damas- 
kus" (1854.  Z),  „Die  Refaijjah"  (1854.  Z),  „Beschreibung 
der  von  Tischendorf  1853  aus  dem  Morgenlande  zurückge- 
brachten christlich-arabischen  Handschriften"  (1854.  Z),  „Eine 
türkische  Inschrift  in  Galizien"  (1854.  Z),  „Ueber  Thaalibi's 
arabische  Synonymik  mit  einem  Vorworte  über  arabische 
Lexikographie"  (1854.  B),  „Ueber  das  Verhältniss  und  die 
Construction  der  Sach-  und  Stofl:' -  Wörter  im  Arabischen" 
(185(5.  B),  „Briefwechsel  zwischen  den  Anführern  der  Waha- 
biten  und  dem  Pascha  von  Damaskus"  (1857.  Z),  „Neu-ara- 
bische Volkslieder"  (1857.  Z),  „Beiträge  zur  Wiederherstell- 
ung der  Verse  in  Abulmahasin's  Annalen"  (1857.  B),  „Abu 
Zaid's  Buch  der  Seltenheiten"  (1858.  Z),   „Ankündigung  der 


mit  Z,  sowie  jene  aus  den  , Berichten  über  die  Verhandlungen  der 
k.  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  (Philol.-hist.  LUassej" 
mit  B. 


266  OeffentUche  Sitzunfj  imn  38.  März  1888. 

neuen  arabischen  Zeitung  Hadikat  al-achbär"  (1858.  Z), 
„Commentar  /ai  N.  J.  Seetzen's  Reisen"  (1859),  „lieber  die 
Culturbestrebnngen  in  Beirut"  (1859.  B),  „Arabische  In- 
schriften" (1859  u.  60.  Z),  „Ueber  einige  Arten  der  Nonii- 
nal-Apposition  im  Arabischen"  (1862.  B) ,  „Ueber  farbige 
Lichterscheinungen  der  Sufi's  (1862.  Z),  „Eine  türkische 
Bade-lnschrift  in  Ofen"  (1863.  Z),  „Vermischtes"  (1861  u. 
65.  Z).  Nun  begann  er  in  den  Berichten  der  k.  sächs.  Ge- 
sellschaft d.  Wissenschaften ,  welche  ihn  (1859)  zu  ihrem 
Classensecretäre  gewählt  hatte,  eine  Reihe  von  elf  kostbarsten 
Abhandlungen  zu  veröffentlichen,  welche  unter  dem  Titel 
„Beiträge  zur  araluscheu  Sprachkuude"  (in  den  Jahrgän- 
gen 1863,  1864,  1866,  1870,  1874,  1876,  1878,  1880, 
1881,  1883  und  1884)  gedruckt  wurden  und  im  Anschlüsse 
an  die  im  Jahre  1831  erschienene  2.  Auflage  der  arabischen 
Grammatik  De  Sacy's  die  Grundlage  einer  Neubearbeitung 
derselben  auf  breitester  Basis  enthalten ,  nachdem  für  die 
arabische  Sprachwissenschaft  seit  jener  Zeit  ein  so  reiches 
Material  aiierwach.sen  war,  dass  eine  vollständige  Umgestalt- 
ung des  Werkes  De  Sacy's  sich  als  nothwendig  erwies. 
Hauptsächliche  Bausteine  hiezu  gewann  Fleischer  aus  Ewald's 
Grammatik,  aus  Broch's  Ausgabe  des  Mufassal,  aus  Ibn 
Ja'i's  Commentar  zu  Zamachsari's  Mufassal  ed.  Jahn,  aus  Al- 
fijjah  ed.  Dieterici  und  aus  dem  arabischen  Wörterbuche 
Muhit  al  Muhit.  Mit  Freuden  durfte  es  begrüsst  werden, 
dass  Fleischer  diese  elf  Abhandlungen,  welche  allein  genügen 
würden,  ihm  die  Geltung  des  hervorragendsten  Arabisten  der 
Gegenwart  zu  sichern,  unter  dem  Titel  „Kleinere  Schriften. 
Erster  Band"  (1885)  zusammenfassend  veröfi'entlichte.  Da- 
neben erschienen  gleichfalls  in  den  Berichten  der  sächs.  Ge- 
sellsch.  d.  Wiss.  (in  den  Jahrgängen  1867  ,  1868  u.  1869) 
Anmerkungen  und  Text- Verbesserungen  zur  Ausgabe  des 
Geschichtsvverkes  Al-Makkari's  von  Dozy,  Dugat,  Krehl  und 
Wright.     Ferner:     „Zur  Geschichte    der  arabischen  Schrift" 


r.  Praiifl:  Nekrolnf)  auf  Heinrich  Lehrecht  VJeincher.         -^>7 

(1864.  Z),   , Jüdisch- Arabisches  aus  Magreb"  (1804.  Z),  ,Ab- 
delkatler's  Wallfahrtsgedicbt"  (18()4.  Z),   „Persische  Klingen- 
Inschrift"    (1804.  Z),     ,Ueber  d.  arabische  Keim-A"     (1800. 
Z),   „Ergänzungen  und  Berichtigungen"   (1800.  Z),    „Hermes 
Trismegistos,  An  die  menschliche  Seele,  arabisch  und  deutsch" 
(1870),   „Beiträge  zu  J.  Levy ,    Neuhebräisches  und  chaldäi- 
sches  Wörterbuch  über  d.  Talmudim  und  Midraschim"  (1875), 
„Bemerkungen    zu    arabischer  Grammatik"    (1870.  Z),     „Zu 
Rüekert's    Grammatik,     Rhetorik    und    Poetik    der    Perser" 
(1877  1'.  Z).     Auch    lieferte    er  Anmerkungen    zu   Juynboll's 
Lexicon     geograpbicum    und     war    Mitarbeiter    an    „Quandt, 
Anleitung  für  Beschauer  des  historischen  Museums  zu  Dres- 
den" ;     die  letzte  Arbeit  Fleischer's    war   „Eine  Stimme  aus 
dem  Morgenlande  über  Dozy's  Supplement  aux  dictionnaires 
arabes"   (1887.  B).  —  Die  Fachkundigen  sind  darüber  einig, 
dass  Fleischer's  Bedeutung  als  Arabist  auf  seiner  gründlichen 
Kenntuiss  der  arabischen  National-Grammatik   beruht,    sowie 
dass  seine  Schriften   überhaupt  den  Stempel    wahrer  Gelehr- 
samkeit an  sich  tragen ,    indem    in  denselben  die  sorgsamste 
Genauigkeit  sich  mit  einer  entschiedenen  Sicherheit  verbindet 
und  ein  stets  auf  den  Grund  gehender  Spürsinn  d;i/u  führt, 
Rechenschaft    über  Alles    zu  fordern    und    zu  geben.     Seine 
hervorragenden  Leistungen  brachten  ihm  auch  die  Anerkenn- 
ung, dass  viele  Akademien  (die  unsere  im  .Jahre    1848)  ihn 
unter  ihre  Mitglieder  aufnahmen,    sowie  dass  ihm  der  baye- 
rische Maximilians-Orden,  der  preussische  Orden  Pour  le  me- 
rite,  der  russische  Stanislaus-  und  der  türkische  Medschidje- 
Orden    verliehen    wurden.     Sein    an    wissenschaftlichen  Ver- 
diensten reiches  Leben  endete  am  10.  Febr.  heurigen  Jahres. 


268  Oeffentiiche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 


Der  Classensekretär  Herr  v.  Gieseb recht  sprach: 
Die  historische  Classe  liat  durch  den  Tod  eines  ihrer 
hiesigen  Mitglieder  einen  höchst  schmerzlichen  Verlust  er- 
litten. Am  13.  September  vorigen  Jahres  starb  in  Schwabing 
Dr.  Alois  von  Brinz,  k.  Geheimrath  und  LTniversitäts- 
protessor,  seit  1883  ordentliches  Mitglied  unserer  Akademie. 
Brinz,  am  25.  Februar  1820  zu  Weiler  im  Allgäu  ge- 
boren, kam  schon  in  erster  Kindheit  nach  Kempten,  als  sein 
Vater  dort  die  Stelle  eines  ProtokoUisten  am  Kreis-  und 
Stadtgericht  erhielt.  Reim  Tode  des  Vaters  (1835)  hinter- 
blieb dessen  zahlreiche  Familie  in  beschränkten  Verhältnissen, 
so  dass  der  Zweitälteste  Sohn  Alois  früh  daran  denken  musste, 
selbst  für  seinen  Unterhalt  zu  sorgen.  Er  lernte  gern  und 
leicht;  in  allen  Klassen  des  Kemptener  Gymnasiums  stand 
er  an  der  Spitze  seiner  Mitschüler,  und  die  Mutter  setzte, 
als  er  1837  die  Universität  München  bezog,  auf  ihn  die 
besten  Hoffnungen.  Seine  Absicht  war  zuerst,  sich  dem  Rechts- 
studium zu  widmen,  doch  änderte  er  bald  seinen  Entschluss 
und  wandte  sich  der  Philologie  zu.  Nach  Ablauf  des  vor- 
geschriebenen Trienniums  unterzog  er  sich  1841  der  Prüfung 
jür  das  Gymnasiallehramt  und  bestand  sie  mit  gutem  Er- 
iblge.  Aljer  er  hatte  in  den  philologischen  Studien  doch 
nicht  die  rechte  Befriedigung,  keinen  ihn  dauernd  fesseln- 
den Arbeitsstoff  gefunden.  Durch  seinen  Freund  Konrad 
Maurer  angeregt,  entschloss  er  sich  daher,  es  noch  einmal  mit 
der  Jurisprudenz  zu  versuchen  und  begab  sich  nach  Jahres- 
irist  mit  dem  Freunde  nach  Berlin,  um  Puchta  zu  hören. 
Mit  grossem  Fleis.se  verlegte  er  sich  hier  namentlich  auf 
rechtsgeschichtliche  Studien  und  allmählich  erwachte  in 
ihm  ein  tieferes  Interesse  für  dieselben;  besonders  die 
Vorlesungen  Hudorffs  übten  auf  ihn  eine  nachhaltige  Wirk- 
uniT.     Obwohl    er    damals    und  in    der    nächsten    Zeit    sein 


('.  Giefiehrecht :  Nekrolog  auf  Alois  v.  Brinz.  269 

eigenes  Arbeitsfeld  mehr  im  deutschen  als  im  römischen 
Ixeelit  zu  finden  hoffte,  trieb  er  das  Studium  des  römischen 
Civilrecht«,  welches  er  als  die  nothwendigste  Vorbereitung 
für  seine  Lebensaufgabe  ansah,  mit  vollem  Ernste. 

Nach  seiner  Rückkehr  von  Berlin  bestand  Brinz  1844 
die  theoretisch -juristische  Prüfung  und  zwei  Jahre  darauf 
den  sogenannten  Staatsconcurs ;  auch  alle  anderen  Bedinge- 
ungen  für  den  Eintritt  in  den  praktischen  Staatsdienst  er- 
füllte er,  ohne  dass  er  gerade  besondere  Neigung  zu  dem- 
selben empfand.  Inzwischen  hatte  er  sich  mehr  und  mehr 
in  das  Studium  des  Corpus  iuris  vertieft  und  war  hier  ganz 
heimisch  geworden ;  wissenschaftliche  Probleme  waren  ihm 
hier  entgegengetreten ,  an  deren  Lösung  er  sich  versuchte. 
Damit  erwuchs  das  Streben  nach  einer  akademischen  Thätio-- 
keit,  zu  der  ihn  auch  freundschaftlicher  Zuspruch  ermuthigte. 
Auf  Grund  seiner  Inaugural  -  Dissertation :  ,Notamina  ad 
usum  fructum**  wurde  er  1849  zum  Doctor  iuris  in  Erlangen 
promovirt,  und  schon  im  nächsten  Jahre  habilitirte  er  sich 
als  Privatdocent  an  unserer  Universität.  Die  Habilitations- 
schrift: „Die  Lehre  von  der  Compensation",  die  auch  in 
weiteren  juristischen  Kreisen  Anerkennung  fand,  war  wohl 
hauptsächlich  die  Veranlassung,  dass  ihm  nach  kurzer  Zeit 
von  zwei  Seiten  Professuren  angeboten  wurden.  Nach  Basel 
berief  man  ihn  in  die  Stellung  eines  ordentlichen  Professors 
des  römischen  Rechts.  So  verlockend  dieser  Ruf  für  den 
jungen  Docenten  war,  zog  er  es  doch  vor,  in  Baiern  zu 
))leiben  und  die  Stelle  eines  ausserordentlichen  Professors  in 
Erlangen  anzunehmen. 

Zu  Ostern  1852  trat  Brinz  sein  Lehramt  in  Erlangen 
an  und  begründete  alsbald  dort  durch  die  Ehe  mit  Karoliue 
Zenetti  sein  Familienleben,  welches  für  ihn  der  unversieg- 
liche  Born  reinsten  Glückes  wurde.  Alle  Verhältnisse  ge- 
stalteten sich  für  ihn  günstig.  Bald  zeigte  sich  seine  au.sser- 
ordentliche  Begabung  zum  akademischen  Lehrer.  Die  Frische 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Cl.  2.  18 


270  Oe  ff  entliche  Sitzung  vom  3S.  März  1888. 

und  Originalität  seiner  Gedanken ,  die  Energie  seiner  Rede 
machten  auf  die  Studirenden  einen  tiefen  Eindruck ;  er 
wusste  sie  für  eine  ideale  Auffassung  der  Wissenschaft  zu 
erwärmen,  zu  ernsten  Anstrengungen  zu  ermuthigen,  und 
durch  die  leutselige,  joviale  Art  des  Verkehrs  mit  ihnen  ge- 
wann er  leicht  ihre  Herzen.  Auch  literarisch  erwies  er  sich 
sehr  thätig.  Heftweise  erschienen  die  „Kritischen  Blätter 
civilistischen  Inhalts",  welche  in  den  juristischen  Kreisen 
Aufsehen  erregten,  und  ihnen  folgte  die  erste  Abtheilung 
des  „Lehrbuchs  der  Pandekten",  seines  Hauptwerkes.  Schon 
1854  wurde  er  zum  ordentlichen  Professor  des  römischen 
Rechts  in  Erlangen  befördert,  aber  es  war  vorauszusehen, 
dass  sich  ihm  über  kurzem  an  einer  grösseren  Universität 
ein  weiterer  Wirkungskreis  eröffnen  würde.  Die  juristische 
Fakultät  und  der  Senat  unsrer  Hochschule  suchten  ihn  schon 
damals  für  München  zu  gewinnen ,  doch  ging  die  Staats- 
regierung auf  seine  Berufung  nicht  ein  ,  und  so  entschloss 
er  sich  1857    einem  ehrenvollen  Rufe  nach  Prag  zu  folgen. 

Die  österreichischen  Verhältnisse,  in  welche  Brinz  nun 
eintrat,  erschienen  ihm  nicht  als  völlig  fremde.  Sein  Ge- 
burtsort hatte  früher  zu  Oesterreich  gehört;  er  selbst  ent- 
stammte einer  altösterreichischen  Familie.  Um  so  leichter 
lebte  er  in  Prag  sich  ein.  Sein  ausgedehnterer  akademischer 
Wirkungskreis  befriedigte  ihn,  und  er  fand  auch  zu  literari- 
scher Thätigkeit  noch  so  weit  Zeit,  dass  er  die  zweite  Ab- 
theilung seines  Pandektenlehrbuches  veröffentlichen  konnte. 
Allgemein  wurde  die  Aufmerksamkeit  auf  ihn  gelenkt ,  als 
er  bei  der  Prager  Schillerfeier  am  1*.  November  1859  in 
gewaltiger  Rede  den  Dichter  der  Ideale  feierte.  Es  erschien 
fast  selbstverständlich,  dass  die  Deutschen  in  B(")hmen  im 
Jahre  1861,  als  die  Repräsentativ-Verfassung  in  Oesterreich 
eingeführt  wurde ,  einen  so  glänzenden  Redner  ihren  Ver- 
tretern zugesellten.  So  wurde  er  von  dem  Wahlkreis  Karls- 


V.  Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Alois  r.  Brinz.  271 

bad-Joachimsthal    in  den   l)(3hmischen  Landtag  nnd  von  die- 
sem dann   in  den   Reichstag  abgeordnet. 

Die  nächsten  fünf  Jahre  hat  er,  bald  in  Wien,  bahi  in 
Prag  lebend,  mitten  in  dem  bewegten  politischen  Leben  des 
Kaiserstaats  gestanden.  Wie  er  seine  Stellung  hier  auffasste, 
hat  er  selbst  im  Reichsrathe  so  ausgedrückt:  Jch  bin  be- 
rufen, römisehes  Recht  in  Prag  zu  lehren  und  habe  einen 
zweiten  Beruf  nun  darin  gefunden,  dort  altes  deutsches  Recht 
zu  vertheidigen."  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  die  poli- 
tische Wirksamkeit  von  Brinz  näher  einzugehen.  Allgemein  be- 
kannt ist,  dass  er  als  parlamentarischer  Redner  unvergleichliche 
Erfolge  gewann.  Indem  er  seiner  innersten,  unerschütterlichen 
Ueberzeugung  den  treffendsten  Ausdruck  zu  geben  wusste, 
übte  er  eine  unwiderstehliche  Macht  auf  die  Zuhörer.  Brinz 
war  eine  viel  zu  selbstständige  Natur,  als  dass  er  sich  je 
ganz  in  den  Bann  einer  Partei  gestellt  hätte,  aber  ohne 
allen  Zweifel  war  seine  Gesinnung  durch  und  durch  liberal. 
Vor  Allem  jedoch  war  er  grossdeutsch ;  die  Verbindung 
Oesterreichs  mit  den  andren  deutschen  Staaten  zu  erhalten 
und  zu  kräftigen,  blieb  das  letzte  Ziel  seines  politischen 
Strebens. 

Nie  hat  Brinz  daran  gedacht,  seine  gelehrte  Thätigkeit 
mit  der  eines  leitenden  Staatsmannes  zu  vertauschen  ;  um  so 
erklärlicher  ist,  dass  er  trotz  seiner  grossen  parlamentarischen 
Erfolge  sich  doch  wieder  nach  einer  ungestörten  akademi- 
schen Thätigkeit  und  einem  ruhigeren  Familienleben  zurück- 
sehnte. In  Prag  hätte  er  sich  unmöglich  der  Politik  ent- 
ziehen können,  eine  Aenderung  seiner  bisherigen  Stellung 
musste  ihm  deshalb  erwünscht  .sein.  Aber  als  er  gegen  Ende 
1865  einen  Ruf  an  die  Universität  Tübingen  erhielt,  fiel  es 
ihm  doch  schwer,  aus  Oesterreich,  dem  er  .sich  so  fest  ver- 
bunden fühlte,  scheiden  zu  sollen;  seine  Wünsche  gingen 
nach  Wien,  wo  die  juristische  Fakultät  ihn  für  eine  erledigte 

18* 


272  Oeff entliehe  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

Professur  des  römischen  Rechts  in  Aussicht  genommen  hatte. 
Er  Hess  darüber  die  Staatsregierung  nicht  in  Zweifel,  erhielt 
aber  einen  Bescheid,  der  ihn  nicht  länger  zögern  Hess  ,  den 
Tübinger  Ruf  anzunehmen.  Er  hat  noch  die  Katastrophe 
von  18G6  in  Prag  erlebt.  Der  Schlag  war  gefallen ,  der 
seine  Hoffnungen  auf  die  politische  Einigung  Gesammtdeutsch- 
lands  vernichtet  hatte. 

Für  Brinz  war  es  wohl  als  ein  Glück  anzusehen  ,  dass 
er  damals  in  neue  Lebensverhältnisse  versetzt  wurde  ,  zumal 
diese  Verhältnisse  ihm  vielfach  Befriedigung  boten.  Aus  dem 
Schwabenlande  war  er  hervorgegangen  und  hatte  sein  schwä- 
bisches Naturell  sich  immer  treu  bewahrt:  wie  hätte  ihn 
da  das  Leben  am  Neckar  nicht  anmuthen  sollen  ?  Eine 
Freude  war  es  ihm ,  dass  er  sich  jetzt  frei  wieder  seinen 
wissenschaftlichen  Studien  hingeben  konnte.  Seine  Lehr- 
thätigkeit  war  erfolgreich  ,  wie  sie  immer  gewesen ,  und  zu 
literarischen  Arbeiten  fand  er  so  viel  Müsse,  dass  er  sein 
Lehrbuch  der  Pandekten  vollenden  konnte.  Nicht ,  dass  er 
der  Politik  gänzlich  den  Rücken  gewandt  hätte  und  gegen 
das  Schicksal  Oesterreichs  gleichgiltig  geworden  wäre,  viel- 
mehr unterhielt  er  Verbindungen  mit  den  Volksvereinen, 
welche  die  Ziele  der  früheren  grossdeutschen  Partei  in  Süd- 
Deutschland  unter  den  veränderten  Verhältnissen  zu  ver- 
folgen suchten,  und  bei  mehr  als  einer  Gelegenheit  gab  er 
kund,  dass  seine  politischen  Ansicliten  durch  den  Gang  der 
Ereignisse  nicht  geändert  seien.  Aber  ein  Mandat  für  den 
württembergischen  Landtag,  welches  ihm  angeboten  wurde, 
lehnte  er  unter  Hinweis  auf  die  Gründe,  die  ihn  früher  dem 
parlamentarischen  Leben  zu  entsagen  bestimmt  hatten,  mit 
aller  Entschiedenheit  ab. 

So  behaglich  sich  Brinz  in  Tübingen  fühlte,  war  es 
ihm  doch  sehr  erwünscht,  als  gegen  P]nde  1870  von  München 
aus  an  ihn  der  Ruf  erging,  die  erledigte  Professur  des  römi- 
schen Civilrechts  zu  übernehmen.   Nicht  allein  die  Aussicht, 


V.  Gie/^ehrecht :   Nel-rnlog  auf  Alois  v.  Brinz.  273 

seine  akademische  Lehrthätio;keit  in  noch  grösserem  Umfange 
entfalten  zu  können  ,  sondern  auch  die  Anhänglichkeit  an 
die  Hochschule,  an  der  er  seine  Studien  zum  grossen  Theil 
gemacht,  wo  er  zuerst  das  Katheder  bestiegen  hatte  und 
wo  noch  Lehrer  und  Freunde  von  ihm  wirkten ,  zog  ihn 
mich  München  und  freudig  nahm  er  den  Ruf  an.  Als  er 
dann  Ostern  1871  hierher  übersiedelte,  trat  er  in  ihm  längst 
bekannte  Verhältnisse,  und  auch  von  den  Collegen  wurde 
er  wie  ein  Amtsgenosse,  der  ihnen  längst  nahe  gestanden, 
empfangen.  Zu  den  alten  Freunden  gewann  er  bald  neue, 
und  jeder ,  dem  er  mit  dem  ihm  eigenen  herzlichen  Wohl- 
wollen entgegentrat,  musste  sich  zu  ihm  hingezogen  fühlen. 

Noch  mehrmals  sind  lockende  Anerbietungen  einer 
grossen  Lehrthätigkeit  Brinz  gemacht  worden  —  so  1872 
von  Wien  und  1881  von  Berlin  —  und  es  ist  ihm  nicht  leicht 
geworden  sie  abzuweisen ,  aber  er  konnte  sich  nicht  ent- 
schliessen,  München  wieder  zu  verlassen,  wo  ihm  Liebe  und 
Verehrung  von  allen  Seiten  entgegengebracht  und  auch  an 
höchster  Stelle  seine  Bedeutung  vollauf  gewürdigt  wurde. 
Auch  fühlte  er  sich  glücklich  in  den  Verhältnissen  unsrer 
Universität  und  unsrer  Stadt.  Seine  Häuslichkeit  hatte  er 
ganz  nach  seinen  Wünschen  und  Neigungen  gestalten  können  ; 
er  und  die  Seineu  warzelten  fester  und  fester  auf  dem 
Münchner  Boden. 

Die  Lehrthätigkeit,  der  er  stets  mit  der  grössten  Ge- 
wissenhaftigkeit oblag,  nahm  ihn  auch  hier  vor  allem  in 
Anspruch ;  es  ist  bekannt,  von  wie  ausserordentlichen  Er- 
folgen sie  begleitet  war.  Daneben  blieb  er  immer  literarisch 
thätig.  Ununterbrochen  war  er  mit  der  Umarbeitung  seines 
Pandektenlehrbuchs  beschäftigt,  von  dem  die  dritte  Auflage 
nöthii»-  wurde,  ehe  er  noch  die  zweite  vollendet  hatte.  Mit 
seinem  Collegen  M.  Seydel  gab  er  die  „Neue  Folge  der 
kritischen  Vierteljahresschrift  füz  Gesetzgebung  und  Rechts- 


274  Oeif entliche  Sitzung  vom  38.  März  1888. 

Wissenschaft"  heraus.  Eingehende  Recensionen  zeigten,  mit 
welchem  Interesse  er  die  Literatur  seines  Faches  verfolgte. 
Eine  grössere  Anzahl  seiner  hier  entstandenen  Schriften  sind 
durch  festliche  Gelegenheiten  herbeigeführt:  Festreden  und 
Fest£jaben ,  wie  er  sie  namentlich  bei  den  Jubiläen  seiner 
Lehrer  und  Freunde  darzubringen  liebte.  Noch  seine  letzte 
Arbeit  war  für  das  üoctorjubiläum  seines  Freundes  und  Col- 
legen  von  Planck  bestimmt.  Sein  wissenschaftliches  Interesse 
dehnte  sich  weit  über  die  Grenzen  seines  Faches  aus. 
So  interessirten  ihn  in  hohem  Masse  die  Arbeiten  der  hie- 
sigen geographischen  Gesellschaft,  deren  Vorstand  er  in  den 
letzten  Jahren  angehörte;  nicht  minder  die  Arbeiten  unsrer 
Akademie,  bei  denen  er  sich  äusserst  hilfreich  erwies,  sogar 
ehe  er  noch  zu  den  Akademikern  zählte. 

Als  unsre  Akademie  1880  über  die  Verwendung  der  Mittel 
der  Savigny-Stiftung  zu  bestimmen  hatte,  machte  Brinz  den 
Vorschlag,  einen  Preis  für  eine  Schrift  über  das  „Edictum 
perpetuum"  auszuschreiben.  Der  Vorschlag  wurde  angenommen 
und  hatte  die  Folge ,  dass  eine  vortreffliche ,  des  Preises 
durchaus  würdige  Arbeit  eingeliefert  wurde.  Alle  Mühen, 
die  bei  dieser  Gelegenheit  der  Akademie  zufielen,  hatte  Brinz 
auf  sich  genommen,  und  es  hatte  sich  hierbei  erwiesen,  wie 
sehr  die  Akademie  seines  Beistandes  bedurfte.  Sie  beeilte 
sich  deshalb,  sobald  in  der  historischen  Klasse  eine  Stelle 
offen  wurde,  ihn  zum  ordentlichen  Mitgliede  derselben  zu 
wählen.  Brinz  trat  1883  in  die  historische  Klasse  mit  der 
Absicht  ein ,  sich  mit  ganzer  Seele  den  Arbeiten  derselben 
zu  widmen.  Seine  Studien,  die  ja  immer  einen  historischen 
Hintergrund  gehabt  hatten,  führten  ihn  gerade  zu  rechts- 
geschichtlichen Forschungen,  denen  er  mit  grösster  Sorgfalt 
und  Liebe  oblag,  und  er  freute  sich  da))ei  in  nähere  Gemein- 
schaft mit  bewährten  Geschichtsforschern  zu  treten.  Nur 
wenige  Jahre  hat  er  der  Akademie  angehört,  aber  er  ist  in 
dieser    Zeit    ein    sehr    thätiges    Mitglied    derselben    gewesen; 


i'.  Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Alois  v.  Brinz.  275 

regelmiissit»-  wohnte  er  den  Sitzungen  bei  und  mehrere  Ab- 
handhnigen  legte  er  der  historischen  Khxsse  vor,  die  in  den 
Schriften  der  Akademie  gedruckt  sind.  Wir  haben  es  tief 
zu  beklagen,  dass  seine  eben  so  eingreifende  wie  freundliche 
Mitwirkung  uns  so  bald  entzogen   wurde. 

Von  politischer  Thätigkeit  hielt  sich  Brinz  hier  geflissent- 
lich fern.  Als  man  ihn  bei  der  letzten  Reichstagswahl  als 
Kandidaten  der  liberalen  Partei  aufstellen  wollte,  stiess  man 
bei  ihm  auf  den  bestimmtesten  Widerspruch.  Seine  Theil- 
nahme  an  den  Geschicken  der  Deutschen  in  Oesterreich  blieb 
freilich  immer  die  gleiche,  und  er  ergriff  gern  die  Gelegen- 
heit, ihr  kräftigen  Ausdruck  zu  geben.  Sie  veranlasste  ihn 
auch,  dem  Vereine  zum  Schutze  deutscher  Interessen  im  Aus- 
lande gleich  bei  der  Gründung  beizutreten  und  die  Stelle  des 
ersten  Vorstands  zu  übernehmen.  Waren  auch  Deutschland 
und  Oesterreich  staatlich  getrennt,  die  geistigen  Beziehungen 
/wischen  ihnen  zu  befestigen  und  zu  stärken,  blieb  ihm  stets 
Herzenssache. 

Viele  Ehren  sind  ihm  von  den  verschiedensten  Seiten 
erwiesen  worden.  Abermals  und  abermals  haben  die  Studiren- 
den  ihm  als  ihrem  verehrten  Lehrer  Ovationen  dargebracht. 
Zweimal  ist  er  durch  die  Wahl  seiner  CoUegen  an  die  Spitze 
unsrer  Universität  gestellt  worden.  Der  König  verlieh  ihm 
1872  den  Verdienstorden  der  bayrischen  Krone  und  damit 
den  persönlichen  Adel,  1886  den  Titel  und  Rang  eines  Ge- 
heimraths.  Aber  solche  Auszeichnungen  haben  so  wenig, 
wie  einst  seine  parlamentarischen  Triumphe,  an  seinem  inner- 
sten Wesen  etwas  geändert.  Er  blieb  den  einfachen  bürger- 
lichen Sitten,  in  denen  er  erwachsen,  treu,  blieb  immer  der 
einfache  Gelehrte,  der  sein  Glück  im  Dienste  der  Wissen- 
schaft und  in  seiner  Familie  fand. 

Brinz  erfreute  sich  einer  kräftigen  Körperconstitution. 
Nicht  von  grossem,  aber  gedrungenem  und  festem  Gliederbau 


276  Oeff entliehe  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

bewahrte  er  sich  bis  ins  Alter  auch  körperlich  eine  fast 
jugendliche  Frische.  Einzelne  Gichtanfälle ,  die  ihn  in  den 
letzten  Jahren  trafen,  schienen  wenig  bedenklich.  Grössere 
Besorgniss  erregte  es  bei  seinen  Freunden ,  dass  bei  einem 
Vortrag,  den  er  am  23.  März  vorigen  Jahres  in  der  Wiener 
juristischen  Gesellschaft  hielt ,  ihn  plötzlich  das  Bewusstsein 
verliess,  so  dass  er  abbrechen  musste.  Er  selbst  legte  auf 
diesen  Unfall  wenig  Gewicht,  dennoch  zeigte  sich  bald,  dass 
derselbe  mit  einem  tieferen  Leiden  zusammenhing.  Beim 
Eintritt  der  letzten  Sonnnerferien  fühlte  er  sich  abgespannter 
als  sonst,  und  bald  machte  ein  Schlaganfall  seinem  Leben 
ein  Ende.  Ein  langes  Siechthum  ist  ihm  erspart  gewesen. 
Wie  er  als  frischer,  schaffensfreudiger  Mann  stets  vor  uns 
stand,  so  wii-d  sein  Bild  uns  bleiben  ^). 


Leider  hat  die  historische  Klasse  auch  fünf  ihrer  aus- 
wärtigen Mitglieder  durch  den  Tod  verloren:  Fredrik 
Ferdinand  Carlson  in  Stockholm,  Wilhelm  Adolf 
Schmidt  in  Jena,  Alfred  von  Ueumont  in  Aachen, 
Graf  Giovanni  Gozzadini  in  Bologna,  luid  L.  Ph.  C.  van 
den  T3ergh  im  Haag,  und  ein  correspondirendes  Mitglied, 
Johann  Ernst  Otto  Stobbe  in  Leipzig. 

In  Bezug  auf  sie  wurde  auf  die  nachstehenden  Nekrologe 
verwiesen. 


1)  Benützt  sind:  Aloi«  von  Brinz ,  anonymer  Nekrolofr  in  der 
Allpremeinen  Zeitung,  1888,  Beilage  Nr.  17  und  ft'.  —  Alois  Brinz,, 
Denkrede,  gehalten  am  29.  November  1887  im  deutschen  Vereine 
zu  Prag  von  Philipp  KnoU  (Prag  1888).  —  Erinnerung  an  Brinz, 
Vortrag  in  der  Vollversammlung  der  Wiener  juristischen  Gesellschaft 
am  23.  December  1887  von  Adolf  Exner  (W^ien  1888).  —  Nekrolog 
von  F.  Regelsbergcr  in  der  Kritischen  Vierteljahrsschrift  für  Ge- 
setzgebung und  Uechtswissen.schaft.  N.  F.  Bd.  XI.  H.  1.  —  Dr.  Alois 
von  Brinz,  Gedächtnissfeier  im  Vereine  zum  Schutze  deutscher  Inter- 
essen im  Auslande  und  die  darin  enthaltene  Gedächtnissrede  des 
österreichischen  Reichstagsabgeordneten  V.  Russ  (München  1888). 


V.  Giesehrecht :  Nel'roloq  auf  Frcdrik  Ferdinand  Carhon.         277 


Am  IR.  März  vorif^eii  Jahres  venschied  zu  Stockholm 
der  Staatsrath  Fredrik  Ferdinand  Carlson,  seit  1875  aus- 
auswärtiges Mitglied  unsrer  Akademie. 

Carlson,  geboren  den  18.  Juni  1811  auf  dem  Hofe 
Kungshamn  in  Upland  ,  begann  seine  Studien  1825  zu  Upsala 
und  wurde  dort  1833  zum  Doctor  der  Philosophie  promo- 
virt.  In  den  nächsten  Jahren  machte  er  grössere  Reisen 
durch  Deutschland,  Italien  und  Frankreich,  auf  denen  er  sich 
besonders  in  Berlin  aufhielt.  Nach  seiner  Rückkehr  begann 
er  1835  als  Docent  der  Geschichte  Vorlesungen  an  der  Uni- 
versität Upsala,  wurde  aber  schon  1837  als  Erzieher  der 
königlichen  Prinzen  Karl,  Gustav  und  Oskar  nach  Stockholm 
berufen.  In  dieser  Stellung  verblieb  er  bis  1846  und  wurde 
so  der  Lehrer  zweier  Fürsten,  die  den  Thron  Schwedens 
bestiegen  haben.  Er  kehrte  dann  zu  seinem  Lehramt  in 
Upsala  zurück ,  erhielt  hier  zunächst  die  Ernennung  zum 
ausserordentlichen  Professor  und  wurde  nach  Geijer's  Tode 
1849  zum  oi'dentlichen  Professor  der  Geschichte  befördert. 
Im  Jahre  1858  wurde  er  zum  Mitgliede  der  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Stockholm  erwählt  und  1859  in  die 
schwedische  Akademie  aufgenommen.  Schon  1850  hatte 
sich  ihm  auch  ein  parlamentarischer  Wirkungskreis  eröffnet. 
Er  wurde  damals  von  der  Universität  zu  ihrem  Vertreter 
im  Keichstag  erwählt  und  hat  in  dieser  Eigenschaft  bis  1863 
allen   Reichstagen  beigewohnt. 

Im  Jahre  1868  legte  er  die  Profe.ssur  in  Upsala  nieder 
und  ging  nach  Stockholm,  um  als  Staatsrath  die  Leitung  des 
Ministeriums  der  Kultusangelegenheiten  zu  übernehmen.  Sieben 
Jahre  verharrte  er  in  dieser  Stellung  und  erwarb  sich  be- 
sonders um  das  Schulwesen  Schwedens  grosse  Verdienste- 
Im  Jahre  1870  trat  er  vom  Ministerium  zurück,  musste  aber 
1875    dasselbe    noch    einmal   übernehmen    und    weitere    drei 


278  OeffentUche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

Jahre  fortführen.  lir/,wischeii  war  er  aiieh  im  Reichstag 
wieder  mehrfach  tliätig  gewesen.  An  dem  Keichstage  von 
1865  auf  186()  nahm  er  als  Vertreter  der  Akademie  der 
Wissenschaften  Theil.  Von  1873  au  bi.s  zu  seinem  Tode 
war  er  Mitglied  der  ersten  Kammer  des  Reichstags,  in  welche 
er  vom  Landtag  von  Geüeborg-Län  gewählt  war.  Wie  ernst 
er  es  mit  seinen  parlamentarischen  Pflichten  nahm  ,  zeigte 
sich  noch  wenige  Tage  vor  seinem  Tode.  Als  am  2.  März 
vorigen  Jahres  in  der  ersten  Kammer  des  Reichstages  eine 
wichtige  Abstimmung  über  die  in  Vorschlag  gebrachten 
Kornzölle  erfolgte,  Hess  er  sich  vom  Krankenbette  zur  Ab- 
stimmungsurne tragen.  Hier  gab  er  nicht  nur  seine  Stimme 
gegen  die  Kornzölle  ab,  sondern  verfolgte  auch  aufmerksam 
das  Scrutinium  bis  zum  Schluss  und  war  ül)er  das  ihm  er- 
wünschte Resultat  hoch  erfreut. 

Ungeachtet  seiner  vielen  politischen  Geschäfte  liess  Carl- 
son  seine  historischen  Arbeiten  nie  aus  dem  Auge.  Beson- 
ders richtete  er  seine  Studien  auf  die  Geschichte  Schwedens 
unter  den  Königen  aus  dem  pfälzischen  Hause.  Er  sah  sich 
auch  hier  als  den  Nachfolger  Geijer's  an  und  wollte  dessen 
in  schwedischer  und  deutscher  Sprache  veröffentlichte  Ge- 
schichte Schwedens,  die  im  dritten  Bande  mit  der  Abdank- 
ung der  Königin  Christine  abschloss,  weiter  fortsetzen.  In 
unmittelbarer  Anknüpfung  an  Geijer's  Werk  publicirte  er 
1855  in  der  von  Heeren  und  Uckert  herausgegebenen  Euro- 
päischen Staatengeschichte  den  vierten  Band  der  Geschichte 
Schwedens,  welcher  bald  darauf  auch  in  schwedischer  Bear- 
beitung unter  dem  besonderen  Titel:  „Sveriges  historia  under 
konungarna  af  det  phalzisca  huset"'  in  zwei  Bänden  erschien; 
die  Regierung  Karls  X.  und  die  ersten  Zeiten  Karls  XI. 
waren  hier  in  sehr  eingehender  Weise  dargestellt.  Längere 
Zeit  mnssten  dann  die  Arbeiten  für  die  schwedische  Ge- 
schichte zurückstehen:  erst  als  er  1870  aus  dem  Ministerium 
schied,    konnte  er    sich    ihnen    wieder    ganz    zuwenden.     So 


V.  Giesehrecht :  Nekrolorj  auf  Fredrik  Ferdinand  Carhon.       279 

traten  dann  drei  neue  Bände  des  .schwedi.schen  Werkes  an 
das  Licht,  und  im  Jahre  1874  wurde  der  fünfte  Band  der 
tieschiehte  Schwedens  in  der  Europäischen  Staatengeschichte 
publicirt,  der  bis  zum  Tode  Karls  XI.  reicht.  Gleich  darauf 
wurden  diese  Arbeiten  abermals  unterbrochen,  da  Carlson 
noch  einmal  in  das  Ministerium  eintrat ;  aber  gleich  nach 
seiner  Entlassung  1878  nahm  er  sie  von  neuem  auf.  Seine 
AVjsicht  war,  in  vier  weiteren  Bänden  die  Geschichte  Karls  XII. 
darzustellen  und  damit  das  schwedische  Werk  zu  vollenden, 
aber  leider  hat  er  nur  zwei  von  diesen  Bänden  selbst  ver- 
öffentlichen können.  Auf  meine  dringenden  Bitten  entschloss 
er  sich  noch  vor  Vollendung  des  schwedischen  Werkes  die 
tieschichte  Karls  Xll.  als  sechsten  Band  der  Geschichte 
Schwedens  in  der  Staatengeschichte  zu  bearbeiten.  Er  ging 
sogleich  daran,  die  beiden  erschienenen  Bände  des  schwedi- 
schen Werks  in  verkürzter  Darstellung  für  die  deutsche  Aus- 
gabe umzugestalten  und  wollte  diese  als  erste  Hälfte  des 
sechsten  Bandes  publiciren;  in  kurzer  Frist  beabsichtigte  er 
dann  die  zweite  Hälfte,  die  bis  zum  Tode  Karls  XII.  führen 
sollte,  folgen  zu  lassen.  Mit  diesen  Arbeiten  ist  er  bis  in 
seine  letzten  Tage  beschäftigt  gewesen ;  ehe  noch  die  erste 
Hälfte  des  sechsten  Bandes  der  Geschichte  Schwedens  aus- 
gegeben werden  konnte ,  ging  sein  Leben  zu  Ende.  Ein- 
zelne für  die  Fortsetzung  bestimmte  Stücke  haben  sich  in 
seinem  Nachlass  vorgefunden ;  es  steht  zu  hoffen,  dass  sein 
Sohn  Dr.  Ernst  Carlson  die  Geschichte  Karls  XII.  vollenden 
Avird.  Alle  Schriften  Carlson's  über  die  Geschichte  Schwe- 
dens beruhen  auf  weitausgedehnten  archivalischen  Forsch- 
ungen ;  mit  besonderer  Sorgfalt  ist  die  innere  Entwickelung 
des  Reiches  behandelt;  die  Darstellung  zeichnet  sich  durch 
Klarheit  aus :  sie  gehören  zu  den  werthvollsten  Bereicher- 
ungen der  neueren  historischen  Literatur. 

Carlson  hat  Deutschland    wiederholt    und   gern  bereist; 
er    war    mit    allen    unsren    wissenschaftlichen    Bestrebungen 


2  so  Oe  ff  entliehe  Sitzioifj  vom  28.  März  1888. 

vertraut  und  hat  sich  ,  wie  in  seiner  Heimat ,  auch  bei  uns 
durch  seine  persönliche  Liebenswürdigkeit  viele  Freunde  er- 
worben, die  seinen  Tod  tief  betrauern  ^). 


Am  10.  April  vorigen  Jahres  verschied  zu  Jena  Dr.  Wil- 
helm Adolf  Schmidt,  Professor  der  Geschichte  au  der 
dortigen  Universität,  seit  1874  auswärtiges  Mitglied  unsrer 
Akademie. 

Schmidt,  am  26.  September  1812  zu  Berlin  geboren, 
erhielt  seine  gelehrte  Vorbildung  auf  dem  französischen  Gym- 
nasium daselbst  und  widmete  sich  dann  auf  der  dortigen 
Universität  philologischen  und  historischen  Studien.  In  der 
Philologie  waren  besonders  Böckh  und  Lachmann ,  in  der 
Geschichte  Kaumer  und  h'anke  seine  Lehrer.  Er  war  einer 
der  ersten  Theilnehmer  an  den  von  Hanke  veranstalteten 
historischen  Uebungen,  wohnte  jedoch  denselben  nicht  stetig 
bei,  hauptsächlich  wohl,  weil  sie  damals  wenig  die  Geschichte 
des  Alterthums  berührten,  auf  welche  seine  Studien  vorzugs- 
weise gerichtet  waren.  Eng  schloss  er  an  Raumer  sich  an, 
dessen  politische  Ansichten  seiner  eigenen  liberalen  Richtung 
entsprachen.  Hegel's  Zuhörer  ist  er  nicht  mehr  gewesen, 
aber  die  Hegorsche  Philosophie,  wie  sie  zu  jener  Zeit  die 
Berliner  Universität  beherrschte,  hat  auch  auf  ihn  tief  ein- 
gewirkt und  seine  Gesammtauffassuug  der  Geschichte  wesent- 
lich beeinflusst.  Nach  Vollendung  seiner  Studien  wurde  er 
am  0.  September  IS.'U  von  der  Rcrliucr  philosophischen 
Facultät  zum  Doctor  promovirt. 

Schmidt's  Absicht  war  damals,  sich  dem  Gyuniasiallelir- 
amt  zu  widmen.  Er  unterzog  sich  deshalb  der  sogenannten 
01)erlehrerprüfniig    uml    uiihTricIiti-ic    dann   unentgeltlich    an 

1)  Benützt  wurde  der  Nekrolog  von  R.  Törnebladh  in  Pedago- 
giak  Tidakrift,  1887  p.  171—188. 


V.  Giesehrecht :  Nekrolog  auf  Wilhelm  Adolf  Schmidt.  281 

mehreren  höhei'en  Schulen  Berlins.  Für  die  Sicherung  seines 
Lebeiisunterhult^  war  seine  1838  erfolirte  Aiifnalinie  in  das 
pädagogische  Seniiuar  wichtig  und  ihm  um  so  erwünschter,  als 
das  Seminar  unter  der  Leitung  seines  ihm  so  wohlwollenden 
Lehrers  Bückh  stand.  Als  Mitglied  des  Seminars  wurden 
ihm  einige  Lehrstuuden  an  dem  Joachimstharschen  Gymnasium 
in  Berlin  übertragen ,  namentlich  auch  Unterricht  in  der 
Geschichte.  Er  war  ein  geschickter  Lehrer,  der  die  Schüler 
zu  fesseln  wusste  und  gute  Erfolge  erreichte.  Dennoch  ent- 
schloss  er  sich  bald,  die  eingeschlagene  Laufbahn  zu  ver- 
lassen. Ein  Hauptgrund  war  wohl,  dass  er  den  körperlichen 
An.strengungen,  welche  das  Gymnasiallehramt  verlangte,  sich 
nicht  gewachsen  glaubte ;  denn  er  war  von  schmächtiger 
und  schwächlicher  Leibesconstitution  und  bedurfte  zur  Er- 
haltung seiner  Gesundheit  stets  grosser  Schonung.  Ein  an- 
derer Grund  wird  darin  gelegen  haben,  dass  ihn  die  Arbeiten 
für  die  Schule  von  seinen  gelehrten  Forschungen  ,  in  denen 
er  seine  höchste  Befriedigung  fand,  zu  sehr  abzuziehen  schie- 
nen. Er  beschäftigte  sich  damals  besonders  mit  methodischen 
Untersuchungen  der  Quellen  der  alten  Geschichte. 

Er  entschloss  sich  jetzt,  es  mit  einer  akademischen  Lehr- 
thätigkeit  zu  versuchen.  Nachdem  er  an  der  Berliner  Uni- 
versität die  Venia  legendi  erlangt,  begann  er  1841  seine 
Vorlesungen.  Sie  betrafen  zunächst  die  alte  Geschichte, 
dehnten  sich  aber  allmählich  auch  über  die  späteren  Zeiten 
bis  zur  Gegenwart  aus.  Bald  zeigte  sich  ,  dass  er  ein  ent- 
schiedenes Talent  für  das  akademische  Lehramt  hatte.  Sein 
Vortrag  war  klar,  anschaulich,  den  Bedürfnissen  der  Studi- 
renden  angemessen ;  sie  fühlten  sich  gefördert  und  wandten 
ihm  ihre  Gunst  zu.  Wie  ernst  er  daneben  seine  literarischen 
Arbeiten  betrieb,  zeigte  sein  gelehrtes  Werk  :  „Die  griechi- 
schen Papyrusurkunden  der  k.  Bibliothek  zu  BerHn"  (1842), 
dessen  Veröffentlichung  ihm  durch  die  Berliner  Akademie 
der   Wissenschaften    ermöglicht    wurde;      bisher  ungenügend 


282  OeffenÜiclie  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

behandelte  Partien  fler  alten  (Tesehielite  wnrrlen  hier  s^ründ- 
lich  erörtert  und  der   Aegyptoloj^ie  neue  Quellen  erschlossen. 

Mit  den  jüngeren  Historikern,  die  er  in  Ranke's  Heb- 
ungen kennen  gelernt  hatte,  war  er  immer  in  freundschaft- 
liehen Beziehungen  geblieben,  namentlich  mit  VVaitz,  Dön- 
niges.  Wilmans,  R.  Köpke  und  mir,  und  in  dieser  Gemein- 
schaft fasste  er  den  Plan ,  eine  Zeitschrift  für  Geschichts- 
wissenschaft /n  l)egründen.  Nach  langen  Erwägungen  und 
nachdem  auch  die  Theilnahme  Böckh's,  der  Gebrüder  Grimm, 
Pertz's  und  Ranke's  gewonnen  und  eine  financielle  Unter- 
stützung von  Seiten  der  Staatsregierung  zugesichert  war.  trat 
1844  unter  Schmidt's  Redaction  die  Zeitschrift  hervor.  Sie 
entsprach  einem  wissenschaftlichen  Bedürfniss  und  hat  sehr 
anregend  gewirkt:  die  historischen  Studien  in  Deutschland 
gewannen  durch  sie  einen  literarischen  Mittelpunkt,  wie  er 
bis  dahin  gefehlt  hatte.  Das  Hauptverdienst  des  Erfolgs 
gebührte  Schmidt,  der  durch  seine  Rührigkeit  und  durch  die 
Gewandtheit  seiner  Feder  eine  ganz  besondere  Befähigung 
zur  Kedaction  besass. 

Schmidt  war  in  der  angespanntesten  wissenschaftlichen 
Thätigkeit,  und  eine  sehr  verdiente  Anerkennung  derselben 
war,  dass  er  1845  zum  ausserordentlichen  Professor  ernannt 
w\n-de,  mit  einem  allerdings  sehr  kärglichen  Gehalt.  Schon 
beschäftigten  aber  ihn,  der  von  jeher  die  Vergangenheit  in 
ihren  Einwirkungen  auf  die  Gegenwart  betrachtet  hatte,  auch 
die  socialen  und  |)olitischen  Zeitfragen  in  hohem  Masse.  Als 
1844  der  Verein  für  das  Wohl  der  :irl)eitenden  Klasse  ge- 
gründet wurde,  trat  er  demselben  bei  und  bald  auch  in  den 
Vorstand  des  Berliner  Localvereins  ein.  Zur  Förderung  der 
Vereinszwecke  veröffentlichte  er  1845  die  Schrift:  „Die  Zu- 
kunft der  arbeitenden  Klassen  und  die  Vereine  für  ihr  Wohl." 
Hier  l)erührt  er  viele  Fragen,  die  später  immer  von  neuem 
aufgeworfen  siml   inid    l)ishci-    nur  /um   kleinsten   Theile  ihre 


r.  Giesebrecht:  Neliwlng  auf  Wilhelm  Adolf  Schmidt.         283 

Lösung  gefunden  hal)en.  Wenig  später  wurde  noch  von 
andrer  Seite  sein  ])olitisches  Interesse  angeregt.  Im  Jahre 
184G  tagte  zu  Franlcfurt  am  Main  die  sogenannte  Germa- 
nistenversammking.  Schmidt  gehörte  zu  denen ,  welche  die 
Einhidung  zu  dieser  Versammlung  hatten  ergehen  lassen, 
nml  hat  dann  in  ihr  eine  nicht  geringe  Thätigkeit  entfaltet, 
auch  ihr  als  Protokollführer  gedient.  Es  waren  Gelehrte, 
die  ihre  Studien  der  deutschen  Geschichte ,  dem  deutschen 
Rechte  und  der  deutschen  Sprache  zugewandt  hatten ,  die 
sich  hier  über  ihre  gemeinschaftlichen  wissenschaftlichen 
Interessen  und  Bedürfnisse  zu  verständigen  suchten :  aber 
wichtiger  als  die  so  gewonnenen  Resultate  war ,  dass  das 
Verlangen  nach  nationaler  Kräftigung  und  Einigung  in  den 
Verhandlungen  deutlichen  Ausdruck  fand.  Wie  lebendig 
die  Politik  Schmidt  zu  beschäftigen  anfing ,  zeigt  sich  auch 
in  seinem  1847  erschienenen  Werke:  „Geschichte  der  Denk- 
iind  Glaubensfreiheit  im  ersten  Jahrhundert  der  Kaiser- 
herrschaft und  des  Christenthums."  Dasselbe  ruht  auf  gründ- 
lichen Untersuchungen  und  giebt  wichtige  neue  Aufschlüsse 
über  das  geistige  und  literarische  Leben  des  ersten  Jahr- 
hunderts, aber  überall  spricht  sich  in  ihm  der  scharfe  Gegen- 
satz des  Verfassers  gegen  die  damals  in  Preussen  herrschende 
Politik  aus. 

Die  Ereignisse  des  Jahres  1848  mussten  Schmidt  mit 
der  Hoffnung  erfüllen .  dass  die  liberale  Sache  in  Preussen 
vollständig  den  Sieg  gewinnen  und  die  politische  Einigung 
Deutschlands  in  einem  festen  Bundesstaate  zu  ermöglichen 
sein  werde.  Die  historischen  Studien  traten  jetzt  zurück, 
die  Zeiischrift  für  Geschichtswissenschaft  ging  ein  ,  die 
Politik  beherrschte  alle  geistigen  Bestrebungen  und  nahm 
auch  Schmidt  ganz  in  Anspruch  Obwohl  er  erst  kurz 
vorher  durch  seine  Vermählung  mit  Araalie  Holländer  einen 
eigenen  Hausstand  begründet  hatte,  beglückte  es  ihn ,  dass 
er  alsbald    als  Vertreter    eines  Berliner  Wahlkreises    in    das 


284  Oeffentlkhe  Sitzung  vom  38.  März  ISSS. 

Frankfurter  Parlament  eintreten  konnte.  Er  schloss  sich  der 
Fraction  des  Württemberger  Hofes  an,  in  der  man  sich  den 
Tendenzen  der  Demokratie  zuneigte.  In  den  öffentlichen 
Verhandlungen  in  der  Paulskirche  ist  er  wenig  hervorge- 
treten, dagegen  ist  er  in  seiner  Fraction  sehr  thätig  gewesen 
und  hat  besonders  für  den  Abschluss  und  die  Durchführung 
der  Verfassung  zu  wirken  gesucht.  Aber  eine  Rundreise  im 
nördlichen  und  südlichen  Deutschland  ,  welche  er  im  Früh- 
jahr 1849  unternahm,  überzeugte  ihn,  dass  die  Durchführ- 
ung der  Verfassung  unmöglich  sei,  und  brachte  ihn  zu  dem 
Entschluss,  aus  dem   Parlament  auszutreten. 

Schmidt  kehrte  nach  Berlin  zurück  und  nahm  seine 
akademische  Thätigkeit  wieder  auf.  Im  Sommersemester 
1849  hielt  er  Vorlesungen  über  Ursprung  und  Anfang  der 
neuesten  Revolution  und  erreichte  damit  einen  ausserordent- 
lichen Erfolg,  der  ihn  zu  öfterer  Wiederholung  derselben 
veranlasste.  Die  Einigung  Deutschlands  erschien  ihm  noch 
immer  als  das  vor  allem  zu  erstrebende  Ziel;  freilieh  nicht 
von  j)arlameutarischen  Beschlüssen  ,  sundern  von  Thaten  er- 
wartete er  jetzt  die  Einigung.  Es  schien  ihm  Pflicht,  auf 
die  historischen  Momente  aufmerksam  zu  machen ,  wo 
Preussen  eine  allgemeine  deutsche  Politik  verfolgt  hatte.  In 
diesem  Sinne  veröffentlichte  er  1850  seine  Schrift:  „Preus- 
sens  deutsche  Politik",  die  so  grossen  Anklang  fand,  dass 
noch  in  demselben  Jahre  eine  neue  Auflage  erforderlich  war. 
Zur  Ergänzung  dieser  Schrift  diente  die  1851  erschienene 
„Geschichte  der  preussisch-deutschen  Unionsbestrebungen ", 
in  welcher  er  ein  umfängliches  Actenmaterial  aus  dem  Ber- 
liner Archive  i)ublicirte.  Ungeachtet  der  entschieden  preussi- 
schen  Gesinnung,  die  aus  diesen  Werken  sprach  ,  war  doch 
damals  auf  seine  Bet'iu-drriiiig  /.um  ordputlicheu  Professor  in 
Preussen  nicht  zu  rechnen.  Desshalb  nahm  er,  so  schwer 
er  sich  von  Berlin  trennt»'.  1851  einen  Ruf  an  die  Univer- 
sität Zürich  an. 


V.  Giesebrecht:  NeTcrolofj  nnf  Wilhelm  Adolf  Schmidt.  285 

In  Zürich   war  Schmidt  durch  Vorlesungen  stark  in  An- 
spruch irenommen  ,    /Ainial  ihm  auch  der  Lehrstuhl    für  Ge- 
schichte am  eidgenössischen  Polytechnikum  übertragen  wurde. 
Trotzdem   war  er  nach   wie  vor  auch  literarisch  thätig.   1854 
erschien  seine  kleine  Schrift:      „Der  Aufstand  in   Konstanti- 
nopel unter  Kaiser  Justinian*",  1859  eine  andere  kleine  Schrift: 
„Elsass  und  Lothringen",    die    1870    noch    eine  zweite    und 
dritte  Auflage  erlebte.     Eine  umfassendere  Arbeit  waren  die 
ebenfalls  1859  veröffentlichten  , Zeitgenössischen  Geschichten\ 
in  denen  er  besonders  auf  Grund  der  Berichte  der  eidgenös- 
sischen Gesandten  in  Paris  und   Wien  interessante  Darstell- 
ungen der  französischen  und  österreichischen  Verhältnisse  in 
der  Reaktionszeit  gab.      Ausserdem    begründete    er   1856    im 
Verein    mit  anderen    Gelehrten    die    Züricher  Monatsschrift, 
deren  erste  beide  Bände  er  selbst    redigirte;     in  dem  ersten 
Bande  ist  ein   Aufsatz  von   ihm  enthalten,    in  dem  er  unter 
dem    Titel    „Diagnose    das    gegenwärtigen    Zeitalters"    seine 
Ansichten    über  den  Gang    der  Weltgeschichte    entwickelte. 
So  angenehm  Schmidt's  Verhältnisse  sich  in  Zürich  ge- 
stalteten, sehnte  er  sich  doch   nach   Deutschland  zurück  und 
folgte,  als  er  auf  die  durch  Droysens  Weggang  in  Jena  er- 
leditrte  Professur  der  Geschichte  berufen  wurde,  gern  diesem 
Kufe.     Im  Sommer   1860    begann  er    in  Jena   seine  Vorles- 
ungen, die  hier  wie  in  Zürich  dauernd  lebhafte  Theilnahme 
fanden ;  auch  die  historischen  üebungen,  die  Droysen  einge- 
richtet hatte,  setzte  er  fort  und   wusste  durch  dieselben  streb- 
same Studierende    zu    eigenen    historischeu    Forschungen    zu 
ermuthigen    und  anzuleiten.     Unausgesetzt    war    er    überdies 
mit  literarischen  Arbeiten  beschäftigt,  zunächst  mit  der  über- 
nommenen Neubearbeitung  der  Becker'schen  Weltgeschichte. 
Dann  griff  er  1864   mit    der   kleinen  Schrift:      „Schleswig- 
Holsteins  Geschichte    und  Recht"    wieder    in  eine  brennende 
Frage  der  Tagespolitik  ein.     Im  Jahre  1867    veröffentlichte 
er  die  dritte  Auflage  seines  Buchs  über   „Preussens  dänische 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Ol.  2.  19 


286  OeffentUche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

Politik",  der  er  eine  unmittelbar  die  Zeitereignisse  betreffende 
Erweiterung  gegeben  hatte.  Noch  in  demselben  Jahre  be- 
gann er  die  Publikation  des  umfangreichen  Materials  zur 
Geschichte  der  französischen  Revolution,  welches  er  aus  den 
officiellen  Polizeiberichten  im  Pariser  Staatsarchiv  gesammelt 
hatte.  Das  Werk,  welches  den  Titel  führte:  „Tableaux  de 
la  revoliition  fran(;aise,  pablies  sur  les  papiers  inedits  du  de- 
partement  et  de  la  police  secrete  de  Paris",  erschien  in  drei 
Bänden  18()7  — 1870.  Es  wurde  durch  dasselbe  ein  tiefer 
Einblick  in  die  Zustände  der  Pariser  Bevölkerung  während 
der  Revolutionszeit  gewährt  und  historische  Legenden  als 
solche  erwiesen.  In  unmittelbarem  Zusannnenhange  mit  dieser 
Publikation  stand  sein  ebenfalls  dreil)ändiges  Werk  , Pariser 
Zustände  während  der  Revolutionszeit  von  1789  —  1800",  wel- 
ches in  den  Jahren  1874—1870  an  das  Licht  trat.  Unter 
dem  Titel:  „Epochen  und  Katastrophen"  veröffentlichte  er 
1874  eine  Sammlung  älterer  und  neuerer  Arbeiten,  die  durch 
Stoff  und  Darstellung  die  Aufmerksamkeit  des  grösseren  Pub- 
likums zu  fesseln  vermochten :  Perikles  und  sein  Zeitalter, 
derNika-Aufstaud  unter  Justiniau,  Don  Carlos  und  Philipp  IL 
Noch  einmal  ist  Schmidt  in  das  ]>arlauientarische  Leben 
eingetreten.  In  den  Jahren  1874—1876  war  er  Vertreter 
des  dritten  Weimar'schen  Wahlkreises  im  deutschen  Reichs- 
tag. Er  schloss  sich  der  national-liberalen  Partei  an ,  hat 
aber  au  den  Verhandlungen  des  Reichstags  keinen  hervor- 
ragenden Antheil  genommen.  Gern  kehrte  er  zu  seinen  ge 
lehrten  Studien  zurück,  die  sich  jetzt  wieder  ganz  der  alten 
Geschichte  zuwandten.  Eine  Frucht  dieser  Studien  war  das 
zweibändige  Werk:  „Das  Perikleische  Zeitalter",  1877  und 
1879  erschienen.  Dann  vertiefte  er  sich  in  schwierige  Unter- 
suchungen ül)er  die  griechische  Chronologie.  Ein  Lehrlxich 
der  griechischen  Chronologie  wurde  noch  im  Wesentlichen 
zum  Abschluss  gebracht  und  mit  dem  Druck  desselben  be- 
gonnen.    Die  Beendigung  des   Drucks   h.it  er  nicht  mehr  er- 


r.  Giesehrecht :  Nekrolog  auf  Wilhelm  Adolf  Schmidt.  287 

lebt ;  das  Werk,  dessen  Herausgabe  nach  des  Verfassers  Tode 
Fr.  Rühl  übernaliiii .  ist  erst  kürzlich  in  den  Buchhandel 
u;ekoninien. 

Bis  in  das  Alter  hat  Schmidt  seiner  akademischen  Lehr- 
thätijsfkeit  mit  gleicher  Treue  und  immer  gleichem  Erfolge 
obgelegen.  Bei  zunehmender  Kränklichkeit  gab  er  die  Heb- 
ungen auf,  setzte  aber  die  Vorlesungen  bis  zum  Sommer- 
semester 1883  fort.  Sein  Doctorjubiläum  im  Jahre  1884 
zeigte,  wie  grosse  Anerkennung  er  sich  in  weiten  Kreisen 
gewonnen  hatte.  Im  Winter  1886 — 1887  steigerten  sich 
seine  körperlichen  Leiden  in  bedenklicher  Weise ,  dennoch 
schien  er  unter  der  sorgsauien  Pflege  seiner  Gattin  sich  noch 
einmal  zu  erholen.  Aber  seine  Tage  waren  gezählt;  am 
30.  April  schloss  er  die  Augen. 

Schmidt's  literarische  Thätigkeit  ist  eine  sehr  ausge- 
dehnte gewesen.  Ausser  den  genannten  Büchern  hat  er  noch 
zahlreiche  grössere  und  kleinere  Artikel  für  historische,  philo- 
logische und  politische  Zeitschriften  geschrieben.  Nach  seiner 
durch  und  durch  kritischen  Natur  ist  er  den  Ansichten  An- 
derer oft  scharf  entgegengetreten,  dagegen  war  auch  er 
manchen  literarischen  Angriffen  ausgesetzt.  Mag  er  im  Ein- 
zelnen nicht  immer  das  Richtige  getroffen  haben.  Niemand 
wird  doch  verkennen,  dass  er,  wie  durch  seine  Katheder- 
vorträge, so  auch  durch  seine  schriftstellerische  Thätigkeit 
in  hohem  Grade  anregend  auf  das  historische  Studium  in 
Deutschland  gewirkt  hat  und  ihm  unter  den  Geschichtsfor- 
schern  unsrer  Zeit  ein   Ehrenplatz  gebührt  ^). 


1)  Benutzt  sind  der  Nekroloo;  von  üietr.  Schäfer  in  der  Allg. 
Zeitung  1887  Beilage  Nr.  140,  der  anonyme  ausführliche  Nekrolog 
im  Jahresberichte  über  die  Fortschritte  der  klassischen  Alterthuma- 
wissenschaft  1887  Vierte  Abtheilung  S.  1—34,  und  der  Nekrolog 
von  Ott.  Lorenz  in  der  Zeitschrift  fär  Thüringische  Geschichte  und 
Alterthumskunde.     Bd.  XIII     S.  299—321. 


19- 


288  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

Am  27.  April  vorigen  Jahres  starb  zu  Aachen  der  wirk- 
liche Geheime  Kath  Dr.  Alfred  von  Reumont,  seit  1853 
correspondirendes ,  seit  1858  auswärtiges  Mitglied  unserer 
Akademie. 

Reumont,  am  15.  August  1808  zu  Aachen  geboren,  war 
der  älteste  Sohn  des  dortigen  Medicinalrathes  und  Brunneu- 
arztes  Gerhard  Reumont,  eines  vielseitig  gebildeten  Mannes. 
Der  Vater  hatte  nach  längerem  Aufenthalt  in  Frankreich 
und  England  in  Aachen  sein  Haus  begründet,  welches  dort 
der  Mittelpunkt  vieler  angesehenen  Fremden  verschiedener 
Nationalitäten  wurde.  Der  Knabe  gewann  hier  Eindrücke, 
die  auf  seinen  ganzen  Lebensgang  von  Einfluss  gewesen  sind. 
Schon  früh  lernte  er  fremde  Sprachen,  begann  die  Werke 
der  deutschen ,  französischen  und  englischen  Klassiker  zu 
lesen  und  versuchte  sich  in  eigenen  literarischen  Arbeiten. 
Im  Alter  von  18  Jahren  bezog  er  die  Universität  Bonn,  um 
nach  dem  Willen  des  Vaters  Medicin  zu  studiren,  aber  seine 
Neigung  zog  ihn  zu  der  Belletristik  und  rechten  Geschmack 
konnte  er  weder  hier ,  noch  in  Heidelberg,  wohin  er  sich 
1828  begab,  dem  medicinischen  Studium  abgewinnen.  Seine 
Vorliebe  für  historische  Studien  entwickelte  sich  besonders 
im  Umgange  mit  Schlosser,  in  dessen  Haus  er  Eingang  fand. 
Der  Tod  des  Vaters  im  Sommer  1828  unterbrach  plötzlich 
seine  Universitätsstadien.  Seine  Familie  war  in  nichts  we- 
niger als  glänzender  Lage,  und  er  darauf  angewiesen,  seinen 
Lebensunterhalt  selbst  zu  verdienen.  Er  ertheilte  Privat- 
unterricht und  suchte  sein  schriftstellerisches  Talent  in  .lour- 
nalarbeiten   zu   verwerthen. 

Im  Jahre  1829  veröffentlichte  er  sein  erstes  Buch : 
„Aachens  Sagen  und  Liederkranz".  Noch  in  demselben  Jahre 
erhielt  er  eine  ihm  sehr  willkommene  Einladung,  bei  der 
seinem  Vater  befreundet  gewesenen  schottischen  Familie 
Cranfurd    in  Florenz    eine  Hauslehrerstelie    zu    übernehmen, 


V.  Griesehrecht :  Nel-mlar/  auf  Alfred  r.  Benmnnt.  289 

bis  sich  in  Italien  für  ihn  günstigere  Aussichten  eröffnen 
würden.  Am  25.  Deceniher  1829  hingte  er  in  Florenz  an, 
welches  er  später  als  seine  zweite  Heimath  lieben  lernen 
sollte.  Nur  kurze  Zeit  blieb  er  in  dem  Cranfurd'schen  Hause. 
Bald  erlangte  er  eine  ihm  zusagende  Verwendung  als  Privat- 
sekretär des  damaligen  preussischen  Gesandten  in  Florenz, 
von  Martens.  Er  gewann  Uebung  in  den  diplomatischen 
Geschäften  und  fand  Gelegenheit,  sich  mit  den  Verhältnissen 
Toscanas  vertraut  zu  machen.  Mit  allen  hervorragenden 
Florentinern,  namentlich  mit  dem  Marchese  Gino  Capponi, 
kam  er  in  anregenden  Verkehr,  nicht  minder  mit  zahlreichen 
Fremden  von  geistiger  Bedeutung,  die  auf  kürzere  oder  län- 
gere Zeit  in  Florenz  Aufenthalt  nahmen.  Vielfach  förder- 
lich war  ihm  die  Bekanntschaft  mit  dem  Buchhändler  J.  P. 
Vieusseux,  dessen  Lesekabinet  und  Haus  damals  gleichsam 
den  Sammelplatz  des  literarischen  Lebens  in  Florenz  bil- 
deten. Für  die  von  Vieusseux  begründete  Zeitschrift  ,Anto- 
logia"  hat  Reumont  seine  ersten  Arbeiten  in  italienischer 
Sprache  geliefert. 

Als  1832  von  Martens  als  Gesandter  nach  Konstanti- 
nopel versetzt  wurde,  folgte  ihm  Reumont  dorthin,  kehrte 
aber  schon  im  Sommer  1833  nach  Florenz  zurück,  wo  er 
bei  dem  nunmehrigen  preussischen  Geschäftsträger  Graf  Schaff- 
gotsch  in  eine  ähnliche  Stellung  trat,  wie  bei  dessen  Vor- 
gänger. Nach  zwei  Jahren  ging  er  dann  nach  Berlin,  um 
sich  um  eine  Staatsanstellung  zu  bemühen.  Im  Frühjahre 
1836  wurde  er  zum  Geheimen  expedirenden  Sekretär  im 
Ministerium  des  Auswärtigen  ernannt,  bald  aber  nach  Florenz 
zurückgeschickt,  um  bei  der  dortigen  Mission  Hilfe  zu  leisten. 
Auf  Bunsen's  Ansuchen  wurde  er  dann  nach  Rom  gesandt, 
kehrte  jedoch  nach  dessen  Abgang  1838  auf  seinen  floren- 
tinischen  Posten  zurück,  auf  dem  er  freilich  nur  kurze  Zeit 
verweilte;  denn  schon  im  nächsten  Jahre  musste  er  wieder 
nach  Rom  gehen,  um  dort  die  Geschäfte  des  Legationssekre- 


290  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

tärs  zu  übernehmen.  Bis  zum  Juni  1843  verblieb  er  in 
Rom,  dann  begab  er  sich  nach  Berlin,  wo  ihm  die  Stellung 
eines  Legationsrathes  im  auswärtigen  Ministerium  mit  Ver- 
wendung im  Kabinet  des  Königs  übertragen  wurde. 

Inzwischen  hatte  sich  der  literarische  Ruf  des  jungen 
Diplomaten  befestigt.  In  Erlangen  war  er  1833  /um  Doctor  pro- 
movirt  worden ;  mehrere  florentinische  gelehrte  Gesellschaften 
hatten  ihn  unter  ihre  Mitglieder  aufgenommen  und  nach 
und  nach  gewährten  fast  alle  Akademien  Italiens  ihm  die 
gleiche  Ehre.  Die  ausgedehnten  Verbindungen ,  in  welche 
ihn  seine  Stellung  zu  Gelehrten  aller  Nationalitäten  brachte, 
förderten  vielfach  auch  seine  literarischen  Arbeiten  welche 
sich  fast  ausschliesslich  auf  die  Geschichte ,  die  Kunst  und 
Wissenschaft  Italiens  bezogen  und  bei  denen  er  sich  bald 
der  italienischen ,  bald  der  deutschen  Sprat-he  bediente.  In 
den  vier  Bänden,  welche  er  unter  dem  Titel:  „Römische 
Briefe  von  einem  Florentiner*  1840  — 1844  herausgab,  suchte 
er  in  gefälliger  Form  die  Leser  über  Rom  und  die  Campagua 
zu  unterrichten ;  das  Buch  ist  nicht  streng  wissenschaftlich 
gehalten,  enthält  aber  einen  sehr  reichen  historischen  Stoff. 
Zu  derselben  Zeit  entstanden  die  „Tavole  chronologiche  e  sin- 
crone  della  storia  Fiorentina"  (1841),  ein  noch  jetzt  brauch- 
bares Hülfsmittel  für  die  florentinische  Geschichte  und  ver- 
schiedene Arbeiten  für  das  ,Archivio  storico  italiano",  welches 
von  1842  an  von  Vieusseux  herausgegeben  wurde.  Schon 
damals  begann  sich  Reumont  als  Vermittler  zwischen  der 
italienischen  und  deutschen  Geschichtswissenschaft  ein  nicht 
geringes  Verdienst  zu  erwerben. 

Die  nächsten  .Jahre,  welche  Reumont  meist  in  der  Um- 
gebung König  Friedrich  Wilhelms  IV.  verlebte,  waren  wohl 
die  glücklichsten  seines  Lebens.  Sein  Verhältniss  zum  Könige 
gestaltete  sich  auf  das  freundlichste.  Die  künstlerischen  und 
wissenschaftlichen  Interessen  Reumont's  begegneten  sich  viel- 
fach mit  denen  des  Königs,  der  auch  für  Italien ,  seine  Ge- 


V.  Giesebrecht :  NeVrolnf/  auf  Alfred  i\  Remmiit.  201 

schichte  und  Kultur  eine  orrosse  Vorliebe  hatte.  Der  Koni«:? 
fühlte  sich  im  Gespräch  mit  Heumont.  der  steis  Neues  und 
in  einer  ihm  durchaus  zusagenden  Furm  vorzutragen  wusste, 
immer  angeregt  und  befriedigt.  Die  Gunst  des  Königs  ver- 
half Reumont  auch  zu  einer  gewissen  Intimität  mit  der  könig- 
lichen Familie,  die  ihm  dauernd  sehr  freundlich  gesinnt  blieb. 
Manche  Auszeichnungen  wurden  ihm  zu  Theil,  auf  welche 
er  nicht  geringes  Gewicht  legte ;  auch  in  den  Adelstand 
wurde  er  erhoben.  Er  sonnte  sich  in  der  königlichen  Gnade ; 
lebhaften  Antheil  nahm  er  an  den  schönen  Hoffesteu ,  zu 
denen  er  auch  selbst  poetische  Arbeiten  liefern  durfte.  Wieder- 
holt blieb  ihm  auch  Zeit,  seiner  Reiselust  zu  genügen.  Im 
Sommer  1844  besuchte  er  die  Schweiz  und  Oberitalien,  in 
den  beiden  folgenden  Sommern  England  und  im  Herbst  1847 
wieder  Oberitalien,  wo  er  mit  dem  Könige  zusammentraf  und 
ihn  einige  Zeit  begleitete.  Dann  ging  er  nach  Florenz  und 
Rom,  wo  er  Vieles  verändert  fand.  Die  alten  Verhältnisse 
in  Italien  lösten  sich  auf;  man  versuchte  mit  wenig  Glück 
neue  staatliche  Ordnungen  zu  gründen  und  Oesterreich  aus 
Italien  zu  verdrängen.  Inmitten  feindlicher  Heere  trat  Reu- 
mont die  Rückreise  nach  Deutschland  an.  Aber  inzwischen 
hatte  sich  auch  hier  Alles  umgestaltet. 

Als  er  nach  Frankfurt  kam.  tagte  dort  die  deutsche 
Nationalversammlung;  als  er  nach  Berlin  gelangte,  dort  die 
preussische  Nationalversammlung.  Der  König  empfing  ihn 
mit  dem  höchsten  Wohlwollen,  aber  die  alten  Zeiten  am 
Hofe  kehrten  nicht  wieder.  Eine  tiefe  Niedergeschlagenheit 
hatte  sich  des  Königs  und  Aller,  die  ihm  nahe  standen,  be- 
mächtigt. Auch  Reumont,  den  ich  damals  zuerst  sah,  war 
in  der  gedrücktesten  Stimmung;  er  hielt  seine  diplomatische 
Laufbahn,  in  die  er  mit  so  viel  Glück  eingetreten  war,  für 
beendet  und  glaubte  einer  ungewissen  Zukunft  entgegensehen 
zu  müssen.  Die  Sache  gestaltete  sich  günstiger,  als  er  er- 
wartet hatte.     Schon  nach   kurzer  Zeit    wurde  er    als   Lega- 


292  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

tionsrath  der  Gesandtschaft  in  Rom  heij^egeben.  Als  er  im 
Januar  1849  mit  dem  zum  Gesandten  ernannten  Grafen 
Usedom  nach  Rom  kam,  herrschte  dort  die  Revolution ;  der 
Papst  war  nach  Gaeta  entflohen,  wohin  auch  Graf  Usedom 
und  Reumont  ihm  folgen  mussten.  Erst  als  der  Papst  wieder 
seinen  Ein'/ug  in  Rom  hielt,  kehrte  auch  Reumont.  im  April 
1850,  dorthin  zurück.  Im  Sommer  1851  ging  er  dann  auf 
den  Wunsch  des  Königs  nach  Berlin ,  wurde  aber  gleich 
darauf  zum  preussischen  Geschäftsträger  in  Florenz  ernannt. 
Im  December  1851  trat  Reumont  sein  neues  Amt  an. 
So  befriedigend  es  für  ihn  sein  musste,  jetzt  in  selbständiger 
Weise  dort  zu  walten,  wo  er  einst  in  sehr  bescheidenen  Ver- 
hältnissen in  die  diplomatischen  Kreise  eingetreten  war  und 
wo  er  immer  die  alten  freundschaftlichen  Beziehungen  unter- 
halten hatte,  waren  die  politischen  Zustände  doch  damals 
für  ihn  nichts  weniger  als  erfreulich.  Gern  kehrte  er  des- 
halb im  Sommer  1855,  einem  Wunsche  des  Königs  entspre- 
chend, nach  Deutschland  zurück  und  verblieb  dort,  meist  im 
königlichen  Gefolge,  bis  zum  Oktober,  wo  er  auf  seinen 
Posten  zurückkehren  musste.  Doch  schon  im  Mai  1856  war 
er  wieder  in  Berlin,  da  der  König  schwer  eines  Umganges 
entbehrte.  Er  begleitete  dann  den  König  nach  Marienbad, 
und  sein  Umgang  wirkte  vortheilhaft  auf  die  Stimmung  des 
damals  schon  kranken  Monarchen.  Auch  Reumont  selbst 
war  damals  leidend ;  von  Jugend  auf  von  schwacher  Gesund- 
heit und  öfters  asthmatischen  Beschwerden  unterworfen,  wurde 
er  in  Marienbad  von  einem  so  starken  Anfalle  seines  Leidens 
heimgesucht,  dass  man  in  grosse  Besorgniss  um  ihn  gerieth. 
Auch  im  nächsten  S(mimer  war  Heumont  wieder  in  Marien- 
bad  in  der  Umgebung  des  Königs,  und  im  Sommer  1858 
wurde  er  nach  Tegernsee  beschieden ,  wo  der  König  damals 
Heilung  suchte.  Reumont  folgte  .seinem  schwer  kranken  Herrn 
erst  nach  Sanssouci,  dann  auf  der  italienischen  Reise  im 
Winter  1858  auf  1859.     Die  Reise    schien    einen  günstigen 


V.  Giesehrecht :  Nelcrolog  auf  Alfred  r.  Beumont.  293 

Einfluss  auf  den  König  geübt  zu  haben.  Am  30.  April  1859 
verabschiedete  sich  Renniont  zu  Rom  von  dem  nach  Deutsch- 
land zurückkehrenden  König.  Noch  einmal  begab  er  sich 
auf  seinen  Posten  nach  Florenz ,  um  Augenzeuge  ihn 
schwer  betrübender  Ereignisse  zu  sein.  Mit  dem  Einzüge 
Victor  Emanuels  in  Florenz  war  seine  Mission  beendet;  im 
April  1860  verliess  er  Florenz  und  begab  sich  nach  Berlin. 
Noch  mehrmals  sah  er  den  König,  der  schon  seinem  Ende 
entgegenging.  Nachdem  er  sich  von  ihm  verabschiedet,  trat 
er  eine  Rheinreise  an  und  ging  dann  nach  Rom  —  doch 
nicht  mehr  in  amtlicher  Stellung,  da  er  bei  dem  Einziehen 
der  meisten  Gesandtschaften  in  Italien  zur  Disposition  ge- 
stellt war.  Die  Nachricht  von  dem  Tode  seines  königlichen 
Gönners  erhielt  er  in  Rom.  Mit  dem  Leben  des  ihm  so 
gnädigen  Fürsten  hatte  auch  Reumont's  diplomatische  Lauf- 
bahn ihren  Abschluss  gefunden.  Er  hat  sich  später  noch 
um  den  Gesandtschaftsposten  in  Rom  beworben ,  aber  ver- 
geblich. Er  empfand  das  als  eine  persönliche  Kränkung, 
aber  er  wusste  sich  damit  zu  trösten,  dass  er  sich  nun  ganz 
seinen  literarischen  Arbeiten  hingeben  konnte. 

Diese  Arbeiten  hatte  er  nie  ruhen  la.ssen.  Wie  reichlich 
er  inmitten  eines  vielbewegten  Lebens  seine  Mussestunden 
auszunützen  verstand,  zeigen  seine  Schriften:  „Ganganelli, 
seine  Briefe  und  seine  Zeit"  (1847),  ,Die  Carafa  von  Mad- 
daloni"  (2  Bände  1851),  , Beiträge  zur  italienischen  Ge- 
schichte" (»1  Bände  1853 — 1857),  „Die  Jugend  Catarinas  de' 
Medici"  (2  Bände  1854-1856),  ,Die  Gräfin  Albany"  (2 
Bände  1859),  „Della  diplomazia  italiana  dal  secolo  XIII  al 
XVI*  (1858)  und  verschiedene  Beiträge  zu  dem  Archivio 
storico  italiano.  Als  er  nun  ganz  seinen  Studien  leben 
konnte,  sammelte  er  zunächst  eine  Anzahl  kleinerer,  die  Zeit- 
geschichte betreffender  Arbeiten  und  gab  sie  unter  dem 
Titel  , Zeitgenossen"  (2  Bände  1862)  heraus.  Bald  aber 
nahm  ihn    eine  grössere   Arbeit    ganz    in  Anspruch.      König 


294  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

Maximilian  II.  fühlte  damals  das  Bedürfniss  einer  übersicht- 
lichen, etwa  zwei  Bände  umfassenden  Geschichte  Roms,  die 
den  Laien  ermöglichen  sollte,  sich  besonders  über  die  Monu- 
mente der  Stadt  zuverlässige  Belehrung  7a\  verschaffen.  Man 
machte  den  König  darauf  aufmerksam ,  dass  Reumont  mit 
dem  Stoff  eines  solchen  Werkes  vollständig  vertraut  und 
vielleicht  zur  Bearbeitung  desselben  geneigt  sei.  Der  Zufall 
wollte,  dass  Reumont  zu  dieser  Zeit,  im  Frühjahr  1863,  auf 
einer  Reise  München  berührte  ;  als  ihm  hier  der  Wunsch 
des  Königs  eröffnet  wurde,  ging  er  auf  das  ihm  gemachte 
Anerbieten  ein.  Sofort  machte  er  sich  an  die  Arbeit.  Noch 
in  Rom  begann  er  das  Werk,  setzte  es  dann  in  Aachen, 
wohin  er  1863  übersiedelte,  fort  und  brachte  es  1870  in 
Bonn  zum  Abschluss.  Die  , Geschichte  der  Stadt  Rom" 
(4  Bände  1866—1870)  entspricht  nicht  ganz  dem  ursprüng- 
lichen Plane;  der  Verfasser  glaubte  seine  Aufgabe  gründlichst 
lösen  zu  sollen,  und  das  Buch  wuchs  dadurch  zu  einem  Um- 
fange, der  die  Verbreitung  beeinträchtigen  musste.  Als  eine 
Art  Reisehandbuch,  wie  Anfangs  beabsichtigt  war,  konnte 
das  Werk  nicht  dienen,  aber  es  ist  ohne  Frage  eine  ver- 
dienstliche und  dankeuswerthe  Leistung. 

Die  .lahre  1868—1878  waren  die  schaöensfreudigsten 
hl  Reumont's  Leben.  Er  hatte  sich  in  Bonn  ein  Haus  ge- 
kauft, wo  er  und  zwei  bei  ihm  lebende  Schwestern  —  er 
war  nie  verheirathet  —  Alles  nach  ihrem  Gefallen  einge- 
richtet hatten  und  einen  anregenden  Verkehr  unterhielten. 
Hier  lebte  er  ganz  seinen  literarischen  Arbeiten.  Gleich 
nach  der  Beendigimg  der  Geschichte  Roms  machte  er  sich 
an  ein  neues  Werk,  welches  in  ihm  viele  theure  Erinner- 
ungen wachrief.  Es  sollte  die  Glanzzeit  von  Florenz  dar- 
stellen  und  erschien  1847  unter  dem  Titel :  „Lorenzo  de' Me- 
dici"  (2  Bände),  wohl  die  vollendetste  Arbeit  Reumont's. 
Eine  so  beifällige  Aufnahme  fand  das  vortreffliche  Buch, 
dass  1883    eine    neue  Auflage    nöthig    wurde.     In  unmittel- 


V.  G-if sehrecht :  NeVrolog  auf  Alfred  v.  Beumont.  29o 

barem  Anschluss  an  dasselbe  bearbeitete  dann  Reumont  für 
die  von  mir  heraut^gegebene  „Geschichte  der  Europäischen 
Staaten*  die  , Geschichte  Toscanas  seit  dem  Ende  des  tioren- 
tinischen  Freistaats*"  (2  Bände  1876,  1877),  ein  sehr  nütz- 
liches Werk,  7Ai  welchem  er  wie  kaum  ein  andrer  deutscher 
Gelehrter  befähigt  war.  Gleichzeitig  traten  noch  eine  An- 
zahl grösserer  und  kleinerer  Arbeiten  an  das  Licht. 

Im  Jahre  1878  kehrte  Reumont  nach  seiner  Vaterstadt 
Aachen  zurück,  wo  er  sich  inzwischen  ein  Haus  hatte  bauen 
lassen.  Er  gründete  hier  einen  historischen  Verein .  für  den 
er  trotz  seines  Alters  noch  vielfach  thätig  war.  Dabei  be- 
hielt er  aber  seine  eigenen  literarischen  Arbeiten  immer  im 
Auge.  1878  gab  er  eine  Sammlung  ,  Biographischer  Denk- 
blätter" heraus,  1880  «lie  werthvolle  Biographie  Gino  Cap- 
poui's,  seines  alten  Freundes,  den  er  noch  bis  zum  Lebens- 
ende fast  alljährlich  aufgesucht  hatte.  In  demselben  Jahre 
erschien  auch  eine  Sammlung  italienischer  Aufsätze  unter 
dem  Titel:  „Saggi  di  Storia  e  Litteratura*  und  in  den  beiden 
folgenden  Jahren  das  Lebensbild  der  Vittoria  Colonna  und 
eine  neue  Sammlung  unter  dem  Titel:  , Kleine  historische 
Schriften."  Am  4.  Mai  1883  feierte  Reumont  unter  grosser 
Theilnahme  sein  fünfzigjähriges  Doctorjubiläum.  Bald  her- 
nach auf  einer  Heise  nach  Frankreich  befiel  ihn  plötzlich 
ein  schweres  Augenleiden  .  welches  nach  einiger  Zeit  die 
Entfernung  des  einen  Auges  noth  wendig  machte.  Das  Un- 
glück traf  ihn  um  so  schwerer,  als  er  gerade  damals  mit 
der  Vollendung  eines  literarisches  Denkmals  für  seinen  könisf- 
liehen  Gönner  beschäftigt  war.  Das  Buch:  „Aus  König 
Friedrich  Wilhelms  IV.  gesunden  und  kranken  Tagen"  (1884) 
ist  wohl  viel  gelesen  worden,  entsprach  jedoch  nicht  ganz 
den  gehegten  Erwartungen. 

Am  28.  Juni  1883  waren  50  Jahre  seit  dem  Eintritte 
Reumont's  in  den  preussischen  Staatsdienst  verflossen;  dieser 
Deuktag  seines  Lebens  wurde  dadurch  bezeichnet,  dass  ihm 


296  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 

der  Titel  eines  Wirkliehen  Geheimen  Rathes  verliehen  wurde. 
Auch  jetzt  legte  er  die  Feder  nicht  ganz  aus  der  Hand.  1886 
liess  er  noch  eine  Sammlung  meist  älterer  Aufsätze  unter 
dem  Titel:  „Charakterbilder  aus  der  neueren  Geschichte 
Italiens"  erscheinen.  Aber  bald  musste  er  die  ihm  liebe 
Arbeit  aufgeben.  Im  November  1886  traf  ihn  ein  Schlag- 
anfall und  im  Mai  1887  ging  sein  Leben  zu  Ende. 

Nicht  ohne  Verwunderung  blickt  man  auf  den  Lebens- 
gang Keumont's  zurück.  Aus  sehr  bescheidenen  Verhält- 
nissen hervorgegangen,  ohne  alle  anziehenden  äusseren  Vor- 
züge, gewinnt  er  sich  Ansehen  und  Achtung  in  den  höchsten 
Kreisen  der  Gesellschaft;  ohne  die  gewöhnliche  bureau- 
kratische  Schule  durchgemacht  zu  haben,  erlangt  er  ehren- 
volle Stellungen  in  der  diplomatischen  Welt;  ohne  sich  je- 
mals einer  strengwissenschaftlichen  Schulung  unterworfen  zu 
haben,  wird  er  nicht  nur  ein  höchst  fruchtbarer  Geschichts- 
schreiber, sondern  schuf  auch  Werke ,  denen  ein  dauernder 
Werth  beizumessen  ist.  Das  Alles  ist  ausserordentlich,  und 
mag  sich  auch  Manches  durch  die  Gunst  zufälliger  Umstände 
erklären  lassen,  in  der  Hauptsache  werden  solche  Erfolge 
doch  nicht  ohne  eine  seltene  geistige  Beanlagung  zu  ge- 
winnen sein.  Am  wenigsten  wird  man  sagen  können,  dass 
Reumont  von  den  Zeitströmungen  gehoben  .sei.  Tn  seiner 
politischen  und  kirchlichen  Ueberzeugung  stand  er  den  die 
Zeit  beherrschenden  liberalen  Tendenzen  feindlich  gegenüber, 
wenn  er  auch  Weltmann  genug  war,  um  seinen  Gegensatz 
jiicht  schroff  herauszukehren,  und  vielfach  in  vertrautem  Um- 
gang mit  Mäimern  lebte,  deren  Ansichten  von  den  seinen 
weit  abwichen^). 


1)  Benützt  ist  besonders  der  an.sf'ührliche  Nekrolog  von  U.  1  lütter 
in  der  Allgemeinen  Zeitung  1887  Beilage  Nr.  235—241  ;  ausserdem 
der  Nekrolog  von  K.  von  Höfler  in  dfMn  Historisclien  Jahrbuch  der 
Görres-Gesellschaft  1888  S.  49  ü. 


r.  Giesebrecht:  Nelrolog  auf  Giovanni  Gozzadini.  29/ 

Am  25.  August  vorigen  Jahres  verschied  auf  seiner 
Villa  Ronzano  bei  Bologna  Graf  Giovanni  Oo/zadini, 
Senator  des  Königreichs  Italien,  seit  1878  auswärtiges  Mit- 
glied unserer  Akademie. 

Giovanni  Gozzadini  entstammte  einem  der  ältesten  und 
l)erühmtesten  (jeschlechter  Bolognas,  welches  durch  acht 
.Jahrhunderte  bedeutende  Männer  im  Staat  und  in  der  Wissen- 
schaft, namentlich  des  Rechts,  hervorgebracht  hat.  Er  war 
im  Jahre  1810  zu  Bologna  geboren,  als  der  Sohn  des  Grafen 
Giuseppe  Gozzadini  und  der  Donna  Laura  Papafava  aus 
dem  Hause  der  Carrara  Paduas.  In  seiner  Jugend  beschäf- 
tigte er  sich  besonders  mit  ritterlichen  Uebungen.  Eine 
Waffensammlung,  welche  er  sich  anlegte,  führte  ihn  dann 
zu  geschichtlichen  Forschungen ,  die  sich  zuerst  besonders 
auf  das  Mittelalter  bezogen.  1835  veröffentlichte  er  die  Bio- 
graphie des  Armanciotto  de'  Ramazzotti,  eines  Condottiere  des 
15.  Jahrhunderts,  1839  eine  aus  archivalischem  Material  ge- 
schöpfte Monographie  über  Giovanni   II.  Bentivoglio. 

Im  Jahre  1844  entdeckte  er  auf  seinem  Gate  Villanova 
einen  Friedhof,  den  er  den  Etruskern  zuschrieb ,  und  \väd- 
mete  sich  nun  mit  Vorliebe  prähistorischen  Studien.  Andere 
wichtige  Entdeckungen,  die  er  machte,  wie  der  Nekropole 
von  Marzabotto  bei  Bologna,  erregten  Aufsehen  und  führten 
ihn  inmier  tiefer  in  diese  Studien.  Im  Jahre  1868  gab  er 
>eine  Studj  archeologico  -  topografici  sulla  cittä  di  Bologna 
heraus  und  verfasste  eine  Reihe  von  Abhandlungen  über  die 
etruskischen  Nekropolen ,  die  er  1871  dem  anthropologisch- 
archäologischen Congress  zu  Bologna,  den  er  als  Präsident 
eröffnete,  in  Vorlage  brachte.  Durch  seine  Entdeckungen 
war  die  Erweiterung  und  Neuordnung  des  berühmten  Museo 
civico  delle  antichitä  in  Bologna  nothwendig  geworden ;  als 
Generaldirector  des  Museums  leitete  er  die  Arbeiten ,  die 
1881  zum  Abschlnss  kamen,  wo  er  die  Genugthuung  hatte, 
das  vollendete   Werk  einzuweihen. 


298  Oeffentliche  Sitziwq  vom  28.  März  1888. 

So  sehr  ihn  die  prähistorischen  Studien  beschäftigten, 
Hess  er  doch  die  Geschichte  des  Mittehilters  nicht  aus  den 
Augen.  So  veröffentlichte  er  1851  die  Cronaca  di  Ronzano, 
eines  alten  Klosters  der  Frati  Gaudenti ,  welches  in  seinen 
Besitz  gekommen  war  und  wo  er  sich  eine  Villa  eingerichtet 
hatte.  Vier  Jahre  später  erschien  dann  sein  grosses  Werk: 
, Delle  Torri  gentilizie  di  Bologna;  dasselbe  enthält  den  auf 
gründlichen  Forschungen  beruhenden  Nachweis  der  Burgen 
und  Paläste  der  zahlreichen  Adelsgeschlechter  Bolognas  nebst 
geschichtlichen  Notizen  über  diese  Geschlechter  und  ist  als 
eine  der  wichtigsten  Arbeiten  für  die  Geschichte  Bolognas 
zu  bezeichnen. 

Gozzadini's  literarische  Thätigkeit  ist  eine  sehr  rege 
gewesen.  Viele  seiner  Abhandlungen  sind  in  den  Publi- 
cationen  der  für  die  Provinzen  der  Erailia  eingesetzten 
königlichen  Deputation  der  vaterländischen  Geschichte,  deren 
Präsident  er  seit  18G2  war,  gedruckt  worden.  Die  Ver- 
dienste Gozzadini's  beruhen  jedoch  vor  Allem  in  den  neuen 
Impulsen,  welche  er  der  Archäologie,  Topographie  und  Ge- 
schichte Bolognas  gab.  Der  Aufschwung  der  Studien  dieser 
Richtung  ist  hauptsächlich  ihm  zu  verdanken,  nicht  minder 
die  Erhaltung  mancher  werthvoUen  Denkmäler  aus  den  alten 
Zeiten  Bolognas. 

Einem  Manne  von  solcher  gesellschaftlichen  Stellung, 
der  sich  auch  in  der  Wissenschaft  einen  geachteten  Namen 
erworben  hatte,  konnten  grosse  Auszeichnungen  und  allge- 
meine Verehrung  nicht  fehlen.  Sein  Haus  war  ein  Sammel- 
punkt der  patricjtischen  Geister  und  der  Gelehrten  Italiens. 
Schwer  traf  ihn  im  Jahre  1881  der  Verlust  seiner  hochge- 
bildeten und  vielgefeierten  Gemahlin  Maria  Teresa  di  Serego- 
Allighieri  vom  Hause  Dante  in  Verona,  deren  Andenken  er 
in  einer  1882  publicirten  und  1884  in  neuer  Auflage  er- 
schienenen Biographie  verherrlichte. 


V.  Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Lnnr.  Phil.   Charl.  v.  d.  Bergh.      299 

Mit  Giovanni  Goz/adiiii  erlosch  eines  der  berühmtesten 
historischen  Geschlechter  Italiens.  Das  sehr  wichtige  Archiv 
des  Hauses  wird  hoffentlich  der  Stadt  Bologna  erhalten 
bleiben  ^). 

Am  17.  September  vorigen  Jahres  starb  im  Haag  der 
königliche  Reichsarchivar  Laurent  Philippe  Charles  van 
den  Bergh,  seit  1869  auswärtiges  Mitglied  unsrer  Akademie. 

Van  den  Bergh,  geboren  am  20.  Juni  1815  zu  Düssel- 
dorf, machte  seine  Studien  auf  der  Universität  zu  Utrecht 
und  wurde  dort  zum  Doctor  der  Rechte  promovirt.  Er  trat 
dann  l)ei  dem  Reichsarchiv  im  Haag  ein ,  bekleidete  dort 
mehrere  Stellungen  und  wurde  nach  dem  Tode  von  Bak- 
huizen  van  den  Brink   1809  zum  Reichsarchivar  ernannt. 

Seine  schriftstellerische  Thätigkeit  ist  eine  ausgedehnte 
gewesen.  Die  ersten  Arbeiten  van  den  Bergh's  liegen  mehr 
auf  dem  schönwissenschaftlichen,  als  dem  historischen  Gebiet, 
später  aber  wandte  er  sich  vorzug'^weise  historisch-archivali- 
schen  Studien  zu.  Nachdem  er  1838  im  Auftrage  seiner 
Regierung  in  den  franzö>ischen  Archiven  Forschungen  ange- 
stellt hatte,  gab  er  1840  über  die  Resultate  derselben  einen 
Bericht  heraus  und  setzte  dann  seine  geschichtlichen  Studien 
in  den  holländischen,  belgischen ,  deutschen  und  englischen 
Archiven  fort.  Die  Frucht  dieser  Studien  sind  eine  Anzahl 
grösserer  Urkundenwerke,  die  ihm  in  der  gelehrten  Welt 
einen  hochgeachteten  Namen  machten.  Unter  ihnen  sind 
besonders  zu  nennen :  „Gedenkstukken  tot  opheldering  der 
Nederlandsche  geshiedenis"  (3  Bände  1842—1845),  ,Het 
Nederlandsche  Rijks-archief ,  verzaraeling  van  onuitgegeven 
Gorkonden  eu  besluiten  voor  de  geschied enis  des  Vaderlands' 

1)  Benutzt  sind :  An.£(.  de  Gubernatis.  Dizionario  biografico  degli 
scrittori  contemporanei  p.  526.  527  und  Mittheilungen  des  Herrn 
Dr.  Ferd.  (jregoroviua. 


300  OeffentUche  Sitzunp  oom  28.  März  1888. 

(gemeinschaftlich  mit  Bakhuizen  van  den  Brink  und  de  Jonge 
herausgegeben  1857),  „Oorkondeubiiek  voor  Holland  en  Zee- 
land"  (herausgegeben  im  Auftrage  der  ndl.  Akademie  der  Wis- 
senschaften 1863).  Aus^n-dem  hat  er  werthvoUe  Beiträge  zur 
niederländischen  Mythologie  und  Heraldik  veröffentlicht  und 
sich  durch  kritische  Editionen  und  Erläuterungen  mittelalter- 
licher Dichtungen  Verdienste  erworben.  Mit  grosser  Bereit- 
williokeit  hat  er  die  Nachforschungen  deutscher  (belehrten 
in  den  niederländischen  Archiven  unterstützt^). 


Am  19.  Mai  vorigen  Jahres  verstarb  zu  Leipzig  der 
Geheime  Hofratli  Professor  Dr.  Johann  Ernst  Otto  Stobbe, 

seit   1885  correspondirendes  Mitglied  unsrer  Akademie. 

Stobbe  wurde  am  28.  Juni  1831  zu  Königsberg  in 
Preussen  geboren.  Der  Vater,  ein  städtischer  Beamter,  lebte 
in  beschränkten  Verhältnissen,  war  aber  auf  die  geistige 
Ausbildung  seiner  Kinder  sorgsam  bedacht.  Schon  auf  dem 
Gymnasium  that  sich  Stobbe  unter  seinen  Mitschülern  her- 
vor und  trieb  mit  grossem  Eifer  das  Studium  der  alten 
Sprachen  und  der  Geschichte.  Im  Jahre  1849  bezog  er  die 
Universität  seiner  Vaterstadt  und  wandte  sich,  zunächst  der 
Philologie  zu,  ging  aber  l)ald .  da  er  keine  Neigung  /um 
Schulfache  hatte,  zur  Juris|)rudenz  über.  Zunächst  lag  er 
romanistischen  Studien  unter  Sanio's  Leitung  ob,  zu  dem  er 
auch  ein  nahes  persönliches  Verhältniss  gewann  und  dem  er 
stets  in  dankbarer  Liebe  verbunden  l)lieb.  In  das  Studium 
des  deutschen  Rechtes  führte  ihn  Johannes  Merkel  ein,  der 
sich  des  strebsamen  Jüngers  ganz  besonders  annahm.  Bei 
dt'i-  l'reisvertheilung  1852  wurde  nicht  nur  der  von  der 
juristischen  Facultät  ausgesetzte  Haujjtpreis  Stobbe  zuerkannt, 

1)  Benützt  wurde:  HiofrnvphiHch  \\'oor(lenboek  der  Nord-  en 
Suid-Nederlaudsche  Letterkunde  door  Huberts,  Klberts  en  van  den 
Branden  p.  56. 


r.   Giesebrecht :    Nekrnla;/  mif  Johann   Ernnt  Ottn  Stnhhe.         301 

sondern  auch    ein  andrer    Preis,   welchen    die  philosophische 
Facnltät  für  die  Lösany;  einer  archäolo<Tfischen   Aufgahe  aus- 
geschrieben hatte.    Die  Liebe  zu  den  klassischen  Studien  war 
in  Stobbe  nicht  erloschen,   aber  doch  stand  schon  sein   Ent- 
schluss  fest,  sich  ganz  der  Erforschung  des  deutschen  Rechts 
zu  widmen   und  ein  akademisches  Lehramt  zu  erstreben.   Der 
Entschluss    schien   bei  seinen  Verhältnissen   gewagt,    aber  er 
liess  sich  durch  äussere  Schwierigkeiten    nicht    abschrecken. 
Nachdem  er  1853  zum  Doctor  promovirt  war,  beschloss 
er  zu  seiner    weiteren  Ausbildung   die  Universitäten  Leipzig 
und  Göttingen  zu  besuchen ,  wozu  ihm  eine  massige  Unter- 
stützung vom  Ministerium  bewilligt  wurde.    In  Leipzig  hatte 
er  sich  besonders    des  näheren,    für  ihn    höchst   anregenden 
Umgangs  mit  Albrecht  zu  erfreuen,  in  Göttingen  trat  er  vor- 
nehmlich  unter  Waitz's  Einwirkung  den  historischen  Studien, 
so    weit    sie    sein  Gebiet    berührten,    näher.     Schon    war  er 
selbst  literarisch  thätig;    ausser  seiner  Inaugural- Dissertation 
liess  er  mehrere  Abhandlungen  drucken  und  gab  die  Summa 
Curiae  Regis ,    ein  Formelbuch  aus  der  Zeit  der  Könige  Ru- 
dolf L  und  Albrecht  L,  heraus.  Nach  der  Rückkehr  in  seine 
Vaterstadt  habilitirte  er  sich  dort  1855  als  Privatdocent  und 
begann  Vorlesungen    zu  halten.     Noch    in    demselben  Jahre 
erschien  sein  erstes  grösseres  wissenschaftliches  Werk:    ,Zur 
Geschichte    des  deutschen  Privatrechts",    welches  allgemeine 
Anerkennung  fand  und  die  Veranlassung  gab,  dass  er  185(3 
zum  ausserordentlichen  Professor    und   schon    nach    wenigen 
Monaten,    als  er  einen   Ruf   nach  Erlangen  abgelehnt  hatte, 
zum    ordentlichen    Professor    des    deutschen   Rechts  befördert 
wurde.     Er  hatte  sich  glücklich  durchgeschlagen  und  früher, 
als  er  es  irgend  erwarten  konnte,  einen  akademischen  Lehr- 
stuhl erreicht.     Aber  er  sah  darin    nur  einen  Sporn,    durch 
tüchtige  Leistungen    zu  beweisen,    dass  er  der   ihm    so  früh 
zugefallenen  Ehren    würdig  sei.     Und    sofort    bot    sich  ihm 
eine  Aufgabe,    an  der  er    seine  ganze  Kraft    zeigen  konnte. 

1888.  PhUo8.-philoL  u.  bist.  Cl.  2.  20 


302  Oeff'eulliche  Sitzuny  com  28.  März  1888. 

Es  wurde  ihm  zur  Bearbeitung  eine  Geschichte  des  deutschen 
Rechts  übertragen;  Anfangs  sollte  er  das  schwierige  Werk 
in  V^erbindung  mit  Merkel  ausführen ,  aber  bei  Merkel's 
liücktritt  niuöste  er  die  Arbeit  allein  auf  sich  nehmen. 

Gerade  damals  kam  ich  nach  Königsberg  und  mit  Freude 
gedenke  ich  der  Zeit,  wo  ich  in  fast  täglichem  Verkehr  mit 
Stobbe  stand.  Die  Offenheit  seines  Charakters,  die  Frische 
seines  ganzen  Wesens,  der  Eifer  für  seine  Studien  gewann 
ihm  die  aligemeine  Liebe.  Leider  blieb  er  nicht  lange  unter 
uns.  Schon  1859  folgte  er  einem  Rufe  nach  Breslau,  den 
er,  so  werth  ihm  seine  Vaterstadt  war,  doch  gern  annahm, 
da  er  ihm  Aussicht  auf  eine  ausgedehnte  Lehrthätigkeit  er- 
öffnete. Schnell  lebte  er  sich  in  Breslau  in  alle  Verhältnisse 
der  Universität  und  der  Stadt  ein.  Leicht  erlangte  er  die 
Liebe  seiner  Collegen,  die  Achtung  der  Studenten.  In  den 
Jahren  18(>9  — 1871  vertrat  er  als  Rector  die  Universität  mit 
ebensoviel  Uaisicht  als  Würde.  Die  Stadt  wurde  ihm  be- 
sonders heimisch,  nachdem  er  sich  dort  1862  mit  Margarete 
Eberty  vermählt  und  einen  eigenen  Hausstand  gegründet 
hatte;  die  mit  Kindern  gesegnete  Ehe  war  eine  höchst  glück- 
liche, und  sein  Haus  der  Sammelplatz  zahlreicher  Freunde. 
Dabei  gewann  er  ausreichende  Müsse  zur  Fortsetzung  seiner 
wissenschaftlichen  Arbeiten.  In  den  .Jahren  18()0--1864  er- 
schien die  „Geschichte  der  deutschen  Rechtsquellen",  1865 
„Beiträge  zur  Geschichte  des  deutschen  Rechts",  18Ö6  „Die 
Juden  in  Deutschland  während  des  Mittelalters",  1870  „Her- 
mann Conring,  der  Begründer  der  deutschen  Rechtsgeschichte" 
und  1871  der  erste  Band  des  „Handbuchs  des  deutschen  Pri- 
vatrechts",  welches  das  Hauptwerk  seines  Lebens  werden  sollte. 

So  befriedigt  sich  Stobbe  in  Breslau  fühlte,  folgte  er 
doch  1872  ohne  Bedenken  einem  Kufe  nach  Leipzig;  denn 
immer  war  es  ihm  als  der  höchste  Wunsch  erschienen,  an 
der  dortigen  Universität  wirken  zu  können.  Von  allen  Seiten 
fand  er  in  Leipzig  das  freundlichste  Entgegenkommen,    und 


V.  G-iesehrecht :  Nekrolofi  auf  Johann  Ernst  Otto  Stobbe.        303 

in  kurzer  Zeit  wur  er  mit  den  ihm  schon  von  früher  nicht 
unbekannten  Verhältnissen  der  Universität  und  der  Stadt 
völhg  vertraut.  Fünfzehn  glückliche  Jahre  hat  er  dann  noch 
in  Leipzig  verlebt,  getragen  durch  das  Vertrauen  und  die 
Liebe  seiner  Collegen,  die  ihm  für  das  Jahr  1878/1879  das 
Kectorat  übertrugen.  Seine  Lehrthätigkeit  war  eine  ausge- 
dehnte und  fruchtbare.  Universität  und  Stadt  brachten  ihn 
in  einen  regen  Verkehr  mit  bedeutenden  Persönlichkeiten, 
und  als  ein  besonderes  Glück  empfand  er  es,  dass  es  ihm 
hier  vergönnt  war,  mit  seinem  Königsberger  Lehrer,  Col- 
legen und  Freunde  von  Simson,  dem  Präsidenten  des  deutschen 
Keichsgerichts,  wieder  in  unmittelbare  Verbindung  zu  treten. 
Seine  literarischen  Arbeiten  concentrirten  sich  fast  ganz  auf 
die  Vollendung  des  Handbuchs  des  deutschen  Privatrechts, 
welches  1885  mit  dem  fünften  Bande  seinen  Abschluss  fand, 
und  auf  die  Bearbeitung  der  neuen  Autlage  der  drei  ersten 
Bände. 

Stobbe's  Gesundheit  war  in  den  letzten  Jahren  nicht 
mehr  so  fest,  wie  früher.  Da  er  noch  nicht  im  höheren 
Alter  stand,  seine  volle  geistige  Regsamkeit  bewahrt  hatte 
und  auch  die  Arbeitskraft  nicht  nachliess,  glaubte  man  keine 
ernsteren  Besorgnisse  hegen  zu  müssen.  Auch  er  selbst 
glaubte  seine  körperlichen  Beschwerden  leicht  überwinden 
zu  können.  Aber  das  Leiden  sass  doch  tiefer,  als  er  und 
Andere  annahmen.  Nur  zu  bald  wurde  er  den  Seinen,  seinen 
Freunden  und  Schülern  durch  eine  rasch  verlaufende  Krank- 
heit entrissen.  Was  er  für  die  Geschichte  des  deutschen  Rechts 
geleistet  hat,  wird  in  der  Wissenschaft  nie  vergessen  werden  ^). 


1)  Benutzt  wurde:  Otto  Stobbe,  Rede,  gehalten  bei  der  aka- 
demischen Gedächtnissfeier  der  Leipziger  Juristenfacultät  von  Emil 
Friedberg  (Berlin  1887). 


304  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1888. 


Herr  G  r  o  t  h  hielt  die  Festrede  : 

„lieber    die    Molekularbeschaffenheit    der 
Krystalle." 


Sitzungsberichte 

der 

königl.  bayer.  Akademie  der  Wissen  Schäften. 


Philosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  5.  Mai  1888. 

Herr  v.  Christ  legte  eine  Abhandhing  des  Herrn 
Eugen  Oberhummer  vor: 

.Griechische    Inschriften    aus   Gypern*". 

Die  Insel  Cypern  ist  verhältnismässig  arm  an  griechischen 
Inschriften.  Die  Zahl  derselben  ist.  abgesehen  von  den- 
jenigen in  epichorischer  Schrift,  V)  eine  auffallend  geringe  im 
Vergleich  zu  den  reichen  Inschriftenfnnden  auf  den  Inseln 
de.s  ägäischen  Meeres.  Diess  erklärt  sich  einerseits  aus  dem 
Mangel  eines  geeigneten  Steinmaterials  (Cypern  besitzt  keinen 
Marmor),  anderseits  aus  der  vielfachen  Verwendung  der  Reste 
de;>  Altertums  zu  mittelalterhchen  Bauwerken,  besonders 
unter  der  Herrschaft  der  Lateiner.^) 


1)  Für  die  Dauer  der  Anwendung  des  epichorischen  Alphabets 
ist  zu  beachten,  dass  bisher,  so  viel  mir  bekannt,  auf  Cypern  nur 
eine  archaische  Inschrift  in  griechischem  Alphabet,  und  zwar  als 
Umschreibung  der  nebenstehenden  cy prischen  Aufschrift,  gefunden 
wurde  (Röhl  I.  G.  A.  n.  481;  Kirchhoff,  Studien  *53;  Deecke-Collitz 
n.  65).  Von  den  übrigen  Inschriften  griechischen  Alphabetes  dürften 
nur  sehr  wenige  über  das  3.  .Jahrh.  v.  Ch.  zurückzudatieren  sein. 

2i  Vgl.  hierüber  L.  Ross  im  Rhein.  Mus.  N.  F.  VII.  512  f. 
(Arch.  Aufs.  II,  620). 

18&S.  Philos.-pbilol.  u.  bist.  Gl.  3.  21 


306  Sitzung  der  philos.-pliüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Was  ältere  Reisende,  hauptsächlich  Richard  Pococke,^) 
Joseph  V.  Hainmer,=^)  Ali  Bey,^)  Otto  Friedrich  von 
Richter,'*)  Karl  Graf  Vidiia,^)  und  vereinzelt  andere 
beigebracht  haben,  ist  von  Böckh^)  sorgfältig  gesammelt 
worden. 

Unter  den  Folgenden  ist  in  erster  Linie  Ludwig  Ross 
zu  nennen,  dessen  Aufenthalt  auf  Cypern  (1845),  obwohl 
nur  von  kurzer  Dauer,  für  die  Topographie  und  Inschriften- 
kunde der  Lisel  sehr  fruchtbar  war.  Wie  sein  Reisebericht) 
in  knapper  und  schlichter  Darstellung  eine  Fülle  von  zu- 
verlässigen Beobachtungen  aufweist,  so  sind  auch  die  von 
ihm  gesammelten  Li  Schriften**)  mit  der  gewohnten  Sorg- 
falt herausgegeben.  Die  umfänglichste  Sammlung  gemein- 
griechischer Inschriften  von  Cypern,  welche  freilich  zum 
Teil  nur  Bekanntes  wiederholt,  aber  auch  vieles  Neue  bietet, 
hat  W.  H.  Waddington^)  veranstaltet.     Eine  nicht  unbe- 

1)  Description  of  the  East.  2  vol.  London.  1743/45.  —  In- 
scriptionum  antiquarum  liber.     Ib.  1752. 

2)  Topogr.  Ansichten  gesammelt  auf  einer  Reise  in  die  Levante. 
Wien  1811. 

3)  Voyages  d'Ali  Bey  El  Abbassi  en  Afriqne  et  en  Asie.  Paris 
1814.  3  Bde.  mit  Atlas.  —  Travels  of  Ali  Bey  etc.  London  1816. 
2  Bde.  4.  —  Deutsch  in  Bertuchs  Neuer  Bibl.  d.  wicht.  Ueisebeschreib. 
1.  Centur.  2.  Hälfte,  7.  u.  8.  Bd.    Weimar  1816.    (Ohne  die  Tafeln.) 

4)  Wallfahrten  im  Morgenlande.  Aus  seinen  Tagebüchern  und 
Briefen  dargestellt  v.  J.  Ph.  Ewers.  Berlin  1822.  —  Griech.  u.  Lat. 
Inschr.  gesammelt  von  0.  F.  v.  Richter,  herausg.  v.  Joli.  Val.  Francke. 
Berlin  1830.    4. 

5)  Inscriptiones  antiquae.     Paris  1826. 

6)  C.  L  Gr.  t.  II  ( 1843)  p.  436-47  n.  2613-52 ;  cf.  t.  1 V  n.  8658,  8663. 

7)  Reisen  nach  Kos.  Halikarnassos,  Rhodos  und  der  Insel  Cypern. 
Halle  1852.  (Auch  als  4.  Bd.  der  ,  Reisen  auf  den  griechischen 
Inseln".) 

8)  Rhein.  Mus.  N.  F.  VII  (185U)  512—26  =  Arch.  Aufs.  II, 
618—32;  vgl.  Arch.  Zeit.  III  (1845)  99—104. 

9)  Bei  Ph.  Lebas,  Voyage  archeologique.  Inscriptions.  T.  111. 
1.  Textes.    P.  627—48    (n.  2725—2841).    2.  Explication.    1*.    6.^3—51. 


Oberhummer:  Griechifichc  In.<;cJirifte))  nun  Cypern.  307 

deutende  Nachlese  hat  die  Reise  von  M.  Beaudoiiin  niid 
E.  Pottier  (1878)  gebracht,')  während  anderes  Material 
in  den  verschiedenen  Jahrgängen  der  „Hevue  archeologique'" 
zerstreut  ist.^)  Ganz  unzuverlässig  und  ohne  Berück- 
sichtigung des  Sehriftcharakters  sind  die  Inschriften  wieder- 
gegeben, welche  Äthan.  Sakellarios^)  und  L.  Palma  di 
Cesnola^)  mitteilen;  zum  Glück  sind  die  meisten  derselben 
anderwärts  besser  herausgegeben.  Einzelnes  findet  sich  sonst 
noch  zerstreut  veröffentlicht.  ^) 

Es  war  unter  diesen  Verhältnissen  von  vornherein  zu 
erwarten,  dass  die  Reise  auf  Cypern,  welche  ich  in  den 
Monaten  April  und  Mai  1887  unternahm,  in  dieser  Hin- 
sicht keine  grosse  Ausbeute  ergeben  würde;  zudem  war 
meine  Aufmerksamkeit  einem  anderen  Zweck  zugewandt 
und  die  Verfolgung  epigraphischer  Studien  Nebensache. 
Was  ich  trotzdem  an  neuem  Material  beibringen  konnte, 
verdanke  ich  fast  ausschliesslich  meinem  Reisebegleiter,  dem 


1)  Bull,  de  corr.  hell.  III  (1879)  163-76,  347-52. 

2)  Rev.  Arch.  N.  S.  XIII  (1866)  437—43  [D.  Pierides];  XXV 
(1873)  317—26  [G.  Colonna-Ceccaldi  u.  A.  Durnont,  keramische  Inschr.]; 
XXVII  (1874)  79-95  [G.  Colonna-Ceccaldil ;  XXIX  95-101  (1875) 
Lders.];  XLI  (1881)  124  s.  [Dozonl;  III.  S.  t.  VI  (1885)  349,  351  s. 
[S.  Keinachl;  VIII  (1886)  99  [ders.]. 

3)  KvTigiayd.     Bd.  1.     (Athen  1885.) 

4)  Cypern.    Deutsch  v.  L.  Stern.    .Tena  1879.    S.  367-91  (105  N.). 

5)  Ausser  dem,  was  H.  Röhl  in  Bursians  .Tahresbericht,  Bd.  36, 
S.  53  —  55  anführt,  möge  noch  auf  Folgendes  verwiesen  sein:  Trans- 
actions  of  the  R.  Soc.  of  Lit.  II.  Ser.  VII  (1863)  376—93  [J.  Hogg 
nach  .Abschriften  von  Leycester  (1849)];  Rangabe,  Ant.  Hell.  II  n. 
1007,  1234  s.;  F.  Unger  u.  Th.  Kotschy,  Die  Insel  Cypern,  S.  556, 
566  f.  (hiezu  H.  Sauppe  in  d.  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  1866 
S.  133  f.  u.  E.  Leutsch,  Philologus  XXIV  (1866)  226);  Bull,  dell' 
Inst.  1870,  p.  202  s.  [Fabretti,  keram.  Inschr.l ;  Kaibel,  Epigramm. 
Graeca  n.  254—57,  288,  288  a—c  (praef.),  794;  Monatsber.  d.  Berl. 
Ak.  1874,  S.  614  f.  (M.  Schmidt);  Mitteil.  d.  Inst.  IX  (1884)  135-38 
(M.  Ohnefalsch- Richter). 

21* 


308  Sitzung  der  plülos.-phUol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

verdienten  cyprischen  Altertumsforscher  Herrn  Max  Ohne- 
falsch-Richter. Manche  Inschrift  freilich,  die  wir  an  Ort 
und  Stelle  als  vermeintlich  neuen  Fund  kopierten,  erwies 
sieh  später,  als  ich  an  die  Bearbeitung  des  Materiales  gieng, 
als  bereits  veröffentlicht;  doch  war  auch  in  solchen  Fällen 
unsere  Bemühung  selten  ganz  vergeblich,  da  sich  meist  für 
den  Text  oder  doch  für  die  Erklärung  einiges    Neue    ergab. 

Abschrift  und  Abdruck  wurden  in  der  Regel  von  Herrn 
Ohnefalsch -Richter  und  mir  gemeinsam  genommen.  Bei 
den  angegebenen  Maassen  bezeichnet  die  erste  Ziffer  die  Höhe, 
die  zweite  die  Breite  (Länge),  die  dritte  die  Tiefe  des  In- 
schriftsteines. Die  Buchstabenhöhen  sind  als  Durchschnitts- 
masse zu  verstehen,  ohne  Rücksicht  auf  die  von  der  ge- 
wöhnlichen Zeilenhöhe  abweichenden  Buchstaben,  wie  das 
meist  kleinere  O-  Buchstaben,  die  im  Original  nicht  mehr 
vollständig  sind  oder  deren  Lesung  nicht  ganz  sicher  ist, 
sind  durch  einen  Punkt  über  der  Zeile  bezeichnet. 

Schliesslich  fühle  ich  mich  verpflichtet,  Herrn  Professor 
Dr.  R.  Scholl  für  die  liebenswürdige  Unterstützung,  die  er 
mir  bei  meiner  Arbeit  mehrfach  zu  Teil  werden  liess,  ins- 
besondere bezüglich  der  Ergänzung  der  metrischen  Inschriften 
und  durch  Teilnahme  an  der  Korrektur,  meinen  verbind- 
lichsten Dank  auszusprechen. 

N.  1,  Larnaka.  Basis  aus  weissem  Kalkstein,  beim 
Hause  des  Basil.  Petridis  (Marina)  gefunden ;  von  mir  ange- 
kauft, jetzt  im  k.  Anti(|Uiiiiuni  zu  Münclien.  2(3  X  83  X  78  cm. 
Auf  der  Oberfläche  der  Basis  ist  eine  Rundung  von  52  cm 
Durchmesser  und  4 — 5  cm  Tiefe  ausgehauen;  hinter  derselben 
noch  2  kleine  runde  Löcher.  Die  Basis  scheint  demnach 
eine  Marmorstatue  getragen  zu  haben.  Buchstaben  4^1% 
bi-s  5  cm  hoch  und  ausserordentlich   schmal.     Deutlich. 


Oberhunimer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  309 

AYTOKPATOPANePOYANKAICAPACeBACTONAP 

XiePfAMGriC 
TONAHMAPXIKHCeZOYClACnATEPAnATPlAOC 
YnATONTOTPITON     HKITIßNnOAlC 
TONIAION  KTICTHN 

^■/t  ru/.oaiooa   yttQOiai'   KaiGaoa  ^eßaozoi'  oqyieqea    ueyto- 
Tur  dt^/.ia()x.iyS^g  e^oioiag  naiiqu  jrarQidog 
vriaror  ro  tqitov    tj   Kiiuov  7i6Xig 
lov  Xöiov  /.Tiarr^v 

Z,  3.  Das  Etlinikon  Kiviog  ist  neu;  sonst  lautet  das- 
selbe KiTieig.  ^) 

Das  Jahr  der  Inschrift  ergibt  sich  aus  Z.  3;  es  ist  849 
u.  c.  =  97  p.  C. ;  da  es  nach  Z.  2  zugleich  das  erste  Jahr 
der  tribunicia  potestas  des  Kaisers  ist,  welcher  die  Regierung 
am  18.  September  96  antrat,  so  erhellt  daraus,  dass  die 
Widmung  der  Inschrift  vor  das  gleiche  Datum  des  Jahres 
97  fällt.  2) 

Von  Beziehungen  des  Kaisers  Nerva  zur  Stadt  Kition 
oder  zur  Insel  Cypern  überhaupt  ist  aus  der  Literatur  nichts 
bekannt.  Dagegen  bildet  folgende  bei  den  Salinen  von 
Larnaka  gefundene  Widmung  aus  dem  2.  Regierungsjahre 
des  Kaisers  eine  wertvolle  Ergänzung  zu  unserer  Inschrift 
(Corp.  Inscr.  Lat.  III,   1,  n.  216): 

IMP  .  CAESARI  •  NERVAE  •  AVG  • 

P  .  P  .  COS  .  II  •  CIVITAS  •  CITIENSIVM 


1)  KiT{T)ia  als  Personenname  findet  sich  bei  Pausanias  Damasc. 
in  Malal.  p.  257  üx.  (Müller  F.  H.  G.  IV,  469  b:  Dind.  H.  G.  M. 
I,  159). 

2)  Vgl.  H.  F.  Stobbe ,  die  Tribunenjahre  der  röm.  Kaiser. 
Philologus  XXXII  (1873)  31.  Unbegründet  scheint  mir  die  Annahme 
von  J.  Aschbach  (Sitzungsber.  d.  k.  Ak.  z.  Wien,  Phil.-hist.  Kl.  XXXVI 
[1861]  803),  dass  Nerva  sein  3.  Consulat  nur  wilhrend  der  ersten 
Monate  des  J.  97  bekleidet  habe. 


310  Sitzung  der  philos.-phUoJ.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Wahrscheinlich  hat  sich  Nerva  um  die  Stadt  durch 
Wiederherstellung  derselben  nach  einem  Erdbeben  verdient 
gemacht,  worauf  der  Ausdruck  cor  l'diov  /.ziaTi]v  schliessen 
lässt.  ^) 

N.  2.  Larnaka.  Grabstele,  im  Besitz  des  Herrn 
D.  Pierides.  Die  Grabschrift  wurde  nach  einer  Mitteilung 
des  Herrn  Dozon,  französischen  Konsuls  zu  Larnaka,  in  der 
Revue  archeol.  N.  S.  XLl  (1881)  p.  124  bekannt  gemacht 
und  von  F.  Bücheier  im  Rhein.  Mus.  XXXVl  (1881)  lt)3  f. 
besprochen.  Da  die  Wiedergabe  nicht  ganz  genau  ist,  wieder- 
hole ich  die  Inschrift  hier  nach  einer  mir  von  Ohnefalsch- 
Richter  übersandten  Photographie  des  Denkmals. 

IIOYAIONKONIC 
HAGArAOOKAGA 

nAiAAKeKGYeeNiiei 

.UOAOrCONnANTGÜNe 
5    EOXONeNXAPICIN<^- 

ArAOOKAIGÜNA 
BIOAOrON 

Z.  2  ist  nach  Dozon  aus  Versehen  KAE  st.  KAE 
gedruckt;  Z.  (3  Dozon  falsch  KAAI  «t.  KAI.  Unrichtig  ist 
ferner  die  Angabe  Dozon's  (nach  Z.  5):  „Au  dessous,  deux 
cartouches;  dans  celui  de  gauche,  les  lettres  sout  effaces, 
dans  celui  de  droite,  on  lit" :  (folgt  Z.  (>  u.  7);  Z.  (i  u.  7 
stehen  nicht  in  einer  Einfassung,  sondern  unmittelbar  unter 
dem  Distichon;  in  dem  leeren  Räume  links  hat  nichts  ge- 
standen. Unterhalb  des  Ganzen  befinden  sich  die  von  Dozon 
erwähnten    runden    Einfassungen,    von    welchen    die    rechte 

1)  Im  J.  77  oder  70,  also  jedenfalls  kurze  Zeit  vor  Nerva's 
Regierung,  fand  ein  Erdbeben  statt,  durch  welches  drei  Städte  der 
Insel  zerstört  wurden,  Euseb.  chron.  arm.  Ol.  214,  1  imp.  Vesp.  8 
(liieren.  Ol.  211,  3  imp.  Tit.  1),  Syncell.  p.  342  1>  Par. 


Oherhnmmer:   Griechische  Inschriften  aus  Ctjpern.  311 

alierdiutjs  noch  einige  Spuren  eingegrabener  Buchstaben    zu 
tragen  scheint. 

Die  Inschrift  lautet: 

Moj^ialov  xovig  \  rjde  ^4yad-oxXaa  \  riaiöa  xexEvdev 

M€i\iuoX6ycov  novTiüv  e  §oxov  iv  x^qioiv. 

^4yad^oxXiiüva  ßioXöyov. 

Man  könnte  geneigt  sein  Moipaiog  für  ein  Ethnikon  zu 
halten,  etwa  von  Moif^ioveoiia  in  Kilikien,  wovon  sich  neben 
MoU'oveoTievg  auch  MoipeaTi^i;  findet;  so  Dozon  und  Bücheier. 
Dagegen  spricht  aber  der  Ausdruck  naida^  welcher  hier  den 
Vatersnamen  kaum  entbehren  lässt;  der  Vater  des  Schauspielers 
hiess  3l6ij.iog,  und  davon  ist  Moipaiog  als  Adjektiv  gebildet. 
Interessant  ist  die  Bezeichnung  ßioXoyog  für  „Schauspieler", 
welche  nur  durch  wenige  literarische  Zeugnisse  zu  belegen 
ist. ')  Endlich  ist  zu  bemerken,  dass  der  Name  des  Ver- 
storbenen ^4ya&OAXkov  lautete,  wie  die  Widmung  zeigt,  und 
im  Distichon  nur  aus  metrischen  Kücksichten  in  l4ya^o/.Xrig 
abgeändert  wurde. 

N.  3.  Larnaka.  Die  mir  von  Herrn  Ohnefalsch- 
Richter  übersandte  Photographie  umfasst  ausser  der  eben 
besprochenen  Grabstele  noch  zwei  andere  luschriftsteine,  von 
denen  der  eine  das  linke  Stück  einer  Basis  ist,  deren  Auf- 
schrift (dem  König  Ptolemaios  III.  gewidmet)  bereits  (1881) 
in  der  illustrierten  Wiener  Zeitung  „Die  Heimat"  (S.  347), 
und  hienach  wieder  von  S.  Reinach  ^)  vollständig  mitgeteilt 
ist.  Ueber  dieser  Basis,  links  neben  der  Grabstele  steht  das 
Bruchstück  einer  nach  links  abgebrochenen  Platte,  welche 
eine    längere,    leider    zum    Teil    verwischte    Inschrift,    dem 

1)  F.  A.  Wolf,  Lit.  Analekten  I,  104—6;  Steph.  Thes.  ed.  Parin. 
II,  252  3.,  F.  Bücheier  a.  a.  0.  Biologische  Komödien  {xco/ncoöiag 
ßtoXoyixdg)  hatte  nach  Suidas  Philistion  in  der  Zeit  des  Tiberius 
geschrieben. 

2)  Rev.  arch.  III.  S.  VI  (1885)  345;  vgl.  u.  S.  320. 


312  Sitziotg  der  philofi.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Schriftcharakter  nach  etwa  aus  dem  3.  Jahrhundert  v.  Ch., 
trägt.  Mit  einiger  Mühe  lässt  sich  der  grösste  Teil  der  In- 
schrift auf  der  Photographie  noch  entziffern,  wobei  zu  be- 
achten ist,  dass  eine  strenge  Scheidung  der  deutlich  lesbaren 
von  den  unsicheren  oder  verwischten  Buchstaben  nicht  durch- 
zuführen war. 

. .  AflEKOYPHPINYTHNAEEAlOTA 

KlAAANUrAPPOAAEniEOIMH 

PIEOHKEPYPITHNI EAI 

nüYZAnATPINI<OAO(i)nNAPA  . . 
5    AHNHAAAKTAIIQHZOI 

.ONEXEIN(|)OIMENH 

EZPEYZALPPOTEPHETY 

PEPHNO EAXEPONTOE 

ZOMPOZI  . .  .  ETE  ....  MYPE 
10    TOZH THMMHTPOi: 

cl^lAIHN  . .  .  HAEZEMHTEPA 

MHTHPAEYK . ZEOEN . EAE 

.  NOUTEAFHKATEXOI 

Herrn  i'rofessor  Scholl  gelang  es,  die  von  mir  versuchte 
Lesung  zu  vervollständigen  und  die  Inschrift  in  folgender 
Weise  herzustellen : 

'fl\ao)g,   KoiQtj,  /m-vtriv  dt^aio   Ta\Ki'kXav  ' 
H  yaq  noXV   hil  ool  f.nfQL'   tOr]/.E  jivqI. 
5  Ti^v  /[e^iJj'V  (J]£  Xi\7ioioa  7iatQh'    Koloffcuva  ;ia\(j'y/i\     öijv 
"tllXay.tai  Uofjg  oi  [x]oj'  tyßiv  (fd^i/.iivt].  | 
"Ea:i£voag  7f gortQrj  aTv\y£Qrjv  6[d6v  sl]g  ^xtqovxog^  \ 

10  ^Of.1    7t6oi\y  .   .]    BTE  ....    IIVQETO    ffrj I 

7'/)//  firjTQog  I  (ptXirjv  '   ...   rj  dt  0€  f-iiitlga  \  fJiriTijQ ' 
^£rx[«]  oäx/ev  l(.t]€Xe\[co]v  oaiea  yri  v.aTiyoi. 

Z.  1.  Der  Name  Tä-niXka  ist  sonst  nicht  bekannt; 
vielleicht  ist  zu  lesen  öt^ai  'Otä-KiXlav. 


Oherhummer :  Griechische  Inschriften  aus  Cijpern.  313 

Z.  5.  Stiitt  'leQi'iv  ist  vielleicht  zu  ergänzen  tötrjv  (so 
Herr  Prof.   v.  Christ). 

N.  4.  Platte  aus  weissem  Maruior,  nach  Mitteiluntr 
Herrn  Ohnefalsch- Richters  1883  in  Kurion  ausgegraben, 
jetzt  im  Museum  in  Nikosia.  Der  linke  Teil  der  Platte 
fehlt  ganz,  das  übrige  ist  in  5  ungleiche  Stücke  zerbrochen, 
von  welchen  sich  4  lückenlos  aneinander  fügen.  Höhe  der 
Inschrift  23  cm,  Länge  im  Maximum  34  cm,  Dicke  der  Platte 
2  cm.  Buchstabenhöhe  durchschnittlich  14  mm.  Schrift  nach- 
lässig und  ungleichmässig. 

kONn TABIOYTEÄ  .  .  ßHAROAEITA 

tHAHKE  . .  ENONOIKTPONOPAL 

AYLTHNOLEnAHEINOYZTOAAAnON 

NMOIPIINEEETEAEEEAMITON 

5 MENAlONIAilNrAYKVNAAAA 

KAITYnEXriNAYrPAAinriNAXEÄ 

fsJTOKAKOYnAPAMYOlONOJKTOY 

MOYTYMBONEXOYLITEKNOY 

OHnEPIAEAPOMENOIKTPAAE 

10      NMOrEPflBEIOAOTnrENETH 

Nach  rechts  scheint  die  Inschrift  vollständig  erhalten 
zu  sein,  obwohl  man  am  Schluss  von  Z.  5  und  Z.  9  ein 
Wort  vermisst;  auch  in  Z.  3,  welche  im  Original  gegen  das 
Ende  eng  zusammengedrängt  ist,  wurde  aus  Raummangel 
die  Schlusssilbe  TOY  weggelassen  (ähnlich  in  der  folgenden 
Inschrift  bei  Z.  7).  Auf  dem  kleinen  5.  Bruchstück,  dessen 
Zusammenhang  mit  dem  Hauptteil  der  Inschrift  jedoch  nicht 
klar  ist,  ist  folgendes  zu  erkennen: 

\NEM 
-N0H 


314  Sitzung  der  philos.-phUol.  C'lasse  vom  5.  Mai  1888. 

Die  Inschrift  ist  mit  den,  von  Herrn  Professor  R.  Scholl 
vorgeschlageneu,  Ergänzungen  etwa  in  folgender  Weise  her- 
zustellen : 

Evi^vdi?']y.ov  7T[eQaaav]Ta  ßiov  T6'[Aog],  w  7taQodena, 

nievaag  yog]  dvotrjvog  hi'  o^eivov  arofxa  /iov(zov) 
TfjXöO^i  Tojv  MoiQcov  s^eztXeaoa  j-Utov, 
5  Ov  ycif.wv,  ovx  v]iii€vaiov  löwv  ylixiv,  oXla  [rox-svaiv 
jd'/.Qva  y.]al   iv7iETtov  Xvyqa  knccov  axe\a. 
Ovo'  evQEiv  edvvav~\xo  /.a/.ov  7taQaf.iviyL0v  o[fc)t]roi', 

Ol  TcgoTSQOv  0^ald]f^ov  Tv/jßov  eyfivoL  rexrov, 
Tavza  cpQtvag  7iivY\^t]  7TeQididQ0[.iev,    ohrqd  ös  [O^Qtjvel 
10         M}'iTriQ  ovv]  i-ioyeQO)  QeiudoToj  yerett]. 

Zu  Z.  1  TraQOÖEira  ist  die  folgende  Inschrift  (Z.  2)  zu 
vergleichen. 

Nr.  5.  Ich  schliesse  hieran  einige  Bemerkungen  über 
eine  andere  metrische  Inschrift  von  Nikosia,  welche  aller- 
dings schon  seit  langer  Zeit  bekannt  und  auch  oft  behandelt 
worden  ist.  Sie  befindet  sich  auf  der  Aussenseite  eines 
Sarkophages  aus  grauem  Marmor  (jetzt  als  Brunneneinfassung 
benützt)  im  Hof  einer  Moschee  (Jeni-Dschami)  neben  den) 
alten  Konak  (Regierungsgebäude).  Sie  wurde  zuerst  abge- 
schrieben und  veröffentlicht  von  0.  F.  v.  Richter,  Wallfahrten 
(s.  o.  S.  300,  A.  4)  S.  316  u.  566  und  hienach  ausführlich 
besprochen  von  K.  Morgenstern  das.  S.  643—78,  sowie  von 
.1.  V.  Fraucke,  Griech.  u.  lat.  Inschr.  (s.  o.  a.  a.  0.) 
S.  42  —  86  u.  483—98.  Eine  zweite  Abschrift  lieferte  Graf 
Vidua,  Inscriptiones  ant.  S.  34  u.  T.  29  N.  2,  wozu  die 
Bemerkungen  von  Letronne  im  Journal  des  Savans  1827 
S.  169  f.  zu  vergleichen  sind.  Auf  Grund  beider  Ab- 
schriften wurde  die  Inschrift  von  Welcker^)  und  von  Böckh 

1)  Sylloge  epigrammatum  Graecorum  (Bonn  1828)  S.  41—44, 
u.  ,Zu  der  Syll.  ep.  Gr."  (Bonn  1829)  S.  44  ff.  (letztere  Schrift  ist 
mir  nicht  zugänglich). 


Oberhummer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  315 

C.  I.  G.  II,  n.  2647^)  behandelt.  Ein  neuer  und  zuver- 
lässigerer Text  wurde  durch  Waddington  (bei  Lebas  III, 
n.  2771}  gegeben,  welcher  auch  der  neuesten  mir  bekannten 
Bearbeitung  durch  G.  Kaibel  (Ep.  Gr.  n.  288)  zur  Grund- 
lage dient.  Da  mir  in  Cypern  nur  der  bei  Engel  abge- 
druckte Böckh'sche  Text  zur  Hand  war,  von  dessen  UnvoU- 
kommenheit  ich  mich  alsbald  überzeugte,  verschaffte  ich  mir 
durch  gütige  Vermittlung  des  Herrn  Ohnefalsch- Richter 
einen  Abdruck,  der  zwar  gegen  Waddingtons  Text  nichts 
wesentlich  Neues  bietet,  mich  aber  doch  zu  einigen  Be- 
merkungen veranlasst.  Der  Rahmen  der  Inschrift  ist  nach 
meinem  Abdruck  40  cm  hoch,  6(3  cm  breit,  die  Buchstaben 
sind  in  den  beiden  ersten  Zeilen  35 — 40  mm,  in  den  folgenden 
25 — 30  mm  hoch.  Zwischen  Z.  2  u.  3  ist  6  cm  Zwischenraum. 
Text  nach  Waddington  (ohne  Rücksicht  auf  die  Ver- 
schiedenheit der  Buchstabengrösse  und  der  Zeilenlänge). 

KANTPOXAAHNBAINHCcJilAe 
GünAPOAeiTABAlONeniCX  . . 

HTIC..A.ANAI XOPOCTOAeCCOMAKAAYnrei 

rAIAAABOYCArePACTOYGOAtAGüKenAAAl 
HrAPMOII'YXHMeNeCAieePAKAIAlOCAYAAC 
OCTeAAeiCAIAHNATPOnOCeiAeNOMOC 
TOYTeAAXONMerAAüüPONYnAYTCüNÜYPANI 

CONGüN 
eYAAAIOCrAMIKOCMOYNOC6NI0eiMeNOIC 

Die  l)eiden  ersten  Zeilen  (in  grösserer  Schrift)  füllen 
die  ganze  Zeilenlänge  und  bilden  zusammen  einen  Hepta- 
meter. Die  Worte  co  Tcagoöeiza  in  Z.  2  sind  sicher  und 
daher  die  Verbesserungsvorschläge  von  EUis;  9/A'  böoinoQe^ 
und  Kaibel:  nagoiöonoQe  (Hermes  XIV,  258),  unzulässig. 
Zu   rragoöeita  vgl.  die  vorige  Inschrift  (o.  S.  314)  in  Z.   1. 

1)  Hienach  in  Minuskeln  abgedruckt  bei  W.  H.  Engel,  Kypros  I, 
S.  152. 


316  Sitzung  der  pkilos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Die  am  Scblnss  von  Z.  2  verniissten  Buchsstaben  OY  scheinen 
wessen  Raummangels  weggeblieben  zu  sein  (vgl.  Z.   7.) 

Z.  3  bietet  der  Herstellung  erbebliche  Schwierigkeiten. 

Vidua  las:   HBHCfN  .  .  ANA XOPOC  etc.;   Richters 

Text  gibt  (für  die  ganze  Zeile):  AOPOCTOAeeCüriAKA. 
Waddington  bemerkt  zu  seinem  Text:  „Le  mot  x^QO'i  est 
certain,  ainsi  que  i]  au  commencement  du  deuxieme  distique" ; 
ersteres  kann  ich  auch  nach    meinem    Abklatsch    bestätigen. 

Ich  lese  HP  .  .  eNÄÖANAT  .  .  MeXÜPOC  etc.  Der 
Zwischenraum  zwischen  t  und  N  lüsst  nicht  mit  Sicherheit 
entscheiden,  ob  in  demselben  noch  ein  (jedenfalls  schmaler) 
Buchstabe  gestanden  hat  oder  nicht.  Die  unsichere  Lesung 
dieser  Zeile  hat  zu  entsprechend  verschiedenen  Herstellungs- 
versuchen Anlass  gegeben;  Francke  a.  a.  0.  S.  485:  "Hiqi^oev 
l-ia/MQwv  //£  yoQ6g\  Böckh:  "fJiQrjOep  Üavaiov  i.ie  liioQog; 
Waddington:  "[:lQ;iuoei'  aU^aväiiov  f.ie  yoqoQ-.  Kaibel:  .  .  .  üi)a- 
värtov  i-iE  yoQog  {^t'^yyioei'  Wilamowitz;  an  eiQioer,  qnod  r^^taf»' 
scriptum  fueritV). 

Nach  Waddingtons  Text  und  meinem  Abdruck  können 
auch  die  Worte  dO^avariov  i.ie  als  nahezu  sicher  gelten  und 
l)leibt  nur  das  erste  Wort  fraglich.  Die  bisherigen  Er- 
gänzungsversuche sind  sämtlich  unbefriedigend.  Die  meiste 
Wahrscheinlichkeit  dürfte  wohl  folgender  von  Herrn  Prof. 
l{.  Scholl  mit  gütigst  mitgeteilter  Vorschlag  beanspruchen 
können:  ^HQ[e  i.i]€P  ai^avät[tüv]  /.le  yoQog;  cf.  Kaibel  Ep.  Gr. 
n.  15b,  441,  462. 

Z.  4  noXai  wurde  von  Böckh  irrig  in  yiäXiv  geändert. 

Z.  5.  Die  Zeile  hat  sicher  mit  H  begonnen;  daher  ist 
die  A ender ung  in  [ß\ri  (Böckh  und  Francke)  unhaltbar. 

Z.  7  ist  nicht,  wie  Waddington  gibt,  vollständig  aus- 
geschrieben; richtiger  Vidua  OYPANIGüN[(jl)N]  ;  vgl.  o. 
Inschr.  N.  4  Z.  3  7r6v[TOv'].  —  Mein  Abdruck  zeigt  deut- 
lich EAAXON  (Steinmetzfehler). 


Oberhummer:  Griechische  Ivachriften  aus  Cypeni.  '"517 

Ä^öi'  TQü/äötp'  ßairrjQ,  qtke  \  co  TragodeiTa,  ßaiov  hriox[ov. 
^HQ\e  !.i\tv  a^amr[w)']  (.le  xoQog,  rö  de  oio(.ia  /.aXinrei 

Fma,   '/.aßoLoa  yeoag  lovD'  o  dtdio/.t  :iäXai. 
5    ^H  yäg  f.ioi   lin-yj]  /'«»'  ^S  ald^ega  y.al  Jtog  aikag, 

'Ooita  ö'  Big  l4idi]v  azQO/rog  eike  r6f.iog. 
TovT  i[?M]xov  i-ttya  dcogot'  vn'  avxiZv  Oögancövl^iin'^ 

EcXöXtog  yafjr/.og  (.lovvog  Ivl  (fri^i(.itvoig. 

X.  6.  Fragment  eines  Blockes  aus  bläulichem  Marmor, 
1883  beim  Strassenbau  an  der  Westmauer  von  Salamis 
gefunden.  Jetzt  im  Besitz  des  Herrn  Ohnefalsch-Richter  in 
Nikosia.  25  X  50  cm,  Buchstabenhöhe  8^/2  cm.  Unvoll- 
ständig mitgeteilt  von  S.  Reinach,  Rev.  archeol.  III.  Ser.  VI 
(1885)  352. 

ÖLIEPAPYTNIOE 

rPAMMATEY 

YNÄ 

.  .  .  .  og  ^feganitriog  '  yQauuaTev[g]  \ 

Ueber  die  Stadt  lerapytna  auf  Kreta  vgl.  Bursian, 
Geogr.  V.  Griech.  II,  578. 

N.  7.  Inschrift  aus  dem  Dorfe  .  Galini,  südwestlich 
von  den  Ruinen  der  Stadt  Soloi,  jetzt  im  Museum  in  Nikosia. 
Nach  2  Abdrücken,  welche  mir  nachträglich  durch  Herrn 
Ohnefalsch-Richter  über.sandt  wurden.  17  X  27  cm;  Buch- 
stabenhöhe 3^/2  cm. 

AYTOKPATOPAKA  . . 
IIAYPHAIONANTGÜ  . . . 

NONCfBACTON 

lAIAPIANTf  CTT  .  . 
5    AeMAlOCON 
^LToxQaTOQa  Ka[io(aQa)]  \  31.  ^vQi^hov  ^vt[iov£'i]\vov 

^eßaOTOv  [o't   ro,n] /a/  agBavTeg  [TTio]  Ae^tmlog   Or 

TctuUti  ergänze  ich  nach  Vorschlag  von  Herrn  Prof.  Scholl. 


318  Sitzunfi  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  18S8. 

N.  8.  Bruchstück  eines  weissen  Marniorblockes  aus 
Polis  (Marion- Arsinoe,  v^\.  die  folj^.  Inschr.)  von  mir 
angekauft,  jetzt  im  k.  Antiquarium  zu  München.  Die  In- 
schrift, soweit  erhalten,  im  Maximum  24  cm  hoch,  18  cm 
breit;  Dicke  des  Blockes  10  cm;  Buchstabenhöhe  1  cm. 
Waddington  bei  Lebas  III,  n.  2783  nach  einer  Abschrift 
von  M.  Duthoit  (ungenügend). 

ÄPPßN 
NEINÄPOMOIPAN 
tÖ . ZAEAAZZO . 
O  ÖYMETPH 

5  LIAYOOBO 

XYNHrETO 
KA.flNENNÖ 
ZrENOMENHE 
AXMAZAYOKPIOY 
10  BOOt .  HAEIAE 

AY  . . .  TPßBOAON 
H  .  MENAYMAZTHETE 
kONTAAANTAEEHKON 
tAEEKÄIA(t)OYZY. 
In  Z.   3  las  Duthoit  am  Schluss  C;    der    noch    erkenn- 
l)are  Rest  eines  Buchstal)ens  deutet  a])er  eher  auf  N.     Z.  0 
Duthoit    falsch    CHN.     /.    7    scheinen    zwischen  A  ii"d  ß 
die  Si)ur('n   eiucs  |V|   erKennl)ar  zu  sein.      Z.  9  Duthoit  AKM; 
Z.  12  HMEN.    Z.  13  ZAK.    Z.  U  AHH;  KA(1).    Zwischen 
H  und   K  stand  kein   Buchstabe. 

x]a^/fwv  I veiv  d/iöiiiotQar  \ [^oj)]4,' 

d'  ilaooolv]  \ o  .  [r]ot  ^/ez^iy  (,!>/:WogV] oi  ovo 

oßo\Xov(; o]ivr'iYETO  | xayt^wvBvvlo  \ g] 

yeioi-itvi^g  \ \ö{)\u-/_nag  ovo  xqwv  j, ßoog  [O^jr^keiag  \ 


Oherhiivinier:  Griechische  Inschrift ev  aus  Ci/pern.  319 

Ji'[o  rs'JToiößoXov  I [//  .  u]ev  d'  17/äg  T^g  re  \  ... 

.  .  xo[»']  TülavTa  f57)xoj'![ra ra]  f^  xat  ay'  01;  ffü 

Eine  Wiederher.stellung  des  Textes  auch  nur  dem  Sinne 
nach  ist  bei  dem  Zustand  der  Inschrift  nicht  zu  erhoffen. 
Aus  Z.  12  {vuäg)  schliesst  Herr  Professor  R.  Scholl,  dass 
wir  es  mit  dem  Schreiben  eines  Statthalters  oder  einer  andern 
obrigkeitlichen  Persihilichkeit  an  die  Stadtgemeinde  zu  thun 
haben;  der  Inhalt  des  Schreibens  war  wohl,  wie  bereits 
Waddington  bemerkt,  ein  Opfertarif. 

N.  9.  Marmorblock,  im  Hof  eines  Hauses  zu  Polis 
eingemauert.  21  X  12  cm;  Buchstabenhöhe  14  mm.  Wad- 
dington bei  Lebas  HI,  n.  2782  nach  einer  Abschrift  von 
M.  Duthoit  (sehr  unvollständig).  Meinem  Text  liegen  drei 
Abdrücke  und  eine  sorgfältige  Abschrift  zu  Grunde. 

AEMAIOYTO 

LINOHCOEIl 

XOYNTOC 

HEArOPOY 

5      AAAEA0n 

IMriNAKT 

OY     A 

KTOZ 

^NXPÖ 

Z.  1  Duthoit  falsch  EMAOY;  Z-  3  dgl.  XOYMTOZ. 

Da  die  Zeilenlängo  nicht  mehr  zu  ermitteln  ist,  bleibt  die 

Ergänzung,  soweit  eine  solche  überhaupt  möglich  ist,  unsicher. 

^EttI  TlTo\'ke{.iaiov  to[y  IlToXefiaiov 

q'QOVQaQ]yoivxoq  [xaTa  i^QOivoijV 

7i6)uv  ^i\r^oay6Q0v 

5     d^ecüv  (fiyMdil(fiü[v 

T]f;i<wvaxi^[og etc. 


320  Sitzunri  der  phüos.-philnl.  Clas.^e  vom  5.  Mai  1888. 

Wegen  Z.  3  vgl.  die  Inschrift  von  Kition  C.  I.  G. 
n.  2614  \ß\EQEviv.riv  t»]j'  ßaoiletog  ÜToleiualolv  .  .  .  yl^vralKa 
nooeiÖLTtnog  (pQOVQaQxo[g  y^aid  .  .  .]  xat  xara  Kkiov  etc., 
ferner  J.  Franz  C.  l.  G.  Ill,  p.  289  a  und  W.  Engel,  Ky- 
pros  1  394  f.  über  das  Amt  eines  (fQovgaQyog.  In  Z.  4 
könnten  statt  Stesagoras  ancli  andere  Namen  in  Betracht 
kommen,  wie  Agesagoras,  Melesagoras,  Mnesagoras  etc. 
Timonax  (Z.  6)  ist  aus  Her,  VII  98  als  cyprischer  Name 
bekannt. 

Für  den  Anfang  unserer  Inschrift  wäre  etwa  noch 
folgende  Ergänzung  möglich : 

'E/il  ßaadnog  nio]l8f.iaioo  to[v  h  ßaode.iog  IlTolefualov 
'/Ml  ßaoilioorig    'y4Q]otv6)jg,  ■i^£io[v  ipiladflcpiov  etc. 

Man  vgl.  hiezu  folgende  Aufschrift  aus  dem  Heiligtum 
des  Apollon  Ilylatas  bei  Kurion :^)  Baodta  TlTolei-iaTov  Tü\r 
Wdo\f.niTOQa  tov  l.y  ßaodkog  \  Tliole^ialov  y.ai  ßaotl[ioo)jg\ 
K'keonaTQcxg,  dewv  hrKfaviZv^  ferner  l)esonders  die  o.  S.  311 
zu  N.  3  erwähnte  Aufschrift  von  Kition:  Baodta  TIioIe- 
{.la'iov  deoy  EvegyiTip'  tov  ly  ßaodkov  \  Utolmaiov  xai 
^^QOivorjg^  Ü^ewv  (filadtXq^Mv  etc. 

Unsere  Inschrift  gehört  der  Uegierungszeit  des  Ptole- 
maios  III.  Euergetes  (240—21)  an,  welcher  mit  seinen  Eltern 
auch  in  einer  phönizischen  Inschrift  von  Idalion  (C.  I.  Sem. 
I,  n.  93,  al.  1  s.:  —  anno  XXXP  domini  regum  Ptolemaei, 
filii  Ptolemlaei  Philadejphi,]  |  qui  (fuit)  annus  LVII"^  ho- 
,minnm  Citiensium,  Ciinc]ihora  Arsinoes  Philadelphi  Ammato- 
siride  etc.)  erscheint. 


1)  Vidua  Inscr.  ant.  p.  36,  t.  XXXI  4;  C.  I.  G.  n.  261G;  Ross, 
Arch.  Zeit.  lU  (1845)  103  u.  Arcli.  Aufs.  II,  C19;  ^axenägiog,  Kv- 
nQiaxä  I.  77;  Ho^g,  Transact.  R.  Soc.  Lit.  II,  S.  VII  (1863)  386, 
dazu  Pierides  ib.  395  f.;  Waddington  bei  Lebas  III,  n.  28ü8.  Die 
linke  Hälfte  des  entzwei  geschlagenen  Steines  habe  ich  mit  Herrn 
Ohnefalsch-Richter  an  Ort  und  Stelle  wiedergefunden  (27x60x80 cm); 
die  Basis  trug  wahrscheinlich  eine  Marmorstatue. 


Oherhummcr :  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  321 

Für  die  Verehrung,  welche  Arsinoe  auf  Cypern  genoss, 
zeugen  ausser  den  obigeii  Inschriften  Widmungen  von 
Chytroi^)  und  Amathus,"^)  besonders  aber  die  Benennung 
dreier  Städte  nach  ihrem  Namen,  von  welchen  indes  nur 
diejenige,  welche  beim  heutigen  Dorfe  Polis  stand,  zu 
grösserer  Bedeutung  gelangt  ist.  Dieselbe  wurde  an  Stelle 
des  im  Jahre  449  von  Kimon  zerstörten  Marion  erbaut  und 
wird  noch  im  Mittelalter  als  Bischofsitz  genannt.^)  Die 
Lage  der  Stadt  beim  Dorfe  Polis  wird,  abgesehen  von  den 
Zeugnissen  der  Alten,  durch  das  von  M.  Duthoit  zu  Chry- 
sochu  gefundene,  und  S.  327  unter  B  abgedruckte  Dekret 
endgültig  bestätigt.*) 


1)  Cesnola,  Cypern  S.  370  N.  9  'Agaivöj]  (pdadüqxo  Naiä^i  (?)  etc. 

2)  Lebas  III,  n.  2821  'Agaivöt]?  ^da8il(pov. 

3)  Str.  XIV  6,  3;  Steph.  Byz.  s.  v.  u.  s.  MaQiov;  Ptol.  V  14,  4; 
Stad.  mar.  m.  309;  Plin.  n.  h.  V  130;  Geogr.  Rav.  V  20;  Hierocl.  44; 
Const.  Porph.  them.  I  15.  Die  beiden  andern  Städte  gleichen  Namens 
werden  nur  bei  Str.  1.  1.  genannt.  An  der  Kirchenversammlung  zu 
Chalkedon  (451  n.  Ch.)  nahm  ein  Inioxonog  'AQOivöyg  teil,  s.  Lequien, 
Oriens  christianus  II,  p.  1065  (hier  ohne  Zweifel  irrig  auf  Arsinoö 
bei  Salamis  bezogen),  und  zur  Zeit  der  Lusignans  war  Arsinoe  (seit 
1260)  der  Sitz  des  griechischen  Bischofs  von  Paphos,  Lequien  II, 
]).  1053,  III,  p.  1205;  L.  de  Mas  Latrie,  Hist.  de  l'ile  de  Chypre  I, 
p  381.  Das  Ethnikon  {'Aooivoeiog  "^J  scheint  in  einer  Aufschrift  von 
Idalion  APZINOEIO  I  ANAPAZIA  vorzuliegen  (Rev.  arch. 
N.  S.  XXVn  [1884]  90,  2).     Vgl.  Nachtrag  S.  348  a.  E. 

4)  Das  Dorf  Xovaoxov  liegt  etwa  2  englische  Meilen  oberliall) 
des  Dorfes  Ilolig,  nach  welchem  letzteres  auch  vollständiger  als  IlöXig 
Tfjg  Xqvooxov  bezeichnet  wird ;  daher  die  Verwirrung  über  die  beiden 
Orte  in  früheren  Reisewerken.  Bei  Polis  finden  sich  Architektur- 
fragmente und  Reste  einer  Hafenanlage,  welche  von  einer  antiken 
Niederlassung  zeugen.  Ueber  die  umfassenden  .-Ausgrabungen  Herrn 
Ohnefalsch-Richters  in  den  dortigen  Nekropolen  im  Sommer  1886 
vgl.  einstweilen  Jahrb.  d.  arch.  Inst.  1887  S.  85  ff.  Von  Resten  aus 
dem  Altertum  bei  Chrysochu,  das  ich  leider  nicht  mehr  besuchen 
konnte,  ist  mir  nichts  bekannt. 

1658.  Philos.-pliilol.  u.  hist.  Cl.  3.  22 


322  Sitzung  der  inhilos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mai  18S8. 

Kuklia   (Alt-Paphos). 

N.  10.  Weisser  Marmorblock  in  der  Südwand  eines 
Hauses  im  nördlichen  Teil  des  Dorfes  verkehrt  eingemauert. 
22  X  88  cm,  Buchstabenhöhe  20  mm.  Bei  der  unbequemen 
Lao-e  des  Steines  und  dem  herrschenden  Winde  fiel  der  Ab- 
druck  dieser  meines  Wissens  noch  nicht  veröffentlichten 
Inschrift  leider  nicht  befriedigend  aus;  Herr  Ohnefalsch- 
Richter  und  ich  versuchten,  jeder  für  sich,  eine  Abschrift 
herzustellen,  was  ebenfalls  schwierig  war,  da  die  Buchstaben 
zum  Teil  verwischt  und  bei  der  Lage  des  Steines  noch 
schwerer  zu  erkennen  sind.  So  wurde  eine  dreifache,  freilich 
in  jeder  Form  mangelhafte  Grundlage  des  Textes  gewonnen, 
nach  welcher  sich  folgendes  ergibt. 

A  .  POAIT  .  jl  nA(DIA  A(?)PO        TTAOI  .  N 

OY  .  A  . .  Z  . .  ik  .  . .  NTHN     TAlONlOYAlONnOTA 

MQNA 

evrATEP Ykprtej .  ton  yonfaioyioyaioy 

N  Z:  nOTAMilNOZKA 

KT  ITA  AH.  lEOYAA .  Ät  NA 

nO  NMAMMH 

Ich  habe  durchgängig  A  gesetzt,  da  unsere  Abschriften 
in  Bezug  auf  die  Schreibung  A  und  A  nicht  ganz  überein- 
stimmen;   soweit  der  Abdruck  leserlich  ist  zeigt  derselbe  A. 

Z.  1.  In  Herrn  O.-Richters  Abschrift,  welche  allein 
den  Namen  der  Göttin  am  Anfang  enthält,  steht  (wohl  nur 
aus  Versehen)  APO.  Die  beiden  senkrechten  Striche  vor  TT 
sind  durch  den  Abdruck  und  Herrn  O.-Kichters  Abschrift 
bezeugt.  N  (meine  Abschrift)  steht  nach  Herrn  O.-Richter 
weiter  rechts  (über  A)-  —  Z.  2.  Die  ersten  4  Buchstaben 
nur  bei  Herrn  O.-Richter.  Zwischen  N  und  f  stand  nach 
dem  Abdruck  nichts  mehr.  Z.  3.  Die  ganze  linke  Hälfte 
bis  i  dgl.  (YK  auch  auf  dem  Abdruck).     YON  nach  beiden 


Oberhummer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  323 

Abschriften;  auch  auf  dem  Abdruck  ist  zwischen  Y  «nd  O 
nichts  von  einem  I  zu  erkennen,  obwohl  für  letzteres  knapp 
Kaum  wäre.  Z.  4.  K  nach  dem  Abdruck  (ziemlich  sicher); 
beide  Abschriften  |.  Z.  5.  Ä,  H,  J  nach  Herrn  O.-Richter; 
an  Stelle  von  Z  (Abdruck)  hat  meine  Abschrift  N.  In 
Z.  6  schwankt  meine  Abschrift  zwischen  N  und  H.  —  Die 
G  Buchstaben  am  Anfang  von  Z.  4  und  5  (Herr  O.-Richter) 
sind  sehr  unsicher;  der  Abdruck  in  Verbindung  mit  meiner 
Abschrift  lässt  hier  einige  Buchstaben  in  halber  Zeilenhöhe 
(zwischen  Z.  4  und  5)  erkennen,  nämlich  E  (senkrecht  unter 
0  in  Z.  1),  dann  (in  etwas  kleinerer  Schrift!)  IMAM  .  H 
(A  und  H  ohne  Zweifel  identisch  mit  den  beiden  gleichen 
von  Herrn  O.-Kichter  in  Z.  5  gelesenen  Buchstaben.) 

Otfenbar  handelt  es  sich  um  zwei  Widmungen,  welche 
wahrscheinlich  im  Auftrag  derselben  Person  zu  verschiedenen 
Zeiten  auf  den  Stein  geschrieben  und  im  Tempelbezirk  auf- 
gestellt wurden.  Die  links  stehende  Widmung  ist  so  ver- 
stümmelt, dass  eine  Wiederherstellung  auch  bei  einem  besseren 
Abdruck  nicht  zu  erhoffen  ist;  von  der  zweiten  scheint  der 
Anfang  nahezu  vollständig  erhalteu  zu  sein. 

V  xrjv  rdiov  Yot'A/o[v]  IloTaf.aova 

.  .  ^vyaxiQ[a tgv  vov  Fatov  'lovXiov 

e  .  .  .  [r)J  i.iafji[jii]i^       UoTäf-icovog  [x]a[i 

.  .  .  ovXa 

.  .  .  no  .  .  .  [rß  i^af-ifirj 

Der  hier  genannte  C.  Julius  Potamo  scheint  noch  in 
dem  folgenden,  von  Beaudouin  und  Pottier  ')  veröffentlichten 
Bruchstück  genannt  gewesen  zu  sein :  \l4(fQodLrrji  n]a(plaL  | 
....  Kqiohov  y.al  Ji  ....  \  ...  .  Xiov  [/I]o[r]a//w[»'  .  .  .  .  | 
yti/.ivia\i'  .  .  .  . ;    hier    wäre   demuach  in  Z.  8  Foiov  ^IovXlov 


1)  Bull.  corr.  hell.  EI  (1880)  p.  169,  n.  15. 

22' 


324  Sitzung  der  i)hüos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

TIoTaf.aova  herzustellen.  Die  Freigelassenen  Cyperns  mit 
dem  Gentilnamen  Julius^)  sind  wohl  auf  Q.  Julius  Cordus 
zurückzuführen,  welcher  als  Proconsul  der  Insel  (vor  dem 
Jahre  52  n.  Ch.)  aus  zwei  Inschriften  (von  Larnaka  und 
Kurion)  bekannt  ist.^) 

N.  11.  Bruchstück,  in  die  Aussenseite  der  Umwallung 
des  Hofes  vom  Hause  des  Ephraemi  (Tempelplatz)  eingefügt. 
Buchstabunhöhe  25  mm. 

-ÄZlAJETnN 

N.  12.  Bruchstück,  in  der  Umwallung  des  Hofes  eines 
benachbarten  Hauses.  Sehr  grosse  Buchstaben  (16  cm  hoch). 
Zierschrift  mit  apices.     Vgl.  Lebas  Hl,  n.  2803. 

Acl)IÄ 

^(pQodirrj  Hjacfia 

N.  13.  Bruchstück,  in  die  Aussenwand  eines  Hauses 
auf  dem  Wege  von  der  Kirche  Tlavayia  Kaü^olixy]  zum 
Kaffeehaus,  in  geringer  Höhe  über  dem  Boden  eingemauert. 
Die  ersten  drei  Zeilen  enthalten  griechische,  3  cm  hohe 
Buchstaben  in  Zierschrift  mit  apices: 

EBAZTH 

HAPXIEPEI 

ITltiBEPIOY 


1)  Vgl.  C.  Julius  Rul'us  aus  Paphos  (unter  Hadrian),  C.  1.  A. 
III,  n.  478. 

2)  C.  I.  G.  II,  n.  2631  s.;  wahrscheinlicli  idontisch  mit  .hilius 
('ordus  bei  Tac.  bist.  I,  7ü.  Ein  anderer  römischer  Beamter  der  gens 
Julia  auf  Cypern  ist  G.  Julius  Marinus  Gaecilius  Simplex  —  legatus 
pro  praetore  provinciae  Gypri  (G.  I.  L.  IX,  n.  4965),  auch  bekannt 
aus  den  Arvalakten  zum  Jahre  91  u.  101  n.  Gh.,  W.  Henzen,  Acta 
fr.  Arv.  p.  CXXXI,  GXXXIX  s.,  GXLIII;  das  Gonsulat  scheint  er  im 
Jahre  101  bekleidet  zu  haben,  Th.  Mommseu,  Hermes  III  (1809) 
123—126. 


Oberhtimnicv:  G-riechische  Inschriften  atts  Cypern.  325 

Darunter  eine  Zeile  mit  sehr  grossen  (12 — 14  cm  hohen) 
lateinischen  Buchstaben,  wovon  erhalten: 

ÖTEM 

Der  erste  Teil  der  Inschrift  ist  zu  ergänzen: 
^]sßaOT)][g  UcKpov]  rj  aQyuQei[a  .  .  .  f:r]l  Tißeoiov  [^KaioaqoQ. 

Der  Ehrenname  ^eßaozri  wurde  der  Stadt  Paphos  im 
Jahre  15  v.  Ch.  durch  Augustas  zu  teil,  nach  Dio  Cass. 
LIV  23.  7:  Tlacflotg  te  oeiouo)  7tovi[ouol  /.ai  yqr^aaxu 
tyaQiouTO  y.cd  t}]v  nohv  Aiyovorav  /.aleiv  /.uia  döyi-ia 
hiärqexpe  (sc.  6  AvyovGzoq).  Bereits  aus  den  nächstfolgenden 
Jahren  ist  uns  die  Aufschrift  einer  Statue  erhalten,  welche 
^^eßaoTi]g  IIcx(fov  i]  jioi/.r]  /.ai  6  ötji.iog''  der  Marcia,  Tochter 
des  L.  Marcius  Philippus  (Stiefvaters  des  Augustus)  und  Ge- 
mahhn  des  Paullus  Fabius  Maximus  (wahrscheinlich  Pro- 
consul  von  Cypern  zwischen  15  und  12  v.  Ch.)  errichtete.^) 

Aehnlich  lautete  die  Pormel  in  einer  Widmung  an 
Kaiser  Tiberius,^)  dessen  Name  auch  auf  dem  Abdruck 
unserer  Inschrift  nahezu  mit  Sicherheit  zu  lesen  ist.  In 
späteren  Inschriften  findet  sich  der  Titel  2eßaari^,  im  Verein 
mit  anderen  Beinamen  noch  in  einer  Widmung  an  Kaiser 
Pertinax:^)  [:^e]ß{aoTi^)  Kl{avdia)  0l{aovia)  Ilacpog  [i]  isQo 
firjTQ6\no]hg  xiov  v.axa.  KvSjcqov  rroAewv],  und  ebenso  auf 
einem  zweisprachigen  Meilenzeiger  aus  der  Zeit  des  Septimius 
Severus  zwischen  Kurion  und  Paphos:*)  2e{ßaaTr)  Kl{avdici) 
OXiaovia)  [na](pog  fj  Uoa  [t/JjjT^o/roAfg    twv    y.axo.   Kirtqov 


1)  C.  I.  G.  ir,  n.  2629;  vgl.  Pauly's  Realencykl.  IV.  S.  1540 
N.  5,  S.  1541  N.  9,  VI,  S.  2919  f.  N.  67. 

2)  Lebas  III.  n.  2792  {[ZE^ßaazi^g  näcf[o\v  [fi  ßov/.t'j  y.ai  6  dfiftog]). 

3)  Lebas  HI,  n.  2785. 

4)  Lebas  III,  n.  2806;  C.  I.  L.  III  1,  n.  218.  Die  barbarische 
Schreibweise  des  lateinischen  Teiles  ist  charakteristisch  für  die  ge- 
ringe Verbreitung  der  lateinischen  Sprache  auf  der  Insel  während 
der  Kaiserzeit. 


326  Sitzung  der  xMlos.-phüos.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

noXsiüv  —  Seb(aste)  Papos  [s]acra  m[etropolis]  cibitatioura 
Cypri  etc.  Neu  ist  die  durch  unsere  Inschrift  bezeugte 
Würde  einer  aQxitQEia  \on  Paphos  (eine  aqydqeia  riov  xaia 
Kv7iQ0v  Jri(,ii]XQog  \Eqiov  findet  sich  C.  I.  G.  n.  2G37,  vgl. 
u.  S.  336  N.  17.),  während  ein  aQyjeQevcov  rrjg  noleiog 
(sc.  nä(pov)  bereits  aus  C.  I.  G.  n.  2620  bekannt  ist;  vgl. 
u.  N.  14  G  (S.  329)  und  S.  332  f. 

N.  14.  Fussgestell  aus  rötlichem  Marmor,  auf  dem 
Platz  des  grossen  Tempels;  27  X  91  X  83  cm;  oben  zwei 
grosse,  tiefe  Löcher  für  eine  Kolossalstatue;  Buchstabenhöhe 
ca.  20  mm;  verwittert  und  schwer  leserlich.  Die  Inschrift 
wurde  zuerst,  jedoch  sehr  ungenügend  von  Ali  Bey  (pl.  XXXV  1, 
s.  o.  S.  306  A.  3.)  mitgeteilt,  und  hienach  im  C.  I.  G.  n.  2635 
abgedruckt.  Den  ersten  brauchbaren  Text  lieferte  Ross,^) 
wozu  die  Abschrift  von  Waddington  (bei  Lebas  III,  n.  2796) 
noch  einige  willkommene  Ergänzungen  bietet.  Obwohl  ich 
auf  Grund  meiner  Abschrift  und  eines  leider  ungenügenden 
Abdruckes  nicht  in  der  Lage  bin,  dem  Texte  der  beiden 
letzten  Herausgeber  Neues  hinzuzufügen,  glaube  ich  die 
Inschrift  ihres  historischen  Insteresses  halber  wiederholen  zu 
sollen.  Die  darin  genannten  Persönlichkeiten  nemlich  ge- 
hören einer  Familie  an,  welche  unter  den  späteren  Ptolemäern 
auf  die  Verwaltung  der  Insel  von  bedeutendem  Einflüsse 
gewesen  sein  rauss.  Ich  stelle  deshalb  die  hierauf  bezüg- 
lichen inschriftlichen  Zeugnisse,  zunächst  mit  den  Ergänzungen 
der  bisherigen  Herausgeber,  zusammen,  wodurch  sich,  ab- 
gesehen von  dem  historisch-genealogischen  Interesse,  auch 
für  die  Ergänzung  der  Texte  mancher  Anhalt  gewinnen  lässt. 

A. 

Text  der  Inschrift   von    Alt-Paphos    nach    Waddington. 


1)  Rhein.  Mus.  N.  F.  VII  (1850)  520  N    15;  Arch.  Auf«.  II  G28 
N.  15. 


Oberhumvier:  Griechische  Inschriften  aus  Cypcrn.  327 

QeoÖioqov  leXei-/.ov ,  tov  avyyevfj  zov  ßaodiiog  |  xat 
otqaiijyöv  x[a]t  \j']a[vaqyo'\v  [xaf  aQyiEQta],  \  x6  y.oivov  rutv 
iv  Ti]i  vrioioi  Taoooi.äv(ov  31a[y.]iöv  \  [e]ie[Q]yeoiag  tvey.ev  zfjg 
eig  e[av]To[vg].^) 

Waddington  bemerkt  hiezu:  ,J'ai  copie  cette  inscription 
avec  beaucoup  de  soiu,  et  j'ai  note  que  le  dernier  mot  de 
la  troisieme  ligne  etait  certain,  sauf  la  lettre  X;  c'est 
evidemment  May.iuv  qu'il  faut  lire.  II  s'agit  d'un  de  ces 
Corps  de  mercenaires  eomme  il  y  en  avait  plusieurs  en 
garnison  dans  l'ile;  les  31ccyMi  etaient  une  peuplade  nom- 
breuse  qui  habitait  la  Cyrenai'que  et  qui  par  consequent  etait 
soumise  a  l'empire  des  Ptolemees"  (vgl.  hiezu  Explications 
n.  1906  p.  458  b). 

B. 

Chrysochu  (Arsinoe);  jetzt  im  Louvre.     Lebas  n.  2781. 

yiQ]OlVOHOV     t]     7c6hg    \    [0£odw^]ov     TfWV     TtQo'nOJV     ffi?MV, 

y.ai    enl    la)M(.üvog   y.ai   eni    t^[^']  |  /mtcc   Trjv   vr^GOv  yqufx- 

(.i[a]itiag  xiov  neCiy-tov    /.al    irtniy.üJv  öv\ydfAeo}v,']  \  tov  viov 

5    zov    I[^lX\evxov  ,    [t^ov    ovvysvovg    to[v    ß]aoiliiog,       [toD] 

OTQarriyov    y.ai    vaväQyo[y    ya\l    Oi[Qxi\EQkog    tcöv    -/.axo.    xr^v 

vrjoov  I  [ UQÖJv,    OQSxijg  evey.ev  y.ai  evvolag  xrjg  Ei]g 

[ß]aoi?Ja  I  [nx']oX[€i,ia~iov  y.ai  ßaoiliooav  Kleorväxqav  x^v 
ddehpr^v  x]a<  ßaöi)AOo[^uv]  \  K?.eo7i  dz[Qav  xr]v  yvvar/.a,  ^'eoig 
EiEQytxag,  y.ai  x']d  XEy.v[a  aJtVoJv,  |  x[a£  zj^g  Eig  iav{xi\v 
evEqyEoiag\ 

Majuskeltext   von    Z.   (5:    NKA 

LEX TEA E  .  AZIAEA.     Die   Lücke   vor 

l£^(ö»'  ist  vielleicht  mit  jT^i-irjXQog  auszufüllen,  vgl.  u.  S.  330 
N.   17  und  S.  333. 


1)  Die  Ergänzung  der  3.  u.  4.  Zeile  durch  Ross:  to  xoivov  tcöv 
eiy  avxov  xaaoo\ixivoyv  [2"]aLu<]tov  |  [t^?  eI?  avxovg]  E[v]E{QyEaia\g  evexev 
ist  nach  der  vollständigeren  Lesung  des  Textes  durch  Waddington 
nicht  mehr  haltbar. 


328  Sitzumj  der  philos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

c. 

Knodara  bei  Levkoniko,  NW  von  Salamis.^)  Ross, 
Rhein.  Mus.  N.  F.  VII  (1850)  519  N.  14  (Arch.  Aufs.  II 
627);  Lebas  n.  2757. 

^sXevkov  tov  a[vy]yevYi  rov  ß\^aaiXecog.,  roi'  aTQatrjyov^  \ 
/ML  vavaQxov  y.al  ccQxiegaa  t6  y.o[^n'dv  rwv  vn'  avrov]  | 
taoooi.ievojv  Kqr^Tiav  aqEir-g  ["»'£/.€)'  xat  evvoiac,  Tr^g  fiZg]  | 
ßaoikia  TlroXeiAaiov  y.al  ßaoikioo\av  KleorrarQui'  Trjv  ddel- 
5  9>'/V]  II  xal  ßaoiXiöoav  KleonccTQav  Tt]r  y\^ci>ar/ia,  deovg  Ev- 
egyetag,^  \  /.al  xa  xt-/.va  xal  zf^g  Eig  xo  v.o[^ivov   evEQyeoiag]. 

D. 

Kurion.     C.  I.  G.  n.  2622  (nach  Vidua). 

— 67v£t'/to»'  Biiyvog.,  xov  avyyei'ij  xov  ßaaiXtwg,  |  xov  oxqa- 
XTjyov  YMi  vauaQxov  7.al  üQx{i)i£Qsa  \  xov  '/.axd  X7]v  vrjoov, 
KovQUüJv  Tj  TvöXig  I  ccQEX^g  evez-ev  xai  svvoiag  xrjg  elg  ßaoiXea  \\ 
5  /7rüA£//[aI]oj'  xat  ßaoiXiooav  KXe07cdxQav  |  vr/V  ddeXq^r^v  y.al 
ßaaiXioaav  KXeojicxqav  \  t»jV  yvvar/.a,  d^eovg  Eiegyeiag.,  \ 
[/Ml  xi^g  elg^  tavxrjv  emQyeoiag. 

E. 

Famagusta  (Salamis).  C.  I.  G.  n.  2619  (nach  Pococke 
und  Vidua);  vgl.   VVaddington  zu  Lebas  n.  2796. 

^OXv^uddöa  r[r]j'  xov  delvog,  yvralxa  ös]  \  Geodo'iQov  xoZ 
[deivog  xov  avyyevuvg  xov]  \  ßaoiXetog,  xov  ax[Qaxijyoi  nal 
5  vavaoyov]  \  /.al  dqyieqiog  xo[y]  x[a]r[a]  j|  Kvtzqov,  yQccf.i- 
litaz[Hijg  xöJv  xregl  xov  Jlovvoov]  T£X''t^[w]»'. 

In  Z.  2  hat  Waddington  mit  Rücksicht  auf  A  den 
Vatersnamen  2eXev/.ov  eingesetzt.  Der  Schluss  von  Z.  4 
lautet  im  Majuskeltext  nach  Pococke  TOK  .  TO,  nach  Vidua 


1)  Bei  Knodara  stand  ein  römisches  Kastell ;  der  antike  Name 
des  Ortes  ist  unbekannt;  Ross,  Reisen  S.  137  f.;  C.  1.  L.  III  1  n.  215 
(.;f.  add.). 


OhcrliHDimcr:  Griechische  Iiischriftex  aus  Ci/peni.  329 

TOKOI.  Ks  ist  deshalb  wohl  richtiger  mit  Wafklington  zu 
ergänzen:  t6  ■/co<[j'OJ'  tcü%>  xara]  Kvjiqoi'  yqui-if-iacYtcov  xai 
TiZi'  jieqi  Jiovvoov]  texvix\io]v.  Ueber  letztere  Bezeichnung" 
vgl.  C.  I.  G.  2619  s.,  Böckh  ib.  II  p.  056  s.,  Lebas  n.  2793  s. 
u.  N.  15. 

F. 
Chytroi.    Cesnola,  Cypern  S.  370  f.  N.  10.    Vgl.  H.  Röhl 
in  Bursians  Jahresbericht  Bd.  36  S.  53. 

^OXv/ii/iiada    t>jV     O^ryareoa  \   ^^gre/iicög    Ttjg    JSeXsvy(.[ov 
.  .  .  .]  I  7iQi6ziov  (filiüv^  Tov  ffT[()]ü[i/yyor]  I  y.at  vauaoyov  ymI 
5    aQxie[Qecog^,  [,  ^vyaTQog  rj  noXig  rj  .  .  .  . 

In  Z.  2  ist  am  Schlüsse  riöv  einzusetzen.  Wenn  der 
Fundort  von  Cesnola  richtig  angegeben  ist,  ^)  wäre  die  letzte 
Zeile  mit  ^  noXig  iq  Xvtqojv  zu  ergänzen. 

G. 

Neu-Paphos.     Lebas  n.  2786. 

^QiEf^iOJ  T)]v  0-vy\^areQa  zov  delvoc,  tov  Oi-yysvovg]  \  tov 
ßaoiXtiog  y.[al  OTQaTrjyov  /.ai  pardgyov^  \  y.al  aQxiEQiiog  tiil^g 
^4(fQ0ÖiTi]g  zrig  JJacpiag  yal]  \  KXeo/iotgag  x^eä\^g,    to  '/.oivov 

5    Tiov  y.ara  trjv  rr^oov^      \z^aooo/.uvo}v 

In  Z.  1  kann  unter  Vergleich  von  F  und  mit  Rücksicht 
auf  die  Titulaturen  unbedenklich  ^sXeiyov  ergänzt  werden. 
Da  die  Widmung  aus  der  Zeit  der  Statthalterschaft  des 
Seleukos  stammt,  unter  welchem  nach  C  Kreter  als  Besatzung 
auf  der  Insel  lagen,  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  der  Schluss 
von  G  (vgl.  A)  herzustellen  ist:  [ro  yoivöv  tiov  naTcc  Tr^v 
vrjaov  Tiaaoouevwv  [KQtiTcov].  Wie  bereits  Röhl  zu  F  be- 
merkt, konnte  Olympias  zugleich  des  Seleukos  Enkelin  und 
Schwiegertochter  sein. 


1)  Gewiss  ist  der  Stein  nicht,  wie  Cesnola  sagt,   , blauer  Granit", 
sondern  wahrscheinlich  bläulicher  Marmor;  vgl.  u.  N.  15  f.,  18  f. 


330  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

H. 

Nen-Paphos.  C.  I.  G.  ii.  2624  (nach  einer  entlehnten 
Abschrift  bei  Vidiia).  Lebas  n.  2787.  Text  mit  Waddingtons 
Ergänzung. 

[Tdv  ds7va  tov  ovyyev^j  zov]  \  [ß]aailHog^  tov  OTQazrjyov 
•/Ml  üQX'^Q^^  I  [j^]w»'  /.aza  z-qv  vfjaov  Jf^wr,  q^ilayad^iag  \ 
[f']v£KEv  Tri[g  elg  .  .  .  . 

Unter  Vergleichnng  der  vorigen  Inschriften  und  mit 
Rücksicht  auf  den  Fundort  glaube  ich  die  1.  Zeile  folgender- 
massen  herstellen  zu  dürfen:  i)  nöXig  rj  Tlaq^iiov  QeoöwQov 
zov  ovyyevrj  zov  etc.;  am  Schluss  rijg  elg  savrriv.^) 

Wir  lernen  durch  die  vorstehenden  Inschriften  eine 
Reihe  von  Persönlichkeiten  kennen,  deren  genealogisches 
Verhältniss  sich  folgenderniassen  darstellt: 

Bithys 
Seleukos 


Theodoros,  venn.  Artemo,  verni.   m.  N 

m.  Olympias  1 

Olympias,  verm. 
m.  Theodoros. 

Die   Zeitbestimmung   ergil)t  sich  aus  B,  C,  D,    wonach 
sowohl  Seleukos  als  sein  Sohn  Theodoros  unter  der  Regierung 


1)  Zur  Fonnulicruntr  des  Dekretes  vgl.  Lebas  n.  2703:  7/  jid/.ig 
r)  TlarpUov  I  'AQiaxovixrjv  rijv  'A/ifiwriov ,  yvraixa  Ö'e  'AQioioy.Qätovg  \ 
tov  avyyfvovg  xai  vjio/ivtj/iiaToyQdrpov  x[a]i  zcöv  xara  Kvnoov  \  tieqI  tov 
5  Aiövvaov  TEXviTÖJv  (fdayaüiag  evfxev  rfjg  \\  Eig  eavrrjv.  Diese  Inschrift, 
welche  Herr  Ohnefalsch-Richter  während  unseres  Aufenthaltes  in 
Kuklia  wieder  auffand,  steht  auf  einer  Basis  aus  grauem  Marmor, 
an  der  Aussenseite  der  zweiten  Kirche  des  Ortes  (nach  Waddington 
'ÄJtönzolog  Aovy.ag);  der  Stein  ist  aufrecht  gestellt  und  steckt  mit 
dem  untern  Teil  in  der  Erde,  über  welche  er  noch  ca.  5(»  cm  empor- 
ragt. Inschriftfläche  32  X  90  cm.  Schrift  sehr  verwittert  und  nur 
bei  günstiger  Beleuchtung  leserlich. 


Oherhummer:  Griechische  Inschriften  aus  Gypern.  ool 

des  Ptoleraaios  VIII  (VII)  Euergetes  II  Physkon  (146  bis 
117  V.  Ch.)  auf  Cypern  wichtige  Aemter  bekleideten.  Noch 
näher  wird  die  Zeit  bestimmt  durch  die  gleichzeitige  Nennung 
zweier  Königinnen  des  Namens  Kleopatra;  wir  werden  da- 
durch auf  jene  Periode  der  Regierung  Physkons  verwiesen, 
in  welcher  derselbe  nach  Aussöhnung  mit  seiner  verstossenen 
ersten  Frau,  Kleopatra  (II),  seiner  leiblichen  Schwester  und 
Wittwe  seines  Bruders  Philometor,  sowohl  diese,  als  deren 
gleichnamige  Tochter  von  Philometor  (Kleopatra  III),  somit 
seine  Nichte  und  Stieftochter,  gleichzeitig  zu  Gemahlinnen 
hatte,  nach  127  v.  Ch.^)  Wenn  ausserdem  in  G  eine  Kleo- 
patra erscheint,  so  ist  darunter  wohl  die  jüngere  der  beiden 
vorgenannten  zu  verstehen  und  die  Inschrift  in  jene  Zeit 
zu  setzen,  in  welcher  Physkon,  durch  einen  Aufstand  der 
Alexandriner  vertrieben,  sich  mit  dieser  seiner  jüngeren  Ge- 
mahlin in  Cypern  aufhielt,    also  jedenfalls  vor  127  v.  Ch.^) 

Keine  der  Personen,  auf  welche  sich  die  Inschriften  be- 
ziehen, ist  sonst  irgendwie  aus  der  Literatur  bekannt.  Unsere 
Texte  ergeben  etwa  folgendes. 

Bithys,  welcher  seinem  Namen  nach  zu  schliessen, 
vielleicht  aus  Thrakien  eingewandert  ist,  scheint  noch  kein 
öffentliches  Amt  bekleidet  zu  haben. ^) 


1)  Vgl.  K.  Cless  bei  Pauly  VI  1  S.  222  f.;  J.  Franz  C.  I.  Gr.  111 
p.  285  b;  R.  St.  Poole,  Catal.  ofGreek  Coins.  The  Ptolemies.  P.  LXIX. 

2)  Vgl.  W.  Engel,  Kypros  I  419;  über  die  Beziehungen  des 
Physkon  zu  Cypern,  wo  er  schon  seit  154  v.  Ch.  regierte,  im  Allge- 
meinen Engel  I  407 — 21. 

3)  Bekanntlich  waren  die  Bithyner  ein  thrakischer  Stamm,  und 
noch  später  wird  in  Thrakien  ein  Volk  Bi&vac  erwähnt  (Steph.  Byz. 
8.  V.);  ebenso  befand  sich  dort  nach  App.  Mi.  1  ein  Fluss  Bi&vag 
(=  Ba'&vviag'i,  Pauly  I  2307).  Zum  Personennamen  Bi'^g  vgl.  ausser 
dem,  was  bei  Pape-Benseler  I  212a  angeführt  ist:  Bithys,  S.  des 
thrakischen  Fürsten  Kotys,  Zon.  IX  24  (Par.  I  460 ab)  coli.  Liv. 
XLV  42,  5,  Polyb.  XXX  18  (12);  BX&vg  0Qäx§  (sie!),  C.  I.  A.  III 
n.  2494,  cf.  ib.  3048;   Bi[^]vg  aus  Abydos,  C.  I.  Gr.  II  n.  2160  add. ; 


332  Sitzung  der  philos.-iMlol.  Classe  vom  5.  Mni  1888. 

Seleukos  erscheint  in  B,  C,  D,  F,  G  mit  einer  Reihe 
von  Titulaturen,  unter  welchen  nach  dem  Ceremoniell  am 
ägyptischen  Hofe  der  Hoftitel  den  Amtstiteln  vorangeht; 
in  F  lautet  die  Bezeichnung  zcov  ttqlÖtiov  cpihov,  in  B,  C, 
D,  G  avyyevrjg  lov  ßaoilecog;  dass  letzteres  der  höhere  Titel 
ist,  ergibt  sich  sowohl  aus  anderen  Zeugnissen^)  als  aus  B, 
wonach  zu  gleicher  Zeit  der  Vater  den  Rang  eines  dt'/yevj/g, 
der  Sohn  den  Rang  der  ngcdroi  cpiloi  einnimmt.  F  stammt 
also  noch  aus  der  Zeit  vor  der  Erhebung  des  Seleukos 
zum  ovyysvrig  und  ist  somit  wahrscheinlich  die  älteste  der 
besprochenen  Inschriften.  Hierauf  folgt  G,  für  welche  Wid- 
mung wir  als  untere  zeitliche  Grenze  das  Jahr  127  v.  Gh. 
angesetzt  haben. 

Die  übrigen  Titel,  Avelche  dem  Seleukos  beigelegt  werden, 
beziehen  sich  auf  die  amtliche  Stellung  desselben  als  könig- 
lichen Statthalters  der  Insel;  die  Bezeichnung  hiefür,  wie  in 
den  meisten  Provinzen  des  ägyptischen  Reiches,  war  otqu- 
Tryyog^)  (entsprechend  dem  früheren  vo/^iaQxrjg).,  wozu  in  Cypern 
noch  die  Titel  vaiaqyog  und  aQyisQEig  kamen,  um  auszu- 
drücken, dass  dem  Statthalter  die  oberste  Militärgewalt  für 
die  Insel  zu  Wasser  und  zu  Lande,  sowie  die  Oberleitung 
der  gerade  auf  Cypern  sehr  wichtigen  geistlichen  Angelegen- 
heiten zustand.^)  Der  Titel  aqyitqevg  ist  manchmal  mit 
einem  Beisatz,  wie  o  y.ara  Kvjiqov  (E),  xijg  vroov  (C.  I.  G. 


BeTdvg  aus  Aizanoi  (Phr.yf,nen),  Lebas  III  n.  874  (C.  I.  Gr.  III  n.  3837 
add.);  dgl.  aus  Sura  (Lykier),  C.  I.  Gr.  III  n.  4303  i;  Bidvs  aus  Lysi- 
inacheia  (vielleicht  identisch  mit  dem  Vertrauten  des  Königs  Lysi- 
machos  Ath.  VI  246 e,  XIV  614  f.),  C.  I.  A.  II  n.  320;  BetOvg  Athener 
(Kaiserzeit)  C.  I.  A.  III  n.  1111b,  1153,  1255;  Bit(h)us,  Name  in 
Philippi,  Pauly  P  2,  2388  N.  2,  ('.  1.  L.  III  n.  703,  707;  dgl.  in 
Phrygien  ib.  856,  in  Moesien  ib.  2  n.  6135. 

1)  Vgl.  Joh.  Franz  C.  I.  Gr.  III  p.  289  .s. 

2)  Vgl.  J.  Franz  C.  I.  Gr.  III  p.  289  a,  291  s. 

3)  Vgl.  W.  Engel,  Kypros  I  392  f. 


Oherhummer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  333 

n.  2633),  o  /Mid  xr^v  vfjoov  (D,  C.  I.  G.  ii.  2624)  verbunden, 
um  den  Unterschied  von  dem  (berufsmässigen)  aqyuqevg 
eines  bestimmten  Ortes  auszudrücken.  Ob  in  B  die  Be- 
zeichnung nun  aQ/ieosig  rwv  xara  ttjV  vrioov  leQwv  gelautet 
hat,  oder  vor  kgioy  noch  die  Bezeichnung  einer  Gottheit 
ausgefallen  ist,  bleibt,  ebenso  wie  die  Ergänzung  der  Lücke 
überhaupt,  zweifelhaft.  Ebenso  muss  dahin  gestellt  bleiben, 
ob  der  Zusatz  in  G  richtig  ergänzt  ist;  jedenfalls  wäre  damit 
eine  auffallende  Abweichung  von  der  Regel  gegeben,  wonach 
der  Statthalter  als  oberster  Kultusbeamter  der  Insel  schlecht- 
hin bezeichnet  ist. 

Seleukos  wurde  zum  Statthalter  ernannt,  als  er  noch 
den  Ran«'  der  nqwioi  qiXoL  bekleidete  (F),  und  erst 
während  seiner  Amtsthätigkeit,  doch,  wie  es  scheint,  schon 
nach  kurzer  Zeit  (vor  127  v.  Gh.,  G)  in  die  oberste  Hof- 
rangklasse der  ovyyEVBig  befördert. 

Die  in  C  und  vielleicht  auch  in  G  genannten  Kreter 
sind  Soldtruppen,  welche  gewöhnlich  als  Besatzung  in  den 
Provinzen  des  ägyptischen  Reiches  lagen. 

Theodoros  erscheint  in  B  mit  dem  Rang  der  nQcoToi 
g)iXoi  und  in  der  Stellung  eines  Kommandanten  von  Salamis 
{s7cl  ^aXa/xlvog)  sowie  eines  yqafxpiarevg  der  gesammten 
Streitmacht  der  Insel;  die  ihm  in  dieser  Stellung  erwiesene 
Ehrung  durch  die  Stadt  Arsinoe  fällt  unter  die  Statthalter- 
schaft seines  Vaters  Seleukos  und  zwar  in  die  Zeit  zwischen 
127  und  117  v.  Gh.  Nach  A  und  E,  wozu  wahrscheinlich  auch 
H  gehört,  wurde  Theodoros  Nachfolger  seines  Vaters  in  der 
Statthalterschaft  mit  dem  Rang  eines  ovyyEVTqq  rov  ßaoiUtog 
und  den  Titeln  eines  atqaxr^yog,  vavaoyog  und  agyiegsig;  doch 
ist  aus  den  beiden  letzterwähnten  Inschriften  nicht  zu  ent- 
nehmen, ob  der  Tod  des  Seleukos  und  die  Ernennung  des 
Theodoros  zu  seinem  Nachfolger  noch  unter  der  Regierung 
des  Ptolemaios  VIII  Euergetes  II  erfolgt  ist.  In  E  führt 
Theodoros  ausserdem  noch  den  Ehrentitel  eines   yga^ifiazeig 


334  Sitziing  der  phnos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Ttüv  Tieqi  Tov  Jiovvoov  TEyviTiov^  über  welchen  o.  S.  329 ; 
E  ist  somit  wahrscheinlich  jün<ijer  als  A.  Wegen  der  Maker, 
von  denen  nach  A  Theodoros  mit  einem  Standbild  zu  Alt- 
Paphos  geehrt  wurde,  vgl.  o.  S.  327  und  S.  329  G.  Die  in  E 
ausgesprochene  Ehrung  bezieht  sich  au^  des  Theodoros  Ge- 
mahlin Olympias,  einer  Tochter  von  seiner  Schwester 
Artemo.  Eine  andere  Ehrung  für  Olympias  (F)  gehört 
noch  in  die  Zeit  vor  der  Beförderung  ihres  Grossvaters  Se- 
leukos  zum  avyyevrjg. 

N.  15.  Fussgestell  aus  rötlichem  Marmor  (bei  Cesnola 
„Porphyr"!)  im  Hof  der  Kirche  Ilav.  KaO.;  auf  der  Ober- 
fläche mehrere  Löcher,  deutlich  die  Vertiefung  für  den 
rechten  Fuss  (etwa  Lebensgrösse).  17  X  80  X  52  cm;  Bncli- 
stabenhöhe  15—20  mm.  Waddington  bei  Lebas  n.  2794; 
Cesnola  S.  367  N.  2. 

Text  nach   Waddington: 

'4(pQoöhrji  Ua(f[iui. 
'^zzalXog  ^vaoiy.qärov  [[mv  7ieqI\  tov  ^Jiovvoov 
>cat  i)^e]ovg  EveQyecug  Teyvictov  td  i[ai:[ov  naiöia 
T^i/u6/.QiT0v,  KaXkio'tiov. 

N.  16.  Fussgestell  aus  bläulichem  Marmor  (Waddington 
„marbre  blanc"  ;  Cesnola  „Granit" !)  im  Hof  derselben  Kirche; 
oben  Löcher  für  eine  Statuengruppe.  22  X  91  X  78  cm; 
Buchstabenhöhe  12 — 15  mm.  Sorgfältige  Schrift  (3.  Jahrb.). 
Sakellarios  S.  96  f.;  Cesnola  S.  369  f.  N.  7b;  Waddington 
bei  Lebas  n.  2802;  Kaibel,  Ep.  Gr.  n.  254. 

Text  nach  Waddington: 

1  HNXPONOLHNIKATONAEZO .  I^TATONEAAAZE 

KAEIIEN 

2  rATPnMIAITAMPAIAAAAMAZZArOPA 

3  niPA NEAOZnPOrONOlAONOMAETOIA 

n...HZ 

4  EK.ONÜlATPEIAANEAAAAOZArEMONON 


Oberhitmmer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  33o 

Z.  2.  Cesnola  nATPßMci)A  .  .  AMP  .  .  AA;  Sakel- 
larios  PATPflMIAN  -  AMPYO  -  AA.  Waddington  be- 
merkt: ,J'ai  copie  cette  iiiscriptiou  avec  beaucoup  de  soin 
et  je  puis  garantir  le  premier  mot  de  la  seconde  ligiie,  bien 
que  sa  forme  soit  singuliere;  c'est  nn  iiom  propre  que  je 
u'ai  pu  retrouver  nulle  part  etc." 

Trotz  dieser  Versicherung  muss  Waddingtons  Lesung 
als  irrig  bezeichnet  werden.  Wilaniowitz  (bei  Kaibel)  wollte 
den  Anfang  in  [t]ar^[o].it  verbessern;  eine  erneute  Prüfung 
meines  Druckes  durch  Herrn  Professor  Scholl  hat  diese  Ver- 
mutung in  so  ferne  bestätigt,  als  sich  der  erste  Buchstabe 
thatsächlich  als  |  erweist;  ein  verfehlter  Meisselstrich  über 
demselben  hat  zu  der  irreführenden  Lesung  F  oder  P  An- 
lass  gegeben.  Die  5  nächsten  Buclistaben  sind  bei  Wad- 
dington richtig  und  ist  zu  lesen  luTQidfi,  worauf  der  mit 
einem  ?r-Laut  beginnende  Eigenname  folgt.  Als  Anfangs- 
buchstabe desselben  ergibt  sich  aus  meinem  Abdruck  sowie 
aus  meiner  Abschrift  ziemlich  sicher  (j),  so  dass  etwa  0a~iÖQog 
oder  ein  ähnlicher  Name  (Oalvog,  (Daloxog,  Oaiveug)  zu  er- 
gänzen ist.  Die  2.  Hälfte  des  Verses  liest  Cesnola  Jtaiöa 
öofiaoo'    ayoga;    Waddington    (und    Kaibel)    ohne    Zweifel 

richtiger    7iulda    JafiaooayoQa.    —    Z.    3.    Cesnola 

NEAOZ;  Sakellarios  IHHA IPANEAOZ.  Wad- 
dington ergänzte  oj  nd\(fog  r]v  /ueju  eöog;  Cesnola  [uaTQig 
si-ioi  Tt]v£dog.  Dass  der  Name  der  Insel  Tenedos  hier  ge- 
standen hat,  macht  die  nachfolgende  Erwähnung  der  Atriden 
wahrscheinlich;^)  da  aber  der  Anfang  Hl  PA  sicher  zu  sein 
scheint,  so  ist  wohl  zu  lesen  oj  TrazQig  r]v  Teredog.  Den 
Schluss  der  Zeile  ergänzen  Waddington  und  Cesnola  wahr- 
scheinlich richtig  a7c'  [at'rj/^g;  Bücheier  (bei  Kaibel)  will 
dafür  an'  [aly.]r^g  oder  an'  [aix^i\-^g  lesen;  letzteres  ist  jeden- 


1)  Ueber  die  Besiedelung  von  Tenedos  durch  Achäer  vgl.  Duncker, 
Gesch.  d.  Alt.  V^  161  ff. 


336  Sitzung  der  plülos.-iMlol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

falls  mit  Rücksicht  auf  den  Raum  zu  verwerfen.  —  Z.  4.  Ces- 
nola  EKrONOE;  Sakellarios  EKTONO.;  meine  Abschrift 
EK  .  ONOI,  Abdruck  EK  .  ONO.  Am  Schluss  Waddiugton 
irrig  ON,  nach  allen  andern  Zeugnissen  UN   (sicher). 

Die  Inschrift  lautet  also  nach  der  wahrscheinlichsten 
Ergänzung : 

Hv  /^oj'Og,  rjvl-/.a  rovöe  ao[cp]coraTov  '^Elldg  l'-nXeiCev 

'[atQcTjii  (Dal\dQO^u  naida  zlai.iaoGayoQa' 
'Ql  7ra[TQic.  r^v   Tt^vEÖog.   vTQoyovoi  d'  ovof.iaaTOi  a.rc'  [at;r]rjg, 

^'E/\y\ovoL  ^rgeidäv  '^EXXadoq  ayef.i6viov. 

Neu  scheint  der  Name  Damassagoras  zu  sein. 

N.  17.  Block  aus  bläulichem  Marmor,  in  die  Südwand 
(aussen)  derselben  Kirche  eingemauert.  51  X  27  cm.  Buch- 
stabenhöhe 10  mm,  in  der  1.  Z.  20  mm.  Nachlässige,  aber 
deutliche  Schrift.  Die  Inschrift  wurde  veröffentlicht  von 
Hammer  (a.  a.  0.  S.  183  f.\  Will.  Turner  i)  und  Vidua 
(a.  a,  0.  S.  36,  T.  XXXIII,  N.  1),  aus  deren  durchaus 
mangelhaften  Abschriften  dieselbe  von  Böckh  (C.  I.  G. 
n.  2637)  fast  ganz  richtig  hergestellt  worden  ist.  Neuer- 
dings hat  Waddington  (bei  Lebas  n.  2801)  einen  zuver- 
lässigen Text  geliefert. 

l4(pQodnrii   Tlafpiai.  \  Faiov  Ov(.if.iidiov    TtjQijziva   Kova- 

Öqütov    I    Tov     oQyiEQaa   \   rov     /.al     TlavTavxiavov ^     rdi'ov    || 

5  TiiQiiZiva  I  Ov{.i{.iidiov  navTaiyo\^c^  v\ov^  \  tov  ogyisQÜ^g  -/.al 

yii.tv<.(0i(e()\yjjOarT0g,   KXaiöia    läjKpäqiov  \  Telxqov   x)vydz)jQ, 

10  rj  üQyjegia  zwv  |j  y.aza.  Kwiqov  ^rjf.ir]TQog  legtov^  |  tov  iavrrjQ 

vhordv  tvvoiag  \  y/tQiv   LH. 

Mein  Abdruck  bestätigt  Waddingtons  Abschrift  TTANT 
AYXOI  (Z.  6)  und  APXIEPIA  (Z.  0);  den  Steinmetzfehler 
—  XOI  hatten  bereits  Turner  und  Vidua  richtig  wieder  ge- 
gel)en.  W^egen  der  Form  oQyuQia  vgl.  den  kyprischen 
Mouatsnamen  yioyitQiog  iui  Pariser  Stephanus  s.   ^Qyieqtvg. 

1)  Journal  of  a  Tour  in  the  Levant  (London  1820)  vo!.  II,  p.  565. 


Oberhunimer:  Griechische  luachriften  aus  Cypern.  337 

Heber  den  Namen  'Aiiq^aQiov  s.  Letronne.  Journ.  d. 
Sav.  1827,  S.  175,  coli.  Paul.  ep.  Philem.  2;  der  Name 
'^Tifior  findet  sich  besonders  häufig  in  Phrygien,  s.  J.  H. 
Mordtmann  in  d.  Mitteil.  d.  Inst.  X  (1885)  S.  17. 

Wie  schon  Böckh  bemerkt  hat,  ist  der  Name  der 
cyprischen  Ummidier  auf  C.^)  ümmidius  Qaadratus 
zurückzuführen,  welcher  unter  den  Kaisern  Augustus  bis 
Nero  eine  Reihe  von  Aemtern,  u.  A.  das  eines  Proconsuls 
von  Cypern  bekleidete.^)  Ueber  die  Teretina  tribus  vgl. 
F.  n(itscbl),  Rhein.  Mus.  N.  F.  XV  (1860)  8.  637. 

LH  =  ^rovg  t]  bezieht  sich  nach  Waddington  entweder 
auf  die  Regierungszeit  des  Kaisers  (Vespasian?)  oder  auf  die 
lokale  Aera  seit  Erteilung  der  Beinamen  Claudia  oder  Flavia 
(vgl.  o.  S.  325). 

N.  18.  Fussgestell  aus  bläulichem  Marmor  (Waddington 
„marbre  noir",  Cesnola  „Granit"!)  im  Hof  derselben  Kirche. 
Oben  mehrere  Löcher,  anscheinend  für  eine  Kolossalstatue 
aus  Bronze.  22  X  89  X  78  cm ;  Buchstabenhöhe  20  mm. 
Sorgfältige  und  deutliche  Schrift  mit  apices.  Cesnola  S.  368  f. 
N.  5;  Waddington  bei  Lebas  n.  2799  (nur  A;  B,  auf  einer 
andern  Seitenfläche,  scheint  von  ihm  übersehen  worden 
zu  sein). 

A. 
APXETIMHNAPEAAEOYZOYrATEPA 
TAPAIAIAEAMIONKAIONHLIAOE 

^QyeTii-iiji',  ^^nelXeovg  d^vyariqa, 
xa  7iaidia  ^äf-iiov  y.ai  ^Ovr^oiXog. 


1)  Nicht  T.,  wie  ßöckh  noch  auf  Grund  der  älteren,  irrigen 
Lesart  bei  Tac.  a.  XU  45  (cod.  Med.  Tummidius)  schrieb. 

2)  S.  über  ihn  Haakh  bei  Pauly  V,  S.  743  ff.;  Nipperdey  zu 
Tac.  1.  1.  Die  Inschrift  Orelli  n.  3128,  welche  ihn  als  procos.  provinc. 
Cypri  nennt,  steht  jetzt  C.  I.  Lat.  X  1  n.  5182;  vgl.  noch  Mommsen 
ib.  III  2  p.  971  ad  n.  162. 

1888.  PbUoa.-philol.  u.  bist.  Ol.  3.  23 


338  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1S88. 

nOAEßZKAIPOZTOYMAN 
HMOZAPETHZXAPIN 

....  ccQxiEQea?  T/^g]  7i6Xei'jg  /mI  rLoGzoif.ia.\v 
....  riaq)uov  ö  (5j»j^/og  aQerFjg  yäqtv. 

B  ist  wahrscheinlich  später  hinzugefügt;  Schriftcharakter 
verschieden  von  A  und  weniger  sorgfältig. 

N.  19.  Fussgestell  aus  rötlichem  Marmor  (Cesnola 
„Porphyr"  !)  beim  Hause  des  Ephraemi  (Tempelplatz). 
21  X  58  X  52  cm ;  oben  Löcher  für  eine  Gruppe  von 
kleineren  Figuren  (4 — 5  Fusstapfen).  Die  Inschrift  wurde 
zuerst  von  Ross,  der  sie  selbst  nicht  gesehen,  unvollständig 
veröffentlicht,  ^J  dann  besser  von  Rangabe  (Ant.  Hell.  H, 
p.  783,  n.  1234),  Sakellarios  (S.  96),  J.  Hogg^)  und 
F.  ünger,  ^)  nach  dessen  Text  dieselbe  von  H.  Sauppe*)  und 
E.  Leutsch^)  herausgegeben  wurde.  Neuerdings  hat,  abge- 
gesehen  von  der  ungenauen  Wiedergabe  bei  Cesnola  (S.  367 
N.  1),  Waddington  (bei  Lebas  n.  2798)  einen  vollständigen 
und   zuverlässigen  Text  geliefert. 

l4(pqodiTi]i  Ilacfiai.  \  z/rjj.iO}iQdzrjg  nTokE[.iaiov  \  6  dgyog 
5  TW»'  Kivvqadiov  \  /.al  yj  yvvrj  EvvUtj  j|  rrjv  savziov  i^vyaxtqa  | 
^qioxriv. 

Ueber  die  Kinyraden  vgl.  W.  Engel.  Kypros  H  100  ff.; 
Ross,  Leutsch,  Waddington  a.  a.  O.;  A.  Voigt,  Kinyras  in 
der  Allg.  Eucykl.   II  36  (1884)  S.  117;  A.  Enmann,  Kypros 


1)  Rhein.  Mus.  VII  620  N.  16  ^  Arcb.  Aufs.  II  628.  In  Z.  6 
las  Ross  ...  OIC  ...  und  ergänzte  &e^oTg,  was  später  K.  Keil  (Arch. 
Aufs.)  als  irrig  zurückwies. 

2)  Transact.  R.  Soc.  Lit.  II,  S.  VII  a83  ff.,  nach  Leycester's 
Abschrift  (1849). 

3)  F.  Ungar  u.  Th.  Kotscliy,  Die  Insel  Cypern  S.  556. 

4)  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  d.  Wi.ss.  1866  S.  133  f. 

5)  Philologus  XXIV  (1866)  S.  226. 


fOtmAimmmter:  '&ri,etännt}i»e  Itimaiirmlfim  am  'Ogpttm  "•■'• 

IL.   der  Osipmnsr   ö»   J^5ÄiHÄtBkiidlii&  ~  os 

3f.  30.     Tusar    ttsr   Trrämnem   fe   Ainiloser"'        ^  r 
HtJ*"  Th.Tiiwi    vir.    alöSSseiieL  ^jr    itst.   BnuaHröei- 

te'tifäiaj«  Fr,    .  idnem    MarmDr.    btt    ^»^eiteir 

IE  üenniiGiter   :■ '■    ..-    ^r.:._  war: 

j^  ;..  v^- -       -•    -       -_.--.-      ^-- — .  .  ^-_^s    ^atm^  wtKMh- 

vekii»  in  cr^prscner  Seisäfi:  äie  Iäshüäp  Äc  .  ^tatr:.  üraseu.. 

^  7  lue  gffjWTg^-    öa*  Jiier   TnHVtr  —  •  "l 

.j^gngwvF-   -srwa  ^irvtkftr..   et  -aEErsiEae-  ^ 

5',.  23_.    Ix  E    7  ^     _     :  :«.  AaLaiim*))  "SaasL  üt  in 

'    -.jE3D£5aii  W5L  Itertu-  :     -    -         .  -^:   -^     — ■ — "'  —   -"^ 

r^ikhr  de?  tfidser«^      ..  erEfibrr    amgf?maTKgxu    nni 

m  dsn»äii>fiii  Hccranm.  iboBii  öMm  -eJmfBinHneri;-    äsr    .riTvsm 

VATfCiv 

1:-!  TiraeÖerhaife  3ifr   leraiE;  ^nn  5*äsj- 


:  ^    32P  JA..  1  n.  leb«  i..  iSliif'    T::aiaisacr  L.  üS"  r„  ai*6  : 

ifliEsere  iatsjt-    31  'v  -^J'  ><  ■5^  "^     ^-  '   ansübemant  für  sii>-    *^    '  -«m- 

üji  ^^w.  jmimarr.     .  -^ 

mkäc  &SBB.  fiujbsr  st.  i*-.-_:„     ,     _    ;  —        -  -  '^ 

«iA  smaiL  in  flinsr  Inaiäiiift  «ns  Ptini;rt.'M|iaitm.    '-    I.  ü.  IH  im.  ÜBIS*  t. 

3^  IShsiii.  Kbs.  Tir  SS  X.  S  A  -&Ki-  Jfcnfe.  IL  ^3S. 


340  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

auch  nach  meiner  Abschrift,  gegen  Sakellarios,  Naziov  für 
einen  vollständigen  Namen  halten  muss;    vgl.   Ross  a.  a.  0. 

N.  22.  Fussgestell  aus  bläulichem  Marmor  auf  einem 
Grabe  des  türkischen  Friedhofs  von  Kuklia  (10  engl.  Meilen 
westlich  von  Famagusta).  23  X  71  X  48  cm;  oben  eine 
viereckige  Vertiefung,  16  X  16  cm  weit,  4  cm  tief,  links 
davon  zwei  runde  Löcher.  Buchstabenhöhe  25  mm,  in  Z.  4 
und  5  nur  15 — 20  mm.  Zierschrift  mit  apices,  A,  Z,  CO. 
Text  mitgeteilt  von  Beaudouin  und  Pottier,  Bull.  corr.  hell. 
III  p.  173  n.  24. 

T6    •/.oivdv    KvTTQuov  I  Keiiüvlav    KaXXiotcd   ^rrtxjjv,   | 

yvvalKa    OXaviov    0 [a^x]'*[?o;]a]a|t/6Vot'    [tw]v    2e- 

5    [/9o;(7]r[c(5)' dyad-ov  x  .  .  .  . 

Wegen  des  Namens  Ke'icovia  (Ceionia)  vgl.  J.  Franz 
C.  I.  Ct.  III  n.  5883  add.  Das  y.oiv6v  KvnQUov  wird  ausser- 
dem in  der  Kaiserzeit  sowohl  inschriftlich  ^)  als  besonders  auf 
Münzen  von  Claudius  bis  Macrinus  erwähnt.^) 

N.  23.  Fussgestell  aus  bläulichem  Marmor,  vor  der 
Kirche  (jetzt  Moschee)  H.  Sophia  in  Famagusta.  28  X  82 
X  71  cm;  oben  (3  runde  Löcher,  wahrscheinlich  für  eine 
Bronzestatue.  Sehr  klare  Schrift.  Nach  Pococke  und  Turner 
von  Böckh  C.  I.  G.  n.  2634  (ungenau),  neuerdings  von 
Waddington  bei  Lebas  n.  2755  korrekt  herausgegeben. 

^vToy.QätOQa\  NtQOvav  TQa'iavdv  Kaioaga  \  [^Eßaoxo\v 
Fegi^aviKOv,  viov  d-eov  |  [NeQova  ^£]ßaaiov,  rj  7v6kig.    LT. 

A. 

N.  24.  Bruchstücke  eines  Sandsteinblockes  (1  grosses 
und  2  kleine  Stücke),  bei  Salamis  in  der  Nähe  der  Wasser- 


1)  Ross,  Rhein.  Mus.  VII  517  N.  10  (Arch.  Aufs.  II  625),  Lebas 
n.  2734;  C.  I.  A.  III  n.  478. 

2)  Mionnet  III  p.  671-676  n.  4—6,  8,  12,  14  s.,  23,  25,  29-43, 
suppl.  VII  p.  304—8  n.  5—9,  11-16. 


Oberhummer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  341 

leitung  (s.  u.)   gefunden;    der  ganze  Block  war  54  cm  hoch, 
84  cm  breit;  Bachstabenhöhe  5  cm. 

+ei 

BAYTe 

APKAAIÖ 

CÜTATOY 

5  CKonoY .  viriiAA 

+  'E[yevovTO^ 

'/.{ai)  avzB  [aJ?  ciip'iöeg  inl] 
l4Qy.adi[ov  zoi  ddt-] 
wraTOV  [ccQxiB/ii-^ 
5     OKOTTOV 

Vorstehendes  Fragment  bildet  einen  neuen  Beitrag  zu 
einer  Reihe  von  Inschriften,  welche  sich  auf  eine  in  byzan- 
tinischer Zeit  erbaute  oder  doch  erneuerte  Wasserleitung 
der  Stadt  Constantia,  die,  angeblich  von  Constantius 
Ohlorus,  auf  den  Trümmern  von  Salamis  gegründet  wurde, 
beziehen.  Die  zwei  bedeutendsten  dieser  Inschriften,  welche 
bereits  mehrfach  gedruckt  sind,  habe  ich  mit  Herrn  Richter 
im  Dorfe  H.  Sergios,  V^  Stunde  NW  von  den  Ruinen  von 
Salamis,  wiedergefunden;  sie  sind  auf  Sandsteinblöcken  ein- 
gegraben und  befinden  sich  jetzt  in  zwei  verschiedenen 
Häusern  des  Ortes.    Dieselben  lauten  (Text  nach  Waddington): 

B. 

Ross,    Reisen    nach    Kos    u.    s.    w.    S.    118;    Sakellarios 
S.    171   f.;    Kirchhofe  C.    I.    G.   IV  n.   8G63    (nach    Ross); 
Waddington  bei  Lebas  n.  2764.     24  X  85  X  51  cm. 
+  'Eyivetov  x- 
al  avre  rj  diy.- 
a  aiplöeg  Inl 
JlkovTaQxov 
5    aQxie^cioxwTt- 

ov  r^ixwv  ivd{iy,ti(vvog)  ly    + 


342  Sitzioig  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1S88. 

Z.  1  a.  E.  Waddington  ONK;  Hoss  und  meine  Ab- 
schrift OHK;  Sakellarios  «V^'^^^'^'^  '"i  '^-  Kirchhoff  vermutete 
in  Z.  1  und  2  Eyi-veio  tj  '/.ai[yo]v[Qyia]  ötna  oder  -xa/[v/a/e] 
i-'[v]dE/.a,  was  nach  dem  jetzt  festgestellten  Texte  unhaltbar  ist. 

C. 
Ross,  Reisen  etc.  S.   118;  Sakellarios  S.  172;  Kirchhoff 
C.    I.    G.    IV    n.    8658;     Waddington    bei    Lebas    n.    2768. 
42  X  72  X  68  cm. 

+  ^EyivovT~\o  ovv 
&(e)([>  x[£  at^rai  e.  ainxa 
ailüdeg  fx  tuv  (piX- 
OTifirjif-ävTwv  7ta- 
5    Qo.  (J)X(aßtov)  '^Hqay.Xlov  xov  &e- 
oOTtTivov  Tj/.ioi>  deo- 
noTOV  ano  xov  ijr7iodQOf.i- 

ov  l^ri{vi)  g    {Iv)d(iyixiwvog)  g    + 

Z.  1.  Ross  (a.  E.)  rOEIH,  meine  Abschrift  (dgl.)  tN; 
fehlt  bei  Sakellarios.     Z.  2.    Ross    eCüH  .  .  TAieAPFTTA; 

Sakellarios    ^lo xag-agexa;    meine    Abschrift    BGüK  .  . 

TAIGAITTTÄ.  Die  Ergänzung  z[€]  statt  y.[ai']  ist  durch 
den  Raum  bedingt,  wenn  nicht  besser  z(at)  zu  schreiben  ist. 
Z.  6  in  der    Mitte    IJoss    falsch    T08H.      Z.   8   Wad<lington 

LI  U  

öMc,-'XA^+;   Koss  8MS+AS+;  lueine  Abschrift  ÖM^XA^+. 
Ferner  gehören  zu  dieser  Gruppe 

D. 

Stein  aus  H.  Sergios,  jetzt  in  Laniaka,  nach  Waddington 
bei   Lebas  n.   2765. 

+  'Eyevovxo  /.s  ao- 
vxe  r)   ^Q^l^]  c(ip[i]d£g 
hnl  TIXovx[aQ]xov 
aQXie/r  iax(j7i:ov 

u'd(iACuiJfug)   r   + 


Oberhnmmer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  343 

E. 

Stein  in  Trikoino  (7—8  englische  Meilen  N  von  Salamis). 

Waddington     bei     Lebas    n.    27»55     und    (vollständiger) 

Beaudouin  und  Pottier,  Bull.  corr.  hell.   111  p.   170  s.  n.  20. 

+  ^Ely^verlo 
xat  ai'TS  iq   [rri- 

fir]{vi)  T]    lvd{i'/.Tim'og)  ly 

F. 

Wahrscheinlich  gehört  zu  dieser  Gruppe  auch  die  In- 
schrift auf  einem  Sandsteinblocke  in  der  Kirche  H.  Thekla 
zwischen  Makrastyka  und  Kuklia  (s.  N.  22).  Der  Block 
ist  rechts  oben  abgeschlagen,  auch  links  oben  etwas  be- 
schädigt. 58  X  55  cm,  Buchstabenhöhe  4—6  cm.  Die  nach- 
lässig eingegrabenen  Buchstaben  erscheinen  trotz  ihrer  Grösse 
bei  der  weichen,  porösen  Beschaffenheit  des  Steines  ver- 
schwommen und  undeutlich ;  ein  mit  Mühe  und  Sorgfalt  (auf 
nassem  Wege)  hergestellter  Abdruck  erwies  sich  als  fast 
ganz  unbrauchbar.  Ein  besseres  Ergebnis  wäre  vielleicht 
mit  einem  Graphitabdrnck  zu  erzielen.  Ich  wiederhole  hier 
die  in  meinem  Tagebuche  aufgezeichnete  Abschrift,  aus  der 
es  freilich  kaum  möglich  sein  wird  den  Zusammenhang  des 
Textes  herzustellen. 

GKOIA 
KOüGüA 

noY0Yrecü 

rNGüC 

OüCXPHC     TH 
NüüCOGüü   MiAl 
+  ON   e      NMIH 
ICOA 


344         Sitzung  der  philos.-philol.  Clasae  vom  5.  Mai  1S88. 

Versuchen  wir  die  vorstehenden  Inschriften,  abgesehen 
von  F,  in  Zusammenhang  zu  bringen  und  ihre  Abfassungs- 
zeit festzustellen,  so  finden  wir  den  besten  Anhalt  an  C, 
woraus  sich  ergibt,  dass  7  Bogen  der  Wasserleitung  vom 
Hippodrom  ^)  ab  auf  Kosten  des  Kaisers  Herakleios 
(010—41)  erbaut  wurden  (vgl.  Waddington  a.  a.  0.).  Wenn 
die  Indiktionszahl  (6)  richtig  gelesen  ist,  so  kann  die  In- 
schrift nur  aus  einem  der  beiden  Jahre  (318  oder  ()33  stammen. 

In  A  war  als  Erzbischof  (vgl.  B  und  D)  Arkadios 
genannt.  Wir  kennen  zwei  Männer  dieses  Namens,  welche 
den  erzbischöflichen  Thron  von  Salamis -Constantia  inne 
<rehabt  haben.  Arkadios  I.  beschrieb  am  Ende  des  6.  Jahr- 
hunderts  das  Leben  des  Styhten  Simeon  des  Jüngeren;^) 
an  ihn  richtete  Kaiser  Herakleios  ein-  Schreiben  in  Sachen 
des  Monotheletismus.  =')  Arkadios  II.  regierte  zur  Zeit  des 
Kaisers  Konstantin  IV.  Pogouatos  (668— 85),  doch  fällt  seine 
Regierung  vor  680  (schwerlich  später),  in  welchem  Jahre 
Epiphanios  IL  als  Metropolit  Cyperns  an  der  6.  allgemeinen 
(truUanischen)  Kirchenversamuilung  zu  Konstantinopel  teil 
nahm.*)  Da  Arkadios  I.  der  Abfassuugszeit  von  C  näher 
steht,  so  wird  man  a  priori  geneigt  sein,  seiner  liegienmg 
den  in  A  erwähnten  Bau  an  der  Wasserleitung   zuzuweisen. 


1)  Von  der  Lage  desselben  habe  ich  keine  Spur  auffinden 
können,  und  ist  mir  auch  nicht  bekannt,  dass  frühere  Reisende  die- 
selbe nachgewiesen  hätten. 

2)  Derselbe  starb  592  oder  596,  Zingerle  in  Wetzer  u.  Weite's 
Kirchenlexikon  10.  Bd.  S.  424;  Weiss  in  der  Biogr.  Univers.  Neue 
Ausg.    39.  Bd.    S.  364  b. 

3)  S.  Lequien,  Oriens  christiamis  11  p.  1019;  Neliers  Artikel 
Cypern  in  Wetzer  u.  Weite's  Kirchenlex.  2.  Aufl.  3.  Bd.  Sp.  1269. 
Neher  gibt  ihm  dort,  ich  weiss  nicht  mit  welcher  Berechtigung,  die 
Kegierungszeit  600—638.  Das  Schreiben  des  Kaisers  an  Arkadios 
fällt  frühestens  in  das  Jahr  622  und  jedenfalls  noch  vor  626,  s.  Hefele, 
Konziliengeschichte  III  112  f.,  120  tf.  (2  123  f.,  131  tf.). 

4j  Lequien  11  p.  1050. 


Oberhummer:  Griechische  Inschriften  aus  Cypern.  345 

Der  in  B  und  D  erwähnte  Erzbischof  Plutarchos  ist 
aus  den  bisherigen  Bischofslisten  nicht  nach/Aiweisen.  Da 
die  beiden  Inschriften,  welche  nach  Form  und  Inhalt  unge- 
fähr derselben  Zeit  wie  A  und  C  angehören,  die  Indiktions- 
zahlen  13  und  8  enthalten,  so  muss  seine  Regierung  min- 
destens (i  Jahre  umfasst  haben.  Die  Jahre,  welche  in  dem 
Zeitraum  von  580 — 680  diesen  beiden  Indiktionszahlen  ent- 
sprechen, sind  590—595,  605—610,  620—625,  635-640, 
650—655,  665—70.  Obwohl  die  mangelhaften  Nachrichten, 
welche  uns  über  die  Regierungsdauer  der  einzelnen  Bischöfe 
zu  Gebote  stehen,  eine  genaue  Bestimmung  derselben  in  den 
seltensten  Fällen  zulassen,  so  beschränkt  sich  doch  die  Aus- 
wahl aus  obigen  Doppelzahlen  auf  einige  wenige,  da  die 
Regierung  des  Plutarchos  den  bisher  bekannten  Bischöfen 
aus  dein  Zeitraum  von  etwa  580  bis  etwa  680  eingepasst 
werden  muss.  Diese  Bischöfe  sind:  Arkadios  I.  (o.  S.  344 
A.  2  u.  3),^)  Sergios,  der  ein  Schreiben  an  Papst  Theodor  I. 
(642—49)  richtete,*)  Arkadios  II.  imd  Epiphanios  II.  (o.S.  344). 
Nach  dem  was  wir  ül)er  diese  Bischöfe  wissen,  scheinen  von 
den  Indiktionszahlen,  die  für  Plutarchos  überhaupt  in  Be- 
tracht kommen  können,  nur  590—595  (vielleicht  auch  schon 
575—580)  zu  passen. 

Was  endlich  E  betrifft,  enthält  es  dieselbe  Indiktions- 
zahl  wie  B  (13),  stammt  also  wahrscheinlich  auch  aus  dem 
gleichen  Jahre  (595,  eventuell  580). 

1)  üeber  die  Bischöfe,  welche  Lequien  a.  a.  0.  unmittelbar  vor 
Arkadios  I.  aufführt,  fehlt  jeder  sichere  chronologische  Anhalt. 

2)  Das  Schreiben  war  datiert  vom  29.  Mai  643  und  kam  auf 
der  Lateransynode  v.  J.  649  zur  Verlesung,  in  dessen  Akten  es  noch 
erhalten  ist;  Mansi,  Concil.  coli.  X  914  s.;  Hefele,  Konziliengesch. 
III 165  (2  188).  Sergios  nennt  darin  den  Arkadios  seinen  Oheim  {-^eTog) ; 
es  ist  deshalb  wahrscheinlich,  dass  er  der  unmittelbare  Nachfolger  des 
letzteren  war.  Sergios  lebte  noch  nach  dem  J.  649,  da  er  später  (aber 
noch  vor  653)  sich  der  monotheletischen  Irrlehre  zuwandte,  s.  Anastas. 
Bibl.  collect,  ed.  J.  Sirmond  (Paris  1620)  p.  70  s.  coli.  Lequien  II  p.  1049  s. 


346  Sitzung  der  philos.-phüöl.  (Jlasse  vom  5.  Mai  1S88. 

Wir  gewinnen  somit  aus  den  bis  jetzt  bekannten  Ur- 
kunden folgende  Aufstellung  über  den  Bau  der  Wasserleitung: 
Erzbischof  Plutarchos  baut     3  Bogen  im  J.  590  (D) 

,      10       ,         .     ,    595  (B) 
,       ?     ,        5       „        ,     ,    595  (E) 
Arkadios  I.    „         ?       „       ca.  600-640  (A) 
Kaiser  Herakleios  „        7        „       im  J.  618  od.  633  (C). 

Was  endlich  die  Wasserleitung  selbst  betrifft,  so  bin 
ich  in  der  Lage,  darüber  folgendes  mitzuteilen.  Mehrere 
ältere  Reiseschriftsteller  über  Cypern  erwähnen  dieselbe  und 
stimmen  darin  überein,  dass  sie  von  dem  wasserreichen  Ge- 
biete von  Kythräa,  dem  alten  Chytroi,  im  Norden  von 
Nikosia,  nach  Salamis,  bezw.  Co)istantia,  führte.^)  Obwohl 
letzteres  sehr  wahrscheinlich  ist,  da  sich  jetzt  wenigstens 
nirgends  in  der  nördlichen  Gebirgskette  von  Cypern  eine 
annähernd  so  wasserreiche  Quelle  findet  wie  bei  Kythräa, 
so  ist  doch,  meines  Wissens,  bis  jetzt  noch  niemals  versucht 
worden,  die  Leitung  in  ihrem  ganzen  Verlaufe  zu  verfolgen. 
Doch  weisen  die  Reste,  welche  heute  noch  bei  Salamis  stehen, 
in  ihrer  Richtung  (SO— NW)  auf  das  in  Luftlinie  22  eng- 
lische Meilen  entfernte  Quellgebiet  von  Kythräa.  Auch 
scheinen  zu  Pococke's  und  Mariti's  Zeit  noch  mehr  Bogen 
gestanden  zu  haben  als  jetzt.  Ich  habe  die  best  erhaltenen 
Reste  auf  dem  Wege  zwischen  H.  Sergios  und  Varnavas, 
P/3  englische  Meile  WNW  von  Constantia,  gemeinsam  mit 
Herrn  Ohnefalsch- Richter  näher  untersucht. 

Dort  stehen  noch  2  vollständige  Bogen  mit  drei  Pfeilern. 
Die  Bogenscheitel  sind  zugespitzt,  weshalb  Pococke  die  Bogen 
als  gothisch  bezeichnete.  Die  Kämpfer  ruhen  auf  einem 
Unterbau  von  2,10  m  Höhe,  2,05  m  Länge  (in  der  Richtung 

1)  R.  Pococke,  Description  of  the  East.  V.  IE  pt.  I  p.  216  f.,  221 
(Lond.  1745);  G.  Mariti,  Viaggi  I  140  8.,  160  (Firenze  1769);  F.  Unger 
u.  Th.  Kotschy,  Die  Insel  Cypern  (Wien  1865)  S.  7,  533  f.;  Ross, 
Reisen  etc.  S.  117  (letzterer  erwähnt  4  Bogen). 


Oherhimmer:  Griechische  Inschriften  aus  Cyitern.  347 

der  Wasserleitung),  1,80  m  Breite.  Der  Unterbau  springt 
über  den  Kämpfer  an  den  Innenseiten  (Richtung  der  Wasser- 
leitung) um  20  cm,  an  den  Aussenseiten  um  0,25  m  vor. 
Der  Abstand  der  Pfeiler  beträgt  3,35  m.  NW  von  diesen 
Bogen  stehen  die  Reste  von  3  weiteren  Pfeilern;  nach  SO 
lässt  sich  die  Leitung  bis  zu  den  Mauerlinien  von  Salamis- 
Constantia  hin,  in  deren  Nähe  wieder  einzelne  Pfeiler  stehen, 
deutlich  verfolgen.^)  Da  wo  die  Leitung  endigt,  befindet 
sich  innerhalb  der  Mauern  von  Constantia^)  ein  ziemlich  gut 
erhaltenes  Bauwerk,  das  schon  von  früheren  Reisenden  richtig 
als  ein  grosser  Wasserbehälter  erkannt  worden  ist.  Es  ist 
eine  rechtwinkelige  Anlage  (Längsaxe  WO)  von  80  Schritt 
Länge  und  30  Schritt  Breite.  Die  Mauern,  von  solider 
Bauart  aus  cementierten  Hausteinen,  sind  ein  Stockwerk 
hoch  und  tragen  mit  der  Innenseite  in  regelmässigen  Ab- 
ständen Konsolen,  welche  an  die  Mauer  angelehnte  Bogen 
(kein  Gewölbe!)  getragen  zu  haben  scheinen.  Die  4  Ecken 
sind  innen  ausgefüllt  und  abgerundet,  so  dass  der  Grundriss 
des  Innenraumes  sich  einem  Oval  nähert.  Eine  Ueberdachnng 
scheint  nicht  vorhanden  gewesen  zu  sein. 

Ich  glaube  den  vorstehenden  Bemerkungen  noch  hinzu- 
fügen zu  sollen,  was  ich  in  meinem  Tagebuche  gelegentlich 
unseres  Rittes  von  Salamis  nach  Kythräa  über  Reste  alter 
Wasserleitungen  in  der  Nähe  des  Gebirges  aufgezeichnet 
habe.     Die   Strasse,    welche   von  dem   grossen  Flecken  Lev- 

1)  Der  Verlauf  dieses  Stückes  ist  auch  in  die  1  inch  Survey 
von  Cypem  (Bl.  6  Trikomo),  und  noch  o;enauer  in  die  leider  nicht 
veröffentlichte  4  zöllige  Aufnahme  der  Umgebung  von  Salamis,  von 
welcher  ich  mir  durch  das  Entgegenkommen  der  englischen  Ver- 
waltung eine  Kopie  verschaffen  konnte,  eingetragen. 

2)  Constantia,  dessen  Mauerlinien,  ebenso  wie  diejenigen  von 
Salamis  in  der  Hauptsache  noch  deutlich  zu  verfolgen  sind,  war  in 
das  weit  ausgedehntere  Gebiet  von  Salamis  hineingebaut,  doch  so, 
dass  die  Westmauer  von  Salamis  gleichzeitig  Constantia  nach  W 
begrenzte. 


348  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

koniko  über  Knodara  nach  Kythräa  führt,  wird  SW  vom 
Dorfe  Tschatos  (6—7  englische  Meilen  0  von  Kythräa)  von 
einer  alten,  im  Boden  liegenden  Leitung  gekreuzt,  welche 
sich  nach  W  zu  bald  mehr,  bald  minder  deutlich  verfolgen 
lässt.  0  vom  Bache  Sakizlik  Dere  mündet  aus  SW  eine 
zweite  Leitung  ein;  dieselbe  besteht  hier  aus  einer  ge- 
mauerten Rinne,  welche  auf  dem  Erdboden  aufliegt  und 
über  den  Bach  mittelst  Rundbogen  geleitet  ist.  Weiterhin 
ist  der  Verlauf  nur  durch  lose,  von  der  zerfallenen  Rinne 
herrührende  Steine  bezeichnet,  tritt  aber  später  wieder  deut- 
licher hervor.  Etwa  eine  englische  Meile  0  von  dem  Dorfe 
Petra  tu  Dijeni,  ^)  mündet  von  NW  eine  neue  Rinne,  während 
sich  die  Hauptleitung  in  SW  gegen  Exometochi  hinzieht. 
Weiter  konnten  wir  aus  Mangel  an  Zeit  die  Leitungen  nicht 
mehr  verfolgen.  Ob  dieselben  mit  der  grossen  Wasserleitung 
von  Salamis-Constantia  in  Verbindung  stehen  oder  unab- 
hängig davon  angelegt  sind,  muss  vorläufig  dahin  gestellt 
bleiben.  Ich  beschränke  mich  darauf  festzustellen,  dass  wir  auf 
dem  ganzen  Wege  von  Salamis  über  Peristerona,  Levkoniko, 
Knodara  nach  Kythräa  nirgends  Reste  einer  Hochbauleitung 
bemerkten,  wie  sie  bei  Salamis  selbst  vorhanden  sind. 


1)  Das  Dorf  liegt  3V2  englische  Meilen  0  von  Kythräa. 


Schlussbemerkung.  Aus  äusseren  Gründen  mussten  einige  längere 
Inschriftzeilen  im  Satz  gebrochen  werden;  es  sind  folgende:  S.  309 
N.  1  Z.  1,  S.  315  N.  5  Z.  7,  S.  322  N   10  Z.  2,  S.  334  N.  16  Z.  1  u.  3. 

Zu  S.  321  A.  3  ist  nachzutragen,  dass  Arsinoe  als  Bischofsitz  noch 
genannt  wird  in  dem  von  Parthey  (hinter  Hierocies)  herausgegebenen 
Verzeichnis  der  Bistümer  unter  Leo  VI.  dem  Weisen  u.  Photios  vom 
.1.  883  (Not.  ep.  I  1056  'Agaevai),  sowie  in  der  Zusammenstellung, 
welche  der  Archiniandrit  Nilus  Doxopatrius  auf  Befehl  Rogers  II.  von 
Sicilien   im   .1.    1113    anfertigte    (Nil.  Dox.  ed.  Parthey  182  'AgoEvorj). 


349 


Herr  v.  Christ  hielt  einen  Vortrag: 

,Der   Aetna   in   der   griechischen   Poesie". 

Thukydides  bemerkt  in  seinem  Geschichtswerk  III  116 
gelegentlich  des  Ausbruchs  des  Aetna  im  Frühling  des  Jahres 
425,  drei  Mal  habe  im  Ganzen,  seit  Sikilien  von  Hellenen 
bewohnt  werde,  der  Berg  Aetna  Feuer  gespieen.^)  Die 
beiden  vorhergegangenen  Ausbrüche  haben  eine  Rolle  in  der 
griechischen  Litteraturgeschichte  gespielt.  Der  erste,  wenn 
anders  wirklich  der  attische  Historiker  und  sein  sikilischer 
Gewährsmann^)  von  demselben  Kenntnis  hatten  und  ihn  bei 


1)  Thuc.  III  116:  igov)]  de  :ieoI  avzo  zo  sag  tovzo  6  gva^  rov 
TCVQog  EX  rrjg  Aitvrjg  öja:rsQ  xal  ro  ttoÖtsqov,  xal  yrjv  xiva  E(p^eLQS  zwv 
Kazavaioiv,  oi  im  zf/  Aizvt}  zw  oqei  otxovaiv,  ojisq  /uEyiozöv  ioziv  ogog 
Ev  xfi  SixsUa.  XiyEzai  8e  nsvzrjxoazw  ezei  gvijvai  zovzo  ^eza  z6  jiqö- 
zEgor  gsvfjia,  x6  8k  ^vfiJiav  zglg  yeyevrjo^ai  z6  gsvfxa  dq>'  ov  ZixeUa 
i'.TÖ  'EXXrjviov  oixEizat.  Von  einem  vierten  Ausbruch  in  Ol.  96,  1  = 
396/5  berichtet  Diodor  XIV  59;  diesen  kann  also  Thukydides  nicht 
mehr  erlebt  haben,  was  entscheidend  ist  zur  Bestimmung  des  Jahres, 
vor  dem  der  grosse  Historiker  gestorben  ist.  Auf  diesen  vierten  Aus- 
bruch bezieht  sich  zweifellos  auch  Orosius  II  18,  der  nach  Erwähnung 
der  Expedition  des  jüngeren  Cyrus  gegen  seinen  königlichen  Bruder 
Artaxerxes  also  fortfährt:  his  deinde  temporibus  gravissimo  motu 
terrae  concussa  Sicilia,  insuper  exaestuantibus  Aetnae  montis  ignibus 
favillisque  calidis,  cum  detrimento  plurimo  agrorum  villarumque 
vastata  est. 

2)  Dieser  Gewährsmann  wird  aber  derselbe  gewesen  sein,  dem 
Thukydides  VI  1—5  bezüglich  der  älteren  Geschichte  Sikiliens  gefolgt 
ist;  das  war  aber,  wie  mein  verehrter  Kollege  Wölfflin  nachge- 
wiesen hat,  der  Historiker  Antiochos  von  Syrakus. 


350  Sitzumj  der  philos.-j'hilol.  Clnsse  vom  5.  Mal  1888. 

jener  Angabe  mit  in  Anschlag  brachten,^)  fiel  in  die  Zeit 
des  Hesiod.  Die  Kenntnis  davon  war  lange  durch  eine 
Korruptel  oder  falsche  Korrektur  der  Handschriften  des 
Dichters  verschüttet  und  ist  erst  in  unserer  Zeit  durch  den 
Scharfsinn  MützeH's*)  wieder  ans  Licht  gezogen  worden. 
In  der  Theogonie  des  Hesiod  nämlich  V.  820 — 880  findet 
sich  eine  grossartige  Schilderung  von  Typhoeus,  dem  unholden 
Sohne  der  Gäa  und  des  Tartaros,  und  von  dessen  Be- 
zwingung durch  Vater  Zeus.  Diese  Schilderung  hängt  aber 
mit  einer  Aetnaeruption  zusammen;  um  dieses  zu  zeigen, 
müssen  wir  etwas  weiter  ausholen. 

Der   Aetna   und   Typhoeus   bei   Hesiod. 

Der  Typhoeus,  dessen  Name  später  zu  Typhos  oder 
Typhon  kontrahiert  wurde,  war  den  Griechen  seit  Alters 
der  verkörperte  Dämon  des  unterirdischen,  in  Erdbeben  und 
vulkanischen  Eruptionen  sich  offenbarenden  Feuers.  Die 
Vorstellung  mag  denselben  aus  der  Fremde  zugebracht  worden 
sein,  da  Griechenland  selbst  weniger  als  Kleinasien  von  jener 
Gottesgeissel  heimgesucht  wurde;  aber  der  Name  ist  auf 
griechischem  Boden  gewachsen  oder  wenigstens  einer  griechi- 
schen Wortfamilie  angepasst.  Denn  der  Zusammenhang  von 
Tvqiioevg  mit  xvcpeLv  'qualmen'  und  ivcpog  *  Rauch'  liegt  auf 
l)latter  Hand ;  jenes  rvqiog  aber  ist  ein  altgriechisches 
Wort,    das    sein     Ebenbild    in    skt.    dhupas    'Räucherwerk 


1)  Ob  sie  ihn  mitrechiieteu,  ist  allerdings  zweifelhaft,  da  der- 
selbe zu  sehr  in  die  mythische  Zeit  zurückging.  Dann  war  eben, 
seit  Sikilien  den  Griechen  bekannt  geworden,  der  Aetna  nicht  3 
sondern  4  Mal  ausgebrochen  und  wissen  wir  von  einem  der  4  Aus- 
brüche nichts. 

2)  Mützell  de  emendatione  Hesiodeae  theogoniae  p.  49.5; 
Lennep  lehnte  die  Besserung  ab,  weil  er  die  Diärese  von  'Atrvt]  be- 
zweifelte. Schümann,  Opusc.  II  360  und  in  der  Ausgabe  zeigte  sich 
derselben  geneigt;  Flach  und  Bzach  nahmen  sie  in  den  Text  auf. 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  yriechischen  Poesie.  3ol 

hat.^)  Die  Vorstellung  liegt  bereits  klar  ausgebildet  bei 
Homer  vor,  der  in  der  Ilias  B  782  das  Dröhnen  des  Erd- 
bodens unter  den  Füssen  des  Heeres  der  Achäer  mit  dem 
Donner  des  Zeus  vergleicht,  wenn  er  im  Lande  der  Arimer 
um  das  Bett  des  Typhoeus  die  Erde  geisselt: 

yala  ö'  iriEöTBväiiLe  Jet  wg  iEQ!Ciy.eQavvii) 
Xioof.ievtü,   OTE  r'  of-ig^l   Jvffwei  yacav  ii-iäootj 
elv  ^Qif-ioig.  0^/  (paol  Tvifiosog  B(.if.iBvai  svväg  • 
MQ  aga  rwv  v;iü  .togoI  /.uya  atevaxileTO  yala. 

Wo  sich  Homer  jene  Arimer  oder  jenes  Ariraa  dachte, 
lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  angeben,  da  er  des  Namens 
nur  an  dieser  einzigen  Stelle  gedenkt:^)  Nur  so  viel  steht 
fest,  dass  seine  Zeitgenossen  dabei  nicht  an  irgend  welchen 
griechischen  Stamm  oder  an  irgend  ein  Nachbarvolk  der 
Griechen  in  Kleinasien  dachten;  sonst  müssten  die  Arimer 
irgend  wo  im  Schiffskatalog  oder  im  Katalog  der  verbündeten 
Troer  erwähnt  sein.  Wahrscheinlich  hatte  Homer  nur  durch 
Hörensacren  von  dem  vulkanischen  Lande  der  Arimer  Kenntnis 
und  wusste  selbst  nichts  näheres  von  seiner  geographischen 
Lage.  Spätere  lokalisierten  die  Sage  und  zwar  verlegten 
unsere  ältesten  Gewährsmänner,  Pindar  und  Aischylos,  ver- 
mutlich nach  dem  Vorgang    kleinasiatischer    Jonier    unseren 


1)  Curtius  Grundz.  ^  S.  228  stellt  dazu  weiter  mhd.  dimpfen 
'dampfen  und  lit.  dumpin  'ich  blase  Feuer  an  .  Die  Etymologie  des 
griechischen  Wortes  wurde  bereits  von  den  Alten  richtig  erkannt; 
s.  Et.  M.  772,  50:  ot  ös  Tv<pcüia  (faal  a7}/.iaivsiv  rwv  xaQaxoiö&v  nvev- 
[läxcov  rrjv  avädoaiv  rrjv  ix  xrjg  yf)g.  Die  unkontrahierte  Form  kommt 
bei  Homer  und  Hesiod  vor;  Hesiod  gebraucht  daneben  Tbeog.  306 
die  böotische  Form  Tvgxxoiv.  Aus  dem  ersten  ist  Tvqxög  bei  Pindar 
und  Aischylos,  aus  dem  zweiten  Tvtpwv  bei  Strabo  und  den  Lateinern 
kontrahiert. 

2)  Unsere  weitere  Ausführung  wird  die  Annahme  von  Fick, 
Ilias  S.  420  widerlegen,  der  jene  Stelle  als  unhomerisch  verwirft, 
weil  Typhoeus  eine  Figur  des  theogonischen  Epos,  Hes.  Theog.  820  ff. 
sei  und  der  Interpolator  ihn  dorther  entnommen  habe. 


352  Süzuny  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Typhoeus  nach  Kilikien.^)  Wahrscheinlich  ist  damit  auch 
die  richtige  Heimat  des  Mythus  getroffen  worden,  wiewohl 
Demetrios  von  Skepsis  sich  für  einen  näher  liegenden  Ort, 
die  ausgebrannte  Landschaft  (?]  yiey.avi.isvij)  des  benachbarten 
Mysiens  erklärte^)  und  andere  an  Megara,  Böotien,  die  Pythe- 
kusen  und  selbst  an  Aegypten  dachten.^)  Denn  das  Wort  '!Aqi(äol 
klingt  zu  deutlich  an  !AQii.iaioi  an  und  in  der  Gegend  der  Ari- 
mäer  waren  auch  die  in  der  Odyssee  l  520  erwähnten  KrjXEiOL 
zu  Haus,  wenn  anders  mit  Recht  neuere  Forscher  in  jenen 
Keteioi  das  nordsyrische  Volk  der  Hititen  wiedererkannt  haben.*) 
Aber  zugegeben  nun  auch,  dass  Pindar  und  dessen  Gewährs- 
männer der  Wahrheit  am  nächsten  kamen,  wenn  sie  den 
Typhoeus  für  einen  Kilikier  ausgaben,  und  selbst  auch  zu- 
gegeben, dass  diejenigen,  welche  die  Kunde  von  wiederholten 
Erdbeben    in    dem    vulkanischen    Lande    der    Arimer    nach 


1)  Tv(pcbg  Kih^  steht  bei  Pindar  Pyth.  8,  16,  wozu  stimmt  Pyth. 
1,  16:  töv  {Tv(p(bv)  710XS  KiXlxiov  d^QsipBV  JioXv(bvv[i.ov  ävTQov.  Aischylos 
Prom.  367  nennt  den  Typho  yt]ysvrj  Kdixlcov  otxrjxoQa  ärigcov.  KiXi^ 
Tv(pcog  kehrt  wieder  bei  Nonnos  I  155  und  XXIV  108. 

2)  Darüber  belehrt  uns  Strabo  an  der  klassischen  Stelle  1.  XIII 
p.  626.  In  den  Schoben  zu  II.  B  783  sind  die  beiden  Meinungen  neben- 
einandergestellt: Tct  "Agifia  Ol  jusv  ogog  rfjg  KiXixiag  cpaaiv,  ol  8k  Avöiag'. 

3)  Darüber  Strabo  a.  0.;  Apollodor,  Biblioth.  I  3;  Hes.  acut.  32; 
Schol.  Pind.  0.  4,  11;  Krates  bei  Diog.  2,  118;  Tzetzes  ad  Lyc.  177; 
vgl.  Neumann-Partsch,  Phys.  Geogr.  Griech.  S.  311.  Bezüglich 
der  Pithekusen  wird  Strabo  italischen  Gelehrten  gefolgt  sein,  welche 
auch  den  Humbug  der  Etymologie  für  ihre  Meinung  ins  Feld  zogen: 
Ol  (5'  ev  nn(}7]xovoaaig,  oi  xal  xovg  ni&t]xovg  (paoi  jiaga  xoTg  TvQQrjvoTg 
OLQifMovg  xaXF.Ta{^ai.  Wie  weit  das  einen  Boden  hat,  wissen  vielleicht 
unsere  Etruskologen  zu  sagen. 

4)  Zu  beachten  ist,  dass  weit  nach  Osten  an  der  Südküste  Klein- 
asiens sich  Side,  die  Kolonie  des  äolischen  Kyme,  befand  (Strabo  p.  667) 
und  dass  in  Pamphylien  auch  die  troischen  Städtenamen  Theben  und 
Lyrnessos  wiederkehren  (Strabo  a.  0.).  Ich  erwähne  das,  weil  ich 
bei  aller  Opposition  gegen  die  geistreiche  Hypothese  Fick's  von  einem 
äolischen  Homer  doch  unbefangen  der  Sache  gegenüberstehe  nnd  nicht 
bloss  in  der  trojanischen  Sage,  sondern  auch  in  einzelnen  Zügen  der 
homerischen  Erzählung  äolinchcn  Einfluss  willig  anerkenne. 


V.  Christ:  Der  Aetna  iu  der  (/riechischen  Poesie.  353 

Kyme  und  zu  den  griechischen  Städten  Kleinasiens  brachten, 
sich  Arima  oder  das    Land    der    Arimer    in   jener    Richtung 
gelegen    dachten,    so    blieb    doch    bei    den    Lesern    Homers, 
zumal    bei    denen    in    Böotien    und    im  festländischen    Hellas 
Arima  ein  ungewisser,  schwimmender  Punkt,   den  jeder  mit 
freier    Phantasie    an    den    Ort,    wo    die   Voraussetzung    eines 
Kampfes  des  Lichtgottes  mit  dem    Feuerdämon    zutraf,    ver- 
legen   konnte.     Man    denke    nur    an    die   Freiheit,    die    sich 
Homer  selbst  bezüglich  des  Wohnsitzes  der  Kimraerier  nahm. 
Denn  als  ausgemacht  darf  doch  heutzutag  wohl  gelten,  dass 
die  Kimmerier  Homers  ursprünglich  identisch  waren  mit  den 
Gimirai  der  Keilinschriften,  einem  skythischen  Volksstamm  des 
nördlichen  Poutus;  aber  Homer  Od.  X  14  verlegte  die  Kim- 
merier an  die  Enden  des  Okeanos  in  den  äussersten  Westen, 
indem  ihm  die  Uebereinstimmung  eines  in  Nacht  und  Nebel 
eingehüllten   Landes    genügte.     Treten  wir   also    unbefangen 
ohne    die    Voraussetzung,    dass    das    Lager    des    Typhon    in 
Kilikien  oder  dem  aramäischen  Syrien  zu  suchen  sei,  an   die 
Erklärung   der    hesiodischen  Stelle  Theog.  820  —  850  heran! 
Da  ist  nun  vor  allem  einleuchtend,  dass  Hesiod  die  alte 
Vorstellung  von  dem  Typhoeus  als  einem  Dämon  des  unter- 
irdischen  Feuers    und    der   vulkanischen    Eruptionen    festge- 
halten   hat.      Denn    ganz    auf    diese    Vorstellung    passt    die 
Schilderung,    welche  er  V.  823 — 835  von   der   Gestalt  jenes 
Ungeheuers  entwirft:   er  gibt  ihm   100  Schlangenköpfe,    aus 
deren  Augen  Feuer  s]>rüht  und  aus    deren    Kehlen    mannig- 
fache Stimmen  ertönen,  gleichend  bald  dem  dumpfen  Brüllen 
des  Stieres,    bald  dem  Aufschrei  des  wütenden    Löwen,    bald 
dem  Hundegebell,  bald  dem  Zischen  der  Schlange,  von  dem 
weithin  die  Berge    widerhallen.^)     Wer    erkennt    hier    nicht 

1)  Hes.  Theog.  829  tf.: 

qxjoval  6''  SV  näatjaiv  i'oav  deivfjg  xsqjaXfjaiv, 
navtoiTjv  on    lEtaai  d&sa<paTov.  äXXors  ^sv  ydg 
q}&syyov&^  cjaze  {^soTac  ovviefisv,  aXXoze  6'  avxs 
188P.  Philo8.-philol.  u.  bist.  Gl.  3.  24 


354  Sitzung  der  plülos.-pMol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

die  sinnbildliche  Andentuno-  der  zahlreichen  Krater  eines 
vulkanischen  Landes,  des  dumpfen  Dröhnens  der  bebenden 
Erde,  der  gewaltsamen  Eruption  prasselnd  niederfallender 
Felsblöcke?  Noch  deutlicher  tritt  die  Symbolik  des  Erd- 
bebens und  des  Ausbruchs  feuerspeiender  Berge  in  dem 
Kampfe  des  furchtbaren  Ungeheuers  mit  Zeus,  dem  Gott  des 
Lichtes  und  des  im  Aether  sich  entladenden  Gewitters,  hervor : 
Zeus  ist  wie  bei  Homer  bewaffnet  mit  Donner  und  Blitz ^) 
und  schleudert  vom  Olymp  den  sengenden  Strahl;  Typhoeus, 
der  schon  mit  seinen  100  feuersprühenden  Köpfen  die  Herr- 
schaft über  Sterbliche  und  Unsterbliche  an  sich  zu  reissen 
drohte,  sinkt  von  Zeus  Blitzstrahl  getroffen  ohnmächtig  zu 
Boden,  das  Feuer  aber,  das  von  dem  getroffenen  Unholde 
abspringt,  setzt  ringsum  die  Erde  in  Brand,  so  dass  dieselbe 
schmilzt  wie  das  Blei  im  Schmelzofen.  Das  ist  handgreiflich 
der  feuerspeiende  Berg,  der  mit  den  Rauchwolken;  welche 
den  Himmel  verdüstern,  und  mit  den  Lavaströmen,  welche 
die  Erde  ausbrennen,  eine  Zeit  lang  die  ganze  Schöpfung 
zu  vernichten  droht,  aber  doch  nach  einigen  Tagen  wieder 
seine  verderbenatmenden  Feuerschlünde  schliesst,  während  in 
den  lauen  P'rühHngslüften  ein  gewaltiges  Donnerwetter  sich 
entladen  hat  und  nach  Donner  und  Blitz  die  wolkenlose 
Klarheit  des  Himmels  wieder  zurüekkelirt.  Auch  in  dieser 
Schilderung  also  folgt  Hesiod  den  Spuren  des  ionischen 
Sängers,  indem  er  nur  die  leise  angedeuteten  Lineamente  in 
breiteren    Strichen    ausführt,     (lanz  neu  aber  ist  bei  Hesiod 


zavQov  igißgiixeco,  (jievog  äaxsrov  oaoav  dyavQOV, 
aXXoTE  <5'  avTE  Xeovzo?  dracSea  ^vfiov  ey_ovrog, 
ulXoTE  fV  av  axvkäxEoaiv  ioixoza,  ^avfiaz^  dxovaai, 
aXXozE  b'  av  QOiCEoyJ,  vJio  iV  rj^EEV  ovoEa  /laxgd. 
1)  Das  Alt  zEQjiiy.Eoavvq)  der  homerischen  Stelle  hat  Hesiod  aus- 
geführt, indem  er  den  Zeus  mit  Donner  und  Blitz  bewaffnet  sein  lässt; 
das   yaiav   i^tdoo)/  des  Homer  V.  783   hat  er   ganz   wörtlich    lierüber- 
genonimen  V.  857  öü/iuoe  Ji'/.ijyfiair  Ifiüoous. 


r.  Clirist:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  355 

die  Erwähnung  des  Meeres,  das  vom  Glänze  des  Blitzstrahles 
und  der  vulkanischen  Feuersäule  widerleuchtet.  ^)  und  von 
dem  Berge,  in  dessen  Schluchten  der  Unhold  Typhon  haust. '^) 
Führt  uns  das  schon  in  eine  bestimmte  Gegend,  in  eine 
Gegend,  wo  ein  feuerspeiender  Berg  in  der  Nähe  der  Meeres- 
küste zum  Himmel  aufsteigt,  so  wird  uns  nun  geradezu  das 
Lokal  mit  Namen  genannt  in  den  Versen  859  f. 

q>ld^  de  KEQavvtod^evTog  antooiro  xolo  jieXwqov^) 
oiQEOg  SV  ßt\oaijOiv  yitxvr^g  (aidvrjg  codd.)  nainaXoloorjq 
nXrjyevcog,  JioXh]  öe  sieXtoQi]  /.aiBTO  yala. 

Hier  steht  zwar  in  allen  unseren  Hesiodhandschriften 
aidv^g,  aber  dass  dieses  falsch  ist,  kann  aus  der  Stelle  selbst 
entnommen  werden.  Denn  oidvög  ist  zwar  ein  richtig  ge- 
bildetes und  schon  von  den  alten  Dichtern  gebrauchtes 
Wort,*)  aber  die  einzig  zulässige  Bedeutung  desselben  'un- 
sichtbar, dunkel'  passt  nicht  für  unsere  Stelle,  und  das  Gesetz 


1)  Hes.  Theog.  844  ff.: 

xavua  6'  u.t'  dfiq?OTEga>v  fidTe^sv  loscdea  Jiövrov 
ßgovrijg  zs  azeoojiijg  re,  Jivgög  r'  vjto  roTo  neXcogov, 
e^ee  8k  jf^^div  näaa  xal  ovgavdg  rjdk  ^dXaaoa. 

2)  Hes.  Theog.  835  u.  860. 

3)  ToTo  JisXwoov  ist  Conjectur  von  Flach,  die  ich  in  den  Text 
aufgenommen  habe,  da  das  überlieferte  loTo  äraxrog  von  dem  näher 
stehenden  xsQavrco&ivTog  weg  zu  dem  entfernteren  q?l6^  gezogen 
werden  müsste.  Schömann  Opusc.  II  360  dachte  schon  an  toTo 
jteXcüQov,  hielt  aber  das  überlieferte  toTo  äraxrog  für  eine  blosse  Un- 
geschicklichkeit des  Versifikator. 

4)  Das  finfache  lövög  kommt  nicht  vor,  aber  di6v6g  findet  sich 
bei  ApoUonios  Argon.  I  389  di8vi]  xtjxie  Xiyvvg,  und  in  dem  Fragment 
jiTjkög  diövTj  [diövr'ig  codd.  et  edd.)  eines  Lehrgedichtes  bei  Plutarch, 
Thes.  1,  und  in  dem  Vers  eines  dorischen  Lyrikers  bei  Plutarch,  de 
Et  Delph.  c.  20:  wxrug  diöräg  dsQvrj/.oio  §^  vjivov  xotQavog  (fort,  ze 
xoiQcirog  vjtvov)  sc.  AiScoi'svg,  den  Bergk  FLG.  fragm.  adesp.  92  aus 
einem  Threnos  Pindars  stammen  lässt.  Das  vorauszusetzende  idvdg 
aber   ist   gebildet    wie    dyvdg,  azvyvög,  azeyvog,  asfivdg  aus  aeßvog  u.  a. 

24* 


356  Sitzung  der  phUos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

der  Symmetrie  verlangt,  dass  sich  die  2  Adjektive  auf  die 
2  Substantive  verteilen,  und  dieses  um  so  mehr,  da  im 
Vorausgehenden  (V.  835)  nur  von  Bergen  im  Plural  die  Rede 
war,  hier  also  der  Einzelberg  näher  bezeichnet  werden  musste. 
Das  von  Mützell  gefundene  Iditviiq  dürfen  wir  aber  um 
so  unbedenklicher  herstellen,  als  sich  noch  Spuren  davon  in 
der  alten  Ueberlieferung  nachweisen  lassen.  Denn  von 
Pindar  abgesehen,  auf  den  wir  gleich  nachher  noch  kommen 
werden,  bezeugen  Eratosthenes  bei  Strabo  p.  23  und  Tzetzes 
im  Kommentar  zu  Lykophron  688  die  Lesart  Idixvrig.  Bei 
Tzetzes  steht  nicht  bloss  in  einigen  Handschriften  ^Itvrjg 
geradezu  im  Text  der  angeführten  Verse  des  Hesiod,  sondern 
ist  auch  diese  Lesart  unverkennbar  angedeutet  durch  die 
einleitende  Bemerkung  ereQOi  de  Tt]v  ^lAeXiav,  orcov  y.al  top 
TccpcZva  '/.Eqavvdi,  cbg  y.al  '^Hoiodog  cpr^oi.^)  Eratosthenes 
aber,  wenn  er  von  Hesiod  sagt,  dass  er  nicht  bloss  der  von 
Homer  genannten  Ortschaften,  sondern  auch  des  Aetna,  der 
Ortygia,  und  der  Tyrrhenen  gedenke,  kann  recht  wohl  be- 
züglich des  Aetna  unsere  Stelle  im  Auge  gehabt  haben.  ^) 
Möglich  ist  allerdings,  dass  in  unserem  Vers  zugleich  ein 
etymologisches  Spiel  steckt  und  dass  Hesiod,  indem  er  den 
Namen  des  Berges  ^l'vv)]  mit  dem  Adjektiv  alöi'og  in  Ver- 
bindung brachte,  den  unter  jenem  Berg  begrabenen  Typhon  als 


1)  Das  Scholion  des  Tzetzes  wird  auf  dasselbe  mythologische 
Kabelbuch,  vielleicht  des  Dionysios  Skythobrachion,  zurückgehen, 
aus  dem  die  iazogia  des  Scholiasten  B  zu  11.  B  783  genommen  ist, 
wo  es  auch  heisst,  6  de  (sc.  Zsvg)  xsgawwaag  Aixvtjv  to  ÖQog  (hvöfiaaev. 

2)  Sicher  ist  dieses  allerdings  nicht,  da  der  Aetna  auch  an  der 
andern  Stelle  des  Hesiod,  wo  das  Inselchen  Ortygia  vor  Syrakus  er- 
wähnt war,  vorgekommen  sein  kann.  Jene  andere,  zweifellos  unter- 
geschobene Stelle  möchte  man  in  den  Eöen  vermuten,  wenn  nur 
ihrer  die  Schollen  zu  Nem.  I  1  ä/^ijivsvfia  aeiÄvov  'AXrpf-ov  xXsiväv  Svga- 
xoaoäv  OäXoc;  'Oozvyla  gedächten.  So  scheint  jene  erotische  Erzählung 
von  der  Artemis  und  dem  sie  verfolgenden  AIpbeios  auf  den  Dichter 
Ibykos,  der  auch  an  jener  Steile  angeführt  ist,  zurückzugehen. 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechiftchen  Poesie.  357 

Ausgeburt  des  Hades  (l4idr^^)  bezeiehneu  wollte.  Wenigsteus 
haben  wir  sonst  keinen  Zeugen  für  die  aufgelöste  Form 
^iiTvr]^)  und  lä-sst  der  Scholiast  zu  Homer  IL  B  783  aus- 
drücklich den  Berg  davon,  dass  an  ihm  Typhon  von  Zeus 
erschlagen  wurde,  den  Namen  ^Xrva  erhalten.  Hesiod 
lokalisierte  also  die  Sage  von  dem  feuerspeienden  Riesen 
Typhon  in  Sikilien,  was  dann  die  Späteren  mit  der  alten 
homerischen  Sage  von  der  Behausung  des  Typhon  im  Lande 
Arima  auf  verschiedene  Weise  zu  vereinbaren  suchten.  Pindar, 
Aischylos,  ApoUodor^)  Hessen  den  Typhon  in  der  kilikischen 
Höhle  geboren,  im  Aitna  aber  erschlagen  und  begraben  sein. 
Der  Mythologe,  dessen  Historien  der  homerische  Scholiast 
folgte,  nahm,  offenbar  mehr  im  Geiste  des  Hesiod,  zwei 
Namen  desselben  Ortes  an  und  liess  den  Ort  Arima  nach 
Erschlagung  des  Typhon  von  dem  hadesgeborenen  Unge- 
heuer den  Namen  Hadesberg  {^Airvi]  von  ^Aidr^g)  erhalten. 
Jedenfalls  aber  wurde  der  Dichter  Hesiod  durch  einen 
bestimmten  Umstand  veranlasst  den  Kampf  des  Zeus  und 
Typhoeus  nach  Sikilien  und  dem  Berg  Aetna  zu  verlegen, 
und  der  war  gewiss  kein  anderer  als  die  Kunde  von  einem 
verheerenden  Ausbruch  des  Berges;  die  wird  er  aber  erst 
erhalten  haben,  nachdem  die  Griechen  nicht  bloss  ihre  Fahrten 
bis  nach  Italien  und  Sikilien  ausgedehnt,  sondern  auch  bereits 
festen  Fuss  in  Sikilien  gefasst  hatten.  Von  ganz  besonderer 
Wichtigkeit  aber  ist,  dass  es  die  der  böotischen  Heimat  des 
Dichters   benachbarten    Chalkidier    in    Euböa  waren,    welche 


1)  Dieselbe  wäre  geradezu  unmöglich,  wenn  der  Name  Attva 
wirklich  mit  dem  Verbum  aT^co  zusammenhinge. 

2)  Apollodor,  Bibl.  1.  6  hat  noch  viele  and&re  Stätten  herein- 
gezogen, indem  er  den  Typhon  von  Zeu.s  nach  Kasion  in  Syrien,  dann 
nach  Nysa,  Thrakien  und  schliesslich  nach  dem  Aetna  verfolgt  werden 
lässt.     Einfach  sagt  Ovid,  Fast.  IV  491: 

alta  iacet  vasti  super  ora  Typhoeos  Aetne, 
cuius  anhelatis  ignibus  ardet  humus. 


358  Sitzung  der  philos.-pJülol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

von  der  10.  Olympiade  oder  von  T3i]  v.  Chr.  an  die  ersten 
Kolonien  in  Sikilien  gründeten.  Diese  neuen  Siedler  von 
Naxos^)  und  Katane  also  werden  die  Schrecken  eines  Aetna- 
ansbruchs  bereits  erfahren,  und  die  Kunde  davon  nach  ihrer 
Mutterstadt  Chalkis  gebracht  haben,  von  wo  sie  dann  Hesiod, 
den  ja  auch  die  alte  Sage  mit  Chalkis  verkehren  lässt,'^) 
erhalten  haben  wird.  Die  Aufdeckung  dieses  Verhältnisses 
ist  aber  nach  mehreren  Seiten  von  ausserordentlicher  Wichtig- 
keit. Einmal  ersehen  wir  daraus,  dass  wenn  später  Pindar 
und  Aischylos  den  Ausbruch  des  Aetna  mit  dem  in  den 
Schlund  jenes  Berges  hinabgestossenen  Riesen  Typhon  in 
Verbindung  bringen,  sie  damit  keine  neue  Gedanken  in  die 
Poesie  einführten,  sondern  nur  den  Fusstapfen  des  alten 
Dichters  Hesiod  folgten.  Sodann  ist  mit  jener  Einsicht  der 
einzige  sichere  Anhaltspunkt  zur  Bestimmung  der  Lebenszeit 
des  Hesiod  gewonnen.^)  Denn  danach  kann  derselbe  nicht 
vor  Gründung  der  ersten  Kolonien  der  Chalkidier  in  Sikilien 
oder  nicht  vor  Ol.  10  oder  736  v.  Chr.  gelebt  haben.  Mit 
Recht  geht  davon  auch  der  neueste  Herausgeber  von  Hesiods 
Gedichten,  Aug.  Fick,  aus,  der  S.  4,  an  jene  Stelle  an- 
knüpfend,   des    weitern    noch    bemerkt:    Jedenfalls    verging 


1)  Thucyd.  VI  3:  'ED.rjvwv  8s  jiQonoi  Xakxi&fjg  i^  Evßoiag 
nXevnavTEg  ixera  OovxUov?  oixiarov  Nä^ov  cpxiaav  xai  'AnöXkoivog 
aQxtjysTov  ß<o(J.6v,  oarig  vvv  e'^co  zfjg  jioXewg  iariv,  iÖQvoavxo.  Euisebius 
aetzt  die  Gründung  Ol.  9,  4  oder  10,  4;  unbestimmter  gibt  das  Datum 
EphoroH  bei  Striibo  VI  p.  267  an. 

2)  Hesiod,  Erga  655  in  einer  interpolierten,  aber  die  Tradition 
der  Schule  des  Hesiod  widergebenden  Stelle. 

3)  Dabei  habe  ich  die  Echtheit  jener  Partie  der  Theogonie 
vorausgesetzt:  dieselbe  wird  freilich  von  Gruppe  und  teilweise  auch 
von  Srhöniann  Opusc.  II  340  tf.  verworfen;  aber  ich  urteile  mit  Wolf 
und  dem  neuesten  Herau.sgeber  Fick,  welche  in  unserer  Stelle  eine 
der  besten  und  grandiosesten  Partien  Hesiod's  anerkannten.  Die  Ein- 
fügung ist  freilich  nicht  ganz  tadellos,  auch  gibt  die  Form  Tvfpcoevg 
an  unserer  Stelle  neben  Tvqpdcov  Theog.  V.  306  zu  bedenken. 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  359 

mehr  als  ein  Menschenalter,  bis  Hesiod  den  Aetna  und  seine 
Ausbrüche  seinem  mittelgriechischen  Hörerkreis  so  geläufig 
glauben  durfte,  dass  er  seine  Farben  für  die  Schilderung 
des  Kampfes  zwischen  Zeus  und  Typhoeus  daher  entnehmen 
konnte. 

Der  Ausbruch  des  Aetna  im  Jahre  475  v.  Chr. 

Wir  kommen  zum  zweiten  oder  vorletzten  Ausbruch 
des  Aetna;  hier  müssen  wir  vor  allem  eine  chronologische 
Schwierigkeit  bereinigen.  Thukydides  sagt  an  der  ange- 
gebenen Stelle  III,  1 16,  der  zunächst  vorausgegangene  Aus- 
bruch habe  50  Jahre  zuvor  um  dieselbe  Jahreszeit  —  denn 
so  muss  offenbar  der  Zusatz  alorreg  xal  ro  ngoregov  ver- 
standen werden  —  stattgefunden,  also  im  Frühjahr  475. 
Dagegen  setzt  die  parische  Marmorchronik  Abs.  52  'to  rrvQ 
ixärj  •/.a.(^ov  iv  2iyv.eXia  tteqI  zr^v  ^Irvair^v  aqyovtog  ^d^r^vr]OL 
Bciv d^  17171  ov  denselben  Ausbruch  unter  den  Archon  Xanthippos 
d.  i.  Ol.  75,  2  =  479/8.1)  Welche  von  den  beiden  An- 
sätzen verdient  den  Vorzug,  oder  wie  können  dieselben  mit 
einander  in  Einklang  gebracht  werden?  Eine  Ueberein- 
stimmung  suchte  Krüger,  Ueber  das  Leben  des  Thukydides 
S.  65  durch  Conjectur  herzustellen,  indem  er  in  der  Thuky- 
didesstelle  7C€VTr^y.oOT<i)  (.Tce/HTTTcoy  Itsi  oder  ve  stei  statt 
v  erei  zu  lesen  vorschlug.  Die  Aenderung  ist  leicht  und 
ansprechend;  schade  nur.  dass  sie  keine  üebereiustimmung 
herbeiführt;  denn  nicht  um  5  sondern  um  3  oder  4  Jahre 
liegen  die  beiden  Daten  auseinander.  Böckh  Expl.  Find, 
p.  224  will  entweder  zum  weiten  Mantel  der  runden  Zahl 
50  seine  Zuflucht  nehmen,  oder  sich  mit  der  Annahme  helfen. 


1)  Flach  hat  in  seiner  Ausgabe  des  Marmor  Parium  damit  die 
Angabe  des  Eusebius  zu  Ol.  88,  3  =  426/5  ':>ivq  ex  zfjg  Ahvtjg  iv  roTg 
xaza  HixsXiav  tonoig  sQQvrf  zusammengestellt,  mit  Unrecht,  da  diese 
Notiz  offenbar  zu  dem  Erdbeben  des  Thukydides  im  Frühjahr  42o 
gehört. 


360  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mni  1888. 

dass  der  Ausbruch  mehrere  Jahre  lan<^,  vou  478  bi.s  475 
angedauert  habe.  Der  erste  Ausweg  ist  jedenfalls  sehr  be- 
denklich, da  die  Ungenauigkeiten  der  runden  Zahl  von  vorn- 
herein nicht  in  der  Art  des  Thukydides  liegen  und  der 
Gebrauch  der  Ordinalzahl  nevtri-KOOT^i  etei  statt  nevriq^ovra 
tteoLv  noch  mehr  der  Annahme  einer  beiläufigen  Zeitbe- 
stimmung entgegen  steht.  Eher  lässt  sich  die  andere  Erklärung 
hören,  dass  die  Eruption  mehrere  Jahre,  wie  das  ja  keine 
Seltenheit  ist,  angehalten  habe;  aber  auch  dann  bedürfte  es 
noch  der  Aufklärung,  warum  Thukydides  nicht  das  Jahr 
des  ersten  Hauptausbruches  gewählt,  sondern  ein  späteres 
des  noch  nicht  vollständig  zur  Ruhe  gekommenen  Vulkans 
vorgezogen  habe.  Lassen  wir  also  vorläufig  die  Ausgleichs- 
versuche  beiseite  und  fragen  wir,  wer  von  den  beiden  Ge- 
währsmännern den  Vorzug  verdiene.  Da  sprechen  nun  für 
Thukydides  nicht  bloss  das  Ansehen  des  Mannes,  sein  höheres, 
den  Ereignissen  näherstehendes  Alter,  die  Güte  seiner  Quelle 
in  sikilischen  Angelegenheiten,^)  sondern  auch  die  Fehler, 
welche  sein  Gegenpartner,  der  Verfasser  der  parischen  Marmor- 
chronik, nachweislich  in  der  sikilischen  Geschichte  jener  Zeit 
begangen  hat.  Da  heisst  es  nämlich  zu  478/7:  Ftltov  b 
Jeivoi.ievovg  (^^vQanovowvy  sTVQüvveraer.  während  thatsäch- 
lich  in  diesem  Jahr  Gelon  starb  und  sein  Bruder  Hieron  die 
Regierung   antrat,'^)    und  zu  472/1    '^Uqcov  ^vQ(xy.ovoiuv  hvq- 


1)  Diese  Quelle  war,  wie  wir  oben  bereits  bemerkten,  der  syra- 
kuaanische  Geschichtsschreiber  Antiochos;  aber  auch  von  den  Ein- 
wohnern des  Landes  mochte  er  über  den  Ausbruch  des  Aetna  Kunde 
haben,  da  die  Angabe  des  Timaios  in  Marcel linus.  vit.  Thucyd.  2.5, 
dass  er  während  seiner  Verbannung  in  Sikilien  gewesen  sei,  kaum 
ganz  auf  Irrtum  beruht. 

2)  Der  Antritt  der  Regierung  des  Hieron  in  Ol.  75,  3  =  478/7 
steht  fest  durch  Diodor  XI  38;  ob  derselbe  in  der  zweiten  Hälfte 
des  J.  478  oder  in  der  ersten  von  477  erfolgte,  hängt  von  der  Kontro- 
verse über  die  Regierungsdauer  des  Hieron  ab.  Aristoteles,  Polit. 
V   12  gibt  dieselbe  auf  1(J  Jahi'e  an:  Ezrj  ovd'  avzrj   (sc.  rj  tisqI  'IsQOiva 


r.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  ^61 

QcvvBvae,  während  thatsächlich  Hieron  schon  6  Jahre  zuvor 
Herr  von  Syrakus  geworden  war  und  in  diesem  Jahr  nur 
noch  nach  Besiegung  des  Thrasydaios  die  Herrschaft  von 
Akragas  und  Himera  hinzu  erlangte.  Müssen  wir  uns  also 
bei  dem  Zwiespalt  der  Ueberlieferung  für  eine  von  beiden 
Angaben  entscheiden,  so  werden  wir  uns  unbedenklich  auf 
Seite  des  Thukydides  stellen  und  demnach  den  Ausbruch  des 
Aetna  in  das  Frühjahr  475  setzen.  Möglicher  Weise  aber 
lässt  sich  die  Diskrepanz  auf  eine  andere  Weise  erklären, 
ohne  dass  wir  genötigt  sind  die  Treue  der  Marmorchronik 
ganz  zu  verwerfen.  Aus  Diodor  XI,  49  erfahren  wir  nämlich, 
da.ss  Hieron  476/5  die  Stadt  Aetna  gründete,  indem  er  dazu 
dorische  Kolonisten  aus  dem  Peloponnes  kommen  Hess:  '^legcov 
da  Toig  TS  NaSiovg  /.ai  rovg  Kaiavaiovg  i/.  xwv  ^loXeiov 
dvaöir^aag  idiovg  ol'/.i^roQag  drrsareiler,  e/.  uiy  neKo7iovvr^oov 
7iEVTuy.iay/kiovg  dö^Quioag,  Ik  dt  ^vqaxovoCor  alluvg  Toaovtovg 

xal  rf/.cova  xvQavvig)  JtokXä  öii/J-eirsv,  dX^ä  za  av/uzavza  SvoTv  öeovra 
eixoai.  rsko)v  fxev  yäg  sjTzä  zvoavvevoag  zcf>  oydooj  zov  ßiov  F.zElEvzrjaev, 
dexa  d'  'lEQOiv,  0Qaovßovlog  6'  Iv  zco  evdexdzco  fi^rjvi  e^etteosv.  Dagegen 
lässt  Diodor  XI  66  den  Hieron  11  Jahre,  XI  38  aber  11  Jahre 
8  Monate  regieren,  während  er  in  Bezug  auf  die  Regierungszeit  des 
Gelon  und  Thrasybulos  mit  Aristoteles  übereinstimmt.  Denn  die  des 
ersteren  setzt  er  wie  Aristoteles  auf  7  Jahre  (XI  38),  die  des  letzteren 
auf  rund  1  Jahr  an  (XI  66) ;  7  Jahre  gibt  dem  Gelon  auch  Eusebios- 
Synkellos.  da  das  überlieferte  FeIcdv  Svoaxovoio?  sxQaztjoEv  eztj  i^ 
unbedenklich  in  IV»;  C  zu  korrigieren  ist.  Es  kann  aber  Diodor  mit 
Aristoteles  in  Einklang  gebracht  werden,  wenn  man  die  11  Jahre 
der  zweiten  Stelle  aus  10  Jahren  8  Monaten  abgerundet  und  an  der 
ersten  das  überlieferte  ezi]  evöexa  xal  /btijvag  oxrcö  aus  szt]  dsxa  xal 
Hfjva?  öxzüi  verderbt  sein  lässt.  Dann  wäre  Hieron  im  Frühjahr  oder 
Frühsommer  477  zur  Regierung  gelangt.  Diese  Annahme  begünstigen 
auch  die  Zeugnisse  des  Hieronymus  und  des  Pindarscholiasten  zu 
P.  3  in.,  von  denen  der  erstere  den  Hieron  Ol.  75,  4,  der  andere  in 
der  76.  Olympiade  König  von  Syrakus  werden  lässt;  oder  sind  diese 
Zeugnisse  dahin  zu  deuten,  dass  Hieron  erst  später,  etwa  nach  dem 
Sieg  über  die  Tyrrhener  den  Königstitel  erhielt? 


362  Sitznnff  der  phiIos.-])hiIoL  Clasfte  vom  5.  Mai  1888. 

TrQoadsig  '  /.al  ri]>'  fxev  (.ieiiovof.iaoev  ^\rvtjv,  ttjI'  dt  y^ioqav 
ov  f.iüi'Ov  Tiqv  Kazaraüor^  ollcc  ycolXiqv  rr^g  6f.tüQ0v  nQuodeig 
Kat £'/,lT]Q0vxrjOE  (jivQiovg  7tXi]Qt6o(xg  olxr^TUQag.  tovto  ö'  i'/iga^e 
onevötüv  af.ia  f-isv  tysti'  ßui'i^eiav  f-roifirjv  d^ioloyov  yiQog  rag 
smovaag  XQslag,  cx(.ta  de  v.ai  £x  Tr^g  /.ivQiavÖQOv  nüXeiog  Ti/.t6g 
s'xeiv  i^gwiaccg.^)  Möglich  also,  dass  478,  wie  die  parische 
Marmorchronik  angibt,  die  erste  Haupteruption  des  Aetna 
stattfand,  dass  aber  auch  475  der  Berg  noch  rauchte  und 
dass  die  (lewährsniänner  des  Thukydides  dieses  2.  Datum 
hervorhoben,  weil  in  diesem  Jahr  y.ugleich  die  mit  dem  Aus- 
bruch des  Vulkan  in  A^erbindung  gebrachte  Gründung  der 
Stadt  Aetna  erfolgte. 

Der   Aetna   bei    Pindar   und   Aeschylos. 

Der  Ausbruch  des  Aetna  im  J.  475  und  die  damit  zu- 
sammenhängende Neugründung  der  Stadt  Aetna  sind  dadurch 
weltberühmt  geworden,  dass  sie  die  grössten  Dichter  jener 
Zeit,  der  thebanische  Lyriker  Pindar  und  der  attische  Tra- 
giker Aischylos,  in  ihren  Gedichten  verherrlichten,    der  eine 


1)  Ganz  mit  Diodor  stimmt  Pindar  P.  1  61  tf.: 

ay'  eneiz^  Aizvag  ßaoiXsl  (piXiov  e^svocoiiev  vfivov  ' 

Tfi)  noXiv  xei'vav  deobf.iäiq)  ovv  eXsvd^eQia  v 

'YkXiöog  orai?/ta?  'legcov 

ev  v6/j.oig  EXTiao\  e&sXovti  öe  IJafiqn'dov 

xai  fxav  'HgaxXeidäv  sxyoroi 

ox^aig  vjio   Tavysxov  vaiovzEg  ai- 

El  /.lEVElV   TE&HOlaiV  SV  Alyifiiov   AcoQiEig. 

Man  .sieht  daraus  zugleich,  wie  sich  Pindar  zum  Dolmfitsch  der 
politischen  Anschauungen  des  Hieron  hergab.  Denn  dieser  wollte 
offenbar  aus  Herrsucht  und  Stamraeseifersucht  an  Stelle  der  alten 
ionisch-chalkidischen  Kolonien  eine  neue  reindorische  Stadt  setzen,  die 
ihrem  neuen  Gründer  schon  wegen  der  Stanimesgemeinschat't  treu 
anhänge  und  sich  leichter  in  die  bei  den  Doriern  heimische  monar- 
chische Ordnung  füge. 


r.  Christ:  Der  Aetna  tn  der  griechischen  Poesie.  363 

in  der  1.  pytliischen  Siegesode,  der  andere  in  den  Tragödien 
Aitnaiai  und  Prometheus.  Es  knüpft  sich  aber  daran  eine 
Menge  verwickelter  Fragen  über  das  N'erhältnis  jener  Schilde- 
rungen zu  einander,  über  die  Zeit  des  Aufenthaltes  der 
beiden  Dichter  in  Syrakus,  über  die  Pythiadenrechnung, 
übur  die  Abfassungs/.eit  der  Gedichte  Pindars  und  Aischylos, 
so  dass  ich  in  Verlegenheit  bin,  womit  ich  beginnen  soll. 
Hören  wir  zuerst  die  beiden  Dichter  selbst.  Pindar  also 
geht  in  dem  1.  pythischen  Siegesgesang,  der  Perle  seiner 
Dichtungen,  von  der  Macht  des  Gesanges  aus,  dem  bezaubert 
die  Götter  des  Olympos  lauschen,  vor  dem  aber  die  Dämonen 
der  Finsternis  erbeben.  Repräsentant  der  Götter  des  Lichtes 
ist  ihm  Vater  Zeus,  unter  den  Feinden,  w^elche  die  obsiegende 
Gewalt  des  Allherrschers  fühlen  nmssten,  hebt  er  den  Typhoeus 
hervor  und  fährt  dann  fort: 

oaoa  öe  i^itj  7teq)iXr]/.E  Zevg  dztCovrai  ßoov 

nieuldoji'  d'CuvTa.  yäv  es  v.ai  jiövzov  xar'  d/Liai/iiay.eTO}', 

15  og  t'  6J'  alv^   TaoTä(jw  y.siiui.,   IHtov  noXti-uug, 
Tvcpwg  e-KaTovtaxdgavüg  '  zov  7(oze 
Kilr/.iov  d^Qtipev  ![oXliüvv(.wv  qvtqov  •  vvv  ye  /iiav 
Tai   1^'  V7C€Q  Kv(.iaq  dXiEq-A.lsg  öxif^cct 
2ixeXia  r'  avxov  nuKei  ozf-Qva  Xayvo.- 
EVTa,  ■/.lOH'  d'  ovQuvla  ovvtyei 

20  i'Kpöeoo'  ^Xzva,  nccvezeg  x^ovot;  o^eiag  ri^Tjra, 

tag  fQEvyuvTai  (.uv  djrXdzov  irvQog  ayvöraiai 
«X  (.ivywv  Tiayai  '   TCOTa/uot  d' 

df.iEQalaiv  jt/fV  nQoytovri  quov  -/.aicvov 
aXi}iov'  •  d)X   iv  OQcpra'iaiv  ruroag 
(foivioou  Av'Kivöoutva  (fXu^  ig  ßa^Ei- 

av  (fiQEi  növTOv  7cXdy.a  ovv  jtatdycj). 
25  xeIvo  ö'  l4(faiöZ0L0  y.govvovg  eqtzetÖv 

dEivozdroig   dvu7rei.i:i ei^    Tf'^at;   ji/fv    ifuvf.idoiov   7iQooiöeo^ai, 

O^avfAa  de  yal  Jtaq'  löorrwp  daovoai, 


364  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

oiov  AYxvag  ev  j.tEXaijrfvXloig  deÖETai  xoQifpalg 
Y.ai  7160(0,  GiQt(Ji.ivd  di  yagoa- 

aoia'  anav  vwtov  noTrKeyilii^evov  aevieI. 
EU],  Zev,  riv  Eirj  ävdävEiv, 
30    og  TOtr'  icpenEig  oQog,  evk6q7ioio  yai- 
ag  jLitTOJTtov,  Tov  {.itv  E7ca)vv(xiav 
■KXELVog  oiMorriQ  ey.vöavsv  nokiv. 

So  weit  Pindar.  Von  Aischylos  Tragödie  Aitnaiai, 
welche  nach  dem  Biographen  des  Dichters  speciell  auf  die 
Gründung  der  Stadt  Aetna  gedichtet  war/)  sind  uns  nur 
ein  paar  Verse  und  nichts,  was  sich  auf  den  Aetna  bezieht^ 
erhalten.  Aber  im  Prometheus,  der  Feuertragödie,  bei  der 
dem  Dichter  die  zerstörende  Macht  des  entfesselten  und  die 
segenbringende  Kraft  des  beherrschten  Elementes  vorschwebte, 
kommt  Aischylos  nochmals  auf  den  Ausbruch  des  Aetna 
zurück,  indem  er  den  von  Zeus  an  den  Felsen  angeschmiedeten 
Prometheus  ähnliche  Beispiele  tyrannischen  Uebernmtes  des 
neuen  Weltherrschers  anführen  lässt.  Dort  also  fährt  er 
nach  Erwähnung  des  den  Himmel  tragenden  Atlas  also  fort: 

Tov  yriyEvy^  %E  KlIla-icov  oiynjTOQa 
ovTQwv  IdciJv  wATEiQa,   öaiov  TtQag^ 
S}iaToyyi(xQavov  nqog  ßiav  x^iqov^evov 

370     Tvffwva   ^ovQov,   /iccOL  d'  dvTe.ari]^)   OEolg, 
afXEQÖvaioL  ya^tfrjXaioL  ovQtQiov  cpoßov ' 
E^  ofXfxÖTiov  ()'  r^OTQaiiTE  yoqyiO'nov  af.Xag, 
log  Trjv  Jiog  rvQavvid''  sycnegotov  ßi(je, 
cfAA'  rjX^EV  at'Tf^^  Zi]vdg  ayqvnvov  ßiXog 

375    /.aTuißÖTtjg  AEQUvvog  tY.;ivtit)v  cfXoya, 

1)  Vit.  Aesch.:  fl&wv  zoivvv  ri?  ZixeXiav  'Ifqmvo?  röte  ATtvrjv 
xTi'CovTog  EJiFfiei^azo  rag  Ahvcung  oiconCö/if^rog  ßlov  äyaüov  xolg  ovvoi- 
xovoi  r.rjV  nöXiv. 

2)  So  habe  ich  mit  Hermann  statt  des  falschen  näaiv  Sg  avxsarr) 
der  Handschriften  geschrieben. 


r.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  365 

og  avTOv  e^67cXt]^£  twv  vilirjyoQtov 
'/.0/n7ra0f.iaT(üv.   (pQtrag  yaQ  elg  aicdg   iv/ieig 
^q^eif'alwiJtj  ■/.dS.eßQovcr^'f^t]  oO^tvog  ' 
'/.ai.   vir  axQEiov  xat  jcagooQOv  Öf-f-iag 

380    Ksltai  orEVi07tov  JtkrjOiov  ^aXaooiov 
onovf.ievog  qitaLOiv  Alrvaiaig  v/co, 
'/.OQvq^aJg  d'  sv  dxQaig  rji-ievog  i.ivÖQoy.cu/r€l 
Hq>aiotog.  evifey  iyiQayi^Goviai  nore 
yroiauol  yriQog  dämovceg  dygiaig  yydO^oig 

385    rf^c;  y(.aXXr/.dQ7cov  ^ixeklag  XsvQOtg  yvag. 
voiövöe  Tvcpiug  s^avaUeoei  xoXov 
i}EQ(.io~ig  diiXärov  ßeXeoi  /tvQirvöov  udXrjg, 
y.alneQ  y.egavro)  Zip>6g  r^vijQa'Aioutvog. 

Liest  man  beide  Schilderungen  nebeneinander,  so  be- 
kommt man  sofort  den  Eindruck,  dass  beide  von  einander 
abhängig  sind.  Den  Gedanken  in  dem  Berge  Aetna  das 
Lager  des  zeusbezwungenen,  feuerspeienden  Giganten  Typhos 
zu  erblicken,  können  zwar  beide  aus  derselben  Quelle,  der 
Theogonie  des  Hesiod  entnommen  haben.  Aber  es  sind 
andere  Züge,  die  dem  Pindar  und  Aischylos  gemeinsam  sind 
und  die  sich  bei  Hesiod  noch  nicht  finden :  da  heisst  Typhos 
f/.aT  oviayiaQavog  bei  Pindar  V.  IG  und  bei  Aischylos 
V.  369,  während  Hesiod  V.  825  nur  von  ey.atdv  xeq^aXal 
0(fiog  spricht;  da  wird  bei  Pindar  und  Aischylos  und  zwar 
mit  demselben  Ausdruck  die  kilikische  Grotte  als  die  ur- 
sprüngliche Behausung  des  Riesen  bezeichnet,  während  sich 
bei  Hesiod  noch  gar  keine  Andeutung  von  diesem  Verhältnis 
findet;  da  spielen  endlich  bei  beiden  in  der  Schilderung  des 
Ausbruchs  der  Gott  Hephaistos^)  und  die  Feuerströme  {iiozai-ioi 


1)  Das  f^ivÖQoxTVJTEt  "Hq?atarog  Prom.  382  lebte  dann  fort  bei  den 
Lateinern,  wie  bei  Horaz  Od.  T  4,  8,  der  den  feierspeienden  Berg 
zur  Flsse  des  Vulkan  und  seiner  Kyklopen  macht. 


366  Sitzung  der  jMlns.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

jrvQog  a7tX6xov  Pind.  21  f.  und  Prom.  384  u.  387)  eine  Rolle. 
Eine  solche  Uebereinstimmuno-kann  nicht  Zufall  sein;  hier  muss 
entweder  Aischylos  den  Pindar,  oder  umgekehrt  Pindar  den 
Aischylos  vor  Augen  gehabt  haben;  wer  den  Vorgang  habe, 
wage  ich  nicht  mit  Zuversicht  /u  behaupten,  zumal  ich  selbst, 
der  ich  die  beiden  Stellen  wiederholt  verglich  und  auch  vor 
3  Jahren  die  Kontroverse  im  philologischen  Seminar  /Air 
Besprechung  brachte,  nicht  immer  zum  gleichen  Schluss  kam. 
Darüber  zwar  lässt  sich  leicht  Uebereinstimmung  erzielen, 
dass  in  der  Kunst  der  Schilderung  dem  Pindar  die  Palme 
gebühre:  Aischylos  führt  mehr  nur  in  epischer  Breite  nach 
Hesiod's  Vorbild  den  Kampf  des  Zeus  mit  dem  Riesen  Typhos 
aus;  Pindar  hingegen  schildert  ungleich  anschaulicher  mit 
lebhafteren  Farben  und  in  grossartigeren  Bildern  die  ge- 
waltige Naturerscheinung  selbst,  die  imposante  Landschaft 
des  schneebedeckten,  mit  schwarzen  Kieferwäldern  bewach- 
senen Berges  Aetna,  die  aus  dem  Krater  aufsteigenden  Rauch- 
wolken, die  in  dunkler  Nacht  unter  gewaltigem  Prasseln  in 
das  Meer  geworfenen  Felsblöcke.  Auch  ist  es  gerade  nicht 
geschickt  von  Aischylos,  dass  er  den  Heph aistos  oben  auf 
den  höchsten  Gipfeln  die  Eisen massen  hämmern  lässt;  des 
Hephaistos  Esse  gehört  in  die  Tiefe  des  Berges,  und  weit 
besser  lässt  Pindar  den  Typhos  die  Quellen  des  Hephaistos 
aus  den  Eingeweiden  des  Berges  in  die  Höhe  senden.  Nur 
in  einem  Punkt,  in  Bezug  auf  die  notaf-iol  nvQog  war  Pindar 
weniger  glücklich :  Aischylos,  dessen  Feuerströme  die  Fluren 
Sikiliens  mit  wildem  Zahne  zerstören,  spricht  ganz  in  unseren 
Anschauungen,  da  ja  auch  wir  und  selbst  in  gewöhnlicher 
Rede  von  den  Lavaströmen  und  dem  zerstörenden  Zahn 
sprechen;  Pindar  dachte  sich  die  Feuerströme,  welche  bei 
Tag  die  Rauchwolken  aus  dem  Krater  entsenden,  im  Innern 
des  Berges,  er  blieb  hier  bei  derselben  Vorstellung  von  den 
finsteren  Strömen  der  Unterwelt  stehen,  die  er  in  einem 
Threnos    bei    Plutarch,    De    occulte    viveudo   c.   7  ausspricht: 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  firiechischen  Poeftie.  367 

t]  de    TQin,    Tojv  avoöuoq   ßeßuoAorioi'    vmI    naQavo^uov    ödog 
Huir  ek  tgeßoi;  re  y.ai  ßaQcti^Qor  wi}oioa  rag  ifiixag 

trd^ev  Tor  queiqov  fQEvyoviai  oaotov 

ßXrj^Qoi  dvoffeoäg  vvKtog  TTorauoi. 

Aber  wenn  nun  auch  in  diesem  einen  Punkt  Aischylos 
einen  glücklicheren  Griff  gethan  hat,  so  bleibt  es  doch  dabei, 
dass  Pindar  lebensvoller  und  anschaulicher  das  gewaltige 
Naturereignis  schildert  und  dass  er  demnach  wohl  auch,  als 
er  die  1.  pythische  Ode  dichtete,  dem  Ausbruch  des  Aetna 
näher  stund  als  Aischylos.  Sehen  wir  uns  indes,  ehe  wir 
uns  fester  entscheiden,  zuerst  noch  die  anderen  Verhältnisse 
unserer  beiden  Dichter  näher  an. 

Die   Dichtkunst  am   Hofe  des   Hieron. 

Die  Tyrannen  in  Syrakus  haben  auf  gleiche  Weise,  wie 
die  Pisistratiden  in  Athen,  Polykrates  in  Samos  und  später 
Augustus  in  Rom,  den  Glanz  ihrer  neubegründeten  Herr- 
schaft durch  Förderung  der  Künste  des  Friedens  und  Be- 
rufung von  Dichtern  an  ihren  Hof  zu  heben  gesucht.  Gelon, 
der  erste  und  tüchtigste  der  Söhne  des  Deinomenes,  der 
Gründer  der  Dynastie,  war  noch  zu  sehr  durch  kriegerische 
Verwicklungen,  durch  die  schweren  Kämpfe  gegen  seine 
Rivalen  in  Sikilien  und  gegen  die  Macht  der  Karthager  in 
Anspruch  genommen,  als  dass  ihm  viel  Müsse  für  Feste  und 
dichterische  Spiele  übrig  geblieben  wäre.  Nur  den  Epi- 
charmos,  den  geistreichen  Komödiendichter,  scheint  er  gleich 
nach  Begründung  seiner  Herrschaft  nach  Syrakus  gezogen 
zu  haben.  Denn  bei  Suidas  unter  Epicharmos  lesen  wir, 
dass  derselbe  6  Jahre  vor  den  Perserkriegen,  also  um  die- 
selbe Zeit,  in  welcher  Gelon  zur  Herrschaft  in  Syrakus  ge- 
langte,^)   Komödien    in    Syrakus    zur    Aufführung    brachte. 

1)  Nach  den  oben  S.  360  An.  2  beigebrachter  Zeugnissen  ist  Gelon 
über  7  .Jahre  vor  478/7,  also  485/4  zur  Herrschaft    von    Syrakus    ge- 


368  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Glänzender  gestaltete  sich  der  Hofhalt  unter  der  Regiernnff 
seines  Bruders  und  Nachfolgers  Hieron.  Zwar  ganz  friedlich 
war  auch  dessen  Regierung  nicht,  zumal  derselbe  bei  seinem 
argwöhnischen  und  heimtückischen  Wesen  mancherlei  innere 
Kämpfe,  wie  mit  seinem  Bruder  Polyzelos  herbeiführte  und 
bei  auswärtigen  Streitigkeiten  allerorts,  in  Lokris,  Sybaris, 
Messana,  Kyme,  den  intorventionslustigen  Schiedsrichter  zu 
spielen  liebte.  Aber  in  der  Hauptsache  war  doch  seine 
Herrschaft  bereits  fest  gegründet  und  hinderte  Waffengeklirr 
nicht  die  Entfaltung  friedlicher  Künste  in  der  Hauptstadt 
Syrakus  und  in  Aetna,  der  neugegründeten  Residenz  seines 
Sohnes  Deinomenes.  ^)  Dazu  kam,  dass  der  König  durch 
ein  Steinleiden  gehindert  wurde  an  den  kriegerischen  Expe- 
ditionen persönlich  teilzunehmen  und  dafür  um  so  mehr  die 
musischen  Künste  und  den  Verkehr  mit  Dichtern  und  Weisen 
liebte.  Pindar  besingt  in  der  1.  olympischen  Ode  V  15  ff. 
seinen  Ruhm  in  der  Pflege  des  poetischen  Spiels;  Plutarch, 
Apophtheg.  reg.  p.  175,  erzählt  von  witzigen  Aussprüchen 
des  Königs  gegenüber  dem  Philosophen  Xenophanes  und  dem 
Komiker  Epicharmos;^)  Xenophon  lässt  ihn  mit  Simonides 
in  dem  danach  benannten  Dialog  über  die  Vorzüge  des  Lebens 
eines  Privatmannes  vor  dem  eines  Tyrannen  disputieren. 
Entsprechend  dieser  seiner  Neigung  für  äusseren  Glanz  und 
musisches   Spiel    sandte    er    sein    Rennpferd    Pherenikos  und 

lan^t;  Eusebius-Hieronymus  setzt  den  Regierungsantritt  schon  a.  Al)r. 
1529  =  487  V.  Chr.  Der  Irrtum  des  Pausanias  VI  9,  5,  welcher  den  Beginn 
der  Herrschaft  von  Gela  mit  der  von  Syrakus  verwechselt,  geht 
vielleicht  auf  Polemon  zurück,  der  ein  eigenes  Buch  gegen  den  siki- 
lischen  Historiker  Timaios  geschrieben  hatte. 

1)  Bei  Pindar  P.  1,  60  heisst  der  junge  Deinomenes  mit  offi- 
ciellem  Titel  Ähvag  ßaadevg. 

2)  ÜQog  de  SEVoq)dvr]v  tov  Ko?.o<pü)viov  siTiövra  fioXig  olxhag  ovo 
TQe<psiv,  dW  "OfttjQog,  elnsv,  dv  ov  diaavgsig,  nXeiovag  t}  /iVQiovg  TQe<p£i 
Te{ht]xwg.  'Emxaofiov  de  tov  xoinqidonoiov  Sti  xfjg  yvvaixög  avrov  Jia- 
uovotjg  ehie  n   töJv  djiQeJiüiv,  i^tj/iiojaev. 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  369 

und  sein  Wagengespann  nach  Theben,^)  Delphi,  Olympia, 
um  vor  den  versammelten  Festgenossen  als  Sieger  prokla- 
miert zu  werden.  In  gleicher  Absicht  veranstaltete  er 
glänzende  musikalische  und  poetische  Aufführungen  in  Syrakus 
und  erliess  an  die  gefeiertesten  Dichter  Einladungen  zu 
seinem  Hof.  Am  frühesten  entsprach  der  Einladung  und  am 
längsten  verweilte  an  seinem  Hof  Simonides.  Zum  ersten 
Mal  treffen  wir  ihn  sicher  in  Sikilien  im  Winter  476/5. 
Im  Frühjahr  dieses  Jahres  weilte  er  noch  in  Athen,  wo  er 
unter  dem  Archon  Adeimantos  (477/6)  mit  einem  Dithy- 
rambus, vermutlich  an  den  Dionysien,  siegte,  was  er  selber 
durch  ein  Epigramm,  Fragm.   147,  bezeugt: 

i]qx^^    ^-AÖEifAavxog  {.liv  l4drivaloig,  or'   tvUa 
^AiTioyig  (fvlrj  daiddkeov  tqItioÖu  ' 

Seivo(fllov  dt  TÖy  viog  ^AQiOTeidrjg  kxoqriyEL 
TzEvir^/.ovT''   üvÖQcbv  -/.ald   Liad-övxL  yoqto  ' 

dürft  öiöao/.a)Jr]  d-e  ^iiuojvidi]  taiiETO  -/.löog 
oydcoy.ovzaiiEi  Jtaidi  uiEOinQEneog. 

Unter  dem  folgenden  Archon,  unter  Phaidon  Ol.  76,  1 
=  476/5  V.  Chr.  brach  nach  Diodor  Xt  48  der  Streit  des 
Hieron  mit  seinem  Bruder  Polyzelos  aus,  der  um  den  Nach- 
stellungen des  Hieron  zu  entgehen,  zu  seinem  Schwieger- 
vater Theron,  dem  Herrn  von  Akragas,  flüchtete,  in  Folge 
dessen  ein  Krieg  zwischen  Hieron  und  Theron  zu  entbrennen 
drohte,  indem  zugleich  die  Himeräer  die  Gelegenheit  be- 
nützten, um  das  Joch  des  Thrasydaios,  des  tyrannischen 
Sohnes  des  Theron.  abzuschütteln.  Der  Streit  wurde  jedoch 
beigelegt,  so  dass  die  Himeräer  das  Strafgeld  zu  zahlen  be- 
kamen;   derjenige    aber,    welcher    die    Aussöhnung    zwischen 


1)  Irrtümlich  oder  ungenau  ist  die  Angabe  des  Aelian  V.  H.  5,  9 
and  Plutarch  Themist.  26,  dass  Themistokles  den  Hieron  gehindert 
habe  an  den  Wettkämpfen  zu  Olympia  teilzunehmen  ;  siehe  darüber 
Duncker,  Gesch.  d.  Alt.  n.  F.  I  52  An.  1. 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  GL  3.  25 


370  Sitzung  der  iMlos.-pMol.  Classe  vom  5.  Mai  1SS8. 

Theron  und  Hieron  vermittelte,  war  Simonides,  wie  uns 
Didymos  zu  Find.  0.  2,  29  nach  Timaios  berichtet.^)  Das 
wird  aber  im  Spätherbst  oder  Winter  476  gewesen  sein,  da 
in  demselben  Jahr  Diodor  noch  die  Vernichtung  der  Naxier 
und  Katanäer  und  die  Neugründung  von  Aetna  erwähnt, 
welche,  wie  wir  oben  sahen,  nach  dem  Ausbruch  des  Aetna 
im  Frühjahr  oder  Sommer  475  stattfand.  Siraonides  starb 
i.  J.  468  kurz  vor  Hieron  und  erhielt  vor  den  Thoren 
von  Syrakus  sein  Grab.  Ob  er  die  ganze  Zeit  über,  von 
476  bis  468  in  Syrakus  weilte,  und  ob  er  nicht  schon  einmal 
vor  476  in  Sikilien  war,  darüber  sind  wir  auf  blosse  Ver- 
mutungen angewiesen.  Im  Gefolge  des  Simonides  befand 
sich  auch  in  Syrakus  sein  Schwestersohn,  der  Lyriker  Bak- 
chylides;  beide  zusammen  bezeichnet  Pindar  0.  2,  95  mit 
unverdienter  Geringschätzung  als  kreischende  Raben,  während 
er  sich  dem  hochfiiegenden  Aar  vergleicht:  (.taOövzEg  de  laßgol 
7cayyhüoola  ■/.OQay.sg  log  a%Qavta  yaQverov.^)  Ausser  Simo- 
nides und  Bakchylides  zog  nun  aber  Hieron  noch  den  ge- 
priesensten  Siegesliederdichter  Pindar  und  den  grössten 
Tragiker  seiner  Zeit  Aischylos  an  seinen  Hof,  und  von  beiden 
sind  wir  so  glücklich  noch  Verse  und  Gedichte  zu  haben, 
die  sich  auf  ihren  silikischen  Aufenthalt  beziehen,  während 
uns  von  den  beiden  andern  so  gut  wie  nichts  erhalten  ist.  ^) 


1)  Schol.  arb  Pind.  O.  2,  29:  q^aal  yog  rore  2ifi(ovihi]v  rov  Xvqi- 
xov  jisgiTV^oPTu  (iiakvaai  roTg  ßaailEvoi  ri/v  Fyßgav.  Das  Scholion  des 
Didymos  liegt  uns  in  2  Fassungen  vor,  welche  sich  gegenseitig  er- 
gänzen. Diodor  sagt  uns  nichts  von  der  Vermittlerrolle  des  Simo- 
nides, und  weicht  auch  sonst  in  Nebensachen,  bezüglich  der  Ent- 
zweiung des  Hieron  und  I'olyzelos  von  Didymos  ab;  um  so  wertvoller 
ist  es  uns,  dass  Didymos  sich  ausdrücklich  auf  Timaios  als  seine 
Quelle  beruft. 

2)  Schol.  ad.  Pind.  0.  2,  155:  aivkxEzai  ßaxxvXi(')ijv  xal  ^i/ico- 
vifirjv,  savrov  ki-yoiv  aeröv  xoQuxag  Se  xovg  avtiTF.yvovi;. 

3)  Wir  sehen  nur  aus  Schol.  Pind.  Isth.  2,  dass  Simonides  einen 
Sieg    des    Xenokrates   in    der   24.    Pythiade    (494    v.    Chr.)   in    einem 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  371 

Aischylos  in   Sikilien. 

Ueber  die  Beziehungen  des  Aischylos  zu  Hieron  haben 
wir  folgende  4  Zeugnisse: 

1)  Pausanias  I  2,  3:  eg  2vQa-/.ovaaq  fTQoq  'leqiova  AIg- 
yvXoq  y.al  ^lucopidijg  iorakrjOav. 

2)  Vita  Aeschyli  c.  8 :  elS^uiv  roivvv  slg  2iy.eXiav  '^ÜQiovog 
TOTS  ^l'zi'r^v  '/.ritovTog  snedel^aTO  rag  ^Izvaiag  ouovitofxevog 
ßiov  dyad^ov  zölg  owoivÄLovoi  ttjv  7toXiv. 

3)  Schol.  ad  Arist.  Ran.  1028:  '^HgoöiKog  öa  cpr^oi  öirrag 
yeyoi'ivai  zag  -/.ad^toeig  (d.  i.  Aufführungen  der  Perser)  /ml 
zi]v  ZQayojdlav  Tavztjv  tceqlIxeiv  rijV  ev  lHazaimg  f^ioyjjV. 
öoxovoi  Ö€  ovzoi  o\  Ilegoai  vrco  tov  ^loxiXov  dedidaxOcii 
sr  ^iQa/.oioaig  o.iovddoavTog  '^liQcovog,  wg  q)rjOir  EQazooi^evt]g 
fv  /  Tzegi  /.iOLUtjöiöJv.  Vgl.  Vit.  Aesch.  16:  cpaolv  ino 
'JiQtüi'og  dBuü^ei'za  draöidä^ai  zovg  Jläqoag  ev  ^r/.eXia  /.ai 
Xiav  Ev6o/.i{.iEiv. 

4)  Aischylos  Proui.  367 — 388  in  der  oben  bereits  aus- 
geschriebenen Schilderung  der  Eruption  des  Aetna  von  475.^) 

Enkomion  besang,  aber  nicht  unmittelbar  nach  jenem  Siege,  da  er 
in  dem  Loblied  auch  den  späteren  Sieg  des  Xenokrates  an  den 
Isthmien  verherrlichte.  Ausserdem  dichtete  er  Siegeslieder  für  Anaxilas, 
den  Tyrannen  von  Messana  und  Rhegion  (gest.  476),  und  für  Astylos 
aus  Kroton,  wovon  uns  einige  Verse,  Fragm.  7  u.  10,  erhalten  sind. 
Bakchylides  dichtete  wahrscheinlich  das  Epinikion  für  den  Wagen- 
sieg des  Hieron  Ol.  78  =  468,  aus  dem  uns  der  Scholiast  zu  Find. 
0.  1  in.  die  auf  den  Sieg  von  Ol.  77  =  472  bezüglichen  Verse  er- 
halten hat: 

EavdÖToixov  fiiiv   <PeQerixo%' 
'A/.CfEor  nag'  Evgvdirar  7tü))..ov  uelloSgöfiov 
Eids  viy.äaavxa. 
1)  Die  Nachricht  vom  Tode  des  Aischylos  in  Sikilien  und  über 
sein  Grab  bei  Gela   lassen   wir   ausser    Betracht,    da    damals    Hieron 
bereits  tot  war,  ebenso  die  Nachrichten  über  das  Vorkommen  sikilischer 
Wörter  bei  Aischylos,  worüber  die  Zeugnisse  bei  Fr.  Scholl,  De  Ae- 
schyli vita  testimonia,  in  Ritschl's  Ausgabe  der  Sieben  p.  11  f. 

25* 


372         Sitzung  der  iMlos.-pkilol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Von  diesen  4  Zeugnissen  ist  uns  am  wenigsten  mit  dem 
ersten  gedient ;  man  könnte  zwar  versucht  sein  aus  demselben 
zu  schliessen,    dass    Aischylos  zur  Zeit,    wo   bloss  Simonides, 
nicht  auch  Pindar  bei  Hieron  weilte,  nach  Sikilien  gekommen 
sei;    aber  abgesehen  davon,    dass  auch  damit  nur  wenig  ge- 
wonnen wäre,  ist  die  Berechtigung  zu  einem  solchen  Schluss 
doch    äusserst   zweifelhaft.     Pausanias  folgte  an  jener  Stelle 
wahrscheinlich  einfach  dem  Plutarch,  de  exilio  p.  604  e,  der, 
nachdem  er  den  Tod  des  Aischylos   fern  von  der  Heimat  in 
Sikilien  erwähnt  hatte,  einfach  fortfährt:   xat  yoQ  ovzog  elg 
2r/.£liav    d/iiJQE    yial    ^if.io}vidr]g    ttqÖteqov.     Der    Aufenthalt 
des    Simonides   am    Hofe   des   Hieron   war   eben  weitaus  der 
bekanntere  und  wahrscheinlich  auch  einflussreichere,  weshalb 
auch  schon  Xenophon  den  Hieron  mit  Simonides,    nicht  mit 
Pindar  disputieren  Hess.     Von  den  übrigen  Zeugnissen  wider- 
sprechen sich  das   zweite    und    dritte.     Geht   man    von    dem 
Wortlaut  des  zweiten,  namentlich  von  dem  Präsens  xrl^ovrog 
rr^v    ^Xrvav   ""Itgcovog    aus,    so    wird    man    auf    die    Zeit    der 
Gründung    der    Stadt  Aetna,    also    auf   475  v.  Chr.  geführt, 
und    dafür    entscheiden    sich    die    meisten  Forscher.^)     Aber 
damit  lässt  sich  das  3.  Zeugnis  nicht  vereinbaren;  denn  wir 
wissen  aus  den  Didaskalien,    dass  die  Perser   472    in    Athen 
auftreführt    wurden,    so   dass    also   ihre  Wiederaufführung  in 
Syrakus  erst  nach    472    erfolgen    konnte.     Auf   den    letzten 
Aufenthalt    des    Aischylos  in  Sikilien   dürfen  wir  aber  nicht 
herab    gehen,    da    dieser    nach    der    Aufführung    der    Orestie 
(458),  also  erst  nach  dem  Tode  des  Hieron  (4()6),  der  doch 
jene    Wiederaufführung    der    Perser    in    Syrakus    veranlasst 
haben  soll,  erfolgt  ist.      Es  bleil)t  also  nichts  übrig,  als  ent- 
weder 2,  oder  im  Ganzen  3  Reisen  des  Aischylos  nach  Sikilien 


1)  Wilamowitz,  Herin.  21,  611  setzt  die  Heise  476,  jedenfalls 
um  1  .Jahr  zu  früh.  Ich  sellist  l)in  in  meiner  (Jriechischen  Litteratur- 
geschichte  noch  der  hernschenden  Meinung  gefolgt. 


V.  Chritit :  Der  Äet)ia  in  der  griechischen  Poesie.  373 

anzunehmen,  etwas  -was  doch  des  Guten  zu  viel  sein 
dürfte,  oder  die  Hichtigkeit  des  einen  der  2  Zeugnisse  zu 
bestreiten.^)  Es  liegt  nun  allerdings  nahe  das  3.  Zeugnis 
zu  verdächtigen,  wie  unter  anderen  Wecklein  thut,^)  da 
in  dem  betreifenden  Scholiou  vieles,  wie  namentlich  die 
Annahme  einer  zweiten  Bearbeitung  der  Perser,  auf  faden- 
scheiniger Vermutung  beruht,  die  dadurch  veranlasst  war, 
dass  die  Grammatiker  die  von  Aristophanes  in  den  P^-öschen 
1028  f.  angedeuteten  Worte  in  ihren  Persern  so  wenig  wie  wir 
in  den  unseren  fanden.^)  Aber  wenn  auch  die  Grammatiker, 
welche  die  Schwierigkeiten  der  aristophanischen  Stelle  mit 
der  Annahme  zu  lösen  versuchten,  dass  die  von  Aristophanes 
angedeuteten  Worte  in  den  zweiten,  in  Syrakus  aufgeführten 
Persern  gestanden  wären,  einem  leeren  Phantom  nachgingen, 
so  darf  doch  deshalb  noch  nicht  die  Richtigkeit  der  durch  die 
Autorität  eines  Eratosthenes  verbürgten  Nachricht  von  der 
Aufführung  der  Perser  in  Syrakus  angezweifelt  werden. 
Umgekehrt  wären  die  Grammatiker  auf  jene    Ausflucht   gar 


1)  Ein  dritter  Weg,  den  Holm,  Gesch.  Siciliens  I  231  einge- 
schlagen hat,  nämlich  dass  die  Perser  zuerst  in  Syrakus  und  dann 
erst  in  Athen  aufgeführt  worden  seien,  scheint  mir  denn  doch  zu  be- 
denklich. 

2)  Wecklein,  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  der  Perser  S.  37: 
daraas  ergibt  sich  deutlich,  dass  jene  Notiz  nicht  einer  zuverlässigen 
Ueberlieferung,  sondern  nur  einer  Schlussfolgerung  aus  der  Stelle  des 
Aristophanes,  Ran.  1028  f.  entstammt. 

3)  Auch  die  Ausflucht  des  Herodikos  ['Hgodtxog  8e  fprjoi  öirzäg 
yeyovEvai  rag  xadeasig  aal  xijv  xoaycoölav  zavxtjv  .teoisyeiv  rijv  ev  IlXa- 
zaiaTg  fidxfjv)  enthält  Falsches  mit  Wahrem  gemischt,  da  die  Schlacht 
bei  Platää  nicht  in  einer  zweiten  Bearbeitung  der  Perser,  sondern  in 
dem  3.  Stück  der  Trilogie,  in  dem  Glaukos  Potnieus,  der  bei  Anthedon 
in  Böotien  spielte,  vorgekommen  sein  wird.  Freilich  Jul.  Schöne - 
mann  Rh.  M.  42,  470  glaubt  es  dem  Herodikos,  dass  in  der  2.  Be- 
arbeitung der  Perser  Platää  an  die  Stelle  von  Salamis  getreten  sei 
und  dass  es  in  dem  von  Aristophanes  citierten  Verse  geheissen  habe 
^sQt  MagSoviov  redvEcörog  statt  tieqI  Aagscov  ts^^ecötos. 


374  Sitzung  der  i)hilos.-phüos.  Clas.se  vom  5.  Mai  1888. 

nicht  gekommen,  wenn  sie  nicht  ans  anderen  Zeugnissen 
gewusst  hätten,  dass  Hieron  den  Ainchylos  veranlasste,  seine 
Perser  nochmals  im  Theater  von  Syrakns  aufzuführen.  Denn 
dass  Aischylos  in  eigener  Person  die  Aufführung  in  Syrakus 
leitete,  und  dass  nicht  Hieron  die  Perser  durch  einen  andern 
aufführen  liess,  setze  ich  als  selbstverständlich  voraus.  Eben- 
so sicher  dürfte  es  sein,  dass  Aischylos  nicht  die  Perser 
allein,  sondern  zugleich  die  andern  damit  verbundenen  Stücke 
der  Trilogie  in  Syrakus  zur  Aufführung  brachte,  zumal  in 
dem  Glaukos  Potnieus  auf  den  Ruhm  der  Schlacht  bei 
Himera  angespielt  war,  in  welcher  Gelon  und  Hieron  die 
Karthager  zu  gleicher  Zeit  wie  Themistokles  die  Perser  bei 
Salamis  vernichteten ,  wie  dieses  G.  Hermann  Opusc.  aus 
den  Versen  des  Glaukos 

•/.aXoiioi  XovtqoIq  l-/.XeXovuivog  d^iag 
elg  vilJiY.Qrjf.ivo7'  '^If.itQav  a(fr/.üi.njv^) 

mit  Recht  geschlossen  hat.  Als  Hauptresultat  unserer  Be- 
sprechung also  bleibt,  dass  Aischylos  nach  472  und  vor  466 
in  Syrakus  seine  Perser  zur  zweiten  Auffiilirung  brachte. 
Will  man  sich  also  nicht  zu  den  äusserst  unwahrscheinlichen 
Annahmen  bequemen,  dass  entweder  Aischylos  die  zweite 
Aufführung  nicht  persönlich  geleitet  habe,  oder  dass  er  bald 
nach  Gründung  der  Stadt  Aetna  475  zur  Aufführung  seiner 
Aitnaiai  und  dann  wieder  zwischen  472  und  406  zur  Wieder- 
aufführung seiner  Perser  nach  Sikilien  gekommen  sei,  so  bleil)t 
nichts  anderes  übrig  als  sich  mit  der  Annahme  einer  kleinen 
Ungenauigkeit  in  dem  zweiten  der  oben  angeführten  Zeugnisse 
abzufinden.      Ist    es  denn    aber    so    bedenklich    anzunehmen. 


1)  Zu  beachten  ist,  dass  diese  warmen  Bäder  bei  Himera  auch 
Pindar  0.  12,  18  erwähnt.  Ob  die  in  den  jüngeren  Scholien  zur 
Stelle  erwähnte  Sage,  dass  diese  Bäder  Athene  dem  Herakles  auf 
der  Rückkehr  vom  Zuge  gegen  Geryones  geschaffen  haVjc,  auf  alter 
Ueberlieferung  beruht,  ist  mir  zweifelhaft. 


r.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  375 

dass  der  junge,  keineswegs  durch  kritische  Genauigkeit  aus- 
gezeichnete Biograph  des  Aischylos  die  gute  alte  Ueher- 
lieferung,  wonach  die  Aitnaiai  in  der  neugegründeten  Stadt 
Aetna  aufgeführt  wurden  und  der  nach  dem  Aetna  benannte, 
\'ielleicht  aus  Nymphen  des  Berges  zusammengesetzte  Chor, 
ähnlich  wie  in  den  Schutzflehenden,  zum  Schluss  fromme 
Gebete  für  das  Gedeihen  der  Stadt  aussprach,  dahin  deutete 
und  verdrehte,  dass  die  Aufführung  des  Stückes  unmittelbar 
nach  Gründung  der  neuen   Stadt  stattgefunden  habe? 

Die  Annahme,  dass  Aischylos  erst  nach  472  nach 
Syrakus  gekommen  sei,^)  wird  nun  aber  auch  durch  das 
4.  Zeugnis,  die  Schilderung  des  Aetnaausbruchs  im  Prome- 
theus, wesentlich  unterstützt.  Denn  der  Prometheus  wurde 
zweifellos  erst  nach  den  Persern  gedichtet.  Dafür  spricht 
entscheidend  der  Umstand,  dass  zur  Aufführung  der  Perser 
nur  2,  zu  der  des  Prometheus  aber  3  Schauspieler  nötig 
waren.  Denn  die  Versuche  mit  2  Schauspielern  im  Prolog 
des  Prometheus  auszukommen,  laufen  auf  eine  Taschenspieler- 
kunst hinaus,  die  Annahme  aber,  dass  der  uns  erhaltene 
Prometheus  nicht  das  ursprüngliche  Drama  des  Aischylos, 
sondern  eine  späte  üeberarbeitung  sei,  gehört  zu  den  windigen 
Hypothesen  der  neueren  Aischyloskritik,^)  welche  am  aller- 
wenigsten auf  den  Prolog  des  Prometheus,  dessen  steife 
Strenge  echtäschyhschen  Typus  trägt,  angewendet  werden 
darf.  Ist  aber  die  Ueberlieferung,  dass  Sophokles,  der  zum 
ersten  Mal  im  J.  468  auftrat,  den  3.  Schauspieler  eingeführt 
habe,  richtig,  so  kann  der  Prometheus  nicht  vor  468  auf- 
geführt sein,  recht  gut  aber  gerade  in  diesem  Jahr,  da 
Aischylos  auch  in  den  467  gegebenen  Sieben  3  Schauspieler 


1)  Auch  Bergk  Gr.  Lit.  III  280  lässt  den  Aischylos  Ol.  77,  1 
einer  Einladung  des  Hieron  folgen  und  in  Syrakus  zugleich  die  Perser 
aufiFühren  und  das  Gelegenheitsstück,  Die  Aetnäerinnen,  verfassen. 

2)  Oberdick,  Wochenschr.  f.  klass.  Phil.  II  526  lässt  den 
Prometheus  nach  dem  Ausbruch  des  Aetna  von  425  umgearbeitet  sein. 


376  Sitzung  der  hirnlos. -philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

zur  Verwendimg  brachte.  Das  übrige,  was  ich  jetzt  noch 
hinzufüge,  ist  freie  Phantasie,  nämlich,  dass  Aischylos  nach 
der  Abreise  des  Pindar  im  J.  470  einer  Einladung  des 
Hieron  nach  Syrakus  gefolgt  sei,  und  bald  nach  seiner 
Rückkehr  im  J.  468,  wo  er  noch  den  Eindruck,  den  er  von 
Sikilien  und  dem  Feuerschlund  des  Aetna  mitgebracht  hatte, 
frisch  in  der  Erinnerung  trug,  seine  Feuertrilogie  geschrieben 
und  in  dieselbe  die  Schilderung  vom  Ausbruch  des  Aetna 
eingeflochten  habe. 

Pindar  in   Sikilien. 

Besser  und  bestimmter  sind  wir  über  die  Zeit  unter- 
richtet, in  der  Pindar  in  Sikilien  am  Hofe  des  Königs  Hieron 
weilte,  doch  fehlen  auch  hier  nicht  die  chronologischen 
Skrupel  und  die  sachverwirrenden  Hypothesen  neuerer  Ge- 
lehrten.    Vor  allem  sagt  uns  Pindar  selbst  0.   1,   17 

aylaiZerai  öi  Aal 
fi.ovOLy.ccg  sv  awrw, 
ola  iTaitof-tEv  cpiXav 
avÖQsg  a(xcpl  &af.m  xQaTteCav 

dass  er  zur  Zeit,  als  er  die  1.  olympische  Ode  zu  Ehren  des 
olympischen  Sieges  des  Königs  Hieron  dichtete,  in  Syrakus 
am  Hofe  des  Königs  weilte.  Wann  ist  nun  dieser  Sieg  er- 
rungen worden?  Darauf  antworte  ich  zuversichtlich  auf 
Grund  der  Ueberlieferung  der  Scholien,  in  der  77.  Ol.  oder 
472  v.  Chr.  Denn  3  Siege  hatte  nach  den  Scholien  Hieron 
in  Olympia  gewonnen:  in  der  73.  und  77.  Ol.,  oder  488 
und  472  v.  Chr.  mit  dem  Rennpferd  (xtAryrt),  in  der  78.  Ol. 
oder  4G8  v.  Chr.  mit  dem  Wagen  (aQ^iazi).  Das  bestätigt 
auch,  aber  leider  ohne  Bezeichnung  der  Jahre,  das  Sieges- 
denkmal, welches  nach  Hierons  Tod  sein  Sohn  Deinomenes 
nach  Olympia  stiftete  und  welches  in  einem  Wagen  und 
2    Rennpferden    zur    Seite    bestund,    zu    deren    Erläuterung 


V.  Clmst:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  377 

das    Epigramm    beigeschrieben    war   (Paus.   VIII  42,  9  und 
VI   12,   1): 

^6v  7ioT€  vr/.i\oag,  Zev  'OXi^ins,  OEf.ivöv  dytöva 
re^(i/;r7rw  /.ler  a7raS,  uovvo-/.ih]ii  8t  ötg, 

öcüq'  "Uqwv  räöe  ooi  eyaQiaoaTO,  Tialg  d'  dviiyri/.ev 
JeLVO(xtvi]g  nargog  uvr^i.ia  ^vgayiooiov. 

Der  letzte  der  3  Siege,  der  des  J.  468  kommt  nicht  in 
Betracht,  da  Pindar  ausdrücklich  V.   19  von  einem  Sieg  mit 
dem    Rennpferd    Pherenikos,    nicht    mit    einem    Viergespann 
oder  Wagen  spricht;  der  erste  Sieg  der  73.  Olympiade  ebenso 
wenig,    da    Hieron    damals    noch    nicht   König  von  Syrakus 
war,   in  unserer  Ode  aber  mit  Emphase  2uQa/.oioiog  i/ttto- 
XciQl^ag  ßaodeig  (V.  23)  genannt  wird.     Es  bleibt  also  nur 
der    Sieg   in    der    77.   Olympiade,    so    lauge    wenigstens    als 
man  an  der  üeberlieferung  festhält  und  nicht  ein  Verderbnis 
der   Zahlen    annimmt.     Denn   nirgends    in    den    SchoHen  ist 
eine   andere   Olympiade    als    die    drei    angeführten    genannt, 
und  Lübbert  trägt  seine  Vermutung,    nicht    den   Wortlaut 
des  Zeugnisses  vor,  wenn  er  in  der  Abhandlung,  De  Pindari 
poetae   et   Hieronis    regis    amicitiae    primordiis   et   progressu 
p.   VII   bemerkt:    contra   Didymus   apud   Schol.   Pind.   I    33 
p.  29  olympiadi  76    ascribit.     Nein,   auch    Didymus    kannte 
nur  die  Siege   in  Ol.  73,  77,  78,    so    wenig   Ehre    es    auch 
seinem  Scharfsinn  macht,  wenn  er  unsere  Ode  auf  den  Sieg 
in  der  73.  Ol.  bezieht,  zu  welcher  Zeit  Hieron  allerdings  noch 
nicht  als  Aetnäer  ausgerufen  werden  konnte,  aber  auch  noch 
nicht  König  von  Syrakus  war.     Es   bedarf   also   einer   Con- 
jectur,  wenn  man  unsere  Ode  nicht  in  der  77.  Ol.  gedichtet 
sein  lässt;  eine  solche  und  zwar  eine  sehr  leichte  hat  Bergk 
vorgeschlagen  und  Lübbert  gebilligt,   nämlich  dass  o/  oX. 
aus  of   61.  verderbt   sei   und    dass   also  Hieron  den  1.  Sieg 
mit  dem  Rennpferd  nicht  in  der  73.,  sondern  in  der  76.  Olym- 
piade davongetragen  habe. 


378  Sitznng  der  phüos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Was  nötigt  uns  aber  von  der  üeberlieferung  abzugehen 
\ind  was  bereclitigt  uns  /Air  Aenderung  der  überlieferten 
Zahlen  V  Beginnen  wir  mit  den  Bedenken  der  alten  Er- 
klärer! Die  nahmen  daran  Anstoss,  dass  Hieron  als  Syra- 
kusaner  bei  dem  in  unserer  Ode  verherrlichten  Siege  aus- 
gerufen worden  sei,  während  er  seit  der  Gründung  von 
Aetna,  also  seit  Ol.  76,  1  sich  den  Ehrennamen  Ahvaiog 
beigelegt  habe.^)  Die  richtige  Widerlegung  hat  bereits  im 
Altertum  der  Grammatiker  Aristonikos,  der  sich  auch  bei 
Pindar  wie  bei  Homer  als  einen  viel  besseren  Führer  als 
sein  Kollege  Didymos  bewährt,  mit  den  einfachen  Worten 
gegeben:  AiTvalov  ovta  ^vQaxoioiov  6vof.idl^eaOai.^)  Wenn 
sich  Hieron  bei  dem  pythischen  Siege  OL  76,  3  unmittelbar 
nach  der  Gründung  von  Aetna  als  Aetnäer  ausrufen  Hess, 
so  brauchte  er  dieses  nicht  in  aller  Folgezeit  7ai  thun;  blieb 
er  doch  auch  nach  Gründung  von  Aetna  immer  noch  Syra- 
kusaner  und  König  von  Syrakus. 

Ebenso  wenig  Eindruck  macht  es  auf  mich,  dass  nach 
der  Beischrift  zum  Titel  der  1.  olymp.  Ode  'ligonu  toj 
FeXiovog  döelcpio  viY.riOavti  %rtncij  -^^ihfii  iiqv  oy  olvfxniada, 
ij  wg  ivioi  oQfxaTi  einige  alte  Erklärer  der  Meinung  waren, 
Hieron  habe  in  der  73.  Olympiade  mit  dem  Wagen,  nicht 
mit  dem  Renner  gesiegt.  Denn  diese  Meinung  war  einfach 
irrig,  da  wir  ja  aus  der  Aufschrift  des  Siegesdenkmals 
bestimmt    wissen,    dass    Hieron    nur  1  Sieg  in  Olympia    mit 

1)  Schol.  ad  Find.  0.  1,  33:  SvQaxöaiov  Innoxägfiav  ßaadija] 
evioi  ds  ävayivMaxovai  naQo^vvovrsg  zi]v  nagaXrjyovoav  avXXaßrjv  xwv 
l^vnaxovoiMV  y.ai  xtjv  sayäxrjv  rov  mjioxaQfiäv  nsQiojiwai,  tV  ^  rwv 
ZvQuxovoUov  ijzjioyaQfion:  rov  yäg  'legcova  ovx  eivai  Zvgaxovaiov  ozs 
ivixa'  xiloavta  yaQ  avzov  ztjv  Kardrtjv  xai  jiQOoayoQevaavra  Aixvav  an' 
avxfjg  Atxvalov  Xeyovoiv  avxov.  £vi^{^sig  tpr^ol  Aidv/-iog  xovxovg.  xoxe  yaQ 
(seil,  oy  oX.)  6  'Hqcov  tjv  Svgaxovaiog  xai  ov8s  tjv  AixvaVog,  &o  <prjaiv 
'A7ToXX('>i)omng .  6  8e  'Anioxovixog  a^iomaxoig  AixraTor  ovxa  ZvQaxovaiov 
ovofidCeaOui. 

2)  Mit  richtiger  Einschränkung  sagt  daher  auch  der  Scholiast 
zu  Nem.   1   in.:  ev  xtai  lojv  dywviov  Ahvalov  eavxuv  eiJiev. 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  379 

dem  Wagen,  und  zwar  Ol.  78  gewann,  dass  also  die  beiden 
anderen  Siege  Rennpferdsiege  waren.  Ded-shalb  zerbreche 
ich  mir  auch  nicht  lange  den  Kopf  darüber,  wie  der  Irrtum 
entstanden  sei,  ob  durch  Verwechselung  der  beiden  Siege 
des  Hieron  in  Ol.  73  und  78  oder  durch  Verwechselung  der 
Siege  des  Gelon  und  Hieron  in  OL  73,  da  von  diesen  eben 
der  erstere,  der  des  Gelon,  nach  Pausanias  IV  9,  4  ein 
Wagensieg  war.  Wenn  aber  Lübbert  glaubt,  dass  Pausanias 
nicht  die  Dummheit  begangen  hätte  den  Wagensieger  Gelon 
von  Ol.  73  für  einen  Privatmann  auszugeben,  wenn  er  in 
seinen  Siegerverzeichnissen  zu  Ol.  73  neben  dem  Gelon  auch 
den  Hieron  als  Sieger  vorgefunden  hätte,  so  habe  ich  einmal 
zu  den  Quellenstudien  und  der  Sorgfalt  des  Pausanias  nicht 
das  gleiche  Vertrauen,  meine  vielmehr,  dass  wenn  einer  einmal 
den  Regierungsantritt  des  Gelon  in  Syrakus  mit  dem  in  Gela 
verwechseln  konnte,  demselben  leicht  auch  noch  ein  zweiter 
und  dritter  Irrtum  zugemutet  werden  dürfe.  Sodann  habe 
ich  aber  überhaupt  kein  Interesse  daran,  die  Frage,  ob  Hieron 
Ol.  73  in  Olympia  gesiegt  habe  oder  nicht,  hier  weiter  zu 
verfolgen,  da  ich  im  weiteren  Verlauf  der  Untersuchung  zeigen 
werde,  dass  in  unserer  Kontroverse  ohnehin  der  frühere  Sieg 
des  Hieron  in  Olympia,  mochte  derselbe  nun  in  die  73.  oder 
76.  Olympiade  gefallen  sein,  ausser  dem  Spiele  bleiben  muss. 
Beachtenswerter  ist  der  andere  Einwurf,  dass  Pindar  in 
unserer  Ode  eines  früheren  Sieges  des  Hieron  in  Olympia 
nicht  gedenke,  da.ss  also  dieselbe  dem  ersten,  nicht  dem 
zweiten  Siege  des  Königs  gelten  müsse,  da  der  Dichter  es 
liebe,  dem  Preise  des  jüngst  erworbenen  Sieges  die  ehren- 
volle Erwähnung  der  früheren  Siege  beizufügen.  Ich  gebe  zu, 
dass  dieser  Grund  Bedenken  gegen  die  Meinung  Böckhs,  der 
eben  die  1.  olympische  Ode  in  die  77.  Ol.  setzt,  erregen  kann, 
so  dass  wenn  ein  anderer,  mit  der  Ueberlieferung  stimmender 
Ansatz  möglich  wäre,  demselben  deshalb  der  Vorzug  ge- 
bührte.    Aber  keineswegs  kann  ich  zugeben,   dass  deswegen 


380  Sitzung  der  pUlos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

der  Ansatz  auf  Ol.  77  als  ausgeschlossen  und  unmöglich 
betrachtet  werden  müsse.  Pindar  bewahrt  nicht  immer  die- 
selbe Sitte:  manchmal  erwähnt  er  alle  Siege  des  Gefeierten, 
hie  und  da  selbst  die  der  Verwandten,  manchmal  beschränkt 
er  sich  auf  den  Preis  derjenigen,  welche  an  demselben  Od 
errungen  waren,  manchmal  weiht  er  sein  ganzes  Lied  der 
Verherrlichung  des  einen  gegenwärtigen  Sieges,  auch  wenn 
dem  Sieger  zuvor  schon  andere  Siege  in  den  Schooss  ge- 
fallen waren.  Wir  brauchen  nicht  weit  zu  gehen,  um  für 
die  letzte  Art  Beispiele  zu  finden:  die  1.  pythische  Ode  gilt 
dem  Wagensiege  Hierons  in  der  29.  Pythiade;  demselben 
waren,  wie  uns  die  Schollen  belehren,  2  Siege  des  Hieron 
in  der  2C).  und  27.  Pythiade  vorausgegangen.  Von  beiden 
erhalten  wir  auch  nicht  eine  Andeutung  in  unserer  1.  pythi- 
schen  Ode.  Man  höre  also  auf  zu  sagen:  in  huius  alterius 
victoriae  laudibus  celebrandis  nullo  modo  praeconium  etiam 
prioris  victoriae  quadriennio  ante  partae  omitti  potuit.  Der 
Umstand,  dass  in  unserer  Ode  ein  früherer  Sieg  des  Hieron 
nicht  erwähnt  ist,  nötigt  uns  nicht,  die  Annahme,  dass  die- 
selbe dem  2.  Sieg  in  Ol.  77  galt,  als  unmöglich  aufzugeben 
und  zu  Textesänderungen  unsere  Zuflucht  zu  nehmen. 

Am  schwersten  wiegt  der  Einwurf,  den  Bergk  in  der 
4.  Ausgabe  der  PLG.  p.  3  gegen  die  Ueberlieferung  der 
Schollen  in  die  Worte  fasst:  referunt  vulgo  ad  Ol.  77,  sed 
cum  Pindarus  0.  3  v.  42  aperte  huius  carrainis  exordium 
respexerit,  illud  autera  carmen  omnino  ad  Ol.  76  pertineat, 
apparet  hoc  carmen  paulo  ante  Ol.  3  compositum  esse.  Die 
Propositio  maior  in  diesem  Schlnss  ist  schwer  zu  bestreiten; 
denn  die  Worte  des  Eingangs  der  1.  olymp.  Ode 

aqioxov  /.itv  vdcoQ^  o  de 

XQvoog  ali^oi-ievov  7tvq 
UTE  öiaviQbrrEL 

vv'/.ii  f-teyövoQog  t'^oxcc  jiXoviov 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  381 

und  der  Vers  0.  3,  42 

XQvoog  aiöoUotarov 

haben  oflFenbar  auf  einander  Bezug,  und  wo  in  diesem  Fall 
das  Vorbild  und  wo  dife  Rückbeziehung  zu  suchen  sei,  kann 
bei  der  Stellung  der  entsprechenden  Verse  und  bei  der  be- 
dingenden Satzforra  in  der  zweiten  Stelle  kaum  zweifelhaft 
sein.  Wir  stimmen  daher  Bergk  und  Hermann  bei,  dass 
0.  3  nach  0.  1  gedichtet  sei.  ^)  Aber  die  Propositio  minor, 
dass  die  3.  und  somit  die  2.  und  3.  Ode  sich  auf  einen 
Wagensieg:  des  Theron  in  der  76.  Ol.  beziehen  müssen, 
geben  wir  nicht  so  leicht  zu.  Allerdings  ist  hier  die  üeber- 
lieferung  bezüglich  der  Zeit  des  gewonnenen  Sieges  schwankend, 
indem  die  Scholien  Pindars  den  Sieg  Therons  bald  in  die 
77.,  bald  in  die  76.  Olympiade  setzen.  Sehen  wir  zuerst  zu, 
auf  welche  von  -beiden  Seiten  sich  mehr  die  Ueberlieferung 
an  und  für  sich  neigt!  In  der  Aufschrift,  dem  ältesten  Teil 
der  Kommentare,  heisst  es  einfach:  ytyqanxai  ö  smvUiog 
QrfQiovi  ^/.QayavTiviü  aQf.iari  viy.r^oavTi  ri^v  €ßöof.irjy.ooTriv 
eßdöfirjv  olvfuniccöa^)  Zu  V.  160  lesen  wir  dann:  liy.qa.yaQ, 
uEvxrf/.ooTXi  6Xv/.micidi  IatIoÜ^i],  6  da  Qr'jQiov  og  t"  ol  ivUr^OE, 
und  zu  V.  1G8:  Uy^vai  xr^v  'A/.qäyavia  rtEVTifMOif^  oXvf.i- 
7nccdi  ixTiad^aL  •  ixdd^ev  ös  ayqi  rrig  Qi[qcüi'og  vUrjg  €ZT] 
elvai  txuTOv  iv  6Xvf.i/n(xdi  xe',  ylvorrai  ös  7iqog  talg  v 
oXv/ATiiQöi  OB  .  ivUa  olv  og,  y.iyqr^TaL  de  t^  dnrjqTiouevio 
dqii^f^qj  elniüv  q' .     Daraus  sieht  man  also,    dass   der   Gram- 


1)  So  ganz  zweifellos  ist  indes  der  Schluss  nicht;  L.  Schmidt, 
Zur  Chronologie  der  pindarischen  Gedichte,  in  Comment.  in  honorem 
Mommseni  S.  12  ff.  erklärt  sich  nicht  für  überzeugt.  Ein  schwerer 
Vorwurf  indes  trifft  den  Pindar  nicht,  wenn  er  mit  demselben  Bild 
bald  den  Hieron,  bald  den  Theron  feiert.  Das  ist  noch  keine  Doppel- 
züngigkeit ;  die  entstünde  erst,  wenn  wir  unter  dem  ungerechten 
Mann  der  Siegesode  an  Theron  0.  2,  18  den  Hieron  verstehen  müssten. 

2)  In  cod.  A  ist  indes  die  Zahl  ganz  ausgefallen. 


382  Sitzung  der  pliüos.-plülol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

matiker   sich    für    die    76.  Ol.  entschied    mit   Bezug  auf  die 
Worte  des  Dichters  V.  102  (168) 

avdäoo(.iaL  ivogynov  Xoyov  dlaO^el  vou), 

iSKeh'  f-U]  TLv'  t'/iaröv  ye  Irhov  7CoXiv 

q^iXoig  ävöqa  {.läXlov 

Evegyerav  jiqanioLv  acpOovtoiBQOv  xe  yjgi 

Qr^Qtovog. 
Ich  brauche  nicht  viele  Worte  darüber  zu  verlieren, 
dass  dieses  eine  unnütze  Subtilität  ist,  dass,  wenn  der  Dichter 
wirklich  bei  den  100  Jahren  die  Zeit  von  der  Gründung  der 
Stadt  Akragas  bis  zur  Gegenwart  im  Auge  hatte,  es  ihm 
nicht  auf  4  Jahre  mehr  oder  weniger  angekommen  sein 
wird.^j  Für  uns  liegt  also  darin  kein  Grund,  die  76.  OL 
der  77.  vorzuziehen.  Umgekehrt  zieht  uns  die  Autorität 
der  alten  Ueberschrift  der  Ode  auf  die  Seite  der  77.  Ol., 
und  erklären  wir  uns  das  Schwanken  dadurch,  dass  einer  den 
Buchstaben  'C  der  alten  Zeitangabe  o'C'  ebenso  auf  die  Zahl  6 
wie  7  deuten  zu  dürfen  glaubte  und  der  ersten  Deutung  dann 
mit  Bezug  auf  jene  100  Jahre  des  Dichters  den  Vorzug  gab.^) 
Aber  sachliche  historische  Gründe  sollen  entscheidend 
für  470  sprechen;  wollen  sehen!  Böckh  und  mit  ihm 
Mezger  finden  nach  dem  Vorgang  der  alten  Erklärer^) 
den   melancholischen    Ton    des   herrlichen   2.   Gedichtes    und 


1)  Einfältig  geradezu  sind  die  Winkelzüge  des  jüngeren  Scholi- 
asten,  von  denen  kurz  und  bündig  Böckh  Expl.  Pind.  p.  114  sagt: 
quod  recentior  scholiastes  ad  v.  166  affert,  id  nihili  esse  s))ont,e  apparet. 

2)  Thatsächlicli  wird  in  den  alten  Verzeichnissen  die  Zahl  6  mit 
dem  Ijuch.staben  Vau  (f)  bezeichnet  gewesen  sein,  so  dass  f  nur  für 
die  Zahl  7  genommen  werden  durfte.  Zu  beachten  ist  ausserdem,  dass 
unsere  Scholiasten  nicht  mehr  die  Siegerverzeichnisse  selbst  einsahen, 
sondern  sich  lediglich  an  die  Zeitangaben  der  älteren  Erklärer  hielten. 
So  heisst  es  in  unseren  Schoben  zu  0  6  und  0  utioqov  noazrjv  Vkv/i- 
TiKu^a  yy/y.tjnn-,  eben  weil  hier  in  den  Vorlagen  die  Zeitbestimmungen 
Ijei  der  Ueberschrift  durcli   Zufall  ausgefallen  waren. 

3)  Schob  ad  Find.  O.  2,  29,  173,  180.  Der  Scholiast  schöpft 
auch  hier  wieder  direkt  aus  Tiniaios  und  ist  ausfüiirlicher  als  Diodor 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  383 

den  wiederholten  Hinweis  auf  die  Bosheit  und  Feindselig- 
keit der  Menschen,  die  Theron  zu  befahren  hatte  (0.  2, 
17  ff.  40,  106),  in  den  Verhältnissen  des  Jahres  476  be- 
gründet, in  welchem  Polyzelos,  der  Schwiegersohn  Therons, 
vor  den  Nachstellungen  seines  Bruders  Hieron  fliehen  musste, 
die  Himeräer  gegen  ihn  und  seinen  Sohn  Thrasydaios  auf- 
standen und  ein  Bruderkrieg  zwischen  ihm  und  Hieron  aus- 
zubrechen drohte.  Der  melancholische  Ton  der  Ode  ist 
unverkennbar  und  gibt  derselben  ihren  besonderen  Reiz;  es 
muss  in  der  That  damals  eine  trübe  Stimmung  in  der  Königs- 
burg des  Theron  geherrscht  haben.  Aber  dass  nun  Pindar 
gerade  auf  Hieron  als  den  ungerechten,  undankbaren  Uebel- 
thäter  hingewiesen  habe,  ist  bei  den  intimen  Beziehungen, 
in  denen  er  seit  Ol.  75,  4,  wo  er  die  2.  jDythische  Ode  an 
Hieron  schrieb,  zum  König  von  Syrakus  stund,  von  vornherein 
unwahrscheinlich;  das  können  nur  diejenigen  glauben,  welche 
sich  in  der  Verkleinerung  der  Grössen  des  Altertums  gefallen 
und  den  erhabenen  Sänger  der  sittlichen  Weltordnung  nicht 
bloss  für  einen  servilen  und  achselträgerischen,  sondern  auch 
taktlosen  und  unklugen  Menschen  ausgeben  wollen.  Auch 
dass  Kapys  und  Hippokrates,  die  Vettern  des  Theron,  auf 
welche  schon  die  Alten  die  Anklage  des  Dichters  haupt- 
sächlich bezogen,^)  gerade  im  Jahre  476  bewaffnet  gegen 
Theron  aufgestanden  seien,  ist  eine  blosse  Vermutung  Böckhs, 


XI  48.  Wahrscheinlich  aber  gehen  die  Schoben  auf  Didymos  zurück, 
der  vor  Diodor  lebte  und  deshalb  auf  die  älteren  und  umfassenderen 
Werke  des  Timaios  und  Hippostratos  über  Sikilien  zurückgriff. 

1)  Schob  ad.  0.  2,  173:  KuTivg  xal  'LiJioxQÜTTjg  O/jQiorog  t]oav 
drstiuoi  •  ovToi  Jiokka  vjr'  avrov  ei'sgysrij^ivTeg,  (hg  iwQWV  rjv^rjfiivtjr 
avzov  xijv  xvQavviöa,  cfdovovvTsg  jrö^s/tov  ijQavzo  JTQog  ai'zöv  '  6  de  ovfi- 
ßaXcbv  avTotg  jiaga.  'I/imav  ivi'xtjaev.  Bei  Diodor  XI  48,  wo  der  Abfall 
der  Himeräer  erzählt  ist,  steht  nichts  von  jenen  Vettern  des  Theron, 
■was  immerhin  Bedenken  gegen  die  sonst  scharfsinnige  Kombination 
Böckhs  erregt.  Wenigstens  darf  hiervon  nicht  wie  von  einer  fest- 
stehenden, überlieferten  Thatsache  gesprochen  werden. 


384  Sitzung  der  phÜQS.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

keineswegs  eine  gesicherte  historische  üeberlieferung.  Ganz 
entschieden  aber  verbietet  die  Chronologie  die  Anspielungen 
der  2.  olympischen  Ode  auf  die  Zerwürfnisse  des  Hieron 
mit  Theron  und  dessen  Eidam  Polyzelos  zu  deuten.  Diodor 
erzählt  dieselben  unter  dem  Archon  Phaidon  Ol.  76,  1 
=  476/5,  und  nehmen  wir  auch  an,  dass  dieselben  in  die 
1.  Hälfte  des  Olympiadenjahres,  also  in  den  Spätsommer  und 
Herbst  des  J.  476  fielen,  so  kommen  wir  doch  mit  ihnen 
und  namentlich  mit  ihrem  Abschluss  immer  noch  in  die  Zeit 
nach  den  olympischen  Spieleu  der  76.  Olympiade;  zur  Zeit 
aber,  wo  Pindar  die  2.  olympische  Ode  dichtete,  waren  die 
dunklen  Wolken  bereits  ganz  verzogen  und  leuchtete  schon 
wieder  der  helle  Sonnenschein  des  Glücks.  Kurzum  zur  Zeit 
der  Spiele  der  76.  Olympiade  kann  die  Ode  nicht  gedichtet 
sein;  recht  wohl  aber  passt  sie  zur  77.  Olympiade,  als  zwar 
noch  der  nagende  Unmut  über  mancherlei  erlittenes  Unrecht 
in  der  Brust  des  Theron  fortdauerte,  aber  doch  schon  wieder 
über  dem  erneuten  Glück  die  Tage  der  Prüfung  und  Trübsal 
zurückzutreten  begannen.  Das  ist,  was  ich  gegen  die  Ar- 
gumentation Böckhs  bemerke,  deren  Hauptschwäche  indes 
darin  besteht,  dass  nach  ihr  0.  3  in  der  76.,  0.  1  in  der 
77.  Olympiade  gedichtet  sein  sollen,  während  thatsächlich 
die  Nachahmung  des  Eingangs  der  1.  Siegesode  in  dem 
42.  Vers  der  3.  Ode  beweisst,  dass  0.  3  und  somit  auch 
0.  2  nach  der  1.  Ode  gedichtet  sind.^) 

1)  Ich  nehme  dabei  mit  allen  Auslefifern  an,  dass  die  2.  Ode 
das  Hauptsiegeslied  auf  den  Wagensieg  des  Theron  war,  und  dass 
die  3.  Ode  nur  einer  Erinnerungsfeier  bei  Gelegenheit  des  Festtages 
der  Tbeoxenien  galt.  Nur  bei  dieser  Annahme  finden  die  Worte 
0.  3,  9  xaizaiai  fisv  l^sv/^&svzeg  f.ni  axirpavoi  nqäaaovxi  fis  xovro  ■&E68- 
/larov  yofo;,  qpoQfA-iyyd  ze  jtoixi?^6yaQvv  xal  ßoav  avXcöv  EJiioiv  re  O'satv 
Ah'TjOidä/iov  naiM  av/ifii^ac  TTQejidvrco?,  «  rs  Uioa  jie  yeyojVEh'  ihre  volle 
Bedeutung.  Im  Eingang  der  2.  Ode  hatte  Pindar  gefragt,  wen  er 
zuerst  besingen  solle,  den  Gott,  dem  die  Spiele  galten,  oder  den  Heros, 
der  sie  gestiftet,  oder  den  Mann,  der  den  Sieg  gewonnen ;  er  ent- 
schied sich  dafür  in  der  2.  Ode,  der  eigentlichen  Siegesode,  den  sieg- 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  ßriechifichen  Poesie.  385 

Bergk  richtet  seinen  Angriff  gegen  einen  anderen 
Punkt,  worin  ihm  aber  auch  schon  Böckh,  Explic.  Find, 
p.  209  vorangegangen  war:  Theron  sei  im  Sommer  472, 
noch  in  Ol.  76,  4,  gestorben,  es  habe  also  ein  Sieg  der 
77.  Olympiade  von  Pindar  nicht  mehr  durch  zwei,  um  einige 
Zeit  auseinanderliegende  Oden  gefeiert  werden  können.  Dem 
gegenüber  steife  ich  mich  auf  den  Wortlaut  im  Zeugnis  des 
Diodor  XI  53,  wo  der  Tod  Therons  unter  dem  Archon 
Chares  oder  Ol.  77,  1  berichtet  ist.  Denn  nichts  nötigt  uns 
anzunehmen,  dass  der  Tod  gleich  unmittelbar  nach  Beginn 
des  neuen  Olympiadenjahres  erfolgt  sei;  ja  um  denselben 
mit  Böckh  und  Bergk  schon  in  den  Frühsommer  des  J.  472 
zu  setzen,  dazu  bedarf  man  sogar  der  wenn  auch  nicht  über- 
kühnen, so  doch  immerhin  dem  Wortlaut  der  üeberlieferung 
widerstreitenden  Hypothese,  dass  Diodor  dasjenige  was  gegen 
Ende  von  Ol.  76,  4  geschehen  sei,  erst  in  dem  von  den 
Ereignissen  des  Jahres  Ol.  77,  1  handelnden  Abschnitt  er- 
zählt habe.  Allen  diesen  Bedenken  aber  kommen  wir  aus 
und  halten  uns  genau  an  die  Darstellung  des  Diodor,  unseres 
einzigen  Gewährsmannes  in  dieser  Sache,  wenn  wir  den 
Theron  im  Spätherbst  472  oder  in  den  ersten  Monaten  des 
Jahres  471  gestorben  sein  lassen.  Dann  blieb  noch  Zeit  genug 
für  Pindar,  um  den  Anfangs  August  472  errungenen  Wagen- 
sieg bei  2  verschiedenen  Gelegenheiten  in  der  2.  und  3.  olym- 
pischen Ode  zu  feiern  und   die   Feier  in  Person   zu   leiten.^) 

reichen  Mann,  den  Theron  zu  feiern,  und  holt  nun  in  der  3.  Ode 
das  dort  Versäumte  nach,  indem  er  die  Gründung  der  olympischen 
Spiele  durch  Herakles  besingt. 

1)  Ich  füge  'in  Person  hinzu,  weil  der  wiederholte  Preis  der 
Gastfreundschaft  des  Theron  (0.  2,  62  o:rtf  dixaiov  Ssvcov,  3,  40  ^eiviaig 
avxovg  inoixovrai  rgcuie^atg;  vgl.  2,  104  svsgyhav  nganiaiv  dq^i^ovsoTsgör 
xs  yjQ^)  darauf  hinweist,  dass  Pindar  damals  seibat  sich  der  Gast- 
freundschaft bei  seinem  königlichen  Gönner  erfreute.  Auch  dieses 
spricht  für  meine  Ansätze,  doch  vermied  ich  es  aus  der  blossen  Ver- 
mutung einen  Beweis  zu  machen. 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Cl.  3.  26 


386  Sitzung  der  philos.-philol.  Classc  vom  5.  Mai  1888. 

Der  einzige  positive  Beweis,  den  Böckh  und  die  Ver- 
fechter seiner  Meinuuoj  für  ihren  Ansatz  anführen,  ist  der 
Umstand,  dass  Pindar  0.  12,  1  in  einem  Lied  auf  den  Sieg 
des  Hinieräers  Ergoteles  im  Lauf  Ol.  77,  1  die  Tyche  uai 
Z)jVüg  ^Eksvl^eQiov  anredet,  was  sich  auf  die  von  den  Himeräern 
nach  dem  Tode  des  Theron  und  der  Vernichtung  seines 
Sohnes  Thrasydaios  wiedererlangte  Freiheit  beziehen  soll. 
Aber  dieser  Beweis  stützt  sich  auf  eine  Deutung  der  Worte 
Pindars,  welche  weit  entfernt  ist  zwingend  oder  nur  wahr- 
scheinlich zu  sein.  Pindar,  der  intime  und  aufrichtige  Freund 
Therons,  wird  nicht  die  undankbare  Auflehnung  der  Himeräer 
gegen  Theron  und  seine  Dynastie  als  Ruhmesthat  freiheits- 
liebender Bürger  bezeichnet  haben.  Das  Beiwort  EkevdtQiog 
erhielt  Zeus  in  einer  zu  Himera  vorzutragenden  Ode  viel 
passender  mit  Bezug  auf  die  Schlacht  von  Himera  im  J.  480, 
die  in  der  That  die  Hellenen  Sikiliens  von  dem  Joche  der 
Fremdherrschaft  Karthagos  befreite.^) 

Wir  haben  also  die  wenn  nicht  einstimmige,  so  doch 
bessere  Ueberlieferung  für  uns,  wenn  wir  den  von  Pindar 
0.  2  und  3  gefeierten  Wagensieg  des  Theron  in  Ol.  77,  1 
setzen.  Damit  ist  das  einzige,  nennenswerte  Bedenken  weg- 
geräumt, das  uns  hindern  könnte,  der  anderen  einstimmigen 
Uoberheferung,  dass  Hieron  77,  1  in  Olympia  mit  dem 
Renner  gesiegt  habe  und  dass  diesem  Sieg  die  1.  olympische 
Ode  gelte,  den  Glauben  zu  versagen.  Nun  gehen  wir  aber 
gleich  aus  der  Defensive  in  die  Offensive  über  und  behaupten, 
die  1.  olympische  Ode  kann  gar  nicht   sich    auf  einen  Sieg 


1)  Auch  hier  schliesst  sich  Mezger  S.  194  allzu  vertrauensvoll 
an  Böckh  mit  der  Bemerkung  an:  hier  hat  man  natürlich  an  die 
kurz  vorher  erfolgte  Bef'roinng  von  der  Tyrannis  zu  denken.  Die 
ganze  chronologische  Grundlage  verrückt  Bornemann,  .lahresber. 
über  die  Kortschr.  d.  das«.  Altertumswiss.  XIII  1,  78  durch  die  un- 
glückliche Aenderung  de.>*  überlieferten  xai  dlg  ix  JIvüwvos  (V,  18)  in 
dis  xal  ex   Tlv&wvog. 


V.  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  •^87 

in  Ol.  7ß.  1  beziehen.  Wollten  wir  die  Offensive  mit  einem 
Plänklervorstoss  eröffnen,  so  würden  wir  mit  der  14.  olym- 
pischen Siegesode  auf  den  Ol.  7()  errungenen  Sieg  des 
Orchoraeniers  Asopichos  beginnen.  Denn  danach  scheint 
Pindar  zu  der  Zeit,  wo  ihn  Bergk  in  Sikilien  am  Hofe  des 
Hieron  weilen  lässt,  in  Theben  und  dem  benachbarten 
Orchomenos  gewesen  zu  sein.  Aber  ich  urgiere  diesen  Punkt 
nicht  allzusehr,  da  die  Beweiskraft  desselben  nicht  gar  stark 
ist;  denn  Pindar  konnte  auch  von  Syrakus  aus  dem  Orchomenier 
ein  kurzes  Siegeslied  zuschicken  oder  erst  nach  der  Sieges- 
feier in  Orchomenos  sich  zur  Fahrt  nach  Syrakus  rüsten.  Ich 
mache  zwei  andere  entscheidendere  Umstände  geltend.  In 
der  1.  olympischen  Ode  gegen  Schluss  V.  111  sagt  der 
Dichter:  ei  öe  jU/]  raxv  Xinoi,  e'ri  yXvKVTtQav  aev  ehiouai 
aiv  aQf.iaTi  ^otjj  xXei'Beiv.  Daraus  sieht  man,  dass  damals 
bereits  Hieron,  vielleicht  aus  Eifersucht  auf  seinen  Rivalen 
Theron,  mit  dem  Plane  umging  in  der  nächsten  Olympiade 
mit  einem  Wagen  in  den  Wettkampf  einzutreten.  Diesen 
Wagensieg  erlangte  er  nach  den  oben  angeführten  Zeug- 
nissen des  Altertums  in  der  78.  Ol.;  also  hat  er  den  Rennei*- 
sieg.  den  Pindar  in  der  1,  olympischen  Ode  verherrlichte, 
in  der  vorausgegangenen  Olympiade,  oder  Ol.  77,  wie  die 
Ueberlieferung  angibt,  und  nicht  Ol.  76,  wie  Bergk  ver- 
mutet, davongetragen.  Den  anderen  Beweis  entnehme  ich 
der  3.  pythischen  Ode;  aus  dieser  Ode,  die  einem  längere 
Zeit  zuvor  im  J.  482  errungenen  pythischen  Siege  gilt,^) 
greife  ich  die  Verse  78  ff.  auf 


1)  Den  Beweis  hatte  bereits  L.  Schmidt  in  der  1.  und  2.  Ab- 
handlung zur  Chronologie  Pindars  vorgebracht,  Hess  sich  aber  in  der 
3.  .\bhdl.  p.  IX  denselben  wieder  aus  den  Händen  winden  mit  der 
vagen  Erwägung:  variae  fortasse  causae  excogitari  possint  quae 
Hieronem  ad  novum  conamen  celeticum  incitaverint. 

2)  Der  Sieg  ward  nach  den  Scholien  in  der  27.  Pythiade  da- 
vongetragen.     Dass    inzwischen    längere    Zeit    verflossen    war.    zeigt 

26* 


388  Sitzung  der  phüns.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

yiai  x£v  ev  vauolv  uoXov  'lovlav  räf.ivtov  iyaXaooav 

danach  hatte  Hieron  damals  bereits  den  Dichter  zur  Fahrt 
nach  Syrakus,  zum  gastlichen  (^tvov)  Königspalast  auf  der 
Insel  Arethusa  eingeladen;  Pindar  aber  lehnte  in  feiner, 
verbindlicher  Weise  vorerst  die  Einladung  ab  und  sendete 
dem  König  dafür  das  Trostgedicht,  dessen  Hauptinhalt  eine 
Verherrlichung  des  Heilgottes  Asklepios  bildet,  der  dem 
König  für  sein  Steinleiden  Linderung  bringen  könnte.  Nun 
ist  dieses  Gedicht  nicht  vor  dem  Frühjahr  475  verfasst 
worden.  Das  beweist  unzweideutig  das  Epitheton  yiltvalog 
V.  29,  welches  dem  Hieron  von  der  Gründung  der  Stadt 
Aetna  gegeben  ward.  Pindar  war  also  damals,  im  J.  475, 
noch  nicht  nach  Sikilien  gegangen ,  kann  also  noch  viel 
weniger  schon  im  J.  476  die  1.  olympische  Ode  in  Syrakus 
vorgetragen  haben.  Wir  hoffen  damit  es  zur  vollen  Evidenz 
gebracht  zu  haben,  dass  Pindar  472,  nicht  470  am  Hofe 
des  Königs  Hieron  in  Syrakus  verweilte. 

Die   3.   pythische   Ode   Pindars   und   der   Beginn   der 

Pythiaden. 

Die  herrliche  1.  pythische  Ode  Pindars,  welche  die 
grossartige  Schilderung  des  Ausbruchs  des  feuerspeienden 
Berges  Aetna  enthält,  bezieht  sich  nach  den  Scholien  auf 
einen  Wagensieg  des  Hieron  in  der  29.  Pythiade.  In  welches 
Olympiadenjahr  oder  in  welches  Jahr  v.  Chr.  ist  dieser 
Sieg  zu  setzen?  Hier  teilen  sich  die  Meinungen  der  alten 
und  neuen  Gelehrten,  zwischen  474  und  470  v.  Chr.,  je 
nachdem  sie  die  1 .  Pythiade  mit  dem  3.  Jahr  der  48.  oder 
dem  der  49.  Olympiade  beginnen  lassen.  Wie  die  Divergenz  be- 
züglich des  Anfangs  der  I^ythiadenrechnung  gekommen  ist,  lässt 


das    JioTe    in    V.    74    rovs    (sc.    azFfpävovg)    uQiatevoiv    ^Peqevixoi;   eT    ev 
KvQQq.  jiore. 


V.  Christ:  Der  Aetnn  in  der  r/rieehischen  Poesie.  389 

sich  an  der  Hand  der  parisclien  Marmorchronik  und  des 
Pausanias  X  7  noch  leicht  aufklären.  Nach  der  parischen 
Chronik  veranstalteten  die  Amphiktionen  zuerst  Ol.  47,  2 
einen  gymnischen  Agon  aus  der  Beute  des  Sieges  über  die 
Stadt  Kyrrha,  und  richteten  dann  erst  9  Jahre  später 
Ol.  49,  3  einen  regelmässig  wiederkehrenden  Kranzwett- 
kampf {dyiop  OTBq^avirijg)  nach  Analogie  des  olympischen 
ein.  Nach  diesem  zweiten  Agon  rechneten  vermutlich  die 
einen  unter  den  alten  Gelehrten,  die  Pindarscholiasten ^) 
und  Eusebios,^)  die  Pythiaden  ihrer  Vorlage  in  Olympiaden- 
jahre um.  ^)  Die  andern  nahmen  den  ersten  gymnischen 
Agon  hinzu,  verlegten  aber  dann  denselben  auf  die  nächst- 
vorausgehende Pentaeteris  oder  auf  Ol.  48,  3;  zu  diesen 
gehörte  Pausanias  oder  sein  Gewährsmann ,  den  wir  ver- 
mutlich unter  den  älteren  alexandrinischen  Gelehrten,  Polemon 
oder  Istros,  zu  suchen  haben.  Wer  von  beiden  Recht  hatte, 
ist  uns  jetzt  ganz  gleichgültig,  es  fragt  sich  nur,  auf  welche 
Aera  die  alten  Angaben  zu  den  pythischen  Oden  Pindars, 
oder  sagen  wir  gleich  die  Siegesverzeichnisse  des  Aristoteles 
gestellt  waren.  Das  hängt  nun  aber  ausser  von  den  Zeit- 
verhältnissen der  9.  und  12.  olympischen  Ode*)  hauptsächlich 

1)  Ich  fügte  das  beschränkende  „vermutlich"  hinzu,  da  die 
Lesung  der  Scholien  zu  0.  12  in.  und  P.  3  in.  unverlässig  ist,  so  dass 
L.  Schmidt  schliesslich  in  der  3.  Abhandlung  zu  dem  Schlüsse 
kommt:  inter  scholia  Pindarica  nuUum  est,  quod  paullo  attentius 
inspectum  contrariam  sententiam  fulcire  possit. 

2)  Die  armenische  Uebersetzung  des  Eusebius  und  Hieronymus 
setzen  den  Beginn  der  Isthmien  Ol.  49,  4  und  den  der  Pythien  etwas 
früher  (prius),  was  man  gewöhnlich  auf  Ol.  49,  3  deutet,  während 
L.  Schmidt  die  Deutung  auf  Ol.  48,  3  verficht. 

3)  Vielleicht  folgten  sie  darin  dem  Chronographen  Apollodor; 
dass  nämlich  Apollodor  die  Quelle  der  Zeitangaben  der  pindarischen 
Scholien  sei,  schliesse  ich  aus  dem  oben  S.  378  ausgeschriebenen 
Scholion  zu  0.  I  33;  vgl.  Böckh  Praef.  schol.  p.  XXII. 

4)  Ueber  die  Zeugnisse  zu  Ol.  9  in.  u.  V.-9  siehe  L.  Schmidt 
Ind.  lect.  Marb.  1887,  wo  auch  die  11.  pythische  Ode  zur  Empfehlung 


390  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

von  unserer  1.  pythischen  Ode  ab  und  ist  von  dem  unüber- 
troflfenen  Erklärer  Pindars,  meinem  verehrten  Lehrer  Böckh, 
dahin  entschieden  worden,  dass  jene  Ansätze  unter  Zugrund- 
legung  der  Gleichung  Pyth.  1  =  Ol.  48,  3  =  586  v.  Chr.  zu 
berechnen  sind.  Dem  Altmeister  Böckh  hat  Leop.  Schmidt 
in  seinem  geistreichen  Buch  über  das  Leben  Pindars  zuge- 
stimmt und  dessen  Berechnungsmethode  nochmals  in  drei  spe- 
ciellen  Abhandlungen,  de  Pindaricorum  carminum  chronologia, 
in  Comment.  in  honorem  Th.  Mommseni  und  in  Lid.  Mar- 
burgensis  1880  u.  1887  gegen  die  Einwürfe  Bergks,  der 
in  der  3.  und  4.  Ausgabe  der  Poetae  lyrici  graeci  der  ent- 
gegengesetzten Meinung  folgte,  ausführlich  gerechtfertigt. 
Da  aber  neuere  angesehene  Gelehrte  wie  Duncker  in  seiner 
Geschichte  des  Altertums,  Wilaraowitz,  Philol.  Unters. 
9,  172,  und  Bornemann  in  seinen  Referaten  über  die 
Pindarlitteratur  wiederum  auf  Bergk's  Berechnung  zurück- 
gegangen sind,^)  so  will  ich  auch  hier  nochmals  auf  die 
Kontroverse  zurückkommen,  nicht  als  ob  ich  wesentlich 
Neues  den  Argumenten  Böckh's  und  Schmidt's  hinzuzufügen 
hätte,  sondern  weil  ich  gern  die  Gelegenheit  ergreife,  um 
noch  einige  andere  damit  zusammenhängende  Punkte  klar- 
zustellen. 

Ich  habe  bereits  oben  S.  366  hervorgehoben ,  dass 
wenn  man  sich  dem  Eindruck  der  lebensvollen,  anschau- 
lichen Schilderung  vom  Ausbruch  des  Aetna  in  der  1.  py- 
thischen Siegesode  hingibt,  man  unwillkührlich  zum  Schlüsse 


von  ßöckhs  Rechnung  verwertet  wird.  Bei  der  12.  olympischen  Ode 
hedarf  es  iillerding.s  zuerst  einer  Verbesserung  der  Scholien;  aber  der 
Emendation  Böckhs  p.  261  gebe  ich  auch  jetzt  noch  vor  der  Tycho 
Mommaens  II  155  den  Vorzug. 

1)  Holm  in  seiner  vortrefflichen  Geschichte  Siciliens  im  Altei'- 
tum,  stellt  sich  auf  Seite  Böckh's  freilich  auch  darin,  dass  er  wie 
jener  die  2.  und  3.  olympische  Ode  auf  einen  »Sieg  des  Theron  in 
Ol.  76  bezieht. 


i\  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie.  391 

kommt,  ^)  dass  dieselbe  vom  Dichter  bald  nach  dem  Aus- 
bruch des  Vulkans  (475),  also  eher  474  als  470,  und  zwar 
in  Sikilien  selbst  unter  dem  frischen  Eindruck  der  gross- 
artigen  Landschaft  und  im  Anblick  des  noch  rauchenden 
Kraters  des  Aetna  niedergeschrieben  worden  sei.^)  Aber 
wir  brauchen  uns  nicht  auf  das  blosse  Gefühl  zu  verlassen, 
obgleich  icli  auch  dem,  namentlich  bei  einem  Dichter  ein 
grösseres  Gewicht  als  jetzt  zu  geschehen  pflegt,  beimesse; 
wir  haben  zwingende  Anzeichen  in  den  Versen  P.  1,  47  ff". 

»j  xev  auvaoeisv  oiaig  avv  rcor''  e'raioi  (xaxctig^) 

rXcif-iovi  ij-'t'x^  7raQifueiv\ 

aviy''  etQto/.oi'io  d^ecöv  7raXa/uaig  zi/^iov, 

o'iav  ov  Tig  '^EiKäviov  dginei^ 

nXovxüv  OTE(pavio(.C  dyegcoyov.  viv  ye  /nav 

rav  COtAoxzrrjrao  dixav  e(ft7iiov 

ioTQaTEvifr].   ovv  ()'  dvayA.a  viv  cfiXov 

xal  Tig  liov  (.leyakavtoQ  toavev 

1)  Zu  diesem  Schluss  kommt  auch  der  geistreiche  Interpret  der 
Kunst  Pindars,  der  Franzose  Croiset,  La  poesie  de  Pindar,  der 
unsere  Ode  im  J.  474  von  Pindar  selbst  in  Sikilien  exekutiert 
sein  lässt. 

2)  Von  Bedeutung  sind  in  diesem  Sinne  die  Präsentia  sQevyovrai, 
jtQOxiovrt  Qoov  na:;tvov  etc.,  während  auf  der  anderen  Seite  das  dav^ia 
öe  xal  :zaos6vT0)v  (Tiag''  Idövzcov  Cobet)  dtcovoai  (V.  27)  zeigt,  dass 
Pindar  den  Hauptausbruch  des  Vulkans  von  anderen  Augenzeugen 
hörte,  nicht  mit  eigenen  Augen  sah. 

3)  So  emendiere  ich  jetzt  das  verderbte  oi'aig  iv  jioXe^ioiai  fiaxatg 
und  verstehe  unter  den  erat  die  Genossen  Hierons  in  den  Kämpfen 
gegen  die  Karthager,  insbesondere  seinen  Bruder  Gelon.  Denn  erst 
nach  der  Schlacht  bei  Himera  48U  ward  dem  Gelon,  und  wohl  auch 
seinem  Bruder  Hieron,  der  Königstitel  gegeben  nach  Diod.  XI  26. 
Wenn  dagegen  Herodot  VII  161  den  Hieron  schon  vor  jener  denk- 
würdigen Schlacht  von  dem  Gesandten  der  Athener  mit  ßaadevg 
SvQaxovaloiv  angeredet  werden  lässt,  so  ist  dieses  eine  unhistorische 
Anticipation,  die  man  dem  Vater  der  Geschichte  zumal  in  einer  Rede 
leicht  verzeiht.  Ich  dachte  auch  an  oiaig  ^vvä  rekoivi  /nd/atg,  doch 
das  Vorgeschlagene  kommt  den  Zügen  der  Ueberlieferung  näher. 


392  Sitzunfj  der  pliUos.-philol.  Glasse  voui  5.  Mai  1888. 

und  P.   1,  71  ff. 

XiGao/iiai  vevoov,  Kqovüov,  af.ieQOv 

öqiga  xar'  oiy.ov  o   Oolvi^  6   TvQQavtov  t'  aXaXaxog, 

t'/Tj,  %'avoioiovov  vßQiv  idiov  tdv  jiqo  Kvinag, 
ola  ^iQay.oGiojv  aQyji»  da/naoi/evTsg  yia^ov, 
WKv/ioQioi'  a/io  vaoJr, 

og  ocfiv  8v  jiövno  /iaZfi.V   aXiyiiav, 
'^Ekläd'  i^tl-KCüv  ßaQeiag  dovkeiag. 

Das  ruhmvolle  Ereignis,  auf  das  sich  der  Dichter  au 
beiden  Stellen  bezieht,  muss  der  jüngsten  Vergangenheit  an- 
gehören, das  zeigt  unzweideutig  die  Partikel  vvv  ye.  Nun 
berichtet  Diodor  XI  51  unter  dem  Archon  Akestorides  oder 
474/3  V,  Chr.  den  grossen  Seesieg  der  Syrakusaner  über 
die  Tyrrhener  bei  Kyme;  lasseu  wir  also  diesen  Sieg  im 
Spätsommer,  etwa  im  August  474,  errungen,  und  die  Sieges- 
feier zu  Ehren  des  Ende  August  gewonnenen  delphischen 
Sieges  nach  Rückkehr  der  Pompe  im  Spätherbst  oder  Winter 
474  in  der  neugegründeten  Stadt  Aetna  begangen  sein,  dann 
klappt  alles  vortrefflich  zusammen:  die  Stadt  Aetna  war  im 
J.  475  nach  dem  verheerenden  Ausbruch  des  Vulkans  gegründet 
worden;  die  stolze  und  mächtige  Stadt  Kyme  hatte  bald  nach- 
her, von  den  Tyrrhenern  bedrängt,  Gesandte  an  den  Hieron 
um  Hilfe  in  der  Not  gesendet,^)  Hieron  litt  damals  an  einem 
Steinleiden  und  konnte  sich  nicht  aktiv  an  dem  Kriege  be- 
teiligen,'^) seine  Admirale  aber  schlugen  unter  seinen,  des 
Königs  Auspicien,  die  übernuitigen  Tyrrhener  in  der  Seeschlacht 
bei  Kyme  gänzlich  aufs  Haupt.  Kein  Sprachverständiger 
wird  gegen  diese  Deutung  den  Singular  rig  des  Verses  52 
einwenden;  derselbe  scheint  allerdings  die  alten  Ausleger  auf 

1 1  Diod.  XI  51 :  JiaQayevofievon'  ngo?  avrov  Jigsaßscov  ix  KvfiTjg  tfjg 
'hah'aq  xal  deo/iet'on-  ßorj^rjaai  jioXefiovfievoig  vmo  TvQQtjvön'  &a).azTO- 
xgaxovvTOiv. 

2)  S.  Piud.  r.  3  und  oben  S.  388. 


V.  Christ:  Der  Aetnn  in  der  r/riechischen  Poesie.  393 

den  Tyrannen  Anaxilas  gebracht  zu  haben/)  der  aber  damals 
bereits  gestorben  war  und  auch  die  Hilfe  des  Hieron  nicht 
erfleht,  sondern  bloss  in  dem  Streit  mit  Lokris  sich  seiner 
Intervention  gefügt  hatte.*)  Auch  das  iavQaTevd^tj  darf 
keine  Bedenken  erregen;  allerdings  waren  es  nach  Diodor 
die  Feldherrn  des  Hieron,  welche  die  entscheidende  Schlacht 
gewannen,  nicht  der  König  Hieron  selbst.  Aber  mit  der- 
selben Hyperbel,  mit  welcher  der  Dichter  an  der  zweiten 
Stelle  die  Tyrrhener  von  Hieron  selbst  besiegt  werden  lässt, 
konnte  er  auch  an  der  ersten  den  König  selbst  zu  Feld  ziehen 
lassen.  So  passt  alles  zu  einem  Siegeslied  im  Herbste  474, 
nichts  aber  zu  einem  solchen  im  J.  470.  Dass  damals,  im 
J.  470,  Hieron  krank  war,  ist  möglich,  wird  uns  aber  von 
niemanden  überliefert;  der  Sieg  von  Kyme,  der  den  König 
und  seine  Lobpreiser  im  J.  474  mit  berechtigtem  Stolze  er- 
füllte, lag  damals  bereits  4  Jahre  weit  zurück,  noch  um 
1  Jahr  mehr  der  Ausbruch  des  Aetna,  dessen  Schrecken  im 
J.  474  noch  frisch  in  aller  Erinnerung  lebten;  von  einer 
Gesandtschaft,  die  den  Hieron  470  um  Hilfe  angefleht  hätte, 
hören  wir  nirgends  etwas,  und  doch  wären  wir  berechtigt 
die  Erwähnung  einer  solchen,  wenn  sie  wirklich  stattgefunden 
hätte,  bei  Diodor  zu  erwarten.  Der  Krieg  gegen  Thrasydaios 
aber  und  Agrigent,  auf  den  Bergk  die  erste  Stelle  Pindars 
beziehen  will,  fiel  einmal  nicht  in  die  unmittelbare  Gegen- 
wart (vvv  ys),  sondern  2  Jahre  zuvor;  sodann  verlief  der- 
selbe nach  Diodor  XI  53  durchaus  nicht  unter  solchen 
Umständen,  dass  man  auf  ihn  die  Worte  l'indars  beziehen 
könnte.  Kurzweg  die  Deutung  Bergk's  ist  eine  von  den 
vielen  Einfällen  des  erfindungsreichen,  geistreichen  Mannes, 
welche  bei  schärferer  Prüfung  die  Probe  nicht  bestehen. 


1)  Schol.  Find.  P.  1,  98. 

2)  Pind.  P.  2,  18  ff.  und   die   Scholien   zu   dieser   Stelle  wie  zu 
P.  1,  98. 


304  Sitzung  der  iihilos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Ich  reihe  daran  anhangsweise  die  Aufhellung  zweier 
Punkte.^)  Bekanntlich  ward  Pindar  nach  seinem  eigenen 
Zeugnis  zur  Zeit  der  Pythiaden  geboren;  daran  knüpften 
gewiss  bereits  die  Alten  die  Festsetzung  des  Geburtsjahres 
unseres  Dichters,  Wenn  dieselben  ihn  nun  aber  Ol.  65,  3 
geboren  sein  Hessen,  so  stimmt  das  nicht  recht  zu  dem,  was 
wir  von  den  ersten  Werken  Pindars  wissen.  Deshalb  gingen 
die  Neueren  auf  Ol.  64,  3  oder  522  v.  Chr.  hinauf.  Wie 
nun,  wenn  es  in  der  alten  U  eher  liefer  ung  nur  hiess,  der 
Geburtstag  Pindars  sei  in  die  16.  Pythiade  gefallen?,  dann 
mussten  die  Scholiasten,  wenn  sie  wie  in  den  Siegesoden  die 
Pythiaden  von  Ol.  49,  3  statt  48,  3  rechneten,  auf  Ol.  65,  3 
statt  Ol.  64,  3  als  Geburtsjahr  des  Dichters  kommen. 

Nach  Pausanias  X  7,  8  siegte  der  König  Ptolemäus 
Lagi  unter  dem  Titel  TlioXsf^aiog  May.ediüv  mit  einem  Ge- 
spann von  Maultieren  in  der  69.  Pythiade.  Ist  dieser  Sieg 
Ol.  117,  3  =  310  oder  OL  118,  3  =  306  gewonnen  worden? 
In  306  gewiss  nicht,  da  seit  307  Demetrios  Poliorketes  Herr 
in  Hellas  war  und  Ptolemaios  im  Sommer  306,  noch  vor 
den  pythischen  Spielen  den  Königstitel  angenommen  hatte 
(Diod.  XX  53),  so  dass  er  sich  gewiss  bei  einem  Sieg  im 
Jahr  306  als  König  Ptolemaios,  nicht  als  Makedonier  liätte 
ausrufen  lassen.  Sehr  gut  aber  passte  im  .J.  310  dem 
Ptolemaios  der  Titel  Makedon  in  seine  Pläne.  Damals, 
unter  dem  Archon  Simonides  (311/10)  war  in  dem  Friedens- 
schluss  des  Ptolemaios,  Kassander,  Lysimachos  und  Antigonos 
die  Autonomie  der  Hellenen  stipuliert  worden  (Diod.  XIX  105), 
und  damals  hatte  Ptolemaios  nach  der  Ermordung  des  jungen 
Alexander,  des  einzigen  legitimen  Thronerben,  allen  Grund 
sich  als  Makedonier  zu  gerieren,  um  damit  seine  Ansprüche 


1)  Die  alte  Vita  citiert  aus  einem  Päan  Pindars  die  Verse: 
Jieviaei7i()ig  eoQxa  ßoojiofijiög ,  f.v  <;. 
jißwzov  svvda{^t]V  dycuiarog  vno  ojiaQydvoig. 


V.  Christ:  Der  Äetna  in  der  griechischen  Poesie.  395 

auf  die  Erbschaft  des  grossen  makedonischen  Reiches  geltend 
zu  machen. 

So  werden  auch  diese  2  Thatsachen  da/u  dienen,  die 
Richtigkeit  der  Rechnung  Böckhs  zu  erhärten  und  die  An- 
nahme zu  begründen,  dass  Pindar  im  Herbst  474,  nachdem 
er  schon  zuvor  mit  dem  2.  und  3.  pythischen  Siegesgesang 
Verbindung  mit  dem  König  Hieron  angeknüpft  hatte,  nach 
Sikilien  ging,  um  selbst  die  Feier  des  pythischen  Wagen- 
sieges in  der  neugegründeten  Stadt  Aetna  zu  leiten.  Der 
Dichter  verweilte  dann  bis  zum  Herbst  472  in  Sikilien,  so 
dass  er  noch  dort  die  Ol.  77,  1  errungenen  olympischen 
Siege  des  Hieron,  Theron,  Ergoteles  in  den  uns  erhaltenen 
Siegesliedern  (0.  1.  2.  3.  12)  verherrlichen  konnte.^)  Zum 
Schluss  gebe  ich  noch  eine  Zeittafel  über  die  Ereignisse, 
welche  in  die  Beziehungen  des  Pindar  und  Aischylos  zu  dem 
Hofe  des  Königs  Hieron  einschlagen. 


1)  In  die  Zwischenzeit  fallen  ausser  den  Hyporchemen,  En- 
koniien  und  Skolien  auf  Hieron  und  Thrasybnlos,  von  denen  uns  nur 
Reste  erhalten  sind,  die  2  Siegeslieder  auf  Chronüos,  den  tüchtigen 
Feldherrn  des  Königs  Hieron,  niinilich  N.  1,  wahrscheinlich  Ol.  76,  4 
in  Syrakus  (N.  1,  2  u.  19)  zu  Ehren  eines  nemeischen  Sieges  auf- 
geführt, und  N.  9,  in  der  neugegründeten  Stadt  Aetna,  vermutlich 
bald  nach  P.  1,  im  Winter  474/3  bei  einem  Festmahl  (N.  9,  50)  zur 
Erinnerung  an  einen  älteren  Sieg  bei  den  sikyonischen  Spielen  (N.  9, 
1  u.  52)  vorgetragen  und  gleichfalls  vom  Dichter  selbst  dirigiert. 
Erst  nach  der  Rückkehr  Pindars  zum  heimatlichen  Boden  sind  von 
ihm  die  3  Siegeslieder:  0.  6  tür  den  Syrakusier  .\gesias  (wahrschein- 
lich Ol.  78),  I.  2  für  den  Xenokrates  in  Agrigent  (nach  Ol.  77,  1) 
und  0.  5  für  den  Psaumis  aus  Eatana  (Ol.  82)  gedichtet.  Den  Wagen- 
sieg des  Hieron  Ol.  78  (468  v.  Chr.)  besang  nicht  Pindar,  sondern 
Bakchylides,  der  noch  zu  jener  Zeit  nach  der  Rückkehr  Pindars  in 
Syrakus  am  Hofe  des  Hieron  verweilte. 


396  Sitzunp  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Zeittafel. 


Ol 

V.  Chr. 

71. 

3 

494  August 

Wagensieg    des    Xenokrates    aus 

Schol.  Find.  P. 

6 

in.  u. 

Akragas  in  Delphi ;    darauf  ge- 

I. 2  in. 

dichtet  Find.  P.  6. 

71,3 

oder 

494  oder  490  A 

ug 

Fythischer    Sieg    des    Midas    aus 

72, 

3 

Schol.  Find.  F. 

12 

in. 

Akraga.s  im  Flötenspiel;  darauf 
gedichtet  Find.  F.  12. 

72, 

2 

491/9Ü 

Dionys.   Ant.  7, 

1. 

Gelon  wird  Herr  von  Gela. 

73, 

1 

488  August 

Olympischer   Sieg  des  Gelon   mit 

Schol.  Find.  0. 

1 

in. 

dem  Wagen  und  des  Hieron 
mit  dem  Renner. 

73, 

3 

486  August 

Fythischer   Sieg   des    Hieron   mit 

Schol.  Find.  F. 

1 

in. 

dem  Rennpferd. 

73, 

3 

486 

Suidas 

Epicharmos  führt  Komödien  in 
Syrakus  auf. 

73, 

4 

485/4 

Gelon    wird    Herr    von    Syrakus ; 

Herod.    7,    156 

; 

Diod. 

Hieron    erhält    die     Herrschaft 

11,  38. 

von  Gela. 

74, 

3 

482  August 

Fythischer   Sieg    des    Hieron   mit 

Schol.  Find.   F. 

1 

in. 

dem  Rennpferd ;  darauf  nach- 
träglich im  J.  475  gedichtet 
Find.  F.  3. 

75, 

1 

480  im   Herbst 

Sieg  des  Gelon  über  die  Karthager 

Herod.  7,  166; 

Diod.  9, 

bei   Himera;  Gelon  und   Hieron 

24;  Find.  F. 

1, 

48. 

nehmen  den   Königstitel  an. 

75, 

2 

479/8 

Ausbruch  des  Aetna  nach  Marm. 

Par. 
Gelon    stirbt    und    Hieron     wird 

75, 

3 

478/7 

Diod.  11,  38 

Herr  von  Syrakus,  wahrschein- 
lich im  Frühjahr  477. 

75, 

1 

477/6 

Hieron  interveniert  im  Streite  des 

Schol.    l'ind.   F. 

2, 

34 

Anaxilas  mit  den  Lokrern; 
Wagensieg  des  Hieron  in  The- 
ben (V),  worauf  gedichtet  Find. 
F.  2. 

75, 

4 

476  Mär/. 

Simonidos  siegt  mit  einem  Ditby- 

Simonidcs  fr.  147. 

rambus  in  Athen. 

76, 

1 

476/5 

Diod.  11,  48. 

Tod  des  Anaxilas,  de.s  Tyrannen 
von  Rhegif)n;  Entzweiung  des 
Hieron  mit  seinem  Bruder  Foly- 
zelos,  Vermittelung  des  Streites 
durch  Simonides. 

i).  Christ:  Der  Aetna  in  der  griechischen  Poesie. 


397 


Ol 

V.  Chr. 

76, 

1 

475  im   Frühjahr 
Thuc.3. 116:  L)iotl.  11,48. 

Ausbruch  des  Aetna  nach  Thuky- 
dides;  Neugründung  der  Stadt 
Aetna  an  der  Stelle  von  Katane. 

76, 

2 

475 

Kusebius-Hieronymus :  'Isqcov  Sv- 
Qaxovaicov  irugdwEi  xal  oXtjg 
2cx£?uag. 

76, 

2 

475 

Pindar  überschickt  dem  am  Stein 
leidenden  Hieron  die  Ode  P.  3. 

76, 

3 

474  im  Spätsommer 
Diod.  11,  51 

Sieg  de.s  Hieron  über  die  Tyrrhener 
bei  Kyme  unter  dem  Archontat 
des  Akestorides  474/3. 

76, 

3 

474  Auf^u.st 

Schol.  Pintl.  P.   1  in. 

Pythischer  Wagenaieg  des  Hieron; 
Siegesfeier  in  der  Stadt  Aetna 
im  llerl)st  oder  beginnenden 
Winter,  wofür  gedichtet  P.  1. 
Um  dieselbe  Zeit,  etwas  sjjäter 
aufgeführt  Pind.  N.  9  zu  Ehren 
des  Chromios  in  Aitna. 

76, 

4 

473/2 

Eusebius  -  Hieronymus :  Pindarus 
clarus  habetur. 

76, 

4 

473/2 

Wagensieg  des  Chromios  in  Nemea, 
für  die  Siegesfeier  in  Syrakus 
gedichtet  Pind.  N.  1. 

76, 

4 

472  März 

Sehol.  Aesch.  Pers.  arg. 

Aischylos  siegt  in  Athen  mit  den 
Persern. 

77, 

1 

472  August 

Schol.  Find.  P.  1  in. 

Olympischer  Sieg  des  Hieron  mit 
dem  Kennpferd ,  worauf  ge- 
dichtet Pind.  0.  1. 

77, 

1 

472  August 

Schol.  Pind.  0.  2  in.  und 
0.  2,  166  u.  168. 

Olympischer  Wagensieg  des  The- 
ron,  darauf  gedichtet  Pind.  0. 
2  u.  3. 

77, 

1 

472  August 

Schol.  Pind.  0.  12. 

Olympischer  Sieg  des  Ergoteles 
aus  Himera  im  Lauf;  darauf 
gedichtet  Pind.  0.  12. 

77, 

1 

472/1 

Diod.  11,  53 

Theron  stirbt,  wahrscheinlich  im 
Winter 472/1 ;  .sein  SohnThrasy- 
daios  wird  von  Hieron  ge- 
schlagen und  kommt  in  Megara, 
wohin  er  geflohen,  um. 

77, 
77,  2- 

1 
77.  4 

472/1 
471—469 

Marm.  Par. :  'Isqcov  ZvQaxovaioov 
STVQÜvvtjaev. 

Vermutlicher  Aufenthalt  des  Ai- 
schylos in  Sikilien;  Aufführung 
der  Perser  und  Aitnaiai  in  Sy- 
rakus oder  Aetna. 

398 


Sitzung  der  yhilos.-jihüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 


Ol 

V.  Chr. 

77, 

4 

468  März 
Marm.  Par. 

Sophokles  erster  tragischer  Sieg 
in  Athen. 

78, 

1 

467  März 
Schol.  Aesoh. 

S( 

^pt.  arg. 

Aischylo.s  siegt  mit  den  Sieben 
in  Athen. 

78, 

1 

468  Aucrust 
Schol.  t'ind. 

0. 

1  in. 

Olympischer  Wagensieg  des  Hie- 
ron, gefeiert  von  Bakchylides. 

78, 

1 

468  August 

Olympischer  Sieg  des  Agesias  aus 
Syrakus  mit  einem  Maultier- 
gespann; darauf  ist  gedichtet 
Find.  0.  6. 

78, 

2 

467/6 

Diod.  11,  66 

Hieron  stii-bt  vermutlich  im  Som- 
mer 466;  in  der  Herrschaft  folgt 
ihm  sein  Bruder  Thrasybulos. 

78, 

3 

46G/5 

Diod.  11.  G7 

Thrasybul  wird  verjagt  und  die 
Demokratie  in  Syrakus  wieder 
hergestellt,  vermutlich  im  Früh- 
jahr 465. 

800 


Herr  West  übergab  eine  Abhandlung: 

,The    extent,    language,    and    age    of   Pahlavi 
literature".^) 

During  the  last  tvvelve  years  a  good  deal  of  Information 
has  been  accnmulating,  about  the  extent  and  age  of  the 
Pahlavi  literature  still  preserved  by  the  Parsis,  which  it 
seems  desirable  to  collect  and  state  in  a  connected  form,  as 
a  basis  for  future  investigation. 

Already  in  1871  Dastür  Peshotanji  Behraniji  Sanjänä, 
the  high-priest  of  the  predominant  sect  of  the  Parsis  in 
Bombay,  had  published,  in  the  introduction  to  his  Pahlavi 
Grammar,  a  list  of  fifty-two  Pahlavi  writings  preserved  in 
his  library.  But  it  was  not  until  the  publication  of  the 
second  edition  of  Haug's  Essays  on  the  Sacred  Language, 
Writings,  and  Religion  of  the  Parsis,  in  1878,  that  any 
attempt  was  made  to  ascertain  the  actual  extent  of  Pahlavi 
works,  by  estiniating  the  number  of  words  in  each  text. 
During  the  last  ten  years  a  few  additional  texts  have  been 
discovered,  although  the  Parsis  have  not  yet  thoroughly 
examined  all  their  libraries,  and  niore  correct  information 
has  been  gradually  obtained  regarding  the  texts  already 
known;  all  which  additions  to  our  knowledge  will  be  in- 
cluded  in  the  following  statements  and  remarks. 


1)  Die  Classe  beschloss,    ausnahmsweise  die  Veröffentlichung  in 
nicht-deutscher  Sprache  zu  gestatten. 


400  Sitzung  der  phüos. -philo!.  Clnsse  vom  5.  Mai  1S88. 

Pablavi  texts  may  be  cnnveniently  divided  into  three 
classes.  First,  Pahlavi  translations  of  Ävesta  texta,  in  which 
Ävesta  sentences  alternate  with  a  word-for-word  Pahlavi 
translation,  more  or  less  interspersed  with  explanatory  glosses, 
and  sometimes  interrupted  by  Pahlavi  conmientaries  of  con- 
siderable  extent.  Second,  purely  Pahlavi  texts  on  religious 
subjects,  or  inatters  closely  connected  with  religion.  Third, 
Pahlavi  texts  on  miscellaneous  subjects,  not  intimately  con- 
nected with  religion,  such  as  social  law,  legendary  history, 
tales,  and  forms  of  letters  and  documents.  Mauy  of  the 
texts  in  eaeb  class  are  very  short,  as  may  be  seen  from  the 
foUowing  lists,  in  which  the  number  of  words  in  each  text 
has  been  estimated  either  from  actual  inspection,  or  from 
the  best  information  otherwise  obtainable.  ^) 

I.  Pahlavi  translations  of  Ävesta  texts. 

1.  Vendicläf/  (400  lieiii«,''  Ävesta  quoted) 48,000  words. 

2.  Yasna 39,000  » 

3.  Nirangistän  (beside.s  3200  in  Av.  text)     ....  28,000  » 

4.  Vishtääp  yasht 5,200  » 

5.  Visparad 3,300  » 

6.  Farhäng-i  Oun-aevak  (l)esidos  1000  Av.)  ....  2,250  » 

7.  Aüharma^rZ  yasht 2,000  » 

8.  Bahrain  yasht,  perhaps 2,000  » 

9.  Här/Ökht  nask  (so-called) 1,530  » 

10.  Aogemadaecä  (besides  280  in  Av.  text)     ....  1,450  » 

11.  Ck/ak  rrristäk-i  gäsän,  1100  +  400  Av.,  (in  Yasna)  —  » 

12.  Ätash  nyäyish l,(>Of)  " 

13.  Part  of  Vijirkard-i  Dlnik  (besides  630  in  Av.  toxt)  900  » 

14.  /^frinagan  gahanbar,  perhaps 800  » 

15.  Haptän  yasht,  perhaps 700  » 

16.  Srosh  yasht  Ha^/okht 700  » 

17.  Sirozah  II 650  » 

18.  Sirozah   1 530  » 

1)  In  these  estiniates  the  conjunction  »va«  and  rehitive  particle 
»1«  are  not  counted  as  separate  words,  because  they  are  not  written 
sei)arately  in  the  original  texts. 


West:  The  extent,  language,  anä  age  of  Pahlavi  Uterature.  401 

19.  Khursherf  nyäyish  (without  yasht) 500  words. 

20.  Äbän  nyäyisb 450  » 

21.  .-Jfrinagan  dälimän,  450  words  (in  Yasna)     ...  —  » 

22.  Jfnnap^än  gätha,  perhaps 400  » 

23.  Khursherf  yasht 400  » 

24.  Mäh  yasht 400  » 

Total  in  Class  I.  140,160  words. 

n.  Pahlavi  texts  on  religious  subjects. 

25.  Dinkarr?,  books  ITI— IX 170,000  words. 

26.  Bundahish  (Iränian  version) 30,000  » 

27.  Därfistän-i  Dinik 28,600  » 

28.  Riväyat  accompanying  No.  27 26,000  » 

29.  Riväyat  of  Heme(f-i  Ashavahishtän 22,000  » 

30.  Rest  of  Vijirkard-i  Dinik  (260  being  Av.)     .     .     .  17,500  » 

31.  Selections  of  Zä(f-sparam,  in  three  parts  ....  17,000  » 

32.  Sbikand-gümänlk  Vijär 16,700  » 

33.  Shäyast-lä-shäyast,  with  App.  of  3100      ....  13,700  » 

34.  Dinä-i  Matn6g-i  KhiratZ 11,000  » 

35.  Epistles  of  Mänüshcihar 9,000  » 

36.  Ar(?ä-Viraf  nämak 8,800  » 

37.  /ämäsp  nämak 5,000  » 

38.  Bahman  yasht 4,200  » 

39.  Mädigän-i  Yösht-i  Fryänö 3,000  » 

40.  Andar'0-i  Ätü>'-pä(7-i  Märaspendän,  with  Hafri^-at-i 

Röjhä,  (originally  2800  or  3000) 2,200  » 

41.  Pandnämak-i  Vajörg-Mitrö-i  Bükhtakän   ....  1,760  » 

42.  Patit-i  Ätü)--pä(M  Märaspendän 1,490  » 

43.  Pandnämak-i  Zaratüsht 1,430  » 

44.  Andar'2-i  Hüdävar-i  dänäk  (besides  320  lost)    .     .  1,420  » 

45.  Jfrln-i  shash  gahanbär 1,280  » 

46.  Väcak  aecand-i  Ätür-päd-i  Märaspendän  ....  1,270  » 

47.  Märfigän-i  g?/jastak  Abälish 1,200  » 

48.  Mädigän-i  si  rqj,  1150  words  in  No.  30   ...     .  —  » 

49.  Patit-i  khüd 1,000  » 

50.  MäfZigän-i  ^aft  ameshäspend,  1000  in  No.  33   .     .  —  » 

51.  Admonitions  to  Mazdayasnians 940  » 

52.  Injunctions  to  Behdins 800  » 

53.  Mäf?igän-i  mäh  FravarrZiu  röj  Khürdäd     ....  760  » 

54.  Advice  of  a  certain  man 740  » 

1888.  Philos.-philol.  a.  bist.  Cl.  .3.  27 


402  Sitzung  der  pMos.-pliUol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

55.  Ai'nn-l  dähman,  or  /iaft  ameshäspend 720  words. 

56.  Stäyishn-i  drön .'>60  » 

57.  ^Mn-i  arfZä  fravash 530  » 

58.  Andar'^;-!  dänäk  maivZ 520  » 

59.  Äshirväd 460  » 

60.  Jf>-in-i  myazd 450  » 

61.  Andar'2-i  Khüsro-i  KavätZän 380  » 

62.  Avar  cim-i  dion 380  » 

63.  Sayings  of  Ätür-farnbag  and  liakhi-äMd      .     .     .  320  » 

64.  JfVmagän  nirang 290  » 

65.  Näm-stäyishnih 260  » 

66.  Five  dispositions  of  priests   and    ten  adnionitions, 
250  words  in  No.  30 —  » 

67.  Jfrm-i  vajörgan 200  » 

68.  Jfr'm-i  gahanbar  ca«lini 200  » 

69.  Anecdote  of  Vähräm-i  Varjavand 190  » 

70.  Därük-i  khürsandili 120  » 

71.  Ma(iigän-i  si  yazdiin,  80  word.s  in  No.  33     .     .     .  —  » 

Total  in  Class  II.  404,370  words. 

III.  Pahlavi  texts  on  other  subjects. 

72.  Social  Code  of  the  Parsis  in  Sasanian  times,  more 
than  42,000,  of  which  .survive  probably    ....  26,000  words. 

73.  Karnä.mak-1  Artakhshir-i  Papakan 5,600  » 

74.  Yädkär-i  Zarirän 3,000  » 

75.  Khüsro-i  Kavädän  and  bis  page 1,770  » 

76.  Farbang-i  Pahlavik 1,300  » 

77.  Forma  of  epistles,  990  words  in  No.  30    ...     .  —  » 

78.  Cities  of  the  land  of  Iran 880  » 

79.  Oatrang  nämak 820  » 

80.  Dirakht-i  Asürik 800  » 

81.  Form  of  marriage  contract 400  » 

82.  Wonders  of  the  land  of  Sistän 290  » 

Total  in  Class  III.     40,860  words. 

According  to  this  cstimate  the  total    extent    of   Pahlavi 
literature    known  to  exist  amounts  to  about  585,390   words, 
or  very  nearly  the  same  extent  as  the  scriptures  of  the  Old      , 
Testament.     Whether    nincli    moro  reniains  to  he  discovered      -j 


West:  2he  extent,  language,  and  age  of  Pahlavi  literature.  403 

is  very  doubtful,  the  Parsis  themselves  being  by  no  means 
sanguine  on  the  subject.  The  original  Pahlavi  of  the 
Shikand-gümänik  Vijär  has  not  been  discovered,  but  the 
style  of  the  Päzand  text  removes  all  doubt  as  to  its  tran- 
scription  from  a  Pahlavi  work.  Nos.  55,  57,  60,  64,  and 
67  have  also  been  only  found  in  a  Päzand  version,  but  the 
other  Äirms  exist  in  Pahlavi  characters,  thongh  their  lan- 
guage  may  not  be  very  old.  There  are  likewise  a  few  other 
Päzand  texts  of  small  extent,  which  have  not  been  included 
in  the  lists,  because  their  Pahlavi  origin  is  more  or  less 
uncertain. 

Of  the  Pahlavi  texts  above  detailed  aboiit  222,000  words 
have  been  already  priuted  and  published,  and  about  198,000 
words  translated.  Of  these  translations  several  exist  in  more 
than  one  langnage;  thus,  about  187,000  words  have  been 
translated  into  English,  66,000  into  Gujaräti,  84,000  into 
German,  and  19,000  into  French.  The  publication  and  trans- 
lation  of  the  Dinkarc?  is  still  in  progress,  the  text  of  the 
Social  Code  of  the  Parsis  in  Öasanian  times  is  nearly  ready 
for  publication,  and  the  Parsis  are  making  arrangements  for 
Publishing  the  texts  of  the  complete  Iränian  Bundahish,  the 
Yärfkär-i  Zarirän,  and  some  other  writings  of  which  only 
one  or  two  manuscripts  are  known  to  exist. 

Before  proceeding  to  further  details  (in  the  course  of 
which  it  may  be  necessary  to  quote  several  Pahlavi  passages) 
it  is  necessary  to  describe  the  mode  of  transliterating  that 
will  be  here  adopted.  The  ditficulty  of  transcribing  Pahlavi 
in  an  intelligible  manner  arises  not  only  from  the  deficiencies 
of  the  Pahlavi  aiphabet,  but  also  from  the  superfluity  of  its 
Compound  forms  which  cannot  be  simplified  without  entirely 
destroying  the  characteristics  of  Pahlavi  manuscript.  The 
transliterator  of  Pahlavi  has,  therefore,  to  indicate  not  only 
the  various  approximate  sounds  of  each  letter,  but  also  the 
particular    mode  in  which  the  letter    bappens  to  be  written, 

27* 


404  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  18SS. 

and  to  do  so  in  such  a  manner  that  any  Pahlavi  scholar 
may  readily  understand  the  System  adopted,  and  be  able  to 
restore  the  words  to  their  original  form.  The  simplest  way 
of  indicating  different  letters,  or  combinations,  that  have 
practically  the  same  sound,  appears  to  be  the  use  of  italics 
for  those  forms  that  are  least  normal;  and,  on  this  principle, 
with  the  occasional  use  of  an  apostrophe  or  hyphen,  it  has 
been  found  possible  to  express  all  the  variations  of  the 
Pahlavi  characters  with  practical  success. 

The  various  sounds  of  the  fourteen  simple  letters  of  the 
Pahlavi  aiphabet  will  be  seen  from  the  following  statement 
of  the  equivalents  used  for  transliterating  each  of  them:  — 

1.  a  (initial),  ä,  h,  kh,  zd.  8.  s,  or  two  of  No.  14. 

2.  b.  9.  sh,  or  Nos.  14-t-l. 

3.  p,  f,  V.  10.  gh. 

4.  t,  d.  11.  k. 
5-  c,i)  j,2)  z.                                 12.  m. 

6.  r,  1.  13.  n,  v,^)  ü,  0,  o,  r,  l. 

7.  z.  14.  y,  1,  e,  d,  g,  j.2) 

There  is  also  a  fifteenth  letter,  which  is  merely  an  old 
form  of  No.  6,  used  as  a  final  r  or  l  in  a  few  Semitic 
words,  and  shaped  like  an  Avesta  o;  it  occurs  only  in  akbar, 
aZ,  zekar,  mekhär,  and  vaZ,  and  remains  unaltered  when  any 
suffix  is  added  to  these  words.  The  Avesta  letter  ä  is  like- 
wise  found  in  Pahlavi,  but  is  transcribed  an;  it  is  only  used 
in  the  suffixes  -an  of  the  present  participle  and  -and  (often 
-and)  of  the  conjunctive  third  person  plural.  Another  pe- 
culiar  Compound  is  shaped  like  the  second  Avesta  e,  but 
with  a  horizontal  stroke  across  the  lower  part  of  tho  letter; 
it  is  used  either   for   the    Semitic   preposition    den,    »araong. 


1)  Like  ch  in  »church«. 

2)  As  in  »judge«. 

3)  Like  English  w  before  a,  a,  6,  ü,  and  English  v  before  i,  e,  y. 


West:  The  extent,  Janguage,  and  age  of  PaTilavi  literature.  405 

within«,  (originally  ben,^)  the  horizontal  stroke  being  appa- 
rently  a  remnant  of  that  of  the  original  b),  or  for  the  suffix 
-yen  of  the  optative  third  person  plural,  or  singular,  used 
with  some  Semitic  verbal  stenis  in  Pahlavi.  With  regard 
to  the  short  vowels,  a,  e,  i,  o,  u,  it  should  be  observed  that 
only  the  initial  »a«  and  the  final  italic  o  are  expressed  in 
Pahlavi  characters. 

Besides  the  simpler  forms  there  are  several  abbreviated 
Compounds  that  frequently  oecur,  in  which  one  loop  of  the 
complete  Compound  is  omitted.  This  kind  of  abbreviation 
occurs  in  Compounds  of  the  first,  sixth,  eighth,  ninth,  or 
fourteenth  letter  with  the  third,  fifth,  or  some  Compound. 
And  the  abbreviation  is  indicated  either  by  italicizing  the 
letter  which  is  abbreviated,  or  any  short  vowel  occurring 
between  the  two  letters,  or  by  introducing  an  apostrophe 
between  the  two  letters  when  no  short  vowel  intervenes. 
Thus,  an  abbreviated  Compound  of  the  first  with  the  third 
or  fifth  letter  of  the  aiphabet  may  be  indicated  by  ap,  af, 
av,  ac,  «j,  az,  or  aic,^)  if  initial;  or  by  ap,  af,  äv,  äc^  äj, 
äjs,  Aap,  Äaf,  Aac,  haz,  or  Ms^  in  any  position.  An  abbre- 
viated Compound  of  the  sixth  with  the  fifth  letter  may  be 
indicated  by  raj,  ra^,  r'j,  or  r'^.  One  of  the  eighth  with 
the  third  or  fifth  letter  by  s^;,  di/),  s/",  sac,  saj,  or  sij.  One 
of  the  ninth  with  the  third  or  fifth  letter  by  yaf,  yav,  or 
sh'c.  And  one  of  the  fourteenth  with  the  third  or  fifth 
letter  by  y«^,  ye^,  ec,  ej,  ^^,  Iv,  ic,  U,  daj,  gac,  gaj,  or  gwj. 

It  may  be  here  noted  that  the  identity  of  form  between 
the  ninth  letter  (sh)  and    any    Compound    of  the  fourteenth 


1)  In  the  long  Sasanian  inscription  of  NaA"sh-i  Rustam,  11.  27, 
34,  52,  64  (see  Indian  Antiquary  for  1881,  pp.  29—34).  This  original 
form  is  also  given  as  bakbin  (properly  baen)  in  the  Farhang-i  Pahlavik, 
ed.  Hoshangji  and  Haug,  pp.  18,  93. 

2)  This  is  a  doubly  abbreviated  Compound  of  the  first,  fourteenth, 
and  fifth  letters,  which  is  sometimes  written  like  ap. 


406  Sitzung  der  pliüos.-iMlol.  Classe  vorn  5.  Mai  1888. 

and  first  (such  as  yä,  yah,  da,  dah,  gä)  appears  to  have 
arisen  in  very  recent  times,  Old  manuscripts,  especially 
those  written  in  Persia,  distinguish  sh  from  the  Compound 
by  omitting  the  initial  dot  in-  the  former.  Unfortunately, 
tbis  distinction  has  not  been  preserved  in  the  printed   texts. 

The  reasons  for  using  d  instead  of  t  in  certain  cases 
are,  first,  that  the  Persians  used  d  in  such  cases  as  soon  as 
they  adopted  their  modern  aiphabet,  thus  indicating  that  the 
sound  had  become  that  of  d  before  that  time;  secondly,  we 
know  that  the  distinction  between  d  and  t  was  not  very 
strongly  marked  even  as  early  as  the  third  Century,  for  while 
the  earlier  Sasanian  inscriptions  have  yaztän  for  »the  sacred 
beings«,  those  engraved  thirty  or  forty  years  later  alv?ays 
have  yazdän;  thirdly,  on  Indo-Scythic  coins  of  the  first 
Century  we  find  the  name  of  the  angel  of  wind  written 
OAAO  in  Greek  uncials,  indicating  that  this  name  was 
pronounced  Ykdo  even  in  those  early  times.  The  final  O,  in 
this  and  other  names  on  the  Indo-Scythic  coins,  is  also  an 
interesting  confirmation  of  the  reading  that  was  adopted  in 
1872^)  for  the  puzzling  final  vowel  which  can  be  optionally 
used  after  the  third,  fourth,  fifth,  eleventh,  and  thirteenth 
letters  of  the  Pahlavi  aiphabet. 

The  explanation  of  the  singular  multiplicity  of  sounds 
represeuted  by  the  first,  thirteenth,  and  fourteenth  letters 
is  simple  enough.  Each  of  these  letters  represents  several 
separate  Sasanian  characters  which,  in  the  course  of  time, 
have  approximated  in  form,  and  are  now  written  alike. 
Thus,  the  first  letter  is  an  amalgamation  of  the  Sasanian 
characters  for  ä,  h,  and  zd;  the  thirteenth  letter  is  an  amal- 
gamation of  the  Sasanian  n  and  v,  the  latter  of  which  was 
also  used  for  r  and  1,  indicating  an  earlier  amalgamation  of 
original  characters  for  v  and  r;  and  the  fourteenth  letter  is 
an  amalgamation  of  the  Sasanian  y,  d,  and  g, 

1)  In  the  text  of  the  book  of  Arrfä-Viraf. 


West:  The  extoit,  languacic,  and  age  of  Pahlaci  literatnrc.  407 

The  thirteeiith  letter  Stands  for  r  or  l  in  seveml  words, 
both  Seniitic  and  Iranian.  Thus,  we  have  the  Semitic  barä, 
shef?nin,  ghaZ,  ko/ä,  karitun,  miZayä,  gabrä,  yemaZeZün,  etc., 
and  the  Iranian  (itVin,  avarik,  ätür,  khürsand,  pürsid',  iräz^ 
sardär,  kirfak,  karrf,  mitro,  dürest,  etc.  A  few  of  these 
words  are  also  written  occasionally  with  the  sixth  letter, 
such  as  karitun  and  yemalelün. 

In  sorae  Pahlavi  words  an  original  b  has  become  d 
through  being  joiued  to  the  following  letter  in  hasty  writing, 
and  this  change  has  gradually  become  permanent.  In  such 
words  the  permanence  of  the  change  has  to  be  admitted, 
and  the  letter  is  represented  by  d,  although  it  might  perhaps 
be  reasonably  indicated  by  Italic  h.  In  many  cases  the 
original  form  of  the  word  is  still  extant,  though  rarely  used 
when  the  word  is  of  Semitic  origin;  thus,  we  find  both  bar 
and  dar,  junbinif?  and  jundink?,  shebküu  (Ch.  p^li*)  and 
shedkün ,  mekablün  (Ch.  hl^  and  raekadlün ,  vabidün  ^) 
(Ch.  12)1)  and  vadidün,  yensebün  (Ch.  2üf)  and  yensedün, 
debrün  (Ch.  I^l)  and  dedrün,  ben  (Ch.  ]''3)  and  den  (as 
mentioned  above).  Sometimes,  however,  we  find  only  the 
altered  form,  as  in  cedrün  (Ch.  "i^^),  zeduun  (Ch.  ]2\), 
mezadnim  (Ch.  fZT),  neked'^)  (Heb.  n3p3),  and  yüdän  (for 
yilbän,  Av.  yavan). 

Where  the  thirteenth  letter  represents  an  original  Se- 
mitic y,  or  initial  N,  some  scholars  object  to  its  transliteration 
by  V,  and  prefer  6  as  a  closer  approximation  to  the  Semitic 
sound.  If,  however,  we  consider  that  the  sound  of  the 
Pahlavi  syllable  va  was  more  like  English  wa  than  va,  the 
diff'erence    between  ji  and    va   is    not    really    so    great    as    it 

1)  Read  bahün  in  the  Farhäng-i  Pahlavik,  where  the  first  letter 
is  omitted.  It  occurs  correctly  in  the  long  inscription  of  Nafcsh-i 
Rustam,  11.  2,  6. 

2)  A  final  Pahlavi  d  often  differs  froiu  b  only  in  size. 


408  Sitzung  der  philos.-philol.  Glosse  vom  5.  Mai  1888. 

appears  to  be.  It  must  also  be  remembered  that  the  sound 
of  y  is  decidedly  consonantal,  and  this  fact  is  strongly  indi- 
cated  in  Pahlavi  itself  by  the  coexistence  of  the  two  forius, 
Tai  and  ghaZ,  for  the  Semitic  ^y.  Further  evidence  of  the 
consonantal  character  of  v  =  y  is  given  by  its  occurrence 
at  the  beginning  of  words  without  having  the  vowel  »a« 
prefixed  as  mater  lectionis;  which  prefix  is  almost  indi- 
spensable in  Pahlavi  when  the  thirteenth  or  fourteenth  letter 
is  a  vowel  and  would  otherwise  be  initial,  as  in  aüpär(?, 
aüftä«^,  aürvar,  aüzmü^,  aüzüsht,  aüzdes,  aüstofrld?,  aösh, 
al^ishn,  Alrän,  etc.  It  is  doubtful  if  there  be  any  exceptions 
to  this  general  rule,  except  ü^dahishn,  istäd',  and  their  cog- 
nate  forms. 

The  ordinary  use  of  a  hyphen  is  to  connect  the  com- 
ponents  of  Compound  words,  which  are  often  written  separately 
in  the  Pahlavi  character,  or  to  render  thera  more  intelligible 
by  partial  Separation,  as  in  ham-darfistänlh,  Aühaniia^rf-däc?, 
4-petishtän,  bini-hömand,  pet^äki-aito ,  marc?-l,  va-zak-i, 
vad-ic,  etc.  But  in  some  cases  the  hyphen  is  used  to  prevent 
ambiguity,  or  to  indicate  the  raode  of  writing;  thus  margar'jän 
and  marg-ar'jän  indicate  two  different  modes  of  writing  the 
same  word,  in  which  ga  represents  the  fourteenth  letter, 
and  g-a  the  ninth.  Again,  when  the  negative  particle  an- 
is  prefixed  to  an  initial  »a«,  a  hyphen  is  used  to  show  that 
the  initial  is  expressed  in  writing,  as  in  an-ar'jänik,  an- 
anas^orik,  etc.;  when  the  initial  is  a  there  can  be  no  ambi- 
guity, and  the  hyphen  is  not  used,  as  in  anäsäyak.  Sometimes 
the  negative  prefix  a-  is  written  separate  frora  the  word, 
like  the  Pahlavi  cipher  for  2;  in  which  case  a  hyphen  is 
used,  as  in  a-afzärih,  a-khükih,  a-bär,  a-bükhtikih ,  etc. 
Sometimes  the  negative  prefix  a-  is  used  irregularly,  instead 
of  an-,  before  au  initial  ä;  in  which  case,  being  defective, 
it  is  italicized,  and  a  hyphen  is  also  used,  as  in  a-ärämec?, 
a-äraükht,  etc. 


West:  The  extent,  language,  and  age  of  Pahlavi  literature.  409 

Tliere  are  about  fifty  Semitic  words  in  Pahlavi  that. 
termiiiate  with  a  Compound  whose  traditioual  reading,  -man, 
is  still  retained,  because  its  correct  reading  is  not  quite 
certain.  Hang  endeavoured  to  explain  this  terraination  as  a 
suffix  -man,  in  accordance  with  the  traditional  reading,  but, 
as  he  was  compelied  to  iise  three  difFerent  explanations  to 
account  for  its  use  in  dijfferent  words,  and  had  to  make  some 
assumptions  that  might  be  disputed,  it  cannot  be  said  that 
his  explanation   was  very  convincing. 

The  actual  facts  connected  with  this  termination,  so  far 
as  they  have  been  ascertained  down  to  the  present  time, 
appear  to  be  as  follows:  —  Of  the  fifty  Semitic  words  in 
Pahlavi,  containing  the  so-called  -man,  twelve  occur  also  in 
the  Sasanian  inscriptions,  wliere  the  Compound  -man  corre- 
sponds  to  a  single  letter  whose  exact  sound  has  not  been 
satisfactorily  ascertained,  but  which  is  always  a  final  letter. 
Tn  Pahlavi,  also,  this  Compound  -man  is  final,  so  far  as  the 
Semitic  portion  of  the  word  is  concerned,  though  it  may 
have  Iränian  Suffixes  annexed  to  it;  but  in  the  case  of  certain 
verbs,  hereafter  detailed,  this  finality  may  be  questioned. 
In  forty  of  these  Semitic  words  whose  etymology  has  been 
ascertained,  the  termination  -man  may  be  explained  as  corre- 
sponding  to  an  original  final  -ä  in  31  cases,  either  to  -ä  or 
-äh  in  three  cases,  to  -äh  in  three  cases,  either  to  -äh  or 
-man  in  two  cases,  and  to  ])^  in  one.  Rejecting  the  two 
optional  cases  of  -man,  as  mere  possibilities,  it  is  evident 
that  au  Iränian  might  very  well  pronounce  this  termination 
as  -ä  in  every  case.  The  difficulties  that  remain  to  be  ex- 
plained are  how  the  Sasanian  letter  became  the  Pahlavi 
Compound  -man,  and  why  the  Sasanians  had  two  letters  of 
the  same  sound  (ä)  in  thejr  aiphabet.  The  first  of  these 
difficulties  has  been  satisfactorily  overcome  by  the  decipher- 
ment  of  a  Pahlavi  inscription  of  the  seventh  Century^)  on  a 

1)  See  Indian  Antiquary  for  1882,  pp.  223 — 226. 


410         Sitziwg  der  philos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

stone  amulet  which  was  oifered  for  sale  at  Baghdäd  in  1875. 
In  this  inscription  the  termination  -man  occurs  six  times 
(in  the  words  ba/-man,  denman,  and  nafshman)  in  varions 
forms  intermediate  between  the  Sasanian  letter  and  the 
modern  Pahlavi  termination,  proving  that  the  latter  has 
descended  from  the  former  by  a  gradual  change  in  its  written 
shape;  and,  as  the  Sasanian  original  has  no  resemblance  to 
a  Sasanian  -man,  the  identity  of  its  modern  Pahlavi  descen- 
dant  with  a  Pahlavi  -man  can  be  only  an  accident.  The 
second  difficulty  remains  to  be  solved  by  some  scholar  who 
shall  possess  a  thorough  knowledge  of  all  the  Semitic  dialects, 
existing  shortly  before  and  after  the  Christian  era,  as  well 
as  an  intimate  acquaintance  with  the  peculiarities  of  the 
Pahlavi  writings.  It  has  been  proposed  to  read  the  uncertain 
Sasanian  letter  as  a  Semitic  n  which  has  no  separate  repre- 
sentative  in  the  Sasanian  aiphabet;  bot  this  is  merely  solving 
one  difficulty  by  creating  another  of  a  similar  nature.  It 
is  quite  certain  that  the  Semitic  n  is  ofteu  represented  by 
the  same  Sasanian  letter  as  that  which  represents  n,  as  in 
the  words  hatimün,  hankhetün,  havitun,  yehamtün,  and 
yehvün;  and,  if  the  uncertain  final  letter  also  stood  for  H, 
the  question  why  the  Sasanians  used  two  letters  to  represent 
n  would  become  a  new  difficulty.  In  the  great  majority  of 
cases  the  Pahlavi  final  -man  seems  to  represent  the  emphatic 
Suffix  K_,  but  it  also  represents  other  instances  of  final  N-, 
and  the  emphatic  suffix  is  likewise  represented,  more  fre- 
quently,  by  tlie  first  Pahlavi  letter  -ä.  The  two  words  in 
which  the  final  -man  might  optionally  represent  a  Semitic 
-man  are  tamman  and  latamman  (cf.  Ch.  jÖFi  and  DÖR). 
Three  of  the  verbal  stems  that  contain  the  Compound  -man 
are  medammün  (Ch.  Hol),  vashamniün  (Ch.  V^ti'),  and 
ye^bemün  (Ch.  n2iJ),  in  which  the  Compound  represents  the 
final   radical   letter;   l)ut,  if  the  suffix  -ün  or  -un  be  Semitic 


West:  The  extent,  language,  and  age  of  Pahlavi  Uterature.  41 1 

(as  is  usually  supposed)  the  Compound  is  not  the  final  of 
the  Semitic  stera.  On  consideration  of  all  these  facts  it 
appears  almost  certain  that  this  Pahlavi  final  Compound  in 
Semitic  words  cannot  stand  for  an  original  -man,  but  very 
probably  represents  some  such  sound  as  -ä  or  -äh,  though 
it  may  still  be  desirable  to  adhere  to  the  traditional  reading, 
-man,  until  the  correct  sound  is  ascertained  with  greater 
certain  ty. 

By  attending  to  the  general  principles  of  ti*ansliteration 
above  detailed,  and  extending  them  so  as  to  include  all  special 
peculiarities  of  the  manuscripts,  it  is  possible  to  transcribe 
the  texts  so  as  to  raake  the  actual  form  of  each  word  per- 
fectly  intelligible  to  any  Pahlavi  scholar  who  vfill  take  the 
matter  into  consideration.  There  is  really  very  little  Variation 
in  Pahlavi  orthography  beyond  a  few  duplicate  forms  of 
well-known  words,  some  little  nncertainty  in  the  use  of  long 
and  short  vowels,  of  z  and  d,  and  of  abbreviated  or  redundant 
Compounds.  And,  with  regard  to  etymology,  there  is  hardly 
any  language  that  contains  so  few  uncertainties  as  Pahlavi; 
this  is  fortunate,  because  the  ambiguity  of  the  writing  often 
makes  the  reading  of  a  word  very  uncertain  tili  its  ety- 
mology is  known. 

Returning  to  the  consideration  of  the  Pahlavi  texts,  it 
should  be  distinctly  understood  that  no  one  should  turn  to 
the  translations  of  the  Avesta  for  specimens  of  pure  idio- 
matical  Pahlavi.  The  object  of  the  Pahlavi  translator  of 
an  Avesta  text  was  to  produce,  as  nearly  as  possible,  a 
word-for-word  translation,  so  that  the  separate  meaning  of 
each  word  of  the  original  Avesta  might  be  ascertained 
without  reference  to  any  lexicon,  while  the  general  sense  of 
each  sentence  was  not  too  much  obscured  by  the  unusual 
arrangement  of  the  words.  Such  translations,  therefore, 
consist  of  Pahlavi  words  arranged  according  to  the  rules  of 
Avesta  syntax,  so  far  as  the  necessity  of  making  the  seutences 


412  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

intelligible  to  Pahlavi  readers  will  perrait.  Just  in  tlie  sanie 
way  as  Neryösang's  Sanskrit  translations  consist  of  Sanskrit 
worcls  arranged  according  to  the  rules  of  Pahlavi  syntax, 
when  he  has  translated  from  a  purely  Pahlavi  text;  or 
according  to  the  rules  of  Avesta  syntax  diluted  by  Pahlavi 
modifications,  when  he  has  translated  from  a  Pahlavi  version 
of  the  Avesta.  And  as  we  do  not  expect  classical  Sanskrit 
from  Neryosang,  so  we  must  not  expect  classical  Pahlavi  in 
the  Pahlavi  translations  of  the  Avesta. 

The  word-for-word  translation  is  interspersed  with  a 
running  commentary  of  glosses,  either  by  the  same  or  a 
later  band,  inserted  as  parenthetical  clauses,  as  in  the  follow- 
ing  passage  from  Pahl.  Yasna,  XLV,  5  a  (Sp.):^)  —  Pavan 
zak-i  leküm  shalitäih  (den  denman  gehän  aegh  leküm  shali- 
täih)  ayehabünishno  alto  (aeghash  mindavam  lä  yehabünishno) 
zak-i  dariflfär  yätünecZo  (mün  pavan  resh  kar(?ano  yätüned) :  — 
»In  that  doniinion  of  yours  (in  this  world,  where  your  do- 
niinion  is,)  there  is  no  giving  (that  is,  nothing  is  to  be 
given)  to  him  who  comes  as  a  tearer  (who  comes  with  in- 
fliction  of  a  wound).« 

The  parenthetical  clauses,  when  merely  glosses,  are 
usually  introduced  by  the  particle  aegh,  »that  is«,  though 
this  is  often  omitted,  as  may  be  seen  in  the  passage  just 
quoted.  They  are  frequently,  however,  not  mere  glosses, 
but  explanatory  additions  to  the  sentence,  that  are  also  often 
introduced  by  the  same  particle  which  is  apt  to  mislead  the 
unwary,  but  is  then  to  be  understood  as  meaning  »that,  so 
that,  or  thus«.  Instances  of  such  explanatory  additions  occur 
in   the    following   passage    from    Pahl.    Yas.   XIX,  G,  7:  — 


1)  In  this  and  all  otiier  quotations  the  words  in  parentheses 
are  explanatory  additions  by  the  Pahlavi  translator,  having  no  equi- 
valents  in  the  Avesta  text;  and  the  English  words  in  italics  are  not 
expressed  in  the  Pahlavi  version.  The  Pahlavi  text  itself  is  corrected 
according  to  the  best  manuscripts  available. 


West:  Ihe  extent,  language,  and  age  of  Pahlavi  Uterature.  413 

Müll  zak  bakhtarih  min  Ahunaver,  Spitäraän  Zaratüshto! 
pavaii  abara-gobishiiih  (aetrhash  a«;istäk  tang  den  iniyano 
barä  lä  yenialelünef/o)  abara-süfZakih  (aegh  barä  khehnünef/o) 
srkyed,  pavan  100  madam  valmanshäno  häno-1^)  radih-i 
gäsäno  amato  pavan  abarä-göbishnih  abarä-sürfakih  sräyerfo; 
(ae(?üno  ya^ishuo  ghaZ  yehevüne<?o) :  —  »Whoever  chants 
that  allotraent  of  the  Ahunavair,  0  Zaratüsht  the  Spitämän ! 
without  talking  (that  is,  he  strictly  does  not  speak  out  in 
the  middle  of  his  Avesta)  and  not  without  anxiety  (that  he 
may  slumber),  it  is  like  a  hundred,  as  regards  any  other 
authority  of  those  of  the  Gäthas,  when  one  chants  them 
without  talking,  or  not  without  anxiety;  (thus  it  becomes 
fit  for  the  ceremonial).« 

In  raany  places  the  Pahlavi  translators  introduce  an 
optional  Version  of  some  particular  phrase,  or  an  optional 
opinion,  with  the  words:  aito  mün  ae^üno  yemaleiünetZ-a^, 
»there  is  some  one  who  would  say  thus«,  as  in  Pahl.  Yas. 
X,  42:  —  ^fat  barä  shedkünam  pavan  zanishno  (aeghat 
barä  paräyem)  khürsand  maräno  grestak-i  saritaräno;  (aito 
mün  aerfüno  yemalelüned-ae:  Homant  barä  shedkünesh):  — 
»I  dismiss  from  thee  by  beating  (that  is,  I  lop  off  thee)  the 
satisfied  deadly  ones^  the  burrows  of  the  evil  ones;  (there  is 
some  one  who  would  say  thus:  It  is  'mayest  thou  dismiss).« 
Many  of  the  parenthetical  clauses  and  optional  versions  have 
the  appearance  of  being  interpolations  by  after  revisers  of 
the  translations,  but  any  attempt  to  distinguish  such  inter- 
polations would  be  mere  guesswork. 

The  Pahlavi  translations  are  also  interspersed  v^ith  com- 
mentaries,  in  which  the  opinions  of  various  old  commen- 
tators  are  quoted.  In  some  cases,  and  generally  at  the  close 
of  some  particular  subject  in  the  text,  these  commentaries 
are  of  considerable  length,  and  often  contain  quotations  from 


1)  Or  akhaJ'an-1. 


414         Sitzung  der  philos.-philol.  Glasse  vom  5.  Mai  1888. 

Avesta  texts,  many  of  which  are  not  now  extant  elsewhere. 
These  commentaries,  as  iiiight  be  expected,  contain  purer 
Pahlavi  tban  the  translatecl  text,  but,  as  they  are  often 
written  in  a  very  abbreviatecl  manner,  they  do  not  afford 
good  exemples  of  Pahlavi  style.  The  extent  of  commentary, 
accompanying  the  translated  text,  varies  very  much  in  dif- 
ferent  texts;  thiis,  while  the  F'ahlavi  Yasna,  VisparacZ,  and 
Yashts  contain  very  little  commentary,  fully  one-fourth  of 
the  Pahlavi  Vendidäc?,  two-thirds  of  the  Aogemadaecä,  and 
three-fourths  of  the  Nirangistun  consist  of  commentary. 

It  is  unfortunate  that  the  European  editors  of  such 
texts  as  the  Vendidät?  should  have  separated  the  Pahlavi 
from  the  Avesta,  as  they  have  thereby  placed  an  additional 
difficulty  in  the  way  of  the  snccessful  study  of  both  texts, 
It  is  true  that  the  Parsis,  in  former  times,  extracted  the 
Avesta  from  the  combined  texts  for  liturgical  purposes;  but 
they  have  never  separated  the  Pahlavi  version  from  the 
Avesta  text.  In  their  combined  form  the  two  texts  are 
mutually  explanatory;  and,  when  separated,  it  is  advisable 
to  recombine  them  mentally  on  meeting  with  any  serious 
difficulty.  It  is  sometimes  by  no  means  easy  to  determine 
whether  one  of  the  Avesta  sentences  be  a  portion  of  the 
original  text,  or  merely  a  quotation  inserted  by  the  Pahlavi 
translator,  as  there  is  nothing  in  the  manuscripts  to  distin- 
guish  them,  beyond  the  general  connection  of  their  meaning 
with  the  context,  either  Avesta  or  Pahlavi,  and  neither  the 
Parsi  extractors  of  the  Vendidäf^  Sädah,  nor  the  European 
editors  of  the  separated  texts,  are  infallible.  The  general 
rule,  that  an  Avesta  sentence  which  is  not  translated  must 
be  a  quotation,  may  probably  l)e  relied  on,  though  it  should 
be  carefully  tested  by  reference  to  the  contexts  in  all  cases. 
But  the  converse  rule,  that  an  Avesta  sentence  which  is 
translated  must  belong  to  the  Avesta  text,  is  liable  to  ex- 
ceptiun;    thus,    in    Puhl.   Vend.  11,   10,  the  sentence   Yimahe 


West:  The  extent,  language,  and  age  of  Pahlavi  literature.  415 

Vivanhanahe    ashaonö    fravasMm   yazamaide    is    translated, 
althougb  it  is  evidently  a  quotatioii.    This  raises  the  qiiestion 
whetber  such  passages  as  Veud.  I,   15  (W.)  raay  not  consist 
of  inere  quotations,  although  translated ;  at  any  rate,  several 
nndoubted    quotations  in  the  Pahlavi    translation    have   been 
admitted  into  the  Avesta  text,    even    though    not  traiislated, 
such  as  tbose  in  Vend.  I,  2  and  Jchshat/amna  .  .  .  to  the  end 
of  Vend.  XVIII,  55  (W.);  also  hapfa  .  .  .  to  .  .  .  aslikare 
and  adha  zimahe  .  .  .  to  .  .  .  zaredhaem  in  Vend.  I,  4  (W.), 
and  otlier  such  quotations  which  are  likely  to  perplex  scbolars 
who  do  not  ascertain  their  immediate  context  in  the  manu- 
scripts.     The  Avesta  which  is  nierely  qnoted  by  the  Pahlavi 
translators  in  their  commentaries  amounts  to  about  400  words 
in    the   Vendidä^,    and    1700  in  the  Nirangistän,    of   which 
latter  number  about  1400  are  from  the  Yasna  or  VisparatZ. 
By  comparing  the  Contents  of  the  Nirangistän  (so  far 
as   they   can    be   understood    without    long-continued    study) 
with  the  account  of  the  Nasks  given  in  the  eighth  Ijook  of 
the  DinkarfZ,  it  has  been  ascertained  that  one-eighth  of  the 
work  is  a  portion  of  the  Aerpatistän  section  of  the  Hüspäram 
Nask,    and   the  remaining  seven-eighths  are  a  large    portion 
of   the    Nirangistän    section    of    the    same    Nask.      All    the 
Bombay  manuscripts  of  the  Nirangistän  (so  far  as  they  have 
been  exaniined),  including  Haug's  in  the  Staatsbibliothek  in 
München    and    Westergaard's   in    the   University   Library  at 
Kopenhagen,    are    descendants    of   one    original    which    was 
brought  from  Iran  to  India  in   1720.     This  manuscript   has 
disappeared,    but  a  copy  of  it.    written  in  1727,    still  exists 
in  Poona  and  is  the  best  authority  for  what  may  be  called 
the  Bombay  text  of  the  work.    Another  independent  authority, 
more  complete  at  the  beginning,    but  less  so  at  the  end,  is 
an  old  manuscript  which  was  brought  from  Iran  to  Bombay 
some  fifteen  years  ago,  and  is  novv  in  the  possession  of  Möbad 
Tehmuras  Din.shawji  Aukalesaria.     It  appears  probable  that 


416         Sitzung  der  philos-philöl.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

both  these  authorities  are  descended  from  some  very  old  frag- 
raent  of  the  Hüspäram  Nask,  defective  at  botli  ends,  and 
witli  niany  of  its  intermediate  folios  either  lost,  or  misplaced. 
This  old  fragment  has  been  copied,  just  as  it  stood,  without 
any  notice  being  taken  of  the  lacunaB,  or  dislocations,  so  that 
the  task  of  editing  the  Pahlavi  text  is  likely  to  be  one  of 
110  small  difficulty  and  uncertainty,  whenever  it  is  undertaken. 

Whether  the  Aogemadaecä  (so  called  from  its  initial 
Avesta  word)  can  be  identified  as  a  small  fragment  of  one 
of  the  Nasks  is  as  yet  uncertain.  It  has  much  of  the 
appearance  of  an  Avesta  text  with  Pahlavi  translation  and 
extensive  commeiitary,  as  may  be  seen  from  the  Avesta- 
Fäzand-Sanskrit  Version  edited  and  translated  by  Geiger  in 
1878.  Two  Avesta-Pahlavi  manuscripts  of  the  same  text 
have  been  examined  in  Bombay,  both  comparatively  modern; 
one  of  them,  written  in  1820,  prefixes  the  first  190  words 
of  some  ylfnn  to  this  text,  and  the  last  50  words  of  Geiger's 
edition  (§§  106 — 111)  are  evidently  the  conclusion  of  the 
^fnn-i  Dähmän. 

The  Vijirkard-i  Dinlk  is  a  kind  of  Pahlavi  Riväyat, 
or  miscellany  of  decisions  on  religious  subjects,  and  was 
published  in  1848  by  the  high-priest  of  the  Parsis  in  Bombay 
from  a  copy  of  an  Iränian  maniiseript  of  the  thirteenth  Cen- 
tury which  had  been  brought  in  former  times  to  Surat.  It 
professes  to  have  been  compiled  by  MetZyomäh,  first-cousin 
of  Zaratüsht,  but,  if  the  text  has  been  eorrectly  edited,  it 
can  have  iio  pretensions  to  be  as  much  as  a  thousand  years 
old,  and  there  have  been  several  priests  and  commentators 
of  the  nanie  of  Medyömäh.  The  portions  of  the  Vijirkard-i 
Dinik  that  consist  of  translations  from  the  Avesta  contain 
passages  from  the  Ashem-staota  and  the  Härfokht,  Nihät^üm, 
and  Bagän-yasht  Nasks,  which  are  not  extant  elsewhere  and 
refer  to  inheritance,  carriers  of  the  dead,  preparation  of  the 
vars  or  sacred  hair,  sacred  cakes  for  new-year's  day,  clothes 


West:   The  extent,  Imiguage,  and  age  of  Pahlavi  literature.  417 

for  the  dead,  how  the  names  of  the  dead  are  to  be  mentioned, 
the  sacred  thread-girdle,  the  purification  of  womeii  after 
iniscarriage,  etc. 

Regarding  the  purely  Pahlavi  texts  it  is  unnecessary 
to  niention  luore  than  a  few  particulars.  The  longer  texts 
afFord  the  best  specimens  of  Pahlavi  idiom  and  style;  the 
former  is  nearly  the  same  in  all  the  works,  but  the  latter 
is  much  niore  variable.  Of  the  simple  narrative  style  the 
Bnndahish,  Mainög-i  Khirarf,  and  Kärnämak  are  good  cx- 
amples,  in  which  the  translator  finds  little  difficulty  in  the 
constniction  of  the  sentenees.  The  more  philosophical  works, 
of  course,  are  more  difücult,  but  the  amount  of  difficulty 
depends  more  upon  the  writer  than  upon  the  subject;  thus, 
the  language  of  the  Shikand-gümänik  Vijär  is  comparatively 
simple  and  clear,  while  that  of  the  Dä(fistän-i  Dinik,  the 
Epistles  of  Mänüshcihar,  the  Selections  of  Zä^-sparam,  and 
of  some  parts  of  the  third  book  of  the  Dinkar^?  is  often 
extremely  difficult  and  obscure,  owing  to  the  involved  style 
of  the  writers. 

English  translations  of  Nos.  27,  32,  33,  34,  35,  38, 
part  of  31,  and  the  Indian  Version  of  No.  26  (with  extracts 
from  the  Iränian  version)  have  been  published  in  the  Sacred 
BooJcs  0}  the  East,  vols.  V,  XVIIl,  XXIV;  also  of  Nos.  6, 
36,  39,  and  76  published  separately  by  Hoshangji  and  Haug 
in  1867—72;  and  of  Nos.  40,  41,  43,  61,  and  part  of  51 
by  Peshotan  in  his  Ganje  Shäyagän'^)  in  1885.  German 
translations  of  Nos.  42,  45,  49,  55,  59,  64,  65,  and  frag- 
ments  of  others  have  been  published  by  Spiegel;  of  the  Indian 
Version  of  No.  26  by  Justi;  and  of  No.  73  by  Nöldeke. 
And  a  French  translation  of  No.  47  has  been  published  by 
Barthelemy  in  1887.  Not  to  mention  several  older,  partial, 
and  duplicate  translations. 

1)  See   Le  Museon,   tome  VI,   pp.  263—272,    for  some    further 
information  regarding  Peshotan's  texts. 
1888.  Philo8.-philol.  u.  bist.  Ol.  3.  28 


418  Sitzung  der  pliüos.-pMlol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

All  Indian  copies  of  the  Dinkar^,  including  Haug's  in- 
complete  copy  in  the  Staatsbibliothek  in  München,  are  de- 
scended  from  a  single  manuscript  brougbt  froni  Iräii  to  Surat 
in  1783,  and  still  existing  in  Bombay;  it  appears,  from  its 
colophons,  to  have  been  written  in  1(359,  attested  in  1669, 
and  to  be  descended,  through  intermediate  copies  written 
about  1365^)  and  in  1516,  from  a  manwscript  which  was 
copied  in  1020^)  from  an  original  of  the  latter  portion  of 
the  Dinkar^  which  had  been  preserved  in  Asüristän.  Before 
the  copy  of  1659  was  recopied  in  India  about  71  folios 
were  abstracted  by  persons  to  whom  it  had  been  lent,  so 
that  all  its  copies  are  defective  in  many  places;  and  it  was 
not  tili  1875  that  copies  of  64  of  these  folios  could  be 
collected,  leaving  seven  folios  still  missing.  It  would  appear 
from  this  Information  (which  has  been  obtained  from  the 
colophons,  Mulla  Firüz's  Avijeh-din.,  and  other  sources)  that 
the  earlier  portion  of  the  Dinkar(7,  consisting  of  the  first 
two  books,  had  become  separated  from  the  rest  of  the  work 
nine  iiundred  years  ago,  and  has  long  since  been  lost.  Also, 
that  the  copy  of  1659  is  the  only  real  authority  for  the 
text  in  India.  The  only  other  authority,  known  to  exist,  is 
to  be  found  in  the  Pahlavi  codex  No.  43  in  the  University 
Library  at  Kopenhagen,  which  contains  fully  one-fifth  of 
the  text  in  detached  portions.  Some  of  these  portions  were 
copied  in  1594,  and  are  descended  from  the  same  manuscript 
of  1020  as  the  Bombay  copy.  The  text  of  the  Dinkard 
has  been  in  course  of  pu])lication  and  translation  by  Peshotun 
since  1874,  but  bis  progress  is  slow,  as  with  bis  fifth  volume 
he  hardly  completes  the  first  quarter  of  the  text,    The  eighth 


1)  Four  generations  after  the  Kustam  Mihrban  mentioned  in 
Yösht-i  Fryänö,  VI,  1. 

2)  The  datea  1020,  1516,  and  1659,  as  well  as  1594  below,  are 
all  given  in  the  corresponding  numbers  of  years  after  the  20 th  of 
YnzdAk&rd. 


West:  The  extevt,  Invguage,  and  age  of  Pahlavi  literaiure.  419 

and  iiiuth  books,  which  contain  a  long  summary  of  the 
Contents  of  the  Nasks,  are  being  translated  for  the  Sacred 
Books  of  the  Fast. 

The  Indian  Version  of  the  Bundahish,  the  only  one 
hitherto  accessible  to  Europeans,  is  merely  a  series  of  extracts 
froni  the  Iränian  version,  of  which  latter  version  tvvo  mauu- 
scripts  have  been  obtained  from  Persia  by  Tehmuras  Din- 
shawji  of  Bombay,  within  the  last  fifteen  years.  It  is  the 
collated  text  of  these  two  mannscripts  that  the  Parsis  now 
propose  to  publisii;  and,  in  the  mean  time,  a  few  passages 
from  one  of  theni  have  been  included  in  the  English  trans- 
lation  of  the  Bundahish  in  the  fifth  volume  of  the  Sacred 
Books  of  the  Fast.  The  last  folio  of  a  third  maniiscript  of 
the  Iränian  version  is  also  preserved  in  Westergaard's  codex, 
now  No.  43  in  the  üniversity  Library  at  Kopenhagen,  and 
a  facsimile  of  this  folio  has  been  published  by  Andreas  in 
his  facsimile  edition  of  the  Pahlavi  text  of  the  Mainog-i 
Khirarf. 

The  Riväyat  of  Heme(?-i  Ashavahishtän  is  a  collec- 
tion  of  abont  270  questions  and  answers  on  religious  subjects, 
some  of  which  contain  the  opinions  of  various  commentators. 
It  is  appended  to  one  of  the  two  complete  copies  of  the 
Iränian  Bundahish  mentioned  above,  and  is  foUowed  by  a 
Pahlavi  version  and  commentary  of  Vendidä(7,  V — VIII, 
which  appear  to  be  considerably  longer  than  those  hitherto 
known,  to  which  are  added  some  55  pages  of  particulars 
regarding  the  Yasna  ceremony,  with  several  Avesta  quo- 
tations.  These  latter  texts  have  not  been  included  in  the 
list  of  Pahlavi  texts,  because  the  information  supplied  by 
the  owner  of  the  manuscript  is  not  sufficient  to  determine 
their  nature. 

Of  the  Pahlavi  e7ämäsp  nämak  only  some  fragments 
have  been  found,  amounting  to  rather  more  than  one-fourth 
of  the  extent  of  the  Päzand  version  which  is  also  incomplete. 

28* 


'±20  Sitsmuj  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  188S. 

The  AudarV-i  Hüdävar-i^)  dänäk  consists  of  Hü- 
dävar's  answers  to  a  disciple  ou  various  subjects,  The  only 
copy  found  is  contained  in  tlie  very  old  Pahlavi  codex  No.  20 
in  the  University  Library  at  Kopenhagen,  aiuong  its  folios 
143 — 148  which  were  formerly  very  much  misplaced.  About 
one-fifth  of  the  text  is  certainly  lost,  but  its  original  length 
is  very  uncertain.  In  the  same  old  codex  is  a  copy  of  the 
Mä(?igän-i  gujastak  Abälish,  which  would  suggest 
several  improvements  in  the  text  recently  edited  by  Barthe- 
lemy  who  was  unable  to  consult  it. 

The  Social  Code  of  the  Parsis  in  Sasanian  times  is 
only  known  from  two  fragments  of  consideruble  extent;  one 
consists  of  20  old  folios  obtained  from  Persia  by  Tehmuras 
Dinshawji  who  has  prepared.  a  facsimile  edition  of  theni  for 
publication;  the  other  is  a  modern  copy  of  55  similar  folios 
which  are  still  in  Persia.  This  copy  is  in  the  library  of 
Dastür  Jamaspji  Minociharji  in  Bombay,  and  its  text  overlaps 
that  of  the  other  fragment,  but  indicates  the  loss  of  many 
folios  in  its  original.  Tehmuras  inten ds  to  print  the  text 
of  this  copy,  if  he  cannot  obtain  the  original,  for  pnblication 
with  the  facsimile  of  bis  own  fragment.  The  work,  so  far 
as  it  has  been  examined,  appears  to  be  a  ti'eatise  on  the 
laws  of  property,  in  which  the  opinions  of  many  commen- 
tators  are  qnoted,  and  the  names  of  some  of  the  Sasanian 
kings,  snch  as  Vrihram-i  Ya^fZakar^/an,  Y ■d^dukard-'i  \'ahrriiiiän, 
Pirü^,  and  Khösro-i   Kavär?än,  are  mentioned. 

The  original  of  all  known  copies  of  the  Kärnämak-i 
Artakhshir-i  Päpakan  appears  to  be  in  a  very  old  codex 
belonging  to  Dastür  Jamaspji,  that  also  contains  some  other 
interesting  texts,  such  as  Nos.  74,  75,  78,  82.  All  these 
texts  the  Parsis  propose  to  publish  shortly. 


1)  Or  KhÜ8hvai-i. 


West:   The  extent,  Ia>iguage,  aiid  ar/e  of  Pahlari  literature.  421 

When  the  Parsis  liave  published  the  Contents  of  this 
old  codex,  as  well  as  the  Iränian  Bundaliisli,  and  have  com- 
pleted  the  edition  of  the  Dinkarr/,  while  Tehrauras  publishes 
the  frai^ments  of  the  Social  Code,  Pahlavi  scholars  will  have 
uo  further  reason  to  complain  of  the  inaccessibility  of  mate- 
rials  for  prosecutini^  their  studies.  Whether  they  have  any 
such  reason  at  present  may  fairly  be  doubted,  when  we 
consider  that  nearly  two-fifths  of  the  extant  Pahlavi  literature 
hiis  already  been  published. 

Hegarding  the  origin  of  the  Pahlavi  language  our 
knowledge  has  practically  made  no  advance  beyond  the  point 
attained  by  Hang  in  his  Introdudory  Essay  on  the  Pahlavi 
language,  pp.  128  — 148,  published  in  1870.  We  have  the 
Statement  of  the  Kitäbu-1-tihrist,  quoted  from  Tbn  MuÄ;aifa 
of  the  latter  end  of  the  eighth  Century,  that  the  Persians 
were  in  the  habit  of  using  niany  Semitic  words  in  their 
Pahlavi  writings,  for  which  they  substituted  Iränian  equi- 
valents  when  reading  what  they  had  written.  We  also  know 
that  the  Parsi  priests  still  read  Iränian  equivalents  for  the 
Semitic  words  written  in  their  Pahlavi  manuscripts,  although 
Parsi  students  are  now  being  taught  the  correct  pronunciation 
of  the  Semitic  words  as  ascertained  by  European  scholars. 
And  we  further  learn  from  Ammianus  Marcellinus,  XIX, 
2,  11,  that  the  Persians  (as  early  as  A.  D.  350)  called  their 
king  shahän  shäh,  »the  king  of  kings«,  an  Iränian  title 
which  is  always  expressed  by  the  Semitic  equivalents  (malkän 
malkä)  of  its  coraponents,  when  written  in  Pahlavi. 

These  facts  prove  that  the  Semitic  words  in  Pahlavi 
have,  for  the  last  1100  (or,  possibly,  1500)  years,  been  used 
merely  as  ideograms  to  represent  their  Iränian  equivalents. 
It  has  therefore  been  justifiable  to  assume  that  when  the 
Persians  adopted  the  Pahlavi  aiphabet  from  their  Semitic 
neighbours,  or  predecessors,  they  also  transferred  a  certain 
number    of   complete    Semitic    words    to    their    writings,    as 


422  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

representatives  of  the  corresponding  words  in  their  owii 
language.  This  hypothesis  is,  however,  only  intended  to 
explain  the  facts  as  we  find  them  in  Sasanian  and  later 
times,  and  applies  only  to  the  Sasanian  aiphabet  and  its 
descendants  in  later  Pahlavi.  So  long  as  the  Pahlavi  aiphabet 
continued  in  general  use,  this  clumsy  Ideographie  System 
was  maintained  throiigh  force  of  habit,  but  the  Semitic  words 
disappeared  immediately  the  Persians  adopted  their  modern 
aiphabet;  which  is  an  additional  proof  that  they  had  long 
ceased  to  be  read  as  they  were  written. 

With  regard  to  the  actual  origin  of  Pahlavi  we  have 
so  few  facts  to  guide  us  that  all  attempts  to  explain  it  are 
very  hazardous,  and  lead  to  much  difference  of  opinion. 
Last  year,  in  the  Bahylonian  and  Oriental  Rccord,,  vol.  I, 
pp.  49—54,  69—76,  93—95,  104—108,  de  Harlez  ob- 
jected  very  strongly  to  the  ideographic  theory  as  an  ex- 
planation  of  the  origin  of  Pahlavi.  Admitting  that  the 
Semitic  words  did  finally  become  mere  ideograms,  representing 
their  Iränian  equivalents,  he  maintains  that  they  must  have 
been  originally  spoken  as  they  were  written,  and,  adopting 
Mordtmann's  Suggestion,  he  seenis  to  think  that  Pahlavi  was 
a  mere  literary  language,  adopted  by  writers  and  the  upper 
classes  not  only  for  writing,  but  also  for  conversation,  in 
which  they  borrowed  Semitic  words,  or  used  I*ersian  ones, 
according  to  their  faucy  which  was  only  limited  by  the 
necessity  of  being  intelligible  to  their  learued  readers,  or 
audience.  This  practice,  he  thinks,  continued  tili  the  time 
of  king  Bahräm  Gor  who  forbade  the  use  of  Syriac,  and 
then  the  reading  of  the  Semitic  words  gradually  ceased,  but 
they  were  still  written  because  they  had  been  adopted  in 
the  sacred  scriptures.  In  confirmation  of  his  view  he  has 
noticed  about  a  dozen  facts  in  Pahlavi  texts  which  tend  to 
show  that  the  Semitic  words  were  often  read  as  they  were 
written;  it  is  doubttnl,   however,  wliether  any  of  these  facts 


West:   The  extent,  language,  and  age  of  Pahlavi  literature.  423 

will  l)ear  strict  examiuation,  and  many  of  them  are  based 
lipon  peculiarities,  or  misreadings,  of  some  particular  manu- 
script,  which  are  not  to  be  fouud  in  other  raanascripts  of 
equal,  or  superior,  authority;  in  other  words,  they  merely 
indicate  the  peculiarities,  or  blunders,  of  some  modern  copyist. 
It  is  very  probable  that  we  shonld  find  that  Pahlavi 
was  originally  read  as  it  was  written,  if  we  could  traee  it 
l)ack  to  its  source.  This  was  the  view  taken  by  Haug 
(Essay  on  Pahlavi,  pp.  140,  141),  but  he  traced  it  to  a 
Semitic  dialect  imperfectly  acquired  by  an  Iränian  people, 
so  that  both  vocabulary  and  grammatical  construction  became 
niixed;  and  this  is  certainly  more  consonant  with  the  facis 
we  have  to  explain  than  the  literary-dialect  theory  proposed 
by  de  Harlez.  If  we  want  to  know  what  kind  of  change 
learned  men  are  likely  to  make  in  a  language,  when  they 
borrow  words  from  foreigners,  we  have  only  to  compare 
modern  Persian  with  the  Persian  of  Firdausi,  and  to  notice 
the  general  character  of  the  Arabic  words  with  which  the 
modern  Persian  abounds.  If  we  then  compare  the  Persian 
of  Firdausi  with  the  Pahlavi  writings,  and  notice  the  general 
character  of  the  Semitic  words  which  the  latter  contain,  we 
are  immediately  Struck  by  the  totally  difFerent  nature  of  this 
old  Semitic  admixture  from  that  of  the  Arabic  borrownngs 
of  modern  Persian  writers.  We  shall  notice  that  the  Arabic 
in  modern  Persian  includes  most  words  connected  with 
religion,  science,  and  literature,  together  with  some  meta- 
phorical  and  professional  terms  and  phrases;  while  the  Semitic 
portion  of  the  Pahlavi  is  practically  confined  to  the  com- 
monest  and  most  indispensable  words  in  the  language,  ex- 
cepting  those  connected  with  religion.  In  other  words,  the 
Arabic  in  modern  Persian  is  the  literary  and  ornamental 
part  of  the  language,  set  in  a  framework  of  pure  Persian; 
while  the  Semitic  portion  of  the  Pahlavi  is  the  indispensable 
framework   in    which  pure  Persian  is  set.     This  is  so  much 


424  Sitzung  der  philos.-philol.  Glasae  vom  5.  Mai  1888. 

tlie  case,  that  scarcely  any  of  the  Arabic  words,  commonly 
used  in  modern  Persian,  correspond  to  any  Semitic  word  in 
Pahlavi;  and,  tbough  some  uncommon  and  scientific  words 
may  be  found  among  tbe  Semitic  words  in  the  Farbang-i 
Pablavik,  tbey  can  very  rarely  be  discovered  in  tbe  texts. 
Tbis  essential  diflPerence  in  the  nature  of  the  Semitic  ad- 
mixture  in  Pahlavi  from  that  in  modern  Persian  indicates 
a  total  difference  of  origin,  and  seems  to  be  an  insuperable 
objection  to  tbe  literary-dialect  theory. 

In  tbe  present  state  of  our  knowledge  it  is  far  safer  to 
point  out  the  few  facts  we  have  to  guide  us,  than  to  come 
to  any  definite  conclusion  as  to  the  actual  origin  of  Pahlavi. 
The  possibility  that  the  Semitic  words  in  Pahlavi  were  used 
ideograpbically  even  as  early  as  A.  D.  350  has  been  already 
mentioned,  but  before  that  date  there  is  no  Information  to 
guide  US  on  that  subject.  With  regard,  bowever,  to  the 
existence  of  Pahlavi,  the  earliest  distinct  specimen  of  such 
a  language,  yet  discovered,  is  probably  the  legend  on  a  coin 
of  Abd  Zoharäü,  satrap  of  Cilicia  about  700  years  earlier. 
This  legend  is  »mozdi  zi  'al  Abd  Zoharäü  Khalk«,  which 
is  good  Sasanian  Pahlavi  for  »payment  which  is  for  Abd 
Zoharäü  of  Cilicia«.  Here  we  see  the  Tränian  mozdi  used 
with  the  Semitic  zi  'al  just  as  in  Sasanian  times.  Hang 
even  ventured  (Essay  on  Pahlavi,  pp.  136  — 138)  to  find 
Pahlavi  characteristics  in  a  short  inscription  on  a  tablet 
from  Niniveh,  so  as  to  carry  the  origin  of  Pahlavi  back  to 
the  seventh  Century  B.  C,  and  to  connect  it  with  some 
dialect  spoken  in  the  Assyrian  empire,  at  a  period  when 
foreign  conquests  and  troublous  times  were  likely  to  produce 
mixed  languages.  But  numerous  instances  of  such  charac- 
teristics are  necessary  before  arguments  can  be  safely  based 
upon  them,  and  there  was  no  want  of  troublous  times 
during  the  550  years  preceding  the  reign  of  Artakhshatar-i 
Päpakän. 


West:   The  extent,  languaye,  and  aije  of  Pahlavi  literature.  425 

What  we  have  to  acconnt  for  is  the  origin  of  a  mixed 
language  (either  shortly  before,  or  shortly  after,  the  Christian 
era)  whose  most  essential  words  are  all  Semitic,  though 
showing  very  few  signs  of  Semitic  inflection,  while  most  of 
the  coustruction  of  the  sentences,  several  of  the  less  indis- 
pensable words,  and  .some  of  the  few  inflections  that  occur 
are  Iräniaii.  This  is  a  fairly  correct  description  of  the  text 
of  the  Häjiäbäd  inscription,  in  which  two-thirds  of  the  words 
are  Semitic,  and  only  one-third  Iranian.  Under  ordinary 
circumstances  such  a  mixture  could  hardly  arise  frora  the 
borrowing  of  Iranian  words  by  a  Semitic  language,  because 
of  the  loss  of  the  Semitic  inflections,  and  the  prevailing 
Iranian  construction  of  the  sentences ;  still  less  could  it  arise 
from  the  borrowing  of  Semitic  words  by  an  Iranian  language, 
because  no  language  borrows  its  commonest  and  most  indis- 
pensable words  from  a  foreign  source.  The  facts  we  have 
to  account  for  indicate  a  more  complicated  process  than 
mere  borrowing.  We  raight  perhaps  suppose  that  the 
Sasanian  Pahlavi  was  originally  a  Semitic  language,  worn 
down  by  use  among  a  mixed  populatiou  in  which  the  Semites 
were  numerically  predominant;  much  in  the  same  way  as 
Anglo-Saxon  was  worn  down  into  early  English.  And  we 
might  further  suppose  that,  after  a  time,  this  worn  and 
simplified  Semitic  language  came  gradually  into  contact  with 
a  comparatively  illiterate  people,  among  whom  the  Iränians 
were  predominant,  who  adopted  it  as  their  written  language, 
with  such  modifications  as  the  degenerate  Persian  dialect  of 
the  predominant  Iränians  absolutely  demanded.  This  might 
account  for  all  the  peculiarities  of  the  Sasanian  inscriptions, 
if  we  supposed  that  the  educated  classes  had  no  purely  Iranian 
literature  to  use;  and  the  increasing  education  of  the  Iränians 
would  account  for  a  gradual  acceptance  of  the  Semitic  words 
as  ideograms,  which  the  highly  conservative  nature  of  writing, 
especially    when    contiued   to   a   small    class  of  literary    raen, 


426  Sitzung  der  philos.-phüos.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

compelled  them  to  preserve.  Such  an  hypothesis  niight 
perhaps  accoimt  f'or  the  actual  facts,  bat  it  is  based  lipon 
a  series  of  hazardous  assuraptions  which  whould  be  better 
avoided. 

There  are  also  some  peculiarities  in  the  construction  of 
Pahlavi  sentence.s,  which  have  not  passed  into  modern 
Persian,  that  any  theory  regarding  the  origin  of  Pahlavi 
ought  to  explain.  The  most  peculiar  and  important  of  these 
is  the  prevailing  passive  construction  of  most  narratives,  in 
virhich  a  past  participle  is  generally  used  at  the  end  of  each 
clause,  and  a  pronominal  suffix  annexed  to  some  particle  at 
the  beginning,  as  in  the  following  examples:  — 

-4fash  akhar  min  zamäno  vadidünto,  »also  after  the 
period  tvus  appointed  by  him«.  ^fash  pavan  aiyyärih-i 
spihär  Zörvän  dam  fra^o  brehinif^o,  »also,  in  aid  of  the 
celestial  sphere,  the  crealure  Time  was  produced  by  him«. 
Oigünash  dämäno  ähükinif/o,  »as  the  creatures  were  distigured 
by  him«.  Adinash  nafshman  rabä  gadmanih  numüdo,  »then 
his  own  great  gloriousness  was  exhibited  by  him«.  Amatash 
yashtö  yehevüne^^,  »when  it  is  solemnized  by  him«.  Zyash 
diijif/o,  »which  was  stolen  by  him«.  Mamanash  khavitünast, 
»because  it  was  known  by  him«.  Aeghash  saryä  aüzmäyishno 
räi  yehabünt,  »that  evil  was  created  by  him  for  the  sake 
of  experiment«.  Hatash  lä  ye^bemünast,  »if  not  wished  by 
him«.  .4fam  vakhdrtnto  pavan  drupüshtih,  »also  taken  by 
me  as  a  stronghold«.  Münam  hakeric  den  stih  la  khaditünt, 
»which  was  never  seen  by  me  in  the  worldly  existence«. 
-^fat  shapir  gabrä  minie?,  »also  the  good  man  was  cared  for 
by  thee«. 

This  peculiarity  can  be  traced  back  to  the  Sasanian 
inscriptioiis,  in  the  later  of  which  the  fonns  «fam  and  afash 
already  occur,  while  in  the  earlier  inscription  at  Häjiäbäd 
we  find  the  following  passive  phrases:   — 


West:  The  extent,  lanfiuage,  and  age  of  Pahlavi  literature.  427 

Afan^)  amtit  zenman  khitaya  shadituu,  adinan  levinl 
shatradarän  va-barbetäu  va-vacarkän  va-azätau  shaditun,  afan 
rigelman  pavan  zenman  diki  hankhetün,  afan  khitaya  lecad 
va-zak  citäk  barä  rauütuu,  »also  when  these  arrows  were 
shot  by  u<,  then  thei/  were  shot  by  us  in  the  jn-esence  of 
the  satraps,  grandees,  niagnates,  and  nobles;  also  our  feet 
were  set  in  this  cave,  and  the  arrows  were  shot  by  us  towards 
and  beyond  that  target«. 

In  these  phrases  afan  and  adinan  appear  to  contain 
a  Öemitic  pronominal  suffix,  instead  of  an  Iräuian  one,  thus 
pointing  to  some  Semitic  dialect,  already  influenced  by  the 
ancient  Persian  habit  of  suftixing  pronouns  to  particles,  as 
the  origin  of  the  peculiarity.  The  total  disappearance  of 
this  pecnliarity,  as  soon  as  Pahlavi  writing  was  completely 
Iränianized  into  modern  Persian,  seems  to  point  also  in  the 
same  direction. 

In  ancient  Persian  we  find  pronominal  suffixes  attached 
quite  as  often  to  nouns,  pronouns,  and  adjectives  as  to  par- 
ticles. In  Pahlavi  they  are  practically  confined  to  particles, 
thoiigh  occasionally  used  independently ,  and  very  rarely 
attached  to  nouns  and  pronouns;  when,  however,  they  are 
so  attached,  it  is  generally  in  translations  from  some  foreign 
language.  In  modern  Persian  they  are,  on  the  other  band, 
confined  to  nouns  and  verbs,  or  used  independently. 

The  peculiar  mode  in  which  a  Pahlavi  relative  particle 
is  governed  by  some  preposition  understood  in  connection 
with  a  pronominal  suffix  attached  to  it,  or  by  a  preposition 
with  a  pronominal  suffix  in  the  after  part  of  the  clause, 
also  deserves  attention,  although  something  analogous  survives 
in  modern  Persian. 

Further,  we  must  not  forget  that  the  Semitic  portion 
of  the  Sasauian  inscriptions  was  not  confined  to  the  strictly 

1)  That  afan  contains  a  pronominal  suffix  is  shown  by  the 
Chald.-Pahl.  equivalent  va  amat  lan  for  the  Sas.-Pahl.  afan  amat. 


428  Sitzung  der  philos.-phUol.  Classe  vom  5.  Mai  188S. 

limited  iiumber  of  words  we  find  in  l\ahlavi  maiiuscripts. 
The  early  Sasanians  must  either  have  preserved  a  larger 
number  of  ideograms  than  their  successors,  or  they  imist 
have  been  accustomed  to  draw  extra  words  from'some  Seraitic 
dialect  with  which  they  were  well  acquainted. 

In  the  latest  Sasanian  times  the  number  of  ideograms 
was  increased  from  quite  another  source;  this  was  the  gradnal 
change  of  the  Sasanian  letters  into  their  modern  Pahlavi 
forms,  which,  being  incorrectly  eüected  in  many  cases,  gave 
rise  to  a  number  of  stränge  forms  of  Iränian  words  in 
common  use.  Finally,  about  one  hundred  of  these  Iränian 
and  four  hundred  Semitic  ideograms  were  collected  in  a 
glossary  for  the  use  of  literary  men,  and  were  called  Zvärish, 
a  terra  which  was  sometimes  modilied  into  Uzvärish  (whence 
modern  Pahl.  Aüzvärishn,  misread  Hüzvärish).  The  word 
zvärish  is  evidently  an  abstract  noun  connected  with  the 
Persian  verb  zväridan,  »to  grow  old  or  thread-bare«,  and 
its  meaning  must  be  something  like  »antiquity  or  decrepi- 
tude«,  a  fitting  term  for  the  last  remnants  of  an  old  form 
of  writing. 

With  regard  to  another  term  applied  to  Parsi  writings 
it  may  be  desirable  to  explain  that  Päzand  is  not  the  name 
of  any  language,  or  dialect;  but  it  is  merely  a  transliteration 
of  Pahlavi,  in  which  all  the  Semitic  words  are  replaced  by 
their  Iränian  equivalents,  and  it  may  be  written  either  in 
Avesta,  or  modern  Persian,  characters.  A  true  Päzand  text, 
therefore,  must  have  had  a  Pahlavi  original,  to  which  it 
ought  to  correspond  word  for  word.  But,  as  all  Päzand 
texts,  hitherto  examined,  have  been  written  by  Parsi  priests 
whose  vernacnlar  is  (iiijaruti,  their  orthography  represents 
merely  the  Gujaräti  pi-onuiKnatiou  of  Persian,  and  should 
not  be  quoted  as  an  authority  for  the  true  Persian  pronun- 
ciation  of  any  period.  As  a  general  rule  the  orthography 
of  receut  Päzand  manuscripts  is  excessively  irregulär;    every 


West:   Hie  extent,  laiifjuagc,  and  age  of  Pahlavi  literature. 


429 


copyist  havin^^  bis  own  notions  of  spelling,  and  often  varying 
it  niore  than  once  on  a  single  page.  Excepting  a  few 
detacbed  words  and  sentences,  contained  in  Pahlavi  manu- 
scripts,  no  specimen  of  Päzand  written  in  Persia  has  yet 
been  seen. 

Besides  tbe  true  Päzand  texts  tbere  are  some  few  false 
ones  in  existence,  wbicb  are  nierely  transliterations  of  modern 
Persian  in  Avesta  cbaracters.  Any  text  tbat  contains  Arabic 
words,  orthat  bas  ki  and  ba,  instead  of  kn  and  pa,  tuust 
have  Sprung  from  a  Persian  original.  And  any  text  tbat 
attaches  pronominal  suffixes  to  conjunctions,  adverbs,  prepo- 
sitions,  or  relatives,  must  bave  been  originally  Pablavi.  But 
between  tbese  limits  tbere  is  room  for  several  gradations  of 
style,  between  true  Pablavi  and  true  Persian,  wbicb  may 
occasion  doubts  as  to  tbe  nature  of  any  apparently  Päzand 
Version.  Even  tbe  existence  of  tbe  same  text  in  Pablavi 
cbaracters  is  no  certain  proof  tbat  it  was  originally  written 
in  Pablavi,  because  Persian  texts.  wben  practically  free  from 
Arabic,  can  be  written  in  Pablavi  cbaracters. 

Regarding  the  age  of  tbe  Pablavi  texts,  now  extant, 
tiiere  has  always  been  much  diversity  of  opinion.  The  Parsis 
tbemselves  were  formerly  inclined  \ß  attribute  the  Pahlavi 
translations  of  tbe  Avesta  to  Zarathnshtra  himself,  wbicb 
must  be  an  idea  of  considerable  antiquity,  as  it  is  mentioned 
by  Mas'aüdi,  writing  about  A.  D.  945;  but  they  are  now 
quite  ready  to  accept  any  suggestions  tbat  European  scholars 
may  offer  on  the  subject.  It  is,  of  course,  quite  possible 
tbat  this  old  idea  of  tbe  Parsis  may  be  rigbt  so  far  as  the 
mere  name  is  concerned,  for  tbere  may  bave  been  a  priest 
named  Zaratüsht  assisting  in  the  translation  of  tbe  Avesta 
in  Sasanian  times. 

It  bas  often  been  noticed  tbat  a  gloss  in  Pabl.  Vend. 
IV,  141  refers  to  Mazdak,  son  of  Bämdät?,  the  arch-beretic 
who  was  put  to  deatb  by  prince  Kbüsrö,  son  of  Kavä(?,    at 


430  Sitzung  der  plnlos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

the  latter  end  of  his  father's  reign,  about  A.  D.  529.^) 
This  passage  is  preceded  by  another,  containing  a  gloss 
referriiig  to  a  certain  Zarhftndär/,  or  ZarvändäfZ,  who  may 
perhaps  be  identified  with  the  eldest  son  of  Mihr-Narsih, 
wbo  was  appointed  Herbadän-herbad  bj  king  Bahräm  Gör'') 
(A.  D.  420—489).  His  fatlier,  Mihr-Narsih,  was  prime 
minister  of  the  three  successive  kiiigs  Yazdakard,  Bahräm 
Gor,  and  Yazdakard,  and  commanded  an  army  as  late 
as  441.3) 

These  passages  in  Pahl.  Vend.  IV,  140,  141  are  as 
follows,  according  to  the  best  authorities  available:  —  Hanä-c 
niün,  Yal  anshütä,  darvand  sästär  kamär*)  zaf^är  (cigün 
Zarhündäf?.  J.jash  patkär  levatman  Ast-vidärf).  Hanä-c  mün 
vaZ  aharni6k-i  an-aharübo  akhürishno  (-i  sästär)  patkäref^ 
(cigün  Mazdak-i  Bänidäf/än  münash  nafshman  ser  vashtamünt, 
fffash  aishäno  pavan  süd  va-marg  dkd.  ^jash  patkär  levatman 
Ast-vidär7).  —  »Even  he  who  is  a  smiter  of  a  wicked  tyrant's 
head,  for  mankind,  (like  Zarhündärf.  Owing  to  hini  is  a 
contest  with  Ast-vidäc?,  the  demon  of  death).  Even  he  who 
contends  with  an  unrighteons,  starvation-causing  apostate 
(who  is  an  oppressor  like  Mazdak,  son  of  Bämdäc?,  who 
himself  ate  his  fill,  while  others  wpa-c  delivered  l)y  him  to 
hmiger  and  death.  Owing  to  him  is  a  contest  with  Ast- 
vidäf?),« 

It  is  evident  that  the  names  of  Mazdak  and  Zarvändäc? 
could  not  have  been  introduced  into  the  Pahlavi  Version 
until  near  the  middle  of  the  sixth  Century,  as  the  two  glosses 
in  which  they  occur  have  every  appearance  of  being  contem- 


1)  See  Nöldeke's   Geschichte  der  Perser  und  Araber  zur  Zeit 
der  Sasaniden,  p.   165. 

2)  Ibid.  p.  110. 

.3)  Ibid.  pp.  75,  lOß,  108,  113,  116. 

4)  As  kamär  can  mean  only  the  head  of  an  evil  being,  it  must 
refer  to  that  of  the  sästär,  and  not  to  those  of  mankind  in  general. 


West:   Tlie  crtent,  lancjuage,  and  age  of  Pahlari  litemture.  431 

poraneons.  They  also  look  like  interpolations  inserted  bet- 
ween  the  translatioii  of  eacli  sentence  of  the  text  and  its 
original  explanatory  addition:  (ajash  patkär  levatraan  Ast- 
vidäf/).  If  so,  their  existence  seems  to  prove  that  this  Palilavi 
Version  is  older  than  the  time  of  Mazdak.  And,  indeed,  no 
one  can  read  the  Palilavi  versions  attentively  without  finding 
traces  of  at  least  tvvo  generations  of  glosses,  indicating  some 
thorough  revision  long  after  the  first  translation. 

Some  of  the  glosses  nuist  be  very  late,  as  they  try  to 
explain  the  language  of  the  Pahlavi  Version  itself.  Thus, 
the  final  gloss  in  Pahl.  Vend.  I,  4:  —  Aito  mün  aito-hö- 
niand-ic  rüd  yemalelünet^,  »there  is  some  one  who  says  Aito- 
honiand  (=  Hetümand)  is  also  a  river«,  evidently  refers  to 
the  Pahlavi  word  ast-horaand  at  the  beginning  of  the 
section,  and  not  to  its  Avesta  original  astväo. 

Again,  it  may  be  argued  that  the  gloss  «üistäk  va-zand 
(referring  to  the  two  sayings,  or  benedictions,  mentioned  in 
Pahl.  Yas.  XXX,  1;  XXXI,  1,  as  revealed  by  Aüharma-s^fZ, 
or  reeited  by  Zaratüsht)  could  not  have  been  inserted  until 
tlie  origin  of  the  Zand  (which  always  seems  to  mean  the 
PahUm  Version)  had  become  obscured  by  lapse  of  time.  If 
this  be  not  admitted,  vve  have  to  fall  back  upon  Haug's 
theory  {Esscu/s,  p.  120)  that  the  Pahlavi  writer  is  referring 
to  an  older  Zand,  or  commentary,  in  the  Avesta  language, 
which,  in  this  particular  instance,  is  rather  improbable. 

It  will  be  Seen  from  these  remarks  that  the  Pahlavi 
translations  of  the  Avesta  contain  much  internal  evidence  of 
revision  and  alterations  from  time  to  time.  And,  therefore, 
though  we  may  be  able  to  ascertain  the  age  of  certain 
passages  and  commentaries  which  they  contain,  we  cannot 
safely  conclude  that  the  whole  translation  is  subsequent  to 
that  period. 

It  is  a  relief  to  turn  from  such  uncertainties  to  more 
palpable  facts.     About  twelve  years  ago  a  Pahlavi  text  was 


432         Sitzung  der  philns.-pliüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

first  noticed  as  bearing  its  original  date.  This  was  the  third 
Epistle  of  Mänüshcihar,  chief  priest  {r&d)  of  Pars  and 
Kirmän,  and  director  (farnuWär)  of  the  profession  of  priests; 
the  director  of  the  priestly  profession  being  also  the  leader 
(peshüpäi)  of  the  religio».  This  Epistle  is  a  general  noti- 
fication  to  all  Zoroastrians  in  Iran,  condemning  certain 
heterodox  modes  of  perforraing  the  purification  ceremony, 
and  dated  in  the  third  month  A.  Y,  250  (June-July  881). 
This  date  is  found  not  only  in  mannscripts  in  India,  but 
also  in  one  bronght  from  Persia  by  Westergaard  in  1843, 
and  now  No.  35  in  the  University  Library  at  Kopenhagen. 

Mänüshcihar  wrote  two  other  longer  Epistles,  on  the 
same  subject,  copies  of  which  have  also  been  preserved;  one 
addressed  to  »the  good  people  of  Sirkän«  who  had  sent  him 
a  complaint  of  the  heterodox  practices,  and  dated  on  the 
fifth  day  of  the  twelfth  month  (no  donbt  in  A.  Y.  249, 
that  is,  15th  March  881);  the  other,  to  bis  brother  7M- 
sparani  (who  appears  to  have  been  high-priest  of  Sirkän 
and  the  south)  reproving  him  for  the  heterodox  practices, 
seems  to  have  been  written  about  the  same  time  as  the 
general  notification  first  raentioned.  From  several  allusions 
in  these  Epistles  it  appears  that  Mänüshcihar  was  an  old 
man  when  they  were  written  in  881,  but  not  too  old  to 
travel:  while  his  brother  was  no  doul)t  yonnger.  Their 
father  had  been  Yüdän-Yim,^)  son  of  Shahpühar,  a  former 
leader  of  the  religion.  From  these  three  Epistles  of  Mänü- 
shcihar we  have  thus  learnt  not  only  their  dates,  within  a 
few  days,  but  also  some  other  facts  that  will  be  useful  in 
further  enquiries. 

The  same  Mänüshcihar,  some  years  earlier,  wrote  the 
Dädistän-i  Dinik,    a  modern  title  for  a  work  containing 

1)  The  reading  of  this  name  is  merely  provi.sional  tili  something 
mon;  probable  can  be  suggested. 


West:  The  extent,  Inngitage,  and  age  of  Pahlnvi  literature.   433 

his  replies  to  92  questions  sent  to  him  for  Solution  by  certain 
Zuroastriaiis.  His  brother,  Zär^-sparam,  in  bis  later  years, 
was  also  a  copious  writer,  from  wbose  works  Selections 
bave  been  preserved,  regarding  the  meeting  of  the  good  and 
evil  spirit,  and  their  continued  struggle  tili  the  Coming  of 
Zaratüsht;  the  construction  of  man  out  of  body,  life,  and 
soul;  and  the  production  of  the  renovation  of  the  universe. 
Regarding  the  author  of  the  Bundahish  we  may 
perhaps  learn  something  definite  Avhen  the  collated  text  of 
the  two  manuscripts  of  the  Iränian  version  is  published. 
Judging  from  some  extracts  from  one  of  these  manuscripts, 
the  penultimate  chapter  contains  not  only  the  name  and 
genealogy  of  the  author,  or  last  editor,  but  also  the  names 
of  several  of  bis  contemporaries.  Owing,  however,  to  the 
patronymical  suffix  being  generally  omitted,  and  other  imper- 
fections  in  this  single  available  copy,  it  is  difficult  to  arrange 
all  the  names  with  certainty.  But  there  is  no  doubt  that 
Zärf-sparham,  son  of  Yüdän-Yim,  and  Ätür-päc?,  son  of 
Hämed,  are  mentioned  as  contemporaries  of  the  author.  The 
occurrence  of  the  former  name  indicates  that  the  Iränian 
Bundahish  was  finally  edited  in  the  latter  part  of  the  ninth 
Century;  and  that  of  the  latter  name  leads  to  the  sarae 
conclusion  with  regard  to  the  Dinkarf?,  as  will  be  presently 
seen.  The  name  Bundahisb  is  comparatively  modern,  as 
the  bulk  of  the  work  seems  to  have  been  originally  called 
Zand-äkäsih,  »the  knowledge  of  tradition«,  and  may  have 
been  somewhat  older  than  the  ninth  Century;  while  the  last 
chapter,  »on  the  computation  of  the  years  by  the  Arabs«, 
is  certainly  later,  as  the  present  manuscripts  of  the  Iränian 
Version  end  with  the  phrases:  »as  far  as  the  year  447  of 
the   Persians;    now  it  is  the  Persian  year   507    (or  527)«.^) 

1)  All  the  manuscripts,  including  that  at  Kopenhagen,  have  5 
and  7  with  part  of  another  cipher  between  them,  which  may  be  the 
beginning  of  either  100  or  20. 

1888.  Philos.-philol.  u.  hiat.  Ol.  3.  29 


434  Sitzung  der  pMlos.-philol .  Claftse  vom  5.  Mai  1888. 

The  Persian  era,  here  raentioned,  is  probably  the  twentieth 
year  of  Yazdakard,  which  is  much  used  in  the  colophons  of 
Iränian  manuscripts;  if  so,  these  dates  would  correspond  to 
A.  D.  1098  and  1158  (or  1178). 

At  the  end  of  the  third  book  of  the  Dinkarr?  we  find 
a  detaiied  statement,  »from  the  Exposition  of  the  Good 
Religion«,^)  professing  to  give  the  history  of  the  Dinkar^ 
from  the  earliest  times.  This  statement  was  published  by 
Hang  in  1867,  from  an  imperfect  copy,  in  his  introduction 
to  the  Farhang-i  Oim-aevak;  but  the  earlier  part  of  the 
statement,  including  the  proceedings  of  the  chief  priest  Tosar, 
evidently  refers  to  the  Parsi  scriptures  generally,  considered 
as  the  source  from  which  the  Dinkar^?  was  compiled.  The 
historical  facts,  connected  with  the  Dinkan?  itself,  are  con- 
tained  in  the  following  sentences  of  the  statement,  corrected 
in  accordance  with  the  two  Standard  manuscripts,  preserved 
in  Bombay  and  Kopenhagen,  respectively :  — 

Va-akhar  min  vazand  vishopishno-1  min  Tr/^ikän  yal-ic 
divän  va-ganjo-i  keshvar  marZo,  hü-fravar^o  Atür-farnbag-i 
Farukhü-zäc?än-i  hü-denän  peshüpäi  yehevünto,  zak  pacino-1 
küstakoihä  pargandako  yehevünto,  navak  afzär,  min  pargan- 
dakih  lakhvär  vaZ  hanilh-i  divan  zyash  babä  yehetytlntö; 
den  nikirishno  va-andrJ^ishno-i  va?  shapir  deno  fl^iistäk  va- 
zand,  pöryörfkeshän  gobishno  änguni-aitako  flröko-i  min  zak 
barish  lakhvär  kard.  Pavan  shikafto  khilm  {or  kharam) 
va-vazand-i  vaZ  Zaratühashto-i  Atür-farnbagän-i  hü-denöän 
peshüpäi  yehevünto,  ^'asto,  zak-ic  divän  val  vishöpishno,  va- 
zak  nipik  yal  visastakih  pargandakih,  väcih  vaZ-ic  kahöbanih 
vastakih    va-pü(?akih    mndo.      Va-min    zak    akhar,    anniano. 


1)  This  Nikr2rt-i  Vßh  Deno,  from  which  nearly  all  the  infor- 
mation  contained  in  the  third  book  of  the  Dinkarr/  .seenis  to  have 
been  taken,  appeara  to  have  been  the  name  of  some  work;  but,  owing 
to  the  loss  of  the  first  folio  of  the  third  book,  we  have  no  certain 
knowledge  about  it. 


West:   The  e.vteiit,  lanijuage,  and  age  of  Pahlavi  UteraUire.  435 

Ätür-prif^o-i  IIemer?än-i  lul-denäii  pcshüpäi,  min.shano  svibära- 
gaiio,  deno-i  Ma^^t/ayasto  aiyyär-dahishnih  uavak  afzär,  pavau 
klivahishno  va-vaj6ishno  va-ranjo-1  vesli,  ham  nipishto.  — 
»And  alter  the  ruin  and  devastation  that  came  from  the 
Arabs  even  to  the  archives  and  treasures  of  the  realni,  the 
saintly  Atür-farnbag,  son  of  Farukhü-zät?,  who  became  the 
leader  of  those  of  the  good  religion,  brought  those  copies, 
which  were  scattered  on  all  sides,  ond  new  resources  back 
from  dispersion  into  union  with  the  archives  of  his  residence; 
and  through  observance  and  consideration  for  the  Avesta 
and  Zand  of  the  good  religion,  he  made  the  sayings  of  those 
of  the  primitive  faith  again  a  similitude  of  the  ilkimination 
(Pers.  furö(/h)  from  that  splendour.  Through  the  awful 
displeasure  {or  defect)  and  ruin  (or  injury)  that  happened 
to  Zaratüsht,  son  of  Atür-farnbag,  who  became  the  leader 
of  those  of  the  good  religion,  even  those  archives  came  to 
devastation,  that  manuscript  to  dilapidation  and  dispersion, 
and  the  statements  also  to  obsoleten ess,  perversion,  and 
corruption.  And  after  that,  I,  Atür-pä(f,  son  of  Hemec?  and 
leader  of  those  of  the  good  religion,  have  likewise  written, 
from  their  fragments  (cf.  Pers.  sivärä,  suvärah),  a  new 
means  of  giving  assistance  to  the  Ma^t^a-worshipping  religion, 
with  much  prayer,  investigation,  and  trouble.« 

From  this  we  learn  that  the  final  editor  of  the  latter 
part  of  the  Dinkaro',  the  portion  we  still  possess,  was  Ätür- 
pä<?,  son  of  Heme^,  whom  we  may  safely  identify  with  the 
Ätür-päf7,  son  of  Ukmed,  mentioned  in  the  Bundahish 
(eh.  XXXIIl,  11)  as  a  contemporary  of  Zä(^-sparham  who 
flourished  at  the  latter  end  of  the  ninth  Century;  and  it  is 
quite  possible  that  the  copy  written  in  A.  D.  1020  (see  p.  418) 
was  made  direct  from  Atür-pärf's  original  manuscript. 

Regarding  Atür-farnbag,  son  of  Farukhü-zä6?,  the  first 
Compiler  of  the  Dinkart?,  we  have  further  Information.  His 
work   is    mentioned    in    the    third   book,    chapter   CXLII  of 

29* 


436  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Peshotan's  edition  (p.  200);  it  is  also  stated  at  the  beginning 
of  both  the  fourth  and  fifth  books  that  they  are  taken  from 
bis  Statements.  In  the  Shikand-gömänik  Vijär  (eh.  IV,  107; 
IX,  3;  X,  55)  he  is  mentioned  as  the  Compiler  of  the  Dinkar^, 
but  the  Information  there  quoted  must  be  from  the  first  two 
books  which  have  not  yet  been  discovered.  Further,  we 
learn,  from  the  MarZigän-i  gujastak  Äbälish,  that  Ätür- 
farnbag,  son  of  Farukhü-zäc?,  had  a  religioiis  disputation 
with  Abälish  in  the  presence  of  the  Khallfah  Al-Mämün, 
that  is,  some  time  during  A.  D.  813 — 833. 

We  may,  therefore,  safely  conclude  that  the  Dinkarc? 
was  first  compiled  early  in  the  ninth  Century,  that  a  large 
portion  of  this  first  compilation  has  been  lost,  and  that  the 
remainder  was  re-edited  and  enlarged  about  the  end  of  the 
same  Century.  With  regard  to  the  misfortunes  that  happened 
to  Zaratüsht,  the  son  and  successor  of  Ätür-farnbag,  it  may 
be  noticed  that  Mänüshcihar,  when  writing  to  bis  brother 
Zä(?-sparam,  mentions  (Epistle  II,  i,  13)  a  certain  Zaratüsht 
the  club-footed  who,  by  concealing  bis  deformity,  liad  iiiduced 
many  to  submit  to  him  for  a  time;  but  it  is  doubtful  whether 
he  is  not  referring  to  a  contemporary,  rather  than  to  a 
predecessor.  Mänüshcihar  also  mentions  (Ep.  II,  v,  14; 
IX,  11)  a  certain  Ätür-päc?  as  if  he  were  a  rival  claimant 
for  authority;  but  it  would  be  rash  to  identify  him  with 
Atür-pä(?,  son  of  Hernes?,  as  Atüi*-pä(^  was  a  common  name 
among  the  priesthood.  We  may,  however,  assume,  with 
tolerable  certainty,  that  the  succession  of  the  supreme  priests, 
who  were  leaders  of  the  religion  in  the  ninth  Century,  was 
as  follows:  —  Atür-farnbag,  bis  son  Zaratüsht,  Yüdän-Yim, 
bis  son  Mänüshcihar,  and  Atür-pärf,  son  of  Heme<?. 

The  Shikand-gümänik  Vijär  was  proba))ly  written 
about  the  sarae  time  as  Ätür-pär/'s  revision  of  the  Dinkarr?, 
as  the  author  ha.s  made  fre(|uent  use  of  Ätür-farnbag's 
compilation,  l)nt  docs  not  nientitm  Ätür-pär/'s  revision.     He 


West:  The  extent,  language,  and  age  of  Pahlavi  literature.  437 

does,  however,  mention  a  certain  Atür-päc?,  .son  of  Yävaud^) 
(or  some  nanie  that  can  be  so  read),  a  holy  man  whose 
teachings  he  found  in  the  Dinkarrf  of  Atür-f arnbag ;  but 
this  name  has  not  been  discovered  elsewhere. 

The  introductory  portion  of  the  Ardsb-Yiräi'  Nämak 
(forming  the  first  three  chapters  of  the  edition  of  1872) 
also  refers  to  the  Dinkarf?,  in  eh.  I,  16,  as  follows:  — 
»Until  the  time  when  the  saintly  and  immortal-souUed 
Atür-pä^,  son  of  Märaspend,  tvas  born,  by  whom.  through 
the  achievement  which  is  in  the  DinkarrZ,  melted  metal 
was  poured  on  his  breast.«  It  is  doubtful  wliether  this 
passage  refers  to  the  original  Dinkarrf,  or  to  the  revised 
text;  but,  however  this  may  be,  it  shows  that  this  intro- 
ductory portion  of  the  Ardä-Viraf  Nämak  could  not  have 
been  written  before  the  latter  end  of  the  ninth  Century. 
Whether  the  remainder  of  the  text  existed  previously  is 
vuicertain.  As  to  Ardk-Yiväi  hiiuself  we  are  told  (eh.  I,  35) 
that  »there  are  some  who  say  Ms  name  tvas  Nekhshahpür«, 
which  Statement  appears  to  identify  him  with  a  eommentator 
often  quoted  as  Nekhshahpühar,  or  Neshahpühar,  in  the 
Pahlavi  Vendidäf?  and  Xirangistän.  And  Mänüshcihar  teils 
US  (Ep.  1,  IV,  17)  that  Neshahpühar  was  the  magopat  of 
magöpats  in  the  Council  of  Khüsrö  Anöshirvän ;  possibly  the 
assembly  sumnioned  by  Anöshirvän  to  eonsult  about  the 
heresy  of  Mazdak,^)  and  which,  aeeording  to  the  Bahman 
Yasht  (eh.  I,  7),   included   Neshahpür  and  Dkd-Xü\iarma,^d. 

Whether  the  Riväyat  of  Hemec?-i  Ashavahishtän 
can  be  ascribed  to  Hemet?,  the  father  of  that  Atür-pärf  who 
revised  the  Dinkarf?,  or  to  a  son  of  his  contemporary, 
Ashövahisht-i  Freh-Srösh  (Bund.  XXXIII,  11),  is  quite  un- 
eertain.     But,    without    taking   these    mere    possibilities  into 


1)  Or,  possibly,  Khävand. 

2)  About  A.  D.  529,  see  p.  43u. 


438  Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

consideration,  it  has  been  already  shown  that  nearly  half 
the  Palilavi  literature  extant  must  have  been  compiled  during 
the  ninth  Century;  much  of  it,  no  doubt,  frora  older  materials. 
Of  the  texts  which  are  popularly  ascribed  by  their  titles, 
introductions,  or  conclusions,  to  particuhir  individuals,  the 
Pandnämak-i  Vajörg-Mitrö,  son  of  Büklitak,  has  prob- 
ably  the  best  claini  to  authenticity.  It  professes  to  be  a 
nieraorandum  prepared  by  Vajorg-Mitrö,  prirae  minister  of 
king  Khüsro  Anöshirvän  (A.  D.  531 — ^579),  and  placed  in 
the  royal  treasury,  or  Ganj-i  Shahikän,  Avhich  name  has 
also  been  often  applied  to  the  text  itself.  We  have,  however, 
no  corroboration  of  this  statement  from  other  sources.  Still 
less  can  we  be  sure  that  the  texts  ascribed  to  Atür-pä^?, 
son  of  Märaspend,  (Nos,  40,  42,  46)  were  really  composed 
by  that  prime  minister  of  king  Shahpühar  II  (A.  D.  309 — 379). 
The  Pandnämak-i  Zaratüsht^)  is  merely  a  traditional 
name  for  an  anonymous  text  beginning  with  the  following 
statement:  —  »It  is  prociaimed  in  a  declaration  from  the 
religion  of  those  of  the  primitive  faith,  who  were  those  first 
in  knowledge,  that  it  is  necessary  for  every  person,  when 
he  arrives  at  the  age  of  fifteen  years,  to  understand  then 
such  things  as  these,  etc.«  It  is  possible  that  the  traditional 
name  means  to  attribute  the  text  to  Zaratüsht,  son  of  Ätür- 
päcZ,  son  of  Märaspend,  who  is  mentioned  at  the  beginning 
of  Atür-pä^'s  AndarV.  The  AndarV-i  Khüsro,  son  of 
Kavärf,  professes  to  be  only  a  tradition  regarding  that 
nionarch  (Anöshirvän),  just  as  the  Ar(7ä-Virttf  Nämak  prob- 
ably  erabodies  a  tradition  regarding  one  of  the  chief  priests 
of  his  Council.  The  Kärnämak-i  Artakhshir-i  Päpakän 
professes  merely  to  state  particulars  originally  written  in 
that     Kärnämak.       The     sayings    of    Ätür-farnbag     and 


1)  Constituting  §§  121  —  159  of  Pe.shotan's  edifcion  of  the  Ganje- 
ehäyagän  (Bombay:  1885). 


West:   The  extent,  language,  and  age  of  Puhlavi  liferatnre.  439 

Bakht-«frif?  are  given  merely  as  traclitional ;  this  Atur- 
farnbag  was  the  son  of  Farukhü-zä(7,  already  described  as 
the  first  Compiler  of  the  Dinkard  early  in  the  ninth  Century, 
not  his  namesake  the  councillor  of  Khüsro  Anoshirvän 
luentioned  in  the  Bahman  Yasht  (eh.  I,  7);  but  Bakht-afri^ 
appears  to  have  been  the  councillor  of  that  name  therein 
luentioued.  Finally,  the  texts  vvhich  bear  the  names  of 
ancient  personages,  such  as  Jamäsp,  Yösht-i  Fryänö,  and 
Zarir,  niake  no  claim  to  be  anything  but  legendary. 

In  the  nauies  of  the  commentators,  some  forty  or  fifty 
in  number,  whose  opinions  are  quoted  in  the  Pahlavi  trans- 
lations  and  texts,  we  should  have  an  additional  means  of 
determining  the  age  of  certain  parts  of  the  text,  if  we  were 
able  to  ascertain  the  times  in  which  several  of  these  com- 
mentators wrote.  Unfortunately  this  information  can  be 
obtained,  as  yet,  in  only  a  few  cases.  We  have  already 
seen  that  the  commentators  Neshahpühar  (or  Nekhshah- 
pühar)  and  Bakht-africZ  (or  Vakht-afric?)  were  councillors 
of  Khüsrö  Anoshirvän  (A.  D.  531 — 579);  and  Dkd- 
Aüharma^^rf,  another  of  his  councillors,  raay  also  have 
been  the  commentator  of  that  name.  Marf/-bürf  is  said 
(in  the  Social  Code,  fol.  91  a  16)  to  have  been  the  raagöpat 
of  raagopats  iu  the  time  of  king  Pirü^  (A.  D.  457 — 483), 
and  may  perhaps  be  identified  with  the  commentator  of  the 
same  name.  Regarding  Röshan  we  are  told,  in  the  Shikand- 
giimänik  Vijär  (eh.  X,  53,  54),  that  he  was  a  son  of  Atür- 
farnbag  and  wrote  a  work  called  Roshan;  but,  as  he  is 
mentioned  before  Atür-farnbag ,  son  of  Farukhü-zä(7,  the 
first  Compiler  of  the  Dinkarf?,  he  was  probably  the  son  of 
some  previous  Atur-farnbag,  such  as  he  who  was  summoned 
to  the  Council  of  Khüsro  Anoshirvän,  as  mentioned  in  the 
Bahman  Yasht  (eh.  I,  7).  As  to  the  other  commentators, 
nothing  has  yet  been  discovered  to  connect  them  with  any 
deiiuite  dates. 


440  Sitzung  der  pliilos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  18S8. 

The  relative  age  of  a  few  other  coramentators  and 
writers  can,  however,  be  determined  from  various  statements 
in  the  texts,  Three  commentators  whose  opinions  are  very 
freqiiently  quoted  in  the  Pahlavi  Vendidäc^  are  ^farg, 
Soshäns,  and  Medök-mah,  each  of  whom  wrote  a  cäshtak, 
or  »teaching«,  of  the  law,  as  stated  in  Mänüshcihar's  Epistle 
I,  V,  1,  6;  IX,  1,  4,  and  in  Shäyast-lä-shäyast,  I,  3;  the 
passages  from  the  third  and  fifth  fargards  of  the  Vendidäd 
of  Me(Z6k-mäh,  quoted  in  Sls.  II,  1,  12,  are  also,  no  doubt 
taken  from  his  cäshtak  on  those  fargards.  Now,  with  re- 
ference  to  these  three  commentators,  Mänüshcihar  appears 
to  assert  (Ep.  I,  vi,  1)  that  a  statement  of  ^farg  is  quoted 
in  the  cäshtak  of  Soshäns,  thereby  showing  that  vlfarg  was 
an  older  commentator  than  Soshäns.  Mänüshcihar  also 
asserts  (Ep.  1,  vi,  9;  II,  ii,  6,  8)  that  Aiarg  was  prior  to 
Medok-mäh.  Again,  the  fifth  book  of  the  üinka^'C?  informs 
US  (in  a  passage  quoted  in  Haug's  translation  of  the  Avdk- 
Viraf  Nämak,  p.  144)  that  Ätür-päc^,  son  of  Märaspend, 
lived  in  the  reign  of  king  Shahpühar,  son  of  Anha.rmfizd, 
(A.  D.  309 — 379)  of  whom  he  is  said  to  have  been  prime 
minister.  We  also  learn  from  his  Andar',sr  (No.  40)  that 
his  son's  name  was  Zaratüsht.  And  the  third  book  of  the 
Dinka.rd  (eh.  CXXXVII,  2  of  Peshotan)  mentions  a  high- 
priest named  Atür-päc^,  son  of  Zaratüsht,  who  lived  in  the 
reign  of  king  Ya^dakard^  son  of  Shahpühar,  (A.  D.  399 — 420). 
It  is  pretty  evident,  from  these  statements,  that  Märaspend, 
Ainr-pkd,  Zaratüsht,  and  Atnr-pad  form  a  pedigree 
in  lineal  deseent,  as  Peshotan  has  assumed  in  his  translation. 

So  far  as  our  present  information  extends  it  seems 
unlikely  that  any  of  the  commentators,  quoted  in  the  Pahlavi 
translations  of  the  Avesta,  could  have  written  later  than 
the  sixth  Century;  and  we  are  quite  justified  in  assuming 
that  the  latest  complete  revision  of  those  translations  took 
place   in  that    Century.     Kegarding    the    Pahlavi    Version    of 


West:  The  extent,  language,  and  age  of  Pahlavi  literature.   441 

the  Yasna  that  existed  at  the  end  of  the  ninth  Century,  we 
have  the  positive  evidence  of  a  passage  (Pahl.  Yas.  XXX,  4), 
quoted  in  the  Selectioiis  of  Zärf-sparam  (eh.  V,  4),  which 
is  practically  identical  with  the  text  still  in  use. 

Considering  the  bitter  complaints  of  Parsi  tradition 
iibout  the  devastation  of  ancient  literature  by  the  Arabs 
shortly  after  their  conquest  of  Persia,  it  is  surprising  to  find 
how  much  of  this  literature  must  have  been  still  extant  in 
the  ninth  Century.  The  eighth  and  ninth  books  of  the 
Dinkarrf,  which,  as  we  have  seen,  must  have  been  chiefly 
the  work  of  Ätür-päcZ,  son  of  Hemec?,  at  the  end  of  the 
ninth  Century,  contain  a  detailed  statement  of  the  Contents 
of  the  Nasks,  such  as  could  have  been  drawn  up  only  by 
some  one  who  had  access  to  nearly  all  the  Nasks  themselves. 
The  writer  acknowledges  that  he  has  not  discovered  one 
Nask  at  all,  and  has  not  found  the  Pahlavi  Version  of  another, 
but  of  the  reiuaining  nineteen  he  gives  an  account  in  more 
or  less  detail.  He  began  his  statement  with  the  Intention 
of  giving  a  short  summary  of  the  contents  of  all  the  Nasks 
in  the  eighth  book,  and  a  detailed  account  of  the  content» 
of  each  of  their  fargards  in  the  ninth.  The  short  summary 
is  given  for  the  first  fourteen  and  last  two  Nasks  (excepting 
the  two  that  could  not  be  found);  but  the  contents  of  the 
four  Nasks  Nos.  15 — 18  are  given  in  far  greater  detail, 
while  those  of  the  Vendidärf  are  described  with  an  inter- 
mediate  degree  of  dififuseness.  In  the  ninth  book  he  has 
given  a  detailed  account  of  the  contents  of  each  fargard  of 
the  first  three  Nasks,  and  has  then  discontinued  the  statement. 

From  the  account  given  in  the  eighth  book  of  the 
Dinkarrf  it  is  perhaps  possible  to  form  some  conception  of 
the  total  extent  of  the  twenty-one  Nasks,  or  sacred  books 
of  the  Zoroastrians,  in  Sasanian  times.  The  Nasks  that  are 
still  extant  may  be  assumed  as  three  in  uumber:  the  Ven- 
didäd;    the  Siöd  Yasht   {Stuota  yesnya),    or  Yasht   (Yasna), 


442  Sitzung  der  philos.-pMlol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

which  appears  to  have  consisted  of  tlie  Yasna  and  Vispararf; 
and  a  third  Nask  which  may  be  considered  equivalent  to 
the  extant  fragments  we  have  in  the  Nirangistän,  Vishtäsp 
Yasht,  Häd'ökht,  and  Aogemadaecä.  And  the  total  extent 
of  these  three  extant  Nasks  may  be  estimated  at  about 
51,000  words^)  of  Avesta  text  and  126,000  words  of  Pahlavi 
Version.  The  writer  in  the  Diukard  uses  about  17,000  words 
to  describe  sixteen  of  the  Nasks  that  are  uo  longer  extant; 
we  may  therefore  allow  another  2000  words  for  the  remaining 
two  Nasks  that  are  not  described,  making  a  total  of  19,000 
words  for  deseribing  all  the  eighteen  Nasks  that  are  now 
no  longer  extant.  As  the  48,000  words  of  the  Pahlavi 
Vendidäf?  are  Condensed  by  the  describer  into  1270,  and  as 
this  description  is  one  of  average  extent,  we  may  perhaps 
assume  that  19,000  words  of  description  would  represent 
something  like  718,000  words  of  Pahlavi  Version.  And,  if 
we  were  to  take  the  3,200  Avesta  and  28,000  Pahlavi  words 
of  the  Nirangistän  as  a  fair  average  specimen  of  the  pro- 
portion  of  the  two  versions  in  the  lost  Nasks  generally,  we 
should  come  to  the  conclusion  that  the  eighteen  lost  Nasks 
may  have  contained  about  82,000  words  in  their  Avesta 
texts,  besides  the  718,000  words  in  their  Pahlavi  versions. 
Addino-  these  numbers  to  the  Contents  of  the  three  Nasks 
extant,  we  should  ol)tain  a  total  estimated  extent  of  the 
whole  of  the  twenty-one  Nasks  in  Sasanian  times,  amounting 
to  133,000  words  of  Avesta  text  and  844,000  words  of 
Pahlavi  version.  This  estimate  is  based,  of  course,  on  rather 
hazardous  assumptions,  but  these  happen  to  be  the  fairest 
and  best  that  are  at  present  available,  and  the  result  is  by 
no  means  unreasonable. 


1)  Not  including  the  Ya8ht8  I— XX  and  minor  texts  of  the 
Khurdah  Avesta,  whose  connection  with  the  Nasks  has  not  yet  been 
ascertained. 


West:   The  e.rtent,  latiguage,  and  ac/e  of  Pahlavi  literature.   443 

It  nii^ht  be  arcfued  that  the  accoinit  in  the  Dinkarrf 
may  have  been  compiled  merely  from  old  records,  and  not 
from  the  Nasks  theniselves;  but  the  fact  that  the  writer  in 
the  Dinkan?  attenipts  no  description  of  the  two  Nasks  which 
had  not  reached  him  is  rather  against  this  view.  We  have, 
inoreover,  references  luade  to  several  of  the  lost  Nasks  in 
Pahlavi  works  which  can  havdly  be  eonsidered  older  than 
the  Dinkard.  Thus,  the  Shäyast-lä-shäyast  quotes  passages 
from  no  less  than  thirteen  of  the  lost  Nasks,  the  Vijirkard-i 
Dinik  quotes  from  three,  and  Mäuüshcihar  and  Zäc^-sparam 
also  quote  from  three. 

In  conclusion  it  may  be  remarked  that,  though  this 
review  of  the  present  state  of  our  knowledge  regarding 
Pahlavi  literature  is  intended  to  be  fairly  accurate  in  all 
|)articulars,  it  is  quite  possible  for  valuable  Information  to 
remain  unnoticed  for  years  in  accessible  texts.  In  fact,  no 
one  can  be  sure  that  he  knows  the  content^  of  any  Pahlavi 
text  until  he  has  fuUy  and  literally  translated  it;  and,  even 
then,  he  may  have  misunderstood  some  portion  of  its 
Statements. 


Der    Classensecretär    Herr    v.    Prantl    legte    eine    Ab- 
handlung des  Herrn  Unger  vor: 

,Ueber  den  Gang  des  altrömischen  Calenders." 

Dieselbe  wird  in  den    „Abhandlungen"   veröffentlicht. 


444 


Herr  Kuhn  legte  eine  Abhandlung  des  Herrn  Burk- 
hard vor: 

,Die  Nomina  der  Kä9niiri-Sprache.'' 

In  meiner  in  die  SitzAingsberichte  1887  Band  I  Heft  3 
aufgenommenen  Abhandlung  habe  ich  eine  Darstellung  des 
Verbums  der  Kä9miri-Sprache  versucht,  in  der  vorliegenden 
sollen  die  Nomina  dieser  Sprache  (das  Substantivum,  das  Ad- 
jectivum,  das  Pronomen  und  das  Numerale)  behandelt  werden, 
hier  wie  dort  auf  Grund  der  von  mir  bereits  angeführten 
Quellen ,  zu  welchen  durch  die  Güte  des  Herrn  Professor 
Dr.  G.  Bühler  eine  neue  hin/Aigekonnnen  ist:  A  Dictionary 
of  Kashmiri  proverbs  and  sayings  by  the  Rev.  J.  Hinton 
Knowles,  Bombay  1885.1) 

So  ausführlich  auch  das  Verbum  in  jenem  persisch  ge- 
schriebenen, von  mir  mit  Mp.^)  bezeichneten  Manuscript  be- 
handelt ist,  so  dürftig  erscheint  dagegen  die  Behandlung  der 
Nomina.  Was  von  diesen  und  ihrer  Declination  erwähnt 
wird ,  Hesse  sich  in  einigen  Zeilen  abthuu ;  es  werden  eben 
nur   einzelne  Vokale    und   Consonanten    bezüglich   ihrer   Be- 


1)  Die  Sprichwörter  und  Redensarten  sind  in  latein.  (enj^lischer) 
Schrift  gegeben;  die  Sprache  ist,  wie  sich  dies  bei  Sprichwörtern  von 
selbst  versteht,  oft  sehr  knapp,  häufig  elliptisch  und  scheint  der  Um- 
gangssprache nahe  zu  stehen.  Während  sie  so  mindere  Ausbeute  für 
die  Grammatik  bieten,  sind  sie  in  lexikalischer  Beziehung  äusserst 
werthvoll.  Die  beigegebene  englische  Uebersetzung  ist  nicht  immer 
wörtlich  und  konnte  es  auch  nicht  sein. 

2)  Sitzgsber.  1887  Bd.  1  Heft  3  S.  305.  306. 


Burkhard:  Die  No^nina  der  KäQmin-Syrache.  445 

dentiing  für  Declination  und  Conjugation  mit  wenigen  Bei- 
spielen vorgeführt.  Diesem  Theile  jenes  Manuscriptes  habe 
ich  so  viel  wie  nichts  zu  verdanken. 

Die  übrigen  von  mir  citirten^)  Quellen  in  lateinischer 
(englischer)  Schrift  sind  rücksichtlich  der  Noraina  ebenfalls 
meist  recht  dürftig  und  behandeln  diese  nur  sehr  oberfläch- 
lich.^) So  konnte  die  Lösung  vieler  Schwierigkeiten  eben 
nur  durch  die  Leetüre  gelingen.  Doch  erleichtert  auch  diese 
die  Fixirung  der  Formen  immer  noch  zu  wenig,  da  beispiels- 
weise in  Np.^)  die  Vokalzeichen  oft  gar  nicht  oder  sehr  in- 
consequent    gesetzt    sind.     So    werden    ^  a   und    —  i   nicht 

selten  verwechselt,  z.  B.  dJ>Si  handi  neben  tXÄ^  hindi,  ebenso 

f—  ä  und  %—  ü ,  z.  B.  «-L«  mäj  Mutter  neben  «-^  müj,  und 
vieles  dergleichen. 

Auch  die  in  Devanägari  geschriebenen  mir  zu  Gebote 
stehenden  Texte  leiden  gleichfalls  an  Inconsequenz  in  der 
Schreibung  der  Wörter  und  Formen,  z.  B.  flti«^  und  fT^«^, 
f^i^  ,  aber  T^,  ein  Beweis  der  Schwierigkeit  die  Aus- 
sprache zu  fixiren. 

Sonach  konnte  sich  die  vorstehende  Abhandlung  leider 
nicht  in  allen  Punkten  auf  eine  absolut  sichere  Basis  stützen 
und  muss  desshalb  von  diesem  Standpunkte  aus  beurtheilt 
werden ;  jedenfalls  aber  dürfte  sie  zu  weiteren  Studien  im 
Kaschmir'schen  anregen. 


1)  Sitzgsber.  1887  Bd.  I  Heft  3  S.  304—306. 

2)  mit  Ausnahme  der  in  den  Sitzungsberichten  1887  S.  306,  b 
erwähnten  Handschrift;  doch  fehlen  in  derselben  die  pronomina  pos- 
sessiva  und  die  Zahlwörter  werden  nur  bis  48  aufgeführt. 

3)  Sitzgsber.  1887  Hd.  T  Heft  3  S.  304. 


446  Sitzung  der   philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Das  Genus  der  Nomina 

ist  entweder  masculinum  oder  femininum  (bei  den  Pronomi- 
nibus auch  neutrura).  Bei  der  Verwandlung  der  Nomina 
masculina  in  Nomina  feminina  finden  im  ganzen  dieselben 
Con  so  n  an  ten  Veränderungen  statt,  welche  wir  bereits 

erwähnt  haben  ^),  nur  bleiben  *— >  t  und  ^j  th  unverändert 
und  t>  d    geht  nicht  in   -^^  j,    sondern  in  ^  z   über^);   ferner 

treten  häufig  V  o  k  a  1  v  e  r  ä  n  d  e  r  u  n  g  e  n  ein  und  zwar  gehen 

über  f—  ä  in  I  ä  (=  ö) ;  ^  u  in  ^  a  und  —  i ;  5—  ü  in  I  ä, 

—  i  und  (5  i;  J  yu  in  —  i  und  13  i;  s  "  finales  a  in  ^5  i, 
wie  aus  den  unten  folgenden  Beispielen  ersichtlich  ist. 

A.  Die  Substantiva. 

I.    Das  Genus. 

Allgemeine    Regeln    lassen    sich    über    das    Genus    wohl 

kaum  geben;    es  ist  nur  zum  Theil  an  der  Bedeutung,  Al)- 

stammung   oder  Endung    der  Substantiva    erkennbar^).     Bei 

manchen  Substantivis   sind  die  Angaben   widersprechend;    .so 


werden 


1)  Sitzungsberichte  1887   Bd.  I    Heft  3   S.  371,  1:    Od   Sg  J 

io        iß  \         ^ 

_-  j ;  ^-*  t  .^  th  —  ;r-  c  &>•  ch ;  li/  k  ^5  kh  —   _  c  äs>.  ch ; 
VI-  Vi-  C- 

CJ  t  &j  th    -  ts  ÄA.  ts ;  ^  wird  ^  iii  {^  th  dort  zu  verbessern). 

2)  Doch  findet  sich  von  JoL^e  XiJ  latah-mund  oder  tVÄX)  ^ÜJ  latah- 
mund   „zertreten"      (Luc.  21,  24)    ^LS\JÜo    ääJ  latah-raunjih,  pl.  f. 

3)  z.  B.    _,Lo    mäj    Mutter,    cJj-^-ä    shuhrat    (arab.    f.)    Ruf; 
5lXJv    zindagi    (pers.    f.)    Leben;    xa-ö    nabiyyah    (ar.).    Prophetin 

Aus  dem  Arabischen  und  Persischen  sind  überhaupt  eine  Menge  No- 
mina entlehnt  (Lehnwörter). 


Burlhard:  Die  Nomina  der  Kä^miri-Sprache .  447 

sind   vJ^Ä.  ci/  >^ache  und  tX^   gud   Anfang  bei  El.^)  Feminina, 

in  Np.    Mascnlina:    ^>Lrgäd  Fisch  ist  bei  El.  Mascnlinnni.  in 
Np.  und  an  andern  Orten  Femininum. 

Aus  substantivis  masculinis  werden  substantiva  feminina 
in  folgender  Weise  gebildet: 

1)  durch  die  oben  erwähnten  Vokal-  und  Consonanten- 
veränderungen: 

a)  Vokalveränderungen : 

_?_  u  in  —  i 

^  kukur^)   Hahn  ^   kukir 

JiyS'  kütur       Taube  y^y^  kütir 

y—  ü  in  t  ä 
•  J&^j  patsalüv  Luchs  ^^ääj  patsaläv 

<^yf      günt         Bergpferd  v:yj'0       gänt 

N^J         dyür        ein  Reicher       >Ljt>        dyär         eine  Reiche 

»—  a  in  (^ 
ÄJjJ"  tüta  Papagei  ^y-i  tüti 

b)  Consonantenveränderungen : 
c^  t  in  ^    ts  i>  d  in  S  z 

<Dy^^  püt  Küchlein    ».  ^  püts      O^b  nävid  Barbier    ^jU  näviz 


1)  Sitzungsberichte  1887  Bd.  I  Heft  3  S.  305. 

2)  Lue.   13,  34:    j3^  kukar. 


448  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

J  1    in    «,  .i  (j  n   in   ^  fii 

JLi  shäl  Schakal     «-^  shäj       ,jyß  hün  II  und     ^yo  hüni 

*  r    in    *  rii) 
S  gur  Pferd  y  guri 

.yiiiO^ö  düdagür  Milchverkäufer         xysOjt)  düdagüri 
c)  Vokal-  und  Consonantenveränderungeu  zugleich : 

'—  ä  in   1   ä 

^  n    in  ^  ni 

,jlr  gän  Kuppler  ^u  gäni 

?_  n  in  -r:-  a 
(J'g   in  O  d   in  ^   z 

üCäJ  hing  Krüppel   ^xJ  laiij    tXi*«  snnd   j-i.A*.  sanz  (s.  Genetiv) 

_L  u  in  —  i 

(CD  t    in    ^    ta  (3  d   in   \  z 

v:>juß  häjmt  Bär  ;^^  liapiis  tXÄ^  hund  yÄi»  hinz  (s.  Genetiv) 

(J  k   in  _  c 
viUj  batuk  Enterich  f>*-^ 

J  1    in    ^  .i 


JjU».  t-sävul  Ziegenbock  ;r5  «    ^'^^^y 

J^     )»ahul    Ilirte  /i^^-S:^    pahij 

Jj'l^     vätul    Lehrer  ;^  S     ^ätij 


1)  i  ist  vor  r  auszusprechen. 


Burkhard:  Die  Nomina  der  Kägmiri-Sprache.  449 

^-^  ü  in  I  ä 
^  n    in  ^j  ni 
\^y   k\in  Blinder  ^o    kfini 

J  ,  in  ^ 
J^y^  tsriil  Gefangen  Wärter  r'^f^  isrAJi 

2.  durch  die  Silbe  ^—  ani  oder  ,j^  ini,  z.  B.  |»L«  niam 
Bruder  der  Mutter  ^j-^^  niämani ,  >^  sür  Eber  i^)y^ 
sürini,  v^  Zar  Esel  vjv=*-  X'^i'iSi,  o«.«*^^  hast  Elephant  ^jJL***Jß 
hastini,  ^^§^^5  vünth  Kamel  ^^^^-^^^  viinthini.  ^o  gäv  Stier 
(jjO  gävini  (neben  ^O  giiv),  ^o  käv  Krähe  ,j«L5  kavini,  ,jl. 

van   Krämer  ^j^')  vänini,   >j^^   vüvur  Weber  (j^^j^j  vüvarini, 

^'  '      '■^'         ~         I  '  '     '  I 

&AJ  bata  Hindu  ,^aj  l^atani,  yjljß  hänz  Schiffer  (jV^  hanz- 

ani,  VJt  anz  Gans  ^yjf  anzani.  ^•-^j'^  pänyür  Wasserträger 

-    '1 
jj|x^^U  pänyürani  u.  andere; 

3.  bei  Thieren  oft  nur  durch  den  Zusatz  von  5c>Lo 
niädah,  z.B.  soLx)    ^i*  ya,r  mädah  Eselin; 

>    —  -- 

4.  in   mehr  oder  weniger  anomaler  Weise :  5^^^  ma- 

-.  -  > 

hanyiiv    Manu    äjüv   zanänah    Frau ,    (^^    büi    Bruder    ä-o 

binih  Schwester,  s\K  räza  König  ,^K  räni  Königin,  ^LocX^e 
madanyär  Geliebter ,  Freund  (j*<^  vis ,  iu«  suh  Tiger  \^j-*^'^ 
simini,  Owu*  saruf  Schlange  »^t^  sarpini,   ij'^  javän  oder 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Ol.  3.  3U 


450  Sitzung  der  philos.-philol.  Clnsse  vom  5.  Mai  1888. 

j-g-gii  anhuhar  Jüngling  ij^)-^'  anliirish ,  »S'v^  mahräza 
Bräutigam  (j)-§-*  muharini,  y5  gur  Pferd  Jj  gud  (neben 
v5^  guir) ,  tXjlo  dand  Ochs  ^LT  gäv,  vAJb'  käntur  Sperling 
vÄ.  tsar ;  cX^  kat,    J^U?-  tsävul  oder  iX^J^  hnnd  Widder   vxj 

ter  oder  ^^  gub,  ^^^  ghulam  Diener  VÄä  tsnnz  oder  V^^ 
kaniz  (El.  masc. !). 

Die  Frau  eines  Mannes  wird  gewöhnlich  durch  ^50 
bat  oder  die  Silbe  ^jo  yani,  oft  aber  auch  nur  nach  2)  ge- 
bildet, z.  B.  jj*-^  chan  Tischler  (^LxjL^  chäna-bäi  Tisch- 
lersfrau ,  ^tXjo  kandar  Bäcker  (^LjNtXJo  kändar-bäi,  y^^ 
khär  Hufschmied  ^^Li^X^i  khära-bäi,  u'v5  krfd  Töpfer 
(^LjäJLj  kräla-bäi,  vax»  manar  Juwelier  (^Lj*.äxi  manar-bäi, 
^LsLit^L  pädshäh-bai  (äXJLo  mälikah)  die  Gemahlin  des 
Königs,  die  Königin ;  auch  finde  ich  jLl^f  äshnäü  der  Ver- 
wandte (^b^Li-iil  äshnäü-bäi  die  Verwandte  (Luc.  1,  36). 
Die  Form  auf  ^J  "-  ani  hat  öfters  doppelte  Bedeutung,  z.  B. 
j^scVJo  kändaryani  die  Bäckersfrau,  aber  (j>tXJD  kändarani 
Bäckeriu  und  Bäckersfrau.  Ferner  <i/.*u^S  grüst  Bauer 
^UciAwwJjS  grist-bäi  Bäuerin,  O^ü  nävid  Bar))ier  i^bo^ü 
nävid-bAi  Frau  des  Barbiers,  »vj  väza  Koch  i^Usv'j  väza- 
bäi   K()chin  u.  Frau  des  Kochs. 


Burkhard:  Die  Nomina  der  Kärmiri-Sprachc.  4:51 

II.  Die  Declination. 

Die  Grundlage  für  die  Declination  bildet  der  sogenannte 

Formativus;   er  ist  diejenige  Form  des  Noniens,  an  die  sich 

die  Casusendungen   (;j-s,jn5YÜ    »h)  anschließen    und 

treht  entweder  auf  -^  a  oder  auf  —  i  oder  im  Sg.  auf  —  i 

und  im  PI.  auf  .-•-  a  aus.  So  ist  beispielsweise  ^5y  naukara 
der  Formativus  von  v^J  naukar  der  Diener  (dat.  sg.  \y"fy^ 
naukara-s) ,  J^  kuli  der  Formativus  von  Jj  kul  der  Baum 
(dat.  sg.  {j**^  kuli-s).  ^^  küri  der  Formativus  von  ^yi  kür 
das  Mädchen  (dat.  sg.  »j;^  küri-h),  -^  kathi  (sg.)  und  4^5 
katha  (pl.)  sind  die  Formative  von  .^  kath  das  Wort  (dat. 
sg.    Ä-^^  kathi-h ,    dat.    pl.    ^j-^^  katha-n).      Demzufolge 

ließen  sich  3  Hauptdeclinationen  und  zwar  eine  A- ,  eine 
I-  und  eine  A-  und  I-  oder  gemischte  Declination  unter- 
scheiden. Insofern  indess  die  Declination  der  nach  der 
I-Declination  gehenden  Feminina  theilweise  eine  andere  ist, 
als  die  der  nach  derselben  Declination  gehenden  Masculina, 
so  mag  die  herkömmliche  Eintheilung  in  4  Declinationen 
beibehalten  werden.  Der  ersten  oder  zweiten  gehören  die 
Masculina,  der  dritten  oder  vierten  die  Feminina  an. 

Numerus. 
Es  giebt  im  Kaschmir'schen  nur  2  numeri,  den  Singu- 
laris  und  den  Pluralis ;  der  Dualis  fehlt  wie  in  allen  indischen 
vom  Sanskrit  stammenden  Dialekten. 

Casus. 
Diese  sind  8  an  der  Zahl    und  zwar  Nominativus ,  Ac- 
eusativus ,  Vocativus,  Genetivus,  Dativus,   Locativus,  Instru- 
mentalis und  Ablativus ;  die  ersten  3  mögen  casus  recti;  die 
übrigen  casus  obliqui  im  folgenden   genannt  werden. 

3u* 


452  Sitzntiff  der  2)hilos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Nominativ :  in  diesem  Casus  werden  die  Nomina  auf- 
geführt. 

Accusativ :  dieser  ist  in  allen  4  Declinationeu  dem  No- 
minativ gleich. 

Vocativ :  im  Sing,  tritt  in  I ,  TU  und  IV  eine  Ver- 
längerung der  formativen  ^  a  und  ^  i  ein ,  in  II  tritt 
*-^  ä  an  das  in  (^  y  verwandelte    -^   i  des  Formativs,    z.B. 

vjj.j  naukar ,  form,  yiyj  naukara ,  voc.  ' r^^  naukar-a ;  \yj 
kür,    form.   ^^  küri ,    voe.  (^^^^  kiiri ;    Oo   gad ,  form.   o[S 

gädi ,    voc.  ^5'^'-^  giuji ;    J>5    kul ,    form.    J.5    knli,    voc.  ^y^ 
kuly-ä^). 

Im  Plural  tritt  mit  Unterdrückung  des  formativen  .^  a 
und  Verwandlung   des  formativen  ->-  i   in  (^  y    die  Endung 

^—  ü  an,    /.  13.  ^Y^^J  naukar-ü,  y-f^J^  kuly-ü,  y--t)y  küry-ü, 

•oOO   gädy-ü. 

Dem  Vocativ  geht  gewöhnlich  die  Interjection  (^1  ay 
o!  voraus^). 

Dativ:  die  Endung  ist  in  I  und  II  (j*«  s,  in  III  und  IV 
5  li.      Dieser  Casus    steht    oft    als    directes  Object   statt  des 


1)  In  Np.  findet  sich  stets   8-^-  ah   statt  \  -r-  a,  sowie  -—  i  und 

-  ■'  ^  '  ' 

5--  ih  statt  (^  i,  z.B.  SySjJ  naukarah.  » ^.5   kuri,  au.5   kulih   (eben- 

80  bei  den  Adjectivis,  z.  B.  äX^j    XxXj    ,^1  ay  lukatihkhilih  okieine 

Heerde  (Luc.  12,  32)! 

2)  Statt  des  Vocativs  steht  in  Np.  (meist  bei  Lehnwörtern)  der 

Nominativ,    z.B.    Jö.ltXik    ^^1  ay  ;;^udrivand,   oUü*if    ^s,\  ay    ustad 
o  Herr' :  cuj«!    (^1  ay  avrat  o  Weib  ! ;  (jo.,S\.Cw    ^\  ay  slia;i;8  o  Mensch! 


Burlchiird:  Die  Noniiiid  der  Kiirmtri-Sprache.  453 

Accusativs  —  er  wird  auch  Objectivus  genannt  —  und  regel- 
mäßig statt  des  Personalsuffixes,  z.  B.  [W  ^^^yXi  &j  bu 
balrävii-k  tiuiM  (ich  werde  sie  heilen)  oder  ^yr^  i:J^  *r> 
bu  timan  balräva  i^j^  timan  dat.  des  Pron.  o.  p.  pl.); 
beides   verbunden :  J^^  «^  ^  ^  s3  O  "r    <-^  "^4^  \J'^ 

^\^  viJL^_g-=»>  >L,«X«L*«  ÄJv«-w  (^f  nahiyan  chuk  qatl  karän 
ta  tim  yini  tsi  nish  ay  süzana  sanksar  chuhaJc  karan  du 
tödtest  die  Propheten,  und  diejenigen,  welche  zu  dir  gesandt 
wurden,  peinigst  du  (Luc.  13,  34);  sehr  instructiv  Luc.  L5,  8: 

^I.J   Lx^is.   ^S  ÄJ"   (j^K    ij''^'^^   ^-^^   ^j'-^)    ***^  kusa 

zanänah    ^s«»^  chinän  zäläu  ta  garas  chinä  dtivän    welches 

Weib    zündet    nicbt    Licht    an    und    kehrt    nicht    das    Haus 

(wo  das  Suff,  sogar  noch  nach  dem  Fragewort  steht);    aber 

auch    Dativ    (statt    Accusativ)    mit    folgendem    Verbalsuffix 

'  '      r     '         r"  .  '       .1 

vor  einem  Relativsatz :   ^   5\    &^-sXj   isj>  ^-»j   ^^^^>:>   (J^La^o 

'  ■'       j       --  ^  "     -        "^ 

^yj^S  ;.j  o^LiJ>L    Ä.gjLJ    j^^^'    5v5     myänin    dushmanan, 

yimav  na  yutsh  zi  bu  kara  timan  peth  pädshähat,  yüri  anyuk 
meine  Feinde,  von  welchen  nicht  gewünscht  wurde,  dass  ich 
über  sie  herrsche,  bringet  (sie)  her! 

Der  Locativ,    der  nur  in  Verbindung  mit  Präpositionen 
(im  Kaschmir'schen    richtiger  Postpositionen)  vorkommt,    ist 

dem  Dativ    gleich ,    z.  B.    cb  l)ägli    Garten    dat.  sg.  (j**-tL> 

bäghas,   loc.  i'y^)   ^tXJ'    u**^^     bäghas     andar    (manz)     im 

Garten ;  dat.  pl.  ^^  bäghan,  loc.  (v^)  ^tXJl  ^^  bäghan 
andar  (manz)    in  den  Gärten. 

1)  Sitzun^sber.  1887  Bd.  I  Heft  3  S.  318.  319. 


454  Sitzung  der  philos.-jMlol.  CUtssc  vom  5.  Mai  ISSS. 

Der  Ablativ  ist  im  Plur.  dem  Dativ  gleich  ,  im  Hing, 
tritt  an  den  Formativus  »  h  an,  z.  B.  8fc>  duh  Tag  xiCJ 
dnha-li ;  d^  kul  idS'  knli-h  ;  ^^  knr  Sj^5  kuri-h  n.  s.  w. 
Er  erscheint  meistens  in  Verbindung  mit  Präpositionen, 
welche  eine  Entfernung ,    Trennung  ausdrücken ,    z.  B.    ^«iLs 


SnJöI  l)figluih  andara  aus  dem  Garten,  xi"  äj^^/o  «.'i  ks^j^Ujo 
iLgju   iJU-i   xj  ^^:?-  mashriqah  tali  maghribah  tah  janübah 

tah  shamälah  p'tha  von  Osten  und  Westen  und  Süden  und 
Norden ;    allein  stehend    finde   ich   ihn    bei  Zeitangaben ,    so 

iJCO  ^L»j■  tamih  duhah  an  diesem  Tage,  (j^t>  ^W  timan 
duhan  in  diesen  Tagen ;  ferner  in  Phrasen,  z.B.  «Jyj^  eöL-yo 
myanili  x.Y^^li'i    "^^^^^   meiner  Meinung. 

Der  Instrumentalis  hat  im  Sing,  in  1  die  Endung  ^J  n, 
in  111   und   IV  5  h,  in   11  ist  er  dem   Formativus  gleich;  im 

^  --  -  ' 

Plur.  endigt  er  auf  ^  v;  z.  13.   (j>^^  naukara-n,  ,^^^0  kuli-n, 

- '  -  '  ^        •         '^  ^ 

»j^  küri-h  :    »S^  uaukara-v,  ^i5^  kuli-v,  ^^^  küri-v,  ^JO 

gadav.  Sein  Gebrauch  ist  meist  auf  den  Agens  beschränkt 
(vergl.  Sitzungsber.  1887  Bd.  1  Heft  3  S.  350). 

Genetivus:  Dieser  ist  eigentlich  der  Dativ  ^)  in  Ver- 
bindung mit  den  in  der  Bedeutung  , angehörig"*)  gebrauchten 
und  daher  den  Dativ  regierenden  und  declinirbaren  Aus- 
drücken cXa^  sund,  <>Ä5>  hmid,  '>^^  sanz,  ^-^  hinz.    lieber 


1)  Desshalb  muss  jedes  Attriljut  tles  Genetivs,  dann  ein  von 
einem  Genetiv  abhängiger  Genetiv,  sowie  eine  zum  Genetiv  gehörige 
Apposition  im   Dativ  stehen,  vergl.  unten. 

2)  wohl  Skrt.  W^  sant   seiend. 


Burkhard:  Die  Nomiva  der  Kä^miri-Sprache.  'iSo 

den    Gebrauch    dieser    Ausdrücke    siehe    unten.      In    I    und 

i  »   -  -  - 

II  fallt  die  Dativ-Endung  vor  <Xo*;  sund  ab,  daher  tXÄ-w5w5^ 

naukara-sund    (»  h  ist  nur  graphisch^)),    iXaavJj    kuli-sund; 

dagegen  tXÄiCSx^  kürih-hnnd.  tXÄiCsjLi  gädih-hnnd. 

Der  Genetiv    kann  aber  auch  noch  auf  folgende  Weise 
ausgedrückt  werden : 

1.   Das  Substantivum  wird  in  ein  Adjectivum  verwandelt 
und  zwar  durch  Anknüpfung  der  Silbe 

a)  ^-'  un  (f.  1^^  ani,  pl.  ^-  ani ,  f.iö-  anih)  an 
Eigennamen  ,  z.  B.  (^^Li  (««^v*  Mirza  Shah-un  des 
M.  Sh. ;  (^^yj  \J-^^.))^  Uriyäh-ani  qülai  üria's  Weib; 
iUuc^  5tXÄi&iu«L)t>^wjjß  iu-*if  ÄÄA*/^-yLö  Filibüs-ani  äsh- 
aiüh  Hinidiyäsih-hindih  sa])abah  wegen  H.,  des  Phil. 
Weib;  j»Lj  j**J>^  {j**^'^)r^  Harüd-anis  niaranas  täni 
bis  zum  Sterben  (Tod)  des  H. ; 

b)  ^^  uk  (f.  ^-  ac,  pl.  d  --  aki  f.  i^^  acih)  an  Sub- 
stantiva  überhaupt  (auch  nom.  act )  oder  an  substanti- 
virte  Infinitive,  z.  B.  viLjL»-**<f  äsmän-uk  himmlisch  des 
Himmels;  s'^f  f^T  ^  ^""^  natsanac  tah  givanac 
äväz  (f.)  Lärm  des  Singens  und  Tanzens;  Job  ^  SS 
x.^>->«j  iu«3  kukur-uk  bang  dina  bunth  vor  dem  Krähen 
des  Hahnes  (ehe  der  H.  kräht) ;  villiK    **«   viLw^LijL 

1)  Statt  5-^  a  finde  ich  hie  und  da  (<  i,    z.  B.   ,-Jc>  dili  statt 
jjj  dila. 


456  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

^y.':^  pädshähat-uk  sar  zänuii-uk  vuqöf  die  Fähigkeit 
die  Geheimnisse  des  Reiches  zu  wissen ;  ^cXjJ  icju^ä. 
<^j'^  bayat-i  abadiyyuk  väri5-  Erbe  des  ewigen  Lebens 
(v.  ^tfcXjf  arab. ,  Adj.  abadiyy;  cf.  2);  tX.-yof  >sJL5ß 
hinac  umid    die  Hoffnung  zu  nehmen^); 

c)  y—  avu  (f.  5^^  (?)  ava,  pl.  ^—  avi  f.  s^—  avih)  nur  in 
Mp.  erwähnt^). 

2.    durch    das    persische    -^  i    (I    Izäfat) ,    z.  B.    tXJ))-* 

^La«.jI  iarzaiid-i  insan    des  Menschen  Sohn  (cf.   1,  b). 

Ausser  den  bisher  genannten  Casus  hat  das  Kaschmir'- 
sche  wie  das  Fersische  noch  einen  sogenannten  Einheitscasus 
auf  »  '  ah,  meist  mit  dem  vorhergehenden,  hie  und  da  aucli 

folgenden    wf  ak   „ein",  z.  13.    »y^   ^'    n,k    naukar-ah     ein 

Diener,    idi"  *Jl  ak    kiil-ah    ein    Baum,    5p^  (Jf  ak   kür-ah 
ein   Mädchen. 

Audi  nach  *^>  kinli  irgend  ein,  ^^^yJ  prat  jeder  und 
j*«^  yus    welcher    finde  ich    dieses  »  "    ah,    z.  B.    &sßt>   ^^y^. 


1)  l'x'i  mehr  als  einem  Adjectiv.  auf  cJ  '    iil<    (wenn   sie   durcli 
lö  tali   jund"   verhundcn  sind)  stellt,  «gewöhnlich  nur  hei  dem  letzten 

die  Silhe  li)  '  uk ,  /,.  I!.  Jö.ftXi^  dLLyoV  XJ'  ^oU-*«''  i'isnian  tah 
7.aminuk  ;^udrivand  Herr  des  lliiiinicls  und  der  Erde,  (vergl.  1,  h 
^^^VJ  natsanac  u.  s.  w. ;  ob  auch  im  Femininum  V) 

2)  Ein   Beispiel  steht   mir   nicht    zu   Gebote.    —  Bezüglich    der 
unter  a  b  c  aufgeführten  Fälle  vcrgl.  auch  Decl.  der  Adjeotiva. 


Burlhnnl :   Die  Nom'iut  der  Kur))ihi-S}»(ichc.  4;)/ 

prat    duh-ah    jeden  Tag    (täglich);    iy^   »^^  kiiili   ciz-ali 

irgend  eine  Sache  (etwas) ;  iuasx^  ij*o  yns  sha/s-ah  wer  — 

(der) ;  ebenso  bei  Zahlwörtern  mit  ^1  ak,  z.  B.  s^J'  ^:>^  c)f 
ak  hat  ter-ah    ein  hundert  Schafe. 

Arabische  Wörter,   welche  bereits  im  arabischen  Plural 
stehen,  können  noch  einen  Kaschmir'schen  Plural  bilden,  /.  B. 

(«AJ  nabi   Prophet    gen.  pl.    <X»iC^j.AAJ    nabiyan-hund ,    aber 

auch  JoLiC   ,^^^.^_^jf  anbiyah-an  hund   vom  arab.  Plural  ^vyl 

anbiyä.     (vergl.  Luc.  16,  29  mit  IG,  31.) 

Ebenso  können    aus  arabischen  Adjectiven    neue  kasch- 
mir'sche    durch    die    oben    erwähnte    Silbe    ^—   uk    gebildet 

werden  (vergl.  oben  ^Jt^t    cuLa^  b^'^jät-i  abadiyy-uk). 
Paradigmata. 

I.   Declination   (Masculina). 


> 


^^   tsür  Formati V  >^   tsüra 

Singular 

Nora.    »«Ä.   tsür    der  Dieb     *;^   *^'    i^k  tsürah    ein  Dieb 

> 
Acc.  »^  tsür 

Voc.  ''5"??"  tsürä      oder      *;^  tsürah 

Dat.  L^JJif  tsüras 

Loc.  yÄx    (J*'^^  tsüras  manz 

Abi.  iui.j    *;;-=?"  tsürah  nishi 

Instr.  (J;^  tsüran 

Gen.i)  siehe  S.  454— 4.50;  401—463. 


1)  Der  Genetiv  wird  im  folgenden  besonders  behandelt. 


458  Sitzung  der  philos.-philol.  i'lnsae  vom  :'>.  Mai  1888. 

Nom.  actionis 


Plu 

•al 

Singular 

Noui. 

;^ 

tsür 

> 

flina  das  Geben  v 
t>   flyun  <]feben 

Acc. 

;^ 

tsiir 

ÄJi^    dina 

Voc. 

tsürü 

Dat. 

tsüran 

(j*AJc>  dinas 

Loc.  wÄx    ^J^^    tsüran  manz         jÄ^  ij*^^  dinas  nianz 

Abi.  &xi.j  (^;^r^   tsüran  nishi  — 

Instr.         55^  tsürav  — 

Gen.i)       siehe  S.  454— 45G;  461—4(33.        — 

IT.   Declination   (Maseulina). 

J>5    kul  Forniativ  J^5    kuli 

Singular 
Nom.        J.5^  kill  der  Baum      x-^5    kulah  ein  Baum 

Acc.  Ji^  kul 

Voc.  LjV^  knlyä        oder      äJ.5^  kulih 

Dat.  u^^  kulis 

> 
Loc.  yÄ>c  ^J«-X5    kulis  manz 

Abi.  iuiö   xlS^  kulih  nishi 

In.str.         Ji^  kuli 


1)  Der  Genetiv  wird  im  folgenden  besonders  behandelt. 


Burkhard:  Die  Numiiia  der  Kärmiri-Sprache.  4o9 

riunil 

Nom.  J^  kuli 

Acc.  Ji5^  kuli 

Voc.  JSf  kulyü 

Dat.  r;"^  knlin 

Loc.  yÄx   ^Ji^  kuliii  nianz 

Abi.  Ä-iö    c^^  ^"^"^  "^^^^^ 

Instr.         ^15^  kuliv 

TU.   Declination    (Feminina). 

sS  kür          Formativ         ^^5    küri 

Singular 
Noui.      >^  kür  die  Tochter     5;^^  kürah  eine  Tochter 

Acc.        v«^'  kür 

Voc.       v5;^         ^''^^^"'^  ^^®^"       >?>^    ^'^^^ 

Dat.        i^yS^  kürih 

Loc.        yÄx    s>^    kürih  raanz 

Abi.       ^uiJ   5>^  kürih  nishi 

> 
Instr.      5^.5^  kürih 


460  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  com  5.  Mai  18S8. 

Plural 
Nom.         b^yi  kürih 

Acc.  *)r^  kürih 

Voc.         y^)y^  küryü 

5 

Dat.  \J)y^  kürin') 

Loc.  -kA    ^^y  kürin \)  nianz 

Abi.  auiö   K:))y  kürin')  nishi 

Instr,  5)?-^  küriv^) 

IV".  Declination    (Feminina), 
oir^ad  Formutiv  oLT  gädi  (sg.)     oLj   gada  (pl.) 

Singular 
Nom.        ob"  g;ul    der  Fiscli       sjlT  gädali    ein  Fisch 

Acc.  c>0  gäd 

Voc.  ^oLT  gädi         oder  <^t^  gädi 

Dat.  5c>L5^  gädih 

Loc.  jXx    5c>lj     ga(lih   manz 

Abi.  iuiö    äOli    gjulih  nishi 

Instr.         soli^  jjädih 


1)  Wegen  der  häufigen  Verwechslung  von  --  i  und  -'  a  finden 
sich  in  Np.  Formen  mit  ->  i  und  ^  a  neben  einander,  z.  B.  ^-^' 
achiv  und  5-g■s^'  achav  von  ^^^Ä■I  ach  f.  Auge  (cf.  1.  I>ecl.) 


Bnrhlidrd: 

Die  Nom 

)ia  der  Käriiiiri-Sprachc 

Plural 

Noiii. 

'JSif 

gädah 

Acc. 

»^li- 

gädah 

Voc. 

Äir 

gä(lü 

Dat. 

gädau 

Loc. 

■jXjo    ^^oif    gädan  nuiiiz 

Abi. 

iuiö 

ijOO    oädaii  nishi 

Instr. 

gädav 

■4()1 


Die  Genetive  der  4  Declinationen: 

I.  Declination. 
Singrular 


b)  jÄ-w 

c)  cXÄa*/ 


d) 


S'^AAU 


a)      tXÄiC 


b) 

vÄ5e 

Cl 

lXäÜ> 

d) 

5'j.ÄiC 

5,v>  tsura- 


^;^ 


sund 
sanz 
Saudi 
sanzah     j 


Plural 


<J>)^' 


tsüran- 


hund 
liiiiz 
hindi 
hinzah 


des  Diebes 


der  Diebe 


4(52  Sitzung  der  philos.- philo!.  Classc  com  3.  Mai  IStlS. 

II.  Declination. 
Singular 

sund 


a)  tX*-*« 

b)  vÄA« 

c)  tXÄAU 

d)  syÄA*/ 

a)  lXä5> 

b)  y^ 

c)  tXÄfl> 

d)  5^ 


J^  kuli- 


J    ;j^-o   kulin 


sanz 
sandi 
sanzah 
Plural 

hiiiid 
hinz 
hindi 
hinzah 


a)  <>.Ä55 

b)  v^ 

c)  tXxiC 
(])  »U:» 

aj  tU5> 


III.  Declination. 
Singular 

liund 


5>^>    kürih-  ) 


Plural 


b) 

c) 

lVa5> 

a; 

,^ 

cJ;;-^   K-urin- 


hiii/ 

hiiidi 

liiuzah 

1 

band 

bin/ 

bindi 

hinzah 


des  Baumes 


der  Bäume 


der  Tochter 


der 


Töchter 


Biirlluird :  Die  Nomina  der  K(i{'t)nri-Sprache. 

W.  Declination. 

Sinffular 


4Ö3 


a)  iXxs^ 

c)  iX<s^ 

d)  sy^ 

a)  (Xisu 

b)  y^ 

c)  iXJ^ 

d)  sCä^ 


liuiul 
hinz 
liiudi 
hinzah 


Plural 


I  J'^^ 


Siulan- 


des  Fisches 


hund 
hinz 
hindi 
hinzah 


der  Fische 


Bemerkung:  a)  wenn  das  nomen  regens  ein  masc.  sg., 
b)  wenn  es  ein  fem.  sg.,  c)  wenn  es  ein  masc. 
pl. ,  d)  wenn  es  ein  fem.  pl.  ist,  wie  die 
folgenden  Beispiele  zeigen. 


464  Sitzung  der  phUos.-pMol.  Clai^sc  vom  5.  Mai  1888. 


2-      Q 


2     Q 


•^     Q 


Q 


O) 

5 


(D 

l-H 

•  I— I 
CD 


<x> 

aj 

■^3 

<v 

"T5 

!-i 

'C 

^ 

'~^ 

•  ^ 

53 

.. 

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a 

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^ 

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B 

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c 

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x"^ 

)3 

) 

Z 

Biirl-hard:  Die  Nomina  der  Kd^miri-Sprache. 


4G5 


^    i 


o 


S     -^ 


c 


ö        fi 


:0 


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PO        S     Q 


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O 

Eh 


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1 1 


3^ 


•^ 


ja 

3^ 


3 


188S.  Pliilos-pliilol.  u.  hist.  Cl.  3. 


31 


^    IS 


460  Sltzunfi  der  philos.-phüol.  (Hasse  vom  5.  Mai  1888. 

Declination  der  den  Genetiv  ausdrückenden  Wörter 

J-Uw  sund  u.  s.  w. 

nach  der  IL  Declination 

a  b 

Nom.  Acc.  JOLw         sund  iX-*Jß  liund 


a  Iß 
*■  _ 


Ol 

a 

o 

'S  ^ 


Voc.                     sJCUü        sandih  »tX^iß       hindih^) 

Dat.  Gen.  Loc.     (jwlXäaü     sandis  u^c^-W^     hindis 

Abi.                      iiXXjM       sandih  5t\Äiß        hindih 

Instr.                    (XLm         sandi  tXÄi^          hindi 

nach  der  IV.  Declination 

c  d 

Nom.  Acc.            yjuM      sanz  yAiO       hinz 

Voc.                     yJLu»      sanzi  'y*-^       hinzi 

Dat.  Gen.  Loc,     SjJ-w    sanzih  svÄiO     hinzih 

Abi.                      »yJL«;    sanzih  syAiC     hinzih 

Instr.                   ö-JLw    sanzih  8^x50     hinzih 

nach  der  IL  Declination 

a  b 

(\Xjm        sandi  tX-».^        hindi 

•JtXxAw    sandyü  yrl^^^     hindyil 

Dat.  Gen.  Loc.     ^JuLw    sandin  (ji^-*^     hindin 

^cXAa*;    sandin  ^^^^     hindin 

^JuLw      sandiv  ^':y^       liiiidiv 

1)  oder  sJoUD  liimdib  ii.h.  \v. 


fl 

Nom.  Acc. 

« 

2 

§    . 

Voc. 

•^  fc< 

«  s 

-gi^  , 

Dat.  Gen. 

*>  ^ 

bc  2 

^ 

Abi. 

ce 

cä 

T3 

Instr. 

• 

Bnrkhai-il:  Die  Nomina  der  K(h;iniri-Spraclie.  -407 

nach  der  IV.  Declination 

c  d 


Noui. 

.Acc 

syJLu« 

sauzah 

syiic 

liinzah 

c 

Voc. 

>         -^ 

5)-^ 

sanzii 

jW 

hinzu 

Dut. 
Abi. 

Gen. 

Loc. 

sanzan 
sanzaii 

hinzan 
hinzan 

"■S 

Instr 

;>^ 

sanzav 

5>? 

hinzav 

Bemerkung:    Vor   solchen   Präpositionen,    welche  eigentlich 

Substantiva    sind  ,    wie  ^H->^  sababah    aus  dem  Grunde 

=  wegen,  »Jiiyo  niriritatah  durch  Vermittlung  =  durch, 

SsisLi»  yalrah.  aus  Absicht  =  wegen,  ferner  vor  »Ji^ 
Xutah  =  „als"  beim  Comparativ,  endlich  vor  den  Ad- 
jeetiven  auf  ^—  uk,  welche  den  Genetiv  vertreten,  steht 

jedesmal  die  Form  auf  »---  ih,  also  StXi-«/  sandih,  stXAÄ> 

hindih,  sU^  sanzih,  «VÄ^  hinzih.     In  Np.  steht  oft  in 

der    ersten    Silbe  _i  a   st.    —  i    und   umgekehrt;    auch 

j  '  ^        . 

finde  ich  dort  ^JuJß  hindü  st.  ^cXa^  hindyü  im  \ocativ; 

so  dürfte  auch  yi'.'T*^  sanzyü  und  y^.'y^  hinzyü  ricli- 
tis  sein. 


31  = 


468  SitziDHj  der  pliilos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  18S8. 

Attribute   eines  Genetivs ,   von  Genetiven  abhängige 
Genetive;  Apposition. 

1.  Die  Attribute  eines  Genetivs  (Adjectiv.i)  stehen  im 
Dativ^),  z.  B.  yJy^  cXAAwSLVJ^'tXis.-  (j*lVj  badis  xndrivanda-sund 
naukur    der  Diener  des  grossen  Herrn. 

2.  Ein  von  einem  Genetiv  abhängiger  Genetiv  steht  im 
Dativ^).     Beispiele: 

o*.A^  ScJcX^J  SiXÄA*.sJjw.w  (j/^tXÄ5D(^^L>  divan-liindis  sar- 
dära-sandih  madadah  set  mit  Hülfe  des  Obersten  der  l^ämonen. 

^M^j  J.Aiß|^Jl^JsLo  ^^^XXS^^J.J^  nabiyan-hindin  maran- 
välin-hindi  nicivi    die  Kinder  der  Mörder  der  1^-opheten. 

.Lj  iXX^^^i  |^(\Ä^^ÄA*/.j  jjwj  prat  basti-  (s.  S.  471) 
hiiidiii  lukan-hindi  näv  die  Namen  der  Leute  jeglichen  Dorfes 
((j*j  prat  indecL). 

(jÜjüL*«  yAAv&)lcV~>.  fjuiXXMu&XJ yMu\  Isräila-sandis  ;fuih"iya- 
sanz  sitayish    Lobpreisung  des  Gottes  Israels. 

-Xjo  yXsü^y^XJ  ^(XXAj^^iXj\  Zabadi-  (s.  8.471)  sandin 
nic-ivin-hinz  mäj    die  Mutter  der  Kinder  des  Zebedäus. 

jXs     ■yXS^^^^yx=>■    i^^j^^i)     ^wÄiCj^^Lw.jf    insänan  -  hin/.an 

(kathan)  eizan-hin/,  Hkr    iSorge  (der)  für  die  Angelegenheiten 
der  Menschen. 

iUA-ww    »cXä^c    iLstx»  syÄiß^icLsy  ^tXÄ^i^vCJ    hilcaii  -  hiudin 

gunähan-hinzih   maafi-  (s.  .S.  47  1)   hindih  sababah   wegen  der 
Vergebung  der  Sihiden  der  Leute. 

1)  vergl.  S.  454. 


Burhiianl:  JJii;  Noiiiiiia  der  Käriniri-Spiddic.  4G9 

8.  Auch  (He  Apposition  steht  im  D;itiv^),  doch  auch  im 
Nominativ,  z.  B.  o/^LiOÜ  yÄAA/Sjyj  (jjJLo  ^jj^^Lvu  .sänis 
malis  Daiida-sanz  pädshahat  das  Reich  Davids,  meines  Vaters, 
(j**^'-»-^^J  j*.^-ÄJ  ^j^^Xi^Ä^LjvJ t>  Zakariyyähah-sandis  nicvis 
Yühannahas    dem  Joh.,  dem  Sohne  des  Zach. 

Äis^  5(XU«5öL«of  ,^ißOsfj*,^  sardärikahin  Abyatara- 
sandih  vaqtah    zur  Zeit  Abyätaras,  des  Hohenpriesters. 

»NtX-J'  5vJ  »tX-cu/Sk^^lO  StXÄJ  (j«*ÄAj  pananis  banda  Däuda- 
sandih  <^ara  andara  aus  dem  Hause  Davids ,  seines  Dieners 
(statt  (j^tX-o  bandas). 

Xudaya-sandis  farzand  Yasü'  Masiba-sanziii  iujila-hund  gud 
Anfang  des  Evangeliums  von  -Jesus  Messias,  dem  Sohne  Gottes 

(statt  j*-<Xi\»i  farzandas). 

pananis  bäyis  Filibusanih  (cf.  S.  455)  äshanih  Hirüdiyäsih- 
liindih  sababah  wegen  der  Herodias ,  des  Weibes  seines 
Bruders   Philippus. 

Anomalien  in  der  Declination  der  Substantiva. 

I.  Declination   (Masculina). 
1.  V  o  c  a  1  -  A  u  s  f  a  11  in  zweisilbigen  Wörtern  auf  v  -  ar 

und   ^J  '    an  ,  z.  B.   >-^  shahar  Stadt,  (j^^-g-'i  shahras,   v^ 

pahar  Nachtwache  (Zeit  von  3  Stunden)  (j^-y-^  pahra^"^). 

1)  vergl.  S.  454. 

2)  Als  Beispiele  führe  ich  Dative  an.  —  Knowles  hat  üchon  im 
Nora,  shahr  und  dat.  paharas  von  pahar! 


470  Sitzunij  der  phüos.-phUoJ.  Cldsac  com  5.  Mai  18S8. 

2.  Vocal- Wechsel    in  Wörtern,    deren   letzte  Silbe 

JL  u    enthält ;    dieses    wird    -^  a ,    z.  B.    vXj    kukur    Hahn 

-  -'  >  }-  ^  ^  ^  f 

(jw>X5   kukaras ,    v-y   kupur  Leinwand  ij^y^  kaparas ,    JoU 

vatnl  Kehrer  ;j**-o(^  vatalas. 

3.  Wörter    auf   a)    finales   I—  ä   schieben    eupho- 
nisches 5  h,  ^  V  oder  ,^  j  ein,  theils  mit,  theils  ohne  Ver- 

kürzuni,'  des  f—  ä,  z.  B.  Lwl  Äsä  (N.  pr.)  (j/*ioL«;f  Äsä-h-as, 

Lifo  diinä    der  Weise  (jj*^ft>  däna-h-as,    L^Ji>  dunyä    Welt 

(^f*fc.^^t>    dunya-h-as,    LjsO    daryä    Fluss    ^j*^jy)>L>  darya-h-as 

neben  j*i^L}*t>  daryä-v-as,  LMjyo  [^Mjyo)  Müsä  (Müsa)  Moses 

fj^^L^yo  Müsä-h-as    neben    ij-*.^-w^  Müsa-h-as ,    ftV-i»  xudä 

Gott  (j*oltXis>-  jfudä-y-as  neben  (jw^lcXi»-  x^idä-v-as  (Luc.  1,  57). 

Im    Genetiv    bleibt   »—  a   in  fremden  Namen ,    z.  B.    '-i^^J 

Yuhannä   tXÄ^Ll^s»,»}    Yuhanna  -  sund ,    dagegen    ö<^MjX,i\iXÄ 

Xudfi-y-a-sund.   Doch  finde  icli  auch  i\XMJü^[j)S^  Zakariyyä- 

yaha-sund  des  Zacharias,  '*XmjX^I^\^\  Uriyä-yaha-sanz ; 

b)  finales  »  h:  a)  nach  _=i  a  fallen  unorganische  s  h 

ab ,  organische  bleiben ,    z.  B.    ^^-o   kala    Haupt 

(j**-0   kala-s ,    dagegen   ^^ÄJ  gunah    (sL-o    gunah) 

pers.    Sünde  (jj*.g-o  gunah-as  (ij*»JcLo  gunäh-as, 
siehe  c), 
ß)  nach  I—  ä  bleil)t  5  h  mit  oder  ohne  Verkürzung 
von    I—    ä ,    z.    13.    sLiJÜ    pädshali    Herrscher 
j^*icL^c>Lj  pädshah-as  und  j^^g-ciJÜ  pädshah-Jis; 


Burkhard:  Die  Nomina  der  Kä^miri-Sprachc.  471 

c)  finales  ^  i:  dieses  wird  {^'^  iy ,  z.  ß.  ^^xä  nabi 
Prophet  tj**^AJ  nabiy-as;  so  in  Eij^ennamen,  z.  B.  (^0^„^ 
Yahüdi  Jude  jj**j<3^^  Yahüdiy-as.  Im  Genetiv  finde  ich 
1^  i  auch  unverändert ,  meist  in  fremden  Namen ,  z.  B. 
t\JLk«,^<Xjv     Zabadi-snnd ,     (Xi-u/^^-w^j^J    Farisi-sund ;     ebenso 

stummes  ^c  i,  z.  B.  tX-i-u^^^-wy  Müsa(y)-sund. 

4.  Unterdrückung  der  Casusendung  finde  ich 
in  persischen  Wörtern  auf  s—  a  und  zwar  im  Ablat.,  z.  B. 

Ss(>if  sjfyi:»  xazana  andara  aus  dem  Schatze  (Matth.  12,  35; 
13,  52). 

IL  Declination  (Masculina). 

1.  Finales  a)  ^—  ü  wird  ^  v,  z.  B.  ^-^J  nicü  Kind 
(j*^-^j  nic(i)vis  (Voc.  s^-^>J   i^^  ay  nicvih) ; 

b)  (^  i  wird  ^  y,  z.  B.  i^^  büi  Bruder 
^j^ob  bäy-is  (s.  3,  c.) ,  pl.  ^50  bäy-i. 
Im  Genetiv  bleibt  <5  i,  z.  B.  4X»-u»(^Lj 

bäi-sund ,    tXÄiOi^Lj  bäi-hund    (s.  3,  c), 

'  ^  I 
auch  SwLw^ü  bäi-sanzih  (Math.  7,  3). 

2,  Vocalwechsel  tritt  in  den  casibus  obliquis  des 
Sing,    und   im  Nominativ    des  Plural  ein ,    es  wird    nämlich 

mediales    a)    '    u  zu    a)  ^.  a ,    z.  B.  cn^  puhul    Hirte 

t/*-*HgJ  pahalis ,    J-^  phul    Korn    u*»-*^  phalis, 

V.AAJ    yiput  Joch    i^-yo    yipatis,    «J    luh  Fuchs 

j**^  lahis,  (jjHp^  vatharun  Teppich,  Lager,  Bett 


472  Sitzung  der  philoR.-pliiM.  Clnsse  vom  ä.  Mai  1888. 

^    —  >  - 

Q**jw^'^    vatharanis,    *^J  pntsh  Gast    jj/^-^^j 

patshis 

/?)  -^  i ,    z.  B.  J^l-^  tshrwnl  Ziegenbock  y^J^Lg^ 

tshävilis ; 

b)  ^—  n  zu  f  a  (resp.  ö),  z.  B.  ,^^j  büi  \j^^^  bäyis, 
Jyo  niül  Vater  (jjJLo  nialis,  J;^^  dinavül  (nom.  ag.  v. 
^t>  dyun)  Geber  {j^}y'i^  dinavälis ,  ^y^  küj  Mittagsmahl 
^^Ä.^^  krijis^); 

c)  J  yu  zu  —  i  oder  (^  i,  z.  B.  ^^A^  raahnyuv  Mensch, 

^  -  i 

Mann  (j^^^-g^  mahnivis  oder  ^yjfJ^^  mahnivis,  y^r^.  pliyur 

Tropfen    (j^r-g-J    phiris,    J4^  kliyul    Herde    ^y*^*^  khilis, 

Jouye  myund  Aussatz  ;j^tXÄx>  mindis; 

d)  yi  yü  zu  ^  i,  z.  B.  ^yJ^  nyür  Wiese  LrjAJ  "ins, 
v^j^y  kyur  Brunnen  (j^^v^^^  kiris ,  neben  ^^j^^  kryür  \y^y^.y^ 
kriris  (L.   14,  5). 

III.  Doclination   (F'eminina). 

1.  Unterdrückung  der  Casusendungen  in  den 
casibus   obliquis    und    im  Nominativ    des  Plural    l)ei    einigen 


1)  So  alle  auf  J.l  vul,  z.  H.  j^JI^XiwvCöf  SJ  dah  ashrafih-valis 
einem  Besitzer  von  10  Goldstücken ,  ^JJJI^w>^c^j■  qudrat-valis  dem 
Machthaber  (cf.  unten).  Np.  hat  Matth.  1,  1!>  ^s  mini  (instr.  v. 
^.j   rfiii  (latte)  statt  ^L   ifini   (Ix-/.,  n'ini). 


Burlhard:  Die  Nomina  der  Kd^'miri-Spradie.  473 

Wörtern:  tXj  yad  Bauch,  ^IS*  gfiv  Kuh,  ^^a»!  ach  Auge^), 
z.  B.  ;t>.j'  lXj  syÄißsJo  gadih-hinzih  yad  (Loc.)  andar  in 
des  Fisches  Bauch,  jtXjf  ^^4^'  ^^  canih  ach  (Loc.)  andar 
in  deinem  Auge ;  ebenso  ^  binih  instr.  v.  ^^j  binih 
Schwester  (Luc.  10,  40). 

2.  Veränderungen    des    Finalcon  son  anten  in 

den  genannten  Casus    und  im  ganzen  Pkiral   und  zwar  t— >  t 

^  h  '  '  . 

in   --  c  und  O  d  in  «-  j.  z.  B.  ^-aä.  tsut  Brod  x^sVä.  tsucih, 

tXJv5ßf  aharancP)  Schlüsselbein  «ÄJwißf  aharanjih. 

3.  Finales  a)  t-^  ä  erhält  euphonisches  i^  j  vor  der 
Casusendung,  z.  B.  Ixa5  Gangä  Ganges  ^ijs.'S  Gangä-y-ih, 

b)  (^  i^)  wird  ^5"  iy ,  z.  B.  (c^^-?  basti  Dorf  ^^y^*wo 
bastiyih.  Im  Genetiv*)  bleibt  i5  i  unverändert,  z.  B. 
iXxsi>JL'Mj    basti-hund ;    »^     ^— jL«.;^.     tV.Äa5^jLoL«.jLä>.    /äna- 


1)  Np.  hat  Matth.  13,  16  nom.  pl.  \^s>}  SyÄ.^'  tuhanzah  achih; 

-  7     '   - '  7     '         "1 

Luc.  24,  3    x.^^1    5y>*>.^'  5    Tjuc.  4,  20    &.§-=►'    syÄiß  _jAa«    särinay- 

hinzah  achih. 

2)  Wörterverzeichnis  in  Mp. 

3)  Np.  hat  bisweilen     -    i    st.    ^^    i,    z.B.    Luc.  19,  24    OwXil 
ashrafi    e.  Goldmünze. 

4)  Np.  bisweilen  auch  im  Dat.  u.  Loc,  z.  B.  vtXjf  .«^^aO  basti 

j  -- 

andar    in   einem   Dorfe    (Luc.  19,  30);    s^s>-yo    ^c^r^    "^^^zi  müjib 

dem  Wunsche  jjemäss  (Luc.  23,  24.  25j. 


474  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

sämäni-hund  ^jisäb  di  <^ib  Rechnung  deines  Haushaltes  =  lege 
Rechnung  über  u.  s.  w. 

IV.  Declination   (Feminina). 

1.  Arabische  Wörter  auf  ^^  ■'  at,  wie  cy.£-U=>  jamä^at 
Versammlung,  Menge,  cjvtXi' qudrat  Macht,  verwandeln  finales 
<!}  t  im  Sing.  u.  Plur.  in  _-  ts,  im  Sing,  ohne  weiter  eine 
Casusendung  anzufügen,  daher 

Sing.  dat.  loc.  abl.  instr.  ^^L^ä-  jamä'ats,  gen.  ^X^^Usi- 
jamä'ats-hund^);  so  auch  J^j     ^tXis  qudrats-vül  Machthaber. 

Plur.  dat.  loc.  abl.  j^^^-s^il+Ä-  jamä'atsan ,  instr.  ^:sp.£.Us» 
jamä'atsav,  gen.  iXxs!>^j^£W=>-  jamä'atsan-hund. 

2.  Finales  cyi—  ät  wird  _f  äts ,  z.  B.  cdI^oI  ad-rat 
Mitternacht  -U  «.^1  ajih  rats  um  Mitternacht*),  -^^  äs^)' 
azacih  rats  heute  Nacht,  _  t^  ^^^.  yamiy  rats  in  dieser  Nacht, 

wÄ.lv    ^^^^>SXÄ:5.  tsatajin  rätsan    40  Nächte  lang,   ;J^|;    {jy 

trän  rätsan  3  Nächte  lang,  s^^j  ^)T^  ^'^^FT.  ^^  ^'^^^^"^'"^'^^ 
tsürimih    pahrah    um    die   3.  Stande    der    Nacht    (eigentlich 

3.  Nachtwache).     Ebenso  ist  cijfyo^   vnhrat  die  Regenzeit  zu 
behandeln. 


1)  Doch  finde  ich  i^ilyo  \Äxjy^  shariyatah  muvafiq  dem  Ge- 
setze gemäss  (Luc.  23,56);  ox)^  jf  *J"  tanii  kari  malämati  von 
ihm  wurden  Vorwürfe  gemacht  (Luc.  4,  41). 

2)  Np.  Mrc.  13,  35    e^K  rätsah!;  sonst  wie  oben. 


Bitrlhard:  Die  Nomma  der  Kägmiri-Sprache.  475 

Wechsel   in  der  Aussprache   der  Stammsilben    durch 
den  Einfluss  der  Casusendungen\). 

Mediales  1.  I  ä  wechselt  mit  I—  ä ,  z.  B.  ^^^  maj 
(=  möj)  Mutter  (nom.  acc.  voc),  sonst  «-U  mäj^); 

2.  ^—  ü  a)  der  Masculina  wechselt  in  der  Aussprache 
mit  a)  6,  z.  B.  vor  I—  ä  und  ^—  ü  der  Vocative  und  in 
den  Casusendungen  auf  ^  n  und  ^  v:  -j^y^  hünis ,  aber 
^y^  honin ;  /?)  I—  ä  und  I  ö,  z.  B.  i—  ä  in  den  eben  ge- 
nannten Formen :  uyo  mül  Vater  ^^^  mälin ,  aber  fjuJLe 
mölis 

b)  der   Feminina    wechselt    in    der    Aussprache    mit    6, 

>  » 

z.  B.  vor  allen  Endungen,  ausg.  Voc,  ^y^  kür  Tochter  5^^5 

körih,  ^)y^  körin  u.  s.  w. ;  daher 

Masculinum 

Singular  Plural 

Nom.      Jyc     mül  Vater         JLx  mäli  =  möli 

Acc.        Jye     mül                      J^  mäli   =   möli 


1)  Diese,  sowie  die  meisten  auf  die  Aussprache  bezüglichen  Be- 
merkungen verdanke  ich  Herrn  Professor  Bühler. 

2)  5  '    ü  und  1-^  ä  stehen  in  Np.  wechselnd,  z.  B.  nom.  einmal 

Matth.  19.  29  —ye  müj  ,    sonst  nom.       Lo,  acc.  _Lc  mäj ;   auch  die 

Bezeichnung  I  (in  der  Aussprache  ö)  ist  dort  sehr  inconsequent  durch- 
geführt. 


476  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 


Voc. 

ULo 

mälyä^) 

)-^^^ 

mälyü 

Dat. 

yjJLo 

mälis  =  mölis 

^lo 

mälin 

Loc. 

^jJUe 

mälis  =  molis 

^JLo 

mälin 

Abi. 

JLc 

mälih  =  molih 

c^> 

mälin 

Instr. 

JLc 

mäli  =  möli 

^JLc 

raäliv 

Gen.    tXÄ^JLo  mäli-svmd  =  möli-siind   tXÄiß^^Lo   mälin-hund'^) 

Femininum 


Singular 

Plur 

al 

Nom. 

& 

mäj^)  = 

=  möj  Mutter 

Xä^Lo 

mäjih 

Acc. 

& 

mäj   = 

möj 

«.=Juo 

mäjih 

Voc. 

^^ 

mäji*) 

=   möji 

y^^^ 

mäjyü 

Dat. 

Xi.Lo 

mäjih 

^j^\^ 

mäj  in 

Loc. 

x=>Lo 

mäjih 

ü-^*^ 

mäjin 

Abi. 

ees»Lo 

mäjih 

^^U 

mäjin 

Instr 

ÄÄ.L« 

mäjih 

«.Ä-Lo 

mäjiv 

Gen. 

tXA^CXS^Lo 

niäjih- 

luiid 

tXÄ;O^Ä.Lo 

mäjin- 

1)  Np.  stets  xJLo  mälih,  z.  B.  iOoljßj.jt  iJLo  ^cS  ay  mälih  Abra- 
hämah   o  Vater  Abraham  ;  ebenso  äjU  l)äyih  von  ^^«J  büi   Bruder. 

2)  Wie  (J«jO  mül  geht  (^jJ  büi  Bruder  und  alle  auf  J«  '  ü),  ins- 
besondere das  nom.  ag.  auf  J..  vül ,  z.  B.  (^«j  bfii  pl.  ^Lj  bäyi ;  Jjf 
ül  Nest  pl.  J(  äii  ;  Jj^J«^  diiiavi'il   Ccbcr  pl.  J(^J  dinaväli. 

3)  Np.  (Matth.  19,  29;  Luc.  18,29)  auch  yjo  mnj,  ■/..  15.  Jy;  Lj 
_5jO  L)  yä  mül  yä  müj   Vater  oder  Mutter;   —yXi  J«-o  mül  müj  Eltern. 

4)  Np.  stets   —X/i  niäjili  (wie   v».5    küri). 


BurJchdrd:  Die  Nomina  der  Kä<^mn'i-Sprache.  477 

Verbindung  zweier  Substantiva. 

Das  erste  Substantiv   steht   gewöhnlich    im  Formativus, 

^ '     'T  i '     '    ' 

z.  B.    ^^   &J'    äb-a   mit    Wasserkrug ,    J^   s^y^  ynn-ü.  mul 

Blutpreis(-geld),    ^U>     HyA^   khasir-a    jäi    Schädeistätte, 

cL)   is^s>.L>  dach-i  bägh    Weingarten,    ytr^,   ^j    rat-a  phyur 

Bhitstropfen  ,   d^  5^>-s\j(  injir-a  knl   Feigenbaum  ,  Jj    tX.Ä5 

kand-i  kul    Dornstrauch    u.  s.  w.     Ebenso    auch    Sv>J    ^>j^S 

zamin-a  tukra   ein  Stück  Land  ,    i<^-i   ^;^^  chaval-i  baca 

ein  Bock- Junges  =  junger  Bock ,  s»>-5  5t>o  gäd-ih  tukra 
ein  Stück  Fisch,  ^j^y^  st>ofj>  x^^jL  päntsha  dänd-a  hü- 
varih  5  Joch  Ochsen.  Ferner  ä-Lo  xä»Lj  y^i^  hat  päj-a  tila 
100  Tonnen  Oel,  &^xf  xJuo  ^iiKS&  hat  man-a  kanaka  100  Malter 
Weizen. 

Die  Zusammensetzung  kann  aber  auch  durch  ein  aus 
dem  Substantiv  gebildetes  Adjectiv  auf  ^  '  uk  gegeben 
werden,  z,  B.  aS  ^jyL>\  zaitiin-uk  kuh  Oelberg. 

B.  Die  Adjectiva. 

I.   Das   Genus. 

Zur  Bildung  des  Femininums  finden  wie  bei  dem  Sub- 
stantivuni  Vokal-  und  Consonantenveränderungen  statt  (vergl. 
S.  447,  448  u.  449). 


478  Sitzung  der  phüos.-pliüol.  Classe  vom  5.  Mai  J8SS. 

Vokalveränderungen. 
Veränderung    eines  Vokals   und    zwar    1.    ^  u    a)  in 

_=:-  a-^):  Composita  auf  oa-^x/n  rust  und  ci».A^/-u;  sust,  wie 
o/.A«N^\  zuvarust  leblos,  ov*«»*aOjs  rügasust  mit  Krank- 
heit behaftet,  f.  ls:>^^  rast  und  0.**».^*;  säst;  ferner 
vw^W  lukut  klein,  W'  apuz  unwahr,  falsch,  tXj  bud 
gross,  \>^  dur  hart,  <>.«»-^j  khund  zerbrochen  (v.  Töpfer- 

ic;  »  .       ' 

arbeiten),  ^  nuv  neu,  Ol  nd  halb,  (-^j  jnip  reif,  vä> 
tsur  viel,  &■^>^•'  tyuth  bitter,  >'  ur  gesund,  \_/.J^  vynt 
(^^^-o^  vyuth)  fett,  >^^  vuhur  jährig  (=  pers.  äJL*, 
säla,  z.  B.  Y^;^*^  dü-vuhur  2 jährig,  pers.  xlL^^^J 
dü-säla),  >\  zur  taub,  tX^J'  thnd  hoch, 
b)  in  —  i^)  :  ^'  äluts  träge,   ^<^■  adur  nass,   >äjI  aputur 

kinderlos,  ;^^-g^  khüvur  links,  >Jj  kudur  grob,  plump, 

>  -  >  >  j  - 

stX«  madur  stolz,    ^t^-<'  mudur  süss,  j>i^^  satur  flach. 


^7 


f^yJ  turun  kalt: 


2.  *-*-  ü  a)  in  I  ä:  ^y^  süv  begütert,  f*^t  um  unge- 
kocht,  roh,  py^*^  dülüm  rund,  <-}^  tut  (^^^  tütiij 
geliebt,  lieb,  ^^t>  dyür  reich, 

h)  in  ;5  i:    ^,^y^.    l'hruts  günstig,    ^'-g-'^)    zyutli   lang. 

Veränderung  zweier  Vokale  und  zwar:  ^—  ü  in  '  ä 
und  ->.  u  in  —  i :  y-«!'^^  küshur  Kaschmirer,  {S)y-^  süruy  (?)  ganz. 

1)  in  der  letzten  Silbe. 


Burl-fiard:  Die  Nomina  der  Kä^miri-Sprache.  479 

Consonantenveränderungen. 
«i>  t  in   -^    ts :  o>^  sut  träge     ^>^  suts 
d  k  in   -^  c:  ^^  lük  klein,  jung     «^^  lue 
^  kh  in    4^  eil :    ^^^^  hukh  trocken      ^^^-^^  liuch 
O  g  in  ^  j :    Oj^  srug  wohlfeil     ^  ^  sruj 
J  1  in   -^  j  :    J^^  kumul   zart  (Fleisch)     ^^  kumuj 
(j  n  in  ,j  ni :   ^^  kun  allein     ^^^  knni. 

Vokal-  und  Consonantenveränderungen  zugleich. 

1.  j  yu  in  ^  i:  (v-yo  patyuni  letzter  |VÄj  patim,  (V^?-S-*^ 
pithyum  oberer,  |Vyl.J  talyum  tieferer,  |VJ r*-^  nibryum  äusserer ; 
so  alle  Ordinalzahlen,  z.  B.  |vJt>  duyuni  der  zweite; 

2.  f—  ä  in  f  ä  und  ,j  n  in  ,j  ni :  ^^'  äsän  leicht 
^Lu/I   äsäni ; 

3.  ^  n  in  -  a  und  a)  cj  t  in  _  ts :  u:/^iiH§-^  buchi- 
hut  ^sJßx^^j  buchihats,  o».^:^  chut  weit,  oJ  lut 
leicht  (Gewicht),  <:i^  mut  toll  (ebenso  die  partic.  perf. 
auf  ouo  mut    in  Mp.^)),  <^  tut    heiss,  ejp   rut    gut, 

b)  <3  d  in  \  z:    tXÄ>c>Lo    mclrimund    schön    ^yJJO^lx    mari- 

>  '  ' 

manz,  tXy*'  syud^)  gerade,  tX§J'  thud  schlank,   (XXmj 

sund  y-i-vü  sanz    (vergl.  Declination    der  Substantiva), 


1)  Bühler:  müts. 

2)  Np.  Luc.  21,  28  jJy^  «ayud,  cf.  13,  13  yx^  syaz. 


480  Sitzung  der  pMlos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888 

«-_]':     cXj    bud    gross    ^sJ    b; 


c)  t>  il    in    ^   .j :     cXj    bud    gross    ^sJ    baj    (f.  pl.   ä-s\j 


bajih), 

d)  w  k  in  ;?-  c :  ^ibJ jf  adalyuk  mangelhaft  ^^4>'  adal- 
yac;  überhaupt  die  auf  li/  '  nk,  /,.  B.  ^U.a«I  asnianuk 
^jU.a«I  äsinänac  hiuinilisch  =  des  Himmels  (8.  455), 

e)  (->  g  in   -^   j :   lX-J  lung  hihm  ^5~ü  lanj, 

f)  J  1  in  IT-  ]'•  ^  li"l  schief  ^^>JJ>  haj,  J.^^  kliul  weit, 
Jox.^^  sukhabul  lauwarm, 

g)  (^  n  in   (j  iii:   ^^Ä.^^  nithanun  nackt  (^^^wL^-ilJ  nitha- 

^.  \  .     .  ',      '  ' 

nani ,    ^j.J  nun    augenscheinlich,    (j'   un   blind,    ^^^■i 

prun  weit,  ^>  run  fusslos,  ,j;>-c«  sun  tief,  (.o  tun  dünn. 

4.  ^J_  u  in  -^  i  und  a)  cy  t  in  _  ts:  die  composita  auf 
«iJ^J  burut  voll   _  vJ  barits, 

b)  c>  d  in  \  ■/.:  tXÄ5>  hund  VÄiC  hinz  (vergl.  Decl.  der 
Subst.), 

c)  J  1  in  p'  j :  J^J  pisliul  sanl't ,  zart  4>-^ri.  pishij, 
J-g-wi  shuhul  kalt,   u\^   vu/ul  roth, 

d)  ^  n  in  ^j  ni :  die  auf  ^  '  un ,  z.  B.  die  part.  fut. 
act.  wie  \^y\  zalavun  heiss  (Speise)  ;jyS  zalavini^), 
\jr^j^  kruhun  schwarz. 


1)  Mp.  part.  fut.  act.  nur  ^^  vaiii. 


Burkhard:   Die  Nomina  der  Kd{'nHri-Sj)rache.  481 

5.  y—  ü  in  a)  '  ä  und  jj  n  in  ^  ni :  ^^i(X^  nundbün 
hübsch  ^bvXo  nundbäni,  ^jy^  myün  mein  (Posses- 
sivpron.).  ^^yf.  prün  alt, 

b)  —  i  und  o  t  in   -.    ts :    <Dy>   küt    wieviel    ^5    kits, 

c)  ^  i  und  ej  t  in   _.    ts:  cj^  yüt  soviel  ;^saj  yits. 

6.  J    yu    in    —    i    und    a)  C/  k  in  «^  c:  alle  auf  ynk, 

z.  B.  ^ilxj Jo  gudanyuk  ^^J<^  gudanic,  ^i^J  nyuk 

dünn, 
/*?)  J  1    in   —    j :  J>J^'  ävyiil  fein   --^'  ävij,  J^^'s   id.. 
/)  ^  th    in    .gÄ  tsh:    «-g-^^^    kyuth    wie  beschaffen 

«.gjöi'kitsh,  &^J  yuth  so  beschaffen  ^^^J  .vitsh. 

7.  ^  yü  a)  in  '  ä:  )y-?.'y^^  apazyür  falsch,  lügenhaft 
\'vj'  apazar,  ;^yj  pazyür  treu;  zugleich  e^  t  in  ^  ts: 
ci>  Jy  kyüt       i'  käts  (^^  kabs  (?)\ 

b)  in  ;^  i:  die  partt.  perff.  auf  o^^  yüniut,  z.  B. 
v:>^«-V^^  vülyüraut  betrunken  ^^~t^»^  vülimats,  v:y-«^Aj 
pyümut  gefallen  (v.  ,j-^  pyun);  zugleich  a)  ej  t  in 
_  ts:  cj^  yüt  wieviel  (.soviel)  ^^  jit-"^  ?  /*^j  *-'  '  '" 
—.  j:   Jj-ö   nyül   blau,  grün   ^^   iiij. 

Die  Nomina  ag.  auf  Jj^  vül  haben  im  Femininum  i^j^'^ 
väjani,  z.  B.  J^^-*X$c  hikanvül  fähig,  J^^-äX^  nahikan- 

1888.  Philos.-philo1.  u.  bist.  CI.  3.  32 


482  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  />.  Mai  18S8. 

vül  unfähig  (vergl.  Sitzgsber.  1887  S.  332.  wo  ^f, 
väjani  zu  schreiben). 
Viele    Adjeetiva    bleiben    im    Femininum    unverändert; 
dahin    gehören   insbesondere   die    entlehnten    Wörter,    z.  B. 

die    auf   fpers.)   ^fo  dar,    s^   kar    imd   y^  gar    ausgehenden; 

ferner  unter  den  einheimischen  die  auf  öJ  lad  (behaftet  mit) 

ausgehenden   und   andere,  wie  ><^^j  buch  hungrig,  Jo  bud 

alt,  v«0   gub  schwer,  w^  gut  dunkel,  ^JL:^  jän  gut,  JlXji' 

kangäl  arm,  j*/^-s^Ä^  kanjüs  geizig,  JLcS^  katäl  gering,  ^^ 

kub  buckelig  ,    ,j-o  byun  abgesondert ,    w*xj  mut  fett ,   tXÄx) 

mund  stumpf,    »Xo  muda  nachlä.ssig,  langsam  fassend,    *-w 
sum  glatt  u.  s.  w.^) 

II.  Die  Declination. 
Die  Adjeetiva  sind  im  Masculiiium  nach  II  und  im  Fe- 
minimim  nach  IV  mit  Beachtung  der  oben  erwähnten  Laut- 
gesetze  zu  decliniren ,  z  B.  >t  ur  gesund  [A.  J  ari,  ^ji  un 
blind  ^jf  ani ;  nach  I  gehen  nur  die  Composita  auf  tXi  lad 
(behaftet  mit)  und  Lehnwörter;  letztere  werden  meist  gar 
nicht  declinirt,  z.  13.  ^tXJ'  ^uW»  ^K-t^  vairan  jayih  audar  an 
einem  öden  Orte  (dagegen  substantivirt  ><Xil  j^\yj^  ^j^S^. 
akis   vairänas    andar    in    einer    Wüste) ;    stxxx)    ^juXj^,^   x*j 


1)  Die  Mehrzahl  der  angeführten  Beispiele  verdanke  ich  der 
werthvollen  Sammlung  des  Herrn  Prof.  Bühler,  die  mir  derselbe  be- 
reitwilligst zur  Verfügung  gestellt  hat. 


Burkhard:  Die  Nomina  der  Ku^iiiiri-Sjjrache.  483 

^  xÄis.  stXÄiD  ^^Lu/  ^jwi"  yamih  niaskiii  mundih  trüv  sä- 
rinay  handih  ^nta  tsur  von  dieser  armen  Witwe  Avurde  mehr 
als  von  allen  eingelegt. 

Da  der  Locativ  die  Dativform  mit  Präposition  hat  und 
diese  nur  einmal  gesetzt  wird,  so  kann  man  sagen,  dass  statt 

des  Locativs  im  Attribut  der  Dativ  steht,  z.  B.  (j*'-*-^^)   o**-^'; 

vjo!  ratis  zaminas  andar  in  der  guten  Erde;  aber  in 
welcher    Erde    kommt   diese  Pflanze  fort?     „in    der    guten* 

ofifenbar  >tXJt   u^)  i'atis  andar. 

Beispiele:  '^^  rut  gut,  dat  (j**J^  ratis,  abl.  «J^  ratih,  voc. 
iö\  ratih,  fem.  >  rats  pl.  ää.^  ratsah;  J-JO  gätul 
klug,  f.  n.  pl.  ä^säjLT  gätijah ;  J^  nyul  blau,  dat.  sg. 

j*J-ö  nilis  (Anom.  II),  fem.  ^>^  nij   pl.  x^^  nijih ; 

'      *  <"     ^     i  ,  •      •     i. 

ouov^    süzmut    geschickt ,    pl.  <^^y^  süzmati ,    mstr. 

-      j 
y'KA\yMj  süzmativ. 

5>Jül  aJiSy-^  Äjv  aS^ö  dilakih  ratih  ^azäna  (Abi.)  andara 
aus  dem  guten  Schatze  des  Herzens. 

^ü&J>    &4JvJ'  trayimih  duhah  (Abi.)    am  3.  Tage. 

sdJ\  ^jt^^'%3  ^jt*Six':^  U^;  ratis  mu/takis  taläshas  an- 
dar oder 

jjol  j^^Xu^üi  u^tXjLo.aüLiö'  (j*ö\  ratis  muxta-sandis  talä- 
shas andar  in  dem   Suchen  (nach)  einer  guten  Perle. 

5'  ''T'''''r 

yü\yi   ^-SjV-»-Lw.o   (^1    ay    Yarüsalamaciü    küryü    o    ihr 

Töchter  von  Jerusalem  !    Luc.  23,  28. 

32* 


484  SilziiiKj  der  plülos.-philol.  Classe  ooin  5.  Mai  1888. 

III.    Die    Comparation. 
Besondere  Formen    für   den   Comparativ    und  Superlativ 
gibt  es  im  Kaschmir'schen  nicht. 

Der  Comparativ  wird  durch  den  Positiv  (oder  auch  durch 
persische  Comparative  wie  r^J  bihtar  besser,  y^^W  buzurg- 
tar  grösser  u.  s.  w.)  gegeben  und  dieser  erhält  die  compara- 
tive Bedeutung  erst  durch  das  ihm  vorangehende  Adverb. 
xXi»  yata.  „mehr  als"  oder  in  Fragen  durch  das  folgende 
Fragewort  «-o  kina  (lat.  an),  z.  B.  ^^'55)  *^^  ^fV^  myä- 
nih  yata.  zürävar  stärker  als  ich;  &>-5^jwu<  a.J  ^-^r?-  u*^ 
JXxiO  kus  chu  bud,  sun  kina  haykal  wer  (was)  ist  grösser, 
das  Gold  oder  der  Tempel?     (Näheres  unten.) 

Der  Superlativ  wird  durch  den  Positiv  verstärkende 
Adverbia,    die    den    Begriff    „sehr"    enthalten,    oder    durch 

Äxis»  ;^uta  mit  i^\^-**^   säri,  auch  durch  XAiß  hyu  ausgedrückt, 

oder  ist  aus  dem  Sinne  zu  entnehmen,    z.  B.  cXj   ^'   viLü^XJ 

^.^j   *"€-?•   (*^^  guilanyuk  ta  bud  b'il^in  chu  yuhay  dies  ist 

das    erste    und    grösste  Gelxjt;    iOCi»    8tX/-Jß   ,^J^^'«'   ^^-§^   ij^ 

»cXj  kus  chu  siirinay-hindih  /uta  binlah   wer  ist  ein  grösserer 

als  alle  =  der  grösste;  &>^S5  ej>   rut  hyu  der  beste  (L,  15,22). 

Der  Ausdruck    „viel,   weit"    beim  Comparativ  wird  durch 

Sw>U\   ziyädali   ausgedrückt,    daher  o^    5oL)\    xxis.  ^uta  ziyä- 

dah   rut  weit  besser,    viel   — ;  um   wie  viel  c»^5    küt,    z.  B. 

y^'^    cy«.5   küt  bihtar  um   wie  viel  besser. 


Unrkhavil:   Die  Xomiiid  der   K('iriiiiri-Si>nichr.  ^oO 

Werden    andere    Casus    beim    Coraparativ    erfordert,    so 

wird  das  Adject.  wiederholt,  z.  B.  »^  ^ö"  J^^'  x^^S    S'^^. 

^'S  &^  pananih  kuchih  (acc.   pl.  f.j    lüiak  ta  baßh  hajih 

karak    ich  werde  meine  Scheunen  abbrechen   und  grössere 

machen. 

Diese  Verdoppehmg    kommt    auch    bei  dem   Positiv  -mv 

Verstärkung  vor,  z.  B.  ^Lcii   d^i   iX?  badi  badi  nishän  sehr 

grosse  Zeichen. 

C.  Die  Pronomina. 

I.    Die   Personalpronoiuina. 

Der  Accusativ  ist  dem  Nominativ  gleich;   ich  finde  in- 

dess   in    der  I.  und  IL  Person  Sing,    und    in    der  I.  Person 

Plur.   überall  den  Dativ  statt  des  Accusativs,  z.  B.  iw  vj""^5 

vuchan  mih  sie  werden  mich  sehen,  ^-§^5  ^  mi  vuchiv  ihr 

werdet  mich  sehen,  *-»*''  »M  träv  asih  verlasse  uns,  dagegen 

viD^I  J)    *J'    tim    trävit    nachdem    er    sie    verlassen    hatte ,    [W 

c)^^Lj  tim  trävyük  verlasset  sie. 

Der  Genetiv  fehlt    und    wird   durcli  die  Possessivprono- 
mina ersetzt.     (Beispiele  unten.) 


48G 


Sitsuny  der  philus.-philol.  Classe  vom  ö.  Mai  18S8. 


Singular 

m.  f.  n. 

Nom.     xj  bu  ich    ÄÄ.  tsa  du     x-«^  su  er     ä^  su  sie      &j'  ti  es 
Dat. 


Loc. 
Abi. 
Instr. 

Nom. 

Dat. 

Loc. 

Abi. 

Instr. 


»■jo  mih         «r?-  tsih 


(jw^'  tamis^) 


&^j'  tath'^ 


fjJ\  asi 


iö  tuhi 


|vJ"  tami 
Plural 
iW  tim 


x+j"  taraih 


Ä4J'  tim  ah 


iUwf  asih       iO»  tuhi 


^j«4J"  timan 


^-♦J     tiniav^) 


1)  Dativ  auch  yj^jf  ta.s  (^^J**j■  tasi)  und  ^j^joI  aniis;  instr.  wohl  au( 
*f  ami  (eigontl.  Demonstrativa). 

2)  auch  im  masc.  und  fem.  finde  ich  ä^>Cj  tath  ,  z.  B.  Matth.  10, ! 
f»^^A«  myS^  \^Xi  tath  kariv  saläm  grüs.set  es  (»»j  gara  mse.  das  Haus^ 
Matth. 21, 19:  n^  g<r\<^xgX'^  *4^"  t^th  nakha  gatshit  nachdem  or  zu  ih 
getreten  (J^  kul  m.  der  Daum  ist  gemeint);  Matth.  7,  14  :  li.^=>  Ä-g-^'  f 
(mLJ  yim  tath  chih  labän  welche  diesen  (sc.  <:j^  vat  f.  Weg)  einschlagej 
als  Locat.  y,X)  (>tXjf)  ä^aj  tath  fandiir)  manz  ;  Matth.  28.  3:  iLg-\j  X^J 
tathi  (!)  peth  (sc.  ^^  kani  f.)  auf  diesem   Stein. 

3)  Ueber  die  Suffixe,  welche  die  rersonalpronomina  vertreten,  siel 
Sitzgsber.  1887  S.  317—322  u.  375—387. 


Burl-hnrrJ:  Die  Nowhid  der  Kacmiii-Sprache. 

IT.    Die    Possessivpronomina. 

Sinffular 


487 


mein 

meine 

Es  folojt: 

m. 

f 

Nom.  Aec. 

^T^ 

iiiyfin 

^^ 

myani 

Voc. 

ÄjLyc 

myrmih 

u^y 

myani 

Dat.  Loc. 

^U>c^) 

myänis 

Abi. 

xjIajo 

myänih 

iüLyc 

inyanih 

Instr. 

u^ 

myäni 
Plural 

Nom.  Acc. 

u^' 

inyaiii 

aüLjXi 

myänili 

Voc. 

y    ..           .. 

myänyü 

•.jöLxx 

myänyü 

Dat.  Loc.  Abi. 

CJ^^y 

myänin 

^^ 

myänin 

Instr. 

myäniv 
Singular 

kiLyo 

myäniv 

dein 

deine 

Es  folgt: 

m. 

f. 

Nom.  Acc. 

^^ 

Clin 

J^ 

cäni 

Voc. 

ÄjL^ 

cfinili 

/^ 

cäni 

Dat.  Loc. 

Lri^• 

cänis 

Abi. 

ÄjUa. 

canih 

^U 

cänih 

Instr. 

J^ 

cfini 

• 

i)Tä  = 


488  Sitzung  der  philos.-jMlol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Plural 


Nom.  Acc. 

J^ 

cäni 

iüLs. 

cänih 

Voc. 

•■AJL^ 

cänyü 

k.^L=>> 

cänyü 

Dat.  Loc.  Abi. 

c^i^ 

cänin 

^h 

cänin 

Instr. 

^W 

cäniv 

y'^ 

cäniv 

Sinarular 


» 

sein,  ihr 

seine,  ihre 

(eius) 

(eius) 

Es  folgt: 

m. 

f. 

Nom.  Acc. 

>  - 
tXÄ.gJ'        tahund 

>^«^- 

tahan 

Voc. 

—             — 

Dat.  Loc. 

fj^iXX^    tahandis 

Abi. 

ScXa^'      tahandili 

6-^X^-J 

tahan 

Instr. 

tXA^J"        taliaiidi 

Plural 


Nom.  Acc.  tXÄ^"        tahaiidi  ^'r^^       taliinzah 

Daf.  Loc.  All!.    ^(XX^    tahandin         OT^^    tahinzan 
In«^r-  .cXa.^'       taliuii<liv  ^r^"S^       taliinzav 


Etirlhanl:  Die  Nomina  der  Ka^nun-Sprnche. 
Sinffular 


489 


unser 

folgt: 

m. 

Nom.  Acc. 

sün 

Voc. 

2üLu/ 

sänih 

Dat.  Loc. 

(jji*jLu; 

sänis 

Abi. 

JüLw 

s;Ulill 

Instr. 

(j^-**' 

saiii 

yuuu 


unsere 
f. 

säni 
säni 


Äj 


u 


Plural 


Nom.  Acc. 

^jL« 

säni 

Voc. 

'.1 

sänyü 

Dat.  Loc.  Abi. 

^L*. 

sänin 

Instr. 

•J)Lu/ 

säniv 

iüLw  sänih 

•-aJI^  sänyü 

^jLu;  säfiin 

«.jLw  .säSiv 


Sinffular 


euer 

eure 

Es 

folgt: 

ra. 

f. 

Nora.  Acc. 

iX*^        tuhund 

yÄ^"        tuhanz 

Voc. 

— 

— 

Dat.  Loc. 

- ) 
(ja-cVä^"    tuhandis 

Abi. 

sJu^J      tuhandih 

-  > 
sy-LgJ'      tuhanz 

Instr. 

Jo^j"        tuhandi 

490  Sitzumj  der  philos. -philo! .  Clnsse  vom  5.  Mai  1888. 

Plural 
Nom.  Acc.  cXa-^'       tuhandi 

Voc.  —  — 

Dat.  Loc.  Abi.    ^tU-gJ"   tu  handin  e^r*-^'     tuhanzan 


SVA4J'      tuhanza 


Y-V 


Instr. 

jcXä^'     tuhandiv 
Singular 

^T^-^' 

tuhanzav 

ihr 

ihre 

(eorum,  earum) 

(eorum,  oarum) 

Es   folgt: 

m. 

f. 

Nom.  Acc. 

> 
tXÄ.^'       tihund 

')Hi 

tihanz 

Voc. 

— 

— 

Dat.  Loc. 

jj^cXÄ.^'  tihandis^) 

Abi. 

SiX^J'     tihandih^) 

^'f^- 

tihanzih 

Tnstr. 

tXÄ-gJ"       tiliiuidi 
l'lural 

Nom.  Acc.  tXÄ^j       tihandi^)  *r^-€-^       tiliinzah 

Voc.                                   —  — 

Dat   Loc.  Abi.  ^d^'^J^   tiliandin^)  ^'V'^^     tihinzan 

In.str.  ^tXA^"     tihandiv^)  if^^      tihinzav 


1)  Dafür  hat  Np.  auch  —  i  statt  ^  a,  also  ^tXÄ^*  tihindis 
H.  s.  w. ;  ebenso  •yÄ^Ö  tihinz  neben  yÄ^'  tuhanz ,  sowie  sonst  auch 
eini<,'e  kleinere  Varietäten,   wie  sJkÄ.^'  tuhandili.   (^tXÄ^'  tahandi, 


•yi^  U 


j  tahiinzn. 


Burkhard:  Dtc  Nomina  der  Karmiri-Sprache.  ^-'I 

Bemerkungen  zu  den  Possessivpronominibus. 

1.  Ddü    Possessivproiiuiiieii    ist    auch  Vertreter    des    Ge- 
netivs  eines  Personalpronomens :   z.  B-  (j)^  büzun  c. 

'         T  ' 

gen.  auf  Jd.  hören  ,  ihm  gehorchen ;  s^^  ^^  (j^ 
cün  nay  büzih  wenn  er  nicht  auf  dich  hört  =  dir 
nicht  folgt;  «S^  ^^  tXÄ.^'  tihund  nay  büzih  wenn  er 
auf  sie  nicht  hört,  ihnen  nicht  folgt;  tX^J  »)  ^'^  ij*-' 
^;»J  äsi  yivän  zi  tahund  büzan  sie  kamen  ihn  zu 
hören;  10)5-^  tXÄ-SJ  x^.-^5^  ^^j^  tiniau  gatsbih  tiluuid 
büzun  diese  lass  sie  hören.  —  Wenn  das  Verbum 
mit  einem  Substantiv  componirt  ist,  so  steht  gleich- 
falls das  Pronuni.  possess.  statt  des  Personalpronomens: 
^S  Jwil  (j^^yo  niyün  i(|rär  karih  er  macht  mein  Be- 
kenntnis =  er  bekennt  mich,  so  tXÄ^'  tuliund  ihn; 
^\S  v«äjjjü>  ^y=^  [j**4>  io  bu  chus  cliün  ta'rii 
karän  ich  danke  dir,  ^y^ ^\öyjJ^  ^\^  caui  /abardär 
karan  sie  werden  dich   bewachen. 

2.  Nebenformen:  a)  Für  <X^J'  tahund  kann  auch 
stehen  JoLw«J  tasund,  tXAA^A♦j■  tamisund  (auch  tXLw  ^ 
tami  sund) ,  JoL*»*/)!  aniisund  und  »^Vj+J'  tamyuk ;  die 
ersten  3  gehen  genau  nach  tX-i-gJ"  tahund,  z.  B.  ^j*-<>-»-«ö' 
tasandis,  |j*-tXÄ*w^^j'  tamisandis ,  (j^tXÄA**^!  amisandis; 
•iJU^J'  tamyuk    folgt   in  der  Declination  den   Wörtern 


492  Sitzung  der  pltilus.-phiiol.  CUissc  vom  5.  Mai  1888. 

auf  w—  uk^,  daher  iioiu.  pl.  >iUj'  taniiki  (s.  8.  455); 
x^j  ^^uSUJ  ^^^'J  taiuichan  laiijiii  ]>  th  unter  seinen 
(des  Baumes)  Zweigen 
b)  Für  'y^-^  tahanz  kann  auch  stehen  y-i^vJ  tasanz, 
yLwk4.j  taniisanz,  yxA*,^x)l  amisanz  und  ^4^  taniic;  die 
ersten  3  gehen  nach  VÄ-gJ'  tahanz,  z.  B.  svAaao  ta- 
san/.ih  ,    SwÄavw^j'  tamisanzih  ,  5*Äaaa-«I  amisanzih ;    ^>-*J" 

tamic  folgt  in  der  Declination  den  Wörtern  auf  w- 

uk')  im  Femininum. 
3.  Casus:    Der  Genetiv    wird  nach  S.  454    durch  den 
Dativ  ausgedrückt ,   z.  B     iS  tXÄ-u-StXJ^iX^.   U^^  myänis 
Xudävanda-sund  gara  meines  Herrn  Haus. 

Der  Loc,  Abi.  und  Instr.  sollen  nach  einigen  im  attri- 
butiven Sinne  nicht  vorkommen  ,  aber  doch  wohl  elliptisch 
oder   im    Sinne    von    „der    meinige"    (vergl.    Matth.    27,  24 

o>.aa«  iülxx»  myänih  set  mit  dem  meinigen),  z.  B.  in  welchem 

Hause   war  er?    in  meinem,    doch   wohl  yÄx>   j*öL-yc  myiinis 

manz ;  von  welchem  Vater  wurde  dies  gesagt  V    von  unserem 

^Lu  säni.     Auch   linde   ich  ää  ^^I  Aj  ^^ä.  ^c>LäÄ£|  (jLs. 

cäni   i'tiqadan   chak    bah'ävamats   tsa    durch    deinen  (jkiuben 

bist  du  gesund  geworden  (instr.,    Matth.  9,22);    «^s^l    nJ^ 

*tXjl  cänih  ach  andar    in    deinem  Auge    (loc,    Matth.   7,  3), 

»cXjf  ^sJcLioL  sj\.s>  cäfiili  [);Vlslu"ihats  andar  in  deinem  Reiche 


1)  nur  —  i  «tatt  --  a  in  dfi-  vorletzten  ."Silbe. 


Burkhard:  Die  Noini)i(t  der  Kdginin-Sjjrache.  493 

(loc.  Matth.   20,  21),    3>J    *j^r?-  rämh  guri  in  tleinem  Hiiiise 

(sc.  ><Xj'  iiiuliir;  loc,  Matth.  2(3, 18);  ^i^^f^^  s^Li  xjl^  cäni  navaii 

set    in    deinem    Namen ^);    SjtNj'    "4^   ^^*    cänih    kathili 

andarah  aus  deiner  Rede  (abl.,  Matth.  20,73);  sJcüs^  xjLyo 

myänih  pjätra  um  meinetwillen  (abl.). 

Vor   den   Adjectiven    auf  vi)  '    uk ,    welche    den  Genetiv 
vertreten,  sowie  vor  Infinitiven  und  denjenigen  Präpositionen, 

welche  eigentlich  Substantiva  sind,  wie  sJoLii.  xütrah,  ^^aa^ 

sababah,  &.§Xx)  mukliah  u.  s.  w.,  ebenso  vor  der  Comparativ- 

Partikel  ÄÄi>.  ynta,  (=  als)  steht  die  Form  auf  s^  ih,  z.  B. 

dJi  5J>M  ^ii-ov  5<X^J  tahandili  ratanuk  iräda  kuruk 
von  ihnen   wurde  beabsichtigt  ihn  zu  tödten. 

cj^^-iT  &^s^  X3  Jf^  Jjy  ^^-^   tahandih  kalaki   väli  ti 

chi  ganzarit  sogar  die  Haare  seines  Hauptes  sind  ge- 
zählt. 

[S^y^  iUJ^  ScXa^'  tahandih  vanana  bünthay  vor  seinem 

Sprechen  =  ehe  er  sprach. 
Sy^*»^  5t\Ä.^"  tahandih  x^tra  für  ihn  (oft  =  Dat.),   über 

ihn  (de  eo) ;  ebenso  o*xa«  set. 

*-^    *-^-^J    ^^Ä^    sJwA^"    tahandih    yuta    yach    chi    sie 

sind  schlechter  als  er. 
I^[  i^j'f    5^^'    tXJ);-»    ^    tulih   farzand    tihindih  atha 

izä  der  Sohn   wird  von  ihnen  gequält  werden. 


1)  hier  wohl  dat.  statt  (j.««Lj    («ajL;*  i  änis  nävas. 


494  Sitztm;/  der  jihilos.-philoL  CUissc  vom  5.  Mai  1888. 

■^  '  '  '      .1  . 

>— A-^  ^!>J^C>  ifJiL»M  sänih  duhac  tsot    unser  tägliches   Brot; 

8-icLis»  ämO  sX^  tauiakili  nina  /ätrali  um  es  zu  holen. 

4.  Sein,    ihr    im  Sinne    vom    lat.    suus   s.   unter  dem 
Reflexivpronomen . 

5.  Diese  Pronomina  können  auch  als  possessive  Adjectiva 
im  Sinne   „der  meinige  u.  s.  w."   gebraucht  werden. 

III.    XjLj    päna    ^c^^    pänay   selbst. 

1)  &jL  päna  selbst  (indecl.) :  i^^-*^  ^^  xjlj  *^^  ^ 
^Lg.5  tami  hitsa  päna  sänih  säriy  kahälats  von  ihm 
selbst  wurden  alle  Schwächen  genommen  (=  er  nahm 
auf  sich). 

fjjjSJ^  ^JM^  S  iüLj  päna  gav  biyis  mulkas  er  sell)st 
ging  in  ein  anderes  Land. 

(jLg-SjVj  |^>>  io  ^'-^r?"  ^^'^  päna  china  yi  karun  yatshän 
selbst  wollen  sie  dies  nicht  thun. 

j^Lä.!  ÄJÜ  8«, (^7>  iü  na  chiva  päna  atsän  ihr  tretet  selbst 
nicht  ein. 

yÄj  cXi-***/)'  ÄJvj  iü'  5.\^  1^.  viini  bii/.va  tiilii  jtäna  aini- 
sund  kufr  jetzt  wurde  von  euch  selbst  seine  Gottes- 
lästerung gehört. 

2.  ^ffJ'-J  pänay,  verstärktes  «Jo  päna  (=  schon  selbst), 

z.  13.  jXi  j^l-J  Y^^j^^  C^^  ^r  *  -  l'^o^  karili 
pananin  cizan-hanz  pänay  fikr  der  Morgen  wird  schon 
selbst  für  seine  eigenen   Angelegenheiten  sorgen. 


Burkhard:  Die  Noininn  der  Kägmiri-Sprache.  495 

JtLs  0J5  &Ä.  isi  vunut  pänay  von  dir  wurde  es  ja  selbst 

gesagt. 
3.  Derselbe,  ebenderselbe  s.  Demonstrativpronomen 
S.  497. 

IV.    Das    Reflexivpronomen. 

1.  ;j*öL  panas,  a)  Dat.  sich  selbst :  fji^y^  ^^^^  Ü**-*^  ^^-^-^ 
mnhabljat  panas  chu  karän  er  liebt  sich  selbst ; 

c^.(j-^Vj  .jK^  '^^^r?  ij**^S?  panas  chuna  hikän  bacravit 
er  kann  sich  selbst^)  nicht  retten  (dat.  st.  acc.  wie  oft) 

b)  Loc.  mit  Präpositionen,  wie  oaa«  set,  *4^  pf'th,  u*^ 
nish,  **J*J  nishih,  ^tXi'  andar,  <\if  tXj'  andi  andi,  c^xJ  kyut 
u.  s.  w. 

2.  .^Lj  ^j^j  panun  pan  (eigentl.  meinen,  demen  u.  s.  w. 
Leib)  a)  mich  selbst,  dich  selbst  u.  s.  w.  (me  ipse  n.  ipsnm) 
b)  (=  mea,  tua  u.  s.  w.  sponte)  von  selbst,  freiwillig 
(Matth.  27,40);    davon    wird   auch  ein  Adjectivnm  gebildet 

«iJljLj   XjLo  pananih  panuk. 

,jj*Ä5>l^  «bo  ,jL  ^^y^_  panun  pan  häv  kähinas  zeige  dich 

selbst  dem  Priester. 
iUw.jLgj   tj^«^  (j^  >^^-^f  panun  pan  dyutun  phänsih   = 

er  erhängte  sich. 
.lj.^0   jjü   i^^-o  panun  pan   bacräv  rette  dich  selbst. 


-1  —  .  ' 

1)  auch    (j*»jü    (H*ÄÄj   pananifi   ])rinas   sich  selbst,    z.  B.    jj*o 

.l.-^Lf  v_>i3    xg-^    '^^^    y"*^    akhah    —    —    chuh    lukut 

ganzaran  wer  sich  selbst  für  klein  hält. 


496  Sitzung  der  philos.-philnh  Clasfie  vom  5.  Mal  188S. 

3.  (^^  panun  f.  ,^j  panan  in  possessivem  feinne:  mein, 
dein ,    sein    n.  s.  w.     Die  Befleutung    richtet  sich  nach  dem 

Subject  (Decl.  TI:    u-*-^    pananis ,    *aaj    pananih,    pl.  ^j 
panani  u.  s.  w.). 

Mit  Suff.  (5  y  wird  es  betont  =  „mein  eigener" :  ,^äaj 
Jb  jj^^^^Ä^is.  yXj  pananiy  palav  tshunihas  näli  sie  zogen 
ihm  seine  eigenen  Kleider  an,  v:>aa*/  y^^  "^.^^v  P«'n=^"ivay 
kathav  set  durch  deine  (seine  etc.)  eigenen   Worte. 

V,    Das  reciproke   Pronomen. 
^Ty>L5  pänaväni  (eigentl.   Adv.)  unter  einander,  gegen- 
seitig;  bei  sich  selbst;  auch    d\   ^Jf  ak  ak : 

viJbo    ij'^W  pä-navani  du])uk  sie  sprachen  unter  einander 
^Ij5^  JLk=>.  ^j'y>b  j-'  (VJ»  tini  asi  pänaväni  /ayäl   karän 

sie  dachten  Ijei  sich 
(mIwS"   JCi    X.  g->.    5sbi^  ij'?^W    pänaväni    kyazih    chiva 

fikr  karän  warum  sorgt  ihr  gegenseitig 
^\yj)   j^'   x^Aj   jjjS\   d\    ak    akis   poth   äsi  pivän    einer 

fiel  auf  den  andern. 
gjy^  jCi    vjöf    ^O    ^'yb    tXJ    fvJ"    tini    lagi    ])anaväni 

dilan    andar    fikr    karana    sie    begannen    bei  sicli    (in 

ihrt-iu    Iiincrn)    zu    denken;    aucli     ^tXjl    ^^     \J^^. 

panaiiiu  dilan  andar. 


Nom. 

Acc. 

Dat. 

Loc. 

Abi. 

Instr, 

Gen. 


Biirlclidril :  Die  Nomina  der  K('irimn-S}trnche.  40/ 

VI.    Die    Demonstrativpronomina. 
1 .  »j)  vi  dieser 

Singular 
ni.  f.  n. 

N?  yih 

(j*A^  yaniis       ä-^    yath^) 

&*J  yamih 

*j  yanii        ä^j  yamih         ä^j      yamih 

{kXÄA»o     yasund  *^+:?  yamyuk  ^) 

cXäaww^j  vamisund^) 


n. 


Plural 

ni. 

f. 

Nora. 

Acc. 

*j   yim 

iUJ  yimah 

Dat. 

Loc. 

c^^. 

yim  an 

Abi. 

c>^. 

yimaii 

Instr. 

r^ 

yimav 

Gen. 

yihuud 

cJ-^. 

yiman   hund 

1)  neben  ln^Xj  yath  auch  ä-§Jü  yathih ;  verf^].  Anm.  5  zu  iUu  su. 
z.  B.    vi^jt    itJß)   xgl->  yathili  rihih  (f.)  andar  in  dieser  Blume  ;  als  ntr. 
188S.  Pbilos-philol.  u.  bist.  Cl.  3.  33 


498  SitziiDc/  der  phihs.-philol.  (Vasse  vom  5.  Mai  18SS. 

j 
2.  Xa«  su^)  jener 

Singular 
111.  f.  n. 


Nom.  Acc.  ükJM       SU  &J"         ti 

Dat.  Loc.  jj*4J"  tiunis*)  X^j    tath^) 

Abi.  n^'S      tamih 

Instr.  *j'  taini        &4.J'  tamih 

tXAA*AJ'     tasund  ^^♦J"  tamynk^) 

lVäam^'  taniisnnd 


Gen. 


z.  B.    5v    löJ^   ^^    yath   läik  zi  dessen  würdig,  dass    (;^J^  ITiiq 
c.  dat.  würdig). 

2)  z.  B.  ^j.  ojIs.^  «.XJ  yL-wA^j  yamisanz  lukav  sliikayat 
vani  über  ihn  wurde  Klage  von  den  Leuten  geführt  (gesprochen). 

3)  Ebenso  WC  Im  (arab.)  jener,  dat.  (jjä^JO  liumis ,  instr.  jvJC 
hami,  dat.  pl.  <j>4.i0  human  ■/..  B.  io  «.iß.lj.j  XJ'  *J^  Xi'  ^v5  *.J 
yim  karihiv  ta  liuni  ti  travihiv  na  dieses  niöget  ihr  tliun  und  jenes 
nicht  lassen  (bei  *j"  tiin  und  j^Jß  huui  wohl  yf>s>  ciz  „Dinge"  zu 
ergänzen). 

4)  Für  r>M-«J'  taniis,  &.^JiLJ'  tath  und  JuIma.«J)'  tamisund  kann 
auch  ^ju3  tas,  /w*vcf  aniis,  iL&jl  athih  (it^'i  ath)  und  cXä^a^xiI  aiiii- 
sund  (oder  ^Xäaw  (•' am i-snnd)  stehen ;  ehenso  dLycl  anijuk  Ifii-  ^x+J' 
tamyuk ,  z.  B.  y  g  t  (J*aj  wi',  vaniv  tas  laiiis  saget  jenem  Fuchs 
(Lue.   13,  32). 


Bitrkhanl:  Die  Nomina  dcf  Käriniri-Sprache.  -l^y-* 

Plnral 
m.  f.  n. 


Nom. 

Acc. 

fi 

tini 

&4J'     t 

Dat. 

Loc. 

^: 

timaii 

Abi. 

ü^' 

tiiuan 

Instr 

y^: 

timav 

l'-loTl 

( 

A-L^ 

tihund 

I    iXXsü   lJ^    tiinan   hund 

Ueber    das    Suffix  ^5  y    liei    diesen  PronomiDibus    siehe 
unten. 

VII.  Das  Relativpronomen. 
Dieses  ist  mit  dem  Demonstrativpronomen  »^  yi  iden- 
tisch,  nur  lautet  der  Nom.  u.  Acc.  Sing,  j^  yus  f.  iUs^j 
yusah,  der  Dativ  j4  yas  (^Hg-i^J  vath).  Vor  diesem  Pro- 
nomen sttdit,  namentlich  in  den  mit  dem  Demonstrativ  iden- 
tischen Formen,  oft  S)  zi.  /-  H.  o^^jO  Jl  ^j^  »^  «^^  LT^ 
&jJ  kus  chu  zi   vas  ak  düst  asih    wer   ist,    dem  ein   Freund 


5)  kommt    in    allen   3  j^eneribus  vor,    z.   B.   ^tXjf    äjL=»    it^-o 
tath  jayih  f.  andar  an  diesem  Ort  u.  s.  w. 

6)  z.  B.    Ä^J    viJLl»J     Jo'y>U£-    Imänuel    yamyuk    tarjumah 

(m.)    Imanuel ,  dessen  Uebersetzung  ist :    ^  ^^r^    ^^  gara 

tamvuk  kan  Haus,  dessen  Fundament. 


•6Z' 


500  Sitzung  der  phüos.-philol.  Cla,sse  com  5.  Mai  1888. 

'  '  '  > 

ist    (der    einen    Freund    hat) ;     ^o    x=s.    j^j    sv    s.mj    xg-;»   j*0 

^^Äj(3    «UJCisfcl  ku.s  diu  SU  zi  yanii  tsi  yi  ixtiy'U'  dyutuy    wer 
ist  der,  der  dir  diese  Macht  gegeben. 

Beispiele  vom   liehitivin-onoinen   mit  dem  Demonstrativ- 
pronomen : 

it*«  —  ^J**J  yus  —  SU  welcher     —  der 

y*o  —  Xa«  SU  —  yus  derjenige    —   welcher 

j^-w  —  j/*j  yus  —  suy  eben  der    —   welcher 

^^•**'  —  ^^**^  yusah  —  suy  el)en  die    —  welche 

X3  —  ^u  yi  —  ti  dasjenige         —  was 

*J  —  |VJ  tim  —  yim  diejenigen       —  welche 

x*j  —  x*j"  tima  —  yinui  diejenigen  (f.)  —  welche 

&*j  —  x*j  yinia  —  yima  diejenigen  (f.)  —  welche 

So  auch  (vj-»J  —  (vJ  yiui  —  timan ,  ^^j-*-^.  —  ivJ'  tim 
—  yiman,  (^^^  —  »c*"*^  timanay  —  yiinan,  *a«-j  —  [j^  (j>*j' 
tas  nish   —  yusa  u.  s.  w. 


liitrhiitird:  Die   Noiiiimt  der  Kariniri-Spruchi 


)0l 


Vni.    Dil 8    lnterro<?ati vpronomen. 
Sinffular 


m. 


f. 


Dat.  Loc. 

1    ij***S  kiinuis 

Abi. 

Ä-»y     kuuiili 

Tnstr. 

^ 

<ciini                  ^W>    kiunih 

JoLw5      kasund"^) 

Gen.  cXJww^  kamisund'^) 

lU.^     kahuiKP) 

Plural 
m.  f. 

Nora.  Acc.        *i^  kam  iUi    kaiiiah 


Dat.  Loc. 
Abi. 

Instr. 

Gen. 


.^ 


^ 


kanian 

kaniaii 
y^  kamav 

tXÄiC,^^5    kaniaii-liuiuP) 


n. 


Noni.  Acc.      (j«/  kus  wer?       w5"  ku.sali        ^S^i^      kyahM 

&4ä5"  kath^) 


viJl^yii'  kanivuk^) 


I  JoL.^        kuhund^)  — 

1)  KfS^  kyah  auch  adjcctivisch ,  z.  B.  »-jl^  ^  l<y-ili  Ji^vfib 
(ra.)  welche  AntwortV  J^  ioi^  kyah  kam  (f.)  welche  ThatV  XaT 
^l^^kyah  gavähi  welches  Zeugnis?  ^cXj  i^9    kyah  baili  was  BösesV 


502  Sitzung  der  plülos .- philol .  Classc  com  5.  Mai  IStiS. 

x^l  ijjS  kus  akluih   wer?   S)  »-^  ä^^'  (j^  kiis  ukliah 
eil II  zi  wer  ist,  der?     (Mattli.  7,9;   12,11.) 

IX.    Pronomina   inde finita. 
Ä-g.A5^  kaiih*)   in.  f.  irgend  einer;   mit  Verneinung  ä3  na 
{a^  niii):   keiner,  niemand. 

dat.,  instr.  Xa*öI^  kan-sili,  gen.   tX*^   Xa«.jD    kansili-hund. 

&.^^kinh  n.  irgend  etwas,  etwas;  mit  Verneinung:  nichts, 
dat.,  instr.  iii.^sxxf  kincliah,  gen.   ^^Ä5    kunyuk  ; 

z.  B.  vXi  ^i.g.Ä^  kinh  sliur  irgend  ein  Kind,  ^XJ  &.g^^ 
Uö  kinh  hikati  shuri  einige  kleine  Kinder,  ^  *^i 
kinh  luk  oder  ^\  ^4^5  kinh  zani  einige  Leute, 
Ä-g-ii'  |v5  kam  kinh  einige  wenige,  nur  einige;  äj 
i^f  yi  kinh^)  das  alles,  xJ  ^^^  ^-g-»«^  hanh  katha 
iia  =  nichts.  —  {j**S\  iu^ol^  kansih  akis  irgend  je- 
mandem, (jj-«-^^  iUwjl^  känsili  niahnivis  irgend  einem 
Manne;  »\  X4;5^&j  na  kinh  zi  nichts,  was  (Luc.  11,<)). 

*uU5^   kamitain     instr.     von    irgend    .Icniandcm;     [»^-^^ 

■ —     > 
^jJ,4^^   kamitam  dushmanan   von  irgend   einem   Feinde. 

^^Ls   t'iiläni   irgend   einer,  t-in   gewisser,   ;>i^V^    ^^^ 
i'ulani   sha/s  irgend   Jemand. 

2)  DecHnation  wie;  8.  406  ff. 

3)  s.  S.  199  Anni.  .5.  6. 

Ii  Xää5    l<;iiili   uiiil  ii^a^ii^  kinh    werden    in   Np.  oft  verwechselt. 


Burhluird:  Du   Xomiiin  ilcr  Kuriiihi-Siiraelie.  503 

X.    Veralljzem  einernde   Pronomina. 

^j**j  (jj*j  ytis  VHS,  x^l  j*o  yus  akha,  »^^  ^^-^-»^  kanh 
akha  wer  nur  immer,  daher  dat.  ij**J  ;_;*o  ya.s  yas,  j*«.^'  y*o 
yas  akis  wem  nur  immer.  ä^$^  io  yi  kanh,  x^sxXX^  *j 
yi  kentsah  was  nur  immer,  alles  was,  x-^-o  ^5)9-**'  süruy 
kinh  alles  mögliche  =  alle.s,  äj  ^^-^-»^  ^y.?*"  ■'^''^iruy  kinh  yi 
alles  was. 

XI.    Andere   Pronomina. 

»^S\  <:jy^  prat  akhah ,  sL^yf  cj*j  prat  akhäh ,  &4a5 
v:i>vJ  kanh  prat  jeder.  ä-O  <:JyJ  prat  kulah  jeder  Baum; 
Ä-g-i^  kinh  etliche:  ^^aa^  aLO  cjjJ  prat  kunih  sababah  aus 
mancherlei  Gründen ;  Xasj  [V>J5^»3  tXÄiC  5>IS  o'  ^^A5  ejjj  der 
10.  Theil  von  verschiedenen  (essbaren)  Vegetabilien.  —  o>»j 
j*»j '  prat  akis  einem  Jeden ;  \j**S^  iUwJD  ^i^j^  prat  känsih 
akis  einem  Jeden ;  *iLo  —  ^i/f  ak  —  biyak  der  eine  —  der 
andere;  &>o  l)iyi  die  andern;  xg-i^  xxj  ^ü  na  biyi  kanh  kein 
anderer,  y~ipo  katihav  von  andern  V  j^^^-gjo  katihin  dat.  pl. 
wie  vielen  (L.  15.17).  —  ^-^vÄx5  kaintsav,  ,^;^k:?;v.äa5  kaintsan 
von  etlichen,  etlichen:  ^^J  xiCJ>  «rSVÄxS  kaintsa  duha  pata 
nach  einigen  Tagen. 


^04  Sitzioifj  der  philos.-pliih)l.  Classe  voi»  5.  Mai  1SS8. 

Xll.    Peinige   Corrolativa^). 
interrog.  denionstr. 

1.  &^J«:a5     kyutli  wie  bescliaff'on?     ^-g-^i'  tyuth  so  beschaffen 
pl.  i^^xf     kithi  Ä^Äj"      titlii 

f.    i^^sxf  kitsh  ^^'i  titsli 

pl.  »^■^:s\.f  kitsluih  ^^  titshah 

relativ  (denionstr.^)) 
Ä-^Äj      yutli  M'io  (.so)  bescliaffeii 
pl.     x.^      yithi 
f.       ^■^^SXJ)  yitsh 
pl.     *.g.iSVj  yit.shah 

interrog.  denionstr. 

2.  <:^y^S  kyüt  wie  viel?      ^^^-^  tyut  .so  viel 

pl.  cjl^  käti? 

f.         1^  {^)  kats  (kais) 
lil.  ^^^I5'  kätsah 

relativ  (denionstr.) 
vci^^j      yüt  wie  viel  (so  viel) 
pl.     cjLj      yäti? 
f.        ^>^       yits 
pl.      Ä..s;vxj  yihsah 

1)  nie    adverbialen    Correhitiva    werden    später    unter    den    Ad- 
verbien anf'gf'führt  werden. 

2)  8;    Jjjo    Ä-fiJö    xg-^    i>^5     K'iis    ciiu    vntii    nii'd    zih    wer  ist 
ein  soleher  Vater,  daas  er  (Luc.  11,  11). 


Burkhard:  Die  Ninuiiia  der  Kariniri-Sprache.  -jO.) 

interrog. 
3.  K'J^   ^J-^^  kitliaii   hyu  wie  beschaffen  ? 

demonstr. 
XAjD  ^,^-Y^^  tithan  hyu  so  beschaffen 

relativ  (demonstr.) 
xa5J   ^j-^.  yithan  hyu  wie  (so)  beschaffen. 

Ueber  den  Gebrauch  der  Comparativpartikel  xÄi='  xuta 
(vergl.  S.  467). 

Diese  Partikel  ist  eigentlich ,  wie  die  S.  467  Bern,  an- 
geführten Präpositionen,  ein  Substantiv  im  Abi.  (?),  wesshalb 
die  vorausgehenden  Substantiva,  Adjectiva  und  Pronomina 
die  Form  auf  »"^  ih  annehmen.  Daher  müssen  auch  die 
Possessivpronomina  statt  der  Personalpronomina  gebraucht 
werden. 

Beispiele:    a)  Substantiva  und  nom.  act.:  »^=>-    5tXÄA«5jLÄ.wl 
ustäda-sandih  zuta,   —  5tXÄ^,j>-^  tsarin-hindih  — ,   oder 

—  äJLä  bälah  — ,   —  äJLä  5j-^J"  tuhandih  balah  — ; 
mit  Inf. :   —    ^^^-g^  khina  als  das  Essen. 

b)  Adjectiva :    Ä^ia.    xXJtXi    gudanikili    ynt-A    als    der    erste 
(sc.  v^r*  farib  Betrug) 

c)  Pronomina:   —  *J^  myanih  — ,    —  »tX-J-gJ  tihindih  — , 

—  StU-^'  tahandih    — ,    —   äääJ  pananih        ,    —   ««♦->■ 
tamih    — . 


506  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Phrasen :     —    x*J"  taniili  (nur)  um  so  mehr ; 

s\    —   &4J    [  tamih   —   zih   j 

{  \   s-ls  flass. 


»S    —    x^J    [  yamih  —  zili 


D.  Die  Numeralia. 

1.    Card  inal zahl e  n. 
1.  einfache  Zahlen : 
a)  Einer:    ^Jf  ak^)    1,   s)   /ah  2,  Sji'  trah=^)  3,  ^^  tsür  4, 
x^jsxjL:  pantsh  5,  x-i  shih  6,  o«~w  sat  7,  «^  '  ath  8, 
^  nav^j  0. 
h)  Zehner:    s3  dah    10,   »1   vnh   20,  »o  trih*)  30,  xi^Urs. 
tsatäjih^)    40,    »l^J^f    luuitsah    50,    ^^^^-A   sheth    (50, 


v^i-^^^  satat  70,  v:i^-v^  shit  80,  04J  uamat  90,  «c^^io  hat 
100;  (j^-Lw  sas  1000,  —  *-^^->'-r:  prmtsh  —  5000, 
^Lw   sS  dali  sas  10000,  X4:sü  lach  100000. 

c)  Zehner  mit  Einern:  W    kah   11,  xj  l)ah   12,   a^y  trnvah 

- ) 
13,  »v-ui  slmrali   16. 

2.  zusammengesetzte  Zahlen  : 

-  -  > 

a)  additionsweise:    mit    u)  5J>    dah    10:    »tX^.    tsudah    14, 

»J^j  pandah   15,  »tX-u-  sadah  17,  8«^^'  ardah  18; 


1)  auch  Ä-a5f    iikli.     2)  Kl.   Sjj"  trih.     3)  Kl.  auch  naun,    Bühl, 
niiniv.     4j  Kl.  5  j"  trah.     5)  Np.  jcsCVJLa^  tsatajih. 


Bnrlchiiid:    Die  Nomina  drr   Kdriiiiii-Siiraclw.  o07 

ß)  5^  viih  20:  8^51  akuviili  21,  s^^*)  zitüviihM  22,  s^^j' 
truvuh  23,  »^ä>  tsuvuli  24,  s^_s^JU  pruitsiivuli  oder 
Äis\jü  printsili  25,  »*-»i  shivuh  2t),  ^^yX^  sutüvuli*)  27, 
s^^Jl   athiivuh^)   28; 

/)  »*J  trih^)   :>0  :    »yilS"!  akatrih  31,    »yj'^'^  dütiili    ocIlt 

'  .  ' ..  .    . 

8j.äjO  duyitrih   32 ,    »jÄaj  titrih  oder  ^yHr^  trayitrih 

'  '    I  • 

33,    sJCxä.    tsnyitrih    34,    5vÄ:SVJü    päntsatrili*)    35, 

SjJwyi  shayitrih  3(i,  5JüL*<u  satatrih  37.  ^rJ)'  aratrili  38; 

ö)  äs^Lls.  tsatäjih  40:  &ä»U5'I  akatajih  41,  äs^Lj'^O  dü- 
täjih  oder  x=>l-^<^  duyitäjih  42 ,  ä^'-^"  titäjih  oder 
toUüuJ  tiyitäjih  43,  ää-Laxä  tsuyitäjih  44,  Xä-Uc^^jL 
päntsatäjih  45  ,  ^^2.LÄx^  shayitäjih  4(3 ,  XÄ.LxiLvu  sata- 
täjih  47,  ^^^-^-^y  aratäjih  48  ; 

e)  syj.  vanzah  (st.  sUsvjlj)  50:  »ö^^l  akavanzah  51, 
8yj..c>  düvanzali  52,  syJ^rJ'  travanzah  53,  ^vj^ä.  isu- 
vanzah  54 .  syj^^jü  päntsavanzah  55 ,  ^'j'^y-^  shi- 
vanzah  56,  »yj^c^«  satavanzah  57,  ^r^^)^  aravanzah  58; 

C)  x^x^  sheth   GO:    X4Ax^Sf  akaheth  Gl,   ^t.^>^JV^O   du- 

\o      -  Jö       ' 

heth  02,    at^AAiß-J-  traheth  (53,    &^-yj4:s^  t.snlieth  04, 

aL^AA-^-r^Lj    j)äntsaheth    00,     &.§^^-i    .shihetn    00, 

ÄLg^^ÄA«  sataheth  07,  &.§-c^5>J  arahetli  08; 


isr 


1)  auch  »•Lj»    zitävuh.     2)  auch  bAjuM  satävuh  :   8.L^  1  äthä- 
vuh.     3)  El.  so'  trah.     4)  El.  auch  5».Äjü  päntrih  (!) 


508  SUzuitfj  der  phUos.-iihUol.  Classc  vom  5.  Mai  18S8. 

-  ^  ^  ^  "^  —  > 

/y)  oJC-w  siitiit  70:  o-Xa»*$'I  akasutut  71,  c:/.Ä^<3  dusatat  72, 

^:>.Ä^jJ'  trasatat  73 ,  oÄ*«^  tsusatat  74 ,  c>.ä-w.:^jIj 
Itäiitsasatat^)  75,  oÄ-^aw  sliisatat  7(),  <^Xm^Xmj  sata- 
satat  77,  v:>X**;sl  arasatat  78; 
;7)  <jt.J^,Mj  slüt  80:  o.-^xi^S'l  akasliit  81,  ^.ii^A^t)  dushit  oder 
<i/.j^M.ij^  duyishit  02,  *c:/.aXu  s^j  trab  sliit  oder  o.xaw.j*j* 
trayisliit  83,  <:^^i*^  tsusliit  oder  c>.a^xä.  tsuyishit  84, 
o~A-ci.;SXJl.J  paiitsashit  85,  ^ly-x*«.^  .shisliit  oder  ic:^a*«*x-w 
shiyishit  86,  vi>.x*ikÄjkA/  satasliit  87,  o*.xXwxl  arashit  88; 
/)  v.:i/^4J  naniat  90:  <:/^S^  akaiiamat  91,  oa^c>  diiiiamat 
92 ,  e>4JvJ  trananiat  93  ,  v:^.-»-».^*-  tsniiaiiiat  94, 
v:i».4-*.^jLj  j)antsaiiaiiiat  95,  o+a-«*'  sliiiiamat  90,  c:/-».ÄÄ^ 
sataiuunat  97,  ^:i^>'  araiianiat  98,  s:>~*.a4J  iiaiiia- 
iiainat  99. 

I))  sul)traction.sweise :  »•-*.>    kuiiavuli  lil,  5j.ää>    kmiafcrih  29, 

T  '>  '    ">  '  -^      '^ 

ati»UÄ5   kiinatajili   39,  »vJ^-ÄS    kuiiavaiizali   49,    x^Ax^g-Äi 

'  ^^^'  .    ^'  ' 

kinialietli  5i>,  oÄa«.ä5  kuiiasatat  09,  o*.A..ci^Ä5  kuna.sbit  79i 

,^  ^  >  

c>.4-iÄ5    kiinananiat  89    (aber    c^-^^^J   iianiananiat    99)^). 

Reiiierkunijf :   Von   2   an   jol^t  das  8u))stantiv   im  Plural.  /   iJ. 
(^\    o^Ä^  sat-at   /ani   70    Personen. 


1)  El.  auch  v.:>..^.t>  dfuihat  oder  v,:>.^.0  ilunihat. 

2)  Säninitliche  /insiuiiiiiciiHetzun<^en  von  a)  />' — i  und   b)  können 
f^etrennt    uiiil    mit,  8   li   i^^cscliriclicn  werden,    wenn  die  einfache  Zahl 


Bitrhitard:  Die  Noinlitn  der  Käriiiiri-Spniche. 


i09 


II.  Ordinalzahlen. 
Mit  Ausmihuie  von  dUj^  u-iulanyuk  oder  döS  tru(]uk 
der  erste  (f.  ^öS  u-iulanic  S.  481)  und  [vjO  dnyuiii  der 
zweite  werden  die  Ordiiial/alilen  g-anz  regelmässig  durch  die 
Silbe  [vJ  yum  aus  den  Cardinalzahlen  gebildet,  z.  B.  ^^,^ 
trayuin  der  dritte,  f*J;^T?'  tsüryuni  der  vierte,  |va^.^j>-j 
pautshyum  der  fünfte ,  |V>yi  sliiyuni  ([vyi  sluiyum)  der 
sechste,  ^^  satyuni  der  siebente,  [»A-gJ  f  athymn  der  achte, 
*j*j  navyum  der  neunte,  jv^iCJ  daliyuni  der  zehnte,  |V>jiCt\Äj 
pandaliyum  der  fünfzehnte,  ^^»  vuhyuni  der  zwanzigste  n.s.w. 

III.    Ad  V  erbitilzahlen. 
1.  Multiplicativa. 

Sie  werden  durch  die  Substantiva  v^-'  hit  ni.  w^  lati,  i. 
pl.  äJ  latih;  ^j  phiri  f.  1>1.  »^-^  phirih  (=  mal)  und  ^ 
gan  Schaar,  Menge  (=  fach)  in  folgender  Weise  gebildet: 
&J  a.S\  akih  latih  einmal,  &J  äaj  biyih  latih  das  anderennil, 

&aJ  ^oJ>  duyih  latih  zweimal,  xaJ  s^j  trah  latih  oder  XaJ  ä^^ 
trayih  latih  oder  »-4^  s^j"  trah  ))hirih  dreimal  (auch  ^jy 
^^^  trän  latan),  »v^  ^^  satih  phirih  siebenmal  oder  ^j-^^^ 

jj^  satan  latan  ,    &»-J    ^^rJ'  trayimih   latih    zum  drittenmal, 

8  h  hat,  also  s*    x5^l  ukah  vuh,  o»-i^A«    äÄa*/  satah  aatat,  o«-*J    Ä.4.J 

namah  namat  (cf.  Matth.  18,  12.13,1,  5^  iüf  kunah  vuh,  und  das 
scheint  das  «^fewöhnliche  zu  sein. 


510  Sitsung  der  iihilos.-philol.  Clasae  com  5.  3Iai  lüSS. 

^      ^-        .  ia".  "^ 

OA^   &J    xäÄau  stitutih   latili  sat  70   nuil   7 ,    äaJ    x^>    kutsili 

latili     wie    vieliiial     (oft)     oder    xJ     x^L^l^     kätsahih    latili 

(Mttli.  23,  37),  r»^'  sj^  iJ^^P^  katsaii   lataii  täni   bis  zum  wie- 

vieltenmal;  ^^  tsugan  4  fältig,  ^^  sss>Ji  traha  gau  30  faltig, 

i^jT  ÄAxxi  slietah  gan  00 fältig,  ^JS' kXsö  hatah  gan   100 fältig. 

2.  Distributiva 
werden  durch  die  Wiederholung  des  Zahlwortes  gegeben,  z.  B. 
^Jl  cJf  ak  ak  je  ein  (vergl.   >t\jl  (j^v-g-^  ij^j:^^.  {j^j^.  pananis 
pananis  shahras  andar  jeder  in  seiner  Stadt). 


IV.    Quantitative    Adjectiva. 
^.öju    ba'zi     (dat.     ^^.öjij    baV.iyan)    einige ,    etliche, 
oa«*c>    ^jL-ü   (C'''^^    ba'zi  säni  düst  einige  unserer  Freunde; 
Äjs^.ÄA^  kaintsah    (instr.   ^^Aa5   kaintsav)  =  einige,  etliche; 

x.^A.**/  sitba  (dat.  ^^-^^  sitlian,  auch   ^j-^-^-^  sithahaii,  (instr. 

— ic  '    '  '   I        ,   .  . 

^-^-»^   sithahav)    viele;    ^S)^-^    süruy    (dat.  ^a*.^<.av  särisay,  f. 

(^sLu/  säri)  ganz,    z.  H.  cja^U.^  <S)^  "^'H'i  jiniiä'at  die  ganze 

Versaiiimliiiig;  abl.(?)in.  i^\^  säri  (st.  »>L«;  .särib),  z.  H.  itÄÄj 

o^A^   xjj>   (^;^-*w    pananih  säri   dilah  set    mit  seinem  ganzen 

Herzen;  \^j^  säriy  (dat.  ^^-^  säriu.  ^J^'-**'  särinay,  instr. 

(^jnLu-  särivay)  alle.    —    <5)y-^    *-   .^'^  •'^i"'uy    oder    i^^^-^   *:^ 

et4A5^  yi  süruy  kiuli   das  alles;   äj  ä^5^  ^^x^a».  süniy   kinh   vi 

alles  was. 


Burkhard:  Die  Nomina  der  Kd^miri-Sprache.  -^ll 

V.    Declination   der   Zahlwörter. 
Die  Zahlwörter    werden    wie  Adjecfciva  declinirt ,    daher 

c!l  ak    dat.    (j**S\   akis ,    instr.    m.    cJl  aki    f.   «5"!  akih,  gen. 

ÖJ^jimS'  akisund;  doch   hat  sjj  zah  im  dat.  ^jt>  dun.  SvJ"  trah 

i^vJ'  trän    und    \^  tsur    ,^j^  isun ;    fei'ner    j^^Lau   ^^;s^U 

pantsin    sasan ,    ^-wL*;   j^^^    tsun  sasan ;    mit    emph.    ^5    y: 

1^-^'  akisay  ,    ^^  akay    nur  einer.  —  „Beide"   lieisst  ^5^^ 

dnnavay^),  z.  B.  —    |VJ'  tini   —  diese  beide,  ^s^   —    (j^yo 

niyäni   —   nicivi    meine  beiden  Söhne ;    SjtXJ'    —    y^  timav 

—  > 
-  andara  von  diesen  beiden;  aber  ancli  ^k>   Uy^^  dunavani 

—  r        "'  ' 
diyiv    gestattet   beiden ;    aü«Jo    <5y^    tsanavay    tarafah    auf 

4  Seiten.  —  Auffallend  Luc.  20,  So  vÄiß   (j^^  sat-v-an  lian/ 

st.  i>^^  Satan  (cf.  (^»J'^  dunavan).  —  Die  Ordinal/.ahhni  gehen 

ganz  nach  den  allgemeinen   Declinationsregeln,   z.  B.  ^iLöcVi 

I  '-i^i'  .   .  r^/'  .  '^  > 

gudanyuk  pl.  viutXi   gudaniki.  f.  ^sJlXj    gudanic    pl.  x.^JtXj 

> }  ^j  .    .  »    - 

gudanicih ;    [vJt>  duynm    dat.    (jw-^J^^  duyimis ,    ivaä-w  satyum 

(j**4Ji-*w  satimis    u.  s.  w.    —   ü-S  ä^JvJ  trayiraih  garih    in  der 

3.  Stunde,    *-$-»J   »jJ    *-»>^  shiyimih   garih  p(^thah    von  der 

6.    Stunde    an  ,     (♦o    5*3    äiXj^j    navimili    garili    tani     bis    zur 

neunten  Stunde. 


1)  Bei  Antritt  des  emphatischen  ^_^  y  steht  die  Form  auf  m^- 
av,  z.  B.  i^jjC J  dahavay ;  oLo  Li  ij.A-fcu  ^«^0  ä-aj  kya  dahavay 
sapani   nä   saf    sind   nicht   zehn  gesund  geworden ;    ^\    i^y^    ivJ" 


512  Sitzung  der  ■philos.-phüol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Ueber  das  emphatische  Suffix  i^  y. 
Dieses  hebt  hervor  oder  betont  das  Wort ,    dem  es  an- 
gehängt wird,  z.  B.  bei 

1 .  Snbstiintivis,  z.  B.  ^S^  vatiy  seh  o  n  auf  dem  Wege  (=  ipse) ; 

2.  a)   Personalpronominibus,    z.B.  ^^^J^  tuhiy ;  x  (§  >>  ^  7-  ^5^ 

tsay  chukah  bist  d  u  es, 
b)  pronominibus  possessivis,  z.B.  caaa^;  iu«f  j^^  cäniy 
äsah  set  durch  deinen  eigenen  Mund.  ^^öJ^j*kA  amisandiy, 

e)  Demonstrativpronorainibus  im  Sinne  von  „gerade  dieser 
(jener),    eben   dieser  (jener),    derselbe,   der  nämliche, 

^"  ^-  c5^  yiji  <s*^  s^^V'  is'i  tij'  is^  tamiy,  ^^1  amiy, 
(^A4.j'  timanay  ,  ^5^  yimanay  ,  [Sy-^  timavay ,  i^^J 
yimavay^);     —     ^'H:^    tynthuy     f.    ^^^^^'i    titshay ; 

-  o  — 

j-*j   tasi  (st.  ^^*t^  tasiy  ?) ; 

3.  Zahlwörtern,  z.  B.  kS^'^  dahavay  (s.  S.  511    Anm.  1); 

4.  Adverbien,  z.  B.  ^'-^   (sO  aziy  (azi)  noch  heute;    ^^ 
tatiy  eben  daselbst;  ^^Äj  yatiy  wohin  eben; 

5.  Präpositionen,  z.  B.  ^5>tXJ'  andaray  nocli  in  (Luc.  1,  15). 


vi>iC    O.A.-W    tami  biiliiiviiy  ziini   sAt,  liiti    von  ihin   wurden  die  zehn 
mitgenommen. 

2)  So  liiuifif^  ^-S-'V  ^'-^-^  yitliii  pfitlii  welehe  Weisen  =  wie, 
X g  4  ^  K^i  titha,  paUii  diese  Weisen .=  so;  aber  —  ^^^'J  yithay  — 
und    —       g vv  tithay   —    wie  —  <,'erade   so. 


Bnrlihard:  Die  Nomina  der  Kdrmiri-Sprache. 


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1888.  Philo8.-pliilol.  u.  bist.  Cl.  3. 


i 

■4 

34 


514  Sitzung  der  phUos.-phiJol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

W  0  r  t  -  E  r  k  1  ä  r  u  n  ,<if . 

cünkih  (pers.)  Conjuiict.  weil,  da;  sithahav  Adj.  instr. 
pl.  V.  sitha  (II  510)')  viel;  gund  aor.  3.  sg.  imp.  von 
gandiin  binden,  umbinden  (I  406,  65) ;  kamar  m,  Gürtel,  k. 
b.  den  Gürtel  umbinden  =  unternehmen  ;  zih  (pers.)  Con- 
junction  dass  (==  oti.):  timan  dat.  pl.  pron.  demonstr.  (II 
499) ;  kämin-hund  gen.  pl.  v.  kam  f.  That ,  Werk,  Hand- 
lung (II  Decl.) ;  yimah  pron.  relat.  nom.  pl.  f.  (II  499) ; 
asih  loc.  pl.  v.  bu  ich  (II  486);  andar  praeposit.  in  mit 
Dat.;  väqi'  (arab.)  partic  sich  ereignend;  sapanih  aor.  3.  pl. 
f.  von  sapanun  werden ,  v.  s.  sich  ereignen ;  zih  wegen  des 
Relativsatzes  wiederholt;  biyän  (arab.)  ra.  Erklärung;  karan 
3  pl.  praes  v.  karun  machen;  yithah  (yitah)  pätliih  (II  512") 
adv.  auf  welche  Weise ,  wie ;  timav  instr  pl.  pron.  dem. 
(II  499) ;  yim  pron.  rel.  nom.  pl  (II  500) ;  gud  f.  An- 
fang, abl.  gudah  (st.  gudih) ;  pithah  praepos.  von  —  an 
(mit  abl.);  pänah  (II  494)  selbst:  vuchanväli  pl.  nom. 
nom.  ag.  v.  vuchun  sehen  (I  332) ;  tah  Conjunct.  und ; 
kalämaki  adj.  pl.  nom.  v.  kalämuk  =  gen.  v.  kaläm  (arab.) 
des  Wortes  (II  455);  /idmat  f.  (arab.)  Dienst;  karanväli 
(wie  vuchanväli)  v.  karun  machen ;  x.  k.  Dienst  thun,  dienen 
(k.  /.  k.  Dienstthuende  des  Wortes);  äsi  imperf.  3  pl.  m. 
V.  äsun  sein;  asih  wie  oben;  nish  praepos.  zu,  a.  n.  zu  uns 
=  uns;  karak  3  .sg.  f.  -j-  suff.  k:  von  ihnen  wurde  ge- 
macht, nämlich  riväyat  die  Ueberlieferung  (r.  k.  —  über- 
liefern; timav  r.  k.  von  welchen  überliefert  wurde  (I  354); 
mih  dat.  pron.  pers.  (II  486);  tih  auch  (quoque);  zun 
aor.  3  p.  impers  v.  zänun  halten  für  (I  403,  46);  numäsib 
(arab.)  adj.  passend .  zweckmäßig ;  zih  wie  oben ;  gudah 
pithah    wie    oben;    küshish    (pers.)    s.  Mühe,    Anstrengung; 


1 )  mit  den  Zahlen  sind  die  Sitzungsberichte  geraeint,  in  welchen 
die  betreffende  Form  erklärt  i.st  (I  =  Sitzungsber.  1887,  II  =  Sitzungs- 
bericlit  1888). 


Bitrl-hard:  Die  Nnmiiia  der  Kannin-Sprache.  515 

daryäft  (pers.)  s.  Einsiclit,  Verständnis ;  karit  absol.  v  karun 
(I  368);  laikhah  1.  pers.  sg.  praes.  von  laikhun  (l(^khnn) 
schreiben:  sa^iib  (arab.)  adj.  vollkommen,  correkt;  päthili 
pl.  11.  V.  päth  m.  Art  u.  Weise  (vergl.  oben  yithah  päthi); 
süruy  kinh  alles,  was;  alles  (II  503);  cänih  pron.  possess. 
abl.  (II  487);  zätrah  wegen  (II  467);  ay  Interject.  (II  452); 
tädil  (arab.)  adj.  trefflich;  Thyüiilus  =  Theophilus ;  bitartib 
adv.  =  bi  (arab.  praepos.)  in  -f-  tartib  Ordnung  =  ordentlich ; 
yiith  Conjuiict.  damit ;  tiinan  dat.  pl.  v.  pron.  dem.  (II  499) ; 
kathan-hinz  gen.  pl.  v.  kath  f.  Wort,  Lehre;  rästi  (pers.) 
f.  Richtigkeit,  Wahrheit;  yiman-hinz  gen.  pl.  v.  pron.  rel., 
abhängig  v.  ta'lim  (arab.)  f.  Unterweisung,  Unterricht:  tsih 
instr.  V.  pron.  pers.  tsah ;  chay  =  cha -(- y  =  ist  dir  (I  317 
u.  II  Anhang  S.  512);  hitsmats  part.  perf.  f.  v.  hyun  nehmen 
(m.  hyutmut)  mit  Bezug  auf  ta'lim ;  zänak  2  pers.  praes. 
von  zänun  kennen  lernen. 

Wörtliche   Uebersetzung. 

Da  von  vielen  der  Gürtel  gebunden  (=  unternommen) 
wurde ,  dass  sie  jener  Thaten ,  welche  unter  uns  sich  er- 
eigneten ,  (dass)  Erklärung  machen  ,  in  der  Weise  wie  von 
denen .  welche  vom  Anfang  an  Selbstsehende  (==  Augen- 
zeugen) und  des  Wortes  Dienstthuende  (=  Diener)  waren, 
(zu)  uns  Ueberlieferung  gemacht  wurde,  .so  erachte  auch  ich 
es  mir  (für  mich)  passend  ,  dass  ich  ,  von  Anfang  an  Mühe 
und  Verständnis  gemacht  habend  (=  angewendet  habend 
=  mit  Fleiß  und  Verständnis)  schreibe  wahrheitsgemäß  (das) 
alles  für  dich  ordentlich,  damit  du  jener  Worte  Richtigkeit 
(Wahrheit),  deren  Unterweisung  von  dir  genommen  worden 
ist  ( =  in  denen  du  unterrichtet  worden  bist),  kennen  lernest. 


34^ 


510  SitzuHf)  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

2.  Bemerkungen  und  Zusätze 

zu   meiner  Abhandlung  über  das  Verbum  der  Kä^miri- 
Spracbe^). 

S.  307  ^f?h  finde  ich  jetzt  in  iü^-^^ghirana  (Lnc.  21 ,  19. 

hindnst.  b^x^  gherna).   —   300  1.   1  v.  o.  T=  ö.  —  311  1. 

> 

1   V.   n.   ist    (j**AJ^    lünanas    Dativ.     —     312    1.    1.  2    v.    o. 

nach  Matth.  13,  30  müsste  es  ^^  marani  st.  ^yo  niaran 
heißen;  dafür  ließe  sich  auch  sagen:  xÄi'j  \XJ^  niaranakih 
vaqtah  zur  Zeit  des  Sterbens.  —  313  1.  5  v.  n.  verstärkt 
auch  xÄx  niatah  statt  äxi  mah.  —  Die  1.  pers.  pl.  des  Imperativs 
drü(tkt  auch  eine  Aufforderung  aus ,  z.  B.  ^>.5  karav  lasst 
uns  thun,  —  313  1.  9  v.  o.  der  Infinitiv  hat  oft  nur  die 
Endung  jj  "  ani  statt  au  '  anih,  z.  B.  ^^  ^-^^^  t5^"^***^ 
susti  gatshi-na  karani  man  soll  nicht  lässig  sein.  —  313  1. 
12  V.  o.  wie  ^J^^  lagun  wird  auch  jj-Jo  tagun  fähig  sein, 
können  behandelt.  Infinitive  als  Ergänzungen  eines  Sub- 
stantivs werden  durch  die  vom  nom.  act,  gelnldeten  Ad- 
jectiva  auf  ^  '  uk  ausgedrückt,  z.B.  f^^=^  vib^  karauuk 
hnkm  Befehl  zu  thun.  -  31.'»  1.  fi  v.  u.  ji-l^  ^'  ay  käsh 
=  ntinam,  z.  B.  ^i^j'^  J^^  ^^  ay  käsh  zänahak  mikhtest 
du  doch  wissen.  —  327,  3  v.  o.  natürlich  ä>J  yita  nicht  ^.lio  yita. 
—  334,  2.  Abth.    Mp.  hat  ^^    —    «^  tsi    -   chat ,    Np. 


1)  Sitzungsberichte  1887  I.  Bd.  Heft  3. 


Burkhiint:  Die  Nomina  der  Kch^iniri-Sprache.  5w 

iiber  i^^  —  ^^^  tsi  —  cliay.  —  350  das  Intransitivian 
kann  im  impersonalen  Sinne  ebenso  behandelt  werden,  z.  B. 
^^5  viulun  weinen,  ^j  vud  er  weinte,  ^J^y  vudun  es  wurde 
von  ihm  geweint  (Luc.  19,41).  —  351  1.  1—3  v.  u.  ^ 
liits,  ^  tij  ,  ^^s-S^  hie  zu  schreiben.  —  355 — 358  bei  der 
sut'iixirten  V'erbaltbrni  «rewöhnlich  ohne  [vä  tami  und  ^-»J 
timav,  z.  B.  itJ  ^yS  ^  tami  kurus  bu  oder  äj  (j*^^  ku- 
runas  bu.  —  35(3  u.  358  f.  «♦J"  timah  statt  ^  tim;  35(5  erste 
Spalte  mi  süzi(ma)va  tuhi.  —  359,  3.  Abth.  1.  0  v.  u.  natürlich 
ÄÄ  tsi  statt  &>«  mi.   —   360 ,    2.  Abth.   1   v.  o.    und    3  v.   u. 

ü 

^O  dits   statt  _  t>  ditsa    und   &ä»^  ditsa;    4.  Abth.    3  v.   u. 

ditsah.     Neue  Tabelle  zu  360    siehe   am  Ende.  —  307   1.   5 

V.   u.  und  368   1.   6  v.  o.    schreibe   *5)^    süzihih,     asaysy^ 

süzizihih  u.  s.  w.  —  371  1.  5  und  7  v,  o.  Np.  hat  Luc.  13,  12 

viL"j-yLCo  mukaleyak,  somit  könnte  auch  jw^-y^^-gj  khütseyas 

und  viLxA^^»^  khütseyak  geschrieben  werden  ;  1.  5  v.  u.  ^ 

th  ist  zu  <:j  t  zu  setzen,  also  e.»  t  ^'  th  in   ^  ts  .^^  tsh ; 

darnach   auch  Z.  2   v.  u.  «-g-^fp^««   matsh;  ferner:   O  d  aus  \  z 

entstanden  kehrt  im   Femin.  zurück  ,   z.  B.  ^)^)   rCizun,  aor. 

3.  s.  m.  O^j   rüd  f.  )^>   rüz  (nicht  -.^^   rüj).   —  372    1,  2.  3 

> 
V.  o.  ^>sci  hie  und  iLg-s^   buch.  —  375  1.  5  v.  o.    und   1.  12 

V.  o.  [»g  g';»  chuham  ,    j**.g-§^  chuhas    und    ^^  (;7>  chuiian 

nach  S.  319,  P.   -    376  1.  9.  10  v.  o.  Im  Aor.  auf  ;  v  fällt 


518  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

5  V  vor  Suffixen  ab ,  z.  B.  jl  äv  -(-  l/'  s  =  ijJ  äs,  +  w  k 
=  ^t  äk ;  ^k  zäv  (v.  ^\  zyun)  +  j*-  s  =  fjJ'^  zäs,  daher 
*Jt  äk  =  du  kamst  und  er  kam  ihnen;  aber  y  äv  4-  Suff. 
^  y  wird  ^j'  üy  er  kam  dir,  z.  B.  <X*-w*J  ,^  ^^j*  ^  tsi 
yiy  üy  pasand  das  eben  gefiel  dir.  —  378  1.  2  v.  u.  Caus. 
statt  Cond.  —  Cond.  ^j*jS>'^yM  süzihas  er  würde  ihm  schicken, 
tjtj-^.^  diyihas  er  würde  ihm  geben.  —  385  1.  4  v.  u.  diyin 
st.  diyis ;    Note  2 :    wir  geben    statt  ich  gebe ;    auch  gehört 

natürhch  Note  2  zu  dimün,    nicht  zu  diman.   —  395.  ^j^ 

>   f  - 

hyun  hat  im  part.  perf.  ci^-ÄxiC  hyutmut  f.  (Luc.  1 , 4)  ^♦^-»J» 

hitsmats.  —  400  l.  3  v.  o.  Marc.  15,  13  ^  tuj.  —  401 
1.  3  V,  o.  fem.  statt  masc;  1.  5  v.  u.  m.  f.  vor  *i*-«-^  chunik. 
—  402  1.  4  V.  o.  ihm  —  ihm  st.  ihnen.  —  405  l.  2 
V.  ().  von  ihm  —  euch  st.  von  euch.  —  407  1.  0  v.  u.  *"§^^~^ 
buchih.  —  409  l.  3  v.  o.  3  s.  impers.  st.  f. ;  1.  4  v.  u.  von 
ihm  st.  von  ihm  (ihr),  ihnen;  1.  3  v.  u.  ,j^  nin,  nicht  niyan 
(vergl.  Tabelle  am  Ende).  —  410  1.  8.  9  v.  o.  x^j  vutsh 
und  *^~^^  vutshah.  —  411  1.  11  v.  o.  ,j^  vani.  —  412 
1.  2  ^  hie. 

Das  Perfect  und  Plusquamperfect,  welches  auf  den  Aorist 
nach  S.  300  folgen  sollte ,  richtet  sich  ganz  nach  dem 
S.  355— 358  au.sgeführten  Aorist,  z.  Fl  aor.  iu«  ^j^V**'  ^ 
tuhi  süzva-n  su   von  euch   wurde  er  geschickt  =  ihr  schicktet 


Burkhfird:   Die  Nomina  der  Kärniiri-Sprnchc. 


.19 


ihn.  j)erf.  ox\«-**^  Smj  ^^y-^  ^  tiilii  chuva-)i  su  süzmiit 
von  euch  ist  er  geschickt  worden  =  ihr  habt  ihn  geschickt, 
plusqu.  v;;^uev«-u<  Xw  ^y^'y  *j"  tuhi  üsva-u  su  süzmut  von 
euch   war  er  geschickt  worden  =  ihr  hattet   ilm  geschickt; 

—    aber    auch    (j<*  ^^   o^v^   au    jw    tanii  bu    süzmut  chus 

'      '      '       -     j      - 

von  ihm  bin  ich  geschickt  worden  statt  o'-ox^-w  au  j*>.x^afc  aj 

tami  chun-as  bu  süzmut.  (was  wohl  mit  diesem  Suffix  nicht 
vorkommt). 

Zu  S.  359—360. 

t^j-^    hjun    nehmen    richtet    sich    im    Aor.    ganz    nach 
^t>  dyun   iS.  359);    (jJ^  zyun    geboren    Averden    nacli    ^jJ 

yun  (1^.  328).     Es  folgt  hier  der  Aorist  von  dem  transitiven 

' .  ...  ' 

^j>-o  nyun   und  dem  intransitiven  ^;»^  py^u. 

a)  1^^^-;^  nyun   weguehnjeii. 

Das  Subject  im 
Singrular 


:  1. 


m. 
j»^-ö    aw      Uli  iiyüm 

l«^-ö  nyüm 

y:i>^-iJ    ÄÄ.  tsi  nyüt 
<:j>y^  nyüt 


(WjJ    &x>       mi   niyam 
|V-ö  niyam 

>.:>.AJ    *^    tsi  niyat 
nivat 


520          Sitzmuj  der  iihiloH.-philol.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

(yj)  yjJ>    *J'  tanii  niv^)  (niv)  x-ö    (VJ"       tami   niyah 

Ur^              nyün  ^^           niyan 

^AJ    iu«l         asih  nyü  ^uJ    ä^I     asih  niyah 


I   3 


•"   3.  , 


2. 


s;^   ? 


s^yn 


2U 


tuhi  nyüva 
nyüva 


s^-ö   &j      tuhi  niyava 
5^-^  niyava 


(.j)  yjJ  m^  tiniav  niv  (niv)        *-ö   ^     tiinuv  niyah 
nyük  ^AJ  niyak 


J^ 


Plural 


[vy    ^^       ini   nim  (v^j    iw       mi   niyani 

|vAi  nun  /v^  niyain 

o-ö    Ä^    tsi   nit^)  ^■^^    *T^    tsi   niyat 


nit 


v:>jo 


niyat 


1)  Np.  Luc.  4,  5   j-ö!     ii)  'j-Vt*    '^^)    '«i>-^    '^  *'^'  "'t  '"'^ti  chiz 
von  dir  wurden  i'ute  Sachen  {benommen  =  du  erhieltest  Gutes. 


_a     3. 


1. 


<U        Q 


^  3. 

c 


Burkhard:  Die  Noiiihni  der  Kchpniri-Sprache.  521 

^    l*j'        tanii  niy  &-ö    *J       ttinii  niyah 

^j^  niii^)  ^^^-^  niyan 

^j    iu«f     Hsih  niy  *-;y    »^i     asih  niyah 


s^-aJ    &ji"  tnlii   niva  »v^J    äj>  tuhi  niyava 

s*>fj  niva  s«^  niyava 

^  ^^"  tiniav  niy  &>jj  ^^'  tiniav  niyah 

»iLö  nik  »iLö  niyak 


So  die  transitiven  Verba  .-y-*;-^  khyun  essen  nnd  t^j-^ 
cyun  trinken;  z.B.  ,^^-^-g^  khyün ,  ^j>>j4>  khiyan.  Doch 
finde  ich  auch  aor.  3.  sg.  y>r^  khyav  und  yj^  cyav ,  f. 
ÄAJw^khyayih  st.  Ä-v^^'khiyah,  pl.  ni.  ^^^A^khyay  f.  «-y?^ 
khyayih  nach  ^  gav  (S.  330). 


3)  v«jLä.    Xj    ^^vÄJ    i^W-^  nin  panani  bah  tsät  von  ihm  wurden 


522  Sitzuny  der  philos.-philol.  Classe  com  5.  Mai  1888. 

h)  (j-^  pyi^iii  fallen. 
Singular 


ra.  f. 

1.  (j^^-!^  pyüs  ij**^  Py^s 

2.  (^)   w^>jj  pyAl<   (pik)  *^^    pyak 

3.  (^j  ^/o        pyuv  (piv)  iuj      piyih 

IMural 
111.  f. 

2.      (s^-S?)   *5.J^    i)yüva  (pyiiva)  s^-*j  piyiva 

^-      <s^  P'y  *^     l'iyili 


523 


Nachtrag 

zu  der  Abhandlung  des  Herrn   Eugen  Oberhunimer   über 
Griechische  Inschriften  aus  Cypern. 

Zu  S.  309  A.  1.  Kit  10 1  setzt  die  Septuaginta  mehr- 
mals für  C^P'^,  welches  etymologisch  mit  phön.  ^nr  =  Khiov 
zusammenhängt,  1)  so  Dan.  11,  30,  I  Chron.  1,  7  (v.  1. 
Kr^Tioi,  wie  Gen.  10,  4).  Ein  Ethnikon  KiTLoiog  (von  Kkiov) 
findet  sich  Marc.  act.  Barn.  17  in  Act.  apost.  apocr.  ed. 
Tischendorf  p.  70,  coli.  Act.  Lazar.  in  Act.  Sanct.  (23.)  Febr. 
t.  Ill  p.  393  §  12,  LXX  Num.  24,  24,  Jes.  23,  1;  Kitzaloi 
Jos.  ant.  Jud.  IX  14,  2;  fem.  Kniäg  Inschr.  bei  R.  Kekule, 
Die  antiken  Bildwerke  im  Theseion  S.  39  N.  76  u.  Rev. 
arch.  N.  S.  XXIX  (1875)  p.  98  n.  6. 

Zu  S.  310  A.  1.  Den  Stellen  über  das  Erdbeben  ist 
beizufügen  Hist.  Mise.  IX  6  (imp.  Vesp.  a.  9);  Marian. 
Scot.  chron.  a.  83  (Vesp.  9);  Hermann.  Contr.  chron.  a.  79; 
Otto  Fris.  chron.  III  18  (imp.  Vesp.  9). 

Zu  S.  311  A.  3.  nojchog  '^oviog  Bei^vg,  gen.  Bel- 
i^vdog,  Inschr.  von  Galhpoh,  Movo.  x.  ßißXioi^.  t.  evayy. 
axoL  (ev  2^iQvi])  ^isq.  II  et.  2/3  (1876—78)  o.  61  dq.  144. 

Zu  S.  332  A.  1  u.  2  vgl.  Letronne,  Rech.  p.  servir 
ä  l'hist.  de  TEgypte  p.  58,  321  ss.,  267  ss.,  ferner  K.  Cless 
bei  Pauly  VI   1   S.  231  M.  u.  S.  193  a.  E.,  Droysen,  Gesch. 

1)  Vgl.  hierüber  besonders  F.  Lenornumt,  Kittim,  etude  d'ethno- 
graphie  biblique,  in  der  Revue  des  questions  hist.  t.  XXXIV  (1883 1 
p.  225—246. 


524  Sitzung  der  phüos.-pMM.  CInsse  vom  5.  Mal  1888. 

d.  Hell.    IIl   P  43  f.,    56  f.    über    die    Titel    ovyyEviqg,    twv 
TtQtüTtov  cptXcov,  GTQaTrjYÖg. 

Zu  S.  333.  Der  Tod  des  Seleukos  und  die  Statthalter- 
schaft seines  Sohnes  Theodoros  über  Cypern  ist  doch  wohl 
noch  in  die  letzten  Jahre  der  Regierung  des  Ptoleinaios  Vlil. 
Euergetes  IT.  Physkon  (f  117)  zu  setzen.  Denn  sogleich 
nach  der  Thronbesteigung  des  Ptoleniaios  X.  Soter  II. 
Lathyros  wurde  dessen  jüngerer  Bruder,  Ptolemaios  XI, 
Alexandros  l.  zum  Statthalter  (oTQaTrjyog)  über  Cypern 
gesetzt,  woselbst  er  dann  im  J.  114  den  Königstitel  annahm, 
s.  Paus.  I  9,  1;  Porphyr.  Tyr.  reg.  Aeg.  3  (Müller  FHG 
III  721);  Letronne,  Kech.  p.  servir  a  l'hist.  de  l'Eg.  p.  110, 
ßecueil  d.  inscr.  gr.  et  lat.  de  l'Egypte  I  p.  59  ss.;  S.  Sharpe, 
Gesch.  Egyptens,  deutsch  v.  Jolowicz  II  S.  2;  K.  Cless  bei 
Pauly  VI  1  S.  224;  Engel,  Kypros  I  422  f,;  R.  St.  Poole, 
Cat.  of  Gr.  Coins.  The  Ptolemies    P.  LXXVI. 

Zu  S.  337.  Den  Namen  '!A7iq^Lov  linde  ich  zufällig 
noch  in  einer  Inschrift  aus  Smyrna  (Kaiserzeitj,  Movo.  x. 
(iißl.  T.  evayy.  o^ol.  {bv  ^f.wQvrj)  7itQ.  V  (1884/85)  o.  2 
dq.   196. 

Zu  S.  338  a.  E.  Ueber  die  Kinyraden  vgl.  noch 
G.  Busolt,  Griech.  Gesch.  I  295  A.  4. 

Zu  S.  344  A.  1.  Erst  nachträglich  Hnde  ich  eine  in- 
teressante Belegstelle  zu  dem  in  C  erwähnten  Hippodrom. 
In  den  Akten  des  Apostels  Barnabas,  welche  den  Namen 
des  Marcus  tragen^)  und  wichtige  Nachrichten  über  die 
Topographie  von  Cypern  enthalten,  heisst  es  nämlich  (§  23 
Tisch.):  —  oi  'lovdaioi  Xaßövxeg  xov  BaQvaßav  vv/.TÖg  tdyoav 


1)  Im  Urtext  zuerst  (nach  cod.  Vat.  1667)  herausfjegeben  von 
dem  Bollandisten  Daniel  Papebroch  in  Acta  ISanctorum  Jun.  11 
(Antwerp.  1698)  p.  431 — 436,  dann  auf  Grund  des  älteren  und  besseren 
cod.  Paris.  1470  von  Konst.  Tischendorf  in  dessen  Acta  apostolorum 
apocrypha  (Lips.  1861)  p.  64—74,  coli.  p.  XXVI— XXXI. 


Oherhummer :  Griech.  Inschrifte»  aus  Ci/pern  (Nachtrag).     525 

M'  oyoivuij  y.axa.  xov  Toayr^Xoi',  v.ai  oigaweg  s/rl  xo  inno- 
iiooue'iov  d.ro  r>jc  ovraycoyi^Q  /.cd  negaoarxeg  l'^io  rf^c 
n'ki^g  yieQioxavteg  y.aih.avoav  avxov  nvQi  xtA.  Hieraus 
ergibt  sich  zunächst,  dass  der  Hippodrom  nahe  der  Stadt- 
mauer, und  zwar  noch  innerhalb  derselben  gelegen  haben 
nuiss:  die  Richtung,  in  welcher  die  Begleiter  des  Barnabas 
entfliehen  (§  24  s.),  zeigt  ferner,  dass  wir  den  Hippodrom 
im  Westen  der  Stadt  zu  suchen  haben,  was  mit  dem  Aus- 
gangspunkt der  "Wasserleitung  völlig  in  Einklang  steht. 
Letztere  Richtung  wird  ausdrücklich  bestätigt  durch  die 
zweite  Hauptquelle  über  das  Leben  des  Barnabas,  welche 
den  cyprischeu  Mönch  Alexander  zum  Verfasser  hat^)  und 
über  die  Vorgänge  nach  der  Ermordung  des  Apostels  folgen- 
des berichtet  (p.  445  §  29):  Mdg-Aog  xaxd  xd  diaxexay^iva 
avxw  e^ek^iov  i'^io  xrig  7r6Xecüg  -/.axd  ovo /.tag  itexa  xlvmv 
ddehfön'  y-QVfffj  ovvsxoiuoav  x6  Xeixl'avov  xov  dyiov  Baqvaßa 
y.ai  i^dx''avxeg  fv  orrtfAaia),  log  dno  oxaSnov  ntvxe  xrß 
noXeiog  dveyiöor^oav  /.x'L  Diese  Angabe  stimmt  mit  der  Lage 
des  (römischen)  Grabes,  in  welchem  unter  der  Regierung 
des  Kaisers  Zeno  (474—91)  der  Leichnam  des  Apostels  auf- 
gefunden wurde ;'-^)  dasselbe  befindet  sich  unter  einer  Kapelle 
in  einem  Felde  östlich  vom  Kloster  des  hl.  Barnabas,  das 
von  Salamis  nach  W.  zu  1   engl.  Meile  entfernt  ist. 

Zu  S.  345.  Einen  Erzbischof  Plutarchos  erwähnt 
die  Chronik  des  Leontios  Machairos  edd.  E.  Miller  und 
C.  Sathas  (Paris  1881)  p.  18. 

Zu  S.  345  f.  Zur  Stütze  des  obigen  chronologischen 
Ansatzes  möchte  ich  noch  auf  die  Eroberung  Cyperns  durch 

1)  Herausgegeben  von  Papebroch  a.  a.  0.  p.  436—52. 

2)  Hauptquelle  für  dieses  Ereignis,  -welchem  die  Kirche  Cyperns 
ihre  Unabhängigkeit  verdankt,  ist  der  obengenannte  Mönch  Alexander 
(11.  p.  447  SS.):  andere  Quellen  s.  bei  0.  Braunsberger,  Der  Apostel 
Barnabas  (Mainz  1876)  S.  124  fl".,  zu  deren  Ergänzung  ich  citiere 
Georg.  Cedren.  p.  353  a  Far.  (I  6  18  s.  Bonn.)  ad  a.  imp.  Zen.  4,  Joel 
chron.  p.  172  b  c  Par.,  Not.  ep.  1  1050  Partbey,  Nil.  Dox.  176  Parthey. 


526  Sitzumj  der  philos.-phüol.  Classc  vom  5.  Mai  J888. 

den  arabischen  Feldherrn  Miiawia  im  J.  647  (oder  648)^) 
verweisen,  nach  welcher,  wie  bereits  Kirchhoif  zu  C.  I.  Gr. 
n.  8663  bemerkt  hat,  schwerlich  mehr  grosse,  gemeinnützige 
Bauten  auf  der  Insel  unternommen  wurden. 

Zu  S.  346.  Die  älteste  Nachricht  über  die  Wasser- 
leitung und  ihre  Herleitung  von  Kythräa  aus  neuerer  Zeit 
gibt  wohl  Stephan  von  Lusignan  in  seiner  Beschreibung  von 
Cypern*)  fol.  12  a:  „Et  perche  questa  cittä  (sc  Salamis- 
Constantia)  haveva  cattive  acque,  conducevano  le  acque  di 
Chitria  con  li  acquedutti  ä  modo  di  Roma:  et  la  portavano 
dentro;  et  era  discosta  Pacqua  10  leghe:  et  si  veggiono 
anchora  li  acquedutti,  et  la  cisterna  over  conserva" ;  und 
fol.  16b:  „Chitri  —  ha  —  una  fönte  grossa  —  questa  fönte 
la  conducevano  giä  anticamente,  in  Salaraina,  come  dicemmo." 
Mit  der  ,cisterna'  ist  jedenfalls  das  S.  347  beschriebene 
Reservoir  gemeint. 


1)  Wegen  der  abweichenden  Angaben  der  arabischen  Historiker 
über  das  Jahr  der  Eroberung  vgl.  Gust.  Weil,  Geschichte  der  Chalifen 
Bd.  I  S.  160  A.  2  u.  Bd.  111  Anhang  I  S.  II. 

2)  Chorograffia  et  breve  historia  universale  dell'  isola  de  Cipro 
—  per  il  —  Fr.  Steffano  Lusignano  di  Cipro.  In  Bologna  1573.  4. 
Eine  französische  Ausgabe  des  Buches  erschien  u.  d.  T.:  Estienne  de 
Lusignan,  Description  de  tonte  lisle  de  Cypre  etc.  Paris.  1580.  1. 
Ueber  den  Verfasser  vgl.  A.  Duplessis  in  der  Biogr.  Univers.  nouv. 
^d.  t.  XXV  p.  492.  

Während  der  Korrektur  des  Nachtrages  werde  ich  durch  eine 
Zuschrift  von  Herrn  Major  J.  Chamberlain,  Privatsekretär  S.  Exe. 
des  Hochkommissärs  von  Cypern,  auf  zwei  durch  irrige  Angaben  in 
der  Literatur  veranlasste  Ungenauigkeiten  aufmerksam  gemacht, 
welche  ich  mit  verbindlichstem  Danke  gegen  den  verehrten  Einsender 
hiemit  berichtige.  Die  Moschee,  bei  welcher  sich  der  Sarkophag  mit 
der  Inschrift  N.  5  (S.  314)  befindet,  heisst  nicht  ^.leni-Dschami" 
(d,  i.  ,Neue  Moschee"),  sondern  „Serai-Dschami"  (von  dem  nahen 
Serai  oder  Konak),  unrl  die  S.  340  N.  2.3  erwähnte  Kathedrale  von 
Famagusta  führt  nicht  (wie  diejenige  von  Nikosia)  den  Namen 
,H.  Sophia",  sondern   ,11.  Nikolaos". 


527 


Namen-Reorister. 


van  den  Bergh  (Nekrolog)  299. 
V.  Brinz  (Nekrolog)  268. 
Burkhard  444. 

Carlson  (Nekrolog)  277. 
V.  Christ  349. 

V.  Döllinger  248. 

Fleischer  (Nekrolog)  263. 
Friedrich  54. 

V.  Giesebrerht  268. 
Gozzadini  (Nekrolog)  297. 
Gregore  vius  141. 
Groth  304. 

V.  Löher  216. 
Lossen  159. 

Oberhuiumer  305,  523. 

Pott  (Nekrolog)  248. 
V.  Prantl  248. 

V.  Reuraont  (Nekrolog)  288. 
V.  Riehl  86. 

Ad.  Schmidt  (Nekrolog)  280. 

Scholl  1. 

Stobbe  (Nekrolog)  300. 

Unger  443. 

Yischer  (Nekrolog)  255. 

Wecklein  87. 
West  399. 
Wölfflin  197. 


i28 


Sach-Recister. 


Athen 's  Besitznahme  durch  Venedig  141. 

Brautkrone  der  Prinzessin  Hedwig  86. 

Cypern,  griechische  Inschriften  30.5,  523. 

Decretale  des  Papstes  Gehisius  54. 
Dolmenbauten  216. 

Euripides'  Tragödien  87. 

Gelasius  Papst  54. 

Hedwig,  polnische  Prinzessin  86. 

Inschriften,  griechische  aus  Cypern  305.  523. 

Kä9miri-Sprache,  die  Noraina  der  444. 
Krieg  und  Frieden  im  röm.  Sprichworte   187. 
Krystalle,  Molekularbeschaftenheit  der    3()<1. 

Nuntiatur  in  Köln    151). 

Pahlavi-Literatur   399. 
l'hidias,  Prozess  des    1. 

Religiöse  Freiheit    248. 
Römische  Zeitrechnung    443. 

Spricliwort,  rfiniischcH  über  Krieg  und   Frieden    187. 

Venedig,   Besitznahme  Athfn's    111. 


Sitzungsberichte 

der 

philosophisch -philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  M^ünchen. 


Jahrgang   1888. 


Zweiter  Band, 


München 

Verlag  der  K.  Akademie 
1889. 

In  Commission  bei  G.  Franz. 


Inhalts -Ueliei'sicht. 


Die  mit  '  bezeichneten  Abhan(lluii;.'in  sind  in  den  .Sitzungsberichten  nicht  abgedruckt. 

Oeff entliche  Sif^nnt/   zu  Ehren    Seiner  Majestät   des  Königs   und 
Seiner  König!   Hoheit  des  Prinzregenten  am  27.  December  1888. 

Seite 

*v.  Döllinger:  üeber  den  Antheil  Nordamerikas  an  der  Literatur  395 
'f.  Planck:   Ueber  die  historische  Methode  auf  dem  Gebiete  des 

Civilprozessrechtes ^"" 

Wahlen  395 


P  li  i  1  u  -  o  p  li  i  s  c  h  -  p  h  i  1  o  1  (j  g  i  s  c  h  e  C  l  a  s  s  e. 

Sitzung  vom  2.  Juni  1888. 
*v.  Prantl :   Ueber  die  Literatur  der  Logik  im  16.  und  17.  Jahr- 
hundert      ^23 

Sitzung  com  7.  -hdi  1888. 

V.  Brunn:    Ceber  Giebelgruppen 171 

Römer:    Studien    zu  der  handschriftlichen  Ueberlieferung   des 

Aeschylus  und  zu  den  alten  Erklärern  desselben  .  .  .  201 
Sittl:    Mitteilungen    über    eine  Iliashandschrift    der   römischen 

Nationalbibliothek 255 

Sitzung  vom  3.  November  1888. 
K  e  i  n  z :   Beiträge  zur  Neidhart-Forschung 309 

Sitzung  vom  1.  Dccemtier  1888. 

Weck  lein:    Ueber    die   Text  Überlieferung   des   Aeschylos   und 

anderer  griechischer  Tragiker 327 


IV 

Historische  Classe. 

Sitzung  vom  5.  Mai  1888. 

Heigel:    Die   Gefangenschaft    der    Söhne   des   Kurfürsten    Max 

Emanuel  von  Bayern  1705 — 1714 1 

V.  Reber:    Beiträge  zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen 

Epoche 79 

Sitzung  vom  2.  Juni.  1888. 

V.  Rockinger:  Ueber  die  Benützung  des  sogenannten  Brachy- 
logus  juris  romani  im  Landrechte  des  Deutschenspiegels  ? 
und  des  sogenannten  Schwabenspiegels       123 

*v.  Druffel:  Ueber  Luther's  Brief  an  Chursachsen  und  Hessen 
wegen  des  gefangenen  Herzogs  von  Braunschweig  (s.  Nach- 
trag S.  279) 160 

*Stieve:    Ueber  die  Wittelsbacher  Briefe 160 

Sitzung  vom  7.  Juli  1888. 
*Co melius:    Ueber  die  Herzogin  Renata    von  b'errara    in  den 

Jahren  1528—1548 278 

Nachtrag  zur  Sitzung  vom  2.  Juni  1888. 
V.  Druffel:    Ueber  Luther's  Schrift  an  den  Kurfürsten  Johann 
Friedrich    von  Sachsen  und    den  Landgrafen  Philipp  von 
Hessen    wegen    des    gefangenen    Herzogs    Heinrich    von 
Braunschweig.    1545       •     •     279 

Sitzung  vom  3.  November  1888. 
*Gregorovius:    l'eber  die  Legende  vom  Studium  der  Wissen- 
schaften in  Athen  im  12.  Jahrhundert 327 

Sitzung  vom  1.  Der.cmber  I8S8. 
IJiezlcr:     Die  Vermählung   Herzog   Albrechts  IV.    von   Bayern 

mit  Kunigunde  von  Oesterreich -^75 

pjnsendungen  von  Druckschriften 161,  397 

Register ....     411 


Sitzuiigsbericlite 

der 

köniffl.   baver.   Akademie  der  Wissenschaften. 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  5.  Mai  1888. 

Herr  Heigel  hielt  einen  Vortrag: 

„Die  Gefangenschaft  der  Söhne  des  Kurfürsten 
Max  Emanuel  von  Bayern   1705  — 1714." 

Geschichtliche  Darstellung  entbehrt  des  edelsten  Vor- 
zuges, wenn  sich  nicht  herzliche  Vaterlandsliebe  des  Ver- 
fassers darin  kund  giebt.  Einseitig  patriotische  Tendenz  da- 
gesfen  ist  eine  cjefährhche  Feindin  der  Wahrheit.  Ein  lehr- 
reiches  Beispiel  bietet  die  Geschichte  Bayerns  in  der  Epoche 
des  spanischen  Erbfolgekriegs. 

Es  ist  leicht  begreiflich,  dass  auf  das  Urteil  der  Zeit- 
genossen der  Bann  peinlicher  politischer  Verhältnisse  schäd- 
lich wirkte ;  allein  auch  spätere  Darstellungen  sind  nicht  frei 
von   Willkür  und  Uebertreibung. 

Nicht  bloss  findet  fast  nirgend  das  reichsfeindliche  Ver- 
halten Max  Emanuels  verdiente  Verurteilung;  auch  in 
Schilderung  der  Leiden,  welche  Land  und  Volk  nach  der 
Höchstädter  Niederlage  heimsuchten ,  wurde  häufig  nach 
eiuem    bestimmten  Zweck    hingearbeitet:    gegen  Oesterreich, 

1888.  Philoa.-philoI.n.hist.Cl.  II.  1.  1 


2  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

das  damals  die  Wehrlosen  und  Unschuldigen  so  grausam  ge- 
peinigt habe  und  allzeit  der  gefährlichste  Widersacher  seiner 
Nachbarn  geblieben  sei,  Stimmung  zu  machen.  Es  sei  nur 
erinnert  an  Christoph  von  Aretin,  der  die  Passionslegende 
vom  Jahr  1705  ein  Jahrhundert  später  zu  rheinbündlerischer 
Propaganda  ausbeutete,  und  an  Hormayr,  dessen  Schriften, 
soweit  dieselben  nach  der  Festungszoit  von  Munkats  verfasst 
sind,  leidenschaftlichste  Gehässigkeit  gegen  sein  Vaterland 
Oesterreich  verrathen.  Von  Beiden  gilt  Lessing's  Verdict 
über  jene  Historiker,  die  ^sich  kein  Gewissen  daraus  machen, 
ihre  Vermuthungen  für  Wahrheit  zu  verkaufen  und  die 
Lücken  der  Zeugnisse  aus  ihrer  Erfindung  zu  ergänzen." 

Nicht  besser  steht  es  mit  den  sogenannten  volksthüm- 
lichen  Erzählungen,  deren  Verfasser  ihrer  Tendenz  und  ihrer 
Phantasie  die  Ergründung  des  objektiven  Thatbestandes  un- 
bedenklich unterordneten. 

So  gleicht  heute  die  Geschichte  jener  Episode  einem 
Palimpsest;  es  ist  fast  unmöglich,  die  ursprüngliche  Schrift  unter 
der  jüngeren  zu  erkennen.  Gewiss  wäre  es  aber  an  der  Zeit, 
an  Stelle  jener  apriorisch  beeinflussten  Darstellungen  durch 
kritische  Benützung  des  urkundlichen  Materials  eine  rein 
sachliche  Darlegvnig  der  Ereignisse  zu  setzen  ^). 

Hiezu  soll  diese  Abhandlung  einen  kleinen  Beitrag  bieten. 
Sie  wird  beweisen,    von  welchen   Unwahrheiten    und  Ueber- 

1)  Die  Schrift  A.  Schäf'tier's  ,l)ie  oberbayrische  Landeserhebung 
im  Jahre  1705"  geht  leider  nur  auf  den  Karnj^f  bei  Sendung  und  die 
Sage  vom  Schniiedbalthes  ausführlicher  ein;  die  vorausgehenden  und 
nachfolgenden  Vorgänge  werden  nur  skizzirt.  Eine  höchst  dankena- 
werthe  Arbeit  ist  G.  Ratzenhofer's  „Geschichte  des  Feldzugs  von  1704" 
(Feldzüge  des  Prinzen  Fugen  von  Savoyen,  hersg.  v.  der  Abtheilung 
für  Kriegsgeschichte  des  k.  k.  Kriegsarchives,  1.  Serie,  VI.  Band),  aber 
die  nicht  militärischen  Ereignisse  konnten  darin  nur  fliiclitig  berührt 
werden.  Das  Nämliche  gilt  von  Staudinger's  Geschichte  des  k.  b. 
2.  Infanterieregiments,  wo  für  Darstellung  der  Feldzüge  Max  Emanuel's 
zum  Erstenmal  das  Quellenmaterial  der  bayerischen  Archive  erschöpfend 
benützt  ist. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  SöJuie  Max  EmanueVs  etc.        3 

treibungen  die  noch  heute  lebendige  Tradition  von  der  Ge- 
fangenschaft der  Söhne  des  geächteten  Kurfürsten  gesäubert 
werden  muss. 

Die  Mittel  zur  Begründung  dieses  Urteils  liefert  das 
archivalische  Quellenniaterial,  das  bisher  noch  von  keinem 
Bearbeiter  berücksichtigt  wurde. 

Als  Hauptquelle  ist  die  im  geheimen  Hausarchiv  7A\ 
München  verwahrte,  umfangreiche  Sammlung  von  Briefen 
Max  Emanuels  an  seine  Gattin  und  deren  Mutter,  die  ver- 
wittwete  Königin  von  Polen,  zu  bezeichnen.  Dankenswerthe 
Ergänzung  bieten  die  im  Münchener  Staatsarchiv  vorhandenen 
Briefe  der  Prinzen  an  ihre  Eltern  und  an  die  Kaiser  Joseph 
und  Karl,  ferner  die  in  der  Münchener  Staatsbibliothek  be- 
findlichen Abschriften  von  Briefen  verschiedener  Diplomaten 
und  Agenten,  endlich  die  im  k.  k.  Haus-,  Hof-  und  Staats- 
archiv zu  Wien  verwahrte  Korrespondenz  zwischen  dem 
kaiserlichen  Kabiuet  und  dem  in  Bayern  eingesetzten  Ad- 
ministrator Maximilian  Grafen  von  Löwenstein  ^). 

Schon  über  den  Abschied  des  Kurfürsten  von  seiner 
Familie  und  die  damit  zusammenhängenden  Staatsaktionen 
enthalten  die  Quellen  manches  Neue ,  sodass  die  Vorgänge 
in  ganz  anderem  Licht  erscheinen,  als  man  sie  bisher  zu  be- 
trachten gewohnt  war. 

Durch  die  Niederlage  bei  Höchstädt  war  Max  Emanuel's 
Kaisertraum  zernichtet,  aber  die  Spannkraft  des  Besiegten 
nicht  gebrochen.  ,ln  der  Nacht  vom  13.  zum  14.  August 
und  in  den  Tagen,  welche  dem  unseligen  Kampfe  bei  Höch- 
stäst folgten,  offenbarte  sich ,  dass,  in  grössere  Verhältnisse 
gestellt,  der  Witteisbacher  Grosses  gewirkt  haben  würde  ^)''. 


2)  Der  Vorstand  dea  k.  k  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchivs,  Excellenz 
Ritter  von  Arneth.  hat  dem  Verfasser  mit  weltbekannter  Liberalität 
Abschriften  der  einschlägigen  Dokumente  zur  Verfügung  gestellt, 
wofür  auch  an  dieser  Stelle  herzlichster  Dank  ausgesprochen  sei. 

2)  Noorden,    Europäische    Geschichte    im  XVllI.  .Ihrh.,    I,  574. 

1* 


4  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  ISSS. 

Diesem  Urteil  Noorden's  stimmt  aucb  der  sachkundige  Ge- 
schichtschreiber der  Feldzüge  des  Prinzen  Eugen  bei  ^).  Es 
macht  in  der  That  einen  eigenthümlichen  Eindruck,  zu  be- 
obachten,  wie  unmittelbar  nach  der  furchtbaren  Niederlage 
der  Besiegte  mit  unerschütterter  Geistesgegenwart  und  Zu- 
versicht aus  den  zerstreuten  Ueberresten  der  Franko-Bavaren 
ein  schlagfertiges  Heer  sammelt  und  nicht  etwa  Abwehr, 
sondern  Angriff  plant,  während  sich  die  Sieger  durchaus 
nicht  zu  gemeinsamen  Massregeln  zur  Ausnützung  ihres 
Erfolges  aufzuraffen  vermögen.  Nur  diese  Lässigkeit  ver- 
hinderte, dass  die  Niederlage  für  den  Bayernfürsten  zur  ver- 
nichtenden Katastrophe  wurde.  Im  Hauptquartier  der  Ver- 
bündeten war  man  einig  in  der  Geneigtheit,  dem  geschla- 
genen Gegner  goldene  Brücken  zu  bauen,  und  in  der  That 
wurden  unmittelbar  nach  der  Schlacht  Unterhandlungen  an- 
geknüpft. 

Am  18.  August  fand  sich  im  Auftrag  Max  Emanuels 
Baron  Zirkenstein  im  Lager  zu  Seefeld  bei  Ulm  ein  ^).  Er 
fragte  an,  ob  der  Kurfürst  auch  jetzt  noch  anter  den  früher 
angebotenen  Bedingungen  mit  dem  Kaiser  Frieden  schliessen 
könnte.  Das  eigenthümliche  Ansinnen  wurde  im  Kriegsrath 
der  Verbündeten  durcluius  nicht  abgewiesen.  Insbesondere 
der  Herzog  von  Marlborough  sprach  mit  wärmstem  Eifer 
für  Aussöhnung  und  Bündniss  mit  dem  Kurfürsten.  Ungarn 
werde  kaum  zu  beruhigen  sein,  ehe  nicht  den  Rebellen  die 
Aussicht  benommen  wäre,  Hilfe  aus  Bayern  zu  erlangen; 
dagegen  könnten,  falls  ein  Ausgleich  zu  Stande  käme,  baye- 
rische Trupi^en  zum  Entsatz  der  schwer  bedrängten  Stadt 
Turin  verwendet  werden,  und  die  Kosten  dieses  Unternehmens 


1)  Feldzüge  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen.  VI,  521,  535. 

2)  Ebenda,  VI,  544.  —  Baron  Zirkenstein  war  vom  Kurfürsten 
schon  vor  der  Schlacht  am  Schellenberg  und  bei  Höclistädt  zu  ge- 
heimen Unterhandlungen  im  kaiHcrliclien  Hauptquartier  verwendet 
worden   (Feldzöge,  VI,  391). 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.       o 

würden  die  Seemächte  bereitwillig  auf  sich  nehmen.  Im 
Allgemeinen  stimmten  auch  Prinz  Eugen  und  Graf  Wratis- 
law  der  Meinung  des  Herzogs  bei :  ein  Beweis,  dass  sie  weder 
eine  dauernde  Behauptung  Bayerns  für  möglich,  noch  die 
Lage  des  Kurfürsten  für  verzweifelt  ansahen. 

Die  alten  günstigen  Bedingungen  könne  man  ihm  nicht 
mehr  einräumen ,  liessen  endlich  Prinz  Eugen  und  Marl- 
borough  dem  Kurfürsten  melden,  doch  werde  man  ihm  sein 
Stammland  ungeschmälert  zurückgeben,  wenn  er  das  Bünd- 
niss  mit  Frankreich  löse  und  seine  Truppen  zur  italienischen 
Armee  der  Verbündeten  stossen  lasse.  Er  möge  nur  selbst 
in  ihr  Hauptquartier  kommen,  dann  werde  es  nicht  schwer 
fallen,  Frieden  und  Freundschaft  zu  schliessen  ^). 

Diese  Antwort  ging  jedoch  dem  Kurfürsten  nicht  zu, 
denn  als  Zirkenstein  aus  dem  Hauptquartier  zurückkehrte, 
hatte  sich  Max  Emanuel  schon  durch  den  Schwarzwald  ver- 
zogen, und  ein  ihm  nachgeschicktes  Schreiben  Zirkeustein's 
wurde  von  österreichischen  Husaren  aufgefangen  und  zurück- 
gehalten ^j. 

Es  ist  jedoch  kaum  daran  zu  zweifeln ,  dass  das  Frie- 
densanerbieten des  Kurfürsten  überhaupt  nicht  ernstlich  ge- 
meint war,  dass  er  nichts  Anderes  damit  bezweckte,  als  einen 
Aufschub  der  Operationen  seiner  Gegner.  Als  sich  bei  Wib- 
lingen,  wo  Max  Emanuel  und  Marsin  am  15.  August  ein 
Lager  bezogen  hatten,  zahlreiches,  von  der  Höchstädter  Wal- 
statt geflüchtetes  Kriegsvolk  gesammelt  hatte,  machte  der 
Kurfürst  den  Vorschlag,  es  sollte  vorerst  die  Verbindung 
mit  dem  an  der  oberen  Donau  stehenden  Marschall  Villeroy 
angestrebt,  sodann  der  Krieg  in  Schwaben  fortgeführt  und 
von    hier   aus    die  Befreiung   Bayerns    angestrebt    werden  ^). 


1)  Vgl.  die  Berichte   des  Grafen  Wratislaw  an  den  Kaiser  vom 
22.  und  25.  August  1704  (Feldzüge,  VI,  865). 

2)  Ebenda,  867. 

3)  Ebenda,  VI,  535.  —  Noorden,  I,  576. 


6  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Allein  Marsin  und  die  übrigen  französischen  Heerführer, 
„der  Kunst  nicht  mächtig,  im  Unglück  das  Haupt  hoch  zu 
tragen  und  im  Muth  der  Verzweiflung  heroische  Entschlüsse 
zu  fassen",  wollten  um  keinen  Preis  mehr  eine  zweite  Schlacht 
diesseits  des  Rheines  wagen,  denn  dies  hiesse  die  Krone  ihres 
Königs  aufs  Spiel  setzen.  Der  Kurfürst  möge  ihnen  lieber 
über  den  Rhein  folgen  ;  der  Besitz  Bayerns  sei  ihm  ja  durch 
das  Bündniss  mit  Frankreich  verbürgt  und  König  Ludwig 
werde  sein  gegebenes  Wort  sicherlich  einlösen  ^).  Damit  sah 


1)  Wenn  man  beobachtet,  wie  kühn  und  umsichtig  damals 
Max  Emanuel  als  Politiker  und  Stratege  die  Pflicht  des  Augenblicks 
erfasste,  während  Marsin  entmuthigt  und  gebrochen  nur  auf  möglichst 
raschen  Rückzug  bedacht  war,  so  berührt  es  wunderlich,  zu  vernehmen, 
dass  gerade  Marsin  am  Kurfürsten  den  Mangel  an  Geistesgegenwart 
und  Festigkeit  tadelte.  Im  Uebrigen  ist  die  Charakteristik,  welche 
der  Marschall  im  Auftrag  seines  Königs  vom  Kurfürsten  entwarf, 
getreu  und  gerecht.  Da  das  interessante  Porträt  (Campagne  de  mon- 
sieur  le  marechal  de  Marsin  en  Allemagne  1704,  II,  143)  bisher  un- 
beachtet geblieben  ist,  mag  es  hier  einen  Platz  finden. 

»Au  camp  d' Magenau,  le  11.  Octobre  1704. 

Sire!  Apres  plusieurs  conversations  avec  Mr.  le  Marechal  de 
Villeroy,  au  sujet  de  Mr.  l'Electeur  de  Baviere,  il  a  trouve  a  propos, 
que  j'eusse  l'honneur  de  rendre  couipte  a  Votre  Majeste  par  cette 
lettre,  de  ce  que  j'ai  pu  connoitre  de  son  esprit  et  de  son  humeur 
pendant  le  temps,  que  j'ai  ete  aupres  de  lui. 

II  est  certain,  que  ce  Prince  est  naturellenient  bon,  att'able  et 
honnete,  d'un  abord  trfes  facile  et  qui  souhaite  ge'ne'ralemcnt,  qu'on 
soit  content  de  lui.  11  a  de  l'honneur  et  de  la  probite,  et  la  seule 
apprehension  de  ressembler  a  Mr.  le  Duc  de  Savoie  suftiroit  pour  le 
rendre  capable  d'etre  fidfele  k  ses  engagements  et  de  garder  sa  parole. 

Mais  conime  en  meme  temps  il  est  tres  foible  et  tres  leger,  il 
est  suHceptible  des  sentimens  et  des  avis  bons  ou  mauvais  de  tous 
ceux  qui  l'approchent,  et  assurement  donne  le  sens  de  celui  qui  lui 
parle  le  dernier. 

La  moindre  lueur  de  prosperite  lui  fait  concevoir  los  plus  hautes 
esperances  et  le  porte  a  entreprendre  plus  qu'il  ne  peut  et  a  hasarder 
beaucoup  dans  la  contiance  du  succes. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.       7 

sich  der  Kurfürst  vor  eine  schwere  Wahl  gestellt.  Seine 
stürmische  Aufregung  giebt  sich  kund  in  einem  Briefe  an 
den  bayrischen  Gesandten  in  Paris ,  Grafen  Monasterol. 
„Bayern  soll  ich  verlassen,  mein  Weib,  meine  Kinder?  Nein, 
ich  will  wenigstens  mein  Weib  und  meine  zwei  älteren  Söhne 
um  mich  haben.     Der  König  von  Frankreich    wird  ja  wohl 


Par  le  nieme  principe  le  moindre  revers  le  jette  dans  l'abatte- 
ment,  de  sorte  qu'on  le  voit  passer  avec  une  legerete  et  une  promp- 
titude  etonnantes,  de  la  plus  grande  joye  a  la  plus  vive  douleur. 

Sa  facilite  naturelle  le  rend  d'une  humeur  bienfaisante,  mais 
quoiqu'il  ait  assez  de  discernement  pour  connoitre  ceux  qui  le  servent 
bien  ou  mal,  coninie  il  ne  fait  ni  re'compenser,  ni  punir,  peu  de  gens 
s'attachent  a  lui,  et  il  n'y  en  a  presque  point  d'entre  ses  sujets. 

Son  peu  de  feiinete  dans  l'esprit,  qui  le  rend  fort  irresolu  et 
fort  eredule  et  susceptible  de  mauvaises  impressions,  avec  de  tres 
bonnes  intentions,  ne  laisse  pas  d'etre  aecompagnee  d'une  tres  grande 
valeur  et  tres  naturelle. 

Ses  Premiers  discours  promettent  plus  d'esprit  que  Ton  ne  lui 
en  trouve  par  la  suite,  dans  lequel  il  y  a  peu  de  solidite;  son 
humeur  est  tres  inegale,  et  il  a  peine  a  garder  le  secret. 

II  est  ne  avec  beaucoup  d'inclination  pour  les  Dam  es  et  aimant 
fort  les  plaisii-s,  qui  peuvent  l'amuser  assez  pour  lui  faire  oublier  les 
])lus  grands  malheurs. 

II  a  une  assez  grande  repugnance  pour  les  aifaires  qu'il  n'aime 
pas  a  traiter  a  fond,  ni  ä  entrer  dans  aucun  detail. 

II  a  ete  autrefois  grand  dissipateur,  ce  qui  a  mis  beaucoup  de 
desordre  dans  ses  atfaires,  et  quoiqu'il  paroisse  presentement  aimer 
extremement  l'argent,  sa  foiblesse  est  teile  qu'il  ne  laisse  pas  de  se 
servir  de  gens  dont  il  sait  certainement  etre  trompe  et  vole. 

Sa  Majeste  peut  juger  par  ce  portrait,  que  rien  n'est  plus  a 
craindre  aupres  de  ce  Prince  que  les  mauvais  conseils  et  qu'il  est 
tres  important,  qu'un  seul  homme  lui  parle  d' affaires,  en  ayant 
d'autres  en  meme  temps  aupres  de  lui  pour  l'amuser  et  ecarter  ces 
donneurs  d'avis,  sans  lesquels  je  ne  le  crois  pas  capaVjle  de  prendre 
de  mauvais  partis,  m'ayant  toujours  paru  bien  intentionne. 

Voila,  Sire,  ce  que  j'ai  pu  connoitre  de  ce  Prince,  dont  Mr.  le 

Marecbal  deVilleroy  a  cru  necessaire  que  j'eusse  l'honneur  d'informer 

Votre  Majeste.    J'ai  l'honneur  etc.  etc. 

Marsin.« 


8  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

sein  Wort  halten ;  meinerseits  ist  gewiss  Alles  treulich  ge- 
schehen, was  ich  versprochen  habe  und  noch  mehr !  Dieses 
Bewusstsein  ist  der  einzige  Trost,  der  mir  meine  traurige 
Lage  erträglich  macht!"  ^) 

König  Ludwig  war  auch  grossniüthig  genug,  den  Fürsten, 
der  um  Frankreichs  willen  Alles  verloren  hatte ,  nicht  em- 
pfinden zu  lassen  ,  dass  ein  Fürst  ohne  Land  nur  noch  ein 
lästiger  Bundesgenosse  sei. 

Von  Minister  Torcy  und  dem  bayerischen  Gesandten 
wurde  in  Versailles  ein  neuer  Vertrag  abgeschlossen,  der  noch 
günstigere  Bedingungen  enthielt  als  der  Allianztraktat  vom 
7.  November  1702.  Frankreich  verpflichtete  sich,  nicht  eher 
die  Waffen  niederzulegen,  als  bis  Bayern  zurückerobert  und 
der  Gewinn  der  Hälfte  Schwabens  und  anderer  Nachbar- 
gebiete gesichert  wäre ;  auch  die  Niederlande  sollte  der 
gegenwärtige  Statthalter  der  Krone  Spanien  als  selbständiges 
Königreich  erhalten '-'). 

1)  Lettre  de  l'electeur  de  Baviere  a  Mr.  Monasterol,  d.d.  au 
camp  de  Wiblingen,  le  16.  aoust  1704  (Original  in  der  Handschrif'ten- 
sammlung  der  Münchener  Staatsbibliothek). 

2)  Traite  entre  S.  Majeste  Tres-Chretienne  et  S.  A.  l'Electeur  de 
Baviere,  d.  d.  Versailles,  le  18.  aoüt  1704  (Aretin,  bayrische  Staats- 
verträge, 330).  —  Es  ist  mir  nicht  glaublich,  dass  dieser  Vertrag 
wirklich  am  18.  August  1704  abgeschlossen  wurde.  Das  Original- 
dokument trägt  zwar,  wie  mir  auf  meine  Anfrage  die  Direktion  der 
Archives  des  affaires  etrangeres  in  Paris  eröffnen  Hess,  wirklich  dieses 
Datum.  Trotzdem  kann  ich  meine  Zweifel  nicht  aufgeben.  Die  erste 
unsichere  Kunde  von  der  Schlacht  vom  13.  August  gelangte  erst  acht 
Tage  später  nach  Paris,  und  es  verstrich  noch  eine  Woche,  bis  ein 
Schreiben  des  Kurfürsten  und  andere  offizielle  Nachrichten  einliefen 
(Feldzüge,  VI,  527).  In  den  Eingangsworten  des  Vertrags  wird  aller- 
dings nur  davon  gesprochen,  dass  der  König  die  guten  Dienste  des 
Kurfürsten  belohnen  und  für  die  Verwüstung  des  Kurfürstenthums 
Genugthuung  leisten  wolle,  allein  diese  Erklärung  ist  sicher  erst  er- 
folgt, nachdem  die  Katastrophe  von  Höchstädt  bekannt  und  vom 
Kurfürsten  unentwegtes  Festhalten  am  Bündnis   gelobt   worden  war. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.       9 

Mehr  als  sein  eigener  Verlust,  schrieb  König  Ludwig 
am  21.  August  an  Marsiu,  schmerze  ihn  die  unglückliche 
Lage  des  Kurfürsten  von  Bayern.  Er  werde  seinem  Bundes- 
genossen nicht  verübeln,  wenn  er  zur  Rettung  seines  Landes 
und  seiner  Familie  ein  Abkommen  mit  dem  Kaiser  treffen 
wolle;  Frankreich  werde  trotzdem  den  Fürsten  als  lieben 
Verbündeten  betrachten  und  allen  vertragsmässig  eingegan- 
genen Verbindlichkeiten  nachkommen.  Falls  aber  der  Kaiser 
keinen  Vergleich  zulasse,  möge  der  Kurfürst  ruhig  in  Flan- 
dern warten ,  bis  ihm  der  Friede  sein  Land  zurückgeben 
werde  ^). 

Max  Emanuel  fasste  jedoch  einen  anderen  Plan  in's 
Auge.  Er  wollte  für  sich  freie  Hand  behalten ,  um  eine 
glücklichere  Wendung  selbst  erkämpfen  zu  helfen ,  hoffte 
aber  Bayern  seinem  Hause  zu  erhalten  und  vor  feindlicher 
Besetzung  zu  bewahren,  indem  er  sein  Geschick  von  dem- 
jenigen seines  Hauses  und  Landes  gewissermassen  trennte 
und  seiner  Gemahlin,  der  Tochter  Sobiesky's,  des  Befreiers 
von  Wien,  die  Regierung  übertrug.  Durch  ein  im  Lager 
zu  Wiblingen  am  17.  August  ausgestelltes,  an  den  geheimen 
Rath  in  München  gerichtetes  Dekret  wurden  der  Kurfürstin 
Therese  Kunegunde  absolute  Gewalt  und  Autorität  zugelegt, 
,bei   gegenwärtiger  hochdero    Abwesenheit    und  Entfernung 


In  einem  Briefe  des  Kurfürsten  an  seine  Gemahlin  d.  d.  Kronschiitach, 
28.  August  17U4  (vgl.  Anm.  3,  S.  13)  wird  die  bevorstehende  Ankunft 
des  bayerischen  Gesandten  in  Paris,  Grafen  Monasterol,  »avec  des 
resolutions  du  Roy  sur  les  points  que  j'ay  proposes«,  angezeigt;  diese 
Worte  können  nur  auf  einen  erst  abzuschliessenden  Vertrag  bezogen 
werden.  Auch  wäre  sehr  auffällig,  dass  ein  am  18.  August  von  Mo- 
nasterol und  den  Käthen  des  Königs  unterzeichneter  Traktat  erst  um 
8.  Oktober  vom  Kurfürsten  (Aretin,  382)  ratifizirt  worden  wäre. 

1)  Lettre  du  Roy  a  Mr.  de  Marsin,  d.  d.  Versailles  le  21.  aoüt 
1704  (Röder  von  Diersburg,  Kriegs-  und  Staatsschriften  des  Mark- 
grafen Ludwig  Wilhelm  von  Baden  über  den  spanischen  Erbfolge- 
krieg, II,  71). 


10  Sitzung  der  histor.  Classe  vorn  5.  Mai  1888. 

von  dem  Lande  die  durchgehende  Regierung  sowohl  in  po- 
liticis  als  militari bus  zu  führen^)." 

Der  Plan  war  klug  ersonnen,  doch  konnte  der  Kurfürst 
nicht  ernstlich  erwarten  ,  dass  die  siegreichen  Feinde  wirk- 
lich den  gesammten  Besitz  der  kurfürstlichen  Familie  respek- 
tiren  und  das  Land  des  geschlagenen  Gegners  solange  vor 
allem  Schaden  bewahren  würden ,  bis  dieser  in  günstigerem 
Augenblick  zurückkehren  und  selVjst  die  Regierung  über- 
nehmen könnte. 

Die  Kurfürstin  hatte  sich  mit  ihren  Kindern  im  Monat 
Juli  nach  Burghausen  an  der  Salzach  geflüchtet ,  war  aber, 
als  kaiserliche  Ti'uppen  das  in  der  Nähe  gelegene  Traunstein 
einnahmen,  nach  München  zurückgekehrt*).  Auf  die  erste 
Kunde  von  der  vSchlacht  bei  Höchstädt  fasste  sie,  obwohl  sie 
sich  in  gesegneten  Umständen  befand ,  den  Entschluss,  mit 
allen  Kindern  eilends  dem  Gemahl  zu  folgen.  In  Memmingen 
wollten  sich  die  Gatten  treffen.  Als  jedoch  Therese  dort 
ankam,  meldete  ihr  ein  Brief  des  Kurfürsten,  dass  er  ge- 
nöthigt  sei,  eine  andere  Richtung  einzuschlagen,  und  auf 
die  geplante  Vereinigung   verzichten  müsse  ^).     Der  Vorsatz, 


1)  Abgedruckt  im  ^Moriiitlichen  Staatsspiegel",  auf  den  Monat 
September  1704,  17.  Unter  den  Sammlungen  der  Acta  Publica  au8 
der  Zeit  des  spanischen  Erbfolgekriegs  nahm  der  „Staatsspiegel"  die 
angesehenste  Stellung  ein.  Als  Herausgeber  wird  in  Paullini's  Curieusem 
Bücher-Cabinet  (IV,  650)  Reinhard  Axtelmeyer  genannt. 

2)  Feldzüge,  VI,  G07. 

3)  Zschokke  (Bayerische Geschichten,  III,  497),  Buchner  (Geschichte 
von  Bayern,  IX,  125)  u.  A.  wissen  den  Abschied  der  beiden  Gatten 
in  der  schwäbischen  Reichsstadt  Meramingen  auszumalen.  Zwar  be- 
richtet auch  wirklich  ein  im  Allgemeinen  wohl  unterrichteter  Zeit- 
genosse, der  Verfa.sser  der  „Ausführlichen  Historie  des  jetzigen  bay- 
rischen Krieges"  (Köln  1705),  Caesar  Afjuiiinius  (Pseudonym  \'är  Scipione 
Errico)  von  einer  Zusammenkunft  in  Memmingen  (S.  1324).  Allein 
aus  den  Briefen  des  Kurfürsten  an  seine  Frau  lässt  sich  erkennen, 
dass  diese  Nachricht  falsch  ist,  dass  eine  Zusammenkunft  der  Gatten 
überhaupt  nicht  stattgefunden  hat.  Ein  uudatirtes  Schreiben  des  Kur- 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.      H 

dem  der  Kurfürst  im  oben  erwähnten  Briefe  an  Monasterol 
Ansdnick  verliehen  hatte,  war  also  poHtischen  Rücksichten 
geopfert  worden.  Damit  es  nicht  den  Anschein  gewinne, 
als  ob  sich  die  Familie  selbst  ihrer  legitimen  Rechte  begebe, 
wies  der  Kurfürst  seine  Gemahlin  an,  sie  möge  unverzüglich 
nach  der  La,ndeshauptstadt  zurückkehren  und  kraft  der  ihr 
übertragenen  Vollmacht  die  Zügel  der  Regierung  ergreifen. 
Die  Kurfürstin  scheint  —  ihre  eigenen  Briefe  sind  uns 
nicht  erhalten  —  anfänglich  darauf  bestanden  zu  haben,  den 
Gatten  in  die  Niederlande  zu  begleiten.  Max  Emanuel  be- 
schwor sie  aber,  in  Bayern  zu  bleiben,  „um  der  Wohlfahrt 
der  Unterthanen,  um  der  Rettung  der  Familie  willen!"  Auch 
der  Kurfürst    müsse   das   schwere  Opfer  bringen,   von  seiner 


fürsten,  das  nach  seinem  Inhalt  nur  am  16.  oder  17.  August  ge- 
schrieben sein  kann  (auch  Höfler,  , Habsburg  und  Wittelsbach",  im 
Archiv  für  österreichische  Geschichte.  44.  Bd.,  S.  362,  setzt  den  Briet 
vor  den  19.  August),  lässt  ersehen,  dass  der  Kurfürst  zwar  Anfangs 
Weisung  gab,  seine  Gattin  mit  den  Kindern  möge  zu  ihm  kommen, 
in  Folge  einer  Aenderung  der  Marschroute  des  Feindes  aber  selbst 
nicht  eintreffen  konnte.  Am  19.  Augu.st  schreibt  er,  dass  Reichard, 
sein  vertrauter  Sekretär,  den  er  als  Kurier  an  die  Kurfürstin  abge- 
schickt hatte,  soeben  zurückgekehrt  sei  und  ihm  gemeldet  habe, 
dass  die  Kurfürstin,  um  mit  ihrem  Gemahl  zusammenzutreffen,  einen 
neuen  Weg  einschlagen  wolle;  er  müsse  ihr  jedoch  eröffnen,  dass 
sich  in  nächster  Zeit  keine  Gelegenheit  finden  werde,  sich  wieder  zu 
vereinigen  oder  auch  nur  zu  sehen.  Auch  noch  andere  Briefstellen 
schliessen  jeden  Zweifel  aus,  dass  der  Kurfürst  nicht  persönlich  von 
seiner  Familie  Abschied  nahm. 

Nach  Ratzenhofer  (Feldzüge  des  Prinzen  Eugen,  VI,  535)  wäre 
Therese  Sobieska  auf  ihrer  Reise  zur  Zusammenkunft  nur  bis  Lands- 
berg gekommen;  hier  habe  sie  den  Auftrag  erhalten,  die  Regentschaft 
zu  übernehmen,  und  sei  sodann  nach  München  zurückgekehrt,  (juellen- 
belege  für  diese  Version  vermochte  ich  niclit  zu  finden.  Eine  Stelle 
in  einem  Briefe  des  Kurfürsten  vom  28.  Sept.  1704:  »Ayant  ete,  mon 
tres  eher  coeur,  depuis  vostre  lettre,  que  le  corate  de  Gouttes  m'a 
porte  de  Memmingen,  sans  aucun  de  vous  nouvelles«  etc.,  scheint 
vielmehr  darauf  hinzudeuten,    dass  Therese    wirklich    in  Memmingen 


12 


Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 


Familie  getrennt  zu  leben.  „Sie  glauben  nicht,  welche  Ver- 
zagtheit der  Bayern  und  aller  Derjenigen,  die  mir  zugethan 
sind,  sich  bemächtigte,  als  sich  die  Kunde  verbreitete,  dass 
Sie  mit  der  ganzen  Familie  Bayern  verlassen  wollten.  Gott 
Lob,  haben  Sie  sich  jetzt  entschlossen ,  in's  Land  zurückzu- 
kehren und  den  bewussten  Vertrag  abzuschliessen,  und  haben 
auch  die  Kinder  zurückgeschickt."  Auch  er  will  nun  der 
Gattin  zu  Liebe  nicht  ausführen,  was  ihm  eine  Zeit  lang 
räthlich  erschienen  war ;  er  will  ihr  den  Kurprinzen  nicht 
abfordern,  sondern  die  Kinder   sollen  insgesammt  der  Obhut 


war  und  von  dort  aus  nach  München  zurückkehrte.  Auch  der  Um- 
stand, dass  im  angezogenen  Briefe  vom  19.  August  erwähnt  wird,  die 
Kurfürstin  wolle  die  Route  über  Erolzheim  und  Leipheim  ein- 
schlagen, verweist  auf  Memmingen ,  da  Erolzheim  unfern  von  dieser 
Stadt  gelegen  ist.  In  seinem  Briefe  an  die  Königin  von  Polen  vom 
10.  Oktober  1704  sagt  Max  Emanuel  ausdrücklich:  ,Ich  sah  mich 
genötigt,  Eilmärsche  zu  machen,  um  die  Schwarz waldpässe  zu  er- 
reichen, fast  im  nämlichen  Zeitpunkt,  da  die  Kurfürstin  in  Memmingen 
ankam  (arriva  a  Memuiingen)". 

Im  kaiserlichen  Hauptquartier  glaubte  man,  dass  die  Flucht  der 
kurfürstlichen  Familie  gelungen  sei.  Am  22.  August  schrieb  Prinz 
Eugen  an  den  Kaiser,  der  Kurfürst  habe  seine  Gattin  mit  5  Prinzen 
und  allen  Prinzessinen  bereits  über  Memmingen  nach  Schaffhausen 
salviren  lassen,  „mithin  sambt  seiner  ganzen  familia  bis  auf  den 
jüngsten  Prinzen  Land  und  Laut  abandonirt,  welch  letztem  dem 
Verlauth  nach  die  landstündt  aus  dem  Land  nicht  hatten  lassen 
wollen"  (Heller,  militärische  Korrespondenz  des  Prinzen  Eugen  von 
Savoyen,  II,  208). 

Unter  den  jetzt  im  Münchner  Hausarchiv  aufbewahrten  Briefen 
des  Kurfürsten  sind  mehrere  chiti'rirt.  Da  bei  einzelnen  die  Auflö.sung 
beigesetzt  war,  gelang  es  unschwer,  den  Schlüssel  ausfindig  zu  machen: 


1.  2,  3  =  a 

4,  b,  6 

7,  8.  9  =  c 

10,  11,  12  ^  d 

13,  14,  15  =  e 

16,  17,  18  =  f 


;  19,  20,  21  =  g 
b  1  22,  23,  24  =  h 
25,  26,  27  =  i 
28,  29,  30  =  k 
31,  32,  33  =  1 
34,  35,  36  =  in 


37,  38,  39  =  n 

40,  41,  42  =  0 

43,  44,  45  =  p 

46,  47,  48  =  q 

49,  50,  51  =  r 

52,  53,  54  =  s 


55,  56,  57  =  t 

58,  59,  60  =  V 

61,  62,  63  =   w 

64,  65,  66  =  X 

67,  68,  69  =  y 

70,  71,  72  =   z. 


Heigel:  Die  Gefangemchaft  der  Söhne  Maz  EmanueVs  etc.      13 

der  Mutter  anvertraut  bleiben  ^).  Auf  den  Vorwurf,  dass 
solche  Entschlüsse  nicht  von  aufrichtiger  Zärtlichkeit  zeugten, 
erwidert  er,  es  gebe  noch  etwas  Höheres:  die  Pflicht ^j. 
„Wir  beide  sind  nicht  dazu  geboren,  der  Befriedigung  unsrer 
Wünsche  den  Vorzug  zu  geben  vor  dem  Interesse  des  Staates 
und  dem  Vortheil  des  Hauses."  ^) 

Die  Andeutung  bezüglich  des  „bewussten  Vertrages" 
bezieht  sich  auf  Unterhandlungen,  welche  die  Kurfürstin  durch 
ihren  Beichtvater,  den  Jesuitenpater  Smakers,  im  Hauptquar- 
tier der  Verbündeten  angeknüpft  hatte*).    Prinz  Eugen  und 

1)  H.  A.  Lettre  de  l'electeur  d.  d.  ^Aprerainuit  le  19.  aoust". 

2)  Köder  v.  Diersburg,  Kriegs-  und  Staatsschriften  des  Mark- 
grafen Ludwig  Wilhelm  von  Baden,  H,  74:  Brief  des  Kurfürsten  von 
Bayern  an  seine  Gemahlin,  d.  d.  Tuttlingen.  21.  August  1704.  Der 
Brief  scheint  von  den  Truppen  des  Markgrafen  Ludwig,  die  vor  Tutt- 
lingen das  Feldgepäck  des  Kurfürsten,  darunter  auch  die  von  ihm 
eigenhändig  geschriebenen  Memoiren  erbeuteten,  aufgefangen  und  in's 
badische  Landesarchiv  gekommen  zu  sein.  Ein  Brief  andren  Inhalts, 
ebenfalls  »du  camp  de  Duttlingen  le  21  aoust  1704«  ausgestellt  und 
durch  Vermittlung  des  Herzogs  von  Marlborough  an  die  Kurfürstin 
befördert,  hinterliegt  im  bayerischen  Hausarchiv. 

3)  Röder  v.  Diersburg,  H,  75 :  Abschrift  eines  Briefes  des  Kur- 
fürsten von  Bayern  an  seine  Gemahlin,  d.  d.  Krummschiltach,  28,  Aug. 
1704.  Das  Original  im  bayrischen  Hausarchiv  hat  noch  ein  in  der 
Abschrift  fehlendes  Postskript  mit  Nachrichten  über  geplante  militär- 
ische Operationen. 

4)  Hormayr  (Die  Mord  Weihnachten  von  Sendung,  Taschenbuch 
für  vaterländische  Geschichte,  Jhrg.  1835,  65)  bezeichnet  den  P.  Smakers 
als  Werkzeug  der  kaiserlichen  Kamarilla  und  den  Ilbesheimer  Vertrag 
als  trügerisches  .lesuitenwerk,  das  die  Vernichtung  Bayerns  bezweckte. 
Wenn  er  zur  Begründung  dieses  Urtheils  sagt:  „Aber  Eugen's  ver- 
traute Briefe  rühmen  uns  den  trefllichsten  Bundesgenossen  Oesterreichs 
in  der  Kurfürstin  Vertrauten  und  Beichtvater,  dem  Jesuiten  Theodor 
Schmackers  aus  Lüttich',  so  muss  dahingestellt  bleiben,  ob  Hormayr 
wirklich  solche  Briefe  Eugen's  vor  sich  hatte;  in  den  bisher  ver- 
ötfentlichten  Briefen  des  Feldherm  ist  ein  derartiges  Lob  des  Jesuiten 
nicht  aufzufinden.  Unrichtig  ist  jedenfalls  die  Behauptung,  dass  dip 
Jesuiten  dem  Kurfürsten  feindlich  gesinnt  waren.    Die  von  Lipowsky 


14  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Graf  Wratislaw  wünschten  noch  immer  möglichst  raschen 
Ausgleich  mit  Bayern.  ,Wann  wir  von  der  ersten  Conster- 
nation  nicht  profitiren",  schrieb  letzterer  am  25.  August  an 
den  Kaiser,  „und  der  Churfürst  etwan  neue  Ordre  schickt 
oder  das  churfürstliche  Collegium  sich  der  unschuldigen 
Kinder  annehmen  thäte  und  die  Seepotenzien  vielleicht  nicht 
dazu  einstimmten,  dürften  alsdann  Ew.  Kayserliche  Mayestaet 
diese  avantagiose  Conditiones  nicht  mehr  bekommen"  *). 

Dagegen  wollte  Markgraf  Ludwig  von  Baden  —  im 
Gegensatz  zu  der  früher  eingenommenen  Haltung,  die  sogar 
bei  den  kaiserlichen  Offizieren  Verdacht  erregt  hatte  ^)  — 
von  Verständigung  mit  den  Witteisbachern  und  Schonung 
Bayerns  nichts  mehr  wissen,  sondern  erwiderte  dem  um  wohl- 
wollende Vermittlung  bittenden  Jesuiten ,  er  sei  vom  Kaiser 
nicht  beauftragt,  Friedensvorschläge  anzuhören  oder  aufzu- 
setzen, sondern  einen  verrätherischen  Feind  zu  verfolgen  und 
das  Herzogthum  Bayern  zu  erobern.  Auch  einem  zweiten 
Gesandten ,  dem  geheimen  Rath  von  Meyer ,  erklärte  der 
Markgraf,  die  Frau  Kurfürstin  möge  sich  nur  darauf  gefasst 
machen ,  das  ganze  Land  ohne  Widerstand  abzutreten  oder 
ihre  Städte  und  Dörfer  in  Flanmien  aufgehen  zu  sehen  ^). 

Ebenso  wenig  wollten  einige  Räthe  der  Kurfürstin  und 
die  in  Bayern  zurückgebliebenen  Generäle  von  Verhandlungen 

(Kurfürst  Maximilian  Emanuels  Statthalterschaft  in  den  Niederlanden 
und  dessen  Feldzüge,  S.  100:  Schilderung  der  Schicksale  und  Bedräng- 
nisse, welche  die  Jesuiten  während  des  österreichisch-bayrischen  Kriegs 
von  1701 — 1714  in  Bayern,  Schwaben,  Schweiz  und  Tirol  erduldet 
haben)  ^mitgetheilten  Auszüge  aus  Chroniken  der  bayrischen  Jesuiten- 
collegien  beweisen  das  Gegentheil.  Dass  der  Jesuitenorden  überhaupt 
während  des  spanischen  Erbfolgekriegs  die  französische  Partei  be- 
günstigte, ist  eine  bekannte  Thatsache,  die  ohne  Zweifel  mit  der 
antiröniischen  Politik  des  Habsburgischen  Hauses  in  diesem  Zeitraum 
in  Zusammenhang  steht. 

1)  Feldzüge,  VI,  Anhang  868. 

2)  Kbendii.  VI,  y/J2. 

3)  p:b..ri.ia,  VI.  o;n. 


Ueiffel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanveVs  etc.      15 

und  Verträgen  hören.  Noch  standen  starke  Heeresabth eil- 
ungen im  Lande  und  die  Ergänzung  auf  den  früheren  Stand 
wäre  nicht  schwer  gefallen.  Am  7.  September  schlug  General 
Weikel,  der  aus  zersprengtem  bayerischem  Militär  ein  statt- 
liches Corps  gebildet  hatte,  die  Kaiserlichen  unter  General 
Anfsess  bei  Pfinz  an  der  Altmühl  und  unternahm,  um  für 
die  Verwüstung  der  bayrischen  Lande  Vergeltung  zu  üben, 
einen  Streifzug  nach  Franken.  Die  festen  Plätze  Passau, 
Straubing,  Kufstein  waren  noch  in  Händen  der  Bayern,  die 
Hauptfe.^tung  Ligolstadt  behauptete  sich  glücklich  gegen 
wiederholte  Angriffe  der  Kaiserlichen.  Durch  diese  Erfolge 
ernuithigt,  stimmten  Einige  in  der  Umgebung  der  Kurfürstin 
für  Fortsetzung  des  Kriegs,  allein  die  Mehrheit  der  Landschaft, 
insbesondere  des  Adels  und  Prälatenstandes,  w^ar  nicht  geneigt, 
im   Widerstand  gegen  den  Kaiser  zu  verharren^). 

Nicht  von  Zeitgenossen  ,  sondern  erst  von  späteren  Hi- 
storikern sind  dieser  ihrer  Haltung  wegen  Bayerns  Adel  und 
Klerus  des  „Verraths"  bezichtigt  worden*).  Gewiss  nicht 
mit  Recht. 

Wer  möchte  anders  als  mit  Achtung  und  Bewunderung 
von  Bürger  und  Bauersmann  sprechen,  die,  ihrem  ange- 
stammten Fürsten  treu  ergeben,  für  diese  Liebe  ihr  Herzblut 
vergossen!  Allein  ebenso  wenig  dürfen  diejenigen  Männer, 
die  den  übermüthigen  Ehrgeiz   des  Fürsten    und    den  Abfall 


1)  Ebenda,  VI.  633. 

2)  U.  A.  sagt  Hormayr  (Lebensbilder  aus  den  Befreiimfjskriegen, 
in,  215)  vom  Adel  und  den  Prälaten,  sie  hätten  sich  ,al3  Wohl- 
dienei-,  Kundschafter  und  Werkzeuge  in  die  Antichanibre  der 
österreichischen  Zwingherrn"  gedrängt.  Ein  andermal  (Die  Mord- 
weihnachten von  Sendling;  Taschenbuch  für  vaterländische  Geschichte, 
Jhrg.  1835,  65)  spricht  er  von  , entweder  blödsinnigen  oder  erkauften, 
hinterlistigen  Yerräthern",  von  dem  ,nach  der  grösseren  und  reicheren 
Antichanibre  des  Wiener  Hofes  v?ie  der  Hirsch  nach  dem  Brunnquell 
dürstenden  Adel*  u.  s.  f. 


16  Sitzung  der  Mst07\  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

von  Kaiser  und  Reich  nicht  billigten  und  sich  desshalb  einer 
passiven  Haltung  ])eflissen ,  schlechtweg  verurteilt  werden. 
Auch  aufrichtige  Patrioten  und  treue  Diener  des  Kurfürsten 
fühlten  sich  durch  den  heraufbeschworenen  Konflikt  der 
Pflichten  peinlich  berührt.  Der  wackere  Priel mayer  machte 
kein  Hehl  daraus,  dass  er  im  Vorgehen  des  Landesherrn  ein 
Unglück  für  Bayern  erblicke.  Nach  der  Einnahme  von  Ulm 
schrieb  er  (31.  Oktober  1702)  an  den  noch  in  Wien  ver- 
weilenden bayrischen  Gesandten  Mörmann,  es  freue  ihn,  dass 
er  in  jüngster  Zeit  so  wenig  von  den  geheimen  Anschlägen 
des  Kurfürsten  erfahre,  denn  er  möchte  dafür  nicht  verant- 
wortlich sein.  Den  Aufruf  des  Kaisers,  der  die  bayrischen 
Truppen  vom  Fahneneid  entband,  habe  er  gelesen:  „Weil 
ich  aber  kein  Krieger,  sondern  meines  sünns  und  natur  nach 
mehrer  ein  Fridmacher  bin,  so  nimb  ich 's  nit  auf  mein  Per- 
sohn. Die  seint  in  sehr  scharffen  Terminis  eingericht  und 
wird  sonders  zweifeis  mancher  ehrlicher  Mann  darüber  irr 
und  kleinmüettig  werden."  ^) 

Dagegen  soll  nicht  beschönigt  werden,  dass  sich  manche 
Mitglieder  der  privilegirten  Stände  durch  aufdringliche  Will- 
fährigkeit und  Unterwürfigkeit  die  Sieger  günstig  zu  stimmen 
suchten,  und  insbesondere  solche  Höflinge,  die,  wie  Max 
Emanuel  in  den  Briefen  an  seine  Gemahlin  häufig  beklagt, 
ihre  ganze  Existenz  dem  Kurhaus  zu  danken  hatten,  das 
Andenken  an  den  Wohlthäter  unbedenklich  in  den  W^ind 
schlugen.''') 


1)  Bayr.  St.-Arch.  K.  schw.  ^5/2.  von  Mörmann's  Berichte  aus 
Wien  1702.  Schreiben  Prielraayer's  an  Mörmann,  d.  d.  Ulm  31.  Ok- 
tober 1702. 

2)  B.  H.-A.  Lettre  de  l'dlecteur  a  l'electrice  d.  d.  Bruxelles,  le 
6  nov.  1704:  .  .  .  »autant  je  vous  plaina,  d'estre  si  mal  secondöe,  et 
pour  mieux  dire,  abandnnnee  de  ce  mesme,  qui  n'ont  receu  que  des 
bienfaits  de  Nouh,  et  qui  .sont  ce  qu'ils  sont  par  les  ^races  de  leurs 
Princes«. 


Heigel:  Die  Gefnuf/evyichaft  der  Söhne  Mn.r  EnmnueVs  etc.      17 

Mit  Rücksicht  auf  die  in  Bayern  herrschende  Abneigung 
gegen  Fortführung  des  Krieges  hielt  auch  Max  Emanuel  ein 
Abkommen  mit  dem  Kaiser  für  riithlich.  Die  Regentin  möge 
einen  möglichst  günstigen  Vergleich  treffen,  schrieb  er  am 
1 1 .  September  von  Strassburg  aus,  und  dann  mit  dem  ältesten 
Sohne  nach  Brüssel  kommen.^) 

Kaiser  Leopold  Aveigerte  sich,  den  früheren  bayrischen 
Gesandten  in  Wien,  Mörmann,  an  seinem  Hofe  zu  empfangen, 
und  betraute  seinen  Sohn,  den  römischen  König  Joseph,  der 
die  Armee  des  Markgrafen  Ludwig  an  den  Rhein  begleitet 
hatte,  mit  Unterhandlungen  mit  der  Regentin  von  Bayern.^) 

Einen  ganzen  Monat  hindurch  blieben  Mörmann  und 
Geheimsekretär  Neusönner  im  Lager  König  Joseph 's.  Die 
Vertreter  Bayerns  wollten  für  die  Kurfürstiu  wenigstens  die 
Hälfte  des  Landes  retten,  beanspruchten  auch,  dass  der  Rest 
der  kurbayrischen  Truppen  unter  weissblauer  Fahne  bleibe 
und  das  Nachfolgerecht  der  Söhne  Max  Emanuel's  ausdrück- 
lich anerkannt  werde.  Da  diese  Zugeständnisse  nicht  durch- 
zusetzen waren,  hinwieder  die  von  kaiserlicher  Seite  vorge- 
schlagenen Bedingungen  der  Kurfürstin  unannehmbar  er- 
schienen, wandte  sie  sich  —  zum  Erstenmal  seit  den  Vorgängen 
in  Memmingen  —  um  Rath  an  ihren  Gatten.  Dieser  erwiderte 
am  28.  September  aus  Philippsburg,  der  Bericht  aus  München 
habe  ihn  zwar  tief  betrübt,  doch  sei  es  für  ihn  kein  geringer 
Trost,  erfahren  zu  haben,  wie  ernst  die  Regentin  ihre  Auf- 
gabe erfasse,  wie  charakterfest  sie  in  so  schwierigen  Verhält- 
nissen aufgetreten  sei.  Am  meisten  verdriesse  ihn,  dass  sie 
am  Staatsrath  nicht  bloss  keine  Stütze  finde,  sondern  von 
dieser  Seite  nur  Chicane  zu  erleiden  habe.  „Kennen  die 
Leute  denn  nicht  meine  Handschrift  und  sind  Sie  nicht  ohne- 


1)  B.  H.-A.     Lettre   de  l'electeur   a   l'electrice   d.  d.  Strasbourg, 
11.  sept.  1704. 

2)  Feldzüge,  VI,  G32. 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Cl.  II.  1.  2 


18  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

liin  ihre  Gebieterin  und  die  Mutter  unsrer  Kinder?"  Die 
Kurfürstin  möge  in  Gottes  Namen  auf  die  kaiserlichen 
Forderungen  eingehen.  An  der  Entlassung  der  Truppen  sei 
nicht  so  viel  gelegen,  da  ja  das  Fussvolk  grösstentheils  aus 
Bayern  bestehe,  die  man  gewaltsam  zum  Kriegsdienst  gepresst 
habe  und  die  gern  z.um  Pflug  zurückkehren  würden.  Auch 
die  Niederreissung  der  ohnehin  dürftigen  Festungswerke 
Münchens  habe  nichts  zu  bedeuten.  Wirklich  schwer  falle 
ihm  nur,  dass  die  Kaiserlichen  der  Kurfürstin  wehren  wollten, 
zu  ihrem  Gatten  zu  ziehen.  .Das  ist  eine  Bedingung,  die 
eher  der  Teufel  als  eine  Christenseele  erfunden  hat."  Dieses 
Verbot  müsse  fallen ,  die  Kurfürstin  müsse  zu  ihm  nach 
Brüssel  kommen,  die  Kinder  könnten  entweder  der  Obhut 
der  Grossmutter,  der  Königin  von  Polen,  oder  des  Oheims, 
des  Kurfürsten  von  Köln,  überlassen  bleiben.  ^) 

So  wurde  denn  am  7.  November  1704  zu  Ilbesheim  bei 
Landau  durch  Geheimsekretär  Neusönner  im  Namen  der 
Regentin  von  Bayern  ein  „Partikular-Tractat"  unterzeichnet, 
der  nicht  eine  dauernde  Regelung  der  bayrischen  Verhältnisse, 
sondern  nur  bis  zu  „nächst  verhoffendem  Universal-Frieden " 
vorläufige  „Abwendung  der  landesverderblichen  innerlichen 
Kriegsflammen "  bezweckte.  Demgemäss  musste  die  Kurfürstin 
Auslieferung  aller  zur  Zeit  noch  von  bayrischer  Miliz  be- 
setzten festen  Plätze,  Entlassung  säramtlicher  Truppen,  Zurück- 
stellung der  aus  Tirol  entführten  Kunstschätze  und  Waffen- 
vorräthe,  Schleifung  der  Münchner  Festungswerke  und  Heraus- 
gabe des  gesammten  in  Bayern  vorhandenen  Kriegsmaterials 
zusichern;  dagegen  sollte  ihr  das  Rentamt  München  „mit  der 
Territorialobrigkeit,  sämmtlichem  Erträgniss  und  Nutzen  etc." 
verl)Ieiben,  wälirend  der  Rest  des  Landes  unter  kaiserliche 
Verwaltung    gestellt    werden    soll.      In    Bezug    auf   den   von 


1)  B.  II. -A.     Lettre  de  l'ulecteur  ii  l'electrioo  d.  fl.  IMiilippeville, 
28.  sept.  17U4. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  Emanucl's  etc.      19 

Max  Enmnuel  beanstandeten  Punkt  wurde  festgesetzt,  dass 
der  Kurfürstin,  „wanu  vorher  Alles  in  angeregten  punctis 
erfüllt  sein  wird",  freier  Abzug  mit  den  Ihrigen  gestattet 
und  zu  solchem  Ende  ein  verlangter  Passport  ausgehändigt 
werden  sollte.  ^) 

Der  Vertrag  von  Ilbesheim  war  für  die  Haager  Ver- 
bündeten insoferne  vortheilhaft,  als  die  Truppen,  die  zur  voll- 
ständigen Unterwerfung  Bayerns  hätten  gebraucht  werden 
müssen,  zum  Feldzug  an  Rhein  und  Mosel  verwendet  werden 
konnten.'^) 

Andrerseits  ei-ging  sich  zwar  Max  Emanuel,  zumal  nach- 
dem sich  die  von  den  ungarischen  Insurgenten  in  Schemnitz 
angeknüpften  Friedensunterhandlungen  zerschlagen  hatten,  in 
Klagen  über  die  Härte  des  Vertrags,  zu  dessen  Annahme  ihn 
nur  das  verrätherische  Verhalten  seiner  Kronräthe  genötigt 
habe^);  in  späteren  Briefen  aber  bezeichnete  er  selbst  den 
Ilbesheimer  Vertrag  als  „unerwartet  günstig".  War  ja  doch 
schon  die  Thatsache  von  Wichtigkeit,  dass  mit  der  Kur- 
fürstin ein  Vertrag  abgeschlossen ,  mithin  die  Legitimität 
ihrer  Regentschaft  anerkannt  worden  war.  Vor  Allem  aber 
schien  dadurch  die  kurfürstliche  Familie  selbst  gegen  alle 
Gefahren  und  widrigen  Folgen  des  Kriegs  gesichert  zu  sein. 

Allein  die  Erfüllung  der  übernommenen  Verpflichtungen 
stiess  beiderseits  auf  Schwierigkeiten. 

An  mehreren  Plätzen  weigerten  sich  die  bayrischen 
Truppen,  zu  kapituliren,  insbesondere  die  Besatzung  von  Ingol- 
stadt wies  dieses  Ansinnen  hartnäckig  zurück.    Dabei  mochte 


1)  Feldzüge,  VI,  635.  Der  Wortlaut  des  Vertrags  ist  ebenda, 
VI,  902,  veröffentlicht.  Es  werden  dadurch  mehrere  Punkte,  die  bei 
Rinck,  Leopold's  des  Grossen  Leben  und  Thaten,  1631,  u.  A.  ungenau 
mitgetheilt  sind,  berichtigt. 

2)  Monatlicher  Staatsspiegel,  auf  den  November  1704,  17. 

3)  B.  H.-A.  Lettre  de  l'electeur  a  Tölectrice  d.  d.  ßruxelles, 
9.  nov. 1704. 

2* 


20  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

wenigstens  zweifelhaft  erscheinen,  ob  es  der  Regentin  an 
Macht  oder  an  gutem  Willen  gebrach,  die  Ausführung  des 
Traktats  zu  erwirken.^) 

Kaiser  Leopold  ertheilte  desshalb  an  Prinz  Eugen  den 
Auftrag,  um  jeden  Preis  die  Kriegsflamme  in  Bayern  zu 
ersticken,  nöthigen  Falles  sich  sogar  der  kurfürstlichen  Familie 
zu  bemächtigen  '^).  Als  Eugen  der  Kurfürstin  vorhielt,  dass 
noch  nicht  einmal  Ingolstadt  geräumt  sei,  und  mit  blutiger 
Vergeltung  drohte,  erklärte  sie,  es  sei  gemessener  Befehl  zur 
Räumung  der  Festung  ertheilt  worden,  doch  die  Besatzung 
habe  einfach  den  Gehorsam  verweigert^).  Auf  ein  drohendes 
Ultimatum  des  kaiserlichen  Feldherrn  wurde  zwar  die  Festung 
am  5.  Dezember  übergeben,  allein  die  Entlassung  der  Truppen 
hier,  wie  in  andren  Plätzen  ging  nur  langsam  von  Statten,  „die- 
weilen  die  leith  fast  allerseits  rebellisch  und  schwürig  seyndt"."*) 

Andrerseits  wurde  die  bayrische  Landbevölkerung  von 
der  kaiserlichen  Soldateska  hart  bedrückt.  Die  Beschwerde- 
schriften der  Landstände,  welche  dabei  ausdrücklich  jeden 
Antheil  an  der  Politik  des  Fürsten  in  Abrede  stellten,  ent- 
rollen ein  trauriges  Bild  von  der  Bedrängniss  des  bayrischen 
Volkes.  Viele  tausend  Wohnhäuser  und  Scheunen  waren  in 
den  zwei  Kriegsjaliren  in  Flammen  aufgegangen !  Von 
95  Gerichten  in  Ober-  und  Niederbayern  waren  nur  13  noch 
nicht  der  Plünderung  verfallen !  ^) 

Auch  mit  dem  Vertrag  von  Ilbesheim  kehrten  nicht 
friedlichere  Zustände  zurück ,  obwohl  dadurch  festgesetzt 
war,  dass  fortan  „beiderseitigen  ünterthanen  der  freie  Handel 
und  Wandel  restabilirt  sein  und  verbleiben  solle". 


1)  Staudinger,  III,  570. 

2)  Feldzüge,  VI,  641. 

3)  Heller,    militärische   Korrespondenz   des   Prinzen  Eugen  von 
Savoyen,  II,  255. 

4)  Heller,  H,  277. 

5)  Feldzüge,  VI,  645.  —  S.  die  von  Scliilfflor,  79.  iiiitgethoilton 
Volkslieder  aus  jenen  Tagen. 


Heigel :  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.     21 

In  den  Briefen,    welche  Max  Emanuel  in  diesen  Tagen 
an  seine  Gemahlin  richtete,  wechseln,   wie    es    sich  aus  dem 
launenhaften    Temperament    des    fürstlichen    Paares    erklärt, 
l)ittere  Anklagen  und  Vorwürfe  mit  Ergüssen    sehnsüchtiger 
Liebe.     Immer  zeigt  er  sich  aber  als  zärtlicher  Vater,  eifrig 
besorgt  um  der  Kinder  leibliches  und  geistiges  Wohl.     , Um- 
armen Sie  inbrünstig  die  Kinder  in  meinem  Namen,"   schreibt 
er    einmal,    „und    geben  Sie    ihnen   den  Segen,    den  ich  auf 
ihre  Häupter  herab  erflehe;    ich  kann  hier  in  Brüssel  keine 
Mutter  mit  ihren  Kindern  auf  der  Strasse  gehen  sehen,  ohne 
dass  mir  die  Thränen  in  die  Angen  kommen,  —    ich   allein 
muss  ja  dieses  Trostes    entbehren!"^)     Da  er    die  Trennung 
von  seiner  Familie  so  schwer  ertrug,    ist    es  begreiflich  und 
verzeihlich,    dass    er  voll  Unwillen  und  Zorn    die   , gehässige 
Politik",    die   , Tyrannei"    des   Kaisers   beklagte,    wenn    sich 
auch  bezweifeln  lässt,  ob  diese  Vorwürfe  wirklich  berechtigt 
waren.     In  einem  Briefe  an  seine  Schwiegermutter  behauptet 
der  Kurfürst,  die  kaiserlichen  Gewalthaber  seien  in  grausamer 
Härte    so    weit    gegangen,    dass    sie    der  Kurfürstin,    die  am 
21.  Dezember  einen  Knaben  geboren  hatte,    nicht  erlaubten, 
die  erfreuliche  Kunde  dem  Vater   durch    einen  Kurier  über- 
bringen  zu   lassen.^)     Die  Sache   ist    aber    nicht   glaublich. 
Da  die  Kurfürstin    damals  noch  selbständig  in  München  re- 
gierte,   konnte    es   sich    nur   um  Verweigerung    eines  Passes 
behufs  Durchlassung  durch    militärische  Operationslinien  ge- 
handelt   haben.     Thatsächlich    wurde,    wie    aus    einem    kurz 
vorher  (23.  Dezember)  an  die  Königin  von  Polen  gerichteten 
Briefe  Max  Emanuels  erhellt,  der  Briefverkehr  zwischen  den 
Gatten  sowohl  durch  ausserordentliche  Boten,  als  auf  dem  ge- 
wöhnlichen Postwege  unterhalten.  Weshalb  sollte  gerade  gegen 


1)  B.  H.-A.  Lettre   de   l'electeur   a   Telectrice    d.  d.    Bruxelles, 
17.  nov.  1704. 

2)  B.  H.-A.  Lettre  de  l'electeur  a  la  reine  de  Pologne  d.  d.  Bru- 
xelles, 9.  ianvier  1705. 


22  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

die  Mittheilung  jenes  Familienereignisses  Widerstand  erhoben 
worden  sein?  Gelangte  doch  ein  Brief  der  Kurfürstin,  der 
das  freudige  Ereigniss  kundgab,  sowie  ein  Brief  des  Kurprinzen, 
worin  dieser  die  Geburt  seines  Brüder leins  frohlockend  anzeigte, 
unbeanstandet  in  die  Hände  des  Vaters.  „Nur  mit  Gefühlen 
herzlichster  Ergebenheit"  —  liess  man  den  damals  siebenjährigen 
Knaben  schreiben  —  „nehme  ich  Antheil  an  der  Freude,  die 
Monseigneur  empfunden  haben  werden  bei  der  Nachricht  von 
der  glücklichen  Niederkunft  Ihrer  Hoheit,  meiner  innig- 
geliebten Mutter;  wie  wir  jetzt  an  Zahl  den  berühmten  7 
makkabäischen  Brüdern  in  der  hl.  Schrift  gleichen,  so  wollen 
wir  uns  bestreben,  ihnen  auch  an  Muth  und  Gehorsam  ähn- 
lich zu  werden."  ^)  Am  15.  Jänner  1705  antwortete  der 
Kurfürst,  er  hege  die  Hoifnung,  dass  ihm  aus  dem  Wohl- 
verhalten seiner  Kinder  neues  Glück  erblühen  werde,  und 
forderte  den  Prinzen  auf,  regelmässig  zu  schreiben.^)  Der 
Mahnung  wurde  auch  entsprochen ;  solange  die  Prinzen  in 
München  blieben,  gab  der  Kurprinz  von  Zeit  zu  Zeit  über 
sein  und  der  Brüder    Befinden  Nachricht^).     Erst   nach    der 


1)  B.  St.-A.  K.  schw.  *^''/43.  Originaux  des  lettres  ecrites  a  feu 
l'electeur  Maximilien  Emanuel  pendant  rannee  1705  et  celle  de  1707 
par  feu  Mag.  le  prince  electoral  de  Baviere.  Lettre  du  prince  electoral 
a  son  pere  d.  d.  Munich,  20.  dec.  1704.  In  Bezug  auf  einen  Brief  des 
Kurprinzen  vom  9.  Juli  1704  schrieb  der  Kurfürst  am  1.  Nov.  1704 
an  die  Königin  von  Polen:  »On  lui  fait  la  Minute  de  la  lettre  celon 
le  desir  qu'il  tesmoigne  de  ce  qu'il  veut  me  dire.  Mais  il  l'escrit 
tout  seul  sans  aucune  assistance,  ny  personne  luy  touche  la  main. 
De  cela  Votre  Majest^  peut  voir,  qu'il  a  de  la  facilitd  et  capacite 
d'aprendre,  ce  qu'on  luy  montre ;  il  est  bien  avance  dans  l'ystoire 
sacrcie  et  aprend  a  present  le  latin«. 

2)  Ibid.  Lettre  de  l'ölecteur  ä  son  fils  d.  d.  Bruxelles,  15.  ian- 
vier  1705. 

3)  Eine  merkwürdige  Mittheilung  macht  der  Prinz  in  einem 
Briefe  vom  30.  Juli  1705;  er  habe,  um  später  damit  seinen  Vater  zu 
überraschen,  Verse  aus  einer  nicht  näher  bezeichneten  Tragödie  Ar- 
minius,    „weil  diese    am  besten  für  die  Gegenwart  passe"    (comme  la 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Mcu  EmanneVs  etc.     23 

L'ebersiedlung  nach  Klagenfiirt  wurde  den  Knaben  auch  der 
schriftliche  Verkehr  mit  den  Eltern  verboten. 

,Das  grösste  Unglück,  das  ihn  habe  treuen  können," 
erblickte  Max  Emanuel  darin,  dass  seine  Gattin,  die  von 
ihm  ernannte  und  vom  Kaiser  anerkannte  Uegentin  Bayerns, 
plötzlich  und  -  wie  sich  aus  den  Briefen  der  Gatten  ersehen 
lässt  —  ohne  sein  Wissen  im  Februar  1705  München  verliess 
und  nach  Venedig  reiste,  um  mit  ihrer  Mutter  /usammen- 
zutreften^).  Auch  von  ihren  Beamten  war  ihr  abgerathen 
worden*);  man  konnte  sich  den  mivorsichtigen  Schritt  gar 
nicht  erklären  und  wusste  auch  nicht,  welche  Absicht  die 
Königin  von  Polen  bewogen  habe,  ihren  bisherigen  Auf- 
enthaltsort  Rom    zu    verlassen^).     Darüber   unterrichtet   uns 


plus  propre  pour  le  temps  j^resent),  auswendig  gelernt;  nach  der  Ein- 
nahme Münchens  durch  die  Kaiserlichen  sei  ihm  aber  durch  Baron 
Neuhaus  verboten  worden,  darin  fortzufahren.  Der  Kurfürstin  gibt, 
seitdem  dieselbe  München  verlassen,  die  Baronin  Neuhaus  über  das 
Befinden  der  Kinder  regelmässig  Nachrichten  (H.-A.  Nr.  753.  Briefe 
von  der  Freyfrau  von  Neuhauss,  geb.  v.  Muggenthal,  an  I.  Ch.  D.  von 
München  nach  Venedig,  1705). 

1)  B.  H.-A.  Lettre  de  l'electeur  a  l'electrice,  d.d.  Bruxelles, 
26.  fevr.  1705.  Schon  in  einem  Briefe  an  die  Königin  von  Polen  vom 
5.  Jänner  1705  hatte  Max  Emanuel  die  Gründe  dargelegt,  die  es  un- 
räthlich  erscheinen  Hessen,  dass  seine  Gemahlin  aus  München  fortgehe. 

2)  In  der  Deduction  etc.  des  Hofraths  und  Archivars  Baron  Unertl 
V.  J.  1747,  worin  er  seine  Haltung  während  der  zweimaligen  Occupation 
Bayerns  durch  die  Oesterreicher  1705  und  1742  rechtfertigt,  heisst 
es:  , Nachdem  aber  Ihro  Durchlauchtige  Churfürstin  hochseligen  An- 
gedenckens  auf  eine  Zeit  nach  ihrem  Wohlgefallen  aller  geschehenen 
Vorstellungen  zugegen  nach  Venedig  abgereist"  etc.  (Cod.  bav.  1947 
der  Münchner  Hof-  u.  St.-Bibl.,  Fol.  4). 

3)  ,.Die  Ursache  dieser  Entrevue  hat  man  nicht  ergründen 
können."  (Curieuses  Bücher-Cabinet,  XV,  787).  Die  Einen  meinten,  die 
Königin  beabsichtige  nach  Wien  zu  gehen,  um  die  Aechtung  des  Eidams 
zu  hintertreiben,  Andere  glaubten,  sie  wolle,  da  ihr  der  Aufenthalt 
in  Rom  verleidet  sei,  nach  Graz  übersiedeln  (Ebenda).  Wagner 
(Historia  Josephi  1.,  23)  bringt  die  unwahrscheinliche  Nachricht,  die 


24  Sitzung  der  Mstnr.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

ein  Brief  des  bayrischen  Gesandten  in  Rom,  Baron  Scariatti, 
an  die  Kurfürstin  vom  20.  Jänner  1705^);  es  MÜrd  ihr  an- 
gekündigt, dass  die  Mutter  sich  nach  Graz  begeben  wolle, 
um  dort  mit  ihren  Söhnen  zusammenzutreffen  und  die  Inter- 
essen des  Hauses  Sobiesky  zu  berathen.  Dagegen  ist  auch 
heute  nicht  aufgeklärt,  weshalb  sich  die  Kurfürstin  zur  ver- 
hängnissvollen Reise  entschloss,  —  man  müsste  denn  der 
Vermuthung  des  Kurfürsten  zustimmen  wollen,  dass  es  ihr 
um  die  Vergnügungen  des  Karnevals  in  Venedig  zu  thun 
gewesen  wäre.  Der  Kommandant  der  kaiserlichen  Truppen 
in  Bayern,  General  Gronsfeldt,  hatte  der  Kurfürstin  Pässe 
ausgestellt,  damit  sie  durch  kaiserliches  Gebiet  die  Reise  nach 
Venedig  unternehmen  könne.  Es  war  ein  Vorspiel  zu 
schlimmeren  Erfahrungen,  dass  Kaiser  Leopold,  wie  Prinz 
Eugen   der  Kurfürstin   anzeigen  musste,    sich    weigerte,    den 


Kurfürstin  habe  München  verlassen,  weil  sie  nicht  in  Verdacht  kommen 
wollte,  als  habe  sie  das  Komplott  gegen  den  Kaiser  angestiftet  oder 
gebilligt.  Ottieri  (Istoria  della  guerre  avvenute  dall'anno  1696  all' 
anno  1725,  U,  239)  erzählt,  die  Kurfürstin  habe  aus  Eifersucht  den 
Plan  gefasst,  zu  ihrem  Gemahl  nach  Brüssel  zu  gehen,  und  desshalb 
die  Mutter  gebeten,  nach  Bayern  zu  kommen  und  an  ihrer  Statt  die 
Regentschaft  zu  übernehmen.  Therese  sei  sodann  ihrer  Mutter  gegen 
den  Willen  ihres  Gatten  entgegengereist,  allein  die  Königin  von  Polen 
habe  sich  geweigert,  ohne  Einwilligung  des  Kurfürsten  dem  Wunsche 
der  Tochter  zu  willfahren,  und  da  sich  überdies  zwischen  Mutter  und 
Tochter  ein  Streit  wegen  des  Ceremoniells  erhob,  sei  die  Mutter  wieder 
nach  Rom  zurückgegangen,  während  die  Tochter  nach  einem  vergeb- 
lichen Versuch,  nach  Bayern  zurückzukommen,  in  Venedig  blieb.  — 
Aus  den  vorhandenen  Briefen  des  kurfürstlichen  Paares  lässt  sich 
erkennen,  dass  einige  Züge  in  der  Erzählung  Ottieri's  der  Wahrheit 
entsprechen;  Anderes  lässt  sich  nicht  controliren;  der  Etiquettestreit 
z.  H.  fällt  erst  in  den  Juli  1705,  nachdem  der  Versuch  zur  Rückkehr 
nach  Bayern  längst  zurückgewiesen  worden  war  (Cfr.  Lettre  de 
l'i^lecteur  a  relectrice,  8.  aoüt  1705). 

1)  B.  H.-A.  Nr.  753/25.     Lettres  du  baron  de  Scariatti  ä  S.  A.  E. 
l'electrice  Terese  Cunegonde  1704—1719. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  Emanuel's  etc.      25 

Pass  zu  approbiren  und  auch  der  Königin  von  Polen  nahe- 
legen Hess,  die  weitere  Reise  nach  Graz  aufzugeben.^) 

Bald  erwies  sich,  dass  die  Besorgniss  des  Kurfürsten : 
München  verlassen,  heisse  München  preisgeben,  —  nur  allzu 
begründet  war. 

Die  Bedrückung  durch  die  Einquartierung  der  kaiser- 
lichen Truppen  wurde  im  ganzen  Lande  peinlich  empfunden. 
Prinz  Eugen  schärfte  zwar  auf's  Strengste  ein ,  dass  die 
Verpflegung  der  Soldaten  nur  nach  den  festgesetzten  Normen 
durchzuführen  sei  ^),  allein  es  gab  immer  wieder  über  Will- 
kür und  Erpressung  der  Sieger  zu  klagen.  Schon  musste 
von  Seite  der  Kaiserlichen  gegen  „die  von  denen  Bauern  auf 
öffentlicher  Strassen  bereits  anfangende  ärgerliche  Thaten" 
eingeschritten,  schon  musste  an  die  Studentenschaft  in  Ingol- 
stadt eine  scharfe  Warnung  gerichtet,  gegen  Adelige  und 
Offiziere  wegen  „ausgestossener  nachdenklicher  Reden"  ein- 
geschritten werden^).  Die  aufgelösten  bayrischen  Truppen 
waren  für  das  kaiserliche  Regiment  Plage  und  Gefahr.  Schickte 
man  die  Soldaten  über  die  Grenze,  so  begaben  sie  sich  in 
die  Niederlande  zu  ihrem  Kurfürsten,  der,  wie  Marlborough 
klagte,  immer  neue  bayrische  Bataillons  formiren  konnte; 
Hess  man  sie  im  Laude,  so  war  zu  befürchten,  dass  sie  sich 
an  die  aufgeregten  Bauern  anschliessen  und  an  Umsturzplänen 


1)  Heller,  II,  329.  —  Zwei  von  Gronsfeld  ausgestellte  Original- 
pässe hinterliegen  im  k.  geh.  Hausarchiv,  der  eine  d.  d.  Landshut, 
5.  Februar  1705,  für  die  Reise  der  Kurfürstin,  die  „zu  dero  Frauen 
Muttern,  so  von  Rom  nach  Grätz  sich  begiebt,  gegen  Trient,  Roveredo 
oder  bis  Verona  entgegenzugehen  gesünnef,  der  andere  d.  d.  Lands- 
hut, 3.  März  17Ü.5,  mit  Erlaubniss  längeren  Aufenthalts  in  Verona.  — 
Ganz  unrichtig  stellt  Noorden,  II,  152,  den  Sachverhalt  dar,  indem 
er  die  Kurfürstin  durch  die  Kaiserlichen  zur  Flucht  genöthigt  werden 
Uisst. 

2)  Feldzüge,  VII,  366. 

3)  Prinz  Eugen  an  Gronsfeld  d.  d.  Wien,  4.  Febr.  1705  (Heller, 
II,  318). 


26  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

sich  betheiligen  würden^).  Schon  im  Jänner  1705  schrieb 
der  kaiserliche  Beamte  Vorster  an  Prinz  Eugen,  die  Kaiser- 
lichen seien  in  Bayern  „einer  sicilianischen  Vesper  ausgesetzt"^). 
Auch  die  Entwaffnung  der  Bauern  verhinderte  nicht,  dass 
da  und  dort  Räuberei  und  Plünderung  der  Kaiserlichen  mit 
Ueberiäll  und  Todschlag  vergolten  wurden.  Immer  stärker 
wuchs  die  Besorgniss,  dass  ein  allgemeiner  Aufstand  beab- 
sichtigt werde  und  die  Fäden  einer  Verschwörung  in  Brüssel 
und  München  zusammenliefen. 

Da  mit  diesen  Anschlägen  die  Gefangennehmung  der 
kurfürstlichen  Kinder  gerechtfertigt  wurde,  ist  es  notwendig, 
näher  darauf  einzugehen. 

Eine  „Gründtliche  Reduction  und  Information,  was  es 
mit  denen  alsogenanten  Ilbesheimischen  Tractaten ,  deren 
Schliess-  und  erfolgten  Wiederaufhebung  vor  aine  Bewandt- 
nus  habe,"  am  3.  Mai  1713,  offenbar  in  Folge  des  zu  Utrecht 
erneuten  Streits  wegen  Zurückgabe  Bayerns  an  das  Witteis- 
bachische  Haus  abgefasst,  zählt  eine  lange  Reihe  von  Ver- 
letzungen des  genannten  Vertrags  auf,  welche  zu  Besetzung 
von  München  und  Gefangennahme  der  Prinzen  bewogen  ^). 
Im  April  1705  sei  der  kurbayrische  Kammerrath  und  Zeug- 
amtscommissär  Baron  Lier  wegen  dringenden  Verdachts,  dass 
er  ein  „namhaffter  mitwirker  mehrer  wehrenten  infractiones 
des  Ilbesheimischen  Vertrags"  ,  in  Haft  gebracht  worden, 
desgleichen  etwas  später  der  Kammerdirektor  Neusönner, 
„durch  deren  beeden  verfolgt(en)  examination  zu  sothanen 
yberfluss  bestettiget  worden  ist,  was  man  vorhero  schon  durch 
sichere  Kundschafft  und  andere  Weeg  zur  genieg  versichert 
und  convincirt  worden".  Demgemäss  habe  man  nicht  mehr 
bezweifeln  können,  dass  der  Kurfürst  von    den  Niederlanden 


1)  Feldziige,  VII,  363. 

2)  Feldzüge,  VII,  364. 

3)  Das  Schriftstück,  oft'enbar  otiiziellen  oder  doch  offiziöaen  Ur- 
sprungs, ist  mitgetheilt  bei   Honnayr,  207. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.      27 

aus  otfeuen  Bruch  des  Ilbesheimer  Vertrags  augeordnet  und 
feindselige  Anschläge  gegen  kaiserliches  Recht  und  Interesse 
geleitet  habe.  Dies  sei  auch  aufgedeckt  worden  aus  aufge- 
fangenen Briefen  des  Kurfürsten  an  seine  Gemahlin,  insbe- 
sondere aber  aus  Briefen  des  kurfürstlichen  Cabinetssekretärs 
Reicliardt  an  Neusönner  und  Lier :  diese  drei  Männer  hätten 
als  ,gehaimbiste  Ministri"  die  eigentliche  Regierung  in  Händen 
gehabt  und  die  vielfachen  Verletzungen  des  zwischen  dem 
Kaiser  und  der  Kurfürstin  geschlossenen  Friedens  verschuldet. 
Während  z.  B.  Auslieferung  des  gesammten  Kriegsmaterials 
ausbedungen  war,  seien,  wie  aus  einem  Brief  Neusönner's 
an  Reichardt  vom  29.  Dezember  1704  hervorgehe,  noch  im 
Dezember  grosse  Massen  schweren  Geschützes  durch  Baron 
Lier  vergraben  worden,  ,da  dieser  letztere  aus  höcherem 
Bevelch  die  Vergrabung  angeschafft  zu  haben,  sich  sogar 
der  expression  zu  gebrauchen  vermessen,  wan  er  auch  das 
gantze  Zeughaus  auf  dem  Rücken  mit  sich  hinunder  nach 
Brüssel  hette  bringen  können ,  er  solches  gethan  haben 
wurdte".  Statt  die  Abdankung  der  bayrischen  Soldateska  zu 
betreiben,  habe  Neusönner  die  Revolte  in  Ingolstadt  in  Scene 
gesetzt  und  die  Uebersiedlung  von  Offizieren  in  die  Nieder- 
lande gefördert.  Ebenso  wenig  sei  gehalten  worden,  was 
bezüglich  Auslieferung  der  festen  Plätze,  Niederreissung  der 
Münchner  Befestigungswerke  und  andrer  Punkte  in  Aussicht 
gestellt  war;  auch  habe  sich  die  Kurfürstin,  ,ohne  von  Ihrer 
Kay.serUchen  Majestaet  die  Beurlaubung  auszubitten  oder  die 
ürsach  und  Absechen  der  fürhabenten  Reis  gethreulich  zu 
eröffnen,  auch  ohne  das  Sye  den  in  ihren  Landten  habenten 
Tyrollischen  Schatz  vorhero  extradirt  hette,  aus  dem  Lande 
begeben".  Kurz,  um  einen  gefährlichen  Herd  von  Intriguen 
gegen  das  Kaiserhaus  zu  zerstören,  sei  es  nöthig  gewesen, 
,den  Missbrauch  des  Besizes  und  geniessung  des  Rentamts 
München,  wo  solche  böse  consilia  geschmiedet  und  der  ab- 
gedankte geferliche  Soldat  seinen  aufenthalt  und  underschlaipf 
gefundten,  zu  entziehen". 


28  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Die  von  kaiserlicher  Seite  erhobenen  Vorwürfe  sind  nicht 
unbegründet.  Die  zwischen  Neusönner  und  Reichardt  ge- 
wechselten Briefe,  die  zur  Zeit  im  Wiener  Kriegsarchiv  hinter- 
liegen, schliessen  jeden  Zweifel  aus,  dass  in  der  That  politische 
und  militärische  Massnahmen,  wie  sie  das  österreichische 
Memorandum  charakterisirt,  von  den  Korrespondenten  betrieben 
wurden^;.  Es  wird  darin  besprochen,  wie  Offiziere  und  ganze 
Truppenkörper  nach  den  Niederlanden  durchzubringen  wären; 
dessgleichen  ist  die  Rede  von  Verhandlungen  mit  Rakoczy, 
mit  welchem  Neusönner  durch  einen  Hauptmann  Coulon  in 
Verbindung  getreten  war,  und  von  einem  Plan,  in  Böhmen 
einen  Aufstand  anzufachen.  Auch  in  Briefen,  welche  der 
nach  Brüssel  mitgezogene  Minister  Baron  Malknecht  mit  dem 
Beichtvater  der  Kurfürstin  wechselte,  sind  nicht  bloss  Familien- 
nachrichten berührt,  sondern  auch  Regierungsfragen  und  Ver- 
handlungen mit  den  ungarischen  Insurgenten  und  auswärtigen 
Mächten^).  Ob  das  kurfürstliche  Paar  um  solche  Agitation 
wusste?  Von  Neusönner  wurde  es  im  Verhör  behauptet^), 
und  das  Lob,  das  der  Kurfürst  wiederholt  der  „heldenmüthigen 
Haltung"  und  „Klugheit"  seiner  Gemahlin  spendet,  dürfte 
vermutlich  als  Bestätigung  jener  Aussage  aufzufassen  sein. 
Dass  eine  „sicilianische  Vesper"  geplant  worden  wäre,  wie 
damals  kaiserliche  Beamte  befürchtet  und  später  bayrische 
Historiker  mit  einer  gewissen  Ruhmredigkeit  versichert 
haben,  ist  freilich  nirgend  in  diesen  Briefen  angedeutet'*). 

1)  Mehrere  von  den  in  der  „Gründtlichen  Keduction"  erwähnten 
Briefen  sind  nunmehr  nach  den  Originalen  abgedruckt  im  Anhang 
zu  Staudinger's  Geschichte  des  2.  Infant. -Regiments,  III,  79. 

2)  B.  H.-A.  Nr.  754.  Lettres  du  baron  de  Malknccht  et  Reichardt 
au  Pere  Schmacker,  1703—1716. 

3)  Gründtliche  Reduction  etc.:  .  .  .  „wie  dann  der  Neusönner 
selber  in  der  bey  seiner  Exarainirung  eingegebenen  erleutterung  auf 
die  Churfürstin  in  allem  culpam  rejiciendo  sich  bewirfFt". 

•1)  In  gleichzeitigen  Zeitungen  wird  ein  Plan  einer  allgemeinen 
Erhebung  erwähnt,  der  aus  den  bei  Baron  Lier  aufgefundenen  Brief- 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhtie  Max  EmanueVs  etc.     29 

Nach  Aufdeckung  der  geheimen  Verbindung  zwischen 
der  Regentschaft  und  dem  Kurfürsten  hielt  sich  der  Kaiser 
für  berechtigt,  ohne  Rücksicht  auf  den  Ilbesheimer  Vertrag 
mit  aller  Strenge  vorzucfehen. 


Schäften  entdeckt  worden  sein  soll.  Darnach  hätte  der  Kurfürst  an- 
geordnet, dass  an  einem  bestimmten  Tage  die  in  Bayern  noch  be- 
findlichen Offiziere  und  Soldaten  der  aufgelösten  Armee  die  Waffen 
ergreifen  und,  unterstützt  von  vielen  tausend  ßauem,  sich  eines 
Passes  an  der  Donau  bemächtigen  und  dort  so  lange  behaupten 
sollten,  bis  ihnen  aus  der  Schweiz  oder  aus  dem  Elsass  Hilfe  gebracht 
würde.  So  berichten  der  Monatliche  Staatsspiegel  (Monat  Mai  1705, 
46)  und  nach  ihm  das  Curieuse  Bücher  -  Cabinet  (XV,  808j.  Das 
Theatrum  Europaeum  (XVII,  112)  bezweifelt  die  Richtigkeit  dieser 
Angaben:  ,Es  wolten  aber  viele,  sonderlich  in  Bayern,  behaupten, 
dass  die  Gefahr  nicht  vorhanden  gewesen."  Die  das  kaiserliche 
Interesse  vertretende  , Europäische  Fama"  (36.  Theil,  840)  weiss  an- 
geblich noch  Genaueres  zu  berichten;  am  Himmelfahrtstag  sollten 
Soldaten  und  Bauern  den  ganzen  Best  der  in  Bayern  stehenden 
kaiserlichen  Truppen  ohne  Erbarmen  todtschlagen ;  dann  sollten 
,Regenspurg  und  Augspurg  durch  heimliches  Verständniss  in  Brand 
gesteckt  und  ausgeplündert,  enfin  das  Unterste  zu  Oberst  gekehrt 
und  eine  allgemeine  Revolte  in  Bayern  erreget,  mithin  der  innerliche 
Ruhstand  des  Reichs  gekränkt  und  wo  möglich  der  Krieg  aus  dem 
Elsass  wieder  nach  Schwaben  gezogen  werden".  Auch  eine  von 
Hormayr  (Mordweihnachten  von  Sendling,  136)  abgedruckte,  nicht 
näher  bezeichnete  Relation  über  die  Besetzung  Münchens ,  sowie 
eine  Flugschrift  „Kurtzgefasster,  Curieuser  Verlauf  und  Umständlicher 
Bericht  von  der  entsetzlichen  Revolte  und  Rebellion  im  Churfürsten- 
thum  Bajern"  wiederholen  diese  Angaben.  Ihre  Glaubwürdigkeit 
wird  jedoch  dadurch  erschüttert,  dass  die  mehrgenannte  offizielle 
Klageschrift  der  kaiserlichen  Regierung,  die  sonst  in  jedes  Detail 
eingeht,  nichts  von  einem  organisirten  Aufstand,  sondern  nur  von 
Aufstandsgelüsten  und  vereinzelten  Vorschlägen  zu  berichten  weiss. 
Auch  die  vorhandenen  Briefe  enthalten  keine  Anspielung  auf  einen  festen 
Plan  einer  allgemeinen  Erhebung.  Demnach  ist  wohl  unhaltbar,  was 
auch  Aretin  (Die  Oestreicher  in  Baiern,  16),  Honnayr  (Mordweihnachten 
von  Sendling,  135),  Schreiber  (Max  Emanuel  von  Bayern,  89),  Sepp 
(Der  bayerische  Bauernkrieg,  110)  u.  A.  von  der  in  zwölfter  Stunde 
vereitelten  ,sicilianischen  Vesper"  in  Bayern  erzählen. 


30  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Der  ,bekandte  und  sogenannte"  Baron  Lier,  wie  ihn 
Prinz  Eugen  nennt  ^),  wurde  als  Gefangener  nach  Wien  ge- 
bracht, Neusönner  nach  Graz;  durch  ihre  Aussagen  war  die 
Aufdeckung  von  massenhaftem,  da  und  dort  vergrabenem 
Kriegsmaterial  ermöglicht^),  auch  erneute  Entwaffnung  von 
Bürgers-  und  Bauersmann  wurde  angeordnet,  die  Okkupations- 
armee durch  schwäbische  und  tränkische  Regimenter  ver- 
stärkt, endlich  die  schon  früher  beschlossene  Einsetzung  einer 
eigenen  kaiserlichen  Regierung  in  Bayern  in's  Werk  gesetzt. 
Indessen  sollte  Karl  Graf  von  Löwenstein,  der  neue  „Ad- 
ministrator in  Bayern",  dem  Graf  Sigmund  von  Lamberg 
und  Graf  Seeau  als  Minister  für  Kriegsangelegenheiten  und 
Finanzen  zur  Seite  standen,  gemäss  seiner  Instruktion  vom 
4.  April  1705,  „so  viel  es  bei  jetzigen  schweren  Kriegszeiten 
geschehen  kann",  Landstände  und  ünterthanen  in  guter 
Stimmung  zu  erhalten  suchen.  Alles  thun,  um  das  Volk  zu 
beschwichtigen,  Alles  unterlassen,  wodurch  das  Gefühl  des 
Volkes  verletzt  werden  könnte.  Am  Beamtenstatus  sollte  so 
wenig  wie  möglich  gerüttelt,  jedoch  jede  Verbindung  mit 
Prankreich  und  den  Niederlanden  sorglich  verhindert  werden^). 

Diese  Dekrete  waren  noch  von  Kaiser  Leopold  unter- 
zeichnet. Noch  vorsichtiger  musste  Josef  I.,  der  nach  des 
Vaters  Tod  am  5.  Mai  1705  den  Thron  bestieg,  darauf  be- 
dacht sein,  zu  verhüten,  dass  die  Hauptstadt  des  geschlagenen 
Peindes  ein  Herd  gefährlicher  Umtriebe  werde  und  ein  Auf- 
stand aus  Bayern  in's  benachbarte  Böhmen  sich  fortpflanze. 


1)  Heller,  II.  343. 

2)  Dass  die  Kaiserlichen  den  Begriff  Kriegsmaterial  nicht  streng 
begrenzten,  erhellt  aus  einem  Briefe  des  Baron  Neuhaus  an  Pater 
Schmacker  vom  3.  April  1705  (B.  H.-A.  Briefe  des  Freyherrn  von 
Neuhauss  an  P.  Sehmacker  nach  Venedig,  1705  —  1706),  worin  be- 
klagt wird ,  dass  die  Kaiserlichen  auch  „die  im  Arsenal  sich  be- 
fundtene  Metallene  Statuen  schon  abgefiehret". 

3)  Feldzüge,  YU,  369. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmantieVs  etc.     31 

Ob  Josef  schon  damals  die  Absicht  hegte,  wenigstens  den 
Kern  des  Kurfürstenthnms  den  ()sterreichischen  Erbstaaten 
einzuverleiben,  lässt  sich  mit  Bestimmtheit  weder  behaupten, 
noch  in  Abrede  stellen. 

General  Gronsfeldt  erhielt  Befehl,  sich  der  Stadt  München 
durch  einen  heimlichen  Ueberfall  zu  bemächtigen.  Der  bay- 
rischen Regentschaft  sollte  einfach  bedeutet  werden,  „dass 
Ihro  KaivSerliehe  Majestaet,  um  allen  Gefährlichkeiten,  die 
sattsam  am  Tage  liegen,  auch  seiner  Zeit  der  Welt  sollten 
geoffenbart  werden,  kräftig  zu  steuern,  das  hl.  römische  Reich 
und  die  Erblande  in  desto  mehr  Sicherheit  zu  stellen,  seien 
bewogen  worden,  sich  des  Ortes  zu  versichern".  Nach  Ein- 
nahme der  Stadt  sollte  sich  Gronsfeldt  der  Prinzen  „mit  aller 
Höflichkeit  versichern,  doch  gleichwohlen  mit  wachsamem 
Auge  beobachten^j". 

Am  15.  Mai  drangen  kaiserliche  Truppen  in  die  Nähe 
Münchens  vor.  Die  Bevölkerung  ahnte  nichts  Schlimmes, 
denn  es  war  das  Gerücht  ausgesprengt  worden,  dass  kaiserliche 
Regimenter  auf  dem  Durchmarsch  nach  Italien  das  Rentamt 
München  durchziehen  würden.  Erst  als  auf  den  Höhen  rings 
um  die  Stadt  Geschütze  aufgepflanzt  wurden,  erkannte  man 
die  feindliche  Absicht.  Zur  Gegenwehr  war  es  jedoch  zu 
spät;  ein  Theil  der  Bevölkerung  wollte  zwar  Widerstand 
leisten,   allein    nachdem  Grousfeld    versichert    hatte,    dass   er 


1)  Ebenda,  373.  —  In  Plinganser's  Bericht  an  den  Kurfürsten 
über  Ursachen  und  Verlauf  des  Bauernaufstandes  wird  die  Besetzung 
Münchens  auf  Umtriebe  von  österreichisch  gesinnten  bayrischen  Unter- 
thanen  zurückgeführt;  es  hatten  sich  „einige  Landinsassen  zur  Siche- 
rung ihrer  Absichten  nicht  gescheut,  die  Landesunterthanen  bei  der 
kaiserlichen  Administration  in  Verdacht  eines  vorhabenden  allgemeinen 
Aufstandes  zu  bringen  und  vorzustellen,  dass  zur  Beibehaltung  der 
allgemeinen  Ruhe  das  Rentamt  München  ebenfalls  in  Besitz  ge- 
nommen und  die  junge  baiersche  Mannschaft  jährlich  ausgemustert 
und  ausser  Landes  in  kaiserliche  Dienste  abgeführt  werden  müsse" 
(Rastlos,  22).    Die  Richtigkeit  der  Angabe  darf  wohl  bezweifelt  werden. 


32  Sitzuvg  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  188S. 

„den  Chur-  und  andren  Prinzen  nichts  Widrif^es  werde  wider- 
fahren lassen",  wurde  am  IG.  Mai  die  Stadt  übergeben'). 
Nun  nahm  der  Administrator  Graf  Löwenstein  hier  seinen 
Wohnsitz.  Schatzkammer,  Antiquarium,  Kunstkammer  und 
Archive  wurden  obsignirt,  die  Beamten  für  den  Kaiser  in 
Pflicht  genommen  und  zur  Ablegung  des  Treueeides  gezwungen, 
die  Bürger  auf  spezielles  Betreiben  Prinz  Eugen's  entwaffnet. 
Im  Uebrigen  war  Löwenstein  angewiesen,  für  strengste  Auf- 
rechthaltung der  Disciplin  der  kaiserlichen  Truppen  zu  sorgen. 
Schon  eine  noch  von  Kaiser  Leopold  ausgestellte  Instruktion 
vom  14.  April  hatte  ihn  zur  Erklärung  ermächtigt,  dass  „die 
Prinzen  ausser  aller  forcht  und  Sorge  zu  seyn  hätten,  zu- 
mahlen  ihnen  kein  Leid  widerfahren,  sondern  ihrem  Stand 
nach  mit  geziemender  Ehrerbietigkeit  begegnet  und  alle 
Sicherheit  verschafft  werden  sollte"^).  Auch  nach  Einnahme 
Münchens  erhielt  er  von  Kaiser  Joseph  Weisung,  dafür  Sorge 
zu  tragen,  ,dass  denen  churfürstlichen  Prinzen  an  ihrer 
Erzieh-  und  Bedienung ,  auch  anderen  Nothwendigkeiten 
nichts  abgehe,  noch  ihnen  im  geringsten  etwas  widriges, 
sondern  vielmehr  alle  gebührende  Ehr  und  Höflichkeit  er- 
zeiget werden"  ^).  Noch  deutlicher  beweist  die  kaiserliche 
Instruktion  vom  31.  Mai  1705,  dass  keineswegs  eine  rück- 
sichtslose oder  gar  grausame  Behandlung  der  Verwandten  des 
Kaisers  beabsichtigt  war.  Es  wurde  angeordnet,  dass  den 
Prinzen  ihr  bisheriger  Hofstaat  mit  Einschluss  der  Leibtra- 
banten belassen  werde;  nur  Leute,  welche  dem  Administrator 
„nicht  anständig"  erschienen,  sollten  entfernt  werden.  An 
Abführung  der  Prinzen  werde  nicht  gedacht,  doch  soll  der 
der    Administrator    „auf   selbige   gute  Obsicht    halten",    für 


1)  Da  Ratzenhofer's  Darstellung  sich  im  Allgemeinen  durch 
strenge  Objektivität  auszeichnet ,  fällt  um  so  unangenehmer  auf, 
dass  bei  Erzählung  dieser  Vorgänge  von  Widerstandsverauchen  des 
^Pöbels"  gesprochen  wird  (Feldzüge,  VII,  374). 

2)  K.  k.  Haus-,  Hot-  und  Staatsarchiv. 

3)  Ebenda. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Sohne  Max  Emamiel's  etc.     33 

deren  Unterhalt  und  standesmässige  Erziehung  Sorge  tragen, 
dieselben  zuweilen  besuchen  und  dabei  die  ihm  als  Admini- 
strator gebührende  „Oberhand"  nicht  ausser  Acht  lassen.^) 
Nach  der  gäng  und  gäben  Tradition  hätte  Graf  Löwen- 
stein nicht  darnach  getrachtet,  die  Bevölkerung  Münchens 
lind  Bayerns  zu  beschwichtigen,  sondern  wie  ein  zweiter 
Alba  durch  strengste  Zwangsmassregeln  die  Ruhe  des  Kirch- 
hofs hergestellt.  Aus  Löwenstein's  Berichten  an  den  Kaiser 
lässt  sich  jedoch  ersehen,  dass  diese  Auffassung  nicht  der  Wahr- 
heit entspricht.  Er  verwendete  sich  bei  jeder  Gelegenheit 
zu  Gunsten  des  ihm  anvertrauten  Landes,  im  Gegensatz  zu 
den  kaiserlichen  Generälen,  welche  nur  auf  militärische  Vor- 
theile  Bedacht  nahmen.  Wiederholt  wurde  gegen  das  „un- 
geziemende und  propositirte  Procediren  des  Herrn  Feldmar- 
schallen  Grafen  von  Gronsfeldt"  Protest  erhoben.  Als  z.  B. 
ein  weiteres  Husarenregiment  nach  Bayern  verlegt  werden 
sollte,  verwahrte  sich  die  Administration  gegen  das  Einrücken 
von  Truppen,  „welche  aus  dem  Raub  ihren  Nutzen  und 
Vortheil  zu  suchen  gewohnt  sind."  Der  kaiserliche  Erlass 
bezüglich  der  Rekrutirung,  verlangte  Löwenstein,  möge 
wenigstens  dahin  gemildert  werden,  dass  ein  Vater  nicht 
genötigt  sein  soll,  den  einzigen  Sohn  wegzugeben  etc.  Auch 
an  Prinz  Eugen  wurde  wiederholt  appellirt  gegen  die  Be- 
schlüsse des  Wiener  Hofkriegsraths,  welcher  „supponirt,  das 
Land  Bayern  gleich  einem  Erblande  zu  traktiren,  welches 
doch  ex  addictis  argumentis  weit  differiret  und  nullo  modo 
aut  genere  zureichend  sein  wird,  dass  es  die  schuldige  De- 
votion mit  Sacrificirung  von  Gut  und  Blut,  gleichwie  es  für 
den  Churfürsten  gethan,  für  das  Erzhaus  Oesterreich  bringen 
werde".  Und  als  auch  Prinz  Eugen  darauf  bestand,  dass 
die  Rekrutirung  mit  aller  Strenge  durchgeführt  werden  müsse, 
lehnte    Löwenstein   jede  Verantwortung   für   die  Folgen    ab, 


1)  K.  k.  Haus-,  Hof-  u.  Staatsarchiv. 
1888.  Philo8.-pkilol.  u.  bist.  Ol.  U.  ]. 


34  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

und  prophezeite,  dass  ans  schlimmer  Saat  eine  schlimme  Ernte 
heranreifen  werde. ^) 

Auch  Kurfürstin  Therese  wandte  sich,  als  sie  die  Weg- 
nahme Münchens  erfahren  hatte,  an  Prinz  Eugen  um  Auf- 
klärung des  befremdenden  Vorgehens,  das  nur  als  offene 
Verletzung  des  Ilbesheimer  Vertrags  aufgefasst  werden  könne. 
Engen  erwiderte,  ihm  seien  die  Motive,  welche  den  verstor- 
benen und  den  jetzt  regierenden  Kaiser  zu  solchen  Massregeln 
bewogen  hätten,  nicht  bekannt,  er  zweifle  aber  nicht  daran, 
dass  seine  Gebieter  „kein  geringes  Fundament"  gehabt  hätten; 
es  werde  wohl  in  Bayern  conspirirt  und  damit  zu  Verletzung 
der  Accordspunkte  Anlass  gegeben  worden  sein.^) 

Die  Kurfürstin  sollte  durch  eine  noch  peinlichere  Er- 
fahrung belehrt  werden,  wie  sehr  ihr  Gemahl  Recht  gehabt 
hatte,  die  Abreise  aus  München  zu  widerrathen.  Als  sie  in 
die  Heimat  zurückkehren  wollte,  wurde  ihr  an  der  tirolischen 
Grenze  bedeutet,  es  könne  ihr  nicht  mehr  gestattet  werden, 


1)  Feldzüge,  VII,  382.  —  Auch  Unertl  nimmt  in  seinem  Bericht 
über  die  Okkupation  (Cod.  bav.  1947,  fol.  15)  die  kaiserliche 
Administration  in  Schutz.  „Die  kaiserliche  Administration  ist  dem- 
nach mit  dem  Militari  in  grösster  Ruhe,  ohne  den  Landen  zu  Bayern 
die  mindeste  Bedrängniss  zu  machen,  abgezogen,  wie  dann  auch 
gedachte  Lande  in  Zeiten  der  Administration  ausser  des  ersten  Jahres, 
wo  das  Gericht  Tölz  aus  böser,  einiger  hinterbliebener  Offiziere  An- 
stiftung in  eine  offene  Rebellion  und  Aufstand  sich  verfallen  und 
sogar  vor  hiesige  Residenzstatt  gezogen,  allzeit  wohl  erduldlich  und 
die  letztere  Jahr  so  leidentlich  mit  Steuern  und  Oblagen  gehalten 
worden,  dass  selbiger  ünterthan  mehrers  sich  erhohlet  als  gelitten 
hat,  darüber  ich  nicht  allein  eine  löbliche  Landschafft,  sondern  auch 
den  Landmann  zum  Zeugen  anrufen  darff."  Richtig  und  gerecht  wird 
die  Lage  im  „Curieusen  Büchercabinet"  (XV,  784)  beurteilt:  „Jeder- 
mann kann  sich  einbilden,  dass  dieses  fremde  Regiment,  so  gelinde 
es  auch  gewesen,  denen  Bayern  nicht  wird  angestanden  haben,  weil 
natürlich  ist,  dass  man  nicht  gerne  einem  anderen  pariren  will,  vor 
deme  man  jederzeit  eine  Aversion  gehabt". 

2)  Heller,  II,  4()G. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanneVs  etc.     35 

in  Bayern  ihren  Wohnsitz  zu  nelimen.  Vergeblich  wandte 
sie  sich  an  den  Kaiser,  vergeblich  an  Prinz  Eugen,  der  sich 
auf  die  Erwiderung  beschränkte,  in  Folge  der  bayerischen 
Anschläge  auf  das  kaiserliche  Regiment  habe  der  Ubesheiraer 
Vertrag  alle  Rechtskraft  verloren.^) 

Umsonst  richtete  auch  Kurprinz  Karl  Albert  am  18.  Juni 
1705  an  Kaiser  Joseph  ein  flehentliches  Gesuch,  er  möge  ihn 
und  seine  Geschwister  „als  gleichsam  verlassene  Pupillen" 
in  seine  gnädigste  Protektion  aufnehmen  und  zum  Beweis 
seiner  Huld  die  Rückkehr  der  Mutter  zu  ihren  Kindern  ge- 
statten.^) Die  Bitte  wurde  nicht  gewährt,  doch  liess  Joseph 
dem  Prinzen  eröffnen,  dass  er  „ihm  und  seinen  Gebrüdern 
mit  Gnaden  zugethan  sey  und  ihnen  solche  zu  erweisen  nit 
erraanglen  wolte,  auch  den  Verlust  seines  Bruders  Prinzen 
Aloysii  (gest.  18.  Juni  1705)  ohngern  vernommen  und  (Löwen- 
stein) anbefohlen  hätte,  Sorg  zu  tragen,  dass  ihnen  an  ihrer 
Bedienung,  Gesundheit  und  Erlustigung  sowohl  als  Noth- 
wendigkeiten  nichts  abgehen  möge".^) 


1)  Heller,  II,  614. 

2)  Das  im  K.  k.  H.-,  H.-  u.  St.-Arch.  verwahrte  Originalschreiben 
trägt  das  Datum  18.  Juni  (übersandt  durch  Löwenstein  am  19.  Juni). 
Demnach  ist  falsch  das  Datum  7.  Juni,  das  der  Abdruck  des  Briefes 
in  der  Europäischen  Fama  (3G.  Bd.,  842)  und  darnach  bei  Lipowsky 
(Des  Churfürsten  von  Baiern,  Maximilian  Emanuel,  Statthalterschaft 
in  den  spanischen  Niederlanden,  79)  u.  A.  trägt,  wie  auch  der  Um- 
stand, dass  hier  von  „Schwestern"  Karl  Albert's  gesprochen  wird, 
während  er  nur  eine  Schwester  hatte,  den  abgedruckten  Brief  als 
aprokryph  erkennen  lässt.  Dass  der  Kaiser  die  Bitte  des  Kurpi-inzen 
abschlägig  beschied,  wurde  diesem  am  26.  Juli,  als  er  bei  Löwenstein 
zu  des  Kaisers  Geburtsfest  gratulirte,  eröffnet  (Bericht  Löwenstein's 
vom  28.  Juli). 

3)  K.  k.  H.-,  fl.-  u.  St.-Arch.  Als  der  Kurprinz  einige  Wochen 
später,  wie  erwähnt,  dem  Grafen  Löwenstein  seinen  Glückwunsch  zum 
Geburtstag  des  Kaisers  übermittelte,  versicherte  Löwenstein,  dass  der 
Kaiser  über  den  an  ihn  gerichteten  hübschen  Brief  hohe  Befriedigung 
empfunden    habe,    und    sprach    die    Hoffnung    aus,    dass    die   Kinder 

3* 


36  Sitzung  der  histor.  Glasse  vom  5.  Mai  1888. 

Ein  weiteres  Reskript  vom  6.  Oktober  1705  verfügte 
Neueinrichtung  des  Hofstaates  der  kurfürstlichen  Familie  in 
München.  Zum  Gouverneur  der  Prinzen  wurde  Baron  Gui- 
debon ernannt,  zur  Erzieherin  der  zehnjährigen  Prinzessin 
Baronin  Weichs.  ^)  Zugleich  ward  wiederholt  des  Kaisers 
ernster  Wille  betont,  dass  die  Kinder  in  sorgliche  Obhut 
genommen  werden  sollen:  „Wir  wollen,  dass  an  der  Printzen 
guter  Erziehung  in  fürtrefflichen  Tugenden  und  Sitten,  wie 
auch  an  derenselben  anständiger  Bedienung  nichts  unter- 
lassen werde,  und  wie  wir  zu  des  von  Guidobonne  bekannter 
integritet,  Vernunfft  und  Erfahrenheit  das  gnädigste  Vertrawen 
haben,  dass  er  hierinfallss  am  besten  dienen  und  die  Prinzen 
zum  Guten,  sonderlich  zu  der  schuldigen  devotion  und  Liebe 
gegen  ihre  von  Gott  vorgesetzte  Obrigkeit  und  das  Vatterland 
anweissen  werde,  so  haben  wir  gut  resolvirt,  ihn  für  deren 
Ober-Hoffmeister  und  zugleich  Oberst-Cammerern  vorstellen 
zu  lassen." 

Am  G.  Nov.  1705  berichtete  Löwenstein  an  den  Kaiser 
über  den  Vollzug  der  „Reformation"   des  Hofstaates.     Ausser 


wohl  bald  wieder  mit  der  Mutter  vereinigt  würden.  Der  Prinz 
theilte  diese  erfreuliche  Kunde  am  31.  Juli  der  Mutter  mit.  Am 
14.  Augu.st  schrieb  er:  „Mr.  le  comte  de  Löwenstein  m'a  lu  la  lettre, 
qu'il  avoit  re9ue  de  Vienne.  Sa  Majeste  Imperiale  aprfes  m'y  avoir 
fortement  assure  de  la  continuation  de  Sa  tres  puissante  protection 
et  de  Ses  graces  montre  un  gi-and  chagrin  de  ce  que  le  temps 
ne  permettoit  pas  encore  de  m'accorder  le  retour  de  Votre  Altease 
Electorale,  que  je  luy  avois  si  ardemment  demande"  (B.  A.  K.  schw. 
261/61.) 

1)  Max  Emanuel  war  mit  der  Wahl  dieser  Erzieher  nicht  ein- 
verstanden. „Cependant  nos  enfants  ont  toujours  une  oducation  per- 
nicieuse,  et  je  ne  m'cn  afflige  pas  moins  que  Vous,  car  c'est  Ih  le 
plus  grand  mal,  et  s'il  dure,  nous  aurons  de  la  jjeine  k  remedier,  car 
Tage  vient  et  les  plis  se  fönt;  ce  que  Vous  me  mandez  la  dessua  de 
la  Princesse,  est  asseurement  de  quoy  s'inquieter,  je  croy  Madame  de 
Weix  aussi  peu  propre  que  Guidebon  et  ceux  qui  les  entourent". 
(Lettre  de  l'electeur  a  l'electrice,  d.d.  Bruxelles.  1.5.  janvier  170(j). 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Sö/»nc  Max  EmanueVs  etc.     37 

(lern  Obersthofmeister  waren  nunmehr  noch  vier  Kamraerherrn 
jiufgestellt,  Graf  Thürheim,  7Aigleich  Hauptmann  der  Guardia, 
Graf  Fugger,  zugleich  Oberstküchenmeister,  Graf  Hegnenberg 
und  Baron  Lösch.  ,Der  Ohurpriutz  hat  bei  dieser  Vorstellung 
mir  geantwortet,  dass  alles,  was  Ew.  Kayserliche  Majestaet 
disponirten,  gantz  wohl  gethan  sey,  nur  bittend,  ihren  Graffen 
Joseph  von  Törring  ihnen  zu  lassen.  Alldieweilen  aber  Ew. 
Kayserl.  Majestaet  in  dero  allergnädigstem  ßefelchsschreiben 
von  diesem  in  specie  keine  Meldung  gethan,  so  habe  auch 
ich  dieses  des  Printzen  Begehren  gleichsamb  non  audiendo 
dissimuliret,  ihme  Graf  Joseph  von  Törring  aber  schon  vor- 
her zu  verstehen  gegeben,  dass  ich  zwar  seines  Bleibens  oder 
Abkommens  wegen  keinen  positiven  Befelch  habe,  er  möge 
sich  aber  nur  dahin  befleissen,  die  Prinzen  zu  disponiren, 
dass  sie  die  vorseyende  Reformation  ohne  Contristation  be- 
griffen, das  übrige  wegen  seiner  Person  werde  sich  demnechst 
schon  schicken;  welches  dann  auch  so  viel  gefruchtet,  dass 
alles  ohne  sonderbahre  alteration  wohl  abgegangen  ist. "  Ob- 
wohl Löwenstein  sich  dagegen  aussprach,  wurde  Graf  Törring 
belassen.  Präceptor  des  Kurprinzen  wurde  Egon  Joseph 
Wilhelm,  Probst  von  Mattighofen,  ein  Bruder  des  Kabinets- 
sekretärs  Ignaz  Franz  Wilhelm  und  gleich  diesem  nichts 
wenit^er  als  kaiserlich  gesinnt.  Als  Hofdamen  der  Prinzessin 
Maria  Anna  wurden  die  Freifrauen  von  Ovalise  und  Rechberg 
belassen.^) 

Von  Abführung  der  kurfürstfichen  Kinder  nach  Oester- 
reich  ist  in  keinem  der  zwischen  Wien  und  München  ge- 
wechselten Schriftstücke  die  Rede. 

Da  tauchte  plötzlich  im  Spätherl^st  1705  das  Gerücht 
auf,  der  Kaiser  beabsichtige,  die  Prinzen  als  Gefangene  aus 
Bayern  zu  entführen. 

Von  wem  das  Gerücht  ausging,  konnte  auch  durch  die 


1)  K.  k.  H.-,  H.-  u.  St.-A. 


38  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  tSS8. 

später  von  den  Kaiserlichen  anc^eordnete  Untersuchung  nicht 
festgestellt  werden.^)  Durch  das  Hofgesinde  verbreitet,  drang 
die  Kunde  in  die  Bürgerschaft  und  rief  hier  Aufregung  und 
Entrüstung  hervor.  Die  Bevölkerung  von  Stadt  und  Land 
war  ohnehin  erbittert  über  die  Einquartirung  so  grosser 
Truppenmassen,    die    Eintreibung    von    Kriegssteuern,    ins- 


1)  In  dem  Akt,  die  Untersuchung  gegen  Graf  Törring  betr., 
(Münchener  Reichsarchiv:  Spanischer  Erbfolgekrieg,  Nr.  107  Graf 
Philipp  Joseph  von  Törring,  25  Jahre  alt,  wurde  im  Schloss  zu  Ingol- 
stadt am  19.  Jänner  1706  verhört,  ,weil  er  Wissenschaft  gehabt,  dass 
die  Bauern  vor  München  rücken  werden'*)  heisst  es:  „Ob  dem  H.  Graffen 
nit  bekandt  seye,  wo  das  geschwätz  herkommen,  dass  man  die  Printzen 
wegführen  wolle  V 

Nein,  wisse  es  nit,  Er  seye  von  dem  Kammerdiener  duc  Lac 
deshalb  gefragt  worden,  „man  sage  in  der  gantzen  Residenz  davon". 
Er  habe  bei  Sr.  Excellenz  dem  Herrn  Administrator  zu  Mittag  gespeist, 
den  gantzen  Nachmittag  dort  verblieben,  darzu  aber  im  geringsten 
keine  apparenz  verspühret.  Soviel  erinnere  er  sich,  dass  etliche  tag 
zuvor  schon  einmahl  das  geschrey  durch  die  Fr.  Üäubnerin  Cammer- 
dienerin  auskommen  seye,  welche  vorgeben  haben  solle,  dass  Ihr  ein 
Franziskaner  gesagt,  in  der  Kirchen  auff  dem  gang  abends  in  der 
Litaney,  allwo  auch  Herr  Grnff  v.  Seeau  sich  befunden,  gehört  zu 
haben,  dass  jemand  dem  Herrn  graflen  v.  Seeau  gesagt,  man  werde 
die  Printzen  hinwegführen,  und  dieses  zwar  solle  dem  Vernehmen 
nach  ein  ofiicier  gewesen  seyn;  diese  Däublerin  habe  es  sodan  dem 
trabanten,  der  die  schildwach  gehabt,  gesagt,  von  dannen  es  under 
andere  trabanten  und  so  fort  under  übrige  bediente  kommen  seye. 
Dieses  geschwätz  von  entführung  der  Printzen  seye  zu  München  nichts 
neues  und  wohl  von  der  Churfürstin  selbsten  hiebevor  gesagt  worden, 
Sie  wollte  selbige  ausser  Lands  führen".   -- 

Es  ist  oft  geschildert  und  beklagt  worden,  dasa  bei  diesen 
Untersuchungen  so  entsetzlich  grausamer  Gebrauch  von  Folterqualen 
gemacht  wurde  und  auch  die  Urteile  sich  durch  ungewöhnliche  Strenge 
auszeichneten.  Dagegen  wurde  nicht  erwähnt  oder  doch  nicht  betont, 
dass  die  Richter  nicht  etwa  kaiserliche,  .sondern  Itayrische  Beamte 
waren,  z,  B.  bei  dem  Verhör  des  Hauptmann  Mayer:  „D.  de  Unertel, 
consiliarius  aulicus  et  secretarius  intimus,  I).  Hess,  revisionis  con- 
siliarius,  D.  de  Wettstein,  consilii  aulici  bellici  consiliarius." 


Heiijel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  Emanuel's  etc.     39 

besondere  über  die  gewaltthätig  durchgeführte  Rekrutirung.^) 
Diese  Unzufriedenheit,  vermutlich  auch  durch  französische 
Umtriebe  geschürt^),  ging  in  Widerspänstigkeit  über,  als 
das  Gerücht  von  der  Wegschleppung  der  Prinzen  'Ver- 
breitung und  Glauben  fand.  Von  sämmtlichen,  nach  dem 
unglücklichen  Ausgang  des  Aufstandes  in  Haft  Gezogenen^) 
wurde  übereinstimmend  ausgesagt,  dass  zunächst  und  vor 
Allem  ihre  Absicht  war,  die  Kinder  des  Landesherrn  gegen 


1)  Im  Theatrum  Europaeum  (17.  Bd.,  116)  sind  die  Ursachen,  welche 
zum  Aufstand  der  bayrischen  Bevölkerung  führten,  eingehend  ge- 
schildert, jedoch  oftenbar  die  Farben  allzustark  aufgetragen.  Es  ist  z.  B. 
in  hohem  Grade  unwahrscheinlich,  dass  die  Summe  der  binnen  .lahres- 
frist  eingetriebenen  Brandschatzungen  sich  auf  7  Millionen  Gulden 
belaufen  habe,  dass  von  dem  über  das  Kameralwesen  gesetzten  Grafen 
Mollart  an  eigenen  „Ersparnissen"  anderthalb  Millionen  in  der  Bank 
zu  Venedig  deponirt  worden  seien,  dass  derselbe  Beamte  die  Pretiosen 
der  Kurfürstin  gestohlen  und  auf  eine  Beschwerde  des  Kurprinzen 
erwidert  habe,  der  Kurfürstin  gehöre  überhaupt  nichts  mehr  im  Lande, 
dass  vornehmen  Damen,  wie  den  Gräfinen  von  Törring,  Tauffkirchen, 
Rechberg  etc.  alle  Möbel  weggenommen  worden  seien  etc.  In  den 
Besohwerdeschriften  der  Landstände  findet  kein  einziger  von  diesen 
Punkten  Erwähnung.  —  Hormayr  (Mord Weihnachten,  110)  malt  nicht 
bloss  den  Diamentenraub  Mollart's  (des  Mannes  „mit  der  ledernen 
Stirne")  noch  hässlicher  aus,  sondern  verlegt  auch,  um  den  Aufstand 
als  Akt  der  Notwehr  zu  rechtfertigen,  die  Abtrennung  von  Mindelheim, 
Wemding,  Inn viertel  etc.,  die  natürlich  erst  nach  Verhängung  der 
lieichsacht  über  den  Kurfürsten  erfolgt  ist,  in's  Jahr  1705 ! ! 

2)  Feldzüge,  VII,  384. 

3)  So  sagt  z.  B.  Hauptmann  Mathias  Mayer  aus,  der  Pfleger  von 
Tölz,  der  Jägerwirth  und  andre  Führer  des  Aufstandes  hätten  „die 
aufgefangenen  Posten  und  Correspondenzen  aussgesucht  und  ihme, 
Mayern,  zu  vernehmen  gegeben,  dass  die  Kayserl.  administration  die 
Printzen  in's  Tyrol  führen  wolle,  welches  man  nit  geschehen  lassen 
könnte  und  sonsten  der  Churfürst  zu  f^einer  Zeith  es  scharpff  ahnden 
würde"  (R.-A.  Span.  Erbfolgekrieg,  Nr.  151:  Protocollum  examinis 
etlicher  den  25.  Dez.  1705  gefangenen  bayr.  Rebellanten,  gepflogen 
den  28.  Dez.  1705). 


40  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

die  geplante  Gewaltthat  in  Schutz  zu  nehmen.^)  Auch  Plin- 
ganser  versichert  in  seinem  Bericht  an  den  Kurfürsten,  um 
der  Rettung  der  Prinzen  willen  habe  Bürger  und  Bauer  zum 
Gewehr  gegriffen,^)  sei  aus  dem  Widerstand  einiger  Bursche 
im  bayrischen  Walde,  die  sich  gegen  die  Aushebung  sträubten, 
ein  über^s  ganze  Land  verbreiteter  Aufstand  hervorge- 
Avachsen, 

Patriotische  Männer,  der  Jägerwirth,  der  Hallraayerbräu, 
Revisionsadjunkt  Haid  und  Sekretär  Heckenstaller  begaben 
sich,  um  über  die  Sache  Gewissheit  zu  erlangen,  zum  Erzieher 
der  Prinzen,  dem  jungen  Grafen  Törring.  Obwohl  dieser, 
wie  er  später  vor  Gericht  erklärte,  jede  Gefährdung  seiner 
Zöglinge  in  Abrede  stellte,')  beharrten  die  Bürger  bei  ihrem 


1)  Schäffler,  die  oberbayrische  Landeserhebung,  18.  —  Destouches, 
Münchener  Bürgertreue,  7. 

2)  Schels,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Volksaufstandes  in  Nieder- 
bayern in  den  Jahren  1705  und  1706,  in  den  Verhandlungen  des 
histor.  Vereins  von  Niederbayern,  8.  Bd.,  131. 

3)  Graf  Törring  erklärte  im  Verhör,  er  habe  auf  den  Vortrag  Haid's 
erwidert,  dass  er  zwar  öfter  die  Ehre  geniesse,  zum  Herrn  Admini- 
strator zum  Essen  eingeladen  zu  werden,  jedoch  von  einem  Plan,  die 
Prinzen  wegzuführen,  niemals  etwas  gehört  habe;  wenn  es  aber  die 
Kaiserlichen  thun  wollten,  wie  könnte  man  sie  daran  hindern?  Als 
darauf  Haid  den  Plan  einer  allgemeinen  Landeserhebung  darlegte, 
mahnte  Törring  ab.  Er  wisse,  „dass  weder  der  Churfürst,  weder  die 
Churfürstin  dieses  Bauerwesen  approbiern,  sondern  vielmehr,  sonder- 
lich die  Churfürstin  sehr  darüber  lamentire  und  den  Ruhestandt 
wüntsche,  umb  desto  ehenter  zu  ihren  Printzen  wieder  zu  kommen, 
welches,  wie  er  von  Ihro  Excell.  dem  H.  Administratorn  vernommen, 
auch  schon  auff  guthen  weegen  gewesen  wäre,  wenn  nit  das  Bauren- 
wesen darzwischen  kommen". 

Dies  gab  auch  Hayd  im  Verhör  zu,  dagegen  stellte  er  in  Abrede, 
dass  Törring  vom  Aufstand  abgerathen  habe.  Als  Törring  darauf 
bestand,  „er  habe  bey  allen  discursi  die  contrari  partie  von  denen 
Bauern  genommen",  flüsterte  ihm  Hayd  etwas  in's  Ohr.  Befragt, 
was  er  ihm  zugeraunt  habe,  erklärte  er,  er  habe  ihn  nur  an  Berten- 
stein  erinnert,   denn  Tön-ing  habe,   als  zwischen   ihnen   wegen  der 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.     41 

Vorhaben,  zur  Rettung  der  Dynastie  und  des  Vaterlands 
mit  den  aufständischen  Bauern  gemeinsame  Sache  zu  machen. 
Es  ist  bekannt,  welch  trauriger  Ausgang  dem  Anschlag 
der  Patrioten  auf  die  Landeshauptstadt,  wie  dem  ganzen 
Aufstand  beschieden  war.  Es  fehlte  den  Streitern  von  Send- 
ung und  Aidenbach  gewiss  nicht  an  Muth,  wohl  aber,  wie 
schon  von  Zeitgenossen  richtig  beurteilt  wurde,  „an  guten 
consiliis  und  erfahrenen  officiers  sowohl  als  an  denen  Kriegs- 
nothdurfften."  ^) 

Abführung  der  Prinzen  verhandelt  wurde,  in  Aussicht  gestellt,  sein 
Vetter  Bertenstein  werde  dabei  gute  Dienste  leisten.  An  dieser  Aus- 
sage hielt  Hayd  auch  nach  wiederholter  Folterung  fest.  (M.  R.  A. 
Span.  Erbfolgekrieg.  Nr.  107.) 

1)  Monatlicher  Staatsspiegel,  auf  den  Jänner  1706,  71.  Die 
weiteren  Ausführungen  dieses  publicistischen  Organs  sind  charakte- 
ristisch für  die  damalige  Auffassung  einer  von  Bauern  ausgegangenen 
Bewegung.  „Von  so  vielen  biss  dato  schon  Gefangenen  von  diesem 
Gesindel  vernimmt  man  nicht,  dass  bey  ihnen  etwas  rechtschaffenes 
von  Teutschen  oder  Frantzösischen  vornehmen  Officiers  sich  aufhalte, 
vielmehr  dass  ihre  Rotte  aus  schlechten  Leuten  und  Canaille  bestehe, 
wie  es  das  F^xempel  des  Metzgera  zu  Kelhaim  und  die  Commandant- 
schaft  zu  Camb  bewehret."  Der  wesentlich  gerechte  Gott  habe  noch 
niemals  einen  Bauernaufstand  gegen  die  rechtmässige  Obrigkeit  ge- 
lingen lassen. 

Der  Biograph  Karls  VI.,  Kanonikus  Conlin  zu  Augsburg,  widmet 
dem  Sieg  des  Kaisers  folgende  Verse: 

Jupiter  (Kaiser  Joseph)  sich  lang  verweilet, 

Abzufeuren  seine  Blitz, 

Doch  Pan  (Bauern)  toll  zum  Würgen  eylet 

Und  angreifet  Löwensitz  (München). 

Schnell  der  Blitz  das  Heer  hat  troffen. 

Miserabel  war  der  Fahl, 

Schlagt  zu  Bod,  was  nit  entloffen. 

Neu  Gigantes  allzumahl. " 
„Gewiss  ist  es,  dass  Se.  Churf.  Dicht,  an   solchem  landverderb- 
lichem Wesen  grösstes  Miss-Belieben  getragen".    (Conlin,  Glorreichste 
Regierung  und  unvergleichliche  Thaten  Caroli  VI.,  95.) 


■12  Sitzung  der  histor.  Glasse  vom  5.  Mai  18S8. 

Dass  der  Kurfürst  nicht  für  den  Aufstand  verantwortlieh 
zu  machen  ist,  ja,  von  den  Anfängen  der  Bewegung  nicht 
einmal  unterrichtet  war,  ist  durch  seine  unverfänglichen 
Aeusserungen  in  den  Briefen  an  die  Kurfürstin  festgestellt.^) 
Allerdings  schickte  er,  als  die  Aufständischen  überraschend 
glückliche  Erfolge  erzielten,  einen  Vertrauten  nach  Bayern, 
um  zu  erfahren,  über  welche  Streitkräfte  die  Patrioten  ver- 
fügten, welche  Pläne  sie  verfolgten  und  auf  welche  Weise 
sie  etwa  einen  Einfall  des  Kurfürsten  in  Bayern  unterstützen 
könnten.  Ehe  jedoch  der  Vertrauensmann  nach  Bayern  ge- 
langte, war  schon  Alles  entschieden,  die  Hauptkräfte  der 
Insurgenten  waren  geschlagen  und  zerstreut,  die  festen  Plätze 
wieder  in  Händen  der  Kaiserlichen.^)  So  blieb  dem  Kurfürsten 
nichts  Andres  übrig,  als  das  Geschick  der  Opfer  patriotischer 
Pflichttreue  zu  beklagen,  sich  selbst  aber  vom  Verdacht  der 


1)  Vgl.  Heigel,  die  Korrespondenz  des  Kurfürsten  Max  Emanuel 
von  Bayern  mit  «einer  zweiten  Gemahlin  Therese  Kunegunde,  in 
Quellen  und  Abhandlungen  zur  neueren  Geschichte  Bayerns,  183. 

2)  B.  H.-A.  Lettre  de  l'electeur  a  l'electrice  d.  d.  Bruxelles  5.  fevr. 
1706.  Auch  die  vertraulichen  Briefe  des  an  Max  Emanuers  Hof  lebenden 
Ministers  Baron  Malknecht  an  den  mit  der  Kurfürstin  nach  Venedig 
gezogenen  .Tesuitenpater  Smackers  können  zum  Beweise  dafür,  dass 
der  Kurfürst  nicht  als  Anstifter  des  Aufstands  anzusehen  sei,  heran- 
gezogen werden.  Während  nämlich  darin  nicht  blos  Familienverhält- 
nisse, sondern  auch  politische  und  militärische  Massnahmen,  und  zwar 
solche  von  geheimstem  Charakter,  wie  z.  B.  die  Verhandlungen  mit 
Rakoczy,  besprochen  werden,  ist  von  der  Erhebung  der  bayrischen 
Bauern  und  dem  Zug  gegen  München,  sowie  von  einer  beabsichtigten 
Insurrektion  Böhmens  erst  in  einem  Briefe  Malknecht's  vom  8.  Jänner 
1706  die  Rede,  mit  dem  Bemerken,  es  müsse  die  Bestätigung  abge- 
wartet werden.  Der  nächste  Brief  Malknecht's  vom  15.  Jänner  1706 
bringt  sodann  nur  die  kurze  Nachricht  von  der  Niederlage  bei  Send- 
ung mit  dem  Beifügen,  die  Anhänglichkeit  der  Unbesonnenen  an  den 
Kurfürsten  werde  ihr  eigenes  Verderben  und  den  gänzlichen  Ruin 
des  Landes  zur  Folge  haben  (B.  Hausarchiv,  Nr.  751.  Lettres  du 
baron  de  Malknecht  et  Reichard  au  Pere  Schmacker,  1703.  1716). 


Heigel:  Die  Gcfangemchaft  der  Söhne  Max  Emanuel's  etc.     43 

Anzettelung  zu  reinigen.^)  Denn  es  war  vorauszusehen,  dass 
der  missglückte  Aufstand  den  Anlass  bieten  werde,  die  Aus- 
führung der  schon  beschlossenen  Massnahmen  gegen  Bayern 
und  die  bayrische  Dynastie  zu  beschleunigen. 

Schon  am  29  Jänner  1705  war  vom  Kaiser  an  Kurmainz 
das  Ansinnen  gestellt  worden,  die  Achterklärung  gegen  Bayern 
und  Köln  in's  Werk  zu  setzen;  am  18.  Februar  hatte  der 
Erzkanzler  den  Antrag  dem  Fürstenkollegium  mitgetheilt,'^) 
und  durch  Beschluss  vom  27.  November  hatten  die  Kurfürsten 
ihre  Zustimmung  zu  erkennen  gegeben.^)  Trotz  des  Protestes 
Karls  XII.  als  Herzogs  von  Zweibrücken  und  nachträglicher 
Vorstellungen  Preussens  zu  Gunsten  der  Witteisbacher  wurde 
am  29.  April  1706  in  feierlicher  Thronsitzung  im  Rittersaal 
der  Wiener  Hofburg  über  die  beiden  Wittelsbacbischen  Brüder 
die  Reichsacht  ausgesprochen,  Max  Emanuel's  „unglücklicher 
Leib"  aus  des  Kaisers  und  des  Reiches  Schutz  Verstössen  und 
dem  Unfrieden  preisgegeben,  beiden  Brüdern  jegliches  Keichs- 
lehen  abgesprochen.*)  Gegen  die  Rechtsgiltigkeit  solchen 
Vorgehens  konnte  freilich  eingewendet  worden,  dass  Joseph  I. 
in  seiner  Wahlkapitulation  beschworen  hatte,  kein  Achturtheil 
über  einen  deutschen  Fürsten  ohne  Zustimmung  des  gesammten 
Reichskörpers  auszusprechen,  dass  aber  im  schwebenden  Pro- 
zess  das  Fürstenkollegium,  gerade  weil  die  Witteisbacher  hier 
manchen  Freund  und  Anwalt  hatten,  gar  nicht  um  Zustimmung 
oder  Urteil  angegangen  worden  war.  Pro  salvandis  juribus  wurde 
desshalb  von  den  Königen  von  Schweden  und  Dänemark  in 
Ansehung  ihrer  deutscheu  Provinzen,  den  sächsischen  Herzog- 
thümern,    Wirttemberg,    Mecklenburg,    Hessen  -  Kassel    und 


1)  B.  H.-A.  Lettre  de  l'electeur  a  l'electrice  d.  d.  Bruxelles, 
12.  fevr.  1706. 

2)  Theatrum  Europ.,  XVII,  32. 

3)  Monatl.  Staats.spiegel,  auf  den  Monat  August  1706,  17.  Con- 
clusum  collegii  electoralis  in  cauaa  privationis  et  banni  contra  elec- 
tores  Coloniensem  et  Bavarum.    Signatuui  Regensburg,  27.  Nov.  1705. 

4)  Monatl.  Staatsspiegel,  auf  den  Monat  Mai  1706,  15. 


44  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5,  Mai  1888. 

andren  Fürsten  unter  Berufung  auf  das  westfälische  Friedens- 
instrument, den  Reiehsabschied  von  1G63  und  die  Wahl- 
kapitulation Joseph's  Beschwerde  erhoben  und  Remedur  des 
Vorgehens  gegen  Bayern  und  Köln  gefordert.^)  Da  der 
Kaiser  vor  Allem  den  zwischen  Oesterreich  und  Frankreich 
schwankenden,  unberechenbaren  Schwedenkönig  nicht  reizen 
durfte,  bequemte  er  sich  zu  einer  rechtfertigenden  Erklärung, 
und  die  gegen  das  Land  des  Geächteten  geplanten  Massregeln 
wurden  einstweilen  aufgeschoben.*) 

1)  B.  R.  A.  Spanischer  Successionskrieg,  Nr.  152:  Privataufzeich- 
nungen und  poetische  Ergüsse  über  Vorfallenheiten  des  spanischen 
Successionisivrieges  etc. 

2)  Staatscantzley,  XII,  810.  —  Noorden  (Europ.  Geschichte  im 
achtzehnten  Jahrhundert,  II,  515)  sieht  die  Beschwerde  der  Fürsten 
für  begründet  an.  Dagegen  erblickt  darin  Froboese  (die  Achtserklärung 
der  Kurfürsten  von  Baiern  und  Köln  1706  und  ihre  reichsrechtliche 
Begründung,  68)  nur  einen  nichtigen  Einwand.  Allerdings  heisse  es 
in  Artikel  3  der  Wahlkapitulation,  es  dürfe  kein  Reichsstand  von 
sessio  und  votum  in  den  Reichscollegiis  suspendirt  oder  ausgeschlossen 
werden,  „ohne  der  Churfürsten,  Fürsten  und  Stände  vorhergehen- 
den Eim-ath  und  Bewilligung".  Jedoch  Artikel  27  §  3  laute:  „Wäre 
es  aber  Sach,  dass  die  That  an  sich  selbsten  ganz  offenbar,  der  Fried- 
brecher auch  in  seinem  Verbrechen  beharrlich  und  thätig  fortführe, 
obwohl  es  dann  nicht  eben  eines  sonderbaren  Process  vonnöthen,  so 
wollen  wir  jedoch  auch  in  diesem  Falle  mit 'Zuziehung  des  H.  Reichs 
erstgemeldtermassen  uninteressirten  Churfürsten,  ehe  und  bevor  wir 
zu  der  wirklichen  Achtserklärung  schreiten,  communiciren  und  ohne 
deren  erfolgten  Rath  und  ausdrückliche  Einwilligung  damit  nicht 
verfahren".  Dass  beide  Bestimmungen  einen  Widerspruch  enthalten, 
erkennt  auch  Froboese  an.  Wenn  er  ihn  dadurch  zu  lösen  glaubt, 
dass  er  Artikel  27  als  Ausnahme,  bezw.  als  nähere  Bestimmung  von 
Artikel  3  erklärt,  wobei  man  sich  nach  dem  juristischen  Grundsatz: 
Lex  specialis  derogat  generali,  beruhigen  könne,  so  sind  damit  die 
Schwierigkeiten  gewiss  nicht  beseitigt.  Freilich  liefert  eine  von 
bayrischer  Seite  erschienene  Schutzschrift  „Die  Republic  deren 
Souveraenen  oder  die  Teutsclie  Freyheit,  in  einigen  vertrauten  Briefen 
von  einem  Lombardischen  Cavalier  einem  Florentinischen  Abbate 
erkläret"  (Cod.  germ.  3383  der  Münchner  II.-  u.  St.-Bibliothek,  973  Bl. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.     45 

Dagegen  glaubte  Joseph  ein  Mittel  nicht  verschmähen 
zu  dürfen,  wodurch  er  sich  vor  weiteren  Aiifstandsversuchen 
der  bayerischen  Bevölkerung  sichern  und  den  Kurfürsten, 
der  noch  immer  als  Genosse  des  Reichsfeindes  in  den  Nieder- 
landen kämpfte,  zu  Niederlegung  der  Waffen  geneigt  machen 
könnte. 

Noch  am  7.  Mai  1706  schrieb  Baron  Neuhaus,  der  hie 
und  da  dem  Pater  Smackers  über  das  Befinden  der  kurfürst- 
lichen Kinder  Nachricht  gab,  es  werde  beabsichtigt,  die 
beiden  ältesten  Prinzen  auf  einige  Zeit  zur  Sommerfrische 
nach  Dachau  und  später  nach  Lichtenberg  übersiedeln  zu 
lassen.  Am  22.  Mai  aber  schreibt  er,  er  könne  bei  allen 
Heiligen  beschwören,  dass  er  sich  damals,  als  er  von  jenen 
Sommerplänen  berichtete,  „nit  das  Mindeste  gewiss  noch  bei- 
fallen lassen,  dass  Ihro  Reis  auf  weiteres  angesehen  war."^) 


8°;  das  Titelblatt  enthält  die  Bezeichnung:  „Colin  bey  Peter  Marto, 
Anno  1712",  doch  konnte  ich  keines  gedruckten  Fxemplares  habhaft 
werden  und  bezweifle,  ob  die  dem  Eurfürsten  gewidmete  Schrift  über- 
haupt gedruckt  worden  sei),  nur  den  Beweis,  dass  in  manchen  Kreisen 
der  Reichsgedanke  gänzlich  erstorben  war.  Die  Bestrafung  eines  Kur- 
fürsten sei  überhaupt  eine  Verletzung  der  Verfassung,  da  der  Kaiser 
nur  Präsident  der  teutschen  Republik,  Souverain  mit  den  deutschen 
Fürsten,  aber  nicht  über  denselben,  ,ein  König  der  Könige  bis  in  so 
weit,  als  sich  mit  einem  gecrönten  Haubt  die  sou veraine  Freyheit 
aller  seiner  ebenfalls  respective  gekrönten  mitglieder  vergleichen  lässt". 
Der  Zwist  Max  Emanuels  mit  dem  Kaiser  wird  mit  dem  Streit  zwischen 
Achilles  und  Agamemnon  verglichen.  Das  Gutachten  Nestor's  passe 
auch  auf  die  moderne  Zeit.  Max  Emanuel  könne  die  nämlichen  Gründe 
für  sich  geltend  machen,  wie  Achilles,  der  auch  von  Agamemnon  ein 
Verräther  an  der  Sache  der  Griechen  und  ein  Staatsverbrecher  ge- 
nannt worden  sei,  weil  er  sich  gegen  die  Befehle  des  Argiverkönigs 
aufgelehnt  habe;  Max  Emanuel,  wie  Achilles  köime  sagen,  „ob  er 
schon  an  Cron  und  Generalstaab  ungleich,  so  seye  er  doch  in  dem 
wesentlichen,  so  einen  Fürsten  ausmachet,  gleich,  er  besitze  die  Frei- 
heit, nach  seinem  Willen  zu  thun". 

1)  B.  H.-A.  Nr.  753/25.  Lettres  du  baron  de  Scarlatti  ä  S.  A.  E. 
l'Electrice  Terese  Cunegunde  1704—1719. 


4:6  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1S88. 

Unter  dem  Vorwand  einer  Liistreise  waren  inzwischen  die 
vier  älteren  Prinzen,  Karl  Albert,  Philipp  Moriz,  Ferdinand 
Maria  und  Klemens  August  von  München  entfernt,  jedoch 
nicht  nach  Dachau  oder  Lichtenberg,  sondern  unter  starker 
Bedeckung  über  Ehrenberg  durch  Tirol  nach  Klagenfurt 
gebracht  worden.  Die  zwei  jüngsten  Prinzen,  Theodor  und  Max 
Emanuel,  dritthalb  und  anderthalb  Jahre  alt,  sowie  die  neun- 
jährige Prinzessin  Maria  Anna  Karoline  blieben  in  München  der 
Obhut  der  Obristhofmeisterin  Frau  von  Weichs  übergeben.^) 

Die  Weisung  zur  Abführung  der  Prinzen  liegt  in  den 
Akten  der  Administration  nicht  vor,  sondern  nur  ein  Schreiben 
Löwenstein's  vom  21.  Mai  1706,  worin  er  dem  Kaiser  über 
die  Reise  der  Prinzen  durch  Tirol  Bericht  erstattet.  „In- 
dessen gehet  die  Reyss  der  Printzen  noch  jmmer  glücklich 
von  statten,  und  setzen  sie  selbige  heute  wieder  von  Inns- 
prugg  weiters  fort,  allwo  denen  Camraerherren  und  bayrischen 
Creaturen  Fugger  als  Obristkuchelmeistern,  sodann  Henneberg 
und  Lösch  anfangs  zu  verstehen  gegeben,  weilen  sie  es  aber 
nit  begreiffen  wollen,  endlichen  dar  bedeutet  worden,  dass 
sie  sich  wieder  in  Bayern  begeben  mögten,  worüber  sie  sich 
zwar  sehr  alteriret  bezeiget,  doch  endlichen  darzu  accomodirt 
haben.  Wird  also  allein  der  Obristhofmoister  Baron  von 
Guidabon  und  GrafF  von  Thierheim  in  Cärndten  mitgehen  .  .  . 


1)  Die  herkömmliche  Angabe,  dass  die  Tochter  Max  Emanuel's 
schon  1706  in's  Angerkloster  zu  München  gesteckt  worden  sei,  wird 
widerlegt  durch  die  Hofhaltungsvorschriften  vom  20.  Mai  1706. 
Wann  dieselbe  in's  Kloster  als  Novize  eintrat,  ist  nicht  festzustellen. 
Max  Emanuel  selbst  spricht  in  einem  Briefe  an  seine  Schwiegermutter 
vom  7.  November  1708  den  Vorsatz  aus,  ihr  eine  geistliche  i'fründe 
in  Frankreich  zu  verschaffen,  da  sie  in  Folge  des  Verlustes  eines 
Auges  auf  standesgemiisse  Verheiratung  nicht  rechnen  könne.  Ein- 
gekleidet wurde  sie  im  Angerkloster  erst  1719,  und  im  nächsten 
Jahre  legte  sie  die  Gelübde  ab,  wobei  sie  in  keinem  Punkte  Dis- 
pensation von  den  allgemeinen  Pflichten  erbat.  (M.  Keichsarchiv; 
Fürstensachen,  Fasz.  81,  Nr.  741.  Conlin,  712.) 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.     47 

Indessen  werden  anstatt  der  abgehenden  Cammerherrn  wohl 
ein  paar  Edelleuth  auss  Cärndten  ohne  oder  mit  geringeren 
Sold  zu  Bedienung  der  Prinzen  substitnirt  werden  können."^) 

Ueber  den  weiteren  Verlauf  der  Reise  berichtet  ein 
Schreiben  Löwenstein's  vom  1.  Juni  1706:  „Indem  E.  K.  M, 
Hofkamnierrath  Freyherr  von  Petschowitz,  welcher  die  bay- 
rischen Printzen  begleitet,  mir  von  Braun-Eck  (Bruneck  im 
Pusterthal),  allwo  sie  einige  Tage  wegen  der  an  dem  Printzen 
Ferdinand  sich  geäusserten  Schaffblattern  des  Medici  davor- 
h alten  nach  etwan  5  Tage  werden  still  liegen  bleiben  müssen, 
berichtet,  dass  der  ältere  Printz  bis  dato  den  goldenen  Flüss, 
so  er  vom  Herzog  von  Anjou  bekommen,  trage,  und  ihme 
zwar  per  abusum,  aber  dannoch  ziemlich  frequent  der  Titel 
als  Churprintz,  denen  anderen  aber  der  hertzogliche  Titul 
gegeben,  in  denen  Kirchen  ein  besonderer  Teppich  und 
Polster  aussgebreitet  und  von  denen  Edelknaben  zum  Evan- 
gelio  geleuchtet  werde.  So  viel  nun  des  Churprinzen  prae- 
dicat  betrifft,  habe  ich  zwar  solches  abstellen,  auch  die  Vor- 
sehung thun  lassen,  dass  ihnen  an  denen  erhöheten  Orthen 
in  den  Kirchen  kein  Teppich  abgehangen  werde;  E.  K.  M. 
aber  habe  es  hiemit  allergehorsambst  berichten  sollen,  aufl' 
dass  dieselbe  dero  allergnädigsten  Befehl,  wie  Sie  es  hierin 
und  sonst  in  allen  übrigen  gehalten  haben  wollen,  nach 
Clagenfurth  ergehen  zu  lassen  geruhen  möge."^) 

Ueber  die  Ankunft  in  Klagenfurt  endlich  unterrichtet 
ein  Schreiben  vom  25.  Juni  1706:  .  .  .  „Der  Freyherr  von 
Peschowitz  (ist)  am  abgewichenen  Dienstag  von  Clagenfm'th 
hier  wieder  angekommen,  nachdem  er  den  10.  jetzlauffenden 
Monaths  alda  die  4  bayrischen  Printzen  alle  in  guther  Ge- 
sundheit eingebracht  und  E.  K.  M.  dasiger  Obristburggraff 
Graff  von  Rosenberg   selbige   in    das    fürstliche    Portia'ische 


1)  K.  k.  H.-,  H.-  u.  St.-A. 

2)  Ebenda. 


48  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Haus  einlogiret  hat,  mit  welchem  er  die  Unterhaltung  des 
noch  auff  der  Keys  und  dann  zu  Clagenfurth  mit  Zurück- 
send- und  Abschaffung  etlich  und  30  Personen  und  so  viel 
Pferd  möglichst  restringirten  Hofstaats  auflfs  genaueste  unter- 
suchet .  .  .,  mithin  die  zu  Abführung  der  Printzen  auff  sich 
genommene  beschwerliche  Commission  geendiget,  wobey  er 
sowohl  wegen  verschiedener  zu  deren  Sicherheit  und  Spesi- 
rung  auff  der  Keys  als  Einrichtung  der  Oeconomie  und 
anderer  abgelegenen  Anstalten  gar  nöthig  gewesen  und  sich 
so  aufgeführet,  dass  E.  K.  M.  ob  seinem  hierunder  zu  dero 
Dienst  bezeigten  Fleiss,  Eyffer  und  Sorge  unzweifentlich 
allergnädigstes  Wohlgefallen  tragen  werden".^) 

Die  Söhne  Max  EmanuePs  waren  Gefangene,  darüber 
konnte  kein  Zweifel  bestehen,  doch  wurden  —  dies  geht 
ebenso  unumstösslich  aus  den  Berichten  Löwenstein 's  hervor, 
—  die  Rücksichten,  welche  Stellung  und  Alter  der  Prinzen 
verdienten,  keineswegs  aus  den  Augen  gelassen.  Zwar  schien 
es  dem  Administrator  mit  Bezug  auf  die  über  den  Vater 
verhängte  Reichsacht  nicht  mehr  geboten,  das  Prädikat  eines 
Kurprinzen  anzuerkennen,  doch  wurden  alle  Brüder  sowohl 
während  der  Reise,  als  während  des  Aufenthalts  in  Klagen- 
furt als  Prinzen  titulirt  und  behandelt,  und  es  ist  lediglich 
eine  Erfindung,  dass  den  Gefangenen  nur  noch  der  Titel 
„Grafen  von  Witteisbach "   zugestanden  worden  sei.*) 

Auch  den  in  München  zurückgebliebenen  Kindern  wurde 
nicht  unwürdig  begegnet.  Nach  Entfernung  der  älteren 
Söhne    wurde    zwar    durch    Löwenstein    eine    Einschränkung 


1)  K.  k.  H.-,  H.- u.  St.-A.  Beilief?end :  „Lista  des  Hotf-Staabs", 
jHoff-Staabs-Besoldungen",  ,Hoff-Taffeln  und  wie  selbe  besezt  werden", 
„Liata  deren  Pferdt,  welche  bey  Hott'  verpfleget  werden",  „Spesirung 
der  bayrischen  Hotf-Statt  in  Clagenfurth  auf  ein  gantzea  Jahr". 

2)  So  schon  bei  Finsterwald,  Germania  Princeps :  Historia  et 
Genealogia  Boicae  gentis  (1749),  2371,  bei  Hormayr,  Mordweihnachten 
etc.,  110,  u.  A. 


Heipel :  Die  Gefangenschaft  der  Sühne  Max  EmanueVH  etc.     49 

des  bayrischen  Hofstaats  angeordnet.  Die  überflüssig  ge- 
wordenen ,  alten  and  gebrechlichen  von  Hofstaat  und  Be- 
dienten" sollten  ,mit  einer  etwahig  proportionierlichen  Pro- 
vision" entlassen  werden,  die  jungen  und  kräftigeu  auswandern 
dürfen  oder  angemessene  Chargen  im  kaiserlichen  Kriegsdienst 
erhalten.  Die  Kinder  behielten  aber  einen  Hofstaat  von 
nahezu  hundert  Personen  mit  Kammerherren,  Hofdamen, 
Kammersekretären,  Leibärzten,  Kanzleibeamten,  Mundköchen 
etc.,  und  einen  Marstall  von  72  Pferden.^)  Auch  aus  einer 
1710  geschriebenen  „Zusammenstellung  dessen,  was  seit  anno 
1705  für  die  bayrischen  Prinzen  und  Prinzessin  in  München 
und  Klagenfurt  von  der  Hauskaramerei  abgegeben  worden",*) 
welche  für  die  einzelnen  Posten  namhafte  Summen  aufzu- 
weisen hat,  ist  der  Schluss  zu  ziehen,  dass  es  nur  eitel  Klatsch 
war,  wenn  von  „kärglichem  Tractament"  der  Gefangenen 
gesprochen  wurde. ^) 

Max  Emanuel  freilich  erblickte  in  dem  Vorgehen  des 
Kaisers  gegen  seine  Kinder  eine  unerhörte  Tyrannei.  „Das 
ist  ein  herrliches  Betragen!"  schrieb  er  am  21.  Mai  an  seine 
Gattin,  „das  heisst.  unsere  Kinder  behandeln  wie  Bankerte! 
Welch  ein  Tyrann  ist  dieser  Kaiser!  .  .  .  Ich  versichere  Ihnen: 
solche  Thaten  werfen  einen  unauslöschlichen  Makel  auf  den 
Thäter,  sind  etwas  Unerhörtes,  noch  nie  Dagewesenes  im 
Reich;  kaum  hat  jemals  ein  Tyrann  so  gefrevelt  gegen  die 
Gesetze  des  Anstandes  und  das  Recht  der  Völker  und  Fürsten."*) 


1)  B.  R.-A.  Fürstensachen,  II,  Specialia,  Lit.  C,  Fase.  76,  Nr.  710. 
Neyerlichere  Reduction  über  der  in  Minichen  verbliebenen  durch- 
lauchtigsten zwei  jüngeren  Prinzen,  auch  Prinzessin,  dann  der  übrigen 
Dicasterien  und  Bedienten  Unterhalt  und  Besoldungen  btr.  (20.  May 
1706). 

2)  Ebenda.  Für  Wachs  z.  B.  wurden  5556  Gulden,  für  Zucker 
7312  Gulden,  für  Holz  12785  Gulden  etc.  ausgegeben. 

3)  So  bei  Finsterwald,  2453  etc. 

4)  B.  H.-A.  Lettre  de  l'electeur  a  l'electrice  d.  d.  Bruxelles, 
21.  may   1706. 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Gl.  II.  1.  4 


50  Sitzung  der  kistor.  Classe  vom  5.  Mai  1888- 

Auch  in  den  nächsten  Briefen  kehrten  immer  wieder  die 
bitteren  Klagen  über  die  „Sklaverei"  der  unglücklichen 
Kinder.  Das  kurfürtliche  Paar  entwarf  verschiedene  Pläne, 
um  eine  Befreiung  der  Kinder  oder  doch  Uebersiedlung  der 
drei  jüngsten  nach  Venedig  zu  erreichen.  Kurfürst  Joseph 
Clemens  sollte  die  Unterstützung  des  Papstes  erbitten,  auch 
der  Doge  von  Venedig,  ja  sogar  die  Königin  von  England 
wurden  um  Vermittlung  angegangen.  Allerdings  glaubte 
Max  Emanuel  selbst  nicht  an  günstigen  Erfolg  einer  Ver- 
wendung in  Wien:  „Die  Kaiserlichen  haben  einmal  beschlossen, 
unsere  ganze  Familie  in  Sklavenbanden  festzuhalten,  doch 
der  Friedensschluss  wird  sie  trotzdem  zur  Freigebung 
zwingen."  Weil  er  fürchtete,  dass  sich  seine  Gattin,  um 
wieder  zu  den  Kindern  zu  gelangen,  auf  unangemessene  Zu- 
geständnisse einlassen  könnte,  suchte  er  sie  von  der  Gehässig- 
keit des  kaiserlichen  Verfahrens  zu  überzeugen.  „Man  könnte 
nicht  mehr  Verdruss,  Entrüstung  und  Erbitterung  empfinden, 
als  ich  sie  empfinde  über  die  Behandlung,  die  Ihnen  der 
Kaiser  zu  Theil  werden  lässt,  seit  er  sich  so  schnöden  Treu- 
l)ruches  an  Ihnen  schuldig  gemacht  hat.  Ich  sehe  mit  Ver- 
gnügen, dass  Sie  endlich  anfangen,  unsere  Feinde  zu  kennen, 
und  einzusehen,  wie  undankbar  sich  dieselben  gegen  Sie,  die 
mit  gutem  Glauben  entgegenkamen,  benommen  haben.  Unsre 
Archive  bieten  eine  Menge  Beweise  ähnlichen  Betragens; 
mein  Grossvater  hat  solche  erfahren  und  ich  gleichfalls. 
Blicken  Sie  nur  auch  hin,  wie  Ihrem  Vater  und  nach  dessen 
Tod  der  königlichen  Familie  mitgespielt  worden  ist.  Der 
Kaiser  war  es,  der  dem  Prinzen  Jakob  die  Krone  entrissen 
hat,  gegen  das  Verspreclien,  das  er  aus  Anlass  der  Heirat 
seiner  Schwägerin  und  Tante  gege])en  hatte."  Mit  solchen 
Beschwerden  über  den  Wiener  Hof  wechseln  Klagen  über 
die  unselige  Abreise  der  Gattin  aus  München.^) 


1)  B.  H.-A.      Lettres    de   l'electeur    a   l'c-lectrice  d.d.  24.  aoüt, 
2.  sept.,  29.  dec.  1706. 


Heüjel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Maa-  EmanueVs  etc.      51 

Um  über  das  Befinden  der  Kinder,  die  nicht  mehr  un- 
mittelbar an  die  Eltern  schreiben  durften,  unterrichtet  zu 
bleiben,  knüpften  die  Gatten  alle  erdenklichen  Verbindungen 
an.  Ueber  die  in  München  Zurückgebliebenen  gab  Frau  von 
Weichs  von  Zeit  zu  Zeit  bereitwillig  Nachricht.  Schwieriger 
war  es.  Zuverlässiges  aus  Klagenfurt  zu  erfahren,  obwohl 
sich  der  König  von  Preussen  des  besorgten  Vaters  annahm  und 
durch  seine  Gesandten  und  Agenten  Erkundigung  einziehen 
Hess  ^).  Die  einlaufenden  Nachrichten  lauteten  samt  und 
sonders  günstig,  sowohl  bezüglich  der  Gesundheit,  als  der 
Geistesentwicklung  der  Prinzen  ^). 

Darüber  sprach  sich  auch  der  Burggraf  von  Klagenfurt, 
Graf  Rosenberg,  in  seinem  ersten  Bericht  an  den  Kaiser  vom 
12.  November  1706  höchst  anerkennend  aus.  „Auff  Ew. 
Kayserl.  Majestaet  allergnädigsten  Befehl,  dass  ich  auff  die 
all  hier  befindlich  vier  bayrischen  Printzen  genau  Obsicht 
tragen  und  von  deren  Thuen  und  Lassen  von  Zeit  zu  Zeit 
allerunterthänigst  relationiren  solle,  habe  ich  hiemit  .  .  .  er- 
innern wollen,  wie  dass  nemblichen  sie  alle  ^ier  Printzen 
sowohl  in  der  Andacht  und  Gottesforcht,  alss  auch  beständiger 
application  in  studiis  et  virtute  dermassen,  wie  es  einer  der- 
gleichen nascita  wohl  anstehet  und  geziemet,  treffliich  sich 
wohl  erzeigen,  auch  bis  anhero  in  steter  guter  Gesundheit 
erhalten  worden,  mir  und  deren  Herrn  Obristhoffmeister  und 
Graffen  von  Thürheimb,  als  von  welchen  sie  Printzen  zu 
allen  guten  Tugenden,  Gottesforcht  und  gebührlichen  Sitten 
mit  steter  genauester  Observanz  angewiesen  und  angehalten 
werden,  alle  parition  erweisen,  wie  ich  mir  dann  auch  mög- 
lichst angelegen  seyn  lasse,    dieselbe   öfters  zu  besuchen,    zu 


1)  B.  H.-A.  Lettre  de  l'electeur  ä  l'electrice  d.  d.  Mons,  25.  jan- 
vier  1707. 

2)  Am  ausführlichsten  ein  (in  Abschrift  Delling's  auf  der  Münchner 
Bibliothek,  Nr.  32,  verwahrter)  Brief  Bartholdy's  an  König  Friedrich  I. 
vom  16.  Febr.  1707. 

4* 


52  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Zeitlien  ausszuführen  und  zu  divertiren  und  an  sie  alle  Vor- 
sorg nach  Möglichkeit  zu  tragen  mich  bemühe.  Sie  Printzen 
haben  fürwahr  kein  grösseres  Verlangen ,  als  allein  Ew. 
Römischen  Kayserl.  Majestaet  allergnädigsten  Befehlen  aller- 
unterthänigst  nachzuleben.  Sie  zeigen  gewisslich  alle  eine 
schöne  und  grosse  capacitet.  Nebst  deme  habe  ich  auch 
Ew.  Kayserl.  Majestaet  vortragen  wollen,  wasgestalteu  sie 
Printzen  auch  in  dem  Gewächs  merklich  zunehmen  und 
sowohl  im  tanzen  alss  in  der  music,  in  welchen  beyden  sie 
ohnedeme  schon  zu  München  instruirt  worden,  ein  exercitium 
haben  sollen,  also  dass  sie  einen  Tanzmeister  und  instrumen- 
tisten,  Avelche  allhier  nicht  zu  finden,  gar  wohl  von  nöthen 
betten.  Alss  geruheten  Ew.  Kayserl.  Majestaet  dero  Admini- 
stration in  München  anzubefehlen,  dass  selbe  einen  guten 
Tanzmeisterund  guten  instrumentisten  anhero  senden  wolle". ■^) 
Da  die  unsicheren  Meldungen  von  Unbekannten  die 
Mutter  der  Gefangenen  nicht  beruhigen  konnten,  entsandte 
sie  im  Frühjahr  1707  einen  Vertrauensmann,  Grafen  Berton- 
cellis,  nach  Klagenfurt,  damit  er  sich  über  Befinden  und 
Lebensweise  der  Prinzen  und  die  Beschaffenheit  ihrer  Um- 
gebung möglichst  genau  unterrichten  und  zuverlässigen  Bericht 
über  Alles  und  Jedes  erstatten  möge.^) 


1)  K.  k.  H.-,  H.-  u.  St.-Arch.  —  Eine  kaiserliche  Weisung  an 
Löwenstein  scheint  in  dieser  Sache  nicht  ergangen  zu  sein. 

2)  Zschokke  (III,  637)  und  Lipowsky  (Lebens-  und  Regierungs- 
geschichte etc.  Karl  Albert,  15)  schreiben  ^ßertonelli";  in  der  unten 
besprochenen  Abschrift  Delling's  heisst  es  ,Pedtoncelli".  Unter  den 
schon  erwähnten  Briefen  des  Baron  Widmann  in  Venedig  an  Baron 
Malkneclit  in  den  Niederlanden  (B.  St.-A.  K.  schw.  390/10)  liegt  jedoch 
die  Abschrift  eines  Diploms,  wodurch  „Angelo  de  Bertoncellis"  von  der 
Kurfürstin  als  Regentin  Bayerns  in  den  Grafenstand  unter  dem  Namen 
Segel  erhoben  wird.  d.  d.  München  5.  Oktober  1704.  —  Den  Original- 
bericht Bertoncellis'  vermochte  ich  in  den  Münchner  Archiven  nicht 
zu  finden,  wohl  aber  eine  Abschrift  von  Delling's  Hand  in  der  Münchner 
Bibliothek    (ad    Dellingiana    32)    „Voyage    et   relation    des    princes    a 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc      53 

Am  17.  März  1707  gelangte  Bertoncellis  nach  Klagen- 
furt, wo  er  insbesondere  durch  einen  reichen  Kaufmann 
Antoine  Schlutz,  an  den  er  empfohlen  war,  seine  Zwecke 
aufmerksam  gefördert  sah.  Schlutz  (Schulz?)  vermittelte 
ihm  Audienz  bei  Graf  Guidebon,  dem  Erzieher  der  Prinzen, 
und  dem  Burggrafen,  Grafen  Rosenberg,  die  ihn  freundlich 
aufnahmen  und  ihm  sofort  einen  Besuch  bei  den  Prinzen 
gestatteten  gegen  das  Versprechen,  im  Laufe  der  Unterredung 
nicht  des  kurfürstlichen  Paares  zu  gedenken.  Er  fand  die 
Prinzen  im  Allgemeinen  wohl  aussehend,  wenn  ihm  auch 
ein  leidender  Zug  im  Antlitz  des  Aeltesten  zu  verrathen 
schien,  dass  der  Jüngling  seine  Lage  kenne  und  beklage. 
Bertoncellis  muthmasste  auch,  dass  Prinz  Karl  gern  eine 
heimliche  Frage  gestellt  hätte,  allein  die  Anwesenheit  des 
Erziehers  hielt  ihn  davon  zurück.  ^)  Alle  vier  Prinzen 
waren  kostbar  gekleidet;  jeden  zweiten  Monat  wurden  ihnen. 


Clagenfurt  du  comte  Pedtoncelli".  Die  Abschrift  ist  undatirt;  da 
jedoch  das  z.  B.  über  die  Kamevalsfreuden  der  Prinzen  Erzählte  genau 
mit  demjenigen  übereinstimmt,  was  Graf  Löwenstein  am  27.  März  1707 
an  Herrn  von  Stepenez  schreibt,  ist  der  Bericht  des  Vertrauensmannes 
der  Kurfürstin  jedenfalls  in's  Jahr  1707  zu  setzen. 

1)  „Le  Prince  Electoral  me  semble  assez  me'lancolique  et  pale 
au  visage,  ses  yeux  patetiques  et  sa  voix  faible  de  maniere  que  je 
disois  franchement,  qu'il  sent  bien  son  malheur.  U  a  le  visage  qui 
tire  sur  le  long,  tres  beaux  cheveux  blonds,  que  j'aurois  pris  pour  des 
perrucques,  comme  de  tous  les  autres  aussi.  Ce  fut  lui  qui  me  parla 
le  premier,  qui  me  demanda,  quand  j'etois  arrive  et  qu'il  etoit  bien 
aise  de  m'avoir  vu.  Au  conge'  que  je  pris,  je  leur  demandai,  s'ils 
me  vouloient  honorer  de  quelque  commandement.  Je  remarquai  bien 
alors  que  le  dessein  du  prince  electoral  etoit  de  me  dire  quelque 
chose,  parcequ'il  s'arreta  quelque  temps  avant  que  de  me  donner  la 
reponse  et  jeta  les  yeux  sur  le  baron  Guidebon,  qui  ne  me  quitta 
jaraais.  II  me  remercia,  comme  le  second  aussi  et  le  quatrieme  en 
allemand  avec  un  tres  grand  esprit  pour  la  peine,  disoient-ils,  que  je 
m'avais  voulu  donner  de  les  venir  voir,  et  me  souhaiterent  plusieurs 
fois  un  bon  voyage." 


54  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

wie  Bertoucellis  erfuhr,  neue  Kleider  geliefert.  Ueber  die 
Lebensweise  ihrer  Zöglinge  gaben  die  Erzieher  bereitwillig 
Auskunft.  Die  Prinzen  müssen  um  8  Uhr  sich  erheben,  bis 
9  Uhr  angekleidet  sein  und  das  Morgengebet  verrichtet  haben; 
um  9  Uhr  hören  sie  eine  Messe;  von  10—12  Uhr  dauert  der 
Unterricht;  um  12  Uhr  wird  gespeist,  dann  haben  sie  Frei- 
zeit bis  2  Uhr;  nun  folgen  wieder  Vorträge  und  Uebungen 
bis  4  Uhr ;  die  Abendstunden  gehören  der  Erholung,  es  wird 
entweder  ausserhalb  der  Stadt  promenirt  oder  dem  Burg- 
grafen oder  dem  Landeshauptmann  Grafen  KhevenhüUer 
Besuch  erstattet. 

Der  an  der  Spitze  des  Hofstaats  stehende  maitre  d'hotel, 
Baron  Guidebon,  ein  Kavalier  von  50  Jahren,  wohne  mit 
den  Prinzen  zusammen  im  gräflich  Portia'schen  Palast.  Der 
Oberststallmeister  Graf  Thürheim  scheine  ein  sehr  strenger 
Mann  zu  sein.  Bei  Tische  seien  die  Prinzen  von  vier  kost- 
bar gekleideten  Pagen,  worunter  ein  junger  Graf  Preysing, 
und  vier  Kammerdienern  bedient.  Ausserdem  gehörten  noch 
zum  kleinen  Hofhalt  acht  Estaffiers,  zwölf  Stallknechte  und 
Kutscher  und  zwei  Thürhüter,  Alle  in  prächtiger  Livree, 
vier  Köche,  eine  Köchin  und  drei  Kammerfrauen.  Der  Mar- 
stall  enthalte  32  Pferde.  Die  Prinzen  pflegten  in  vier  zwei- 
spännigen  Kutschen  auszufahren ;  im  ersten  Wagen  die  zwei 
Aelteren  und  Baron  Guidebon ,  im  zweiten  die  zwei  Jüngeren 
und  Graf  Thürheim,  im  dritten  ein  Lehrer  und  ein  Arzt, 
im  vierten  Pagen  und  Bediente. 

Namentlich  der  Burggraf  sei  den  Prinzen  sehr  zugethan, 
und  ebenso  zärtlich  seien  diese  ihm  ergeben.  Im  Hause  Rosen- 
berg's  machten  sie  desshalb  am  häufigsten  Besuche,  die  Burg- 
gräfin allein  dürfe  auch  die  Prinzen  besuchen,  sonst  Niemand 
vom  Adel ;  als  einmal  eine  Baronin  Kemeter  in's  Palais  Portia 
gekonmien  sei  und  allein  mit  den  Prinzen  gesprochen  habe, 
seien  die  Kammerdiener,  die  dies  zugegeben  hatten,  sofort 
entlassen  worden.     Im  verflossenen  Herbst  seien  die  Prinzen 


Heigel:  Die  Gefatigenschaft  der  Söhne  Max  Emanuel's  etc.      55 

häufig  zum  Vogelfang  gegangen,  im  Karneval  habe  man 
mancherlei  Vergnügungen  für  sie  veranstaltet,  wozu  die 
Adeligen  aus  der  Stadt  und  Umgebung  geladen  waren, 
u.  A.  habe  ein  Maskenball  stattgefunden,  auf  welchem  der 
Kurprinz  als  Jäger  erschien,  Philipp  als  Fischer,  Ferdinand 
als  Schweizer,  Clemens  als  holländischer  Bauer,  alle  vier  in 
seidenen  Costuraes,  die  500  Gulden  kosteten,  wie  auch  den 
Kavalieren  der  Maskenscherz  3000  Gulden  gekostet  habe. 
Beichtvater  der  Prinzen  sei  ein  Jesuitenpater  Meiuersberg, 
Hofmeister  der  von  München  mitgenommene  Wilhelm,  Hof- 
kaplan ein  Priester  aus  Kärnthen,  Leibarzt  ein  Dr.  Menrad. 
Nur  der  letztgenannte  gelte  als  anhänglicher  Diener  des  kur- 
bayrischen Hauses,  im  Uebrigen  sei  die  ganze  Umgebung 
kaiserlich  gesinnt. 

Ob  die  Prinzen  selbst  hie  und  da  an  den  Kaiser  schrieben, 
sei  nicht  genau  festzustellen ;  der  Kurprinz  selbst  habe  wahr- 
scheinlich einmal  nach  Wien  geschrieben,  ja,  ein  Richter  in 
Villach  habe  sogar  versichert,  der  Kurprinz  habe  gelegentlich 
einer  Aufwartung  der  Behörden  die  Güte  des  Kaisers  gepriesen 
und  hinzugefügt:  „Mein  Vater  hätte  noch  strengere  Strafe 
verdient' . 

Von  den  Eltern  werde  häufig  im  Kreise  der  Prinzen 
gesprochen,  obwohl  Guidebon  es  wiederholt  verboten  habe. 
Von  einer  Rückkehr  in  die  Heimat  sei  niemals  die  Rede, 
doch  träume  der  Kurprinz  häufig  von  München. 

Uebrigens  hege  man  in  Klagenfurt  den  Wunsch,  dass 
den  Prinzen  ein  anderer  Aufenthalt  angewiesen  werden 
möchte,  denn  man  habe  dort  grosse  Furcht  vor  dem  König 
von  Schweden ;  es  seien  schon  Vorbereitungen  getroffen,  die 
Prinzen  umgehend  aus  der  Stadt  zu  entfernen,  sobald  König 
Karl  Miene  machen  sollte,  sich  Klagenfurt  zu  nähern.  Auch 
von  den  Bayern  werde  neuer  Aufstand  besorgt,  da  dieselben 
höchst  erbittert  seien  über  die  schlechte  AuflFührung  der  kaiser- 
lichen Truppen  und  zugleich  den  lebhaften  Wunsch  hegten, 
die  geliebten  Prinzen  zu  befreien. 


56  Sitzung  der  liistor.  Classe  vom  5.  Mai  188S. 

Der  Bericht  Bertoncellis'  wurde  auch  dem  Kurfürsten 
mitgetheilt,  „Unsere  Kinder  haben  ein  gutes  Herz,"  tröstet 
dieser  seine  Gattin,  ,und  wenn  man  sich  auch  Mühe  giebt, 
sie  Vater  und  Mutter  vergessen  7ai  machen,  so  werden  wir 
sie  schon  wieder  daran  erinnern  und  ihnen  begreiflich  machen, 
was  sie  uns  schuldig  sind,  und  der  Hest  der  falschen  Grund- 
sätze und  Empfindungen  wird  dann  nicht  schwer  auszurotten 
sein/  1) 

Wir  werden  den  Empfindungen  eines  gekränkten  Vater- 
herzens unser  Mitgefühl  nicht  versagen;  andrerseits  dürfte 
gerade  der  unverfängliche  Bericht  Bertoncellis'  zur  Genüge 
erkennen  lassen,  dass  die  herkömmliche  Vorstellung  von 
schnöder  Behandlung  der  kurfürstlichen  Kinder  unrichtig  und 
ungerecht  ist.  — 

Während  Karl  Albert  mit  seinen  Brüdern  in  Klagenfurt 
den  Studien  oblag,  wurde  in  Regensburg  eine  für  seine  Zu- 
kunft höchst  bedrohliche  Entscheidung  gefällt.  Kurfürst 
Johann  Wilhelm  von  der  Pfalz  verlangte,  dass  ihm  der 
für  seine  Dienste  vom  Kaiser  in  Aussicht  gestellte  Lohn 
endlich  zugesprochen,  dass  er  nicht  bloss  in  Besitz  der  alten 
pfälzischen  Kur  und  des  Erztruchsessenamtes,  sondern  auch 
aller  Länder  und  Gerechtsame,  welche  Kurpfalz  vor  dem 
Ausbruch  des  dreissigjährigen  Krieges  besessen  hatte,  ins- 
besondere der  Oberpfalz,  gesetzt  werde. 

Aus  den  Verhandlungen,  welche  deshalb  im  kurfürst- 
lichen Kollegium  am  30.  März  1707  gepflogen  wurden,  sei 
nur  der  auf  die  Erben  Max  Emanuel's  bezügliche  Passus 
hervorgehoben.  Während  Sachsen  und  Brandenburg  die 
Wiedereinsetzung  Bayerns  in  das  kurfürstliche  Kollegium 
beim  Fried ensschluss  als  wahrscheinlich  ansahen  und  deshalb 
gegen  Uebertragung  der  bayerischen  Kur  an  die  pfälzische 
Linie  sich  verwahrten ,    erklärten   die  geistlichen  Kurfürsten 


1)  IJ.  H.-A.    Lettre  de  l'electeur  a  l'^lectrice  d.  d.  10.  mai  17U7. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.      57 

von  Trier  und  Mainz,  dass  sie  die  Söhne  Max  Emanuer«, 
„obwohl  unschuldige  und  unmündige  Prinzen,  propter  re- 
atum  paternum  aller  väterlichen  Würden  und  succession 
verlustig"  betrachteten;  wie  einst  Friedrichs  V.  Nachkommen- 
schaft, so  müssten  auch  die  bayerischen  Prinzen  ,pro  civiliter 
mortuis"  angesehen  werden.  Schliesslich  gaben  sämmtliche 
Mitglieder,  nachdem  der  Kaiser  die  Erhaltung  der  bisherigen 
Rangordnung  zugesichert  hatte,  ihre  Zustimmung,  dass  dem 
Km-fürsten  Johann  Wilhelm  nicht  nur  die  alte  pfälzische 
Kurwürde  nebst  dem  Erztruchsessenamt ,  sondern  auch  die 
Oberpfalz  nebst  der  Grafschaft  Cham  eingeräumt  werde*). 
Obwohl  auch  gegen  diese  Massnahme  das  Fürstenkollegium 
Protest  erhob^),  hielt  sich  Kaiser  Joseph  für  berechtigt,  Bayern 
als  ein  verwirktes  Lehen  anzusehen  und  mit  diesem  seinem 
Eigenthum  diejenigen  Reichsstände  und  Beamten ,  die  ihm 
wichtige  Dienste  geleistet  hatten,  zu  belohnen.  Mit  seinen 
eio'enen  Erblanden  vereinigte  er  das  zwischen  den  Hochstif- 
tern  Salzburg  und  Passau  gelegene  Gebiet  mit  Ried  und 
Braunau.  Den  kleinen  Rest  mit  der  Hauptstadt  München 
beliess  er  unter  kaiserlicher  Administration,  um,  wie  er  er- 
klärte, dem  gesammten  Reiche  zu  zeigen,  dass  er  ,in  diesem 
Stücke  lieber  die  Gnade  vor  Recht  gehen  lassen,  als  durch 
Bereicherung  des  eigenen  Hauses  mit  Unterdrückung  des  un- 
glücklichen Nachbahrs  sich  von  andern  Ständen  eine  Jalousie 
zuziehen  wolle"  ^). 

Da  die  Franzosen  trotz  aller  Anstrengungen  fort  und 
fort  nur  Niederlagen  erlitten  und  der  aus  überraüthigem 
Glückstaumel   jäh    erwachte   König    im  Frieden    die    einzige 


1)  B.  St..-A.  K.  schw.  380/22.  Acta,  Sr.  Churfürstl.  Durchlaucht 
Max  Emanuelis  Achts-Erklärung,  dann  Transferirung  der  Bayrischen 
Chur  und  der  oberen  Ptaltz  an  das  Churhaus  Pfaltz,  1707. 

2)  Theatrum  Europaeum,  34. 

3)  Electa  juris  publici,  II.  70.  —  Neu  eröffneter  Staatsspiegel, 
VIU,  737. 


58  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Rettung  erblicken  konnte,  knüpfte  Max  Emanuel  im  Auf- 
trag Ludwigs  XIV.  wiederholt  heimlich  mit  den  Holländern 
und  Engländern  an  ^) ;  es  gelang  jedoch  nicht,  die  Bundes- 
genossen des  Kaisers  für  einen  Separatfrieden  zu  gewinnen.  Un- 
bekannt war  bisher,  dass  der  Kurfürst  und  seine  Gattin  im 
Winter  1708  einleitende  Schritte  unternahmen,  um  mit  dem 
Kaiser  Frieden  zu  schliessen ,  wozu  sich  eine  unerwartet 
günstige  Gelegenheit  zu  bieten  schien.  Ein  Strolch  in  Ve- 
nedig schrieb  an  die  Kurfürstin,  er  wolle,  falls  ihm  eine  be- 
stimmte Belohnung  zugesichert  werde,  den  Kaiser  durch  Gift 
aus  dem  Wege  räumen  und  damit  das  bayerische  Haus  von 
seinem  gefährlichsten  Feinde  befreien.  Die  Kurfürstin  sandte 
den  Brief  an  ihren  Gatten,  und  dieser  gab  schleunigst  dem 
Kaiser  Nachricht.  Daran  knüpften  sich  Unterredungen 
zwischen  dem  kaiserlichen  Gesandten  in  Venedig  und  einem 
Kavalier  im  Gefolge  der  Kurfürstin ,  Baron  Widmann ,  der 
wiederholt  maskirt  den  Palast  des  Gesandten  besuchte.  Der 
kaiserliche  Minister  Graf  Wratislaw  war  auch  jetzt,  wie  nach 
der  Höchstädter  Schlacht ,  einer  Aussöhnung  der  Familien 
Habsburg  und  Witteisbach  geneigt,  und  der  Gesandte  gab 
der  Hoffnung  Ausdruck,  es  werde  sich  „aus  jenem  Gift- 
trank ein  Heilmittel  ziehen  lassen ,  dazu  geeignet ,  die  edle, 
grossmüthige  Handlung  des  Kurfürsten  nach  Gebühr  zu  l)e- 
lohnen"'^).  Allein  auch  diese  Vei-handlungen  verliefen  erfolg- 
los, und  ebenso  der  erneute  Versuch  der  Kurfürstin,  durch 
Vermittlung  des  Dogen  und  der  Grossherzogin  von  Toskana 
wieder  in  Besitz  der  Kinder  zu  gelangen^). 


1)  Lamberty,  Menioires,  IV,  302,  305.  Neue  wichtige  Auf- 
achlüsse  über  diese  Verhandlungen  bietet  die  KoiTCHpondenz  zwischen 
dem  Kurfürsten  und  dem  geheimen  Agenten  Frankreichs  im  Haag, 
Mr.  HelvetiuH,  im  oben  angezogenen  Akt,  die  Achterklärung  Max 
Emanuel's  btr.  (B.  St.-A.  K.  schw.  380/22.) 

2)  B.  St.-A.  K.  schw.  390/10.  Baron  Widmannische  Korrespondenz 
aus  Venedig  mit  Freyherrn  von  Malknecht  in  denen  spanischen  Nieder- 
landen, 1705  —  1714.     Brief  Widmann's  vom   17.  Nov.  1708. 

3)  B.  H.-A.  754/42.     Lettrea   de  Mr.  Bareali    au   Pere    Schmaker 
aVenise  1705—1710.     Brief  Bareali's  von  13.  Febr.  1709. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.     59 

Mit  der  fable  convenue ,  dass  die  bayrischen  Prinzen 
einer  schimpflichen  Behandlung  preisgegeben  gewesen  seien, 
muss  unbedingt  gebrochen  werden ;  trotzdem  war  es  ein 
hartes  Geschick  für  die  Eltern :  so  viele  Jahre  sich  der  zärt- 
lich geliebten  Kinder  beraubt  zu  sehen,  für  die  Kinder:  in 
die  Hände  des  strengen  Richters,  der  eben  das  Land  ihrer 
Väter  zertrümmert  hatte,  auf  Gnade  und  Ungnade  überliefert 
zu  sein  und  den  Waffen  des  Kaisers  im  Kampfe  gegen  ihren 
Vater  Glück  und  Sieg  wünschen  zu  müssen !  ^) 

Auch  der  Tod  Kaiser  Joseph's  schien  vorerst  keine 
freundlichere  Wandlung  ihrer  Lage  zu  bringen.  Die  ge- 
ächteten Kurfürsten  von  Köln  und  Bayern  bestritten  die 
Gültigkeit  jeder  Kaiserwahl,  die  man,  ohne  ihre  Kur- 
stimmen zu  beachten,  vornehmen  würde  ■^);  der  päpstliche 
Wahlgesandte  Albani  forderte  ihre  Zulassung,  um  mit  Hilfe 
ihrer  Stimmen  die  Wahl  des  Kurprinzen  von  Sachsen  durch- 


1)  B.  St.-A.  K.  schw.  261/61.     Litterae   Caroli   Alberti   ducis  Ba- 
variae  ad  Josephum  imperatorem  d.  d.  14.  dec.  1708: 

Serenissime  potentissiuie  invictissime  Romanorum  Imperator! 

Clementissime  domine,  domine  Cognate ! 

Cesaree  Majestatis  Vestrae  elapso  hoc  anno  una  cum  festis  na- 

talitiis  felix  insequentis  auspicium  ea  qua  possum  submissione  appre- 

caturus,  omnia  vota  in  ea  precesque  eo  dirigam,  ut  Benignura  numen 

Cesaree  majestati  vestrae  innumeros  alios  addere  et  certanti  corporis 

valetudine  et  multis  ab  hostibus  reportatis  victoriis  multiplicare  velit. 

Ego  autem  omnen  conatum  adhibeo,   ut  non  aolum   pro  summis  Ce- 

sareis  gratiis,    quas  quotidie  cum  fratribus  meis  experier  gratissimus 

existam,  sed  etiam  ulterioribus  ac  novis  dignum  me  reddere  valeam, 

atque  bisce  Cesaree  Majestatis  vestrae  potentissimae  protectioni  sub- 

mississime  me  commendo  et  maneo 

Cesaree  Majestatis  Vestrae 

Olagenfurti  14.  decembris  1708 

humillimus  et  obedientissimus 

servus  et  cognatus 

Carolus,  Dux  Bavariae. 

2)  Theatrum  Europaeum,  19.  tom.,  380,  384. 


60  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

zusetzen  ^),  während  Frankreich  insgeheim  die  beiden  Stimmen 
dem  König  von  Preussen ,  falls  er  als  Bewerber  auftreten 
wollte,  in   Aussicht  stellte"). 

Erst  als  der  Versuch,  dem  Haus  Oesterreich  die  Kaiser- 
krone zu  entwinden,  gescheitert  und  die  Wahl  Karl's  voll- 
zogen war,  bald  darauf  aber  die  bekannte  Annäherung  der 
bisherigen  Bundesgenossen  Oesterreichs  an  Prankreich  sich 
vollzog,  gestalteten  sich  die  Aussichten  für  eine  Restitution 
Bayerns  an  das  Wittelsbachische  Haus  günstiger,  da  der  neue 
Kaiser  diesem  Gedanken  von  vorneherein  weniger  abgeneigt 
war,  als  sein  Vorgänger. 

Mit  der  politischen  Schwenkung  stand  offenbar  in  Zu- 
sammenhang, dass  eine  üebersiedlung  der  bayerischen  Prinzen 
von  Klagenfurt,  wo  ihr  Aufenthalt  bei  aller  wohlwollenden 
Fürsorge  für  ihre  körperliche  und  geistige  Entwicklung  doch 
immer  den  Charakter  einer  Gefangenschaft  an  sich  getragen 
hatte,  nach  Graz,  wo  sie  wieder  eine  glänzendere  Hofhaltung 
erhielten,  angeordnet  wurde.  In  diesem  Sinne  gab  Karl  VI. 
in  einem  Schreiben  an  Löwenstein  vom  6.  April  1712  seinen 
Entschluss  kund:  ,Die  besondere  gnädigste  Affection  und 
Obsorge,  welche  wir  für  die  gesambte  bayerische  Prinzen 
und  deren  fürstmässige  education  tragen,  hat  Unss  zum 
gnädigsten  Entschluss  bewogen,  nicht  nur  die  vier  älteren 
von  Klagenfurth,  sondern  auch  den  fünften  von  München 
nach  unser  .  .  .  Statt  Gratz  der  Ursachen  halber  bringen 
lassen,  damit  sie  Gebrüder  von  einander  desto  grössere  freud 
und  consolation  haben,  insonderheit  auch  wegen  des  dasigen 
Orts  Beschaffenheit  und  der  Menge  unsres  Adels  sowohl  als 
bequemlicherer  Gelegenheit  zu  ihrer  Aufferziehung  besser  ver- 
sorget, mit  behöriger  Hoffstaat  und  sonsten  allen  Nothdurfften 
gebührend  versehen  und  verpfleget    und    nach  der  heutichen 


1)  Lamberty,  646. 

2)  Ibid.,  646. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.      61 

Welth-Arth  geburthmässich  erzogen    und    verpfleget   werden 
können".^) 

Wahrhaft  väterliche  Sorglichkeit  spricht  sich  aus  in  der 
Instruktion,  welche  Kaiser  Karl  am  9.  April  1712  dem  mit 
der  ,  Oberdirektion "  über  den  Hofstaat  der  Prinzen  betrauten 
innerösterreichischen  Hofkammerpräsidenten  Karl  VVeikart 
Grafen  von  Brenner  zu  Graz  ertheilte.'^)  Die  vorsichtigste 
Aufmerksamkeit  soll  er  den  von  den  Eltern  getrennten  Prinzen 
widmen,  damit  sie  an  Gottesfurcht  und  irdischer  Weisheit 
zunehmen,  in  allen,  dem  fürstlichen  Stand  geziemenden  Kennt- 
nissen und  Künsten  sich  vervollkommnen,  auch  an  allen 
standesmässigen  Vergnügungen  sich  ergötzen  möchten.^!     Zu 


1)  K.  k.  H.-,  H.-  u.  St.-A.  —  Dass  die  Prinzen  selbst,  wie  im 
Theatrum  Euroijaeum,  167,  erzählt  wird,  um  Versetzung  nach  Graz 
nachgesucht  hätten,  ist  unwahrscheinlich. 

2)  K.  k.  H.-,  H.-  u.  St.-A.  —  Eine  Abschrift  befindet  sich  unter 
den  Dellingiana  (Nr.  32)  der  Handschriftensammlung  der  Münchener 
H.-  u.  St.-Bibl. 

3)  ,  .  .  .  Dass  Ihr  auf  alle  ihre  Verrichtungen,  sonderlich  aber 
die  Personen  der  5  Prinzen  ein  aufraerkhsammes  Aug  haben,  öfters 
umb  sie  und  bei  ihnen  seyn;  ihnen  nichts  ermanglen  lassen;  alle 
etwan  wahmehmmende  Ungebühr  mittels  dero  Oberhoifmeisters,  Beicht- 
vätter  und  Instructoren  mit  guter  Arth  abstellen ;  hingegen  das  Beste 
und  Nuzlichste  anordnen;  sie  forderist  zur  Andacht  und  Forcht  Gottes, 
sodann  aber  zu  recht-  und  ordentlichen  Stunden  mittels  ihrer  theils 
wirklich  habenden  und  theils  noch  darüber  aufzunehmen  nöthigen 
Lehr-  und  exercitien-Meister  ad  literas  et  scientias,  zu  denen  Sprachen 
und  übrigen,  dem  fürstlichen  Stand  wohl  anstehenden  exercitien,  alss 
reitten,  fechten,  dantzen  und  etwan  einer  beliebigen  Music.  so  weith  es  die 
Zeit,  ihre  Gesundheit,  Jahr  und  Kriifften  zulassen,  anhalten;  sie  auch  zu- 
weillen  mit  einer  Hetzjagdt,  Bürsch  und  dergleichen  in  meinen  Forst- 
und  Waldungen  ergötzen  und  unterhalten  lassen,  jedoch  dass  hierdurch 
ihre  andern  Studia  und  exercitien  nicht  zuruckh  gesezt  oder  vernach- 
lässigt werden;  mithin  Ihr,  dass  sie  ausser  Müssiggang  gesezt  et  ne 
libidini  indulgeant,  sondern  so  christ-  als  sittlich  und  in  allem  fürst- 
lichen Wohlstand  und  Tugenden ,  wie  zumahlen  in  der  Lieb  und 
schuldigsten  unterthänigsten    devotion,    auch    Erkhantlichkeit    gegen 


62  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

diesem  Behuf   soll   ihnen   die  kaiserliche  Burg  in  Graz  zAini 
Aufenthalt    angewiesen,    eine    grössere    Anzahl    Lehrer    zur 


mich  ■und  mein  ganzes  löbl.  Ertzhaus  von  Oesterreich  von  ihrer  der- 
maligen .lugent  an  gebührlich  auferzogen  und  gestiirckhet  werden, 
auf  alle  Weiss  Sorg  tragen;  und  mir  endlich  von  ihren  progress, 
Beschaffenheit  und  Nothvrendigkeiten  wöchentliche  relation  erstatten 
sollet.  Und  wie  ich  anbey  sie  Prinzen  und  gesambte  ihre  Hofstaat 
hiemit  an  Euch  dergestalt  anweise,  dass  sie  bey  vorfallenden  Uingen 
ihren  Kecurs  zu  Euch  nehmen  und  von  Euch  den  Oberbescheid 
annehmen  sollen;  also  befehle  ich  Euch  auch  hiemit  gnädigst,  dass 
Ihr  zu  ihrer  Einlogirung  alsobald  die  Burgg  zu  Grätz  so  viell  nöthig 
mobiliren  und  einrichten,  und  was  die  Einquartierung  der  übrigen 
bayrischen  Hoffstatt  Bedienten  oder  andere  etwan  nöthige  information 
anbetrifft,  mit  .  .  .  Graffen  von  Rosenberg  (Gf.  Friedrich  von  R.-Or- 
sini,  Burggraf  in  Kärnten)  nacher  Clagenfurth  correspondiren,  ihme 
auch,  sobald  gedachte  Burgg  in  dem  Stand  ihrer  Einlogirung  ist,  alss 
welches  (zumahlen  samraentliche  Prinzen  noch  vor  Aussmarschirung  des 
Mercy'schen  Regiments  nach  Grätz  zu  gehen  haben)  ohne  Verzug  zu  voll- 
ziehen ist,  solches  durch  einen  expressen  berichten  und  ihre  deren 
Prinzen  von  Clagenfurth  Ab-  und  respective  dahinreyss  nacher  Grätz 
beförderen  und  urgiren  sollet.  Ihr  habt  über  diess  bey  Ankhunfft 
deren  Prinzen  zu  Grätz  in  meinem  Nahmen  nicht  nur  ihren  Ober- 
hoft'meister  den  Gräften  von  Thürheimb,  wie  auch  ihren  Oberstal  I- 
meister  den  Graffen  von  Fugger;  und  dan,  ausser  des  Probsten  zu 
Mattickhotten  ihres  dermahligen  inatructoris  primiirii ,  alle  übi-ige 
mitkhommende  dermahlige  wirckhliche  Hofstatt-Bediente  in  Diensten 
deren  Prinzen  und  ihrem  bisshero  gehabten  Sold  zu  behalten  und  zu 
bestättigen;  den  erstgedachten  Probsten  aber  (urabwillen  ich  den 
ältisten  Prinzen  mit  einem  anderen  subiecto,  von  welchem  er  und  zu 
seiner  Zeit  auch  übrige  seiner  Gebrüder  neben  dem  jure  universal! 
auch  die  Eloquenz,  die  Historiam,  die  Mathesin  und  mithin  die  Forti- 
fication,  die  Ethicam  und  Politicam  nach  und  nach  bono  ordine  er- 
lehrnen  und  begreifien  sollen,  von  hier  auss  gdgst.  zu  versehen  gedenkhe) 
seines  bissherigen  Diensts  in  Gnaden  zu  entlassen  und  hingegen  ihmo 
zu  einer  Erkhanntlichkeit  ....  die  der  Zeit  genüssende  Besoldung 
pensionis  loco  auf  sein  Leben  lang  zu  confirmini;  sondern  auch  ihre 
deren  5  Prinzen  Hoöstatt  dergestalt  zu  augmentirn  und  einzurichten, 
dass  sie  inagesambt  wenigist  5  Cavaglieri  zu  ihren  Cammerern,  wie 
auch   drey   Beichtvätter   ex  S.  .1.,  von   welchen   sie   praeter    officium 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc. 


63 


Unterweisung  der  Knaben  in  allen  freien  Künsten  gewonnen 
und  damit  es  auch  am  nötliigen  Glänze  nicht  fehle,  der 
Hofstaat  durch  Aufnahme  von  Kavalieren  und  Edelknaben 
in  gebührenden  Stand  gesetzt  werden.  Natürlich  schärft  die 
Instruktion  besonders  ein,  dass  die  Knaben  zu  schuldiger 
Devotion  gegen  das  Kaiserhaus  angeleitet  werden  sollen. 

Da  die  Gründe  der  Uebersiedlung  nach  Graz  nicht  be- 
kannt waren,  erregte  die  Nachricht  grosse  Bestürzung  sowohl 
bei  den  Eltern  der  gefangenen  Prinzen,  als  bei  den  Patrioten 
in  der  Landeshauptstadt.  Die  Kurfürstin  sei  vor  Schmerz 
und  Zorn  ganz  ausser  sich  gerathen,  schreibt  Baron  Widmann 


confessarii,  die  humaniora  et  philosophiam  zu  erlehrnen  haben;  jeg- 
licher aber  auss  ihnen  5  Prinzen  in  particulari  2  Edle  Knaben  oder 
Page  und  einen  sonderbahren  instructorem  oder  praeceptorem ,  so 
stetts  urab  sie  zu  seyn  und  sowohl  in  studiis  humanioribus  alss  guter 
Sitten  halber  ihnen  an  die  Hand  zu  stehen  haben;  und  dan  auch 
jeglicher  von  ihnen  neben  den  bereits  in  Diensten  sich  befindenden 
Chyrurgo  und  Apotecker  (alss  welche  für  alle  5  Prinzen  ins  gemein 
zu  verstehen  seind),  seinen  sonderbahren  Cammerdiener  und  drey 
Laqueyen  zu  ihrer  Bedienung  haben  soll.  Mit  diesem  Beysatz,  dass, 
was  anbelangt  die  5  Cavaglieri,  wie  auch  die  6  Edelknaben,  welche 
über  die  vier  bereits  in  Diensten  stehende  annoch  auffzunehmen  seynd, 
ihr  solche  auss  dem  innerösterreichischen  gut-  und  alten  Adel  auss- 
auchen  und  \ü\r  selbe  zu  meiner  gnädigsten  approbation  gehorsamst 
vorschlagen ;  was  aber  die  3  confessarios  simul  et  instructores  humani- 
orum  et  philosophiae  betrittt,  Ihr  mit  denen  Patribus  Soc.  J.  Euch 
unterreden  und  mir  das  gut  befindliche  zu  meiner  weiteren  gnädigsten 
disposition  ingleichen  relationiren ;  dann  den  in  literis  et  scientiis 
altioribus  anstatt  des  Probsten  zu  Mattickhoften  dem  ältisten  Prinzen 
der  Zeit  beyzufügen  habenden  instructorem  primarium  von  mir  er- 
warthen  und  sodan  selben  ihme  Prinzen  und  dessen  Oberhotfmeistern 
vorstellen;  die  übrige  vorgedachter  massen  noch  abgehende  Bediente 
aber  ohne  weiters  Anstehen  selbst  auftnehmen  und  installiren;  mir 
aber  anbey,  was  die  Besoldungen  dieser  in  die  augmentation  khom- 
menden  Bedienten  für  jeden  ausstragen  möchten,  oder  sonst  noch 
etwan  zu  erinnern  wäre,  zu  weiterer  meiner  gnädigsten  Verordnung 
unverweilt  gehorsambst  berichten  sollet". 


64  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

an  Malknecht,  sie  wolle  den  Papst  nm  Hilfe  gegen  das  nn- 
mensehliche  Betragen  des  Wiener  Hofes  angehen  ;  auch  er 
selbst,  fügt  er  hinzu,  könne  sich  der  Befürchtung  nicht  er- 
wehren, dass  der  König  von  Böhmen,  der  „die  Politik 
Philipp's  IL  nachäifen  und  als  frommer  Macchiavellist  Alles 
an  sich  reissen  will",  die  Prinzen  ganz  in  seine  Hand  bringen 
und  auch,  wenn  es  zum  Frieden  kommen  sollte,  nur  gegen 
Bayern  ausliefern  werde.  ■*)  Die  nämliche  Besorgniss  äusserte 
Widmann  gegenüber  dem  venetianischen  Prokurator  Pisani, 
und  dieser  versprach,  dass  die  Republik  solche  Gelüste  des 
Kaisers  energisch  bekämpfen  werde.^) 

Auch  an  die  Gräfin  Fugger,  welche  nach  Ableben  der 
Freiin  von  Weichs  (Oktober  1707)  zur  Obersthofmeisterin 
der  Prinzessin  Maria  Anna  ernannt  worden  war,  richtete 
Widmann  im  Auftrag  der  Kurfürstin  einen  Brief,  in  welchem 
wehmüthige  Klagen  mit  Ausdrücken  zorniger  Entrüstung 
wechseln.  Die  Kurfürstin  habe  geglaubt,  der  neue  Kaiser 
werde  die  Grundsätze  der  Gerechtigkeit  und  Menschlichkeit 
hochhalten;  jetzt  sehe  sie  aber,  dass  der  Wiener  Hof  von 
der  alten  Willkür  und  Grausamkeit  nicht  lassen  wolle.  Man 
verweigere  ihr  die  Rückkehr  in  die  vertragsmässig  ihr  zu- 
gesicherten Staaten,  man  halte  sie  fern  von  ihren  Kindern, 
ja,  man  schleppe  dieselben  noch  in  weitere  Ferne.  Man 
gestatte  nicht  bloss  nicht,  dass  die  Prinzen  nicht  mehr  auf 
Vater  und  Mutter  achten,  man  verbiete  ihnen  sogar,  ein 
Zeichen  von  kindlicher  Achtung  und  Pietät  von  sich  zu 
geben,  wie  wenn  das  Kriegsrecht  auch  die  Befugniss  verleihe, 
das  klar  ausgesprochene  göttliche  Gebot,  das  den  Kindern 
Dankespflicbten  gegen  die  Erzeuger  auferlege,  anzutasten  und 
aufzuheben.     Solche  Tyrannei    lasse    befürchten,    dass    auch 


1)  M.  IT.-  u.  St.-Bl.    Dellingiana  Nr.  32.     PJxtrait  d'une  lettre  du 
baron  Widmann  d.  d.  23.  avril  1712. 

2)  Ibid.    Extrait  d'une  lettre  du  baron  VVidnumn  d.  d.  14.  luai  1712. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanneVs  etc.     05 

unter  der  jüngsten  Verfügung  noch  andere  böse  Anschläge 
versteckt  seien.') 

Die  Antwort  der  Gräfin  Fugger  enthielt  Manches,  was 
die  arme  Muttter  beruhigen  konnte,  Manches,  was  neue 
Besorgniss  einflössen  musste.^)  Die  in  München  gebliebenen 
Kinder  seien  immer  von  ihr  angehalten  worden,  in  Liebe 
und  Ehrfurcht  ihrer  Eltern  zu  gedenken,  und  ebenso  habe  ihr 
Sohn  Graf  Joseph,  so  lange  er  bei  den  älteren  Prinzen  in 
Diensten  stand,  seine  jungen  Gebieter  stets  an  ihre  Pflichten 
erinnert :  möge  man  sie  nach  Indien  in  Gefangenschaft 
schleppen,  dürften  sie  nicht  derer  vergessen,  welche  ihnen 
das  Leben  gaben  und  nächst  Gott  das  erste  Anrecht  auf 
ihre  Dankbarkeit  hätten.  Graf  Joseph  habe  für  ein  jedes 
von  den  kurfürstlichen  Kindern  Bilder  des  hl.  Maximilian 
und  der  hl.  Therese,  welche  die  Züge  von  Monseigneur  und 
Madame  trugen,  malen  lassen;  Baron  Guidebon  habe  jedoch 
die  Bilder  weggenommen.  Die  Wegführung  des  Prinzen 
Theodor  habe  in  München  bei  Hoch  und  Niedrig  Bestürzung 
und  Unwillen  wachgerufen ;  in  den  Gemächern  und  Höfen 
der  kurfürstlichen  Residenz  habe  sich  eine  wehklagende  Menge 
gedrängt,  und  obwohl  der  Prinz,  um  nicht  mit  ihm  durch 
die  Stadt  fahren  zu  müssen,  durch  das  Thor  des  Zeughauses 
entfernt  worden  sei,  habe  die  Bürgerschaft  dem  Scheidenden 
bis  zur  Ebene  vor  Haidhausen  das  Geleite  gegeben. 

Tröstlicher  lauteten  die  Briefe  der  Gräfin,  worin  sie  der 
Kurfürstin  mittheilte,  was  von  den  nach  Graz  mitgenommenen 
Hofdienern  zu  erfahren  war,  und  seit  vollends  im  Juni  1712 
das  Gerücht   auftauchte,    der  Kurprinz  werde  sich  mit  einer 


1)  Ibid.  Copie  de  la  lettre,  que  par  ordre  de  S.  A.  E.  Madame 
l'Electrice  le  baron  de  Widmann  a  ecrit  a  madame  la  comtesse  de 
Fugger,  grande  maitresse  de  Madame  la  Princesse  de  Ba viere,  d.  d. 
Venise,  22.  avril  1712. 

2)  Ibid.  Reponse  de  madame  la  comtesse  Fugger,  d.  d.  Munich, 
6.  mai  1712. 

18S8.  Philos.-pl)ilol.  u.  bist.  C!.  II.  1.  5 


66  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Tochter  Kaiser  Joseph 's  verloben,  schien  sich  Alles  in  eitel 
Wohlgefallen  auflösen  zu  wollen.  Mit  Genugthuung  berichtete 
die  Gräfin,  die  Prinzen  seien  zu  Graz  in  herrlichen  Gemächern 
untergebracht,  neben  ihren  Beichtvätern  seien  ihnen  die 
tüchtigsten  Lehrer  an  die  Seite  gegeben,  der  Hofstaat  werde 
in  glänzender  Weise  ergänzt  und  zwar  vorzugsweise  durch 
Angehörige  der  ersten  bayrischen  Familien.^) 

Auch  andere  Nachrichten ,  insbesondere  Berichte  von 
wohl  unterrichteten  Mitgliedern  des  Jesuitenkollegiums  zu 
Graz,  bestätigten  die  günstige  Wendung.'^)  Der  Kaiser,  so 
wurde  erzählt,  sei  entzückt  von  den  erstaunlichen  Fort- 
schritten der  bayerischen  Prinzen,  insbesondere  des  Kur- 
prinzen, dem  er  sein  höchstes  Wohlwollen  zuwende.  Der 
Grosskanzler,  Graf  Wratislaw,  habe  noch  kurz  vor  seinem 
Ableben  dem  Kaiser  den  Rath  gegeben,  die  zwei  Erzherzog- 
inen mit  zwei  bayerischen  Prinzen  zu  vermählen,  — :  daraus 
werde  für  Oesterreich  wie  für  Bayern  Heil  erwachsen.  Graf 
Breuner  habe  jüngst  einmal  den  Kurprinzen,  der  gewöhnlich 
in  ernster  Stimmung  beharre,  ausnahmsweise  bei  heiterer 
Laune  getroifen  und  darüber  seine  Freude  ausgedrückt;  der 
Prinz  habe  geäussert:  ,Je  nun,  ich  bin  heiter,  soweit  ein 
Gefangener  heiter  sein  kann!"  worauf  Graf  Breuner  erwiderte: 
,Ew.  Hoheit  sollten  nicht  von  Gefangenschaft  sprechen  in 
einer  Zeit,  da  von  Ihrer  Heirat  mit  einer  Erzherzogin  ge- 
sprochen wird  !"  Der  Prinz  habe  aber  würdevoll  abgewehrt: 
„Wie  könnte  ein  Gefangener  davon  träumen,  dass  ihm  die 
Tochter  eines  Kaisers  die  Hand  reichen  würde!"  In  der 
ganzen  Stadt,  fügt  der  Berichterstatter  hinzu,  habe  man 
sich   über    die    vornehme  Sprache    des    Prinzen    gefreut,    da 


1)  Ibid.     Lettre   de  inadame   la  comtesse  Fugger,  d.  d.  10.  juin, 
24.  juin,  22.  juillet,  28.  octobre,  4,  novembre,  18.  nov.  1712. 

2)  libd.     Extract  aus  einem  Schreiben    von  Gratz.    4.  Dezember 
1712. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc.     67 

selbst    ein    reifer    Mann    keine    edlere    und    klügere  Antwort 
hätte  finden  können.^) 


1)  Ibid.  Extrait  d'une  lettre  ecritte  au  baron  de  Widmann  de 
Munich,  30.  decembre  1712.  —  Auch  über  die  Tagesordnung,  sowie 
über  den  Hofstab  der  Prinzen  in  Graz  werden  genaue  Nachrichten 
mitgetheilt. 

, Morgen  um  8  Uhr  steht  man  auf,  Morgengebet,  Ankleiden  und 
Suppen  verzieht  sich  bis  9  Uhr;  alsdann  kommen  die  3  P.  P.  Jesuiten. 

Der  erste,  so  Ihro  Durchl.  Prinzen  Karl  die  Philosophiam  giebt, 
nennt  sich  Walter;  der  andere,  der  Ihro  Durchl.  Prinz  Philipp  und 
Prinz  Ferdinand  instruirt,  den  ersten  in  der  5.,  den  andern  in  der 
4.  Schule,  nennet  sich  Mannersberger;  der  dritte,  P.  Adlmayer,  in- 
struirt Ihro  Durchl.  Prinzen  Clemens  in  der  andern  und  Prinz  Theodor 
in  der  ersten  Schule. 

Dieses  dauert  bis  10  Uhr.  Nach  diesem  kommt  Herr  von  Schol- 
berg  zu  Ihro  Durchl.  Prinz  Karl,  die  historiam,  geographiam  und 
anderes  zu  geben.  Zu  Ihro  Durchl.  Prinz  Philipp  und  Prinz  Ferdinand 
kommt  Herr  von  Schütz. 

Mit  den  2  letzteren  aber,  ehe  Herr  v.  Schütz  seine  Studien  giebt, 
repetirt  ein  gewisser  weltlicher  dasjenige,  was  P.  Mannersberger 
dictirt;  ingleichen  2  andere  weltliche  Priester  mit  den  2  kleineren 
solches  auch  thun,  und  dauert  also  das  sammentliche  Studium  un- 
geföhr  bis  ein  Viertel  nach  11  Uhr  oder  gar  halbe  12  Utir. 

Hernach  ist  die  hl.  Messe.  Um  12  Uhr  die  Tafel.  Um  1  Uhr 
kommen  wieder  3  weltliche  Priester  und  bleiben  alle  5  Prinzen  bei- 
sammen, welche  bis  2  Uhr  von  den  Geistlichen  mit  discurs  unter- 
halten werden. 

Von  2  bis  3  Uhr  kommen  abermal  die  3  Patres  Jesuitae. 

Von  3  bis  4  Uhr  die  2  weltliche  und  3  geistliche,  welches  ordi- 
nari  bis  4V2  Uhr  dauert,  zu  Zeiten  auch  bis  5  Uhr. 

Nach  diesem  kommt  der  Tanzmeister,  hernach  die  Musik,  in 
der  Ihro  Durchl.  der  Prinz  Karl,  Prinz  Ferdinand  und  Prinz  Clemens 
die  Lauten  wohl  schlagen,  Prinz  Philipp  die  Flauten  blasen,  Prinz 
Theodor  die  Guitarre  spielen. 

Dieses  dauert  bis  7  Uhr;  hernach  gehet  man  zur  Tafel;  nach 
der  Tafel  ist  bis  nach  9  Uhr  Recreation  und  Unterhaltung  mit  den 
Geistlichen  neben  Aufmachung  der  Haare. 

Um  %^l'i  Uhr  ist  das  Nachtgebet,  dass  man  also  um  10  Uhr 
schlafen  gehen  kann. 

5* 


68  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Als  erfreulichen  Beweis  der  freundlicheren  Gestaltung 
der  Beziehungen  zwischen  den  Häusern  Habsburg  und  Wittels- 
bach  empfing  die  Mutter  der  Kurfürstin  Therese,  die  Königin 
von  Polen,  im  März  1713  zum  Erstenmale  seit  acht  Jahren 
einen  Brief  ihres  ältesten  Enkels.^)  , Sicher  würde  ich", 
schrieb  Karl  Albert,  „nicht  so  viele  Jahre  versäumt  haben, 
Ew.  Majestaet  meiner  tiefsten  Verehrung  zu  versichern,  wenn 
mir  nicht  die  Ungunst  der  Zeit  und  die  dadurch  hervor- 
gerufenen Umwälzungen  jede  Gelegenheit  entzogen  hätten. 
Mit  Ew.  Majestaet  gütiger  Erlaubniss  benütze  ich  aber  heute 
die  kürzlich  von  Ihrer  Kaiserlichen  Majestaet  erhaltene  Er- 
laubniss, um  Ew.  Majestaet  die  Versicherung  zu  geben,  dass 


Vacanz  haben  Ihro  Durchl.  die  Prinzen  Erchtag  und  Pfingsttag, 
an  welchen  Tagen  vormittag  die  Reitschule  und  Nachmittags  die 
Gesellschaft."  —  —  — 

„Hofstab  der  durchl.  Prinzen  zu  Gratz: 
Obersthofmeister  Graf  Thürheim, 
Oberststallmeister  Gf.  Fugger, 

1.  Cavalier  Graf  v.  Schlossenberg, 

2.  „         Gf.  Alois  V.  Rechberg, 

3.  „         Gf.  Burgstall, 

4.  „         Gf.  V.  Preising, 

5.  „         Baron  Culmayer. 

Edelknaben  10,  welche  sich  nennen:  Baron  Maierhofer, 
Spreti,  zwei  Lamberg  —  Hegnenberg  ~  Schürf,  Graf 
Windischgrätz,  Gf.  Kaycianns, 

Knaben-Hofmeister  und  Präceptor, 

Zwei  Knaben-Laquay's. 

Drei  Instructores  für  Ihro  Durchl.  3  Prinzen:  P.  P.  Jesuitae 
und  8  Beichtväter, 

7  Kammerdiener,  15  Lakay,  1  Hoffurier,  Controlor  nebst  sn. 
Adjunkten,  Zuckerbäcker,  Einkäutfer,  2  Kammerknechte, 
3  Portier,  2  Küche  nebst  ihren  2  .Tungen,  2  Köchinen 
nebst  ihren  Gehülfinen,  1  Bereiter,  Stallburschen  22, 
Pferde  52." 
1)  B.  St.-A.  K.  schw.  261/61.  Lettre  du  prince  dlectoral  a  la 
reine  de  Pologne,  d.  d.  Grace,  13.  mars  1713. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  EmanueVs  etc. 


69 


ich,  obwohl  ich  so  lange  orenötigt  war,  Stillschweigen  zu 
beobachten,  und  mich  niemals  schriftlich  Ihrer  Gnade  eni- 
])fehlen  konnte,  an  keinem  Tag  unterlassen  habe,  mit  meinen 
Brüdern  Gott  den  Herrn  anzAiflehen,  dass  er  Ew.  Majestaet 
mit  seinem  reichsten  Segen  bedenke  und  uns  in  Stand  setze, 
geziemend  zu  antworten  auf  die  Beweise  von  Zärtlichkeit, 
womit  Ew.  Majestät  uns  von  Zeit  zu  Zeit  durch  durchreisende 
Geistliche  und  hauptsächlich  durch  Ihre  letzten  hocherfreu- 
lichen Briefe  getröstet  haben.  Als  uns  dieselben  durch  den 
jungen  Grafen  Fugger,  den  Sohn  unsres  Obriststallmeisters, 
übergeben  wurden,  war  unsre  Freude  gross,  und  unser  Obrist- 
hofmeister  Graf  Tierheim  nahm  davon  Aulass,  bei  dem  Wiener 
Hof  anzufragen,  ob  wir  nicht  Ew.  Majestaet  ergebensten 
Dank  ausdrücken  dürfen.  Kaum  hatten  wir  die  Zusage  er- 
halten, wurden  wir  einer  nach  dem  andren  von  der  Blattern- 
krankheit befallen,  —  heute  aber  sind  wir  Alle  gerettet, 
sagen  wir  Alle  unsren  herzlichsten  und  unterthänigsten 
Dank!" 

Kurfürstin  Therese  erhielt  erst  ein  Jahr  später  den 
ersten  Brief  ihres  Sohnes.  „Nachdem  wir  so  lange  schmachteten 
unter  einem  unseligen  Geschick,  scheint  endlich  die  göttliche 
Vorsehung  dem  unmenschlichen  Krieg  ein  Ende  bereiten  zu 
wollen;  die  Friedensverhandlungen  zu  Baden  scheinen  dem 
Abschluss  nahe  zu  sein,  und  die  erste  Frucht  bietet  sich  in 
der  Erlaubniss  des  Wiener  Hofes,  dass  wir  endlich  auch 
schriftlich  unsere  kindliche  Ergebenheit  zum  Ausdruck  bringen 
dürfen!"  ^) 

Uebereinstimmend  wurde  in  den  Berichten  aus  Graz 
hervorgehoben,  dass  der  bayerische  Kurprinz  nicht  bloss  vor 
'seinen  Brüdern,  sondern  vor  vielen  seiner  Altersgenossen 
durch    Eifer    und    Kenntnisse    sich     auszeichne.       Im    April 


1)  Ibid.     Lettre   du   prince   electoral   a  Telectrice,    d.  d.  Grace, 
10.  sept.  1714. 


70  Sitzumj  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

1714  wurde  von  den  Grazer  Jesuiten  eine  öffentliche  Dis- 
putation veranstaltet;  der  Fürstbischof  von  Seclcau,  Klerus 
und  Adel  von  Graz  wohnten  bei,  um  sich  zu  überzeugen, 
wie  der  Kurprinz  „universam  philosophiaiu  defendiren"  werde. ^) 


1)  B.  H.-A.  Nr.  1749.  Des  Herzogs  Carl  abgelegte  Defension  ex 
universa  philosophia  1714. 

Extractus  litterarum  ad  P.  Rectorera  Monacensem  S.  J.  d.  d. 
Graecij  25'"  aprilis  1714. 

„Quod  Actum  defensae  Philosophiae  ä  Ser™°:  praestitum  concernit, 
perceperit  R.  P.  Rector  ex  pluribus  iara  Mercurijs;  ut  meum  tarnen 
de  ipsius  scientiae  successu  sufFragiuni  addam,  certura  Reverendum 
Patrem  facio,  Principem  hunc  17  annorum  Adolescentem  eam  in  hac 
semialtera  horaria  disputatione  maturitatem  disputandi  exliibuisse, 
quae  virum  in  scientia  consumatum  ostentat,  praeter  resumptionem 
fluidissimam  penetrantissinium  suura  ingenium  palam  omnibus  fecit 
in  resolvendis  paritatibus,  quas  in  primo  argumento  de  praedeterrai- 
tate  physica  quatuor  omnino  habuit  enodandas,  et  in  subtilissimis 
probis  negaturum  ä  se  pro.positionum  prolatis,  quales  tres  in  2^°  Ar- 
gumento Atheistico  de  demonstratione  Dei  attulit,  unam,  quod  Pro- 
cessus causarum  contingentium  infinitum  sursum  versus,  quem  Atheus 
admittit,  sit  impossibilis,  alteram,  quod  debeat  dari  natura  omnium 
optima  in  omni  perfectione  infinita,  tertiam,  quod  Atheus  ä  suamet 
malae  conscientiae  natural!  synteresi  debeat  aliquem  Deura  agnoscere, 
si  possibilem  eb  ipso  semper  actu  existentem,  quae  singula  tantä  cum 
dexteritate  explicuit  Dux  Carolus  Ser""'  in  continua  forma  syllogis- 
mox'um,  ut  me  ipsum  de  praeclaro  successu  Actus  ex  iam  noto  eins 
talento  aliunde  quidem  certum,  longe  superavit,  alios  verö  Spoctatores 
de  tota  nobilitate  numerosissimos  in  eam  admirationem  coniecerit,  ut 
ingenue  mihi  post  absolutum  Actum  fassi  aliquot  comites  fuerint,  se 
nee  credidisse  vel  posse,  Personam  talem  Principalem  eiusmodi  scientiam 
ita  possidere,  minus  tam  incomparabili  dexteritate  explanare.  Duo 
nostri  P:  P:  Theologiae  aliquando  Professores  interf'uere  pariter  |  R:  P: 
Rectore  nostro  iam  antea  absente  in  visitatione  Parochiarum,  qui 
asaeniere  candidi,  futurum  fuisse,  ut  si  Ser"""":  Dux  Carolus  gradum 
philoHopbicum  in  AcademiaGraecensicum  ceteris  sumeret,  sine  aemulo 
prinium  locum  obtineret.  Addo  pro  clausula,  quod  toto  defensionis 
tempore  nee  pro  distinctione,  nee  pro  probk  aut  ratione  danda  nee 
pro  resumptionis  errore  corrigendo  ullum  monitorium  verbum  expen- 
dere  debuerim,   excepti.s  binis   vicibus,   ubi  unicum    verbulum  P.  op- 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  M(uv  Emanuel's  etc.     71 

Wie  Graf  Brenner  an  den  Kaiser  berichtete,  wusste  sich 
der  Prinz  gegen  zwei  ihn  angreifende  Jesuiten  ,ohne  geringste 
8ecundirung  seines  Fatris  professoris  sowol  in  reassumirung 
der  proponierten  arguraenten,  als  Beantworttung  und  auch 
distinguirung  derenselben  gebenden  disparitaeten  und  andrer 
responsionen  zu  jedermanns  Verwunderung  dergestalt  woU  zu 
halten,  dass  ihme  von  samentlichen  ein  billiges  Lob  ausge- 
sprochen worden  ist  und  also  er  hiedureh  auch  seine  an- 
gebohrne  guette  talenta  und  sonderbahre  application  genuegsam 
erwiesen  hat.*"  ^)  Kaiser  Karl  Hess  für  des  Kurprinzen  rühm- 
liches Wohlverhalten  seine  höchste  Anerkennung  aussprechen 
und  denselben  „zu  weiteren  christ-fürstlichen  Tugenden  und 
Wissenschaften  anfrischen " ,  wie  sich  dies  „für  einen  so 
nahen  Verwandten  des  kaiserlichen  Hauses  zieme. "^). 

Die  Meldungen  von  so  erfreulichen  Erziehungserfolgen 
trugen  nicht  wenig  dazu  bei,  dem  Plane  einer  Vermählung 
des  Kurprinzen  mit  einer  Erzherzogin  am  Wiener  Hofe 
Freunde  zu  gewinnen.  Wie  allgemein  diese  Frage  damals 
schon  die  politische  Welt  beschäftigte,  ist  aus  den  zwischen 
dem  Kurfürsten  von  Köln  und  seinem  Kanzler  Karg  von 
Bebenburg  gewechselten  Briefen  zu  ersehen.^)  Karg  schreibt 
am  8.  Februar  1714  aus  Paris,  man  sei  hier  dem  Eheproject, 
von  welchem  man  sich  Befestigung  des  Friedens  verspreche, 


pugfnantis  a  Principe  oniissum  eidem  insinuavi  non  omittendum.  Satis 
haec  pro  Veritatis  integritate  atque  solutio  R.  P.  Rectoris,  donec  veniat 
ipse,  de  quo  talia. 

Interim  nie  in  omnia  futura  R.  P.  constantemque  benevolentiam 
demississime  comendio,  permansurus  ad  omnia,  pro  quibus  aptus 
videbor  obsequia." 

1)  Ebenda.  Bericht  des  Grafen  von  Brenner  an  den  Kaiser  vom 
25.  April  1714. 

2)  Ebenda.  Kaiserliches  Rescript  an  den  Hof  kammerpräsidenten 
Grafen  von  Brenner  vom  4.  August  1714. 

3)  Ennen,  der  spanische  Erbfolgekrieg  und  Joseph  Clemens  von 
Köln;  Anbang,  Nr.  131. 


72  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

nicht  abgeneigt;  man  habe  aber  Nachricht,  dass  der  König 
von  Polen,  um  die  Hand  der  älteren  Erzherzogin  seinem 
Sohne  zuzuwenden  und  eine  angeblich  beabsichtigte  Erhebung 
des  bayerischen  Kurprinzen  zum  römischen  König  zu  ver- 
hindern, fast  alle  deutschen  Höfe  zur  Bekämpfung  des  bay- 
erischen Projekts  gewonnen  liabe.^) 

Auch  in  Wien  schaarten  sich  um  die  beiden  Bewerber 
Parteien,  die  sich  mit  Aufwand  aller  diplomatischen  Künste 
befehdeten.  Welche  Waffe  die  wirksamste  im  Streit,  erhellt 
aus  der  Mahnung,  welche  der  bayerische  Agent,  Kapitän 
V.  Essig,  an  den  Kabinetssekretär  Max  Emanuel's,  Wilhelm, 
richtete  (14.  Nov.  1714) :  „Wann  Sie  anhero  kommen  werden, 
müessen  Sie  wohlgespickter  kommen,  sonsten  wird  die  Com- 
mission  immerhin  eine  schlechte  Folge  haben ;  hingegen  kann 
man  mit  Gelt  viel  richten,"^) 

Am  7.  September  1714  wurde  zu  Baden  der  Frieden 
unterzeichnet,  wodurch  der  geächtete  „Herr  Maximilian  Emanuel 
von  Bayern"  „aus  Bewegnüssen  des  allgemeinen  Uuhstands" 
alle  seine  Länder  und  Würden  zurückerhielt.^)  Damit  hatte 
auch  selbstverständlich  die  Gefangenschaft  der  Prinzen  ein 
Ende.      Nun  stehe  der  Wiedervereinigung  der    Familie    kein 


1)  Ennen,  Anhang  Nr.  143.  Mainz,  Trier  und  Hannover  seien 
bereits  von  Sachsen  gewonnen,  den  protestirenden  Fürsten  vrerde  vor- 
gespiegelt, „dass  Ihro  Kayserl.  Majestaet  und  Ihro  Churfürstl.  Durch- 
laucht zu  Bayern  würcklieh  in  geheimer  Verstandnuss  wären  und  die 
Cron  des  Römischen  Königs  auff  den  Churprinzen  zu  Bayern  zu  bringen 
trachteten,  umb  die  alternativam  religionum  in  der  kayserlichen 
Dignität  zu  verhündern." 

2)  B.  H.-A.  Nr.  736.  Verhandlungen  über  Vermählung  des  Chur- 
prinzen Carl  Albrecht's  mit  der  erzherzogl.  österreichischen  Prinzessin 
Maria  Amalia,  Kaiser  Joseph's  I.  Tochter,  1714—1718.  —  Der  bay- 
rische Agent  nahm  zu  besserer  Betreibung  des  Heiratsplanes  ein 
Anlehen  von  1  Million  Gulden  auf,  musste  aber  den  Verdruss  erfahren, 
dass  der  sächsische  Envoye  ,4  Millionen  hiezu  in  paratis  zu  haben 
sich  vantiret". 

3)  Zink,  Ruhe  des  .jetzt  lebenden  Europa,  I,  299. 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  Emanuel's  etc.     73 

Hinderniss  mehr  im  Wege,  schrieb  Max  Emanuel  am  9.  Ok- 
tober an  seine  Gattin,  in  Landsberg  sollten  die  lang  Getrennten 
zusannuentreffen .  ^) 

Vorher  sollte  aber  der  Kurprinz,  wie  Max  Emanuel  am 
18.  Oktober  dem  Kaiser  anzeigte,  nach  Wien  gehen,  um  im 
eigenen  und  in  des  Vaters  Namen  den  Dank  für  die  ,güti- 
giste  Education",  deren  sich  die  bayerischen  Prinzen  während 
ihres  Aufenthalts  in  Oesterreich  erfreuten,  auszusprechen.^) 
Die  Antwort  Kaiser  Karl's  erfolgte  erst  am  6.  Februar  1715.^) 
Ein  Besuch  des  Prinzen  in  Wien  wurde  für  die  nächste  Zeit 
abgelehnt,  auf  dass  des  Kurfürsten  Freude,  seine  Söhne  ehestens 
zu  umfangen,  nicht  noch  weiter  hinaus  verzögert  werde; 
später  werde  sich  ja  wohl  für  den  Kaiser  eine  Gelegenheit 
bieten,  den  Prinzen  zu  sehen. 

Ohne  Zweifel  hing  diese  Abweisung  damit  zusammen, 
dass  der  Kaiser  über  die  Verlängerung  des  Aufenthalts  des 
Kurfürsten  am  französischen  Hofe  ungehalten  war,  ja  wohl 
gar  von  der  Erneuung  des  Bündnisses  mit  Frankreich  Kenntniss 
hatte.*)  Ausdrücklich  wird  jedoch  in  des  Kaisers  Schreiben 
betont,  dass  er  die  Anerkennung  des  Vaters  in  Bezug  auf 
die  Erziehung  der  Prinzen  wohl  verdient  zu  haben  glaube. 
„Die  vorgeweste  Zuefäll  haben  nicht  verhindert,  dass  man 
nicht  von  anbeginn  derenselben  verhangnus  bis  annoch  ab- 
sonderliche Sorg  getragen,  damit  ihre  schmerzliche  absonderung 
von  den  Eltern  ihnen  an  geburtsmässiger  auferzucht  keinen 
abbruch  bringe.    Wie  sye  dann  under  diesen  Jahren  gelegen- 


1)  B.  H.-A.     Lettre  de   l'electeur   a   Telectrice   d.  d.  St.  Cloud, 
9.  octobre  1714. 

2)  B.  St.-A.    K.  schw.  352/30.      Concept    eines    Schreibens    Max 
Emanuel's  an  den  Kaiser,  d.  d.  St.  Cloud,  18.  Okt.  1714. 

3)  Ebenda.     Schreiben  Karl's  VI.  an  Max  Emanuel,  d.  d   Wien, 
6.  Febr.  1715  (Abschrift). 

4)  Heigel,    Quellen   und  Abhandlungen  zur  neueren  Geschichte 
Bayerns,  175. 


74  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

heit  gehabt,  neben  der  Tugend  vill  anders  zu  erlehrnen,  so 
ihnen  khonftig  zu  gueter  underricht  dienen  kan,  mit  desto 
grossem!  Vertrauen  Ich  sye  dann  für  das  pfand  der  von 
Euer  Liebden  erneuernden  Treue  annimm. " 

Grosses  Aufsehen  im  ganzen  Reiche  erregte  es,  dass  der 
Kaiser  im  Februar  1715  an  den  bayerischen  Kurprinzen  das 
goldene  Vliess  verlieh.^)  Bisher  war  diese  Befugniss  nur  von 
den  Königen  Spaniens  beansprucht  worden,  und  auch  der 
Kurprinz  war  schon  als  Knabe,  wie  oben  erwähnt  wurde, 
von  König  Philipp  V.  mit  dem  höchsten  Orden  der  Christen- 
heit ausgezeichnet  worden.  Ohne  Zweifel  gerade  deshalb 
bedachte  ihn  damit  auch  Kaiser  Karl,  um  sein  besseres  Recht 
als  Erbe  der  habsburgischen  Könige  Spaniens  darzuthun.*) 
Graf  Harrach  überbrachte  nach  Graz  mit  der  Kette  ein 
kaiserliches  Handschreiben,  worin  erklärt  war,  dass  sich  der 
Kaiser  mit  Rücksicht  auf  des  Prinzen  hohe  Geistesgaben, 
treffliche  Kentnisse  und  bekannte  Ergebenheit  gegen  Kaiser 
und  Reich  zu  solcher  Bezeugung  freundvetterlicher,  sonder- 
barer Liebe  und  Gewogenheit  bewogen  fühlte.  Die  Ver- 
leihung des  Ordens  ging  in  feierlichster  Weise  in  der 
Rathstube  zu  Graz  vor  sich;  überaus  zahlreiche  Ver- 
treter des  hohen  österreichischen  Adels  hatten  sich  dazu  ein- 
gefunden.^) 

Einige  Wochen  später  traten  die  fünf  Prinzen  die  Heim- 
reise an.  Auch  auf  dieser  erfreulicheren  Fahrt  gab  ihnen 
Hofkammerrath  Baron  Peschowicz  durch  die  österreichischen 


1)  Electa  juris  publici,  VIII,  382. 

2)  Auch  Max  Emanuel  selbst  hatte  als  Statthalter  der  Nieder- 
lande im  Namen  Philipp'a  V.  den  Orden  verliehen,  z.  B.  1709  an  den 
Fürsten  Rackozy  (Staatsgeschichte  des  durchlauchtigen  Churhauses 
Bayern  unter  Carolus  VII,  (1743),  291. 

3)  Electa  juris  publici,  384.  —  Unertl  behauptete,  die  Verleihung 
sei  auf  seine  „unterm  letzten  Aufenthalt  in  Wien  geschehene  unter- 
thänigste  Erinnerung"  erfolgt  (Deduction  etc.,  Fol.  16) 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  Max  Emanuel's  etc.     75 

Lande  djis  Geleit.  ^)  Am  8.  April  fand  sich  die  ganze 
kurfürstliche  Familie  auf  Schloss  Lichtenberg  zum  Elrsten- 
mal  nach  zehnjähriger  Trennung  wieder  vereinigt.^)  Das 
Elternpaar  hätte  die  Kinder  nicht  wieder  erkannt,  denn  aus 
den  Knaben  waren  stattliche  Jünglinge  geworden.  „Ihre 
Ansprache",  erzählt  Oberst  de  la  Colonie,  der  im  Gefolge  des 
Kurfürsten  in  Lichtenberg  anwesend  war,  , rührte  Alle  zu 
Thränen,  so  dass  sie  sich  beeilten,  ihrer  Freude  Ausdruck 
zu  geben ''.^)  Am  IL  April  erfolgte  der  Einzug  in  München. 
In  zahllosen  Festgedichten  wurde  die  Wiederkehr  der 
landesherrlichen  Familie  gefeiert.*)  Der  Umschwung  des 
Geschicks  erschien  um  so  vollständiger,  als  die  Erhebung 
eines  bayerischen  Prinzen  zum  Coadjutor  von  Köln  gesichert 
war,  die  Ernennung  eines  andren  zum  Abt  von  St.  Gallen 
und  die  Verleihung  eines  französischen  Bisthums  an  einen 
dritten  als  gesichert  galten.  Der  Kurprinz  vollends  —  so 
wurde  gerade  in  der  kaiserlich  gesinnten  Presse  ausgeführt, 
—  dürfe  bereits  als  Erbe  der  österreichischen  Lande  und 
wohl    auch   der  Kaiserkrone   angesehen    werden.^)     Und    er 


1)  Kaiser  Karl  zeigte  dem  Kurfürsten  durch  Schreiben  vom 
13.  März  1715  die  Uebertragung  dieses  Commissoriums  an  Peschowicz 
an  (B.  St.-A.  K.  schw.  352/30.) 

2)  Sepp,  560,  u.  A.  verlegen  die  Zusarumenkunft  in's  Kloster 
Elchingen,  vermutlich  weil  sich  diese  Angabe  in  Unertl's  Deduction 
(Fol.  18)  findet.  Es  kann  aber  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die 
übereinstimmenden  Angaben  in  den  Memoires  du  marquis  Maffei  (II, 
237),  den  Memoires  de  Mr.  de  la  Colonie  (III,  139),  dem  Augsburger 
historischen  Mercurius  (Jahrgang  1715,  312)  etc.  den  Vorzug  ver- 
dienen. 

3)  Me'moires  de  Mr.  de  la  Colonie,  III,  139. 

4)  Auch  der  kaiserliche  Hofpoet  Joh.  New  verfasste  ein  Carmen: 
Leo  Bavaricus  etc.,  das  der  Gesandte  v.  Mörmann  dem  Kurfürsten 
übermittelte  (B.  St.-A.  K.  schw.  15/3.  v.  Mörmann's  Bericht  vom  3.  Sep- 
tember 1715). 

5)  Europäische  Fama,  Jhgg.  1715,  226.  —  Es  gehört  nicht  mehr 
in  den  Rahmen  unsrer  Untersuchung,  den  weiteren  Verlauf  der  Ver- 


76  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

verdiene    auch    so  glänzendes  Loos,    denn  immer  aufs  Neue 
lege  er  überraschende  Proben  seines  Fleisses  und  seiner  Ge- 


handlungen in  Wien  wegen  der  geplanten  Heirat  zu  verfolgen,  doch 
sei  auf  einen  Punkt  von  allgemeinerem  Interesse  hingewiesen.  Be- 
kanntlich wurde  Prinz  Eugen  von  der  spanischen  Partei  am  Wiener 
Hofe  unerlaubter  Begünstigung  der  bayerischen  Interessen  bezichtigt. 
Aus  dem  betreffenden  Akt  des  geh.  Hausarchivs  (Nr.  736)  erhellt,  dass 
der  bayerische  Agent  anfänglich  über  die  Haltung  des  Prinzen,  der 
durch  den  Einfluss  der  Madame  Budiany  ganz  für  das  sächsische  Inte- 
resse gewonnen  sei,  sogar  Klage  führte.  Im  Jahr  1717  trat  jedoch  ein 
Umschwung  ein.  Auf  Briefe  des  Prinzen  Eugen  an  Max  Emanuel 
vom  12.  Jänner  und  3.  Februar,  die  nicht  vorliegen,  antwortete  der 
Kurfürst  am  16.  März,  er  habe  mit  grosser  Freude  vernommen,  dass 
der  Prinz  einen  Besuch  des  Kurprinzen  in  Wien  so  warm  empfohlen 
habe;  so  mächtiger  Einfluss  werde  hoffentlich  auch  das  Eheprojekt 
zu  glücklichem  Ziel  fähren,  ,wie  ich  mir  dann  auss  dem  alten  Ver- 
trauen und  nachendter  Verwandtschaft  freundvetterlich  nit  allein  ein 
solches,  sondern  auch  dieses  ausgebetten  haben  will,  dieselben  geruhen 
mir  zu  erlauben,  hierinfahls,  wie  auch  in  allen  andren  Begebenheiten 
mein  beständiges  Verthrauen  in  ihnen  zu  setzen."  Prinz  Eugen  er- 
widerte, der  Besuch  des  Prinzen  werde  sich  am  besten  in  Scene  setzen 
lassen,  wenn  er  selbst  am  Feldzuge  in  Ungarn  sich  betheiligen  und 
die  bayerischen  Truppen  nach  Wien  führen  wollte.  Bezüglich  des 
Vermählungswerkes  könne  er  melden,  „dass  Seine  Kayserliche  Maje- 
staet  selbes  wohl  eingenommen";  er  hoffe  bestes  Gelingen  des  Werkes, 
das  er  mit  seinem  ganzen  Kredit  unterstützen  werde.  Max  Emanuel 
ei-klärte  sich  mit  dem  Vorschlag  einverstanden ;  auch  sein  Sohn  er- 
blicke darin  eine  besondere  „Vergnüegung,  dass  zu  Diensten  Sr.  Kayserl. 
Majestaet  er  in  einer  Armee,  so  under  Ew.  Liebden  Commando  stehet, 
sich  für  das  erstemahl  stellen  könne".  Im  Mai  1717  begaben  sich 
Karl  Albert  und  sein  Bruder  Ferdinand  nach  Wien  und  von  dort 
nach  einwöchentlichem  Aufenthalt  in  Prinz  Eugens  Lager  bei  Futak. 
Die  Aufnahme  in  Wien  war  die  freundlichste,  der  Eindruck,  den  der 
Prinz  machte,  der  günstigste;  wenn  trotzdem  die  Werbung  um  die 
älteste  Tochter  Joseph's  scheiterte  und  die  Heirat  mit  der  zweiten 
Prinzessin,  Maria  Amalia,  erst  1722  zu  Stande  kam,  so  trug  daran, 
wie  die  Kaiserin  Amalie  dem  Brautwerber  Grafen  Törring  mittheilte, 
Max  Emanuel  selbst  die  Schuld,  weil  er  die  dem  Kaiser  missfällige, 
intime  Verbindung  mit  Spanien  nicht  aufgab  (Correspondenz  des 
Grafen  Törring  zu  Jettenbach  während  seiner  1719,  1722  und  1723 
gehabten  Ambassade  zu  Wien;  B.  St.-A.  K.  schw.  16/24). 


Heigel:  Die  Gefangenschaft  der  Söhne  3[ax  EmanueVs  etc.     77 

lehrsamkeit  ab ;  während  andere  Standes-  und  Altersgenossen 
nichts  andres  seien  als  Landplacker,  die  kaum  ihren  Namen 
ordentlich  schreiben  können  und  nur  mit  Soldatenspielen  sich 
ergötzen,  erblicke  der  bayerische  Kurprinz  in  nützlichen  Kennt- 
nissen und  umfassender  Bildung  die  eines  Fürsten  einzig  und 
allein  würdige  Lebensaufgabe.  ,Man  hat  aber  hierbey  nicht 
zu  vergessen,  dass  dieser  bayrische  Churprintz  alle  Glück- 
seeligkeit  seiner  Education  dem  allermildesten  Ertzhause 
Oesterreich  zu  danken  hat,  welches  an  diesem  seinem  da- 
mahligen  Feinde  die  grösste  Sorgfalt  und  Gnade  bewiesen, 
und  stehet  dahin,  ob  er  zu  Hause  in  München  noch  so  viel 
gelernt  hätte. "  ^) 

Auch  Kurfürst  Max  Emanuel  erkannte  dankbar  an,  dass 
die  Erziehung  seiner  Kinder  in  den  Tagen  der  Gefangenschaft 
nicht  vernachlässigt  worden  sei.  „Gleichwie  nun,"  schrieb 
er  nach  der  Rückkehr  nach  München  (14.  April  1715)  an 
den  Kaiser,  „ich  mit  meiner  und  meiner  Gemahlin  Liebden 
äusseristen  Vergnügung  meine  Printzen  in  erwünschlichem 
Wohlstandt  übernommen  und  mit  noch  mehrerer  freudt  an 
selbigen  die  beste  education,  welche  Ew.  Kayserliche  und 
Königliche  Majestaet  ihnen  gütigst  angedeyhen  lassen,  er- 
funden, so  werden  ich  und  sie,  meine  Printzen,  unss  solch 
kayserlicher  und  königlicher  höchsten  Gnaden  zu  aller  Zeit 
lebenslang  underthänigst  erinnern"  ....*) 

Noch  wärmer  lautet  der  Dank  des  Kurprinzen:  „Nun 
ist  es  an  denie,  dass  für  Eurer  Kayserlichen  und  Königlichen 
Majestaet  gegen  unss  so  lang  allergnädigst  gezaigte  Obsorg, 
so  vätterlich  für  unsere  Erziehung  und  Bequemhaltung  ge- 
tragene Sorgfalt,  so  überhäuffig  in  dero  Erblanden  genossene 
allergnädigste  Befelchs-Ertheilungen  und  bis  auf  den  letzten 
Augenblickh    sich    unerschöpflich    erstreckhende    Vorsehung 


1)  Europäische  Fama,   452. 

2)  K.  k.  H.-,  H.-  u.  St.-A. 


78  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

mir  geziemende  Dankhabstattimg    allerunterthänigst  ablegen 
sollen"  .  .  .  ^) 

Und  wenn  es  nocli  eines  Beweises  dafür  bedürfte,  dass 
die  Ueberlieferung  von  harter,  unwürdiger  Behandlung  der 
Kinder  Max  Emanuers  nicht  der  geschichtlichen  Wahrheit 
entspricht,  so  könnte  noch  auf  die  Instruktion  Karl  Albert's 
vom  3.  November  1733  für  seinen  als  ausserordentlichen 
Gesandten  nach  Wien  abgeordneten  Oberststallmeister  Grafen 
Max  Preysing  verwiesen  werden.  Der  Kurfürst  versichert 
darin,  als  Fürst  des  Reichs  hege  er  Ehrfurcht  gegen  dessen 
geheiligtes  Oberhaupt,  als  Verwandter,  in  dem  ,das  mit 
österreichischem  so  vielfach  vermischte  Geblüt  sich  rege", 
schätze  er  den  Verwandten,  in  dessen  Adern  gleiches  Geblüt 
fliesse,  —  er  liebe  aber  von  zarter  Jugend  an  den  Kaiser 
wie  einen  Vater  „wegen  der  bei  (seiner)  Erziehung  be- 
zeugten väterlichen  Obsorge."^) 


1)  K.  k.  H.-,  H.-  u.  St.-A. 

2)  Das  dem  gräfi.  Preysing'schen  Archiv  in  Hohenaschau  ent- 
nommene Schriftstück  ist  mitgetheilt  in  (Hormayr's)  Anemonen  eines 
alten  Pilgersmannes,  II,  109.  Graf  Preysing's  Mission  hatte  den  Zweck, 
offen  um  die  Investitur  mit  den  böhmischen  Lehen  nachzusuchen,  ins- 
geheim die  Vermählung  des  Kurprinzen  Max  Joseph  mit  Erzherzogin 
Maria  Theresia  zu  betreiben. 


79 


Herr  v.  Reber  hielt  einen  Vortrag: 

„Beiträcre    zur    Kenntniss    des    Baustiles    der 
heroischen  Epoche." 

Das  Material,  welches  sich  der  Forschung  be/iiglich  der 
Cultur  des  sog.  heroischen  Zeitalters  Griechenlands  vor  den 
Schliemann'schen  Ausgrabungen  zur  Verfügung  stellte,  war, 
wenn  wir  die  homerischen  Epen  in  der  Erstreckung  ihres 
selbstverständlichen  Inhaltes  ausnehmen,  nicht  blos  höchst 
fragmentarisch  und  dürftig,  sondern  auch  zum  grossen  Theile 
unauthentisch.  Es  bewegten  sich  daher  die  meisten  Versuche, 
den  Culturäusserungen  dieser  Periode  näher  zu  treten,  mehr 
oder  weniger  auf  dem  Boden  der  Vermuthung,  wobei  je  nach 
dem  Grade  der  mitspielenden  Phantasie  die  abenteuerlichsten 
Vorstellungen  sich  ergaben.  Am  schwierigsten  al)er  war  es,  ein 
Bild  von  dem  architektonischen  Vermögen  der  Griechen  der 
Heroenzeit  zu  gewinnen,  da  ausser  dem  sog.  Schatzhaus  des 
Atreus  zu  Mykenä  und  ausser  einigen  Befestigungs-  und 
Thorbauten  kein  namhafter  baulicher  Ueberrest  vorlag,  und 
die  homerischen  Erwähnungen  gerade  auf  die  wichtigsten 
Fragen  für  sich  allein  keine  Antwort  gaben.  Die  Sachlage 
ist  seit  den  Schliemann'schen  Aufdeckungen  und  den  anderen 
gleichzeitigen  örtlichen  Untersuchungen  eine  wesentlich  andere 
geworden.  Wie  die  troianische  Sammlung  des  ethnographi- 
schen Museums  in  Berlin  und  die  Schätze  des  mykenisch- 
tirynthischen  Museums  im  Poljrtechnikum  zu  Athen  der 
Forschung  auf  allen  Gebieten  der  heroischen  Cultur  eine  über 


80  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5,  Mai  1888. 

Erwarten  reiche  und  zuverlässige  Fundgrube  darbieten,  so 
ermöglichen  die  theilweise  oder  ganz  biosgelegten  Palast- 
ruinen von  Troia,  Mykenä  und  Tiryns,  verbunden  mit  den 
während  der  Aufdeckung  gewonnenen  Beobachtungen  und  den 
in  den  Museen  gesammelten  Architekturfragmenten,  auch  die 
Reconstruction  der  baulichen  Entwicklung  jener  Zeit.  Und 
zwar  annähernd  bis  zu  dem  Grade,  dass  es  gerechtfertigt 
erscheint,  von  einem  heroischen  Baustile  zu  sprechen  und 
wenigstens  Beiträge  zu  einem  Gesammtbilde  zu  liefern,  welches 
eine  spätere  Zeit  den  bekannten  Baustilen  der  historischen 
Epochen  voranstellen  wird. 

Ganz  vereinzelte  Erscheinungen,  Planbildungen,  Auf  bau- 
glieder  und  Ornamentstücke,  nur  an  einem  Orte  gefunden 
und  nur  einmal  nachweisbar,  würden  dazu  noch  keine  ge- 
nügende Berechtigung  gewähren.  Aber  glücklicherweise 
decken  sich  die  baulichen  Erscheinungen  nicht  bloss  in  den 
Funden  von  Tiryns  und  Mykenä,  sondern  auch  in  den  Resten 
von  Ilion  oder  wie  man  sonst  die  Fundstätte  von  Hissarlik 
in  der  Troas  nennen  will.  Denn  so  verschieden  die  übrige 
Cultur  der  genannten  kleinasiatischen  Fundstätte  einerseits 
und  der  argivischen  Ausgrabungsplätze  andrerseits  nach  den 
Fundobjekten  im  troianischen  Museum  zu  Berlin  und  im 
mykenischen  zu  Athen  sich  darstellt,  so  verwandt  erwiesen 
sich  die  hervorragendsten  beiderseitigen  Baupläne.  Obwohl 
daher  durch  die  Museen  und  ihre  Culturobjekte  genöthigt, 
für  die  uns  zunächst  interessirende  zweite  (verbrannte)  Burg 
von  Hissarlik  eine  frühere  Zeit  als  für  Tiryns  und  eine  der 
argivischen  ziemlich  ferneliegende  Bevölkerung  anzunehmen, 
sehen  wir  uns  doch  nicht  gezwungen,  unsere  Vorstellung  von 
der  Bauweise  der  heroischen  Epoche  auf  Argolis  und  das 
östliche  europäische  Hellas  zu  beschränken. 

Die  Grundlage  für  die  Untersuchung  wird  nach  dem 
dermaligen  Stande  der  Aufdeckungen  die  Burg  von  Tiryns 
bilden  müssen,  deren  Stätte  durch  keine  umfängliche  spätere 


i\  Reher:  Zur  Keuuttiisfi  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.   81 

Ueberbaunng  verwirrt  worden  ist,  und  deren  Erforschung 
am  saelikundigsten  und  gründlichsten  vollzogen  und  in  muster- 
giltiger  Weise  von  dem  Leiter  der  Ausgrabungen  beschrieben 
wurde.  An  Wichtigkeit  für  unsern  Gegenstand  kaum  nacli- 
stehend  erscheint  dann  Mykenä,  dessen  von  Schliemann  be- 
sorgte Ausgrabungen  der  Schachtgräber  unmittelbar  innerhalb 
des  Lüwenthores  für  unseren  Zweck  freilich  von  geringerer 
Bedeutung  sind  als  die  ausserhalb  der  Akropolis  befindlichen 
Tholengrilber,  während  die  neuesten,  von  der  archäologischen 
Gesellschaft  unternommenen  Ausgrabungen  w'eder  /Aisammen- 
hängend  noch  vollendet  sind,  auch  zur  Zeit  noch  keine 
Publication  erfahren  haben.  Erst  in  dritter  lieihe  stehen 
die  troianischen  Ausgrabungen,  welche  ausser  einigen  für 
unsere  Betraclitung  wichtigen  Planformen  für  den  Aul'bau 
und  die  architektonischen  Stilfragen  weit  weniger  Anhalts- 
punkte dargeboten  haben  als  Tiryns.  Ich  kann  sie  nur  mit 
umsomehr  Reserve  heranziehen,  als  das  troianische  Museum 
in  Berlin  an  architektonischen  Ueberresten  auffällig  arm  ist, 
und  die  persönliche  Anschauung  des  troianischen  Ausgrabujigs- 
feldes  mir  nicht  zu  Theil  geworden  ist.  Nur  sehr  vereinzelte 
Beihülfe  endlich  gewähren  uns  auch  die  Gräberfunde  von 
Orchomenos,  Spata  und  Menidi. 

Ich  muss  in  meinen  Beiträgen  ganz  absehen  von  den 
Gräberanlagen  wie  von  dem  Befestigungswerke  sammt  den 
Thoren,  welche  durch  die  Schliemann 'sehen  Bücher  über 
Troia,  Mykenä  und  Tiryns  bekannt  und  namentlich  durch 
Dörpfeld's  Hand  unübertrefflich  untersucht  und  beschrieben 
worden  sind.  Ebenso  von  der  Planbildung  der  Säulenhöfe 
und  der  Propyläen,  deren  Behandlung  in  Schliemann's  Tiryns 
kaum  etwas  hinzuzufügen  wäre.  Vom  Tempelbau  kann  nicht 
die  Rede  sein,  da  sichere  Reste  eines  solchen  unter  den 
Ruinen  aus  der  heroischen  Epoche  bisher  nirgends  gefunden 
worden  sind.  Die  Erörterung  der  ßaustilfragen  lässt  sich 
auch  in  der  Hauptsache  an  die  Betrachtung  des  hervorragend- 

1S88.  Philos.-philöl.  u.  hist.  Cl.  II.  I.  G 


82  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

sten  Gebäudes  des  Burgcomplexes,  des  Megaron,  anschliesseii, 
da  dieses  mehr  als  alle  übrigen  Wohnräume  und  soweit  er- 
halten ist,  um  ausser  dem  Plane  auch  über  einen  Theil  des 
Aufbaues  und  der  constructiven  wie  künstlerischen  Formen 
Aufschluss  geben  zu  können,  und  da  demselben,  als  dem 
Schauplatze  eines  grossen  Theiles  der  Odyssee,  werthvolle 
homerische  Notizen  erläuternd  zur  Seite  stehen.^) 

Ein  Blick  auf  den  Plan  der  Burg  von  Tiryns  lehrt, 
dass  dieser  Saalbau  das  Hauptgebäude  und  Centrum  des 
ganzen  Complexes  sei,  um  welches  sich  alle  anderen  Palast- 
theile  untergeordnet  gruppiren.  Der  Säulenhof  zeigt  zwar 
von  seinen  Seitenportiken  aus  Zugänge  zu  den  beiderseits 
vom  Megaron  liegenden  Gemächeraggregaten  der  Männer- 
wie  der  Frauen wohnung,  ist  aber  offenbar  hauptsächlich 
darauf  berechnet,  dem  Saalbau  als  Vorplatz  zu  dienen,  indem 
er  sich  diesem  symmetrisch  vorlegt  und  namentlich  auch 
seinen  Grubenaltar,  die  einzige  bisher  gefundene  Opferstätte 
des  Palastes,  in  der  verlängerten  Axenlinie  des  Saales  an- 
geordnet erkennen  lässt.  Wenn  das  zweite  Propyläon,  das 
zu  diesem  Hofe  führt,  nicht  in  der  Axe  des  Saaleinganges 
geplant,  sondern  gegen  die  südwestliche  Hofecke  gerückt  ist, 
so  liegt  der  Grund  hievon  neben  der  Berücksichtigung  des 
vom  ersten  Propyläon  an  gegen  Westen  ansteigenden  Terrains 
wohl  in  der  Absicht,  dem  Altar  die  entsprechende  Stelle 
freizulassen.      Zweitens    ist    der    Saal    der    grösste    gedeckte 


1)  Von  den  zahlreichen  Kestaurationsversuchen  eines  homerischen 
Saalbaues  kommen  ausser  den  älteren  völlig  überholten  Arbeiten  in 
Betracht:  W.  Hei  big,  das  homerische  Epos  aus  den  Denkmälern 
erklärt.  Leipzig.  1884:  J.  H.  Middloton,  A  suggested  restoration  of 
the  great  Hall  in  the  l'alace  of  Tiryns,  und  R.  C.  Jebb,  The  Homeric 
House  in  relation  to  the  remains  at  Tiryns.  Journal  of  Hellenic 
Studie»  of  the  Society  for  the  promotion  of  Hellenic  studies.  Vol.Vn. 
1886;  K.  Lange,  Haus  und  Halle.  Leipzig  1885;  und  an  Bedeutung 
alles  Vorgenannte  überbietend  W.  DörpfeUrs  Antheile  an  Schlie- 
mann's  Büchern  über  Troia  (Leipzig.  1884)  und  Tiryns  (Leipzig.  1886). 


V.  Reher:  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.    83 

Raum  des  ranzen  Complexes  und  folglich  auch  durch  stärkere 
Wände  von  den  übrigen  Gemächern  unterschieden.  Drittens 
liegt  er  am  höchsten  Punkte  des  Burgfelsens,  wonach  seine 
Bedachung,  die  ohne  Zweifel  den  Verhältnissen  des  Ganzen 
entsprechend  an  sich  höher  lag  als  jene  der  übrigen  Gebäude 
nur  um  so  höher  über  die  Nachbarräume  emporragte,  und 
wird  überdies  durch  einen  Stufenbaa  über  das  Niveau  der  Hof- 
anlagen gehoben.  Es  ist  daher  nicht  zu  verkennen,  dass 
der  Baumeister  die  Absicht  gehabt  haben  müsse,  den  Saalbau 
als  den  Kern  der  Anlage  hervorzuheben.  Dasselbe  ist  an 
dem  neuestens  aufgedeckten  ganz  ähnlichen  Saalbau  von 
Mykenä  wenigstens  durch  die  Lage  erkennbar,  obwohl  die 
Ausgrabung  im  vergangenen  Jahre  nicht  weit  über  den  Saal 
selbst  hinaus  gediehen  ist,  und  ebenso  an  dem  Plan  der  Burg 
von  Troia.  an  welchem,  dem  Plane  von  Tirvns  entsprechend, 
neben  dem  grossen  Saale  des  Megaron  der  gleichartige  kleinere 
Saal,  der  Frauensaal,  deuthch  wird.  Der  Plan  des  Megaron 
ist  auch  in  Tiryns  wie  in  Mykenä  vollkommen  gesichert: 
hier  wie  dort  öffnet  sich  zunächst  ein  Vestibül  von  der  Gestalt 
eines  zweisäuligen  vaog  h  7iaQaOTaoi  oder  in  antis,  die  aLd^oioa 
öw^taTog,  nach  dem  Hofe  oder  Voi-platz.  Von  dieser  Vorhalle 
führen  in  Tiryns  drei  unmittelbar  nebeneinanderliegende 
Thüren  in  einen  Vorsaal  von  ähnlichen  Dimensionen,  den 
TTQodouog.  Von  diesem  aus  leitet  eine  Thüre  in  der  hnksei- 
tigen  Schmalwand  zu  den  Gemächern  der  Männerwohnung, 
zum  Badezimmer  u.  s.  w.,  welcher  jedoch  in  der  gegenüber- 
stehenden Wand  sicher  keine  entsprach,  wonach  die  Frauen- 
wohnung ohne  direkte  Verbindung  mit  dem  Männersaale 
bheb.  In  Mykenä  verband  nur  eine  Thüre  die  Vorhalle 
mit  dem  Vorsaal,  auch  die  Verbindungsthüre  mit  dem  links- 
seitigen Wohntrakt  ist  zur  Zeit  wenigstens  nicht  nachgewiesen. 
Völlig  gleichartig  aber  ist  in  beiden  Burgen  der  eigentliche 
Saal  des  Megaron  behandelt,  zu  welchem  vom  Prodomos  aus 
in  der  Mitte  der  beide  Räume  trennenden  Wand  die  mächtige 

6* 


84  Sitzung  der  liistor.  (Jlasse  vom  5.  Mai  18SS. 

Eingangsthüre  führt.  Selbst  die  Maasse  sind  annähernd 
dieselben.,  an  dem  exakter  bekannten  Megaron  von  Tiryns 
innen  11,80  ni  in  der  Axenrichtnng,  9,80  m  in  der  Breite, 
so  dass  das  Areal  des  Megaron  in  seinen  Erstrecknngen 
ziemlich  genau  jenen  der  beiden  Vorräume  zusammengenommen 
entspricht.  Vier  Säulen  in  entsprechenden  Abständen  um 
einen  kreisförmigen  Herd  gestellt,  stützten  die  Decke,  die 
Wände  sind  durch  keinen  weiteren  Ausgang  durchbrochen. 
Wie  der  Baugrund  vorgerichtet  zu  werden  pflegte,  ist 
an  verschiedenen  Stellen  zu  Tiryns  ersichtlich  geworden. 
Der  Felsen  wurde  aimähernd  geebnet,  sonst  durch  Aufschüt- 
tung nivellirt.  In  dem  vorliegenden  Hofe,  wo  das  Terrain 
gegen  Süden  zu  abfiel,  hatte  man  diese  Neigung  zur  Her- 
stellung eines  Gefälles  ausgenutzt,  und  durch  den  über  eine 
ausgleichende  Erdaufschüttung  gelegten  Estrich  eine  leicht 
nach  Süden  geneigte  Ebene  hergestellt.  Der  Estrich  besteht 
aus  einer  4 — -1  cm  dicken  unmittelbar  auf  den  gewachsenen 
Boden  oder  auf  die  Aufschüttung  gestrichenen  Unterschicht 
aus  grobem  Gemengsei  von  Steinstücken  und  Kalk  und  einer 
darüber  aufgetragenen  2  cm  dicken  Oberschicht  aus  Kalk 
und  kleinen  Kieseln.  Erinnert  die  letzere  in  ihrer  Erschei- 
nung einigermassen  an  jene  Pavimentbildung,  die  man  in 
Italien  Terrazzo  nennt,  so  gewinnt  sie  an  jenen  Stellen,  wo 
die  kleinen  Geschiebsteine  verhältnissmässig  dicht  liegen, 
geradezu  die  Gestalt  eines  Kieselmosaiks.  In  den  gedeckten 
Räumen  aber  musste  natürlich  auf  Erzielung  einer  wag- 
rechten Pavimentfläche  gesehen  werden,  wozu  es  bei  der 
Neigung  des  Terrains  zu  Tiryns  an  der  Stelle  des  Megaron 
eine  Ueberhöhung  des  Südrandes,  mithin  der  Eingangseite 
bedurfte,  während  sonst  der  Aufbau  eines  Stereobats,  d.  h. 
einer  das  ganze  Gebäude  isolirende  Fundamentauf  höhung  von 
der  Art,  wie  Avir  sie  am  griechischen  Tempel  finden,  ver- 
mieden ward.  In  Tiryns  reichten  zwei  vor  die  ganze  Vor- 
halle   des  Megaron    gestreckte  Stufen,    annähernd  je    10  cm 


V.  Beber:  Zur  Kennt)iiss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  85 

hoch  und  40  cm  breit,  zu  dem  gewünschten  Nivellirungs- 
zwecke  aus.  Die  Oberfläche  der  oberen  Stufe  wurde  als 
Norm  der  Fertigstellung  des  ganzen  Fussbodens  zu  Grunde 
gelegt,  und  dabei  ähnlich  verfahren,  wie  bei  der  Herstellung 
des  Hofpiiviments.  Nur  wurde  auf  die  je  nach  Terrain  in 
ungleicher  Dicke  aufgetragene  Rauhmörtelschicht  ein  1  ^j-i  cm 
dicker  Kalkestrich  gestrichen,  welcher  mit  Ausnahme  des 
Vorsaales,  dessen  Estrich  dem  des  Hofes  identisch  ist,  kaum 
noch  Mörtel  genannt  werden  kann,  da  dem  Kalk  nur  sehr 
wenig  Sand-  oder  Kieselbestandtheile  beigemengt  waren.  In 
die  Oberfläche  sind  gerade  Linien  eingeritzt,  die  sich  recht- 
winklig schneidend  eine  Art  von  Plattenmuster  ergeben,  das 
quadratische  Felder  von  jederseits  55  cm  durch  gekreuzte 
Bänder  von  etwa  10  cm  Breite  umsäumt  zeigt.  Dieses  ein- 
geritzte Lineament  diente  jedenfalls  dazu,  die  auf  den  Estrich 
aufgetragenen  Farben  von  einander  abzugrenzen.  Spuren 
von  Roth  und  Blau  haben  sich  noch  gefunden,  in  einem 
Corridor  westlich  vom  Megaron  zu  Tiryns  Hess  sich  sogar 
noch  einfache  Oruamentmusterung  (Zickzack  und  Wellen) 
unterscheiden.  Das  Innere  des  Megaron  zu  Mykenä  zeigt 
dazu  noch  eine  weitere  rationelle  und  schöne  Ausstattung, 
nemlich  eine  breite  Borte  aus  blaugrauen  Kalksteinplatten, 
welche  sich  am  Fuss  aller  Wände  entlang  zieht.  Jedenfalls 
stellen  die  Pavimente  von  Tiryns  und  Mykenä  einen  höheren 
Culturgrad  dar,  als  er  sich  in  den  Fussböden  des  Atreustholos 
zu  Mykenä  und  in  den  Gebäuden  der  Burg  von  Troja  dar- 
bot, oder  auch  der  homerischen  Beschreibung  des  Megaron 
von  Ithaka  vorschwebt,  wo  er  als  einfacher  gestampfter 
Lehmboden  nach  Art  unserer  Dreschtennen  erscheint. 

Die  Fundamentirung  der  Wände  reicht  nur  in  geringe 
Tiefe,  nicht  einmal  überall  bis  auf  den  gewachsenen  Boden. 
Sie  besteht  in  der  Regel  aus  Bruchsteinen  verschiedener  Grösse 
mit  Lehmverbaud.  Sobald  aber  die  Wände  zu  Tage  traten, 
wurden  die  nach  Aussen  gewendeten  Bruchsteiuseiten   etwas 


86  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

sorgfältiger  gewählt,  um  einen  ebenen  Verputz  zu  ermög- 
lichen. Dieser  bestand  in  einer  1 — 2  cm  starken  auf  die 
Lehmausgleicliung  gestrichenen  Kalkschicht,  welche  mittelst 
Putzhobel  geebnet  and  schliesslich  bemalt  war. 

Dieses  Mauerwerk    erreichte  jedoch  nur  eine  Höhe  von 
45 — 60  cm    über    dem    Pavimente   und    bildete   sonach    nur 
einen  Wandsockel,  auf  welchem  man  die  Wände  selbst  meist 
nur  in  luftgetrockneten  Ziegeln  mit  Lehmverl)and  aufführte. 
Obwohl    man  dabei  sowohl  das  Ziegelmaterial,    das  übrigens 
selten  sorgfältig  gewählt  war,   als  auch  den  als  Mörtel  ver- 
wendeten Lehm    zur  Vermehrung    der    Cohärenz    mit   Stroh 
oder    Sumpfgras    vermengte,    wie    dies   bei    Herstellung   von 
Backöfen    und    bei   dem    Ausstreichen    von    Feuerungsstellen 
noch    heutzutage    zu    geschehen    pflegt,    so    war    doch    dies 
Mauerwerk,   trotzdem    dass  man  es  innen  und  aussen  immer 
durch  einen  Kalkverputz  vor    den  Einflüssen    der   atmosphä- 
rischen Niederschläge  wie  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch 
der  Hitze  schützte,  immer  höchst  unsolid.     Es  konnte  daher 
ohne  weitere  Zuthat   nur   bei  kleineren  Räumen   wie  sie  die 
Mehrzahl  der  Gemächer  des  tirynthischen  Palastes  darbieten, 
genügen,  besonders  dann  wenn  diese  ohne  den  beschriebenen 
Bruchsteinsockel    schon    vom    Grund    auf    in  Backstein    auf- 
geführt wurden.     Namenthch    durch  Jahrtausende    hindurch 
konnten  sich  solche  Ziegelwände  nur  erhalten,  wenn  entweder 
die  deckende  Kalkschicht  unterstützt  von  Verschüttung  Stand 
hielt,  oder  wenn  bei  heftiger  Brandeinwirkung  ein  Theil  der 
Wände  in  ähnlicher  Weise    gebrannt    wurde,  wie  die  Back- 
steine im  Ziegelofen.    Im  letzterem  Falle  wurden   freilich  die 
luftgetrockneteu  Ziegel    gleichmässig    mit   den    verbindenden 
Lehmbettungen  gebrannt  und  dadurch  die  erhaltenen  Wand- 
stücke   zu    unterschiedslosen    Klumpen     zusammengebacken. 
Es  lassen  daher  nur  im  ersteren  Falle   die  Ziegel  noch  ihre 
ursprüngliche  Gestalt  erkennen,    welche  bei  einer  Dicke  von 
10  cm    eine   Länge    von  48  cm    und    eine  Breite  von  36  cm 
als  das  tirynthische  Localmass  ergeben. 


c.  Reber:  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.   87 

Bei  Riiunilichkeiten  grösserer  Plan-  und  folglich  auch 
wohl  Höhenerstreckung  konnte  jedoch  die  Sicherung  der 
Luttziegel  wände  mit  Lehrabettung  durch  Kalkputz  nicht  aus- 
reichen, um  dem  Reissen  der  Wände,  dem  damit  verbundenen 
Abfallen  des  Putzes  und  somit  der  Zerstörung  zu  begegnen. 
Es  bedurfte  hiezu  vielmehr  erstens  einer  fachwerkartigen 
Verankerung  der  Wände  durch  ein  Holzriegelwerk,  und 
zweitens  einer  weitgehenden  widerstandsfähigen  Verkleidung 
derselben,  zumeist  ebenfalls  in  Holz. 

Von  der  Holzverankerung  der  Ziegelwände  haben  sich 
zunächst  in  Troia  deutliche,  gleichwohl  von  Schliemann  miss- 
verstandene Spuren  gefunden.  Es  zeigten  sich  neralich  hier 
an  den  durch  einen  Brand  nahezu  verglasten  Ziegelwänden 
in  gewissen  Abständen,  etwa  der  vierten,  achten,  zwölften  u.s.w. 
Ziegellage  entsprechend,  horizontale  Bettungen,  welche  nur 
zur  Einsetzung  rechteckig  bearbeiteter  Hölzer  in  der  Längs- 
richtung der  Wände  gedient  haben  konnten,  die  an  der 
Aussen-  wie  Innenfläche  der  Wände  angebracht  in  erster 
Reihe  das  Reissen  des  Wandkörpers  im  vertikalen  Sinne  zu 
verhindern  bestimmt  waren.  Zwischen  diese  Horizontalrahmen 
aber  waren  in  gewissen  je  nach  den  Längserstreckungen  der 
Wände  verschiedenen  Abständen  gleichfalls  behauene  Quer- 
hölzer eingelegt,  welche  wahrscheinlich  mit  den  Längsrahmen 
verdübelt  auch  der  Dicke  der  Wand  erhöhten  Halt  gaben. 
Diese  Holzroste  konnten  nicht  nachträglich  eingefügt  werden, 
sondern  mussten  während  des  Baues  auf  die  entsprechende 
Ziegellage  aufgelegt  werden,  um,  nachdem  sie  mit  Ziegelwerk 
ausgefüllt  waren,  mit  einigen  weiteren,  gegebenen  Falles  drei 
Ziegellagen  überbaut  zu  werden. 

Dass  aber  diese  Riegel  Verankerung  auch  in  der  Argolis 
ähnlich  angebracht  wurde,  beweisen  deren  Spuren  zu  Tiryns. 
Am  Megaron  daselbst  hat  sich  nemlich  der  monolithe  Sockel- 
block der  linkseitigen  Parastade  oder  Ante,  d.  h.  des  Kopf- 
endes   vom    linkseitigen  Wandvorsprung   der  Vorhalle    nicht 


88  Sitzuvo  der  lüstor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

blos  in  situ,  sondern  auch  in  unversehrtem  Bestände  erhalten. 
An  solchen  Stirnenden  der  Mauern  konnte  man  sich  nemhch, 
da  deren  Sockel  eine  besondere  Festigkeit  erforderten,  nicht 
mit  den  Bruchsteinfügungen  oder  mit  dem  Ziegelbau  der 
übrigen  Wände  begnügen.  Der  Brecciablock  ist  nun  an  der 
Stirnseite  wie  an  der  nach  dem  Innern  der  Vorhalle  ge- 
wendeten Seite,  nemlich  da,  wo  er  unverbaut  sichtbar  blieb, 
sorgfältig  geebnet,  an  der  Obenfläche  des  Blockes  jedoch  nur 
theilweise,  nemlich  in  zwei  30  cm  breiten  Horizontalstreifen, 
welche  den  genannten  Verticalflächen  anstossend  entsprechen, 
während  der  Rest  der  Obenfläche  rauh  gelassen  ist.  Diese 
Vertikalstreifen  aber  erweisen  sich  dadurch  als  die  Lager- 
flächen von  Holzstücken,  dass  sie  fünf  cylindrische  Dübel- 
löcher enthalten,  welche  für  Steinverbindung  ganz  ungeeignet 
nur  zur  Verzapfung  eines  Holzaufsatzes  gedient  haben  können, 
zunächst  jener  Riegel,  welche  in  der  Art  der  beschriebenen 
Verankerung  der  Wände  von  Hissarlik  in  die  Wände  ein- 
gebunden entlang  liefen,  dann  auch  der  Querriegel,  von 
welchen  sich  an  der  Stirnseite  des  Parastadenblockes  die  Stelle 
des  äussersten  ergibt,  wälirend  ein  von  Dörpfeld  übersehenes 
Dübelloch  an  der  gegenüberliegenden  Innenseite  des  Blockes 
die  Stelle  des  zweiten  Querriegels  andeutet.  Dagegen  lässt 
die  beschriebene  Bearbeitung  des  Blockes  vermuthen,  dass 
die  Längshölzer  an  den  nach  aussen  gekehrten  Wandflächen 
fehlten,  wo  sie  dem  Aussenverputz  wohl  nur  Schwierigkeiten 
bereitet  hätten.  Die  ungeebneten  Theile  der  Oberfläche  des 
Antenblockes  lassen  übrigens  schliessen,  dass  die  Holzver- 
ankeruug  wenigstens  nicht  durchaus  mit  Ziegelbau  verbunden 
gewesen  sei,  da  die  rauhe  Oberfläche  des  Steines  für  ein 
Backsteinlager  sehr  unzweckmässig  gewesen  wäre,  während 
es  für  Bruchstein  mit  Lehmbettung  ganz  passend  war.  Dass 
jedoch  sonst  der  Ziegelbau  auch  hier  wie  an  den  übrigen 
Hochwänden  im  Uebergewichte  war,  ist  wegen  der  einfacheren 
Verbindung    desselben    mit    dem   Riegelwerk   als  auch  wegen 


V.  Rehcr :  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.   89 

der     gefundenen     Ziegelseliuttnia-ssen     mit    Sicherheit    an/.u- 
uehuien. 

Eine  VVandfläche  aber,  welche  in  der  beschriebenen  Art 
aus  einem  Wechsel  von  Holz  und  Ziegellagen  bestand,  er- 
möglichte keinen  Verputz,  der  auf  Solidität  und  auf  künst- 
lerische Ausstattung  durch  Malerei  Anspruch  machen  konnte. 
Die  Bewegung  des  Holzes  je  nach  Jahreszeit  oder  je  nach 
dem  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luft  hätte  jede  bezügliche  An- 
strengung wirkungslos  gemacht,  wie  es  auch  heutzutage  der 
Fall  wäre,  wo  man  doch  nicht  mehr  so  geringe  Wand- 
materialien wie  luftgetrocknete  Ziegel  und  Lehmmörtel  ver- 
wendet. Es  ist  deshalb  hier,  soweit  die  Holzverankerung 
an  der  rohen  Wand  nach  aussen  sichtbar  war,  nicht  an  Lehm- 
und  Kalkverputz  zu  denken,  welcher  keinen  Winter  unge- 
schädigt  überdauert  haben  würde ,  sondern  nur  an  eine 
Wandverkleidung,  die  von  den  Einflüssen  und  Bewegungen 
des  Wandkörpers  selbst  weniger  berührt  werden  konnte. 

Ich  habe  an  einer  anderen  Stelle  ^)  für  die  Luftziegel- 
wände der  altchaldäischen  Architektur  einen  Wandschmuck 
in  Teppichbehängen  nachzuweisen  gesucht,  wie  er  nicht  blos 
durch  die  Fundverhältnisse  in  Telloh  und  durch  den  Stil 
des  gemalten  und  plastischen  Wandschmuckes  Assyriens 
wahrscheinlich  wird,  sondern  auch  bei  den  mit  Wollearbeit 
beschäftigten  Mesopotaraiern  von  vorneherein  nahe  liegt. 
Für  die  Annahme  einer  textilen  Wandbekleidung  auch  an 
den  Bauten  der  heroischen  Zeit  in  Griechenland  fehlt  es 
jedoch  an  allen  Anhaltspunkten.  An  Wänden,  welche  ihrer 
Schwäche  wegen  ausser  dem  Schmucke  auch  noch  eine  solidi- 
rende  Wirkung  von  der  Verkleidung  beanspruchen  mussten, 
würde  der  Teppichbehang  auch  nicht  ausgereicht  haben. 
Von  einer  Verkleidung  mittelst  Steinplatten  aber  hätten  sich 


1)  Ueber   altchaldiliache    Kunat.      Zeitschrift  f.  Assyriologie.     I. 
S.  128—175.  289-303.     II.  1—41. 


90  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Ueberreste  erhalten,  und  eine  solche  wäre  am  Sockel  in  erster 
Reihe  herzustellen  gewesen.  Es  kann  daher  nur  eine  Ver- 
täfelung  in  Holz  angenommen  werden,  deren  vollständiges 
Verschwinden  in  der  Natur  der  Sache  liegt,  wie  ja  auch 
von  den  Verankerungsriegeln  der  Wände  ausser  dürftigen 
verkohlten  Resten  nur  die  Bettungen  und  die  in  den  Anten- 
sockel  gebohrten  Dübellöcher  sich  erhalten  konnten.  Die 
Verdielung  oder  Vertäfelung  ist  auch  die  einzige  rationelle 
Verkleidungsart  solcher  Wände,  wie  sie  sich  wenigstens  im 
Innern  der  grösseren  Räume  von  Tiryns  dargeboten  haben 
mussten,  und  durch  das  Riegelwerk  technisch  durchaus  in- 
dicirt.  Denn  die  Horizontalriegel  boten  die  Gelegenheit  dar, 
die  Bohlen  mit  Holz-  oder  Metallstiften  an  die  Wände  zu 
befestigen,  so  wie  diess  auch  die  Praxis  bis  auf  den  heutigen 
Tag  vorzeichnet. 

Dass  die  Vorhalle  des  Megaron  von  Tiryns  in  ihrer 
inneren  Erscheinung  grösstentheils  holzverkleidet  war,  hat 
übrigens  Dörpfeld  bereits  zweifellos  erwiesen.  Es  ist  durch 
seine  Nachweise  auch  durchaus  gesichert,  dass  die  Thürwand 
derselben  Vorhalle  sogar  ganz  in  Holz  hergestellt  war.  Die 
von  den  drei  Thüren  übriggelassenen  Pfeiler  hatten  nemlich 
so  geringe  Breiteerstreckungen,  dass  sie  in  Stein  solid  nur 
dann  hergestellt  werden  konnten,  wenn  sie  monolith  und  im 
exaktesten  Steinschnitt  ausgeführt  worden  wären.  Diese 
hölzerne  Thürwand  aber  musste  für  die  Holzverkleidung  des 
Vorsaales  ebenso  mitbedingend  sein,  wie  für  jene  der  Vor- 
halle. Weiterhin  haben  wir  nicht  den  geringsten  Grund  anzu- 
nehmen, dass  die  durch  das  Riegelwerk  der  Wände  indicirte 
Holzverkleidung  im  Saale  des  Megaron  selbst  vermieden  oder 
anderweitig  ersetzt  gewesen  sei,  es  ist  vielmehr  ebenso  wie 
in  der  Vorhalle  gerade  vom  Hauptsaale  eine  besonders  saubere 
Ausstattung  der  Wände  zu  erwarten.  Auch  deuten  einige 
Stellen  der  Odyssee  auf  die  den  Dichter  beherrschende  Vor- 
stellung   der    Holzbekleidung    der    Saalwände.      Wenn    sich 


c.  Reber:  Zur  Kouitniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.    91 

nemlich  im  Freierkampf  wiederholt  Lanzen  in  die  Wand 
bohren,  so  ist  dies«  weder  bei  einer  nnverkleideten  Stein- 
oder Ziegelwand,  iKjch  bei  irgend  welchem  Verputz  gut 
denkbar.  Es  erscheint  aber  in  voller  dichterischer  Anschau- 
lichkeit unter  Voraussetzung  einer  Holzwand  oder  Holz- 
verdielung. 

Steht  es  aber  ausser  Zweifel,  dass  durch  die  Wand- 
verdielung,  wie  sie  sich  aus  den  vorliegenden  Indizien  ergibt, 
der  den  gegebenen  ^'erhältnissen  entsprechendste  Schutz  und 
die  passendste  Verstärkung  der  unsoliden  und  schwachen  Wand 
erzielt  werden  konnte,  so  bleibt  es  doch  fraglich,  ob  durch 
eine  solche  Verbretterung  auch  der  zweiten  Anforderung 
genügt  werden  konnte,  nemlich  jener  eines  entsprechenden 
Schmuckes  fürstlicher  Räume. 

Gewiss  konnte  eine  solche  Anforderung,  welche  in  jenen 
Räumen,  in  denen  der  unten  zu  besprechende  prachtvolle 
Kyanosfries  und  künstlerisch  ausgestattete  Pavimente  gefunden 
wurden,  unbedingt  gestellt  worden  ist,  durch  aufrecht  neben- 
einander gereihte  Dielen  ohne  weitere  Zuthat  nicht  erfüllt 
werden.  Allein  erstlich  ist  durch  die  entschiedene  Polychromie 
der  Fussböden  und  Sockel  wie  durch  die  in  den  kleineren 
Gemächern  gefundene  Wandmalerei  die  Mitwirkung  der  Farbe 
auch  an  der  Holzverkleidung  mehr  als  nahe  gelegt.  Wir 
dürfen  dabei  an  farl)igen  Schmuck  denken,  welcher  ebenso- 
wenig sich  auf  monochrome  Tünche  beschränkte,  als  er  sich 
bis  zu  zusammenhängenden  figürlichen  Gemälden  verstieg. 
Ist  auch  gegen  deren  Anwendung  an  verputzten  Wänden 
angesichts  einiger  Gemächerfunde  nichts  zu  sagen,  so  erscheint 
sie  doch  hier  durch  die  Bretterfugen  ausgeschlossen,  welche 
vielmehr  auf  parallele  Ornamentreihen  nach  Art  jener  der 
Tholosfayade  und  der  Grabcippen  von  Mykenä  in  der  Gestalt 
von  Zickzack,  Spiralen,  Rosetten  und  anderer  primitiver 
Motive  hinweisen,  wobei  die  ihre  Reihung  bedingende  Dielen- 
richtung horizontale  Säume  unten  und  oben  nicht  ausschloss. 


92  Sitzung  der  liislor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Zweitens  scheint  es  mir  ausser  Zweifel,  dass  in  allen  jenen 
Fällen,  in  welchen  es,  wie  in  den  Reprüsentationsräuraen, 
auf  stattlichen  Wandschmuck  ankam,  auch  Metallzierden 
eine  Rolle  spielten,  und  zwar  eine  so  bedeutende,  dass  Homer 
wenigstens  in  den  Palästen  des  Menelaos  und  des  Älkinoos 
von  erzschimmernden   Wänden  sprechen  konnte. 

Einen  solchen  Metallschnnick  nehme  ich  jedoch  nicht 
in  der  Ausdehnung  an,  wie  sie  gewöhnlich  vorausgesetzt 
wird.  Selbst  Dörpfeld  scheint  geneigt,  sich  einen  vollstän- 
digen Ueberzug  der  Holzverkleidung  der  Wände  mit  Metall- 
blech (Kupfer)  zu  denken^),  da  die  liomerischen  Erwähnungen^) 
allerdings  geeignet  sind,  eine  solche  Vorstellung  zu  erwecken. 
Der  bisher  benutzte  praktische  Beleg  für  diesen  phönikischen 
Gebrauch  aber  ist  neuestens  hinfällig  geworden,  indem  ge- 
nauere Untersuchungen  der  Nägelspuren  an  den  Tholen  zu 
Mykenä^)  und  Orchomenos*)  ergeben  haben,  dass  der  Metall- 
schmuck dieser  Gebäude  in  einzelnen  an  die  Wand  gehefteten 
Stücken,  nicht  aber  in  einem  zusammenhängenden  Blech- 
überzuge bestanden  habe,  mithin  die  schön  gearbeiteten  Stein- 
wände der  Tholen  nicht  verbarg,  sondern  blos  dekorirte. 
Dass  dann  diese  Einzelzierstücke  Rosettenform  hatten ,  ist 
bei  ihrer  Verbindungslosigkeit  an  sich  wahrscheinlich,  wird 
aber  bei  dem  entschiedenen  Vorwiegen  dieses  Ornamentmotivs 
an  allen  Pundstücken  der  heroischen  Epoche,  insbesondere 
bei  Einzelstücken  und  losen  Reihungen  nahezu  unzweifelhaft. 
Dazu  kömmt,  dass  die  Rosetten  überall,  wo  sie  aus  anderem 
Material  als  Gold  oder  Kupfer  begegnen,  z.  B.  im  Kyanos- 
fries  des  Megaron  zu  Tiryns  die  Nachahmung  getriebener 
Metallvorbilder    auf's    unverkennbarste    verrathen.     Ja  selbst 


1)  Tiryns.     S.  2lu. 

2)  z.B.  Od.  VII.  86.  87. 

3)  Nuc'h  nüindlichen  Mitthoilungcn   Dörpfeld'a. 

4)  Veihiindlnngen    der  Berlmcr    anthropoloj<ischen  Gesellschaft. 
1886.  S.  376  fg. 


r.  jReher:  Zur  Kentitniss  des  Bau/itiles  der  heroischen  Epoche.   93 

die  Art  der  Anbringunor  und  Reihung  der  Rosetten  an  dem 
genannten  Alubasterfriese  lässt  der  Vermuthung  Raum,  dass 
die  Bronzerosetten  der  Wände  in  derselben  vertikalen  Reihnng 
an  den  einzelnen  Verdielungsstücken  herabgeführt  gewesen 
seien,  vielleicht  die  Fugen  der  Dielen  selbst  verdeckend.  Dass 
von  diesen  Metallzierden  nichts  gefunden  worden  ist,  wie 
überhaupt  die  Metallfunde  in  Tiryns  sehr  spärlich  sind,  be- 
weist nichts,  da  die  verödeten  Gebäude  der  Köniffsburg  Jahr- 
hunderte  lang  der  Abplünderung  überlassen  blieben  und 
sonach  ihr  Metall  ebenso  gründlich  durch  Menschenhand 
verloren,  wie  die  Verschalungshölzer  durch  die  Elemente, 
Liess  man  sich  doch  die  Mühe  nicht  gereuen,  sogar  die 
Metallklammern  aus  den  Steinfugen  der  Ruinen  historischer 
Zeit  herauszumeisseln,  nachdem  alles  offen  zu  Tage  liegende 
hinweggeräumt  war. 

Da  sich  die  Wände  nirgends  über  eine  Höhe  von  1  m 
erhalten  haben,  geben  sie  über  Vorhandensein,  Lage  und 
Gestalt  der  Fenster  keinen  Aufschluss.  Wir  werden  übrigens 
sehen,  dass  Fenster  im  eigentlichen  Sinne  überflüssig  waren 
und  daher  wahrscheinlich  gänzlich  fehlten. 

Dagegen  sind  wir  über  die  Gestalt  der  Thüren  ziemlich 
genau  unterrichtet  durch  die  Auffindung  von  nicht  weniger 
als  vierzig  Exemplaren  aus  der  Burg  von  Tiryns  allein. 
Bezüglich  dieser  ist  jedoch  Dörpfeld's  erschöpfenden  Dar- 
stellungen^) nichts  hinzuzufügen.  Die  schönen  monolithen 
Steinschwellen  von  zweiundzwanzig  dieser  Thüren  lassen  über 
die  Zapfenlöcher  (Pfannen),  in  welchen  die  theils  einfachen 
theils  gedoppelten  Flügel  gingen,  keinen  Zweifel,  ebenso 
die  erhaltenen  Thore  über  die  Methode  des  Verschlusses. 
Die  Thürrahmen  waren,  wie  das  schon  Homer  erwähnt,  von 
Holz,  und  wenn  im  Palast  des  Alkinoos  nach  phönikischer 
Art  silberverkleidet,  so  in  Tiryns  wohl  wenigstens  theilweise 


1)  Tiryns.     S.  314—323. 


94  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

kiipfer-  oder  bronzebeschlagen.  Wenn  icb  in  einer  Neben- 
sache von  Dörpfeld  abweiche,  so  ist  es  bezüglich  des  vneq- 
^vQiov  ^),  unter  welchem  ich  im  Hinblick  auf  späteren  Sprach- 
gebrauch ^)  nicht  blos  den  Sturzblock,  sondern  auch  die  über 
der  eigentlichen  Thüre  befindliche  Lichtöffnung  verstehe. 

Die  Wände  haben  aber  nicht  blos  die  Aufgabe,  die 
Räume  nach  aussen  zu  uinschliessen,  sondern  auch  die,  den  Ab- 
schluss  nach  oben,  die  Decke,  zu  tragen.  In  dieser  letzteren 
Aufgabe  wurden  sie,  was  von  Troia  nicht  sicher  behauptet 
werden  kann,  in  Tiryns  und  Mykenä  z.  Th,  abgelöst  von 
freistehenden  Stützen ,  welche  unzweifelhaft  säulenartigen 
Charakters  waren.  In  Tiryns  haben  sich  nicht  weniger  als 
31  Basen  in  situ  gefunden,  und  zwar  nicht  blos  an  jenen 
Stellen,  an  welchen  auch  früher  auf  homerische  Erwähnungen 
hin  säulenartige  Stützen  angenommen  worden  sind,  nemiich 
im  Innern  der  Saalanlagen,  sondern  auch  am  Aeusseren  der 
Gebäude,  an  Vorhallen,  Peristylen  und  Propyläen,  mithin  an 
Stellen,  an  welchen  sie  sich  auch  in  historischer  Zeit  finden. 

Die  Säulen  der  Heroenzeit  stehen  jedoch  ihrer  Gestalt 
nach  mit  den  griechischen  Säulen  der  historischen  Zeit  kaum 
in  Zusammenhang,  wie  es  sich  auch  bei  dem  zumeist  wesent- 
lich verschiedenen  Charakter  der  Ornamentik  von  Mykenä, 
Tiryns,  Orchomenos  u.  s.  w.  einerseits  und  der  historisch - 
klassischen  Zeit  anderseits  erwarten  lässt.  Denn  das  dorische 
Kapital,  das  in  Tiryns  entdeckt  wurde,  stammt  von  einem  Tempel, 
welcher  mehrere  Jahrhunderte  nach  der  Zerstörung  der  Burg 
auf  deren  Ruinen  gesetzt  wurde  und  zu  dem  wahrschein- 
lich das  späte  Mauerwerk  gehört,  mit  welchem  das  Megaron 
ohne  Rücksicht  auf  die  alten  Mauerzüge  überbaut  gefunden 
worden  ist.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  den  wenigen  dorischen 
Details,  welche  sich  in  Mykenä  ergaben,  und  die  sich  ihrem 
Stile  nach  sogar  als  noch  späteren   Datums  erweisen. 


1)  Od.  VII.  ;)f>. 

2)  Vitruv.  IV.  G. 


v.Eeber:  Zur  Ketnitniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.   05 

lu  den  Ruinen  der  Heroenzeit  fanden  sich  an  Ort  und 
Stelle  von  den  Säulen  nur  mehr  die  Basen,  mithin  gerade 
ein  der  dorischen  Architektur  ganz  fehlendes  Glied.  Sie  be- 
stehen aus  plattenartigen  Blöcken,  welche  ihrer  Lage  nach 
einen  Bestandtheil  des  Paviments  bilden,  nach  unten  ganz 
oder  fast  ganz  unbearbeitet  sind,  wie  diess  das  Aufliegen 
auf  dem  gewachsenen  Boden  oder  einfacher  Aufschüttung 
nicht  anders  erforderte,  und  ebenso  auch  an  den  Rändern 
nur  ganz  unregelmässig  begränzt  sein  durften,  da  sich  die 
Ränder  ganz  in  dem  Beton  und  Estrich  des  ringsum  auf- 
getragenen Paviments  verbargen.  Die  obere  Fläche  aber 
war  so  abgearbeitet,  dass  sie  in  der  Mitte  eine  kreisförmige 
Erhebung  zeigte,  welche,  an  sich  2 — 3  cm  hoch,  nicht  in 
voller  Höhe  sichtbar  war,  da  der  Estrich  bis  an  den  Kreis- 
rand herangestrichen  war.  Das  Profil  dieser  Basenkreise 
besteht  gewöhnlich  aus  einer  einfachen  ziemlich  steilen  Ab- 
schrägung oder  Schmiege,  manchmal  aber  auch  aus  einer 
nach  oben  verjüngten  Hohlkehle. 

Erlaubt  schon  dieses  Profil  der  Basenringe  und  deren 
Zusammenhang  mit  dem  betreöenden  Pavimentblocke  die 
Identificirung  der  tirynthischen  und  mykenäischen  Basen  mit 
der  ägypti.^chen  Basenplatte  nicht,  so  noch  weniger  die  ge- 
ringe sichtbare  Höhe  und  auch  der  verhältnissmässig  geringe 
Durchmesser  der  ersteren.  Wir  haben  es  in  der  That  bei 
diesem  Gliede  mehr  mit  einem  isolirenden  Scamillus,  ^als  mit 
einer  eigentlichen  Base  zu  thun,  mit  einem  Gliede,  welches 
lediglich,  ohne  selbständige  oder  künstlerische  Anforderungen 
zu  stellen,  das  Auflager  des  Säulenschaftes  vorbereiten  und 
dasselbe  vor  den  Einflüssen  des  Bodens  schützen,  namentlich 
aber  verhindern  sollte,  dass  sich  Feuchtigkeit  am  unteren 
Schaftende  ansammle. 

Und  diese  Rücksicht  mochte  um  so  noth wendiger  er- 
scheinen, da  die  Säulenschäfte  selbst  unzweifelhaft  aus  Holz 
waren.    Diess  ist  schon  nach  der  fast  ausschliesslichen  Holz- 


96  Sitzzwg  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Verkleidung  des  Innern  des  Megaron  vorauszusetzen  und  wird 
durch  den  verliältnissmässig  geringen  Umfang  der  Basenkreise 
noch  wahrscheinlicher  gemacht.  Zur  Gewissheit  erhoben  wird 
aber  diese  Annahme  durch  den  Umstand,  dass  zu  den  31 
erhaltenen  Basen  von  Tiryns  auch  nicht  das  kleinste  Stück 
eines  Schaftes  gefunden  worden  ist,  wogegen  das  kleine 
cylindrische  Schaftstück,  anscheinend  canellirt,  bis  zu  Un- 
kenntlichkeit verstümmelt  in  Mykenä  gefunden  und  jetzt  im 
Museum  zu  Garwathi,  als  seiner  ursprünglichen  Bestimmung 
nach  durchaus  unsicher,  kaum  in's  Gewicht  fällt.  Ein  solches 
Fehlen  der  Säulenschäfte  unter  den  Ueberresten  wäre  un- 
möglich, wenn  die  Schäfte  von  Stein,  gleichviel  ob  monolith 
oder  in  einzelnen  Trommeln  hergestellt  gewesen  wären,  da 
Säulenstücke  für  Zwecke  späteren  Mauerbaues  am  unbrauch- 
barsten sein  mussten  und  darum  nicht  wohl  bis  auf  den 
letzten  Rest  verschleppt  werden  konnten. 

Dasselbe  Material  wie  für  die  Schäfte  muss  für  die 
Capitäle  angenommen  werden,  da  auch  hiefür  keine  Fragmente 
gefunden  wurden.  Denn  dass  ein  in  Tiryns  gefundenes  dorisches 
Capital  zu  einem  Gebäude  gehört  habe,  welches  frühestens 
im  6.  Jhrh.  auf  die  Ruinen  des  längst  verödeten  Heroen- 
palastes gesetzt  worden  ist,  wurde  bereits  erwähnt. 

Aus  den  Ausgrabungsergebnissen  von  Tiryns  kann  daher 
die  für  den  Baustil  der  heroischen  Zeit  wichtige  Frage  nicht 
beantwortet  werden,  welche  Gestalt  die  Säulen  der  heroischen 
Zeit  hatten,  von  welchen  wir  doch  eine  so  stattliche  Zahl 
von  Basen  kennen.  Allein  wenn  Dörpfeld  diese  Frage  ganz 
umgeht,  so  legt  er  sich  damit  eine  Reserve  auf,  welche  nur 
durch  seine  objektive  Beschränkung  auf  den  Fundbericht  von 
Tiryns  gerechtfertigt  erscheinen  kann.  Denn  wir  haben 
immerhin  Anhaltspunkte  genug,  \m\  der  Frage  näher  zu 
treten. 

Wenn  auch  nicht  in  Tiryns  so  sind  doch  an  anderen 
ebenso  sicher  wie  Tiryns  der  heroischen  Periode  angehörigen 


V.  Reher:  Zur  Kemitniss  des  Baustiles  der  heroischen  Einehe.   97 

Punkten  Säulen  nachgewiesen.  Von  diesen  ist  das  wichtigste 
Exemplar  die  Säule,  welche  am  Relief  des  Löwenthores  von 
Mjkenä  zwischen  den  beiden  Löwen  dargestellt  ist.  Das 
berühmte  Werk,  von  jeher  an  der  Spitze  der  Geschichte  der 
griechischen  Plastik  stehend,  verdient  daher  eine  ähnliche 
Stellung  auch  in  der  Baugeschichte  der  Hellenen,  zumal  die 
tadellose  Erhaltung  des  architektonischen  Theiles  des  Bild- 
werks über  die  einzelnen  Formen  keinen  Zweifel  zulässt. 

Die  einfache  Schmiege,  welche  die  Basis  darstellt,  ge- 
mahnt an  die  erhaltenen  Basen  von  Tiryns  und  Mykenä, 
wenn  auch  Form  und  Verhältniss  am  Relief  derber  erscheinen. 
Der  glatte,  völlig  ungegliederte  Schaft  hat  eine  Höhe  von 
5^/4  unteren  und  von  4^/2  oberen  Durchmesser,  ist  sonach 
nach  unten  nicht  unbeträchtlich,  neralich  um  ^/e  des  oberen 
Durchmessers  verjüngt,  im  auffallenden  Gegensatz  gegen  die 
sonstige  Verjüngung  der  Säulen  nach  oben.  Diese  Anomalie, 
an  Gipsabgüssen  oder  geometrischen  Zeichnungen  höchst 
empfindlich,  ist  freilich  an  Ort  und  Stelle,  wegen  des  tiefen 
Standpunktes  des  Beschauers  nur  wenig  zu  bemerken ,  war 
jedoch  gewiss  nicht  durch  diese  optische  Wirkung  veranlasst. 
Die  Annahme,  dass  die  Säule  jetzt  verkehrt  stehe,  ist  durch 
die  Löwen  und  den  seit  der  Errichtung  des  Thores  unver- 
rückt in  seiner  dreieckigen  Maueröffnung  verbliebenen  Relief- 
stein unbedingt  ausgeschlossen,  die  Erklärung  aber,  dass  der 
Künstler  eine  verkehrte,  umgestürzte  Säule  darstellen  wollte, 
als  lächerlich  abzuweisen.  Das  den  Schaft  bekrönende  Ca- 
pital hat  einige  Aehnlichkeit  mit  einer  umgekehrten  attischen 
Basis:  zwei  Toren  von  einer  Hohlkehle  getrennt  in  massiger 
Ausladung  und  ohne  weitere  Auszierung.  Das  darüber  fol- 
gende Glied  dürfte  nicht  als  Capitälplatte,  sondern  als  das 
Symbol  des  Architravs  zu  betrachten  sein,  wie  unten  darge- 
legt werden  soll. 

Ein  zweites  Halbsäulenfragment,  nemlich  ein  Halbsäulen- 
Capitäl   von    der  Fayade    des  Atreustholos    in  Mykenä,    das 

1888.  Philo8.-philoI.  u.  bist.  Gl.  II.  1.  7 


98  Sitzung  der  histor.  Classe  vow  5.  Mai  1888, 

W.  Gell  mit  anderen  Theilen  zu  dem  in  allen  Handbüchern 
verwendeten  Säulenstück  restaurirt  hat,  ist  jetzt  leider  nur 
mehr  in  Abbildung  vorhanden;  doch  haben  sich  einige  an- 
dere zugehörige  Stücke  bei  der  totalen  Aufdeckung  des  Tho- 
los  durch  Schliemann  gefunden  und  befinden  sich  jetzt  unter 
den  die  Nummern  625 — 649  tragenden  Fragmenten  von  der 
genannten  Far;ade  in  der  Vitrine  Y  des  Mykenämuseums  in 
Athen,  leider  in  so  ungünstiger  Aufstellung  oder  vielmehr 
Aufhäufung  der  Bruchstücke,  und  in  Schliemann's  Katalog 
so  vernachlässigt,  dass  jetzt  nur  ein  grösseres  in  grünem 
Stein  ausgeführtes  Fragment  No.  649  als  zu  einer  Säule  ge- 
hörig zu  unterscheiden  ist.  Schaft  und  Capital  aber  waren 
vollständig  bedeckt  mit  reichem  Zickzack-  und  Spiralen-Orna- 
ment, das  in  scharfem  Relief  in  den  Stein  gearbeitet  war. 
Bei  der  Untersuchung  des  Monumentes  durch  Fr.  Thiersch  ^) 
ergaben  sich  noch  die  unteren  Theile  der  Halbsäulensockel, 
deren  geringe  Dimensionen  es  über  allen  Zweifel  erheben, 
dass  auch  hier  das  verjüngte  Ende  des  Schaftes  nach  unten 
gewendet  sein  musste*). 

Der  sonst  ähnlich  wie  das  sog.  Atreusschatzhaus  ange- 
legte Tholos  von  Orchomenos  scheint  keinen  Halbsäulen- 
schmuck  gehabt  zu  haben  3).  Wie  es  sich  aber  in  dieser 
Hinsicht  mit  dem  zweiten  Tholos  von  Mykenä,  dem  sog. 
Schatzhause  der  Frau  Schliemann  verhielt,  ist  zur  Zeit  zwar 
noch  nicht  im  Einzelnen  zu  beantworten ,  da  Frau  Schlie- 
mann die  Ausgrubnngsarbeiten  an  diesem  Tholos  unbegreif- 
licherweise gerade  an  der  Stelle  einstellte,  wo  sich  die  Frage 
über  Facadenschnmck  voraussichtlich  entschieden  hätte,  dass 


1)  Der  Tholos  des  AtiTus  zu  Mykonä.     Mittheilungen  des  kais. 
deutschen  archäologischen  Instituts  zu  Athen.     IV'.     1879. 

2)  Vgl.  den  Restsuirationsversuch  von  J.  Thacher  Clarke  in  der 
englischen  Ausgabe  meiner  Kunstgeschichte  des  Alterthums. 

3)  Verhandlungen    der    Berliner  anthropologischen  Gesellschaft. 
1886.     S.  376  fg. 


V.  Beben  Zur  Kenntnisst  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.     ^^ 

aber  halbsäuleuartige  Vorlap;en  auch  an  dieser  Tholenfa^ade 
vorhanden  waren,  ist  durch  den  starken  Vorsprimg  des  Ge- 
simses wohl  ausser  allem  Zweifel. 

Zu  den  Halbsäulen  des  Löwenthorreliefs  und  des  Atreus- 
tholos  kommen  noch  kleine  Säulenformen  an  Ornament- 
stücken. Das  wichtigere  Fragment  der  Art  ist  die  in  einem 
Grabe  von  Spata  (zwischen  Athen  und  Marathon)  gefundene 
Säulendarstellung  auf  einem  Pastestückchen  ^) ,  deren  Aehn- 
lichkeit  mit  der  Säule  am  Löwenthor  so  gross  ist.  dass  es 
geradezu  ein  Modell  zur  Löwenthorsäule  genannt  worden 
ist*).  Doch  ist  zu  bemerken,  dass  der  Schaft  weder  nach 
unten  noch  nach  oben  verjüngt  erscheint ,  was  aus  dem 
Grunde  nicht  mit  voller  Sicherheit  aus  dem  kleinen  Mass- 
stab der  Darstellung  zu  erklären  ist,  weil  an  einer  anderen 
kleinen  Säulendarstellung  auf  einem  in  Elfenbein  oder  Kno- 
chen geschnittenen  Ornament  der  Gräberfunde  von  Menidi, 
welches  Greifen  zwischen  Säulen  darstellt,  die  Säulchen,  sonst 
im  Detail  weniger  klar  als  an  dem  Stücke  von  Spata,  deut- 
lich nach  oben  dicker  erscheinen.  Zu  den  letztgenannten 
Fundstücken  ist  noch  zu  bemerken,  dass  beide  von  attischem 
Boden  stammen ,  somit  gegen  die  Annahme  sprechen ,  dass 
die  beschriebenen  Säulenformen  von  Mykenä  blos  als  mjke- 
näische  oder  argolische  Sonderart   zu  betrachten  seien. 

Angesichts  dieser  im  Ganzen  übereinstimmenden  Beleg- 
stücke für  die  Form  der  Säule  in  der  heroischen  Zeit  er- 
scheint es  nicht  mehr  zulässig ,  die  tiryntischen  und  niyke- 
näischen  Säulenbasen  rückschliessend  aus  der  späteren  Archi- 
tektur Griechenlands  mit  dorischen  und  ionischen  Schäften 
zu  verbinden  und  zu  ergänzen.  Wir  haben  nicht  den  ge- 
ringsten  Grund,  den  Typus  der  Löwenthorsäule,  so  unbehag- 


1)  'Ad/jvaiov.  VI.  3.  Taf.  V.  60. 

2)  N.  Köhler,  Ueber  Zeit  und  Ursprung  der  Gralianlagen  in 
Mykenä  und  Spata.  Mittheilungen  des  kais.  deutschen  archäolog. 
Instituts    in  Athen  1878. 

7* 


100  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1S8S. 

lieh  er  unserer  von  den  Eindrücken  der  Kunst  der  classi- 
schen  Periode  präoceupirten  Vorstellung  auch  sein  mag,  als 
den  der  heroischen  Architektur  zu  Grunde  liegenden  abzu- 
lehnen. Giebt  man  auch  zu,  dass  die  Löwentliorsäule  nur 
ein  Abbild  und  Symbol  sei ,  welches  den  wirklich  funktio- 
nirenden  Holzstützen  des  Palastes  selbst  nach  Verhältnissen 
und  Formen  nicht  ganz  genau  entsprochen  haben  mag,  so 
haben  wir  doch  keinen  Grund  zu  bezweifeln,  dass  die  Säule 
am  Löwenthorrelief,  als  pars  pro  toto  die  Säulenerscheinung 
der  Höfe,  Propyläen  und  Saalbauten  symbolisirend ,  in  den 
Formen  im  Allgemeinen  der  architektonischen  Wirklichkeit 
entsprechend  gewesen  sei. 

Es  hat  aber  daran  am  meisten  befremdet,  dass  sich  die 
Säulen  im  umgekehrten  Sinne,  nemlich  von  oben  nach  unten 
verjüngen  sollten.  Das  Säulcheu  der  Paste  von  Spata  zeigt 
zwar  keine  Verjüngung,  aber  die  grösseren  Reste  vom  Löwen- 
thor und  vom  Atreustholos  würden  schon  allein  für  die  That- 
sache  genügen,  die  übrigens  auch  von  dem  kleinen  Knochen- 
relief aus  Menidi  unterstützt  wird.  Für  diese  umgekehrte 
Verjüngung  sprechen  aber  noch  andere  bemerkenswerthe 
Umstände.  Erstens  erscheinen  die  Basen  von  Tiryns  ver- 
hältnissmässig  klein.  An  der  Vorhalle  des  Megaron  zeigen 
sie  7()cm  bei  einer  Axweite  der  Sänlenstellungen  von  fast 
4m.  Nimmt  man  aber  an,  dass  die  Schäfte  ein  wenig 
hinter  den  Basenrand  zurücktraten,  so  verbleibt  für  den  un- 
teren Schaftdurchmesser  höchstens  70  cm  und  wenn  nun  die 
Schäfte  in  der  Weise  der  historischen  Architektur  sich  nach 
oben  verjüngt  hätten,  so  würde  für  den  oberen  Schaftdurch- 
messer nicht  mehr  als  00  cm  geblieben  sein.  Das  wäre  für 
ein  Gebäude  von  so  bedeutenden  Erstreckungen  höchst  be- 
fremdlich \md  unverhältnissmässig  dürftig.  —  Zweitens  stehen 
die  Säulen  der  Megaronvorhalle  soweit  hinter  der  Flucht  der 
Parastaden  zurück,  dass  der  über  den  Säulen  liegende  Archi- 
travbalken  keinesfalls  mit  der  Stirnseite  der  I^arastaden  bündig 


v.Eeher:  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  101 

laufen  konnte.  Die  rauthmassliche  Beirleichung  dieser  Dif- 
ferenz wird  bei  Besprechung  des  Gebälks  erörtert  werden; 
jedenfalls  aber  konnte  es  nur  von  Vortheil  sein ,  wenn  der 
Abstand  schon  dadurch  verringert  wurde,  dass  die  Säule 
selbst  schon  nach  oben  an  Umfang  zunahm,  wodurch  auch 
der  Architrav  weiter  nach  vorne  reichte  und  der  Stirnseite 
der  Parastaden  sich  näherte.  Im  Vergleich  mit  der  That- 
sache  der  umgekehrten  Verjüngung  der  Säulenschäfte  am 
Löwenthor  und  am  Atreustholos  mögen  allerdings  die  beiden 
letztangeführten  Umstände  gering werthig  erscheinen  ,  aber 
sie  sprechen  doch  eher  für  als  gegen  die  Erscheinung. 

Wenn  endlich  Schaft  und  Capital  an  der  Säule  des 
Löwenreliefs  ohne  ornamentale  Auszier ung,  am  Atreustholos 
dagegen  überreich  mit  einer  solchen  bedeckt  erscheinen,  so 
werden  auch  diese  beiden  Varianten  dem  thatsächlichen  Ge- 
brauch der  damaligen  Bauweise  entsprochen  haben.  Wie 
von  den  Wänden  nur  einige  in  der  Weise  der  Megaronwände 
über  blossen  Verputz  hinausgingen ,  so  werden  auch  die 
Säulen  nur  in  besonderen  Fällen  zu  der  reichen  Verzierung 
nach  Art  des  Tholoshalbsäulen  gelangt  sein.  An  den  Säulen- 
hallen der  Höfe  waren  die  Säulen  wahrscheinlich  schlicht 
und  glatt,  wenn  auch  wohl  farbig  behandelt.  Finden  wir 
doch  einige  der  Basen  im  Hofe  vor  dem  Megaron  zu  Tiryns 
nicht  einmal  kreisförmig  abgearbeitet,  sondern  aus  einfachen 
oben  geglätteten  Steinblöcken  bestehend.  An  den  reicher 
behandelten  Säulen  aber  ist  das  Reliefornament  wie  es  die 
Steinhalbsäulen  des  Atreustholos  geben,  kaum  in  Holzschnitz- 
werk wiedergegeben,  sondern  vielmehr  zum  Theil  mittelst 
angesetzter  Metallzierden  dargestellt,  sowie  sie  sich  im  Innern 
der  Tholen  von  Mykenä  und  Orchomenos  erwiesen  haben, 
und  wie  sie  auch  an  den  holzverkleideten  Wänden  der  Me- 
gara  mehr  als  wahrscheinlich  sind.  Und  zwar  ebenfalls  nicht 
in  der  Gestalt  totaler  Metallumhüllung.  Eine  solche  wäre 
schwer    ausführbar  gewesen    und  widerspräche    auch    ebenso 


102  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

der  Behandlung  der  Wände  wie  der  Eigenart  des  Ornaments. 
Ich  bin  daher  vielmehr  der  Meinmig,  dass  der  Ausschmück- 
ung der  hölzernen  Wandverkleidung  entsprechend  Säulen- 
schaft und  Capital  zunächst  durch  Farbe  ornamental  geglie- 
dert waren  und  dass  man  diese  Ornamente  nur  an  geeigneten 
Stellen  durch  metallische  Zusätze  auf  höhte,  sei  es  nun  durch 
Nägelköpfe,  um  eine  Wirkung  zu  erzielen,  wie  sie  die  Glas- 
pasten an  dem  unten  zu  besprechenden  Kyanosfries  darboten, 
sei  es  durch  blechgetriebene  Sterne  oder  Rosetten,  sei  es 
durch  Reifen  und  Aehnliches.   — 

Ueber  Wände  und  Säulen  aber  legten  sich  die  Balken 
der  Decke.  Die  Lage  dieser  Horizontalbalken  ist  über  den 
Säulen  unbedingt  gesichert,  namentlich  an  den  nach  aussen 
gewendeten  Säulenstellungen,  wo  die  Deckbalken  in  der  Art 
aller  Architrave  von  einer  Säule  zur  andern  und  von  diesen 
zur  Wand  liefen.  Es  ergab  sich  aber  naturgemäss  die  Decken- 
construction  der  nach  aussen  ofienen  Säulenhallen  einfacher, 
als  jene  der  säulengetragenen  Innenräume.  Denn  an  den 
ersteren,  nemlich  an  den  Hofportiken  wie  an  den  Propyläen 
und  Saalvorhallen,  bedurfte  es  nur  des  einen  Architravbalkens, 
über  welchen  dann  bei  der  geringen  Tiefe  dieser  Hallen  die 
dichtgereihten  und  verhältnissmässig  schwachen  Deckenhölzer 
so  gelegt  wurden,  dass  ihre  Enden  einerseits  auf  den  den 
Säulenreihen  parallelen  Innenwänden,  anderseits  auf  den 
Architravbalken  auflagen.  Dass  aber  diese  Deckhölzer  über 
die  Architravbalken  soweit  vorsprangen,  um  die  Hallen  gegen 
Sonnenbrand  und  Regen  möglichst  zu  schützen,  ist  nicht 
blos  vorauszusetzen,  sondern  an  der  Vorhalle  des  Megaron 
geradezu  erweislich,  indem  nur  ein  solcher  Deckenvorsprung 
über  den  Architrav  hinaus  die  Decke  mit  den  Parastadeu 
bündig  machen  konnte.  Für  die  enge  Reihung  und  Gestalt 
der  Deckenhölzer  selbst  aber  haben  wir  positive  Anhalts- 
punkte am  Löwenthorrelief  und  am  Tholos  der  Frau  Schhe- 
maun  zu  Mykenä,  an  welchen  beiden  Werken  an  entsprechender 


V.  lieber:  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  103 

Stelle  glatte  an  einander  gereihte  Kreise  in  flachem  Relief 
erscheinen.  Dass  diese  Kreise  nur  als  Basis  für  Rosetten- 
schmuck gedient  haben,  ist  unbedingt  ausgeschlossen,  indem 
am  Löwenthorrelief  in  der  Seitenansicht  diesen  Kreisen  der 
Stirnseite  Cy linderformen  entsprechen.  Wir  haben  daher  in 
dieser  Bildung  vielmehr  die  Wiedergabe  der  in  Stangenholz 
hergestellten  Decken hölzer  zu  erkennen,  sowie  dies  auch  an 
gleichartigen  Deckenbildungeii  an  lykischen  Grabdenkmälern 
längst  ausser  Zweifel  steht,  und  dürfen  daher  am  Löwenthor- 
relief das  auf  dem  Capital  liegende  oblonge  Stück  nicht  als 
Capitälplatte  betrachten,  sondern  müssen  es  vielmehr  als 
Arcbitravstück  erklären. 

Ob  diese  dichtgereihten  Deckenstangen  noch  eine  Ver- 
bretterung  trugen  oder  ob  ohne  eine  solche  die  den  Abschluss 
bildende  Lehmlage  aufgetragen  war,  steht  dahin,  gewiss  ist 
nur,  dass  der  Lehmschicht  noch  mehr  wie  dem  Ziegel-  und 
Mörtelmaterial  faserige  Pflanzenstoffe  beigemengt  sein  mussten, 
wie  auch  dass  man  der  Oberfläche  durch  verschiedene  Dicke 
der  Lehmlage  eine  leichte  Neigung  nach  aussen  behufs  Ab- 
flusses der  Niederschläge  gab.  Decke  und  Dach  verbanden 
sich  sonach  in  ein  Glied,  so  dass  die  Ausseuerscheinung  über 
dem  Architrav  im  Wesentlichen  nur  die  Köpfe  der  Decken- 
hölzer, somit  eine  höchst  primitive  Gebälkbildung  darbot. 

Anders  aber  mussten  die  Deckungen  der  Saalbauten 
erwirkt  gewesen  sein,  an  welchen  sowohl  die  grösseren  Er- 
streckungen, als  auch  die  Beleuchtungs-,  Ventilations-  und 
Traufevorrichtungen  zu  complicirteren  Anlagen  zwangen. 
Unter  den  verschiedenen  Lösungen  des  Problems,  welche 
möglich  sind,  ist  freilich  zur  Zeit  nur  mit  grösserer  oder 
geringerer  Wahrscheinlichkeit  zu  entscheiden,  wir  werden 
aber  zur  Stellungnahme  Anhaltspunkte  genug  finden. 

Gegeben  ist  am  Megaron  folgendes:  Rings  um  den 
grossen  kreisförmigen  Herd,  dessen  Lage  in  der  Mitte  des 
Saales  an  den    bezüglichen  Sälen  zu  Troia,  Tiryns  und  My- 


10-i  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

kenä  gesichert  ist,  und  dessen  Profil  und  Schmuck  neuestens 
eine  bemerkenswerthe  noch  nicht  publicirte  Präcisirung  durch 
die  Aufdeckung  in  Mykenä  erhalten  hat,  waren  sowohl  in 
Tiryns  wie  in  Mykenä  vier  Säulen  aufgestellt.  Ihre  durch 
die  in  situ  erhaltenen  Basen  gesicherte  Stelle  bestätigt,  dass 
sie  den  Zweck  hatten,  die  Hauptbalken  der  Decke  zu  stützen. 
Dass  eine  solche  Stützung  nicht  überflüssig,  erhellt  aus  den 
Maassen  des  Raumes,  11:9  m.  Da  sie  füglich  nur  in  einer 
Richtung  gelegt  waren,  dürfen  wir  nur  zwei  solcher  Unter- 
zugsbalken (lUEaodfAai  ^)  annehmen ,  über  deren  Richtung 
allerdings  nichts  feststeht,  welche  wir  aber  mit  grösserer 
Wahrscheinlichkeit  in  der  Längs- (Axen-) Richtung  laufend, 
mithin  in  die  Scheidewand  von  Megaron  und  Vorsaal  einer- 
seits und  in  die  Schlusswand  anderseits  eingebunden  voraus- 
setzen dürfen.  Ueber  diese  Hauptbalken  aber  waren  recht- 
winklig die  Deckenbalzen  gelegt,  die  do'/.ol  der  eben  citirten 
homerischen  Stelle,  über  deren  Zahl  und  Abstände  zwar 
nichts  Näheres  bekannt  ist,  welche  aber  nach  der  Natur  der 
Dinge  erwarten  lassen,  dass  sie  vielleicht  etwas  schwächer 
waren  als  die  Unterzugsbalken  und  gewiss  enger  an  einander 
lagen  als  diese.  Die  basilikale  Ueberhöhung  des  Mittelraumes 
aber,  wie  sie  von  namhaften  Autoritäten  theils  in  der  ganzen 
Axenlänge,  theils  über  der  dem  Herdraume  entsprechenden 
Vierung  angenommen  wird  ^),  vermögen  wir  nicht  aus  den 
vorliegenden  Bedingungen  abzuleiten.  Ebenso  wenig  die 
Beschränkung  auf  horizontale  Dachung  in  der  Art,  wie  sie 
für  die  Aussenhallen  zugegeben  worden  ist,  nemlich  dadurch 
erwirkt,  dass  das  Balkengerüst  oben  mit  dichtgereihten  Quer- 
hölzern geschlossen  gewesen  sei,  welche  ihrerseits  eine  Lage 


1)  Ilom.  Od.  XIX.  37.38.    Vf,'l.  Dörpfekl  in  Schliemann'.s  Tiryns 
S.  251. 

2)  Konr.  Lange,   Hiius   und  Hülle.     Studien    zur  Geschichte  des 
Wohnhauses    und    der  Ba.silika.  —  W.  Dörpfeld.     TirynH.     S.  248  fg. 


v.Rehcr:  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  105 

Rohr  oder  Stroh  und  darüber  eine  mächtige  Lehmschicht 
getragen  hätten. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  Dörpfeld  auf 
diese  Theorie  durch  den  Umstand  gelenkt  ward,  dass  nirgends 
Dachziegelreste  gefunden  wurden.  Aus  dieser  Thatsache 
glaubte  er  folgern  zu  müssen,  dass  ein  Giebeldach  auszu- 
schliessen  sei.  dessen  Construction  in  der  That  an  allen 
Säulenhallen  und  kleineren  Gemächern  des  ganzen  Burg- 
complexes  undurchführbar  gewesen  wäre.  Er  suchte  daher 
den  gegebenen  Hyperoonausweg  für  Kauchabzug  und  Beleuch- 
tung, gewann  aber  damit  nur  erhöhte  Schwierigkeiten  hin- 
sichtlich der  Construction  und  der  Solidität.  Denn  abgesehen 
davon,  dass  die  Hyperoonannahme  der  erforderlichen  Vierungs- 
basis wegen  dazu  zwingt,  die  Hauptbalken  kreuzweise  über 
die  Säulen  gelegt,  mithin  an  der  Kreuzung  über  jeder  Säule 
eingeschnitten  zu  denken,  führt  sie  auch  zu  der  Voraus- 
setzung, dass  die  Deckhölzer  auf  den  vom  Mittelquadrat  nach 
den  Wänden  laufenden  Hauptbalken  quer,  d.  h.  in  der  Wand- 
richtung gereiht  gewesen  seien.  Diese  Annahme  aber,  un- 
ausweichlich, wenn  man  nicht  eine  weitere  Deckbalkenunter- 
lage einschieben  will,  hat  den  üebelstand  zur  Folge,  den 
Vorsprung  der  Deckenhölzer  über  die  Wand  hinaus,  wie 
auch  die  Dichtmachung  der  Decke  nicht  unwesentlich  zu 
erschweren.  Weiterhin  verschliesst  sie  jede  Möglichkeit 
der  Erklärung  eines  bedeutsamen  Ziergliedes,  das  in  einem 
Exemplare  zu  Tiryns,  in  zweien  zu  Mykenä  gefunden  worden 
ist  und  unten  eingehend  erörtert  werden  soll.  Endlich  aber 
ist  sie  nicht  blos  durch  keinerlei  Erwähnung  bei  Homer 
belegt  —  was  ja  nicht  ausschlaggebend  wäre  —  sondern  sie 
macht  vielmehr  eine  Stelle  der  Odyssee  schwierig,  welche 
unter  Voraussetzung  eines  Giebeldaches,  wie  wir  unten  sehen 
werden,  die  ungezwungenste  Deutung  findet. 

Wir  ziehen  demnach  bezüglich  der  Deckung  und  Be- 
dachung des  grossen  Megaronsaales  eine  Annahme  vor,  welche 


106  Sitzung  der  histo)-.  Classe  com  5.  Mai  1888. 

zwar  das  Bedenken  wepjen  der  fehlenden  Dachziegelreste  zu 
bekämpfen  hat,  dafür  aber  aller  anderen  Schwierigkeiten 
überhebt,  nemlich  die  Annahme  einer  Decken-  und  ßedach- 
ungsconstruction  in  der  Art  des  urdorischen  Tempels. 

Dabei  gewinnen  wir  zunächst  völlige  Ungebundenheit 
hinsichtlich  der  Anordnung  der  Deckbalken  (doy^ol),  welche 
nun  völlig  zwanglos  über  den  von  den  Säulen  gestützten 
zwei  Unterzugsbalken  gelegt  werden  konnten.  Auch  wir 
nehmen  für  diese  öokoI  wirkliche  Balken  an ,  nicht  blos, 
weil  die  Stangenhölzer,  die  bei  den  Deckungen  der  Vorhallen, 
Propyläen  und  Portiken  ausreichend  waren,  hier  der  grossen 
Erstreckungen  wegen  nicht  mehr  genügen  konnten,  sondern 
auch  weil  den  Deckbalken  des  Megaron  noch  weitere  Func- 
tionen erwuchsen.  Wir  können'  sie  ferner  auch  nicht  dicht 
aneinandergereiht  denken,  dürfen  aber  annähernd  gleiche  Ab- 
stände voraussetzen.  Ebenso  ein  durch  eine  untergelegte 
Diele  horizontal  abgeglichenes  Auflager  auf  den  Wänden, 
welches  letztere  mit  der  inneren  Holzverkleidung  und  mit 
der  beschriebenen  Wandverankerung  zusammenhängend  war 
und  zugleich  zum  Schutz  des  oberen  Abschlusses  der  Luft- 
ziegelwände diente.  Symmetrische  Regularität  und  horizon- 
tale Exactheit  war  aber  aus  doppeltem  Grunde  nothwendig, 
denn  erstens  kamen  die  Balkenenden,  wohl  in  der  äusseren 
Wandlinie  geschnitten,  aussen  zum  Vorschein,  wie  auch  die 
Zwischenräume  zwischen  denselben  sichtbar  waren,  und  zwei- 
tens dienten  die  Deckbalken  auch  als  Träger  der  Sparren- 
balken, welche  an  ein  gut  abgerichtetes  gleichartiges  Auf- 
lager ihre  bestimmten   Anforderungen  stellten. 

Es  gewannen  dadurch  die  Längswände  eine  wesentlich 
andere  Behandlung  und  Erscheinung  als  die  beiden  Schluss- 
wände. Die  letzteren  können  nemlich  so  gedacht  werden, 
da.ss  sie  entweder  in  der  Gestalt  voller  Giebelwände  höher 
emporgeführt  waren,  als  die  Wände  der  Langseiten,  oder 
dass    sie    als  Ziegelwände    sich    an    die  Höhe    der    letzteren 


r.  Bchcr:  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  107 

hielten,  während  das  darüberliegende  Giebeldreieck  ledi<jflich 
in  Holzwerk  geschlossen,  mithin  ähnlich  nnirahnit  und  ver- 
schalt war,  wie  es  die  Giebelbildung  der  classischen  Archi- 
tektur andeutet.  Im  letzteren  Falle,  den  wir  als  den  wahr- 
scheinlicheren betrachten,  wäre  anzunehmen,  dass  die  beiden 
äussersten  Deckljalken  ,  nemlich  der  erste  und  letzte,  über 
die  Schlusswände  hinliefen  und  ebenso  die  Basis  für  die 
Sparren  bildeten,  wie  die  übrigen  Deckbalken. 

Den  Deckbalken  entsprachen  dann  mit  oder  ohne  Zwi- 
schenlegung  einer  Horizontalpfette  am  unteren  Auflager  die 
Sparren  des  Satteldaches.  Unzw^eifelhaft  ragten  die  unteren 
Sparrenenden  über  die  Schnittenden  der  sie  tragenden  Deck- 
balken und  die  Wandflächen  in  ähnlicher  Weise  vor,  wie 
es  das  Geison  der  dorischen  Architektur  darstellt  und  ebenso 
sicher  waren  die  oben  zusammenstossenden  anderen  Sparren- 
enden von  einem  Firstbalken  getragen ,  welcher  wohl  von 
kurzen  senkrecht  auf  das  Mittel  der  Deckbalken  gestellten 
Ständern  gestützt  war.  Die  Verdielung  der  Sparren  in  ihrer 
ganzen  äusseren  Erstreckung ,  einschliesslich  ihrer  unteren 
Schnittflächen  ist  dann  selbstverständlich.  Nicht  so  die  Me- 
thode der  Eindeckung,  von  welcher  nur  feststeht,  dass  sie 
nicht  mittelst  Dachplatten  ausgeführt  war,  da  sich  erwähnter- 
massen  von  solchen,  die  doch  nur  aus  Steinschiefer  oder  ge- 
branntem Thon  bestehen  konnten ,  im  Schutte  keine  Spur 
gefunden  hat.  Allein  es  fehlt  keineswegs  an  anderen  Be- 
dachungsmöglichkeiten ,  unter  welchen  übrigens  eine  be- 
bestimmte Wahl  zu  treffen  Willkür  wäre.  Wie  an  über- 
einandergreifende  Dielenlagen,  so  kann  auch  an  eine  Art 
von  Schindelbedachung  gedacht  werden,  beides  durch  die 
weitgehende  Holzverkleidung  der  W^ände  gleich  nahe  gelegt. 
Ausserdem  an  ein  Rolir-,  Stroh-  oder  Sumpfgrasdach  oder 
an  eine  gemischte  Bettung  aus  Lehm  und  Rohr.  Und  wenn 
auch  zugegeben  werden  muss,  dass  ein  reiner  Lehmaufstrich 
über  den  schrägen  Neigungen  des  Giebeldaches  nicht  wetter- 


108  Sitziimj  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

beständig  genug  gewesen  wäre,  so  ist  doch  daran  zu  erinnern, 
dass  diess  bei  sehr  flachem  Giebel  nicht  in  viel  höherem 
Grade  der  Fall  sein  konnte ,  als  an  den  des  Wasserablaufs 
wegen  doch  auch  ein  wenig  geneigten  Flachdächern,  nament- 
lich danfi,  wenn  die  Lehralage  noch  stärker  als  das  Wand- 
material mit  Sumpfgras  oder  Stroh  versetzt  wurde  und  über- 
dies wie  die  Wände  und  Pavimente  noch  einen  entsprechen- 
den Kalküberzug  erhielt. 

Mit  der  Annahme  eines  in  der  beschriebenen  Weise 
construirten  Decken-  und  Dachwerks  ersparen  wir  uns  aber 
die  Nothwendigkeit  jenes  Dörpfeld'schen  Hyperoons  über  dem 
Mittelquadrate,  welches  völlig  unverbürgt  und  mit  verschie- 
denen naheliegenden  Coraplicirtheiten  verbunden,  zwischen 
einem  Hypäthron  und  einer  basilikalen  Ueberhöbung  in  un- 
befriedigender Mitte  schwebt.  Denn  die  Zwecke  dieses 
Hyperoons  werden  in  weit  einfacherer  Weise  durch  eine  ent- 
sprechende Ausnutzung  der  Deckenconstruction  erfüllt,  welche 
übrigens  nach  den  Denkmälern  der  historischen  Zeit  zu 
schliessen  von  Haus  aus  in  hellenischem  Gebrauche  war. 

Wenn  nemlich ,  wie  erwähnt ,  die  Deckbalken  natur- 
gemäss  in  gewissen  Abständen  von  einander  gelegt  wurden, 
so  ergaben  sich  von  selbst  an  jenen  zwei  Wänden,  auf  wel- 
chen sie  auflagen,  Zwischenräume,  welche  erst  nachträglich 
mit  Mauerwerk  oder  durch  irgend  welchen  anderen  Ver- 
schluss ausgefüllt  werden  konnten.  Diese  Ausfüllung  erfolgte 
jedoch  nur  dann,  wenn  ein  solcher  Verschluss  nöthig  oder 
wünschenswerth  erschien,  und  unterblieb,  wenn  man  aus  dem 
offen  gelassenen  Zwischenraum  jenen  Nutzen  ziehen  wollte, 
der  in  der  That  aus  dem  Prototyp  der  Metope  gezogen 
worden  ist,  nämlich  den  Nutzen  des  Lichtzugangs,  des  Luft- 
wechsels und  des  Kauchabzuges.  Die  zahlreichen  metopen- 
artigen  Oeffhungen  zwischen  den  Deckbalken  erfüllten  den 
Zweck  jenes  Hyperoons  gewiss  nicht  weniger  und  in  immer- 
hin {Geschützterer    und  soliderer  Weise.     Das  Licht    genügte 


V.  lieber:  Zur  Ken)itni.<!S  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  109 

auch  dann  noch,  wenn  ein  Theil  der  Oeffnungen  geschlossen 
wurde,  und  der  Kauchab/.ug  vollzog  sich  ebenso,  wenn  auch 
der  (^lalm  an  dem  Balkenwerk  hinstrich,  welches  als  da- 
runter leidend  von  Homer  ausdrücklich  durch  das  bezeich- 
nende Epitheton  ^ald-alösig"  (berusst)  bestätigt  wird.  Waren 
die  Balken  roh  und  ohne  weiteren  Schmuck,  so  war  das 
Uebel  auch  keineswegs  gross  und  ähnlich  jenem  der  älteren 
mittelalterlichen  Bauten  mit  offenen  Feuerstellen.  Und  waren 
sie  polychrom  behandelt,  wie  ich  nach  Analogie  der  Wände 
u-laube,  so  litten  sie  nicht  wesentlich  mehr  als  unter  Voraus- 
Setzung  jenes  Hyperoons. 

Diese    Methode    der    Beleuchtung   und  Ventilation,    die 
urwüchsigste  und  einfachste,  die  es  giebt,  ist  wahrscheinlich 
nicht  die  urhellenische  allein,  aber  sie  hat  sich  jedenfalls  in 
der  dorischen  Gebälkornamentik,  nemlich  im  Triglyphen-  und 
Metopenfries  am  unzweideutigsten  symbolisch  erhalten.    Und 
diess  ist  der  Punkt,  an  welchem  sich  die  heroische  Baukunst 
mit  der  dorischen  am  nächsten  berührt,  denn  der  Triglyphen- 
und    Metopenwechsel    war   sicher    von    Haus    aus    die    Stelle 
einer  weiteren,  aus  dem  Constructiven    entsprungenen ,    aber 
darüber    hinausgehenden  Ausstattung,     So  gewiss   die  Holz- 
verkleidung des  Innern    durch    Farbe-    und  Metallverzierung 
stattlicher    gemacht  war,    so  gewiss    war    das   auch    an    den 
Schnittflächen  der  wahrscheinlich   in  der  Linie  der  äusseren 
Wandfläche  senkrecht  endigenden  Deckbalken  der  Fall,  wo- 
bei es  überdiess  nicht  bloss  auf  den  Schmuck,  sondern  nicht 
minder    auf   den    Schutz    der  Balkenenden    abgesehen    war. 
Denn  da  hier  die  Deckenhölzer  nach  aussen  zur  Erscheinung 
kamen,  und  überdiess    den    atmosphärischen    Einflüssen  ihre 
empfindlichen  Schnittflächen  darboten,  war  es  doppelt  uoth- 
wendig,    nicht   bloss    auf  entsprechenden  Schmuck,    sondern 
auch  und    zwar  in  erster  Reihe    auf  eine  schützende  Zuthat 
Bedacht  zu  nehmen. 

Wir    würden    demnach    eine    zugleich    schützende    und 


110  Sitzung  der  histnr.  Classe  t^ovi  5.  Mai  J88S. 

schmückende  Verkleidung  der  nach  aussen  in  ihrer  Schnitt- 
fläche sichtbaren  Balkenköpfe,  somit  eine  Art  von  Protn- 
triglyphon  irgend  welcher  Gestaltung  annehmen,  auch  wenn 
wir  keine  weiteren  Anhaltspunkte  hinsichtlich  des  Typus 
dieser  Zuthat  hätten.  Aber  glücklicherweise  besitzen  wir 
solche  Anhaltspunkte  in  nicht  weniger  als  drei  zu  Tiryns 
und  Mykenä  gefundenen  Friesstücken,  in  welchen  ganz  ähn- 
liche Uebertragungen  des  tektonischen  Vorbildes  der  heroi- 
schen Zeit  in  das  Steinornament  und  Symbol  zu  erkennen 
sind,  wie  sie  im  Triglyphen-  und  Metopenfries  des  dorischen 
Peripteraltempels  als  Ergebniss  des  altgriechischen  Structur- 
vorbildes  vorliegen.  Nur  insofern  ist  der  Fall  etwas  ver- 
schieden, als  die  Ausbildung  des  Triglyphenfrieses  am  dori- 
schen Steingebälk  zeitlich  der  Periode  des  Holzgebälkes  nach- 
folgte, während  die  Steinfriese  von  Tiryns  und  Mykenä 
gleichzeitig  mit  und  neben  dem  Holzgebälk  erscheinen;  aber 
befremdlich  kann  diese  Gleichzeitigkeit  nicht  erscheinen, 
wenn  man  damit  zusammenhält,  dass  die  Holzsäule  und  das 
Holzdeckenwerk  der  tirynthischen  und  mykenäischen  Säulen- 
hallen ebenfalls  gleichzeitig  mit  den  Steinnachbildungen  am 
Löwenthorrelief  und  an  den  beiden  Tholen  von  Mykenä  vor- 
kommen. 

Von  den  drei  Friesen  wurde  der  eine  in  der  Vorhalle 
des  Megaron  von  Tiryns  am  Fusse  der  westlichen  Anten- 
wand  gefunden.  Er  hatte  genau  die  Länge  der  letzteren, 
das  heisst  des  Theiles  dersell)en,  der  sich  von  der  Holzwand 
mit  den  drei  Thüren  bis  zu  dem  Parastadenblock  ausschlies- 
send  erstreckt.  Doch  ist  von  der  3,55  m  betragenden  Ge- 
sammtlänge  des  Zierstückes  mehr  als  die  Hälfte  bis  zur  Un- 
kenntlichkeit zerstört  gefunden  worden,  und  desshalb  an  Ort 
und  Stelle  belassen  worden,  während  die  erhalteneren  Theile 
in  das  Mykenämuseum  des  Polytechnikums  zu  Athen  versetzt 
worden    sind.^)      Der   Fries    bestand    ursprünglich    aus  sieben 

1)  Zur  Zeit  noch  niclit  zur  Ausstellung  gelangt. 


v.Eeber:  Zar-  Kennt niss  des  Bauntüen  der  heroischen  Epoche.   111 

Alabasterplatten,  von  welchen  vier  wenifj^er  breit  als  hoch 
sind  und  an  die  dorischen  Triglyphen  erinnern,  während  die 
drei  andern  breiter  als  hoch  ihren  Dimensionen  nach  an  die 
Metopen  denken  lassen,  und  nur  15  cm  dick  hinter  den  vor- 
springenden 20  cm  dicken  triglyphen  artigen  Stücken  etwas 
zurücktraten.  Das  Ganze  ist  theils  durch  sculpirte  Ornamente, 
theils  durch  eingelegte  blaue  Steinchen,  welche  Virchow  als 
Pasten  aus  kupfergefärbtem  Calciumglas  erklärt,  geschmückt. 

An  den  triglyphenartigen  Gliedern  besteht  der  plastische 
Schmuck  aus  einem  senkrechten  convexen  Mittelstreifen,  der 
nach  Art  eines  Koilanaglyphs  versenkt  ist  und  vor  dem  hori- 
zontalen Abschlussbande,  das  nur  an  einer  der  beiden  Längs- 
seiten erhalten,  an  der  gegenüberstehenden  aber  sicher  voraus- 
zusetzen ist,  in  geradlinigem  Abschnitt  endigt.  Ferner  aus 
zwei  erhaben  gearbeiteten  Rosettenreihen,  senkrecht  im  Mittel 
der  etwas  breiteren  Seitenstreifen  angebracht  und  von  gleicher 
Erstreckung  wie  der  parallele  Mittelstreifen.  Die  Pasten- 
einlagen bilden  im  horizontalen  Abschnitt  eine  horizontale 
Reihe  viereckiger  Stückchen  von  19  mm  Breite  und  24  mm 
Höhe  und  parallel  darüber  ein  durchlaufendes  9  nmi  breites 
Band.  An  den  beiden  verticalen  Seitenstreifen  aber  zeigen 
die  Rosetten  kreisförmige  Herzsterne  von  26  mm  im  Durch- 
messer und  beiderseits  von  jeder  Rosettenreihe  je  eine  verticale 
Reihe  kleiner  oblonger  Pasten  von  10  :  13  mm. 

Noch  reicher  als  die  triglyphenartigen  Platten  sind  die 
metopen  artigen  ornamentirt.  Zwei  horizontal  angeordnete, 
in  sauberem  Relief  hergestellte  Palmetten,  welche  unter  den 
Triglyphenstücken  wurzeln  und  sich  in  ihren  Scheiteln  in 
der  Mitte  der  i^latte  berühren,  nehmen  die  ganze  Fläche  ein. 
Jeder  ihrer  überhöhten  Halbkreise  ist  aus  19  regulär  um 
einen  oblongen  Kern  gereihten  Doppelblättern  gebildet,  welche 
von  einem  breiten  Bande  umrahmt  werden,  das  in  geschweiften 
Spiralen  mit  beiderseitigem  Saume  sculpirt  ist.  Die  Glas- 
pasten    beschränken     sich     auf     die     kreisförmigen     Augen 


112  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

der  Spiralen  und  auf  Reihen  von  oblongen  Stücken,  aussen 
8:18mm,  innen  9:16  mm  messend,  in  den  beiderseitigen 
Säumen. 

Schon  vor  der  Entdeckung  dieses  Frieses i)  war  Helbig^) 
für  die  bekannte  den  Alkinoospalast  betreffende  Stelle  der 
Odyssee  (VIT.  86.  87): 

xdXyteoi  fiiv  yag  xoiyfii  ^qrjQtdax^  evÜa  xat  l'rOa, 
sg  {xv%6v  E^  ovöov.  nsQi  ös  ^Qiyy.og  Kvavoio' 

Eherne  Wände  liefen  an  jeglicher  Seite  des  Hauses 
Tief  hinein  von  der  Schwelle  und  herum  zog  ein  Gesims 

von  Kyanos 

zu  einer  anderen  Deutung  gelangt,  indem  er  für  die  frühere, 
den  -/.uavog  als  blauen  Stahl  erklärende  Annahme  die  Er- 
klärung durch  blaue  Smalte  (Glaspaste)  setzte.  Nun  fand 
sich  ein  zwar  nicht  durchaus  in  Smalte  hergestellter,  aber 
doch  wenigstens  durch  blaue  Pasten  farbig  characterisirter 
Pries  ungefähr  an  der  Stelle  des  tirynthischen  Palastes, 
Avelche  Homer  vom  Phäakenpalast  beschreibt,  und  es  wäre 
ganz  ungerechtfertigt,  dieses  Zusammentreffen  als  ein  rein 
zufälliges  zu  betrachten.  Im  Gegentheile  liegt  es  nahe,  den 
homerischen  Kyanosfries  in  derselben  Beschränkung  zu  deuten, 
wie  wir  die  ehernen  Wände  genommen  haben,  und  den 
Fries  im  Alkinoospalast  uns  ebenso  kyanosgeschmückt  und 
nicht  ganz  aus  Kyanos  bestehend  zu  denken,  wie  wir  den 
vollständigen  Metallüberzug  abgelehnt  und  mir  stückweisen 
Metallschmuck  angenommen  haben. 

Doch  ist  die  ursprüngliche  Stelle  des  tirynthischen  Ky- 
anosfrieses  leider  nicht  ausser  Zweifel.  Er  wurde  am  Sockel 
der  Antenwand  anstehend  gefunden,    und,    da    er   genau  die 


1)  Schliemann,  Tiryns.  S.  :-^23  fg.  Tafel  IV. 

21  Nach  R.  Lepsius,  „Die  Metalle  in  den  ägyptischen  Inschriften", 
Abliandlungen  der  berliner  Akad.  d.  W.  1871,  weiter  ausgeführt  von 
W.  Holbig.  Das  homerische  Epos.  Lpz.  1885.  S.  14  fg. 


V.  lieber:  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  113 

Läni^e  der  enteprechenden  Wand  von  der  hölzernen  Thür- 
wand  bis  zum  Anten  block  selbst  hat  und  überdiess  an  seinem 
der  Parastade  angrenzenden  Ende  die  rundliche  Abarbeitung 
des  Winkels  am  Antenblock  gezeigt  haben  soll,  so  lässt  er 
annehmen,  dass  er  zu  derselben  Wand  gehört  habe.  Doch 
hat  die  Untersuchung  des  Sockels  und  des  anstossenden  Pavi- 
mentes  unbestreitbar  ergeben,  dass  er  nicht  ursprünglich  an 
der  Sockelstelle  gestanden  haben  könne.^)  Da  nun  die  Auf- 
findung ebenso  unzweifelhaft  ergeben  hat,  dass  er  nicht  bei 
der  Zerstörung  selbst  herabgestürzt  sei,  was  ja  die  einzelnen 
Stücke  aus  ihrer  Reihung  gebracht  hätte,  so  lässt  sich  nur 
annehmen,  dass  er  noch  in  der  Zeit  der  Benutzung  des 
Palastes  von  seinem  ursprünglichen  höher  gelegenen  Stand- 
orte an  den  Sockel  versetzt  worden  sei,  vielleicht  anlässlich 
irgend  einer  Baufälligkeit,  welche  etwa  mit  Ablösung  des 
Frieses  von  dem  VVaudkörper  und  mit  Herabsturz  desselben 
drohte. 

Die  zwei  Friesstücke  aus  Mykenä,^)  beide  aus  Porphyr, 
sind  zwar  etwas  einfacher  behandelt  als  die  ebenbeschriebenen 
Fragmente,  nemlich  in  ihren  triglyphen-  und  metopenartigen 
Theilen  nicht  aus  einzelnen  Stücken  hergestellt,  in  den  Tri- 
glyphen nicht  so  energisch  vorspringend,  in  ihrer  Ornamentik 
minder  reich  und  ohne  die  Einsätze  in  blauer  Smalte.  Aber 
sie  sind  in  der  ganzen  Anordnung  dem  Kyanosfriese  sehr 
ähnlich.  An  dem  einen ^),  Inv.-No.  571,  zeigt  das  Triglyphen- 
glied  keinen  convexen  Mittelstreifen  und  keine  Rosetteureihen, 
dafür  aber  sechs  parallele  Verticalfurchen,  von  welchen  jedoch 
die  beiden  äusseren  sich  nicht  so  deutlich  aussprechen,  wie 
sie  auf  der  Schliemann'schen  Illustration  erscheinen,  nach 
meiner  vor  dem  Stücke  aufgenommenen  Skizze  sogar  unsicht- 


1)  Dörpfeld  in  Schliemann's  Tiryns.  S.  332  fg. 

2)  Mykenä-Museum  in  Athen  Nr.  571  und  .574. 

3)  Abbildung  in  Schliemann's  Mykenä  Fig.  151. 

1888.  Phi1o8.-pLilol.  u.  bist.  Gl.  II.  1.  8 


114  Sitzung  der  liistor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

bar  sind.  Diess  ändert  jedoch  nichts  an  der  Thatsache,  dass 
wir  in  den  zwei  erhaltenen  Triglyphen  dieses  Fragmentes^) 
die  allernächste  Verwandtschaft  mit  den  dorischen  Triglyphen 
zu  constatiren  haben.  Die  Palmetten  der  metopenartigen 
Glieder  sind  verhältnissmässig  grösser,  weil  ohne  den  Spiralen- 
saum des  Kyanosfrieses ,  das  Herzstück,  am  tirynthischen 
Friese  seiner  Behandlung  nach  unkenntlich,  erscheint  hier 
deutlich  ausgekehlt,  die  Blätter  sind  zwar  gedoppelt  aber 
ohne  die  am  Kyanosfriese  ausgeprägte  Blattrippe.  Direkt  an 
die  Reihen  von  oblongen  Pasten  aber  erinnert  der  in  der 
ganzen  Längserstreckung  sich  hinziehende  Horizontalsaum. 
Das  Fragment  574  dagegen  zeigt  in  dem  triglyphenartigen 
Stück  den  Mittelstreifen  etwas  vertieft  und  mit  einer  senk- 
rechten Reihe  von  vier  erhaben  gearbeiteten  Spiralen  ge- 
schmückt, die  senkrechten  Seitenstreifen  aber  ebenso  schmucklos 
wie  die  horizontalen  Rahmenstücke  oben  und  unten.  Die 
Palmetten  der  Metopenfelder  unterscheiden  sich  von  jenen 
des  Fragmentes  571  nur  dadurch,  dass  die  Herzstücke  der- 
selben statt  der  Auskehlung  enganeinandergereihte  Vertical- 
kerben  zeigen. 

Leider  fehlen  alle  näheren  Fundnotizen,  wie  überhaupt 
Schliemann  im  architektonischen  Theile  seiner  Untersuch- 
ungen Manches  zu  wünschen  übrig  lässt.  Wenn  er  übrigens 
die  beiden  Stücke  sowohl  im  angegebenen  Werk  wie  in 
seinem  Katalog  des  Mykenämuseums^)  Säulenfragmente  nennt, 
so  hat  er  diese  Bezeichnung  jedenfalls  seit  der  Auffindung 
des  Kyanosfrieses  aufgegeben.  Ein  vereinzeltes  Ornamentspiel 
anzunehmen,  verbietet  die  Auffindung  von  drei  in  ihren  zum 
Theil  tektonischen  Motiven  gleichartigen  Werken,  welche 
eine   gewisse    architektonische  und    stilistische  Bedeutsamkeit 

1)  Die  zweite  Triglyphc,  auf  einem  sicher  richtig  angepassten 
Bruchstücke  enthalten,  fehlt  auf  der  Schliemann'.sclien  Abbildung. 

2)  Catalogue  des  Tresors  de  Mycenes  au  Musee  d'Athenes  par 
le  Dr.  H.  Schliemann.  Lpzg.  1882.  p.  46  sv. 


V.  Reber:  Zur  Kenntniss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  115 

der  beschriebenen  Ornament  -  Combination  vorauszusetzen 
zwingen.  Mit  einer  Sockelverzierung  wäre  nun  diese  Com- 
bination kaum  in  Einklang  zu  bringen,  um  so  leichter  aber 
bei  ihrer  unverkennbaren  Verwandtschaft  mit  dem  Trigly- 
phen-  und  Metopenschema  mit  einem  Friestypus.  Es  wird 
daher  unsere  Aufgabe  sein  zu  untersuchen,  in  welchem  Be- 
züge ein  solches  Friesornament  zu  den  constructiven  Ele- 
menten  des  Baues  stehen  könne. 

Wie  bereits  bemerkt  Avorden  ist,  konnten  die  Deckbalken 
den  naturgemässen  Wechsel  von  Balkenköpfen  und  offenen 
Zwischenräumen  nur  an  zwei  sich  gegenüberliegenden  Wänden, 
voraussetzlich  den  Längswändeu,  darbieten.  Es  ist  nun  nichts 
wahrscheinlicher,  als  dass  die  Erscheinung  dieser  Langseiten 
in  den  beiden  anderen  (Schluss-)  Wänden  ornamental  nach- 
klang, um  den  Deckenansatz  auch  hier  zu  markiren.  Und 
so  bildete, sich  ein  Fries,  bei  welchem  es  um  so  näher  lag, 
die  gleiche  Lage  und  Höhe  des  Deckbalkengliedes  festzu- 
halten, als  dem  Fries  die  naturgemässe  Aufgabe  zufiel,  den 
besprochenermasson  auf  der  Schlusswand  liegenden  äusser- 
sten  Deckbalken,  welcher  natürlich  nicht  die  Dicke  der  Wand 
haben  konnte,  nach  dem  Inneren  oder  Aeusseren  bis  zur 
Wandflucht  verstärkend  zu  ergänzen,  und  zugleich  solid  zu 
maskiren  und  zu  dekorireu.  Es  war  dabei  ganz  natürlich, 
dass  man  in  diesen  Fries  Reminiscenzen  der  Deckenlage  hi- 
neinspielen Hess,  d.  h.  vor  Allem  denselben  in  einer  Weise 
gliederte,  welche  dem  Deckbalkenauflager  an  den  beiden 
anderen  Wänden  entsprach. 

Indem  man  also  in  gewissen  regelmässig  wiederkehren- 
den Abständen,  welche  den  Weiten  der  beschriebenen  Luft- 
öffnungen angeglichen  waren,  triglyphenartig  vorspringende 
Stücke  anordnete,  zwischen  denselben  aber  zurücktretende 
oblonge  Felder  Hess,  so  war  schon  ein  Theil  der  Absicht  er- 
reicht. Es  konnte  aber  der  Eindruck  der  Verwandtschaft 
und    der    symbolisirenden    Fortsetzung    des    gegebenen  Con- 


116  Sitzung  der  hiator.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

structionsschema's  noch  erhöht  werden,  wenn  den  triglyphen- 
artit^en  Stücken  auch  noch  eine  Ausstattung  zu  Theil  wurde, 
welche  mit  jener  der  Balkenenden  selbst  einige  Äehnlichkeit 
hatte.  Freilich  konnte  dabei  nur  die  äussere  Erscheinung 
jener  Balkenköpfe,  die  wir  als  nothwendig  geschützt  und 
verziert  erklärt  haben,  in  Betracht  kommen,  und  es  ist  dem- 
nach der  Fries  in  erster  Reihe  für  das  Aeussere  berechnet 
und  concipirt.  Das  hinderte  aber  nicht,  das  einmal  erfundene 
Schema  auch  innen  zu  verwenden,  wobei  keineswegs  an  einen 
festen  bis  in's  Einzelne  unveränderlichen  Typus  gedacht 
werden  muss.  Die  drei  erhaltenen  Friesfragmente  weisen 
vielmehr  gerade  an  der  Dekoration  der  triglyphenartigen 
Stücke  Varianten  auf,  die  immerhin  nennenswerth  sind,  wenn 
sie  auch  die  an  die  dorische  Triglyphe  gemahnenden  Haupt- 
motive nicht  alteriren.  Wir  dürfen  daher  auch  voraussetzen, 
dass  der  Schmuck  des  den  Schnittflächen  der  Deckbalken 
vorgehefteten  Schutzes,  nach  den  Grundformen  offenbar  aus 
einem  Leistenwerk  bestehend,  keineswegs  unwandelbar  fest- 
stand, sondern  dass  vielmehr  der  Dekorateur  auch  in  der 
Ausstattung  des  Constructionsgliedes  innerhalb  der  gegebenen 
Hau])tmotive  sich  noch  ziemlich  frei  bewegt  haben  mochte. 
Schwieriger  ist  die  Erklärung  der  Palniettendekoration 
an  den  zwischen  den  Triglyphen  befindlichen  metopenartigen 
Bildungen.  Da  diese  Palmetten  fast  völlig  gleich  an  den 
drei  erhaltenen  Friesstücken  wiederkehren,  so  ist  auch  hiefür 
eine  gewisse  typische  Bedeutung  vorauszusetzen.  Wie  es 
sich  aber  mit  deren  Vorbildern  an  jenen  beiden  Seiten  ver- 
hält, an  welchen  zwischen  den  Deckbalken  die  offenen  Zwi- 
schenräume sich  befanden,  ist  deshalb  schwer  zu  sagen,  weil 
ja  an  den  offenen  Metopen  überhaupt  kein  Ornament  mög- 
lich war.  Es  bleibt  iudess  denkbar,  dass  ein  Theil  dieser 
als  Fenster  dienenden  Oeffnungen,  von  welchen  möglicher- 
weise eine  reducirte  Anzahl  für  die  Zwecke  des  Licht-  und 
Luftzuganges  wie  des  Kauchabzuges  genügend  erschien,  zeit- 


c.Eeber:   Zur  Kennt niss  des  Baustiles  der  heroischen  Epoche.  117 

weise  oder  immer  geschlossen  war.  Dabei  kann  es  füglich 
dahingestellt  bleiben ,  ob  diese  Verschliessungen  beweglich, 
und  zwar  in  der  Form  von  Schubern  oder  von  Flügeln  in 
der  Art  der  Fensterläden  hergestellt  waren,  oder  ob  sie  un- 
beweglich als  feststehende  Tafeln  ähnlich  wie  die  Metopen- 
platten  eingefalzt  oder  sonst  eingepasst  waren.  Auf  alle 
Fälle  aber  bemächtigte  sich  der  farbige  Schmuck,  der  aussen 
an  den  Balkeuköpfen  unzweifelhaft,  innen  an  den  Balken 
wahrscheinlich  ist ,  sich  auch  dieser  Verschlüsse  und  ging 
daher  auch  in  das  Fenstersymbol  der  Friese  über.  Bei  fest- 
stehenden Füllungen  Avürden  allerdings  ganze  Rosetten  nament- 
lich dann  naturgemässer  erscheinen ,  wenn  die  Felder  sich 
nicht  zu  weit  vom  Quadrate  entfernen,  bei  flügelartigen  oder 
schuberartigen  Verschlüssen  dagegen  entsprechen  diese  halben 
Rosetten  in  Palmettenart  mehr;  übrigens  darf,  wie  der  gesammten 
Ornamentik  dieser  Periode  eine  gewisse  Willkür  nicht  abge- 
sprochen werden  kann,  so  auch  hier  ein  gewisser  Grad  der- 
selben mit  in  Ansatz  kommen. 

Die  Erscheinung  eines  Steinfrieses  kann  uns  aber  na- 
mentlich aussen  nicht  überraschen,  wo  er  sich  zu  dem  wohl 
gefärbten  Kalkputz  der  Wandflächen  nicht  unharmonisch  dar- 
stellen konnte,  möglicherweise  aber  sogar  mit  den  Haupt- 
farben der  Triglyphenbemalung  im  Einklang  stand.  Der 
Steinfries  hat  aber  auch  im  Innern  angesichts  der  sonstigen 
Holzbekleidung  nichts  Unannehmbares.  Im  Gegentheile  be- 
rührt die  Erwägung  nur  wohlthätig,  dass  dem  in  Stein  oder 
oder  verputztem  Mauerwerk  hergestellten  Sockel,  wie  er  sich 
im  Megaron  zu  Tiryns  als  unteres  Wandglied  darstellt,  oben 
ein  ähnlich  wirkender  aber  reich  dekorirter  Fries  entsprach, 
dessen  Contrast  mit  der  übrigen  Wandfläche  auch  dem  Dichter 
vorschwebte,  als  er  die  oben  citirte  Stelle  vom  Alkinoos- 
palaste  sang.  Auch  kann  es  nicht  befremden,  dass  gerade 
der  Kyanosfries  in  einem  Räume  angebracht  war ,  dessen 
Construction  und  einseitige  Ofi"enheit  die  geschilderte  Decken- 


118  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

construction  des  Hauptsaales  und  die  metopenartigen  Fenster- 
öfinungen  ausschloss.  Denn  in  dem  Architravbalken  über 
den  Antensäulen  der  Vorhalle  war  ein  ganz  ähnliches  Glied 
wie  in  den  Deckbalken  des  Saales  gegeben,  und  es  konnte 
ebenso  der  Balken  selbst  in  einer  dem  Kjanosfriese  ähnlichen 
Weise  bemalt  und  somit  gewissermassen  die  Fortsetzung  des 
Frieses,  welchen  wir  an  den  drei  Wänden  des  Vorhallen- 
inneren herumgeführt  denken  müssen,  gegeben  sein.  Auch 
die  durchaus  in  Holz  hergestellte  Thürwand  der  Vorhalle 
steht  der  Ringsumführung  des  Frieses  nicht  im  Wege,  da  ja 
der  Erbauer  wünschen  musste,  dieses  Material verhältniss  der 
Empfindung  des  Betrachters  eher  zu  entziehen  als  fühlbar 
zu  machen  ,  und  da  die  Polychromie  und  Metallverzierung 
der  Wandflächen  wie  der  Säulen  das  Fremdartige  des  Holzes 
dem  Alabasterfriese  gegenüber  mildern  mochte.  — 

Das  im  Saalbau  in  der  beschriebenen  Weise  angeordnete 
Deckenwerk  aber  denke  ich  mir  ohne  Verdielung,  und  somit 
das  Balkengerüst  von  Decke  und  Dach  in  der  Weise  der 
altchristlichen  Basiliken  völlig  offen.  Zu  dieser  Annahme 
zwingt  uns  ein  Vorgang  der  Odyssee ,  der  zugleich  die  An- 
nahme eines  Giebeldaches  überhaupt  im  Gegensatz  zur  ander- 
seits vorgeschlagenen  Horizontalbedachung  bestätigt.  Der 
Vorgang  wird  von  Homer  im  22.  Gesang  239  und  240, 
256,  273,  297  und  298  erzählt  und  bildet  die  Einleitung 
zu  dem  Freiermord  im  Megaron  zu  Ithaka,  Athene,  welche 
als  Mentor  dem  Odysseus  Muth  eingeflösst,  überlässt  nun  den 
Racheakt  dem  Odysseus  und  seinem  Sohne,  und  entweicht 
von  der  Seite  ihrer  Schützlinge,  „deren  Gewalt  und  Stärke 
sie  prüfen  will." 

avTTi  ö'ald^aXoEVTog  dva  (.leyaQOio  /ntlaO^QOv 

"Cer'  dvdt^aoa  yeXiduvi  elxe^rj  avvrjv. 
Jetzt  aufstürmend  im  Flug  an  die  russige  Decke  des  Saales, 
Setzte  sie    dort   sich    nieder ,    der    ruhenden    Schwalbe    ver- 
gleichbar. 


c.  lieber:  Zur  Kennt »isa  des  Baustilen  der  heroischen  EjMche.  119 

Von  dort  aus  beobachtete  sie  den  Verlauf  des  Kampfes, 
nicht  ohne  selbst  im  entsprechenden  Momente  einzugreifen. 
Denn  sie  vereitelte  es,  dass  die  Freierspeere  den  Odysseus 
trafen,  und  als  Odysseus  mit  den  Seinigen  bereits  zehn  Feinde 
getödtet, 

ÖTj  tot'  ^Ai)^i]vahi  (piyioii-ißQOTov  alyiö'  dveoyev 
vipod^sv  sB  OQOcpriq  •  twv  ös  (fgeveg  hiToi}]DEV. 

Da  schwang  Pallas  Athene  die  menschenvertilgende 

Ägis 
Hoch  vom  Gebälk,  und  zerschmetternd  ergriff  das 

Entsetzen  die  Freier. 

Wir  müssen  nothwendig  suchen,  wo  sich  Athene  setzen 
konnte,  um  von  der  Decke  aus  zu  beobachten  und  einzu- 
greifen, um  schliesslich  die  Aegis  zu  schütteln  und  das  Ent- 
setzen zu  verbreiten.  Eine  geschlossene  Decke  würde  jede 
Möglichkeit  des  Sitzens  absolut  ausschliessen.  Wenn  der 
Verfasser  früher  an  die  metopenartigen  Lichtöffnungen  der 
Decke  gedacht  ^),  so  giebt  er  jetzt  gerne  zu,  dass  der  Raum 
für  die  Göttin  zu  niedrig  wäre ,  und  dass  der  Dichter  sie 
nicht  gebückt  und  verkrümmt  oder  verzwergt  denken  und 
der  Vorstellung  überlassen  durfte,  wenn  er  sie  in  der  vollen 
Majestät  ihres  göttlichen  Einschreitens  darstellen  will.  Auch 
das  Dörpfeld'sche  Hyperoon  erscheint  als  ein  der  Scene  wenig 
entsprechender  Raum,  der  erstlich  keine  völlige  üebersicht  dar- 
bieten konnte ,  wenn  die  Göttin  in  einem  der  Fenster  des- 
selben sass,  der  zweitens  als  Rauchfang  weder  für  den  Auf- 
enthalt der  Göttin  geeignet,  noch  auch  für  die  Scene  würdig 
genug  war,  und  der  überdiess  vom  Dichter  selbst,  welcher 
von  der  Decke  spricht,  in  keiner  Weise  angedeutet  wird. 
Nur  wenn  die  Deckbalken  unverdielt  waren  und  allseitig 
bioslagen,    findet    die  Göttin    die  Möglichkeit,    aufrecht  und 


1)  Kunstgeschichte  des  Alterthums,  Leipzig  1871.  S.  173. 


120  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

ihrer  Würde  entsprechend  zu  sitzen  und  zu  verharren.  Kein 
Maler  würde  im  Stande  sein,  die  Gottheit  anders  als  in  dem 
offenen  Balkenwerk  schicklich  unterzubringen ,  und  nicht 
minder  richtig  und  würdig  musste  der  Dichter  sehen.  Eine 
einfachere  Lösung  der  Frage  aber,  wie  die  Lokalität  dem 
Dichter  vorschweben  mochte,  giebt  es  nicht. 

Die  gegebenen  Ausführungen  dürften  geeignet  sein,  die 
constructiven  und  stilistischen  Grundlagen  der  Architektur 
der  Heroenzeit  jenen  der  historischen  Zeit  Griechenlands 
mehr  zu  nähern,  als  diess  bei  der  Dörpfeld'schen  Hypothese 
der  Fall  ist.  Und  wer  könnte  bezweifeln,  dass  diess  ein 
Vorzug  unserer  Annahme  sei.  Denn  wie  wenig  es  auch 
sein  mag,  was  die  Formensprache  der  Heroenzeit  mit  jener 
der  dorischen  Epoche  Gemeinsames  hat,  so  kann  doch  einiger 
traditionelle  Zusammenhang  nicht  geleugnet  werden.  Zwischen 
der  Bauweise  der  homerischen  Epoche  und  der  bekannten 
der  historischen  Zeit  liegen  nur  ein  paar  Jahrhunderte;  der 
Schauplatz  ist  derselbe  geblieben  und  trotz  der  Wanderungen 
auch  der  grösste  Theil  des  Volkes. 

Wenn  man  demnach  die  Wahl  hat  zwischen  zwei  Mög- 
lichkeiten, so  wird  derjenigen  der  Vorzug  zu  geben  sein,  welche 
der  Entwicklung  der  Folgezeit  näher  steht.  Gewiss  waren 
auch  in  historischer  Zeit  in  Griechenland  die  meisten  Dächer 
flach  und  nur  jene  der  hervorragenderen  Gebäude,  vorab 
der  Tempel  giebelförmig.  Wir  haben  keinen  Grund,  es  ab- 
zulehnen, dass  es  auch  schon  in  ältester  Zeit  so  war,  nament- 
lich als  einmal  die  Raumerstreckungen  über  die  corridor- 
artigen  der  mesopotanischen  Palastbauten  oder  über  die  eng- 
brüstigen des  Megaron  von  Troia  hinaus  zu  jenen  gediehen 
waren,  wie  sie  im  Megaron  von  Tiryns  und  Mykenä  vor- 
liegen. Auch  wird  nicht  zu  erweisen  sein,  dass  das  Giebel- 
dach dorische  Erfindung  sei. 

Ich  betrachte  die  gesammte  Cultur  der  homerischen  Zeit 
in  ihren  Grundlagen  doch  ebenso  als  eine  wesentlich  hellen- 


r.  Reber:  Zur  Kennttiiss  des  Baustiles  der  heroischen  Eyoche.   121 

ische,  wie  das  homerische  Gedicht.  Gewiss  spielen  zahlreiche 
und  gewichtige  auswärtige  Einflüsse  älterer  Culturgebiete 
dabei  eine  Kolle:  ara  wenigsten  wohl  jene  des  Nillandes, 
mehr  die  phönikischen,  am  meisten  die  kleinasiatischen.  Aber 
es  wird  nicht  zu  behaupten  sein,  dass  irgend  einer  derselben 
das  üreinheimische,  das  wir  das  Pelasgische  nennen  wollen, 
überwog.  Vom  Aegyptischen  ist  das  auch  nie  behauptet 
worden.  Dagegen  hatte  die  Neigung,  dem  Phönikischen  eine 
solche  Stellung  zuzuschreiben,  mehr  Grund,  da  sowohl  die 
homerischen  Erwähnungen,  als  die  Funde  die  Annahme  starker 
Einflüsse  von  dieser  Seite  unzweifelhaft  machen.  Doch  er- 
scheint es  vorläufig  als  ziemlich  sicher  gestellt,  dass  die 
homerische  Kunst  keine  überwiegend  phönikische  sei.-^)  Die 
kleinasiatischen  Elemente  aber  näher  zu  präcisiren,  wie  neu- 
estens  wiederholt  versucht  worden  ist,  dürfte  noch  verfrüht 
sein.  Selbstverständlich  kann  dabei  weder  auf  die  Abstam- 
mung des  Perseus,  des  ersten  Gründers  Mykenä's,  von  den 
Inseln,  oder  auf  die  des  Pelops.  des  Ahnherrn  der  zweiten 
Dynastie  von  Mykenä,  aus  Lydien  ein  besonderes  Gewicht 
gelegt  werden,  wenn  man  auch  vielleicht  die  Objecte  der 
Schachtgräber  von  Mykenä  als  der  Zeit  der  Perseiden  zu- 
gehörig, jene  der  erhaltenen  Bauten  und  Palastfunde  aber 
der  Zeit  der  Pelopiden  zuzuschreiben  einigen  Grund  haben 
dürfte.  So  sind  auch  die  Nachrichten  über  die  speziell 
karische  Cultur  zu  unbestimmt,  um  die  Theorie,  dass  wir  in 
den  Funden  eine  wesentlich  karische  Grundlage  zu  erkennen 
haben^),  über  das  Bereich  der  blossen  Möglichkeit  zu  erheben. 
Denn  wenn    dabei    auch    geltend   gemacht    wird,    dass   nach 


1)  Enmann.  Kypros  und  der  ürspninw  des  Aphroditenkultes 
(Mem.  de  l'Acade'mie  Iiup.  de  St.  Petersbourg.  1886.) 

2)  N.  Köhler,  üeber  Zeit  und  Ursprung  der  Grabanliigen  in 
Mykenä  und  Spata  (Mittheilungen  des  kais.  deutschen  archäologischen 
Instituts  zu  Athen.  1878).  F.  Dümmler  und  F.  Studnicza,  Zur  Her- 
kunft der  mykenischen  Kultur.  (Mitth.  1887). 


122  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  5.  Mai  1888. 

Strabo  VIII  p.  374  und  Pausanias  I.  39.  40  die  Städte  Her- 
mione,  Epidauros  und  Megara  karische  Gründungen  waren, 
und  dass  nach  Thukidides  I.  8  die  karischen  Gräber  auf 
Delos  sich  durch  die  niitbeerdigten  Waffenrüstungen  unter- 
schieden, so  reichen  doch  weder  die  Oertlichkeiten  jener 
karischen  Ansiedhingen  noch  die  reichlichen  Watfenfunde  in 
den  Schachtgräbern  von  Mykenä  aus,  den  angegebenen  Schluss 
auf  die  karische  Cultur  Mykenä's  und  Tiryns'  zu  ziehen. 

Sucht  man  aber  die  Wurzel  der  heroischen  Kunst  auf 
Kreta^)  so  hat  das  insoferne  viel  für  sich  als  die  Vorstellung 
von  einem  uralten  Culturcentrum  auf  dieser  Insel  allerdings 
im  Bewusstsein  des  Alterthums  lag  und  in  Minos  ihre  be- 
kannte Verkörperung  fand.  Allein  wesentlich  weiter  kommen 
wir  auch  damit  kaum,  da  gerade  das  Wesen  der  Cultur 
Kreta's  in  jener  Mischung  lag,  welche  die  durch  die  dortige 
Oertlichkeit  sehr  begünstigten  phönikischen  und  phrygischen 
mithin  kleinasiatischen  Elemente  mit  der  urgriechischen 
(arischen)  Stammcultur  verband.  Wir  kommen  somit  zu  der- 
selben Mischung,  wie  sie  in  der  Argolis  vorliegt,  sind  aber 
durch  die  dürftigen  Fundnotizen,  welche  von  dem  noch  viel- 
zuwenig  durchforschten  Kreta  vorliegen,  vorläufig  noch  nicht 
in  den  Stand  gesetzt,  die  Identität  der  Oulturleistungen  in 
Kreta  und  Argos,  somit  die  Stellung  Kreta's  als  Ausgangs- 
punkt der  heroischen  Kunst  zu  belegen.  — 


1)  A.  Milchhöfer,    Die  Anfän<?e  der   Kunst   in   Griechenland. 
Leipzig  1883. 


123 


Philosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  2.  Juni  1888. 

Der  Classensecretär  Herr  v.  Prantl  hielt  einen  Vortrag: 

,Ueber  die  Literatur    der  Logik    im   16.   und 
17.  Jahrhunderte." 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  2.  Juni  1888. 

Herr  v.   Rockinger  hielt  einen   Vortrag: 

„Ueber  die  Benützung  des  sogenannten  ßra- 
chylogus  juris  romani  im  Landrechte  des 
Deutscheuspiegels?  und  des  sogenannten 
Schwabenspiegels. " 

Von  der  Benützung  des  ältesten  Auszuges  der  Lex  ro- 
mana  Visigothorum,  nach  der  Ausgabe  des  Petrus  Aegidius 
vom  Jalire  1517  in  Kürze  als  Summa  oder  Epitome  Aegi- 
diana  bezeichnet,  im  dritten  Theile  des  kaiserlichen  Land- 
rechts, das  ist  nach  dem  Art.  313  der  Ausgabe  des  Freiherrn 
V.  Lassberg  bis  an  den  Schluss,  hat  der  Vortrag  vom  I.März 


124  Sitzung  der  Imtor.  Classe  com  2.  Juni  1888. 

1884  gehandelt,  der  in  den  Sitzungsberichten  unserer  Classe 
aus  jenem  Jahre  S.  179—201  mitgetheilt  ist. 

Stellt  sich  dieser  dritte  Theil,  wie  am  berührten  Orte 
S.  205/206  bemerkt  worden,  im  grossen  Ganzen  als  nichts 
denn  eine  vorläufige  Stoffsammlung  dar,  welche  erst  dem 
Bedürfnisse  entsprechend  zu  sichten  und  in  geeigneter  Weise 
für  die  Schlussfassung  des  Gesammtwerkes  zu  verarbeiten 
war,  wozu  der  Verfasser  nicht  mehr  gelangt  ist,  so  verhält 
sich  das  beim  ersten  und  zweiten  Theile  anders.  Der  erste 
liegt  mehr  oder  minder  schon  im  unmittelbaren  Vorläufer  des 
sogen.  Schwabenspiegels,  dem  Spiegel  aller  deutschen  Leute, 
vor.  Der  zweite  ist  aus  dessen  oberdeutscher  oder  mittel- 
deutscher Uebertragung  des  Sachsenspiegels  von  Buch  II 
Art.  12  §  13  an  hergestellt. 

§  1. 

In  diesem  ersten  und  zweiten  Theile  nun,  insbe- 
sondere im  ersten,  begegnet  uns  auch  römisches  Recht,  aber 
nicht  wieder  aus  einer  der  Leges  romanae  der  von  den  ger- 
manischen Königen  unterjochten  Reiche,  sondern  justinia- 
nisches oder  wenigstens  hiefür  geltendes,  ohne  dass 
es  freilich  überall  gleichmässig  entschieden  sichtbar  her- 
vortritt. 

Kaiser  Justini  an  wird  in  der  umfangreichen  geschicht- 
lichen Einleitung  des  Rechtsbuches  wie  in  diesem  selbst 
mehrfach  erwähnt.  Heisst  es  in  der  erstereu  nur  im  Vorüber- 
gehen bald  nach  dem  Eingange  des  Buches  der  Könige  der 
neuen  Ehe  in  Massmann's  Ausgabe  im  ersten  Bande  des 
Land-  und  Lehenrechtsbuches  von  Dr.  v.  Daniels  Sp.  123 
Z.  10/11,  dass  er  „der  lantrehte  vil  gemachet"  habe,  so  wird 
in  dem  Abschnitte  über  ihn  selbst  Sp.  151  und  152  genauer 
bemerkt:  Der  was  ein  wise  man  der  buoche.  Er  niuwete 
alliu  diu  lantreht  diu  vor  ime  gemachet  waren.     Er  machte 


V.  Eockinger:   lieber  die  Benützung  des  Brachylogus.         125 

von  lantrehte  ein  buoch,  daz  heizet  Instituta,  daz  sprichet: 
der  keisere  gesetze.  Da  vindet  man  innen  geistlichin  lantreht 
unde  werltlichiu.  Siner  lantrehte  —  wird  dann  hieran  ge- 
knüpft —  ist  vil  in  diseme  buoche,  diu  ander  künege  nie 
gewandelten;  diu  hänt  sie  gebezzert  und  ouch  me  gemachet. 
Im  Landrechte  des  sogen.  Schwabenspiegels  selbst  ist  er  unter 
den  Kaisern  und  Königen,  die  als  besonders  nennenswerthe 
Gesetzgeber!)  im  Art.  3  (=  Art.  L  Ib,  Art.  W  4)  aufgezählt 
sind,  namentlich  berührt.  Seiner  geschieht  auch  im  Art.  L  15 
in  der  Zusanmienstellung  der  Enterbungsgründe  ausdrück- 
liche Erwähnung,  und  zwar  zweimal,  beim  vierten  wie  beim 
achten, 

Ist  er,  wie  erwähnt,  unter  den  Kaisern  und  Königen 
aufgeführt,  deren  Gesetzgebung  besonders  beachtenswerth 
erscheint,  so  mag  man  auch  l)ei  der  Stelle  in  dem  be- 
rührten Art.  L  Ib  „also  stet  ouch  an  disem  buche  keiner- 
slahte  lantreht  noch  lehenreht  noch  keinerslahte  urteil  wan 
als  ez  von  dirre  getriwen  keiser  geböte  unde  von  römischer 
phahte  genoraen  ist"  ohne  grosses  Zaudern  an  das  römische 
Recht  und  wohl  gerade  an  das  justinianische  denken.  Die 
Phaht  kurzweg  begegnet  an  zahlreichen  Stellen  der  geschicht- 
lichen Einleitung*)  als  das  gemeine  von  den  Kaisern  und 
Königen  gegebene  Recht.  Als  eben  dem  römischen  Kaiser- 
reiche entsprossen,  wird  sie  fortan  als  eine  wesentliche  Grund- 
lage der  Gesetzgebung  auch  nach  dem  Uebergange  der 
Weltherrschaft  von  dort  an  das  Frankenreich  beziehungsweise 
Deutschland  betrachtet.  In  Sp.  197  Z.  15/16  ist  ohne  weiteres 
geäussert :  Wä  man  die  Phaht  nennet,  daz  sint  diu  lantreht- 


1)  Vgl.  den  ersten  Bericht  ^über  die  Untersuchung  von  Hand- 
schriften des  sogen.  Schwabenspiegels"  in  den  Sitzungsberichten  der 
philosophisch-historischen  Classe  der  Wiener  Akademie  der  Wissen- 
schaften LXXIII  S.  452  und  453. 

2)  Rockinge r,  der  Könige  Buch  und  der  sogen.  Schwaben- 
spiegel, in  den  Abhandlungen  unserer  Classe  XVII  Abth.  1  S.  78— 83. 


120  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

buoch.  Ihr  Geltungsgebiet  ist  deutlich  genug  unmittelbar 
nach  der  vorhin  erwähnten  Stelle  des  Art.  L  Ib  bezeichnet: 
Unde  ouch  elliu  reht  diu  an  disem  buche  stent  diu  habent 
die  keiser  unde  die  kunge  also  gesezzet,  daz  si  über  elliu 
laut  reht  unde  gewa3r  suln  sin,  wan  swer  et  römisch  keiser 
und  kunc  ist,  dem  sint  ouch  von  rehte  elliu  laut  undertän 
diu  cristenlichen  gelouben  hänt.  Unde  swaz  ouch  die  rom- 
ischen keiser  unde  kunge  lantreht  unde  lehenreht  gesezzet 
unde  geboten  habent,  diu  suln  ouch  von  rehte  gemeine  und 
gewonlich  sin  in  allen  den  landen  diu  under  in  sint.  Blicken  wir 
nochmal  auf  jene  Stelle,  so  wird  es  kaum  einem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  bei  der  da  namentlich  als  „römisch"  bezeichneten 
Phaht  gerade  auf  das  justinianische  Recht  angespielt  ist. 

Was  nun  die  römischrechtlichen  Bestimmungen 
im  ersten  und  zweiten  Theile  unseres  Landrechts  betrifft, 
sprach  sich  Merkel  in  seiner  bekannten  Untersuchung  de 
republica  Alamannorum  §  XVI  Note  12  S.  95  dahin  aus, 
dass  der  Verfasser  aliquot  addidit  de  fidejussoribus  Lassb.  6 ; 
de  testibus  repellendis  L.  13;  de  exheredatione  L.  15;  de 
vigore  consuetudinis  L.  44 ;  de  minoribus  eorumque  tutoribus 
et  curatoribus  L.  51,  52,  59,  GO,  62  —  66;  de  usucapione 
L.  56—58;  de  libertis  ac  servis  L.  68,  70b,  71  — 73a;  de 
rebus  sanctis  L,  168  b,  169;  de  homicidio  culposo  L.  182,  183. 
Viel  drastischer  ging  Zöpfl  in  der  neuesten  Ausgabe  seiner 
deutschen  Rechtsgeschichte  I  §  27  Note  13  S.  116/117  zu 
Werke,  woselbst  sich  eine  lange  Liste  von  Bestimmungen 
aus  dem  römischen  Rechte  findet,  ohne  dass  freilich  einmal 
alle  als  zweifellos  gelten  dürften,  während  anderntheils  diese 
und  jene  jedenfalls  nicht  auf  Rechnung  des  Verfassers  des 
sogen.  Schvvabenspiegels  zu  bringen  sind,  indem  sie  sich 
bereits  im  Sachsenspiegel  und  Deutschenspiegel  finden,  er 
sie  also  nur  von  da  herübergenommen  hat^).    Sie  sollen  nun 


1)  Das  ist   beispielsweise   der  Fall    bei   den  folgenden  Artikeln 


('.  Bocliinger:   Uehcr  die  Benützung  des  Brachylogus.       127 

nach  §  32  unter  Lit.  E  nicht  weniger  als  „mindestens  den 
fünften  Theil  des  ganzen  sogen.  Schwabenspiegels "  bilden! 
Fassen  wir  überhaupt  eben  die  r  ö  m  i  s  c  h  r  e  c  h  1 1  i  c  h  en 
Bestimmungen  im  ersten  und  zweiten  Theile  in's  Auge, 
so  treten  sie  als  solche  theil  weise  äusserlich  nicht  in  bestimmter 
Weise  hervor.  Daneben  stossen  wir  auf  Stellen,  in  denen 
allerdings  schon  äusserlich  die  Benützung  des  römischen 
Rechts  bemerkbar  wird,  aber  es  doch  jedenfalls  zweifelhaft 
bleibt,  ob  sie  auf  unmittelbare  Verwerthung  der  justinian- 
ischen Quellen  ausser  den  Institutionen  zu  deuten  ist  oder 
anderswoher  stammen  mag.  Endlich  fehlt  es  nicht  an  Stellen, 
bei  denen  an  Benützung  wenigstens  der  justinianischen  Werke 
nicht  gedacht  werden  kann. 

§  2. 

Die  Fälle,  in  welchen  das  römische  Recht  sich  äusser- 
lich nicht  besonders  bemerkbar  macht,  haben  für 
unsere  nächste  Frage  keine  Bedeutung,  da  es  bei  dem  um- 
stände, dass  sich  einmal  keine  unbestritten  greifbare  deutsche 
Wiedergabe  dieser  und  jener  Stellen  zeigt  und   anderntheils 


der  mehrfach  durch  störende  Zahlenversehen  entstellten  Liste,  welchen 
zum  Zwecke  etwaiger  Yergleichung  die  entsprechenden  Artikel  des 
Deutschenspiegels  gleich  beigefügt  sein  mögen : 

Art.  6  (und  der  nicht  besonders  aufgeführte  Art.  7)  =  Dsp.  11 ; 
13  =  17;  14  =  18;  15  =  theilweise  19;  27  =  29  b;  35  =  35;  38 
=  38;  40  =  theilweise  40;  42  =  theilweise  42;  47  =  45 ;  51  =  48 
am  Schlüsse;  52  =  49;  54  =  49;  55  =  50;  56  =  51 ;  57  =  52 
und  53;  59—66  =  55— 59  a;  68  =  60  und  61;  72  =  64;  76  I  am 
Schlüsse  =  352  am  Schlüsse;  89  =  80a;  178  (wie  wohl  anstatt  157 
gelesen  werden  muss)  =  118;  186  =  theilweise  119;  197b  (wie  wahr- 
scheinlich anstatt  197  §  1  zu  lesen  ist)  =  138;  204  =  theilweise  151; 
209  =  156;  211  =  158;  221  =  175;  222  am  Ende  (und  223)  =  176; 
243  und  244  =  180  und  179;  245  =  181;  247  =  theilweise  186; 
258  (wie  anstatt  158  zu  lesen  sein  wird)  =  204  und  205;  279  =  230; 
287  =  241;  306  (wie  es  wohl  anstatt  36  heissen  soll)  =  275. 


128  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888- 

Verweisungen  auf  solche  nicht  angebracht  sind,  eben  an 
Kennzeichen  für  die  Bestimmung  gebricht,  ob  sie  ohne 
weiteres  der  justinianischen  Gesetzgebung  entnommen  sind, 
oder  ob  der  Verfasser  seine  Kenntniss  davon  aus  anderen 
in  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  vorhandenen  Schriften 
über  das  römische  Recht  geschöpft  hat,  oder  auch  sie  als 
bereits  mehr  oder  weniger  geltendes  Recht  betrachtet  haben 
mag. 

Wie  wenig  beispielsweise  hie  und  da  ein  scheinbar  auch 
noch  so  deutlich  hervortretender  Anklang  an  den  Wortlaut 
römischrechtlicher  Stellen  zu  vorschneller  Schkissfolgerung 
verführen  darf,  wird  gleich  beim  Art.  3  a  von  den  Verwandt- 
schaftsgraden ersichtlich.  Da  heisst  es  bei  Berührung  der 
Erbfolge:  So  der  mensch  ie  nseher  sippe  ist,  so  er  ie  baz 
erbet.  Das  erinnert  im  ersten  Augenblicke  ausserordentlich 
sowohl  an  die  Glosse  zu  den  Worten  „secundum  gradus  prae- 
rogativa  est"  des  sogen.  Brachylogus  juris  romani  ^)  II  Tit.  84 
§  2  am  Anfange:  ut  qui  proximior  sit  gradu,  potior  sit  et 
successione ;  als  auch  an  die  Worte  des  Textes  selbst  gegen 
den  Schluss  des  §  3 :  [ceteri  cognati  veuiant  secundum  sui 
ordinis  praerogativam,]  ut  qui  proximior  est  gradu,  potior  sit 
in  successione.  Und  doch  hat  unser  Rechtsbuch  —  ganz 
abgesehen  von  anderen  Gründen  —  nicht  daher  geschöpft. 
Der  Sachsenspiegel  lehrt  I  Art.  3  §  3  am  Schlüsse:  De 
sik  naer  to  der  sippe  gestuppen  mach,  de  nimt  dat  erve  to 
voren.  Und  wie  dann  der  Deutschenspiegel  im  Art.  G  gegen 
den  Schluss?  So  der  man  ie  naechner  sippe  ist,  so  er  ie 
schierr  erbet. 

Wenn  wir  dann  weiter  im  Art.  4  l)eim  Erbtheile  der 
Söhne  eines  noch  nicht  abgefundenen  Vaters  an  dem  Nach- 
lasse des  Grossvaters  lesen:    die  nement  geliehen  erbeteil  an 


1)  Im  folgenden  Verlaufe  ist  die  Ausgabe  von  Boeckin^  benützt: 
Corpus  Icgum  sive  Brachylogus  juris  civilis.     Berlin  1829.  8. 


V.  Bockinger:   Ueher  die  BeniUzunrj  des  Brachylogiis.         129 

irs  eldern  vater  stat  relite  neben  iren  vetern ;  si  nenient 
al)er  alle  niwen  eins  mannes  teil,  als  vil  als  ir  vater  an 
•^^ehorte ;  so  denkt  man  unwillkürlich  wieder  an  den  Brachy- 
logiis II  Tit.  34  §2:  [hereditate  non  in  stirpes  sed  in  capita 
dividenda,  ita  tarnen  ut]  tilii  defuncti  fratris  hujusmodi  por- 
tionem  accipiant  quam  pater  eorum  accepturus  fuisset,  si  eo 
tempore  viveret.^)  Der  Sachsenspiegel  hat  hier:  sine  sone 
nemet  dele  in  ires  eldervader  erve  gehke  irme  vedderu  in 
ires  vader  stat;  alle  nemet  se  aver  eues  mannes  deil.  Der 
Deutschenspiegel  sagt:  [vnd  stirbet  des  chindes  ene  dar  nach,] 
seines  sunes  sun  erbet  den  tail  den  sein  vater  seit  hän  ge- 
erbet. Daher  hat  denn  auch  der  sogen.  Schwabenspiegel 
seinen  Satz.  Allerdings  ist  vielleicht  angesichts  der  Ab- 
weichung, die  sich  doch  gegenüber  dem  Wortlaute  des  Deutschen - 
spiegeis  zeigt,  nicht  in  Abrede  zu  stellen,  'dass  die  berührte 
Fassung  eben  des  Brachylogus  hier  einen  gewissen  Einfluss 
geäussert  haben  mag. 

Aber  nicht  allein  hier  tritt  das  entgegen.  Auch  an 
verschiedenen  anderen  Orten  hat  er  überhaupt  seine  Bestim- 
mungen, welche  sich  auf  römisches  Recht  beziehen  oder  zu 
beziehen  scheinen,  nicht  aus  Schriften  über  dieses  erholt, 
sondern  er  fand  sie  bereits  eben  im  Deutschenspiegel  vor. 
So  fällt  beispielsweise  dahin  —  um  nur  auf  einiges  aus 
Merkel's  vorhin  S.  126  berührter  Aufzählung  hinzudeuten  — 
der  Art.  13  über  die  Untauglichkeit   zur  Zeugnissabgabe  = 


1)  Vgl.  auch  in  .Tulian'.s  Novellenauszug  die  Const.  109  §  1 :  sie 
tarnen,  ut  —  si  contigerit  unum  ex  descendentibus  personis  decedere 
—  liberi  ab  eo  relicti  locum  ipsius  obtineant,  et  tantum  capiant 
quantum  pater  ipsorum,  si  virus  esset,  accepturus  fuisset. 

Ebendort  §  3 :  Quod  si  decesserit  aliquis  fratre  vel  sorore  relicta, 
et  ex  alio  fratre  vel  ex  alia  sorore  jam  defuncto  vel  defuncta  liberis 
relictis,  cum  avunculis  suis  vel  patruis  liberi  fratris  vel  sororis  venient, 
et  tantam  capiant  portionem  quantam  pater  eorum  vel  mater  acce- 
pisset,  si  vivus  vel  viva  fuisset. 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Ol.  II.  1 .  9 


130  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Dsp.  17.  Oder  die  Art.  51  und  52  von  den  Jahren  der 
Mündigkeit  =  Dsp.  48  und  49.  Oder  die  Art.  56  —  58  = 
Dsp.  51  —  54.  Oder  die  Art.  59  und  60  von  der  Vormund- 
schaft =  Dsp.  55.  Oder  die  Art.  62  —  66  wieder  hierüber 
=  Dsp.  56  — 59a.  Oder  der  Art.  70b  von  der  Freiheit  = 
Dsp.  62.  Oder  die  Art.  71  -  73  a  gleichfalls  von  Verhält- 
nissen der  Freiheit  und  Leibeigenschaft  =  Dsp.  63  —  65. 

Hievon  abgesehen  könnte  etwa  der  Art.  182  auf  §  4 
Inst,  de  lege  Aquilia  (IV  3)  zurückgehen,  der  Art  183  auf 
den  §  5  daselbst  oder  auch  auf  den  Brachyl.  III  Tit.  22  §  5. 
Aber  man  darf  wohl  mit  besserem  Keclite  hier  BenützAuig 
des  Abschnittes  de  homicidio  im  zweiten  Buche  der  bekannten 
Summa  de  poenitentia  des  Raimund  von  Peniafort^)  ver- 
mutben,  um  so  mehr  wenn  man  auch  sogleich  die  folgenden 
Art,  184  und  185  in's  Auge  fasst,  welche  gleichfalls  noch 
vom  Todschlage  handeln,  und  zwar  hauptsächlich  von  der 
fahrlässigen  Tödtung,  nämlich  184  wenn  durch  unvorsichtiges 
Abladen  eines  Wagens  einer  um's  Leben  kommt,  Art.  185 
von  Vorkommnissen  bei  Bestrafung  von  Lehrkindern, 

Lohnt  es  sich  kaum,  hier  weiter  zu  fahren,  so  drängt 
sich  da  und  dort  unwillkürlich  auch  der  (Jedanke  auf,  als 
ob  die  Ordnung  namentlich  in  den  Institutionen  wenigstens 
den  Grund  zu  dieser  und  jener  lieihe  von  Artikeln  unseres 
Hechtsbuches  gegeben  haben  könne,  wie  beispielsweise  bei 
den  Art.  222  —  242  beziehungsweise  243. 

Betrachtet  man  vorerst  die  Art.  222  —  232 ,  so  stellt 
sich  —  unbeschadet  aller  Freiheit  in  der  Behandlung,  welche 
sich  der  Verfasser  wie  sonst  so  auch  hier  gewahrt  hat  — 
beim  Vergleiche  des  Sachsenspiegels,  des  Deutschenspiegels, 
des  kaiserlichen  Landrechts,  des  Titels  der  Inst,  de  obligatio- 
nibus  quae  ex  delicto  nascuntur  (IV  1)  und  des  Titels  de 
furtis  im  Brachyl,  III  20  folgendes  heraus: 

1)  Vgl.  die  Untersuchung  hierüber  in  den  Abhandlungen  unserer 
Glasse  XIII  Abth,  3  S.  248/249 


V.  Rockinffer:   Ueher  die  Benützun(j  des  Brachyloyus.         131 
Ssp.  Dsp.       sog.  Schwsp.  Inst.  Brachyl. 


(III  20  §  4) 


(II  GO  5;  1.2)      (176)  222  \  ,jy  j  .  g. 

—  —  223  / 

—  —  224  —  — 

—  -  225  IV  1  §  3  III  20  §  2.  3 

—  —  226  IV  1  §  8  III  20  §  4 

—  —  227a  IV  1  §  9  III  20  §  5 

—  —  227b  IV  1  §  11  III  20  §  8 

—  —  228  IV  1  §  15  — 

—  —  229  IV   1  §  14  — 

—  —  230  IV  1  §  6  (III  5  am  Schlus.se) 

—  -  231  I\'  1  §  10  III  20  §  7 

—  —  232  IV  1  §  12  — 

Wir  haben  es  hier  mit  zwei  besonderen  Gruppen  7a\  thun, 
die  nur  theilweise  zusammenhängend  entgegentreten,  einmal 
mit  dem  Anvertrauen  beweglichen  Gutes  und  der  Frage 
nach  der  hiebei  erforderlichen  Sorgfalt  des  Empfängers  für 
den  Fall  des  Verlustes  oder  der  Beschädigung,  Art.  222 — 224 
und  228  —  230,  dann  mit  dem  Diebstahle,  Art.  225  — 227  a 
und  b,  231,  232.  Es  sind  nämlich  die  Fälle  der  Leihe  von 
Pferden  oder  von  Arbeitsvieh,  sei  es  umsonst,  sei  es  gegen 
Entgelt,  als  ein  Ganzes  in  den  Art.  222 — 224  in  Anknüpfung 
an  (Ssp.  in  Art.  60  §  1  und  2,  beziehung.sweise)  den  Art.  176 
des  Deutscheuspiegels  unter  der  ausdrücklichen  Bemerkung 
,von  lehen  welle  wir  reden"  an  die  Spitze  gestellt  worden, 
während  das  übrige,  was  sich  noch  auf  Leihen  wie  Deponiren 
u.  s.  w.  bezieht  und  ni  bekannten  Schriften  über  das  römische 
Hecht  in  dem  Abschnitte  vom  Furtum  behandelt  wird,  nämlich 
die  Art.  228 — 230,  nicht  mehr  eigens  aus  diesem  Abschnitte 
ausjreschieden.  sondern  zwischen  den  Art.  225 — 232  belassen 
worden  ist.  Wenn  nichts  anderes  in  Mitte  liegt,  hat  es  nach 
der  obigen  Zusammen-stellung  den  Anschein,  dass  der  Ver- 
fasser unseres  Rechtsbuches  —  abgesehen  von  allenfallsiger 
Berücksichtigung  des  Titels  quibus  modis  re  contrahitur  ob- 
ligatio der  Inst.  (III   14)  beziehungsweise  der  Titel  von  den 

9* 


1  32  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Nominatrealcontrakteii  im  dritten  Buche  des  Brachyl.  5  de 
commodato,  6  de  deposito,  7  de  pignoribus  —  zunäclist  aus 
dem  Titel  de  obligationibus  quae  ex  delicto  iiascuntur  der 
Inst.  (IV  1)  beziehungsweise  aus  dem  Titel  20  de  furtis  im 
dritten  Buche  des  Brachyl.  seine  Arbeit  gefertigt  hat,  mög- 
licherweise ans  beiden  Werken,  vielleicht  auch  noch  mit 
Zuziehung  anderer  Schriften  über  diesen  (gegenständ,  wie 
etwa  der  schon  berührten  Summe  des  Raimund  von  Peniafort. 
Soweit  es  sich  um  die  Institutionen  und  den  Brachylogus 
handelt,  ergibt  sich  die  ganz  vorzugsweise  Verwerthung  der 
ersteren  daraus,  dass  der  Inhalt  von  §§  derselben  begegnet, 
welche  im  Brachylogus  nicht  zu  finden  sind,  wie  (IV  1)  12, 
14,  15  mit  dem  Beispiele  vom  Schneider,  welches  auch  im 
§  IG  wiederkehrt,  ausserdem  im  §  1  Inst,  de  locatioue  et 
conductione  (III  24)  und  im  §  13  Inst,  de  mandato  (III  26) 
berührt  ist,  im  Art.  228.  Auch  ist  es  wohl  wahrscheinlicher, 
dass  der  Art.  230  wieder  wie  sozusagen  alles  übrige  aus  dem 
§  6  am  angeführten  Orte  genommen  ist,  als  aus  dem  Brachy- 
logus, welcher  das  Beispiel  Avenu  einer  „argentum  sibi 
comraodatum  ad  coenam  peregre  tulerit"  nicht  im  Titel  20 
de  furtis  des  dritten  Buches  sondern  in  einem  ganz  anderen 
Titel  hat,  nämlich  am  Schlüsse  des  Titels  5  de  commodato 
im  dritten  Buche.  Ausserdem  schliesst  sich  der  Wortlaut 
zum  Theile  weit  enger  den  Institutionen  als  dem  Brachylogus 
an.  So  etwa  bei  der  Hilfeleistung  zum  Diebstahle  ^)  im 
Art.  227  b. 


1)  Swer  stein  wil,  unde  get  hinz  einen  man  unde  bitet  in  dfiz 
er  im  einer  leiter  lihe,  er  welle  in  ein  hüs  stigen  durch  stelns  willen; 
oder  der  einem  diebe  ein  tur  üf  tut  oder  ein  venster;  oder  ein  smit 
der  mit  wizzen  diepsluzzel  machet  da  er  mit  üf  sliuzzet,  oder  anderiu 
isen  diu  zer  diepheit  hörent;  oder  der  im  ander  helfe  tut  diu  disem 
gelich  ist. 

Üer  sogen.  Brachylogus  a.  a.  0.  spricht  nur  von  dem  qui  scalaa 
fenestris  ad  furtum  hiciendum  apposuit. 


V.  BocTtinger :  Ueher  die  Benützung  des  Brachylogus.         133 

An  die  Art.  222-232  reiht  sich  nun  in  den  Art.  233—235 
der  Raub  an,  so  dass  hier  die  gleiche  Reihenfolge  begegnet  wie 
in  den  Titeln  der  Inst,  de  obligationibiis  quae  ex  delicto 
nasciintur  (IV  1)  und  de  vi  bonorum  raptorum  (IV  2),  oder 
in  grösserer  Ausdehnung  in  den  Titeln  der  Digesten  vom 
Diebstahle  (XLVII  2—7)  und  im  Titel  vi  bonorum  raptorum 
et  de  turba  (XLVII  8),  wie  im  Brachyl.  III  20  de  furtis, 
III  21  de  rapina,  während  umgekehrt  Raimund  von  Penia- 
fort  im  zweiten  Buche  seiner  Summa  de  poenitentia  den 
Raub  dem   Diebstahle  vorangestellt  hat. 

War  beim  Art.  176  des  Deutschenspiegels  dessen  Faden 
bis  hieher  verlassen  worden,  so  knüpft  jetzt  wieder  an  seinen 
Art.  177  unser  Rechtsbuch  im  Art.  236  an,  ohne  aber  weiter- 
hin ihm  ohne  Unterbrechung  zu  folgen,  sondern  nur  um 
sofort  neuerdings  zu  einer  Vervollständigung  in  den  Art.  236 
bis  242  beziehungsweise  243  zu  schreiten.  Für  diese  mag 
wieder  vorzugsweise  die  Ordnung  in  den  Institutionen  den 
Grundgedanken  gegeben  haben,  die  §§  12  und  13,  15,  16 
Inst,  de  rerum  divisione  et  qualitate  (II  1),  welchen  auch 
die  Epitome  juris  civilis  in  dem  M.  c.  14  der  Universitäts- 
bibliothek in  Tübingen  ')  Fol.  89  (90)  und  90  (91)  meist 
wörtlich  getreu  gefolgt  ist.  Der  Art.  236  erinnert  mehr  an 
die  §§  12  und  13  der  Inst.  II  1  als  an  den  Brachyl.  II 
Tit.  3  §  1.  Der  Art.  240  von  den  Pfauen  und  Tauben  kann 
nach  §  15  Inst.  II  1  gebildet  sein.  Ebenso  der  Art.  242 
von  den  Gänsen,  Hühnern  u.  s.  w.  nach  §  16  daselbst.     Der 


In  den  Institutionen  a.  a.  0.  heisst  es:  Ope  consilio  ejus  quoque 
turtum  admitti  videtur  qui  scalas  forte  fenestris  supponit ;  aut  ipsas 
fenestras  vel  ostium  eifringit,  ut  alius  furtum  faceret;  quive  ferra- 
menta  ad  effringendum,  aut  scalas  ut  fenestris  supponerentur  commo- 
daverit.  sciens  cujus  gracia  commodaverit. 

1)  Vgl.  Fitting,  Glosse  zu  den  Exeptiones  Legum  Romanorum 
des  Petrus,  Note  12  S.  15/16  Zitf.  5. 

Im  folgenden  ist  Boecking's  Abdruck  hinter  dem  sogen.  Brachy- 
logus S.  252—280  benützt. 


134  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Art.  243  über  gezähmtes  Wild  könnte  auf  den  schon  erwähnten 
§  15  zurückzuführen  sein. 

Wenden  wir  nun  nochmals  den  Blick  auf  die  ganze 
Einschiebung  von  Art.  222  bis  hieher  zurück,  so  erscheint 
vielleicht  folgender  Umstand  bemerkenswerth,  der  nach  einer 
anderen  Seite  hin  ein  Eindringen  in  die  Werkstätte  des  Ver- 
fassers des  sogen.  Schwabenspiegels  gestattet.  Auch  noch  an 
einem  anderen  Orte  in  diesem  findet  sich  das,  was  in  den 
an  der  Spitze  berührten  Art.  222—224  besprochen  ist,  nur 
kürzer  gefasst  und  ohne  das  im  Art.  224  in  gleiche  Linie 
mit  den  Pferden  gestellte  Arbeitsvieh.  Schon  in  den  Art. 
204  und  205  des  Deutschenspiegels  ist,  ganz  entsprechend 
der  Stellung  im  Ssp.  III  Art.  5  §  3  —  5,  von  der  Leihe  u.  s.  w. 
gehandelt.  Hieran  ist  auch  in  unserem  Rechtsbuche,  wieder 
ganz  der  dortigen  Stellung  entsprechend,  im  Art.  258  a  und  b 
festgehalten: 

Ssp.  Dsp.         sog.  Schwsp.  Inst.  Brachyl. 

III  5  §  3.  4.  204  258a  (III  14  §  2.  3)        (III  5  §  2) 

III  5  §  5  205  258b  (IV  1     §  6.  7)        (III  5  §  4) 

(III  6  §  1)  (206)  (259) 

Laff  nun ,  wie  S.  124  bemerkt  worden  ist ,  im  ersten 
Theile  des  Deutschenspiegels  bereits  im  grossen  Ganzen  der 
erste  Theil  des  sogen.  Schwabenspiegels  vor,  und  hat  er 
denselben  theilweise  nur  durch  Erweiterung  einzelner  Artikel 
wie  15  von  den  Enterbungsgründen  vervollständigt,  theil- 
weise auch  neue  eingefügt,  wie  31,  43,  44,  69,  70a,  73b, 
87b,  so  war  beim  zweiten  Theile  des  Deutschenspiegels,  der 
bekanntlich  nicht  viel  mehr  als  Uebertragung  des  Sachsen- 
spiegels in  mittel-  oder  oberdeutsche  Sprache  ist,  eine  um- 
fassendere Arbeit  vorzunehmen.  Hiefür  sammelte  der  Ver- 
fasser aus  hervorragenden  Gesetzgebungen  Stoff.  So  beispiels- 
weise was  die  mosaische  betrifft  im  Art.  201  aus  dem 
Deuteronomium ,  für  das  Gebiet  des  kanonischen  Rechts 
verschiedenes    aus  der  weitverbreiteten  Summa  des  Raimund 


V.  Rockinger:   lieber  die  Benützung  des  Brachylogus.         135 

von  Peniafort,  wovon  seinerzeit  ^)  die  Rede  gewesen,  also  aus 
der  Arbeit  jenes  gelehrten  Dominikaners,  den  sich  Pabst 
Gregor  IX  zum  Compilator  seiner  Dekretalensammlung  aus- 
ersehen hatte.  Und  wie  für  den  nicht  mehr  zur  entsprechenden 
Sonderung  und  je  betreffenden  Einreihung  gelangten  dritten 
Theil  die  alten  deutschen  Volksrechte  der  Alaraannen  und 
der  Baiern  ausgezogen  worden^)  sind,  kam  dort  auch  der 
älteste  Auszug  der  Lex  romanaVisigothorum^)  zurVerwerthung, 
während  nicht  minder  wie  für  den  ersten  Theil  so  auch  für 
den  zweiten  auf  das  justinianisch-römische  oder  wenigstens 
hiefür  geltende  Recht  das  Auge  geworfen  worden  ist.  So 
gut  sich  nun  blos  einzelne  Artikel  da  und  dort  einfügen 
Hessen,  ebenso  gut  konnte  das  auch  gleich  für  eine  besondere 
Gruppe  von  solchen  der  Fall  sein.  So  haben  wir  denn  auch 
wirklich  zwischen  den  Art.  176  und  177  wie  177  und  178 
des  Deutschenspiegels  die  Art.  222—235  und  236—242  be- 
ziehungsweise 243  gefunden.  Auf  den  Inhalt  der  ersten 
Artikel  der  ersten  Gruppe  stossen  wir  aber,  wie  bemerkt 
worden  ist,  im  Art.  258  a  und  b  nochmals,  und  zwar  wie 
dort  wieder  genau  der  Stellung  im  (Sachsenspiegel  beziehungs- 
weise) Deutschenspiegel  entsprechend.  Für  ihn  ist  jetzt  aller- 
dings kein  Bedürfniss  mehr  abzusehen.  Möglicherweise  aber 
war  die  Ueberarbeitung  des  zweiten  Theiles  des  Deutschen- 
spiegels zunächst  in  einem  Zuge  ohne  die  Einstellung  grösserer 
Ärtikelreihen  wie  oben  von  222  an  erfolgt,  und  so  der  Art. 
258  in  der  da  entgegentretenden  Fassung  aufgenommen 
worden.  Als  nun  die  umfangreichere  Vervollständigung 
zwischen  den  Art.  176  und  177  des  Deutschenspiegels  vor- 
genommen wurde,  mag  leicht  an  den  Art.  258  als  nunmehr 


1)  In   den   Abhandlungen  unserer  Classe    XIII    Abth.  3   S.  230 
bis  253. 

2)  Vgl.  den  Bericht  über  die  Sitzung  unserer  Classe  vom  I.März 
1884  S.  204—206. 

3)  Ebendort  S.  184-204. 


136  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  Juni  1S88. 

überflüssig  nicht  mehr  gedacht  und  die  Streichung  desselben, 

die  nunmehr  am  Platze  gewesen  wäre,  übersehen  worden  sein. 

Doch  das   sei  hier    nicht   weiter    verfolgt,    sondern    wir 

wenden    uns    zur    nächsten  Frage    über  unseren  Gegenstand. 

§  3. 

Wichtiger  sind  die  Stellen,  in  welchen  äusserlich  schon 
die  Rücksichtnahme  auf  das  römische  Recht 
klar  hervortritt,  aber  freilich  noch  zweifelhaft  bleibt, 
ob  sie  unmittelbar  auf  die  justinianischen  Quellen 
zu  beziehen  sind,  oder  auf  anderen  Vorlagen  be- 
ruhen. 

Von  vorneherein  bleibt  hier  der  Art.  6  von  der  Bürg- 
schaft mit  der  Erwähnung  des  hier  als  Rechtslehrer  erschei- 
nenden Kaisers  Hadrian  „der  des  lantrehtes  vil  gemachet 
hat"  ausgeschlossen,  da  er  nur  aus  dem  Deutschenspiegel 
Art.  11  herübergenommen  ist. 

Dasselbe  gilt  vom  Art.  68  a  und  b  über  die  Folgen  der 
Freilassung  einer  schwangeren  unfreien  Mutter  oder  des 
während  die  Schwangerschaft  fallenden  Eintrittes  einer  freien 
Mutter  in  die  Hörigkeit  auf  den  Geburtsstand  des  Kindes 
unter  Bezugnahme  auf  „einen  meister  von  lantrehte"  Mar- 
cellus  beziehungsweise  Marcian  „der  half  den  kunigen  vil 
guter  lantrehte  machen"  aus  den  Art.  60  und  61  des  Deutschen- 
spiegels. 

Ebensowenig  kommt  der  Art.  70b  mit  der  Anspielung 
auf  die  römischen  Bezeichnungen  des  Ingenuus,  Libertinus, 
Liber  in  Betracht,  da  das  gleichfalls  bereits  im  Art.  62  des 
Deutschenspiegels  vorhanden  gewesen. 

Weiter  lässt  sich  die  Erzählung  von  dem  schamlosen 
Gebahren  der  adeligen  römischen  Dame  Calefurnia  oder 
Kaefurnia  oder  wie  sie  immer  genannt  sein  mag,  im  Art.  245 
hier  nicht  verwerthen  ,  da  sie  sich  schon  im  Sachsen- 
spiegel II  63  §  1  *)  und  daraus   —   wenn  auch  in  der  einzig 


1)  Dat  verlos  in  allen  Calefurnia. 


r.  Focl-inger:   Ueber  die  Benützung  des  Brachylogus.         137 

bekannten  Handschrift  verderbt^)  —  im  Art,  181  des  Deutschen- 
spiegels fand,  allerdings  ohne  die  nähere  Angabe,  dass  sie 
„ein  edeliu  Römerin"  gewesen.  Ob  an  L  1  §  5  Dig.  de 
postulando  (III  1)  gedacht  werden  darf,  ist  doch  mehr  als 
zweifelhaft. 

Auch  die  „Arre"  im  Art.  229  —  unde  gib  ich  einem 
man  ein  gut  ze  koufen,  und  git  er  mir  sin  arre  dran,  unde 
daz  gut  belibet  mir  in  miner  gewalt,  unde  wirt  ez  mir  ver- 
stoln,  der  schade  ist  sin  unde  niht  min,  unde  hau  et  ich 
sin  gehütet  als  ich  von  rehte  solte  —  führt  zu  keinem  be- 
sonderen Ergebnisse.  Ob  auf  pr.  Inst,  de  emtione  et  ven- 
ditione  (III  23)  angespielt  sein  mag  ? 

Am  ersten  lässt  sich  wohl  an  Benützung  der  justinian- 
ischen Quellen    beim  Art.   15   von  den  Euterbungsgründen  ^) 


1)  Daz  verloz  in  allen  alle  sogtane  sache. 

2)  Zur  Beurtheilung  im  einzelnen  mag  er  hier  als  Ganzes  seine 
Stelle  finden: 

§  1.  Ez  mac  ein  kint  sins  vater  vnde  siner  müter  erbe  vei'- 
wurken  mit  vierzehen  dingen. 

Der  ist  einez:  ob  der  vater  hat  ein  ewip  vnde  diu  de»  suns 
stiufmüter  ist.  unde  ob  der  sun  bi  der  lit  mit  wizzen,  oder  bi  einem 
ledigen  wibe  die  sin  vater  gehabt  hat,  so  hat  er  allez  daz  erbe  ver- 
wurket  des  er  wartend  ist.  daz  erziuge  wir  mit  Davide  in  der  kunge 
buche:  daz  Absalon  der  schone  bi  sins  vater  vriundinne  lac  suntlichen 
mit  wizzen,  da  mit  verworht  er  sins  vater  hulde  unde  sin  erbe  und 
halt  sin  leben. 

Daz  ander,  vnde  ist  daz  ein  sun  sinen  vater  vahet  vnde  in  in 
sliuzzet  wider  reht,  unde  stirbet  er  in  der  vancnusse,  der  sun  hat  sins 
vater  erbe  verlorn. 

Daz  dritte  ist,  ob  ein  sun  sinen  vater  geslagen  hat  an  daz  wange, 
oder  swä  er  in  gevärlichen  geslagen  hat. 

Daz  vierde.  ob  er  in  sere  unde  merklichen  gescholten  hat.  wan 
der  almsehtigot  selbe  sprichet:  ere  vater  unde  müter,  so  lengest  du 
din  leben  üf  der  erde,  wan  nu  der  mensch  sin  lanchleben  da  mit 
verwurket  daz  er  vater  unde  müter  niht  eret  unde  in  versmjehe  biutet, 
so  ist  ouch  daz  reht,  daz  er  sin  erbeteil  da  mit  verwurke.  wan  disiu 
reht  satzzte  der  keiser  Justinian. 


138  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

denken.    Der  Deutschenspiegel  kennt  ihrer  vier.    Das  kaiser- 
liche Landrecht  zählt  nicht  wenii^er  als  vierzehn  auf.    Eben 


Daz  fünfte  ist,  ob  ein  sun  sögetaniu  dinc  üf  den  vater  gesett 
hat  diu  dem  vater  an  den  lip  gent :  ez  si  danne  ein  sögetaniu  sache 
diu  wider  dem  lande  si  da  sun  und  vater  wonunge  inne  hsint,  oder 
wider  den  fursten  des  daz  lant  ist. 

Daz  sehste  ist,  ob  der  sun  ein  diep  ist,  oder  sust  ein  boswiht, 
oder  ob  er  wizzenlichen  mit  bösen  lüten  wont. 

Daz  sibende,  ob  der  vater  von  des  suns  sage  grözzen  schaden 
genomen  hat.  daz  ist  also  gesprochen,  ob  er  im  sinen  llp  oder  sin 
gut  verraten  hat. 

Daz  ahtod  ist,  ob  der  sun  den  vater  an  sinem  geschsefte  geirret 
hat.  also,  swenne  der  vater  an  sinem  tötbette  lett  und  daz  der  sun 
die  tur  zu  slizzet,  daz  die  brüder  noch  die  andern  phaffen  dar  in  iht 
komen,  daz  er  siner  sele  dinc  niht  schaffe,  da  mit  hat  dar  sun  sin 
erbe  verworht.  unde  dar  über  spricht  ein  heilig  gar  ein  gut  wort,  der 
sprichet  also :  dizze  ist  ein  gar  gut  gesetzede.  wan  swenne  der  mensch 
an  sinem  ende  lit,  dö  ist  aller  siner  sselden  hört,  daz  im  got  danne 
riwe  unde  andäht  git.  unde  swenne  des  ein  kint  vater  oder  müter 
irret,  daz  hat  mit  rehte  sin  erbeteil  verworht.  wan  nach  sinem  tode 
so  mac  der  mensch  weder  wellen  noch  entwellen.  unde  also  sprichet 
ein  heilig  über  die  sache  die  der  keiser  .Justinian  gesezzet  unde  ge- 
boten hat. 

Daz  niunde  ist,  ob  der  sun  ein  spilman  ist  wider  des  vater 
willen  unde  obe  der  vater  nie  gut  für  ere  genam. 

So  ist  das  zehende,  ob  der  sun  des  vater  bürge  niht  werden  wil 
umb  zitlichez  gelt. 

Daz  ailifte  ist,  ob  ein  sun  sinen  vater  von  vancnusse  niht 
lösen  wil. 

Daz  zwelfte  ist,  ob  ein  vater  unsinnic  wirt  unde  in  der  sun  in 
der  unsinne  niht  behütet  und  bewart  und  in  niht  in  siner  guten 
phlege  hat,   wan  er   sol  vater  und  müter  eren.  daz  hat  got  geboten. 

Daz  drizehende  ist,  swenne  ein  sun  sinem  vater  sin  gut  raer 
danne  halbez  vertut,  und  daz  mit  unfüre  tut  und  mit  unrehter  wise. 
daz  ist  geschriben  reht. 

Daz  vierzehende  ist,  ob  ein  tohter  ungeraten  wirt,  daz  si  man 
zu  ir  leit  äne  ir  vater  willen  die  wile  si  under  fünf  unde  zweinzec 
jären  ist.  kamt  si  über  fünf  unde  zweinzec  jär,  so  mac  si  ir  ere 
wol  verlisen  mit  mannen,  si  kan  aber  ir  erbe  nimmer  verlisen  ze  reht. 


c.  Rockiiifjer:   Ueber  die  Benützung  des  Brachijlogus.         139 

so  viele  finden  sich  im  Cap.  3  der  Novelle  115  =  der  Const. 
112  des  Liber  Autenticarum  (Coli.  VIII  12)  =  der  Const.  107 
in  Julian's  Novellenauszug  ^).  Der  Kürze  halber  soll  fortan 
einfach  die  Bezeichnung  „Novelle"  gewählt  sein.  Gerade 
die  so  bestimmte  Angabe  der  Zahl  gleich  im  Eingange  des 
Art.  15  „Ez  mac  ein  kint  sins  vater  unde  siner  müter  erbe 
verwurken  mit  vierzehen  dingen"  könnte,  wie  es  scheint,  mit 
Sicherheit  auf  die  Benützung  eben  der  Novelle  deuten.  Doch 
stimmen  die  Enterbungsgründe  selbst  weder  in  der  Reihen- 
folge zusammen,  noch  auch  deckt  sich  vollkommen  der  Inhalt 
der  einzelnen.     Was  die  Reihenfolge^)  betrifft,    erklärt   sich 


§  2.  Ez  moht  ouch  ein  vater  gen  sinem  sun  sin  relit  verwurken 
mit  disen  Sachen  etlicher,  niht  mit  in  allen  :  wan  ez  sieht  unde  schiltet 
ein  vater  sinen  sun  mit  allem  rehte. 

Doch  verwurket  ein  vater  mit  den  ersten  drin  sachen,  daz  er 
von  sinem  gute  scheiden  müz  bi  sinem  lebenden  libe.  und  sol  der 
sun  an  des  vater  stat  sten. 

Unde  sol  dem  vater  die  notdurft  geben,  und  sol  im  die  mit 
eren  geben,  ob  er  sin  stat  hat,  unde  nach  den  eren  als  er  gelebt  hat. 

1)  Für  ihn  ist  im  folgenden  Verlaufe  die  Ausgabe  von  Haenel 
benützt:  Juliani  epitome  latina  Novellarum  Justiniani.  Leipz.  1873.  4". 

2)  Ihr  Verhältniss  zwischen  der  Novelle,  dem  sogen.  Brachy- 
logus  II  Tit.  23  §  2,  den  Exceptiones  Petri  I  Cap.  15,  dem  Deutschen- 
spiegel Art.  19,  dem  sogen.  Schwabenspiegel  Art.  15  (a  in  seiner  altern 
Fassung,  b  in  der  späteren  z.  B.  in  der  der  Handschrift  der  juristischen 
Gesellschaft  zu  Zürich  in  dem  Drucke  der  Ausgabe  des  Freiherrn  von 
Lassberg  S.  11  Sp.  1  bis  S.  12  Sp.  1)  ist  folgendes: 

Nov.  Brachyl.        Exe.  Petri  Dsp. 

111  — 

2  2                       2  - 

3  3                      3  4 

4  4                      4  — 

5  5                       5  2 

6  6—1 

7  7                       6  — 

8  8                    —  — 


sog.  Schwsja. 
a           b 

3 

5 

4 

6 

5 

3 

6 

4 

1 

1 

7 

7 

10 

10 

140  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888, 

ein  Theil  der  Abweichungen  ohne  Schwierigkeit  durch  den 
Umstand,  dass  unser  Rechtsbuch  sich  zunächst  an  den  ersten 
Grund  des  Vorgängers  hielt,  des  Deutschenspiegels,  welcher 
in  der  Novelle  der  sechste  ist.  Konnte  dann  bei  der  eigen- 
thümlichen  Verknüpfung  des  zweiten  Grundes  des  Deutschen- 
spiegels durch  die  Verbindung  mit  Absolon^)  derselbe  leicht 
übersehen  beziehungsweise  nicht  besonders  beachtet  werden, 
so  verschob  sich  hiedurch  die  Reihenfolge  nicht  blos  dem 
Deutschenspiegel  gegenüber,  sondern  noch  weiter  gegenüber 
der  Novelle,  deren  fünftem  er  entspricht.  Auf  solche  Weise 
wurde  nun  der  dritte  Grund  des  Deutschenspiegels,  in  dem 
dreizehnten  der  Novelle  enthalten,  der  zweite  des  sogen. 
Schwabenspiegels.    Nunmehr  schloss  er  sich  in  den  Ziff.  3 — 6 


Dsp. 


Nov. 

Brachyl. 

Exe.  Petri 

9 

9 

— 

10 

— 

— 

11 

13 

8 

12 

11 

9 

13 

10 

7 

14 

12 

10 

sog. 
a 

ächwsp 
b 

8 

8 

9 

9 

14 

14 

12 

12 

11 

11 

2 

2 

—  —  —  —  13      18 

Der  §  5  der  Novelle,  welche  im  sogen.  Schwabenspiegel  fehlt, 
ist:  wenn  der  Sohn  vitae  parentum  suorum  per  venenum  aut  alio 
modo  insidiari  tentaverit. 

Der  §  14  der  Novelle,  welchen  der  sog.  Schwabenspiegel  gleich- 
falls nicht  hat,  ist:  si  quis  de  praedictis  parentibus  orthodoxus  con- 
stitutus  senserit  suum  filium  vel  liberos  non  esse  catholicae  fidei,  nee 
in  sacrosancta  ecclesia  communic;ire,  in  qua  omnes  etc. 

1)  Daz  ist  eines:  ob  der  vater  ....  in  der  chunigen  buoche: 
daz  Absolon  der  schoene  bei  Davidis  seines  vater  freundinne  suen- 
dichlichen  lach  und  wi/zentlich,  da  mit  verworht  er  seine  hulde  und 
sein  erbe. 

Absolon  verworcht  auch  seines  vater  hulde  und  sein  erbe,  daz 
er  seines  leibes  ofte  varet,  wie  er  in  ersluege.  Da  half  im  got  ie  von. 

Und  ist  daz  ein  sun  seinen  vater  vaehet  und  in  u.  s.  w. 


r.  Eockiiiffer:  Ueber  die  Benützung  des  Brachylogus.        141 

wanz  und  gar  den  §§1  —  4  der  Novelle  an.  War  deren 
fünfter  =  dem  zweiten  Grunde  des  Deutsclienüpiegels  aus- 
gefallen, wie  bemerkt  worden  ist,  so  folgt  Ziff.  7  =  §  7  der 
Novelle.  Dann  treten  einige  fernere  Umstellungen  ein. 
Besonders  eingeschaltet  ist,  nicht  aus  der  Novelle  genommen, 
die  Ziff.  13:  swenne  ein  sun  sinem  vater  sin  gut  mer  danue 
halbes  vertut,  und  daz  mit  unfüre  tut  und  mit  unrehter  wise. 
Gar  nicht  berücksichtigt  ist  endlich  der  letzte  §  1 4  der  Novelle 
bezüglich  der  Orthodoxie  der  Aeltern  und  der  Ketzerei  der 
Kinder.  Während  also  ein  Theil  der  Verschiedenheiten 
namentlich  gleich  am  Anfange  mit  dem  Verhältnisse  zum 
Deutschenspiegel  zusammenhängt,  zeigen  andere  selbständige 
Verarbeitung.  Was  den  Inhalt  der  einzelnen  Enterbungs- 
gründe anlangt,  ist  unserem  Rechtsbuche,  wie  erwähnt,  die 
Bestimmung  der  Entziehung  des  Erbes  in  dem  Falle  eigen- 
thünilich,  wenn  die  Kinder  das  halbe  älterliche  Vermögen 
in  lüderlicher  Weise  durchbringen,  während  es  den  letzten  § 
der  Novelle  nicht  berücksichtigt,  wenn  die  Aeltern  katholischen 
Glaubens,  die  Kinder  aber  Ketzer  sind.  Von  den  da  wie 
dort  vierzehn  Gründen  kennt  also  die  Novelle  die  vorhin 
berührte  Ziff.  13  des  sogen.  Schwabenspiegels  nicht,  während 
umgekehrt  dieser  ihren  letzten  §  nicht  aufgenommen  hat. 
Auch  die  Fälle,  in  welchen  die  Kinder  ihre  Aeltern  enterben 
dürfen,  stimmen  keineswegs  im  Cap.  4  der  Novelle  115  be- 
ziehungsweise der  Const.  112  des  Liber  Autenticarum  = 
Cap.  5  der  Const.  107  im  Auszuge  Julian's  und  in  unserem 
Rechtsbuche  überein.  Es  ist  nun  gewiss  in  keiner  Weise 
zu  bezweifeln,  dass  der  Inhalt  der  Novelle  die  Veranlassung 
zu  der  ganzen  Aufzählung  gewesen.  Ob  aber  ihr  Text  selbst, 
natürlich  nicht  die  griechische  Fassung  der  veaga  dura^ig 
Qi€,  sondern  die  lateinische  aus  einer  der  damals  gang  und 
gäben  Sammlungen,  der  Const.  112  des  Liber  Autenticarum 
oder  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  der  Const.  107  der  Epitome 
Juliani,  dem  Verfasser  unseres  Werkes  vorgelegen,  ist  hiemit 


142  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

noch  nicht  ausgemacht.  Auch  der  sogen.  Brachyl.  II  Tit.  23 
§  2  enthält  die  Liste,  um  die  es  sich  handelt,  mit  einziger 
Ausnahme  des  Falles  vom  Eintritte  der  Kinder  in  unanständige 
Erwerbszweige,  welchen  sich  die  Aeltern  nicht  hingegeben 
haben,  während  auch  er  so  wenig  als  die  Novelle  den  Fall 
der  Verschleuderung  des  halben  Vermögens  der  Aeltern  durch 
die  Kinder  kennt.  Und  hievon  abgesehen  stossen  wir,  um 
nochmals  auf  die  Reihenfolge  zurückzukommen,  beispielsweise 
auf  die  Umstellung  der  §§  12  und  13  der  Novelle  in  11  und 
10  im  Brachylogus  ebenso  auch  in  unserem  Rechtsbuche : 
12  und  11.  Nicht  minder  ist  die  Stellung  des  Grundes  für 
die  Enterbung  der  ungerathenen  nicht  25  Jahre  alten  Töchter 
bezeichnend.  Während  er  in  der  Novelle  den  §  11  bildet, 
ist  er  im  Brachylogus  mit  vollem  Bewusstsein  M  an  den 
Schluss  des  Ganzen  gereiht.  Ebenda  treffen  wir  ihn  im 
sogen.  Schwabenspiegel  als  die  letzte  Ziff.  14.  Was  endlich 
noch  den  Wortlaut  betrifft,  sinkt  auch  bei  ihm  die  Wag- 
schale bald  zu  Gunsten  der  einen  Seite,  bald  wieder  zu 
Gunsten  der  anderen.  So  hat  es  den  Anschein,  dass  der 
fünfte  Grund  „ob  ein  sun  sögetäniu  dinc  üf  den  vater  gesett 
hat  diu  dem  vater  an  den  lip  gent :  ez  si  danno  ein  sögetäniu 
Sache  diu  wider  dem  lande  si  da  sun  und  vater  wonunge 
inue  hänt,  oder  \vider  den  fursten  des  daz  laut  isf*  mehr 
auf  dem  §  3  der  Novelle  ,si  eos  in  criminalibus  causis  ac- 
cusaverint,  quae  non  sunt^)  adversus  principem  sive  rem- 
publicam"  beruht,  als  auf  der  Fassung  des  Brachylogus:  si 
in  criminali  causa,  excepto  crimine  perdueUionis,  eos  aecusent. 
Beachtet  man  indessen,  dass  in  unserem  Hechtsbuche,  wie 
sich  .später  zeigen  wird,  mit  einer  gewissen  Liebhaberei  von 
den  Glossen  zum  Brachylogus  Gebrauch  gemacht  ist,  so  könnte 

1)  Hoc  proprium  in  filia  ob.servanduui :    si  in  contrahcndis  nup- 
tiis  etc. 

2)  In  Julian'.s  Auszug:  si  in  criminalibus  causis  accusator  contra 
parentes  suos  exstiterit,  exceptis  insidiis. 


r.  Boclihiger:   lieber  die  Benützung  des  Brachylogtm.        143 

das  auch  hier  der  Fall  sein.  Zu  dem  erwähnten  Worte 
,perduellionis''  nämlich  tindet  sich  —  vgl.  Böcking  a.  a.  0. 
S.  216  und  uochmal  230  -  die  Glosse:  Cum  aliquis  molitur 
aliquid  contra  propriam  personam  imperatoris  vel  contra 
rempublicam.  Sie  mag  vielleicht  gerade  hier  Einfluss  geübt 
haben.  Immerhin  aber  wird  kaum  zu  läugnen  sein,  dass 
die  Ausdrucksweise  „wider  den  fursten  des  daz  lant  ist"  sich 
mehr  jener  „adversus  principem"  als  der  „contra  propriam 
personam  imperatoris"  nähert.  Umgekehrt  liegt  beim  achten 
Grunde  wegen  Verhinderung  der  Fertigung  des  letzten  Willens 
die  kürzere  Fassung  des  Brachylogus  ,si  parentes  testari  pro- 
hibuerint"  der  unseres  Rechtsbuches  „ob  der  sun  den  vater 
an  sinem  geschaffte  geirret  hat"  näher  als  die  des  §  9  der 
Novelle:  si  convictus  fuerit  aliquis  liberorum  ex  eo  quia 
prohibuit  parentes  suos  condere  testamentum,  ut  si  quidem^) 
postea  etc.  Dagegen  kann  bei  der  Ziff.  9  =  §  10  der  Novelle 
nicht  an  den  Brachylogus  gedacht  werden,  da  er  so  wenig 
als  Petrus  in  seinen  Exceptiones  legum  Romanorum  ■'^)  diesen 
§  hat.  Auch  bei  unserer  letzten  Ziff.  14,  welche  vorhin 
wegen  ihrer  dem  Brachylogus  entsprechenden  Stellung  berührt 
werden  musste,  weist  die  so  bestimmte  Beziehung  auf  25 
Jahre  eher  anderswohin  als  auf  dessen  kurze  Fassung:  si  in 
contrahendis  nuptiis  patris  voluntati  non  consenserit ,  et 
postea  more  raeretricis  stuprata  fuerit. 

Was  dann  den  Art.  72  über  die  Freilassung  von  Leib- 
eigenen durch  Kinder  eines  bestimmten  Alters  mit  der  Be- 
ziehung auf  die  Lex  Aelia  Sentia  betrifft,  ist  nicht  zu  läugnen, 
dass  man  hier  an  justinianisches  Recht  zu  denken  hat,  aber 
gerade  der  Wortlaut  „Lex  Essentia  impedit  libertatem"  deutet, 
abgesehen  von  der  Verderbtheit  des  Namens,  welche  übrigens 


1)  Ebendort:  si  convictus  fuerit  filius  prohibuisse  parentes  suos 
testamentum  facere,  si  quidem  illi. 

2)  Gedruckt  im  Anhange  I  des  zweiten  Bandes  in  v.  Savigny's 
Geschichte  des  römischen  Rechts  im  Mittelalter  S.  321 — 428. 


144  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

auch  bereits  in  der  Tegernsee -Wiener  Handschrift  wie  in 
der  vatikanischen  und  der  Breslauer  des  Brachylogus ^)  be- 
gegnet, wie  auf  pr.  Inst,  qui  et  quibus  ex  causis  manuniittere 
non  possunt  (I  6)  so  auch  auf  Wiedergabe  des  Brachyl.  I 
Tit.  6  §  2 :  Lex  Aelia  Sentia  impedit  libertatem. 

Es  gestatten  hienach  diese  Beispiele  keine  untrügliche 
Entscheidung,  ob  der  Verfasser  des  kaiserlichen  Landrechts 
aus  den  justinianischen  Quellen  selbst,  insbesondere  den  In- 
stitutionen, und  nicht  auch  aus  anderen  Schriften  über  das 
römische  Recht  geschöpft  hat. 

§  4. 

Drängt  sich  ja  dieser  Gedanke  bereits  beim  unmittel- 
baren Vorgänger  auf,  dem  Deutschen  spie  gel. 

Schon  aus  den  Anführungen  auf  S.  129/130  sind  die 
Spuren  des  justinianischen  Rechts  in  ihm  ersichtlich  geworden. 
Wohin  führt  da  die  nähere  Betrachtung? 

Ausser  Ausatz  hat  vorerst  der  S.  136/137  erwähnte  Art. 
181  bezüglich  des  unanständigen  Betragens  der  Kaefurnia  zu 
bleiben,  da  er  nur  ars  dem  Sachsenspiegel  II  Art.  63  §  1 
stammt. 

Keinen  bestimmten  Schluss  gestattet  die  Anführung  der 
römischen  Bezeichnungen  Ingenuus  Libertinus  und  Liber  im 
Art.  62,  da  sich  einmal  die  Begriffe  selbst  nicht  decken,  in- 
dem es  sich  hier  um  drei  Stufen  der  Freien  handelt,  während 
im  römischen  Rechte  die  Ingenui  und  Libertini  nur  besondere 
Classen  der  Liberi  überhaupt  im  Gegensatze  zu  den  Servi 
sind,  anderntheils  sich  die  betreffenden  Ausdrücke  wie  in 
den  Inst.  I  Tit.  3  am  Schlüsse,  Tit.  4  und  5,  oder  in  den 
L.  3,  5,  6  u.  s.  w.  Dig.  de  statu  hominum  (I  5)  auch  bei- 
spielsweise im  Brachylogus  I  Tit.  3  §  6,  Tit.  4  und  5  finden, 
oder  am  Schlüsse  des  Cap.  3  und  im  Cap,  4  der  oben  S.  133 
erwähnten  Epitome  juris  civilis  zu  Tübingen. 

1)  Vgl.  boecking   S.  9  Note  f. 


V.  RockitKjer:   Ueber  die  Benützung  des  Brachylogus.        145 

Zweifelhaft  ist  dann,  woher  im  Art.  11  über  die  Bürg- 
schaft die  Beziehung  auf  den  ,maister  der  haizzet  divus 
Adrianus,  der  des  lantrechtes  vil  gemachet  hat"  gezogen  ist. 
Kaum  aus  L.  26  Dig.  de  fidejussoribus  et  mandatoribus 
(XLVI  1).  Nicht  aus  diesem  Titel  des  Cod.  (VIII  4).  Aber 
auch  nicht  aus  dem  Brachylogus  III  Tit.  10,  da  er  die  frag- 
liche Andeutung  nicht  hat.^)  Wahrscheinlich  wohl  aus  dem 
§  4  Inst,  de  fidejussoribus  (III  20). 

Eigenthümlich  ist  weiter  —  vorausgesetzt,  dass  es  sich 
hier  um  römisches  Recht  handelt  —  das  Verhältniss  des 
Satzes  am  Schlüsse  eben  des  Art.  11,  dass  die  Erben  eines 
Bürgen  von  der  Haftverpflichtung  entbunden  sein  sollen, 
wenn  das  ausdrücklich  ausbedungen  worden  ist.  Das  findet 
sich  nicht  im  §  2  Inst,  de  fidejussoribus  (III  20),  auch  nicht 
im  Brachyl.  III  Tit.  10,  wohl  aber  in  Petri  Exceptiones  legum 
Romanorum  II  Cap.  44.^^) 

Ob  es  nothwendig  ist,  für  den  Art.  17  von  der  Fähig- 
keit zur  Zeugnissabgabe  im  römischen  Rechte  eine  Suche 
anzustellen,  ist  fraglich.  Merkel  hat  allerdings  den  ent- 
sprechenden Art.  13  des  sogen.  Schwabenspiegels  als  solchen 


1)  Warum  dennoch  gerade  auf  ihn  nach  S.  126  Merkel  Bezug 
genommen  hat,  ist  mir  nicht  genauer  bekannt. 

Vielleicht  hat  ihn  die  Note  1  zu  S.  91/92  der  Ausgabe  Boecking's 
dazu  veranlasst.  Aber  der  da  angeführte  Text  aus  der  Heidelberger 
Druckausgabe  vom  Jahre  1570  weicht  allenthalben  vom  wirklichen 
Wortlaute  des  sogen.  Brachylogus  nicht  unbedeutend  ab,  wie  Boecking 
selbst  in  der  Einleitung  S.  CV  klar  bemerkt:  Recensio,  quam  haec 
editio  exhibet,  haud  pauca  certe  /(STaqpgä^ei  atque  .-lagaqygdCsi,  eandem- 
que  a  genuiuo  Brachylogo  vehementer  recedere  atque  serioribus  demum 
temporibus  confectam  esse  ex  eo  conjici  posse  videtur,  quod  aliquotiens 
glossarum  mentio  in  ipso  textu  injecta  legitur,  satisque  frequenter 
allegationes,  quarum  in  ceteris  codicibus  nee  vola  nee  vestigium  re- 
peritur,  interspersae  sunt. 

2)  Fidejussor  non  tantum  ipse  obligatur,  sed  et  heredem  obli- 
gatum  relinquit ;  nisi  speciali  pacto  heredem  non  obligandum  pro- 
misit. 

1888.  Philos.-pliilol.  u.  bist.  Cl.  II.  1.  10 


146  Sitzimy  der  histor.  Clnsse  vom  2.  Juni  1888. 

bezeichnet,  welcher  römisches  Recht  enthalten  solle. ^)  Aber 
selbst  wenn,  so  entstammt  er  nicht  etwa  den  justinianischen 
Quellen,  noch  auch  dem  Brachylogus.  Es  dürfte  wohl  eher 
an  die  Exceptiones  legum  Romanorum  des  Petrus  IV  31 
oder  insbesondere  an  einen  Ordo  judiciarius  als  Vorlage  zu 
denken  sein. 

Ob  sodann  für  den  Art.  19  von  den  Enterbungsgründen 
—  wieder  vorausgesetzt,  dass  man  es  hier  mit  römischem 
Rechte  zu  thun  hat  —  die  Cap.  3  und  4  der  Const.  112 
des  Liber  Autenticaruni  oder  die  Cap.  3  und  5  in  Julian's 
Novellenauszug  oder  der  Brachyl.  II  Tit.  23  vorgelegen,  wird 
nicht  zu  entscheiden  sein. 

Was  in  den  Art.  51  und  52  auf  römisches  Recht  hin- 
weist, kann  nicht  minder  als  etwa  aus  dem  Titel  Cod.  de 
usucapione  transformanda  (VII  31)  oder  aus  dem  Titel  Inst, 
de  usucapionibus  et  loiigi  temporis  possessionibus  (II  6)  auch 
aus  dem  Brachyl.  II  Tit.  9  §  3  und  G,  Tit.  10,  Tit.  11  §  8 
genommen  sein. 

Kaum  viel  anders  wird  es  sich  dann  bei  den  Art.  55 — 59a 
von  der  Pflegschaft  verhalten.  Soweit  es  sich  hiebei  um 
römisches  Recht  dreht,  wird  Berücksichtigung  von  diesem 
und  jenem  aus  den  verschiedenen  Titelu  über  die  Tutel  und 
Cura  in  den  Büchern  2ß  und  27  der  Digesten,  den  Titeln 
13  —  20  im  ersten  Buche  der  Institutionen,  den  Tit.  13  — 18 
im  ersten  Buche  des  Brachylogus  angenommen  werden 
dürfen. 

Betrachten  wir  ferner  die  Art.  60  und  61  von  den  Folgen 
der  Freilassung  der  schwangeren  unfreien  Mutter  oder  des 
während  der  Schwangerschaft  erfolgenden  Eintrittes  der  freien 
Mutter  in  die  Hörigkeit  auf  den  Geburtsstand  des  Kindes 
mit  der  S.  136  berührten  Beziehung  auf  Marcellus  =  Mar- 
ciauus,  so  kann  ebensogut  au   pr.  Inst,  de  ingenuis  (I  4)  als 


1)  Vgl.  oben  S.  126. 


V.  Eockinger:   Ueher  die  Bemitzung  ileii  Brachylogus.  147 

an  L.  5  §  2  und  3  Dig.  de  statu  honiinum  (I  5),  weniger  wohl 
an  L.  53  pr.  und  §  1  Dig.  de  fideieoiuniissariis  libertatibus  (XL 
5)  gedacht  werden.  Der  Braehyl,  I  Tit.  4  kennt  wenigstens 
die  Beziehung  nicht.  Wohl  aber  die  oben  S.  133  erwähnte 
Epitome  juris  civilis  7,u  Tübingen  Cap.  4  §  2,  welche  hier 
so'/usagen  ganz  mit  den  Institutionen  stimmt,  nur  den  Namen 
Marcianus  als  Marcellus  gibt,  wie  übrigens  auch  mehrfach  in 
Institutionenhandschriften  zu  lesen  ist. 

Beim  Art.  63  möchte  an  Cap.  4  der  Const.  36  in  Julian's 
Novellenauszug  1)  oder  an  den  Braehyl.  I  Tit.  12  §  2*)  zu 
denken  sein.  Möglicherweise  aber  auch  gleich  an  das  erste 
Cap.  de  homicidio  im  2.  Buche  der  Summa  de  poenitentia 
des  Raimund  von  Peniafort^)  gegen  den  Schluss. 

Der  Inhalt  des  Art.  64,  ohne  die  namentliche  Bezug- 
nahme auf  die  Lex  Aelia  Sentia,  dürfte  mehr  den  Sätzen  des 
Tit.  qui  et  quibus  ex  causis  manumittere  non  possunt  Inst. 
(l  G)  als  denen  des  Cap.  2  der  Const.  110  in  Julian's  Novellen- 
auszug oder  denen  des  Braehyl.  I  Tit.  6  §  2  und  3  ent- 
sprechen.*) 


1)  Si  quis  servum  suum  aegrotum  vel  ancillam  morbosam  con- 
tempserit,  et  nullam    curam  eis  fecerit,   necesse   est  eos  liberos  esse. 

2)  [Dominorum  potestas  solvitur  manumissione.]  Item  si  dominus 
servum  aegrotum  contempserit  et  necessaria  non  praestiterit. 

3)  Quid,  si  pater  filium,  vel  patronus  libertum,  vel  dominus 
servum  infantem  vel  etiam  adultum  sed  languidum  exponit,  vel  ei 
denegat  alimenta?  Respondetur,  quod  hoc  ipso  filius  est  a  potestate 
patria  liberatus,  et  libertus  in  ingenuitatem  et  servus  in  libertatem 
transit. 

4)  Im  Capitel  von  der  Manumission  der  Unfreien  im  3.  Buche 
der  Summa  de  poenitentia  des  Raimund  von  Peniafort  heisst  es: 
Minor  viginti  annorum  non  potest  inter  vivos  dare  libertatem ;  Cod. 
qui  manumittere  non  possunt  (VIT  11),  si  minor  (L  4);  in  ultima  vero 
voluntate.  Ex  quo  testari  potest:  scilicet  in  quartodecimo  anno  potest 
manumittere;  2  qu.  6  §  diffinitiva,  vers.  item  si  sententia  contra  jus 
(c.  41  C.  II  qu.  6)  etc. 

10* 


148  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Der  Art.  65  dem  §  2  der  Inst,  de  iis  qui  sui  vel  alieni 
juris  sunt  (I  8)  oder  dem  Brachyl.  I  Tit.  8  §  3. 

Alles  was  berührt  worden,  fällt  in  den  ersten  Theil  des 
Deutscheuspiegels,  Art.  1  — 109,  der  bereits  Umarbeitung  des 
Sachsenspiegels  bis  II  Art.  12  §  13  ist,  nicht  mehr  blos 
mitteldeutsche  oder  oberdeutsche  Uebertragung  desselben  vc-i 
da  weg  bis  an  den  Schluss. 

Im  grossen  Ganzen  möchte  demnach  hiefür  eine  nennens- 
werthe  BenützAuig  der  Digesten  oder  des  Codex  nicht  an- 
zunehmen sein,  wohl  .der  Institutionen,  neben  ihnen  noch 
andrer  Schriften  über  das  römische  Recht,  darunter  vielleicht 
auch  des  Brachylogus. 

§  5. 

Kehren  wir  nun  zum  sogen.  Schwabenspiegel  zurück,  so 
ist  schon  S.  127  bemerkt  worden,  dass  es  in  ihm  nicht  an 
Stellen  feht,  bei  welchen  Benützung  der  justinianischen 
Quellen  nicht  angenommen  werden  kann,  indem  sie 
einen  derartigen  Gedanken  ohne  weiteres  ausschliessen  und 
jedenfalls  zu  einem  grossen  Theile  auf  ein  bestimmtes  Werk 
hinweisen. 

Theilweise  Sätze  dieses  Werkes,  theilweise  Glossen  zu 
demselben  sind  es,  welche  hier  in  Betracht  kommen. 

Das  ist  übrigens  nicht  etwa  eine  neue  Entdeckung.  Im 
Gegentheile  hat  schon  vor  nahezu  vierzig  Jahren  Johannes 
Merkel  im  Abschnitte  XVI  seiner  Abhandlung  de  republica 
Alamannorum  S.  22  und  der  dazu  gehörigen  Note  14  auf 
S.  96  mit  unzweideutigen  Worten  von  der  Benützung  des 
sogen.  Brachylogus  juris  romani  und  seiner  Glossen^) 

1)  S.  22 :  ex  Brachylogo  juris  civilis  ejusque  glossis. 

S.  96:  Com])lure3  loci  ex  bracliylogo,  quem  dicunt,  juris  civilis, 
sive  „summa  novellarum  constitutionum  Justiniani  imperatoris"  quam 
vocat  codex  tegernseensis  (ed.  Boecking  praef.  LXXXVII),  et  textu 
et  glossis  excerpti  sunt  vcrbis  ejus  aut  ipsis  Latinis  aut  Theutisca 
versione  propositis. 


V.  Bockinger:   Ueber  die  Benützung  des  Brachißogus.         14:9 

gesprochen.  Weiter  dann  genauer  in  den  Zusätzen  zur  Ge- 
schichte des  römischen  Rechts  im  Mittehilter  von  Karl  Friedrich 
V.  Savigny  VII  S.  70,  woselbst  er  wiederholt,  dass  nicht  blos 
dem  Sinne  und  Inhalte  nach,  sondern  „wörtlich  aus  Text 
und  Glossen"  die  Excerpte  genommen  seien,  und  hiebei  aus- 
drücklich auf  alle  „lateinischen"  im  ersten  (und  zweiten) 
Theile  eingestreute  Fragmente  verweist,  namenthch  nach  der 
Druckausgabe  des  Freiherrn  v.  Lassberg  auf  die  Art.  6,  44, 
59,  72,  168  b. 

Ohne  Zweifel  werden  näheres  hierüber  die  Quellennach- 
weise zum  sogen.  Schwabeuspiegel  enthalten  haben,  welche 
er  auf  der  Grundlage  der  berührten  —  aus  zwei  Hand- 
schriften des  13.  Jahrhimderts  gebildeten  —  Ausgabe  und 
des  Ambraser  Pergamentcodex  zu  Wien  ^)  als  zweiten  Anhang 
dortselbst  bestimmt  hatte.  _  Er  sollte  —  wie  auf  der  Schluss- 
seite des  Werkes  genauer  bemerkt  ist  —  eine  Tabelle  ent- 
halten, in  welcher  die  nachweisbaren  Quellen  des  vermeintlich 
schwäbischen  Landrechts  verzeichnet  sind.  Da  dieser  Anhang 
bis  zur  Stunde  nicht  an  den  Tag  getreten  ist,  auch  jetzt 
wohl  kaum  mehr  auf  dessen  Erscheinen  zu  rechnen  sein 
wird,  und  er  überdiess  bei  dem  Stande  der  Forschung,  wie 
sie  sich  seit  dem  Auftauchen  des  Deutschenspiegels  gestaltet 
hat,  theilweise  nur  mehr  von  untergeordneter  Bedeutung  sein 
könnte,  erübrigt  nichts  als  auf  eigene  Faust  vorzugehen. 

§  6. 
Gegenüber  dem  Deutschenspiegel  hat  unser  Landrecht 
noch  einen  Schritt  weiter  gemacht,  indem  es  nicht  allein  in 
seinem  ersten,  vorzugsweise  eben  auf  dem  Deutschenspiegel  be- 
ruhenden Theile,  noch  anderes  eingeschaltet,  sondern  auch  in 
seinem  zweiten  Theile,  für  welchen  es  dort  nichts  weiter  als 
eine  flüchtige  Ueber  tragung  des  Sachsenspiegels  von  Buch  II 


1)  Vgl.  a.  a.  0.  den  Schluss    des    vorletzten  Absatzes  der  Note 
4  S.  92. 


150  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Art.  12  §  13  au  hatte,  das  justinianische  Hecht  berück- 
sichtigt hat,  wenn  auch  nicht  mehr  in  dem  Umfange  wie 
von  Anfang  an  der  Fall  gewesen. 

Was  nach  den  bisherigen  Erörterungen  einfach  von  dort 
herübergewandert  ist,  wie  Art.  6  =  Dsp.  11,  Art.  13  = 
Dsp.  17,  Art.  5G  und  57  =  Dsp.  51  und  52,  Art.  68  = 
Dsp.  60  und  61,  Art.  71  =  Dsp.  63,  Art.  73  a  =  Dsp.  65, 
Art.  245  =  Dsp.  181,  kümmert  uns  nicht  mehr.  Nur  wo 
sich  etwa  Aenderungen  bemerkbar  machen,  welche  die  un- 
mittelbareVerwerthung  der  justinianischen  Quellen  ausschliessen 
und  auf  anderweite  Schriften  als  ihre  Vorlage  deuten,  kommt 
in  Betracht,  beispielsweise  der  S.  137  —  143  erwähnte  Art.  15 
über  die  Enterbungsgründe,  oder  der  S.  143—144  angeführte 
Art.  72  wegen  der  besonderen  Hindeutung  auf  die  Lex  Aelia 
Sentia,  welche  im  Deutschenspiegel  nicht  entgegentritt. 

Was  gleich  den  Art.  15  betrifft,  schliesst  er  allerdings 
nicht  von  vorneherein  die  Möglichkeit  der  Verwerthung  der 
Novelle  115  in  einer  der  damals  vorhandenen  Sammlungen 
aus.  Sie  bleibt  natürlich  im  Ganzen  immer  die  Hauptquelle. 
Aber  es  hat  sich  bereits  ergeben,  dass  die  Umstellung  der 
§§  12  und  13  der  Novelle  in  11  und  10  im  sogen.  Brachy- 
logus  auch  ebenso  in  unserem  Rechtsbuche  begegnet:  12 
und  11.  Bildet  dann  der  §  11  der  Novelle  im  Brachylogus 
den  Schluss,  so  findet  sich  das  wieder  so  im  sogen.  Schwaben- 
spiegel. Und  nicht  blos  das.  Auch  der  Wortlaut  führt  da 
und  dort  wohl  mehr  auf  die  Annahme  der  Benützung 
eben  auch  des  Brachylogus. 

Auf  das  bestimmteste  tritt  das  sodann  im  Art,  44  hervor. 
In  ihm  heisst  es:  Jus  civile  est  quod  unaquaeque  civitas  sibi 
ipsi  constituit.  Vergleicht  man  hiemit  §  1  Inst,  de  jure 
naturali  etc.  (1  2),  so  steht  da  folgendes:  C^uod  quisque  po- 
pulus  ipse  sibi  jus  constituit,  id  ipsius  civitatis  proprium  est, 
vocaturque  jus  civile,  quasi  jus  proprium  ipsius  civitatis.  Auf 
denselben  Wortlaut  stossen  wir  auch  im  §  0  Dig.  de  justitia 


c.  Bockingcr:   Ueber  die  Benützung  des  Brachylogus.         151 

et  jure  (I  1).  Weiter  findet  sich  am  Schlüsse  des  Artikels 
eine  lange  lateinische  Stelle,  welche  entweder  aus  diesen  oder 
jenen  Glossen  gezogen  sein  mag  oder  auch  gleich  anders- 
woher stammt.  Sie  lautet,  theilweise  handschriftlich  nicht 
unbedeutend  verderbt :  Id  magis  erat,  ut  —  cum  aliqua  nova 
causa  interveniente  necessitas  ingrueret  constituendae  legis  — 
consules  eam  inprimis  ut  dictarent,  et  quod  dictasset  pro  lege 
tenendum  esse  populum  interrogarent  congregatio  cum,  et 
populus,  si  sibi  placebat,  sua  auctoritate  confirmabat.  Similiter 
et  verbum  plebis.  Magistrata  est  quicumque  propriam  juris- 
diccionem  habeat.  Sed  diffusa  cousuetudinis  jus  esse  putatur 
ut  qui  voluntate  omnium,  sine  lege,  voluntas  comprobaverit. 
Item  vel  consuetudinis  et  cetera.  Sehen  wir  uns  nun  bezüg- 
lich der  berührten  Fälle  beispielsweise  im  Brachylogus  um, 
so  finden  wir  den  vollständigen  Wortlaut  der  ersten  Stelle 
im  Buch  I  Tit.  2  §  3 :  Jus  civile  est  quod  unaquaeque  civitas 
sibi  ipsi  *)  constituit.  Was  die  andere  betrifft,  ist  sie  nichts 
als  eine  Zusammenschweissung  von  Glossen  eben  zum  Brachy- 
logus, wie  sie  in  der  vatikanischen  Handschrift  aus  dem 
Nachlasse  der  Königin  Christine  von  Schweden  Num.  441 
begegnen :  zu  den  Worten  Lex  und  Magistratu  von  Sätzen^) 
des  Buches  1  Tit.  2  §  6,  sodann  zu  dem  Worte  Consuetudinis 
in  einem  Satze  ^)  des  §  12  dortselbst.  Die  erste  Glosse*)  sagt 
da:  Id  moris  erat,  ut  —  cum  aliqua  nova  causa  interveniente 
necessitas  ingrueret  constituendae  legis  —  consules  eam  in- 
primis dictarent,  et  ut  cum  quid  dictaverant  pro  lege  tenendum 
est  populum  interrogarent  congregandum,  et  populus,  si  sibi 


1)  Boeckingf,  S.  3:  ipsa.  Die  gleich  zu  erwähnende  vatikanische 
Handschrift:  ipsi. 

2)  Lex  est  quod  populus  ronuinus  constituit,  senatorio  magistratu, 
veluti  consule,  inteiTOgante. 

3)  Nam  consuetudinis  ususque  longaevi  non  levis  est  auctoritas, 
verum  non  adeo  u.  s.  w. 

4)  Boecking,  S.  2U1  zu  S.  3  Z.  13. 


152  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

placebat,  sua  auctoritate  adhibita  confirmabat.  Similiter  et 
tribuni  plebis.  Die  zweite^)  bemerkt:  Magistratus  est  qui- 
cunque  propriam  jurisdictionem  habet.  Die  dritte*)  endlich 
lautet:  Secundum  TuUium  eonsuetudinis  jus  esse  putatur  id 
quod  voluntate  omnium,  sine  lege,  voluntas  comprobaverit. 
Item  eonsuetudinis  jus  est  quod  aut  leviter  a  natura  tractum 
u.  s.  f.  Man  mag  einen  Zweifel  hegen  dürfen,  ob  die  latei- 
nischen Stellen,  wovon  die  Rede  ist,  wirklich  schon  ursprüng- 
lich dem  Texte  unseres  Rechtsbuches  angehören,  ob  sie  nicht 
vielmehr  etwa  Randbemerkungen  gewesen  sind,  welche  nur 
bei  der  Abschriftnahme  mit  in  den  Text  selbst  herüberge- 
nommen worden  sind,  freilich  gleich  vom  Anfang  an,  da  sie 
sich  in  den  ältesten  Handschriften  finden,  erst  nachträglich 
da  und  dort  mehr  oder  weniger  entfernt  worden  sind;  zu- 
nächst aber  ist  das,  wovon  später  noch  eigens  zu  sprechen 
ist,  für  die  Frage,  welche  uns  beschäftigt,  nicht  von  Be- 
deutung. Findet  sich  im  §  9  Inst,  de  jure  naturali  etc.  ^) 
(I  2)  das  Wort  Consuetudo  gar  nicht,  zu  welchem  die 'be- 
rührte Glosse  gehört,  so  kann  der  Verfasser  des  sogen.  Schwaben- 
spiegels den  Text  der  Institutionen  nicht  vor  Augen  gehabt 
haben.  Hat  er  sich  aber  diese  Glosse  bemerkt,  die  eben  zu 
dem  Worte  Consuetudo  des  Brachylogus  gehört,  so  hat  er 
ihn  zu  Händen  gehabt,  und  zwar  in  einem  Exemplare,  das 
wie  mit  den  schon  berührten  so  auch  mit  dieser  Glosse  ver- 
sehen gewesen.  Es  wäre  allerdings  hier  vielleicht  der  Gedanke 
nicht  ausgeschlossen,  dass  diese  Glosse  auch  anderswoher 
genommen  sein  könne.  Das  mag  sein.  Allein  der  ganze 
Zusammenhang,  die  unmittelbare  Aufeinanderfolge  der  ersten 
beiden  Glossen  in  wenigstens  einer  der  bisher  bekannt  ge- 
wordenen Handschriften  des  Brachylogus  zu  I  Tit.  2  §  G  und 


1)  Ebendort,  S.  201  zu  S.  3  Z.  14. 

2)  Ebendort,  S.  202  zu  S.  6  Z.  2. 

3)  Ex  non  scripto  jus  venit  quod  usus  comprobavit.     Nani  diu- 
turni  mores  consensu  utentiura  coinprobati  legem  imitantur. 


V.  Bockinger:   Ueber  die  BeniUzunfi  des  Brachylogus.         153 

dann  sogleich  —  da  Berührungen  wie  des  Seuatus  consultum, 
der  Responsa  prudentum,  der  Magistratuum  edicta  für  den 
sogen.  Schwabenspiegel  nicht  in  Betracht  kamen  —  zu  §  12 
weist  doch  ungleich  mehr  dahin,  dass  es  sich,  wenn  die 
vorhergehenden  lateinischen  Stellen  gerade  Glossen  zu  dem 
berührten  Tit.  2  des  ersten  Buches  des  Brachylogus  ent- 
nommen sind,  auch  diejenige,  welche  in  Rede  steht,  gleich 
daraus  gezogen  wurde,  als  dass  sie  anderswoher  stammt. 

Uebrigens  ist  auch  der  Art.  44  nicht  der  einzige,  welcher 
mit  solchem  Gewichte  in  die  Wagschale  fällt.  Im  Art.  59 
von  den  Vormündern  findet  sich  die  lateinische  Stelle:  Quod 
si  periit  aliquid  de  rebus  quae  sunt  in  ejus  tutela  dolo  vel 
negligentia  tutoris,  tutorem  emendare  oportet.  Genau  so 
lesen  wir  in  der  Glosse  zu  den  Worten  ,rem  pupilli  salvam 
fore"  im  §  5  des  Tit.  14  des  ersten  Buches  des  Brachy- 
logus.    Vgl.  Boecking,  S.  207  zu  S.  24  Z.  8. 

Ist  der  Art.  72  eigentlich  nur  aus  dem  Deutschenspiegel 
herübergenommen,  ist  er  aber  doch  S.  150  als  zur  gegen- 
wärtigen Untersuchung  fallend  erwähnt  worden,  so  liegt  der 
Grund  hiefür  darin,  dass  sich  in  ihm  gegen  den  Schluss 
wieder  eine  lateinische  Stelle  findet,  welche  der  Deutschen- 
spiegel nicht  kennt:  Lex  Essentia  impedit  libertatem.  Wie 
bereits  S.  143/44  berührt  worden,  ist  sie  wörtlich  aus  pr.  Inst, 
qui  et  quibus  ex  causis  manumittere  non  possunt  (I  6)  oder 
aus  dem  Brachylogus  I  Tit.  6  §  2  genommen.  Ob  auch  in 
richtiger  Beziehung,  ist  eine  andere  Frage,  die  uns  aber  hier 
nicht  näher  berührt. 

Darf  man  den  Art.  L  73  II  =  W  369,  in  Handschriften 
einer  aus  sehr  früher  Vorlage  gezogenen  sozusagen  systema- 
tisch geordneten  Gestalt  des  sogen.  Schwabenspiegels  und  den 
alten  daraus  hergestellten  Drucken  vorfindlich,  als  einen  ur- 
sprünglichen erst  später  ausgefallenen  betrachten,  so  würde 
auch  der  sogleich  folgende  §  4  des  Brachyl.  I  Tit.  6  zur 
Benützung  gelangt  sein. 


154  Sitzung  der  Mstor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Weiter  ist  sodann  aus  dessen  §  6  der  Art.  73  b  unseres 
Rechtsbuches  gebildet. 

Fällt  das  alles  in  den  ersten  Tht.il  desselben,  so  begegnet 
ähnliches  auch  im  zweiten. 

Da  lautet  der  Art.  168  b:  Sanctum  est  quod  sanctioni 
subnixum  est,  veluti  muri  et  portae  civitatis.  Unde  et  capite 
puniuntur  qui  ea  sine  magistratus  competentis  pennissione 
dolo  nialo  —  id  est  voluntarie,  cum  nullam  justam  causam 
corrumpendi  habuerint.  Und  es  ist  interessant,  wie  hier  der 
Text  des  Brachyl.  11  Tit.  1  §  (3  gleich  wieder  mit  einer  Glosse 
zu  demselben  verbunden  ist.  Der  erwähnte  §  6  nämlich  hat 
folgenden  Wortlaut:  Sanctum  est  quod  sanctione  quadam 
subnixum  est,  veluti  muri  et  portae  civitatum.  Unde  et  capite 
puniuntur  qui  ea  sine  magistratus  competentis  permissione 
dolo  malo  corruperint.  Zu  den  Worten  „dolo  malo''  nun 
findet  sich  die  Glosse :  id  est  voluntarie,  cum  nullam  justam 
causam  corrumpendi  habuerit.  Boecking  a.  a.  0.  S.  209  zu 
S.  30  Z.  14.  Bei  Gelegenheit  dieser  Verknüpfung  der  Glosse 
mit  dem  Texte  ist  denn  auch  dessen  Hauptverbum  „corru- 
perint"  verduftet. 

Hienach  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  in  den 
beiden  ersten  Theilen  unseres  Landrechts  eine  ausgiebige 
Benützung  des  sogen.  Brachylogus  und  der  Glossen 
zu  demselben,  wie  sie  unter  seinen  bisher  bekannten  Hand- 
schriften in  der  Nr.  441  Reginae  Sueciae  in  der  Bibliothek 
des  Vatikans  ^)  begegnen,  stattgefunden  hat. 


1)  Ihre  ursiMÜngliche  Heimat  ist  nicht  bekannt.  Oh  das  Kloster 
Flcury  bei  Orle'ansV  Wenif^stens  äussert  Haenel  in  der  Kinleitung 
zu  seiner  Ausgabe  der  Lex  roiiiana  Visifjothorum  S.  XXVII  in  Note  53: 
Inter  Codices,  qui  ex  monasterio  Floriacensi  proveniunt,  videntur, 
praeter  Tilianum  Codicis  Theodosiani  exemplum,  omnea  illi  veteris 
iuris  Codices  fuisse,  qui  nunc  in  bibliotlieea  Vaticana  inter  libros 
Reginae  Sueciae  asservantur. 

Nach  gütiger  Mittheilung  des  Ilcnn   Heuer  scheint  der  in  der 


i'.  Bockinger:   üeber  die  Benützung  des  Brachylogus.        155 

§  7. 

Diese  Erscheinung,  an  sich  ebenso  merkwürdig  als 
wichtig,  regt  nun  aber  auch  noch  eine  besondere  Frage  an. 

Es  ist  doch  gewiss  nicht  anders  denn  als  auffallend  zu 
bezeichnen,  dass  ein  Rechtsbuch,  welches  —  vgl.  oben  S.  125/20 
—  beabsichtigt  hat,  das  in  Deutschland  geltende  ge- 
meine Recht  zu  lehren,  seinem  Texte  hier  und  dort  latei- 
nische Stellen  einmischt.  Und  es  wird  das  um  so  mehr 
auffallend  erscheinen  müssen,  da  diese  Stellen  keineswegs 
als  nothwendig  für  den  Text  betrachtet  werden  können, 
theilweise  ihn  sogar  in  lästiger  Weise  unter- 
brechen. 

Man  wende  nicht  ein,  dass  man  auch  sonst  als  an  den 
berührten  Orten  auf  lateinische  Stellen  stosst.  So  beispiels- 
weise gleich  in  dem  erhebenden  Vorworte :  Wir  suln  mit 
vride  und  mit  süne  under  ein  ander  leben.  Daz  hat  unser 
herregot  gar  unmaeziclichen  liep.  Wan  er  kom  selbe  von 
himelrich  üf  ertriche  durch  anders  niht  wan  durch  den  rehten 
vride,  daz  er  uns  einen  vride  schüfi'e  vor  des  tiuvels  gewalte 
unde  vor  der  ewigen  marter,  ob  wir  selbe  wellen.  Und  da 
von  sungen  die  engel  ob  der  crippe:  Gloria  in  excelsis  Deo, 
et  in  terra  pax  hominibus  bonae  voluntatis :  din  ere,  herre, 
in  dem  himel,  vrid  üf  der  erde  allen  den  die  gutes  willen 
sint.  Und  unser  herre  sprach  alle  zit  ze  sinen  jungern  do 
er  mit  in  üf  ertriche  gie  so  waz  daz  sin  ellich  grüz  und 
sin  wort :  Pax  vobis.  Daz  sprichet  ze  tüte :  vride  si  mit  iu. 
Und  also  sprach  er  alle  zit  ze  sinen  jungern  und  ze  andern 
lüten.  Hier  haben  wir  es  sozusagen  mit  Predigtausdrücken 
zu  thun,  welche  allgemein  bekannten  Bibelstellen  entsprechen, 
die  auch  gewöhnlichen  Leuten  im  lateinischen  Wortlaute  der 


fraglichen  Handschrift  von  Fol.  46a— 47b  befindliche  Heiligenkalender 
entschieden  auf  die  Diöcese  Auxerre  hinzuweisen.  Vgl.  die  Abhand- 
lungen unserer  Classe  XVIH  Ö.  M9  Note  2. 


156  Sitzung  der  histor.  Classe  mm  2.  Juni  1888. 

heiligen  Schriften  nicht  ungeläufig  waren.    Zudem  ist  einfach 
gleich  die  deutsche  Uebersetzung  daran  geknüjjft. 

Auch  ein  anderes  Beispiel  aus  dem  Rechtsbuche  hat 
nichts  Besonderes.  Im  Art.  70b  lesen  wir:  Ingenuus  daz 
sprichet  in  latine  die  höhsten  vrien.  Libertinus  daz  sint 
mittervrien.  Liber  die  sint  lantsaetzen vrien.  Um  was  handelt 
es  sich  da  ?  Lediglich  um  eine  Gegenüberstellung  lateinischer 
und  deutscher  Ausdrücke,  wie  ja  deutlich  genug  aus  dem 
Sätzchen  „daz  sprichet  in  latine"  hervorgeht.  Von  einer 
längeren  Unterbrechung  des  Textes  ist  da  keine  Rede. 

Das  aber  tritt  bei  den  Stellen  ein,  wovon  die  Frage  ist. 
Sie  stehen  mit  dem  Texte  des  Rechtsbuches  selbst 
in  keinem  näheren,  geschweige  denn  gar  noth- 
wendigen  Zusammenhange. 

Es  mag  da  sogleich  der  erste  der  selbständigen  Artikel 
desselben  reden,  Art.  44  über  das  Gewohnheitsrecht.  Was 
hat  hiemit  die  lange  lateinische  Stelle  am  Schlüsse,  wovon 
bereits  S.  151/152  gesprochen  worden  ist,  zu  thun?  Nicht  das 
mindeste.  Und  wie  steht  es  um  die  andere  lateinische  Stelle 
bald  nach  dem  Eingange  ?  Gütiu  gewonheit  —  heisst  es 
da  —  ist  als  gut  als  geschriben  reht.  Daz  bewsert  disiu 
Schrift.  De  jure  scripto  et  non  scripto.  Jus  civile  est  quod 
unaquaeque  civitas  sibi  ipsi  constituit.  Daz  heizzet  burger 
reht,  swaz  ein  iglich  stat  ir  selber  ze  rehte  sezzet  mit  ir 
kunges  oder  mit  ir  fursten  willen  unde  mit  wiser  lüte  rate 
unde  als  reht  si  unde  als  hie  vor  u.  s.  w.  Zunächst  möchte 
man  bei  dem  Satze  „De  jure  scripto  et  non  scripto"  an  die 
Anführung  irgend  welcher  Ueberschrift  eines  Artikels  oder 
Capitels  da  oder  dort  denken,  in  welchem  die  dann  folgende 
Stelle  enthalten  gewesen.  Aber  eine  dergleichen  Ueberschrift 
findet  sich  in  den  nächsten  Quellen  unseres  Rechtsbuches 
nicht,  nicht  in  den  Institutionen,  nicht  im  sogen.  Brachy- 
logus,  auch  nicht  in  der  oben  S.  133  erwähnten  Epitome 
juris  civilis  zu  Tübingen.    Zudem  kann  es  ja  in  dem  Artikel 


V.  Bockinger :   Ueber  die  Benützung  des  Brachylogus.         157 

über  das  Gewohnheitsrecht  doch  nicht  um  das  geschriebene 
Recht  besonders  7ai  thun  sein,  dessen  Begriff  eben  als  selbst- 
verständlich vorausgesetzt  ist,  wenn  es  heisst,  dass  gute 
Gewohnheit  dieselbe  Geltung  hat  wie  geschriebenes  Recht. 
Ganz  anders  gestaltet  sich  die  Sache,  wenn  man  den  Text 
ohne  die  lateinische  Stelle  überhaupt  oder  jedenfalls  wenig- 
stens ohne  den  Satz  „De  jure  scripto  et  non  scripto"  in's 
Auge  fasst.  Dann  heisst  es :  Gütiu  gewonheit  ist  als  gut 
als  geschriben  reht.  Daz  bewa3rt  disiu  schrift.  [Jus  civile 
est  quod  unaquaeque  civitas  sibi  ipsi  constituit.]  Daz  heizzet 
burger  reht,  swaz  ein  iglich  stat  ir  selber  ze  rehte  u.  s.  w. 
Jetzt  läuft  der  Zusammenhang  ohne  jede  sonderbare  Störung 
bis  an  den  Schluss  des  deutschen  Textes  des  Artikels  fort, 
zu  welchem  auch,  wie  schon  bemerkt,  die  lange  latei- 
nische Stelle  am  Ende  nicht  passt.  Hienach  liegt  es  doch 
gewiss  nicht  ferne,  sich  das  eigentliche  Verhältniss  so  vor- 
zustellen, dass  ursprünglich  nur  die  Fassung  in  deutscher 
Sprache  vorgelegen  ist,  dass  aber  am  Rande  lateinische  Be- 
merkungen gestanden  sind,  welche  dann  bei  der  Abschrift- 
nahme,  so  gut  es  eben  ging,  mit  in  den  Text  aufgenommen 
wurden.  Auf  solche  Weise  wird  auch  der  Satz  ,De  jure 
scripto  et  non  scripto"  nichts  auffallendes  mehr  haben.  Es 
ist  eben  hiebei  nicht  an  irgendwelche  besondere  Ueberschrift 
zu  denken,  sondern  es  ist  einfach  der  Unterschied  zwischen 
geschriebenem  und  Gewohnheitsrechte,  von  welch  letzterem 
der  Artikel  handelt,  nicht  aus  einer  bestimmten  Quelle,  sondern 
lediglich  zur  allgemeinen  Kennzeichnung  des  Unterschiedes 
mit  dieser  kurzen  für  solchen  Zweck  vollkommen  genügenden 
Selbstbemerkung  an  den  Rand  gesetzt  gewesen. 

Was  dann  die  lateinische  Stelle  gleich  nach  dem  Beginne 
des  Art,  59  betrifft,  steht  sie  gleichfalls  ausser  allem  Zu- 
sammenhange mit  dem  Texte  des  Artikels  über  die  Eigen- 
schaften der  Vormünder.  Ohne  Zweifel  war  sie  eben  wieder 
zu  irgend  welchem  Behufe  an  den  Rand  bemerkt,  und  ist 
von  da  bei  der  Abschriftnahme  in  den  Text  gerathen. 


158  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Bei  solcher  Annahme  erklärt  sich  auch  das  Verhältniss 
der  Stelle  über  die  Lex  Aelia  Sentip  im  Art.  72  ganz  einfach. 
Bildet  sie  den  Schluss  zu  §2^)  im  Brachyl.  I  Tit.  6  un- 
mittelbar vor  dem  §  3  '-*)  desselben,  so  konnte  sie  leicht 
gerade  auf  diesen  bezogen  und  so  an  den  Rand  geschrieben 
werden,  wovon  sie  seinerzeit  auch  in  den  Text  wanderte. 

Nicht  minder  löst  sich  dann  von  selbst  wieder  die  An- 
führung im  Art.  168  b  als  lediglich  eine  Randstelle  zu  dem 
Inhalte  des  Art.  169,  mit  welchem  er  auch  häufig  in  den 
Handschriften  verbunden  ist. 

Man  wird  hienach  nicht  umhin  können,  bei  der  Be- 
trachtung der  lateinischen  Stellen  unseres  Rechtsbuches 
zur  Ueberzeugung  zu  gelangen,  dass  sie  nicht  gleich  an- 
fänglich einen  Bestandtheil  seines  Textes  gebildet 
haben,  sondern  erst  bei  der  Abschriftnahme  in  den- 
selben miteingesetzt  worden  sind,  allerdings  wohl  gleich 
bei  den  ersten  Reinschriften  aus  der  Arbeit  des  Verfassers, 
denn  gerade  die  ältesten  Handschriften  enthalten  die- 
selben schon. 

§  8- 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  wieder  zum 
Deutschenspiegel  und  sogen.  Schwabenspiegel  zurück,  wie 
wird  die  Frage  nach  den  Quellen  der  in  ihnen  hervor- 
tretenden römischrechtlichen  Bestimmungen  zu  be- 
antworten sein? 

Was  den  Deutschenspiegel  betrifft,  zeigt  sich  in 
seinem  ersten  aus  dem  Sachsenspiegel  schon  überarbeiteten 
Theile  an  verschiedenen  Orten  Bekanntschaft  mit  dem  justi- 
nianischen Rechte.     Für  unmittelbare  Benützung  der  Digesten 


1)  Qui  in  fraudem  creditoris  consilio  et  re  manumittit,  nihil 
agit,  quia  lex  Aelia  Sentia  —  vgl.  hiezu  S.  143/144  u.  147  mit  der 
Note  4  —  impedit  libertatem. 

2)  Item  impubes  manumittere  non  potest. 


V.  Rocl'inger:   Ueber  die  Benützung  des  Brachylogus.        lö<' 

und  des  Codex  liegen  keine  irgendwie  verlässigen  Anhalts- 
punkte  vor.  Ob  beim  Art.  19  ohne  weiteres  an  Verwerthung 
der  Novelle  115  ans  einer  der  damals  vorhanden  gewesenen 
Sammlungen  eben  der  Novellen  gedacht  werden  darf,  ist 
zweifelhaft.  Dagegen  wird  nicht  in  Abrede  zu  stellen  sein, 
dass  dem  Verfasser  die  Institutionen  vorgelegen  sind.  Mag 
er  daneben  noch  dieses  oder  jenes  Hand-  und  Hilfsbuch  über 
römisches  Recht  benützt  haben,  darunter  auch  etwa  den 
Brachylogus,  ein  untrüglicher  Anhaltspunkt  gerade  für  ihn 
s;teht  nicht  zu  Gebot. 

Beim  sogen.  Schwabenspiegel  hat  schon  Merkel 
die  Benützung  der  Digesten  und  des  Codex  nicht  für  aus- 
gemacht  crehalten.  sondern  an  bereits  erwähntem  Orte  S.  96 
in  Ziff.  14  geäussert:  num  Digesta  et  Codex  Justiniani  pro 
fontibus  Speculi  aestimari  possint,  discernere  nolui,  pauca 
enim  exempla  similitudinis  tantum,  non  derivationis  inveni- 
untur.  Auch  für  die  Verwerthung  der  Novelle  115  lediglich 
aus  einer  der  damals  gang  und  gäben  Novellensammlungen, 
etwa  aus  dem  Liber  Autenticarum  oder  aus  Julians  Novellen- 
auszug, liegt  ein  bestimmt  entscheidender  Grund  keineswegs 
vor.  Dagegen  ist  nicht  zu  bestreiten,  dass  der  Verfasser 
unseres  Rechtsbuchs  die  Institutionen  nicht  allein  genauer 
gekannt  hat,  wie  er  sie  ja  in  der  geschichtlichen  Einleitung 
—  vgl.  oben  S.  124/25  —  ausdrücklich  erwähnt,  sondern  dass 
er  von  ihnen  auch  da  und  dort  im  ersten  wie  im  zweiten 
Theile  unmittelbar  Gebrauch  gemacht  hat.  Kein  Zweifel 
ist  endlich  nach  der  Ausführung  in  §  6  darüber,  dass  er  — 
und  hievon  war  ja  eben  vorzugsweise  zu  handeln  —  den 
sogen.  Brachylogus  mit  Glossen  zu  demselben  in  einer  Hand- 
schrift von  der  Gestalt  der  vatikanischen  Reg.  Suec.  441  bei 
seiner  Arbeit  zu  Händen  gehabt. 


160  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 


Herr  v.  D  ruf  fei  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber  L  uther's  Bri  ef  an  C  hurs  achsen  und 
Hessen  wegen  des  gefangenen  Herzogs  von 
Braun  schweig." 

Derselbe  wird  später  in  den  Sitzungsberichten  gedruckt 
werden. 


Herr  Stieve  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber  die  Witteis  bach  er  Briefe". 
Derselbe  wird  in  den  Abhandlungen  veröffentlicht  werden. 


161 


Verzeichniss  der  eingelaiifeiuni  Driiclischriffen 

Januar  bis  Juni  1888. 


Die  verehrlichen  Gesellschaften  und  Institute,  mit  welchen  unsere  Akademie  in 
Tausch  verkehr  steht,  werden  gebeten,  nachstehendes  Vei-zeichniss  zugleich  als  Empfangs- 
bestätigung zu  betrachten.  —  Die  zunächst  für  die  mathematisch-physikalische  Classe 
bestimmten  Druckschriften  sind  in  deren  Sitzungsberichten  188S  Heft  3  verzeichnet. 


Von  folgenden  Gesellschaften  und  Instituten: 

Societe  d'emulation  in  Abbeville. 
Memoires.  3e  Serie.  Vol.  4.     1887.     8°. 

Südslavische  Akademie  der  Wissenschaften  in  Agram: 

Rad.  Bd.  83  Theil  2.  Bd.  85  u.  86.     1887.     8». 

Monumenta   spectantia   historiam  Slavorum   nieridionalium.    Vol.   18. 

1887      8*^ 
Starine.  Bd".  XIX.     1887.     8°. 
Ljetopis.     1887.     8°. 

Archäologische  Gesellschaft  in  Agram: 
Viestnik.  Bd.  X.  Heft  1.  2.     1888.     8". 

Geschichts-  und  alterthumsforschende  Gesellschaft  des  Osterlandes 
in  Altenburg: 

Mittheilungen.  Bd.  IX.  Heft  2—4.     1884—87.     8°. 

Societe  des  Antiquaires  de  Picardie  in  Amiens: 

Memoires.  3e  Serie,  tom.  IX.     Paris  1887.     8°. 
Bulletin.  1886  Nr.  3.  4.  1887  Nr.  1.     Amiens  1887.  8». 

Peabody  Institute  in  Baltimore: 
21.  annual  Report.  June  7.     1888.     8". 

Historischer   Verein  in  Bamberg: 
49.  Bericht  für  d.  J.  1886  und  1887.     1888.     8«. 

1888.  Philos.-i.liilol.  u.  hist.  Cl.  II.  1.  11 


162  Verzeichniss  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Historische  und  antiqp .irische  Gesellschaft  in  Basel: 
Beiträge  zur  vaterländischen  Geschichte.  N.  F.  Bd.  II.  Heft  4.  1888.  8°. 

Universitäts-Bihliotheh  in  Basel: 
Schriften  der  Universität  v.  J.  1887/88.     4"  und  S». 

Bataviaasch  Genootschap  van  Künsten  en  Wetenschappen  in  Batavia: 
Nederlandisch-Indisch  Plakaatboek  1602-1811,    door  Van  der   Chijs. 

Deel  IV.     1887.     8». 
Notulen.  Deel  XXV,  aflev.  3.    1887.     8°. 

K.  Preussische  Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin: 

Corpus  inscriptionum  latinarum.  Vol.  XIV.     1887.     Fol. 

Corpus  inscriptionum  atticarum.  Vol.  IV.  part.  I.  fasc.  2.  1887.    Fol. 

Sitzungsberichte  1887.  Nr.  40-54.     gr.  8".                      ^  ^ 

Politische  Correspondenz  Friedrich    des  Grossen.  Bd.  XV.  1887.     8  . 

Kaiserlich  deutsches  archäologisches  Institut  in  Berlin: 

Jahrbuch.  Bd.  II.  Heft  4.  Bd.  III.  Heft  1.     1888.     4P. 
Antike  Denkmäler.  Bd.  1.  Heft  2.     1888.     Fol. 

Verein  für  Geschichte  der  Mark  Brandenburg  in  Berlin: 
Forschungen    zur    Brandenburgiachen    und    Preussischen    Geschichte. 
Bd.  I.  1.  Hälfte.     Leipzig  1888.     8». 

Societe  d'emulation  du  Douhs  in  Besangon: 
Me'moires.  VI.  Ser.  Vol.  I.  1886.     1887.     8". 

B.  Accademia  delle  Scienze  delV  Istituto  di  Bologna: 
Memoric.  Ser.  IV.  Tom.  VII.     1886.     4». 

Universität  Bonn: 
Schriften  a.  d.  Jahre  1887.     4«  und  8«. 

Verein  von  Alterthumsfreuvden  im  Eheinlandc  zu  Bonn: 
Jahrbücher.  Heft  84  u.  85.     1887—88.     gr.  8". 

Aeademie  Boyale  des  Sciences  in  Brüssel. 

Annnaire.  54e  annee.     1888.     8°. 

Bulletin.  56«  annee.  3°  Ser.  tom.  14.  Nr.  12.  57e  annee.  3«  Ser.  tom.  15. 
Nr.  2.  3.  4.     1887—88.     8". 

Academia  Bomana  in  Bucarest: 

Miron  Costin,  Opere  complete.  Tom.  2.     1888.     8". 

Psaltirea   in    verauri   intocmita   de  Dosofteiu  1071  —  1686,   publ.  de  J. 

Bianu.     1887.     8°.  ^^  ^  ^ 

Etymologicum  magnum   Womaniae.  Tom.  Tl.    Fasc.  2.     1888.     4  . 


Verzeichniss  der  eingelaufenen  Druckschriften.  103 

K.   Ungarische  Akademie  der   Wissenschaften  in  Budapest: 
Ungarische  Revue.  1888.  Heft  1—6.     8°. 

Asiatic  Society  of  Bengal  in  Calcutta: 

Bibliotheca  Indica.  New.  Ser.  Nr.  623—637.  1887.  8«. 
Proceedings.  1887  Nr.  9.  10.  1888  Nr.  1.  1877—88.  8<*. 
Journal.  Nr.  276.  278—80.     1887—88.     8". 

Histarischer   Verein  in  Darmstndt: 
Quartalblätter.  Jahrg.  1887.  Nr.  1—4.     1887.     8". 

Verein  für  Anhaltische  Geschichte  in  Dessau: 
Mittheilungen.  Bd.  V.  Heft  2.  3.     1887—88.     8«. 

Academie  des  Sciences  in  Dijon: 

Memoires.  3^  Ser.  Tom.  IX.     1887.     8°. 

Bibliographie  Bourguignonne.  Supplement.     1888.     8". 

Verein  für  Geschichte  der  Baar  in  Donaueschingen: 
Schriften.  Heft  6.  1888.     Tübingen.     8". 

Carl  Friedrichs  Gymnasium  in  Eisenach: 
Jahresbericht  für  d.  J.  1887/88.     1888.     8°. 

Verein  für  Geschichte  und  AUerthümer  der  Grafschaft  Mansfeld 
in  Eisleben: 

Mansfelder  Blätter.  1.  Jahrg.     1887.     8«. 

Biblioteca  nazionale  centrale  in  Florenz: 

ßollettino  delle  publicazioni  italiane.  1887  Nr.  46—48.  1888  Nr.  49 
—60.  Indici  Bogen  1—11  und  Tavola  sinottica  del  1887. 
1887-88.     80. 

Verein  für  Geschichte  zu  Frankfurt  alM.: 

Archiv  für  Frankfurts  Geschichte  und  Kunst.  3.  Folge.  Bd.  1.  1888.  8°. 
Inventare  des  Frankfurter  Stadtarchivs.  Bd.  1.     1888.     8°. 

Kirchlich  historischer   Verein  für  Geschichte  in  Freiburg  i.  B.: 
Freiburger  Diöcesan-Archiv.  Bd.  XIX.     1887.     8°. 

Historischer   Verein  „Schau-ins-Land"  in  Freiburg  i.  B. : 
,Schau-ins-Land'.  13.  Jahrlauf.  1888.  Lief.  3.  4.     Fol. 

Institut  national  in  Genf: 
Bulletin.  Tom.  28.     1888.     8». 


164  Verzeichniss  der  cimjelaiifeHen  Druckschriften. 

Oberlausitzische  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Görlitz: 
Neues  Lausitzisches  Magazin.     Bd.  63.  Heft  2.     1888.     8". 

K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Göttingen: 

Göttingische  gelehrte  Anzeigen.  1887  Nr.  21—26.  1888  Nr.  1—13.  gr.  8°. 
Beilage:  F.  Wüstenfeld.  Die  Mitarbeiter  an  den  Göttingor  gelehrten 

Anzeigen.     1887.     gr.  8'^. 
Abhandlungen.  Bd.  34.     1887.     4". 

Lehensversichertingsbank  für  Deutschland  zu  Gotha: 

Die  Stellung  der  Lebensversicherungsbank  für  Deutschland  zu  Gotha 

zu  der  Frage  der  Kriegsversicherung.     1888.     8''. 
59.  Rechenschaftsbericht  f.  d.  J.  1887.     1888.     4». 

Fürsten  und  Landesschule  in  Grimma: 
Jahresbericht  f.'  d.  .J.  1887/88.     1888.     4°. 

K.  Instituut  voor  de  Taal-,  Land-  en  Volkenkunde  van  Nederlandsch- 
Indie  im  Haag : 

Bijdragen  to  de  taal-,  land-  en  volkenkunde  van  Nederlandsch-Indiö. 

V.  Reeks.  Deel  III.  afl.  1.  2.  3.     1888.     8°. 
Reis  in  Oost-  en  Zuid-Borneo  door  Carl  Bock.     1887.     i^. 

Deutsche  morgenländische  Gesellschaft  in  Halte  a/S. : 
Zeitschrift.  Bd.  41.  Heft  4.  Bd.  42.  Heft  1.    Leipzig  1887—88.     8°. 

Universität   in  Halle  ajS. : 
Schriften  a.  d.  .J.  1887/88.     4°  und  8». 

Verein  für  Hamburgische  Geschichte  in  Hamburg : 

Mittheilungen.  10.  Jahrg.     1887. 
Zeitschrift.  N.  F.  Bd.  V.  Heft  2.     1888.     8". 

Historischer   Verein  für  Niedersachsen  in  Hannover: 
Zeitschrift.  Jahrg.  1887.     8°. 

Verein  für  siebenbürgische  Landeskunde  in  Herrmannstadt: 
Archiv.  N.  F.  Bd.  XXI.  Heft  3.     1888.     8°. 

Historischer   Verein  in  Ingolstadt: 
Saramelblatt.  13.  Heft.     1888.     8". 

Ferdinandeum  in  Innsbruck : 
Zeitschrift.  3.  Folge.  Heft  31.     1887.     8». 


Vcrzeichniss  der  cinfielaufenen  Druckschriften  Hio 

Universität  in  Kieiv  : 
Iswestija.   Bd.  XXVU.  Nr.  10-12.  Bd.  XXVIII.  Nr.  1-5.  1887-88.  8". 

Landesmuseum  in  Kärnthcn  zu  Klagen  fürt: 
Carinthia.  Jahrg.  77.     1887.     S». 

Universität  in  Königsberg: 
Schriften  der  Universität  a.  d.  J.  1887  und  1888.     4°  und  8». 
K.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Kopenhagen: 

Oversigt.  1887.  Nr.  2.  3.  1888.  Nr.  1.     1887—88.     8». 
Skrifter.  Historik  Afdel.  Vol.  II.  Nr.  1.     1888.    4*^. 

Gesellschaft  für  Nordische  Alterthumskunde  in  Kopenhagen: 

Memoires.  Nouv.  Ser.  1887.     8°. 

Aarböger.    1887.    II.  Raekke.    Bd.  II.    Heft  4.    Bd.  111.    Hett  1.    1887 
—88.     80. 

Akademie  der  Wissenschaften  in  Krakau: 

Rocznik  (Jahrbuch).  Rok  1886.     1887.     8". 

Pamietnik  (Abhandlungen).  Philolog.  bist.  Classe.  Bd.  VI.    1887.    4". 

Rozprawij  (Sitzungsberichte). 

a)  histor.  philos.  Classe.  Bd.  19.  20. 

b)  philolog.  Classe.  Bd.  12.     1887.     8". 
Monumenta  medii  aevi.  Tom.  X.     1887.     4^. 
Scriptores  reruni  Polonicarum.  Tom.  XI.     1887.     8". 
Acta  historica.  Tom.  IX.  X.  XI.     1886—87.     4«. 
Carmina  Pauli  Crosnensis.     1887.     8". 

Historyja  Stuki.  Tom.  III,  4.     1887.     4". 
Malinowski,  ModHtwy  Wactawa.     1887.     8". 

K.  Sächsische  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Leipzig: 

Berichte  der  philol  .-historischen  Classe.  1887  Nr.  4.  5.     1887.     8'>. 
Abhandlungen    der    philologisch-historischen    Classe.    Bd.    X.    Nr.    8. 
1888.     4". 

Museum  Francisco-Carolinum  in  Linz: 

46.  Bericht.     1888.     8". 

Katholische   Universität  in  Lötven: 

Annuaire.     1888.     8°. 

Revue  catholique.  Tom.  54.  1883.  (12  Hefte).     1883.     8". 

Adolphus  Hebbelynck,  De  auctoritate  libri  Danielis  dissertatio.  1887.  8". 

J.  de  Costes,  La  problemc  de  la  tinalite.     1887.     8". 

K.   Universität  in  Lund: 
Acta  Universitatis  Lundensis.  Tom.  XXIII.  Nr.  1—3.     1887—88.     4«. 


166  Verzeichniss  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Beul  Acaäemia  de  la  historia  in  Madrid: 
Boletin.  Tomo  XL  cuad.  6.  Tomo.  XII.  cuad.  1—5.    1887—88.    8°. 

Biblioteca  nazionale  di  Brera  in  Mailand: 
Archivio  storico  Lombardo.    Serie  II.    Anno  XV.    Fase.  1.     1888.     8*^. 

Verein  für  Geschichte  der  Stadt  Meissen  in  Meissen: 
Mittheilungen.  Bd.  IL  Heft  1.     1887.     8'\ 

Academie  in  Mets: 
Memoires.  Ile  Periode  66^  annee  1884—85.     1888.     8°. 

Academie  des  sciences  et  Icttres  in  Montpellier: 
Memoires.  Section  des  lettres.  tom.  VIII.  1.     1887.     4°. 

Musees  Public  et  Boumiantzow  in  Moskau: 

Description    systematique    des   collections    du  Musee   Ethnographique 

Daschkow.     Livr.  1.     1887.     8°. 
Catalogue  de  la  section  des  Gravures.  Livr.  1—4.     1888.     4°. 
Recueil  de  materiaux  pour  Tethnographie.  Livr.  3.     1888.     8". 

Historischer  Verein  München : 
Bericht  bei  der  Feier  des  50jährigen  Bestehens.     1888.     8". 

Technische  Hochschule  in  München: 
Personalstand.     Sommer-Semester  1888.     8^. 

K.   Universität  in  München: 

Verzeichniss  der  Vorlesungen.  Sommer-Semester  1888.     4°. 
Amtliches  Verzeichniss  des  Personals.    Sommer-Semester  1888.    8*^. 

Kaufmännischer   Verein  in  München: 

14.  Jahresbericht  1887—88.     8«. 

Verein  für  Geschichte  und  Alterthumskunde  Westfalens  in  München: 

Zeitschrift  für  vaterländische  Geschichte.  Bd.  45.     1887.     8". 

Academie  de  Stanislas  in  Nancy: 

Memoires.  5.  Se'rie.  tom.  4.     1887.     8°. 

Reale  Academia  di  scienze  morali  e  politiche  in  Neapel: 

Atti.  Vol.  XXI.  XXII.     1887-88.     8». 
Rendiconti.  Anno  1887.     8". 

Historischer  Filialverein  in  Neuburg: 

Kollektaneen-Blatt.  51.  Jahrg.     1887.     8°. 

American  Oriental  Society  in  New-Haven: 

Proceedinga  at  Baltimore.     Oct.   1887.     S*'. 


Verzeichniss  der  eingelaufenen  Druckschriften.  1G7 

Astor  Library  in  Nerc-Yorh: 
39.  annnal  Report,  for  the  year  1887.     1888.     8». 

Germanisches  Museum  in  Nürnberg: 

Anzeiger.  Bd.  II.  Heft  1.     Jahrg.  1887.     8^ 
Mittheilungen.  Bd.  II.  Heft  1.     Jahrg.  1887.     8". 
Katalog  der  im  germanischen  Museum  befindlichen  vorgeschichtlichen 
Denkmäler.     1887.     8". 

TJie  English  Historical  Review  in  Oxford: 
Review.  Nr.  9  and  10.  January  and  April  1888.     8". 

Ministere  de  VInstruction  publique  in  Paris: 

Catalogue    des   monnaies   musulmanes   de   la  Bibliotheque   nationale, 

publie   par    ordre   du   Ministre    de   rinstruotion    publique    par 

Henri  Lavoix.     1887.     8". 
Collection  des  anciens  alchimistes  grecs,  publiee  sous  les  auspices  du 

Ministere  de  Tlnstruction  publique  par  M.  Berthelot.     Livr.  I. 

1887.     40. 

Musee  Guimet  in  Paris: 

Annales  du  Musee  Guimet.  Tom.  X.     1887.     4". 

Revue  de  l'histoire  des  religions.  Tom.  XV.  Nr.  3.  Tom.  XVI.  Nr.  1.  2. 

1887.     8°. 
Securitä  dans  les  theatres  par  M.  Emile  Guimet.     Lyon  1887.     8°. 

Revue  historique  in  Paris: 

Revue  historique.    13"  annee.    tom.  3G.    Nr.  1.  2.    tom.  37.    Nr.  1.  2. 

Janvier— Aoüt  1888.     &\ 
Deuxieme  Table  generale  1881—85.     1887.     8°. 

Academie  Imperiale  des  Sciences  in  Petersburg: 
Mämoires.  Tom.  XXXV.  Nr.  8—10.     1887.     Fol. 

Historical  Society  of  Pennsylvania  in  Philadelphia: 
The  Pennsylvanian  Magazine.  Vol.  XL  Nr.  1—4.     1887—88.     8^ 

Historische  Gesellschaft  der  Provinz  Posen  in  Posen: 
Zeitschrift.  3.  Jahrg.  Heft  1—4.     1888.     8". 

K.  böhmisches  Museum  in  Prag: 

Casopis.  Bd.  61.  Heft  2—4.     1887.     8". 
Geschäftsbericht  für  1887.     1888.     8". 

Reale  Accademia  dei  Lincei  in  Rom: 

Atti.   Ser.  4.    Rendiconti.  Vol.  HL    Faso..  6-13.  Vol.  IV.   Fase.  1—7. 

18ö7— 88.     40. 


168  Verseichniss  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Annuario.     1888.     8°. 

Atti.  Ser.  Tl.  Vol.  4.  Ser.  III.  Vol.  12.     1884—87.     4». 

Biblioteca  nazionale  centrale   Vittorio  Emanuele  in  Rom: 
Bollettino  delle  opere  moderne  straniere.  Vol.  II.  Nr.  4—6.  1888.  8°. 

Kaiserlich  deutsches  archäologisches  Institut  in  Rom: 

Mittheilun^en.  Römische  Abteilung.  Bd.  IL  1887.  8«.  Bd.  III.  Heft  1. 
1888.     80. 

Gesellschaft  für  Sahburger  Landeslcunde  in  Salzburg: 
Mittheiluncren.     27.  Vereinsjahr  1887.     8«. 

China  Branch  of  the  Royal  Asiatic  Society  in  Shanghai: 
Journal.  Vol.  XXII.  Nr.  1—4.     1887.     8". 

Museo  archeologico  in  Spalato: 

Bullettino  di  archeologia.  Anno  X.  Nr.  12.  Anno  XI.  Nr.  1—5.    1887 
—88.     8°. 

Museum  in  Speyer: 

Katalog  der  historischen  Abtheiliing  des  Museums.     1888.     8**. 

Vitterhets,  historie  och  antiquitets  Akademie  in  Stoclxhohn : 
Antiquarisk  Tidskrift  för  Sverige.  Del  10.  Heft  3.  4.     1887.     8". 

Universität  in  Strassburg: 
Schriften  a.  d.  .lahre  188G/87.     4"  und  8«. 

K.  Statistisches  Landesamt  in  Stuttgart : 

Württembergische  Vierteljahrshefte  für  Landesgeschichte.    Jahrg.  X. 
Heft  1-4.     1887—88.     4". 

Museo  comimale  in  Trient: 
Archivio  Trentino.  Anno  VI.  Fase.  2.     1887.     8°. 

Korrespondenzblatt  für  die  gelehrten  und  Realschulen  Württembergs 

in  Tübingen: 

Korrespondenzblatt.    34.  Jahrg.    1887.    Heft  9-12.    1888.    Heft  1—4. 
1887—88.     80. 

R.  Accademia  delle  scienze  in   Turin: 

Atti.  VoL  XXUL  disp.  1-12.     1887—88.     8«. 
Memorie.  Ser.  IL  Tom.  38.     1888.     4«. 

K.  Gesellschaft  der   Wissenschaften  in   Upsala: 
Nova  Acta.  Ser.  HL  Tom.   XIII.  Fase.  2.     1887.     4'. 


Verzeichniss  der  eingelaufenen  Druckschriften.  lo9 

Historisch  Genootschap  i)i   Utrecht: 
Werken.  Nr.  46  -50.     1888.     8«. 

Äccadeniia  OUmpica  in   Vicenza: 
Atti.  Vol.  XX.     1885.     8°. 

National  Bureau  of  Education  in   Washington: 
Report    of  the   Commissioner   of  Education    for    the    year   1885—86. 

1887.     8«. 
Circular  of  Information  Nr.  3.     1887.     8". 

Harzverein  für  Geschichte  in   Wernigerode: 
Zeitschrift.  20.  Jahrg.  2.  Hälfte.     1887.     8°. 

Kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften  in   Wien: 
Mittheilungen  der  prähistorischen  Commission.  Nr.  1.  1887.  1888.  4°. 

K.  R.   Universität  in  Wien: 
Oeffentliche  Vorlesungen  im  Sommer-Semester  1888.     8". 

Verein  für  nassauische  Älterthumskunde  in  Wiesbaden: 
Annalen.  Bd.  XX.  Heft  1.     1887.     gr.  8'^. 

Herzogliche  Bibliothek  in  Wolfenbüttel: 

Die  Handschriften  der  herzoglichen  Bibliothek  zu  Wolfenbüttel,   be- 
schrieben von  Ü.  V.  Heinemann.  Bd.  HI.     1888.     8*^. 

Historischer  Verein  in  Würzburg: 

Jahresbericht  für  1886.     1887.     8°. 
Archiv.  Bd.  XXX.     1887.     8». 

Die  Stadt  Würzburg  im  Bauernkriege  von  Martin  Cronthal.  Herausg. 
von  Michael  Wieland.     1887.     8». 

Universität  in  Zürich: 
Schriften  der  Universität  aus  dem  Jahre  1887/88.     i^  und  8". 


Von  folgenden  Herren: 

Eduardo  Äbreu  in  Lissabon: 
Ora^Öes  Academicas.     Lisboa  1888.     8". 

Joaquim  de  Aranjo  in  Porto: 
Luis  de  Camoes.     1887.     8". 


170  Verzeiehniss  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

L.  r.  Borch  in  Innsbruelc : 
Ein  Urtheil  des  Reichs-Kammergerichts  über  Landeshoheit.   Tübingen 

1888.     80. 
Zur  Entwicklung  der  sächsischen  Wergelder.     s.  1.  1888.     S*". 

John  G.  BourJi-e  in  Washington: 

Compilation  of  Notes  and  Memoranda  bearing  upon  the  use  of  human 
ordure  and  human  urine  in  rites  of  a  religious  or  semi-religious 
character.     1888.     8". 

Anton  Ganser  in  Graz: 
Alles  reale  Sein  beginnt  als  Act  eines  intelligenten  Wollen.  1888.  8°. 

Gaston  Paris  in  Paris: 
La  litterature  fran9aise  au  moyen  tige  (XI— XlVe  aieclel.     1888.     8°. 

Josef  Perles  in  München : 
Biure    Onkelos.    Scholien   zum    Targum   Onkelos   von   Simon   Barueh 
Schefftel,  herausg.  von  Josef  Perles.     1888.     8«. 

Rudolf  Both  in  Tübingen  \ 
Festgruss  an  Otto  von  Böhtlingk  zum  Doctorjubiläum.    3.  Feb.  1888. 
Stuttgart,     gr.  S». 

Buggero  della  Torre  in  Cividale  (Friaid): 
Poeta-Yeltro,  per  Euggero  della  Torre.     1887.     8". 

A.  Wallin  in  Stockholm: 
Prophetie  und  Katechismus,  2  religiöse  Tractate.     1888.     8°. 


Sitzungsberichte 

der 

königl.   bayer.   Akademie  der  AVissenschaften. 


Philosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  Juli  1888. 

Herr  v.  Brunn  hielt  einen  Vortrag; 
^Ueber  Giebelgruppen". 

Die  Masse  neuen  Stoffes,  welcher  der  Archäologie  in 
den  letzten  zwei  Jahrzehnten  zugeführt  worden  ist,  macht 
es  dem  Einzelnen  unmöglich,  allen  durch  diese  Vermehrung 
angeregten  Fragen  die  gleiche  Sorgfalt  zuzuwenden.  Um- 
stände verschiedener  Art  können  hier  eine  Beschränkung 
sogar  zur  Pflicht  machen.  So  glaubte  ich  darauf  verzichten 
zu  dürfen,  mich  in  den  Streit  über  die  Anordnung  der 
olympischen  Giebelgruppen  einzumischen.  Aber  meine  guten 
Vorsätze  sind  wieder  einmal  zu  Schanden  geworden,  indem 
zu  meiner  freudigen  Ueberraschung  in  der  diesjährigen  Januar- 
sitzung der  archäologischen  Gesellschaft  zu  Berlin  G.  Treu 
eine  Umstellung  der  beiden,  der  Mittelfigur  zunächst  benach- 
barten Gruppen  des  Westgiebels  in  Vorschlag  brachte,  die, 
wie  es  scheint,    allgemeine  Zustimmung    erfahren    hat :    eine 

1888.  Philos.-pliilol.  u.  liist.  Ol.  II.  2.  12 


172  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  t;om  7.  Juli  1888. 

Umstellung,  die  ich  schon  seit  längerer  Zeit  im  Verkehr  mit 
Freunden  und  Schülern  als  wahrscheinlich,  wenn  nicht  als 
nothwendig  bezeichnet  hatte.  Nur  hatte  ich  Anstand  ge- 
nonnnen,  mich  öflFentlich  darüber  auszusprechen,  weil  ich 
mich,  ohne  die  Mittel  einer  äusserlichen  oder  thatsächlichen 
Beweisführung  zur  Verfügung  zu  haben,  nur  auf  innere, 
künstlerische  Gründe  zu  stützen  vermochte,  die  als  zu  „sub- 
jectiv"  sich  bei  vielen  der  Fachgenossen  eines  geringen,  um 
nicht  zu  sagen,  eines  Misscredits  erfreuen.  Nachdem  man 
sich  jetzt  der  Autorität  thatsächlicher  Beobachtungen  gefügt 
hat,  wird  man  vielleicht  eher  geneigt  sein,  auch  künstlerischen 
Erwägungen  ihr  Recht  angedeihen  zu  lassen,  um  so  mehr 
wenn  es  gelingen  sollte,  die  gerade  vorliegenden  Fragen  aus 
ihrer  Vereinzelung  zu  befreien  und  allgemeineren  Gesichts- 
punkten unterzuordnen. 

Schon  ein  früherer  Vortrag  über  die  Composition  der 
aeginetischen  Giebelgruppen  (in  den  Sitzungsbericliten  vom 
November  1868)  bot  mir  die  Gelegenheit,  über  die  Compo- 
sition der  Figuren  im  Aetos,  dem  Adlerfelde  des  Giebels, 
nachzudenken.  Der  weitere  Verlauf  meiner  knnstgeschicht- 
lichen  Studien  führte  mich  bei  Gelegenheit  der  Parthenons- 
giebel zum  zweiten  Male  auf  dasselbe  Thema  unter  etwas 
veränderten  Gesichtspunkten.  Es  scheint  mir  an  der  Stelle, 
hier  mitzutheilen ,  was  ich  damals  niedergeschrieben  habe, 
und  zwar  vor  der  Zeit  der  olympischen  Entdeckungen,  aber 
nach  meinem  Vortrage  über  die  Bildwerke  des  Parthenon 
(Sitzungsber.  vom  Juli  1874).  Ich  thue  es  auf  die  doppelte 
Gefahr  hin,  theils  dass  ich  da  und  dort  mich  wiederholen, 
theils  dass  ich  diese  devregai  (pQOvtidtg  in  meiner  jetzigen 
dritten,  an  die  olympischen  Gruppen  anknü))feiiden  Betrach- 
tung in  mehreren  Punkten  sogleich  selbst  wieder  berichtigen 
muss.  Ich  glaube  dadurch  den  besten  Beweis  zu  liefern, 
dass  es  sich  bei  diesen  Darlegungen  nicht  um  subjective 
Ansichten   handelt,    sondern    niu    Anschanniigen,    die  von  der 


r.  Bnnni:   Uehcr  Giebelgruppen.  173 

Betrachtuiior  bestimmter  Thatsachen  ausgehen,  aber  natiir- 
gemäss  mannigfachen  Berichtigungen  und  schärferen  Begren- 
zungen unterworfen  werden  müssen,  sobald  das  Gebiet  der 
Thatsachen  durch  neue  Entdeckungen  wesentliche  Erweite- 
rungen erfährt. 

Das  langgestreckte,  in  sehr  spitze  Winkel  auslaufende 
Dreieck  eines  niedrigen  Giebels  bildet  im  Grunde  ein  sehr 
ungünstiges  Feld  für  Ausschmückung  mit  statuarischen  Gruppen, 
und  um  dem  Zwange  des  Raumes  7ai  begegnen,  bedurften  die 
Künstler  verschiedenartiger  Auskunftsmittel,  welche  aufzu- 
finden bei  steigender  Grösse  des  Tempels  immer  schwieriger 
wurde. 

Schon  an  den  Gruppen  von  Aegina  begegnen  wir  dem 
glücklichen  Gedanken,  die  spitzen  Ecken  gewissermassen  ab- 
zuschneiden und  dadurch  das  mittlere  Feld  zu  verengen  und 
günstiger  zu  gestalten :  die  Verwundeten  liegen  ausserhalb 
des  Kam])fplatzes,  nicht  mehr  betheiligt  an  der  Handlung. 
In  dem  erhöhten  Centrum  durfte  man  der  Göttin  ihrem 
Kange  nach  ein  bedeutenderes  Körpermaass  verleihen,  als 
den  sterblichen  Helden,  um  so  mehr  als  sie  durch  ihre 
Stellung  in  der  Vorderansicht  auch  künstlerisch  in  einer 
gewissen  Absonderung  von  ihnen  erschien.  Daneben  genügte 
der  sehr  geschickt  erfundene  Wechsel  in  den  Stellungen  der 
stehenden  Vorkämpfer  und  der  knieenden  Helfer  und  Bogen- 
schützen, um  der  weiteren  Bedingungen  des  Raumes  Herr 
zu  werden.  In  der  Gruppe  des  Paeonios  an  dem  do])pelt  so 
breiten  Tempel  zu  Olympia  sind  zunächst  Avieder  die  Ecken 
durch  die  Flussgötter  beseitigt,  die  sich  ausserhalb  der  eigent- 
lichen Handlung  befinden.  Das  Centrum  aber,  im  eigentlichsten 
Sinne  nur  das  Bild  des  Zeus,  ist  hier  verstärkt  oder  verbreitert 
durch  die  unmittelbar  vor  demselben  beschäftigte  Doppel- 
gruppe des  Oenomaos  mit  seiner  Gattin  und  des  Pelops  mit 
der  Hippodaniia.  Die  Einheitlichkeit  dieses  erweiterten  Centrums 

12^ 


174  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

ist  ausdrücklich  dadurch  hervorgehoben,  dass  die  nächsten 
Figuren,  die  beiden  Wagenlenker,  vor  den  Rossen  sitzen, 
also  einen  bestimmten  Abschnitt  l^ezeichnen.  In  den  Rossen 
selbst  sind  dann  allerdings  tüchtige  Seitenflügel  gegeben, 
während  der  niedriger  werdende  Raum  durch  den  Wagen 
und  die  zwei  knieenden  oder  sonst  gebückten  Knechte  räum- 
lich sehr  gut  ausgefüllt  zu  werden  vermochte.  Doch  fehlt 
hier  der  schöne  Abschluss,  den  bei  den  Aegineten  die  Bogen- 
schützen gewähren,  welche,  wenn  auch  vom  Hintertreffen 
aus,  noch  bestimmt  in  die  Haupthandlung  eingreifen.  In 
Olympia  nimmt  das  Interesse  nach  den  Seiten  zu  stark  ab, 
und  es  fehlt  die  scharfe  Scheidung  und  der  Gegensatz  zwischen 
Ecken  und  Flügelgruppen. 

Am  Parthenon  wenden  wir  uns  zunächst  zur  Gruppe  des 
Westgiebels,  deren  Composition  uns,  Avenn  auch  nur  in  un- 
vollkommenen Skizzen,  doch  in  den  Hauptmassen  vollständig 
erhalten  ist.  Auch  hier  sind  die  Ecken  abgeschnitten,  aber 
erst  im  Rücken  der  beiden  Wagenlenkerinnen,  und  messen 
wir  auf  der  Grundfläche  nicht  der  inneren  Breite  des  Giebels, 
sondern  seiner  weitesten  Ausladung,  so  finden  wir,  dass  auf 
die  Seiten  nahezu  je  ein  Drittel  der  Breite  fällt,  und  auch 
der  mittlere  Theil  der  Composition  kaum  mehr  als  ein  Drittel 
füllt,  welches  freilich  durch  seine  Höhenentwickelung  die 
beiden  spitz  verlaufenden  Ecken  weitaus  überragt.  Diese 
Wirkung  Avird  aber  noch  bedeutend  verstärkt  durch  die 
Grössenverhältnisse  der  Figuren,  die  von  der  Mitte  nach  den 
Seiten  in  verschiedenen  Abstufungen  abnehmen,  und  doch, 
so  stark  dieselben  mit  den  wirklichen  Maassen  gemessen  sind, 
so  verschwinden  sie  fast  vor  dem  geistigen  Auge,  so  dass 
wir  nur  mit  dem  rechnenden  Verstände  uns  das  Verhältniss 
vijllig  klar  zu  machen  im  Stande  sind.  Der  Künstler  hat 
die  beiden  gewaltigen  Hauptfiguren,  das  eigentliche  Centrum, 
Athene  und  Poseidon,  von  allen  andern  isolirt,  indem  er  sie 
zwischen  die  Rosse  der  l)eiden  Gespanne  stellte,  die  wir  nicht 


V.  Bru)))i :   lieber  Giebelgruppen.  175 

nach  ihren  natürlichen  Verhältnissen  zur  menschlichen  Gestalt 
messen.  Die  Rosse  aber  bäumen  sich,  und  so  werden  wir 
durch  die  mit  dem  Abfalle  des  Giebeldaches  parallele  Neigung 
ihrer  Körper  nach  rückwärts  von  der  hohen  Mitte  des  Giebel- 
feldes nach  dem  mittleren  Seitendurchschnitt  hingeführt. 
Dort  begegnen  wir  zunächst  je  einer  nach  dem  Centrum 
eilenden,  etwas  nach  vorn  geneigten  Figur  und  darauf  den 
beiden  Wagenlenkerinneu,  die  stark  nach  rückwärts  gelehnt 
und  mit  stark  eingebogenen  Knieen  und  Hüftgelenk,  an  der 
Stelle,  wo  sie  sich  befinden,  gerade  aufgerichtet  bedeutend 
über  den  Rand  des  Giebelfeldes  hervorragen  müssten.  Gerade 
dadurch  aber  vermochte  sie  der  Künstler  in  das  richtige 
Verhältniss  zu  den  Rossen  zu  setzen  und,  indem  er  sie  im 
Profil,  mit  dem  Rücken  sich  nach  den  Seiten  des  Giebels 
wenden  Hess,  bestimmt  von  den  noch  übrigen  Figuren  ab- 
zusondern. Diese  letzteren  bilden  nun  eine  dritte  Kategorie, 
die  der  zweiten  ihrer  Grösse  nach  etwa  so  weit  untergeordnet 
ist,  wie  die  zweite  der  ersten,  d.  h.  den  beiden  Centralfiguren. 
Flier,  innerhalb  des  so  beschränkten  Eckabschnittes  des  Giebels, 
war  es  jetzt  möglich,  so  ziemlich  die  gleichen  Grössenver- 
hältnisse  für  alle  Figuren  festzuhalten  und  doch  durch  höheres 
oder  niedrigeres  Sitzen,  Knieen  oder  Liegen  sich  mit  den 
Bedingungen  des  immer  mehr  sich  verengenden  Raumes  ab- 
zufinden. 

Wir  dürfen  das  Princip  der  gesammten  Anordnung  ein 
malerisches  nennen.  Dj^e  beiden  Hauptfiguren  nehmen  die 
Mitte,  den  Vordergrund  ein ;  die  thätig  assistirenden  mit  ihrer 
Begleitung  die  Mitte  der  Flügel,  den  Mittelgrund;  die  Aus- 
läufer der  Flügel  bilden  den  Hintergrund.  Im  Vordergrunde 
amfasst  unser  Auge  nur  wenige  Gegenstände,  diese  aber  in 
grösseren  Verhältuissen,  im  Hintergrunde  eine  grössere  Zahl, 
aber  in  verminderter  Grösse.  So  treten  uns  in  der  Mitte 
nur  zwei  auseinanders^chreitende  Figuren  entgegen  ;  aber  auch 
im  nächsten  Gliede  herrscht  noch  Einfachheit  und  Klarheit, 


176  Sitzuny  der  phdos.-pkllol.  Classc  vom  7.  Juli  1888. 

namentlich  dadurch,  dass  wir  die  Doppelzahl  der  Rosse  doch 
immer  als  einheitliches  Gespann  fassen.  Erst  hinter  den 
Wagenlenkerinnen  wächst  die  Mannigfaltigkeit  und  fast  be- 
absichtigt erscheint  hier  ein  gewisser  Mangel  scharfer  Glie- 
derung, ein  blosses  Nebeneinanderstellen  von  Figuren  und 
kleineren  Gruppen,  um  den  streng  geschlossenen  Kern  der 
von  den  Flügeln  eingerahmten  Mittelglieder  nur  um  so  be- 
stimmter hervortreten  zu  lassen. 

Ueber  den  Ostgiebel  haben  wir  wegen  der  frühen  Zer- 
störung seiner  Mitte  geringere  Kunde.  Dass  aber  eine  ver- 
wandte Abstufung  der  Hauptgliederungen  auch  hier  geherrscht 
habe,  scheinen  die  erhaltenen  Seitenflügel  zu  bestätigen.  8ie 
bilden,  von  der  einen  bewegten  Mädchengestalt  abgesehen, 
eine  Einrahmung,  einen  Kranz  von  nicht  direct  an  der  Haupt- 
handlung betheiligten,  ruhig  beobachtenden  Zuschauern.  Sehen 
wir  nun,  wie  nach  den  mehr  als  halb  unter  dem  Horizoiit 
verborgenen  Gespannen  des  Helios  und  der  Selene  je  eine 
liegende,  dann  zwei  sitzende  Gestalten  folgen,  weiter  die 
einzelne  lebhaft  nach  der  Seite  vorschreitende,  der  eine  ähn- 
liche auf  dem  entgegengesetzten  Flügel  entsprochen  haben 
muss,  so  ist  es  kaum  möglich,  sich  der  Analogie  des  West- 
giebels zu  entziehen  und  nach  diesen  Figuren  etwas  anderes 
als  einen  bestimmten  Abschnitt  der  Composition  anzunehmen. 
Wie  dort  die  Wagenlenkerinnon  das  mittlere  Feld  zusammen- 
uud  von  den  Seitenflügeln  al)schliessen,  so  erwarten  wir  auch 
hier  zunächst  je  eine  bedeutendere  im  Profil  sichtbare,  etwa 
thronende  Gestalt,  die  mit  dem  Rücken  nach  den  Flügeln 
gewendet  die  Aufmerksamkeit  nach  der  Mitte  hinlenkt.  Ein 
gewisser  Unterschied  würde  sich  dann  zunächst  darin  zeigen, 
dass  die  Seitenflügel  weniger  stark  angefüllt,  überhaupt  klarer 
und  ruhiger  erscheinen.  Aber  gerade  dieser  Umstand  scheint 
wieder  im  engsten  Zusammenhange  mit  der  Haupthandhmg 
oder  vielmehr  aus  dieser  heraus  sich  zu  entwickeln.  Dem 
Streite  der  Athene  und  des  Poseidon,  den  bewegten  Gespannen 


c.  Brunn:    Uebcr  Criehelgnipimi.  177 

des  Wt'stinehels  gegenüber  würde  eine  Compo.sition  der  Seiten- 
flügel wie  die  des  Ostgiebels  künstlerisch  zu  wenig  bewegt 
erscheinen.  Im  Ostgiebel  dagegen  verlangt  umgekehrt  diese 
künstlerische  Ruhe  eine  grossere  Einfachheit  und  Hube  auch 
im  Centrum.  Wir  gewinnen  sie,  wenn  wir,  wie  in  Olympia 
das  Bild  des  Zeus,  so  hier  den  Gott  selbst  erwartungsvoll, 
al>er  künstlerisch  ruhig,  sei  es  allein  als  Kolossalfigur,  sei 
es  zwischen  zwei  ebenfalls  ruhigen,  ihm  assistirenden  Frauen 
thronend,  voraussetzen  und  die  Bewegung  auf  den  Kaum 
zwischen  ihm  und  den  seitwärts  thronenden  Gestalten  be- 
schränken.^) 


1)  Meine  Ansicht,  dass  der  Moment  vor  der  Geburt  der  Athene 
dargestellt  sei,  ist  nicht  hervorgerufen,  gründet  sich  auch  nicht  aus- 
schliesslich oder  auch  nur  vorzugsweise  auf  den  Ausdruck  des  Pau- 
sanias  (I,  24,  5):  .-rdvTa  ig  jijv'A&rjväg  s/st  yivEaiv,  sondern  ich  benütze 
ihn  nur,  um  meine  auf  inneren  Erwägungen  beruhende  Ueberzeugung 
zu  unterstützen,  und  beharre  dabei  trotz  des  von  L.  Schwabe  (Jenaer 
Litzeit.  1875,  Art.  168)  erhobenen  Widerspruchs,  der  bei  Pausanias 
nur  einen  Wechsel  des  Ausdrucks  aus  stilistischen  Gründen  anerkennen 
will.  "E/^Ei  k  kehrt  wieder  II,  17,  3  bei  Erwähnung  des  Figuren- 
schmuckes am  argivischen  Heraeon:  ta  fiev  ig  rijv  Aiog  yivsaiv  y.al 
dewv  xal  riyärioiv  f^dytjy  «;?",  rd  8e  ig  rov  Jigög  Tgoiav  ji6?.e/*ov  xai 
' lUov  ri]v  älcooiv.  Der  Ausdruck  bezeichnet  sehr  wohl,  dass  gewiss 
nicht  der  Geburtsact  des  Zeus  dargestellt  war,  auch  nicht  die  Gi- 
gantomachie,  die  Einnahme  von  Troia,  sondern  verschiedene  auf 
diese  Sagen  bezügliche  Scenen.  Dagegen  gebraucht  Pausanias  con- 
sequent  iozi  bei  dem  Streit  der  Athene  und  des  Poseidon,  bei  den 
Giebelgrui>pen  von  Olympia  V,  10,  6  u.  8,  von  Delphi  X,  19,  3,  von 
Tegea  VIII,  45,  6  u.  7,  eben  so  bei  den  delphischen  Gemälden  des 
Polygnot  X,  25,  2:  "Ihög  xe  iaxiv  eaktoxvTa  xal  dnöjiXovg  6  EXXi)v(ov 
und  28,  1 :  foziv  'OSvaoevg  xazaßeßijxcjg  ig  tov  "Aidtjr.  Man  sieht  also, 
dass  Pausanias  hier,  wie  auch  sonst  bei  seinen  Beschreibungen  z.  B. 
des  Kypseloskastens,  des  amykläischen  Thrones,  keineswegs  einen 
Wechsel  des  Ausdrucks  nur  aus  stilistischen  Gründen  erstrebt,  sondern 
dass  das  vom  Gewöhnlichen  abweichende  sxsi  mit  besonderer  Absicht 
gewählt  sein  muss.  —  Da  sich  gerade  die  Gelegenheit  bietet,  so 
möchte  ich   hinzufügen,   dass   meine    Autfassung   des    Momentes    eine 


178  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

Obwohl  es  nicht  dieses  Ortes  sein  kann,  auf  die  Deutung 
der  einzelnen  Figuren  in  den  Gruppen  einzugehen,  so  ist 
schon  hier  wohl  die  Frage  gestattet,  ob  denn  diese  äussere 
Gliederung  des  Raumes,  die  doch  offenbar  keine  zufällige, 
sondern  vom  Künstler  mit  klarer  und  bewusster  Absicht 
gewählt  ist,  als  etwas  von  dem  Inhalte  der  Darstellung  ganz 
Unabhängiges  gedacht  werden  darf,  ob  nicht  beides,  Raum 
und  Inhalt,  sich  gegenseitig  bedingen  und  harmonisch  in 
einander  greifen  muss.  Klar  liegt  im  Westgiebel  eine  der 
der  räumlichen  durchaus  entsprechende  geistige  Abstufung 
vor  in  den  beiden  handelnden,  der  höchsten  Sphäre  an- 
gehörigen  Hauptgottheiten  der  Mitte  als  Protagonisten  und 
den  die  Gespanne  begleitenden  dienenden  und  helfenden  gött- 
lichen Wesen  als  Deuteragonisten.  Wir  verlangen  jetzt  eine 
gleiche  Abstufung  von  den  letzteren  zu  den  als  Zeugen  oder 
Zuschauer  anwesenden  Gestalten  des  Hintergrundes.  Wir 
erwarten  hier  Tritagonisten,  also  gewiss  nicht  Wesen  der 
höchsten  Art,  welche  die  Aufmerksamkeit  zu  sehr  von  der 
Mitte,  von  der  Haupthandlung  ablenken  würden.  Nur  Ge- 
stalten von  weniger  stark  ausgeprägter  Individualität,  die 
weniger  persönliches  Interesse  in  Anspruch  nehmen,  eignen 
sich  für  den  Hintergrund;  und  einen  Fingerzeig  für  die 
Kreise,  in  denen  wir  sie  zu  suchen  haben,  liefert  uns  zunächst 
der  unverkennbare  in  der  Ecke  gelagerte  Flussgott.  — 
Solche  Erwägungen  haben  mich  schon  früher  bei  meiner 
Deutung  der  Bildwerke  des  Parthenon  geleitet  (vgl.  besonders 
S.  27),  wenn  mir  auch  damals  die  principielle  Bedeutung  der 


weitere  schöne  Unterstützung,'  durch  den  Torso  H  bei  Michaelis 
Parthenon  Taf.  6  findet.  Blosses  Staunen  durch  das  hohe  p]rheben 
beider  Arme  auszudrücken,  scheint  mir  der  ruhigen  Würde  der  Kunst 
des  Phidias  wenig  angemessen.  Ist  es  aber  das  Nächstliegende,  in 
dem  Torso  den  Hephaestos  zu  erkennen,  wie  er  die  Axt  mit  beiden 
Händen  erhebt,  so  kann  derselbe  in  dieser  Haltung  nur  erscheinen, 
ehe  er  den  Schlag  auf  das  Haupt  geführt  hat,  nicht  nachher. 


{'.  Bnoin:   Ucber  Giebelgruppen.  179 

Rauragliederung  noch  nicht  zu  vollem  Bewusstseiii  gekommen 
war.  Die  Kritik  hat  sich  begnügt,  gegen  die  einzelnen  von 
mir  vorgeschlagenen  Benennungen  Stellung  zu  nehmen.  Aber 
selbst  wenn  sie  dabei  überall  in  vollem  Rechte  gewesen  sein 
sollte,  so  ist  damit  noch  immer  nicht  meine  Grundanschau- 
ung widerlegt,  die  vielmehr  durch  die  Erörterungen  über 
die  Gliederung  des  Raumes  eine  neue,  nicht  zu  verachtende 
Stütze  gewonnen  hat. 

Mit  der  Entwickelung  der  Raumgliederung  im  Ganzen 
hält  die  der  Composition  im  Einzelnen  gleichen  Schritt.  In 
Aegina  entspricht  sich  streng  Figur  für  Figur;  in  Olympia 
werden  zwar  schon  Figuren  zu  Gruppen  verbunden,  aber  so 
dass  innerhalb  derselben  noch  strenge  Entsprechung  der  beiden 
Theile  waltet.  Das  letzere  Princip  ist  auch  am  Parthenon 
noch  keineswegs  aufgegeben,  aber  vom  Künstler  mit  grösserer 
Freiheit  behandelt,  insofern  er  sich  innerhalb  der  kleineren 
Gruppen  einen  grösseren  Wechsel  gestattet.  So  entsprechen 
im  Ostgiebel  links  eine  männliche  und  zwei  weibliche  Ge- 
stalten den  drei  weiblichen  auf  der  anderen  Seite  als  Gesammt- 
gruppen;  aber  innerhalb  derselben  sind  hier  die  zweite  und 
dritte,  dort  die  erste  und  zweite  Figur  enger  mit  einander 
verbunden.  Im  Westgiebel  begnügt  sich  der  Künstler  in 
den  Seitenflügeln  sogar  nur  mit  einer  Gegenüberstellung  der 
Gesammtmassen  innerhalb  des  festen  Rahmens  der  in  den 
Ecken  liegenden  Figuren  und  der  die  Mitte  streng  abschliessen- 
den Wagenlenkerinnen. 

Für  die  künstlerische  Wirkung  einer  Giebelcomposition  ist 
aber  nicht  ausschliesslich  die  Xebeneinanderstellung  der  Figuren 
maassgebend  :  sie  sollen  auch  nach  der  Tiefe  des  Feldes  den 
Raum  in  einer  dem  Hochrelief  entsprechenden  Weise  füllen. 
Bei  den  Aegineten  ist  daher  mit  Ausnahme  der  Göttin  und  des 
Gefallenen  in  der  Mitte  und  der  Verwundeten  in  den  Ecken 
die  Profilstellung  möglichst  streng  festgehalten.  Im  Ostgiebel 
von  Olympia    ordnen    sich    wenigstens    die  Hauptmassen    der 


180  Sitzung  der  philos.-jMlol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

Seiten,  die  Gespanne,  dem  <;fleichen  Princip  unter.  Die 
malerische  Disposition  der  Parthenonsgruppen  verlangt  auch 
hier  bestimmte  Modificationen.  Am  Westgiebel  kommt  das 
Keliefprincip  in  den  Gespannen  und  ihren  Lenkerinnen  zu 
voller  Geltung  und  wird  ausserdem  in  den  langgestreckten 
Eckfiguren  nur  in  soweit  wieder  aufgenommen,  als  durch  sie 
die  ideell  hinter  das  Mittelfeld  zurückweichenden  Seitenflügel 
doch  zum  Schluss  wieder  in  die  strengeren  Grenzen  des 
Raumes  zurückgeführt  werden.  Im  Centrum  dagegen  ist  der 
Conflict  der  beiden  sich  von  einander  abwendenden  Haupt- 
figuren auch  stylistisch  durch  ihre  schräge  Stellung  im  Relief- 
felde ausgesprochen,  während  der  Oelbaum  nicht  nur  als 
ideelle  Mittellinie  für  das  Gleichgewicht  der  beiden  Seiten, 
sondern  auch  durch  seine  mehr  in  den  Hintergrund  gerückte 
Stellung  als  für  den  Eindruck  der  Tiefe  des  Feldes  maass- 
gebend  erscheinen  mochte. 

Im  Ostgiebel  fehlen  die  breiten  Flügelgruppen  der  Ge- 
spanne und  ihrer  Lenkerinnen,  und  so  stark  auch  in  den 
das  Mittelfeld  begrenzenden  sitzenden  Gestalten  das  Relief- 
princip  betont  sein  mochte,  so  musste  doch  für  den  quanti- 
tativen Abgang  eben  jener  Gespanne  ein  Ersatz  gesucht 
werden.  Wir  finden  ihn  einestheils  in  den  Ecken,  wo  die 
"•elaurerten  Gestalten  durch  das  Hinzutreten  des  Helios  und 
der  Selene  mehr  nach  innen  gerückt  werden,  andern theils 
vermuthen  wir  ihn  im  Centrum.  Dort  kann  allerdings  die 
Gestalt  des  Zeus  nicht  im  Profil,  sondern  nur  in  der  Vorder- 
ansicht erscheinen,  aber  gerade  dadurch  tritt  sie  uns  deutlich 
und  sichtbar  als  Centrum  entgegen,  das  unabhängig  von  den 
Seitengruppen  diese  wie  ein  Sclilussstein  auseinander  und  im 
Gleichgewicht  hält,  um  so  mehr,  wenn  diese  Bedeutung  durch 
zwei  ihm  zur  Seite  stehende  und  im  Profil  sichtbare  Eilei- 
thyien  noch  stärker  hervorgehoben   wurde. 

So  haben  sich,  während  am  Tempel  zu  Aegina  die 
Composition  beider  Giebelgru])]ifn  in  der  Hauptsache  identisch 


c.  Brunn:   lieber  G-iebelgruppen.  lol 

war.  am  Parthenon  bestimmte  Gegensätze  entwickelt,  der 
Gegensatz  der  Ruhe  und  der  Bewegung  in  formal  künstlerischer, 
wie  in  geistiger  Beziehung:  im  ersteren  rein  mechaniscben 
Sinne  am  Ostgiebel  ruhiges  Abwägen  auf  der  Grundlinie 
des  Dreiecks;  die  Last  der  Seiten  durch  das  gewichtige 
Centrum  im  Gleichgewicht  gehalten  ;  am  Westgiebel  durch 
die  ansprengenden  Gespanne  die  ansteigenden  Seiten  des 
(lielieldaches  symbolisirt  und  der  Conflict  der  mit  einander 
kämpfenden  Seiten  durch  die  nach  rechts  und  nach  links 
auseinanderstrebenden  Gestalten  der  Athene  und  des  Poseidon 
gehoben.  In  geistiger  Beziehung  an  der  Vorderseite  er- 
wartungsvolle Ruhe,  welche  den  Blick  nach  der  Mitte  lenkt; 
auf  der  Rückseite  lebendige  Handlung,  die  aber  nach  ent- 
schiedenem Streit  die  Spannung  löst  und  uns  zu  uns  selbst 
zurückführt. 

Sind  diese  Gegensätze  etwas  Zufälliges,  nur  dem  Belieben 
des  Künstlers  oder  der  durch  andere  Rücksichten  bestimmten 
Wahl  der  Gegenstände  Entsprungenes? 

Ich  will  hier  nicht  wiederholen,  was  ich  schon  in  meinem 
Aufsatze  über  die  Composition  der  aeginetischen  Giebelgruppen 
(S.  460)  über  die  Wiederkehr  der  gleichen  Gegensätze  in 
anderen  Giebelgruppen  bemerkt  habe.  Aber  ist  es  Zufall, 
dass  wir  denselben  auch  in  unseren  Tagen  an  den  Giebel- 
gruppen der  Walhalla  wiederfinden?  Deutschlands  Stämme, 
die  im  Festaufzuge  nach  der  Schlacht  bei  Leipzig  der  Ger- 
mania huldigen  an  der  Vorderseite;  hinten  der  bewegte  Kampf 
der  Hermannschlacht.  Gew^isse  Ideen  sind  unvergänglich. 
ja  sie  wiederholen  sich  in  verschiedenen  Künsten.  Sonate 
und  Symphonie  beginnen  in  einem  gemässigten  Tempo  und 
schliessen  in  einem  bewegteren  ;  zwischen  beiden  in  der  Mitte 
liegt  das  ruhige  Adagio.  Vor  dem  Eintritt  in  die  geweihten 
Räume  eines  Tempels  soll  sich  unser  Gemüth  sammeln;  er- 
wartungsvoll sollen  wir  nahen.  Innen  empfängt  uns  maje- 
stätische   Ruhe    und    Stille,    wir    schauen    bewunderungsvoll. 


182  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Juli  1888.. 

Erst  beim  Verlassen    des  Tempels   treten  wir  wieder   in  das 
bewegte  Leben,  den  Kampf  des  Daseins  zurück. 


Erst  nachdem  die  hier  mitgetheilten  Erörterungen  bereits 
niedergesclirieben  waren,  sind  die  olympischen  Giebelgruppen 
durch  die  deutschen  Ausgrabungen  näher  bekannt  geworden, 
freilich  nur  in  fragmentirteni  Zustande,  so  dass  sie  selbst  erst 
wieder  einer  vorbereitenden  Untersuchung  bedürfen,  um  für 
die  Entscheidung  allgemeiner  Fragen  verwendbar  zu  werden. 
Beginnen  wir  wieder  mit  der  Betrachtung  der  Ecken,  in 
denen  wir  am  Tempel  von  Aegina  nur  je  einen  Verwundeten 
fanden.  Bei  dem  um  das  Doppelte  vergösserten  Maasse  des 
Tempels  von  Olympia  konnte  eine  einzelne  Figur  zur  Füllung 
des  Eckabschnittes  nicht  mehr  genügen.  Der  Künstler  des 
Westgiebels  sucht  sich  sehr  unbefangen  zu  helfen  durch  eine 
zweite  etwas  höher,  aber  in  gleicher  Richtung  gelagerte 
Figur.  Doch  bleibt  dieses  Auskunftsmittel  ein  sehr  äusser- 
liches.  Dagegen  scheint  der  Künstler  des  Ostgiebels  den 
oben  (S.  174)  ausgesprochenen  Tadel,  dass  die  scharfe  Schei- 
dung und  der  Gegensatz  zwischen  Ecken  und  Giebelgruppen 
fehle,  nicht  zu  verdienen,  wenn  wir  der  Anordnung  von 
Flasch  (bei  Baumeister,  Denkmäler  des  classischen  Alter- 
thums,  S.  1104nB)  folgen,  der  ohne  irgendwelche  theore- 
tische Nebenabsicht  mit  den  Flussgöttern  die  unmittelbar 
sich  anschliessenden  Figuren  als  Lokalgottheiten  (Ossa  und 
Olympos)  verbindet.  Bei  dieser  Anordnung  wendet  sich 
das  knieende  Mädchen  (Taf.  27,  0  nach  Treu)  von  der 
Mitte  ab  dem  Alpheios  zu,  und  auch  auf  der  entgegen- 
gesetzten Seite  scheidet  sich  der  hockende,  dem  Kladeos  halb 
zugewendete  Jüngling  E  noch  hinlänglich  von  der  dritten 
Figur,  dem  Pferde wärter,  ab,  so  dass  wir  also  das  schönste 
üebergangsstadium  von  den  isolirten  Eckfiguren  zu  den  er- 
weiterten, aber  von  den   Fliigelgruppen   abgeschiedenen  Eck- 


V.  Brunn:   Ueher  Giebelgruppen.  183 

^•uppen,  von   den  Aegineten  zu   der   reicheren  Entwicklung 
der  Parthenonsgiebel  gewinnen. 

Die  Seitenflügel  sind  durch  die  Gespanne,  die  knieenden 
Wärter  und  die  sitzenden  Wagenlenker  sicher  gegeben,  und 
die  Unsicherheit,  welche  noch  hinsichtlich  der  Vertheilung  der 
einen  oder  der  andern  Figur  walten  mag,  kommt  wenigstens 
principiell  nicht  in  Betracht. 

Dagegen  dürfte  wohl  die  Frage  gerechtfertigt  sein,  ob 
die  bisherige  Anordnung  der  Mittelgruppe  als  eine  endgültige 
zu  betrachten  ist.  Dass  sie  einen  künstlerisch  befriedigenden 
Eindruck  gewähre,  hat  wohl  noch  niemand  behau])ten  wollen. 
Bei  den  Aegineten  genügt  die  Gestalt  der  Athene,  um  durch 
sie,  wie  durch  das  Zünglein  an  der  Waage  die  ganze  Com- 
position  im  Gleichgewicht  erscheinen  zu  lassen.  In  dem 
Giebel  von  Olympia  hat  die  Gestalt  des  Zeus  durch  ihre 
Umgebung  nicht  die  gleiche  Bedeutung.  Bei  den  weit  be- 
deutenderen Maassverhältnissen  des  Tempels  erzeugt  die  ein- 
fache Nebeneinanderstellung  von  fünf  Figuren  den  Eindruck 
einer  gewissen  statischen  Unsicherheit.  Das  eigentliche  Centrum 
entbehrt  des  nothwendigen  Gewichts;  wir  verlangen  dort 
mehr  Masse.  Es  ist  wohl  nicht  zu  leugnen,  dass  dieses  Gefühl 
der  Schwäche  vorzugsweise  durch  die  unbekleideten  und  darum 
künstlerisch  zu  nackt  und  kahl  erscheinenden  Beine  des 
Pelops  und  Oenomaos  hervorgerufen  wird,  welche  die  Grund- 
fläche des  Giebels  zu  schwach  belasten,  und  dass  der  Eindruck 
ein  wesentlich  anderer  sein  würde,  wenn  die  beiden  Männer 
ihre  Plätze  mit  denen  der  beiden  Frauen  vertauschen  könnten, 
deren  lange  Gewänder  sich  mit  dem  Mantel  des  Zeus  künst- 
lerisch mehr  einheitlich  wie  zu  einer  grösseren  Masse  zu- 
sammenscliliessen  würden.  Ich  sehe  voraus,  welche  Gegen- 
gründe man  gegen  diese  Umstellung  vorbringen  wird,  darf 
aber  wohl  die  Frage  stellen,  welches  Gewicht  denselben  bei- 
zulegen sei. 

Man    wird    sich    zunächst    auf  die  Worte  des  Pausanias 


184  Sitztinf)  der  philos.-phüol.  Classe  rowi  ~.  Juli  1888. 

berufen,  der  ja  die  Reihenfolge  der  Figuren  klar  und  deut- 
lich bezeichne.  Der  arme  Tansanias  muss  es  sich  freilich 
gefallen  lassen,  dass  man  das  eine  Mal  sein  Zeogniss  als  null 
und  nichtig  einfach  bei  Seite  wirft,  das  andere  Mal  auf  seine 
Worte  drückt,  als  habe  man  an  seine  Beschreibungen  die- 
selben Anforderungen  zu  stellen,  wie  an  einen  der  pedantisch 
nüchternsten  Museumskataloge  neuesten  Datums.  Prüfen  wir 
vielmehr  uns  selbst  und  fragen  wir  uns,  wie  wir  selbst  ver- 
fahren, wenn  wir  nicht  peinlich  eine  Figurenreihe  bei  Namen 
aufzählen,  sondern  uns  dieselben  in  ihrem  Zusammensein  vor- 
stellen wollen.  In  der  Pelopssage  sind  Pelops  und  Oenomaos  die 
Hauptpersonen ;  Hi})podamia  und  Sterope  stehen  in  zweiter 
Reihe,  und  so  haben  wir  uns  gewöhnt,  von  Pelops  und 
Hippodamia,  von  Oenomaos  und  Sterope  zu  reden,  nicht  um- 
gekehrt von  Hippodamia  und  Pelops,  von  Sterope  und  Oe- 
nomaos. Allerdings  sagt  Pausanias:  Olvo/naog  fr  öe^ia  zov 
^log  ....  TvaQce  öi  avxov  yvvi^  ^regontj.  Aber  durch  fv 
öe^ia  soll  zunächst  im  Allgemeinen  die  rechte  (xiebelhälfte 
bezeichnet  werden,  durch  naqd  die  Zugehörigkeit  der  Frau 
zum  Manne.  Eine  Verwechselung  von  Frau  und  Mann  war 
ja  für  den  Beschauer  iiiclit  m()glich,  und  vor  der  Erwähnung 
des  Mannes  von  der  Frau  und  ihrer  Genealogie  zu  sprechen, 
war  mindestens  unl)equemer  und  umständlicher  als  das  Um- 
gekehrte. Weiter  aber  ist  wenigstens  nicht  ausdrücklich 
gesagt,  dass  neben  (etwa  yiagd)  der  Sterope  Myrtilos  folge, 
sondern  mit  starker  Caesur  heisst  es:  MiQiiXog  de  .  .  .  xa- 
i^Tjzai  71  q6  xmv  iTvnwv.  Nach  der  rechten  Seite  folgt  dann 
wieder  zuer.st  die  Bezeichnung  der  linken  Giebelseite:  tci  öa 
f.g  dgiacegd  dfio  zov  Jiog.  dann  o  n.eloij.i  xat  '^luTCodafXELa  j 
•/.ai  o,  T£  r^vioyög  fori  roh  lläXnnog  xai  uriioi,  I  ovo  xe 
avÖQeg  .  .  y.al  avx^ig  .  .  . ,  wo  durch  das  einfache  y.al  Pelops 
inid  Hippodamia  als  Paar  zu  einer  engeren  Einheit  verbunden 
erscheinen,  als  die  durch  xe  —  xat  verknüpften  Glieder.  Man 
wird  also  nicht  behaupten  können,  dass  durch  die  Umstellung 


c.  Brunn:   Ueher  Giebel griippen.  loo 

der  männlichen  und  weiblichen  Figuren  den  Worten  des 
Pansanias  Zwang  angethan  werde,  während  in  denselben 
nichts  als  eine  gewisse  Bequemlichkeit  der  Rede  anzuerkennen 
sein  dürfte. 

Einen  weiteren  Einwand  wird  man  aus  den  Grössen- 
verhältnissen  der  Figuren  herleiten  und  behaupten,  dass  sich 
die  männlichen  Figuren  nicht  an  dritter,  sondern  nur  an 
zweiter  Stelle  vom  Mittelpunkte  aus  in  das  absteigende  Feld 
des  Giebels  einfügen  lassen.  Dabei  ist  jedoch  nicht  ein, 
sondern  sind  mehrere  Umstände  in  Betracht  zu  ziehen. 
In  den  meisten  Abbildungen  sind  ausser  bei  Zeus  nur  noch 
bei  Pelops  und  Oenomaos  die  Plinthen  sichtbar,  bei  den 
übrigen  Figuren  nicht.  Ein  Grund  für  diese  Unterscheidung 
ist  nicht  einzusehen,  und  wir  dürfen  daher  die  Höhe  dieser 
Plinthen  getrost  in  Abzug  bringen.  Weiter  aber  sind  von 
den  beiden  männlichen  Gestalten  die  unteren  Körperhälften 
uns  nicht  erhalten,  in  der  Restauration  aber  zu  lang  gerathen. 
Das  ist  namentlich  an  der  Figur  des  Pelops  augenfällig,  an 
dem  ausserdem  noch  der  Oberkörper  einen  gar  zu  schmäch- 
tigen Eindruck  macht,  selbst  neben  der  schlankeren,  in  neuerer 
Zeit  mit  Recht  ihm  beigeordneten,  früher  Sterope,  jetzt 
Hippodamia  genannten  weiblichen  Gestalt.  Auch  dieses  un- 
günstige Verhältniss  würde  wesentlich  gemildert  erscheinen, 
wenn  die  Figur  in  grösserer  Entfernung  vom  Centrum  in 
dem  abfallenden   Raum  ihre  Aufstellung   fände. 

Endlich  gereicht  es  der  Composition  keineswegs  zum 
Vortheil,  dass  man  die  fünf  Figuren  der  Mitte  jede  für  sich 
isolirt  zu  breit  neben  einander  gestellt  hat.  Sie  lassen  sich 
weit  näher  aneinanderrücken,  und  namentlich  scheint  eine 
engere  Verbindung  zwischen  Pelops  und  Hippodamia,  sowie 
zwischen  Oenomaos  und  Gattin  fast  mit  Nothwendigkeit  ge- 
boten; wir  erwarten  eine,  wenn  auch  nur  theilweise  Ueber- 
sehneidung  der  Umrisse  auf  ihren  einander  zugewendeten 
Seiten.     Jedenfalls    würden    dadurch    die    Aussenfiguren    um 


186         Sitzung  der  iMlos.-pliilol.  Classe  vom  7.  Juri  1888. 

eine  halbe  Figurenbreite  näher  an  den  Mittelpunkt  des  an- 
steigenden Giebelraunies  gerückt  werden  können,  womit 
wiederum  die  Schwierigkeiten  einer  Umstellung  um  ein  be- 
stimmtes Maass  verringert  werden. 

Ist  aber  erst  einmal  die  Möglichkeit  derselben  gegeben, 
so  treten  uns  die  Vorzüge  derselben  für  die  künstlerische 
Gruppirung  ganz  ungesucht  entgegen.  Es  wirkt  wahrlich 
nicht  angenehm,  dass  nach  der  jetzigen  Ordnung  die  fünf 
Figuren  der  Mittelgruppe  wie  Orgelpfeifen  an  einander  gereiht 
mit  ihren  Köpfen  ganz  gleichmässig  die  obere  Begrenzung 
des  Giebelfeldes  fast  berühren.  Eine  Abwechselung  von 
Hebungen  und  Senkungen,  wie  sie  sich  für  die  Aegineten 
ergeben  hat,  entspricht  sicherlich  weit  mehr  dem  künstleiischen 
Gefühle;  und  gerade  dieselbe  Abfolge  gewinnen  wir,  wenn 
neben  dem  Zeus  die  weit  kleineren  Frauen  und  neben  diese 
die  an  sich  kaum  höheren,  nur  durch  die  Helmbüsche  etwas 
erhöhten  Männer  treten.  Ebenso  ergibt  sich  aber  auch  eine 
principielle  Uebereinstimmung  mit  dem  Ostgiebel  des  Par- 
thenon, sofern  wir  richtig  vermuthet,  dass  dort  neben  dem 
Zeus  zunächst  die  weiblichen  Gestalten  der  zwei  Eileithyien 
treten  und  erst  auf  diese  zwei  Männer,  wahrscheinlich  He- 
phaestos  und  Hermes  folgten.  Endlich  gewähren  die  nach 
aussen  gewendeten  Speere  des  Pelops  und  Oenomaos  der 
ganzen  Mittelgruppe  einen  festen  und  entschiedenen  Abschluss, 
der  sich  künstlerisch  um  so  wirksamer  gestaltet,  als  die  nun 
folgenden  sitzenden  Wagenlenker  eine  kräftige  Cäsur  in  der 
Gesammtcomi)osition   bezeichnen. 

Durcli  die  bisherigen  Erörterungen  soll  eine  gegen  jeden 
Zweifel  gesicherte  Entscheidung  über  die  vorgeschlagene  Um- 
stellung noch  keineswegs  gegeben  sein.  Sie  bedürfen  durch- 
aus der  Bestätigung  durch  das  Experiment  am  Marmor  oder 
den  Abgüssen,  welches  in  erster  Linie  die  Höhenverhältnisse 
genau  zu  prüfen  hat.  Gestatten  dieselben  die  Umstellung, 
so  wird  die  Untersuchung  allerdings  noch  auf  andere  Gesichts- 


V.  Brunn:   lieber  GieheUiruppen.  187 

punkte  auszudehnen  sein.  Es  fragt  sich  z.  B..  ob  und  wie 
weit  die  einzelnen  Figuren  in  ihrer  Axe  mehr  nach  rechts 
oder  nach  links  zu  drehen,  in  welchem  Maasse  sie  enger 
an  einander  zu  schieben  sind,  wie  weit  die  eine  Figur  gegen 
den  Hintergrund  des  Giebels,  die  andere  gegen  den  vorderen 
Hand  zu  rücken  ist.  Erst  durch  solche  Versuche  sind  wir 
im  Stande  zu  beurtheilen,  in  welchem  Maasse  die  ihrer  Natur 
nach  etwas  einförmige  Strenge  und  Härte  rein  metrischer 
Entsprechung  die  für  ein  vorgeschritteneres  Kunstgefühl  noth- 
wendige  Milderung  und  Veredelung  durch  ein  rhythmisches 
Element  erfahren  hat,  welches  seinen  Ausdruck  findet  theils  in 
einer  fliessenden  Führung  und  Verbindung  der  Linien,  theils 
in  einem  reicheren  Wechsel  und  feinerem  Abwägen  in  der 
Vertheilung  der  Massen.  Vermuthe  ich  richtig,  so  dürfte  sich 
als  Schlussresultat  ergeben,  dass  auch  in  diesem  Theile  der 
Composition  der  olympische  Giebel  eine  Vor-  oder  Uebergangs- 
stufe  zu  der  noch  mehr  gereinigten  und  abgeklärten  Voll- 
endung bilde,  die  wir  in  den  Giebeln  des  Parthenon  voraus- 
setzen  müssen. 


Wir  wenden  uns  jetzt  zu  dem  Westgiebel,  über  dessen 
Ecken  bereits  oben  gesprochen  ist.  Von  diesen  abgesehen, 
zerfällt  die  Composition  zu  beiden  Seiten  der  Mittelfigur  in 
vier  grössere  aus  je  drei,  und  zwei  kleinere  aus  je  zwei 
Figuren  gebildete  Gruppen.  Nach  der  bisherigen  Anordnung 
wendeten  sich  die  beiden  grösseren  inneren  Gruppen  gegen 
die  Mitte,  die  beiden  äusseren  gegen  die  Ecken  des  Giebels. 
Damit  war  eine  formale  Entsprechung  in  einer  äusserlich, 
wie  es  scheint,  tadellosen  Weise,  sogar  mit  einem  ganz  an- 
sprechenden Wechsel  der  Gliederung  gegeben.  Ordnet  sich 
aber  dabei  das  Ganze  einer  einheitlichen  geistigen  Idee  unter? 
Wir  haben  vielmehr  entweder  die  grösste  Regellosigkeit 
und  Verwirrung  oder    ein  völliges  Auseinanderfallen  in  ver- 

1888.  Philos.-pbilol.  a.  bist.  Cl.  H.  2.  13 


188  Sitzung  der  jjhilos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1S88. 

einzelte  Gruppen.  Denn  wie  haben  wir  uns  den  Anfang, 
wie  das  Ziel  und  das  Ende  des  Kampfes  zu  denken  ?  Dieses 
Bedenken  war  es,  welches  mich  von  Anfang  an  beunruhigte; 
und  gerade  dieses  Bedenken  Hess  sich  in  einfacher  Weise 
durch  einen  Platzwechsel  der  beiden  inneren  Gruppen  be- 
seitigen, wie  er  jetzt  durch  die  thatsächlichen  Beobachtungen 
Treu's  nachgewiesen  ist.  Wir  sind  gewiss  berechtigt,  in 
einem  Giebel  die  Mitte  den  Ecken  als  ein  Innen  und  Aussen 
gegenüberzustellen.  Jetzt  nach  der  Umstellung  stürmen  die 
Gruppen  von  der  Mitte,  von  innen  heraus  nach  beiden  Seiten 
auseinander.  Dieser  Gedanke  des  Auseinandertretens  ist  aber 
offenbar  der  gleiche,  der  die  Composition  des  Westgiebels 
am  Parthenon  beherrscht,  und  den  ich  schon  längst  auch 
für  die  Composition  der  hinteren  Giebel  von  Delphi  und  von 
Tegea  als  gewissermassen  typisch  vorausgesetzt  hatte.  Es 
ist  eben  eine  gewisse  im  Menschen  begründete  Notwendigkeit, 
welche  nach  der  Sammlung  und  Spannung,  die  bei  der  Be- 
trachtung des  Vordergiebels  und  vor  dem  Eintritt  in  den 
Tempel  gefordert  wird,  bei  dem  Austritt  und  der  Betrachtung 
der  Rückseite  eine  Lösung  dieser  Spannung,  eine  Zerstreuung 
erheischt.  Dieser  Gedanke  findet  durch  die  Umstellung  schon 
in  den  Innengruppen  den  entsprechendsten  Ausdruck,  der 
aber  in  den  beiden  Aussengruppen  nur  noch  verstärkt  und 
in  seinen  Consequenzen  weiter  entwickelt  wird.  Denn  auch 
hier  stürmen  die  Kentauren  nach  aussen.  Aber  es  handelt 
sich  hier  nicht  mehr  um  vereinzelte  Kampfscenen:  von  dort 
her  wird  ihnen  der  lebendigste  Widerstand  entgegengesetzt, 
damit  nicht  die  wilde  Horde  gleich  einer  wüthenden  Heerde 
aus  einer  Umfriedigung  in's  freie  Feld  ausbreche  und  ihre 
Beute  in  Wäldern  und  Schluchten  berge.  Zügelloser  Ueber- 
muth  wird  hier  recht  eigentlich  in  die  nothwendigen  Schranken 
zurückgewiesen  und  so  findet  hier  die  Composition  wie  im 
Räume,  so  auch  in  der  Idee  ihren  einheitlichen  Abschluss. 
Nur  eine  scheinbare  Anomalie  bieten  die  beiden  kleineren 


V.  Brunn:   lieber  Giebel gruppen.  lo'' 

Zwischengrupiien :  wie  wir  sie  auch  ordnen,  so  bleibt  der 
eine  Kentaur  der  Mitte  zugewendet.  Aber  die  Gruppen  sind 
nicht  in  ganzer  Breite  sichtbar,  sondern  in  halb  malerischer 
Autfiissung  fast  in  Vorderansicht  gebildet.  In  künstlerischer 
Beziehung  entsprechen  sie  der  Caesur,  die  am  Ostgiebel  durch 
die  beiden  sitzenden  Wagenlenker  bezeichnet  wird:  sie  sollen 
die  Mitte  und  die  Seitenflügel  von  einander  scheiden,  einen 
gewissen  Stillstand,  eine  Art  Pause  bezeichnen,  wobei  die 
halb  verdeckte  Hichtung  der  Pferdekörper  von  untergeordneter 
Bedeutung  ist.  Damit  stimmt  der  poetische  Gedanke :  in  den 
Innengruppen  der  Angriff  der  Lapithen  auf  die  wegeilenden 
Kentauren;  in  den  Aussengruppen  der  erfolgreiche  Widerstand, 
das  Zurückdrängen  der  Fliehenden;  dazwischen  ein  gewaltiges 
Ringen,  eine  Art  Stillstand  vor  der  Entscheidung. 

Die  Analogie  des  Westgiebels  am  Parthenon,  in  dem 
Athene  und  Poseidon  in  gegensätzlicher  Stellung,  aber  unter 
der  Wirkung  einer  einheitlichen  poetischen  Idee  einander 
gegenüber  treten,  legt  die  Erwägung  nahe,  ob  das  Aus- 
einanderstreben der  beiden  Innnengruppen  in  Olympia  als 
eine  scharfe  gegensätzliche  Scheidung  zu  fassen  sei,  oder  ob 
sich  dieselben  nicht  vielmehr  einer  gemeinsamen  Idee  als 
eine  Einheit,  als  Mittelgruppe  gegenüber  den  Flügelgruppen 
unterordnen  lassen.  Eine  solche  Vermittelung  oder  Verbindung, 
sofern  sie  von)  Künstler  erstrebt  wurde,  kann  selbstverständ- 
lich nur  in  der  einzigen  noch  übrigen  Gestalt,  in  der  zwischen 
den  beiden  Gruppen  befindlichen  Mittelfigur  des  Giebels  ihren 
Ausdruck  finden. 

Pausanias  bezeichnet  diese  Gestalt  als  Peirithoos.  Nach 
ihrer  Wiederauffindung  hat  .sich  die  Ansicht,  es  sei  Apollo 
dargestellt,  fast  allgemeine  Zustimmung  erworben.  Man  ist 
in  neuester  Zeit  bestrebt  gewesen,  die  früher  allgemein  übliche 
Bezeichnung  des  ältesten  statuarischen  Jünglingstypus  als 
Apollo  sehr  wesentlich  zu  beschränken.  Auch  für  den  jüngeren 
Typus  des   ,  Apollo  auf  dem  Omphalos"  ist,  nachdem  die  Zu- 

13* 


190  Sitzung  der  philos .-pliüol .  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

f^ehörigkeit  des  Omphalos  zu  dem  athenischen  Exemplar 
abgewiesen  worden,  die  Bezeichnung  als  Apollo  keineswegs 
überall  unbestritten.  Um  so  grössere  Vorsicht  scheint  ge- 
boten, auf  eine  durch  ein  antikes  Zeugniss  dem  Kreise  der 
Heroen  zugewiesene  Gestalt  von  apollinischem  Charakter 
ohne  Weiteres  den  Namen  des  Gottes  selbst  zu  übertragen. 
Nun  widerspricht  zwar  das  aufgebundene  Haar  nicht  gerade 
der  Deutung  auf  Apollo,  aber  ebenso  wenig  gewährt  es  eine 
Bestätigung  für  dieselbe.  Auch  an  dem  Fehlen  des  Köchers 
und  des  Köcherbandes  würde  man  kaum  Anstand  nehmen, 
sofern  wenigstens  das  Attribut  des  Bogens  in  der  Linken 
sicher  stände.  Aber  gerade  der  Ergänzung  durch  den  Bogen 
widerspricht  die  Haltung  des  Armes,  der  durch  ein  etwas 
schwereres  Attribut  belastet  erscheint,  widerspricht  die  wag- 
rechte Haltung  der  Hand,  aus  der  die  eine  Hälfte  des  Bogens 
in  unangenehmer  Spitze  weit  hervorragen  müsste,  wider- 
sprechen das  grosse  Zapfen-  und  die  beiden  kleineren  Bohr- 
löcher. Eine  Ergänzung  aber,  wie  sie  von  Grüttner  versucht 
ist,  in  der  sich  der  Bogen  nach  oben  an  den  Arm  anlehnt, 
ist  geradezu  unmöglich.  Es  fehlt  also  durchaus  ein  äusseres 
Zeichen,  durch  welches  der  Gott  unzweifelhaft  kenntlich 
gemacht  würde.  So  bleibt  zunächst  das  Grössen verhältniss 
der  Figur  und  des  Kopfes.  Aber  wir  haben  es  hier  nicht 
zu  thun  weder  mit  der  streng  metrischen  Gesetzmässigkeit 
der  Aegineten,  noch  mit  den  fein  abgewogenen  Abstufungen 
der  Parthenonsgiebel.  Die  schweren  Schädel  der  Kentauren, 
deren  Köpfe  durch  ihre  Bärtigkeit  nur  um  so  massenhafter 
wirken,  machen  uns  unempfindlicher  gegen  die  massigeren 
Grössenunterschiede  in  den  Lapithenkirpfen.  Eben  so  berechnen 
wir  weniger  verstau desmässig  die  Unterschiede  zwischen  der 
gerade  aufgerichteten  Mittelfigur  und  den  danebenstehenden, 
wenn  auch  keineswegs  ge])ückten,  doch  durch  ihre  Bewegung 
niedriger  erscheinenden  Jünglingsgestalten.  Wir  tragen  un- 
willkürlich   der    Bedeutung   der    Mittelfigur    Rechnung,    die 


V.  Brunn:    Uebcr  Qiehelfjruppen.  i>'l 

allerdings  als  Hau|itfigiir,  darum  aber  noch  keineswegs  als 
Gottheit  hervorgehoben  werden  soll.  Wir  empfinden,  dass 
der  Künstler  selbst  nicht  mit  dem  Maassstabe  eines  strengen 
Systems  und  Princips  gemessen  werden  will,  und  begnügen 
uns  daher,  wenn  er  in  der  Durchführung  den  gegebenen  Ver- 
hältnissen mehr  äusserlich  sich  anbequemt. 

Weiter  darf  man  wohl  fragen,  wodurch  sich  bei  Apollo 
das  Motiv  des  ausgestreckten  rechten  Armes  rechtfertigen 
lässt.  Für  ein  wirkliches  Eingreifen  des  Gottes  in  die  Hand- 
lung selbst  besagt  es  zu  wenig ;  für  die  Rolle  eines  rein 
geistigen  Leiters  und  Lenkers,  in  welcher  Athene  in  Aegina, 
Zeus  im  Ostgiebel  zu  Olympia  erscheint,  eigentlich  schon  zu 
viel.  Endhch  aber:  welche  Beziehung  hat  Apollo  zum 
Kentaurenkampf  an  sich  und  weiter  zur  Darstellung  desselben 
in  Olympia?  Die  Erzählungen  der  Sage  verweigern  jede 
Auskunft.  Man  vermag  sich  nur  auf  ein  einziges  Kunstwerk 
zu  l)erufen :  im  Fries  zu  Phigalia  erscheint  Apollo  beim 
Kentaurenkampfe  bogenschiessend  auf  einem  von  seiner 
Schwester  gelenkten  Hirschgespanne;  weshalb?  bleibt  auch 
hier  dunkel.  Aber  wir  befinden  uns  wenigstens  im  Tempel 
des  Gottes  selbst;  und  wenn  man  z.  B.  am  tegeatischen 
Athenetempel  zum  Schmucke  des  vorderen  Giebels  die  Dar- 
stellung der  kalydonischen  Eberjagd,  wie  es  scheint,  blos 
deshalb  wählte,  weil  im  Tempel  die  Haut  des  Ebers  als 
Reliquie  aufbewahrt  wurde,  so  konnte  auch  in  Phigalia  die 
Verbindung  des  Gottes  mit  den  Kentauren  auf  einem  ganz 
besonderen  localen  Anlasse  beruhen.  Dadurch  aber  sind  wir 
keineswegs  berechtigt,  ihn  an  dem  Tempel  eines  andern 
Gottes  mitten  in  das  eine  Giebelfeld  zu  stellen.  Und  warum 
in  Olympia,  wo  zwar  auch  Apollo  neben  so  vielen  andern 
Göttern  Verehrung  fand,  w^o  aber  seine  Beziehungen  zu  den 
dortigen  Hauptculten  in  keiner  irgendwie  nennenswerthen 
Weise  besonders  hervortreten.  Und  das  Alles  gegen  das 
ausdrückliche,    durchaus    nüchterne    Zeugniss  des  Pausanias  ! 


192  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classc  com  7.  Juli  1888. 

Da  fragt  es  sich  denn  doch,  ob  der  Worthiut  desselben  sich 
nicht  in  Einklang  bringen  lässt  mit  dem  Befunde  der  neueren 
Ausgrabungen. 

Gegenstand  der  Darstellung  ist  der  Kanii)f  der  Lapithen 
gegen  die  Kentauren.  Soll  es  sich  aber  nicht  um  einen 
Kentaurenkampf  ganz  allgemeiner  Art  handeln,  sondern  soll 
der  Gedanke  /Aim  Ausdruck  gelangen,  dass  der  Streit  bei  der 
Hochzeit  des  Peirithoos  ausbricht,  so  darf  Peirithoos  nicht 
einer  unter  verschiedenen  gleichberechtigten  Kämpfern  sein. 
Die  beiden  Kämpfer  der  Innengruppen  sind  aber  unter  ein- 
ander gleichberechtigt,  und  es  giebt  wohl  keine  passenderen 
Namen  für  sie  als  die  von  Pausanias  bezeugten :  Kaeneus 
und  Theseus,  die  namhaftesten  und  hervorragendsten  unter 
den  Gästen.  Denn  welcher  von  ihnen  dürfte  vor  dem  andern 
den  Namen  des  Peirithoos  in  Anspruch  nehmen?  Dem 
Peirithoos  gebührt  der  erste  Platz,  der  des  Vorkämpfers, 
oder  —  der  letzte.  Machen  wir  uns  die  ganze  Lage  klar! 
Alle  Lapithen  sind  nicht  nur  ohne  Schutzwaffen;  sie  tragen 
auch  kein  Wehrgehenk.  Einige  sind  in  gewaltigem  Ringen 
nur  auf  die  Kraft  ihrer  Arme  angewiesen;  einer  führt  im 
Kampfe  ein  nacktes  Schwert;  Theseus  endlich  nicht  eine 
Streitaxt,  sondern,  wie  nach  Völkeis  Vorgang  Welcker  (Ant. 
Denkm.  I,  S.  186)  bemerkt,  nicht  ohne  gute  Absicht  ein 
Beil,  wie  es  als  Werkzeug  zum  Opfer  und  zum  Mahle  zur 
Hand  sein  nuisste,  und  wie  es  Theseus  schon  als  sieben- 
jähriger Knabe  einmal  bei  einem  Gastmahl  ergriffen  haben 
sollte,  um  gegen  die  für  den  Löwen  selbst  angesehene  Löwen- 
haut des  Herakles  beherzt  anzugehen  (Paus.  1,  27,  8).  Das 
Alles  dient  nur,  um  auszudrücken,  dass  wir  es  mit  einer 
Ueberraschung,  einer  Ueberrumpelung  zu  thun  haben.  Wir 
dürfen  vermuthen,  dass  Eurytion ,  der  gewaltthätigste  der 
Kentauren,  als  Gelegenheit  zum  Raube  einen  Augenblick 
wählte,  in  dem  Peirithoos  nicht  unmittelbar  zur  Stelle  war. 
Erst  als  der  KuMii)f  bereits  entbrannt,  eilt  dieser  wieder  her- 


V.  Brunn:   Ueher  Giebelgrujipen. 


193 


bei,  zu  welchem  Beginnen?  Darüber  würde  uns  wahrschein- 
lich das  Attribut  der  Linken  aufklären,  wenn  es  erhalten 
wäre.  Bedenken  wir  jedoch ,  dass  gewiss  auch  Peirithoos 
vor  dem  Beginn  des  Streites  nicht  zum  Kampfe  gerüstet  war, 
so  ist  wohl  das  Natürlichste  vorauszusetzen,  dass  er  beim 
ersten  Lärm  eiligst  nach  einer  Waffe  griff,  und  zwar  nach 
seinem  eigenen,  beim  Mahle  abgelegten,  in  der  Scheide 
steckenden  Schwerte.  Blicken  wir  jetzt  zur  Vergleichung  auf 
die  Amazonenvase  des  Hypsis  in  der  hiesigen  Vasensamm- 
lung (N.  4),  auf  welcher   die  vorderste  Figur  ein  solches  in 


der  Rechten  hält,  so  würde  sich  nach  Analogie  derselben  in 
das  Zapfenloch  der  Statue  das  Schwert  so  einfügen  lassen, 
dass  nach  aussen  der  Griff  sichtbar  hervorträte,  während  die 
beiden  Bohi'löcher  sehr  wohl  zur  Anfügung  der  Riemen  und 
Schnüre  des  Wehrgehänges  dienen  könnten.  Dieser  Ergän- 
zung entspricht  auch  die  Haltung  des  Armes,  der  durch  das 
Schwert  massig,  aber  doch  etwas  mehr  als  durch  den  zu 
leichten  Bogen  belastet  würde.     So  tritt  Peirithoos  aus  dem 


194  Sitzumj  der  philos.-phüol.  Clause  vom  7.  Juli  1888- 

Innern  hervor.  Unter  dem  Eindruck  der  Ueberraschung 
hemmt  er  den  Schritt;  er  bedarf  eines  Augenblicks  der  Orien- 
tirung.  Das  Erste  ist  ein  Zuruf,  begleitet  von  einer  leb- 
haften Bewegung  des  rechten  Armes  nach  der  Seite,  wo  er 
die  gefährdete  Braut  erblickt.  Erst  wenn  er  die  Lage  klar 
erkannt,  wird  auch  er  selbst  das  Schwert  aus  der  Scheide 
ziehen,  um  den  Kampf  zur  letzten  Entscheidung  zu  führen. 
So  nimmt  er  seine  Stellung  ein,  nicht  als  ein  deus  ex  machina, 
sondern  als  ein  Feldherr  und  Lenker,  als  die  Hauptperson, 
um  deren  Wohl  oder  Wehe  der  ganze  Kampf  entbrannt  ist 
und  zu  einem  glücklichen  Ende  geführt  werden   wird. 

Lassen  sich  aber  schliesslich  die  Bedenken ,  welche  ich 
gegen  die  bev(n-zugte  Stellung  des  Apollo  im  Giebel  eines 
Zeustempels  erhoben,  nicht  in  noch  verstärktem  Maasse  gegen- 
über dem  Peirithoos  geltend  machen  V  Ich  habe  den  Nach- 
weis zu  führen  gesucht,  dass  die  Composition  des  Giebels 
erst  durch  die  Gestalt  des  Peirithoos  nach  Form  und  Inhalt 
ihren  künstlerisch  vollendeten  Abschluss  erhält.  Aber  selbst 
wenn  dieser  Versuch  nicht  gelungen  sein  sollte,  so  lässt  sich 
doch  die  Thatsache  nicht  aus  der  Welt  schaffen,  dass  in  dem 
Giebel  der  Kentaurenkampf  bei  der  Hochzeit  des  Peirithoos 
unzweifelhaft  dargestellt  war.  Also  nicht  dass,  sondern  wes- 
halb der  Künstler  diesen  Gegenstand  wählte,  kann  in  Frage 
kommen.  Diese  Frage  hat  aber  offenbar  schon  dem  l'au- 
sanias  einiges  Kopfl)rechen  verursacht:  nach  seiner  Ansicht 
(f./.iui  do7.elv)  habe  der  Künstler  diesen  Stoff"  gewählt,  weil 
er  aus  Homer  erfahren,  dass  Peirithoos  der  Sohn  des  Zeus 
war,  und  weil  er  Avusste,  dass  Theseus  in  vierter  Linie  von 
Pelops  abstamme.  Diese  Begründung  hat  wohl  schwerlich 
bei  irgend  einem  seiner  Leser  Beifall  gefunden.  Wenn  aber 
Pausanias  trotz  seiner  Altg]äul)igkeit  aus  einer  reichen  Kennt- 
niss  der  h'eligion,  der  Mytliologie,  des  Cultus  nichts  Besseres 
beizubringen  und  (jff'enbar  auch  in  Olympia  nichts  Sicheres 
zu    erfahren    vermochte,    so  wird  wohl    die  Frage    gestattet 


V.  Brunn:   Ucber  Giebeh/ruppen.  195 

sein,    ob  wir  überhaupt    auf  diesem  Gebiete   eine  Erklärung 
suchen  sollen. 

Im  vorderen  Giebel  handelt  es  sich  um  die  Werbung 
des  Pelops  um  Hippodamia,  im  hinteren  Giebel  um  die  Hoch- 
zeit des  Peirithoos  und  —  einer  anderen  Hippodamia:  denn 
so,  nicht  Deidamia,  heisst  nicht  nur  bei  Homer  (11.  II,  742), 
sondern  überhaupt  in  den  älteren  Quellen  die  Braut  des 
Peirithoos  (vgl.  Pauly  Realenc.  unter  Peirithoos).  In  einer 
mittleren  Zeit,  auf  einem  schönen  unteritalischen  Vasen- 
gemälde (Ann  d.  Inst.  1854,  t.  16)  begegnen  wir  einmal 
dem  Namen  der  Laodamia.  Deidamia  findet  sich  zuerst  bei 
Plutarch  Thes.  c.  30.  Wichtiger  jedoch  als  diese  Namens- 
übereinstimmung erscheint  die  innere  Verwandtschaft  in  den 
Lagen  und  Geschicken  der  beiden  Bräute.  Nach  der  Ansicht 
der  Griechen  frevelte  Oenomaos  gegen  ein  höheres  Gesetz, 
indem  er  der  Tochter  den  Gatten  vorzuenthalten  trachtete: 
Pelops  muss  sich  die  Hippodamia  erkämpfen.  Wider  höheres 
Hecht  wollen  die  Kentaurn  dem  Peirithoos  die  neuvermählte 
Gattin  entreissen:  in  heissem  Kampfe  muss  er  sie  gegen 
frechen  Uebermuth  vertheidigen.  In  solchen  Ideenverbin- 
dungen glaubte  schon  Petersen  (Kunst  des  Pheidias  S.  348) 
den  ideellen  Zusammenhang  der  beiden  olympischen  Giebel- 
gru])pen  zu  erkennen.  Noch  früher  als  er  hatte  ich  das 
poetische  Bund  zwischen  den  Bildern  der  Vorder-  und  liück- 
.seite  einer  unteritalischen  Vase  (Mon.  d.  Inst.  V,  22 — 28) 
in  dem  Charakter  des  gegen  seine  Tochter  frevelnden  Oeno- 
maos und  des  gegen  seine  Familie  rasenden  thrakischen 
Lykurgos  gesucht,  obwohl  ich  mich  dabei  nur  auf  das  Zeug- 
niss  eines  sehr  späten  Dichters,  des  Nonnos,  zu  berufen  ver- 
mochte. Und  so  wnirde  ich  mich  auch  für  den  oben  ange- 
deuteten poetischen  Zusammenhang  der  beiden  Giebel- 
gruppen mit  voller  Entschiedenheit  aussprechen,  sofern  wir 
es  nicht  mit  Giebelgruppen,  sondern  mit  Vaseubildern  zu 
thun  hätten.    Hier  aber  stehen  wir  plötzlich  vor  einem  Pro- 


19()  Sitzuny  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

Ijlem  von  grosser  Tragweite:  ist  es  gestattet,  das  Gesetz  der 
poetischen  Analogie,  welches  zwei  sonst  von  einander 
unabhängige  Mythen  unter  einer  gemeinsamen  poetischen 
Idee  mit  einander  verbindet,  auf  die  beiden  Giebel  eines 
Tempels,  des  geheiligtsten  Tempels  in  Griechenland  zu  über- 
tragen ?  Die  Frage  lässt  sich  sicher  nicht  beiläufig  und  so- 
fort erledigen.  Aber  wir  haben  das  Recht,  sie  aufzuwerfen. 
Und  so  erinnere  ich  zunächst  an  Perseus  und  die  Medusa, 
an  Herakles  und  die  Kerkopen  in  den  Metopen  des  einen 
selinuntischen  Tempels,  an  Herakles  und  die  Amazone,  an 
Aktäon,  Zeus  und  Hera,  Athene  im  Gigantenkampf  in  den 
Metopen  des  andern.  Noch  näher  auf  unser  Ziel  weist  uns 
das  Tempelbild  des  Zeus  in  Olympia  selbst.  Ich  sehe  ab 
von  den  Niken  an  den  Füssen,  den  Hören  und  Chariten  an 
der  Rücklehne,  den  mordenden  Sphinxen  an  den  Armlehnen 
des  Thrones.  Aber  da  finden  wir  weiter  die  Geburt  der 
Aphrodite  an  der  Basis,  Amazonenkämpfe  am  Schemel,  am 
Throne  selbst  ausser  den  Kampfarten  nochmals  eine  Amazonen- 
schlacht ,  den  Tod  der  Niobiden ,  endlich  an  den  gemalten 
Schranken  neun  Scenen  aus  verschiedenen  Heroensagen,  und 
sogar  durch  die  Gestalten  der  Hellas  und  Salamis  eine  Be- 
ziehung auf  die  unmittelbare  Gegenwart.  Ist  es  glaublich, 
dass  bei  der  Wahl  dieses  reichen  Bilderschmuckes  die  Rück- 
sicht auf  Religion  und  Cultus  ausschliesslich  oder  auch  nur 
in  hervorragender  Weise  maassgebend  gewesen  sei  ?  Poetische 
Beziehungen  treten  dagegen  vielfach  und  fast  ungesucht  her- 
vor, wenn  wir  auch  bisher  noch  nicht  im  Stande  gewesen 
sind,  alles  Einzelne  in  der  Weise  zu  einem  Ganzen  zu  fügen, 
wie  es  uns  das  Vorbild  des  Pindar  in  den  vielverschlungenen 
Gängen  seiner  Siegeslieder  lehren  kann.  Wäre  es  da  nicht 
sogar  möglich,  dass  auch  den  Künstlern  der  Giebelgrnppen 
die  Poesie  vorangegangen,  ihnen  den  Weg  gezeigt  hättet* 
Hippodamia  spielte  in  Olympia  keine  untergeordnete  Rolle  : 
sie  hatte,    wie  Pelo))s,  ihren  eigenen  Temenos  und  ihre  be- 


V.  Brunn:   IJchcr  Giebelyruppen.  1"' 

sonderen  Opfer;  durch  die  Einsetzung  der  Heräen,  des  Wett- 
hiufes  der  Jungfrauen,  hatte  sie  die  engste  Beziehung  zu  den 
Festspielen.  Nehmen  wir  nun  einmal  an,  dass  l)ei  der  Fest- 
feier in  Olympia  in  einem  Hymnus,  in  einem  der  Chorlieder 
ihr  Ruhm  poetisch  verherrlicht,  dass  die  gefahrvolle  Bewer- 
bung des  Pelops  um  sie  dem  altberühmten  Kampf  des  Pei- 
rithoos  um  seine  Braut  an  die  Seite  gestellt  und  schliesshch 
etwa  das  Walten  der  Gottheit  hochgepriesen  wurde,  welches 
hier  wie  dort  der  gerechten  Sache  zum  Siege  verholfen,  so 
hatte  der  Künstler  wenigstens  nicht  zu  befürchten,  in  dem, 
was  er  anschaulich,  aber  in  der  knappen  Sprache  der  Kunst 
vor  Augen  führte,  von  der  Festgemeinde  nicht  verstanden 
zu  werden. 

Die  Verkettung  der  Gedanken  hat  mich  über  mein  ur- 
sprüngliches Ziel  hinaus,  von  der  tektonisch-formalen  Be- 
trachtung der  Gruppen  auf  ihren  geistigen  Inhalt  geführt. 
In  letzter  Instanz  freilich  lässt  sich  das  Geistige  vom  For- 
malen nicht  trennen,  und  einmal  muss  doch  mit  der  Ver- 
einigung beider  Betrachtungsweisen  begonnen  werden.  Mögen 
also  die  hierauf  bezüglichen  Erörterungen  noch  manchen 
Zweifeln  begegnen  oder  überhaupt  verfrüht  erscheinen,  — 
ohne  solche  Versuche  wird  das  letzte  Ziel  sich  nicht  er- 
reichen  lassen. 


Die  letzten  Worte  mögen  es  entschuldigen,  wenn  ich 
es  wage,  einen  Gedanken  auszusprechen,  der  sich  mir  erst 
im  letzten  Momente  während  des  Druckes  dieses  Aufsatzes 
aufgedrängt  hat. 

Trotz  der  Umstellung  der  beiden  Figurenpaare  im  Ost- 
giebel von  Olympia  lässt  sich  die  Ordnung  der  fünf  mittleren 
Gestalten  neben  einander  von  dem  Tadel  der  Einförmigkeit 
immer  noch  nicht  freisprechen.  Eine  Milderung  könnte  die- 
selbe wohl  nur  im  Centrum  erfahren.     Betrachten  wir  darauf 


198  Sitzung  der  phüoH.-pliilol.  Classe  vom  7 .  Juli  1888. 

liin  die  Figur  des  Zeus:  ihre  obere  Hälfte  ist  kräftig,  breit 
und  voll  entwickelt ;  in  der  unteren  Hälfte  entbehrt  die 
Stellung  der  Beine  der  rechten  Freiheit,  der  Majestät,  wie 
wir  sie  einem  Zeus  wünschen  möchten ;  sie  erscheint, 
möchte  man  sagen,  etwas  befangen,  und  der  Breite  der 
Vorderansicht  entspricht  nicht  die  gleiche  Tiefe  des  Profils. 
Die  Betrachtung  der  Rückseite  zeigt  durch  die  starke  Ab- 
arbeitung der  mittleren  Partien  und  durch  zwei  grosse  Zapfen- 
löcher, dass  die  Figur  mit  dem  Rücken  möglichst  nahe  an 
die  Giebelwand  gerückt  sein  musste  und  also  die  Grundfläche 
des  Feldes  vor  den  Füssen  des  Gottes  wenig  und,  warum 
sollen  wir  nicht  sagen :  ungenügend  ausgefüllt  war. 

In  der  Sage  wird  ein  besonderer  Nachdruck  auf  den 
feierlichen  Vertrag  gelegt,  welcher  dem  Rennen  vorhergeht. 
Die  Künstler  halten  daran  fest,  indem  sie  in  den  betreffenden 
Scenen  entweder  ein  Opfer  darstellen  oder  wenigstens  die 
Figuren  um  einen  Altar  gruppiren  (vgl.  Ann.  d.  Inst.  1858, 
p.  1(33).  Sollte  daher  nicht  auch  in  der  Giebelgruppe  ein 
Altar  vor  den  Füssen  des  Zeus  haben  Platz  finden   können? 

Aber  spricht  nicht  dagegen  das  Schweigen  des  Pausanias? 
Pausanias  beschreibt  nicht  ausführlich;  er  begnügt  sich,  Zahl 
und  Namen  der  Figuren  zu  bezeichnen  und  höchstens  zu 
bemerken,  ob  sie  stehen,  sitzen  oder  liegen.  Er  schweigt 
auch  von  den  Wägen,  obwohl  Flasch  (S.  1104aa)  ihr  einstiges 
Vorhandensein,  wie  mir  scheint,  mit  Recht  annimmt.  Erklärt 
sich  aber  ihr  Verschwinden  leicht  daraus,  dass  sie  aus  Bronze 
gebildet  sein  mochten,  so  dürfte  man  den  Altar  nicht  ge- 
funden haben,  weil  man  ihn  nicht  gesucht  oder  vielleicht 
auch,  weil  man  wegen  der  Nichterwähnung  bei  Pausanias 
etwa  vorhandene  Reste  unter  andern  Marmortrümmern  nicht 
erkannt  hat. 

Genügt  aber  ferner  der  vorhandene  Raum  für  einen 
Altar V  in  durchaus  analoger  Weise  musste  im  Westgiebel 
von  Aegina    der   Kaum    genügen,    um  vor    die    in    ihrer  Be- 


V.  BriDin:   Ueber  &iehel(jruppen.  199 

wegung  beengten  Fasse  der  Athene  den  gefallenen  Achilleus 
zu  legen.  Zudem  sind  wir  keineswegs  genöthigt,  uns  den 
Altar  etwa  als  einen  vollen  Würfel  vorzustellen.  Es  würde 
vielmehr  dem  nach  vielen  Seiten  malerischen  Styl  dieser 
Giebelgruppen  entsprechen,  wenn  wir  uns  den  Altar,  wie 
auf  dem  in  den  Annali  (1.  1.  tav.  K)  behandelten  Relief,  über 
Eck  gestellt  und  nach  Art  der  fast  an  die  Giebelwand  ge- 
klebten hinteren  Rosse  in  flacher  Behandlung  ausgeführt 
•lenken. 

Ist  hiernach  das  einstige  Vorhandensein  des  Altars,  wenn 
auch  noch  nicht  als  Thatsache,  so  doch  als  möglich  und 
wahrscheinlich  nachgewiesen,  so  bedarf  es  nur  eines  kurzen 
Hinweises  darauf,  wie  durch  diese  Zuthat  die  ganze  Dar- 
stellung in  einem  neuen  Lichte  erscheint.  Die  Composition 
erhält  durch  den  Altar  erst  ihren  künstlerischen  und  geistigen 
Abschluss:  die  Eintörmigkeit  der  neben  einander  gestellten 
Figuren  ist  unterbrochen ;  das  Centrum  gewinnt  das  nöthige 
Gewicht;  die  Gestalt  des  Zeus  sondert  sich  weit  schärfer 
und  bestimmter  ab  als  bisher  und  gewinnt  dadurch  erst  recht 
ihre  Bedeutung  als  geistiger  Mittelpunkt.  Zugleich  aber 
scheiden  sich  dadurch  die  beiden  Figurenpaare  zur  Seite  von 
der  Mitte  ab  und  wirken  als  zwei  Gruppen,  die  durch  den 
Altar  getrennt,  aber  in  ihren  gegensätzlichen  Beziehungen 
wieder  verbunden  und  einer  einheitlichen  poetischen  und 
künstlerischen  Idee  untergeordnet  werden. 

Auch  die  Figur  des  Peirithoos  im  Westgiebel  zeigt  in 
der  Stellung  der  Beine  eine  ähnliche  Befangenheit,  wie  die 
des  Zeus;  und  auch  an  ihr  hat  man  beobachtet,  dass  die 
Rückseite  ganz  flach  behandelt  ist  und  die  Figur,  ganz  eng 
an  die  Hinterwand  gerückt,  fast  mehr  wie  ein  Relief,  nicht 
wie  eine  Rundfigur  aus  derselben  hervorragen  musste  (Voss. 
Ztg.  1888,  Nr.  19).  Wir  haben  hier  keinen  Grund,  uns  vor 
ihr  einen  gesonderten  Gegenstand  aufgestellt  zu  denken. 
Dagegen   dürfen  wir    uns  wohl   an  den  Westgiebel  des  Par- 


200  Sitzung  der  pliilos.-phttol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

thenon  erinnern  lassen,  und  zwar  so,  dass  die  Beine  des 
Theseus  und  Kaineus  sieh  allerdings  vor  denen  des  Peirithoos 
nicht  gerade  kreuzten,  wie  die  des  Poseidon  und  der  Athene 
vor  dem  Oelbaum,  aber  doch  vor  dieselben  traten  und  sie 
theilwei.se  deckten.  Auch  hier  würde  dadurch  die  Figur  des 
Peirithoos  aus  ihrer  bisherigen  Isolirung  befreit  werden  und 
in  ihrer  Bedeutung,  die  auseinanderstrebenden  Gruppen  künst- 
lerisch zu  verknüpfen,  nur  noch  klarer  und  bestimmter  her- 
vortreten. 

Also  hier  die  Analogie  des  Parthenon,  dort  die  der 
Aegineten:  damit  mag  eine  gewisse  Gewähr  geboten  sein, 
dass  die  letzten  Vorschläge  nicht  reine  Phantasiegebilde  sind, 
sondern  herausgewachsen  aus  einer  durch  Thatsachen  unter- 
stützten Anschauung  von  einer  streng  gesetzmässigen  Ent- 
wickelung  des  Princips  der  Giebelcoraposition,  in  welcher 
Olympia  die  naturgemässe  mittlere  Stellung  zwischen  Aegina 
und   Parthenon  einnimmt. 


201 


Herr  Weck  lein  legte  eine  Abhandlung  des  Herrn 
R  ü  m  e  r  vor : 

, Studien  zu  der  handschriftlichen  Ueber- 
lieferung  des  Aeschylus  und  zu  den 
alten  Erklärern  desselben." 

I. 

Zu  der  Stelle  der  Suppl.  315: 

novov  d'Xdoig  av  ovöafAOv  xavxov  7[T€qov 
lesen  wir  in  der  Adnotatio  critica  sowohl  bei  Kirchhoff,  wie 
bei  Wecklein  (331):  d'Yöoig  Turnebus:  ösldotg  M.  und  Niemand 
wird  zweifeln,  dass  dies  eine  glänzende  Besserung  des  gerade 
um  unser  Stück  (V.  2.  259.  260.  318.  352.  416  etc.)  so 
hervorragend  verdienten  Gelehrten  ist.  Und  doch  lässt  sich 
hier  die  Frage  aufwerfen,  ob  denn  überhaupt  hier  etwas  zu 
l)essern  war  und  ob  nicht  das,  was  Turnebus  herstellen  wollte, 
schon  im  Texte  steht.  Nun,  ich  meine  zu  bessern  war  hier  gar 
nichts  und  der  librarius  des  M.  hat  hier  nur,  von  dem  Accente 
abgesehen,  getreulich  seine  Vorlage  copiert:  JEIJOI^,  was 
nichts  anderes  ist  als  da  Ydoig  oder  d'Yöoig,  und  das  führt 
uns  auf  eine  Eigenthümlichkeit  dieser  Handschrift,  in  der 
sie  geradezu  ganz  einzig  dastehen  dürfte. 

Bekanntlich  ha])en  die  Philologen  in  Alexandria  sich  in 
in  manchen  Fällen  des  Apostrophs  und  der  Diastole  nicht 
bedient,  vielmehr,  wie  es  scheint,  der  Deutlichkeit  wegen  ex 
7fXr^Q0vg  geschrieben.     Man  vei-gleiche  darüber  Lehrs,   Ztsch. 


202  Sitzung  der  phüos.-phiol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

f.  A.W.  1834    S.  145;    Quaest.  epic.    p.  49    und  jetzt  Lud- 
wich: Didymi  fragm.  I  zu  A  323  und  A  169. 

Auch  in  unseren  arg  verstümmelten  und  verkürzten 
Scholien  des  Aeschyhis  findet  sich  noch  eine  vereinzelte  Spur 
von  diesem  Gebrauche  der  Alten;  denn  anders  wüsste  ich 
die  Notiz,  die  wir  zu  Prometheus  611  lesen 

7cvo6g  ßooTolg  öoTriQ^  ^Q^S  TlQO(.irjdla 
öfTi    jiQooO^slvai    t6  a   toj    öocr^ga    dio    zr])'    TOf-ir^v    nicht    zu 
deuten.     Warum    die  Alten    in  so    manchen  Fällen    auf  das 
volle  Ausschreiben  der  Vokale    hielten,    kann  man  erkennen 
aus  Stellen,  wie  Prom.  238: 

syiju  ö^  hölf-irjo'''    s^elvaaur]v  ßgoTOvg. 

Wenn  sie  hier  nämlich  hoXmjGa  schrieben,  so  war  jedes 
Missverständniss  ausgeschlossen  und  eine  Auffassung  vermieden, 
von  der  uns  die  Scholien  ebenfalls  zu  berichten  wissen : 
.  .  .  övvuTai  '/.al  ToX(.irig  slvai  wg  Tiiiirjg  rii-irfiig  (cf.  Didym. 
und  Ariston.  zu  /  605,  dagegen  Nauck  Soph.  Philoktet  684.) 

Die  Spuren  dieser  Schreibweise  begegnen  uns,  wie  oben 
bemerkt,  im  Cod.  Med.  in  grosser  Anzahl  und  scheinen  uns 
in  doppelter  Beziehung  interessant.  Einmal  bürgen  sie  uns 
für  das  hohe  Alter  und  die  wichtige  Herkunft  dieser  Hand- 
schrift, andrerseits  bieten  sie  uns  die  Möglichkeit,  die  Ent- 
stehung einer  grossen  Menge  von  grol)en  Fehlern  zu  erklären. 
Zur  Constatierung  der  Thatsache  sei  nur  auf  folgende  Fälle 
verwiesen:  Prom.  (Kirchh.)  98G :  xat  m  (xar<),  1076  xat 
oi'x  (xot'x),  Pers.  440  xat  evytveiav  {-/.evysveiav)  (cf.  Sept. 
668  y,' aloxQOJv  {'/.aoxQcöv)).  So  erklären  sich  die  Correcturen, 
von  denen  uns  berichtet  wird  zu  Ag.  39  xoi;  factum  e  xat 
ov,  Sept.  642  ((346  Weckl.)  joiniorj^''  v  in  litura,  im  arche- 
typus  und  demnach  ursprünglich  im  Medic.  stand  gewiss 
nichts  anderes  als:  ro  F7cior)i.ia.  Bemerkenswert  ist  in  dieser 
Beziehung  Prom.  914  (947  Weckl.)  olda  XV  t^öno),  wo  im 
Scholion  bemerkt  ist:  xat  ty  TQOyrqj.    Man  vergleiche  ausser- 


Söiner:  Studien  z.handschriftl.  Ueberlieferung  d.  Äeschylus.    203 

dem  Fälle,  wie  Proni.  722  eV^'  ^AfxaQövwv  otquzov  \  rj^eig 
oivydvoQ\  ai  QeuloxLQar  icoiB  /.xl:  ovvyavoqa  M,  Pers.  278 
IVr  a;ioif.iov  ßoav :  au  M,  Pers.  488  xat  GeoGahöv  jioIek; 
i;Teo;iaviOf.dvovg  \  ßogäg  aöe^avv'':  aöi'iavio  M,  836  w  öalfxov, 
wg  i-is  iiöW  ioiQxeiai  /.a/.a:  jtolla  EioiQxezai  M,  Sept.  137 
w  ;i6tvC  "Hqa:  w  jiötvia  M,  140  ali)^r^Q  d' hiif-iaivEtaL:  de 
ali/^Q  M,  866  reTvf.if.ievoi  drii)\  ö(.ioö7iläyyviov:  df,za  M, 
Clioeph.  259  ovq  Y6oi(.C  tyio  yiots:  XdoinL  M,  cf.  Choeph. 
849  xrA. 

Aber  wenn  der  librarius  des  M.  an  diesen  Stellen  un- 
bedenklich seiner  Vorlage  gefolgt  ist,  so  muss  diese  merk- 
würdige Schreibweise  ihm  doch  wieder  an  andern  Skrupel 
gemacht  haben,  und  er  hat  sich  mit  ihr  abgefunden,  so  gut 
und  so  schlecht  er  eben  konnte.  Betrachtet  man  die  statt- 
liche Reihe  dieser  Fälle,  so  wird  man  einerseits  dazu  geführt, 
endlich  einen  Grund  für  die  vielen  Verschreibungen  gerade 
nach  dieser  Richtung  zu  erkennen,  andrerseits  aber  auch  zu 
dem  Gedanken  gedrängt,  dass  an  manchen  dieser  Stellen 
grobe  und  willkürliche  Aenderungen  des  librarius  vorliegen. 

Der  Vers  Pers.  798  (809  Weckl.) : 

ov  ocfiv  y.a/MV  vipiov'  S7iai.ii.uvsi  nuO^slv 

a 

ist  im  Med.  vipiOTS  (superscr.  m.)  na(.if.ii:vsi  geschrieben.  Rührt 
die  Correctur  von  dem  öiogOioTr^g  her,  so  wüsste  ich  dieselbe 
kaum  anders  als  mit  der  Annahme  zu  erklären,  dass  er  die 
Lesart  des  archetypus,  die  vom  librarius  des  M.  falsch  auf- 
gefasst  worden  war,  wieder  herstellen  wollte.  In  dem  arche- 
typus war  aber  geschrieben :  vipioza  S7Taiuf.isvsi.  Kaum  anders 
wird  man  sich  die  Lesart  desselben  Cod.  zu  Suppl.  14  (psvyeiv 
avsöt^v  did  y.vf.i'  ühov  erklären  können  dia/.vi.i*  aXsov;  denn 
im  archetypus  stand  unzweifelhaft  did  /.vi.ia  dXiov  und  daraus 
das  Missverständniss. 

So  kann  man  sich  auch  für  oocfiaj-i''  otco  des  Prom.  472 
das  oo(piOf.iCiT(jov  des  M.  entstanden  denken.     Ja,  es  lässt  sich 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Gl.  11.  2.  14 


204  Sitzung  der  yhUos.-philoL  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

annehmen,  dass  der  librarius  des  M.  sich  manchmal  auch  aus 
diesem  Grunde  zur  Weglassung  von  Vokalen  und  Silben  ver- 
leiten Hess.  Den  Vers  Eum.  105  sv  rn^egcc  ös  f-iolg'  ojtqo- 
oxoTtog  ßgoTiov  hat  man  aus  den  Schollen  richtig  hergestellt, 
im  Med.  liest  man  f^iolQa  nQOOzonog  und  wenn  nun  auch 
ganz  unzähligemal  gegen  die  Trennung  der  Silben  in  dieser 
Handschrift  gefehlt  worden  ist^),  so  mag  der  Schreiber  doch 
hier  ^lo'iQa  aus  dem  archetypus  herausgelesen  und  dann  aber 
willkürlich  geändert  haben.  Eum.  457  ist  nQvipao'  a  gewiss 
eine  ganz  richtige  Aenderung  von  Musgrave,  aber  auch  hier 
raaf  der  librarius  das  y.Qvipaoa  aus  seinem  archetypus  über- 
nommen, das  unbedingt  notwendige  a  aber  dann  ausge- 
lassen haben;  ja,  vielleicht  hat  man  auch  mit  derselben 
Willkür  zu  rechnen  Choeph.  847,  wo  nach  Elmsley  gelesen 
wird :  ovzoi  (fgir'  av  y.liilisiev  io!Ji.iarcüfAivijr,  während  der 
Med.  bietet :  cpqiva  y.leili€iav.  Aus  diesem  Umstände  erklärt 
sich  vielleicht  auch  die  Verschreibung  Choeph.  459,  wo  Schütz 
gewiss  richtig  Twj/tJ'  oxog  hergestellt  hat,  im  archetypus  stand 
aber  tcovös  ay.og.  So  wird  wenigstens  die  unerklärliche 
Verschreibung  des  M.  twv  ö' tKag  eher  erklärlich. 

Indem  ich  im  übrigen  eine  weitere  kritisclie  Ausnützung 
dieses  Gesichtspunktes  vorderhand  auf  sich  l)eruhen  lasse,  soll 


1)  Gerade  nach  dieser  Richtung  hat  die  Conjecturalkritik 
in  alter,  wie  in  neuer  Zeit  ihre  schönsten  Triumphe  gefeiert.  Es  sei 
daher  kurz  verwiesen  auf  die  adnotat.  crit.  bei  Kirchhoff  zunächst  zu 
Choeph.  392,  423,  Eum.  663,  811,  Sept.  115  (523?),  sowie  auf  Ag.  299, 
1612,  Choeph.  159  (?),  222,  254,  342  (darum  wird  auch  das  von  H.  S. 
Ahrens  zu  387  (398  Weckl.)  gefundene  Fä  das  einzig  richtige  sein; 
cf.  Eum.  394,  943),  388,  447,  591,  753  (797  Weckl.),  989,  1018.  Eum. 
265,  446,  514,  540,  549,  872*.  924,  974.  Prom.  216,  243,  650,  739, 
895.  Suppl.  149,  152,  192,  213*,  218,  226,  249,  2(13*,  282*,  290**, 
308,  332,  407.  Vgl.  auch  Eum.  943.  Suppl.  224,  318.  Zu  manchen 
dieser  teilweise  ganz  ungeheuerlichen  Verschreibungen  mag  auch  der 
hier  berührte  Umstand  das  Seinige  beigetragen  haben. 


Böiiier:  Studien  z.hand^chnftl.  Ueberlieferung  d.  Aeschylus.   205 

nur  eine  vielbesprochene  Stelle  liier  herangezogen  werden. 
Suppl.  94  (Kirehhotf),  10(5  (Wecklein).  Der  letztere  liest 
dieselbe : 

Tcäv  anovov  daifxovltov 

r^f.lsv'  avio  q)Q6vt]^d  Tttog 

aiTod^ev  e^enga^ev  tt-inag 

eÖQovior  dcp'  dyvojv 

Aber  der  Med.  bietet  r^/nerov,  aus  dem  man  d-äooov, 
uvr^uoi'  oVw,  »((>£«'  ävco  und  verschiedenes  gemacht  hat.  Ich 
glaube,  dass  Wecklein  hier  mit  der  einfachen  Aenderung 
rif.iei''  allein  das  Richtige  getroffen  hat.  Ursprünglich  wird 
im  archetypus  i/.  7lXr^Q0vg  geschrieben  gewesen  sein  rn-ieva 
ävo),  das  verstand  der  librarius  nicht  und  machte  die,  wie 
ihm  dünken  mochte,  nahe  liegende  Aenderung  r^f.l€vov,  aber 
alle  Lesarten  und  Aenderungen.  die  hier  g^Qovt]i.ia  als  Subjekt 
fassen,  scheitern  und  müssen  scheitern  an  der  bei  Aeschylus 
geradezu  unerhörten  Auffassung  des  höchsten  Gottes  als  eines 
„Gedankens  oder  Geistes".  Dieselbe  ist  in  jeder  Beziehung 
so  unstatthaft,  dass  das  jrwg,  wie  Steusloff  bei  Oberdick 
gemeint  hat  S.  100,  durchaus  nicht  im  Stande  ist,  sie  zu 
entschuldigen  oder  zu  rechtfertigen. 

IL 

Eine  weitere  Eigentümlichkeit  des  Cod.  Med.,  die  ich 
mit  dieser  ersten  verbinden  möchte,  sind  die  vielen  jonischen 
Formen,  die  sich  in  demselben  finden,  die  man  sich  als 
Reminiscenzen  der  Schreiber  aus  Homer  zu  erklären  und 
grösstenteils  zu  entfernen  suchte.  Nun  begegnen  dieselben 
auch  in  den  Codd.  des  Sophocles  und  Euripides,  aber  durchaus 
nicht  in  diesem  Umfange  und  es  wird  immer  ein  Haupt- 
verdienst Porson's  und  Elmsley's,  denen  Dindorf  gefolgt  ist, 
bleiben,  dieselben  durch  richtige  Formen  des  Atticismus  er- 
setzt zu  haben.     Aber  anders  stellt  sich  doch  die  Frage  bei 

14* 


20G  Sitzung  der  2)hilos.-philol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

dem  ältesten  Tragiker,  als  bei  seinen  beiden  Nachfolgern, 
und  da  man  bei  dem  ersten  entschieden  zu  weit  gegangen 
zu  sein  scheint,  so  dürfte  vielleicht  eine  kurze  Beleuchtung 
des  Gegenstandes  angezeigt  sein. 

Leicht  stellt  sich  die  Sache  bei  offenbaren  Ver- 
schreibungen  wie  Choeph.  353  zeixeooi,  453  und  Eum. 
185  oveideooiv,  Prom.  375  ßiUooi,  684  ilievdeooi,  Choeph. 
858  TiQOOOiü,  Prom.  926  oooov,  Pers.  712  toooogöe,  Pers.  168 
■Koviooag  (Bekker  Hom.  Bl.  I,  68,  13  ff.),  möXiv  in  Ver- 
bindung mit  7rdoav  möliv  Sept.  286,  xax  nxoUnov  Suppl. 
75.  Dazu  kann  man  auch  die  jonische  Form  yhü(.iai  rechnen, 
die  an  8  Stellen  im  Med.  erscheint,  sowie  v.iyyävio  und  yi- 
vwo/.io  Choeph.  580  y  erasum.    Manche  dieser  Formen  wurden 

si  ^      n 

durch  Correktur  entfernt,  wie  Pers.  717  y.Xrjioai,  765  naTQrn, 

n 
auch  durch  Correktur  hergestellt  Sept.  818  (Weckl.)  Idiöog. 
Ganz  Singular  begegnet  Choeph.  237  7iQrjy(.i<xcojv,  dem  Jiqay^ia 
in    einer  Masse    von    Stellen    gegenüber  tritt,  vereinzelt   tiov 
Pers.  773,  eycöv  im  Trimeter  Suppl.  706,  aöihpeoc,  Sept.  559, 

V 

TiTiQag  Pers.  658,  öoiolv  Pers.  727,  Sept.  898.  Wenn  nicht 
in  allen,  so  wird  man  doch  an  den  meisten  dieser  Stellen  an 
Verschreibungen  denken  dürfen,  die  teilweise  wenigstens  in 
homerischen  Reminiscenzen  ihren  Grund  haben  mögen. 

Anders  stellt  sich  aber  die  Frage,  wenn  uns  sowohl  bei 
dem  Nomen,  wie  bei  dem  Verbun)  jonische  Formen  be- 
gegnen. So  Choeph.  556  TcilfjGi,  Prom.  725,  Sept.  586 
und  fragm.  (Dind.)  127  b  vacrrjai,  Ag.  632  und  Pers.  189 
d?li[LjOi.  Prom.  6  uiörjioiv,  Ag.  906  öriQiog;  Ag.  698 
7roUa,  voog  bei  Sophocles  nur  im  Melos.  so  auch  Prom.  163, 
im  Diverbium  aber  Choeph.  723  (Eurip.  j^cw  ö'd-KOviuv  /ml 
ßUnwv).  Contrahiert  und  oHen :  Pers.  315  ycoQcfvQta,  wo 
nicht  mit  Porson  7ioQ(pvQ(x  zu  schreiben  war,  das  Wort  ist 
dreisilbig  zu  lesen,  .atiiovvcu  Suppl.  967   (trim.),   7iTEQü£viog 


Römer:  Studien  s.haiKlschrif'H.  Ueberlk'('ernn;f  d.  Aeschylus.      207 

Suppl.  540  (luel.),  Pers.  380  dnx7r}.oov  (trira.),  382  hnXovv, 
yeiiioQQOog  fragm.  280,  3  (trira.),  hiroQQOog  fr.  304,  2  (trim.), 
71 '/mt vQooig  Froni.  850,  yaXy.eog  Choeph.  667,  xQvooig  Sept. 
434,  fragm.  183  (trim.),  drthrvovg  Prom.  1087  (iiiel.).  avTi- 
;rvoog  Ag.  139,  niQnroog  immer  offen,  contrahiert  nur  Prom. 
910.  Von  Verbalformen  lesen  wir:  dido'i  Snppl.  977  (/ 519 
d  237,  Q  350),  Tii^sloi  Ag.  445  (/7  262,  ß  125),  die  Con- 
traction  in  ev  statt  in  ov  in  Prom.  122  eiGoiyvEioi  (mel.) 
rrcolsvi-avai  Prom.  644  (cf.  Barthold  zu  Hippel jt.  166  und 
1247),  e'o/.ev  Pers.  653-  Ganz  vereinzelt  ist :  v/^i^s  Eum.  610 
(trim.),  das  bei  Soph.  nur  in  einer  melischen  Partie  vorkommt 
Ant.  846;  tooovtov  wurde  von  P]lmsley  Prom.  800  0.  T.  734 
0.  C.  789  Med.  254  als  die  einzig  zulässige  attische  Form  zu 
erweisen  gesucht;  bei  Aeschylus  stehen  roiovro  und  roaovTo 
Prom.  799,  Eum.  199,  423,  Pers.  430  (wo  gewiss  tooovt' 
aQiifiAOv  das  richtige  ist)  nach  der  Ueberlieferung  des  Med. 
und  Prom.  799  lässt  sich  nicht  leicht  ändern  ;  toiovtov  Ag. 
302  {coioitOL  a),  Choeph.  998  xoiolxov  äv  (toiovto  fxdv  M), 
die  jonische  Form  ist  bei  ihm  vorwiegend,  wenn  er  vielleicht 
auch  daneben  die  attische  gebraucht  haben  mag. 

Wie  hat  sich  nun  die  Kritik  gegenüber  diesen  Formen 
zu  verhalten  ?  Sind  sie  alle  zu  dulden  oder  zu  entfernen  ? 
Nun,  soviel  kann  man  sagen,  dass  die  Kritik  früherer  Zeiten 
zu  unduldsam  gewesen  ist  gegenüber  diesen  Fremdlingen 
und  sie  unbarmherzig  verwiesen  hat.  Heute  hält  man  den 
vernünftigen  Grundsatz  aufrecht  „dem  homerischen  Worte 
die  homerische  Form"  und  lässt  darum  ^r^Qlog,  iooiyvevoi, 
nojXev^isvat,  Ag.  748  nto'kinoQiy''  Blomfield  und  ähnliches 
unbehelligt.  Auch  muss  man  Gnade  üben  gegen  so  manchen 
einzelnen  Eindringling  und  darf  darum  kaum  vui.ie  Eum.  610 
beanstanden.  Auch  eywv  im  Melos  dürfte  mit  der  Hand- 
schrift zu  schützen  sein,  Pers.  912  und  Suppl.  706  ist  Uytov 
eben  eine  Verschreibung  für  eyiov.  In  dieser  Beziehung 
bieten   sich    uns  ganz  merkwürdige  Erscheinungen  bei  allen 


208  Sitzumj  der  pMlos.-jilvüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

3  Tragikern.  Wer  ist  nicht  überrascht,  die  Form  r^lvdüi> 
im  Trimeter  zu  lesen?  Und  doch  findet  sie  sich  unbeanstandet 
bei  Sophocles  El.  598,  Tr.  394  (Rhes.  060)  und  Nauck  hat 
in  seiner  letzten  Ausgabe  des  0.  T.  532  t^Xvi^eg  in  den  Text 
gesetzt.  Ebenso  merkwürdig  ist  z.  B,  bei  Euripides  im  Tri- 
meter Ale.  736  Iv  leiQEöoi,  das  sich  in  dieser  Form  bei 
Sophocles  nur  im  Melos  findet.  Erinnern  wir  uns,  dass  er 
auch  die  jonische  Form  in  ev  hat,  so  werden  wir  am  Ende 
noch  duldsamer  gegen  diesen  Fremdling  sein. 

So  würde  ich  auch  bei  Aeschylus  gnädiger  sein  gegen 
die  Formen  des  Dativ  Plural  ani-rjOL;  sie  konnten  eben 
neben  den  attischen  noch  lange  sich  halten  und  so  mit 
einer  gewissen  Berechtigung  von  dem  Dichter  angewandt 
worden  sein,  zumal  wir  ja  auch  sonst  Doppelformen,  wenn 
wir  der  handschriftlichen  LJeberlieferung  folgen,  bei  ihm  an- 
nehmen müssen,  wie   die   jonische  und  attische  zoaovzo  und 

TOaOVTOV. 

Ferner  erkennen  wir  auch  aus  diesen  wenigen  Anführ- 
ungen, dass  wir  bei  Aeschylus  eben  nicht  so  streng  verfahren 
dürfen,  wie  bei  Sophocles,  der  z.  B.  v6og,  if.tf.te  nur  im 
Melos  zulässt,  während  Aeschylus  sie  auch  im  Trimeter  hat. 
So  gebraucht  er  das  homerische  Relativum  oote  auch  im 
Trimeter  Pers.  292,  Eum.  1006,  Sept.  482,  Sophocles  und 
Euripides  nur  im  Melos. 

Schwieriger  stellt  sich  die  Frage  bei  einzelnen  Worten 
fiaarog  oder  ftaCog.  Nur  an  einer  Stelle  ist  das  Wort  un- 
bestritten in  der  attischen  Form  ftaazöv  überliefert  Choeph. 
889,  532  steht  fxaoiyöv  und  517  lesen  wir  die  jonische  Form 
nQooiaye  ftaCöv.  Merkwürdig  ist  nun,  weder  889  noch  532 
klingen  an   Homer  an;  deutlich  aber  517  an  X  83 

BV  noxi  TOI  Xad-fKTjdia  fiaCov  litLoy^ov. 

Es  ist  nur  das  eine  fraglich,  ob  die  Heminiscenz  von 
Aeschylus    ausgeht    oder    dem    li))rarius.      Im    ersteren  Falle 


Römer:  Studien  z.liandschriftl.  UeberUcfcrung  d.  Aeschylus.   209 

würde  ich  unbedingt  an  der  handschriftlichen  Ueberlieferung 
festhalten  und  ^latöv  lesen. 

l-iiv  findet  sich  heute  im  Med.  überliefert:  Choeph.  605 
(niel.),  771  (mel.),  Eura.  621  (trim.),  Sept.  436  (mel).  Bei 
Sophocles  hat  die  Sache  nicht  den  geringsten  Anstand,  der 
Form  viv  steht  die  einzige  {.iiv  gegenüber  Trach.  388,  über 
Euripides  hat  Valkenaer  zu  Hippolyt.  1253  gesprochen. 
Auch  bei  Aeschylus  steht  den  4  Formen  des  (.iiv  eine  er- 
drückende Mehrzahl  von  viv  gegenüber.  Dazu  kommt,  dass 
Choeph.  771  im  unmittelbar  Vorausgehenden  vtv  steht  768 
fft  6i  VIV  (fvXäaooig  —  ETtei  imv  (.itya<;  agag,  wo  doch  die 
alliterierende  Verbindung,  für  die  Aeschylus  allerdings  eine 
so  ausgesprochene  Vorliebe  hat,  kaum  zur  Entschuldigung 
dienen  kann.  Demnach  dürfte  diese  jonische  Form  schwer- 
lich zu  halten  sein. 

Dagegen  ist  schwer  glaublich,  dass  Med.  zu  Pers.  246 
vrjfXEQTi]  eine  Verschreibung  ist  für  vaf.iEQTri,  wie  Porson 
angenommen.  Die  vaiiieQTEia  des  Soph.  Trach.  172  beweist 
für  Aeschylus  gar  nichts,  der  ja  auch  dirjvExtüg  hat  Ag.  306, 
und  nicht  öiavexdjg^  wie  dies  Moeris  p.  129  für  die  Attiker 
fordert,  der  nie  övoravog  mit  den  andern  Tragikern,  sondern 
nur  diozipog  gebraucht,  övOTavojv  nur  in  dem  unechten  Schluss 
der  Sept.  983.  Ja  gewisse  Worte  scheinen  vom  Epos  förm- 
lich das  Gepräge  bekommen  zu  haben,  das  sie  auch  später 
behielten.  So  steht  bei  Aeschylus  im  Med.  überall  &Qrjiy,rj 
Pers.  507  (trim.),  564  (mel.) ,  und  das  Adjectiv  GQr^l•Klog 
Pers.  860  (mel.),  Ag.  632  (mel.),  1372  (trim.)  und  Wecklein 
hat  recht  gethan.  Kirchhoff  nicht  zu  folgen,  der  überall 
&Q(jcy.rj  und  Qgcr/.iog  hergestellt  hat.  „  Jonica  forma  tragici  con- 
stanter  usi  sunt"  (Dind.)  Für  Aeschylus  lässt  sich  das  gewiss 
aufrecht  erhalten,  schwerlich  bei  Eur.  Hec.  428  u.  fragm. 
362,  48.  Vergleichen  kann  man  damit  IlaQvrjoog.  So  lesen 
wir  im  Trimeter  Eum.  11  nuQvr^oov  i>'"d^ag  und  das  Adjectiv 
UaQvrooig  Choeph.  550  (f0jvi]v  r'oouev  Uagviiooida,  dagegen 


210  Sitzung  der  jjhilos.-philol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

im  Melos  Choepli.  948  6  Ao^iag  6  IlaQvaooiog  (vgl.  Dind. 
lex.  Aeschyl.  s.  v.  KXdgiog). 

Nichts  Auffallendes  haben  natürlich  die  jonischen  Formen 
und  Worte  im  daktylischen  Versniaasse,  wie  Ag.  105  xara- 
TtvEiBi  oder  122  aj/^et,  ^zgetöag  etc.  Wir  müssen  auch 
manche  übergehen,  die  nur  im  Zusammenhange  mit  spinösen 
metrischen  Untersuchungen  behandelt  werden  könnten,  und 
wenden  uns  lieber  zu  einigen  syntaktischen  Eigentüm- 
lichkeiten des  grossen  tragischen  Dichters. 

So  scheint  es  mir  bei  Aeschylus  ganz  unbedenklich, 
wenn  er  im  Anschluss  an  den  Gebrauch  der  Epiker  si  mit 
dem  Conjunctiv  verbindet.  Pers.  782,  Eum,  232.  So  ist 
gewiss  auch  Ag.  1282  die  Lesart  der  Codd.  el  de  övatvxfj 
die  richtige  und  nicht  mit  Blomfield  in  övariyol  zu  ändern. 
(Suppl.  385?) 

Schwieriger  stellt  sich  die  Frage,  ob  wir,  gestützt  auf 
die  handschriftliche  üeberlieferung,  dem  Aeschylus  den  Ge- 
brauch des  Potentialen  Optativs  ohne  öv  analog  dem  Gebrauch 
im  Epos  vindicieren  dürfen. 

Folgende  Fälle  liegen  heute  in  der  Lieberlieferung  vor: 
Prom.  61(3  Xiy^  rjvviv'  alzy  •  /rar  ydg  oiv  nidoio  ftiov  M. 
Suppl.  19  tiva  .  .  .   ovv  xwQav  .  .  .  dcfiy.oiiLi£Oa  M 
Ag.  1282  evTvxovvTa  /jsv 

a/.id  zig  avTQeil>eiE.  libri. 
Choeph.  159  Xeyoig'    ai'OQyelzai  de  -aagdia  cpoßuj  M. 
847  ovroi  qiQtva  -/.Xtipeiav  iü/n/.iazcüf.ievrjv  M. 
Ag.  530  zct  f.iiv  zig  ev  Xt^eiev  evneziog  syeiv.  libri. 
Prom.  932  zl  dal  (foßoifjtjv,  w  Oarelv  ov  /nogaii-iov  M,  recc 
d'dv. 

Bleiben  wir  nun  zunächst  bei  der  letzten  Stelle,  so  hat 
man  früher  dem  Worte  dai  keine  Existenzberechtigung  bei 
den  Tragikern  zuerkannt.  Ellendt  noch  verkündet:  dal 
autem  a  tragicis  abire  jubenuis,  pronis  in  errorem  librariis 
öl  et  e   miscentibus  assignantes. 


Römer:  Studien  z.hniKhchriftl.  Ueberliefeniiig  d.  Aescht/1i(s.    211 

Wir  wollen  auch  die  anderen  Tragiker  aus  dem  Spiele 
hussL'u  Antig.  318,  Eur.  Jon  278,  El.  244,  lllG,  Cycl.  449, 
Hei.  1245,  El.  978,  wo  man  das  Wort  an  den  meisten 
Stellen  durch  de  oder  d'av  zu  verdrängen  gesucht  hat  Be- 
kanntlich ist  dai  ein  homerisches  Wort,  das  zur  Verschärfung 
der  Fragepartikel  ttwq  und  rig  u.  a.  dient  und  das  Aristarchs 
•resunde  Kritik  bei  Homer  geschützt  hat  K  408  ort  ovrÖEOf-iog 
0  dai  y.cd  ovy.  ccqB-qov.  Weil  es  nun  bei  Homer  in  den 
Verbindungen  mit  mag,  nov,  rtg  etc.  erscheint  und  sich 
Aeschylus  so  vielfach  an  den  Gebrauch  des  Epos  hält,  muss 
die  Partikel  bei  ihm  ganz  sicher  gehalten  werden,  wo  sie 
vorkömmt.  Sie  steht  unzweifelhaft  handschriftlich  sicher  in 
Choeph.  892 

/rOL-  öal  TO   loiTtd  Ao^iov  {.laviEvi-iaza. 

Sie  steht  auch  bei  Aristoph.  Plutus  156  vi  dal.  Fraglich 
aber  ist,  ob  sie  auch  Prom.  932  gehalten  werden  kann. 
Zunächst  ist  einmal  eine  Verschreibung  auch  nach  dem  von 
EUendt  festgehaltenen  Grundsatze  doch  nur  recht  denkbar 
zwischen  dal  und  de,  nicht  so  leicht  zwischen  dal  und  d'aV, 
wenn  auch  im  Mediceus  und  auch  sonst  die  Fälle  von  Ver- 
schreibung des  /  in  iV  nicht  selten  sind.  Ich  verweise  in 
dieser  Beziehung  auf  Ag.  1052,  1081,  Choeph.  138,  194, 
351,  465,  625,  873,  877,  Suppl.  102. 

Aber  da  kommen  wir  auch  ferner  ins  Gedränge  mit 
dem  Potentialen  Optativ  ohne  av.  Nun  ist  ein  solcher  Ge- 
brauch bei  Homer  fast  durchweg  ohne  Bedenken.  Cf.  Krüger 
Dial.  54,  3,  9.     Monro  Gr.  H.  S.  217  ff. 

Doch  verbinden  wir  damit  noch  eine  andere  der  obigen 

Stellen: 

EVTvxoivra  f.iev 

ov.ia  Tig  dvTQeipEie. 

So  haben  die  Handschriften  hier  und  die  Aenderung  in 
oV  tgeilme   bietet   sich  von    selbst.     Ich    habe    dagegen   nur 


212  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

das  eine  Bedenken,  dass  das  verbuni  simplex  tqLico  dafür  zu 
schwach  und  dvrqhiio  viel  besser  und  kräftiger  ist  zur  Be- 
ßezeichnung  der  Sache. 

So  heisst  es  in  den  Persern  163: 
ji//y  /.leyag  7iXovTog  y.ovloag  oidag  avxqixpi]  rtoöi  \  oXßov 

ganz  in  demselben  Gedankenzusammenhange  wie  hier.  (Fragm. 
321  öovoloa  ■/.ai  x-Qe/covaa  xvqß''  avto  xarw.)  Man  darf 
wohl,  wie  das  auch  Krüger  1.  1.  gethan  hat,  Ag.  598  heran- 
ziehen : 

0V7C  eod^''  OTT  log  le§aif.ii  rd  ipEvdr]  -/.aXa 

und  so  möchte  ich  denn  der  Erwägung  anheimstellen,  ob 
wir  nicht  auf  Grund  des  homerischen  Gebrauches  berechtigt 
sind,  auch  bei  Aeschylus  den  potentialen  Optativ  ohne  äv 
anzunehmen,  wenigstens  an  den  Stellen:  Ag.  1282,  Prom.  932, 
Choeph.  847  (avo  mir  der  Plural  des  Verbums  ohne  Bedenken 
scheint). 

Lehnt  er  sich  ja  doch  auch  noch  mit  manchem  anderen 
Gebrauche  so  enge  an  den  Dichter  an ;  z.  B.  7ieq  mit  dem 
Participium,  das  Sophocles  nur  an  einer  einzigen  Stelle  ge- 
braucht Philoct.  1068,  Euripides  aber,  wie  es  scheint,  wieder 
aufgenommen  hat. 

Aber  noch  viel  mehr,  als  diese  Einzelnheiten  es  ver- 
mögen, weist  uns  der  Wortschatz  des  Aeschylus  in  die  Küst- 
kammer des  Epos  und  so  sei  denn  hier  zum  Schlüsse  auf 
einige  recht  bezeichnende  Eigentümlichkeiten  dieser  Art  ver- 
wiesen. 

Wenn  wir  im  l'rDUi.,  der  neben  den  Supplices  in  dieser 
Beziehung  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  in  der  Erzählung 
der  Jo  657  lesen : 

7tvv.vovg 
i^EOTtqonovg  XaXkev., 

so  sind  diese  Worte  in  doppelter  Beziehung  lehrreich. 


Itömer:  Studien  z.handschriftl.  UcberUefcrtuui  d.  Acschylus.   -'V'o 

Einmal  für  sich  betrachtet  weisen  sie  uns  auf  das  Epos 
oder  doch  den  Wortschatz  des  Jonisnuis,  sodann  legen  sie 
uns  die  Frage  nahe,  wie  denn  Sophocles  oder  Euripides  den 
Gedanken  etwa  ausgedrückt  hätten.  Und  da  kann  man  mit 
ziemlicher  Sicherheit  annehmen,  dass  sie  wohl  die  Worte 
oi'xyöq.  dscoQog  und  h.Tcei.i7ii!.ineiv  gewählt  hätten,  denn 
wenn  auch  bei  beiden,  sowohl  bei  Sophocles  wie  Euripides, 
sich  Ausdrücke  des  jonischen  Wortschatzes  finden ,  so  sind 
diese  fremden  Eindringlinge  doch  so  vereinzelt,  dass  sie  nicht 
als  charakteristisches  Merkmal  ihrer  Sprache  betrachtet 
werden  können.  Ganz  anders  stellt  sich  die  Sache  bei  Aeschy- 
lus.  Gerade  vermöge  dieser  "Eigentümlichkeit  ist  er  noch 
weit  von  dem  strengen  Atticismus  entfernt;  denn  Aus- 
drücke wie  der  eben  angeführte  oder  Prom.  544  olLyoÖQaviav 
CL-Kiy.vv,  Sept.  283  yeQinäd'  oxgioeooav,  Pers.  80  looi^eog  cptög^ 
Prom.  193  elg  aqS-i-iov  e(.iol  /.at  (pil6Ti,Ta  (Hymn.  Merc.  521) 
und  ähnliche  verweisen  uns  doch  unzweideutig  auf  den  Wort- 
schatz des  homerischen  Epos. 

Auch  das  ist  bemerkenswert,  wie  sich  Aeschylus  mit 
der  Zeit  vielleicht  von  diesem  Gebrauche  emancipiert.  So 
sagt  er  noch  Prom.  449  if. 

xAüOvrgg  ovY.  rfKOvov,   dlX'  öveiQaTcov  d)Jy/.ioi  uoQcpa'ioi, 
dagegen  in  Agam.   1172 

veovg,  oveiQLov  Tcgoocpegelg  f.iOQcpiOf.iaOL. 

Und  so  ist  gar  manches ,  was  später  zum  Wortbestand  der 
tragischen  Sprache  gehört,  noch  gar  nicht  vorhanden  bei 
Aeschylus.  So  kennt  er  das  von  den  Späteren  angewendete 
vEcoozi  nicht,  sondern  dafür  gebraucht  er  das  homerische 
viov  (Valkenaer  Phoen.  1489  u.  G.  Herrn.  Pers.  13),  Prom. 
35,  393,  954,  Ag.  159G  (trim.).  Das  Wort  erscheint  bei 
den  Späteren  ganz  vereinzelt,  wie  0.  C.  1772  oder  Eur.  El. 
1070,  der  überhaupt  in  seinem  Wortschatze  dem  grossen 
tragischen  Meister  viel  näher  steht,  als  Sophocles. 


214  Sitzumj  der  j)hilos.-philol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

So  hat  Aeschylus  die  Adverbia:  aiij.ia  Siippl.  464  (trim.), 
qi(.i(fa  Ag.  391  (mel.),  '/.qvßda.  Choepli.  169  (trim.),  Tvtd^ci 
Pers.562  (mel.),  {cvri^oq  Ag.  1577  (trim.),  fragm.401  (trim.)), 
SQate  fr.  155  (trim.),  (cf.  Ag.  1576  dnö  otpayriv  sgav),  voacpiv, 
Suppl.  229  (trim.),  UtTjTi  Prom.  552  (mel.)  unbedenklich 
aus  dem  Epos  herübergenommen,  aber  keiner  der  späteren 
Tragiker  ist  ihm  hierin  gefolgt. 

Und  so  weist  denn  eine  nach  dieser  Richtung  ange- 
fertigte Liste  nocli  gar  manches  Eigentümliche  auf,  wovon 
nur  das  hervorstechendste  herausgehoben  werden   kann. 

So  hat  Aeschylus  nur  allein  das  echt  homerische  atevtai 
Fers.  51  (mel.),  das  hom.  «Vrw  hat  er  nicht,  wohl  aber  die 
Composita  eq)enio  Fers.  39,  550,  disnoj^  Fers.  97,  Eum.  912 
{öiOTtog^  Fers,  46),  auch  hierin  ist  ihm  keiner  der  Späteren 
gefolgt.  So  gebraucht  er  auch  allein  nach  dem  Vorgange 
Homers  x/w:  Fers.  1039  (mel.),  Suppl.  820  (mel.),  im  Tri- 
meter:  Suppl.  488,  Choeph.  661.  So  auch  niffavoycio  Fers. 
658.  Ein  merkwürdiges  Nomen  ist  aldoiog.  Das  Wort  findet 
sich  heute  in  7  Stellen  bei  Aeschylus  und  zwar  im  Trimeter: 
Ag.  600,  Eum.  684,  Suppl.  192,  194,  455,  491;  Anapäst: 
Suppl.  29 ;  weder  Sophocles  noch  Euripides  haben  dasselbe 
in  ihren  Sprachbestand  aufgenommen. 

Doch  sehen  wir  lieber  von  diesen  Einzelnheiten  a1)  und 
fassen  wir  kurz  die  Resultate  unserer  Untersuchung  zusammen, 
so  werden  wir  sagen,  dass  die  Kritik  falsche  Bahnen  wandelt, 
wenn  sie  den  Aeschylus  in  Beziehung  auf  die  jonischen 
Formen  auf  gleiche  Linie  stellt  wie  den  Sophocles  und  Euri- 
pides, und  dass  sich  ferner  in  seiner  Sprache  eine  deutlich 
hervortretende  Abhängigkeit  von  dem  homerischen  Epos  und 
dem  Sprachschatz  des  Jonismus  zeigt,  der  die  gesunde  natür- 
liche Quellenfrische   seiner   Sprache   ins  Leben    gerufen   hat. 


Römer:  Studien  z.handschriftl.  Ueheiliefenoui  d.  Aeschyhis.    21o 

III. 

Welche  Bedeutmi«]^  die  Schollen,  Hesychius  und  andere 
Lexikographen  neben  den  aus  dem  Altertum  aus  den  Werken 
des  Aeschylus  erhaltenen  Citaten  für  die  Textkritik  unseres 
Dichters  haben,  ist  längst  erkannt  worden,  und  so  ist  denn 
mancher  schöne  Schatz  von  hochverdienten  Kritikern  aus 
diesen  Quellen  längst  gehoben  worden.  Auch  das  grösste 
kritische  Talent,  die  glücklichste  Combinationsgabe  wäre  ohne 
diese  Hilfsmittel  kaum  zu  den  glänzenden  Resultaten  ge- 
kommen ;  denn  wie  unsagbar  desolat  muss  man  doch  über 
den  Zustand  der  Ueberlieferung  bei  Aeschylus  urteilen,  wenn 
man  allen  Ernstes  daran  denken  konnte,  für  Ag.  288  (313 
Weckl.) :  (fgoigä,  7rXiov  -/.aiovoa  tlüv  elQrj/.ienov  mit  Dindort 
aus  Hesychius  zu  schreiben: 

(fQOVQa  TTQOOaid^Qi^ovoa  7t6i.ini(xov  (fXoya 
oder    für  Ag.  295    (320  Weckl.) :    (fUyovoav  •  «Ir'   l'oy.rjilisv, 
€£r'  dq^ixsTO  nach  Cobet  aus  Ael.  V.  H.  XIII,  1: 
aaaovoa  öH^eXajxipev  doTQaTrrfg  dUi]v^ 

Kann  man  da  noch  von  einer  Ueberlieferung  reden, 
wenn  man  nicht  etwa  zu  Um-  und  Ueberarbeitungen  seine 
Zuflucht  nimmt?  Oder  wenn  man  an  andern  Stellen, 
von  denen  nur  einige  angeführt  werden  sollen,  statt  der 
handschriftlichen  Ueberlieferung  z.  B.  Ag,  133  für  Övtojv 
keoviiüi',  für  di/.ag  jiqÖ/.toqi  Ag.  110  x^Q^  7rQäy.T0Qi,  für 
Ofjiui^otai  yoQ  Ag.  1238  ägage  yoQ,  für  Choeph.  754  h 
dyyehit  ydg  y.Qvmög  ogOotoi]  (fQevl  -/.Qvmog  oQO-ovrat 
loyog  xtA  auf  Grund  der  anderweitigen  aus  dem  Altertum 
stammenden  Ueberlieferung  schreiben  musste?  ^) 


1)  Wenn  das  von  Wecklein  zuerst  aus  dem  Cod.  Med.  in  die 
adnotatio  critica  aufgenommene  t^  =  C^rsi  auf  corrupte  und  nicht 
verbesserte  Lesarten  schliessen  lässt,  wozu  man  v?enigstens  nach  Suppl. 
435  in  marg.  C^  olfiai  /htjti  xXairjg  zav  ixsriv  m.  berechtigt  ist,  so  er- 
öffnet das  auch  eine  sehr  traurige  Perspektive. 


216  Sitzung  der  pWos.-pliUnl.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

Wegen  dieses  traurigen  Znstandes  der  Ueberliefernng 
hat  man  sich  denn  auch  genötigt  gesehen,  mit  den  alten 
Erklärungen  zu  rechnen,  die  am  Rande  des  Cod.  Med.  stehen, 
und  auf  Grund  derselben  manche  Schäden  wirklich  geheilt 
und  die  Heilung  anderer  wenigstens  versucht. 

Lediglich  zur  Beleuchtung  unserer  Behauptung  sei  hier 
zunächst  auf  einige  Fälle  verwiesen,  wo  leicht  von  selbst 
sich  ergebende  Aenderungen  schon  richtig  in  den  Scholien 
zu  finden  sind:  Choeph.  31  cfoßog  (q)olßog) ,  55  diy.ag 
{dUav)^  56  Tot'g  {toig),  73  /rtx^ov  {7iiv.qilv),  209  Ev,na- 
y'Kovf.iävi]v  (fyi/rayXov/.ievrjg),  243  d^r^qav  nargoiav  (d-rJQa 
naTQtöa),  679  eyyqaq)B  {eyyQcxcpEi)  etc. 

Schwere  Schäden  sind  durch  sie  geheilt  worden:  Choeph. 
102  -/.sdvä  {aef-ivd,  contra  Sept.  62),  149  oyog  (alyog),  426 
okoifxav  ergiebt  sich  mit  Sicherheit  aus  dem  von  Wecklein 
angeführten  Scholion  437  (cf.  Kirchhoff,  S.  201):  ex  toiTOv 
eiQrjTai  t6  „TE&vah]v,  oV'  exen-ox'  djionvevoavta  7ivOoif.irjv'^ 
für  fAo/,«aj^  des  Med.,  h\l  vEoyevig  {veogsi'fg),  523  avfid^ov 
(dvfjlOov),  932  tXaoE  {t?.ay.s),  986  Ityto  (<//6>w),  Prom.  997 
(jjTiTai  {lo  Trat),  Suppl.  d^r^  ^OTcrj)  etc- 

So  hat  man  denn  dieser  Quelle  ein  fast  überschwäng- 
liches  Lob  gesungen.  Weil  in  der  praefatio  zu  den  Choeph. 
XIV:  ,Quae  (scholia  Medicea)  quum  adscripta  sint  ad  codicem 
Mediceum,  textum  interpretantur  non  eum,  qui  hoc  libro 
continetur,  sed  alium  longe  emendatiorem.  Unde  intelligitur, 
quanti  ea  facienda  sint;  neque  hoc  fugit  viros  doctos,  qui 
Aeschylo  operam  navarunt,  sed  nemo  disertius  veriusque  quam 
R.  Westphal  (Emendat.  Aeschyl.  Vratisl.  1859  p.  8)  nuper  duas 
ad  nos  pervenisse  dixit  Aeschyli  recensiones  „alteram,  quae 
plene  extet  codicis  Medicei,  alteram  multoque  praestantiorem, 
ex  qua  nihil  nobis  supersit,  nisi  ea,  quae  sint  a  scholia stis 
et  Hesychio  aliisqnae  lexicorum  scriptoribus  excerpta".  Und 
Weil  versteigt  sich  Eum.  19  sogar  zu  der  kühnen  Behaup- 
tung:   „Sed    scholiorum    multo    maior    est    auctoritas, 


Römer:  Studien  z.handschriftl.  Ueberlieferung  d.  Äeschylus.   217 

quam  omnium,  qui  aetatem  tuterunt,  Aeschyli  codicum".  Es 
wäre  nur  zu  wünschen,  dass  dem  so  wäre,  und  vielleicht 
war  diese  Behauptung  einmal  berechtigt,  als  der  Zustand 
dieser  Scholien  ein  ganz  anderer  war,  als  wie  er  nun  eben 
heute  vorliegt.  Den  Befund  derselben ,  wie  er  sich  uns 
praesentiert,  hier  darzulegen,  kann  nicht  unsere  Aufgabe 
sein.  Nur  soviel  kann  gesagt  werden,  dass  das  wenige  Gute, 
das  sie  enthalten,  mit  einer  Masse  von  wüsten  und  abstrusen 
Unsinn  durchsetzt  ist,  von  dem  man  vergeblich  ein  Heil 
erwartet.  Eine  ganze  Menge  verdorbener  und  unverständ- 
licher Lesarten  ist  in  sie  eingedrungen  und  es  ist  ein  trauriges 
Schauspiel,  wenn  man  die  wissenschaftliche  Ohnmacht  sich 
mit  ihnen  abringen  sieht.^)     Ausserdem  aber  ist  die  Haupt- 


1)  Es  soll  bei  einer  anderen  Gelegenheit  darauf  näher  eingegangen 
werden.  Hier  sei  nur  bemerkt:  Das  gewöhnliche  Auskunftsmittel, 
zu  dem  diese  Nullitäten  bei  schwierigen  oder  gar  verzweifelten 
Stellen  ihre  Zuflucht  nehmen,  ist  das  Xsitiei  oder  .^AsomCf«.  Ueberall 
begegnen  da  die  köstlichsten  Beispiele.  Es  fehlt  xai  Prom.  432, 
970  tj  Eum.  778,  a^ia  Prom.  897,  dem  entsprechend  wird  auch  mit 
y.ai  und  8id  in  Erklärungen  manövriert,  dass  man  staunen  muss,  wie 
z.B.  Ag.  107,  215;  bei  den  allerunverfänglichsten  Ausdrücken  und 
Constructionen  suchen  sie  mit  ihrem  ^.eitsi  dem  besseren  Verständnisse 
aufzuhelfen,  z.B.  Sept.  215,  984,  Choeph.  81,  386,  526.  614.  Eum.  143. 
Dass  man  ein  Wort,  das  nicht  im  Texte  steht,  ohne  allen  Anstand 
ergänzen  könne,  ist  für  diese  Herren  ausser  Frage,  z.  B.  Ag.  96, 
Choeph.  606,  609,  Eum.  806.  Pers.  990  lesen  sie  gewiss  /leyäla  ra 
Usgadv,  natürlich  mit  der  Ergänzung  y.axd.  Ueberall  suchen  sie  diese 
Panacee  in  Anwendung  zu  bringen,  wie  z.  B.  Prom.  601.  Die  über- 
legene Weisheit  derselben  zeigt  sich  deutlich  Pers.  649;  hier  ist  zu- 
erst richtig  bemerkt  eoixs  de  6  AageTo;  xai  Aagsidv  ?Jysa^ac,  aber 
diese  Herren  wissen  es  besser  j)  rijv  Aageiav  rpvxh'^  dvöuisfiipov.  Der 
Triumph  der  Weisheit  ist  aber  zu  lesen  an  der  verzweifelten  Stelle 
Choeph.  646  .  .  .  nhovä!^Ei  tj  'öv\  oder  wenn  Sept.  602  cpilsi:  8e  oiyäv  ?} 
Uyeiv  To  xaiQia  erklärt  wird :  :TaoaSia^evxziy.6g  dvTi  zov  xai,  xal  Uytir 
T«  xaioia.  Es  verrät  einen  sehr  geringen  Einblick  in  die  Gepflogen- 
heit dieser  Herren,  wenn  uns  Dindorf  seine  zu  Ag.  14  gemachte  Con- 
jectur  Äv^co  mit  der  Autorität  dieser  Gelehrten  empfehlen  möchte,  denn 


218  Sitzung  der  iMlos. -  philo! .  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

(juelle,  die  uns  viel  öfter  und  unzweifelhaft  auf  das  Richtige 
führen  könnte  —  nämlich  die  Paraphrase  —  entweder  ganz 
zu  Verlust  gegangen  oder  heillos  entstellt  und  verderbt  worden. 
Doch  ist  dieselbe,  soweit  sie  vorliegt,  auch  in  ihrem 
heutigen  Zustande  wichtig  genug,  um  einer  näheren  Unter- 
suchung unterstellt  zu  werden.  Weist  sie  uns  ja  doch  in- 
direkt in  die  Schule  der  alexandrinischen  Philologen,  über 
deren  Verfahren  nach  dieser  Richtung  Lehrs  im  Aristarch 
S.  153  und  nach  ihm  Lud  wich  Didymus  II,  483  ff.  gehandelt 
haben.  Ob  Aristarch  den  ganzen  homerischen  Text  in 
Ilias  und  Odyssee  parapbrasiert,  darüber  können  wir  nicht 
sicher  urteilen,  unsere  Quellen  geben  uns  nur  insoweit  An- 
haltspunkte, dass  wir  sagen  können:  bei  schwierigen 
Stellen  hat  sich  Aristarch  neben  der  Erklärung  auch  der 
Paraphrase  bedient:   bei  andern  weniger  schwierigen  Versen 


hier  wird  ihre  Weisheit  eklatant  offenbar:  i)  jiegcoods  6  ydß,  i] 
XeiTiei  tö  dXvoj  ^qui  proxime  abfuit  ab  vera  scriptura  Av^w".  Dind. 
lex.  Aeschyl.  s.  v.  ?^vCo).  Dass  diese  byzantinische  Afterweisheit  nichts 
zu  thun  hat  mit  dem  Systeme  der  Alexandi-iner  ist  klar.  In  dem 
ji?.sovdCei  und  Xeinsi  scheinen  sie  mir  ganz  besonders  strenge  gewesen 
zu  sein,  was  an  einem  Verse  Homers  gezeigt  werden  soll,  den  man 
kaum  richtig  verstanden  hat. 

A.  133  fj  EÜekeig,  öcpq  aviog  E/jjg  ysgag,  avTctQ  s'/x  avzcog 
T]aüai  dsvo/xevov,  xiXeai  de  fie  zt^vö'  ujiodovt'ai 
Diese  beiden  Verse  wurden  von  Aristarch  athetiert  aus  den  von 
Aristonicus  angeführten  Gründen:  özi  Evze^.sTg  zf/  avvdeasi  xai  zfj  öia- 
vola  xal  iLiij  dgitoCorzeg  'Ayufiifivort.  Um  von  den  andern  Gründen  ab- 
zusehen, wie  kann  man  sagen,  dass  die  Verse  im  Munde  des  Agamemnon 
unpassend  sind?  Nun,  ich  denke  weder  Aristarch,  noch  vielleicht 
einem  anderen  Griechen  ist  es  eingefallen,  zu  devöfievov  den  Genetiv 
von  ysQag  zu  ergänzen.  Aristarch  wenigstens  nahm  die  Worte, 
wie  sie  dastehen  ohne  jede  Ergänzung  aus  dem  Vorausgehenden  und 
da  heisst  ibm  eben  8Ev6fit-vov  nichts  anderes  als  was  es  sonst  auch 
heisst  , dürftig"  und  so  konnte  er  von  dem  reichen  Heerkönige  sagen 
ovy  aofioCsi  'Ayafxsfivovi.  Doch  vergleiche  man  auch  Aristonicus  zu 
A   136,  /'  224,  A  307,  i\  287  //  55'J. 


Römer:  Studien  z.h(in(lschrifll.  Ueherlieferum/  d.  Aesch^his.    219 

inau;  er  sicli  wohl  mit  der  Paraphrase  allein  begnügt  haben. 
Auch  über  die  BeschaÖenheit  derselben  können  wir  nach 
den  wenigen  erhalteneu  Mustern  nicht  in  Zweifel  sein :  die 
Sprache  des  Dichters  war  in  die  in  der  damaligen  Zeit  gang- 
baren Wendungen  der  griechischen  Sprache  übertragen  und 
dadurch  wohl  dem  alltremeinen  Verständniss  /uy'änf'lich  ""e- 
macht  oder  wenigstens  näher  gebracht  worden.  Wo  sich 
ihm  kein  entsprechendes  Wort  aus  der  späteren  Sprache  zu 
bieten  schien,  merkte  er  das  an,  wie  /  607  on  ro  arxa 
TTQOOff'iövi^GiQ  eOTi  TTQog  TQO(fea  afJsraqiQaozog  und  in 
anderen  Fällen ,  sonst  aber  hat  er ,  wo  es  anging ,  in 
Worterklärungen  oder  Widerlegungen  den  gewöhnlichen 
Sprachgebrauch  zur  Erläuterung  herangezogen.  Ich  verweise 
in  dieser  Beziehung  nur  auf  Aristonicus  zu  /  219,  542, 
Ä  378,  383,  436,  ^  71,  77  57,  P  47,  201,  202,  Y  290, 
ß  304.  Da  hören  wir  überall  oix  log  7]f.ielg  oder  Tiaga 
TTjV  y^iABTtgav  ovvrjd^eiav ^  ißielg  öi  iv  owr^d^eia,  Jtaqcc  ro 
oivrid^Eg  etc.  oder  aber  es  war  wiederum  auf  die  Ueberein- 
stimmung  des  homerischen  Sprachgebrauchs  mit  dem  späteren 
verwiesen,  wie  E  121,  /  481,  K  98,  M  46,  iV  493,  TT  206, 
407,  ^  614  in  Ausdrücken  wie  xara  ttiV  r^uETtQav  ygfjoiv, 
ezL  öi  y.al  vcr  leyof-iBV,  ö/uoiiog  iqi.ih',  lug  kiyot.iev  y.xX.  Er- 
klärungen derart  begegnen  wir  in  den  Schollen  des  Aeschylus 
selten,  es  sei  hier  nur  erinnert  an  Pers.  562,  wo  zu  zvT^d 
ö' e/.cpvyeh'  aVaxr'  bemerkt  ist:  o  rjf-ielg  Xeyofxev  rtaq'  oXiyov^ 
und  die  Bemerkung  scheint  uns  um  so  wichtiger,  als  das 
Wort  ein  episches  ist,  das  von  allen  anderen  Tragikern 
gemieden,  von  Aeschylus  aber  sowohl  in  Chorliedern  wie  hier, 
als  auch  im  Dialog  wie  Ag.  1577  fragm.401  angewendet  wurde. 
Viel  wichtiger  sind  natürlich  die  längeren  und  ausführ- 
lichen Paraphrasen  des  Aeschyleischen  Textes  über  die  wir 
aber  nur  dann  ein  sicheres  Urteil  gewinnen  können,  wenn 
wir  uns  das  Verfahren  Aristarchs  au  längeren  von  Aristonicus 
mitgeteilten  Paraphrasen  klar  gemacht  haben. 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Gl.  II.  2.  1 5 


220  SitzutKj  (Irr  philos.-philoJ.  CInfise  vom  7.  Juli  1888. 

Zuniiclist  müssen  wir  natürlich  diejenigen  Scholien  aus- 
scheiden, in  welchen  von  Aristarch  nur  im  Allg'emeinen,  ohne 
wörtliche  Umschreibung  der  Sinn  einer  homerischen  Stelle 
wiedergegeben  wird . 

Wenn  die  Worte  77  97  ff . : 

ai  yag.,  Zev  re  7rarEQ  /.at  l4&)]vaii]  yial  ^iroKkov 
(.irixe  tig  ow   Tookov  davarov  q^vyoi,  ooooi  t'aoiv, 
(.nt]Te  Tig  ^QyEuov^  vco'iv  ö''exdvjn£v  oXed^QOv^ 
0(pQ'  oioL   TQoü]g  leQa  -/.Qr^ösinpa  Xvtof.iEv 
wieder  gegeben  werden:  tolovtoi  yog  o\  loyor  navTsg  airo- 
XoivTO    7rXr]v   rif.icüv,    so    ist    das    durchaus   keine  Paraphrase, 
und    kann    demnach    auch    nicht    zur    Entschuldigung    ähn- 
licher   verschwommener    Erklärungen    in    den    Schollen    des 
Aeschylus    dienen,    sondern    Aristarch    wollte    nur    den    Sinn 
der  Worte  im  Allgemeinen  geben.     Ebensowenig  dürfen  wir 
eine  Paraphrase  erblicken  in  Ä  173 

vvv  yaQ  drj  7r avreaoi  hii  ^cqov  'loraTcti  oxji/^c,'. 

avTL  tot'  rd  7iQay/.iaza  't^f.iwv  XQLyog  YjQzrjzaL ,  o  eariv  F.v 
soyano  -/.irövrio  tötlv  -/.ai  hei  o^vTtjTog  xivöivwv.  Das  ist 
bloss  eine  Erläuterung  durch  einen  ähnlichen  Gedanken, 
keine  Paraphrase. 

Wie  Erklärung  und  Paraphrase  zusammenwachsen  können, 
erkennt  man  aus  Bemerkungen  wie  die  zu 

B  417  yaXK(i)  ^oiyaläor:  ort  ovzojg  £LQi]y.£v  avTi  xov 
ya't/.(7)  (yrjyevra  v.ai  fx  7iaQe7iofjevov  ev  jiieQei  ro  aveXsh. 
n  142  äXlcc  fnv  olng  htioraxo  7irjXai  '  liyiXkEig :  ort  avzL 
Tov  idvvaro,  fxovog  idvvaro  ygrjaaoOai  zw  duqazL  '  z6 
ydg  inikai  fx  7iaQe7io/.ievov  zi^i>  yQrjOiv  oi]^aivu.  Mit  dieser 
Auflassung  des  €x  7caQ€7iof.ttvov  muss  man  sich  vertraut 
machen  um  zu  erkennen,  dass  im  F451  (o  (.liXleig  evyea&ai 
Itov  fg  öovTrov  wmvziov  in  den  Worten  (o  f'oixag  evyeGi)ai 
7raQuytv6/^ievog  elg  7r6Xe/.tov  eine  gute  und  wortgetreue 
Paraphrase  vorliegt. 


Homer:  Studioi  z.hitinlschnffl.  I\-hcrlicfeni»(i  d.  /ieschi/his.    2^1 

Aus  diesem  Grunde  möchte  ich  auch  diese  Paraphrase 
zu  den  wenigen  musterhaften  zählen,  die  wir  aus  Aristonicus 
anführen  können. 

Dazu  kann  man  auch  rechnen 

iV315:  Ol  uiv  (xdrjv  slöiooi  /.ai  fOOV(.iEvov  7ioXi(.ioio  .  .  . 
k'oti  ÖS  ixÖTjv  iXowoi  dvri  xov  -/.ogsod^^vai  avtov  vron^oocGi 
Tov  TtoXei-iov  xahrEQ  nQO^v(.uav  axovta. 

P  272 :  f-iloiioev  ö'aga  fuiv  drjiojv  y.ioi  /.iQf.ia  yevaad-ai 
....  Xeyei  de  ■  uior^rov  i^yi^aaTO  eyxvQrjua  yevead^ai  /.loi 
(jöJv  ;roXe/.ti(ovy   rov  TldtQO/.Xov. 

T79:  iardoTog  ,«£»'  vmXov  d/.oveiv,  ovdi  tor/.ev 

vßßdXsiv  •  yaXsjiov  ydg  hnorautvw  neq  tovri  ... 

yaXE7i6v    eoziv    8TiQ0)    VTioßdXleir    zor    Xoyoi',    ov    avTog   tig 
eiyrelv   ßovXeTai,  xaV  bri  (.läXiata  hiiotr^paov  rig  r]. 

In  andern  Fällen  ist  nur  einiges  genau  in  der  Paraphrase 
wiedergegeben,  anderes  wieder  nur  sinngemäss  erläutert,  wie 
E  150  To7g  ovY,  fQxof.tevoig  6  ytqtov  s-Kgirar''  ovsiQovg  .... 
oTg  Tial  fii]  enaviovoi  tov  rroXf-Liov  b  yiqiov  t/.Qivs  vovg  ovei- 
Qovg  oder  /  116 

dvTl    VV    TCoXXülV 

Xacöv  sotIv  dvriQ,  ov  ts  Zeug  '/.f^Ql  q>iXrjGi] 
.  .  .  Yoog  ioTi  TToXXolg  6  eig  dvi^Q,  otav  jj  0-eoq'iXrjg  etc. 
Dageffen  kann  man  durch  das  ganze  Werk  die  Beob- 
achtung  machen,  dass,  wie  das  oben  gezeigt  wurde,  einzelne 
homerische  Worte  durch  entsprechende  Wendungen  aus  der 
ovvtjd^eia  erläutert  waren,  die  Aufnahme  gefunden  haben  in 
die  Lexica  des  Altertums.  Suchen  wir  nun  aus  den  oben 
angeführten,  wie  aus  den  von  Lehrs  und  Lud  wich  1.  1.  bei- 
gebrachten  Paraphrasen  die  für  unsern  Zweck  notwendigen 
Schlüsse  zu  ziehen,  so  dürfen  wir  dieselben  vielleicht  in 
folgenden  Sätzen  zusammenfassen. 

Eine  wörtliche  genaue  Wiedergabe  („verbum  verbo 
expressit")  wurde  in  der  Weise  angestrebt  und  erreicht,  dass 

15* 


222  Sitzung  der  ])hüos.-i)hü()l.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

die  Worte  des  Textes,  die  nicht  alltägliche  waren,  durch 
andere  geläufigere  und  verständlichere  ersetzt  wurden. 

Bei  Angabe  der  Construction,  der  sinngeuiässen  Reihen- 
folge der  im  Texte  stehenden  Worte,  wurden  die  Worte  des 
Textes  durchaus  nicht  ängstlich  gemieden. 

Die  bei  Aristonicus  vorliegenden  grösseren  und  guten 
Paraphrasen  sind  der  Zahl  nach  so  überraschend  wenige,  dass 
man  zu  der  Annahme  gedrängt  wird,  wozu  uns  auch  der 
sonstige  Zustand  des  Werkes  berechtigt,  dass  ein  gut  Teil 
derselben  in  Wegfall  gekommen  ist,  indem  der  Excerptor 
es  wohl  an  gar  manchen  Stellen  für  genügend  halten  mochte, 
nur  die  Erklärungen  zu  geben. 

Wenden  wir  uns  nun,  von  diesen  Beobachtungen  aus- 
gehend, zu  den  Paraphrasen,  wie  sie  heute  in  den  scholia 
Medicea  zu  den  Dramen  des  Aeschylus  vorliegen. 

Von  vornherein  ist  anzunehmen  und  zuzugeben,  dass  das 
Verständniss  der  hochpoetischen,  aber  gewaltig  kühnen  Sprache 
des  Aeschylus  bei  den  späteren  Griechen  ebenso  auf  Schwierig- 
keiten stiess,  wie  das  der  homerischen  Sprache,  dass  also  die 
Grammatiker  der  alexandrinischen,  wie  der  späteren  Zeit  die 
Aufgabe  hatten,  dem  Verständniss  des  Dichters  zunächst  mit 
Paraphrasen  oder  paraphrasierenden  Erklärungen  vorzuarbeiten. 
Die  Resultate  dieser  Bemühungen  sind  teils  in  unsern  griechi- 
schen Wörterbüchern  aus  dem  Altertume  niedergelegt,  teils 
finden  sich  dieselben  auch  in  unseren  Schoben,  die  ja  den 
ersteren,  freilich  in  einer  ganz  anderen  und  besseren  Gestalt, 
als  Quelle  gedient  haben.  So  liegt  denn  auch  zu  den  Dramen 
des  grossen  Tragöden  sowohl  in  den  Glossen,  wie  in  der 
fortlaufenden  Erklärung  der  Scholien  eine  Paraphrase  vor, 
die  in  mehrfacher  Hinsicht  unsere  Aufmerksamkeit  verdienen 
dürfte,  und  über  die  wir  nach  dieser  notwendigen  orientierenden 
Einleitung  etwas  genauer  handeln  möchten. 

Indem  wir  die  Frage  über  das  Alter  dieser  Paraphrase 
zunächst  aus  dem  Spiele  lassen,   wollen   wir  einige  derjenigen 


Römer:  Studien  z.handschriftl.  Ueherlieferung  d.  Aeschylus.   223 

umschreibenden  Erklilrnngen  anführen,  in  welchen  die  Worte 
des  Textes  entweder  sämmtlich  oder  doch  der  überwiegenden 
Mehrzahl  nach  durch  andere  gleichbedeutende  und  leichter 
verständhche  ersetzt  sind.  Es  ist  uns  also  zunächst  um  den 
Nachweis  zu  thun ,  dass  gute  Paraphrasen  vorliegen,  dass 
man  an  der  Hand  derselben  ein  Urteil  gewinnt  über  die 
andern,  weniger  guten  und  dass  und  wie  mau  sie  eventuell 
für  die  Textkritik  verwerten  kann. 

Ag.  204  €v  yaQ  el'i]:  -/.aXcog  dnoßauj,  Sept.  35  ev  Tele7- 
d-eog:  y.aXd  O^eog  .lageyei,  Choeph.442  Ttqtnei  6'  o-/.d(.irmi) 
f.iivei  xa^Tj /.€/»':  7iQt7iEi  Öe  ooi  dueia/uvr^Tw  öwai-iei  oqli&v 
xar'  aviwr,  Choeph.  628  Jiy.ag  d'  sgeidtTaL  7cvd^fxriv: 
oua  ör/Miooivr^g  y.araßdXXeTai  {&Qeiy.eTai,  ioeinerai?);  eine 
gute,  freilich  mit  einer  Erklärung  durchsetzte  und  die  Ver- 
bindung von  (plXiov  kaum  richtig  angebende  Paraphrase 
könnte  man  Choeph.  674  ff.  nennen : 

WC  TToXl'  sncüfc^g  ydy.Ttoöiov  ev  neii-ieva 
TO^oig  rtQOöiod^Bv  EVO^önoig  yeiQOVf.ievr] 
cpiXi'tv  drioilnXolg  (.le.  tt^v  nava-d-Xiav 

ffpoQog  Tio?.Xd  (ra  rjUtrega  dTtyr^i-icaa  y.al  rd)  Ttoqqiod^ev 
y.aXöig  y.eiueva  rtov  (fiXtov  io  eari,  rd  anl  Bävrjg  ayad^a  sv- 
6iaiT\\f.icaa  tov  ^Ooearov)  roig  xö^oig  eioroycog  y.ivovf.i(vi] 
duoyvf.ivdlg  ue,  Euni.  318  dlao'ioi  yai  dedoQyooi  uoivav: 
^wat  /.al  d^avovoLv  ay.diyov.  Eum.  438  zovroig  af.ieißov 
näoiv  Eif-iaO^tg  ri  fioi:  d7ioy.Qivov  f.iol  ti  evyvwoTOv, 
Pers.  762  'Lioviav  tb  rrdaav  r'iXaoev  ßla:  avvtjyaysv  t^ 
löia  öwdi-iei,  Sept.  18  dnavza  jcavöoy.oioa  naideiag 
otXov:  Ttdvra  riövov  r^g  naidiK^g  rjXi/Jag  (?)  vttodexoiLUvr], 
Sept.  51  oh/.xog  d'oirig  v^v  did  ozofxa:  otz  7p  eXeog  dia 
T^g  yXtooorjg  avxiov  (^/igoitov  djcoOrjXtvcov  Tr]v  6Qf.ii^v),  Sept. 
76  Bvvd  d'eX7(iCio  Xtyeiv:  y.oivco(feXrj  /mI  v/jJv  /ml  tiI-Üv 
vofxiCio  Xtyeiv,  Sept.  161  f-ieXeod^e  d'lsQtüv  dijf.iiiov:  /neXeTrjV 
hyETB    Ttöv    Ugiöv    örjuooicov^    Sept.  240    7TaXivoT0f.ie~ig    av 


224  SitzuiKj  der  philos.-philoJ.  Classc  oom  7.  Juli  1888. 

x) lyyavova'  ayak/naTiov.  öuacfii/nelg  v.aixoi  tcuv  ayaXf.iaT(ov 
ixoi-ievi],  Sept.  579  östvog  ug  ^eovg  oißet:  övoKaTSQyaaTog 
yoQ  ioTiv,  oazig  roig  dsoig  cif-iä,  Sept.  (319  ool  ^vf-iq^ige- 
od^ai  xal  KTaviov  O^avelv  viaXag:  ovoir^vai  ool  xal  (fovevaag 
anod^avüv  syyvg,  Sept.  1007  f.ir]T  6^v{.i6l7ioig  nqooae- 
ßeiv  ol/Liioy/.iaoiv:  (.iiqxe  f.ii^v  o^vTaroig  d^q^voig  xif-iäv 
avTüV,  Siippl.  339  (fQaL,ovoa  ßoxrjQi  (.i6yJ)ovg:  Xfj)  mvxrjg 
ßoxtjQL  orjfAaivovoa  xoig  duoyi.iovg,  Clioeph.  445  axaaig  de 
7cayy,oivog  aö'  htLQQoiyel:  t/iißoa  oe  i]  ovoxaoig  tjfxwv 
rj  '/.oivr\. 

Man  vergleiche  auch  Choepli.  480  niöaig  dyaXyieuxoig: 
aoiSrjQOtg  deof-iolg,  Prom.  708  eV  etyivy.loig  oxoig:  ev 
xaig  evTQoyoig  dfxd^aig,  Pers.  344  xdlavxa  ßgioag:  xc 
(xwv  TIeqowv)  tvyd  ßag^oag.  (Cf.  Ariston.  zu  M  359  coöe 
yuQ  t'ßQiaav  ylwiiiov  dyoi:  x6  Xeyoiiievov  ioxiv  ovxiog 
sneßdqtjGav.)  Ag.  1096  v6f.tov  dvo(.iov\  (i>di\v  drjdri.  Aber 
die  einzige  Musterparaphrase  eines  grösseren  Abschnittes 
glaube  ich  nur  zu  einer  Stelle  des  Aeschylus,  nämlich  Prom. 
883,  gefunden  zu  haben : 

d^oXegoi  08  XoyoL  7iaiovo''  £tx^ 
oxvyvrig  Ttqog  •/.v/.iaaiv  dxijg: 

xexaQay/.iivoi  de  Xoyoi  wg  exvye  yrQOOnaiovoc  xoi  xwv  /.axiSv 
'/.Xiöwvi. 

Diese  Paraphrasen  kamen  etwas  ausführlich  hier  zur 
Mitteilung,  um  zu  zeigen,  dass  zu  allen  Stücken  des  Dichters 
Paraphrasen  vorliegen ;  ich  nenne  sie  gute  Paraphrasen  dess- 
wegen,  weil  in  ihnen  nach  Möglichkeit  die  Worte  des  Textes 
vermieden  und  durch  solche  ans  der  ovvrjÜ^sia  ersetzt  worden 
sind.  Als  besonders  bemerkenswert  sei  hervorgehoben,  dass 
selbst  Ausdrücke  wie  ev  ydq  exr/  Ag.  204  und  Sept.  35  para- 
phrasiert  werden,  ferner  die  SteUung  adverbialer  Bestinunungen 
vor  das  Verbum,  wo  im  Texte  eine  freiere  Stellung  gewählt 
ist,    sodann    die    grössere  Verdeuthchung    durch    Hinzutreten 


Bönier:  Studie»  .'.  hamhchriftl.  VeherUeferutig  d.  Aescht/lus.    225 

d(.'s  Artikels  oder  der  l^ronomina  wie  Su)>|)I.  389.  Die  Hiiupt- 
suclie  ist  und  bleibt  aber,  dass  durch  die  angeführten  Para- 
phrasen der  Sinn  des  Textes  in  klarer,  verständlicher,  jeden 
Zweifel  ausschliessender  Weise  wiedergegeben  ist. 

Die  Wiederholung  der  Textesworte  ist  nur  dann  ohne 
Anstüss,  wenn  die  Paraphrasen  die  Verbindung  der  vielfach 
frei  gestellten  Worte  augeben,  also  in  allen  Scholien  mit  to 
f^r^g  otTwg,  wie  z.  B.  Choeph.  92,   183  und  öfters. 

Aus  dem  bisher  Angeführten  dürfte  zur  Genüge  erhellen, 
da?s  im  Altertum  einmal  die  Stücke  des  Aeschylus  zum 
Gegenstand  eingehenden  Studiums  gemacht  wurden,  dass  bei 
diesen  Stadien  dtisselbe  Verfahren  eingehalten  Avurde,  wie 
bei  der  Erklärung  des  Homer,  und  dass  es  einmal  eine  voll- 
ständige oder  doch  ziemlich  vollständige  Paraphrase  seiner 
Stücke  gegeben  hat.^)  In  den  oben  angeführten  Scholien 
haben  wir  noch  Bruchstücke  dieser  Paraphrase  zu  erkennen. 
Ist  es  schon  schwer,  ja  fast  unmöglich,  bei  vorliegenden 
Verderbnissen  an  der  Hand  dieser  guter  Paraphrasen  den 
Text  mit  apodiktischer  Sicherheit  zu  bestimmen,  so  könnte 
sich  die  Kritik  immerhin  noch  Glück  wünschen,  wenn  bei 
ihrer  Arbeit  ihr  solche  Hilfsmittel  zu  Gebote  ständen,  die 
doch  wenigstens  eine  annähernd  wahrscheinliche  Heilung  der 
Corruptelen    ermöglichen.^)     Aber    ihre    Lage    ist    in    dieser 


1)  üeber  die  kritischen  Zeichen  wird  in  einem  anderen  Zusammen- 
hange gehandelt  werden. 

2)  Zum  Beweis  dafür  soll  auf  die  schwer  verderbten  Worte  Choeph. 
678  ff.  verwiesen  werden: 

xal  vvv  'Ogiartj;,  tj  yäo  svßovlog   sycov, 
s^Oi  HOfii^oiv  6/.£Üoiov  Jtrjkov  .loda, 
vvv  d'  fjjiEo  iv  döfiotai  ßaxx^ioL?  xaXrj? 
largog  sXnig  fjv  naoovoav  iyyQd<psc, 

Das  Scholien,  das  sicher  mit  Wecklein  (695)  gelesen  werden  muss  : 
rd^ov  avrov  ätpavta&evra  doä,  (b;  ngog  x6  ihilg  8'  anedcoxev  und  das 
schon  in  seiner  Fassung  auf  eine  gute  Quelle  hinweist,  hat  sicher 
einen    besseren   Text    gehabt,    als  wir.     Schon  Stephanus    hat  wegen 


226  Sitzung  der  philos.-jihilol.  Clnsse  vom  7.  Juli  ISiSS. 

Beziehung  eine  viel  traurigere.  Denn  diese  gute,  auf  gutem 
Texte  beruhende  Paraphrase  hat  ein  trauriges  Schicksal  ge- 
habt, zu  dessen  Darstellung  wir  uns  jetzt  zu  wenden  haben. 

Zu  diesem  Zwecke  müssen  wir  wieder  anknüpfen  an  die 
oben  zu  Prom.  883  gegebene  Paraphrase :  TSTaQay/.tEvoi  — 
—  "/.Xiöcori.  Dann  wird  weiter  gefahren:  toör^  l'oriv  tvto 
6dvvr]g  7CoXXa  (V)   XaXcd. 

Halten  wir  nun  damit  zusammen,  was  wir  zu  Prom.  528 
lesen : 

/nrjöa/ii''  6  navTa  v8f.icov 

O^eIt'  if.iq  yvco/.ia  -/.gäzog  dvTiTraXov  Zsvg 

0  7cavTa  Ölo fKCÜv  Zevg  [.irjöenoTS  ccvxiTcaXov  y-gärog  tvoioIto 
TYj  if.1^  yvw^iTj^  dvTi  zov  fxtjde7rois  svavTiog  f.ioi  yevoiro  oder 
zu  Sept.  820 

r]  ÖLGüQvig  cc.    — 
de  ^vvaiXia  öogög. 

övooutviOTog  yiyovEV  avvolg  rj  ovincpoQc  zr^g  /.idxfjg.  etil  y.aiKo 
»owi^Xd^ov  elg  (.idxrjv. 

Auch  hier  also  sehen  wir  die  Textesworte  mit  mehr 
oder  weniger  Geschick  paraphrasiert  und  an  dieselben  eine 
Erklärung  —  sit  venia  verbo  —  angereiht.  Wie  weit  nun 
aber  auch  diese  Scholien  von  dem  ursprünglichen  Originale 
abstehen  mögen,  eines  zeigen  sie  uns  doch  sicher,  dass  auch 
hier,  wie  wir  das  vielfach  bei  den  Erklärungen  Homers 
beobachten  können,  Paraphrase  mit  der  Erklärung  verbunden 
gewesen  ist,  freilich  eine  Erklärung,  mit  der  die  heute  vor- 
liegende kaum  eine   Aehnlichkeit  haben  dürfte. 


des  rd^ov  richtig  syyQaq^s  ge.schrieben,  auch  Kirchhoffs  Vermutung 
sknig,  d/iTrkaxovoav  lässt  sich  hören,  aber  für  das  u(pavim7h'Ta  dgf^ 
ist  das  Wort  zu  schwach.     Es  sei  auch  daran  erinnert,  dasa  Per.s.  223 

za/.i7ia?ur  Sf  Twvds  yo.in,  xdroj^a  /lav Qova^ai  axörfo 
zn  ftF.  y.axd   xaraaxe&h'za    vno    xfjg  yfjg    d<pavio{}ijvai  x(ö  axözo)  /nav- 
oovnOai   mit   df/  nvioiJtjvai   paraphrasiert  ist. 


Römer:  Studie»  z.handschriftl.  Ueherüeferung  d.  Aeschyli(s,    227 

Diesen  Zustand  der  ursprünglichen  Ueberlieferung  muss 
man  sich  klar  vor  Augen  führen,  um  einerseits  zu  sehen, 
was  heute  aus  derselben  geworden  ist,  andrerseits  aber,  dass 
in  dem  heutigen  Zustand  ein  grosser,  wenn  nicht  der  grösste 
Teil  derselben  für  Kritik  und  Erklärung  absolut  wertlos  ist, 
und  dass  es  ein  durch  und  durch  verfehlter  Gedanke  ist, 
kritischen  Versuchen  mit  Berufungen  auf  diese  Quellen 
Glauben  zu  verschaffen.  Denn  das  Verfahren  dieses  Excerptors 
ist  nur  zu  klar :  an  vielen  Stellen  wurde  die  Paraphrase 
einfach  weggelassen,  auch  gute  und  annehmbare  auf  die 
alexandrinische  Schule  zurückgehende  Erklärungen  fanden 
keine  Aufnahme :  so  blieb  der  schlechten  byzantinischen  After- 
weisheit eigener  oder  fremder  Erfindung  der  breiteste  Spiel- 
raum. Das  wird  uns  klar,  wenn  wir  uns  zunächst  folgende 
Erklärungen  näher  betrachten. 

Ag.  162  Tsv^STai  (pgevaiv  t6  tiüv 
öXoGxsQwg  (fQoviiiiog  sorai.  Das  ist  keine  Paraphrase, 
sondern  eine  Erklärung,  aber  unzweifelhaft  scheint  es 
mir,  dass  hier  eine  Paraphrase  vorlag  verbunden  mit  einer 
Erklärung,  die  ähnlich  gelautet  haben  kann,  wie  die  heutige. 
Der  Excerptor  hat  nun  die  Paraphrase  weggelassen  und  nur 
die  Erklärung  seiner  Vorlage  geschrieben  oder  suo  Marte  eine 
gegeben.  Und  so  ist  es  bei  einer  grossen  Menge  dieser  Schollen 
gemacht  worden,  so  dass  wir  unser  Urteil  über  dieselben 
bedeutend  modificieren  müssen. 

Diesen  Vorgang,  wie  ich  ihn  hier  dargelegt  habe,  kann 
man  manchmal  noch  deutlich  aus  der  Fassung  erkennen. 

Prom.  949  /utide  jlcoi  di/c'Aäg 

odovg,  nQOi.n]0^ev,  TrQoaßdXrjg 
b  ioTi  fu)]  Y.äj.iaxöv  /uoi  öniXovv  irqo^evr^orjg  öbvtbqov  ue  tcoliov 
miooTQiipuL.  Auch  hier  wurde  die  Paraphrase  weggelassen 
und  eine  schlechte  und  gewundene  Erklärung  an  deren  Stelle 
gesetzt ;  das  erkennt  man  deutlich  an  o  eaxi,  wenn  man  es 
vergleicht  mit  Prom.  883  rovx'  loziv.     Ebenso : 


228  Sitzung  der  pJiilos.-j)hilol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

Per«.  90     af.iaxov  -/.vf-ia  Ita/^aootjg 
zr]v  7rQOoßoXr^v  rtov  IJeooiov. 

Pers.  105     dolo/urjc iv  d'  anärav   Oeoi 
Tig  dvrjQ  iyvaTog  dkv^ei 

...  et  de    dsov    e/iißovX^  xd  zrg   v/x»jg    dvaßdXXeTai,    tig  6 
viKr^otov  Seov. 

Pers.  261      r;  f.ia'/.Qoßiorog  cde  yi  xig 

alav  l(pdvi)rj   yeQaiolg,  dv.ov- 
eiv  rode  jcr^n''  aeXmov. 
eig  TOVTO  tjua/.Qvrd^rj  6  ßiog  rii-tav,  slg  t6  dycovaai  roiavTa  xaxa. 

Sept.  79  (.itiyei'iuL  oiqarog  argaro^i  edov  Xnttiv 
Oiov  (sie)  acpelrat  6  oyXog  anö  rov  OTQaxontdou. 

Sept.  37  tTtsf-iipa,  rovg  7Ct7COLi}a  (.n]  /.i  ar&v  6d(i 
/.ir]  iLidrrjv  OQfur^aai. 

Sept.  228  firj  vvv  dy.ovova''  sf-irpavidg  ay.ov'  ayav 
Y.av  a'/.ovrjg,  7iQo07ioiov  f-ir^  d'/.oveiv. 

Sept.  661     oqyi^v  ufiolog  tut  Y.äy.iOT''  av dtof-itviij 
1(7)  ddshpo)  oov  ßXao(priixov(xivii)  vnö  oov. 

Sept.  665  ov'/.  toxi  yr^gag  zovöe  rov  f.ndof.iaxog 
did  7cavx6g  alaO-rjOexai  xö  iiiiaof.ia  xovxo. 

Suppl.  234   y.al  xdXXa  7t6XV  eneiy.doaioiy.aiov  r^v 
ei  /wr]  7caQ0vxi    cpd-oyyog  tjv  ö  aiji-iavwv 
e/ueXXov  dv    (di/.aiog  ryV)    oxoyaoi-ui)   xd  yaO'   tfjidg  Xeyeiv,  et 
ixii  (pu)vi]v  elfexe. 

Denselben  Charakter  tra<ren  noch  eine  ganze  Meno;e  von 
Scholien  und  halten  sich  denmach  aul  der  gleichen  Höhe 
des  Wertes.  Ich  verweise  nur  noch  auf  Ag.  1065,  1091, 
Eum.  163,  720,  Prora.  694,  902,  Pers.  284,  Sept.  4,  122, 
Suppl.  340. 

Nicht  selten  sind  auch  die  Fälle,  wo  Paraphrase  und 
Text  contauiiniert  worden    sind.     Ich  verweise  auf  das  oben 


Römer:  Studien  z.  hiDiihchriftl.  üeherlieferung  d.  Aeschi/ltis.    229 

aiigel'ührte  Scholion  zu  den  Choeph.  674.  Deutlich  erkennbar 
ist  das  auch  Suppl.  84  yiirtTEi  6'  docpaXig  otd'  inl  viv  \ 
to),  y.OQvq^t  zl idg  ei  \  xgcevü^f^  riQuyfxa  reXeiov:  ei  öi 
II  dwaÜ^ii  ro";  vev(.iaTi  rot  zliög,  oocpalcög  nimeL  y.ai 
eLoyjiHovwg.  In  der  paraphrastisch  gegebenen  Erklärung 
wurden  unbedenklich  wiederholt,  nur  mit  einer  kleinen 
Aenderung  des  oag^a/Jg  in  docpaXiog  Ttimei.  Gewiss  war 
nun  auch  in  der  Paraphrase  oi'd'  STti  vctzii)  mit  einem  ent- 
sprechenden prosaischen  Ausdruck  erläutert,  verbunden  mit 
der  Erklärung  evoxtjuovojg  oder  ovk  doxt]i.i6vtog.  Der 
Excerptor  liebst  die  Paraphrase  weg  und  nahm  nur  die  Er- 
klärung auf.  Hier  haben  wir  auch  einmal  einen  Halt  an 
der  Glosse,  welche  do(pcc).cog  arroiiaivei  erklärt. 

Wurde  so  das  für  die  Kritik  wichtigste  Hilfsmittel,  die 
Paraphrase,  entweder  ganz  aufgegeben  oder  durch  Aufnahme 
von  Erklärungen  in  dieselbe  verändert  oder  anderweitig  ent- 
stellt, so  war  noch  ein  weiteres  Schicksal  unausbleiblich, 
so  bald  man  begann,  sie  in  unsere  Handschriften  überzu- 
schreiben :  sie  wurde  zerrissen.  Das  kann  man  deutlich  er- 
kennen Pers.  861  Xif-ivag  t'  exroO^ev  at  -/.ard  yiqoov 
.'-  I  Xt^kaf-ievai  neql  Tzvqyov  roiö'  dvay.Tog  diov.  Die 
Paraphrase  dieser  Worte  mag  im  Zusammenhange  gelautet 
haben:  /.at  l'^w  TVjg  ^aXdoorjg  oaai  /.axd  r^iteiqov  zolg  reixeoi 
y.e-/.v/.Xiof.ievaL  (?)  xovtov  öeorroTOv  rixovov.  Nun  lese  man 
l)ei  Kirchhoff  und  Wecklein  die  disjecta  membra.  Cf.  Sept.  86. 
Diese  disjecta  membra  haben  wir  natürlich  auch  zu  erkennen 
in  den  Glossen,  die  im  Cod.  Med.  sich  über  manchen 
Textesworten  befinden.  Die  Bedeutung  derselben  ist  ja  längst 
erkannt  und  desswegen  in  die  Augen  springend,  weil  die 
Excerptoren  ihre  Paraphrase  vielfach  an  oder  über  einen 
Text  schrieben,  der  nicht  mit  den  Worten  derselben  im 
Einklang  stand  und  so  vielfach  zu  einer  wichtigen  weiteren 
Quelle  führen.  In  dieser  Beziehung  sei  der  Beachtung 
empfohlen:  Choep.  62  öiauüviQovoa,    307  aivojiaiftg'i    (Har- 


230  Sitzung  der  philos.-phüol.  Glasse  vom  7.  Juli  1888. 

tung),   Fers.  747  ohorgeTv,    Sept.  2  ev  e^otala,    62  dorpalrig, 

ßsßaiog  kann   kaum  eine  Umschreibung  von  ycedvog  sein,  das 

eher  mit  dyadog  gegeben  wäre,  wie  vielleicht  Choeph.  102. 

Das  Merkwürdigste  ist  zu  lesen  Choeph.  656 

are IxovTa  d'  avrocpoQTov  oly.eia  odyrj 

wo  die  Glosse  lautet  snl  löia  nQayi.iaTtic(^  was  einen  vor- 
züglichen Gedanken  gibt,  zumal  olxela  oäyrj  nach  avzocpoQ- 
Tov  so  ziemlich  überflüssig  ist. 

Bemerkenswert  dürfte  auch  sein,  was  z.  T.  oben  schon 
hervorgehoben  wurde,  dass  Scholion  und  Glosse  Suppl.  84 
nicht  übereinstimmt,  wo  das  Scholion  docpaXcZg  TtuiTEi^  die 
Glosse  docpaloig  mioßatvei  bietet.  Dass  einige  von  diesen 
Glossen  auf  gute  Commentare  der  Alexandriner  zurückgehen 
müssen,  erkennt  man  aus  Choeph,  642  wqu  d'  si-ijroQovg 
l^ei^ievai,  wo  8(.i7i6Qovg  mit  odoLrcoQOvg  glossiert  ist.  Das- 
selbe Wort  finden  wir  in  derselben  Weise  erklärt  und  mit 
einem  %  notiert  Soph.  0.  C.  303. 

Weisen  uns  nun  so  die  Paraphrase  und  manche  Er- 
klärungen auf  die  Schule  der  Alexandriner,  die  an  der  ersteren 
vorgenommenen  Aenderungen  und  Contaminierungen  auf  das 
Ungeschick  und  die  Willkür  der  Excerptoren,  so  führt  uns 
die  Betrachtung  der  gegebenen  Erklärungen  selbst  viel- 
fach auf  das  Ungeschick  und  die  Impotenz  byzantinischer 
Albernheit  und  zum  Unglück  ist  sie  viel  mehr  zum  Worte 
gekommen,  als  die  gesunde  Stimme  strenger  wissenschaft- 
licher Forschung  und  Methode.  Es  ist  doch  der  Gipfelpunkt 
der  Naivität,  wenn  die  herrliche  Stelle  Prom.  883  schliesslich 
in  die  dürren  Worte  zusammenschrumpft  tvro  ddvvrjg  nokXc 
"kcxXa.  oder  528  {.niötnoxe  svavriog  /.loi  yeroizo. 

So  müssen  wir  denn  zum  Schlüsse  noch  etwas  bei  diesen 
Erklärungen  verweilen,  um  einerseits  das  Schicksal  des  auf 
guten  Quellen  beruhenden  Commentares  zu  erkennen,  andrer- 
seits   ein    richtiges  Urteil    zu    gewinnen    über   den  Wert  der 


Homer:  Studien  :.h(ii)(lschnftl.  Ucherliefeninf/  d.  Aeschijlus.    231 

gesammten  Scholienmasse.  An  der  Hand  der  Scholien  zu 
Sept.  96,  240,  319.  820,  807,  Pers.  75.  die  hier  mit/Aiteilen 
7A\  weit  führen  würde,  wird  man  die  Sache  in  folgenden 
Sätzen  zusammenfassen  können. 

I.  Zuerst  behaupten  die  guten  älteren  C  o  ra  m  e  n  - 
tare  noch  ihren  Rang  und  wir  sehen  dieselben  daher  zuerst 
und  ausschliesslich  excerpiert.  Darauf  weisen  unzweideutig  die 
Nachrichten  über  die  Notation  der  Alexandriner.  Prom.  9, 
Sept.  79,  Choeph.  521  etc.  Daneben  macht  sich  aber  das 
leidige  Bestreben  in  ziemlich  vordringlicher  Weise  geltend, 
die  vorgetragenen  guten  oder  doch  annehmbaren  Ansichten 
wo  möglich  durch  neue  und  anscheinend  bessere  zu  ersetzen. 
Die  Fälle,  in  welchen  nur  allein  gute,  stichhaltige  Er- 
klärungen oder  Excerpte  aus  den  Commentaren  der  alexan- 
drinischen  Schule  vorliegen,  sind  die  selteneren,  häufiger  die, 
in  welchen  sich  ein  oder  mehrere  Zusätze  von  sehr  bedenk- 
lichem Werte  an  dieselben  anschliessen. 

II.  Zuerst  ist  die  ungesunde  Weisheit  der  Späteren  zu 
Wort  gekommen  und  die  alten  guten  Erklärungen  haben  so 
zu  sagen  nur  noch  das  Gnadenbrod  und  hinken  an  zweiter 
Stelle  nach,  nachdem  sie  der  neuen  Weisheit  das  Feld  ge- 
räumt. 

III.  Aber  in  den  weitaus  meisten  Fällen  sind  dieselben 
ganz  verdrängt  worden  und  wir  bewegen  uns  in  einem  Meere 
von  Unsinn  und  Albernheit,  aus  dem  kein  Heil  weder  für 
die  richtige  Auffassung  des  Dichters  noch  für  die  Textes- 
gestaltung zu  suchen  oder  zu  erwarten  ist. 

Indem  ich  die  Scholien ,  die  aus  Commentaren  der 
alexandrinischen  Schule  geflossen  zu  sein  scheinen  und  die 
keine  Zusätze  erfahren  haben,  einer  anderen  Untersuchung 
vorbehalte,  in  welchem  über  die  Notation  der  Alten  gesprochen 
werden  soll,  will  ich  es  versuchen,  den  unter  T  berührten 
Fall  an   eiuijjen  Scholien  anschaulich  zu  machen. 


282  Sitzung  der  philos.-pMM.  Clnsse  vom  7.  Juli  1888. 

Ag.  1020  7fQiv  aifiarrjQov  f^acpQi'Csodai  jh^voq 

1)  dno  Tiuv  oxQrjVKjüvriov  VTroKvyltov,  a  oir/.  iUovxa  t(^ 
yalivw  dcfoil^sL  f-ierd  ait-iarog.  Daran  hat  sich  nun  eine 
zweite  Erklärung  angeschlossen,  über  die  kein  Wort  weiter 
zu  verlieren  ist :  2)  r]  sirsl  avirj  ov  jrsi&erai  nqlv  ai^axöo, 
f.iov  xr^v  if.ivyj^v  f^ag)Qtaai  (?  dwl  xov  7iqIv  ogyioS^rivai  /je 
avxfj).  Um  kein  Haar  besser  ist  die  Erklärung,  die  sich 
an  die  erste  Erklärung  angeschlossen  hat,  die  wir  zu  Ag. 
108G  lesen: 

ajiö  di  ^ eoffaxcov  xlg  dyaiyd  cpdxig 
ßqoxoig  xtXXex u i 

1)  yviOf.ioXoyü)v  g)rjai  xovxo.  hioxs  yaQ  /.al  sn''  dyad-olg 
Ol  yQrjOf.ioi  yivovxai.  tog  ds  snl  xo  nolv  liioyOrjQd  yQrjOf.iio- 
öovoiv.  2)  rj  x6  o'kov  hil  xw  ygr^a/LUi)  Kaoävöqag  •  dvro  xovxiov 
xwv  d^eo/rio/uax(üv  xlg  dyad^rj  (pdxig  yivexai,  ßqoxölg  de  xoig 
iyyojQioig. 

Richtig  ist  die  Bemerkung,  die  wir  /u  Choeph.  764 
lesen ;  dieselbe  geht,  wie  wir  sehen  werden,  auf  die  alexan- 
drinische  Schule  zurück,  blanker  Unverstand  die,  welche 
sich  daran  angeschlossen  hat. 

vvv  Ttagaixov  /iie  va  (.loi,   rrcxeg 

1)  nleovdtei  r]  yragd  (cf.  Dind.  lex.  s.  v.).  2)  ri  jraqd 
aov  alxovfxivii'.   — 

Nicht  besser  steht  es  mit  der  zweiten  Erklärung  zu 
Prom.  .558 : 

oxe  xav  OfionaxQiov  "övoig 
ayayeg  "Haiovav  ireii^iov  dduagra  ~/.otv6Xey.XQOv 

1)  "övoig  /ceiOiüv  xr^v  eoo^hvijv  aoi  dd/^iuQxa  xoivoXexxQov. 
2)  ri  rr(v  y.oiv6XexxQOv  xov  'QKeavov   Ti]0^iv  7iEioag. 

Von  demselben  Kritiker  ist  und  .seiner  würdig  die  zweite 
Erklärung  zu  Fers.  049 : 


Bümer:  Stmlieu  :.  hnu<l<iclmftl.  Ueherlieferuiifi  d.  Aeschtfhis.    233 

^agelov,  olor  draxta  Jageiav 

1)  .  .  .  £0/x£  df  ö  JaQsiog  y.al  Jaqeidv  Xiyeod^ai.    2)  tj 
T»jv  JuQeictv  ii'vyi]v  dväuei-ixVov. 

Nicht   anders    kann    das  Urteil    lauten,    wenn    man    die 
Bemerkungen  zu  Prora.  601  mit  einander  vergleicht: 
dvQ  — 
öaif-toviov  de  rlreg  o7,  f,  f 
Oi'  iyw  (.10 y 01)0 IV. 
1)    tiveg    oXiog,    rtov    dvadai(.i6viov    f.ioyovöiv    oia    eyto; 
2)   itvig  ovTiog-  (di  odaii-wvcov  a.dd.Dmd.)  öi  riveg,  h'u  lEtnri 
10  /raldeg. 

Staunen  muss  man  über  die  Weisheit,  die  wir  lesen  zu 
Choeph.  758 

Tq.   y.ai  TTCÖg;  'Ogtovi^g  eXTiig  ol'yerai   öoiKov. 
Xo.  0 1' ji CO  •  -/iay.og  y e  uamg  cv  yvon]  xade 

1)  Tiveg  oviLoiOiv  elg  t6  ovulo,  'iv'fi  ■  ovTtco  alnlg  or/erat 
d6f.icür,  Tiäxa  de  /.cd  6  Tvycov  (.lavtig  yvoii]. 

2)  ravra  o/.Qißoig  /.icxvTecog  emeiv  (also  ovttco  yay.og  ye 
ficivTig  xrA). 

Eine  ganz  wunderbare  Leistung  lesen  wir  zu  Pers.  366  ff. : 
cog  el  uoQov  cfev^oiad^'  "EAA/yveg  y.ay.ov  .  .  . 
näoi  oreoeod^at  y.oaTog  r^v  n goxelfievoi' 

1)  wg  el  eBedrjoaiev,  cfi]Oiv,  o\  "EXh^reg  dga rsTevoavTeg, 
ncLOiv  rineilei  rolg  TayO^etoi  avroig  cfvlcx^ai  rrjg  yeq>ah]g 
OTEQri^r(vai. 

2)  dxoirov  öe  drceileiv  :iXtl^ei  toooltc>j  d^cxvarov  •  ßel- 
Tiov  oiv  y.QOTOg,  xr^g  xif-irig  y.ai  c^QyJig  oxeQio/.eo^ai,  Yr'  ij 
y.Qaxog  avxi  y.Qcxxovg:    — 

Einen  geistlosen  Missbrauch  des  Homer  gewahren  wir 
zu  Sept.  155,  wo  ex egocpcovco  erklärt  wird: 

1)  xc7)  iLtYf  ßoicoxiä'Zovxi.  eneidrj  de"EkhjV£g  y.ai  o\  l4Qye~ioi, 
Ol-/,  ehiei'  ßaQßccQOcfo'jvcü. 


234  SitZHHf)  der  pJiilns.- philo].  Classe  i'^orn  7.  Juli  1888. 

2)  alXtog:  to)  e'yovri  avögag  fx  TioXlon-  aih-cov  "^'Of-iijQog 
„älXi]  d'aXXiov  yXtZoaa"   (B  804).     Cf.  Sept.  879. 

Prom.  238: 

iycü  ö'' EToXfii^o'.  l^eXvoä f.ii]v  ßgorotg 

1)  Tivsg  ST6X/nr]aa  'Kai  xo  f-:^rig  fiera  rjd-ovg. 

2)  övvaxai  y.at  zoX/n^g  eivai  w$  Tif.irjg  rifxiqBig. 

Aber  auch  d  i  e  oben  unter  II  berührten  Pälle  sind 
nicht  selten,  in  welchen  die  gute  und  stichhaltige  Erklärung 
noch  in  so  weit  Berücksichtigung  gefunden  hat,  dass  sie 
wenigstens  an  zweiter  Stelle  Erwähnung  findet.  Hin  und 
wieder  scheint  sich  doch  bei  diesen  Nullitäten  das  Gewissen 
geregt  7a\  haben  und  so  haben  sie  doch  auch  einer  von  ihrer 
Weisheit  abweichenden  Erklärung  Raum  gegeben.  Es  wäre 
demnach  durchaus  kein  Verlust  für  die  Wissenschaft,  wenn 
alle  die  nun  unter  1)  folgenden  Erklärungen  nicht  geboren 
worden  wären. 

Suppl.  3  :     a7Td  7[QOoro/.iioJv  X£7iToiliai.io^wv 

1)  Tivig    Trjg  Oägov  ^lyv7iTov  •  7tQ07i<xQ0iiyt  yaq  eoxiv. 

2)  o/^ieivov  di  xa  ox6f.iLa  dy.oveiv,  7cXEOvaCovorjg  rijc 
7t  Q  6.  öia  yoQ  xov  'HqaxXecoxiycov  oxofiiov  xrjv  (pvyi^v  STtoiri- 
oavxo. 

Eum.  366:     /.ax acpfQto  7iodog  axf-iav 
ocfaXegä  xavcögof-ioig 
xioXu 

1 )  xo'ig  xavvdQO/noig  avxwv  '/.loXotg  hiayovoa  xa  ocfaXega 
f.iov  xwAa, 

2)  r^    arr'    aXXijg    ccqyr^g  "  y.ai    xolg    xavv6Q6(.ioig    yivexai 

OffaXega  xa  y.oj?M oiov  ol  xayidQ(jf.ioi  ov  Övvavxai  fxe 

^/.(fvyelv. 

Prom.  31:  dvO^'  ibv  axegyrr^  xrjvde  (fQOVQr'iOeig  Trixqav 

1)  Xlvtg^r^v  Ob  öwr^aij  7iaQaxQa7i7^vai. 

2)  axsQTrri  did  xa  hrayöfieva. 


Bömer:  Studien  z.hnutlschriftl.  Ueherlieferioif]  d.  AeAchylits.    235 

Sept.  237:   oj  :i  ay/.Qarfg  Zev,    rqtil'ov   eig  fxi)^QOvg 

ßi^og 

1)  ßsXog  viv  TToXei-iov.    2)  ßfXog  di  nov  x6  ßakXö^uvov. 

So  liegt  denn  bei  orenauer  Betraehtuno;  die  auch  schon 
von  Änderen  (reäu^iserte  Vermutung  nahe,  dass  diese  Scholien- 
niasse  aus  zwei  an  Wert  sehr  ungleichen  Commentaren  zu- 
sammengeflossen ist. 

Am  traurigsten  ist  es  daher  um  die  Sache  bestellt,  wenn, 
wie  im  dritten  der  oben  erwähnten  Fälle,  die  schlechtere 
Quelle  ausschliesslich  excerpiert  und  so  jede  Spur  des  Guten 
und  Richtigen  verwischt  und  nur  der  blanke  Unsinn  byzan- 
tinischer Weisheit  zum  Worte  gekommen  ist  Leider  begegnet 
man  demselben  fast  auf  jeder  Seite,  so  dass  Beispiele  hier 
anzuführen  nicht  geboten  erscheint. 

Das  muss  man  sich  immer  gegenwärtig  halten,  um  über 
diese  Erklärungen  richtig  und  sachgemäss  urteilen  zu  können. 
Darum  kann  ich  durchaus  nicht  mit  den  günstigen  Aussprüchen 
über  diese  Scholien  übereinstimmen :  Sie  bedürfen  einer  sehr 
bedeutenden  Einschränkung;  über  den  Wert  des  Einzelnen 
kann  uns  natürlich  nur  eine  eingehende  Spezialuntersuchung, 
die  darzulegen  bemüht  ist,  quid  distent  aera  lupinis,  genaueren 
und  endgiltigen  Aufschluss  geben.  Dieselbe  darf  aber  nicht 
auf  Aeschylus  allein  beschränkt  sein,  sondern  muss  auch  die 
anderen  Tragiker  und  Aristophanes  umfassen. 

Auch  über  die  Paraphrase  und  deren  kritische  Ver- 
wertung ist  nur  dann  ein  endgiltiges  Urteil  möglich,  wenn 
dieselbe  auch  bei  Sophocles  und  Euripides  so  weit  als  möglich 
zur  Vergleichung  herangezogen  wird.  Doch  glauben  wir  so 
viel  auf  Grund  der  bisher  gewonnenen  Resultate  behaupten 
zu  dürfen :  Gute  Paraphrasen  sind  nur  solche,  in  welchen 
nach  Möglichkeit  die  Worte  des  Textes  vermieden  und  durch 
klare  unzweifelhafte  Ausdi'ücke  —  durch  •f.vqia.  —  umschrieben 
sind.    Nur  solche  lassen  sich  für  den  Text  kritisch  verwerfen, 

1888.  Philos.-philol.  u.  bist.  Gl.  II.  2.  16 


236  Sitzunfi  der  phiJns.-iihUol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

wenn  aucli  da  nocli  die  grösste  Vorsicht  geboten  ist.  Es  ist 
ein  reiner  Missbrauch  und  zeigt  von  wenig  Einsicht  in  den 
Zustand  dieser  Scholienmas'^e,  wenn  Scholien  von  höchst  zweifel- 
haftem Werte  zur  Emendation  herangezogen  werden,  wie  das 
leider  vielfach  geschehen  ist.  Man  muss  sie  ansehen  für 
das,   was  sie  wirklich  sind,  für  Nullitäten. 

Anders  verhält  sich  die  Sache  natürlich,  wo  bei  An- 
gabe der  Konstruktion  die  Worte  des  Textes  unbedenklich 
wiederholt  werden  können.  Es  soll  dies  mit  ein  Paar  Bei- 
spielen erläutert  werden.  Am  Schlüsse  des  Agamemnon  hat 
der  neueste  Herausgeber  nach  dem  Vorgange  von  Canter  und 
Auratus  aus  den  Scholien  y-aXidg  aufgenommen,  während 
Kirchhoff  das  Zeichen  einer  Lücke  setzte,  gewiss  von  der 
richtigen  Voraussetzung  ausgehend,  dass  die  Umschreibung 
des  Scholions  mit  xaliog  der  sicherste  Beweis  dafür  ist,  dass 
das  Wort  nicht  im  Texte  stand.  Aber  er  befindet  sich  im 
Irrtum.  Das  Scholion  gibt  hier  lediglich  die  Verbindung  an, 
vermeidet  darum  nicht  die  Worte  des  Textes  und  so  hat  man 
es  mit  vollem  Rechte  eingesetzt.  Dasselbe  scheint  mir  auch 
der  Fall  zu  sein  mit  Eum.  476,  477: 

Toiavra  f.dv  rad'  loxiv  '  a/uq)6zsQa,  /ntveiv 
nefxneiv  re,  övoycr^fxaT''  dfxrjyavcog  etnul 

Dazu  lesen  wir  das  Scholion :  7ref.i7reiv  avTog  aiiit]vhtog 
öioyeqtg  aariv  Sfxoi.  Eine  Menge  von  Versuchen  ist  in  der 
a|)pendix  bei  Wecklein  aufgezählt.  Aber  die  Paraphrase, 
die  nur  die  Konstruktion  angibt,  was  mir  aus  dem  Schlüsse 
övoyEQtg  eoTiv  e.f40i  hervorzugehen  scheint,  ist  durchsetzt  mit 
einem  VVorte  des  Textes  nämlich  mit  a/iirjvhojg,  das  gewiss 
nicht  als  ein  y.vqiov  bezeichnet  werden  darf  oder  so  nahe  lag. 
Das  dvöiirj(.iax'  ist  gewiss  nichts  anderes  als  eine  Erklärung 
von  d/iiffÖTeQa  =  dvo  nr^fxaTa  und  darf  also  gewiss  nicht 
zur  Emendation  herangezogen  werden.  Der  Gedanke  ist 
nacli  dem  Vorausgehenden   vortrefflich    und  schliesst  sich  so 


Bömer:  Studie»  z.  hnudschriftl.  UeherJicferuini  <1.  A('.schi/li(s.    237 

leicht  an.  Darum  möchte  ich  lesen:  7rein7ceii'  d'ajm^i'iTcog 
dur^xövwg  f//o/  oder  mit  der  leichten  Aenderung  von  Paley: 
d/^niViTOig.  Das  Wort  gebraucht  Aeschylus  auch  Ag.  989. 
Dass  es  unzulässig  ist  auf  Grund  des  Scholions  hier  zdod' 
oder  ähnliches  einzusetzen,  kann  man  aus  den  Paraphrasen 
zu  Suppl.  339,  Choeph.  442,  Sept.  1007  ersehen. 

Zum  Schlüsse  möge  noch  Prom.  599  zur  Besprechung 
kommen  : 

laßgöavTog  YjXd^ov,   i'^Hgagy 
871  iy-Ötoiöl  i.it]dsoi  dafieJoa 

^'Hqag  hat  Hermann  aus  dem  Scholion  ergänzt  und  sein 
Vorschlag  hat  fast  allgemein  Annahme  gefunden.  Und  doch 
erheben  sich  gegen  die  Zulässigkeit  desselben  zwei  gewichtige 
Bedenken.  Einmal  erwähnt  Jo  das  Eingreifen  der  Hera  zu 
ihrem  Nachteile  nie,  sowohl  vorher  574,  wie  nachher  spricht 
sie  nur  von  Zeus  oder  ganz  allgemein ;  das  Zeugniss  des 
Scholions  aber  ^tolg  rrjg  "Hqag  spricht  doch  mehr  gegen,  als 
für  Hermann;  denn  die  Worte  zeigen  ja  klar,  dass  der  Scholiast 
"ÜQug  nicht  in  seinem  Texte  hatte,  sondern  ein  allgemeines 
Wort,  das  er  mit  ' Hgag  eben  erklären  wollte,  wie  er  595 
O^soavTov  ze  voaov  mit  tov  Jiog  eqioxa  erklärt.  Wäre 
es  metrisch  zulässig,  so  könnte  man  zunächst  auch  hier  an 
i^eioig   denken. 

IV. 

Eine  Eigentümlichkeit  des  aeschyleischen  Stiles  ist  die 
Wiederholung  desselben  Wortes  entweder,  was  das 
seltenere  ist,  in  dem  unmittelbar  folgenden  Verse  oder  doch 
in  kurzen  Zwischenräumen.  Dindorf  hat  nun  zwar  in  seiner 
edit.  V.  Lipsiae  p.  CHI  auf  diese  Erscheinung  aufmerksam 
gemacht,  sich  jedoch  mit  dem  Hinweis  auf  einige  wenige 
Stellen  begnügt.  Da  nun  diese  Eigentümlichkeit  sowohl  für 
die  Erkenntniss  des  Stilcharakters  des  Aeschylus,  sowie  auch 

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238  Sitzung  der  philos.-philol.  CAassc  vom  7.  Juli  J88S. 

für  die  Textkritik  von  Berleutuncr  ist,  so  dürfte  vielleicht  eine 
eingehendere  Behandlung  derselben  am  Platze  sein. 

Wir  werden  zunächst  unsere  Untersuchung  zu  begrenzen 
haben,  indem  wir  Stellen  ausscheiden,  wo  sieh  in  der  Wieder- 
holung die  bewusste  Absicht  des  Dichters  verrät,  wie  z.  B. 
Choeph.  248,  250: 

narQog  veoooovg  rovoö'  dnoff-^-eiQag  iiod^ev 
i-'§Eig  öf.iolag  xeiqog  evO^oivov  ytQag', 
ot'r'  aiexov  ylved^X'  dyi  oq^ü^eiQag  Tzakiv 
na^TTEiv  e'xoig  av  or^/.iav''  evniS^r^   ßgozolg. 

oder  Choeph.  912,  914.    Ebenso  dürfte  auch  Choeph.  99,  101 
die  Wiederholung  von  naTQog  gerechtfertigt  sein.    In  gleicher 
Weise  dürfte  es  ohne  Anstoss  sein,  wenn  dasselbe  Wort  von 
verschiedenen  Personen  gebraucht  wird,  wie  Choeph,  496,  497  : 
Or. :  axot'',  vnfQ  oov  roiäd'  sgt'  6dvQ(.iaxa 
avTog  öi^  Oiot.rj  tovÖb  Tif-itjoac  Xöyov 
Chor:  v.ai  f-ii^v  CLf.iEix(fr^  xövd''  IrdvaTov  loyov 
oder  Pers.  297,  298. 

Von  ganz  anderer  Art  sind  aber  doch  Fälle  wie  die 
folgenden  Choeph.  230,  231 : 

üj  reQTtvov  0(.ina  xeaoaqag  (.lolQag  e'^ov 
i/uoi  '  jTQoaavöSv  ö'  tot'  arayuaiiog  ty^ov 

Merkwürdig  ist  so  auch  Ag.  1016,  1018: 
Ch.:    ...  r(>07fog  de  drjQog  log  veaigerov 
Kl.:  tj  f.iaivETai  yt  y,ai   -/.ay-on'     yXuei  (pgerufr 
r^'rtc;  Xutoioa  f.iiv  iioXiv  veaiQET ov 
riY-Bi. 
Auffallend  ist  auch   Ag.  1133,   1135: 

y.ui   /ni^r  o  yQfjO/nog  ovyJx  ly.  y.aXviuf.iaxo)v 
{■'axai  ÖEÖoQyjog  veoyäiuov  vviiKfrjg  diy.rjv 
Aau/rQog  (V  t'oiyev  tfh'ov  7iQ6g  avxoXog 
nvto)v  f,0(^^eiv.  looxe  /iv(.iuxog  öixijv. 


Römer:  Studien  z.handschriftl.  Ueberlieferimg  d.  Aeschyhis.    239 

Sept.  446,  448 : 

ffiiiioi  öe  oiQi^ovoi  ßaqßaqov  rqonov 
Ltvy.tiQoy.6}.i7ioig  ;i  vev{.iaoiv  7[?.t]Qov/.ievoi. 
bO-zj^uccxioiai  ö'  aanig  ov  oi.ir/.q6v  xqoiiov 

Auffallend  ist  auch  Choeph.  227,  229: 

10  (fiXxaxov  f.ülrjf.ia.  öwi.iaaiv  naxQog 
öayiQvxdg  eX7iig  07reQf.iaxog  oioxi]qiov 
aXycf^   nenoii^cog  ötou    dvaxxriot]  naxqog 

Auch  Sept.  552,  554  ist  bemerkenswert: 
"y.xov  Xeyoif.i'  ov  avöqa  oto(fQOvtaxaxov 
aX'/.riv   x'  agioxov,  /.tovxiv,   l4f.iqiäQeio  ßiav 
'0(.ioXiüioiv  de  7iq6g  7cvXaig  xexay(.itvog 
■/.a-KoloL  ßätu  iioXXa   Tvöecog  ßiav 

Man  vergleiche  auch  Eura.  461,  463: 

'/.ai  xiZvöe  -/.oivfj  yio^lag  hiaixLog 
aXyr]  itqocpwvMv  avxUevxQa  xa^d/^, 
EL  (xr^  TL  xiJövd''  eQ^ai(.iL  xoi-g  STtairlovg 

Man  vergleiche  ausserdem  Eum.  557  irXrjQOVfxevri  —  und 
gleich  darauf  nXr^Qov/jtvov.  Choeph.  155,  156  (?),  400,  403, 
692,  698,  Eum.  218,  222. 

Bei  guter  und  richtiger  Recitation,  wie  wir  die  der 
griechischen  Bühne  uns  vorzustellen  haben,  ist  der  Missklang 
gewiss  nicht  störend  hervorgetreten.  Mit  Recht  bemerkt 
Bergk,  Literaturgesch.  lll  S.  351,  dass  wir  hierin  eine  ge- 
wisse Schlichtheit  des  archaischen  Stiles  zu  erblicken  haben. 
Doch  finden  sich  auch  Beispiele  bei  Sophocles.  Neue  Phi- 
loktet.  267,  auch  bei  Euripides  Suppl.  306,  307  (N),  fragra. 
193,  417,  Valk.  Diatribe.  S.  139.  Doch  dürften  sie  bei 
demselben  anders  zu  beurteilen  sein.  Aufschluss  kann  uns 
hierüber  nur  eine  genaue,  ins  Einzelne  gehende  Spezial- 
untersuchung; brin(i;en. 


240  Sitzuiuj  der  pliilos.-philol.  Classe  com  7.  Juli  1888. 

Bei  Aeschylus  dürfte  uns  die  Einsicht  in  diese  Eigen- 
tümlichkeit zur  Vorsicht  ini  Conjicieren  mahnen.  Nun 
unterliegt  es  freilich  nicht  dem  geringsten  Zweifel,  dass  mit 
dieser  Beobachtung  kaum  Stellen,  wie  Choeph.  1030/32, 
Eum.  566/67,  Sept.  259  und  261,  376  und  377  geschützt 
und  gehalten  werden  können.  Hier  liegt  die  Art  der  Ent- 
stehung der  Fehler  zu  offenbar  zu  Tage. 

Aber  zu  bedenken  ist  doch,  ob  wir  nicht  den  Dichter 
corrigieren  statt  des  librarius,  wenn  wir  mit  Nauck  gestützt 
auf  Euripides  Pers.  250  /ueyag,  mit  Ritschi  Sept.  570  (575 
VVeckl.)  TOvÖE  TTiavcZ  yvr^v  oder  mit  Weck  lein  Ag.  14 
dvTinvovg  lesen. 


An  diese  Beobachtung  möchte  ich  eine  andere  reihen, 
die  uns  vielleicht  an  einer  Stelle  der  Choephoren  auf  das 
Richtige  führt.  Wenn  sich  auch  nicht  läugnen  lässt,  dass 
der  griechischen  Prosa  Verbindungen  wie  oig  vof^og  eozi,  wg 
t'O^og  eOTL  durchaus  nicht  fremd  sind,  so  dürfte  sich  die 
Sache  doch  etwas  anders  stellen  bei  Dichtern,  speziell  bei 
Aeschylus. 

Zunächst  stehen  vÖ/lwq  und  ähnliche  Verbindungen  bei 
ihm  ohne  Verbum  tiuitum.  Eum.  444:  aipO-oyyov  eivai  xov 
7iaXafxvaiov  vof^og  oder  Sept.  995  TeO^vrjKev  ov7ieQ  ro'ig  vtoig 
d^vrjoy.Eiv  ■A.akbv  und  Aehnliches  Pers.  608. 

Auch  in  den  Verbindungen  mit  oig  oder  wanEq  fehlt 
das  Verbum  regelmässig  wie  Ag.  251  wa/re^  ■jj  TiaQoif.iia. 
Choeph.  987  tyei  yog  aloyivir^gog,  log  rö/iiog,  diY.rjV^  Eum.  4 
uig  köyog  zig,  Suppl.  220  ojg  loyog,   Prom.  (510 

loanEQ  öixaiov,  Ttqog  cpiXovg  oiyeiv  atöfxa 

Wir  stehen  also  hier  einem  festen  Sprachgebrauch 
gegenüber,  der  (bis  hori   verpönt,  .so  gut  wie  in  den  Verbin- 


Römer:  Studien  z.handsehnftl.  Ueherliefermi;/  d.  AcNchi/lus.    241 

diui^aMi  mit  er/.oc,  worüber  man  das  Lexicon  von  Dindorf 
ver«i;leichen  kann.  Diesem  Sprachj^ebniuch  widerspricht  eine 
Stelle  der  Choephoren   V.  80,  die  heute  gelesen  wird: 

tj  TOVTO  (paoMo  Tomiog  wg  vcfxog  ßgorolg 
tax'  avTiöovvai  zoloi  TtäfxrcovOL  xade 
axicpi]^ 
Aber  abgesehen    davon,    dass    diese  Stelle    dem  Sprach- 
gebrauch, wie  er   sonst  bei   Aeschylus  vorliegt,   widerspricht, 
unterliegt    sie    noch    einem    anderen  Bedenken.     Das   ist  die 
Stellung  des  eoTi  an  der  ersten  Versstelle.     Nun  findet  sich 
bei  ihm  eivul,  t^^i-iev^  i^oav  an  der  ersten  Versstelle,  wie  Ag. 
1048,  Choeph.  867,  1029,  Suppl.  373,  437,  Ag.  1053  r^^^£v, 
Prom.  G73  rjoav,  Prom.  739  dürfte  anders  zu  beurteilen  sein. 
Aber  ioTi  findet  sich  bei  ihm  an  dieser  Versstelle  nie.     Die 
einzige  Stelle,  die  mit  der  obigen  eine  entfernte  Aehnlichkeit 
hat,  findet  sich  gleichfalls  in  den  Choephoren  973: 

q)iloi  Se  xal  vvv,  cug  ineixaoai  naif^rj 
itoQEOtiv,  OQxog  t'  efxjuävei  rciotwfxaaiv. 

Aber  auch  diese  dürfte  kaum  ausreichend  sein,  das  eoii 
in  dem  genannten  Verse  zu  verteidigen.  So  glaube  ich  denn, 
dass  man  zu  conservativ  war,  als  man  Bambergers  schöne 
Conjectur  verschmähte,  die  doch  auch  ausserdem  dem  dvri- 
öovvai  das  unbedingt  nötige  Object  gibt : 

wg  v6f.iog  ßgoTolg, 
fc'a'  avTidoivat  to'iolv  7ii(.i7iovoiv  räde 
ore(frj.  ^) 


1)  Unbegreiflich  ist  es  mir,  wie  ein  so  feiner  Gräcist  wie  Nauck 
in  .seiner  neuesten  Ausgabe  des  Oed.  Tyr.  die  Stelle  715  behandeln 
konnte.     Dort  lesen  wir: 

y.al  rov  /iiev,  &aneQ  y    f)  cpärig,  §ivot  nozk 
Ij^azal  tpovsvovo'  iv  rgiTiXaig  äfia^iroZg. 
Es    werden  schwerlich    viele    die    Bedenken   Naucks   gegen  jioie 


242  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

VI. 

Einige  ästhetische  Bemerkungen  zu  Aeschylus  und  den 
Tragikern  mögen  den  Schluss  dieser  Abhandlung  bilden. 
Dieselben  sollen  verbunden  werden  mit  einigen  mythologischen, 
von  denen  wir  zunächst  ausgehen  wollen.  Denn  eine  richtige 
Einsicht  in  die  von  den  Tragikern  und  anderen  Dichtern 
vorgenommenen  Versionen  verbunden  mit  einer  eindringenden 
Erwägung  und  Beurteilung  derselben  sind  mehr  als  alles  Andere 
geeignet,  uns  zu  vollem  Erfassen,  zur  richtigen  künstlerisch- 


teilen. Entschieden  Einsprache  muss  man  aber  erheben  gegen  die 
Neugestaltung,  dieN.  vorschlägt,  nämlich:  wojieq  7'?/  cpaTig  xQazsT,  ^svoi. 
Dieselbe  stammt  aus  Ajas  978  und  die  Stelle  ist  ein  sicherer  Beleg 
dafür,  dass  sie  OT  715  nicht  zur  Stütze  dienen  kann.  Dort  ruft 
Teukros  entsetzt  beim  Anblick  der  Leiche  aus : 

d)  (piXrar^  Aiag,  &  ^vvaifiov  o/n/n^  ifioi 
ag  rjfxnöXi^xag,  wojibq  rj  (paxig  xQaxeT. 

So  und  nicht  anders  konnte  Ajas  spi-echen,  als  ihm  nun  die  traurige 
Gewissheit  mit  Entsetzen  vor  Augen  tritt.  Das  ist  ganz  deutlich 
aus  998: 

o^sTa  y6.Q  oov  ßä^ig  (hg  {J-sov  zivog 
öifjkd^^  Ayaiovg  Jidvxag,  cbg  oi'/ei  üavcbv. 

Darum  ist  hier  (päzig  xoareT  an  seinem  Platze,  im  Oed.  aber  nicht. 
Man  vergleiche  auch  Antig.  829  «S?  ffdrtg  drSgcöv.  Ganz  älmlich  auch 
Pers.  727  ff.,  wo  auf  die  Frage  des  Dareios  rovi'  kz^'jzv^ov;  Atossa  ant- 
wortet: vai,  koyog  xgazsT  aafprjvrjg. 

Ich  habe  aber  noch  ein  anderes  schweres  Bedenken  gegen  das 
nQazFi.  Es  scheint  mir  nemlich  bezeichnend  für  den  Charakter  der 
Jokaste,  wie  ihn  der  Dichter  geschaffen  hat,  dass  sie  in  ihrem  ober- 
flächlichen Leichtsinn  mit  der  nur  durch  die  cpäzig  verbürgten  Art  der 
Ermordung  operiert,  wie  mit  einer  ganz  sicheren  und  unläugbar  fest- 
stehenden Thatsache.  Unbedenklich  zieht  sie  ihre  Schlüsse  aus  der 
That,  für  deren  Ausführung  sie  eben  nichts  als  die  (päzig  anführen 
kann.  Ich  meine,  wenn  wir  ^^rjarer  dazuaetzen,  ist  das  zu  schwer  und 
stört  diese  Kreise.  .Jokaste  kommt  rasch  darüber  hinweg;  die  An- 
deutung, die  hier  etwa  zu  geben  war,  hat  der  Dichter  deutlich 
gegeben  durch  das  y\ 


■  Römer:  Studien  z.handschriftl.  Ueberlieferung  d.  Aeschißus.   243 

ästhetischen  \Vürdigung  des  poetischen  Kunstwerkes  vor- 
dringen zu  lassen  und  uns  in  das  Allerheiligste  des  Dichters 
einzuführen.  Darum  war  es  einer  der  glücklichsten  und 
fruchtbarsten  Gedanken  in  den  Anfängen  unserer  Wissenschaft, 
die  diesbezüglichen  Aeusserungen  und  Darstellungen  der  Dichter 
anzumerken  und  festzuhalten,  mit  andern  zu  vergleichen 
und  so  ein  Urteil  üljer  die  Gründe  der  Abweichungen,  über 
den  Wert  derselben,  über  ihre  Nachhaltigkeit  zu  ermöglichen. 
Das  war  ein  Hauptmittel,  zunächst  einmal  der  ästhetischen 
Beurteilung  festen  Grund  und  Boden  zu  verschaffen,  um  so 
zur  Würdigung    des  Kunstwerkes    als   Ganzes    vorzudringen. 

Da  wir  nun  heute  in  unseren  Scholien  des  Aeschylus 
diese  Seite  der  Erklärung  wenig  oder  fast  gar  nicht  berück- 
sichtigt finden,  müssen  wir  auch  hier  wieder  zurück  auf 
Aristonicus  greifen,  bei  dem  wir  nur  die  folgenden  wenigen 
auf  Aeschylus  bezüglichen   Bemerkungen  finden. 

Die  Psychostasie  des  Aeschylus  wird  in  folgender  Weise 
erwähnt.  0  70  ev  ö'  eri^ei  dvo  xt^qs  zavijXeyaog  Ö^a- 
växoio:  .  .  .  y.al  ort  rag  ^avairjqtOQOvg  jnoiQag  Xeyei.  o  öt 
Aloy^ilog  vof.iiaag  Xeysod^ai  rag  rpvxag  i/toirjae  Tr]v  ipvyo- 
aiaolav,  iv  ij  eoviv  6  Zevg  \oTag  ev  t(^  ^vy<ii  rr(v  tov 
Me(.ivovog  xai  liyiXXiwg  xpvxrjV, 

X  209  xaZ  xöxE  df\  yQvoeia  TtarriQ  ezivaive 
TciXavta:  oxi  svrsvd^ev  r^  ^wyoGtaaia  Aloyilov  7ciiiKaoTai, 
d)q  Tov  Jiög  rag  ipvycg  lOTovrog,    ov  d^avaxrjfpoQovg  /.loigag. 

Seine  (Dqiyeg  citiert  Aristonicus: 
X  351   ovo'  e.'t  /.iv  a'  avxov  y^qvoih  eQvoaoO^ai  dvwyot 

J aQÖaviör^g  rLqiu(.iog 
oxi   vTiEQfiulr/Mg  Xiyei.  6  di  Alayvlog  hi'  dltj^siag  avifi- 
oxa(.ievov  yqioov  7re7C0irfKt  nqog  x6  "E/.xoQog  ow{.ia  ev  (Dgv^iv. 

ö  366  Eid 0^ er]  .  .  .  /ml  AioyvXog  6e  iv  rigiozel  Eido- 
d^iav  acxr^v  /.uXei,  6  öi  Zt]v6doxog  ygdifei  Evqvv6i.ii].  Cf. 
fragm.  210  (Dind.). 


244  Sitzung  der  philos.-philol.  Clnsse  vom  7.  Juli  1888. 

B  862:  0OQ/ivg  av  (Dgiyag  r^ye  /.ai  l4 OKcer log 
if  eoeiö r^g:  hxi  oi  vecoveQOi  xr^v  Tgolav  xal  rrv  QiQvyiav  rrjv 
avTijv  Xiyovoiv,  o  de  "Of.i)iQog  ovx  ovrtog  '^loyvXog  dt 
oweyBev. 

Das  war  ein  vernünftiges  wissenschaftliches  Verfahren 
und  die  moderne  mythologische  Forschung  acceptiert  alle 
diese  Resultate  mit  Freuden. 

Es  ist  der  Gipfelpunkt  der  Beschränktheit,  wenn  eine 
Stimme  aus  dem  Altertume  uns  von  dem  Gegenteil  über- 
zeugen will  in  den  von  Trendelenburg:  „ Grammaticorum 
Graecorum  de  arte  tragica  jiidiciorum  reliquiae"  p.  68  und 
von  M.  Schmidt:  ,fragm.  Didym."  p.  265  höchst  unglücklich 
behandelten  Erklärungen  zu  Soph.  Electra  445  und  539.  Zu 
der  ersteren  Stelle: 

vcp^  rfi  0-ai'iov  aTi/.iog  tuars  dvaf.ievrjg 
i/uaoyakioüri  y.d7il  XovtqoIoiv  v.ccqc^ 
yii]Xidag  i^ejua^ev. 

finden  wir  die  Bemerkung:  .  .  .  ov  öel  ös  diaq)U)viav  doKeiv 
elvai  7iQdg  tov  "Ofjrgov^  iviei  q)rjOiv  ey.eivog  ^ÖEncviooag  üg 
Tig  T€  '/.aTeyiTave  ßovv  Eni  cpäzvrj"'  [ö  b'6b).  rj^xet  yaq  tcc 
ola  ovf.ig)Cüvelv  rrö  jigayf^ari  •  zd  ycig  Jtara  f.i€Qog  e^ovoiav 
txBL  tTiaoTog  wg  ßoiiXerai  TiQay/javevaaaÜ^ai,  ei  /r>]  z6  näv 
ßXdjixrj  ^r^g  i/io^eaeiog. 

Hier  war  in  den  guten  Quellen  eine  diacpwvia  jcqög  tov 
'OfitjQov  notiert  und  das  war  richtig,  vernünftig  nnd  wissen- 
schaftlich. Es  ist  weder  Aristarch  noch  einem  seiner  ver- 
nünftigen Schüler  eingefallen,  dem  tragischen  Dichter  auf 
die  Finger  zu  klopfen  und  es  heisst  gegen  Windmühlen 
kämpfen,  wenn  man  sich  zu  einer  Polemik  aufraffen  zu 
müssen  meint,  wie  sie  in  unserem  Scholion  zum  Ausdruck 
gekommen  ist!     Zu  der  zweiten  Stelle   539 

7101EQ0V  eneirw  (dem  Menelaos)  naJdeg  ot'x   r^aal'  di/iXoi, 
ovg  tf^oÖe  /näkkor  el/cög  rjv  O^v^ay.eiv 


Römer:  Stttdieti  s.handschriftl.  Urherliefenoifi  d.  Aeschijlus.    245 

war  auch  ursprünglich  kaum  etwas  anderes  an*^emerkt 
als  die  Abweichung  von  der  homerischen  Darstellung  {Ö  13) 
mit  einem  Hinblick  auf  die  vielleicht  in  dieser  Beziehung 
bessere  Erfindung  des  Homer.  Hören  wir  nun  unsre  Quelle: 
ot  jiegl  fueydXiov  öe  ai  toiaviai  öiacptoviai  xoHq  rioiijTalg 
eion\  wove  oi  7i6vv  de'i  atzo'ig  Ini  xiov  roioinov  evox^dv, 
aq^mtvoig  riov  dvay/.aiOTtQtor,  mreg  vraQaxijQelv  ^XQrjV  "  xavia 
dt  eOTi  Tu  i]U^iKO  y.ai  x(}i\oL!.ia  f)(.ilv  xolg  IvTvyy^a- 
V ovo IV.  üQa  ovv  Ttwg  f/Mno  Zio  luqel  rrjg  loroQi'ag  y.aTE- 
XQ^jOaro,  oxL  owecfegev  tw  loyio  ttJc;  K?^iraifirT]OTQag.  Aber 
durch  diesen  Grundsatz  zavTa  öä  iori  .  .  .  evrvyxdvovoi  ist 
der  Aberwitz  der  7iaiötvTiy.cc  und  anderer  ähnlicher  Unge- 
reimtheiten gezeitigt  worden,  der  uns  um  die  echten  Perlen 
gediegener  Wissenschaft  betrogen  hat.  Einige  Proben  in 
den  Scholien  zu  Eum.  95,  Sept.  165. 

Der  Mann,  der,  um  mich  der  Worte  von  M.  Schmidt 
zu  bedienen,  Aristarchi  nirais  sobriam  censuram  castigat,  soll 
Didymus  gewesen  sein,  1.  1.  p.  265.  Der  Homeromanie  ist 
Aristarch  noch  lauge  nicht  schuldig,  wenn  er  bei  dem  Dichter 
gar  Vieles  besser,  geistvoller,  mit  grösserem  Kunstverständniss 
gestaltet  findet,  als  bei  Späteren,  mag  er  auch  wohl  hie  und 
da  der  selbständigen  Erfindung  und  der  bewussten  Abweich- 
ung der  letzeren  nicht  das  richtige  Motiv  untergeschoben 
haben,     z.  B.  an  dem  schon  citierten  Verse    ö  535 

dtntviooag  aq  zig  ze  v.ctzi-A.zave  ßoiv  enl  q^azvjj 

wo  wir  in  den  Scholien  lesen :  oi  vewzeQOL  fxr^  vorjoavzeg  zö 
'^0(j^t]Qr/.6v  ^ÖEinviooag  —  (fäzvrj'^  rTQoaid-i]'/.av  ozi  xal  neleyei 
dvTjQeiti].  Diese  Fiction,  meinte  er,  sei  daher  gekommen, 
dass  man  die  Sache  wörtlich  nahm,  weil  das  Rind  gewöhn- 
lich mit  dem  Beile  geschlagen  wird,  während  es  dem  Dichter 
nur  darum  zu  thun  war,  das  öeinviaoag  mit  einem  Vergleiche 
zu  erläutern.  Genaueres  in  dem  Scholion  zur  Hecuba  1279  : 
oi    vstözegoi    f-n]    voroavzeg   z6   tiüq'  '0(i/rj^a»    ^öeuiviaoag  — 


246  Sitzunif  der  philos.-phüol.  Glasse  vom  7.  Juli  1888. 

(fdzvr]'^  (ö  535).  avO-^  wv  <üv>  edei  /.lEta  zovg  Ttovovg  mio- 
Äavaetüg  xv^eiv  tovtov  wg  ßovv  dui-x.XEivev  r^  KXvTaif^viqOTQa 
/tQOGii/rj'/.av,  oti  /.ai  7ceki'/.Ei  dvr^oed^t]  •  öio  arj/nsauziov  ivrav^a 
Tov   ^yiavTOv  ye  tovtov  7T€ke'/.vv  s^agag  aVw"    (1279^. 

Also  bei  einer  solchen  Version  muss  durchaus  nicht 
gerade  der  homerische  Vers  vorgeschwebt  haben ,  ebenso 
wenig  wie  Choeph.  882,  wo  Klytaemnestra  ruft: 

doli]  Tig  dvÖQO'K/.iiJTa  ntlsycvv  cog  Ta^og. 

Darin  mag  er  also  am  Ende  des  Guten  zu  viel  gethan 
haben,  aber  recht  hat  er  gethan,  wenn  er  daraufhielt,  dass 
die  diacfiüviai  JiQog  tov  "Of.irjQOv  notiert  wurden.  Der  Ver- 
lust dieser  wertvollen  Nachrichten  wurde  aber  durch  den 
durchaus  verkehrten  Grundsatz  der  Betonung  der  rjD^rKd  (im 
moralischen  Sinn)  und  der  XQ^i^^^l-^"  '^olg  evTvyx^vovoi  {7cai- 
ÖEVTi/.d)  herbeigeführt  und  dieses  leere  und  seichte  Gerede 
kann  uns  dafür  durchaus  nicht  entschädigen.  Daher  dürfen 
wir  uns  auch  nicht  wundern,  wenn  in  den  so  arg  zugerichteten 
Scholien  des  Aeschyius  sich  nur  noch  wenige  Spuren  dieser 
wissenschaftlichen  Bemühungen  finden.  Gewiss  war  be- 
merkt zu  Agamemnon  1003,  1080  und  zu  verschiedenen 
Stellen,  wie  Aeschyius  abwich  von  der  homerischen  Dar- 
stellung sowohl  in  der  Gestaltung  des  Charakters  der  Kly- 
taemnestra im  diametralen  Gegensatz  zu  l  410,  wo  Aristo- 
nicus  bemerkt:  bzi  tTj  ircißouAjj  y.dy.eivrj  ovvtyvuj,  womit 
Ag.  1177  etc.  zu  vergleichen,  als  auch  in  den  die  Hand- 
lung begleitenden  Nebenumständen:  tov  ydg  yiTiova  /.al  tov 
TCiXsKvv  (bei  Aeschyius  das  Schwert  Ag.  1217)  "Of.irjQog  ovy. 
olöev. 

Heute  finden  wir  in  den  Scholien  des  Aeschyius  in 
dieser  Beziehung  höchstens  Ag.  1  :  i)^eQä7nov  ^ya/ue/nvovog 
6  /CQo'AoyiCo/iievog,  ovyi  6  V7i6  ^lyiaifov  TayO^eig.  Es  wurde 
also  die  Abweichung  von  ö  b2ii  fi".,  zu  der  Aeschyius  durch 
die  ganze  Umgestaltung  der  Hiuulluiig  veranlasst  war,  hervor- 


Fömer:  Studien  z.  hattflschriftl.  Ueberlieferunfi  d.  Aefichiflus.   247 

gehoben.  Auf  eine  gute  Quelle  geht  7Airück,  was  wir  zu 
Sept.  407  lesen  : 

yiyag  oö''  oXXog  toi  nagog  XeXsy^evov 

(.lElUOV  ' 

^Tvösvg  TOI  ,«r/o6c  /.lev  tr^v  di^iag,  a/la  ^tm/j^rrjc;''   (£  801). 

Auch  hier  war  also  auf  die  abweichende  Darstellung  bei 
Homer  hingewiesen. 

Aber  sehen  wir  einmal  lieber  von  diesen  alten  Quellen 
ab  und  versuchen  unsererseits  einige  recht  auffallende  und 
belehrende  Abweichungen  von  Homer,  die  sich  bei  Aeschylus 
finden,   darzulegen. 

Dass  Aeschylus  und  die  Tragiker  überhaupt  die  Bekannt- 
schaft mit  Homer  oder  der  von  ihnen  behandelten  Sage  bei 
ihren  Zuhörern  voraussetzen,  ist  eine  längst  ausgemachte 
Sache  und  in  launiger  Weise  geschildert  bei  einem  Komiker 
Kock   II.   1.  fragm.  191 

ua/MQiov  loTiv  rj  TQaywdla 
TToh/fua  /Mxa  7[dvT\  el'  ye  ttqöjtov  ot   loyoi 
VTtö  Twv  d^eavcov  Eiaiv  eyriogiof^evoi 

7TQLV    -/Ml    Tiv'    elnElV  .  '/.tX. 

Nun  ist  das  bei  unbedeutenden  und  wenig  hervortretenden 
Nebendingen  ohne  Belang,  ob  man  aber  den  folgenden  Ver- 
fahren im  Agamemnon  als  einen  solchen  nebensächlichen 
Umstand  bezeichnen  darf,  scheint  uns  fraglich.  Nach  der 
ganzen  Anlage  und  Führung  des  Stückes  sind  die  Männer 
des  Chores,  sind  die  Zuschauer,  sind  wir,  die  Leser,  doch 
wahrhaftig  berechtigt,  nachdem  das  so  lange  erwartete  Er- 
eigniss  der  Einnahme  Trojas  endlich  erfolgt,  dessen  Eintritt 
uns  zweimal  in  glänzender  Weise  geschildert  wird  —  ich 
sage  wir  sind  berechtigt,  und  ist  es  unerlässliche  Pflicht  des 
Dichters,  nachdem  er  so  alle  Erwartungen  erregt  hat,  diese 
zu  befriedigen  und  seinen  bisherigen  glänzenden  Erzählungen 


248  Sitzunci  der  phUos. -philo].  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

die  Krone  aufzusetzen  durch  eine  reiche,  farbenprächtige, 
glänzend  realistische  Schilderung  der  Einnahme  der  Stadt. 
Aber  was  geschieht?  In  ganzen  G  Versen  ist  die  Schilderung 
abgemacht  in  den  Worten  des  Agamemnon  787  ff".: 

y.ai  yvvacKog  eivE'Aa 
nokw  dit]/.iaüv}'€v  ^Qye'iov  daxog 
i7t7iov  vsoGOog,  aaiiidr^cfOQog  Xeiog 
7T'^dr]f.i'  OQOvoag  äf.ig^l  Illeiddojv   övöiv 
VTVEQd-OQtüv  de  nvQyov  co/nr^OTr^g  Xtiov 
aÖ7]v  ilei^ev  ai/iiaTog  TVQavviy,ot. 

Denn  die  Gräuelscenen,  von  denen  uns  Klytaemnestra 
berichtet,  werden  nur  vermutungsweise  entworfen  307  ff., 
auch  die  verschiedenen  Meldungen  des  Heroldes  berühren 
gerade  diesen  Punkt  nicht  und  Aeschylus,  der  uns  in  seinem 
Septem  eine  so  ergreifende  Schilderung  von  einer  eroberten 
Stadt  entwirft,  hätte  in  einer  solchen  Schilderung  sich  selbst 
übertreffen  können.  Warum  sie  unterblieben,  ist  wohl  leicht 
einzusehen :  eine  solche  Schilderung  war  ja  wohl  von  den 
athenischen  Zuschauern  oft  und  wiederholt  gehört  worden  — 
so  konnte  die  kurze  Andeutung  unter  dieser,  aber  auch  nur 
unter  dieser  Voraussetzung  genügen  und  der  Dichter  konnte 
sein  Augenmerk  auf  andere  wichtige  Gedanken  concentrieren, 
die  er  seinen  Zuhörern  in  erster  Linie  zu  Gemüte  führen  wollte. 

Bei  anderen  Versionen  mögen  religiöse  und  politische 
Motive  ihm  die  Hand  geführt  haben.  (Cf.  Eum.  11  x^Q^~ 
Cof-iEvog  Tolg  ^y4-ifi]vaioig,  Eum.  28G  wg  tote  ov/u/xaxovvTcov 
IdQyEuov  l4i^,ivaioig  und  Weil  ad  294  Thukyd.  I,  104,  109). 
So  widerstrebte  es  ihm.  die  Griechen  nach  der  Einnahme 
von  Troja  und  bei  der  Abfahrt  als  uneinig  darzustellen  Ag. 
G05,  daher  die  Erzählung  von  dem  Verschwinden  des  Menelaos 
Ag.595  ff.  Seiner  geläuterten  religiösen  Anschauung  widerstrebte 
es  auch,  die  Götter  als  uneinig  und  vom  Parteistreit  entzweit 
darzustellen,  wenn  man  anders  richtig  Ag.  777  interpretiert: 


jRüwer:  Stii(1ie)i  .'.  haiidschriffl.  üeberlieferiouj  d.  Aeschyhis.    249 

öiy.ag  yoQ  ovx  au  6  yXcooGi^g  O^eoi 
y-Xiovreg  dvÖQod^vffVag  'iXlov  q>^OQdg 
ig  aif-iaii^goi'  reixog  ov  d  lyoq  Qon  lo  g 
i^niq^ovg  e&evTO. 

Man  hat  in  dem  ov  diyoQqojiiog  einen  Seitenhieb  auf 
Homer  gefunden,  und  das  mag  richtig  sein.  Aber  dann 
muss  auch  gesagt  werden,  dass  man  von  dem  grossartigen 
Ereigniss  noch  kleinmütiger  denken  muss,  als  Thukydides 
in  seiner  agyaiokoyia  und  dass  die  zehnjährige  Dauer  des 
Krieges  bei  Homer,  bei  dem  überhaupt  die  niii^uvoTrig  eine 
viel  grössere  Rolle  spielt ,  als  man  gemeinhin  glaubt,  viel 
besser  motiviert  ist,   als  bei  Aeschylus. 

Aber  das  ov  öiyoQQ67nog  wird  sich  wohl  auf  den  letzten 
Moment  der  göttlichen  Entscheidung  beziehen;  denn  Apollo 
ist  auf  Seite  der  Troer  gegen  die  Griechen    Ag.  487 

0  Ilvd-iog  t'  ava^ 
TO^oig  lanrcov  (.itfKez'  elg  r^f.iäg  ßeXi] 
oXig  7t  agd  ^/.auai'dQOv  rjod^'  dvagoiog 

Dagegen  wird  man  mit  mehr  Recht  einen  sehr  bezeichnenden 
Hinweis  auf  Homer  erkennen  Ag.  172 

{.lavtiv  ovTiva  ipiycov 

wenn  man  mit  Stanley  192  rore  liest.  „Damals  als  er  zur 
Kettung  seines  Volkes  auf  sein  Kebsweib  verzichten  sollte, 
da  donnerte  er  den  Kalchas  nieder  mit  dem  j.iävTi  -/.aAiov  etc. 
und  jetzt  bringt  er  seiner  Herrschsucht  das  Opfer  seines 
eigenen  Kindes". 

Ganz  merkwürdig  und  bezeichnend  ist  auch  die  Dar- 
stellung des  Aeschylus  in  Betreff  des  Verhaltens  der  Troer 
dem  Paris  gegenüber.  Wie  lodert  Hektor,  der  uns  F  38 
zum  ersten  Male  in  der  Ilias  entgegentritt,  auf  in 
heiligem  Zorne  gegen  den  Feigling,  der  an  allem  Unheile 
schuld   —   und  wie  denken  die  Troer  über  ihn  F  453 


250  Sitzung  der  phüoH.-phünl.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

ov  /Lter  yaq  q^iloTijTi  ly.eii)avov,  ei  Tic,  iöolto 
loov  yaq  ocpLv  rraaiv  oniqyi&ezo  y.rjQt  (xe.Xaivrj 

Paris  reisst  das  Haus  seiner  Väter  —  das  Volk  —  Alles  in's 
Verderben.  Da  ist  doch  auch  ein  Stück  von  dem  quidquid 
delirant  reges,  plectuntur  Achivi  zu  erkennen. 

In  diesem  Gegenhalt  wird  man  die  tiefsinnige  Darstellung 
und  Aenderung  des  Aeschylus  verstehen  und  würdigen  Ag.  680 

TO    VVlLKpOTl- 

^ov  (.liXog  E-Acpärcog  tiovrag 
vf.itvaiov^  og  tot''  sntQQs/rev 
ya/Lißgoloiv  aeideiv. 
/Lieta/Liavi^avovoa   d'vf.ivov 
IlQidf^ov    nolig  ysQaia   zrA. 

Auch  die  fortgeschrittene  Zeit  hat  ihn  wohl  zu  anderen 
Gestaltungen  geführt.  Bei  Homer  ist  Troja  wie  ein  anderer 
fremder  Weltteil  ^  71,  154  und  wenn  auch  Achilleus  den 
durch  Sokrates'  Citat  klassisch  gewordenen  Vers  ausspricht: 

ifH-iaTi  y.E  tqitÜtoj  Wi^irjv  igißioXor  r/.oiiiitjv  £  363 

und  so  nahe  also  auch  die  Heimat  ist,  so  scheinen  doch  die 
Helden  von  jeder  Verbindung  mit  ihr  abgeschnitten.  Nach- 
richten dringen  weder  hinauf  nach  Troja,  noch  hinunter  in 
die  Heimat.  Aeschylus  trägt  nur  den  anders  gewordenen 
Verhältnissen  seiner  Zeit  Rechnung,  wenn  er  die  Klytaem- 
nestra  sprechen  lässt,  wie  wir  das  Ag.  880  ff.  lesen. 

Zu  anderen  notwendigen  Abweichungen  zwang  ihn  der 
gemessene  Stil  und  die  hohe  Würde  der  Tragödie. 

Wie  rührend  einfach,  wie  menschlich  schön  und  er- 
greifend ist  doch  Agameniuons  Ankunft  in  seinem  Vaterlande 
geschildert  d  521 

7^   roi  o  liiiv  yaiQiov  a/reßrjGeTo  7iaTQ/dog  atrjg 

y.ai   /.vi'Ei  ayiTOjLievog  rjv  /laTQida  "  7rokka  d''aTi   avtov 

öä/.ovu  Oeo/^ia  ylovz\   InEL  oo/iaaicog  l'öe  yaiav. 


Böiner:  Stndieu  z.handschriftl.  Ueberliefenuiff  d.  Aeschi/his     251 

Wie  hebt  sich  nun  davon  so  scharf  ab  die  gleich  un- 
niittelliar  geschilderte  Unthat  des  Aegisthos,  Wie  hoch 
feierlich  ist  nun  Agamemnon  bei  Aeschylus  eingeführt.  Ag. 
775  ff. 

Mit  Homer  wüsste  ich  mir  die  herrliche  Scene  in  Shake- 
speares Richard   II.    III,  3  /u  vergleichen: 

vor  Freude  wein  ich 
Nochmal  auf  meinem  Königreich  zu  stehen.   — 
Ich  griisse  mit  der  Hand  dich,  teure  Erde, 
Verwunden  schon  mit  ihrer  Rosse  Hufen 
Rebellen  dich ;  wie  eine  Mutter,  lange 
Getrennt  von  ihrem  Kinde,  trifft  sie's  wieder 
Mit  Thränen  und  mit  Lächeln  zärtlich  spielt. 
So  weinend,  lächelnd,  grüss  ich  dich,  mein   Land, 
Und  schmeichle  dir  mit  königlichen  Händen. 

Diese  Könige  und  Fürsten  wurden,  um  sie  für  den 
Tragödienstil  brauchbar  zu  machen,  sozusagen  entmenschlicht, 
ihre  hohe,  gottgleiche  Stellung  sollte  und  durfte  nicht  an 
niederes  Menschentum  erinnern.  Euripides,  der  das  Glück 
hatte,  über  viele,  viele  Dinge  mit  bestem  Erfolge  zu  denken, 
aber  das  Unglück,  allüberall  in  seinen  Tragödien  mit  rück- 
sichtsloser Schneidigkeit  die  Resultate  seines  Denkens  zu 
verkünden,  hat  sich  auch  über  dieses  Thema  vernehmen 
lassen  in  der  Iphig.  Aul.,  wo  Agamemnon  sich  dahin  aus- 
spricht 44G 

r^  dvayireia  d'ag  eyei   n  ygriOiuov  • 
xai  yoQ  öa/.Qvoai  Quöicog  avTolg  f-yei 
änavTc    t'' elnslv. 

Die  Findigkeit  seines  Geistes  hat  aber  auch  noch  ein 
anderes  Mittel  für  diesen  Verstoss  gegen  die  Etikette  auf- 
zuspüren vermocht,  in  der  Hel.  950  spricht  Menelaos: 

1888.  Philos. -philo),  u.  bist.  Cl.  II.  2.  17 


252  Sitzung  der  philos.-pliilol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

sytd  ocv  ol'r'  av  Ttgoa/reoelv  rXairjv  yovv 
ovx'  av  daKQvaai  ß'kiqaqa'  tr^v  Tqoiav  yaq  av 
deilol  yevöiiisvoi  7tXeloTQv  aioxvvoiinsv  av 
•/.uiToi  Xtyovoir  tog  /iqog  dvögog  svyevotg 
fv  ^vfKfOQaloiv  day.QV  an'  oq^^aXf-icov  ßaXeiv. 
(Man  vergleiche  damit  auch  Cycl.  198  ff.) 

In  nichts  aber  zeigt  sich  dieser  Gegensatz  klarer  als  in 
der  Darstelhmg  eines  und  desselben  Vorganges  bei  Homer 
und  Sophocles  in  der  "E/.zoQog  ymI  l4vÖQ0i.idyr]g  oudia  und 
in  der  bekannten  Stelle  des  Ajas  545  ff.  Ich  darf  wohl  die 
erstere  als  bekannt  voraussetzen,  nur  auf  zwei  Momente  will 
ich  hinweisen,  die  von  Bedeutung  sind  für  die  Darstellung  des 
Trasfikers.  Da  ist  der  erste  der.  wie  sich  der  kleine  Sohn 
des  Hector,  .erschreckt  über  den  Anblick  des  in  seiner  Kriegs- 
rüstung  prangenden  Vaters,  an  den  Busen  der  Amme  schmiegt 
und  sicli  erst  beruhigt,  als  der  Vater  den  Helm  mit  dem 
wallenden  Busche,  der  ihn  natürlich  besonders  erschreckt, 
abgelegt.  Der  zweite  Moment  ist  das  Gebet,  in  welchem 
besonders  die   Worte 

xa/  7coTe  Tig  einoi  '^naxqog  y    ode  7ioXX6v  dfXEivtov' 
F.-K  iioXtf.iov  dvLOvca  •  (piqoi  ö'  evaqa  ßgoToevra 
TiTEivag  driLOv  avdqa,  yaQeh]  di  q)Qi.va  f-HjTijQ 
auffallend    sind.     Wie    kann  Hektor    —    fragt    man  sich    — 
nachdem  er  kurz  vorher  in  den  Worten 

eaasTai  r^f-iaq  or'  dv  not'  oXioXr^  "iXiog  iQtj  etc. 

den  Untergang  seiner  Vaterstadt,  seines  Vaters,  aller  seiner 
Brüder  und  des  theuersten,  was  es  für  ihn  gibt  auf  der  Welt, 
seiner  Gemahlin  in  so  ergreifenden  Tönen  voraussagt  —  wie 
kann  Hektor  nun  sozusagen  im  nächsten  Momente  das  Alles 
vergessen,  ja  geradezu  in  einen  hoffnungsfreudigen  Ton  ver- 
fallen ? 

Halten  wir  nun  zur  Beantwortung  dieser  Frage  dagegen 
die  Darstellung  des  Sophocles: 


Homer:  Studien  z.  handachriftl .  Ueberlieferunff  d.  Aeschylus.    253 

aiQ^  avTov,  aiQs  devQO.  raQßrjaei  yag  ov 
veoa(payri  nov  tovös  ti  QooXevaoiov  qovov, 
eYrreQ  ömaliog  k'az^  s/uog  tu  naxQod^ev , 
aXX'  avTix^  to/nolg  avrov  iv  vo/noig  viargog 
del  TTioXodaf-ivEiv  7id^of40iovoi)-ai  cpioiv. 
ti    nai,  yavoio  naxQog  svzvxsoTEQog, 
TU  (J'  aXX'  Of.ioiog  ' -Kai  yeroC  av  ov  "/.ayiog. 

Ich  denke,  die  Antwort  auf  die  letzte  Frage  hat  uns 
Sophocles  deutlich  gegeben,  wie  er  vielleicht  auch  der  erste 
war,  der  sich  die  Frage  überhaupt  vorgelegt  in  den  Worten : 

CO  Tvai   —    ov  x.axog. 

Und  doch  wie  einzig  schön  Homer!  Bei  dem  Anblick 
des  blühenden  Kindes,  des  herzigen  Sohnes  —  hat  der  Vater 
Alles,  Alles  vergessen  und  findet  naturgeraäss  dann  auch  ein 
Wort  des  Trostes  und  der  Beruhigung  für  seine  Gemahlin, 
womit  nun  diese  unvergleichliche  Scene  ihren  würdigen  und 
beruhigenden  Abschluss  erreicht.  —  dnXovg  6  /.ivü^og  möchte 
man  mit  den  Alten  sagen,  das  sie  über  eine  der  genialsten 
Stellen  der  antiken  Poesie  angemerkt    C  115 

0(paiQav  eueiz'  eggiipe  f.iB%^  dfxqiiTroXov  ßaoileia  y.xX. 

Aber  auch  noch  eine  zweite  Frage  hat  Sophocles  dem 
Homer  und  sich  selber  vorgelegt.  Wie?  der  Sohn  eines 
Hector  —  der  Sohn  eines  Helden  —  das  Kind,  in  dessen 
Adern  das  Heldenblut  seines  Vaters  rollt  —  erschrickt  vor 
der  Rüstung  —  vor  dem  wallenden  Helmbusch!  Nein  —  es 
greift  darnach.  So  hat  Sophocles  sich  diese  Frage  beant- 
wortet!    Das    sehen  wir  auch  deutlich  in  den  Worten: 

Homer  sagt: 

xaqßt^aag  -/ah^ov  le  lös  Xotpov  hntio'^äQi.irjv 
und  Sophocles  direkt  dagegen 

xaQßrjOei  ydq  ov 
ELitsQ  diKaliog  bot'  f-f-iog  ra  7iaTQ0,')ev. 

17* 


254  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

Und  nun  zu  wessen  Gunsten  entscheiden  wir  uns?  Die 
Antwort  ist  nicht  schwer.  Das  Natürliche  —  das  Mensch- 
liche —  das  Ewige  in  der  h  o  ni  er  isch  en  Darstellung  wird 
uns  immer  mehr  ansi)rechen  und  anmuthen.  als  die  Gestaltung 
des  Sophocles.  Aber  wir  würden  doch  dem  grössten  Dramatiker 
des  Altertums  Unrecht  thun,  wenn  wir  nicht  billig  einen  Um- 
stand in  Berücksichtigung  ziehen  würden,  der  den  dramatischen 
Dichter  zu  dieser  Darstellung  berechtigt  —  das  ist  der  Unter- 
schied des  Charakters  des  Ajas  und  des  Hector.  Das 
hat  Soph.  vorzüglich  angedeutet 

oAA'  «it/x'  iof.iolg  aiTOv  iv  vo(.ioiQ  7iaTQog  xrA. 

und  wenn  er  das  aus  dem  Homer,  besonders  aus  der  nqeo- 
ßela  TTQog  lä^/^iXKia  herausgelesen,  dann  hat  er  ihn  wohl 
mit  Verständniss  gelesen  wie  wenige ! 

Und  so  haben  wir  auch  damit  nicht  einen  Dichter 
gegen  den  andern  ausspielen  wollen,  beider  Darstellung  ist 
ja  von  den  richtigen  Gesichtspunkten  aus  beurteilt  schön 
und  herrlich,  sondern  uns  nur  vermittelst  der  ästhetischen 
Analyse  die  charakterischen  Verschiedenheiten  beider  gott- 
begnadeten Naturen  vor  Augen  führen  und  zu  erneutem 
Studium  derselben  nach  dieser  Richtung  einen  Ansporn  geben 
wollen. 


255 


Herr  v.  Christ  legte  eine  Abbaudlung  des  Herrn 
Sittl  vor: 

, Mitteilungen    über    eine  Iliashandschrift 
der  römischen  Nationalbibliot hek". 

Obgleich  die  Vittorio-Emanuelebibliothek  unter  den 
römischen  Handschriftensammlungen  die  geringste  Zahl  grie- 
chischer Codices  aufzuweisen  hat,  besitzt  sie  doch  ein  Keimelion. 
das,  längst  bekannt,  noch  nicht  genügend  gewürdigt  worden 
ist.  Es  ist  die  Handschrift,  aus  welcher  Osann  das  berühmte 
Anecdotum  Romanum  veröffentlichte,  einstens  Muret  gehörig 
(von  dem  die  zierlichen  Randnoten  in  griechischer  und  latei- 
nischer Sprache  herrühren  dürften),  dann  in  die  Bibliothek 
des  Collegium  Romanum  gelangt  und  mit  dieser  in  die  National- 
bibliothek aufgenommen;  sie  trägt  hier  die  Bezeichnung 
,  Codex  Graecus  6\ 

Was  immer  ihr  Inhalt  wäre,  sie  verdiente  Beachtung 
wegen  ihres  hohen  Alters.  Osann  (Anecdoton  Romanum, 
p.  7)  setzte  das  Manuscript  in  das  zehnte  Jahrhundert,  allein 
Schow  (chart.  papyr.  musei  Borgiani,  p.  113)  hatte  sich  für 
das  neunte  ausgesprochen,  und  diese  Annahme  wird  sowohl 
durch  einen  Vergleich  mit  dem  Euklides  von  888  und  dem 
patraischen  Plato  von  896,  welch'  letzterer  sogar  in  den  die 
Hauptabschnitte  trennenden  Schnörkellinien  übereinstimmt,') 

1)  Auch  dass  manchmal  Accent  und  Spiritus  über  dem  ersten 
Teil  eines  Diphthongs  stehen,  ist  unserm  Homer  mit  jenem  Plato 
gemeinsam.  W.  Dindorf,  der  die  Handschrift  nie  gesehen  hat,  be- 
zweifelt Osanns  Ansatz  (Scholia  in  iliadem  I,  p.  XLVHl). 


256  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

als  auch  durch  Anwendung  der  paläographischen  Detailgesetze 
vollauf  bestätigt;  es  fehlen  nämlich  die  Uncialbuchstaben, 
welche  seit  der  ersten  Hälfte  des  neunten  Jahrhunderts  in 
die  Minuskel  sich  eindrängen,  ov  wird  immer  mit  /-wei  vollen 
Buchstaben  geschrieben,  die  Worttrennung  steht  in  den  An- 
fängen und  wird  gar  oft  nur  durch  Spiritus  oder  Apostroph 
angedeutet.'^)  Dieser  Codex  nun  stellt  die  älteste  Minuskel- 
überlieferung der  Ilias  dar ;  ist  doch  der  vielberufene  Venetus 
A  frühestens  im  zehnten,  vielleicht  aber  erst  im  elften  Jahr- 
hundert geschrieben. 

Das  erste  Blatt  ist  leider  verloren  und  durch  ein  etwas 
jüngeres,  welches  von  Märtyrern  handelt,  ersetzt.  Jetzt  be- 
ginnt der  Codex  mit  dem  Reste  der  Fragen,  die  in  der 
Schule  über  die  Ilias  gestellt  wurden,  saramt  den  Antworten, 
nämlich :  Welche  Götter  standen  den  Griechen,  weiche  den 
Barbaren  bei  ?  Tig  z (Sv  ßagßaQWv  ßaoiXevg ;  rig  Ö€  OTQazrjyog 
ßagßaQiy.ov  OTQaTEif.iaTog ;  ilveg  f^avzeig  zcuv  ßagßaQwv  ; 
noooi  IJQidfiov  7ialdeg\^)  Vorher  war  natürlich  dieses  Schema 
auf  die  Achäer  angewendet  worden. 

Daran  schliesst  sich  ein  Biog  '^O^i]qov^  aus  welchem 
eine  Madrider  Handschrift  einen  Auszug  enthält;  da  dieser 
allein  veröffentlicht  ist^),  teilen  wir  diese  gelehrte  Biographie 
anhangsweise  mit  und  werden  zugleich  deren  Bedeutung  zu 
würdigen  versuchen.  Nun  folgt  (Fol.  3)  jenes  Anekdoton, 
von  dem  nicht  einmal  der  Titel  bisher  richtig  wiedergegeben 
ist;  er  lautet:  Ta.  7iaQarii^tfxeva  zoig  '0(xriQi%oi  (sie)  otixoig 
14qiozccqxici  orjuela.  yivay/.aiov  yviovai  rovg  ivxvyyavovrag. 
Die  von  Osann  übersehene  Interpunktion  gibt  allein  einen 
guten  Sinn  ;  der  Sammler  des  Corpus  rechtfertigt  sich  einfach 


1)  Ein  paarmal  erfüllt  ein  Komma  diesen  Zweck. 

2)  Aus    den  Antworten    ist    höchstens    der  Schluss    der    letzten 
erwähnenswert:  iocos  de  avxog  Aölojv  (vgl.  Hygin.  f'ab.  90). 

3)  Iriarte,    catalogus    codicum  mss.  Graec.  biVjl.  Matiüt.    p.  233, 
daraus  in  Westermanns  Bioygdqpoi  p.  30  f. 


Sittl:  Mitteilungen  über  eine  Iliashandschrift.  257 

wegen  der  Aufnahme  dieser  damals  schon  etwas  obsoleten 
Doktrin;  sie  sei  gut  zu  wissen,  denn  es  gebe  Handschriften 
(wie  Venetus  A  um  soviel  später!)  mit  solchen  Zeichen.^) 

Den  Kern  der  Handschrift  aber  bildet  die  grammatisch- 
lexikalische Erläuterung  der  Ilias,  so  zwar,  dass  die  Worte 
des  Originals  die  linke  Kolumne,  die  Erläuterungen  die 
rechte  bilden;  gelegentlich  sind  Excerpte  aus  den  Scholien 
eingestreut,  bei  denen  offenbar  der  Grundsatz  obwaltete,  alles 
nicht  „notwendige"  —  man  denke  an  jene  Ueberschrift  — 
zu  entfernen.  Ich  weiss  keinen  besseren  Vergleich  für  diese 
8chulannierkungen,  welche  früher  dem  Didymos  aufgebürdet 
wurden,  als  Freunds  Präparationen. 

Leider  ist  nicht  die  ganze  Ilias  in  diesem  Codex  so 
durchgemustert.  Das  letzte  (167.)  Pergaraentblatt  führt  den 
Leser  bis  Z  373.  Die  letzten  Blätter  sind  verloren  gegangen. 
Sie  enthielten  den  Rest  des  Gesanges,  da  die  Ilias,  der  Dicke 
des  Pergamentes  halber,  in  vier  Bände  verteilt  war.  Jeder 
umfasste  anscheinend  ein  Alphabet  Quaternionen ;  dieselben 
sind  von    fol.  9    (.ß  devTeqor  rov  a)    so  durchgezählt,^)    dass 


1)  Da  Osann  die  Schrift  nicht  recht  lesen  konnte,  hat  er  viele 
falsche  Angaben:  Am  Anfang  steht  nicht  zweimal  ??,  sondern  richtig 
T]  {t}),  dann  nicht  er  zoTg  ßißUoig,  sondern  iv  raig  ßißXoic,  nicht  sio- 
OKpilav  (in  sig  (hqps/.ecav  umkonjiciert!),  sondern  el'  ooc  (pü.ov.  Vor 
oxvf^c^T^^ofiovg  ist  das  verblichene  xal  (das  auch  im  Anecdotum  Venetum 
steht)  übersehen.  Dann  steht  Jiaßdxsirai,  nicht  ngöaxEixai.  Ae  zwischen 
'H  und  doxovoa  fehlt  in  der  Handschrift.  In  den  Versen  steht  weder 
eariEze  noch  sojiete,  weil  der  Spiritus  fehlt.  Am  Ende  las  Osann  das 
deutliche  tjvwvto  als  ijßoivzo.  Dagegen  hatte  er  mit  ajr'  'Ehy.öjvog 
paUlographisch  Recht,  denn  der  Schreiber  meinte  mit  o-t'  EhxMvog 
nichts  anderes,  da  ihn  ji  vor  Spiritus  Asper  nicht  befremden  konnte. 

2j  Vgl.  Gardthausen,  griechische  Paläographie  S.  61.  Dazu 
Constant.  Por|ihyrog.  caerimon.  p.  668,  5  Bonn,  nach  der  richtigen 
Lesung  von  Brunet  de  Presle,  Academie  des  inscriptions.  Compte- 
rendus  1867  p.  197,  Fol.  25  steht  unten  in  der  Ecke  FII,  d.  h.  wohl 
y    nixzäxiov,  denn  :zEvzäöiov  (Quinioj  passt  nicht. 


258  Sitzuruj  der  phüos.-phüol.  Classe  com  7.  Juli  1S88. 

links  das  Alphabet  durchgegangen  wird,  während  rechts  und 
in  der  entsprechenden  Ecke  jeder  Schlussseite  die  Ziffer  steht. 
Wir  besitzen  a  —  (p  tov  nQwzov  aXcpaßrixov  (meist  zai  tov  a 
abgekürzt).  Abgesehen  davon,  dass  die  Handschrift  durch 
Feuchtigkeit  gelitten  hat,  was  die  Kollation  oft  mühsam 
macht,  ist  der  Verlust  faktisch  grösser  als  nach  dem  gesagten 
scheinen  könnte.  Die  zwei  letzten  Quaternionen  (mit  E  824 
beginnend)  .sind  nämlich  von  einem  späteren  Schreiber  an- 
gefügt; da  er  sich  besonders  am  Anfang  bemüht,  die  alter- 
tümliche Schrift  nachzumachen,  ist  die  Zeitbestimmung  er- 
schwert, aber  jedenfalls  liegen  mindestens  hundert  Jahre 
zwischen  den  beiden  Kopisten.  Für  den  Rest  der  Uias  und 
für  die  Odyssee  können  übrigens  zwei  Handschriften  des 
elften  Jahrhunderts,  Vaticanus  Gr.  33  und  Bodlejanus  auct. 
V  51,  eintreten. 

Bevor  wir  die  Lemmata  ausnützen,  müssen  wir  festzu- 
stellen versuchen,  ob  der  Schreiber  selbst  aus  einer  Homer- 
handschrift entweder  bloss  die  Lemmata,  denen  er  Erklärungen 
beifügte,  oder  zugleich  die  Interlinearglossen  und  Rand- 
glossen ausschrieb.  Keines  von  beiden  ist  der  Fall.  Er 
kopierte  einfach  seine  Vorlage,  und  that  nichts  weiteres  als 
diese  äusserlich  übersichtlicher  zu  gestalten.  Da  er  den  Text 
dabei  nicht  einsah,  passierten  ihm  verschiedene  schlimme 
Verstösse.  Als  er  ^  519  'EgeO^rjaiv  ^ged^iCrj  und  eqii>rj- 
aiv  rva()o^ivrj  unter  einander  gesetzt  fand,  nahm  er  das  erste 
sQtO^ljoiv  und  egei^iCtj  als  Lemmata,  dagegen  das  zweite  und 
7iaQu^vvrj  als  Erläuterungen.^)  Auf  einem  ähnlichen  Miss- 
verständnis beruht: 

Joquii        yak/iy^oti   oidt^Qii)  r^Q^iuo^itno. 


1)  P]ine  ähnliche  Dittographie  fiel  A  156  vor,  wo  das  auf  r)  odov 
Ek^qievm  folgende  Lemma  xdxe  zu  vielerlei  Konjekturen  Anlass  geben 
könnte,  folgte  nicht  die  Erklärung  xareXütXv. 


Sittl:  Mitteilungen  über  eine  IJiashandschrift.  259 

Denn  öoguTi  gehört  7a\  e^EOf-Uvu)  und  sollte  yaX/.r]Qei 
seinen  Platz  abtreten.  Noch  häufiger  aber  kommt  es  von 
tbl.  120  an  vor,  dass,  wo  zwei  Lemmata  der  Raumersparnis 
halber  neben  einander  geschrieben  werden .  der  trennende 
Doppelpunkt  auch  dann  eintritt,  wenn  die  zsvei  erklärten 
Wörter  im  Texte  unmittelbar  neben  einander  stehen,  /.  B. 
J  437  olö'  l'a  :  yr^Qix,  455  iiördf  re:  ii^loae  u.  ö.^)  Da  mit- 
liiu  unsere  Scholienhandsclirift  sich  als  Kopie  ergibt,  sind 
die  Lemmata  jedenfalls  älter  als  das  neunte  Jahrhundert. 
Sie  stammen  augenscheinlich  aus  einer  alten  Uncialhandschrift, 
denn  die  sogenannten  Lesezeichen  sind  offenbar,  der  Apostroph 
ausgenommen,  erst  von  dem  unwissenden  Kopisten,  wo  es  ihm 
einfiel,  zugesetzt,  weshalb  sie  gar  keinen  Wert  besitzen ;  denn  wer 
wollte  beispielsweise  in  r^vi(.ir^oev,  vt^voiv^  ylr/.siüv  (=  yXv/uov)^ 
iLtäka,  ioj  (=  eto)  u.dgl.  alte  Ueberlieferung  erblicken?  Wir 
geben  daher  dergleichen  nicht  regelmässig  an.  Der  Mangel 
einer  Worttrenuung  verführte  zu  toio  i'd'  ^  68.  Allein  eben 
dieses  geistlose  Kopieren  erhöht  den  Wert  der  Ueberlieferung. 

Wir  teilen  unsere  Kollation  in  Orthographisches  und 
eigentliche  Varianten.  Die  Orthographie  trägt  unverkenn- 
bar ein  Gepräge  der  Altertümlichkeit.  Bei  Elision  wird, 
wie  in  den  metrischen  Inschriften,  der  ausfallende  Vokal  «x 
7c?JlQ0vg  geschrieben,  z.  B.  ^  2  f.iVQia  !Ayaiolq  aXyea  td^if/.ev. 
Das  gleiche  ist  von  Aristarchs  Ausgabe  überliefert.'^)  Wir 
ersehen  infolge  dessen,  dass  Zenodots  Erklärung  von  ^  567 
{lövit)  noch  in  Byzanz  angenommen  wurde,  ferner  dass  die 
Infinitive    auf    iaev    vor    Vokalen    als     apokopiert    betrachtet 


1)  Wahrscheinlich  bewirkte  der  gleiche  Grund,  das8  Wörter  aus  der 
Erklärung;  in  das  Lemma  eindrangen,  z.  B.  A  342  fj  yag  äv]  ovxcog  yag 
äv,  210  d^.A'  äye  Örj]  d?.V  äye,  ebenso  B  257  o.tsq,  270  oi  de  xal  avzol, 
374  JioodtjdsToa,  406  Tvdeog  :iai8a,  A  233  däoavve,  £"244  nov  (xaza  aov). 

2)  Ludwicb,  homerische  Textkritik  I,  S.  189  f.;  er  beschränkt  diese 
Schreibweise  auf  das  Ende  von  Citaten,  aber  sie  finden  sich  hier 
auch  innerhalb  vieler  Lemmata  (S.  184  f.j 


260  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

wurden,  denn  r9  steht  aXe^^iemi,  E  132  ovTäf.isvai.  Trotz 
alledem  wird  der  Apostroph  häufiger  angewendet  als  uns 
Regel  ist.  Die  Präpositionen  werden  wiederholt  vom  Verbum 
getrennt,  was  in  der  Vorlage  vielleicht  Regel  war:  also 
^  295  tvr'  i^Of-iai.  B  41  aincf'  eyvTO,  F  425  xar'  ed^rjyisi>, 
J  508  €/.-/az'  'i'öwv,  E  20  wc'  äytcfvye,  68  äfi(p'  ey.älv\pev, 
98  e/r'  d'Cooovta^  E  139  Ttqoo'  af.ivvEi^),  wie  auch  -B  636 
s/rldsLsai,  750  syrhhQarrrai,  Z  68  snlßall6f.tevog.  P'erner 
pflegen  q,  x,  (//  und  1  im  Auslaut  mit  Apostroph  versehen 
zu  werden,  man  schreibt  daher  ^  8  t'o:q\  A  9  ya^',  ß  522 
naq\  r  76  ''EyaioQ\  F  201,  zi  534,  Z  292  7veQ\  J  3  r6xTa^', 
E  399  xf^(i',  416  «V^e'i  ^  83  avraQ\  gewöhnlich  a(>',  dann 
meistens  ot'x',  ferner  |Uaj/''  B  215.  E  759.  ai/;'  T  32,  379 
392,  -E  505,  ebenso  B  755  d7tOQQW^\  J  489  aloloi>(ÖQtj^\ 
E  629  Aa^',  £  309  und  357  yvi^\  £  811  TroÄtoi'^',  Z  65 
Ao^',  Z  118  oWt'^',  173  ava^\  An  ot'x'  schliesst  sich  ot^' 
^  498,  £  18.  Diese  Schreibung,  die  auch  in  anderen  Hand- 
schriften vorkommt^),  geht  auf  Grammatikervorschriften, 
wonach  ot'x  aus  ovki  verkürzt  ist  und  Doppelkonsonanten 
sammt  dem  homogenen  q  einer  Stütze  bedürfen^),  zurück. 
Mit  jener  Tmesis  verwandt  sind  ■/.ogvd''  aiolog  J5  816,  xa^' 
vnEQi)Ev  B164:,  f'/'  ovqavioioi  Z  129,  denen  ^  74  Ja  cpike, 
413  dä/.Qvxiovoai,  E  830,  Z  236  evvtaßoiüv  entsprechen; 
auch  wird  das  lokale  dt  wie  im  Venetus  A  und  sonst  ge- 
sondert, also  oXa  da  A  308,  E  598,  OX'kv^inov  6t  A  394, 
425,  (föioodt  B  309,  Jisdiof  dt  r  263,  olxov  öi  390,  ^lökiv 
öi  Z  86,  ja  sogar  ra  de  T  321.  Neben  juryde  wird  /.ii]  d' 
ß  165  zugelassen. 

Dem    V  l(ftXY.votiY.üv    gebührt    hier    mehr    Aufmerk- 

1)  Daher  werden    A  301  ümv,    E  26  äyeiv,    104  oi^oeodai,   142 
f^iEHaw?,  E  477  ««juev  von  der  Präposition  gesondert  erklärt. 

2)  Gardthausen,  griechische  Paläographie  S.  272. 

3)  Bei  lx<Ji>Q  «pricht  Eu.stathioa  zu  £"416  von  ajioxont)  des  letzten 
Vokals. 


Sittl :  Mitteilungen  aus  einer  Iliashandschrift.  2()1 

sainkeit  als  ihm  sonst  zukommt.  Denn  wieder  stimmt  der 
(iebrauch  mit  dem  der  Inschriften  überein,  nicht  aber  mit 
der  Vulgata.  üeber  die  Setzung  jenes  Anhängsels  am  Hexa- 
meterende ist  mancherlei  notiert  worden,  infolge  wovon  wir 
bemerken,  dass  es  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  angefügt  wird^); 
was  ferner  das  Verhältnis  zu  zwei  konsonantigem  Anlaut  be- 
trifft, so  gehört  die  Handschrift  zu  denen,  welche  -r  in  diesem 
Falle  lieben  ^).  Recht  fremdartig  mutet  es  uns  aber  an, 
wenn  es  vor  einem  Konsonanten  gesetzt  ist ;  die  meisten 
Fälle  treffen  auf  die  Cäsur  (^  5  7iäaiv,  35  und  48  aira- 
vEvitev,  166  öUnovoiv,  175,  206,  238,  248,  268,  300,  304, 
549,  B  17,  92,  130,  166,  175,  345,  400,  454,  626,  664, 
704,  816,  r  137,  217,  254,  353,  357,  374,  396,  J  11,  181, 
293,  322,  324,  335,  532.  E  69,  113,  192,  200,  283,  312, 
354,  373,  397,  476,  536,  590,  635,  680,  722,  772,  Z  167, 
172,  174,  255),  demnächst  auf  die  bukolische  Cäsur  (^482, 
ß  33,  183,  r292,  423,  J  2,  £81,  676,  859,  Z  35  zweites 
Lemma);  manchmal  steht  -v  auch  an  der  ersten  Versstelle  {A 
579  vei-KelrjOiv,  B  8\6  Tqiooiv,  r346  7vq6oS-£v,  409  xe»-,  J  45 
rxiezdovoiv,  J  462  r^gmev,  Z  133  aevev,  251  i^lv'^ev)  und 
der  vorletzten  (^  26  vr^voiv,  B  219  Inevr^vod^ev,  792  710610- 
■/.eifiOiv.  r  77  dveEQ'/ev,  259  ext'Aera«»',  420  riQxev,  425  xar' 
eifyxev,  440  elaiv,  J  16  d[.i(fOTeQOiaiv,  219  nÖQev,  254  wt- 
Qvvei;  452  oQsaffiv.  E  18  ev-q^vyiv,  65  /.aTtuaQrtrev,  88  fX6- 
öaaoEV,  £572  Ttgcözoioiv,  Em  dvhedev),  Z  129  hiovQavioL- 


1)  Nach  La  Roches  Ausgabe  Vjemerken  wir,  dass  es  auch  A  361, 
608,  B  16,  80,  142.  183,  218.  238,  543,  TSö,  152,  168,  170,  213,  321. 
388,  395,  A  22,  83,  208,  297,  396,  484,  503,  517,  E  47,  68,  137,  887, 
893,  Z  159,  166,  235,  262  steht,  nicht  aber  A  421,  471,  475,  B  119, 
153,  220,  236.  T  18,  49,  75,  90,  148,  264,  274,  285,  A  162,  472,  502, 
E  75,  198,  886.  894. 

2)  A  342  oXoifjOiv  rpQeai,  608  idvüjaiv  jigasridEaaa',  B  264,  317, 
r  273,  A  66,  95,  139,  298,  E  324.  Z  69,  285,  vor  f  £  482,  T  220, 
A  134,  E  887,  vor  f   A  469. 


262  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  com  7.  Juli  1888. 

oiv),  sowie  unmittelbar  hinter  der  Cäsur  (B  581  ajiÖTeqi^ev,  F 
247  ffeQ€v,  J  507  veftiotjoev,  E  58  u.  294  OQaßtjOev,  856  sjit- 
QSiaev,  Z  10  JCfQioasv);  A  528  ocpQioiv  und  ß  475  /.ev  stehen 
für  sicli  allein.  Genau  die  gleichen  Regeln  herrschen  auf  den 
Inschriften,  wo  -v  gleichfalls  vor  der  gewöhnlichen  Cäsur 
(oved-r]xev  Kaibel  270,  3,  347,  4  und  in  der  von  Usener, 
altgriech.  Versbau  S.  29  angeführten  Vaseninschrift),  vor 
der  bukolischen  (Kaibel  402,  1,  442,  1)  und  an  vorletzter 
Stelle  (Kaibel  189,  2.  9  =  CIA.I  472  sna^ij-^ev  i^avovToiv)  zu- 
gelassen wird.  Spuren  finden  sich  auch  sonst  bei  Homer; 
z.  B.  ist  ^  8  als  zenodotisch  acpcoi'v,  i  486  als  aristarchisch 
ifil^nooEV  überliefert  ^)  und  im  Venetus  A  steht  ß  492  airo 
TQoitji^ev  f.wX6vTa.  Noch  mehr  befremdet  es  uns,  wenn 
selbst,  wo  Elision  eintreten  muss,  das  Nj  nicht  fehlt,  eine 
in  unserer  Handschrift  sehr  häufige  Erscheinung  ^) ,  die 
auch  der  Ausgabe  Aristarchs  nicht  fremd  war.^)  Seltsamer 
Weise  tragen  auch  einzelne  Verbalformen,  denen  das  Ny 
sonst  fremd  ist,  dieses  Suffix,  nämlich  ^^^eileiov  (0  690)  und 
diu7ivtvifijv  (Z  697),  sowie  der  Infinitiv  elaoev  E  264,  wo 
es  schon  in  dem  Originaltext  gestanden  haben  kann,  da  die 
Form  fälschlich  mit  dem  Indikativ  8^y\Xaoei'  erläutert  wird. 
Umgekehrt  fehlt  das  Ny,  genau  wie  in  den  Inschriften, 
häufig  vor  Vokalen.*)  Da  ferner  dasselbe,  wie  wir  sahen, 
nicht  Position  macht,  ist  seine  Anwendung  überflüssig,  wo  eine 
kurze  Silbe  als  Länge  gelten  nuiss^),  z.B.  OTrjO^eaoi  A  189, 


1)  Lehrs  und  Ludwich  schreiben  -v  dem  Scholiasten  zu. 

2)  'Hii^iriaev  ^11,  evExsv  152,  jiaQoißsv  360  =  500,  eXijiev  428, 
xev  547,  ferner  B  35,  249,  275,  F  162,  A  286,  397,  486,  E  53,  «0, 
157,  341,  589,  786,  Z  162,  217. 

3)  B  347  stand  ßovhvwoiv  (vgl.  [Aulwich  a.  O.  I,  8.  214  f.) 

4)  Vor  der  Cäsur  A  333  t]oi,  398  adaväToim,  431.  B  199,  294. 
475,  555,  r  16,  62,  109,  222,  368,  407,  E  560,  Z  436,  sonst  A  541 
anovöoffi,  434,  B  155,  259,  266,  351,  /'l,  29,  194,  330,  338,  369,  375, 
388,  392,  E  b7,  322,  508. 

5)  Vgl.  Kaibel,  epigr.  189,  3,  4. 


Sittl :  Mitteilunffen  att'^  einer  lUashandschrift.  263 

eneai  211,  roloi  571,  ebenso  li  45,  104,  425,  548,  699, 
775,  r51,  61,  J  289,  297,  £520,  Z  260.  womit  Aristarchs 
x£  Qf^ai^it  7  90  übereinstimmt.  Endlich  sei  noch  bemerkt, 
da.ss  E  5.  wie  bei  Eiistathios,  da'itv  oi  steht. 

Das  Ywra  7i  Qooyeyoauutvov  fehlt,  weil  es  längst 
verstummt  war ,  sehr  häufig ;  diese  Bequemlichkeit  hatte 
freilich  bei  hiez-göave  ß419  und  T  302  oder  gar  to  (gl.  aoi) 
A  213  keine  Berechtigung.  Umgekehrt  finden  wir  i^<x£ 
A  208  und  r]i|£»'  ß  (567  (entstanden  aus  ih^ev  =  I^fv), 
TXQOTtQioi  r  400  (was  in  den  Schoben  BLV  zu  dieser  Stelle 
und  V  /u  I  192  verboten  wird),  TltTEWio  J  327  (nach 
Analogie  von  -oio),  öauvt^iöi  E  746. 

Die  in  der  Aussprache  sich  vollziehende  Assimilation 
der  zusaramenstossenden  Konsonanten  von  zwei  Wörtern, 
für  welche  inschriftliche  und  andere  Zeugnisse  vorliegen  ^), 
hat  wenigstens  zwei  Spuren  hinterlassen;  ich  meine  ovf.i 
nXeoreaat  A  325  und  Tq€i\.t.  \.C  £256,  was  an  das  Didymeische 
aiy  Y  ^269  erinnert^).  Aber  auch  der  bekannte  entgegen- 
gesetzte Fall  tritt  in  den  Kompositis  OiävnoXiv  ß  521  und 
iif.ax6vnoKiv  B  649  ein. 

Beachtung  verdient  die  (übrigens  auch  Parallelen  habende) 
Schreibung  jraoä  E  809. 

Mit  der  Orthographie  hängt  die  Behandlnng  der  Kon- 
traktionen und  Diäresen  eng  zusammen.  Auf  it  und  ev 
einzugehen  verlohnt  nicht,  da  von  den  Schreibungen  er,  ev, 
f.x\  si,  ev,  ev  u.  s.  w.  gewiss  nur  die  erste  dem  Original  an- 
gehört. Bedeutungsvoller  sind  die  diakritischen  Punkte  in 
Tqo'ujv  A  129,  sowie  in  viT/t  £  219,  ouo  E  252,  ri'i^Ev  B  007 
(s.o.),  wenn  auch  hier  der  Vers  nur  zwei  Silben    zulässt*); 


1)  Gust.  Meyer,  griech.  Grammatik  §  274. 

2)  Auch  ivijiiusydootg  /'  207  gehört  hieher. 

3)  "EeiJiag  A  106  (auchDGHLS  Eust.)  dürfte,  dem  entsprechend, 
aus  e'ijtag  entstanden  sein. 


264  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  iiom  7.  Juli  1888. 

dagegen  müssen  dvÖQicfOvrrj  B  651  und  dtögi  F  219  in  der 
Vorlage  kontrahiert  gewesen  sein.  Die  grösste  Wichtigkeit 
aber  kommt  dazog  noXafxoio  E  863  zu,  dem  handschriftliche 
Zeugnisse  bei  Hesiod  (Theog.  714,  A.  59)  entsprechen.  -6  447 
steht  ayr^Qaov,  nicht  dyrjQiov. 

Des  Weiteren  ist  der  Text  vielfach  durch  die  spät- 
griechische Aussprache  beeinflusst :  e  und  af ,  o  und  w,  si 
und  i  und  jy,  et  und  vi,  v  und  vi^  oi  und  v  ^),  ferner  o  und 
aa  werden  so  oft  verwechselt,  dass  wir  dies  hier  ein  für 
allemal  bemerken.  Doch  verdienen  Beachtung  das  richtige 
reiaao&ai  B  356,  T  366,  dann  das  von  Eustathios  notierte 
dyyrjOtrivai  E  141,  die  augmentlosen  Formen  oqge  A  10, 
J  439  und  öxi^rjoav  A  570  und  daivüc.  te  (erklärt  xat  cpo- 
ßsQwg)  r  172.  Vulgär  sind  auch  f-ia{v)xoovvriv  A  72  (vgl. 
Gust.  Meyer  294—95)  und  dv£yvd(^)(f^rj  T  348  (a.  0.  §  294), 
dem  F  215  d/ncpaiuaQTOEyirig  entgegensteht. 

Auch  auf  die  Formen  hat  die  Koine  Einfluss  geübt : 
A  140  i.iETa(fQaL.ö(.iEiya  wie  E  34  yaCcui^iEi)^a,  238  nalaj-iaioi^ 
865  olff^ag,  396  7ioAAax/g,  499  ^Ol,vf.i7ioio,  539  y.eqTO(.iioig 
(wie  B  44  kLnaQolg,  119  EOGO}.ievoig,  F  15  dlXrj'koig,  207 
l-iEoagoig,  448  TQrjTolg,  J  256  /nsilixioig),  549  Sx^^Xoifui,  B  3 
AyilXia,  126  dtay.oaf.trjVEhji.iav  (wie  T  102  öiaKQivVEiriTE)^ 
300  -»j  statt  ryf,  360  nEiVoto,  393  tooEzat,  549  AVt^vaig, 
767  "AQEiog,  769  ef.trivtEv,  832  fitaaxe,  850  a/a  =  am  wie 
877  Avy.iag,  F  2  l'eaaaj',  46  wv  (zweites  Lemma  «tu»'),  64 
XQvofjg  (wie  .£  425  y{ivori  mit  vulgärem  Accent),  140  //po- 
TEQov,  279  oar/g,  345  OEiovtEg  und  yoTtovrEQ.,  402  ytayslOt.^ 
J  181  vuvolv,  245  GfpioL,  308  knoqVovv,  446  avviövTsg, 
E  83  y.qavEQt]  und  806  ygazEgov,  94  jnfvov,  142  ßaOsitjg, 
285  dvaoyj^oEöi)at,  356  raytEg,  36(5  u.  768  dv.ovxE,  400  «Ary- 


1)  Die  Verschmelzung  von  »/,  t,  et  und  ot,  u  war  noch  nicht 
eingetreten;  «^  noirjxoiai  E  466  war  als  svjtoirjxoiai  gemeint,  rsdvaioi 
r  102  durch  den  gewöhnlichen  Optativ  beeintlusst. 


Sittl:  Mitteilungen  ans  einer  I Hashandschrift.  265 

Xaro,  744  /roXeiov,  Z  38  drvCöfAevoi  (wie  Eustathios),  285 
ixXai^toi^ai  Derselben  Quelle  entspringt  die  Unsicherheit 
in  der  Anwendung  von  Doppelbuchstaben:  ^  163  6not\ 
319  !Axill7,i,  B  131  JioXkov  (nach  uoUg),  A  314  und  T  80 
eßaXov,  J  47  svfjeXico,  Z  45  eXioaeTo,  dagegen  A  527  otti, 
r  40  l'u/^israi,  J  403  lllaße,  E  344  SQQvaaTo  (mit  yegoiv). 
Selbst  die  byzantinischen  Akkusative  auf  -av  sind  nicht  fern 
geblieben.  ^) 

Endlich  erfordert  die  Augmentfrage  eine  allgemeine 
Bemerkung.  Die  Handschrift  gehört  der  Hauptsache  nach 
zu  denen,  welche  das  Augment  begünstigen;  sie  bringt  also 
A  6  Ö€  eTeXeieTu,  15  xat  eXloasTo,  57  dsyavovzo,  251  r]d' 
^ytvovTO,  B  35  6'  skniei',  668  »;(J'  E(fihii)ev,  B  317  Tf'zr' 
tcfayev,  612  ffg^*»'  fc'dwxei'.  T  84  eyavovro.  £  425  xare- 
l-ir^axo,  446  eTtTvy.TO,  ZU  baa'  fcxaÄt- »/'£»'.  Andererseits 
aber  steht  gegen  die  Vulgata  ^  404  arcXdyyva  7idaavto 
(von  La  Roche  nach  Aristarch  hergestellt)  und  F  207  sytu 
Belvio  a)a  (nur  in  L),  wozu  das  oben  über  o-io  gesagte  zu 
berücksichtigen  ist. 

Die  nach  diesen  principiellen  Vorbemerkungen  übrig 
bleibenden  Abweichungen  von  La  Koches  Text  sind  zum 
Teil  Schreibfehler,  welche  teilweise  auf  eine  Minuskelvorlage 
(Xa^oi'aro  statt  XaLoiazo  B  418,  ferner  agetag  =  egerag 
yi  309  und  (falf.iuv  =  (fal/aev  B  81  aus  Missverständnis  der 
Ligaturen  eg  und  ev)  teilweise  aber  auf  das  in  Uncialen  ge- 
schriebene Original  (vq^ov  statt  iipov  A  486,  ^)  I  mit  ge- 
schweifter Hasta  als  P  verlesen  :  /tuvivd^aögov  A  352,  Ilagovag 
B  848)  hinweisen.  Gugegöv  B  266  und  T/w'A((J  B  866  sind 
psychologisch  leicht  erklärbar. 

Wir  erlauben  uns,  die  Lesarten  vorauszuschicken,  welche 
bisher    nur    durch    Grammatikerzeugnisse     bekannt 


1)  E  506  vvxrav,  analog  B  536  fieveav. 

2)  In   der   alten  Minuskel   ist  tf   kreuzförmig   und  von  fp   leicht 
unterscheidbar. 


2G6  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

waren:  ^173  itldsTai  (als  zweites  Lemma  t7teoovTai), 
261  omrorefjoi  d.  h.  ovnoTi  {.loi^  ohne  /£  (Etymol.  Magnum), 
308  7TQotQQVo{o)Ev  Wie  435  TtQOfQvooar  (vgl.  die  Venediger 
Scholien),  404  ßh]v  (Aristarch),  424  {-yrovTai  (vgl.  Lud  wich, 
Aristarchs  hom.  Textkr.  I  196),  449  nQoßäXovTo  (Eustathios), 
B  448  T^egi&ovTO  (Zenodot),  844  IJeiQog  (=  JTeiQiug  Eusta- 
thios), F  10  a/Lieivcüv  (vgl.  Aristonikos),  51  xaTijq^eir^  (Zeno- 
dot), 368  ovo'  föäi-iaoGa  (Ammonios,  s.  Ludwich  I  239), 
zl  62  Enn'jBoii(€v ,  d.  h.  £71  iEi§o(.(ev  (Apollonios  Dyskolos), 
319  xar6'xra  (s.  Lud  wich  1247,  Analogiebildung  nach  i/.r,a, 
elrta,  eöcoKa,  r]VEi/.a) 

Erheblicher  ist  die  Zahl  der  eigenartigen  Les- 
arten,  von  denen  wir  die  Schreibfehler  nicht  ausschlies.sen 
wollen : 

^  46.  tTiKay^Ev  {rroiov  r^yov  a-nEtikEGsv) ,  nach  dem 
Schema  Pindaricum. 

113.  KlvTaifxriOTQrjg,  die  richtige  Namensfbrm,  die 
neuerdings  von  Papageorgios  und  Wecklein  bei  den  Tragikern 
nachgewiesen  ist. 

128.  t'  fehlt. 
[132.  JcaqElEiOExai,    aber  Glosse  ov  naQel&r]q.     Vgl. 
unten  X  86. j 

[137.  dcorjoi,  aber  Glosse  nagctoyiootr.] 

193-   oy'  (wahrscheinlich   mit  at'r'). 

200.   qceEi'dEv,  also  die  Form,  welche  vor  der  vulgaten 
Assimilation  (fäav^Ev  vorausgesetzt  wird. 
[220.  y.e'Keov,   Glosse  §iqioi^rjy.r]v.li 

221.  0'iXv/.i7iov  {eig  zov  "Olvf.inov),  natürlich  mit 
tßEßr^y.tt,  wie  auch   H    1.  man.  und  Gant,  haben. 

231.  OTiöavolaiv. 

282.  eyoj  oe ;  wahrscheinlich  drang,  wofür  der  von 
l'ywyE  hergenommene  Accent  spricht,  oe  aus  der  Glosse  fyo) 
df  OE  iiuQct/.uko)  für  yE  ein. 

287.  öys. 


Sittl:  MitteUnurfen  aus  einer  Iliashamlschrift.  267 

^    306.  f!ii  TS  /.Xiaiag  (offenbar  fehlte  ."fV). 
[333.  tvi  fiel  aus.] 

344.  (.taxiorrai. 

354.   LilußQ£,ur,Trjg  (?  -lTi]g). 

354.  xovrdov. 

356.  hxßiov. 

359.  öf-iixka    (vgl.  die    im  Thesaurus  von  Stephanus 
augeführten  Grammatiker.) 

394.  Xiaosai. 

435.  oQ^tp'. 

480.  orr^oav. 

485.  oi'/e  nd^JTQioTa    (aus    o"  Tta^nqcDza    und    oi'^e 
(ifKaivav  kontaminiert). 
[513.  (Jff^OJ'.] 

550.  fftye  (dies  erfordert  avTaq  wie   193). 

554.  aWa  d^ehjod^a,  wie  ß  123  xf  d-ekoifjsv. 
B     40.  xar«  x^.  v. 

[81.  gialjUttv.] 

137.  TtQoriötyiiievai. 

139.  a'AA'  ay£. 

208.  J'rywv. 

229.  '/.hl  statt  tVt  (?;'  /.al  ßgayv  n  tri  ^rjTEig). 

232.  fuloyrjai. 

233.  Tjj»'. 

241.  statt  (pqeoiv  laßev. 

285.  d^rifuevai. 

295.  neqiTQenhov. 

301.  statt  cftQoroai   ceXoade. 

344.  äxE^q>ia. 

346.  0^. 

367.  &E07Teohjv. 

371.  at'.9£  /a^,    wieder    aus    at  /a^  und  at'^f    kon- 
taminiert. 

387.  diay.Qivoi   (A   1.  man.   diay.Qtiei). 

1888.  PhUos.-philol.  n.  bist.  Cl.  II.  2.  18 


268  Sitzung  der  phi1n<i.-phi1ol.  Clnftse  vom  7.  Juli  1888. 

B  436.  fyyvaU^Tj  (Variante  f.yyvaXi^Ei). 

453.  TÖiGiv  ohne  (5'  (Glosse:  rolg  de.  "EXlrjOiv). 

490.  svr^ev  (wie  489  bei  Gramer,  Anecd.  Oxon.  IV 
318,  1   riev.) 

513.  uälCeiöao  (^i^eog  naiöog). 

528.  x'  oooog. 

535.  ^liQTjv  «Aog,  dann  avra.  Augenscheinlich  wurde 
einst  an  den  autfallenden  Worten  vrtQijv  "leQfjg  Evßoirjg  heruni- 
korrigiert. 

549.  evi. 

550.  IXdayiovtai. 
633.  KQO-KvXriV. 

661.  TQa(fev  sv  fxeydgoiQ  {fv  rolg  diyioig)  ev7TiqY.ra}v 
{•/.aXiög  •/.aTEOx.evao/iieviov). 

694.  dyEViov  mit  kurzem  Diphthong  (Gust.  Meyer, 
Gr.  Gr.  §  157). 

763.  (ÜEQrjziöiodao,  kontaminiert  aus  (D€Qrit(e)idao 
und  QiEQijTiadao. 

765.  vojta. 
795.  aq)iv. 
813.  BctTeiav. 
Hinter  827.  folgt  das  Lennna  toBov  voiv  ev  elScog. 
840.  eyyeoiiiiiüQovg. 
849.  ^(.tvÖQiovog  nach  d^ivögog. 
872.  x/fiJ'  (mit  7cC)Xbi.iov). 
r      10.  '/^OQi'ffif   (Glosse  y]  ljray.Q(i)()i(x  ooovg.) 
38.  statt  STieeaai  eviaawv  (eTttrcXriooojv). 
45.  errev  {(-ttbotiv  ooi). 
54.  %Qaiöi.ia. 
67.  vvv  ö'avz\ 
76.  6'  fehlt. 
104.  oXouev. 
115.  7iki^oioi. 
123.  ^x«- 


SlttL-  MittcihDujcu  aus  einer  lUashanäschrift.  269 

r   124.  ogioTtj  (d.  h.   -v^),  also  auch  ytaodtxr^. 

125.  EiQEv  ohne  ev. 

134.  ecaiai  (earai  A). 

142.  Ö^aXai-wi. 

145.  ^y.ial,  möglicherweise  =  ^y-i]ai,  doch  wird 
jedes  ai  vor  Vokalen  im  Vulgärgriechischen  wie  i  gesprochen, 
z.  B.  Romios  =  ^Piof.ia'iog. 

186.  "ÖTQi^Qog. 

212.  l'q)aivov. 

217.  OTcc/iEv  (eiGTiqKei). 

224.  rcV'  .'-/w  ö\ 

240.  iVro»', 

252.  Y.aTußr^f.iEvai^  nach  unserer  Schreibweise  xara- 

[272.  Bicfog,  aber  in  der  Glosse  ^i(povg]. 

389.  EEiöofxevrj. 

394.  yaritEiv  (xQ^^eiv). 
423.  tx£v  statt  x/e. 
z/     27.   iÖQiöO^'  (to  teXsov  idgioTa). 

31.  vi5  ff\  also  6  Uqiafiog. 

54.  /r^o'^'. 

93.  ijp'  aV  ;UOt. 
116.  EOvXa  (ohne  o). 

204.  OQOEO. 

205.  töfyai. 

222.  £(5f  (ovEÖvoaxo). 
248.  EQQvarai. 
V.  296  fehlt;    denn    an    29.5    schliesst  sich  unmittelbar 
das  Scholion  an  :  Ovtol  xa^iaqyoL  vjir^Qyov  ßaoiXEvg  öi  nav- 

TCüV    tiöv     TIvXllOV    NiOTOOQ. 

[373.  ^TQog,  aber  Glosse  e'fUTVQoad^Ev.^ 
[390.  Toiiqoi^  aber  Toiavtijv  a^Ttp.] 

390.  l/riraQQod^og. 
400.   r'  fehlt. 

18* 


270  Sitzung  der  phüos.-philol.  Glasse  vom  7.  Juli  1888. 

J  [405.  Bvyof.ievoi,  aber  eiyoixed^a^ 

448.  6f.t(faloiaoag ,    also    auch    daniöag    {ofAcpakovg 
ixotaag). 

481.  statt  x^^^^ov  ccQr'iiov. 
524.  0  Qa  (gesprochen  o  QQcc). 

E     63.  TtaXovTO   (sysvovto).     In    allen    unseren    Hand- 
schriften hat  die  Glosse  das  Original  verdrängt. 
110.  coi-ioiiv. 
127.  (5'  fehlt. 
141.  y.iyvvTO. 
161.  £«%. 
185.  ovd\ 
203.  slcüO-OTe. 
255.  statt  awwg  E(.i7irjg. 
263.  FTtaC^ag  {t(:poQ(.i7ioag). 
285.  £^%£,  d.  h.  fii'/f'. 
315.  (paELvoj  (XaiA7iQi~). 
336.  ircäl/uevog. 
362.  ye  fehlt. 

378.  6(7/€. 

412.  /i</j<5'  r/V. 

416.  dnei^ÖQyvv  {aTTOi^oQyvv  H).    Dies  erfordert  yelg'- 

432.  yeiQog. 

482.  ^{-{.lovag  [nQod^vfxrj). 
646.  df^rjoO^tvTa. 

865.  avt/uoi. 

879.  oi'r'  iVi  (oiztti  A   und   Andere). 

[905.  £f|Ua,  aber  Glosse  «^uarm.] 

Z       6.  qxiXayye. 

18.  statt  Toi^'  oJ. 

40.  a^avreg  ohne  £v, 

86.  iuBTOiyeio,    d.  h.  /ueiolyto    wie    Eustathios    und 
Vrat.   A   haben.     Ver<rl.   ^   132. 


Sittl:  Mitteilungen  aus  einer  Iliashatidschrift.  271 

Z   [90.  xiXri  a7T0&'  und  norw  öiye,  aber  die  Erklärung 
stimmt  zur  Vulgata.] 

157.  xax'  ifxreuTo. 
[165.  id^iXoioay,  aber  die  Glosse  steht  im   Dativ.] 
[236.  exarojjßoUov,  aber  Glosse  TtolvTslrß. 
[252.  ^oayoioav,  allein  die  Erklärung  lautet  /toqbvo- 

265.  dnoyvKjoorj. 

Nun  bleiben  die  Abweichungen  von   La  Koche,    welche 
die  Handschrift  mit  anderen  teilt: 

A     11.  iqtifir^oev,  d.  h.  rjTiint]o'  (s.  o.). 
20.  Xi'aaTE. 

168.  i7lr^v  y.e'/,afAio. 

204.  TETeXsod^ai  (ebenso  A',  TSTEkea&ai  ACD  u.  A). 

258.  ßovlri  d.  i.  ßovX^. 

212.  /iiayJoivTo. 

273.   ^vviov. 

298.  fuayjao^ai  (die  Schreibung  mit  einfachem  ff 
kehrt  auch  bei  Didymos  wieder,  wenn  er  sagt :  ov  did  zov  sä), 
304  uayeoaaiLievcü,  BSll  i^ayaoacci-ted^a,  F  393  !.iax€Oodf.iEvov. 

350.  £Ttl  oivona  (A  und  Andere). 

365.  xlrixoi  (AC). 

424.  xara  (Aristarch  u.  Handschr.) 

428.  ß  35  djiEßrjaaro,  wie  496  dvEÖvoaro,  B  48 
TVQOOEßijOaTO,  578  edvoato,  F  328  sövaaTo,  J  86  xarecJi;- 
ffaro. 

447.  xAffTjjv. 

521.  t'  tVi. 

-ß      27.  ff€t'. 

36.  Ii^eKXev. 

137.  EiaxaL   er. 

163.  iuero  (D). 

238.  x'   rjf.iElg. 


272  Sitzung  der  ])hil<)s.-jjlulol,  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

B   269.  d7iEf.i6QBaTO. 

349.  rji  xat. 

388.  OTiq'Hoq^i,  wie  544,  E  722  oyteoffiv. 

391.  d'  äv  (Ambros.  u.   A.) 

635.  ovTi'yiEQa  (-tQu  S,  -tq'  G) ;  ofienbar  stand  in  der 
Vorla<(e  avTi7TSQaievef.iovTu,  wobei  der  Kopist  ai  als  cc  auf- 
fasste  (s.  S.  263). 

676.  Qäooov  =   Qäoüv  L. 

819.  rjt'c;  (vielleicht  mit  riQy'). 

r     28.  tioaoiyai. 

126.  i.iaQi.ia{)i)iv  (A   u.  A.). 

177.  av  eigeai. 
239.  iiioO^fjv. 
295.  dq^vaaä^Evoi. 
349.  EVI. 

382.  filffev  (S  Townl.). 

406.  dnoEiJiE  y-slEiif^ufQ. 

436.  da^tao^Q  (A). 

441.  ELvrjO^tvTsg. 

J      17.  avTtog  (A   u.  A.). 

41.  fy.yEydaoiv. 

78.  r//A/^  (L). 

109.  fxxa/dtx«  ()f'')(>a   (G). 

178.  T  Elia  El. 
202.  TQl/r/.r^g. 
229.  rraQaayJ-fiEv. 
244.  diaxoiQai'iovza. 
277.  /o>'r<  (MS  Eust.) 
300.  7I(Aei.uU]. 

363.  /uETa/.to'tha. 

433.  JioXvjcäfxiiovog. 

444.  f.itaov  d.  h.  (.itoaov  fD  Enst.). 

506.  iU^y. 

£     12.  d/ronQiV^tvzeg  (0). 


Sittl :  Mittiilunijiii  iiiis  einer  Ilidshaudschrift.  273 

E     28.  dXsvofievov. 

106.  e/rtvx6f.i€vog  (mit  ydr'). 

109.  Öqoso. 

128.  yiyvwo'/ioig. 

184.  od'  (Cant.) 

231.  elio^öze  (L). 

234.  noiyiovteg  (DL  Eust.) 

279.  tixoii.li. 

293.  £^£Ar^/;  (A  u.  A.j. 

394.  X6V. 

701.  avreq'eQovTo  (A). 

874.  zö?"'<^'  (A   u.  A.) 

898.  ^loi^ag  {vjifiQXeg). 

Z     .59.  gp€'(>€t  {tlveq  nach  Schol.  A  und  N). 
148.  w^»;t  (A  u.  A.). 

154.    T£X£V. 

226.  eyx£Oi. 

Diese  Aufzählung  hätte  mehr  Wert,  wenn  ein  wirklicher 
apparatus  criticus  zu  Homer  vorhanden  und  das  Verhältnis 
der  Handschriften  klar  gestellt  wäre.  So  müssen  w^ir  uns 
damit  begnügen,  zu  konstatieren,  dass  kein  bisher  bekannter 
Codex  so  viele  eigenartige  Lesarten  aufweist.  Es  ist  sehr 
wahrscheinlich,  dass  das  Original  eine  erhebliche  Stellung 
in  der  Geschichte  des  Homertextes  einnahm,  weil  seine 
Schoben  in  Byzanz  die  beliebtesten  waren.  Eine  Vorstellung 
von  diesen  kann  man  aus  Bekkers  Excerpten  nicht  gewinnen, 
sondern  muss  zur  römischen  Ausgabe  oder  Aldina  greifen, 
welche  nach  guten  Handschriften  gemacht  sind.  Aus  einer 
zusammenhängenden  Paraphnise  ^)  sind  sie  nicht  entstanden, 
sondern  das  nicht  »eltene  de,  welches  die  Lemmata  verbindet, 
deutet    auf   mündlichen  Lehrvortrag.     Der  Lehrer  analysiert 


1)  Ludwich,  Aristarchs  hom.  Textkr.  II,  8.  516  tt. 


274  Sitzung  der  philos.-philol..  Glasse  vom  7.  Juli  1888. 

den  Text,  wie  noch  heute  in  Griechenland,  Wort  für  Wort, 
worauf  erst  der  Schüler  die  zusammenhängende  Uebersetzung 
gibt.  Was  aber  der  Lehrer  einmal  erklärt  hat,  setzt  er  im 
weitereu  als  bekannt  voraus.  Desgleichen  entspricht  es  der 
Praxis,  wenn  wiederholt  zuerst  Wortgruppen  erläutert  und 
dann  einzelne  Wörter  daraus  besprochen  werden.  [Jeber  den 
byzantinischen  Ursprung  des  Originals,  d.  h.  der  Erklärungen 
und  Katechesen  und  der  Sammlung  von  Biographie,  Anek- 
doton  und  Scholienexcerpten.  kann  kein  Zweifel  herrschen; 
dagegen  verdient  die  vorliegende  Handschrift  selbst  noch  einige 
Worte.  Da  sie  auf  sehr  starkem  Pergament  mit  ungewöhn- 
licher Raumverschwendung  geschrieben  ist,  kann  sie  nicht  das 
Handexemplar  eines  jener  bettelhaften  Grammatiker  von  Byzanz 
gewesen  sein;  sie  gehörte  gewiss  zur  Bibliothek  einer  Unter- 
richtsanstalt. Wir  können  noch  feststellen,  dass  es  eine 
ireistliche  war,  weil  fol.  79  zwischen  dem  zweiten  und  dritten 
Gesang  zwei  Excerpte  aus  Gregor  von  Nazianz  eingeschoben 
sind.  Ob  aber  die  Handschrift  aus  Konstantinopel  oder  von 
Patmos  oder  aus  einem  anderen  Kloster  stammt,  dies  fest- 
zustellen, reicht  der  heutige  Stand  der  griechischen  Paläo- 
graphie  noch  nicht  aus;  doch  möchten  wir  an  die  oben 
erwähnte  Aehnlichkeit  der  berühmten  Platohandschrift  erinnern. 


Anhang. 
B  i  og  VjjW  r'^QOV. 

1.  T6  /Ltiv  ävziKQvg  ehtsiv  öiioyigiaaitierov  ti^vöe  xiva 
aufföjg  etvai  Trjv  'Of-ir^QOv  ylveoiv  r^  Tto'Liv  yaXEnov,  i-iaKXov 
di  ddvvatov  eivai  voi^tiCiu,  dvay/.alov  di  /MTaQidinijoai  zag 
dvti7ioiov(.iivag  Trjg  yBvtaewg  aviov  rcökeig  to  tb  ytvog  t^ei- 
jCeIv  xo  diarpiaßrjTrjaiinov  toi   rcoirjzov. 

2.  ^va^ii-itvijg  fxiv  ovv  y.al  J anäotrjg  y.ui  llirduQog 
0  (xE}.0  7ioLÖg  Xlov  avTov  ditofpaivovTUL  /.al  QeoKQiTog    tv 


Sittl:  Mitteilungen  uns  einer  Iliashandschrift.  ■^«'> 

vo'iQ  t.i  lyQO  uuaair^)  (6  de  JauoOTi^g  /.ai  dt/.aTov  avTOv 
0710  Movoaiov  cpi]oiv  yeyorevai),  'In:riag  d'au  /.cd  "Ecpogog 
Kiuatov  (0  öe  "Ecpogog  Kai  elg  Xagicfi^iiov  öi'äyei  to  yevog 
aiToi.  6  df  XaQidijtog  oixog  Kifur^v  or/.i^oev'^),  Ti/nöf-iayog 
de  /Ml  ^4QiaT0TeXrjg  fs  "loc  ^r^g  vr^oov  ' /.aza  de  l^vri- 
uctyov  KoXoffwviog,  xara  de  ^i i^oif^ßgoTOv  zov  Qaoiov^) 
^^tvQi'cüog,  /.axa  (DikoyoQOv  de  ^Aqyslog,  xara  KakXi/.}.ea 
de  ir^g  ev  Kv7iQi^  ^alaf-ihog.  l4QiOTÖdi]i.iog  de  6  Nvoaevg 
'Pitj/.ta'ior  aiTov  ajioder/.vvoiv  ix  ririov  e^wv  Tragd  ^Pto^aioig 
(.tövov  yii'ouenor,  voiro  /.lev  fx  xr^g  nov  iieoaiov  7caidiag, 
ToiTO  de  6x  TOI  hiavioiaoÜ^ai  riöv  i^ä/iov  roig  r^ooo^'ag 
TLüv  ßskriöviüv  if/.övTCüv*),  a  /.al  i'ir  eri  cfvkäoöexaL  jtaqa 
'Poj/.iaioig  ei^r^'^).     ^'AKXol  de  ^lyv^cTiov  avtov  eutov  did  xö 

rj  7iaqayEiv   xovg   r\Qioag    ex  OTOf^axog  oA/rjAoi/g  q)i- 

koivxag,  07i£Q  eoxiv  e'i^og  ^lyvnxloig  noulr. 

3.  UaxQog  de  /.axci  /.lev  2x}]aif^ßQOxov  eoxiv  Maiovog 
xov  ^7iiX).idog  /ai  uiiXQog  '^Ygvrjd-oig  tj  KQ)id^iJdog,  /.axd  de 
Jeivuqyov  Kaior'^^covog^),  y.axd  de  Jrjuo/oivijv'')  yikr^- 
uorog,  y.axd  de  roi-g  7r'keioxovg  MeXrjioq  xoi  /.axd  ^^ivQvav 
Tioxafiol,    og  «/f'  oXiyov    geiov   evi^ewg  elg  xxiv  7iaQa/ceif.ievi]v 


1)  Unter  den  erhaltenen  Epigrammen  Theokrits  ist  keines  dieses 
Inhalts ;  aber  es  mag  sich  die  Notiz  auf  ein  verlorenes  oder  pseudepi- 
graphes  Epigramm  beziehen.  Liegt  jedoch  ein  Gedächtnisfehler  vor, 
dann  ist  Theocrit.  idyll.  7,  47  gemeint. 

2)  Westermann  schrieb  (o^ias,  obgleich  die  Gründer  Kymes  ganz 
andere  Namen  trugen  (vgl.  Rohde,  Rheinisches  Museum  36,  399). 

3)  Codex :   Oedaiov. 

4)  Codex:  fjxovrag. 

5)  Wir  sehen  jetzt  nachgewiesen,  dass  er  nicht  „wohl  im  Scherz 
das  Paradoxon  erfand"  (Nicolai,  griech.  Lit. -Gesch.  11,  S.  105). 

6)  Codex  xal  orj&covo?.  Der  Name  war  vielleicht  mit  Kaioo-  zu- 
sammengesetzt (vgl.  Fick,  griechische  Personennamen,  S.  181). 

7)  'Aycov  'Ofi^gov  xal  'Haiödov  Z.  20  West.:  Ar](i6xoixog  Ss  Tooi- 
Cvviog  Aarjiiova,  Demokrines  kommt  aber  auch  Schol.  A  II.  B  744 
als  Homeriker  vor;  ebenso  scheint  der  Name  Alemon  für  einen  Kauf- 
mann passender.     AA  wechselte  leicht  mit  AA. 


276  Sitzung  der  philos.-jihilol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

Oakaoour  l/.diöiüoiv.  ^  ()iOTuzt?^t^g  di-  lOtoQeiv  (pijalv 
Hrizag^)  tu  zivog  öai/uovog  yEyewfjaO^ai  tov  "0/.hiquv  zatg 
Movaaig  avyxoQEtoavrog.^) 

4.  Uegi  öi  xtuv  ygövcov,  xa^'  ort,"  rix/LiaCEv'-'),  (ode  '/.eyetai- 
'^H Qa'/.Xeidrj g  /utr  ovv  avxdv  djiodü/.vvoiv  nqeoßireQov'^Hoio- 
öov  .  .  .  .*).  "YQQavÖQüg'")  Öt  /.al  'Yipi/.QCtTijg  o  ^/iii- 
atjvdg  r^kLALWTtjv,  KQcciijg  ös  o  MaXXwT rjg^)  /.lerd  S,'  ettj 
zov  'Ikia-Kov  jioXefiov  (frjoiv  axijäaai ,  ^EgaToaO^evijg  de 
f.iETCc  q'  ZTfjg  ^liöviov  mcoiy.iag^  ^7i  okXödcoQog   de  fJSTcc  71'?) 

5.  'ExaXslxo  di  r/.  yevsT^g  (.MsXrjaiyivrjgy  ^)  rj  MeXrjoa- 
yogag,  avO^ig  dt  "Of^tioog  tliyiyrj  xard  xrjv  ytsaßiojv  diaXeiitov 
tvey.Ev  TTjg  7ieqI  rovg  oq^if^al/uoig  ovf.iq^o()äg  (ovroi  yaQ  rovg 
tvq)Xovg  6/iirJQOvg  Xiyovaiv)  /y  öiöxi  rta'ig  wv  o(.n^qog  sdöO^ij 
ßaoiXEi  o  iaiiv  svtyvQOv. 

6.  Tvg)ko)lffjvai  öi  avtov  ovzto  niog  Xtyovoiv  •  fA.'>oj'Ta 
yuQ  hil  xov  ^yiXltvjg  xdcfüv  sv^aaOai  O^eöoaaO^ai  xov  r^oa 
xoiovxov  07iolog  ngor^X^Ev  hii  xrjv  fnäyrjV  xoig  ÖEixigoig 
OTcXüig  xEy.oai.njinii'og  •  6cfi)ivxog  öi  atxw  xov  '^yiX?J(jog  xv(f- 
Xioif-'qvat  xov  '^'Of.iijQOv  vjiü  t^g  xcov  oirXiov    avy^g,  iXEtjxf-tvxa 

1)  Codex:  Xrjozag. 

2)  Codex:  ovyyoiQ^oavTog,  vgl.  aber  Ps.  Plutarch.  d.  Honi.   1,  3. 

3)  Codex:  rjxovev. 

4)  Hier  ist  in  der  Handsclirift  ein  wie  31  aussehendes  Zeichen, 
das  eine  Lücke  andeuten  dürfte,  da  ganz  ähnliche  in  lateinischen 
Manuskripten  denselben  Zweck  erfüllen. 

5)  Codex  "Y'^Qavdgog.  Da  die  Identificiening  mit  IIvQav^Qog  (Ps. 
Plutarch  parall.  min.  37.  Tzetz.  Lycoplir.  1439)  haltlos  ist,  hat  man 
die  Namen  "Yggag  und  'Yggäöiog  zu  vergleichen. 

0)  Codex:  'AfiakXoJzTjg. 

1)  Die  Zahlen  n  und  n  sind  von  dem  Verfas.ser  oder  einem  Al)- 
schreiber  verwechselt  worden,  denn  die  Quelle  von  Tatianos  (ad 
(iraecos,  p.  122/24  Otto)  und  Clemens  (ström.  I  p.  327a)  weist  n 
Apollodoroa  zu;  man  müsste  sonst  annehmen,  dass  die  60  Jahre  sich 
ursprünglich  auf  die  Geburt  Homers  bezogen  hätten. 

8)  Der  Name  ist  aus  dem  Madrider  Auszuge  ergänzt. 


Sittl:  MitteiluHijen  aus  einer  Iliashand-schrift.  '-'t  i 

de  V7t6  Qtiidog  /.ui  Movoiov  riutjO^r^vai  ngog  avtiov  rf] 
;ioiiiTixi.  '^AkXoi  öe  qiaoiv  tovto  •  avTOv  Ttenovö^ivai  tovto 
did  in^riv  Tf^g  'i:/f)'»;t;  OQyioif^Eiot^g  aiTO)  öiozi  euiBv  aiTi\v 
Aui(x'ktlti(fivai  (.itv  Tov  TtQOTeQür  aröga,  rf/.oXovi)^if/.hai  6t 
^Xe^ovdQii)  .  ouTwg  yoir  uii  /.eil  jiaQtOTi],  cpaolv^)^  vv/.iu<;  t] 
U>ix>]  tilg  t]Qioti'ijg  jiaQaivoioa  /.aloai  Tag  vioii^oeig  awov  .  .  .^) 
ei  Tüvio  TiütrjOoi,    .iQÖoyoi  '  lüv   di    urj    uvuoyboO^ai  /luii^oai 

TOVTO. 

7.  viTtoi^avelv  dt  avTov  Xtyovaiv  ii'  Iuj  if^  i>r^O(i)  di.itj- 
ycLvic^  7ieQi7TtoovTa,  hieiörpTsg  tmv  naiöiov  twv  akitior  ovy 
olÖotb  tyivETo  oLriy/iia  Acoai  '  eoTi  di  toito- 

"Ooa'  tlofuev,  XiJioneaif^a  '  oaa  6' ovy_  ekoi-iev,  q^EQÖi-iEoifa. 
Kai  avTOv  hti  tw  TÖffitj  i/iiytyga/rTai  i7ciyQajUf.ia  tovto  • 
'Evit^ads  Tr\v  ^qr^v  '/.Eq^aX^v  y,aTa  ya~ia  Y.aXv7TTU 
ardgiZv  r^gwov  •/.oof.ir^TOQa   O^tiov  "OuijQor. 

Trotz  ihrer  Kürze  bringt  die  Biographie  mancherlei 
Nenes  von  Wert.  Von  dem  aus  Dionys  von  Halikarnass 
(V.  Dill.  Ij  bekannten  Homeriker  Deinarchos  erhalten  wir 
hier  die  erste  Probe ,  Stesimbrotos'  Fragmente^  bekommen 
einen  Zuwachs  ^j,  von  Aristoteles  wird,  obgleich  die  nämliche 
Geschichte  in  der  Plutarch  beigelegten  Homerbiographie  (1,  3) 
viel  ausführlicher  steht,  nur  hier  ausdrücklich  gesagt,  dass 
er  jene  nicht  gläubig,  sondern  als  Ueberlieferung  der  Insu- 
laner berichtet  habe.  Da  der  Verfasser  durch  den  subjektiven 
Einleitungssatz  von  den  gewöhnlichen  anonymen  Öcholiasten 
sich  unterscheidet,  möchten  wir  ihm  gerne  unsere  Dankbar- 
keit bezeugen,  indem  wir  seine  Persönlichkeit  aus  dem  Dunkel 
hervorzögen.  Dazu  hilft  ein  zweiter  individueller  Zug,  die 
Bemerkung   über    den   Fluss  Meles,    welche    nach  Kleinasien 


1)  Hier  ist  eine  Lücke  gelassen. 

2)  Vita   Honieri,  IV,   1    sagt  bloss:    Kazä   /ley    rivag  Maiovog  y.ai 
'Ygvfj&oig. 


278  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  7.  Juli  1888. 

weist. ^)  Die  Schriftsteller,  die  er  citiert,  haben,  soweit  wir 
sie  kennen,^)  spätestens  unter  Augustus  gelebt.  Den  Namen 
können  wir  freilich  nicht  feststellen ;  der  Arzt  Hermagoras, 
der  unter  Hadrian  über  Homer  schrieb,  wird  doch  wohl  den 
Stolz  seiner  Mitbürger  -  er  war  Smyrnäer  —  nicht  so  arg 
verletzt  haben,  dass  er  unter  den  Geburtsstädten  Chios  den 
ersten  Platz  anwies. 


1)  Auch  die  genaue  Heimatsbezeichnung  der  kleinasiatischen 
Schriftsteller  jüngerer  Zeit  {Nvaasvg,  'Afxiorjvög,  MaXXu>xy]g)  passt  dazu. 

2)  Kallikles  ist  sonst  ganz  unbekannt,  ebenso  Timomachos,  der 
mit  dem  Verfasser  der  KvjiQiaxd  (Athen,  li,  638a)  schwerlich  identisch 
ist;  sonst  würde  er  für  den  kyprischen  Ursprung  Homers  gestimmt 
haben. 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  Juli  1888. 


Herr  Cornelius  hielt  einen  Vortrag: 


,Ueber  die  Herzogin    Renata  von  Ferrara  in 
den  Jahren   1528—1548". 


279 


Historische  Classe. 

Nachtraor  zur  Sitzung  vom  2.  Juni  1888. 

Herr  v.  Druffel  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber  Luther's  Schrift  an  den  Kurfürsten 
Johann  Friedrieh  von  Sachsen  und  den 
Landgrafen  PhiHpp  von  Hessen  wegen 
des  gefangenen  Herzogs  Heinrich  von 
Braunsch  vveig.    1545." 

I. 

Die  Entstehung  der  Schrift. 

Zwei  Monate  vor  seinem  Tode  veröffentlichte  Luther 
eine  politische  Flugschrift,  einen  offenen  Brief,  in  welchem 
der  Kurfürst  von  Sachsen  und  der  Landgraf  von  Hessen  ge- 
beten werden,  den  Herzog  von  Braunschweig  nicht  wieder 
los  zu  lassen,  als  dieser  bei  dem  missglückten  Versuche  das 
ihm  früher  entrissene  und  unter  Sequester  gestellte  Land 
wiederzugewinnen,  in  des  Landgrafen  Philipp  Hand  gerathoi 
war.  Luther  berichtet  darin,  dass  er  zu  seiner  eigenen  Ver- 
wunderung von  vielen  und  bedeutenden  Leuten  häufig  er- 
mahnt worden  sei,  sich  an  die  beiden  Fürsten  mit  jener 
Bitte  zu  wenden.  Auf  eine  Besserung  des  Braunschweigischen 
Tyrannen,  welchem  jetzt  durch  Gott  selbst  ein  Zügel  ange- 
legt worden,    sei  unter   keinen   Umständen  zu  rechnen ;    was 


280     Nachtrnfi  zur  Sitzuncf  der  Imtor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

einen  solchen  Schein  vielleicht,  erwecken  könne,  sei  jeden- 
falls Betrügerei.  Den  Gedanken,  dass  das  Schicksal  des 
Braunschweigers  von  Gott  komme  und  daher  Niemand  so 
kühn  sein  dürfe,  ihn  der  Hand  des  Allmächtigen  zu  ent- 
ziehen, führt  Luther  eifrig  aus  unter  Heranziehung  von  zahl- 
reichen Bibelstellen.  Der  Herzog  von  Braunschweig  ist  ihm 
der  Syrier  Benhadad  in  dem  Buche  der  Könige ,  der  gegen 
die  armen  Israeliten  einen  Vernichtungskrieg  unternommen 
hatte.  Ihn  traf  Gott  nicht ,  wie  er  es  gekonnt  hätte ,  mit 
Loth  oder  Spiess,  sondern  schickte  ihm  vor  der  eigentlichen 
Schlacht  Verzagtheit  ins  Herz.  Indem  der  Herr  den  zornigen, 
wüthenden  Benhadad  in  der  Evangelischen  Hand  gegeben, 
habe  er  sie  versuchen  wollen,  ob  sie  es  verständen,  seinen 
heiligen  Namen  gegen  Lästerer  und  Verächter  zu  schützen. 
Luther  warnt,  mit  dem  Worte  des  Propheten  an  den  König 
Ahab,  vor  unzeitiger  Gnade  gegen  einen  von  Gott  Ver- 
worfenen, und  droht  anderenfalls  mit  dem  Pfeile,  welcher 
Ahab  getroffen  habe  wegen  der  milden  Behandlung  des  be- 
siegten Benhadad.  Die  Erhebung  des  Braunschweigers  rückt 
Luther  in  einen  grösseren  Zusammenhang,  indem  er  aus- 
führt, dass  durch  die  Niederlage  Heinrichs  vorzugsweise  der 
Papst  und  das  ganze  Papstthum  getroffen  sei;  der  Papst 
habe  seit  dem  Wormser  Edikt  die  Vernichtung  des  Gottes- 
woris  versucht,  während  der  Kaiser  zu  Speier  bereit  gewesen 
sei,  das  Edikt  zu  suspendiren.  Die  Papisten,  unter  ihnen  beson- 
ders einige  Aebte^)  hätten  alles  aufgeboten,  um  die  Sächsisch- 
Hessische    Rüstung    zu    hintertreiben,    da    die    Kriegsknechte 

1)  Die  Aebtc,  auf  welche  Luther  anspielt,  sind  wahrscheinlich 
die  bei  Herberger  S.  35,  38,  45,  47  genannten,  wo  neben  dem  Cardinal 
Truchsess,  dem  Deutschmeister,  dem  Grafen  Hang  v.  Montfort,  der 
Augsburger  Domherr  Kaltcnthal  und  Gerwik  Blaurer,  Abt  zu  Wein- 
garten, der  Unterstützung  des  Braunschweigers  verdächtigt  werden. 
Luther  schrieb,  Okt.  21:  Non  obscurum  est,  collegiatas  ecclesias  j^e- 
cuniam  contribuere  Heinzen. 


V.  DniffeJ :  Luthers  Schrift  an  Kiirsachsen.  281 

sich  aber  nicht  mit  Berufung  auf  den  Papst  abschrecken 
Hessen,  sei  die  Lüge  aufgebracht  worden,  als  geschehe  das 
Husten  wider  den  Kaiser.  Während  man  für  den  meuchlinsfs 
sich  erhebenden  Braunschweiger  auf  den  Kanzeln  gebetet 
und  gemeint  habe,  die  Evangelischen  würden  durch  ihn  über- 
rumpelt werden,  sei  aber  der  Brei,  welcher  durch  lange  Zeit 
sorgfältig  gekocht,  sammt  dem  Topfe  von  Gott  zusammen- 
geschmissen worden,  so  dass  Scherben  und  Brei  den  Köchen 
unter  die  Nase  spritzten.  Nicht  um  seiner  eigenen  weltlichen 
i^achen  Avillen,  sondern  dem  Papste  zu  Liebe  habe  sich  Heinrich 
erhoben;  Hesse  man  ihn  jetzt  los,  so  würden  nicht  nur  die 
Papisten  triumphiren,  sondern  mit  deren  Sünden  und  mit  den 
Gotteslästerungen  des  unverbesserlichen  Papstthums  würden 
sich  auch  die  beschweren,  welche  ihn  befreit  hätten.  Die 
Pflicht  der  christlichen  Barmherzigkeit  müsse  man  auch 
gegen  Papisten  üben,  obschon  diese  ihnen  gegenüber  von 
keiner  anderen  Barmherzigkeit  wüssten,  als  wie  sie  Kain 
gegen  Abel  und  Kaiphas  gegen  Christus  angewandt  habe; 
aber  die  richtige  leibliche  und  geistliche  Barmherzigkeit 
fordere,  1)  dass  Herzog  Heinrich  an  der  Ausübung  von 
Tyrannei  und  Gotteslästerung  gehindert  werde,  das  sei  ihm 
selbst  gesund,  2)  dass  die  friedliebenden  Leute  vor  ihm  ge- 
schützt werden.  Der  Herzog  habe  so  viele  Sünden  begangen, 
dass  er  die  Hölle  reichlich  verdient  habe,  manche  seien  aufs 
Rad  geflochten  worden,  welche  nicht  zwei  von  seinen  täg- 
lichen Sünden  verübt  hätten;  der  Herzog  brauche  Zeit  zu 
frommer  Busse,  müsse  einsehen,  dass  ihm  nicht  nach  Ver- 
dienst geschehen,  sondern  durch  seine  Haft  nur  eine  sanfte 
Warnung  zu  Theil  geworden  sei.  Der  Herzog  müsse,  wie 
David,  in  aller  Ergebenheit  sagen:  „Mache  es  mit  mir,  wie 
es  Dir  gefällt;"  dann  könne  es  geschehen,  dass  man  ihn  hole 
und  wieder  in  das  Fürstenthum  einsetze. 

Nach  dieser  Auseinandersetzung    ermahnt  Luther  noch- 
mals die  beiden  P'ürsten,  ja  nicht  mit  der  Befreiung  zu  eilen, 


282     Nachtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

die  Gedanken  der  Herzen  seien  noch  nicht  alle  offenbar.  Er 
weist  auf  die  Wahrscheinlichkeit  hin,  dass  eine  Unter- 
stützAing  des  Herzogs  Heinrich  durch  den  Papst^)  stattgefunden 
habe;  dies  müsse  Gegenstand  weiterer  Berathung  bilden,  sobald 
man  Gewissheit  habe,  ob  der  Papst  oder  wer  sonst  kürzlich 
so  erhebliches  Kriegsmaterial  nach  Deutschland  geschickt 
habe.    Das  stehe  fest,  der  Papst  und  die  Papisten  wünschten 


1)  Dass  Herzog  Heinrich  von  Braunschweig  vom  Papste  unter- 
stützt worden  sei,  war  eine  willkürliche  Annahme,  welche  von  der 
falschen  Voraussetzung  ausging,  als  ob  der  damalige  Träger  der  Tiara 
für  die  gewaltsame  Bekämpfung  des  Protestantismus  ohne  Gegenleist- 
ung Opfer  zu  bringen  bereit  gewesen  sei.  Dass  auf  protestantischer 
Seite  das  Gegentheil  verkündet  wurde,  beweist  nichts. 

Die  Notiz,  welche  G.  Schmidt  in  seinem  Aufsätze  „zur  Geschichte 
des  Schmalkalder  Bundes"  —  Forschungen  zur  deutschen  Geschichte 
XXV,  71  —  nach  einem  Protokoll  in  dem  Braunschweiger  städtischen 
Archiv  gegeben  hat,  stammt  zwar  von  der  Gegenseite,  trifft  aber  die 
Wahrheit  ziemlich  richtig :  Brunswicensis,  cum  arderet  hello  adversus 
nos,  habebat  Romae  procuratorem  pi-o  extorquendis  pecuniis  a  papa, 
sed  consecutus  est  nihil  ultra  quam  verba.  Dem  entspricht,  was  wir 
aus  der  früheren  Korrespondenz  der  Bayerischen  Herzoge  wissen;  eine 
Notiz  darüber  gibt  Kawerau  II,  147.  Die  Durchsuchung  Braunschweig- 
ischer  Briefschaften,  über  welche  Herzog  Heinrich  sich  beklagte, 
Langenn  II,  240,  scheint  auch  kein  bestimmtes  Ergebniss  geliefert  zu 
haben,  mochte  auch  J.  Jonas  die  Neuigkeit  melden:  de  inventa  apud 
Brunsvicensem  arcula  plena  literis,  mirandis  conspirationibus,  technis, 
consiliis  Cain,  quae  non  revelabuntur.  Kawerau  II,  170.  Die  Er- 
öffnungen, welche  Schärtlin  durch  Aitinger  erhielt.  Herberger  37, 
.scheinen  über  des  Herzogs  Heinrich  Absichten  interessante  Nachrichten 
geliefert  zu  haben,  nicht  aber  etwas  Handgreifliches  über  die  Bethei- 
ligung des  Papstes  und  Kaisers.  Mont  schreibt  Febr.  10  aus  Frank- 
furt an  Paget:  Exhibitae  mihi  sunt  literae  Braunswicensis  ducis  in 
cancellaria  lantgravii  ad  Romanum  episcopura  scriptae, 
quibus  signiBcavit  prosperos  successus  ac  propediem  se  lantgravium 
exturbaturum ;  vicissim  quoque  larga  illi  auxilia  a  papa  pollicita 
sunt;  State-papers  XI,  41.  Der  zweite  Satz  beruht  augenscheinlich 
nicht  auf  einer  aktenmässigen  Grundlage,  wie  der  erste. 


r.  Druffel :  Lidhera  Schrift  an  Kursachsen.  283 

allen  Ketzern  den  Tod,  während  sie,  die  Bekenner  des  Wortes 
Gottes,  jenen  die  Seligkeit  an  Leib  und  Seele  wünschten. 
Gegen  Gott  würden  jene  nichts  vermögen,  derselbe  werde, 
wenn  sie  auch  alle  gemartert  würden,  gewiss  aus  dem  Nichts 
einen  neuen  Luther,  oder  wie  die  Papisten  es  nennen, 
andere  neue  Ketzer  erwecken,  die  dem  Papstthum  noch  ganz 
anders  zusetzen  würden.  So  habe  Gott  den  Noah  und 
später  den  Abraham  erweckt,  als  der  Teufel  die  ganze  Welt 
beherrschte,  um  zuerst  die  ganze  übrige  Menschheit,  und 
später  durch  Abraham's  Samen  den  Pharao  zu  ersäufen. 
Der  Teufel  habe  nach  der  Kreuzigung  Christi  gemeint,  jetzt 
sei  das  rechte  Licht  ausgelöscht.  ,Ja  wohl  ausgelöscht! 
Da  steht  er  auf  von  den  Todten,  zündet  ein  Licht  an,  welches 
die  ganze  Welt  erleuchtet."  Endlich  ermahnte  Luther  die 
tollen  Narren,  den  Papst  und  die  Papisten,  welche  doch  in 
ihrem  Gewissen  überzeugt  seien,  eine  schlechte  Sache  zu 
vertreten,  nicht  gegen  Gott,  der  ein  verzehrendes  Feuer  sei, 
anzukämpfen. 

Dann  wendet  sich  der  Reformator  an  seine  Glaubens- 
genossen mit  der  Ermahnung,  wegen  des  Sieges  nicht  über- 
müthig  zu  werden.  Er  weist  hin  auf  die  Unterdrückung  der 
halsstarrigen  Juden  durch  die  Heiden ,  auf  die  Siege  der 
Türken  über  die  Christen,  welche  Gott  wegen  der  Abgötterei 
des  Papstthums  habe  bestrafen  wollen.  Auch  jetzt  der  Sieg 
über  Braunschweig  sei  nicht  der  eigenen  Frömmigkeit  der 
Sieger  zu  danken,  denn  leider  seien  auf  ihrer  Seite  viele 
heimliche  Papisten,  die  über  den  Sieg  im  Herzen  trauerten; 
Luther  klagt ,  dass  Geiz  und  Wucher  bei  ihnen  zu  Hause 
seien,  erwähnt  die  socialen  Verhältnisse  der  Handwerker  und 
des  Gesindes,  der  Bürger  und  Bauern,  dass  Hinstreben  zum 
Kaufmannsstand.  Er  meint,  man  müsse  sich  wundern,  wie 
die  Erde  sie  noch  trage.  Aber  so  gering  die  Zahl  sei,  doch 
müsste  es  etliche  rechte  Gotteskinder  unter  ihnen  geben,  denn 
das   Wort  Gottes    könne    doch    unmöglich    ganz    vergeblich 

1888.  Philos.-phlol.  abist.  Gl.  II.  2.  19 


2^4     Nnchtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

unter  ihnen  sein.^)  Der  heilige  Geist  erhalte  bei  ihnen  die 
Reinheit  des  Glaubens,  welcher  nicht  ohne  Frucht  und  ohne 
gute  Werke  sein  könne,  während  im  Papstthum  alles  Heuchelei 
sei.  Während  sie  Gott  die  Ehre  des  Sieges  geben,  müssten 
sie  aber  auch  dafür  sorgen  gerüstet  zu  sein,  nicht  vermessen 
auf  Gottes  Hilfe  rechnen;  danke  man  Gott,  wie  im  76.  Psalm 
geschieht,  so  würden  die  Papisten  ihnen  nichts  anhaben 
können. 

Nur  in  einer  einzigen  Ausgabe  folgt  dann  noch  eine 
Klage  und  Bitte  zu  Gott  wider  die  alte  Schlange  der  alten 
Religion  und  ihre  Schutzherrn,  ein  Theil  des  64.  Psalms 
und  dann,  mit  der  Ueberschrift:  Lob  und  Dank,  dass  Gott 
solch  Gebet  erhöret  und  sein  Nerv,  das  ist  das  Wort  Christi 
geehret  hat,  der  Psalm  76,  auf  welchen  vorher  verwiesen  war. 

In  einer  Erklärung  zweier  Worte  des  Psalms  nimmt 
Luther  noch  Gelegenheit  zu  einer  Auslassung  über  die  eigent- 
liche Absicht  Herzog  Heinrichs  bei  seinem  Kriegszuge:  er 
habe  dem  Kurfürsten  Herzog  Moritz  und  dem  Landgrafen 
die  Weinberge  lesen,  d.  h.  sie  ihres  Landes  berauben  wollen; 
die  Städte  in  Thüringen,  Meissen,  Hessen,  Naumburg,  Zeitz 
und  andere  wären  ihm  köstliche  Reben  gewesen. 

Obgleich  sich  an  die  Braunschweiger  Frage  ein  grosses 
protestantisches  Interesse  knüpfte,  die  glückliche  Nieder- 
werfung des  päpstlichen  Sendboden  auf  den  protestantischen 
Kanzeln  als  eine  dem  Evangelium*)  zu  Theil  gewordene  sicht- 

1)  Ein  ähnlicher  Gedankengang  bei  Bucer  in  seinem  Briefe  an 
die  Landgrafen;  Lenz  II,  376. 

2)  Vgl.  Burkhardt,  Luthers  Briefwechsel.  S.  479— 481.  Unter 
dem  Einflüsse  von  Luthers  Schrift  scheint  Sleidan  am  6.  Febr.  1546 
geschrieben  zu  haben:  Haud  dubie  pugnavit  ibi  Dens,  hoc  est:  ,ani- 
mam  et  mentem  eripuit  hosti.  Baum  garten,  S.  121.  Dort  Z.  7 
V.  U.  ist  'mediam'  statt  multam  zu  lesen.  —  Luther  erwähnt  auch 
offizielle  Gebete  auf  katholischer  Seite;  Seidemann  S.  394.  Ueber 
Prozessionen  in  Baiern  s.  Neudecker,  Merkwürdige  Aktenstücke, 
S.  58.5.  eine  Predigt  in  (Hasfurt)  De  Wette  V,  769  u.  779.   Vgl.  S.  298. 


r.  Druffel :  Luthers  Schrift  an  Kursachsen.  28o 

bare  Gnadeiibezeugung  Gottes  gefeiert  wurde,  musste  es  doch 
einigermassen  auffalleu.  dass  der  Wittenberger  Theologe 
sich  vermass,  seinem  Landesherrn  und  dem  Landgrafen  von 
Hessen,  den  beiden  Häuptern  des  Schmalkaldischen  Bundes 
Rathscliläge  zu  geben  ,  nicht  etwa  zu  der  Zeit,  wo  es  galt 
zur  Wahrung  des  Evangeliums  gegen  die  Angriffe  des  Papstes 
und  seiner  Anhänger  anzufeuern,  sondern  erst  jetzt,  nach 
erfochteneui  Siege,  um  sie  zu  ermahnen,  den  Preis  des  Sieges, 
das  gefangene  Haupt  der  Gegner  nicht  aus  der  Hand  zu 
geben.  Es  ist  begreiflich,  dass  Luther  sich  gleich  zu  Anfang 
und  noch  einmal  später  desshalb  entschuldigt.  Er  sagt,  dass 
er  sich  nicht  verhehlt  habe,  wie  die  beiden  Fürsten  über  die 
in  Betracht  kommenden  Verhältnisse  sicherlich  viel  besser 
unterrichtet  sein  müssten.  als  er  und  seines  Gleichen.  Das 
habe  er  den  vielen  und  bedeutenden  Leuten ,  welche  ihn 
um  eine  solche  Schrift  gebeten  hätten,  anfänglich  erwidert; 
als  man  ihm  aber  diese  Einwendung  nicht  gelten  Hess,  sondern 
betonte,  dass  ein  unterthäniges  Anmahnen  trotzdem  nicht  un- 
geeignet sein  werde,  um  den  Fürsten  in  der  schwierigen  Auf- 
gabe zu  unterstützen ,  sich  der  aus  der  einflussreichen  Ver- 
wandtschaft des  Braunschweigers  hervorgehenden  zahlreichen 
Fürbitten  zu  erwehren,  habe  er  sich  bereit  finden  lassen. 

Diese  höflichen  Sätze,  welche  allerdings  den  ersten  Ein- 
wand bezüglich  der  Einmischung  des  Theologen  in  die  Politik 
nicht  beseitigen,  sondern  vielmehr  umgehen,  wird  man  wohl 
leicht  unbedenklich  als  eine  oratorische  Wendung  auffassen, 
wenn  man  die  Schrift  unbefangen  durchliest.  Braucht  nicht 
Luther  ähnliche  Entschuldigungen,  dass  ihm,  dem  Prediger 
eigentlich  nicht  gebühre,  sich  in  weltliche  Sachen  einzu- 
mischen,^) als  er  bei  dem  Streite  zwischen  Kurfürst  Johann 


1)  Kösslin  Martin  Luther  II.  576.  Vgl.  G.  Voigt,  Moritz 
V.  Sachsen.  S.  28.  Damals  hatte  Luther  sich  bei  Brück  entschuldigt, 
dass  er  wegen  Kürze  der  Zeit  die  Schrift  nicht  dem  Hofe  einsandte. 
De  Wette  VI,  310. 

19* 


286    Nachtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Friedrich  und  Herzot^  Moritz  wegen  Würzen  zu  der  Feder 
griff?  Dort  überwindet  er  auch  die  selbst  gemachten 
Einwände ,  dass  er  in  diesen  Dingen  nichts  zu  richten 
noch  zu  handehi  habe,  im  Hinblick  auf  den  Brief  an 
Timotheus.  Hier  werde  den  Predigern  und  der  ganzen 
Kirche  befohlen,  für  die  weltlichen  Herrschaften  zu  sorgen 
und  zu  beten,  zugleich  aber  auch  ihnen  zur  Pflicht  gemacht 
Gottes  AVort  anzuzeigen,  und  darauf  gründet  er  seine  Be- 
rechtigung in  den  obwaltenden  Streitigkeiten  der  Höfe  seine 
Ansichten  kund  zu  geben. 

Dennoch  würde  man  mit  derlei  Folgerungen  die  Gründe 
für  Luthers  Vorgehen  nicht  richtig  treffen.  Besser  als  aus 
der  für  die  OeflFentlichkeit  bestimmten  Schrift,  werden  wir 
hierüber  durch  den  Briefwechsel  Luthers  unterrichtet,  der 
uns  über  die  Entstehung  der  Luther'schen  Flugschrift  Aus- 
kunft ertheilt. 

Der  Kurfürst  hatte  am  3.  Oktober  Luther  aufgefordert, 
Gebete  abhalten  zu  lassen,  auf  dass  Gott  in  dem  Braun- 
schweiger Feldzug  seiner  eigenen  Sache  zum  Siege  verhelfe. 
Die  Gefangennahme  des  Herzogs  that  er  Luther  am  26.  Ok- 
tober kund:  Gott  habe  ihrem  Kriegsvolk  Gnade  verliehen; 
dieses  habe  den  Sieg  und  das  Feld  behalten,  der  Herzog 
Heinrich  sammt  seinem  Sohne  Karl  Viktor  ihm  und  dem 
Landgrafen  sich  auf  Gnade  und  Ungnade  ergeben.  Von  den 
zweideutigen  Verhandlungen,  durch  welche  dieser  Abschluss 
des  Kriegs  herbeigeführt  worden  war,  ist  in  dem  Briefe 
nicht  die  Rede,  der  Name  des  Herzogs  Moritz,  welcher  eine 
so  bedeutende  Kolle  hiebei  gespielt  hatte,  wird  jetzt  gar 
nicht  genannt,  während  doch  in  dem  Schreiben  vom  3.  Ok- 
tober auf  die  Mitwirkung  des  lieben  Vetters  verwiesen  worden 
war.^)    Leider  ist  uns  eine  Beilage,^)  welche  jenem  Brief  vom 

1)  Burkhardt,  S.  479:  „darzu  sich  dann  uuser  lieber  vetter 
herzog  Moritz  zu  Sachsen  mitS.L.  hulf  auch  nit  minder  anschicket." 

2)  Burkhardt,  S.  481,  meint,  diese  Beilage  habe  der  Bericht  de.s 


i'.  Druffel:  Luthen^  Schrift  an  Kursach/^cn.  287 

26.  Oktober  beif^egeben  war  und  Angaben  über  den  Verlauf 
der  , Kriegshandlung"  enthielt,  nicht  überliefert.  Wir  können 
daher  nicht  darüber  urtheilen,  ob  die  am  26.  Oktober  gegen- 
über Jonas  ausgesprochene  Erwartung  Luthers,  Näheres  durch 
den  kurfürstlichen  Hof  zu  erfahren,  erfüllt  wurde.  Wir 
wissen  nicht,  wie  weit  Luther  durch  Johann  Friedrich  über 
die  Ereignisj;e  während  des  Feldzuges  unterrichtet  wurde, 
dessen  Verlauf  man  bald  nachher  in  hitzigen  Schriften  in 
verschiedener  Weise  schilderte.  Nur  so  viel  können  wir 
sagen,  dass  der  Wittenberger  Reformator  sich  nicht  mit  der 
einfach  gläubigen  Auffassung  begnügte,  welche  jene  Briefe 
in  ihm  erwecken  sollten ,  nämlich  dass  Gott  seine  eigene 
Sache  zum  Siege  geführt  und  man  ihm  dafür  auf  den  Knieen 
zu  danken  habe,  und  dass  die  ihm  vom  Hofe  zugegangenen 
Mittheilungen  ihm  den  Eindruck  erweckten,  als  wisse  man 
auch  dort  über  den  eigentlichen  Zusammenhang  gar  nichts.') 
Er  selbst  habe  gemeint,  bei  der  plötzlichen  Ergebung  des 
Herzogs  Heinrich  müsse  irgend  ein  geheimes  Verständniss 
zwischen  den  Parteien  mitgespielt  haben:  aber  dieser  Ver- 
dacht sei  durch  einen  Brief  von  Cordatus  abgeschwächt 
worden,  dessen  Inhalt  er  eifrig  begrüsst  habe.  Der  betref- 
fende Brief  berichtete  über  Aeusserungen  höchsten  Unwillens, 
welche  ein  alter  kaiserlicher  Soldat,  ein  Feind  des  Evange- 
liums wegen  der  Braunschweigischen  Katastrophe  ausgestossen 


Landgrafen    gebildet.     Das   ist    sicherlich    nicht   der  Fall,    da   dieser 
spätere  Ereignisse,  wie  den  Zug  gegen  Rittberg  bereits  erwähnt. 

1)  De  Wette,  V,  766.  In  aula  nihil  scitur  neque  ab  ipso  prin- 
cipe. Kogo  itaque,  digneris  ubiubi  poteris  explorare  —  habitas  enim 
inter  inimicos  principis  et  amicos  —  si  quid  odorari  queamus,  quo 
Cordati  testimonium  roboraretur.  Ego  ea  de  re  mihi  epistolam,  quam 
nunc  excudendam  dedi,  ad  principem  nostrum  et  iantgravium,  ne 
Mezentium  dimittant,  statueram  incrassare  et  dilatare.  Ideo  aulam 
interrogavi,  sed  isti  mihi  fabulam  ex  ea  re  faciunt,  quamquam  credo^ 
exercitum  non  audisse  [statt  ausum  esseV]  talia;  hostes  enim  solet 
Deus  ita  terrere. 


288    Nachtrno  zur  Sitznnrj  der  histor.  Classe  vom  3.  Juni  1888. 

habe,  indem  er  sie  als  Teufelswerk  bezeichnete  —  es  habe 
nicht  anders  ausgesehen,  als  ob  Himmel  und  Erde  zusammen- 
fielen —  und  zugleich  den  frommen  Wunsch  äusserte,  der 
Kaiser  werde  doch  das  Werk  zu  gutem  Ende  führen  und 
die  deutschen  Herren  —  d.  h.  die  jetzt  über  den  Braun- 
schweiger triumphirenden  Fürsten  —  an  grüne  Bäume  hängen. 
Gleich  dem  Cordatus  wollte  sich  auch  Luther  darüber  freuen, 
dass  also  wirklich  das  Evangelium  und  der  Fapismus  auf- 
einander getrofi'en,  und  die  Papisten  von  Gott  mit  Schrecken 
geschlagen  worden  seien,  wie  dies  Luther  jubelnd  gleich  nach 
Eintreffen  der  ersten  noch  unverbürgten  Nachrichten  mit 
Dank  gegen  Gott  angenommen  hatte:  „Die  Hackenbüchsen 
haben 's  gethan,^)  und  den  reisigen  Zeug  Heinzen  dissipaverunt; 
milites  autem  mox  dilapsi."  Aber  er  empfand  wohl,  dass 
diese  Auffassung  nicht  auf  durchaus  fester  Grundlage  ruhte, 
und  wünschte  darum,  dass  des  Cordatus  Zeugniss  anderweitig 
bestätigt  werden  möge;  desshalb  bat  er  den  Naumburger 
Bischof  Nikolaus  von  Amsdorf  Nachforschungen  anzustellen, 
und  zwar  vorzugsweise  bei  den  Freunden  des  gefangenen 
Braunschweigers.     Von  Seiten    des    kurfürstlichen  Hofes  er- 


1)  So  verbessert  Kawerau  .lustus  Jonas  II,  166  den  Druck  bei 
De  Wette  V,  765.  Jonas  sandte  dann,  Okt.  28.  den  Briet'  an  Georg 
von  Anhalt,  indem  er  von  einem  Siege  des  Kurfürsten,  des  Land- 
grafen und  des  Herzogs  Moritz  über  den  Braunschweiger  spricht. 
Er  sagt:  V.  R.  D.  et  Cels.  mitto  literas  Rev.  patris  doctoris  Martini 
Lutheri,  in  cuius  corde  cum  Spiritus  Sanctus  tarn  exultanter  gaudeat 
de  hac  divinitus  parta  victoria,  etiam  omnes  ecclesiae  merito  laetari 
et  gratias  agere  debent.  Ueber  das  Datum  des  Cordatusbriefes  s.  De 
Wette  VI,  392.  Einzelne  Stellen  in  beiden  Briefen  sind  nicht  ganz 
klar.  In  dem  Briefe  des  Cordatus  wollen  die  Worte:  „Ex  verbis 
autem  quae  dixit  de  habita  strage  puto  vera  dixisse  de  terrore;  solet 
enini  Deus  eum  immittere  suis  adversariis"  wohl  besagen:  Der  Bericht 
über  die  stattgehabte  Niederlage  macht  mir  die  Erziihlung  von  dem 
Schrecken  glaublich.  In  Luther's  Brief  bezieht  sich  die  ignominia 
beide  Male  auf  die  Sehmalkaldner;  den  Gegensatz  bildet  Gott,  der 
allein   Ruhmwürdiges  gethan  hat. 


V.  Druffel:  Luthers  Schrift  an  Knrsachsen.  289 

fahre  er  nichts  was  Hand  und  Fuss  habe,  obgleich  er  eine 
Anfrage  dorthin  gerichtet  habe,  von  dem  Wunsche  beseelt, 
einen  jetzt  dem  Drucke  übergebenen  Brief  an  den  Kur- 
fürsten und  Landgrafen,  der  von  der  Befreiung  des  Herzogs 
von  Braunschweigs  abrieth,  zu  vervollständigen. 

Amsdorf  musste  aus  diesem  Briefe  Luthers  gewiss  den 
Eindruck  empfangen,  als  ob  Luther  den  Entschluss  zu  seiner 
Veröffentlichung  gefasst  hätte,  bevor  er  sich  mit  der  Bitte 
um  nähere  Auskunft  an  den  Hof  wendete.  Denn  Luther 
schien  danach  den  ihm  von  dort  gewordenen  Mittheilungen 
ablehnend  und  zweifelnd  gegenüber  zu  stehen.  Aus  einem 
Briefe  aber,  welchen  der  Kurfürst  Johann  Friedrich  an 
Luther^)  richtete,  geht  hervor,  dass  jener  in  dem  Entschlüsse 
des  Reformators,  die  Flugschrift  zu  schreiben,  nur  ein  Ein- 
gehen auf  seinen  eigenen,  dem  Theologen  durch  Georg  Brück 
vorgetragenen  Wunsch  erkannte  und  begrüsste.  Der  Kur- 
fürst spricht  Luther  in  warmen  Worten  seinen  Dank  für 
die  Bereitwilligkeit  aus,  mit  der  Luther  ihm  entgegen  ge- 
kommen sei,  fügt  aber  zugleich  die  Mahnung  bei,  Luther 
möge,  so  sehr  es  die  Gesundheit  nur  zulasse,  sich  damit  be- 
eilen, „aus  allerlei  bedenken  und  Ursachen"  sei  ihm  viel  daran 
gelegen.  Später  schrieb  Kurfürst  Johann  Friedrich  eigen- 
händig noch  einmal  an  Brück  um  Beschleunigung.^)    Dieser 


1)  Burkhard t,  S.  482  datirt  das  von  ihm  abgedruckte  spätere 
Schreiben  'Ende  Nov.  oder  Anfang  Dec'    Vgl  die  folgende  Anmerkung. 

2)  In  dem  Abdruck  des  Brück'schen  Briefes  bei  Kolde,  Anal. 
Lutherana,  S.  419  ist  Z.  9  wohl  zu  lesen:  am  —  und  mit  eigner  hand; 
die  Lücke  t\ir  Einfügung  des  Datums  ist  dann  aber  nicht  ausgefüllt 
worden ;  man  wird  annehmen  dürfen,  dass  das  Datum  dem  Anfange 
der  mit  Samstag  dem  11.  Dec.  achliessenden  Woche  angehörte.  Hätte 
Brück  den  Auftrag  sofort  nach  Empfang  ausgeführt,  so  würde  er  dies 
hervorgehoben,  sich  wohl  auch  noch  des  Datums  erinnert  haben.  Die 
Mahnung  an  Luther,  Burkhardt  4>^2,  ging  diesem  Schreiben  an  Brück 
gewiss  um  mehrere  Tage  vorher,  und  da  schon  hier  die  Vollendung 
der  Arbeit    und    ihre    L'ebergabe   zum    Druck   vorausgesetzt   wird,   so 


290     Nachtrag  zur  Sitziuuß  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

erhielt  von  Luther,  welchen  er  am  Sonntag  den  13.  Deeember 
in  der  Kirche  desshalb  anging,  die  Antwort,  das  Manuscript 
sei  bereits  dem  Drucker  Joseph  Klug  übergeben;  wenn  Brück 
im  Namen  des  Kurfürsten  bei  diesem  ant  beschleunigte 
Drucklegung  hinwirken  wolle,  so  sei  ihm  das  durchaus  er- 
wünscht. Brück  schickte  daraufhin  einen  Abgesandten  zu 
Klug.  Der  Drucker  händigte  ihm  einstweilen  zwei  Bogen 
ein  und  versprach  die  Vollendung  für  den  18.  Deeember, 
äusserte  aber  zugleich,  dass  er  gern  wissen  möchte,  wie  viel 
Abzüge  der  Kurfürst  nehmen  wolle.  Klug  war  ein  armer 
Mann,  der  nur  mit  einer  einzigen  Presse  arbeitete;  ein 
anderer,  der  zwei  Pressen  habe,  meint  Brück,  hätte  das 
Werk  wohl  eher  zum   Abschluss  gebracht. 

Nur  dann  würde  zwischen  dem  Briefe  vom  5.  November 
an  Amsdorf  und  den  Briefen  vom  Ernestinischen  Hofe  kein 
Widerspruch  obwalten,  wenn  man  annehmen  könnte,  dass 
Luther  zuerst  aus  eigenem  Antriebe  schon  am  5.  November 
eine  Schrift  über  den  Gegenstand ,  dessen  Bearbeitung  der 
Kurfürst  wünschte,  fertig  gestellt  hätte  und  dabei  sehr  un- 
zufrieden mit  den  ihm  vom  Hofe  zukommenden  Nachrichten 
gewesen  wäre,  um  dann  auf  den  Vorschlag  Brücks  an- 
scheinend bereitwillig  einzugehen,  ohne  ihm  etwas  davon  zu 
sagen,  dass  die  verlangte  Arbeit  bereits  geleistet  war.  und 
erst  nach  wiederholtem  Drängen  endlich  dieselbe  in  Druck 
zu  geben.  Die  Schwierigkeiten  sind  geringer,  wenn  man 
annimmt,    dass  das  Schreiben  an  Amsdorf  überhaupt  keinen 


erf^ibt  sich  für  die  erste  Aufforderung  an  Luther  durch  Brück  ein 
früherer  Termin,  den  man  einstweilen  abschätzen  möge  mit  Rücksicht 
auf  das  Mass  von  Geduld,  welches  man  dem  Kurfürsten  zutraut.  Für 
die  genauere  P'eststellung  dieses  Datums  wäre  wohl  die  Beantwortung 
der  Krage,  wann  Luther  zuletzt  in  Torgau  gewesen,  wichtig;  Burk- 
hardt,  S.  48.3  Z.  15,  S.  476  Anm.  Ob  das  Geschenk,  für  welches  De 
Wette  V,  767  am  8.  Nov.  von  Luther  gedankt  wird,  mit  dem  Auf- 
trage in  Verbindung  stand?     Vgl.  Anm.  S.  291. 


V.  Druffel :  Luthers  Schrift  an  Kursachsen.  291 

andern  Zweck  hatte,  als  den  offiziösen  Ursprung  der  geplanten 
Flugschrift  zu  verdecken.  Der  sonst  dem  Ernestinischen  Hofe 
so  vertraute  Nikohius  von  Amsdorf  sollte  anscheinend  in 
einen  ähnlichen  Irrthum  geführt  vrerden,  wie  ihn  Luther  in 
der  Vorrede  zu  seiner  Schrift  allen  Lesern  beizubringen 
versucht,  dass  er  ohne  jede  Beeinflussung  vom  Hofe  und 
nur  zögernd  sich  in  politische  Fragen  eingemischt  habe, 
welche  eigentlich  nicht  seines  Amtes  seien. 

Die  Veröffentlichung  der  Luther'schen  Schrift  zu  be- 
schleunigen, war  nicht  die  einzige  Aufgabe,  welche  Brück 
bei  der  Sendung  nach  Wittenberg  gestellt  war.  Der  eigen- 
thümliche  Ton  Lutherischer  Schreibweise  war  hinlänglich 
bekannt,  und  man  hatte  den  Wunsch,  dass  er  sich  unter 
den  gegenwärtigen  Verhältnissen  massigen  möge,  weil  die 
Regierung  auch  für  den  Fall,  dass  ihre  Anstiftung  geheim 
blieb,  sich  veranwortlich  fühlen  musste,  weil  die  Erlaubniss 
zum  Drucke  von  ihr  abhing.  Aber  gerade  damals  war 
Luthers  Erbitterung  gegen  den  Hof  aus  verschiedenen  Gründen 
auf  einen  hohen  Grad  gestiegen,^)  er  drohte  wiederholt 
Wittenberg  endgültig  den  Rücken  zu  kehren;  es  war  daher 
eine  heikle  Aufgabe ,  einen  derartigen  Wunsch  geltend  zu 
machen.  Als  Brück  die  ersten  zwei  gedruckten  Bogen  am 
14.  December  erhielt,  war  er  freudig  berührt,  weil  er  der 
ihm  gewordenen  peinlichen  Aufgabe  einer  Einwirkung  auf 
Luther    in   obigem  Sinne    enthoben    zu    bleiben   hoffte.     Bei 


1)  Die  Rücksendung  der  Polizeiordnung  gegen  Verschwendung 
und  Ueppigkeit,  welche  die  Universität  und  besonders  auch  Luther 
genehmigt  hatte,  zu  erneuter  Prüfung  konnte  allerdings  auf  Luther 
den  Eindruck  inachen,  man  wolle  ihn  verhöimen.  Brück  erfuhr  nur 
durch  Bugenhagen  und  Melanchthon  von  Luthers  Misstimmung,  er 
selbst  hütete  sich  augenscheinlich,  den  Gegenstand  bei  Luther  zu 
berühren.  Dass  Brück  Luther  nur  in  der  Kirche  anzusprechen  wagte 
und  später  die  Verhandlung  wegen  der  gewünschten  Aenderung  nur 
durch  einen  Dritten  führte,  ergibt  sich  aus  Kolde,  Anal.  421. 


292     Nachtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

der  Lesung  fand  er,  dass  die  Befürchtungen  grundlos  ge- 
wesen waren.  Er  pries  Luthers  Schrift  als  trefflich,  als 
unmittelbar  vom  heiligen  Geiste  eingegeben,  zudem  sei  sie, 
Gott  sei  Dank!  in  dem   Ausdruck  durchaus  gemässigt. 

Brücks  Befriedigung  hielt  nicht  lange  vor.  Am  18.  De- 
cember  schrieb  er  an  seinen  Herrn,  dass  es  mit  Luther  nicht 
nach  Wunsch  gehe.  Auf  dem  4.  Bogen  fand  sich  eine  Stelle, 
deren  Beseitigung  Brück  wünschte.^)  Hinsichtlich  der  Waffen- 
sendungen, welche  vor  einigen  Wochen  aus  Italien  kommend 
von  Württembergischen  und  Hessischen  Zöllnern  mit  Be- 
schlag belegt  worden  waren,*)  hatte  Luther  angedeutet,  dass 


1)  Es  bleibt  dahingestellt,  ob  der  von  Brück  erhobene  Einspruch 
auf  Grund  des  früheren  allgemeinen  Auftrags,  oder  auf  einen  neuen 
ausdrücklichen  Befehl  des  Kurfürsten  hin  erfolgte.  Dieses  wäre  wohl 
möglich,  wenn  Luthers  Brief  vom  15.  Dec.  bereits  4  Bogen  beigelegt 
gewesen  wären,  obschon  nur  die  Fertigstellung  von  dreien  in  Aussicht 
gestellt  war,  und  dann  der  Kurfürst  auf  dieses  (wann  präsentirte  ?) 
Schreiben  am  16.  Dec.  geantwortet  hätte.  Brück  sagt,  er  habe  ge- 
handelt „E.  Kf.  G.  anzeig  nach"  ;  auch  das  würde  wohl  jener  Annahme 
entsprechen.  Indessen  spricht  dagegen,  dass  Brück  die  Stelle,  um 
welche  es  sich  zwischen  ihm  und  Luther  handelte,  so  genau  bezeichnet, 
wie  es  nur  dann  sinngemäss  war,  falls  der  Einspruch  von  ihm  selbst- 
ständig erhoben  wurde. 

2)  Vgl.  Kolde,  Analecta  Lutherana  S.  421.  Es  handelte  sich 
um  die  Waffensendungen,  von  welchen  in  meinen  Mon.  Trident. 
S.  191  und  in  den  von  Kawerau,  Justus  Jonas  Briefwechsel  II,  176 
gesammelten  Stellen,  ferner  Neudecker  M.  A.  596  die  Rede  ist.  Vgl. 
Schreiben  des  Englischen  Agenten  zu  Frankfurt  State-papers  XI,  6, 
19.  Ein  ausdrücklicher  Beweis,  dass  die  Waffen  nach  England  be- 
stimmt gewesen,  liegt  in  den  State-papers  vor.  XI,  83  meldet  Mont 
über  den  Landgrafen  :  qui  ubi  ex  literis  regiis  intellexisset,  detentos 
archibusos  ad  Ser"'"""  regem  pertinere,  extemplo  se  eos  dimissurum 
respondit,  simulque  proprio  ac  peculiari  nuncio  ad  ducem  Wirtem- 
bergensem  scripait,  ut  is  quoque  tormenta  detenta  relaxare  velit, 
copiamque  regiarum  literarum  ad  eundem  ducem  raisit,  non  dubitane 
quin  Wirtenbergcnsis  tormenta  a  se  detenta  remissurus  quoque  sit; 
XI,  96    folgt    der  Dank    des  Engländers  an  den  Landgrafen:    for  his 


r.  Dni/fcl:  Luthers  Schrift  an  Kursachsen.  293 

sie  vom  Papste  herrührten  und  bestimmt  gewesen  seien, 
gegen  die  Protestanten  verwandt  zu  werden.  Obgleich  die 
Aeusserung  Luthers  sehr  vorsichtig  gefasst  war,  indem  es 
hiess,  wenn  Gewissheit  über  den  Ursprung  der  Waffen  ge- 
schafft sei,  dann  würde  man  sich  berathschlagen  und  weiter 
in  die  Sache  schicken,^)  wollte  Brück  doch  die  Stelle  be- 
seitigt wissen.  Er  stattete  seinen  Mittelsmann^)  mit  einer 
Abschrift  des  kaiserlichen  Briefes  aus,  worin  die  wegen  jener 
Waffensendung  erhobenen  Vorstellungen  des  Kurfürsten  von 
Sachsen  und  des  Landgrafen  von  Hessen  beantwortet  und, 
wir  dürfen  das  annehmen,  als  unbegründet  zurückgewiesen 
wurden ;  so  ausgerüstet  sollte  er  Luther  den  Vorschlag  machen, 
die  wenigen  Worte  zu  streichen,^)  der  Drucker  solle  für  die 
durch    die   Beseitigung  des  schon    abgezogenen    Bogens   er- 


redynes  for  the  deliverey  of  th'  accubutes  (arquebuses).  Ebendort 
meldet  Harvel,  der  Englische  Gesandte  in  Venedig,  über  die  Anwer- 
bung von  Italienischen  Soldaten  für  den  Englischen  Dienst.  Nach 
den  Bucer  durch  einen  Venetianer  zugekommenen  Nachrichten  wären 
die  unter  sich  abweichenden  Meldungen  in  der  Weise  zu  vereinen, 
dass  die  anfänglich  auf  des  Papstes  Befehl  angefertigten  Waffen  später 
an  Kaufleute  gegeben  wurden,  als  sich  herausstellte,  dass  das  Jahr 
friedlich  verlaufen  werde.     Vgl.  Neudecker,  Merkw.  Aktenstücke,  619. 

1)  Ich  will  wenigstens  die  Frage  aufwerfen,  ob  die  so  ausser- 
ordentlich unbestimmte  Fassung  doch  eine  Wirkung  der  Brückschen 
Vorstellung  gewesen  sein  könnte.  Einen  weiteren  Anhaltspunkt 
haben  wir  hiefür  freilich  nicht;  die  in  der  2.  Beilage  zu  Brück-s  Brief 
erwähnte  Vollendung  des  Drucks  an  demselben  Tage  spricht  eher 
dagegen. 

2)  Brück  nennt  diesen  Mittelsmann  nur  mit  dem  Vornamen 
Albertus.  Auch  Kolde  scheint  keine  Vermuthung  über  diese  Persön- 
lichkeit zu  haben;  darf  man  daraus  schliessen,  dass  es  ein  unbekannter 
unbedeutender  Mensch  gewesen  seiV  Es  wäre  für  die  Beurtheilung 
des  ganzen  Vorgehens  nicht  unwichtig.    Näheres   darüber  zu  wissen. 

3)  Vgl.  Kolde,  Anal.  Luth.,  422.  Es  wird  'heraussen'  statt 
haussen'  Z.  4  zu  lesen  sein;    S.  420   Z.  9  ist  sicher  statt  "vil"  'eil'  zu 

lesen;  dies  allein  gibt  den  entgegengesetzten  richtigen  Sinn. 


294     Nachtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

wachsenden  Kosten  entschädigt  werden.  Aber  Luther  wurde, 
wie  Brück  schreibt,  zornig  und  wunderh'ch,  lehnte  die  Zu- 
muthung  rundweg  al)  und  erklärte,  wenn  man  ihm  solche 
Fesseln  anlegen  wolle,  so  werde  er  überhaupt  von  der  ganzen 
Veröffentlichung  Umgang  nehmen.  Brück  wurde  hiedurch 
so  eingeschüchtert,  dass  er  nicht  wagte,  sich  Einsicht  in  den 
ihm  bisher  noch  unbekannten  Rest  der  Flugschrift  zu  ver- 
schaffen, um  festzustellen,  ob  noch  andere  Stellen,  wie  er 
sagt:  'des  Kaisers  halber'  bedenklich  seien.  Nur  unter  der 
Hand  liess  er  sich  bei  dem  Drucker  danach  erkundigen,  und 
erhielt  von  diesem  beruhigende  Auskunft.  Dabei  liess  es 
Brück  bewenden.  Er  meinte,  Luthers  Schrift  sei  ein  noth- 
wendiges  schönes  und  lustiges  Büchlein,  dessen  Inhalt  ohnehin 
bei  vielen  Leuten  Anstoss  erregen  müsse. ^) 

In  einer  ersten  Beilage  bespricht  Brück  dann  noch  ein- 
gehender die  hochgradige  Missstimmung  Luthers,  über  welche 
ihm  ausser  dem  erwähnten  Mittelsmann  auch  Bugenhagen 
und  Melanchthon  berichtet  hatten.  Er  meinte,  Entgegen- 
kommen in  finanzieller  Hinsicht  würde  hierin  Besserung 
schaffen  und  insbesondere  den  nachtheiligen  Einfluss  der 
Frau  Katharina  mildern  können  ;  er  empfahl,  durch  Dr.  Mathias 
Held  einen  Ausgleichsversuch  machen  zu  lassen.  Eine  zweite 
Beilage  meldet,  dass  eben  der  Drucker  noch  einen  Quatern 
geschickt  habe  und  bis  zum  Abend  die  ganze  Schrift  vollendet 
sein  werde.*) 


1)  Leider  -wissen  wir  nicht,  ob  der  von  Brück  am  15.  Dec.  für 
übermort^en  —  also  doch  Dec.  17  —  in  Aussicht  gestellte  Brief  wirk- 
lich abging.  Dagegen  spricht,  dass  Brück,  Kolde  S.  424,  sagt,  er 
habe  'in  negstem  meinem  schreiben'  die  Anfrage  über  die  Zahl  der 
von  Johann  Friedrich  gewünschten  Exemplare  gestellt.  Aber  wann 
schickte  Brück  den  Quatern  D,  über  dessen  Inhalt  sein  Brief  vom  18- 
als  von  einer  dem  Kurfürsten  bereits  bekannten  Sache  spricht?  Der 
kurfürstliche  Brief  vom  Mittwoch,  16.  Dec,  war  geschrieben  vor  An- 
kunft des  Brückschen  Schreibens  vom  1.5.  Dec. 

2)  Sonderbar  ist,  dass  Brück  den  überschickten  Bogen  nicht  als 


V.  Driiffel:  Luthers  Schrift  an  Kiirsachsen.  295 

Während  in  den  ersten  Bogen  Luther  seine  derbe 
Sehreibart  sehr  gemässigt  hatte,  bricht  die  alte  Gewohnheit 
auf  Bogen  E  wieder  durch.  Nachdem  Luther  ausgeführt 
hat,  wie  bei  den  Päpstlichen  ,  weil  deren  Glaube  nicht  rein 
sei ,  auch  die  Werke  nichts  werth  sein  könnten ,  fährt  er 
fort:  „Und  ist  gewiss  ir  gebet,  gleichwie  der  teuffei  selbs 
auch  ir  spottete,  da  einmal  ein  truncken  pfaflP  im  bette  seine 
completen  betet,  und  im  gebet  speiet  er,  und  Hess  einen 
grossen  bombart  streichen:  o  recht,  sprach  der  teuffei,  wie 
das  gebet  ist.  so  ist  auch  der  Weihrauch.  Eben  so  ist  alle 
irre  lören  in  den  stitten  und  klöstern.  Denn  sie  können 
nicht  beten,  wollen  auch  nicht  beten,  wissen  auch  nicht  was 
beten  sei,  oder  wie  man  beten  sol,  weil  sie  das  wort  und 
glauben  nicht  haben.  On  das  der  bapst  zu  Rom  mit  seinen 
procession  und  litanien  —  welchs  im  andere  nachthun  — 
den  königen  und  herrn  gerne  wolte  eine  nase  drehen  und 
ströern  hart  flechten,  das  sie  glauben  sollen,  er  sei  seer  an- 
dechtig  und  heilig;  wil  aber  nicht  ein  har  weichen  von 
seinen  greueln  und  abgottereien.  Ach,  es  ist  sein  gebet, 
des  trunken  pfaffen  completen,  und  sein  Weihrauch.  Ja  wen's 
nur  so  gut  were,  so  were  hofi'nung,  er  möchte  nüchtern 
werden,  und  für  solche  stinkend  completen  eine  bessere 
raetten  betten."  Mag  diese  Stelle  auch  an  geschmackloser 
Derbheit  von  manchen  anderen  in  Luthers  Werken  übertroffen 
worden,  so  wird  man  doch  behaupten  dürfen,  dass  Brück  sein, 
wohl  in  der  frischen  Erinnerung  an  die  Schrift  ,  Wider  das 
Papstthum  vom  Teufel  gestiftet"  gefälltes  Lob  wegen  der  ge- 
mässigten Schreibweise  daraufhin  wesentlich  hätte  abschwächen 
müssen.  Wäre  die  Zwischenzeit  nicht  zu  kurz,  so  könnte  man 
sogar  daran  denken,  dass  Luther,  des  bisherigen  Tones  satt, 


den  das  Werk  abschliessenden  bezeichnet;  da  die  VoUendunor  bis  zum 
Abend  in  Aussicht  gestellt  wird,  könnte  es  fast  den  Anschein  ge- 
winnen, als  hätte  noch  etwas  weiteres  in  Aussicht  gestanden. 


20 n     Nacht rafi  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888 

tms  Aerger  über  die  Zumuthung,  jene  oben  erwähnte  un- 
schuldige Stelle  zu  ändern,  im  letzten  Augenblick  ein  anderes 
Register  aufgezogen  habe. 

Da  Brück  einen  schnellen  Absatz  der  Flugschrift  vor- 
aussetzte, machte  er  wiederholt  seinen  Herrn  darauf  auf- 
merksam, dass  es  nothwendig  sei,  die  Zahl  der  von  ihm  ge- 
wünschten Exemplare  zu  bestimmen.  Wir  wissen  nicht,  ob 
darauf  eine  Entschliessung  erfolgte.^) 

Die  Voraussetzung  Brücks  war  in  so  fern  richtig,  als 
es  nicht  mehr  lange  dauerte ,  bis  die  Exemplare  den  Weg 
in  die  Welt  antraten.  Um  Weihnachten,  December  27, 
konnte  Schärtlin  von  Burtenbach  das  Schriftchen  von  Kassel 
aus  dem  Augsburger  Magistrat  einsenden.^) 

Luthers  Schrift  durfte  in  einer  grossen  Zahl  von  ver- 
schiedenen Ausgaben  verbreitet  werden,  daraus  geht  hervor, 
dass  die  von  Brück  während  des  Druckes  geltend  gemachten 
Bedenken  doch  überwogen  wurden  von  dem  Wunsche,  dass 
das  gewichtige  Wort  des  grossen  Reformators  sich  in  dieser 
Frage  vernehmen  lasse.  Indem  aber  feststeht,  dass  von  einem 
der  Fürsten,  auf  deren  Entschluss  dem  Anscheine  nach  die 
Flugschrift  zu  wirken  bestimmt  schien ,  der  Anstoss  ausge- 
gangen war,  dass  Luther  überhaupt  zur  Feder  griff,  ist  es 
erforderlich  auch  den  Zweck  etwas  genauer  zu  untersuchen, 
welchen  die  Auftraggeber  verfolgten. 


1)  Vgl.  Anm.  S.  294.  Es  kommt  für  die  Heiirtheilung  des  kur- 
fürstlichen Verhaltens  in  Betracht,  ob  der  Brief  Brücks  vom  15.  Dec. 
schon  beantwortet  worden  war. 

2)  Issleib  in  seinem  Aufsätze  'Herzog  Moritz  von  Sachsen  und 
der  Braunschweigische  Handel  1545'  abgedruckt  im  Archiv  für  die 
Sächsische  Geschichte,  Neue  Folge  H,  147,  Leipzig  1878,  lässt  irr- 
thümlich  das  Werk  Luthers  bereits  bei  des  Landgrafen  Philipp 
Verhandlung  mit  den  Räthen  des  Herzogs  Moritz  am  17.  Dec.  seinen 
Einfluss  üben.  Üass  Luther  zur  Feder  gegriffen,  war  dem  .1.  Jonas 
am  15.  Dec.  zu  Halle  nur  gerüchtweise  bekanntgeworden;  Kawerau 
J.  .Jonas  Briefwechsel  II.  174. 


r,  Dnißi'J:  Luthers  Schrift  an  Kursachsen.  297 

So  viel  leuchtet  ohne  Weiteres  ein  :  insofern  die  Bitte 
Luthers,  den  Braunschweisjer  nicht  frei  zu  geben,  sich  an 
den  Kurfürsten  von  Sachsen  richtete,  war  sie  nicht  ernst  ge- 
meint. Man  wird  nicht  einmal  sagen  können,  dass  der  Wunsch 
mitspielte ,  das  eigene  Verhalten  durch  Luthers  öffentliche 
Kundgebung  dem  allgemeinen  ürtheil  mundgerecht  zu  machen; 
denn  der  Kurfürst,  obgleich  neben  dem  Landgrafen  das  Haupt 
des  Schmalkaldischen  Bundes,  hatte  in  Wirklichkeit  keinen 
Einfluss  auf  Herzog  Heinrichs  Haft.^)  Johann  Friedrich  war 
nur  zögernd  der  thatkräftigen  Politik  des  Hessischen  Ge- 
nossen gegenüber  dem  Braunschweiger  gefolgt.  Er  hatte 
im  September  den  Landgrafen,  wenn  er  Massregeln  gegen 
des  Braunschweigers  Umtriebe  verlangte,  auf  Gott  verwiesen; 
wen  dieser  einmal  gestürzt  habe,  der  werde  doch  nicht 
wieder  aufkommen  können,^)  möge  er  auch  anfangen,  was 
er  wolle.  Johann  Friedrich  meinte,  der  Kaiser  werde  das 
von  ihm  verhängte  Sequester  auch  dem  Braunschweiger 
gegenüber  aufrecht  halten  können  und  wollen.  Als  dann 
im  Oktober  diese  vertrauensselige  Auffassung^)  sich  als  irrig 
erwies  und  Herzog  Heinrich,  unbekümmert  um  die  kaiser- 
lichen Abmahnungen  zum  Schwerte  griff,  brachte  der  Kur- 
fürst eine  erhebliche  Truppenmacht*)   auf  die  Beine,  welche 

1)  Schärtlein  S.  37  berichtet:  Herr  landgraf  besorgt,  so  er  per- 
sönlich käme,  so  gepürte  Saxen  auch  zu  komen ;  dann  wurde  mer 
mit  panketiren  gehandelt  werden.  Dem  entsprechend  suchte  der  Land- 
graf die  Forderung  des  Kuj-pfälzers,  dass  bei  der  Zusammenkunft  in 
Frankfurt  der  Sächsische  Kurfürst  persönlich  zugegen  sein  müsse,  zu 
umgehen;  ibid.  S.  48. 

2)  Neudecker  Urk.  737. 

3)  .loh.  Friedrich  hatte  sich  im  Februar  und  ebenso  im  September 
1545  dahin  ausgesprochen,  dass  von  dem  Braunschweiger  nichts  zu 
besorgen  sei.  Neudecker.  M.  A.  418  u.  Urk.  740.  Am  16  Aug. 
war  er  der  Meinung,  dass  Herzog  Heinrich  allerdings  anderweitige 
Unterstützung  erwarte,  und  bekämpft  werden  müsse;  ibid.  M.  A.  468. 

4)  Vgl.  Issleib  in  Mittheilungen  des  Sächsischen  Alterthums- 
Vereins.     Dresden  1877,  S.  45. 


298    Nachtraff  zur  Sitzung  der  liistor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

mit  dem  Landgrafen  ins  Feld  zog.  Nachdem  aber  der 
Herzog  von  Braunschweig  in  des  Landgrafen  Hand  ge- 
rathen  und  damit  die  unmittelbare  Bedrohung  geschwunden 
war,  wünschte  die  Ernestinische  Politik  die  nunmehr  geschaffene 
Lage  aufrecht  zu  halten.  Der  Kurfürst  wies  alle  Besorgnisse 
wegen  einer  Bedrohung  durch  Kaiser^)  und  Papst ^j  als  an- 
begründet zurück.  Der  Landgraf  sandte  die  Gutachten 
Bucers  an  den  Sächsischen  Hof,  welche  die  Noth wendigkeit 
eines  engeren  Zusammenfassens  der  Protestanten  betonten, 
erhielt  aber  von  Brück,  der  sich  auf  die  Wittenberger  Theo- 
logen^) stützte,  eine  Antwort,    welche  nach    seiner  Meinung 


1)  Dass  der  Kaiser  gegen  das  Unternehmen  Herzog  Heinrichs 
Stellung  nahm,  scheint  mir  hinreichend  festgestellt  zu  sein  durch  die 
von  Issleib,  Mittheilungen  des  Sächsischen  Alterthums-Vereins  1877 
S.  41  beigebrachten  Stellen,  denen  Herberger  Schärtlein  S.  55  an- 
zureihen ist,  wo  Johann  Friedrich  daran  erinnert,  dass  die  Durchsicht 
der  Papiere  Herzog  Heinrichs  gar  keinen  Anhaltspunkt  für  die  An- 
nahme einer  kaiserlichen  Betheiligung  ergeben  habe;  vgl.  die  Mit- 
theilungen, weiche  daraus  der  Landgraf  dem  Kaiser  Okt.  31  machte, 
bei  G.  Schmidt  in  den  Forschungen  z.  D.  G.  XXV,  89.  Das  ist  wohl 
noch  durchschlagender  als  das  Vorhandensein  kaiserlicher  Abmahnungs- 
mandate, von  welchen  wir  durch  den  Brief  wissen,  in  welchem  Herzog 
Erich  von  Braunschweig  sich  entscliuldigt,  dass  seine  Unterihanen 
wider  des  Kaisers  General-  und  Special-Mandate  sich  in  des  Herzogs 
Heinrich  Kriegsübung  hatten  brauchen  lassen;  Neudecker  M.  A. 
545.  Der  Landgraf  selbst  spricht  davon,  dass  Spett  u.  A.  sich  'wider 
des  kaisers  mandat'  an  der  Braunschweigischen  Empörung  betheiligt 
hätten.  Druffel,  Beiträge  zur  Reichsgeschichte  HI,  17.  Gerüchte 
können  dem  gegenüber  nicht  in  Betracht  kommen,  ebenso  bedeutet 
wenig,  dass  J.  Friedrich  1545  Aug.  16  voraussetzt,  Heinrich  werde 
kaiserliche  Unterstützung  haben.  Luther,  De  Wette  V  779,  erwähnt, 
dass  in  den  Niederlanden  der  Klerus  eifrig  Messen  im  Interesse  des 
Braunschweigers  aufgeopfert  habe. 

2)  Vgl.  Note  zu  S.  282. 

3)  Das  Gutachten  Luthers  und  der  Wittenberger,  bei  Burkhardt 
S.  488,  hat  Neudecker  M.  A.  S.  521  richtig  datirt.  Burkhardt  greift 
noch  schlimmer  fehl,  als  der  von    Neudecker   berichtigte  Seckendorf, 


V.  DruffeJ :  Luthers  Schrift  an  Kursachsen.  299 

nur  zeigte,  dass  diese  Leute  ein  Ding,  das  treulich  und  gut 
gemeint  werde,  falsch  und  unrecht  verständen.^)  Während 
man  in  Weimar  zufrieden  war  mit  sich  selbst  und  mit  Gott, 
der  den  Sieg  über  den  Braunschweiger  verliehen,  und  nicht 
an  die  Möglichkeit  einer  neuen  schwierigeren  Verwicklung 
zu  denken  schien  ,  sann  Landgraf  Philipp  einerseits  darauf, 
für  den  Ernstfall  gerüstet  zu  sein,  falls  die  gespannten  poli- 
tischen Verhältnisse  zu  einem  gewaltsamen  Ausbruche  führen 
sollten,  und  anderseits  wo  möglich  die  Lage  für  sich  selbst 
ungefährlicher  zu  gestalten.  Denn  seine  Stellung  war  be- 
denklicher ,  weil  in  seiner  Hand  die  Braunschweigischen 
Gefangenen,  Vater  und  Sohn,  sich  befanden,  und  er  es  auch 
gewesen  war,  der  den  Kriegszug  persönlich  geleitet  hatte. 
Hessen  war  zudem  den  Niederlanden  näher,  wo  damals  der 
Kaiser  weilte. 

Es  war  keineswegs  undenkbar,  dass  der  unternehmungs- 
lustige Landgraf,  des  Bundes  mit  dem  schwerfälligen  Kur- 
sachsen und  den  kleinlich  sparenden  übrigen  Schmalkaldischen 
Ständen    überdrüssig,^)    anderweitig    seinen  Vortheil    suche. 


indem  er  es  dem  Januar  zuweist.     S.  489  Z.  3  v.  u.  ist  'si)ot'  —  d.h. 
Spott  —  statt  'spät'  zu  lesen. 

1)  Vgl.  Lenz  II,  S.  389,  399,  401,  405.  Der  Brief  Bucers  vom 
1.  Dec.  bezieht  sich  vielleicht  mit  der  unklaren  Wendung  ,Schlaftrunk' 
auf  den  Kurfürsten,  und  muss  dann  natürlich  verstimmt  haben. 

2)  Der  Landgraf  widerrieth  das  Eintreten  für  den  Kurfürsten 
von  Köln,  so  lange  nicht  ein  gemeinschaftliches  Vorgehen  und  finan- 
zielle Leistungen  der  Schmalkaldener  gesichert  seien,  und  man 
eine  Verständigung  mit  Kurpfalz  erzielt  habe.  Neudecker  M.  A.  655. 
Uns  unbekannte  Eingaben  an  den  Kaiser  und  den  Vicekanzler  Naves, 
welche  sich  auf  die  Braunschweiger  Angelegenheit  bezogen,  hatte  der 
Landgraf  hinausgezögert  und  sie  schliesslich  an  den  Kurfürsten  von 
Sachsen  gelangen  lassen,  damit  dieser  sie  befördere ;  er  erhielt  von 
dort  die  ziemlich  spitze  Antwort,  dass  Kursachsen  wohl  schwerlich 
so  erheblich  besser,  als  Hessen,  bei  dem  Kaiser  angeschrieben  sei, 
dass  sich  desshalb  die  Einsendung  durch  Sachsen  mehr  empfehlen 
könnte. 

1888.  Philo8.-plulol.  u.  bist.  Cl.  II.  2.  20 


300    Nachtraf/  zur  Sitzumf  der  histnr.  Classe  vom  3.  Juni  1888. 

Pliilipp's  religiöse  Haltung  wich  ab  von  der  des  Ernestinischen 
Hofes.  Wenn  es  auf  ihn  allein  angekommen  wäre,  so  würde 
man  den  Schweizern,  gegen  welche  Luther  gerade  damals 
sich  sehr  schroff  gestellt  hatte,  vielmehr  entgegengekommen 
sein.^)  Nur  aus  Rücksicht  auf  Sachsen  suchte  damals  Philipp 
bei  den  Augsburgern  die  Hinneigung  zum  Zwinglianismus  zu 
bekämpfen,  während  sonst  eine  Verbindung  mit  den  Kid- 
genossen ihm  durchaus  entsprochen  haben  würde. 

Die  Sächsischen  Politiker  hielten ,  wie  es  scheint,  mit 
Rücksicht  auf  diese  Verhältnisse  eine  öffentliche  Kundgebung 
des  Wittenberger  Reformators  für  zweckmässig.  Indem  von 
diesem  die  gemeinsame  Stellung  des  Landgrafen  und  des 
Kurfürsten  an  der  Spitze  der  Bekenner  des  Evangeliums  be- 
tont wurde,  versprach  man  sich  wohl  eine  günstige  Einwirkung 
auf  die  Haltung  des  Landgrafen.  In  dieser  Meinung  wurden 
sie  möglicher  Weise  dadurch  bestärkt,  dass  vielleicht  von 
Hessischer  Seite   selbst   der  Wunsch    nach   einer  öff'entlichen 


1)  Schärtlin  meldet  über  Philipp:  „Weiter  zeigt  er  an,  hette 
vernommen,  das  E.  F.  W.  id.  h.  der  Augsburger  Kath)  hetten  ain 
predicanten  von  Zürich  angenommen;  er  wolte  raten,  man  hielte  sir.h 
der  gemachten  concordie  geleich,  oder  machte  es  doch  zum  wenigsten 
zum  gelindsten  es  gesein  mocht;  aber  seiner  person  halb  solt  es 
nit  mangel  haben  —  redet  das  auf  Saxen.  Herberger  S.  74.  Der 
Augaburger  Rath  machte  dem  Landgrafen  den  Vorschlag,  die  ftrau- 
bündner  und  Eidgenossen  heranzuziehen,  im  April  1545  —  man  be- 
denke die  damalige  Sprache  Luthers  gegen  die  Schweizer  —  und 
muss  diesen  Vorschlug  später  noch  einmal  wiederholt  haben.  Bucer 
rieth  Sept.  26  durch  Konstanz  mit  den  Allgiiuischen  Städten  und  den 
Eidgenossen  zu  verhandeln.  Lenz  11,374.  Neudecker,  Ürk.  S.  734, 
und  Herberger,  Schärtlin  S.  46:  Der  letst  artikul  in  E.  F.  letsten 
schreiben  an  mich  und  Dr.  Niklas  Maier  gethan,  wie  die  Grawpunt 
und  Aidgnossen  anzusprechen,  geteilt  S.  F.  G.  ganz  wol  etc."  ßucer, 
d.  h.  Strassburg  gegenüber  führt  er  allerdings  1545  Sept.  9  aus,  dass 
die  Eidgenossen  ausserhalb  ihrer  Herge  nicht  viel  zu  leisten  ver- 
möchten, worauf  Bucer  Sept.  26  antwortet,  man  möge  Konshinz  diftse 
Verhandlung  überti'agen.     Lenz  II,  368,  374. 


r.  Dniffel :  Lutheiy  Schrift  a)i  Kursachsen.  301 

Kundgebung  Luthers  über  die  kirchenpolitische  Lage  kurz 
vorher  geäussert  worden  war.  Wenigstens  bezeichnete  Bucer 
dem  Landgrafen  am  2().  September  1545  als  wünschenswerth, 
dass  Luther,  der  dies  am  besten  verstehe,  eine  Flugschrift 
verfasse,  die  auf  den  gemeinen  Mann  wirken  sollte.^)  Bucer 
hat  sich  allerdings  einen  allgemeineren  Inhalt  für  dieselbe  ge- 
dacht, er  meinte,  man  müsse  die  seit  25  Jahren  verfolgte 
nur  das  Reich  Gottes  suchende  uneigennützige  Politik  der 
Protestanten  der  Welt  darlegen.  Eine  Ausführung,  welche 
an  diesen  Gedanken  anklingt,  findet  sich  in  Luthers  Schrift 
in  der  That  vor,  man  wird  aber  darauf  hin  doch  noch  nicht 
die  Vermuthung  zur  Behauptung  erheben  dürfen,  dass  Bucer's 
Brief  Luther  bekannt  geworden  sei  und  auf  ihn  gewirkt 
habe. 

Dass  Kursachsen  mit  Luthers  Schrift  auf  den  Land- 
grafen wirken  wollte,  wird  fast  zur  Gewissheit,  indem  deren 
Veranlasser.  Johann  Friedrich,  sie  in  diesem  Sinne  ver- 
werthete.  Als  nach  Luthers  Tode  der  Kurfürst  dem  Land- 
grafen jeden  Gedanken  an  Verhandlung  mit  Herzog  Heinrich 
auszureden  versuchte,  berief  er  sich  im  März  1546  ausdrück- 
lich auf  die  christliche  Ermahnung,  welche  der  treue  Mann 
Dr.  Martinus  selig  mit  stattlichen  Gründen  der  hl.  Schrift 
an  sie  beide  gerichtet  habe:  man  möge  ohne  rechte  Buss- 
zeichen ,  von  denen  man  aber  bisher  noch  nichts  gespürt 
hal>e,  den  gefangenen  Herzog  unter  keinen  Umständen  frei 
geben. ^) 


1)  Vgl.  Lenz  II,  373:  ^Es  muszte  auch  alsbald  ein  •christliche 
glimpfliche  geschrift  gesteliet  werden,  das  D.  Luther  zum  besten 
konde"  etc.  Aebnlich  Lenz  381  —  882.  Der  Rückblick  Luthers  auf 
die  Zeit  neit  1521  steht  bei  De  Wette  VI,  391.  Wir  haben  leider 
nicht  die  Antwort  des  Landgrafen  auf  den  Brief  Bucer's  vom  26. 
Sept.;  spätere  Briete  Bucers  sandte  Philipp  allerdings  an  Brück,  und 
dieser  an  Luther;  Lenz  II.  389,  399. 

2)  Neudecker,  M.  A.  701. 


302     Nachtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Dass  Johann  Friedrich  erst  verhältnissmässig  spät  zu 
einer  Benützung  der  Flugschrift  in  der  politischen  Erörterung 
vorging,  mag  wohl  damit  zusammenhängen,  dass  man  zu 
Luthers  Lebzeiten  mit  einer  solchen  Verwerthung  der  Schrift 
Anstoss  zu  erwecken  befürchtete.  Dann  aber  schien  es  eine 
Zeit  lang,  dass  Philipp  von  Hessen  keine  grosse  Neigung 
habe,  über  die  Freilassung  Heinrichs  zu  verhandeln.  Den 
Gesandten,  welchen  er  nach  Frankfurt  zu  dem  im  December 
1545  stattfindenden  Tage  der  Schmalkaldischen  Bundesglieder 
absandte,  war  aufgetragen,  die  Berathung  dieser  Frage  durch 
die  Stände  vornehmen  zu  lassen.  Aber  es  sollte  dies  in  einer 
Weise  vorgetragen  werden,  welche  eine  bejahende  Antwort 
nicht  erleichterte.^)  Schärtlin  meldete  Anfangs  Januar,  dass 
bei  dem  Landgrafen  von  einer  Neigung,  den  Braunschweiger 
zu  befreien,  nichts  zu  spüren  sei.  Gegen  Ende  des  Monats 
fand  Christof  von  Carlowitz  die  gleiche  Stimmung  vor.^) 
Aber  Philipp  machte  missliebige  Erfahrungen  bei  den  Frank- 
furter Verhandlungen,  kleinliche  und  egoistische  Gesichts- 
punkte lähmten  die  Kraft  des  Bundes,  der  Wunsch  der 
Sächsischen  Städte  nach  Schleifung  der  Braunschweigischen 
Festungen^)  bedrohte  die  gewonnene  Machtstellung  Hessens, 
und  von  der  anderen  Seite  drangen  auf  den  Landgrafen 
verschiedene  Stimmen  ein,  welche  die  Befreiung  des  Braun- 
schweigers forderten.*)  Das  erwartete  Eintreten  des  Kaisers 
erfolgte  allerdings,   so  weit  wir  sehen,    )iicht;    wenn    andere 


1)  Neudecker,  M.  A.  515.     Herberger,  S.  57. 

2)  V.  Langenn  Moritz  II,  251. 

3)  Bei  Neudecker,  Urkunden  aus  der  Reformationszeit  S.  754 
ist  Z.  7  V.  u.  'gebrochen'  statt  'gebraucht'  zu  lesen. 

4)  Schärtlin  war  der  Meinung,  Naves  solle  konimi^n  und  una 
die  Befreiung  Herzog  Heinrichs  bitten.  Herl)erger,  S.  37.  Später  im 
März  erkundigte  sich  J.  Jonas  bei  Veit  Dietrich  'de  consiliis  et  cona- 
tibua  papistarura  cogitantium    liberare  Lycaonem.'     Kawerau   II,  187. 


V.  Druffel :  Luthers  Schrift  an  Kursachsen.  303 

Fürsten,  wie  Markgraf  Hans  von  Brandenburg*)  sich  für 
den  (lefanoeuen  verwandten,  so  konnte  dies  auch  nicht  viel 
verschlagen;  von  grosser  Bedeutung  aber  war  es,  dass  Her/.og 
Moritz  von  Sachsen ,  der  schon  vor  der  Gefangennahme  des 
Braunschweigers  sich  als  Unterhändler  eingedrängt  hatte, 
sehr  entschieden  darauf  hinarbeitete,  die  Braunschweigische 
Angelegenheit  in  seine  Hand  zu  bekommen.*)  Er  stellte  an 
den  Landgrafen  das  Ansinnen,  die  gefangenen  Braunschweiger 
Fürsten,  Vater  und  Sohn,  ihm  nach  Dresden  zu  senden. 
Darauf  gingr  der  Landgraf  allerdings  nicht  ein,  er  wies  auf 
die  Schmalkaldischen  Stände  hin,  die  allein  zu  einer  Ver- 
handlung über  den  Braunschweiger  berechtigt  seien.  Aber 
das  Misstrauen  wurde  wach  gehalten,  indem  die  Verhand- 
lungen zwischen  dem  Landgrafen  und  Herzog  Moritz  durch 
des  letzteren  Räthe  fort  und  fort  im  Gange  blieben.^)  Die 
Stände  zu  Frankfurt  schoben  die  ihnen  auf  Philipps  Wunsch 
zugewiesene  Entscheidung  über  die  Zulassung  eines  Agenten 
des  Herzogs  Moritz    zu  dem  Gefangenen    wieder  dem  Land- 


1)  Bei  Issleib,  Archiv  S.  146,  ist  erwähnt,  dass  Heinrich  sich  an 
diesen  und  andere  wandte;  nach  S.  148  wollte  der  MgF.  Hans  den 
gefangenen  Herzog  in  Ziegenhain  besuchen,  wurde  aber  abschläglich 
beschieden.  Nicht  zu  übersehen  ist  die  Nachricht  in  dem  Tagebuch 
des  Viglius  zum  11.  Juni  1546.  wonach  Markgraf  Hans  den  Kaiser 
um  die  Befreiung  des  Braunschweigers  gebeten  haben  muss. 

2)  Issleib,  S.  145,  hat  in  seinem  Aufsatze  im  Sächsischen 
Archiv  den  Inhalt  der  schriftlichen  Instruktion  für  die  Räthe  des 
Herzogs  Moritz  nach  Langenn  II,  241  wiedergegeben;  dort  ist  von 
der  Forderung,  dass  die  Gefangenen  nach  Dresden  eingeliefert  werden 
sollten,  nicht  die  Rede.  Ich  glaube  indessen,  dass  mit  G.  Voigt, 
Moritz  S.  130  sehr  mit  Recht  an  dem  Berichte  Schärtlins,  der  persön- 
lich zugegen  war,  festzuhalten  ist. 

3)  Die  Schreiben  des  Moritz,  von  welchen  der  Landgraf  nach 
Christofs  von  Carlowitz  Bericht  sprach,  sind  noch  unbekannt;  vgl. 
Langenn  11,251,  während  Issleib  S.  155  auf  mehrere  Briefe  Philipps, 
wohl  die  .Antworten,  hinweist.  In  der  1.  Zeile  ist  „gewässers"  statt 
jgewissens,"  dann  , gemocht"  statt  „gemacht"   zu  lesen. 


304     Nachtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

grafen  zu  und  dieser  entschloss  sich  dem  Ausinnen  Folge 
zu  geben.  Moritz  wandte  sich  wegen  der  Befreiung  Herzog 
Heinrichs  noch  besonders  an  den  Landgrafen,  während  Christof 
von  Carlowitz  mit  dem  Ersuchen,  Unterhandkmg  zu  gestatten, 
in  Frankfurt  bei  den  Ständen  erschien.^)  Der  Landgraf  kam 
dem  Wunsch  des  Herzogs  Moritz  nur  in  soweit  entgegen,  dass 
er  auf  eine  gütliche  Verhandlung  einzugehen  sich  bereit  er- 
klärte, aber  die  Loslassung  des  Gefangenen  einstweilen  un- 
bedingt ablehnte.  Indem  er  zugleich  sehr  unzufrieden  sich 
über  die  Lässigkeit  der  Stände  in  ihren  Geldleistungen  aus- 
sprach, scheint  sogar  Bucer  von  Besorgniss  erfüllt.  Wider 
die  Hoffnung  hoffen,  das  war  der  gute  Rath ,  welchen  er 
dem  Landgrafen  gab;  indem  er  sich  zugleich  selbst  den 
Einwurf  machte,  dass.  entsprechend  den  Gedanken  der  Flug- 
schrift Luthers,  ein  solches  Gottvertrauen  doch  eigentlich 
nur  dann  berechtigt  sei,  wenn  man  gethan  habe,  was 
mit  eigenen  Kräften  vermöge.  Bucer  war,  wie  er  sagt,  er- 
schreckt, dass  so  viele  und  so  bedeutende  Leute  ernstlich  für 
den  gefangenen  Braunschweiger  eintraten;  er  wies  daraufhin, 
dass  die  Absicht,  denselben  wieder  in  sein  Fürstenthum  ein- 
zusetzen, offen  an  einem  grossen,  dem  Landgrafen  nahe  ver- 
wandten Orte  —  er  meint  sicher  wohl  den  Hof  des  Herzogs 
Moritz  von  Sachsen  —  ausgesprochen  worden  sei.^)  Später 
äusserte  er  hohe  Befriedigung,  als  ihm  der  Landgraf  zu 
wissen  that,  des  Herzogs  Moritz  Käthe  hätten  ihm  eingestanden, 
dass  die  Ergelnmg  des  Herzogs  Heinrich  in  der  Weise  erfolgt 
sei,  wie  er  selbst  es  behauptet  hatte,  nämlich,  dass  dabei 
von  dem  Landgrafen  kein  Mittel  der  Täuschung  gebraucht 
und  kein  Versprechen  dem  Herzog  Heinrich  gegeben  worden  sei. 
Wenn    auch    der    Hauptzweck    der   Luther'schen    Flug- 


1)  Das  Nähere  bei  Issleib. 

2)  Als  Datum  des  Bucer'schen  Briefes  bezeichnet  Lenz  S.  399 
den  11  /12.  Febr.;  durch  die  Randnotiz  darf  man  sich  nicht  irre  führen 
lassen.     iS.  4UU  Z.  5  v.  u.  möchte    ich    das  Komma    vor  'nacli'    setzen. 


(■   Ih-itjfel :  Luthers  Schrift  nti  Kursachseti.  305 

sohrift  in  der  Einwirkunt;  auf  den  Landgrafen  bestand,  so 
vermied  der  ^'erfasser  doch  sorgfältig ,  darauf  anzuspielen, 
dass  man  irgendwie  Mis^trauen  gegen  Philipp  hege.  Dagegen 
findet  sich  eine  ziemlich  scharfe  Bemerkung  darüber,  dass 
„leider  auf  unser  Seiten  heimlich  viel  Papisten  sind,  die  uns 
von  Herzen  ungünstig  und  diesen  Sieg  mit  grosser  Unge- 
duld und  mit  Trauer  gesehen  haben  und  noch  sehen."  Das 
ging  gegen  die  teuflischen  Meissner  und  Gleissner,  vDr  Allem 
gegen  den  Herzog  Moritz;  Luther  spricht  seine  Gesinnung 
gegen  diese  genügend  deutlich  in  einem  Briefe  vom  8.  Januar 
an  Amsdorf  aus,  auf  welchen  auch  eine  1547  niedergeschriebene 
Glo.sse  zu  obiger  Stelle  verweist.  Dass  diese  Wendung  nicht 
von  dem  kurfürstlichen  Kanzler  beanstandet  wurde,  zeigt  wie 
wenig  man  damals  auf  ein  gutes  Verhältiiiss  mit  Moritz 
l)ei   den  Ernestinern  Gewicht  legte. 

In  dieser  Beziehung  scheint  dann  aber  vor  dem  Kriege, 
in  welchem  die  Vettern  gegen  einander  kämpften,  noch  eine 
Wendung  eingetreten  zu  sein.  In  einer  auch  bei  Klug  zu 
Wittenberg,  aber  1546  gedruckten  Ausgabe  findet  sich  in 
einer  Erklärung  zu  einem  Psalmenausdruck  eine  Wendung, 
welche  in  dieser  Beziehung  von  Bedeutung  sein  dürfte.  Hier 
ist  gesagt,  dass  Herzog  Heinrich  als  des  Teufels  und  Papstes 
Heerführer  in  den  Weinbergen  des  Kurfürsten,  des  Herzogs 
Moritz,  des  Landgrafen  habe  lesen  wollen ;  er  habe  die  Hände 
nach  den  Städten  Thüringens,  Meissen  und  Hessen,  nach 
Naumburg  und  Zeitz  u,  a.  —  d.  h.  nach  den  Bischofsstädten 
—  ausgestreckt.  Hiermit  ist  der  Gedankengang  berührt, 
welchen  Landgraf  Philipp  einhielt,  um  seinen  Schwiegersohn 
Moritz  dem  Braun.schweiger  zu  entfremden;  Philipp  wies 
darauf  hin,  dass  Herzog  Heinrich  besonders  die  Stifter  Magde- 
burg und  Halberstadt \)  bedrohen  werde,  auf  welche  Moritz 
sein  Augenmerk  gerichtet  hatte.     Auch  .sie  sind  in  dem  ge- 


1)  Issleib  im  Archiv    155. 


306     Nachtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

machten  Zusätze    zu  Luthers  Flugschrift  mitverstanden ,  ob- 
gleich nur  Naumburg  und  Zeitz  genannt  sind. 

Die  Fragen  ,  welche  sich  hier  anknüpfen,  ob  Luther 
selbst  den  Zusatz  machte,  ob  derselbe  mit  oder  gegen  Willen 
der  kurfürstlichen  Regierung  erfolgte,  können  wir  einstweilen 
nicht  beantworten.  Dazu  brauchte  man  weiteres  archivalisches 
Material.  So  viel  aber  dürfte  nach  den  obigen  Erörterungen 
als  feststehend  anzunehmen  sein,  dass  Luther  bei  Abfassung 
seiner  Schrift  politischen  Gesichtspunkten  Rechnung  trug.  Er 
wollte  und  sollte  nicht  bloss  den  protestantischen  Standpunkt 
gegenüber  dem  katholischen,  päpstlich-kaiserlichen  Interesse 
unterstützen,  sondern  vor  Allem  die  Beziehungen  der  prote- 
stantischen Machthaber  unter  einander  im  Sinne  des  Erne- 
stinischen  Hofes  beeinflussen.  Die  letzte  Schrift  des  Reformators 
diente  einem  Parteiinteresse.  Das  war  nicht  bedeutungslos 
für  die  weitere  Entwicklung  und  die  Widerstandsfähigkeit 
des  Protestantismus  in  der  nächsten  schweren  Gefahr,  welche 
bereits  heraufzog. 

IL 

Die  Ausgaben. 

Unter  Heranziehung  von  drei  verschiedenen  Drucken 
hat  Seidemann  bei  De  Wette  VI,  385  eine  Ausgabe  ge- 
liefert, welche  sehr  genau  zahlreiche  Varianten  verzeichnet. 
Burkhardt  Luthers  Briefwechsel  S.  482  erklärte  dann, 
dass  nach  seinen  weiteren  Nachforschungen  die  Ausgabe 
in  5  Quaternen  die  erste  und  ursprünglichste  sei;  ob- 
gleich er  es  nicht  ausdrücklich  sagt,  scheint  er  damit  den 
von  Seidemanu  benutzten  Druck,  18  Quartblätter,  zu  meinen. 
So  verstand  es  auch  Kolde,  welcher,  Analecta  Lutherana 
S.  422,  wie  er  sagt,  mit  Burkhardt  ausdrücklich  dies  auch 
als  seine  eigene  Ansicht  ausspricht.  Beide  Herren  haben 
indessen  die  von  Seidemann  benutzte  Ausgabe  nicht  selbst 
vor  Augen    gehabt.      Denn   es  leuchtet   doch  ein,    dass    nach 


V.  Druffel:  Luthers  Schrift  an  Kursachsen.  307 

Brücks  Brief  vom  18.  December,  Kolde  4'il,  in  der  ur- 
sprünglichen Ausgabe  die  Stelle  von  der  Rüstung,  welche 
aus  Welschland  gekommen,  wirklich  in  dem  Quatern  D,  auf 
dem  zweiten  Blatte  gestanden  haben  muss.  Dies  trifft  nur 
zu  bei  folgender,  Seidemann  unbekannt  gebliebener  Ausgabe: 

A.  An  Kurfürsten  zu  ||  Sachsen  |  vnd  Land-  ||  grauen  zu 
Hessen,  D.  Mart.  ||  Luther  von  dem  gefangenen  H.  ||  zu 
Brunswig.  ||  Wittenberg.  ||  Am  Schlüsse  f.  E4:  „E.  K.  vnd 
F.  G.  vnter-  II  theniger  Mart.  Luth."  |i 

Dann  werden  zwei  Druckfehler  B3  Zeile  12  und  B4 
Zeile  3  v.  U.  verbessert,  erstlich  der  Irrthum  in  der  Angabe 
des  Monats,  November  statt  Oktober,  in  Avelchem  Herzog 
Heinrich  in  des  Landgrafen  Hand  gerieth,  dann  wird  „zn- 
sehret" in  „zusehnet"  verändert.  Schliesslich  folgt:  „Ge- 
druckt in  der  Churfurstli-  ||  chen  Stat  Wittenberg  durch  || 
Joseph  Klug.  II    Anno  M.D.XLV. 

Ich  benutzte  Bibl.  Mon.  Th.  Un.  104  IV,  5;  5  volle  Quaternen. 
Derselbe  Druck  H.  Ref.  512  lückenhaft,  es  fehlen  E  2  u.  3. 
Die  Ausgabe  C  bei  Seidemann  könnte  die  obige  sein,  wenn  man 
annehmen  dürfte,  dass  Seideraann  übersehen,  wie  'Kurfürsten' 
nicht  'Kurfürsten'  gedruckt  war.  Das  ersterwähnte  Exemplar 
ist  von  einer  gleichzeitigen  Hand  glossirt,  indem  meist  die 
Bibelcitate  und  kurze  Inhaltsangaben  an  den  Rand  geschrieben 
sind.  Dann  aber  ist  zu  De  Wette  VI,  404  Z.  6  bemerkt: 
,vide  epistolam  Lutheri  ad  xAmsdorfium  de  Lypsensibus"  (vgl. 
oben  S.  305),  dann  Z.  22:  „der  vorteil  auf  unserer  Seiten," 
Z.  33:  ,ingens  consolatio",  S.  406  Z.  1:  „wen  sie  auch 
schön  das  Te  Deum  laudamus  singen,  quod  nunc  ferunt  Lyp- 
senses  fecisse  capto  electore".  Man  sieht,  dass  der  Glossator 
Luther  nahe  gestanden  haben  muss  und  doch  nicht  ganz 
mit  ihm  übereinstimmte. 

B.  Ib.  Th.  ü.  104,  IV,  7.  Sechzehn  Quartblätter.  An 
Churfürsten  zu  ||  Sachsen,  vnd  Land-  ||  grafen  zu  Hessen:  ||  D. 


308     Nachtrag  zur  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  1888. 

Mart,  Luther :  ||  Von    dem    gefangenen  ||  H.  zu  Brunswig.  || 
Dann   ein  gezeichnetes  Blättchen.      Am   Schluss  die  Jahres- 
zahl: MDXLV. 

C.  Ib.  Th.  LT.  104,  IV,  6.  Der  Titel  wie  A,  nur  , Braun- 
schweig"  statt  „Brunswig";  der  Satz  ist  mit  anderen  Typen 
ausgeführt.  Die  ürthograpliie  ist  vielfach  eine  andere.  Die 
Ausgabe  besteht  aus  4  Quaternen  A — D  und  einem  bedruckten, 
einem  leeren  Blatte ;  jenes  trägt  indessen  ebenfalls  den  Ver- 
merk 'D',  nicht,  wie  es  sein  sollte:  'E'.  Dieses  ist  die  Aus- 
gabe A  Seidemanns.  Die  Stelle  über  die  welschen  Rüst- 
ungen steht  f.  C  4. 

D.  Die  Ausgabe  B.  Seidemann's  in  der  Universitätsbibl. 
Eist.  3975. 

E.  universitätsbibl.  Hist.  3975.  An  Kurfürsten  zu  i Sachsen, 
vnd  Land  )|  grauen  zu  Hessen,  D.  Mart.  )|  Luther  von  dem-  ge- 
fangenen H.  II  zu  Braunschweig.  ||  Wittenberg.  ||  Am  Schlüsse 
'MDXLV  unter  Luthers  Unterschrift.     17  Quartblätter. 

F.  B.  Monac.  Hom.  1148.  An  Kurfürsten  zu  ||  Sachsen, 
vnd  Land-  ||  grauen  zu  Hessen,  D.  Mart.  ||  Luther  von  dem 
gefange-  ||  neu  H.  zu  Brunswig.  ||  Wittenberg.  ||  Am  Schluss: 
Anno  MDXLVI.  5  volle  Quaternen,  die  letzte  Seite  imbe- 
druckt. 

(J.  Universitätsbibl.  Hist.  3977.  An  Kurfürsten  zu  || 
Sachsen  vnd  Land-  ||  grauen  zu  Hessen,  |j  D.  Mart.  Luther, 
von  II  dem  gefangen  H.  zu  ||  Brunswig.  ||  Sampt  den  LXIIIL  || 
vnd  LXXVI  Psalmen,  en  ||  de  hin  an  gesetze.  ||  Wittenberg.  || 
Am  Schluss:  Gedruckt  in  der  kurfurstli-  ||  chen  stad  Wit- 
temberg  durch  Josehp  [so!]  ||  Klug.  ||  Anno  M.D.XLVI.  || 
6  volle  Quaternen,  die  letzte  Seite  frei. 

Im  Vergleich  zu  der  Zahl  der  verbreiteten  Exemplare 
sind  die  bisher  mir  bekannt  gewordenen  Stellen ,  in  denen 
auf  die  Schrift  Bezug  genommen  wird,  wenig  zahlreich. 


Sitzungsberichte 

der 

königl.   bayer.   Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  3.  November  1888. 

Herr  Keinz  hielt  einen  Vortrag: 

, Beiträge  zur  Neidhart-Forschung." 

Heimat.  Zu  den  im  zweiten  Bande  des  Jahres  1887 
gegebenen  Belegen  für  Neidhart's  Heimat  kann  zur  Zeit  neueres 
nicht  beigebracht  werden.  Nur  zu  dem  Namen  Hohenfels 
mag  erwähnt  werden,  dass  sich  eine  Oerthchkeit  dieses  Na- 
mens auch  in  der  Nähe  des  dort  umschriebenen  Gebietes 
findet.  Das  betreffende  Blatt  des  topographischen  Atlas  von 
Bayern  —  Pegnitz.  Ost  —  verzeichnet  nämlich  ungefähr 
eine  Stunde  nördlich  von  dem  früher  genannten  Königstein 
eine  Stelle  mit  dieser  Benennung,  allerdings,  wie  es  scheint, 
jetzt  nur  eine  bewaldete  Höhe. 

Zeugnisse.  Zu  den  Zeugnissen  für  Neidhart,  welche 
Haupt  am  Schlüsse  seiner  Ausgabe  S.  245  und  Bartsch  in 
der  Germania  IV,  250  gesammelt  haben,  kann  das  folgende 
beigefügt  werden.  Es  betriflFt  zwar  nicht  den  Dichter  selbst, 
aber  es  gibt  einen  Beleg  dafür,  wie  volksthümlich  in  seiner 
zweiten  Heimat  —  Oesterreich  —  seine  Gedichte  noch  fast 
zwei  Jahrhunderte  nach  seinem  Tode  waren.  Es  sind  drei 
Stellen    aus    einem   Tractatus    de  quinque  sensibus,    welche 

1888.  Phi1o8.-philol.  u.  bist.  Ol.  II.  3.  21 


310       Sitzung  der  philos.-philol.  Glasse  vom  3.  November  1888. 

schon  Schmeller  für  die  zweite  Auflage  seines  Wörterbuches, 
I  Sp.  1634  aus  Clm  12011  ausgeschrieben  hat  und  ich  hier 
(etwas  verbessert)  nach  Clm  23781  ex  anno  1452  gebe:  1)  f.  84** 
Videant,  qui  cum  tanta  delectatione  audiunt  rumores  de  gigan- 
tibus  item  cantilenas  alia  negligendo  item  de  belHs  eorum 
fictis,  item  historias  fictas  Theodorici  Veronensis  vel  Laurini 
de  Thirol  vel  rosengarten  vel  librum  Renner  vel  audiunt 
Teichner  Neid  hart,  tarnen  sine  rationali  causa  scilicet  pro 
moderato  solatio  post  laborem  quaerendo;  historiam  tarnen 
Laurini  puto  habere  sensum  allegoricum  per  cingulum  intel- 
ligendo  montes  terrae  Adtisis,  quibus  protegitur;  f.  87*  alio 
modo  potest  fieri  cantilena  vel  musicalium  sonus  causa  la- 
sciviae  et  internae  voluptatis  inordinatae  et  illicitae  delecta- 
tionis  vel  vanae  gloriae  gratia  deliberate  vel  ad  irritandum 
utNeithart  et  hoc  modo  est  peccatum  luxuriae  admixtum 
praecipue  si  turpia  vel  turpiter  decantantur.  (Hiezu  hat  in 
Schmeller's  Codex  der  Rubrikator  roth  an  den  Rand  ge- 
schrieben:  o  neytharde). 

f.  87*"  cantus  serpentes  volucres  et  bestias  ad  se  trahit 
ita  et  illum  in  odium,  alium  in  invidiam  sicut  patet  in  canti- 
lenis  Neidhart  ad  quas  rustici  passionantur  et  irridentur.') 

Verfasser  des  Tractatns  ist  der  Professor  der  Theologie 
an  der  Wiener  Universität  Thomas  von  Haselbach ,  eigent- 
lich Thomas  Ebendorfer  von  H.  1387  —  1464.  Seine  theo- 
logischen Schriften  genossen  hohes  Ansehen,    wie  schon  da- 


1)  Au9  dem  gleichen  Tractat  mögen  für  solclie,  die   es  brauchen 
können,  noch  die  Stellen  bemerkt  sein: 

f.  SS*"  fabulae  quae  fictae  sunt  de  stupris  virginum  et  amatoribus 
meretricura  ut  Adonidis  et  Veneris  de  fabula  Tanhauser  et  Auckental 
(so  in  vier  Handschriften)  et  sie  de  aliis  non  sunt  audiendae;  und 
die  folgende  94'':  i)arentes  non  sine  periculo  permittunt  filios  suos 
et  filias  ad  publica  spectacula  accedere  vel  ad  choreas  in  publicis 
plateis  (Neidhart  49,3*  ,,so  der  tanz  gein  äbent  an  der  sträze  gie 
entwer")  adolescentibu»  mixtis  cum  puellis  etc. 


Keim:  Beiträge  zur  Neidhart-Forschung .  311 

raus  zu  schliessen  ist,  dass  Werke  von  ihm  in  140  Hand- 
schriften der  Münchener  Bibliothek  vorkommen.  Mehr  über 
den  auch  sonst  nicht  unbedeutenden  Mann  findet  man  in 
Aschbach's  Geschichte  der  Wiener  Universität  und  in  der 
Allg.  Deutschen  Bibliographie. 

Dieses  Zeugniss  mag  weniger  auffallend  sein,  weil  es  aus 
der  Gegend  stammt,  welche  als  die  zweite  Heimat  N.'s  auch 
der  Schauplatz  seines   Wirkens  war. 

Dagegen  führt  uns  ein  anderes,  auf  das  mich  R.  Hilde- 
brand aufmerksam  machte,  in  einen  weit  abgelegenen  Theil 
des  Reiches  und  zeugt  so  in  erhöhtem  Grade  für  die  Volks- 
thümlichkeit  des  Dichters. 

In  Riedel's  Cod.  dipl.  Brandeburgensis  findet  sich  im 
I.  Theil,  Bd.  XV,  S.  127  folgende  Urkunde  aus  der  Zeit 
um  1345,  ein  Ausspruch  der  Magdeburger  Schoppen: 

Dy  rad  to  Stendall  hadde  vorbodet  alle  gulde  meystere 
von  allen  gülden  bynnen  Stendall  vnde  setten  on  vor  dar  sy 
solden  vmbe  spreken,  eyn  yowelk  med  sinen  guldebrudern 
Des  spreken  wy  wantsnider  mestere  med  vnsen  guldebrudern, 
als  vns  dy  rad  hadde  vorgesat.  Darna  ging  vnser  guldebruder 
ein  hinder  vns,  vnde  irfur,  wat  dy  sprake  was  by  andern 
guldemeystern  vnde  quam  darna  by  vnser  guldebruder  ein 
vnde  sede,  dat  dy  wantsnyder  mester  dy  sungen  als  et 
Nitard  sang,  dy  sang  wat  om  behagede,  dat  ander 
1yd  he  faren:  so  seden  vnse  meyster,  wat  on  wol  behagede, 
dat  brechten  sy  vor  vnse  guldebruder,  wat  on  nicht  behagede, 
dat  lyten  sy  stan. 

Ein  bekanntes  Zeugniss  aus  Norddeutschland  ist  auch 
noch:  das  Bruchstück  einer  Neidhart-Hs.  in  niederrheinischer 
Mundart  des  XIV.  Jahrb.,  bei  Haupt  mit  0  bezeichnet.  Da 
sich  solche  auch  in  schwäbisch  -  allemanischer  Mundart  aus 
gleicher  Zeit  finden,  so  ist  durch  diese  Zeugnisse  erwiesen, 
dass  im  XIV.  .Jahrhundert  die  Dichtungen  Neidhart's  in  ganz 
Deutschland  beliebt  waren. 

21* 


312       Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  3.  November  188S. 

Handschrift.  Die  reichhaltigste  Neidhart- Handschrift 
ist  die  Berliner  ms.  Germ.  Fol.  779,  Papier,  XV.  Jahrh.,  von 
Haupt  mit  c  bezeichnet.  Sie  enthält  nämlich  131  Lieder  mit 
1091  Strophen,  grossentheils  mit  Singnoten.  Von  diesen 
Strophen  ist  allerdings  die  Hälfte  als  Nachahmung  und  un- 
echt auszuscheiden ;  dafür  aber  enthält  sie  die  echten  Lieder 
fast  alle:  es  fehlen  ihr  nämlich  nur  drei,  No.  9  ^),  38  und  65, 
die  allein  in  R,  eines,  No.  17 ,  das  in  Rd  und  dem  alten 
Drucke  und  eines  No.  8  nebst  dem  verdächtigen  No.  5,  das 
nur  in  C  erhalten  ist;  eine  bedeutende  Anzahl  hat  .sie  nur 
mit  R  gemein,  und  eines,  No.  47,  das  Haupt  mit  Recht 
unter   die  echten   gestellt  hat,    ist  nur  durch  sie  überliefert. 

Von  ihrer  Geschichte  lässt  sich  einiges  beibringen.  An 
die  Berliner  Bibliothek  kam  sie  aus  dem  Besitze  v.  d.  Hagen's. 
Vor  diesem  war  ihr  Eigeuthümer  nach  Haupt's  Angabe 
Thomas  Ried.  Es  ist  diess  der  bekannte  Herausgeber  des 
Codex  chronol.-dipl.  episcopatus  Ratisbonensis,  Ratisbonae  1816, 
seinerzeit  ein  eifriger  Handschriftensammler.  Nach  einer 
freundlichen  Mittheilung  des  fürstlichen  Archivrathes  Herrn 
Dr.  Will  in  Regensburg,  die  derselbe  aus  dem  dort  aufbe- 
wahrten schriftlichen  Nachlasse  Ried's  schöpfte,  richtete  Ried 
am  11.  November  1812  eine  Anfrage  an  Docen  in  München, 
was  es  mit  dieser  von  ihm  vor  einigen  Tagen  erworbenen 
Handschrift  für  eine  Bewandtniss  habe,  worauf  ihm  Docen 
erwiderte,  er  möge  ihm  die  Handschrift  auf  8  Tage  über- 
senden ,  dann  werde  er  genaue  Auskunft  erhalten.  Weitere 
Angaben  fehlen.  Wahrscheinlich  ist  also  diese  Hand.schrift, 
vielleicht  zugleich  mit  der  Berliner  Handschrift  des  Helm- 
brecht, die  auch  aus  der  Oberpfalz  stammen  dürfte  (vgl.  S.  07 
meiner  Ausgabe),  schon  aus  Ried's  Hand  in  die  v.  d.  Hagens 
übergegangen. 

Durch  eigene  Untersuchung  des  Codex ,    die  ich  sowohl 

1)  Die  Citate  nach  meiner  eben  erscheinenden  Ansj^abe:  Leipzig, 
Uirzel. 


Keinz:  Beiträge  zur  Neidhart- Forschung.  313 

hier  in  München ,  in  Folge  der  allbekannten  Liberalität 
der  Berliner  k.  Bibliothekverwaltung ,  als  in  Berlin  selbst 
pflegen  konnte ,  bin  ich  aber  in  Stand  gesetzt ,  noch  einen 
früheren  Besitzer  desselben  nachzuweisen.  Es  ist  nämlich 
f.  130  der  Name  ,F.  Spengler"  und  auf  dem  Hinterdeckel 
der  Vermerk  „Franntz  Spengler  ist  diss  Buch"  eingetragen. 
Die  Spengler  waren  ein  ursprünglich  schlesisches  Geschlecht, 
von  dem  um  die  Mitte  des  XVI.  Jahrhunderts  ein  Zweig  in 
Nürnberg  —  darunter  zwei  Franz  —  ansässig  war.  Einer 
von  diesen  besass  also  die  Handschrift  und  schrieb  auf  ihr 
erstes  Blatt  (obiges  f.  130)  seinen  Namen  ein.  Dann  Hess 
er  sie  aber  noch  mit  zwei  anderen  handschriftlichen  Stücken  ^) 
zusammenbinden  und  schrieb  nun  seinen  Namen  auch  auf 
den  Deckel.  Dass  der  etwa  100  Jahre  früher  geschriebene 
Neidhart-Theil  ehemals  selbständig  bestanden  hatte ,  ergibt 
sich  auch  daraus,  dass  das  erste  Blatt  auf  der  Aussenseite 
starke  Beschmutzung  zeigt,  also  einst  äusseres  Blatt  war. 
Die  auf  dem  vorderen  Holzdeckel  eingebrannte  No.  13  stammt 
wohl  auch  aus  der  Spengler'schen  Bibliothek. 

In  ihrer  Anordnung  der  Lieder  ist  ein  besondrer  Grund- 
satz, ausser  der  Scheidung  in  Sommer-  und  Winterlieder 
nicht  zu  erkennen ;  eine  zeitliche  Ordnung  bietet  sie  nicht ; 
echte  und  unechte,  bayerische  und  österreichische  Lieder  stehen 
durcheinander;  der  Schreiber  hatte  augenscheinlich  nur  den 
Zweck,  alles  zu  .-sammeln,  was  von  N.  stammen  konnte.  Sonst 
aber  war  er  ein  höchst  aufmerksamer  Arbeiter ,  der  sich 
au.sser  der  unvermeidlichen  Verneuerung  der  Sprache  wenig 
Abweichungen  erlaubte.  Diess  erhellt  schon  daraus,  dass 
Haupt,  der  sich  nur  sehr  schwer  entschloss,    von  der  Hs.  R 

1)  f.  1 — 68  Die  Melusine  in  der  üebersetzung  des  Thüring  von 
Ringgoltingen ;  f.  72 — 123  A.  v.  Eyb's  Abhandlung :  Ob  einem  Manne 
sei  zu  nemen  ein  elich  Weib;  f.  131—269  folgt  dann  der  Neidhart; 
jedes  Stück  von  andrer  Hand  und  auch  das  Papier  mit  dreierlei 
Wasserzeichen. 


314       Sitzung  der  philos.-jiihilol.  Classe  vom  3.  November  1888. 

abzuweichen,  gerade  aus  dieser  jungen  Hs.  ziemlich  zahlreiche 
Textverbesserungen   aufgenommen  hat. 

Der  Schreiber  entstammte  offenbar  demselben  Boden, 
auf  welchem  sich  die  Hs.  im  16.  Jahrhundert  befand,  d.  h. 
dem  Nürnbergischen  oder  der  nördlichen  Oberpfalz.  Seine 
Mundart  verweist  nämlich  auf  diese  nordbayerische  Gegend 
dadurch,  dass  sie,  bei  im  Ganzenba  yerischen  Gepräge,  ein- 
zelne Schattirungen  zeigt ,  die,  wie  der  unregelmässige  Ge- 
brauch von  ie  und  i,  nach  dem  Mitteldeutschen  hinü herführen; 
ein  ganz  besonders  oberpfälzisches  Kennzeichen  ist  29,22  die 
Schreibart  gunck  für  junc. 

Da  ich  nun  bereits  in  meiner  früheren  Abhandlung  mit 
hoher  Wahrscheinlichkeit  nachweisen  konnte,  dass  in  dieser 
Gegend  die  Heimat  Neidhart's  zu  suchen  ist ,  so  würde, 
wenn  dieser  Nachweis ,  wie  ich  hoffe ,  im  Verfolg  weiterer 
Untersuchung  mit  Sicherheit  geliefert  werden  kann,  diese  Hs. 
an  Wichtigkeit  bedeutend  gewinnen  und  im  Werthe  der 
Hs.  R.  nahezu  gleichkommen.  Doch  muss  diess  vorläufig 
der  weiteren  Forschung  vorbehalten  werden. 

Vriderün.  Dasjenige  Ereigniss,  welches  nach  des  Dich- 
ters eigner  Angabe  die  nachtheiligste  Wirkung  auf  sein 
Schicksal  hatte  und  den  schlimmsten  Eindruck  auf  sein  Ge- 
müth  machte,  welches  ihn  daher  auch  bis  in  sein  spätes 
Alter  zu  immer  erneuter  Klage  veranlasste,  war  —  dass  ein 
Bauernbursche  einem  von  N.  bevorzugten  Bauernmädchen 
den  Spiegel  von  der  Seite  riess  —  wie  er  gleich  an  der  ersten 
Stelle,  wo  er  das  Ereigniss  erwähnt,  hier  noch  in  einfachen 
Worten  klagt  (32,34  ff.): 

mirst  an  Kngelmaren  ungeraach 

daz  er  Vriderünen 

ir  Spiegel  von  der  siten  brach 
Keinerlei  weitere  Erklärung  findet  sich  bei  dem  Dichter, 
worin  das  Schreckliche  dieses  Ereignisses  bestand ;  an  keiner 
der  vielen  Stellen,  an  denen  er  es  erwähnt,  ist  eine  direkter 


Keim:  Beiträge  zur  Neidhart-Forschung.  315 

Hinweis  auf  etwaige  Folgen  gegeben.  Und  so  wird  es  auch 
von  den  Erklärern  als  das  nämliche  Geheimniss  behandelt, 
als  welches  es  der  Dichter  selbst  zu  geben  scheint. 

Schmolke  (Leben  und  Dichten  Neidhart's  v.  R. ,  Pots- 
damer Gymn.-Progr.  1875,  S.  15—17),  der  den  Gegenstand 
ausführlich  erörtert,  spricht  sich  über  den  Sinn  dieser  Klagen 
und  die  Wirkung  des  Ereignisses  gar  nicht  aus,  sondern  be- 
trachtet das  Ganze  als  ein  Geheimniss,  das  wir  aus  dem 
StoflPe,  so  wie  er  vorliegt,  nicht  ergründen  können.  Er  sagt 
(S.  15)  nur:  „üeber  die  einzelheiten  dieses  ereignisses  sind 
wir  eben  so  wenig  genau  unterrichtet,  als  über  die  folgen, 
die  es  für  die  drei  betheihgten  personen  gehabt  hat." 

Etwas  näher  auf  den  Versuch  einer  Erklärung  geht 
R.  M.  Mayer  (Reihenfolge  der  Lieder  N.'s  S.  17)  ein:  ,Ich 
meine,  der  Vorgang  habe  seine  Bedeutung  darin,  dass  er  dem 
Dichter  eine  wichtige  Thatsache  plötzlich  offenbart.  Welche 
aber?  Dass  Engelmar  ein  Tölpel  ist?  gewiss  nicht,  sondern, 
dass  die  Art,  wie  die  Geliebte  des  Dichters  die  Zudringlich- 
keit des  Dritten  aufnimmt,  beweist,  dass  dieser  längst  zu 
einem  glücklichen  Nebenbuhler  geworden  ist  (vgl.  Freytag, 
Bilder  II,  50).  Und  das  macht  die  Wirkung  des  Ereignisses 
denn  doch  erklärlicher." 

Die  letzte  Schlussfolgerung  ist  nicht  haltbar,  denn  erstens 
ist  ja  die  Art,  wie  Fr.  das  Geschehniss  aufnimmt,  mit  keinem 
Worte  erwähnt,  zweitens  ist  bei  der  Leichtlebigkeit  des  Dich- 
ters gar  nicht  anzunehmen,  dass  gerade  dieses  eine  Mädchen 
ihn  so  gefesselt  hätte,  dass  die  Zurückweisung  seiner  Liebe 
allein  ihn  unglücklich  gemacht  hätte;  wissen  wir  ja  doch, 
dass  er  vor  und  nach  ihr  geliebt  hat;  drittens  spricht  da- 
gegen aufs  schärfste  der  Umstand  ,  dass  sein  ganzer  Hass, 
wie  aus  allen  bezüglichen  Stellen  hervorgeht ,  nur  dem  Engel- 
mar gilt,  während  er  für  Friderun  nicht  das  leiseste  Wort 
eines  Tadels  hat,  sondern  sie  im  Gegentheil  auch  in  den 
spätesten  Anspielungen  noch  diu  liebe,  diu  vil  liebe  Fr.  heisst. 


31(]        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  3.  November  18S8. 

Das  ist  nicht  das  Benehmen  eines  betrogenen  Geliebten,  zu- 
mal vom  Charakter  Neidhart's,  sondern  zwingt  zu  ganz  an- 
deren Schlüssen. 

Wieder  einen  kleinen  Schritt  weiter  geht  W.  Wilmans 
(Zeitschr.  f.  d.  Alterth.  XXIX,  69  f.),  dem  auch  das  gänz- 
liche Fehlen  einer  Klage  über  getäuschte  Liebe  auffällt.  Er 
schliesst  aber  daraus,  dass  Neidhart  durch  dieses  kleinere 
Ereigniss  in  seiner  äusseren  Existenz  geschädigt  wurde,  d,  h. 
dass  er  durch  Engelmar's  Auftreten  den  gedeihlichen  Boden 
für  seinen  „ Kunstbetrieb ",  als  Spielmann  unter  den  Bauern, 
verlor.^) 

Vor  der  Erörterung  des  Gegenstandes  mögen  kurz  die 
Stellen  aufgezählt  sein,  in  denen  von  Friderun  oder  Engelmar 
die  Rede  ist.  Es  sind  mit  Weglassung  der  ganz  bedeutungs- 
losen 42,29  und  43,40  die  folgenden : 

1)  Gieichgiltige  Erwähnung  derselben  vor  der  Spiegel- 
geschichte findet  sich  in   17,2o,   18, i9,   18,52,   19,6o; 

2)  zum  Ereigniss  selbst  gehört  das  Lied  No.  32 ; 

3)  einfache  Klagen  in  32,34,  38,44,  43,5o,  51,ioa; 

4)  übertreibende  Klagen  in  50,52,  60,42; 

5)  Klagen  über  Dörper,  die  ebenso  schlimm  sind  .  wie 
Engelmar  41,9,  52,43,  57,96; 

6)  Klagen  über  solche,  die  noch  schlimmer  sind,  als 
Engelmar  40,24,  46,2i,  49,45,  53,56,  56,76; 

7)  Hinweisungen  auf  Engelmar's  späteres  Schicksal  58,29, 

59,67. 

In  den  vor  das  Ereigniss  fallenden  Stellen  steht  der 
Dichter  dem  Engelmar  noch  gegenüber,  wie  jedem  anderen 
Dorf-  oder  Gaugen o.'^sen.  Die  Entscheidung  bringt  das  32.  Lied, 
welches  zwar  in  ungenügendem  Zustande  erhalten  ist  (vgl. 
die  Bemerkungen    zu    demselben    in    meiner  Ausgabe) ,    aber 

1)  Ich  trenne  diese  Seite  des  Gegen8tande8  von  Friderun's  An- 
gelegenheit und  behandle  sie  in  einem  zweiten,  unten  folgenden  Ab- 
schnitte. 


Keiiiz:  Beiträge  zur  Neidhart-Forschiing.  •>!  ' 

doch  die  Entwicklung  des  Ereignisses  ersehen  lässt.  Der  erste 
Theil  enthält  die  Erwähnung  der  Absendung  eines  Kranzes 
an  Friderun ,  worauf  vermuthlich  die  Einladung  zum  Tanze 
folgte.  Der  zweite  ist  dem  Tanze  selbst  gewidmet:  mit 
höchstem   Wohlgefallen  ruht  das  Auge  des  Dichters  auf  dem 

Mädchen : 

Vriderün  als  ein  tocke 

spranc  in  ir  reidem  rocke 

an  der  schar. 
Nun  folgt  eine  auffällige  Bemerkung: 

des  nam  anderthalben 

Engelmär  vil  tougen  war. 
Was  will  der  Dichter  hier  mit  der  besonderen  Nennung 
Engelmar's,  der  bis  dahin  eben  nur  einer  von  vielen  war. 
Schmolke  meint,  hier  , erscheint  E.  zum  ersten  male,  aber  ganz 
in  der  ferne".  Ich  glaube  vielmehr,  in  sehr  bedrohlicher  Nähe. 
Auch  er  hatte  offenbar  um  Friderun  geworben  und  bemerkte 
mit  Verdruss  die  Freude ,  die  Neidhart  an  dem  Mädchen 
hatte  und  wohl  auch  dieses  an  ihm.  Die  Entscheidung 
musste  folgen  und  sie  folgte,  sei  es  schon  bei  diesem  Tanze 
oder  einem  der  nächsten  Feste ,  wie  die  angefügte  Strophe 
mit  der  ersten  —  von  da  an  fast  stereotyp  gewordenen  Klage 
—  zeigt  und  folgte  in  der  Weise,  wie  von  einem  „dörper" 
zu  erwarten  war:  er  riess  Friderunen  den  Spiegel,  den  sie 
an  einer  selbstgefertigten  Schnur  angehängt  trug,  von  der 
Seite  und  nahm  ihn  an  sich.  Dieser  Spiegel  aber  musste, 
wenn  die  That  einen  Sinn  haben  sollte,  ein  Geschenk  Neid- 
hart's  sein  und  Engelmar  erklärte  damit,  dass  er  die  Neben- 
buhlerschaft des  Dichters  nicht  dulde.  Daraus,  dass  Engel- 
mar diess  öffentlich  thun  konnte  und  dass  der  Dichter  selbst 
von  keinem  Widerspruch  Friderunens  zu  berichten  weiss, 
folgt,  dass  diess  der  kräftige  äussere  Abschluss  einer  wohl 
schon  anderweitig  erledigten  Angelegenheit  war. 

Was  war  nun  das  für  eine  Angelegenheit,  und  was  war 
der  eigentliche  Grund  zu  der  von  da  an  bis  in's  Alter  immer 


318        Sitzung  der  phüos.-philol.  Classc  vom  3.  November  1888. 

wiederkehrenden  Klage  des  Dichters?  Die  Grobheit  Engel- 
niar's?  Dafür  hätte  er  wohl  Gelegenheit  zur  Rache  gefunden; 
und  er  hat  sich  ja,  wie  aus  seinen  eigenen  Erzählungen 
hervorgeht,  auch  von  andern  Bauern  manches  gefallen  lassen 
müssen,  ohne  darüber  unglücklich  zu  sein ;  oder  die  Schwäche 
oder  gar  Treulosigkeit  Friderunens?  Darüber  aber  klagt  er, 
wie  schon  oben  bemerkt,  mit  keinem  einzigen  Worte.  Der 
Grund  muss  demnach  anderwärts  zu  suchen  sein,  und  da  die 
Verhältnisse  des  Dichters  keinerlei  aussergewöhnliche  waren, 
so  haben  wir  keine  Ursache,  dahinter  ein  tiefes  Geheimniss 
zu  vermuthen. 

Es  ist  wohl  auch  hier  die  einfachste  Lösung  die  sicherste : 
Wir  wissen,  dass  Neidhart  zwar  nicht  besitzlos,  aber  auch 
nicht  wohlhabend  war.  Er  hatte  ein  bescheidenes  Lehen 
inne,  das  nach  seiner  eigenen  Beschreibung  ihm  keinerlei 
Ueberfluss  lieferte.  Was  er  etwa  noch  zu  freier  Verfügung 
gehabt  hatte,  wird  die  Kreuzfahrt  aufgezehrt  haben.  Die 
einzige  Gelegenheit  aber,  zu  einer  besseren  Ordnung  seiner 
Lage  zu  kommen,  war  eine  günstige  Heirat.  Auf  eine  standes- 
gemässe  gute  Partie  konnte  er  bei  seinen  eigenen  beschränkten 
Verhältnissen  nicht  rechnen.  Da  wäre  ihm  wohl  auch  die 
Tochter  einer  vermöglichen  Bauernfamilie  willkommen  ge- 
wesen; und  als  eine  solche  werden  wir  uns  Friderun  zu 
denken  haben.  Dass  solche  standeswidrige  Heiraten  damals 
nicht  selten  waren,  können  wir  aus  den  Darlegungen  des 
wenig  späteren  sogenannten  Helbling  schliessen.  Dass  nicht 
bloss  die  Söhne,  sondern  auch  die  Töchter  der  Bauern  über 
ihren  Stand  hinaus  strebten,  wissen  wir  aus  dem  gleichen 
Werke  und  aus  dem  Helmbrecht.  Dass  für  Neidhart  selbst 
der  Standesunterschied  ein  unüberwindliches  Hinderniss  nicht 
bilden  konnte,  dass  er  im  Gegentheil  von  Standesvorurtheilen 
frei  war,  sehen  wir  aus  seinem  in  der  Jugend  andauernd 
freundlichen  Verkehr  mit  den  Bauern,  an  deren  gesellschaft- 
lichen Freuden  er  nicht  bloss  unter  der  Dorflinde,  sondern  sogar 


Keim:  Beiträge  zur  Neidhart-ForscTumg.  319 

in  ihren  Häusern  Theil  nahm.  Aus  Neidhart's  Aeusserungen 
lässt  sich  ferner  schliessen .  dass  auch  Friderun  ihm  wohl- 
gewogen  war.  Wir  können  also  nur  annehmen ,  dass  die 
Verwandten  nichts  von  Neidhart  wissen  wollten,  und  sie  dem 
Engelmar  zur  Frau  gaben. 

Damit  war  nun  Neidhart  die  einzige  Möglichkeit,  seine 
Lage  zu  verbessern  —  noch  dazu  durch  eine  Verheiratung 
mit  einem  ihm  wirklich  lieben  und  ihn  wieder  liebenden 
Mädchen  —  verschlossen.  Da  war  wohl  derjenige,  den  er 
als  den  Trheber  seines  Unglücks  erkennen  musste ,  seines 
Hasses  werth ,  und  von  da  au  die  immer  wiederkehrende 
Klage  berechtigt,  da.ss  er  durch  dieses  Ereigniss  um  sein 
Lebensglück  gekommen  sei.  Von  selbst  versteht  es  sich,  dass 
er  in  diesen  Klagen,  um  sich  nicht  sehr  lächerlich  zu  machen, 
den  eigentlichen  Sachbestand  nicht  erwähnen  durfte  und  da- 
her beschränkte  er  sich  auf  die  geheimnissvolle  Hervorhebung 
eines  dazu  gehörenden ,  aber  nebensächlichen  Zwischenfalles. 

Sehr  deutlich  ist  der  Sachverhalt  bezeichnet  in  18,65 : 
we,  waz  het  ich  im  getan,  der  mich  von  erste  in  disen  kumber 
stiez,  d.  h.  der  die  Ursache  war,  dass  ich  meine  Lage  nicht 
verbessern  konnte ;  besonders  mit  dem  Nachsatze :  swanne  ich 
da  ze  Riuwental  unberaten  bin. 

Hier  ist  zwar  Engelmar  nicht  genannt.  Aber  auch  so 
werden  wir  diese  Stelle  kaum  auf  einen  andern  beziehen 
können. 

Dass  diese  Strophe  einem  Liede  aus  früherer  Zeit,  aus 
der  Zeit,  da  der  Dichter  mit  E.  noch  in  Frieden  lebte,  ange- 
hängt ist,  hat  keine  Bedeutung,  denn  sie  hat  mit  demselben 
keine  andre  Verbindung,  als  dass  sie  im  gleichen  Tone  ge- 
dichtet ist,  ein  Fall ,  der  bekanntlich  bei  Neid  hart  sehr  oft 
vorkommt.  Es  geht  ja  auch  schon  aus  den  ersten  Zeilen 
derselben  deutlich  hervor,  dass  sie  erst  später  verfasst  wurde. 

Aus  der  oben  erwähnten  verschiedenen  Art  der  Klagen 
dürften  sich  wohl  kaum  sichere  Schlüsse  ziehen  lassen ;  hoch- 


320        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  3.  November  1888. 

stens  kann  man  daraus  folu^ern,  dass  der  Dichter  selbst  das 
Ereigniss  nicht  immer  gleich  taxirte,  wofür  uns  aber  die  Be- 
weggründe unbekannt  bleiben.  Auch  von  den  Anspielungen 
auf  Engelmar's  spätere  Zeit  ist  die  erste,  dass  er  den  Spiegel 
noch  habe,  belanglos;  dagegen  ist  es  von  Interesse,  aus  dem 
Munde  des  Dichters  zu  hören,  dass  Engelmar's  Ehe  mit 
Friderunen  eine  unglückliche  war  (59,67),  wenn  wir  seine 
Worte  so  auslegen  dürfen.  Nach  der  obigen  Darlegung  wäre 
diess  bei  einer  so  gezwungenen  Ehe  begreiflich,  zugleich  aber 
auch  eine  Bestätigung  dieser  Darlegung. 

Die  angebliche  Armuth  des  Dichters.  Es  ist  viel- 
leicht noch  ein  Zug  aus  dem  entarteten  Bilde ,  welches  die 
Nachahmer  Neidhart's  allmählich  von  ihm  geschaffen  haben, 
dass  manche  annehmen,  der  Dichter  wäre  dem  drückendsten 
Mangel  preisgegeben  gewesen  und  hätte  in  Folge  dessen  sein 
Leben  von  dem  Ertrage  seiner  Dichtkunst,  d.  h.  von  den 
dafür  gereichten  Spenden  theils  der  Bauern  ,  theils  seiner 
Standesgenossen  gefristet.  Am  eingehendsten  hat  dieser  An- 
sicht W.  Wilmans  in  einer  sehr  interessanten  Abhandlung 
„Ueber  Neidhart's  Reihen"  (Zeitschr.  f.  d.  Alterth.  XXIX, 
S.  64—85,  hier  zunächst  S.  69—71)  Ausdruck  gegeben.  Der 
Gegenstand  verdient  es ,  näher  untersucht  zu  werden.  Da 
anderweitige  Zeugnisse  fehlen,  so  kann  die  Betrachtung  sich 
nur  an  die  eigenen  Andeutungen  des  Dichters  halten. 

Dieselben  lassen  sich  in  drei  Gruppen  scheiden: 
1)    die    allgemeinen    Angaben    des    Dichters    über   seine 
Lage,  2)  die  Klage  über  die  Niederbrennung  seines  Hauses. 
8)  die  an  den  Herzog  von  Oesterreich    gerichteten    Heische- 
oder Bittstrophen. 

Die  Angaben  erster  Art  sind  die  folgenden: 

1.  8wie  Riuwental  min  eigen  si  (3,17) 
ich  bin  doch  disen  sumer  aller  sorgen  vri 

2.  aalz  und  körn  diu  muoz  ich  koufen  durch  das  jär  (18,64) 


Keinz:  Beiträge  zur  NeüTfiart-Fon^chuncf.  321 

3.  kuuit  si  mir  ze  Riuwental  (22,54) 
91  mac  grözen  mangel  wol  da  schouwen 

von  dem  ebenhüse  unz  an  die  rihen 

da  stet  iz  leider  allez  bloz 

ja  mach  ichs  wol  armer  Hute  hüsgenoz 

4.  maneger  sagt  den  wiben  von  dem  guote  grozen  griule:        (35,48) 
komt  si  mit  ze  Riuwental,  si  vindet  dürre  miule. 

5.  Der  Eingang  des  33.  Liedes: 

Sine,  ein  guldin  huon,  ich  gibe  dir  weize 

(schiere  dö 

wart  ich  vro) 

sprach  si  nach  der  hulden  ich  da  singe  etc. 
Da5s  sein  Besitzthum  oder  Lehen  kein  bedeutendes  war, 
können  wir  aus  seinen  Angaben  (s.  meine  Ausgabe  S.  4) 
schliessen,  da  er  als  Bestandtheile  nur  Haus,  Anger,  Garten, 
Wiese  angibt.  Ueber  Felder  scheint  er  nicht  verfügt  zu 
liaben,  da  er  in  obiger  2.  Stelle  ausdrücklich  anführt,  dass 
er  das  Korn  kaufen  müsse.  Nichtsdestoweniger  bezeichnet 
er  sich  in  der  1.  Stelle  als  sorgenfrei,  was  wir  ihm  glauben 
müssen ,  wenn  wir  auch  annehmen  wollen .  dass  diese  Zu- 
friedenheit der  Ausfluss  einer  jugendfrohen  Stimmung  war. 
An  der  3.  und  4.  Stelle  gibt  er  ausdrücklich  zu,  dass 
es  in  seinem  Reuenthal  an  manchem  fehle ,  was  zur  noth- 
wendigen  Ausstattung  an  Einrichtung  oder  an  Vorräthen  ge- 
höre ;  aber  beide  Aeusserungen  stehen  in  Verbindung  mit 
der  Erwähnung  einer  etwaigen  Heirat,  die  er  aber  nicht 
will.  Wir  wissen  also  nicht  einmal,  wie  viel  wir  davon  als 
Wahrheit  nehmen  dürfen ;  wenigstens  sind  sie  in  ausdrück- 
lichem Widerspruche  mit  der  im  Verfolg  zu  erwähnenden 
Angabe  beim  Brande  seines  Hauses,  dass  ihm  „viel  verbrannt 
sei,  wovon  seine  Kinder  leben  sollten".  Wie  er  in  obiger 
4.  Stelle  sagt,  dass  mancher  den  Weibern  von  seinem  Ver- 
mögen viel  vorrenommirt  (grozen  griule  sagt),  so  scheint  er 
selbst  dabei  in's  Gegentheil  zu  verfallen.  Auch  wissen  wir 
ja,  dass  er  Uebertreibungen  nicht  abhold  war,  wie  er  z.  B. 
von  der  Spiegelgeschichte  sagt,  dass  darüber  Trauer  in  allen 


322        Sitzung  der  iMlos.-phüol .  Classe  vom  3.  November  1888. 

Landen  herrschte  (60,42),  oder  wie  er  an  mancher  Kraftstelle 
die  ihm  feindlichen  Bauern  bedroht  (z.  B.  86,55,  58,48). 

Einen  besonderen  Beweis  für  die  Bezahlung  seiner  dich- 
terischen Thätigkeit  sieht  W.  Wihuanns  1.  c.  in  der  ersten 
Strophe  des  33.  Liedes.  N.  lässt  sich  durch  eine  Frau  zum 
Singen  aufiordern,  welche  ihn  mit  einem  Satze  anredet,  der 
offenbar  ein  Citat  ist  und  auch  von  Haupt  als  solches  be- 
zeichnet wurde.  Um  dieses  richtig  zu  würdigen ,  müssten 
wir  den  Zusammenhang  kennen,  aus  dem  es  stammt.  Da 
diess  nicht  der  Fall  ist,  so  können  wir  über  die  Aufforderung 
hinaus  keine  Schlüsse  ziehen.  Es  wäre  dabei  auch  mindestens 
die  Anrede  an  einen  Unterstützung  bedürfenden  als  „guldin 
huon"  sonderbar,  und  der  Dichter  selbst  sagt,  dass  er  „nach 
ir  hulden"  singe ,  womit  er  wohl  kaum  Geld  gemeint  hat. 
Auch  diese  Stelle  also  reicht  nicht  hin,  um  den  Sänger  zum 
Spielmann  der  Bauern  herabzudrücken. 

Ganz  anders  ist  es  mit  dem  Inhalt  der  für  die  Betrach- 
tung von  N.'s  Lage  sehr  wichtigen  Zusatzstrophe  zum 
37.  Lied.  Sie  mag  ihrer  Wichtigkeit  wegen  ganz  hier  er- 
scheinen: 

Mich  hat  ein  ungetriuwer  toiiprenlichen  an  gezündet 

hat  mir  vil  verbrant,  des  miniu  kindel  aolten  leben. 

diu  leit  sin  unserm  trehtin  und  den  vriunden  min  gekündet. 

ich  hän  nü  dem  riehen  noch  dem  armen  niht  ze  geben. 

mir  ist  not, 

gebent  mir  die  vriunt  mit  guotem  willen  brandes  stiuwer, 

gewinne  ich  eigen  brot, 

ich  gesanc  nie  gerner  danne  ouch  hiuwer. 

ja  fürhte  ich  daz  ich  e  vil  ofte  werde  schameröt. 

Ein  persönlicher  Feind  hat  ihm  also  sein  Haus  verbrannt, 
wodurch  —  und  diess  hebt  der  Dichter  besonders  hervor  — 
auch  seinen  Kindern  grosser  Schaden  zugieng.  Ferner  er- 
wähnt er,  dass  er  in  Folge  dieses  Ereignisses  dem  Reichen 
und  dem  Armen  jetzt  nichts  zu  bieten  habe,  also  wohl,  dass 
er   nun    weder    Freunde    einladen ,    noch    Arme    unterstützen 


Keinz:  Beiträge  zur  Neidhmi-Forschiing.  323 

könne.  Es  hat  ihm  also  zuvor  nicht  an  Besitzthum  ge- 
fehlt. 

In  dieser  schwierigen  Lage  nun  wendet  er  sich  aller- 
dings an  den  wohlthätigen  Sinn  seiner  Freunde.  Diese  sollen 
ihm  helfen  mit  brandes  stiuwer,  d.  h.  mit  Mitteln,  dass  er 
sein  Haus  wieder  aufbauen  könne.  In  solcher  Lage  war  es 
keine  Schande,  zu  Verwandten  und  Freunden  um  die  ent- 
sprechende Hilfe  zu  kommen.  Und  da  war  es  auch  Sitte, 
wie  selbst  in  unsrer  Zeit,  als  die  Brandassekuranz  noch  wenig 
verbreitet  war,  dass  die  Nachbarn  und  Freunde  dem  Ver- 
unglückten beistanden  durch  Lieferung  von  Baumaterial,  durch 
Ueberlassung  von  Arbeitern  u.  dgl. 

Und  wenn  diess  geschieht,  d.  h.  wenn  ihm  die  Freunde 
in  der  vorübergehenden  Noth  beistehen,  erhärtet  der  Dichter 
ausdrücklich,  dann  gewinnt  er  wieder  „eigen  bröt'',,d.  h. 
dann  ist  er  wieder  selbständig  und  auf  Niemandes  Hilfe  mehr 
angewiesen.  Und  selbst  da  fürchtet  er,  dass  er,  wenn  dieser 
Zustand,  d.  h.  die  Bauzeit,  zu  lange  dauern  würde,  schamerot 
werden  würde,  offenbar,  weil  er  nicht  gewöhnt  ist,  von  der 
Mildthätigkeit  seiner  Umgebung  zu  leben.  Dieses  Gefühl 
konnte  er  aber  nur  haben  und  aussprechen ,  wenn  er  sonst 
nie  auf  die  Hülfe  andrer  angewiesen  war. 

Die  letzte  Gruppe  von  Klagen  bilden  die  sogenannten 
Heische-  oder  Bittstrophen ,  selbständige  Strophen ,  die  im 
Tone  eines  vorhandenen  Liedes  gedichtet  und  in  den  Hand- 
schriften diesem  angefügt  sind.  Es  sind  diess  die  Zusatz- 
strophen zu  den  Liedern  No.  50'',  54",  61.  In  der  1.  und  3. 
ist  der  Herzog  Friedrich  ausdrücklich  genannt  und  an  eben 
denselben  ist  wohl  auch  die  2.  gerichtet,  und  zwar,  wie  ich 
glaube,  zugleich  mit  dem  Liede,  in  welchem  sich  der  Dichter 
in  launiger  W'eise  dazu  beglückwünscht,  dass  der  Herzog 
die  ihm  feindseligen  Bauern  zum  Heeresdienste  einberufen 
hat.  Er  bittet  in  diesen  drei  Strophen  den  Herzog  um  ein 
Lehen,    wie  er   eines  ja  auch    in  Bayern    besessen    hat ,  und 


324       Sitzung  der  ijhüos.-'pMlöl.  Classe  vom  3.  November  1888. 

um  Steuernachlass.  Von  B'ürstengunst  aber  zu  uehmen,  war 
keinem  Adeligen  eine  Schande,  und  zum  Ueberfluss  hebt  er 
in  der  3.  Strophe  noch  ausdrücklich  hervor,  dass  er  ein 
Haus  wünsche,  um  darin  sein  „silbers  vollez  schrin"  zu  bergen. 

Wir  sehen  also,  dass  durch  alle  diese  Stellen  kein  Be- 
leg für  drückende  Lage,  oder  Lebensfristung  durch  gemeine 
Erwerbsthätigkeit  gegeben  ist.  Der  Inhalt  derselben  ist  nur 
der  folgende :  Die  erste  Gruppe  enthält  nur  Redensarten, 
welche  aussprechen ,  dass  N.  nicht  in  Ueberfluss  lebte ;  die 
Brandstrophe  beweist  lediglich,  dass  er  bei  einem  Unglücks- 
falle vorübergehend  die  Hilfe  der  Freunde  in  Anspruch  nahm; 
die  3.  Gruppe  heischt  Leben  von  höherer  Gunst. 

Dazu  kommen  aber  auch  noch  andere  Umstände,  welche 
auf's  schärfste  beweisen,  dass  N.  nicht  den  , Gehrenden "  bei- 
zuzählen ist. 

Vergleicht  man  zu  den  angeführten  Stellen  die  Klagen 
anderer,  Walthers,  des  Tanhausers,  des  Kanzlers  oder  gar 
des  her  Geltär:  („so  ist  mir  so  not  nach  alter  wät"  oder 
„ich  vliuse  des  wirtes  hulde  niht,  bit  ich  in  siner  kleider"), 
ihr  Jammern  über  die  Kargheit  oder  mangelnde  milte  der 
Herren,  über  das  harte  Loos  des  herumziehenden  Sängers, 
so  kann  man  nur  hervorheben,  dass  sich  Aehnlicbes  bei  N. 
in  keiner  Weise  findet. 

Ferner  waren  alle  diese  „gernden"  fortwährend  auf  der 
Wanderschaft;  er  aber  ist  sesshaft,  zuerst  in  Bayern,  dann  in 
Oesterreich,  hat  sein  eigen  Haus  und  sein  „eigen  brot"  ;  nir- 
gends ist  von  Wanderschaft  die  Rede.  Als  Haus-  und  Grund- 
besitzer konnte  er  aber  nicht  auf  Mildthätigkeit  Anspruch 
machen  und  würde  jedenfalls  auch,  da  er  an  einer  Stelle 
blieb,  die  Nachbarn  bald  ermüdet,  die  Gebelust  erschöpft 
haben.  Dazu  kommt  endlich  noch,  dass  ihm  nirgends  ein 
hierauf  bezüglicher  Vorwurf  gemacht  wird.  Ein  glücklicher 
Zufall  hat  uns  eine  Anzahl  Trutzstrophen  erhalten,  in  welchen 
die  Bauern    ihm    allerlei    unangenehmes   sagen.     Sie    werfen 


Keinz:  Beiträge  zur  Neidhart-Forschung.  325 

ihm  seinen  Hochmuth,  seine  Spottsucht,  seine  Nachstellungen 
gegen  ihre  Frauen  vor;  aber  kein  Wort  fällt  über  empfan- 
gene Gaben  und  doch  wird  bekanntlich  der  Bauer  nie  wider- 
wärtiger, als  wenn  er  gegeben  hat.  Wenn  also  nicht  einmal 
seine  bittersten  Feinde  ihm  einen  Vorwurf  dieser  Art  machen 
können,  so  haben  wir  gewiss  nicht  den  geringsten  Grund  zu 
einer  solchen   Annahme. 

Einzelstrophen.  Einer  Anzahl  von  Gedichten  Neid-. 
hart's  sind  in  den  Handschriften  und  Ausgaben  einzelne 
Strophen  angehängt,  die  zwar  in  dem  Tone  des  betreffenden 
Liedes  gedichtet  sind,  inhaltlich  aber  in  geringem  oder  gar 
keinem  Znsammenhange  mit  demselben  stehen.  Sie  scheiden 
sich  in  dreierlei  Arten: 

1)  Bruchstücke  von  verlorenen  oder  nie  zur  Vollendung 
gelangten  Liedern.  Solcher  Art  sind  die  den  Liedern  Nr.  22, 
34  und  49'  angefügten  Strophen.  Diesen  kann  man  auch 
die  Zusatzstrophe  von  Nr.  57  beizählen,  welche  schon  Lilien- 
kron  als  Parallelstrophe  zu  vorausgehenden ,  d.  h.  als  eine 
andere  Bearbeitung  des  Inhaltes  derselben,  erklärt  hat. 

2)  Bittstrophen  ,  welche  der  Dichter  an  Herzog  Fried- 
rich von  Oesterreich  richtete.  Solche  finden  sich  bei  den 
Liedern  50*",  54'  und  (31  und  sind  ihrem  Inhalte  nach  be- 
reits oben  erörtert.  Ob  zu  ihnen  auch  die  dem  23.  Liede 
angehängte  Strophe  zu  rechnen  sei,  scheint  mir  sehr  zweifel- 
haft. (Vgl.  die  Bemerkung  zu  diesem  Liede  in  meiner  Aus- 
gabe.) 

3)  Strophen ,  in  denen  ein  selbständiger  Gedanke  aus- 
gesprochen ist.  Von  diesen  passt  die  Brandstrophe  bei  No.  37 
insoferne  zu  ihrem  Liede,  weil  in  diesem  der  Brandstifter 
(Megengoz)  vorkommt.  Die  Zusatzstrophe  des  20.  Liedes 
kann  als  spätere  Fortsetzung  desselben  gelten ;  ebenso  die 
Klage  um  Friderun  bei  No.  32  als  solche  zu  dem  die  Eifer- 
sucht Engelmar's  andeutenden  Liede.  Bedeutend  selbständiger 
stehen  schon  die  Reflexionsstropheu  beim  58.  und  üL  Liede, 

188S.  Phüos-philol.  u.  bist.  Ol.  U.  3.  22 


326      Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  3.  November  1888. 

und  ganz  ohne  Verbindung  sind  die  Zusatzstrophen  zum  18. 
und  23.  Liede  (wenn  letzteres  hieher  zu  setzen  ist) ;  diese 
zwei  sind  ausserdem  auch  viel  später  als  ihre  Lieder  gedichtet. 
Es  können  demnach  die  sämmtlichen  unter  2)  und  3) 
aufgeführten  Strophen  als  vollkommen  selbständige  Gedichte 
aufgefasst  werden.  Mit  den  unter  2)  stehenden  verfolgte 
der  Dichter  einen  besonderen  Zweck,  während  er  in  den 
unter  3)  verzeichneten  einen  einzelnen  Gedanken  kurz  aus- 
sprechen wollte.  Hiezu  aber  mochte  ihm  die  Erfindung  eines 
eignen  Tones  nicht  nöthig  erscheinen  und  er  wählte  daher 
denjenigen  eines  Liedes,  welches  in  irgend  einem  Bezug  zu 
diesem  Gedanken  stand ,  in  einzelnen  Fällen  vielleicht  auch 
den  eines  eben  zur  Hand  liegenden  Gedichtes.  Aus  dem  zu- 
fälligen Entstehen  dieser  Einzeldichtungen  möchte  sich  aber 
noch ,  wenigstens  für  die  letzte  Gattung,  die  wichtige  Fol- 
gerung ergeben,  dass  sie  nie  zur  Zeitbestimmmung  für  das 
Lied,  dem  sie  beigefügt  sind,  benützt  werden  können. 


32' 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  3.  November  1888. 

Herr  Gregorovius  hielt  einen  Vortrag : 

„üeber  die  Legende  vom  Studium  der  Wissen- 
schaften  in    Athen   im    12.   Jahrhundert." 


Philosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  1.  Dezember  1888. 

Herr  Weckleiu  hielt  einen  Vortrag: 

„üeber    die   Textüberlieferung   des   Aeschylos 
und   anderer   griechischer   Tragiker." 

Für  die  Textkritik  der  griechischen  Tragiker  ist  die 
Frage  nicht  unwichtig,  zu  welcher  Zeit  vorzugsweise  die  Inter- 
polationen und  Korruptelen .  welche  in  den  Handschriften 
vorliegen,  entstanden  sind,  ob  die  Zeugnisse  alter  Scholien 
und  Lexika  uns  hindern  können,  eine  Stelle  für  unecht  oder 
verdorben  anzusehen.  Ich  habe  bereits  in  einem  Aufsatz  in 
der  Berl.  Philol.  Wochenschrift  1884  Nr.  29  f.  S.  897—910 
nachzuweisen  versucht,  dass  die  Entstehung  vieler  Textver- 
derbnisse über  die  Alexandrinische  Zeit  zurückgeht ,  und 
möchte  jetzt  für  den  Zustand,  in  welchem  die  Tragödien  des 
Aeschylos  in  das  zur  Zeit   und  auf  den   Antrag  des   Redners 

22* 


328       Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  1.  Dezember  1S88. 

Lykurgos  gefertigte  Kontrollexemplar  der  drei  Tragiker  (Leb. 
d.  zehn  Redner  p.  841  E)  Aufnahme  gefunden  haben ,  ein 
Zeugnis  aus  den  bei  Aeschylos  nachgewiesenen  Interpola- 
tionen zu  gewinnen  suchen. 

Ich  beginne  mit  den  Sieben  g.  Theben.  Der  unechte 
V.  nach  177,  welcher  nur  in  jüngeren  Handschriften  er- 
scheint, gehört  wohl  der  byzantinischen  Zeit  an.  Er  wurde 
ergänzt  zur  Ausfüllung  einer  vermeintlichen  Lücke,  weil  man 
nicht  erkannte,  dass  182.  183  nach  177  umzustellen  sind. 
Bemerkenswert  ist  die  vielbehandelte  Stelle  257  : 

sycu  ds  x^^Q^9  ^^Zc,"  7cohaoovxoig  deöig, 

7iediovof.ioig  ze  y^ayogag  snioyio/roig 

/tiQxrjg  ze  nrjyaig,  ovö^  an''  ^fajiiijvov  Xeyio, 

ev  ^vvzvyßvzMv  v.al  7c6leiog  oeoiouevfjg,  260 

f.nqXo(Oiv  oifxäGOOvzag  sotiag  i^EtZv, 

zavQOY.zovovviag  d^ecnair,  cod^  i7ievyo/iiat 

iyiqOELV   iQOTtala,   jioXeuuov  ö'   e.od^rif.iaoi 

Xa(fVQa  öatwv  öovQi/ih^xi}''  oyi'olg  d6f.toig 

oziipü)  7iq6  vacöv,  7ioXeiLiitüP  ö'toiyiqfiaza.  265 

zoiuvz''  eTtevyov  xza. 

Ich  glaube ,  wir  können  dieser  Stelle  durch  Beseitigung 
von  Glossemen  die  ursprüngliche  Gestalt  wiedergeben.  Drei 
Punkte  sind  es  vor  allem,  welche  wir  zur  Grundlage  unserer 
Behandlung  des  Textes  machen.  Einmal  muss  in  259  die 
Emendation  von  Abresch  und  Schütz  ovö^  a/r'  ^[o^rjvov  Xiyio, 
welche  lange  verkannt  worden  ist,  zu  Ehren  gebracht  werden; 
denn  sie  ist  evident.  Zweitens  erscheint  zavQOAZOPOvvzag 
d^eolaiv  2()2  nach  /Lir'jXoiaiv  ai/iiaoaovzag  i-ozlag  &eü)v  als  un- 
brauchbar und  ist  von  Ritschi  als  Glossem  bezeichnet  worden. 
Dass  wir  in  dem  ganzen  V.  nur  Flickwerk  vor  uns  haben, 
zeigt  besonders  noch  das  hier  ungeschickte  cude  und  das  aus 
26>3  stammende  F.Ttevyofuai ,  welches  dem  Sinne  nicht  ent- 
spricht.    Denn    das    dort   stehende   inevxov   bezieht  sich  auf 


Wecllein :   Ueber  die  Textüherlieferung  des  Aeschylos  etc.    329 

ein  vorhergehendes  oder  vorher  zu  denkendes  £vxoi.tat :  roi- 
aiia  fyw  /.lei'  eixof-iai ,  ov  de  hrevyov  wie  Eur.  Hek.  542 
TOOavT''  eXeBe ,  nag  d'  l/rrji^ato  oxQaxög ,  mag  auch  sonst 
hiEiyof.iui  in  seinem  Gebrauche  von  evyonuL  nicht  eben  ver- 
schieden sein.  Fällt  V.  262  aus ,  so  verliert  i^rioeiv  das 
regierende  Verbum  und  niuss  dem  folgenden  areilitü  ent- 
sprechend in  d^Tf^oiü  verwandelt  werden.  Es  ist  eine  Aende- 
rung  wie  die  vorher  genannte  von  a/r'  la/urjvot  in  an'  la- 
/.trjvov  oder  von  a/ro  otpayrig  Ag.  1599  in  djtd  ocpayr(v. 
Ausserdem  hat  Ritschi  a\i.iäooovTag  in  ai^aoocov  röy  ver- 
bessert. Endlich  erweist  sich  die  Interpolation  der  Stelle  am 
deutlichsten  an  der  Wiederholung  von  noXeiuUov  S'  iod^rjfxaai 
in  iroXsf.iuiJv  d'  ioO^ri^aza.  Dass  man  über  nolef-iiiov  ö'  ia- 
^r^iuaza  —  denn  anders  kann  diese  Wiederholung  nicht  ent- 
standen sein  —  nolsf^iiov  d'  eo!}rif.iaoi  schrieb,  erklärt  sich 
augenscheinlich  aus  der  Verbindung  noXef^uov  ö'  iai^riinaoi 
ffT6(/'w  rrQOvaov,  während  sodr^uaTa  azeipco  7iq6  vawv  ebenso 
gesagt  ist  wie  50  (.ivi^fxelä  ^'  avriov  zolg  rexovoiv  elg  öo^ovg 
/iQog  agfx'  ^AÖQaoTov  ysqoiv  eore(pov.  So  werden  wir  zu  der 
Annahme  geführt,  da^s  noAsf-ilcov  d'  sod^iqftaTa  ursprünglich 
mit  oreipcü  7cqÖ  vawv  verbunden  war.  Zu  demselben  Ziele 
gelangen  wir  auf  einem  anderen  Wege,  wenn  wir  die  Verse 
sozusagen  mechanisch  in  einander  schieben.  Zunächst  legen 
wir  7voleuuov  ö'  eod^riuaia  auf  Jio'kef.iuov  6'  eoi)^r^(.iaoi,  da 
augenscheinlich  das  eine  an  die  Stelle  des  anderen  zu  treten 
hat.  Hierauf  drängt  sich  von  selbst  der  Halbvers  artxpio 
7iq6  vaiov  an  den  Platz ,  welchen  XdcpvQa  öa'uov  einnimmt. 
So  bleibt  uns  noch  läcpvga  datcor  unter  TQ07rala  TtoXe/nliov, 
und  wenn  wir  die  Wahl  haben,  welches  von  beiden  wir  als 
ursprünglichen  Text  betrachten  wollen ,  so  werden  wir  uns 
keinen  Augenblick  besinnen  und  uns  für  Xäcpvqu  öatcov  ent- 
scheiden ,  an  dessen  Stelle  das  prosaische  XQ07caXa  noXe/xiojv 
getreten  ist.     Demnach  lautet  der  gereinigte  Text  also: 


330       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

^yto  de  xcoQag  rolg  7ioXiOGovyoig  Ö^solg 

7reöiov6uoig  xe  y.ayoQag  f.7iio%07ioig, 

JiQxi^g  TS  7irjyalg,  oid^  a/r'  ^[of.irivdv  A6/w, 

ev  ^vvrvyovTiov  xal  7CO?.eiog  oeaiüfuivrjg, 

luijloioiv  aif-iäooiov  zod-^  horlag  O^ewv 

d-r]atü  XdipvQa,  da'itov  ö'  eoO^Tqf.iava 

azä^KjJ  7[qÖ  vaiov  dovqhtrjyiy  ayvolg  dof-ioig. 
Die  Verbesserung  dovQi7rif]xd^''  verdankt  man  Dindorf.  Zur 
Bestätigung  des  neuen  Textes  dienen  zwei  Beobachtungen. 
Die  Redensart  zi&evat  TQ07ia~ia  ist  ungriechisch  für  tOTavai 
TQOJiaia.  Sie  findet  sich  noch  einmal  Eur.  Hei.  1381 ,  wo 
jedoch  jetzt  allgemein  ott^oojv  für  iyr^Oiov  hergestellt  ist. 
Auch  für  iyiöd^ai  tQ07iaioi>  Aristoph.  Lys.  318  scheint  oxrioai 
roonaiov  erforderlich.  Ob  zQOTtaia  Tiwg  avaari^oeig  Ja 
Eur.  Phoen.  572  mit  Recht  von  Hermann  durch  Stellen 
der  späteren  Gräcität  in  Schutz  genommen  wird,  muss  frag- 
lich bleiben;  die  Emendation  von  Porson  /rwg  aqa  ot-qoeig 
trifft  wahrscheinlich  das  Richtige.  Für  O^rjocü  läffvqa,  worin 
d^r^Oio  wie  avai^r^oio  steht,  verweise  ich  auf  Eur.  Phoen.  576 
Or^ßag  7TVQtüoag  xdade  nolvveUijg  iyeo'ig  dö7iidag  k'dr]xs. 
Die  zweite  Bestätigung  finde  ich  in  datojv.  Man  hat  zur 
Herstellung  des  Versraasses  Idcpvqa  ötjcuv  {d^wv)  geschrieben. 
Aber  im  Trimeter  findet  sich  bei  Aeschylos  nirgends  die 
zusammengezogene  Form,  nur  in  melischen  Partieen  kommt 
dieselbe  vor.  Es  hat  also  in  unserem  neuen  Texte  datwv 
die  Stelle  erhalten,  welche  ihm  zukommt.  Zu  dem  Ganzen 
vgl.  noch  Ag.  583  if^eolg  Xäcpvqa  xalia  xolg  xa^  '^Eklcxöa 
d6/4iüv  s/iaoadXevGav  agyaiiov  yavog,  Eur.  Rhes.  180  i^eoiaiv 
avxd  (nämlich   'kä(pvQa)  7raaoaXev€  /r^og  doinoig. 

Nachdem  wir  XQ07iala  aus  dem  Texte  entfernt  haben, 
fällt  uns  auf,  dass  das  Schol.  7TaQaxr]Qr]xeov  oxi  ovde7co)  tqv 
r^  vöJv  Too7Tui'ior  ovo/naoia  /mto  xov  'ExeoxXia  •  waxe  aveßi- 
ßaae  xd  xaid  xöv  yjQovov  o  ^loyvXog  sich  durch  diese  Her- 
vorhebung   eines  Anachronismus  als  ein  Produkt  Alexandri- 


Wecllehi:   Ueher  die   Text  Überlieferung  des  Äeschylos  etc.    331 

nischer  Gelehrsamkeit  kennzeichnet,  woraus  sich  ergibt,  dass 
die  ganze  Unordnung  des  Textes  alter  Zeit  angehört. 

Noch  wichtiger  ist  für  uns  die  Frage,  ob  der  Paralle- 
lisnius  der  sieben  Redenpaare  bestanden  hat  und  wie  derselbe 
gestört  worden  ist.  Eine  Wahrscheinlichkeit  für  die  von 
Kitschi  entdeckte  Symmetrie  liegt  von  vornherein  darin,  dass 
auch  sonst  bei  Aeschylos  die  an  melische  Partieen,  an  Strophe 
und  Antistrophe  sich  anschliessenden  Trimeter  sich  entsprechen. 
Ich  verweise  auf  Sept.  185  —  230,  wo  sich  an  drei  Strophen 
und  drei  Antistrophen ,  auf  673  —  698,  wo  sich  an  zwei 
Strophen  und  Antistrophen  jedesmal  drei  Verse  des  Eteokles 
anschliessen,  auf  Fers.  259—292,  wo  zwei  Strophen  und 
Antistrophen  und  der  dritten  Strophe  je  zwei  Verse  des  Boten 
folgen ,  während  nach  der  letzten  Antistrophe  eine  längere 
Rede  der  Atossa  kommt.  Ebend.  696—704  umschliessen 
Strophe  und  Antistrophe  drei  Tetraraeter  des  Dareios.  Einen 
sehr  sprechenden  Fall  bietet  die  Partie  Suppl.  350  —  422, 
in  welcher  der  Chor  den  König  erbittet,  den  Schutzflehenden 
seinen  mächtigen  Arm  zu  leihen.  Auf  zwei  Strophen  und 
Antistrophen  und  die  dritte  Strophe  folgen  je  5  Trimeter  des 
Königs,  der  letzten  Antistrophe  schliesst  sich  wieder  eine 
längere  Rede  des  Königs  an.  In  742—769  folgen  auf  zwei 
Strophen  und  Antistrophen  je  zwei  Verse  des  Königs;  in 
856—921  sind  die  nach  dem  ersten  Strophenpaar  folgenden 
Worte  des  Herolds  ganz  corrupt,  der  zweiten  Strophe  und 
Antistrophe  schliessen  sich  je  drei ,  der  dritten  und  vierten 
Strophe  und  Antistrophe  je  zwei  Trimeter  an.  Ueber  die 
Fälle  der  Orestie  werden  wir  später  sprechen.  Einstweilen 
sei  nur  auf  die  Responsion  der  Kassandrascene  1056  —  1176 
hingewiesen.  Die  Wahrscheinlichkeit  des  symmetrischen  Baus 
der  in  Rede  stehenden  Partie  wird  durch  die  Thatsache  nahe 
gelegt,  dass  vier  Paare  von  Reden  sich  entsprechen.  Das 
erste  Paar  enthält  je  20  Verse;  denn  mit  Recht  sind  die 
2  Verse  362  f. 


332        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

Xeyoif.i''  av  elötog  ev  to.  twv  evavtUov, 
log  ev  nvkaig  "■/.aarog  eiXrjy^ev  vraXov 
als  Proodikon  bezeichnet  worden.  Das  zweite  besteht  aus  15, 
das  sechste  aus  29 ,  das  siebente  aus  22  Zeilen ,  wenn  wir 
wieder  die  letzten  zwei  Verse  als  Epodikon  und  als  Ueber- 
leitung  zu  der  folgenden  Scene  trennen.  Gerade  hieraus  er- 
gibt sich  die  richtige  Auffassung  der  Verse : 

TOVTOig  irenoid^ag  eiui  y.ai  BiOTr^oouai 
avTOg   —   Tig  aXXog  (.läXIov  höiv.ojTSQOg ;  — 
OQxovTi  r'  OQyciJv  y.ai  /.aaiyvrjtuj  y.aoig. 

lyß^oog  avv  fyi^QO)  orr^ooiAai'  q^fo'  cog  xayog 
y.vr]\.Ci8ag^   a\y[.ir^g  /.al  /rergiov  7rQoßlrj/.iaTa. 

Nicht  richtig  ist  die  Interpunktion  xdoig ,  sx^Qog  xre. 
Durch  oQyovTi  .  .  y.aaig  wird  tlg  .  .  ivöiKioTegog  erklärt;  es 
ist  also  ccQyovTi  und  v.aoiyvr(i(ü  von  ^vaTr^ooi^tai  abhängig, 
während  Eteokles  mit  ayd^gog  avv  iyd^Qn)  arriOoiuat  von  neuem 
anhebt  und  die  Aufforderung  g)tQ€  /.xi  einleitet.  Dass  die 
Symmetrie  der  genannten  Paare  nicht  eine  zufällige  ist,  er- 
hält noch  eine  indirekte  Bestätigung.  Der  V.  413 
nvqyoig  d'  a/ieiXü  d£iv\  a  /ur]  y.Qaivoi  xvyji 
erscheint  in  etwas  anderer  Form  536  nvqyoig  dneiXei  roiad' 
a  ,u»j  y.Qaivoi  i^eog  wieder  und  unterbricht  den  Zusammenhang 
o  •/co/u/iog  d'   ov  y.ai'  ävS-gionov  (pQOVsT'  412 

deov  T£  ydg  d^eXovToq  ay7iig(jeiv  noXiv  414 

y.ai  ^r]   iyi'kovxog  cfrjoiv  y.re. 

in  augenscheinlicher  Weise.  Mit  Recht  ist  also  dieser  Vers 
von  Lachraann  als  unecht  erklärt  worden.  Damit  ist  die 
Gleichheit  der  Verszahl  wieder  aufgehoben.  Man  konnte  in 
der  Gegenrede  daran  denken  427  f.  in  einen  Vers  zu  verbinden: 

Ka7TavevQ  (Y  aziCtov  y.d/toyvfjvixOov  axojua, 
aber   bei  dxi^cuv  verraisst  man   ungern  das  Objekt  und  dgäv 
weist  zurück    auf  ylojoaa  42(i.     Kapaueus  droht  nicht  bloss 


Wecklein:   Ueher  die  Textüherlieferung  des  Aeschylos  etc.    333 

mit  dem  Munde,  sondern  ist  auch  bereit  die  Drohung  zur 
That  zu  machen.  So  scheinen  wir  also  die  überlieferte  Sym- 
metrie wieder  zerstört  zu  haben,  da  sich  413  auf  keine 
Weise  halten  lässt.  Aber  Verrall  hat  neuerdings  erkannt, 
dass  von  432  f. 

rj$eiv  y.eoavi'Oi',  ovöiv  f^^rj/.ao utvov 
ueoi]ußQivo~ioiv  dakTTSOiv  rolg  rjXiou 
der  zweite  den  Sinn  des  ersten  „es  wird  auf  ihn  der  Blitz 
herabfahren,  nicht  ein  (auf  dem  Schild)  abgebildeter,  sondern 
ein  wirklicher"  (vgl.  Aesch.  Ag.  1243  xXiorr'  aXrjd^iög  ovdsv 
ehfAaouiva)  verdirbt  und  aus  418  (.ieai]i.ißQivoioiv  O^ähieoiv 
TTQOojiy.aOEv  mit  dem  matten  Anhängsel  töig  r(kiov  gebildet 
ist.  So  bewährt  sich  also  die  Gleichzahl  der  Verse  und  wir 
werden  später  sehen ,  wie  die  neugewonnene  Zahl  14  uns 
eine  weitere  Bestätigung  bringt.  Von  den  drei  in  der  Ueber- 
lieferung  ungleichen  Paaren  enthält  das  erste  15  und  0  Verse. 
Es  hat  aber  H.  Wolf  erkannt,  dass  der  ungelenke  V.  444 
•/.ai  nr^v  xov  svTevd'tv  Xayovta.  nqog  vrvXaig, 

der  in  nqog  nvXaig  und  wegen  des  folgenden  Satzes  tqitio 
yag  ETSOxXtrj  tqiTog  naXog  s^  vtttiov  nr^ör^oev  evyaXxov  y.gdvovg, 
nvXaioi  Nr^oratoi  TioooßaXeiv  Xöyov  unnütz  ist ,  als  unecht 
betrachtet  werden  muss ,  besonders  auch  weil  nach  Tilguncf 
desselben  auf  die  Aufforderung  "kiy"  a?-Xov  akXaig  ev  nvXaig 
sih]X0Ta  die  passendste  Erwiderung  Xi^w  ist.  Nunmehr  be- 
steht die  Rede  des  Boten  aus  7.  5.  2=14  Versen.  Es  kann 
kein  Zweifel  sein,  dass  der  Anfang  der  Gegenrede  des  Eteokles 
rrlf-iTTOiu  av  'i[6r^  rövds,  avv  rvxr]  öi  toj 
y.ai  (Jtj  TitTte^iTTTai  yo(.iJtov  fr  yeQolr  tyoji' 
nicht  in  Ordnung  ist.  Dindorf  hat  gewiss  Recht ,  wenn  er 
hier  die  Verkleisterung  einer  Lücke  findet.  Nur  möchte  ich 
an  dem  zweiten  Verse  keinen  Anstoss  nehmen,  der  ganz  in 
Ordnung  ist,  wenn  der  Satz  mit  xat  dr]  beginnt  (xal  drj 
Tiijt Einmal  xofiJiov  iv  yeQolv  l'ywv  MeyaQeigj.    Dem  Perfekt 


334        Sitzung  der  phüos.-'philöl.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

nenEfxmai  entspricht  TixoLXtaL  435,  '(iQtd^rj  492.  Demnach 
müssen,  wenn  die  Verszahl  gleich  gewesen  sein  soll,  vor  460 
sechs  Verse  ausgefallen  sein.  Das  zweite  ungleiche  Paar, 
welches  das  vierte  Thor  behandelt,  besteht  aus  15  und 
20  Versen.  In  der  Rede  des  Boten  machen  folgende  zwei 
Verse  besondere  Schwierigkeit: 

ocpECüv  ds  nXe/aäraioi  nEQiÖQOfAOv  xirog 
TtQOOtjdaffiotai  y.odoyaoTogog  v.v/.'kov 
Da  TrQOoeda(f>i^eiv  bedeutet  „an  dem  Boden  befestigen",  so  ist 
nicht  verständlich,  wie  nsQidgouov  -/.vzog  Subjekt  zu  rtgoot]- 
däcpiatuL  sein  soll.  In  dem  Scholion  tj  de  neQicftQeia  ri^g 
dajiidog  Y.v'/.ho  orpiwv  elg  tavrovg  avTL7.Qvg  oqwvtcov  /ml 
efinerrlEyfxiviJüv  xa  xihj  tyu  lyyEyqaixuiva  ngog  xd  xelrj 
findet  sich  eine  Angabe,  von  welcher  im  Text  nichts  zu 
entdecken  ist :  elg  eavxovg  avxr/.Qvg  oqivvxlov.  Nach  dem 
Schol.  ziehen  sich  zwei  Paare  von  Schlangen  um  den  Schild- 
rand, welche  mit  den  Schwänzen  verschlungen  sind,  während 
je  zwei  Schlangen  sich  einander  anschauen.  Diese  Darstel- 
lung kann  aus  dem  einfachen  öcfsojv  nXe/.xdvaiai  nicht 
entnommen  sein.  Noch  ein  zweites  Scholion  xotg  yrjyeveig 
dQa-/.ovx6iioöag  tyQuipsv  fällt  dadurch  auf,  dass  keine  Bezieh- 
ung zu  dem  Texte  zu  entdecken  ist.  Es  müssen  also  mehrere 
Verse,  welche  sich  wahrscheinlich  auch  mit  dem  Sinne  des 
Bildes  beschäftigten,  ausgefallen  sein.  Weiter  fragt  es  sich, 
ob  die  Verszahl  der  Gegenrede  bleibt  oder  mehrere  Verse  zu 
tilgen  sind.  Vor  allem  hat  der  Schluss  Bedenken  erweckt. 
Nach  dem  Gedanken  „ein  glücklicher  Zufall  hat  es  gewollt, 
dass  dem  Hippomedon  Hyperbios  gegenüber  steht.  Denn  wie 
sie  sich  feindlich  entgegentreten  werden,  so  werden  sie  auch 
feindliche  Götter  auf  ihren  Schilden  gegen  einander  tragen. 
Der  eine  hat  den  feuerschnaubenden  T3^phon  auf  seinem 
Schilde,  der  andere  Vater  Zeus,  der  mit  seinem  feurigen 
Geschosse  immerdar  siegreich  ist"  folgen  im  Med.  folgende 
Verse : 


WecMein:   Ueber  die  Textüberlieferung  des  Aeschylos  etc.     335 
TOiädt  ^ivTOi   jiQOOq^ileia  daif.t6vcov.  502 

TTQOg    TÜtV    KQaTOVVTiOV    ö'    fGutv,    ot    (5'    l]OOlOUtVlOV, 

el  Zeig  ye  Tccpiö  •/.aqxnQioTEQOQ  A'«X/r 

'YnEQßiw  XB  nqog  Xöyov  zoi  oi'juaTog  505 

ehog  ys  ngö^eiv  avdgag  mö'  dvTiozöxag- 

acoxr^o  yavoix'  ar  Zeig  f;r'   do-rlöog  xvywv. 

bs         ,   siv 

In  506  bietet  die  Handschrift  fitxoaye  rrgä^iv.  Die  Ueber- 
schrift  ist  von  einer  jüngeren  Hand  Ohne  weiteres  erkennt 
man,  dass  V.  506  den  Zusammenhang  unterbricht.  In  jüngeren 
Handschriften  findet  sich  die  Ordnung,  welche  im  Med.  von 
der  späteren  Hand  durch  die  Buchstaben  ß  y  a  ö  angedeutet 
ist:  506.  504.  505.  507.  Aber  an  dieser  Stelle  würde  jener 
Vers  gleichfalls  den  Zusammenhang  des  Gedankens  .stören. 
Brunck  hat  nach  zwei  Pariser  Handschriften  506  nach  504 
eingefügt,  also  nur  505  und  506  umgestellt: 

et  Zevg  ys  Tccfiö  •/.aQXEocöxeQog  f.tayr]  • 
el-/.6g  da  7rQaBeiv  övÖQug  wd»'  dvzioxäxag- 
^Yrceqßivj  re  v.xe. 
Aber    hierin    ist    wös    matt    und    seine    Beziehung    unklar. 
Darum  hat  Francken  den  V.  ausgeworfen  und  ich  habe  ihm 
früher   beigestimmt.     Etwas  anderes  aber  ist  es,    wenn  506 
nach  502  umgestellt  wird  in  folgender  Form: 
xoiaöe  t.iiviOL  7rQ0OcpiXeia  daiiiovcov 
elv.ög  xe  ngdBeiv  avdgag  toö'  ovxioxaxag' 

Nun  erhält  mos  seine  Bestimmung  durch  das  vorhergehende 
roidöe  und  avdgag  tritt  in  Gegensatz  zu  daif-iövcov:  „welcher 
Art  das  Liebesverhältnis  der  Götter  ist,  solcher  Art  wird 
voraussichtlich  der  Erfolg  der  sich  feindlich  gegenübersteh- 
enden Menschen  sein".  Hiernach  glauben  wir,  dass  gegen 
keinen  Vers  der  Gegenrede  ein  gegründeter  Einwand  erhoben 
werden  kann  und  dass  in  der  Rede  des  Boten  ein  Ausfall 
von   fünf  Versen   angenommen    werden    muss.     Das    nächste 


336     Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  com  1.  Dezember  1888. 

Kämpferpaar  ist  in  24  und  i:?  Versen  creschildert.  Die  Ent- 
stellung der  Ueberlieferung  ist  hier  so  deutlich  wie  nur 
möglich.  In  21  Versen  ist  von  dem  Helden  die  Rede,  ohne 
dass  sein  Name  genannt  wird.  Oder  sollen  die  Worte  iiirjTQÖg 
8^  6QEay.6ov  ßXaorrjf.ia  y.aXXiTiQc^QOV,  dvdqönaiq  ovr^q  zur  Be- 
zeichnung des  Parthenopaios  hinreichen?  Der  Bote  schildert 
ja  die  Kämpfer  dem  Eteokles,  dem  sie  noch  unbekannt  sind. 
Wie  soll  dieser  die  Worte  (opiov^  ovxi  naq^ylviov  imowinov 
g)Q6vr]^a  .  .  sywv  523  verstehen  ,  wenn  er  den  Namen  nicht 
kennt.  Es  muss  also,  wie  Dindorf  gesehen  hat,  ein  V.  aus- 
gefallen sein  und  der  ausgefallene  kann  von  dem  von  Dindorf 
gedichteten 

TTagd^svoTralov  viQy.ctd\  ^raXavtijg  yovov 

nicht  sehr  verschieden  gewesen  sein.  Es  fragt  sich  nur,  an 
welcher  Stelle  dieser  Vers  ausgefallen  ist.  Dindorf  meint 
nach  513,  aber  da  sich  514  sehr  eng  an  513  anschliesst 
{7t£fi7iT0v  —  7ref47rTaiOi),  so  scheint  der  Platz  nach  515  ge- 
eigneter. Hieraus  folgt  notwendig ,  dass  die  drei  am  Ende 
der  Rede  stehenden  Verse  534  ff. 

Hagd^evoTTalog  viq/.äg  •  o  ^i  toioaö'  avrjQ, 
^etoixog,  Agyei  ö'  exTivcov  '/.aXag  rgorpag 
Tjvqyoig  dneiXei  roloö'  o   ur^   y.qaivoi   dsög 

nachträglich  hinzugefügt  wurden,  als  der  obige  Vers  ausge- 
fallen war.  Diese  Verse  machen  auch  durch  das  ungeschickte 
6  di  TOioode,  durch  rgoqxxg,  welches  im  Sinne  von  xQOcpela 
oder  d^QETtTtjQia  gebraucht  ist ,  endlich  durch  den  matten 
Schluss,  nachdem  die  kräftigen  Worte  Oftpvoi  .  .  Tj  jlitjV  Xa- 
7Ta^Eiv  aoiv  Kad/nEiojv  ßia  Jiög  (518)  und  ili^a>v  d'  boi-AEv 
ov  /.aur^ExaEiv  jnäyrjv  y.re.  (532)  vorhergehen,  durchaus  den 
Eindruck  der  Interpolation.  Auch  steht  die  Erwähnung 
seiner  Umsiedlung  nach  Argos  nicht  in  Einklang  mit  /ja/.gäg 
y.El£i&ov  533.  Denn  wenn  er  nur  von  Argos  kommt ,  so 
hat  er  keinen  weiteren  Weg  gemacht  als  die  anderen  Helden. 


Wecklein:   lieber  die   TextiiberlieferiDig  des  Aeschylos  etc.    337 

Die  Unechtheit  der  Verse  hat  zuerst  Dindorf  erkannt,  nur 
dass  dieser  mit  L'nrecht  auch  533  verdächtigte.  Sonach  fallen 
der  Rede  des  Boten  22  Verse  zu. 

Dass  der  Anfang  der  Gegenrede  nicht  ursprünglich  ist, 
geht  schon  daraus  hervor,  dass  er  sich  an  den  als  Zusatz 
erkannten  Ausgang  der  Botenrede  anschliesst.  Von  diesem 
Anfang  527 — 539 

£1   yoQ  TvyoiEv  dv  (fqovoioi  Jiqoi^   itewv 
acTo'ig  f/Kstvoig  ovoolotg  y.Ofj.7iaa(.iuoiv, 
7]  xav  riavcüXeig  7tayxdy.cüg  r'  oXoiaxo 

ist  besonders  der  erste  Vers  kraft-  und  saftlos.  Der  zweite 
wird  des  Aeschylos  würdig,  wenn  man  ihn  mit  Döderlein 
dem  folgenden  Vers  nachsetzt:  „fürwahr  dann  würden  sie 
ganz  und  gar  und  elendiglich  zu  gründe  gehen  samt  ihren 
gottlosen  Prahlereien".  Immerhin  ist  es  also  möglich,  dass 
nur  der  erste  Vers  zur  Ausfüllung  einer  grösseren  Lücke 
hinzugedichtet  ist,  so  dass  sich  die  Lücke  auf  10  Verse  be- 
rechnete; doch  lässt  sich  nichts  Bestimmtes  sagen.  Die 
überlieferte  Symmetrie  des  folgenden  Redenpaares  wäre  wieder 
zerstört,  wenn  man  mit  Valckenaer  V.  588  als  unecht  er- 
klären würde.  Freilich  Hesse  sich  die  Symmetrie  wieder  her- 
stellen .  wenn  Verrall  Recht  behielte ,  der  56(3  ausscheidet. 
Aber  wie  diese  Athetese  nicht  gerechtfertigt  ist,  so  wird 
sich  auch  588  halten  lassen.  Ja  man  kann  sagen,  in 
h  TtavTi  jioäyei  ö'  l'oif^'  o/uiXiag  Aa/.Yjg 
xöy.iov  ovöiv,  -/.aq^tog  ov  y^OjjiOTtog- 
att^g  OQUiQu   i^övuiov  y/./.aQuiLeTai 

erscheint  die  zweite  Bestimmung  /.agnog  ov  xofxiOTeog  gerade 
auf  den  folgenden  Vers  angelegt  zu  sein:  „von  diesem  Felde 
muss  man  keine  Frucht  ernten,  weil  man  von  einem  Felde 
des  Verderbens  nur  Tod  ernten  kann". 

Unsere   Untersuchung    ergibt    folgende    Symmetrie    der 
ganzen  Partie: 


338       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

I                           II  III                         IV 

2  I  20— 20  Str.  1    14-14aut.  1  14— 14str.  2    20— 20  ant.  2 

V                                VI  VII 

22—22    str.  3         29-29  ant.  3         22—22  |  2. 

Der  Erfol<j  spricht  für  die  Richtigkeit  der  Voraussetzung. 
Denn  der  Umstand,  dass  die  ganze  Partie  in  zwei  Teile  zer- 
fällt, welche  symmetrisch  geordnet  sind  :  20 — 14 — 14 — 20  | 
22  -  29 — 22,  stimmt  trefflich  zu  dem  Gesetz  der  Gliederung 
der  Chorgesänge  und  Kommoi,  welches  ich  für  Aeschylos  in 
der  Abhandlung  ,über  die  Technik  und  den  Vortrag  der 
Chorgesänge  des  Aeschylus"  (Jahrb.  f.  class.  Philol.  Suppl.XIII 
S.  232  ff.)  nachgewiesen  habe. 

Wenn  wir  die  Entstellungen  des  Textes ,  denen  der 
Parallelismus  teilweise  zum  Opfer  fiel ,  überschauen  ,  so  be- 
rührt uns  die  Lücke  im  vierten  Redenpaare ,  welche  in  den 
Handschriften  der  Alexandrinischen  Grammatiker  nicht  vor- 
handen war  und  als  Sache  des  Zufalls  erscheint,  hier  nicht. 
Die  Ergänzungen  am  Anfang  der  dritten  und  fünften  Rede 
des  Eteokles  und  am  Schluss  der  fünften  Botenrede  verraten 
eine  nachbessernde  Hand ,  welche  dem  zerstörten  Text  eine 
annehmbare  Gestalt  geben  und  das  Vermisste  nachtragen  wollte. 

Auf  die  sichere  Spur  eines  Diaskeuasten  führt  uns  der 
Schluss  des  Stückes.  Ich  will  hier  die  Gründe  nicht  wieder- 
holen,  mit  welchen  A.  Scholl  und  Bergk  den  späteren  Ur- 
sprung dieses  Teils  dargethan  haben.  Bergk  betrachtet  schon 
den  Klagegesang  der  Antigone  und  Ismene  941  —  995  als 
unecht.  Aber  in  8ß0  —  940  weist  nichts  auf  die  Schwestern 
hin,  alles  spricht  für  Chorgesang  und  den  Vortrag  von  Halb- 
chören —  für  diesen  besonders  die  Analogie  von  872  —  940 
mit  Euro.  143—178.  Es  muss  also  nach  940  noch  die  847  ff. 
angekündigte  Klage  der  beiden  Schwestern  folgen.  Die  Ur- 
sprünglichkeit  dieser  Partie  beweist  auch  noch  das  eigen- 
tümliche Gesetz  der  Responsion ,  welches  in  dieser  Partie 
herrscht  und  echt  Aeschyleisches  Gepräge  hat.    Es  entsprechen 


WecMein:   Ueber  die   Textüberlieferung  des  Aeschtjlos  etc.     339 

sich  nämlich  nicht  bloss  Strophe  und  Antistrophe,  sondern 
innerhalb  derselben  stehen  auch  die  Worte  der  Antigone  mit 
den  folgenden  der  Ismene  in  Responsion.  Dieses  Gesetz  er- 
innert an  die  doppelte  Symmetrie .  die  wir  vorher  in  den 
sieben  Redenpaaren  gefunden  haben.  In  der  Partie  des  He- 
rolds dagegen  müssen  wir  weniger  wegen  der  drei  Schau- 
spieler das  Werk  eines  Diaskeuasten  erkennen  als  weil  kein 
Dichter  sein  Stück  und  die  ganze  Trilogie  mit  einem  unge- 
lösten Konflikt  schliessen  kann.  Der  Verfasser  dieser  Partie  hat 
augenscheinlich  die  Antigone  des  Sophokles  vor  Augen  gehabt. 
Soviel  zunächst  über  die  Sieben  g.  Theben.  Der  Pro- 
metheus macht  in  mehrfacher  Beziehung  einen  moderneren 
Eindruck  als  die  übrigen  Dramen  des  Aeschylos.  Rossbach 
und  Westphal  haben  auf  die  abweichende  metrische  Kom- 
position der  melischen  Partieen.  die  Daktylo-Epitriten  542  ff. 
und  913  ff.,  welche  sich  sonst  nirgends  bei  Aeschylos  finden, 
und  auf  das  Vorkommen  einer  Monodie  aufmerksam  gemacht. 
Weil  glaubt  in  seiner  Abhandlung  Des  traces  de  remanie- 
ment  dans  les  draraes  d'E<chyle  (Revue  des  Etudes  Grecques. 
1888)  p.  22  eine  schlagende  Widerlegung  der  Ansicht  von 
Rossbach  und  Westphal  in  dem  im  Jahre  1877  veröffent- 
lichten Fragment  der  Herakliden  des  Aeschylos,  welches  das 
gleiche  Versmass  aufweise,  gefunden  zu  haben.  Aber  in 
diesem  Fragment ,  welches  nach  den  Verbesserungen  von 
Wilamowitz.  Kiessling,   Weil  und  mir  also  lautet : 

OQixEvog  OQÜo/.eQtOi;  ßoig  r[kao^  an''   lo^/axtCLV 
ya'iaii  Ojxeavöv  jisQCtaag  h'  öi/ia  yiQvoijkäri^ 
ßoiiigog  t'  ddi/.ovg  y.uikY.xa  ÖEüHÖxr^v  xb.  iqinivyov 
TQia  öoQi^  7cäkXoi'(a  ysQaii',  rgta  ds  Xatatg 
ad'Kii  rrQoveivwv  xgelg  i'  i/uooeicov  'Ao(fovg 
taTBiyev  "aoc  '^qei  ßiav 

kann    ich    nicht    den  Ton    der  Dorischen  Strophe  entdecken. 

In  der  oben   erwähnten  Abhandlung  habe  ich  bemerkt,  dass 


340      Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

der  Prometheus  in  Bezug  auf  Technik  und  Gliederung  der 
Chorgesänge  keine  Spur  von  der  besonderen  Kunstweise  des 
Aeschylos  aufweist.  Oberdick  (Jen.  Litzt.  1876  Art.  380 
und  Wochenschr.  f.  kl.  Philol.  1888  nr.  43)  hebt  den  Ge- 
brauch des  Wortes  ooq>iOTr'jg  (52,  976  hervor  und  nimmt  an, 
das  Stück  sei  im  Jahre  425  nach  dem  Thuk.  III  IIG  be- 
richteten Ausbruch  des  Aetna  von  dem  Sohne  des  Aeschylos 
Euphorion  zum  zweiten  Male  auf  die  Bühne  gebracht  worden. 
Diese  Gründe  sind  durch  die  Schrift  von  Kussmahly  ,  Be- 
obachtungen zum  Prometheus  des  Aesch."  Berlin  1888  in 
keiner  Weise  entkräftet  worden  und  man  wird  nicht  umhin 
können  zuzugestehen,  dass  wir  den  Prometheus  nicht  in  der 
Gestalt  haben ,  welche  er  von  der  Hand  des  Aeschylos  er- 
halten hat. 

In  den  Persern  finden  sich  einige  Interpolationen,  aber 
keine  Spur  einer  Diaskeuase.  Die  V.  256  —  258  könnten  noch 
vom  Dichter  selbst  neben  254  f.  geschrieben  worden  sein  als 
eine  andere  Form  für  den  gleichen  Gedanken.  Der  Bote 
kann  nicht  sagen  of^iwg  ö'  dvdyxrj  näv  ava/ixv^ai  7iai}og^ 
wenn  er  schon  alles  Leid  mit  ro  IJsqowv  d'  avd-og  ötx^zai 
Ttsaov  enthüllt  hat.  Die  Erklärung  orgaTog  yag  7iäg  ölioXe 
ßagßoQOJv  ist  unnütz  vor  wg  7idvTa  y'  I'ot'  rz-Eiva  diane- 
7iQayf.itva  (263).  Der  ungeschickte  V.  780  r/.Tog  ös  Mägacptg, 
Vßdofxog  d'  liQTaqQtvrig  ist  das  Machwerk  eines  gewöhnlichen 
Interpolators.  Die  Gründe,  welche  gegen  468  -  74,  481  f., 
516  f.  u.  a.  vorgebracht  worden  sind,  erscheinen  als  unzu- 
reichend. Besondere  Erwähnung  verdient  nur  die  kriti.sche 
Behandlung  der  V.  530-534 

vjAäg  de  x?'*)  '^'^^  lolode  lolg  ;re7rQay(.itvoig 
711010101  7iiotd  ^i/n(fi^QEii'  iiovXevf.taiu' 
x.ai  7rald\  tdv7ceQ  öetQ'  ^/.lov  7CQoo!)ev  f-iokij, 
jiaQrjyoQEiie,  y.ul  jiQ0Jrt(.i7iEi^  ig  do/j^ovg, 
f(if   y.ai   II   ycQug   /.u/.oioi   7i(jüOi)^i^iui   /.a/.ov. 


^y'eck^lein:   Ueber  die   TextüberlieferuHff  des  Aeschylos  etc.     341 

Conradt  tilgt  neuerdings  die  V.  530  —33  und  schliesst  534 
in  der  Form  /.ai  ui[  ii  ^roui;  y.a/.oloi  -tQoaied^fj  zaxuj'  an  529 
aAA'  fV  10  XoiJiov  ei  xi  örj  hpov  .liXoi  an.  Da  nicht  der 
geringste  Zweifel  bestehen  kann,  dass  die  Sätze  7CQO/vi(.i7tex' 
«V  ööuoug,  itr^  /.ai  ii  ni)6q  xa/.olai  7i Qooiyi]rai  y.a/.6v  zusam- 
mengehören ,  so  niuss  ein  solches  Verfahren .  welches  nur 
bezweckt,  eine  Gruppe  von  13  Versen  zu  gewinnen,  als  un- 
methodisch bezeichnet  werden.  Die  Verse  sind  an  ihrer 
jetzigen  Stelle  nicht  am  Platze,  weil  die  Aufforderung  7iaid\ 
fav7ieQ  deco'  ^uol  .looG^sy  iiuXtp  :iaQi^yoQHTe  nur  dann  ge- 
eignet ist,  wenn  wirklich  Xerxes  vor  Atossa  auftritt.  Nikitiii 
hat  deshalb  diese  Verse  nach  853  umgestellt,  Weil  (Annuaire 
de  l'association  pour  l'encouragement  des  etudes  grecques  en 
France.  17*  annee,  1883  p.  75  —  79)  stimmt  ihm  bei,  indem 
er  die  falsche  Stellung  der  Verse  von  einem  Exemplar  her- 
leitet, in  welchem  die  dazwischen  liegenden  Scenen ,  die 
Beschwörung  des  Darius  und  dessen  Erscheinung  enthaltend, 
unterdrückt  gewesen  seien.  Auch  ich  bin  ihm  gefolgt,  weil 
bei  dem  Texte 

aAA'   mui,   y.ai  kaßoiou  /.uaiiov  e/.   douiov 

c 71  avT läleiv  ,taidi  dt)^)  7cetQdaouui  ■ 

üi:   yoQ  TU  (fiXxai''   sv  xaxoFc  :iQOÖcöoof.tev. 

lua^  df-  ygr]   \(l  xoiaöt  xoig  7fen:Qay/LievoiQ  /.xt. 

alles  in  Ordnung  und  die  Motivierung  der  folgenden  Scenen 
aufs  beste  gegeben  zu  sein  scheint.  Der  Aufforderung  ^n- 
ocolai  iV)  7iiOTa  ^v/u(f6Q€ii'  ijockeci-iaxa  wird  in  dem  folgenden 
Chorgesange,  soweit  es  bei  einer  Dichtung  nötig  ist,  Rechnung 
getragen,  wenn  auch  nur  Vorsicht  und  weise  Beschränkung 
als  Grund  der  früheren  Grö.sse  des  Reiches  gepriesen  wird. 
Mit    xai    7raiöa  .  .   jruQriyooe'ixe    xal    7rQ07ref.inex'    fg    d6f.ioug 

li  nuD^i  dl/    schreibe  itli  für   iuw  .-raiöi.     Mit  öy ,    welchc!^  uaeli 
di  leicht  auslallen  konnte ,  wei-st  Atossa  zurück  auf  den  Auftrag  des 
Darius   y.öauov  .  .   /.aßova'   v.-zuviia^s  .laidi  835. 
1888.  Phil08.-philol.  u.  bist.  Ol.  II.  3.  23 


342     Sitzung  der  jMlos.-phüol.  Glasse  mm  1.  Dezember  1888. 

wird  der  Schluss  des  Stückes  vorbereitet.  Freilich  muss  man 
sagen ,  dass  durch  die  ausdrückhche  Angabe  eävireq  öevq' 
efxov  7rQüo&Ev  uöXrj  erst  recht  in  dem  Zuschauer  die  Frage 
hervorgerufen  wird ,  warum  Atossa ,  wenn  sie  ihrem  Sohne 
begegnet  und  neue  Kleider  bringt,  nicht  zugleich  mit  Xerxes 
zurückkommt.  Eine  noch  bedeutendere  Schwierigkeit  hat 
Conradt  hervorgehoben.  Die  Worte  hei  xdiode  rolg  7tb- 
n^ayf-itvoig  beziehen  sich  an  der  überlieferten  Stelle  passend 
auf  den  Botenbericht,  während  man  nach  dem  Auftreten  des 
Darius  eher  knl  rolode  rolg  Eigrif-ievoig  (oder  'qyyelintvoig, 
TSTayf.ie.voig)  erwarten  würde.  Sollen  nun  die  Verse  ohne 
weiteres  als  Interpolation  ausgeschieden  werden  ?  Man  könnte 
die  Entstehung  einer  solchen  Interpolation  ebensowenig  ver- 
stehen, als  man  sich  die  Umstellung  der  Verse  trotz  der  von 
Weil  versuchten  Erklärung  zurechtlegen  konnte.  Der  Sach- 
verhalt kann  wohl  nur  folgender  sein.  Die  Verse  sind 
von  demjenigen  hinzugefügt  worden,  welcher  die 
Perser  ohne  das  Auftreten  eines  Schattens  aufführen 
wollte.  Dieser  musste  die  Scene  601 — 853  und  entweder 
den  vorausgehenden  oder  den  folgenden  Chorgesang  weglassen. 
Da  nun  vorher  Atossa  sagt,  sie  wolle  hingehen  und  zuerst 
zu  den  Göttern  beten,  dann  zurückkommen,  um  ein  Toten- 
opfer zu  bringen ,  so  musste ,  wenn  diese  Motivierung  des 
Abtretens  der  Atossa  bleiben  sollte,  der  Ausgang  des  Stücks 
vor  dem  Wiederauftreten  der  Atossa  motiviert  werden.  Das 
geschieht  mit  rrald' ,  sdrrveQ  deig''  e:/.iov  nQoai>Ev  (.loh],  .  . 
7Tqo(xtf.uiET''  ig  döftovg.  Denn  wenn  der  Chor  abgetreten  ist, 
hat  das  Stück  sein  Ende.  Wer  ist  nun  wohl  derjenige  ge- 
wesen ,  der  —  wohl  weil  die  Einrichtung  des  Theaters  es 
nicht  gestattete  —  den  Schatten  des  Darius  beiseite  Hess  und 
die  Perser  ohne  535  —  853^)  zur  Aufführung  brachte.  Da 
die    V.  530 — 534    durchaus    Aeschyleisches   Gepräge    haben, 

1)  Ich   lasse   den  ersten  Ghorgesang  weg,    weil  morä  ^v/mpegeiv 
ßovhvjuuia  für  dt:*n   Inliult  «len  zw<-iten  sich  besser  eignet. 


Wecklein:  Uebcr  die   Textüberlieferung  des  Aeschylos  etc.    343 

kann  man  nur  an  Aeschylos  selbst  denken.  Nnn  aber  hat 
uns  Herr  Professor  von  Christ  in  der  Maisitzung  d.  J.  (vgl. 
Berichte  S.  249  —  398,  besonders  S.  371  ff.)  nachgewiesen, 
dass  die  Nachricht  von  der  Wiederaufführung  der  Perser  in 
Syrakus  als  verbürgt  durch  die  Autorität  des  Eratosthenes 
nicht  bezweifelt  werden  darf.  Also  kann  man  wohl  schliessen, 
dass  Aeschylos  die  fraglichen  5  Verse  bei  der  Wiederauf- 
führung der  Perser  in  Syrakus  dichtete,  wahrscheinlich  weil 
die  Verhältnisse  des  dortigen  Theaters  das  Auftreten  eines 
Geistes  nicht  gestatteten,  vielleicht  auch  um  die  Chorgesänge 
um  zwei  zu  verringern  und  die  Einschulung  des  Chores  zu 
erleichtern.  Eine  Bestätigung  dieser  Schlussfolgerung  kann 
man  in  der  Angabe  des  Herodikos  bei  dem  Schol.  zu  Aristoph. 
Frö.  1028  f.  erblicken:  'H^O()'/xoc;  dt  q^rjoi  öizzag  ysyorevac 
rag  /.aiftOEig  (so  Dobree  für  dirtov  ysyovevai  zov  i^avatov) 
Kai  T i\v  TQaya)öiav  Taviiqv  TreQiaxeiv  tt)»'  ev  Illataialg 
uäyr^r.  öoy.oiGi  6t  ovTOi  6i  Uigoai^)  V7c6  xov  Aloyvlov 
deöiödyi^ai  ev  ^vQaAOvoatg  onovöaaavTog  '^ItQOJvog,  lög  (prjoir 
^EQaToai)-evr^g  tv  y  7i£ol  ■kwuwÖuov.  Das  Scholion  stellt  zwar 
Hypothesen  zusannnen ,  um  einen  verdorbenen  Text  r^»'/x' 
rjxotaa  rregl  z/aQSiov  red^vscÖTog  zu  erklären ;  da  aber  die 
Darstellung  der  Schlacht  bei  Platää  auf  diese  Erklärung 
keinen  Bezug  hat,  so  muss  uns  die  Nachricht,  dass  die  eine 
Aufführung  die  Schlacht  bei  Platää  nicht  enthalten  habe,  als 
glaubwürdig  und  aus  den  Angaben  des  Eratosthenes  geschöpft 
erscheinen,  wenn  auch  die  Auffassung,  welche  bei  dem  Scho- 
liasten  hervortritt ,  als  ob  die  Syrakusanische ,  nicht  die 
Athenische  Aufführung  die  Schlacht  bei  Platää  umfasst  habe, 
verkehrt  ist. 

Von    einer  Diaskeuase   der  Perser    nach   dem  Tode   des 


1)  D.  h.  ,die  vorliegenden  Perser" ;  denn  da  der  Chor  des  Ari- 
stophanes  das  vermisste  lavoT  im  Athenischen  Theater  gehört  haben 
will,  30  muss  die  Autführung,  in  der  lavoT  nicht  vorkam,  also  die 
der  qpsQÖusvoi  ITsgoai,  als  die  Syrakusanische  gedacht  werden. 

23* 


344        Sitzung  der  phUos.-philol.  Chisse  mm  1.  Dezember  1888. 

Dichters  haben  wir  keine  Spur  gefunden.  Das  Gleiche  gilt 
von  den  Schutzflehenden.  Wie  die  Verse  453,  welchen  Din- 
dorf,  und  457,  den  Geel  als  unecht  erklärt  hat,  in  den  Text 
gekommen  sind,  lässt  sich  nicht  genau  feststellen.  Der  erste 
ist  unverständlich,  der  zweite  ist  eine  Beischrift,  deren  Inhalt 
dem  Zusammenhange  wenig  entspricht.  Ausserdem  hat  Din- 
dorf  noch  1010-1013  beanstandet;  aber  die  vorgebrachten 
Gründe  scheinen  die  Unechtheit  nicht  zu  erweisen.  Der 
V.   1013   bedarf  nur  der  Emendation. 

üeber  die  Umarbeitung  der  Eumeniden  habe  ich  in  der 
Februarsitzung  des  vorigen  Jahres  (vgl.  Sitzungsber.  1887 
S.  62  ff.)  vorgetragen.  Es  hat  sich  uns  dort  zunächst  der 
spätere  Ursprung  der  Stiftungsrede  der  Athena  ()48— 713 
(mit  681)  ergeben.  Was  Weil  in  dem  oben  angeführten 
Aufsatz  S.  13  ff.  gegen  meine  Gründe  vorbringt,  hat  mich 
keineswegs  überzeugt.  Er  will  rovöe  688  mit  einer  Hand- 
bewegung des  Schauspielers  erklären ,  welcher  an  den  Hand 
des  Logeion  tretend  auf  den  wirklichen  Areopag  liingewiesen 
habe.  Ich  gebe  wohl  zu ,  dass  ein  solcher  Gestus  für  alle 
Athener  verständlich  war,  aber  ich  kann  nicht  zugeben,  dass 
in  einer  Tragödie  des  Aeschylos  eine  solche  Störung  der 
Illusion  und  Aufhebung  der  idealen  Welt  vorkommen  konnte. 
Weiter  haben  wir  860  —  68  mit  Dindorf  als  späteren  Zusatz 
erklärt  und  haben  damit  ein  zu  den  oben  aufgezählten  Fällen 
hinzuzufügendes  sehr  bemerkenswertes  Beispiel  einer  ausge- 
dehnten Symmetrie  gewonnen:  Str.  1  13  —  Str.^)  1  13, 
Str.  2  13  —  Str.  2  |  13,  12—12.  Ich  verstehe  nicht,  wie 
Weil  bei  seiner  Ansicht  stehen  bleiben  kann,  dass  die  ge- 
nannten 1»  Verse  nach  013  umzustellen  seien.  Ich  will  da- 
von absehen,  dass  die  Symmetrie  12-12  dadurch  zerstört 
wird.  Da  die  eine  Partie  Stichomythie,  die  andere  eine  Qtiaig 
ist    und    sich    diese   Partien    nicht    unmittelbar    an   ein   Melos 

1)  Die  Strophe  ist  wie  ein  Ephymnion  wiederholt. 


Wecklein:   Ueber  die   TextüherUeferHiuj  des  Äeschylos  etc.    34.) 

anschli essen,  könnte  die  Symmetrie  gefehlt  haben.  Aber  wie 
kann  Athena.  nachdem  die  Wut  der  Erinyen  vollständijjf  l)e- 
sänftigt  ist  und  diese  gar  nicht  mehr  daran  denken  dem 
Lande  zu  schaden,  viehnehr  nur  fragen,  mit  welchen  Segens- 
wünschen sie  das  Land  beglücken  sollen,  jenen  die  scharfen 
Worte: 

ai  ö'  SV  TOJtoioi  toig  luolai  jU?]  ßähjg 
jurjd^'  aifiarr^gdg  d-)]yävag,  GTcXäyxviov  ßläßag  xrl, 
entgegenrufen  und  sich  das  verbitten,  was  die  Erinyen  nicht 
mehr  beabsichtigen.  Die  dritte  und  vierte  Stelle,  welche  ich 
mit  Dindorf  und  Weil  als  unecht  erklärt  habe,  sind  770—777 
und  070  —  676.  Alle  vier  Stellen  haben  die  politische  Tendenz 
gemeinsam  und  entsprechen  Stimmungen  und  Verhältnissen, 
wie  sie  zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  weit  mehr 
vorhanden  waren  als  um  OL  80,2  (458  v.  Chr.).  Aber  nicht 
bloss  die  Eumenideii,  auch  die  Choephoren  weisen  Spuren 
von  der  Thätigkeit  eines  Diaskeuasten  auf.  Die  deutlichste 
hat  Dindorf  in  274—295  entdeckt,  in  welchen  die  von 
Apollon  dem  Orestes  angedrohten  Strafen  ausführhch  dar- 
gelegt werden  —  nicht  nach  dem  Sinne  des  Äeschylos, 
welcher  den  Orestes  1030  erklären  lässt:  or/  equ)  Ttjv  Qruxiav 
TO^ij)  yoQ  oviig  jcrj^drcov  riQOOiBeTai.  Diese  grosse  Partie 
hat  die  gleiche  übertriebene  und  manierierte  Ausdrucksweise 
wie  die  oben  von  uns  beseitigten  Partien  der  Eum.  (besonders 
860-868).  Einen  ähnlichen  Ton  zeigt  die  Partie  989  —  994, 
nach  welcher  man  nicht  umhin  kann,  t/  vir  -igooeimo  995 
auf  die  Mutter  zu  beziehen,  während  nach  dem  Folgenden 
damit  das  Gewand  gemeint  ist,  welches  ehemals  Klytämestra 
hinterlistig  über  Agamemnon  warf.  Nachdem  Orestes  seinen 
Gefühlen  in  betreff  des  Gewandes  Luft  gemacht  hat,  kommt 
er  wieder  in  ganz  unerwarteter  Weise  auf  die  Mutter  zurück. 
Es  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  die  V.  989—994  und  1003  f. 
der  Umarbeitung  angehören.  Die  der  Strophe  1005 — 1007 
vorausgehende  Rede  des  Orestes  enthält  dann  2(5  Verse.     Da 


340        Sitzung  der  ijhilos.-phüol.  Classe  com  1.   Dezember  ItiSS. 

die  der  Antistrophe  folgende  üTfOig  23  Verse  aufweist  und 
V.  1039  deutliche  Ueberbleibsel  von  2  Versen  enthält  und 
nach  1040  der  Text  lückenhaft  ist,  so  dass  leicht  zwei  Verse 
ausgefallen  sein  können,  so  haben  wir  Strophe  und  Anti- 
strophe von  gleichgrossen  Partien  symmetrisch  umschlossen: 
26.  Str.  8.  Antistr.  26.  Im  Agamemnon  endlich  wird  durch 
das  Asyndeton  bei  1439  der  spätere  Ursprung  von  143.5  —  1438 
angezeigt ,  worüber  ich  in  meiner  Ausgabe  gehandelt  habe. 
Damit  erweist  sich  die  letzte  Partie  bei  Aeschylos ,  in  der 
sich  Trimeter  an  ein  Melos  anschliessen ,  als  symmetrisch. 
Denn  da  Enger  1422  als  unecht  erkannt  hat,  so  enthalten 
die  beiden  Reden  der  Klytämestra ,  welche  auf  Strophe  und 
Antistrophe  folgen,  13  Verse.  Weitere  Spuren  einer  Um- 
arbeitung lassen  sich  im  Agamemnon  nicht  finden.  Nur 
werde  ich  jetzt  zweifelhaft  in  Betreff  der  V.  1643  —  1648. 
Diese  Partie  des  Chorführers  ist  nicht  am  Platze ,  weil  mit 
TL  öi^  TOP  avdqa  Tovd'  a/ro  rfjvxqg  xa/CTjc;  ot'z  avtdg  YfVOQiteg, 
a'/.?M  viv  yvvrj  .  .  e/.zeive:  dasselbe  gefragt  wird,  was  unmittel- 
bar vorher  mit  t6  yccg  öolwaai  /rgog  yvvaiY.6g  r(i'  oacptog  zrt. 
beantwortet  worden  ist.  Diese  Partie  unterbricht  auch  den 
Zusammenhang;  denn  1649  muss  sich  an  die  Drohung  des 
Aegisthos  1639  — 1642  tov  de  iuTj  rreid^ävoga  l^ev^to  ßageiaig 
xrc.  anschliessen,  wie  wieder  die  folgenden  Verse  in  Ordnung 
kommen ,  wenn  V.  1649  ,  dem  ich  mit  dXX'  onr^  (für  hiei) 
doAEig  Ta(J'  igdeiv  /.ov  (für  xat)  Xeyeiv ,  y^f^Ofj  Taya  seine 
ursprüngliche  Gestalt  zurückgegeben  zu  haben  glaube,  dem 
Chorführer  zufällt.  Heimsöth  nun  hat  diese  Partie  nach  1627 
umgestellt  und  es  scheint  damit  alles  geordnet  zu  sein.  Man 
kann  sagen,  da  die  Frage  xi  dV)  xov  avÖQa  xovö'  .  .  ov/.  avzog 
r^vÖQiCeg  xrt.  von  Aegisthos  zunächst  nicht  berücksichtigt 
wird,  so  wiederholt  der  Chorführer  seinen  Vorwurf:  og  ovx, 
l/r€idrj  Tf^I}(J'  fßovXevaag  uc'qov,  ögSaai  rod'  tgyov  ow  ttXrig 
avTO/.töviüg.  Aber  es  ist  doch  etwas  befremdlich,  dass  der- 
selbe Vorwurf    zweimal    gebracht   wird,    und    es  wird  nichis 


Wecklein:   Ueber  die   Textuberlteterumj  des  Aeschyloa  etc.     "34  < 

vermisst.    wenn    V.   1(330  —  1648    fehlen.     Der    Hinweis   auf 
Orestes  wird  durch   1667  genügend  gegeben. 

Das  Ergebnis  unserer  Untersuchung  findet  also  in  fünf 
Tragödien  des  Aeschylos  teils  Spuren  einer  Umarbeitung,  teils 
Xachträge  und  Interpolationen ,  die  augenscheinlich  ihren 
Ursprung  einer  Wiederaufführung  verdanken.  Dass  die  Stücke 
des  Aeschylos  nach  seinem  Tode  wieder  aufgeführt  wurden, 
ist  mehrfach  bezeugt.  Warum  soll  von  der  Erlaubnis,  welche 
der  Volksbeschluss  tov  ßovXo^evov  öidäo/.eiv  rd  ^loxvlov 
XOQOv  XatißävEiv  gab,  kein  Gebrauch  gemacht  worden  sein'? 
Vgl.  Schol.  zu  Aristoph.  Frö.  868  hcei  xd  Aloxvlov  eipt]- 
CpiaavTO  ötödo/.eiv  und  Ach.  10  rt|Urjg  de  /.leylorr^g  txvxe 
jiagd  'Ai>i]vaioig  o  Aloxilog  /.al  i.i6vov  avroi  xd  öqäf^axa 
ijii](fioi.taxi  /.OLvio  /.al  ^lexd  d^dvaxov  söiddo/.eTO ,  worin  die 
Bedeutung  jenes  Volksbeschlusses  etwas  schief  aufgefasst  ist, 
Philostr.  V.  Apoll.  VI  11  p.  220  Kays.  l4»i]vaioi  naxeqa 
LiBv  avxov  xijg  xQayiiiöiag  -^yovvxo,  iyidlovv  da  /.cd  xed^vetoxa 
ig  Jiovvaia  •  rd  ydg  yilaxiXov  ipr^cfioat.tei'cov  dveöiöaOTieto 
■/.ai  ivi/a  h.  /.cuvrig.  Aristoph.  Ach.  10  erwartet  Dikäopolis 
eine  Didaskalie  des  Aeschylos  und  Weil  hat  aus  den  An- 
spielungen in  der  Elektra  des  Euripides  520 — 544  und  in 
der  Parabase  der  Wolken  534  ff.,  dann  in  Eur.  Phoen.  751 
und  Schutzfl.  857  ff.  auf  eine  Wiederaufführung  der  Orestie 
und  der  Sieben  g.  Theben  geschlossen.  Etwas  anderes  be- 
richtet Suidas  von  Euphorion,  dem  Sohne  des  Aeschylos :  og 
/.ai  tolg  Aloyvlov  xov  naxqog  olg  f^rirrio  r,v  IniÖEi^af-ievog, 
lEiqäy.ig  Ivi/.r^öEv.  Hiernach  muss  der  Nachlass  des  Dichters 
eine  Reihe  von  Stücken  enthalten  haben ,  die  noch  nicht 
aufereführt  waren  und  wahrscheinlich  teilweise  für  die  Auf- 
führung  erst  ausgearbeitet  werden  mussten.  Es  ist  sehr  wohl 
denkbar,  dass  der  Prometheus  zu  diesen  gehörte. 

Soll  es  nun  Zufall  sein ,  dass  gerade  die  zwei  Stücke, 
bei  denen  wir  keine  Spur  einer  späteren  Umarbeitung  ge- 
funden  haben  ,   Stellen  enthalten  .  deren  Text  bis  zur  vollen 


348      Sitzung  der  phiJos.-phüol.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

Unverständlichkeit  entstellt  ist?  Ich  denke  dabei  an  Pers. 
678— (582  und  Schutzfl.  832-913.  Wir  glanben  nicht  an 
einen  solchen  Zufall  und  verstehen  jetzt  erst  die  Notiz  Quin- 
tilians  X  1,06  tragoedias  primus  in  lucem  Aeschylus  protulit, 
sublimis  et  gravis  et  grandiloquus  saepe  usque  ad  vitium, 
sed  rudis  in  plerisque  et  incorapositus;  propter  quod  correctas 
eins  fabulas  in  certamen  deferre  posteriori bus  poetis  Atheni- 
enses  permiserunt,  suntque  eo  modo  niulti  coronati.  Man 
konnte  sich  bisher  über  das  Urteil  rudis  in  plerisque  et  in- 
compositus  nicht  genug  wundern,  da  wir  gerade  das  Gegenteil 
an  Aeschylos  anstaunen.  Man  kann  aber  das  Urteil  des  (juin- 
tilian  vollständig  unterschreiben,  wenn  man  an  die  Heroldscene 
in  den  Schutzfl.  denkt.  Solche  Textentstellung  hat  man  bisher 
den  Abschreibern  schuld  gegeben.  Die  Schuld  scheint  viel- 
mehr auf  die  ursprüngliche  Gestalt  der  Aeschyleischen  Schrift- 
werke zu  fallen,  welche  demjenigen,  der  eine  Wiederauffüh- 
rung von  Stücken  des  Aeschylos  ins  Werk  setzen  wollte,  die 
Notwendigkeit  auferlegte,  unlesbare  Stellen  durch  Correcturen 
in  Ordnung  /u  bringen  und  grössere  Schäden  durch  Nach- 
dichtung von  Versen  zu  heilen.  Hierauf  beziehe  ich  den 
Ausdruck  des  Quintilian  correctas  eins  fabulas ,  Avenn  auch 
natürlich  die  vom  Volke  gegebene  Erlaubnis,  die  Stücke  des 
Aeschylos  wieder  aufzuführen  und  die  Verbesserung  des  Textes 
nicht  in  dem  Zusammenhang  stehen,  in  den  Quintihan  sie 
bringt.  Correcturen  und  Umformungen  des  Textes,  welche 
die  Ausdrucksweise  des  Aeschylos  dem  Sprachgebrauch  der 
späteren  Zeit  annähern  sollten  und  in  die  Exemplare  der 
Stücke  eingetragen  waren,  sind  gewiss  auch  teilweise  unter 
den   von   uns  s.  g.  Glossemen  enthalten. 

Demnach  haben  wir  einen  bestimmten  Anhaltspunkt 
gefunden  für  die  Ansicht,  dass  eine  Reihe  von  Interpolationen 
vmd  Corruptelen  älter  ist  als  das  Gesetz  des  Lykurgos  und 
in  das  auf  den  Antrag  dieses  Redners  angefertigte  Staats- 
exemplar Aufnahme  fand.    Zugleich  haben  wir  für  Aeschylos 


Wecklein:   lieber  die   Textüberlieferinx]  des  Aeschylos  etc.    349 

den  Satz  festgestellt ,  dass  alle  Dialogpartieen ,  welche  mit 
melischen  Teilen  in  Verbindung  stehen  ,  an  der  antistrophi- 
schen Responsion  durch  die  Gleichzahl  der  Verse  in  ähn- 
licher Weise  teilnehmen  wie  das  Epirrhema  und  Antepirrhema 
in  der  Komödie. 

Anhangsweise  möchten  wir  noch  einige  Stellen  der 
Tragiker  besprechen,  für  die  wir  eine  Emendation  gefunden 
zu  haben  glauben ,  Stellen,  die  teilweise  auch  für  die  Text- 
überlieferung der  Tragiker  interessant  sind ,  zunächst  eine 
in  dieser  Hinsicht  sehr  bemerkenswerte,  Pers.  601  ff. 

(fiXoi,  xaxwv  iniv  ootig  Sfj.TCOQog  AVQel, 
iniataxat  ßgotdiaiv  cog,  oTav  -/.Ivöcov 
■KaY.ö}v  tneX^Tj^  navxa  deif-iaiveii'  ffiXel " 
OTav  <5'  u  dai/ni(jv  evqo^,  71  eiroid^evai 
xov  avrov  alei  daifjor^  ovqieIv  Tvyrig. 

Der  Gedanke  lässt  sich  trotz  aller  Fehler  der  Ueberlieferung 
leicht  durchschauen.  ,Wer  Menschenkenner  ist.  sagt  der 
Dichter,  weiss,  wie  der  Mensch  im  Unglück  gleich  an  allem 
verzweifelt,  im  Glücke  dagegen  vertraut,  es  könne  nie  anders 
werden."  Die  Sicherheit  des  Gedankens  gestattet  uns,  die 
zahlreichen  Schäden  des  Textes  zu  beseitigen.  Zunächst 
fordert  der  Sinn  nicht  „wer  die  Leiden",  sondern  „wer  die 
Menschen  kennt".  Auch  muss  xay.wj' ^t/^V,  welches  den  Gegen- 
satz zu  oxav  (3'  0  daluiov  evQO^  einleitet ,  nach  eTriazaTai 
folgen.  Nach  ßgoTolair  würde  man  (fiXovaiv  für  cpikel  er- 
warten. Für  tfiTioQog  haben  geringere  Handschriften  aji- 
jieiQog.  Der  Dichter  hat  um  des  Versraasses  willen  die  Form 
fUTtsQrjg  gebraucht,  welche  Hesychios  für  Sophokles  bezeugt: 
ilixTtegrjg-  Iju/ceigog,  2o(poy.Xfig  Oövoosl  ijaivof.itvi^.  Im  dritten 
Verse  wird  xa-Kiöv  überflüssig ,  wenn  xazwv  ^iv  zu  orav 
xXvöiüv  f.7riXi^r]  tritt.  Sobald  man  mit  Weil  erkennt,  dass 
xaxiüv  /uev  und  ßgotoiow  ihre  Stelle  tauschen  müssen  und 
der  Sinn    ßQüiEiiov    für   ßgotolotv   erfordert,    ergibt   sich  das 


350      Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom   1.  Dezember  1888. 

IJebrige,  nämlich  die  Ergänzung-  von  rivd  nach  orav.,  damit 
das  Subjekt  zu  (pilei  gewonnen  wird,  von  selbst.  Es  bleibt 
noch  ein  Fehler  im  letzten  Verse  übrig.  Misslich  ist  schon 
die  Wiederholung  von  öal/^iior.  Dann  ist  die  Verbindung 
daif.iova  tvyjjg  unerträglich.  Denn  die  rvyji  gehört  dem 
dai(.in)v  ,  nicht  der  daif.ttov  der  tix»]  an.  Endlich  lässt  sich 
der  intransitive  Gebrauch  von  ovQi'Cew  weder  mit  Soph. 
Trach.  827  y-al  xaö''  oQ^cog  l'f.i;ieda  y.azovQiCei  noch  mit 
Aristoph.  Thesraoph.  1226  r^i'x«  .  •  hiovqiaag  rechtfertigen. 
Denn  an  der  ersteren  Stelle  ist  der  intransitive  Gebrauch 
von  yiarovQiLsiv  fraglich  ,  an  der  anderen  haben  wir  einen 
analügen  Gebrauch  wie  bei  dem  vulgären  avvoag,  wo  sich 
das  Objekt  aus  dem  Imperativ  ergänzt,  also  ßorjO-rjOüTio  zig 
dvioag  seil.  t6  ßor^O-elv ,  ^Q^X^  s/iovQiGag  seil,  rö  XQbyßLv, 
tov  ögöi-iov.  Blomfield  nahm  schon  Anstoss  an  diesem  Ge- 
brauch von  ovQiCeiv  und  wollte  ztyag  schreiben.  Vorzuziehen 
wäre  Tvyj]v.,  welches  Dindorf  als  Verbesserung  von  Blomfield 
anführt;  aber  wie  sich  leicht  begreift,  dass  Sept.  259  an' 
^Igiai]v6v  Xeyio  in  d/i'  'loiutjvol'  Xeyto  überging,  so  ist  hier  für 
die  Aenderung  der  Casus  kein  Grund  ersichtlich.  Vielmehr 
muss  Tvyrjg  als  Kennzeichen  des  ursprünglichen  Textes  wohl 
bewahrt  werden.  Darum  kann  die  Vermutung  von  Weil 
tÖv  avrov  aUv  (xve(.iov  ovQieiv  zvytjv  nicht  gebilligt  werden, 
in  der  ohnedies  ai'e,uog  dem  Sprachgebrauch  nicht  entspricht. 
Es  ist  einfach  zu  zov  avzöv  das  in  den  Text  eingedrungene 
daifAova  in  Gedanken  zu  ergänzen  und  das  durch  dai^ova 
verdrängte ,  einzig  passende  nvEv^aza  zurückzuführen ,  so 
dass  nunmehr,  wie  ich  glaube,  die  ganze  Stelle  in  ihrer 
ursprünglichen  Schlichtheit  hergestellt  ist: 

(flXoi,  ßQOielojv  oozig  i/nyfeQrjg  ycvQel, 
i/fioraiai,'  xaxwr  /luv  ojg  ozav  zivc 
■/.Xvdiov  f-Ti^Xihj^   jictvza  dei/uaiveii'  ffulBl' 
ozav  d'   o  öaii-aov  eiQOjp   7tE7ioii)tvai, 
zov  uiTov  ahl  7iveifuaz'   ovQieiv  ziyjjg. 


Wecklein:   Ueber  die  Text  überlief  er  unif  des  Aeschylos  etc.     351 

Ich  will  kein  Gewicht  darauf  legen,  dass  F.W. Schmidt  in  Eur. 
Tro.  101  ^ueTaiiaXXouh'oc  dai'i^iorog  avfyov  TtXe'i  /.ara  7coQd- 
fiov,  :rXei  v.aia  öaiuova  sehr  gut  jiveiuoLTct  für  daiuoru  ge- 
setzt hat,  da  ich  an  unserer  Stelle  die  Vertauschung  aus 
einem  Glossem  ableite.  Mit  Ttvevi-iata  xvy\]Q.  vgl.  Eur.  Jon  1502 
ÖEival  i-iei'  Toze  rvyai,  (.lEd^ioxarai  de  nvevfxaxa^  Herk.  216 
otav  i^eog  ooi  ;ii'eif.ia  usTaßaliov  rvxf],  und  mit  tov  aviov 
(ÖaifAOva)  Soph.  El.  91 H  roZt;  airoloi  toi  ovy  avrög  aiei 
öaif.i6vwv  iiagaoiaxEi. 

Eine  alte  crux  grammaticorum  bietet  in  Sept.  7()7 

didv(.ia  xa/c'  steXeoev ' 
71  arQOifOvqt  XSQi  Tcov 
■/.Q€iaooTe/.vtov  6/.if.i(iTwv  knXayyit^Tq  • 

ant.  rexroioiv  d'  dgag 

ecfr^/.ev  kni/Mioig   iqoqiäg  /.iL 

das  Wort  xQBioaoTi/.vwv.  Die  Erklärung  des  Schol.  Aeyei 
t(Dj'  Ttegl  ^ETeoxXea  y.al  nokuver/.rjV,  ot  rjoav  tiov  ocfd-aX/niZv 
xosioooveg.  uf^f-idrcov  d'  irrXdyx^t]  dvrl  tov  soTegrid^i]  tcov 
■/.oeiTToriüv  o/uiudTiov  ist  abstrus  und  widersinnig.  Schon  die 
Bildung  des  Wortes  erweist  sich  als  unmöglich.  Vgl.  Lobeck 
Paralip.  p.  48:  xQsioaoTsyivog  non  potest  significare  TÖr  /.gela- 
oova  Tenvcor  cvtu,  sed  corruptum  videtur.  Was  aber  Her- 
mann „certa  emendatione"  dafür  gesetzt  hat,  /.vQOoxtA.vvn' 
,privavit  se  oculis  qui  liberis  occursuri  erant",  gibt  zwar 
einen  guten  Sinn,  ist  aber  hinsichtlich  der  Wortbildung  nicht 
minder  bedenklich.  Das  Gleiche  gilt  von  (pQioaoTä/.viov,  was 
Stanley,  und  von  xQEioooTeyvcdv,  was  Donaldson  vorgeschlagen 
hat.  Erträglicher  erscheint  in  dieser  Hinsicht  das  von  E.  Brey 
gebildete  (pv^iTt/.vwv.  Allein  wie  die  Bildung  und  Bedeutung 
unsicher  ist,  so  lässt  sich  vollends  nicht  erklären,  wie  rpv^i- 
TeTcviov  in  /.QEioooTe-Kvcjv  übergegangen  sein  soll.  Minder 
erheblich  ist  ein  zweiter  Ansto.ss,  den  die  Stelle  bietet.  Das 
doppelte  Unheil,    das    dem  Oedipus  schuldgegeben   wird,    ist 


352      Sitzung  der  phüos.-philol.  Glasse  vom  1.  Dezember  1888. 

natürlich  die  Blendung  der  Augen  und  die  Verfluchung  der 
Söhne.  Das  zweite  wird  in  der  Antistrophe  ausgeführt, 
nebenbei  gesagt  ein  Beweis ,  wie  Strophe  und  Antistrophe 
zusammengehören  und  nicht  verschiedenen  Sängern  gegeben 
werden  dürfen.  Der  Schol. ,  welcher  mit  dldvf.ia  ds  /.a^d 
e'cprj  t6  Tiüv  ovo  ocpd^aXjiiiöv  ozeqriiyr^vai  .  .  rj  ^EveoY.Xm  /.al 
JJoXrveU}]  yEvrriaag  eine  ganz  verkehrte  Deutung  gibt,  würde 
dem  Irrtum  nicht  verfallen  sein,  wenn  das  übliche  f.i^v  vor- 
handen wäre ,  obschon  ich  nicht  behaupten  will ,  dass  es 
durchaus  notwendig  ist.  Ich  denke  aber ,  der  Text  hat  ur- 
sprünglich so  gelautet : 

didvi-ia  xax'  ftiXeoev 
TvazQOcpovo)  X€^t  ^8V 
■/.SQxiöi   Tiov  of.ii.iäitov  Inläy/^i^iy 
Für  ■/.tQ'/.LOi   konnte  leicht  /.geioato  gelesen  und   tm'  als  Ab- 
kürzung  von    Tf./.vcov    wie   etwa   Xoig   von   loyoig   betrachtet 
werden.    Zu  /.sq-moi  vgl.  Soph.  Ant.  976  elösv  dqatov  "X-Kog 
dgax^ir  .  .  o.tbqD''    lyytiov   tg)'  aif.iaTrjQaig  yeiqeooi   xal  xeq- 
y.iöiov  dy.fxoüoiv.    Bei  Sophokles  sticht  sich  Oedipus  die  Augen 
mit  den  goldenen  Spangen  aus ,    die  er  von  dem  Kleide  der 
erhängten  Jokaste  wegreisst  (Oed.  T.   1268).     Euripides  hat 
Phoen.  61   die  goldenen  Spangen  beibehalten,  obwohl  Oedipus 
nicht  die  tote  Jokaste  vor  sich  liegen  hat.    Wir  dürfen  wohl 
annehmen,  dass  Aeschylos,  welcher  mit  dqdg  hriMtovg  zqocpag 
sich    an    die    kyklische  Thebais  anschliesst ,    ebendaher   auch 
das  Mittel  der  Blendung  entnommen  hat. 

Eine  Stelle,  welche  bisher  grosse  Schwierigkeiten  bereitet 
hat,  möchte  ich,  obwohl  ich  meine  Ansicht  bereits  in  meiner 
erklärenden  Ausgabe  angedeutet  habe,  hier  nicht  übergehen, 
weil  mir  nachträglich  der  Grund  der  Corruptel  klarer  ge- 
worden ist,  Ch.  414 

otav  (J'   avi''   b.7iah/.Bg 

r)-QaQ6\  djitataöEv  ayog 

JCQog   CO  rpaveloytai  /joi   y.aXwg. 


Wecklein:    lieber  die   Textüberliefernny  des  Äeschjflos  etc.    35o 

Ausser  diesen  traurigen  Resten  der  Ueberlieferung  ist  uns 
zur  Herstellung  des  ursprünglichen  Gedankens  das  Versmass 
und  vor  allem  der  Zusammenhang  behülflich.  Das  Versmass 
steht  durch   die   heil  überlieferten  Verse  der  Strophe  390  ff. 

noxärai;  ACXQOiü^tv  de   jrQioQai^ 

^t.'iUOC,  t'yzoro»'  atvyog 

fest.  Aus  dem  Zusammenhang  aber  ergibt  sich  unzweifel- 
haft folgender  Gedanke:  ,Mir  zittert  das  Herz  —  so  erwidert 
der  Chor  dem  Orestes  —  von  deinen  Klagen  her,  die  ich 
eben  hörte.  Und  da  wurde  ich  hoffnungslos  und  voll  schwerer 
Betrübnis,  da  ich  deine  Worte  vernahm.  Wenn  ich  dich 
aber  wieder  in  deiner  Kraft  sehe,  sind  die  kummervollen 
Sorgen  weg  und  ich  fürchte  nichts."  Das  Adjektiv  sjralyirig, 
das  sich  sonst  nirgends  tindet  und  von  dem  Schol.  mit  loxv- 
Q07I  oiog  erklärt  wird  ,  erscheint  durch  das  nomen  proprium 
'EviäXy.rjg  sicher  gestellt.  Wir  verändern  hraly-tg  einfach  in 
fJlalxr^  o\  Dann  leite  ich  das  monströse  &QaQE  aus  Resten 
von  üQ(x>ijai ,  d^äooog  ab ,  was  Sinn  und  Versmass  erfordert, 
(janz  schlimm  steht  es  noch,  wie  besonders  das  Metrum  zeigt, 
mit  dem  letzten  Verse.  Vor  allem  fällt  cpavetod^ai  aus  dem 
Versmass  hinaus  und  muss  darum  als  Glossem  erkannt  werden, 
so  dass  alle  Emendationsversuche,  welche  von  den  Buchstaben 
des  überlieferten  (paiüod^at  ausgehen,  auf  Sand  gebaut  sind. 
Die  übrig  bleibenden  Worte  ngög  rö  ^ol  Y.aliog  können  un- 
schwer auf  :iq6g  i6  f-ir]  reXeo  zurückgeführt  werden.  Aber 
wir  würden  wohl  ganz  im  Dunklen  irren  ^),  wenn  uns  nicht 
ein  ganz  ähnlicher  Gedanke  in  Ag.  987  erhalten  wäre : 


1)  Conington,  welcher  .toö,-  t6  rpauiaai  y.aküx;  vermutet,  bemerkt 
dazu :  but  probably  the  true  reading  has  been  hopelessly  obliterated, 
as  the  words  as  they  stand  bear  marks  rather  of  tainpering  than  ol" 
ordinary  corruption. 


354     Sitzung  der  pMlos.-phüol.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

svyof.iai  d^  s§  i^^ic/g 
fXiiiöog  ilivi^ij  .'reoelv 
^g  To  iKTi  teXeocpoqov  • 

Der  Sinn ,    das  Versmass   und    besonders   rcQog   rö  stellt  die 
Emendation : 

d^ctQOog  dvreataOEV  ayog 
jTQog  xö  f-tiq  reXEOcpoQov 
sicher:  „wenn  ich  dich  aber  andrerseits  in  voller  Wehrkraft 
sehe,  entfernt  die  Zuversicht  mein  Bautzen  in  das  Reich  der 
NichterfüUun«'".  Zu  Jiqog  to  (.n^  zeXeocfOQOv  wurde  die  Er- 
klärung (favELO^uL  über  TeXeGcpogov  in  dem  Sinne  von  ngog 
tÖ  jiirj  (paveiod^aL  „dass  es  sich  nicht  v^erwirklichen  werde" 
übergeschrieben  und  das  Eindringen  dieses  Wortes  hat  die 
weitere  Corruptel  zui-  Folge  gehabt.  Freilich  ist  es  traurig 
um  den  Text  bestellt,  der  mit  solchen  Mitteln  geheilt  werden 
muss.  Zum  Glück  sind  derartige  Stellen  im  Aeschylos  nicht 
zahlreich. 

Durch  ein  Glossem  ist  uns  auch  Suppl.  1075 
Zevg  .  .  'loj 
jrijf.iovag  s^voar''  st 

ev(.ieveI  ßla  KTioag 
das  ursprüngliche  Wort ,    welches   den  Sinn    zu    ev(.ieveT  ßi(jc 
fordert,  ^lyiöv  verloren  gegangen.     Vgl.   544  eq^ayrrog  'lovg, 
45  Zrjvog  tq>aUuv ,    584  dyrtjtäviw  o^tvEi  /.al  i)Eiaig  snui- 
vnlaig  JcavEzai  (/w) ,    Proui.  875    fnacpwv   dxaqßEi  yßiqi  /.al 

o/eßcöv 
Uiyoji'    /.idvov.     Augenscheinlich    ist    von    ÄaraxTlaag    /.rioag 

in    den    unteren  Vers    gedrungen    und    hat    dort    d^iyiov   ver- 
drängt.    Die  Bedeutung  von 

/eiqI  nauoviff  ■/ atay.ciou g 
EVf.i£ytl  ßi(^  Oiyojv 


Wecklein:   Ueber  die   Textüberliefentng  des  Aeschylos  etc.    35o 

passt  gut  für  die  oloiQOÖovrjTog  ^ho,  welche  eine  feste  Stätte 
erhalten  muss.  Die  Anstrengungen,  welche  bisher  gemacht 
worden  sind,  um  Soph.  Oed.  K.  813 

uaQiiQOttctt   iovad\  ov  at,  ngög  de  rovg  (filovg 
oV  diraueiiii]  ör.(.iaT\  r(v  a'  f'Aw  rroxi 

in  Ordnung  7A\  bringen,  sind  erfolglos  gewesen.  Zunächst 
ist  zu  beachten,  dass  r(v  ff'  VXto  nott  vorher  das  Futurum 
fordert,  dass  es  also  dvza^iEixbri  für  ccvTaueißr]  heissen  muss. 
Offenbar  will  Kreon  sagen:  „wir  wollen  sehen,  ob  du  mir 
später,  wenn  ich  dich  in  meiner  Gewalt  habe,  ebenso  unver- 
schämte Worte  erwidern  wirst".  Auch  1273  bieten  die  Hand- 
schriften dvvausißt]  für  avTai-ieiiln].  Wie  es  Aesch.  Ag.  1316 
heisst:  iyaroiaji  ^aqTVQslxä  f.iOL  xöde,  otav  yvvr^  ywarAog 
dvx'  fjuoi  d^dvr]  xre. ,  so  sollen  hier  die  Koloniaten  später 
Zeugnis  ablegen  ,  dass  die  neuen  Reden  ganz  anders  lauten 
als  die  früheren.  Hiernach  muss  in  den  jetzt  unverständ- 
lichen Worten  ov  oe  /rgog  de  zovg  (filovg  eine  Bezeichnung 
des  jetzigen  Charakters  der  Reden  gesucht  werden  .  und  so 
finde  ich  in  noog  öe  rovg  das  an  mehreren  Stellen  in  der 
Ueberlieferung  fast  unkenntlich  gewordene  Yerbum  ;rQ0vOE- 
Xeiv  und  schreibe : 

(.laQXvqouai  Tüvod\  ovg  ov  nQOvöEXelg  (fiXovg 
oV  di'Tauenl>rj  öi[inaT\  i]v  ff'   .Uw  jiOTt, 

so  dass  ovg  ov  ngovoehlg  (filovg  das  Objekt  zu  dirai-ielipr] 
bildet.  Vj'-l.  1273  avTa/nenl']]  i-i'  ovder.  Wie  Aristoph.  Ran.  730 
7CQOOElov(.ii.v  in  den  Handschriften  steht,  so  konnte  hier  aus 
7iQ0oelEig  unter  dem  Einflüsse  des  folgenden  cpilovg  leicht 
jfQog  dt  rovg  werden.  Das  von  den  alten  Grammatikern  mit 
vßQiteiv,  nooTtr^Xa-AiLEiv  erklärte  jCQOvoelEiv  entspricht  dem 
Sinne  des  Kreon  aufs  beste.  Bei  Aesch.  ist  Prom.  113  7tqov- 
aeXoiuevog  für  nuooaXEVf.tevog,  bei  Sophokles  Oed.  T.  l-lSo 
TTQOVoih^oav  für  .iQov^avi^oaf  hergestellt. 


356     Sitzutif/  ihr  philos.-phüol.  CJasse  vom  1.  Dezember  1888. 
In  Soph.  Phil.   1:^82 

01ud.  xat  Tavza  XtBag  or  /.aTaiayvi'ij   d^eovg; 

NEO.  rriog  yäg  Tig  a.layivoix''  äv  toqieXovf.iEvo(; ; 

(DIA.  Xiyug  6'    'ATfJEiöaig  ocpeXog  fj  e/r'  f^^fxoi  xade; 

NEO.  001  7T0V,  (filog  y    löv,  yw  löyog  TOiöoöe  uov 

ist  der  Zusammenhang  nicht  in  Ordnung.  Der  Gedanke 
/rwg  yag  rig  aloyvvoiT'  ar  w(feXoviuei>og ;  würde  mehr  dem 
Charakter,  den  Odysseus  in  dem  Stücke  hat,  als  dem  des 
Neoptolemos  entsprechen,  und  wenn  Neoptolemos  von  dem 
eigenen  Nutzen  spricht,  kann  Philoktet  ihn  nicht  fragen, 
ob  er  den  Nutzen  der  Atriden  oder  den  des  Philoktet  im 
Auge  habe.  Heath  hat  io(feKov(.ikvoig  geschrieben,  aber  damit 
fällt  zwar  das  Unmoralische  der  Sentenz  weg,  dagegen  bleibt 
die  Störung  des  Zusammenhangs:  denn  der  Nutzen  der  Götter 
kann  nicht  der  Nutzen  der  Atriden  sein.  Besser  wird  dieser 
Zusammenhang  gewahrt,  wenn  )nan  locpelöJv  tpiXov  oder 
öllov  iO(feXiov ,  wie  Blaydes  vorgeschlagen  hat ,  oder  auch 
ojcpe'Kvjv  (fiXocg.  locfelwv  tivu  setzt.  Allein  eine  solche  Aen- 
derung  ist  minder  wahrscheinlich.  Ich  glaube  jetzt,  dass 
allerdings  wq)eXoviJ.bvovg  aufzunehmen ,  dass  aber  vorher  ov 
y.aTaioyivrj  xivä;  für  ov  Aaiaioyivn  ^eovg;  zu  schreiben  ist. 
Leicht  trat  das  bei  aloyvvEaÜcu  geläuhge  i^eotg  an  die  Stelle 
von  Ttva.  Dieses  rtj'«  bezieht  Neoptolemos  wie  etwa  Ant.  751 
rj'd'  olv  Oavelrai  /mI  Uavovo'  oXel  tiva  auf  die  Person  des 
Sprechenden,  während  Philoktet  es  allgemein  fasst  und  so 
zu  der  neuen  Frage  XtyEig  .  .  läde ;  veranlasst  wird. 
S(j])h.  frg.  »)l(i  N. 

10  ()'   tvtvyoLV  auav  dgiO^/ui^oag  ßQOTuiv 
ov/.  boxiv  ovxiog  ovxir'  eigr^oeig  l'va 

ist  neuerdings  von  Gomperz  Nachlese  zu  den  Bruchstücken 
der  griechischen  Tragiker.  Wien  1888  S.  11  (Sitzungsb.  der 
Akad.  d.   Wiss.    CX\'l.  Bd.)    emgehend    besprochen    worden. 


WecMein:   Ueher  die   7'extüherliefeniiif)  des  Aeschi/loa  etc.     oo7 

Gomperz  billigt  den  Vorschlag  von  Madvig  (Advers.  I  230), 
Tov  (f'  eiTvxOLiTa  ;/«Vr'  zu  schreiben  ,  nur  will  er  die  Ad- 
versativpartikel weglassen.  Da  Gomperz  Eur.  frg.  062,  1 
oix  e'oTip  ooTig  .tavT'  di"t]Q  eidaiiiiove'i  als  Parallel vers  an- 
führt, so  betrachtet  er  auch  hier  rtövra  als  Neutrum  Plural. 
Dieses  nävia  aber  greift  dem  folgenden  ovziog  vor.  Denn 
der  Gedanke  soll  ja  doch  offenbar  sein:  .wenn  man  die  für 
glücklich  geltenden  Menschen  vornimmt,  wird  man  keinen 
finden,  der  es  in  Wahrheit  (fivTiog)  oder  in  jeder  Beziehung 
{ttÖvvu)  ist".  Gomperz  nimmt  an  CLQl^ur^oag  Ve\x\ex\  Anstoss, 
wofür  er  auf  Aristot.  Poet.  c.  13  o\  non]Tai  tovg  zvyövrai; 
Livitovg  dnt^QiOuovr  verweist.  Eher  Hesse  sich  roig  eviv- 
yovvxag  yro'vr'  verstehen  ;  aber  es  ist  überhaupt  von  keinem 
Zählen  die  Rede .  weshalb  auch  die  Conjectur  von  Xauck 
ro  ö'  evTvyoiv  rcäv  iSaQid^i^iriOag  nicht  gefallen  kann.  Ohne- 
dies erwartet  man  vor  ovriva  .  .  "va  das  Maskulinum.  Der 
Textfehler  erklärt  sich  einfach  aus  dem  Uebergang  von  ü^^or^- 
oag  im  OQii^iur^aag.     Mit 

roig  d'  EVTvyovvTag  Tiävrag  difgr^oag  ßooaov 

ovx  tOTiv  ovTtog  ovTiv^  eigiffOsig  fva 
vgl.  Oed.  K.  252  ov  yog  'idoig  av  dd^giov  ßgocov  ooiig  /.rf., 
wo  di^QEiv  gleichfalls  die  Bedeutung   , Umschau  halten"   hat. 

Soph.  fr.  775  N. 

ccTxavia  xdytvvijTa  (Tdyivr^ia)  jiqioxov  r]X^'  a;iaB. 
Der  Sinn  dieses  Bruchstücks  ist  verkehrt.  Denn  niemand 
wird  behaupten,  dass  alles  nicht  Entstandene  einmal  zuerst 
entstanden  sei.  Was  nicht  ist,  kann  nicht  entstanden  sein. 
Der  Gedanke  und  der  Zusammenhang ,  in  welchem  der  Ge- 
danke vorkam,  ist  augenscheinlich  folgender  gewesen:  „Die 
Neuheit  der  Sache  darf  uns  keine  Bedenken  erwecken;  denn 
alles  was  jetzt  alt  ist,  ist  einmal  neu  gewesen.  Wenn  also 
der  Umstand ,  dass  etwas  noch  nicht  dagewesen  ist ,  ab- 
schrecken   müsste,    könnte   niemals  etwas  Neues  entstehen". 

188S.  Philos-philol.  u.  bist.  Gl.  II.  3.  24 


358       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Dezember  188S. 

Die  Ueberliefernng  bei  Plut.  Mor.  p.  732  D  bietet  ra  yivij 
t6,  was  Valckenaer  in  xdytvvi^xa  verwandelt  hat.  Es  ist 
vielmehr  zu  schreiben  : 

OTtavra  yag  yeyovoTa  jvqwiov  ijA^'  a?ta^. 
Eur.  Hek.   1039. 

aAA'   ovTi  (.tri  cpvyrjTE  Xanl'rjQw  ttoöI- 
ßäXXiov  yccQ  OLX.COV  riövö^  avuQqr^^Lo  luvyovg. 
idov,  ßageiag  xeiQog  6qf.iaxai  ßü-og. 

Mit  Recht  hat  Nauck  V.  1040  als  corrupt  bezeichnet.  Ein- 
mal ist  ßaX'kwv  miklar,  vor  allem  aber  kann  man  dva^gr^^v) 
fuvyovg  nicht  verstehen.  Aus  1044  agaooe,  (feidov  iurjdiv, 
h.ßäXkwv  TtvXag  erkennt  man ,  dass  Polymestor  am  Thore 
rüttelt.  Zieht  man  daneben  ()r.  1473  d6(.aov  O^vQSTQa  /.ai 
azad^/.iovg  f-ioykolaiv  SKßaXovTeg  in  Betracht,  so  werden  wir  hier 

ßaXov  ydq  oXy.iov  xiovd''  dvaQQi]^io  (.lox^olg 

schreiben.  Die  altattische  Form  ßalog  hat  auch  Aesch. 
Cho.  569.  Vgl.  Bekk.  Anekd.  p.  224,  15  tov  ifjg  .'h'-gag 
Oidov,  ov  "Oi.i)jQog  ßrjXov,  oi  öi  TQayiycol  ßaXov. 

Nach  der  Herstellung  dieses  Verses  scheint  sich  der 
folgende  Vers,  welcher  bald  dem  Polymestor,  bald  dem  Chore 
gegeben  wird ,  als  Zusatz  eines  Schauspielers  zu  erweisen, 
der  in  der  äusseren  Handlung  stark  auftragen  wollte 

Eur.  Hek.   1215 

■/.a/rvoj  d'  earff.Hjv''  aatv  noXe^iitov  Iv/o. 
Mit  -Kartvog  ö'  fOVji^irji''  aoxv  hat  Canter  sicher  das  Richtige 
getroffen.  Vgl.  Aesch.  Ag.  809  -/.a/ivw  d'  äXoloa  vvv  tV 
etötjf.iog  iröXig.  Dazu  ])asst  aber  wenig  nolE(.iuov  vito.  Auch 
mit  7ioAEfjioig  vnöv^  was  Kvicala  vorgeschhigen  hat,  ist  nicht 
viel  erreicht ,  da  dadurch  das  Bezeichnende  des  Ausdrucks 
„nur  Rauch  kennzeichnete  die  Stätte,  an  welcher  die  Stadt 
gestanden"  wieder  zerstört  wird.  Die  Aenderungen  von 
Heimsöth    ciaTv  rcvQjroloiuEvov    und  F.    W.  Schmidt   /.Hypiog 


Weclclein:   Ueber  die   Text  über}  ieferuufi  des  Aeschifloi  etc.     359 

auvyfv   ÖIjT'    aoiv   .loAeiiiw   mgi    sind   nicht  wahrscli<'in1i<li. 
Ich  vermute : 

xa^rvog  (3'  far^/i/»;v'  aoTv  jvokef-iiov  /rt'pot;. 
Aeschylos  würde  dci'Coc  nvQog  geschrieben  haben. 

Eur.  Hei.   1267 

M.E.    vavv  del  naqeivai  -/.dgerinon'  hviöTäxag. 

QE.  jtÖoov  (J'  d-relgyei  uffKog  i-/.  yaiag  öogv  : 
Matthiä  und  Hervverden  haben  ,  da  .«ijxog  als  Subjekt  kaum 
erträglich  scheint,  dneigyeiv  (seil,  öel)  vermutet.  F.  W.  Schmidt 
krit.  Stud.  II  S.  135  bemerkt  dagegen,  dass  dann  der  \Vechsel 
der  Konstruktion  auffallen  würde  und  dneivai  erwartet  werden 
raüsste.  Die  Aenderungen  von  Schmidt  ttooov  ö'  änaigeiv 
ely.og  r/.  yalag  dogi  oder  d:TEigyeiv  eiy.og  ex  yaiag  dogv 
machen  einen  unnötigen  Aufwand.  Die  einfachste  Verbesse- 
rung ist  d^relgyeig  d.  h.  ,wie  weit  muss  nach  deiner  Be- 
stimmung das  Schiff  vom  Lande  entfernt  sein?"  Auch  anders- 
wo sind  bei  geringerer  Klarheit  der  Beziehung  die  Personen 
vertauscht  worden ,  z.  B.  Hipp.  273 ,  wo  die  Handschriften 
zwischen  rfKEig  und  TJy.ei  schwanken. 

Eur.  El.   1102 

lü  Tiai,  niq'VY.ag  jrarega  oov  oregyeiv  del. 
Wir  stimmen  F.  W.  Schmidt  bei,  wenn  er  a.  0.  S.  164  zu 
dieser  Stelle  sagt:  , Nicht  die  fortgesetzte,  dauernde  Liebe 
macht  Kh'tämestra  der  Tochter  zum  Vorwurf,  sondern  deren 
einseitiges  Verhalten".  Diese  Einseitigkeit  wird  aber  besser 
als  durch  ha,  durch  ayav  ausgedrückt.  Vgl.  Ae.sch.  Prom.  559 
oeßf]  d-vaTOvg  oyav,  Tlgour^i^ev. 

Eur.  El.   1290 

.rengcouert^i'  ydg  uo'igav  iy.7rk^oag  (forov 

tidaiuovr^oeig  tojvÖ'  dnalXayO^eig  novojv. 

Für    das  unverständliche    (povov    hat    man    ßiov    oder    g}6ßov 

schreiben  wollen.     Schmidt  setzt  ;i6ron'  für  (povov  und  rovd' 

24* 


300     Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

.  (povov  für  rcZvd'  .  .  növtov.  An  tiovöe  .  .  rcöviov  ist  nichts 
auszusetzen.  Es  könnte  auch  rtoröe  .  .  za/wr  heissen  wie  Suph. 
Ant.  400  Tiüvd"  Q7cri}läyßai  xaxw)'.  Es  wird  aber  növiov 
hinweisen  auf  das,  was  in  cpovov  steckt  und  für  das  weitere 
Schicksal  des  Orestes  bezeichnend  ist,  jrlävov.  Vgl.  1252 
ötivai    ÖS    Kr^Qtg    ff'  .  .  rQoyjilaTi]aovo'    ^i^iavi]   jiluvu)(.nvov. 

Eur.   Herc.  403 

oigapov  ()'  t'/fo  uiooar 
eXavvEL  ytQUQ  "dqav.^ 
"Arkavioq  Ööuov  «A^wj'. 

Es  ist  von  den  Arbeiten  des  Herakles  die  Hede.  Sonderbar 
berührt  uns  die  Vorstellung  von  einem  Hause  des  Atlas. 
Wie  soll  der  Riese,  der  immerfort  das  Himmelsgewölbe  auf 
seinen  Schultern  trägt,  eine  Wohnung  haben?  In  Erinnerung 
an  frg.  597  röv  'AilavTsiov  xtjQovai  nölov^  Aeseh.  Prom.  445 
ovQctviöv  ze  nökov  vaiTOig  V7V0OTEvcct,Bi  ('AtXag)  hal)e  ich  zu- 
nächst an  ^'ArlavTog  nlikov  sXOo'iv  gedacht.  Aber  für  f-X'hov 
würde  man  den  Begriff  des  Tragens  erwarten.  Wahrschein- 
lich hat  es  ursprünglich  "^zXavTog  /rövov  ddliov  geheissen. 

Eur.  Herc.  494 

•  aQtj^ov,  f-lOt,  y.ui  o/.ia  cfärt'di  uoi. 
Die  Interpunktion  aQr]^ov,  eli/i  y.al  ffxm,  q^öivrjdi  f.iOL  ist  un- 
richtig, weil  so  (päv),iyi  f.ioi  als  bedeutungslos  erscheint  und 
der  folgende  Satz  ahg  ydg  fA^wr  xiövag  dv  ytvoio  ov  sich 
nicht  an  (pctviii^i  f.ioi,  sondern  an  ilDt  -/mI  a/.iä  anschliessen 
würde.  Die  Bedeutung  von  xat  aber  wird  erst  klar,  wenn 
man   x«t  ffxm  q^dvrjO'  Ojiicjg  herstellt. 

Eur.  Herc.   1302 

ßiov  x'  dyQEiov  dvüoior  /.e/.iijf.ihvot. 

Gewöhnlich  behilft  man  sich  mit  /'  für  t\  Nur  Nauck  hat 
(iiotov  dyqdov  geschriel>en.  Auf  etwas  anderes  führt  Aesch. 
Schutzfl.  200.   wu   wir  die  gleiche  Lesart  td  /Qhu  (Turn,   id 


U'ecklein:   Ueher  die   Textüherheferuiuj  des  Aeachylos  etc.    3(>1 

XQ^i)  tindeii  iiml  Geel  CaxQsV  hergestellt  hat.  Hier  bedeutet 
ßiov  CayQelov  ,ein  ganz  ärmliches  Dasein*,  wie  auch  an 
der  angeführten  Stelle  des  Aeschylos  aldo'ia  /.at  yoedvd  Kai 
(^ayQeV  en\  nicht  an  ,verba  valde  ntilia",  sondern  an  , Worte, 
welche  der  Ausdruck  grosser  Hilflosigkeit  sind"  zu  denken 
ist.  Vgl.  yoBlog  Aesch.  Schutzfl.  208  und  Eur.  Herc.  1337. 
Vaw.  Herc.   128;^ 

Eig  noiov  \eq(ji'   Jj  TtavriyvQiv  (fiUor 
et  Li'' ;  ov  yciQ  drag  eirtQoorjyÖQOvg  ^yio. 
An  :javTl]yiQiv  ffihov  nehmen  Nauck  und  F.  W.  Schmidt  a.  O. 
S.  201   mit  Recht  Anstoss;    denn  für  den  Kreis  der  Freunde 
passt   doch   nicht   die  Bezeichnung   Ttavty/iQig.     Ohnedies  er- 
wartet man  nach  :iolov  'leqöv  eine  Versammlung  des  Volkes. 
Ich  glaube  darum,    dass    Xaiü  in  (fiXiov  enthalten   ist.     Vgl. 
Hiket.  481   oxav  ydq  ek&rj  rroXe/nog  elg  ilfr^cpov  Kuö.    Schmidt 
schreibt  navr^yiqiv  i^ewv.     Aber  &ewv  dde  yrctvdyvqig  Aesch. 
Sept.  206    ist  nicht  von  einer  Versammlung  bei  den  Festen 
der  Götter,   sondern    von   der  BvvTeXeia  ^ew»-  (ebd.  237)  zu 
vei-stehen,  der  Sinn  also  hier  nicht  brauchbar. 
Eur.  Hiket.  841 

nod-ev  TTO^'  o'ide  dianQenelg  evipvxic^ 
O^vrjo.i'  tffioai' ;  ehrt  y\  dg  aoffcuTEQog, 
vioioiv  doTÖJv   novo''  •    hrLOTr^uiin'  ydq  €i " 

Ich  kann  nur  wiederholen,  was  F.  W.  Schmidt  a.  0.  S.  223 
zu  dieser  Stelle  bemerkt:  , Schwer  verständlich  er-scheint  der 
Inhalt  von  842  f.  Nicht  nur ,  dass  die  Bezeichnung  des 
Adrastos  als  eines  oo(fcÖTBQog  höchst  seltsam  klingt:  dieser 
Ausdruck  ist  völlig  überflüssig,  ja  über  die  Massen  lästig  als 
Vorläufer  des  folgenden  STriOTr^ucov  yog  ei.  Nicht  minder 
unklar  ist  die  Bezugnahme  auf  die  vaoi  daviZv  ttövde,  zumal 
da  auf  diese  sonst  nicht  weiter  hingewiesen  wird  und  man 
überhaupt  nicht  einsieht ,  wozu  nicht  sowohl  dem  Theseus 
als    vielmehr    der  Jugend    die    von  jenem  begehrte  Auskunft 


362     Sitzung  der  philos.-philol.  CInsse  rom  1.  Dezember  1888. 

gegeben  werden  soll".  Vollkouimeii  gerechtfertigt  ist  V80iaii\ 
wenn  es  in  Beziehung  steht  zu  einem  Ausdruck ,  welcher 
höheres  Alter  des  Adrastos  bezeichnet,  und  jeder  Anstoss 
fällt  weg,  wenn  man  log  7iQO(p€Qr£Qog  für  lug  oocpcoregog 
schreibt.  Eum.  851  gibt  ebenso  die  Ueberlieferuiig  ooq^ontqa 
für  7TQ0(pEQteQa,  Eur.  frg.  785  oocpioxa-vti)  für  JiQorpBQtätdj  und 
auch  Soph.  El.  1370  scheint  icQO(pEQrtQoig  dem  Sinne  mehr 
zu  entsprechen  als  oocpwTSQOig.  Zu  der  Bedeutung  von  tiqo- 
(piQTEQog  (älter)  vgl.  Soph.  frg.  399  tov  nqocpeQxeQov ,  Oed. 
K.  1581  TfJ)  jiQOfpeQTaTO)  i-tovco  öT^(.iaive. 
Eur.  Hiket.  884 

dyqovg  de  vaitov,  ay.hjQa  t^  (pioei  didovg 
tyaioe  nQog  rdvÖQEiov. 
Man  hat  sßaive,    soteixe,   toiievöe  für  s'xcciqe  vorgeschlagen. 
F.  W.  Schmidt  vermutet  rJ/ie/yeT'   eg  zdvÖQelov.   Man    könnte 
auch    an    eveve  rrgog  zdvÖQslov  denken.     Aber    am    nächsten 
scheint    der    Ueberlieferung    EXQi(xnTE    Jtqog    xdvÖQElov    zu 
liegen.      Wenn    wie    gewöhnlich    s'xqitite    geschrieben    war, 
konnte  dieses  leicht  in  iyaiQE  übergehen. 
Eur.  Kykl.  1(33 

dgaotü  raö'.  oX'iyov  cpQOvTiaag  yE  ÖEOnuiiui'. 
cog  ey.jcieIv  y"  dv  xi'Atxa  [.laivotjutp'  f.iiav^ 
jtdvtiüv  Kv'kX(jü7cwv  dvTidovg  ßoOÄt^uaTa, 
Qiipai  t'  eg  dX/urjV  ?uooadog  riEzqag  ano 
dna^  I^Ei^vod^Eig  /.uTaßaXwv  te  rag  v(fQig. 
Die  Schwierigkeiten  dieser  Stelle  und  die  verschiedenen  Ver- 
suche dieselben  zu  überwinden  erörtert  und  l)eurteilt  F.   W. 
Schmidt  a.  0.    S.   319    aufs  beste.     Er  selbst  setzt  f.iaioii.irjv 
für  ijaivoif-itiv  ^    eine  leichte  Aenderung,    wenn  sie  nur  nicht 
weitere  Aenderungen   zur  Folge  hätte,    da   /niav  neben  fxai- 
oiftrjv  nicht  wohl  l)estehen   kann  ;  denn  nach  einem  einzigen 
Becher    trägt    der  Silen    kein   Verlangen.      Es  ist   von  einem 
Tau.schhandel  die   Fiede.      Der  Silen   würde  unter  Umständen 


Wecllein:    Ueber  die   Textüh  erlief  er  ung  des  Aeschißos  etc.     3(i3 

auch  nur  Einen  Becher  Wein  eintauschen,  müsste  er  gleich 
die  Herden  aller  Kyklopen  daran  geben.  Hiernach  ist  xiAr/a 
f.ian'oif.1  ijV  in  z i  A r/ '  d(.iEißo i (.i  /; v  zu  ändern ,  \V egen  des  In- 
tin.  «X7I7£M'  vgl.  Krüger  I  §  55,  3,  20.  Für  qlxpai  166  hat 
man  qUpag.  geschrieben,  doch  ist  die  Sache  damit  wohl  nicht 
erledigt. 

Eur.   Hipp.    lt)4 

olölviov  XE  y.ai  dcpQOOvvag. 
Das  8chol.  öXXoi  di  yQOifoioi  öiocpQOOvvag  o  eoti  y.a/.ouvxiag 
riZv  royiETiov  hat  zu  Vermutungen  Anlass  gegeben,  da  man 
xaxojur/m^'  mit  övocpQOOvvag  nicht  zu  vereinigen  wu.sste. 
Man  wollte  in  /M/.of.ivxl.ag  die  Erklärung  einer  wesentlich 
abweichenden  Lesart  erkennen  und  meinte,  dass  dvGrpQoovvag 
verschrieben  sei.  Hartmig  dachte  an  öioto/uag.  Aber  nicht 
dvacpQooii'ag,  .sondern  das  merkwürdige  Wort  ■/.a/.Of.ivyjag  ist 
verdorben,  und  zwar  aus  /.a/.oßovXlag.  Vgl.  Schol.  zu 
Tro.  597  duocpQoavvaig-  -Aa-Koßovliaig. 
Eur.  .Jon  52 

riog  fiiv  ovv  wv  d/.iq'i  ßiüi.ilovg  xQOCfag 
rjAör'  dd^vQiov  •  cog  d'  d7t)jvdQiod^r]  defiag  /.te. 
Es  ist  die  Rede  von  Jon,  der  als  Kind  im  Tempel  aufer- 
zogen wurde.  An  ducpl  ßtouiovg  TQO(fdg  nehme  ich  keinen 
Anstoss  wie  Herwerden,  welcher  df.i(fiß(öfxiog  ZQa(pEig  ver- 
mutet, wofür  es  iQEcp6i.iEvog  heissen  müsste.  Ich  verstehe 
darunter  ,um  die  Altäre  wo  er  Nahrung  fand^  Bei  df.i(pL' 
ßiü^iovg  TQO(fdg  kann  ich  die  Konstruktion  mir  nicht  er- 
klären. Anstoss  dagegen  muss  ich  an  r^lato  nehmen.  Etwas 
anderes  ist  es.  wenn  576  im  Gegensatz  zu  einer  Heimat  in 
Athen  das  unstäte  Leben  in  Delphi  als  dXrjtEia  und  1089 
Jon  geringschätzig  als  OoißEiog  dldtag  bezeichnet  wird.  Zu 
d&vQiur  ist  das  passende  Wort  dtdllEiv,  welches  das  muntere 
Herumspringen  des  spielenden  Knaben  ausdrückt ,  und  so 
möchte    ich    hier    r^xull'    di^vQOJV    schreiben.      Man    könnte 


364     Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classc  com  1.  Dezember  188S. 

noch ,  wenn  man  an  die  transitive  Bedeutung  von  axäXXuv 
denkt,  viov  luv  oiv  ovi'  af.icpißtof.iiOQ  ZQOcpi]  ijzaXX'  ad^vQOvi^' 
vermuten ;  aber  diese  weiteren  Aenderungen  scheinen  ent- 
behrlich. 

Rhes.  252 

jTOTi  l\lvocdv  og  ifiav  av!Lif.iayJav  ari^ei. 

Auf  das  Sprichwort  sayazog  Mvoojv  hat  schon  der  Schol. 
hingewiesen  (/JxQrjzai  de  'Kai  vvv  EvQLiridrjg  naqa  roig  x?o- 
i'ovg).  Es  kann  auch  kein  Zweifel  sein,  dass  der  Chor  sagen 
will  „ein  elender  Mensch,  wer  schlecht  denkt  von  meinem 
Bundesgenossen",  also  sicher  auf  das  sprichwörtliche  Mvoiov 
EOxcczog  Bezug  nimmt,  üimiöglich  aber  kann  dieser  Sinn  in  /r ort 
Mvowp  liegen,  wenn  auch  das  Schol.,  welches  in  zwei  Teile 
zu  zerlegen  ist:  6  zr^v  ouuf.iaxiav  dziC,cov  o  eoziv  evzEliC(ov 
rrgcg  Mvotov,  cpr^oiv,  eoziv  r^  log  ehielv  toyazog  /.ai  ovdsvoQ 
Xoyov  a^iog.  —  Olov  Mvoög  hozLV  6  azii-iatcov  rjfiag  6  (1. 
r^rof)  adoTiif-iog  Jiaqa  zr^v  7cctQ0Li.iiav  7]  ovziog'  I'otl  öe 
dagaog  axQOv  ymI  ex  röjv  Mvocov  /r^og  zovg  aziaä'Qovzag  zr^v 
6/iii]v  ov/Li/iiayiav  /.al  evzeXiCoviag  sich  bemüht,  /fort  Mvowv 
zu  erklären.  Der  letzte  Teil  beruht  auf  der  verkehrten  Ver- 
bindung l'vi  ds  d^gaaog  er  a.ly(.i^  nozi  Mvacov.  Da  das  Ver.s- 
mass  ganz  in  Ordnung  ist,  kann  die  Emendation  nicht  fern 
liegen.  Deshalb  möchte  ich  glauben,  dass  die  einfache  Ver- 
besserung Tiod-i  MvocZv  schon  von  anderen  gefunden  wäre. 
Die  Worte  „wo  unter  den  Mysern"  wollen  sagen:  „man 
muss  unter  den  Mysern  lang  suchen  und  weit  gehen ,  man 
muss  bis  ans  Ende  der  Myser  gehen,  bis  man  den  findet". 
So  ergibt  sich  der  Sinn  von  saxazog  Mvawv. 
Eur.   Rhes.  811 

Kovz'  Eioiovzag  nzgazönsö'  i^a/rcooaze 

o'vz''  e^tovzag. 
Herwerden    vermutet    l^EUiOuzt ,    welches  Wort    zu    l^LOvzag 
nicht    passt,    Nauck    (j/gazö/reöa    ^vvrfKaze,    h\   W.  Schmidt 


]\'eckleiii:   Uclier  die   Te.rtüherlief'endKi  iles  Aeschijlof^  etc.    36.) 

s^rjxoioaTE.     Mit   leichter  Aenderung  ist  in  f^ojriö/iare  das 
für  Wächter  passendste   \\'ort  hergestellt. 
Eur.  Tro.  349 

ovde  a'  ai  zlx<xi 
eoiij(fQovrfAao\  aXX"  et'  sr  ravrw  (.Uveiq. 

Auf  vielfache  Weise  hat  man  versucht  den  Fehler  dieser 
•  Stelle  zu  heben.  Heath  hat  oiöf  oalg  riyaig  eacocfoovr^y.ag 
{0E0iü(fQ0i'i/Äag)  vermutet,  Seid  1er  ovde  oai  xvyca  aeocoffgo- 
vq-/.ao\  Härtung  ovöi  o'  cä  riyai  oo(pr(v  e'0^y]Kav,  Nauck  ovöe 
oal  ztyai  owcpQova  rii^er/.cio''  oder  eq  oüxpQOv  riyao\  F.  W. 
Schmidt  Krit.  Stud.  II.  1886  S.  386  ovök  raig  rcyaig  ig 
oiocfQov  rjxeig,  Busche  observ.  crit.  in  Eur.  Tro.  1887  S.  31 
oiöe  ffj  Tvytj  lg  ovjcpqov  r^xeg.  Für  seine  Aenderuug  ver- 
weist Härtung  auf  frg.  455  cti  tvyai  dt  ue  .  .  ao(pi]v  ed-t]-/.av, 
aber  Nauck  Eur.  Stud.  II  S.  130  bemerkt  dagegen,  dass  der 
Begriff  oocfog  der  Situation  widerstrebe ,  in  welcher  es  sich 
nicht  um  ao^ia,  .sondern  um  acoq^goovvt]  handle.  Der  Con- 
jectur  von  Xauck  gegenüber  hat  Busche  a.  0.  dargethan. 
dass  zed^eixa  dem  Sprachgebrauch  der  Tragiker  und  r^yct 
überhaupt  dem  Gebrauch  der  Attiker  fremd  ist.  Die  Redens- 
art ig  oöJcpQov  r^■/.elg  ist  sehr  zweifelhafter  Natur.  Als  die  ein- 
fachste Aenderung  erscheint  ovdi  o'  ai  tvyui  ioiocpQÖviCov. 

Eur.  Tro.  381 

ovöe  uQog  TCKfovg 
eod-'  ooTig  aiTo'ig  aiua  yf,  öiogr^öETai. 
Für  uLfAu  habe  ich  früher  yei/na  vermutet.  F.  W.  Schmidt 
a.  0.  S.  387  wendet  dagegen  ein,  dass  yBV[.ia  im  Sinne  von 
yoai  nicht  nachweisbar  sei.  Schmidt  .selbst  schreibt  HV(.iEvr^g 
XiOQTfGeTai.  Ich  bezweifle,  ob  yojqEiv  diese  Bedeutung  haben 
kann.  Das  passendste  Wort  für  aiua  wäre  XovToä.  Vgl. 
Soph.  El.  434  XovTQo  nqooq'iQBiv  Tiatqi.  Jedenfalls  aber 
i.st  aiTolg  unter  dem  Einfluss  von  dojqriOezui  entstanden. 
Nimmt  man   die  Lesart  der  zweiten  Klasse  der  Hand.schriften 


366      Sitzung  der  phUos.-phUoh  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

racpoig  auf  —  nach  yrgög  ging  leichter  rdcpoig  in  ■tcc(povg 
als  rdqiovg  in  räcpoig  über  — ,  so  erhält  die  Stelle  die  rich- 
tige Form  mit 

oide  ngög  räcpoig 
toiy   oaiig  aviuiv  lortga  yf^  dioqr^oetai. 

Eur,  Tro.  547 

do(.ioig  di  /laficpaeg  Oi'Xag 
nvQog  f-iilaivar  aiyXav 
tdw/.ev  V71VIÜ. 

Da  schon  vorher  der  Tanz  geschildert  wird,  kann  nicht  vom 
Schlafe  die  Rede  sein.  Mit  Recht  also  hat  Heimsöth  unter 
Anleitung  des  resjiondierenden  strophischen  Verses  öoXiov 
iaxov  oiav  hier  dTreöitoy.e  vvy.c6g  hergestellt.  Al)er  i-iekairai' 
atyXai'  wz-TÖg  ist  ein  unmöglicher  Ausdruck ,  welcher  sich 
mit  Phil.  831  oi.tf.iaoi  d'  dvTt'axoig  tavö'  ai'yXav  a  tttaxai 
id  viv  nicht  rechtfertigen  lässt.  Denn  an  dieser  Stelle  ist 
atyXav  nur  ironisch  gebraucht:  , diesen  Lichtglanz,  welcher 
jetzt  über  die  Augen  ausgebreitet  ist"  d.  h.  , diese  Dunkel- 
heit, welche  an  Stelle  des  Lichtes  jetzt  seine  Augen  umgibt". 
In  der  oben  angeführten  Stelle  muss  es  heissen : 

fiikaivav  d%Xvv 
djcediiO'AE  vvY.Tog. 

Vgl.  (.liluivav  oQffvijV  Herc.  46.  Für  dyh:v  (wie  bei  Homer 
und  Hesiod)  verweise  ich  auf  yivvv  El.  1213,  "hvv  (neben 
7rrj')  Soph.    El.    148. 

Eur.  Tro.    1221 

ov  t'   0)  71  Ol''  ovoa  ■/.aU.ivf/.t   iilqIojv 
iiifTEQ  iqojtclUov^  "E^TOQog  (fikov  aay.og, 
aitffuroi'   i^avtl  ydg  ov    '}arovoa  ovi'  ve-kqw. 
Mit  diesen  Worten   redet  Hekabe  den  Schild  des  Hektor  an, 
auf    welchem    sie    ihren  Sohn    zu    bestatten    im   Begriffe   ist. 


Wecklein:   lieber  ilie    'lextuherlieferung  des  Aeschylos  etc.    3H7 

Die  Worte  ^arel  yag  or  If^apovoa  sind  schwei-  zu  verstehen, 
mag  man  i^avel  yag,  ov  i}ai'OLoa,  otr  re/igii)  oder  xf^avel  yccQ 
ov ,  ^ai'OLOa  avv  vexQq)  verbinden.  Aus  dem  Schol.  /mitoi 
aivi^antouivr^  xw  vs/.QiJ)  oh.  a/iod^arfj  schliesst  Bartliold  auf 
die  Lesart  raffe'ioa  orr  rexQO).  Aber  seine  Erklärung  kann 
der  Schol.  sehr  wohl  ans  dem  handschriftlichen  Text  ent- 
nommen haben.  Dies  nuiss  man  auch  deshalb  annehmen, 
weil  mit  if^avei  yag  ov  larpeiaa  nichis  gebessert  wird.  Schon 
die  Verbindung  von  oc  mit  i^avel  wird  durch  die  Stellung 
nicht  empfohlen.  Vor  allem  aber  wird  der  Schild  nicht  des- 
halb bekränzt .  weil  er  unsterl)lich  ist ,  sondern  weil  er  mit 
dem  Leichnam  bestattet  werden  soll.  Die  Vermutung  von 
F.  W.  Schmidt  a.  0.  S.  405  GTefpavov,  (fiXw  Kaiwif^ev  ovoa 
aiv  vEXQw  ist  nicht  bloss  unwahrscheinlich ,  sondern  auch 
wegen  des  Präsens  ovaa  nicht  brauchbar.  Den  richtigen 
Sinn  gibt  die  leichte  Aenderung:  ozeg^avot  ■  y.drei  ydg  oi 
d^avovoa  ovv  vev.QO).  Mit  /.ätu  „An  wirst  ins  Grab  hinab- 
gehen" vgl.  den  doppelsinnigen  Gebrauch  des  Wortes  Med. 
10L5  n^4l.  ifägoei'  y.äiet  voi  /.al  ov  yvQog  teY.vo)v  sti. 
DIH.  aXXovQ  /MTo^o)  /iQoo^ei'  t]   xa'Kaiv    eyto. 

Eur.   Tro.   1242 

hOiQEilie  rdfi'j    itQißaXiü^'  xarw  yihovög, 
a(f>ave7g  av  ovreg   ovv.  av  ifj.vrji)^Blf.i£v  ar, 
iiovoaig  doiöd(;  öidovieg  doi6ol(;  ßgonov. 

Die  Behandlung  der  Stelle,  Avelche  in  meinen  Stud.  zu  Eurip. 
S.  824  f.  gegeben  wird,  hat  F.  W.  Schmidt  a.  0.  S.  406  f. 
verworfen.  Ich  habe  aus  seiner  Erörterung  einiges  gelernt, 
kann  aber  die  Verbesserung  Movoaig  doiddg  i^tvxeg  kg  x6 
näv  xQovov ,  welche  alle  Ueberlieferung  über  Bord  wirft, 
nicht  gelten  lassen.  Zunächst  halte  ich  daran  fest ,  dass 
dcpavEig  dv  övzeg ,  wie  die  beste  Handschritt  in  1243  gibt, 
in  gewissem  Sinne  die  bessere  ueberlieferung  ist  und  eazoeipe 


3t>8        Sitziuuj  der  philos.-philol.  Classe  com  1.  Dezember  1888. 

ravio  nachträglich  interpoliert  wurde,  nachdem  aus  dem 
folgenden  Verse  dcfavelg  av  ofzeg  eingedrungen  war.  Wenn 
ich  dafür  ed^rf/.'  otarovg  geschrieben  habe,  so  wollte  ich  nur 
beispielsweise  den  erforderlichen  Sinn  andeuten.  Wenn  aber 
Schmidt  el  ds  ,aij  Osög  sorgeipe  Td/.id  xegl  ßalwv  gibt,  so 
ist  weder  l'oTQSijje  noch  ra^m  sehr  geeignet,  überhaupt  der 
Sinn  nicht  deutlich  und,  wie  gesagt,  eine  Interpolation  die 
Grundlage.  —  In  dem  letzten  Verse  ist  natürlich  doidäg  und 
doiöolg  in  Zusanimenhang  zu  bringen  ;  man  wird  wohl  nicht 
fehl  gehen,  wenn  man  sagt:  doidolg  wurde  aus  seiner  Stelle 
verdrängt,  als  doiöäg  als  Glossem  zu  /.lovaag  in  den  Text 
kam,  und  wegen  doiddg  dovreg  wurde  uovaag  zu  /.loioaig. 
Ferner  ist  zu  beachten,  dass  hdiöioim  das  richtige  Verbum 
ist.  Vgl.  Hek.  1239  rd  x^rjord  7iQdyi.iaTa  xqrioriov  d(poQi.idg 
Ivdiöojo'  dei  loycov.  So  gewinnen  wir  i-iovoag  doidolg  Ivdi- 
öövxec,.  An  höiöovxeg  hat  auch  Nauck  gedacht.  Es  lehlt 
uns  noch  der  Schluss  des  Verses  und  zugleich  eine  nähere 
Bestimmung  zu  doiöo'ig.  Nach  Hiket.  1225  ujödg  voTtQOiai 
O^rjOetE  kann  das  Epitheton  kaum  ein  anderes  sein,  als  ioit- 
Qoig,  so  dass  der  ganze  Vers  lautet: 

{.lovaag  doidolg  svöidovreg  voteQOig. 
Die  Ueberlieferung  im  Pal.  varegar  ist  also  nicht  ohne  Be- 
deutung und  wir  müssen  annehmen,  dass  das  von  seiner  Stelle 
weggedrückte  doiÖolg  in  den  anderen  Handschriften  das  ur- 
sprüngliche voctQOig  verdrängt  hat,  während  ßoovwv  zur  Aus- 
füllung des  Verses  herhalten  musste. 
Eur.  Phoen.  322 

o'y-fiv  E(.i6v  TB  Xev/.oxQoa  /.tiQOf.iai 
öcexQvoeoo'  dvelaa  iitvOei  xo/^tav, 
liit/ikog  (faQHur  KEvy.(h\   Ttxvov, 
diOOQffvaia  ö'  dficfi  tQvyjj  tade 
n/.öxC  djLiet'iiouui. 
DerSciiol.   will  dficpi  mit  d(.ieiiioi.iui  verbinden   (ri  d/ncpl  rcQog 
t6  d^i€ifiof.tai,    ToviioTi   /legtlidAlofiai).      Aber    es   gibt    kein 


W'rihJeifi:   IJeher  die   lejiHlicrlirfentufi  (ha  Aeschj/loa  de.     309 

\  erbuni  dj.tcfauEißo(.nii  iiiul  kann  ein  solches  nicht  geben, 
da  dem  ein  ürtsverhältnis  bezeiclmenden  ducpi  der  Begriff 
des  Au-stauschens  fremdartig  ist.  Etwas  anderes  ist  dtperai 
i'uq^l  ßgöy^ov  Hipp.  770,  wo  die  Erklärung  des  Schol.  r]  df.t(pi 
lOüi^  TG  aiiievai  drei  tov  TrEQiäi!>£Tai ,  trotzdem  die  Tniesis 
l)ei  d/itifi  zumal  in  der  Anastrophe  selir  selten  ist,  nicht  be- 
anstandet werden  kann.  Andere  Grammatiker  Yer])anden 
duq^i  mit  rgi'/i,  zu  df^Kfixqvyj^ ,  welches  bei  Hesych.  und 
>uidas  u.  d.  W.  und  in  Bekk.  Anecd.  p.  389  mit  y.axEQQio- 
yöra  erklärt  wird.  Das  Wort  wäre  gebildet  wie  d/.t(piT£iy7]g, 
aber  wie  in  df^iffireiyrig  Xsiog  die  Mauer,  so  müssten  hier  die 
Löcii(»r  des  Gewandes  von  etwas  umgeben  sein.  Ausserdem 
ist  o/.oTta  nach  övoÖQ(fraiu  tautologisch  und  wollte  man 
OAÖria  wie  336  a/.öxia  /.qvTxxtxai  erklären ,  so  bedeutet  es 
wenig,  wenn  .Jokaste  .in  der  Nacht"  oder  vielmehr  „in  der 
Dunkelheit  des  Gemaches"  schwarze  Kleider  anzieht.  Weit 
wichtiger  mu.ss  es  ihr  erscheinen,  sich  in  der  Oeffentlichkeit 
nur  mit  schwarzen  Kleidern  zu  zeigen.  Valckenaer  hat  dvx'i 
für  dinfi  vermutet.  Dabei  bleibt  das  lästige  a/.oxia.  Ich 
habe  früher  o/.oxia  keißoinai  vorgeschlagen.  Der  neueste 
Herausgeber  der  Phoenissen,  Bernardakis,  belehrt  mich  aber, 
dass  man  Xeißofjai  nicht  ohne  dd-KQva  oder  öd/.Qvoi  sagen 
kann.  Gerade  dieser  Einwand  führt  auf  das  Ursprüngliche. 
^■/.nxiu  stammt  aus  33()  und  hat  hier,  zu  övooQCfvata  bei- 
geschrieben, da/.Qva  verdrängt.  Mit  ddzgva  Xeißoi-iat  vgl. 
Soph.  Ant.  627.  Aescb.  Prom.  41().  Die  Bemerkung  von 
Bernardakis:  /röjg  eive  övvaxuv  rd  xr^y.erai  xig  eig  ödxQvn 
7T6Qi^  xibr  q^oge/ndiojv,  dxira  fftoei;  verkennt  die  eigentliche 
Bedeutung  von  dfucfi.  Da  die  Thränen  von  beiden  Augen 
fliessen,  so  überströmen  .sie  beiderseits  das  Gewand. 
Eur.  frg.  21,  .5 

a   uri   yao  foxi  xiü   rrtvrjxi^   -rrkovOLOg 
didojo'  ■   a  d'  oi  nXovxovvxeg  ov  y!.ey.xr^(.itl}u, 
io'ioir  ;rfri^(Jt  yo(')utroi   :i ei^(i'jt.ieDu. 


370        Sitzung  der  ithilos.-phüol.  Classe  vom  1.  Dezember  188S. 

Das  unbrauchbare  neid-ioneiya  hat  man  in  ,'hrjQOJi.isf}a  oder 
7V€7ii6fiEi^a  verbessert.  Aber  ^r;^w,u£^a  ist  in  seiner  Bedeu- 
tung hier  zu  stark,  7ie7nof.tsd^a  ist  sowohl  des  Modus  wie 
der    Form    halber    bedenklich.     Ich    vermute    2qtof.iEvoi    \'ri- 

ATllfXEd^a. 

Eur.  frg.   166 

ro  jiii~QOv  avxu)   lov  naxQog,   vooiji.i'  tvi ' 
qLXs.1  ycto  ovTwg  r/.   xcr/.iöi'  eivai   /.axot'c. 

Mit  Recht  findet  F.  W.  Schmidt  a.  0.  S.  445  die  Struktur 
von  cpiXel  befremdend.  Dagegen  kann  ich  ihm  nicht  bei- 
stimmen, wenn  ihm  ovriog  als  völlig  müssig  erscheint.  Dieses 
leitet  passend  von  dem  einzelnen  Falle  auf  die  allgemeine 
Regel  über  und  bezeichnet  das  Entsprechende.  Ganz  mit 
Unrecht  erklärt  Schmidt  h.  y.a/.wv  xaxot'g  als  ungehörig, 
weil  vorher  nur  von  der  Thorheit  die  Rede  sei;  to  f^ioQOv 
v6or]fxa  bezeichnet  das  leidenschaftliche  Wesen  —  der  Anti- 
gone,  denn  atV^  hat  mit  Recht  Süvern  hergestellt  — ,  recht 
eigentlich  also  eine  /•.a/.ia  xr^g  «/^^'X^fe'-  Die  Aenderungen  von 
Schmidt  gehen  viel  zu  weit ,  um  glaubwürdig  zu  sein.  Er 
verlangt  (fvvai  yoQ  Eixog  Ix  y.a'/.iov  yvtiixaig  naxotg,  worin 
mir  yvcüi-iaig  die  präcise  P^orm  der  Sentenz  zu  stören  scheint. 
Wir  haben  wohl  den  Fall,  der  sich  öfter  findet,  dass  an  die 
Stelle  von  de  das  geläufigere  ydg  getreten  ist,  auch  hier  an- 
zunehmen und  zu  schreiben : 

(fikovoi  d'  ovTiog  fx   xaxwv  tivai  /.uxui. 

Eur.  frg.   198 

ei  d'  evTvxcjv  cig  xai  ßiov  /.eA.trjfxivog 

t.ii]div  ööf-ioLöi  Tojy  /.aXwv  rrsiQaoeTai, 

lyio  i^iiv  ov7roT^  avTov  o'Kßiov  /.aloj, 

cpvXayia  de  /jalXov  yQrjiuärojv  evöat/AOva. 

Die  treffliche  Emendation    von   Cobet  TiErcäaerai  sollte  nicht 

verschmäht    werden.      In    dem    was   Schmidt    a.  0.    S.  450 

vermutet  uijöir  arcnXaiaai  zoJv  /.aXiöv  71eiqÜoexui    „wenn  ein 


Wecklein:    lieber  ilie    Texlnherlieferanii  deft  Aeschi/los  etc.     371 

Begüterter  es  nicht  über  sich  jrewinuen  kann ,  etwas  von 
seinen  Glüeksgütern  /u  verwenden'',  ist  schon  /reigdaezai 
kaum  brauchbar  und  würde  iolf.n\oEi  eher  am  Platze  sein. 
Das  Bruchstück  gehörte  einer  Rede  des  Amphion  an ,  in 
welcher  der  niedrigen  Erwerbsucht  gegenüber  die  höheren 
Güter  des  Lebens,  welche  Kunst  und  Wissenschaft  bieten, 
gepriesen  wurden.  Was  also  twj-  /.aXwv  bedeutet,  ist  klar. 
Mit  Hecht  aber  hat  Nauck  an  eidaif.iova  Anstoss  genommen, 
welches  einen  Widersprucli  mit  dem  vorhergehenden  Verse 
enthält:  der  auovoog  arr^Q  kann  noch  weniger  als  Evdai(.iMi' 
denn  als  oXiiiog  bezeichnet  werden.  Denn  man  wird  doch 
nicht  etwa  in  eiöai/.iora  die  Freude  des  Geizhalses  finden 
wollen ,  von  der  Horaz  Sat.  1166  spricht :  populus  me  si- 
bilat.  at  mihi  plaudo  ipse  domi,  simul  ac  numnios  contemplor 
in  arca.  Ein  solcher  Gedanke  liegt  hier  fern.  Nauck  ver- 
mutet Övoöai/Aova,  welches  auch  Schmidt  gelten  lässt.  Damit 
würde  der  Dichter  etwas  behaupten ,  was  niemand  glaubt. 
W^ir  fordern  ein  Epitheton,  welches  das  mühselige  Leben  des 
Reichen  und  dessen  Sorgen  um  sein  liebes  Geld  kennzeichnet, 
und  schreiben : 

cfihxy.a  öi  /näkXor  yQrjuärojr  svihrlf.iora. 
Vgl.    Aesch.  Cho.   83    d/Liioai  yvvul/.eg ,    öcouärioi'   evÖ-^i.ioreg 
mit    dem  Schol.    Tovxiaviv    v/rr^getideg    et  rtO^e'toai  zu  /.uid 

TOV    OVA.OV. 

Eur.  frg.  303 

f/(w  dt  Tovg  xakcüg   iei)vrf/.6Tag 
"Cr^v  (pr^ui  f.iöXXov  xov  ßltnEiv  zovg  /.iij   y.ahög. 

Es  sollte  mich  wundern,  wenn  noch  niemand  an  die  einfache 
Emendation  zov  ßXiriovzog  ov  /.alüg  gedacht  hätte.  Wenn 
man  aber  diese  etwa  de.shalb  unbeachtet  lässt,  weil  man 
l^yi  für  notwendig  hält,  so  bemerke  ich,  dass  ov  y.ahog 
wegen  des  Gegensatzes  zu  dem  vorhergehenden  /.aXcog  ganz 
richtiy;  i^t. 


372       Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom   1.  Dezemher  I88S. 

Enr.  frcT.  407 

iig  aga   t/r^r/^^  r^   /lartiQ  y.uyior   i.ii-ya 
ji(JUTul(;  tffiat   lor  dvoo'jvif.iov  (fiOorov; 
;iOi    '/.ai  uox'  olv.ei  aojf.iaToc;  Xaywv  (.liQüo,; 
fr  yßQoiv  rj  OTtläyyroiGtr  rj  naq'  äjnaara 
kod-'  7j/Lih> ;  tug  r-jV  fiöyOog  laTQoTg  fAtyag  5 

lOf-ialq  äq^aiQslv  7"  710x6101  (paQf.iä'/.oiq 
fcaoiöv  lusyiOTrjV  ttov  ev  avxf-Qio/TOig  vuaov. 
Diese  feine  und  eindringliche  Form  den  Neid  zu  verwünschen 
verdient  es ,  dass  man  ihr  die  ursprüngliclie  Gestalt  voll- 
ständig wiedergibt.  Der  Fehler  in  V.  5  wird  schon  durch 
das  Versmass  angezeigt;  denn  die  Verkürzung  'i^t-iiv  {i^j.iiv)^ 
welche  bei  Sophokles  häufig  vorkommt,  hat  Euripides  sonst 
vermieden.  Man  kann  freilich  sagen ,  dass  sie  auch  bei 
Aeschylos  nur  einmal  sich  finde ,  Eum.  349  yiyvo^ihaiot 
laytj  räd'  fcf'  äf-dv  F:/.Qavdrj.  Hier  kann  das  daktylische 
Versmass  zur  Entschuldigung  dienen.  Es  gibt  aber  noch  ein 
zweites  Beispiel  bei  Aeschylos ,  Suppl.  970 ,  wo  Kirchhoff' 
kvi)''  v^tlv  f'oTiv  für  evdvfieh'  sotiv  hergestellt  hat.  Weil 
hat  allerdings  tv^  foriv  v^lv  vorgeschlagen  und  Dindorf 
pflichtet  ihm  bei,  aber  die  Ueberlieferung  enthält  gerade  in 
der  Harmlosigkeit  der  Korrupte!  die  Sicherheit  der  Emen- 
dation  kvi^  if^iv.  Doch  wenn  man,  obwohl  in  den  weit 
zahlreicheren  Dramen  des  Euripides  kein  einziges  Beispiel 
vcn-komnit,  trotzdem  glauben  sollte,  dass  if.tir  an  der  einen 
Stelle  nicht  zu  beanstanden  sei,  so  wird  durch  die  unbrauch- 
bare Verbindung  und  Konstruktion  des  folgenden  Satzes  aller 
Zweifel  beseitigt.  In  keiner  Weise  lässt  sich  das  Imperfekt 
erklären  ;  zur  Not  könnte  man  tjv  äv  verstehen.  Dies  gilt 
auch  von  den  Gonjecturen  von  Meineke  ov-/.  totiv  log  r(v 
und  F.  W.  Schmidt  a.  O.  S.  408  aoacfig  f.itv,  wW  r)v  und 
es  is  mir  nicht  recht  verständlich,  in  welchem  Sinne  Schmidt 
auf  Krüger  1  §  53,  2,  7  und  Kühner  W  S.  177  verweist. 
Gerade    ojg    tjv    lehrt    uns,    was    vorhergegangen    sein    ninss: 


Weclh-iti:   Ueher  <Ue    Textüherlieferuw)  des  Äescliylos  etc.     373 

,0    dass    wir's  wüssten .    auf   das^  die  Aerzte  sich  alle  Mühe 
gäben",  also 

iv  xEQolv   »I  GJi'kayyvoioiv  jj  yTaq*  o/ufiaza; 

£t'^'  Tjoi-iEi',  log  r^v  fxoyd-og  laxQolg  /ntyctg  xt£. 
Schmidt  verlangt  xaf'  6i.if.iaTa,  aber  der  Dichter  scheint  7caQ' 
ouf-iaTa  (neben  den  Augen)  vorgezogen  zu  haben,  weil  ihm 
das  Schneiden  in  den  Augen  nicht  praktikabel  vorkommen 
mochte.  Die  Aendernng  von  tvov  xai  ttov''  in  xi  dr^  not'' 
oder  iio'iöv  tiot'  ist  deshalb  nicht  zu  billigen,  weil  sich  das 
folgende  sv  yeQOiv  an  nov  anschliesst ,  während  man  nach 
7io~i6v  Tioz'  or/.el  .  .  Xaywv  fiegog ;  eher  tag  yeigag  erwarten 
würde.  Ueberhaupt  vermisst  man  sowohl  xat  als  rrox'  un- 
gern, so  dass  auch  die  Vermutung  /rot-  /rolov  oh/.el  mir  nicht 
mehr  annehmbar  erscheint.  Der  Gedanke  ,wo  mag  er  auch 
nur  wohnen  angesiedelt  irgendwo  im  Körper?"  soll  bedeuten: 
„irgendwo  im  Körper  muss  er  ja  stecken ,  wo  mag  er  nur 
seinen  Sitz  haben?"  Sonach  dürfte  nunmehr  das  ganze  Frag- 
ment in  bester  Ordnung  sein. 

Der  Umstand,  dass  hier  r^f-üv  in  j^ö(.iev  überzugehen  hat. 
gibt  eine  gewisse  Gewähr  für  die  umgekehrte  Verbesserung 
von  Alk.  278  Iv  aol  d'  eofuiv  ymI  ^r^v  Y.al  f-ir^ ,  wo  F.  W. 
Schmidt  a.  0.  S.  8  er  ool  6'  toxiv  /.ai  Lr^v  y.al  fii]  oder  h 
aoi  ö'  tyoixEv  /.ai  Li^v  /lai  uTj  oder  endlich ,  womit  jedoch 
die  Verbindung  verloren  geht,  sv  ool  xovf.i6v  /.al  Cr^v  /.al  ur[ 
vermutet ,  während  ich  f »'  ool  6'  7]uh'  /.al  C*j»'  /.al  u\^  vor- 
schlage. 

Eur.  frg.   801 

aoypr^qov  loxiv  dvd^i   .iQEoßüxrj  xt/.va 
diöiooiv  üoxiq  oty.ty  (vgalog  yaf.iei ' 
dtonoiva  yccQ  ytQOvxi  vvf.npuü  yvvrj. 

Die  zwei  Wörter  xk/.va  öidtuoiv ,  von  denen  das  erste  dem 
Sinne  nicht  entspricht,  das  zweite  aus  der  Konstruktion  fällt, 
hat  man  auf  verschiedene  Weise  zu  verbessern  gesucht.    Alj- 

1888.  Philos.-pbilol.  u.  bist.  Cl.  II.  3.  25 


374       Sitzuiip  der  philoi^.-philol.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

gesehen  vom  Sinne  ist  auch  der  Form  nach  das  von  Her- 
mann vorgeschlagene  cexriuv  ccQcooig  (für  agoaig)  bedenkhch. 
N'alckenaer  hat  vaa  für  Tt/.va  vermutet,  obwohl  man  erst  im 
zweiten  Vers  den  Gegensatz  zu  ot'xf'i^'  cuQa'iog  erwartet. 
Meineke  lässt  nach  jiQeoßvTrj  via  einen  Vers  ausgefallen  sein, 
in  welchem  das  zu  didiooiv  gehörige  Objekt  (TiiAWQiav)  ver- 
loren gegangen  sein  soll.  Nauck  verwandelt  öiöwaiv  in  rjAt- 
d^iOQ,  was  nach  fxoyßijQOv  sativ  wenig  anspricht.  Was  Munro 
mit  didcooiv  oorig  or/f  ^'  toQalu)  yaf.ieh'  bezweckt ,  leuchtet 
mir  nicht  ein.  Mir  scheint  einerseits  /.wyßrjQOv  eoTiv  .  .  via 
kein  passender  Ausdruck  zu  sein,  andrerseits  wünschte  ich. 
wie  gesagt,  den  Gegensatz  im  zweiten  Verse.  Es  kann  kaum 
zweifelhaft  sein,  dass  der  Dichter  gesclirieben  hat: 
(.loyßriQOv  ioziv  ovöqI  7iQE0ßvrr]  liyog, 
vE&viv  ootig  ov'^iiy^  loqalog  yai.iei. 


375 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  1.  Dezember  1888. 

Herr  Riezler  hielt  einen  Vortrag: 

„Die    Vermählung    Herzog    Albrechts   IV.    von 
Bayern  mit  Kunigunde  von  Oesterreich.** 

Bei  meinen  Studien  über  Albrecht  IV.  befestigte  sich 
in  mir  die  üeberzeugung,  dass  die  Geschichte  diesem  Fürsten 
Ehrenrettung  gegenüber  einer  schweren  Anklage  schulde. 
Von  österreichischen  Historikern  wird  behauptet,  der  Witteis- 
bacher halje  sein  Verlöbnis  mit  Kunigunde  von  Oesterreich 
nur  dadurch  erzielt,  dass  er  Erzherzog  Sigmund  und  der 
Prinzessin  ein  von  ihm  gerälschtes ,  die  väterliche  Zu.stimm- 
ung  aussprechendes  Schriftstück  Kaiser  Friedrichs  III.  vor- 
gewiesen habe.  Der  Vorwurf  findet  sich  in  der  gelehrten 
historischen  Literatur  zuerst  in  Fuggers  Ehrenspiegel  des 
Hauses  Oesterreich,  hier  noch  nicht  deutlich  ausgesprochen, 
doch  dürfte  ihn  Fugger  bereits  im  Sinne  gehabt  und  nur 
mit  Rücksicht  auf  Albrechts  Enkel,  den  regierenden  Herzog 
von  Bayern  verhüllt  haben.  Er  sagt^):  ,Zu  dem  Venediger 
Kriege   hat  Herzog  Albrecht  Herzog   Sigmund    eine    tapfere 

1)  Cgm.  895.  f.  37U.  Bekanntlich  liegt  Fuggeis  Werk  in  echter, 
unverstümmelter  Gestalt  nur  handschriftlich  vor. 


37()  Sitzung  der  histor.  Chtsse  vom  1.  Dezember  1888. 

Summe  Geld  vorgestreckt,  dagegen  Sigmund  Albrecht  so  viel 
Luft  gelassen ,  dass  er  den  Willen  des  Kaisers  Tochter  er- 
langt und  ihme  durch  ein  seltsames  Scheinen,  zugleich  als 
ob  solches  des  Kaisers  Willen  und  Meinung  gewesen  wäre, 
dieselbige  zu  einem  Ehegemahl  versprochen,  auch  die  Graf- 
schaft Tirol  denselben  beiden  zu  einem  Heiratsgut  verheissen 
hat.  Mit  solchen  seltsamen  Fügen  und  Listen  hat  Albrecht 
Kunigunde  ohne  Wissen  und  Einwilligung  ihres  Vaters  zur 
Ehe  genommen."  Deutlich  hat  dann  Sigmund  v.  Birken  in 
seiner  Ueberarbeitung  des  Fugger 'sehen  Ehrenspiegels  (1668) 
dem  Vorwurf  Ausdruck  gegeben  ,  ohne  jedoch  dessen  Ver- 
tretung selbst  zu  übernehmen.  „Wie  etliche^)  wollen,  lehrte 
Albrecht  die  Liebe,  die  Meisterin  vieler  Künste,  mit  Hilfe 
Herzog  Sigmunds  Kaiser  Friedrichs  Hand  und  Lisigel  nach- 
malen und  nachmachen  und  in  dessen  Namen  einen  Brief 
schreiben,  darin  der  Tochter  wegen  dieser  Heirat  das  väter- 
liche Vollwort  gegeben  wurde." 

Ohne  Einschränkung  und  ohne  Bedenken  findet  sich 
endlich  die  schwere  Beschuldigung  ausgesprochen  in  der  Ge- 
schichte des  Hauses  Habsburg  vom  Fürsten  Lichnowsky  (VHI, 
73)  und  neuerdings  von  Professor  Albert  Jäger,  im  ."il.  Bde. 
des  Archivs  für  österreichische  Geschichte  (1873),  in  einer 
eingehenden  Abhandlung,  welche  betitelt  ist :  Der  Uebergang 
Tirols  und  der  österreichischen  Vorlande  von  dem  Erzherzoge 
Sigmund  an  den  römischen  König  Maximilian  von  1478 
bis   1490. 

Von  den  bayerischen  Historikern  (Aventiu ,  Adlzreiter^ 
Zschokke,  Buchner,  Silbernagl)  hat  zwar  keiner  diese  Ver- 
unglimpfung Albrechts  aufgenommen ,  aber  aucli  keiner  den 
Fürsten  gegen  diesell)e  verteidigt  und  keiner  der  Frage  eine 
etwas   tiefer   eindringende  Untersuchung    gewidmet.     So  wie 

1)  VVahr.scheinlirli  sind  Fugger  und  der  anonyme  Hiograj^li  Ku- 
nigundens  gemeint. 


I\ie:ler:    Vermähl uii;/  Hrrzor/  Alhrechfs  IV.  von  Baifcrii.      '^77 

die  Dinge  bisher  lagen,  könnte  man  glauben ,  dass  nur  aus 
patriotischer  Zurückhaltung  die  bayerischen  Geschichtschreiber 
schweigend  über  diesen  heiklen  Punkt  hinweggegangen  seien. 

Um  auf  den  Grund  zu  sehen,  ist  vor  allem  festzustellen, 
was  wir  aktenmässig  über  den  Hergang  wissen.  Instruk- 
tionen inid  Urkunden .  welche  sich  auf  die  Werbung  und 
Heirat  beziehen,  sind  im  dritten  Bande  von  Herrgotts  Monu- 
menta  gentis  Habsburgicae  und  wiederholt  als  Beilagen 
zur  anonymen  Biographie  Knnigundens  gedruckt.  Wichtige 
Correspondenzen  sind  in  Auszügen  in  einem  Copialbuche  des 
k.  b.  geh.  Hausarchivs  gesammelt,  das  überschrieben  ist: 
Heirats-  und  Correspondenz-Acta ,  Tom.  IV.,  teilweise  die- 
selben, dann  auch  weitere  im  dritten  Bande  von  Arrodens^) 
Summarischer  Archivbeschreibung  im  Münchener  Reichs- 
archiv. Von  den  meisten  in  Betracht  kommenden  Stücken 
aus  diesen  beiden  handschriftlichen  Bänden,  deren  Originale 
grösstenteils  nicht  mehr  vorhanden  zu  sein  scheinen  ,  finden 
.sich  Regesten  im  8.  Bande  des  Fürsten  Lichnowsky ,  für 
welches  Werk  seiner  Zeit  sehr  umfassende  und  gründliche 
Nachforschungen  in  den  österreichischen  wie  bayerischen 
Archiven  angestellt  worden  sind ;  doch  sind  diese  Regesten 
nicht  so  ausführlich  und  genau  gehalten,  dass  sich  mit  ihnen 
allein  in   genügender  Weise  operiren  Hesse. 

Herzog  Albrecht  stand  bereits  in  vorgeschrittenen  Mannes- 
jahren ,  als  er  (Ende  1484)  zum  er.stenmale  in  Unterhand- 
lungen wegen  eines  Ehebündnisses  sich  einliess  und  zwar 
mit  Bianca  Maria  von  Mailand,  welche  später  die  zweite  Ge- 
mahlin Kaiser  Maximilians  wurde.  Diese  Verhandlungen 
.scheiterten,  allem  Anschein  nach  an  den  übertrieben  hohen 
Forderungen  des  Herzogs,  und  wahrscheinlich  war  das  Pro- 
jekt bereits  gänzlich  aufgegeben ,  als  ein  höheres  Ziel  vor 
Albrecht  erstand,  Ehrgeiz  und  Herz  des  Vierzigjährigen  zu- 

1)  Der  Hofkaplan  Dr.  Michael  .\rrodenius,  vordem  Jesuit,  war 
1590  von  Herzog  Wilhelm  V.  zu  seinem  Ai-chivar  ernannt  worden. 


378  SitZHiir/  der  histor.  Classc  vom   1.  Dezember  1888. 

gleich  beschäftigend.  Auf  der  Flucht  vor  den  Ungarn,  die 
ihm  seine  Hauptstadt  und  Niederösterreich  entrissen .  war 
Kaiser  Friedrich  im  Sommer  1485  nach  Tirol  gekommen 
und  hatte  in  Innsbruck  unter  der  Obhut  seines  Vetters,  wäh- 
rend er  selbst  Hilfe  suchend  in  das  Reich  weiter  reiste,  seine 
zwanzigjährige  Tochter  Kunigunde  zurückgelassen.  Dort  lernte 
sie  Älbrecht  kennen  und  beschloss  um  ihre  Hand  zu  werben. 
Sicher  war  politischer  Ehrgeiz  diesem  Entschlüsse  nicht 
fremd ;  dass  aber  auch  wahre  Herzensneigung  im  Spiel  war, 
darf  man  doch  wohl,  um  von  den  poetisch  gefärbten  Schil- 
derungen in  der  Biographie  Kunigundens  abzusehen,  aus  dem 
ungetrübten  Glück  schliessen  ,  das  der  folgenden  Ehe  be- 
schieden war. 

Die  erste  Nachricht  von  dem  Plane  liegt  in  einem  Briefe, 
flen  Graf  Jörg  von  Sargans,  einer  der  ersten  Räte  Erzherzog 
Sigmunds  und  als  Pfleger  des  an  Bayern  verpfändeten  Lan- 
deck zugleich  Diener  Albrechts,  am  1().  .Januar  1486  aus 
Innsbruck  an  den  Münchener  Herzog  schickte.  Wenn  auch 
einige  der  Räte  der  Heirat  abgeneigt  seien ,  schrieb  dieser 
Vertraute,  die  meisten  seien  dafür,  auch  der  gemeine  Mann, 
der  davon  höre ,  freue  sich.  Er  und  einige  andere  hätten 
sich  hinter  Sigmund  gesteckt  und  betreiben,  dass  er  die  Sache 
nicht  ausgehen  lasse.  „Euer  (inaden  hat  manchen  Wagbolz 
geschossen;  so  schiessent  den  auch!"  Zum  Schlüsse  fordert  er 
den  Herzog  auf  selbst  zu  kommen^). 

Den  Erzherzog  für  das  Vorhai)en  seines  Freundes  zu 
erwärmen  wird  nicht  schwer  gefallen  sein  und  nun  beschloss 
man,  eine  vertrauliche  Anfrage  noch  vor  dem  Kaiser  an 
dessen  Sohn,    den    eben  (Ui.   Febr.)    zum   i-iunisclien   Könige 

1)  Es  braucht  dies  nicht  dahin  au9<^ele<,'i  zu  wcrdt-n.  daas  Albrecht 
erst  auf  diese  Kinladung  hin  die  persönliche  Bekanntschaft  Kunigundens 
j^emacht  habe.  Das  Schreiben  findet  sich  in  Tom.  1\',  fol.  98  der 
Heiratssacben  im  Geh.  Hausarchiv.  Das  nicht  ganz  klare  Datum  :  Zins- 
taf,'  zu  zwölften  des  Tag.s  verstehe  ich  als  Dienstag  nach  Dreikönigstag. 


Biezler:    Vennrihhtiifi  Herzog  Alhrcchts  IV.  von  Bauern.      -^79 

crewählten  Maximilian  M  /u  richten,  auf  dessen  freundschaft- 
liche Gesinnung  Alhrecht  hauen  konnte.  Der  zu  dieser  Mis- 
sion ausersehene  Bischof  von  Eichstädt,  Wilhelm  von  Reichen- 
au,  kehrte  denn  auch  mit  einem  mündlichen  Bescheid  zu- 
rück, der  sehr  ermutigend  gelautet  hahen  muss;  wenigstens 
lesen  wir  in  dem  Credenzschreiben  Maximilians,  das  der  Bi- 
schof zugleich  überbrachte,  datirt  vom  6.  März  aus  Frank- 
furt :  alles ,  worin  er  Albrecht  freundlichen  Willen  erweisen 
könne,  habe  er  Lust  und  Begierde  zu  thun,  wie  Albrecht 
aus  der  mündlichen  Werbung  des  Bischofs  bemerken  werde ^). 
So  schien  der  Handel  günstig  eingeleitet,  als  sich  der  Bischof 
von  Eichstädt  nach  Besprechungen  mit  AlVjrecht  und  Sig- 
mund in  München  und  Innsbruck,  begleitet  vom  Grafen  Al- 
wig  von  Sulz  %  auch  dem  Kaiser  näherte.  Dieser  hatte  bis- 
her alle  Werber,  die  wegen  Kunigundens  angeklopft,  auch 
den  Ungarnkönig  Mathias  Corviuus,  zurückgewiesen  und  soll 
den  abenteuerlichen  Plan  gehegt  haben,  durch  die  Hand 
seiner  Tochter  die  Bekehrung  des  türkischen  Sultans  zum 
Christentum  zu  erkaufen*).  Die  Ereignisse  der  letzten  Jahre 
werden  ihn  von  dieser  Illusion  geheilt  haben.  Zuletzt  war 
über  eine  Vermählung  Kunigundens  mit  einem  Sohne  Kasimirs 
von  Polen  unterhandelt  worden  und  in  gewissen  Kreisen  be- 
trachtete man  dieselbe  schon  so  gut  wie  gesichert,  als  das 
Auftauchen  des  wittelsbachi.schen  Projektes,  dem  der  Kaiser 
den  Vorzug  gab  .  daneben  vielleicht  auch  andere  uns  unbe- 
kannte Gründe  bewirkten,  dass  die  Verhandlungen  mit  Polen 

1)  Bei  der  Wahl  in  Frankfurt  waren  als  Albrechts  Gesandte 
Pirkheimer  und  Paulsdorfer  zugegen,  die  ihrem  Herzog  am  15.  Fehr. 
über  den  Stand  der  Dinge  berichteten.  Ulmanu,  Die  Wahl  M.'s  l., 
Forschungen  XXII.  151. 

2)  Geh.  Hausarchiv. 

3)  .\rroden  III,  p.  162,  163,  167. 

4)  Hierauf  spielt  deutlich  auch  das  Regensburger  Volkslied  bei 
V.  Liliencron  II,  186  an. 


380  Siteuiifi  der  hi.^for.  Classe  vom   1.  Dezember  1888. 

abgebrochen  wurden.  Die  Verstimmung  des  polnischen  Hofes 
äusserte  sich  bald  darin,  dass  diese  Macht  (Oktober)  ihreii  An- 
schhis?;  an  des  Kaisers  Feinde,  Böhmen  und  Ungarn  vollzogM- 

Als  der  Bischof  von  Eichstätt  —  es  war  in  dem  für 
Albrecht  so  ereignisschweren  Juli  1486  —  an  den  Hof  Sig- 
munds 'zurückkehrte,  überbrachte  er  die  Nachricht,  dass  so- 
wohl der  Kaiser  als  sein  Sohn  dem  Plane  nicht  abo-eneigt 
seien,  dass  der  erstere  jedoch  eine  schwerwiegende  Bedingung 
stelle :  alle  von  Sigmund  zu  gunsten  Baierns  ausgestellten 
Versciireibungen  sollten  7Airückgenommen  werden.  Als  Mit- 
gift wolle  der  Kaiser  seiner  Tochter  ausser  ihrem  mütter- 
lichen Schmucke  die  dem  Reiche  heimgefallene  Herrschaft 
Abensberg  /.ukommen  lassen ;  auch  Maximilian  gedenke  etwas 
beizusteuern.  Wir  Ijesitzen  den  Bescheid  des  Kaisers  selbst 
nicht,  sondern  nur  eine  auf  dessen  Grund  für  Sigmunds  Ge- 
sandte an  Albrecht  ausgestellte  Instruktion.  Aber  wir  dürfen 
folgern ,  dass  der  Bescheid  entweder  Sigmund  die  unzwei- 
deutige Vollmacht  erteilte  einen  Heiratsvertrag  zwischen 
Albrecht  und  Kunigunde  abzuschliessen  oder  doch  so  lautete, 
dass  Sigmund  ihn ,  wenn  auch  vielleicht  mit  einiger  Kühn- 
heit, dahin  auslegen  konnte.  Denn  sowohl  der  Erzherzog 
als  Kunigunde  hal)en  sich  dem  Kaiser  gegenüber  später  auf 
diese  Vollmacht  berufen ''). 

Als  Gesandte  des  Innsbrucker  Hofes  gingen  um  den 
25.  Juli  Graf  Jörg  von  Sargans,  ein  Herr  von  Rappoldsteiu, 
Dietrich  von  Harras  und  Doktor  Aristoteles  Lebenpeck  nach 

1)  Vgl.  die  Zeiigni.sse  bei  Ulmann,  K.  Maxiniiliaii.  1,  53.  Anni.  1. 
von  des.sen  Auslegung  icli  etwas  abweiche. 

2)  Arroflen  111.  167;  Heirntsacta  IV,  f.  100.  hn  dem  ersteren 
.\uMZUg  (Sigmund  caesari)  wird  die  Vollmacht  als  der  vom  Bischöfe 
von  Eich.stätt  und  dem  (trafen  von  Sulz  vom  kaiserlichen  Hoflager 
überbrachte  Bescheid  gekennzeichnet.  lägers  Autfassung,  dass  die 
von  Sigmund  im  Vertrage  vom  30.  August  angerufene  kaiserliche 
Vollmacht  etwas  anderes  und  zwar  eine  Fälschung  Albrechts  gewesen 
sei,  wird  hiedurch  hinfälli". 


Iiie:!er:    Vrrmähliivfi   Herzorj  AJhrcchts  IV.  von  Brtyvrn.      -^^l 

München,  um  dem  Herzos^e  über  die  Willensmeinnno-  und 
das   Antjebot  des   Kaisers  zu  berichten. 

üas  letztere  war  nun  offenbar  über  alle  Erwartnnif 
schäbig.  Nicht  nur.  dass  der  lebergang  des  mütterlichen 
Schmuckes  auf  die  einzige  Tochter  sich  eigentlich  von  selbst 
verstand,  auch  von  der  kleinen  Herrschaft  Abensberg,  welche 
ringsum  vom  bairischen  Territorium  umschlossen  war,  deren 
Herren  zu  den  bairischen  Landständen  gehört  hatten  und 
welche  Albrecht  nach  dem  Tode  des  letzten  Freiherrn  Nik- 
iaus (28.  Febr.  1485)  bereits  in  Besitz  genommen  hatte, 
durfte  der  Herzog  nach  den  herrschenden  Gewohnheiten  füg- 
lich annehmen,  dass  ihm  die  Belehnung  damit  ohnedies  nicht 
entgehen  könne.  Beim  Lichte  besehen ,  besagten  also  die 
Bedingungen  des  Kaisers,  dass  er  die  Hand  seiner  Tochter 
gewähren  wolle,  wenn  er  erstens  keine  Mitgift  zu  geben 
brauchte .  zweitens  daneben  mit  der  Rückgabe  der  Tiroler 
Pfandbriefe  noch  ein  glänzendes  Geschäft  machen  konnte. 
Dagegen  erklärte  sich  Erzherzog  Sigmund  bereit ,  seiner 
Muhme  als  Hochzeitsgut  20000  fl.  auf  die  Herrschaft  Hohen- 
berg  anzuweisen.  Auf  die  früheren  Verschreibungen  an  Al- 
brecht erklärte  Sigmund  selbst  keinen  grossen  Wert  zu 
legen,  da  er  ja  immer  noch  auf  eheliche  Söhne  hoifte,  diese 
Verschreibungen  aber  nur  für  den  Fall  seines  Absterbens 
ohne  solche  Kraft  haben  sollten.  Sollte  indessen  Albrecht 
nicht  sogleich  in  die  Rückgabe  dieser  Pfandbriefe  willigen, 
so  waren  die  Tiroler  (Gesandten  ermächtigt,  das  von  ihrem 
Herrn    angebotene    Hochzeitsgut    auf  40000  fl.    zu  steigern. 

Albrecht  verlangte  nun  —  soviel  ist  bekannt  — ,  dass 
Abensberg  nicht  seiner  Braut  als  Mitgift,  sondern  ihm  und 
seinen  Erben  als  Bestandteil  des  Herzogtums  verliehen  werde. 
Mit  diesem  Bescheid  ging  am  2.  August  in  Sigmunds  Auf- 
trag der  Graf  Josniklas  von  Zollern  an  den  Kaiser  ab ,  bei 
dem  er  erwirken  sollte ,  dass  die  Sache  nicht  auf  die  lange 
Bank    geschoben     würde.      Nochmals    verwandte   sieh    durch 


382  SitZHUfi  der  histor.  (Vassc  min  1.  Dezember  18S8. 

diesen  Gesandten  der  Erzher/.o<i  aufs  wärmste  für  die  ge- 
plante Verbindung,  die  dem  hal^burgischen  Hanse  in  seiner 
jetzigen  Bedrängnis  politischen  Nutzen  bringen ,  Kunigunde 
aber  einem  Stande  entreissen  werde ,  in  welchem  länger  zu 
verbleiben  in  Anbetracht  ihres   Alters  schimpflich  wäre. 

Ueber  den  Erfolg  dieser  Gesandtschaft  sind  wir  nicht 
unterrichtet;  jedenfalls  hatte  aber  einerseits  der  Kaiser  keine 
erneute  oder  bestimmtere  Einwilligung  mehr  ausgesprochen, 
anderseits  Albrecht  nicht  in  die  Rückgabe  der  Tiroler  Pfand- 
briefe gewilligt,  als  am  30.  August  in  Innsbruck  bereits  das 
Verlöbnis  gefeiert  wurde.  Sigmund .  der  die  Eheberedung 
abschloss,  erklärte  in  dersell)en  ,  dass  er  sowohl  vom  Kaiser 
als  vom  Könige  dazu  bevollmächtigt  sei.  Der  Bischof  von 
Eichstätt  und  der  Graf  von  Sulz  sollten  die  Nachricht  hie- 
von  an  das  kaiserliche  Hoflager  bringen  und  waren  bereits 
auf  dem  Wege  dahin,  als  ein  Brief  des  Kaisers  vom  11.  Sep- 
tember aus  Mecheln  wohl  alle  Beteiligten  wie  ein  Blitz 
aus  heiterem  Himmel  traf,  worin  er  Sigmund  für  seine  Be- 
mühungen in  dieser  Sache  zwar  dankte,  doch  Aufschub  der 
Sache  gebot,  bis  er  und  sein  Sohn  selbst  kommen  würden. 
An  seine  Tochter  schrieb  der  Kaiser,  es  freue  ihn.  aus  ihrem 
.Schreiben  zu  sehen,  dass  sie  ohne  seinen  und  ihres  Bruders 
Willen  nicht  handeln  wolle.  Hoffentlich  werde  sie  dies  auch 
durchführen  ,  das  (jJegenteil  wäre  ein  grosser  Unfug  und  zu 
ihrem  beträchtlichen  Schaden  ^). 

Was  Friedrich  gegen  den  Münchener  Herzog  mittler- 
weile verstimmt  hatte,  werden  die  genaueren  Nachrichten 
von  den  Vorgängen  in  Kegensburg  gewesen  sein.  Eben  in 
den  Tagen,  da  er  um  Kunigunde  warb,  hatte  es  Albrecht 
gewagt  die  einzige  bairische  Reichsstadt  an  .sich  zu  ziehen, 
nicht  wie  ein.st  Ludwig  der  Reiche  DonauwiMth.  mit  schnöder 

1)  Eigenhändif^er  undatirter  Zettel  den  Kaisers,  nach  späterer 
Avifsclirift  von  Mitto  .\ugust.  vielleicht  erst  in  den  September  zu 
setzen.     Heiratsacta  IV,  103.     Bei  Arroden  III,    Ö.   170    Auszug. 


Rif'zler:    ]'rnimhlu>ii]  Hcr:()fi  AIhrechts  IV.  ro»  Baijeni.     388 

Gewalt,  sondern  in  Frieden  und  (nite,  auf  Antrag  der  Bürger- 
schaft selber.  Indessen  lie.ss  sich  der  Erzherzog  nicht  irre 
machen  und  wies  die  Gesandten  an.  heim  Kaiser,  wiewohl  sich 
dieser  auch  jede  Botschaft  verbeten  hatte,  um  , Exekution 
der  Abrede"  nachzusuchen;  es  geschehe  zur  Ehre  des  Hauses. 
Kunigunde  selbst  schrieb  an  den  Vater :  sein  Brief  sei  zu  spät 
gekommen ;  nach  Kenntnis  der  Gründe  und  der  Vollmacht 
Sigmunds  habe  sie  bereits  in  die  Verlobung  gewdlligt;  habe 
doch  Sigmund  sogar  gedroht,  wenn  sie  nicht  einwillige,  seine 
Haufl  von  ihr  zurückzuziehen .  habe  sie  für  den  Schaden 
verantwortlich  gemacht,  der  dem  Hause  ( )esterreich  aus  dem 
Scheitern  des  Planes  erwachsen  würde.  Dringend  flehte  sie 
den  Vater  um  billige  Beurteilung  ihres  Verhaltens  und  um 
seine  Zustimmung  an,  auf  dass  nicht  Cnheil  zwischen  beiden 
Häusern  erwachse^).  Sigmund  vereinte  seine  Bitten  mit  den 
ihrigen  .  drohte  auch .  Kunigunde  fortzuschicken  ,  wenn  die 
Hochzeit  nicht  zustande  komme.  Die  Gesandten  warben  neuer- 
dings beim  Kaiser  und  seinem  Sohne  und  hatten  beim  letz- 
teren vollständigen  .  beim  Kaiser  wenigstens  einigen  Erfolg. 
Maximilian  erklärte  sich  mit  der  Heirat  völlig  einverstanden 
aus  vier  Gründen,  von  denen  zwei  besonders  bemerkenswert 
sind:  weil  er  nämlich  stets  zu  .Albrecht,  dessen  Tugend  und 
hohe  Vernunft  ihm  bekannt  seien .  vor  anderen  Neigung 
gehabt  habe,  ferner,  weil  jeder  Widerstand  gegen  den  Ungar- 
könig unmöglich  sei  ohne  Kat  und  Beistand  der  bairischen 
Herzoge.  Auch  vom  Kaiser  berichteten  die  Gesandten,  sie 
könnten  nicht  anders  annehmen,  als  dass  ihm  die  Heirat  wohl 
gefalle.  Nur  nebenbei,  nicht  zur  offiziellen  Autwort  gehörig, 
sei  die  Bemerkung  gefallen,  dass  der  Kaiser  sich  durch  die 
Regensburger  V^orgänge  beschwert  fühle.  Sigmund  habe  — 
so  schrieb  ihm  Miiximilian  (11.  Nov.)  —  in  dieser  Sache 
seinen  Eifer  für  Ehre  und  Nutzen  des  Gesamthauses  erwiesen 
und  sich  nicht  nur  wie  ein  Vetter,  sondern  wie  ein  getreuer 

11  Heiratsacta  IV,  f.   106:   Anoileu   III.   17U. 


384  Sitzunfi  iler  /(/s/oc.   Cht>!sc  vom   1.   Deze»iher  1888. 

Vater  erzeigt^).  Am  7.  Dezember  schrieb  der  Bischof  von 
Eichstätt  von  seiner  Bischofsstadt  aus ,  wohin  er  vom 
kaisedichen  Hoflager  zurückgekehrt  war .  an  Sigmund :  er 
habe  in  der  Heiratsangelegenheit  vom  Kaiser  eine  Antwort 
empfangen  ,  an  welcher  der  Erzherzog ,  wie  er  hoffe ,  kein 
Missfallen  haben  werde ^).  Tags  darauf  aber  schrieb  der 
Kaiser  selbst  aus  Speier  an  Sigmund :  dieser  habe  ihm  durch 
den  kaiserlichen  Kämmerer  Sigmund  vom  Niderntor  melden 
lassen,  wenn  die  Heirat  nicht  zustande  komme,  solle  er  um 
seine  Tochter  schicken,  denn  er  habe  Beschwer  sie  länger 
bei  sich  zu  Ijehalten.  Er  bitte  ihn  nun  die  Sache  stehen  zu 
lassen,  bis  Maximilian,  den  er  täglich  erwarte,  zu  ihm,  dem 
Kaiser,  komme;  dann  wollen  sie  beide  eine  Botschaft  zu 
ihm  senden.  Wegen  Burgaus  bitte  er  Sigmund  keine  Ver- 
änderung eintreten  zu  lassen^).  Sigmund  antwortete  am 
21.  Dezember,  mit  der  Heirat  lasse  er  es  beruhen*),  ohne 
sich  jedoch  daran  zu  halten.  Am  Sonntag  vorher  (17.  Dez.) 
waren  bereits  die  Heiratsverträge  ausgefertigt  worden  und 
liald  schritt  man,  unbekünnnert  um  des  Kaisers  Widerspruch, 
auch  zum   Vollzug  der  Hochzeit. 

Am  2.  .Januar  1487  fand  in  Innsbruck  in  Gegenwart 
Sigmunds  und  seiner  Gemahlin,  des  Herzogs  (leorg,  des  Pfalz- 
grafen ( )tto ,  des  (jrafen  von  Wirtemberg,  der  Bischöfe  von 
Passau  und  Brixen ,  durch  den  Bischof  von  Eichstätt  die 
kirchliche  Trauung   statt,    der    das  Beilager   vorausgegangen 

1)  Heirataacta  f.  157.  159.  Das  am  20.  Okt.  vom  Kaiser  in  Köln 
dem  Bischöfe  von  Eichstätt  gewährte  Privileg  (Chmel  Nr.  7870)  deutet 
darauf,  dass  der  Bischof  damals  am  knisprliclien   Fiollager  weilte. 

2)  Heiratsacta  IV,  t.  160. 

3)  A.  a.  O.  nach  fol.  160. 

4)  So  nach  Arroden  III,  p.  173.  dagegen  heisst  es  in  dem  Aus- 
zug in  den  Heiratsacta  IV.  f.  163  (der  vom  Thomas-Abend.  20.  Dez., 
nicht  Thomastag  wie  hei  Arroden  datirt  ist):  wegen  Kunigundens 
werde  er  in  kurzem  dem  Kaiser  .schriftlich  seine  Meinung  sagen. 


Jiiezler:    Vennähluiifj  Herutii  AIhrechts  IV.  tau   Bayer»,      -lö^ 

war^)  und  nacli  einigen  Tagen  die  Ausfertigung  der  Urkun- 
den über  Heiratsgut,  Widerlage  und  Morgengabe  folgte. 
Sigmund  liielt  sein  Wort  und  gab  eine  Beisteuer  von  40000  fl. 
rhein.  Am  9.  Januar  hielten  die  Neuvermählten  ihren  feier- 
lichen Einzug  in  München ,  wozu  sich  auch  Herzog  Georg 
und  mehrere  Bischöfe  einstellten*). 

Wir  massen  uns  nun  nicht  an,  den  ganzen  Vorgang 
klar  zu  durchschauen.  Dass  trotz  des  relativen  Reichtums  an 
Aktenmaterial  manches  unklar  l)leibt,  liegt  teils  in  der  Natur 
dieser  Verhältnisse,  teils  darin,  dass  doch  nicht  von  allen  Ge- 
.saudtschaften.  die  zwischen  dem  kaiserlichen  Hofe,  dem  kö- 
niglichen und  denen  von  München  und  Innsbruck  hin  und 
her  gingen,  Instruktionen  und  Berichte  erhalten  sind.  Vn- 
bestreitbar  ist,  dass  Albrecht  mit  rücksichtsloser  Entschlossen- 
heit sich  nicht  gescheut  hat,  die  Braut  ohne  die  Zustimmung, 
ja  gegen  den  wenn  aucli  schwankenden  Willen  ihres  Vaters 
heimzuführen.  Mit  ihrer  Hand  hoffte  er  wohl  auch  die 
Donaustadt  behaupten  zu  können.  Ueberdies  aber  vermeinte 
er  nichts  geringeres  als  durch  diese  Heirat  seiner  Familie 
ein  habsburgisches  Erbrecht  zu  gewinnen  zu  einer  Zeit, 
da  Haus  Habsburg  auf  wenigen  Augen  stand.  Er  Hess 
Kunigunde  keinen  Erbverzicht  ausstellen  und  von  bairischer 
Seite  findet  man  später  die  Ansicht  ausgesprochen ,  dass 
Knnigundens  Erbrecht  das  gleiche  sei  wie  das  Maximilians^), 
l'eber  diese  ehrgeizigen  Hoffnungen  .Albrechts  belehrt  uns 
auch,  was  der  Bischof  von  Eichstätt  in  seinem  Auftrage 
zur  Rechtfertigung  der  geplanten  Heirat  dem  Vetter,  Herzog 
Georg  in  Landshut  vortrug.  Da  die  Heirat  diesen  der  An- 
wartschaft auf  das  Münchener  Erbe ,  welche  ihm  Albrecht 
für   den  Fall    seines   söhnelosen    Todes   jüngst   zugesprochen 

1)  Arroden  Ilf,  177  f.  ,den  Einritt,  Kirchgang  u.  a.  betreffend." 
Dieses  Programm  der  Festlichkeiten  widerlegt  die  Nachricht .  die 
Hochzeit  sei  ohne  Prunk  in  der  Stille  gefeiert  worden. 

2)  Arnpeck  454 ;  Urkunden  bei  Aettenkhover.  378  f. 

3)  Ulraann,  K.  Maximilian,  I.  53.  Anm.  1. 


38n  Sitz^nifi  der  hiafor.  Clafisie  roj»   1.  Dezemher  1888. 

hatte,  rasch  wieder  zu  berauben  drohte,  galt  es  ihm  gegen- 
über die  Vorteile  für  das  Gesamthaus  Bayern  möglichst 
glänzend  hinzustellen.  Die  hier  von  Albrecht  ausgespro- 
chenen (übrigens  seinen  Hüten  in  den  Mund  gelegten^)) 
Motive  sind  demnach  allerdings  einseitig,  ohne  jedoch  darum 
gegen  des  Herzogs  wahre  Meinung  zu  Verstössen.  Die  Heirat 
—  so  hatte  der  Bischof  zu  erklären  —  sei  die  ehrenvollste, 
die  sich  jetzt  finde  und  in  weiter  Zukunft  finden  werde,  und 
sie  sei  zugleich ,  selbst  wenn  sich  die  Bedingungen  nicht 
günstiger  als  bisher  gestalten  Hessen,  die  nützlichste.  Es  wird 
hingewiesen  auf  die  habsburgischen  Erbaussichten ,  die  sich 
mit  ihr  eröffnen  würden,  auf  die  Irrung  wegen  Abensberg", 
die  damit  ihr  Ende  finden,  auf  den  Handel  mit  Regensburg, 
der  „desto  leichter  werde  durchgedruckt  werden".  Beleh- 
nungen mit  verfallenen  Fürstentümern  und  Herrschaften, 
durch  welche  ihre  Ahnen  gross  geworden,  würden  vom  Könige 
leicht  erlangt,  die  von  Sigmund  verschriebenen  132000  0. 
würden  mit  geringeren  Schwierigkeiten  eingebracht  werden 
können.  Zuletzt  wird  Georg  der  lockendste  Köder  hinge- 
worfen mit  der  angeblichen  geheimen  Aeusserung  eines  Ge- 
sandten :  falls  Albrechts  Heirat  zustande  komme ,  zweifle  er 
nicht,  dass  dann  auch  zwischen  dem  Könige  und  Georgs 
Familie  eine  Verbindung  beschlossen  werde ,  aus  der  dem 
bairischen  Hause  weitere  Vorteile  entspringen  mögen '^)  — 
gemeint  war  wohl  das  später  (1491)  wirklich  verabredete 
Verlöbnis  zwischen  Maximilians  Sohne  Philipp  und  (jreorgs 
Tochter  Elisabeth,  das  jedoch,  wie  bekannt,  zu  keinem  ßhe- 
bündnisse  geführt  hat. 

Also  eine  Welt  von  schönen  Zukunftsträumen  nicht  nur 
für  das    stille  Glück    der    Familie ,    auch    für    die   politische 


1)  Selbst   mit    ftlifhen    soinf-r  Lantlstände    erklärt  er  sich    übftr 
die  Heirat  beraten  zu  wollen. 

2)  Heiratsacta  IV,  100,  101.  Geor^j  gab,  wie  der  Bischof  berichtet, 
kein  Miüsfallen  mit  den  aufgezählten  Motiven  zu  erkennen. 


Uieshr:    Vermnhhiiui  Herzog  Alhrechi-<  IV.  vnti  Bai/em.     -^87 

Grösse  seines  Hauses  hatte  sich  Albrecht  aufgethau  und  schon 
hing  sein  Her/  zu  fest  daran .  als  dass  er  zurückweichen 
mochte.  Und  hatte  der  alte,  für  den  Augenblick  so  macht- 
lose Herr  im  Exil  durch  schamlosen  Geiz  und  ärgerliches 
Schwanken  eine  geringschätzige  Behandlung  nicht  gewisser- 
massen  herausgefordert,  während  auf  der  anderen  Seite  Ma- 
ximilians entschiedene  Zustimmung  ermunternd  wirkte?  War 
Kunigunde  einmal  vermählt,  so  musste  der  Vater  doch  wohl 
gute  Miene  zum  üblen  Spiel  machen !  Man  weiss  nicht, 
war  es  mehr  Optimismus  und  Ungestüm  des  Liebenden  oder 
das  weite  Gewissen  und  die  kühne  Berechnung  des  Ehr- 
geizigen ,  was  sich  in  diesem  Gedanken  aussprach  und  was 
Albrecht  trieb  ,  die  durch  seine  Freundschaft  mit  Sigmund, 
durch  die  lange  Abwesenheit  und  die  Bedrängnis  des  Vaters 
ihm  in  die  Hände  gespielten  Vorteile  auszunützen  und  die 
Tochter  trotz  ihrer  kindlich  ehrbaren  Gesinnung  in  Zwiespalt 
mit  ihrem  Erzeuger  zu  drängen. 

Dieses  Verhalten  kann  und  soll  moralisch  nicht  ge- 
rechtfertigt werden ,  aber  von  ihm  bis  zu  einer  Fälschung, 
wie  sie  Albrecht  zur  Last  gelegt  wird ,  ist  doch  ein  weiter 
Schritt.  Untersuchen  wir  nun ,  worauf  sich  ein  solcher 
Vorwurf  stützen  kaim ,  so  muss  von  vornherein  in  Abrede 
gestellt  werden .  dass  eine  Fälschung  nötig  gewesen  wäre, 
um  Kunigundens  Einwilligimg  zu  gewinnen.  Kunigunde 
schrieb  an  ihren  Vater:  er  und  ihr  Bruder  Maximilian 
hätten  Sigmund  volle  Gewalt  gegeben  sie  mit  Albrecht 
zu  verloben  und  es  liegt  kein  Anlass  vor ,  bei  dieser  Voll- 
macht an  eine  andere  zu  denken  als  die  durch  den  Bischof 
von  Eichstätt  überbrachte .  auf  Grund  deren  im  Juli  die 
Unterhandlungen  zwischen  Sigmund  und  Albrecht  eingeleitet 
wurden.  Sigmund  selbst  hat  sich  im  September  in  seinem 
Schreiben  an  den  Kaiser  deutlich  auf  die  ihm  durch  den 
Bischof  von  Eichstätt  im  Juli  überbrachte  Vollmacht  berufen. 
Auch  Jäger  (S.  322),    dessen  Darstellung   sich    vornehmlich 


388  Sitzuvfi  der  hisfor.  (Vassr  vom   1.  Dc~emher  1S88. 

au  die  Biographie  Kunigunden.s  hält ,  nimmt  au ,  dass  der 
Kaiser  damals  Sigmund  zur  Ehebereduiig  bevollmächtigte. 
Gegenüber  dieser  Annahme  wird  mau  fragen ,  warum 
denn  die  von  ihm  behauptete  Erneuerung  dieses  Auftrags 
in  einem  von  Albrecht  gefälschten  Schriftstücke  nötig  ge- 
wesen sein  sollte.  Wäre  sich  der  Kaiser  dessen  bewusst  ge- 
vs^esen,  dass  er  Sigmund  nie  eine  Vollmacht  zur  Eheberedung 
oder  etwas,  was  mit  mehr  oder  weniger  Kühnheit  in  diesem 
Sinne  gedeutet  werden  konnte,  erteilt  hätte,  so  hätten  ihn 
die  Berufungen  Sigmunds  und  Kunigundens  auf  eine  solche 
Vollmacht  sofort  belehren  müssen ,  dass  mit  seinem  Namen 
ein  unredliches  Spiel  getrieben  worden ,  und  unter  diesen 
Umständen  wäre  doch  kaum  anzunehmen ,  dass  er  den  Ge- 
sandten noch  im  Spätherbst  einen  nicht  unfreundlichen  Be- 
scheid erteilt  hätte. 

Das  wiederholte  Schwanken  des  Kaisers ,  der  während 
der  kritischen  Monate  in  Aachen  und  Köln ,  dann  in  den 
Niederlanden  weilte,  erklärt  sich  zum  Teil  vielleicht  daraus, 
dass  bald  seine  eigenen  Erwägungen  bald  der  Zuspruch  seines 
Albrecht  geneigten  Sohnes  überwog ,  noch  mehr  aber  und 
bestimmt  daraus,  dass  die  um  sich  greifende  Politik  der 
Witteisbacher  eben  während  der  Verhandlungen  erst,  in  der 
zweiten  Hälfte  148(5  die  grössten  Fortschritte  gemacht  hatte. 
Nahezu  mit  Sicherheit  lässt  sich  der  im  September  erfolgte 
Rückschlag  in  der  Stinnnung  des  Kaisers  von  den  Regens- 
burger Vorgängen  ,  der  zweite  Rückschlag  im  Beginne  De- 
zembers von  der  Erwerl)ung  Burgaus  herleiten.  Am  28.  No- 
vember, zehn  Tage  vor  dem  abmahnenden  Schreiben  des 
Kai.sers  nach  Innsbruck ,  hatte  Sigmund  die  Markgrafschaft 
Burgau  um  52000  fl.  an  Herzog  Georg  von  Bayern  verkauft 
und  hieniit  dem  kaiserlichen  Vetter,  der  ihm  die  Berechti- 
gung habsburgische  Lande  zu  veräussern  nicht  zuerkannte, 
neuen  Grund  zur  Unzufriedenheit  sowohl  mit  ihm  selbst  als 
mit  den  Witteisbachern  gegeben.    Wieweit  auch  die  Frage  von 


Riezler:    Vennählniifj  Herzncf  Alhrechta  IV.  von  Bayern.     380 

Kunigundens  Erbverzicht    auf  des  Kaisers  Verhalten    einge- 
wirkt habe,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis. 

Nun  können  sich  die  österreichischen  Historiker  allerdings 
auf  zwei  zeitgenössische  Quellenschriften  berufen,  die  geradezu 
mit  der  Behauptung  auftreten,  dass  Albrecht  die  Einwilligung 
der  Braut  nur  durch  eine  Fälschung  gewonnen  habe.  Es  fragt 
sich  nur,  ob  diesen  Zeugnissen  genügende  Beweiskraft  zuer- 
kannt werden  kann,  um  eine  an  sich  wenig  wahrscheinliche 
und  so  schwerwiegende  Beschuldigung  zu  erhärten.  Das  zeit- 
lich älteste  Zeugiiis  Kndet  sich  in  einem  -sogenannten  histo- 
rischen Volksliede  auf  die  Einnahme  Hegensburgs,  welches  in 
V.  Liliencrons  bekannter  Sammlung^)  gedruckt  ist.  ,Er  hat's 
erworben  durch  hohe  List'',  heisst  es  hier  von  Albrecht  mit 
Bezug  auf  seine  Vermählung,  ,aber  wenn  er  auch  wohl  ge- 
lehret ist  —  Brietiein  schreiben  und  selber  dichten  und  sich 
die  Heirat  selbst  zurichten,  als  hab's  der  Kaiser  .selb.st  gethan, 
das  steht  einem  Fürsten  doch  nicht  wohl  an."  „Besser  war 's, 
er  war'  im  ersten  Bad  gestorben  I " ,  meint  der  Dichter  in  seinem 
Grimm.  Dieser  nennt  sich  einen  „Armen  Mann"  —  also, 
wenn  dies  nicht  etwa  mu'  bildlich  zu  verstehen  ist  —  einen 
Bauern  ans  Albrechts  Land,  aber  ein  Bauer  wird  nicht,  wie 
unser  Dichter  thut,  den  Aesop  citiren,  ein  Bauer  erhält  keine 
Mitteilungen  von  Herrn  Bernhardin  von  Stauf  über  den  Ver- 
lauf des  Feldzugs  am  Niederrhein,  wie  .sie  der  Dichter  nach 
seiner  Aussage  erhalten  liat.  Hinter  der  Maske  des  Armen 
Mannes  verl)irgt  sich  augenscheinlich  ein  den  höheren  Ständen 
angehöriger .  ein  eifrig  habsburgi.sch  gesinnter  Mann ,  ich 
vermute:  ein  Kleriker  des  Kegensljurger  Sprengeis.  Der 
Regensburger  Klerus  war.  wie  mehrfache  Nachrichten  be- 
zeugen, wegen  neuer  Auflagen,  die  Albrecht  eingeführt  hatte, 
und  anderer  Dinge  gegen  den  Baiernfürsten  höchlich  aufge- 
V)racht.     In  Kegensburg  standen  sich  die  kaiserliche  und  die 

1)  Bd.  II,  S.  18Ü. 

1888.  Pliilo8.-pluloI.  u.hist.  Ci.   11.  3.  26 


390  Sitzung  der  liiMor.  Clusse  com  1.  Dezember  1SS8. 

bayerisclie  Partei  wie  zwei  feindliche  Heerlager  erbittert 
gegenüber.  Das  Gedicht  von  der  Einnahme  Kegensburgs  ist 
zu  gutem  Teil  ein  von  wütendem  Parteigeiste  erfülltes,  gif- 
tiges Pamphlet  gegen  Albrecht,  gegen  die  bayerischen  Beamten, 
denen  die  Hölle  verheissen ,  die  mit  Schimpfworten  wie 
„Schintfesseln"  (d.  h.  etwa  Lotterbuben)  bedacht  werden, 
gegen  den  bayerisch  gesinnten  Stadtrat  und  die  ganze  baye- 
rische Partei,  Ausdruck  der  furchtbaren  Erbitterung,  welche 
die  für  den  Augenblick  unterlegene  Partei  gegen  die  sieg- 
reiche beseelte,  Vorbote,  möchte  man  sagen,  der  Verfolgungen 
und  Folterqualen,  welche  die  Führer  der  bayerischen  Partei 
nach  der  Rückgabe  der  Stadt  an  den  Kaiser  zu  erdulden 
hatten.  Von  wildem  Humor  durchtränkt  und  reich  an  histo- 
rischen Einzelheiten,  ist  das  Gedicht  literarisch  ein  überaus 
interessantes  Denkmal,  aber  keine  ausreichende  Stütze  zur 
Führung  eines  historischen  Beweises. 

Hier  ist  die  Anklage  getragen  von  Hass  gegen  den 
Bayernfürsten;  in  der  zweiten  Quelle,  die  in  Betracht  kommt, 
ist  sie  hervorgegangen  aus  der  Pietät  für  Kvuiigunde ,  aus 
dem  Eifer  sie  zu  verherrlichen  und  jede  Makel  von  ihrem 
Andenken  fernzuhalten.  Auch  diese  zweite  Quelle  ist  ein 
literarisch  merkwürdiges  Stück,  eine  von  einem  Anonymus 
verfasste  Biographie  der  Kaiserstochter  unter  dem  Titel: 
Das  Puch  von  den  seltzamen  Geschichten  der  edlen  tewren 
frawen  Chungunden.  Nach  einer  Copie  von  1537  ist  das 
Buch  1778  in  Wien  mit  einem  Codex  probationum  edirt 
worden^).  Der  Kaiser  heisst  hier  „der  alte  weisse  Kunig% 
sein  Sohn  Maximilian  „der  junge  weisse  Kunig",  Erzherzog 
Sigmund  „der  fröhliche  weisse  Kunig",  Herzog  Albrecht  „der 
blauweisse  Kunig",  Frau  Minne  und  Cupido  treten  auf,  kurz 
wir  haben  vor  uns  ein  Poesie  und  Geschichte  vermengendes 

1)  Kaiser  Friedrichs  Tochter  Kunigunde.  Ein  Fragment  aus  der 
ödterreichisch-baierischen  Geschichte.  Der  ungenannte  Herausgeber 
ist  Heyrenbach. 


Hiezler:    VermUhlniKi  Heizoi)  AUnrclits  IV.  roii  Bayern.      391 

Werk  in  der  Art  des  Teuerdank  und  des  Weisskunig  und 
wahrscheinlich  dem  letzteren  Werke  mit  Absicht  nachgebildet: 
in  derselben  Art  wie  dort  Kaiser  Friedrich  und  sein  Sohn 
Maximilian  sollte  hier  die  Tochter  Kunigunde  verherrlicht 
werden.  Der  Verfasser  ist  natürlich  gut  habsburgisch  ge- 
sinnt und  wird  in  Kreisen  zu  suchen  sein ,  die  der  Kaisers- 
tochter wenigstens  in  irgend  einer  Periode  ihres  Lebens  nahe 
standen.  Geschrieben  hat  er  erst  nach  Kunigundens  Tode, 
der  noch  erzählt  wird,  also  erst  nach  1520. 

Nach  dieser  Biographie  hatte  Frau  Minne  einen  Knaben, 
der  bei  ihr  einen  „drei^^clilachtigen"  Dienst  versah:  als  Kund- 
schafter ,  Bogenschütz  und  Geheimschreiber.  Dieser  Bogen- 
schütz  begab  sich  in  des  vveissblauen  Königs  Briefgewölbe, 
also  in  das  Münchener  Archiv,  liess  sich  dort  ein  Schreiben 
Kaiser  Friedrichs  als  Vorlage  geben ,  ahmte  es  geschickt 
nach,  grub  mit  seinen  Bogenpfeilen  ein  Insiegel  und  drückte 
dieses  dem  falschen  Briefe  auf.  Den  Brief  hat  dann  Frau 
Minne  dem  weissblauen  Könige  gegeben  mit  dem  Auftrag 
ihn  dem  fröhlichen  weissen  Könige  vorzulegen ,  die  vom 
ersteren  dagegen  geäusserten  Bedenken  hat  sie  siegreich  be- 
kämpft und  ihren  Anschlag  wirklich  mit  Erfolg  ausgeführt 
gesehen. 

Ich  denke ,  darüber  braucht  man  nicht  viel  Worte  zu 
verlieren .  dass  sich  mit  einer  derartigen  Erzählung  kein 
historischer  Beweis  führen  und  am  wenigsten  eine  schwere 
Anklage  erhärten  lässt.  Es  ist  ja  nicht  zu  verkennen ,  dass 
der  Verfasser  in  manchen  Dingen  autfallend  gut  unterrichtet 
ist ,  aber  man  weiss  bei  seiner  Darstellung  nicht ,  wo  die 
Geschichte  aufhört  und  wo  der  Roman  beginnt.  Die  Frage, 
ob  der  Biograph  Kunigundens  das  Regensburger  Volkslied 
gekannt  hat,  lässt  sich  nicht  sicher  beantworten  ;  ich  möchte 
sie  eher  verneinen.  Darum  darf  man  doch  in  dem  Zusammen- 
stimmen der  zeitlich  und  örtlich  auseinander  liegenden  Nach- 
richten keine  Stütze  für  ihre  Richtigkeit  suchen.    In  beiden 

26* 


392  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  1.  Dezember  1888. 

Quellen  scheint  mir  vielmehr  ein  verbreitetes  Volksgerede 
seinen  Ausdruck  zu  finden,  ein  Gerücht,  dessen  Entstehung 
sich  leicht  begreifen  lässt.  In  Kreisen,  wo  man  Kunigunde 
als  gutes ,  ihrem  Vater  zärtlich  ergebenes  Kind  kannte ,  auf 
Seite  des  Kaisers  aber  nur  sein  Widerstreben  gegen  die  Heirat 
und  seine  spätere  Gereiztheit  gegen  Albrecht  und  die  Tochter, 
nicht  auch  seine  vorausgegangene  halbe  Zustimmung:  in 
solchen  Kreisen  lag  es  nahe ,  dass  man  den  Ungehorsam 
Kunigundens,  ihre  Auflehnung  gegen  den  väterlichen  Willen 
nur  dann  begreiflich  fand,  wenn  die  Prinzessin  die  Betrogene 
war.  In  solchen  Kreisen  ist  der  Ursprung  der  .schweren  Be- 
schuldigung gegen  den  Bayernfürsten  zu  suchen,  deren  Nich- 
tigkeit ich  hiemit  nachgewiesen  zu  haben  glaube. 

Nur  mit  wenigen  Worten  noch  sei  der  Abschluss  dieses 
Familiendramas  gezeichnet.  Wenn  Albrechts  Berechnung  dahin 
ging ,  durch  die  habsburgische  Pamilienverbindung  seiner 
ehrgeizigen  Politik  die  Bahn  zu  ebnen,  so  ward  das  Gegen- 
teil erreicht.  Der  Kaiser  hat  Albrechts  Ehe  widerstrebt,  weil 
ihm  dessen  Politik  widerwärtig  war,  und  er  hat  diese  Politik 
um  so  nachdrücklicher  l)ek;unpft,  nachdem  Albrecht  sich  ihm 
zum  Schwiegersohn  aufgedrungen  hatte.  Der  ganze  zähe 
Eigensinn  seiner  Natur  war  wachgerufen  und  so  nahe  es 
gestanden  war,  dass  er  selber  wünschte  und  förderte,  was 
nun  geschehen  war ,  in  der  Art ,  wie  es  geschehen ,  sah  er 
einen  ihm  angethanen  Schimpf,  der  gerächt  werden  müsse 
und  der  alles,  was  ihn  gegen  Albrecht  verstimmte,  noch 
drückender  erscheinen  liess. 

Als  Albrecht  den  ersten  Mann  seines  Hofes,  den  Hof- 
meister Jörg  von  Eisenhofen,  an  den  Schwiegervater  abord- 
nete, um  denselben  versöhnlicher  zu  stimmen,  fand  der  Ge- 
sandte (Anfang  Februar  in  Speier)  kalten  und  ungnädigen 
Empfang.  Der  Kaiser  fragte  den  Gesandten  mit  keiner  Silbe 
nach  seiner.  Tochter,  ebensowenig  nach  Albreeht,  Georg, 
Sigmund.     In  der  ersten  Audienz  war  keine  andere  Antwort 


Biezler-   VcrmähJutui  Herzo(j  Alhrvvhts  IV.  ton  Baijcrn.     39M 

von  ihm  zu  erlangen  .  al.s  dass  er  sich  bedenken  wolle  ,  in 
der  zweiten,  die  im  Beisein  mehrerer  kaiserlicher  Räte  statt- 
fand, lautete  die  Antwort  ungefähr  ebenso :  der  Kaiser  werde 
sich  wegen  der  Heirat  mit  dem  Könige  besprechen  und  dann 
Bescheid  geben.  Mit  dieser  kurzen  Erklärung  wurde  der 
Gesandte  ohne  Dank  und  ungnädig  abgefertigt.  Er  glaubte 
bemerkt  zu  haben  .  dass  die  anwesenden  Kurfürsten  anders 
dachten  als  der  Kaiser,  da  man  ja  bei  jedem  Unternehmen 
gegen  Ungarn  der  bayerischen  Herzoge  nicht  entraten  könne. 
Dass  auch  unter  den  kaiserlichen  Räten  eine  Albrecht  gün- 
.stigere  Strömung  vertreten  war,  erfuhr  Eisenhofen  durch  ein 
Gespräch ,  in  das  sich  Veit  von  VVolkenstein  auf  der  (.^asse 
mit  ihm  einliess.  Wolkenstein  äusserte,  dass  die  Heirat  für 
beide  Häuser,  Oesterreich  wie  Bayern,  von  grossem  Vorteil 
sei,  und  erwähnte  eines  Planes ,  dass  Albrecht,  da  ja  Maxi- 
milian nicht  tiberall  sein  könne,  den  Oberbefehl  gegen  Ungarn 
übernehmen  solle.  Bei  Kimig  Maximilian,  den  die  bayerische 
Gesandtschaft  am  25.  Februar  in  Brügge  traf,  fand  sie  so 
gute  Aufnahme,  wie  des  Königs  bisherige  Haltung  in  diesem 
Handel  erwarten  Hess.  Aufs  neue  erklärte  Maximilian  ,  die 
Heirat  habe  sein  besonderes  Wohlgefallen.  Er  meinte  sogar, 
der  Aufschub  sei  nur  deshalb  beabsichtigt  gewe.sen,  weil  der 
Kaiser  und  er  selbst  zu  Erhöhung  der  Ehre  und  Befestigung 
der  Freundschaft  gern  dem  F'este  beigewohnt  hätten.  Auf 
dem  bevorstehenden  Nürnberger  Reichstage  werde  er  alles 
aufbieten  den  Kaiser  umzustimmen  und  er  hege  die  zuver- 
sichtliche Hoffnung,  dass  dies  gelingen  werde  ^). 

Diese  Hoffnung  war  eine  Illusion.  Länger  als  sechs 
.Jahre  hat  es  Kaiser  Friedrich  übers  Herz  gebracht  der  ein- 
zigen Tochter  und  dem  überall  im  Reiche  so  hoch  ange- 
sehenen Schwiegersohne  zu  grollen,  sie  und  seine  neugebo- 
renen Enkelkinder  nie  zu  sehen.    Auch  nachdem  der  Wittels- 

1)  Arroden  III.  f.   170-172. 


;i94  Sitzuiin  der  Instor.  Clasne  vom  1.   Dezember  1888. 

bacher  im  Frühlunj^  1492,  ohne  Blutvergiessen ,  mir  durch 
die  grosse  Ueberlegenheit  der  kaiserlichen  Rüstungen  die 
tiefste  Demütigung  erfahren  hatte  und  auf  allen  Punkten, 
wo  er  aggressiv  oder  begehrlich  vorgegangen  war,  gegenüber 
Kegensbnrg  wie  gegenüber  dem  habsburgischen  Hausbesitz, 
auch  in  der  Frage  von  Kunigundens  Erbverzicht,  zum  Rück- 
zug und  zur  Nachgiebigkeit  gezwungen  worden  war :  auch 
dann  noch  zeigte  sich  der  Starrsinn  des  Greises  unversöhn- 
lich, noch  immer  weigerte  er  sich  seine  Tochter  zu  sehen. 
Erst  im  Dezember  1492,  ein  halbes  Jahr  vor  seinem  Tode, 
gestattete  er,  dass  Kunigunde  und  x4.1brecht  mit  den  Kindern 
ihn  in  Linz  besuchten. 


395 


Die  zu  Ehren  Seiner  Majestät  des  Königs  und 
Seiner  Königlichen  Hoheit  des  Prinzregenten  regel- 
mässig am  15.  November  abzuhaltende 

Oeffentliche  Sitzung 

musste  wegen  der  schweren  Erkrankung,  sodann  des  Ablebens 
Seiner  Königlichen  Hoheit  des  Herzogs  Maximilian 
in  Bayern  verlegt  werden  und  fand  statt 

am  27.  Dezember  1888. 

Dieselbe  wurde  eröffnet  durch  einen  Vortrag  des  V^or- 
standes  der  Akademie.  Herrn  von  DöUinger,  ,  vi  her  den 
Autheil  Nordamerikas  an  der  Literatur",  welcher  ander- 
wärts veröffentlicht  werden  soll. 

Hierauf  wurden  die  von  der  K.  Akademie  am  21.  Juli 
lfd.  Js.  vollzogenen  ,  am  5.  November  von  Sr.  Kgl.  Hoheit 
dem  Prinzregenten  bestätigten  Neuwahlen  öffentlich  ver- 
kündigt. 

Es  sind  für  die  I.  und  für  die  III.  Classe  folgende: 

I.    für   die   philosophisch-philologische   Classe 

A.  als  ordentliches  Mitglied 

Herr  Dr.  Georg  Karl  August  Bechmann,  o.  Professor 
an  der  Universität  München. 

B.  als  ausserordentliches  Mitglied 

Herr  Dr.  Wilhelm  (feiger,  Privatdocent  an  der  Universität 
München  und  Studienlehrer  am  Maximilians-Gymnasium 
dahier. 

C.  als  auswärtige  Mitglieder 

Herr  Dr.  Hermann  Usener,  o.  Professor  an  der  Univer- 
sität Bonn, 


396  Oefl'entliche  Sitzung  row  27.  Dezember  188S. 

Herr  Dr.  Ludwig  W immer,  Professor  an  der  Universität 
Kopenhagen. 

D.  als  correspondirendes  Mitglied 
Herr  Dr.  Johann  Kelle,  o.  Professor  an  der  Universität  Prag. 

n.    für  die  historische  Classe 

A.  als  ordentliches  Mitglied 

Heri-  Dr.  Sigmund  Riezler,  Oberbibliothekar  an  der  Hof- 
und  Staatsbibliothek  und  Vorstand  des  Maximilianeuras 
dahier,  bisher  ausserordentliches  Mitglied. 

B.  als  correspondirende  Mitglieder 

Herr  Edmund  Freiherr  von  Oefele,  Reichsarchivassessor 
dahier. 

Herr  Dr.  Henry  Simonsfeld,  Privatdocent  an  der  Uni- 
versität München  und  Secretär  an  der  Hof-  und  Staats- 
bibliothek. 

C.  als  auswärtige  Mitglieder 

Herr  Dr.  .fulius  Weizsäcker,  o.  Professor  an  der  Uni- 
versität Berlin, 

Herr  Dr.  August  Otuiar  Essen  wein.  Director  des  (ger- 
manischen Museums  in  Nürnberg 

beide  bisher  correspondirende  Mitglieder. 

D.  als  correspondirende  Mitglieder 

lli'rr   Dr.  (leorg  Kaufmann,  o.  Professor  an  der  Akademie 

Münster. 
Herr  Eugen  Munt/.,  Conservator  an  der  Ecole  des  Beaux- 

Arts  in  Paris. 
Herr    Dr.    Karl   Ferd.    Frdr.   Müller,    o.    l'rofe.ssor    an    der 

Universität  Gie.ssen. 

Sodann  hielt  Herr  v.  Planck  .  ordentliches  Mitglied  der 
historischen  Cla.sse,  die  Festrede  „über  die  historische 
Methode   auf  dem  Gebiete   des  Civilprocessrechtes". 

Die.seli>e    wird    al.'<    be.sondere   Schrift    gedruckt    werden. 


;W' 


Verzeichniss  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Juli  bis  December  1888. 


Die  verelirlichen  Gescllscliaften  und  Institute,  mit  welchen  unsere  Akademie  in 
Tausch  verkehr  steht,  werden  gebeten,  nacl)stehendes  Verzeichniss  zugleich  als  Empfangs- 
hestätigung  zu  betrachten.  —  Die  zunächst  für  die  niatliematiscli-physiknlische  Classe 
bestimmten  Druckschriften   sind   in    deren  Sitzungsberichten  188S  Heft  3  verzeichnet. 


Von  folgenden  Gesellschaften  und  Instituten: 
Geschichtuverehi  in  Aacheti : 
Zoitschiift.  Bd.   I.\  und  Register  zu  Bd.  I— VII.     1887.     8". 

Südslavische  Akademie  der   Wissenschaften  in  Agram: 
Rad.  Bd.  87-91.     1887—88.     8". 

Archäologische  Gesellschaft  in  Agram: 
Viestnik.  Bd.  X.  Hett  3.  4.     1888.     8". 

Societe  des  Antiquaires  de  Ficardic  in  Amiens: 

Memoires.  Docuraent.s  inedits.  Tom.  XI.     1888.     4*^. 
Bulletin.  1887.  Nr.  4.    1888.  Nr.  1.     8^ 

K.  Akademie  der   Wissenschaften  in  Amsterdam: 

Verhandelingen.  .\fd.  Lettei-kunde.  üeel  17.     1888.     4°. 

Vershigen  en  Mededeelingen.     Afd.  Letterkunde.     3«  Reeks.    Deel  4. 

1887—88.     8". 
•laarboek  voor  1886.     1887.     8^. 

Catalogus   der  Verzamelingen  Bilderdyk   en   van  Lennep.     1887.     8". 
Prijsver.s :  Matris  querela  et  Susanna.     1887 — 88.     8°. 

Historischer  Verein  in  Augsburg : 
Zeitschrift.  14.  Jahrgang.     1887.     8^. 


'398  Verzeicliniss  der  eiiKjelaufe.nen  Dniclachriften. 

Johns  Hopkins   University  in  Baltimore: 

The  American  Journal  of  Philology.  Vol.  IX.  Part  1.     1888.     8". 
Studies  in  historical  and  i^olitical  science.  Vol.  VI.     1888.     8". 

Societe  des  sciences  historiqnes  et  naturelles  in  Bastia: 

Bulletin.  VII«  annee  1887.   Fase.  80—84.    Annee  1888.   Fase.  85—90. 
1887—88.     80. 

Bataviaasch  Gennotschnp  van  Künsten  en  Wetenschappen  in  Batacia: 

Tijdsehrift  voor  Indische  Taal-,  Land-  en  Volkenkunde.  Deel  XXXII. 

aflev.  2.  3.     1888.     8". 
Notulen.  Deel  XXV.  aflev.  4.  1887.     1888.     8". 
^'erhandelinfi:en.  Deel  45.  aflev.  2.     1888.     4". 
Daf?h-Kegister  gehouden  int  Castell  Batavia,  Anno  1653,   uitgegeven 

door  J.  A.  Van  der  Chijs.     1888.     80. 

Historischer   Verein  für  Oberfranl'en  in  Bayreuth: 

Archiv     für     Geschichte     und     Alterthumskunde     von     OberfVanken. 
Bd.  XVII.  Heft  1.     1887.     8«. 

K.  Akademie  der   Wissenschafteti  in  Bchjrad: 

Godii^chnjak  (Jahrbuch)  1.  1887.     1888.     8°. 

Gla.s.  (Nachrichtenblatt).   Heft  1—9.     1887—88.     8». 

Spomen  etc.  (Erinnerung  an  die  Trauerfeier   beim  Tode  des  Dr.  .los. 

Pantschitsch,    ersten  Präsidenten  der  k.  serbischen  Academie). 

1888.     8°. 

K.  Preussische  Akademie  der   Wisse nschafte)i  in  Berlin: 

Corpus  Inscriptionum  Latinarum.  Vol.  XI,  1.  XH.     1888.     Vol. 

Abhandlungen  a.  d.  Jahre  1887.     1888.     4P. 

Politische  Correspondenz  Friedricli  des  Grossen.   Bd.  XVI.     1888.    8". 

Sitzungsberichte  1888.  Nr.  XXI— XXXVII.     gr.  8". 

Corpus  Inscriptionum  .*\tticacum.  Vol.  II.  pars  III.     1888.     Fol. 

K.  Bibliothek  in  Berlin : 

Die  Handschriften-Verzeichnisse  der  k.  Bibliothek  zu  Berlin.    Bd.  V. 
1888.     4». 

Kaiserlich  deutsches  archäologisches  Institut  in  Berlin: 

Jahrbuch.  Bd    III.  Heft  2.  3    und  Ergänzungsheft  I.     1888.     4". 
Mittheilungen.     Römische    Abtheilung.     Bd.    III.     Heft    2.    3.     Rom 
1888.     8». 

Verein  für  Geschichte  der  Mark  Brandenburg  in  Berlin: 

Fiirschungen    zur    Brandfmburgischi-n     und    Preussisclien    (leschichte. 
Bd.  I.  2.  Hälfte.     Leipzig  1888.     8°. 


Verseichniss  der  eitigelaufeneit  Dniclschriflen.  399 

Internationale  Zeitschrift  für  allgemeine  Sprachwissenschaft  in  Berlin : 
Zeitschrift.  IV.  Bd.  1.  Hälfte.     Heilbronn  1888.     gr.  8°. 

Allgemeine  geschichtsforschenrlc  Gesellschaft  der  Schweiz  in  Berti: 
.Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte.  Bd.  XHI.     Zürich  1888.    8". 

Historischer   Verein  des  Kantons  Bern  in  Bern : 
Archiv.  Bd.  XII.  Heft  2.     1888.     8». 

Verein  von  Alterthumsfreunden  im  Rheinlande  zu  Bontr. 
.Fahrbücher.   Heft  86.     1888.     gr.  8». 

Academie  Royale  des  Sciences  in  Brüssel. 
Bulletin.  3.  Serie.  Tom.  15.  Nr.  5.  6.  Tom.  16.  Nr.  7—10.    1888.    8°. 

K.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Budapest: 
Almanach  1888.     1887.     8». 
Evkönyv.  (Jahrbuch)  XVII.  5.     1887.     4". 

Ertesitö.  (Sitzungsberichte)  1887.  Nr.  4—8.  1888.  Nr.  1.  1887—88.  8°. 
Nvelvtudomänvi  Ertekezesek.  (Sprachwissenschaftliehe  Abhandlungen). 

Bd.  XIV.  1—7. 
Simonyi,  Zsigmond,  A  magyar  hatärozök.    (Die  Bestiramungsworte  im 

Ungarischen). 
K^gi  magyar  Nvelvemlekek  (Altungarische  Sprachdenkmäler).  IV.  2. 

V.     1888.^    40. 
•lözsef  föherezeg,  Czigäny  nyelvtan.  (Grammatik  der  Zigeunersprache 

von  Erzherzog  Joseph).     1888.     8°. 
Nyelvtudomänyi  közleraenyek.  I  Philologische  Mittheilungen).  Bd.  XX.  3. 
Nyelvemlektär.  (Ungarische  Sprachdenkmäler).  Bd.  IX.  X.     8°. 
Kiinos  Ignäcz.  Oszmän-török   nepköltesi   gyüjtemeny.   (Sammlung  os- 

mano-türkischer  Volksdichtungen).  Bd.  I. 
Bayer  Jözsef,    A  nemzeti  jätekszin  törtenete.    (Geschichte   des   natio- 
nalen Schauspielwesens).  Bd.  I.  II.     1887.     8". 
Förtenettudomänvi  Ertekezesek.  (Historische  Abhandlungen).  Bd.  XIU, 

6-8. 
Färsadalmi firtekezesek.  (Socialwissenschaftliche  Abhandlungen).  Bd.  IX. 

2—7. 
Ballagi  Ahidär.  Colbert.  Bd.  I.     1887.     8<'. 
Szädeczky  Lajos,  Izabella  e's  Jänos  Zsigmond  Lengyelorszägban.  (Isa- 

bella  und  .lohann  Sigismund  in  Polen).     1888.     8''. 
Marczali    Henrik,    Magyarorszäg    törtenete   II.    .lözsef  koräban.    (Ge- 
schichte Ungarns  unter  Josef  II.).  Bd.  111.  und  Register  zu  Bd. 

I— III.     1888.     8». 
Pesty    Frigyes,  Magyarorszäg    helynevei.    (Die    Ortsnamen    Ungarns). 

Bd.  I. 
Gek'ich  Jözsef,  Ragusa  es  Magyarorszäg  összekötteseinek  okleveltära. 

(Urkunden  über  die  Beziehungen  zwischen  Ragusa  und  Ungarn). 

1887.     8". 


400  Vcrzeichniss  der  riiKjelanfcnen  Dnickschriftcn. 

Monunii'nta  coniitialia  rej^ni  Transsylvaniae.  Vol.  XII.  1887.  8". 
Archaeologiai  Ertesitö.  Bd.  VII,  3—5.  VIII.  1.  2.  1887—88.  4". 
Hadtörtenelnii     közleirienvek.     (Krie^sffeschichtlirhe     Mittheilungen). 

1887.  80.  " 

Momimenta  Hungariae   Hi.st.  Sectio  I.   Diplomataria.    Tom.  XXXVII. 

1887      8*^ 
Kmlekbeszedek.  (Gedenkreden).  Bd.  IV.  6—10.     1887.     S». 
Ungarische  Reviie.  8.  Jahrg.  1888.     Heft  7-10.     8'^. 

Statistisches  Bureau  der  Hauptstadt  Budapest: 
i'ublicationen.  Nr.  XXII.     Berlin  1888.     4". 

Acadeniia  Romana  in  Bukarest: 

Docmnente  privitöre  la  Istoria  Romänilor  culeso  de  Eud.  de  Hurmu- 
zaki.  Vol.  III.  parte  2.     1888.     4<>. 

Asiatic  Society  of  Bengal  in  Caicutta: 

.Toiunal.  Nr.  281—286.     1888.     8". 
I'roceedings.  Febr.  — August  1888.  Nr.  2—8.     8". 

Bil.liothoca  Indiea.  Old  Serie.s  Nr.  263.  264.  New  Series  Nr.  638-648. 
1887-88.     8°. 

Wochenschrift  „The  open  Court'  in  Chicatjo: 

The    open    Court,    a   weekly    .lournal.    Vol.   II.    Nr.  33-42.    51— 5H. 

1888.  40. 

Gesellschaft  der   Wissenschaftoi  in  ('hristiania: 
Forhandlinger.  Aar  1887.     1888.     8". 

Historisch-antiquarische  Gesellschaft  von  Graubünden  in  Chur: 
XVII.  Jahresbericht.  Jahrg.  1887.     8«. 

Akademische  Lesehalle  in  Czernotvitz: 
12.  Verwaltungs-Bericht.     1888.     S». 

Universität  in  Czernonitz : 

Uebersicht  <ler  akademischen  Behörden.     Winter-Sem.  1888/89. 
Vcrzeirhni.'is  der  Vorlesungen.  Winter-Sem.  1888/89.     1888.     8". 

Gelehrte  Estnische  Gesellschaft  in  Dar  pal: 

Sitzungsberichte  1887.     1888.     8". 

Festschrift    zur     Feier    des    .50  jährigen    Bestehens    der    (iesellschaft. 
1888.     80. 

Universität  in  Dar  pal : 
Schriften  aus  dem  -lahre   18H7.     4"  und  8". 


Verzeichnisü  der  eingelaufenen  Dnickitchriften.  +01 

Alterthitmsverein  in  Dre.'fden : 

Neues  Archiv  fiir  säch8i8che  Geschichte  und  Alterthumskunde.  Bd.  IX. 
1888.     80. 

Roffal  Iri-sh  Acadenuj  In  Dublin : 

List  of  the  Papers  1786—1886.     1887.     \^. 
Transaction.^.  Vol.  XXTX.  parts  1—4.     1887—88.     4». 
Froceedings.  Polite  Literature.  Ser.  II.  Vol.  II.  Nr.  8.     1888.     8". 
('unningham  Memoirs.  Nr.  IV.     1887.     4". 

Royal  Society  in  Edinburgh: 
Proceeding8.   Session  1883—84,   1884—85,  1885-86.  1886—87.     1884 

gy       go 

Tmnsactions.  Vol.  XXX.  Part  4.  Vol.  XXXI.  Vol.  XXXII.   Part  2-4. 
Vol.  XXXIII.  Part  1.  2.     1883—88.     4». 

Lehr-  und  Erziehung>iinstitul  in  Marin-Einsiedehi : 
Jahre-sbericht  f.  d.  .1.   1887/88.     4». 

Verein  für  Geschichte  der  Grafschaft  Mansfeld  in  Eisleben  : 
Mansfelder  Blätter.  2.  Jahrg.  1888.     8". 

Gesellschaft  für  hddende  Kunst  und  raterhindische  Allerihiimer 
in  Emden : 

Jahrbuch.  Bd.  VIII,  1.     1888.     8». 

Univcrsitäta-Bd)liothek  in  Erlangen: 
.S.hritten  vom  Jahre  1887/88.     4°  und  S'^. 

Bihlioteca  Nazionale  Centrale  in  Florenz: 

Bollettino  delle  pubblicazione  italiane  1888.  Nr.  61—70.     8°. 
Bollettino  delle  opere  moderae    straniere.    Vol.  II.    Indice.    Vol.  III. 
Nr.  1—4.     Roma  1888.     8«. 

Breisgau-Verein  ^Schau-in's-Land''  in  Freiburg  i/Br.: 
,Schau-in's-Land.-   14.  Jahrg.  1.  Hälfte.     1888.     Fol. 

Unicersität  in  Freihurg: 
Schriften  a.  d.  Jahr  1887/88.     4«»  und  8". 

Oherlausitzische  Gesellschaft  der   Wissenschaften  in   Görlitz: 
Neues  Lausitzisches  Magazin.  64.  Bd.  1.  Heft.     1888.     8". 

K.  Gesellschaft  der  Wisse tischaften  in  Göttinyen  : 
Gelehrte  .\nzeigen.  Nr.  14—19.     1888.     8". 


402  Verzeichniss  der  einrfelaufenev  Druckschriften. 

Historischer   Verein  für  Steiermark  in  Oraz: 
Mittheilungen.  Heft  36.     1888.    8«. 

Gesellschaft  für  Pommer'sche  Geschichte  in  Greifstfohl: 
Pomraer'sche  Geschichtsdenkraäler.  Bd.  VI.     1889.     8". 

K.  Institnut  voor  de  Taal-,  Land-  en  VoJkenkunde  van  Nederlandsch- 
Indi'e  im  Haag: 

Bijdragen.  Deel  XXXVII.  aflev.  4.     1888.     8». 

Oher-Gymnnsium  in  Hall  (Tirol): 
Programm  f.  d.  J.  1887/88.     1888.     8". 


Deutsche  niorr/enländische  Gesellschaft  in  Halle  alS. : 
Zeitschrift.  Bd.  42.  Heft  2.  3.     Leipzig  1888.     8". 

Universität  in  Halle  ajS. : 
Schriften  a.  d.  J.  1887/88.     4°  und  8». 

Stadtbibliothek  in  Hambimj : 

Mittheilungen  aus  der  Stadtbibliothek.  V.     1888.     8'^. 
.Jahrbuch  der  Hamburgischen  wissenschaftlichen  Anstalten.   1\'.  Jahrg. 
1887.     40. 

Historischer   Verein  für  Niedersachse)i  /»  Hannover: 
ZeitHchrifl.  Jahrgang  1888.     8". 

Universitäts-Bibliothek  in  Heidrlberti : 
Schriften  der  Universität  im  Jahre  1887—88.     4*^  und  8". 

Finländische  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Helsingfors: 

Acta  Societatis  scientiaruni  fennicae.  Vol.  XV.     1888.     8''. 
Öfver.sigt  af  förhandlingar.  XXVIII.  1885-86.   XXIX.  1886—87.   1W8G 

—87.    8*^. 
Finska  V.'tenskap.s-Societeten.  1838—1888.  af  \.  K.  Arpi)e.    1888.  8". 

Universität  in  Hehincffors: 
Schriften  a.  d.  J.  1887/88.     4"  und  8". 

Ferdinandeum  in  Innsbrnck : 
Zeitschrift.  3.  Folge.  32.  Hoft.     1888.     8''. 

Verein  für  thüringische  Geschichte  und  Alterthamskundc  in  Jena: 

Zeitschrift.  N.  F.  Bd.  VI.  Heft  1.  2.     1888.     8". 

Thüringische  Geschicht.Hquelien.  N.  F.  Bd.  III.  Theil  I.     1888.     8". 


Verzeivhuiss  der  ei}i(ieJnufeneii   Dniclischrifte)).  lt)o 

Verein  für  hessische  Geschichte  in  Kassel : 

Zeitschrift.  N.  K.  XII.  XIII.     1886-88.     8«. 
Mittheiluncxen.  Jahrg.  1886  und  1887.     8". 
Verzeichniss  der  Mitglieder.     1887.     S^. 

Gesellschaft  für  Schlesicig-Holstein-LaHenburijische  Geschichte  in  Kiel: 

Zeitschrift.  Bd.  17.     1887.     80. 

Schleswig-Holstein-Lauenburgische   Regesten   und    Urkunden.    Bd.   II 

Lief.  5.     Hamburg  1887.     4«. 
R.  von  Liliencron.     Der  Runenstein  von  Gottorp.     1888.     8'^. 

Universität  Kiel: 
Schriften  aus  dem  Jahre  1887.     4°  und  8". 

Universität  in  Kietv : 
Iswestija.  Bd.  28.  Heft  6-10.     1888.     S». 

Alterthumsverein  zu  Knin: 
Izvje§ee     etc.     (Bericht     des    Alterthums-Vereins     zu     Knin).     Zadar 
1888.     8". 

Gesellschaft  für  Nordische  Alterthuniskande  in  Kopenhagen: 
Aarböger.  II.  Raekke.  Bd.  3.  Heft  2.  3.     1888.     8°. 

K.  K.  Al-ademie  der  Wissenschaften  in  Krakan: 

Rocznik  (Alraanach).  Rok  1887.     1888.     8«. 

Rozprawij  (Sitzung.sberichte).  Histor.-philos.  Classe.  Bd.  XXI.  1888.  8". 
Monumenta  medii  aevi.  Tom.  XI.     1888.     4'^. 
Scriptores  rerum  Poloniearum.  Tom.  XII.     1888.     8^. 
Andreae  Cricii  carmina  ed.  Casimirus  Morawski.     1888.     8°. 
Godf.    Ossowski,    Kurhan    Ryzanowski    (prähistorische    Alterthümer). 
1888.     Fol. 

Historiseher   Verein  in  Lundshut : 

Verhandlungen.  Bd.  25.     1888.     8». 

Ministerie  van  Kolonien  in  Leiden: 
Nederlandsch-Chineesch   Woordenboek,    door    G.   Schlegel.    Deel  IV. 
Aflev.  1.     1888.     4''. 

K.  Sächsische  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Leipzig: 
Abhandlungen    der    philologisch-hi.stori.schen    Classe.    Bd.    X.    Nr.    9. 
Bd.  XI,  1.    (Verzeichniss    der  Originalaufnahmen   von  Goethes 
Bildnissen).     1888.     4«. 

Royal  Asiatic  Society  in  London: 
Journal.  N.  Ser.  Vol.  XX.  Part  3.     1888.     8°. 


404  Verzeichniss  der  einyelanfcnen  Druclischriftcn. 

Historischer   Verein  in  Luzern: 
Der  Geschichtsfreund.  Bd.  43.     Kinsiedeln  1888.     8^*. 

Real  Academia  de  la  Historia  in  Madrid: 
Bolotin.  Tonio  XII,  L-nad.  6.  Tomo  XIII,  cuad.  1  -  5.     1888.     8". 

Biblioteca  E.  di  Brera  in  Mailand: 

.\rchivio  storico  Lombardo.  Ser.  II.  Anno  XV.  Fase.  2.  3.     1888.    8°. 

Reale  Istituto  Lombardo  di  scienze  e  lettere  in  Mailand: 

Memorie.  (Jlasse  di  lettere.  Vol.  XVIII.  Fase.  1.     1887.     i^. 
Rendiconti.  Ser.  II.  Vol.  XX.     1887.     8'^. 

Literary  aial  PhilosojMcal  Society  in  Manchester: 

Proceeding.s.  Vol.  25.  26.     1886-87.     8^ 
Memoirs.  3.  Series.  Vol.  10.     London  1887.     &^. 

Universität s-Bibliotheli   in  Ma rhur<j : 
Schriften  a.  d.  J.  1887/88.     4»  und  8^. 

Historischer  Verein  für  den  Reg.-Bez.  Mariemrerdcr  in  Marienwerder: 
Zeitschrift.  Heft  XXII.     1888.     8^. 

Henneheryischer  altcrlhumsforschender   Verei)i  in  Meiningen: 
Neue  Beiträge  zur  Geschichte  deutschen  Alterthunis.  Lief.  5.   1888.  8°. 

Fürsten-  und  Landesschule  St.  Afra  in  Meissen: 

Jahresbericht    1887/88    mit    l'rograinni    von    Türk ,    Die    Nazarener. 
1888.     40. 

]'erein  für  Geschieht r  der  Stadt  Meissen  in  Meissen: 
Mittheilungen.  Bd.  II,   Heft  2.     1888.     8". 

Regia  Accademia  di  scienze,  lettere  ed  arti  in  Modena: 
Memorie.  Ser.  II.  Vol.  V.     1887.     4«. 

Archaeologische  Gesellschaft  in  MosJ:aii: 
Drewnosti.  Bd.   XII.   Heft   1.     1888.     4». 

Statistisches  Bnrcan  der  Stadt  München  in  München: 
.Mittbeilungen.  Bd.   IX.   lieft  4.     1888.     4". 


Verzeichnis^  der  eingelaufenen  Druckschriften.  405 

Sekretariat  ile.'f  k.  h.   Han>i-Fitter-()r(1rns    mw  hl.   Groni  in   München: 

l>er  k.  I>.  Haus-Rittei-l'iden   vom    hl.  (^ieoro;   nacli    tleiii  Stande    vom 
8.  D.-.Hmber  1888.     8«». 

Ä".  Alhj.  Reichsnrchic!  in   München : 

.\iThiviiIi.sche  Zeitschrift.    Herausgeg.    von  Franz  v.  Lüher.    XIII.  Bd. 
1888.     8". 

K.   Universität  in  München: 

.\mtliches  Verzeichniss  des  Personals.  Somni.-Sem.  1888.     8°. 

TV/t/»  für  Geschichte  und  Altrrthnmskunde    Westfalens  in   Münster: 
Zeitschrift  für  vaterländi.sche  Geschichte.  Bd.  46.     1888.     8». 

Westfäli.'^cher  Provinzial-Verein  für   Wissenschaft  und  Kunst 
in  Münster: 

14.  und  15.  .Jahresbericht  für  18S5  und  1886.     1887.     8^ 
16.  .Tahre.^bericht  für  1887.     1888.     8". 

American  Oriental  Society  in  Neir-Hacen: 
Proceedings  at  Boston,  May  1888.     8". 

Verein  für  Geschichte  der  Stadt  Nürnberf): 

.Jahresbericht  f.  d.  Jahr  1887.     1888.     S". 
Mittheilungen.  Heft  7.     1888.     8^. 

The  English  Histoncal  Feview  in  O.rford: 
Review.  Nr.  11.  12.     1888.     8". 

Musee  Guimet  in  Paris: 

Annales.  Tom.  XIV.     1887.     40. 

Revue   de    Ihistoire   des    religions.    Tom.  XVI,  3.    XVII.    1.  2.     1887 
-88.     8". 

Berue  hi.'itoriquc  (Gabriel  Monodj  in  Pari.i: 

Revue  historique.    XIII.  annee.    Tom    XXXVIII.    Nr.  1.     Sept.— Oct. 
1888.     8". 

Societi'  des  Hudes  histnriqucs  in  Paris : 

Revue.  53«  annee.     1887.     8". 

Academie  Imperiale  des  Sciences  in  Petershurg  \ 

Bulletin.  Tora.  XXXII.  Nr.  2—4.     1888.     4°. 

Memoires.  VII.  Serie.  Tora.  XXXVI.  Nr.  1-5.     1887—88.     4". 

13S8.  Philos.-philol.  u.  bist.  Cl.  II. ."?.  27 


406  Verzeichniss  der  eingelaufenen  Dntcicschriften. 

Historical  Society  of  Pennsylvania  in  Philadelphia: 

The  Pennsylvania  Magazine.  Vol.  XII.  Nr.  2.  3.     1888.     8°. 
IJanquet  to   commemorate   the    framing   and    signing   of  the  Consti- 
tution of  the  U.  S.     1888.     gr.  8". 

Lese-  und  Bedehalle  der  deutsehen  Studenten  in  Prag: 
Jahresbericht  f.  d.  Jahr  1887.     1888.     8°. 

K.  böhmisches  Museum  in  Prag : 
Öasopis.  Bd.  62.     1888.     8°. 

K.  K.  deutsche  Carl- Ferdinands- Universität  in  Prag: 
Ordnung  der  Vorlesungen.  Wintersem.  1888/89.     8". 

Verein  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen  zu  Prag: 
Mittheilungen.  26.  Jahrg.  Nr.  1—4.     1887.     8°. 

Historischer  Verein  in  Begensburg: 
Verhandhingen.  42.  Band.  Stadtamhof  1888.     8°. 

B.  Accademia  dei  Lincei  in  Born: 

Atti.  Serie  IV.  Rendiconti.  Vol.  IV.  Fase.  8—13.  und  Vol.  IV.  2o  se- 

mestre.  Fase.  1—5.     1888.     4". 
Atti.   Serie  IV.   Classe  di  scienze  morali.   Vol.  III.   parte  2.     Notizia 

degli  scavi.  Gennaio — Novembre.     1887.     4°. 

Universität  in  Bostoclc: 
Akademische  Schriften  a.  d.  J.  1887/88.     4»  und  8". 

Academie  Aes  sciences  in  Bouen: 
l'rficis  des  traveaux  pendant  l'annöe  1886—87.     1888.     8". 

Collegium  Borromaeiim  in  Salzburg: 
Programm  f.  d.  J.   1887/88.     1888.     8". 

K.  K.  Staats-Gymnasium  in  Salzburg: 
Programm  f.  d.  J.  1887/88.     8^. 

Histor.    Verein  für  das   Württcmh.  Franken   in  Schuübisch-Ilall : 
Württemb.  Franken.  N.  F.  III.     1888.     gr.  8". 

Verein  für  Meldenburgische  Geschichte  in  Schtverin: 
•fiihrbücher  und  Jahresberichte.     53.  Jahrg.     1888.     8". 

China-Branch  of  the  Boyal  Asiatic  Society  in  Shanghai : 
Journal.  N.  Serie.  Vol.  XXII.  Nr.  5.     1888.     8°. 


Verzeichiiiss  der  ei)i(jelanfi'neii  Druckschriften.  4''< 

A'.   A'   (irchaeoloffisches  Musrnm  in  Spalato: 
BuUettino  di  archeologia.  Anno  XI.  Nr.  6-11.     1888.     S°. 

K.  Statistiftches  Landesamt  in  Stuttgart: 

Wiirttenil)eifT:ische  Jahrbücher  für  Statistik  und  Landeskunde.  Jahrg. 
1887.  Bd.  I.  Heft  3.  Band  Tl.  Heft  1—4.     1887—88.     4°. 

Museo  comunale  in   Irient : 
Archivio  Trentino.  Anno  VIT.  Fase.  1.     1888.     8°. 

Korrespondenzhlatt   für  die  Gelehrten    und  Realschulen  Württembenjs 

in    Tübingen : 

Korre8])Ondeu/.blatt.  35.  Jahrg.  Heft  1.  2.  5—10.     1888.     8''. 

Universität  in   Tübingen : 
Schriften  a.  d.  Jahre  1887.     4"  und  8*^. 

R.  Aceademia  dclle  scienze  in   Turin: 
Atti.  Vol.  XXIU.   disp.  13-15.     1888.     8". 

Verein  für  Kunst  und  Altcrthum   in    Ulm: 
Mün.ster-Blätter.  Heft  5  mit  einer  Beilage.     1888.     4". 

Universität  in   Upsala: 

Schriften  a.  d.  Jahre  1887/88.     4"  und  8". 
Universitets-Arsskrift.     1887.     8*'. 

Societe  provinciale  des  arts  et  sciences  in   Utrecht : 

Bijdragen  tot  de  geschiedenis  van  de  kerspelkerk  van  St.  Jacob  te 
Utrecht,  door  Th.  H.  F.  van  Riemsdyk.     Leiden  1888.     2". 

P.  M.  Netflcher.  Geschiedenis  van  Es.sequebo,  Demerary  and  Berbice. 
s'Gravenhage  1888.     8^. 

V'erslag  algenieene  vergadering  1887.     Utrecht  1887.     8''. 

Aanteekeningen  v.  h.  verhandelde  in  de  Sectien  1887.     8°. 

Ateneo   Veneto  in  Venedig: 

L'Ateneo  Veneto.  Serie  XL  Vol.  L  Nr.  1-6.   Vol.  H.  Nr.  1.  2.  5.  6. 

1887.     8'^. 

Istituto   Veneto  di  Scienze  in   Venedig: 

Memorie.  Vol.  XX IL  parte  3.     1887.     4P. 

Atti.  Serie  VL  Torao  V.  disp.  2—9.     1886—87.     8^ 

Harzverein  für  Geschichte  in   Wernigerode: 
Archiv.  Jahrg.  XXL  L  Hälfte.     1888.     8". 


408  Verseichniss  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Kaiserl.  Akademie  der   Wissenschaften  in   Wien: 

Sitzungsberichte,  philos.-bist.  Classe.  Bd.  114.  Heft  2.  Bd.  11.5.    1887 

-88.     8'\ 
Denkschriften,  philos.-hist.  Clas.se.  Bd.  36.     1887—88.     4". 
Archiv    für   Kunde    österreichischer   Geschichtsquellen.     Bd.  71,   1.  2. 

72,  1.     1887-88.     8^.  ' 


K.  R.   Universität  in   Wien: 
Oeffentliche  Vorlesungen.  Wintersem.  1888/89.     1888.     8°. 

Verein  für  nassauische  Alterthuniskunde  in  Wiesbaden: 
Annalen.  Bd.  XX.  Heft  2.     1888.     gr.  8». 

Antiquarische  Gesellschaft  in  Zürich: 

Mittheilungen.  Bd.  XXH.  Heft  2  und  4.  Bd.  XXIII.  Heft  1.     Leipzig 
1888.     40. 


Von  folgenden  Herren: 

Joaqiiim  de  Araujo  in  Porto: 

Occidentaes.     1888.     8°. 
Poetas  mortos.     1888.     8^. 

Greyorio  Ghil  y  Naranjo  in  Las  Palmas  (Gran  CanariaJ: 
Estudics  de  las  islas  Canarias.  Parte  I.  Historia.   Tom.  I.     1879.     4^. 

Wilhelm  von  Christ  in  München: 

Geschichte   der   griechischen  Litteratur   bis    auf  die   Zeit   Justinians. 
Nördlingen.     1889.     8". 

Leopold  Delisle  in  Paris: 

L'Evangeliaire  de  Saint-Vaast  d'Arras.     1888.     Fol. 
Les  manuecrits  des  fonds  Libri  et  Barrois.     1888.     8". 

/.  V.  DölUnger  in  München: 
Akademische  Vorträge.  2  Bde.     Nördlingen  1888  u.  89.     8''. 

Ch.  A.  B.  Huth  in  Hamburg: 

Farbige  Noten.    Vorschlag   eines   neuen    vereinfachten    Notensysteuis. 
1888.     Fol. 


Verzeicliiiisu  der  ciinjelaufeiieu  Dnukschrif'teii.  -lOJ 

Eugene  Müntz  in  Pariti: 

Les  Collections  des  Medici.'»  au  XVe  siecle.     1888.     Fol. 
La  Hibliotheque  du  Vatican  au  XV.  Siede.     1887.     8^ 
Les  sources  de  rarcheologie  cbretienne.     Ronie  1888.     4". 
La  colonne  Theodosienne  a  Constantinople.     Paris  1888.     8". 
LWntipape  Clement  VH.     1888.     8". 
Giovanni  di  Bartolo  da  Siena.     1888.     8°. 

Jules  Oppert  in  Pdris : 
'I'hc  real  Chronology  of  the  Babylonian  Dynastie«.    London  1888.  8". 

Wilhelm  Preijer  in  München: 
Tischreden  Luthers,  hsg.  von  W.  Preger.     Leipzig  1888.     8". 

Constantin  Sathus  in   Venedig: 

Doeuments  inedits  rel.  ii  l'histoire  de  la  Grece  au  moyen  äge.  Tom.  VIL 
VIIL     Paris  1888.     4P. 

G.  Aug.  B.  Schierenberg  in  Frankfurt  a/M.: 
Die  Räthsel  der  Varusschlacht.     1888.     8*'. 

C.  Schmidt  in  Strassburg: 
Michael  Schütz  genannt  Toxites.     1888.     8*^. 

Jides  Swiecianowski  in   Warschau : 

Es.sai  sur  l'echelle  musicale  comme  loi  de  l'harmonie.     1881.     Fol. 
La  loi  de  l'harmonie  dans  Part  grec.     Paris  1888.     Fol. 


111 


Namen-Reiiister 


Becluuann  (Wabll  395. 
V.  Brunn  171. 

Cornelius  278. 

V.  Döllinger  395. 
V.   Druffel   IGO.  279. 

Essenwein  (Wahl)  396. 

Geiger  (Wahl)  395. 
Gregorovius  327. 

Heigel  1. 

Kaufmann  (Wahl)  396. 

Keinz  309. 

Kelle  (Wahl)  396. 

Müller  Karl  (Wahl)  396. 
Müntz  (Wahl)  396. 

V.  Oefele  (Wahl)  396. 

V.  Planck  396. 
V.  Prantl  123. 


412  Namen-Register. 

V.  Reber  79. 
Kiezler  375.  (Wahl)  396. 
V.  Rockinger  123. 
Römer  201. 

Sinionsfeld  (Wahl)  396. 
Sittl  255. 
Stieve  160. 

Usener  (Wahl)  395. 

Wecklein  327. 
Weizsäcker  (Wahl)  396. 
Wimnier  (Wahl)  396. 


413 


Sacli-Keirister. 


Aesthylus  201.  327. 

Albrecht   IV..  Herzog  von  Bayern  375. 

Athen  im   12.  Jahrhundert  327. 

Baustil  der  heroischen  Epoche   79. 
Bayern,  Kurtiirst  Max  Emanuel    1. 
Brachylogus  iuris  romani    123. 
Braunschweig.  Herzog  Heinrich  von    160.  279. 

Civiiprozessrecht   396. 

Druckschrift en-V'erzeichniss    l«jl.  397. 

ffiebelgruppHn    171. 

Iliashan<l.schrit't   255. 

Kunigumle  von  Oeaterreich    375. 

Logik.  Literatur  derselben    123. 

Luthers  Schrift  an  Sachsen  un<l   Hessen    160.  279. 

Max   Emanuel  von  Havern.  <,Tetangens<  hatt  der  Söhne   1. 


-^  1  ^  Sach-Jief/istei: 

Ni'idhart-Forschiing   309. 
Nordamerikas  Literatur   39ri. 

Renata,   Herzogin   von   Kerrara   278. 

Schwaben.s|)ie{?el    123. 

Tragiker,  griechische    201.  327. 

Wahlen,  akademische   395. 
Wittel.shacher  Briefe    160. 


AS  Akademie  der  Wissenschaften, 

182  Munich.  Philosophisch- 

MS2j  Historische  Abteilung 
1888       Sitzungsbericnte 


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