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AS
HZ
SITZ UNGSBERICHTE
DBB
PHILOSOPHISCIl-HISTOßlSCIIEN KLASSE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
hundertsechsundfOnfzigster band.
(MIT 8 TAFELN UND 1 STAMMBAUM,)
WIEN, 1908.
TN KOMMISSION BEI ALPRED HOLDER
E. U. K. HOF. UHU VNIYKRAviTS-BUCHRiNDLtR
BUCBHANDLBR DIR KAISBRUCBBH AKADBHIR DRK WISSBNSOBArTBB.
Druck Ton A4olf Holshsnsen,
k. uad k. H«r- «od Univaniau-Bvcbdrackw ta WIm.
INHALT.
I. Abhandlangr. Sch($nbach: Studien zur Erzähl ungsUteratur des Mittel-
alters. Sechster Teil : Des Nikolaus Schlegel Beschreibung des Hostien-
Wunders zu Münster in GraubUnden.
IL Abhandlang. Schonbach: Mitteilungen aus altdeutschen Hand-
schriften. Neuntes Stück: Bruder Dietrich. — Erbauliches in Prosa
und Versen.
III. Abhandlung'. Rzach: Analekta zur Kritik und Exegese der Sibylli-
nischen Orakel.
IT. Abhandlang. Wachstein: Wiener hebräische Epitaphien. (Mit
3 Tafeln.)
T. Abhandlnng. Richter: Die Bedeutung^geschichte der romanischen
Wortsippe hur(d). (Mit einem Stammbaum.)
Tl. Abhandlang. Loserth: Studien zur Kirchenpolitik Englands. II. Teil.
Die Genesis von Wiclifs Summa Theologiae und seine Lehre vom
wahren und falschen Papsttum.
'^^Vi_7
L SITZUNG VOM 9. JÄNNER 1907.
Seine Exzellenz der versitzende Vizepräsident W. von
Hartel macht Mitteilung von dem schweren Verlaste, den die
Akademie durch das am 2. Januar 1. J. erfolgte Ableben ihres
w. M. Herrn Sektionschefs Dr. Otto Benndorf, Direktors des
k. k. österreichischen archäologischen Institutes in Wien, er-
litten hat.
Die Mitglieder geben ihrem Beileide durch Erheben von
den Sitzen Ausdruck.
Der Sekretär Herr Hofrat R. von Karabacek verliest
die folgende Zuschrift des Secr^taire perp^tuel der Acad^mie
des inscriptions et belles-lettres (Institut de France)^ k. M. Herrn
George Perrot in Paris vom 6. Januar L J.:
,Monsieur le pr^sident et honore confr&re,
La mort de M. Otto Benndorf , qui nous a 6i6 annonc^e
par un billet de faire part que m'a envoyä Tlnstitut arch^o-
logique autrichien, a causa k toute TAcad^mie une surprise
et une Emotion douloureuse. Cette Emotion a iii particuli^re-
ment ressentie par ceux d'entre nous qui, vouös aux ^tudes
d'arch^ologie classiquC; ont tirä tant de profit des Berits de
Benndorf, oü le goüt fin de Tartiste s'allie toujours k la science
acquise dans les livres et dans T^tude des monuments.
yll se trouvait justement que, le jour oü nous avions a
annoncer la fun&bre nouvelle, c'ätait Tun de ces arch^ologues,
M. Salomon Reinach, qui prenait la pr^sidence de TAcad^mie.
II a ouvert la säance en se faisant Tinterpr^te des regrets que
nous causait la perte de notre savant correspondant, dont nous
avions comptä faire, k la premiire occasion, un de nos associes
^trangers.
VI
,Je n'ai pas voulu attendre, pour vous commaniquer le
texte de cette allocntion^ qu'ello soit imprim^e dans nos Comptes-
rendus. Je vous Tadresse, et je vous serais reconnaissant de
vouloir bien le communiquer k vos confr&res de rAcademie
imperiale des sciences/
Die Ansprache des Präsidenten; Herrn S. Rein ach, hatte
folgenden Wortlaut:
^Messieurs,
J'ai le penible devoir d'annoncer k rAcademie la mort
d'un de ses correspondants les plus estimds, M. le professeur
Otto Benndorf, directeur de Tlnstitut archeologique autrichien.
Ne en Saxe en 1838, M. Benndorf fut ^leve de Tlnstitut ar-
cheologique de Rome, puis successivement professeur k Zürich,
k Prague et, depuis 1877, k Vienne, oü il succöda k M. Ale-
xandre Conze. Quatre grandcs campagnes de fouilles et d'ex-
plorations, Celles de Samothraco, de Lycie, d'Adam-KUssi (Tro-
paeum Trojani) et d'Ephöse, ont iii accomplies sous sa
direction ou avec son concours. C'est k lui surtout que le
Musde imperial de Vienne doit de poss^der les admirables
sculptures du Mausoläe de Trysa en Lycie, comme les statues
et les bas-reliefs d^couverts plus ricemment k Ephfese, au cours
de fouilles que M. Benndorf avait provoquöes (1895) et qui se
poursuivent encore. M. Benndorf reunissait, k un degrö eminent,
les qualitös de Texplorateur, de l'administrateur, du savant.
On lui doit la fondation du S^minaire archöologique de TUni-
versitz de Vienne, pourvu d'une coUection d'antiques et d'une
bibliothftque speciale dont bien peu de centres universitaires
offrent l'^quivalent; c'est lui aussi qui a cr66, en 1898, lln-
stitut archöologique autrichien, dont Torgane scientifique, les
Jahreshefte, rddigö avec autant de goüt que de savoir, a
conquis rapidement une place Eminente parmi les publications
arch^ologiques. Tous les ouvrages de AI. Benndorf, jusqu'k
ses moindres articles, attestent une Erudition exacte et pro-
fonde, relevöe par une finesse d'observation et une' elägance
de langage qui en sont la marque distinctive. Ägi de 30 ans
k peine, il publiait, avec M. Schoene, le beau catalogue raisonnö
du mus^e du Latran qui est restä le mod&le de ce genre
d'ouvrages. L'un des premiers, il salua dans la Victoire de
Samothracc un chef-d'ceuvre de Tart grcc et, par une henreuse
VII
Inspiration, la mit en rapport avcc Thistoire politiquo de la
QrhcQ et lai assigna une date pröcise. Son ouvrage sur les
yases peints peut etre considärö comme le point de döpart de
toutcs les reeherehes modernes sur la c^ramiqae attique de
beau style, en particulier sur les licytheres blancs; les feailles
de gravures qn'il pablia, sons le titre de Vorlegeblätter,
ont fait nne grande part aax monuments de la cäramique et
en ont efficacement seeonde Tötude. La relation de ses voyages
dans le Sad-Oaest de rAsie-Mineure, sa monographie snr le
Mausolöe de Trysa, ses mömoires sar la tSte d'Eleusis attribu^e
par loi ä PraxitMe, sar les grands bronzes da Masäe de Naplcs
et sar la belle statae de bronze ddcouverte k Eph&se, bien
d'aatres travaax encore qae je ne pais examiner ici, assarent
a son nom ane renomm^e darable et les pieax regrets de toas
les amis de Tantiqaitä. L'Academie des Inscriptions qai, de-
pais 1895, comptait M. Benndorf parmi ses correspondants
ätrangers, s'assoeie aa deail de TAcad^mie de Vienne, oü il
repr^sentait nos Stades avec tant d'aatoritä et d'äclat/
Der Sekretär verliest ein Schreiben des Landesarchivars in
Kärnten, Herrn Dr. Aagast Ritter von Jaksch in Klagenfart,
worin dieser für die Zaerkennang einer Sabvention als Drack-
kostenbeitrag zar Heraasgabe des Schlaßbandes seiner Mona-
menta historica dacatas Carinthiae^ dankt and sich bereit
erklärt, dem Wansche der Akademie, als Ergänzang dieser
,Monamenta' eine Faksimiliensammlang heraaszageben, in Bälde
za entsprechen.
Weiters verliest der Sekretär ein Dankschreiben des
Geographischen Institates der k. k. Universität in Graz fdr
die Übersendang eines Exemplares der ersten Lieferang des
,Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer' sowie der
,Erläaterangen' hieza.
Der Sekretär legt die von der königl. Gesellschaft der
Wissenschaften in Göttingen in mehreren Exemplaren über-
sandte ,Beilage za den Protokollen der Kartellversammlang
vom 15. and 16. Oktober 1906, betreffend die Heraasgabe
mittelalterlicher Bibliothekskataloge (enthaltend: Memorandam
des Herrn von Ottenthai and Annex daza)' vor.
VIII
Zugleich macht die königl. Qesellschaft der Wissenschaften
Mitteilung, daß die Führung der Vorortgeschäfte des Kartells
mit 1. Januar 1. J. auf die königl. bayer. Akademie der Wissen
Schäften in München übergegangen ist.
Das k. M. Herr Hofrat Professor Dr. J. Loserth über-
sendet eine Arbeit unter dem Titel : ^Studien zur Kirchenpolitik
Englands im 14. Jahrhundert. II. Teil. Die Genesis von Wiclifs
Summa Theologiae und Wiclifs Lehre vom wahren und falschen
Papsttum' und bittet um deren Aufnahme in die Sitzungsberichte.
Der Sekretär überreicht zwei von Herrn Karl Worel in
Qraz eingesandte Manuskripte^ betitelt: ^Das Jotasuffix als ein
im Sprachbewußtsein der deutschen alpenländischen Mundarten
noch gegenwärtig reges indogermanisches Sprachelement' und
^Mittelhochdeutsche Wortformen, die der deutschen Schrift-
sprache fremd sind, im steirischen Dialekt^
Der Sekretär legt ferner eine Abhandlung des Herrn
Professor Dr. Alois Rzach in Prag vor, betitelt: ,Analecta
zur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel', um deren
Aufnahme in die Sitzungsberichte der Verfasser bittet.
Der Sekretär überreicht das vom Autor, Herrn Professor
Dr. R. F. Kaindl in Czernowitz übersandte Werk: ,Qeschichte
der Deutschen in den Karpathenländcrn. Erster Band: Ge-
schichte der Deutschen in Galizien bis 1772 (Deutsche Landes-
geschichten, herausgegeben von Armin Tille. Achtes Werk).
Gotha 1907*, sowie eine Abhandlung »Beiträge zur Geschichte
des deutschen Rechtes in Galizien (Fortsetzung)', um deren
Aufnahme in das ,Archiv fUr österreichische Geschichte' der
Autor ersucht.
Das w. M. Herr Hofrat Professor Dr. Anton E. Schönbach
in Graz legt eine Abhandlung vor unter dem Titel: ^Studien
IX
zur Erzählangsliteratur des Mittelalters. Sechster Teil: Des
Nikolans Schlegel Beschreibung des Hostienwunders zu Münster
in Graubünden'.
Derselbe legt ferner eine Abhandlung vor unter dem
Titel: ^Mitteilungen aus altdeutschen Handschriften. Neuntes
Stück: Bruder Dietrich. Erbauliches in Prosa und Versen'.
IL SITZUNG VOM 16. JÄNNER 1907.
Der Präsident, Herr Professor Eduard Suess, gedenkt
in tief empfundenen Worten des schweren Verlustes, den die
Akademie durch das am 14. Januar 1. J. unvermutet erfolgte
Hinscheiden ihres Vizepräsidenten, Sr. Exzellenz des Herrn
Dr. Wilhelm Ritter von Hartel, k. u. k. wirklichen geheimen
Rates, k. k. Ministers a. D., Mitgl. des Herrenhauses des österr.
Reichsrates, Qroßkreuzes usw., erlitten hat.
Die Mitglieder geben ihrer Trauer durch Erheben von
den Sitzen Ausdruck.
Der Sekretär, Herr Hofrat Ritter von Karabacek, ver-
liest ein vom Rektor der Jagelloniscben Universität in Krakau,
Herrn Professor Kazimierz von Morawski, gezeichnetes
Beileidstelegramm dieser Universität zum Ableben des Vize-
präsidenten;
desgleichen eine Zuschrift des k. und k. Direktors des
k. k. Hof burgtheaters , Herrn Dr. Paul Schienther, namens
des Komitees fiir die Grillparzer-Preisstiftung.
Werden mit dem Ausdrucke des Dankes zur Kenntnis
genommen.
Der Sekretär überreicht eine Einladung der k. k. Karl
Franzens • Universität in Graz zur Teilnahme an der am
19. d. M. stattfindenden Enthüllung eines Denkmales fUr weiland
Franz von Krones, k. M., in der Aula dieser Universität.
X
Das w. M. Herr Hofrat von Lnechin-Ebengreath wird
die Akademie bei dieser Feier vertreten und namens derselben
einen Lorbeerkranz am Denkmal niederlegen. •
Das Kuratorium der Schwestern Fröhlich- Stiftung zur
Unterstützung bedürftiger hervorragender schaffender Talente
auf dem Gebiete der Kunst; Literatur und Wissenschaft tiber-
sendet wie alljährlich eine Kundmachung tiber die Verleihung
von Stipendien und Pensionen aus der bezeichneten Stiftung
pro 1907; mit der Bitte um Verlautbarung.
Aus dieser Stiftung werden verliehen:
a) Stipendien an Künstler oder Gelehrte zur Vollendung
ihrer Ausbildung oder zur Ausführung eines bestimmten Werkes,
oder zur Veröffentlichung eines solchen, oder im Falle plötzlich
eintretender Arbeitsunfähigkeit.
b) Pensionen an Künstler oder Gelehrte, welche durch
Alter, Krankheit oder Unglücksfälle in Mittellosigkeit ge-
raten sind.
Zur Erlangung eines Stipendiums muß der Bewerber
in seinem an das Kuratorium zu richtenden Gesuche folgende
Belege beibringen:
a) den Tauf- oder Geburtsschein,
b) Studien- oder Prüfungszeugnisse,
c) glaubwürdige Zeugnisse über seine wissenschaftlichen
oder künstlerischen Leistungen,
d) ein behördliches Zeugnis über seine Mittellosigkeit.
Mit dem Gesuche um eine Pension ist beizubringen:
a) der Tauf- oder Geburtsschein,
b) eine glaubwürdige Bescheinigung über die Krankheit
oder den Unglücksfall, wodurch der Bewerber in
Mittellosigkeit geraten ist,
c) ein Ausweis über die Verdienste des Bewerbers um
Wissenschaft und Kunst.
Die vorschriftsmäßig belegten Gesuche samt eventuellen
Kunstproben sind bis 31. März 1907 im Präsidialbureau des
XI
Wiener Gemciuderates L, Lichtenfelsgasse 2, I. Stock, zu
Überreichen^ woselbst auch die Stiftangsstatuten behoben werden
können.
Nicht entsprechend instruierte Gesuche werden nicht in
Betracht gezogen.
IIL SITZUNG VOM 23. JÄNNER 1907.
Der Vorsitzende Alterspräsident, Herr Hofrat F. Kenner,
gedenkt des Verlustes, den die Akademie durch das am 21.
d. M. in Mailand erfolgte Ableben ihres auswärtigen Ehren-
mitgliedes, Herrn Senators Professors Dr. Graziadio Ascoli
erlitten hat.
Die lilitglieder erheben sich zum Zeichen des Beileides
Yon den Sitzen.
Der Sekretär teilt die aus Anlaß des Ablebens des Vize-
präsidenten^ Sr. Exzellenz des Herrn Dr. Wilhelm Ritter von
Hartel, an die Akademie eingelangten Beileidsschreiben mit.
Solche Schreiben sind eingelangt:
von der königl. Akademie der Wissenschaften in Amster-
dam, königl. preußischen Akademie der Wissenschaften in
Berlin, Acadömie royale des sciences de Belgique in Brüssel,
Magyar Tudominyos Akadämia in Budapest, königl. Gesell-
schaft der Wissenschaften in Göttingen, kais. Akademie der
Wissenschaften in Krakau, königl. sächs. Gesellschaft der
Wissenschaften in Leipzig, königl. bayr. Akademie der Wissen-
schaften in München;
vom kais. archäologischen Institut in Berlin, der Kom-
mission für den Thesaurus linguae latinae (Geheimrat Dr.
Bücheier) in Bonn, von der Philologischen Gesellschaft in
Budapest und der k. k. geographischen Gesellschaft in Wien;
vom Rektorat folgender Hochschulen: Franz Josefs-Uni-
versität in Agram, deutsche und böhmische technische Hoch-
schule in Brunn, Leopold Franzens -Universität in Innsbruck,
XII
technische Hochschule in Lemberg^ deutsche und böhmische
Karl Ferdinands-Universität in Prag; deutsche und böhmische
technische Hochschule in Prag, technische Hochschule in Wien
und Hochschule für Bodenkultur in Wien;
von der belgischen Gesandtschaft (Se. Exzellenz Baron
de Borchgrave) und von der deutschen Botschaft (Se. Ex-
zellenz Graf von Wedel) in Wienj
vom Bürgermeister und Stadtrat der Stadt Elbogen;
ferner von vielen Mitgliedern der Akademie und Privaten.
Werden mit dem Ausdrucke des Dankes zur Kenntnis
genommen.
Der Sekretär überreicht die beiden kürzlich ausgegebenen
akademischen Schriften; und zwar:
Sitzungsberichte der kais. Akademie der Wissen-
schaften, phil.-hist. KlassC; CLH. Band; Jahrgang 1905/6. Wien
1906; und
Archiv für österreichische Geschichte. Herausgegeben
von der historischen Kommission. XCV. Band, zweite Hälfte.
(Mit 6 Stammtafeln.) Wien 1906.
Der Sekretär verliest eine Kundmachung der k. k. n.-ö.
Statthalterei in Wien bezüglich der Modalitäten ftir die Ver-
teilung des Friedenspreises der Nobel-Stiftung im Jahre 1907.
Laut der vom Komitee der Nobclstiftung des norwegischen
Parlamentes unterm 1. Dezember d. J. hieher geleiteten Kund-
macliung sind für die Verteilung des Friedenspreises dieser
Stiftung im Jahre 1907 folgende Bestimmungen maßgebend:
,Um bei der am 10. Dezember 1907 erfolgenden Verteilung
des Friedenspreises der Nobelstiftung in Betracht gezogen zu
werden, müssen die Bewerber dem Nobel-Komitee des norwe-
gischen Parlamentes durch eine hiezu berufene Person vor
dem 1. Februar 1907 in Vorschlag gebracht werden.
Zur Erstattung dieses Vorschlages sind berufen:
1. die gegenwärtigen und ehemaligen Mitglieder des Nobel-
Komitees des norwegischen Parlamentes und die Beiräte des
norwegischen Nobelinstitutes ;
XIII
2. die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften und
der Regierungen der verschiedenen Staaten, wie auch die Mit-
glieder der interparlamentarischen Union;
3. die Mitglieder des ständigen Schiedsgerichtshofes im
Haag;
4. die Kommissionsmitglieder des ständigen internationalen
Friedensbureaus ;
5. die ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder des
Institutes fUr internationales Recht;
6. die Universitätsprofessoren für Rechtswissenschaft und
für Staatswissenschaft, für Geschichte und für Philosophie;
7. jene Personen, welche den Friedenspreis der Nobel-
stiftung erhalten haben.
Der Friedenspreis der Nobelstiftung kann auch einem
Institute oder einer Gesellschaft zuerkannt werden.
Gemäß Artikel 8 des Begründungsstatutes der Nobel-
stiftung muß jeder Vorschlag mit Gründen versehen und mit
jenen Schriften und sonstigen Dokumenten^ auf welche er sich
stützt, belegt werden.
Gemäß Artikel 3 dürfen nur solche Schriften zum Wett-
bewerbe zugelassen werden, welche im Drucke veröflFentlicht
worden sind. Weitere Auskünfte können von den zur Antrag-
stellung berufenen Personen beim Komitee Nobel des norwe-
gischen Parlamentes, Drammensvei 19, Kristiania eingeholt
werden.'
Der Sekretär verliest einen Brief des w. M. Herrn Sektions-
chefs Dr. Th. Ritter von Sickel in Meran, worin derselbe
für die ihm seitens der kais. Akademie zu seinem 80. Geburts-
tage überreichte Glückwunschadresse seinen Dank ausspricht.
Der Sekretär überreicht die im Wege der k. und k.
österr.-ungar. Botschaft in St. Petersburg übermittelten vier-
zehn Bände der Memoiren der kais. Universität in Odessa
(,Zapiski imperatorskago novorossijskago universiteta'). Odessa
1893 bis 1899.
Es wird hiefür der Dank ausgesprochen und die Serie
wird der akademischen Bibliothek einverleibt.
XIV
Das w. M. Herr Professor Meyer-Liibke überreicht eine
Abhandlung von Fräulein Dr. Elise Richter in Wien, betitelt:
,Die Bedeutungsgeschichte der Romanischen Wortsippe bur(d)''
und beantragt deren Aufnahme in die Sitzungsberichte.
Die Abhandlung wird in die Sitzungsberichte aufgenommen.
Die Abhandlung des k. M. Herrn Hofrates Professors Dr.
Johann Loserth in OraZ; betitelt: ^Studien zur Geschichte
der Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. H. Teil: Die
Genesis von Wicliffs Summa Theologiae und WicliiBFs Lehre vom
wahren und falschen Papsttum^ wird gleichfalls in die Sitzungs-
berichte aufgenommen.
I. Abh.: SchOnbach. Studien zur Erzählungsliteratur etc.
I.
Studien zur Erzählungsliteratur des Mittelalters.
Von
Anton £. Sohonbaoh,
wirkl. Uitgliede der kais. Akademie der WiseenachaftoD.
Sechster Teil:
Des Nikolaas Schlegel Beschreibung des Hostienwnnders
zu Münster in Graubünden.
(Vorgelegt in der Sitzung am 9. Jannar 1907.)
Dem Grandsatze gemäß , den ich bei meinen Stadien
über die deutsche Literatur des Mittelalters (auch in lateini-
scher Sprache) verfolge und den ich zuletzt im Vorwort zu
meiner Arbeit über Hermann von Renn (SB. 150. Band, 1905)
ausgesprochen habe, wornach bei Untersuchungen solche Stücke
zu bevorzugen sind, welche durch den Namen des Verfassers
oder durch Angaben über Personen und Orte feste Punkte für
geschichtliche Bestimmungen gewähren, hatte, ich mir schon
seit langen Jahren ein Gedicht in der alten Wiener Handschrift
des Guten Gerhard Rudolfs von Ems (Kod. N. 2699 der k. k.
Hofbibliothek) vorgemerkt, über das bisher nur die Notiz in
HoiFmann von Pallerslebens Katalog der Wiener deutschen
Handschriften (1841) S. 45f. bekannt war. Denn Moritz Haupt
hatte in seiner Ausgabe des Guten Gerhard (1840) zwar dieses
Stück S. VI erwähnt, jedoch ohne einen der schon im Anfange
vorkommenden Namen zu nennen.
Als ich nun diese schöne Handschrift, dank der Güte des
Herrn Hofrates v. Karabacek, im Herbste des Jahres 1906 be-
quem benutzen durfte, brachte ein Zufall mich in die Kenntnis,
daß Professor Dr. Josef SeemUller, aufmerksam gemacht
durch Professor Dr. Edward Schröder in Göttingen, der eine
neue Ausgabe des Guten Gerhard zum Druck rüstet, schon
Sitxoagiber. d. phU.-hist. Kl. 156. Bd , 1. Abh. 1
2 I. AbliAndlung: Schon b ach.
1901 sich dieselbe Handschrift hatte nach Innsbruck schicken
lassen nnd sich damit beschäftigte. Auf eine Anfrage hin hat
dann Professor Se emulier nicht bloß ^den Stoff für frei er-
klärt', sondern mir sogar durch Übersendung seiner Abschrift
der lateinischen Aufzeichnungen das Fortsetzen meiner Arbeit
ermöglicht und auf jede Weise erleichtert, für welches freund-
schaftlich selbstlose Verhalten ich ihm auch an dieser Stelle
meinen herzlichsten Dank ausdrücke.
Der Gute Gerhard Rudolfs von Ems schließt in dieser
alten Handschrift A (Nr. 2699) auf Spalte 46 ^'j und zwar so,
daß noch elf der eingeritzten Zeilen darauf frei bleiben. 46^ mit
der obersten Zeile beginnt ein neues Stück, das 48 <^ schließt;
allein zwischen 47^ und 48^ ist ein Blatt ausgeschnitten, von
dem nur ein fingerbreiter Rand übrig blieb. Man wird nicht
glauben dürfen, daß dieses Blatt weggenommen wurde, weil
der Inhalt Anstoß erregte, denn auch im Guten Gerhard sind
an zwei Stellen je zwei Blätter ausgeschnitten worden (Haupt,
S. VI), ohne daß dort die Erzählung irgendwie die Schädigung
hätte veranlassen können: es wird einfach die Pergamentnot
eines Buchbinders daftLr verantwortlich zu machen sein. Weil
nun bei diesem Schlußstück des Kodex 34 oder 35 Verse auf
der Spalte zu stehen pflegen, fehlt die Mittelpartie des Gedichtes
mit ungefähr 136 Versen, so daß der Umfang des vollständigen
Werkleins, von dem 270 Verse bewahrt sind, etwa 400 Verse
betragen hat. Nach allen Einzelnheiten der Einrichtung und
Technik ist dieses Gedicht von demselben Schreiber aufge-
zeichnet worden, dem die voranstehende Abschrift des Guten
Gerhard zu danken ist, nur daß auf den Spalten 46^ und 47*
die Tinte etwas blasser aussieht denn vorher. Wenn sich nun
das Gedicht, dessen Stoff ein Ereignis bildet, das im heutigen
Unterengadin erlebt wurde, in einer Handschrift nachgetragen
findet, welche eine alte und gute Überlieferung eines Jugend-
werkes des churrätischen Epikers Rudolfs von Ems (Baechtold,
Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz , S. 96 ff.
Anm., S. 29. 215) enthält, so hat da schwerlich ein Zufall ge-
waltet. Doch habe ich über die Provenienz des Kodex nichts
zu ermitteln vermocht, so daß sich über die allgemeine Ver-
mutung eines örtlichen Zusammenhanges zwischen dem Schreiber
und den Dichtern nicht hinauskommen läßt.
Stadien zur ErzäbhtngsUteratQr des MitteUlten. 3
Im Folgenden wage ich eine kritisch bereinigte Gestaltang
des Reimwerkleins von Nikolans Schlegel ans dem Vintschgan.
Ich hätte es mir ja bequemer machen und mich mit dem buch-
stabengetrenen Abdruck der Überlieferung beruhigen können,
allein die Deutlichkeit des Abstandes zwischen Schreiber und
Dichter schien mir eine Art Verpflichtung aufzuerlegen. Auch
habe ich diesmal nicht (was ich sonst gern zu tun pflege) eine
diplomatische Wiedergabe des Überlieferten unter das Rekon-
struierte gestellt, weil meiner Ansicht nach die von demselben
Schreiber aufgezeichneten 6368 (6928 — 560) Verse des Guten
Gerhard ein viel verläßlicheres Material für die Erkenntnis seiner
Lautgebung und seines Verfahrens beim Kopieren darstellen
als die 135 Reimpaare des Nikolaus Schlegel. Doch stelle ich
die Eigentümlichkeiten der Lautgebung des Schreibers noch
besonders zusammen und denen des Autors gegenüber. Die
Verse sind in der Handschrift abgesetzt, zumeist stehen Reim-
punkte am Ende der Zeilen, jeder erste Vers des Reimpaares
beginnt mit einem Kapitalbuchstaben, der rot durchzogen ist.
Es wird nicht viel und nur in der geläufigsten Weise abgekürzt.
In die Lesarten stelle ich nur die wichtigeren, nicht bloß gra-
phische Differenzen.
(46^) Gelohtiu tcerdiu Trinitdt
diu niemer me ein ende hat
und nie het ein anevanCj
gib mir den sin und den gedanCy
6 daz ich üz mtnes herzen grünt
von dir gespreche^ daz min munt
sage rehte tcaz geschah,
do man zeinen ziten sah
dich in eins gmhten priesters hant,
10 Ein kloster st tu vor genant,
daz heizet Münster unde lit
in Vinscheu an allen strit,
anderhalp litchenberc hin tn,
da man vert gen Wurmes hin.
Übersehriß rot: ditx ist von gotz Hchnam. 1 G rote Initiale,
3 het ineuaDk. 13 Annerthalp.
1*
^ I. Abhandlung: Schünbftch.
15 daz selbe kldster hat swarzez leben
und minnsy als im got hat geben,
und ist sante Johanns Baptist
houbtherre da an bcesen lisL
Der heilege ist sd hoch von art,
20 daz von wibes Übe wart
so heilec man nie gebom,
zwen Propheten üz erkorn,
JerSmias und Esayas,
den zweien wissagen was
25 kunt wol mer den hundert jär
vor Johanns geburte, daz er gar
wart heilec in der muoter sin,
daz wart wol an dem engel schin,
der kündet in; daz nieman sah
80 wan Jhesus sah in, als man jah,
und was ouch gänzlichen war,
der engel brdht die botschaft dar
mit rede üz götltchem munt.
(47*) ez wart gesehen nie diu stunt
36 daz sant Johannes het gemach,
in der touoste man in sah
gen in stnem kötzeltn,
der was von lidr der kembelin
gemachet, so seit uns diu Schrift.
40 an im het er anders niht
unde truoc umb in ein seil
von Schafwolle, die er ein teil
het ab den stüden gelesen^
da e diu schdf waren gwesen.
46 hertez leben was im bekant,
stnen kotzen er dö vant
wahsen an dem Übe sin,
von gotes kraft er tranc nie wtn
noch bier noch mete noch lütertranc.
17 immer Johannes. 38 vor har der kflemblfn. 39 Gemachhet,
das zweite h durch FunkU geiügt, 46 dö fehlt.
Studien zur Erzähluiigsliteratur des Mittelalters.
60 mit wazzer lebte sin gedanc
und az wildez honec und locustä.
nü 8ult tV merken aber d(i,
solt ich iu sagen, xoaz im geschah
und waz er kumber und ungemach
65 durch den wären got erleit,
80 muoz min rede werden breit,
und wie sin vinger nie verbrant
moht werden von der Juden hant,
der Hf gotes lamp het dar
60 gezeiget mit wdrheit gar.
Daz wil ich nü gar verdagen,
ja wil ich iu rehte sagen,
wie ez ze Münster ergie
in stnem gots hüs. nü merket hie:
65 da ein vil guoter priester sanc
ein reine messe an allen wanc.
der selbe phaff^ Johannes hiez;
got im eine hilfe liez,
(47*) daz er was da phruondencere.
70 (sus saget uns daz mcere),
er sanc an dem grozen donrstage
ze Münster messe, als ich iu sage,
do er daz ambet het volbrdht,
von den nunnen wart geddht,
76 daz si alle giengefi dar
mit zühten nach ein ander gar
und bewarten sich von des priesters hant,
eine vrouwen man da vant,
diu dühte sich so sündec gar,
80 daz si zem priester wolte dar
niht gen und got enphdhen.
dd ddhts in allen gähen:
^ist daz ich mich niht bewar,
so verkerent mirz die vrouwen gar
V. 60 ist auf dem unteren Rande nachgetragen^ rote Punkte verwehen
darattf, 66 l, müese?
6 I. Abhandlung: SchOnbach.
86 und wirt über mich ein ruof,
nu betotse mich, der mich geschuofy
daz ich ze lasier werde nikC,
do gie si mit gemeiner phliht
zuo dem priester in der stunt
90 und nam gotes Itchnam in ir munt,
hie mite truoc sin ganzen dan
und gie, da si e was gestdn.
als si kom in daz gedrenge wider,
zehant saz si balde nider
95 und nam in üz ir munde lise,
vil tougenlichen in ir rise
begunde si in stricken gar,
daz sin nieman wart gewar.
Do si der sünde sich bewac,
100 nü merket, üf den dritten tac
het sin in ir lade verborgen,
si was in manecvalten sorgen,
(47«) wie sin möhte legen wider
vil harte tougenlichen sider,
105 da in der priester het genomen,
do er ir ze tröste solte komen.
iedoch nam si des war,
daz si zeinen ziten gar
in dem mUnster man noch unp
110 niht sah, do gie ir selbes lip
hin zuo dem alter gar verstoln,
daz ort der rtsen gar verholn
truocs in ir hant, dar si got
gebunden in het dne spot.
116 D6 si den stric üf gebant,
unsem harren si da vant,
daz er was vleisch unde bluot,
do wart diu vrowe sd ungemuot,
daz si weinen began
106 da er. 113 da ei. 116 do vant.
Studien zur Ersählungsliteratur des MitteUltera.
120 vil innrecliche und gie von dan
von dem altär mit sorgen
und truoc in mit ir noch verborgen^
als si e getan hete.
do gie diu vrouwe an der stete
125 mir daz miinster al zehant
und kom, da si den priester vant
vor Sant Gallen alter stdn.
diu vrouwe weinen began
zuo dem priester und klagt ir not,
130 daz er von sinei' hant daz brot
gap in ir munt ze einer vart,
daz in der messe lebendec wart
mit Worten, diu man niht getar
den Hüten sagen offenbar.
136 Diu vrouwe huop üf unde sprach,
swaz missetdt ir ie geschah
mit dem reinen gotes bluot.
(47^) dar nach hete si den muot,
daz si gotes lichnam in ir hant
140 genam. do daz der priester vant,
daz si niht het gelogen,
weinende, vil wol gezogen
sprach er, daz sin im gcebe wider,
daz tet diu vrouwe gerne sider.
145 als er in do zuo im gevienc,
diu nunne do von dannen gienc.
Diu selbe nunne was genant
vrou Agnes, ez ist ein lant
bi dem In, heizet Engadin,
160 da ist ein dorf gelegen in,
daz heizet Scindes, da was sie
geboren üz (nü merket wie)
und was eins ritters tohter gar
mit rehter art. nü nemet war,
120 Til iit am Rande nachgetragen.
8 I. Abhandlung: Schön bach.
155 toiez dem priester welle ergdiij
und läzen toir die tirowen stdn.
Der priester truoc unsern herren
mit im und begunde keren
von dem kloster dl ze hant
160 und huop sich in ein ander lant,
da er tveste ein dicken walt
üf einem berge, höh gezalt,
der lit da ob Quadrat,
in Triendener bistuom er atät
165 und höh ob Mamingen.
der priester da mit rehten dingen
vant in dem loalde ein Kappellin,
da toolte er eweclichen sin
ein einsidel um an sin ende.
170 unsern herren eine wende
truoc er in die kirchen sd
und leite in üf den alter da . . ,
(48 •) Do er die aptessinne sah,
vil zühteclichen si do sprach:
175 *^6we, Johanns, wie bistü doch
gtvaren her üf ditze joch
und unsern herren hast getragen
mit dirf wir müezen alle klagen,
daz du vil iibele hast getan.
180 ich gebiute dir von dan
bi der ghdrsame in din kloster wider!
da solt du dich läzen nider
und solt da dienen iemer got\
der priester wolte daz gebot
185 der aptessin niht übergdn
und huop sich mit der vrouwen dan.
do wart unser herre getragen
ze Münster wider bi den tagen
und u>art geworht in ein kristalle,
161 einen. 163 dk fehlt. 165 merningen. 170 nnserm.
187 Da wart
Studien zur Eizählung^sliteratur des Mittelalters.
190 da seheilt in die liut^ noch alle,
und ist getan rehte in der wise
als in diu nunne üz der rise
mit iren handen enbant,
do sin vleisch und bluotec vant,
196 Sus hat er sich sunder ttväl
geivandelt ze dem vunften mal,
als ist er hiute noch getan,
daz sehent tvip unde man,
swer kumt ze siner hohsAt,
200 die ein habest machte stt
der der vier de Urbänus hiez:
grozen antldz er dd liez,
in eim konzilje daz geschah,
dd manec man den andern sah
205 ze Roms, so h6rt6 ich es jehen.
swer in noch hiute welle sehen,
der var gen MünsU^r an dem donrstage
(48^) nach der phingestwoch^n mit rehter sage,
so hevet sich sin hohzit
210 und wert gar an allen strit
die Wochen durch und durch hin,
diu vrouwe wart ein klosnerin,
der ez geschah, und nam guot endSt
der priester vuor an alle wende
215 in einen Walt, dd wolte er sin,
und büwet dd ein kircheltn
in ere Uns^r Vroun, der reinen maget,
der priester vaste, so man saget,
brot und wazzer manegen tac,
220 daz er niht anderr spise phlac,
um er stt von brcedekeit
niht me moht^, daz wart geseit
geistlichen Hüten, die in hiezen
aller slahte spise niezen.
202 da liez. 206 w fehlt. 208. 211 woche. 215 wolt aus
•qM gebessert, 218 vastet. 220 anderre. 221 Hintz er.
10 I. Abhandlung: Schönbach.
225 doch vaste er um an stnen tot
alle tage, als got gebot,
und loas ouch üz dem Walde gebom
von stnem kunne. swaz er körn
von gelte het, daz gap er dar
230 üf 8%n kirchltn und was gar
ein vil gtwt menschSy do er starp:
diu sele gotes hulde erwarp.
Also müeze ouch uns geschehen^
daz wir die rehten strdzen spehen
235 gen der porte, die Sant Peter hat
heslozz^; daz alliu missetdt
von uns zerge; daz man daz tor
gen uns entslieze^ daz wir vor
hie niht beliben durch den schaden,
240 den &va üf uns het geladen!
des ruoche uns helfen der man,
der Jhesum in den Jordan
(48^) stiez durch toufe, zeiner vart
der himel offen obe im wart
245 und schone entslozzen harte wit,
der heilege geist kom in der zit
in einer tüben ivise dar
* unde swebete vil gar
ob Jhesus houbte. do daz geschah,
250 der Vater üz dem himele sprach
her abe zuo im: ^vil liebez kint,
swer dir getrouwet, swaz der sint,
und sint dem glouben undertdn,
die sulnt min riche billich^ hdn.
255 Her Niklous Siegel tuot iu kunt:
daz hat getihtet sin munt.
er ist üz Vinscheu gebom
225 Tastet. 249 do fehU. 253 und dem gelovbe sint yndertun.
258 der VertfthlL
Studien zur EreählungsÜteratur des MitteUlters. H
Herre sant Johanns Baptist,
260 Sit du hast getoufet Krist,
und daz im wazzer ist geschehen,
nü ruoche uns helfen, daz mr sehen
die reine maget und ir kint
und alle, die in himele sintI
[ze himelriche, waz unser sint]
265 daz wir mit vreuden kamen dar,
des helfe uns diu magt, diu in gebar!
Her Niklous Siegel nimetz gar
üf sinen eit, daz er hat war.
hie hat daz lesen ein ende,
270 got uns sin gnade sende, Amen.
Die Handschrift wird von den Katalogen nnd von Moritz
Hanpt; d. h. von seinen Wiener Freunden Ferdinand Wolf und
Georg Theodor von Karajan^ ins 14. Jahrhundert gesetzt, was
mir mit der Einschränkung richtig scheint, daß ich die erste
Hälfte dieses Zeitraumes fUr das Entstehen dieser Niederschrift
in Anspruch nehmen möchte. Obzwar nun eine Übersicht der
Lautgebung des Schreibers am besten von dem Material des
Guten Gerhard aus unternommen wird, will ich doch hier nicht
darauf verzichten, die Beschaffenheit des überlieferten Unter-
grundes zu kennzeichnen, von dem sich die Besonderheit der
Sprache des Gedichtes abhebt. Dafür kommt zuvörderst in
Betracht, wie weit sich die neuhochdeutschen Diphthonge in
der Schrift durchgesetzt haben. 39 mal ist mhd. t als t be-
wahrt geblieben, dagegen wird 35 mal % = ei gesetzt, wozu
noch 10 neue ei kommen, zusammen also 45. Dagegen ist
52 mal altes ei auch et geschrieben worden, nur 2 mal steht
aii haizet 151, ait 268, womit freilich keineswegs gesagt ist,
daß die Schreibung ei immer noch die Aussprache e + i be-
zeichnen sollte. Altes ü ist in nu 7 mal erhalten. Die Schreibung
ä in liUer 49 und noch in 5 Fällen, 10 mal in üf, 5 mal in Hz,
wird als ou aufzufassen sein, woneben ü 30 mal = ou steht
{blutik 194), einmal wird denn auch das alte ou durch tl ge-
geben, einmal (piwet 216) durch o. Sonst tritt ou für ü auf
12 I. Abhandlung: SchOnbach.
in gotshous 64, douhte 79, touben 247 (Niklous 255. 267), nur
einmal au in standen 43. Alte ou werden gewöhnlich auch ou
oder geschrieben: so stehen 9 vrowe neben vrowe 135. eu
erscheint in wenden 265, Vinscheu 12. 257. Den Umlaut von
a bezeichnet e (gantzlichen 31, alliu 236), aber auch 3 mal
den von d {der = dar 253). 6 ist 2 mal = ce, 3 mal = ö,
«dZt 52. 53, söllent 254. Der Umlaut von ü unterbleibt in
fünften 196, Icunne 232, sundik 79, w6er 85. 185, wird ausge-
drückt in 8'ö/nde 99, /ilr 125, üntz 169; 3 mal munster^ 4 mal
Tni'trw^er; zühten 76, zuhtiklichen 174; daneben phründenere 69;
Sit«, «U8£ und 9ll«^ 195 wechseln. Zut^n 223, Zufen 134. 140.
mtiz^n 178. w = amo. tc wird 4 mal durch x bezeichnet, sonst.
hie 91. 239. 269; lihez 251, prister 3mal neben 11 mal priester]
stets immer, nimmer; aber wir 265, vJrd 201. Zweimal seit
= saget, geseit 222; leit(e) 172. jen 37. 81, Formen mit a im
Reim, zerge 237. gesehen = geschehen 260. Die Mehrzahl der
e in der Flexion der Verba und Substantiva ist weggefallen,
daneben zahlreiche starke Synkopen und Inklinationen, diu
für die 156. 211; reiniu = reine 66. — cÄ (k) im Anlaut
sechs-, im Inlaut nur einmal, ch (g) im Auslaut 3 mal ; k (k) im
Anlaut 23 Fälle, ck (k) im Auslaut 17 mal, c (g) im Anlaut
11 mal, g (g) im Auslaut 3 mal, ch (ch) im Auslaut 6 mal,
A 2 mal. 5 ht gegen 21 cht = ht und ein cht = cht] ein
hs] höh und hoch wechseln, k ^== ck 2 mal. Zumeist b im An-
laut, aber auch perch, gepant, pouwet, verporgen, 4 mal priester
neben 8 mal briester, aptessinne und abtessin, Babtist und Bap-
tist nebeneinander, einmal babest. wib und wlp, hüb und
hüp wechseln, ^ai 2mal, lamp einmal; phingest, phrändenere,
phlicht je einmal; hevet 209, touffe, getouffet, z statt s im Aus-
laut 8 mal, 8 statt z 4 mal; hertzen^ sicartzes, gantzen, gantz-
lichen, contzilie, solt und solde^ loolt und wolde nebeneinander,
doch überwiegt die apokopierte Form mit der Tenuis. niemant,
annerthalp. — Überblickt man die hier vermerkte Lautbe-
zeichnung, so gehört sie in den Bereich der bayrischen Mundart,
obgleich ohne grobe Fälle und mit einer gewissen Zurückhaltung
sowohl in bezug auf die neuhochdeutschen Diphthonge, als auf
die Affrikata an allen Stellen, insbesondere wenn man die vor*
geschrittene Zeit der Niederschrift berücksichtigt. Eine ge-
nauere lokale Begrenzung vermag ich nicht zu begründen.
Stadien zur ErzählungsUteratur des Mittel alten. 13
Bevor ich daran gehe, die Reimkan8t(?) des Verfassers
zu analysieren, gedenke ich einer Beobachtung, die sofort dazu
verhilft, den richtigen Standpunkt für die Beurteilung des
Werkleins zu gewinnen. Es fällt auf, wie oft dieser Dichter
mit den SatzschlUssen von einem Verse in den andern hinüber-
greift. So muß ein Punkt stehen nach der zweiten Hebung
in den Versen 29. 64. 148. 152. 154. 218. 243. 249. 251; nach
der ersten Hebung 110. 140. Ein Komma ist zu setzen nach
der zweiten Hebung 6. 7. 30. 42. 72. 96. 113. 120. 149. 151. 213.
215. 218. 223. 226. 229. 230. 231. 235. 237. 238. 252. 262. 265.
266. 268; nach der ersten Hebung 16. 39. 100. 126. 133. 143.
178. 205. 236. 264. Selbstverständlich sind mit solchen Mängeln
bei der Verteilung des syntaktischen Stoffes auf die Verse auch
Enjambements verknüpft, die vorkommen V. 17 f. 38 f. 41 f.
46 f. 57 f. 59 f. 80 f. 109 f. 132 f. 177 f. 235 f. 236 f. 243 f. Das ist
sicher ein ganz ungewöhnliches Verhältnis und es werden nicht
leicht in der mittelhochdeutschen Epik 270 Verse nacheinander
sich auftreiben lassen, in denen Ahnliches begegnete. Es leidet
keinen Zweifel, daß nur aus dem Ungeschick des Verfassers
und, wie ich meine, aus dem gänzlichen Mangel an Übung sich
diese Erscheinung erklären läßt. Noch ein anderes Moment
tritt hinzu. Es fällt gleichermaßen auf, wie häufig der Ver-
fasser ganz inhaltslose Phrasen zu Hilfe rufen muß, um einen
bequemen Reim zu erreichen, oder wenigstens, um seinen Vers
vorwärts zu bringen. Dahin gehören: dn allen strtt 12. 210;
dn allen wanc 66; dne wende 170, dn alle wende 214; sunder
twdl 195; an der stete 124; al ze hant 125. 159; dn bcesen Itst
18; mit rehten dingen 166; mit rehter sage 208. Allgemeine
Zeitbestimmungen: zeinen ziten 8. 108; in der zit 246; bt den
tagen 188; zeiner vart 131. 243. Es wird aufmerksam gemacht:
nü merket 100. 152; nü sult ir merken aber da 52; nü nemet
war 154 ; jd wil ich iu rehte sagen 62 ; — man überzeugt sich
leicht, daß sie keiner auf die Sache gerichteten Spannung ent-
sprechen, ebensowenig wie der Flick vers: nü Idzen wir die
vrauwen stdn 156 einen wirklichen Wendepunkt der Erzählung
bedeutet. Die unverhältnismäßig zahlreichen Berufungen auf
Quelle und Autorität sind ähnlich aufzufassen: als man j ah 30;
so seit uns diu Schrift 39; sus seit uns daz moere 70; als ich
iu sage 73; so horte ich jehen 205; so man saget 218; der ez
14 I. Abhandlang: Schönbach.
geschah 213 ist ganz leer. Die Wiederholungen 119. 128. 190.
197 f. Propheten y xiAssagen 22. 24 machen einen nicht weniger
kläglichen Eindrnck als die Flickverse 40 und 20i. Ein ganzer
Vers 104 wird mit tantologischen Adverbien angefüllt
Damit ist schon festgelegt^ daß die Reime dieses Ge-
dichtes nur insofeme verdienen; untersucht zu werden, als sich
Merkmale des Sprachcharakters daraus abnehmen lassen. An
sich kann man ja mit 135 Reimpaaren beinahe nichts anfangen
und jedesfalls sind Schlüsse ex absentia, aus der Abwesenheit
sonst üblicher Reime^ hier ganz unzulässig. Immerhin bietet
aber auch dieses dürftige Material etliches Bemerkenswerte dar.
Dazu rechne ich das ungemein häufige Vorkommen der Reime
auf -ar^ es sind ihrer 14 , also ein Zehntel des ganzen Be-
standes. Die Ursache wird leicht klar, wenn man wahrnimmt,
daß 11 mal darunter das Flickwort gar^ 7 mal dar begegnet;
es ist also blanke Reimnot, die dazu gezwungen hat. Viermal
reimt dabei d : a :jdr : gar 25; war : dar 31 ; gebar : offenbar
133; gar : war 267. (Die übrigen Fälle sind: dar : gar 59. 75.
79. 229. 247 : gebar 265; gar : war 107. 153 : bewar 83 : gewar
97.) Dem zunächst kommen 9 Reime auf -an (darunter 4 mit
dem Flickwort dan\ wovon 6 mit ungleicher Quantität : dan :
getan 91; stdn : began (begunde im Versinnern 97. 158) 127;
gdn : dan 185; get^tn : dan 189 ; getan : man 197 ; man : Jordan
241 (dazu noch 119. 155. 253; Quadrat : stdt 163). Trotzdem
kein sdn, nur sd : da 171. kam nicht im Reim, sonst bietet die
Hs. nur kom 93. 126. 246. locusUi (acc.) : da 51. Ungleicher
Auslaut in gemach : sah 35; geschah : ungemach 53 : sprach 249;
sah : sprach 173 (nur geschah : sah 203); anevanc : gedanc 3;
sanc : wanc 65 (neben tranc : gedanc 49 ; bewac : tac 99 ; tac :
phlac 219). — h(fe : st^te 123. — herren : keren 157. — brcede-
hext : gesext 221 (maget : saget 217). — in : hin 13, aber klos-
nerin : hin 211 ; in : Engadtn 149. — 8i(e) : wie 151. — ergie :
Ate 63 neben gevienc : gienc 145 (hiez: liez 67. 201). — Rühren-
der Reim kötzeltn : kcemblin 37. kappellin : sin 167, kircheltn :
sin 216, kirchlin 230 (von kint : sint : sint 263 ist der letzte
wahrscheinlich zu streichen). — sider : tüider 93. 103. 143 (neben
wider : nider 181), aber höchzH : sit 199 : strit 209. — Apokopen
im Reim grünt (Dat.) : munt 5; munt (Dat.) : stiint 33 {munde
95 im Versinnern, zu stunt vgl. 89); bluot (Dat.) : muot 137;
Studien zur Erzählnngsliteratnr des Mittelalters. 15
aH (Dat.) : wart 19; — got (Dat.) : gebot 103. — twdl : mdl
195. — kristalle (acc. sing.) : alle 189.
Ans der Darchsicht der Reime Nikolaus Schlegels ergibt
sich, daß sein Vorrat an Reimbändern ungemein gering, Kunst
und Übung äußerst kümmerlich waren. Er läßt aber auch
aus den angeführten Reimen entnehmen, daß sie auf die öster-
reichische Mundart ihres Verfassers zurückweisen. Die Reime
von d : a vor Liquiden, h£te : st^te, die starken Apokopen sind
dafür anzusprechen, desgleichen das alte verdagen 61; Herren:
keren, sie : wie, brcßdekeit : geseit, sä nicht dawider, desgleichen
nicht tn : -in, obzwar dieses im Zusammenhange mit schrift :
niht 39 (Weinhold, Mhd. Gr. § 233) und mit dem Mangel an
Reimen zwischen t : e« usw. an die Möglichkeit alemannischen
Einschlages zu denken gestattet. Der gesamte Charakter der
Sprache des Gedichtes, verbunden mit dem Eindrucke des
Reimgebrauches, nötigt dazu, das Ende des 13., den Anfang
des 14. Jahrhunderts als Zeit der Abfassung des Gedichtes
anzusetzen ; sehr weit werden Entstehen und Aufzeichnung des
Stückes nicht voneinander abliegen.
Der Verfasser, Herr Nikolaus Schlegel 255. 267 (also
mindestens ein Freier, kleiner Adeliger oder Geistlicher) be-
zeichnet sich selbst 257 als einen gebürtigen Vintschgauer, was
nun freilich für seine Zeit eine nicht so genaue Begrenzung
der Heimat einschließt als heute, wie man schon daraus er-
sieht, daß er 11 f. auch das Münstertal zum Vintschgau rechnet
(was übrigens aus wohl begreiflichen Gründen auch im dritten
Teil der Tirolischen Weistümer der kais. Akademie geschieht,
vgl. dort die Anmerkung zu S. 337). Nun besitzen wir seit
1903 in der trefflichen Darstellung der ,Tirolischen Mundart'
von Josef Schatz (vgl. dazu die inhaltsvolle Besprechung von
Primus Lessiak im Anzeiger für d. Altert. 30, 41 — 53 und
Schatzens Vorberichtc in den Mitteilungen des Deutschen und
Österreichischen Alpenvereines 1899/1900) endlich eine Über-
schau der Dialekte Tirols, in der feste Grundlinien gezogen
sind. Sowohl nach den positiven als negativen Kennzeichen
entsprechen die Beobachtungen, die sich aus dem Gedichte
von Nikolaus Schlegel machen lassen — den Unterschied der
Zeit flir die Entwicklung gebührend in Anschlag gebracht —
den Feststellungen von Schatz über die heutige Mundart des
16 I. Abhandlung: SchOnbach.
Vintschganes y und die Grenzlinien seiner Karte, ich zitiere
dafür die Seiten seiner Abhandlung: Dehnung des a vor Li-
quiden, Zusammenfall von d und ä heute S. 32. 70 ; Bewahrung
von e, das von f unterschieden wird S. 38 ff.; Neuhochdeutsche
Diphthonge S. 26 (einige alte t bringen noch die Münstertaler
Zivil- und Kriminalstatuten von 1427, Tirol. Weist. 3, 340 ff.);
ouw zu au S. 42; Behandlung von k und q im Auslaut S. llff.
17; das Deminutiv auf -Kn S. 54; starke Apokopen S. 49ff.,
aber Erhaltung des -n im Auslaut S. 22; Kürzung von ge-
S. 57 ; zuo, ze S. 57 ; sagen S. 40. Noch mache ich aufmerksam,
daß, unerachtet des wohl erkennbaren Abstandes zwischen
Schreiber und Dichter, doch die Sprache der Niederschrift der
des Verfassers nahe verwandt ist, wie schon die frühere Dar-
legung über die Lautbezeichnung des Denkmales im Vergleich
mit den Angaben von Schatz (dazu p für 6 S. 15 ff., der Schreib-
fehler gemachhet V. 39 und S. 21, touffe usw.) nachweist. In
der Tat wird man schwerlich annehmen dürfen, daß sich das
Interesse für den Stoff des Gedichtes von Nikolaus Schlegel
sehr weit über seine Heimat hinaus erstreckt haben wird, was
ja mit dem schon oben S. 2 berührten Umstände, daß der-
selbe Kodex die alte Überlieferung einer Jugendarbeit des
GraubUndners Rudolf von Ems enthält, sehr gut zusammen-
stimmt. Nun meine ich allerdings, daß die Frage nach der
Mundart von Nikolaus Schlegel sowie die nach dem alten
Vintschgauer und Münstertaler Dialekt überhaupt zurzeit noch
nicht abschließend beantwortet werden kann. Für die Entwick-
lung dieser Mundart und ihren heutigen Stand gebricht es
an einer Spezialuntersuchung, die ja überdies noch warten
muß, bis die Brixener Handschrift der 6000 Verse des ,Seelen-
trostes' Bruder Heinrichs von Burgeis der Versenkung wieder
entstiegen sein wird, in welche sie seit zwanzig Jahren sich zu-
rückgezogen hat (vgl. Emil Michael, Geschichte des deutschen
Volkes während des 13. Jahrhunderts 4, 229 Anm.).
Dem Unvermögen, der Roheit, der Unkunst, die in den
Reimen des Herrn Nikolaus Schlegel zutage traten, ist es
nur gemäß, wenn auch die Verse selbst rauh und holperig aus-
gefallen sind. Einmal ist es merkwürdig, daß unter 135 Reim-
paaren nur 12 klingende, also kaum ein Zehntel, sich finden.
Von diesen sind 8 mit 4 Hebungen gebildet (95. 101. 121.
Stadien zur CrzählungsUteratur dea MitteUltera. 17
157. 169. 189. 213. 223), nar 3 mit 3 Hebungen (69. 81.269),
während einmal (165) 3 Hebungen aaf 4 reimen. Unter
diesen Umständen und im Zusammenhalt mit dem vorher Ge-
sagten darf man yielleicfat vermuten, daß der Verfasser gar
nicht gewußt hat, wie Verse mit klingendem Ausgang gebaut
werden müssen. Die Senkung fehlt in Eigennamen: Vinscheu
12. 257, Münster 63, Agnes 148, Quadrat 163, Marningen 165,
Jordan 242 {Johanns 17. 26. 175. 259, bei feierlicher Einführung
dreisilbig Johannes 67); dann in zusammengesetzten Worten:
götlichem 33, schdfwolle 42, exnsidel 169, hochAt 209 (dltar 122,
sonst dlier 111. 127). Sonst fehlt die Senkung nach der ersten
Hebung 2. 94. 210, nach der zweiten 4. 21. 44. 115. 119. 128.
157. 198 und mit absichtlichem Nachdruck nach der dritten
46. 107. 211. 240. 256. Zweisilbiger Auftakt: 26. 51 (loilthonec?)
69. 77. 84. 86. 93. 106. 181 (eigentlich dreisilbig). 208. 235.
Zweisilbige Senkung (nur wenige schwere Fälle): 13. 15. 54.
129. 190. 207 (vgl. 71). 208. 217 (Unser im Titel wohl einsilbig
gesprochen). 236. 266. Andere Fälle kann man erleichtern,
zum Teil mit Hilfe der Handschrift: 71 (1. ame). 77 (I. vons).
90. (I. got^Sy Hs. gotz) usw. Überhaupt dienen die Apokopen
und Synkopen der Handschrift wiederholt dazu, regelmäßigen
Wechsel zwischen Hebung und Senkung herbeizuführen. Auch
die Inklinationen der Überlieferung erleichtern den Vers, so
wird sin = si in geschrieben 91. 101. 143. 194, doch muß 103
das handschriftliche si in zu sin zusammengezogen werden,
indes 97 n tu wirklich zu lesen ist. Wechsel zwischen den
Formen verlangt der Vei*fasser selbst (außer bei den schon an-
geführten: altär, alter; sit, sider*j 11 notwendige het neben
hete 138 und im Reim hete 123) noch bei aptessinne 173, ap-
tessin 185. Es ist im ganzen nicht oft erforderlich gewesen,
von den tiberlieferten Formen abzuweichen, und ich zähle (außer
den in den Lesarten angemerkten) nur folgende Fälle: ge-
gekürzt 9. 181. 253. 270, das auch die Mundart kennt, vgl.
oben S. 16. Ferner e hinzugeftlgt in selbe 15. 147, amhei (ampt)
73, mite 91, gerne 144, geboren 152, berge (perch) 162, gebiute
180, Tnensche 231, sioeb(e)te 248, reine 263. den für denne der
Hs. gab ich 25, anderr (Hs. anderre) 220; vaste fUr überliefertes
wistet 218. 225; ze einer (Hs. zeiner) 131; eim (Hs. einem 203).
Hiatus begegnet 124 (oder vrou an?) und 192, beides Fälle, die
8itt«Brtb«r. d. pbil.*bUt. Kl. 166. B4 1. Abh. 2
18 I. Abhandlung: SchOnbach.
Franck (Zeitschr. f. d. Altert 48, 147 fF.) zu den leichten zählen
möchte. Immerhin ergeben bei dem geringen Umfange des
Stückes auch diese Beobachtungen, daß der innere Versbau
den sonst bereits gewonnenen Eindruck eines kunstlosen Ver-
suches noch verstärkt.
Das wissenschaftliche Interesse für das Gereimsei des
Herrn Nikolaus Schlegel liegt daher hauptsächlich in dem Stoff
und in den Angaben über Personen und Orte. Der Verfasser
beruft sich nun in einer ganzen Reihe von Stellen (oben S. 13 f.)
auf eine Überlieferung, die ihm vorgelegen hat, die er aber
nicht genauer beschreibt, und so elend diese Flickphrasen sind,
die Behauptung, an sich schon wahrscheinlich, beruht auf einer
Tatsache. Professor Seemüller hat nämlich ermittelt, daß das
Kloster Münster in Qraubünden noch heute eine Handschrift
besitzt (eine kurze Beschreibung des Inhaltes gab P. Basilius
Schwitzer, Tirol. Geschichtsquellen, 3. Band vom Jahre 1891,
S. 146 Anm.), welche sich mit dem Hostienwunder beschäftigt,
das Herr Nikolaus Schlegel bedichtete. Er hat 1. 12. 1901
von der hochwürdigsten Frau Priorin zu Münster, M. Hildegard
Lutz (seit dem Tode der letzten Äbtissin 1810 hat das Kloster
den Charakter einer Prälatur aufgegeben und sich unter die
Leitung einer Priorin gestellt), diese Handschrift nach Innsbruck
gesandt erhalten, kopiert und kollationiert und jetzt mir zur
Verfügung gestellt. Zunächst lasse ich nach Seemüllers An-
gaben eine Beschreibung der Handschrift folgen.
Es ist ein Pergamentheft mit Schrift des 15. Jahrhunderts
(das jüngste Datum darin ist bei Nr. 13 das Jahr 1456). Der
Deckel besteht aus einem Pergamentblatt eines Druckes des
Buches Hiob. Auf der Außenseite des rückwärtigen Deckels
hat eine moderne Hand mit Blei vermerkt: ,Fach II, Nr. 38',
auf der Innenseite des vorderen Deckels: 7640
div.
anw.
Das Heft enthält 16 Blätter in zwei Quaternionen , Um-
fang 16*19 X 12'2 cm, von denen 14 durch eine Hand des
15. Jahrhunderts beschrieben sind. Der erste Quaternio ent-
hält keinen Kustos, beim zweiten werden die Blätter unten
mit kleinen arabischen Ziffern von alter Hand gezählt. Die
Seite enthält 18 Zeilen auf vorgezeichnelen Linien. Einige
Studien zur £rzählangsliteratur des Mittelalten. 19
Korrektaren im Texte nnd Ergänzungen auf dem Bande sind
von alter Hand eingetragen, eine jüngere hat noch etliche
Randnoten hinzugefügt. Rubriken und rubrizierte Anfangs-
buchstaben sind häufig. E^s wird viel abbrevüert, allein nicht
gleichmäßig: ein und dasselbe Wort wird bald gekürzt, bald
ausgeschrieben. Es wird selten und unregelmäßig interpungiert.
Als Kopie einer älteren Vorlage erweist sich die Handschrift
durch ihre Fehler und die ausdrückliche Bemerkung des
Schreibers, die sich allerdings zunächst nur auf die beigefügten
Urkunden bezieht: prout copiate — sunt — dann Nr. 10: huius
copie, Blatt 1* — 6^ enthält das Hostienwunder zu Münster
in Oraubünden; 6^ — 14^ ein Verzeichnis der Indulgenzen für
die Münsterer Kirche, ihre Altäre und Reliquien sowie eine
Beschreibung der Reliquien; 15. 16 sind leer. Im folgenden
gebe ich den Text des Heftes nach Seemüllers Abschrift wieder,
notiere darunter die Bibelstellen und innerhalb der Erzählung
selbst durch eingeklammerte Ziffern die bezüglichen Verse des
Gedichtes von Herrn Nikolaus Schlegel.
[1*] Etenim sacramentum regis abscondere bonum est,
opera autem Dei revelare et confiteri honorificum est Thobie
Xn^ (12, 7). et propheta hoc item exhortatur. d. (David):
enarrate universa mirabilia ejus, quare ergo hujus venerabilis
sacramenti secretum, inpenetrabilis veritatis et divini consiUi 6
abyssum, simplici ac pura fide cum integra veritate absque
ulla ambiguitate in cordis cubiculo, nuUa falsa aut heretica
disceptatione aut opinione admissa, abscondere honorificam est
ac salutare. miracula autem et opera ejus, quc nemo alius fecit
quam verus Dens, circa hujus altissimi sacramenti gratiam pro lO
veritate fidei manifestanda nimiam saam propter caritatem Dens
summus, non volens simplicium ac rudium corda hujus dei-
fici ac per omnia divini sacramenti fidei merito expertes rema-
nere, [1^] qui vult omnes homines hujus venerabilis sacramenti
fidei veritate salvos fieri, misericordia dignatus sua largiflua ^^
pietate est, hoc in loco formam benedicti ac sacramentalis
panis in cruentam carnem sua mirabili potentia ac nostram
propter salutem transmutare, ut ordo ac series subsequentis
historie ostendet.
2 Tob. 12, 7. 4 PicUm. 26, 7; v^l Tob. 13, 4. Ecclt. 42, 17.
2*
20 I. Abhandlung: SchOnbach.
Ante retroactis temporibas erat qaedam sanctimonialis
hoc presenti in loco hajas Monasterii, Agnes nomine singula-
riter vocata (147) , qae qnidem secundnm ritum aniversalis
ecclesie cum ceteria sne religionis consortibas in Cena Domini
6 ad sacram altare ac sacramenti corporis et sangainis Christi
commanionem accedere debuit (73), gravis tamen peccati sti-
mnlo ejus remordente ac renitente conscientia (79)^ et sie an-
gustiis undique dolorose circumdata (83), tum si accederet,
apostolica feriretur sententia, que dicit: ^qui indigne manducat
10 et bibit etc/ [2*], tum si non accederet, omnibus scandali occa-
sionem daret, timens Domini comminationem : ,ve homini, per
quem scandalum venit etc/, et sie in arto sue mentis posita,
tremens ac humiliter Salvatoris clementiam suppliciter depre-
catur, ut dirigat gressus ejus in viam pacis et salutis, subse-
15 quenter repentino instinctu permota, de Dei sperans misericor-
dia, ad reverendum altare et sacramenti benedicti communionem
accessit (88). quo assumpto velocius sui secreti locum petiit et
hoc gloriosum ac venerabile sacramentum ista Sunamitis pro-
prio ab ore excepit et in partem sui pepli innodavit et in suam
20 cistam vel archam reponendo conservavit (101). proinde tamen
ejus in pectore ingentes versabantur eure ac tribulationum
fluctus cor ejus dolorose percellebant (102). querens opportuni-
tatem, quomodo secretissime et absque nota misterium domini-
cum ad altare sacrum representaret [2^] ac deinceps sacerdos
25 proxime divina ministrans ipsum sacramentum certissime inveni-
ret et sie infamiam et majus peccatum curiose declinaret,
quadam vice diligenti speculationis examine certeiicata, quia
nemo in ecciesia hominum esset (107) , velocius peplum cum
sacramento de archa clandestine ejus in manum assumpsit et
30 ad cornu altaris properavit et sacramentum de peplo enodavit
(110 — 114). quo facto, vidit, quod sacramentum miriiice in
cruentam carnis et sanguinis veridicam speciem se transmutavit
(117). quo viso, nimio terrore perterrita et forte ultra, quam
credi potest, et anxia flevit amare (120). tandem ad se aliqua-
35 liter digito Dei docta rediens, qutdve factura esset, in statera
6 gravi. 9 = JCor. U, 29. 11 Afatth. 18, 7 etc. 13 Pgalm.
16, 6. :W, 23 etc. 18 au« 4 lieg. 4, 12—25. 36. 27 spiculationis.
32 atu viridicam korr.
Studien zur Erzählungsliteratur des Mittelalters. 21
rationis pensavit et assumpta ex divine miserationis largitate
aliquali fiducia, qui prostat sapientiam parvulis et gratiam [3^]
hamilibus, magno cum tremore et medallitus ingemiscendo
hostiam sanctam de altari in peplo reassampsit et de mona-
sterii ecclesia ad cappellam sancti Galli properavit (127), quia 5
ibi tamqaam in private loco solitam erat sacerdoti devotionis
gratia horas suas Deo exsolvere; quem et non diffido ibi,
Domino dispensantc gratiam hujus miracali, orantem secrete
illo pro tempore invenit. cui geste rei ordinem laerimabiliter
flens et ejulans sing^ltiendo per singala detexit(128 — 140). quo 10
pereepto eaeerdos illam salatarem et miracalosam hostiam a
sanctimoiüali devote ac venerabiliter cum laerimis expostulavit.
quam quidem illa promptissimo animo venerando sacerdoti
velocius assignavit et ad monastcrium hamilitcr rediens de-
votissime penituit (141 — 146). erat autem predicta sanctimo- 16
nialis de valle Engedina, de quodam vico [3^] Sins, natione
insigni^ quia iilia militis natalibus nobilibus exorta (147—154).
Predictns autem presbiter, nomine Jobannes (67), ex mira-
culosa hujus sacramonti transmutatione tarn viscerose ex intima
sui cordis devotione medullitus et ardentissime affectus atquc 20
accensus ad hoc inisterium, ut ergo liberius ac peramplius sue
posset vacare devotioni clanculo secum deferens panem vite,
abscessit ad nemorosam ac condensam silvam, que sita est in
diocesi Tridentina, supra MärUngam, alte et supra montem,
qui vulgariter dicitur Quadrat, eminentem altius (157 — 165). 25
hanc adiit cupiens hercmi incola ibi gratia sacramenti affectus
perdurare, ibique predictus ac venerabilis sacerdos invenit
quandam parvam cappellam (167), qui ob hoc gaudens et
Dominum coUaudans mox ibi hoc miraculosum sacramentum
in altari sancto devotissime [4*] collocavit (damit bricht V. 172 30
das erste Stück des deutschen Gedichtes ab), vis autem divini
amoris agebat in eo desiderium iterande visionis, et sie iterum
amoroso oculo inspecto sacramento, vidit esse dispositionem
ejus dexteram brachii ac manum nobilissime ac tenere forma-
tam in eodem. quo viso miraculo procidit pre stupore ac nimia 35
2 Ptalm, 18, 8» 4 monasterio ecclesie. 9 rei per ordinem.
17 inaigniter. 19 in sacramenti Ut i aus o korr, 23 ad fehlt.
26 eminentis. 28 et fehlt. 33 amorso, von jüngerer Hand o übergesetzt.
22 I. Abhandlung: Schönbach.
admiratione super terram^ orans atque Deum celi benedicens
super mirabilibus suis, erectisque mauibus ac oculis in celum
versis Dominum iterum collaudans atque superexaltans, quia
mirabilis Dens in sanctis suis et mirabilior in majestate sua.
6 quia illum venerandum sacerdotem hu jus sacramenti dextera
ac ejusdem dextere manus visio adeo delectabat ac nimia ad-
miratione commovebat: quod nullus unquam hominum tam alta
veritatis contemplatione ita nuda ac perspicua divina perlu-
sirasset misteria, apud se cogitabat. quali autem et quam mira-
10 bili et quanta suavitatis duiccdine de hoc misterio satiaretur
illis diebuS; illi relinquo, qui maguam ac nimiam duicedinem
abscondit timentibus et diligentibus se, nisi quod dicam: ,Do-
mine, dominus noster etc/ tandem ad se reversus, ,Verbum
caro factum est' in solito conservationis vasculo gaudens spirita
16 reposuit.
Transactis paucis diebus cor ejus amore languidum ac
amoris igne impaticns erat, cupiens iterum videre cum dilecta
etiam dilectum Dominum suum ac cum famoso illo Simeone
raanibus suis contrectare puerum Jhesum, quia impetus orationis
20 nullo obtemperat judicio rationis. et aperiens pixidem in manus
assumpsit ipsum dominicum misterium, et diligentius intuens
clara luce comprehendit ipsum sacramentum [ö*^] priorem non
habere speciem, sed, mutatione dextre Dei cxcclsi facta, vidit
sacramentum habere dispositionem faciei admodum virilis et
25 constantis aspectus. quo viso sacerdos timuit offendisse suis
peccatis divinara majestatem, quia nihil ibi amoris blandiebatur
ista facics, ut prius dextera, sed solus virilis aspectus et rigoriii
constantia cernebatur, et cepit recogitare omnes annos suos
,in amaritudine anime sue' et injustitias suas adversus se con
so uteri Domino, et iterum reposuit hostiam sacram in pixidem.
collaudans Deum corde, verbo et opere, seque jejuniis, vigiliis
disciplinis ac orationibus vehementer die noctuque afSixit.
Aliquante pro tempore, demum propulsa nebula timid*
conscientie et assumpta fiducia, matrem totius gratie et cons(«
35 lationis obnixe precibus humilibus instanter pulsat, quatenus ips
2 oc — am ZeUeiuchlufi uf%d dann nochmalt. 3 versis fehiL
P»alm, 67, 36. 8 nnde. 12 Ptaim, 8, 1. 13 Joann. 1, 14. 16 dicb-
qui« cor. 17 erat fehU. 18 Autdrücke de$ Hohen Liedes, — Lue. 2, 2.
22 non habentem speciem. 29 Job 3, 20. 35 ipsa interTeniente.
Stadien zur Erzählaoggliteratur des Mittelalters. 23
interveniat, ne Deuni oflFendat, quia ipsum [5^] itcrum urgente
stimulo amoris tangere concupiscat. Oo jugam sancti amoris,
qaam gloriose (?) et inqaiete illos illaqueas, quos tu plene pos-
sides! et sie salatis hostiam cum tiraore et tremore de pixide
in suas devote nianus excepit et oculis suis columbina simpli 5
citate certiuB perspiciens, relicta prima forma faciei^ vidit sacra-
mentum mutatum in similitudiaem agni immaculati et incon-
taminati. quod videns presbiter seipsum in aquas laerimarum
resolvit et sibi pro peccatis suis cum propheta ^fuerunt lacrime
Bue panes die ac nocte^ et iterum ad priorem locum reposuit lo
aitaris sacrificium.
Cunctis autem in Monasterio admirantibuS; quonam Jo-
hannes presbiter devcnisset, tandem multis scrutiniis ac in-
quisitionibus habitis, lumen in tcnebris latere non potuit et de
miraculo sacramenti rumor excrevit et tandem ad abbatissam 15
usque pervenit, [6*] et qualiter ipsum sacramentum recedens
secum abduxerit, enarratur. illis in temporibus erat quedam
abbatissa in Monasterio alto stemmate ac libertinorum genere
nobiliter progenita, vulgariter von Neyphen oriunda Adelhaidis-
que Yocata. que assumtis secum aliquantis sue religionis domi- 20
nabus necnon militibus ac cetcris nobilibus et concito gradu
pergenSi miraculi gratia inpellente, ad montem, qui Quadrat
dicitur, pervenit et cappcllam Sancti Petri cum suis devote
subintravit. quam prefatus presbiter videns (hier beginnt mit
V. 173 das zweite Bruchstück des deutschen Gedichtes) ali- 25
quali perfundebatur rubere ac ductu8(?) verecundia. at illa
venerabilis revercnti animo ac mansuete presbitero ait: ^quid-
nam pretendisti, qui nos in hoc facto tarn graviter ofFendisti,
auferendo a nobis gloriosum ac mirabiliter conversum dominici
corporis misterium? precipiendo mandamus tibi, quatenus in 30
locum tue mansionis pristine quantotius [6^] revertaris (175 —
183)!' quod et devote adiuiplevit idem predictus presbiter
(184—186). et sie assumpta cleri turba, predicta matrona
venerabilis gloriose, laudabiter ac cum omni reverentia, ut vero
Deo decet, hoc altissimum summe majestatis miraculosum 36
sacramentum cum gaudio et cordiali jubilo ad Monasterium
8 illaqaeos — tj^. Prov. ff, 2. 9 P9<dm, 41, 4, 10 locnm repo-
nens aitaris.
24 I. Abhandlung: Schon bach.
reduxerunt (187. 8), benedicentes nomen Domini, quod est
laudabile, gloriosum et benedictum in secuta. Amen. —
Tempore aatem eodem, prelibata generosa domina abbatissa
cum Bui conventus necnon aliorum nobilium et discretorum
5 virorum consultu causa confirmationis Romam quendam pro-
bum et circumspectum virum, nomine Berchtoldum, pro tunc
temporis prepositum hujus monasterii^ cum litteris approba-
tioQum signorum atque miraculorum hujus pretiosissimi sacra-
menti mandare curavit. qui vero prepositus gaudentcr et de>
10 vote cum hoc excelientissimo atque miraculoso sacramento [7^]
cum litteris testimonialibus Komam ivit sanctissimoque aposto-
lico Urbano quarto rem a principio gestam fideliter per ordinem
notificavit. papa vcro^ prenotatus Urbanus^ videns atque cognos-
cens hoc miraculosum sacramentum tam sepe fuisse transmu-
15 tatum sub spcciebus diversis, precepit prenominato preposito
Berchtoldo, ut fideliter ad locum hujus monasterii reportaret.
quod et devotissime adimplevit apostolicusque prenotatus rite
confirmavit et speciales indulgentias, ut postea declarabitur,
misericorditer indulsit et concessit. —
20 Summa omnium indulgentiarum hujus monasterii et alta-
rium existentium ibidem, prout copiate, exsumpte et reportate
sunt ex privilegiis et litteris sigillatis existeutibus et habcntibus
ibidem in dicto monasterio post reformationem et reconcilia-
tionem combustionis memorati monasterii, et prirao:
26 1. [7»>] Anno Domini millesimo LXXXVIF dedicatum
est hoc monasterium, tunc temporis vocatum Tubris, a vene-
rabili Noperto, Curiensis ecclesie episcopo, XVIII ^ kalendas
Septembris, in honore Domini nostri Jhesu Christi et victorio-
sissime Crucis Dei et genetricis Marie et sancti Johannis Baptiste
30 et sanctorum apostolorum Petri, Pauli, Andree, Thome et Bartho-
lomei; sanctorum martirum Georii, Desiderii, Vigilii, Laurentii,
Victoriani, Marcelli, Cassiani; sanctorum confessorum Benedict!,
Florini et Zenonis sanctarumque virginum Eulalie, Verene,
quorum reliquie altari sunt imposite, et aliorum sanctorum quam
35 plnrimorum. indulgentie vero hujus dedicationis a dicto domino
8 prelibatus = snpra dictus, ante memoratus — Dm Cange 6^ 460.
12 Urbano auM Urabano korrigiert. 14 fore tranamutatum. 15 di vereis
von alter Hand heig^igt. 16 vor reportaret nochmals fideliter 27 ecclesie
fehlt. 28 immer in honore dedicari, nicht in honorem.
Stadien zur ErzäblangsHieraiar dea Mittelfttters. 25
date sunt: XL dies criminaliam et anni venialiain omnibas pie
hoc monasterium visitantibas in fosto Dedicationis per octavas
necnoD festivitates sanctorum snperias assignatas.
2. Nota.
Nota indulgentias pro miracaloso sacramento specialiter 6
datas.
[8^] In nomine Domini Amen, anno ejusdem Domini
millesimo CC^LXXV^ apportata est indalgentia de peractione
officii Corporis Christi a venerabili preposito hujos occiesie,
Bertholdo^ statatdm a sanctissimo patre Urbano quarto: No- 10
verint vero nniversi Christi fideles idem officium sanctissimi
Corporis Christi Jhesa peragere proxima feria quinta post
octavam Pentecostes, et omnes, qui interfaerint singulis horis
canonicis in hac die hujas officii, eos de criminali peccato
CCCCCCXL dies indulgentiam adeptaros, prout prefatas papa, 15
videlicet Urbanus^ sna aactoritate confirmavit. omnes enim ad
hanc ecclesiam venientes ob reverentiam dicti officii Corporis
Christi specialem sciatis indulgentiam obtinere propter corpus,
quod hie in substantia cruente carnis habetur etc. de special!
vero gratia indulgentiam quatuor episcoporum IUP' carrenas 20
cum IUP' jejaniis annnalibus omnes ad predictum officium ve-
nientes [8^] similiter obtinebunt. per totam vero octavam Omni-
bus advenientibus C dies criminalium relaxantur.
3. Anno Domini millesimo CC^LXXXP dedicatum est
summum altare et ecclesia reconciliata a venerabili episcopo 26
Curiensis ecclesie Conrado in honore sancte et individue Trini-
tatisy sancte Dei genitricis Marie et victoriosissime crucis et
sancti Johannis Baptiste. altare vero ex novo constructum fuerat
a venerabili preposito Berchtoldo. Dedicationem vero hujus
altaris cum reconciliationc hujus ecclesie peragere noveritis so
annuatim proxima dominica post octavam Pentecostes.
Hee sunt reliquie, que continentur in hoc altari sancti
Johannis Baptiste: de velo sancte Marie ac ejus crinibus et ein-
golo; de ligno sancte Crucis; spina una de Corona Domini;
precipue sancti Johannis Baptiste , apostolorum Petri, Pauli, 35
18 nach indalgentiam fleht wieder adepturos proat, jedoch durch roten
Strich getilgL 20 carrena itt hier rcmissio Tel indulgentia carene, vgl. Du
Con^ 2, 167. 31 am Rande von jüngerer Hand: quae est secunda post
Penth. et infr« oct. Corporis Christi.
26 I. Abhandlung: Schönbach.
Andree, Simonis et Jude, sanctorum quoque martirum Blasii
episcopi, Vigilii episcopi, Marcelli [9*] pape, Zenonis, Desiderii
episcoporam; Georii, Sebastiani, Pancratii, Vincentii, Oswaldi,
Germani^ Cassiani^ Callisti^ Laarentii, Maaritii et sociorum ejus;
5 et sanctoram confessorum Nicolai, Martini^ Benedict!, Lacii,
Florini; et sanctarum virginum Catherine, Agnetis, Verene,
Marie Magdalene, Eulalie, Juliane, Candide, Othilie, andecim
miliam virginum et aliorum multornm sanctorum. indulgentiam
Dcdicationis hujus altaris et reconciliationis hujus ecclesie a VI
10 episcopis VI carrenas cum sex jejuniis annualibus omnes ad*
venientes invenire sciatis. et sie eadem gratia per totam octa-
vam pleniter habetur.
4. Item sub annis Domini millesimo CC^LXXXVIP vene-
rabilis presbiter et dominus dominus Fridericus, episcopus
15 ecclesie Cnriensis, contulit omnibus hominibus hoc monasterium
pie visitantibus , confessis et contritis, in remissionem pecca-
torum suorum de injuncta eis penitentia, videlicet in quatuor
[9^] festivitatibus beate Marie Virginis et sui patroni sancti
Johannis Baptiste, in festo sancte Katherine et in anniversariis
20 Dcdicationis hujus templi, XL dies criminalium et C dies ve-
nialium.
5. Item similitcr venerabilis presbiter et dominus dominus
Fridericus, episcopus Frisingcnsis ecclesie sub annis Domini mille-
simo CC^LXXXV® ob honorem prenominati sacramenti omnibus
26 hoc monasterium, confessis et contritis, pie in festo sanctissimi
corporis Christi, Dcdicationis et earum octavas visitantibus con-
tulit in remissionem peccatorum eorum XL dies criminalium
et C venialium de injuncta eis penitentia.
6. Item frater Berchtoldus, Dei gratia Ybonensis episcopus,
30 vicarius ecclesie Curiensis in spiritualibus constitutus, sub annis
Domini millesimo CCC^^XVP in remissionem peccatorum suorum
contulit omnibus pie hanc ecclesiam, confessis et contritis, visi-
tantibus, videlicet in Nativitate, in Circumcisione , Epiphania
Domini [10*], Cena Domini, Parasceve, Resurrectionis, Ascen-
35 sionis, Pentechostes, in quatuor festivitatibus sancte Marie, sui
patroni (S. Joannis Baptiste), in festo Dcdicationis hujus templi
et earum cappellarum et altarium, in festo Corporis Christi, et
18 am oberen Rande links blaß txm. aUer Hand: nota.
Studien zur Erzählungsliteratiir des MitteUlterB. 27
per earum octavas, vel quotienscunque manum adjutricem por-
rcxerint nee non de faenltate sua in extremis ad fabrieam lega-
verint; anctoritate oninipotentis Dei et beatorum Petri et Pauli
apostoloram, eorum meritis coniisi; XL dies criminaliam et C
venialium. 6
7. Item anno Doraini millesimo CC^LXXXXV^ dedicata
sunt hee dao altaria subscripta in dicto monasterio in nomine
sancte et individae Trinitatis, victoriosissime Cracis Domini
nostri Jhesu Christi et sancte Marie, perpetue Virginia: primum
altare precipue in honoro sancti Galli confessoris, secundum lo
vero in honore sancti Blasii, episcopi et martiris^ per dominum
Emanuelem, yenerabilem episcopum Crimonensem, qui omnibus
et singulis ad [10^] eandem Dedicationem confluentibns^ de
omnipotentis Dei gratia confisis, videlicet de XXXIII archi-
episcopis et episcopis, quorum antentica patenter ostendit, et 15
eodem Emannele, episcopo XXXIIIP adjnncto^ de qaolibct
predictorum XL dies criminaliam de injancta eis penitentia,
peccata oblita; vota fracta, si ad ea redierint^ in Domino miseri-
corditer relaxantar. indalgentia vero predicta ambomm altarium
ad octavam ejasdem Dedicationis integralitcr duratura. et si- 20
militer per octavam celebrationis Corporis Christi; que inibi
samma devotione colitur, pcragendo. dedicationes autem predicte
celebrande posite sunt singulis annis primi altaris feria III et
secundi altaris feria quarta in septimana sancte Trinitatis so-
lempnitcr venerande. 25
8. Item anno Domini millesimo CCC^ frater Jacobus^ Dei
gratia episcopus Pavidensis, vicarius [11*] in spiritualibus domini
Sifridi, Dei gratia episcopi Curiensis, et dominorum episcopo-
rnm Dei gratia Spirensis et Basiliensis, contulit et concessit
hanc gratiam et rectam indulgentiam in omni feria quinta in 30
ecclesia Sancti Johannis in Monasterio et in aliis ecclesiis sibi
annexis et in omnibus festivitatibus , que ibidem celebrantur,
XL dies criminalium et C dies venialium.
9. Item dedicationes altarium beatorum Petri et Pauli ac
aliorum apostolorum juxta chorum sancti Johannis et cappellae 35
et altaris beate Marie in dicto Monasterio existentium^ occurrunt
15 actantioa — am Bande: nota — vgL Du Cange i, 493/.
33 am Sande: nota.
28 I. Abhandlung: Schönbach.
in proxima fma sexta infra octavam Corporis Christi, videlicet
apostolorum , sed cappellae in die sabbati. dedicatio cappelle
Sancti Udalrici, Leonhardi confessorum et IIIP'^ evangelistarum
oecurrit in feriam secundam infra octavam festivitatis Corporis
5 Christi, dedicatio vero sancti Nicolai semper oecurrit in die
beatoram Primi et Feliciani martirum. que indalgentie harum
cappeilaram non sunt huc annotate.
10. [11^] Item summa summarum omnium indulgentiaram
prcdictarum litterarum et priviiegiorum superius notatorum, ex*
10 ceptis indulgentiis de peractione festivitatis Corporis Christi, ut
habetur in posterum in fine hujus copie: sunt enim duo millia
ducenti et septuaginta dies criminalium, unus annus et CCCC
dies venialium cum X carrenis et X jejuniis annualibus. hee
prescripte indulgentie omni die per octavam festivitatis Corporis
15 Christi habentur. et fcstum Dedicationis nostre ecclesie Sancti
Johannis Baptiste.
11. Anno Domini millesimo CCLIIP Urbanus papa quartus
primo instituit festum Corporis Christi celebrandum in proxima
quinta feria post octavas Pcntccostes cum magna solempnitate
20 per totam octavam, et hoc roultis de causis etc. unde ad pre-
sens festum Corporis Christi dedit postscriptas indulgentias :
Unde vere penitentibus et confessis, qui matutinaÜ officio hujus
fest! pre [12*] sentialiter, ubi in ecciesia celebrantur, adessent:
C dics^ qui vero misse: totidem; illis autem, qui interessent
25 primis vigiliis: C dies; qui vero in secundis vigiliis: totidem;
hiis quoque, qui prime^ tertie, scxte, none ac completorii inter-
essent officiis^ pro qualibet horarum ipsarum: XL dies; illis
autem, qui per ipsius fcsti octavas in matutinalibus et vespertinis
missis ac prcdictarum horarum beneficiis presentes existerent,
30 singulis diebus octavarum ipsarum: C dies indulgcntiarum mi-
sericorditer tribuit perpetuis temporibus duraturum. quod papa
Martinus duplicando confirmavit.
12. Itom notandum: papa Urbanus quartus dedit spe-
ciales indulgentias ad presens miraculosum sacramentum, per
6 von jüngerer Hand am Hafide: die 9 lunnj. 7 am unleren Rande
txm jüngerer Hand: Prdicatio capcllae Sancti Nicolai et aliorum. 9 notatis.
28 missa matutinalis, nach der Matutin, am frühen Morgen, Die missa yesper-
tiua (xrofem hier nicht eine Korruptel vorliegt) meint die Mettse am Char-
tamstag ahend nach der Auferittchung. 33 am Rande: nota bene.
Stodien zur Erz&hlungsliteratitr des MitteUlters. 29
divinam potentiam hie in Monasterio mirifice ostensam et cnm
hoc in snmmo altari reconditam, omnibus devote qaerentibas
CCCCCC et XL dies criminalinm cum aliis inscriptis indnl-
gentiis etc. hie in littera in clausula illa, que incipit: In no-
mine Domini. Amen. 5
18. Anno Domini millesimo CCCC® LVP Leonhardus,
Dei et apostolice sedis gratia episcopus ecclesie Curiensis,
Omnibus Christi fidelibus^ confessis et contritis, quotienscunque
devote visitaverint hoc miraculosum sacramentum^ quod sub
specie utraque continetur, dicendo unum Pater et unum Ave lo
Maria, XL dies criminalium et totidem venialium misericorditer
indulsit.
14. Hee sunt reliquie, que continentur in tabula.
Primo de presepio Domini; de loco, ubi jejunavit; de
mensa, in qua comedit cum discipulis suis; de monte Thabor, 15
in quo transfiguratns fuit; de petra, ubi oravit; de ligno crucis
Domini; de loco passionis; de statua Domini; de sepulchro
Domiui; de aurea porta, quam intravit in die Palmarum; de
loco Nativitatis Christi; de serto Domini; de loco Domini, ubi
comedit assum piscem; de loco ascensionis Domini; de archa 20
Noe; de loco ascensionis Marie; de virga Moysi; [13*] de
patriarcha Ysaae; de tribus pueris, missis in caminum ignis;
de loco nativitatis Marie; de pallio sancti Simeonis, in quo
Christum suseepit; de sancto Johanne Baptista, de sancto Ja-
cobe apostolo, de sancto Bartholomeo apostolo, de sancto Lau- 25
rentio, de sancto Benedicto, de sancto Georio martire^ de s.
Sebastiane, de s. Alexandre martire, de s. Lucio rege, de
sancta Emerita virgine et martire, ejus sorore, de s. Victore
et sociis ejus, de s. Leodegario episcopo et martire, de s.
Trogiano episcopo et martire, de sancta Qerdruda virgine, de 30
s. Panthaleonc martire, de lapide sancti Stephani, de s. Lauzero
confessore, de s. Castulo martire, de s. Vigilio episcopo et
martire, de s. Briccio episcopo, de s. Justo martire, de s. Qan-
golfo martire, de s. Megenrado martire, de sancta Panafreta
virgine et martire, de sancto Mauritio martire, de s. Margaretha 35
virgine et martire^ de sancta Heremita, de sancta Ursula virgine
4 da» ist oben Nr, 2. 9 quod feftU. 13 am Rande: nota.
16 cmei» fehlt» 17 aUtna = columna, die Säule, an die der Herr bei der
Oei fielung (gebunden wurde. 19 sertam, Domenkrone, — Luc. 24^ 42,
30 I. Abhandlung: Schönbach.
et martire, de s. Brigida virgine, de s. Hilaria [13^], de s.
Placido martire; de s. Sigilla virgine et martire, de 8. Erndrada
virgine et martire, de XI milibus virginibus, de s. Albuiana
virgine et martire, de s. Digna martire, de s. Adelhaida regina,
6 de 8. Hiltagarde, de s. Climaria virgine et martire, de s. Lud-
wico rege, de osse unius sancti, de 8. Euprepia virgine, de
saneto Victoriano martire, de s. Othilia virgine et martire, de
8. Theodore martire, de s. Simeone martire.
Hee sunt reliquie, que continentur in prima cista: de
10 loco ascensionis Domini, de loco nativitatis beate Virgini8 Marie,
de mensa Domini, de statua Domini, de s. Johanne Baptista,
de 8. Jacobe Majore apostolo, de loco deserti 8cilicet jejunii,
de 8. Afra virgine et martire, de s. Leonhardo confessore, de
XI milibu8 virginibus, de s. Oswalde rege; de reliquiis III
15 sanctorum, quorum nomina non sunt scripta; de s. Placido
martire, de petra s. Stephani, de s. Sigismundo rege, de archa
Noe, de s. Fabiane et Sebastiane [14^] martiribus, de s. Vigilio
martire et confessore, de sepulchro beate Marie virginis, de
sepulchro Domini, XL milium martirum, de s. Victoriano.
20 Hee sunt reliquie, que habentur in secunda cista: primo
de ligno sancte Crucis, s. Dorothee virginis, s. Nicolai con-
fessoris, sancte Climarie virginis, Katherine virginis, Georii
martiris, Othilie virginis; de thure et mirra trium magorum,
qui obtulerunt Domino; de sepulchro s. Katherine, sancti
25 Mauritii, sancti Anthonii confessoris, de sepulchro s. Benedict!
abbatis, sancti Sebastiani episcopi, sancti Lucii regis et con-
fessoris, sancti Jacobi patriarche, venerandorum Petri et Pauli,
Wenetzlai martiris et regis, sanctorum Thcbeorum, Anne matris
Marie, sancte Verone virginis ; de sepulchro sancte Marie, sancti
30 Stephani prothomartiris, de fascia Domini, de sudario Domini,
de 8. Bartholomeo, Justi martiris, Ursule virginis; [14^] Za-
charie, patris sancti Johannis, Blasii martiris et confessoris,
sancti Oalli confessoris.
Item summa reliquiarum, conditarum in tabula et in
36 duabus cistis supra notatis sunt quinque milia et duo dies
criminalium et decem milia et quatuor dies venialium indul-
4 regio«. 9 p. citi. — 9 find 20 am Bande: nota. 20 8. cita.
28 Anne martiris Marie. 34 am Bande: nota bene. 36 oitia.
Studien zur Erzählangrsliteratar des MitteUlters. 31
gentiarnm, demptis reliqniis in aliis vasis habentibtts, de quibus
etiam habentnr a qualibet pecia XL dies criminaliam indal-
gentie et LXXX venialium.
E^ kann gar kein Zweifel darüber herrschen^ daß zwi-
schen dem deutschen Gedichte des Herrn Nikolaus Schlegel
und zwischen dem vorstehend abgedruckten lateinischen Texte
des Münsterer Hostien wunders irgendein Zusammenhang be-
steht. Nicht bloß stimmt der ganze Gang der Erzählung in
beiden Stücken überein , nicht bloß decken sich völlig die
Angaben über Personen, Orte und ihre Namen, sondern in
einer Reihe von Punkten treffen beide Berichte in Ausdruck
wörtlich und fast wörtlich zusammen. Allerdings ist damit
noch nicht gesagt, wie man sich die unleugbar vorhandene
Beziehung genauer vorzustellen hat. Wie die Aufzeichnungen
vorliegen, ist der lateinische Text um mindestens anderthalb
Jahrhunderte jünger als das deutsche Gedicht: dieses könnte
somit aus jenem keinesfalls unmittelbar abgeleitet werden.
Die lateinische Überlieferung bietet uns ja durchaus nicht
das Original, wie sich bereits zeigte (oben S. 19), es könnte
also sehr wohl das deutsche Gedicht nach einer älteren latei-
nischen Darstellung gearbeitet sein, die vielleicht auch der hier
gedruckten Fassung zugrunde gelegen wäre. Ich nehme etwas
vorweg, wenn ich schon hier darauf hinweise, daß die jetzige
lateinische Überlieferung sich die besondere Glorifikation des
MUnsterer Hostienwunders ebenso nachdrücklich angelegen sein
läßt wie die Urkundensammlung und ihre Einschaltungen, die
dem Berichte angehängt wurden. Zudem erregt auch die
Form der lateinischen Geschichte etliche Bedenken. Denn, indes
ihr die Eigentümlichkeiten der älteren Zierprosa, gereimte
oder rhythmische Klauseln (bis auf weniges) fehlen, weist sie
eine Zwei- und Mehrgliedrigkeit des Ausdruckes auf, die sich
doch erst während der Frühzeit des Humanismus recht ent-
faltet hat. Damit böte sich wieder ein Zeichen, daß in unserer
Gestalt des lateinischen Textes die Umbildung eines älteren
vorliegt.
2 pecia ^ Brocidein, vgl. Du Cange $, 284.
32 I. Abhandlunfi;: Schon bach.
Einiges ist wohl noch za erfahren^ wenn das deutsche Ge-
dicht und die lateinische Erzählung einläßlicher miteinander
verglichen werden. Herr Nikolaus Schlegel (ich hezeiche seine
Arbeit mit Z), den Münsterer Bericht mit L) beginnt mit einer
Anrufung der Trinität, die als Muse ihn inspirieren soll, L ge-
währt eine mit Bibelstellen reich ausgestattete Einleitung, wie
denn gleich anzumerken ist, daß D nicht einen einzigen der
vielen, jedoch ziemlich wohlfeilen biblischen loci bringt, die
L enthält. Dann (V. llfiF.) teilt D genaueres über den Schau-
platz des Ereignisses mit, das Kloster der Benediktinerinnen zu
Münster in Graubünden, L erwähnt gar nichts davon (man würde
ohne D den Ort gar nicht erfahren), sondern sagt nur : hoc in
loco. Für L war es durchaus überflüssig, solche Angaben zu
machen^ weil die Schrift zur Deponierung in diesem Kloster
bestimmt ist und nicht darauf gerechnet wird, daß sie jemals
von diesem Platze sich entferne. Just von den Notizen über
das Kloster nimmt D den Anlaß zu einer ausführlichen Lob-
preisung des Hauspatrones, S. Johannes des Täufers (V. 19 — 60),
die L gänzlich fehlt. Vermutlich ohne Absicht knüpft D daran
61 ff. die Erwähnung des in der Geschichte handelnden Prie-
sters Johannes. Diesen führt L bezeichnenderweise nach dem
ersten Hostienwunder ein und nennt nur im Eingang die
Nonne kurz mit ihrem Namen Agnes. Daß D den Priester
Johannes V. 69 als phrüendencere = praebendarius vorstellt,
was L nicht hat, scheint mir von Bedeutung, der Hinweis
auf die Quelle, der V. 70 folgt, mag jedoch nur durch den
Reimzwang herbeigeführt sein. Die gemeinsame Kommunion
der Nonnen wird D 71 — 77 und L übereinstimmend erzählt.
Die Überlegungen der Nonne D 78 — 87 stehen wörtlich in L,
nur finden sich hier noch Erweiterungen und Bibelstellen.
D 88 — 101 berichten das Verbergen der Hostie in zwei Ab-
sätzen, Kirche und Zelle, L scheint nur einen Akt anzunehmen.
D 102 — 117 erzählt das Wunder in der Kirche wörtlich wie
L, das nur weitläufiger ist. Z> 118 — 140 wird der Priester
am Altar des h. Qallus von der Nonne Agnes aufgesucht, L
in der Kapelle des h. Qallus; diese Differenz ist jedoch be-
deutungslos, da es sich nach der Urkunde Nr. 7 sichtlich um
eine und dieselbe Ortlichkeit handelt, einen Seitcnaltar der
Klosterkirche, der in einer Art, vielleicht nur durch ein Gitter
Studien zur Erzählungfsliteratar det MitteUlters. 33
abgeschlossenen Kapelle aufgestellt war. Die Verse 131 — 134
▼on D über das Qeheimnis der Wandlung und der Eonsekra-
tionsworte finden keine Entsprechung in Z. Wenn D 140 —
153 der Priester die Hostie an sich nimmt und darnach das
Geschlecht der Nonne Agnes genauer angegeben wird, so deckt
sich das vollkommen mit Z, nur die Anführung des Flusses
Inn hat D 149 allein. Die Begründung für den Entschluß des
Priesters Johannes, ein Eremitenleben führen zu wollen, welche
L bringt, fehlt in i>, doch stimmen im übrigen alle Angaben
über die Örtlichkeiten D 154 — 172 genau, ja wörtlich, mit L.
Desgleichen nach der großen Lücke der Bericht über das
Zusammentreffen mit der Äbtissin D 173 — 188, unwichtige
kleine Zusätze haben beide Texte. Damit schließt die Er-
zählung von Z, in Z> folgen aber noch ungefUhr 80 Verse.
Die ersten zehn davon, 189 — 197 beschreiben die Hostie des
Mirakels, wie sie, in Kristall gefaßt, noch jetzt zu Münster
gesehen werden kann, und zwar in der Gestalt, wie die Nonne
sie aus ihrem Schleier wickelte, als sie die empfangene Kom-
munion auf den Altar der Kirche zurücklegen wollte, nämlich
ein Stück blutiges Fleisch. D 195 f. heißt es, dies sei somit
die fünfte Verwandlung gewesen, und das ist richtig, wie sich
mit Hilfe des lateinischen Berichtes festlegen läßt. Zuerst
wandelte sich die Hostie in der Hand der Frau Agnes von
Scindes, dann erschien sie dem Priester Johannes als eine
rechte Hand und ein Stück des Armes dazu, das dritte Mal
bildete sie das ernste Antlitz eines Mannes, das vierte Mal
stellt sie das Lamm Gottes dar und endlich (was der latei-
nische Text nicht ausdrücklich sagt) das fünfte Mal gab sie
sich so wie das erste Mal, wiederum als ein Stück blutigen
Fleisches; dieser Zustand wurde dann beibehalten. Diese Be-
schreibung also fehlt £, das jedoch dafür als Anhang, nach
dem Amen der Erzählung von der Hostie, noch berichtet, aller-
dings ziemlich unklar, wie im Auftrage der Äbtissin Adelheid
der praepositus Berchtold zu Papst Urban IV. reist, diesem das
Wunder berichtet, wahrscheinlich auch die Hostie vorweist,
denn der Papst befiehlt ihm, sie getreulich nach Münster zu-
rückzubringen, und stattet dann das Mirakel mit besonderen Ab-
lässen aus, die noch unter Nr. 12 besonders angeführt werden.
Davon erwähnt hingegen D nichts, das nur — wenn man die
Sitenagtbtr. 4. pUl.-kiit Kl. IM. B4. 1. Abh. S
34 L Abhandlang: SchOnbach.
Worte nicht pressen will — V. 199 — 211 von dem Fronleich-
namsfeste und einer Oktav spricht^ die Papst Urban IV. 1264
eingesetzt hat (darüber handelt in L Nr. 11). D läßt dann
212 f. die Angabe folgen, Frau Agnes von Scindes sei nachmals
eine Klausnerin geworden und selig gestorben. V. 214 — 232
berichtet, wie der Priester Johannes sich in einen Wald seiner
Heimat (V. 227) zurückgezogen und dort ein Eirchlein zu
Ehren der Muttergottes erbaut habe (V. 216 f.), das er mit
Gülten seines Erbes bestiftete (V. 228fif.). Er habe sich dort
mit so strengen Fasten gequält, daß seine geistlichen Vorge-
setzten dawider einschritten und ihn verhielten, sich auf die
kirchlich gebotenen Fasten zu beschränken. So hat er denn
auch, als er starb, bei Gott Gnade gefunden. Von alledem
findet sich in L keine Spur. Sachlich geringe Bedeutung hat
es, daß D von V. 233 ab bis zum Schluß V. 270 eine erbau-
liche Betrachtung über die Taufe Jesu durch Johannes an-
stellt und ein Gebet an Johannes den Täufer und Maria bei-
fügt, bei welcher Gelegenheit Herr Nikolaus Schlegel sich
selber zweimal nennt. Damit greift das Gedicht auf seinen
Eingang zurück, es schließt sich mit dieser Peroration auch
ganz passend an das Lob des Priesters Johannes, des geistlichen
Funktionärs der Münsterer Benediktinerinnen; dieses Plus ist
daher auf den Sonderzweck des deutschen Gedichtes zurück-
zuführen und es ist gar nicht verwunderlich, wenn L davon
nichts gewährt.
Jedesfalls, das lehrt schon dieser Vergleich, weiß D um
einiges mehr als L. Dahin rechne ich nicht die genaueren
Ortsangaben, denn diese verstehen sich aus der Aufgabe von D.
Auch auf die Beschreibung der in Kristall eingelassenen Hostie
bei D wird man keinen Nachdruck legen dürfen, weil auch
sie in L, das am Orte selbst aufbewahrt wird, als entbehrlich
erachtet sein kann. Hingegen ist die Notiz über die Nonne
Agnes beachtenswert, welche D allein bietet, die schwerlich bloß
aus den Worten (oben S. 21) devotiasime penituit herausgelesen
wurde. Besonders jedoch fällt auf, was D schon V. 61 ff. 69
über den Priester Johannes zu sagen wußte und was es am
Schlüsse über ihn berichtet: wenn in der Vorlage von L sich
darüber etwas fand, hätte es mit angebracht werden müssen.
Es ergibt sich also schon jetzt eine gewisse Wahrscheinlichkeit
Studien zur Erzählangsliteratar des Mittelalters. 36
da{\ir, daß der Verfasser von D zwar einen Bericht benutzt
hat^ der dann in L nach dem modernen Geschmack des
15. Jahrhunderts nmstilisiert wurde, daß er aber auch noch
etliche eigene Kenntnis besaß oder irgendwoher schöpfte^ die
in L oder dessen Vorlage nicht eingegangen war. Was aber
L über den Präpositus Berthold und seine Romreise zu Papst
Urban zu erzählen weiß, muß noch später besprochen werden.
Flirs erste mögen hier einige sachliche Bemerkungen zum
Texte von Herrn Nikolaus Schlegels Gedicht folgen. Er ruft
in den Versen des Einganges die allerbeiligste Dreieinigkeit an
und findet davon den Übergang zu seinem Stoff, indem er er-
zählen will, was ihr widerfuhr, als sie sich in der Hand eines
geweihten Priesters im Kloster Münster befand. Diese Aus-
drucksweise klingt unseren Ohren sehr seltsam, hat aber fUr
die Naivetät des Mittelalters nichts Bedenkliches^ so daß daraus
kein Einwand wider die geistlichen Qualitäten des Verfassers
zu schöpfen wäre. — Wenn es V. 15 von dem Frauenkloster
zu Münster heißt, daß es swarzez leben hat, so ist das
die ganz geläufige Bezeichnung des Benediktinerordens. —
V. 20 gibt houpihirre den fatron'os des Klosters und der Kirche
an. — V. 19 f. übertragen das Herrenwort Luk. 7, 28: dico
enim vobis: major inter natos mulierum propheta Joanne Bap*
tista nemo est. Der Verfasser zitiert also, wofern die Einleitung
von ihm selbst herrührt, jedesfalls die heil. Schrift aus eigener
Kenntnis. — Wunderliches begegnet ihm V. 22 ff. Dort nennt
er die Propheten Jeremias und Isaias als Zeugen dafür, daß
dem Alten Testamente bereits die Heiligung Johannes des
Täufers im Mutterleibe bekannt war. Das ist richtig, so weit
es Isaias anlangt, dessen Propbezien 40, 3 f. 61, 1 gemeiniglich
auf Johannes Baptista bezogen werden. Auch Jeremias (1, 5)
ist richtig genannt, obwohl der zweite Prophet, der fUr Johannes
den Täufer gewöhnlich angerufen wird, Malachias ist (3, 1.
4, 5). Weiters heißt es V. 25 : nier den hundert jär vor der
Geburt des Johannes Baptista seien diese auf ihn bezüglichen
Weissagungen ausgesprochen worden. In Wahrheit lebte der
Prophet Isaias im achten, Jeremias im siebenten, Malachias im
fünften Jahrhundert vor Christo, die Angabe des Verfassers
beruht also auf sehr erheblicher Unkenntnis der biblischen
Chronologie. Immerhin möchte sich aber auch daraus keines-
3»
36 I. Abhandlang : Schtfnbach.
wegs ein Zweifel an der geistlichen Bildung des Autors be-
gründen lassen y die eben f^Stv diesen Fall nicht zureichte,
was bei sehr vielen seiner Standesgenossen sich ebenso ver-
halten hat, vielmehr ist die Vertrautheit mit theologischer Über-
lieferung daraus zu erschließen. Und noch besser bezeugen
dies V. 29 f. Denn daß niemand Johannes den Täufer bei
seiner Verkündigung durch den Engel an Zacharias vor seiner
Geburt sah als Jhesus == Gott, das ergibt sich eben aus der
Stelle bei Jeremias 1, 5, an welche der Verfasser schon V. 23
dachte : Priusquam te formarem in utero, novi te ; et antequam
exires de vulva, sanctificavi te, et prophetam in gentibus dedi te
(Johannes Baptista hat mit dieser Stelle schon Hieronymus
zusammengebracht bei Migne, Patrol. Lat. 24, 709 A, was
dann von den späteren Kommentatoren aufgenommen und
weiter geführt worden ist). Beachtenswert für die geringe
Geschicklichkeit des Verfassers scheint mir, daß V. 32 f. die
Darstellung wieder zur Botschaft des Engels zurückschreitet.
— Die Beschreibung Johannes des Täufers in der Wüste
V. 34 — 51 wird durch Züge bereichert, welche gegenüber den
Worten der Evangelien einer späteren legendarischen Entwick-
lung angehören. Im Anschluß an das eben Erzählte stellt der
Verfasser sich Johannes den Täufer in der Wüste zuerst als
Knaben vor und spricht deshalb von seinem härenen Gewände
als kötzelin V. 37 (für ein Pilgerkleid bei Gottfried von
Neifen 45, 9 Lexers einziger Beleg), das er dann V. 46 als
kotzen bezeichnet, der mit dem Bußprediger Johannes selber
wächst (Luc. 1, 80: Puer autem crescebat et confortabatur
spiritu, et erat in desertis usque in diem ostensionis suae in
Israel). — V. 39: die Angaben der Schrift über das Kleid des
Täufers finden sich bei Matth. 3, 4. Mark. 1, 6. — V. 41—44
deutet der Verfasser die zona pellicea der Evangelien auf
eigene Faust als Seil, Strick, und wohl im Hinblick auf Ordens-
trachten seiner Zeit, z. B. der Minoriten strenger Observanz.
Denn die Kommentatoren wissen nichts von Schafwolle, die •
der Täufer von Domsträuchern abgelesen habe, an welchen
vorüberwandelnde Schafe sie (wie in der bekannten .Fabel)
zurückließen. Vielmehr wird in den Kommentaren diese zona
peUieea als ein besonderes Symbol der Kasteiung des Leibes
aufgefaßt und die Interpretation der pili eamelorum als
Stadien zur EnähliiDgflUteratQr des Mittel Alters. 37
^WoUe' aasdrücklich der Weichlichkeit halber abgewehrt (vgl.
Hrabanas Mauras zu MatthäUBi Patrol. Lat. 107, 767 f. and den
realistisch erklärenden Christian von Stavelot, Patrol. Lat. 106,
1291). Leider fehlt in Adelbrehts Johannes Baptista bei Kraus,
D. Qedichte des 12. Jahrhunderts 4, 161 gerade der Schluß der
Stelle über die Gewandung des Täufers. — V. 48—51 schildern
Speise und Trank Johannes des Täufers zuerst negativ im
Anschluß an Luk. 1, 25: et vinum et siceram non bibet, mit
Hilfe einer wohlbekannten Formel, die jedoch für ihn schon
ganz unlebendig war, wie man aus Wackernagels Abhandlung
ersieht Kl. Sehr. 1, 86—105. — Das Wort gedanc ist V. 50
in weiterem Sinne genommen als allgemein üblich = Person,
knüpft aber wohl an eine bekannte Bedeutung an =: Denk-
vermögen, geistiges Wesen. — Daraus, daß V. 51 locusta als
Akkusativ im Reime steht, braucht man nicht zu schließen,
daß der Verfasser kein Latein verstand (Mark. 1, 6: et locustas
et mel silvestre edebat; Matth. 3, 4: esca autem ejus erat locu-
stae et mel silvestre). Entweder hat er die Form locusta des
Reimes halber gesetzt oder er hat locusta für einen richtigen
Akkusativ gehalten (etwa von einem neutr. locustum), wie das
auch sonst geschieht, z. B. Wiener Hs. Nr. 1689 (14. Jahrb.),
19^: comedit locusta^ id est, peccatum consumpsit. — V. 57ff.
beruht die Mitteilung, der Finger des Johannes Baptista, mit
dem er auf Jesus deutete (steht nicht in den Evangelien,
nur das ecee Joann. 1, 29. 36 ist so interpretiert worden, im
Baumgartenberger Johannes Baptista, Kraus, D. Ged. 3, 50 heißt
es gleichfalls: er wincte in mit dem vinger vgl. die Zeichnung
im Münsterer Urbar von 1394, beschrieben von Bas. Schwitzer,
Tirol. Oeschichtsquellen 3, 153), habe von den Juden nicht
verbrannt werden können, auf einer volkstümlichen Über-
lieferung, vgl. Gregor von Tours, Miraculorum lib. 1, cap. 14,
Patrol. Lat. 1, 719f. Diese knüpft sich an die besonders im
12. und 13. Jahrhundert berühmte Verehrung der Asche
Johannes des Täufers zu Genua, AASS. 24. Juni, S. 780—796.
Die BoUandisten erzählen übrigens a. a. O. von einer Menge
Reliquien des h. Johannes Baptista, Händen, Fingern (S. 776)
usw., auch von Johannesreliquien, welche das Feuer unberührt
läßt (deren gedenkt die Legenda Aurea im Zusammenhang mit
den Johannisfeuem) ; noch 1641 wollte ein Finger des Täufers
36 I.AbhandlaDg: Schön bach.
gefanden worden sein a. a. 0. 797. Der Autor des Gedichtes
hat also auch diese Angaben nicht willkürlich erfanden. —
V, 69 : der Geistliche Johannes war also bei den Benediktine-
rinnen zu Münster angestellt^ um als praebendarius; provendarias
die Pflichten des Priesters für die klösterliche Gemeinde wahr-
zanehmen. — V. 70 die Bezeichnung der ,große Donnerstag' ist
flir den grünen Donnerstag (in Cena Domini sagt der lateinische
Text) in Grotefends Zeitrechnung nicht belegt (griechisch hieß er
il) a^la xai ixe^iXir) wifjurcr^). An diesem Tage, der lange Zeit durch
das Mittelalter als Fest galt, pflegte man die österliche Kommu-
nion zu empfangen (Kellner, Heortologie, S. 49). Dafür ist sich
bewam (sich versehen) V. 77. 83 der gewöhnliche mhd. Ausdruck.
— V. 88 ff. vollzieht sich der Vorgang folgendermaßen: als die
Können kommunizieren, stellen sie sich, aus ihren Sitzen im
Chor tretend, vor dem Speisgitter nächst dem Altare auf. So
tut Frau Agnes und tritt dann, nachdem sie abgespeist worden,
zunächst an ihren Platz unter den Stehenden zurück, um ein
stilles Gebet zu verrichten, bis zum Ende der Messe. Darauf
nehmen alle wieder ihre Plätze im Chor ein. Daher hat V. 93
gedrenge nicht den neuhochdeutschen Sinn, sondern bezeichnet
nur die dichte Menge selbst, den coetus (DWtb. 4, 1, 2036),
sonst wäre es nicht möglich, daß gerade Frau Agnes, von nie-
mandem beobachtet, die Hostie aus dem Munde nehmen kann,
die sie dann, in den Schleier gewickelt, durch drei Tage in
der Truhe ihrer Zelle aufbewahrt. Der lateinische Text läßt
sie, scheint es, erst in der Zelle die Hostie in Sicherheit bringen,
was sachlich kaum angeht. Jedesfalls knüpft Frau Agnes die
Hostie in einen Zipfel ihres Schleiers (V. 112), wie heute eine
Bäuerin ein Geldstück in ihr Kopftuch einknotet; das Wort
stricken^ Hric V. 97. 116 (lat. innodare, enodare) hat mhd.
weitere Bedeutung ab nhd. — V. 125 vilr daz münster kann
hier kaum etwas anderes heißen denn: das Münster entlang.
— V. 134 f. die Konsekrationsworte werden im Kanon der
Messe Becrete gesprochen. — V. 135: huop üf ist ein älterer
formelhafter Ausdruck. — V. 136 missetdt = Frevel, den sie
selbst begangen hat. — V. 142 die sonst wenig für die Situa-
tion geeignete Formel vil tool gezogen paßt doch (fXv das Ge-
spräch zwischen dem Priester und der vornehmen Nonne. —
V. 162 hoch gezalt = ,der als hoch gilt*, sonst nicht belegt.
Stadien zur EreählangsUterAtur des Mittelalters. 39
— V. 181 obschon das kanonische Recht den Priester nicht
einer geistlichen Würdenträgerin unterstellt, gehorcht doch hier
der PräbendariuB der Äbtissin. Man vergleiche den Respekt,
mit welchem die Untersnchangskommissäre Berthold von Regens-
barg und David von Augsbarg die Äbtissinnen der Regensbarger
königlichen Damenstifte behandeln (Stadien zar Qeschichte der
altdeutschen Predigt 7, 7 ff.). — V. 241 ff. hier wird nochmals
Johannes Baptista (vgl. das Gebet im MUnsterer Urbar von 1S94
bei Bas. Schwitzer, Tirol. Geschichtsquellen 3, 154) angerufen und
seine Taufe Christi hervorgehoben. Das geschieht somit am An-
fange und Ende des Gedichtes, in Abschnitten, welche der Ver-
fasser selbständig geschrieben hat und denen im lateinischen
Texte nichts entspricht. Das erklärt sich unzweifelhaft daraus,
daß eben Johannes Baptista der Patron des Klosters und der
Kirche zu Münster war. Es wird, wie ich glaube, dadurch schon
irgend eine persönliche Beziehung des Verfassers zu dem
Kloster im MUnstertale wahrscheinlich. Vielleicht darf noch
eine Notiz herangezogen werden, die ich aus P. Foffa: Das
Bündnerische Münstertal (Chur 1864) S. 9 Anm. entnehme.
Dort heißt es in der Beschreibung der Klosterkirche Sankt
Johannes Baptist: ,Ohne Zweifel das älteste Monument der
Kirche [von der einzelne Teile noch dem romanischen Stil an-
gehören] ist ein Steinrelief, welches über der in die Sakristei
führenden Tür im linken Seitenschiff in die Mauer eingefügt ist
und dessen Figuren an die Statuen vor der Domkirche in Chur
erinnern. Es stellt die Taufe Christi dar mit St. Johannes dem
Täufer und einem Engel, über dem der heilige Geist als Taube
schwebt.^ Es wäre ganz möglich, daß dieses Kunstwerk auch
zu der besonderen Hervorhebung der Taufe Jesu durch Johannes
an zwei Stellen des deutschen Gedichtes angeregt hätte. — Den
Vers ze himelrieh, waz unser eint nach 264 halte ich doch für
einen Zusatz des Schreibers (dem auch Rudolfs Guter Gerhard
Verschiedenes der Art verdankt); denn trotz alles Mangels an
Kunst möchte ich den Dreireim und den unpassenden Inhalt
doch Herrn Nikolaus Schlegel nicht zumuten, obzwar gerade
die grob volkstümliche Wendung toaz unser sint sich nicht
übel zu ihm schickte. Die Beteuerung, daß die Erzählung
wahr sei, hat der Verfasser geglaubt am Schlüsse noch vor-
bringen zu müssen. Wir haben in ihm einen Mann kennen
40 I. Abhandlang: Sohönbach.
gelernt, der sich auf Latein verstand ^ ein gewisses, wenngleich
nicht großes Maß theologischer Bildung besaß und für das
wunderbare Ereignis mit der Hostie sich wohl schon aus Teil-
nahme an dem Hause und der ganzen Gegend interessierte,
die er allem Anscheine nach wohl kannte; es wird demnach
ein Geistlicher aus dem Vintschgau gewesen sein. Eine Persön-
lichkeit dieses Namens habe ich bisher nicht ausfindig gemacht,
wohl aber begegnet unter den Zeugen , welche in einer zu
Münster September 1239 ausgestellten Urkunde die Verpfändung
des Marktes Münster durch Bischof Volkard von Chur an
Hertwig von Matsch bestätigen (Foffa a. a. O. Urk. S. 17 ff.,
das Stück befindet sich im Stiftsarchiv zu Münster) ein Mar.
quard Siegel unter edlen Herren des Vintschgau und Engadin,
und zwar schon an sechster Stelle. Ein Walther (UI.) Schlegel
war Abt von Disentis 1300 — 1307, vgl. Eichhorn, Episcopatus
Curiensis, S. 234. Dagegen wird eine Hofstatt Schliegel im
Urbar von Chur (bg. durch Conradin vom Moor, Retia, 4. Band,
S. 98 [1869]) schwerlich mit den Schlegels zusammenhängen.
Daraus erhellt, daß der wohl demselben Geschlecht angehörige
Nikolaus Schlegel seinem Namen auch dann mit Recht das
Prädikat ,Herr' vorangestellt hätte, wenn ihm ein Anspruch
auf geistliche Würde nicht zustand.
Eis gilt nunmehr, das wunderbare Ereignis genauer ins
Auge zu fassen, welches in dem deutschen Gedichte und in
dem lateinischen Texte berichtet wird, sich über die Persön-
lichkeiten und Orte zu vergewissern, die dabei genannt werden.
Den Schauplatz des Hostienwunders bildet zunächst das Bene-
diktinerinnenkloster zu St. Johann Baptist im Münstertale, einem
Seitentale des Engadin, und zwar so nahe an dessen Ausgange,
daß ein kurzer Spaziergang längs des Rambaches zu dem
großen Steinkreuz führt, welches jetzt die Grenze der Schweiz
bezeichnet, der nächste Ort, Taufers, ist heute österreichisch.
In dem deutschen Gedichte heißt es V. 11 f., das Kloster Mün-
ster sei im Vintschgau gelegen, und in der Tat heißt es in
der Vergleichsurkunde zwischen dem Bischof Egino von Chur
und dem Abt Friedrich von Marienberg aus dem Jahre 1186
(Eichhorn, Episcopatus Curiensis, S. 67) : — daustrum S. Mariae
Stadien znr ErsählniigsliterAtur des MitteUlters 41
de Monte et claastrum S. Joannis in Monasterio, qaae claustra
Sita sont in Valle Venusta — . So konnte P. Basilins Schwitzer
von Marienberg in seiner Vorrede zu den Urbaren von Marien-
berg and Münster (Tirol. Qeschichtsqaellen, 3. Band, 1891) mit
Recht sagen : yDenn das Vintschgau (pagns Venosta) erstreckte
sich von der Falzaner and dem Aschlerbache bis za den Qaellen
der Etsch, dann ttber das Qebiet von Naaders bis Finstermttnz,
weiter am Inn aufwärts bis Pontalt im Engadin and ttber das
Münstertal/ Herr Nikolaus Schlegel gibt dann V. 13 f. an, es
gehe von Münster auf der anderen Seite, wo man gegen Wurmes
= Bormio zieht, nach Reichenberg hinein. Aach das trifft zu :
von dem rechts gelegenen Münster ist es dreiviertel Standen
bis nach dem links liegenden Täufers und oberhalb diesem
Dorfe liegen heute noch auf dem Hügel der Tauferer Talseite
die Ruinen der Bargen Ober- und Unterreichenberg (Staffier,
Tirol 2, 1, 175 ff.; Beda Weber, Tirol 3, 205 ff.). Die Reichen-
berger waren durch eine Zeit lang mächtige und gefürchtete
Herren, sie standen in Beziehungen zu dem Münsterer Frauen-
kloster und hatten im 13. Jahrhundert dort einen Turm inne
(P. Foffa, Das MünsterUl, Urkunden S. 57). Auch die Zeit
des Hostienwunders läßt sich genauer bestimmen. Das Mirakel
vollzieht sich zunächst unter den Augen einer Nonne, Frau
Agnes von Scinde$y wie das Gedicht V. 152 ff. sagt, der lateini-
sche Text schreibt bereits Sina, Das ist das heutige Sins im
Unterengadin , auf dem Wege von Schuls nach Kauders am
Inn gelegen. Bei diesem Weiler (vious) saß ein Geschlecht
von Ministerialen (ministri ecdesie Curiensis), das in Urkunden
des 12. und 13. Jahrhunderts reichlich bezeugt ist: von 1160
bis 1210 zähle ich in Goswins von Marienberg Aufzeichnungen
(herausg. von Basilius Schwitzer, Tirol. Geschichtsquellen,
2. Band, 1880) S. 37—77 folgende Herren von Sindes: Chunrat,
Adalbert, Rupert, Ernest, Egino, Hezil, Anshelm (vgl. noch
Eichhorn, Episc. Cur., Cod. Probat. S. 56—66), ihr Ansitz heißt
ein Turm: C<mradu$ de turre de Sindes zeugt 1167. Nach der
Plünderung des Klosters Marienberg durch die Reicheüberger
1274, die Goswin lebhaft schildert und beklagt, wurde als
proewaiar ein clericue eecularis de Syndee^ dominus Amoldus
nomine aufgestellt, der muliis annis, jedoch sehr zu seinem
Vorteil und sehr zum Nachteil des Klosters seines Amtes wal-
42 I. Abhandlung: Schönbacb.
tete (er war vorher multis annis minister nostri monasterii zu
Schub gewesen und besaß einen Bruder nomine Witz, Gosvrin
ed. Schwitzer S. 118. 159 ff.). Marienberg hatte zu Sindes viel
eigene Leute (Goswin S. 223 f.), reichliche Güter und Zinsungen
besaß dort das Johanneskloster zu Münster (Urbare, herausg.
von Schwitzer S. 165 ff.). Die l^onnen von Münster entstammten
hauptsächlich edlen und reichen Familien des Engadins und
des Vintschgaus (Schwitzer, Tirol. Geschichtsquellen 3, 147 ff.;
Foffa, Das Münstertal S. 57), und so ist es nur begreiflich,
daß auch eine Dame von Sins dort Aufnahme fand. Es war
dieß zur Zeit, als das Kloster Münster von einer Äbtissin re-
giert wurde, welche das deutsche Gedicht seiner Lücke halber
nicht nennt, im lateinischen Text heißt sie Adelhaidis. Unter
den Äbtissinnen von Münster (Eichhorn^ Episc. Cur. ; S. 349 ff. ;
Foffa, Das Münstertal, S. 62 f.) gibt es drei dieses Namens:
eine von Zinkenberg etwa 1000 — 1030 (die Jahreszahlen sind
bis ins 14. Jahrhundert nur auf die Zehner abgerundet, was
wenig Vertrauen erweckt); eine von Auer 1080 — 1090, endlich
eine dritte de Monte von 1190 — 1220. Die beiden ersten kommen
wegen ihrer weit zurückgelegenen Zeit nicht in Betracht, nur
die letzte (später findet sich keine Adelheid mehr) kann hier
gemeint sein. Da entsteht sofort eine Schwierigkeit: die alten
Register und Aufzeichnungen nennen diese Dame de Monte,
das ist von Mont, eine alte, angesehene Graubündner Familie.
Der lateinische Text sagt von ihr ausdrücklich: vulgariter von
Neyphen oriunda. Ich kenne kein anderes Neifen als das der
staufischen Ministerialen von der schwäbischen Alb, zu denen
der Minnesänger 'Gottfried von Neifen gehörte, doch habe ich
nirgends zu ermitteln vermocht, ob aus diesem Hause die
Äbtissin Adelheid III. von Münster stammte. Es dünkt mich
auch an sich schon unwahrscheinlich, ich halte die Angabe für
einen Irrtum von L, der ja keineswegs der einzige bleibt. Ist
sonach die Äbtissin Adelheid dieselbe, welche der lateinische
Text meint, dann muß das Hostienwunder sich innerhalb der
Jahre 1190—1220 ereignet haben.
Die wichtigste Persönlichkeit, welche das Mirakel erlebte,
ist sicher der Hausgeistliche des Klosters, der Priester Johannes,
welcher nach den Angaben des Gedichtes (die bekanntlich dem
lateinischen Berichte fehlen) V. 227 ff. aus einer sehr ver-
Stadien zur Erzählungsliteratur dea Mittelalters. 43
mögenden Familie stammte und den ihm zufallenden Teil von
Einkünften und Gülten auf die Stiftung einer Kirche verwandte.
Nun hat Albert Jäger im 15. Bande des Archives für Kunde
österreichischer Geschichtsquellen (1856) in seiner Sammlung
yRegesten und urkundUche Daten über das Verhältnis Tirols zu
den Bischöfen von Chur und zum BUndnerlande von den frühe-
sten Zeiten des Mittelalters bis zum Jahre 1665' S. 344 den
Inhalt von drei Urkunden folgendermaßen verzeichnet, die
meines Erachtens hierher gehören:
,1233. o. 0. u. Dat. Bischof Berthold von Chur nimmt
den Priester Johannes, welcher ein Hospital in Silva plana
gründete, in seinen besonderen Schutz: ,Johannem sacerdotem
sttb defensionis nostre tutela recipimus, tam ipsum quam locum,
ubi dicitur in Silva plana, qui ab eo ad receptionem pauperum
et sustentationem debilium excolitur.^ Originalurkunde im Ar-
chive des Frauenstiftes Münster in Graubünden.
1233. 0. O. u. Dat. Bischof Berthold von Chur fordert
alle Abte, Pröpste, Pfarrer, Priester, Kleriker und Gläubige
seiner Diözese auf, einen gewissen Priester Johannes aus der
Churer Diözese bei der Gründung einer Kirche und eines
Hospitales für arme Pilger auf dem rauhen Alpenübergang zu
Silva plana zu unterstützen. Originalurkunde im Archive des
Fraueustiftes Münster in Graubünden.
1239. 0. O. u. Dat. Bischof Volkard von Chur fordert
alle Gläubigen seiner Diözese auf, den Priester Johannes bei
der Gründung einer Kirche und eines Hospitales für arme
Pilger auf dem rauhen Alpenübergang zu Silva plana zu unter-
stützen. Originalurkunde im Archive des Frauenstiftes Münster
in Graubünden.'
Demnach steht die Sache so : das deutsche Gedicht erzählt,
der Priester Johannes am Frauenstifte zu Münster habe längere
Zeit nach dem Hostienwunder, das vor 1220 sich ereignet haben
muß, eine Kirche zu Ehren Unserer Lieben Frau zum Teil aus
den Mitteln seiner Familie gestiftet, und zwar in einem Walde
V. 215 und in derselben Gegend, in der seine Familie begütert
und wo er selbst geboren war. Da nun die drei Original-
urkunden für die Stiftung der Kirche (und des Hospitales) sich
heute noch im Besitze des Frauenklosters Münster befinden,
da die durch sie bezeugte Stiftung des Priesters Johannes, der
44 I. Abhandlung: SchOnbach.
in diesem Kloster Hausgeistlicher war^ gerade in die Zeit Üüi,
fUr welche nach dem Gedichte die Stiftung anzusetzen war, so
scheint es mir im höchsten Grade wahrscheinlich, daß der Priester
Johannes des Gedichtes und der drei Urkunden ein und die-
selbe Person sind. Diese Wahrscheinlichkeit wird durch fol-
gende Beobachtung zur Gewißheit erhoben: V. 215 zieht der
Priester Johannes sich nach einer Zeit besonders harter Askese
in einen walt zurück, wo er eine Kirche baut. V. 227 heißt
es von ihm: und war ouch üz dem icalde gebom wm rinem
kunne. Diesen walt halte ich, schon nach der Fügung in
V. 227 , für die Bezeichnung eines besonderen Lokales^ und
zwar für die Übersetzung yon Silva (plana), daher habe ich
ihn auch im Texte als Eigennamen angesetzt. Demnach war
der Priester Johannes aus Silvaplana in Oberengadin und ist
auch dort gestorben, nachdem er die Pfründe eines Hausgeist-
liehen im Frauenstift Münster innegehabt hatte. Die Urkunden
von 1233 und 1239 lehren auch, daß die geistlichen Vorgesetzten,
welche dem Priester Johannes das schädliche Übermaß der
Askese verboten, Herren aus dem hohen Klerus der Diözese
Chur gewesen sind, wahrscheinlich der Bischof selbst und
sein Domkapitel. Bischof Berthold I. von Helfenstein ist am
25. August 1233 zu Riams durch seinen Vetter, einen Herrn
von Wangen, erstochen worden, die erste Urkunde muß also
vor diesem Tage ausgestellt sein. Bischof Volkard von Neuen-
burg hat vom 1. November 1237 bis zum 16. Oktober 1251
regiert.
Unmittelbar nach dem ersten Hostienwunder begab sich
gemäß V. 157 ff. der Priester Johannes in einen dichten Wald,
der auf einem hohen Berge lag ober Quadrat und hoch über
Merningen liegt, in einer Landschaft, die zur Diözese von
Trient gehört. Die Angaben des lateinischen Textes stimmen
genau damit überein. Die Quadrathöfe liegen heute (,in stark
aufsteigendem Waldgebirge', Thaler S. 371) an dem vielbesuchten
Ausflugswege von Meran aufs Vigiljoch oberhalb Marling und
etwa zwei Stunden von Partschins, in der Höhe von 836 m.
Es sind ihrer jetzt acht, ihre Namen, die zum Teil sehr alt
sind, verzeichnet Josef Tarneil im ersten Abschnitt seiner
Schrift ,I)ie Hofnamen des Burggrafenamtes in Tirol', S. 8
(Quadrater Degnei). Sie gehören zur Pfarre Partschins (vgl.
Stadien zur Ereählangsltteratur des Mittelalters. 45
Josef Thaler^ Der deutsche Anteil des Bistomes Trient 1 [1866];
369 — 398), von der ein Kirchenpropst schon 1087 erwähnt
wird (Thaler a. a. O. S. 396), ein plebanus 1264. Die Gemeinde-
parzelle Qu€idrattez begegnet schon in einer Urkunde von 1163
in Ooswins von Marienberg Chronik (ed. Basilius Schwitzer,
S. 78). Ihre Zinsangen aus dem 14. nnd 16. Jahrhundert be-
spricht Armin Tille, Die bäuerliche Wirtschaftsverfassung des
Vintschgaues (1895), S. 50, Anm. 115 und S. 125, Anm. 272.
Memingen, das heute Marling heißt, schon 1189 als Meminga,
Maminga urkundlich bezeugt, ist ein Dorf, zwei Stunden von
Heran, oberhalb Lebenberg gelegen (Thaler a. a. O. S.813 — 830).
Diese Gegend gehörte im Mittelalter zur Trienter Diözese, und
zwar an deren äußerster Grenze gegen die Churer Diözese,
weshalb, und da sonst alles auf dem Boden der Churer Diözese
sich abspielt, dieser Umstand in dem Gedicht und in dem
lateinischen Text besonders erwähnt wird. Die Stelle des deut-
schen Gedichtes ergänzt in erwünschter Weise die bisher be-
kannten Daten Über diesen Grenzstrich der beiden Bistümer
Chur und Trient (Thaler a. a. O. S. 10 ff.). Die Kapelle auf
Quadrat ist im deutschen Gedichte ohne Namen, im lateinischen
Text wird sie 8ancti Petri genannt. Heute scheint es keine
Kapelle dort zu geben, die näckste befindet sich bei dem Bade
Egard und ist Unserer Lieben Frau geweiht (Thaler a. a. O.
S. 385).
Es stellt sich also heraus, daß sämtliche Angaben über
Persönlichkeiten und Orte, welche in dem deutschen Gedichte
und in dem lateinischen Texte vorkommen, so weit die Nach-
prüfung möglich ist, auf Richtigkeit beruhen und sich unter
sich in Übereinstimmung befinden. Das jüngste Datum, welches
in dem Gedichte vorkommt, ist die Stiftung des Fronleich-
namsfestes mit seiner Oktav und dem dazu gehörigen großen
Ablaß, durch Papst Urban IV. im Jahre 1264. Das Gedicht
läßt V. 205 ff. die Promulgation des Festes in Rom auf einem
Konzil vollzogen werden. Davon kann keine Rede sein, denn
ürban IV. hat als Papst die Stadt Rom überhaupt nicht be-
treten, er hat die Stiftung des Fronleichnamsfestes, zu der
ihn, da er noch als Jakob Pantaleon Bischof von Lüttich war,
eine Vision der heil. Juliana, Klosterfrau zu Cornillon-Mont
bei Lüttich, angeregt hatte, erst am Ende seines Pontifikates
46
I. Abhindlune: ; SohUnbA^h.
vorgenommen, so daß die bezögliclie Bulle sr.hon dnrch Paps
Klemens V. veröffentlicht wurde ^ Papst Johann XXIL hat
dann dem Corpus des kanonischen Rechtes einverleibt. In
diesem Punkte war Herr Nikolaus Schlegel also nicht gnt anter-
riclitet, er hat die allgemeine Vorstellang von der Einrichtung
eines neuen Festes durcli Papst und Kon/Jl zu Rom an die
Stelle der historischen Tatsachen treten lassen. Übrigens Ittßt
eich der Irrtum auch dadurch ausrciehend erkUlren, daß zwi-
schen dem Jahre 1264 nnd der Abfassung des Gedichtes ein
paar Jalirzehnte verflossen waren ^ eine Zeitbestimmung y die
sich ja vollkommen zu den Ergebnissen schickt^ die ans der
Betrachtung von 8p räch form und Metrik gewonnen wurden
(oben S. 15), sowie zu der oberen Grenze fdr die Abfassungs*
zeit, welche durch die Bescliaffenheit der handschriftlichen
Überlieferung gebildet wird, Za dieser Datierung schickt «icli
noch sehr wohl, daß man die Bewegung wider die Juden, die
während der letzten Dezennien des 13. Jahrhunderts von Frank*
reich ausging nnd über Deutschland sich verbreitete, allerorts
mit Hostienmirakeln verknüpft war^ auch als den unmittelbaren
Anstoß für die Ausarbeitung des deutschen Gedichtes wird^
ansehen dürfen*
Der lateinische Text hat nun der durch Amen i
schlossenen EryJLhlong des Hostienwunders noch einen Nachtra
(oben S. 24) beigefügt, in welchem folgendes berichtet wird:
Nachdem die Hostie durch die Äbtissin Adellieid nach dem Stift
Münster war zur ückge bracht worden, zieht die Äbtissin ihren
Konvent, dann verschiedene edle und ^bescheidene^ (discreti)
Herren zu Rate und wird von ihnen darin bestärkt, um eine
amtliche Konfirmation des Wunders durch den Papst in Rom
anzusuchen. Zu diesem Behufe schickt sie den Propst dea|
Klosters, namens Berthold, nach Rom und gibt ihm Briefe mit,
welche die Hostienwunder bestätigen und auch die sonst dabei
geschehenen Mirakel Propst Berthold libernimmt den Auf-
trag mit frommer Freude, bringt die wunderbare Hostie samt
den Zeugnisbriefen nach Rom und erzählt dort dem Papst
Urban IV. den ganzen Verlauf der Sache. Der Papst erkennt ^
die geschehenen Wunder an, befiehlt dem Propst Berthold, di€i^|
Hostie treulich nach Münster zurückzutragen und stattet sie^l
Stadien zur Erz&hlnngsliteratnr des Mittelalters. 47
sowohl mit der gewünschten Konfirmation aas als mit speziellen
Ablaßverleihnngen.
Schon oben (S. 33) wurde hervorgehoben, daß der Ver-
fasser des deutschen Gedichtes von dieser Romreise des Propstes
Berthold nichts weiß. Was er über die Stiftung des Fron-
leichnamsfestes und über dessen Feier im Kloster Münster er-
zählt, das geht nicht über das historisch Richtige und Mögliche
hinaus. Er weiß nichts davon, daß die Münsterer Hostie durch
besondere Ablässe vom Papste ausgezeichnet wurde und daß
ihre Wunder durch eine päpstliche Urkunde beglaubigt sind.
Das hat man also, nehme ich an, am Ende des 13., am Anfang
des 14. Jahrhunderts im Frauenstift Münster überhaupt noch
nicht gewußt.
Erweckt schon dieser Umstand schwere Bedenken wider
die Zuverlässigkeit der Mitteilungen dieses Anhanges über die
Romfahrt Propst Bertholds, so erweist sich einem näheren Be-
trachten der Inhalt dieses Berichtes als Erfindung. Vorerst
kann die Äbtissin Adelheid nicht mehr mit dieser Sache in
Verbindung gebracht werden, weil sie mehr als vierzig Jahre
vor Urban gestorben war. Ferner kann man zwar nicht in
Abrede stellen, daß es um die Zeit Papst Urbans IV. einen
Propst zu Münster mit Namen Berthold gegeben habe, doch
läßt es sich auch nicht beweisen. Die praepositi Monasterii,
Verwalter der Güter des Frauenstiftes Münster, kommen in
Urkunden seit dem 13. Jahrhundert vor, gehörten ,fast aus-
nahmslos adeligen Familien an und waren weltlichen Standes'
(Basilius Schwitzer, Tirol. Geschichtsquellen 3, 150 f.). So ist
1259 ein praeposiUis Joannes nachweisbar bei Eichhorn, Episc.
Cur., S. 215; Foffa, Das Münstertal, S. 19. Ein Propst Berthold
von Münster, venerahilis dominus Bertholdus praepositus Mona-
sterii, begegnet als erster Zeuge in einer 1282 zu Mals ausge-
stellten Urkunde über Marienberger Güter zu Slüs (Goswin
von Marienberg, ed. B. Schwitzer, S. 110 ff.). Dieser war geist-
lichen Standes und ist wohl der, der noch 1295 als Propst von
Münster eine Marienberger Urkunde der Frau von Lichtenberg
zugunsten des Bistumes Chur unterfertigt (Jäger, Regesten
S. 346). Immerhin könnte es aber zurzeit des Pontifikates
Urbans IV. einen Propst Berthold zu Münster gegeben haben.
Allein ganz gewiß kann dieser Mann 1261 — 1264 nicht nach
48 I. Abhandlung: SchOnbach.
Rom gereist sein and bei dem Papst in Sachen des Münsterer
Hostien Wunders Audienz genommen haben ^ einfach weil sich
dieser Papst niemals in Rom aufgehalten hat. Ferner weil
ürban IV. noch vor der Promulgation seiner Bulle über das
Fronleichnamsfest gestorben ist, die Unterredung des Propstes
Berthold von Münster mit ihm jedoch im Zusammenhang mit
der Stiftung dieses Festes und der Verleihung der dafür be-
stimmten Ablässe stattgefunden haben will.
Notwendigerweise folgt aus dieser Feststellung, daß auch
die übrigen Nummern des Münsterer lateinischen Manuskriptes,
die über dieselbe Sache handeln, gefälschte Angaben enthalten.
Das ist tatsächlich der Fall bei Nr. 2 (S. 25), welches eine
Urkunde Papst Urbans IV. enthalten will, die dem Hostien-
mirakel zu Münster besondere Indulgenzen für die Fronleich-
namszeit verleiht. Dieses Stück, das als Akt der römischen
Kurie an offenen Gebrechen leidet, behauptet, im Jahre 1275
ausgestellt zu sein, 11 Jahre nach dem Tode Urbans IV. und
während des Pontifikates Gregors X. Nr. 12 (S. 28) bringt
wieder eine Notiz über die spezialen Ablässe Urbans IV. für
das Münsterer Hostienwunder, diesmal ohne Jahresangabe.
Selbst Nr. 11 (S. 28), das nur die Angaben über den allge-
meinen Ablaß dieses Papstes für das Fronleichnamsfest und
seine Oktav enthält, stattet diese mit der falschen Jahreszahl
1253 aus. Es läßt sich übrigens aus diesen bei der Fäl-
schung vorgekommenen Verstößen der Datierung entnehmen,
daß die lügenhaften Aufzeichnungen sehr spät entstanden sein
werden, vielleicht erst im 15. Jahrhundert und vielleicht erst
mit dem vorliegenden Münsterer Manuskripte selbst; denn in
älteren Zeitläuften hätten bei besserer Kenntnis solche grobe
Irrtümer leicht vermieden werden können. (Ahnlich verhält es
sich mit dem Deggendorfer Hostienmirakel; an das sich der
Judenmord knüpfte, vgl. L. Steub, Altbayrische Eulturbilder,
S. 21—150, besonders S. 76 ff. 142, ferner v. Liliencron, Histor.
Volkslieder 1, 45—48, wozu noch die Fassung in der Hs. der
Wiener Hofbibliothek Nr. 3027, fol. 295«ff. gehört. Dazu Janner,
Geschichte der Bischöfe von Regensburg 3, 205 ff.)
Es scheint mir auch zu beachten, daß die übrigen Stücke,
welche das handschriftliche Heft zu Münster verzeichnet, durch-
aus richtige Angaben darbieten. Nr. 1 über die erneuerte
Stadien cur Era&hlungsllteratar des Mittelalters. 49
Weihnng des Klosters ist 1087 datiert anter dem Bischof
Nopertua von Chor, das ist Norbert von Hohenbalken 1079 —
1088. Nr. 3 handelt über die 1281 stattgefandene Erneaemng
der Weihe von Kirche nnd Hauptaltar durch Bischof Konrad
von Chnr^ das ist Konrad II. von Belmont| der vom Jahre
1272 bis zum 25. September 1282 regierte. Nr. 4 teilt die
Verleihung von Ablässen fUr Münster mit^ die Bischof Friedrich
von Chur 1287 verliehen hat; das ist Friedrich I., Graf von
Montfort, der vom 21. November 1282 bis zum 3. Juni 1290
regierte. In Nr. 5 muß bei der Datierung ein Fehler unter-
laufen sein, denn das Stück soll 1285 der Erzbischof Friedrich
von Freising ausgestellt haben, doch dauerte dessen Regiment
nur vom 18. April 1279 bis 8. Dezember 1282. Die Verleihung
von Ablässen für die Kirche zu Münster durch diesen Kirchen-
fUrsten hat an sich nichts Auffallendes, denn er stammte aus
dem vornehmen rhätischen Geschlechte der Herren von Mont-
alban. Zu Nr. 6 und 8 von den Jahren 1316 und 1300 ist
zu bemerken, daß Bischof Siegfried von Gelnhausen (?) sich
sehr viel außerhalb seiner Diözese, insbesondere in Deutschland,
aufgehalten hat, weshalb ein vicarius in spirittuilibus wieder-
holt aufgestellt werden mußte (Eichhorn, Episc. Cur. S. 100 ff.).
Nr. 13 aus dem Jahre 1456 fUUt in die Regierungszeit des
Bischofes Leonhard Wißmayer, der vom 5. März 1453 bis zum
12. Juli 1458 den Stuhl zu Chur innehatte.
Die Reliquienverzeichnisse bieten keinen Anlaß zu Be-
merkungen, denn ihre mitunter ganz seltsamen Behauptungen
übersteigen um nichts die Ansprüche auf Glaubwürdigkeit,
welche aus ähnlichen Dokumenten des 15. Jahrhunderts reichlich
bekannt sind. Nur anführen will ich, daß bei der Aufzählung
der Heiligen, deren Reste hier (ohne irgendwelche authen-
tica) aufbewahrt sein sollen, die Bekanntschaft mit anderen
Reliquiarien (z. B. denen, die Goswin in seiner Chronik von
Marienberg behandelt, dann solchen aus Südtirol) Einfluß geübt
zu haben scheint.
Damit dem Hostienwunder zu Münster im Engadin sein
Platz angewiesen und seine historische Würdigung ermöglicht
werde, ist es notwendig, die Entwicklung der Verwandlungs-
StUiiacaUr. d. pkiL-hltl. Kl. 156. Bd. 1 Abb. 4
50 I. Abhandlang: Schönbach.
mirakel der Eucharistie bis in den Anfang des 13. Jahrhunderts
kurz zu überblicken. Dabei wird kein Wert auf Vollständigkeit
des Materiales gelegt — es wäre mir ja ganz unmöglich, sie
auch nur anzustreben — , sondern es sollen bloß die Haupt-
punkte aufgewiesen und ihr Zusammenhang dargelegt werden.
Die ersten Jahrhunderte des Christentums weisen keine
Wunder der Verwandlung der Hostie auf, es wird nur erzählt,
daß Verunehrung und Schändung des heiligen Brotes an den
Frevlem sich rächt (z. B. S. Optatus in der Patrol. Lat. 11,
972, Augustinus usw.). Den ersten Bericht über eine äußere
Wandlung der Hostie finde ich in den Abschnitten der Vita
Basilius des Großen (Vitae Patrum in der Patrol. Lat. 73, 301 f.),
wo die Qlorifizierung des Meßopfers durch Wunder erzählt
wird. Dort heißt es (etwa um das Jahr 370) Kap. 7 : Itaque
cum divinum celebraretur officium, Hebraeus quidam, ut Chri-
stianus, se populo miscuit, ordinem officii et donum communionis
explorare volens, et videt infantulum membratim incidi in
manibus Basilii; et communicantibus omnibus venit et ipse, et
data est ei in veritate caro; deinde adest et calici, qui
erat sanguine plenus, et ipsius particeps est effectus. atque
ex utroque conservatas reliquias, pergens in domum suam,
ostendit uxori suae, ad confirmationem eorum, quae dicebantur,
enarrans quae propriis viderat oculis, credens ergo, quod re-
vera horrendum sit et gloriosum Christianorum mysterium. Es
gelingt darauf dem Erzbischof Basilius, diesen Juden dem
Christentum zuzuführen. Dieser Legende ist nicht bloß die
ungeheure Verbreitung der Vitae Patrum im Mittelalter zugute
gekommen, sie wird auch noch durch Thomas von Aquino,
opusculum 58, Kap. 11 besonders angeführt (vgl. H. v. Ros-
weyds Anm. 36, Patrol. Lat. 73, 317) und dadurch neuerlich
fruchtbar. Sie bildet eine Art Typus und Ausgangspunkt der
späteren Überlieferungen.
Die Vitae Patrum enthalten noch ein wichtiges Stück,
das hierher gehört. In den Verba Seniorum, lib. 18, abs. 11
(Patrol. Lat. 73, 978 f.) erzählt der berühmte Abt Arsenius von
einem Anachoreten, einem Greise, qui erat magnus in hac vita,
Simplex autem in fide, et errabat pro eo, quod erat idiota, et
dicebat, non esse naturaliter corpus Christi panem, quem sumi-
ums, sed figuram ejus esse. Davon hören zwei andere Wüsten-
Studien sar Erzählungsliteratur des MittelaUera. 51
Väter und stellen ihn darüber zur Rede: ^Abba, audivimus ser-
monem cujusdam infidelis^ qui dicit, quia panis, quem sumimus^
non natura corpus Christi, sed figura est ejus^ senex autem
ait eis: ^ego sum, qni hoc dixi^ Sie setzen ihm dann die
kirchliche Lehre auseinander, doch er antwortet: ,nisi reipsa
cognovero, non mihi satisfacit responsio vestra^ Sie wollen
dann Oott um ein Wunder bitten: senex vero cum gaudio
suscepit sermonem istum, et deprecabatur Deum, dicens: ,Do<
mine, si tu cognoscis, quoniam non per malitiam incredulus
sim rei hujus, sed per ignorantiam errem, revela ergo mihi,
Domine Jesus Christe, quod verum est'. Sie werden erhört:
et hebdomada completa venerunt Dominico die in ecclesia, et
sederunt ipsi tres soli super sedile de scirpo, quod in modum
fascis erat ligatum, medius autem sedebat senex ille. aperti
sunt autem oculi eorum intellectuales ; et quando positi sunt
panes in altari, videbatur illis tantummodo tribus tanquam
pnerulus jacens super altare. et cum extendisset presbyter manus,
ut (rangeret panem, descendit angelus Domini de celo, habens
cultrum in manu, et secavit puerulum illum, sanguinem vero
excipiebat in calice. cum autem presbyter frangeret in partibus
parvis panem, etiam et angelus incidebat pueri membra in
modicis partibus. cum autem accessisset senex, ut acciperet
sanctam communionem, data est ipsi soli caro sanguine cruen-
tata. quod cum vidisset, pertimuit, et clamavit, dicens: ,credo,
Domine, quia panis, qui in altari ponitur, corpus tuum est, et
calix tuus est sanguis'. et statim facta est pars illa in manu ejus
panis, secundam mysterium, et sumpsit illud in ore, gratias
agens Deo. dixerunt autem ei senes: ,Deus seit humanam
naturam, quia non potest vesci carnibus cradis, et propterea
transformat corpus sunm in panem, et sanguinem suum in
vinum his, qui illud cum fide suscipiunt'. et egerunt gratias
Deo de sene illo, quia non permisit Dens perire labores ejus,
et reversi sunt cnm gaudio ad cellas snas. — Auch diese Er-
zählung ist vermöge der Popularität der Vitae Patrum außer-
ordentlich verbreitet worden und verdient besondere Beachtung,
weil hier das Wunder sich ausdrücklich zur Widerlegung des
Unglaubens vollzieht ; auch der am Schlüsse fUr die Brotgestalt
vorgebrachte Grund ist hinfort durchweg (z. B. auch bei Ber-
thold von Regensburg) geltend gemacht worden.
4»
52 I. Abhandlung: Schönbach.
Ganz ähnlich ihrem Inhalte nach, aber noch einflußreicher
durch die Person des Beteiligten^ ist das Hostien wunder, welches
in dem Leben Papst Gregor des Großen von Joannes Diaconus
(verfaßt nach 872), lib. 2, cap. 41 (Patrol. lat. 75,103) vor-
kommt und daraus vielfach zitiert wurde, aber auch die von
Paulus Diaconus verfaßte Vita (die Autorschaft ist sicher, vgl.
Wattenbach, Geschichtsquellen, 7. Aufl. 1, 183, Anm. 2) ent-
hält das Stack als cap. 23 (Patrol. lat. 75, 52 f.), und zwar in
so verschiedener Ausdrucksweise, daß ich beide Fassungen
hierherstelle. Die bei Paulus Diaconus lautet:
Mater familias quaedam nobilis erat in hac civitate Ro-
mana (solche Hinweise auf den Aufenthalt des Verfassers in
Rom sind nach der neuen Ausgabe durch Grisar, Zeitschr. fkir
kathol. Theologie 11,162— 172 [1887] als spätere Interpolationen
anzusehen), quae religionis et devotionis studio oblationes (die
nach altem Brauch von den Gläubigen zur Kommunion dar-
gebrachten Brote) facere et die Dominica ad ecclesiam deferre
summoque pontifici ecclesiasticae consuetudinis et familiaritatis
ejusdem gratia offerre solebat. quae cum quadam die ex more
ad communicandum de manu apostolici ordine suo accederet,
illique pontifex offam (immerhin ein kaubares Stück, die alt-
deutschen Glossatoren bei Diefenbach übersetzen sogar: ein wecke)
Dominici corporis porrexisset, dicens: ,Corpus Domini nostri
Jesu Christi prosit tibi in remissionem omnium peccatorum et
vitam aeternam', subrisit. quod vir Domini cernens, illi com-
munionem sacram retraxit, et separatim super altare posuit,
eamque diacono servandam, usquedum cancti fideles communi-
carent, tradidit. expleto vero sacro mysterio interrogavit eam
beatus Gregorius, dicens: ,dic, rogo, quid cordi tuo emerserit,
cum communicatura risisti?' at illa: ,recognovi', inquit, ,por-
tiunculam illam ex eadem oblatione fuisse, quam ego manibus
meis feci et tibi obtuli; et cum eam te intellexerim corpus Do-
mini appellasse, subrisit tnnc sanctus Domini pontifex sermonem
exinde fecit ad populum et hortatus est cum, ut suppliciter
Dominum exoraret, quatenns ad multorum fidem corroboran-
dam, carnis oculis ostenderet, quid infidelitas hujus mulieris
mentis oculis et fidei luminibus conspicere debuisset quod cum
fuisset oratum, ipse una cum populo et eadem muliere ab ora-
tione exsurgens, ad altare, cunctis cernentibus et sese ad cer-
Studien cur Ersählnngsliteratur des Mittelalters. ÖS
nendam coeleste Bpectaculnm comprimentibas^ corporalem pallam
(eine besondere Art von Tuch, mit dem die Hostie umhüllt
wurde, wenn man sie in das heilige Oeßlß legte) revelat et,
universo popnlo ipsaque muliere contnente, partem digiti auri-
cnlaris sangoine craentatam invenit et malieri dixit: ^disce^,
inqoam, ,Yeritati vel modo jam credere contestanti : pania quam
ego doy earo mea est, et nanguis 7iieu$ vere est potus (Joann.
6, 52. 56). sed praescius Conditor noster infirmitatis nostrae ea
potestate, qua caneta fecit ex nihilo et corpus sibi ex carne
semper Virginis, operante Sancto Spirita, fabricavit panem et
vinam aqua mistam, manente propria specie, in carnem et san-
gainem snum ad catholicam precem ob reparationem nostram
Spiritus sui sanctificatione convertit^ inde que universos jussit
diyinam precari potentiam, ut in formam pristinam sacrosanctum
reformaret mysterium, quatenns mulieri ad sumendum fuisset
possibile. quod et factum est. unde saepefata mulier, plurimum
in Sacra religione ac fide proficiens, participatione Dominici
sacramenti consecrata est. et omnes, qui viderant, in divino
amore et orthodoxa credulitate ferventius excreverunt.
Der viel knappere Bericht bei Joannes Diaconus lautet:
Matrona quaedam beato Gregorio, per stationes publicas missa-
rum solemnia celebranti, solitas oblationes obtulerat. cui post
mysteria traditurus, cum diceret: ,Corpus Domini nostri Jesu
Christi conservet animam tuam', lasciva subrisit. illo continuo
dexteram ab ejus ore convertens, partem illam Dominici Cor-
poris super altare deposuit. expletis vero missarum solemniis
matronam coram populo inquisivit, quam ob rem corpus Do-
minicum susceptura ridere praesumpserit. at illa diu mussitans
tandem prorupit. ,quia panem', inquiens, ,quem propriis mani-
bus me fecisse agnoveram, tu Corpus Dominicura perhibebas^
tunc Oregorius pro incredulitate mulieris cum tota plebe sc in
orationem prostravit, et post paululum surgens particulam panis,
quam super altare posuerat, carnem factam reperit: quam coram
cunctis incredulae matronae demonstrans ad credulitatis gra-
tiam tam illam revocare potuit, quam totum populum confirmare
curavit. rursus itaque in orationem cum eisdem prostratus camis
frustum in panis primordia reformavit.
Es ist ganz lehrreich, die beiden Fassungen miteinander
zu vergleichen. Die spätere des Joannes Diaconus hat die wort-
54 I. Abhandlung: Schönbach.
reichere, ältere durchweg gekürzt, trotzdem aber noch kleine
Zusätze und Veränderungen angebracht, welche alle die kom-
munizierende Frau in ein schlechteres Licht rücken. Darf
sie bei Paulus Diaconus als eine Gläubige angesehen werden,
welche zur Stärkung ihres Qlaubens noch eines Zeichens be-
darf, so ist sie bei Joannes Diaconus eine Ungläubige, die
durch ein Wunder zum Christentum zurückgebracht werden
muß. Auch die Rolle des Papstes Gregor wird in der späteren
Fassung anders und stärker akzentuiert: erscheint er bei Paulus
als Anreger und Ausführer eines göttlichen Willensaktes, so
hat er ihn bei Joannes bewirkt, und da kann der Autor mit
Recht den nächsten Absatz beginnen: alio quoquo tempore vir
Dei Gregorius miraculum pene huic simile perpetravit.
Die Erzählung von dem Hostienwunder, das dem Papst
Gregor dem Großen begegnet ist, teilt mit den beiden voran-
gehenden Basilius des Großen und des Abtes Arsenius den
wichtigen Umstand, daß die Hostie, um die reale Anwesenheit
von Christi Fleisch und Blut nach der Konsekration überzeugend
vor Augen zu stellen, aus dem Zustande des Brotes in den
des rohen Fleisches (auffallend begegnet in den beiden ersten
Stücken derselbe Ausdruck caro sanguine cruentata) überführt,
dann jedoch, damit der Genuß des Sakramentes ermöglicht
werde, in die Brotgestalt zurückverwandelt wird. Diese letzte
Veränderung ist bei der Geschichte von dem Juden bei der
Messe des heil. Basilius nicht notwendig, weil dieser doch erst
getauft werden muß, bevor er das Sakrament empfangen kann.
Diese drei Erzählungen bilden für kürzere Zeit einen sozu-
sagen festen Bestand in jenen Schriften, welche sich mit der
Transsubstantiation im Altarssakramente beschäftigen. So werden
sie sämtlich angeführt in des Paschasius Radbertus Liber de
corpore et sanguine Christi (wo schon im 6. und 9. Kapitel
beglaubigende Legenden aus älterer Tradition vorgebracht
waren), Kap. 14, Patrol. Lat. 120, 1317 ff. Ihnen schließt sich
dort eine fernere an, die ich hier abdrucke, weil sie auf das
deutlichste aus den bisher mitgeteilten Stücken weitergebildet
worden ist; sie lautet:
Nonnunquam vero ad votum desiderantibus Christum
baec praemonstrata leguntur; sicut illud in gestis Anglorum,
quod quidam presbyter fuerit religiosus valde, Plecgils nomine.
6tadien zur Erzähhingsliteratar des MittelAlten. 55
frequenter missaram solemnia celebrans ad corpus S. Niniae,
episcopi et confessoris, qui cum digno moderamine sanctanii
Christo propitiO; daceret vitam^ coepit omnipotentem Deum piis
pnisare preeibus, ut sibi monstraret naturam corporis Christi
atqne sanguinis, itaque non ex infidelitate, ut assolet, sed ex
pietate mentis ista petivit, fuerat enim a pnero divinis legibus
imbutuS; et propter amorem superni regis olim patriae fines et
dulcia liquerat arva, ut Christi mysteria exsul sedule disceret
idcirco ejus amore magis succensus^ quotidie pretiosa munera
offerensy poscebat sibi praemonstrari^ quae foret species latitans
sub forma panis et vini^ non quia de Christi corpore dubius
esset y sed quia vel sie Christum cernere veliet, quem nemo
mortalium jam super astra levatum, in terris passim (alte Hss. :
p<i8sufn) conspicere potest. venerat ergo dies, ut idem celebrans
pie solemnia missarum more solito procubuit genibus: ^te de-
precorS inquit, yOmnipotens^ pande mihi exiguo in hoc mysterio
naturam corporis Christi , ut mihi liceat eum prospicere prae-
sentem corporeo visu et formam pueri; quem olim sinus ma-
tris tulit vagientem; nunc manibus contrectare^ qui cum talia
precaretur, angelus de coelo veniens affatur: ,surge'; inquit,
ypropera, si Christum videre placet; adest praesens corporeo
Testitus amictu, quam sacra puerpera gessit'. tunc venerabilis
presbyter, pavidus ab imo vultum erigens, vidit super aram
Patris Filium puerum, quem Simeon infantem portare suis ulnis
promeruerat. Cui angelus inquit: ^quia Christum videre placuit,
quem prius sub specie panis verbis mysticis sacrare solebas,
nunc oculis inspice, attrecta manibus!' tunc sacerdos, coelesti
munere fretuS; quod mirum dictu est, ulnis trementibus puerum
accepit et pectus proprium Christi pectori junxit, deinde pro-
fusus in amplexum dat oscula Deo et suis labiis pressit pia
labia Christi, quibus ita exactis praeclara Dei Filii membra
restituit in vertice altaris et replevit coelesti pabulo Christi
mensam. tum rursus humo prostratus deprecatus est Deum, ut
dignaretur ipse iterum verti in pristinam speciem; qua expleta
oratione surgens a terra invenit corpus Christi in formam re-
meaase priorem, uti deprecatus fuerat. et mira omnipotentis
Dei dispensatio, qui ob unius desiderium ita se praebere dig-
oatus est yisibilem^ et non in figuram agni, ut aliis quibvsque
8ub hoc myiierio (das war bereits im 9. Kapitel berührt worden)^
56 I. Abhandlung: Schönbach.
sed in formam paeri^ qaatenus et veritas patesceret in ostenso
et sacerdotis desiderinm impleretar ex miracolo nostraque ßdes
firmaretur ex relatu. veramtamen non prias item communicasse
paeri corpus ei sangninem legitar, quam rediret in prioris for-
mae speciem^ ne absardum videretor^ quod praesampserat, et
fides nberins requiratur interius in eadem, quod exterius visu
conspexerat. haec interim dixisse sufficiat de ostensione carnis
Christi pro assertione veritatU. —
Das Stück beruht auf der Erzählung des Abtes Arsenius
in den Vitae Patrum ; ist aber in poetische Sprache gebracht
und dem Zwecke gemäß umgestaltet. Es handelt sich hier
nicht um einen unwissenden Greis, der von Zweifeln geheilt
sein will, sondern um einen theologisch gebildeten Priester, der
ein Beweisstück fUr seine geistliche Überzeugung in die Hand
zu bekommen wünscht. Deshalb mußte die Inszenierung ver-
ändert werden, das Wunder mußte weiter gehen und der
Priester das Jesuskind selbst in die Arme nehmen dürfen. Am
Schlüsse natürlich mußte die Hostie ihre Broterscheinung wieder
gewinnen, um genießbar zu bleiben: der Beweis war geführt
und weiter erstreckte sich vorläufig das Bedürfnis nicht.
Noch begegnet das Hostienwunder Gregors des Großen
in anderen Schriften. Abt Gezo von Derton erzählt um 950
in seinem Liber de corpore et sanguine Christi in den Kapiteln
41—45 (Patrol. Lat. 137, 392—398) die Geschichten vom jüdeP,
von Arsenius und Gregorius (in der Fassung nach Paulus Dia-
conus) als Beweise fUr die Transsubstantiation. In dem wider
Berengar von Tours geschriebenen Liber de corpore et sanguine
Christi berichtet Durandus, abbas Troarensis, um 1160, im
8. Teile cap. 27 (Patrol. Lat. 149, 1418 flF.) die Geschichten von
Papst Gregor (in der Fassung Joannes Diaconus), vom Priester
Plecgils bei Paschasius Kadbertus (jedoch ohne Namen), vom
Abt Arsenius, von Basilius und vom jüdel', also durchaus der
Apparat des Paschasius. In der wirksamsten der Streitschriften
gegen Berengar, dem Liber de corpore et et sanguine Domini
von Lanfrank (Patrol. Lat. 150, 407—442), wird kein Gebrauch
von den Hostienwundem gemacht, was schon bei der Anlage des
Buches schwer möglich wäre, das Satz wider Satz stellt, aber
auch zu der strengen Logik des Autors nicht paßt, die auf
solche Hilfsmittel verzichtet. Ebenso verhält sich Anselm von
Studien zur Erzähl ungsliteratur des MitteUlters. 57
Canterbury in seinen Briefen über die Bcrengarsche Ange-
legenheit. Unter den italienischen Mirakeln^ die Petras Damiani
in seinem 34. Opascalam (Patrol. Lat. 145, 571 — 590) berichtet,
hat keines Verwandlangen der Eucharistie zam Gegenstande,
nur in dem Vorworte (145, 572 f.) erwähnt er, eine konsekrierte
Hostie sei zaerst teilweise, dann ganz za blatigem Fleisch ge-
worden. Seine übrigen Schriften enthalten keine Erzählang
dieser Art.
Mit den folgenden Stücken betreten wir ganz anderen^
jedoch wohlbekannten Boden, die Visionen- and Mirakelliteratur
der Claniazenser und Zisterzienser (vgl. noch das Wunderbuch
der monachi Grandimontenses , cap. 50, Patrol. lat. 204, 1029,
das sich jedoch wahrscheinlich nar auf Heilangen mittels der
Hostien bezieht), über die ich im ersten Stück meiner Stadien
zor Ezählangsliteratar des Mittelalters, Sitzangsber. 139, be-
sonders 91 ff. 144 ff. (1898) einläßlich gehandelt, die ich dort
im historischen Zasammenhang za würdigen anternommen habe.
Aaf diesem Gebiete, das über das zwölfte and die AnfUnge des
dreizehnten Jahrhanderts sich erstreckt, wächst das Material so
rasch an, daß von nan ab die einzelnen Stücke nar in knappen
AoBzügen mitgeteilt werden können. Das Exordium magnum
der Zisterzienser berichtet Dist. 3, cap. 13 (Patrol. Lat. 185 B,
1067) von einem Mönche za Clairvaax, Peter von Toaloase,
er habe darch vier bis fünf Monate täglich beim Meßopfer das
Jesuskind gesehen, aber nicht in der Hostie, sondern davon
getrennt, aaf der Hand, aaf dem Arm usw. Dist. 4, cap. 3
(a. a. 0. 1098) wird von einer Hostie wanderbaren Geschmackes
erzählt. Dist. 6, cap. 1 (a. a. O. 1177 ff.) ist angemein lehrreich,
denn es berichtet, daß ein sehr frommer Mönch Reginald von
Zweifeln über die Transsabstantiation, and zwar ganz gemäß
dem Gedankengange Berengars von Toars aafs schwerste ge-
ängstigt warde, erst in seinen letzten Tagen vor dem Tode
vermochte er za der für ihn berahigenden Glaabensüber-
zeogung darchzadringen. Dist. 6, cap. (a. a. O. 1180 ff.) er-
zählen die Wandertaten, die Bernard von Clairvaax mit dem
Altarssakrament vollbrachte. — Noch>iel ergiebiger sind Her-
berts Libri tres de miracalis (Patrol. Lat. 185 B, 1273—1384).
1,3 (1279 f.) wird die Geschichte des Peter von Toaloase ein-
gehend berichtet. 1, 20 (1297) sieht eine fromme Fraa den
58 I. Abhandlung: Sch(Snbach.
Jesusknaben in der Hostie, schlechten Priestern zürnt er. 1, 21
(1297) wird ein Priester vom Jesuskinde in der Hostie geküßt;
sündigt er aber, so wird ihm der Kuß verweigert. 1, 22 (1298f.)
empfindet ein Bruder zu Clairvaux Honiggeschmack in der
Hostie, nach einer Sünde jedoch Wermutgeschmack. 3, 19
(1369) rettet sich die Hostie aus den Flammen. 3, 20 (1369 f.)
zwei vom Altar genommene ohlationes leuchten im Hause und
zeigen sich blutig, sobald sie auf den Altar zurückgebracht
werden. 3, 21 (1370) eine Hostie wird während der Eonse-
kration teilweise zu Fleisch, zwischen den Fingern des Priesters
bleibt sie Brot. 3, 22 (1370) eine am Freitag konsekrierte
Hostie wird zu Fleisch und Blut. 3, 23—25 (1371 f.) erzählen
von Hostien, die den Anblick der Sünder scheuen und vor
ihnen verschwinden. 3, 28 (1373) eine Hostie, die in einen
Schweinstall geraten ist, wird dort als Fleisch gefunden. 3, 29
(1374) ein armes Bäuerlcin hat sich eine geweihte Hostie in
den Rock genäht, sie ist zu Fleisch geworden und wird dann
feierlich zur Kirche heimgeholt. 3, 30 (1374) eine Hostie bleibt
während dreier Jahre unverletzt in einem Bienenstock. — Das
Konkurrenzwerk des Petrus Venerabilis von Clugny, De mira-
culis (Patrol. Lat. 189, 851 ff.), berichtet keine Geschichten von
Verwandlungen der Hostien, sondern erzählt nur lib. 1, cap. 1
sehr hübsch, wie Bienen einen Altar für die konsekrierte Hostie
bauen, welche der Bauer zum Segen für die Bienen aufbehalten
und in den Stock gegeben hat. — Neben diesen Hauptwerken
gibt es immer von Zeit zu Zeit Berichte über Hostienwunder,
die an einzelnen Orten sich ereigneten. So erzählt der Ano-
nymus von F^camp cap. 16 seiner Revelatio, daß im Jahre
1081 (?) ein Priester, namens Isaak, unzweifelhaft habe beim
Meßopfer eine Hostie die Gestalt von Fleisch und Blut an-
nehmen sehen. Das Wunder wird durch den Normannen-
herzog Richard, viele Bischöfe und eine große Volksmengfc
bezeugt. Im Leben des heiligen Bischofes Hugo von Lincoln,
eines Karthäusers, der 1185 gewählt wurde und 1200 starb,
wird lib. 5, cap. 4 (Patrol. Lat. 153, 1036 ff.) erzählt, ein Kleriker
habe die vom Bischof geweihte Hostie als Jesusknaben auf
dem Altar gesehen.
Von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Hostien-
wunder ist der elfte unter den Sermonen Ekberts von Schönau
Studien zur Erzählangsliteratur des MitteUlters. 59
gegen die Katharer (vgl darüber meine Studien zur Geschichte
der altdeatschen Predigt 3, OOf.), der sich mit der von diesen
Häretikern geleugneten Gegenwart Christi im Aitarssakramente
beschäftigt. Dort wird nämlich am Schlüsse zur Bewährung
der kirchlichen Ansicht außer dem globus igneus, der beim
Meßopfer über dem Haupte des h. Martin von Tours erschien,
auch die Geschichte von dem Hostienwunder zur Zeit Papst
Gregors des Großen erwähnt, und zwar in folgender Gestalt:
Legitury quod accidit aliquando^ ut haec infidelitas de corpore
Christi, qua voa irretiti estis, etiam in populo Romano incre-
visset et magnam partem civitatis occupasset tempore Gregorii
papae^ qui cum oraret pro infidelitate populi et inter missarum
solemnia secundum consuetudinem obtulisset super altare Dei
panem et vinum et solitas benedictiones fecisset, hoc precibus a
Deo obtinuit^ ut appareret ibi caro Dominica, sicuti erat^ et
ostenderetur his, qui aderant, in specie camis, quae pinus illic
fuerat in specie panis. sicque liberaius est populus ab in-
fidelitate hac. Ich gestehe, daß ich längere Zeit nicht glauben
wollte, es sei unter dieser Geschichte die oben (S. 52) abge*
druckte Legende aus den Lebensbeschreibungen Gregors d. Gr.
gemeint. Da jedoch alle Nachforschungen vergeblich waren,
einen anderen ähnlichen Vorfall oder einen von der durch
Ekbert berichteten Allgemeinheit aus der Zeit Papst Gregors zu
ermitteln, so bleibt wirklich nichts anderes übrig als anzunehmen,
Ekbert habe an dieser Stelle, im Interesse seiner Polemik, der
alten Legende durch Umgestaltung einen Charakter verliehen,
der ihre beweisende Kraft vermehren sollte. In dem Leben
seiner Schwester, der heiligen Elisabeth von Schönau, wird
cap. 38 (Patrol. Lat. 195, 140) eine Vision von der Eucharistie
berichtet, die sehr lebhaft an die Heiligung des Gral erinnert,
nur daß die heilwirkende Taube hier nicht lebendig vom Himmel
herabschwebt, sondern die Form des kostbaren Gefäßes dar-
stellt, in welchem seit den ersten Jahrhunderten der Kirche
(bei Tertullian, Basilius d. Gr. usw.) die Hostien aufbewahrt
wurden und das häufig an einer Schnur über dem Altar
hing. So lautet der Bericht Elisabeths in dem Schreiben an
ihren Bruder:
In eadem missa (Exaltationis S. Crucis, Montag 14. Sep-
tember 1154), cum accederent sorores ad communicandum (ge-
60 I. Abhandlung: SchOnbach.
meinschaftlich, wie in unserem deutschen Gedicht), et ego ad-
huc a longe sederem propter imbecillitatem^ introspexi in calicem
et vidi yeram speciem sanguinis, et cum infunderent vinum,
distincte aspexi differentiam sanguinis et ejus^ quod affusum
est (das ist Wasser), donec commixta sunt, et unus color
sanguinis appareret. et videbam (sicut mox mihi est) omnia^
quae foris circa altare agebantur in tempore missae. et dum
sacerdos calicem benediceret^ ecce columba, quam videre soleo
in altari, pedetentim accedens caput calici immer sit, et con-
tinuo speciea sanguinis apparuit, et nunc quidem rarum mihi
non est videre hujusmodi. factum est etiam in una dierum, ut
veniret quidam ex fratribus; ferens in pixide divinum sacra-
mentum Dominici corporis, ut opus esse vidcbatur cuidam sorori
infirmae. cumque staremus in circuitu ejus, et ego et quacdam
sorores loquentes mecum de eo, ecce subito cor meum lique-
factum et pene raptum est in extasim. et ecce claritas magna
refulsit in pixide, et introspexi, cum tamen adhuc esset clausa,
et apparuit species verae carnis in ea. dicens quidem ista con-
tremisco, sicut et tunc videns contremui. testis autem mihi est
Dens, quia nihil in omnibus bis fingendo aut propriam gloriam
quaerendo locuta sum.
Die heilige Hildegard von Bingen spricht Scivias, lib. 2,
visio 6 (Patrol. Lat. 197, 507—564) eingehend über das Altars-
sakrament und erwähnt eine Lichtvision beim Meßopfer, sie
gibt auch dann eine Art erklärender Lobpreisung der heiligen
Messe, ein Stück, das sich nicht bloß durch seine Originalität
auszeichnet. Der klassischen Zeit der Hostienwunder nähern
wir uns aber mit dem 13. Jahrhundert und ihr vornehmster
Zeuge ist Caesarius von Heisterbach. Die ganze neunte Distinctio
seines Dialogus miraculorum (vgl. meine Studien zur Erzählungs-
literatur des Mittelalters 4, 22 f.) ist unter der Überschrift De
sacramento corporis et sanguinis Christi nach einer kurzen,
theoretischen Erörterung (Caesarius sagt von ihr: cum timore
illud attendo, quia ubi sola fides operatur et rationis Judicium
excluditur, non sine periculo discutitur) in den 66 folgenden
Kapiteln ausschließlich (die Bedingungen der Konsekration be-
sprechen Kap. 26. 27. 53. 62) Wundern gewidmet, die von der
Eucharistie ausgehen. Darunter kommen für uns hier folgende
Kapitel in Betracht : Zweifel an der leiblichen Gegenwart Christi
Studien zur Erzühlungsliteratar des Mittelalters. 61
im Altarssakrament äußert der Kanonikus und Arzt Petrus zu
Köln, Kap. 56. Lichtvisionen 33. 34 {globtis igneus wie beim
heiligen Martin 31). Qeschmackswunder 39. 40. 41. 46. Christus
speist selbst mit der Hostie 35 — 38. Blut im Kelch 17 — 25.
Blutiges Fleisch (wie im Münsterer Hostienwunder) 5. 59. In
der Hostie erscheint der Jesusknabe 2. 4. 42. 47 , Christus als
Mann 28. 29. Am merkwürdigsten ist Kap. 3 (Strange 2, 169)
wo Yon einem Priester Adolf zu Dievesen in Friesland folgendes
erzählt wird: Die quadam cum idem Adolphus missam cele-
brarety et ante Agnus Dei hostiam levasset ad frangendum,
in ipsa hostia Virginem in sede residere infantemque in sinu
servare contemplatus est. nosse volens, quid esset ex altera
parte, mox ut hostiam vertit, agnum in ea conspexit. quam
rursum regyrans vidit in ea quasi per vitrum X])hristum in
cruce pendentem capite inclinato. videns hoc sacerdos extimuit,
diu Btans et deliberans, utrum ibi subsistere vel sacramentum
perficere deberet. cujus fietibus Dominus placatus sacramento
formam priorem reddidit, et ille missam perfecit. cumque po-
puluB de tanta mora miraretur, ipse ambonem ascendens cum
lacrimis populo msionem retulit, et signati sunt (zum Kreuzzug)
eadem hora ab eo homines quinquaginta. — Wie beim Münsterer
Hostien wunder zeigen sich verschiedene Wandlungen, die vier
hier berichteten stimmen mit vier im deutschen Gedicht und
lateinischen Text, doch hat das Münsterer Mirakel zwei Er-
scheinungen mehr: das rohe Fleisch und die rechte Hand.
Diese Übereinstimmung ist äußerst auffallend. Freilich faßt
Caesarius von Heisterbach den ganzen Vorgang als eine Vision^
das Münsterer Hostienwunder jedoch beansprucht Realität, wo-
durch es schon als spätere Entwicklung sich kennzeichnet. —
Unter den Erzählungen, die ich in meiner erwähnten Abhand-
lung S. 69—92 aus dem Homilienwerk des Caesarius abge-
druckt habe, findet sich nur eine, die hier anzuführen ist,
nämlich aus 1,73 (S. 70), wo ein Zisterzienserabt von sich
selbst erzählt, er habe in einer schweren Krankheit die Kom-
munion zu empfangen verweigert, weil ihn Zweifel an der
Präsenz Christi befallen hätten, nachmals seien sie gewichen.
Die Mitteilung zeigt durch einen Fall mehr, wie weit verbreitet
doch auch in kirchlichen Kreisen die Unsicherheit in Sachen
der Transsubstantiation damals noch war. — Mehr enthalten
62 I. Abhandlung: Schönbach.
die von Meister 1901 herausgegebenen Fragmente der Libri
octo miraculorum (über die Geschichte des Textes vgl. meine
Besprechung in den Mitteilungen des Institutes für österr. Ge-
schichtsforschung 23^ 660 — 683) des Caesarius von Heisterbach.
Folgende Nummern gehören ihrem Stoffe nach in den Bereich
der Hostienwunder: Lichtvision Lib. 1, Kap. 13. Eine weiß-
glänzende Taube bringt die Hostie vom Altar 1, 7. Die ver-
steckte Hostie (wie bei Agnes von Scindes) erscheint als Blume
1, 21. Christus speist selbst mit der Hostie 1^ 6. Die Hostie
wird zu blutigem Fleisch 1, 1. 2; zu Blut 1, 3. 16 (2, 7. 10).
Sie erscheint als Jesusknabe 1, 8. Ein Zweifler an der Gegen-
wart Christi im Sakrament ist ein verurteilter Dieb 2, 9. Über-
dies ist die Einleitung zum zweiten Buch S. 66 ff. für die Frage
zu vergleichen.
Mit den Schriften des Caesarius von Heisterbach sind
wir bereits in der Zeit angelangt^ aus der uns das Hostien-
wunder zu Münster im Engadin berichtet wird. Deshalb will
ich hier nur noch zweier Sammlungen gedenken, die in den
Zeitraum vor der Erzählung fallen, welche sowohl dem Vintsch-
gauer deutschen Gedichte als dem lateinischen Texte zugrunde
gelegen hat. Die Exemplay welche Crane aus den Predigten
Jakobs von Vitry (1890) ausgehoben hat, enthalten nur ein
Hostienwunder unter Nr. CCLXX (S. 113 und Anm. S. 251)
von einer Frau, die das Sakrament zu Zauberzwecken im
Munde behält, es wandelt sich jedoch zu Fleisch und klebt
ihr an der Zunge. Die Sermone Jakobs von Vitry mögen
aber viel mehr solcher Legenden enthalten, denn Crane hat
die meisten der Erzählungen, die rein kirchliche Gegenstände
betreffen, als ,Mönch8geschichten^ nicht in sein Buch aufge-
nommen, sondern die internationalen Stoffe bevorzugt, sehr
zum Schaden der Sache: als ob mittelalterliche Historien aus
dem Leben der katholischen Kirche nicht gleichfalls zur intet*-
nationalen Überlieferung gehörten und für deren Entwicklungs-
gang bedeutend sein könnten. Lecoy de la Marche hat übrigens
bei seiner Sammlung von Geschichten aus Etienne de Bourbon
(1877) gleichfalls nur eine Auswahl gegeben und die Über-
lieferungen historischen Charakters vorzugsweise berücksichtigt.
Daraus mag es sich erklären, daß er außer der Erzählung
des Petrus Venerabilis von Cugny über die Hostie im Bienen-
Studien zur ErzfthlungsUteratur des Mittelalters. 63
korbe und über eine frevelhaft entwendete Hostie (S. 328) nur
noch (S. 366) von einer Beguine zu Rheims berichtet^ daß ihrer
SUndhaftigkeit halber die bereits konsumierte Hostie aus ihrem
Munde geflogen sei. Reichlichere Mitteilungen gewährt das
Bienenbuch des Thomas von Chantimprä, über das ich jetzt
nur das Werk von Dr. W. A. van der Vet : Het ßienboec van
Th. V. C. en zijn exempelen ('s Gravenhage 1902) nachschlagen
kann 9 und zwar nur dessen Zesde Hoofdstuk: Het sacrament
in het bienboec, aber auch von dessen Historien gehört keine
in den engeren Bereich der Hostienwunder durch Wandel der
Erscheinung. Von späteren Sammlungen ^ die auch älteres
Material enthalten ^ nenne ich hier nur die Scala celi des
Johannnes Junior (Druck von Johannes Zainer 1480), welches
Werk unter den Schlagworten CommuniO; Corpus Christi und
Eucharistia Hostienwunder verzeichnet, durchweg solche, die
hier schon aufgezählt wurden, mit Ausnahme eines einzigen
Stückes f. 64% wo einem frater Gallus de Campis, magistcr in
geometria, aus dem Predigerorden, der an der realen Gegen-
wart Christi im Altarssakramente zweifelt, während der Messe
in der Hostie Jesus als wunderschöner Jüngling erscheint, ihn
mit seinen Händen streichelt und dadurch von den Zweifel
befreit. Wichtig scheint mir, daß in das große Speculum
Exemplorum (Druck von 1519) nur der alte Bestand von Er-
zählungen eingegangen ist (sogar die Geschichte des Bischofs
Hugo von Lincoln), dagegen neu nur ein später Bericht von
einer Hostienschändung, die durch Juden in Breslau vollbracht
wurde. Daraus kann man schließen, daß die verschiedenen
Typen der Verwandlangswunder von Hostien um die Mitte
des 13. Jahrhunderts bereits erschöpft waren.
Es läßt sich nunmehr die Stelle schon genauer bestimmen,
welche in dieser ganzen Entwicklung dem Mirakel zu Münster
im Engadin zukommt. Durch die Häufung der Verwandlungen
gehört das Stück gewiß zu den späten Entwicklungen und er-
weist sich durch denselben Umstand auch als literarisch un-
selbständig. Das wird durch die starke Übereinstimmung be-
stätigt, welche zwischen den Münsterer Wandlungen der Hostie
und zwischen Dist. 9, cap. 3 im Dialogus des Caesarius von
Heisterbach besteht, wo über den Priester Adolph in Friesland
berichtet wird: ich nehme hier direkte literarische Einwirkung
64 I. Abhandlung: Schönbach.
des Caesarios auf die £ngadiner Überlieferang an. Was in
dieser noch als Pins erscheint^ geht gleichfalls anf wohlbekannte
Überlieferung zurück: die Wandlung zu blutigem Fleisch gehurt
zu dem ältesten Bestände der Literatur der Hostienwunder,
die zu einer rechten Hand hat sich aus dem Typus des Be-
richtes von Paulus Diaconus (digitus auricularis) im Leben
Papst Gregors des Großen entfaltet. Beachtenswert ist, wieder-
hole ich, daß noch bei Caesarius die Wandlungen der Hostie als
Visionen aufgefaßt werden , im Mirakel von Münster jedoch
schon als wirkliche Vorgänge: gerade innerhalb des ungefllhr
halben Jahrhundertes, das zwischen den beiden Berichten liegt,
hat sich auf allen Gebieten der Legende, und auch hier, eine
Wendung zu intensiverer Gläubigkeit vollzogen, die dann bis
weit ins 14. und 15. Jahrhundert hin andauert. Es scheint
noch erforderlich, zu bemerken, daß in einer Anzahl von
Hostienwundern (z. B. in denen der Scala celi) die Wandlung
der Hostie zu blutigem Fleisch als ein Schreckbild, als eine
Strafe, angesehen wird. Ich nehme an, daß auch in dem
Münsterer Hostienwunder sich die Sache so verhält: Agnes
von Scindes wird durch diese Gestalt der Hostie fUr ihren
Frevel gestraft, der zuerst darin bestanden hatte, daß sie von
ihrer Sünde nicht vor der Kommunion (aus Scham ?) durch die
Beichte sich befreite und lieber die Hostie beseitigte. Aus dem
Umstände, daß die Hostie zuletzt in den Zustand des blutigen
Fleisches wieder zurückkehrt und in diesem dann verharrt,
scheint mir zu erkennen, gerade dieses Wunder bilde den
ursprünglichen Bestandteil des Berichtes. Die dazwischen
liegenden Wandlungen der Hostie, welche der Priester Johannes
zu Quadrat erlebt, kommen auf Rechnung der literarischen
Einflüsse, insbesondere des Caesarius von Heisterbach. — Noch
gedenke ich eines seltamen Zusammentreffens, das der Betrach-
tung wert ist. Dist. 9, cap. 40 wird bei Caesarius ein Ge-
schmackswunder der Hostie berichtet, das die Äbtissin Adel-
heid eines Frauenklosters zu Münster in Westfalen erlebt hat;
das Hostien wunder zu Münster im Engadin ereignet sich eben-
falls unter einer Äbtissin Adelheid. Es trifft sich also, daß
zur selben Zeit, gegen das Jahr 1220, in verschiedenen Teilen
des Deutschen Reiches, in Westfalen und in der Schweiz,
unter zwei Äbtissinnen Adelheid von Münster sich Hostien-
Stadien zur ErzählungsUteratur des Mittelalters. 65
wunder zugetragen haben. Besäßen wir nicht zwei der Zeit
nahestehende Berichte , wäre zumal der Schweizerische nicht
mit so speziellen Angaben ausgestattet, so könnte uns sehr
leicht begegnen, daß wir auf Grund des wunderlichen Zufalles,
der beidemale eine Äbtissin Adelheid von Münster beteiligte,
die zwei Erzählungen far Reflexe eines einzigen Vorganges
hielten. Das mahnt sehr zur Vorsicht, denn es gebricht in
der Legendenliteratur des Mittelalters durchaus nicht an Bei-
spielen, wo auf eine sehr geringe Anzahl übereinstimmender
Merkmale hin verschiedene Erzählungen aus einem Ereignis
abgeleitet wurden. —
Überblickt man die Reihe der hier vorgeführten Berichte
von Hostienwundern, so findet sich, daß nach dem Auftreten der
ersten Typen in den Vitae Patrum und im Leben Papst Gregor
des Großen, sich Sammelpunkte f\lr Legenden dieses Inhaltes in
Zicitläufen bilden, wo die leibliche Gegenwart Christi im Abend-
mahle den Gegenstand theologischer Erörterungen ausmacht,
die durch Zweifler hervorgerufen wurden: zur Karolingischen
Zeit der Streit zwischen Paschasius Radbertus und Ratramnu3
von Corbie, im elften Jahrhundert die weit ins zwölfte und
überaus wirkungsvoll sich ausdehnende Aufregang über die
Häreaie des Berengar von Tours (wie hat sie bei Zisterziensern
und Cluniazensern gewuchert!), und endlich als wichtigstes die
Lehren der Katharer über das Altarssakrament (chronologisch
wäre ein Zusammenhang dieser mit Berengar sehr wohl denk-
bar), die noch stark in das dreizehnte Jahrhundert übergreifen.
Die Höbepunkte der Legendenbildung von den Hostienwundern
fallen ganz deutlich mit den Zeitpunkten lebhafter Diskussion in
Abendmahlsstreitigkeiten zusammen. Das ist ganz wohl ver-
ständlich. Denn einmal zeigen schon von den ersten Anfängen
ihres Auftretens in der Literatur diese Hostienwunder die Ten-
denz, Zweifel an der kirchlichen Auffassung der Eucharistie zu
widerlegen, die orthodoxe Lehre zu beglaubigen, Häretiker
und Juden zu bekehren. Dann haben selbstverständlich die
Streitigkeiten über den Inhalt des Abendmahles den lebhafte-
sten Widerhall in allen Kreisen des Klerus gefunden und
nicht zum geringsten in den klösterlichen Gemeinschaften: mit
diesem Zentral- und Granddogma stand und fiel die gesamte
Sitswgtbtf . d. pluL-lii«!. Kl. 156. Bd. 1. Abh. 6
66 I. Abhandlang: SchOnbach.
Organisation der Kirche. Zahllos werden daher die privaten
Gespräche und Verhandlangen gewesen sein, die bei solchen
Anlässen über das Altarssakrament geführt wurden, zahllos die
Predigten, überaas gespannt die Phantasie während jeder Zele-
bration eines Meßopfers, und als Folge davon zahllos die damit
verknüpften Gesichte and Erscheinungen , deren die von mir
vorgebrachte Lese wohl nur einen überaus geringen Bruchteil
darstellt.
Wenn aber die Hostienwunder während des 12. Jahr-
hundertes sich so stark vermehren , daß sie dann im 13. den
Charakter von Visionen abstreifen und den greifbarer Tat-
sachen beanspruchen, so fordert dies noch eine andere Erklärung,
als die an sich sehr bedeutsame Ausbreitung der Häresien
innerhalb dieses Zeitraumes sie darbietet. Ich schöpfe eine
solche aus meiner Überzeugung, die sich mir sehr allmählich
durch das Studium der christlichen Literatur und der Zustände
des Christentums im Mittelalter gebildet hat und die ich bei
dieser Gelegenheit wieder ausspreche : die Christianisierung der
Massen des deutschen Volkes hat sich erst während des 12.
Jahrhundertes wirklich vollzogen, erst von dieser Zeit ab darf
man die Deutschen mit vollem Rechte als ,Christen^ bezeichnen.
Einer raschen, durch die Schwäche der altheidnischen Volks-
religion geförderten Aneignung der äußeren Kennzeichen und
Kultusformen des Christentums folgte ein sehr langwieriger
Prozeß der Auseinandersetzungen zwischen der christlichen
Sitten- und Glaubenslehre einerseits und zwischen der aus dem
Heidentum ererbten Auffassung von Welt und Leben. Für den
Gewinn des Anteiles an der neuen umfassenden internationalen
Ethik und Dogmatik haben die Deutschen den Verlust ihrer
ursprünglichen nationalen Impulse^ die Einbuße am germani-
schen Charakter abgetauscht. So wird es sichtbar in den
Schicksalen der deutschen Heldensage und der aus ihr auf-
steigenden Dichtungen, darum stehen die ,Nibelungen' mit
ihrer Inszenierung des alten Stoffes in das christliche Ritter-
tum am Ende dieses Ausgleiches. Das Erarbeiten einer inneren
Glaubensüberzeugung auf Grundlage des Christentums ist über-
aus langsam zu stände gekommen, sicherlich ist der Einwirkung
des deutschen Klerus zur Zeit der sächsischen Kaiser und der
Salier ein sehr wesentlicher Anteil dabei zuzuschreiben, indes sein
Studien zur Erzählungsliteratar des Mittelalters. 67
Wirken sonst für uns großenteils im Dunklen liegt. Christen
jedoch in dem Sinne, daß der christliche Glaube den Deutschen
in Fleisch und Blut gedrungen war und das Alte verdrängt hat,
so daß sie in den Formen und auf der Basis des Christentums
selbständig dachten und im Denken vorschritten, das sind die
Deutschen nicht vor dem 12. Jahrhundert geworden. Deshalb
gibt es vorher zwar einzelne gebildete Denker, deren Über-
zeugungen die Grenzen der Orthodoxie durchbrechen, es gibt
vereinzelte Volksbewegungen, die auf Schlagworte hin, mit christ-
lichen Wendungen verbrämt, wirtschaftliche Drangsale zu leiden-
schaftlichem Ausdruck bringen, aber es gibt keine eigentlichen
Häresien in den breiten Massen. FUr diese bildet sich der
Boden erst, als er durch das Christentum wirklich und allseits
durchsäuert war, das Auftreten von Waldensern und Katharern
in Deutschland bezeugt erst die vollendete Christianisierung
des ganzen Volkes. Auch die Geschichte der Hostienwunder
gibt einen Exponenten für diese Entwicklung ab. Solange
über das Dogma der Transsubstantiation nur in den Kreisen
des Klerus und in den Klöstern nachgedacht wird, Zweifel
entstehen, bekämpft und besiegt werden, solange beschränken
sich die Beweismittel auf Visionen und Träume. Sobald jedoch
das Volk im weiteren sich für das Problem interessiert, müssen
sich andere Mittel der Beglaubigung einstellen, Tatsachen, vor-
handene, den Sinnen zugängliche Objekte. Die Veränderung
im Inhalte der Hostienwunder spiegelt also nur eine tiefer und
weiter greifende Veränderung im Wesen des Volksglaubens ab.
Das sind Wahrnehmungen, die uns schon ein gut Teil
des Verständnisses für die historische Entfaltung der Hostien-
wunder erschließen. Sie lassen sich aber noch von einer
anderen Seite her erweitem und ergänzen, nämlich von der
Geschichte der Formen aus, unter denen die konsekrierte
Hostie den Gläubigen im Sakrament gespendet wurde. Diese
Formen haben sich im Verlaufe der Jahrhunderte sehr stark
geändert und, wenn wir auch über ihre Entwicklung nicht
genau und vollständig unterrichtet sind (vgl. Franz X. Kraus
in der Realenzyklopädie die Artikel: Brot, Hostien), so lassen
sich doch etliche wichtige Hauptpunkte feststellen. In den
frühesten Jahrhunderten des Christentumes bildeten die Hostien
(sie worden zumeist von den Gläubigen selbst an die Kirche
8ita«Dff8bw. a. phU..kiit. Kl. 166. Bd. 1. Abh. 6
68 I. Abhandlung: 8ch0nbach.
gespendet, daher oblata, ablatio) meistens flache Brotkachen
oder -Scheiben im Umfange eines heutigen Tellers , von dem
die zu kommunizierenden Stücke durch den ausspendenden
Priester abgebrochen und an die Gläubigen verteilt wurden.
Dieser Gebrauch blieb im allgemeinen herrschend bis ins 11.
Jahrhundert. Die Konsumtion der Hostie konnte also damals
nur stattfinden y indem die entsprechende particula gekaut^
förmlich gegessen wurde {manducare war dafUr die richtige
Bezeichnung). Es scheint , daß man schon ziemlich früh im
11. Jahrhundert, wie ich glaube, häufiger und allgemeiner doch
erst im Gefolge des Berengarschen Abendmahlsstreites, be-
gonnen hat, für die Gläubigen Hostien in der Form kleiner,
runder Scheiben zu bereiten und zu backen. Solange ein
durchaus sinnenfillliges Verzehren der Hostien stattfand, konnten
die Erzählungen über Hostienwunder nicht wohl in die Masse
des Volkes dringen, dort selbständig aufgefaßt und weiter ge-
bildet werden. Das war erst dann möglich, wenn die Gestalt
der Hostie ein fast unmerkliches Verschlucken gestattete. Im
Laufe des 12. Jahrhundertes scheint sich die heutige Hostien-
form allmählich festgesetzt zu haben. -Noch unterliegt sie sehr
verschiedener Beurteilung: Petrus Venerabilis von Clugoy sagt
De miraculis, lib. 1, cap. 3 (Patrol. Lat. 189, 855) von der
Hostie: — hoc parvissimum corporis Christi fragmen — ; die
h. Elisabeth von Schönau spricht darüber Nr. 81 (Patrol. Lat
195, 161): — afferens quasi panem parvulumj quali in celebra-
tionibus missarum sacerdotes utuntur — ; aus einer Äußerung
der h. Hildegard von Bingen erhellt, daß man sich nur schwer
an die kleine Gestalt der Hostien gewöhnte, Scivias lib. 2,
visio 6 (Patrol. Lat. 197^ 531 f.): qui autem idem sacramentum
in majori aut minori quantitate percipiunt, sie intelligant,
quia et ille, qui plus, et ille, qui minus accipit, unam eamdem-
que vim percipiunt, quoniam hoc sacramentum non in quanti-
tate, sed in sanctitate est — . unde et cum aestimatione sua
metiuntur: secundum id, quod in animabus suis sentiunt, dis-
cernentes fidem, quam in Deum habent, nee eam dividentes,
sed ipsam integram habentes, et quanta et quali devotione
corpus et sanguinera redemptoris sui percipiant, considerantes.
sed idem sacramentum non erit huic saactins, qui plus ex eo
perceperit, nee illi contractius, qui minus ex eo sumpserit, sed
Studien zur Erzftlilungsliteratur des Mittelalters. 69
secnndam fidem ejas^ qni illud percipit^ ita et exxm illuminabit.
qnapropter, o homO; in magnitadine percipiendain non est, qaia
fortissimas Dens tarn in parva quam in magna oblatione hajos
mysterii est, et ideo qui iilad percipiunt, solnm hoc attendant^
qaod trinam et nnam Denm firma et integra fide in corde
sno babeant. Die weiße Farbe (albedo) nnd die runde Gestalt
des Abendmahlsbrotes stehen für Wilhelm ; Abt von St. Theo-
dorich in Rheims gegen 1150, De sacramento altaris cap. 3(PatroI.
Lat. 180, 349 f.) als unentbehrliche Eigenschaften vollkommen
fest, desgleichen fUr den Lütticher Scholasticus Alger, De sacra-
mento lib. 2, cap. 9 (Patrol. Lat. 180, 827), wo die GrUnde an-
gegeben werden, weshalb schwarzes Brot zur Eucharistie un-
brauchbar ist. Honorius Augustodunensis kennt die historische
Entwicklung bereits genau, wie lib. 1, cap. 6. seines Werkes
Gemma Animae (Patrol. Lat. 172, 564 f.) beweist unter der
Überschrift De Dominico pane: Feriur, quod olim sacerdotes
e singulis domibus vel familiis farinam accipiebant (quod ad-
huc Graeci servant) et inde Dominicum panem faciebant, quem
pro populo offerebant, et hunc consecratum eis distribuebant.
nam singoli farinam offerentium missae interfuerunt, et pro bis
in Canone dicebatur: omnium circum8iantium, qui tibi hoc
taerißcium latulis offerunt. postquam autem Ecclesia numero
quidem augebatur, sed sanctitate minuebatur propter carnales,
statutum est, ut qui possent singulis Dominicis vel tertia Do-
minica vel summis festivitatibus vel ter in anno communicarent,
ne ante confessionem et poenitentiam pro aliquo crimine Judi-
cium sibi Bumerent. et quia, populo non communicante, non
erat neeesse panem tarn magnum fieri, statutum est cum in
modum denarii formari vel fieri, et ut populos pro oblatione
farinae denarios offerrent, pro quibus traditum Dominum cogno-
scerent, qui tamen denarii in usum pauperum, qui membra sunt
Christi, cederent vel in aliquid, quod ad hoc sacrificium perti-
neret. Was an dem Erklärungsversuch des Honorius richtig
sei, lasse ich dahingestellt, der Tatbestand war ihm jedesfalls
mit hinlänglicher Sicherheit überliefert. Es kommt noch hinzu,
was lib. 1, cap. 35 desselben Werkes (Patrol. Lat. 172, 555)
aber die Prägungen angibt, die damals wie heute (nur wird
jetzt bloß das Kruzifix aufgepreßt) mittelst der Backeisen auf
der Hostie angebracht wurden: Panis vero ideo in modum
6*
70 I. Abhandlung: SchOnbach.
denarii formatar^ qaia panis vitae Christas pro denarioram
numero tradebatnr, qui veras denarias in vinea laborantibos
in praemio dabitor. ideo imago Domini cam litteris in hoc pane
exprimitar, qaia et in denario imago et nomen imperatoris
scribitar, et per hanc panem imago Dei in nobis reparatar et
nomen nostram in Libro Vitae notatar. E» begreift sich, daß
aach diese den Hostien für die Kommanikanten aufgeprägten
Bilder, zamal wenn sie noch verschieden waren (das Jesaskind,
Lamm Gottes usw.), aaf die Phantasie des gläabigen Volkes
sehr anregend einwirkten, was andererseits wieder eine Fort-
bildung der älteren Typen von Hostienwundern zur Folge
hatte, wie wir sie während des 13. Jahrhunderts beobachten
können.
Es zeigt sich somit, daß die Entwicklungslinien der Erzäh-
lungen von Hostienmirakeln, ihrer Häufigkeit und der Mannig-
faltigkeit ihres Inhaltes, ferner die der theologischen Verhand-
lungen und Streitigkeiten über die reale Präsenz Christi im
Abendmahle und endlich die der Änderungen der äußeren Gestalt
von Hostien drei Kurven bilden, deren Gang und Höhepunkte
unge&hr vom 4. bis zum 13. Jahrhundert zusammenfallen, wo-
mit das historische Verständnis für diese Gattung von Legenden
dargeboten ist. Auch läßt sich nun der Platz ganz deutlich
erkennen, welcher der besonderen Überlieferung des Hostien-
wunders zu Münster im Engadin zukommt.
Kachträge zur Legende Tom Erzbischof
Udo Ton Magdeburg.
(Stndiea sar Ersählnngsliteratur des Mittelalters III. V. 8. 78—91.)
S. 2 — 9 meiner Stadien zur Erzählungsliteratur des Mittel-
alters 3 habe ich einen lateinischen Text der Legende vom
Erzbischof Udo von Magdeburg abgedruckt (vgl. Studien 5, 78f.),
dessen Vorlage ich meinte, vermutungsweise bis in das 13. Jahr-
hundert zurUckverlegen zu können , für welche Zeit ja durch
sonstige Zeugnisse (Studien 3, 19; Studien zur Qeschichte der
altdeutschen Predigt 7, 13) die Existenz der Legende bereits
Studien zur Erzähl angsliteratur des Mittelalters. 71
nachgewiesen ist. Meine Vermutang nähert sich der Qewißheit
am ein Bedeutendes dadurch , daß ich dieselbe lateinische
Fassang in der Handschrift Nr. 1689 der kaiserlichen Hof-
bibliothek in Wien aufgefunden habe^ wo sie f. 6® — 9^ steht;
diese Pergamenthandschrift wird von den Tabulae codicum
manoscriptorum ins 13. Jahrhundert gesetzt, ich möchte sie
schon der ersten Hälfte des 14. zuweisen, jedesfalls aber liegt
sie hinter den bisher bekannten Überlieferungen erheblich
zarUck. Sie bietet auch einen viel besseren Text, der den
Forderungen des Kursus genauer entspricht, deshalb habe ich sie
mit meinem Druck verglichen und lege das Ergebnis hier vor.
Rote Überschrift : Miraculum de Udone dampnato. 1 qua-
dragesimo] quinquagesimo 2 imperante] imperatore et — Par-
tinopolin — Maidburg 6 turpiter vivere 8 moniales Deo
dicatas auso 9 urbe] civitatem 10 ingenii et nihil 13 exiens
et ecclesiam 18 dixit ei apparens 19 munus seien tie 20 tri-
buo] do, vorher dabo getilgt — archiepiscopi 21 recommitto
23 et vor his fehlt 24 Maria /eAZt — scolas nach solito 25 De
Omnibus ist richtig^ denn man sagt: alicui concludere, jemanden
beim Disputieren überwinden, vgl. Buoncompagno, Rhetor, Noviss,
ed. Gaudemi 286^: faber lignarius geometre mensurando con*
cludit. 27 audiebant eum 32 igitur] ergo 34 negligere pro-
prieque 35 deservire 37 ullo] zuerst omni getilgt, darüber
ullo 40 que per fehlen 43 Österholtz — Valla liliorum 45 am
Rande: Versus — intonantem terribiliter 48 ad aus a korri-
giert 50 sua malitia 51 predictam c. 52 libidinose commix-
tionis 58 que si Saxones 59 sunt gesta reticere vellent
63 universali sancta 64 sua • i - Partenopolitana 68 horribilis
nimis 77 dapeticia 78 stravit decenter 81 clamabat aus da-
mabatur korr. 82 reliquie habentur 93 m. venerantes g.
96 beatus M. 97 sexcentis 99 reverenter postulantes 100 scio
quid qu. 101 a. date U. e. 106 domina nostra 114 turpiter
et fehU 119 impius sustinere deberet interim tractaverunt
122 Udoni precepit 123 levasset ad ictum 124 contine gla-
dium tuum 129 omnes rex celi 132 dictus accessit et aggre-
diens 134 qui hec vidit homo justus 143 incidere in manus
144 at convertantur tolerat 146 peccatores steht da 147 simul
fehlt 148 Udonem scilicet e. 152 Parthinopolim 155 descen-
dens 158 concitus 161 nee moram 164 karissimus noster
72 I. Abhandlunf?: Schon b ach.
168 bene venisti inqait 170 per meritis 172 noster diiectas
174 avertente 176 precepit Sathan 178 puteas opertoriam
habens 180 montes lapideos immo 182 infelicem illam ani-
mam Udonis 192 seit tantam nostrum officiam 195 et omnes
ananimiter 196 illam odiosam 197 tartaratrnm 198 montes
hajos mnndi ad invicem quaterentar 201 clerioas iste 202
extitit snorum maloram cooperator 203 sie fiat particeps 204
ideoqne ^i fehlt 205 dimergatar 207 hinc et inde 209 penitns
fehlt — Parthinopolim 213 viderat et audierat 218 i. longe
ab nrbe 222 globam illam 223 Albiam 225 f. est, ei fehlen
226 decenniis — tandem fehlt 229 indebiliter 230 qno-
damodo et v. 231 facta est 232 episcopns fehlt — vor ca-
nitur steht jnxta morem 234 vere — illud 236 nt videntes
contremiscant — divine fehlt.
Unmittelbar vor der Udolegende enthält die Wiener Hs.
f. 5^ — 6« die Geschichte vom Erzbischof Roland = Adalbert I.
von Mainz y die ich a. a. O. S. 57—59 abgedruckt habe und
gleichfalls hier mit meinem Druck kollationiere: 57, 1 Mira-
culum, rot übergeschrieben — Vir fuit 3 et fehlt 4 quedam
fehlt 6 domus sue n. 8 vor redeatis ist veniatis getilgt
58, 1 ingreditur. Sed precipiente episcopo 7 das zweite episcopns
steht da 8 oloserico 10 sie sie 11 et fehlt 12 prohdolor
13 nee angelos nee homines 14 pausaret, wodurch die Kon-
jektur txm A. Poncelety Analecta Bollandiana 23, 472 Anm. be-
stätigt wird. 20 cultellus et usque 23 filius tam crudeli vnl-
nere 25 meam violasti et pollnisti — vulnerum 35 per fehlt
59, 3 vulnorasti — secundo aus secundam korr. 4 tercio
6 porta venie sum 9 cruentus .
Es scheint geraten, bei dieser Gelegenheit den Inhalt des
interessanten Wiener Kodex etwas einläßlicher zu beschreiben.
Nr. 1689 besteht gegenwärtig aus 34 (die Tabulae sagen 35,
es ist aber die Ziffer 14 beim Zählen ausgefallen) Blättern
Pergament, im Umfange von 153X21 '5 cm, die zweispaltig
im 14. Jahrhundert beschrieben sind. Den Umschlag bildet
ein Stück braunes Leder, das auf der Innenseite durch auf-
geklebte Stttcke von Pergament und Papier, sämtlich mit theo-
logischem Latein beschrieben, verstärkt wurde; je ein Blatt
Papier ist vorne und rückwärts zum Schutze vorgesteckt worden.
Die Blätter bestehen aus zwei Gruppen: einem Quinio, von
Stadien zur Erzählun^sliteratur des Mittelalters. 73
älterer Hand mit größeren Buchstaben and schwärzerer Tinte
beschrieben^ diese Lage war fUr sich abgeschlossen; und zwei
Senionen, von jüngerer Hand mit kleineren Buchstaben und
blasserer Tinte beschrieben^ am Schlüsse unvollständig. Am An-
fange und Ende des Quinio sowie 34^ unten steht jedesmal
von einer Hand des 15. Jahrhunderts die Notiz: Iste liber est
damus Porte beate Marie virginis in Axpach ordinie Carthu-
iiensis prape Danubium, Das ist die Earthause von Aggsbach,
die 1373 als Stiftung der Herren von Maissau begründet, 1782
durch Kaiser Josef IL aufgehoben wurde. In den Fontes
rerum Austriacarum^ Diplomata et Acta, LIX. Band hat Dr.
Adalbert Fr. Fuchs 1906 Urkunden und Regesten zur Ge-
schichte der aufgehobenen Earthause Aggsbach V. O. W. W.
veröffentlicht^ welche die Entwicklung des reichen Besitzes
dieser Karthause nunmehr zu überblicken gestatten.
Von besonderem Interesse scheint mir, daß die beiden
ersten Blätter der ersten Lage unserer Handschrift den Formel-
apparat enthalten, der beim ,PIacitum christianitatis' in Bewe-
gung gesetzt wurde. Da ich über dieses geistliche Sendgericht
und seine Formen schon in meinen Miszellen aus Grazer Hand-
schriften 5 (1903), 35 — 42 gehandelt habe, so sollen aus dieser
Handschrift die willkommenen Stücke hier abgedruckt werden.
Das erste lautet:
(1^) De injunctione soUempnis penitencie (rot).
Hoc modo expellendi sunt penitentes ex ecdesia. Primo
prosternat se penitens in ecclesia ante sacerdotem, et dicat
sacerdos Septem psalmos sive Miserere mei Dens (Psalm. 50, 3.
55, 2). deinde Letaniam breviter, si vult. postea collectam peni-
tenti congruam. postea extrudat eum manu de ecclesia dicens,
si perjurus est vel adulter : ecce Adam etc. (Genes. 3, 22) totum
cum versu. deinde exponat ei, quid hoc significet. post hoc in-
jungat ei penitentiam cum karrina debita. Quam etiam primum
desiderat suscipere, ante ecclesiam veniat et ibi depositis Omni-
bus, scilicet mantello, baculo et cyffo, ante sacerdotem se pro-
sternat, et sacerdos psalmos penitentiales sive ,Miserere mei'
dicat et Pater noster. deinde collectam penitenti congruam. post
hoc penitens surgat et ei sacerdos karrinam hoc modo injungat.
primo dicat ei, quomodo jejunandum sit. deinde quod singulis
74 I. Abhandlung: Schön b ach.
diebns horas sacras audire debeat et quod Pater noster et
venias singulis horis querere debeat^ et in via neminem aalatet,
rumores multos audiat nee aliis recitet, nisi forte inter se de
rebus necessariis aliquid loquantur, et cum solis clericis libere
loquatur. juxta ecclesiam frequenter risum vitet^ ludum fugiat,
elemosinas raro recipiat. si forte necessaria habere potest, super-
flua pauperibus eroget. in solo Stramine dormiat et suis se
vestibus tegat. et si opus fuerit, semel in septimana pre-(P)
videat {von derselben Hand übergesetzt lausen), post hoc man-
tellum et cyphus non ex jure sed ex gratia Uli concedatur, et
benedictione facta vadat in viam pacis. — Über die penitentia
solemnis vgl. Du Cange 6, 383; ebendort 346 über das placitum
christianitatis.
Sermo in placito christianitatis (rot).
Facite homines discumbere. erat autem fenum multum in
loco. discubuerunt ergo viri etc. (Joann. 6, 10). Qnatuor hie no-
tanda occurrunt, scilicet pastoribus ecclesiarum a Deo data po-
testas; necessaria subjectorum humilitas; triplex peccatorum et
sacre Scripture aversitas; premiosa sancte obedientie utilitas.
primum ibi: ,facite*^ secundum ibi: ,homines discumbere', tertium
ibi: ^erat autem fenum multum in loco^, quartum ibi: ^discu-
buerunt viri^ De primo nota, quod Dominus volens sibi sub-
stituere in ecclesia vicarios, quibus suam ecclesiam docendam,
pascendam, regendam committeret, prefiguravit et premonstravit
illud per hoc, quod discipulis dixit: /acite^ sicut postea com-
plevit in Petro dicens: Pasce oves meas (Joann. 21, 17), et illud:
Quodcunque Hgaveris etc. (Matth, 16, 19), illud: Tibi dabo
claves regni celorum (Matth. 16, 19). De secundo nota: idem
Dominus volens omnes ab eisdem docendos, pascendos et re-
gendos, ipsis pastoribus humiliter obediendo subesse adjecit:
,homines discumbere', quasi diceret: humilibus et subjectis ali-
menta eterne vite ministrate. unde per beatum Petrum (falsch^
denn die Stelle steht Uebr, 13 y 17): obedite prepositis vestris etc.
De tertio et quarto nota, quid sit fenum et quomodo super
illud sit discumbendum. Sacra Scriptura ostendit nobis qua-
druplex fenum. primum fenum est peccatum. alius apostolus:
alius superedifi(2<^)cat fenum etc. (1 Cor. 3, 10. 12). Hujus feni
radix est ex temptatione cogitatio, calamus cum admissione lo-
Studien snr Erzähl angsliterAtttr des Mittelalters. 75
caiio^ flosculuB in delectatione perpctratio. Fractus autem ejas
qoadraplex, scilicet ex usu extenuatio peccati; ande: ve qui
dicunt bonum malum et malam bonnm (Isai. 5, 20). a consue-
tadine exaltatio post peccatnm; ande: gaadent, cam malefe-
cerint, et exaltant in rebas pessimis (Proverb. 2, 14). ab exemplo
diffosio peccati; ande: ve qai trahant peccata post se tamqaam
vestem longam (frei nach Isai. ö^ 18). a contempta venie despe-
racio; ande: impias, cum in profundam vitioram contempnit
(Proverb. 18, 3). hec septem separant gregem Domini non com-
missum a pascais vite, id est, a sacramentis in ecciesia mili-
tante et a convivio eterno in ecciesia triamphante, nisi nos
jaxta preceptum Domini faciamus eos discumbere, id est, ab
eis qaiescere. discimas ergo: discambant viriliter, cujasiibet
conscientia jadicio rationis super peccatum ponderando^ quam
graviter peccavit. Jerem. (2, 23): vide vias tuas in convalle et
scitO; quid feceris. item mensurando in confessione, quam diu
peccavit. Psalm. (37, 19): iniquitatem meam annuntiabo et cogi-
tabo pro peccato meo. et adjiciat pro oblitis illud genus feni
et paleae habundantiam habomus. sie discumbentes pascuntur
hie per sacerdotes pane gratie, et in futuro per summum sacer-
dotem pane glorie saturabuntur. Psalm. (64, 5): replebimur in
bonis domus tue etc. Secundum fenum est ipse populus et ipsa
hominis caro. Isai. (40, 6): omnis caro fe(l^)num etc. et bene
caro dicitur fenum, quia cottidie preciditur falce mortis. Jerem.
(9, 22) : cadet morticinium sicut fenum post falcem metentis.
Psalm. (10, 12): et ego sicut fenum arvi. hujus feni radix est
mortalitas, calamus corporis qualitas, flosculus morum varietas,
fractus operum diversitas. super istud etiam fenum dcbemus
hortari et artare animam cujuslibet viriliter discumbere, id est,
ad conculcandam. Primo considerando conditionis vilitatem,
quia bomo natus est de muliere. item vite instabilitatem, quia
brevi vivens tempore, item Status calamitatem, quia repletur
in maltis miseriis. item finis acerbitatem, quia etiam sola me-
moria mortis est amara. Secundo debemus hortari et artare
subditos conculcare hoc fenum, scilicet carnem, arcendo eam a
vitiis per jejunia, fiagella, vigilias et orationes. Apostolus (1 Cor.
9, 27) : castigo corpus meum etc. Tertio conculcare debemus
hoc fenum exercendo eam bonis operibus. Apostolus (1 Tim. 4, 7) :
exerce te ipaum ad penitentiam. Glosa: et prepara te ad coro-
76 I. Abhandlung: Sch<ttnbacli.
nam. alias: ipsa caro cum anima dabitur ad cibam animalibas
Gehenne. Job (40, 10) : quasi bos fenum comedet, id est, pecca-
tores quasi famelicus devorabit et absorbebit. item traduntur
incendio eterno. Zacbar. (12, 6): ponam eos sicut fenum in
igne etc.
Forma juramenti (rot).
Omnipotens Dens, creator et redemptor noster, qui terri-
bili et justo judicio sc venturum predixit, nolens mortem pecca-
toris, sed ut convertatur et vivat (Ezech. 33, 11). ipsum tre(2*)-
mendum Judicium duplici misericordie judicio dignatus est
prevenire ita, quod in ecclesia Judicium confessionis occultum
et Judicium correctionis manifestum suis vicariis, scilicet sacer-
dotibus commisit faciendum. quod etiam Judicium triplici bene-
ficio sanctiens triplici juramento confirmavit. Primo beneficio
et juramento incarnationis. Psalm. (131,11): juravit Dominus
David veritatem, et non frustrabitur eam, de fructu ventris tui
panem super sedem tuam. Secundo beneficio passionis. Luc.
(1, 73): jusjurandum, quod juravit ad Abraham, patrem nostrum
daturum sc nobis, usque ,serviamus illi* (Luc. 1, 74). Tertium
beneficium est sacerdotalis auctoritas. De hoc Psalm. (109, 4):
juravit Dominus et non penitebit cum: tu es sacerdos in eter-
num etc. sit itaquc donato et juratorie confirmato ecciesiastico
judicio. Justum est, ut omnis christianus, volens evadere eterna
dampnationis sententiam, judicio ecclesie triplici juramento se
astringat, videlicet fidei katholice, obedicntie ecclesiastice et
judicii christiani. quod juramentum auctoritate judiciaria a vobis
universis et singulis requirimus, in nomine Patris et Filii et
Spiritus Sancti. proferentes ex nunc in omnes rebelies et con-
tradictores vel occulte se subtrahentes et alias quomodocunque
impeditiones juramentum, et in corum celatores, suasores, fau-
tores et defensores, sententiam excommunicationis in nomine
Patris et Filii et Spiritus Sanctus, denuntiando eos sub eodem
vinculo ab omnibus artius evitandos.
Formula jurantium (rot).
(2^) Quod nos fidem katholicam, quam ore profitemur,
puro et sincero corde credamus, et quod nos obedientiam et
unitatem ecclcsiasticam ad salutem eternam necessariam esse
Studien zur ErzählungsUteratur des Mittelalters. 77
credimua et voluntarie servare volumas. et quod nos ejusdem
fidei, obedientie et nnitatis judicio libenter snbdimus corrigendos
et eidem judicio verbo et facto cooperatores soUicitos et beni-
volos offerimu8| ita nos Deus adjavet et sancta evangelia Dei
et omnes sancti.
Deinde probetur; qaod placitum peremptorie sit dictum,
item publicetar; quod omnis christianuS; annos Habens discre-
tionis, debeat interesse preter legitime impeditos. legitima autcm
impedimenta sunt: captivitas, infirmitas^ inundatio et inimici
mortales.
Postea denuntientur contumaciter absentes. item placitum
impedientes per strepitam aut cUmosam locutionem. item in-
gratitndinem; yltuperia, obprobria; odia, minas vel inimicitias
accusantibus se inponentes, item scienter manifesta scelera reci-
tantes, item ab accusatione se temere subtrahentes, item eccle-
sias statutis diebus non frequentantes^ item stantes hora
misse extra ecclesiam, et tamen sententialiter ab ecclesia non
sunt separati. item devotionem aliorum in ecclesia impedientes
per insolentias aliquales. item inpedientes divinum officium
vel verbum Dei, item a verbo nimis assidue recedentes, item
verbo Dei in plateis, in (2^) tabernis et in balneis detrahentes,
item angulorum predicatores et eorum auditores. item publi-
centur omnes supradicti excommunicati^ plebano in emenda
nichilominus tenebuntur.
In Cena Domini excommunicandi.
Hü sunt accusandi et prohibendi^ ne temerarie sumere
presumant Corpus Dominik et suspenduntur a communione.
Item non confessi, item nolentes satisfacere de commissis, item
peccata dimittere nolentes vel ficte confitentes vel dividentes
peccata ad plures sacerdotes^ item peccata scienter reticentcs.
item omnis, qui in anno proprio plebano vel sociis suis non est
confessus, item omnes plebano suo debitam obedientiam non
observantes, item censualium et decimalium denariorum deten-
toreSy item remedia ecclesie vel sacerdotum detinentes, item
dominicam orationem vel symbolum ignorantes, item inimicitias
capitales habentes. item tabernarii et lusores assidui, item
sesBores sanctarum noctium, item ementes super novum, item
78 I. Abhandlung: ScbOnbach.
hospites et deceptores taxilloram, item conjanctores niatrimo-
niomm tempore interdicto, item qai contrahunt tempore inter-
dictO; item malos inquilinos habenteS; item alieni plebezani
(Da Gange 6, 364).
In Cena Domini denuntiandi (rot).
Isti sunt denuntiandi et segregandi et repellendi in Cena
Domini :
Item omnes heretici sive scismatici^ item omnes excom-
municati sive interdicti, item omnes invasores ecclesiarum,
eimiteriorum, clericorum sive dotis. item qui res clericorum
deceden(2^)tium sibi usurpant. item detentores rerum eccle-
siarum sive decime sive res, que in confessione restitutioni sunt
deputate. item qui testamenta mortuorum, prout sunt ordinata,
non adimplent. item bomicide, incendiarii, predones, latrones,
fures; item nocturnales depredatores agrorum vel vinearum.
item usurarii manifesti, item anticipatores ; item pecuniam inter
judeos habentes, item nutrices et servitores judeorum, item
obligationes tenentes, item perjuri et falsi testes. item plasphe-
mantes Deum et sanetos vel sacramenta, item offensores patrum
et matrum usque ad effusionem sanguinis, item incantatrices
herbarum, phytonisse, item oleo sancto seu chrismate vel sacro
fönte incantationes facientes, item necatrices puerorum, item
coneeptum inpedientes sive aborsum facientes. item falsarum
monetarum vel sigillorum. item omnes in mortali peccato fri-
vole existentes. A quo nos custodiat omnipotens Dens, qui
vivit et regnat in secula seculorum.
2^ ist dann noch ein Raum von 13 Zeilen freigelassen,
was beweist, daß die dem Schreiber für die beiden ersten
Blätter zugeteilte Sonderaufgabe mit dieser Eintragung erfüllt
war; sie kennzeichnet wohl auch zum mindesten den ersten
Quinio als Eigentum eines geistlichen Hauses (etwa der Pfarre
Gerolding, die von der Earthause Aggsbach aufgeerbt wurde),
dem die Abhaltung des placitum christianitatis zustand.
Mit 3* beginnt in der Handschrift eine Reihe von Mirakeln,
die ich zum größeren Teile durch die Initia miraculorum B. Vir-
ginis Mariae, die Alb. Poncelet in den Analecta BoUandiana
21, 241 — 360 veröffentlichte, zu bestimmen vermag.
Studien zur ErzählungBliteratur des Mittelalten. 79
3* Miles quidam potens valde ac dives = Poncelet 1069;
Caesarius von Heisterbach^ Dial. 3^ 76.
3^ Ad jadicium Dei qnidam in visioiie rapitar = Poncelet
22; Caesarius, Dial. 3, 77.
4* In civitate Byturicensi (Judenknabe) = Poncelet 759.
4^ Quedam mulier solatio viri destituta = Poncelet 1295 ;
Caesarius, Mirac. 3^ 82.
4^ Miles quidam valde strenuus et B. Mariae valde de-
votus = Poncelet 1087.
4" deckt sich gewiß mit Poncelet Nr. 381 und den dabei
verzeichneten Stücken ; da jedoch dort und in den verwandten
Stücken die Lokalangabe fehlt, wie denn auch sonst die Fassung
der Handschrift Eigentümliches aufweist, so drucke ich sie hier ab.
Miraculum (rot). Eist quoddam monasterium ordinis Cyster-
ciensia, quod Campus dicitur (Kloster Camp bei Rheinberg,
1122 gegründet), in quo fuit cellerarius quidam, vir simplex
et rectus ac timens Deum et Beatissime Marie devotus, qui
diebos singulis preter horas canonicas et horas ejusdem Vir-
ginia et orationes votivas solebat, intus vel foris existens, flexis
genibos et elevatis manibus ante prandendi horam cum ingenti
devotione quinquaginta Ave Maria dicere. hie cum vice qua-
dam ad civitatem longo positam propter negotia domus sue
iter caperet et ad quandam silvam venisset, cursorem suum
per semitam ratione compendii ire fecit, ipse vero viam regtam
equitavit. in dicta igitur silva erat latro quidam inmanissimus,
qui noUi omnino parcebat, sed viros et mulieres, clericos et
religiöses, non solum spoliebat, immo etiam ad antrum suum
eoa protrahens crudeliter jugulabat. cellerarius vero hoc sciens,
sed de Christo et ejus matre presumens, parum vel nichil (4^)
formidabat. cum autem hora venisset, qua debitum persolvere
deberet, mox jumentum suum ad quandam arbustam ligavit,
sed latro ilie ferocissimus, non longo stans, cum rapere cogi-
tavit. et ecce statim, ut vir Dei flexis genuis Ave Maria dicere
incepit, quedam virgo pulcherrima, aureis vestibus induta ac
diademate regio coronata, e celo eveniens, circulnm aureum et
setam rubeam (Du Cange 7, 459) in manu tenens, reverenter
inclinavit sicque coram eo stetit. latro autem hoc videns pre
timore et admiratione de loco se movere non potuit. res miral
po8t quodlibet Ave Maria Virgo illa regia propius accedens
80 I. Abhandlung: SchOnbach.
suis sanctissimis manibas rosas quasdain palcherrimas et odori-
feraSy que de ore orantis qaodammodo creverant, collegit et
ad circulam aureum cum seta rabea decentissime coiligavit.
cnmqae omnia illa quinquaginta Ave Maria prefatns cellerarias
dixisset, Virgo predicta nobile sertnm, qnod de rosis compo-
saeraty capiti proprio imposuit, deinde indinans et ad ethera
conscendens evanuit. Camqne vir Dei longins procedere vellet,
lacro clamavit dicens: ^expecta! monache, expectal' et adjeeit:
,per Deum^ qaem colis, nisi mihi dixeris, quenam virgo illa
regia fuerit^ quam ante te stare conspexi^ qae rosas de ore tuo
collegit sicqae celoram secreta penetrans disparait, ego te ca-
belle et vita privabo^ cni cellerarias: ^quid, rogo, vidisti?'
cumqae latro ei per omnia dixisset, intellexit homo Dei beatam
Virginem faisse et dixit: ^Regina celi et domina mandi et
mater misercordie Virgo Maria fuit, qae se (5*) tibi hodie
ostendit ideo, ut ab iniqaitatibas resipiscas et jagiter ei 8ervia8^
cui latro desperationi appropinqaans ait: ,o sancte vir Dei,
qaid est, qaod loqaeris? ex quo enim mandas factas est, pejor
me non surrexit^ et frater: ,crede mihi, fili, major est Matris
misericordia qaam taa miseria, et tantam non valuisti peccare,
qain ipsa plus valeat delere, si vis ejas misericordiam invo-
care et peccata vitare^ qao audito ad pedes ejas latro mit et
veniam lamentabiliter postulavit. quem vir sanctus ad saam
duxit monasterium et pro eo intercessit. sicque in conversum
recipitur et probatissimus atque ferventissimus Dei et sue
genitricis amator efficitur, qui etiam ob nimietatem lacrimarum
primo anno oculos perdidit. cui post quinquennium Virgo Mater
apparuit et quod peccata sibi essent dimissa et quod adhuc aliud
quinquenniam vivere deberet pro meritis cumulandis nuntiavit.
decennio igitur completo cum ad extrema pervenisset, vidit inte-
rioribas oculis Virginem gloriosam ad se venientem, et fortiter ex-
clamavit dicens : ,date locam, fratres, date locum I ecce mater Dei,
regina celi, quam in silva vidi, nunc ad me dignata est venire^,
et adjeeit: ,o Domina, venio!' et hiis dictis feliciter obdormivit.
5* Pictor quidam egregius, sicut Fulbertus refert = Pon-
celet 345 etc.; Caesar. Mir. 3, 43.
6« entspricht Poncelet Nr. 9 etc., weist aber doch so viele
Differenzen von den bekannten Fassungen (bis ins Speculum
Exemplorum) auf, daß ich es hier abdrucke.
Stadien znr Erzähl angsliteratar des Mittelalters. 81
Miraculnm (rot). Fuit quidam faomo carnalis, qni, dam
aleis aliquando luderet et tesseris sibi male cadentibus per-
deret^ qaidqoid de Deo noverat, ore faribando jurabat. cam-
qae jam omnia amisisscti alius aleator nephandas accessit et
tomida illam cum indignatione amovens ait: ,cede, iners, cede!
ego ladam pro te, qaia tu nescis ludere neqne jurare^ cumque
et ipse^ ut erat perditionis filiuS; perderet omnia, cepit omnia
Domini noatri Jesu Christi membra tam interiora quam exteriora
jnrare, quasi per ordinem, nihil omnino injuratum permittens.
at ubi omnia Dei membra horribiliter jurando^ immo potius
blaaphemando consumpsit, adjeeit ad cumulum dampnationis
8ue et intacte Matris ejus sanctissima membra jurare satagens
universa singulatim {Hs. sigillatim) ore venenato discerpere, ut
omnes, qui aderant, a facie plasphemantis aures obstruerent et
pectora tunderent. nee dum juramenta omnia expleverat et ecce
repente ultio divina^ visibiliter feriens sceleratum; majestatis
irate terribilem dedit experimentum. percussus ergo corruit,
putans quod aliquis eum gladio materiali confodisset, et horri-
biliter exclamans ait: ,heu heu me miserum! quis me inter-
fecit?' tandem urgente diabolo, cui (5^) traditus erat, abhomi-
nabilem animam exspuit. quo mortuo inventa est in dorso ejus
plaga recens, terribili apertura {Hs. aperta) dehiscens, ac si
aliqoa securis amplissima ibidem inmersa fuisset, ita ut omnia
interiora apparerent. quo viso contriti sunt juratores. cumque
rumor (Hs. rumore) undique vicinos contraheret {Ha. contrahere)
ad videndum juratorem impium et plasphemum, gravi animad-
versione multatum {Ha. multarum), ecce cuidam ex intimis
ejus apparuit quidam mortuus, cum ad ipsum mestus pergeret,
dicens: ,agno8cisne me? ego sum ille defunctus, olim tibi non
incognitus. novi ergo^ quo tendas, sed incassum te fatigas,
quia jam morte absorptus est, quem virum invenire putabas.
porro unum est, quod latere nolo: Dominus Jhesus Christus
a servis contumeliosis multas injurias patitur et patienter
experitur {Ha. expectat), tanquam patiens redditor. verum-
tarnen genitricis sue lesiones et convicia non facile sustinet,
sed ceteris malis hie et in futuro acerbius punit^ hiis dictis
mortuus, qui loquebatur, evanuit, et ille amicum mortuum
juxta mortui vaticinium repperit, sicque terrorem terrori et
miraculum miraculo adjeeit.
82 I. Abhaadlang: SchOnbach.
Es folgen nun die beiden Erzählangen vom Erzbischof
Roland von Mainz and vom Erzbischof Udo von Magdeburg,
deren Kollationen schon oben S. 71 ff. mitgeteilt wurden. Das
ganze stellt somit eine Sammlung von Marienmirakeln ziem-
lich extravaganten y aber einheitlichen Charakters dar, die,
wie sich aus den Lesefehlern erkennen läßt, auf bedeutend
älterer, vielleicht bis ins 12. Jahrhundert zurückreichender
Grundlage beruht.
Von 9» — 10^ folgen drei Predigten fUr Marienfeste, die zu
deutschem Vortrag bestimmt waren, wie aus der Einschaltung
deutscher Worte hervorgeht. 9» De nativitate beate Marie
Virginis gloriose sermo (rot). Oleum effusum nomen tuum.
Cant. III ^ (1; 2)* Verbum propositum scriptum est in Canticis
et potest dici de Nativitata gloriose Virginis. 9^ auxiliatrix,
nöthelferinn. — 9® venit Maria nöthelferinn — . reparatrix,
widerpringerinn — . illuminatrix sancte Ecclesie, Magtlicher
cheusch — . adjutrix^ ein vorsprecherinn rei hominis et des-
perati — . 9^ De beata Virgine Maria (rot). Ave gratia
plena. Dominus tecum etc. (Luc. 1, 28). unde quatuor ratio-
nes. hie dies boni nuntii est, in hac salutatione angelica qua-
tuor notantur notabilia. — 10^ Alius sermo de beata Maria
Virgine (rot). Ave Maria, gratia plena etc. (Luc. 1, 28). in
verbo proposito duo tanguntur: primum est angelica salutatio,
secundum est gloriose Virginis commendatio. — Alle drei
Stttcke sind reichlich mit Zitaten aus Bemard von Clairvaux
ausgestattet. —
Die zweite und dritte Lage der Handschrift enthalten ein
Quadragesimale, das 11^ folgendermaßen beginnt: In Capite
Jejunii Sermo bonus (rot). Tu autem, cum jejunas, unge caput
tuum. Mat. 6 (6, 17). In hoc Capite Jejunii necessarium maxi-
mum nobis, ut taliter jejunemus, quod nostra jejunia sint Deo
placita et nobis fructuose. Die Sammlung bricht 10^ mitten
in dem Sermo ,Sabbato* ab. —
Das Nachleben der Udolegende wird bis zum Ende des
17. Jahrhunderts bezeugt durch des Laurentius von Schnyfis
Mirantische Maul-Trummel (Constantz, Anno 1695), wo^ es S. 219,
Nr. 14 heißt:
Studien zur Erzählangsliteratnr des Mittelalters. 83
Graufam hat Gott sich am Udo gerochen/
Welcher in Gailheit erfoffen ganz war/
Weflen Blut Urtheil felbft Christus gefprochen/
LalTend enthaubten ihn vor dem Altar:
Der dann /von vilem Blat tödlicher Wunden
Wfirklich erftecket / todt wurde gefunden.
Die Anm. dazu lautet: Fulgos. lib. 9^ cap. 12. Das Speculum
Exemplorum kannte Laurentius, wie seine Zitate beweisen.
In dem Benediktinerstifte Garsten in Oberösterreich wurde
unter Abt Wilhehn I. Heller wahrend der Jahre 1601—1613
ein Schuldrama des Priors Jakob Sauter, eines Schwaben, auf-
geführt: Udo von Magdeburg. So berichtet Prof. Dr. Eonrad
Schiffmann in seinem Buche : Drama und Theater in Österreich
ob der Enns bis zum Jahre 1803 (Linz 1904).
84 L Abb.: ScbOnbach. Studien zur Erzäblungsliteratur etc.
Übersiolit des Inhaltes.
Vorbemerkang S. 1. — Bescbreibang der Handschrift S. 2. — Text des
deutschen Gedichtes S. 3. — Lautstand der Überlieferung S. 11. —
Enjambements und FlickTerse S. 13. — Reimgebrauch S. 14. —
Mundart S. 16. — Versbau 8. 16. — Der lateinische Bericht 8. 18. —
Die Handschrift 8. 18. — Text S. 19. — Vergleich zwischen dem Ge-
dicht und der Prosa 8. 31. — Erklärendes zum Gedicht 8. 35. — Die
Familie des Verfassers 8. 40. — Der historische Inhalt von Gedicht
und Prosa 8. 40. — Das Kloster Münster im Engadin 8. 40. — Frau
Agnes von Sins 8. 41. — Die Äbtissin Adelheid 8. 42. — Der Priester
Johannes von Silva Plana 8. 42. — örtlichkeiten 8. 44. — Ab-
faasungszeit des Gedichtes 8. 46. — Der Anhang des lateinischen
Textes 8. 46. — Fälschung von Bericht und Urkunden 8. 47.
Geschichte der Hostienwunder des Mittelalters bis zum 13. Jahrhundert 8. 49.
— ViUe Patrum 8. 50. — Papst Gregor der Große 8. 52. — Pascha-
sius Radbertus 8. 54. — Spätere Hostienwunder 8. 56. — Ekhart von
SchOnau 8. 58. — Elisabeth von SchOnan 8. 59. — Hildegard von
Bingen 8. 60. — Caesarius von Heisterbach 8. 60. — Jakob von Vitry
und die Exempelsammlungen 8. 62. — Stellung des Münsterer Hostien-
Wunders in der Literatur 8. 63. — Verhältnis der Hostienwunder
zur kirchlichen Lehre und zu den Streitigkeiten über das Abendmahl
8. 65. — Entwicklung der Form der Hostien im Mittelalter 8. 68. —
Zusammenfassung 8. 70.
Nachträge zur Legende vom Erzbischof Udo von Magdeburg 8. 70. —
Kollation der Wiener Handschrift Nr. 1689 8. 71. — Der Inhalt dieser
Handschrift 8. 72. — Formeln zum Placitum Ghristianitatis 8. 73. ~
Marienmirakel und -predigten. 8. 78. — Quadragesimale 8. 82. —
Nachleben der Udolegende 8. 82.
IL Abk.: SchOnbacb. Mitteilangen ans altd. Handscbriften.
IL
Mitteilungen aus altdeutschen Handschriften.
Ton
Anton E. Schönbaoh,
wirkl. Mitgli«d6 der kais. Alndemio der Wiueneeh&fken.
Nenntes Stück:
Brnder Dietrich. — Erbauliches in Prosa und Versen.
(Torgeleft in der Sitxiing am 9. Januar 1907.)
Brnder Dietrich.
Kodex Nr. 1637 (Theol. CCCCXXXV und Olim 696)
der kaiserlichen Hof bibliothek zu Wien, beschrieben als CCCII
von Denis im Catalogus 1, 1183— 1188; besteht gegenwärtig
aus 258 Blättern, die in 30 Lagen geordnet sind, der letzte
Kustos steht 244^; was folgt, ist schon in seiner Ursprünglich-
keit geschädigt. Das Pergament 17 cm X 24'5 cm ist derb und
rauh, nicht sehr gut bearbeitet, die Linien sind eingeritzt, am
Rande yorpunktiert. Die 1. 2. 4. 8. Lage bildet je ein Quinio,
die übrigen sind Quaternionen. Die schließenden Blätter be-
stehen aus zwei halben Quaternionen 245—248, 249 — 252, die
letzte Lage bildet ein Ternio. Zwischen 69/70, 80/81 ist je ein
Blatt ausgeschnitten, das geschah jedoch vor der Eintragung
des Textes, denn diesem fehlt da nichts. Vor Blatt 9 und
151 findet sich ein Blatt eingeschaltet; das geschah nach der
Vollendung des Textes, denn der Index nimmt auf diese
Nachträge keine Rücksicht. An verschiedenen Stellen 9^. 10*.
20V. 207*— 209^ 22P. 222»^ werden bei der Niederschrift frei
gebliebene Räume durch Aufzeichnung mit sehr kleinen Buch*
Stäben ausgeftillt: sie befassen beinahe allenthalben denselben
Stoff, nämlich Erklärungen von biblischen Worten und Aus-
drücken, dann Erläuterungen ausgehobener Bibelsätze nach
den vier bekannten Deutungsprinzipien.
Sils«Bf*ber. d. pUl.-hisi. Kl. 156. Bd., 9. Abh. 1
2 II. Abhandlung : Schönbach.
Überblickt man nun die Verteilung des Inhaltes über
den ganzen Kodex hin, so erzählt dieser selbst die Geschichte
seines Entstehens. Die Hauptmasse ist von einem Schreiber
hergestellt worden, dem für jede Lage das Material übergeben
wurde; dieses erwies sich bisweilen als zu gering, dann blieb
noch Raum frei, bisweilen als zu groß, dann mußte die Schrift
gedrängt werden: in keinem der beiden Fälle mangelt dem
Text etwas. Das Werk, welches abzuschreiben war, umfaßte
in seinem ursprünglichen Bestände 179 Kapitel und schließt
207». Der Inhalt dieser 179 Kapitel ist 256^—258' vollständig
verzeichnet mit der Überschrift : Capitula libri sequentis] dem-
nach hätte das Verzeichnis an die Spitze des Werkes zu stehen
kommen sollen, so daß 256^ den äußeren Umschlag gebildet
hätte. Das ist aus irgend welchem Grunde nicht geschehen.
Das Werk ist aber 210* De circumcisione fortgesetzt worden
und reicht bis 242^, es werden jedoch keine Kapitel mehr ge-
zählt und von dem Inhalt ist nichts mehr in das Verzeichnis
eingegangen. Das Werk ist also nicht völlig abgeschlossen
worden, liegt aber hier in der wahrscheinlich ersten Reinschrift
vor, welche nach den schedulis des Verfassers hergestellt wurde.
Dieser gibt nun in seinem Prologe vollkommenen Auf-
schluß über seine Arbeit und ihre Absicht. Viele Kenner wissen,
wo sie etwas zu suchen haben, die Mehrheit aber versteht die
Quellenschriften nicht aufzufinden. Vor einigen Jahren hat
der Verfasser ein Handbuch ftlr Prediger hergestellt und dort
offenbar viele Zitate aus Kirchenschriftstellern beigebracht, ohne
sie genauer zu bestimmen. Die Mühe, welche eine später ver-
suchte Verifikation ihm bereitete, veranlaßte ihn zu dem neuen
Werk, das eigentlich bloß eine systematische Zusammenstellung
des gelehrten Materiales für jenen Liber manualis darstellt.
Doch ist der Verfasser nur dazu gediehen, den Predigtstoff
für die Weihnachtszeit auf seine Quellen zurückzuführen —
das ist bis Blatt 207 '^ geschehen — und so weit hat auch
der Schreiber das ihm ausgehändigte Material im Index ver-
arbeitet; der Verfasser hat dann noch weiter im Kirchenjahr
vorschreiten wollen und die wichtigsten Feste behandeln, da
ist er jedoch beim Feste der Beschneidung des Herrn schon
stecken geblieben, und hat die Aufnahme dieser Blätter in den
Index nicht mehr zu überwachen vermocht. Alles dies ist aus
Mittel luDgen aas altdeutschen Handschriften. •)
dem Prolog des Werkes, in voller Übereinstimmnng mit dessen
Inhalt za entnehmen, ich drucke daher das Stück hier ab.
1^ Incipit Prologas in libram de incarnatione Domini (rot).
Norunt plerique rerum perditarum vel occultarum scruta-
tores, quid requirant. abi vero qnesita reperiant, nisi aliorum
indiciis adjuventur, plures igqorant. non param ergo emolu-
mentam accomodant, qoi in invio querentibns occarrentes certa
inqaisitionis vestigia demonstrant. unde et ego viatorum nltimus
atqne pigerrimnS; caritate tarnen non omnino vacuns, opere
preciam daxi, que legende peragravi loca occultiora denotare
et investigantibas quasi sub leto gramine latentes scripturarum
flosculos detegere. quibus florum annotationibus cum ante annos
aliquot libellum manualem (Du Cange 5, 237) quanta poteram
brevitate condidissem et ad indicium breviarii hujus necessarias
sermonibus pro edificatione fratrum faciendis sententias plerum-
que requirerem, sed libros, ex quibus sparsim illas assignaveram,
in promptu rarius habere potuissem, ipsas annotationes matu-
rando sermonis apparatüi minus sufficientes inveni. dicebam
ei^o apud memetipsum: si ego in monasterio, ubi tanta libro-
mm est copia, positus, vix tamen interdiu ea, que ipse anno-
tavi, dispersis ubique voluminibus reperio, quid ergo aliis, qui
magnam hujus opulentie patiuntur penuriam, ista annotationum
prodesse poterunt indicia? propria igitur necessitate, immo fra-
tema caritate commonitus, et mihi et proximis de ipsa, quam
collegeram, sententiarum annotatione, compendiosius subvenire
curavi, ut ipsas videlicet, sicut capitulatim assignaveram, undi-
que coUectas in unum conscriberem sicque voluminibus illis,
quorum (1^) desiderata pre manibus essent excerpta, facilius
carere possent. qui enim verbi gratia colligendis tantummodo
floribus sibi necessariis occupatur, his ad votum inventis atque
collectisy quod sui erat propositi, de tam spaciosa caropi latitu-
dine totum letus tulisse videtur. ita nimirum et ego, si ad
aspergenda in precipuis festis dominice domus pavimenta de
uberrimis scripturarum pratis denotatos pridem flores in unum
coacervare valerem, ejusdem domus decorem diligere mc cum
psalmista gratulando decantarem: ,Potens est' (Psalm. 23, 8 etc.)
idem, qui dare dignatus est mihi volle, ut addat misericorditer
etiam perficere ad edificationem sponse sue, Sancte Ecclesie.
ipsius quippe sunt flores, de qua idem sponsus ait: ,sicut lilium
4 II. Abhandlang: SchOnbacb.
inter spinas, sie amica mea inter filias^ (Cant. 2, 2). si enim
yinxilier illa, omatu meretricio preparata ad capiendas animas^
garmla et vaga, quietis impatiens nee Valens in domo eonsistere
pedibos suis, aspergit cnbile sunm myrra et alo^ et cinamomo'
(Prov. 7, 10 ff.), qnanto magis ,mnlier fortis, quam laudant in
portis opera ejus' (Prov. 31, 31)^ domum viri sui cultu instruit
celeberrimo^ que adeo florida, ut comparetur lilio, semper illum
odore delectat suavissimo? verum non omnium est dicere: ,qui
Christi bonus odor sumus Deo' (2 Cor. 2, 15). scio enim^ quod
et ingemisco^ eos, qui manna fastidientes, ollas carnium Egyp-
tianun desiderant (Exod. 16, 3), florum quoque spiritualium
amenitatem despicere et per vias duras spinisque septas, quas
sanetus^ ne ambulet, custodire se dielt (Prov. 1, 15 ff.), delecta-
bilius currere. potest Dominus, quod impossibile est hominibus,
etiam tales variis hie virtutum exornare floribus et in futuro
etemitatis ditare fructibus.
Habes igitur in presenti volumine coUectu diversorum
voluminum mysteria de incarnatione dominica, juxta quod in
manuali, sicut supra dixi, breviario a me prius fnerant (2^)
assignata. similiter et de reliquis, que ibidem annotata sunt,
sacramentis, si tam diu vixero et laborandi vires vel ocium
Domino krgiente habere potuero, ut pro commoditate legentium
conscribantur, devotissime laborabo. quod si mihi non licuerit,
diligens quilibet vel ad exemplar supradicti manualis mei vel
proprio melius ac locuplecius ingenio cepta exequi valebit.
quantum vero in reliquis singularum soUemnitatum sacra-
mentis, si hoc modo in unum coUigantur, commodi et oppor-
tunitatis sit, quam promptum sermocinaturo prebeant appara-
tum, in his, que pre manibus sunt de incarnatione dominica,
experiri licebit. (Es folgt, später hinzugefügt) De circumcisione
quoque et epyphania quecunque reperire potuero, his conse-
quenter adjungere curabo. Explicit prologus. —
Daraus erhellt, daß der Verfasser in dem Werke Material
aus den Kirchenschriftstellern für Zwecke der Predigt vor den
Brüdern susammengetragen hat. Damit ist gesagt, daß dieser
Liber de incarnatione Domini, so wie das frühere Werk, der
Liber manualis, in einem Zisterzienserkloster entstanden ist.
Darauf weist auch die Beschaffenheit der Exzerpte und die
alles überragende Stellung, die darin Bernard von Clairvaux
Mitteilangen aus altdeutschen Handschriften. 5
einnimmt. Dieser ist auch der späteste der angezogenen Autoren,
anter denen, außer den ältesten Kirchenvätern, hauptsächlich
Rupert von Dentz und Hugo von St. Viktor exzerpiert sind.
Solches Verhältnis schon läßt fUr die Abfassung des Werkes
noch das 12. Jahrhundert bis zu dessen Ende annehmen. Die
Schrift des Kodex wurde von Denis (Catalogus I, 1, 1183)
and darnach den Tabulis ins 13., von Hoffmann, Verzeichnis
der altdeutschen Handschriften, S. 164 in 12. Jahrhundert ge-
setzt, mir scheint sie an die Grenze der beiden Zeiträume
zu gehören.
Demnach ist der Liber de incarnatione Domini von einem
Zisterzienser — wahrscheinlich Süddeutschlands oder Öster-
reichs — im Anschluß an sein älteres Werk, den Liber ma-
nualis, zusammengestellt worden. Solche Kollektionen von
Exzerpten begegnen sehr häufig gerade in Zisterzienserhand-
schriften; die Muhe jedoch, die ich darauf gewandt habe, die
Sammlungen des Kodex 1637 noch anderwärts nachzuweisen,
ist bisher vergebens geblieben, so daß vorläufig diese Hand-
schrift die einzige Überlieferung der Arbeit darstellt.
Auf den Seiten 222^*, die bei der Reinschrift des Liber
de incarnatione Domini frei geblieben waren, hat eine Hand
wohl des angehenden 14. Jahrhunderts (Hoffmann setzt sie noch
ins 13.) folgendes geistliche Gedicht eingetragen, das Hoffmann
von Fallersieben in seinem Verzeichnis der altdeutschen Hand-
schriften der k. k. Hofbibliothek in Wien fehlerhaft zum Ab-
druck gebracht hat.
JesUj noBira redemptio.
1. Got vater, hßrre Jesu Christ,
gedenke daz du unser loser bist,
du bist euch unser minne,
wir gern din oucli von sinne,
6 schepher aller dinge,
dft mensche an der lesten zitl
daz meine ich, daz du wurde Bit
von Gabriel, dem engel din,
gekunt dem süezen meidelin:
1, 7 ich dy dv w.
6 IL Abhandlung: SchOnbacIi.
10 da enphienge du, lieber herre miD;
die menschheit von dem vröwelin.
nu erbarme dich über die Sünde min!
Quae te vidi dementia.
2. Den selben menschen sin giiete betwanc^
daz er unser sünde lanc
(d4 wir vor t&sent jären
inne gelegen wären)
5 zerfuorte mit sinem bluote rot,
er nam durch uns den grimmen tot.
swer sich sider ertötet hat,
wil er, daz sin werde rat,
der bihte und btieze und weine vil,
10 sd kumt er an der vröuden zil.
Infemi claustrum (penetransj,
3. Du füere ouch, lieber h^rre min,
ze helle und löst die gevangcn din,
du gewunne den sige schöne,
und sitzest üf dem tröne
5 da ze dines vater zeswer haut,
du bist trinitas genant,
da singent dir ze löne
die heiligen alle schöne
und die süezen Seraphim,
10 die singent da in solhem sin:
äanctus! Sanctus!
die engel sprechent: Dominus!
Ipsa te cogat pietas»
4. Din güete sol betwingen dich,
daz unser übel wende sich,
vergib uns, lieber herre min,
daz wir den süezen lob din
3, 1 Nt fver. 4 sizest auf steht auf Rasur. 6 das d. t. aems
haut — genieiiU h€U der Schreiber wohl zemser.
4, 1 Mein — da» Wort guet Ut am Rande tniUelst -f nachgetragen.
Mitteil UDgeu aus altdeutschen Handschriften. 7
6 niht als6 volbräbt haben,
als wir des gebunden w&ren,
und erfülle uns mit der vröuden scbin
des liebten antliitzes din!
Tu esto nostrum gaudium,
5. Da solt oueh unser vröude sin,
Jdsu, JdsUy Jesulin,
sä bist du schön
daz kumftige lön
5 (d& mit uns wol vergolten wirt)
so singe wir denne der yrönden liet
und loben dinen namen.
nü sprechet alle: Amen.
& Da werde küneginne,
J6su Christi minne,
muoter und maget von bimelriche,
nu erbarme dich über bruoder Dietrichen^
6 der ditze geticht in tiusche gemachet h&t.
nü hilf im, daz sin werde rät
und daz sin ende werde guot
durch dines heiligen kindes bluot. Amen.
Der Abdruck Hoffmanns, dessen Fehler ich stillschweigend
berichtigt habe, zeigt, daß die Aufzeichnung von einem Schreiber
bayrischer Mundart hergestellt wurde. Neben vereinzelten i
überwiegen et, die alten ei werden jedoch durchweg nicht
durch ai, sondern ae gegeben (Weinhold, Bayr. 6r. § 44), au
und eu stehen durch, nur einige i = i haben sich gehalten.
Regel ist ie für t vor r (Weinh. § 90), vor h ein paarmal i
für ie, uo wird durch ü bezeichnet. Widerstand gegen den
Umlaut ist durchwegs bemerkbar, p steht im Anlaut durch,
ch an allen Stellen. Starke Apokopen sind gewöhnlich. Die
Form zem$er {\lr zesewer ist besonders bayrisch (Weinhold § 139).
5^ 1 darnach Seorsum vcrte folium.
Cf 1 Nt. 2 minne fehU, ea wird durch + auf den Defekt verwiesen^
doi Wort ist aber nicht am Rande nachgetragen.
8 II. Abhandlung: Schönbach.
Aas einer Anzahl von Versehen und dem Ausfall yon
Worten ist zn entnehmen ^ daß in dem Stück keine originale
Aufzeichnung; sondern eine Kopie vorliegt. Das wird durch
die Beobachtung des Beimgebrauches bestätigt, der nur t : t
und kein ei aus t kennt. Der Reim minne : sinne : dinge 1, 3
gehört eigentlich einer älteren Zeit an, so wohl auch himelrtche :
Dietrichen 6, 3, wogegen Seraphim : sin 3, 9 kaum als ungenau
in Anschlag kommt. Dagegen wird man als bayrisch an-
sprechen dürfen die starke Apokope schon : I6n (nom.) 5, 3,
(vgl. 1; 10) das Verklingen des r in toirt : liet ö, 5 und be-
sonders die Dehnung des Wurzelvokals in namen : Amen 5, 7
und in der Assonanz haben : wären (hdn : wä]*n?) 4, 5. Demnach
ist auch der Dichter ein Bayer oder Österreicher gewesen.
Sein Verdienst ist freilich sehr gering. Er hat die fünf
Strophen des Hymnus Jesu nostra redemptio in der Weise
bearbeitet; daß er zuerst immer zu übersetzen suchte, dann
Erklärungen und Folgerungen beifügte oder einschaltete. So
geben 1, 1 — 6 die erste Strophe des Hymnus wieder ; 7 — 12
dagegen bemühen sich, den schwierigen vierten Vers der Strophe
verständlich zu machen. Ebenso übertragen 2, 1 — 6 die zweite
Strophe (die Frage mußte in Erzählung umgesetzt werden),
wobei 3. 4 eine Erklärung des durch den Reim abgezwungenen
lanch einfügen, das ja sonst zu dem lateinischen Texte paßt;
7 — 10 leiten eine Mahnung ab. Die dritte Strophe wird schon
durch 3, 1 — 5 übersetzt, 6 — 12 gewähren einen Zusatz über
die Chöre der Heiligen und der Engel. In 4 werden acht
Zeilen gebraucht, um die vierte Strophe zu übertragen, was
hauptsächlich durch die schwierigen Worte voti compotes ver-
anlaßt wurde. 5 gestaltet ziemlich frei die fünfte Strophe
(charakteristisch für den Geschmack des Verfassers ist V. 2,
erklärend V. 5). Die hinzugefügten Verse von 6 sind insofeme
lehrreich, als aus dem Preise Marias, der einen Hymnus auf
Christus abschließt, erhellt, daß unter dem Bruder Dietrich ein
Zisterzienser zu verstehen ist, was ja auch sonst mit dem In-
halte der Handschrift übereinstimmt. Der Schreiber des Stückes
muß gelehrte Kenntnis besessen haben, denn die dem Hymnus-
vers nachgebildete Zeile Seorsum verte folium vor 5, 1 paßt
ja doch eben nur auf die Stelle in dieser einen Handschrift,
wo von Blatt 222^ auf 222^ zurückgewendet werden muß.
Mitteilungon ans altdeutschen Handschriften.
Der lateinische Hymnas lautet:
1. JesU; nostra redemptio^
amor et desiderium^
Dens Creator omniani;
homo in fine temporum.
2. Quae te vicit dementia,
ut nostra ferres crimina,
crudelem mortem patiens;
ut nos a morte tolleres?
4. Ipsa te cogat pietas,
ut mala nostra superes
parcendo, et voti compotes
nos tuo Yultu satiesl
3. Inferni claustra penetrans,
tuos captivos redimens^
Victor triumpho nobili
ad dextram patris residens,
5. Tu esto nostrum gaudium,
qui es futurus praemium,
Sit nostra in te gloria
per cuncta semper saecula.
Dieser Hymnus ist alt, wie Form und Inhalt der vier
ersten Strophen erkennen lassen: er bietet in großer Knapp-
heit, aber doch mit sinnvollen Beziehungen, eine Übersicht des
Erlösnngs Werkes, welche mit Christi Himmelfahrt schließt, wes-
halb er für dieses Fest auch in Hymnarien und Brevieren an-
gesetzt wird, nicht überall zur gleichen kanonischen Tagzeit
VgL Daniel, Thesaurus hymnologicus 1, 63. 4, 78; Mone, La-
teinische Hymnen 1, 230 (Nr. 173); Ph. Wackernagel, Das
deutsche Kirchenlied 1, 65 (Nr. 55). Dieser setzt den Hymnus
in das 5. Jahrhundert, was schon durch seine häufige Ver-
bindung mit solchen Hymnen, die für diese Zeit beglaubigt
sind, wahrscheinlich wird. Das Hymnar von Moissac aus dem
10. Jahrhundert, die Schatzkammer alter Hymnen (Analecta
Hymnica 2) enthält Nr. 49 schon die fünfte Strophe als doxo-
logischen Zusatz, aber von späterem Ursprünge, wie bereits die
Reimpaarung lehrt. Die alte Beliebtheit des Hymnus bestätigen
auch dessen Nachbildungen zum Lobe einzelner Heiligen: Ser-
vatios (Anal. Hymn. 4, Nr. 439); Savinianus (Anal. hymn. 12,
Nr. 421); Nicolaus Peregrinus (Anal. Hymn. 43, Nr. 439).
Spätere deutsche Lieder auf Grundlage des Hymnus notiert
Wackemagel, Kirchenl. 3,443 (Nr. 505: Pfingsten) — dieses
Stück scheint mir hinter dem hier besprochenen ziemlich
zurückzubleiben — und Bäumker, Das kathol. deutsche Kirchen-
lied 1, 84 (Nr. 250).
10 II. Abhandlung: Schöubach.
Über den Verfasser des deutschen Liedes weiß ich nichts
mitzuteilen; als daß Bruder Dietrich wahrscheinlich ein bayri-
scher oder österreichischer Zisterzienser ^ wohl aus dem Ende
des 13. Jahrhunderts war, was aus dem sonstigen Inhalte der
Handschrift und aus der Beschaffenheit der Überlieferung er-
schlossen werden dai*f.
Erbanliehes In Prosa und Yersen.
Die Handschrift Nr. 1756 (= Lunaelac. O. 198) der
kaiserlichen Hofbibliothek zu Wien enthält in starkem Leder-
band 137 Blätter Pergament, durchschnittUch im Umfange von
8*5 X 12 cm. Die Tabulae Codicum manuscriptorum setzen
ihre Entstehung ins 13. Jahrhundert, das bezieht sich jedoch
leider bestenfalls auf die mittlere Partie Ton 80* — 109^, indeß
112*— 137^ ins 14., !•— 79* und 110, 111 ins 15. Jahrhundert
gehören. Auf dem Rücken des Kodex befindet sich die Nr. 978
geklebt, auf dem Vorderdeckel ein Pergamentzettel mit der
Inschrift: Raymundus de penitentia, Tractatus de homine
David. Die Angaben erschöpfen jedoch den Inhalt der Hand-
schriften bei weitem nicht, wie aus folgender Übersicht hervor-
gehen wird.
Den ersten Teil der Handschrift bilden jetzt 79 Blätter,
die in Quinionen liegen, deren erste Hälfte ein paarmal durch
Kustoden gezählt wird, nur fehlt der ersten Lage ein Blatt.
1^ — 74* bildet ein, wie es scheint, von äinem Verfasser her-
rührendes Werk, das von den Tabulae codicum manuscrip*
torum betitelt wird: De votis sacerdotum, auf welche Autorität
hin, weiß ich nicht. Auf keinen Fall trifft diese Bezeichnung
zu, denn es wird darin zumeist von den Pflichten der religiosi^
also der Mönche, gehandelt, weniger über die der Priester,
und femer werden überhaupt verschiedene Abschnitte der reli-
giösen Pflichtenlehre im Allgemeinen vorgetragen. 74* — 79*
enthält die deutschen Stücke, deren Niederschrift also in das
15. Jahrhundert filUt, nicht in das 13. Mit 80* beginnt die
zweite Partie der Handschrift, die wie die erste einstens für
sich bestanden hat. Auf 80* befinden sich kurze AngÄen
Mitteilungen aus altdeutschen Handschriften. H
und eine Tafel über die Sonntagsbuchstaben^ 80^ ist leer,
81^ — 97^ reicht die Summa Raimundi de penitentia, das ist
die bekannte praktische Lehrschrift des Dominikaners Raimand
▼on Penaforte f 1275, die zwischen den Jahren 1234 und 1243
▼erfaßt wurde. 97^ heißt es in der Mitte der Seite: Explicit
Summa Raimundi de penitentia und dann: Quicunque es, qui
hoc legis, memento Phylippi peccatoris Amen. Bei A. G. Little,
luitia opei*um latinorum, quae saecuUs XIII. XIV. XV. attri-
buuntur (Manchester 1904), wird das Werklein S. 202 als Ano-
nytntu de confessione angefahrt. Unmittelbar daran schließt
sich und reicht bis 109* ein Traktat mit der Überschrift De
exteriari homine. Auf den Autor David von Augsburg weist
schon die Notiz des Deckels, es befaßt dieses Stück den ersten
Teil des ersten Buches von dem Werke Davids: De exterioris
et interioris hominis compositione, das zuletzt mit Benutzung
▼on 370 Handschriften durch die Franziskaner Quaracchi 1899
herausgegeben wurde. Unsere Handschrift ist dort S. XXXIII
als Nr. 329 verzeichnet mit dem unrichtigen Beisatze anon,
£b geht in der Handschrift dem Texte des einleitenden Briefes
ein StQck voran^ das beginnt: Ad exercitium humilitatia quin-
que prodesee poseunt — . Auf den Schluß: castus in omnibus
(Eldition von Quaracchi S. 36) folgt eine Stelle, die als zu dem
Traktate gehörig betrachtet wird und die ich hierher setze.
Si diu inter seculares religiosus conversetur, dissuescit
flecti sub jugo continue obedientie humiliari ad communes con-
ventuales labores, ad silentium ceUe assidue recurrere, parcitate
victos conveutualis esse contentus, ad nocturnas vigilias surgere,
orationi fructuose vacare. cito fiet assuetus verbis otiosis et
rumoribus libenter intendere, honoribus et reverentia hominum
delectari, delicatos cibos et nobilia vina dinoscere, soiitudinem
fastidire, moUia strata diligere, tardas et festinatas matutinas
persolvere, tardas surgendo, festinatas syncopando. fit oratio
insipida, lectio tediosa^ meditatio vanis cogitationibus obruitur,
affectus devotionis tepescit, memoria Dei rarescit; proficiendi
propoaitum debilitatur, nisi quod cogitat, quando venerit, tunc
omnia neglecta recompensare velit^ nesciens, quod de die in
diem debilior fit ad bonum et ad malum pronior. contra temp-
tationes est infirmior in resistendo, cum feminis periculosius
morator, quia et subtractio gratie et opportunitas loci citius,
12 II. Abhandlung: Schönbach.
quam sperat^ precipitant eum in ruinam^ maxime si incaata
familiaritas admissa fuerit. postremo hec omnia qaadam ypocrisi
saperducitur^ qaia interioris vacuitati^ quidam exterius color
saperdncitnr, ne exterias apat hominum opinionem ▼ilescamos.
qaod si ab aliquibns interins de nostra mutatione notamar yel
in aliqnibas excessibus culpamur^ eoram invidie imputamas,
non nostram negligentiam compancti congerimns, donec tandem
sine omni dissimulatione malum^ qaod diu intos fotum est,
ernmpendo proditnr per apertam peccatum cum aliorum scan-
dalo et confusione bonorum hominum in dampnationem per-
petrantis. — Mit zwei Zitaten aus Hieronymus ad Rusticum
und aus Hugo de sancto Victore de prelatis (diese von späterer
Hand nachgetragen) schließt diese Lage.
llO^^y 111^ enthalten den im 15. geschrieben Rest eines
Inhaltsverzeichnisses (111^ ist leer) zu dem folgenden, eben-
falls einmal selbständig gewesenen Werke, nach den Tabulis
ein Tractatus de virtutibus et vitiis, der beginnt (?) mit einem
Zitat aus Augustinus 112*: Si non parcis tibi propter tCj parce
tibi propter Deum und 137^ in einem Kapitel De contritiofie
proprie infirmitatis abbricht. Die Partie 112 — 137 befaßt eine
Lage mit sechs und eine mit sieben Doppelblättern.
Die deutschen Stücke, um derentwillen ich mich mit der
Handschrift beschäftigt habe, sind folgende:
1. (74^) Sand Bernhard spricht: wer zu der höchsten
weishait well chomen, der sech die weit mit irer falschen
weishait. als beschaiden ich pin, als weis sind mein sinne;
als weis mein sinn sein, als fridsam ist mein hertz; als frid-
sam ist mein hertz, als lautter ist mein gewissen; als lautter
mein gewissen ist, als vil bechenn (75*) ich got; als vil
ich got bechenn, als vil hab ich got lieb; als vil ich got
lieb hab, als vil halt ich sein gepot und volg seiner hail-
samen 1er; als vil ich halt sein gepot, als vil hüett ich mich
vor Sünden; als vil ich mich vor Sünden hüett, als vil bechenn
ich mich selber; als vil ich mich selber bechenn, als vil ver-
smäch ich mich selber; als vil ich mich selber versmäch, als
wenig beger ich gAtz noch weltlicher er; als vil ich beger
guetz noch eren, als vil pin ich diem&tig; als vil ich pin die-
mfitig, als vil t&n ich dem nichtz Übels, der mir übel tut, als
vil pin ich gedultig; als vil ich gedultig pin, als vil pin ich
Mitteilungen aus altdeutschen Handschriften. 13
arm des galsis; als vil ich pin arm des gaists, als vil beger
ich nichts liberal; als vil ich nichtz beger überal, als vil wil
ich waz got wil; als yil ich wil, waz got wil^ als vil wil got
waz ich armer sUnder wil.
2. (75^) Also soll ein frnmmer christenmensch leben, daz er
sa rechter warhait möcht sprechen die hernach geschriben wort.
Eya da falschen werlt, was ist dein frend, dein tzier nnd
allen chnrtzweil, die ich han gesehen bei dir? es ist alles ver-
Bwanden nnd vergangen als ein slag in ein wasser schier, got
sei dir genedig nnd vercher dein frend, die doch nit lang wert.
ich hiet fUr war (darnach nit durchstrichen) in dir nit ver-
standen dein nntren, deinen falschen Ion nnd nnstätikeit, war
mir nit erschinen die snnn der gerechtikait. wenn die menschen,
die dir dienent sind, der wirt maniger betrogen, wenn sie
tsimernt auf den regenpogen. du versprichst in lang leben nnd
vor irem tod ain abtragen irer sünd gen got dem herren nnd
hailsamkleich sterben in den genaden gots. das lantter falsch
isty wenn ich der vil han erchennt in knrtzen jaren, die also
aafgeredt (76*) sind worden von dir, die doch eilend tod habent
gennmroen nnd mit chlainer andacht nnd Vernunft gestorben
sind nnd der ietznnd gäntzleich vergessen ist von allen iren
frennten und liebhaberen, als ob si nie menschen waren ge-
wesen, und ir guet, darumb si oft daz hail ir sei versäumt
haben, pöIder waren ist iren veinten dann iren freunten dar-
umb so hab Urlaub aus meinem hertzen, ich hab meinen dienst
anderswo versprochen.
Sprichstu, liebhaber diser weit; ,ich mag mich der weit
nicht abtiln und in ainen orden gan', antburt sand Augustin
und spricht: es ist chain notturft, daz all menschen in ain
cbloster chomen; beleih in dem wesen, dazu dich got gevodcrt
hat, und behtitt dich vor Sünden, biz allzeit willig die gepot
gotz ze halten nach deinem vcrmttgen, (76^) und wenn du dich
vindst in Sünden, so harr nit lang darinn, besunder fleuch zu
der parmhertzikait gots mit einer waren peicht, so mag dein
leben in der weit hailsam werden deiner sei. T&stu das nicht,
80 furcht ich, du werst faren di wolgetriben strass zu der
ewigen verdambnuss, da von unser herr redt in dem ewangelio,
daz Matheus (7, 13) schreibt: der weg ist weit und wol ge-
triben, ir sind vil, die durch in gent und varent zu der ewigen
14 II. Abhandlung: Sch»nbach.
verdampnUz^ wer aber die sein, die benennt sand Paul an
einer epistel (Rom. 5^ 12) und sand Johanns an dem paech
Apokalipsis (18^ 5), das sind die mit einer todsttnd oder mer
behaft sind und die rechte lieb nit habent zu got and za iren
nagsten; die hie auf erd nit suechent die er gotz nnd das hail
ir sei mit größerm fleis dann daz vergankleich gnet; die all-
zeit geren lebten in (getilgt geiste) leipleichen lüsten mit essen,
trinchen und unchausch, und die becherung (77*) zu got sparen
piz an ir end; und vil ander menschen, die got nit erchennen
wellent und täglich streiten wider ir Vernunft und gewissen;
und die iren nächsten belaidigt habent an den eren oder an
guet und darumb nit ain genügen wellent tuen; und den das
heilig gotzwort nit smecken wil, wenn si daz hörent. besunder
die den anderen menschen zu versprechen Stent an dem jüngsten
tag, si sein geistlich oder weltlich, und person in dem chloster
die nit haltent iren orden mit irem gelüb. wer die sein, den
ist not bei zeit, daz si anrfiffen die parmhertzikait gotz, ee
daz si sterben, hin nach ist die hilf chlain und das gericht
gots streng und ernstlich.
3. Uns engel wundert all geleich^
daz ir menschen mit fleis auf erdreich
paut stet heuser und auch vest,
und seit doch all nur eilend gest;
(77*») 6 aber da ir got ewikleich mit uns sult an schauen^
do habt ir chlainen fleis ze pauen,
4. Ez was zu zeiten ein man bei dreissig jaren^
der het die werlt tool durchvaren,
dem nie chain ungliick auf erstund,
10 sein sünd er nie bechlagt noch peioaint,
sunder daz was sein grösteu sarg,
wie er der weit geviel heut und morgen,
was man im predigt oder sagt von got,
das waz im alls ein lautter spot.
16 das er von der weit nur lob und er hict^
er sarget nicht, wie die sei verschied,
es ist recht im nun worden chund,
das er gachling auf der stund
Mitteilung^en aus altdeutächen Handschriften. It)
leiden muest den pittem tot.
20 komen waz im jamer und not.
u)ol sack er zu der selben frist,
(78^) dcLB sein sei verdambt ist.
nun muest er tän ein weichen,
von got muest er sich schaiden ewikleichen.
25 mit haissen tzähem mocht er wol chlagen,
das er in seinen jungen tagen
sein tzeit nit hat götlich vertzert,
die im got zu guet hat beschert.
er wolt der weit lob und er erberben,
30 den lat si nun mit leib und sei verderben.
wo ist nun ir hilf und guet,
die si manigem menschen tuetf
den chan si mit iren äugen naigen,
daz sich die sei von got mues schaiden
35 und mues sich zu der hell cheren,
do ir die teufel das leiden meren,
das chlagt nun teuer der ungetzogen:
in hab die falsch weit betrogen,
die im allzeit hab verhaissen recht.
(78^) 40 dem lonet si als der teufel seinem knecht,
das sie noch vil manigem tut,
und hilft im in der helle gluet.
der ir dienet frue und spat
und got nit vor äugen hat,
45 dem geschiecht als dem geschehen ist.
Behütt uns got zu aller frist,
das wir wider in also nit streben,
als der hat getan in seinem leben:
der weit lieb, lust, reichtumb liez er im nit leiden^
50 darumb sich sei und leib von got ewikleich mues
schaiden.
o wie churtze freud umb etn ewigs we,
wolt er das nicht bedencken eel
das sol uns sein stäteu ler,
sunder daz wir verschaiden in ainem waren rechten
glavhen,
55 dcLS wir got sehen von äugen zu äugen. Amen.
16 II. Abhandlung: SchOnbacli.
5. (79*) wunniklicher and chlarer glaiitz und schein
des ewigen liechtS; wie pista nun umb mich so gar erloschen!
erlosch in mir all prinnnnd begir aller nntagent. — O du
lantter und chlarer spiegel der heiUgen gotleichen majestat,
wie pista so smächleich veranraintl rainig in mir die grossen
masen meiner missetat. — O da schons pild der vaterleichen
gfit; wie pista so gar enpferbt and enstelt! widerbring das
vermailigt pild meiner sei. — O da unschaldigs lämplein, wie
pista so gar jamerleich gehandelt! püess and pesser für mich
mein schaldigs and sündleichs leben. — O da künig and herr
ob allen chllnigen and herren, wie siecht dich heat mein sei
hie so jamerUch hangen! verleich (79^) mir, als dich mein sei
ietzand mit chlag and jamer hat ambvangen in deiner Ter-
barffenhait^ das sie von dir an meinen losten zeiten enpfangen
werd mit fread in der ewikait Amen. —
Von den Prosastücken schöpfen 1, 2 (mit Reimen) and 5
aas den Meditationes piissimae de cognitione humanae condi-
tianiSy die Bernard von Clairvaax zageschrieben warden, je-
doch nicht von ihm verfaßt sind (Patrol. Lat. 184, 48öff.), die
Behandlang ist frei. Die Verse Nr. 3 übersetzen die lateini-
schen Verse 72 — 76, die in der Handschrift 46* vorangehen
and die hier weiter unten gedruckt sind. Das Stück findet
sich auch, in die 3. Fers. Flur, gesetzt, Cgm. 751, vgl. Analecta
Germanica 1906, S. 93. Für Nr. 4 weiß ich keine lateinische
Vorlage: die Erzählung — wofern es eine ist — wird hier so
sehr alles Bezuges auf die Wirklichkeit entkleidet, daß nur
ein ganz dürres Schema übrig bleibt, für das ich Beziehungen
nicht nachweisen kann. Noch ein deutsches Reimpaar begegnet
72*: Isidorus: Si id, quod Dens precipit, facimus, id quod peti-
mus sine dubio obtinebimus. Ist daz wir tuen, xoaz wir sullen,
So tuet got was wir wellen, vgl. dazu Nr. 1. —
Der Lautstand der Aufzeichnungen läßt die bairische
Mundart nicht verkennen, doch wäre daraus kaum auf eine
bestimmte Örtlichkeit des Ursprungs zu schließen. Fallen bei
Nr. 3 und 4 Schreiber und Dichter zusammen, was durch das
Verhältnis zwischen den deutschen und lateinischen Versen
in Nr. 3 recht wahrscheinlich wird, dann wäre vielleicht aus
den Reimen 4, 9 f. (wenn das richtig überliefert ist) 11 f. 15 f.
die Heimat des Verfassers in der Oberpfalz zu suchen. Nimmt
Mitteilnngen ans altdeutschen Handschriften. 17
man hinzu, daß einzelne Histörchen des Traktats ^ wie sich
noch weisen wird, auf Vorgängen in Bayern und Österreich
beruhen y so paßt auch eine Stelle 4^ dazu: ibi (in judicio ex-
tremo) Petrus cum Judea conversa ad fidem apparebit, ibi
Paulus cum gentibus^ ibi Andreas Achaiam post se ducens^
Johannes Asiam, Thomas Indiam, Rudhertus Bavariam, Kilia-
mu Franeoniam. Das jüngste Datum eines in den Traktat
eingegangenen Zitates gewährt 1^: Item quidam solemnis doctor
coram generali concilio Basiliensi predicavit de luxuria cleri-
corum — . Daraus ergibt sich, daß den terminus ante quem
non für die Aufzeichnung dieses Traktates das Jahr 1431
bildet; sie kann vor dem Abschluß des Baseler Konzils , also
vor 1449, hergestellt sein, aber auch darnach. Beurteile ich
die Schriftzüge recht, so möchte ich sie noch in die erste Hälfte
des 15. Jahrhunderts setzen. Dazu paßt der Sprachcharakter
des deutschen Stückes, allein auch, was über den Inhalt des
Traktates die folgende Analyse ergeben wird.
Wie schon oben S. 10 hervorgehoben wurde, ist die Be-
zeichnung De votü sacerdotum dem Inhalte der Darlegungen,
an deren Schluß die deutschen Stücke sich befinden, nicht an-
gemessen. Denn einmal werden hauptsächlich die Pflichten
von Ordensleuten (13*: o fratres, pensate . . .), und nicht von
Priestern erörtert, dann aber besteht die Eigentümlichkeit dieser
Aufzeichnungen darin, daß an einem dünnen Faden von Sen-
tenzen eine Unmenge von Zitaten und Beispielen, auch Erzäh-
lungen aufgereiht werden. Um dieses bunten Füllsels halber
lohnt es sich, den Traktat — wenn man ihn so nennen darf
— etwas näher zu besichtigen. Der Umfang der Lektüre
seines Verfassers müßte ungemein ausgedehnt gewesen sein,
wofern er nicht etwa bereits vorhandene und sachlich geord-
nete Sammlungen ausgenutzt hat. Verhältnismäßig nicht sehr
zahlreich sind die Zitate aus der heil. Schrift. Um so häufiger
die aus einigen Kirchenvätern, unter denen Bernard von Clair-
vaux obenan steht, der fast auf jedem Blatte vorkommt, dann
Augustinus, Gregor, Hieronymus. Seltener begegnen Isidor von
Sevilla, Ambrosius, Crisostomus, Cirillus, Gregor von Nazianz,
Eusebius, überaus oft die Vitae Patrum, aus denen mehrmals
ganze Reihen von Geschichten entnommen werden. Von antiken
Schriftwerken werden nur etliche angeführt, die aus der Schul-
Siteiiog«b«r. d. phil.-hist. Kl. 156. Bd. S. Abb. 2
18 n. Abhandlung: Seil önb ach.
lektiire geläufig waren: Seneca 38^: antiqui philosophi 9*;
Socrates 9^; Theophrastus philosophus 10»; Macrobius 21*;
Ypocras = Hippokrates 23*; oftmals Valerius Maximns 20^.
23*. 25* usw.; scribitur in historiis Romanorum 10*; legitur in
octavo libro Tripartite historie 17*. Sehr häufig wird Gratian
und die Dekrete allegiert, anfangs beinahe in jedem Abschnitt,
allmählich sparsamer. Auch die Kirchenschriftsteller des späteren
Mittelalters kommen zum Wort: Petrus Damiani 50*; Anselm
von Canterbury 33*. 38*. 44*. 45*; Alanus (ab Insulis) doetor
egregius (die von ihm erzählte Anekdote ftihrt Lecoy de la
Marche in seinem Buche l'Esprit de nos aieux S. 275 f. aus
Pierre de Limoges an) 5*; refert Helinandus 50*; unter dem
HugberttLS und magister Hughertus der 15*. 24*. 25*. 71* zitiert
wird, ist der Dominikaner Humbertus de Bomanis, f 1277 zu
verstehen, und unter seiner expoaitio regule seine Erklärung
der Augustinerregel; woraus vielleicht auf den Kreis geschlossen
werden kann, dem der Traktat entstammt (11*: cum tarnen
in Begula nostra dicitur: nihil dicatis proprium, sed sint nobis
omnia communia). Albertus Magnus 33*. 47*; Bonaventura 48*,
Stimulus animarum 64**. 65*. 69*; Vincentius in Speculo Histo-
riali 28*. Nicht nachweisen kann ich jetzt ThamaB de Salat (?)y
der 32* fUr den Satz angeftihrt wird: Quisquis ex quacunque
alia causa quam propter memoriam dominice passionis missas
celebrat^ peccat 'mortaliter. Ebenso wenig den Autor des fol-
genden Passus 62*: Seien dum est, quod quidam subtilis doetor,
Sedatus nomine (63*) dicit: in illum redundat omne peccatum,
qui non vult peccantes prohibere, cum possit. Magister Heinrich
von Oent wird zitiert 2* (magister Henricus de Oandavo in
Quodlibeto suo 13^ dicit), er starb gegen 1300. Auf einen Iri*tum
wird folgende Angabe zurückgehen 7*: Legitur de sancto Con-
dimundo, Cartu'ense arciepiscopo, quod a servientibus sibi camis
exigebat munditiam, volens etiam familiam suam semper habere
mundam. Für die kleinen Erzählungen und Anekdoten werden
zumeist namenlose Autoritäten beigebracht, nur selten die
Persönlichkeiten bezeichnet, z. B. beatus Germanus Autisiodo-
rensis (Germanus von Auxerre, f 448); Caesarius von Heister-
bach 34*. 43*. Dieser Autor wird wohl auch benutzt, ohne
genannt zu werden, wie in einer Geschichte, die ich ihrer be-
sonderen Gestaltung halber hier abdrucke 57* (vgl. Caesarius,
Mitteilungen aus altdeutschen Handscliriftcn. 19
Dial. 1^ 27): Ludwicas, landgravias Turingie^ princeps litteratus
(woher stammt dieses Prädikat? bei Caesarias findet es sich
nicht) y tanto errore erat deeeptas, ut se assereret necessario
esse salvandam vel dampnandüm, et dicebat se horam mortis
non posse effugere vel anticipare. et ob hoc maltis vitiis sine
Dei timore se implicabat. tandem graviter infirmatus dixit me-
dicOy ut caram adhiberet. medicas sciens ejus errores dixit : ^si
dies mortis vestre advenerit, non potero vos adjavare^ cui
princeps^ qaomodo sie responderet: ,8cio, nisi mihi cito sab«
veniatur, moriar ante tempns^ cai medicns: ,creditis vitam
vestram prolongari virtute medicine, quare hoc non creditis de
penitentia, que est medicina anime?' considerans (57^) vero
dominus; medici verba esse rationi consona, dixit ci: ^de ce-
tero esto medicus anime mee (der Mann war also zugleich
Geistlicher), quia per tuam medicinalem linguam liberabit me
dominus a maximo et dampnabili errore'. (Darnach folgt: etiam
quidam imperator unum ex famulis suis in hoc officio con-
stituit; ut; dum ipse in letitia esset frequenter, famulus ad se
veniret eique diceret: ,domine imperator, monumentam vestrum
adhuc imperfectum est', quibus verbis ammonitus de morte
cogitare cepit et gaudium dimisit). — (4^) Cum Petrus Seno-
nensis archiepiscopus ad Clarevallem abiisset, ut quemdam con-
▼ersum, qui frequenter (5*) in extasim rapiebatur, peteret, ut
▼isionem aliquam sibi enarraret : ^vidi', inquit, ^nuper dominam
speciosissimam valde, que dixit mihi: ^que sum ego?' et re-
spondi ei: ,videtur mihi, quod tu sis Domina nostra*. at illa ait:
,respice me retro!' cumque tergum ejus viderem, vidi eam
putridam et vermibus scaturientem. ,nunc cognosti, quod ego
non sum Maria, sed sum mater Ecclesia, que in primo statu
quasi in anteriori parte sanctis, apostolis, martyribus, confesso-
ribus fui pulcherrima et decenter omata, sed modo a parte
posteriori, id est, postrema parte, in modicis (l. modemis) prc-
latis Bum putrida et ignominia plena et argentum meum versum
est mihi in scorium (Isai. 1, 22)/ Das Histörchen steht nicht
in den Wunderbüchern von Citeaux und Clairvaux. — (5*)
Cum igitur sobrietas mense et Studium discipline sapientie sint
connexa, non decet ecclesiasticis viris, si vacant epulis et Stu-
dent calicibus epotandis. unde quidam magister scripsit suo
socio facto prelato: Tu, qui discipulis et libris omnino postpo-
Bitsoagiber. d. phiL-hist. Kl. 156. Bd. 2. Abh. 3
20 11. Abhandlung: Schönbach.
ßitis nunc Codices ad calices transtnlisti et scribere in bibere
convertisti, et nunc predicaris egregios potator, qui prins faeras
nominatisBimns disputator, plus studes in calicibus quam in
codicibus, plus in salmone quam Salomone, non est igitnr hec
mutatio dextre excelsi, sed illorum; de quibus psalmista (106, 27)
ait: Turbati sunt et moti sunt sicut ebrius. — (8^) unde nostri
theologi (9*) reprehensibiles sunt^ quia inveniuntur ad operan-
dum desides, licet sint ad discendum feryentes. nam quidam
vesanus fecit omnibus theologis Parisiis hanc questionem: quod
horum sit melius: facere, quod seit homo, vel addiscere, quod
nescit? tunc ille super mota questione disputantibus pro et
contra stultus audiens earum altercationem tacebat expectans,
ut videret finem. tandem probatum est et conclusum, quod
melius est facere, quod homo jam novit, quam addiscere, quod
non novit, utrumque enim peccatum est nescire, quod appetis,
et ea, que noveris, non adimplere. ,ergo', inquit vesanus,
,vos omnes estis dementes, qui die ac nocte laboratis, ut tan-
tum discatis, quod nescitis, et non euratis opere implere, quod
scitis*. — (10**) cui (Augustino) obedivit quidam amator thco-
logie, religionis amator precipuus, circa annum 1398 in pro-
vincia Polonie, non longo ab Vratislavia, qui quemdam fratrem
propter duos florenos apud ejus mortem inventos in (U*) sta-
bulo sepelivit. ob, quam rem in civitate eadem proverbium talo
in populo fuit divulgatum: Maister Heinreich von Hall begrebi
sein hrileder in dem stalL et hoc justissime fecit, ut inter
fratres non accipiat sepulturam, cujus anima inter diabolos re>
cipit mansionem. quomodo ergo illum suscipiat terra viventium,
cui de jure denegatur terra et sepultura mortuorum? sed heu!
cogor äendo dicere, quod in claustralibus videmus avaritie estum
permaxime incalescere, ita ut illa duo pronomina ,meum et
tuum' audacter inter religiosos resonant, et tam quietissimam
vitam ducerent homines, si hec duo pronomina ,meum et tuum'
de medio toUerentur! — (12*) insuper et hoc audeo dicere,
quod, si singulis diebus ter cfFunderem sanguinem meum cum
beato Jeronimo, aut essem pontifex cum beato Gregorio aut in
fide similis beato Petro aut devotior beato Martine aut in pre-
dicatione similis beato Bernharde et Dominico et stigmatibus
Christi insignitus cum Francisco, si autem proprietarius sum,
hoc scio, nisi contritionc et penitentia debita prehabita, at in-
Mitteilungen aus altdeutschen Handschriften. 21
fernam sine omni medio descendam. — necnon antiquoram
patram exempla ammiranda^ veram etiam modernoram gesta
(12^) recentia nostris temporibas perpetrata certissime declarant
qaorom nnum daxi annotandam, quatenas hojas vitii gravitas
stadiosias perpendatar. fait igitur circa annos Domini 1407 in
Anstria prope Wyennam in qaodam monasterio Cisterciensis
ordinis monachus vitio proprietatis corrnptas. hie cum mortis
egritadinem incarabilem incurrisset fecissetqne rationem de
receptiSy quia procarator cenobii aut talem qnalem volnit; nnde
ipsnm seriosius ammonebat, ut omnia, qae haberet, panderet.
quod tarnen miser ille non carabat. quadam igitnr die^ dam
se solnm conspiceret, ascendit dormitorinm et ad Stratum pro-
prium cucurrit, stropodium (Du Cange 7, 608: strapodiam)
rumpens pecuniam^ quam ibi absconderat, extrahebat. qua ex-
tracta corruens super lectum expirabat, pecunia in manu retenta.
servitor autem, dum illum in lecto non inveniret; monachis
nuntiavit. cum igitur ipsum per singula loca monasterii diutius
quesissenty tandem super stropodium ipsum moituum et pecu-
niam in manu fortiter tenentem invenerunt. quo viso stupuerant
Talde. cum ergo abbas eorum; qui doctor theologie absens erat
(13*), monachi sicut simplices et illitterati^ quid cum proprietario
sie invento fieret, penitus ignorabant. tandem ceca moti miseri-
cordia, sed non (secundum) scientiam Dei, ipsum in loco con-
secrato cum aliis sepelierunt. sed eadem nocte subsequente
proprietarius ille totus igneus cum terribili strepitu et clamore
per totum dormitorium atque monasterium binc inde discurrebat,
ita ut nee unus quidem de loco, ubi erat, se movere ausus
fuisset solus. mane facto rem gestam abbati, qui non longo
aberat, nuntiabant, qui similiter territus monachos pro sepul-
tura ista durius corripiens jussit ac mandavit, quatenus ipso
exhumato extra monasterii septa sceleratum illum sepelirent.
quod et protinus adimpleverunt. nocte autem sequenti, quem-
admodum nocte precedenti, monachorum {Hs, monachos) ita
tunc familiam terribilius inquietavit. quo audito ac comperto
monachi ipsum inde auferentes in loco remotiori deserti valiis
sepelierunt, anima ipsius sepulta in inferno. et ita fantasma ac
inquietudo a monasterio discessit. — Das Zistcrzienscrkloster,
in welchem dieser Vorgang 1407 sich ereignete, wird näher
dadurch bestimmt, daß es in Österreich unweit von Wien lag
3»
22 II. Abhandlung: SchUnbach.
und damals einen Abt besaß, der Doktor der Theologie war.
Die angegebene Lage des Klosters läßt die Wahl frei zwischen
Heiligenkreuz, Zwettl und Lilienfeld. Nach den Mitteilungen
im dritten Bande der Xenia Bernardina regierte zu Zwettl
während des 15. Jahrhunderts gar kein Abt mit dem Doktor-
titel, zu Heiligenkreuz 1447 — 1451 Abt Johann III. der 1434
in Wien zum Doktor der Theologie promoviert worden war,
zu Lilienfeld Johannes I. de Langheim, der 1406 an der
Wiener Universität als Doktor der Theologie gelehrt hatte.
Es wird demnach Lilienfeld hier gemeint sein, obzwar (Xenia
Bernardina 3, 265) die Daten dieser Zeit ganz unsicher sind.
Die Habsucht des unglücklichen monachus proprietarius von
Lilienfeld wird dadurch in etwas entschuldigt, wenn man er-
fährt, daß sein Abt beim Antritte des Amtes in der Kloster-
kasse an barem Gelde vier Denare vorfand, wovon 90 Mönche
zu erhalten waren. — (57^) Tempore domini Conradi de (58*)
Lugburck, Ratisbonensis episcopi, fuit in quadam villa sue
diocesis quedam Deo grata virgo, nomine Irngardis, que inter
alia magna et multa spiritualium gratiarum Dei habebat, quod
in extasi sepius rapta et beatoram contubernio fruebatur. utrnm
autem sciret se raptam esse in corpore sive extra corpus nescio,
sed hoc plane scio, quod spiritu rapto corpus insensibile mane-
bat. quod sie probatum est: cum enim quadam vice quidam
solemnis predicator cum quodam juveni fratre supra modum
subtili in predictam villam causa predicandi venisset et ibidem
causa penitentie dulciter predicaret, mox ipsa devotionis fer-
vore inflammata cepit caput in gremium cujusdam assistentis
sibi religiöse femine inclinare. cum autem per tres vel quataor
horas immobilis et in extasi sie jaceret, junior predictus predi-
catoris socius liujus rei veritatem cupiens experiri, excepta
forpice suram sive carnes illas pingucs, que sunt circa ir (Du
Gange 4, 426) manuum abscidit ad spissitudinem duorum vcl
trium grossorum et unius latitudinem, ipsa minime senticnte
et immobili perdurante. post duas vel tres horas cum ipsa virgo
in se roversa quasi de gravi sompno evigilasset, accesserunt,
qui cum abscisione fuerant, et manu diligentius considerata
ipsam sanam et integram in (58*») venerant, ita quod in ea nee
vulnus inveniretur nee Signum alicujus cicatricis. super quo
omnes, qui abscisioni interfuerant, admirantes eam in maxima
Mitteilungon aus altdeutschen Handschriften. 23
veneratione ceperunt habere, ipsa autem virgo, quod cum ea
gestam faerat^ quadam vetala referente cognovisset; obstapait
et hamanam laadem et favorem fagere cnpiens a predieta
Villa receasit et in aliam^ longe a civitate Ratisponensi sitam se
transtolit ubi aliquamdia commorata tandem propter dalcea
et saiabres predicationes in ipsam civitatem venit^ in qua devote
et laudabiliter vivens in Domino feliciter reqoievit. sepulta est
in ambita Fratrnm Predicatoram in anno 1350. obiit infra
octavas Martini. — Von dieser Historie habe ich sonst nirgends
eine Spar aufzufinden vermocht. Weder enthalten die Nekro-
logien der Regensburger Diöcese, welche soeben durch Bau-
mann herausgegeben worden sind^ den Namen des hypnoti-
sierten Mädchens Irmgard, noch wird in den Geschichtsquellen
(tlr das Regiment Bischof Konrad V. von Regensburg, aus
dem Hanse Luppurg, 1296 — 1313 (vgl. Janner, Geschichte der
Bischöfe von Regensburg 3, 98 — 136) des Vorganges gedacht;
auch die von Leidinger jlingst edierten Berichte dos Andreas
von Regensburg wissen davon nichts. Der solemnia praedtcatar
kommt noch an einer anderen Stelle des Traktates vor: (61 ■)
accidit in quadam civitate, ut quidam solemnis predicator multis
temporibus in ea bene predicaret, sed tamen nihil profecit in
populo propter ejusdem populi duritiam. qui aput semetipsum
marmuravit dicens in cor de suo: ,quid est, quod magnum
laborem apponis et tamen nihil proficis predicando? certe tu
excogitabis alium modum, ut possis Deo aliquid lucrificare^
et invenit talem modum Deo inspirante, a quo cuncta bona
procedunt^ et dixit ad populum (61^) et multos ad hoc indaxit,
qoalitercunque tunc potuit, ut quilibet haberet duo specula in
Camera sua: unam commune de vitro, in quo cottidie debet
videre suam caducam pulchritudinem, juventutem, potentias et
divitias; secundum vero speculum debet habere in aliqua parte
camere tamquam in secreto loco, videlicet horribilem imaginem
mortis, cum diversis vermibus, cum bufone in capite et serpen-
libus in oculis, auribus et naribus. que imago habeat in dextera
mann scriptum: ,quid ego sum, tu statim eris; quid ego superbis
de taa pulchritudine, divitiis et potentiis: pulvis et cinisM in
sinistra vero manu scriptum habeat: ,opera tua sive bona sive
mala solum sequuntur se. cur non desinis peccare et tua studes
opera bona multiplicare, que habent te ad celestem ducerc pa-
24 II. Abhandlung: SchOnbacb.
triam?' quod mnlti fecerunt in eadem civitate et maxime profe-
cerunt, ut postpositis vitiis suam in bonis actibus vitam terrai-
naverunt.
Der Traktat enthält auch verstreut eine ziemliche Zahl
lateinischer Verse, von denen ich einige hier vorlege.
(15*») Pauper mensa, labor, sompnus brevis, aspera vestia,
Luxuriam removent munditiamque creant.
remedia contra luxuriam continentur in mctris
precedentibus. —
(34*) Omnea nos cupimus adire regna celorum,
Dura pati fugimus nee opus subire laborura.
5 Asper erit victus, semper labor, asper amictus,
Aspera cuncta tibi, si vis super ethera scribi. —
(35") Non facilis pena prava dixisse de rectis.
Sit licet indignus, qui sacre presidet are,
Sorde tarnen nulla valet hoc sacrum violare.
10 Sicut deterius non fit per deteriorem,
Sic non fit melius per presbiterum meliorem. —
(36*) Non capit hie fructum peccati, qui tenet actum;
Suscipit hie fructum, qui vult vitare reatum.
(38^) Vado mori monachus, ut sit mihi vivere Christus.
16 Ingrediar artum pro celi gloria claustrum.
Nee pudet abjectam pro Christo sumere cappam,
Maxima nam summi dabit ipse premia celi.
Yemps sicut flores, sie (39») mors deflorat honores.
Cum minime memores, mors tonat ante fores.
20 Mors bona justorum pondus fugat esse laborum.
Mors mala pravorum fit origo suppliciorum.
Optimus extiteraa, te fecit honor meliorem;
Kstimo, quod fiat de meliere bonus.
Nephas nunc qui prohibet ab omnibus oditur,
25 Sed qui se prophanum exhibet libentius auditur.
Raro fit antistes, nisi sit de quatuor istis:
Nobilis aut scriptor, servitor causidicusve.
Qui Bolus est Dens, qui bis homo, bestia plus est.
Forma, genus^ mores, sapientia, res et honores
30 Morte cadnnt subita, sola manent merita.
Mitteilungen aus altdeutachen Handschriften. 25
Christo dicente rapiant virginem violento,
Saliern aasten se castigando severi,
MoUia spernentes et carni vim facientes.
Asper erit victus, asper labor, aspcr amictas,
35 Aspera cuncta tibi^ si vis saper ethera scribi.
Dam sedes in mensa; primo de paapere pensa;
Taue bene prandetar^ cum Christas adesso videtar.
Perfidus aspiciat Petram predaque latronem,
Cradelis Paalam, qnem pungit cura Matheum,
40 Zacheam capidas, immandus carne Mariam:
Uos Deos exempiam mando concessit habendum;
at post delictum redeat peccator ad Deam.
Virtus Jeronimi est tarn miranda beati,
Possit nee etiam picture demon ut alias
45 Apparere sue, tanto tremaitqae pavore.
Uec Aagastino discribit dicta Cirillas:
Falgida, virginea; flos parpureas sine spina
Aareola trina nunc tu fulges, Katberina.
Pro nobis ora, nos sustentare labora,
iO Ne mala nos pestis et iniqaus obruat hostis.
Ad montem Syna duc nos, virgo Katherina!
Septaaginta qaiDquc quadringenta milia quinque
Tot fertnr Christas pro nobis vulnera passus.
Dum fero languorem, fero religionis amorem,
56 Expers langaoris non sum memor hujus amoris.
Quando languebat demon^ bonus esse volebat;
Postquam convaluit, talis ut ante fuit.
Si quis non dederit, omnis insipidus erit;
Sed audito nummo, quasi viso principe summo,
60 Dissiliunt valve, nihil auditur nisi: Salve!
Nunc lege, nunc ora, nunc cum fervore labora,
Nunc contemplare, nunc Scnpturas meditare!
Nunc etiam pausa, ne mortis sit tibi causa.
34 f, = 5f- 43 Jeroniiui virtua //*. 46 tremuit ipse pavore
H9. 48 tu fehlt Ht. 60 pestis aut i. If», 66 hujus latiguoris
a. /Z#. 68 Omnibus //«.
^6 II. Abhandlung: Schon b ach.
Sic erit hora brevis (40*) et labor ipse levis.
66 Quod sibi qoisque serit presentis tempore vite,
Hec saa messis erit, cum dicitur: ite^ venite!
Mors tua^ mors Christi^ frans mundi, gloria celi
Et dolor inferni sunt meditanda tibi.
Dormit nocte parum possossor divitiarum.
70 Effigiem Christi dum transis pronus adora!
Salsamenta precum gemitus; suspiria^ fletus.
Angeli hoc dicnnt:
Miramnr omnes, cur orbis exul et hospes
Construit in terra domos, alta pallatia^ castra;
Cur non in celis construit sibi ista fidelis,
75 Ut videat Christum contemplative nobiscum.
Terra transibit^ celnm sine fine manebit.
Post vinum verba, post imbrem nascitur herba,
Post äores fructus^ post maxima gaudia luctus.
Post Studium scire^ post otium vane perire.
80 Si Christum bene sciS; quid obest^ si cetera nescis?
Hoc est nescire: sine Christo plurima scirc.
Aspicc; peccator^ si non sim verus amatorl
Peccasti multum^ noii divertere vnltum:
(40^) Spina, crux, clavi, mors, pena, quam tolcravi,
86 Ostendunt, qua vi miserorum crimina lavi.
Vulnere sto plenus, pro te nimis undique cesus;
Cum morior pro te, videas, quid agas pro mel
Terrae, quam pergis, cape mores, quos ibi cernis:
Si fueris Rome, Romano vivito more;
90 Si fueris alibi, vivito sicut ibil
Dem Metrum, den Reimen, den Barbarismen nach ge-
hören diese lateinischen Verse durchwegs dem späteren Mittel-
alter an, zum Teil werden sie wohl von dem Schreiber selbst
verfaßt sein. Daher begegnen Parallelen dazu weniger in der
GoliardenUteratur, viel eher erst in Handschriften ähnlich junger
82 ff. tpricht ein Kruzifix am Wege. 87 mangeihaft.
Mitteilungen ans altdeutschen Handschriften. 27
Zeit. So stehen von den hier verzeichneten V. 36 ff. bei Novati^
Carmina medii aevi (1883) S. 49; V. 84 ff. dort S. 43; V. 81 f.
bei Jakob Werner, Beiträge zur Kunde der lateinischen Lite-
ratur des Mittelalter (1905) S. 172, 155\
tTbersiGht des Inhaltes.
Bmder Dietrioh. Handschrift Nr. 1637 der kais. Hofbibliothek in Wien,
Beschreibung 8. 1. — Der Liber de incarnatione Domini und seine
Entstehung S. 2. — Bruder Dietrichs Bearbeitung des Hymnus: Jetu,
nottra redemptio S. 6. — Sprache, Vers, Leistung S. 7.
ErbanUohea in Prosa und Versen. Handschrift Nr. 1756 der kais. Hof-
bibliotbek in Wien, Beschreibung S. 10. — Davids von Augsburg Ds
exUrunri honUne 8. 11. — Deutsche [Stücke S. 12. — Ihre Vorlagen,
Heimat und Zeit 8. 16. — Der TrakUt über die Pflichten der Reli-
giösen 8. 17. — Gelehrsamkeit 8. 17. — Erzählungen aus Breslau,
Lilicnfeld, Regensburg 8. 20. — Lateinische Verse 8. 24.
m. Abh.: Rzach. Analekta zar Kritik und Exegese etc.
IIL
Analekta zur Kritik und Exegese der
Sibyllinischen Orakel.
Alois Bsach.
(YorK«legt in der Siiiong am 9. Januar 1907.)
In den M^langes Nicole p. 489 sqq. habe ich eine Anzahl
bislang unbekannter Emendationen A. von Qutschmids zu den
Sibyllinischen Orakeln ausführlich besprochen, die ich aus seinem
mir von Herrn Professor Rühl in Königsberg zur Benützung
gütig überlassenen Manuskripte 'Libri SibjUini ex recensione
Ä. von Gutschmid' publizierte. Die folgenden Auseinander-
setzungen sollen eine weitere Reihe wertvoller Vorschläge des-
selben Gelehrten zur Kenntnis der Fachgenossen bringen, wobei
bemerkt sei, daß die Konjekturen in dem Manuskripte ohne
jede Begründung oder Erklärung angeführt werden.^
An die Besprechung dieser Emendationsvorschläge habe ich
eine Reihe eigener Beiträge zur Kritik und Exegese der Sibyl-
linen angeschlossen, die sich mir bei erneutem Studium dieser
in unserer Überlieferung so arg verderbten Texte ergaben.
I 35 ouTS Y^P 3apaa{Y) voov loxe^ov oGie pi^v a!$(ü>
a{Af u) eT^ov, äXX' ^jaov xpa§{7]C dwcaveuös xoxolo.
Die Handschriftenklasse ^1', die trotz aller Verderbnis
gelegentlich noch einen Rest der ursprünglichen Fassung besser
' Eine Anzahl der Lesarten Gatachmids ist bereits von Rühl selbst nach
dem erw&hnten Manuskripte im IV. Bande der Kleinen Schriften Gat-
Bchmids p. 222^ sq. yerOffentlicht worden. Manche schOne Emendation,
die Ton anderen Gelehrten publiziert ward, bevor man von der Existenz
des Manuskriptes wußte, finden wir auch hier yor. Nach Rühls Mit-
teUnng a. a. O. p. 222 Anm. hat es seinerzeit Mendelssohn vorgelegen,
dem es mit anderen Papieren übergeben worden war.
:ÜU«Bfwb«r. d. phil.-hUt. Kl. 16«. Bd. S. Abh. 1
2 III. Abhandlung: Rzach.
durchschimmern läßt als ^, gibt im Eingange von V. 36 die
angeführte Lesart, wogegen ^ karzweg eT^ov bietet, was GeflFcken
nicht hätte in den Text aufnehmen sollen. Gehört doch die
Längung einer kurzen konsonantisch auslautenden Endsilbe
vor folgendem vokalischen Anlaute in der Thesis zu den be-
denklichsten Dingen im Bau des griechischen Hexameters:
dergleichen ist auch keinem der Sibyllisten zuzutrauen.
Längst hat deshalb Alexandre, der Spur, die in W vor-
liegt, folgend, a(x<p£xov hergestellt, das auch dem Sinne besser
entspricht als einfaches eT^ov. Dem gegenüber schrieb Gut-
schmid, offenbar einem bekannten Lautgesetze zuliebe, in
seinem Manuskripte a|jt.7uexov. Handelte es sich um das klassische
Epos, so wäre hiegegen nichts einzuwenden. Denn in den
Homerischen Gedichten lesen wir dlfjLwexev l^ 225 ohne Variante.
Für die spätere Zeit aber und namentlich für die hellenistische
Dichtung steht die Sache anders. Der Attizismus zeigt schon
an der Wende des sechsten und fünften Jahrhunderts im Volks-
munde Formen wie xaOe/si C. I. A. I 478, 2 (= Kaibel, Epigr.
Gr. lö, 2)/ wo die Dissimilation neuerdings gestört und die
in der Nähe einer Aspirata stehende Tennis wieder aspiriert
wird: diesem >ca6exei stellt sich dti^^ex^t auf einer Inschrift von
Astjpalaia L G. L M. Aeg. IH 220, 6 aus dem zweiten Jahr-
hundert zur Seite. Dieser Gebrauch fand, so weit wir sehen,
seinen Eingang in die epische Literatur in der alexandrinischen
Epoche, denn wir lesen, bereits bei Apollonios Rhodios Arg.
A 324 vortrefflich überliefert Sspjxa — dtfjL^syeT' wpiou;, was nicht
ohne weiters mit Hölzlin in dix'^c^cT zu ändern ist, ebenso-
wenig wie etwa das in den Orphischen Argon. 1042 Ab.
handschriftlich gebotene iix^exev nach Hermanns Vorgang in
aiJLxexev umgewandelt werden darf. Bei Apollonios findet sich
freilich an einer andern Stelle Arg. B 1104 xsXacvY) V oupovbv
a/Xu; a|jL::6y^6v, aber ich habe schon einmal darauf hinge-
wiesen,* daß der Dichter sich hier offenbar nicht von der für
ihn vorbildlichen homerischen Form (SfjLxex^v entfernen wollte.
Und nachmals nimmt die Form mit der Aspirata überhand:
speziell Quintus Smyrnaeus verwendet das eine apt-^^X^v etwa
' Vgl. MeUterhaDS-Schwyser, Qramm. der attisch. Inachr." 102.
' Grammat. Stad. zu ApoUon. Rhod. 51.
Analekt« sur Kritik nnd Exegese der Sibyllinischen Orakel. 3
zwanzigmaH stäDclig. Demgemäß dUrfen wir auch für unsere
Stelle an der von Alexandre vorgeschlagenen Form festhalten.
I 38 tml\ (UTiiceixa Se toi71 Oebq d(peT|A3c^ är^opedaaq
Die Codd. PB geben tou, während in Sp t' ou, in A 6' o5
und in W o5 vorliegt. Auf verschiedene Art suchte man die
Stelle zu emendieren; ich erwähne M. Schmidts ^oO, Mendels-
sohns loO; ich selbst dachte an ^ei^i tivo(;: denselben Begriff
hielt auch Gutschmid für angemessen, indem er einfacher
SttJ^v TOU schrieb.* Auch anderwärts ist in der Überlieferung
das Indefinitum verkannt worden, wie V 233 Iv <joi ti; ßaaiXeu«;
ücpcv ßfov &Xeae ^if06{(;, wo Elouöek dies Pronomen an Stelle
des handschriftlichen xfq herstellte.'
I 157 aiS^aörjTe, ßpoTof, xov uxepiAefeOY) xal ÜTpeaTov
oipiviov xxtcn^v, öebv dt^Bixov, S? 7:6Xov oixet.
Unerschrockenheit wird man kaum als ein angemessenes
Epitheton Gottes ansehen können, wohl aber kann neben urcep-
\ksr(i^^^ ein itpeicTo? ^unerschütterlich, unwandelbar' stehen, wie
Gutschmid vermutet hat.
I 258 dXX' Sre St; ^oO(o(^ i%\ xufjKxaiv Iv6<x xai Iv6a
^r<7vu|JLdyYj 4X(f T)q lic* i^iövoq lon^pixio.
Hier ist nur Hases Konjektur apißpoafrj Te/vv; für das hand-
schriflliche «[xßpoaft) x^xv?) aufgenommen ; in V. 260 ist h:' Lesart
von *, wofür W M gibt, um die fehlende Silbe zu ergänzen.
Am Eingange dieses Verses hat seinerzeit Opsopoeus thj^vuix^vy;
vorgeschlagen: indes sind die Worte or5[xaffi wovtou ^T)Yvu[jiivi},
die man doch syntaktisch verbinden muß, an sich unanfechtbar,
während bei Annahme von Opsopoeus' Konjektur der Ausdruck
' Posthorn, m 6, 2ö, 668, V 106, VI 226, 293, VU 260, 584, 656, Vffl 483,
1X273, X 64,460, Xn367, 466, 666, Xin 12, 190,479, XIV 39. Nirgends
ist bei Zimmennann eine Variante yermerkt.
* Mit drei Spondeen wie V. 39 beginnen auch andere Verse dieses I. Baches:
67 (in der hdsohr. Tradition), 80, 86, 94, 107, 121, 284, 321, 382.
' Wie ich aus Gatschmids 'recensio* ersehe, hat auch er den richtigen
SaefaTerhalt erkannt.
l*
4 tn. Abhandlung: Rzach.
o?§|jLa(7t x6vTou sozusagen in der Luft hängt. Man wird die
Überlieferang um so eher halten können ^ als von der Arche,
dem o'y.05 OsoTcealOi;, schon früher (V. 226) gesagt wird: xoXXoicr.
^k x6|xa(Jt Xaßpoi; | pYJYv6{jLevo(; xat vTiX^jxevog^ dtve(X(i>v iwcb ^vKr^q.
Den metrischen Fehler in unserem Verse, den schon die
Sippe W zu beseitigen strebte, wird man nicht, wie Qeffcken
tat, dadurch erklären dürfen, daß man hier einen Hexameter
mit einem Trochäus an dritter Stelle gelten läßt. Vielmehr
ist wie anderwärts* ein Wörtchen ausgefallen: ich vermute
jetzt 6\l-xTi<; Tou Ix' iQt6vo(;. Gutschmids x6t empfiehlt sich (nach
5x6 in V. 258) wenig.
I 261 £oTi Se Ttq ^puffv)? iiz i^xsfpoto |X6Xa(vY)q
i^XißaTov Tavu[ji.Y]xs<; Spoc;, Apapor ^h YJxk&Xxon,
Längst hat hier Alexandre ti fUr das handschriftliche t(^
geschrieben. Aber es fehlt dem dritten Fuße noch eine kurze
Silbe, die Castalio durch die Schreibung iizl (wie W 260 irzX
]^6vo( gibt) zu ergänzen suchte. Allein solche Hiate, am Ende
des dritten Fußes, sind auch den Sibyllisten nicht zuzutrauen.
Gutschmid dachte an 2(ni 8^ toi 4>puY^Trj? Tt xtX.: indes wenn
sich auch die Eingangsformel loii de tci vorfindet,' so ist doch
die geläufigere gori U tk; wie z. B. Hom. B 811 A 711, 722
Y 293 8 844, oder bei Apollon. Rhod. Arg. A 936 B 360 u. s. ;
e(jTt 8^ Tt Hom. N 32. Deshalb möchte ich lori 8i ti nunmehr
nicht antasten und 4>puY^rj<piv vorschlagen, wodurch die noch
vorhandene Schwierigkeit beseitigt wird. Die Bildungen mit
^i(v) sind zwar bei den späteren Hexametrikern eine seltene
Antiquität, aber doch finden wir in den Sibyllinen III 797
fiv{xa 8r| TudvTwv to teXc^ YaCr^^t y^''^<'^<*' einstimmig überliefert;
an einer zweiten Stelle VIII 390, wo die beste Klasse Q ou
Xp7)!^a) Öü5(rj^ f| cTTovS^^ TfjixeT^ptiutv, ou xviarjq |Jiiap^; xtX. bietet,
hat Alexandre zweifellos richtig u(xeTipif)9iv geschrieben, wogegen
in ^W bereits die Korruptel Oüaiöv ^J cxovBwv i^jfj.sTep(i)v xs vor-
* HiefQr habe ich seinerxeit icXi]a9^(xevo( in VorechUg gebracht.
* In 1235 xat Xsüaa; u^atcov cbceipeatcov icoXu icX^Oo<, wo auch die Annahme
einer Lftngung des ersten Vokals ron obcetpEa(<üy unstatthaft ist — Tgl.
I 204 ^i^oLi a]cctpea{(u x^7{ji(i), 224 yf] ^0X0907] | noiva «ccipiaio^ n. a. — er-
gHnst Gntschmid u. av* a^Etp-oitov noXu icX^Oo;.
* Z. B. Arat. Phainom. 233.
Analekt« zur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 5
liegt, die wahrscheinlich darin ihren Ursprang hat, daß man
jene Bildung mit 91V für einen zu gewagten Archaismus ansah
and sie lieber durch eine ungeschickte Änderung (-^(j.6Tep(i>v ts!)
beseitigte.
® Te^fiTai, 1^ y aXo/o«; ^ia<; Xö-fw oövofxa Sdbaei.
Diese beiden Verse gehören zu den fünf neuen des ersten
Baches, die uns Mras aus der von ihm neu entdeckten Sibyllen-
Theosophie des Cod. Ottobon. Gr. 378 wiedergewonnen hat.^
Das zweite Hemistichion des ersten Verses ist vom Heraus-
geber emendiert (der Cod. bietet 6eoO X6yov u^foroio). Während
er im zweiten als Lesung des Autors der Theosophie 1^ V aXo/o^
^; (xw) X6y(i) oövofxa Swaei (oXo/o? 90)^ = jungfräuliches Weib)
ansieht, hält er dafür^' der ursprüngliche Wortlaut des Sibyllen-
verses sei gewesen t^ 8' akoypq ^dq (xal) Xo^w oövofjia Öwaei im
Sinne von 'die Gattin (Gottes) aber wird dem L. Licht und
Namen geben, d. h. zur Welt bringen'. Diese Annahme scheint
mir nicht zuzutreffen. Es kann in den Worten t^ 8' — Stlxiei nicht
zam zweiten Male von einem 'zur Welt bringen' die Rede
sein, da zi^&xai schon vorausgeht. Auch die seltsame Stellung
des xa{ muß Bedenken erregen. Ich möchte mich eher fUr
die Schreibung i% V* (oder iß* ?) a).o)ro<; ^wToq Xö^w oövopLa Bwaei
aussprechen 'und die Jungfrau dem Logos den Namen des
Lichts (= Gottes) geben wird', also ähnlich wie der Verfasser
der Theosophie (p. 47, 11) paraphrasiert: TouTeoriv it oXoxo?
(^Mras, Cod. SkaXo^) avOpunro^ tü) Xö-^o) toO OeoO 5vo[ji.a 6; {ay^tysp
exi^^ffee, nach der Stelle des Matth. Ev. I 23 (nach Jesaias
VII 14) 80Ü, it wap6^vo^ Iv YÄCTpl i,^ei xal i£§cTat üibv xal xaXdcoüJi tb
:v5iiÄ 06x00 *E|JL(Aavoui{X, 5 Soii fAeOepfjLtjveuofjLevov ,[X68* tq|jlwv 6 öeo?'.
Daß fco; im übertragenen christlichen Sinn von einer
göttlichen Person gebraucht wird, brauche ich wohl nicht aus-
* Vgl. Mras, Eine neuentdeckte Sibyllen-TbeoBophie, Wien. Stud. XXVIII,
p. 46 und 59. Die Vene gehören iu die Lücke vor I 324, die Alexandre
längst konstatiert hat; doch ist durch sie diese Lücke zwischen 323 und
384 noch lange nicht yOllig ausgefüllt.
Auch sonst enthält die neue Theosophie wertvolle Behelfe für
die Kritik der Sibyllinen, da wir auch bisher unbekannten Lesarten in
den Zitaten begegnen, z. B. I 346 IOvt) 8' iyepouvtoti auiou b^y^f^an.
' A. a. O. p. 59 Anm.
6 m. Abhandlung: Rzach.
einander za setzen: man lese nur das 1. Kapitel des Evange-
lium Johannis; vgl. übrigens auch Sib. VIII 454 sq. xat ^or/b<;
6X6ü)v I xapOevou 1% Map(a<; Xa^ovcov ÄviteiXe v£ov ^w^ (von Christas).
II 13 ^XeuOepowpada B' eorai
TCXe{ffTot^ Iv [jL6pox£(jffc x«! lepo(j'jX(a vaöv.
Die Verbindung -scXe^aToi^ ev fjLspoxsaciv muß Befremden
erregen, da sich der Begriflf von wXetoToq doch offenbar auf
^X6ü66poxpag(a und UpoouXCa beziehen muß: ^überaus häufig
findet in dieser Zeit Verkauf von Freien in die Sklaverei und
Plünderung von Tempeln statt*. Man wird deshalb ohne Be-
denken der einfachen Verbesserung Qutschmids 7cXs{9tiq ivl
|jL6p6xeaffi zustimmen. Es scheint, als ob die — vollkommen be-
gründete — Längung der Schlußsilbe von lv( vor einfachem
folgenden Nasal ^ die Änderung des ursprünglichen Wortlautes
veranlaßt habe.
II 29 %a\ t6t£ 5' eipTjViQ xe ßaöcidc xe juvsat^ icnai.
Bislang beließ man (joveaiq trotz der auffallenden Länge
des u im Texte, obzwar anderwärts VIII 452 f^^ xal ouvsok; mit
regelrechter Quantität vorliegt. In formeller Hinsicht ließe
sich nun leicht Abhilfe schaffen, wenn man, wie mir einmal
Nauck brieflich mitteilte, xat 16x1 S' eipu^vt) -c' lorat c6vea(? Te
ßaOeia umstellen würde. Denn die Länge des ffuv durch oüve-
yjitx; Orac. Sib. I 308, 390 begreiflich zu machen, geht nicht
an, da es damit eine ganz andere Bewandtnis hat;' ebenso
wenig darf etwa XI 208 TeipiSo; i^ apiOfjioO (7üv(«>vu[jiov als Ana-
^ Die Verbindung hii (lepoicsaaiv findet sich sonst mit LSngung des aus-
lautenden kunen Vokals in der griechischen poetischen Literatur nicht
yor, aber lahlreiche ähnliche Fälle; Tgl. Hymn. Hom. III 58, 419, &01
xaT« {jipoc (Längung in der IV. Hebung), Maneth. III 411 Ik\ (M{p?)9t
(IL Arsis) ; vgl. weiters das homerische A 76 hn |i.eyapoi9tv (II. A.) und
von nicht homerischen Beispielen aus jüngeren hexametr. Dichtem:
Empedokl. Fr. SO, 1 D. ht\ (uXüaaiv (IV. A.), das aach Maximos ver-
wendet 416 (11. A.), ferner ApoUonios Rhod. A 464 In (jiwotoi (IV. A.),
Orac. Sibyll. XI 61 hti (uXa6poiat (IL A.), Porphyr. Orao. Append. 3 (ed.
Wolflf) ivt lutxdLpeaoiv (II. A.), Gregor von Nasiauf II 1, 13, 7, Caill. hti
|uaaToi9tv (IV. A.).
* Vgl. meine Schrift 'Neue Beitr. lur Technik des nachhom. Hexam.*
p. SOsq.
Analekta zur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. «
logie angeführt werden^ wo durch Alexandre and Volkmann
längst dcptO(AoTo auvb)vu|AOv hergestellt ist.
Aber nicht bloß in prosodischer Hinsicht läßt sich hier
das Wort <rjveai<; beanstanden , auch begrifflich reicht es nicht
za. In Verbindung mit elp-fyrri ist weniger ouveai; 'Zusammen-
treffen, Vereinigung^ als vielmehr ein anderer angemessener
Ausdruck am Platze, den Gutschmid als ursprüngliche Lesart
ansah, ^uXXudi^, im Sinne von 'Friedensschluß, Aussöhnung^
ein Wort, das gerade in der hellenistischen Literatur, wie z. B.
auch in der Septuaginta, die für die Sibyllisten so vielfach
stoffliche Quelle war, sehr beliebt ist.
II 35 Xa[A<];e( ^aip orsfoEvü) Xa\>,T:p^ %apo[Loho^ aorrjp
Xa|JLxpbg Tca[ji^a(v(i)v dm Oüpavoö «iyXt^cvto?
Die an sich tadellose Wendung dcnrip XajjLTcpb; rafjupafvwv
i'in H' steht Xapi^po)^) ist einem bekannten homerischen Muster
E 6 sq. oLTQip" . . . 5{ Te [xaXiGra Xa(ji.xpbv xapi^afvY^ai frei nachge-
bildet; allenfalls könnte man versucht sein, auch in der Sibyllen-
steile 'ka[L%p6^ zu schreiben. Aber der Vers (36) ist nicht in
Ordnung, da eine kurze Silbe nach wajjLf «(vwv fehlt. Dieser Um-
stand hat Gutschmid veranlaßt, Xafxi:«^ TuajjL^a^cuaa zu konjizieren,
wodurch jener Anstoß beseitigt wäre. Ich habe seinerzeit das
Wörtchen xe beigefügt,^ wodurch Xafjixpc? und wajji^aivwv als zwei
gleichberechtigte Epitheta verknüpft werden.' Auf Gutschmids
Vorschlag einzugehen, widerräth der Umstand, daß wir unter
den neuen Versen des I. Buches, die wir der von Mras her-
aasgegebenen Sibyllen -Theosophie verdanken,* auch folgende
zwei vorfinden:
xat tot' im dt^/ToXft;? aaTr,p Ivl r^ixaffi fJLSaaoiq
Xa|jLicpb^ TCa|jifa(vü)v dm oupavoSev xpc^avehai.
Hier kehrt dieselbe Wendung wieder;* und auch Mras
hat sich entschlossen, nach i:a|ji.faivü)v ein ts einzusetzen. Dagegen
* Metr. Stud. sa den Sib. Orak. 71, wo ioh auch an jcafji^aeivtov ic£p dachte.
' Wegen des zulSnigen Hiatas ygl. meine Metr. Stud. zu den Sib. Orak.
p.48eqq.
* Vgl. Mras, Wien. Stud. XXVni, p. 46 und 59.
* Vgl. auch XII 30 oXX' i?cdrav aax^p iravtECxcXo« i^cXioio | Xo4ucpo( ebc* oupa-
8 III. Abhandlung: R zach.
wird man sich davor zu hüten haben^ die überlieferte Fassang
ohne weiteres beizubehalten, da dies an dritter Stelle des Hexa-
meters einen Trochäus dulden hieße, im Sinne Geffckens;
ebenso wenig wird man sich mit dem Auskunftsmittel behelfen
dürfen, etwa mit unerträglichem Hiatus am Ende des dritten
Fußes dxb o&pavoOev, resp. in:o o&pavou zu schreiben.^
II 187 %ai t66' 6 öeffßhrj«; im ojpavoö &p[ka Tcuafvwv
oOpaviov xtX.
Den ersten Vers hat Qeffcken seiner Theorie gemäß un-
verändert im Texte belassen. Ich dachte früher,' die Lücke
sei durch Einfügung des Wörtchens jxev — wegen fafr) V eictßi?
in V. 188 — zu ergänzen. Nunmehr halte ich dafür, daß sich
durch eine bloße Wortumsetzung und geringftigige Änderung eine
vollkommen befriedigende Lösung der vorhandenen Schwierig-
keit herbeiführen läßt. Man weiß, wie häufig in unserer arg
mißhandelten Sibyllentradition einzelne Worte, Hemistichien und
ganze Verse verstellt worden sind. Ich schlage vor zu schreiben :
xai tot' ätc oüpavoOev Beorß^TY)? Spp.a TiTafvwv
oupfltviov xtX.
Der Ausdruck onc' oupavoOev ist gerade an dieser Versstelle
den Sibyllisten sehr geläufig, vgl. z. B. in unserem Buche
II 38, 197. Das Epitheton cupavtcv (zu &p{xa), welches verschie-
dentlich (auch von mir) Anfechtung erfuhr, kann neben icn
oupoEv60ev geduldet werden, da ähnliches auch anderwärts nach-
zuweisen ist: so in diesem Buche II 200: xal 7r6Xov o6pav(ov,
drcap o6pdviot fojor^pe^ xtX., wo die beiden Worte im selben
Verse nebeneinander stehen.
II 227 y.at t6t (^ijlscXCxtoio y.«t dppi^xTou dt5a|ji.avT0<;
xXeXOpa ':;eXü)pa i;uX(i>v Te ax^XxeuTou A{§ao
pT}^i(jLevG; 06piT;X piif ag a-f/eXo? eiOu ßaXeiTai.
So lautet im wesentlichen die Überlieferung, nur hat W xe
xapT^xTou (für xal ippTJxTou) und weiters dxaXxeu-ou t\ Es sind
mehrere Versuche gemacht worden, die hier vorliegenden
Schwierigkeiten zu beseitigen. Ich möchte diesen mit einem
» Vgl. meine Schrift 'Metr. Stud. sn den Sib. Orak. p. 67 »qq/
* Ebenda p. 70 tq.
AnalekU zur Kritik und Exegpese dor SibylliniBchen Orakel. 9
neuen Vorschlage begegnen, wobei ich mich auf die Versetzang
eines einzigen Bachstaben beschränke. Da wir statt dcxaXx€6Tou
gerade das entgegengesetzte Epitheton bei 'Ai^ao erwarten, lese
ich i:uXuvi te /aXaieuToO \i^ao ; allenfalls ließe sich aach x^X%e\j^h^
hören. Wilamowitz' Umstellang der Schlußworte in den V. 227
und 228 (äSoEiaovto; und Afdao), so yerlockend sie zunächst er-
scheint, wenn man die Verbindung (i|JL€iX{xToio yuxi (ippi^KTou \l^ao
ins Auge faßt, leidet doch an der Schwierigkeit, welche die
Verknüpfung des Epithetons <i/(xXy.euTou mit dSaixavrc; verursacht.
II 277 "tfi^ b%6<J0i ic{aTei? t£ äiuTQpvK^aavxo Xaßivrei;.
Das Wörtchen xe ist hier ein armseliges Füllsel ohne
jede Existenzberechtigung.^ Beseitigt man es aber, so geht
der Vers in die Brüche. Meines Erachtens ist ^rforetc an Stelle
eines anderen Ausdrucks desselben Stammes und gleicher Be-
deutung etwa als Glosse für ^i(7T£6(jiaT', das ebenso 'Unter-
pfand der Treue, Bürgschaft' bedeutet, in den Text gedrungen,
worauf die fehlende Silbe durch jenes in den Sibyllinen so be-
liebte Verkleisterungsmittel (ts) ergänzt wurde.* Die Ver-
tausch ung von Worten desselben Stammes, aber von metrisch
verschiedener Form findet sich auch anderweitig in der Sibyl-
linentradition vor, wie z. B. bei (rfi\ia or^ixeiov or^pLi^^tov.^
III 152 xat xÖTe Bi^ pLtv axouaacv ulol xpaTspoTo Kp6voio.
Das Pronomen (xiv läßt keine rechte Beziehung zu. Man
könnte es als Plural (d. i. Kronos und Rhea) oder als Singular
(Kronos allein) auffassen, was aber unter ixiv oxouaov eigentlich
zu verstehen sei, bliebe immer unklar. Deshalb dachte Gut-
^ Ich habe daftlr früher yc yorgeschlagen.
* Auch fonst deutet das Fehlen einer Silbe auf Ähnliches hin. Der Vers
XI 271 lautet in den Hdschr. ^( 91X17); fxaii iavti^.?) x^P^^ (x£t£xovTe(;
die hier Torliegpende Schwierigkeit scheint mir Gutschmid am besten ge-
heilt SU haben, indem er ^iXirj; durch ^iXottjtoc ersetzte und dann
^aptv (i-vi{|i.f) umstellte (letzteres auch Mendelssohn).
* So ist II 188 allem Anscheine nach mit Mendelssohn yoii) S^ iict^t 9t)-
|i.ii(a tpiaaa sn schreiben für das hdschr. tote aiJjAaxa rpiaoa, da tote
schon einmal im selben Satzgefüge V. 187 yorangeht; anderseits ist
XI 26 für hdschr. oy[|i.a 8* l^xai 2xeivci> (jiiya touxou xporclovio;, wie ich
yermutet habe, nach XII 72 offenbar herzustellen 9T)|i.6iov $' larai 90-
ßepov Toutou xpaWovrof.
10 ni. Abhandlung: Rzach.
schmid, es ließe sich die Stelle heilen, wenn man tm tot*
o§up(ji.bv schriebe: die Söhne des gewaltigen Kronos hätten die
Klage der in Bande geschlagenen Eltern vernommen. Indes
entfernt sich dieser Vorschlag weiter von der Überlieferung
als die einfache und scharfsinnige Emendation, die seither
Wilamowitz vortrug: durch Änderung bloß eines Buchstaben
erzielte er den völlig zutreffenden Ausdruck <pf){jLiv: Mie Titanen
vernahmen die Kunde von der den Eltern angetanen Unbill*.
Zweifellos wird man dieser schönen Vermutung den Vorrang
vor der Gutschmids einräumen müssen.
III 205 ^pü^e? 5' IxTca^Xot oXoövxat
Gutschmid schrieb das Adverb IxTca-fXov: denn es soll
doch des rühmlichen Unterganges der Phryger (Troer) und ihrer
Stadt gedacht sein. Doch wird man noch einen kleinen Schritt
weiter gehen dürfen. Unsere Stelle ist das Vorbild fUr XIII
32, 108 Supot 8' IxTvo-fX' dwoXoövTai. Erwägen wir, daß uns filr
Buch III die Tradition der Sippe Q nicht zu Gebote steht, die
dort, wo alle drei Rezensionen nebeneinander vorliegen, wie
z. B, im IV. Buche, einen erheblich reineren Text vermittelt,
so läßt sich vermuten, daß auch der Schluß von III 205
dereinst Jy-^a^X' dzoXoövTai gelautet habe.
III 207 auT^xa xat Udpctiat Y.ai ^Accupteig iMxb^ fj^et
wacY) t' AifüTCTW AtßüYj t' rfi' Ai6i6i:eaaiv
Kap?( Te na|jLf6Xot^ xe xaxbv fjLeTaxtvr^Oijvat
xal ::avT£ffffi ßpoTOWi. t( 8^ xaö* Sv d^oqf opeüw;
Die Stelle kehrt XI 53 sqq. wieder, doch ist für den
Schluß von 209 (nach dem Eingänge von 210) 18' aXXotq xafft
ßpcTcTai gesagt. Für die Emendation des zweiten Hemistichions
von 209 ist somit aus jener Nachahmung nichts zu gewinnen.
Es gelang bisher nicht, diesen Versschluß einwandfrei herzu-
stellen.* Ich glaube nun, es sei nach naji-^uXei? t£ eine starke
' Alexandre dachte an xouto; (i.£Taxtv7]072vai : 'deinde pro xaxov vide an xoxbK
legas, nisi infinitiyns pro aubstantivo samitnr'; er übersetzt 'Pamphyloa
Caresqae domum matare coactos^. Gutschmids Deutung (Kleine Sehr.
IV 229) *das Unglück hin und her geworfen su werden' bringt eben>
falls keine Forderung; auch seine weitere Konjektur xaxoSv fiiia xivijOiJvai
Analekta zur Kritik nnd Exegese der SibylliniBchen Orakel. 1 1
Interpnnktion zu setzen. Nach der Aufzählung der einzelnen
Völker, denen Unheil droht, dürfen wir, zumal es am Schlüsse
heißt t{ Sy) xoO' Sv Igorfopeuü); eine summarische Zusammenfassung
der Ankündigung des nahenden Unglücks erwarten. Es ist
dann vielleicht xaxbv [t.t{a xivYjOetY] | xat xoEvreaai ßpoToTcri zu lesen,
mit dem Optativ Aoristi im Futursinne nach häufiger sibyllini-
scher Ausdrucksweise. Der asyndetische Anschluß findet sich
bei den Sibyllisten wiederholt vor. Auch erscheint xaxov nicht
bloß einfach wiederholt, sondern der Begriff xaxbv [ki^a reprä-
sentiert eine Steigerung. Also ^gewaltig Unheil wird auch über
alle anderen Sterblichen kommen (sich in Bewegung setzen)'.^
III 215 6{jLb)(; xal TcovSe ßon^au)
9ÖX0V %ai Ysvetiv waTäpwv xal Stjfxov dwavTWv
icavTa 7cepifpa$^ü>q
Das Schlußwort von V. 216 i'jcavrwv ist unstatthaft. An
der Eorruptel scheint das unmittelbar folgende izdyzoL mitschuldig
zu sein. Gutschmid vermutet mit leichter Änderung aicXiQTov.
in 258 xat üjv dpa -zi^ xapaxouoY),
f|6 v6|jL<}) T{(jet£ 8(xt;v y) x^pol ßpoTeiai^
TQS XaOb>v övrjTOü? xacT) 8(xy] d^aitoXsiTai.
Denen, welche die Gebote Gottes nicht hören wollen,
wird Strafe angedroht. Offenbar sind nur die beiden durch
Tfi eingeleiteten Sätze disjungiert: der Ungehorsame wird ent-
weder v6{xcj) — nach dem Gesetze — büßen, und zwar durch
Menschenhand oder, wenn er den Menschen bei seinem frevlen
Tun verborgen bleibt, durch die (göttliche) Gerechtigkeit seinen
Untergang finden. Es kann aber nicht etwa eine weitere Dis-
junktion innerhalb des ersten dieser Sätze, also zwischen v6(jl(i)
und yjs,pcii ßpoTefai^, angenommen werden. Es scheint vielmehr,
daß 9J nur interpoliert worden ist, indem man übersah, daß
dem Begriff Murch Menschenhand' im zweiten Satz Xa6ü>v
itt mir nicht klar. Uerwerden schlug vor (Mnemos. XIX 357} t^ a^copov
(UToouvfjO^vat, nm das nach dem Substantiv xoxov adverbiell folgende xaxöv
SU beseitigen; Qeffcken endlich empfahl xoxov (jiya xotvcoBTJvai.
^ Wegen der Verbindung xoxov xtvEtv vgl. Sophokl. Oid. Tyr. 636, wo,
allerdings in anderem Sinne, es heißt: oOS* l^coioxuvsaOe yi\^ \ oOtü) vovouot);
ISio xtvouvrc( xoxo;
12 III.AbhandlaDg: Rzach.
OviQTou? — den Menschen verborgen, also ihnen unerreichbar —
parallel gegenüber steht. Der ursprüngliche Wortlaut wird
Xeipeaai ßpoT6(ai? gewesen sein. Gutschmid wollte ^ durch ri;
ersetzen.
Zu V. 258, wo -MLi nach einer starken Interpunktion
in der Senkung des dritten Fußes lang erhalten bleibt vor
folgendem Vokal, was sonst nie der Fall ist,^ dürfte es einst
xat lav geheißen haben; die Konjunktionen liv, Srav, &k6xol^
werden bei jüngeren Hexametrikern häufig genug in der Arsis
mit gelängter Schlußsilbe vor folgendem Vokal gemessen, und
zwar in der IL und IV. Hebung, wohl nach dem homerischen
Muster Sirrco)? xiv IOdXY)<Jt V 243.*
III 277 o6$6 (poßr^eei?
(iOavaTOv ^evsT^pa Oewv ^ravTWv t (ivÖpwxwv
oüx ^6eXe^ TijjLav.
Alexandre schlug seinerzeit Oebv itivxwv avöpwxwv vor:
daß jedoch die Stelle der monotheistischen Auffassung nicht
widerstreitet, glaube ich durch Hinweis auf den Spruch des
Xenophanes Fr. 23, ID. £T<; 6s6q, ^v xs öeotai xal devOpcoico'.ai ijlsyi-
(no^ dargetan zu haben. Wäre etwas zu ändern, so müßte
man der Konjektur Gutschmids fsveiijpflc 6' Tov xöcvtwv t' dvOpc!)-
wwv vor der Alexandres den Vorzug geben; ioq wäre hier, wie
öfter auch in der Sprache der hellenistischen Epiker, für die
zweite Person — es wird das Volk Israel angesprochen —
verwendet.
lU 283 (xXXa au (jl([jlvc
TUiore'jwv ixe^aXcio 6£o0 orf^diai v5[j!.oiaiv
6z:r6T£ (jeTo y.apLOv ipObv y^vu Tupb? (pao? apt;.
^ Vgl. meine Metr. Stad. zu den Sib. Orak. p. 29 sqq.
' Vgl. ebenda p. bOsq. Ein paar Beispiele mögen angeführt werden: ixv
bei Archestratos Fr. 23, 1 R. iav iai^rn. Fr. 10, 6 iart Imxtapto; IXOi);,
Fr. 12,1 Ion l Anthol. Pal. XI 161, 3 iav JfSi] xataXuor];; otav bei Maneth.
V 42 otav iirixmpa, Orac. Sibyll. I 387 IvOev orav *Eßparot, VUI 87 kxSxjm
oiov IXOt], XIII140 £awoi otov EXOaxn; 67C($tav in den Orac. Sibyll. I 362
oXX* ^oTov 'Eßpa{oic, I 377 inotov 'Ai8ü)vio( oTxov, I 392, III 183 iicorov
ap5tt>v9*, II 5 iicotav Iäi y^«» XI 47 ÄX' iwoiÄV &pEij, XIV 185 &tor«v «PXJ).
VUI 88 iicdtov iici xu|Mt(7tv IXOt), XI 30 aXX* 6norav aatiip, XI 107, Xm 138
^ÖTOv ^^t, XIV 320 bs S' 6]coiav h Battt 91X7}.
AnalekU xur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 13
Offenbar liegt hier der Gedanke vor: *du aber magst
jederzeit des gewaltigen Gottes heiligen Gesetzen vertrauen,
der einst dein müdes Knie aufrichten wird zum Licht'. Dem-
gemäß kann man Gutschmids einfacher Änderung 5^ izots. ohne
weiteres zustimmen. In derselben Weise hat Alexandre XII 81
c^ ^OTS für &k6z& von Q geschrieben, während an der Muster-
stelle V 29 5(; TCOTs in 4>W unversehrt erhalten blieb.
III 327 xat xaT avdYXYjv Tcavreg IXeüdsaO' eiq oXeOpov
So bieten die Handschriften {W ^XeuasvOe); die hier fehlende
Silbe ergänzte Dausqueius durch Einfügung von t6v; möglicher-
weise aber stand hier einstens 5v, das dann, weil die Ver-
wendung dieses Pronomens mit Bezug auf die zweite Person
Pluralis als unstatthaft erscheinen mochte, gestrichen wurde. ^
Gutschmid will die Stelle durch die Schreibung el<; ^XcOpeuaiv
heilen: doch muß bemerkt werden, daß dieses Substantiv, so
häufig das Verbum dXo0pe6(i) und dessen Komposita vorkommen,
bei den Sibyllisten nirgends belegt ist.
III 330 Toövexa 5yj v£xpä>v -juXu^pY) otjv Y«i«^ iiuo^j^ei,
X((ji.ou xal XotjAOö uiuo t' I/Opwv ßapßapoOutxwv.
Während in V. 324 sqq. den Oü^aTsps? Suqjiwv, den Städten
des Westens und ihren Bewohnern, mit dem bitteren Tage
des Unterganges gedroht wird, erscheint von V. 330 an ein
singularisches Subjekt, offenbar Rom, das an der Zerstörung
des ixi^a? ol%oq dcöavaToto, wie es V. 328 heißt, schuld ist. Man
erwartet demgemäß einen Vokativ Singularis, sei es auch nur
in Form eines Epithetons zu dem gedachten Subjekte. Einen
solchen will Gutschmid im Eingange von V. 331 erkennen, wo
er für toi»? [a^v, das keinerlei Korrelat besitzt, den Vokativ
' Vgl. betreffs dieses Gebrauches von o; z. B. Apollon. Rhod. Arg. 1 1383 sqq.
(oUlocu) xt^ioiit bi TKpX ^ ^ki^a fipraxot uTe; avaxTcav, | { ßty] 9J iWpeT^ Ai-
ßur^C ecvoc Oryo^ 2p/j|xou; | vija (jieTat)(pov(7]v o<ja x* IvSoOi viqo^ ayE^Os, für ld(
Apollon. Rhod. Arg. B 332 aXX* tZ aptuvavTC( kaX^ ivt x^P^'^^ iprqjLa | tip-vcO*
akh^ ax£tvb>icov, Arg. F 267 t( U xev icoXtv 'Opxo(&£voro . . . (i^Tip* l^v o^louasv
flbcoxpoXtxovte^ TxotaOe Quint. Smyrn. II 467 sq. toCvsxa Sijioxtjto; aicoaxo-
{A.evai xEXodav^c tarbv 2}C€vruvE76at lojv IvtooOe ^eXaOpcuv, XIII 282 (Jiy)B' e?;
la Sc6|MiT* ayeaOE, XIII 507 loc« lict v^o« ayEaOe.
14 III. Abhandlung: Rzach.
56cvo|jl' einführen möchte, ein Vorschlag, der unzweifelhaft der
Beachtung wert ist.
III 638 /.at ßipßapo; apx^
'EXXaBa ^opOnJcsi %di7a'^ xal x{ova faiav
e^apuijet tcXoutoio x,al avrfov et? ^ptv aüTwv
^.Oü)(jtv /pucjoö TS xal dtpvupo'j etvexev ^crat
YJ (p'.XoxpTjiJLOCuvrj xaxa woifxafvouca -iröXscTGiv.
Die seltsame Wendung tuiov« yö^'^^*^ l^apudst icXo'jtoio muß
Befremden erregen. Qutschmid hat deshalb hieftir tc{ov* (iv'
alav iqapüCct xaojtoü; in Vorschlag gebracht. Doch wird es
genügen, den Singular xXoötov herzustellen; das Wörtchen xai
braucht in der Senkung des dritten Fußes vor folgendem Vokal
seine Länge nicht einzubüßen, wie uns dies zahlreiche Beispiele
in den Sibyllinen zeigen :^ demgemäß muß nicht etwa dann xat
^vavTfov geschrieben werden.
Qutschmid ging dann noch weiter, indem er den Schluß-
satz dieser Verse in engere Beziehung zu dem unmittelbar
vorangehenden zu bringen bestrebt war: er schrieb nämlich
y,at devrfov et? Ipiv . «Otöv | IXOouatv /puacö Te y,al ap^upou eivex*
dviaxat xtX. Indes läßt sich mit der Überlieferung hier aus-
kommen, da der letzte Satz ^<r:ac — xiXecaiv als eine Art Paren-
thesis aufgefaßt werden kann.
III 647 auTV) 3' (3[<7xapTO? xal avKJpoTo; Icnai fi-aja
)^rjpu(7Gcuaa TocXaiva iJLuac? [Jiiapüjv avOpcoxcjv
xoXXa /p6vu)v iJLTiJxY) xsptTsXXofxivwv eviauTwv
xeXTaq xal Oüpeou? yoLhouq xajxxoixtXa 0* 5zXa.
0ü5^ [jL^v Ix ^pupioö ^'i^v« x6<j^6Tat i<; irjpb? aij^p^v.
Geffckcn hat nach V. 648 eine Lücke angenommen, in
der, wie er meint, das Subjekt 'die Gerechten' und das Prädikat
zu den Objekten des V. 650 stand. Dabei beruft er sich auf
Lactant. div. inst. VII 26, 4. Allein unsere Stelle ist es gar
nicht, die bei Lactantius gemeint ist, sondern, wie ich längst
in meinem Apparate angemerkt, die ähnlich lautende spätere
III 727 sqq.; entscheidend hiefür ist der Umstand, daß es bei
Lactantius heißt: 'tum per annos Septem perpetes intactae
^ Vgl. meine Metr. Stad. zu den Sib. Orak., p. 29 sq.
Analekta lur Kritik and Exegese der Sibyllinischen Orakel. 15
eront silyae*; vgl. V. 728 kzza y^p6^ti)^ [a^^tq xepiTeXXofjievwv
IviouTuv, wie denn auch die Grnndstelle bei Ezech. 39, 9 offen-
bar flir 727 sqq. Vorlage war, denn hier liest man: Ka6aou<7iv
iy «üTot^ TcOp iicxa Ity; xtX.
Meines Erachtens fehlt also an unserer Stelle nichts, im
Gegenteil, wir finden eher ein Zuviel. Der Verfasser der
Verse 647 sqq. entnahm aus dem auf Ezechiel beruhenden
Hymnus V. 725 sqq. den V. 649 (= 728), wobei er für seinen
Zweck iirzd in xoXXa veränderte. Die beiden nächsten Verse
aber (650, 651) gehören nicht in den ursprünglichen Zusammen-
hang unserer Stelle, da der Gedanke, die arme Erde werde,
unbesäet und ungepflügt, viele Jahre lang die Gräuel der frevlen^
Menschen verkünden, an sich schon einen befriedigenden Ab-
schluß des ganzen Abschnittes bildet. Sie wurden wohl erst
nachträglich im Anschluß an 649, der dem V. 728 entspricht,
beigefügt, indem man meinte, es mußten nun auch 729 und
730 noch folgen. Man wird gut tun, die V. 650 sq. in Klam-
mem zu setzen.
III 689 xal xpiv^ei' ?;avTa^ TCoXe|jL(j) 6eb^ ifik {xa^a^pif]
Kai iwpt %a\ U6TW ts xoToxXö^ovTt %ai lorai
OeTov Sn: o6pav66ev, a^TOcp Xi^oq ifik Yjxka^a
xoXa^ xai xaXsiCT^.
Es ist seltsam, daß Gott alle mit Krieg und Schwert und
Feuer und Regenguß strafen soll. Die beiden Begriffe 'jc6X6(ji.0(;
and (Adcxaipa sind durchaus synonym. Es liegt nicht zu ferne
anzunehmen, daß einst xcX^ijlü) als Glosse über [ix/^aipr^ ge-
schrieben stand und dann an die Stelle eines andern ver-
drängten Wortes geriet. Welches aber dies gewesen, darüber
vermag uns die zu Grunde liegende ßibelstelle zu belehren,
Ezech. 38, 21 xat xpivü) auTov OavaTo) %a\ aT|jLaTi xal usto) ts xota-
xA'jJ^cvTt xal XWo) x^^öcljif)? xai wOp xal OeTov ßpi^w ^^' auiiv. Da
sich der Sibyllist ziemlich eng an sein Vorbild angeschlossen
hat, lautete allem Anschein nach die ursprüngliche Fassung
^ l&upuov der Hdsehr. ist meines Emchtens unsulässig; am besten scheint
mir Castalios Konjektur fiiapöiv, das ein so beliebter Aasdrnck bei den
Sibyllisten ist, dem Sinne zu entsprechen; Meineke schlag (icopcov, Ale-
xandre |jLf3Li(i>v Tor.
' So schrieb ich, xp(vei 4>, xpivei W, xpCvi} gibt Gutschmid.
16 m. Abhandlung: Rzach.
ym xptveet icivT««; OavaTO) öeb? r^k ixoxatplf). Mehrfach konnten
aus den biblischen Originalstellen Fehler der Sibyllinenüber-
liefernng geheilt werden : so z. B. in unserem Buche HI 666
oinjvtxa y aTav txwvTat, | Ot^aouatv y,6xXü) (öugoügi >t6xXa> <^, xuxXci)
öi^cwaiv W) TcdXew? {xtapol ßaciX^s«; ] tov 0p6vov a^coO ixaoroq e^^^
nach Jeremias 1, 15; ebenso III 706 xuxXoOsv waet Tst/oi; Iwv
(Codd. ^/wv) wjpb; atöoiJLsvoio aus Zacharias 2, 5; weiters III 794
(jüv ßp^^eafv T6 8potxovTc{; Si\k icTcCat (Codd. Sixa ^^{ffi) xotixi^fforcai
aus Esaias 11^ 8.
III 700 o65' aTsXeüTTjTov, cti xev [jl6vov Iv ^peai öi^yj.
Für [JLÖvov Iv, das nicht zu halten ist, hat Gomperz elegant
[Aot Ivl vermutet. Gutschmid hielt den Nominativ \t.b^o^ = *der
einzige Gott' ftir das ursprüngliche; in diesem Sinne begegnet
das Adjektiv in unserem Buche III 571 hcaa Ose; ^e fxövoq
ßouXeuceTai oux dT^Xeora und nach der handschriftlichen Tradition
auch III 705 (xh-zb^ -^kp (jxexöeaeis jxovoc; jxeYaXworl ^rapacra;.
III 715 f<8üV ScKO (TTOjJLaTWV Xo^OV a^O'J'^l 5' ^^ Ö|JLVOl?'
So bietet ^, wogegen in U' mit einer Interpolation aus
dem vorangehenden Verse aeqouacv ^[ji.aat xsivot? steht. Zu den
früheren Heilversuchen ^ tritt ein bislang unbekannter Gut-
schmids, der Xi^ov asiciouct S' Iv üjavoi? schrieb, wobei es doch
wohl (isfaouatv Iv heißen mUßte. Die Länge des anlautenden <x
ist der Sprache der Hexametriker seit Homer geläufig, vgl.
p 519 c? T6 öeoiv 1$ I a£(§T) Bedaux; ^xs' iixsposvTa ßpoToTctv ; so
bei dem Kykliker IL mikr. Fr. 1, 1 K. "IXiov dsiSw, Hom.
Hymn. XI, 1 *'Hpr,v dsiSw, XVII, 1 *Ep[jLtjv deloto, XXVI, 1 'Ap-ceixtv
dt6(3a) usw.*
III 727 ^,6pü)v oxXa T:opi^c|jL€vot xaTa YotTav äxaaav
729 x^Xt«^ xat Oupsoü^ xop'jOa; xoc[ji7ro(xiXd 6' 5wXa,
xoXXd 5^ xat xö^wv tcXy;6uv ßsXitov dx($tov ts.
* Ich habe hier vermntet Xo'yov l5ii<Jouaiv iv Gjxvois, Buresch Xoyov i^apSoujiv
Iv &[jLvoi(, Wilamowitz hi. Xoyov a^ouaiv iv G|i.vot; (nachdem seinerzeit schon
Opsopoeus X<Jyov S^ouaiv 8* ivl G|xvoi? versucht hatte).
' Vgl. Hartel, Wien. Stud. 16; Schulze, Quaest. epic. SSAsq.
Analekta zur Kritik and Exegese der Sibyllinischen Orakel. 17
Am Scfalusse von V. 730 ist ixy.i8(i)v ts eine treffliche Emen-
dation Meinekes für das anmögliche &S(xa)v xe. Den zweiten
Fehler, der noch in demselben Verse steckt^ sachte Alexandre
durch die Schreibung 7:oXXa — TzXffiti zu beseitigen; Geffcken, der
nach o:cXa ein Komma setzt, hat iicXXa ts rezipiert, was ich für
keine Verbesserung der Stelle halte. Hingegen darf Gutschmids
Vorschlag zak-zi (für icoXXa) Anspruch auf Beachtung erheben;
schon wegen der Ähnlichkeit mit dem im Verse zuvor stehen-
den xeXT«^ war jener Ausdruck einer Verderbnis leicht aus-
gesetzt. Nimmt man izoLkzd auf, so sind in V. 729 die Schatz-
waffen (oxXoc) genannt, '^reXiai, Oupso{, x6pu6e;, im darauffolgenden
aber die Trutzwaffen xaXTa, to^cjv ßeXecov ax{§(i)v Tckrfidq, ähnlich
wie in der Grundstelle bei Ezechiel 39, 9 — neben den StcX«
im allgemeinen und den ^eXiat im besonderen — die xovtoC,
Tcqo, Tc^e6pL<zTa, ^dß3ct xe(pa>v und Xc-f/oct erwähnt werden.
III 736 [JLtj x{v£'. KaiJLfltpivav axivr^To; ^ap «iJLsfvwv.
-^ap^aXtV i% TfLOilTi^' fJLT^ TOI XOxbv OVTlßoXKjOYJ.
aXX' ^i-/p\) |xt;3* tc/' uTrepi^^^avov iv cmr^Oscaiv
ÖupLOv irtcep^CaXov, CTs(Xa(; -irpc; a^Ci'fOL xpaTativ..
Folgt man der überlieferten Reihenfolge der Verse, so ist
ripSaXtv i% xciTY)^ wie ein Sprichwort zu fassen* und das Prä-
dikat aus dem vorangehenden {jly) x(v£i Ka(xipivav zu entnehmen ;
eine zweite Schwierigkeit liegt in cTsO^a; 1:^0^ (wofür vielleicht, da
732 TiXaiv' 'EXXa? angesprochen wird, cTsfÄaj e<; mit Alexandre
zu schreiben ist) aY^va xpotTaiöv, das in intransitivem Sinne
verwendet wäre. Diese Umstände dürften es gewesen sein,
welche Gutschmid veranlaßten, V. 737 nach 739 umzusetzen
und aTßtXat zu vermuten, wodurch 7:ap3aXiv ix xcitt^; Objekt
zu diesem Verbum wird ; vgl. 734 (ttsT/^ov [jlyj (Ewald, Sr, Codd.)
^ Dies wäre an sich wohl möglich; denn nicht bloß in V. 736, sondern
auch anderwärts finden wir bei den Sibjliisten Sprichwörter in den
Text eingeflochten, so I 370, wo Tu^Xorcpoi oxotXaxcov dem in den Paroe-
miogr. Gr. I 309 yerzeichneten iu^XoT£pof oxdiXaxot entspricht; VIII 14
liest man o^ Oeoro (auXoi otXlouvt ib Xetttov oXsupov (vielleicht ist, wie ich
vermutete, 6^1 Oeoro {jluXoi, aXiouat hl Xextöv aXeupov zu schreiben), vgl.
Paroem. Qr. II 199 ^l Occüv aX^ouat (ijXoi, aXiouai ok Xeicxa; wegen YIII 409
OKiCpcüv vvv k &$o>p vgl. Paroemiogr. Gr. I 70 (Zenob. III 66) tU ^^o^P
omCpctv.
SilXBBgtbw. d. phlL-Utt. Kl. 166. Bd. 8. Abb. 2
18 III. Abhandlung: Rzach.
h:\ TTjvSe ^6Xiv (cbv) (Wilamowitz, (tov) Castalio) Xabv (ißoüXov.
Mit Recht schrieb Gutschmid ferner, wie auch Barescb, jxi^ toi
xaxoö (ivTtßoAT(5c7j? für das handschriftliche xaxbv avTtßoXi^<nj<; (Volk-
mann KI.OCM'f ävTtßoXl^(JYj).
III 814 cT 8d |x£ K(pxYi<:
fjLr|Tpc? xai YvwffToTo luaTpb? ^t^cougi S{ßüXXav
{jLatvcfxevrjV t|;e6crweipav.
Die Schwierigkeit, welche in dem xat yvwctoio der Hand-
schriften liegt, erscheint bisher noch nicht behoben : denn Bleeks
Annahme, es sei wegen Vergils Aen. VI 36 'Deiphobe Qlaaci* zu
schreiben xal FXauxoio xorpoc;, bleibt sehr problematisch. Einen
neuen einfacheren Vorschlag liefert Gutschmid: xo^vwaroto %oczp6^.
Damit würde die Sibylle als die Tochter der Zauberin Kirke
und eines unbekannten Vaters bezeichnet, also einem wilden
Ehebunde entsprossen. Es wird dann recht verständlich, daß
sich die Sibylle gegen die beiden hier erhobenen Vorwürfe ver-
wahrt, zunächst gegen den der Lügenhaftigkeit (V. 816 sqq.),
um später (V. 823—827) zu betonen, daß sie in Wahrheit dem
Blute des 6uSox(|xr^TO(; Mip (Noah) entstamme, der in der Arche
aus der Sintflut gerettet ward.
IV 110 xpr^vY)? 3e xaTW ziircoua Ixt ^oiiTti;
elq 6T€pr,v eu^lf) icpo^'j^eTv x^^^^j ©I* jxexoixo^,
f<v(xa 8^ norcipa)v 5|jLa56v xoTe Suaasßftjciv
ßpovral? xai ceiapioTaiv aXbq izexdcei {jieXav uSwp.
Das Subjekt des Hauptsatzes ist M6pa (in Lycien) V. 109.
Zu dieser schwierigen Stelle liefert Gutschmid einen neuen
Vorschlag, indem er üaTapcov ofAiSoiq xcTe Suaceß^eGaiv und dann
diXb; (wie schon Badt^ für hdschr. oXXo^) ueXacst schreibt.^
Er übersetzt die Stelle (Kleine Schrift, ed. Rühl IV 237) 'zu
der Zeit, wo unter Donner und Erdbeben das Salzwasser den
unheiligen Versammlungen von Patara sich nähert\ Doch
macht der Begriff 5]jia3o^ Schwierigkeiten: wir erwarten einen
bestimmteren Hinweis auf das Apollonorakel von Patara: zu-
nächst ist $u?7eß{Y;a(v zu halten, wenn man i:e'kiaei schreibt; da-
von muß ein im Vorangehenden enthaltener Genetiv abhängen :
Die V. 112 und 113 sind nur in Q überliefert.
Analekta znr Kritik und Exegese der Sibyllini sehen Orakel. 19
vielleicht steckt in üaTötpcov OMAAON der Ausdruck OAMOY :
5Xpi3; ist nach dem Schol. zu Aristoph. Wesp. 238 unter anderem
*5 Tpfrou? ToO Ax6XX(i)vo?', bei Hesychios (unter bX[ko<;) auch 'tb
kb rat? uxofXouTtev sxoExspcoOsv xoO.ov', die Höhlung eines Sitzes:
danach sagte man, wie aus Zenob. III 63 erhellt^' im Sinne
von 'prophezeien' Iv oaijlw -/.otixaaOat. Demgemäß wäre wohl
anch hier die Verwendung des Wortes 5X|jLoq mit Beziehung
auf eine Orakelstätte Apollons nicht unzulässig. Wir könnten
somit — unter Festhaltung von Gutschmids TzsXdati im intran-
sitiven Sinne — die beiden letzten Verse so gestalten :
f//{xa 5tj IlaTapcüv 5X[xou icots 8ücc£ß(tjciv
ßpoyraT<; xäI c£ic|jloT(jiv * aXb? ^eXacst [jLsXav IjSwp.
IV 117 T^v(x' Äv dbppoauviDffi iceicotOÖTsq e6(jeß{r|V pi^v
^{«l^ouctv, OTUYspoüi; Se fovou? TsXdouai xpovT)(ov.
Längst ist ce (povou; für ctc^öcvou; von Q mit Hilfe von
rrj^epiv 51 ^dvov der Sippen <1>U'* hergestellt. Am Schlüsse von
V. 118 gibt die Handschrift H xpovr^wv, die übrigen Codd. der-
selben Sippe (Q) icpb vr^öiv, während ^W xpivijwv bieten. Ich
selbst habe Philol. LH 322 xpb vT;oi3 vorgeschlagen und dies
sah auch Wilamowitz flir das ursprüngliche an.
Doch scheint mir Gutschmid mit seiner Vermutung xpovi^iw
*iD der Vorhalle des Tempels' der Urfassung des Versschlnsses
noch näher gekommen zu sein: es wird hiedurch auch die
handschriftliche Korruptel wpovriwv und xpivi^wv noch leichter
verständlich: das I adscriptum am Schlüsse ist zu N geworden.
IV 192 w fjiaxapt<JTb<; IxeTvo«; Ixt /6ovb; ecdSTat avu^p.
So lautet die Überlieferung von ü, von welcher wie
überall im IV. Buche auszugehen ist^ wenngleich in den beiden
Sippen ^W hier scheinbar glatter ixeivov (doch W wie Q i%&X^oq)
•' ^ Xpövov iGoexaii ivi^p steht. Vorher ist die Rede von dem neuen
glückseligen Leben der Gerechten auf Erden. OflFenbar will
der Sibyllist den glücklich preisen, der da in jener Zeit auf Erden
weilen darf. Dieser Gedanke wird sich aus der Version
von U ergeben, wenn man mit Gutschmid Ixei 5q fUr Ixeivo^
* Paroemiogr- Gr. I 71.
' Oder lieber ppovtaif xa\ 9ei9|ioti; &\i?
20 m. Abhandlung: Rzach.
schreibt;^ wobei i%ei in temporalem Sinne^ der ihm gelegentlich
zukommt , aufzufassen ist. Gewiß verdient diese Fassung des
Verses vor der von ^W den Vorzug.
V 6 Sv BaßüXwv T^^ef^s, vexuv* S' wpe^e ^iX(wic(i>
06 Aldi;, oüx *ÄfjLfji.(i)vo<; iLkrflioL (pr^fjLixOivT«.
Der Dativ 4>ia{t;:(i) ist sowohl hier wie XII 6, wo der
Vers wiederkehrt, ohne Variante überliefert, d. h. es enthalten
diesmal alle drei Handschriftenfamilien ÜOW dieselbe Lesart,
da Buch V nur durch 4>% Buch XII durch Q erhalten ist.
Der im nächsten Verse enthaltene Genetiv brachte Gnt-
schmid auf den Gedanken, auch <I>iX{tc^ou zu schreiben, mit
Interpunktion nach (li>pe^e,' während er in seiner älteren von
Rühl in den Klein. Sehr. IV publizierten Paraphrase der Sibyl-
linischen Bücher p. 239 noch übersetzt *und dem Philippos
gab', somit den Dativ anerkennt. Auf unsere Stelle bezieht
sich Clemens Alex. Protr. X 96 . . . 'AXs^avSpov tov MoxsSöva
avaYpa?cvTc<; Osov, ov BaßuXujv f^Xs^Ss vsxpov — leider trägt der
Wortlaut gerade zu der Entscheidung der in Rede stehenden
Frage nichts bei. An und für sich würde die Wendung ou
Aic?, oüx "AfJLiJLwvo? aXr^Oea ^YjjjLt/OevTa gewiß fUr den Genetiv <I>iX<k-
^ou sprechen, wenn nur nicht das Verbum a>pe^e dringend nach
einem dativischen Objekte verlangte. Da sich dieses meines
Erachtens nicht entbehren läßt, wird man beim überlieferten
Dativ verbleiben müssen. Dagegen fühlt sicherlich jedermann,
daß die ganze Fassung der Stelle eine eigenartige ist: sie soll
wohl die Färbung der Orakelsprache an sich tragen. Be-
sonders seltsam ist die Verbindung vexuv d' djpe^e OiX(tx(^, wo
doch Philippos lange vor seinem großen Sohne zu den Toten
gehörte. Für ausgeschlossen halte ich es, etwa in (piXfinn«) den
' Ich bemerke, daß diese Zeile wie viele andere, in denen eine zweite
Fassung (wegen der in Q und ^W Torliegenden vielfach differenten
Überlieferung) festgestellt wird, in Gutschmids Manuskript nachmaU mit
roter Tinte durchstrichen ward.
' So muß natürlich nach XII 6 Q auch hier fUr die Korruptelen vlijv (4>)
und voastv (^') geschrieben werden.
' Zugleich soll ou Ai^( mV "A^^tn^to^ geschrieben werden, wogegen nebst der
Tradition von Y 6, XII 6 auch XI 197 spricht: ou ^to{, oux *A|x|jLiuvoi
aXrfiia rourov ^pouotv.
AnalekU znr Kritik und Exegese der Sibjllinischen Orakel. 21
überlebenden Bruder Alexanders Philippos Arrhidaios za er-
blicken. Wenn von ^Ckncico^ schlechtweg die Rede ist^ kann
man nur an Alexanders Vater denken.
Der Parallelvers XII 22, durch Q überliefert^ gibt an
Stelle von Irl xu{jia, das unverständlich ist, uicb Soup{: da man
Zweifel darüber hegen muß, ob auch in V 17 die letztere Les-
art stand y vermutete Qutschmid scharfsinnig l%iari\».<x. Kleo-
patra, das königliche Weib, entzog sich durch freiwilligen Tod,
rühmlich fallend, der römischen Gefangenschaft.
V 86 öfJLoOiq xai Soöig OX^ße-cai x^-JUTSTai ßoüXij
*HpoExX^ou^ TS Ai6g T€ y.at *£p(X£{ao ....
In diesen bereits verschiedentlich behandelten Versen
habe ich seinerzeit als Prädikate Futura Plur. mit passiver
Bedeatung (und zwar OXf^ovxat, xo^j/exai) verlangt, wie sie bei
den Sibyllisten so häufig auftreten. Mit xc6eTai begann der
zweite asyndetisch angefügte Satz: am Schlüsse des Verses
stand ein Stadtname, der nach Maßgabe der überlieferten
Buchstaben sich am ehesten als '^ßuSo(; rekonstruieren läßt, wie
Wilamowitz sah (Gutschmid schrieb 'AßuBr^) : man wird also x6i];£t'
^A^'j^oq vermuten dürfen. Aber es ist nicht notwendige auch
in OXißexai etwa mit Geffcken *A6X(ß'.^, in x6x;eTae mit Mendels-
sohn K6x;o(; zu erkennen: noch weniger angemessen wäre es,
den zweiten Versteil dann nach Geffckens Vorgang so zu kon-
struieren: "j^OXißi; K6xT0( Se x 5XoO'/Tai. Wohl aber empfiehlt
es sich, am Schlüsse des zweiten Verses nach desselben Ge-
lehrten Vorschlag x6XY;e(; zu ergänzen, was ich auch in Gut-
schmids Manuskript finde. Es sind die ägyptischen Städte
'HpoxXeouozoXi^, Ai6axoXi^ und TpixouzoXii; gemeint. Somit dürften
die Verse sich so gestalten:
6{xoui^ xat SoÖk; OX^tj'OVTat, x6i];eT' *AßuBo?
'UpoxXiou^ T€ lioq T€ xai 'Ep(jLe{ao (xöXrje;).
V 193 xat X0W6TÖV 5t|;ovTai (i66a|ji.ü)v sTvexa Ipvwv.
Das zweite Hemistichion habe ich durch Umstellung aus
dem vorangehenden Verse restituiert, nach dem Muster von
34
ill. A1)b«ndlun^: RsAuh.
AcqAoQ 5fj5avÄr/^£rsu, Verkehrt wäre ob natürlich, etwa CTjvr/^ew:
I 108j 390 in Vergleicli zu ateilen, wie einst Alexandre wollte.^
Da wo Doppelformen, die sprachlich hegrilnrlet Bind, zu Gebote
stehen^ wurden sie dem metriBchen Bedürfnisse entsprechend
auch von den Sibyllisten verwendet, wie [j-sj^ij-ßplirs; XIV 180,
aber \U7r,^^pin^ II 195, XI 3, [A^^,pi&p(^v III 36, VIII 321.
Da also ^ü^Tj/Jo; an unserer Stelle unzn lässig araeheiot,
habe ich früher l^jCTnayiT^^j geschrieben. Indes wird sich der
Anstoß auf einfacherem Wege beseitigen lassen^ indem man
eine Umstellung der Worte vornimmt; TrsKpäi; ^^jj^r^; %}Mi ^^j^f
^€og, h^d<si TrijjjÄ, Besonders melodisch wird der Vers hiedurcb
zwar nicht, aber keineswegs schlechter als mancher andere,
dem wir in der älteren wie in der jüngeren hexametrischen
Poesie begegnen, ohne daß sich gegen seine Richtigkeit etwas
sagen ließe.* Ich möL-hte hier eine Anzahl solcher, und zwar
ans verschiedenen Epochen und Dichtungen anführen^ wo ebenao
der Eingang durch zwei spondeische Worte gebildet erscheint,
deren zweites mit von Katur langer Silbe schließt, während
im dritten Foße zanächst ein trochäisches Wort folgt ^ also
ganz unserem Verse analog.
Hom, X 296 "Extcu^ 3' l^-^u TJstv Ivt ffiQi
r 53 Yvsd]«; y/ ^^^^ ?w-b; lytiq
ß 356 ahxTt 3' gTiq Mi
s 236 av3p<r)v ioöXüJv ttösi^s^
Hom.Hjmn, ApolL Del. 5 Ar^L 3' oXyi ptipe T;aperl M
Apoll. Rhod* Arg V 93 tut^^ y ^l^^^Z icatz Iv B^\i.auiv
Orac* Gr. ed* Hendeß 211, 14 yr^pQl S* oFiust xd^-zz It;" ouSeV
Maneth. 11 389 piuci ^ KEvtf gu 3* ai-c tj^wy
Eudok. II 191 otJjTöl \ioipaq 3£v?o(v iiioi tc6Xou
Dazu kommen Verse, wo der dritte Fuß mit einem ein-
silbigen Worte anhebt^ wie
I
* Vgl. meine Bohtlh 'Neue Beitrage zur Technik des uaßbliotn, Hexäin.V
p. 80 sq.
* Vfirse^ wie Sib. Or. VU 10 tJBwp lizai i^ivTft, wo die einlouchtetide Ände*
rutig (Hilbergs) Sj^avta ohne weit Bf es zu binigon ist, wird man Eicbt
$X& Faralleleti unführeii dürfen, ebenso weni^ etliche ^ wo die Sotikutig
des zweiten «poudeiacbon Fuße» durch eine ]>oaitii>nslang6 Silbe gebildet
wird, wie Hesiod. Erg- 763 tpijj^i) 5^ o{Jtij jcofucav «sA^ürfti.
I
Anakktjt zur Kritik und Eiegese der SlbjHim sehen OmkeL 35
lOrac« Porph. ed. Wolf 81 S<raÄt p.Qpmi ijloi, taa^ot;; \mt^ ot 'AgXguta
Orac. Sib. XIV 33 xoltffj o?y)v T.cp rpt^v cToiv ^of oSittj;
^ (nach Lndwichiä richtiger Herstellang).
W Außerdem kann man aaf manche andere Verse hinweisen,
wo die Senkung des ersten Spondens dnrch eine positionslange
Silbe gebildet wird, während die des zweiten eine Natnrlänge
darsteUt, wie Hom. T 222, X 317, o 212, AnthoL Gn VII 472, 15,
XI 128, 5 u, a.
^V 260 [i;Y;«iTt T£(p£o Oüp*bv evl otT^ÖCff^Jt, |JwtxoitpÄ
' "loySafTq x«p(i(;cra xösXti %6My h^toq Sjxvwv
VerBchiedene3 ist in diesen Versen, welche in der Über-
Ueferting nicht miversehrt blieben, bereits richtiggestellt: dahin
gehört in V. 260 1% das Volkmann aus i^lk^ von '\\ resp. f^ von
W verbesserte; ferner \idy.a\poi, das Buresch und, wie ich aus
riTilschmids Manuskript ersehe, auch dieser Gelehrte aus dem
hdschr. jAÄ/jjiipa von *1> (iiiyxi^Ti »V) restituirte. Aber auch noch
andere beachtenswerte Vorschläge sind von Gutschmid gemacht
worden* Am Schlüsse von V. 262 schreibt er teXsc TTtxoör^pLsvov
■ «Yvo^;, wobei das lidschr. ^sXo;, wofUr Opsopoeus ÜseAc^ vermutet
hatte, beibehalten wird- Dieser Auffassung kann man sich an-
ßch ließen ; ich sehe in ayvci die frommen Juden, deren *-i'k'3q
die angeredete Stadt Jerusalem ist Weiters empfiehlt es sich,
mit Gutschmid in V. 263 'io^^aiaq (oder 'iov37(T;c) -/ßph^Qa
TtaXT, rSAiq in den Text zu setzen: ich verweise einerseits dar-
■ auf, daß es im folgenden Verse 264 beißt xep* 5Y)v yßov^t^
anderseits auf die Wendung V 168 7:avT* avMixpi^ tu^ai AätivTSs;
«tifjc, die vollkommen analog ist. Dagegen kann ich mich mit
Qutscbmids Fassung des zweiten Hemistichions von V. 261 £|jtbv
ISi TTi-^oQrjjivov otvfb; nicht einverstanden erklären. Da xiTo^tf
[Ltic** in beiden V. 261 und 262 an derselben Stelle überliefert
ist, hat man längst eine Beeinflussung des einen durch den
andern angenommen, weshalb Alexandre für V. 262 7:£(j)tXY]|j.£vcv
vermutete. Es scheint mir jedoch wahrscheinlicher, itt^Ckrii^hov
fl-wös? zusammen mit dem von ^ gebotenen (Jtcvw ('uni deo' Bleek)
(in V* 261 zu schreiben, zumal hier auch OsioYev^ steht. Somit
dürfte sich der Zusammenhang so gestalten ;
22 III. Abhandlung: Rzach.
XI 63 Ü. Die mit V. 189 beginnende Drohung gegen das
ägyptische Theben darf man mit V. 192 als abgeschlossen be-
trachten: unser Vers kann nicht etwa noch dazu gehören.
Allem Anscheine nach bildet er einen Gedanken für sich:
Qeffcken, der ein bestimmtes Subjekt zu 5<{^cvTai vermißt, nimmt
eine Lücke vor dem Verse au, in der jenes gestanden wäre.
Allein zu diesem Auskunftsmittel wird man erst greifen, wenn
alles übrige versagt. Bedenkt man, daß vor und nach unserem
Verse von oberägyptischen Städten und Gebieten die Rede ist,
unmittelbar vorher von Theben und im V. 194 von Syene, so
scheint mir Gutschmids %ai Kotctov x6t|;ovTat (er schreibt xotctov)
sehr beachtenswert: Spiele mit Worten bei geographischen
Namen sind den Sibyllisten geläufig: ganz ähnlich heißt es
bezüglich einer anderen ägyptischen Stadt XI 236 xai Toxe ]jic{x-
fiaOcü) Mepift; icic xoipaveou^iv.^ Das Medium xc^^ovTai mit dem
Objekte Kciurcv entspricht vollkommen einer passivischen Kon-
struktion, wo Ko^o; Subjekt wäre: man kann also das im
Verbum x5'|ovTa( enthaltene allgemeine Subjekt ganz wohl
gelten lassen.
V 207 Tfjv{xa Yotp TouTO'jq Tpoxb<; "A^ovo; At^oy-epicTr^^
TaDpog •:* ^v Ai§u[ji.ci^ jxecov cüpavbv dtjJi^teXiqf)
Eine Verbesserung des verderbten toutcj^ ist bisher nicht
gelungen: xup6e«;, das Geffcken vorschlug, hat er selbst mit
einem Fragezeichen versehen. Wohl aber verdient Gutschmids
TpTjToö (oder 'tpr^ibv?) Tpo/ov "A^ovoi; sowohl dem Sinne nach wie
wegen der leichten Erklärung der Korruptel volle Beachtung.
V 234 7:avTa xoxü)^ SieOiQxa^ cXov t£ xaxbv xatexAusca^
xal hoL aoO xcapicio y.aXat ittj/c^ f|AXa/^Or,sav
In diesem gegen Rom — ohne daß sein Name direkt ge-
nannt wird — gerichteten Abschnitte wird es V. 231 als xoxtov
«pX^ife xai avOpwzoi; [li-^a w^jxa apostrophiert. An unserer Stelle
gibt ^ xaxiv, U' xantw; (in der nach V. 245 in W vorliegenden
^ Vgl. sonst lU 863 Uzai xai £a{jio; a(x|AO{, hiixai A^Xo^ aSv^Xo« 1 xai TcüfiY)
^i(«i, VI II 166 btai x«i 'Ptojji») fOjAJ^ xai AijXo; aöijXo« | xai £a{io$ a{&|ikO^
IV 91 xat £z(Aov afX|Ao; xica^av ujc* iJiovEaai xaXut{>£i, | ArpCo; S' oGxIti AfjXo;,
sor^Xa $£ icovta xs AiJXou.
AuftlekU Eur Kritik und Exegese der Sibyl liniischen Orakel. 23
Wiederholung der V. 228—237 steht ßpoidv). Geffeken beließ
xxxiv ohne Warnangszeichen : allein dann müßte xaxov ein inneres
Objekt sein, das bei xaxixXujoa; ausgeschlossen ist; als äußeres
Objekt aber ist 5Xov ts xaxöv geradezu sinnwidrig. Es erscheint
somit eine Änderung von xoxov durchaus geboten: ich habe
längst xaXov * vermutet und möchte weiters für oXov das Adverb
zh^^ setzen. Mendelssohn dachte an SXov le tcoXov. Die pro-
sodische Messung von xaXov neben xäXa( im nächsten Verse
gibt zu Bedenken keinen Anlaß.'
V 236 et? Iptv i^iJLSTepTQv xu^bv äccaia Totöia xpoßaXXou
Alle Handschriften außer L, wo uarara steht, das auch
in der Wiederholung der genannten Verse W bietet, haben hier
acTorra. Hievon ist auszugehen, da ttnona nur eine oberflächliche
Glättung der Eorruptel darstellt. Beachtet man, daß es gleich
im ersten Verse der gegen Rom gerichteten Apostrophe (228 —
246) acTiaTe xai xoxoßouXe heißt, daß ferner in dem ganzen Ab-
schnitte derlei Apostrophen im Vokativ, mögen sie aus ein-
zelnen Ausdrücken bestehen oder aus ganzen Versen, in der-
selben oder doch in ganz ähnlicher Form wiederholt auftreten,
so wird man die einfache Änderung Gutschmids aaxaTe für
völlig befriedigend erklären können. So kehrt V. 229 sq. wieder
als V. 244 sq.; die Wendung xoxöv ifr/yi^i finden wir in V. 231
und später ebenso in V. 242 (in ersterem Verse überzeugend
hergestellt durch Nauck); dev^ptoxot; [».i-^a 'Kf,[Loi liest man in
V. 231, während im Schlaßvers der Partie V 246 als Variation
dazu devSpaai T^iia erscheint.
V 246 xXöOi TCtxpa<; ^t^ply;«; Sufftjx^o«;, avSpact irr^iiia
Die unerhörte Längung der ersten Silbe in §u(7rjX^cc in der
Senkung des dritten Versfußes ist auch dem schlechtesten Sibyl-
listeu nicht zuzutrauen, geschweige denn dem Verfasser des fünften
Baches, welchem wir dasselbe metrische Gefühl zumuten dürfen
wie dem Sibyllisten des III. Buches, bei dem in V. 566 dx^eu^ei
xoXipioto Jüotjx^oc; mit ganz regelrechter Messung vorliegt. Ebenso
liest man z. B. VII 100 SuaixßaTs irupae OaXidotj^ oder VIII 175
* Wie ich nun sehe, kam Qntschmid anf denselben Gedanken.
' Vgl. Schneider, Callimach. I 152 sq.; Schulze, Quaest. epic. 129, Anm. 1.
84
FFT. Abdaudltjug: RsA<>li.
},miiM hU^oL^txT/hc'j, Verkehrt wäre ea natürlich , etwa rnttyltii^ <
I 108j 390 in Vergleich zu stelleü, wiö einst Alexandre wollte.*
Da wo Doppelforinen^ die epraehlicli begrUodet eind^ zu Gebote i
stehen f wurden sie dem metrischen Bedarfnisse enteprechend fl
»nch von den Sibyllisten verwendet, wie i/£<7CTj|ii^p(r^; XIV 180, ~
aber li^'w^^^ir^q II 195, XI 3, [UTr^pir^y HI 26, VIII 32L
Da also Sv^ij/Joc an unserer Stelle anznlässig ereeheint^
habe ich früher SjcavxcyjTsu geschrieben* Indes wird sieh der fl
Anstoß anf eiufacherem Wege beseitigen lassen, indem man ^
eine Umstellung der Warte vornimmt: ^ctxfä; o-^\i.riq kXGÖi ^yjr^-
X^og, iivlpi(7i xijijLÄ. Besonders melodisch wird der Vers hiedarcb
Äwar nicht, aber keineswegs schlechter als mancher andere,
dem wir in der älteren wie in der jüngeren hexametrischen
Poesie begegnen, ohne daß sich gegen seine Eichtigkeit etwas
sagen ließe,^ Ich möchte liier eine Anzahl solcher^ und zwar
aus verschiedenen Epochen und Dichtungen anfuhren^ wo ebenso
der Eingang durch ^wei spondeische Worte gebildet erscheint,
deren zweites mit von Natur langer Silbe schließt j während
im dritten Fuße 2unäc!ist ein trochäischea Wort folgt, also
ganz unserem Verse analog,
Hom. X 296 "ExTCüft 3' i-^^m tJ01v h\ ^p£a(
r Ö3 ■'('ioirtt; y/ otou fWTbq iyeiq
ß 356 ahrr^ 3' k^ Mt
3 236 av3p(Sv IcjOaöv zq^iIe^
Hom, Hyran. Apoll* Deh 5 AK]i:y> 8* oFvj p.{|AV£ ^«pat M
ApoIL Rhod, Arg r93 %^%%^ y' «i^w^ ^öasi' Iv 5^|AJtctv
Orac* Gn ed, Hendeß 211, 14 xijpö^ 3* ovxci Trivtic ii: oQSeV
Maneth, II 389 fj^C^t' xmpou S' aSie z^/ßy
Eudok. II 191 ÄUTüt ikoipac SeI^äv l|i.ol xoXou
Dazu kommen Verse, wo der dritte Fuß mit einem ein-
silbigen Worte anhebt, wie
* VgL melno Sclirifl 'Neue Beiträge %m Teciinik ä^ nacbhom. Heiam.',
p. 80 Kj.
* V(^trfle, wie Sib, On VII 10 CSeyp h-cm -jtiivt«. wo die einleuchtend© Äßde-
rtmg (Hilbergs) fl^avcct oLtie weiteres äü billigen ist, wifd rnnti uicbt
als ParaUelcu anfübren dÜrfoa, ebeuso wenig solche , wo die Senkung^
des zweiten »pondeischen Fnßo* durcli eine poaitionfilange Silbe gebildet
wird, wie Heaiod. Erg^, 7fi3 ^TJjtii S' oßit^ JtdjjiTcav ^oXXwtaiu
AnmlekU zur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 35
Orac. Porph. ed. Wolf 81 Swai [jLopa>a( jxot, liacoi? IJwoi; ae xeXeub)
Orac. Sib. XIV 33 To{t)v, oTtjv xep •rcpt&tjv eTSsv icapoSdr^?
(nach Ladwichs richtiger HerstellüDg).
Außerdem kann man auf manche andere Verse hinweisen,
wo die Senkung des ersten Spondeus durch eine positionslange
Silbe gebildet wird, während die des zweiten eine Naturlänge
darsteUt, wie Hom. T 222, X 317, o 212, Anthol. Gr. VII 472, 15,
XI 128, 5 u. a.
V 260 jJLiQX^Tt Tsfpeo Oüpibv evl (rci^Oecai, [MTMUpa,
'louSaft) ')(apUaaoL xocXy] tcoXi, evOeo^ ijpi.va>v
Verschiedenes ist in diesen Versen, welche in der Über-
lieferung nicht unversehrt blieben, bereits richtiggestellt: dahin
gehört in V. 260 ivi, das Volkmann aus |at^ von O, resp. ft von
H' verbesserte; ferner idcMLipoL, das Buresch und, wie ich aus
Gntschmids Manuskript ersehe, auch dieser Gelehrte aus dem
hdschr. \dr/oup(x von ^ ((jia/aipav ^V) restituirte. Aber auch noch
andere beachtenswerte Vorschläge sind von Gutschmid gemacht
worden. Am Schlüsse von V. 262 schreibt er tsXo^ 7?ezoOY]|xivov
i^vo i?, wobei das hdschr. xdXo;, wofür Opsopoeus öoXoq vermutet
hatte, beibehalten wird. Dieser Auffassung kann man sich an-
schließen ; ich sehe in a^vci die frommen Juden, deren 't^Xo^'
die angeredete Stadt Jerusalem ist. Weiters empfiehlt es sich,
mit Gutschmid in V. 263 'louSafag (oder 'louSatf;;) "/apUasa
lucXt; 7:6X1^ in den Text zu setzen: ich verweise einerseits dar-
auf, daß es im folgenden Verse 264 heißt nspe ar^v x^^^^;
anderseits auf die Wendung V 168 ttävt' ioLdbapzs. ic6Xt AaTtv(5o<;
atr^;, die vollkommen analog ist. Dagegen kann ich mich mit
Gntschmids Fassung des zweiten Hemistichions von V. 261 ifxbv
i ^sxoOr^iA^vov avOo<; nicht einverstanden erklären. Da xexoOr^-
luvcv in beiden V. 261 und 262 an derselben Stelle überliefert
ist, hat man längst eine Beeinflussung des einen durch den
andern angenommen, weshalb Alexandre für V. 262 xe^tXYipi^voy
vermutete. Es scheint mir jedoch wahrscheinlicher, icefiXiQfjLevov
xvOo^ zusammen mit dem von 4> gebotenen {xdvo) ('uni deo' Bleek)
in V. 261 zu schreiben, zumal hier auch OsioYeveg steht. Somit
dürfte sich der Zusammenhang so gestahen:
26 III. Abhandlung: Rzach.
jAr^y^Tt Tsipeo Ou[i.bv h\ cr^OiCai, (xixaipa
^w; aY*^^^ c£|Ji.v5v Tc, T£Ao? iCcZoBrifxivov OYvoig,
'loüBa^Ti; yapUaaoi, xaAYj wdXic, ^vOsoq ujjlvwv.
V 295 ifi':z vijc; l^iy-XuCouctv i:fAXat;
Es ist die Rede vom Untergange des Artemisions von
Ephesos, das nach der Weissagung der Sibylle dereinst jäh
ins Meer versinken wird wie Schiflfe im Sturme. Der Nominativ
vYjs; steht nur in ^J', wiihrend <r> v^a^ bietet; in beiden Klassen
liest man am Versschluße aiWaiz, Bisher folgte man Castalios
Fassung vtja; ^TcixXO^oüffiv aeXXai^ rfixe habe ich aus dem hdschr.
rß^ 0T£ von <[> (yjtoi ct£ ^I) eruiert. Aber es muß genauer beachtet
werden, worauf es bei dem vorliegenden Vergleiche ankommt:
wenn es heißt 'ApT6[x'.5o; cnrXoc . . tcoO' i^e'zai st^ &Xa 8Tav | wptjvi^,?,
so erwarten wir, daß die Schiffe, welche dem Tempel gegen-
übergestellt werden, in dem Vergleichungssatze ebenfalls im
Nominativ auftreten. Es ist daher vijs; von W empfehlens-
werter als w^0Lc von <I>; da weiters ^iWai^ einstimmig überliefert
wird, so lautete der Satz ursprünglich offenbar t^üts vije^ iu-
y.AülJovTai aiWixiq,
V 317 alai coi, Kepxüpa, y,a>xYj -jroAi, xauso xwfxr^v
Die Sippe M' bietet die Lesart Kdpxupa, ^ Kcp^upa, in P
ist dazu vermerkt: rcw^ Kspxüpa. Vor und nach V. 317 finden
wir Weissagungen, welche durchwegs kleinasiatische Städte
und Gebiete betreffen. Es wäre höchst seltsam, wenn mitten
darunter ein Kerkyra genannt wäre. Man wird hier deshalb
eine Verderbnis vermuten dürfen, wie sie sich erfahrungsgemäß
in den Sibyllinen bei geographischen Namen wiederholt ergeben
hat. Mendelssohn wollte K{ßüpa herstellen. Näher liegt eine
Vermutung Gutschmids: unweit von Hierapolis, das gleich im
nächsten Verse erwähnt wird, aber sclion drüben in Karien,
lag die Stadt Kapcupa: diese ist's, deren Namen an unserer
Stelle der genannte Gelehrte aufgenommen wissen will. Tat-
sächlich finden sich unter den Prophezeiungen auch solche,
wo es sich um minder bekannte und bedeutende Städte han-
delt, wie gleich in V. 321 Tripolis am Maiandros eine ist. Eis
ließe sich somit auch von diesem Standpunkte gegen die Re-
Analekta zur Kritik und Exegese der SibylliniBcben Orakel. 37
seption von Kdpoupa nichts einwenden. Übrigens dürfte am
Schlosse des Verses mit Rücksicht auf die Lesart von ^ x^fir^v
(M* TfM[a\) eher an )uo|i.a)v mit Gatschmid als an xu)ii.ou, wie Ale-
xandre schrieb; zu denken sein.
V 324 [xij [L lOeXcuaav IXeiv <I>otßo'j t^jV ys^tovä x^pav
MfXtjTov xpuf spYjv icKoKsX TCpTjdTT^p wot' dlvcoOsv,
«vö* wv eDvSTO iTjv ^©{ßoü SoXieaaav aoi8r,v
Ti^v T6 aofTjv ivSpöv [jLsX^TY)v xat cw^pcva ßouXi^v.
In der überlieferten Fassung und Abfolge bieten diese Verse
mancherlei Schwierigkeiten. Zunächst läßt sich mit V. 324 nichts
anfangen; desgleichen ist V. 327 ohne Zusammenhang. Vor
dem letzteren statuierte deshalb Wilamowitz eine Lücke des
Inhaltes: *und (Milet) verwarf (die ßojXi(5).
Um einigermaßen Ordnung zu schaffen^ nahm Gutschmid
eine Umstellung von V. 327 vor 324 vor, indem er zugleich
in V. 324 [xr, eO^Xoucxav schrieb. Damit würde die Stadt, gegen
welche die Drohung ausgestoßen wird, erst im dritten Verse
genannt sein, was bedenklich erscheint. Mit Rücksicht darauf,
daß in der Nachbarschaft Milets das Apollonorakel von Didyma
lag, somit Milet selbst als Nachbargebiet des ApoUon bezeichnet
werden konnte, möchte ich vorschlagen, die Verse lieber so zu
rekonstruieren:^
Ti^v TS ao^wv* i^f^pC^y [xeXiTTjv x,ai aco^pova ßouXv
jxy; lO^Xouaav iXstv dicoXst ::pY;<m5p tcot' avoiOev,
dv6' wv sTXeTO ttjv ^ofßou SoXoejcav doiSt^v.
*Milet, des Phoibos Nachbargebiet, welches nicht gewillt war,
weiser Männer fürsorglichen und besonnenen Rat entgegenzu-
nehmen, wird dereinst ein Wetterstrahl vom Himmel vernichten,
weil es Phoibos' Truglied vorgezogen'. Daß auch Hemistichien
in andere Verse gerieten, ersehen wir z. B. in unserem Buche
an V. 192, wo der Versschluß dvaiBea Ou|xbv lyoMQOL, wie ich nach-
' Denke man sieb den Text auf schmalen Kolumnen in Hemistichien ge-
schrieben, so erklärt es sich noch leichter, daß der zweite Halbvers
4»o{ßou t^v yeUov« x^9^C* ^^ ®^Q^ falsche Stelle geriet, zumal in der
Nfthe noch ein anderes Hemistichien mit 4>oißou anhub.
' oo^v ist Konjektur ron Mendelssohn.
28 III. Abhandlung: Rzacb.
gewiesen habe, in der Überlieferang seinen Platz mit dem
zweiten Hemistichion des nächsten Verses 193 diOioiJKüv elvexa
ep^cov getauscht hat.
V 367 f^? yi^vi wXeTo t' «uto;, eXeX TauTr^v Tcapa/p^pL«'
avBpac t' l^öXiffet tcoXXoü^ jxeYaXoü? te Tupavvoü^
Tou^ 5' au 'RZTZtfiyzoL^ avopOworet 8ta liijXov.
Bei dem ersten dieser Verse hat man offenbar an die
Einnahme einer Stadt (voran geht Y«"^a, nicht iröXi;) zu denken,
Rom, die (Nero) der Mattermörder vernichtet, weil er selbst
ihretwegen verdarb.^ Behält man die Reihenfolge der Verse
bei, so muß die Erzählung, der inQxpoxTovoi; dtvi^p werde nach
Vernichtung gar vieler Menschen alle großen Herrscher ver-
brennen, etwas ungeheuerlich anmuten: außerdem erwartet
man eine Mitteilung über das Schicksal der eingenommenen
Stadt. Und so wird der ganze Bericht erträglicher und natür-
lieber, wenn man mit Gutschmid den V. 369 mit der kleinen
Änderung TcavTü)? (für TuivTa?) vor 368 setzt : ^ganz und gar wird
er die Stadt durch Brand zerstören, wie es nie ein anderer je
getan,* und viele Leute und mächtige Herrscher vernichten'.
Nunmehr wird in dem Verse avSpac t s^oXecet t:oXXoü; jxsYfltXou^
TS Tupivvou; jene Ungeheuerlichkeit vermieden und nichts weiter
gesagt, als in andern ähnlichen, wie in unserem Buche z. B.
V 109 TzirzoL^ h\€\ ßaaiXeT? jieYaXoü; y.al ^toxa? ipiorou^, V 380 iciv-
Ta^ 6[xoÖ t' iXeaei ßaatXeT? rm ^la^ äp((r:oü(;.
V 395 oüxsTt Y«p TzoL^OL <7oTo tV' t^(; fiXo6pe[i.{jLovo^ 5XTf;<;
zapO£vty,ai y.oOpai Twp ^vOsov copi^^ouaiv.
Die Sippe <P enthält die Korruptel i:apa goTo (coQ A) ttjV t^^,
während M* '::2pa gCko t^<; bietet. Bisher ist eine befriedigende
Emendation nicht gefunden. Doch scheint mir Qutschmid mit
dem Vorschlage irapa arot <r/(Ct)<; (besser als Geffckens ^iTpoTq)
* Diese Auffassung teilt mit Alexsndre' 'qua cecidit quondam rictor quam
ceperit urbem* auch Gutschmid, der (Kleine Sdir. IV 246) paraphrasiert:
'er wird die Stadt, um derentwillen er selbst ausgerottet ward, aus-
rotten*.
* Denn o08inot* aXXo{ muß man mit Badt in den Text aufnehmen; hi^n^zi
(oijjcoT* M') aXXo{ 4>H\ ^Koxl SXktt^* Bleek, ^/^Tcoie fiXXoO' Qutschmid.
Analekta cur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 29
dem arsprilnglichen Wortlaute nahezukommen. Man könnte
auch an Tcopa aoc (r/ßfi^ denken.
V 468 TWtt t6t6 6ü{jLoß5poi jjLspoxs? xaxeBoüat YovYja?
Xt[xw T6ipc|jL6voi x.ai ISeafxaTa Xai<pa(JCJOVTat.
Diese Stelle enthält einen gewissen Anklang an Empe-
dokles Kathar. Fr. 137, 5 D.:
Qu|jLbv äicoppa(cavTe ^(Xa^ xam aapxa^ Idouaiv.
Man wird im Hinblicke auf diese Verse das sibyllinische
8u(jLcß6poc, wofür Nauck tot' dcOscfiic^aYoi und Buresch S* J>(Acßopo(
▼erlangten, kaum antasten können.^ Denn 0u{xoß6po( ist hier
'lebenzemagendy lebenzerstörend\ wie bei Empedokles 6u|xbv %
xzGppaidornZy ein Ausdruck, der auch Kathar. Fr. 128, 10 in ähn-
licher Verbindung (Oü[i.bv <i7:oppa{cavT£(; ee^jjievai i^ea futa) wieder-
kehrt. Dagegen läßt sich l$£<7[xata trotz Geffckens Behauptung
*B£qjur;a ist prädikativ zu f^vija;: als Speise' nicht verteidigen.
Denn dieser Begriff Speise ist schon in xaidSoudi enthalten und
überhaupt entspricht die von dem genannten Gelehrten postu-
lierte Ausdrucksweise dem epischen Stile nicht. Hier wird
man zur Konjektur seine Zuflucht nehmen müssen: zu den
bereits bekannten (<xi[Loc:a Mendelssolin, aSfa^aia Klonöek^ l-pcora
ich) könnte vielleicht noch oL^iaikia hinzutreten.
V 470 Tcd^/Twv 5' ix (jLeXaOpcov 6i;p£? x,aT£5ouai TpaTCEv^av
«üTcf T oi(i)vo{ T£ ßpoTouq xaT^Soüfftv 5::avT0t(;.
Mit auTo( t' ist nichts anzufangen : offenbar steckt in diesem
Ausdrucke ein Epitheton zu Oi;p£(;, welches diese ebenso als Raub-
tiere charakterisiert, wie der Begriff Raubvogel in oi(i)vo{ enthalten
ist. Ich vermute deshalb, es sei a-^pcoi herzustellen. Wir haben
hier ein belehrendes Beispiel für die in unserer Sibyllinentra-
dition mehrfach wahrnehmbare Tatsache, daß durch Formen
des geläufigen Pronomens auTc; da und dort verderbte oder
nicht mehr richtig verstandene Ausdrücke verdrängt wurden.
Hiefür mögen außer bereits bekannten Fällen die nach-
folgenden drei als Belege dienen:
^ Qatachmid dachte an Ou(jioßop«i> — Xti^u^ TetpofjLEvoi, was ich ftir nnsuläasig
erachte.
30 III. Abhandlung: Rzach.
I 9 fßpaae y*P TT*
TapTfltpw ipL9ißaXo)v xai (pö? fXüxu a^xb? ßwxev.
Wenn es am Schlüsse der Aufzählung der Schöpfungsakte
(V. 9 — 18) im V. 19 von Gott heißt auxb? tocöt ^ Ixoirjcs X6yo> xai
xa'^* i^tvifir^ \ a>xa xat (i-rpexeo);, so erscheint hier das betonte
(Ax6q zumal in Anbetracht des folgenden Satzes 53e y«P ice^e''
a^ToX^xsuTo? ganz begründet: er ist der Schöpfer des Alls.
Hingegen ist es auffällig, wenn in V. 10, wo nur einer jener
Akte, die Erschaffung des Lichtes, erwähnt wird, und noch
dazu erst im zweiten Teile eines zusammengezogenen Satzes
ein solches auT6(; auftritt. Dieser Umstand bewog meinen
Freund Klou£ek, für ^Xuxu aM^ als ursprüngliche Lesart y^^*
Y.\)<x\)^i<; zu vermuten. Wenn dies Kompositum selbst bislang
nicht belegt ist, so erscheint es doch ebenso gebildet wie ^Xu-
^"^iVM ^' ^'' zudem kann ich auf ein vollkommen zutreffendes
Analogon aus der sibyllinischen Poesie selbst hinweisen, Fragm.
I 30 ifMou '^huyLu^e^r.ki; iöou (fdoq ^^oya XafJLiceu
Ein zweiter Fall liegt vor in:
V 1G3 ciXXi |xev£T(; xav^pYjfjioq oXou<; «iwva? Itc aOiij^.
So bieten die Handschriften, was bei Geffcken nicht
angeführt ist:' ohne Nennung des Urhebers schrieb er im
Texte l<7a(h(;, was in Gutschmids Manuskript steht: gewiß das
Richtige, nur setzte letzterer vor icari-ziq ein Kolon und wollte
den nächsten Vers, der, wie längst erkannt ist, eine Doublette
zu 163 darstellt, nicht aufgeben, indem er ihn folgendermaßen
gestaltete: laaOTi^ | lactat 6XXu|jt.^vr, , elq auova<; ^ravipYjjxov | cbv cru-
Endlich sei noch hingewiesen auf
V 382 xcuxiTt Tt; ^^^sctv roXejj.iS*'^«^ o^^^ ciS-i^pü)
oü3' «üToTq ßsX^eaaiv, 5 [xr, OdfJii? £ffaeTat «uti?.
' Für taut* wollte Gatschmid ä4vt (wie konx* lye^ifiri).
' Hier möge auch eine andere fthnlicbe Ungenauigkeit in Geffckens Ana-
gäbe richtiggeatellt werden. Der Vera XII 120 lautet in den Hdschr.:
lotai $' Ix touTcov ia6X^ xal xo(pavo( avilp. Im Texte Geffckena ateht 8* cT^
im Apparate tU : h Mdls. AHein die Hdachr. bieten ix, und iU i<t eice
annehmbare Konjektur, welche ich in Qutachmida Mannakript finde.
Analekta zar Kritik und Exegese der Sibylliniscben Orakel. 31
Am Schlüsse von V. 383 gibt U' auToiq. Mendelssohn wollte
sa Anfang ahi^^ am Ende auToT<; (mit W) geschrieben wissen.
Noch zutreffender ist, wie ich glaube^ Qatschmids Vermutung,
der oby aZ tk; ßeXde^atv herstellt, das mit dem Eingang des
V. 382 xc&xert -ztq korrespondiert. An dem zweiten Hemistichion
von V. 383y wie es O gibt; wird nicht zu rütteln sein, Mendels-
sohns auTcU (^r) läßt keine rechte Beziehung zu; anderseits
ist Qatschmids latoci laaOOcq (IcraOT«;) nicht notwendig.
V 472 a>X6avö<; ts xoxoO icXr^GOiJaeTai ir, icoX^jxoio
Hier ist xaxoö (aus hdschr. xaxwv) von Wilamowitz ver-
bessert; desgleichen 7zo\i[KOio fUr überliefertes xoTa{jLoto von Buresch.
Doch vermissen wir in V. 473 noch einen Ausdruck, von dem
;ipx(z^ T6 xai atixora abhängt; diesen sucht Gutschmid durch die
Konjektur adpxa? ts %a\ aTfjiaT dt^wv ävoi^Tu>v zu gewinnen.
VII 26 ffXT^ffei 8' dv6p<i[»70iat jjl^y^*^ ^oßov u^j/ia' i8ia6ai
avOpünccov dXdaouffi y^vy) xxX.^
Keiner der bisher unternommenen Versuche, das Partizip
\ksxpiti3(x^y welches nicht zu halten ist, zu emendieren, kann auf
allgemeine Zustimmung rechnen : weder Fehrs fx^v xvj;«;, noch
Herwerdens 7' Ifxxi^qaq oder x{ov' aep-nj«?«;, noch auch Lud wichs
fyi T:pi{(7a^. Einen neuen einfachen Vorschlag bringt Qutschmids
piiTptbffa«;. Das Verb [/.tTpow ^gürten' wird, und zwar namentlich
bei jüngeren Schriftstellern wie z. B. Nonnos, auch im über-
tragenen Sinne *umgeben' verwendet; ähnlich hier. *Eine Säule',
80 kündet die Sibylle, 'wird Gott aufstellen in der Höhe den
Menschen zum Schrecken^ die er umgibt mit gewaltiger Lohe,
deren Glutstropfen herniederfallend die bösen Geschlechter unter
den Menschen vernichten sollen\
VII 62 Mol ßaOeia
xXouaouciv yufJL^ai^ Sxt 8y2 Oecv oux evöt;(7av
^ Von einer solchen von Feaer nmloderten Säule spricht die Sibylle
n 2S3 . . obv lotoi xat auiou^ | x(ovi icpooicsXdfoEiev , oicou (wofür ich otou
lese) xcpi xuxXov Sicavta | axötjiaio^ }coia{xb( ^e? (4>, pdtx Huetius, j^uaEi
Yolkmann, xupivo^ ^ci Wilamowitx, ts ^Ui Y) icupo^.
32 UI. Abhandlung: Rzach.
Die Sippe O gibt ßaOsta, W ßaOeiai; ich Labe für ßacBsu
— als Inhaltsakkasativ zu y-Xaucouaiv — ßapeia geschrieben, das
als eine im Hellenistischen wenigstens sicher belegte, wenn auch
seltene hysterogene Bildung eines Neutrum Plurale von dem
femininen Stamme des Adjektivs anzusehen wäre; vgl. wenn
man von dem nicht ganz sicheren o^sta xpeixtaav, das sich schon
in der pseudo-hesiodischen Aspis 348 findet, absieht, Arat.
Phain. 1068 Ot^Xei« Se ixijXa oder auf einer theräischen In-
schrift aus der Wende des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr.
1. G. I. M. Aeg. III 330, 95 (Testament der Epikteta) xa |jiiv
0>5X£ta (Tex.va).
Eine stärkere Verderbnis erkennt hier Gutschmid. Da
in allerdings dunkler Redeweise von der 'IXia;; . . xact xomY) xal
36(7[xopo<; gesprochen wird, will der Gelehrte in jenem hdschr.
ßaOeia (resp. ßaOetat) einen Flurnamen aus der Iliade sehen und
nach B 812 aheia y,oAd)vr| iv xeSio) oncaveuOs . . . ttjv Ji toi avSpe? Ba-
T(£iav (ßaT£tav gibt der Papyr. Oxon. IP bei Ludwich, aus dem
2. nachchristl. Jahrh.) xixXyjcxouaiv — es ist der Hügel, den die
Götter GTf\i.a Mupfvr^^ nennen — an unserer Stelle BaTe(a; xXa6-
joüciv v6|jL(pat aufnehmen. Natürlich ließe sich auch Bartefa;
mit Synizese des i schreiben, wie Hom. B 537 ^oXüarafüAcv V
'lorfatav am Schlüsse des Hexameters.
VII 63 T6p£, cu 8' TQAtxa Xt^'^yj [jlcvy) * E^ccßcwv fap
div^pia'f /wpYj^ elc cXi'yy; <pp£v{Yj c£ 8toia£t
In diesen mehrfach beschädigten Versen ist au B' rfhbßjx
Lesart von 4>, während *!' cu 3' t^X{xov gibt; weiters steht /t^pr^?
£i; in ^, in W ywpr^ai;; oX{y'»j 9p£viTj bietet ^F, ^XiY^jfav^y; A, die
übrigen Codd. der Sippe 4> aber dX^Y'') <pav(t]; am Schlüsse von
V. 64 ist einstimmig ai BioIgei überliefert. Es ist bis jetzt nicht
gelungen, die Stelle in ganz befriedigender Weise zu bereinigen.
Meines Erachtens steckt in -^Xi^a, das Geffcken nach Wilamowitz
mit einem darnach ergänzten (Si^) im Texte beließ, ein Epitheton
zu T6p£, wie wir solche bei derlei Apostrophen von Städten in
den Sibyllinen gewohnt sind; ich dachte deshalb an cu SfiiXafy;
Xcfijnf) fjLÖvY). Auch Gutschmid war ähnlicher Anschauung, nur
vermutete er ctu S' T^Xi6(a^ X£{'|Tf] [jlövy).
* Vgl. KUiue Schrift. II 822 (IV 248 Anm.).
Analekt« cur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 33
Im nächsten Verse konjizierte Mendelssohn nach Hom.
t 124 xTQps'ioy^'; indeß führt das hdschr. x^^pri^ ^k (}V X^^^?)
gewiß eher auf eine Wortform, die Qutschmid Vorschlag,
XTQpwöetff :* wahrscheinlich ist ans nrspr. XHP0J8C IC durch Um-
setzung von H und U), indem zugleich 8 in C verderbt ward,
zunächst Xü)PHC€IC geworden, das dann in XUPHCIC über-
gieng, welches noch 4'' zeigt, während anderseits durch Miß-
verständnis daraus xc^pr^^ ei^ von O entstand. Als ein zutreffendes
Analogen zu unserer Stelle kann ich Herodot VI 83 "Apvo; a^-
5pwv ixv3p(oOT) anfuhren.
Das nächste Wort ist, wie Geffcken richtig sah, aus der
Lesart von W iXfpj fpsvfiQ zu entnehmen, worin offenbar i\i^rr
f pevCi] 'geringer Verstand' vorliegt, das sich zu (dem bei Gregor
von Nazianz belegten) ^XcYOfpevdf] ebenso verhält, wie homeri-
sches hXixfß^'^iTi e 467 etwa zu i)ki^Q<Jxv/lri bei Philippos Anthol.
Pal. IV 2, 6. Man braucht nicht zu iXi-p]3pav{T2, wie Gutschmid'
wollte, seine Zuflucht zu nehmen.
Endlich wird man den Schluß von V. 63, der in den
Handschriften sinnlos ae 3(c{(7ei lautet, am ehesten durch Mendels-
sohns dioX^ffOT) (vgl. '^p(OTiQ 3' inzokicari VII 2 nach Alexandres
Vermutung) lesbar gestalten. E^ dürfte sich somit folgende
Fassung empfehlen:
T6p6, cu i* r[kM% Xe(4rtj ja^vyj • euaeß^wv -^kp
avSpcov xtjpwOsiff* 5Xfpifp6v{r) SioXeact).
VII 68 ^ TTplv yjoA "/«(tj; TS xal oupovoO a(n£p66vto?
oudevTiQ^ f ivcTO \6^oq icorpl xv66|JiaT( 0' if^w.
Die Lesart von O y^^^*® (Iy^vsto ^F) im V. 69 beließ
Geffcken im Texte, ohne ein Warnungszeichen beizusetzen,
obgleich sich nach ^eveTö X6yo^ die Notwendigkeit ergibt, die
Schlußsilbe von xorpC' vor Muta cum Liquida in der Senkung
lang zu messen, was in den Sibyllinen unzulässig ist. Ale-
xandre versuchte durch die Schreibung YSfevr^To die Schwierig-
keiten zu beseitigen. Einfacher aber gestaltet sich Gutschmids
Emendation ^e,TtSxo, zumal es wenige Verse später 82 &; «
Xi^ov Y^vvYjffe wati^p heißt.
> Ebenda 11 828 (IV 248 Anm.); nebstdem x^pc»<'»< (IV 248 im Text«).
• Kleine Schrift. II 322 (IV 248 Anm.).
* Xiy^i iuitp( hat Alexandre ans Xo^c^ xatpo« emendiert.
SittaagBbw. d. yhil.-birt. Kl. IM. Bd. S. Abk. 8
34 III. Abhaudlang: Rxach.
VII 141 vu^ Sarai Tzctn-q .... (JiaxpY) vm dhcei^g.
In den Handschriften ist nach icavTt; eine Lücke vor-
handen ; in P durch Xekei angedeutet. Indem man annahmi
daß der Tradition gemäß genau an dieser Stelle ein Wort aus-
gefallen sei, bemühte man sich das unverständliche anc&tOi)^ am
Versschlusse zu verbessern : Meineke wollte dhceüOiiJ? *©ine Nacht,
durch die nichts erkundet werden kann', während Volkmann
a<p£YY^; Michtlos* vermutete. Allein es kann auch, wie Qut-
schmid annahm, erst nach xa{ der Ausfall eines Ausdruckes
angesetzt werden. Wenn man V. 143 sq. liest 6ic6Tav xeTvot flnc6-
X(i)VTai I vuxTf TS %(x\ Xt[JL(^, so glaube ich auch in unserem Verse
versuchen zu dürfen: vu^ Senat i:avTY) [xa^pr, vjxi (Xi(jLb<;) dice/öi^?.
Die Ausdrücke imti^^ und axe/On^^^ sind wiederholt in der
Überlieferung der Sibyllinen mit einander verwechselt worden:
60 steht VI 11 in allen drei Handschriftengruppen Xoby icKs^fir^
statt ^n:ti^, was Alexandre nach I 204 VIII 301 hergestellt
hat;* während III 668 wieder statt des hdschr. 'kao^ icxer/ßri
mit Herwerden Xabv axeiOiJ geschrieben werden muß.
VIII 9 ... 'ItaXöv xXetvtj* ßadiXeJa a8c(7[xo(;
ucrdTiov xaaiv 5e{56i tmcml woXXa ßpoToiaiv
YM xic7;<; yalri^ ovSpcov fjLOX^ou^ BoxavT^aei.
Die Verwendung des Verbums Sef^ei in diesem Zusammen-
hange ist zweifellos bedenklich : wir erwarten einen Begriff wie
* verursachen, bereiten': ich halte TsO^et ftir das ursprüngliche.
Da Tennis und Media im Anlaute des öfteren in unserer
Sibyllinenüberlieferung vertauscht ward, ist die Entstehung
der Korruptel leicht begreiflich: fUr die Ausdrucksweise aber
vgl. VI 25 t6 90t xaxa ici^jjJiaTa Teufet. Ahnlich hat Mendels-
sohn in V 82 av0pu>7:ot 8£;avio Oeou; ^uXivsu^ XiOfvou; Te xtX. das
* In einseinen alten HancUchriften muß die Kormptel ebccxOr) aach eine
weitere Verderbnis del* vorang^ehenden Worte nach sich gesog;en haben,
denn in der neuen Sibyllen-Theosophie (ed. Mras, Wien. Stud. XXVIU,
p. 49) wird das s weite Hemistichion von VI 11 bereits in der Fassung:
ta\ Sn^ct icXouiov oiax^^ sitiert.
* Für das handschKftliche 'IraXuJv xXeivfjv ßaviXetav &9ca{iov habe ich seiner-
seit *l. xXsivfj ßavtXe:!) aOcofio« g^eschrieben: Tielleicht ist noch *IraXto>v
xXtivtüv hersusteUen, Tgl. xXitvaiv . * . Aaiivwv XII 84.
Analekta zur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 35
sehr yerdächtige Verbum darch xtd^ocno ersetzt, vgl. später
V. 84 xal Iv Twpi ^^coveuOma; icon^aavTO.
VIII 73 XÄ! TÖTS TCsyÖTiicst? wXfltTux6p9upov i^Y^H-övi^cov
w ßa«Ai? |xeYaXaux£> AaTtvtSo? SxYOve *Pu>{XY]g.
In keinerlei Weise läßt das überlieferte ^ eine Erklärung
zu: gemeint ist die tunica laticlavia der römischen Großen, die
gegen ein Trauergewand eingetauscht werden wird. Es hat
deshalb Geffcken an ^ä>9(JL' gedacht. Vielleicht aber steckt
in der Eorraptel etwa ko><;, kontrahiert aus X(oa(;, das in
übertragenem Sinne auch für ein aus Wollstoff gefertigtes
Gewand gebraucht sein könnte.^ Indeß ließe sich auch daran
denken, daß ^(5; auf unverstandenes ^ap zurückgehe, das (nach
Arkad. 124, 17) bei Herodian II 215, 16 L. (vgl. auch I 394, 21)
angeführt wird: to Bw dbcb toO Swfxa xai to ^ap to IfjLaTiov at£o xoö
^ipo^ xat xpT. Analogien für solche Wurzelnomina ohne Sub-
stantiv-Suffix finden sich in älterer und jüngerer Sprache, wie
homer. xp^ (= xpiOi^), hesiodisch (Fragm. 236) ßpX oder ßp(
(= ßpiOti). Die Existenz solcher Gebilde veranlaßte gelehrte
Dichter zu neuen, selbst unstatthaften Formationen dieser Art,
wie uns denn von Euphorien (Fragm. 105 bei Meineke, Anal.
Alex.)" berichtet wird, daß er sogar ^X (= ^Xo;) (mit auslau-
tendem X!) gebrauchte. Es ist daher keineswegs ausgeschlossen,
daß jenes f op von dem Sibyllisten des VIII. Buches verwendet
wurde.
VIII 88 Tcup^opo? &<JT6 $paxa>v 6ic6T(r/ ItcI xu{jLa(nv IX6t|.
Für &<r:6 von ^ liest man in W nur -ce. Ein Freund
MüIIenhofis' dachte an Tcup^opo; 5c7<j£. Den feurigen Drachen
wird man meines Erachtens hier nicht verschwinden lassen
dürfen und deshalb kann ich der von Geffcken aufgenommenen
Konjektur Bureschs Tcop^upeö^ t£ Spoxcov, mag auch in der Apo-
kalypse Joh. XII 3 von dem Spixcov (xrfa^ Tcupps«; die Rede sein,
^ V^l. Oo«th6, Faost. Zweiter Teü 6629: Ein Riese steht in Faiutens
altem Vließe.
* Strabo VIII 364 Eufop((i>v U xat x^v ^JXov Xffei ^JX; vgl. Apollon. de pron.
p. 372a; EuaUth. su Hom. p. 217, 6; 295, 2; 666, 36.
' Siehe Deutsche Altertamsknnde V 1, p. 12.
8»
36 III. Abhandlang: Rxach.
nicht beipflichten. Weit empfehlenswerter scheint mir Qat-
schmids Tcupcof^po*; xe (xe mit W).
VIII 91 ^ffü? [xev xoGfxoü To teXo(; xal lo/orov iifjiap
xat 3ox{(JLO(^ xXiQToT^ %piaiq dOaviToio OsoTo.
Die Erscheinung des feurigen Drachen kündet das Welt-
ende und den jüngsten Tag: es naht das Qericht Gottes fiir alle,
die vorgeladen werden : aber nicht bloß für die ^iusti sanctique',
wie Alexandre meinte, sondern für die Guten ebenso wie für
die Ungerechten. Offenbar leidet die Überlieferung an einem
Gebrechen. Doch wird man kaum mit Geffcken SoxipLf,; xXr^
Toi^ *den zur Prüfung berufenen' schreiben, da der Genetiv
Schwierigkeiten bereitet, sondern einfach S5xi|jlo? als Epitheton
zu xpfcK;, also ^das Gericht Gottes, durch welches alle Herbei-
gerufenen geprüft werden, ob sie sich als gut bewäbren\
VIII 118 ou xcI)|jLOi? jjLcOuovTS? aOd(j|jLOi;, ou/l Y^opdat^j
oh <f^6f(0(; xiOapr;;, oü |jly)xx;(y] xoxoepY^^.
Der Sibyllist zählt alle Dinge auf, die im Jenseits nicht
zu finden sind, wo die Nacht in gleicher Weise Reich und
Arm umhüllt.^ Gutschraid wollte nun ohy\ /opstai herstellen,
offenbar in der Meinung, daß sich der Dativ ohy\ /opeta? mit
xb)(xoi; [jt.606ovTe(; aOscpioti; nicht in Parallele stellen lassen könne.
Aber einerseits gehört der Tanz zum Komos, vgl. Aristoph.
Thesmoph. 989 I-^m ^k xwpiotc; ce ^tXcxcpoict [xiXtj^ü Eutov, &
Ai6vuce, anderseits finden wir |AeOu(o in noch kühnerer Verbindung
wie Theokrit. Ed. XXII 98 icXr^YaT; [xsOuwv.
Hingegen verdient eine andere Vermutung zum nächsten
Verse, wo Gutschmid im zweiten Hemistichion eu|A rj/avit) xoxoep-
y6<; als Apposition zu ^Oöyy©; xtöapr,; lesen will, ernste Erwägung.
VIII 167 ücTfipov ai %a\ STueiTd ve loü; Il^pdac; xaxbv ij^et
dv6' üXcpr|(|/av(Y)?.
Dies die Lesart von <^, während M'* «uts xal licctxa ef;
ITipaa; gibt. Alexandres «3 [xsT^xsiTa xai ei^ Uipaa^ xoxbv ^5«
^ Ein ähnlicher Gedanke wie hier begegnet schon Theogn. 973 sqq.
OUÖEI? OVÖptOlCfüV, OV TUOTV* liz\ "^9.101 xaXu<|nf]
l< I* "Epeßo^ x^'c^ßÜ) ^{i^*^« IlEpae^ovY]^,
ot>t6 Auovuaou 8b>pov oUipd(uvo(.
Analekto sur Kritik und Exegese der SibylliDischeu Orakel. 37
kann nicht befriedigen. Daß die Eorraptel in xai Ereita ^e to6^
steckt, sieht Jeder: Gutschmid vermutete hier sehr ansprechend
ein Epitheton zu D^pffat und schlug in engem Anschlüsse an
die Lesart von 4> vor: xat li: eu^ap^Tpou; lUpaa^; es bedurfte
dies, da eOfipeTpo^ nicht belegt ist, etwa der Änderung eu^ap^-
tpa; — ein Adjektiv vom «-Stamme, das in Sophokles' Trach.
als Beiwort des Apollon vorkommt. Aus den Sibyllinen selbst
fireilich läßt es sich nicht belegen : vielmehr finden wir XIV 68
nep9a^ T6 fapeTpo^ipou^ dKvOponcou^, ähnlich XI 174 9apeTpof6poi t
l-R Mrfiot^ XIV 175 focpexpofopou^ z ''IßiQpa;. Mit Benützung der
Lesart oure von ^i* ließe sich deshalb, da bei der vielfach
wiederkehrenden Wendung xaxbv fi^ei und xoxbv IvvcTat der
Dativ des betroffenen Volkes oder Gebietes zu stehen pflegt,
auch an die Fassung denken: iicrrepov ocure (papeTpoföpoi^ Il^paai;
VIII 235 ty^oq S' oh%i'zi XüYpbv h avOpomoiat ^avsiTai,
Das auffäUige Xu^pbv der Handschriften hat Hase in Xoixbv
geändert. Die lateinische Übersetzung der Akrostichis, welche
bei Augfustinus de civ. dei XVIII 23 vorliegt (* non erit in rebus
hominum sublime vel altum') belehrt uns nicht darüber, was
der Interpret an Stelle von Xu^pöv las. Meines Erachtens liegt,
ähnlich wie im Verse zuvor mit den Worten ha i* Sptj x€5(oi(;
iTzai auf die Ausgleichung der Höhen und Tiefen in der Natur
hingewiesen wird, der Gedanke vor, der Tag des Gerichtes
werde die Unterschiede zwischen Hoch und Nieder unter der
Menschheit völlig beseitigen. Sollte nicht durch ein Beiwort
wie Xapiicpöy, das auch mit dem Verbum ^avelToci im selben
Bilde bliebe, dem Begriffe D^o; ein kräftiges Relief verliehen
worden sein?
VIII 325 a&TÖ? aou ßaciXeu; ixißa^ iiA tcöXov eaa^et
In ^ steht hdr^ii, in Q ^1^' ebaYsi. Die seltsame Länge
des a in har^ti^ das hier intransitiv gebraucht ist, wie iva^stv
-koYetv u. a. auch in der Prosa, muß Bedenken erregen. Man
wollte sie durch den Hinweis auf ein Sepulcralepigramm bei
Kaibel, Epigr. gr. ex lap. conl. 735, 3 stützen, wo SiaYb) mit
langem a gemessen wird. Allein der Verfasser dieser Verse
stammelt nur in gebundener Rede: der erste Hexameter
38
III. Abtifttidlunift Ria eh.
zählt fünf Füße, itii zweiten wird y.6crjjt0'j ^Xaviqv rpsXt-iiv ge-
messen: kein Wunder, wenn anch im dritten jenes lidrfi»* mit
der Länge des a erscheint. Auf diese * Analogie* darf man
sich also ntcbt berufen. Nauck meinte es sei hier liti^utt her-
zustellen. ^M
Gleichwohl ließ Geffeken die llberlieferte Fassung im"
Texte stehen« Man solhc dann frcilieb ersvarten^ daß konse* ii
quenter Weise* auch XIII 5 xai t« |aIv o^pavti^ ^ Öeb^ aiK5U7av^|
i%i^Ei I aj^iXku'f p«ct>^Öcrtv xtX. geduldet würde, da doch dem "
Sinne nach gegen h:dycvi nichts einzuAvenden ist: aber bier^i
ward Naucks an sieb treffliche Vermutung k^d'^u rezipiert* fl
Aber vielleicht Iltßt sich der Schwierigkeit durch eine ein* ^
fache Wortum&etzung an beiden Stellen begegnen, ein Mittel^
das angesichts der schweren Verdorbnisse des SibjUinentextes
sich bereits in verschiedenen Fällen als vollkommen berechtigt
und wirksam erwies. Und so möchte ieb VIII 325 oeiitsc üu
paatAeu; ^larfst ira^kq Im toVacv schreiben; XIII 5 aber hat be-
reits Gutschmid richtig gestellt durch die Fassung: xai -zk i^h
o&pivt^g ^ Ö£6q izdyv. aexouffov [ irf(iXkuv ßotfftXiOatv y.zh,
VIII 337 xal TOT£ ytjpeuasi %6a\t,Q'j ^-lov/EXa TipdxaEvia
ÄTjp 'X^Xa ©dAaasja fioq Tiupb^ ÄtOo[i,£voto "
vjoi xiXo«; olyphiot; mi vuE xai ijEJiatTa ^«'^t«
Im Eingang habe ich in meiner Ausgabe den Vers 3B7, dem!
eine Lücke vorausgeht, nach III 80 toie o?; «not/^ela %^G7an%i
yirjpcu^ei T-do-jAöu sowie nach II 206 3W«t tote //jP^'^^^ x5gjjLou ^myßa
TcpoxavTac, wo schon Castalio das zweite Hemistichion filr band- '
schriftlichea otoi/^sTä 7:pc;:avTa -^ä y,6^ixc'j hergestellt Latte^ kon
stituiert (<I> H* xtjpsüCFct täte ^rivr^E xpövw aroiy/ta ti [toö fügt H'
hinzu] yiqjio'j). Eine harte Nuß enthält der V* 341, da eine
vernünftige Konstruktion der überlieferten Worte unnitiglich
ist: eine Verbindung ä^pa füjffi^pfov ist gänzlich unverständlich
und unstatthafl. Deshalb vermutete ich, es sei etwa zu schreiben
atJTÄp dbs' oi>pav6©6v «pwaTT^^piJv xuxXa TregeiTai, vgl IV 57 aurpa 8'
* So Tftfulif Alexandra, welcher ed.* zu XIII ö bemerkt;
WyR llceoter prodoeitujr ut in iatkif^ VIlI J*t6*,
^
n
medmm in
Analekta zur Kritik and Exegese der Sibjllinischen Orakel. 39
az oüpavö6£v XeftJ^ei xal xuxXa aeXtJvr^;. Aach Gntschmid nahm
natürlich an jenem Versungeheuer Anstoß. Er läßt aber das
iTTpa am Eingänge Subjekt zam vorangehenden Verse sein,
indem er den V. 339 (xai xöXo; xtX.) noch zu den beiden V. 337
und 338 zieht und nach Y^ixora TravTa starke Interpunktion setzt.
Die beiden letzten Verse lauten bei ihm, indem er in V. 340
an dem meines Erachtens hier fehlerhaft überlieferten dt; Sv
zi)p ^;ou9i (II 201 richtig dq £v ouppi^^ouai) wenigstens zum Teil
festhält, folgendermaßen:
ei^ ^v xCp piJSouffi xai I? pi.op<f>rjV ':iav^pr|[jt,ov
aaTp\ dTotp oupavöOcv ^wom^ptöv xaXxa xeaevzoLi.
Es ist nun die Frage, wird man der Verknüpfung des
V. 339 xa( TCoXo^ xxX. mit den vorangehenden zustimmen können,
wobei also die Begriffe tcoXo^ oupoevco^, v6^, YjfAdcTa mit den die
vier Ellemente darstellenden dh^p, '^aia, OaXaaca und (fio<; Tcupo^ zu-
sammengefaßt als die orot^eva x^afjiou bezeichnet werden, welche
veröden? Diese Frage läßt sich bejahen; ich verweise auf II
206 sq., wo es prompt und bündig heißt:
xat t6t£ /r^peüaet xdapLOU aroi/eta iup6iravTa
dtrip ^alcL OccXacaa 9ao<; '::6Xo? r^[JiaTa vuxTsq.
Beide Stellen stehen in offenbarer Beziehung zu einander:
gewiß las der Sibyllist des zweiten Buches keine Interpunktion
nach V. 338, sondern erst nach 339.
Man wird aber auch mit den weiteren Aufstellungen Qut-
schmids übereinstimmen können, die geeignet sind, in unsere
in der Überlieferung so mißhandelte Stelle einigermaßen Ordnung
zu bringen. Wenn er acnpa zum Subjekt des vorangehenden
Verses macht, so konnte er das mit gutem Grande: denn an der
parallelen Stelle II 200 heißt es zwar mit dem Subjekte ^(oari^psc,
aber sonst ganz analog aiap oupivioi ooxrnjpe«; | ei; iv crjppY^^ouat xal
h V-^P^^i^ :rav£prjjjLov. Und während hier (341) die (püxnTJps? vom
Himmel fallen^ sind es dort umgekehrt die aorpa (II 202). Somit
finden Qutschmids Mutmaßungen durch den Parallelismus der
von mir angeflihrten Stellen willkommene Bestätigung.
Somit würden die V. VIII 337 nunmehr zu lauten haben:
xal TÖTe x^peuaei x6a[xou orot/ei« icpöiravT«,
40 III. Abhandlung: Rzach.
xal icöXoq o&pavco^ xocl vü^ xat f^fiLora iravxa.
a9Tp\ iciOLp oupavoOev ^coon^pcov i:a\xk icsveiTat.
VIII 350 wäffai 8' ivOpclwcwv ^ü^ai ßpO^oücnv iSoÖdtv
TYpi6(Aevai $(i]/et Xi|xcp Xoi{juü xe fovotg xs.
Der von mir als Interpolation eingeklammerte Vers ent-
hält zum Überfloße noch eine Korruptel '^^x^"*} die durch das
darüberstehende ^^d veranlaßt wurde. Gutschmid erkannte
darin (j/ux(^^y i<^b möchte noch ein x' beifUgen. Im slav.
Henoch X 14 B. ist von ^Frost und Eis, Durst und Frieren'
die Rede.
Auch das Schlußwort des dritten V. ^övot^ xe kann, wie ich
schon Götting. gel. Anz. 1904, p. 224 bemerkte, unmöglich richtig
sein. Aus Lactantius div. inst VII 16, 12 ^adversus homines,
qui iustitiam non adgnoverunt, saeviet ferrum ignis fames
morbus et super onmia metus semper inpendens* ergibt sich,
daß f6ßoi^ zu lesen ist^ worauf übrigens auch ^oßu) im inter-
polierten Verse hinweist.
VIII 382 xavxev« ^öjxe^ ^xovxe? a/pKJffxoi^ Swpa StBoOaiv
xat (b{ {i^y iiLX^ xt{xa(; xoiSe xpi^9t(JLa icdvxa SoxoOvxei;
6o{vtj xvtaoDvxeq, w; xoT^ tS(ci< vexüeaciv.
So lautet im Wesentlichen die Überlieferung von ü, dem
besten Zeugen: 383 ist (I;) von mir eingesetzt worden und
für xcxe von Ü xide aus U* (xa ^k 4>) aufgenommen ; behält man
das Partizip SoxoOvxe^ nach Q bei, so muß xal im Eingänge von
V. 383 gestrichen werden ; schreibt man aber mit ^ W ^oxoOaiv,
so ist es mit üt; zusammen zu ziehen, was in ^ x' ä>; (Geffcken
X^) angedeutet ist, während auch 4' xal o); gibt.
In dem ganzen Abschnitte 361 — 428 ist der Text auf
der Tradition von Q aufzubauen: die Sibylle verkündet, was
ihr Gott selbst, in erster Person von sich redend, mitgeteilt.
Die beiden anderen Handschriftcnklassen 4> U' weisen zum
Teile eine Umsetzung des Inhaltes der Partie in die dritte
Person (als Berichterstattung) aus, hauptsächlich von V. 366
an; dieser Umstand hat zu verschiedenen Mängeln und zum
Teil zur Zerstörung des Metrums gefUhrt.
Analekia zur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 41
Ein interessanter Beleg hiefür ist der erstangefUhrtc Vers
382, wo das erwähnte Verhältnis der Version von Q zu der
von 4> W zu richtiger Beurteilung der hier auch in Q verderbten
Lesart und somit zur Emendation der Stelle zu führen geeignet
ist. In Q liest man icavTeva (M tcoIvt Sv«) ^wts? S/ovreg iyip'f^
cTct^ 8ü>pa 8i8oOatv, während ^ luavxec; 8' a^Tou ^o^net; äxpTJaifjia
!üpa ^ou9(v bietet, was auch in W steht, nur ist hier für 8' das
Wörtchen ^ap eingedrungen. Wir haben also in 4> W a^ToO
(Gottes) somit die Beziehung auf eine dritte Person: demgemäß
wird man nach dem oben Gesagten in Q eine solche auf die
erste Person — da hier Gott aus eigenem Munde spricht — ,
zn erwarten haben. Es gilt somit unter möglichster Wahrung
der überlieferten Buchstaben das verderbte wavTeva (resp. Tcavr'
hoL von M) zu verbessern. Bei den Emendationsversuchen hat
man bisher zum Teil die Überlieferung von ^ W zu sehr mit
berücksichtigt oder sich das gegenseitige Verhältnis von Q und
4> 4' nicht eindringlich genug vor Augen gehalten. So schrieb
Fehr, dessen Vorschlag sich dem Sinne nach am meisten dem
Richtigen nähert, Ttivi' 6m ^|xo5 y«P ^X^"^^^} Geffcken %drz h
efiflwTw ix^vre;, Wilamowitz, auf Grundlage von W, xavra fop
xjToO l^ovie?; endUch hat Herwerden Tzdrfnvia (pwTs? iyo'fitq ver-
mutet. Die einfache Lösung, bei der bloß ein Buchstabe zu
ändern ist, fand meines Erachtens Gutschmid, indem er (auf
Grundlage der Fassung von Ü) iravc' l|i.a (pwis? v/0Y:e<; schrieb.*
*Obzwar Alles*, — so verstehe ich den Vers — *was die
Menschen haben, eigentlich mir gehört, bringen sie es doch als
Gabe den nichtsnutzigen Götzen dar\
VIII 451 eu^pövTi i%[A6pYj &zvo(; e^epoiq Tryeöjxa xai opixi^,.
So wird der Vers gewöhnlich in den Ausgaben nach ^V
geschrieben, wo eufpövT) am Ende der vorausgehenden Zeile
steht, die am Schlüsse eine Lücke enthält. In 4> liest man
TitiO^ I eufpovYj &1CV0? xtX., wo wiedeinim r^ixp in jener Lücke steht.
^ Dagegen maß «XF^^^^^f» wofür Gutschmid wie auch Herwerden «XP'i'
otois schrieb, nach Q stehen bleiben, vgl. 389 Fragm. III 45 Ik* e?$(oXoi9iv
aXpn^'tott. Gutachmid hat Übrigens in Klammern auch eine Fassung
auf Grundlage von 4>Y beigesetit, x*^? «utou Ti|jL«i t«8e •^p^9i\Loi äcwt«
SoxoOot; Tor 883 findet sich in seinem Manuskript eine nachträglich
durchgestrichene Version icsvta $^ aurou Ix^vtc( axP^^H^' ^P' Ouou9i.
42 III. Abhandlung: Rzach.
Zweifelsohne wird man das epische f^piap lieber beibehalten
wollen und deshalb Gutschmid beipflichten, welcher i^M^ iü9p6vT),
üxvo<; evepjK; xtX. vermutet; wegen iu^povT) vgl. VIII 486 pLv^sriv
iu9po(Juvr|(;.
VIII 460 8£'jT£pa y.al xojptjv auTaY^eXc; ^vvstcs fwvij.
So liest man in <I^, während W ip/a-fT^^o; Ivveice ^wvet bietet.
Diese Variante ap'/d-(^eKoq verrät ihren Ursprung, sie entstand
im Hinblick auf die Nennung des Erzengels Gabriel in V. 459;
als ursprünglichen Wortlaut wird man mit Gutschmid aOToEf-
Y£Xo<; — <p(i)vi(5 anzunehmen haben,^ indem zugleich xcupt) ge-
schrieben wird.
VIII 491 Ol) Xißavou dtTix^Yjctv aveOstct ^Adya ßo)|Acv.
Für die angefiihrte hdschr. Lesart schrieb Opsopoeus ax-
[xcTciv avisiGiv und Alexandre weiter ßwjAwv, statt dessen Geffcken
ßwjxcT? ('auf den flammenden Altären') vorzog. Dem Inhalte
der vorangehenden Worte gemäß
oüTTOTS Tzpoq vr^wv i^uToi? ^wpieaOa xeXal^eiv
cu ^oi^OK; oxevSsiv, ou5' sü/toXi^ff'. ^spa^pstv
ouS' i$jxaT(; avOcov xoXuTepwsffiv oh^k piev a^Yai?
XapiTCT^pwVj (iTap ouS' dp^oT^* dvaOYjpLaci xoff|j^eTv
müßte zu der Wendung ou Xtßocvou orjjLoTaiv devteTaiv ^Xö^a ß(ofi.(üv
(ßü)(jLoT<;) des Verbum y.oc:jjL£iv gehören : man solle nicht mit glän-
zenden Weihgeschenken die Götterbilder schmücken und auch
nicht mit Weihrauch; der die Flammen der Altäre entfacht.
Daß der letztere Gedanke wenig mit dem, was unmittelbar
vorher gesagt wird, zusammenstimmt, wird wohl Jedermann
zugeben: eher ließe sich der Vers in der Fassung des Opso-
poeus unmittelbar nach cu$' cu/toXf^at Y£paip£iv vertragen. Des-
halb hat Gutschmid die verderbten Worte in Xißavou dTixYJfftv
dvat06ca£tv (^Xo^a ßo)jj!,a)v) geändert 'und nicht mit dem Weih-
rauchsdampf die Flammen der Altäre entfachen\ Es steht
dann der Infinitiv dva'.öuac£iv dem y.0Gp.£Tv und den übrigen
Infinitiven u£Xall£iv a::£vS£tv '^tpaipeiv parallel gegenüber: die
* Vgl. 1275 OK ?9«' d(jißpoa{rj fpwvii, wo T unrichtig a(jißpoa{T) ^tovrj gibt.
' So habe ich für das verderbte apa rou; geschrieben. Bei Gatschraid finde
ich ipaxoX^.
AnalekU zur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 43
Wendung avatOuweiv ^Xo^a aber gehört schon der tragischen
Sprache an.
XI 71 xa( ce fs XwßYJast [xaXXov icapa xavxa; dXsGJsi.
Ein dunkelfarbiger grauhaariger 'IvSbg ava^ wird kommen,
der über den Orient viel Unheil bringen soll in gewaltigen
Feldschlachten. Dieses Herrschers Wüten wird auch die V. 61
angesprochene Mrfida -^airi erfahren: dies will wohl unser Vers
besagen, über dessen Wortlaut man jedoch stutzig werden
muß. Die Annahme Xcoßv^jei sei ein Futurum Aktivi zu dem
sonst als Deponens auftretenden X(i)ßo(0[i,ai ist, wie ich jetzt
glaube, ebensowenig wahrscheinlich, als die, welche in XcoßY^jaes
den Dativ zu Xcoßtjaig (== Xb>ßT]) sehen will: und wie könnte,
wenn hier ein derartiges Futurum stünde, der im zweiten
Hemistichion enthaltene Gedanke so ohne jede Verknüpfung
angereiht sein? Es ist deshalb im ersten Versteile etwa xa( ae
VE XwßtJcTjx' aivw^ zu schreiben, ähnlich wie wir im selben
Buche 201 cutoi; xai BaßuXtava 'jcöXiv XcaßY^^aeTat a!vü)<; finden, wo
dies Adverb durch Ludwich aus Xoi|/.o) korrigiert worden ist.^
Das zweite Hemistichion scheint mir Gutschmid, welcher xa-
pizav z* ixoXeaaet schrieb, geheilt zu haben. Er würde somit
der Vers lauten:
xai ci Y6 XwßT^iorjx' atvwq xapazav t a'SoXesaei.
XI 76 aXXa iciXtv ^^ei xat Otto ^ufbv odr/hoL OYJaei
^av lOvo^ xvOpu>xu>v xpaxepcü^ TriXiv, y] Trips; tjcv,
SouXeOov ßaatXet xat £xou(7(a); uTccTi^ec.
Nach drei Jahren der Empörung gegen die Herrschaft
des in V. 69 genannten 'Iv5b; ava^ im Kampfe um die Freiheit
ändern sich wieder die Verhältnisse. Das Subjekt in uxb liu^b''
r>/6va 6i^(7£t ist iciv lOvoq ÄvOpoyffwv, demgemäß muß wie Gut-
schmid und Buresch sahen, xparepÄc zu xparepw werden: aber
mit ^;si läßt sich nichts anfangen, da doch hier dasselbe Sub-
jekt stehen muß, wie in den Versen unmittelbar zuvor (irav e6vc;
ziTzp-^ctt xat iX£ü66p(r|V a^aM^ei) und im zweiten Hemistichion
desselben Verses 76. Demgemäß schlug Wilamowitz vor :rcT55et
zu schreiben, das sonst mit einem Akkusativ der Person ver-
* Gatscbmid schrieb hier cofifj;, Mendelssohn o^xtpco^.
in. Abb sind luitg; BK«<^b.
bunden wird: V lÖ (XII 20) ov Q^fx^ tx^^^iu Näher lieg
Gulsclimids €t§£t^ zu dem dann das folgende Satzgefag^
ganz wobl paßt.* Den Schluß der drei Verse ßa^iAst ääe ixoucttM;
u7;oTi;£t möchte ich mit Benutzung von Gatschmtds &ar?tXii£ unA
WilamowitV ^q ur^c^d^u und unter Streichung des behufs ober-
flöchlicher Gluttang des Metrums nachträglich eiDgesehmu^
gelten mt so herstellen:
Indem man ein Kompendimn filr den Ausgang ov Qbq
dem Adjektiv übersah^ war dies mit o>; zu. exojuio)^ zusammen
geflossen. Eine ähnliche Stelle liest man XII ]28£q. dTap %Q(i^
XI 174 Äcoyptof t' "Äpaßlw t£ 9ötp£Tpof6poi t' hi Uffioi.
nip<:ai %al ItxEAol Au8o( t iTcavaön^ffOvtai
Mitten zwißchen Völkern des Orients und des Ponti]
erßcheinen hier plötzlich die l{>£koi In den geographische
Namen weist unsere SlbyllinenUberlieferung oft schlimme Kor-"
ruptelen aus: so konnte ich XIII 56 aus einer einzigen tland
»chrift Q das richtige Xavavdoüc eruieren, während sonst Za
va(quc vorliegt, XIV 265 bieten sämtliehe Codices xat ^ocpel&i für
Kä5ia£Io?, wie ich restituiert hahcj XII 43 geriet MO.oii statt *Pf,*
in den Text ü< a* Somit haben wir ein Recht auch hier^ wo Ziv.tl
ftO gar nicht zu dem Übrigen Wortlaute pußt, eine Verderbnis %ü
vermuten; allem Anscheine nach steekt darin der Name eine
orientalischen oder am Pontua wohnenden Völkerschaf tj, etwa d^
i^£v3o(, die in Sarmatien am Nordgestade des Fontus hausla
XI 187 Äotl ^Acv "Apijo^
Der Sat£ ist nicht zu Ende, sein Schluß fällt in die hti
vorhandene Lticke. Am Kingang von V. 188 schrieb Gut-
1 Üensolben BegrifT U*t Ludwich in dieaeiti Bocbe XI %9 iUd dB« «■
deren Korruptel bergestcUt, lodern er für Sploygi'* der UAudichrifWii wchrhi
n|^i*gtv 0* *ittp nMm paatXiI^ (AiyaOu^iot, dno EmendÄrmn. die «nfftmeiii
attgeiioßQmeu Ul und die job nun *tteb b»i OiiU<?bmid vtrrfinde».
AnalekU snr Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 45
Bchmid Mu^qI; 'Hxs{pu> te: allein dies ist zweifellos abzulehnen,
da wir es hier mit einer seit alter Zeit geläufigen epischen
Formel zu tan haben; schon bei Hesiod Theog. 964 liest man
an derselben Versstelle vi^aoC x' fy:eipQl ts und nachmals hat
Qointns Smym. XIV 512 dasselbe Hemistichion wieder ver-
wendet; auch Kallimachos sagt Hymn. Del. 267 z{ov£<; T;xeipo{ t£
xal OK reptvaUxe vr^ffot und ähnlich Dionysios Perieg. 1181 ufxsT^
s' f|ffe(pc{ xe xal etv dXl */a{psx£ vijaoi : beide haben sich ebenfalls
an das hesiodische Muster gehalten. Wir werden demgemäß
in der Sibyllinenstelle diese Wendung nicht preisgeben dürfen.
Fttr das verderbte xopaxpoK;, wofür ich TpißaXXoig, Geffcken
*Op^axat^ vermutete, schlug Gutschmid IlepacßoTi; vor.
XII 54 icoXXa 51 SiQXu>ae( iiA pLOvxoauvYjci {xsy^oxwv
<]ceu66{xevo^ ßt6xou ^(Jiv^q X^^'^ ' a&x3(p hz ahw
Ijxai afiiia [i,i^i.T:o'i' icry obpavoO a\[iaz6ecaon
^euffouvtv <{;exid€{ xal dncoXXu(x^vou ßaatXYJc;.
Eis ist hier die Rede von Gaius Caesar (Caligula). Die
mehrfach beschädigte Stelle erfuhr eine erwünschte Förderung
durch eine schon früher publizierte^ Konjektur Gutschmids
xEi66(uvo<; in V. 55; daß dies Verbum das richtige ist, wird
durch das kurz darauf (V. 59) folgende analoge hA (JiavxoauvaiJt
s€7otO<i;M; erwiesen. Gleichzeitig schlug der genannte Gelehrte
ii^ioxov statt (jieY£(7Xü)v vor : indeß ist es recht wohl möglich, daß
dies vielleicht durch Einwirkung von [itfKs^o^i in V. 56 hervor-
gerufene Wort aus einem anderen hervorging, etwa ixa^oio, das
von Ik\ jjur/wcuvTjat abhängig war. Von einer ähnlichen Vor-
stellung ging Mendelssohn aus^ der hier das freilich allzuweit
von der Überlieferung sich entfernende ^oi^xcov vermutete.
Nun fragt es sich^ wie steht es mit dem Verbum des
Satzes? Alexandre wollte irik-^aei geschrieben wissen, indem er
den Vers frei paraphrasiert Vex multos genere insignes opibus-
qoe necabit^ allein von Caligulas Schandtaten wird erst V. 58
berichtet icoXX3e ik i:ovfiaei dKvopia xxX.; desgleichen ist jene Ver-
mutung formell bedenklich, denn das aktive dYjXdco fUr 8r|Xdc(Aa(
ist bei den Sibyllisten nichts weniger als gesichert. Gutschmid
dachte scharfsinnig an SscXoxttjX* von de(X6o[jLat ^furchtsam sein'.
> Kleine Sehr. IV 260.
46
IIL ÄbbHndluiig^
einem Verbum, das der Sprache der Septuagiota angehdrt: es
wrire also von der aberglänbiaclien Furcht des Tyrannen die
Kede, der seine Zuflucht jeu Prophezeiungen nimmt. Aber
vielleicht läßt sich 5r,W^£t halten, wenn wir es als iDtransilir
fassen: 'in raancher Beziehung (zoXhi) wird es sich offenbaren,
daß Caligula auf Weissagungen ä, B. von Astrologen feat ver-
traute'; vgh die Wendung tr^olq ^dp Tt in^alyahü^d* ii:^* bei
Sophokl. Antig. 29» Eine Illustration erfahrt die Stelle durch
den Bericht des Suetonius im Leben dea C* Caügula Cap, 57
'consnlenti quoque de genitura sua Sulla mathematicus
cortissimam necem appropinquare affirmavit. monuerunt et Ft>r-
tunae Antiatinae, ut a Cassio caveret\ Die Anfangsworte geben
uns zugleich einen Fingerzeig, wie wir einer weiteren Schwierig-
keit in anserem Sibyllinenvcrse 55 zu begegnen haben. Denn
wie 80 11 man sich ßisTSü 5wf;g x^ptv zureeht legen? Hier ist
des Guten zu viel Meines Erachtens drang eine Glosse neben
dem zu erklärenden Worte in den Text, wie solches in den
KibyUinen^ sowohl wie anderwRrls öfters geschah, Ea kann
wohl keinem Zweifel unterliegen^ daß ßici^j durch X^'^ft^ er-
läutert ward 5 ist ja doch auch ßtoOv gemeiniglich der helleni^
stiscbe Ausdruck flir t;^v. Diese Glosse verdrängte aber auch
ein Wovtj das man, um den Hexameter äußerlich richtig zu
Btellen, strich. Welches mag es gewesen sein? Halten wir uns,
die Nachncht des Snetonius vor Augen und berüeksicbtigeii
wir weiter j daß bei Maneth. IV 572 ßioxDuxoiro; im Sinne vol
'die Nativität stellend' vorliegt, so sind wir vielleicht auf de
richtigen Spur. Es scheint an Stelle von l^t^iffq etwa cäo^cii}^
gestanden zn sein, und tatsächlich finden wir wiedemm bei
Manetho IV 135 ^Ks?:',iiv wpcgxö>LOV vor. Und so spreche ichj
die Vermutung aus^ daß es hier dereinst ßtsTsti fTA^zi9i: /iptvj
oder, wenngleich das Wort vorderhand un belegt ist, vielleichl
ßtot55y.OTC(Y;; yapiv gebeißen habe; letzteres dürfen wir wagen jj
da es an einem Analogen, dem Substantiv c*)poa7,0TEC3, nicht fehlt
Endlich ist in V. 57, wie ich längst konstatiert habe, m
zweifellos unriebttg, ich wollte ea durch swit eraetsst wisßen;"
* Vgl, I. B. Vni 232, wo 'l*T istXd^lrEt ^io« afX«; ijiXiow bietfin« wäbreaj
di» beet« Sip^fl Q sowie die Oratio CoDiiant. richtig ^?A£^^ci olXtt^ ^
überliefern.
Analekta zar Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 47
und 80 hatte auch^ wie ich jetzt ans Gutschmids Manuskript er-
sehe, dieser anfänglich koDJiziert. Nachmals strich er x und
fügte einen Spiritus asper und Akzent bei, d. h. er schlug &t
Yor, dem ich mich nunmehr anschließen möchte. Somit würde
die Stelle so zu lauten haben haben:
xcXXa 8e 8Y]X(i)ffst hA |xavToc6vY)<7i ixa-foto
7e(09|A6vo^ ßt6T0ü oxo7:i^<; yotpi"^' ahxap lic' auTci
It:ch c^ix« ji^fiorov im oupovou ai|xaT6e(iGat
f66aouffiv i]/£xa86g 5t' dnroXXüjxevoü ßaciXtjo?.
XII 65 xiXo'i V I«' avaxTopi icivTe?
xorcOipievoi 3oX{(i><; toDtov SiaXcoßi^aovTat.
dtvOouat) xpaTepf) 'Pa)[XY] xpaTSpoi^ öXieTxat.
Der letzte Vers 67 hat zu mehrfachen Vorschlägen An-
laß gegeben: so vermutete Alexandre (iv6ou(n)(; %pontpriq 'Pu>(xy);
Ti^Tztpo^ icep ^XeiTai, Wilamowitz ivOouoY) xpatepo? 'Pwfxrj xpaTepoTctv
5X£rTat : den Caligula wird indeß der Sibyllist kaum als xf axepo;
bezeichnen wollen. Deshalb dachte Mendelssohn an dv0o6aY]<;
xfxrep^? TwjxY)? xporepoT? JioXeTTai. Da aber der Vers so wie er
überliefert ist; für sich steht, und eigentlich nur eine Rekapi-
tulation der vorher erwähnten Katastrophe des Caligula dar-
stellt, wollte Gutschmid ihn mit den vorausgehenden Worten
in anmittelbare Verbindung bringen, indem er schrieb: av6o6(7r|<;
xfx:£pf,; 'Pcopnij? xpaTspol icoXi^Tai. Es soll nicht verhehlt werden,
daß, so annehmbar diese Vermutung an sich ist, doch die sich
dann ergebende Wiederholung des xoXt^Tai (nach V. 64) einiger-
maßen auffällig erscheinen muß.
XII 115 6t(; Zk xb xepjjLa ßku ^zpotfo^ ßaciXeu; jxsYaOufjLo;
Die Worte betreffen den Kaiser Vespasianus. Der Vers-
Bchloß von 116 leidet an einem offenkundigen Fehler; es hat
deshalb Alexandre xporep^^ ux' dvÄ-ptr^*; vermutet, ein Versschluß,
der schon Hesiod. Theog. 517 vorliegt. Indes meine ich nun,
daß man den vorausgehenden Verbalbegriff ^easTai besonders
beachten muß: darin liegt offenbar der Hinweis auf gewalt-
samen Tod, wie vorher XII 47 xal TÖxe 5y] •jr^csTat 7:Xy;y6i<; «lOwvi
cidi^ oder XIV 125 o&to^ V au ^^asTat ^poScOei^ aiOcovi ci$/jp(i>.
48 III. Abhandlung: Rsach.
XIV 242 xal Ti-ce 8' oüi weaetat ßa(jtX6ü<; arpariij^ incb x^V^?- ß®'
achten wir, daß Vespasian vorher V. 99 als e&aeßdoiy dXe'c^ip
lii-^oL^ (iv$p(5v bezeichnet wird^ was auf seinen jüdischen Feldzag
geht (vgl. 102 sqq.), daß ferner der Bezwinger Jerusalems,
Titas, nach dem sibyllinischen Berichte XII 122 gewaltsamen
Todes stirbt — cuioq xainceasiai 8oX(a){ . . . ßXY]6el^ 8' Iv ^anziit^
•PwjjLrj^ dcfJupi^xeV xolKym — so wird es begreiflich, daß der Sibyl-
list auch den Vespasian der Geschichte zum Trotz keines
natürlichen Todes sterben läßt: das Schlußwort von V. 116
war vielleicht avap/o^» wornach der Kaiser durch die eigenen
meuterischen Krieger sein Ende gefunden hätte; vgl. XIV 242
orpaTtTj^ uicb yj,ip6c,
XII 143 S<; TCept izd^na
woXXcü? eSoX^cet 'P(»)|jly;<; acTaTOu? xe woXkot^.
Dies ist die Lesart der Hdschr. H, dcreiTou? gibt V,
aGT&u^ Q. Naucks Konjektur i^rzohi; 'noki-fyzoL^ hat Beifall ge-
funden. Einen neuen Vorschlag bringt Gutschmid unter Be-
zug auf das in Cod. H vorliegende daraTou?, indem er xoXXou^
.... dxaxou«; xe ^oXhoc^ schreibt; ich habe hierauf bereits in
den Götting. gel. Anzeig. 1904 p. 215 kurz hingewiesen.
XII 172 eip^vY) 8^ piaxpa ^erf^azzai
So liest man in Q: hiefÜr hat Geffcken (mit Buresch)
üp-fyi-ri \>jon^h ik Ycvi^ceTai in den Text gesetzt, nachdem längst
Alexandre, das Se an der überlieferten Stelle beibehaltend, (li-
Kaipa geschrieben hatte ; hicA)r kann man sich auf XI 259 be-
rufen, wo gleichfalls (jiay.pa für (xaxaipa geschrieben ist (xdrs aoi
7:dX(, -^aia (/.axpa, im Hexameterschlusse). Es entsteht die Frage,
ob das Epitheton [txtfuxtpa bei eip^v] zulässig ist. Die Sibyllisten
sprechen von einer eipi^viQ (jteYiXif], die sich weithin über die
Lande erstreckt, wie III 755 XI 79 XIV 22; von einer e}Jprfyir^
ßaOeia (ßaOeir,) XI 237 XII 87 ; aber auch von der €tp^,vr, y«>^^-
vi;, also dem heiteren, beglückenden Frieden, III 367:
man wird zugeben müssen, daß dann auch eipi^vv) (jiixatpa, der
beseligende Friede, keine fernabliegende Wendung ist. Da-
zu kommt, daß etpi^^vY) iJiaxpi sonst nirgends bei den Sibyllisten
vorliegt.
Analekta cur Kritik und Exegese der Sibyllinischen Orakel. 49
XII 291 [xovot S' lic(xept|;iv Sdovxat,
oT Oebv doxT^aoüci xat e!8ü)X(i)v IXaOovxo.
E^ nützt nichts y wenn man mit Alexandre am Schlüsse
von 291 schreibt iin Tdp<|;(v (iTctTep^iv H) Saovrai; der seltsame
Ausdruck bleibt nach wie vor bedenklich: es darf daher Qut-
schmids Vorschlag dTctTsp^Bi^aovTat Anspruch auf Beachtung
erheben. Auch im nächsten Verse versuchte der genannte
Gelehrte das auffllllige IXaSovxo zu verbessern, da man hier
eher einen Futurbegriff erwartet: und so las er xal £!$a>Xo)v
Ik AaOotvTo mit Optativ im Sinne des Futurs nach sibyllini-
scher Art. Es wäre dann wohl nur XeXaOoevTo herzustellen;
ähnlich habe ich I 44 für hdschr. l^eXdöeoxev vermutet ixXeXi-
Oecxev, III 34 Meineke ^xXeXotOovTe? flir das verderbte ixXa-
6£sr:e<;; vgl. auch Meinekes notwendige Änderung (ivSp(5v XeXa-
/oO^ac am Schlüsse des V. III 45 (fUr korruptes otT Xa^oDaai).
XIII 106 xal XST£ §T2 Xifjio! Xs'.]Jiol fxaX&po{ T€ xepauvol
xal x6Xe|jL0i Sstvol axaTaaxactat xe xoXkJwv
Idffovc' l$ax(vr^?" Süpoi 8' exzoqfX' airoXoOvxai.
Die Quantität der ersten Silbe von ^upct ist bei den
Sibyllisten nur hier eine Länge, sonst findet sich überall die
Kürze: Sipo? VIII 127, Supot XIII 32, 111, XIV 287, desgleichen
in Iup{Yi Xni 96, 2up(r,? V 204, XIII 22, 90, 97, 152, Sup{r,v
IV 125, V 125, Supirj (voc.) VII 114, XIII 119, Suptr; xo(Xtj
(voc.) VII 64; denn XII 102 xat Suptev l^oXoepejaet ist bloß
Konjektur Alexandres für Au8{av.^ Werden wir deshalb in
V. 108 Ixica^X« 26pot S' a^woXoÖvrat umsetzen, wie ich in Qut-
schmids Manuskript finde?
Vergleichen wir den Gebrauch bei anderen Eigennamen.
Der Name Tyros bietet eine naheliegende Analogie: wir lesen
es zumeist mit kurzer erster Silbe Tupov IV 90, V 455, ebenso
Tiptöt IV 90, XIV 87 : aber VII 62 steht Tips, ab 8' xxX. mit
der Länge (im ersten Fuße). Somit läßt sich bei den Sibyl-
listen auch für Eigennamen, die leicht im Verse unterzubringen
' Hteför hat Gatschmid AuSSov geschrieben; diese SUdt lag sQdlieh von
Phoenike in PalSstina, anweit des Meeres. Wie hier neben dem Lande
4»otyUf) eine Stadt genannt w&re, so geschieht Ähnliches V 16, Xu 20
Sv 6pY|xi) 9CT/|^a xal £uccX(7j, (uta Mipi^K.
8its«nfib«r. d. phiL-bitt. Kl. 156. Bd. 3. Abb. 4
50 III. Abhandlung: Kzach.
waren, wie die genannten, schwankende Quantität konstatieren.
In weit ausgiebigerem Maße geschah dies natürlich dann, wenn
sich drei Kürzen nacheinander ergeben hätten: so lesen wir
XIV 312 laeXwv,» aber ItxeWt) V 16, VII 6, XII 20, 2ix6X{t)v
IV 80. Von Interesse sind die verschiedenen Formen von
AoTivo? und dessen Derivaten. Während Aättvoi III 597, XIV
40, 187, AäThwv XII 31, AäT^voi? VIII 132, XII 190, ferner das
Adjektiv AaTtvfSo? in tja^puae, AortviSo? Sx^ove 'Pü)|jit)^ III 356 und
in jxe^dXau/e, AaTtvtSo; ex^ove 'PtbjxY)? VIII 75, mit kurzem a ge-
messen sind, liest man daneben V 168 doaOapTe tcoXi Aortvtöo;
airi; und AaTtvi3iü)v XII 1, das auch V 1, wie ich nachwies,
notwendig herzustellen ist. In diesem Patronymikon blieb dem
Sibyllisten nur die Möglichkeit der langen Quantität, wogegen
in der Form AaT(v{So^ ihm die Messung ganz anheimgestellt
war. Diese Freiheit sehen wir entschieden mißbraucht, wenn
die Form AaT{va)v, die XII 34, mit kurzem a, wie man es zu-
nächst erwartet, erscheint (xXeivwv le AaT^vwv), anderwärts mit
langer erster Silbe verwendet wird III 51, XIV 280 xal loxt
Aäxfvwv VIII 131 SxTOTS Aä'w{v(»)v* XIV 244 tbv jjl^t« AäT^vwv.
Ebenso sei auf die Ausdrücke ^hakiq, 'IiaXfr^ u. dgl. verwiesen.
Alle die Formen, wo sich mehr als zwei Kürzen hintereinander
ergeben würden, zeigen die Messung mit langer erster Silbe:
'haXcOev IV 116, 'lTaX{5o(; IV 130, 'iTaXixoiv XII 73, lxaX(r, III
464, V 342, XI 109, 'haXir^q III 470, IV 119, V 138, 160, VII
48, XIV 291, 'iTaXfv V 448, XIV 287, 'kaXtijwv XII 76, XIII 43,
XIV 115, 'iTaXtYjTÖv XUI 100, 'lTaXti5Ta(; XII 61, 'haXiViv IV
104; sonst aber finden wir sowohl die Länge, 'IiaXb? dcvOi^aee
7:6X6|jio; IV 103, 'ItaXol iv xev^tj III 355, wie die Kürze vor: alai
aoi, 'haXt) /wpr^ VIII 95, oaaoi 3' e? Ac^yj? X*«*P^i< 'iTaXöv 86jxov
ajAfeicöXeuffav III 353, 'IxaXwv xXeivwv ßaaiXefa aOeffjjio^ VUI 9.
Mit Rücksicht auf diesen Sachverhalt wird man an unserer
Stelle XIII 108 bei der Überlieferung bleiben, zumal sie durch
die Fassung des zweiten Hemistichions in XIII 32 Sijpii; . . .
laae-rai h 'Koki^kom, ilupoi t" eY.T:or^V otTcoXoövTat und in III 205 ajx-
^ Fdr £ixeXo( XI 176 habe ich oben livooi vermutet.
* Die Sippe 4» bietet Ixrore V aZ Aanvcov, was Alexandre im Texte beließ
(mit kurzem t), während Wilamowitz Ikxoxi 6' Au3ov(a>v vorschlug; aber
die parallelen VerseingKnge III 61, XIV 280 müssen zur Vorsicht mahnen.
Analekta zur Kritik nnd Exegese der Sibyllinischen Orakel. 51
zxjGiq xoX^fActo • ^pöve^ 3' IxTra^^' ixoXoOvTat, was oben besprochen
Würde, geschützt erscheint.
XIV 3 xai ßafftXeuetv Tcavie^ uxep Övr^Tou? löiXoyceq.
Offenbar soll darauf hingewiesen werden, daß die Begier
über alle Menschen za herrschen thöricht sei. Ich halte des-
halb Qntschmids Vermatung izd^nat; für sehr beherzigenswert.
XIV 54 xoXejjLOid t£ tcoIvO' GicotaSei
Obgleich im XIV. Bache der Sibyllinen mancherlei Phantas-
magorien vorliegen, kann es nicht zweifelhaft sein, von wem
an unserer Stelle die Rede ist. Der kriegerische Herrscher,
der dem Osten (olt: 'Aacrupfri^) entstammt nnd dessen Name den
Anfangsbuchstaben A führt ist Alexander Severus aus Arke
in Phönikien; der Sibyllist weiß von seinem durch meuternde
Soldaten erfolgten gewaltsamen Tode, V. 57sq.^ Daß er strenge
Mannszucht zu halten verstand, wird uns allgemein berichtet,
vgl. z. B. Eutrop. VIII 23 ,militarem disciplinam severissime rexit^
Offenbar will auch der Sibyllist hie von Kunde geben. Man hat
sich bisher begnügt mit Alexandre den überlieferten Qenetiv
ipx^^ in den Akkusativ ipr^i^f zu verwandeln, während eine
feine Verbesserung Qntschmids, obgleich sie schon durch Rühl
(Kleine Schrift. IV 271) mitgeteilt wurde, bei Qeffcken nicht
einmal im Apparat Erwähnung fand. Mit ganz leichter Än-
derung gewann der genannte Qelehrte die überzeugende Lesung
X» crpaTit^at y5|jiou^ &PX^? l?:iSe{^et, welche sich um so mehr
empfiehlt, als ein analoger Fall auch I 374 vorliegt, wo Qut-
Bchmid für -^fii ye xXeupor; | vu^wciv xocXaixotaiv 5tou X^P^^ f|pwr«
|U?cü> I vi)^ lazai oxoxoeacoc xeXcopio; h Tpiatv &paq fein %aKi[».oi(Ji v6(xou
Xalpiy hergestellt hat.'
XIV 63 xai crpaTiaij; Swwjciv 6TCXili6|i.6V0'. Tuspl vfxTj?
ypifliaza, 8a5Gflf{JL£voi /.eifiYJXia woXXa Y.a\ i^OXi.
Die drei Herrscher, deren der Sibyllist in V. 58 gedenkt,
werden anter ihren Kriegern aus den geplünderten Tempel-
* Vgl. Eatrop. VIII 23 periit in OaUia militari tumultn.
* Wie ich bereits M^langea Nicole 492 mitgeteilt habe.
I1L Äbhandluni^: BÄSch.
schätzen reichlich Gold und Kostbai keiten verteilen, offenbar
ura deren Mat anzufeuern, da eg ihnen um raschen Sieg eh
tun ist. Was soll nun hier 67:)aC=EJttvci -spt ^kr^^ in seltsamer ^j
Verbindung? Nicht 'dieweil sie zum Kampfe rilBten*, sondern ^|
'sich beeilend in Bezug auf den Sieg*; ich glaube nümlich, es ^
stecke hier iHet^ijxf vot Tripi vf^r^^;, eine Wendung, die wieder-
holt bei Hoincr vorliegt wie M* 437, 496, dem die Sibylliaten
soviel achulden. In diplomatischer Beziehung wird sich gegen
den Vorschlag kaum etwas einwenrlen lassen, da CdCirO-
MCNOI und OnAlZOMGNOI zumal wenn man an die Schrei-
bung i =^ £1 denkt^ einander recht nahe stehen. Endlich sei
darauf hingewiesen, daß dieser Ausdruck im selben Buche XIV
206 vorliegt, wo ich das an falsche Stelle geratene Parüzip,
das mit dem Partizip. Aoristi von djAefßec^Ät io V- 204 den
Platz getauscht Latte, reatituiert habe.*
XIV 66 bßoXoug HapÖou? te ßatÖuppsou Eu^pi^-raü
Daß ^,Qpoti; ein seltsames Beiwort zu Mi^Sou^ darstellt,
man längst erkannt: Mendelssohn versuchte atoxpy^, was kaum]
Beifall finden wird. Viel wahrscheinlicher ist die Vermutung
Gutschmids, der in jenem Adjektiv einen EigeuDamen sah
und %a\ Mifio^^q To/apouq ie schrieb. Die Tocharol waren die
südlichen Nachbarn der gleich im nächsten Verse erwähnten/^
Masaageten.
XIV 105 <äp5ouüiv [AETöt Tiv5s 5iJü> ßaaiX^e^ i'ioeA'zn;,
'6q jjtev TpciQKodtav apt&|Abv Tupo^Eptiiv, b hk xpi^s^m.
Die Bedenken gegen diese Tradition sind nicht gering, '
Was ist zunächst Subjekt zu iSoXoep^ket^ da doch vorher von
Es steht uichtfl im Wege Xl¥ 204 a^ii'^!iL\Lht^^ pa<j\kdry^ zn leseo, alio
da* ParÜÄip ÄorUU fei Uii halten; in memer Aneg-abe «chrieb ich ajAR-
ßofjilv»};. Mit Geffckoiifl Fa^dttng dea Y. 204 ^cvEÜ^iXTa crij[JL[izp'{f(iugiv
3piiiE0[i.ivijv ßa^XtiT]^ kauii ich mich nicht befrettmieo.
4
Analekta znr Kritik und Ezogese der Sibyllinischen Orakel. 53
5u«ü ßaotX^c^ gesprochen wird? was soll der Ausdruck Jia xpa-
Teft;v ßafftXefov? Mit einem Schlage schafft Gutschmids Ver-
mutung in V. 108 Ordnung: hnk^ xpaxep^ ßaatXif^cov: es ist
dann nur noch mit Alexandre für ^xraXs^ou 8e zu schreiben
e::TaX6foto. Aber auch die weiteren Verse hat die Korruptel
ergriffen: wir erwarten zu ou84 ^uYsixat, dessen Subjekt nur
c*>piXr|Toc sein kann^ ein akkusativisches Objekt, wie ander-
wärts z. B. III 265, XI 45, 239. Gutschmid hat hier sehr ein-
fach X(siioyLi^o\)^ ßocciX^ac; konjiziert, also 'der Senat wird dem
Zorne der beiden Fürsten nicht entgehen\ Endlich schlägt
derselbe Gelehrte für das geschraubte und kaum verständliche
«:' flArt) 6u(jt^v IjrovTo? vor aicsiOij OüfjLOv I/ovt«?; doch glaube
ich, daß äiceiö^ ein weniger zutreffendes Epitheton zu 6ü|x6v
darstellt als etwa iica^rO^, das auch dem überlieferten I'k o&tv)
diplomatisch näher liegt.
XIV 210 diXX3( [ktfOL^ ßaaiXeu^ b TcepfxXuxoq a{JLf t^ liceixa
Xpua(5 t' i^X^XTpcj) Te xai ip^upü) t^S' dXe^avrt
l^eY^P^^ Tcaacev as Kai Iv xoafjiü) 'xpoTepi'jaei^
XTi^Ixoc^i xal vaoT^ oqfopaT«; tcXoutoi? axaSbi? t6.
Das Unheil, das über Rom kam (V. 208 xupfxauoxe tcöXi;)
wird wiederum wettgemacht: der [Ae^a«; ßa(7iXeu(; setzt alles
daran die Stadt schöner und herrlicher zu machen als sie
zuvor gewesen. Da kann es nun zunächst nicht (ifA^lg SxeiTa
in V. 210 heißen, sondern wie ich glaube auTic; ^^eexa. Weiters
hat der Sibyllist nicht gesagt, ^der ruhmreiche Fürst wird dich
durch Gold, Elektron, Silber und Elfenbein ganz erwecken',
sondern der V. 211 hat mit 212 den Platz zu wechseln, so
daß die Dative xp^^^ '^^ i^XbiTpo) t£ xtX. nunmehr ebenso wie
die in V. 213 stehenden von h xöafxü) xpoxepi^aeK; abhängen. Wie-
wohl es eines analogen Beispiels nicht bedarf, verweise ich
doch auf XII 191 sq., wo es von Marcus Aurelius heißt : laau-
Toa Te^x^a 'Pwjxr;; | xoa|jLT^a6i XP^^*? '^^ ^^ ^?T^9^ ^<^' IXe^ovri | Iv x
T^opon^ vaoi{ xt pioXa>v ouv ^(otI xpaxatco. Endlich ist auch der
letzte dieser Verse nicht frei von allerdings nur leichten Män-
geln. Für xTT^jjLaffi ist offenbar xTfqxaat zu schreiben, wie uns
III 57 ap-ci Se Tot xT^lJecOe ::6Xei; xoafxeToOe t6 zäcaij ferner XIV
130 xat x6Te V oü 'Pwiat;; xx(c7t; iaa&'zai oqfXaoTSüXTCu xtX. lehrt.
Daß aber zwischen jqfopoct^ und oraSCoi^ nicht wohl t^Xoutoi^
54 in. Abhandlung; Bsach.
stehen kann, liegt auf der Hand. Hier hat Gutschmid ge-
holfen, indem er TrXaT^ai; herstellte, was nur in vXaczdaiq zu
ändern ist. Für die Richtigkeit dieser Konjektur kann ich
auf Xni 64 verweisen: vuv %0(7{i.sTa6s icöXet^ 'Apißwv vaoT? axa-
5odvot; xpuffw TS xal dp-ppcp iß* IXi^avTi. An beiden Stellen ist
liKoneioLiq mit Synizese von ei zu lesen.* Demgemäß wird unsere
Stelle so zu gestalten sein:
iXXa \i.t{(x^ ßaaiXeu^ 6 xsp^^XoTo? auxi^ Izetxa
l^sYspsi ica<yav es xai Iv x6a[i^ wpoTEpT^aet^
Xpuaw T* T^X^xtpo) T6 xal tipY^pco t^<5' IXif ovrt,
xTfajxaci xai vaot^ «Yopat«; TcXate^ai? ctaWoi^ ts.
XIV 231 iaxat. ^op {xepöicsajiv i<fr^[Ltpiotq ÄvOpdwroiq
XifJLOt xai Xoi|JLOt 7c6Xe[JLo( t dvSpoxiaa^ai ts
xat oxixoi; (iy.a(i.aTov xal l-::! x^^^^öt [xr^T^pa Xaöjv
1^5' i:x.aTaaTaff{Y) xaipü>v xtX.
Den Singular Iciai ^ap, für den ich einmal Scaovr' op' ver-
mutet habe, will Gutschmid aufrecht erhalten, indem er V. 233
und 232 ihren Platz vertauschen läßt, so daß dann das singu-
lare Subjekt xal ctxoto; dxajAaTov unmittelbar zu lorai xtX. treten
würde. Wichtiger noch aber ist der Umstand, daß auch die
Kopula %<xi in dem Hemistichion xal Ixl /Oova [k-qzipa Xadv,
welche bei der überlieferten Fassung als unstatthaft erscheinen
muß, nunmehr völlig in Ordnung wäre.* So beachtenswert
indes Gutschmids Vorschlag ist, eine Schwierigkeit wird damit
nicht behoben. Was bedeutet dann jenes xat vor 0x6x0^? Man
könnte es nur in Verbindung mit dem zweiten x«i (vor hA
XÖ5va) gelten lassen im Sinne von ^sowohl — als auch', was
hier gewiß keine natürliche Ausdrucks weise wäre. Wir werden
^ Synizese im Iniauto bei ei findet sich außerdem wiederholt bei den Si-
byllisten zugelassen: atot^erov ap^d|X€voy (so statt des Genetiys Fehr)
XI 164, (TCOixEiou ap^o^iivou XI 142, XII 271, atoixetou ap^ojiivoto XI 196,
XIV 183, ilp^vn S^^axai ^Mri (Q ßaOfira) XI 237, XII 87; wahrscheinlich
auch Tcuxval xal Oapietai (Q Oafjiiai, Q Oa^Aio») XIV 90.
* Die Schwierigkeit mit xa{ hat mich veranlaßt in meiner Ausgabe oxoro^
axctixaidv icEp zu versuchen, während Meudelssohn xt schrieb; Qeffcken
zog es vor xa( ganz zu streichen, wodurch sich ihm ein Hexameter mit
Trochäus im dritten Fuße ergab.
AnalekU zur Kritik und Exegese der SibylUnischen Orakel. &5
somit, wenn Gntschmids Umsetzang angenommen werden soll,
zu der weiteren Vermatang gelangen müssen, daß vor dem
mit xal oxÖTo? ixifjLaTov beginnenden Verse (nunmehr V. 232)
einer ausgefallen ist, mit welchem diese Wendung als (etwa
ein zweites) Subjekt syntaktisch verknüpft war: in diesem
Falle würde xal seine gewöhnliche Bedeutung 'und' behalten.
Für diese Annahme spricht der Umstand, daß gegenüber
dem in den folgenden Versen weiter angedrohten mannig-
fachen Unheil (Xtfxo{, Xot|ji.o( usw.) der Begriff ctxötoc; für sich
allein doch etwas unbedeutend wäre: es läßt sich mutmaßen,
daß wohl noch ein anderer, synonymer in dem ausgefallenen
Verse enthalten war, wie uns dies der Sibyllist des Buches
V 480 sq. lehrt:
Sarai bk cxoT6|Aatva wepi {xi^av o6pavbv alvi^,^
or/\\}q 8' o6x 5X(-p; xöff[xoü wtüx«? ÄiA^ixaXO^ei.
XIV 247 vuxi TÄTE TpeT«; ßaaiXije? It: ir{kaa ^dyta 'Pu)ji.Y;<;
Saauvxai,' 56o pilv xpÖTOv x.aTdxovT6^ 4piO|jL6v,
e!^ 8e 9epü)v v£ix.o^ ib |xeT(ii)vup.ov, oTa xep ou$e{^.
CT^p^Oüfftv 'P(i)|jLr|V auTOi xal x6(7|i.ov ÄTwOcvTa
xv)S6(Aevct jAepozwv.
Daß für das hdschr. veTxc;, welches Alexandre in vTxo^
änderte, ein Genetiv einzusetzen ist, also v(xou(; oder v(xir;^ wie
ich früher vermutet, daran halte ich fest^ ob man nun [jl€tü>vu[jlov
beläßt oder lx(J[>vu{i.ov schreiben mag. In den weiter folgenden
Worten hat erst Gutschmid die richtige Interpunktion festge-
stellt, indem er naturgemäß oTi zep oh^dq zum nächsten Satze
zieht; die genannten Herrscher werden Rom lieben wie keiner
je; fUr cd/iol setzt Gutschmid mit vollem Rechte ou-ot ein.
XIV 266 ÄXXa ::aXiv Oeb? &^v. ivaiSea Ou[i.bv e/ovra;
Iq xp(fftv IXOijAevat, Sacot xax3c TsxfjLT^pavTO •
aiTT|V eiaofxpiaiv l©i^|x£vot xaxoTrjTO(;.
^ a^v^ habe ich für daa unmögliche hdschr. aOiov iu den Text aufgenommen ;
Meineke yermntete ayvovi doch hat oupovov bereits ein Epitheton. Die
Konsinnitftt gegenüber iy}^^ oOx SXCyY) verlangt auch für oxoT^tiaiv«
ein Beiwort.
* Diese Lesung Gutschmids ist bereits Kleine Sehr. IV, p. 276 veröffent-
licht; die Hdschr. Eaaovrat.
TSl. Abbatiilhiiig; Bzach.
Daß a5To( im Eingänge von V* 268 wieder eiuiual ebe
Verderbnis darBtclIt; die hier durch das im nächsten Vcrso
folgende ^utkjv veranlaßt iatj wird man gern zugoben; doch ist
es keineswegs leicht den richtigen Wortlaut zu bestimmen.
Der Sinn des Verses gehl otifenhar dahin, daß, die Bäsea be-
gangen haben j noch vor Gottes Rlehterstuhle ihre eigeneo
Missetaten auf andere zu schieben bestrebt sind, ein Ähnlicher
Gedanke wie IV 38 vi^moi a^pscuvi^^tv Izi^e'jtjot^ai btelvo^, | Es^üfl
flOtoi fs^c'^jiv irM^o-^a %ai %xm i^^a. Bleibt man bei l;:£©(iiGS'ovTjfi| '
das hier die Bedeutung ^angeben' im Sinne von *sich dazu he- «
kennen' haben muß, so ist eine Negation^ also etwa oQtct^ wtefl
Geffcken vorschlug, am Platze; ßareschs Konjektur w-a 5' litt-
<^f5i9(7wVTÄ? — wobei doch mindestens das Faturum eTit^pdEonÄ
mit hergestellt werden müßte — *sie verstopfen sich die Ohren
seheint mir unzulässig: die Mis^etHtcr hören sehr gat, gehei
aber in ihrer bösen Gesinnung so weit^ andere zu verdächtigen*
Möglich wäre es auch etwa an autip Itri^j/sjaüVTit zu denken:
*aber sie werden dabei lilgen', womit dann der folgende Vera
gut im Einklang stünde.
Hier gibt die Hdschr. Q m&^y eböiyf tuiVj M oi'cijv ttdotxpfciy,
VH a^rV £1^ xpbtv. Da die beiden erstgenannten Codices
besten sind» so wird man bei der Emendation von ihnen
zugehen haben. Und da scheint mir Gutschmids Vorschlaf
auTTjv i\q ofcpi^aiv, den ich schon Götting. gel. Anzejg. 1904
p. 242 kurz erwähnte, am nächsten zu liegen/ zumal es nnr
der Änderung zweier oder eigentlich nur eines Buchstaben
bedarf: 'indem sie sogar bis zur Raserei nach der Schlechtig-
keit begehren, d. h. indem sie seihst vor dem göttlichen Rieht
noch durch Lüge — Überwälzen ihrer Schuld auf andere
sich vergehen.^
XIV 347 3t| t6t5 tü)V ^Apafßwv [jiiT^Xeyaetatt atVa ßpctetov.
So ist in allen Handschriften der Klasse Q überliefert,^
nur Q hat noch vor Bf, li^c ein v^ai Empfelücnswcrter als die
bisher veröffentlichten Besserungs vorschlage* scheint mir Qul^
^ FrlÜiar wollt« Gtit^chaiid daa m^triich anBEüläMi^ tk ^nixptmv ^«leb rieben
wissen, Kleine Sehr. IV 276.
' Mit Benützung^ i!er Lesart von Q echriob ich xal xoxi Sf^ "Ap^oc;, Geffckea
3]?) -diE loy^ 'Apjipaf, Bure«cb 6^ tote 7% *ApÄp*jjy.
I
ra
I di«fl
aui^
Analekta xar Kritik and Exegese der SibylliniBchen Orakel. 57
schmids bisher unbekannte Lesung ^r\ xdxe kX(ov' 'Apißcov zu sein.
Dieser Ausdruck ist echt sibjllinisch^ ich kann dafür aus Buch
II 172 eine vollkommen zutreffende Parallele anführen : Cyit^cuiv
Xasv, Sv dnnbXeaev 'Acoupto? xXü>v.
Fragm. III 7
Twv T ^vuSpb>v «iXi Yevv« (ivY)p{6iJLa)v ttoXü TcXijOo?,
epze-ca 8' Iv y«^TJ *tvo6fX€va «J/u/oTpo^elTat,
::otx{Xa t6 wtyjvöv Xt-fjp66poa tpauXflJovTa
5oü6a XiYUTCtepö^wva tapaacovx' delpa TapaoTq.
In diesen Versen ist devT]p(6|jL(i>v für devi^p(0{Aoy sowie S* Iv "^air^
für Äfi 7a{r|? von mir, ^j/u/oxpo^eiTai für ^j^u/oTpo^eiTe von Gfroerer,
mjvwv für xTYjvüiv von Thienemann, Xt-pwrcepifwva für Xi^upowrepi-
su>va von Opsopoeus hergestellt. Doch noch fehlt es in den
beiden letzten Versen an einem Begriffe, von dem ttttivc^v ab-
hängig ist, wie wir einen solchen vorher in Iv6$p(i>v . . . <iEvrjp{6{A(ii>v
xdXu tcXy^Ooc; haben. Deshalb dachte Gutschmid an Xi^^TTTepa
sOXa statt XtTuxrepd^fova. Dagegen ist, um letzteres beizubehalten,
kaum zu schreiben ^om(Xa ts tttt^voc Xi-)fup56pca. Denn die Län-
gang des auslautenden kurzen Vokals in der Hebung vor
liquidem Anlaute — hier in der dritten Arsis bei Penthemi-
meres — ist zwar wie im epischen Gebrauch, so auch bei den
Sibyllisten ohne Anstoß,^ aber sie beträfe die Endsilbe eines
trochäischen Wortes, und das muß immer zur Vorsicht mahnen.
Vgl. speiiell die LKngangen dieser Art Yor dem Worte Xiyupd;, das den
ersten Komponenten des genannten Ausdruckes darstellt, Hom. N 590,
Y 216 icvpij Cxo XiYüpJ, Hesiod Asp. 278 zo\ jiiv uiro XipptSv OMpiyyta^
Orph. Hymn. VIII 19 iiiariT-i Xiyupfj, Porphyr, de philos. ex orac. haur.
ed. Wolff 210 icvoii] Cno Xtyupi] (aus Homer), Quint. Smyrn. VI 171 auXo{
rc Xi^upolotv apf)pd(ifvot xaXi(A0i9iv.
Bitnngtbtr. d. phii.-Ust. Kl. IM. fid. 8. Abb.
68
III. Abh.: Rsach. AnalekU zur Kritik and Exegete etc.
Verzeiohnis
der
kritisch behandelten Stellen der Oraoula SibylUna.
Pt».
P»».
PK.
I 10 . .
. . 30
V 68q..
. . 20
VIII 351 sq..
. . 40
36 . .
. . 3
18 . .
. . 21
382 . .
. . 40
39 . .
. . 3
868q..
. . 21
451 . .
. . 41
157 . .
. . 3
168 . .
. . 30
460 . .
. . 42
260 . .
. . 3
193 . .
. . 21
490 . .
. . 42
261 . .
. . 4
207 . .
. . 22
Anm. S
323c .
. . 5
234 . .
. . 22
491 . .
. . 42
II 14 . .
. . 6
236 . .
. . 28
XI 71 . .
. . 43
29 . .
. . 6
246 . .
. . 23
7 6 sqq.
. . 43
36 . .
. . 7
260 sqq.
. . 25
175 . .
. . 44
187 . .
. . 8
295 . .
. . 26
188 . .
. . 44
228 . .
. . 8
317 . .
. . 26
271 . .
. . 9
277 . .
. . 9
324 sqq.
. . 27
Anm. S
284 . .
. . 31
367 sqq.
. . 28
XII 54 sqq.
. . 45
Anm. 1
383 . .
. . 30
67 . .
. . 47
III 152 . .
. . 9
395 . .
. . 28
102 . .
. . 49
205 . .
. . 10
4688q.
. . 29
116 . .
144 . .
172 . .
Anm. 1
. . 47
. . 48
. 48
209 . .
216 . .
259 . .
. . 10
. . 11
. . 11
471 . .
473 . .
VII 27 . .
. . 29
. . 31
. . 31
278 . .
. . 12
52 . .
. . 31
XIII 5 . .
. . 38
285 . .
. . 12
63 sq.
. . 32
108 . .
. . 49
327 . .
. . 13
69 . .
. . 33
XIV 3 . .
. . 51
831 . .
. . 13
141 . .
. . 34
55 . .
, . 51
639 sq. .
. . 14
VIII 9 . .
. . 34
68 . .
. 51
647Bqq.
. . 14
Anm. i
67 . .
. . 52
689 . .
. . 15
10 . .
. . 34
108 sqq.
. . 52
700 . .
. . 16
74 . .
. . 35
204 . .
. . 52
715 . .
. • 16
88 . .
. . 35
Anm. 1
727 sqq.
. . 16
92 . .
. . 36
2 10 sqq.
. 63
736 sqq.
. . 17
118 . .
. . 36
281 sqq.
. 54
815 . .
. . 18
167 . .
. . 36
249 sq.
. . 55
IV 112 . .
. . 18
235 . .
. . 37
268sq.
. . 55
118 . .
. . 19
325 . .
. . 37
347 . .
. . 56
192 . .
. , 19
33 7 sqq.
. . 38
Fragm. III 9 sc
,. . 67
IV. Abh.: Wachstein. Wiener hebraiBche Epitaphien.
IV.
Wiener hebräische Epitaphien.
Von
Dr. Bernhard Waohstein.
(Mit 3 Tafeln.)
(Vorgelegt in der Sitrang am 5. Desember 1906.)
Vorwort.
JJie historische Kommission der israelitischen Knltas-
gemeinde in Wien hat mich mit der Aufgabe betraut die In-
schriften des sogenannten alten Rossauer Judenfriedhofes zu
kopieren y beziehungsweise zu entziffern ^^ wobei sie von der
richtigen Voraussetzung ausgegangen ist^ daß eine gründliche
Bearbeitung und Herausgabe dieser vom Jahre 1540 — 1748
reichenden Denkmäler' einiges Interesse fUr die Sitten- und
Kalturgeschichte der Juden und nicht zuletzt für die Wiener
Lokalgeschichte und darüber hinaus beanspruchen darf.
^ Der InitiatiTe des Herrn Kustos Dr. S. Frankfarter ist die Inangriff-
nahme dieser Arbeiten zu verdanken. Dr. Frankfurter war es auch, der
darfiber schon im Jahre 1903 ein eingehendes Exposö der historischen
Kommission Torlegte.
' Das ftlteste noch Torhandene Denkmal (Nr. 633) gehOrt einem M&rtjrer
Mordechai b. Gerson Menzl und trägt das Datum 28 Ab *^/i54o (wohl
identisch mit dem im alten Fürther Memorbuch erwähnten Märtjrer Mor-
dechai Modi b. Gerson. Vgl. Berliner-Festschrift 8.121, 8). Hingegen gehOrt
der Denkstein des Gemeindebeamten Salom b. Simon (Frankl, Inschriften
Nr. 1) einer späteren Zeit an. Schon Rapoport hat (Vorwort zu Koppel-
mann Liebens Gal-Ed p. XUX), das bei Frankl 1540 angegebene Datum
anf Grand spekulatiyer Erwägungen verdächtigt. Bei dieser Gelegenheit
sei erwähnt, daß einige aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammende,
gelegentlich gefundene Grabsteine auf dem Rossauer Judenfriedhof Auf-
stellnng gefunden haben.
Bitnugeber. d. phiL-hüt. Kl. 166. Bd. 4. Abh. 1
2 IV. Abhandlung: Wachstein.
Nach yieljähriger Beschäftigung mit diesem Material halte
ich es für angemessen in den ,Wiener hebräischen Epitaphien'
eine kleine Auswahl aus der großen Menge der von mir ko-
pierten Inschriften zu veröflFentlichen, wodurch einerseits die
Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf dieses Material gelenkt,
andererseits eine Probe fUr die Art der Behandlung gegeben
werden soll. Einige von den hier mitgeteilten Inschriften sind
bis nun überhaupt unbekannt gebUeben ; die anderen von L. A.
Frankl in seinen Anschriften des alten jüdischen Friedhofes in
Wien' (Wien 1855) aufgenommenen, sind wegen der Unvoll-
ständigkeit, willkürlichen Auslassungen, korrupten Wiedergabe
des Textes und totalen Mißachtung des formalen Prinzips von
fraglichem Werte. Die Frankischen Inschriften waren denn
auch seit ihrem Erscheinen ein ergiebiges Feld für mehr oder
minder scharfsinnige Konjekturen, die aber nur selten die
Wahrheit erreicht haben.
Zum Zwecke der Identifizierung der Personen und Kom-
mentierung der Texte wurden die zeitgenössischen Quellen und
die einschlägige neuere Literatur reichlich herangezogen. Die
Stellennachweise aus dem rabbinischen Schrifttum verfolgen
den Zweck, eine befriedigende Exegese der Texte zu ver-
mitteln; sie sollen aber auch gewisse in der späteren Zeit
herrschende Vorstellungen in ihrer historischen Entwicklung
aufzeigen helfen. Von einer Benützung etwaigen archivari-
schen Materials wurde vorläufig abgesehen. Hingegen soll bei
der später zu erfolgenden Gesamtpublikation das archivarische
Quellenmaterial und die künstlerische Form der Denkmäler
die gebührende Berücksichtigung erfahren.
Für das Lesen einer Korrektur, sowie für manche wert-
volle Bemerkungen bin ich meinem hochverehrten Lehrer Herrn
Hofrat D. H. Müller zu großem Danke verpflichtet.
Wiener hebräische Epitaphien.
Nr. 1.*
Jakob b. EUeser [Aschkenasi Temerls].
Material: Untersberger Marmor. Höhe: 113cm; Breite: 47cm; Dicke:
8cm; Textböhe: 101cm; Zeilenlänge: 42 cm.'
105'
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rläatjri : pih 11M
Z. 1 — 2. Gen. 25, 28 im Sinne der Deutung von Gen. rab.
Kap. 63 naj? hw iimo iT'ai d«? br imo n^a D'-bniK "aw. Vgl. auch
Meg. 16* und 17» v:v: nb nay n^aa apr n\nü cas? iniK bar.
briK gewinnt typische Bedeutung fUr das Thorastudium (Be-
rach. 63 * *?n«a mo'« "»a dik nmnn riKt) , das als die Bestim-
mung Israels (Meg. 9* or ^bnna n riB") gefaßt wird.
> Fehlt in Frankls Inschriften.
' Material- und Maßbestimmung rührt nicht yom Verfasser her.
' Diese Zahl bezeichnet den Standort des Steines auf dem alten Juden-
frtedhof.
1»
4 IV. Abhandlung: Wachstein.
Der später entwickelte Vorstellungskreis wird auf die Ur-
zeit übertragen. Der rabbinische Schriftsteller gebraucht in
der Regel biblische Wendungen in naiver Weise, ohne
sich mehr des exegetischen Charakters bewußt zu werden.
Das biblische Wort repräsentiert sich hiernach als ein
Symbol für eine Fülle von Bedeutungen, die einem län-
geren Entwicklungsprozesse ihre Entstehung verdanken.
Z. 2 — 4. Nachbildung von k-öw "öw Kivii KT'iKa Ka^r (Erub. 9»).
Z. 4 — 5 vergleiche Menach. 29* ppi pp ba bv Vfvnb Tnw • * • •
mDbn hv p'r^n pb^n - rh^n siel
Z. 6 vergl. Qittin 57* v. s. ^pv"* h^p h^pn.
Z. 6 — 7 vergl. Ber. 8* «nttr'ja "ab • • • -»onpo. Fassung und Stil
durch das Akrostichon bestimmt.
Z. 7 — 9. Zum Gedanken vergleiche Chag. 14*. An dieser sel-
tenen Wendung ist übrigens auch der Reim schuld.
Z. 10. nn schädigt den Reim, Plur. jedoch in der Bibel nicht
verwendet. Vgl. aber Joma 72*: j-nK nat nato b» . • p am 'a
HTi n3io pnr p-iK ba? • . .
Z. 11. nmriD fehlerhaft statt nnnn = ^a^n ann imo seit dem 17. Jahr-
hundert gebräuchlich, seltener im 16. Jahrhundert. Vergl.
Berliner in Magazin für jüdische Qeschichte und Literatur
II, 1875, S. 64. Nach einer brieflichen Mitteilung Zunz'
soll nnin& auf Grabschriften des 16. Jahrhunderts nie vor-
kommen (ibidem).
Z. 12. nbr&b rbp euphemistisch für sterben. Über ähnliche For-
meln wie nbrö ^w Jia'W'a wpana u. dgl., vergl. Zunz, Zur
Geschichte und Literatur S. 444.
nairi = o^-nn insa mi'ix inövs Knn nach I. Sam. 25, 29. Die häufigste
Eulogie auf deutschen Grabsteinen. Vergl. Zunz a. a. O.
S. 352.
Wer war nun dieser Timo Jakob, Sohn des inino Elieser,
der ein Meister in der Merkaba, der geheimsten und heiligsten
der Wissenschaften war, ,dessen Worte in die himmlischen Höhen
stiegen' und der über jedes Krönchen und Häckchcn so vieles
zu sagen wußte? Sicherlich ein Kabbaiist von Namen und An-
Wiener hebrüUche Epitaphien. 5
sehen. In der Tat ist der Sonntag 6. Nissan 426 == 11. April 1666
in Wien verstorbene R. Jakob kein anderer als der aus Worms
stammende Jakob ben Elieser^ Aschkenasi Temerls,' der
bei den bedeutendsten Männern seiner Zeit in großem Ansehen
stand, nach einer Lehrtätigkeit in Lublin und Kamienec seine
letzten Lebensjahre in Wien verbrachte, daselbst einen großen
Einfluß ausübte und hier auch seine letzte Ruhestätte fand.
Vergebens suchte Kaufmann (Letzte Vertreibung S. 87, Anm. 1)
in Frankls Inschriften und in S. G. Sterns Msk., dessen Epithaph.
Seine Vermutung, daß das Grabmal Temerls' sich wegen der
vielleicht von ihm selber angeordneten Unscheinbarkeit nicht
erhalten habe,' bestätigt sich erfreulicherweise nicht.
» Kobei al-Jad ed. Mekize Nirdamim HI, S. 11 (w^wii bnp wow mstn)
gedenkt eines apr i'nro p "ny^^R rtvm Tonrr osnon.
* Demnach ist Brall (Jahrbücher VII, 8. 47), der snm ersten Male das
dürftige Material über ihn zusammengetragen , Dembitzer (*n* rh'hs II,
124*), der wohl kein neaes Material brachte, aber aus der Fülle seiner
Gelehrsamkeit ein Bild von der Verbreitung kabbalistischer Studien im
17. Jahrhundert zu geben suchte und Kaufmann (a. a. O.) zu berichtigen.
Die Annahme dieser Forscher, daß Temerls erst 1667 gestorben wäre,
bemht auf der Stelle n^v -vtr tmv viv 'i nsQ»^ • . . nanan • . . op *n*nv in
Gerson Aschkenasis Approbation zu Temerls* nachgelassenem nmjrjx*! mw
(Amsterd. 1689, 4®), die solange wörtlich zu nehmen ist, als keine Gegen-
instanz vorhanden ist. Bei der Annahme, daß vorliegendes Epitaph
sich auf Temerls bezieht, worüber kein Zweifel herrschen kann, ist
diese Stelle nicht genau zu nehmen. Übrigens kOnnen die freundschaft-
lichen Beziehungen Aschkenasis zu Temerls noch vor seinem Antritt
des Wiener Rabbinats den Anfang genommen haben, was denn auch
mit nsMca *n*n übereinstimmen würde. Nebenbei ist die Bemerkung Kauf-
manns (a. a. O.) gegen Brüll nicht am Platze. Auch Brüll ist die an-
geführte Stelle so wenig entgangen, daß er sie selbst anführt. Mit
Recht schließt er auch auf Grund einer anderen Stelle, daß Temerls
1667 bereits gestorben sein muß. Sein Irrtum ist lediglich auf das
Schnldkonto seines Gewährsmannes Gastfreund (Wiener Rabbinen S. 60)
zu setzen, der Gerson Aschkenasi schon 1620 in Wien wirken läßt. Josef
Lewinstein (i^rim -mi in S. 67, Nr. 1064) läßt ihn 1678 sterben, und
weiß sogar genau Tages- und Monatsdatum (8. Thamus) anzugeben!!
' In den Zusätzen zu Nissenbaums L'Koroth ha-Jehudim b* Lublin S. 155
äußert sich Kaufmann sehr skeptisch rrmy ^mna v^iapia . . . ^r wnap oipoi
im pxoa lasn p»x rw mnh -np ♦n's? i6 m^r6 nnairm ni3r«n «im ^ rtaxo pa »a
w*in ima dn pstn ^svh vpv? • • • viaso pn o*mu vn mti • • • o'X'vtj vn lov m
6 IV. Abhandlang: Wachstein.
Auffallend ist jedoch, daß dieses, vom Standpunkte der
Zeit aus gesehen, sehr mäßig gehaltene Epitaph auch nur un-
genügend die Meinung der Zeitgenossen über Jakob Temerls'
Bedeutung wiedergibt. Man vergleiche beispielsweise die Appro-
bationen zu Knj^isan khcd , wo sein Lob in allen Tonarten ge-
sungen wird. Isaak b. Abraham aus Posen weiß seine Lehr-
tätigkeit als K»mö n-'a n^mia pa p rmT' niö^ö ttokj vh nwK ona-i
zu charakterisieren. Gerson Aschkenasi, der ihm auch per-
sönlich näher getreten war, findet für seine Würdigung nicht
genügend Worte und muß zu alten wohlbekannten Bildern
greifen pibab Kian 'D i't^^t in D''0\m d^dö^^d d^ojki n^T^ o*orm"rr dx
Das unscheinbare Grabmal scheint in der Tat von dem in
Demut lebenden Mystiker selber angeordnet zu sein. Trotzdem
enthalten die 4 akrostichischen Sätze des Epitaphs das Wesent-
liche von Temerls' Lebenstätigkeit. Wurde vielleicht von ihm
selbst der Mann bestimmt, der für seinen Leichenstein die
Sätze zu fixieren hatte, welche die Anfangsbuchstaben seines Na-
mens tragen sollten? Interessant ist es jedenfalls, daß das, was
das Epitaph in knappster Fassung von ihm zu erzählen weiß,
in freier Diktion aber in vollster Übereinstimmung hiemit am
Anfang der Approbation Ahron Samuel Eaidanowers^ zum be-
reits genannten nnrisn k^do sich wiederfindet.
pip .babr nwmö "nai nrojD "naa pjacBa» spp^ bip b^pT^
rpim "^'iKs n'^^tr^ bnao br niKO wibw niabn bvf D^^^n "^h^n pipi
Dibttra D3331 Kx-i Tn-'S D^mHTO mr^oi nna*iD nwroa vnrr\ p^p-i ^sibn
•an bböö nöi£ bana »inm-br
1 Vgl. über ihn Fünn, KirJA neemana S. 80—82; Zunz, J. M., Ir ha-Zedek
S. 120 ff. und Rabbinowitsch , Ergänzungen und Berichtigungen zu Ir
ha-Zedek S. 21, 22; Horowitz, Frankfurter Rabbinen II, 8. 49. Kaida-
nower, der dankbar erwähnt von Temerls kabbalistische Lehren empfangen
zu haben pnn \*n no3 *V rh^n kann während seines Langenloiser Rabbinats
(1658 approbierte er rr^o^ n:noa rh ppz Zwi Cohens »axpVn:; n^ ,rh .vtrhi^h
= Langenlois. Vgl. Steinschneider, Cat. Bodl. p. 301S; Wolf, Jaden
in der Leopoldstadt, S. 78; Kaufmann 1. c. S. 62) wenn nicht seine
Bekanntschaft erst gemacht (obwohl *v*n ap Kap. 45, 76 durchaus nicht
beweist, daß sie zu gleicher Zeit in Lublin lebten), so doch dieselbe
erneuert haben. In diesem Falle dürfte Temerls schon vor 1660 in
Wien gelebt haben.
Wiener hebräiache Epitaphien. 7
Die Übereinstimmung ist augenscheinlich. Gleichwohl muß
Kaidanower nicht der Verfasser der Inschrift sein. Sicher ist
jedoch, daß das Epitaph sich auf denselben Mann bezieht, wie
die angeführte Stelle, was allerdings auch sonst angesichts der
Zeitbestimmung, der Gleichheit der Namen, der auf die kabba-
listische Gelehrsamkeit Temerls' passenden Charakteristika, kaum
angesweifelt werden kann.
Nr. 2/
Elchanan b. Zwi [der Eabbalist].
Material: Zogeldorfer Sandstein. Höhe: 95cm; Breite: 49cm; Dicke:
14cm; Tezthöbe 77cm; Zcilenlänge 82 cm.
20«
♦ ♦♦«*♦♦»**
6 '•ba nr 4 ♦ ♦ ♦
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pBT> na» T
[naacarü
Z. 9 vgl. Ket. 104a: itnpn p^ naw3i D-pia»n nx D-bmK inatj .
Z. 10. ^ = bmv^ 13 Abbreviaturzeichen nicht mehr sichtbar;
nb = ptnn «töd (IL Sam. 21, 17); -at = nio^ pnx? In diesem
Falle müßte ein r ergänzt werden (= dStt tid" pnx Prov.
10. 25), woflir jedoch im Original kein Raum ist. Es ist
eher an eine Verwechslung des ersten Buchstaben 3t für 9
' Fehlt in Frankls Inschriften.
* Diese Zahl bezeichnet den Standort des Steines auf dem alten Juden-
friedhof.
8 IV. Abhandlung: Waohstein.
za denken, "»r = ^ra** niDT- Ber. 28 b sprechen die Schüler
R. Jochanan an : pmn vy%t "rö'Ti niöj? ^Rnr» na.
Z. 11. 12 nnpoi "»»onö nach Cant. rab. v. s. n^ip riKt "»o gegen Ende 5
*awm - '•Knr p [TTöw^ti des angeblichen Verfassers des
Sohar.
Z. 13 ä = 133"n 13"TMÖ.
Z. 16. naiD Chronogramm fUr Monats- und Jahresdatum. Trotz
des nnr über dem n sichtbaren Häckchens = K"^n^ da in
dieser Zahlenkombination der 14. Tebeth nur im Jahre
K'^n anf einen Samstag Mt. Der Eabbalist Elchanan b.
Zwi ist demnach Samstag 14. Tebeth 411 = 7. Jänner
1651 gestorben.
Von einem ^großen and gewaltigen Kabbalisten^^der in Wien
1651 gestorben, erzählt M. Knnitzer; der sich zu seinen Nach-
kommen zählt, in der Widmung seines Ben Jochai (Fol., Wien
1815). loni hryp y\ \ThH '0 »mm bnxi h^'pti^ naa '\n *?R33n'o -»a« ^a«
Die Feuerflammen vermag ich nicht zu entdecken, an der
Identität dieser Elchanan kann jedoch nicht gezweifelt werden.
Bei dem Umstände, daß von diesem offenbar gefeierten Manne,
dessen Nachkomme zu sein ein Autor 200 Jahre später sich
rühmt (vgl. auch die Hervorhebung eines andern Nachkommen
als nSap bn jan^K 'nio ^rhn baipo pion naa in Frankls Inschriften
Nr. 435), keine Schriften bekannt worden sind, ist das vor-
liegende Epitaph eine sichere Kunde seines Wirkens in Wien,
das damals ein Zentrum der Kabbala war (vgl. Landshut,
Toldoth ansehe haschem S. 13; Dembitzer, Elilath jophi II
S. 56, 123a; Kaufmann, Letzte Vertreibung S. 80 ff.).
Kaufmann hat, wie ich glaube zuerst, den schriftstellernden
Kabbalisten Isachar Bär als den Sohn des Wiener Kabbalisten
identifiziert (ibid. S. 82). Vgl. auch Frankl-Grün, Geschichte
der Juden in Kremsier I, (Breslau 1896) S. 81, wo jedoch vieles
zu berichtigen ist. Isachar Bär approbiert ^midv }opb nicht in
Venedig, sondern in Kremsier, wo er noch 2 Jahre lang verblieb.
Fr.-Gr. weiß von Schwiegersöhnen, die ihn nach Palästina be-
gleiteten, wogegen die Quelle (a^nm nvfhv , Nachwort) nur
von einem Michael b. (nicht des Vorstehers, sondern des '•STUt-r)
Wiener hebr&ische Epitaphien. 9
Moses ha-Cohen berichtet.^ Den Irrtnm in Bezag auf seinen
Sohn Josef hat bereits Bnber (Kirja nisgaba S. 49, Anm.)
berichtigt. Der ^gewisse Salman^ aus den Steuerbttchern 1710
wird wohl der Schwiegersohn Isachar Bars sein, dem er in der
Vorrede zu seinem DTiwnwbw den Dank abstattet. Er wird
wohl 14 Jahre nach dem Abgang seines Schwiegervaters in
der Gemeinde und bei den Behörden noch der ^Schwiegersohn
des Landrabbiners' gewesen sein. Auch Kaufmann ist der
Irrtum unterlaufen Kunitzers Großvater Chananel mit dem
in Wien begrabenen bereits genannten Elchanan (Inschr.
Nr. 435) verwechselt zu haben. Es sei mir daher gestattet
auf Gmnd der Quellen den Stammbaum des Eabbalisten El-
chanan b. Zwi mitzuteilen:
' Es ist dies der in Saloniki gebürtige, ans Belgrad vertriebene nnd nach
Venedig eingewanderte Moses b. Michael ha-Cohen, der unmittelbar nach
seiner Vertreibung aus Belgrad 1688 zwei Jahre lang in p*oiN (= Essek,
wie Steinschneider Cat. Bodl. p. 1946, Nr. 6528 vermutet) in Gefangen-
schaft lebte, von dort aus Bittbriefe für sich und seine Leidensgenossen
an begüterte und angesehene Glaubensgenossen versendete (gesammelt
in seinem für die Zeitgeschichte noch nicht ausgenützten Epistolarium
10« W, Fürth 1691, kl. S«), hierauf in Nikolsburg weilte, wohin ihm
sein ältester Sohn mit seiner Familie vorausgeeilt war (ibid. 16 a). Da-
selbst mag er schon die Bekanntschaft Isachar Bars gemacht haben.
Der stilistisch* und wie es scheint auch sonst lebensgewandte Mann,
der bei seiner Auswanderung 46 Jahre alt war (ibidem 17 a), wußte sich
in Venedig eine Lebensstellung zu erringen. Erst Korrektor einer Buch-
druckerei (vgl. Steinschneider 1. c.) scheint er spSter ein rabbinisches
Amt erlangt zu haben. Wenigstens unterschreibt er 1719 die Appro-
bation zu Abraham ha-Cohen Zantes onnaK nns mit Zustimmung der
.ia«vn »an. Daß er tatsüchlich dieser Körperschaft angehörte, beweist
das BTOV {ptn vor seiner Unterschrift am Ende des Werkes. Noch im
Jahre 1726 beantwortete er eine an das Rabbinatskolleginm gerichtete
Frage, ohne auf das Meritorische der Sache einzugehen, im Sinne der
Fragenden. Vgl. Morpurgo, BGA. r^pTSt vüv, Abt. »ovo ;vn Nr. 24.
* bißrwn ican mee nvn nennt ihn sein Schwiegersohn Juda b. Josef Porez
in der Vorrede zu seinem Parach Libanon.
10
IV. Abhandlang: Waehstein.
Zwi
Elchanan
der Kabbaiist st. 1661 (vorliegendes Epitaph)
(Josef) Is&char Bär^
1701 lebt er noch*
(Vor- und Nachwort zu
Jada Lob
(Approbiert als Babb.
von HotEenpIotx seines
Bruders D^i^W rwV»)
Abichail
verheiratet
mit dem
Venezianer
Michael
ha- Cohen
(ibid. Nach-
wort.)
Levia
verh. mit
Salmann
ha-Cohen
(ibidem)'
Margulit
verh. mit
Elchanan
ben Abra-
ham*
(o»inr m6v
Vorwort)
Josef •
starb 1742
(Megilat
Sedarim
ed. Baum-
garten 32)
Chananel^
Lob
Mendl
Moses
Kunitz
(Ben Jochai
Widmung)
^ Muß früh den Vater verloren haben, woraus sich erklärt, daß er
in dessen Namen nichts mitteilt, ^sa ?mov nrK nsi^on hm POib «nrv
. . . »roo K*? .13*3 'O'^r rpei . . . "oj^ »m »o» »xno •vnrr ip nsr^ schreibt er 1681 (Vor-
rede zu onoK rmsp). Er wurde demnach zwischen 1642 und 1646 geboren.
Lewinstein (1. c. S. 26, Nr. 183 n^S isv^) setzt seinen Tod 1640 (8. Adar)
anl! Auch das andere auf ebendenselben zu beziehende Datum (ibid.
8. 106, Nr. 1072 "orr') ,ist nicht richtig.
' Vgl. oben meine Bemerkung gegen Fr.-Qrün.
' Auffallend die gleichen Namen von Vater und Sohn. Daß der Sohn
neben seinem eigenen Namen auch den des Vaters fUhrt, ist sonst auf
Wiener Grabschriften nicht selten. Somit ist der Korrektur Josef Cohen-
Zedeks in D*-iv« -n-r (Beilage zu Ha-Goren I) S. 6, Anm. 3 die Grundlage
entzogen. j*"3 nro 'ms f^w:\ Ki^a ptru rroT nro ist ganz richtig. Vgl. weiter
unten das Epitaph Ssimcha ha-Cohen.
* Dürfte der bereits erwähnte 1766 in Wien verstorbene Rabbinatsassesaor
von Eibenschütz Elchanan ben Abraham sein. Laut Inschrift (bei Frankl
dieser Passus ausgelassen) hat er ein Alter von 72 Jahren erreicht, ist
also 1683 geboren und war 1701 beim Erscheinen des c*2rv rrrVr 18 Jahre
alt. Bei den Frühheiraten jener Zeit ist demnach kein Hindernis an-
zunehmen, daß der am Eingange jenes Werkes gepriesene Schwieger-
sohn des Autors otq« tvw . . . a-via \irhn ■»•vre «anirn mit dem in Wien ver-
storbenen identisch ist. Der *^bHT^ ^aipon nsi wird also Schwiegerenkel
sein, wenn auch das ^^to vor dem Namen des Vaters auf dem Epitaph
fehlt. Hienach ist Kaufmann (1. c. 82, Anm. 1) zu berichtigen.
' Absichtliche Veränderung des Namens Elchanan? Möglich wegen des
verbreiteten Glaubens, daß die Lebensdauer des späteren Trägers von der
Wiener hebräische Epitaphien. 1 1
Nachtrag.
Meine Vermutung (oben S. 10^ An. 1, 5); daß Elchanan in
jagendlichem Alter gestorben sein dürfte und daß sein Sohn
Isachar Bär keine bestimmte Erinnerung an ihn hatte, fand ich
in der Vorrede zu seinem Jugendwerke üvtnn ra*iK (Frankfurt
a. 0., 1680 Fol.) ausdrücklich bestätigt. Wehmütig erzählt der
Verfasser, wie seinem Vater, der in zartester Jugend einen Kom-
mentar über die ninöKömw geschrieben, eine lange Wirksam-
keit nicht beschieden war.
innb-a ^ 10KW na b'n wra nnSiö "man ^^rt o^ao mwai ipn nn p
mKoS vwari nniKöb vm nnvi» m'iöK nnoKo mm hv «n^t la^n
Wir erfahren auch den Grund, warum diese und andere
Schriften sich nicht erhalten haben. Elchanan beschäftigte sich
vornehmlich mit der Lurjanischen Kabbala. Damit ein Unbe-
rufener keinen schlechten Qebrauch mache und um Mißver-
ständnissen in der Auslegung vorzubeugen, ließ er sich seine
Schriften mit ins Grab geben.
•h^xh n m» niö ba ik*? ntPK St ^"nKn nösn ö\nSK naara n^•^
Mit bewegten Worten schildert der Sohn den Zustand,
in welchem die Familie sich nach dem plötzlichen Ableben
seines Vaters befand. Wir erfahren dabei einige interessante
and die frühere Behauptung bestätigende biographische Details.
Der Adept der Lurjanischen Kabbala wollte seine Familie nach
dem heiligen Lande bringen. In Wien aber ereilte ihn der
Tod. Seine Frau, die ihm 8 Jahre später in den Tod folgte,
mußte die Last von 5 unmündigen Kindern tragen.
nnapn^Bj • ♦ . HS^ih iKiaai "»axH pxb K-anb lamx inrna laa äk ♦ . ♦
^rab iB^ n&p aK ♦♦♦ u'^nanKb mtsiyen maipb öj^aa ♦♦♦ nrwK^i
des früheren Namenträgers beeinflußt sei.* Daß der Kabbalist Elchanan kein
hohes Alter erreicht, scheint mir abgesehen von dem Zurücklassen eines
sicherlich nicht 10 Jahre (s. oben S. 10, An. 1) alten Sohnes, aus dem mir
noch nicht ganz klar gewordenen Text Zeile 8 des Epitaphs hervorzugehen.
' Mit dieser Angabe stimmt schlecht die oben angeführte Überlieferung
Knnitzers, daß Elchanan Rabbiner in Wien war. Indes muß sein Auf-
enthalt in Wien nicht so kurz gewesen sein, wie aus der angeführten
^ Ober den Einfluß des Namens vgl. Sepher Chassidim Kap. 244; Josef
Juspa i^snc "joi* 211i>ff.
12 IV. Abhandlung: Wachstein.
i^KD p-i ♦ . ♦ ^:h jnat p« kdh ona is^sko wöw nta -lOKb >3öo piat
npb lor H-'atön nwK nx -a möb kS rnBOöi laro«? k^ rcö tjrt pKO
Überhaupt enthält diese nicht gerade wortkarge Vor-
rede interessante, auch für den Schreibenden charakteristische
Details, der wie es scheint, sein ganzes Leben eine Art Boheme-
Existenz führte.
Nr. 3^ (Tafel I).
Ssimclia b. C^erson Cohen Bapa.
Material: Ungarischer Marmor. Höhe 127cm; Breite 90cm; Dicke
16cm; Texthohe 100 cm; Zeilenlänge 79 cm.
Wappenschild. Am Oberrand eine Krone/ von den Mittelfingern zweier in
segnender Stellung sich befindliehen Hilnde leicht getragen, unten swischen
den Handgelenken ein nach rechts gewendeter Vogel (Rabe?).
: nrriÄ Dipa : 'pn33 ^bn : nnar iran
X nnnn «r : naw »nb : nsr '^Diorb
t ^ nBDö j narbr nSro : nrno ^in
: tanö^nina x nsnon pro t "on ff\hn 6
fDan nftD foibrn nb» : nra ^iök
: prnj p : naiaro nn^a : bbr i-«*?»»
: n:3^ Kam ; pwb'-'pawn : |r-ni ]xnt
X p^on ib j-K : p''ani n-w j p''*?^ pa
j on^'Di ip'Ti : Dinnn ittn : nais^ i*? lo
: DTi*?Kn »"x j T^^p) ""W X onj nabn
X r(v:svry vn : o^niaa vn\p x o^nj nbp
Z. 1. Freier Gebrauch des zur Eologie gewordenen Verses
(Jes. 57, 2) inaa nbn onnarb br ima-» oi*?» »ov Vgl. Zanz,
Zar Gesch. S. 356 und die daselbst angeführten Quellen.
Stelle hervorgehen kOnnte. Die Reisen pflegten in damaliger Zeit nicht
80 raach vor sich an gehen. In Wien, das allerdings nicht das Endsiel
seiner Reise war, dfirfte der Kabbaiist eine wenn auch nicht offisielle
Wirksamkeit entfaltet haben.
' Fehlt in Frankls Inschriften.
* Diese Zahl bezeichnet den Standort des Steines auf dem alten Jndenfriedhof.
' Krone des Priestertums (n^ina vs. Vgl. Sprüche der V&ter m, 17).
Wiener hebräische Epitaphien. 13
Z. 3. Vgl. Dentr. rabba Kap. I: d^sb^j nrrh Dpnat hv inrno Tnr
mvn ^Kb&&. In der weiteren Entwicklang nimmt diese
Vorstellung konkrete Formen an. Vgl. Romi, pp ]i ^-yw
(Lnblin 1597, 4®), p. 2*, wo (ein apokrypher) R. Josua b.
Lewi, eine Schilderang von der Pracht and Herrlichkeit
des Eklen entwirft. Die 7 Abteilangen, die in bezag aaf
Vollkommenheit eine Stafenleiter vorstellen, sind für ebenso
viele Kategorien von Gerechten bestimmt.
Z. 5. thvf = nshD.
Z. 10. Vgl. I. Reg. 18, SO .., ntn Anspielung aaf den Namen
Rapa[port] oder [Port]-Rapa, aaf den auch das Wappen
hinweist. di'DI jpn uran Htn die Bezeichnung seines typo-
graphischen Berufes? Er wird doch nicht Bibelkritik ge-
trieben haben!
Der um 1635 im achtzigsten Lebensjahre verstorbene
Ssimcha ben Gerson Cohen Rapa wird wohl der Verfasser
des in Proßnitz 1602 gedruckten Kol Ssimcha sein. Vgl. Jellinek
im Literaturblatt VII, S. 231; Steinschneider, Cat. Bodl. p. 2995
Nr. 1789. Daß er die letzten Lebensjahre in Wien verlebte,
bezeugt ausdrücklich Simeon Auerbach im Kommentar zu
seiner Szlicha onb^b prrb (S. 9^, Frankf. Ausgabe 1711) nwoi
h*ii mtao TCTTbD ™pn nasna abBVan h noK^ wnp '»r^hnn «rnn m |V3 r^tn
icrrt pp nt rraa pvö Dipo rvn ra^ r)iD 'wh y^ant p"pi2. Vgl. Carmoly,
.■w^iO'Dfirn S. 9, dem ich diesen wertvollen Hinweis ver-
danke. Carm. schreibt zwar ♦ ♦ ♦ ]^:9ü}D tth rwp rwH wrrt^ '•n^Km
♦ .♦i3tw naw onb"^ ]vm naia^ inn-'^ob a^ao, woraxis hervorgehen
könnte, daß der Verfasser 1634 bereits gestorben war. Tat-
sache ist aber, daß der Text der Szlicha wohl 1634 anläßlich
einer Kinderseuche abgefaßt war, der Druck hingegen erst
1639 erfolgte. Die Niederschrift des Kommentars wird wohl
nach 1635 erfolgt sein. In der Vorrede spricht auch der
Autor von der Veranlassung seiner Schrift als von einer ver-
gangenen Tatsache irrjn T3'»in n»n nittn nn^ pp nn . ♦ ♦.
Eine Hervorhebung des Werkchens Kol Ssimcha schien
dem Verfasser des Epitaphs nicht besonders wichtig, da er
viel Bedeutenderes zu sagen wußte. Oder ist etwa (Z. 4 — 5)
•njn «i^n nan bip eine Anspielung? Tatsächlich beginnt von da
14 IV. Abhandlung: WacfaBtein.
an die Aufzählung seiner schriftstellerischen Qualitäten. Sein
Kommentar (Z. 7) scheint nicht gedruckt worden zu sein.
Trotzdem es viele Wahrscheinlichkeit hat, daß sich das
vorliegende Epitaph auf den aus Prossnitz eingewanderten
Ssimcha bezieht, so muß doch bemerkt werden, daß Mitglieder
dieser führenden, in die Geschicke ihrer Glaubensgenossen ein-
greifenden Familie sich schon früher in Wien vorfinden. So
sind auf dem alten Wiener jüdischen Friedhofe die Charakteristika
des bekannten Wappens der Familie Rapa-Cohen auf einem
Grabstein aus dem Jahre n&;7 = 1585 (demnach älter als das
auf dem Titelblat von nhhn nn:ö befindliche Wappeö. Vgl.
Carm. 1. c. S. 1; Brann Centen. Rapoport S. 395) zu sehen.
Es müssen demnach die Angaben Carmolys in Bezug auf die
Herkunft Ssimcha Cohens überprüft werden. Sicherlich falsch ist
seine Annahme, daß Jechiel b. Mose Jeremia Gerson Cohen Port-
Rapa, der bekanntlich den Brief an Teizeira^ unmittelbar vor der
Vertreibung der Juden aus Wien 1670 unterzeichnet (vgl. RGA.
npr ^rriM Nr. 77; Eobez al jad Berlin 1903, S. 31), zu seinen En-
keln gehört. Eisenstadt (Q^vn^p r\^ S. 151), von Carmoly abhängig,
ist in Bezug auf Jechiel Cohen sehr vorsichtig. Es läßt sich
jedoch nicht schwer auf Grund des Epitaphienmateriales und
auch sonstiger bekannter Quellen seine Genealogie herstellen.
Ganz willkürlich ist die genealogische Konstruktion Josef
Cohen-Zedeks, dem der Genealoge in Horwitz dStt maibnn (Lern-
berg 1901, f.) folgt, in Dnirr" mn S. 27. Ein Blick in das von
M. Stern herausgegebene bereits von mir angeführte Fürther
Memorbuch' Berliner Festschrift S. 121, Jiskor 13) genügt um die
Korrektur Cohen-Zedeks (vgl. oben S. 10, An. 3 wo seine An-
nahme aus anderen Gründen abgelehnt wurde) zurückzuweisen.
Moses Jeremia Gerson ist identisch mit Jeremia Gerson des
Memorbuches, der den Namen des Vaters seinem eigenen vor-
setzt. Unklarheit herrscht auch bei Kaufmann (1. c. S. 27
An. 1). Die von ihm angegebene Annahme Carmolys konnte
ich in n:v ^331 D^STirn nicht finden.
* Vgl. über ihn Gr&U, Bd. X, Nute 2; insbesondere de Castro, Kenr van
Graftteenen op de Nederl.-portug.-israÖl. Begraafplaais to Oudcrkerk an
den Amstel (Leiden 1883, Fol.) 8. 103—107.
> Im folgenden a MBF.
Wiener bchrfttache Epitaphien. 15
Über die verwandtschafllichen Beziehungen Ssimcha Cohen
Rapas in Krakan^ vgl. Dembitzer, Elilat Jofi II 110*; Wett-
stein in SokolowB Festschrift (Warschau 1904) S. 285.
Der Tm Ton * * • \nör\ pttna na 7\nüv nnrö abßion ^^nn (Berl.
Festschrift 123, Jiskor 6), ftlr den seine Söhne spenden^ ist
sicherlich unser Ssimcha b. Gerson Cohen-Rapa.
Nr. 4.
(Moses) Jnda LSb Haor katon [Lueerna].
Material: ungarischer Marmor. Höhe 143 cm; Breite 90 cm; Dicke 9 Cm;
Texthöhe 95 cm; Zeilenlänge 56 cm. aAniir^r^Q^
rmn'» mro nnno pKn binn *?rKn naxo
bxT pp mwD Ken nvö
pi^ n""Ka naoi
t D^nayn ^dö öri t m^ rrn noan pawai
: Dn»n dj ^*?D n»^ ♦ nrr pte low npn
i D^irva m: '-pnnD ♦ tomn pro vrn 5
: irnn^i nn^ »inn ba ♦ na» paoa pH nD-»
• Dniöü rnarb D")« • r6 rwv cu 'Tin pa-n
• on^wb pa D'»''3r^ pa ♦ non 'b'^oai n-rojH
: Dnw\n vnrto rn ♦ an "ibm a: no»n pn
: D"»nan maa 'tr\ y>b ♦Srna "iwn rrn k^t ^q
: anBoi a^nnn nan ♦ ^a nana^ p^iac nat
: amna '?'n3 niKö*? ♦ nn mpa pp •riwi
: an^rai 'nara nSp ♦ vh nüra ••r'^ona
• Dmjw DJ nnj? i^ic TP ♦ Din^ TTin atr pic
najon päb rfh n-rirr riro
Von diesem Epitaph ist bei Frankl bloß die Überschrift bis
-nca mitgeteilt. Nur noch das Wörtchen pth und die Kenn-
zeichnung des ridbva als Chronostich ttr Jahres- und Monats-
^ Diese Zahl beieichnet den Stand des Steines anf dem alten Jadenfriedhof.
' Die iweite Zahl ist die Nummer dieses Epitaphs in Frankls Inschriften.
IV. AbhandlnDg: Waehitefm.
datam hätte einen bq beionnenen Forscher wie AL Wiener
halten Maorkaton nach 1670 nochmals nach Wien kommen miit'
ihn die Stelle Geräon Aschkenasis^ bekleiden ztt lassen. (Wiener^
in Ben Cbananja VIII 1865 S- 104, vgl auch aastfrennd, Wiene
Kabbinen S. 49,) Das Sterbedatara ni^ -^ niö© ^ fr^n rriir^' frtn ia
jetzt auch durch MBF (vgl BerL-Festschr. 129. 9) gesichert,'
Er starb somit 8 Ijar 395 ^= Donnerstag 26. April 1635,
hienach Lewinstein (L c. S* 80 Nr. 45) zu berichtigen, M
Die Inschrift zeigt oni die Wirksamkeit und Bedeutung^
des Mannoa fiir seine Zeit, bestätigt einige Angaben über
ihn, die wir anderswoher kennen, und gewährt, allerdings
durch eine kleine Rttze, einen Einblick in die seelische Ver-
fassung der damahgen Judenheit. Z. 14 ist wörtlich zu tiehmea^
trotzdem die Redensart sich an Chagiga 3^ anlehnt. Der eine,
der im Besitze des profanen Wissens war, der Adept der
^sieben Künste' hatte praktische Anfgaben zu lüsen, ^Fürsprecher
vor König und Fürsten^ zu sein, (Z. 1 — ö). Die ancilla theologiae
hatte sich einst zur Herrschaft durchgerungen, jetzt diente sie dem
einen als Instrameot, die Anwürfe gegen die Glaubensgenossen
zu widerlegen. Die Kechtsunsicherheit ist eine latente, die beim
Tod© eines solchen Mannes ins Bewußtsein dringt. Die rabbi-
niscbe Wirksamkeit, die damals auch die Gerichtsbarkeit um-
faßte (vgl. Wolf, Juden in der Leopolds tadt S. 18) spiegeln
Z* 6—9 wieder. Z. 10 könnte das Bedenken Wieners (a. a, 0»)
beschwichtigen, wenn nicht onnE^i mrö durch kbi*i veranlaßt, und
alsdann im übertragenen Sinne zn fassen wäre. (Vgl, aber
auch die von Kaufm, L c. An* 7 angeführte Stelle aus dem
BGA. in innb.-n^aE Prag 4<*, 1623, S. 51*0 Daß er Schriften
verfaßte (Z. 11), bezeugt sein berühmter Enkel Menachem
Mendel Auerbach, der seinen Kommentar »um Ritualkodex Orach
^ Die Anttahme Ubri^etijt, da^ .Tuda Maorkatoa Obeirabbiner und Seltul-
Oberhaupt in Wieti war ("f3«i ö"! Wiener a. a. O., Dombitier Klibt Jofi
I 33 Aiim^, wö mit Hecht die Kgcifundiei-uiig unserem Juda Ltva Rote
mit L B V [ licjf© b* Jakob in den berüehtigten Lemberg-er cip rn^tii gortigt
wird. VgL auch Buber, Ansehe Scbem S. 13 1 , wo er jedoch ia ^ier weitern
DarÄtt*Uiing Gastfrütind folgt) schoiiit mir nicbt genil^enrl begründet tu
SU sein. Im Epitaph fehlt die^e Augabe. lu der lUuptquello fOr «oino
rabbinieche Wirksamkeit {a^pi m^j? § 672} wird beilÄufig g«?9Ägtj dal^ er
iKP {1633) ^ n-via war, Ällerdiogs heißt os iu der Vorrede (ib»ileni)
-TSip s\ Vgl. auub Kaufiuauu 1. c. S. l!ö und üautfrauud L u. B, 4D.
Wiener hebr&iBche Epitaphien. 17
Cbajim zum Andenken seines Großvaters nach dem Bibelvers
(Prov. n, 6) D''3ptn'nöj? benennt und einiges aus seinem Nach-
laß mitteilt (Zitate bei Qastfreund und Kaufmann a. a. O.) 'nnnpi
rriKBn rxitv '\tv d^s -»33 D-'apt mm pioon v**v • • • o^spi mw ' ' "iBon dw
cnftD noai nas "an xini »ins p '•3Rr K3^ti ppo h"i Htr\ b'n'nö pwn tSk^
n^3a K"3 «T^ vn kS o-^sa ^a p vinie n''3n Hb 03i nninb» "an dw hsl^ Hb^
•nrsr-n m^an nrjpnst on&3 n-^risac
Zu Z. 12 ist zu vergleichen (Vorrede zu D^3pt mw) Kin
icpn iTRö vxiv nK onm orn n*?waöb Snan •niKön.
Die Folgerungen D. Oppenheims aus dieser Stelle (Wiener
Mitteilungen 1855 Nr. 29^ S. 113) scheinen mir jedoch nicht
stichhältig zu sein.
Als Vorsteher der Judengemeinde unterschreibt er als
Erster unter den ,Eltisten der ganzen jüdischen Gemain allhier
za Wien^ den bei Einräumung der Leopoldstadt ausgestellten
Revers : Leo Lucema Hebraeus aulicus trium facultatum Doctor.
Vgl. Schlager; Wiener Skizzen I 32^ 70. Schlager sieht in ;He*
braeuB aulicus' den Hof bankier. Der dreifache Doktor war wohl
^ Oastfreand, Österreich und Belgien S. 68, Anm. 37 vertauscht den Vater
Auerbachs mit einem gleichnamigen Nachkommen, der hundert Jahre
spater lebte. Vielleicht erklärt sich dieser Irrtum durch einen andern,
indem er das Werk nasn nipo, das von eben diesem Enkel ediert wurde,
anstatt 1710, 1610 in Berlin erscheinen läßt.
' Nicht wOrtlich zu nehmen. Er hinterließ wohl keinen Sohn, aber er hatte einen
Sohn Zwi, der 3 Kislev ^v gestorben ist. Sein Epitaph folgt weiter unten.
' MBF Teraeichnet rnan hm ntö iTiuar . . ♦ nwa nw pjtan (a wn mr^ itTi.T ma pun
• . • hm man ono. Miriam, die Frau Salman Auerbach-Fischhofs, die Mutter
des Verfassers des Atheret Z'kenim ist aus Frankls Inschriften (202) be-
kannt. Von einer andern Tochter ist die Grabinschrift noch erhalten. Sie
war die Frau des Juristen Asrtel, der zur Zeit ihres Todes 1653 noch am
Leben war f "* pi bmiy '^ nvn. Ihr Name ist nicht mehr zu eruieren.
MBF feiert auch das Andenken seiner Frau. Vgl. LOwenstein,
Monatsschrift 1898, S. 274, Anm. 2. LGwenstein yermutet mit Recht, daß
hvrhuit bei Frankl (Nr. 90) aufzulösen sei. Sein Vorschlag un9*K für -hw
zu lesen ist jedoch, wie am Original zu sehen ist, nicht richtig. Hienach
auch D. Günzburg bei Maggid, Zur Gesch. u. Geneal. der Günzburge (St.
Petersburg 1899), S. 274, Kol. I zu berichtigen. Auch war Rebekka nicht
die Frau von Mos. Maork. sondern von dessen Sohn (Mos.) Juda Maorkaton.
Sie war die Tochter des rira Mordechai ^o -btnn aus Posen. Das tvtd deutet
auf rabbinische Gelehrsamkeit. Näheres über diesen Mordechai Lovi 'htm
oder "yhvm konnte ich nicht erfahren. Lewinstein inenm im "m S. 89,
Nr. 349 teilt das Todesdatum eines {Tob n^mN »am 'n mit.
SiliuigBWr. 4. phiL-hist. Kl. Ifi6. Bd. 4. Abb. 2
18 IV. AbhAndlnn^: Wachstein.
hofbefreiter Jude, aber kaum ein Hoffaktor. Über die Identität
von Lucema und Maorkaton vgl. D. Oppenheim a. a. 0. Vgl.
auch Rapoport in Wertheimers Jahrb. II. S. 316; Carmoly
(gegen Rapop.) AUg. Zeit. d. Judent. 1855, Nr. 42, S. 542 und
Rapoports Erwiderung im Vorwort zu Gal-Ed XLV. und schließ-
lich Wiener (gegen Carmoly) a. a. 0.
In formaler Beziehung wäre hervorzuheben, daß das aas
14 Zeilen bestehende Epitaph ein bestimmtes auf Wiener Epi-
taphien sich noch anderswo findendes Metrum hat. Jede Zeile ist
in 2 je 8 Silben (manchmal recht holperig) enthaltende Halbzeilen
geteilt. Der Unkenntnis dieses Metrums sind die Verbesserungen
Cohen Zedeks im Epitaph Abr. Chaim Opatows (Inschriften 53)
zu verdanken, die auch Kaufmann (Monatsschr. 1898, S. 366)
ernst genommen zu haben scheint. Auf die phantastische Ge*
nealogie Abr. Chaims aus Opatow, die sich Cohen Zedek (Ha-
goren I ontrnn 4 — 15) leistet, wird noch Gelegenheit sein
zurückzukommen.
Nr. 5 (Tafel II)-
Moses Haor-Katon.
Mntcrial: Ungarischer Marmor. Höhe 130 cm; Breite 91cm; Dicke llcwi;
Texthöhe 90 cm; Zeilenlänge 47 cm.
348V5« = 135»
-nKO 6
-n ib Kaf»
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-p Dbir nn -labb ^bn
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Kbn ibp
n3B bipb -
{b'b
brn nmn
' Diese Zahl bezeichnet den Stund des Steines.
* Nummer dicMs Epitaphs in Frankls Inschriften.
Wiener hebräische Epitaphien. 19
Diese Inschrift ist bei Frankl zweimal wiedergegeben, was
schon Carmoly (AUg. Zeitung des Judentums, 1855, Nr. 42, vgl.
auch Wolf, Wiener Friedhöfe S. 12, Anm. 15) bemerkte, beide
male jedoch korrupt und ohne Kenntnis des formalen Momentes.
Z. l zeigt das Jahresdatum mit an rrn rwD = rwba (Z. 16) =
nw bestätigt durch MBP. (Berliner Festschrift 122,3.) Er starb
2. Adar 365 = Sonntag 20. Februar 1605.
Metrum: Jede Zeile in 2 Hälften zu je 4 Silben.
Reim: Z. 3 — 18, f + x (usw. riö''D;n3D foiK ;mrö fötDs).
Z. 3. IÖB3 Euphemie fllr begraben, vgl. Zunz a. a. O. S. 444— 45.
pnunae häufig auf deutschen Inschriften. Vgl. Joma 52^:
Z. 6 — 7. Vgl. Gen. Rabba Kap. 68. Das m") nsu, das dort von
TP gebraucht wird, fUIschlich von dpö.
p^o D«n dem dortigen onn wu? entlehnt. Hier im negativen
Sinne: richtig vermißt werden, Wiener (Ben Chananja
II, 106) sucht das Frankische ity^ü Dva mit Beziehung auf
pnxn pp&v zu erklären : ,er zog aus der Stadt . . . mit
dem Beinamen des QerechtenM!
Z. 10. Vgl. Berach 8* jrTRa mnjiö nimb nari ninib.
Z. 11. DIB ov Eoh. 7, 1 und wohl auch Ber. 11 \
Z. 13. Nach Ber. 10* mKißi ^bo wa [^'?a•^ irT'pTnl und Jerusch.
Sota IX 7\&nrtr^ nao tsa: '^iThn ••an nbwö.
Z. 14—15. Vgl. die Quellen bei Zunz a. a. 0. S. 308.
Z. 17—18. Im Monat Adar (7) starb Moses (Kid. 38*).
Über die Familie Maorkaton vergleiche das vorige Epitaph
seines Sohnes Juda Maorkaton. Löwenstein (Monatschr. 1898,
S. 274) scheint die Identität dieses Mos. Maork. und des Frank-
furter Arztes, der 1570 die QemeindeprotokoUe unterschreibt,
als eine nicht zu bestreitende Tatsache zu halten. Vgl. auch
cinnnwn (ed. Filipowski, London 1855) Ende; Horowitz,
Fankfurter Rabbinen S. 34, Anm. 2.
«♦
20 IV. Abbandlang: Wacbstein.
Nr. 6 (Tafel I).
Zwi Maor katon.
Material: Zogelsdorfer Sandstein. Höhe 12cm; Breite 88cm; Dicke
18cm; Teztbdbe 120cm; Zeilenlänge 72cm.
7017561«
pp TiKo m [1.T] "o ''ax n nnm o^bro ani ■»nn '•a naa»
mv th\vh lar
"M PK vn)p TiaTK Dipon
■•ax "inn "«sm cniB aite "»d p*"«
"M-a nno (p) -im own -naab
••ax |n3 D-'^n ""aa '-am bn üc
"aara ma ajmS ina lanb 5
^ax-n ban^ ♦ nwira nra dj
•♦ax :in or ib-ar nn^n nin
■•aat 'nwa aiSD ♦ ora n»B3 bna
"axa *m ja »jr • naw ibaa ba^i
-aac pK bp TJ ♦ nar [|'t^^'^ p] lo
Zwi Maor katon^ der einzige Sohn Jada Maor katons^ dem
der Vater ein Denkmal setzt. 'ai 'nn *>3a mit Anlehnung an II Sam.
23y 20, weshalb auch min' ohne nnna. Aus dem schon genannten
(oben S. 16) RGA. in Isachar Eilenburgs innb m^at erfahren wir,
daß er gestorben war, bevor sein erstes Kind zur Welt kam^ wes-
halb sich eine casuistische Frage ergab, aanan ^i^Kn {a ^nbxva
ntt^bam nnaia^a idc^k n-'am bi "»aat nnn f\hHn laa na» ♦ ♦ ♦ ir a^b Tvnaa . ♦ •
mm bnanp nj? pnanb n^nat dk ik laa p mnab n^a nittm na »^ dk • • • nat
laatp nx nnB^ Vgl. Kaufmann, Letzte Vertreibung S. 26.
Über mn^ inaiaxa p^^nat als Euphemie s. Zunz a. a. O. S. 364.
Auf Wiener Grabsteinen fand ich sie nicht. Hier durch den
Namen ^aac veranlaßt.
Von diesem Epitaph hat Frankl bloß die Worte TiKa ^ax
{Cp. Kaufmann vermutet Nr. 43 der Frankl. Inschriften, wo
ein Datum iboa n ohne sonstige Angaben zu lesen ist , als
die verloren gegangene Grabschrift Zwi Maor katons. In der
Tat hat Kaufmann das Datum auf Grund des angeführten RGA.
sehr genau berechnet. Er starb 3. Kislew 380 = 10. November
^ Diese Zabl beseichnet den Standort des Steines anf dem alten Friedhof.
* Die iweite Zahl ist die Nammer dieses Epitaphs in Frankls Inschriften.
Wiener hebrilische Epitaphien. 21
1619. Die Schrift ist znm Teile sehr verwittert und nnr mit
großer Mühe konnte der Text hergestellt und besonders das
Metram eraiert werden. Die 10 Zeilen des eigentlichen Epi-
taphs sind in je 2 Halbzeilen zu 6 Silben geteilt.
Z. 1. Nach EIx. 3, 5. Die Teilang von nQ*i*M würde schließen
lassen auf eine Zeilenteilung wie sj^-nb in Z. 5 oder i^-zsp
in Z. 7; sie erfolgt jedoch nur wegen der sechsten Silbe,
da Schwa mobile nach Bedürfnis als Silbe gezählt wird.
Ahnlich ^nara in Z. 3, 5; "nat^n in Z. 6.
Z. 2 m(k:hte ich ^aiaa ns lesen, ns zweisilbig.
Z. 3. Nach '^Dwn = b-wn (vgl. Ps. 42, 1 ^n bn h^w) "sa = n-'sa? Der
Zusammenhang mit dem darauf folgenden |n3 D^'*n dunkel.
Oder dachte der Verfasser an die Auslegung dieses Verses
in Nedarim 40*; Leviticus Rabbah Kap. 34 nx ^^ün ho
rrrrw 'b D*iti rh)nT\?
Z. 6. ^5^; Z. 7 •Tin = rmn; Z. 9. ■•sxa ohne Trennungszeichen!
Nr. 7.
Gela b. Simon [Auerbach].
Material: Ungarischer Marmor. Höhe 130 cm; Breite 73cm; Dicke
13cm; Texthöhe 114cm; Zeilenlftnge 70 cm. ^..
rhvth nrpöins ppbw tvt na nbw nno n ♦ • ♦
^ « • •
napn nut*? naawn [mw
bp ♦ mann pi*?rG maan nns'nn
n3b*?Ri B''nin''b mnp jyanK
nibai D^ann*? tm^m nanna
1 n*?ow nKrirr'bß') *?D''pa
B-mBi onair D-rmKb ptoi 6
ms^m D''Ka D^Dnn nn-'s*? nrK
[nirayna tikö nbna nn^n oa
bsai WB3 ^DS Tioa mr-'nci
'möa PK nriaa mröna tkö
*?D*? ♦ n^ry la^JT irrö-'i 63) mp 10
ffbri *?3 CM rpT nnnu m<a
nwi aba nu" nnw in»
roaön 16
22 IV. Abhandlang: Waehstein.
Mit besonderer AnsfÜhrlichkeit wird hier die Mildtätigkeit
and Bedürfnislosigkeit einer edlen Frau gerühmt. Durch den
sparsamen Gebranch belegter Ausdrücke erfahren wir hiebei
trotz des Reimes, was alles in die Privatwohltätigkeit der Zeit
gehörte. Ich yermate in dieser Frau Gela^ die Schwester
eines berühmten Predigers, des Abraham Darschan (Frankl, In-
schriften, Nr. 578), dessen vollständiges Epitaph Kaufmann in
der Monatsschrift 1898 mitteilt (vgl das. Abraham Darschan
von Wien usw. S. 366—371) und eines anderen Gelehrten, des
nvi& Salomo, dessen Andenken MBF. feiert (Berliner Fest-
schrift 121, 17). Ihre gemeinsame Mutter wird jene Taube,
Frau des Simeon sein, auf deren (bei Frankl ausgelassenem)
Epitaph die Wendung sich findet: tjnai p" ♦ • ♦ D'«bn:n niTiKtan nr
D^sinrn Dnan bprh niKn*? narn nK '\^h^^ Ttbvr on oniöj^n "sw, die ich auf
Abraham Darschan und den eben erwähnten, laut Memor-
buch 13 Ab 1601 verstorbenen Salomo b. Simeon beziehen zu
können glaube. Leider kann das Datum, das auf diesem Grab-
stein, wie auf dem der Gela und anderer Mitglieder dieser
Familie durch einen ganzen Satz ausgedrückt, nicht genau fest-
gestellt werden, da die Zeichen auf denjenigen Buchstaben, die
dem Zahlenwert entsprechen, verwischt sind. Doch glaube ich
nicht fehl zu gehen, wenn ich in dem Satze iDsa dtvi isnp das
erste Wort ünp = i5B' = 1596 als ihr Todesjahr annehme. Wir
hätten demnach einen Stützpunkt für die weiteren genealogischen
Verhältnisse Abraham Darschans. Die Bezeichnung KpKnpa auf
dem Grabstein seiner Frau Mirjam (Inschriften Kr. 556) und
seines Sohnes Gerson (v. Kaufmann a. a. 0.) wii*d sich wohl
nur auf \fm beziehen, also auf eine Amtswirksamkeit in Krakau,
der damals schon bedeutenden jüdischen Gemeinde. Seine
Wurzeln sind jedoch in Wien zu suchen.
Gela war übrigens auch die Frau eines Mannes, der einer
führenden Familie angehörte. Salom b. Uri Auerbach (seine
^ Zar Schroibttng und Aussprache des Namens ygl. Gansfried er *^ 101*;
Simcha ha- Cohen msv (Venedig [1667]), S. 79^ Die Form r6'i offenbar dio
hebr&ische Obersetzung von Gela = die Frohe, die Freudige (Tetaner, Na-
menlexikon, S. 111). Dio Nebenformen Gala, Gola usw. halten die Decisoren
für selbständige Namen. So wird Gela von gelb abgeleitet, Gila als ur-
sprUnglich hebrili scher Name gehalten. Vgl. nsv ibidem. Gila schon 1270
in einer Kölner Urkunde. Vgl. Breslau in Hebr. Bibliographie IX, 1869,8.56.
Wiener hebräische Epitaphien. 23
Inschrift ebenfalls bei Frankl übergangen) war selbst Vorsteher
und Scbtadlan.^
Auf DTbwvnnnbra, das nur schwer leserlich ist, fehlen
die Zeichen.
Z. 1. Qen. 31, 52 häufig auf Wiener und sonstigen deutschen
Grabschriften.
Z. 2 — 3. Nach Zebachim 62** nmp rann bv nianö vy^- Diese
Phrase nur noch zweimal auf Wiener Epitaphien (beide*
male Frauen) aus den Jahren 1631 und 1634, wahr-
scheinlich von einem Verfasser herrührend; nsö^Ki sie!
Z. 5. Die notwendigen rituellen Requisiten fUr einen verheirate-
ten Mann der damaligen Zeit. Das deutsche Wort Kittel
für ein weites Gewand erhält eine reservierte Bedeutung
und wird nicht hebräisch wiedergegeben, offenbar deshalb
um es nicht mit dem ominösen D^snsn, an die es den
Lebenden erinnern soll, zu übersetzen. Der b}Q^ wm-de
damals, wie noch jetzt bei den Ostjuden u. a. während der
Trauung getragen. Vgl. Grunwalds Mitteilungen I. S. 85.
Z. 6. D^nnsi Ausdruck Eet. 61*^.
Nr. 8* (Tafel H).
Rösl Auerbach.
Material: Ungarischer Marmor. Höhe 146 cm«, Breite 100 c/;i ; Dicke
18cm-, Texthöhe 10 cm] Zeilenlänge 53cm.
: pih ^anp''^K D*?rö nnna na hv^ n*?innn nnnp
'»"SB '-3^0 m:n n3D*?n
br no-n:a bip D-'-rfc
nn nbina na"'JBi "isttr
no^ban üb^vh nneea
nö^ra rh nnne 'n dv
*-b rrap3T 10
hbiani na
> l^mv aaf Grabschriften aus dieser Zeit höchst selten.
' Fehlt in Frankls Inschriften. ' Bezeichnet den Stand des Steines.
24 IV. Abhandlung: Wachstein.
Rösel Auerbach dürfte eine Enkelin von Salom und Gela
Auerbach (s. vorige Inschrift) sein. Vgl. MBP. (Berliner-Fest-
schrift S. 121 , Nr. 2 V. unter rhio nno ^rmw ♦ ♦ . uhvf 'wt 3k k""
...D^ro inn vaai). Die Zeichen auf der Aufschrift, die das Todes-
jahr mitbezeichnen , sind leider verwittert^ doch glaube ich aus
dem Umstände, daß Spuren von Zeichen auf den Anfangsbuch-
staben von drei Wörtern zu sehen sind, schließen zu können,
daß auch die Anfangsbuchstaben der anderen Wörter diese
Zeichen besaßen. In diesem Falle ist dann das Todesjahr
K + ö + D-na + n-nn-i-p = 100 + 5 + 200+2 + 20+40
+ 1 = 368. Dies stimmt vollkommen mit Z. 9 — 10, wo be-
richtet wird, daß sie an einem Mittwoch gestorben und am
13. Tischri, offenbar dem darauf folgenden Tag, also an einem
Donnerstag begraben wurde. Der 13. Tischri 368/1607 (3. Ok-
tober) fällt in der Tat auf einen Donnerstag.
Oberhalb der Inschrift Kranz im Relief zur Bezeichnung
ihrer Jungfrauenschaft und unterhalb ein nach rechts gewen-
deter Hirsch im Schilde. Dieses letztere Abzeichen findet sich
noch bei andern altern Mitgliedern der Familie Auerbach.
Die Inschrift ist trotz mancher Stilkünsteleien zart und
innig empfunden.
Z. 1 — 2. Der Verfasser denkt an Jud. 11, 40 nsa^n rto^^ troia
burw:"* ma, die die Jungfrauschaft der Tochter des Jephta
beweinen und anPs. 45, 14 nö^jo t*?ö narmaD und end-
lich an Gittin 20*: o^abo ii,tk pann; Sabb. 128*: f?Kiv^ te
p D-abo •'3a.
Z. 6 — 7. nt^vm navnva durch den Namen Rösl als Rose gezeichnet.
Zum Bilde vergleiche Ealirs n&rM p&p fvnv in der Jörn-
kippur-Liturgie, wo es heißt noiD »]3n mw; rh n^hn n^^i"«
^ö^iD (Jerusch. Berach. IX. Anfang) na sie! Diese LA.
findet sich jedoch in den älteren Edd. Vgl. Ratner, Ahvat
Zion z. Stelle.
Wiener hebrftische Epitaphien. 25
Nr. 9.
Slara b. Samnel [Theomlm-Bacharach].
Material: Ungarischer Marmor. Höhe 108 cm; Breite 88 cm; Dicke
11cm; Tezthöhe 84 cm; Zeilenl&nge 72 cm.
801 V46«
10. Sept. 1621 = P^^ ^w ^i*?*< "^3 i^is«^ ^'^^ '"nttfca
nrK • rar n^a« n'»ü'?')
n*TD m-an • ictti rown
nwan nTion ♦ mvha
m pKm ra ♦ ranoi mbVD 6
batt |öbt nnnö p b[T apri
Z. 2. "ttync Dicht wie bei Frankl nt^inti ; die Iiandschriftliche Vor-
lage Frankls hat richtig lanb, jedoch ebenso wie Knn in
großen Charaktem geschrieben. S. G. Stern schien diese
Worte für Namen gehalten zn haben. Zur Redensart vgl.
Moed Eatan 25^ nipBXi Mns onb man zerbrach die Ttlre, um
R. Hnna nicht durch Seitentüren tragen zu müssen. Das
Epitaph nimmt diese Ehre auch ftir die ^würdige und
gute Frau' Slawe in Anspruch zumal wegen des Reimes.
Der Verfasser des Epitaphs hatte sicherlich die LA. Di^b
vor sich. Vgl. fin Jakob Venetia 1566, wo auch Raschi
nonDiöS hat. Die neueren En Jakob Editionen (wie ed.
Slawita) haben im Text onfi hingegen Raschi nans i&a.
Editio Wilna hat nmna i&a in EUammer, offenbar um den
Widerspruch aufzulösen. Übrigens hat Aruch xnn Dnc
(das. irrtümlich Moed Kat. ns statt ro zitiert).' Es ist des-
halb (Eisenstadt -Wiener ü'^vf'np nm Abt. «mp "»asK Nr. 55
Anm.) die Korrektur von Kns nisnt in icn^ nri*in zurück-
zuweisen.
nssv na hv ist an Sabb. 30^ zu denken, doch wird wohl auch
der frühzeitige Tod gemeint sein. Hiedurch würde das Be-
^ Stand des Steines. ' Kammer dieses Epitaphs in Frankls Inschriften.
' RabbinowitB, Dikdnke Soferim s. St. verseichnet bloß die LA. p"«.
26 ly. Abhandlung: Wachstein.
denken Eaufmanne (R. Chaim Jair Bacharach, S. 23 Anm.)
erledigt sein. Das auch anderswo fehlende ^1 (Z. 7) kann
kein Grund sein^ sie nicht als die Tochter des 1615 im
40. Jahre verstorbenen Samuel Bacharach anzusehen. Sein
Epitaph bei Lewysohn, opnx niVB9 S. 52 (beachte das.
roa nix!); vgl. auch Kaufmann, 1. c. S. 16 ff.
Z. 7. ppi = Hvmp K^npi. Der Ausdruck schon im Talmud (Ber.9*).
Z. 9. Vgl. KD^i ppi fr\n inniö'ö ed. Stern in Berliner Festschrift
S. 123, Jiskor 3 (das. zu korrigieren am in anS). Ihr
Schwiegervater ist demnach der aus Prag eingewanderte,
angesehene Meschulam Salman Theomim (niaaS' Dibv '•aK^b
übJDt2 = *ib; Frankl, Kr. 27 unvollständig) der nur einige
Tage vor ihr gestorben war. Der Druckfehler uhwn statt
Dibv als Jahresdatum (ibidem) gegen Überschrift 1616, ist
zufällig das Richtige. Der 5. Elul fiel nur Dibrn » kbv -
1621 auf einen Sonntag und stimmt auch zur Angabe
MBF. Kcr 'wa Bo*?irb labn (s. oben) onauno anS. Sie
scheinen alle der damals grassierenden Pest zum Opfer ge-
fallen zu sein.
Nr. 10' (Tafel JH).
Lena (Elenora) b. Jeehiel MIchl.
Material: Ungarischer Marmor. Höhe 145cm; Breite 93cm; Dicke
12cm; Texthöhe 68cm; Zeilenlftnge 45 cm.
bTn Sa^a b^rrv n na 256 *
TiErn ri3 bav
*^ . rwr*? nöa ♦ ny^p ikw . r^:^ oipo ^
f ♦nsrona^nsn D3i*nr3Dai '4
♦ njnoi • naraitb^ninbüi -d
nsns TKo ♦ naioRai ♦ rona nra ^ 6
S:
♦ rürin ♦ nsinn ♦ 7^:p f\rm ^
♦ nsirnni ♦ nso^pn ♦ nr ••nn
. roTraca
* • * * •
nax3 n
Metrum: Jede Zeile in 3 je 4 Silben enthaltende auf na aus-
lautende Teile.
^ Fehlt in Frankls Inschriften. ' Stand dos Steines auf dem Friedhof.
Wiener hebräische EpitaphieiL 27
Über das Epitheton nwnpn»mpn vgl. Znnz, 1. c. S. 327,
335. Eis wird jedoch nicht nur von Märtyrern im eigentlichen
Sinne, sondern auch von solchen , deren gewaltsamer Tod in
der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft zu suchen ist.
ymn jrw bav läßt das Jahresdatum erwarten. Die Häckchen
über r^3 ^3r sind jedoch Abbreviaturzeichen, während dasselbe
Zeichen über "^iBvn das Datum angibt.
rw hiv = Tnap an nopD irrpb d-i» jm^ (Ps. 79, 10) ; ^^tvr^ =
411. In diesem Jahre fiel der 24. Adar auf einen Freitag.
Lena, Tochter des R. Jechiel Michl wurde am 24. Adar
411 = Freitag 17. März 1651 erschossen (Z. 6). Sie ist
ohne Zweifel mit jener Leonora, von der Theatrum Euro-
peum (sub. anno 1651) berichtet, daß sie im März 1651
von einem Reiter mit zwei Kugeln totgeschossen wurde,
identisch.
,Zu Wien in Oesterreich', heißt es daselbst, ,vor dem
rothen-Thor | nechst bey der Auffzugbrilcken [wurde im
Monat Martio die fUrnehme und jedermann wolbe-
kandte Jüdin Leonora als sie in die Stadt gehen wollen | von
einem unbekandten Reuter mit 2 Kugeln todt geschossen:
Weßwegen außgeruffen wurde | daß derjenige | so den Thäter
offenbahren würde | 500 Ducaten haben; So aber der Thäter
sich selber angeben thäte | ihme tausend Ducaten | und das
Loben geschenckt seyn solle | darumb daß man diese That
fiir eine Anstifftung von den Juden selber gehalten' (Theatr.
Europ. tom. VII fol. 146^ f. Frankfurt a. M. 1563; mit einiger
stilistischer Abänderung und Verdoppelung der 1000 Dukaten
bei Schudt, jüd. Merkwürdigkeiten II, 185).
Vergleicht man die in gesperrter Schrift wiedergegebenen
Stellen dieses Berichtes mit Z. 3 — 7 des Epitaphs unter Be-
rücksichtigung der Überschrift und des Datums, so muß jeder
Zweifel an der Identität schwinden. In verdienstvoller Weise
hat Kaufmann (Letzte Vertreibung S. 48 ff.) einiges Licht in
diese dunkle fUr die Judengemeinde folgenschwere Affaire hin-
eingetragen. Seine Annahme jedoch, das Epitaph Nr. 186 der
Prankl. Inschriften wäre das der Leonora, erweist sich als
Irrtum. Aber auch wenn die vorliegende Grabschrift sich
nicht erhalten hätte, könnte man doch schwerlich in jenem
28 IV. Abhandlang: Waehstein.
lakonischen Epitaph^ (gerade die lakonische Kürze scheint
Kaufmann einen Beweis abzugeben) das der ^fümehmen und
jedermann wohlbekandten Jüdin Leonora^ sehen ; abgesehen
von der Abwesenheit aller auf das Ereignis nur hindeutenden
Anspielungen.
Die Härten des Stiles erklären sich zur Genüge durch
den doppelten Zwang des Reimes und Metrums. So ist n:ip ^rw
(Z. 6) umzustellen; r^^^rT^ viersilbig!
Nr. 11.
Elieser b. PhObns Chalfan und Jfltl Chalfan.
Material : Ungarischer Marmor. Höhe 82 cm; Breite 79 cm; Dicke 15 cm;
Texthöhe 60cm; Zeilenlftnge 70 cm.
100V318,»319»
6. Juli 1670 nan r- i?d K"(b) 9. Juni 1670
mß n3<i3)nn nnna nn-^om
on» T'ro b»v n-nnöa itp*»«
ni ian nikin hti
Elieser Chalfan und seine Frau Jiitl mögen wohl die
letzten gewesen sein,, die vor der unmittelbar darauf erfolgten
Vertreibung der Juden aus Wien auf dem alten Rossauer Fried-
hofe ihre letzte Ruhe fanden. Elieser b. Uri Schraga Phöbus
Chalfan ist der Vater des Phöbus Chalfan, des Verfassers von
> Es Uatet Tollstlndi^: m
f\*it ."13 um
«Ttn» «a :xnb
t pn p a « S
(a nvs nm
B"? jOTt *n!Tä
haijri
VWrwa'iiBi'
Di<» njiti«ran(; dot Eret^isset 5. M&n 1651 bei KaafimaiiD, letzte
Vorir. $, 4S toUt die Ricliti|rkcit seiner Annahme voraos. Theatr. Earop.
Itibt den Tag nicht an.
* Stand de» Steine». * Nummer dieses Epitaphs bei FrankL
Wiener hebr&isehe Epitaphien. 29
nenn (Responsen und Rom. zu MaimonideS; gedruckt Berlin
1743), der in Prag, Bansdaa,* Ungarisch-Brod eine rabbinische
and literarische Wirksamkeit entfaltete (st. in Prag 1707. Gal.-
Ed. Nr. 87). Hiemach ist Kaufmann (I. c. S. 180 Anm.) zu
berichtigen, der in unserem Elieser einen Sohn des Verfassers
vom vx m vermutet. Kaufmann kennt zwar (ibidem) Elieser,
den Vater des Verfassers von VM nn, konnte ihn aber offen-
bar deshalb nicht identifizieren, weil er von seinem Sohn
rb» n mr*?« ^ genannt wird. Hätte Prankl (Nr. 318, 319)
dieses kleine Doppelepitaph ganz wiedergegeben, so würde
Kaufmann aus dem bxr hinter dem Namen ersehen haben,
daß es kein Sohn von dem 1707 verstorbenen Phöbus sein
kann. Der Name seines Schwiegervaters onaa, der sicherlich
den Rufnamen Manuele führte, würde ihn auf die Vermutung
gebracht haben, daß Elieser Chalfan nach seinem Schwieger-
vater Manneies genannt wurde.
Der Verfasser des vh m, selbst ein bedeutender Gelehrter,
kann sich seines Vaters nicht genug rühmen. Er nennt ihn
.■fö T«n rp^Kn nnöi m^MSi niTom noana j^biöh hKnü^ aan "DK ok
tm TITO "ronrinnran nrw low nwK bit nir^H.
Von seinem Sohn erfahren wir auch, daß er Vorsteher
der Wiener Gemeinde war. Er muß auch ein sehr wohl-
habender Mann gewesen sein, denn trotz aller Unglücksfalle,
die den Sohn ereilt haben (vgl. Vorrede zu VK nn) zehrt er
noch immer an dem ihm vom Vater hinterlassenen Vermögen.
Dieses bescheidene Denkmal läßt freilich nicht einen Mann
von dieser Bedeutung ahnen. Was hätte aber die Anführung
von nbnpn iTOOi onß für einen Sinn, in einer Zeit, wo die Ge-
meinde zu existieren aufhörte?
Sein zweiter Sohn Manuele, der in Frankfurt a. O. als
Vorsteher der Gemeinde ein gastliches Haus führte, war nicht
minder bekannt. Von den zeitgenössischen Literaten wird er
als Mäcen gerühmt. (Die Daten bei Dembitzer, Klilat Jofi II
138% dem Kaufmann S. 218 Anm. folgt.) Kaufmann sagt vor-
sichtig von Manuele Chalfan ,wohl der Bruder des berühmten
Uri Schraga Chalfan^; Aus Vorrede und Titelblatt zu vm ni ist
^ Fehlt in GrQnwalds Jangbanzlaner Rabbiner (SA. Aub dem jttdiichen
Zentralblatt).
30 IV. Abhandlung: Wachstein.
jedoch deutlich zu ersehen, daß der Bruder des Phöbus Man-
uele hieß und in Frankfurt a. 0. als Vorsteher der dortigen
Gemeinde lebte.
ban = nanab p^^ix nat. Vgl. Zunz, z. ö. u. L., S. 324. Auf
Wiener (und wohl auch auf andern) Inschriften meistens nur für
Gelehrte und besonders fVomme gebrauchte Eulogie.
Nr. 12^ (Tafel TU).
Josef b. Dawld Kobler.
Material: Kaiserstein. Höbe 110cm; Breite 74cm; Dicke 10cm; Text-
höhe 88cm; Zeilenläiige 56 cm.
135»
.V. 3B .;.;.
nbsKp »IDT» 'ino ^"i^^n
Yh^t ma'Höo bt m "na
"i3Ti3a ^nKTiai n nn t3*o
mna lab rhT vadt nrnsa^
nnp3 ninsb 5rnö "«nnb lapi
: naatan h aßn n»n ir 'n 'v lo
Z. 1. rra^n der Strafprediger kat ezochen. Vgl. Zunz, Oottes-
dienstliche Vorträge, Frankfurt 1892, S. 459.
Z. 2 — 3. nnö =» -ninö; h'i = nsiab ijinst. Der ,au8gezeichnete
große Sittenprediger' Josef Kobler, offenbar ein Wander-
prediger, dessen engere Heimat nicht bekannt war (ni3n&&
höchst unbestimmt), fand hier Dienstag abends 10. Tischri
482 = 30. September 1721 einen unerwarteten Tod.
Z. 6. "nicnai =» lanKnai; 'i3ii3a = m3iiDa.
Z. 7. vn = o«n; ripa « rmmpa. Abbreviaturzeichen sind nicht
sichtbar.
^ Fehlt in Frankls Inschriften. * Stand des Steines.
Wiener hebr&ische Epitaphien. 31
Z. 8. '-vnai = nvieai. Vgl. Ber. 61 ^ inotps nnrw iv nnna t^kö Tn
inia; Sanh. 68* inars 'r\T^ nin» ♦ • ♦ jnS nöK . ♦ ♦ ntj?''^« 'i rhrws
nnnen. Bei Frommen öfters gebrauchte Eaphemie, hier be-
sonders durch die begleitenden Umstände veranlaßt, iniar
'S! die Auffassung y daß das Verdienst der Qerechten
der Gesamtheit zugute kommt, ist alt (Gen. Kap. 18). Im
Talmud (Berach. 17^) wird wegen des einzigen Channina
eine ganze Welt erhalten. (Freilich haben anderseits die
Gerechten durch die Kleinheit der Zeit zu leiden ^m
^^b "»Tin ^ra pK • . ♦ .th). Glücklich ist aber der Kampf
gegen die Sünde erst dann vollendet , wenn das Leben
abgeschlossen ist (^niö avnj? ibxrn p^*^ ^^ ^^^^ ^^ 5)- ^g'-
die besonders charakteristische Auslegung von (Koh. 4, 2)
D-nan nK ^m< natn in Sabb. 30% ferner Chul. 7 * D^pnx ahm^
p^naö nnv inn^öD. Dazu kam der Opfer- und Sühngedanke
niftDö D^pnjt hv inn^a (Moed Kat. 28*) nnBSo K'"'p'»n3n innn^öi
irrr'>äinbr (Sohar zu Achre moth.) sehr plastisch in Sed.
Eliahu Sutta (ed. Friedman S. 173) o^p vnpun n'^yo |öt ba
o^an fiKb raiHDi aTawb nioipo toa ^Knr^b maa kvi nw naro
aramb möipa baa *?in«rb misa an Q^aan '•Töbni die dann zu
einer Vorstellung verschmolzen.^ Ab Euphemie erst in
der spätem Zeit (vgl. Zunz, z. Gesch. 340); rt-irbp |r iniaT
von jedem verstorbenen Chassidim-Zadik und hängt mit
der Stellung des Zadik in der chassidischen Lehre zu-
sammen.
Z. 9. »nnb-rrnnb; 'arnö=Ka»rTö.
^ Schon das Leiden der Zadikim kommt der Welt zn statten «^^ vrbia
man 163 vsm a^sr nb irrt \nw* »ar inVia irxob wahp ywxH nh "»an \mo*
B. Mezia 85^
32
IV. Abliandlaii(^: Waohctein.
1
s
1
Nr. 13.
Josef Hordecliai Gnmpl Emmerich und Dina Sara
Emmerich.
Material: Laaser Marmor. Höhe 128cm; Breite 94cm; Dicke 12cm;
Texthöhe 120 cm; Zeilenlftnge 85 cm.
197V397«
Plutn.T'n nrß jdk n^iiapnaatonT nun rfebintai warn inn nan nn rap nci
TnTD ^amnn r^pn^ h'w rvw ^tr '•aw na^i
*op3i naiaöi noino öv nae n*mnttn nnava riK^ac^ai
"ni nöw Dia*» nwK ora innnöb la-'bino "jaK*? ^Bn3 jwar nrnpa
pwnno VTJ mn ^a-'brn rnnb ^tp naw nacr*? la-nnvi mor di^
p£b nw cn'rn n i x& aw.nam naw
vif?ic imK np*? "3 laa-'K «lov 5''ö\n rouDoi o'^aiio na im nin -g
D-'^nn ra» tds ^a "iie ^nnraS» ptöi pin npri D^innb
labb ^bbn miwb «r "»annbi onrra j^ma now n-iw
ü''hh^^ mpOKn labi ebij? b»w ontoo o^or "»irr
^
^
nmn mm htm naiQi 4
-g f bsa pnß naw ra'TKi D''rr j3 nnnHßn mm msD miaa
D D-bib*m mn^w nai^ nr pap
3 YiniB anab npoi npö a^ip nnn
dSiio ba^n pir p "npB? ib
••aö ann rca naan annoba nn
Dibr npnat mrroi iiöbm o"
D^n*n n-'pian "T'p^ 'naa ninß a-S
D^bnao n-n n nninb paai jaa^i
nn"^]? ö^öina ^owSi
rinp leaa nriTr "rmm onp '^'rn
nmrnS^n nwK aio Dra^bianai
nöTip fiKTi pn K^i aio nn*?öia
nrv»a nnaa ^wa noan nnaan^
nnic ^a'^nnK^ a-'DOi aio ^-lap nönamanmacönK'?ö iiannr^o
ö^ip onnbi iTDcnb «nai ^loo nn''''an nanpo o^arbi naaba nc'^i
Von diesem Doppelepitaph hat Frankl (Nr. 397) bloß die
Aufschriften und das Datum mitgeteilt. Sowohl das Datum
als auch der Name der Frau sind jedoch falsch.
10
15
i^>
> Stand des Steines.
' Nummer des Epitaphs in Frankls Inschriften.
Wiener hebräische Epitaphien.
33
^rn Mb=D^3m wo nach Gen. 47, 9 wurde .Tn^Mö = Methodia
gelesenil Zum bessern Verständnis wird hinzugefügt mv nn,
welches besagen soll, daß ihr bürgerlicher Name Methodia dem
hebr. mvmn entspricht! Allerdings ist auf dem Grabstein selbst
*i anstatt n {^). Das Datum hat bereits Rapoport in Werth.
Jahrbuch (II, S. 317—318) auf Grund des korrupten Textes
zu ermitteln gesucht. So geistvoll seine Ergänzung ist, ist sie
doch nicht richtig. Das Jahresdatum nicn hv (Z. 6) = 507 =
1746 gilt fUr Vater und Tochter. Freilich erleidet das bekannte
nio nit9 nixb sie (Gen. Rabba Kap. 9) eine Änderung. Josef Morde-
chai Gumpel starb ^tk = 17. und wurde begraben t» = 18.
Marchesvan = 1. Noyember 1746. Seine Tochter starb 7. Ok-
tober im selben Jahr.
Über die weitverzweigte Familie Emerich-Gomperz vgl.
Kaufmann im Vorwort zu ,Aus Lion Gomperz nachgelassenen
Schriften^ Eine nachgelassene Monographie Kaufmanns über
die Familie Gomperz wird mit £k*gänzungen von Max Freuden-
thal fbr den Druck vorbereitet. Vgl. ferner Hock, Fam. Prags,
S. 244; Carmoly, njv ^aai D^a^irn S. 18 u. A.
Z. 1.
Z. 4.
Vgl. Jer. 6, 4 mit Ab-
sicht wegen des Zahlen-
wertes *iK = 17. S. oben.
Vgl. Deutr, 13, 4 und
Dan. 12, 7; ti 18 daran
D^^P = ewiges Leben.
Z. 11. V = DV.
Z. 13. Vgl. Ber. 8* ^arnw wpo
Z. 13—14. 131 ^h ^^mß Sabbat
119\
Z. 17—18. Vgl.Sabb.23^Dwn
♦ ♦ ♦ pan r» n^ iin pan
D'«bn3ö sicl
Z. 19—20. ^löo nnK Midr. Rabb.
Gen. Kap. 43 Schw. nnK ;
nHi3i -pt» Meg. 2^3'>; frei-
lich hier in der Bedeutung
,würdig' wie '•iki.
Z. 1 — 2 im Sinne von Abot.
4, 16.
Z. 19. Vgl.Sanh.37» pap^^ '»^'BH
pona mxo r^Sö law; Cant.
rabba zu innn nbfiD (Cant.
6,8).
Z. 20. nn^sn lonpo Taanit 23\
Die spezifisch weibliche
Tugend.
»itsmictbar. d. pkil.-kist. U. 166. Bd. 4. Abb
V. Abb.: Bicbter. Die Bedeutungsgescbicbte der Sippe bur(dj. 1
V.
Die Bedeutungsgeschichte der romanischen
Wortsippe hir(d).
Von
EUse Biohter.
(Mit einem Stammbaum.)
(Vorgelegt in der Sitzung am SS. Janiur 1907.)
§ 1* Schachardt spricht gelegentlich einmal von morastigen
Forschangsgebieten, auf denen man leicht ausgleite und ver-
sinke,^ und von der Aufgabe^ sie in gangbares Wiesenland zu
verwandeln. Auf ein solches Sumpfgebiet gerät man, wenn
man den Spuren der Wortsippe hur(d)- nachgeht, ja man
ist nicht selten in Qefahr, bis über die Knöchel im Schlamm
der Ungewißheit zu versinken; — daß man ohne alle Aben-
teuer das Ziel der Wanderung erreiche, ist von vornherein
nicht zu hoffen Dennoch erscheint der Gang verlockend und
so sei er gewagt.
Die Worte, die zu dieser Sippe gehören, bilden eine sehr
zahlreiche Familie — mehrere tausend Vertreter sind es jedesfalls
— von außerge>vöhnlich mannigfaltigen Bedeutungen, die der
vorangestellte Stammbaum darlegt. Ihre VerwandtscbaftsTerhält-
nisse sind nicht immer klar; in mehr als einem Falle erscheint
sogar ihre Zusammengehörigkeit, mindestens auf den ersten Blick,
zweifelhaft. Andererseits sind so verschlungene Beziehungen zwi-
schen ihnen, daß es oft schwer fällt, die Fäden zu entwirren.
Ihr Verbreitungsgebiet reicht von Griechenland über Al-
banien durch die ganze Romania nach England bis an die
Orkneyinseln und wohl auch nach Deutschland und Skandi-
^ Bomanische Etymologien II 209.
SiUnngslMr. d. phil.-hiit. Kl 166. Bd. 5. Abb.
2 V. Abhandlang : Richter.
Dayien. Ihre Tradition geht in die lateinische Zeit zarück,
aber sie ist nicht lateinischen Ursprungs; nach der Art ilirer
Ausdehnung zu schließen, muß sie jedoch früh und intensiv
dem Lateinischen assimiliert gewesen sein.
Verfolgt man die verschiedenen Bedeutungsläufe zurück^
so findet man, daß sie schließlich alle in der Bedeutung Bohr
ihren Anfang haben. Die Pflanzenbezeichnungen müssen
als Ausgangspunkt angesehen werden, und zwar stehen im
Vordergrunde die Ausdrücke für Schilfrohr (Wollgras), von
denen sich als die wichtigsten Gruppen die folgenden loslösen:
Aus der Bezeichnung des Schilfs mit Beachtung des
Fruchtbüschels die Ausdrücke für Stopfzeug, Wolle,
Floeke, Knospe etc. etc.
Aus der Bezeichnung des Schilfs mit Beachtung des
Rohrschaftes:
A. 1. Der Stoek mit allen seinen Derivaten.
2. Die BOhre, Ablaufrohr, Rinnsal.
B. Das tOnende Bohr als Musikinstrument, und von da die
verschiedensten Dinge, die tönen: Tiere, Werkzeuge etc. etc.
Aus der Bezeichnung des Schilfs als Ganzes Ausdrücke
für Garbe und Brennmaterial.
Aus und neben diesen entwickeln sich noch zahlreiche
Nebenbedeutungen, die sich z. T. untereinander beeinflussen,
z. T. mit Worten nahverwandter Stämme kreuzen, so daß die
Grenzen überall verlaufen.
Daß der Stamm bur(d) nicht lateinischen Ursprungs ist,
kann ab gesichert gelten. Denn es ist kaum denkbar, daß
ein so weit verbreitetes romanisches Wort in der klassisch-
lateinischen Literatur gar keine Spur aufzuweisen hätte, wenn
es schon altvolkslateinisch gewesen wäre. So z. B. zählt Plinius
neunundzwanzig Schilfarten auf und schildert ihre verschie-
denen Verwendungen in der Landwirtschaft und im Leben, die
romanisch durch ebenso viele Ausdrücke mit bur(d)' wieder-
gegeben werden. Aber Plinius kennt nur Arund o, Juncus und
die anderen bekannten Namen.
Der Stamm bur(d)- ist vermutlich keltischer Abkunft.
Hierfür sind folgende philologische Gründe anzuführen:
Die Art der Verbreitung: Am dichtesten gesät sind
die Worte in Norditalien, Südfrankreich ; immer noch sehr
Die Bedeutungsg^schichte der romanischen Wortsippe bur(d). 3
zahlreich in Mittelfrankreich, Spanien, Portugal; gerade die
anten anzuführenden Piianzenbezeichnangen sind in Irland and
Nordschottland heimisch. Hingegen ist die Sippe im Ramäni-
sehen nicht so stark vertreten; ins Qriechische und Albanesische
ist sie aus dem Romanischen eingewandert.
Im Keltischen haben wir den Stamm bar < idg. *br8
in der Bedeutung I. Nadel, Spitze, IL Büschel von Nadeln,
Schopf. Zu I. stellt Hoops (Waldbäume und Kulturpflanzen,
S. 362) die Bezeichnungen fUr verschiedene Getreidesorten;
Getreide und Schilf sind beides Gramineen und in vielen
Punkten ist ihr Habitus so ähnlich, daß ähnliche Bezeichnungen
im Volksmund durchaus begreiflich sind. Man vergleiche z. B.
unser Seegras, Wollgras u. a.^ (Die Bezeichnung ,8pitzig' paßt
ganz besonders auf einige Schilfarten, z. B. Juncus aquaticus,
J. maritimus.)
Als Tiefstufe zu bar rechnet Hoops auch das ae. byrst
horste, ahd. and. burat.
Im Englischen haben wir burr zur Bezeichnung der rauhen
Samen- (Frucht-)HUlle; dän. borre schwed. burre mengl. burre
ist die Klette nengl. bur der rauhe Kopf einer Pflanze, die
Schale der Kastanie bur-thistle Distel burdock spez. Klette,
im allgemeinen rauhe krautige Pflanze usw.
Die romanisch weitverbreitete Gruppe bor zum Ausdruck
von etwas Rundem, Aufgeblasenem (von da auch in geistiger
Bedeutung: aufgeblasen, hochmütig) wird zu gael. bor
Knospe, Schwellung corn. bor = pinguis hochl. schottisch
borras = projectura ir. borr stolz, groß (vgl. Stokes-Bezzen-
berger) zu stellen sein. Sie ist von der Vorstellung wollige
Knospe, Flocke gar nicht zu trennen und mindestens in engster
Beziehung mit der Gruppe bur.
Das Nebeneinander von Stämmen bar(d) und bur(d)
in gleicher Bedeutung wird sich in einer ganz erheb-
lichen Reihe von Bedeutungsgruppen nachweisen lassen, so, um
nur die zwei wichtigsten vorauszunehmen: Btbr(d)' summen,
dumpf tönen, bellen 6ar((i)-brummen, dumpf schreien, zanken.
Bur(d)' Stock, Gerte, Balken bar(d)' Stock, Gerte, Ast, Stange.
^ Henry (Lex. Etym. da Breton Mod.): bret. broenn jonc cymr. brwyn
atr. broth 6pi paraiflsent se rattacher k an radical qai signifie ,pointu'.
Cfr. broc*h.
!•
O V. AbliAndlung: Richter.
ein Tertiam comparationis haben, aber mit etwas Dampftönendem
nicht in unmittelbare Verbindung gebracht werden können.
Ferner könnte ,hur* als Schallnachahmung sich eben nur auf
das Dumpftönende beziehen, das Summende, Schwirrende. Wie
wir aber sehen werden, bezeichnet hur- auch hohe, schrille,
starke Töne, was bei der Herleitung aus Rohr sehr natürlich
ist: ist doch die hohe Pfeife aus Rohr wie die tiefe.
Mir scheint nun die Sache so zu liegen: Es ist auszu-
gehen von dem kelt. st. har = spitz, das zur Bezeichnung
von Gräsern und spitzigen Pflanzen verwendet wird. Das
Rauschen des Rohres, wenn es sich im Winde bewegt, der
Ton, den die Pflanze hören läßt, ehe sie in Menschenhand
übergeht, wird mit dem schallnachahmenden bur- benannt
und daher erhält die Pflanze neben der Bezeichnung bar- die
mit bur-. War aber bur- die Bezeichnung des Rohres, so ist
es fast selbstverständlich, daß diese Bezeichnung auf alle die
Instrumente überging, die es liefert ohne alle Bear-
beitung, sobald es nur abgeschnitten ist: das Stopfmaterial,
den Stock in seinen verschiedenen Verwendungen und die
Pfeifen, lange und kurze. Bekanntlich wird die hohe Pfeife
aus dem dünnen Rohr geschnitten, die tiefe aus dem dickeren.
Je länger (also je stärker) das Rohr, desto tiefer der Ton.
Die tieftönende Pfeife kommt aus dem selben Rohr, das
den kräftigen Stock liefert. Sie sind aus ein und dem-
selben Materiale.^ Aus dem Substantiv für Rohr wird in
jeder Bedeutung ein Verb gebildet: mit dem Stock fuchteln,
mit der Pfeife hantieren, d.h. sie anblasen, *burire (bur-
rire). Zu dem Verb in der zweiten Bedeutung tritt ein Adjektiv
*buridus = dumpfen Ton von sich gebend, das jedesfalls
burdus wurde, vgl. sard. burdu dumpftönend, und eine neuer-
liche Verbalbildung burdire sowie ein neues subst. burdns
in gleicher Bedeutung wie burire buru hervorrief. Wir finden
Bildungen mit -rd- parallel zu fast allen mit -r, sowohl bei
Verben als bei Substantiven und Adjektiven. Da aber buru
Pfeife und Stock bedeutete, wurde auch burdu auf beide
Objekte ausgedehnt; über die Bildung burdoonis ist weiter
^ Aaf eine Verteidigang meiner Anfstellangon und auf Polemik gegen
schon Torgebrachte Etymologien muß ich natürlich im großen Oansen
verzichten. £b wQrde sn weit führen und doch fruchtlos sein.
Die Bedeutiingsgescbichte der romanischen Wortsippe bur(d). •
nichts EU sagen. Also wie hurdua träge die Sahst, hurdus und
hurdo E^el entwickelt, so wurde die Reibe hurdus dumpftönend,
Suhst hurdus und hurdo das Dumpftönende (Rohr, Rohrstock)
gebildet. Daneben bleibt der hur- Stamm bestehen. Beide
Stämme bilden sowohl Feminina als Masculina.
E^ konnte nicht anders sein, als daß die &ur-Wörter
auf har- insofern wirkten ^ als von den parallelen Stämmen
gleiche Bildungen gemacht wurden. Daher die Verba des
Tönens vom st. har und die vielen anderen konkurrierenden
Formen y in denen auch hard neben har auftritt. Da einer
onomatopoetischen Bildung eine intensive Lebenskraft inne-
wohnt, ist es selbstverständlich, das sie immer wieder eingreift
und zu den Wörtern, die auf onomatopoetischem Wege nie
entstanden sein können und die doch in die Gesamtsippe
gehören, andere einfdgt, die ebensogut eine Neuschöpfung
vorstellen als eine Ableitung aus den schon vorhandenen
Sprachgebilden. Da die Sprache in jedem einzelnen Zeitpunkt
gleich lebendig und frei schaffend ist, wäre es ja auch eigentlich
nur zu verwundern, wenn es anders wäre. Wir haben neben
WörteiD, die aus der Urzeit stammen, solche, die in jedem
Augenblick neu gebildet werden, vgl. besonders die Schreck-
wörter S. 96 ff. Dennoch erscheint mir auch für einen großen
Teil der Schallwörter die Herleitung aus ,Rohr^ nicht nur
möglich, sondern wahrscheinlich.
Ich habe bei dieser Untersuchung nicht das Sammeln
unendlich vieler, lautlich-dialektisch verschiedener Bildungen
im Auge gehabt. Bei der unübersehbaren Menge vorhandener
Formen wäre doch der größte Teil unausgeschöpft geblieben.
Auch schien mir die lautgeschichtliche Beobachtung weit weniger
anziehend als die bedeutungsgeschichtliche. Eis kam mir in
erster Linie darauf an, die Entwicklung der Bedeutungs-
gruppen zu zeichnen und im Gegensatz zu der meistens ge-
übten Gepflogenheit, Gruppen abzugrenzen, gerade umgekehrt,
ihre Spur womöglich überall so weit zu verfolgen, bis
ihr Übergang in andere Sippen sichtbar wird. Ich
habe daher im folgenden die Formen hur- und hurd- nicht
prinzipiell getrennt, da sie nebeneinander ohne Unterschied
der Bedeutung auftreten. Wichtiger als diese Trennung wäre
übrigens die genaue Untersuchung des Stammvokales. Drei
i
8 y. Abhandlung: Richter.
Typen scheinen sich konstruieren zu lassen : bür, bürr und bür.
Bürr und bür stehen nicht vereinzelt da; sie reihen sich den
Paaren mucus-muccus ^ cupa-cuppa etc. an, deren Erklärung
Ahlberg (Studia de Acccntu Latino Lund 1905, S. 52 £F.) gegeben
hat. Die spätlateinische Neigung, die Quantitäts Verhältnisse
innerhalb einer Silbe dahin zu ändern, daß der Vokal gekürzt
und der Konsonant gedehnt wird, hat besonders auf französi-
schem Boden einige Wort Varietäten hervorgerufen und das
Nebeneinander von z. B. muctts und muccua (welch letzteres
zu muccidus neugebildet scheint, während mucuB ein mucidus
hervorruft) hat jedesfalls dazu beigetragen, daß ähnliche Pro-
portionsbildungen geschaffen wurden. Bei einer Sippe von
solcher Verbreitung und von so intensiven begrifflichen Kreu-
zungen wie die unsere ist noch besonders der Analogiewirkung
ein weiter Spielraum geöffnet. Zu allen Zeiten konnte die
stammbetonte Form den Vokal der stammunbetonten annehmen
und umgekehrt, die abgeleitete Form wirkt auf das Simplex
zarück usw. Der auffälligste Typus von allen scheint der mit
kurzem Vokal und kurzem Konsonanten bür, der, wenn er auf
die Urzeit der Sprache zurückginge, als ,Tief8tufenform' leicht
erklärt wäre. Da aber unsere Beobachtungen die Sippe als
eine verhältnismäßig junge erweisen, ist überhaupt ein dritter
Typus bür in noch lateinischer Zeit vielleicht nicht mehr zu
konstruieren, sondern die romanischen Wörter, die auf ihn
zurückzugehen scheinen, werden anders zu erklären sein. Be-
grifflich hängen sie so eng mit den beiden anderen Typen
zusammen, daß eine Ausscheidung ganz ausgeschlossen ist;
möglicherweise ist Analogiebildung nicht nur nach den Sippen-
wörtern selbst, sondern besonders nach ,bor^ Ejiospe anzu-
nehmen; die gleichbedeutenden Worte haben den geringen
lautlichen Unterschied abgestreift.
Was die Weiterbildungen der Stämme anbelangt, so
seien hier in aller Kürze die wichtigsten vorgezeichnet:
kelt. bar Bezeichnung für Ge
treide und Schilf
Daraus
barire | burire buridus > burdus]
I daraus neuer Stamm
bard burd
bur onomatopoetische Bezeich-
nung des Schilfs.
^bur-inare > *burnare \
bur + bon- vgl. S. 61,3/ ' ' "
Die Bedeutangsgeschichte der romauisvhen Wortsippe hur(d). 9
im Auslaut bart (bert) burt daher neue Ableitungen
„ „ „ mit ^StamIn
bar(bur) -tca teils zu bar'(bur-)ca „ c-Stamm
teils zu bar-(bur-)ga „ j-Stamm
n-Staram
*burinare > *burniar . . „ /1-Stamm
(bar)bur + dem. ulu i , ^
verbal: -ulare I "
bur(d)' ivus vgl. iuncivus „ if-Stamm
(bar) bur(d)' eus vgl. iunceus „ rj- (-dy).
Bei der Nube der Bedeutungen haben diese Stämme sieh
so beeinflußt, daß die Formen von der einen auf die andere
häufig überspringen. Da bar >> ber besonders im Vorton eine
häufige Erscheinung ist, sind auch ber(d)- Formen leicht erklärt.
§ 2. Ehe ich an die nähere Untersuchung der Sippe bur
herantrete, will ich vor allem feststellen, welche Wortgruppen
ich als nicht zugehörig ansehe.
I. Auszuscheiden ist vor allem burdus = Esel.
Vielleicht kann man folgende Etymologie gelten lassen:
dem lat. gurdus gr. ßgadug träge aus idg. guurdo (vgl. Brugmann
1454) entspricht oskisch *burdu8. Das Adjektiv ,schwer von
Begriffen, dumm, trag' wird übertragen auf das dumme Tier
x(rr*ifox^v und so substantiviert: burdus, Esel. Daneben ent-
wickelt sich die -o onis- Ableitung burdo, wie zu b ar du s dumm
bardo Dummian > Esel. Bardus dürfte, wie schon Festus
erklärte, einfach aus dem Griechischen genommen sein, da neben
ßoadvg ßagdiarog, ßagdvreQOg (Brugmann 1 463) vorhanden sind,
vgl dagegen Walde EW. Burdo ist früher belegt als burdusj
da es schon im Ed. Diocl. und in der Vulgata vorkommt, bur-
du8 hingegen erst in den Scholien zu Horaz, Carm. 3. 27. 7,
{ZU mannus).
I. Burdus wandert ins Mittelgriechische: ßöqdog und ein-
zelne romanische Dialekte; z. B. poitev. bourdin sp. bürde-
gano (Maulesel, bei Col.); Burdo ist fast in allen romanischen
Sprachen, im Albanesischen, im Englischen usw.
Bardus konkurriert. Im allgemeinen bleibt die Be-
deutung Maultier überwiegend: Aunis bardou gen. bardotto
10 V. AbbAndlung;: Richter.
piem. bardot Diese Wörter könnten allerdings auch anders
erklärt werden, nämlich als Ableitungen zu *barda Korbsattel
vgl. S. 21 u. 66 ptg. barda Korb sard. bertuhy wozu die lango-
bardischen bertolatae (AG XIV 390). Aber in der VendÄe
und a. a. O. bedeutet bardou = berdou Schöps, und da dieser
letztere mit keinerlei Sattel in Berührung kommt, ist wohl die
Ableitung aus bardua vorzuziehen. Arab. barda und seine
Derivate beziehen sich ausschließlich auf PferdeausrUstnng,
kommen daher nicht in Betracht.
Aus burdus Maultier entwickelt sich weiter:
2. A. Der Begriff ,Bastard' im allgemeinen: afz.prv.6ort
cat. bord sp. btyrde sard. burdu usw. ; speziell von Pflanzen :
3. wildwachsender Schößling: sard. burdumij bardi-
mini cat. bord sp. borde agallic. borda wilder Weinschößling.
4. B. Das vierbeinige Traggestell wird wie mit
anderen Tiernamen auch ,EseP genannt, it. asinello^ Bildungen
aus burdo sind siz. vurduni u.a.; mit Ableitungssuffix: berg.
bordunälf burdunal, Feuerbock, eiserner Rost; mit Einwirkung
von dt. brand die Varianten piem. brandh com. h'endenaa
mail. brandenaa piac. brindnal (Tir.).*
Hingegen gehören alle Ausdrücke, die Stock oder
einfaches Holz bedeuten, nicht hierher, sondern zur
Sippe bur(d). Die Bemühungen, Esel, Pilgerstab und Orgel-
pfeife in genealogische Beziehungen zu bringen, müssen als
erfolglos angesehen werden. Diez hätte zwar zur Stütze seiner
Aufstellung Esel >* Pilgerstab (siehe EW: bordone) die muH
Mariani heranziehen können, nach Festus bei Paulus gabeU
förmige Stöcke zum Tragen der sarcinae, die von Marius ein-
geführt und von den Soldaten scherzweise so benannt wurden
(Heraeus, Die römische Soldatensprache ALL XII 258). Wenn
man aber das Wortmaterial übersieht, zu dem bordone Pilger-
stab unzweifelhaft gehört und bordone Esel ganz und gar nicht
gehören kann, so wird man auf die ohnehin nicht überzeu-
gende Filiation ,Esel > Stock* verzichten.
n. 5. Nicht zur Sippe bur(d) gehört frurru« braun-
rot <; nvqqdq. Doch kommen viele Kreuzungen mit bur- Re-
* Vgl. all letzte hierüber erschienene Aaseinandersetsang die Meringers,
Idg. Forschangen XVI, S. 136 ff.
Die Bedeutungsgesciiichte der romauischen Wortsippe bur(d). 11
Präsentanten yor, auf die im Verlaufe der Untersuchung ein-
gegangen werden wird. Es ist daher geboten, die Hauptent-
wicklungszttge dieser Gruppe nachzuzeichnen.
6. BurruSy hirrus^ bedeutet feuer(gelb)rot; von da
aas rotbraun, braunrot, braun, dunkelfarbig (offenbar je nach-
dem das Feuer mehr oder weniger mit Rauch durchsetzt ist).
Dies sagen schon die Glossen : Goetz V 403, 56 borrum rubum,
404, 8 burrua rufus, 9 bunia bruum, 17 burima niger. Die Be-
deutung ,braun' hat z. B. cat. burell, burill, burey ptg. burel,
huro langu. bouret kaffeebraun; burel erdfarben, schwarz,
dunkel alemtej. (Rev. Lus. IV 240, Villa Vi9.) bruel, burel.
7. Hieraus entwickelt sich die Bedeutung schwarz,
dunkel machen im Sinne von beschmutzen, verschmieren:
ptg. borrar boräo Tintenklecks borrabotaa Stiefelputzer
lomb. sborfar (AG VIII 386) usw. Im afrz. bruete (God.: Et
nara lache ne bruetiej Eins sera clere et pure et nette) ^ in
iraue beschmutzt broue = boue ist st. brod- zu erkennen.
8. Von verklecksen zu verwischen, ausstreichen: sard.
hurrai cat. borrar) hiedurch weiter
9. entwerfen: sp. borrön cat. borrö Entwurf = Brouillon
sp. borrador Skizzenbuch = kladtboek (Col.) ptg. borradela
Farbenskizze.
10. Dunkle, speziell graubraune Tiere: prv. bouriölo
eine Schnepfenart (Mistr.) borin (Larousse) = passerinette
sp. burino Regenpfeifer ptg. borrelho Wasserhuhn (vgl. dazu
auch borragal, S. 24) frz. bourrel = Bussard em. burattel
kleiner Aal sard. burrida Haifisch (Porru). Der afrz. burety
houret ,poisson' (God.) durfte dem sp. sombra lat. umbra axiwv
-Tun.) entsprechen und hier unterzubringen sein.*
11. Dunkle menschliche Erscheinung: frz. le moine
bouris = Werwolf.
12. Das ,Graubraune' speziell ist die Asche: ptg. bor-
ralhoy vgl. auch S. 75, 2. Dann ist noch hierherzustellen aburg.
lurot = pinot gris, eine Traubensorte (Littrö).
' Cber den Ersatz von v durch 0, ü, i ygl. Ciaassen, Die griechischen
Lehnwörter im Französischen. Erlangen 1904, S. 92 ff.
* Vgl. Schnehardt, Z. XXV 347 brttdU Handshai, zu welsh braUh =
hreeh gefleckt.
IS
, AbhiiiHUutig? Ri «liier.
13, Bun^us wird zuerst spezialisiert auf das rotbraune
Maultier, vgl. Forcellinl burrickuSj huricus ^^ mannua et
burdo, vertritt also unseren ^Grauen', dann aber wird die Be-
zeichnung auf die verschiedensten anderen, gelben und rot-
braunen ; rcsp, rot(braun) ges^pretikelten Tiere übertragen:
14, Esel; it. burrico maiL borioch piem, borico vion*
burike verd,-chal. boiirri langu. bourröu morv, bourou
Fr.^ComtL^ böurru cat, sp, ptg. burro ptg, burrico.
15, Bindvieh; p^g.borreco Leithammel engh bur (Murray'
populär name yf the genus bidens; Valsoana harrl Stier Ao^ta
bure Ochs vgL Nigra AG XIV 357; frz. bouri'et (Larau&se)
Ochs und Kalb, speziell in Deux- Si^vrea rot-weiß gespren-
kelter Ochs; Kouergue bonrrino = unfruchtbare Kuh (A'
XV 114).
16, Weißes Pferd mit dunklen Flecken: it. hurdlä
piem. borico schlechtes Pferd,
17, Katze: it. burichio piem. borico,
18, Meersohweiueheo sp. burro marino.
19, Truthahn piem. birö rem* btrein etc, (vgh Nij
AG XV 278).
20, Intoramnese (Rev. Lue* VIII 56) ist bm^o todo o gi
nero de besta.
21, Da das Maultier das kleine zwergartige Tier ist im
Vergleiche zur unverfillachten Pferderasse — vgl die Glosse
Ooetz 11 180. 59 burichms raicrofius ^= ficxQötpvrig — wird die
Bezeichnung burrus dann auch auf allerhand relaÜT kleine^
nämlich auaus^^ewaehscttc Tiere verwendet; es gelangt Äur
Bedeutung j II ng, meistens: einjährige oder: das noch nicht
geworfen hat, das noch nicht verschnitten ist;
it. birracchio junges Rind, Kalb frz. bourret eiojUhriges
Rind ptg, borrega ei njil liriges Schaf hmgu. bourte einjähriges
Lamm^ Schaf oder Esel alemt. (Rev. Las. IV 59 Avis) iorre
junger, zur Zuclit bestimmter Bock |i:all. (ebd. VIII 5ü) borrön
(neben berrön) noch nicht verschnittenes Schwein in Alomt
auch borro alter, nicht verschnittener Bock ptg. borico Hammel
über ein Jahr berg. borel kleine Person (Üummeijahn).
Auch von anderen Tieren: ptg* borrefo Küchlein, Taube
ohne Federn borracho junge, noch nackte Taube, NostHnj
(vgl, S. 31, 13).
fl
Die Bedontangügeachichte dor romanischen Wortsippe bur(d). 13
22. Ans hurrUj wie ans hurdu entwickelt sich die Be-
dentang vierbeiniges Traggestell, frz. lourriquet Trage-
halken sp. ptg. burro berg. bm^el Säge^ Bock piem. bor-
richet Bock = asinello usw.
23. Man beachte^ wie ans zwei ganz verschiedenen
Bildungen die Stämme bur(r) und burd in gleicher Be-
deatang konkurrieren^ neben denen als dritte Form bard-
steht. Also im Spätlateinischen (frühmittelalterlichen Latein)
sind burdus bardus und burrus synonyme Tierbezeichnungen;
80 erklärt es sich^ daß wir neben burr- auch burd- und bard-
finden bei Tierbezeichnung nach der Farbe: nämlich
graubraun y z. B. ml. burdo Weibe (wozu nach Palliopi Val
Bardun zu stellen) frz. bourdon (Roll. II 338) das zweijährige
Männchen von perdix rubra. Es ist weder als Junges Tier'
S. 12, 21 noch als ^das schwirrende' par excellence S. 99 ein-
zoreiheDy sondern das Charakteristikum des ganz ausgewachsenen
Tieres sind die dunkel rostrotbraunen Schilder am Halse und
am Kopf. Gen. bardo = grixon = sordone (grauer Vogel;
j becassine sourde) gatto bardo = gesprenkelt^ getigert^ und das
Sprichwort da niutt t gatti son bardi ; aus *bardia kann kommen
frz. bärge, bärge ä queue noire (Roll. II 352) limosa melanura,
eine Schnepfenart; vielleicht bret. barged Milan, bargeden Wolke
Tor der Sonne, nach Henri ,comme un oiseau de proie qui plane'.
Zwischen bard- und burr- kann stehen barrulna (Wright.
Wttlker 357. 38) == ragufinc (11. Jahrb.) bariuliis = reagufinc
Goetz V 402 16 (Codex Cant.), dazu modern dial. barrel bird
(Meise) parus caudata. Doch können sie auch zu barr- Streifen
gestellt werden.
Daher ist die Qlosse bams burrus nvqqog (G II 28. 33)
barrum rufum (IV 30) nicht emendationsbedQrftig. Vgl. dagegen
Heraeus ALL VI 149.
Nun trifft man aber in manchen Gegenden, genauer in
Spanien, Portugal, Sudfrankreich, Norditalien, Rätien, Albanien
Formen mit 6er-, die sich mit bur- in der Bedeutung junges
Tier, noch nicht verschnittenes Tier decken, gelegentlich auch
die allgemeine Bedeutung Zuchttier haben:
Gall. berrön neben dem S. 12, 21 erwähnten borrön, noch
nicht verschnittenes Schwein sp. berraco, bur = ongesnedon
vercken (Col.) mess. (Rom. V) berion kleiner junger Stier,
14 V. Abhandlang: Richter.
Widder, Schwein; vion. bdru Wlier piem. bero frz. dial.
berou can. berro rom. berr Widder, Bock etc., vgl. Nigra
AG XIV 357; auch in den Alpenmundarten (Ettmayer) b^ro,
bera Widder.
Ber- bezeichnet die Schafsippe überhaupt: mail. berin,
berott Lamm Alpenma. (Ettm.) sbergna Pökelfleisch alb.
(Rossi) blrr pecora Wolltier, weibliches Schaf; auch dumm,
Tölpel wie in den Alpenma. bar. Nigra stellt AG XIV 357
Valt. bar barrin Widder, barro Ziegenbock zu verres. Die
Ableitung befriedigt nicht ftlr die Mundarten, in denen b nicht
zu V wird. Andererseits ist es, der Bedeutung wegen, schwer,
an die aus dem Keltischen abgeleiteten Worte fUr schneiden =
bert' (sowohl scheren als kastrieren) zu denken. Zu bar^ ber
tölplig wäre noch it. berto, britto zu stellen.
Der Bedeutungstibergang von rotbraun > zottig,
häßlich, struppig ist ganz abzulehnen. Das Maultier ist
nicht an sich zottig, sondern nur wenn es vernachlässigt ist,
und es ist nirgends nachzuweisen, daß die roten Maultiere be-
sonders häufig ungestriegelt vorkommen. Ebensowenig läßt sich
aufrecht erhalten, daß beim Menschen rothaarig und struppig
zusammenfiele, aber umgekehrt wissen wir, daß gerade die
stark rotblonde Haarfarbe, auf die die Bezeichnung burms
so recht passen würde, sehr geschätzt und eifrigst nachgeahmt
wurde,* so daß die Annahme von *burra ,Perücke* im ver-
ächtlichen Sinne durch nichts gestützt ist. Birrus = der
gelbe Mantel ist, da er aus Wolle oder Seide sein kann, mit
der gallischen ,horrida^ burra nicht auf eine Stufe zu stellen.
Bei birrus ist die gelbe Farbe zunächst das Hauptmerkmal;
dann heißt es wohl Mantel im allgemeinen. Der birrtis alhtu
(Greg. Tur. M. 7. 2. 5) der Täuflinge wird ebenfalls als Fest-
kleid, nicht als ,zottige8 Gewand' zu denken sein.
ßurrus =s zottig, wirr gehört zur Sippe bur
(S. 31, 14).
ni. Die aus hartem gekrümmten Holz, meist aus Hex
geschnittene bura btiris = Pflagsterz gehört nicht zur
Sippe bur(d) und vermengt sich auch nie mit &ur- Wörtern.
■ ninmnor, ALL VI S99tf. gibt in seiner Studie Ober die rote Farbe im
LntoiiuKclion keinerlei Belege fUr tturrm.
Die Beden tan gsgeschichte der romanischen Wortsippe hur(d). 15
§ S« Ich gehe nunmehr zur Untersuchung der Pflanzen-
Bamen über, die wie oben ausgeführt , die Grundlage der
ganzen Wortsippe bilden, vor allem also zu den Ausdrücken
fiir Schilfrohr.
1. Von allen Schilfarten kommt für unsere Untersuchung
in erster Linie das Saccharum Ravennas (Arundo donax)
in Betracht mit seinem 1—2 m hohen Schaft , dessen Durch-
messer am Fuß 2 — 3 cm beträgt, und seiner wolligen, glänzend-
weißen Fruchtrispe, die ihm die Bezeichnung Eryanthus ein-
getragen hat; dann die Scirpusart Eryophorum, das ,Woll-
gras' mit seinen Fruchtbüscheln, die ganz und gar wie weiße
Seidenquasten aussehen und als Stopfmaterial (und zwar als
schlechtes, vgl. S. 6 das Zitat aus Plinius XVI 36) verwendet
werden. Von anderen Schilfsorten sind besonders iuncus mari-
timus und iuncus aquosus zu beachten, die mit ihren Spitzen
und Stacheln ein undurchdringliches Gewirr und Gestrüpp bilden.
Ungemein verbreitet sind ferner die verschiedenen Car ex arten
(Riedgras), die als Brennmaterial dienen. An einschlägigen Be-
merkungen finde ich: auf den Shetlands- und Orkneyinseln burra
iancos squarosus (Riedgras) = rush or coarse grass (Wright),
Winternahrung für Schafe; prv. horo (bolo) Meerbinse, Riedgras,
dazu sauio-horo Grasmücke \^. fauveite des roseatue, langu. horo
(Sauv.) die Gesamtheit der zum Flechten verwendeten
Schilfarten: Riedgras, Cypergras u.a. Sauvage neuntes gleich-
bedeutend zu sagno,^ unter welchem Ausdruck in der Provence
das ,Gestrüpp' überhaupt verstanden wird, alles, was in den weit-
ausgedehnten Steppen am Meer wächst: Dorngesträuch, Salz-
pflanzen, Schilf, Binsen etc. Ferner bret. broenn cymr. brwyn.
Eine Bezeichnung für Schilf steckt wohl auch in der lat.-
ags. Glosse' lesta borda ( Wright- Wülker 30. 8, 8. Jahrb., gleich-
lautend 432. 26, 11. Jahrb.) ohne nähere Erklärung. Lesta ist
leicht in lesea = lisca zu bessern, vgl. carectus quod vulgo
^ ,Le8 feailles longaes et äffilöes propres k garnir les chaises,
tellei flont la laiche, le grand souchet et la maase d'eaa. II
faat rendre cependant le mot sagno par le terme vagae de Jone, plaute
diff^rente des precödentes, mais plus connae. On ne se pique pas
dans le langage ordinaire d*uiie pröcision si ezacte.'
* Bei Hoops, Ober die altengUschen Pflanzennamen 1889, findet sich keine
in unsere Sippe fallende Bezeichnung.
16 V.Abhandlung: Richter.
didtur liscGj unde huda fiunt (G V 564. 3) Aelfr. 135. 14 carex
vel . , . lisca. Da nun lisca = frf. laiche Riedgras (bei Körting
ist der Stern vor lisca zu tilgen) und btida noch jetzt in der
Bedeutung Schilf weit verbreitet sind (vgL Diez S. 360), fragt es
sich nur, ob wir an unserer Stelle ,Schilf oder ^Röhricht* zu
lesen haben (vgl. auch S. 24 ff).
Rum. burluiü Rohr ngr. ßovglo Binse mgr. (DC) ßovQ-
Xov luncus ßovQhvög iunceus (zu den daneben angegebenen
Formen ßovqdov ßqovdov fehlen Belege) ; mit Metathesis : ßQOvXa,
ßQOvkonvnsQog iuncus Cyperi, ßQOvX?u>y = siz. vruddu iancus
aquaticus (Meyer AG XII) venez. brula Binse alb. ßQOvXi^w
ich flechte Binsen (Meyer Ngr. St IV), vurlete aus Binsen zu
%>reV Binse. It. hrillo scheint unmittelbar hierher zu gehören,
wenn es auch ^Weidenart' bedeutet (vgl. unten S. 22, 4). Die
Zusammengehörigkeit wird ja nicht vom Standpunkt der
wissenschaftlichen Botanik aus betrachtet, sondern von der
Beobachtung 1. gemeinsamer äusserer Ähnlichkeit oder
2. gemeinsamer Verwendbarkeit im Handel und auch im
täglichen Leben, oder 3. gemeinsamen Habitus in bezug auf
Standort und Fortkommen. In diesem letzteren Sinne bilden
sie Familien, die ja auch dem Botaniker zu wichtigen Beobach-
tungen Veranlassung geben.^
Piem. horda festuca, bruscolo Alp. burda (-ou) fStu,
brin de paille (Nicollet).
Es ist kaum glaublich, daß diese Pflanzennamen nicht mit
der Bezeichnung ihres Produktes in Beziehung stehen sollten and
zwar so, daß der Name der Pflanze das Ursprüngliche ist. Ihre
Verwendung als Stopfmaterial ruft unmittelbar die Verwendung
des Wortes burra in dieser Bedeutung hervor. Hingegen sind
sekundäre Pflanzenbezeichnungen, von dem Ausdrucke burra
= Wolle erst abgeleitet: z. B. Aunis bourrSe Riedgras, Schilf
(Meyer und Litträ Suppl.) vgl. auch arbre ä bourre = areca
crinita (Littrö Suppl.), oder it. borraccina Baummoos.
2. Der buschige, wollige (zottige) Kopf, dann die rauhe
Oberfläche in weiterem Sinne gaben den Vergleichungspunkt
bei vielen anderen, tatsächlich vom Schilf sehr verschiedenen
Pflanzen. In erster Linie sei genannt irisch burroe Seegras,
* V^l. Pmul Gräbnor, Lehrbach der Okolog^ischen Pflamsen^oographie» 1902.
Die Bedeutiingsgeschiuhte der romanischen Wortsippe hur(d). 17
breitblättriger Tang (Laminaria digitata), der, wenn er, vom
Meere aasgeworfen, an der Luft trocknet, struppige Knäuel
bildet. Bekanntlich ist Seegras eines der verbreitetsten Stopf-
materialien für Polster und Möbel. Vollkommen einleuchtend
ist die Namensverwandtschaft beim Bocksbart (Tragopogon),
dem burihuctium des Gloss. lat.-germ. (Diefenbach), dessen
Fmchtb&schel dem des Eriophoron außerordentlich ähnlich ist.
Ebenso verständlich ist die Bezeichnung der Distel sowohl
bei Berücksichtigung des reifen, einer Seidenquaste gleichenden
Frachtbüschels als der spitzen Blätter und Stile. Auf die eng-
lisch-schottischen Vertreter ist schon hingewiesen (S. 3). Hierzu
noch friaul. abor^ shuor Distel.
Die Weberkarde Herba fuUonum wird in den Glossen
(Diefenb. 79) hv/ryt^ burich, borith, bovis benannt. Die Be-
zeichnung fällt mit einer anderen^ hebr. borith (Vulgata), zu-
sammen, das Du Gange und Forcellini irrtümlich mit Herba
saponaria = Seifenkraut wiedergeben, vgl. Jeremias 2, 22 Si
laveris tibi nitro et multiplicaveris tibi herbam borith, in Zwingiis
Übersetzung: ob du dich mit Lauge wüschest und dir des
Laugensalzes viel machtest. Borith ist also das Salzkraut, ptg.
harrela, barrilha span. bainlla bor de (salsola soda), eine
Pflanze, die durch ihren dem luncus maritimus ähnelnden
Habitus und gleichen Standort in die bur - Gruppe übergehen
konnte, während das Seifenkraut mit seinen weichen glatten
Blättern und weißlichen Kelchblumen gar keine AhnUchkeit
mit letzterer hat. Die Verwechslung konnte aber dadurch
leicht entstehen, daß beide Pflanzen Scheuerkraut abgeben.
Im spanischen borde steckt eher burd- als borith.
An buryt = Weberkarde schließt sich bor du 8 (Goetz
III 586, 10), als Erklärung zu scolembos. Goetz schlägt vor,
in scolembos ayuikvfiog^zTi sehen. Sehr befriedigend, da axökvfiogf
eine niedrig wachsende Distelart (vgl. Dioscorides Vindo-
bonensis), in unsere Reihe ganz gut paßt. Der über der Glosse
befindliche Zusatz yVel pinax^ bleibt allerdings unerklärt;
könnte man etwa zu tenax ändern und an eine Klette denken?
Burdunculusi bei Marc. Emp. ö, 17 herbam . . . quam
alii lingua bovis vocant, also Boretsch, Ochsenzunge;
Holder zählt es auf als ,Deminut. zu burdo^, ohne nähere Er-
klärung, warum er es für keltisch hält.
Sitaiiiiftb«r. d. phU.-hibt. Kl. 156. Bd., 5. Abb. 2
18 y. Abhandlang: Richter.
Borrago. Schon Diez machte auf den Einfloß von burra
= Wolle in der Bildung dieses Namens aufmerksam. Er tritt
erst spät auf; im Gloss. lat.-germ. Diefb.: boraga, boracho,
burith und ist in verschiedenen Formen im Komanischen er-
halten. Dem Typus boragine entsprechen it. borraggine im.
borazna ven. borazena^ baragano friaul. burazena prv.
bourrage ptg. boragem aber nicht sard. burraccia cat.
borrcLxa (-aja) sp. borraja frz. bourrache gruy. bouratse,
ferner friaul. burala. Es sind also drei Typen von Bildungen
festzuhalten: 1. Die Bildung borago] aus venez. bor<izena kann
sich (nach M.-L.) rum. boranfa (übers Neugriechische) entwickelt
haben. 2. Der d- (S-) Typus, der wohl durch Vermittlung der Ärzte
weitere Verbreitung fand; der älteste franz. Beleg (13. Jahrh.)
ist borracea bei Alebr. de Sienne ; für ihn paßt die Annahme, daß
arab. abou räch ihn beeinflußt, aus dem D.-H. borrago selbst
herleiten möchte. Die vielen Varianten des Suffixes im Franzö-
sischen sprechen dafür, daß wir es mit keinem autochthonen
Worte zu tun haben; nicht nur ihre Zahl beweist es, sondern
auch ihre Form: bour -ache -ouche -oche -oiche] dann noch
-ace und -age. Endlich 3. zeigt friaul. bv/rala eine bodenständige
Bildung aus burra] bei einer so gewöhnlichen Wiesenpflanze,
deren in die Augen stechendstes Merkmal die rauhe, wollige
Oberfläche ist, wird das nicht wundernehmen. Sard. burale
ist dieselbe Bezeichnung für eine etwas verschieden geartete
Pflanze (Stechblume), gallur. buredda <^ -illa gehört auch noch
unmittelbar in diese Gruppe (über die letzteren beiden vgl. noch
unten). Man könnte am Ende auf den Gedanken kommen,
borrago zu burrus zu stellen, da ja eine im Altertum geschätzte
Art, die Anchusa tiiictoria, zum Rotfärben verwendet wird (vgl.
u. a. Plinius 22. 20, 23, Lenz S. 534 ff.) ; es kommt mir aber
doch nicht wahrscheinlich vor, vor allem weil die rotfärbende
Wurzel nur einer bestimmten Art eignet, die Rauhhaarigkeit
aber allen; vgl. auch bei uns die Bezeichnung ,Rauhhaarige^ ;
dann aber färbt die Buglossa Anchusa krapprot (diente auch
zu Schminke), während unter burrua ganz konstant ein gelbes
oder braunes Rot zu verstehen ist.
Weiter sind noch zu nennen: rum. borangii (Cuscuta
europaea) Flachsseide türk. burangük (Sain.) sard. burale
gallur. buredda Strohblume, Bergpoley, Moltcnkraut (Rolla,
Die Bedeatungsgeschiuhte der romauischen Wortsippe bur(d). 19
Note di Dialettol. Et. 1896, S. 18) gen. (Gas.) hurcio (auch
^mfiia) GraSy Moos, das unter Wasser wächst und sich an
Felsen und SchiflFe anlegt; afrz. hurrion Hopfen engl, hur
weibliche Hopfenblilte. Der Hopfen hat rauhhaarigen bis
stacheligen Stiel und rauhe (männliche) Blüte.
Bret. hurluy hrulu Fingerhut mit seinen stark behaarten
Röhrenbluten und Blättern ; verschiedene Ausdrücke für Immer-
grün: Diese. Vind. ßdqog mgr. (DG) ßqdtiov span. hrusela.
Noch weiter entfernt sind dem Habitus nach sp. (Tolh.) burceta
Ackersalat, Lattich Aunis bourcette Rapünzchen sard. bur-
cera Kerbelkraut mail. bordocchin Leberkraut MA. nördlich
vom Lago Magg. bordom (-n) rapa DG ßögioy Nießwurz =
Helleborus, im Diosc. Vind. ikXsßogivr]. Endlich seien noch er-
wähnt: afrz. bourde bei Qodefroy, ,sorte d'herbe' aus dem
15. Jahrhundert und gallic. borda cierta planta, deren nähere
Kennzeichnung fehlt. Prv. bowrdoun = Kopf der kompositen
Blumen scheint mir eher sekundär vgl. S. 55, 44. Rum. bumianä
wird zu slaw. burjana gestellt. Es bedeutet vielerlei krautartige
Pflanzen, von denen b. forciacä (hypochoeris) Ferkelkraut mit
langem Stiel und wolligen Blüten, die wie Eriophorum aus-
sehen, besonders zu beachten ist. Durch den Standort mit
Binsen leicht zusammenzufassen ist Euphorbia, b. de frigurt,
de neget] an Juncus schließen sich im Habitus Koriander &.
puciösä Chenopodium b, de bubä rea an. Die weißen Blüten-
dolden des Ligusticum 6. de lungdre haben allenfalls ein wolliges
Aussehen, bei Thlaspi b. a viermelui, Potentilla u. a. ist nur der
allgemeine Begriff ,Kraut', ,Gras', ,Unkraut' da, der sich mit
dem slaw. burjana deckt. Zum mindesten verlaufen hier die
Grenzen.
Zu mail. bordocchin Leberkraut sei die Variante bei Qoetz
V 173. 9 zu dem häufigen Herba brittanica bemerkt: burritanici
flores qui in silva nascuntur = Brunnenkraut, Leberkraut.
Für bumeta Sprungwurt (W.-W. 557. 42, 15. Jahrb.),
bumete Pimpernell (Steinm. III 551. 28) finde ich keine An-
haltspunkte zur Vergleichung.
3. Pflanzennamen, in denen die Bedeutung Stock,
Gerte Ausgangspunkt der Anlehnung ist:
Agall. boi-tas (Pinol.) Arbutus uuedo, Erdbeerbaum, eine
Ericacaee prv. bourdigalo (-Iho) <. burdica (vgl. S. 60) + -alia
2*
20 V. Abhmndlang: Richter.
toa€fes d'herbes et de broussailles qui croissent aax bords des
eaux, auch hroundigalo bourdigaa hourtigaa broussailleS; bnisson
öpais bourdiero (-iei-) Salix purpurea frz. bourdaifie^ Thaon
burßn ßhamnus,* Prunus padus. Bei Rolland Flore Pop. IV 15 flF.
findet sich eine große Anzahl Varianten, von denen nur ge-
nannt seien: bourdo (Tarn et Gar.) bourdenne (Norm.) bour-
dounayro (Dord.) brou (H.-Sa6ne) bourgano (Tarn) bourgono
(Lozfere) bourdache (Vienne) bourjdne (Seine et Oise); afrz.
borzaine (Rom. I 422). Von prunus leitet Meyer (EW.) auch
ngr. äfiTtovQysXia üfiTtovQviXo Schwarzdorn, alb. muria ab. Einfloß
von bur- kann den Wandel von p > b bewirkt haben.
Hierher gehört wohl auch bourgain bei Godefr. ,8orte
d'arbre' : Hz peuvent prendre et coupper tout le mort boys qu'ilz
treuvent aval ladicte forest, c'est assavoir bourgain iance aaulx
genest. Wegen der Ableitung bour-g- vergleiche unten S. 48, I.
Nicht her gehört ptg. bordo als Bezeichnung ftlr Bienenbanm,
Zuckerahorn, Rot-, Wintereiche etc. vgl. bord S. 60. Piem.
bertoUna Seidelbast kann, was das -t anbelangt mit den S. 21
zu besprechenden Bildungen vom Stamme bard- verglichen
werden. Ferner sind heranzuziehen: sard. bertule S. 66, 18,
abr. burtine S. 51, 16 u. a. Wichtig ist die Bezeichnung des
Holunders, der schon im Altertume beliebtes Stockmaterial
lieferte, z. B. sabuceum baculum (Aurel. Victor. 10. 2) sabu-
cea furca (Pliniua XXIX 57), vgl. Theophrast (bei Lenz 500),
ferner baston peley de seut (Chron. du Mont S. Michel I 51)
n. v. a. Die leicht aushöhlbaren Aste wurden auch schon früh
zu Pfeifen und Flöten verwendet, so daß dieser so weit verbrei-
tete Baum in seiner Verwendung der des Rohres ungemein
nahe steht. In England finden wir dialektisch zahlreiche Belege
für bur tree ca. 1450 bore- botir- tree bortery schott. northumb.
borral u. a. (vgl. Wright). In Frankreich gibt die Entwicklung
des Wortes sabucu den mittelbaren Nachweis für die Existenz der
Bezeichnung buru, in der eigentümlichen Umgestaltung, die sa(m)'
bucu zu frz. seur, sureau plem. sambur (Ro. XXVI 562) erfuhr
und die bisher keine rechte Erklärung gefunden hat. Es kann eine
Vermischung beider Namen zu saburu stattgefunden haben.
^ Rhamnos = Wegdorn. Lotos, aus dem FlOten geschnitten werden, ist
eine Rhmmnosart.
Die Bedeutungsgeschichte der romanischen Wortsippe bur{d). 21
Bemerkt sei noch zu mbuimum^ dem nächsten Verwandten
des HolnnderSy die Qlossenvariante bei Qoetz IV 579^ 29 viburra
nlva minuta vel virgulta and seine genuesische Bezeichnung bor-
loneize. Das anscheinend gleiche frz. bourbonnaise Pechnelke
(Lychnis viscosa) gehört nicht her. Eher zu bord = Rand
(also sekundär gebildet vgl. S. 60) sind zu stellen : ptg. bordalo
Kresse mail. burza argine erbosa dei campi (Biond.) engl,
dialekt. bordy graas am Rande des Feldes wachsend, und die
Veränderungen, die Portulaca erfilhrt: langu. bourdoulaigue
(hert-) toul. bourdoulaigoa (Doujat) pourpier afrz. bourtoulage
(Qodefr.) alb. burdu^ak (vurd-) (Meyer EW) neben span.
verdolaga.
4. Von den Wortsippen, mit denen bur als Pflanzenbe-
Eeichnung zusammenstößt, ist vor allem bruc- zu nennen; das
Ericastrüppicht wächst vielfach auf schwammigem Boden^ steht
also im ökologischer Hinsicht der Binse nicht so fern. Es ist
nndurchdringliches stechendes Gestrüpp, daher mit spitzem
Schilf, mit dornigem Gezweige (prunus) zu vergleichen. Auch
sonst fehlt es an Vergleichungspunkten nicht: wie aus Schilf
werden aus Erica Besen, Bürsten, Bienenkörbe u. a. gemacht,
es wird metaphorisch von rauhen, finsteren Menschen gebraucht
(vgl. S. 33, 17)^ und dient als Brennmaterial. Von den ver-
schiedenen Kreuzungen und Verwechslungen soll bei letzterem
Thema eingehender gesprochen werden (S. 75).
Mit dem Stamm bar(d) sind mehrere Varianten zu ver-
zeichnen: kelt. barr Zweig; bardana Klette lebt in den meisten
romanischen Sprachen, aber nicht im Rumänischen ; prv. barda-
neto Tragus racemosus (Mistr.) ptg. barroa Dornen langu.
haragno prv. bartissado Dornenhecke prv. bartaa-blanc
Weißdom (aub^pine) bartas-negre prunelier langu. bartas
touffe de ronces ou d'äpines auch buisson äpais prv. bartas
boisson ^pais, broussailles. Die Bildung ist durchsichtig: bardu
> bart -\- 'OS, da es sich um schlechtes, dorniges Zeug handelt.*
Friaul. bar Busch span. bardonera$ angeschwemmte Inseln aus
Strüppicht und Sand cat. barda bardal Hecke, Gestrüpp span.
ptg. barde Hecke, Zaun, (abgebrochene) Gerte span. bardasca
^ Vgl. Schachardt zu brosc Z. IV 148, zu broz Z. VI 423.
' Vgl. Schachardt Z. IV 126.
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Die Beden tnngsgeschichte der romanischen Wortsippe hurfd). 23
natium (bei Holder) ; Bourdüre (Vienne), BoureleHe, Bourelüre
(Eure et Loire und Vienne), Borlüre (Bourrelere 1486), Bour-
lihre, Boi-ie, La Boure (Qegend in Meuse), Bouresse (Vienne 904
Boerecia), La Bourrisse (Tarn et Gar.), Boresae (Drome). Mit
engl. horaUtree (vgl. S. 20) wird zusammenzuhalten sein: Borely
Borelles (1413 ad Boroletum, Dröme), Boraire (Calvados), Bourel
(B.-Älpes) Bourre (Anhöhe, Dordogne) Büros (Basses-Alpes,
mit ftlnf keltischen Tumuli, vgl. Dict. Arch. de la Gaule). Span.
Burtina; Alp Bordala bei Rovereto Bordiana im Val di Sole.
Wälder: BoxMrdi (H.-Alpes) Bordexia (Meuse) Haut-
bourdin (Dip, du Nord); Anhöhen: Le Bourdy, Les Bourdy
(Niivre) Bourdonnas (Dröme) Bourdon (Calvados); bei letz-
terem wäre es formell möglich, daß der zweite Teil dunum =
HUgel enthält: Burodunum (vgl. Meyer-Lubke, Betonung im
Gallischen S. 26, z. B. Eburodunum > Yverdon S. 28, Mello-
dunum > Meudon S. 27). Je nach der Situation könnte
Bourdon auch Burdomagus wiedergeben (vgl. bei Meyer-
Lübke 40 : Argentomagus > Argenton, Blatomagus > Bleon).
Im Mailändischen ist überliefert Bardomagus (CIL V, 5872),
im Thesaurus zu hardus Sänger gestellt. Dies ist aber nicht
sehr überzeugend ; oder soll man an eine Sängerversammlung,
eine Eisteddfod, denken?!
Orte, die ohne Suffix nur mit dem Pflanzennamen be-
seichnet werden (vgl. La Bourdaine und Les Bourdaines [Ma-
yenne] Les Bourdaines [Calvados]; Calamu [Prov. di Catanzaro]
S. 20 Calamo S. 35 Ciperi S. 33 bei RoUa, Top. Calabr. 1895):
Lss Bourres (B.-Alpes) Les Bourdons (Marne et Nifevre) Bort
(Corrize) Les Bourdoux (Dordogne) Les Burdins, Burdis sur
Allex 1687 (Drdme). Bure bei Namur und im Bemer Jura, letz-
teres mit keltischen Altertümern (vgl. Dict. Arch. de la Gaule);
Bour bei Simmern (die mit -hurg zusammengesetzten Namen be-
halten stets -g). Selbstverständlich sind alle Namen auszu-
scheiden, die möglicherweise auf borde (bourde) Hütte oder auf
den Personennamen Burrus (Burus^ BurriuSy vgl. Skok 158)
zurückgehen können, wie Boury (Oise) oder Bourray (Sarthe),
▼gl. auch Buri-acus bei Holder, Bourbourg-Ville (D^p. du Nord)
bei St Omer, nach Klöpper < Broburgus usw.
6. Wenn die Rohr- (Weiden-, Holunder-) Pflanzung zur
Bezeichnung einer Örtlichkeit dient, so ist über diesen so
24 y. Abhandlung: Richter.
häufigen Vorgang nichts weiter zu sagen. Es gibt aber noch
eine andere eigentümliche Entwicklung, die durch die Natur
der Schilfpflanzen bedingt ist ; da sie im Wasser, am Ufersaam
wachsen, oft ganze Strecken zwischen dem eigentlichen (fahr-
baren) Wasser und dem (gangbaren) Lande bilden, so ent-
wickelt sich aus der Bezeichnung ,Röhricht' die Bedeutung
Sumpf, stehendes Wasser; das Schilf wächst (oder wird
gepflanzt, vgl. S. 5) am Ufer, in dem Terrain, das beim Steigen
der Flüsse vor allem gefährdet ist, im ,Uberschwemmungs-
gebiet'. Wir haben unter *buria das Röhricht in dieser
ausgedehnten Bedeutung zu verstehen. Die Bildung -ta {ftr
Kollektivpflanzung hat Thomas Ro. XXV 387 (roberia salicia,
grania fraxinia) nachgewiesen, übrigens würde in unserem
Falle eine ripa hurea auch genügen; bei Wegfall des Sub-
stantivs entwickelt sich burea wie montanea u. a. Schwieriger
ist es, die Parallelform bv/ra zu erklären^ die in gleicher Be-
deutung in mehreren Gegenden vorkommt.
Aus ,Röhricht' kommen folgende Bedeutungen:
Mit dem Übergangsbegriff ^Überschwemmungsgebiet', Ort,
wo das Wasser austritt, das ausgetretene Wasser selbst: Übor-
SChwemmnng, Austreten der Flüsse: piem. büra.
Erdwall zum Auffangen des Wassers: it. borro mlat.
(DC) borra cavus dumetis plenua ubi stagnat aqua und por-
tabant terram ad implendum borraniy also Grnbe; berg. böra
Zisterne, Wasserbehälter frz. bure puits profond dans une
mine (von Littre zu burir gestellt, vgl. unten S. 70) berg.
sböra afrz. bure, buire Schleuse des Grabens (God.) boire
(östl. buire) fosse faisant communiquer une chanteplcure avec
une riviire. Diese Bedeutung berührt sich mit der anderen
, Abzugskanal, Mühlengerinne^, worüber unten S. 69, 6.
Sumpf: ptg. borragal sp. burino Regenpfeifer (ein Sumpf-
vogel) ist hier einzureihen; Loire buiro großer Tümpel piem.
buria trübe Strömung, Schlamm, Roth. Aus diesem Zu-
sammenhang heraus kann man auch afrz. bouretier ver-
stehen, das Godefroy unerklärt läßt: metez vous tost au boure-
tier, Ailleurs querez autre moustier (Gautier de Coincy p. 218).
Es gehört zum langu. boureta (= bareta, goureta S. 95 A.)
Teig zu stark befeuchten, so daß er flüssig wird. Die Über-
tragung vom flüssigen Erdreich, ,Kot', auf den Teig ist
Die Bedentangflgeachichte der romanischen Wortsippe bur(d), 25
zwar derb, aber naheliegend. Da in der zitierten Stelle der
heftige Regen geschildert wird, vor dem die geistlichen Herren
ihren Reliqoienschrein schützen wollen, paßt die saftige Ant-
wort des ungastlichen Pfaffen sehr wohl: geht ihr nur weiter
in den Schmutz hinaus (= stampft im Kot). Die Varia
Lectio botoier ^zieht euch die Stiefel an' ist sehr burlesk, vor
allem paßt sie aber nicht in die Situation, denn die Wanderer
stehen ja auf der Straße und haben jedesfalls ihre Stiefel an.
VgL noch frz. bourrier ordure, das aber eher zu S. 37, 25 gehört.
Während bei mess. (Ro. V) brtM boue piem. broaccion
Schmutzfink u. ä. St. brod- vorliegt , geht saint. brouage prv.
broa etc. auf gall. brogae zurück; es verlaufen die Grenzen
mehrerer Wortsippen, wie ja auch die Bedeutungen Sumpf und
(feuchter) Weideplatz nahe beieinander liegen:^ welsh bwra
Weideland; ptg. bamburral sumpfiges Weideland gehört auch
her; von bambus kommt es nicht, da das Bambusrohr bambü(z)
das Bambusgehölz bambual heißt.
Varianten mit dem Stamme bar: ven. barena Sumpf afz.
bar (Du Möril) schmutziges Wasser; ptg. barro Lehm, Kot it.
ap. barro Ton, prv. bari (Levy) Lehm, Kot, bar, bard (Sauvage)
fange, limon, bardis (Mistr.) gächis fangas bardous boueux;
gen. bemUso (Gas.) fanghilia ,Schmutz von feinem Regen auf
dem Lande' (wie vend. bren bran) zeigt Vermischung mit dem
Stamm bren- Kot; piem. berla Kot von kleinen Tieren etc. kreuzt
sich mit perla (vgl. Nigra, AG XIV 294); hiedurch erklärt sich
dann das anlautende b- dieser Wörter. Ein anderer sfrz. Aus-
druck für Schmutz brae (Sauv.) ist wohl mit Baist Z. XXVIII
106 zu ndd. h'dk (Mischung von Salz- und Süßwasser, Deich-
bruch, auch Ausschuß) zu stellen. Das davon abgeleitete bra-
cana streifen geht wie die entsprechenden Bildungen mit bur-
har(d)' von der Vorstellung: dunkle Linien ziehen aus, zeigt
also die umgekehrte Entwicklung wie barrer barioler, die vom
Begriff des Balkens (Streifens) zu ,dunkel^ kommen, vgl. S. 11.
Diese mit bur gleichbedeutende Sippe bar ftlr Schmutz
stützt wieder die Verwendung von bar(d) in der Bedeutung
grau, dunkel.
^ Es ist nicht uninteressant zu sehen, daß auch das deutsche *marük
die gleiche Bedeutungsentwicklung durchgemacht hat: ags. m^rtc nutz-
barer Wasserboden, engl, marth Sumpf mndl. maertche Weideland.
24 y. Abhandlung: Richter.
häufigen Vorgang nichts weiter zu sagen. Es gibt aber noch
eine andere eigentümliche Entwicklung^ die durch die Natur
der Schilfpflanzen bedingt ist; da sie im Wasser^ am UferBaum
wachsen ; oft ganze Strecken zwischen dem eigentlichen (fahr-
baren) Wasser und dem (gangbaren) Lande bilden , so ent-
wickelt sich aus der Bezeichnung ,Röhricht' die Bedeutung
Sumpf; stehendes Wasser; das Schilf wächst (oder wird
gepflanzt; vgl. S. 5) am Ufer, in dem Terrain, das beim Steigen
der Flüsse vor allem gefährdet ist; im yÜberschwemmungs-
gebiet^ Wir haben unter *buria das Röhricht in dieser
ausgedehnten Bedeutung zu verstehen. Die Bildung -Xa für
Kollektivpflanzung hat Thomas Ro. XXV 387 (roheria salicia,
grania fraxinid) nachgewiesen. Übrigens würde in unserem
Falle eine ripa burea auch genügen; bei Wegfall des Sub-
stantivs entwickelt sich burea wie montanea u. a. Schwieriger
ist eS; die Parallelform btira zu erklären^ die in gleicher Be-
deutung in mehreren Gegenden vorkommt.
Aus ;Röhricht' kommen folgende Bedeutungen:
Mit dem Übergangsbegriflf ^Überschwemmungsgebiet', Ort,
wo das Wasser austritt; das ausgetretene Wasser selbst: Übcr-
sehwemmung; Austreten der Flüsse: piem. büra.
Erdwall zum Auffangen des Wassers : it. borro mlat.
(DC) borra cavus dumetis planus ubi stagnat aqua und por-
tabant terram ad implendum borraniy also Grube; berg. böra
Zisterne, Wasserbehälter frz. bure puits profond dans une
mine (von Littrd zu burir gestellt; vgl. unten S. 70) berg.
sböra afrz. bure, buire Sehleuse des Grabens (God.) boire
(östl. buire) fosse faisant communiquer une chanteplcure avec
une riviöre. Diese Bedeutung berührt sich mit der anderen
; Abzugskanal; Mühlengerinne^; worüber unten S. 69, 6.
Sumpf: ptg. borragal sp. burino Regenpfeifer (ein Sumpf-
vogel) ist hier einzureihen; Loire buiro großer Tümpel piem.
buria trübe Strömung, Schlamm, Koth. Aus diesem Zu-
sammenhang heraus kann man auch afrz. bouretier ver-
stehen, das Godefroy unerklärt läßt: metez vous tost au baure-
tier^ Ailleurs querez autre moustier (Gautier de Coincy p. 218).
Es gehört zum langu. boureta (= bareta, goureta S. 95 A.)
Teig zu stark befeuchten, so daß er flüssig wird. Die Über-
tragung vom flüssigen Erdreich, ,Kot% auf den Teig ist
Die Bedentangsgeschichte der romanischen Wortsippe bur(d), 25
z-war derb, aber naheliegend. Da in der zitierten Stelle der
heftige Regen geschildert wird, vor dem die geistlichen Herren
ihren Reliquienschrein schützen wollen, paßt die saftige Ant-
wort des ungastlichen Pfaffen sehr wohl: geht ihr nur weiter
in den Schmatz hinaas (= stampfk im Kot). Die Varia
Lcctio botoier ,zieht euch die Stiefel an' ist sehr burlesk, vor
allem paßt sie aber nicht in die Situation, denn die Wanderer
stehen ja auf der Straße und haben jedesfalls ihre Stiefel an.
Vgl noch frz. bourrier ordure, das aber eher zu S. 37, 25 gehört.
Während bei mess. (Ro. V) brua boue piem. broaccion
Schmutzfink u. ä. St. brod- vorliegt , geht Saint, brouage prv.
broa etc. auf gall. brogae zur (ick; es verlaufen die Grenzen
mehrerer Wortsippen, wie ja auch die Bedeutungen Sumpf und
(feuchter) Weideplatz nahe beieinander liegen:^ welsh bwra
Weideland; ptg. bamburral sumpfiges Weideland gehört auch
her; von bambus kommt es nicht, da das Bambusrohr bambü(z)
das Bambusgehölz bambiLal heißt.
Varianten mit dem Stamme bar: ven. barena Sumpf afz.
bar (Du M^ril) schmutziges Wasser; ptg. barro Lehm, Eot it.
sp. barro Ton, prv. bart (Levy) Lehm, Kot, bar, bard (Sauvage)
fange, limon, bardia (Mistr.) gächis fangas bardotu boueux;
gen. bemisao (Cas.) fanghilia ,Schmutz von feinem Regen auf
dem Lande' (wie vend. bren bran) zeigt Vermischung mit dem
Stamm bren- Eot; piem. berla Kot von kleinen Tieren etc. kreuzt
sich mit perla (vgl. Nigra, AG XIV 294); hiedurch erklärt sich
dann das anlautende b- dieser Wörter. Ein anderer sfrz. Aus-
druck fdr Schmatz brac (Sauv.) ist wohl mit Baist Z. XXVIII
106 zu ndd. h*dk (Mischung von Salz- und Süßwasser, Deich-
bruch, auch Ausschuß) zu stellen. Das davon abgeleitete bra-
cana streifen geht wie die entsprechenden Bildungen mit bur-
bar(dy von der Vorstellung: dunkle Linien ziehen aus, zeigt
also die umgekehrte Entwicklung wie barrer barioler, die vom
Begriff des Balkens (Streifens) zu ,dunkel' kommen, vgl. S. 11.
Diese mit bur gleichbedeutende Sippe bar für Schmutz
stützt wieder die Verwendung von bar(d) in der Bedeutung
grau, dunkel.
^ Es ist nicht aninteressant zu sehen, daß auch das deutsche ^mariak
die gleiche Bedeutungsentwicklnng durchgemacht hat: ags. m^rsc nutz-
barer Waaserboden, engl, marsh Sumpf mndl. maeraehe Weideland.
26 V. Abhandhine: : Richter.
Allgemeine Bedeutung Ufer: cat. bora welsh btür em-
bankment; entrenchment und bwrch Wall^ embankment; von da
übertragen Band, ^Saum^ des Kleides: cat. bora.
Diese Bedeutung ;Ufer' wird dann wieder spezialisiert zu
;Ort wo gewaschen wird^ (Man erinnere sich der in all
diesen Ländern herrschenden Sitte, im fließenden Wasser zn
waschen.) Spätlat. buria, bura (DC) Waschplatz; die eben-
falls bei DC zitierten : 6 buri cum 28 caricatis und ad bttriam
7 [caricati], (vgl. Baist, Ro. Forschgn. XIX S. 634) können die
Bedeutung ^Wäscherei^ nicht haben, wegen der großen Zahl der
dabei Bediensteten. Dies hieße doch wohl vom Reinlichkeits-
bedUrfnis der mittelalterlichen Mönche allzuübertriebene Vor-
stellungen hegen. Sie dürften die Bedeutung ,Meierei' gehabt
haben, vgl. S. 64, 13. Afz. bure buanderie, buresM lessiveuse stellt
wieder Zusammenfall zweier Sippen dar, denn bureaae < bueresse
(vgl. Thomas M6\. 136 — 137, salbiArosse < seile biLeresce) geht
auf bucare zurück, aber bure kann aus keinem Stadium von
bucare hergeleitet werden. Nun scheinen beide unzertrennlich.
Vom Stamme bar: berg. barigno luogo dove h acqaa
corsia nel quäl vanno le donne a lavare il bucato ; aret. baregno
lavatojo sen. baregno Bad. Nach Caix (Studij 70) sind diese
Formen zu balineum zu stellen; die Einmischung unseres
Stammes erklärt den Wandel von l > r.
Hierher gehört wohl auch: descendit ad aquam de Re-
munes et ad illa baur de Munes (Cart. Roussillon, ca. 900, vgl.
Baist, Rom. Forschgn. XIX. 634), wo baur in bura zu ändern
sein wird.
Erste Haiiptgnippe: Die Rohrpflanze.
A. Das Fruchtbüschel.
§ 4« I. Wir kommen nun zu der ersten Hauptgruppe der
Ableitungen, die von der Pflanzenbezeichnung als Natur-
produkt ausgehen, und zwar zu den Ausdrücken, die auf
das Fruchtbüschel des Schilfs zurückzuführen sind. Wir
halten uns gegenwärtig, daß es eine glänzendweiße, oft gelb-
lich weiße Quaste ist, bald weich, glatt und fein, bald mehr
Die Bedeotangsgcschichte der romanischen Wortsippe hur(d). 27
wollig, struppig nnd borstig. Es wird als Stopfinaterlal ver-
wendet (ygl. S. 5 und 15 £P.) und naturgemäß dient eine and die-
selbe Bezeichnung für Pflanze und Rohmaterial: hurra Stopf-
material ^ ist ein so verbreitetes Wort, daß es nicht nötig ist,
Belege dafür zu bringen. Fa entwickelt zahllose Ableitungen,
wie frz. hourrer^ baurrelier, hourrelet, verd.-chal. bourot kleines
Kissen, sp. hurujtmj reburujon BUndel fest geschnürter Wolle,
Eopfkranz zum Tragen der Last, it. burello, siz.-alb. before
(Heyer EW.) Saumsattel it. burattino die aasgestopfte Puppe,
Marionette berg. boracinella <; böra(bora)tin -}- pulcinella
langu. bourreleU Wulst aus Stoff oder Leinen, um die Röcke
zu halten etc. etc.
2. Es ist das Gestopfte, also der Wulst und dann auch
in übertragener Bedeutung wie span. burulete Helmwulst im
Wappen burel Knebel verd.-chal. borlot = frz. bourrelet de
la parte ^ auch die rundliche Schwellung, z. B. der Rand
einer Wunde (vgl. S. 42), Wulst am Baum; bret. bouras (bour-
lasj baurlais) Cartilago (Henri) < frz. bourras ,en tant que
bourre enserr^ dans les interstices des os'; eine ähnliche Vor-
stellung liegt dem it. non aver borra, sborrato zugrunde : ,ohne
Mark^ prägnant: schlapp sein, wie ein ,ausgelaufene8' Kissen,
ein Kissen ohne Füllung.
Spezialisierungen: z. B. piem. bori = frz. bourrer die
FeuerbQchse laden (stopfen) etc. etc.
3. Eine andere Art der Begriffsübertragung ist die von
Vollstopfen im Sinne von vollpackcn und von da auf die
Gegenstände, die vollgepackt werden sollen : Beisesack, Reise-
tasche und bald spezialisiert: Futtersack u. dgl.; sard. (u. a.
spr.) burraccxa Reisesack prv. bournal Futtersack könnte auch
S. 70 untergebracht werden.
4. Von der Tasche für Mundvorrat kommt man zur Beise-
flasche: , Reisezehr ung' im allgemeinen; dabei ist zu bemerken,
daß die Reiseflasche meist mit Stroh(Binsen) umflochten ist oder
aus einem haarigen Schlauche bestand,' so daß mehrere Vor-
' Eine gute ParAllole zu diesen BegriffsUbergängen sehen wir in it. eapi-
Urne (Großkopf >) Seidenflocke, grobe Flockseide > daraus gefertigter
Gegenstand: Stoff, Polster etc.; vgl. Bemitt, Lat. Capnt nnd Capnm,
Kiel 1906, S. 6t.
* Vgl. filr die ganze Gruppe unser Felleisen.
28 y . Abhandlung : R i c h t e r.
stellangsreiben zasammenfallen , langn. bourraquin sorte de
flaccon n. v. a. it. borraccia u. ä. in anderen Sprachen mit
Stroh umflochtene Reiseflasche. Das rum. burduf mag hier
erwähnt werden; es bedeutet eigentlich die ganze Haut eines
Tieres^ in die etwas gekillt wird, meistens Wein. Ist sie nun
voll, so gibt sie eine ungefilhre Vorstellung des Tieres, von
dem sie genommen. Übertragen: SatteltaschC; also wieder mit
Essen angestopfles Behältnis.
5. Eine andere Übertragung ist ptg. bumeira (sc uva)
saftige Traube, aus der Vorstellung ,voll*.
6. Wie man in den Sack stopft, so stopft man (,][)ackt
ein') auch in den Magen. Daher die weitverbreitete Über-
tragung auf Ylel essen, fressen: frz. bourrer, Meuse s'bourrer
fressen; in Saintonge ist bourraa (Boucherie, RLR HI 68,
Ro I 393) Wolf, aus Vielfraß.
7. Von da auf Tlel trinken it. abborraeciarsi fressen,
saufen piem. borl tränken (das Vieh) broacü viel trinken
it. borraccion sp. borracho etc. Trunkenbold acat. borratxo be-
trunken. Von dem ist nur ein Schritt zum verkommenen Kerl,
Hungerleider: piem. boracio, so daß also der Vielfraß und
der Hungerleider als Endpunkte der zwei Reihen einander
gegenüberliegen.
H. Alle anderen Ableitungen aus ,PflanzenbüscheP ergeben
sich aus der Inbetrachtziehung des Materials.
8. Die einzelne Schilffrucht sieht einer WoU- (Seiden-)
Flocke ähnlich und daher erfolgt die Namensübertragung auf
letztere; um so mehr, als ja auch Wolle, besonders der Woll-
abfall, zum Stopfen verwendet wird: ptg. borra de seda Flock-
seide de lä Flockwolle cat. borra u. ä. i. a. Spr., Stopf-*
Scherwolle toul. bourih bourgeons de laine et de soie,
langu. (Sauv.) bourilious wollig,* lyon. borliou poit. bourglans
^ Zu adj. berrü berrUja (Aosta) ,init Wolle Tersehen' bemerkt Nigra AG
XIV 357, es wäre der Übergang Ton Sabstantiy zu Adjektiv zu kon-
statieren; in Val Soana haben wir ja aach bertia das Schaf. Vom mor-
phologischen Standpunkte ist dies wohl nicht mOglich. Berrü repräsentiert
doch offenbar *bemUns und wenn be?^ die Bezeichnung ftir Schaf etc.
ist, so bedeutete dann berrutua ,mit Schafen rersehen*. Die Entwicklung
ist aber vielleicht so su denken: neben burru = Bezeiebnung für ver-
Die Bedeutungsgeschichte der romanischen Wortsippe bur(d). 29
(= r) Wollflocke, die sich vor dem Scheren ablöst (Horning,
Z. XXVII 143) mess. (Ro V) burach bouchon de laine, gen.
hura Haar zum Stopfen.
Weiter ist cat. borraltö de llana Vlies; 9. Tiere mit viel
Wolle werden daher benannt: Yieune bourrailloux bourayoux
langhaariger Maulesel span. burdo burdalla Schaf ptg. bor-
daleiro Hammel mit krauser Wolle. Hier ist auch an Ver-
mischung mit dem burdStRmm zu denken (vgl. oben S. 10 ff.)
10. Von der Wolle (dem Rohmaterial) wird das Erzeugte
benannt, daher zahlreiche Ableitungen zur Bezeichnung von
Stoff und in abermaliger Übertragung :
11. Das aus dem Stoffe Gefertigte, die verschiedensten Klei-
dangsstficke. Da ist vor allem burra der Mantel zu nennen.
Im Thes. : burrus i. q. lana (? sunt qui vestimentum censeant quod
si verum conferendum esse videtur cum birrus birricus). Bir-
rica vestis ex lana caprarum valde delicata (Qoetz V 347, 41) a
birrus aut a burra derivatum esse videtur. Birrum grossior
cappa (ebd. 271, 52). Byrro Gallico wird im Thes. als brevis
(zu ir. berr) gedeutet, die Schreibung byrrus als Verwechslung
mit burrus rot. Aber die Stelle Santonico cucullo de byrro
Gallico des Schol. zu luv., auf die die Erklärung sich bezieht,
scheint doch nicht zuzulassen, daß man in byrrus ein Gewand-
stück sieht, sondern vielmehr einen Stoff. Bei DC findet sich
noch: Birrus (Papias) vestis, amphiballus villosus.
Da wir in der ältesten Belegstelle (Anth. Lat. Nr. 385) von
der horrida burra hören, die zur nobilis purpura in Gegensatz
gestellt ist^ so handelt es sich offenbar um einen groben Loden-
mantel ähnlich der Filzkapuze, dem bardocucullus , bardaicus
cucullus, der mit dem bardaicus calceus aus Filz oder Flaus
gefertigte Kleidungsstücke vorstellt (vgl. Georges). Wir können
dabei an die grobwollige Fußbekleidung der Albanesen denken,
um so mehr als vielleicht unter bardaicus illyrisch zu verstehen
schiedene Tiere steht herr. Von burra Wolle kann sich zu burru ein
hurrutug ,mit Wolle yersehen' bilden und dieses ein berrutut henrorrnfen.
Also j burru = berr
▼ burrutus -► berruttu.
Dieses burrutus liegt uns wohl vor in fra. tout bourru ,gan« jung* von
Tieren, da doch junge Tiere meist stark wolligen Pela haben; vgl. auch
Flaum S. 31, 13.
30 y . Abhandlung : Richter.
ist. Die burra scheint ähnlich wie der cucullus gewesen zu
sein: ein Überwurf mit rundem Loch^ um den Kopf durch-
zustecken, vgl. oben ^amphiballus^ Die im Kopenhagener
Nationalmuseum befindlichen Eleiderfunde aus E^chensftrgen
des Bronzealters geben eine vollkommene Vorstellung der Bar-
barentracht. Sie sind aus schwarzbrauner Wolle gewebt, dick
und grob, und zwar ist nicht nur der Mantel aus einem (ovalen)
Stück geschnitten, sondern auch das Untergewand, das mit
Riemen über den Schultern befestigt wurde, bis an die Knie
reichte und mit einem Gürtel zusammengehalten war. Die an-
gestellten Untersuchungen ergaben, daß die Wolle von braunen
und schwarzen Schafen herrührte; ein FrauengtLrtel allein zeig^
spuren von Färbung. Ein Mantel und eine Mütze haben an
der Außenseite ein krimmerartiges Aussehen, so daß sie an
Tierfelle erinnern.^ Der Mantel hing lose um die Schultern.
Eine Kapuze hatte er nicht. Wenn diese Gewandstücke nun
auch tief in die vorchristliche Zeit (4. Jahrh. v. Chr.) zurück-
datiert werden, sehen sie dennoch so ,modern' aus (besonders
die Frauentracht hat sich bis auf den heutigen Tag nicht
wesentlich verändert), daß man wohl nicht allzu weit fehlt,
wenn man diese Tracht mit der in Frage kommenden zu-
sammenhält.
Die burra hat zahlreiche Nachfahren; in den meisten
romanischen Sprachen ist, wie offenbar im Spätlateinischen,
Material und Kleidungsstück gleich benannt worden, z. B.: afrz.
burel (burey bourde, brouelle) Stoff, Rock (der Frau), Jacke
(des Mannes), Schürze etc. langu. burel grober Stoff aus der
Wolle von schwarzen Schafen, worin sich Rauchfangkehrer und
Geistliche kleiden. Fürs Französische ergibt sich aus der bure
== Kutte die Bezeichnung buron Mönch = der Kuttenträger
(^M.-L.) alb. broütsoe schwarzflockiger Mantel ohne Ärmel. Ptg.
vestir burel , cobrir-se de burü Trauer tragen. Es ist daher
Einwirkung von bur- dunkelfarbig möglich. Ptg. bura WoU-
zeug burata Schleier langu. burato Wollstoff etc. etc. Es
wäre ganz überflüssig, die zahllosen Varianten zu sammeln.
* Der Führer durch die Dänische Sammlung, Nationalmuseum, Kopen-
hagen, gibt eine deutsche Obersetzung der in der nnyergleichlichen
Sammlung angebrachten Etiketten.
Die Bedeaiungsgeschichte dor romanischen Wortsippe bur(d). 31
Von den ebenfalls häufigen weiteren Ableitungen sei nur an frz.
burtau erinnert.
Eis ist nicht zu verwundern, daß mit der Zeit nicht nur
grobe, sondern auch feine Gewebe mit dem Namen bezeichnet
wurden und Kreuzungen mit dem schon oben erwähnten hirrua
(S. 14) stattfanden. Eine solche Kreuzung stellt das prv. her-
ruio = vareuse (kurze wollene Matrosenbluse) vor.
Mit Stamm har ist z. B. piem. haraval'y ptg. barramaqvs
(Const.) altes Gewebe fUr bischöfliche Festgewänder u. ä. in
anderen Sprachen : baracan (bouracan) sind wohl auf arabischen
Einfluß zurückzuführen.
12. Unmittelbar an die Seidenquaste des Schilfs knüpft
die Bezeichnung sp. ptg. borla seidene Quaste, Puff, Knopf
und daher mit Quaste versehene Mütze; sp. borlilla borilla
barita auch schlechtweg borla — pars pro toto. Ptg. ist borla
speziell der Doktorhut und schließlich die Doktorwürde:
aquecer a borla.
III. 13. Im allgemeinen ist die Schilf- (WoU-, Seiden-)
Flocke weich, flaumig, daher wird der Flaum danach be-
nannt: cat. borrUaol Flaum von Vögeln, flaumige Schale an
Früchten frz. bourre Flaum auf Blumen it. bordone Flaum
(Bart, erste Federn) vgl. ptg. borrefo junge Taube (S. 12, 21),
frz. bowru S. 28 Anm. Ferner cat. borräs Werg.
IV. 14. Mitunter aber ist sie zerrauft, struppig. Hier ist
uns reburrus (bei Aug.) überliefert: hispidus i. e. multum
pilosus (Isid.). Reburrium die hohe Stirn und von daher der
Bedeutungsübergang zu calvus, den wir auch in den Glossen
lesen; 6. II 591. 23 rebulua recalvus renudatus: Reburrus heißt
ävdaiXlog^ mit aus der Stirn gekämmtem Haar, also nach rück-
wärts gesträubt (re!), wodurch die Stirn hoch erscheint und
der Eindruck der Kahlheit hervorgerufen wird. Burg, rebor =
rebours, widerhaarig, borstig (Littr^). Reboura leitet D.H. von
*rebur8us ab, aber ich konnte von dieser Nebenform gar keine
Spur finden; ä reboura ist wohl Devcrbale von rebourser =
rebrousaer; da auch dt. Borate (Bürate) in Betracht kommt, so
treffen hier zwei Stämme zusammen.
^ G. II 169. 22 reburrus ava^aXavio; , III 180. 27 ava9aXa(, III 13. 55 ovi-
Opt^, III 330. 48 ava^aXaxpo^ etc.
32 V. Abhandlung: Richter.
Frz. ebouriffd und das ausgestorbene Verb ebourrifer
prv. esbourrifa (adj.). Die Entwicklung des Wortes hat man
sich wohl so zu denken^ daß von *burrivus ein *burrif ge-
bildet wurde und von diesem das Verb [es]*bourrifar. Ganz
dieselbe Entwicklung werden wir S. 78 u. a. O. finden vom
Stamm burd-: *burdivu8 (bourdifai und bourdifaille). Das
französische Wort ist nicht vor dem 17. Jahrhundert, und zwar
aus dem Provenzalischen übernommen (vgl. D.-H.), frkit. borfolu
(Macaire 1275; Mussafia bemerkt dazu ^wohl zerrauft', ohne
die Herkunft bestimmen zu können) scheint hierher zu gehören.
Es steht in -u Assonanz: veu, venu, vertu etc. Die Endung ent-
spricht also : -utus. Vielleicht ist eine Einmischung von fol-
anzunehmen: zerzaust wie ein Narr aussehend, um so mehr
als die Stelle im ganzen so lautet: La teste oit grosey le gavi
borfolu ] Si Stranges hon no fo unches veu. Vgl. unten den
BegriffsUbergang von zerrauft zu absonderlich.
Welsh byrfwch rauh, haarig; cat. esborronarse Haare zu
Berge stehen (= sich zerraufen >> sträuben) it. venire i bor-
doni kann hierher gehören. Vgl. dazu S. 31, 13 bordoni j
Flaumfedern, also die Federn sträuben aus Angst. Frz. bour- »
don (La Curne) der Bärtige, und vielleicht daher: der Greis, ;
vgl. auch S. 105 ; rät. burius struppig, finster (Gröber ALL I) ;
sard. borrosu knotig, also zerrauft vom Garn, com. baruf
Büschel Haar.
15. Unmittelbar auf die dornige Pflanze gehen zurück
ptg. barros Stoppeln im Gesicht (< Dornen); afrz. borde Grete
(zu afrz. fieauce bourde = b&ton d'äpines) z. B. an der Scholle,
der Seezunge. Über die Kreuzung mit bord Rand vgl. unten
S. 60. Hierzu einige Namen von Fisehen, die ebenfalls
stachlige Randgreten haben: gall. (Pinol) buraz Zahnbrasse,
engl. dial. borrbut (Wright) engl, burfish Igelfisch (Muret);
cat. borrugat {= sp. sombra) ist zweifelhaft, es kann die dunkle
Farbe ausdrücken (vgl. S. 11, 10). Frz. bars (Sachs) bar
(Roll. Faune pop. III 182) = dt. Barsch. Barsch ist mit dem
keltischen barr- urverwandt und so könnten die frz. bar und
barsy jenes aufs Keltische, dieses aufs Germanische zurückgehen.
Da aber (nach Meyer- Lübkes Argumentierung) in Italien der
Barsch ptsce persico heißt und auch sonst der Beweis nicht
erbracht ist, daß die Fischbezeichnung im Keltischen bestanden
Die Bedeatniigsgeflchiohte der romanischen Wortsippe burfd). 33
habe, ist die Ableitung beider Formen aus der deutschen vor-
zuziehen und bar als lediglich graphische Variante zu erklären.
16. Starrend von Gestrüpp oder Felszacken ist auch
der burrone steiler Abhang; it. burato, borro imol. borr.
Vom Stamm bar: das afrz. bars (God.) quartier de roc kann
direkt auf das kelt. barr spitzig zurückgehen. Daß it. burrone
sp. buron nicht regelmäßig aus ßd^qoq herzuleiten sind, braucht
nicht bewiesen zu werden. In Anbetracht dessen aber, daß
sie ySchlucht Graben' bedeuten, ist Einwirkung von rauschen
(S. 110) andererseits Sumpf (S. 24) möglich.
17. Von struppig in der äußeren Erscheinung kommt
man zur Anschauung des finsteren, betrflbten, zornigen;
des Menschen, der innerlich aus dem Gleichgewichte ist. So
ist piem. boru = frz. bourru finster, widerhaarig im moralischen
Sinne, brummig, wie it. burbero. Das Voc. Cr. stellt burbero zu
rdmrrua. Wegen der Reduplikation, die es enthält, glaube ich,
daß es eher tonmalenden Wörtern zuzuzählen ist, es ist der
Brummbär, der Finstere, und stellt den Zusammenfall zweier Vor-
stellongsreihen dar, vgl. S. 112. Vielleicht aber könnte hier der
I Burriius homo crudelissimns der Glossen (G IV 595. 9) unter-
\ gebracht werden. Piem. avei il torlo borlo schlechter Laune
I sein, aver ii tarlo contro alcuno, und Ausdrücke für schelten,
^ tadeln: trasm. (Rev. Lus. I 205) borregada repreensao publica
sfrz. bourdouira tadeln toul. bourdesc = brusque bourasaier
de ton peu dälicat frz. lächer sa bordde einen Hagel von Schimpf-
reden loslassen engl. dial. io border schimpfen, schelten, eine
rohe Sprache verführen. Weitere Ausdrücke für schelten,
brummen gehören in einen anderen Zusammenhang (S. 105 ff.).
18. Der finstere, scheltende, der 3arbero^ gilt auch als
{Sonderling und so haben wir die Bedeutung phantastisch
sowohl im inneren als im äußeren Wesen: frz. bourru ab-
sonderlich, phantastisch; auch ^iourri^i^ hat diese Bedeutung ;
toul. bovo'deBc = fantasque, wozu bordado caprice. Mit Stamm
bari piem. (Ponza) iartW extravagant, brummig baravantan
zerzaust, strappig (vgl. 6arave{ Werg) barock phantastisch, fremd-
artig. Das Wort ist wichtig wegen der Rolle, die es in der
Kunst- und Stilgeschichte spielt. Die bisher angenommene Ab-
leitung von ptg. barocco schiefrunde Perle führt — abgesehen
von ihrer Unzulänglichkeit — nicht auf den Grund, da hier dann
SitaUfvWr. d. pUL-Uat. Kl. 156. Bd. 5. Abb. 3
34 V. Abhandlung: Richter.
nar eine Spezialisierang des allgemeinen Begriffs ^absonderlich,
eigenartig* vorläge. Zunächst wird wohl barocco eine weitere
Verbreitung gefunden haben durch das Wortspiel raggionare in
baroccOy denn diese Schlußfigur verdankt ihren üblen Ruf doch
sicher nur der Homonymie mit unserem Dialektwort, die zu
einem artigen Witz Veranlassung gab: in der Formel des ,ab-
sonderlich' folgern. Daher kam das Wort, das im VC nicht
vor dem 16. Jahrhundert belegt ist, in die Schriftsprache und bot
sich zur Bezeichnung der am Ende desselben Jahrhunderts auf-
kommenden fremdartigen y absonderlich verschnörkelten, origi-
nalitäthaschenden Kunstrichtung.
Baruf der Übellaunige, der ,humorista* kann natariieh
von baruffare etc. nicht getrennt werden, vgl. unten S. 105.
19. Bei Sachen verbindet sich die Vorstellung des Strap-
pigen, Zerrauften unmittelbar mit der verbalen: zerraufen.
In Verwirrung bringen, daher untereinanderwerfen und
diese wird alsbald auch in abstraktes Gebiet ttbertragen; von
einem Typus ^buruliare ist auszugehen fbr sp. reburujar, em-
burujar (Baist Z. V 239) ngr. iiTtovqXLÜ^u} (Meyer, Ngr. IV <
imbrogliare), das zwar, wie (jltc beweist, eine späte Entlehnung,
aber dennoch beweiskräftig ist; ßovQkil^w (Petraris) närrisch,
verrückt machen (vgl. S. 38, 30) prv. bourU = brouill^. Frz.
brouiller selbst kann man aus ^buruliare herleiten in Anbe-
tracht dessen, daß der Nexus rlj unfranzösisch ist, daher der
Bildung bourlier ausgewichen wurde. Kb gelang mir nicht,
eine ganz analoge Entwicklung zu finden.^ Der älteste frs.
Beleg: par bruilaz et par barate aus dem 13. Jahrhundert
(D.-H. unter brouillard) spricht mit seinem u eher ftLr als
gegen die Ableitung aus bur-. It. imbrogliare ist aus dem
Französischen entlehnt.* Neben frz. brouillon Wirrkopf, auch un-
ruhiger Mensch, Störenfried, steht afrz. brouleur, broulleur^ das
auf ^burulare zurückzugehen scheint und nach God. die Neben-
bedeutung ,Hexenmei8ter' hat; die Beispiele machen dies aber
* Ortsnamen wie Oriy <Z Äureliacu sprechen nicht dagegen, da sie nicht
moni liiertes l aalweisen, vgl. Z. XXVII 704. Pontariier ist nicht mehr
zentralfranzösisch.
' Nach DC (Griech.) wären brouiüer, imbrogliare u. &. zu ßpo'jX^iot (Schilf)
za stellen, nach dem Bilde des wirr stehenden Schilfs, besonders wenn
der Wind darüber hingeht ßpouXX(a|ia capillamentnm.
Die Bedeatungflgeschichta der romaniiehen Wortsippe burfdj. 35
Dicht klar: ung brouleur, ung seducteur, Et par telz fais le
peuple affolle (Greban) und Et lux mit on aus qWil estoit
brotUleur et seditieux (Chron. des D. d. Bourg.). ^Unruhstifter,
der dunkle, verworrene Geschäfte treibt' genügt in beiden Fällen;
spao. hruja cat. hrvaca (Lehnwort ans dem Spanischen) Hexe
gehen auf denselben Typus zurück und auf die gleiche Be-
deutung. Ptg. barulhar enxburilhar embrulhar^ dazu barulho
Unordnung u. a.
20. Verwirrung im übertragenen Sinne ist natur-
gemäß identisch mit Zank. Frz. ee brouiller sich verfeinden.
So haben wir ptg. esborralhada berg. borada acat. borrasca
Zank; afrz. boroflement (-rr-) prv. bourradis Streit; sard.
burrumbitglia burrumbafa bedeutet Verwirrung, Streit und
IJU*m, der ja beim Zank unvermeidlich ist.
Parallelen mit Stamm bar: ptg. baralhar streiten,
mischen, barulhar streiten, in Verwirrung bringen, auch mit
Lärm; ven. barahuffa Streit mehrerer Personen, barafusa
(Einmischung von confuso) Wirrwarr, Auflauf u. a. Es emp-
fiehlt sich aber, alle diese Worte, die von baruffare nicht zu
trennen sind, bei diesem letzteren einzureihen S. 105.
21. Eine vereinzelte Entwicklung hat prv. bourdifalo Un-
ordnung zu Yerschwendung ; also die Ursache ist nach der
Folgeerscheinung benannt worden.
22. Die Vorstellung des Zerrauften haftet nicht nur ur-
sprünglich dem Schilf büschel an, sondern auch der ,Flock'-
Seide oder -Wolle, dem nicht bearbeiteten, respektive nicht
mehr hearheltharen Best. So kommt burra auch zur Spe-
zialbedeutung Hefe, Bodensatz, Abfall, Kehricht, Schmutz,
in welch letzteren Verwendungen es mit den unter burrus =
dunkel angeftihrten Bedeutungen zusammentrifft, so daß diese
Worte im Sprachgebrauch durch zwei Anschauungen gestützt
sind, die meist oder immer verbunden auftreten.
Rest: langu. burato bourato Abfallseide cat. bora viva
das Salband der Leinwand afrz. brouaille residu du vannage
de bl^ berg. bore6 leere Hülse des Maiskolbens ptg. borra^
buruso cat. burujo Rest, Abfall, Hefe, frz. brou Öltrester
(Const.) span. burujo Öl-, Weintrester (Col.), Rückstand von
Oliven, Patzen, Klumpen von etwas (Baist), nach Schuchardt
Z. XXESl 560 aus garujo < carulium + borra] prv. bourdifalo,
3»
36 V. Abhandlungr: Richter.
bourdinage mati^re en Suspension dans un liquide, boure, hört
u. ä. Sediment de Thuile nouveile ptg. borrento hefig, voll Boden-
satz esborrar abschäumen, abschöpfen, Chamb^ry (Gauchat)*
boraUi abschäumen boraU Schaum frz. bourre Bodensatz
(Gerberei) ven. borida Rest, Abfall, far borida Reste auf-
klauben prv. courre bourrido = battre la campagne (Koschw.)
alb. bordok schlechter gröbster Rest^ Hefe, überflüssiges Zeug.
Daher auch Ausschuß aller Art: sard. burza rimasugli prv. bour-
difaio, bourdinage, bourdaio Lumpen, grödn. (Vian) abourdend
lappig, zerrissen, burdorj Hadern, Lumpen waadtl. (Gauchat)
burddfalo Kaidaunen, Eingeweide, FleischabfkUe, in grotesker
Übertragung: Bauch; geringschätzig von einer nichtsnutzigen
Person = Kanaille; mit Wandel von rd (rt) > st boustifaille
toul. (Doujat) berdufaillos it. biracchio flandr. (Verm.) berliere
Fetzen, altes Stück Stoff. Vielleicht gehört hierher auch ngr.
mburduktö (Meyer, EW.) ich flicke (vgl. oben alb. bordok) und
berg. vi berloc Wein aus verfaulten Trauben piem. berlich
[Ponza] wenig, z. B. in der Redensart di da mangi a berlich
jemand knapp halten, also vom Rest, vom Überbleibsel, spär-
lich, armselig, vgl. auch S. 97.
Vom Stamm bar ist Aunis barrasaerie Ausschuß, das
vielleicht unmittelbar an *barra8 Dornenstrttppicht anzuschließen
ist; vgl. lang, baragno ptg. barros Dornen (S. 21). Es ist also
auf dieselbe Grundlage zurückzuführen wie embarras und d^-
barraSf den Deverbalia zu embarrasser = mit Dornen um-
zäumen, den Zugang erschweren, Hindernisse bereiten etc. Da
man in solche Dornenhecken auch Kehricht, Schutt u. ä. ab-
zulagern pflegt, ist der Übergang zu der Bedeutung: Abfall-
stätte, Abfall, Ausschuß möglich.
23. Barasaerie bedeutet auch Kleinigkeiten, wie denn
natürlicherweise die Bedeutung Ausschuß zu ,wertlo8es Zeug'
führt. So afrz. bourre (LittrÄ) vgl. auch S. 38, 27 ; ptg. burun-
dangas flandr. berdelaches (Verm.) Kleinigkeiten toul. bourraou
grob, das wenig Wert hat.
24. Vom Abfall über Abfallhaufen kommt man zu Abfall-
behälter: sp. burro Schnitzelkasten des Buchbinders; in ver-
^ Herr Professor Gauchat hat mir freundlichst eine Reihe westschweiseri-
scher Wörter angegeben, die im folgenden darch (Gauchat) gekenn>
seichnet sind und für deren Mitteilung ich hier nochmals danke.
Die Bedeutangsgeschichte der romanischen Wortsippe hur(d). 37
allgemeinerter Bedeutung : ptg. hurra Truhe, coffire fort (Const.).
Einen ähnlichen Bedeutungsübergang weist Huberts, Beiträge
Eor Geschichte der französischen Wörter lat.-pleb. Herkunft
(Kieler Dissertation 1905, S. 35) nach für coffre fori aus co-
phinus Korb aus Qerten (Mistkorb).
25. Von yAbfall' kommen wir endlich zur Bedeutung
Kehrt cht, Schmutz; it. borra piem. bora prv. bourdiho fötu
balayure bourdigau immondices frz. bourrier ordure, fätu Aunis
bour Abfall, Schmutz, Kehricht bourier Misthaufen bret.
hurtugeny bretugen tas de furnier (nach Henry zu putris) berg.
bordigä beschmutzen friaul. sbrodegä, sbrudiä (AG I 253) Val
Anz. imbrodolare (ebd. 259») MA nördl. v. Lago Mag. (AG
IX 204) brodi sporco. Abgesehen vom St. brod, auf welchen
die letztgenannten Beispiele zurückweisen, haben wir hier auch
Kreuzung mit brutus in Betracht zu ziehen.
Brutus = ,schwer' von Dingen, übertragen schwer von
Begriffen, dumm, viehisch schon im Lateinischen. Brutus ==
burtus stultus (Diefenb.) z. B. enneberg. bürt ampezza burto
(AG I 380). Brutus erhält im Italienischen die Bedeutungen
schmutzig, dunkelfarbig, traurig (stare, rimanere brutto),
düster. Daher muß die Glosse G IV 489. 33 bv/rtus rufus et niger
(Var. Lect. burrtiu) nicht unbedingt emendationsbedürftig sein.
It. bruttore Schmutz, Kehricht brutto häßlich, gemein, roh,
rom. brott häßlich, dunkel, betrübt, verstört. Vom Stamm Hrutio:
it bruzzaglia = marmaglia, Pöbel, widerliche Verwirrung, Wirr-
warr (D'Ovidios Ableitung aus frz. broussaille [AG XIII 403]
erscheint mir ganz unannehmbar), bruzzo, bruzzolo, bruzzico
Zwielicht, Dämmerung span. bruzno dunkel, dunkelbraun =
* brutto + bruno, MA nördl. v. Lago Mag. (AG IX 204) broz
schmutzig, mit Einwirkung von brodo, wie der Vokal beweist.
Ahd. fruz = Esel (Graff, 8. — 9. Jahrb.) ist nach Maßgabe der
Lautverschiebung aus burdo -f- brutus entstanden. Span, burdo
grob stellt Cornu (Ro. VII 595) ebenfalls zu brutus.
26. Die Vorstellung grob, schmutzig, verwirrt, haftet nicht
nur dem Abfall an, sondern auch demjenigen, das erst in
Arbeit genommen werden soll, dem noch nicht Geklärten,
noeh nieht Fertigen; daher afz. vin bourru noch nicht ge-
klärter süßer Wein, also junger Wein, Most gall. borreiro
roh gepreßtes Wachs bret. bourr (Henrj) schlecht gekocht.
38 y. Abbandlang: Riebt er.
IV. 27. Von der flockigen Schilffrucht, von den Trago-
pognmarten, deren federiger Frachtball sich. vom Stamme los-
löst und in der Luft fliegt, kommt man leicht dazu, auch die
Schneeflocken mit hurra zu bezeichnen : toal. bourrils de neu
neben bourrils de laine] ebenso cat. borrallb de neu] alb. 6wfe
Schnee. Nichts was leichter, wertloser ist und rascher im
Winde verweht. Daher der Bedeutungsübergang zu ptg. de
borla umsonst.
A. 23. Schlechtes (leichtes) G^eld; Qeld im verächtlichen
Sinne, das, was immer davonfliegt, was man nicht festhalten
kann, das einen nicht reich macht: ven. triest. böro soldo, wo-
von slaw. bor Denar, Deut (Strekely K., Zur slawischen Lehn-
wörterkunde, DAWL S. 7). Salvionis Ableitung < öbolo
(Fon. Mil.) ist wegen der geforderten Tonschiebung wenig be-
friedigend. Gall. (Rev. Lus. VII 204) borra Geld DG borra
kleine Geldstrafe span. borra Kopfzoll auf Kleinvieh. Neap.
(D' Ambra) boragna im Gergo: danaro, moneta.
B. 29. Possen: burrae (Auson.). Neben burrae war, wie
die romanischen Abkömmlinge beweisen, jedesfalls auch '^burdae
vorhanden. In den Glossen (G II 31) burdit tpfjQrlqf yavQi^.
Burdositas gabbery buerde iock (Diefenbach). Über y/rjQTiq
vgl. unten S. 98. Die Vorstellung des dumpfen Lärms, Stimmen-
gewirrs kann eingewirkt haben, geht doch das yavqiav niemals
still ab. Wir sind hier wieder an einem der Punkte, wo sich
die Wörter der Sippe untereinander beeinflussen, ihre Ent-
wicklungslinien sich kreuzen.
Aus dem Begriff ,Posse' Possentreiben entwickelt sich
einerseits exsultare,^ scherzen sich unterhalten, andererseits
anderen etwas vormachen, betrflgen.
30. Seherz: aprv. bordir (Rayn.) nprv. burdi buerdi broudi
u. a. unterhalten, toll sein, tanzen, springen: lia agneu burdissoriy
vielleicht nfrz. bourdir (Z. XXVIII 586 Baif ) it. boriata Posse
Kinderei, Lapperei ven. borezzo Übermut, Freude, Ausgelassenheit
dauph. bordeiri Spaßmacher bei den bordea (vgl. unten S. 77)
engl, to bourd moquiren, scherzen ndl. boerten = jocken
^ ExmiUare gibt in den Glossen yaupiav wieder; es sei daran erinnert,
daß letzteres besonders Ton Tieren (hüpfen, springen) gesagt wird
(Passow).
Die Bedeotniiagg«Bchicht6 der romaniachen Wortsippe bur(d). 39
(Col. unter hwrlar) mndt. (Llibben- Walther) borden, borderich
== der Spaßmacher. Über den flinfloß von buhurdiren vgl.
S. 77 afirz. baurdoyer Spaß machen, scherzen siz. bruddu
Heiterkeit; Hesych. 1230 ßQvdKsiv yavQtäv und 1229 ßQvdCei'
^dXlBi VQVf^ (schwelgt) alemt. (Rev. Lus. IV 59) bwrrefa
Scherz afrz. (Qod.) berelle Spiel (Liebesspiel), Elleinigkeit
sard. brulla = barla.
31. Vielfach ist die Trennung zwischen den beiden Be-
deutungen nicht gezogen: der Scherz ist eben mitunter ein
schlechter Scherz, ein Scherz auf Kosten der anderen, ein
Witz, über den nicht beide Teile lachen. So haben wir mehrere
Ausdrücke 9 die auf der Zwischenstufe stehen: vor allem it.
burlare Spaß machen, sich über andere lustig machen, jemand
zum Narren haben cat. burla irrisio, decepcio sard. burrugada
schlechter Witz.
32. Lflge, Betrag: frz. bourde aprv. borda toul. bordo
auch: schlechte Ausrede, Machenschaft (z. B. bei Moli^re, vgl.
Leroux), bailler de$ bourdes LiXgen aufbinden; Wallis (Qauch.)
bourde mail. parm. boridon Betrug, Vorspieglung frz. bourrer
(Dict. des Prov.) tromper, chagriner afrz. bourder^ bourler
(6od.) baurdour tromperie berg. boridu {buridu) dasselbe,
borlanda Intrige, verworrene, schwierige Sache borlandot
Betrüger, Lump, mit der bemerkenswerten Spezialisierung
33. Finanzwaehe. Tiraboschi meinte, diese letztere Bedeutung
wäre die ursprüngliche gewesen und der Bedeutungsübergang
zu ,schlechter Kerl^ zeuge von dem Hasse gegen die Oster-
reicher. Es ist aber kaum möglich, für borlandot ,Finanzwache^
eine Erklärung zu finden, die keine Spitze gegen die Behörde
enthält — zum mindesten ist es: Schwierigkeitenmacher, In-
trigant — und dadurch wird Tiraboschis Keihenfolge über-
flüssig. Der Haß gegen den Steuereintreiber, besonders aber
gegen den OrenzzoUbeamten ist in allen Gesellschaftschichten
erstaunlich tief eingewurzelt und uralt. (Man denke nur an
die Rolle des Zöllners im Neuen Testament.) Man findet Mittel
und Wege, ihn als den ,8chlechten Kerl', den ,Lumpen' und
,Betrüger' hinzuzustellen, den zu umgehen, ,wieder' zu be-
trügen, erlaubt ist. Wenn also speziell die österreichische
Finanzwache mit ^borlandot' bezeichnet wurde, so war dies ein
Ehrentitel, der um so begreiflicher erscheint, wenn sich zu
40 y . Abhandlung^ : Richter.
dem stets mit Unlust ertragenen Abgabenzwang auch noch der
Nationalhaß gegen den Eintreiber gesellte. Das Wort ist in
der Bedeutung Lump noch zu finden im champ. berlandeur}
im piem. herlandot Straßenkehrer, Trainsoldat — wohl aus der
allgemeinen Vorstellung Lump, niedriggestellter Mensch , viel-
leicht noch aus der Zeit der Landsknechte.
34. Eine andere Spezifizierung des zweideutigen Subjekts
und Betrügers liegt vor in afrz. berlandier Hälter Ton Spiel-
tischen zu berlant (-c) Spieltisch vend. berlan (beurlan) Un-
ordnung span. berlandinas Fopperei , listige Betrügerei; das
Verb *berlandare ist also nur zufUllig nicht belegt.
Auch hier sind verschiedene Bedeutungsgrade vorhanden :
35. ptg. berlina ist der Mockierstubl; teram. (Savini) a
berlinne in burla.
36. Im Bergamaskischen ist berlina die SehandsBule.
37. Piem. berlichin = frinfrino, muffetto, cacazibetto^ der
lächerliche Mensch.
Weiter zeigen noch Stamm ber die Worte: span. berre-
gueteaVy berruguetar, mogeln, in Verwirrung bringen, betrügen,
piem. b'erghigni betrügen, täuschen, wohl mit Einwirkung von
Ingenium^ ingeniare (vgl. afrz. enginier). Für das gutturale g
vgl. sard. burrugare betrügen, also ^bur(ber)gare + ingeniare.
Frz. barguignier, Variante zu bargaigner mit seinen zahlreichen
Nebenformen (die übrigens sämtlich Lehnwörter sind) gehOrt
natürlich gar nicht dazu, wie ja auch die Bedeutung zeigt,
die nirgends einen unehrlichen Beigeschmack hat.
Stamm bar: spätlat. barare betrügen (Vita B. Sibyll.,
MG IV) cat bara Betrüger sard. barriga Scherz baraggia
Intrige sp. barranco Verlogenheit cat. bargant unredlich bar
betrügerisch, verräterisch bret. bar ad Perfidie. So kann it.
baro barone die Bedeutung Betrüger erhalten haben. Die Va-
riante barro ist dabei besonders beachtenswert. Daß it. barare
neben barattare steht und morphologisch nichts mit ihm zu
tun hat, erwähnte schon Diez.^
' Zielit man in Betracht, daß bai'o = hardut, bardui = bartuf (Q V
270. 37) =s hebU »luUw iBt, ptg^. bardo frz. bardon «dumm, gefoppf,
lat. baräire ,8ich dnmtn brüsten, aufgeblasen sein* bedeutet, so sieht
man eine so intensive Verknflpfang der Fäden, daß es unmöglich (wio
ja anch flberflUMig!) ist, sie auseinanderzuhalten. Bard" und 6ar>y
Die Bedeutangsgeschiehte der romanischen Wortsippe hur(d). 41
Ereaznng der Stämme hur- und herriy beide von der
Bedeatung ^lügen, foppen'^ zeigen: afrz. bomir zu überlisten
trachten it. h(ymia Lüge; borgnola (bomiola) V Cr falsches
(angerechtes) Urteil besonders beim Spiel; hängt vielleicht mit
hamto anwahr (von einer Geschichte) zusammen und dieses
wie frz. conte-borgne mit borgne = louche.
38. Eine ganz andere BegrifiPsentwicklung aus ^Possen-
treiben* ist die: leichtfertig arbeiten , daher Dummheiten,
Fehler machen: cat. bourrada Versehen beim Kartenspiel
piem. f^ un bourou (boro bouro) fare o dire un passerotto
in. bourdon mißratener Nadelkopf wallis. (Gauchat) a borde
schlecht gemacht: Ön ovrädzo a borde.
V. Die federleichte, flockige burra hat ein lockeres Ge-
fQge, sie ist leicht zusammendrückbar, denn sie ist voll Luft;
sie hat tatsächlich ein weit geringeres Volumen, als es auf den
ersten Blick scheint; so wird sie zur Bezeichnung verschiedener
Dinge, die leicht, wie mit Luft angefüllt, aufgeblasen sind
(vgl. ßofißa^ = bombace Wolle, Aufgeblasenheit, Thomas Ro. 31) :
39. Wasserblase: Algarve (Rev. Lus. III 111) borrefa]
Wasser- (Fett-) Blase: sard. burbudda, verwachsen mit bulla
ivgl. unten S. 113) und alsbald in übertragenem Sinne:
40. Aufgeblasenheit, Hochmut: it. boria boriare =
levarsi in superbia neap. boreja gen. bornia kelt. borso -s
groß, stolz ir. borr (Stokes 173) corn. borr pinguis (Skeat)
gall. borrail hochmütig hochlandschott. borras proiectura.
Dieses letztere leitet zu der Bedeutung
41. ,Prahlercl (== wirres, aufgeblasenes Zeug)': agall.
borra gall. bo^'rear sich brüsten. Eine feine Beobachtung
der seelischen Zustände liegt in der Übertragung von , Auf-
geblasenheit' auf
42. ,Zoril'; dem Zornigen schwillt das Gemüt, es ,wirft
Blasen', wenn sie ,geplatzt' sind, bleibt kein Kern zurück. Alb.
burgäm (Meyer EW < boriare + -ame) ngr. (ißovQV (Meyer
Ngr. IV. < boria) bret. broez.
Mit Stamm bar: corn. barri pinguedo ahd. parrungia
superbia invidia langa. bragä prahlen, großtun spätlat. barri-
burd- und bur- haben sich fortwährend beeinflußt, b&ld begri ff lieh, bald
lantlieh.
42 y. Abhandlung: Richter.
ditas ßuperbia (Vita B. Sibyllinae, Mon. Germ. IV 124. 21). Die
Qlosse (G V 520. 19) barridus : elevatus auperbus ist also (gegen
Goetz und Heraeus, vgl. G VI) gar nicht emendations*
bedürftig. Dazu noch afrz. bardir: (God.) Et vi les ondes
bar dir et enßer.
Einmischung von bur- ist anzunehmen in boursoufler
und Konsorten: afrz. borsoflis (12. Jahrh.) wall, boria Ge-
schwulst Jura bourre enfie^ enflö verd.-chal bourenfle bürg.
boranfle usw. vgl. Mussafia Beitrag 35 ,zu bor, etwas Kugeliges,
Kundes'; afrz. bourser (le ventre lux (Ludwig XI.) commenga ä
bourser) alb. burfuät (Meyer EW) aufgedunsen rum. a se burduS
aufdunsen (auch erweichen), also ^aufquellen, aufschwellend
Im weiteren Sinne bedeutet bur Schwellung, etwas
Rundes, daher Knospe, die Schwellung am Stamm, wo die
Knospe, respektive der Trieb entsteht (das Auge).
43. Knospe.^ Da sie mehr und mehr ,schwillt', kann sie
sowohl Ausgangspunkt als Endpunkt der Bedeutungsreihe sein.
Mail, borin sfrz. bourre Auge des Zweiges langu. boure bourou
Knospe, hierzu gibt Diez bourgeon als Deminutiv. Aunis bour
Knospe am Wein: geler en bour] cat. borro Knospe, Auge
prv. bourroun bourrulh, Bresse (Guillemaut) bourre männliche
Blute des Mais etc. engl, bur (Murray) round swelling of a
tree, burly (Skeat) dick, korpulent, Poitou (God. : d'une femme
enceinte): al a ine belle bourolle, wobei jedoch zu bemerken
ist, daß bourole auch Schale, Napf heißt ^ das Beispiel daher
auch zur Gruppe ,bauchiges Gefkß^ (S. 109) gehören kann.
44. Schwellung, wo der Hirsch das Geweih ansetzt:
engl. (Murray) bur round knob forming the base of a deer's hörn.
45. Es ist aber nicht immer eine naturgemäße Schwellung,
wie das Wachstum sie erfordert^ sondern auch eine krank-
hafte: Geschwulst. Aunis bourrl gonflä gen. borlo berno-
colo Beule, kleine Geschwulst alb. (Meyer) Wrde (= bürde)
Geschwulst. Hierher rechne ich auch das altlombardische ebor-
dagni (AG VII 7. 9) aus derj Antica Parafrasi. Die frag-
würdige emendationsbedürfbige Stelle lautet: 7. 6 netun . . .
harave mae possuo con onge ne con grafij . . . far quellt eolehi
* Fttr die Begriffsyerwandtflchaft ron »Knospe* and »Blaie* Tgl. «ach
Schuehardt, Rom. Etym. U, 8. 34.
Die Bedeutangsgeschichte der romanischen Wortsippe bur(dj. 43
per gli galon (= calon Hüfte) de l corpo como Satanaxo con
gli vermi ghe gli sbordagni grandi per le coate e le fosse
eavae per tute le came. Salvioni (AG XII 429) will vermi
and sbordagni zusammenbeziehen, in sbordagni eine Art Insekt
sehen, so daß es also anter Tierbezeichnangen S. 100 einzu-
reihen wäre. Das ghe zwischen gli vermi nnd gli sbordagni
8oII in e emendiert werden. Ich meine, sbordagni heißt Ge-
schwulst, Eiterbeule und ghe ist zu fe zu ändern ; dann sind
tiordagni grandi per le coste und fosse cavae per tute le carne
streng parallele Glieder zu /e, wie vorher solchi per gli galon
tüL fare, und der Nachsatz hat das Verb im Indikativ er-
halten, das ihm fehlt. Dt. Borpein (Barpeln^ Berpeln) Blattern
(Grimm) kann auch hergestellt werden. Gen. burgore brugore
(AG XV 51) Geschwulst obw. biergna^ sbiemia (AG VII 575)
Geschwulst, Beule.
Mit Stamm bar-: grödn. baruga Warze alb. (Rossi)
her^^äm Geschwulst.
Heißt nun bur- das Geschwollene, so ist die Übertragung
auf das Band-Erhabene naheliegend.
46. Da sind zunächst Bezeichnungen fUr randliche
ESrperteile: berg. ven. borila Kopf lomb. borin crem.
burhi bret. bronn Brustwarze Aunis bourrin langu. bouril
Bauch afrz. ÄtircZKon verd.-chal. ftottWHo« Nabel; die letzteren
können natürlich auch aus umbilicus entstanden sein, wie es
verd.-chal lambouri selbstverständlich ist. Vielleicht ist rum.
huric nicht nur lautliche Umgestaltung aus umbilicus ] buricul
degetului Fingerspitze, buricat rund erhaben. Ven. bhro
=r sedere, auch Kuppel; wegen des BegriffsUberganges vgl.
Schuchardt Z. XXII S. 262 und Diez sp. bofeton etc.
47. Das ven. berg. borila bedeutet nicht nur Kopf, sondern
auch Zwiebel und Kugel. Letztere Bedeutung ist weit ver-
breitet: prv. burlo, burloun piem. borUa hölzerne Spielkugel
flandr. bourlot brolot Knäuel wall, bourlotte berg. borla Kugel;
Eichengalle, borli Kugel, hübsche rundliche Frau aprv.
boms pomum tentorii (vgl. aber auch S. 61, 3) etc.
48. Von da entwickeln sich Ausdrücke für rollen,
springen: prv. bourle Sprung Var (Gilliiron, Karte: Saute-
reUe) burdrolo flandr. bourler tomber en roulant Rouchi bourler
se rouler, tomber (Gloss. zum Chev. au Cygne 12787 burlant,
44 V. Abhaudlung : Richter.
das auch ^angreifen' bedeuten kann, S. 92) aach jouer & la boule,
it. burlare rollen; hierher gehört wohl das Dantesche Perchi burli
(Inf. VII 30) kausativ rollen, spez. vom Gelde im Sinne von ver-
geuden. Man denke an die Oeldtische, auf denen das hinge-
worfene Geld aufsprang und rollte; danach könnte das afrz.
houler verschwenden (Prov. Vil. 194) als Mischform von baurler
und boule hierher gehören. Berg, borelä borlä rollen, indä a
borel überschlagen piem. borlä fallen und fallen lassen, barle
fallen bcyreler der das Holz den Fluß abwärts schwemmt lad.
(AG IX 114) sbirler ,schmeißen' alemt. (Rev. Lus. IV 58) andar
de burlantea andar volante, dazu burlandera eiserner Reif am
Wagen zwischen os limoes e o eixo. Daneben steht ptg. bolan-
diira Rad bolandina (Vieira, andar n^uma bolandina hin und her
schwanken) andar em bolandas über den Haufen geworfen (vom
Schicksal verfolgt) werden. Die Bedeutung spricht für borla und
gegen volare. Doch ist der Wandel von rl'^ t meines Wissens
sonst nicht beobachtet. Übrigens steht neben borla Quaste,
bola Kugel, und andererseits neben bolatim Bulletin, borlantim.
Ait. barullare, nach Körting bar + *rotulare, sieht mit
seinem unitalienischen rullare wie ein dem Provenzalischen
entlehntes Wort aus. Sfrz. barula rouler (röder, courir) kann
als das Grundwort des it. barullare angesehen werden. Dazu
49. barulaire Vagabund, vgl. unser dialektisches Herum-
kugeln fUr ,unordentliches Herumliegen von Gegenständen^
50. Von ,Springen' weiter zu SelltSnzer: ptg. burlaniin.
51. Übertragung ins Abstrakte: cat. tot burlani burlant^
span. burla burlando anrerhofft (wie eine rollende Kugel za-
fkllig irgendwo ankommt).
J5er-Formen: vend. berlin Venvers k rebours.
52. Wie burlandera Wagenrelf bedeutet ven. borondolo
Rad. Es ist eine Vermischung von bor + rotondo.
53. Die Bedeutung Schwellung, Geschwulst ftlhrt zu der
ganz allgemeinen Walst: frz. bourrelet Wulst an Bäumen ums
Pfropfreis herum, Kranz von Tauwerk, Ring der Kanone. Da-
gegen sind span. neap. baroU (nach D'Ambra) cat. biruU baruU
aus frz. basroule entstanden, sehr begreiflich bei einer Mode
(Wulst des Strumpfes, der an das Beinkleid gebunden ist, unterm
Knie). Cat birolla runder Eisenbeschlag an der Spitze deS
Stockes Aunis bourrole bourgnon bourguignon frz. bourrelet
Die Bedeatangsg^eschiehte der rom&nischen Wortsippe bur(d). 45
Falte im Kleid; bei bourrole Einmischung von role. Im
allgemeinen wird wie begreiflich die Vorstellung des ,Ge rollten'
eingewirkt haben^ so
54. berg. borlot Haareinlage (Haarrolle); Graswalze^ burla
dd fils (Spindel).
55. Eigentümlich ist bretagn. (Larousse) bourlotte Wurm,
nämlich als Köder , wozu afrz. bire (God.) mlat. birra (DC
a 1267) prv. birounado ligne sans hameyon qui a pour appät un
peloton de vers langu. berou Kirschen wurm.
VI. Die burra ist weiß oder weißlichgelb und wo sie
in Masse hin&llt; sieht es aus, als ob es gereift hätte. Daher
eine andere Gruppe von Übertragungen. Nicht eigentlich, daß
sich eine Farbenbezeichnung entwickelt hätte: toul. burel weiß-
lich drap, grau, Farbe der rohen Wolle, ist Ton letzterer selbst
herzuleiten und steht auch ganz vereinzelt da. Es ist nur zu
begreiflich, daß kein Farbadjektiv bur- mit der Bedeutung
,weiß' vorhanden ist; die gleichlautenden Formen von bu/rrus
< ftVQQÖg in ihrer Bedeutungsabstufung von gelb, roth bis
schwarzbraun konnten das Aufkommen einer Bedeutung ,weiß,
hell' nicht begünstigen. Aber weiß und flockig wie die iurra
sind Belf und Nebel, und zwar beide um so weißer, je
stärker sie sind. Ich glaube daher, daß aus dem so nahe
liegenden Vergleiche die eigentümliche Form der romanischen
Wörter für Reif und Nebel zu erklären ist: frz. bruine it.
brina und Konsorten verdanken ihr b- einer Vermischung von
pruina und bur. Die Wörter für Nebel, Nebelreißen bedeuten
— naturgemäß — auch meist feinen Regen, Spritzen;
diese Bedeutungen können also nicht getrennt werden.
56. Champ. bruire Nebel cat. d'Alghero (AG IX 358»)
hurina fein regnen rum. bu7*ä, boarä feiner Regen, Nebel,
burnifa Sprühregen bura6a dichter Nebel sard. (AG XIV)
harea, boriazzu abbuira Nebel, mess. (Ro, V) brüsie fein regnen,
frz. brouas it. buriana gen. burianna berg. borda, boa ven.
borana, burana Nebel, letzteres auch Rauch; tarent. borina
brina; ngr. firtöga feiner Regen. Das ptg. borigar kann zu
oberdeutschem britzen, britzein gestellt werden, dem got. *bi*it-
ian entspräche, mit Einwirkung von bur-, Nebenform boriffar,
das zu agen. aborfar [male parole] = quasi sbruffare (AG
VIII 386) spritzen, bespritzen gestellt werden kann, boriffar
46 V. Abhandlung: Richter.
geht vielleicht, shorfar gewiß auf *burire + hufare zurück.
Ad das letztere schließt sich it. shruffare (vgl. Diez), das (nach
ML) auch noch unter dem Einfluß von spruzzare stehen kann.
Aus shorfar bespritzen entwickelt sich die Bedeutung besudeln,
die oben erwähnt wurde. Eine ähnliche Bildung wie shorfar
ist cat. brufol neblig (vom Tage) und bov. (AG IV 69) vur-
furada nebbione denso e basso, das Morosi zu ßogßoQÖg = lor-
dara stellen möchte. Man denke aber an furfuraculum Fin-
sternis (G III 544) und furabulum (Isid.), wenn auch diese
Worte selbst nicht klar sind. Prv. borrat große schwarze Wolke.
Mit Stamm bar: Forez bärri große schwarze Wolke,
span. barda dichter Nebel afrz. barage (God.) intemperie (Wetter-
schaden). In allen diesen Fällen ist der so naheliegende Ge-
danke an Einwirkung von Boreas aus meteorologischen Gründen
nicht gut haltbar : denn im allgemeinen verträgt der Wind sich
nicht mit Nebel, speziell ist der Nordwind in den wenigsten
Gegenden der Regenbringer ; aber sofern er Schnee bringt,
ist Vermischung der Stämme bor- und bur- sehr einleuchtend.
Indessen kommt hier auch die Bedeutung von bur- ^brausen'
in Betracht (vgl. S. 90, 4) : it. burrasca ( Voc. Cr. < buro = buio
oder bora) neben bora sard. buriana log. boriana vegl. bura
ptg. auf St. Thomas (Const.) burra, Bova (Pellegrini) burragena
= borrana Sturm alb. buri Südwind Wallis. (Gauchat) boräta
Sturm, Gewitter.
57. Im Provenzalischen heißt {emer bourineld dampfen (von
gekochtem Essen), also ein leichtes weißes Gewölk erzeugen.
58. Übertragung auf Wolke hat stattgefunden in sard.
buriele nuvuloso scuro; in borlu^u (Meuse) große Wolke, die
zeitweilig die Sonne verfinstert, hat jedesfalls bur- = grau,
schwarz eingewirkt. Doch haben wir in Freiburg (Gauchat) bo-
raUä Rauchwolke, waadtl. (Gauchat) borätse schwarzer dicker
Rauch boratsi rauchen und rSuchern : jeter une fumäe äpaisse,
brüler de genifevrc ou tel autre parfum dans une chambre.
Das schwierige b in it. brezzo (Ascoli AG HI 392 erklärt
aufrezza -|- b prostetico, ML I 356 rezza + brisa) kann ebenfalls
in diesem Zusammenhang aus bur -j- aurezza erklärt werden.
59. Wirkung des Nebels ist die Dunkelheit, und zwar
ist die Dunkelheit um so größer, je weißer (dichter) der Nebel
ist. So kommt bur- zur Bedeutung des Dunkels des Dimmer-
Die BedeatttiigBgesehtchte der romanischen Wortsippe hur(d), 47
lichtes: rora. hur Dämmerung, Dunkel, Schatten (tenebre),
/oni(= \nm^)dehwr == barlume; vgl. horia bei Plinius (Thes.)
für Jaspis, weil er dem herbstlichen Morgenhimmel gleiche.
Maß boria auch natürlich zu borealis im Sinne von hibernalis
gestellt werden, die Begriffsübertragung : nebelig > Dämmerung
> dunkel , grau ist eine ganz ähnliche. Afrz. bruin Dämme-
rang ebenfalls aus dem Begriffe Nebel zu entwickeln in: (God.)
U jetidi apre$ ä Vheure du bruin Alerent li forrier acueillir le
hestin (VoBUx du Paon). Welsh bore Dämmerung cymr. boi-au
Morgen u.a. Freiburg (Gauchat) bomiyi finster werden; li
dzoua borniyon dza a ^nk frh = les jours se fönt sombres
k cinq heures. Gauchat hält Zusammenhang mit borgne nicht
fbr ausgeschlossen.
It. buro, buio bol. bur. Wenn man it. buio einfach aus
burrus herleitet und neben andere Farbadjektiva stellt, so wird
man seiner eigentümlichen semasiologischen Funktion nicht ge-
recht, denn buio bedeutet nicht dunkel als Grad einer Farben-
schattierung, wie scuro, sondern finster im Sinne der Ab-
wesenheit des Lichtes, des Mangels an Beleuchtung, und
zwar, wie es bei Rigutini-Fanfani ausdrücklich heißt, mancanza
di lume, effetto del tempo nuvoloso. Es ist von einem
(empus burius auszugehen ; fa buio bedeutete wohl ursprünglich
dasselbe wie fa nebbia, dann wurde die Folgeerscheinung, die
Dunkelheit, mehr und mehr betont und der Begriff ,Wetter-
erscheinung' = Nebel und Wolken blieb nur ein Teil der
üblichen Bedeutung. Als Farbadjektiv hat buio, wie es scheint,
eine durchaus eingeschränkte Verwendung; es bezeichnet aus-
schließlich ,dti8ter'. Inf. VII 103 I/acqua era buia molto piü
che persa u. a. Sowohl in adjektivischer als in adverbialer Ver-
wendung hat es die Bedeutung ,finsterS ,lichtlos': stanza buja
Dunkelkammer regni bui = Hölle (bei Dante valle buja) narra-
zione buia (dunkel = unverständlich), inteletto buio (nicht von
Vernunft durchleuchtet) etc., vgl. VCr und Toraraaseo. Afrz.
huiron (God.) ,brun foncÄ' in sarazin de lignage buiron kommt
überhaupt nicht in Betracht, da es del lignage Buiron heißt; vgl.
Försters Ausgabe des Rolandsliedes von Chateau-Roux, S. 232. 1 1.
60. Bei it. burella rom. buri unterirdisches Loch, fin-
sterer Kerker, kann es zweifelhaft scheinen, ob es zu buio
oder zu burru gehört. Es kann natürlich auch ein ,schwarzes^
48 V. Abhandlung^: Richter.
Loch gedacht sein ; mir scheint die Betonung des ewig BHasteren
fär die Bezeichnung des traurigen Aufenthaltes passender.
61. Zu erwähnen ist noch die eigentümliche italienische
Bildung burar betragen; wohl ,einen Nebel vormachend
Varianten mit Stamm ber: nordit. (Mussafia^ Beitrag) be-
retin grau, grob vic. pierra baretina grau rom. bartinen =
ven. beretin = bigio; gall. (Rev. Lus. VII 204) bretema
Nebel alb. wende leichter Regen (Meyer EW) prv. barumado
Windstoß.
B. Der Bohrsohaft.
§ S« Ich wende mich nun zu den Bezeichnungen fUr Rohr,
Rohrstock und deren Weiterbildungen. Da sind nun wieder zwei
Unterabteilungen zu unterscheiden ^ je nachdem der Stock des
Rohres ins Auge gefaßt ist oder das hohle Rohr, die Röhre.
Erste Unterabteilung: Der Rohrstock.
I. Ber einzelne Stoek. Wie schon bei der lebenden Pflanze
manche NamensUbertragung zu verzeichnen ist, so und noch
viel mehr bei den zu gleichen Zwecken verwendeten, in verschie-
denen Gewerben im Handel vorkommenden Rohrstöcken, Weiden-
gerten u. a. Wir sehen hier Stöcke aller Art, dünne und dicke,
Balken und Stangen. Die ältesten Zeugen sind borda clava seu
baculus (Isidor, bei DC); borda ' clavia (G V 627. 4) clavia ' borda
(Wright-Wülker 13.20), S.Jahrhundert; clava fuste vel borda
(ebd. 205. 17), 10. Jahrhundert u. a., ferner (DC unter bordi-
galum) borda virgula bacultis, endlich burca clavata (Graff,
Gloss. Salom. in Prag, 12. Jahrb.); also borda bedeutet sowohl
Stock als Gerte und außerdem noch eine besondere Art Stock,
die clavia clava oder clavata: Knotenstock, mit Nägeln be-
schlagener Stock, Knüppel. Hier tiitt uns nun also die Form
mit Guttural entgegen, die wohl auf *burictM zurückzuführen
ist (vgl. N. 13, 18, 63, 78) und sich mit den zwei anderen viel-
fach kreuzt (vgl. S. 20 bourgain)] ihn vertritt südsard. burchioni
borchioni Gerte burchionittus = musa de carrada Gerte zum
Verbinden der Fässer. Es kann aus Italien eingeführt sein und
einem Typus *burclone entsprechen.
Die Bedentungsgeschicbie der romanisohen Wortsippe bur(dj. 49
Aach der bar- Stamm hat eine gutturale Form entwickelt :
bargus Ast.
Infolge der verschiedenartigen Verwendungen (vgl. oben
S. 4 ff.) ist die Zahl der Bedeutungsvarianten nicht gering. Ich
beginne bei denen, die unmittelbar ^Rohrstock', nur in speziali-
sierter Bedeutung, ausdrücken^ und gehe allgemach zu den
Bezeichnungen für mehr und mehr ,dicken Stock', rundes Holz,
Balken, über.
1. Hirtenstab: prv. bourdeto aprv. borla 1386 (DC).
2. Stäbchen zam Vogelfang beim roccolo: mail. bori-
doT] bargtis (Lex Sal.) ai quis venationem in bargo involaverit :
also die Beute die man auf der (Leim-) Rute gefangen; vgl.
Martial XIV 216 und IX 54.
3. Stab zum Heransziehen der Hefe: parm. boron =
Spina fecciaja.
4. Spindel: siz. barruni,
5. Stecken znm Antreiben des Esels: flandr. bourdon
(Vermesse: baguette avec laquelle on conduisait les änes) rom.
burlot kurzer Stecken (Peitsche), den man um den Hals des
Hundes befestigt.
6. Peitsche, Prügel. Ngr. aßovqdovXo (Mejer Ngr. IV 19)
Wallis. (Oauchat) bourdanUe^ bourdet.
7. ,Enflppel aus dem Sack' Orleans: bourdon^ bats
(Herzog, Dialekttexte). Hieran schließe sich in übertragener
Bedeutung, da aus anderem Material:
8. Waffe: frz. bourdonasse afrz. bourdon lance a grosse
poignie cat. bordo Schwert, W^urfspieß ngr. ßovqdovXoy Ochsen-
ziemer (Meyer Ngr. IV 19). Frz. barde Axt ptg. barda Axt,
Waffe (Vieira) können hier nicht ohne weiteres mitgezählt
werden wegen der ganz anderen Gestalt der Axt. Sie gehören
an dt. barte (Kluge < bhardh, die Bärtige) ; es sind wieder ein-
mal Worte verschiedener Herkunft mit ähnlicher Bedeutung.
In den unter 5 — 8 aufgezählten Bedeutungen gibt es auch
eine große Anzahl Verben. Mit dem Stock schlagen, stoßen:
Wallis. (Gauchat) bourdeiller bourdetcher bourdeyl: bourdi(r)
Commander h la baguette waadtl. (ebdhr.) bordenäys betäuben-
der Schlag auf den Kopf, borä anstoßen bern. (ebdhr.) bodje-
rua(i) schlagen vion. bura Aunis bourdai heurter, bourde Beule
am Kopf cat. burrada ptg. bordoada Schlag prv. bourrado
Sitranit^tf . d. pUl.-hiit. Kl. 156. Bd. 5. Abh. 4
50 V. Abhandlnng: Richter.
Erschütterung, Schlag mit der Hand, Hagel von Schlägen rom.
hurdh montois berdakier schlagen afrz. bourter stoßen sfrz.
bourdouira puflfen gall. bourar dar con faerza en ona cosa
dura. Vom Stamm bar: Hess. (Ro. V) bari'i schlagen, fort-
während bewegen, speziell von Pferden = scharren ptg. bara-
fustar (Const.) stoßen, sich in verschiedenen Richtungen mit
Ungestüm bewegen < mit dem Stocke fuchteln, mit Ein-
wirkung von fusto] afrz. barder (God.) soulever avec une barre
aprv. burcar butter, broncher sfrz. burgar poitev. burguer^
dazu aprv. bura choc (Rayn.). Hierher auch
9. das mlat. burgatar burgulator burglator = tat noetur-
nU8 (DC), burgaria burglaria = vielen ta in domum vel pri-
vatum vel sacram . . . nocturna irruptio cum intentione inter-
ficiendi et furandi. Also Überfall zum Zweck des Raubmordes,
und zwar nächtlicherweile. Daher burgatidin Vagabund. Erst
das afrz. burgessourB zeigt Kreuzung mit borge$ (zu bourg\
also ,Raubritter^
10. Vom Stoßen und Schlagen kommt man zum qullen,
mißhandeln : frz. bourrer, bourreler (seit dem 16. Jahrb., Littrö^
bourrade estocade toul. bourrad es er ist geschlagen berg*.
sbörla sbürla flandr. bourriauder verd.-chal. bo'wriauder sav.
boriodd bourg. borelai nach Feriault ,tourmenter, malmener
quelqu'un comme on malm&ne le bourri en le frappant' ptg.
esbordar verwunden sp. aburrir belästigen gall. bourar (Rev*
Lus. VII 204) belästigen, quälen.
11. Von da zum Töten, Yernicllten: berg. sbertt cat. esber-
larse zerscheitern, zerschlagen ptg. esborralhar zertrümmern,
zerstören, zerstreuen gehört zu borralho Asche (vgl. unten:
in der Glut wühlen S. 51, 16).
12. Diez' Annahme, bourreau stamme vom Marterwerk-
zeug her, wird also auch durch diesen Zusammenhang neu
gestützt: bourrel (Marter-) Pfahl, Prügel, Peitsche (vgl. oben
S. 49, 6), aber auch Strick (vgl. unten S. 67, 22).
Aus ähnlichem Wortmaterial mit anderer Bezeichnung ist
prv. Bambuca ,mit dem sambuc mißhandeln', auf der Straße
anfallen, bestehlen = bregandeja (von Mistral zu tambuco
Kriegsmaschine gestellt).
13. Stock zum Wählen : sfrz. bourjou baguette k fouiUer
und die Verben burja bv/rga burca burjuna broujouna broun-
Die Bedentangsgesehiciite der romanischen Wortsippe burfd). 51
chouna vion. bur9fid, nnd daher die Jagdansdrücke^ die auf
jAafbtöbern' zurückzufahren sind, wie rouerg. burga un lapin.
Vgl. hiezu wie zum folgenden Schuchardt, Rom. Etym. II 184.
Agen. (AG II) bordigar frugare, toccare amail. aburdigar von
Seifert (Glossar zu Bonvesin S. 2) statt aberdugar angenommen;
wie die vielen Parallelformen zeigen, könnte Stamm berd- auch
bestehen, aber -ugar ist allerdings ganz vereinzelt dastehend.
Mant. bordigar em. burdigär rom. burdghi bol. burdigar^
regg. bruBtigha it. bordare u. v. a., die Schuchardt anführt.
14. Von wühlen ist ein Schritt zu mischen aaf(ttill)-
rühreil : Alp. broular bourlar bourroular brantar sfrz. barreja
und weiter
15. verwirren prv. bourroula (Einmischung von roula
rollen) u. a. (vgl. auch oben S. 43, 48).
16. Speziell: in der Glut wUhlen = scliüren: sfrz.
baurgouna burgouna abr. burtine Feuerzange.
17. Sclinfilfeln : ven. (Patr.) borire (vgl. unten S. 92).
18. Wieder eine andere Weiterentwicklung zeigt: die
£rde bearbeiten, amgraben: langu. burja Erde tief auf harken
interamn. (Rev. Lus. VIII 56) burgar umstechen, Wurzeln und
Strauchwerk ausreißen, herauswerfen. Man beachte die Ab-
leitung von burea, dem beschlagenen Stock, vielleicht Stock
mit scharfer Spitze.
19. Vom Wühlen (Umrühren) kommt man auch zu pant-
schen: afrz. barbaudier Bierwirt.
20. Lanzenartige Stange des Traghinunels : DC bor-
dotiiM, daher
21. der Tltronhimmel selbst: aböarn. bordo. Dies kann
aber auch in grotesker Verwendung zu bordo ,Dach eines
Schafstalles' stehen, vgl. unten S. 63.
22. Ladestock: cat. burxa d'escopeta.
23. Stange znm Befestigen der Wasclileine: sp. berlinga.
24. Angelrute (Trampe): Neuchat. (God.) boiron In-
strument de p6che 1308 it. bordo friaul. sbordon, sbardon,
das Schuchardt (Rom. Et. II 114) zu sbordon ändern möchte.
Wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, ist dies nicht unbe-
dingt nötig. Afrz. barle engin de pdche (vgl. das S. 22 er-
wähnte rom. bdrle Weidenhecke) sfrz. bourjadouiro u. a.
Eäne außerordentlich große Zahl von Verben für pulsen:
4«
52 y. Abhandlang: Richter.
langü. bourdouira friaal. buriga lacch. burieare waadtl.
burgattä (Schnchardt, Z. XXI 413) sfrz. bourgalha bourgauna
burga barveja etc.; es wäre wohl überflüssig, die von Schu*
chardt (Rom. Et. II S. 94, 130 ff.) angelegten Sammlangen ans*
zuschreiben. Es genügt, darauf zu verweisen. Ich erwähne
nur noch, daß die Trampe gewöhnlich am oberen Ende mit
einem eckigen Stück Holz oder dergleichen versehen ist und
daher eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Pilgerstocke hat.
Indes scheint mir die unmittelbare Ableitung aus Rohrstock
in allgemeiner Bedeutung viel wahrscheinlicher.
25. Abgesehen vom Pulsen schlägt (oder stößt) man ins
Wasser, um das Boot zu dirigieren. Verd.-chal. bomayou
Pfahl zum Stoßen frz. bornager (Loire) piquer le rivereau et
Tappuycr imm^diatement sur le bäteau pour le pousser aa
sens contraire (Larousse). Beim Stoßen mit Stangen und Ra-
dern ergibt sich ganz von selbst das fiordeggiare^ = bald die
eine, bald die andere Seite des Schiffes dirigieren, wobei Ein*
Wirkung von germ. bord = Schi£beite natürlich mitspielt. In-
sofern das bordeggiare aber ein ,läng8 des Ufers fahren' ist,
gehört es nicht hierher, sondern zu Bord, Ufer, S. 60. Eine
Verwendung für rudern ist mir nicht begegnet; es handelt
sich mehr um kurze Stöße, um vom Lande weg (oder ans
Land) zu kommen, nicht um das regelmäßige Lenken des
fahrenden Bootes. Auch entfernt sich das Ruder mit seiner
breiten Fläche sehr weit von allen hier genannten Werkzeugen,
die doch eben ihren gemeinsamen Ursprung nicht verleugnen.
26. Vom Lavieren (vielleicht auch vom Vogelfang her)
heißt in übertragener Bedeutung ,LockvogeP prv. bourdejaire.
27. Stoek zum Befestigen des Fischnetzes (Bleistock):
frz. bourdon,
28. Zepter, und zwar Eirchenzepter: frz. bimrdon,
cat. bordo etc. Man erinnere sich der Bärdäriötcte kaiserliche
Bediente, die Stäbe trugen, womit sie die Leute aus dem Wege
drängten (Isid.), also Zeremonienszepter, nach denen sie
offenbar benannt waren.
29. Lenchterstoek: afrz. bortrolle tige ou brauche d'un
chandelier (Larousse). Also die Bedeutung ,A8t' kommt auch
in Betracht. Eine Form borterolle wäre verständlicher; vgl.
indes bourdrel (fbr bordereau) bei DH.
Die Bedeutungsgeschichte der romanischen Wortsippe hur(d). 53
30. Pilgerstab: sard. burdoni it. span. bordone^
ptg. bordao frz. boardon engl, bourdon etc. etc.
31. Vom Pilgerstock wird abgeleitet: der Pilgers toek-
trlger frz. hourdonj bourdonnier, zunächst Pilger (vgl. ftirs
Afrz. Qod.)^ daher sfrz. Li tres bourdoun ^die drei Pilger' fUr
das Sternbild ,die drei Könige* (auch ,Gürtel des Orion'), da
ja die Könige gepilgert kommen. Dann
32. Der Wanderer: span. bordonear herumziehen frz.
planter son bourdon sich niederlassen (also den Wanderstab
aus der Hand legen) demeurer ä bourdon planii ,paff' sein^
plötzlich stillstehen.
Eine andere Begriffsnuance ist ptg. bordalengo fremde
das nicht unmittelbar hieher gehört. Vielmehr muß es in die
Omppe von Wörtern eingereiht werden, die auf bordal =
Hatte zurückweisen (ein Simplex bordal ist bei Mistral nicht
▼erzeichnet; aber bourdalii formier (Gase.) bourdalat masage,
hameau (Böarn^ Agenais) bourdaleso Kehricht , Abfallhaufen
(der zur Hütte, Meierei gehört). BourdaUs = Bourdelis =
Bordelais (der Bewohner von Bordeaux). Dies alles beweist
wohly daß bordal gleichwertig zu bordel ist; die Bedeutung
TavernC; Unterstandsort für Wanderer wird der Ausgangspunkt
flir bordalengo sein (vgl. auch S. 64).
33. Wandern; Herumziehen in pejorativem Sinne ist
vagabandleren und so wird aus dem ,frommen Pilger' ein
Landstreicher, Spltzbabe, Vagabund: sp. bordonero] bordo-
neria das bettelhafte Herumziehen; it. bordaglia canaglia (vgl.
dagegen D'Ovidio AG XIII 403, 380 ,ritornato al senso ma-
rinaresco') abr. burehione Spitzbube poitev. bourgaudin Vaga-
bund, vgl. S. 50, 9.
34. Die Bedeutung sinkt noch um eine Stufe, wenn es sich
um ein Femininum handelt; die Vagabundin ist ja mehr als der
Vagabund verächtliches Individuum, das fremde, zugelaufene
Weib in einer noch mißlicheren Lage: afz. bourdon (Klöpper)
Freadenmädehen engl. dial. bure leichtfertige Person cat.
bordejar = bastardear Pas-de-Cal. bourgaudine coureuse norm.
bourgaud libertin (Z. XXXI 257) flandr. (Verm.) berdoulle femme
Sans ordre, brouillon kann zu bredouiller = brouiller (in Un-
ordnung bringen, vgl. S. 34) gestellt werden, borg, bertu drudo
di puttana wird wie abr. burtone zu bert (= brit) gehören.
54 y. Abhandlung;: Richter.
Mit Stamm bar: ptg. moga barreira prv. ßho de barri
cat. bardaxa aberg. bardassa Dirne zeigen klar die Ableitung von
barra (barda) Stange = Zaun : die am Straßenzaun ihr Wesen
treibt, vgl. ags. nord. portcuoney portkana meretriz, nach Graff
III 212 zu bord zu stellen. Von moga barreira ist weiter ent-
wickelt 35. barreiro sinnlich, weltlich.
Für span. barragan ptg. barregan aptg. baregäo Kebse,
kommt spätlat. barginus (Caper, Gram. VIII 103. 8) genus cui
barbaricus sit; in den Glossen barginue = peregrinus (Neben-
formen: barginna, bargena) in Betracht. Es kann eine Konta-
mination aas barbaricus -j- peregrinus + barec- sein.
36. Einen nicht ganz so bösartigen Beigeschmack hat die
Bedeutungsentwicklung zu Schmarotzer. Der Wanderpilger,
der um ein ,Gott lohn's' einkehrt und oft wohl über Gebühr die
Gastfreundschaft seines Wirtes in Anspruch nimmt, mag nicht
selten zur Landplage, zum verachteten Schmarotzer, blinden
Passagier ausgeartet sein: Cat. borrugat, für die Bildung vgl.
sard. burrugar S. 40, 38; ven. pozar el bordan schmarotzen.
37. Eine Spezialisierung des Pilgerstockträgers ist der
HSnch; der fahrende, der Bettelmönch, in wegwerfendem Sinne:
so mail. bordocch das dann weiter 38. Pfalf bedeutet: ngr.
ßovQÖovdQig der dumme Mönch; hier kann allerdings auch der
*Maultierreiter vorschweben, aus Maultiertreiber, da ßovQÖo-
vdgig die letztere Bedeutung — wie auch sonst burdonarius im
Romanischen — hat. Aus letzterem entwickelt sich noch durch
die Vorstellung des Lastenbeförderns
39. die Bedeutung Träger. Vgl. unten Nr. 46.
40. Nur im Epirotischen finde ich eine weitere Bedeutungs-
stufe fiTTovQÖovdQia weite Hose, durch das ^7t als spätes Lehn-
wort gekennzeichnet. Es läßt sich nur so erklären, daß etwa
die weite Hose eine spezielle Tracht des ßovQÖoviQig, des Trägers
oder Treibers, bildet und darnach benannt wurde.
41. Vom Herumziehen, Herumvagabundieren wird die
Vorstellung des sich fortwährend Bewegenden ausgelöst
und daher kommen einige in Norditalien häufige Ausdrücke
flir Kind, und zwar za lebhaftes, belBstlgendes Kind, cat.
bortigas Kind von wenig Jahren, Knabe rom. burdell Kind^
Bübchen. Ofi^enbar liegt hier keine Spur einer zweideutigen
Wertschätzung vor.
Die Bedeatnngflgeachichte der romanischen Wortsippe burfdj. 55
42. Hier mag auch eine Bedeutung angereiht werden^ die
vom yStockträger' im allgemeineren Sinne (auch Hirtenstock,
EnQppel) ausgeht: gewöhnlich trägt der Bauer, der Bergbewohner
einen kräftigen Stock und daher kommt die Bedeutungsent-
wicklung von Stockträger zu BauerntOlpel, Grobian: frz.
burgault rustre, sot bei Greban (Z. XXXI 257) ptg. bordalengo
(der in der Bauernhütte wohnende) tölplisch, prr. bordegas
I baurdcu grober Bauer poitev. boiirdassas großer Grobian, in
I Loz&re Neckname der Bergleute, die mit dem dicken Stock, der
( b(mrde, gehen sp. bordonero Grobian engl. dial. bure Bäuerin
! prv. bauiras bourdas Bauer Älpler, RQpel ; im Italienischen ist fiir !^
höhnender Zuruf an den Bergbewohner; man denke an die mit
reduplizierendem b gebildeten Schimpfworte: birbone birbante.
I Langu. bourdesc = brüsk kann also auch hier eingereiht
I werden.
43. Eine Übertragung vom Pilgerstab her ist die
Bezeichnung für das Kugelkreaz Im Wappen : ptg. cruz bor-
doada frz. croix bourdonnee usw., zur Andeutung, daß der
Inhaber eine Pilgerfahrt gemacht hat. Es zeigt gleichsam —
von jeder Seite — gekreuzte Pilgerstäbe.
44. Sekundäre Bildungen, wie frz. bourdon de St.
Jacques für Malre ptg. bordao de S. Josd Lilie u. a. sollen
hier nicht weiter verfolgt werden. Das prv. bourdoun Kopf
der Kompositenblumen kann auch hierher gehören, sowie berg.
indä 'n boi'db fare il tallo.
45. Eine vereinzelte Übertragung von Pilger- oder Hirten-
stock auf Bischofsstab (crosse) ist toul. bourde. Vgl. auch
oben Zepter (Nr. 28).
46. Stock zum Tragen des BDndels: yend. bourde
bourdet; man denke an die Muli Mariani! (S. 10).
47. Krücke: afrz. bourde Aunis ctbourde] Erklärung
des a- aus ,falscher Trennung' von la bourde geht wohl nicht
an. Zu bourde Krücke = Stütze kann das Verb abourder =
*adrburdare sich aufstützen bestanden und eine neue Imperativ-
bildung entwickelt haben. Abr. burtine.
Ganz allgemein genommen ist es: 48. ein Stock mit
dlekem Knopf frz. bourde.
49. Ein kurzer Stock piem. burlot prv. barot barrot
(auch kurze Stange) langu. bourdeja mit dem Stocke spielen.
56 V. Abhandlung^: Richter.
50. Narrenstab: afrz. burel (Rom. de Ren. IX 426, bei
Qod.). Var. Lect. borel B, barrel M. Auch mague hat diese Be-
deatang angenommen.
51. Es kommt auch in obszöner Bedeatnng vor, wie
virga u. ä.: afrz. bourdon (La Curne) vgl. noch Lacombe; nfrz.
Belege bei Leroux. Vgl. auch oben Nr. 34.
Ich gehe nun zu den Objekten über^ die sich etwas weiter
von der eigentlichen Stockform entfernen, zu größeren Hölzern.
52. Balken, Stange: frz. bourdon perche formte d'un
arbre depouill^ de son öcorce (Larousse). Barra mit all seinen
zahllosen Ableitungen langu. barali = barricada bret. bardel
= barrilre etc. ist so oft besprochen, daß hier kein neues
Material zugefügt werden soll. Nur wegen der Bedeutung
^schützen, verrammeln^ sei bemerkt, daß Zaun und lebende
Hecke natürlich nach der Pflanze genannt werden, aus
der sie bestehen, und daß der Zaun zum Schutz des Eigentums
gemacht wird. ,Umzäunen^ heißt daher selbstverständlich auch
schützen, den Zugang erschweren (z. B. durch Dornen) >»
verrammeln, bardare und barrare bedeuten ursprünglich nichts
anderes als mit bardae oder barrae umzäunen, also schützen;
prv. baradis verschlossen bardä = mettre la bardelle = ver-
schließen knüpfen an barda im Sinne von ,quer gesteckter
Gerte^ an, cat. baradissa Gerte zum Verschluß der Fischrensen.
Daß dieser Bedeutungsübergang sehr alt ist, beweist barrum
(DC) = portum apud veteres Gallos (Valesius Not. Qall.).
Aus dem allgemeinen Begriff ,schützen' bardare entwickelt sich
z. B. ptg. bardar ein Dach mit Reisig gegen Regen schützen, von
da dann barda das Deckende im allgemeinen: 53. Schindel;
gen. bardella Ofenvorleger aus Metall (der den Ofen vor der
herausfallenden Glut schützt), auch barda (DC 1141) Pferde-
rüstung könnte hierher zu stellen sein. Ein heimisches und
ein arabisches Wort kamen sich entgegen. Alb. mburßn' ich
verteidige, schütze leitet Meyer (EW) aus barrare ab, mit Wandel
des a ^ u wegen des b. Es ist wohl eher zu den iur-Formen
zu stellen.
54. Balken im Wappen: sp. burel schmaler Streifen,
burelado mit abwechselnd gefUrbten Streifen verd.-chal. ber-
doder bardoler = barioler Streifen; barioler kann zu varius
gehören, vgl. aber noch frz. barrd gestreift.
Die BedeatQDgigescbicbte der romanischen Wortsippe bur(d). 57
55. Holz 9 das wilden Efihen um den Hals gehSngt
wird (um sie am Laufen ssa hindern) Urbeis (Horning Z.
XXIX 524) h^pi6.
56. Stützbalken, Stfltze des Mfililbalkens: frz. lourde,
haurdannier,
57. Hanptbalken der Diele: ven. bordenal agen. bor-
donar (AG VIII 333) Rhodos ßoqdoväq Stützbalken (Meyer
Ngr. IV 19).
58. Tragbalken: sard. burduni sp. bordone etc. alb.
murine Daehsparren (von Meyer £W zu ven. moragia Kloben
[Massafia, Beitrag 80] gestellt). Für die lautliche Entwicklung
vgl. alb. murello = burelo.
59. ftrnndbalken der Barke: mail. bor.
60. Angelstoek der TOr, worauf sie ruht: vend. bour-
dimneau. Das ptg. borde Gesims, Rahmen, auch Rinnstein,
Leiste ist zu bord Rand zu beziehen.
61. Stütze fSr gescheiterte Schiffe (ötai): Aunis bourde
(Littr^, Meyer).
62. Hastbaam: frz. bourdonnier.
63. Pfahl: sp. bdrgano roher Pfahl, barganal Pfahlhecke,
Pfahlzaun. Die Bildung bargus + äno ist wohl der von päm-
pano gleichzustellen. Da pdmpano auch Rute bedeutet (vgl.
sard. pampanata = musa de carrada bei Spano unter bur-
chioni) ist sogar eine unmittelbare Anlehnung möglich.
64. Großer Pfalll, mittels dessen beim Landen der
Schiffe verhindert wird, daß sie anstoßen: verd.-chal.
homayou.
Verschiedene runde Hölzer von größerer oder ge-
ringerer Länge:
65. Splißholz, Holz zum Splissen der Tauenden: ptg. borhl.
66. Bandes Holz zur Strlekfabrikation : engl. dial.
hwrrd.
67. Brehholz an der Drehbank: siz. barruni; barru
Stock, worauf der Drechsler die Hand stützt.
68. Biehtholz der Hntmaeher: em. baruvd.
69. Stampf (Baumstumpf): berg. bora langu. burlo berlo,
weh Stammende: prv. boumac(t) wall. Jorr, ftowr Baumstumpf.
70. Pfloek cat. brusca. Im allgemeinen ist bruscum Ge-
strüpp, also liegt wohl eine Beeinflussung von bur vor, vgl. Nr. 69.
58 y. Abhandlung: Richter.
Die Form des kurzen Stocks mit verdicktem Ende gibt
Veranlassung zur Namensübertragung auf Hölzer von entfernt
ähnlicher Form, aber in kleineren Dimensionen: vor allem
71. Nagel mit mandelfSrnilgeiii Kopf: berg. burdü biröl
hirol Holznagel im allgemeinen (daher ist die von Godefroy
vermutungsweise gegebene Erklärung von afrz. bourdon = ,cloa
h grosse tSte^ gewiß richtig) und von da weiter
72. SaltenschlQssel; Schlüssel am Saiteninstrument, Wirbel'
it. bischeroy im Voc. Cr. zu disculus gestellt; aber an den alten
Instrumenten findet man nicht nur Saitenschlüssel nach Art
der jetzigen, die allerdings eine kleine Scheibe haben, sondern
— und weit öfter — solche, die einem Holzklötzchen ähnlich
sind. Zu der Verwendung von bischero als Schimpfwort ,uomo
dappoco' paßt letztere Zusammenstellung noch besser. Das t
in biröl erklärt sich wohl aus gase, biroula = girare] denn
der Schlüssel stimmt ja die Saite, indem er gedreht wird,
und da die südfranzösische Musikkunst älter ist als die italie-
nische, kann der Ausdruck biroula für ,stimmen' von dort aus
nach Italien gewandert sein und die bur-Form fUr ,SaiteD-
Schlüssel' beeinflußt haben. Dann wurde die t-Form leicht
auf andere Klötzchen und Nägel übertragen.
73. Holzkell ven. borelo burelo alb. murello (Meyer
EW) berg. biröl
74. Holzriegel, Schloß: toul. bartabilo aus vertibellum
mit begrifflicher Einmischung der dazu verwendeten barta ;
berg. birli ist vielleicht ausschließlich auf biroula drehen sa-
rückzufUhren.
75. Zapfen am Faß: berg. borü burü langu. bouril
em. burcaj burchetta piac. borcaj toul. prv. bardoc afrz.
bourdon (DC: dolii umbilicus): deux bouteris de vin . .. les
bourdons dessoubs parquoy le vin s'en estoit tout aU, Dies
könnte also auch ,Spundloch' bedeuten vgl. unten S. 109, 3.
Von den Bedeutungen 5—8 ,Waffe' ist eine Übertragung
76. eiserne Kenle alp. boura langu. bourö das auch
77. Steinklopfer, Steinmeißel bedeutet. Dazu bourouna
boura Steine klopfen.
78. £iseme Stange: engl. dial. boryer auch eiserner
Bohrer, borcer (Mnret) Steinbohrer. Zu diesem wie zu boL
burcaj em. regg. boraj Metallbohrer vgl. unten S. 101 B.
Die Bedeatangsgeschichte der romanischen Wortsippe bur(d), 59
Entfernter ist die Ableitung:
79. It. buraitino Marionette; dies kann ebenso gut die
aaf ein Stück Holz gezogene als die ,ansge8topfte' Pappe sein;
Termatlich ist die Bezeichnung aus beiden Begriffen wie das
Ding aus beiden Materialien entstanden.
Von der Vorstellung des naturgemäß spitz verlaufenden
Rohres oder des spitzigen Stockes sind abgeleitet:
80. Gen. hurchi Spitzen der Heu- (oder Mist-) (j^abel =
rebbjy also hureo statt des gewöhnlichen hurca^ Cortaz (Schweiz)
herlo Spitze der Heugabel.
81. Von der Verwendung ,Ast' geht aus: iar^u« Galgen
(Lex Sal.) De hargis et ex rotis (M. G. IV 687. 8).
82. Vielleicht kann das bei Larousse verzeichnete borrel
L&ngenmaß von drei Metern, zu dem nur die ungenaue Be-
zeichnung ,Indien' gegeben ist^ auch hier eingereiht werden^
da das Rohr schon bei den Alten als Längenmaß verwendet
wurde und in Indien die Länge von drei Metern erreicht. Vgl.
E. B. afrz. cane.
II. Artefakte ans Flechtwerk. 1. Nachdem wir gesehen,
wie mannigfaltig die Verwendung des Rohrstockes als einzelner
Gegenstand ist^ gehen wir zu der Betrachtung aller der Kultur-
objekte über, die aus Rohr (Weidengerte) geschaffen werden.
In erster Linie ist hier nochmals des Zaunes zu gedenken, inso-
fern er nicht nur lebende Hecke ist, sondern auch künstlich ge-
steckt und geflochten war. Oft ist er auch beides zugleich, wie
anfangs bemerkt wurde (S. 4). Vgl. S. 56, 62 und 57, 63.
2. Die Verfeinerung des Zaunes ist das Gelinder: cat.
barana sp. baranda (Baist, Z. VII 124, vgl. Schuchardt, Z. XIII
491) und dann weiter 3. barandat = envä oder mfrz. bour-
doir Oalerle, das von bourdoir ^champ du bourdouer^ jedes-
falls zu scheiden ist: (God.) 1468 ou marchii au devant du
bourdoir present le peuple y assembli, und 1522 ung petit
bourdoir ou gallerie pres la porte de Vostel de ville. Eine
komplizierte Ableitung aus Turnierfeld mit Galerien umgeben,
von da spezialisiert : die Galerie, scheint nicht notwendig, wäre
auch an sich wenig gewinnend, um so mehr als die Bezeichnung
Turnierplatz daneben besteht.
Hingegen ist hier die Frage zu behandeln, wie es sich
mit dem Einfluß von germ. bort verhält. Border einfassen,
60 y. Abhandlung: Richter.
berändern, könnte ohne alle Beihilfe aas einzäunen = mit
Rohr am Rande einfassen erklärt werden; andererseits ist
der Begriffsübergang von bort = Brett za ,Rand' überhaupt
nnr dann vorstellbar, wenn die Bretter eine Einfassung
bilden; m. W. sind uns nun keine Ausdrücke ftir ^Bretterver-
schläge' erhalten, sondern nur für Zäune aus Rohr- und Strauch-
werk, in natura oder geflochten; aber beim Sohiffsbord sehen
wir, daß die Bretter, welche das Schiff bilden, und die — pars
pro toto — leicht zu einer Spezialisierung (,bord' par ezcellence)
Veranlassung geben konnten — daß diese Bretter auch zu-
gleich der Rand, die Abgrenzung sind. Die Entwicklung von
,Brett' zu ,Rand' geht also über ,Schiffsbord^ Nun verdient es
wohl Beachtung, daß wir vom germ. bord keine deutschen
Ausdrücke für Zaun, Einfassung, Ufer u. dgl. haben — das
Englische kennt nnr to board verschalen und von da weiter
boarding Bretterverschlag — sondern daß diese Begriffsent-
wicklung auf romanischem Boden vor sich gegangen ist.^
Aus all dem ergibt sich, daß die Rolle von bord in den
romanischen Sprachen eine etwas andere ist, als man bisher
annahm: Es ist in erster Linie Schiffsbord; in allen anderen
Bedeutungen, die man ihm sonst zumaß, kann zum mindesten
burd' die Grundlage abgeben. So sind zwei begriffsverwandte
Wörter gleicher Lautung von ganz verschiedener Herkunft
zusammengefallen. Während aber von germ. bord aus nicht
erklärt werden kann, wieso es z. B. ein lang, burlo, berlo =
Rand eines Geizes gibt, ist der Z-Stamm in unserer Sippe
ganz gewöhnlich ; wenn man für broder sticken auch nicht mehr
von bord = Rand ausgeht, so ist natürlich ,das Rändern' fUr
die Parallelen zu broder vom Stamm bord- nicht wegzuleugnen.
Neben span. bordar steht nun noch gall. borlar. Auch das afrs.
' VJ\T treffen sie im FransOsisch-ProYenzalischen , im Spanischen (ftorflle,
während Rand nnd Schiffiibord in den Formen hord4}^ horda, borde Tor-
handen sind. Das -e scheint auf ein nicht antoehthones Wort su deuten ;
T^l. aber auch barde << burdut unehelich, wild 8. 10, 8 und barde 8ala-
kraat 8. 17). Im Portugiesischen ist borda Ufer, wShrend bordo Rand,
Schiffsbord, borde Gesims, Rahmen bedeutet Italienifch ist die Bedeu-
tung ,Ufer' nicht Torhanden; daher ist bordeggiare = ,da8 Ufer entlang
fahren' entlehnt. Umgekehrt hat das FransOsische iwar das Grundwort,
aber kein Verb dieser Bedeutung entwickelt, denn Uter fn. bordeytr (Littri)
iat ja, wie die Form beweist, ein Lehnwort aus dem Proyenaalisohea.
Die Bedeatangsgeachichte der romanischen Wortsippe burfd). 61
bordannal ^qui conrt aar le bord d'nne terre' (God.) ist von bord-
aus anverständlich, aber von burd- ans selbsverständlich. Das
ptg. bordo Holz von Ahorn, Rot-, Wintereiche etc. ist als Schiffs-
bauholz zu verstehen wie cast. borde (Const.). Die Zusammen-
Stellung der Bäume schließt jede Annäherung au die oben be-
sprochenen Pflanzen aus und nur nach ihrer Verwendung sind
sie benannt Von hier aus erklärt sich das agall. boi'dido [hart.
3. Von bur- her hat wohl die Umwandlung von butina
ftrenzstein (vgl. Baist, Bausteine z. R. Ph., 559 ff.) afrz. bonner
begrenzen stattgefunden, denn bonner = bomer heißt ein Gebiet
abgrenzen mit Hecke, Pfahl, Zaun, Dornengestrüpp
oder Graben, sämtlich Vorstellungen, die zur &ur-Sippe ge-
boren. Die Grenze ist oft durch einen Pfahl bezeichnet; der
Grenz- (oder Meilen-) Stein ist oft rund wie ein Baumstrunk und
so ist die Verschmelzung von bura -|- banne leicht begreiflich.
Andererseits erklären sich von hier n- Formen unserer Sippe.
Das S. 43, 47 erwähnte aprv. bams pomum tentorii könnte
(nach M.-L.) hierher zu beziehen sein, nach der Form des kegel-
D^rmigen Zeltes, den der boms beschließt; es wäre dann eine
Übertragung vom Ganzen auf den bekrönenden Teil. Im Italieni-
schen gehört hierher bomi Wartsteine, Verzahnungen.
Von barne Markstein sind mehrere Fortbildungen zu
konstatieren :
4. Cat. bom Platz, Markt. Borne ist, wie eben bemerkt,
nicht nur Grenzstein, sondern auch Meilenstein.^ Da gewöhn-
lich in einem Dorfe der Meilenstein, von dem aus die Zählung
beginnt, auf dem ,Platz' oder ,Markt' steht, so kann die Be-
zeichnung für diesen Mittelpunkt des Ortes wohl von dem
dort stehenden Meilenstein herkommen.
5. Acat. bom Hai, Reihe und bomar sich umdrehen,
kommen ganz deutlich aus dem Vorstellungsgebiete des PflUgers:
so oft er an einen Grenzstein (Pfahl) kommt, geht er mit dem
Pfluge um ihn herum (denn innerhalb des Ackers kann er ja
nicht umdrehen). So viele ,&om' er umgangen hat, so viel
,Male^ hat er Furchen gezogen. So wird bomar den Grenzpfahl
umgehen = umdrehen und bom, das Deverbale, das Wort
* Auadrflcke Ar Meilenstein vom SUmm bom- kann ich proTenBalisch,
katmU&iach, epaniich und portngiesisch nicht belegen.
62 y. Abhandlang: Richter.
für Umdrehung, Mal. Bomar dar voltas, torns (vgl. tomeo) be-
deutet dann weiter 6. tarnleren, vgl. Cat. S. W. M. 603.
7. Zu diesem bornar umdrehen gehört jedesfalls ptg. bar-
neira Mfihlsteln, der sich drehende; span. bamera schwarzer
Mühlstein. Der Zusatz ^schwarz' (Tolhausen) ist jedesfalls
akzessorisch: Mühlstein ans schwarzem Material.
8. Span. ptg. bornear Richten^ Zielen des Geschützes.
Man dreht so lange, bis man auf den richtigen Punkt kommt.
Im Portugiesischen heißt bornear auch Visieren, wie frz. bor-
noyery mit den Augen zielen und damit ist der Übergang za
9. schielen 9 zu lippire gewonnen. Afrz. biymeerj bor-
noyer regarder de travers wall, borgnier. Schielen = die Augen
herumdrehen, daß sie nach verschiedenen Seiten sehen; beim
Visieren drückt man ein Auge zu; der Visierende ist ein ,Ein-
äugiger^ Der wirklich Einäugige ist gezwungen, das Auge,
respektive den ganzen Kopf stark herumzudrehen, um den
Eindruck der Dinge zu gewinnen, den der Zweiäugige auf
einen Blick hat. Diese Eigentümlichkeit, die einem an Ein-
äugigen rasch auffällt,^ kann die Bezeichnung hervorgerufen
haben. Auf Verwandtschaft von borgne und bornear krümmen,
biegen wies schon Litträ hin und Diez nahm fbr borgne die
Bedeutung schielend als die ursprüngliche an. Unter den Va-
rianten zu bonnage (boue-^ bour) habe ich kein borgnage ge-
funden, das die für borgne geforderte Parallelform abgäbe;
hingegen sind -r lose Varianten zu borgne wall, boigne bourg.
bane. Eine Form mit dentalem n bringt God. aus Neuchatel:
Jehannete la bornate. Übrigens können auch die oben genannten
bomeer, bornoyer hier in Betracht kommen. Die Einwirkung
von bor- auf bonn- ist so früh möglich, daß die Begrifisüber-
tragung auch schon fürs älteste Französisch denkbar ist. Lim.
borli erklärt sich dann durch die Annahme, daß der Stamm
bom- ganz und gar durch ein iur-Derivat ersetzt wurde (vgl.
die vielen Formen, die auf dem. *burulu zurückgehen, S. 16;
43, 47 und 48 u. a.), während prv. orlio durch Einfluß von
orbus (Nigras ^orbulu Z. XXVIII 7) sein b- verloren haben kann.
Borgne selbst kann als deverbales Adjektiv (wie comble o. dgl.)
^ Dieser Bemerkung Hegt eigene Beobachtang ingrunde, die mir Ton
fachmännischer Seite, gans besonders für Tiere, bestfttigt wird.
Die Bedeutnngflgeschichte der romanischen Wortsippe burfd). 63
respektive Sabstantiv angesehen werden, wie schon Ulrich
Z. III 266 annahm, der horgne ans dt. bohren ableitete, da bohren
= drehen angesetzt werden könne.
10. Eine Frage von allgemeinerem Interesse ist die nun
▼erliegende, ob barda Hfttte von hier aus erklärt werden
kann. Es ist die ans Rohr geflochtene Hütte, wie sie ja auch
jetzt noch hergestellt wird, indem man Binsen nnd Raten am
ein Gestell aas Stangen flicht,^ vgl. Hehn 137 and 517, wo er
von bördelte spricht, wallachischen BaaernhUtten ohne Fenster,
die im Winter darch eine geflochtene Tür verschlossen werden.
, Gegen die Zasammenstellnng mit germ. bort hat sich Schachardt
j gewendet (R. E. II 173); ich möchte noch hinzafägen, daß
t wir vom Stamm bort im Romanischen keine Aasdrücke für
I Brett haben, im Germanischen keine für Hütte, aber aach im
I Romanischen keine für Bretterbade, sondern eben für ge-
flochtenen Unterkanftsort. Wir haben von derUmzäannng
anszogehen and als erste Form die Hürde' aazasetzen. Das
Nebeneinander von bur burd, respektive bor bord bedarf nan
keiner Erklärang mehr. Der älteste Beleg dürfte burica (Lex.
AL 97) sein, die Schaf- and Schweinehürde, die aas
Röhricht oder Weiden geflochtene Einzäanang: Si quis buricas
in silva tarn porcorum quam pecorum incenderit Nach GrafF
latinisiert aas germ. burc, was keiner Widerlegung bedarf; es
kann höchstens ein Zasammenfall von bur- + burc = ber-
gender Ort angenommen werden. Sogleich begegnet ans eine
Parallele mit st. bar: (DC) bareca: (Test. Tellonis ep. Ca-
riensis) cortem meam . . cum bareca cam omnibus qaae ad ipsam
cnrtem pertinent; baregum (Stat. Vallis Serianae) septam ex
eratibas qao per noctem grex includitar. Berg, barec Schaf-
hürde ptg. bardo Hürde.
11. Bekommt die Umzäanang ein Dach, das meist aach
aas Schilf gefertigt ist, so ist der Stall fertig: Bajeax buret
toit k cochons, Gayenne bbri mit Ziegeln gedeckte Schafhürde ;
DC.: burrium vivariam canicoloram, engl, burroto] G III
* Vgl. Baoal de Presley (God.): PreiDiörement y commenciöreDt les gena
I k faire loges petites et bordes comme feirent les Boargueignons qaand
' U Yindrent premiörement en Bourgogne, oder Jeh. de Brie: une logette
de fast sur quatre reelles en maniöre de borde portable.
' * Vgl. aach Merioger, Idg. Forschangen XVII 143.
64 y. AbhandluDg: Richter.
618. 12 borion i. e. peristerion^ also Taubenschlag. Da-
gegen gehört prv. burquier Eselstall zu houriqu- E^el.
12. MIat. bura OerStschuppen ist öfter angesetzt worden ;
piac. 1388 (Muratori XVI 582) in eorum domibus sunt pulchrae
camerae et caminatae bora cartaricia pntei hortali jardini et
solaria. Bora kann hier nichts anderes heißen als Wirt-
schaftsraum.
13. Hingegen sind die schon S. 26 erwähnten buri eben-
sowenig als Qerätschuppen wie als Waschplätze zu deuten,
und zwar aus demselben Grunde; weil nämlich eine zu große
Zahl von Arbeitern dort beschäftigt wird. Vielmehr wird man
Heierei darunter zu verstehen haben, wie ja noch jetzt im
prv. bario, bourieto, bordo mätairie, kleines Anwesen bedeutet.
Dazu kommt bouiras Bauer und die buri, worunter Du Cange
, Ackerer, Pflugheber^ (zu buris) verstehen will: in dominio
sunt 2 carucatae 18 villani et 11 bordarii et 2 buri et pres-
byter. Diese Deutung ist zum mindesten nicht geboten. Viel
wahrscheinlicher sind darunter ,Meier' zu verstehen. Den
Unterschied zwischen bordarii und bwri kann ich allerdings
nicht feststellen. In frlre Bourt (ebd.) ist jedesfalls das -t
unerklärlich, wenn es von bv/rio abgeleitet ist, hingegen ganz
verständlich, wenn es sich um ein Wort unserer Sippe handelt.
Vielleicht könnten auch einige deutsche Ortsnamen hierher ge-
hören, die auf buria zurückgehen, vgl. Förstemann II, S. 367 ff.
Für borda Hütte ist es überflüssig, Belege zu bringen.
ISa reicht bis ins Rumänische: bord^ü. Von der Form bur-
seien nur erwähnt: afrz. boron (Tristan 2824 ed. Muret) von
Tobler in bezug auf die Bedeutung ,cabane^ angezweifelt (Z.
XXX 742) prv. bouroun langu. bourron (nach Mistral liegt
germ. bür vor) bourriage frz. buiron, buron.
14. Frz. buron buiron Taverne, cabaret. (Vgl. das Ver-
hältnis von cabaret zu cabane bei Bemitt a. a. O. S. 93.) Dies ist
der erste Schritt zu der Bedeutungsverschlechterung, die das
,Hüttchen' erfährt. Es ist zunächst ein Ausschank, Ort wo es
hoch hergeht, wo viel Lärm gemacht wird, wo Vagabunden
und Dirnen ihr Wesen treiben. In Neuenburg (Gauch.) borde
maison en d^sordre. Es ist eigentümlich, daß alle diese Vor-
stellungen mit &ur-Wörtern ausgedrückt werden, ohne daß die
Bezeichnungen unmittelbar voneinander beeinflußt würden. Nur
Die B«d6atungs|^e«ohiehte der romanischen Wortsippe hurfd). 65
einige Ausdrücke für Lärm^ wirres Durcheinander (vgl. unten
S. 106) können unmittelbar an fiordell'^ anschließen. Übrigens
geht jedes seiner Wege. Während bordelluniy wie es scheint,
allgemein in der pejorativen Bedeutung spezialiert ist, sind
andere Deminntiya, z. B. bourdeto, bordeto^ bourieto u. a. in
indifferentem Sinne lebendig.
Prv. burguet Schäferhütte.
Vom Stamm bar: ptg. barga Strohhütte.
15. Ein anderes Gebilde aus Kohrgeflecht ist der Fisch-
weiher, sfrz. bourdigue^ bordigalum, bordigolum 1225 bei Du
Gange, der erklärt quasi in borda vel a borda == virgula
baculus. Die Vergleichung quasi in borda paßt nur für die
eine Bedeutung des Wortes: arcae maioris genus, Fisch-
kasten. Die jetzt gewöhnlichere ist Buhne. Die .bourdigo
besteht aus zwei spitz gegeneinander zulaufenden Rohrwänden
von beträchtlicher Höhe, an deren Innenseiten mehrere nach
innen geöffnete Türflügel (ebenfalls aus Rohrgeflecht) ange-
bracht sind. Zur Spitze zu werden die Offnungen immer
enger, der innerste Raum ist ganz abschließbar, so daß die mit
der Strömung hineingeratenen Fische gefangen sind. Mit einer
Hütte bat also die bourdigue gar keine Ähnlichkeit und bei
der Stabilität derartiger Artefakte wohl nie gehabt; auch ließe
der Zweck der Sache es nicht zu.
Burdica kann das Etymon von Bordighera sein. Für
Burdigala bleibt die Frage doch immer noch offen.
16. Die Ausdrücke für Kahn hat schon Schuchardt mit
denen fllr Weiher in Verbindung gebracht; für it. burchia
aard. burchiu fordert er das Etymon burdica *budiclu, ohne
aber weitere Folgerungen daran zu schließen (R. Etym. II 173).
Wir haben noch mlat. burcla = bussa (DC) die die Gestalt
des Weinfasses nachahmt rom. burcell prv. burs^ (Ro. XXI
Le roman prov. d'Esther v. 70 La gran gent que venc per mar
Am burs e am galeias), P. Meyer will beidemal ambe ergänzen ;
ambe bura ist nicht wahrscheinlich in Anbetracht der Verse
136, 140. Man könnte aber burses setzen: burse < burcia.
Aprv. ist burt, wozu also der Oblicus burc zu setzen wäre;
* AuBdrfleke wie Nenenbarg (Oauchat) b^rdlä = coarrir les fiUes brattchen
oatQrlieh nicht besprochen su werden.
9ilmr«bw. d. phil.-Uft. Kl 156. Bd. 5. Abh. 5
66 y. Abhandlang: Richter.
it. sp. barca, vegl. buarca, buark sp. barga ü. ä. Wir haben es
ursprünglich mit einem aas Weiden and Rohr geflochtenen Boote
in Gestalt eines tiefen Korbes za tun^ wie es noch jetzt in Wales
anter dem Namen ,coracle' existiert. Es ist mit Leder oder
Wachstach überzogen and wird mit nar einem sehr kleinen
Rader dirigiert. Es faßt nar einen Mann, der es, sobald er aas-
steigt, mit Leichtigkeit über den Kopf gestülpt nach Hanse trägt.
17. An den Korb, in dem der Mann zam Fischfang sitzt,
schließt sich der aus Stroh oder Bolir geflochtene Korb,
den man ins Wasser hängt, am Fische darin za fangen:
em. borga, burga frz. borgue (Ro. XX aas Cotgrave). Und
zwar soll nach Ansicht der Heraasgeber Darmestetter-Hatzfeld
das u ,faative' sein statt n: die Aasgabe von 1723 gibt
bargne and dies stimmt za frz. bourgnon^ za prv. boime Höhlung,
Loch. Aber wie diese Zasammenstellang beweist, kann borgue
sehr gat bestehen; es ist eine ebenfalls aas dem Südfranzö-
sischen entlehnte Bildung aus *burica und entspricht genau dem
emil. borga und folgenden Formen von modifizierter Bedeutung.
18. Em. boregh bürg burgott Korb aus Stroh oder Rohr,
worin Tauben nisten, ven. borga Weidenkorb, der an einem
Pfahl im Wasser hängt zum Aufbewahren von Fischen.
Übrigens kennt auch Larousse borgue. Über das Verhältnis
zu prv. bome vgl. unten S. 70; prv. boumion Bienenstock und
weiter: Ort, wo Bienenstöcke stehen (vgl. S. 69,9 und S. 98),
prv. boumal Bienenstock hat noch eine andere Weiterbildang :
Honigwabe. In Aunis ist bourgnion ein Korb k gros venire
et Streite emboachure. Man könnte daher auch an die S. 109
aufgezählten OeiUßbezeichnungen denken.
Vom Stamm bar: prv. bamolo Weidenkorb für Fische
ptg. barda Korb aus Zweigen mess. (Ro. V) b^rtün Brotkorb
(Mehl-, Kleienkasten).
19. Übertragen auf: Körbchen aus Binde: prv. bouirelo^
berlesco, cat. berla Brettchen.
20. Sehr häufig sind die Bezeichnungen ftir Netz; es
handelt sich um Netze, die aus Rohr oder Gerten geflochten
sind, oder auch um Netze, die an Stöcken und Rohrstangen
ausgesteckt werden (vgl. oben Bleistock). Da ist vor allem
mlat. bruginum Netz (DC) auch bruginus, bi'oginua ,in Mss.
legitur burginu8% seltener brugina (1250). Das prv. bourgin
Die Bedeutnngsgeschiehte der romanischen Wortsippe hur(d). 67
dazu enibourginä fangen^ Fische im bourgin fangen ; frz. bregin
bergin Zugnetz (Schuchardt, Z. für Dt. Wortf. II 83) afrz. bure,
DeuxSivres bourole konisches Netz ohne Reifen^ Vienne bourole
birnenförmiger Korb, Dordogne borigue (Laronsse) Aunis
(Meyer) bourgne Netz zum Aalfang span. burinot] sp.
bourel Fischnetz mit Korkstücken afrz. (Qod.) bourroiche,
ouche^ bouresche -ache, berroiche, modern bourache -ague aque
-ayne, bouragni Weidennetz, auch: eine Art Maasefalle.
£ine ganze Reihe der von Schuchardt (a. a. 0. 82) aaf-
gez&hlten Nachfahren von ^vertibellum wird ihre veränderte
Lantgestalt daher haben, daß das Material mitspielt, aas dem es
gemacht wird; ich nenne nur die oberital. Formen bartovel bertu-
lin bartadel bartarel bortorel, sfrz. bourtoulen und die (/-Formen:
oberit. bardevel sfrz. bardoulet Gegen die Annahme dieser Ver-
quickung ans zwei Vorstellungen wird um so weniger einzuwenden
sein^ als Schuchardt selbst die Variante vergol u. ä. durch Ein-
mischung von verga Rute erklärt. Zu erwähnen ist noch cat. ber-
trol langu. bertoul Netz zum Aalfang sard. bertule (AG XIV 390)
bisaccio ptg. barga (Schuchardt a. a. O. 82) einwandiges Stell-
netz gal. barjel und andere daselbst aufgezählte Varianten.
21. In diesem Zusammenhange , besonders mit RQcksicht
auf die Formen bortarelj bourtoulen, das abr. burtine u. a.
erklärt sich die bortanea tecte manualis (= basterna G V 17 1 .
4 und a. a. O.; Isidor Liber Gloss. 1338), die also nicht schlank-
weg zu basterna zu ändern ist; wie Goetz vorschlägt. Schwierig
ist es nur, das frühe Auftreten des -^ zu erklären. Doch passen
Form und Bedeutung so gut zu so vielen der hier aufgezählten
Formen, daß man sich nicht entschließen kann, das Wort von
ihnen zu trennen.
22. Stricke aus Binsen flochten schon die Griechen, vgl.
Plinius (S. 5), der speziell die Stricke aus spanischem Sparto-
gras erwähnt. Wir haben frz. (Larousse) borreau corde de
bourre, woher also der bourreau wie der dt. Henker ableitbar
ist (vgl. S. 50, 12)/ um so mehr als ja auch im frz. der Ausdruck
pendeur existiert; ptg. burra corda de mezena (naut.) baraqo
Strick, Schlinge etc. baraga Riemen aus Werg, daher baracejo
,eine Binsenart, aus der Matten geflochten werden' (Mich.).
23. Auch von Hirtenkleldern aus Spartogras berichtet
Plinius, vgl. S. 5. Uns ist seit Augustin überliefert die burda
6»
68 y. Abhandlang: Richter.
amictns innceus, ein ans Binsen geflochtenes Bttßergewand^
anch buda. Man erinnere sich des it. dial. btida Schilf und des
in den Glossen öfters vorkommenden buda * historia (z. B. IV
490. 4) = azÖQsa. Aas gespaltenen Pflanzenblättem gemachte
Kleider, die oft ganz feinen Geweben gleichen, oft in buschige
Fransen ausgehen und Pelz nachahmen, sieht man in vielen
ethnographischen Museen von allen Naturvölkern.
Bei Du Gange lesen wir auch burdaa operimenta
capitum; hält man den bardocuculltts (vgl. S. 29, 11) dazu, so
kann man sich eine Kapuze denken; eine Bezeichnung ftlr
Hut ist mir im Romanischen nicht begegnet.
24. Rom. bardavella GSngelbBnder.
Endlich sei noch daran erinnert, daß die weicheren Binsen
und die Weidenruten zum Binden dienen, wie Bast. So wird
sich wohl erklären 25 sp. ptg. barda = basta, Heftnaht Doch
ist's von da zum wirklichen Nähen eine so große Kluft, daß
es unmöglich schien, burdus = Schneider (Diefenbach) ein-
zureihen, ganz abgesehen davon, daß es schon vom morpho-
logischen Standpunkte aus fürs Lat.-Romanische eine unmögliche
Bildung ist. Die Glosse stammt aus einem ags. Glossar burdus *
seamere (bei Diefenbach irrtümlich reamere) und wird mit
,Schneider' übersetzt, da allerdings seamere = sartar W.-W. 312.
13 und 99. 17 vorkommt. Femer findet sich nun aber ieamere
mit burdua gleichgestellt: 274. 9 (10.— 11. Jahrh.) unter Tier-
bezeichungen (dazu die Anmerkung: read burdo). Hier haben
wir also natürlich seamere = Saumtier vor uns. Und da wird
es wohl an beiden anderen Stellen (117. 5 und 359. 17) — es sind
im ganzen nur diese 5 Belege — ebenfalls ,Saumtier' bedeuten.
Siz. burduni Handschuhnaht kann zu bard- Randver-
zierung gehören.
UI. Ein für sich stehendes Artefakt aus Rohr sind Pfeile.
Daß die alten Völker — Asiaten wie Europäer — Pfeile ans
Rohr schnitten, ist bekannt, speziell Air gallische Industrie vg^.
die schon oben S. 4 zitierte Stelle aus Plinius. Erhalten ist
südit. horretU (Z. V 19).
Zweite Unterabteilung: Das hohle Rohr.
§ 6. Daß beim Rohr die Höhlung ein wichtiges Merkmal
ist, erhellt von selbst; daß man Rohr aus Metall und Hole
Die Bedeatnngvgpeseliielit« der ramaiiiBeheii Wortstpp« bur(d). 69
Djushahmte, ist ebenfiüls selbstrentändlich and uralt Die
NamensQbertngaDg hat anch bei canna a. a. stattgefimden ;
80 ist es nur natürlich, daß man die Bezeichnung von dem
Rohr, das der lebenden Pflanse Ähnlich sah, nach und nach
weiter aasdehnte aaf sehr verschiedenartige Röhren: Abzogs-
röhren, daher Kanal, Leitang, Rinnsal; Schlauch; and schließ-
lich übertragen aaf allerhand röhrenförmige Dinge.
1. frz. haurre Feuerrohr (Waffe).
2. buretie ftlasrOhre zum Darchsickemlassen der
FlOssigkeit.
3. afrz. berroul (-ail) Seltlaneh; sp. ptg. borracha
Schlauch ist wohl nach der haarigen Außenseite benannt, Tgl.
oben S. 27, 4.
4. nun. burluiü BShre, burldn Abzugsrohr; alb. burii
Röhre, Kanal, Maschine in Röhrenform, Hörrohr,
Elefantenrüssel, Saugrüssel der Insekten und manches
andere.
5. Kanal. Ptg. böroa mit dem Vermerk ,e näo boroa
(Const.)' läßt auf *burina schließen (vgl. S. 24). Piem. bordon
solco acquajo und danach toul. les bourdous Furchen (Douj.)
prv. bimrdou(n) Streifen Erde, der durch Harke oder Pflug
im Weinberg herausgenommen ist, also eine Furche, die mit
einer Abzugsleitung ja einige Ähnlichkeit hat Piem. bomb
Kanalrohr, kleiner Kanal.
6. Langu. borgno Abflußrohr einer Mfthle, Mflhlen-
gerinne, prv. bomo Kanal, Rinnsal (vgl. hierzu S. 24) bumeu
bomal bamec Rohr im allgemeinen, boumela munir de tuyaux;
piem. bomal doccia langu. bournel großes Rohr.
1. Frz. bome (Larousse) Brunnen in Form eines Meilen-
steins yion. bumi Brannenrohr, Freiburg (Gauchat) bomi^
und daher auch Brunnen.
8. Prv. boumac (aprv. iomac Rom. XXXIV 198) hohler
Zylinder; zentr. frz. bourgnago hohler Zylinder, worin Kastanien
geseh< werden.
9. Zentr. firz. (Jaubert) borgnan bomion brugnon brougnaun
baurgnoun prv. baurgnan boumac Bienenkorb Aunis (Meyer)
boumaly bei Qodefroy noch boumail boumois] bourgnon ent-
wickelt eine weitere Bedeutung Hut, wie caboume (s. u.) Hut
von Mönchsorden (RabeUis U 7).
70 y. Abhandlangr: Richter.
10. Freibarg (Qauchat) bornlia ZngrShre (Zugloch) des
Backofens, bwqma hölzerner Kamin über dem Herde mit
weiter Öffnung, durch Klappdeckel verschließbar.
11. Zentralfrz. boumau bomo boumigoun Asoheilloch
des Ofens. Man kann bei allen diesen Formen den Zusammen-
hang mit prv. bomo Loch bournage Höhlung bourna
aushöhlen nicht verkennen. In Bresse ist bome Loch bomu
hohl prv. bournä boumado = ausgehöhlt > hohl. Verd.-chal.
bomote borgnote Winkel, versteckter Platz, z. B. zwischen
Steinen, wo man etwas aufhebt. Auch im prv. cabourne steckt
es, indem es sich mit cavema kreuzt.* Prv. bournal Futtersack
mit seinem n-Stamm paßt besser hierher als S. 27, 3.
Es fragt sich nun aber: woher kommt bournä? Sollte
nicht *'burinare = bohren die Grundlage sein, so daß wir eine
Doublette hätten: burinare bohren, wie it. borinare u. a. (vgl.
S. 101, 1) und daneben bumare höhlen? Sämtliche zugehörige
\A'orte lassen sich ohne weiteres aus dem Verb ableiten. Neben
*burnare kommt auch *bumiare in Betracht; wir haben zwar
nicht das Verb *bourgnier ^ aber verschiedene Substantivbil-
dungen, die oben genannt worden sind, fordern es als Grund-
lage, z. B. noch Aunis bourgnon, pannier k gros ventre et
Streite embouchnre usw.
Burinare hat vielleicht die Spezialbedentung ,Schacht
graben^ angenommen im großen Kohlengebiet bei Mons, daher
dessen Name Le Borinage. Borains sind die Minenarbeiter der
Gegend. Jedesfalls haben wir bure Schacht, das uns wieder
ganz auf unser Gebiet Hihrt.
12. An die Bedeutung Abzugsrohr, Kanal, schließt die-
jenige an, die, was die räumliche Dimension anbelangt, am
allerweitesten vom natürUchen Rohr entfernt ist, die Kloake.
* NigrM Erkl&rang (AG XIV 272 ff.) bo vieler Worte mit ea < quäl-
scheint mir wie in diesem Falle so auch in den meisten anderen unbe-
friedigend; erstens ist quäle in all den herangesogenen Dialekten er-
halten, aber in anderer Form. Zweitens paßt anch begrifflich die
Herleitung meistens nicht: calabrume ist nicht ,wie der Winter*, sondern
,Einfall {calare) des Reift*, Tgl. Schneefall; galabuak Maikftfer ist nicht
,wie einer, der HOrner hat* — er hat sie ja wirklieh — sondern das
im Walde Schweifende (galare) usf. Schuchardt (Rom. Et. II 139) setst
*cavuma an und führt auch eahorgnon auf cavtu zurück (Z XXXI 11).
Wir haben die Vermischung der Wörter fllr hohl und gebohlt.
Die Bedeutnngsgeschichte der romanischen Wortsippe burfd). 71
Hier(lir haben wir sehr alte Belege: burga chaca (Isid. L.
GIoBS. 1340), burca cloaca (G V 596); burga clavata V 592. 18.
Varianten zu cloaca: 543. 18 clavaca, IV 432. 15 claveca] letz-
teres könnte also clamca = clavia, ersteres auch clavata sein,
so daß wir den mit Eisen beschlagenen Stock, KnUppel vor
uns hätten, vgl. oben S. 48 a. a. Bei Isidor noch : cloaca * horda
und burca. Das ebenfalls unaufgelöste bursa * clausa (Gt V
277. 38) ist wohl in burca zu ändern, vielleicht zu Schleuse
S. 24, eventuell zu Hürde S. 63, 10 zu stellen. Da wir aber V
173. 10 bursa ' cloaca haben, könnte am Ende clausa zu cloaca
zu bessern sein. Jedesfalls haben wir fast alle Haupttypen der
bttr-Sippe in den Glossen vertreten. Zu burca * cloaca gehört
kal. vurga, vruga Pfütze (Schuchardt, R. E. H 130) auch Strudel;
ngr. ßovQxa^ ßovQxog Schlamm (Schuchardt rechnet auch piem.
buria her, vgl. S. 24; hier berühren sich wieder verschiedene
Aste des Baumes).
13. Eine groteske Begriffserweiterung von der Bedeutung
Kloake ist die zu HSUenpfuhl, die offenbar vorliegt in agen.
borchan (AG ü, S. 256. 14 : per fuzir ogni re zogo de qv^esto
segaro fauzo re e van, per no descender in borchan (wozu
Flechia ebd. VIII 333 : incerti per me Torigine e il significato).
C. Die Bohrpflanze als Ganzes.
§ 7« Hier handelt es sich um Vorstellungen, die nicht
mehr an einzelne Teile der Pflanze anknüpfen, sondern auf zwei
ländliche Gepflogenheiten zurückgehen, die man regelmäßig mit
dem Rohr vornimmt, nämlich erstens das Aufschichten des
Rohres (mit der Verallgemeinerung: der Haufen, die Garbe)
und dann das Verbrennen des Rohres. Darnach sind auch
hier zwei verschiedene Bedeutungsgruppen zu beobachten.
I. Anblafang. 1. Die Ausdrücke — sowie die Vor-
stellung — des Anhäufens knüpfen an die des Runden und Er-
habenen an, die S. 43 besprochen wurde, aber sie müssen
nicht aus ihr entstanden sein; jedesfalls ist es notwendig, das
geschnittene Rohr wie anderes Gras, und auch Getreide, zum
Aufbewahren, Trocknen, WegfUhren in Haufen zu schichten,
and so konnte die Anhäufung von Rohr (kleinen Zweigen,
72 y. Abhandlung: Richter.
Gerten, Stroh, Korn) nach dem Rohr selbst benannt werden: frs.
buirette bourrie kleiner Heuhanfen, prv. bourreio Bündel von
gleichmäßig kleinen Zweigen, frz. noch (Ood.) bruliau, bourr^]
bourrie ist auch Maßbezeichnung: brüler une botirrSe] bure Hänfen
aus Kohrstöcken, and zwar speziell Seheiterhaafen, woraus
weiter: Freudenfener, weil am ersten Fastensonntage Freuden-
feuer angezündet werden, die ans solchen Scheiterhaufen be-
stehen; vgl. S. 76 ff. Vielleicht wäre auch bordde in dem oben
S. 33, 17 angefahrten Idcher sa bordie hierher zu beziehen, nach
dem Bilde dessen, der, eine Last Stücke oder Gerten aufbindend,
sie mit Krachen (von der Schulter) zu Boden prasseln läßt.
2. Piem. borla == bica, masse di covoni, wozu borH auf-
häufen. Bei Du Gange borla spicarum manipulus, manipulornm
certa collectio a. 1496. Berg, btrla großer Heuschober wekh
bwmel, bymaid Bdndel, Pack.
Mit St. bar: berg. baruc Heubttndel Aunis (Meyer)
bargßf berge (DG. berga) barguenau Heuschober afrz. bärge
barche] wald. baron (AG XI 293), von Morosi zu prv. bar =
bastione gestellt. Dazu abai^na piem. baroni sammeln. Dar-
aus entwickelt sich einerseits:
3. Haufen im allgemeinen, große Menge von etwas:
berg. bordil prv. bouroun] a baren k foison (von Mistral zu
baren Abgrund gestellt).
4. Eine eigentümliche Spezialisierung zeigt das Piemon-
tesische, indem es borla große Last auf den Zeitbegriff
überträgt, und zwar: Last von zwanzig Jahren. Daher
der sonderbare Ausdruck: Vha quat borle per spalot ^= er ist
achtzig Jahre alt. Welsh bwrn Haufe, Last.
6. Andererseits repräsentiert der Haufen eine — meist
gleich große — Menge und so wird die Vorstellung des be-
stimmten Maßes daran geknüpft (vgl. oben brüler une bourrAi)
und zwar, wie es bei solchen Gegenständen nicht anders mög-
lich, entwickelt sich eine Bezeichnung fUr Kubikmaß frz. bor-
derie (God.): boU contenant deux borderies de ierre, ebd. boT'^
deau Maß für Heu; mgr. ßoqdöviOv cirov = 12 modii (Cyrill.
Scythopol. bei DG).
6. Von da kommen wir zur Bedeutung Korntruhe, Kasten :
berg. barign große Korntruhe, Brot- (Mehl-) Kasten. Erinnert man
sich des ptg. burra Truhe, des sp. burro (Abfall) Sammelkasten
Die Badentungageschichte der romanischen Wortsippe bur(dj. 73
(S. 36, 24), so sieht man wieder, wie die Sprache von verschie-
deoen Bedentnngen her za gleichen Resoltaten gekommen ist.
Wegen der Endung -ign könnte man an balineum denken
(vgl. oben S. 26); die Badewanne bestand ja ans einer höl-
zernen Eofe. Vielleicht hat die eine Bezeichnung anf die an*
dere gewirkt.
IL Brennniaterlal. Sprachlich viel interessanter und wich-
tiger ist die zweite Grnppe. Es wurde schon darauf hingewiesen
(S. 5 u. lö), daß verschiedene Schilfsorten als Brennmaterial
dienen, wie Kleinholz und Gezweige, außerdem aber wird das
Rohr in vielen Gegenden, in denen es weite Landstriche be-
setzt, im Herbst, nachdem die Stöcke geschnitten sind, regel-
mäßig angezündet und bis an die Wurzel niedergebrannt,
damit die Asche den Boden dünge. ^ Die Bezeichnung dieser
rieh alljährlich wiederholenden Handlung gehört also in die
Reihe der feststehenden Termini der Landwirtschaft und als
80 eine feste Bezeichnung kann man ein aus ,bürum ustulare^
entstandenes ^burustulare annehmen, das zum Stammvater der
rom. Sippe brüler* brucciare vion. boerlä^ burla^ Wallis, gruy.
hurld (vgl. Herzog, Nfrz. Dialekttexte) neap. burlotto, borlotto,
mail. bruLoito ngr. firtovQlövo Brander (Meyer, NGr. IV) usw.
wurde. Burum uatum >> burustu ist das ausgebrannte Rohr,
die Asche = ausgelöschte Glut tose, brusta brace spenta
(AG XIV 179); die Verallgemeinerung: glühende Asche,
Glut auch von Kohlen, liegt nicht fern, um so mehr als ja die
Holzscheite gedörrt wurden, um auf diese Weise eine Art rauch-
loses Brennmaterial zu erzielen; vgl. Lenz S. 27: ,Ligna cocta ne
fomum faciant' bei Ulpian, der nun nicht weiß, ob er dieses
Brennmaterial zu Holz oder zu Kohle rechnen soll. Bei Asche
und Glut machte man schwerlich viel Unterschiede in der Be-
zeichnung. Wir haben friaul. borostai (AG XIV 335) gall. bor-
ralha = burra + -alia^ wie ptg. borralho heiße Asche (vgl. oben
S. 11,12) grödn. 7 burei Glut, ausgebrannte Kohle (< *bura-
lium -ali, vgl. gei = 'galli). Weiter ist bruMum nicht nur Glut,
sondern das Brennmaterial selbst: G IV 594.31 brustum^
314. 41 bnutrum ' materiae genus, also Brennmaterial. Daß wir
' Vgl. Hehn 8. 303.
* Für die lautliche Enlwicklang vgl. eorotidart > crouUr, ben/Üare >
bnUer, qmritare > crierj turbulare >> troubler etc.
74 V. Abhandlang: Richter.
uns hierunter bei Landleuten ,de8 brny^res, des genßts, des
Jones, des menaes tiges Siebes, en nn mot, . . . tont ce qai est
compris sons le nom de broussailles' za denken haben, ftihrt
Nigra aus (Ro. XXXI 515). Wir haben noch eine Erweiterung
in span. hurrajo trockener Pferdemist zar Ofenheizung.
Lautlich erklärt sich der Übergang von *huru$tum za
hrustum noch leichter, wenn man bedenkt, daß doch hu$tum
daneben bestand.
An Ascolis Aufstellung hvstum zu cam[lurere amfburere
zu rütteln, ist keine Handhabe gegeben; denn ^bur- urere konnte
kanm ^hurere, sondern nur *brureref resp. *bruere geben;
auch ist bustum dem klassischen Latein eigen, brustum aber
nicht. Folglich muß es damit seine eigene Bewandtnis haben.
Für die Existenz von ^bruere zeugt frz. broui brulä, grillö
(Lacombe). Dagegen ist afrz. brouillir aus *bruere + bullire
gebildet.* Es hat auch ein *burare gegeben. Beweis: buratum'
incensum (G V 272. 43), daher sind it. abburare lavorare nas-
costo del fuoco = abbronzare, neap. abborrare lyon. aburö
prv. abra sp. aburar rum. aburar (vgl. M.-L. Rom. Gr. II
141) aus ganz örtlichem *ad-burare zu erklären: am Feuer
statt auf dem Feuer. In der Kochkunst ergibt sich daraus
der Gegensatz von dämpfen und kochen. Rum. aburire ist aus
*ad-burere zu erklären, die Bedeutungsentwicklung: neben dem
oflFenen Feuer kochen (nur dämpfen) > dampfen, abur Dampf.
Vgl. Densusianus insofern abweichende Aufstellung (Ro. XXV
130), als er das Vorhandensein von burare übersehen hat.
Belege für die romanischen Vertreter von brustum =
Asche brauchen nicht mehr gesammelt zu werden. Es sei nur
das ferner liegende und doch zugehörige berg. boröla erwähnt,
kleine gebratene Eßwaren, z. B. Kastanien; es handelt sich
' *Burere oder ^hruere haben huäire auch in der Weise beeinflußt, daß es
in ^buäere geworden ist. Über die weite Verbreitung des Wortes rgl.
Mejer-Lübke, Rom. Gram. II 162. Die daselbst geloßerte Ansicht, daß
^bullere nach tollere gegangen wäre, scheint mir deshalb nicht befrie-
digend, weil die durch diese beiden Worte ausgedrückten Begriffe lo
weit auseinanderliegen, daß man schwer einsieht, wie sie aufeinander
wirken sollten. Femer wird durch Einmischung ron bürere auch dai
tt in lyon. budre und das Fehlen des l in wall, bure erklärlich, da in
der letzteren Mundart Ir regelmäßig erhalten bleibt (vgl. Rom. Qram.
I 446).
Die Bedeutnngsgeflchichte der romanischen Wortsippe hur(d), 75
am Sachen^ die auf oder an der Qlat gebraten werden, vgl.
it. hruciate oder imbrustolate gebratene Kastanien, Mandeln a. a.
Ans der Bedeutung langsam anbrennen kann frz. brouter
,manger lentement, sans app^tit', ,knnspern' erwachsen sein ; alb.
vhik Jagendfeaer, fUr vrluk zu vrulöfi stUrze mich (vgl. Meyer
EW), könnte mit ngr. ßQOvXa Flamme (Joann.) hierhergehören.
2. Bei den Bezeichnungen für Asche mod. burnissa piem.
bemazz bamag rät. burneu sass. bornis berg. bemis gruy.
bemd prv. bemage u. v. a. wirken noch verschiedene Vor-
stellungen ein: 1. burrus dunkel, graubraun, 2. burra Rest,
Kehricht, 3. germ. brennen. Letzteres allein geben Mussafia (Btr.)
and Biondelli zur Erklärung der von ihnen gesammelten Aus-
drücke; es befriedigt für, Asche', aber nicht für ,0fen8chaufel*
berg. bemis bemcu bame6 cat. bruxa brujo bruxo Schüreisen
kors. brude Ofenschaufel (auch zum Kehren des Ofens), Rauch-
fang gruy. buoma buama] prv. boumau Aschenloch des
Backofens, frz. boumail Haus, häuslicher Herd (6od., der
diese letztere Bedeutung zu Bienenkorb beziehen will). Bei
Ofenschaufel etc. ist Schüreisen, Stock (S. 51) Ausgangs-
pankty bei Rauchfang, Abzugsrohr ,Rohr' (S. 69, 10) usw. Von
verschiedenen Seiten her sind die Worte zusammengefallen. Cat.
hruxa läßt sich unmittelbar aus *bru8tia = *brusc%a Brenn-
material > Gerte, Scheit ableiten, da x die regelmäßige Ent-
sprechung für lat. 8ti, SC} ist, vgl. angoxava (Mussafia, S. W. M.
S. 16), faxa etc.
Wenn man alle diese Wörter aus pruna herleiten will,
(z. B. Ascoli AG II 330) so liegt, wie bei brüler < * perustulare,
brume < pruina immer die Schwierigkeit darin, den Übergang
von jj > 6 zu erklären. Diese entfällt für Guarnerios Aufstellung
(AG XIV 150) sard. bruna^a aus *prunitia + bragia.
Über die Beziehungen von brustum und bruscum, bruc-j
rt»c-, ist schon so oft gesprochen worden, daß ich hier nur in
Erinnerung bringe, was die von mir aufgestellten Beziehungen
darch Analogie stützen kann: cat. brusca Gerte (Z IV 148)
iruMco Gebüsch sp. brtbdca Brennholz bruscar brennen
friaul. brusc Reisicht (Z. IV 148).
Sp. bruaco Stechpalme langu. brousso touffe de bruy&re;
it. hruBca gen. brUca langu. brus = bruyfere, Scheuerkraut;
piac. brÜB Erica und Besen.
76 y. Abhandlung: Richter.
Lomb. brüscia Wespennest langa. brus räche k
moaches aus Weide^ Rohr^ Stroh etc. (Saavage).
Sp. cat. brusco Rest.
Ven. brtLsco Qeschwnlst « raube Oberfläche).
Ins Moralische übertragen: finster, rauh, stachlig: ngr.
^ifCQOvaxog (Meyer NGr. III) herb von Wein ; auch roh = un-
bearbeitet vgl. frz. diamant brusque (Ro. V 352).
Daß speziell bruc- = Erika, Qinster wie rtufcus = rhamnus
nach Standort und Habitus dem Rohr nahe stehen, wurde schon
erwähnt. Bemerkt sei noch, daß im Gask. rhamnus (Weiß-
dorn) burgo genannt wird (== langu. brugo), Ginster aber, im
13. Jahrhundert ajou (vgl. D.-H.: Gesträuch, das in den Landes
wächst), jetzt in ajonc verändert ist, also in ofifenbarer Ver-
mischung der untereinander wachsenden Pflanzen.
So sehen wir, daß die lautlich einander nahe stehenden
Gruppen auch begrifflich die verschiedensten Berührungs-
punkte haben.
Was speziell das Verhältnis von bruBtum Brennmaterial und
bru$t4ire, brastulare brennen anbelangt, so gehe ich natürlich
den entgegengesetzten Weg als Nigra (Ro. XXI 515 ff.): er
stellt das von ihm nicht erklärte brustum als Ausgangspunkt
hin und leitet von ihm beide Verben ab. Nach meiner eben
dargelegten Auffassung sind brustum und bruatulare die Primi-
tiva, während brustare auf brustum zurückgehen kann, aber
nicht muß. Denn von ustum konnte man leicht ein *u$tare
und so ein *burustare bilden.
3. Unzertrennlich vom Begriff des ,Brennens' *buru$tulare
ist die Vorstellung des Brandes (tizzone), des angezündeten
Strohwisches, der brennenden Gerte, des Scheiter-
haufens aus Stöcken und Reisicht. Die Bezeichnung hierfür
ist afrz. bure lothrg. 1254 burre] buire bewre bullte welch
letzteres zu burlu zu gehören scheint; it. borda tizzone und so
in vielen anderen Dialekten; sie geht unmittelbar von der Be-
zeichnung der Pflanze aus (vgl. S. 16) und geht über zur Be-
zeichnung des Freudenfeuers, das zu bestimmten Festlich-
keiten — meist am ersten Fastensonntag — angezündet wird.
4. Die Bedeutung Freudenfener (am 1. Fastensonntag)
haben frz. bure afrz. borde^ bordiere neuenburg. (Gauch.) bgrde
(Sonnwendfeuer) vend.-chal. bordee norm, bourguelie bourgueUe
Die B«d«atang8g^esehichte der romanischen Wortsippe hur(d). • i
Danph. horda luneiri H.-Aav. hyeurta Jara heurdifailles (wohl
beurdif + alia) Var bardüre For. bamau (Mistr.) usw. ; in
Horvan neben bourde botide, in Bonrg. bode (Rev. Pat. IV 122)
mit regelmäßigem Schwnnd des r (vgl. Rom. Oram. I 401).
5. Von daher heißt der 1. Fasteiisonntag Dominica
brandonnm^ = (DC) bordae afrz. jor des bordes (1251, God.)
lothr. jov^ des bures For. bamau (Mistral) usw., Neuenbürg
(Gauchat) b^rde rejouissances publiques des jeunes gens, surtout
des militaires (Bridel). Im Orte Saint-Diä hieß der Platz, auf
dem das Freudenfeuer angerichtet wurde, selbst la bure.^ Es
handelt sich um das Fest, mit welchem die Segnung der jungen
Saat begangen wird. Man trägt Feuerbrände um die Acker
und nach vollendeter Segnung werden die Brände (meist Stroh
oder Heubündel, die an Stöcke gebunden sind) auf einen
großen Haufen geworfen, und wenn die Flammen zusammen-
schlagen , springen die jungen Burschen über diese Scheiter-
haufen ; darauf folgt Tanz und Gesang und die ganze Feier wird
selbstverständlich unter Essen und Trinken beendet. In vielen
Oegenden ist die Valentinensitte damit verbunden.
Man sieht, die Dominica brandonum, die Borda, ist ein
ganz und gar ländliches und zwar, wie das FrUhlingsfeuer be-
weist, ein in heidnische Zeit zurückreichendes Fest, nicht ein
Ritterspiel; auch heißt es im Altfranzösischen nicht beourde, son-
dern bourde, und bourde und bure sind gleichbedeutend; so ist
Herleitung aus dt. bohord abzulehnen. Aber in späterer
Zeit kann die Benennung der ritterlichen Lanze eingewirkt
haben; an mehreren Orten heißt es jour du bihour} In Valen-
ciennes hießen die Fackeln bouhours und die Kinder sangen
beim Zuge durch die Gassen folgendes Liedchen :
Bour, peumes, poiresy
Des chirisses toutes noires,
Eune bonne tariine
Powr nos mequines.
^ Die Bedeutangsttbertragang Freudenfeuer > Fest erkl&rt yieUeicht auch
nuU det branehaüU» = Polterabend (Z. XXYU 264).
' Vgl. Dict des Snperstit. Sp. 149.
' Dict. des Superstlt. Sp. 149. Nähere Angaben fehlen.
78 V. Abhandlang: Richter.
In St. Omer heißt ein Umzug psalmodierender Kinder,
die in der Dämmerang mit Kerzen umgehen, bourbour. Vgl.
dazu unten S. 98.
6. Kuchen und Früchte, die, wie das Liedchen erbittet,
an die Kinder verteilt werden, spielen natürlich eine wichtige
Rolle; mit dem Begriff der festesfrohen Heiterkeit ist der des
,sich gütlich tuns, Schweigens' verbunden, und zwar in ganz
konkretem Sinn : schmausen, vgl. oben Hesych. S. 39, 30. Der
Begriff ,Fest' geht über in den der Schwelgerei, ^ verd.-chal.
bourdifaille grande ch^re, bombance sfrz. burdifar fressen,
beide aus *burdivji8 abzuleiten aprv. borllei appareil, faste
(Rayn.) Aunis burlot berlot fin de travail aus ,repas qai
suit la fin d'un travail. Norm, burgaut Wüstling wird jedes-
falls eher hierher als zu burgator gehören (wie du M6ril meint),
vgl. S. 53, 33 u. 34.
7. Eine besondere Rolle spielt das FestgebBck afrz. norm.
bourde Apfeltorte Genf (Qauchat) bourdifaille eine Art Ge-
bäck frz. bou/rriol (Larousse) Galette grossi^re de farine de
sarrasin cat. börrego panis delicatus; ven. bureloto Gebäck
aus Kleienmehl oder Gries mit Zwiebeln rom. burlengh Torte,
bol. burleing it. berlingozzo Brezel, Kringel (Schuchart Z. f.
Vgl. Sprf. XX 271 erklärt, daß u statt e wegen des b stünde).
Die letztgenannten können auch auf ,Rolle' zurückgehen (S. 43,
48 ff.). Zu it. berlingozzo gehört neusüdfranz. berlingots =
Karamellen. Lautlich weiter ab steht sp. ptg. brinquifio
Zuckergebäck; begrifflich entfernt sich ptg. boroa, bro Mais-
oder Hirsenbrot. Das bret. bara Brot — zu den keltischen
Stammwörtern gehörig — steht in keiner Beziehung zum ,Fe8t-
8. Zum Feste gehören heitere Umzüge; nicht selten
sind es HaskenzUge. Hier treffen unsere Worte mit einem
anderen, früher besprochenen zusammen: bordire sich aus-
gelassen freuen, scherzen, Possen treiben führt, wie S. 39, 32
dargestellt, zu: jemand etwas vormachen, und von da
leicht zu sich maskieren: mail. berg. borda bol. bourda
Gesichtsmaske.
^ Vgl. den fAinilÜLren AoBdrnck: ,eine polnische Hoebieif fttr ein Diner
mit übermXßig riel Gängen.
Die Bedeutangsgeschiehte der romAiiisehen Wortsippe burfd). 79
9. Da aber die Masken meist Zerrbilder sind, wird das
Wort Maske gleichbedeutend mit SchreckMld, Gespenst:
mail. bardoeu orco, befana em. bördana parm. borda bol.
mod. bourda (Biond.) cat. borrugat Gespenst; dies könnte
aber auch zu reburrus zu stellen sein. Da andererseits bor-
rugat auch ^Schmarotzer' bedeutet^ wäre es am Ende möglich^
beide anscheinend so disparate Begriffe unter der Vorstellung
jVampyr' zu vereinigen.
Gen. barban orco, befana tour. (Ro. I 90) brimbaut manne-
quin des jours gras que Ton brüle le mercredi des cendres,
eourrir brimbaut se masquer (Einmischung von -bald).
10. Hieran schließt sich eine kleinere Gruppe von Wörtern,
bei denen von der Bedeutung vermummt auszugehen ist. Es
handelt sich um die Pappe verschiedener Insekten, bei deren
Bezeichnung übrigens derselbe Vorgang zu beobachten ist als
bei unserem ,Larve^; der Anblick des Tieres ruft ja un-
mittelbar die Vorstellung des Vermummten, ,mit Maske ver-
sehenen' hervor. Vor allem ist es die Blatta orientalis, die
80 bezeichnet wird: mail. bordocch bordocchon burdoc piem.
hordoc bol. bordigon : im allgemeinen ist bordocch = bruco =
das Insekt im zweiten Stadium, also Puppe, während die
Larve ^cavaler^ genannt wird. Doch werden die Ausdrücke
fllr Puppe und Larve mitunter verwechselt. Die Puppe ist
die Vermummte, Eingewickelte. Zugleich liegt eine scherzhafte
Beziehang auf ,Bettelmönch, Priester' vor, vgl. S. 54, 37.
Mail, bordon bordioeu ist die rote Larve der Cetonia
stistica em. buron Kokon piac. bordon Puppe, auch untaug-
licher Seiden wurm (bacaccio) piem. bordoch auch Raupe
und Wurm; cat. brugo Blattlaus, Erdfloh wird zu spätlat. brucus
zu stellen sein.
IL Hierzu kommen noch Ausdrücke ftlr kleines Kind:
piac. bordlein das kleine Kind, ,das Eingemummelte^ sp. aboru-
jarse sich einwickeln, speziell: sich fest zudecken (Ro. XVII
56j; langu. bourässo ist alles, was zum Einwickeln eines Kindes
gehört. Dies knüpft wieder an ,Wollzeug^ an und so schließt
sich abermals der Kreis.
80 y. Abhandlang: Richter.
Zweite Hauptgruppe:
Das Rohr als tönendes Instrument
§ 8. Wenn schon die ältere Ableitung des Stockes vom
Esel ihre Unzakömmlichkeiten hatte, so begegnet die Namens-
Übertragung vom Pilgerstock auf die Orgelpfeife, wie Diez sie
zuerst vorschlug y noch größeren Bedenken. Die Orgelpfeife
ist um so viel älter als die Pilgerzüge, daß sie kaum von
daher eine Namensänderung erfahren hätte. Zudem ist die
äußere Ähnlichkeit nicht gar so in die Augen stechend. Ich
habe schon oben S. 6 angedeutet, wie ich mir die Sache
vorstelle: Das Rohr ist das Urmusikinstrument, das natür-
liche Instrument im buchstäblichen Sinne des Wortes, denn
wenn der Wind über das Rohr weht, so ,blä8t^ er es ,an' und
erzeugt, je nachdem kürzere oder längere Stiele nebeneinanden
stehen, eine Reihe von Tönen. Alle primitivsten Musikinstrumente
— soweit es nicht Trommeln und andere Schlaginstrumente
sind — werden aus Rohr gefertigt (oder aus Knochen, der hier
nicht weiter in Betracht kommt), da das Rohr keiner kunstvollen
Zubereitung bedarf: es ist rund und hart, gleichmäßig hohl
und vor allem: von selbst hohl. Rohrflöten, einzeln oder in
verschiedener Länge verbunden, haben alle Naturvölker, von
den kleinsten Röhrchen, die der Chinese zum Tscheng zu-
sammenbindet, bis zu dem Riesenbambus der Siamesen, der
bei zwei Meter Länge zirka acht Zentimeter im unteren Durch-
messer hat.^
Aus dem klassischen Altertum ist uns bekannt, daß Paus-
pfeife, Syrinx, aihig, xaXafiavlog (vgl. Riemann, Handb. der Musik-
geschichte 101) aus Rohr waren, und daß man später die Blas-
instrumente aller Art in Metall und auch in Holz nachahmte.
Was fbr Holzarten verwendet wurden, ist flir unsere Onter-
^ Er wird an OrOß« noch flhertroffen ron unserem Alpenhom, dAt, mehr
als drei Meter \xng — den geographischen Verhältnissen entsprechend
— nicht aus Bohr, sondern aus swei sorgfältig aneinander gepaßten, im
Halbkreis gehöhlten HOlsem besteht, die mit Leinwand und Strick rer-
bunden und mit Birkenrinde verkleidet sind. Das Instrument, welches
ich sah (Sammlung des Wiener Konserratoriums), ist ans den Karpathen.
Die Bedeutangts^esehlehte der romanischen Wortsippe hurfd). 81
socbuog natttrlich nicht belanglos, doch ließ sich nicht sehr
▼iel ermitteln, da die Bestimmung sehr alten Holzes anf
Schwierigkeiten stößt. Über Flöten ans Lotos =5 rhamnns
(Wegdom) vgl. Lenz 652; über Flöten aas Bnx and Vibarnum
= dAffrgjg xijg xafAai^rikov yhkdoq ri}v ivreQKbvrjy ä(pjjqr]^ivoq be-
richtet Pollax IV 71. Aas Wacholder soll nach Fätis, Histoire
gdn^rale de la masiqae III 278, der im Britischen Maseum
erhaltene (xiXöq verfertigt gewesen sein. Selbstverständlich
gehört eine feiner aasgebildete Technik daza, im harten Holze
die erforderliche gleichmäßige Bohrang zu erzielen, als im
weichen, das aber weniger rein klingt. Seit alter Zeit hat
daher der Holander seine Aste za kleineren and größeren
Pfeifen hergeben müssen, weil das Mark im ganzen leicht
entfernt and ohne Bohrang eine Syrinx (Röhre) hergestellt
werden kann.^ Über die Art, wie die Blasinstrumente ver*
fertigt warden, geben ans die alten Autoren ganz genaaen
Aofschlaß: die höheren Pfeifen werden aas dem einjährigen
Rohr geschnitten, and zwar aas dem oberen Teil, die tiefen
aas dem zweijährigen, and zwar aas dem anteren Teil (vgl.
0. a. Tbeophr. Hist. plant. 4. 11. Iseqq.).'
Bei den Doppelflöten war die längere (also tiefere) die
linke;' fürs Lateinische haben wir hier wieder eine besondere
Verstärkang der Bedeatang von sinUtra^ die linke ist die
danklere, die dampftönende. Eis sei aach erwähnt, daß ge-
wöhnHch nor eine Flöte ^ angeblasen warde, and zwar die
höhere. Die tiefe sammte mit, zar Verstärkung des Tones.
Gelegentlich wird aber amgekehrt die tiefere Flöte zar Be-
^ NoUbene heißt unser Flieder ss .Spanischer Holunder' su Unrecht
tyringa^ denn gerade die Eigenschaft der hohlen, respektiYe leicht cu
hohlenden Äste teilt er nicht mit dem Holunder (ygl. Lennis, Synopsis).
* Besonders geschätzt war das Rohr aus dem See Kopals bei Theben,
wenn das Wasser in swei aufeinander folgenden Jahren recht lang hoch
gestanden hatte.
* Vgl. Ambros, Geschichte der Musik 618; nach Riemann a. a. O. 160
wire das Verhältnis umgekehrt.
* Ich brauche noch den Ausdruck ,FldteS der als Übersetsung fttr a^l6^
cingebttrgert ist, obswar durch Howard (ygl. Riemann, a. a. O. S. 96 ff.)
festgestellt ist, daß das griechisch-rOmische Kunstblaseinstrument mit
einer schwingenden (Rohrblatt)zunge angeblasen wurde, also keinesfalls
eine FlOte war, sondern rielmehr unserer Klarinette entsprach.
. d. pUL-hist. Kl. IM. Bd. 6. Abb. 6
82 y. Abhandlnng: Richter.
gleitong und Verstärkung des Gesanges geblasen und die
höhere zur Ergänzung, während der Sänger schweigt.
Abgesehen von den im Theater und zu gottesdienstlichen
Zwecken verwendeten Flöten gab es die langen schmalen
Metallrohre im Kriege (tuhae). Von den gewundenen Instru-
menten, die eine Nachbildung des Tierhorns sind, braucht hier
natürlich nicht gesprochen zu werden. Über die Verwendung
von Hirschhörnern bei den Tyrrhenem vgl. PoUux IV 75.
Der Lituus ist nach dem Augurenstabe benannt, dem er
ähnlich sieht. Er hat ungefähr die Form des Alpenhorns der
Schweiz (vgl. Hipkins, Musical Instruments, historic rare and
unique 1888), ist aber wesentlich kleiner.
Endlich gab es schon früh den Dudelsack (utricularium,
symphonia syr. samponia, er soll von Karthago nach Groß-
Griechenland gewandert sein),* eine Pfeife, deren Ton durch
einen Luftsack eigentümUch modifiziert wird. Alle Musik-
historiker sind jetzt darüber einig, daß die Orgel nichts
anderes war als die Vereinigung der beiden bekannten Instm-
mentengattungen, der Syrinx und des Dudelsackes. Die älteste
Orgelgattung, die Wasserorgel (== iÖQoiXoQ = Wasserflöte)
wurde mit dem Munde angeblasen, wie eine andere Syrinx;
das Wasser regulierte den Luftzutritt, verstärkte den Ton und
verlängerte ihn nach Belieben.' Im Prinzip ist also die
Orgelpfeife von der Panspfeife in nichts verschieden
und es ist durchaus wahrscheinlich, daß die ältesten
Orgelpfeifen aus Rohr gewesen sein werden. Auch
dient die Bezeichnung Organa noch bei Isidor nicht (Ür die
Orgel allein, sondern für sämtliche Blasinstrumente.' Wir er-
fahren durch Hieronymus (an Dardanus)^ von einer Orgel
mit zwölf cicutas aenea$, die, mit Blasebälgen angeblasen, einen
donnerähnlichen Ton gaben. Und so hören wir auch — viel
später! — von den calamis sanantibus quos burdones vocamus
(Vitae Abb. St. Alb.).^ Einen fllr diese Untersuchung sehr
' Vgl. FÄtis, ». a. O. 613.
* Die Tom Ägypter Ktesibiiu im 3. Jahrhundert r. Chr. erfundene Orgel
mit Tasten setzt ein oder mehrere Stadien eines primitireren Instru-
mentes voraus.
' Vgl. Wangemann, Geschichte der Orgel und Orgelbaukunst» 8. 13.
* Vgl. Degering, Die Orgel, 1905, S. 69. * Vgl. Dies, £W: bordime.
Die BedentODgsgeschiehte der romanischen Wortsippe hur(d). 83
wichtigen Aasspmch tut Pollax, der die Kelten und Bewohner
der okeanisehen Inseln als Spieler der ans Rohr zusammenge-
setsten Syrinx besonders erwähnt: IV 77 1} di i% xaXdfAwy
avQiY^ KeItoiq ngoai^xei xal %oig h ^iliisavlf vrjaKütaig,
während die Ägypter einen n6kiq>di)yyog aildg , . . ix maXdfirjg
it^&iyrjg haben usw. Vom zv^^dg a^ldg berichtet er (70),
daß die Rohre ans Erz waren^ daß die größeren mit durch-
gepreßtem Wasser, die kleineren mittels Blasebalg zum Tönen
gebracht wurden, und daß man verschiedene und sehr kräftige
Töne auf ihm erzeugen konnte. Wir haben es also mit einem
orgelartigen Instrumente zu tun.^
Im klassischen, besser gesagt im nachklassischen Alter-
tome spielt die Orgel eine Rolle als Zirkusmusikinstrument (wie
Degering nachweist, a. a. O. S. 54 ff.), ihre Konstruktion wird
aber nicht viel verändert. Die Orgel, die wir auf dem christ-
lichen Sarkophage der Julia Tjranna in Arles (2. — 3. Jahrb.)
haben,' ist ein Instrument von zehn ungleich langen Pfeifen,
deren höchste, an der nebenstehenden chitara gemessen, nicht
^ Die schwierig Stelle Uatet Ed. Dindorf IV 70: 6 Tv^^rjyög a^l6g dvi-
OTQafifUvri aiifftyyi naQkoixtag^ JlfaXxdc (liv iaxlv 6 xdla/uog xätu(^fp <fi
^onvtö/LUVog * (pvcais fiiv 6 il&Ttmv^ üdari <fi 6 ful^^v dva^Ußofiivip^
waX ai)Qav nviifiatoq A<pi4vn. noX^<f<ov6s m oirog avlög iaxt *al 6
Xtthtdg f/f f To tp^iyfia trafuirtQov. Dieter avXds glich einer .umgekehrten
STfinx*, insofern jede Orgel einer gleicht: bei dieser stehen die Rohre nach
nnten gleich nnd sie werden von unten angeblasen, bei jener stehen sie
nach oben gleich und sie werden von oben angeblasen. Vgl. auch Degering
(Die Orgel, 8. 62), der die Stelle dadurch yerständlieh macht, daß er
sweierlei Instrumente annimmt. Man kann sie also in folgender Weise
flbersetien: Der Tyr. Aul. [ist] das Gegenstück eu einer Syrinz: einerseits
ist das Rohr aus Erz, andererseits wird es ron unten angeblasen ; und zwar
das kleinere [Instrument] mit dem Blasebalg, das größere indem man
Wasser durchtreibt und [so] den Lufthauch herausstoßt etc. Nach Ambros
glich der Tyr. Aul. einem Tscheng (a. a. O. I 489). Jnl. Scaligers von
Dindorf gerfthmte Übersetzung lautet: ,. . . infeme tubus minor infla-
batur bucca: unde Spiritus in maiorem subibat, morebatque aquam qnae
intus erat: atque ex ea multisonam edebat harmoniam.' Seal, nahm
also nur ein Instrument an, das aus zwei Rohren bestand, wobei nicht
nur die Lage dieser Rohre zu einander, sondern auch die Tonerzeugung
rätselhaft bleibt
* Abgebildet bei Degering a. a. O., wo im ganzen IS Abbildungen an-
tiker Orgeln gesammelt sind, in : Rog. Pejre, Nfmes, Arles, Orange nnd
— auf arlesischen Postkarten!
6»
84 y. Abhandlung: Richter.
höher als ein Meter angenommen werden kann. Sie steht auf
einem Tisch nnd hat zwei Blasebälge, zn jeder Seite einen,
wodurch die Bedienung von vornherein etwas schwerfUlig ist.
Ebenso konstruiert ist noch die öfters abgebildete Wasserorgel
auf dem viel späteren, in demselben Museum befindlichen
rohen Sarkophage (von Degering ins 3. — 4. Jahrh. doch wohl
zu frUh angesetzt), an dessen Utricularien zwei Männer (scheuß-
liche Fratzen) beschäftigt sind. Wir erfahren nichts darüber,
daß im frQhen Mittelalter in Westeuropa selbst Orgeln gebaut
worden wären; noch als Pipin 757 vom Kaiser Konstantinos
Kopronymos eine geschenkt erhielt, konnte sie (nach Degering
S. 61 ff.) nicht nachgebildet werden. Wir erfahren aber, daß
im 10. Jahrhundert in Winchester die größte Orgel des Mittel-
alters gebaut wurde, also von englischen Mönchen, die die
musikliebendsten gewesen zu sein scheinen.^ Und von größeren
Veränderungen im Orgelbau im 12. Jahrhundert erfahren wir
durch Eadwines Psalter (Cambridge, vgl. Engel, Musical In-
struments 109, in ,South-Kensington Handbooks'), wo eine Orgel
mit vierzehn Pfeifen zu sehen ist, an der nicht weniger aLs
sechs Männer arbeiten. Also wieder in England. Und wie
sehr in Qallien die Blasekunst beliebt und ausgebildet war,
beweist eine Stelle aus Venantius Fortunatus' Epistel an den
Pariser Klerus, worin er das Lob der Musik singt:
(Auct. Ant. IV Carm. II 9, 49 ff.):
Hinc puer exiguis attemperat Organa cannis,
Inde senis largam ructat ab ore tubam;
Cjmbaliae voces calamis miscentur acutis
Disparibusque tropis fistula duice sonat.
Tympana rauca senum puerilis tibia mulcet
Atque hominum reparant verba canora lyram.
Leniter iste trahit modulus, rapit alacer ille:
Sexus et aetatis sie variatur opus. Etc.
Hier scheint Organa ein kleines Orgelspiel zu bedeuten,
das aus mehreren hohen Pfeifen zusammengesetzt war. Man
kann an die kleine, offenbar tragbare und nur mit Blasebalg
bediente Orgel denken, die Degering S. 84 (Terrakottamedaillon
> Vgl. Montalembert, L*Art et le« Moines (Ann. ArchM. VI 136).
Die Bedeutangsgeschichte der romanischen Wortsippe burfdj. 85
ans Orange) beschreibt, wozu die oben zitierte Stelle aas PoUox
%a yergleicfaen ist.
Schon nach diesen wenigen Strichen, mit denen ich hier
versuche, die Geschichte der Orgelpfeife zu skizzieren, wird es
nicht tinerlaabt erscheinen, sie mit dem Rohr in engste Bezie-
hang zu bringen and za sagen, sowie calamas, cicuta, canna
zugleich Aasdrücke f)ir Pflanze and Instrument sind, so wird
es auch in der Gegend gewesen sein, wo das Rohr mit bur(d)
bezeichnet warde. Burdo = die Orgelpfeife ist einzareihen
in eine große Reihe anderer Ableitungen aas ,Rohr'; sie heißt
nicht nach dem Stock, sowenig als der Stock nach ihr; sie
stehen nebeneinander and nicht selten sind sie überhaupt in
einem and demselben Objekte vereinigt: die Stock-
pfeife — Spazierstock ^ mit durchbohrtem Schaft und Blase-
loch — ist uralt, weit verbreitet und noch jetzt beliebt (vgl.
z. B. das angarische ,Czakan'). Übrigens hat auf die Stock-
pfeife schon Skeat hingewiesen, der Diez' Ableitung ablehnt:
perhaps the staff (pilgrim's staff) was itself a pitchpipe, as
might easely have heen contrived.
I. Mosiklnstramente. Burdo das tönende Rohr ver-
zweigt sich, wie sattsam bekannt, zu den verschiedensten Be-
deutungen.
1. Pfeife; Panspfeifc; Orgelpfeife. Dann nicht nur die
Orgelpfeife, sondern
2. das Begister der Orgelpfeife, und zwar der tiefe
Ton. Von da überhaupt dasjenige, was tiefe Töne erzeugt, also
vor allem
3. die Baßsaite: sard. hurdoni rum. hurduiü welsh
byrdum hyrdon etc.
4. auch: Saite am Bogen, frz. bourdon ptg. bordao
(Const. ,wegen des Geräusches, wenn der Pfeil abfliegt^
5. Speziell die dicke, nicht angeschlagene Saite, die
nur mittönt (brummt) und so den Ton verstärkt; von daher
wird das mit ihr versehene Instrument das Burdun oder viola
dt bordane genannt. Man vermutete in ^bordone^ eine Ein-
wirkung von bordo Rand, weil die dicken Saiten am Rande,
^ El if t — noch jetzt — so gut wie immer aus (Bambus) röhr; die kOnigl.
Instnunantensammlong in Berlin enthftlt eine größere Anuhl solcher
Stockpfeifen.
86 V. Abhandlang: Richter.
neben dem Steg nach rückwärts laufen.^ Diese Ableitung ist
ganz überflüssig.
6. Mail, bordion berg. hora ist die Bezeichnung der
Harfenpedale.
7. Da die Baßsaite (meist) aus Metall ist, wird die Be-
deutung zu Elsendraht verallgemeinert, und zwar zu dickem:
mail. bordion piac. piem. bordiglion berg. burdiü bordiü.
8. Vttnner Draht: mail. bordin. Bei dem gleichlautenden
bordin ^Franse'; log. burza (bulza) Franse, Rest, Ende der
Leinwand kann bord = Randbesatz, aber auch ,Rest, zerrauftes
Ende' (S. 35, 22) mitspielen.
9. Dnnnere Darmsaite sp. bordoneU] dieser Ausdruck
sowie 10. siz. burdillinu = chitarrino, also kleine Harfe
zeigen Verwendung nicht nur für tiefen Ton.
11. Saekpfcife: champ. bordon ptg. bordäo engl. dial.
burdoun welsh byrdon bern. (Qauchat) beugeune (g = rd).
12. Sehnarrpfeife am Dudelsack, Brummbaß: morv.
beurdon engl, bourdon burdon etc.
13. Schnarrwerk (kleine tragbare Orgel) z. B. span.
bordon.
14. Trommel: mont. burjet
15. &roße Glocke, z. B. in Berry bourdon] Kuhglocke
Chamb^ry (Gauchat) bordon.
16. Baßhorn = serpent d'^glise, ein großes gewundenes
Holzblaseinstrument, gelegentlich in lebhaften Farben als bunte
Schlange mit aufgesperrtem Rachen gemalt, in der Bretagne
noch jetzt yerwendet: norm, bourdon.
17. Posaune: it. bordone Portune Perduna Barduen etc.
18. Endlich noch die Zinke, die Miiitärtrompete der
Albanesen: alb. buri brobori cal. ftorl, ein schmales langes
Metallrohr, das der antiken Tuba von allen volkstümlich ver-
wendeten Instrumenten am nächsten kommt. Bulg. serb. borija
Trompete und türk. bors Rohr, Trompete gehören zu buri.
(Türk. bora nimmt Meyer [EW] als Grundwert ftirs Albane-
sische an). Aufs Romanische zurQckgeleitet kann buri sowohl
^burina (= buccina) als ein aus diesem gebildetes ^burüla
^ Der B^irdun^ die mittSnende Saite, findet sich auch Bcbon auf Initrn-
menten, die noch nicht g^ettrichen, sondern nnr ^snpft wurden.
Die Bedeutungsgeschichte der romanischen Wortsippe l>ur(dj. 87
zar Grundlage haben, vgl. alb. kusi < cacina Skni < scintilla
(Meyer, Gr. Gr. P), anch *burinum *burillum würden formell
entsprechen (vgl. Meyer- Ltibke Gr. Gr. I*). Nach Meyer
wäre buH auch der Name eines Saiteninstrumentes mit nur
einer Saite. ^
19. Selbstverständlich wird auch bei der menschlichen
Stimme die Tief läge mit bordone etc. bezeichnet und dann
der Bassist (wie bei uns) der ,Baß' genannt.
20. Verallgemeinert heißt der SSnger schlechtweg bour-
dofij vgl. Guillaume de Döle: Jordaim li viez bordons und
P. Meyers Anmerkung dazu.
21. Auf eine Untersuchung der /awar-tourdon-Frage, die
ja rein musikalischer Natur ist, einzugehen wäre hier nicht
am Platze. So viel ist wohl sicher: die tiefe Stimme, welche
die höhere begleitete (sei es nun Vokal- oder Instrumental-
musik) hielt den Ton oder machte die Koloratur weiter, wenn
die hohe — am Strophenende — schwieg, wie es uns von der
antiken Flöte (S. 82) überliefert ist. Hier liegt also eine uralte
— und sehr natürliche — Gepflogenheit vor. Da nun diese
verbindende Figur sich regelmäßig wiederholt, bildet
die tiefe Stimme den ,Refrain^ zur Strophe und so nimmt
baurdon auch diese Bedeutung an.
22. Von hier aus erklärt sich der Ausdruck bourdon in
der Buchdruckerei — im deutschen Handwerkerstil ,eine
Leiche' — das Überspringen einer Reihe von Worten zwischen
zwei gleichen : offenbar vom Versehen im Drucken von Refrain-
Strophen, wo es eben am leichtesten und häufigsten passieren
mag. Danach kann auch das in einem Prosatext , wieder,
kehrende' Wort als ,Refrainwort' angesehen werden, vgl. dazu
die ptg. Redensart:
' Man denkt an die altbosnischen Chule (plur. tantum), ebenfailf ein In-
strnment mit nar einer Saite, dessen Eigentümlichkeit darin besteht,
daß Bogen und Saite ans Boßhaar sind, nnd das slawischen Ursprungs
ist. Aber in Albanien sind die Ousle nur an der Küste gekannt und
im Lande selbst werden Musikinstrumente nur mit Darmsaiten Ter-
fertigt. (Diese letzteren Notizen verdanke ich privaten Mitteilungen
eines in Sarajewo lebenden Gewährsmannes, der Albanien aufmerksam
durchreist hat und die Existenz eines Tolkstümlichen albanesischen
Saiteninstruments mit einer Saite ftlr die Gegenwart leugnet.)
88 y. Abhandlang: Richter.
23. arrimarse aos bordöes = im Gespräch oft auf das-
selbe zarückkommen, engl, bürden] daraus die leichtbegreif-
liclie Weiterentwicklung :
24. langweilen^ belästigen.
25. Im Italienischen haben wir^ von der musikalischen
Bedeutung des Basses aasgehend, far bordone sieh fftgen.
Erwähnt sei noch die wohl zu bordon = Refrain gehörige
Bezeichnung borzelotes, die neben sonnetz und atrambotz in einem
Clöm. Marot zugeschriebenen Gedicht vorkommen (God.).
Wegen bourdon ,Druckfehler' vgl. auch oben die Aus-
drücke für ,fehlerhaft arbeiten' S. 41, 38.
In keiner der bisher behandelten Gruppen tritt die
Konkurrenz des Stammes bar so auffallend hervor als in
dieser. Der keltische Stamm bar(d) dumpf brüllen, schreien
(zanken) ist weit verbreitet; die ältesten bekannten Vertreter
sind barrus Lästermaul (Horaz), bardu9 Sänger und barritus
das Eriegsgeschrei, zunächst nur der Barbaren, später (seit
Ammian) auch der Römer-, barritus das Brüllen des Ele-
fanten, erst bei Apulejas. Die Formen baritus und barditu»
sind im Thes. nur als vereinzelte ÜberUeferung gegen das
gewöhnliche barritus angegeben.
Für Musikinstrumente: barritor genus organi (G V
270. 50) barriton (IV 210. 40 u. a.) barridon (IV 599. 18);
barritonicua musicus (IV 487. 39) barriton organus vel vox
elefanti (V 492. 33) vgl. unten S. 92.
Im Thesaurus sind diese sämtlichen Formen unter bar-
biton aufgezählt und der Verlust des -b- wird durch Angleichung
an barrire erklärt (vgl. Heraeus ALL XII 264). Dies ist
aber gar nicht überzeugend, denn abgesehen davon, daß das
barbiton kein volkstümliches Wort und Ding war (nicht einmal
die Endung ist dem lateinischen Sprachgebrauch angeglichen
worden!), spricht alle Beobachtung schallausdrückender Worte
dagegen, daß dieses -b- gefallen wäre; vielmehr haben ono-
matopoetische Lautgebilde eine ganz unleugbare Neigung zu
alliterierendem AnUut der zweiten Silbe (vgl. S. 111 ff.), es wäre
also viel leichter, aus barrire ein barb- zu verstehen, als das b
aus barbiton weg zu erklären. Das barbiton gehört gar nicht
in unsere Sippe. Dagegen Isid. L. Gl. 1338 (Migne 83) barto
genus organi (Bret barz Sänger kom. barth Spieler eines
Die Bedentangflgeschichte der romtnischen Wortsippe burfdj. 89
Instmmentesy bretagD. [La Curne] bard Wanderfiedler zu hardvs
Sänger). Span. ptg. harrüete Trommel kann zu Fäßchen etc.
gehören^ vgl. S. 109; dazu jedesfalls piem. iochl bara fare a tocca
bomba (Ponza).
Ean yMoaik'-InBtrament für Kinder ist auch ptg. berim-
hau birimbauy das einen dnmpfsnmmenden Ton von sich gibt;
schwerlich ein ^Negerinstrnment', wie Henr. Michaelis angibt, da
auch berg. birimbeba ^ribeba, rebeba' vorhanden nnd das berim-
bau ein Saiteninstrument ^von dreieckiger Form' ist also wie eine
Rabebe. Wie bourdon zugleich ,große Glocke' heißt, so haben
wir auch hier mehrere Ausdrücke für klingende Glocke:
vgl. baraüa (Bartoli II 172) toul. barlingo-barlango Glocken-
spiel, Geläute langu. berlingau jeu des osselets, norm. (Du Möril)
vend. berlingiLette kleine Glocke. Die Endung -ing Hing ist rein
sehallnachahmend.
Die Beobachtung des ausschwingenden GlockenschwcDgels,
der noch hin und her baumelt, ohne mehr anzuschlagen, weckt
die Vorstellung von ,müßig baumeln', ,Bewegung ohne Re-
sultat', daher bummeln, mflßiggehen frz. berlat^er] Tour.
(Ro. I Brächet) bemaser, bemuser Zeit vertrödeln, berdiner =
muser piem. berlangl aufschieben, zögern Aunis berlingtier sich
unnütz abmühen.
§ 9. Ableitungen von der Bedeutung ,tOnen'.
Während bei Musikinstrumenten die Verwendung unserer Worte
sich hauptsächlich auf die tiefen Register beschränkt hat, um-
fassen die Ausdrücke für tSnen, Geräusch erzeugen im
weitesten Sinne, alle Skalen, vom Zirpen der Grille zum
Rollen des Donners, vom Greinen des Kindes zum Elefanten-
schrei, Hohes und Tiefes, Lautes und Leises.
IL Blasen. 1. Voranstehen müssen die Ausdrücke für das
Spielen des Instrumentes. Im Albanesischen ist me raa
burii nicht nur die Trompete blasen, sondern überhaupt alle
Blasinstrumente spielen, blasen. Berg, sborä gleicher
Bedeutung wie sorä <^ exaurare (Mussafia, Beitrag 108 Anm.)
ein Musikinstrument ausblasen, die Luft herausgehen lassen;
auch in übertragenem Sinne:
2. aborä V gös den Sack ausleeren = frei herunterreden.
3. Daran schließt sich friaul. sborä dar esito al vapore,
das den Übergang macht zu
90 y. Abhandlung: Richter.
4. Blasen im allgemeineu: einen Luftstrom bewirken^
der mehr oder weniger Geräusch macht. Das Sausen und
Pfeifen des Windes ist es^ das hier den Vergleichungspunkt
gibt und annehmen läßt, daß Boreas durch bur- beeinflußt
worden ist, it. andar dt burina vom Winde getrieben werden
etc. (vgl. oben S. 46, 56). ngr. ßgovllAvs^og bei DC: ventus ve-
hemens cum innci agitantur ; schwerlich ist in dieser Zusammen-
setzung ßQOvXXov das ßohr, vielmehr wird es das Tönen, das
Rauschen des Windes sein, dos gemeint ist, vgl. unser Sause-
(Brause-) Wind. Prv. broufumU^ auch bra- bre- gri- bau-
(Thomas MöL 37) ist bur + buf.
III. Dampf schreien. 1. Brüllen, h^t Burrü- vox belvae
(Q V 173. 8) borrit' voce elevat (ebd. 563. 33) Hesychios 837
ßoQQd^foV \j)0(p&v, Adnot.: ßvQßvq\X,iav ßoQQf^wv {ßoQQdKußy stre-
pitans, bei Stephanus). 1231 ßQvatovatjg Xeaiytjg. Die Adnot. er-
wähnt, daß die zitierte Stelle ßqS^ovaa hat, quod et de ursarum
voce dictum adnotat Juba; ßgä^w heißt aber auch ferveo bullio
und ßgiaau) (vc) vanno, excutio, welch letzteres zu ^ßatQUi paßt,
das mit burdit übersetzt wird, vgl. S. 98. Ngr. ßQoixio brülle,
ßqixr^Ha Gebrüll des Löwen alb. brohoröj brohoria Rufe, Schreie
ausstoßen, singen, jauchzen; burU öffentliche Versteigerung (vgl.
incanto) broboröii (nach Meyer statt broburöii mit Assimilierung
der zweiten Silbe an die erste) bpurö/i brüllen (von Löwen),
dazu wohl bxiri&sjin sie brüllten (von Stieren, Meyer EW.);
siz. burtuliari Brüllen der Kühe (Traina). Es wäre zur Er-
klärung der -«-Form möglich, an eine Bildung *buritare =
hinnitare crepitare (vgl. ALL XI 269 ß.) zu denken, die neben
den einfachen Formen burire und burdire bestehen konnte.
Dann ist burtuliari zusammengesetzt aus burire -\ — itare +
'Ulare -|- -iare. Gehört nicht hierher mir. burithar clamat,
das Brugmann I 512 zweifelnd zum Stamm buc stellt? berg.
boTi bor bellen.
Sard. burdu aurdu dampftönend.
An die Tierlaute schließen sich die den Tierlaut nach-
ahmenden Lockrufe, z. B. verd.-chal. bouribouri für Enten,
poitev. baurri für Schweine mess. (Ro. V) buri buri für
Gänse.
Hieran reiht sich mont. berdik berdak^ Su le pont de
Jumape um unruhige Kinder zum Schweigen zu bringen.
Die Bedentangsgeschichte der romaniflohen Wortsippe bur(dj. 91
Vermischung mit ululare hat stattgefunden in vic.
hurlare == muggire, also ^bwrulare = burire {*burere) -f
fdulare.
Vermischung von *burere mit rugire erklärt die
ganze Sippe von frz. bruire und Konsorten:^ ahd. prugit,
bramit (Steinmayer II 352. 33, 12. Jahrhundert) lomb. briigi,
brügia (auch Rollen des Donners vgl. S. 107, 5) bas.-lim. briida
also 8t. burd- (AG XV < brugidd) gen. brüdi piem. brui
= ronzare piem. brog'h brougl bret. breügi = bruire gen.
bruda bruzo = frz. bruit lomb. (Salvioni AG XII 392) brugo
gen. brüzzu Lärm des Meeres. Abgeschwächte Bedeutung hat
piem. breuggi rülpsen, vgl. dazu bret. breügeüd das Rülpsen.
Das afrz. bruin bruine (God.) lutte, effort de la bataille,
ist vielleicht aus *brugiinen zu erklären: Getöse der Schlacht;
afz. brin Lärm stellt Nigra (AG XIV 274) zu anord. brim,
2. Eine andere weit verbreitete Sippe ist hier zu besprechen,
die an das Brüllen (Bellen) des Tieres anknüpft und zunächst
sehtmpfen, schmähen, mit Worten überfallen bedeutet.
Zu lat. burrit'voce elevat stellt sich burina (a 932 DG) ani-
mosa contentio in qua rixantes mutuis sese lacessunt con-
viciis, a. 992 (Diplom. II 503. 22) habeant bannum et iustitiamy
impetum et burinam, ictum et sanguinem etc. Nach der Zu-
sammenstellung sieht man, daß es sich nicht um Tätlichkeiten,
sondern Unruhe, ,Spektakelmachen' handelt. Afrz. burine (bei
DC a. 1197) sanc courant ou burine = quereile de paroUe,
unterschieden von mesUe = querelle de fait awall. bourinne
riza in qua qui rumorem fecit tenetur ad certam amendam
bimrint coup sec bourhie amende qui se payait pour des
coups secs rom. burir rampognare (Cor. -Berti) buri sgridare
garrire (Morri) piem. bori urlare afrz. brouer gronder, 6tre
forieux brouie chose f&cheuse alomb. (AG XII) aborrir
sfogarsi (dies kann auch zu S. 89, 2 gehören).
Diese Bedeutungsstufe: bellen (heulen) vom Tier, mit
Schimpfreden übei*fallen beim Menschen führt zu der äußerst
naheliegenden: heftig angreifen, überfallen, verfolgen,
hetzen, jagen.
* Nich Meyer-Lübke I 366 iBt *brugire ans ruffire + bradire entstanden,
was Übrigens anch bragir etc. erklären könnte, Tgl. S. 94.
IT greifen;
-TT. i^or contra berg. iar-£
»eh anf etwas stfinen
daher imoL ^bmrifi^M,
^ criL tiwj'urrido =» dlan ; parm. &m'£'jK
X0L ^iziieo, Wölfen etc, aach Feis. d.s-±
^ - .=rz. firrAT' i<£^ angreifen , anstürmea «j-:*!. r z:a
ÄzaEc Mcomcrr aree impitaositO. Cber. az ^jrie 1±T
r.r */• mzn: Ij^ans jui venoieni J^rC^iir; bri^^ra k-artn
men' «eöemec, da anmittelbar Tv«r&er v«a ii::täi j^s-vs^r^
9«. vH$mmt bruianU In weiterer Eirwx^ nnf: Tnn. >^j-
(refain:.
Sici beftig stttraes kc: ^aJ. »«.—r "iu. XZH HZ 1
afix.e^rtr: Rom. de Kaux r»*^ < -^sdr ai.; -r.-..- w-
^bmnuaiU $w ««* f»« «*'* Jww-r^« « rs««-!- ..«f^ - i^-
fiamV piac ir»'W'^ Hjw
4. Verf4ilrtx: X*:?«»t
piem, ÄoS
Wilc ai: \
r2_ V
Die Bedeatangsi^ohiehta der romanisohen Wortnppe btirfd). 93
192. 18 = G V 401. 23), harrus elephans^ (passim, z. B. V442. 29)
harrauM (V 270. 30), barrinus vom Elephanten bamieum eleph.
Tox (IV 210. 41), span. barritar (vgl. hinnitare und oben 90, 1)
Schreien vom Eliefanten nnd Nashorn (wobei zu erinnern ist,
daß der Schrei des Elefanten mächtig, tief and breit, der des
Nashorns kurz, hoch nnd einem ins Kolossale gehobenen Klein-
kindergewimmer ähnlich ist). Alb. bariröü ich brülle (aus dem
inf. barrire gebildet, Meyer, EW) prtg. barregar j berregar,
herrar brüllen, cat. v. Alghero barrar brüllen (AG IX 358 za
barra = Kiefer gestellt, wie smascellarai)] der Konjugations-
wechsel erklärt sich jedesfalls durch die Vermischung von barrire
and barra] übrigens aber denkt man bei barrare eher an ver-
sperren als an aufsperren. Auch heißt it. smascellarai wörtlich
den Mund so weit aufreißen, daß der Kiefer aus dem Gelenk
geht, den Kiefer ausrenken. Dem sardischen Worte fehlt das
€x: berchidal schreien birchidu Geheul, Geschrei (Porru);
sp. barraquear knurren, murren, deutsch baren und barthen
Schnarren der Orgel, daher das Bar der Meistersinger (Grimm)
Schwab, baren schreien.
Gall. berrar blöken, schreien sp. cat. berrear, kann auch
aus berro Schaf hergeleitet werden (nach Cornu Gr. Gr.* 970
^ Du Horasische barru» bedarf einiger Worte. Es ist merkwürdigerweise
noch nicht als nnmOglich erklärt worden, daß in Ep. XII 1 muH er
niffrit digniaaima harrit harrua = Elefant stecke. Die alte Vettel
würde man weit eher zu den BOcken wünschen als sa dem sittsamen,
wegen seiner Weisheit besungenen Tiere. Barrua der Bock entspr&cbe
ToUkommen den nordit. Formen bar, barro, die S. 14 angeführt warden.
Es ist aber noch eine andere Deutung möglich, die mit barrua in drei
anderen Horazstellen vereinbart werden kann. Nach Zangemeister, De
Horatii Tocibus singnlaribus Berl. 1862, S. 9/10 bedeutet barrua Sat.
I 7. 8, I 6. 30, I 4. 110 (=s barua) keinen Eigennamen, sondern er stellt
feet, daß Acro barroa nomen adpeüativum eaae et maledieoa aigmficare opi-
naiua est. Speziell wird die Stelle I 7. 6 (Luc. Müller): Durtia hwno . . .
Ooi^idena (umiduaque, <uteo aermonia anuiri, Siaetmaa, Barroa ut equia
praeeurreret aJMa umschrieben: ctdeo erat aermonia malediei ut Siaennaa
barroa videreiur vincere. Dieses barrua ,dinkisch, Lästermaul' gehört also
in die Omppe VII C, S. 105. Daß Isidor-Festus barrua au barrire brüllen
stellen und daher die Erklärung ,Elefant* konstruieren, ist für uns wohl
nuTerbindlich, besonders wenn man die Glosse näher ansieht: barrua
ist die Bezeichnung des Elefanten bei den Indern und doch wird gleich
hinzugefügt: a voee barrua voetUur, Sollte wirklich Isidor das indische
bdrhaH gekannt haben?
94 V. Abhandlang: Riehter.
aus herlar zu belare'^ vgl. auch sp. berrenchin das BrllDsteln
des Wildschweines lyon. herlö brüllen (Herzog, Dialekttexte).
Schon Ascoli (AG II 379) hat den Parallelismns ins
Auge gefaßt, den das spätlat. ragire zu rugire bildet. Doch
war ragire damals noch nicht belegt and &- wurde mit Diez
als ^malender Vorschlagt angesetzt. Parodi (AO XV 61) stellt das
Thema brag = brug auf, im Anschluß an engl, brag, kymr.
bragal. Vgl. auch D.-H. zu bruire. Wir haben ragit pullus (Q III
432. 15), abiragat • rugit (V 490. 2, nach Goetz emendations-
bedürftig). Wie bur^re -f- rugire, wird auch burire + ragire
Grundlage einer größeren Sippe: frz. braire^ obw. bargir^
bragir oeng. bargir weinen, bargada ausgelassene Leute
(neben brigada in anderem Sinne, Gärtner Z. XXV 619), vegl.
brdgul (Bartoli II 175) agen. braci Geschrei (AG XV 49)
piem. bragi schreien braj der Schrei etc. etc. Das spätgr.
ßgä^w stellt im Grunde auch bragio vor.
Rugire und ragire verhalten sich, soweit sie nicht be-
grifflich zusammenfallen, so zueinander, daß rugire das dumpfe
Brüllen ausdrückt, ragire hingegen das helle Schreien bis zum
Wimmern, Piepsen. Im ganzen stehen folgende Wortpaare
neben einander:
rugire — ragire
burrire — barrire
burdire — bardire
gurrire — garrire
von denen nur rugire und garrire klassisch lateinisch sind.'
' Di« gleiche Bildung tod bruire und braire wird natfirltch nicht in Zweifel
gestellt durch die jetsige Verschiedenheit der Betonung heider WOrter,
die nur dem allgemeinen fransdsischen Sprachgebrauch entspricht; da-
nach wird ja der Ton im «»-Diphthong vorgeschoben, im a«-Diphthong
surttckgesogen ; Tgl. einerseits aiguäle^ andererseits e^tne, maUrt etc.
* Qurrire ist erst aus germ. gurr^ (gurren, gorren) gebildet worden und
im Romanischen siemlich yerbreitet: sia. gwrrvUari wehklagen (yon
Tauben) ss tubare prv. gourri gourri (-cuj Laut um die Schweine lu
rufen prr. gourrUuLa grogner frs. gournal prr. goumau mlat ^ip^
narduf Knurrhahn fra. gourUm^ gcrlon bourdon Hummel (Rolland II 275),
frz. gorrt Sau pry. gorrin (cat. gftrri) auch Ton Dies au gurren ge-
stellt afrs. goumm^ gorren^ goron Schwein (vgl. S. 12,21). EU ist nicht
recht klar, warum man das Schwein in eine Sippe bringen sollte, die
,rot' bedeutet, wie Nigra AG XV 114 tut Eine Beseichnung nach
Die Bedeutan^sgesohichte der romanischen Wortsippe bur(d). 95
5. Der Bedeutungsübergang von lauter Tongebärde zu
drohender Handlung^ vom Schreien zum Zanken, Streiten
dem Qmnsen hingeg>en läßt sich rechtfertigen. Oorron yerhHlt sich zn
^rrire wie grognan zu grunnire. Eine Reihe von WOrtem anderer Be-
dentang bilden so eigentumliche Parallelen zn iur-, daß ich sie hier
— vorgreifend und rekapitulierend — zusammenfasse: (Q V 298. 66)
goröt (garw) liquamen, 67 goridtu rigidus (G VI bessert zu gelidut\
konnte man nicht lieber liqfujidiu lesen?). Oour, gourp WassertUmpel,
Graben, it. gora Mühlgraben ven. goma südtt. guma (Morosi, AG XII
N. 160 ,deposito d*acqua) n. a. von Diez zu mhd. touore Damm zum Ab-
leiten des Wassers gestellt lang, gourelä {= boureta, baretä) den Teig
zu stark anfeuchten, so daß man Mehl nachschütten muß, Tgl. 8. 24,
lang, gourrina gourä frz. gourrer jemand betrügen vgl. S. 48, 61 und 39, 82,
anch herumirren, battro le pavS prv. gourrin Vagabund, Libertin vgl.
S. 53, 33 siz. gurriari gurgeln Tgl. S. 108 lang, gour Krug, Wasser-
kübel 8. 109 (G V 299. 22) gurgo garrulns Tgl. 8. 104 sard. gurdoni = bur-
dorn die 8terne im Orion Tgl. 8. 63, 31 prr. gourrau schwarz (negre
coume un gourrau) = baurrau 8. 11, 6 frz. goumian Klotz 8. 60, 13 67,
69 sard. gurcni u. ft. Geschwulst 8. 42, 43 rom. gor trübe vgl. 8. 47,
lang, you^timo«, gagoumas Aschenkasten des Backofens Tgl. 8. 70, 10 u. 11.
Dieser Reduplikation liegt, wohl gemerkt, keine Tonmalerei zugrunde.
Bei folgenden Worten hat schon Nigra (AG XY 114) auf die Analogie
zn hurra hingewiesen: oberit gurra it. gorra siz. agurra vurra prT.
gourro Weide; rom. gor rötlich Tgl. 8. 11, 6 sp. gorrion Sperling Tgl.
8. 11, 10 gorro Mütze Tgl. 8. 30, 11. Für diese letzteren zieht 8chachardt
(Z. XXX 212) bask. gorri in Betracht; die an derselben Stelle Torge-
brachte Vermutnng, in gorra Weide (und daher gor rOtlich) stecke augu-
rium^ ist Torlänfig noch nicht ganz überzeugend.
Über Kreuzungen der Stämme hur^ und gur^ sowie über Redu-
plikation Tgl. 8. 111 ff.
Man wird zugestehen müssen, daß diese mannigfaltige Verzwei-
gung mit der Ton hur- die auffftlligste Ähnlichkeit hat; lassen sich die
tonmalenden Bedeutungen in beiden Stämmen aus dem Klang der
Wörter erklären, so Tersagt dieser Schlüssel bei gur wie bur für den
größeren Teil der aufgeführten Worte. Es scheint mir aber, daß wir
zum Verständnis des Vorganges Ton den Ausdrücken für tönen
ausgehen und daher in Betracht ziehen müssen, daß das Volk die
etymologisch Terschiedenen Stämme nicht scheidet. Es hatte burdu$
und gurdua (gurridut) trag, gurrire und burrire tonmalende Verben
nebeneinander und bildete so die Analogien weiter zu burdut-burui
(Rohr, Weide), burdus-burrw (Tier), burru» (rötlich, grau) usw.. Tgl.
oben S. 13; sie alle werden auch mit g- Tersehen, auch sie bald mit ü,
bald mit ü. Die lautphysiologischo Beschaffenheit der Silbe kann das
Ihrige daza beigetragen haben; wir beobachten ja nicht selten, daß b Tor
II zu ^ wird. Aber wenn wir ähnliche Parallelbildungen beim o-Stamm an-
96 y. AbhandlQog: Richter.
findet sich in unserer Sippe öfters. Er ist von den verschieden-
sten Seiten her zu konstatieren. Neben lärmendem Überfall
gibt es nun noch das angsterregende fterSasch:
1. als Nebenzweck, wie bei gewissen Jagdarten , so ist
z. B. frz. hourrie eine Art Wachteljagd mit Netz, welche
ihren Namen offenbar vom Aufscheuchen der Vögel hat,
vgl. noch dt. burren, purren in der letzteren Bedeutung.
Dann aber auch 2. als Zweck an sich, ausschließlich um
Scbreeken einzujagen, z. B. berg. sborä piem. sbürdi spau-
racchiare im. burida panischer Schrecken. Daher die vielen
Wörter, um unruhige, ungezogene Kinder zu schrecken und
Ausdrucke flir Teufel, zumeist aus der Einderstube.
6. Die Teufelsaasdrficke können von zwei Seiten her
erklärt werden: von Schreckgespenst < Maske, vgl. S. 79,9
und vom Verb des Tönens. Ein dumpfer (unheimlicher) Ton,
der andere schreckt, dient zur Bezeichnung des schreckenden
Wesens, vgl. unser österr. Wauwau = Teufel, böser Rupprecht
(Kindersprache), der als Babau auch fUr die romanische Jugend
existiert (vgl. übrigens Thumeysen, Keltoroman. 48 cymr. braw
treffen, wo diese Uatphyiiologische Forderung fehlt, mOnen wir eine andere
Erklftmng suchen. Denn wie neben ftur- gur^ steht, so neben bar- gar-z
Auch das Wort garrire hat in nachklassischer Zeit riele Sprossen
getrieben, die es eng mit unserer Sippe rerbinden. Hier nur noch
einige Andeutungen: garrtdu» geschw&tsig, tosend (rom Bach), ^orrUi»;
garut (Heusehrecke) garris =s läppisch sind aus der Zeit des klassi-
schen Lateins belegt; dann aber haben wir Q n 32. 18, garrU tplva^ftV
(nugatur), dSoltax^i U 218. 68; weiter: G IV 846.6 garrU' gaudit, also
wie burdÜ ' exsultat gargäro stark schreien it. garrire keifen, wäh-
rend garoto s&nkisch (nach H.-L.) ani gara surflckgeht, Tgl. 8. 106» afrs. ga*
ruehe moulinet S. 108 In. gar Kater prr. garri schlechte Laune (Sain^n,
Cröat. metaf. 68) lang, gargavü Kehricht und gargatiUo9 Ausgesiebtes
(criblures) S. 87 Xkig;r. ydqyoQU Gewimmel, Haufe S. 72 u. 114 Span.
garUio Weidennets 8. 66, 20 Aunis (Meyer) garguena Kehle = gargaUa,
Für die ersten der angefahrten Beispiele kann man eine fortlaufende
Bedeutungsreihe entwickeln: Schwitzen > läppisch reden > läppisch
sein > jung sein >> froh sein. Aber zu Windstoß — Keifen — Keh-
richt — Gewimmel kommt man dabei nicht Deswegen scheint es mir,
als ob diese WOrter, sowie die eben besprochenen gur^, 6tir» Parallelen,
durch das Nebeneinander von 6ar- und gar- in tonmalender Bedeutung
herrorgerufen worden wären, wobei gewiß das Übergreifen Ton gmr^
auf ursprfinglieh 6i«r* lautende WOrter auch noch Torbildlich gewesen ist.
Die BedeatnngsgeBchichie der romanischen Wortsippe hur(d). 97
schrecken). Den haraban (Val di Taggia) mit einem Sacke
(Ur angezogene Kinder. Caneo harahan (auch malaman) Pole-
sine harahabau etc. stellt Nigra (AG XIV 344 — 5) zu rapa
(mit Metathese) ^der Geschwänzte'; begrifflich möglich, lautlich
nicht überzeugend; piem. barabio ven. barabao Teufel; bret.
Barbaou = böte noire leitet Henri aus Barbe-bleue (!) ab.
Berg, barabtio bao babao Schreckgespenst für Kinder. Frz.
Barabaa bei M. A. De Chesne (Dict. des Sup. Pop.) Name des
Teufels, unter dem ihn die gefangenen Hexen anrufen; ,par
dödain' fügt der Verfasser seltsamerweise hinzu.
Berg, berlic berlichete Dämon, Teufel, Irrwisch, fa berlic
berloc rasch etwas zeigen und nachher etwas anderes, vgl. piem.
per virtü d'berlich e berloch durch Zauberei. A bUrlic ,wenig,
in geringem Maß' aus der Vorstellung des Zeigens und wieder
Verschwindenmachens; gehört di da mangi a berlic hierher und
nicht zu ,Lappalie' (vgl. S. 36, 22), so heißt es : jemand zu essen
geben, indem man's ihn gerade nur sehen läßt, ,daran riechen
läßt', piem. bergnif Teufel ; hieher vielleicht frz. envoyer quel-
qu^un au bemiqu^t = zugrunde richten^ il est au bemiquet
er ist ruiniert. Endlich sei noch erinnert an Hesychios 831,
819* ßoQQäg = äveixög \f)v%q6q . . . XQoni.%Qg TiaXovfxsvog
diißolog b naqä %o bqäad'ai ifcide^iwg. Bedenkt man nun,
daß Boreas stets stark bärtig und oft mit wirrem Haupt-
haar dargestellt wurde, so ist das Bild des leibhaftigen ,Wau-
wau' gezeichnet. Damit schließt diese Wortgruppe auch an
die von reburrue hergeleitete an, vgl. S. 31, 14.
Einzelne Ausdrucke haben eine etwas modifizierte Be-
deutung:
8. piem. barabau Vogelscheuche;
9. toul. baraban faiseur de bruit, brouillon;
10. triest. baraba schlechter Kerl (Ötrekelj DAW, L 7)
prv. baraban (-as) Schelm, Roßtäuscher, dummer Kerl, der
sinnlos spricht, prv. barrusco maquignon, eine Kreuzung von
bar und bruscus]
11. berg. baraba barabot Gassenjunge kann auch ein-
fach als Lärmmacher, Schreier aufgefaßt werden, vgl. oben
baraban (Nr. 9).
Daß der biblische Barabbas nur einwirken, aber nicht
Ausgangspunkt der Beziehung sein kann, ist auf der Hand
8ittaaftb«r. d. phiL-kiit Kl. IM. Bd. 5. Abb. 7
98 y. Abhandlang: Richter.
and ist auch schon bemerkt worden. Im Thes. finden sich Be-
lege für die Skansion Bäräbba\ aber die innere Unmöglichkeit
ist natürlich gewichtiger.
IV. Sammen^ Surren. Da ist das lat. hurdit rpr^griq
(GII, 61, vgl. S. 38, 29)^ nochmals zu erwähnen. il^Qtiq findet
sich weder bei DC noch bei Stephanas. Es ist wohl zu tf^al^ zu
stellen: reiben, schaben, das entsprechende Geräusch erzeugen;
rascheln, säuseln, flüstern (Passow). xpdQ jon. xpr^Q der Stahr.
tpaiQü) = riv&aaw u. a. blasen, anfachen, pusten (schütteln, er-
schüttern) stridule agi \f)Aqog = Ta%iq (Stephanus). Also jedes-
falls: ein Geräusch erregen. Engl, bur surrendes Geräusch,
das Schnarren des r, to bur dieses Geräusch (das r) erzeugen,
Schott, birr summenden Lärm machen [z. B. vom Blasebalg]
bret. bouder (Chambure 102) summen, wegen des Ausfalls des
r vgl. die r-losen Formen für bourde Fest S. 77, 4.* Dauph.
bordeiri das Summen der Fliegen Wallis. (Gauchat) bordanä
leise singen, leisen Lärm machen, summen waadtl. (G) bor-
dunä u. a. Freiburg (G) bordi das Quaken der Kröten und
Frösche, it. buriasso SoufSeur ,der Flüsterer^ (übrigens auch
Herold, ,der Ansager'). Frz. bourdir (Z. XXVIII 586, Baif
II 282) kann das ,verliebte Flüstern' bedeuten, gael. bürdan.^
Frz. bourdonner summen (auch Melodien) afrz. bourdon =
bourdonnement Ohrensausen und Cons. nenne ich zuletzt, da
man formell nicht entscheiden kann, ob sie nicht aus dem Subst.
bourdon = Hummel abgeleitet sind, llatürlich kann ganz
ebensogut z. B. bourdon = Ohrensausen deverbal zu bour-
donner sein und bourdon^ das Tier, nicht minder, vgl. unser
,Brummer' = Brummfliege.
Prv. boumion (bom- boun-)^ boumay Bieneiischwanil
kann aus den gleichlautenden Wörtern für Bienenkorb ent-
standen sein (vgl. , Frauenzimmer'); doch ist der Bienenschwarm
' Forcellinis BeMerung ^rignif ist wohl abiulehnen, da auch ^i^pro o^viov
stnrnua (Q II 480) belegt ist. Buecheler bessert za cntt^rf .
* In Anbetracht dieser r-losen Formen fttr swei von einander so nn ab-
hängige Bedeutungen wie Seheiterhaufen und Summen, ist es yielleicht
gestattet, das bret boudedeo = Ahasver hierher su rechnen und als
fPilger*, Wanderer xrer* i^o^riv zu deuten (Henri erklärt ,qui butat Deum').
' Daher vermutete Littrö keltische Grundlage für das gaelisch— englisch —
französische Wort
Die Bedeutangsgeschichte der romanlBeheD Wortsippe burfd). 99
jdas Summende' par excellencei vgl. ßofißökrj cuIex, ßö^ßrjaig
examen apum < ßofißahw -ßd^w susurro (Steph.). Aus bour-
danner summen (der Fliegen) entwickelt sich die Bedeutung
yZadrlDglicli sein^
Bern. (Gauchat) hrond^n^ und Neuenburg brondnd = bour-
donner, sowie brondon Hummel zeigen eine StammveränderuDg,
die an it. brontolare erinnert.
V. Schwirren, barrit- rgiter eXeq)ag ßoa (GII28). Tgi^tj
schwirren von Fledermäusen^ feines ; undezidierbares; durch-
dringendes Geräusch, Knarren auch von gefeiltem Eisen etc.
(Paaaow); frz. bourrir (DH) afrz. burir schwirren mit den
Flügeln beim Auffliegen (von Rebhühnern) dt. burren purren^
(von Rebhuhn und Maikäfer, vgl. Schuchardt, Z XXIV 417).
Hier ist wohl die bourrie einzureihen, ein Tanz, bei dem
die in einer Reihe vortretenden Tänzer die ihnen entgegen*
kommenden Partnerinnen an der Hand fassen und im Kreise
um sich selbst drehen lassen: sie machen also den Elindruck
des Kreisels, vgl. Gruppe VI^' B 12 (S. 103); indes ist mir
vorläufig ein entsprechendes Wort für Kreisel oder kreis-
drehen nicht vorgekommen. Jedesfalls aber kann das froufrou
der fliegenden Röcke an das Schwirren erinnern. Die Ab-
leitung aus einem Musikinstrumente, zu dessen Tönen getanzt
wird, wie dies von der Musette, der Gigue u. a. gilt, wäre
natürlich an sich möglich ; aber abgesehen davon, daß auch hier
eine entsprechende Bezeichnung fehlt, ist das im Kreise drehen
der Tänzerin das eigentliche Charakteristikum der bourrie und
so wird sie wohl danach benannt sein.
VI. Hier wie oben bei bourdon kommen wir zur Beob-
achtung des sehr gewöhnlichen Vorgangs, daß der Tonerzeuger
nach dem Ton genannt wird, den er hervorbringt. Wir unter-
scheiden in unserem Falle zwei Gruppen von Ableitungen,
' Barren ,dM in Form nnd Bedeatnng Bchwierige Verb, das man zn baren
{<. burkm) stellon sollte' (Grimm), zeig;t eine ganze Reihe von Bedeu-
tangen wie seine romanischen Verwandten: heulen yom Winde, Tgl.
dazu mndt. Lübben -Walther) bordot ohne Wind und Wellen; klagen
Ton Tauben; schwirren Ton Schmetterlingen und Käfern; bur^n
(Bauer, Waldeckisches Wörterbuch) mit Geräusch auffliegen; rauschen
des Wassers; antreiben » hetzen. Liegt eine Entlehnung aus dem
Romanischen Tor oder UrschOpfung?
100 V. Abhandlang: Bichtar.
je nachdem es sich um belebte oder leblose ^Tonerzenger'
handelt: A. Tiernamen und B. Werkzeagbezeichnnngen.
Auf das eingangs Gesagte (S. 7) bezugnehmend j bemerke ich,
daß nach meiner Vorstellung diese Sprachgebilde nicht anders
entstanden sind als alle onomatopoetischen Schöpfungen , nur
eben daß das Sprachmaterial ^ aus dem sie gebildet wurden,
bei ihnen ebensowenig als bei der Bezeichnung der Musik-
instrumente, eine rein primäre Schallnachahmung ist, sondern
durch die Pflanzenbezeichnung unterstützt wird. Diese letztere ist
eine primäre Bildung, wird auf die Musikinstrumente naturgemäß
übertragen und von da werden so und so viele andere Dinge,
die ebenfalls den ähnlichen Ton erzeugen, per analogiam benannt.
Diese ausgedehnte Analogiewirkung ist aber nur dadurch mög-
lich, daß die sekundären Bildungen in fortwährend gefühltem Zu-
sammenhang mit den onomatopoetischen Urschöpfangen stehen,
deren Lebenskraft unausrottbar und international ist.
A. Tiernamen. 1. Hummel: Burdo = attica in den
Glossen: frz. bourdon Cdte d'Or bodiorif bondon (Rolland III
274) Vosges (ebd.) boudon Fr.-Comtö Bern. (Gauchat) hron-
don vaud. bordon (Z Fr. Spr. L. XXV 70) cat. burinot rum.
bärdäun bärzäun u. a. (vgl. Schuchardt, Z XXIX 224). Eine
weitere Übertragung ist mont. bourdon =: orchis ophris nach
der fliegenähnlichen Form der Blüte.
2. Biene: prv. bourdoun (und zwar die männliche, nach
Mistral).
3. Ochsenbremse: poit. buret burin burgau cat. borla
burinot engl, burrelfiy engl. dial. borrill berril.
4. Summende Fliege: dauph. bordelri] Fleischfliege:
Neuenburg (Gauchat) borddn. In diesem Zusammenhang mag
auch alb. murjete grosse Pferde fliege genannt sein (von
Meyer £W zu it. morello oder sp. buriel etc. == rotbraun
fragend gestellt).
5. MaikSfer: Bresse bordiaine bourdiaine borg, bordö]
bei Diefenbach brugus.
6. Span, brilleto Bohrkäfer gehört wohl eher unmittelbar
zu buril Bohrer.
7. Insekt: Berry rom. Schweiz bordon Onsernone (AG
XU 392) borda ptg. borboleta] vgl. afrz. barbelote (God.)
lyon. barbirote morv. barboulotte (Schuchardt, Z XXVI 395
Die Bedontangsgeschiehte der romanischen Wortsippe burfdj, 101
stellt barbelote y bärbel etc. Kornwnrm, schädliches Insekt zu
germ. werr) span. berdin Rebenstecher.
8. Schmetterling: ptg. borboleta (Const.) lucch. burban-
dola (Pieriy Z XXVIII 463 ^come a dire la ronzante' und zu
bnrbanza = bombanza gestellt ^per dissimilazione').
9. Lerehe: bardala (G II 28. 25) bardaia (III 361. 20)
hardea (III 361. 14) lang, bardal (Mistral).
10. SammTOgel (Kolibri): frz. bourdonneur (Sachs).
11. Ente: Qruy^re (Ro. IV) burita cane frz. boure (Qod.)
weibliche Ente bourote Küchlein. Die englische burrow-duck
jetzt zu ,burrow' gestellt, wo sie ihr Nest macht, könnte wohl
auch hierher gehören and ursprünglich eine Bildung wie dt.
Kriechente östr. Königlhase (= lepus cuniculus) sein. Engl,
dial. burrian Tauchervogel.
12. BIr: afrz. morv. brohon brohun broion zu afrz. brayon
< bracio (Greg. v. Tours); es kann von bur- seine o-Form
bezogen haben.
Einwirkung von bur- ist auch möglich in nordostit.
bretpa = vespa (auch bespra). Hesychios ßoQvaxog äol. ftvQ-
^axog usw. für ßdtQaxog, wozu mlat. bruecua Frosch ngr.
lirtQÜtnux rum. broasca alb. breike (Meyer EW) Schildkröte.
B. Werkzeagbezeichnungen. 1. Ebenso natürlich wie
beim Tier ist die Namensübertragung beim Werkzeug. Vor
allem liegt es nahe, an die Ausdrücke fUr bohren zu denken
und ihre u-Form aus bv/r- oder durch Einfluß von bur- auf das
germ. boran zu deuten:
it. burina neben borina piem. burin = bulino, burini
bohren siz. burino Grabstichel (Biundi) burinari Werkzeug
zum Einschneiden (Traina) frz. burin cat. buri ptg. buril
neben boril Stahlwerkzeug zum Ziselieren burilar gravieren
ptg. burato Loch (Pinol) gall. (Rev. Lus. VII 205) burato agu-
jero engl, burdrill neben to bur (schott. birr) schnarren engl.
dial. to burrowy boral Bohrer; nit. burcaj Metallbohrer wurde
schon S. 58, 78 erwähnt ; es gehört offenbar zu burca Stock mit
Eisenspitze; vgl. nun noch alb. burgi (Meyer EW < türk.
bürge). In diesem Zusammenhang kann auch frz. brequin
(Doutrepont Z. XXI 231 < fläm. borkin) ptg. berbequim ge-
nannt werden, letzteres mit Reduplikation des b (vgl. S. 111 ff.)
sp. berjxlla Kratzeisen für Schuhe sard. berrina barrina cat.
102 V. Abhandlnng: Richter.
barrina sp. barrena stellt Diez zu it. verrina, während er für
ptg. verruma Einfluß des arab. bairam etc. annimmt. Porru
stellt noch sard. burina ptg. barruma zu derselben Gruppe.
Die portugiesischen Wörter haben mit ihrem -m- gewiß noch
einen fremdländischen Einfluß erfahren , burina aber gehört
natürlich in die eben angeführte Reihe; bei den Wörtern mit
barr- < verr kann die lautliche Umgestaltung immerhin durch
begriffliche Einwirkung unterstützt worden sein, so z. B. könnte
verrere >• barr er wegen des spezifischen Lärmes, den das
Fegen macht, hier genannt werden, aber auch durch das
Material, aus dem der Besen gemacht wird, beeinflußt sein,
vgl. frz. balai] ptg. barbasco Wollkraut < berbascum ist
gewiß durch barba beeinflußt, langu. baroul barren = verrouil
= Biegel aus einem Holzstäbchen, vgl. S. 56, 62.
Im Bardischen sind drei Stämme nebeneinander: berrinäi
barrinäi burinäi.
2. Da Bohrer und Schraube nahe zusammen gehören,
wird die Bezeichnung von jenem auf diese übertragen ; so alb.
burgi neben burma (nach Meyer EW ebenfalls aus den tttrk.
burma, dazu birB Loch).
3. Gat. brugidor brusidor Instrament zam ftlassebneideD
sp. brujir.
4. Das Verb für polieren zeigt durchwegs die Form &tim-
neben brun- und ist jedesfalls durch bur- beeinflußt: afrz. bumir
(DG) burnoyer ptg. bornir bomidor bornido piem. bumi berg. im-
bömi imbümi mgr. ßovQT^lleiv ngr. ^ttovqvIqw (Meyer Ngr. IV)
prv. bami (Mistral). Da es sich in erster Linie um polieren des
Stahles handelt, ist die Vorstellung des Lärmes beim Schaben, Rei-
ben wohl imstande, die Benennung der Tätigkeit zu beeinflussen,
um so mehr als brun nirgends die Bedeutung ^glänzend' bewahrt.
5. Haspel, Winde: Ard^che bourboneiro (Schuchardt an
Mussafia 23) it. burbola Drehbank, (von Seh. a. a. O. zu gyr-
gillun gestellt), piem. burbora it. burbera gall. burro Winde,
an der der Kessel hängt.
6. Kran: piem. burlora.
7. Berg. bureaneU = boncinelle, eiserne, mit Holz-
Zylindern überzogene Speiehen (zum Abspinnen der Seide).
8. Afrz. brunau (Rom. XXVIII 121 v. 86) Kratseben
(ratoire).
Die BedeutangageschichU der romaniachen Wortsippe ImrfdJ. 103
9. Bagnes (Ro. VI) baranye ZlmmemiaililSSSge.
Lang, bourelaire Arbeiterin, die Flockseide mit der Karde
bearbeitet (= Wollkratzerin) gehört jedesfalls zu burra, und
baur^üu Arbeiter an der Ölpresse zu ,Re8t' S. 35, 22.
10. Kreisel: bourdufo, bourduflo und andere Varianten
des Suffixes (Mistral) bourdet bort; sard. baraliccu Drehwirbel
(Porru).
11. Die Verba für Mehlsieben, Hehlbeateln it. burat-
tellare span. brutar bret. burutel = blutoir afrz. blutel
meas. bertd tamis pour la farine, Bagnes (Ro. VI 375) bora-
teyre etc. gehören alle zu buratto, dem groben Stoff, aus dem
der Mehlbeutel gemacht wird. Lärm und Bewegung des
Mehlbeutels sind aber in die Augen fallende Merkmale und
so werden sie als Ausgangspunkt der Bezeichnung angesehen,
die dadurch recht charakteristisch ist für die Kreuzung der
verschiedenen Begriffe. Burattare erhält die allgemeine Bedeu-
tung schwirren, surren, vgl. S. 98, und von da wieder können
wir einzelne Spezialisierungen auf Werkzeuge mit ähnlichem
Klang verzeichnen, so
12. Ven. burato ngr. (Meyer Ngr. IV) fiTtovQccro Eaffee-
brenner. (Im Neugriechischen wird in Anlehnung an das Mehl,
wenn es aus dem buratto kommt, noch eine andere Begriffs-
übertragung gebildet: 13. fiTtovQha Streusand.) Ähnlich wird
frz. brennage zu barn- bomage verändert.
Bar-Formen: aprv. barutelar afrz. bartteau Sieb lang.
barutel Instrument qui marque par le bruit qu'il fait k chaque
tour de la meule la lenteur de celle ci (ciaquet); von da weiter
zur Bedeutung: 14. Schwätzer.
VII. Von summen kommt man zu mnrmeln, leise reden
(auch murmeln der Quelle, ,schwätzen wie ein Wasserfall');
heimlich reden.
A. Alb. me raa burii: Geheimnisse ausplaudern, wieder-
sagen cat. brugir flüstern fer burgia Aunis (Meyer) berlander
Nachrichten verbreiten lang, barja (schwätzen) klatschen calvad.
bemotter murmeln berg. bomisott angenehme Unterhaltung:
wie es scheint, leise surrende Stimmen im Gegensatz zum Lärm
beim Streiten. Man sieht unwillkürlich die sich zueinander beu-
genden Köpfe vergnügter Klatschbasen.
104 y. Abhudlang: Bichter.
B. Von da weiter Schwitzen, welche Bedeatnng sich in
einigen der eben angeführten Wörter auch schon findet: her-
notter (Querlin de Guer) lang, barja prv. barjado jaserie
alp. barjac Schwätzer.
Mit dem Stamm bert'(d) ist eine ganze Reihe von Wörtern
gebildet: südlothr. (R. d. Pat. III 192) berdona in den Bart brum-
men, fiandr. (Verm.) berdeler murmeln, vgl. dazu mont. verzeler
schwätzen, faseln (nach Sigart zu flandr. verteilen afrz. ver-
seller alternierend Verse hersingen) alb. ververe Geschwätz
(nach Meyer EW < türk. verver , verglichen zu epir. iinaq-
liTtaq'tQiü schwatze) beriet (Rossi) Ruf, Schrei, Fama; mebertit^
me britt rampognare gridare riprendere. Das berg. menä la
berta (batola) = Klapper, wie piem. buta berta n sac schweigen
gehören zu berta Elster. Es wäre indes auch möglich, daß berta
Klapper, Schnarrinstrument Ausgangspunkt für alle Bedeutungen
wäre. Piem. mnl la bertavella (und von da bertavle) schwätzen
ist, da bertavella auch Rebhuhn bedeutet, ein heiterer Euphe-
mismus wie etwa came di lodola.
It. berlingare schwätzen Rouchi berUk Schwätzerin (nach
Doutrepont Z XXI 231 unbekannter Herkunft) gehört wohl zu
den Ausdrücken für kleine Glocke, vgl. S. 89.
Schwätzen ist nicht nur viel reden, sondern auch rasch
reden. Von da entwickeln sich wieder mehrere Vorstellungs-
stufen :
In malam partem:
1. Dummes Zeug plappern, undeutlich, kauder-
welsch reden, auch tibertragen auf undeutlich reden infolge
eines Sprachfehlers: fvv.bardouia ^lem. berdouja frz. 6r«-
douiller engl, barrikin gen. barbaggiä usw. Der Einfluß von
barbarus, dessen ursprungliche Bedeutung ja wohl auch nichts
anderes war, ist natürlich nicht zu verkennen. Eine eigen-
tümliche Verquickung unserer zwei Stämme zeigt barburrus^
Var. L. zu baburrua ineptus stultus (G IV 599. 1) und bubarrus
V 493. 17.
2. In bonam partem:
Da ist rasch reden das Zeichen der leichten Zunge,
des schlagfertigen Geistes, und wir kommen zu der Be-
deutung zierlleh, witzig reden:
Die Bedeatungsgeschichte der romanischen Wortsippe bur(d). 105
Alp. (Nie.) bardzar ,parler' sard. barzelletta berg. barze-
Uta angenehmes Witzwort, Spaß, Scherz rom. barzaletta gen.
laTBeUUa Posse afrz. bardeler barzeler zierlich plaudern u. a.
Eine Ableitung hiervon ist weiter ven. barzigola leicht-
fertiger Mensch. Vielleicht ist berg. baraca baracada heiteres
Mahl, ribotta, and davon baracher := Godimondo, Buontempone
auch noch her zu rechnen.
C. Brummen; Zanken. Sammen und Brummen sind
gleich. Ins Menschliche übertragen ist es ,tadeln^ In den
Bart brummen, schelten: frz. bourdonner waadtl. (Gauchat)
bordona Neuenbürg bordnä bäarn. brouni'^ Corbaz bordon
Brummbär, brummiger Mensch prv. bourgnaire bondeur
Semur (Roll. Faune pop. II 275) bodion mürrische Person {eile
bodienne) also bourd -|- Jowd-; em. buridon Tadel, Drohung fer.
burir sich erzürnen und noch andere Wörter der oben er-
wähnten Gruppe (S. 92, 3) haben auch diese Bedeutung. Es gibt
aber noch eine große Anzahl von Ausdrücken für schelten,
keifen, zanken vom Stamm bar (ber) und im Anschluß daran,
wie natürlich, eine Reihe von Schimpfwörtern.
Shetl. bard Keiferin, Zänkerin engl, barrator Zänker,
to barrat] norm, barata (Du Meril) Kampf bartous lärmend
kampflustig afrz. barate Schlachtgewirr (die letzteren wegen
des -at' fraglich). Das schon besprochene barrus Lästermaul
(Horaz) vgl. S. 93. Berg, braa schreien, jemand Vorwürfe
machen. Hier ist die große Gruppe fiaruffef einzureihen:
piem. baruf rabuffo berg. barabuffa ven. baruffa und das
Verb barufäy prv. barruf aut] daß im zweiten Kompositions-
gliede longb. *rauffan = ahd. roufan vorliegt, erwähnte schon
Diez. Es fragt sich, ob wir das erste Glied unter ,ver wirren*
einreihen sollen, dann ist baruffare ein Übersetzungskompositum
wie Oerfatuc, Linguaglossa etc., allerdings von etwas eigentüm-
lichem Charakter: die zwei gleichbedeutenden Wörter haben
eine Mischung ergeben wie cominciare. Dabei ist noch zu
bemerken, daß raufen ja ganz dieselbe Bedeutungsentwicklung
aufweist wie das keltoromanische Wort: raufen = auseinander
Btrehlen, in Unordnung bringen (zer-), gewalttätig vorgehen,
streiten. Nach Schuchardt erlitten diese Worte Einwirkung
von Berecynthia (Z XXVIII 154). Mir scheint die ganze
Gruppe eher zu der hier besprochenen ,Zank' zu gehören. Zu
106 y. Abbandlong: Richter.
nennen sind noch ven. harafusolo < baruffe + fuso (fundere)
Stimmengewirr ptg. harafunda sp. it. baraonda gen. baranda
lang, baral (varal) Konfasion, Bewegung etc. frz. parier ä la
barrette de q, q. jemand den Kopf waschen gehört wohl aach
her und ist wieder ein heiterer Euphemismus; baroyer barroyer
seine Meinung sagen wird unmittelbar zu bareau gehören: der
Gegenpartei erwidern; cat. barallar Vorwürfe machen, barayar
streiten siz. barrusculi Schläge, Stöße, ,Keilerei^ Zu afrz. ber-
ruier ist die Nebenform barruier von bar- beeinflußt. Mit Stamm
ber: gall. berrear verklagen, angeben (von Schulkindern, Rev.
Lus. III 203) afrz. berele Streit, Gezänk, Wirrwarr Pic.
(Roubais) berdoul Keilerei = frz. bredouilh mess. (Ro. V)
berten'ä brummen, zanken mont. berdeler = berdeller wegen
der Bedeutung zanken von Sigart zu flandr. bedillen = kriti-
sieren gestellt vend. berlauder zanken schreien berg. sberlef
Beleidigung sberleffare = sbergnä mit reduplizierendem b: piem.
berbot berboli zanken it. birbo. Sollte frz. breite Hieber,
Schläger aus berte = Stecken abzuleiten sein ? Vgl. S. 49, 8 ff.
bretteur Streithahn (Dict. des Prov.).
Zanken schließt die Vorstellung eines wirren Llrm6S,
Getöse von Stimmen in sich: prv. bourjou brujou braujou
wirrer Lärm, Konfusion bourdoul Tumult, it. biribara Un-
ordnung, Mischmasch barafuaolo cat. brugit Lärm von vielen
Stimmen, murmur. Ven. bordelezzo wirrer Lärm berg. bardil
bordill rom. burdell chiasso frastuono können wie oben S. 64, 14
erwähnt, aus ^bordelV abgeleitet sein, vgl. aber auch burdeU =
lärmendes Kind. It. bruscello Lärm, Geschwätz, auch Straßen-
lled, endlich das frz. brouhaha.
VIII. Der wirre Lärm nicht mehr unterscheidbarer Stimmen
führt wieder zurUck zum unartikulierten dampfen OetSse
und in dieser Bedeutung haben wir eine größere Reihe von
Wörtern, die natürlich wieder unmittelbar an Summen und
Surren anschließen und die alle Gradunterschiede darstellen.
1. Das dumpfe Geräusch beim Zusammenschlagen
der Hände drückt aprv. bortz manuum sonus (Ro. II. 343)
aus; afrz. bourbondir schlagen bäarn. brouniüre starker
Lärm.
2. Trommelwirbel (DC) burida ,lo sono del timpano^ Ob
in tanAor unser Stamm steckt, bleibt vorläufig unentschieden.
Die Badentangsgeachichte der romanischen Wortoippe hur(d). 107
Wichtig ist jedesfalls^ daß afrz. tamhurch (tambots^ -buis) ein
Instrument bedeutet, das sich zum ßajol akkordiert: Richard
de Foarnival, Best. (God.) II est 1 pais la ou li cisne chanient si
bien ei $i volontiers que qant on harpe devant aus il s'acordent ä la
harpe iout en autel maniere com li tambuis au flajol. Offenbar
also keine Trommel, sondern ein Blas- (oder Saiten-)Instrument.
Die Varianten mit -n zn trommeln : tabomer, taboumer, tabumer
erklären sich leicht durch Einmischung von bur(n). Bourbour
ist geradezu ein Ausdruck für Trommel vgl. S. 111; trasm. (Rev.
Lus. I 204) ataburrar Kindern bange machen ist eine Ver-
quickung von Trommellärm und Schrecken, unheimlicher Lärm.
Span, baraganete Polier, Flandr. berdif berdaf berdouf Aus-
ruf, wenn man eine Tür lärmend gewaltsam aufstößt vend.
berdassie dumpfer Fall berloquer eine TUr lärmend zuschlagen
(von Mart. zu loquet gestellt) lang, berloquo Trommelwirbel,
der die Freistunde ankündigt (Dict. d. Prov.) creol. ber-
loque loisir, Suspension de travail (Ro. XX 274, Dietrich) mont.
baue la berloqus den Kopf verlieren; der BegriffsUbergang
ist wohl der, daß, wenn die Freistunde schlägt, alles ,drunter
und drüber geht', nicht mehr diszipliniert ist, frz. bedeutet es
das Trommelsignal für Kasernenreinigung (ebenfalls Sigart).
Gen. berlendan (Cas.) Ohrfeige mit der flachen Hand.
3. It. batier la borra vor Kälte zittern, mit den ZUmen
klappern (im Voc Cr. von Stopfmaterial abgeleitet!) berg.
barbelä schütteln, rütteln, mit den Zähnen klappern (Elinfiuß
von barba nach Schuchardt); auch zittern, vibrieren von Sternen,
daher glänzen.
4. Vend. berdancer beurdanser mit Lärm bewegen, über-
flüssigerweise allerhand Dinge bewegen. Der Einfluß von danser
ist offenbar, vgl. oben berdassie. Rum. a burduca polternd rollen,
dazu burduz etwas polternd Rollendes (auch hurduz) engl, to
bur ein Wagenrad durch einen Stein sperren (Murray).
5. Böam. broumide Geräusch des Hagels in der Luft,
(Lacombe) brouie kurzer Regen bret. barrad glao großer
Regenguß gall. barad (Rev. Lus. VII 204) Hagel (bard frio)
sp. bramar Bollen des Donners vend. berdauder dumpf grollen
vom Donner; über den Gebrauch von mugire für Donner-
rollen bei Kirchenschriftstellern, vgl. ALL VI 394. Der Be-
griffsübergang liegt ja außerordentlich nahe.
1 08 y . Abhandlnng; : Richter.
6. Kollern in den Eingeweiden: b^am. brouni ragitos
in testin oram it. bruire] afrz. (Qod.) bi*ouille Eingeweide (La-
combe) breuilles haben wohl ihr r daher bezogen; verd.-chal.
genf. bouri montr. bourri Bauch in der Kindersprache; alp.
(Nie.) burba panse; sard. murigamentu de brenti^ brenti selbst
ist natürlich nnr lautliche Umgestaltung aus bentre < venire;
7. bret. brula erbrechen von kleinen Kindern; breügeud
(von Henri zu erbrechen gestellt) rttlpsen (aufstoßen) ist wohl
mit *brugire in Zusammenhang zu bringen, vgl. S. 91 , berg.
berat rülpsen, rum. boresc erbrechen (von Sain. zu borbet Ein-
geweide gestellt, wobei der Verbleib des b nicht klar ist); bei
diesem wie bei den folgenden Ausdrücken kann die Vorstellung
hervorgurgeln (vgl. die nächste Gruppe) mitwirken.
Frz. bourdon espfece de grains de Chapelet (La Curne) geht
wie bourdaine Schießbeere wohl auf , Knallbeere' zurück; vgl.
aber auch S. 20.
IX. Besonders zahlreich sind die Ausdrücke f\lr Banschen
des Wassers. Es ist entweder A. ein Hervorquellen, Her-
vorgurgeln, das Geräusch des fließenden Wassers, oder B.
das Rauschen des Meeres.
A. Hervorquellen (Gnrgeln). 1. Sp. burga warme Heil-
quelle, von Schuchardt (Ro. Et. II 130) zu burca = cloaca
gestellt. Vielleicht wäre es S. 24 einzureihen, in der Be-
deutung (heißer) Schlamm.
Der Ortsname Sevenbor bei Brüssel = Septem fontes,
Septimburias bei Donat. Exig. Vita S. Trudonis (DG) alb.
bur\m (Rossi) Quelle buröii quelle hervor, entspringe; vrujön
quellen (Meyer EW) vröii das Aufsprudeln des Wassers;
viro/ie Quelle (von Meyer zu serb. vir Quelle gestellt). So ist
also wieder Zusammenstoß zweier Formen in derselben Be-
deutung. Welsh bxcrlymu gurgeln bwrhom das Gurgeln. Ngr.
ßgvio hervorquellen, ßQvaig Quelle, Laufbrunnen, fiTTQOvaha
(Meyer Ngr. III) Klystierspritze. Man ist versucht^ auch
Hesychios 971 ßovQwog* rtövafidg f^^yafg] ^edfia e%w>v hierher-
zuziehen. Die Adnotatio gibt yaqvtov = lic yrig (^iov, Steph.
nimirum na^ä ro ßoü ^eiv quoniam vehementi et magno cursu
flnat. Hingegen kann das ebenfalls von Hesychios genannte
BovQiwa BvQiwa BvQQig (Fluß auf Kos) nicht in Betracht
kommen, da die Bezeichnung schon bei Theokrit VII 6 vor-
Die Bedeataogigesohichte der romanischen Wortsippe bur(dj. 109
kommt und anf einer alten Überlieferung beruht. Berg, sboro
sgorgOy sfogo d'acqua, friaul. shorador Öffnung für Wasserabfluß.
Im schweizerfrz. homi Quelle berg. sboriunä sborgnä
reichlich hervorquellen, hervorsprudeln ist Einmischung von
germ. bom naheliegend.
2. Das Gurgeln wird aber nicht nur am lebendigen Quell
beobachtet; sondern auch am &efBO, in das man die Flüssigkeit
fbllt oder auch aus dem man ausgießt. Viele Gefäße sind nach
diesem glucksenden Tone genannt, in erster Linie natürlich
solche mit schmalem Halse und dickem Bauch: DC bureta
afrz. buire Olgefilß, Fayencetopf mit Henkeln, (Marques)
Likörkannc; burette (Sachs) Schenkkanne, bire Flasche aus
Weidengeflecht; piem. burina Einmachglas sard. burina Krug,
Trinkglas mit zwei Henkeln ohne Fuß (Rossi) afr. bouret Eimer,
Kübel cat. bora jede Art GefUß gen. briinia Konservenglas
ngr. fiTtovQvia Einmachglas (Meyer Ngr. IV); Poschiavo burketta
(Luchsinger, Molkereigerät, Zürich 1905), gen. boraccia Milch-
gefäß aus Blech mit schmalem Halse gehört seiner Bedeutung
nach hierher.
Mit Stamm bar: afrz. (God.) baratere irdener Topf bret.
baraz Eimer mit Henkeln, barranhäo kleiner irdener Krug gen.
baracchin Metallgefkß mit drei Henkeln. EndUch die ganze
Sippe von Faß und Fäßchen: Serv. zur Georg. 1 109 scruta-
tares vel receptores aquarum aqtiilices dicuntur ^ barinulas
dixerutit (Thes. : ... et barinulcis legere possis) it. barile alb.
buril bulg. burija, burilka (Meyer) kroat. bure istr.-rum. burife
(Z. XXXI 227) berg. borreccia^ boraci Fäßchen afrz. (God.)
baral barral kleines Faß lad. bariccia Tonne sp. ptg. bar-
riga etc. etc. Daß bm^raccia Feldflasche in weitester Verbreitung
an haarigen Schlauch einerseits, an Eß verrat andererseits an-
knüpft, wurde S. 27, 3 und 4 besprochen. Über die ganze Wort-
familie ist zu vergleichen Schuchardt (LB G. R. Ph. 1884 Sp.
197), der für die Zusammengehörigkeit von barile und borraccia,
alb. bark Bauch, Leib sp. barica, endlich die Ausdrücke für
Barke, burchio etc. eintritt.
3. Speziell sind noch zu erwähnen einige Ausdrücke für
Loch: mant. borön Spundloch des Faßes; friaul. sborador
Öffnung für Wasserabfluß wurde schon oben bei sborar gurgeln
erwähnt; ptg. buraco9f an der Seiten wand des Schiffes befind-
1 10 V. Abhandlung : B i o h t e r.
liebe Löcher zum Ansschöpfen des WasserS; it. brutiali Löcher
zum Wasserausgießen.
4. Unter Umständen ist das Hervorquellen gleich einem
Zischen und Sprudeln: sp. brollar, daher entwickeln sich die
Bedeutungen
5. Kochen (Larousse) bourroullement , gargouillement
(Mistral) bourit = bouillit bourrido^ bourroulo die Brühe = la
bouillic; gen. boridda = buridda das Gekochte par excellence,
die KapernbrUhe, in der zerschnittener Fisch gekocht wird (Cas.)
vgl. die prov. bouillabaisse ; friaul. (AG X 3. 119) burida das
Essen y das man mit zur Arbeit nimmt.
6. Sieden ptg. borbulhar, aufsprudeln von heißen Quellen;
kontaminiert aus burire + bullirCy vgl. auch S. 111.
Hierher könnte auch rum. borcut borviz Sauerbrunnen,
Bitterwasser gehören, prickelnde, sprudelnde Quelle. Die
Ableitung Saineanus aus ung. bor Wein ist nicht recht be-
friedigend, weil doch Bitterwasser auch einem bescheidenen
Gaumen nicht wie Wein schmeckt, andererseits der Vergleich
mit Schaumwein zu fern liegt.
B. 7. Bauschen des Heeres. Prv. bourdoul gen. brüzzu
lomb. brugo (AG XII 392) worden schon bei bruire erwähnt S. 91.
8. Aus diesem Wortmateriale sind natürlich viele Flaß-
namen gebildet worden^ von denen nur ein paar als Beispiel
dienen mögen.
Bord Bourienne (Yonne), le Bourdon (Yonne, H.-Rhin)
Boumaves Bourdiguet Bordarid (Gard) Bourceron (Eure) la
Bourde (dreihundert Meter langer Bach mit Wasserfall, Meuse)
Bourdet (Mtthle ebd.) La Borrerie (Mayenne) le$ Borinihres
(ebd.). Borine (H. Alpes) Bourelle Bourdrale (ebd.) Bouray
(Aube) Bory (Aisne) Burbach (H.-Rhin und Moselle) Bormühl
(Moselle); wobei daran erinnert sein möge, das dt. burren auch
Rauschen des Baches bedeutet (Grimm) Bordaa (Yen. Fort
VII 7 51 Nebenfluß der Sahn) sard. Ghirusele Quelle, Tal bei
Sassari (nach Guarn. AG XIII 119 < ^urtuella) la Berro
(Dröme) Barlaudo Nebenfluß des Gardon, endlich Bomaut
(Yonne) Boumo (Gard) u. ä., bei denen natürlich an Kreuzung
mit dt. born zu denken ist. Man beachte aber prv. Bour-
negre, das wohl niger enthält, und Bournegue^ in dem doch
aqua steckt, das also dann eine Tautologie darstellt.
Die Bedeotangsg^eschiehta der romaniicheii Wortsippe burfdj. 111
9. Eine Ableitung von qaellen ist überströmen, reich-
lich TOrhanden sein: prv. boumea in Menge da sein, alb.
burl Überfloß sis. mburön reiche hin (Mejer EW).
X. Zirpeil; winseln. Es ist schon daraaf hingewiesen
worden y daß bur- nicht nur tiefe, sondern auch sehr hohe
Lante bezeichnet, so tar. vurri bizze, ilfrignaredei bambini,
dasselbe siz. verra (Biandi), borg, bordö schwarze Grille,
vgl. S. 79 die Ausdrücke für blatta; spätlat. burtus brucus
brutuB eyn kal springke (Dfbch.) Heuschrecke = DC ßgovaa
Hesych. 1215 dmqldiov iidog = ßQOvxog bei Suidas, lat. brucus.
Das alb. burkd- Heimchen, Grille (von Meyer EW zu murk
schwarz gestellt) mag in diesem Zusammenhang erwogen
werden. Sp. baraguera Geschrei, Gewimmer von kleinen Kindern,
berenchin Weinen von Kindern im Zorn, berrin vor Zorn
weinendes Kind, gall. berron weinerliches Kind (vgl. aber berro^
berrear und unser ,bocken' von boshaften Kindern). Aunis
btmiquet quälendes Kind, kleiner Dämon, vgl. S. 97, 7, Rouchis
bfrl^ weinen, greinen (Z XXI 231), von Doutrepont zu beler
gestellt, Loiret (ebd.) beler weinen, berg. tberlä zerreißen, zer-
brechen (vom Lärm, den es macht).
§ lO« Es liegt in der Natur schallausdrUckender Wörter^
daß sie zar Verstärkung, zur Tonmalerei eine Silbe redupli-
zieren. Wenn die Silbe nicht ganz wiederholt wird, so tritt
doch Alliteration innerhalb des Wortes ein: wir finden nicht
wenige Wörter unserer Gruppe mit einem inlautenden b, das als
tonmalende Alliteration aufzufassen ist. Mitunter werden zwei
Stämme gekreuzt: bar + bur, gar -|- bur, bar- bur- gar- gur-
+ bullire, wobei bul- gelegentlich an erster, meist an zweiter
Stelle steht. (Schuchardt Rom. Et. II 208 spricht von ,anschei-
nend eingeschaltetem r'.) Einige Beispiele aus verschiedenen
Bedeutungsreihen mögen genügen.
I. Frz. bourbour Trommel (Le Roux de Lincy Rec. des
chants bist. I 259) St. Omer bourbour Umzug psalmodierender
Kinder (Chambure) sard. burumbaglia Verwirrung, Getöse
ptg. borborinha konfuser Lärm, auch barbarizo barborinha,
burburinhar murmeln, it. borbottare prv. bourbouta siz. bar-
buitiari, burbutizzu Lärm, Getöse, Unordnung sp. barbuta afrz.
baurbondir klopfen prv. barbillo lang, barbal Geschwätz gen.
barbacio Gesang der Nachtigal, barbaggiä dumm reden siz. bar-
112 y. Abhandlung: Richter.
bacciai'i schreien spätlat. burbilia burbalia ram. borbei Einge-
weide, dazu borbösesc] carp. bourbou spätlat. burburitmus (DG)
ßoQßoQvyfMÖg rugitus intestinorum. Daß das Romanische hier un-
abhängig vom Griechischen ist, hat schon Schuchardt betont
(Rom. Et. II 210), bei ßccQßagog haben wir die gleiche Beobachtung
zu machen. Der Unterschied ist nur der, daß das Griechische ein-
zelne tonmalende Wörter geschaffen hat, die gesonderte kleine
Familien von Ausdrücken bilden, während im Romanischen so-
wohl der bu7'' als der iar-Stamm außergewöhnlich verbreitet und
untereinander oft parallel sind. Auch bei it. burbero könnte es
fraglich scheinen, ob es heimische Schöpfung ist (vgl. rebumu
S. 33, 17) oder ob seine Wurzeln ins Griechische zurückreichen.
Der bwbero hat einen unmittelbaren Ahnen in dem von Vopiscus
im Leben des Firmus (Quatt. Tyr. IV 4 = Script. Hist. Aug.
ed. Eyssenhardt II S. 205) verewigten Fähndrich Burhurut
,noti88imu8 potator^^ der Firmus zu einer Art Saufduell heraus-
fordert und unter den Tisch getrunken wird.^ Trinker und Rauf-
bold gehen häufig zusammen, so haben wir das Bild des Finstern,
Gefürchteten, Unverständliches in den Bart Brummenden, des
jburbero^ vor uns. Burburus war gewiß kein ,Taufname',
sondern ein Spitzname;' aber er hat seinerseits einen Vorgänger
in ö ßoqßoQOxdqa^tg = turbulentus der griechischen Ko-
mödie, einer, wie man sieht, echt possenhaften Wortbildung.
Sie könnte in verkürzter Form sich erhalten haben.
IL Bourboule (Vend.) Wildbach (Puys d. D6me) eisen-
haltige Quelle, le Bourboulou (Dord.) Borbore Fluß bei Asti,
Bourbou (Carp.) hervorsprudelnde Quelle, fiTtovQiiTtavQll^ia
(Meyer Ngr. IV) aufsprudeln, prv. Boti^boun Bourbourin rum.
borborosesc aufsprudeln borborojesc vermummen afrz. borbier
(praes. borboie) <C * burbicare glizzern <C hin- und herbewegen,
vgl. oben barbelare afrz. bourbote = barboie kleines Boot mfn.
' Die niedliche Schilderung möge hier Fiats finden : Fait tarnen ei (Firmo
tyranno) contentio cam Anreliani dacibas ad bibendnm siqnando enm
temptare TolniBsent. Nam quidam Burburua nomine de nnmero Tezil-
lartornm, notissimas potator, com ad bibendnm eondem proTOcaaBet,
situlafl dnas plenas mero doxit et toto postea conTirio sobrins foit et
cnm ei Burburus diccret ,qaare non faeces bibisti?* reapondit ille ^ulte
terra non bibitur*.
* Vgl. (AG IX 136 und Bartoli, Das Dalmatische) Uddina de iaupra-
ndum Bürbur, der letzte Vegliote.
Die Bedeutangsgeschicbte der romftnischen Wortsippe bur(dj. 113
harbote Schaluppe bei Cotgrave alp. barbutana hervorsprudelnde
Quelle; ebenso prv. Barbeirolo Barberolle bei Barbi&res (Di'öme).
Barbihres selbst könnte der ursprüngliche Name sein, von dem
Barberolle das Deminutivum vorstellt, aus Barbaria. Überall
ist die Quelle die geschwätzige, murmelnde usw.; barbutar
burbutar aufkochen, ptg. borboloens de agua heftiges Aufsieden ;
lang, barbata gargauta gargouta gourgouta kochen, blasen,
werfen, sard. brubbudai (neben bruffvlai, das zu ptg. boriffar zu
stellen ist, vgl. S. 45, 56) ausgießen, umstürzen, auch übertragen :
zurücksagen. Der Bedeutnngsübergang liegt in: sein Inneres
(seine Geheimnisse) entleeren; bret. bourbounen pustule, bour-
bauten Dachs (als Wühler) ptg. berbequim Drehbohrer it. bar-
bandrone schlechter, ordinärer, dummer Mensch, bMo, sard.
braballu emil. gargalla Gallapfel friaul. gargdtule u. a. (vgl.
Schuchardt Z XXIX S. 323 ff.) ven. garbura Magonbrenncn ;
hier könnte man ein deverbales bura Brand konstatieren; lat.
gurgeSf gurgustium, gtirgutia frz. gargotte usw.
Einmischung von bullirey bulla: prv. bourbouia
surren von Insekten, bourbouiado Volksgedränge bourbouioun
stotterndes Kind, auch barbouioun (Alp.) bourbouioun =
broxnllon gedankenloser Mensch, fldr. barbouiller = frz. bre-
dotiiller it. borbogliare barbugliare garbugliare ptg. burbu-
Ihare^ borboloens de agua = cat. sp. burbuja ptg. borbolha
Auge am Baum, Knospe, Blatter, Blase sard. burbudda Fettblase
it. burbanza Aufgeblasenheit, Rouergue bourbouge gourgouge
konfuser Lärm langu. gourgoulia nagen, gourgoulino kleiner
Krug alb. burbuUme Donner bret. bourboulla Wühlen vom
Schwein (von Henri zu bourbe gestellt S. 104) rum. bolborosese
stottern piem. berboü stottern, kochen engl. dial. burble auf-
sprudeln bourblawer zudringlicher, süßschwätzender Bettler etc.
Einmischung von bum-] sard. bumbulla = burbudda,
Welsh bwmbwr Gemurmel, Geheul frz. bombardon u. v. a.
§ 11. Wimmeln. Zu wiederholten Malen ist die Bedeu-
tungsreihe mit Zank geschlossen worden: Verwirrung > Zank
S. 34, Geschrei > Zank S. 91, brummen, keifen > zanken
S. 105, wie dies ja bei der Unzertrennlichkeit der Eindrücke
nicht anders möglich ist. Als letztes Glied der Reihe erscheint
nun wimmeln, das zum Gedränge gehört, zum wirren Durch-
einander mindestens fürs Auge. Hier ist nun die Frage zu
äitxoDgsber. d. pbil.-hut. Kl. 156. JM. 5. Abb. 8
114 V. Abhandlung: Richter.
entscheiden, ob lat. borrio (burio) in die 6iir-Sippe ge-
hört oder nicht. Es ist bei Apulejus belegt (Met. 8. 22): In
carioso stipite formicarum nidißcia borriebant et ultro citroque
commeabant multijugo scaturigine. Die He. F hat borribanty
daher Thes. diese Form als die richtige ansetzt. Die Hss. (p d
haben buriebant] nach den Auseinandersetzungen Viiets hat
aber die Hs. 9 öfters die bessere Lesung als F. Das Zusammen-
stimmen der zwei Handschriften gegen F und die Vergleichung
mit dem hier gesammelten Material würde es wohl als gerecht-
fertigt erscheinen lassen^ burire als die ursprüngliche Form
und also als die richtigere Lesung anzusehen. Dennoch sehe
ich davon ab, es in unsere Sippe einzureihen; wir haben
nämlich sonst gar keine Stütze für die Annahme , daß schon
zu Apulejus' Zeit die Verbreitung von bur- so groß gewesen
wäre, um bis zur Bedeutung wimmeln gelangt zu sein, alle
anderen Zeugnisse sind wesentlich später. Ebenso wenig könnte
man an Ableitung von burrus dunkelbraun denken: burrire
schwarz sein von Ameisen. Auch hierfür fehlt jeder Anhalts-
punkt. Will man aber etwa von buinre wimmeln als Qrund-
wort ausgehen — borrire wäre lautlich nicht annehmbar —
so kommt man doch nur bis zu Oewirr, konfuser Lärm; diese
Eutwicklungsreihe kann sich mit den oben genannten vermischt
haben, sie kann aber für so viele andere der besprochenen
Bedeutungen nicht herangezogen werden. Man wird vielmehr
borrire als ein für sich stehendes Wort gelten lassen und
bei der Form burire lautliche Beeinflussung durch bur- an-
nehmen; das sonst durch keine Textstelle gesicherte Wort
kann leichter als ein anderes der Sprache des Schreibers an-
geglichen worden sein.
Borrire scheint uns erhalten in piem. bori affollarsi^ venir
a folla borg, bori tö^ adbs a ergot zusammenströmen, sich
auf etwas stürzen, von denen besonders das erste mit den
S. 92 besprochenen Verben nicht vermengt werden kann, ob-
zwar es lautlich mit ihnen zusammenfällt. Graub. burdigliare
it. brulicare brulicame Ameisenhaufen sind von borrire allein
aus nicht verständlich, sie haben sich mit bur(d) vermischt;
burdigliare leitet Schuchardt aus *burdicare ,mit dem Stock
im Wasser herumstöbern* ab (R. Et. II 211), also Übertragung
von der Handlung auf die Wirkung: die dm*ch das Stöbern
Die Bedentangtgescbichte der romanischen Wortsippe burfdj. 115
entstandene Unruhe der Fische; dieser Bedeutungswandel er-
scheint mir etwas hart, weil er einen Subjektwechsel in
sich schließt, eine Übertragung vom handelnden Subjekt auf
das betroffene Objekt: ich schlage auf das Wasser, so daß die
Fische wimmeln > ich wimmle.*
Von. broina fretta, pressa paßt begrifflich zu bornre und
lautlich zu frz. bruine wirrer Lärm, vgl. S. 91, cat. brollav
wimmeln kann Kreuzung mit burlare rollen vorstellen: unter-
einander rollen.
Zu borrire paßt noch engl. dial. to burrie in roher Weise
stoßen, drängen, buregh Gedränge, burrie = , Vater Vater
Leih' mir d'Scher* I' Beeinflussung von borrire hat jedesfalls statt-
gefunden bei den Ausdrücken für schwirren, rasch bewegen,
wie ptg. borboleta Schmetterling.
§ 12* Es ist selbstverständlich, daß von allen Vertretern
unserer Sippe, soweit sie Ausdruck einer Tätigkeit oder eines
Zustandes sind, Personalbezeichnungen gebildet wurden.
Auf hourdon Sänger und Burburua ist hingewiesen worden;
in den meisten Fällen ließe es sich natürlich nicht entscheiden,
woher der Spitz- oder Zuname kommt, z. B. Paris Bordone,
Seb. Bourdoriy Ldon Burbure etc. Ich gehe nicht weiter
darauf ein, sondern führe nur einige Personennamen aus
dem Thesaurus auf, die, wie ich glaube, in den Rahmen dieser
Untersuchung gehören, da sie sämtlich unlateinisch, teils aus-
drücklich als keltische Namen bezeugt sind, teils ihrer Herkunft
nach für keltisch gehalten werden dürfen.
Borius^ Borillus (Augustodunum) Boraeus und Bortossus
(Aquitanien) Buralus Burinio^ (vgl. Skok 159) Btcrius^ Buro^
Burrius^ (Gcntilname) Burrus* Burranua (Noricum) Burcius
Burdanus Bururdo Burtinus Burtius-a Buricua (Genfersec)
Burgina (? locum Burginae) Burdundus tyrannus (a 497 Chron.
Caesar aug.) Burburua Bardus* Baro^ Barro (aus Ascoli,
bei Cicero).
§ 18« Übersieht man die Hunderte von Bedeutungen, die
die ftur-Sippe aufweist, so wird man vielleicht einen Augenblick
darüber stutzen, gerade die eine zu vermissen, die man mit
^ Vgl. dagegen: ich erzeuge im Wasser das Geräusch des Aufgurgelns = ich
mache das Geräusch des Aufgurgelns > ich gurgle (Schuchardt, ebd. 211).
' Als gallisch bezeugt.
8»
116
V. Abhandlung: Rieht er.
dem Rohr von altersher za verbinden gewohnt ist: wir haben
keinen Ausdruck fQr Schreibrohr oder sonst Schreib-
zeug. Die Glossen bringen in dieser Bedeutung ausschließlich
calami^, nirgends ist bur- dafür eingedrungen.
Das erklärt sich aber sehr einfach daher, daß das Schreiben
doch keine eigentlich volkstümliche Beschäftigung und jedes-
falls in den Händen der lateinisch Gebildeten war. Daher blieb
die Benennung des Schreibwerkzeugs bei den aus dem Latei-
nischen überlieferten Formen. Die &iir-Sippe aber ist durch-
aus volkstümlich und ihr hervorstechendster Charakterzug
besteht wohl darin, daß sie auch nicht ein einziges Wort ge-
lehrter Bildung enthält.
Das behandelte Material zusammenfassend, ergibt sich fol-
gende Liste von Stämmen, respektive Stammwörtern, die
bei der Bildung der bur(d)'WörieT in Betracht kommen:
kelt udv 1
k 1t & I '* ^^^^^®' Spitze > IL Pflanzenbezeichnung S. 3 ff.
kelt. bar\
it.
germ.
lat.
lat.
, > heulen S. 6.
Seite
aurezza 46
'bald 79
balineum . . 26 u. 73
barba 102
gr.lat. barbarus 104
splat. barginus 54
it. barane 40
dt. barte 49
gr.lat. Berecynthia . . . 105
Stamm bem- 41
it. berta 104
sdfrz. biroula drehen . . 58
kelt bodina 61
dt. bohord 77
kell, bor aufgeblasen
rund 41
germ. bor bohren
gr.lat. B&i'e<u . .
afrz. borges. . .
germ. bom . . . ,
Seite
. 101
. 46
. 50
. 109
lat. borrire 113
dt. bor$U 31
germ. bort 59
frz. bouder 105
afrz. brayon 101
germ. brdk 25
kymr. braw 96
kelt. bren Schmutz . . 25
germ. brenn 75
anord. brim 91
got. *brUian 45
germ. brod- 25
Die Bedeiitnngflgeschichte der romaniichen Wortsippe hur(d). 117
Seite
gall. brogae 25
kelt. bruc 21
germ. brun 102
lat. bruscus ... 75 u. 97
lat. bruttis 37
afrz. busr waschen . . 26
St. buf' 90
lat. bullire ... 74 u. 111
St. bum- 113
germ. bwriän ... 92 u. 99
slaw. buriana 19
lat. eavema 70
it. confuso 35
frz. danser 107
frz. enfler 42
afrz. fol 32
lat. fundere 106
ptg. fusto 50
St. ^or - . 111
lat. garrire 96
St gur 111
Seite
splat. gurrire 94
lat. ingenium 40
splat. *orbulu 62
it. perla 25
lat. peregrinus .... 54
lat. pruina 45
splat. ragire 94
long, rauffan 105
frz. rdle 45
it. rotando 44
frz. roule 44
lat. rugire 91
lat. sabueus 20
frz. soufler 42
germ. tab- 107
gr. tympanon .... 106
lat. tistulare 73
lat. tLstutn 79
lat. *vertibellum ... 67
lat. vespa 101
lat. dial. burdua dumm, trag > Esel S. 9.
gr. lat. bardus dumm, trag > Esel S. 9. u. 13.
, ^ f 1. dunkel S. 10.
gr. lat. burrus braunrot > l g j^^j g jg
118
V. Abhandlang: Richter.
Wörterverzeiclmis.
abaruna wald. 72 9
abborracciarsi it. 28 i
abbcrrare neap. 74
abbuira sard. 45 se
abburare it. 74
aberdugar mail. 51 i3
aborujarse sp. 79 ii
abourde aun. 55 «t
abourido sfrz. 92 s
afinovQViUa ngr. 20
ufinovQviXo ngr. 20
aÄra prr. 74
a//Mr rum. 74
a^urar sp., rum. 74
oburdigar mail. 51 is
aburir afrz 92 4
aburire rum. 74
a^urö lyon. 74
aburrir sp. 60 lo
agurra siz. 95 a
q;<mc fr«. 76
amburere lat. 74
a^aÄtirrar trasm. 107 «
ftafmo berg. 97 7
balineum lat. 26
balineum lat. 73 a
bamburral ptg. 25
6ane bourg. 62 »
6ao berg. 97 T
Aar alp. ralt. 14
bar alb. türk. 22
bar afrz. 25
/ior cat. 40
Dar dt. 93
bar frianl. 21
6ar frz. 32 is
bar (-ro) nit. 93 a
bar C'd, -dU) prv. 25
b&r bret. 22
bara cat. 40
&ara bret. 78 t
ftara, tocAi — piem. 89
baraba triest. 97 lo
baraba (-bot) berg. 97 ii
barababau pol es. 97 r
baraban cun. yaltag. 97 7
barahan toul. 97
&ara6an f-a*J prr. 97 10
harabao berg. 97 t
barabao ven. 97 7
Barabaa 97 7
6ara5au piem. 97 e
barahio piem. 97 7
harabuffa Yen. 35 to
barabuffa berg. 105 (7
baraca berg. 105 B
baraba ptg. 67 ss
&aracac2a berg. 105 B
6ar<k:an ptg. 31 11
&aracc^in gen. 109 1
baracejo ptg. 67 sa
haracker berj. 105 i?
barago ptg. 67 1«
6ara(2 bret. 40
6ar<u2 gal. 107 5
ftarodw pry. 56 ss
baradUsa cat. 50 ss
barafunda ptg. 106
barafiua ven. 35 to
barafuMoh it. 106
harafuaolo ven. lOG
harafuatar ptg. 50 a
fiaraganeU sp. 107 1
barage «frz. 46 &e
baragno lang. 21
! baragno lang. 36 n
, baraguera sp. 111 z.
6araZ lang. 106
' ÄaraZ f-f-r-; afz. 101» «
' baralhar ptg. 36 10
6araZJ lang. 66 6s
, baralieu sard. 103 10
baraüar cat. 106
&arana cat. 69 s
6aranda sp. 69 s
6aran<2a^ cat. 69 t
ftaranye bagn. 103«
baraonda sp. it. 106
Harare splat. 40
barare it. 40
barata norm. 103 C
6ara/e afrz. 34 1»
barate afrz. 106 C
baratere afrz. 109 t
6ara/2a regl. 89
barctUare it. 40
baraval piem. 31 11
6aravati/ati piem. 33 it
baravel piem. 33 i«
barayar cat. 106
6araz bret. 109 t
barba lat. 102 1
barbeuxiari siz. 112 i
6ar6acio gen. 111 1
barbaggiä gen. 104 1
barbaggiä gen. Uli
6ar6a/ lang. Uli
barban gen. 79 •
barbandnme it. 113
barbaou bret. 97 7
fAna^finaQ^ü» epir. 1 04 B
Die Bedentungsgeschichtc der romanischen Wortsippe hurfdj. 119
6arlMrixo ptg. Uli.
ßoQßaQOi gr. 112 1.
barbaru» lat. 104 i
barbateo ptg. 102 i
barbata lang. 113
barbaudier afrz. 61 i9
Barbeirolo 113
barbeiä berg. 107 s
barbdoU afn. 100 t
BarbenMe 113
BarhikrtM 113
barhiUo pry. Uli
&<ir6tr«>to lyon. 100 t
6«ir&»ton lat. 88
barhorinha ptg. Uli
Atfr&ote afn. 112 n
bnrhoU mfrz. 118
barbotiwun pnr. 113
6ar6oiiZZi6r fldr. 113
barhotdoUe morr. 100 t
barhugUare it 113
ftor&tirru« (^6a6-^ splat.
104 1.
barhuta sp. 111 1
barbutar sfrz. 113
6ar6ti//jarj siz. Uli
harca it., sp. 66 lo
bard bretagn. 89
bard gal. 107 6
bard ahetl. 105 C
barda arab. 10 1
barda (-al) cat. 21
ftard^ pry. 66 ss
borda ptg. 10 1
barda ptg. 49 t
6arc2a ptg. 56 bs
barda ptg. 66 x«
6ar(2a sp. 46 m
barda splat. 54 14
bardaguera sp. 22
Aardaui splat. 101 9
bardaicua cucuÜtis lat.
29 u
bardal lang. 101 »
6ar(ia/a splat. 101 9
bardana kelt. 21
bardaneto prv. 21
ftarrfar ptg. 66 61
bardare splat. 56 5s
bardariotae lat. 52 at
6ar(£a«ca sp. 21
bardatta aberg. 54 94
bdrdaun (b&rx-) rum. 1 00 1
bardavella rom. 68 94
bardaxa cat. 54 B4
barde sp., ptg. 21
barde frz. 49 9
bardea sptlat. 101 9
bardeau afrz. 72 6
bardel bret. 56 si
bardeler afrz. 105 is
bardeüa gen. 56 69
bardeüe frz. 66 ss
barder frz. 50 9
M ^orcitfr frz. 22
ftardeveZ oit. 67 so
bardiere afrz. 76 4
bardiire var. 77 4
ftardtmtn» sard. 10 s
6ar<2tr afrz. 42 49
bardire lat. 40 a
iardüta cat. 22
bardU splat 92
bardo gen. 13 is
6arc2o lat. 9
bardo ptg. 40 a
6arc2o ptg. 63 10
bardoe toul., pry. 58 is
bardocuadlu9 lat. 29 11
68 99
bardoler yerd.-chal. 66 64
bardon frz. 40 a
bardonera» sp. 21
bardot piem. 10 1
bardotlo gen. 9 1
bardou ann. 9 1 10 1
iarciotiia pnr. 104 1
bardouUt sfrz. 67 so
bardout pry. 25
barduM lat. 9 13 99 40 a
ftardtM lat. 88 89
Bardu9 115
ftarcisar alp. 105 B
barec berg. 63 10
bareca splat. 63 10
baregdb aptg. 54 36
6ar^n berg. 72 «
baregno aret. 26
baregno sen. 26
6are^m splat. 63 10
baren dt. 93
baren Schwab. 93
a baren prv. 72 9
barena yen. 25
bareta lang. 24 95 a
6are^tna yic. 48 ai
barga ptg. 65 14
barga ptg. 67 so
barga sp. 66 le
6ar^ada oeng. 94
barganal sp. 57 es
bdrgano sp. 57 es
bargant cat. 40
6ar^« C-cÄcj afrz. 72 s
6ar^e aun. 72 9
bärge frz. 13 99
barged bret. 13 93
bargeden bret. 13 S3
barginu» (barginnu9, bar-
gena) splat. 54 96
bargir oeng. obwald. 94
barguenai ann. 72 s
barguignier (-ai-) frz. 40
barg US splat. 49 9
6ar^ti« splat. 59 si
bariea sp. 109 9
6aru;cta lad. 109 9
ftariV/no berg. 26
barie mess. 50 9
baHle it. 109 9
&ariiitt2a« (barmuIcU) lat
109 9
6arioZer frz. 56 64
bariro^ alb. 93
barüeau afrz. 103 is
6art7t<«, bardüu» lat. 88
5aWtt/ti« lat 13
baricel piem. 33 it
baija lang. 103 il 104 B
6ar;ae alp. 104 B
barjado 104 B
120
V. Abhandlung: Richter.
ftaijel gal. 07 20
fMrk alb. 109 s
Barlaudo 110
bdrle rom. 22 61 94
harle rom. 22
barle afrz. 51 9«
barleda mod. 22
barlingo-barlango toul. 89
bnma<i piem. 75
bamage (bom-J frz. 103 is
6amati for. 77 «
barnei berg. 75
6amt prv. 102 4
bamicum Bplat. 93
bamolo prr. 66 la
^aro 116
6aro, 6aron« it. 40
barocco ptg. 33 la
ftaroccOf raggionare in —
it 34 19
baroch piem. 33 la
barolh sp., neap. 44 es
haron wald. 72 i
baronda gen. 106
baronh piem. 72 9
6aro^ f-»^-j 56 «9
baroul lang. 102 1
baroyer (barr-) frz. 106
barr kelt. 21
iarra cat. 93
barra splat. 54 S4 56 69
Darrab<u frz. 97 11
barrad glao bret. 107 6
barrckgar sp. 54 36
barragia sard. 40
bartamaque ptg. 31 n
barranco sp. 40
barr an} i uo ptg. 109 9
barrant splat. 93
barraquear sp. 93
6arrar cat. 93
barrare splat. 56 s
barrtuterie ann. 36 99 23
barrator engl. 105 C
5arre afrz. aan. 22
A«rr^ frz. 56 64
barregan ptg. 54 sc
iMrregar (ber-) ptg. 93
nio^a &ai*reJ7*a ptg. 54 34
Ifarreiro ptg. 64 86
barr^a sfrz. 62 94
barrel afrz. 56 60
ban-ela ptg. 17
barreHbird engl. dial. 13
barren lang. 102 1
öarrena sp. 102 1
barrer sp. 102 1
barrette, parier ä la —
106
6arrt corn. 41 49
bärri for. 46 so
yiÄo de barri prv. 54 34
barridita» splat. 41 49
6arrü2on splat. 88
barridtiM splat. 41 49
barrikre frz. 56 69
barriga sard. 40
barriga sp. ptg. 109 9
&arriHn engl. 104 1
barrilete sp.-ptg. 89
barrilha ptg. 17
barrin valt. 14
6a>*rina sard., cat. 101 1
barrinäi sard. 102 1
barrintu splat. 93
6arri»-c lat. 88 92
barrit lat. 99 y
barritar sp. 93
barriton, barritoniau
splat. 88
bari^r splat. 88
barrütiä lat 88 92
Baiio 115
6arro valt. 14
6ar;*o it., sp. 25
6arro ptg. 25
barro it. 40
6an-o« ptg. 21 32 16 36 S9
bai^ru siz. 57 6t
barru/aut prr. 105
I barruier afrz. 106
barrulua lat. 13
j ^arrtim splat. 56 69
I barruma ptg. 102 1
6a?*rtmi siz. 49 4
barruni siz. 67 ti
barrua lat. 88
barrw lat. 93 106 C
bamuco prr. 97 10
barruacuU siz. 106
6ar« afrz. 33 la
bara frz. 32 is
baraeUtta gen. 105 Z^
&aK prv. 25
6arto prr. 58 t4
bartabilo toul. 58 t4
bartadel o.it. 67 so
bartarel o.it. 67 so
bartaa lang. prv. 21
bartaa-hlanc prv. 21
— -n€^« pnr. 21
barU dt. 49 a
6ar^ com. 88
barthm dt. 93
bartinado pnr. 21
6a7*te'n6n rom. 48 ai
barto splat. 88
bartoua norm. 105 C
öartove^ o.it. 67 90
bartua splat. 40 a
6artt<; berg. 72 1
barfi/ com. 32 14
baruf n.it. 34 la
baruf piem. 106 C
6art</a yen. 106 C
baruffe n.it. 105 C
baruga grOdn. 43 45
barula sfrz. 44 4a
barulaire sfrz. 44 49
bände cat. 44 ss
barulhar ptg. 36 so
öaruMar ptg. 35 10
bandho ptg. 35 19
6aru/2are ait. 44 4a
baruniado pry. 48 ai
barua lat. 13
barutel lang. 103 is ta
barutelar apnr. 103 is
5an<tf<i emil. 67 aa
barz bret. 88
barzaletta rom. 106 B
Dio Bedeutungsgeschichte der romanischen Wortsippe hur(d), 121
bni-zder afrz. 105 B
fjarzel^ta berg. 105 B
f^rzelletla sard. 105 B
harzigola yen. 105 B
has-rouU irz. 44 6S
ba^ita sp., ptg. 68 as
Laur splat. 26
Uhour, joftr du — frz.
dial. 77 6
f^ra alp. 14
f*erar n.it. 48 ei
Urf}(ucum lat. 102 i
herttequim ptg. 101 i
Ittrhfquim ptg. 113
Urbolh piem. 100
^>«rAo/^ piem. 113
berhot piem. 106
Urckidai sard. 93
Urchidu sard. 93
herdakier mont. 50 s
htrdancer vend. 107 4
htrd(U96e vend. 107 s
f*erdauder vend. 107 s
fffiddache* flandr. 36 ts
herdder (-Ur) mont. 106
Äercie/er flandr. 104 5
htrdif, berdaf, btrduf
flandr. 107 9
Urdik, berdak mont. 90 i
Urdin sp. 101 t
herdiner tour. 89
berdoder yerd.-chal. 56 m
6«r(i<ma s. lothr. 104 B
htrdou ann. 10 i
f*erdouja piem. 104 i
Urdoul pic. 106
berdouUe flandr. 53 84
Urdu/aillof toul. 36 n
6ere/e afrz. 106
berelle afrz. 83 so
berenchin sp. 111 x
btretin yen. 48 ei
6er^« ann. 72 9
berghigni piem. 40
bergnif piem. 97 t
6frim6att ("Air-j ptg. 89
berm mail. 14
berion mess. 13
berjiUa sp. 101 i
berCCäm alb. 43 46
6er/a berg. 72 9
&er/a cat. 66 i«
berla piem. 25
bci'lan C-eu') vend. 40 84
berlander ann. 103 ii
6erZand«t4r champ. 40 88
berUmdier afrz. 40 34
6erZan(itna« sp. 40 84
berlandot piem. 40 88
berlangh piem. 89
bet'lant (-c) afrz. 40 84
berlauder frz. 89
berlauder vend. 106
6er /e rouch. 111 x
berleda mod. 22
Äerß^A: rouch. 104 5
berlendon gen. 107 9
berletco prv. 66 10
Äcrfic (-ichete) berg. 97 7
/a berlic, berloc berg. 97 7
d*berlie e berloch, pir vir-
th — 97 T
a berlic piem. 97 1
berlich piem. 36 99
btrlichin piem. 40 st
berliert flandr. 36 99
berlin Venvera 44 si
berlina berg. 40 86
berlina ptg. 40 8&
berlinga sp. 51 98
berlingare it. 140 5
berlingau lang. 89
berlinguer aun. 89
berlinguelte norm., vend.
89
berlingots sfrz. 78 t
berlingozso it. 78 7
a berlinne teram. 40 S6
6erZo cort. 59 »0
berlo lang. 57 eo
berlo lang. 60
6erfi> lyon. 94
berloCf vi- berg. 36 99
berloque creol. 107 9
berloquCy ImUe la — mont.
107 i
berloquer vend. 107 9
berloquo lang. 107 9
berlot aun. 78 6
bemä gruy. 75
bemage prv. 75
6cma#er f-ti*-^ tour. 89
bemazz piem. 75
iemt^rue^ aun. 111 x
au bemiquet frz. 97 7
bernia berg. 75
6emwto gen. 25
6emo«er calv. 103 A 104B
bhx) alp. 14
bero piem. 14
bhro ven. 43 46
berbre siz. alb. 27 1
J«ro< berg. 108 7
beroU mail. 14
berou frz. 14
6eroti lang. 45 &&
6^r alb. 15
berr rom. 14
ÄciToco sp. 13
berrar gal. ptg. 93
berrear gal. 106
berrear sp. cat. 93
berreguetar sp. 40
ßerrencAm sp. 94
6cm7 engl. dial. 100 s
berrin sp. 111 x
berrina sard. 101 1
6errtnÄi sard. 102 1
Z,a -ßcrro 110
berro can. 14
berron gal. 111 x
berron gall. 12 91
6«rr(fn gall. 13
berrcul (-oü) afrz. 69 8
berruguetar sp. 40
berruier afrz. 106
ierrtMO prv. 31 11
6er<a berg. piem. 104 B
bertaveUa piem. 104 Z?
6erte frz. 106
berU mess. 103 11
r
122
V. Abhandlung: Richter.
bertene mess. 106
beriet epir. 104 J5
berto it. 14
hertolatae long. 10 i
berUnd long. 67 lo
bertrol cat. 67 so
bertu berg. 63 S4
bertiiU sard. 10 i
66r^ti/e sard. 20
fter^u^ sard. 67 so
bertulin o.it. 67 so
hertün mess. 66 is
6erti (-ja) aost. 28 a
/i<^« vion. 14
beugeune bem. 86 ii
beurdaruer vend. 107 4
beurdi/aille» prr. 74 4
beurdon morv. 86 is
//eure afrz. 76
hiergna obw. 43 46
&•> it. 55 4S
biraechio it 36 ss
birbarUe it. 55 4S
&Jr5o it. 106 113
birbone it. 55 4S
6Jr« afrz. 45 ss
bire frz. 109 s
5trem rom. 12 lo
biribara it. 106
birimbeba berg. 89
6irft berg. 58 74
birb piem. 12 is
birol berg. 58 ti
biröl berg. 58 7 1 78
bircUa cat. 44 ss
biroula gase. 58 7 s 74
6irotifuiJo prr. 45 ss
birtäd cat. 44 st
&trr Schott. 98
U> Idrr Schott. 101 1
birra mlat. 45 ss
birraehio it. 12 sx
birricus splat. 29 ix
MrriM lat. 11 14 29 11
31x1
blutd afrz. 103 11
blutcir frz. 103 11
boarä ram. 45 so
lo board engl. 60
bodion frz. dial. 100 1
bodion söm. 105 C7
&o<2;enäi bem. 49 s
boerlä yion. 73 11
beerten ndl. 38 so
6o»^0 wall. 62 9
boire afrz. 24
boiron neachat. 51 S4
bola ptg. 44 4«
bolandat, andar em —
ptg. 44 40
bolandüra ptg. 44 40
bolandina ptg. 44 40
bolborosese rum. 113
fßombardon frz. 113
ßofxßr^atg gr. 99
ßo/Liß6lri gr. 99
bmidon frz. dial. 100 1
&(mne afrz. 61 s
6onner afrz. 61 s
6or berg. 92 4
bor corn. 8
bor gael. 3
6or mail. 57 so
6or slaw. 38 so
bora berg. 57 00
bora berg. 860
6ora cat. 26
bora cat. 109 s
5ora viüa cat. 85 ss
6orä waadtl. 49
finoQa ngT. 45 so
bora piac. 64 is
6oi'a piem. 37 ss
böra berg. 24
boraccia gen. 109 s
6ora<rt berg. 109 s
boracinella berg. 27 1
6oracio piem. 28 7
borada berg. 35 so
boragano Ten. 18
Boraire 23
6ora/ engl. dial. 101 1
baralha gal. 73
boral-tree engl. 23
ftormia ven. 45 so
boranfle borg. 42 4s
borangU ram. 18
ftoron/a ram. 18
&orab ptg. 1 1 7
bcrar mant 92 9
boräta wall. 46 so
boraieyre bagn. 103 11
Aora/« chamb. 36 ss
boraOä freib. 46 so
&or(S^e waadtl. 46 so
boraUi chamb. 36 ss
boraUi waadtl. 46 so
borau cymr. 47
borazena ven. 18
borazna im. 18
borb^ ram. 112 x
ioriier afrz. 112 n
borbogliare it. 113
borboUta ptg. 100 T
barboleta ptg. 101
borboUta ptg. 115
borbolha ptg. 113
5or&o/oen« ptg. 113
5or5(metze gen. 21
Borbore 112 n
6or6oi*t7Jka ptg. Uli
borboroje»e ram. 112 n
borboroeeic ram. 112 11
ßogßoQoxäQaftg gr. 112
ßo^ßoqvyfidi gr. 112 i
ßoQßo^Ctttv ngr. 90 1
borboteac ram. 112 x
6or6o^/are it. Uli
6ar5u/Aar ptg. 110
6orca; em. regg. 58 ts
boreaj piac. 58 is
boreer engl. 58 10
ftorcAan agen. 71 xa
borehiimi sfidsard. 48 i
borettt ram. 110
bord dt. 52 ss 85 4
bord cat. 10 s 10 s
Bord 110
borda agal. 103
ftorcEa aprr. 39 ts
borda mail. berg. 78 •
Die Bedeutungsgeschichte der romanischen Wortsippe imr(d). 123
horda ber^. 45 sa
borda luneiri danph. 77 4
horda gall. 19
borda it. 76
horda onsern. 100 t
horda parm. 79 o
horda ptem. 16
horda ptgf. 60 a
horda sp. 60 a
borda Bplat. 15
horda splat. 48 1
horda splat 63 lo
horda splat. 71 la
Bordaa 110
hordado tonl. 33 le
hordae splat. 77 s
hordaglia it. 53 S3
hordal sirs. 53 ss
Bordala alp. 23
hordideiro ptg. 29 9
hordalengo ptg. 53 ss
hordalengo ptg. 55 4t
&or(2a2o ptg. 21
hqrddn neuen b. 100 4
h6rdana em. 79 e
hordao ptg. 53 so
hord7U> de S, Josi ptg. 55 44
hord!ao ptg. 85 4
hordtoo ptg. 86 11
hordar sp. 60
hordare it. 51 la
Dordarü 110
6orcfe afrz. 32 i5
6or(£e frz. 38 so
ftorde afrs. 76 4
6or<ie cast. 61 s
^irle neuenb. 76 4
hqrde nenenb. 77 6
horde ptg. 57 eo
horde ptg. 60 a
horde sp. 60 a
6or<ie sp. 10 s 10 s
hariüa horde sp. 17
bordS neuenb. 64 i4
a hordi Wallis. 41 ss
bordie, lacker §a — fra.
33 IT 72 1
hordega» prv. 55 4S
hordeggiare it. 52 ts 60 a
hordeiri danph. 38 so
hordeiri danph. 100 4
hordeiri danph. 98
hordeilM wal. 63 lo
hordejar cat. 53 S4
hordelezzo ren. 106
bordeUum mlat. 65
horden mndt. 39 so
hordenal yen. 57 st
bordenaya waadtl. 49 s
to horder engl. dial. 33 it
border (rz. 59 1
horderie frz. 72 s
horderich mndt. 39 so
bordeto prv. 65
hordea, jor dea — afrz.
77 6
hordea verd.-chal. 7G 4
bordi^ü mm. 64 is
Bordeua 23
hordeyer frz. 60 s
hordi freib. 98
bordiaine bress. 100 s
Bordiana 23
hordido agal. 61 s
hordigä berg. 37 96
bordigalum (-gol-J mlat.
65
hordigar gen. mant. 51 is
Bordighera 65
hordiglion piac. piem. 86 t
hordigon hol. 79 lo
6m'(2i/ berg. 72 s
hordil (-U) berg. 106
6or(itn mail. 86 s
hordioeu mail. 79 lo
hordion mail. 86 s
hordion mail. 86 t
bordir aprr. 38 so
hordlem piac. 79 ii
5onifiÄ nenenb. 105 C
hordo ptg. 20
boitfe ptg. 61 1
hordo pnr. 64 is
hordh berg. 111 x
£o/*<2o ab6am. 61 si
bordo prv. 51 si
6orcZo cat. 49 s
dordo it. 51 34
hordo ptg., sp. 60 a
hordo tonl. 39 ss
hordd, indä n — borg.
55 44
hordd cat. 52 ss
bordoada ptg. 49 s
hordoada, cruz — ptg.
55 4S
hoi*doc piem. 79 lo
hordoceh mail. 54 s?
hordocck ("onj mail. 79 lo
hordocchin mail. 19
bordoeh piem. 79 lo
bordoea, arrimarae aoa —
ptg. 88 SS
bordasu mail. 79 s
ionioA; alb. 36 ss
hordom lagom. 19
hordon berr. 100 t
bordon champ. 86 ii
hordon cbamb. 86 le
bordon corb. 103 C
hordon mail. piac. 79 lo
bordon piem. 69 s
hordon sp. 86 is
bordon, pozar el — ven.
54 s«
bordon waadtl. 100 i
hordona waadtl. 105 C
hordonä wallis. 98
bordonar agen. 57 st
ßo^oväg rhod. 57 67
bordone, far — it. 88 ss
hordone sp. 57 ss
hordone it. 31 is
hordone, viola di — it.
85 4
hordone it. 86 it
hordone it. 87 is
bordone it., sp. 53 so
Bordone 115
bordonear sp. 53 ss
hordoneria sp. 53 ss
124
y. Abhandlung: Richter.
hordonero sp. 63 ss
fiordonero sp. 56 «2
bordonele sp. 86»
fjordonifVenire t — it. 32 14
ßogJöviov mgr. 72 b
hordannal afrz. 61 s
bordonua splat. 51 so
ßögdog mgr. 9 1
bordunä waadtl. 98
bordunal berg. 10 4
bordu9 splat. 17
bordi/ graaa engl. dial. 21
bore weish 47
harh alb. 38 si
6or^ berg. 92 s
iori berg. 114
borh piem. 27 a
bork piem. 91 s
6or^ piem. 92 4
bort türk. 86 xs
borea sard. 45 66
^orecu 46 st 90 4 97 t
bore- (bour-) trte engl.
dial. 20
borti berg. 35 %%
boregh em. 66 i«
boreja neap. 41 40
Borel 23
/x>re2 afrz. 56 50
fiorel berg. 12 si
bord berg. 13 m
&oreZ ptg. 67 es
borel, indä n — berg.
44 48
borelä berg. 44 4e
borhla berg. Ten. 43 40
borkla piem. 43 4t
5or^a Ten. 43 47
borelai bourg. 60 10
bordhr piem. 44 4« ■
Boreües 23 :
borelo (bur-) ven. 68 ts
borelo» mndt. 99 a
Aö/ipi^ nrb. 67 ss
bore»e tum. 108 t
BoresMß 23
BoreUch dt 17 18
borezzo ven. 38 so
/jor/o/u frkit. 32 14
^or^ra em. 66 it
borga ven. 66 is
borgne frz. 69 q
borgnier wall. 62
borgno lang. 69 s
borgnola (bomio-) it. 4187
borgnon (-mi') frz. 69 9
borgtte frz. 66 X7 is
60H ((iw; berg. 90 i
bori berg. 92 8
bori berg. 114
&oi4 cal. 86 18
Vbri g^y. 63 11
bor\ mail. 92 4
6oi4 piem. 28 7
iMri pry. 36 ss
6oria it. 41 40
boria kelt. 92 4
boria lat. 47
6or»ana log. 46 ss
boriata it. 38 so
boriazzu sard. 45 ss
bori^r ptg. 46 ss
borico piem. 12 14
iorico piem. 12 is
bori4X} piem. 12 17
borida parm. 92 s
borida Ten. 36 ss
boridda (bur-) gen. 1 10 s
5orKlo7i mail. parm. 39 ss
boridon mail. 49 s
5ori(2u {'-ur-^ berg. 39 ss
Borie 23
6or(^a sp. 31 is
boriffar ptg. 45 se
boriffar ptg. 113
borigue dord. 67 so
5or(;a serb. balg. 86 is
borU ptg. 101 1
BoriUui 116
6orm lomb. 43 46
borin mail. 42 48
6orin prr. 11 10
boritia it. 101 1
borina tarent. 46 se
Le Borinage 70 11
borinare it. 70 11
Borine 110
Ire« BorimlhreM 110
6dr»o prv. 64 la
borheh mail. 12 14
boriodd saT. 60 to
ßögiov mgr. 19
ftorion splat. 64 11
&orir parm. 92 s
borire Ten. 61 17
borü splat. 17
6orJ^ hebr. 17
borUk splat. 17
BoritM 115
borkin üftm. 101 1
boria berg. 43 47
5or/^ berg. 44 4s
boria cat. 100 s
5or2a piem. 72 s
boria piem. 72 4
borlä piem. 44 4s
6or2a pnr. 49 1
de 5or2a ptg. 88 sf
boria ptg. 44 4«
5or{a splat. 72 t
boria sp. ptg. 31 11
borlanda berg. 39 ss
bcrlandot berg. 39 ss
borlar gal. 60
iortö piem. 44 es
borU piem. 72 t
borli berg. 48 47
5oi*/i lim. 62 9
Borlihre 28
5orU2£a sp. 31 la
borUou lyon. 28«
6or£fet aprr. 78 •
bortb berg. 100»
bcrlo gen. 42 es
tßflo borlo, aver U -
piem. 38 it
horlol berg. 46 le
horloi Terd.-chal. 27 s
borloUo neap. 73 n
borluau meas. 46 ss
Bormühl 110
Die Bedeutungsgeschichte der romanischen Wortsippe hHr(d), 125
hom acat. 61 s
hom cat. 61 4
bomac aprr. 69 a
hcmaffer frz. 62 ss
bormd piem. 69 s
homtU pnr. 69 s
bomar cat. 61 s 62 s
6oma<e nench. 62 9
Bomaut 110
Aomayou Yend.-chal. 52 ss
bomaffou Yend.-chal. 57 S4
bom€ bress. 70 ii
home fn. 61 s 4
bome tT%. 69 t
bome prr. 66 ii
bomear sp. 62 s
bomear sp. ptg. 62 «
6omec prv. 69 a
bomeer afrz. 62 9
bomdra ptg. 62 t
bomer frz. 61 s
2K>mero sp. 62 i
bomkta freib. 70 lo
bomiyi freib. 47
6omi freib. 69 t
bomi it. 61 8
Aoml Schweiz. 109 i
6omfa gen. 41 4o
borrda it. 41 st
ftomido ptg. 102 4
bomidor ptg. 102 4
bornio it. 41 8?
bomir afrz. 41 8?
bomir ptg. 102 4
bomU sass. 75
bcmitott berg. 103 /l
&omo prv. 69 a
Äomo prv. 70 11
6omo zfrz. 70 ii
bomo piem. 69 5
bomote (-gn-) Terd.-chal.
70 11
bcmoyer frz. 62 a 9
born9 aprv. 43 47
bomt aprv. 61 a
^tit4 bress. 70 11
boro prv. 15
ioutO'boro prv. 15
6dfo ven. triest. 38 sa
607^ lang. 15
boroa ptg. 78 t
boroa ptg. 69 6
boroflement (-rr-J afrz.
35 so
&oro2a berg. 74
€ul Borolelum 23
6or<m afrz. 64 is
borön mant. 109^9
öoron parm. 49 8
borondolo ven. 44 ss
ßÖQos mgr. 19
boroMtai friaul. 73
borpdn (barp-, berp-) dt,
43 46
dorr com. 41 40
f)orr im. 33 la
6on* ir. 3
borr it. 41 40
borr wall. 57 aa
6orra agal. 41 41
borra cat. 28 a
borra gal. 38 la
borra it. 27 t
6o>*ra it. 37 16
borra, baUer la — it.
107 8
borra mlat. 24
borra ptg. 35 ss
borra de seda ptg. 28 a
borra sp. 38 sa
borra splat. 38 ta
borrabolas ptg. 11 7
borra^ ptg. 11 10
borra^l ptg. 24
borraccia it. 28 4
borraccia it. 109 s
borraccion it. 28 7
iorrace« frz. 18
borracha sp., ptg. 69 8
borraeho ptg. 12 si
borracho sp. 28 7
ftorractna it. 16
borradela ptg. 11 9
borrador sp. 1 1 9
borragtni ptg. 18
borraggine it. 18
bon'agna neap. 38 sa
borrago, borago splat. 18
borrail gall. 41 40
borraja sp. 18
6orra/ schott. 20
borralho cat. 29 9
borralho de neu cat. 38 S7
borreUho ptg. 11 is
borralho ptg. 50 11
borralho ptg. 73
fioQQdCiDV (-<f') mgr. 90 i
fiorrar cat. IIa
ftorrar ptg. 11 7
borra» cat. 31 13
ßo^Qäg mgr. 97 7
borras schott. 3
borrat schott. 41 40
iorrotfca acat. 35 so
borrat prv. 40 sa
borralxo acat. 28 t
ftorroxa cat. 18
iorre alemt. 12 si
iorre dän. 3
borrear gal. 41 41
6orrea« frz. 67 ss
borreccia berg. 109 s
iorreoo ptg. 12 la
borrhfa alg. 41 39
borre/o ptg. 12 si
borrefo ptg. 31 13
borrega ptg. 12 si
borregada trasm. 33 17
borrego cat. 78 7
borreiro gal. 37 sa
borrel frz. 59 as
borrelho ptg. 11 10
borrenio ptg. 36 ss
borrer parm. 92 s
La Borrerie 110
borreite s.it. 68111
6orri vals. 12 is
borrichet piem. 13 ss
2iorri7/ engl. dial. 100 a
borriüa sp. 31 is
6orrio lat. 114
126
V. Abhandlang: Richter.
borrir (bur-J piac. 92 s
borrisaol cat. 31 is
borrü splat. 00 i
borro alemt. 12 si
borro cat. 1 1 9
bort-o cat. 42 43
borro it. 24
borro it. 33 i«
fxfrro ptg. 12 ti
borron gall. 12 ai
borron sp. 11»
borrotu sard. 32 i«
bormgat cat 32 is
borrugal cat. 64 so
bormgat cat. 79 9
horrum lat. 116
Aor«a wall. 42 49
Borsetis 115
fjorto-9 kelt. 41 4o
bortofld» äfn. 42 4t
^oi-< 23
6or< afra., pnr. 10 «
^K>r< dt. 60
bort pnr. 103 lo
bortanea splat. 67 21
bortat agal. 19
/?o^T«/o^ mgr. 101 n
ftortery engl. dial. 20
bortigeu cat. 54 41
bortorel o.it. 67 10
Borto9stt9 115
fportrolle afrz. ö2 S9
/-»orte apnr. 106 1
Aorti berg. 68 76
boru picin. 33 it
/Mrciz ram. 110«
Borg 110
bort/er engl. dial. 68 7«»
fHV'zaine afrz. 20
fM)rzelot€s frz. ^8 25
//OM<fer bret. 98
boudon vosg. 100 i
bouhourg Talen c. 77
ffoniras prv. 64 13
boniraa prv. 55 43
/x>MiVe/ii pnr. 66 11»
bonler afrz. 14 4f(
JSour 23
5otir anD. 37 IS
6our aun. 42 4S
bour wall. 57 69
boura alp. 58 ra
boura (-ounaj lang. 68 tt
bourache frz. 18
bouracke (-ague) frz. 67 20
&<mr<u bret. 27 s
boura9 gal. 50 s
bourar gal. 50 10
bourassier frz. 33 it
bonräswo lang. 79 11
bourcUo lang. 35 93
/unovQdzo ngr. 103 is
bouratse graj. 18
Botirag 110
bourhlaxoer engl. 113
bourboneiro ard. 102 6
bourboncUr afrz. 106 1
bourbondir afrz. Uli
bonrbote afrz. 112 u
Bourbou 112x1
botirbou carp. 112 i
fßourbouge rouerg. 113
bourbouia prv. 113
bourbouiado prv. 113
bourbouioun alp. 113
bourbouioun prv. 113
Bourboule 112 11
bourboulla bret 113
/e Bourbovlou 112 11
Bourboun 112 11
Aour^un^n bret. 113
ftourbour frz. 78 8
bourbour frz. 107 9
ftourbour frz. 111 1
Bourbourhn 112 it
/unovQtinovgX^im ngr.
112x1
bourfßouta prv. 111 i
bourboHlen bret. 113
ftourbiil engl. dial. 32 15
Bourceron 110
bourcftfe aun. 11)
/o ftottrd engl. 38 so
hourda bol. mod. 7U
bourda bol. 78 •
ftourciacAe vion. 20
6otir(ia(a< afrz. 53 99
Bourdath (-e-) 53 39
bourdaleso sfirs. 53 3t
bourdalU sfrz. 53 99
bourdai aun. 49 a
5ourda«ne frz. 20
&o»rc2aine frz. 108 7
£»a Bourdaine (Les -*) 2.5
ftourdato pry. 36 99
6our(2an^ wall. 49 a
bourda« prv. 6649
6oure2at«aff poitev. 55 43
bourde afrz. 19
6our(ie afrz. 30
6ottr(ie afrz. 32 16
6otirc2e afrz. 6647
6oui<<ie afrz. 77 5
bourde aun. 49 m
bourde ann. 67 «1
bourde frz. 39 39
bourde frz. 6649
bourde frz. 55 4a
5oci7*c2e frz. 57 &6
ftourde prv. 34 19
bourde norm. afrz. 78 t
ftoiirde toul. 55 4%
5our(ie vend. 55 4«
6otircI« wall. 39 39
/a .Bourvie 110
bourdffcUo waadtl. 36 99
bourdeiüer wall. 49 a
bourdcja lang. 65 49
bourdejaire prv. 52 sa
Bourdenei 22
(ourdenne norm. 20
bourder afrz. 39 39
ftourdese lang. 55 49
bourdese toul. 3:i it
bourdeac toul. 33 la
Bourdet 110
6oMrt{e< prv. 103 10
bourdet vend. 56 4a
fiourdet wall. 49 a
I bourdetcher wall. 49 «
bourdeCo prv. 65
Die Bedeutangsgeschichte der romanischen Wortsippe hur(d). 127
loardeto pnr. 49 i
hourd^fl vralL 49 s
fßOHrdüune bress. 100 5
J)Ourdiero prr. 20
ißourdifatüe genf. 78 t
ffourdifaiäe verd.-chal.
78 6
/totirdi/aio prr. 36 ss
ffourdifaio prv. 36 aa
hourdiftdo prv. 35 ai
Bourdigal 22
hourdigalo (-Iho) prr. 19
(ourdt^o* prr. 20
fi<ntrdigau prv. 37 as
bourdigue sfrs. 65
Baurdiguet 110
hourdiko prv. 37 as
DourdilUere 22
hourdin poitev. 9 i
llaut-bourdin 23
ftoardmage prv. 36 aa
Bourdinni^re 22
fjourdir fra. 98
ftourdir ufrs. 38 so
f*ourdi(r) wall. 49 s
f}ourdo lang. 20
^oacrdoir afrz. 59 a
Bottrclon 23
Bourdon 116
Bourdon, Etawj de —
22
fe Bourdon 110
£e# Bourdon* 23
hourdon afrz. 63 84
bourdon afrz. 52 7 1
ffOttrdon afrz. 68 vs
hourdon afrz. 116
/>ourcioii berr. 86 i5
ftourdon engl. 53 su
ffourdon engl. 86 la
^iirticm flandr. 49 5
hourdon frz. 13 as
bourdon frz. 32 14
fjourdon frz. 41 an
ftourtlon frz. 49 «
ftourdon frz. 52 a? 52 an
h)nrdon frz. 63 so
bourdon frz. 53 si
6otirclon frz. 56 si sa
bourdon hz. 864
bourdon frz. 87 ao
bourdon frz. 87 aa
6ourdon frz. 98
bourdon frz. 100 1
6our(2on frz. 108 7
dourdon, pltmUr son — ,
demeurer ä — planti
53 8a frz.
bourdon de St. Jacques
frz. 66 44
bourdon grödn. 36 aa
ftourcion mont. 100 1
bourdon norm. 86 la
fxmrdon orl. 49 7
Xa Bourdonnaie 22
Le» Bourdonnaies 22
bourdonasse frz. 49 s
Bourdonnas 23
/.e Bourdonnay 22
Bourdonnaye 22
Bourdaimi 22
&<nirc2onneau vend. 57 eo
bourdonnie, eroix — frz.
56 48
bourdonner frz. 98
bourdonner fn. 105 C
Bourdonnerie 22
öourcfonneur frz. 101 10
Bourdonney 22
bourdonnier frz. 53 si
bourdonnier frz. 57 m 57 ea
bourdou(n) prv. 69 6
bourdouira lang. 52 a4
bourdouira sfrz. 33 X7
bourdoul prv. 106
bourdonl prv. 110 7
ftourdoulaigos tonl. 21
bourdoulaigue lang. 21
ßovoifovXov 49 8
bordoun prv. 19 6
bourdoun prv. f 6 44
bourdoun prv. 100 a
6ou^'(2ouiiy /« ^re« — sfrz.
63 81
/nßov^&ovvägta epir.
54 40
^t;^(rov)'a^f;ngr.5488 ao
6our(iounay/o dord. 20
bourdour afrz. 39 8a
5or(iotM toul. 69 6
Let Bourdottx 23
bourdoyer afrz. 39 so
bourdrel frz. 62 a9
bourdufo (-flo) 103 10
2> ('I««; Bourdj^ 23
5ot«re frz. 101 11
5otire C-ouj lang. 42 43
/x>ur0 prv. 36 aa
La Botir« 23
5ourec lang. 12 ai
bourel sp. 67 ao
bourd toul. 46 vi
BourcZ 23
boureiaire lang. 103 5
Bourelerie 23
Bourdihre 23
Bourelle 110
5ottrene afrz. 91 a
6otiren/fo verd.-chal. 424a
bouriou lang. 103
Bourerale 110
Bouresae 23
6otfre^ afrz. 109 a
&oure^ lang. 1 1 6
bouret afrz. 11 10
boureta lang. 24
bourelä lang. 95 a
fiTcov^ixa ngr. 103 is
bourelier afrz. 24
bourgain afrz. 20
bourgain frz. 48 i
bourgalha frz. 52 24
bourgano laug. 20
fx)urgaud norm. 53 S4
fxnirgattdin poitev. 63 ss
bourgaudine pas - de - cal .
53 S4
houvgcon frz. 42 43
bourgin prv. 66 20
bourgloHM poit. 2^ s
bourgnago zfrz. 69 «
128
V. Abhandlang: Richter.
bourgnaire prv. 105 «
JHfurgnt aun. 67 90
hourgnion aun. 66 in
hourgnum aun. 70 11
Ißourgnon aun. 44 53
bourgnon prv. 69
fjourgiwn frz. 66 17
bourgnoun zfrz. 69 9
Itourgono loz. 20
hourgoutxa (bürg-) sfrz.
52 16
bourgouna sfrz. 52 S4
iHiurgutUe norm. 76 «
bourguelie norm. 76 4
6our^ui^<m aun. 44 63
bouri verd.-chal., genf.
108«
botiri bouri verd.-chal.
90 I
bouriauder verd. - chal.
50x0
Bourienne 110
bouHer aun. 37 ss
bourielo prv. 64 13
bourieto prv. 65
ftourtZ lang. 43 4«
bouril lang. 58 75
bouriliont lang. 28 r
bourillot verd.-chal. 43 4e
bourils toul. 28 8
bourmela prv. 46 D7
BovQtvvct (ÄtJ^-, DvQQtq)
108 1
f}Our%nne(-ine) awall.Ols
bonriolo prv. 11 10
bouris frz. 11 11
La Bourisse 23
Aüuri^ prv. 110 5
ftourjoilouiro sfrz. 61 24
bourjdne Seine et Oise 20
f*ourJoH sfrz. 50 13
bonrjou (brou-, brtt'J prv.
106
fSor^)«« f-off^ ngr. 71 12
fiourlar alp. 51 14
bourla* (-ais) bret. 27 «
hoHrle prv. 43 4«
bourler afrz. 39 ss
bourler flandr. rouch.
43 48
finovQlid^b} ngr. 34 10
Bourlihre 23
ßovQXivog ngr. 16
ßovvUCio ngr. 34 19
ßovgXo ngr. 16
ßovgXov ngr. 16
Itourlot flandr. 43 47
bourlot rom. 49 c
finovQldxo ngr. 73
bourloUe bretagn. 45 &6
bourloUe wall. 43 47
6ouma prv. 70 xi
iou7*7ia<; ^-<j prv. 57 09
boumae prv. 69 s
öotirTiac prv. 69 9
botimage prv. 70 xx
6our9iai7 ^-oif^ aun. 69 9
beurnail frz. 75
^umaZ aun. 69 9
bow'7ial prv. 27 3
(ouma/ prv. 66 xs
boumal prv. 70 xx
buifiau prv. 75
^oiirnau zfrz. 70 xx
Boutmavea 110
bournay prv. 98
&ou7*nea prv. 1 1 1 9
Boumegre 110
Boumegue 110
bounid lang. 69 e
boumda prv. 69 6
fi7iovQv£ct ngr. 109 «
boumigoun zfrz. 70 xx
bouniion prv. 66 la
bournion (bom-, boun-J
prv. 98
finovov({toi ngr. 102 4
Bvurno 111
!»OMro lang. 08 7« 77
ioMro (borOfbotirou)ffc m\
— piem. 41 38
bourvle dcux-sivr. 67 ao
bourole vicn. 67 «o
bourolle (-1-) poitev. 42 43
bourot verd.-chal. 27 1
ttouroU gruy. 101 xi
bounm morv. 12 14
bouroun prv. 42 43
&ott}t)tin 64 xs
bouroun prv. 72 3
ftourr bret. 37 s«
bourrache frz. 18
bourrad toul. 50 10
fiourrada cat. 41 38
ffonrrade frz. 50 10
bourradU prv. 35 so
fjourmdo prv. 49 8
bourrage prv. 18
bourraUloux (-y-) vieu.
29 9
bourraou toul. 36 u
bourrwjuin lang. 28 4
bourroM Saint. 28 e
Z^OMrrc 23
bourre bress. 42 43
bourre jur. 42 41
bourre, arbre ä — fr». 16
fjourre frz. 31 xs
bourre frz. 36 99
bourre afrz. 36 9s
ftourre frz. 69 x
bourri('ie) fr«. 72 1
&ou7Te sfrz. 42 4s
bourreau frz. 50 xi 67 91
bourrie aun. 16
bourrie, briUer une —
frz. 72 1
bourrie frz. 96 x
bourree frz. 99 v
bourreio prv. 72 1
bourrel frz. 11 10
[ bourrel frz. 50 19
I bourreler in. 50 xo
I bourrelet frz. 27 i
i bourrelet in. 44 m
bourreleU lang. 27 1
ItourreUer frz. 27 1
fjourrer frz. 27 1
bourrer frz. 27 9
bourrer frz. 28«
bourrer frz. 39 89
Die Bedeatangsgeschichte der romanischen Wortsippe fmr(dj, 129
bourrtr frz. 50 lo
baurrer frs. 92 4
bourrtr meus. 92 4
bcurrei frz. 12 i5
bourrH frz. 12 ii
La Bourre» 23
bourA aun. 42 46
bmtrA montr. 108«
bourri poitev. 90 i
bourri verd.-chml. 12 it
bourriage lang. 64 is
bourriauder flandr. 50 lo
bourrido (-oulo) 110 6
bourrido, courre — pnr.
36 11
bourrier frz. 25
bourrier frz. 37 is
bourriU de neu toul. 38 it
bourrin aun. 43 4«
baurrino ronerg. 12 is
bourriol frz. 78 i
bourriquet frz. 18 n
bmtrrir frz. 99 v
baurroiehe {-esche etc.)
67 10
bourrde aun. 44 ss
bourron lang. 64 is
5ottrrott lang. 12 i4
bourrouia pnr. 51 xs
baurroular alp. 51 14
bourrouÜement frz. 110 6
bourru, vin — afrz. 37 i«
bourru in, 29 a
bcurru frz. 31 la
5attrrtt frz. 38 ii
bourru frz. 33 »
6otirru Fr. comt 12 14
bourruih pnr. 42 48
&oiir«er afrz. 42 4i
bour$intßer frz. 42 41
Bourl afrz. 64 it
bourter frz. 50«
6ovr<»^at prr. 26
bourtoulage afrz. 21
bourUnden afrz. 67 lo
flovffiC^Cttv ingr. 102 4
fißovQ^ ngr. 41 4i
SitiQDgsbtf. d. pbil.-bitt
ßoij^Tog mgpr. 108 i
ftoti^te/ai^fe waadtl. 36 ii
braa berg. 105 C
&ra6a(A« sard. 113
bracana pnr. 25
braci agen. 94
5ra9 engl. 94
brtigd lang. 41 41
bragal kymr. 94
5ra^» piem. 94
bragir obw. 94
6ra<7u; vegl. 94
ßi^d^ui mgr. 90 1
ßQü^m sptgr. 94
frratre frz. 94
braj piem. 94
bramar sp. 107
5ran<2 dt. 10 4
brandh piem. 10 4
ftrandenaa mail. 10 4
brantar alp. 51 14
fißQdaica ngr. 101 11
ßqdaavi gr. 90 1
brayon frz. 101 11
6rato cjmr. 96 e
bredauille frz. 53 84 104 1
106
bredouüler frz. 113
5re^n (ber-) in, 67 10
dremimaa com. 10 4
brennage frz. 103 18
brennen germ. 75
ftre^um frz. 101 x
breike alb. 101 11
breapa n.o.it. 101 11
5re(«ma gal. 48 81
bretU frz. 106
bretteur frz. 106
brelugen bret. 37 is
breüyeüd bret. 91 1 108 t
breugge piem. 91 1
5re%j bret. 91 1
bremOea frz. 108 6
bresuo it. 46 68
5rt2/eto sp. 100 a
5ri//o it. 16 22
brimbaut tour. 79 •
Kl. 156. Bd S. Abh.
&rtn afrz. 91 1
brina it. 45 Yi
brindncU piac. 10 4
brinquiiio sp. ptg. 78 t
5rtffca gen. 75
herba briUaniea lat. 19
brUto it. 14
brüzdn odt 45 68
5r0 ptg. 78 t
broa pnr. 25
5roaccton piem. 25
broacih piem. 28 t
broasca ram. 101 11
5fo5oH alb. 86 is
brobaroia alb. 90 1
broder in. 60
brodi lagom. 37 16
broenn bret. 3 a 15
broeM bret. 41 41
brogae gall. 25
&rc;^^ piem. 91 1
broginus mlat. 6610
brohan (-un) afrz. morr.
101x1
broharöj {-ii) alb. 90 1
broima yen. 115
6roü>n afrz. 101 11
brolot flandr. 43 4t
broüar sp. 110 4
ftroOar cat. 115
bronehtUUes in, 77 a
5rofu2fui neuenb. 99
brond'nf bern. 99
broTidon neuenb. 99
brondon Fr. comt. bern.
100 1
bronn bret. 43 46
brontolare it. 99
ß^dxiov mgr. 19
6ro^ air. 3 a
brott vom. 37 16
brou h.-saön. 20
&rott frz. 35 11
brouage Mint. 25
brouaUie afrz. 35 11
broua» frv. 45 68
brxmdi nprv. 38 so
9
130
V. Abhandlnog: Richter.
hroue in. 11 7
brotU frz. 11 t
brouie frs. 107 6
brouelle afrz. 30
brouer afrz. 91 1
broufumUßra-, bre-,gri',
bou-J 90*
brongi piem. 91 i
brovgncmn zfrz. CO o
brouhaha frz. 106
broui frz. 74
braute afrz. 91 1
brouüle afrz. 108 e
brauÜUr frz. 34» 6384
M — frz. 36 10
brouUir afrz. 74
brouülcn frz. 34 1» 113
hrm^maxa sfrz. 60 is
ßqovxa mgr. 111z
ßgovla mgr. 16
ßqovXa ngf. 76
6rotiZar alp. 61 i«
brouleur (-U-) afrz. 34 i9
ßgovXCCto alb. 16
ßQovlldvifAog ngr. 90«
ß^o-öiXia mgr. 34 a
ßQovlXCafM 34 a
ßQovXlov mgr. 16
ß^ovloxijnfQos mgr. IG
ftroumide b^arn. 107 &
6rottncAouna Bfr. 61 it
broundigalo prv. 20
6rtmni b^am. 106 (7 108 a
6roimi^^re böarn. 106 i
^TtQovcira ngr. 108 i
^;r^or(rxoc ngr. 76
brotuto lang. 76
brouler frz. 76
brouUoe alb. 30
ßgo^X^ ^fS^' ^^ ^
broz lagom. 37 t&
6rua meas. 26
ßijvd^nv mgr. 39 so
ßgva^o^ffri mgr. 90 i
brubbudai sard. 113
5ru^ kors. 76
6ruccMire it. 73 ii
bntciate it 76
&n<^ lomb. 91 1
bru^ lomb. 110 t
ftrticti« splat. 79 10 111 x
bruda (-ato) gen. 91 1
briida bas.-lim. 91 1
bruddu BIZ. .S9 80
brüdi gen. 91 1
bruel alemt. 11 s
bruete afrz. 11t
bruffulai sard. 113
brufcl cat. 46 56
brügx (-ia) lomb. 91 i
brugidor cat. 102 8
bruffina mlat. 66 so
iru^tnumf'-ufjmlat. 66 ao
brugir cat. 103 .A
^^ni^rt^ cat. 106
brugnon z.frz. 69 9
bnigo lang. 76
6rti^o cat. 79 lo
btmgiu splat. 100 s
brat piem. 91 x
bruilaz afrz. 34 lo
bntin afrz. 47
bruin (-e) afrz. 91 1
bruine frz. 46 vi 116
irttir« it. 108 «
bruire cbamp. 46 m
bruire frz. 91 x
brttU frz. 91 i
brnja sp. 36 i»
bi-ujir sp. 102 8
brujo cat. 76
6rtt/a Ten. 16
brtda bret. 108 t
irö/cr frz. 73 u
bruUau frz. 72 i
brulicare it. 114
&m2^ sard. 39 so
brtdoUo mail. 73
brulu bret 19
I Arumma gen. 19
brunaga sard. 76
brunaU it HO 8
briinia gen. 109 t
6rur(fit alb. 90 i
6rti« lang. 76
briU piac. 76
briuc friaul. 76
brwca it. sp. 76
brtuca cat 67 to
bruMcar sp. 76
brutcello it 106
bHUcia lomb. 76
6rttfco cat. sp. 76 76
6rti«co Yen. 76
6ru4c«« splat. 97 lo
bru$cu9 mlat. 101 it
brutda sp. 19
örtota» afrz. 102 a
brutidor cat. 102 s
6i'iMi(f mess. 46 m
ßQ'6<ftg ngr. 108 x
bnuque, diamant — frz.
76
brusta tose. 73
bruatigha regg. 61 18
bruHrum splat 73
bi'uttrum splat 73 74 76
brutar sp. 103 ii
6rti^ it. 37 SB
bruUore it 37 u
bruxa (-o) cat 36 10
bruxa cat. 76
bruzno sp. 37 S6
brutzaglia it. 37 a&
bniezico it 37 ss
&ruczo it. 37 ss
bruxxolo it 37 15
6rit2zu gen. 91 x
brüzsu gen. 110 t
ßQt^rifia ngr. 90 1
/S^tjco ngr. 108 x
brwyn cymr. 3 a
b^ark (-a) vegl. 66x6
bubarrut Splat 104 x
fttMia it. dial. 68 ss
buda splat. 16
buda splat 6819
&tu2r0 lyon. 74 a
buerde ahd. 88 tt
buerde cleT. 88 it
6«er(2t npnr. 38 so
Die Bedeatungsgeschiehte der romanischen Wortsippe bur(d). 131
huhurdiren mhd. 39 so
&tiM> it 47
buir€ afra. 76
htdrt afn. 109 s
bmreUe tn. 72 i
biäro loir. 24
huiran afrz. 47
6iaron fra. 64 is u
&ii^ afn. 76
«6i(/2ere lat. 74 a
buOire Ut 74 74 a
bumbuüa sard. 113
Inioma (huar-) gruy. 75
&ttr bol. 47
bitr engl. 3
6ttr engl. 19
bur engl. 12 is
&fir engl. 42 49
bur engl. 42 44
hur engl. 98
to 6f<r engl. 101 107 4
bur rom. 47
Attra gen. 29 b
bitra, btuia lat. 14
&tfra mlat. 64 is
büra piem. 24
bura ptg. 30
6«r(S mm. 45 66
bura splat. 26
bura vegl. 46 5«
Atira yion. 49 •
buraca mm. 45 oe
burach mess. 2U s
buracot ptg. 109 8
burala friaul. 18
burala ptg. 30
ftfira/« sard. 18
Buraim 116
6»rana ven. 45 s«
burangük tttrk. 18
6urar it. 48 ei
burart splat. 74
burato gal. 101 i
burato it. 33 is
burato lang. 30
öurato lang. 35 ts
burato ptg. 101 1
burato Yen. 103 ii
burattel em. 11 lo
buraUeUare it. 103 ii
fturo^jno it. 27 i
6ura^'no it. 59 t»
^Mro^ttf» splat. 74
buraz gal. 32 is
buraxena friaul. 18
6ttr5a alp. 108 6
Burbach 110
burbandola lacch. 101 s
burbanta it 113
burbera it. 102 s
burbero it. 33 1 7
6ur6ero it. 112 i
burbüia f-aUaJ splat. 1 1 2 1
6ttr&2e engl. dial. 113
burbola it. 102 6
burbora piem. 102 6
fjurbudda sard. 41 39
6ur6tui<2a sard. 113
burbuja cat., sp. 113
burbulhare ptg. 113
&ttrWtme alb. 113
Bürbur 112 a
Burfttir 115
burburinhar ptg. 111 1
6tfr6f4rwmtM splat. 112 i
Burbtirus 112 i
Btir&uru« 115
burbutar sfrs. 113
6fir6u^tzzM sis. Uli
burca sfrz. 50 is
burea splat. 48 i
6ttrca splat. 51 1« 101 B
burca splat 71 it
burcaj bol. 58 7 s
burcaj em. 58 7 s
burcaj n.it. 101 1
fturcar prv. 50 s
burcell rom. 65 16
6uivera sard. 19
burceta sp. 19
burchetta em. 58 76
burchi gen. 59 «o
j ^tircAi'a it. 65 i6
burchio it. 109 s
6ttrcAi(me abr. 53 ss
burckioni (-ittua) sttdsard.
48 I
burdiiu sard. 65 le
bttreio gen. 19
burda mlat. 65 is
Aurda alp. 16
burda splat. 67 ss
burdaüa sp. 29 o
öilrtian gael. 98
BurdanuB 115
burdas splat. 68 S3
Attrctt rom. 50 •
burdegano Span. 9 i
burdell rom. 54 4i
burdell rom. 106
Wurden engl. 88 ss
burdghi rom. 51 is
6Mrc2i nprv. 38 so
burdica splat. 65
6ttrd(^ar sfrz. 78 o
Burdigala 65
6ur<i^ar bol. 51 is
burdigär em. 51 is
burdigliare graub. 114
fturdi^nii siz. 86 lo
Burdinatium 23
Burdineria 22
Xm Biirdin« 23
Burc^M 23
burdit splat. 98
6urc2t^ splat 38 so
burdiu(bordiu) berg. 86 i
burdo lat. 9
6Mr(io mlat 13 ss
burdo splat 85
burdo splat. 100 i
6tirc2o sp. 29 »
burdo sp. 37 ss
burdoc mail. 79 lo
burdock engl. 3
Burdoinagut 23
Anriioii engl. 86 is
durcionaritM splat. 54 sa
6ur<ion» sard. 53 so
burdoni sard. 85 s
burdotitoM splat 38 39
9»
132
V. Abhandlung: Richter.
burdoun engl. dial. 86 xi
burdriU engl. 101 1
burdrolo var. 43 48
hurdh berg. 68 ti
burdu (aurdu) sard. 6 90
hurdu sard. 10 i
a hurduca mm. 107 4
hurdnf ram. 28 4
burdtdü tarn. 85 s
burdtUak (vurd-) alb. 21
burdumi sard. 10 s
Burdun 85 4
burduruU berg. 10 4
burduneulu» splat 17
B«r«2une2Kt 115
burduni sard. 57 6«
&ttrririm siz. 68
burdu* lat. 7 9 95 a
&ttr(2iM splat. 68
a 9€ burdui 42 41
bttrduz (hur-) mm. 107 4
Bure 23
Aure, AmVe afn. 24
bure afrz. 26
6iire afn. SO
bure afrs. 67 so
bure afre. 76 s 4
5ifre afrz. 77 s
bure aost. 12 is
bure engl. dial. 53 S4
bure engl. dial. 55 4S
bure frz. 24
Äwrc fr». 70 11
bure frz. 72 i
bure kroat. 109 s
Aurc S«int-Di^. 77 6
bure wall. 74 a
hurfau frz. 31 11
buredda gallar. 18
huregh engl. dial. 115
7 Aiirei grttdn. 73
hurel ahmt. 11 «
Awre/ afrz. 30
hurtl afrz. 56 60
Awrfi lang. 11s
hnrel lanp. 30
'.'/rr/ ptg. 11 «
VM^ir 5ttr^ ptg. 30
burel sp. 27 s
burel sp. 56 64
burelado sp. 56 64
5ttre2/ cat. IIa
burella it. 12 i«
burdla it. 47 eo
bureUion afrz. 43 46
6ttrc/2o it. 27 1
5tfre/oto ven. 78 t
büren dt. 99 a
burhn crem. 43 4«
6ttre», ^ottr c2e« — lothr.
77 6
bureate frz. 26
buret afrz. 11 i«
buret bay. 63 xi
&ttre< (-in) poiteT. 100 a
burHa splat. 109 s
bureUe frz. 69 s
bureUe frz. 109 i
5urey cat. 11«
buriüi Yion. 51 is
bur9n waldeck 99 a
bwr/Uh engl. 32 is
burfuht alb. 42 4S
bürg (-oU) em. 66 i«
burga em. 66 1 7
5f4r^a ronerg. 51 is
burga sfrz. 50 is
burga sfr^ 52 S4
Aur^a Sp. lOS 1
6ttr^a splat 71 ii
burgdm alb. 41 4S
burgar interamm 51 1«
burgar sfrz. 50 «
burgaria lat. 50 s
btirgntor lat 50 •
burgatlii waadtl. 52 14
burgan poitev. 100 s
burgaudin frz. 50 s
burgauli frz. 55 4S
burgaul norm. 78 «
, burge»»our$ frz. 50 o
I Aun/f tQrk. 101 i
I b\trgi alb. 101 i
frMrr;i alb. 102*
fer burgia cat. lOSil
Burgina 115
Aun/tnuff mlat. 66 s«
burglaria lat 50 s
burglator lat. 60 s
6ur^o gase. 76
burgore(brug-) gen. 43 4S
burguer poitev. 60 «
burguet prr. 65
burgtäaior lat. 60 s
6ttr< alb. 46 6«
buA alb. 86 X«
5uri alb. 111«
buri cat 101 i
bnri buri mess. 90 i
5tiri mlat 64 is
bwn rom. 47 «o
buA rom. 91 i
'buria ahd. 64 is
buria piom. 24 71 is
buria splat. 26
5iirtan ahd. 92 4
5tir»atia it 46 8«
6ttr»ana sard. 46»«
burianna gen. 45 s«
bftriasMO it 98
buribttcHum Ist 17
burie ram. 43««
burica splat. 63 xc
buricat mm. 43 4«
6»rteaiie lucch. 62 S4
burich splat. 17
buriehio it 12 it
burichuM lat 12 st
AtcricH« lat 12 xs
Buricu» 115
burida om. 92»
burida friaul. 110 s
burida im. 92 3
burida im. 96 s
burida splat. 106 a
buridon om. 1Ü5 ^
&r<rir/ sp 100 4
buriele sard. 46 s«
buriga friaul. 62 S4
I ÄMrfi alb. 69 4
I AMni alb. 90 1
IKe Bedeatangtpescliidite der romaniBeheii Wortsippe bur^dj. 133
wte raa burü alb. 89 i
me raa burü alb. 103 il
buHja (-Oka) bul^. 100 1
htirike rion. 12 i4
buril alb. 109 s
huril ptg*. 101 1
hwril sp. 100«
hmrüar ptg. 101 1
hmriü cat. 11 •
burtm alb. 103 i
burin fn. 101 1
bvrin (-= buUmo^ , burM
piem. 101 1
burina cal. 45 m
burina it. 90«
burima it. 101 B
burituB piem. 109 s
btirma urd. 102 1
bmrina sard. 109 s
'/iirma splat. 91s
bitrinare spUt 70 ii
bmrhuiri siz. 101 i
hurine afrx. 91 s
Bwnoo 115
£«rtfio six. 101 1
fiurino «p. 11 1« 21
Avrmor cat. 100 i
burirufi caL 100 s
burinM tp. 67 s«
6«r£r ain. 99 t
*«rsr fer. 92»
burtr ier. 105 C
hurir rom. 91 s
burir wall. 9:i 4
buriin praj. 101 ii
burilaniri Höret pplat. li>
bttriu tstr.-mm. 109 s
hurithar m.xr. 1?0 i
6urj^f-V* a^b 90 1
burüu rat. 32 m
BitW«« 115
^77« lan^. 51 1«
ijurja tfnL 50 u
/^w/^'iZJM »law. 19
turj^i mf.nt. M> :«
/;«77«aa ffrz. 5^^ xs
bjwicc::^ p -vii. 1*/.' »
burla berg. 45»«
6ur/a cat. 39 21
burJä Tion. wall. gmy.
73 u
burla burlando Sp. 44 &l
hurJdn rum. 69 4
burlanitra alemL 44 4«
buriant afrx. 43 4s
burlant afrs. 92 s
£ot buriant burlarU cat.
44 si
burlarUe», andar de —
aleznt. 44 48
buriant in ptg:. 44 s«
burlare it. 39 sx
burUwe it. 44 4«
burlare Tic. 31 i
6ttr2e lang. 60
burleing bol. 78 1
burlengh rom. 78 7
burler afra. 92 s
^wWxy lang. 57 «s
6ur/o prr. 43 4i
burlora ptem. 102
burlU aan. 78 •
burf.U piem. 55 4S
burlotto neap. 73 11
burUntn prr. 43 4?
bur!u bret. 19
burimiü mm. 16
b^rlniü mm. 69 4
4uW^ engl. 42 4j
burvux alb. 102 s
//wm^ vion. 69 »
bumelra ptjr- 28 s
burrueta fpiat. 19
^m«t« Fplat. 19
^irrrte« rat. 75
bumeu prr. 69 s
b-^mi pi«^ ffl. 102 4
b'Amir afz. 102 4
burnitp^ moi. 75
bur.iita mm 45 &4
^Mtryo^tr %irL. 1(«2 4
l^aro 115
kAo^ it 47
^'^ ptjr. 11 *
^Burodunuvn 23
6uron em. 79 is
^M/xm frz. 30
bunm frz. 64 is i4
buron sp. 33 it
Kurort alb. 108 1
Buro% 23
£«rot abarg. 11 is
burr engl. 3
fturra lat. 14
, burra ptg. 37 S4 72 €
burra ptg. 67 ss
\ burra ptg. 8t. Thomas.
, 46&6
. burra sbetl. 15
, burra splat. 4, 29 ii
' burra splat. 16 27 i
burra splat. 75
^urrooria sard. 18
burraceia sard. 27 s
bu.rrada caL 49 «
' burrae splat. 4 3S ss
burragena bor. 46 s*
burra» sard. 11s
■ burrajo sp. 74
BurranuM 115
burroMca it. 46 »«
6tirre lotbrg. 76
6urrc m.eng^l. 3
6urre schwed. 3
fjurrefa alemt. ,3{« »•
burrel eog-l. dial. 57 ««
buTtlßy engl- l<y>s
burr^n, purrm dt. 96 i
burren, pur reo. dt. 1«9 T
/y«rron dt. 110«
burriin enj^l. dial. 101 ii
burri-huM lat. 12 U
burrico it. ptp. 12 14
6ttr/-»r2a sard. 11 i«
htrrie engl. dial. 115
2o burrie engl, dial. 115
'« .rr'ruu sard. K»2 i
burricn afrx. 19
Ä^m're 5j 'at. 94 95 a
'*H^-ri* «j.iat- 9'» X
f*^rril «piat. 91 s
134
y. Abhandlung: Richter.
Burritu» 33 17
burrium splat. 63 11
Burritu 115
burro cat. ptg. 0p. 12 14
burro gal. 102 s
burro interamn. 12 30
burro ptg., sp. 13 sa
burro 8p. 36 14
burro sp. 72 6
6urro marmo sp. 12 is
burroe ir. 16 t
fturrone it. 33 la
burrow engl. 63 11
to burrow engl.dial. 101 2
burrow duck engl. 101 11
burrugada sard. 39 si
burmgar sard. 54 36
burrugare sard. 40
&tirrt<m&a/a sard. 36 so
bumtmbaglia sard. 35 so
burrua lat. 10 & 11« 75
burru» splat. 29 11
BurrtM 115
burt aprv. 65 1«
burs pry. &0 s
&ttr«a splat. 71 is
buraanele berg. 102 1
&ur«e prT. 65 1«
ftttr«e ahd. 3
fßürl enneberg. 37 ss
ß^if^axog äol. lOi IS
burlhUUe engl. 3
Burtina 23
burline abr. 20 67 si
hurline abr. 51 1«
burtine abr. 55 4t
Burtinua 115
BurÜH» (-a) 115
6urto amp. 37 sb
&iii'(one abr. 53 S4
buriugen bret. 37 s&
burtuliari siz. 90 1
hurtuM splat. 37 SB
ÄuWti» splat. 111 X
6urM berg. 58 73
6urf<(Ana rum. 19
burujo cat span. 35 ss
burujon sp. 27 1
burulele sp. 27 1
*burum ustulare splat.
73 II
burumbaglia sard. Uli
ftttfKvuiafi^af ptg. 36 ss
Bururdo 115
6urta lat 11 <
buruao ptg. 35 ss
burulel bret 103 11
6tira» cat. 51 ss
buryt splat 17
burza mail. 21
^rza sard. 36 ss
burza (buhaj log. 86 s
buHum lat. 74
6u^tna (bodina) kelt 61 s
6u74}*na freib. 70 10
btDmftwr weish 113
bwr wclsh 26
6türa welsh 25
bwrc welsh 26
bwrlyniu welsh 108 1
biwrlwm welsh 108 1
bwm welsh 72 4
bwmd welsh 72 s
byeurta h.-aav. 77 4
byrdon welsh 8611
ft^retum (^-on^ welsh 85 s
bt/rjwch welsh 82 14
bymaid welsh 72 s
bf/rsl ae. 3
6drr(2c alb. 42 46
caboume prv. 70 n
cat'ema lat. 70 11
combtirere lat 74
conU-fßorgne frz. 41 37
d6barra9 frz. 36 ss
ibouriffi frz. 32 i4 33 is
eliourrifer frz. 32 14
embarratter frz. 36 ss
embourginä prv. 67 so
embrulhtw, emburilhar
ptg. 35 19
emburujar sp. 34 x»
enginier afrz. 40
csberlarae cat. 50 n
tt6or<iai* ptg. 50 lu
etbarrdUiada ptg. 35 so
etborraViar ptg. 50 it
e«6orrar ptg. 36 ss
eaborronarte cat 32 14
eabourrifa prr. 32 14
furabulum splat. 46 6«
fur/uraetdum splat 46 &•
gagoumaa lang. 95 a
^ar frz. 96 a
garbugUare lt. 113
garbura ven. 113
gargaüa eniil. 113
ydQyuQa ngr. 96 a
gargaro splat 96 a
gargatta aun. 96 a
gargälule friaul. 113
gargauta (-ou-J 113
gargavil lang. 96 a
gargavilioi lang. 96 a
gargotte frz. 113
gargueiia ann. 96 a
garlito sp. 96 a
garo90 it. 96 a
^arri prv. 96 a
garrire it. 96 a
garrire lat. 91 96 a
garria lat 96 a
^arr£< splat. 96 a
garrltua lat 96 a
garruhu lat. 96 a
garuche afrz. 96 a
^a>*iw splat 95 a
^arttf lat 96 a
//or rem. 95 a
</ara it. 95 a
I goriduM splat. 95 a
' gorlon (gour-) frz. 94 a
I ^ot*Tta ven. 95 a
«7oron ^-rr-^ afg. 94 a
<7oro« splat. 95 a
gorra it. 95 a
^orr« frz. 94 a
gorrin prv. 94 a
gorriaii sp. 95 a
' r/orro sp. 95 a
gougoumat laug. 95 a
Die Bedentiingsgeschichte der romanisclien Wortsippe htir(d). 135
gour lang. 95 a
gtmrä lang. 95 a
ffoureta lang. 24
ffourgouge lang. 113
gourgauUa lang. 113
gourgculino lang. 113
gourgauta lang. 113
gaumal fn. 94 a
ponmau pry. 94 a
goumüm frz. 95 a
gourp sfns. 95 a
gourran prv. 96 a
gourrer f«. 95 a
gourelä lang. 95 a
gourri gourri prv. 94 a
gourrieula prr. 94 a
^ourrth prv. 95 a
gourrina lang. 95 a
gourro prv. 95 a
gottrran afrz. 94 a
grogner frz. 94 a
^tiitiemt sard. 95 a
gvrge», gurgiistium, gur-
gulia lat 113
^n^ splat. 95 a
guma a.it. 95 a
gttmardu» mlat. 94 a
gurcni sard. 95 a
gurra o.it. 95 a
gurriare aiz. 95 a
gurrire splat. 94
gnmdiari siz. 94 a
OwtuhU 110
itnlSrfd('hür') berg. 102 4
imhrodolart anz. 37 26
tm&ro^^Mire it. 34 i9
2ain&cNcrj verd.-chal. 434«
2ejla lat. 15
JMca lat. 15 16
lomdebur rom. 47
m&tirdttXr'^i? ngr. 36 sa
m&tt?^* alb. 56 6s
mureUo alb. 58 la
mtirfyofii«niti sard. 108 6
imirtne alb. 57 ss
mtim alb. 20
murje^e 100 4
mtirib^ alb. 111 x
or6tM lat. 62 9
orlio prv. 62 9
pammgia abd. 41 4a
portcuone ags. nord. 54 84
Fortune dt. 86 n
jprti^i^ ahd. 91 1
pruina lat. 45 vi
pruna lat. 75
j7rt(z ahd. 37 is
rabuffo it. 105 C
ragire splat. 94
r#ior bürg. 31 i4
rehours frz. 31 1 4
reburrua splat. 31 i4
rehurujar sp. 34 19
reburujon sp. 27 i
ro«i/an ahd. 105
rugire lat. 91 94
rttscu9 lat. 76
tabucu splat. 20
«amAuca prv. CO la
tatnbur piem. 20
•6a}*c2on friaul. 51 24
»bergna alp. 14
sberlä berg. 111 x
#6tfrte/ berg. 106
tberti berg. 50 ii
Mbiemia obw. 43 46
«Urtör lad. 44 48
»bor friaal. 17
<&or& berg. 89 1 89 a 96 a
»borä friaul. 89 8
sböra berg. 24
abarador friaul. 109 i s
96or(ia^t alomb. 42 48
»bordon friaul. 51 a4
tborfar lomb. 11t
sborfar agen. 45 66
»borgna berg. 109
»&07*tun^ berg. 109 i
tliorla berg. 50 lo
tboro berg. 109 •
tborraio it. 27 s
«öorrtr alomb. 91 a 92 s
sfjourdend grüdn. 36 aa
aßdvqSovXo ngr. 49 6
äbrodegä fraul. 37 as
sbrudiä friaul. 37 as
tbruffare it. 45 »6
«ftuor friaul. 17
sbürdi piem. 96 a
$btirla berg. 50 lo
aburr\ gen. 92 4
Septimburitu 108 i
#eiir frz. 20
»eut afrz. 20
Sevenhor 108 i
sgorgo berg. 109 i
»omhra sp. 11 lo
rureau frz. 20
tabomerf'Onr-, -ur-) afrz.
107 a
tom&ot> f-uur) afrz. 107 a
tom5or frz 106 a
tom&ttreft afrz. 107 a
umbra lat. 11 xo
varaZ lang. 106
verra siz. 111 x
verrere lat. 102 i
verrtfia it. 102 i
verruma ptg. t02 i
verver türk. 104 B
ververe alb. 104 J3
verzeler mont 104 B
vi^mum lat. 21
vtrone alb. 108
vtuk alb. 75
vrd' alb. 16 22
cr(n<{« alb. 48 si
vr6n alb. 108 i
vruddu siz. 16
«rtt;on alb. 108 i
vrul6n alb. 75
vurduni siz. 10 4
vur/vrocKa bov. 46 6«
vfirga (vruga) kal. 71 la
vitrCeie alb. 16 22
otirra siz. 95 a
ourri tar. 1 1 1 x
136 V. Abhandlung: Richter.
Inlialtsübersiclit.
§ 1. Allgemeine Entwicklung. Grundbegriff Schilfrohr. Keltischer Ursprung 1
Doppelstamm bar- burd-. Verhältnis von bar- und bur-. Beeinflussung
durch eine onomatopoetische Wurzel ö
§2« Wortgruppen, die nicht sur Sippe bur(dj gehören .... 9
I. Burdua Esel 9
Entwicklung der Begriffe: Bastard. Schößling. Vierbeiniges
Traggestell 10
II. BurruB feuergelb. Entwicklung su dunkelfarbig, braun. Schwinen.
Entwerfen. Dunkle Erscheinungen 10
Spesialisierung auf Maulesel: das braunrote Tier. Andere Tiere.
Das kleine junge Tier. Das vierbeinige Traggeatell . . 12
Farallelform bardus- Kreuzungen 13
III. Buri8 Pflugsterz 14
§ 3. PflanzeBnamen 15
Schilfnamen. Andere Pflanzen, die nach der rauhen BlQte oder
der haarigen Hülle benannt sind 16. Nach der Vergleiehung
mit Rohrstock (Qerte) 19. Kreuzung mit Stamm brue* Va-
rianten Tom Stamm bar 21. Ortseigennamen. Mit Suffix,
ohne Suffix 22. Ortsappeilatira: Röhricht, Sumpf, Ober-
schwemmung, Zisterne, Waschplatz 24. Kreuzung mit den
Stämmen bren- ptrla- brac- 25
Erste Hauptgrnppe: Die Bohrpflanze.
§4. A. Fraohtbüaohel.
I. Stopftnateiial. Das Gestopfte. Vollpacken, das Vollgepackte: die
Reisetasche, Reiseflasche, Traube. Viel essen, viel trinken . 26
II. WoU- und Seidenfloeke. Stopf- und Scherwolle. Stoff und Klei-
dung, burra. Seidenqnaste. Doktorhut 28
lU. Weielie Floeke. Flaum, Bart 31
IV. Struppige zerraufte Floeke, frz. d rebours, ibouriffi. Fischnamen.
Finster, zornig, phantastisch; baroco 83. In Verwirrung
bringen 34. Zank, Rest, Trester, Schimmel, Kehricht, bar*
rasserie 35. Kleinigkeit. Abfallbehälter, Truhe 36. Krenzong
mit bnUm 37. Das Unfertige 37
Die Bedentungsgeschiclite der romunisclien Wortsippe bur(d). 137
Seite
V. Leichtigkeit 38
Schneeflocke 88
Wertlosigkeit.
A. Schlechtes Geld 88
B. Possen. Scherzen. Schlechter Witz. Hohn 38. Lüge. Betrug.
Lamp. herlandoi Finanzwache 39. berlina Schandsäule 40
Krenzung mit tn^ftitutn, hern-. Fehler machen .... 41
YI. Lockeres Gefttge. Aufgeblasenheit Wasserblase, Hochmut,
Prahlerei, hoursoufler. barridm 41
Naturgemäße Schwellung: Knospe, Auge am Baum ... 42
Krankhafte Schwellung: Geschwulst, Beule 42
Das rund Erhabene: Körperteile. Kugel. Rollen. Seiltänzer.
Vagabund. Unverhofft. Reif, Rad, Wulst. Wurm als Köder 43
Vn. Weifie Farbe. Nebel. Reif. Feiner Regen, bruine 44. Sturm. Dampfen,
Wolke, brezso» Dunkelheit 45, bujo. Kerker. Betrügen. . . 46
B. Bohrsohaft.
§ h. Erste Unterabteilung: Der RohrstOCk.
1. Der einzelne Stock: schlagen, umrühren, angeln, pulsen etc. 48.
Zepter 52. Pilgerstock. Fremder. Vagabund etc. 53. Balken.
Pfahl 56. Saitenschlüssel 58. Galgen. Marionette 59
II. Artefakte aus Fleehtwerk 59
Zaun, Geländer. Kreuzung mit germ. bort- 59. bodina Drehen,
schielen borgne 61. Hürde, Hütte, borda. Stall. Meierei.
bord^l 63. Fischweiher. Kahn. KOrbe. Netz. Sänfte 65.
Strick. Kleider burda. burdus = Schneider 67
ni. Pfeile 68
§ €• Zweite Unterabteilung: Das hohle Rohr.
Feuerrohr. Glasröhre. Schlauch. Abzugsrohr. Alb. burti. Kanal.
Gerinne 68. Bienenkorb 69. Loch. Vermischung mit bomo.
Ableitung von bamo 70. Kloake. Hollenpfuhl 70
§7« G. Die Bohrpflanne als Ganzes.
I. AnhBnfang 71
Haufen yon Stöcken. Heuschober. Große Menge, Last. Hohl-
maß. Truhe 72
IL Bohr als Brennmaterial 73
Burum ugiulare 73. bustum 74. Asche, Ofenschaufel etc. Brustum
und brwcum ; bruc- rusc- 76
Der Feuerbrand. Scheiterhaufen. Freudenfeuer 76. Fest.
Schwelgerei. Gebäck 77. Maskenzug. Maske. Gespenst. Das
Vermummte. Puppe von Insekten 78
Sitsangibtr. d. phiL-hift. Kl. 156. Bd., 5. Abb. 10
138 V. Abb.: Riebt er. Die Bedentungflgescbicbte der Sippe bw(dj.
Zweite Haaptgrappe:
Bas Bohr als tOnendes Instrament.
§8. I. Musikinstrumente 80
Skizsiening der Entwicklung der Orgelpfeife 82
Ableitungen von hurdo tonendes Robr 85. Sänger. Refrain. Das-
selbe sagen. .Leiche' 87. Stamm har(dj 88
ft 9^ Ableitungen von der Bedeutung ,tönen' 89 Ott
II. Blasen des Instrumentes. Im allgemeinen. Wehen des Windes . 89
III. BrQUen. Tierlaute 90. bruire. Schmähen 91. Überfallen. Jagen 92.
ragirty rugire^ hraire^ garrire, gurrire 94. Angsterregendes ^
Geräusch. TeufeL Spektakelmacher. Gassenjunge 96
ly. Sammen. Surren. Souffleur. Bienenschwarm 98
V. Sehwirren. hourrü 99
VI. Tonerzeuger 99
A. Tiernamen 100 ^
B. Werkzeugbezeichnungen 101
Bohren 101. Polieren. Kratzeisen 102. Mehlbeutel .... 103
VII. Murmeln 103
A. Heimlich reden. Geheimnisse ausplaudern. Klatschen . . 103
B. Schwätzen. Rasch reden 104
I. In malam partem : dumm, unverständlich reden. Stottern 104
II. In bonam partem: leicht, zierlich, witzig reden .... 104
C. Brummen. Zanken. Keifen, baruffa. Wirrer Lftrm ron
Stimmen 105
VIII. Dumpfes Getb'se 106
Aufschlagen des fallenden KOrpers. borU 106. Trommel. Donner
107. Kollern. Erbrechen 108
IX. Rauseben des Wassers 108
A. Hervorquellen 108
Gurgeln. Quelle 108. Gefäßbezeichnnngen. Faß. Loch . 109
Sprudeln. Sieden. Kochen. Sauerbrunnen HO
B. Rauschen 110
Flußnamen. Überfluß HO
X. Zirpen. Winseln. Grille 111
§10. Reduplikation 11t
Kreuzung mit bar- bur- gar- gur- bul- bwn- 111. Burbero . . 112 i
§11. Wimmeln 113 |
Lat. borrire H*
§12« Personennamen I^^
§18. Fehlen von Ausdrücken ffir Schreibrohr H^
Liste der Stämme H^
-> Ortsnamen
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VI. Abh.: Losertli. Stadien zur Kirchenpolitik Englands etc.
vr.
Studien zur Kirchenpolitik Englands
im 14. Jahrhundert.
IL Teil.
Die Genesis von Wiclifs Summa Theologiae und seine Lehre
vom wahren und falschen Papsttum.
Von
J. Loserth,
korreap. Uitgliede der kais. Akademie der Wissen$cbaflen.
(Vorgelegt in der Sitsnng am 9. Januar 1907)
Vorbemerkungen.
ri ach zwei Seiten hin hatten die Studien, die ich vor
mehr als einem Jahrzehnt begonnen habe, neue Ergebnisse ge-
zeitigt.^ Sie haben zunächst entgegen den Ansichten älterer
Forscher, die wie Walter Waddington Shirley und Gotthard
Lechler die Anfänge der reformatorischen Tätigkeit Wiclifs in
das Jahr 1365 verlegten und mit der vom Papste Urban V.
aufgestellten Forderung der Bezahlung des seit dem Jahre 1333
nicht mehr abgelieferten Lehenszinses an die Kurie in Verbin-
dung brachten, zu erweisen vermocht, daß Wiclifs Auftreten in
kirchenpolitischen Fragen um ein ganzes Jahrzehnt später an-
zusetzen ist und mit jenen Tendenzen zusammenhängt, von
denen das gute Parlament beherrscht war, und in einer Rich-
tung, die es auf eine Säkularisierung des englischen Kirchen-
gutes für Zwecke der Landesverteidigung abgesehen hatte. Es
konnte dann weiter noch der Erweis erbracht werden, daß
' Studien zur Kirchen pol itik Englands im 14. Jahrhundert, I. Teil. Bis
zum Ausbruch des großen Schismas (1378). Sitzungsber. d. kais. Akad. d.
WisMnschaften in Wien, Bd. 136, S. 1 ff.
SiUiiDg!»ber. d phiL-hiBt. Kl. 166. Bd. 6. Abb. 1
2 VI. Abhandlung:: Loserth.
Wiclif in seinem Vorgehen den Traditionen folgte, die in kir-
chenpolitischer Hinsicht in den Tagen Eduards I. und denen
Eduards III. die maßgebenden waren. Es konnte betont werden,
daß sich Wiclif in seiner Tätigkeit als Kirchenpolitiker und in
seinen zahlreichen Reformationsschriften nicht so sehr auf die
älteren Oppositionsparteien der Kirche — wenn er sie auch
kennt — als vielmehr auf die kirchenpolitische Tätigkeit dieser
Könige stützt. Je mehr er sich in das Studium der Heil. Schrift
vertiefte, umsomehr schien ihm die Politik dieser Könige als
die einzig richtige, und er selbst hat in späteren Jahren er-
zählt,* wie er dazugekommen sei, die Lehre von der evangeli-
schen Armut zu verkünden, für die ,drei Patriarchen an der
Grenze beider Gesetze: Christus, Johannes der Täufer und
Paulus geeifert', und wie er sich bemühte, die Kirche zu jenem
idealen Zustand zurückzuführen, in welchem sie sich in den
Tagen der Apostel befand.
Man entnimmt daraus, daß es im Anfang nicht jene hoch*
pohtischen Erwägungen waren, die ihn zum Kampfe aufriefen,
sondern daß ihm als dem ,Theologen', als den er sich mit Stolz
bezeichnet, das Gesetz Christi, d. h. die Bibel, der Ausgangs-
punkt und die vornehmste Quelle für sein Verhalten geworden ist.
Wie die früheren Studien zur englischen Kirchenpolitik,
mit denen die unten folgenden aufs engste zusammenhängen,
haben auch diese nach zwei Seiten hin neue Ergebnisse zu
Tage gefördert. Sie führen den Nachweis, daß auch die größe-
ren Werke der Summa: De Ecclesia, De Veritate Sacre Scrip-
ture. De Officio Rcgis und De Potestate Pape aus jenen Kämpfen
erwachsen sind, die sich innerhalb und außerhalb des guten
Parlamentes abgespielt haben. Wiclif hat sie in einer Zeit ge-
schrieben, in welcher er als Vertrauensmann der Regierung und
ihr Sachverständiger in kirchenpolitischen Fragen im Parla-
mente auftritt. Sie sind jener Kampfesstimmung entsprungen,
in die ihn der Streit um seine 18 Thesen versetzt hat. Auf
diese mußte daher auch die vorliegende Arbeit eingehen. Wenn
man das weitschichtige Material, das hier in Frage kommt,
kritischen Blickes durchmustert, wird man auf eine und die
andere Arbeit Wiclifs geführt, die nicht mehr erhalten ist und
^ Sermonea ed. Loserth III, 199.
Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 3
die man nur ans gelegentlichen Anmerkungen kennen lernt;
eine nach chronologischen Gesichtspunkten vorgenommene Prü-
fung der größeren Werke Wiclifs zeigt uns diese selbst in ganz
neuer Beleuchtung. Was das Wichtigste ist: eine Analyse des
Buches De Potestate Pape macht ersichtlich^ daß die An-
schauungen, die bisher über Wiclifs Stellung zum Papsttum
geltend waren, den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechen,
Wiclifs Überzeugungen von dem, was das Papsttum sein soll
und was es ist, mit anderen Worten: seine Lehre vom wahren
und falschen Papsttum schon bei Beginn des Schismas ausge-
bildet ist.
Die unten folgenden Ausführungen behandeln darnach
fast ausschließlich die Genesis der Summa Theologie; die Fragen
der kirchenpolitischen Gesetzgebung in England und die diplo-
matischen Verhandlungen mit Rom sind hier nur gestreift wor-
den ; ihre eingehendere Behandlung muß jener hoffentlich nicht
fernen Zeit vorbehalten bleiben, in der die sämtlichen kirchen-
politischen Traktate Wiclifs gedruckt vorliegen.
!• Die Terurteilung der 18 Thesen Wiclifs und dessen
Protestationen.
Die kirchenpolitischen Tendenzen, die im guten Parlament
zur Geltung gelangten, sind bekannt.^ Alles, was sich gegen das,
was man die avignonesische Politik bezeichnet und was sich
gegen das von dem französischen Königtum beherrschte Papst-
tum von englischem Standpunkte aus sagen läßt, ist damals in
einer Denkschrift zusammengetragen worden, die leider nicht
vollständig erhalten ist, aber doch einen Einblick in die Lage
der Dinge gewährt. Von den gleichen Tendenzen sind die ersten
reformatorischen Schriften Wiclifs getragen.* Manche seiner
Sätze klingen, als wären sie der langen Bill des guten Parla-
mentes entnommen worden, und man hat demzufolge und an-
* 8. hierüber Tomehmlich Lechler, Johann von Wiclif und die Vorge-
schichte der Reformation I, 364—360. Vgl. Loserth, Stadien aar engli-
schen Kirchenpolitik im 14. Jahrhundert, I. Teil. Sitznngsber. d. Wiener
Akademie CXXXVI, 68 fF.
* Loserth, a. a. O., S. 83.
1*
4 VI. Abhandlung} Loserth.
läßlich einer Äußerung, die der Bischof von Rochester in einer
angeblichen Parlamentssitzung des Jahres 1376 Wiclif ins Ant-
litz schleuderte, die Meinung ausgesprochen, Wiclif sei selbst
Mitglied dieses Parlamentes gewesen.* Man übersieht dabei ge-
wöhnlich eines: daß dieselben Klagen wider Avignon und sein
System der Aussaugung in der ganzen abendländischen Welt
vernommen wurden* und, was England betriflft, das ganze Land
Die Beweise, die Lechler hierfür beibringt, sind nicht stichhftltig. Die
Klagen, die gegen das avignonesische Papsttum lant werden, finden sich
in anderen Ländern anch (s. die folgende Note) und der Fall, an den
Lechler anknüpft, liegt anders. Im 16. Kapitel von De Ecduia erzählt
Wiclif, daß der Bischof von Rochester (Thomas Trillek) ihm in offenem
Parlament die Worte zugerufen habe, daß seine Konklusionen yerarteilt
seien: Unde episcopus Roffensis dixit mihi in puhlico parlamento Stoma-
chante spiritn, quod conclusiones mee sunt dampnate, sicnt testificatam
est sibi de curia per instrumentum notarii . . . Da war also Wiclif ,in
publico parlamento*. Wann war dies? Verschiedene Umstände, sagt
Lechler, machen es wahrscheinlich, daß der Vorwurf des Bischofs gegen
Wiclif in einer Sitzung des Parlamentes von 1376 erhoben worden sei.
Diese Ansicht ist unrichtig. Nach der deutlichen Angabe ,quod mee con-
clusiones sunt dampnate* ist die am 22. Mai 1377 erfolgte Verurteilung
der Thesen der Terminus a quo, zu dem aber noch die Tage hinzuge-
rechnet werden müssen, die man braucht, um eine Bulle von Rom nach
England zu bringen. Bekanntgemacht wurden die fUnf Bullen aber be-
kanntlich erst am IS. Dezember d. J. aus Gründen, die bekannt sind;
die Bullen waren in England, auch wohl in den Händen der obersten
kirchlichen Behörden, aber noch nicht publiziert. Wenn also Trillek
seinem Gegner die Worte entgegenhält: Du sollst wissen, daß deine
Thesen verdammt sind, so kann diese Äußerung nicht vor dem 22. Mai
1377, sondern erst in einer Zeit zwischen diesem Datum und dem
18. Dezember in einem Parlamente gefallen sein. In dieser Zeit tagt ein
Parlament in England (s. Continuatio Eulogii Historiamm, p. 340, Wal-
singham, Historia Anglicana I, 343) a ftsio Michadit tuque ad ftHum
heali Andreae: indem hier zum Teile die Arbeiten des guten Parlamentes
aufgenommen wurden, dürfte es jenes Parlament sein, in welchem Tril-
leks Worte gefallen sind. Bedenkt man, daß es dieses Parlament ist, in
welchem Wiclif als königlicher Kommissär ein Rechtsgutachten über die
Frage abgab, ob man, selbst auf die Gefahr hin, den kirchlichen Zen-
suren zu verfallen, die Geldausfuhr aus England verbieten dürfe, so läßt
sich Trilleks Rede leicht verstehen; sie mag nicht einmal in drohendem
Sinne gelautet haben. In diesem Gutachten wird mehr als bisher anders-
wo die weltliche Herrschaft der Geistlichkeit bekämpft.
,Ich hebe,* sagt Lechler, ,hervor, daß in der vom Parlament eingereichten
Vorstellung verschiedene Landeskalamitäten, nicht bloß die einreißende
r
Studien zur Kirchenpolttik Englands im 14. Jahrhundert. 5
und mit ihm das Parlament; die Geistlichen nicht ausgeschlossen^
davon erflült waren. Wie dem auch sei: Wiclif gab dieser Op-
Verarmung, sondern auch Hungersnot und Seuchen bei Menschen und
Vieh als Folgen der sittlichen Schaden dargestellt sind, welche durch
die päpstlichen Übergriffe unter schuldhafter Nachsicht der Regierung
und des Volkes um sich gegriffen hätten. Gerade dies ist ein Gedanke,
auf welchen Wiclif in verschiedenen Schriften so oft zurückkommt, daß
ich ihn als einen Lieblingsgedankon des Mannes bezeichnen muß. Ohne-
hin läßt sich Tiel eher denken, daß eine so eigentümliche Idee von einer
bedeutenden Persönlichkeit aufgestellt und dann erst von einer ganzen
Körperschaft angenommen worden sei, als daß eine politische Körper-
schaft sie zuerst ausgesprochen und ein hervorragender Denker sie aus
zweiter Hand überkommen und sich angeeignet habe.* Klagen wie diese
vernehmen wir aber auch anderweitig, und italienische Quellen urteilen
über diese Dinge nicht anders als Wiclif. Wie dieser halten sie alles
weltliche Herrschen der Kirche für ein Unglück. Besser wäre es, die
Kirche und ihre Hirten würden die weltliche Herrschaft
ganz fahren lassen, dann würden die unzähligen Kriege mit
ihrem Morden und ihren Verwüstungen ein Ende nehmen
seit den Tagen Silvesters und Konstantins ... In allen diesen
(namentlich angeführten) Kämpfen seien mehr Leute zugrunde gegangen,
als Italien gegenwärtig zählt, und die Kämpfe werden nicht aufhören,
so lange diese Hirten die Herrschaft haben. Sie hätten ja doch wohl
genug zu leben, aber das befriedigt sie nicht, sie wollen sich und die
Ihrigen groß und mächtig machen. Freilich bedenken sie nicht, wie kurz
ihre Macht währt, denn diesen Herren folgen andere nach, die von den-
selben Absichten beseelt sind. Wenn man dies liest, glaubt man in
einem der späteren Bücher Wiclifs und nicht in den Geschichten von
Piacenza zu lesen. So heißt es weiter: Hätten sie die weltliche Herr-
schaft nicht, so konnten sie keine Kriege erregen, denn mit der Ursache
schwindet auch die Wirkung. Was sie mit ihren Reichtümern anfangen
sollen, lehrt die Heil. Schrift. Sie gehören den Armen Gottes
(Wiclif: Kirchengnt ist Armengut), der Klerus begnüge sich mit
Kleidung und Nahrung. Wie diese Italiener, nur etwas früher und
energischer, verlangt Wiclif die Rückkehr zur alten Kirche. Da war der
Klerus arm und die Kirche reich, wenn auch nicht an Gut, so doch an
Märtyrern für den Glauben (Chronic. Piacent. Auetore Joanne de Mussis.
Muratori XVI, 528).
Ich übergehe weitere Stellen bis auf eine, die hier noch ihren
Platz finden mag, weil aus ihr ersichtlich wird, daß die Wünsche der
Reformpartei in England sich mit jenen gleicbgcsinnter Männer und
Parteien in anderen Ländern decken. Das Interessante dabei ist, daß,
wiewohl beide dem Räume nach von einander fern, sich in ihren Wün-
schen begegnen: Et quia omnia, que eis superabundabant, debent dare
pauperibns . . . ipsi debent esse perfecti super omnes gentes, ergo non
6 VI. Abhandlung: Loserth.
Position in seinen 18 Thesen einen vollkommenen Ausdrack.
Man kennt die gi'oße Bedeutung dieser Thesen.* Indem er,
an die Bestrebungen der Minoriten anknüpfend, das Armuts-
ideal der Kirche verficht, dabei noch über diese hinausgehend
die Frage* der Einziehung des gesamten englischen Kirchen-
est convenicns, quod tantas dlvicias possideant . . . lam cotidie in ec-
clesia canitur et fit oratio, quod prestet nobis graciam terrcna denpicere
et gandia eterno glorie possidere ... Et super omnia melius esset «t
dicÜ pastores in tolum omnia temporalia dimiUerent et in totum inatarenl
spirilualibus et divinis offieii» (Chronic. Piacent. Muratori XVI, 536). Viel
mehr verlangt ja auch die englische Opposition bei Beginn des Schismas
nicht. Solche Ansichten waren sonach nicht Eigentum eines Einzelnen,
sondern ziemlich allgemein verbreitet und es läßt sich daher nicht mit
Lechler der Schluß ziehen, daß, wenn sie vom Parlament geteilt wurden,
sie auch von Wielif herrühren müssen.
^ Über den Inhalt und die Bedeutung der Thesen ist alles Nötige von
Lechler erOrtert worden (S. 377 ff.) und es vermag einfach darauf ver-
wiesen werden. In ihrer korrekten Form finden sie sich in Ve CivUi
Dominio I, 251 ff. Die Thesen selbst sind in der Art, wie sie nach Rom
gesandt und dort verurteilt worden sind, von Walsingham im Anhang
zu den fünf Bullen mitgeteilt worden (Hist. Anglic. I, 353—355). Wal-
singham sagt ausdrücklich: Iste fuerunt Proposition es, vel potios dclira-
roenta sepedicti Johannis, qne ad au res domini apostolici per-
venere . . .
' Gute Nachrichten über die Anfänge Wiclifs finden sich in der Conti-
nuatio Eulogii, die nicht wie die Schriften Walsinghams von vornherein
auf gegnerischem Standpunkt steht: Eodem anno 1378 Johannes Wicclif
magister in theologia, dictus flos Oxoniae determinando disputavit
contra possessiones inmobiles (das ist der richtige Ausgangspunkt) »
religionem (religio ss Orden) Fratrum Minorum multum commendans^
dicens eo» ette Deo eariwimos . . . Wie man sieht, kennt der Autor der
Continnatio Wiclifs De OiviU Dominio, denn dort (III, 6) findet sich diese
Bezeichnung: Et sie primi sunt filii Dei cari, secundi cariorcs, et tercii
(monachi) ßUi carissimi, qnia imitatores Dei rectissimi, ambulantes in
dileccionc, sicut et Christus diloxit nos ... In gleicher Weise wird seine
Verbindung mit den Bettelorden im Chrouicon Angliae (p. 116) her-
vorgehoben: Simulabatque se spemere temporalia tamqaam instabilia et
caduca pro eternorum amore. Et ideo non erat cum possessionatis eins
conversacio, sed ut magis plebis mentes deluderet, ordinibus adhesit
Mendicantium, eorum paupertatem approbans, perfectionem extoUens, ut
magis falleret commune vulgus. Noch im Jahre 1377 kann Wiclxf dem-
gemiß schreiben: Exhinc enim venerabilis ordo de fratribus Mi-
nor ibus non habet aliquid in proprio vel communi civiliter, sicut in-
dubie nee Christus habuit, licet habeat ex caritatis titulo sicut et Chri-
stus habuit omnia bona mundi . . .
Stadien sur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 7
gutes auf die Tagesordnung stellt; kann es nicht fehlen, daß
er in einen heftigen Gegensatz zu dem herrschenden Kirchen-
regiment gerät und diese seine Anschauungen als ketzerisch
yerurteilt werden. So sind die 18 Thesen entstanden und so ist
es zu deren Verurteilung am 22. Mai 1377 gekommen. Sowohl
in bezug auf die Entstehung der Thesen als auch in bezug auf
ihre Bekämpfung durch Wiclifs Kollegen in Oxford und die
aus Anlaß der Verurteilung der Thesen entstehende Polemik
harren noch manche Punkte der Aufklärung. Was die Entste-
hung betrifft, ist es schwer zu entscheiden, ob sie existierten,
ehe Wiclif sein erstes Buch von der bürgerlichen Herrschaft
geschrieben hatte, in welchem sie enthalten, oder ob sie aus
dem Buche ausgehoben und in der Menge verbreitet worden
sind. An die Kurie sind sie jedenfalls gelangt, wie sie aus dem
Buche genommen worden waren.* Gegen die fünf BuUen und
die damit verbundene Verurteilung der 18 Thesen hat Wiclif
Regierung und Volk einzunehmen gesucht. So hat er zunächst
seine Thesen mit einer feierlichen Erklärung, Christ zu sein
und bleiben zu wollen, so lange ein Atemzug in ihm vorhan-
den ist, und in Wort und Tat Christi Gesetz zu befolgen, an
das Parlament eingereicht.* Er hat einer jeden These eine allen
' Daß die an die Knrie gesandten und von ihr zensurierten Thesen, von
denen ja manche — wie Nr. 8 — schon eine ftltere Geschichte hat, aus
dem Buche ausgehoben worden sind, ergibt sich aus Nr. 6 und 7, die
mit der Darstellung im Buche zusammenstimmen. Diejenigen, welche
diese Thesen ausgehoben haben, haben nicht bemerkt, daß 7 gar keine
These, sondern nur eine Einschränkung der vorhergehenden Nummer ist,
wie sie nur in seinem Buche mOglich war. Man vergleiche:
Thesen bei Walsingham I, 874.
6. 8i Dens (est), domini tempo-
rales possunt legitime ac meritorio
auferre bona fortune ab ecclesia de-
linquente.
7. Numquid ecclesia est in tali
statu vel non, non est meum discutero
sed dominorum temporalium ezami-
nare, et posito casu confidenter agere
et sub pena dampnacionis eterne
eius temporalia aaferre.
* LibeUus magiatri lokannis Wycdyff^ quem porrexU parliameräo regU Ri-
cardi eonira iUUum ecolene, gedruckt von Shirley in den Fasciculi ziza-
De Civili Dominio I, 269.
. . . tunc sunt temporalia ipsa
per manum laicam a clericis de-
trahenda.
Utrum autem hodie sit ecclesia
in casu isto, non est meum discu-
tere sed politicorum . . . Scio qui-
dem quod dominorum temporalium
est illud examinare . . .
8 VI. Abhandlung: Loscrth.
Parlamentsmitgliedern verständliche Erläuterung mitgegeben,
durch die die Thesen selbst erst verständlich gemacht wurden;
denn mit den Thesen allein hätten die Parlamentsmitglieder
wenig anzufangen gewußt.* Indem er aber der mitunter kaum
niorum, p. 245 — 257. Ich kann mich nicht entschließen, mit Shirlojr
anzunehmen, daß die Überreichung der Thesen samt ihrer Verteidigung
auf dem Oktoberparlament des Jahres 1377 geschehen sei, deswegen
nicht, weil die Verurteilung der IS Thesen erst in der Eweiten Hftlfte
des Monats Dezember öffentlich bekanntgegeben wurde. Und so lange
Wiclif nicht ein sicheres Wissen davon hatte, daß die Thesen — wie
man später gesagt hätte — auf den Index gesetzt worden seien, hatte
er ja keinen Grund, sie mit einer feierlichen ProtestAtion seiner Rocht-
gläubigkeit hinauszugehen. Würde man das Datum Sbirleys als das
rechte ansehen, so müßte man voraussetzen, daüS die Thesen schon 1376
in der Öffentlichkeit eine große Rolle gespielt und Wiclif in den Ruf
der Ketzerei gebracht haben, wogegen er sich ohne Rücksichtnahme auf
die Verurteilung durch den Papst verteidigte. Man entnimmt aber den
richtigen Sachverhalt aus der zweiten Protestation, in der er sich nicht
an das Parlament, sondern an die Allgemeinheit wendet und von der
unten zu sprechen sein wird. Dort läßt er auf die Worte, daß er sich
dem Urteile der heil. Mutter Kirche fügen wolle, die Worte folgen: Et
quae per pueros reportata est sentoncia fidei, quam dixi in scholis
et alibi, ac magis, per pueros etiam usque ad Romanam curiam trans*
portata, ideo usw.
In dieser Protestation sind auch die Worte wichtig: sententia fidet
quam dixi in scholis et alibi, denn sie lassen darauf schließen, daß die
Thesen als solche unabhängig von dem Buche De CiviU Dominio ,in
scholis* von der Katheder herab vorgetragen wurden, und nicht nur
das, denn die Wörtchen et alibi lassen darauf schließen, daß dies auch
von der Kanzel herab geschehen ist. Und damit stimmt das Chronicon
Angliae (p. 117), das in diesen Sachen gute Nachrichten hat, überein:
Acciditque, ut, eorum elatus favore, suas vanitates multo amplius dila-
tare non pertimesceret, sed de ecclesia in ecclesiam perearrendo
auribus insereret insanias suas falsas. Die Übergabe kann dann erst im
Parlament des folgenden Jahres geschehen sein und so ist die Angabe
Walsinghams richtig, der sie unter die Geschehnisse des Jahres 1378
einreiht. Über die Protestationen Wiclifs s. die unten an zweiter Stelle
folgende Note.
^ Heben wir beispielshalber einige dieser Thesen aus, und zwar jene, die
am päpstlichen Hofe den größten .Anstoß erregen mußten, da sie ent>
weder die Frage der Säkularisierung des Kirchengutes oder die Abschaf-
fung des weltlichen Regimentes der Geistlichkeit oder endlich die Ab-
setzbarkeit des Papstes selbst zur Diskussion stellten. Nr. 6 lautet in der
an den Papst gerichteten, von ihm verurteilten Gestalt: Si Deut (eai),
danUni temporale» pottunt legitime ae meritorie auferre bona /ortune (stets
Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 9
verstÄndlichen These eine Umschreibung^ beigab, den Sinn der
einzelnen Worte erläuterte, den ganzen Satz durch Bibelstellen
oder Zitate aus Kirchenschriftstellem begründete, gewannen sie
ein anderes Aussehen und mußten den Parlamentsmitgliedern
wohl als der Ausdruck einer guten kirchlichen Gesinnung er-
scheinen, umsomehr als ihnen die feicriiche Protestation der
Rechtgläubigkeit vorangesetzt ist.^
im Gegensatz zu bona gratiao als irdisches Gut) ab ecdena deUnquente.
In dieser Gestalt sieht die These gewiß drohend aus. Wiclif erläutert
sie: erst muß man wissen, was das Wort po««e bedeutet; er erklärt es
durch einen Bibelsatz (Matth. III, 9), darin es vorkommt und in welchem
Gottes Allmacht beleuchtet wird, und fährt dann fort: denn wenn Gott
ist, ist er allmächtig, und ist er das, dann kann er weltlichen Herren
die Gewalt geben, so zu handeln usw. Wie man sieht, sind der These
damit die schärfsten Spitzen abgebrochen. Und damit über seine Ab-
sichteu kein Zweifel sein kann, fügt er am Schlüsse hinzu, unter wel-
chen Umständen allein die Einziehung von Kirchengut gestattet ist.
Vorausgesetzt wird erstens die auctorit(M eccle-tie, zweitens der de/ectua
tpiritualis preposUt und drittens der ccuus in quo ecdesiasticua corripien-
du» fuerii a fide deviut. In dieser Beleuchtung sieht die ganze These
anders ans und selbst der rigorose Katholik unserer Tage wird an ihr
nichts Besonderes auszusetzen haben. W^ir werden aber unten sehen, daß
Wiclif dem Volke gegenüber in der Milderung der These noch weiter
ging. Oder nehmen wir die 3. These: Carte humanitiis adinvente de heri-
ditate perpetua sunt imposaihiles; dic^e muß in ihrer nackten Form wohl
kaum verstanden worden sein. Erst in der dem Parlament übergebenen
Erläuterung erfahren wir, daß die These einem älteren Streite
entstammt, in dem ein Ozforder Kollege die carte hominum (mensch-
liche Urkunden) selbst über die Heil. Schrift erhob. Wir erfahren zwei-
tens, daß er den Satz auch nicht so allgemein gefaßt hatte Carte huma-
nitu* etc., sondern cum multe carte ntnt impossibüet: gewinnt die Sache
schon hierdurch ein anderes Aussehen, so geschah dies noch mehr durch
den Hinweis, daß solche Urkunden nicht selten gegen die Anordnungen
Gottes streiten. Bei der 18. These: Ecdesxatticu», immo Romanut ponti/ex
potett legitime a auhiecti* corripi et ad utilUatem ecclesie tarn a derlei»
quam a laicii accusari weist er auf Matth. XVIH, 15, Si peccaverit in te
. . . auf das Beispiel des Apostels Paulus Petrus gegenüber hin. Und
auch den Zweck, den er mit den Thesen im Auge hat, gibt er an: Istas
conclusiones dixerim, ut granum fidel separatum a palea qua ignitur in-
gratum lollium . . . Und eine alte Handschrift fügt hinzu: ut per hoc
valeat mores ecclesie reformare. In der These handelt es sich in Wiclifs
bisheriger Tätigkeit nur um eine reformatio quoad mores ecclesie.
^ Wiclif pflegte seinen theologischen Schriften scholastischer Sitte gemäß
sogenannte Protestationen seiner Rechtgläubigkeit einzuverleiben. Sie
12 VI. Abhandlung: Loserth.
und Reiche aber zweitens zur Schmach gereichen und drit-
tens den Verdacht erwecken, daß der Bischof und seine BrUder*
in gemeinsamem Einverständnisse sind, weil sie ihm nicht vor-
zeitig das Verdammungsurteil zugesandt hätten, hätten sie sich
nicht der Tat, deren Urheber und Begünstiger sie waren, ge-
freut: so gibt er ihnen zugleich zu bedenken, daß König und
Regienmg der Ketzerei verfallen seien, falls diese Bullen im
Hechte begründet sind; dann aber müßten sie als Ketzer nicht
nur enterbt, sondern vernichtet werden. Habe man doch als
die ärgste Ketzerei den Satz hingestellt, daß weltliche Herren
der irrenden Kirche die TemporaUen entziehen können. Sehen
denn diese Leute nicht ein, daß dann der Papst Herrscher über
England wird, wenn es gestattet ist, ohne den König und seinen
Rat auch nur zu fragen, bloß weil es die Bullen des Papstes
anordnen, einen Sachwalter des Königs, noch dazu einen, der
keiner Ketzerei überwiesen ist, an jedem beliebigen Orte Eng-
lands zu verhaften und den päpstlichen Kerkern zu überliefern.*
Noch einige Folgerungen zieht Wiclif aus diesem Urteilsspruche.
Man möge doch, sagt er, die Probe auf die Rechnung machen;
der König lasse sich von seinem ihm lehenspflichtigen Klerus
vier Fragen auflösen: 1. ob er berechtigt sei, dem vorsätzlicher
Widersetzlichkeit schuldigen Klerus die Temporalien zu ent-
ziehen (was nach englischem Recht bis in die jüngste Zeit geübt
ward), 2. ob er oder der Papst Regent in England sei, 3. ob
solche Verdammungen, wie sie in den Bullen enthalten sind,
göttlichem Rechte entsprechen, und 4. frage man das Parlament,
ob jemand, der solche unerhörte Bannflüche in Schutz nimmt
und sich dadurch offen gegen König und Reich auflehnt, noch
englische Pfründen innehaben darf.
Aber nicht nur im Parlamente wehrte sich Wiclif gegen
die Verurteilung seiner Thesen. Er sandte eine neue Redaktion
' Non enim tarn signanter inittercnt fratres eins sibi dictam dampnacio-
nem, nisi applaudendo do facto, caius utraque pars foret auctor Tel factor.
' Das ist eine der wenigen Stellen, wo Wiclif heraustritt: quia procura*
ruut quod inconsnlto rege vel nuo consilio virtute bullanim papalinni
legius homo regis ubicunque in Anglia non convictus super praritate
heretica arrestetar et papali carceri mancipetnr: Ist das möglich, so
kann es einen deutlicheren Beweis dafür nicht geben, daß England ron
Rom aus regiert wird.
Stadien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 13
seiner ans Parlament gerichteten Schrift als Flugschrift unter
die Menge. Es ist kein Freund, vielmehr ein heftiger Gegner
Wiclifs, Thomas Walsingham, der sie uns mitgeteilt hat.^ Nicht
mehr so maßvoll wie in dem Libellus klingt hier seine Rede.
Man beachte, wie geringschätzig er die, welche seine Sätze de-
nunziatorischerweise bis vor die Kurie gebracht haben, als
Ejiaben bezeichnet* Daß diese ,Deklarationen' nicht, wie Lech-
ler will, bestimmt waren, den Kommissären des Papstes und
diesem selbst überreicht zu werden, sondern als Flugschrift
unter das Volk kamen, dürfen wir daraus schUeßen, daß er sie
hinausgibt, damit sich nicht ,die Christen' an ihm ärgern, und
weil es schUeßlich ,aller Christen', wenn auch in erster Linie
des Papstes und der Priester Pflicht ist, die evangelische Wahr-
heit bis zum Tode zu verteidigen.^ Ob gerade diese Flugschrift,
wie Walsingham zu verstehen gibt, auch den Bischöfen vorge-
legt wurde, die Wiclif hierdurch gleichsam verhöhnte, muß da-
hingestellt bleiben. Sicher ist wohl sein Zeugnis, daß die Thesen
in den Schulen und öflFentlichen Predigten vorgetragen wurden.*
Auch die Art und Weise, wie sie gelehrt wurden, gereichte den
streng kirchlichen Parteien zu großem Arger, denn Wiclif gab
ihnen nicht mildernde Erläuterungen mit, sondern trug sie in
ihrer anspruchsvollen Fassung vor, wodurch er die Gunst* der
Laien gewann, die, wie Walsingham meldet, gern hören, wenn
man von der Kirche und den geistlichen Personen schlechter
redet, und dann geneigt sind, ihnen Unbill und Verlust zuzu-
fligen.* In der Flugschrift sind den Erläuterungen der einzelnen
* Unter dem Titel Dedaraeiones lohannis Wickliff in seiner Historia Au-
gUeana I, 367—363.
■ Et qaae per puerot reportata est sentencia fidei quam dixi in »chcHvt ei
alibi ac magis per pueros etiam usque ad Romanam curiam transpor-
tata, p. 387.
* Ne christiani scandalizentur in me, volo in scriptis dare sentenciam quam
Yolo iiflqne ad mortem defendere . . .
* In scholis et in publicis praedicationibus eas protniit.
' So wenigstens dürfte Walsinghams Satz zu yerstehen sein: Non enim
cireamloeacionem aliquam eis immiscuit, sed nnde et aperte, at prae-
scribantor, eas docuit.
' Libentios impellnntur ad dampna yel iniurias inferenda religionis et
clericis, cnm aliqna opportnnitas se ingesserit, quae omnino extat eis
desiderabilis et Totiva.
14 VI. Abhandlung: Loserth.
Thesen hier und da einschränkende^ mildernde Sätze angef>.
So hatte er bei der die Konfiskation des Kirchengutes betref-
fenden These den einschränkenden Satz angefügt: Es sei aber
feru; aus alledem zu glauben; daß meine Absicht dahin ginge,
zu behaupten, daß die weltlichen Herren erlaubterweise auf ihre
bloße Autorität hin rauben dürften, wann und wie sie wollen;
die Konfiskation ist nur gestattet auf die Autorität der Kirche
hin und in den vom Rechte vorgeschriebenen Fällen und For-
malitäten. Diese Einschränkung ist zweifellos eine kräftigere als
jene, die er der ans Parlament gerichteten These beigegeben hat.*
Vielleicht hat WicHf außer diesen beiden Protestations-
Schriften, die an das Parlament, beziehungsweise an die Menge
gerichtet sind, noch eine dritte geschrieben, wofern sie nicht,
wofür sich auch Gründe vorbringen lassen, mit der zweiten
identisch ist; wahrscheinlicher aber ist es, daß es eine eigene
dritte Protestationsschrift gab, von der man reden muß. Wiclif
fand während dieser Kämpfe einen scharfen Gegner, mit dessen
Persönlichkeit und Opposition sich das nächste Küpitel zu be-
schäftigen hat, der Wiclif vorwarf, es nicht anders zu machen
als Occam. Wie dieser und seine Anhänger irrige Lehrsätze
behaupteten, sich aber niemals vor dem Richterstuhl des Papstes
oder der römischen Kirche zu stellen bedacht waren, genau so,
sagt Wiclifs Gegner, mache es dieser. Auch er flüchtet sich
vor dem Richterstuhl des Papstes und der römischen Kirche,
um desto ungehinderter seine Irrtümer oder, besser gesagt,
seine Ketzereien verbreiten zu können. Habe ich doch seine
Protestation gesehen, in welcher er erklärt, sich dem Richter-
stuhl Gottes und seiner allgemeinen Kirche stellen zu wollen,
und doch vermeidet er ängstlich, sich vor das Tribunal des
Papstes und der römischen Barche zu begeben. Daher erscheint
mir seine Protestation im hohen Grade verdächtig; würde er
seine Konklusionen für katholische ansehen, die der Kirche
nützen könnten, was brauchte er da Furcht zu hegen, sie dem
Papste zum Urteilsspruche zu unterbreiten?*
' Dizi tAmen qnod hoc non licet facere oUi aactoritata ecciesie, in defecta
spiritnalis praepositi et in easu quo eccleriastieoa corripiendos faerit a
fide deTins. Fase. zis. 249.
' Diese bisher unbeachtet (rebliebene Stelle findet sich in Wiclifs De Ve-
ritate Sacre Scriptnre (ed. Buddensieg) I, 347; sie Terdient hier wOrtlich
Studien znr Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 15
Noch ein Moment ist hier auf das nachdrücklich Bte zu
betonen: Wiclif machte die ganze pohtische Welt seines Heimat-
landes mit seiner Angelegenheit bekannt. Die 18 Thesen wurden
samt dem Kommentar, der sie als gut katholische hinzustellen
hatte, in die Welt hinausgesandt und sie machten zweifellos in
den weitesten Kreisen großen Eindruck.^ Man hat von dieser
Tatsache bisher nichts gewußt: erst die Veröffentlichung von
Wiclifs De Veritate Sacre Scripture hellt den Streit um die Kon-
klusionen etwas mehr auf. Allerdings bleiben auch jetzt noch
viele Schwierigkeiten zu lösen; ist z. B. in dem kritischen Jahre
1377 sein Kirchenbegriff schon der, als welcher er in dem ein
Jahr später verfaßten Buche von der Kirche erscheint? Merkt
man nicht gerade während des Kampfes um diese Konklusionen
einen Wechsel in seiner Überzeugung* oder ist dieser Wechsel,
angef&hrt £a werden: Vidi enim protestauionem suam, quam mi-
sit domino suinmo pontifici, in qua fatetur se yelle stare iudicio
Dei et eins univeraali ecclesie, sibi tarnen cavendo diligencius, ne iudicio
ecclesie Romane vel iudicio summo pontificis sit subiectus. Qne prote-
Btacio yidetnr michi yalde suspectu . . . Man sieht: der Gegner hat
eine bestimmte Protestatio im Auge, er fügt eben noch hinzu: quam
miait domino pape . . . Daß da an die Protestatio, die dem Parlamente
eingesandt wurde, nicht gedacht werden kann, ist sicher, aber auch die
Protestatio, die yon Walsingham mitgeteilt wird, enthält gerade die be-
zeichnenden Worte nicht, auf die es hier ankommt, ,»e veüe ttare iudicio
Dei" . . .
* In der Stelle seines Buches, wo er dayon spricht, daß er nicht, wie sein
Gegner will, seine Lehre yerheimliche, sagt er: ymmo ex facto meo col-
ligitur, quod non sum suspectus de formidine istarum conclusionum,
cum transmisi illas per magnam partem Anglie et cristia-
nismi et sie ad curiam Romanam saltem mediate ezaroinandas.
Liegt in den letzten Worten nicht das Eingeständnis, daß er keine Ap-
pellation unmittelbar an den Papst gesandt habe? {De Veritate Stiere
Scripture I, 349.)
* Auf einer und derselben Seite (I, 349) finden sich Sätze über die Kirche,
die einander zu widersprechen scheinen. Hier liest man: Quinto com-
mittitur mendacium in hoc, quod imponendo michi hereses (adyersarius)
dicit, quod subterfugio iudicium summi pontificis et Romane ecclesie,
tum quia ex fide Cristus Dens noster est summus pontifex, cuius
iudicio humiliter me submitto, tum eciam, quia ecclesia uniyer-
salis mater nostra, cuius filiacionem humiliter recognosco, est Ro-
mana ecclesia, und weiter unten noch auf derselben Seite sagt er:
quod ecclesia Anglicana foret longe prestancior in iudicio yeritatis ca-
tholice, quam tota ista Romana ecclesia collect« de istis papa et
16 VI. Abhandlung: Losorth.
wie der zweite Teil dieser Abhandlung auf einem anderen Ge-
biete nachweisen wird, nur ein scheinbarer? Selbst die von dem
Gegner Wiclifs bekundete Tatsache^ daß er eine Protestation
an den Papst gerichtet, erfährt aus Wiclifs Schriften eine so
eigenartige Beleuchtung, daß sie fast als eine Verneinung der
Tatsache aufzufassen ist. Hier werden noch weitere Studien
einsetzen müssen: vielleicht daß in den noch ungedruckten
Schriften des Reformators die Lösung manches Rätsels zu finden
ist, die man in den gedruckten Schriften nicht finden kann.
Wiclif hat sich noch in einer anderen Schrift — demnach
das viertemal — über die Verurteilung seiner Thesen ausge-
sprochen.* Man streitet, wann diese Schrift entstanden ist Ich
dächte, das wäre nicht so schwer zu finden. Aus einigen An-
deutungen Wiclifs ist die Abfassungszeit in die Zeit zu setzen,
in der De Vcritate Sacrae Scripturae entstand, also in den Herbst
1378. Aus einigen Bemerkungen darf man schließen, daß das
Buch De Veritatc Sacrae Scripturae schon vollendet war, als er
jene Schrift abfaßte.^ Man findet zunächst in beiden erhebliche
cardinalibufl . . . Aber auf derselben Seite macht er selb»! es deatlich,
daß eine solche Yon ihm verfaßte Protestatioo, auf die sein Geg^ner an-
spielt, existiert haben muß: Et patet respicienti protestacionem meam,
quod nimis sinistre conclusum e»t, quod soli iudicio Dei et meo proprio
me submitto . . .
' Es ist die kleine Schrift De Candemnatione XIX ConeltuUmum, gedruckt
von Shirley, Fasciculi zizaniorum, p. 481 — 492.
" Über die Abfassungszeit von De Veritate Sacrae Sei-ipturae 8. die Ober-
zeugenden Ausführungen Buddensiegs in der Ausgabe dieses Werkes
S. LXXXVI-XCII. Vieles von dem, was Wiclif über die Heil. Schrift
sagt, ist beiden Werken gemein: Fides christiana, sagt er in der Schrift
gegen die Verurteilung seiner Thesen, est scriptura sacra, quae habet
hodie multos impugnantes tarn verbo quam opere. So sagt er in <U Ve-
riiaU I, 34 u. 131: Scriptura sacra est fides catholica oder (II, 131) est
cristiana religio (s. auch I, 252 u. a. O.) . . . . I, 141 f. spricht er von
den Gegnern der Heil. Schrift. Manche Stellen sind bis auf den Wort-
laut übereinstimmend:
De Veritate Sacrae Scripturae
(ed. Buddensieg) I, 153:
Ego elicui ex scriptura, quod
sacerdotes Christi debent humiliter
ministrare ecdesie in sacramentis
De condemnatione XIX conclosio-
num. Fase, zisaniorum, p. 482 . . .:
Quidam vero . . . profeasor S.
Scriptare elicuit ex eadem quod
sacerdotes Christi debent humiliter
et sacra mental ibus et doctrina evan- ' ministrare ccclesie in sacramentis
gelii pacis et penes maioritatem , et sacramentaliboa et spectaliter in
Stadien zur Kircbenpolitik Englands im 14. Jahrhundert.
17
sachliche Übereinstimmungen. In beiden wird jener doctor qui-
dam mixtim theologas/ den die WicliflFbrschung bisher nicht zu
eruieren vermochte, erwähnt und andererseits nimmt das Buch
von der Wahrheit der Heil. Schrift auf einzelne der 18 Thesen
und ihre Verurteilung, ganz abgesehen davon, daß die Frage der
Säkularisierung des englischen Kirchengutes, welche die sämt-
doctrina reali et verbali evangelii
pacLs; et penes maioritatem haias
humilis ministerii debet attendi eo-
mm maioritas qnoad Deam. Et 8ic
debent vivere exproprietarie yitam
panperem instar Christi, eo quod
mundo in malig'no posito specialiter
ex gravi affectione temporalinm . . .
instat maior necessitas, ut . . . Unde
nee temporis yariacio nee papalis
dispensacio excusat sacerdotes Chri-
sti ab isto debito . . . Allegavit
autem . . . illud Lucae XXII Reffeä
gencium . . . Confinnavit autem
sensum hnius scripture ex modo vi-
vendi Christi et snorum apostolo-
rum conformiter ad hunc sensum.
Vita autem sacerdotum est optimus
interpres suae verbalis sentenciae.
Man sieht hier genau, wie der Traktat Ober die Verurteilung der
Thesen ganze Stellen aus De VerüaU Sacre Scripture (in der Wiclif
in der ersten Person spricht) herUbergenommen hat, so daß der eine
Text lur Korrektur des zweiten Textes, denn in beiden gibt es, wie diese
wenigen Sitze zeigen, erhebliche Fehler, benützt werden kann.
huius humilis ministerii debet at-
tendi eorum maioritas quoad Deum;
et sie debent vivere exproprietarie
vitam pauperem instar Christi, eo
quod mundo in maligno posito in-
stat maior necessitas. Ideo nee tem-
poris variacio nee papalis dispen-
sacio excusat sacerdotes Christi ab
isto debito sed accusat pocius, si
dimittunt. Et allegavi ad hoc illud
Lucae XXII Rege» gencium . . .
Confirmavi secundum (sie) fidem
scripture ex modo vivendi Cristi
ei saomm apostolorum conformiter
ad hune sensum, que vita est op-
timus interpres scripture . . .
^ De Veritate 8. Scripture I, 153/4.
In ista tamen materia surrepunt
qnotlibet glose sinistre, ut quidam
doctor tradicionis humane et mix-
tim theologns dicit, quod non
elicitar ex illo textu nisi quod sa-
cerdotes Christi non debent viciose
dominari ut infideles reges gencium.
Cum quo sensu stat, quod clericus
ad uiilitatem ecclesie conquirat
totum mundum, cum ex hoc debi-
litantnr laici, qui clerieis oppido
sunt infesti.
SlUanfiUr. d. phil.-bist. Kl. 156. Bd. 6. Abb.
Fase, zizanniorum, p. 483.
Discipuli vero Antichristi, etiam
quidam doctor mixtim theolo-
gns dicunt
.... quod non plus vult Christus
in illo dicto discipulis, nisi quod
non dominentur infideliter sicut gen-
tiles. Cum quo sensu stat, quod
acquirunt quotlibet dominationes
seculares, in hoc prosperantes et
fortificantes ecclesiam, quia depau-
perantes laicos qui clerieis oppido
sunt infesti.
2
IS VI. Abhandlung: Loserth.
liehen Thesen beherrscht, auch in De Veritate Sacre ScripUmre
einen breiten Raum einnimmt, ganz anmittelbar Bezug.^ Davon
wird weiter unten zu sprechen sein.
2. Die 18 Thesen and die ersten Bfleher der Samma
Theologlae.
Als der Streit wegen der 18 Thesen ausbrach, waren die
ersten Bücher der Summa: De Matidatis Divinis, De Statu In-
nocentiae und wahrscheinlich auch der erste Teil von De Do-
minio Civili schon beendet. Er hatte ihnen noch das Buch über
das göttliche Regiment vorausgesendet. Mochte er einen be-
' Die dritte der verarteilten Thesen lautet: Carte humanitus adinvente de
keredUaU perpelua sunt impossibUes, Nun vergleiche man damit die Stelle
in De Yeritaie Sacre Scripture, wo Wiclif davon spricht, daß die Theo-
logen und Prälaten die Entfaltung des Gesetzes Christi verhindern: Re-
ligiosi . . . patenter apostatant, cum lahoribus et expensis laborant ad
curiam Romanaro pro dampnabili sentencia dicente muUa» carUu huma-
nUua adinventaa de heredUaU perpetua este impauibUe», et tarnen Ozonie
tarn publice quam procuratorie dicnnt testamenta Dei et legem Christi
impossibilem et blasphemam ... In gleicher Weise verhält es sich mit
der siebenten These: Non e&t potsibäe, ut vieariut Christi pure er buÜis
tuiä vd ex iUU cum volicione et contetuu suo atU wui eoUegii quemquam Ka-
bauet vd inhabüitet (Fase. zis. 249). De Veritate Saere Scripture II, 155
kommt nicht nur dieser Satz, sondern auch eine zweite These vor. Und
endlich soll noch eine Stelle herangezogen werden, die der oben ange-
führten vorausgeht.
De Veritate S. Scripture I, 153. l Fase, zizanniorum, p. 4B1.
Hodie invalescit opinio legista- Hodie . . . invalescit opinio doc-
rum diceneium, quod si quis sit
papa, est impeccabilis et per con-
sequens, si quid arbitratur vel or-
tornm . . . diceneium, quod si quis
Sit papa, tunc est impeccabilis . . .
et per consequens, si quid arbitra-
dinat, tunc est iustum, cum epi- ■ tur vel ordinat tunc est instnm,
stole sue vel parificantur vel su- i cum epistole sue parificantur evan-
perant auctoritatem scripture sacre, gelio vel superant auctoritate, eo
eo quod non nisi per eum creditur 1 quod nonnisi per eum credi debet
evangclio. Et sie potest hereticare { evangelio. Et sie papa potest quem-
scripturam sacram et catholicare Übet librum de eanone Scripture
oppositum fidei cristiane. ■ subtrahere et novum addere et per
i consequens totam Scripturam sa-
I cram hereticare et oppotitam ehri-
I stiane fidei catholicare.
Stadien zur Kirchenpolitik Englanda im 14. Jahrhundert. 19
stimmten Plan über die Abfassung des ganzen Werkes auch
entworfen haben: wir werden aus den Ausführungen dieses und
des nächsten Abschnittes ersehen, daß und warum er wenig-
stens von der im Anfange in Aussicht genommenen Aufein-
anderfolge der einzelnen Bücher abwich. Es waren die Kämpfe
um die 18 Thesen, die seine ursprünglichen Absichten än-
derten.
Wir kennen den Inhalt dieser ersten Bücher der Summa :^
es scheint uns aber notwendig, im Hinblick auf die jüngsten
Publikationen der Wiclif- Society noch einen Augenblick bei
ihnen zu verweilen. Ein ungeheurer Schatz theologischen Wis-
sens ist in ihnen angehäuft;. Sieht man genau zu, so richtet fast
jedes der 12 Bücher seine Spitze gegen den weltlichen Besitz
der Kirche und steht sonach in unmittelbarem Zusammenhang
mit dem Kampfe, den er zum Zwecke der Säkularisierung des
englischen Kirchengutes geführt hat. Handelte es sich Wiclif
anfänglich nur darum, die Verderblichkeit der weltlichen Herr-
schaft des EJerus und ihre Unvereinbarkeit mit der Lehre
Christi und der Apostel nachzuweisen, was man schon in dem
Buche vom göttlichen Regimente, das die Einleitung zur Summa
bildet, zu bemerken imstande ist,* so wird der Kampf, in dem
das erste und jedes der nachfolgenden Bücher immer schärferen
An^ffen der von Wiclif befehdeten, in Ehren und Reichtümern
und irdischen Bestrebungen aufgehenden Hierarchie ausgesetzt
war, immer erbitterter, die Erwiderung auf jeden Angriff eine
schroffere, feindseligere und sein Angriffsobjekt ein breiteres.
Während er in dem Buche vom göttlichen Regiment noch auf
dem ursprünglichen Kampfboden steht, spitzt sich dieser Kampf
immer mehr zu einem Kampfe gegen die gesamte bestehende
Kirche und ihre Hierarchie zu und vornehmlich zu den wuch-
tigsten Angriffen auf die den Papst und das KLirchenregiment
unterstützenden Hilfskräfte. Man kann die Entstehung und den
Verlauf seines Kampfes am besten übersehen, wenn man die
einzelnen Werke der Summa nach der Zeit ihres Entstehens
einer Würdigung unterzieht.
^ Studien sar englischen Kirchenpolitik I, 8. 76 ff.
* Et patet philoflophis non cecatis in particulari consideracione terreni do-
min ii, qnod commanicacio non obest rero dominio nee proprietaa ipram
per se consequitur etc. De Dominio Divino ed. R. L. Poole, p. 203 ff.
2»
20 VI. Abhandlung: Loserth.
Die Summa zählt die einzelnen Teile mit Ausnahme der
drei letzten in der Reihenfolge auf; wie sie entstanden sind.
Man kann dies freilich nicht immer mit der wünschenswerten
Leichtigkeit nachweisen; aber es finden sich fast in allen solche
Anhaltspunkte^ aus denen dieses Verhältnis ersichtlich wird.
Wiclif hat es nämlich in den meisten seiner Bücher nicht an
gelegentlichen Bemerkungen und Illustrationen zur Zeitgeschichte
fehlen lassen. Wären die einzelnen Teile der Summa schon früher
gedruckt worden^ so hätten sich manche Irrtümer älterer und
neuerer Forscher über den Beginn und die Fortschritte der
Reformtätigkeit Wiclifs vermeiden lassen. Wie die Dinge jetzt
liegen^ treten viele Beziehxmgen namentlich aus der Zeit des
Beginnes der reformatorischen Tätigkeit Wiclifs deutlicher her-
vor: Man sieht von Buch zu Buch; wie seine reformatorischen
IdeeU; wenn sie auch der Hauptsache nach schon bei seinem
Auftreten als Kirchenpolitiker vorhanden sind; sich allseitig ver-
tiefen; seine Gedanken über Kirche und Elirchenregiment immer
schärfere Umrisse annehmen; bis er in seinem siebenten Buche
den herrschenden Kirchenbegriff umstürzt; im neunten das Papst-
tum; wie es zur Zeit besteht; verwirft und in den letzten drei
Büchern die Stützen des bestehenden Kirchenregiments unter-
gräbt.
Wie er seiner Summa die oben erwähnte Einleitung in
dem Buche De Daminio Divino gegeben; so hat er schließlich
das ungeheure Material; das sie enthält, in einem knapp ge-
haltenen und anregend geschriebenen Leitfaden — dem Tria-
logus — zusammengefaßt. Was sonst an Schriften reformatori-
scher Tendenz aus seiner Feder vorhanden ist; steht mit dem
einen oder dem anderen Buche der Summa in entfernterer oder
näherer Verbindung. Dazu gehören die Streitschriften; denen
man in gewissem Sinne selbst seinen berühmten Traktat De
Eucharistia, das Opt^ Evangelicum und seine Predigten zu-
rechnen kann. Wie er in seinem Buche vom Leibe des Herrn
die eingebildete Macht des Priestertums umzuwerfen trachtet,
das von dem Dünkel erfaßt ist; Grott ;machen' zu können, und
sich sonach eine Gewalt anmaßt; die noch über die Gottes geht,
so ist auch das OptiS Evangelicum, so sind namentlich auch seine
Predigten voll von scharfen Angriffen auf die gesamte Hierarchie
und deren Teile oder auf Einrichtungen und Lehren der Kirche.
Stadien sar Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 21
Es mag sich lolmeii; dem^ was hierüber gesagt ist; noch einige
Erläatemngen anzufUgen.^
Zunächst ist zu sagen^ daß er sich die genaueste Kenntnis
des großen Mißverhältnisses^ das zwischen der Kirche seiner
Zeit und der der Apostel bestand^ durch sein intensives Studium
der Bücher des neuen Testamentes erworben hatte; was er über
seine Konklusionen bemerkt, daß sie nicht in den Schriften
Occams ihren Ursprung haben, sondern auf biblischem Funda-
mente ruhen,* das gilt von allen seinen reformatorischen Schrif-
ten, schon von den ersten Büchern der Summa. Noch ist hier
Wiclifs Opposition eine maßvolle: aber der Grundgedanke, von
dem seine Thesen ausgehen, ist doch auch hier schon zu finden:
die Kirche muß arm sein; nur von jener Kampfesstimmung der
späteren Zeit merkt man noch nichts. Noch bleibt auch der
schlechte Priester ein Priester, noch sind die Fürbitten fiir die
Toten löbUch, noch glaubt er an das Fegefeuer, noch hält er
dem Adel — während er ihm schon ein Jahr später eine ganz
andere Rolle zuweist — seine Erpressungen von Abgaben vor.
Eins lehrt er doch schon hier: der Papst darf keine weltliche
Herrschaft beanspruchen; tut er das, so hat der König die
Pflicht, dagegen einzuschreiten, denn in weltlichen Dingen steht
er über dem Papst.
Einen Nachtrag zu dem Buche von den göttlichen Geboten
enthält das Buch vom Stande der Unschuld. Erst das Buch von
der toeliUchen Herrschaft ist von den Ideen getragen, die im
guten Parlament zum Austrag kamen. Hier finden sich die
vehementesten Klagen gegen das avignonische System mit seinen
Provisionen, Exaktionen und unaufhörlichen Forderungen, über
die Vergeudung des Armengutes durch untaugliche Priester usw.
Hierin Wandel zu schaffen, lehrt er, ist Sache des Staates.
Wenn der Klerus dies Armengut — das Kirchengut — miß-
braucht, ist es ihm zu nehmen. Damit tritt auch De Civili Do-
minio in die Reihe der Schriften, die mit den 18 Thesen in
Zusammenhang stehen. Ja im ersten Buche dieses Werkes haben
^ S. die Einleitungen sa meiner AoBgabe von Wiclifii Sermones, Bd. 1 — 4.
London 1887—1890 (dentoch in der Zeitschr. f. Kirchengesch. IX). Vom
Opas Erangelicnm ist besonders III and IV zn nennen, die den Spesial-
titel De Antichristo führen. London 1890. De Eacharbtia, London 1892.
* De Veritate Sacre Scriptare I, 864.
22 VI. Abhandlung: Losertb.
diese zuerst ihre theologische Begründung in zusammenhängen-
der Weise erhalten.^ Vielleicht ist erst aus Anlaß dieses Buches
der Streit über die Thesen in die Menge getragen worden.
Wenigstens macht Wiclif im zweiten Buche von De Dominio
Civili einem Benediktiner zu Oxford lebhafte Vorwürfe darüber,
daß er die Frage der Einziehung des Kirchengutes flir den
Fall, als es von der Hierarchie mißbraucht wird, in der Öffent-
lichkeit bekämpft, bevor man sie schulmäßig zur Verhand-
lung gebracht habe.* Mit diesem Mönche tritt ein neuer Gegner
Wiclifs auf den Plan, über dessen Persönlichkeit die Forschung
bisher nicht ins klare zu kommen vermochte. Man hat an
William Wadford gedacht, den Wiclif selbst im dritten Buche
als seinen Lehrer, wiewohl er nun sein Gegner ist, rühmend
erwähnt.* Aber ganz abgesehen davon, daß Wadford den ,grauen
Mönchen' angehörte,* während sein Oxforder Gegner, der sich
den Benediktinern anschloß, also wohl ein ,8chwarzer' genannt
werden konnte, scheint uns die Art und Weise, wie der Bene-
diktiner im zweiten Buche von De Civili Dominio behandelt
wird, doch mit den Worten nicht übereinzustimmen, die Wiclif
von Wadford gebraucht.* Erwähnt er dieses Mannes mit hohem
Lob, so ist der Benediktiner, vielleicht derselbe, den er in seinen
Sermonen ,den schwarzen Hund' nennt, ein Streber ersten Ran-
ges, der, um ein besseres Fortkommen zu gewinnen, wiewohl
er die evangelische Armut gelobt hatte, aus seinem irländischen
Kloster nach Oxford kommt und seine Kunst der Lüge und
der Fälschung dorthin verpflanzt. Dieser Benediktiner bekämpfte
nun einzelne Thesen, und zwar öffentlich in der Marienkirche
zu Oxford. Gegen seinen Willen sah sich Wiclif in eine Polemik
^ 8. meine Stadien zur englischen Kirchenpolitik I, 91 ff.
* De Civili Dominio II, 1. Et revera sepe revolvi in animo, quid movebat
illam dominum et socium de ordine Sancti Benedict! inter omnes Ta-
lentes Oxoniae tarn singulariter ac prepostere dictum negocium attemp-
Ure . . .
' De CiTili Dominio HI, 351: Et revera obligor eo amplius huic doctori
meo, quo in diversis gradibus ac actibus scolasticis didici ex eius exer-
citacione modesta multas michi notabiles voritates.
* S. Shirlej in den Fasciculi zis., p. 617, Note.
' Ich brauche wohl nicht erst zu erwähnen, daß damit meine früheren
Mutmaßungen ttber die Persönlichkeit dieses Benediktiners nicht sa
halten sind. Studion zur englischen Kirchenpolitik I, 96.
Studien aar Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 23
gezogen^ und ihr dankt man eS; daß dem ersten Buche von der
bürgerlichen Herrschaft ein zweites und dann noch ein drittes
nachfolgte. Man braucht auf die Einzelnheiten dieser Polemik
nicht einzugehen: es genügt^ die Tatsache festzustellen^ daß die
Thesen und der Kampf um sie den Anlaß zur Entstehung der
beiden Bücher geboten haben. Indem er im elften Kapitel des
zweiten Buches die These verteidigt, daß die Laien das Recht
haben, auch gegen den Papst, wenn es not tut, strafend ein-
zuschreiten, vergißt er doch nicht, auch hier eine feierliche
Protestation anzubringen, daß er nicht daran denke, etwas zu
behaupten, was dem päpstlichen und geistlichen Stande über-
haupt zur Unehre gereichen möchte, sondern nur die Wahr-
heiten, aufzudecken, die sich in den Gesetzbüchern und Chro-
niken finden, und daraus die etwa sich ergebenden Folgerungen
zu erzählen. Das dürfte doch fromme Ohren kaum verletzen.*
Daß in den Ausführungen des zweiten Buches von De Civili
Dominio, also in einer frühen Zeit, die ersten Spuren des Risses
zwischen Wiclif und den Bettelmönchen zu finden und aus
welchen Motiven es zu diesem Risse gekommen ist, wurde be-
reits an anderer Stelle bemerkt;* der Riß vollzog sich in einer
früheren Zeit, als man gemeiniglich annimmt, und zweifellos
deswegen, weil Wiclif in seinem Kampfe um das frühere Ideal
der Minoriten nun deren Unterstützung vermißte. Schon jetzt
hält er von den Orden überhaupt nicht viel, ,am besten wäre
es, wenn es solche Spaltungen und Gründungen von Orden, die
doch nur wieder auf irdische Verhältnisse zurückgehen, gar
* De Civili Daminio II, 5: Sed miror, qua fronte frater meus auBUB est de-
daccionem tarn frirolam fingere, specialiter coram tarn sciolo et vene-
rabili auditorio in ecclesia beate yirginis Oxonie: Sacerdotes debent
corrigi per se ipsos vel snos episcopos: ergo in nuUo casa debent corrigi
per dominos secularea. Dieser Satz berührt die letzte These Wiclifs:
Ecclesiasticns, immo et Bomanus pontifex, potest legitime a sabditis et
laicis corripi et eciam accusari.
' De Cfivili Dominio II, 114: Non iutendo personam aliquam diffamare vel
in dehonoracionem vel dedecus Status papalis quicquam asserere . . . Nee
Video quomodo illud offenderet pias aures. Das ist der Standpunkt
WicUfii 1377. Dieselbe Ausdrucksweise in der bei Lewis p. 363 abge-
druckten Determinacio Magistri Johannis Wyclyff de Dominio contra
nnnm monachum, p. 366: quod sonaret iniuriam dicte ecciesie vel racio-
nabiliter offenderet pias aures.
' Studien zur englischen Kirchenpolitik I, 108.
24 VI. Abhandlung: Loaerth.
nicht geben wttrde'.^ Der Beginn des Kampfes gegen die Mcn-
dikanten ist demnach mindestens schon in das Jahr 1378 zu
setzen. Darf man^ wenn man Qeistlicher ist^ schon keinen
irdischen Besitz haben: noch viel weniger darf man am einen
solchen kämpfen.* Wiclif flihrt hier die Kämpfe Englands gegen
Frankreich auf unlautere Anreizung der Hierarchie zurück:
zweifellos hat er aber auch die Kämpfe im Auge, die das Papst-
tum gegen die Florentiner führt. Bei jeder Kleinigkeit schiebt
die Kurie ,die Sache Gottes' vor und beginnt einen Kampf auf
Leben und Tod.
Ein großer Teil des dritten Bandes von De Civili Dominio
ist den geistlichen Orden gewidmet,' und indem er unter den
Ordensmitgliedem, den besitzenden sowohl als den Mendikanten,
seine eifrigsten Gegner findet, tritt er schon hier für seine in
allen späteren Werken vorgetragene Lehre ein: Man bedarf der
verschiedenartigen Religionen (Orden) nicht, uns genügt zum
Seelenheil der allgemeine christliche Orden. Man wird bemerken,
daß Wiclif auch hier die Frage der Säkularisierung des Kirchen-
gutes in breiter Weise mit einfließen läßt* Auch die der welt-
lichen Gerichtsbarkeit, der ein Kleriker unter gewissen Ver-
hältnissen unterliegt, wird behandelt. In den Worten, daß die
evangelische Armut nicht darin besteht, daß man sich jede«
Besitzes entschlägt, sondern in allem die Nachfolge Christi
hochhält, wird man auch den entsprechenden Gegensatz zwi-
schen Wiclif und den Mendikanten gewahren. Vielleicht ist ge-
rade deswegen die Frage, was die evangelische Armut ist, in
so ausführlicher Weise erörtert worden. Eine jede irdische Herr-
schaft, deren sich ein Geistlicher anmaßt, streitet gegen die
^ Dt Civäi Dominio U, 166: Unde (si non fallor) «xpedieias foret ecclesie,
in nna fide et religione sequi ChriBtum omnes Christicolai, non faciendo
diviiiones et composiciones ordinom secandam yarietatea condicionum
hominnm diBtinctorum; noch itftrker p. 166: indubie perfeccior est itta
religio christiana (die allgemeine chriatliche Religion), quam religio hie
priTata (als so ein prirater Orden).
» n, 2S3 ff.
* m, 1: Ut snpradicta de lege Christi in genere plus Incescant, oportet
ordiri secandnm aliam formam, traetando de religione vel ordine.
* in, 27: Ex istis et multts aliia dietis huins sancti patet, qnod potest
contingere, nt domini temporales jmmo tjranni anferant a clericis tem-
poralia ad magoum commodnm clericomm . . .
Stadien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 25
alten heiligen Gesetze, kraft deren die Geistlichkeit kein Sonder-
eigentum besitzen, keine irdische Herrschaft innehaben darf.^
Von großem Interesse ist die Frage, die Wiclif aufwirft, woher
es komme, daß man gar so heftig gegen die Ausschweifungen
der Geistlichkeit und nicht vielmehr gegen ihre Habsucht los-
ziehe.* Schon Hest man hier, daß die römische gleich der eng-
lischen Kirche mit ein Teil der allgemeinen ist und nur die
allgemeine nicht irren kann: das dürfe man aber von
,diesem' Papste und seinen Kardinälen nicht behaupten.^ Man
wird nicht ohne Rührung lesen, was er von sich selbst über
seine ersten Anfänge im Studium der Heil. Schrift erzählt: wie
er sich mühsam zu ihrem Verständnisse durchrang, weil er die
Doppelbedeutung mancher Stellen anfangs nicht zu fassen ver-
mochte.* Mit einem Worte: Man sieht in einem Augenblicke,
da er noch damit beschäftigt ist, die gewichtigsten Argumente
ftlr die evangelische Armut der Kirche und gegen jede Aus-
übung von Zivilgewalt durch die Kirche vorzutragen, im Hinter-
grunde nicht bloß die beiden großen Bücher von der Wahrheit
der Heil. Schrift und der Kirche, sondern auch das Buch De
Potestate Pape.** Aber die Armutsfrage, die Frage der Entsagung
jeder weltlichen Herrschaft seitens des Klerus bildet doch das
Wesentliche in allen seinen immer breiter werdenden Ausfüh-
rungen: wie es purer Wahnsinn sei, zu behaupten, daß Christus
und die Apostel das Recht auf irdische Herrschaft besaßen und
dieses Recht nur schlummerte, bis es der Papst Silvester und
' ni, 244: Omnifl talis dominacio pretensa in clerico repngnat regalis sa-
croram canonnm, quibns docetur, quod omnes clerici debent esse expro-
prietarii, habentes omnia in communi, ymino, cum omnis talis intencio,
ut clericus dominetnr ciyiliter, sapit peccatum mortale, manifestum Ti-
detur, quod omnis talis consensus sapit peccatum mortale, licet effectus
non scquatur.
' Der Hauptgrund, den Wiclif anführt, hat ein seitgeschichtliches Inter-
esse: quia luxuria plus apparenter perturbat pacem reipublice ; utrobiqne
enim clericus ex rabie coitus fit bellicosior et laicus ex maculacione
uxoris vcl filie est longo offensior quam ex negociacione rel ininriacione
sensibili in bonis fortune. Et sie utrobique perturbatur pacis tranquillitas,
in tantum quod laici Londoniis et alibi incarcerant fomicarios aacer-
dotes.
• p. 404. ^ p. 443.
* De Dominio Civili III, 380.
26 VI. Abhandlung: Loserth.
Kaiser KonaUntin wieder aufloben ließen.* Aber selbst die De-
krete der Kirche, der alten Kirchenlehrer ganz zu geschwcigen,
sagen das Gegenteil.* Der Kaiser hatte gar nicht das Recht,
das Wesen der Kirche von Grund aus zu ändern.* Wer des
Reiches Feinde niederwirft, seien es äußere oder innere, der
hat das vollste Verfügungsrecht über die Güter der Kirche.^
Wenn gemäß den Dekreten der Kirche und der Autorität der
Heiligen die weltlichen Herren verpflichtet sind, die Güter der
Kirche zu verteidigen, wie könnten sie dies tun, wenn sie nicht
die Herrschaft über sie besäßen. Und daß die Kachkommen
jener Männer, die der Kirche irdisches Gut gegeben, das Recht
haben, es im Falle des Mißbrauches zurückzufordern, zeigt
Wiclif aus Stellen bei Thomas von Aquino,* aus dem in Eng-
land geltenden Rechte usw. Damach ist das Kirchengut nur
ein bei der Kirche hinterlegter Schatz, den man im FaUe der
Not zurückfordern darf;^ dies zu tun, haben die Könige ein
Recht, das sich aus der Vernunft, der Heil. Schrift, den Zeug-
nissen der Doktoren und aus den Gesetzen erweisen läßt. Wiclif
läßt sich vornehmlich auf eine Erläuterung der entsprechenden
Kirchengesetze ein: Wenn es im Dekrete heiße, die Fürsten
dieser Welt mögen wissen, daß sie dermaleinstens Gott Rechen-
schaft ablegen müssen der Kirche wegen, deren Schutz ihnen
Christus anvertraut hat, und daß sie es sind, welche verantwort-
lich gemacht werden dafür, daß in der Kirche der Friede ge-
macht oder gestört, die Disziplin erhalten oder aufgelöst wird,
wie sollten sie dann nicht Recht haben, in Gottes Sache gegen
diese Priesterschaft vorzugehen? Wtirde freilich dies kanonische
Gesetz ausgeführt werden, dann müßte wohl der weitaus größte
1 p. 445.
* Periculosam sompninm et infnndabile, cnm predictam decretam sonat in
oppositum.
' p. 451 : Nee imperator potest donare papc, dum steUrit in suo ordine, re-
^alinm potestatem, imperialem vel dominacionem ciyilem . . .
* nie igitur, qui principaliter domat hostes eztrinaecos et intrinaeoo«»
cnittsmodt est imperator vel rez, est reddttuum dominus capitalis.
* p. 454: Unde sanctus Thomas subiungit: Usus ipsorum donomm redde-
retur illicitus, si ab actibus religiosis desisterent, et quantam in se esset,
defraudarent intcncionem eornm, qui talia beneficia contnlerunt.
* p. 455: Bona collata ecclesie sunt quasi tesaurus depositns quem licet elf
in tempore necessitatis repetere . . .
Stadien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 27
Teil des Kirchen^tes, das der Klerus festhält, an die ,froinmen
Könige* zurückfallen; denn ein jeder Kleriker, der mehr als die
Tugend die Temporalien liebt, geht ihrer verlustig, gerade so
wie der Mönch seine Würde einbüßt, wenn er schändlichem
Gewinne nachgeht; das aber tut ein jeder, der sich mit Armen-
gut bereichert. Aus alledem folgt, daß es den Königen zusteht,
hier einzuschreiten, zumal da sie die Pflicht haben, die Ver-
wendung des Kirchengutes in ihre Obhut zu nehmen und es
kraft ihrer oberherrlichen Gewalt zu verteidigen.* Wozu würde
denn auch das Kirchenrecht bestimmen, daß ein Patronatsherr
fiir den Fall der Nachlässigkeit eines Bischofs oder Metropoliten
in der Bestrafung eines Geistlichen das Recht hat, vor den
König zu treten, wenn dieser nicht die Berechtigung hätte,
gegen jene strafweise vorzugehen." Wenn Päpste, Bischöfe,
Kuraten und alle jene, denen statutenmäßig die Pflicht zukommt,
für die Stifter zu beten, ihren Verpflichtungen untreu werden,
dann ist es das beste, die Stiftung einzuziehen und für andere
fromme Zwecke zu verwenden. Wir führen diese Stellen an,
um zu zeigen, daß, wie im ersten Buche von De Civili DominiOy
das Ganze auf eine Begründung der 18 Thesen hinausgeht, im
dritten Buche vornehmlich der Inhalt der 33 Konklusionen seine
ausilLhrliche Begründung erhält. Man vergleiche z. B. die unten
in der Beilage mitgeteilten Konklusionen Nr. 15 — 20 mit den
eben mitgeteilten Stellen und man wird zum Teile eine wörtliche
IJbereinstimmung finden* und auch daraus entnehmen können.
* p. 459: Et istud, ut videtur michi, pertinet ad doininos discutere, cum
habent bona illa dirigere, et si oportet racione capitalis dominii de-
fendere.
■ Ebenda.
' p. 417: Ex illa Bentencia huius sancti videtur . . . quod expedicius foret
ecclesie carere huiusmodi papa, cpiscopo, curato, quocumque preposito
Tel elemosinario oratore, convertcndo sibi mtnisterium collatum in alioa
pios usus (s. unten) quam habere talem perversum in diviciis et gloria
seculi quantumlibet habundantem. Daß sich aber auch wortgetreue Über-
einstimmung findet, sieht man aus folgender Stelle, über die noch weiter
unten zu sprechen ist:
Conclusionum triginta trium Con-
clusio XXXI.
Sire progenitores defuncti do-
minoram superstitum siut in celo,
De Ciyili Domiuio III, 471.
Ex istis patet quod, sive proge-
nitores defuncti dominorum super-
28 VI. Abhandlung: Losertb.
daß die Abfassung des Werkes von der bürgerlichen Herrschaft
den gleichen Motiven entsprang wie die Aufstellung der 33 Kon-
klusionen. Und so gewinnt es den Anschein^ als sollte jenen
Mitgliedern des englischen Herrenstandes, denen die Lektüre
eines so schwerfälligen Buches, wie es De Civili Dominio ist,
nicht zugemutet werden konnte, eine kürzer gefaßte Begründung
in die Hände gegeben werden, falls sie etwa Lust haben sollten,
die der Kirche von ihren Vorfahren gemachten Schenkungen
zurückzufordern und anderen frommen Zwecken zuzuführen.
Man sagt ihnen, ob sich die Seelen eurer Vorfahren im Himmel,
im Fegefeuer oder in der Hölle befinden: die Einziehung soU
eher Benefizien, die jetzt von unwürdigen Geistlichen festge-
halten werden, könne ihnen nur nützen. Sind sie im Himmel,
dann wird ihre Seligkeit eine größere, weil ihre Stiftungen der
Allgemeinheit zugute kommen; sind sie im Fegefeuer, dann
könnte ihre Pein verlängert, sind sie in der Hölle, ihre Strafe
größer werden, wenn diese Stiftungen mißbraucht würden. Um
den von Wiclif bezeichneten Zweck zu erreichen, geht er auf
das Fegefeuer in ausführlicher Weise ein und erörtert, ob und
inwieweit spezielle Gebete den armen Seelen zu nützen ver-
mögen und ob nicht vielleicht jene, die Abteien Schenkungen
auf ewige Zeiten für diesen Zweck machen, die Betrogenen sind.^
3. Die 18 Thesen und das Buch de Yerltate Sacro Seriptare.
Die 83 Konklusionen.
Seit den Tagen des guten Parlamentes war gerade ein
Jahr verstrichen. Nun arbeitete Wiclif ein Werk aus,* das zu
purgatorio yel in inferno, expediens
foret in cun, quo elemosinarii ab-
utantur eorum elemosinis, ipsamm
subtraccio et convenio in aiios
pios U8U8 (s. oben).
stitum sint in eelo, sive in porga-
torio, sive in infemo, expediens
foret in casu, qnoelemosinariieoram
abutantur elemosinis, earum snb-
traccio.
* p. 646: Patet quod fnndantes perpetaas elemosTnas in abbaciis, cantariii
ot elcmosynis hniosmodi ex affeccione proprietaria nt plarimnm sunt
decepti . . .
' Am Tage MarÜ Verkündigung 1378 schrieb er an dem elften Kapitel:
Et patet ntrobiqne quod a tempore incepcionis Machometi nsque hodie
in vigilia Annnnciacionis anno domini millesimo trecentesimo septna*
Studien zur KircbeopoUtik Englands im 14. Jahrhundert. 29
seinen reifsten gehört and dessen AnfUnge wohl einige Jahre
aBurückliegen:* das Buch von der Wahrheit der Heil. Schrift,
das uns seit zwei Jahren in dem vortrefflichen Erstlingsdrucke
Rndolf Bnddensiegs vorliegt.
Je mehr sich Wiclifs Streit mit seinen Gegnern vertiefte,
umsomehr zog er sich auf die Heil. Schrift als auf das Funda-
ment aller christlichen Lehrmeinung zurück und immer nach-
drücklicher weist er auf sie als auf die einzige Norm des Glau-
bens hin. Man kennt die hohe Wertschätzung, die er dem
heil. Augustin gegenüber hat, und dennoch sagt er, als man
ihm einige Worte dieses Heiligen entgegenhielt, die vor der
getimo oetaro non flnxernnt . . . BuddenBieg setzt den Abschluß des
TrakUtes in den Sp&therbst des J. 1378. Johann Wiclifs De Verilate Sacre
Scripture (Leipzig 1904) I, p. XCII. Das ist auch richtig. Jedenfalls
hstte die Nachricht, daß Urban VI. seinen ersten großen Kardinalsschub
vorgenommen, den Verfasser schon erreicht, als er das 15. Kapitel
schrieb, denn darauf dürfte man wohl die Schlußzeilen dieses Buches
beziehen dürfen.
* Die AnfKnge dieser Studien sind aus dem wissenschaftlichen Turnier
xwischen dem KarmelitermOnche Johannes Kynjngham und Johannes
Wiclif BU ersehen. Jener schrieb auf eine nicht mehr erhaltene Schrift
Wiclifs seinen Ingreuut contra WicUf (Fase, zizanniorum 4 — 13); darauf
antwortet Wiclif (ebenda 453—476); dagegen streiten Kynynghams Acta
contra idea» magittri lokannU Widif (14 — 42); dieser ließ zunächst noch
einen Machtrag zu seiner ersten Schrift erscheinen (477—480), dann
folget Seemnda DetemUnatio contra Wiclif De AmpUiUione Temporit (43 —
72) und die Urtia determinatio (73 — 103). Eine den Kynjnghamschen
Traktaten Yorhergehende Predigt über das Thema ,Inimicu* komo hoc
fedV klagt, daß man Wiclifs Ketzereien so spät erkannt habe, und rühmt
Kjmyngham, der unter den Schnittern, die das Unkraut aus dem Weizen
auszurotten hatten, einer der ersten war: Inter primos messores Christi
tunc temporis [Randnote 1376] surrexit de Fratribus Carmelitis Vir-
ginis matris Dei contra lollium Antichristi frater lohannes Kynyngham,
post provincialis ordinis et confessor illustris principis lohannis ducis
Lancastrice . . . qui diutinam cum Wiclif per annos continuam luctam
peregit et manuale certamen, fortiter austinens corrosivum rerbum hae-
retici et sermonem eins sine Christi pietate. Damit künnen Kyujmghams
und Wielift genannte Schriften nicht gemeint sein, denn in ihnen tritt
der gegenseitige Verkehr als einer swischen zwei Gegnern an den Tag,
die Ton gegenseitiger Achtung gegen einander erfüllt sind. Gestritten
wird über Dinge, die das Alter und die Glaubwürdigkeit der Heil. Schrift
betreffen. Die Schriften sind der Abfassungsieit nach ror das Jahr 1874
zu setien.
30 VI. Abhandlung: Loserih.
Nachahmung des biblischen Sprachgebrauches warnten: Auch
Augustin ist nicht unfehlbar. Wiclif dieses feste Fundament
unter den Füßen wegzuziehen, war die wenig dankenswerte
Aufgabe seiner Gegner. Sie kamen mit Argumenten, wie es der
Satz Augustins ist, und sie zu widerlegen, schrieb er das Buch,
dessen Inhalt durch seinen Titel gekennzeichnet ist: von der
Wahrheit der Heil. Schrift. Es wird gentigen, einige Sätze aus
dem Werke, dessen Inhalt jetzt in trefflicher Weise von Bud-
densieg gekennzeichnet ist,^ hier anzuführen; uns handelt es
sich darum, den Zusammenhang auch dieses Buches mit den
P>eignis8en von 1376 festzustellen. Mehr als zu anderen Zeiten,
sagt er, sind heutzutage Irrtümer darüber, wie man die Heil.
Schrift aufzufassen habe, im Umlaufe. Sie aufzudecken, ist not-
wendig, denn die Heil. Schrift ist die Grundlage der katholi-
schen Lehre und der Maßstab und Spiegel zur Prüfung und
Ausrottung jedweden Irrtums und zur Austilgung jeder Ketzerei.
Die Heil. Schrift ist wahr in allen ihren Teilen, und wenn man
gegen sie Augustins Worte ausspiele, so verstehe man diese
schlecht und Übersicht dann alle die anderen Stellen, in denen
er den Gebrauch der Bibel empfiehlt. Man muß sie nur recht
verstehen und sich an ihren Geist halten, nicht aber an die
Worte klammem. Da gebe es wohl Stellen, die Anstoß erregen,
doch nur bei denen, die sie nicht zu lesen verstehen. Es heißt,
ihr eine Schmach antun, wenn man behauptet, sie entlialte
Dingo, die falsch sind.* Denen, die sich weise dünken vor der
Welt, hat Gott freilich seine Wahrheit verhüllt, sie dagegen
denen geöffnet, die ihr kindliches Gemüt bewahren: nicht den
Gelehrten der Welt, sondern den Treugläubigen; nicht denen,
die nach den Gestirnen sehen, sondern den anderen, die recht
tun, nicht jenen, die Wortspaltercien lieben oder durch Lug
und Trug die Wahrheit bannen, sondern denen, die guten
Willens sind.
* S. die Inhaltsangabe Bnddentiegs in seiner Ausgabe p. XLVIII— LXXXL
Darnach behandelt cap. I- VIII die Wahrheit der Schrift, cap. IX— XV
ihre Autorität, cap. XVI— XIX ihren göttlichen Ursprung und cap. XX
— XXXII ihre Erhabenheit über alles menschliche Schrifttum und die
Anwendung dieses Satxes auf das christliche Leben.
' Hie sepe dixi quod falsum assumitnr, cum ignorancia sensus scriptore
et non eins falsitas faeit inscios yel protervos imponere sibi cainmp-
niam . . .
Studien sur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 31
Die Heiligen waren immer der Meinung, daß da ein Streit
um den Wortlaut der Bibel unnütz, vielmehr der Geist ihres
Urhebers zu suchen ist und daß das verworfen werden muß,
was sich damit nicht vereinigen läßt. Daher ist es das Streben
der Doktoren, den Sinn der Schrift zu ergründen. Sowie ein
Kind erst die Buchstaben kennen lernt, dann die Zusammen-
setzung der Silben und Wörter sucht und am Schluß erst zum
Verständnis des Gelesenen gelangt, so lernt der Theologe ei'st
die Grammatik, dann die der Heil. Schrift, die eine andere ist,
dann achtet er auf den Sinn, den der Urheber damit verknüpft,
und so liegt endlich das Buch des Lebens schleierlos vor ihm
aufgeschlagen.^ Der Sinn der Schrift, das ist die Frucht dieses
Studiums. Alles andere ist wie die Blätter oder die Rinde zu
verwerfen.* Mehr als die weiteren Ausführungen über die Be-
griffsbestimmung der Heil. Schrift, über ihre mehrfache Aus-
legung usw. interessieren uns jene Stellen, in denen er offen
oder verdeckt auf seine persönlichen Beziehungen hinweist oder
den in De Civili Dominio begonnenen Kampf gegen die Über-
hebungen der Hierarchie weiterführt. Heute, sagt er, gilt es
als Grundsatz, daß jemand deshalb, weil er Papst ist, unfehlbar
ist; wenn er nun irgendeine Meinung aufstellt, wird sie folge-
richtigerweise dem Evangelium gleichgehalten oder noch dar-
über gestellt.' Wie steht es aber mit seinem Lebenswandel?
Da darf freilich niemand ihn tadeln, vielmehr gilt er für die
übrige Christenheit als Muster und Vorbild. Ganz anders lauten
* Sicnt pner primo discens alphabetam, secundo sillabicare, tercio legere
et qnarto intelligere habet in quolibet istornm gradunm Becundum snum
distincte intentum circa illud quod primo discit et posterius propter
confasionem excutit primum sensum, sie theologOB post doctrinam gram-
matice discit lecando grammaticam seripture optatum ad sensum rclicta
priori, tercio relictis signis sensibilibns attendit ad sensnm aatoris qnous-
que qaarto viderit sine velamine librum vite . . .
' Qois fidelis dabitat qain postponenda sint folia et cortex verbornm nisi
de qaanto disponunt preyie ad hunc sensum . . .
' Verbi gracia hodie invalescit opinio legistamm dicencium qnod si quis
Bit papa est impeccabilis et per conseqnens, si quid arbitratnr vel ordinat
tanc est iustam, cum epistole sne vel parificantar vel superant aactori-
tatem scriptnre sacre, eo quod non nisi per enm creditnr evangelio et
sie potatt hereticare scripturam sacram et catholicare oppositum fidei
Christiane . . .
32 VI. Abhandlung: LoBerth.
Lehren, die ich in der Bibel finde. Da steht die Lehre von der
evangelischen Armut, die zu ändern kein Wechsel der Zeit und
keine päpstliche Dispens irgendein Recht gibt
Indem er nun die Beweise erbringt, daß die Heil. Schrift
allein die volle Wahrheit enthalte, und die gegnerischen An-
schauungen widerlegt, erklärt er, daß sie allein, als von Gott
gegeben, Autorität habe. Alle anderen Schriften, die wie die
Dichtungen Homers, Ovids und des Vergilius Maro ja auch
einige Wahrheiten enthalten, lassen sich damit so wenig ver-
gleichen wie die Lehre Mohammeds. Wiclif kennt den Koran;
dort lese man: ,Wer mit dir streiten wiU, sag' ihm, du habest
dein Gesicht zu Gott und seinen Jüngern gewendet.' Moham-
med verbietet damit eine Kritik des Korans. So verbieten auch
die Päpste, daß man über ihre Gewalt disputiere.^ Da sei zu
sagen, daß dies nicht stimme. Verboten sei nur, daß man in-
diskret und ohne Scheu von der Gewalt des Papstes rede und
die der anderen Prälaten in Zweifel ziehe, ob sie nämlich auch
die Gewalt zur Erbauung der Kirche in Gemäßheit der Regeln
Christi besitzen. Dürfe man von der Gewalt Gottes reden, die
eben so heilig als unbegrenzt ist, um wie viel mehr nicht von
der Gewalt seines Vikars;* ja da die Kirche verführt werden
kann durch die eingebildete Macht dieses Pseudovikars mit
dem Wolfszahn und Schafspelz, so ist es geradezu notwendig,
hiervon zu handeln;' fordert doch Christus selbst zu solcher
Aussprache auf. Da man die Gewalt Christi wie die Petri aus
der Bibel kenne, so ergibt sich, daß er selbst den Weg ange-
geben habe, die Macht des Papstes ,mit Bescheidenheit und
^ Man wird auch ans dieser Stelle {De Veritale SancU Scriplure I, 26S)
entnehmen, wie der Traktat De PoUaUUe Pape hier schon angekUndi^
ist. Die ganse Stelle lautet: Et si argoatur, qnod Christi Ticarii m-
qnnntar in hoc ficticiam Mochameti, non permittentes sed ordinantes,
ut non disputetur de eornm potestate, . . . dicitnr, qnod non est
verum, sed solum prohibetar, indiscrete et irreverenter tractare de pote-
»tote pape . . .
' Si enim licet tractare de potestate Dei sacratissima et infinitissima,
multo magis de potestate Christi Ticarii. I, 262.
' Item cnm ecciesia posset snbdaci per palliatam potestatem pseudoYicarii
cum dente lupino et pelle orina occupantis ecclesias, patet qnod est
per necessarinm tractare de potestate Christi vicarii . . .
Stadien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 33
Ehre' zu behandeln.^ Und so wie die Bibel heilig und durch
und durch wahrhaftig ist, so darf sie auch nach jeder Seite
hin von dem katholischen Doktor durchforscht werden.* Es ist
geradezu notwendig, zu wissen, daß und wie der Papst seine
Gewalt mißbrauchen kann, und wenn Christus sich dem Ge-
richte des Pilatus unterwarf, so ergibt sich daraus, daß wir
Kleriker in weltlichen Dingen der weltlichen Gewalt zu unter-
stehen haben. Ein Satz, der deutlich auf die Diskussion über
die 18 Thesen zurückweist. Heute, sagt Wiclif, nimmt der
Christenglaube ab, der Islam breitet sich aus, schon hat er Ar-
menien ergriffen: besser kann es nur werden, wenn die Kirche
zur apostolischen Armut zurückkehrt.
Und so wie Wiclif diese seine Ausführungen über die
Bibel benützt, um Nutzanwendungen über die Hierarchie ein-
zubeziehen, so geschieht es, nur in ausgedehnterem Maße noch,
in den folgenden Blättern, die Aufschluß geben über die Ge-
nesis dieses Buches und Meldung tun von den Anklagen, die
wider ihn in Rom erhoben worden sind: Wer sage, die Bibel
enthalte Dinge, die unmöglich sind, versündige sich an ihr. Da
müsse man an den Spruch des heil. Augustin denken, daß nie-
mand gegen sie auch nur etwas denken dürfe. Was sagt da
der Papst dazu, wenn er Dispensationen gegen den Befehl der
Bibel verleiht und dadurch beweist, daß er gar kein Christ ist?
Die Behauptung, daß man an dem Wortlaute der Bibel nicht
rütteln dürfe, wie einstens die heidnischen Philosophen verboten,
über die Reden und Schriften des Pythagoras zu disputieren,
sei ein leichtsinniger Einfall, welcher der Kirche schade. Hier
verteidigt sich Wiclif wider die Anklagen, die seitens der Bi-
schöfe nach Rom gesandt wurden. Man klagte ihn an, daß er
bei seinen Lehrsätzen sich auf die Heil. Schrift und die Kirchen-
väter stütze.* Gerade in seiner Methode sehe er einen doppelten
^ Qnod de facto ipse et leges sae dant licenciam et viam tractandi de
dicta potestate cnm modestia et honore.
* 8. 263: Quid rogo foret magis saspectum quam quod ego poasem magni-
ficare potestatem meam ultra nnbes, dicendo qnod possum tot et tanta
facere, palliando hoc ex scriptura et licenciando discipnlos tradicionia
mee hoc tractare in meis terminis, Bed statuendo qnod non liceat theo-
logo extra terminoe meos vel limites secundum Bcriptnram sacram qnid-
quam disserere?
' Ex istis novellis calnmpniia scripture necesse ex michi morari diffnains:
SiisangabM. d. pbil.-hitk. Kl. IM. Bd. 6. Abb. 8
34 VI. Abhandlang: Loserth.
Weg zum Heile, im Gegenteile den Weg zum Verderben. Ganz
wider Erwarten hätten sich, Gott weiß aus welchen Motiven,
Leute zusammengetan, die sagen, die Heil. Schrift sei minde-
stens zum großen Teile durchaus falsch.* Wenn man mir das
Fundament entzieht, droht mir Verderben, mein Stab ist dann
ein schwaches Schilf und ketzerisch das Fundament, auf wel-
chem ich ruhe.* Ruft dann das Volk nach Autorität und Sicher-
heit, so ist mir der Weg versperrt, sie zu finden; ich muß dar-
nach für mich und meine Genossen fürchten, suspendiert zu
werden, in den Bann zu kommen, als unfähig erklärt zu wer-
den, in der Schule und anderwärts die Lehre vom
Glauben zu behandeln.' Nie hat noch ein heiliger Doktor
behauptet, die Bibel sei durchaus falsch. Wahr sei nur, daß
manche HeiHge sagen, man dürfe in der Bibel nicht alles wört-
lich nehmen. Und daraus schließen diese Leute, die Heil. Schrift
sei falsch. In solcher Weise flicke man heute an der Heil. Schrift
herum, zerfleische und lästere sie. Gebe man den Grundsatz zu,
daß sie zum großen Teile falsch sei, was bleibe von ihr? Dann
müsse sie durchgebessert werden, und da dies noch nicht ge-
schehen, sei sie ganz verfillscht; so sei auch das Vaterunser
nicht mehr zu brauchen, denn ist es falsch, daß Gott unser
Vater sei usw.
Gegen solche Schlüsse und das ihnen zugrunde liegende
Prinzip ist Wiclifs Verteidigung des ,Gesetzes Gottes' gerichtet.
In Glaubenssachen muß man sich hüten, solche Tennini einzu-
circa istam materiam protestatas som quidem in Bcripti» (das sind wohl
seine 18 Thesen, denen er die feierliche Protestatio voraussendei; so
anch Buddensieg I, 274) et missum est per manns dominomm episcopo-
mm ad curiam domini pape und nnn folgt das Motiv der Klage: qnod
volo inniti in sentenciam quam ezplico, modo loquendi scrip-
ture et sanctorum doctorum, sie quod in illis Terbis consistit du-
plex Salus mea et mors duplex contingeret mihi ex eorum oppositis,
p. 27i.
* Sed inopinate et insolite multiplicati sunt, qui dicunt scriptnram sacram
secnndum magnam partem sui esse falsissimam . . .
' Quo habito deficeret mihi fundamentum in omnibns dictis meis et im-
mineret michi ruina ut baculo arundineo, hoc est, fnndamento heretico
innitenti . . .
' Obscnratur michi aditus Christiane fidei . . . tercio timeo michi et meia
consociis de suspensione, excommunicacione et inhabilitacione ad me
ipsum in scolis vel alibi in materia fidei declarandum . . .
Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhandert. 35
Alhren^ die in der Schrift keine Begründung haben. Wenn man
sage, man dürfe nicht aUe Geheimnisse der Heil. Schrift preis-
geben, 80 muß man antworten, daß die Wahrheit unter allen
Umständen verkündigt werden muß, und auch ein Ärgernis,
das hierdurch nach der Meinung der Leute gegeben werde,
darf davon nicht abhalten.^ Man wird hier an die schönen
Worte zu erinnern haben, die Wiclif für sein Verhältnis zur
Bibel gelinden hat: Sie ist ihm das einzige an sich feste Fun-
dament, das Gott der Christenheit gelegt, die einzige Richt-
schnur, wie sich ihr Leben zu gestalten hat.' An sie muß sich
unsere Rede halten, nach ihr sich unsere Begriflfe fixieren. Und
das ist, sagt er, das Motiv, weswegen ich mich an den Sprach-
gebrauch der Schrift sowie an den jener heil. Kirchenlehrer
halte, die sie sinngemäß auslegen. Wohl setze ich mich hierbei
den Angriffen der modernen Logiker aus, aber deren Ansicht,
daß die Heil. Schrift großenteils falsch sei, steht im Gegensatz
zum kathoUschen Glauben und verdient meinen ganzen Ab-
scheu. Man wirft mir Insolenz, Neid gegen andere, heimliche
Sünden vor, um dies mein Verfahren zu motivieren. Sei Gott
mein Zeuge, daß ich, indem ich die Heil. Schrift dergestalt ver-
ehre, nur die Ehre Gottes und das Beste der Kirche im Sinne
habe und es bitter beklage, daß man mir falsche Motive unter-
schiebt. Wer sich beklagt, daß die Rede der Schrift hart sei,
der muß bedenken, daß sie die Wahrheit enthält, der niemand
widerstreben darf, denn ihr Urheber ist Gott.
* De Verüale Sacre Scripture I, 292 — 294: Nee valet asserere, quod ve-
rttas non est dicenda aut male sonans, qaia displicenter sonat auditorio,
qnia sie maior pars predicacionis Christi et apostoloram, ymmo predi-
cacio cuinscumqne fidei scripture foret dampnabilis, yel tacendo perpetao,
qnia displicenter sonaret infidelibns peccatoribus redarg^tia vel eroulis
... Et sie nnnqnam foret fides Christi predicanda alicui auditorio ex hoc
qnod aliqua pars eins sonaret alicui ad culpam ad dispUcenciam sive
penam . . . Sic possent satrape nostri infici, quod prohiberent totum
testamentam Christi legi, qnia male sonat male intelligentibus . . .
* p. 296: Et hec racio quare innitor modo loquendi scripture et sanctorum
doctornm ipsum sequencinm ad sensnm eorum; quantum suffioio, me
ipsum eciam secundum novellam logicam ezponendo. Sed non video
fnndamentnm ex scriptura vel racione, quod scriptura sacra sit falsissima.
Ideo illam novitatem detestor tamquam fidei catholice dissonantem et
non solnm illam falsitatem sed omne antecedens, ex quo yideretnr sa-
pientibns illam regni . . .
3*
36 VI. Abhandlang: Loserth.
Mit der Wahrheit darf der Christ nicht zurückhalten; weil
aus ihrer Verheindichung die größten Übel hervorgehen. Auch
ist es in der Schrift verboten ^^ und die stammen Prälaten sind
es, die den Ruin des Volkes hervorrufen.' Die Verteidigung der
Wahrheit allein macht den Menschen zum Märtyrer. Daß sie
nicht wegen eines zu besorgenden Skandals ^ oder um ihre
Feinde nicht zu verwirren, nicht verschwiegen werden darf,
ergibt sich aus dem Leben und der Lehre des Heilands. Heut-
zutage wird die Wahrheit freilich aus knechtischer Furcht ver-
schwiegen.'
Hatten Wiclifs Gegner ihm das große Ärgernis entgegen-
gehalten, das er der Menge gab, und sich nicht gescheut, seine
Absichten zu verdächtigen und seinen Charakter anzutasten, so
bietet uns seine Verteidigung viele Züge zu seiner Erkenntnis:
indem er nämUch unter der Wucht der gegnerischen Angriffe
seinen ganzen Lebenswandel und seine bisherige Lebensarbeit
einer kritischen Musterung unterzieht, macht er uns mit vielen
Einzelnheiten aus seinem Leben bekannt, die bisher noch nicht
genug gewürdigt worden sind-
Die heftigsten Angriffe hatte er ,von einem vermeintlichen
Freunde' und, wie er bisher angenommen hatte, ,von einem
ganz besonderen Verteidiger der katholischen Wahrheit' zu er-
dulden.^ Es lohnt sich, bei diesen Angriffen etwas länger zu
verweilen. Geduldig, sagt er, trage ich alle persönliche Unbill,
denn so befiehlt es die Schrift. Aber hier handelt es sich um
den Nutzen der Kirche; daher bin ich gezwungen, auf die Mo-
tive meiner Gegner einzugehen. Mich und meine Gönner schelten
sie Ketzer und nennen uns hinterlistige Verräter des Reiches.
Man wird auch durch diese Äußerungen wieder an die Ereig-
nisse gemahnt, die mit den Thesen und ihrer Verurteilung in
Zusammenhang stehen, und weiß, wer sein Gönner ist, und so
^ Isaiae VI, 6: Vae mihi, qnia UcnL De VerUaU Saere Seripiure, p. 816.
* Ibid., p. 323: Unde taciturniUs cnlpabilifl prelatorum est eansa tocioa
niine popnli ... 6t hinc tales . . . Tocantar canes muti non ralentoa
latrare.
' Ideo, fKbrt Wiclif fort, est mihi pro regala qnod yeritas dicenda sit fidaa
Bcriptnre.
* De VerüaU Saere Seripture I, 345: Sic enim salntatas «1111 naper a
quodam doctore, quem credidi amicam meam specialem et defensorem
catholiee veritatis.
Stadien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 37
hat es wohl viele WahrscheiDÜchkeit; daß jene 33 Konklnsionen^
von denen schon oben die Rede war und unten noch sein wird,
dem Herzog Johann von Lancaster überreicht worden sind. Es
ist ja seine innige Verbindung mit der Laienwelt gewesen, die
ihm seine Gegner am heftigsten vorwarfen. Um darüber keinen
Zweifel aufkommen zu lassen, daß er sich dessen bewußt ist,
weist er auf Christus hin, der auch dem Staate gegeben, was
ihm zukomme. Wie wolle man denn nun erweisen, daß er ein
Verräter des Königreiches sei?*
Wer ist dieser Gegner Wiclifs? An Kynyngham wird
nicht zu denken sein, denn seine Schreibweise ist eine andere.
Wir werden darüber unten Näheres mitteilen. Was seine Be-
hauptungen betrifft, können wir sie aus den von Wiclif gege-
benen Antworten förmlich zusammenstellen.
,Man wirft mir,' sagt er, ,Doppelzüngigkeit* und Ketzerei
vor.' Auf den Vorwurf der Häresie würde ich nicht antworten,
schlösse sie nicht eine grundlose Anschuldigung unschuldiger
Personen in sich. Von drei verschiedenen Seiten sind mir die
Angriffe dieses Gegners zugetragen worden.' Sie dürften ent-
weder von der Katheder oder von der Kanzel hergekommen
sein, denn WicUf spricht von einem Auditorium, das diesem
Gkgner zuhörte und bei dem sich auch Magister der freien
Künste, besitzende Mönche und Mendikanten befanden.* Vor-
geworfen wird ihm, daß er dadurch, daß er sich stets an die
Bibel halte, Irrtümern anheimfalle. Indem er z. 6. den Satz: der
geistliche Mensch hat über alles zu richten, wörtlich nehme,
verachte er, und das sei das Anzeichen eines rechten Ketzers,
jede andere Autorität außer der eigenen und jener Gottes.* So
* Christus snhditns erat secularibus, nt Josef et Cesari; nam precepit Ce-
sari dari censnm.
' Imponttor mihi, qnod tamquam pericnlosissimus inimicns ecclesie sum
doctor fallaciarum, eo quod ex confesBione mea eqaiyooo.
* Seeando qnod snm hereticns.
^ Reportatum est michi a tribns generibns anditorii satis sagaeis, scilicet
magistris arcinm, religiosis possessionatis et fratribus, qnod doctor assnmit
me inniti sensai Terbali scriptnre sacre, racione cuius in errores plurimos
snm prolapsos . . .
* Es illo teztn Apostoll I. Cor. II, 15: Spiritnalis homo indicat omnia etc.
repntando me spiritnslem nnlHos indicio nisi indicio dirino et proprio
me submitto: hoc antem est maximnm Signum heretici.
38 VI. Abbandlang: Losertb.
hätten sich auch Occam und sein Anhang geficheut, sich vor
dem Richterstahle des Papstes oder der römischen Kirche zu
stellen. Das mache auch Wiclif so.*
Ist aus Wiclifs Darstellung über die Persönlichkeit seines
Widersachers nichts zu entnehmen^ so bietet doch eine gut
unterrichtete* gleichzeitige oder nahezu gleichzeitige Quelle —
die Continuatio Eulogii Historiarum' — gute Einzeln-
heiten wie filr die englische Geschichte jener Tage überhaupt,
so namentlich auch für die Kämpfe Wiclifs in dieser Zeit Das
Eulogium zählt die Vorgänge in Oxford nach der Bekanntgabe
der päpstlichen Bullen. Man kennt im allgemeinen die dort über
das Vorgehen Gregors XI. gereizte Stimmung, die doch wieder
von dem großen Einflüsse Zeugnis ablegt, den WicUf in Oxford
besaß.^ Bekanntlich verfügte die an die Universität gerichtete
Bulle die Verhaftung Wiclifs;* wie die Dinge lagen, hielt es
schwer, den Auftrag zu vollziehen: nicht bloß wegen der an
der Universität herrschenden Stimmung: viel schwerer wogen
die staatsrechtlichen Motive, und über diese hat das Eulogium
berichtet.^ Staats* und Kirchengewalt mußten hier hart aneinander
geraten. Gehorchte man dem Papste, so hieß das nichts anderes,
als die in England hochgehaltenen Rechte des Staates preisgeben.
Davon konnte keine Rede sein. Um jedoch dem Auftrage der
Kurie entgegenzukommen, bat der Vizekanzler den Angeklagten
(mehr als er befahl), sich eine Zeitlang in der schwarzen Halle
der Universität aufzuhalten, und Wiclif ging darauf auch, um
* 8. oben p. l 4.
* S. Hajrdons Einleitung za seiner Ansgabe des Enlogiam Historiamm III,
p. L; The narrative . . . is füll of matter of g^eat interest and Talue.
' Ebenda: thej must tberefore have been written before a. d. 1404 . . .
Walsingham, Utst AngUc. I, 315: Cuios aniversitatis modemi procitrm-
tores sive rectores quantum degenerayerint a prudentia sen «apientia
antiqaoram, per hoc facile conjici potertt, quod, aadita causa adveatns
dicti papalis onncii, dia in pendulo haerebant, ntrum papalem bvllam
deberent cum honore recipere vel omnino com dedecore relatare.
Ebenda, p. 3-47: dictumque lohannem auctoritate nostra eapiatis
Ben capi facitis . . .
Eulogium Hist. HI, 348: Amici prefati magistri lohannis WiccliiT «t
tpse lohannes con5ulaerunt in congregatiooe regentinm einen reg«n«
tinm, quod non incarcerarent hominem regia Anglie ad OMUidatam pape,
ne Yideantur dare pape dominacionem et potestatem renalen
in Anglia.
4
den Friciieii an der Uii:Ter=i:.%t »TifrecLt ir:i LaItv^. l-ervinrC^
ein;* die töü R:«zi rsr^ot^esAndTen Tirts-rs w^iri-n cm niJ-
g:ebenden Mei5T^m Ct-r Tr.^.l;r:e *n der t*x**:ri-r ITüivrr^-.:;»:
zur EinsichnuiLiiie --l-eriirSrn* or-l vo:: iLn»::: i:-pr:Ji Al'e
über^raben dara:ii iLre G:iiäcL:en aa d»-n KAnnIrr r.r.i il.^r
erklÄTte: der IhLaI: der Ttv^n 5^1 z^\t an s'.-i w\lr, <:*
seien aber dx-h so c^LAltea, d^J «:e d-ii ZzlTrcm Arr-.mis
bereiten müiJien-' Wiclli" rab «lAra'if r:ir Aurw-^n: Iv-s^rc^n.
weil eine kaUiiliioLe W^iirheit d^n ^^»Lixn d^ Zairers cnin-
genehm klinze, d'irie sie dxh niuht v*=-rda::iint w-ri-:::. Wenn
man zu dies^rn ÄzJ^rziL::*:^ des enzÜscLe:: *.'Lr--:i:s:r-:: die : * i^a
Ansfuhnmgen ü\-er «üe Genesis Ton I^ VeriT^re S. S^rh nr>f
nnd deren Tr.ha': verc'eicLt, wird man eine n^l^zn wrnl.Le
Ubereinstiininaiiff gewaLren- Wie dieses Vor-TiL-in des Kanrlrr^
in Oxford Wieiif veranlaCte, seine Thesen n:i: i}.rv:n V.nv-.n
— und man darf L:»-r an di<^ T.>n WaKin^häm n:::^r:':i!:e Fr>-
testationSvScLrift denken — d* m Erzl-iscL..! T..n CÄn>,rr:iry nni
dem Bischuf von Ix^nd -a zn ül^rr»?icL»'n. die iLn dr-ni E^ ^-inni
zufolge baten, den G-zenstand falien zu Lassen.* so w^r^n es
die unter ©einen KoI]^::en herrschenden STinin!nnj"»='n. die il.ni
den Anlaß g^b-jten h'^^K-n. iLnr aast\Lrlich in seinem r»:i.he
von der Wahrh*-it der Heil. Schrift za ire-ienk-n. D-r Viz^
kanzler, derselbe, d^^r Wiciif ani G-heL3 d-^ Pä^st-s eii.j^- -i^m
hatte, ward selbst an]-*Iiich di^-s^r WicIiiVacLe. dit- ja aaoh von
allgemein kircL^^-npjliti.-^Lem Mandpankte aiis nicht ««hne Inltr-
esee ist, in die schwarze Halle gesetzt, aTis der Wiolif
selbst schon nvor aiif driS Binen s^in» r Fr» nn :e hin }*> fr^-il
' Et quia oportiiit alle,»:';;! /»"»re ad maciatus I«a;*e, ut T.ielatar c ::<:!:•>
imiTerritalii, Bosachuf qiidazn ricecaEc^^Ilarli» r-fgarlt dlctizi Wikr'if
et prce^pit qTiod ip«« Uneret fe in aula nl^ra et de ea n:a eiiret , . .
• Et oc^stl^ifloces in bV.'.a aö'.g^atae faernnt «inralis niajiftris in tLf.*>cia
repeLtl^.m i'l-'-m liberale.
• Qul fcan'-eÜarl i# rice r>mn;om et ave&n d^termiaarit p-ibl.ce in fcb.:*i5
eas Teraf e*«e ttd male lonare in anribns andit.-trnm.
• Cont;i.tiat:o Eu'.opi Hlrt/^riarcm III, p. 34S: El dictns Wlclif prcbaTit
corajB areLi*^i»<y>po Car.taariec.fi et epi«copo I>--c£.-nieii$i eotcin«..-!:«
iliat rtn^ em^. <fai ip*ixm ro^aba:.t q::od de ca ena ip^aram atc; ..:»
Doo loqn#T*tcr. I>le dort überreicht*» Kor.k'.uRonen tei Wal*in^'tam L
157; Cbroiticos An^aa^', p- 1»4.
40 VI. Abhandlung: Loserth.
worden war.^ Bei dieser Angelegenheit mag noch auf ein
interessantes Moment hingewiesen werden.
Es gibt einen kurzen, wenige Blätter zählenden Traktat
Wiclifs, der den Titel führt: De Praelatis Contencionum sive
De Incarcerandis Fidelibus.* Darin werden die weltlichen Herren
ermahnt; der Geistlichkeit keinen Beistand zu leihen^ wenn sie
unschuldige Männer verfolge. So verblendet, sagt er, ist jetzt
schon unser Königreich, daß derjenige, der in einer Exkommu-
nikation 44 Tage verbleibt, auf Befehl des weltlichen Armes
dem Kerker überliefert wird.* Das ist eine Sache, die weder
Vjcecancellariiis monachus adiadtcatoB fuit carceribns, quia ad man-
datum pape incarceraverat, ut superius dictum est, lohannem Wiccliff,
qui postea ad rogatum amicorum liberatus est. Soll man nicht in diesem
Oxforder MOnche jenen Gegner Wiclifs sehen, der oben erw&hnt worden
ist? Doch das sind Vermutungen, auf die hier nicht weiter eingegangen
werden kann.
S. Shirley, A Catalogue, p. 20, Nr. 92. Der TrakUt enthftlt nur ein Ka-
pitel und Shirleys Angabe: The Vlenna MSS. seem to be imperfect ist
falsch. Wenn die Prager Handschrift III, G. 11 mehr enth<, so ist es
deswegen, weil an den kurzen Traktat, ohne daß es äußerlich angeme^t
ist, nach den Schlußworten: legios suos acutius puniendi, sich gleich der
Traktat De Statu Innocencie mit den Worten: Ut supradicta magia ap-
pareant, oportet . . . anschließt.
' lam enim cecatnm est regnum Anglie ultra cetera, ut qtiieunque in ex-
ctmimunicaeiane duraveril uUra quadr<igirUa quaiuor dieg, ex ituctorUate
regia el regni carceri mancipetur. Hoc non fnndatur in lege Domini
nee papali, sed ut excorient simplices de suis temporalibus et ut in-
cludant seculares domtnos in culpis gravioribus. Fragt man, was der
Einzukerkernde verbrochen habe, so ist darüber leider nichts vermerkt,
aber die Schlußsätze deuten einigermaßen darauf hin, daß die Sache mit
den Thesen in Verbindung steht. W&re die Abendmahlslehro gemeint, so
würde es sicherlich an einem Worte hierüber nicht fehlen. Man wird nicht
übersehen dürfen, daß dieser ganze kleine Traktat ziemlich wörtlich in
den Traktat De BUuphemia aufgenommen wurde (p. 108 ff.) und die Ab*
fassung dieses Buches auf 1381 gesetzt wird. In dem Traktate wird
schließlich noch ein sagax politicus erw&hnt, qui fecit dixisse, quod res
et regnum debent iure poli sab dampnacione perpetua appellacionem
buiusmodi approbare . . . Sollte man da nicht an den hervorragendsten
GOnner Wiclifs — Herzog Johann — denken? Wir haben noch einen
anderen Traktat Wiclifs unter dem Titel Spectdum seeularium dommoruMy
der mit dieser Sache znsammenzuhftngen scheint und denmach nicht,
wie Shirley meint, ,one of the author*s tatest writings* sein kann. Zu
Shirley, p. 23, Nr. G7, ist zu bemerken, daß sich dieser Traktat auch in
lU, G. 11 der Prager Universitätsbibliothek findet
Studien zar Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 41
in der Bibel noch im Kirchenrecht eine Begründung hat; man
benutzt den Fall, um einfache Priester von ihren Benefizien zu
bringen und die weltlichen Herren in schwere Schuld zu ver-
wickeln. Man macht dem König etwas vor, um ihn dahin zu
bringen, daß er seine getreuen Untertanen solcher Art bedrücke.
Von einer solchen Exkommunikation müsse es gestattet sein,
an den König und seinen Rat zu appellieren. So habe sich auch
Paulus nicht an Petrus gewandt, wiewohl dieser ihm näher lag,
sondern an den Kaiser, trotzdem dieser ein Ungläubiger war.
Und so müßten getreue Engländer an ihren König sich wenden
dürfen, zumal in einer so unvernünftigen, von den Bischöfen
erfundenen Sache. Der König müßte auf einem zu dem Zwecke
einberufenen Nationalkonzil die Sache untersuchen lassen, um
dann zu entscheiden, was sein Recht ist, wie der Traktat
des längeren ausführt. Bedenkt man, daß auch hier wie bei
den 18 Thesen es die Bischöfe sind, die die Sache in unver-
nünftiger Weise erfunden haben, so werden wir geneigt sein,
die ganze Angelegenheit, nicht wie Shirley will, in das Jahr
1382 zu verlegen, sondern in die obige Verbindung zu bringen.
Wie dem auch sei: Wiclif legte die ganze Streitsache der
OflFentlichkeit vor und tat dies so, daß auch die Laienwelt da-
von Kenntnis nahm; er schrieb seine dreiunddreißig Kon-
klusionen, diesmal nicht bloß in lateinischer, sondern auch in
englischer Sprache.^ Ihr Wortlaut in lateinischer Sprache liegt
noch in mehreren Handschriften vor.* Man sagt, sie seien dem
Herzog von Lancaster zugeeignet worden. Das ist eine An-
nahme, die schon nach dem oben Gesagten sehr viel Wahr-
scheinlichkeit für sich hat. Gewiß ist ihre Wirkung eine große
gewesen, trotzdem sie in der anspruchlosesten Weise von der
Welt auftraten. Die einzelnen Sätze sind so gehalten und das
^ Unde quia volai materiam communicatam (recte: commnnicari) clericis
et laicifl, coUegi et commnnicayi triginta tres conclnsiones iUius xnaterie
in Hngna duplici. De VeritaU Sacre Scripture, p. 350.
' Der Traktat heißt auch (aber nicht in den mir Yorlieg^enden Prager
Uandflchriften) De Pauperlate Christi, was ihren Inhalt am trefflichsten
beseichnet. 8. Shirley, A Catalogue, p. 23, Nr. 64. Dort die Bemerkung:
«addressed apparentlj to the Duke of Lancaster*. Wenn es aber noch
heißt: Written probablj about 1380, so ist diese Zeitbestimmung schon
wegen der Angabe in De Yeritate Sacre Scriptare, p. 350, unmöglich.
42 VI. Abhandlung: Loserth.
Beweismaterial in einer solchen Weise geordnet, daß ihnen eine
allgemeine Bedeutung zukommt. Würde nicht in einer der
Thesen das Königreich England erwähnt, man wüßte nicht,
daß es sich um einen Streitfall handelt, der auf englischer Erde
zum Austrage kam.
Die einzelnen Konklusionen tragen ganz das Gepräge der
18 Thesen.* An die Spitze werden einzelne Sätze in scharfer
Formulierung gestellt; dann läßt Wiclif die Bibelstellen folgen,
auf denen der Satz fundiert ist, oder es folgen Stellen, die den
Kirchenvätern oder dem Kirchenrechte entnommen sind, gleich-
falls bestimmt, den fragUchen Satz zu erläutern. An polemischen
Betrachtungen ist kein Mangel; wie man schon aus der einen,
im Torigen Abschnitte mitgeteilten Stelle entnimmt, hängen sie
alle noch mehr oder weniger mit der Frage der Einziehung
des Kirchengutes zusammen und betonen das Recht der Nach-
kommen der Stifter dieses Kirchengutes, es zurückzufordern.
Da die Konklusionen noch ungedruckt sind, wird es angezeigt
sein, ihren Inhalt an einem Beispiele vorzulegen.
Die schneidigste unter allen darf die vorletzte genannt
werden. Man darf, heißt es hier, aller Wahrscheinlichkeit nach
annehmen, daß die Earchengüter viel weniger schlecht von den
weltlichen Herren verbraucht würden als jetzt, da sie sich in
den Händen schlechter Kleriker befinden. Wir übergehen die
von WicUf angeführten Motive, soweit sie aus den Kirchen-
lehrern genommen sind, und fiihrcn nur jene an, die er der täg-
lichen Erfahrung entnimmt: die Mittel, die der Klerus anwendet,
solches Gut zu gewinnen, sind meist verwerfliche, und ebenso
die, es zu behalten. Darüber habe schon Grosseteste lebhaft
geklagt.' Würde unser Klerus in Armut leben wie zur Zeit der
Apostel, dann erst könnten sie in Wahrheit ab Lehrer und
Sittenprediger wirken, während sie jetzt nach den Worten des
^ Wir teilen die 88 KonkluBionen ohne ihre Begründung mit, wie sie sich
in der Prager Handschrift 8, G. 11 vorfinden.
* Clerici palliant media plus snbdola perqairendi sub simniata sanetitate,
plas detegant opera abntendi et post secuta nacta dominia foreios ma-
chinantar media retinendi quam laici, in tan tarn qnod secnndom Lin-
colniensem, dnm fit religtosis ecclesiamm appropriacio, fit abnsns perpe-
tnacio; in cnins Signum preyalent in conquestu secularis dominii (Cod.
Prag. 3, O 11, fol. 47fc).
Stadien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 43
Apostels stammen Hunden gleich den Mund nicht öffheu; viel-
mehr angefüllt mit irdischem Gut ihre Habgier in Wort und
Tat bekunden.* Da war es doch besser in den Tagen, als noch
das ganze bürgerliche Eegiment in den Händen der Laien lag:
Wohlan, Miliz Christi, wache auf, handle nach dem Befehle des
Herrn, verteile die jetzt gebundenen Almosen unter die Armen,
dann wirst du wie in den Tagen der Apostel nicht bloß IQe-
riker, sondern auch arme Laien haben, solche, denen dies Gut
gehört, die für dich zu Gott beten.* Wo nimmt dieser Klerus
die Vollmacht her, weltlicher zu leben als ein Silvester, Am-
brosius, Augustinus, Hieronymus und alle die Heiligen, die von
den Almosen der Herren lebten?
Um auf den Streit Wiclifs mit dem Vizekanzler der Uni-
versität zurückzukommen, ist zunächst die wichtigste Stelle wohl
die, in der er über seine angebliche Abhängigkeit von Occam
und dessen Ketzertum zu sprechen kommt;' beides lehnt Wiclif
von sich ab. Sich zur Verteidigung der Wahrheiten der Heil.
Schrift die Unterstützung weltlicher Herren zu sichern, ist nicht
ketzerisch.^ Von den Konklusionen wird weder dieser Doktor
noch andere, die seine Vorgänger waren, eine als ketzerisch zu
erweisen imstande sein.* Man mag auch aus diesen Worten ent-
' 8i clerici viverent panperem vitam, ut in primitiya ecclesia, tunc pos-
sent preceptorie docere seculares dominos, non sperare in incerto
diviciarum secundum doctrinam Apostoli ad Tim. VI, 17. Nunc autem tam-
quam canes muti non Talentes latrare ingurgitati sepe temporal ium do-
cent avariciam tarn opere quam sermone ; et sie accenditur per maiorem
partem ecclesie radiz omnium malorum cupiditas, ita quod inequa distri-
bucio mammone iniquitatis vidotur seminarium omnium licium et hello-
mm ... Ex quotlibet talibus exemplis et experienciis vidori potest, quod
periculosius est venenum et diffusius intoxicans matrem ecclesiam post
reeetsnm cleri ab ecclesi&stica paupertate quam fuit, quum tota civilitas
residebat in laicia . . .
' E/a ergo, milites Christi . . . Elemosinas restras incastratas distribuendo
pauperibus haberetis ydoneos oratores . . .
' 8. hierüber den Exkurs in meinen Studien zur englischen Kirchenpolitik
im 14. Jahrhundert, 8. 111/2.
^ Unde ad discernendnm ista eat michi pro regula: si quis adheret brachio
seculari pure pro defensione yeritatis scriptnre, tuno ipse est catholicus,
p. 363.
^ 8ed hncusque nee doctor iste nee alii priores, qui multiplicarunt contra
me argumenta (s. dazu die oben zitierte Stelle aus dem Eulogiom Histo-
44 VI. Abhandlang: Loserth.
nehmen, wie sehr es der durch die Verurteilung der Konklusionen
angeregte Streit gewesen ist, der mehr als alles andere die Ur-
sache zur Abfassung des Buches Be Veritate Sacre Scripture
gewesen ist. Auf die Frage der Säkularisierung des Kirchen-
gutes deuten einige Äußerungen hin: Auf Wiciifs Anreizung
sei dem Klerus durch weltliche Herren Unbill zugefügt worden:
der Gegner Wichfs selbst habe sie zu verspüren bekommen.^
Durch Wiciifs und seiner Anhänger bösartige Information hätten
die weltlichen Herren den Versuch gemacht, mit Verachtung
der kirchlichen Zensuren über die Besitzungen der Mönche
Erkenntnisse zu fkUen, ja ihnen selbst einzelne Besitzungen zu
nehmen, die von ihren Vorfahren als reine und ewige Almosen
an die Kirche gestiftet worden seien.* Diese weltlichen Herren
nehmen Wiclif in Schutz. Damit, meint dieser, werde gesagt,
daß jene Ketzer, er selbst gar ein Erzketzer sei. Wer aber
andere der Ketzerei beschuldige, habe hierfür wohl den Beweis
zu erbringen, und das wäre die Pflicht seiner Gegner: &nde
sich dann in den Konklusionen etwas Ketzerisches, so stehe er
nicht an, einen Widerruf zu vollziehen. Er vertrete die evan-
gelische Armut. Was aber habe sein Gegner getan? Einen
Minoriten, der ihm und seinem Anhange mit einer Predigt über
die evangelische Armut und den Stand der Kirche in der Zeit
der Apostel lästig fiel, gezwungen, auf der Kanzel der Marien-
kirche öflfentlich die gegenwärtige Verweltlichung der Kirche
gutzuheißen. Ihm selbst könne es noch schlimmer gehen, darum
werde er der Zitation vor den Erzbischof keine Folge geben,
denn schon seien die Fallstricke gelegt, ihn zu vernichten. Die
Ladung geschah im Mai des Jahres 1378 und nicht viel später
ist diese Abrechnung Wiciifs mit seinem akademischen Gegner
niedergeschrieben worden.
riamm), pota«rant conTineere quod aliqaa concluBionnm, qoM impognant,
Sit seriptore sacra contraria . . ., p. 353.
^ Ininriaa ex instigatione mea illataa olero per dominos, p. 364. Sollte hier
nicht an die Einkerkerung^ des Vizekanzlers gedacht werden?
* Per malam informacionem meam et meomm sequacinm domini seealares
acceptant et temptarnnt in parte spretis censnris ecclesiasticis eognoscere
de possessionibos religiosoram et eciam anferre ab eis qaasdam eomiii
possessiones, qnas in pnram et perpetaam elemosinam eonim progeni-
tores ecclesie eontnlernnt
Stadien zar Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 45
Auch in den folgenden Kapiteln wird auf die 18 Thesen
angespielt; da namentlich^ wo Wiclif davon spricht^ daß die
modernen Theologen und Prälaten^ die die volle Entfaltung des
Evangeliums hindern und es ketzerisch und gotteslästerisch
nennen, sich um dessen Verdammung bei der Kurie bemühen
und des Papstes Autorität höher einschätzen als die Bibel.
Während man in Rom Wiclifs Satz Carte humanitus admvenie
de hereditate perpetua — bekanntlich die dritte seiner Thesen
— als ketzerisch verurteilen lasse, nenne man hier in Oxford
das Evangelium eine Ketzerei.* Und da, wo er davon spricht,
daß der Papst nur Rechte habe, soweit sie in der Heil. Schrift
begründet sind, ist es wieder eine der Thesen — die siebente
— die er anführt.^ Man wird kaum fehlgehen, wenn man das
ganze 22. Kapitel, in welchem der Nachweis geliefert wird, daß
die Bibel das Grundgesetz für den Wandel und die Amtsführung
des Priesters ist, mit seinen gegen die modernen Bischöfe ge-
richteten Ausführungen noch in den Zusammenhang mit den
Thesen bringt, weil es eben die Bischöfe waren, durch welche
diese nach Rom befördert worden sind.' Den Verrat dieser
Pseudopastoren wagt heute niemand aufzudecken, denn würde
es jemand versuchen, so würde er aus der Synagoge hinausge-
stoßen oder gar auf die eine oder die andere Art getötet werden.^
* De VerÜate Saere Scnpture II, 133: Religiosi possessionati . . . apostataut
. . ., cum laboribufl et expensU laborant ad curiam Romanam pro damp-
nabili aentencia dicente: mnltas cartas hamanitns adinventas de hereditate
perpetua esse impoasibiles et tarnen Oxonie tarn publice quam procuratorie
dicunt testamenta Dei et legem Christi impossibilem et blasfemam . . .
* Man rergleiche:
FoMc »iaann, 241 : Seimus quod
non est possibile, ut Ticartus Christi
pure ex buUis suis yel ex illis (sie)
cum volicione et eonsensu suo aut
tui collegii quemquam babilitet Tel
inhabilitet.
So auch p. 264: Licet regibus
auferre temporalia a Tiris ecclesia-
sticis ipsis habitualiter abutentibus.
De VerüaU 8. Scripture II, 135:
Unde reputant heretieum quod papa
neminem habilitet nisi Deus prius
babilitet, cum pure ex bullis suis
cum eonsensu suo et cardinalium
hunc habilitat et hunc inhabilitat . . .
S. 135 : ... Ipsl non possunt
auferre elemosinaa secularium do-
minorum a sacerdotibus quantum-
cunque indignis.
' Dahin gehört auch Kap. XXIII, in welchem die Kennzeichen des falschen
Hirten niedergelegt sind.
^ De VeriUte S. Scripture U, 231/2.
48
YL Abhanillnngr Loaertb.
Als wollte es Wiflif nocli Lesüiiderö deutlieh machen,'
welchen MotivcTi das ganze Bucli in erster Linie sein Entstehen
verdankt^ behandelt er im 25. Kapitel in breitester Weise das
Recht der Laienwelt auf das Kirchen^ut, Waa er in der secbsteti
These knrz angedeutet hat/ wird hier auafllhrlieh erörtert nodj
die Erörterung fast mit dengel]>en Worten eingeleitet;* die fol-|
genden Kapitel sind demselben Gegenstände gewidmet, ja wir j
haben kaum ein zweites Werk Wiclife ans seiner letssten Zeit, ml
dem der Enteignung des Kirchengntos so nachdrilcklieh ilasj
Wort geredet würde als hier/ und der eigentliche Zweck de§|
BucheSj die Wahrheit der Heil. Schrift auf/*udecken und zu xer-
klindeUj tritt in den Hintergrund. Erat nachdem er diese Epi-
sode beendetj kommt er wieder zu dem eigentlichen Gegen-
stande zurückj aber schon nach wenigen Seiten lenkt er wieder]
ein und beschäftigt sich niit den Einwanden, die ssur Verteidi-I
gung des weltlichen Besitzes der Kirche gemacht werden, um
sie der Reihe nach zu widerlegen. Armut des Klerus nach dem
Beispiele Christi wäre ein Schutz gegen die IMißetllnde des
Reiches, und an all dem TJbel, an dem das rümisehe Reich
heute krankt, ist nur die Dotation der KiiX'he schuld,"* Und,
wieder kommt er auf den Vorwurf zu sprechen, der ihm ge-|
macht wurde, ein Verräter seines Königreiches zu sein* Eb
kämpfe für des Reiches Wohl und dieses besteht Tomehmlieh]
darin, daß der Klerus nach jenem urspriln glichen Stande re»a-1
^ 8i Deua eat, domini tcoiporakä posaunt legitime ac raefilorle mufeiTej
bona fortiint} Ah ecdesle delitiquetitö.
' De VeritMie Bacre Sf^riptuj'n lll, 1 1 licet laicis In cftsu Um «nbtralic
quam atiferre bona ecclesie a »urs pr^positLs.
' Ea mag genügen, wenigstens eine und die andere Stelle dar ans hier am-
finmerken^ Ideü aHaa dixi^ quad minus malum foret» ut exproprlata fo-j
rent omnia lemporatia, qnitus acclBiIa AngUe est dotaia, ui ex eia da*{
rentur atipcndia laicis literatiB^ necesiariis ad odGciain regis et tecntAriuta '
dominoram qaam qnod sie irreligioBe et prodttorie »ecularea ei cterici a
distraccione divinl ierTJcii aymonia et aacrilpgio aint iBfecti. DAimuf zu
eeben, daß da» Kirchengnti d. h. das Arniengiit^ seinem Zweckt i^tnM
verwendet wird, ist Sacbu der Könige; vgL die 16. TJxe?«ei Lkel rrglbm^m
in c««ibtis Ümiiatb a iure auferre iemporalia n rlrii ei^eleitaMit^U ipiiii
babitaalilar abutenlibuj!; dieaelben Beispiele hier wii» dorl; iii*n rgU
Fiwc. siionn., p. 254, nnt De Vet-äate Sacre Striptm-t^ Ul> 90.
* m^ 289 r Ä tempore dotacloni« ecele«ie sdiaiifQ «wt p«r diaaimr*
Utive Bonianuiu Imperium.
48 VL Abhandlang: Loserth.
Buch ,Voft der Kirche* irgendwie in AngriflF zu nehmen. Er
hatte als nächstes Werk vielmehr das Buch De Simania ange-
kündigt, das unter den Werken der Summa bekanntlich erst
den zehnten Platz einnimmt. Nachdem ich, sagt er, im allge-
meinen von der Häresie gesprochen habe und man aus der
Heil. Schrift genau wissen kann, was Häresie ist und wie man
sich vor ihr zu schützen hat, will ich mich nunmehr mit Gottes
Hilfe ausführlicher in einer Abhandlung , Über die Simonie' ver-
breiten.* Und er tat es zweifelsohne, nahm aber plötzlich infolge
von Umständen, die man noch übersehen kann, die Bearbeitung
der oben genannten drei Werke in Angriflf.* Daß er aber
beabsichtigte, an De Veritate Sacre Scripiure, beziehungsweise
dessen letztes, von der Häresie handelndes Kapitel sein Buch De
Simonia anzuschieben, ja diesem Werke erst noch die anderen
und letzten Bücher der Summa De Äpostasia und De Blasphe-
mia folgen lassen wollte, sieht man aus den einleitenden Sätzen
von De Simonia.^ Indem die Simonie, Apostasie und Blasphemie
als Arten der Häresie hingestellt und dementsprechend behandelt
werden, stehen die Bücher, die er ihnen gewidmet hat, im eng-
sten Zusammenhange mit dem Kapitel ,De Heresi*, beziehungs-
weise mit dem Buche De Veritate Sacre Scripttsre, also auch
der Verurteilung der 18 Thesen. In seiner Arbeit über die
Simonie mochte er noch nicht über das dritte Kapitel hinaus-
gekommen sein, als er die Arbeit beiseite legte und an die
Abfassung von De Ecclesia ging.* Wie dies Buch entstanden
^ De Veritate Sacre Seripture III, 809: Istud itaque dixerim pro nunc in
commani de heresi, nt sciatur ex fracta Veritatis Scriptara notare et
cavere hereticos et at plenias intellig^atur tractatoB de Simonia, qnmm,
si DeuB Tolnerit, propono diffnsias tractare. Für diesen Traktat war ar-
•prünglich wohl auch, wie die letzten Worte besagen, eine breitere Aos-
gestaltuug in Aussicht genommen.
' Man denke an den Fall, der sich in der Westminsterabtei antrug und
Wiclif den Anlaß bot, sein bekanntes Gutachten De CapUvo SUpanenti
sire De fiUo eomitU de Dene im Parlamente vorzutragen.
* De Simonia ediderunt Hertaberg-Fränkel et Dziewicki, p. 1: Pott gene-
ralem sermonem de heresi restat de eins partibus pertractandum. Trea
sunt autem maneries heresis plus famose: scilicet sjmonia, apostaaia ei
blasphemia . . .
* Im Beginne des vierten Kapitels wird schon der TractatUM de Fapa er-
wähnt (= De Potestate Pope), dem der Abfassungszeit nach De Offao
Begis nnd diesem De £ccle*ia vorherging. De Sim., p. iO: Paiet isU
Stadien zur Kirchen pol itik Englands im 14. Jahrhundert. 47
liert werde, den Christus eingerichtet hat. ,Darauf ist meine
von den Gegnern bekämpfte Absicht gerichtet, daß die Geist-
lichkeit arm sei und sich vor Habsucht und dem eitlen Streben
nach dem Ruhme der Welt in acht nehme/ Und auch auf den
zweiten Hauptvorwurf, seine Verbindung mit der Laienwelt,
kommt er einmal noch zurück: die römische Kirche selbst be-
darf der Hilfe der weltlichen Macht.
Daß auch im letzten Kapitel, das von der Häresie handelt,
Beziehungen zu den päpstlichen Bullen vom 22. Mai 1377 vor-
handen sind, ist begreiflich:* wenn er von der Habsucht spricht,
die heutzutage den Klerus verblendet, daß er die Religion
Christi verläßt, und die Leute, welche die evangelische Armut
hochhalten, durch Zitationen, Spoliierungen und Defamationen
in den Ruf der Ketzerei bringt, so versteht man, was er damit
beabsichtigt,* und in diesem Sinne darf man auch seine Auf-
forderung an die fromme Christenwelt auffassen, sich eher an
das Wort Christi in der Schrift als an das des Papstes und
der Bischöfe zu halten.
4 Das Bach von der Kirche.
Ich habe schon vor einem Jahrzehnt mit Nachdruck her-
vorgehoben, daß die einzelnen Werke der Summa Wiclifs nicht
nach einem festen, von vornherein bestimmten Plane ausgear-
beitet sind, die bedeutenderen unter ihnen vielmehr zufälligen
Momenten ihr Entstehen verdanken.' Wir konnten auch jetzt
bemerken, daß das Buch De Veritate Sacre Scripture den
Angriffen auf die 18 Thesen seinen Ursprung verdankt. Nicht
anders steht es um jene Werke, die sich in ihrer heutigen und
wohl noch von Wiclif festgesetzten Anordnung an das Buch
von der Wahrheit der Heil. Schrift anschließen: De Ecclesia,
De Officio Regis und De Potestate Pope. Als er an das Ende
seines Buches von der Wahrheit der Heil. Schrift angelangt
war, hatte er nicht die Absicht, das jetzt zunächst folgende
» III, 299/300.
' p. 300: Et habet hodie tot faatores, cum censaris adinventis promalga-
tores, paapertatem eyangelicam expugnantes, quod persecati sunt eos ci-
tationibus, BpoliacionibuB et defamacionibus super heretica pravitate.
' Studien cur englischen Kirchenpolitik, 8. 77.
50 VI. Abhandlang: Loserth.
der allgemeinen Kirche ansehen und der streitenden nur dann,
wenn seine Lehre und sein Wandel uns glauben läßt, daß er
ein solches Oberhaupt sei. Dann muß man ihm gehorchen, doch
nur insoweit, als es die in der Heil. Schrift enthaltenen Gebote
anordnen.^
Man darf nicht glauben, daß Wiclif seinen Kirchenbegjiff
erst infolge der Eindrücke gebildet hat, die der Ausbruch des
großen Schismas auf ihn gemacht hatte. Wir finden seine
Lehren hierüber mit aller Deutlichkeit schon im ersten Bande
seines Werkes De Dominio Civili, dessen Abfassung doch noch
in die Zeit vor dem Ausbruch des großen Schismas fUUt; sie
sind nur noch nicht in jener Reihenfolge zusammengestellt, in
der wir sie in De Ecclesia finden. Vielmehr schickt er in De
Dominio Civilis und zwar mit größerer Schärfe als es selbst in
De Ecclesia der Fall ist, in dem Kapitel, das von der obersten
Autorität der Kirche handelt, den betrefienden Ausführungen
den Hauptsatz voran: der Papst samt seinem Kollegium der
Kardinäle ist nicht notwendig, um die heil. Kirche Gottes zu
regieren.* Er führt drei Gründe an: 1. kann der Papst in eine
Sünde fallen, dann hört er auf, Mitglied der Kirche zu sein;
2. verleiht Gott seine Gnade jedem Menschen direkt und bildet
mit ihm einen mystischen Körper; dazu bedarf er aber keiner
Mittelsperson und daher auch nicht des Papstes; 3. Christus ist
als Haupt der Kirche samt dem von ihm gegebenen Gesetze
vollkommen hinreichend zum Regiment der Kirche, die sonach
keines anderen Verlobten bedarf.' Es genügt, wie es in der
ersten Zeit der Kirche genügte, daß der Mensch sich in der
' Auf eine yolUtändi^e Ang^abe des Inhaltes ron De SeeUtia kann hier
venichtet werden. Sie findet sich in der Einleitung sa meiner Aasgabe
von De EccUfia (London 1886) und deutsch in meinem Aufsätze Widifs
Buch von der Kirche und dessen Nachbildungen in Böhmen. Mitt des
Vereines für Gesch. d. Deutschen in Böhmen 24, 381.
* De Civäi Dominio I, p. 880.
* Caput Christus cum sua lege est per se sufficiens ad regnlam sponse tue:
ergo nullus alius homo requiritur tamquam sponsus. Was wäre das auch
für ein Mensch und wie müßte er geehrt werden? ,Tunc enim foret ille
yperdnlia adorandns, mensuraret tamquam Dens actionem spiritualissimam
Dei ad extra, et ad Totum suum spectaret depend enter cuiuseunquam
virtutis Infusio, quia ad beatitudinem habilitacio; quod blasphemum est
dicere.
Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 51
Gnade befinde, im Glauben an Christus, auch wenn kein an-
deres Haupt als Christus ihn regiert. Was träumt man denn
also von einem Artikel des Glaubens, daß ein anderer als Chri-
stus Haupt der allgemeinen Kirche ist?
Vielmehr liefert die Geschichte der Kirche den Beweis,
daß es Zeiten gibt, in der die Kirche keinen Papst hat. Man
denke daran, daß wie Petrus mit den übrigen Aposteln den
Herrn während seines Leidens verließ, so auch ein Papst mit
seinem Kollegium ketzerisch sein kann, daß nach dem Tode
eines Papstes und vor der Wahl eines neuen eine Vakanz be-
steht und die streitende Kirche doch noch immer vorhanden
ist. Oder nicht? Das könnte nur Häresie oder Blasphemie be-
haupten. Das Wesentliche ist, daß die Kirche Christi nicht auf-
höre oder durch die Fallstricke des Teufels vernichtet werde.
Aber, so wiederholt er, keine Person außer Christus ist absolut
notwendig zum Regimente der Kirche. Man nimmt nur an,* daß
Gott solche Personen erwählt. Aber ohne besondere Offenbarung
darf niemand sich anmaßen, zu behaupten, daß er der Erwählte
sei. Und so findet sich auch die Gliederung der allgemeinen
Kirche, von der er im ersten Kapitel des Buches von der Kirche
handelt, schon hier.* Auch die Ausführungen, die er in seinen
späteren Büchern über die römische Kirche vorbringt, wird man
in den Grundzügen schon in De Civili Dominio finden; die
Kirche hat je nach dem Orte, an dem sie sich befindet, ver-
schiedene Namen. Man spricht seit der Passion Petri und aus
anderen Beweggründen von der ,Römischen Kirche' und sie hat
auch vor anderen ein gewisses Ansehen: Man darf aber doch
nicht leugnen, daß es auch eine Indische, Griechische, Gallika-
nische und Englische gibt* Ja schon hier liest man den Satz:
Der Katholik muß glauben, daß weder der Kaiser noch die
* Persone antem, qnas Dens elegit (qaod est nobis inco^itam et contin-
gens) sunt necessarie ex supposicione: sed nemo, cui non fit spe-
cialis revelacio, debet presuinere se esse sie electum, licet ex permissione
Dei habeat in facie ecclesie qnantumlibet praetansam dignitatem . . .
* De Civäi Dominio I, 381 : Unde . . . ecclesia . . . durabit secunduni partem
usque ad diem indicii, secundum partem qiiiescit in purgatorio et secnn-
dnm partem trinmphabit in celo . . . Vgl. damit De Eedena, p. 7—8.
* p. 381: Ipsa autem sponsa secandum loca quae inhabitat capit nomen;
et precipue post pasaionem beati Petri vocatur Romana ecclesia, quia
tempore suo et longe post ibi peregrinatur: ideo sicut quartnm imperium
4»
52 VI. Abbandlang: Losertb.
Kirche; ja nicht einmal Gott anordnen ^ kann^ daß jemand bloß
deswegen, weil er Bischof oder Papst der Römischen Kirche
ist, schon das Haupt der Kirche wird, dem man wie dem Evan-
gelium selbst gehorchen müßte. Man darf freilich glauben, daß
der römische Papst Haupt der partikularen Kirche ist, dem
man vor allen anderen hier auf Erden gehorchen muß, aber
doch nur insoweit Christus durch ihn sein Gesetz verkündigt
Steht aber irgendein Mensch auf der Stelle des Papstes, ohne
diesen Lehrsatz zu kennen, glaubt er vielmehr irrigerweise,
daß das Regiment der allgemeinen Kirche in der Wesenheit
ihm zukommt, da wäre es ein Werk christlicher Liebe, ihn
hierin zu unterrichten. Die Einschränkung des dem Papste ge-
bührenden Gehorsams auf die Gebote der Bibel kehrt in der
Folge in verstärkter Form wieder. Ich leugne nicht, sagt er,
ich gestehe vielmehr, daß man ihm gehorchen muß, aber nur
insoweit, als man der Kirche gehorcht oder insoweit er und sein
Kollegium vom Haupte der Kirche, d. i. von Christus beeinflußt
wird, dessen Satzungen zur Erbauung der Kirche in der Heil.
Schrift aufbewahrt sind. Da glauben die Würdenträger der
Kirche, diese würde vernichtet, wenn sie keine weltliche Herr-
schaft hätten, oder daß in der Kirche auf Erden nichts getan
werden dürfe, ohne daß es von der Kirche ausgeht, vielmehr
müsse man seinen Bullen gehorchen wie dem Evangelium.
Solche Blasphemien sind möglich. Noch drückt sich Wiclif
maßvoll aus, indem er die Möglichkeit betont, daß es so sei,
nicht daß es wirklich so ist;' in den späteren Büchern wird
ihm diese Möglichkeit zur Gewißheit. W^ie man sieht, sind alle
die Lehren, die in dem Buche von der Kirche aufgestellt sind,
schon in De Civili Dominio enthalten. Und so kommt er am
Schlüsse des ersten Buches noch einmal auf diese Sache zurück
(de quo Dan. II, 40) est imperiam Romanorain, sie conflenseront sancti
et iura canonie« vocare dictam iponsam Becundam quandam excoUenciam
Bomanaro ecclesiam; non negando, quin sit ecciesia Indica, Oreea,
GaUicana, AngHcana, et sie de quibuBcunque locis qaae Becandnm par-
tem papa inhabitat.
* Was er folgendermaßen erläutert : Derogaretur omnipoteneie Dei, nisi
quicunque talis dampnari possit et esse pars corporis diaboU, p. 182.
' Non autem assero ita esse, sed sie possibile esse: quo posito elamo
quemlibet Christianum sufficientem debere resistere non solum teissis
▼estibus sed mcuibris, si oporteat, laniatis . . ., P- 384.
Stadien zur KirchenpoUtik Englands im 14. Jahrhundert. 53
und fast mit gleichen Worten, um ihr größeren Nachdruck zu
geben: Gott hat nicht versprochen, daß, wer am Orte oder im
Amte Petri Nachfolger wird, die Würde erlangen soll, Haupt
der Kirche zu sein. Er meint: der partikularen. Wenn er aber
zu den Prädestinierten gehört, wenn er den Gliedern der Kirche
den Geist der Heil. Schrift und die Liebe einzuflößen vermag:
dann, anders aber nicht, mag er als ihr Haupt gelten. Da muß
er aber bedenken, daß er auf Anordnung der Kaiser diesen
Primat besitzt, nicht von Gott, auf Grund des Ortes, nicht
seines Verdienstes; er möge weiterhin die PräzedenzfilUe im
alten Bunde erwägen, da Gott eine derartige Würde verlieh,
sie aber der Sündenschuld wegen wieder zurücknahm, und so
möge er es als erwiesen betrachten, daß Gott ihn nicht als
Haupt der partikularen Kirche einsetzt, wenn er sie nicht in
Gemäßheit seiner Gesetze regiert. Man mag vom Papste immer-
hin glauben, daß er das Haupt der partikularen Kirche sei
und daß ihm vor allen Ehrfurcht und Obödienz gebühre und
daß er nichts gegen den Glauben tue: es sei denn, die Heil.
Schrift und die Erfahrung würden zeigen, daß er das Gegen-
teil tut. Am wenigsten darf man jener Gotteslästerung seinen
Beifall geben, daß er bloß, wenn er in rechtmäßiger Weise ge-
wählt wird, Haupt der Kirche, ja auch nur, falls er ein Prä-
sciter ist und als solcher dem Namen nach Papst wird, Haupt
der partikularen Kirche ist.^
Im zweiten und dritten Buche finden sich noch zahlreiche
Bemerkungen ähnlichen Inhalts. Die Absetzbarkeit eines Papstes
wird unter Anführung von Beispielen ziemlich weitläufig be-
* Debet pie supponi de qnocunqae Romano pontifice quod sit Caput par-
ticalaris ecclesie, et sie precipne debct fieri reverencia et obediencia;
nee qaod quicqaam sentit infideliter, nisi Scriptura sacra et facti sui
experiencia doceat evidenter oppositum . . . Sed non debet sibi applandi
illa blasphemia, quod si sit rite electus in Romanum pontificem, tunc
est Caput universalis ecclesie, vel, posito quod si sit prescitns nomine-
tenus Tel putative papa, quod adhuc sit caput huius particularis ecclesie
Romane, p. 416. Und so auch p. 417: ... inter ecclesiaa iam militantes
(man sieht aus dieser Wendung, daß er die römische Kirche kaum hoher
bewertet als die oben genannten Übrigen partikularen Kirchen) nos oc-
eidui debemus precipue credere Romano pontifici cum suo collegio, si
facta nomini sui officii compensantes nihil edocent vel preoipiunt, nisi
quod elicinnt ex racionibus Scripturarum.
54 VI. Abhandlung: Loserth.
handelt: der Papst, der vom Glauben abirrt, muß abgesetzt
werden.* Die Quelle, aus der er die historischen Belege nimmt,
ist das Polychronikon des Kanulphus de Higden, das er auch
in seinen anderen Werken mit Vorliebe zu Rate zieht* Auch
im dritten Buche lehrt er, daß man geistlichen Vorstehern, also
auch dem Papste, nur Gehorsam leisten dlirfe, wenn ihre Lehr-
sätze mit der Bibel in Übereinstimmung sind.' So und nicht
anders hat Robert Grosseteste dem Papste Gehoream geleistet.
Die Konstitutionen der Päpste haben nicht die Wichtigkeit der
Heil. Schrift. Man darf zugeben, daß Konstitutionen der Päpste
denselben Wert besitzen, wenn sie nämlich mit der Heil. Schrift
in Übereinstimmung sind, aber auch dann nicht deswegen, weil
sie vom Papste gegeben, sondern der ewigen Wahrheit ent-
nommen sind. Daß der Papst irdischer Herrschaft nicht bedarf,
ergibt sich aus dem Beispiele Christi: trotzdem wird er um so
viel höher stehen als ein weltlicher Regent, um so viel die geist-
liche Würde die weltliche tiberragt. Zwischen beiden Gewalten
und ihren Kompetenzen müsse eine sorgsame Scheidung ein-
treten: der Papst wird ohne irgendwelche Beeinflussung durch
Dinge dieser Welt der Kirche dienen in all den Dingen, die
das Göttliche betreffen, die weltlichen Herren werden der Mutter
Kirche in all den Dingen dienen, die sich auf diese Welt be-
ziehen, sie werden die Rebellen der Kirche niederwerfen usw.
Und indem Wiclif auf den Ausgangspunkt aller dieser Unter-
suchungen zurlickkommt, sagt er: Auch die Päpste müssen den
Königen gehorchen, Steuern entrichten usw. Wie im Buche von
der Kirche ist also auch schon hier die oberste Zivilgewalt des
Königs nachdrucksvoll betont;* und wie er in De Civili Dominio
mehrfach auf GegenstÄnde hinweist, die er in anderen Büchern
noch eingehender zu behandeln gedenkt, so finden wir in De
^ De Dominio Civili II, 116 ff.: Et . . . patet quod, posito qitod pap« faerit
patenter et pertinaciter a fide deviua, licet residae parti ecclesie, jmmo
laicta, ipsam deponere.
' Et iatii hUtoriis patet qnod chrUtiauissimi imperatores papas corripere
poMant a fide deyio«, sicnt lex lentenciat . . .
' in. 847—349.
* p. 379: Debent enim pape obedire re^ibai, si oportet, vectigalia (sol-
Tere) . . . Oportet ergo papam esse spiritaalem iadicem omDiam generam
iadiciorum ecclesie militantis. Et per conseqaens oportet ipsnm esse
Christo capiti ecclesie simillimam. Cui repngnat ciyile domiDium.
Stadien zar Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 55
Civüi Dominio auch schon flinweise auf sein bedeutsames Werk
De Potestate Pope} Und doch, wieweit ist diese Opposition
gegen das Papsttum und die Kirche entfernt von jener, die sich
in den späteren Büchern der Summa findet. Man beachte jene
feierliche Protestation, die er an der Spitze dos 11. Kapitels im
zweiten Buche anbringt, er wolle nichts sagen, was irgendwie
dem päpstlichen Stande zu Unehren gereichen könnte oder daß
man diesen oder jenen Kleriker für eine Sünde strafen müsse.
Er bringe nur vor, was Gesetze und Chroniken melden, und
zitiere die Wahrheiten, die sich daraus ergeben. Das könne
fromme Ohren nicht verletzen.*
Wiclifs Lehre von der Kirche ist sonach in ihren Grund-
zügen schon in den drei Büchern De Civili Dominio enthalten;
ein paar Hauptsätze finden sich in De Veritate Sacre Scripture
wieder, aber doch sehr vereinzelt. Da er in diesem Buche mit
keinem Worte die Absicht andeutet, ein Werk über die Kirche
zu schreiben, seine Absichten vielmehr auf andere Stoffe zielten,
so müssen besondere Gründe vorhanden gewesen sein, die ihn
von diesen ab- und zu dem neuen Stoffe hinzogen. Sehen wir,
ob sich diese Motive noch ausfindig machen lassen.
In der Tat erfahren wir, daß ein Doktor,^ wahrscheinlich
in Oxford, den Begriff der Kirche in einer Weise festgestellt
hatte, die Wiclif nicht zusagte, weil diesem Kirchenbegriffe zu-
folge weder die Heiligen des alten Bundes, ja nicht einmal
Christus selbst und seine Apostel dieser Kirche angehört hätten.
Dieser Doktor dürfte in die Reihe jener gehört haben, die
Wiclif schon seine Ausfl'ihrungen über den Gebrauch der Heil.
Schrift zum Vorwurf machten,* und, da diese Vorwürfe auch
jetzt sich wiederholen, ist es wohl die gleiche Opposition gegen
ihn wie früher. Es kehren ja auch großenteils dieselben Ge-
» III, 380. • m, 114.
' De Ecduia^ p. 112: In isla vero materia est quidam doctor describens
ecclesiani snb bac forma: Ecclcsia, inquit, est uniycrsalis mnltitudo om-
nium christianomm habencium ex integro rectam et eandem fidera per
Christum et apostolos diyulgatam et a sanctis patribas et conciliis gene-
ralibus declaratam . . .
^ p. 169: In ista materia sunt quidam modemi doctores approbantes men-
dacium et dicentes qaod yeritates scripture non sunt dicende tum propter
perturbacionem ecclesie, tum eciaro propter scelera quo hostes ecciesie
ex eorum audacia perpetrarent.
56 VI. Abhandlung: Loserth.
genstände wieder, die schon in Be Veritate Sucre Scripture
oder in Be Civili Bominio gegen diese Opposition behandelt
worden waren. Wenn man z. B. im 15. Kapitel Hest: In dieser
Sache habe ich (zum Gegner) einen Doktor und wenn dieser
ihm eine Konklusion schickt, die das Recht des Königs bestreitet,
dem Klerus die Temporalien wegzunehmen, so ist das im wesent-
lichen ein Kampf gegen die 6., 16. und 17. These. Daß Be
Ecclesia in engstem Zusammenhang mit der Verurteilung der
18 Thesen zu setzen ist, wird noch deutlicher aus den Stellen,
in denen er deren Verdammung geradezu bekämpft.* Er ver-
langt angesichts der Verdammung der 6. These, der König möge
den Sachverhalt durch den englischen Klerus untersuchen lassen
und ihn dann dem versammelten Parlamente vorlegen.*
Wiesehr der Inhalt des Buches von der Kirche mit der
durch Gregor XI. verkündigten Verurteilung der Thesen zu-
sammenhängt, kann man den meisten Kapiteln dieses Buches
entnehmen. Seine Angriflfe auf Gregor XI. werden immer scho-
nungsloser und gehen an einigen Stellen geradezu ins Maßlose über.
Gregor XI. ist ihm der Papst, der sich zum Oberherm Eng-
lands aufspielt, wozu er kein Recht hat, der falsche Gregor (als
solchen bezeichnen ihn später auch tschechische Glossen in
Wiclifhandschriften), der die vier katholischen Tugenden ver-
dammt und vier Häresien anerkannt hat, der sich wie der Anti-
christ über alle erhebe, selbst über Gott* Was soll man noch
^ p. 356: Nam hoc est hereticatum nt dampnatisslmum, quod aliqni domini
temporales possunt auferre temporalia ab ecclesia delinquente. Das ist
die 6. These. Und einige Zeilen weiter heißt es: Secando dampnarit
(papa) qnod aliqaa carte hamanitos adinvonte sunt Impossibiles . . . Das
ist die dritte These.
' p. 355: Unde Tellern quod rex faccret diligenter inquiri a clero suo legio
istas quatuor questiones: 1. si rex licite potest auferre temporalia a clero
suo legio pro contemptu, 2. si rex dominatur capitaliter super regno
Anglie et papa sit ciriliter subdominans vel econtra, 3. si forme damp>
naeionum . . . sint iuri divino consonc, 4. queritur a pleno parlimcnto,
utrum defendens ista . . . participare debeat elemosinis rcgni nostri . . .
' Zu dem, was schon in meinen Studien zur englischen Kirchenpolitik hier-
über gesagt ist (S. 112 ff.), mOgen hier nur noch zwei Stellen aus De
EecUaia angeführt werden, p. 358: Sed benedictus sponsus ccclesie qui
occidit Qregorinm XI et dispersit suos complices, quorum scelera per
Urbanum VI ecclesie sunt detect« ... Et ntinam place ret sponso ecclesie
perficere, quodquidamprenosticantet alii imprecantur, scilicet quod
Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 57
weiter nach Beziehungen suchen, die zwischen De Ecclesia und
den 18 Thesen bestehen. Das ganze Buch De Ecclesia ist voll
davon. Mit größerem Nachdruck als früher tritt er für das
Armutsideal und gegen jede Art weltlicher Herrschaft seitens
des Klerus in die Schranken. Das wahre, auf der evangelischen
Armut begründete Pries tertum steht viel höher als jede welt-
liche Herrschaft, und eine solche dem Priester aufzuladen, ist
die Spitze aller Torheit. Die Würde des Papsttums und jene
des Kaisers sind in einer Person nicht zu vereinigen, schon
wegen der Un Vollkommenheit, die einer jeden weltlichen Herr-
schaft anhaftet. Wie soll man es aus der Bibel begründen, daß
der Kaiser seine Krone vom Papste erhalte?* Verwendet jemand
Kirchengut, statt es den Armen zu geben, auf weltlichen Pomp,
80 ist er ein Ketzer.* Würden die Kircheneinkünfte unter die
weltlichen Herren verteilt, so wäre die Gesinnung des Klerus
einmütig und wirksam auf die Verachtung der Welt gerichtet;
möchte man der Laienwelt vom trügerischen Schein der Dota-
tion der Kirche predigen und davon, daß die drängende Hast
nach weltlichem Gut ins Verderben lockt, die Verachtung der
Welt aber die Sehgkeit erwirbt, dann würde bald aller Zweifel
in der Christenheit schwinden. So war es in den Tagen der
Apostel, als der Klerus ohne Eigentum gemäß den Anordnungen
Christi lebte.' Wenn der Klerus in dem Maße verweltlicht ist,
daß der Verlust des weltlichen Gutes ihn mehr schmerzt als
der der Tugend, wenn er sich um den Erwerb und die Ver-
teidigung irdischen Gutes mehr kümmert als um sein geist-
Uches Wohl, dann macht er sich selbst unfähig, auch das irdi-
sche Gut zu besitzen, und wird wert, daß es ihm genommen
werde.* Alle diese Sätze, sind sie nicht eine Fortsetzung der
numerus nndcnarius (Gregor XI) infamis et sterilis preyaricans
in totum decalogum imponet finem numero pseudoprepositorum . . .
Dann p. 366: Et stat quod aliquis solempnitate ritu et reputacione hu-
mana Bit reputatus Christi vicarius, cum hoc, quod sit horrendus dia-
bolus, ut non est incredibile de Gregorio XI et multis ei simi-
libus . . . Allerdings hat er sich schon in De Civüi Dcminio II, 90 in
gehässigster Weise tlber den Papst und seinen Kampf gegen die Floren-
tiner ausgesprochen.
* Non yideo quomodo fundabitur pure ez fide scripture, quod oportet im-
peratorem accipere Imperium a suo pontifice. Dt Ecclesia, p. 324.
" p. 297. » p. 291/2. * p. ISl.
58 VI. Abhandlung:: Loserth.
Motive aus den 18 Thesen? Doch WicHf fährt fort: Von der
Vollendung der Kirche im apostolischen Zeitalter darf sie nicht
abgezogen werden: wenn es schon nicht erlaubt sein soll, welt-
liches Gut, welches unter allen Gütern das Terächtlichste ist,
wegzunehmen, wie darf man sie jener Güter berauben, welche
die kräftigsten Privilegien Gottes sind.* Wollen die weltlichen
Herren für die Erhaltung der wahren Privilegien der Kirche
eifern, dann müssen sie dem Klerus das gamse weltliche Gut
abnehmen, weil ihn dieses an der Erfüllung seiner evangelischen
Pflichten hindert.* Die Dotation der Kirche steht mit dem
(glauben selbst im Widerspruch und es ist eine Ketzerei, zu
behaupten, daß Christus die Verfügung über alles Weltliche
gehabt: des Menschen Sohn hatte nicht, wohin er sein Haupt
legen konnte. Hat er auf Erden nicht geherrscht und konnte
er es nicht, dann sollen es auch die Priester nicht tun. Der
beste Zustand für die Kirche ist ihre evangelische Armut. Man
entnimmt dieser Anthologie von Stellen aus Wiclifs Buch von
der Kirche, daß sich erst im Kampf gegen die päpstlichen
Bullen seine Überzeugung von der Verderblichkeit irdischen
Gutes und weltlicher Herrschaft für die Kirche nach allen
Seiten hin vertiefte. Man darf sonach wohl sagen, daß wie in
dem Buche von der Wahrheit der Heil. Schrift so auch in dem
Buche von der Kirche das eigentliche Thema vor der stets neu
auftretenden und immer tiefer begründeten Forderung des Ver-
zichtes der Kirche auf irdisches Gut und weltliche Herrschaft
in den Hintergrund tritt und so in allerengster Beziehung zu
den Wünschen und Forderungen steht, die im guten Parlamente
laut geworden sind. Wohl hat sich Wiclif lebhaft dagegen ver-
wahrt, daß er durch die Behandlung derartiger Fragen den
Laienstand anreizen wolle, dem Klerus das Kirchengut zu ent-
ziehen: wohin es aber kommen müßte, wenn derlei Lehren in
die weitesten Kreise getragen würden, das haben die Hussiten
gezeigt, nach deren siegreicher Einführung des Wiclifismus in
Böhmen das böhmische Kirchengut zu existieren aufhörte.
^ De Ecdesia^ p. 192: Si enim non licet laico aaferre suas elemostnms, que
sunt bona abiectlBsima, multo minua liceret auferre elemoaynas a Deo
institutas, que annt bona et privilegia Dei potissima.
« p. ISO.
Studien zar Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 59
5. Vom Amte des ESnlgs.
Das Buch; an dessen Abfassung WicHf ging, als er das
von der Kirche beendet hatte, führt den Titel ,Vom Amte des
Königs' {De Officio Regis). Es mochte etwa in den ersten Mo-
naten des Jahres 1379 vollendet sein.^ Jedesfalls schloß er es
unmittelbar an De Ecclesia an, mit dem es sinngemäß zusammen-
hängt, und ließ ihm dann erst das Buch ,Va}i der Gewalt des
Papstes' folgen, entsprechend seiner Ansicht, nach der ihm das
von Gott selbst begründete Königtum höher steht als das Papst-
tum, das, wie es jetzt besteht, auf menschlichen Ursprung zu-
rückgeht. Ist De Officio Regis erst 1379 abgefaßt worden, so
reicht doch sein Ursprung schon in eine etwas frühere Zeit zu-
rück und hängt wie die vorhergehenden Werke gleichfalls mit
der Verurteilung der 18 Thesen aufs engste zusammen. Von
den 33 Konklusionen, die im Jahre 1377 aufgezeichnet wurden,
beschäftigt sich die letzte — und sie wird denn auch gelegent-
hch in De Officio Regis zitiert^ — mit demselben Gegenstand.
Wir haben sie, um dieses Verhältnis anschaulich zu machen,
unter den Beilagen mitgeteilt. Schon dort wird es als die Pflicht
der weltlichen Herren hingestellt, das evangelische Gesetz, d. h.
die Bibel, zu verteidigen, und so findet man denn auch schon in
De Dontinio Civili und in De Ecclesia mannigfache Beziehungen
auf diesen Gegenstand.'
^ Ich kann den Grand nicht zugeben, der Shirley bewogen hat, die Ab-
fassangszeit dieses Baches auf da.s Endo von 1382 oder den Anfang 1383
zu verlegen. Wenn Shirley (A Cataloguo, p. 8) meint, daß sich hier An-
spielungen auf das kgl. Dekret vom 12. Juli 1382 oder auf die Prokla-
mation wider den Gegenpapst finden, so ist das eine so wenig zutreffend
als das andere. PoUard und Sajrle haben das Datum mit Recht auf 1379
gesetzt.
« p. 78.
* Hier seien nur einige angeführt: Wiewohl es, erklärt (De Civili Dominio
I, 199) er, für die Menschen sicherlich das beste wäre, kannten sie ledig-
lich auf Grund des evangelischen Gesetzes regiert werden, mit anderen
Worten, würden die Menschen sich alleiu von den Geboten der Liebe
leiten lassen, so geht dies doch wegen der Sündhaftigkeit der Menschen
nicht an; es wäre ja auch am besten, gäbe es keine Todesstrafe, und
doch ist sie der Verbrecher wegen nicht zu entbehren. So ist wegen der
Sünden des Volkes das Königtum notwendig, das die Verbrechen an dem
60 VI. AbhmidluDg: Loserih.
In De Officio Ilegis geht Wiclif allerdings weiter, indem
er CS als seine Aufgabe hinstellt, auf Grund der Bibel die
Gewalt des Königs darzulegen, ,damit ein jeder weiß, wie sich
Gewalten, die priesterliche und königliche, in der Harmonie des
kirchlichen Körpers zu unterstützen haben'.^ Er knüpft gleich
im ersten Satze an seine Ausführungen in De Ecclesia^ an.
Eine Reihe von Voraussetzungen schickt er voraus: ,Die könig-
liche Gewalt ist durch das Zeugnis der Schrift und das der
Kirchenväter geweiht^ Christus selbst hat dem Kaiser den
schuldigen Tribut gegeben. So auch die Apostel. Nicht bloß
den guten, auch den schlimmen Vorgesetzten muß man ge-
horchen. Eine ausgezeichnete Würdigung ihrer Stellung ist den
Königen von Petrus, ,dem heiligsten Papste,' aus roiner Liebe,
aus keiner Schmeichelei und keinem AflFekt nach weltlichem
Gut zuteil geworden.* Der König ist der Diener Gottes. Sehr
stindigt, wer sich seiner Gewalt widersetzt, denn diese rührt
unmittelbar von Gott her.* Daher appellierte Paiüus an den
Kaiser, daher müssen die Untertanen, daher muß vor allem der
Klerus, der von den Königen erhalten wird, ihnen Tribut zahlen.
Dafür gibt die weltliche Gewalt Schutz, Gericht und am jüng-
sten Tage Rechenschaft über seine Verwendung: der Tribut-
zahlende hat dann keine Verantwortung zu tragen. Das gibt
dem Klerus eine große Beruhigung, hält ihn frei von der Last
irdischer Güter, hält in fern von den Intrigen und Kämpfen
Gesetze Gottes straft. Und so finden sich alle die Lehren, die er in De
Officio Regit vorträgt, schon in De Civili Dominio: der KOnig allein hat
die allgemeine Eo6rsitivgewalt (I, 270), die sich demnach auch auf den
Klerus erstreckt, er hat das Aufsichtsrecht über ihn (ü, 11, 42, 75, 82)
und darf ihn strafen, wenn er seine Pflicht nicht erfüllt, und ihm die
Temporalien nehmen (I, 270). Noch schftrfer werden die betreffenden
Gewalten des KOnigs in De Ecdetia betont, an das De Officio RegiM^
p. 146, direkt anknüpft.
* De Officio Jie(/Uy p. 10: Idco videtur hodie necessarium secundum fidem
scripture exponere regiam potestatem, ut vel sie noseatur clarios, qnomodo
potestas sacerdotalis et potcstas regia in armonia corporis ecdesie debeant
se iuvare.
* p. 146.
■ p. 1 ff. nach I Petri II, 13, 14.
* Ex qnibus colligitur, quod peccat graviter, qni resistit regalie principnm
vi Tel dolo, quia Prov. VIII, 15 dicit cuncta ordinans: Per m» reges
regnant ... et ordinat eum multipliciter venerari.
Studien zur Kirchenpolitik En^flands im H.Jahrhundert. 61
der Welt und gibt ihm endlich den Lohn, der ihn voll be-
friedigt. Die Irreligiosität, mit der sich unser Klerus hierin
gegen die Fürsten stemmt, ist die Ursache der Minderung und
der Verwirrung der Kirche. Denn wiewohl die Heil. Schrift
diesen Gehorsam so deutlich befiehlt, verhüllt unser Klerus
diesen Befehl durch fremdartige Glossen, schweigt und legt
anderen Schweigen auf, vermehrt die menschlichen Satzungen
und beschäftigt damit gegen den Wortlaut der Schrift die
Seinigen, daher ist es heutzutage notwendig, dem Könige die
Wahrheit der Heil. Schrift vorzutragen. Nach den Worten
Augustins ist der König der Vikar Gottes, der Priester der
Vikar Christi. Zwei Vikare muß die Kirche haben: den König,
der die Rebellen züchtigt, wie es Gott im alten Bunde getan,
und den Priester, der denen, die demütig sind, die Vorschriften
des Evangeliums vorlegt, wie es Christus hier auf Erden ge-
tan hat.
Es ist aber notwendig, Ehren und Gewalten beider Vikare
zu scheiden. Die Ehren, die auf weltlicher Herrschaft fußen,
gebühren dem König; dem Priester die, die auf den Vorzügen
des geistlichen Amtes fußen. Gäbe es keinen weltlichen Besitz
in der Kirche, kein Streben nach dem Primat und nicht diese
von den Weltlichen eingeführte Jurisdiktion, die Geistlichkeit
würde sich mit den ihnen zustehenden Ehren zufriedenstellen
und die der Weltlichen verächtlich von sich weisen, wie es die
Apostel getan. Dann, aber nur dann allein, wäre kraft des Vor-
zugs ihres Lebens und ihrer höheren Tugend die Würde in
dem Priester des Herrn eine größere als die irdische Würde in
seinem Vikar: dem König. In diesem Sinne hat man die Gesetze
und die Lehren der Heiligen zu verstehen. Die Ehren, die den
Geistlichen zuteil werden, sind anderer Art als jene, die den
Weltlichen gebühren. Die weltliche Macht, die der Papst jetzt
beansprucht, ist in der Bibel nicht begründet, ebensowenig wie
die Exaktionen, die er und die Seinigen vom Volke begehren,
denn der heil. Petrus hat ausdrücklich ihnen jede weltliche
Herrschaft untersagt. Oder glauben wir, Paulus hätte an den
Kaiser appelliert, wenn er dessen Amt als ein ruchloses ange-
sehen hätte.* Durch mehrere Kapitel führt Wiclif diese Gedanken
* p. 19: Videat scrutator scripture, si tarn patenter fandari potest ista po-
testas pape vel ezaccio, quam ipse et fratres Bui ezigunt a paupere clero
62 VI. Abhandlung: Loserth.
weiter: sie sind wie die früheren Werke voll von Ausfllhrungen
gegen die Dotation der Kirche, die auch hier ihren Ursprung
vom Kaiser hat. Um so dankbarer müßte der Papst dem Kaiser
sein, würde er nicht wahrnehmen, daß die Begabung mit welt-
lichem Gut dem Klerus zum Schaden gereicht. In England zu-
mal ist die Kirche dem König aufs höchste verpflichtet, denn
ohne irgendwelche Unterwerfung unter das Kaisertum hat er
sie mit Gnaden überhäuft und das ist auch der Grund, weshalb
die Kirche Englands dem König mehr verpflichtet ist. Er hat
sich bei den Vakanzen, bei den Wahlen, im Strafverfahren
gegen den Klerus, bei der Verleihung von Pfründen die volle
Herrschaft gewahrt.^ Man darf sich von den modernen Glossa-
toren nicht irreführen lassen, die uns vorreden, daß der Priester
an Ansehen die Könige um so viel überragt wie die Seele den
Körper, wie Gold das Blei, wie die Sonne den Mond. Die be-
trefiende Dekretale sagt nur, daß der Priesterstand in einem
gewissen Gleichnisse jeden anderen übertrifil, nicht aber daß
irdisches Gut und weltliche Herrschaft des Papstes über die
des Königs in Frage kommt. Der Vorzug des Priestertums be-
ruht nur darin, daß es dem Stande Christi ähnlicher ist, daß
der Priester der demütigste ]V[ensch ist, der ärmste und so zur
geistigen Erbauung der Kirche der Tauglichste. Auch Christus
konnte nicht eine bürgerliche Herrschaft ausüben, daher lehrt
die Dekretale, daß die Bischöfe nicht Herren, sondern nur Ver-
walter des Armengutes sind.
Man beachte, daß die priesterliche Würde nur bedingungs-
weise vor Gott geehrt wird: der Geistliche am meisten, der der
tugendhafteste ist.
Alle die bisherigen Ausftihrungen hat WicHf dem oben
genannten Satze des ,heilig8ten' Papstes Petrus entnommen:
Suhditi esfoie. — Aber ist dieser Satz bloß für die Laienwelt
sibi fabiecto, com beatas Petras eis precepU, nt non saltem secalariUr
dominentnr.
' Et Uta subieccio est eo specialias a rege Anglie cum sais militibiia ob*
servanda, quo ipse copioaius sine subieccione cesarea dotavit grataneiaa
suaro ecclesiam. Et hinc clerus Anglte est regi suo singulariter in mottis
sobieccior. Rex enim reservaTit sibi in vacacionibus, in eleccionibas et
in casttgacionibns cleri sai super collatis eleroosinis domininin singulare,
p. 37.
Stadien sur Kirchenpolitik Englands im 11. Jahrhundert. 63
geschrieben? "Gilt er nicht fiir die ganze Kirche und somit nnd
zunächst auch für den Klerus? Hat also nicht der König Ge-
walt über seinen Klerus?
Aus dem Gesagten ergibt sich, welche Ehre den beiden
Vikaren Christi zukommt. Worin aber besteht das Amt des
Königs? Er hat seine Pflichten als Mensch, Familienvater und
König. Als König hat er sein Reich in kluger Weise zu re-
gieren. Seine Regierung wird die kleine Zahl gerechter Gesetze
zur Vollziehung bringen und das Recht jedes Standes und jedes
Untertanen schützen. Die Gesetze, die er gibt, sind mit Gottes
Gesetz im Einklang. Von ihm sind seine Rechte abzuleiten.
Auch jene, die er dem Klerus gegenüber hat. Wenn ein Geist-
licher sein Amt vernachlässigt, ist er ein Verräter des Reiches.
Einen solchen wird der König nicht schützen, sondern zur Re-
chenschaft ziehen. Daraus ergibt sich, daß der König eine
,evangeli8che' Herrschaft über ihn hat. Jeder Geistliche muß
die Gesetze des Staates achten. Und zur Bestätigung dieses
Grundsatzes leisten die Erzbischöfe in England in die Hände
des Königs ihren Eid und in Hinsicht auf ihn empfangen sie
die Temporalien. Das ist ein auf dem Recht begründetes Ver-
hältnis und die Annahme unzulässig, daß der Klerus etwa aus
Habsucht in unstatthafter Weise dem König Untertan sei. Der
König hat die Pflicht, seine armen Vasallen vor jeder Unbill
zu schützen, die sie an ihrem Vermögen erleiden könnten.
Wenn demnach dieser Klerus durch den Mißbrauch der Tem-
poralien ihnen und damit dem König und dem Reiche Schaden
zufügt, hat sie der König zu schützen. Wenn der König diesem
Klerus die TemporaHen gibt, unterstellt er ihn seiner Jurisdik-
tion und davon können auch die Verfügungen späterer Päpste
ihn nicht frei machen. Wenn sich der Klerus trotzdem auf
solche stützt, begeht er Verrat und muß vom König zum Ge-
horsam gezwungen werden. In dieser Weise werden die Rechte
des Königtums ausführlich betont und, wo es not ist, begründet.
Zusammenfassend betont Wiclif drei Punkte: der Klerus, vorab
sein Haupt, der Papst, muß arm sein, demütiger und dienst-
bereiter als die anderen. Damit verträgt sich die weltliche
Herrschaft der Päpste ebensowenig wie ihr herrschsüchtiges
Auftreten. Zweitens darf sich der Klerus nicht um die Erwer-
bung irdischer Güter bekümmern, sondern muß sich den weit-
64 VI. Abhandlung: Loserth.
liehen Geschäften entziehen und zu alledem muß drittens die
Einziehung des weltlichen Gutes hinzukommen. Werden in dem
Buch von der Kirche zwar auch die Rechte und Pflichten des
Königs im allgemeinen wie im einzelnen herausgehoben: im
ganzen beschäftigt sich doch auch dieses Buch wie das nach-
folgende mehr mit der Reform der Kirche an Haupt und Glie-
dern, wobei allerdings dem weltlichen Arme eine tatkräftige
Mitwirkung zugedacht ist.'
Wichtiger als der Inhalt des Buches De Officio Regis, der
übrigens in der Einleitung zur Ausgabe des Buches, wenngleich
auch nicht ganz sachgemäß, angeführt wird, sind die vielen
Beziehungen auf die Verhältnisse des Autors, die sich in dem
Buche finden und aus denen wir hier nur jene herausheben,
die auf die Genesis des Buches Bezug haben. Wer daran zwei-
feln wollte, daß sie gleichfalls in der Verurteilung der 18 Thesen
zu suchen sei, der findet im 10. Kapitel des Buches genügsame
Belehrung. Dieses ganze Kapitel behandelt die Frage der Ex-
kommunikation. Wiclif hat diese Frage bereits im 38. Kapitel
des ersten Buches von der bürgerlichen Herrschaft behandelt*
und diese Erörterungen hatten Widerspruch hervorgerufen, den
er bekämpfte. Seine Erörterungen in De Civili Dotninio stehen
aber im nächsten Zusammenhang mit der Verurteilung der
18 Thesen, so daß das, was er nun in De Officio Begis zum
' Wiclif selbst hat am Schlüsse seines Buches dessen ganze Tendern in
einigen Antithesen henrorgehoben : 1. Clerns, et specialiter capnt cleri
debet esse hnmilior, servitiTior atque pauperior: qao contra adversans
asserit quod clerus et specialiter papa debet esse mundo splendidior, im-
perativior et dorn inati vier. 2. dicit falsigraphus quod clerus debet maxime
capitaliter atqne civiliter regere sinistre bona ecclesie . . . sed econtra
dicit yeridicus quod totus clerns et specialiter papa debet esse maxime
elongatns a mundo . . . nee habet potestatem civiliter reputandi . . •
3. quod sicut sanguisuga (Prov. XXX, 16) dicit affer, affer, . . . atrnmqne
membrum ecclesie debet dicere auffer, auffer.
' Es liegt daher in De Officio Regia, p. 831, offenbar ein Irrtnm vor, wenn
es heißt: Secundo principaliter argnitur contra tria dicta XXXIX <» capi-
tulo libri proximi. Qemeint ist nicht das 39., sondern das 38. and
39. Kapitel Ton l)e Civili Dominio, Wie wenig aber die Reihenfolge der
Bücher der Summa Theologiae noch feststand, als Wiclif an De Officio
RegiM schrieb, sieht man, daß er es unmittelbar an De Dominio Civili
anschließen wollte; der Über proximns ist aber jetzt De Eedetia, ein
Werk, das ja auch gar nicht 38 oder 39 Kapitel zählt.
Studien zur Rirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 65
Vortrag bringt, eine Fortsetzung der früheren Polemik ist.
Freilich geht er in diesem Werke viel weiter. Um den Miß-
brauchen im kirchlichen Regimente vorzubeugen, legt er drei
Konklusionen mit den sachentsprechenden Erläuterungen vor,
die, wenn sie angenommen würden, diesen Mißbräuchen ein
Ende machen müßten: 1. Die geistlichen Oberhirten Englands
müßten alljährlich den gesamten Klerus auf das sorgfältigste
visitieren, dergestalt, daß niemand fortan nach Rom gehen
dürfte, dann müßte dem König ein genauer Rechenschafts-
bericht über die Verwendung des Kirchengutes vorgelegt wer-
den.^ Daraus folgt, daß nur taugliche Leute zur Verwaltung
der kirchlichen Stellen gelangen dürfen und für solche zu sorgen,
ist Aufgabe des Königs.* Der Papst ist verpflichtet, dem König
hierin an die Hand zu gehen. Unterläßt er es, so darf man
ihn für den ärgsten Antichrist halten. Der König ist es übrigens,
dem Gott dieses Amt zugewiesen, ehe es noch eine römische
Kirche gab.' 2. Muß für taugliche Hirten gesorgt werden, deren
Wirken das Volk in täglichem Verkehre betrachten kann. Dar-
aus wird man zu folgern haben, daß fremde Kleriker, die das
Volk nicht versteht, aus dem Lande zu weisen sind.* 3. wird
der König darnach trachten, in Gemäßheit des göttlichen Ge-
setzes, dessen Hüter er ist, seine Theologen, beziehungsweise
die theologische Fakultät zu schützen.* Wiclif selbst nennt sich
' p. 244: Unde pro gubernacione regni conformiter legi Dei posui superius
tres conclusioncs cum suis declaracionibus: prima, quod capitales pasto-
res regni nostri, cuiusmodi debent esse episcopi, in annali synodo
effectualiter visitent statum cleri subiecti, sie quod nee iniuriatus (so
muß es wohl lauten statt iniuriatur) nee morbidus indigeat partes petcre
transmarinas, sed quod regi fiat fidelis racio de numero et qualitate
ovium, sie quod rex noscat, quomodo bona regni sui, que appropriate
consumunt et numerus ac valor sue milieie correspondent.
* Rex diligenciam debet apponere, ut ordinet pastores spirituales ydoneos
pro custodiendis ovibus gentis sue.
' Christas dedit regi vicario suo illud ofifieium, antequam fuit Romana ec-
desia, p. 245.
* Unde secunda conclusio consulit, quod omntno provideatur de pastoribus
privatis ydoneis, quorum voces pastores speeialiter alienigene condicionis
contrarie timore cxcommunicationis postposito dctrudantur.
^ Tercia conclusio seriöse consulit quod rex conformiter ad leges ccclesie,
quam (sie) tenetur in suis legibus ex mandato suo defendere, amplificet
et foreat theologicam facultatem.
SiteanffBb«r. d. phil.-hitt. Kl. 156. Bd. 6. Abh. 5
66 VI. Abhandlung: Loierth.
mit Stolz einen Theologen. Seine Aufgabe ist es^ den König
und das Volk in theologischen Fragen zu beraten. Gemeint ist
nicht die Theologie in modernem Sinne, sondern die genaueste
Kenntnis der Bibel. Die Gesetze der Länder müssen mit ihren
Satzungen im Einklänge sein. Darum ist die Kenntnis der Theo-
logie zur Festigung des Reiches vor allem nötigt und die Folge
davon ist, daß der König Theologen in seiner Umgebung habe,
die ihm in seiner Regierung zur Seite stehen.' Der König muß
sich die Ketzer vom Leibe halten; das kann nur geschehen,
wenn er Theologen bei sich hat, die aus ihrer Kenntnis der
Bibel jene als Ketzer erkennen.' Daher leuchtet die Notwendig-
keit der Theologen ein; sie sind es, die den Glauben und die
Tugenden lehren und zeigen, wie man irrige Lehren zunichte
machen müsse, soll anders nicht Volk, König und Reich zu-
grunde gehen. Diejenigen, die diese Lehre verstehen, das sind
die wahren Theologen;* sie sind das, was im alten Bunde die
Propheten gewesen. Wie könnte ohne sie das Reich Bestand
haben? Und gibt es einen Lehrer des römischen oder kanoni-
schen Rechtes, ja selbst einen Laien, geschickt genug, das zu
lehren, so ist er in Wahrheit ein Theologe. IVIan wendet ein:
Jeder Gläubige, auch ein Laie, ist ja ohnedies ein Theologe.
Gewiß. Da man sich in unserer Zeit vor Irrtümern im Ge-
brauche der Heil. Schrift nicht mehr auskennt, so daß selbst
unsere Theologen im Sjmbolum und im Vaterunser groben Lrr-
tümem anheimfallen, braucht man Theologen, gelehrter noch
als Doktoren, die das Volk unterrichten.* Nur jene wirklichen
' p. 72: Ex istis colligitnr, quod sciencia theologie est pemecenaria ad
stabilimentam cainscnnque regni.
* Et per conBeqoenB rex in quantum baiusmodi debet habere tbeologos ad
regni sai regimen se invantes.
* Debet enim rex omnes, qaantum snfficit, semovere a regno sno bereti-
cos, quod non faceret pmdenter nisi secnndum doctrinam et iudiciom
theologoram, qni Bciunt, quod solum illi sunt heretici, qui mnt scriptare
sacre, que est lex Dei, contrarit.
* Qaicunqne sciverint sie docere, ipsi sunt veri theologi sicut eraut pro-
pbete yeteris testamenti. Qnomodo ergo sine theologis staret regnum?
' Quod si obicitur omnem fidelem eciam laicum esse theolognm, certum
est quod sie: sed cum sint hodie tot errores in fide scripture, in tantum
quod nostri theologi errant in sjmbolo et oracione dominica, necaise est
esse theologos doctores docciores qui simplices illuminent.
Studien zar Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 67
Theologen haben die Heil. Schrift nach den Regeln der Vernunft
und in Gemäßheit der Zeugnisse der Heiligen zu erklären.*
Weil es heutzutage an solchen Theologen mangelt, ist die Zahl
der Ketzer eine so große. Aber die Pflichten der Theologen
sind mit dem Gesagten nicht erschöpft: sowie sie die Aufgabe
haben, das Volk auf die rechten Wege zu lenken, so sind sie
notwendig, um das Recht des Königs zu verkünden und seinen
und des Reiches Leumund sowohl im Innern des Reiches als
nach außen hin zu schützen.' Das kann aber nur geschehen,
wenn das Volk im Glauben an das Evangelium fest ist. Wenn
es über das Recht des Königs versichert ist, muß es von Theo-
logen belehrt werden, wie er das ihm von Gott übertragene
Amt zu verwalten hat;* es gibt kein menschliches Recht, das
nicht im göttlichen wurzelt, und kein König kann einen guten
Ruf erlangen, wenn er nicht nach dem evangelischen Gesetz
Gerechtigkeit übt.* Da der Ruf des Königs und seine Ehre
höher stehen als alle Temporalien, jene aber nicht ohne die
Theologie erlangt werden können, ergibt sich, wie notwendig
ihre Kenntnis für den König und das Reich ist und wie man
die Theologen als die Diener des Königs in geziemender Re-
verenz halten müsse.^
Aus dem Gesagten erhellt, wie wichtig diese Ausführungen
für die Kenntnis von Wiclifs Stellung in den kirchenpolitischen
^ lUis igitnr pure theologis oportet credere ad interpretandnm scripturas
secnndum yivaces raciones et testimonia sanctoram, qnia illi emnt boni
iadices in propria facultate. Man beachte hier das pure theologus. Den
Gegensatz zu ihm bildet das mixtim theologns (s. oben S. 17), das in
diesen Streitschriften Wiclifs eine so große Rolle spielt: er ist der, der
sich auf die Bibelerklirung nicht versteht. Man darf also wohl das Wort
nicht mit Pauli mit ,buntscheckigen' Theologen übersetzen.
' Item quam necessarium est esse theologos ad rectificandum populum,
tarn necessarium est esse theologos ad declarandum ins regis et famam
sui ac regni tam intrinsecus quam ad extra.
' Nam certificando de iure regis et eins iusticia in exequendo ministerium
a Deo sibi creditum debet doceri et declarari per snos theologos.
* Non enim est ius humanum, nisi de quanto fundatum fuerit in lege di-
Tina, nee fama regis, nisi de quanto exercet iusticiam conformiter illi legi.
* Cum igitur fama et honor regis stnt meliora quam omnia temporalia
regni sui, et illa non possunt haberi sine sapiencia theoloyca, patet quam
necessaria regi et rcgno est isU sciencia et per consequens theologi eins
ministri debent haberi in debiU revercncia.
6»
68 VI. Abhandlang: Loserth.
Fragen überhaupt sind. Es hätte daher auf diese Partien des
Werkes seitens der Herausgeber nachdrücklich verwiesen wer-
den müssen. Denn der Reformator erscheint hier in einer Be-
leuchtung, die auch seinen modernen Biographen völlig entgangen
ist, so sehr man auch sonst den warmen Patriotismus, von dem
er beseelt ist, betont hat Das Wichtigste ist aber doch, daß er
in den obigen Ausführungen in eigener Sache spricht und den
,pure {h€ologus% der er selbst ist, gegen den ,mixtim theologus'
in Oxford ausspielt. Schön sind die Worte, die Wiclif für seine
Stellung und die Haltung des Königtums aus Pseudoaristoteles'
Ansprache an Alexander den Großen anführt^ und aus ihr die
Folgerung zieht, wie die Wissenschaft dem Reiche die höchste
Ehre und den größten Nutzen bringt und demzufolge auch am
eifrigsten gepflegt werden muß. Die Folgerungen, die er daraus
zieht, daß man nur taugliche Theologen in den Besitz der
Pfründen setzen müsse, werden dem Gegner höchst unangenehm
in die Ohren geklungen haben.* Betrachten wir nur einmal^
sagt er, was das für Leute sind, die heutzutage zu diesen Bene-
fizien gelangen, und wie würdige und würdelose Menschen mit
ungeheuren Kosten zur Kurie ziehen, wie man das Privatver-
mögen und das Vermögen des Reiches aufzehrt, wie dort wohl
taugliche Personen — freilich nur, wenn sie Geld bringen —
zugelassen, schließlich aber doch nur zum Spott fiir den König
und zur Gefahr für das Reich ebenso unwissende als aufge-
blasene Leute, Feinde des Königs und Schädlinge des Reiches
vorgezogen werden.' Dieser Wanderzug der ,Romreisläufer'*
» p. 74.
' Ebenda: O si omnea patronatus Anglie in mann mortna, Baltem de non
appropriatis ecclesiis, forent limttati per regem tbeologis, sie quod ydonei
tbeologi forent ad curatas ecclesiaa presentati, qaam gloriosum foret reg-
num nostrum atque fructiferum per semen fidei incultis anbditis per
theologos seminatnm. Et cum illud nnlli noceret sed regi et regno ondi-
que proficeret, videtur qnod rez facit sibi et regno maxtmam iniariam,
quod ab opere jaudabiti sie retardat.
' Volyamui igitur statum personanim hodie ad ista beneficia promotamm,
quomodo tarn dignt qaam indigiü snroptuose petunt curiam, et binc per-
8one ac regni snbstancia dcstruuntur; illinc multe peraone ydonee ty-
moniace admittuntur et finaliter in contemptti regia et regni periculam
inscii, elati, regi rebellea et populo inutilea preferuntur (nicbt: perfenin-
tur), p. 74.
* Saltos fRomepetarum*.
Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 69
ist die Quelle aller Uneinigkeit^ des ganzen Streites und Hasses^
der ,un8er Königreich' in Verwirrung bringt. Wenn man be-
denkt, daß solche ,Romläufer' die Klage gegen Wiclif bei der
Kurie erhoben hatten, so wird man dessen Zomesausbruch sehr
begreiflich finden, wie auch, daß er vom König Abhilfe begehrt,
am besten dadurch, daß dieser ge&hrlichen Klasse von Leuten
die Benefizien entzogen und wahren Theologen zugewiesen wer-
den. Diese Leute würden dem Schatze des Königs nicht zur
Last fallen, würde dieser über seine und des Reiches Güter
verftigen in Gemäßheit der Anordnungen des Evangeliums. Da
der König nach enghschem Rechte die Temporalien dem Klerus,
falls dieser widersetzlich ist,^ entziehen darf, weil er sonst nicht
Herr im Lande wäre, so ist es klar, daß in dem Falle, daß
die Patronatsherren ihre Verwandten und ihren Anhang simo-
nistischerweise in den Besitz dieser Pfründen bringen, sie nach
göttlichem und menschlichem Recht ihre Patronatsrechte ver-
lieren müssen. Diese gehen auf den König über. Es möge nur
einmal ein kluger Wächter — wie es WicHf ist — aufgestellt
und ihm eine Untersuchung darüber übertragen werden, wie
viele Kuraten durch derlei Patrone seit den Tagen des tüchti-
gen Erzbischofs von Canterbury Simon Islip (t 1366)* befördert
worden seien, Leute, die eingesetzt wurden nicht auf Grund
ihrer Tauglichkeit zu dem Amte, sondern einzig und allein
kraft ihrer Zugehörigkeit zur Familie des Pati'ons.' Dieser Miß-
brauch des Patronatsrechtes ist abzuschaffen. Wer diese ganze
Stelle überblickt, wird nicht unschwer herausfinden, wie sich
der Gegensatz zwischen Wiclif und den Mendikanten, der sich
zuerst im zweiten Buche von De Civili Dominio angekündigt.
* pro contemptu«
* Dieser hatte im Deaember 1365 Wiclif zum Rektor der Canterbury-Hall in
Oxford, die er gegründet hatte, gemacht. Islips Nachfolger Simon Lang-
ham setzte an Wiciifs Stelle einen Mönch ein. Ein Rekurs, den Wiclif
bei der Knrie einreichte, hatte nicht den mindesten Erfolg. S. über die
Angelegenheit die Untersuchung Lechlers I, 294 ff. Lechler hätte zu
seinen Beweisgründen noch die obige Stelle als Motiv verwenden k($nnen.
' Ad habendum iudicium de assumpto consideret sa^^nx speculator Status
regni, quot (so ist zu lesen, nicht qnod) cnrati promoti fuernnt per tales
patronos a tempore Symonis Yslep ... et pueri non secundum racionera
qna ad regimen tale ydonei, quin ymmo secundum racionem qua patro-
norum ipsorum vel suorum confederatorum cognati, famuH vel afBnea . . .
70 VI. Abhandlung: Loserth.
in Be Ecclesia verschärft hat/ hier seine Fortsetzung findet.
Gegen die Kurie ist seine Opposition noch eine maßvolle. Man
mag zugeben^ lautet eine seiner Äußerungen^ daß man der
Kurie in Ehren gehorchen muß; ,auch wenn der reine Quell
daselbst in eine Zisterne verwandelt ist^ Nur darf sie sich nicht
mit profanen Sachen beschäftigen^ die zur Ausmergelung der
Reiche beitragen^ mit Dingen^ mit denen diese Reiche selbst
fertig zu werden vermögen. Um auf die Theologen zurückzu-
kommeu; meint er, sie allein müßten zur Seelsorge zugelassen
werden, da alle Christen mehr oder minder Theologen seien.
Möchten doch aUe Kuraten durch ihre Vorgesetzten einerseits,
durch ihre Untergebenen andererseits soweit in Zaum gehalten
werden, daß sie nicht mehr in die Lage kommen, sich mit
fremden Dingen zu befassen, und fem von eitlem Ehrgeiz und
der Sucht nach Temporalien leben wie einstens die Geistlichkeit
in den Tagen der Apostel. Dahin zu wirken, gehört auch zum
Amte des Königs. Und das ist mit ein Grund, weshalb der
König sich von der theologischen Weisheit lenken lassen muß,
und daher ist es ruchlos und eine Gotteslästerung, in Wort und
Tat gegen die Worte des Apostels wider die Macht des Königs
anzukämpfen. Und das ist, sagt Wiclif, der Grund, weshalb
ich schon in der letzten meiner 33 Konklusionen erklärt habe,
daß es die Pflicht der weltHchen Herren und zuvörderst der
Könige ist, das evangelische Gesetz zu verteidigen und seine
Beobachtung in ihre besondere Obhut zu nehmen.' So kommt
Wiclif mitten in seiner Darstellung auf die Stelle zurück, von
der er seinen Ausgangspunkt genommen hat Von sonstigen
Zeitereignissen, die in dem Buche erwähnt werden, ist die Ge-
schichte mit dem päpstlichen Kollektor Amoldus de Granario'
^ p. 371; dort (p. 373) findet sich anch der specnUtor wieder» der oben
genannt ist. Diese wenigen Beispiele, die hier angeführt werden, «eigen,
wie viele wichtige Materialien snr Zeitgeschichte Englands De Officio
Regis enthält; das Bach ist indes seit den swei Desennien, da es ge-
druckt vorliegt, wenig aosgenütst worden.
' Et patet sententia, quam dizi in XXXTIT conclosione abbrevtata, qnod
ofticinm dominorum temporalinm et regnm precipae est legem evangeli-
cam potestative defendere et ipsam in sna conversacione diligencins ob-
servare, p. 78, 79. 8. unten Beil. Nr. 2.
'Die allerdings den Heransgebern von De Officio Regi» wenig gellnfig
gewesen sein muß, sonst hätten sie im Texte nicht den falschen Namen
Stadien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. * ^
herauszuheben. Zum eigentlichen Thema betont er mit aller
Schärfe: Weder aus dem Geschrei unseres Klerus, noch aus
der Heil. Schrift wird sich ein Beweis erbringen lassen, daß
,dieser' Papst eine höhere Gewalt hat als der König, weder im
Hinblick auf die vergängliche Welt noch auf Gott.* Gott hat
beide Gewalten eingesetzt, damit die eine die andere stütze.
Was aber ihr Alter betriflft, war schon Adam König, Kain da-
gegen der erste Priester. Dieser Vergleich spricht mehr als ein
Buch; doch rührt er nicht von Wiclif, sondern schon von Augu-
stin her. Wiclif will auch nichts anderes, als die Priorität des
Königtums behaupten. Daß das englische Königtum vom Papste
nur insoweit abhängig sei, als die kirchliche Obödienz in Be-
tracht komme, die auch ihrerseits aus der Bibel erwiesen wer-
den müsse, steht fest: daß sich aber eine politische Abhängig-
keit aus der Bibel nimmermehr erweisen lasse, wird noch
lebhafter betont.* Der Papst kann in solchen Dingen, aber auch
nur soweit, als Dinge in Betracht kommen, die sich auf Gott
beziehen, Ratschläge erteilen, keinesfaUs aber autoritativ Befehle
geben und die Herrschaft verleihen: der König verleiht dagegen
kraft eigener Autorität an den Kerus die Pfründen. Ziemlich
unvermittelt wirft WicUf die Frage auf, ob Priestertum und
Klerus identisch sind: er leugnet dies und gibt eine Darstellung,
wie sich die Laienwelt und der Klerus allmählich geschieden
haben; wir können diese Ausführungen, zumal sie sich mehr
mit den Pflichten des Klerus als mit den Aufgaben des König-
tums befassen, hier übergehen. Dagegen muß daran erinnert
werden, daß WicUfs Beziehungen zum Papsttum auch in diesem
Buche insoweit behandelt werden, als er die Frage berührt, in-
wieweit man den von der Kurie ausgehenden Bullen gehorchen
muß. Er lehnt die Bullen ab, denn sie lassen sich aus der
Arnaldos de Gravario, in den Seitennoten den ebenso falschen Namen
Arnaldofl de Garnario stehen gelassen. Schon Lechler gibt den Eid, den
Arnold Garnier, der Kollektor Gregors XL, zu leisten hat, an: Job. y.
Wiclif n, 676/6.
^ Unnm andenter assero, quod nee damor cleri nostri nee scriptura facinnt,
qaod papa ist« sit maior cesare yel qaoad secalani Tel quoad Deum,
p. 143.
' Et patet qaod regnnm Angliae non tenetur parere pape nisi secnndam
obedienciam elicibilem ez scriptnra. Sed non est elicibile ex scriptura
qaod ipse dominetur secalariter temporalibus regni nostri, p. 146.
72 VI. Abhandlung: Loser tb.
Schrift nicht begründen.^ Über die Gültigkeit von Exkommuni-
kationen, die von den Bischöfen ausgehen, hat der König in
letzter Linie abzuurteilen:* erst wenn das Parlament und die
geistliche Synode gemeinsam dahin geschlossen haben, daß eine
Person der Exkommunikation verfallen sei, dann tritt an den
Staat die Aufgabe heran, der Exkommunikation zu ihrer Durch-
ftlhrung zu verhelfen.^ Gelangt diese Ansicht Wiclifs zum Sieg,
dann begreift man, daß ihn des Papstes Bann nimmermehr
treffen wird, denn er hat des Staates Sache zur eigenen gemacht:
indem er in seinem Buche vom Amt des Königs dessen Rechte
' p. 224: Quod st queratnr de legibas, de ballU et mandatts papalibii%
qnomodo debet obediri vel credi illis, patet qaod prccipuo tante, qtiante
sunt fundabilia ex scripturis. Er stellt die Frage swar allgemein, aber
die Nutzanwendung muß docli jeder Leser herausfinden. Zumal er auch
ganz persönlich spricht, p. 227: Et super isto fundo me quod nee credo
omnem excommnnicacionem, quam eciam papa intulerit, ene iustam, nee
approbo excommunicaeionem simpliciter nisi noverim quod persona ex-
communicatur per ecclesiam triumpbantem.
' Ad regem pertinet de talibus periculis precavere, p. 228.
* p. 228/9: Declarato igitur in coniunctis parliameuto et sjnodo,
quod quecunqne persona et precipue pastor cleri sit excommunicata spe-
cialitcr apud Deum, est remedinm penalis correccionis per regnuro, pro-
porcionaliter ad culpam, celeriter apponendnm, ut (cum omnis talis de
facto sit hereticus) punicio, quam laudat Augustinus Epistola XXXII ad
Bonifacium, qua Tbeodosius pecnnialiter puniyit hereticos, foretmitis:
vel sccundum leges ecclesie suspensio, deposicio Tel proscripcio foret
convenicns. So hat St. Gregor einen Bischof wegen einer voreiligen Ex-
kommunikation getadelt (s. Decret. caus. XXIV, q. III, cap. VI). Wünle
der Papst ebenso verfahren, so mtißte man einen großen Teil der jetzigen
Bischöfe suspendieren. Wenn er aber nicht einschreiten kann, ist es des
Königs Pflicht, hier einzutreten: Cum igitur papa et vicarius eius in
hac parte defuerit et propter longitudinem itineris et viarnm et discri-
mina non assit efficacio querulandi, ad regem pertinet spoUare et
in casu proscribere tales hereticos. Den Fall auf Wiclif angewen-
det: Die Bischöfe, die zu seiner Exkommunikation das Ihrige getan,
haben das Gericht und die Strafe des KOnigs zu gewftrtigen. Man darf
nicht gleich mit Kerkert^trafe beim Banne einschreiten (das war in der
päpstlichen Bulle der Universität Wiclif gegenüber aufgetragen worden),
denn dieses Heilmittel nützt selteu etwas: Ista, inquam Herodiana in-
carceracio sive cesarea, quantum occurrit mihi, non habet commen-
daci(>nem autenticam ex Scriptura. Nach solchen persönlichen Anzeichen
wäre dieses Buch De Officio Regis von den Herausgobern zu untersuchen
gewesen. Wie man schon aus diesen vorgebrachten Belegen sieht, ist die
Ausbeute keine geringe.
Stadien lur KirchenpoUtik Englands im 14. Jahrhundert. 73
und Pflichten erörtert, macht er sich zum Sachwalter der Inter-
essen Mes Staates. Das geschieht namentlich auch noch im
10. Kapitel, das auch sonst von Interesse ist, weil es wieder an
eine der 18 Thesen anknüpft.^ Es möge daraus nur die Stelle
hervorgehoben werden, in der er den Satz aufstellt, daß der
gesamte Klerus, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, auch den
Papst nicht ausgeschlossen, den weltlichen Herren gehorchen
muß^ wie die Heil. Schrift es verlangt und das Beispiel Christi
und der Heiligen es beweist.*
Bemerkenswert ist wohl auch noch das Moment, daß Wiclif
in den ersten Zeiten des Schismas, da ganz England zur römi-
schen Obödienz schwur, über einige Handlungen ,seines' Papstes
kritische Bedenken laut werden läßt, die bisher von unserer
Wiclifforschung nicht beachtet worden sind.^ Doch damit be-
rühren wir die Frage über die Beziehungen Wiclifs und seiner
Anhänger zum Papsttum, eine Frage, die nach vielen Seiten
hin bis zur Stunde auch noch ungelöst ist.
6. WieHf und das Papsttum.
1. Wiolif und die Frage der Anerkennung dos päpstlichen
Primates vor dem Ausbruch des Schismas.
Bekanntlich finden sich in allen Büchern und Flugschriften
Wichfs aus seinen letzten sechs Jahren heftige Angriffe auf das
* Die 8. These lautet: Xon est posiibüe homineni excommnnicari ad sui damp-
rmm nisi excommunicelur primo et principcUiter a »rmet ipso. Fase. ziz. 250.
Darauf kommt er wie schon im 39. Kapitel von De Civili Dominio 1
auch hier zu sprechen: Secundo principaliter ar^nitur contra tria dicta
XXXIX cap« UM proximi, p. 231. Die- Herausgeber hiitten diesen Irrtum
Wiclifii ausbess<^rn können. Der Liber proximus ist De Ecdesia und hat
nur 23 Kapitel. Gemeint ist De Civili Dominio I. Man wird auch daraus
jenes Schwanken über die Reihenfolge der einzelnen Bücher der Summa
sehen, das schon oben hervorgehoben worden ist. S. S. 64.
* Patet quod clerus ab infimo sacerdote nsque ad Roman um pontificem
debet pocins, humilius et multiplicios obedire domino seculari . . . Fina-
liier deprehendetur eorum stulticia, qui doginatisant, quod clerus nou
debet dominis saltem proprie obedire.
* p. 260: Unde videtur nostris, quod papa sit nimis acceptor personarum,
excommunicari mandans eos qui legunt vel audinnt civilia iura Parisius,
et in Anglia, ubi foret pocior racio prohibendi, anctorisat vel consentit
episcopis, qui eins audicionem licentiant et adaugcnt
74 VI. Abhandlung: Loserth.
Papsttam und die gesamte abendländische Hierarchie seiner
Zeit. Man vermöchte mit kappen Auszügen daraus ganze^Bände
zu füllen. Es wird hier genügen, auf die Inhaltsverzeichnisse der
einzebien Werke WicHfs in der von der Wiclif-Society heraus-
gegebenen Sammlung zu verweisen. Wenn man diese wuchtigen
Angriffe durchsieht, wird man beobachten können, daß sie sich
mit jedem Jahre verdichten und daß zum Schluß Papst und
Widerchrist als identische Begriffe erscheinen. Am heftigsten
sind die Angriffe in seinen kleinen Streitschriften, die er als
Flugschriften in die Welt hinaussandte und die sowolil in englischer
als lateinischer Sprache ihre Verbreitung gefunden haben. In-
dem man die letzten Schriften auf Wiclifs Beziehungen zu dem
Papsttum hin prüfte und sie mit denen yerglich, die den ersten
Jahren seiner reformatorischen Wirksamkeit angehören, konnte
man feststellen, daß diese Angriffe auch in diesen nicht ganz
fehlen, aber einen maßvollen Charakter tragen. Ja man fand
Stellen, in denen Wiclif ganz offen die Erklärung abgab, es sei
nicht seine Absicht, irgendetwas zu tun und zu sagen, was dem
päpstlichen Stande zur Unehre gereichen möchte — mit einem
Worte, es gibt Widersprüche, die denen um so schwerer zu lösen
sein werden, die mit der chronologischen Aufeinanderfolge der
einzelnen Werke Wiclifs nicht vertraut sind. Es mochte daher
als ein Verdienst Lechlers erscheinen, daß er den Versuch
machte, Klarheit in die Sache zu bringen und die Widersprüche,
die sich in den Sätzen Wiclifs finden, aufzuklären. Lechler
meint, daß sich in Wiclifs Ansichten vom Papsttum drei Ent-
wicklungsstufen nachweisen lassen, die sowohl sachUch als auch
zeitlich voneinander zu scheiden sind. Die erste — sie reicht
bis zum Ausbruch des Schismas — bedeutet eine gemäßigte
Anerkennung des päpstlichen Primats, die zweite, die bis zum
Jahre 1381 andauert, bezeichnet eine prinzipielle Emanzi-
pation vom Papsttum und die dritte dessen entschiedenste Be-
kämpfung.*
In ähnlicher Weise nimmt F. D. Matthew, der beste
Wiclif kenner Englands in unseren Tagen, an, daß der Ausbruch
des Schismas in den Überzeugungen Wiclifs vom Wesen und
' Lechler, Johann von Wiclif I, 675 ff ; so aach in der englischen Ober-
Setzung Lorimera, p. 312.
Stadien znr KircheDpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 75
den Aufgaben des Papsttums einen Wendepunkt bedeutet.* In
ähnlicher Weise wie Lechler hat auch Buddensieg gemeint,
daß WicUf bis zum Ausbruch des Schismas noch weit davon
entfernt war, den päpstlichen Primat in seinem Kern und Wesen
anzugreifen. Erst seit 1378 sei er in einen prinzipiellen Gegen-
satz zum Papsttum getreten und habe sich von ihm grundsätz-
lich losgesagt.'
Ich vermag dieser Ansicht nicht beizustimmen. Am wenig-
sten der Dreiteilung Lechlers. Wenn WicUf nach Lechlers Be-
hauptung — dieser würde heute, da das Quellenmaterial zur Er-
örterung dieser Frage in ziemlicher Vollständigkeit vorliegt, sein
Urteil kaum aufrechthalten — bis 1378 weit davon entfernt ist,
das Papsttum in seinem Wesen anzugreifen, ihm vielmehr als
der kirchlichen Zentralgewalt eine wirkliche und ungeheuchelte
Achtung entgegenbringt, so stimmt das mit verschiedenen An-
gaben in solchen Büchern WicHfs nicht, deren Abfassungszeit
noch vor dem Ausbruch des Schismas gelegen ist. Und LeclJer
selbst ist genötigt, seinen Behauptungen derartige Einschrän-
kungen beizugeben, die jene nahezu aufheben: zum andern,
sagt er, was das rein kirchliche und geistliche Gebiet betrifft,
richtet Wiclif insofern eine Schranke auf, als er die angebliche
Heilsnotwendigkeit und unbedingte Vollmacht des Papsttums
verneint Mehr Gewicht als auf den Ausbruch des Schismas
möchte ich auf Gregors XI. Vorgehen gegen Wiclif legen, das
ihn bekanntlich in so hohem Grade erbittert hat, daß er gegen
diesen Papst nicht gehässig genug lautende Worte finden kann.
Leider wissen wir von älteren kirchenpolitischen Schriften Wi-
clifs, die etwa vor die Zeit der Abfassung der ersten Bücher der
Summa zu legen wären, nichts: es ist noch zweifelhaft, ob es
solche überhaupt gegeben hat; aber schon die ersten Bücher
von De Civili Dominio lassen über Wiclifs Stellung zum Papst-
tum keinen Zweifel aufkommen; und damit stimmen von den
18 Thesen die 7. bis 14. und die 18. überein. Wer die Folge-
rungen aus diesen Thesen zieht, wird die Annahme eines päpst-
^ The EnglUh Worka of Wyclif hitherto unprinted, p. XV: Hitherto,
however seTerely he spoke of the Pope and the Curia, he had ackuow-
ledged the primacy of the Roman See; now ho began to proclaim, that
the Church wonld be better withont a Pope.
* Baddenaieg, Johann Wiclif und seine Zeit, p. 161.
76 VI. Abhandlung: Loserth.
liehen Primates nicht zugeben können. WicHfs Ansichten und
Lehren vom Papsttum sind vor und nach dem Schisma nicht
wesentlich voneinander verschieden. Sie unterscheiden sich von
einander nicht in der Sache selbst, sondern nur in dem mehr
oder minder gesteigerten Ton der Darstellung oder, wenn man
will, in der großen Leidenschaftlichkeit, mit der er der Lehre
vom falschen Papsttum in den letzten Lebensjahren an den Leib
rückt; doch davon später. Wie vertragen sich mit einer selbst
nur gemäßigten Anerkennung des päpstlichen Primates jene
scharfen Stellen in seinem Werke De (Jlvili Datninio, in denen
er die Heilsnotwendigkeit des Papsttums in kräftigster Weise
leugnet?^ Und doch ist dies Buch noch ein Jahr vor dem Aus-
' Es niAg gestattet sein, wenigstens in einer Note eine kleine BlOtenles«
bezüglicher Stellen aneinander zu reihen. Wir w&blen absichtlich allein
den ersten Band Yon De Civil! Dominio, weil bei dessen Abfassung dio
päpstliche Verurteilung seiner Thesen noch nicht erfolgt, sein persön-
liches Verhftltnis zum Papste Gregor XI. sonach hierdurch noch nicht
getrflbt war. De Civili Dominio 1,415: (Deus) non promisit quod qoi-
cunque in isto loco (Roma) vel officio illo (qua Romanas episeopus) poat
Petrum successerit, gaudebit dignitate ut sit caput ecdesie . • . Conside*
ret (papa), quomodo ordinacione imperatornm habet primatnm huiusmodi
et non a Deo (non) racione loci sed racione meriti. (So wird diese kor-
rumpierte Stelle zu andern sein.) Oder I, 380: Ex istis colligi polest
qnod nnllum papam cum cetu cardinalinm citra Christum sit absolute
necessarium capitaliter regere ecclesiam sanctam. (Motiv: Der Papst
kann sündigen, dann hOrt er auf, Mitglied der Kirche zu sein. Anderes
Motiv: Christus selbst und sein Gesetz genügt zur Leitung der Kirche.)
Man kann also als Christ ohne Papst leben: Sufficit enim modo, sicut
sufTecit in primitiva ecclcsia quod christianns sit in gracia, credendo in
Christum, licet nullum alinm caput ecclesie ipsum direxerit. Es gibt
Zeiten, wo kein Papst da ist: tempore medio inter mortem pape prece-
dentis et eleccionem pape sequentis militat ecclesia sponsa Christi . . .
Absolute necessarium est qnod ecclesia Christi non desinat . . . sed nuUa
persona citra Christum absolute necessaria requiritur ad componen-
dum dictam ecclesiam . . . Credere dobet catholicus quod nee Impera-
tor nee ecclesia universalis nee Deus deposita sna absoluta
(auch hier liegt offenbar ein <erer oder jüngerer Lesefehler vor: de
potestate sua absoluta) ordinäre potest: Pro co ipso, quo quis suc-
cedit post Petrum, vocatus in facie ecclesie Romanus episeopus, eo ipso
Sit caput vel pars ecclesie, cui obediendum esset ut evangelio J^sn
Christi ... Als eine Blasphemie des Anttchrists wird hingestellt der
Satz: Credcndnm et obediendum est necesse, ergo illi Romano pontifiei.
Man darf, sagt er p. 381, der rOmischeu Kirche eine gewisse Ansaeich*
Stadien sur Kircbenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 77
•
brach des großen Schismas geschrieben. Dasselbe Verhältnis
findet sich in dem Werke von der Heil. Schrift. Aus den zahl-
reichen Stellen, die das Papsttum berühren, wird man keine
einzige herauszuheben imstande sein, die den päpstlichen Primat
irgendwie anerkennen wllrde. Er tadelt vielmehr aufs schärfste
jene Leute, die die Machtfülle des Papstes ins Ungemessene
ausdehnen und aus ihm ,einen Gott auf Erden' machen wollen,
indes er gerade nur so viel Rechte in Anspruch nehmen darf,
als sich aus der Bibel begründen lassen.^ Wenn man von den
,erträumten höheren Aufgaben' spricht, zu denen man diese
Hierarchie brauche, so steht aus der Bibel fest, daß der Ver-
lobte der Kirche (Christus) und seine Jünger ausreichten, die
Menschen im Glauben und in der Tugend zu unterrichten.
Diese und eine große Anzahl anderer Sätze Wiclifs lehren, daß
er über das Wesen des Papsttums und seine Befugnisse schon
vor dem Ausbruch des Schismas nicht anders gedacht hat als
nachher.* Vielleicht sind auch noch die ersten Kapitel des
nung zuerkennen, aber: non negando quin sit ecclesia Indica, Greca,
Gallicana, Anglicana et sie de quibuscnnque locis que secundam partem
papa inhabitat. Eine jede von diesen partikularen Kirchen kann ihren
Papst haben und keiner (von diesen Päpsten) hat es notwendig, seinen
Rekurs an einem anderen zu nehmen als an Jesus Christus (nullam per-
sonam citra Christum lequirit aliam) . . . Mit solchen Lehren ist doch
keine Anerkennung irgendeines Primates verbunden. Natürlich fehlt es
im 2. und 3. Buche von De Civili Dominio noch weniger an Stellen wie
solche, daß die Päpste den Königen zu gehorchen, Steuern und Abgaben
zu entrichten haben usw.
De VeritcUe Saere Scripture II, 134/5: Modo dicit gens illa quod facultas
theologica (wie Wiclif ihr angehört) sit summe superflua pcrturbans cc-
clesiam. Ideo sui professores sunt per fas vel ncfas omnimode extinguendi,
eo quod sunt contrarii operibus, quibus prepositi diripiunt bona paupe-
rum, Inxuriantur tam corporaliter quam spiritualitcr et gregem subiec-
tum multipliciter ducunt in precipicium, nunc palliatis excommunica-
cionibus deterrendo, nunc interdictis, crucis lev.icionibus et aliis coiisuris
sophisticis comminando et nunc in blasferoiam summe execrabilem pro-
rumpendo: quod dominus papa, caput legis sue, sit paris autoritatis cum
Christo humaniius, cum sit Dens in terris, potens ad votum extrahere
de thesauro meritorum ecclosie triumphantis et imperativi ecclesie mili-
tanti absolvendo a peua et a culpa, eo ipso, quod pretendit se solvere
et ligare.
Bttddensieg hat fUr den Leser die sämtlichen Stellen im Register anein-
andergereiht, so daß es überflüssig ist, noch mehrere anzuführen.
78 VI. Abb«ndlang: Loserth.
Buches von der Kirche vor dem Ausbruch des Schismas ge-
schrieben worden, d. h. vor der Wahl des Gegenpapstes.* Wenn
man hier Sätze Uest wie die: Kein Papst darf behaupten, daß
er das Haupt der Kirche sei, weiß er doch nicht, ob er prä-
destiniert, also überhaupt nur Mitglied der Kirche sei usw., so
wird man darin doch auch keine Anerkennung eines Primates
sehen. Oder wenn es heißt: Bei jedem Befehle des Papstes muß
man erst fragen, ob dajs, was er anordnet, auch schriftgemäß
sei. Man wird aus alledem entnehmen, daß das Schisma auf
Wiclifs Lehre vom Papsttum nicht jene Wirkungen gehabt hat,
die man gemeiniglich annimmt. Daß freilich das Schisma einen
großen Eindruck auf ihn machte, ist sicher, und da dieser in
seinen Schriften deutlich zum Ausdrucke gelangt, lohnt es sich,
einen Augenblick bei der Stellungnahme Englands zum Schisma
zu verweilen.
Die Beziehungen Englands zum Papsttum beim Ausbruch
des Schismas hat Noel Valois in trefflicher Weise auseinander-
gesetzt. Aber es ist freilich nur das offizielle England, das zu
Worte kommt. Da in jenen Tagen ausgesprochene Gegner des
herrschenden kirchlichen Systems eine einflußreiche Rolle in
England gespielt haben, hätte auch die Frage über das Verhält-
nis der kirchlichen Reformpartei in England zum großen Schisma
eine eingehende Würdigung verdient. Unter den Monarchen war
Kaiser Karl FV. der erste, dem von der Wahl Urbans VI. Kunde
zukam: es geschah dies durch einen Brief, den der Kardinal
Robert von Genf am 14. April an den Kaiser richtete.* Die
offizielle Mitteilung durch das Kardinalskollegium erfolgte am
8. Mai. Dieses Schreiben, das die kanonische Wahl Urbans VI.
betonte,^ wurde wie in anderen Ländern, so auch in England
bekannt* Heinrich Knyghton meldet, der Kaiser habe das
* Die oft zitierte Stelle, in der er Gott pries, weil er der Kirche jetst
(diebus istis) ein 8o katholisches Oberhaupt gegeben, deutet noch nicht
das mindeste von einem Gegen papste an.
* Pastor, Gesch. der Päpste I, G86. S. dasn Steinherz, Das Schisma Ton
1378 nnd die Haltung Karls IV. Mitt. d. Instituts f. Osterr. Geschichts-
forschung XXI, 15.
* Libere et unanimiter direximus rota nostra, eum ad celsitudinis apoato-
licae specula concorditer evocantes . . . Chronicon Henrici Knygton II, 128.
* Wohin ja auch schon das päpstliche Kundschreiben über die Wahl Ur-
bans VI. (Baronius, Ann. Eccl. a. a. 1378) gelangt war.
Stadien zur Kircheopolitik KngUnds im 14. Jahrhundert. 79
Schreiben der Kardinäle unter seinem and dem Siegel von 15
anderen Herren an der Kirche von St. Peter anheften lassen.
Auch Wiclif hat dieses Schreiben gekannt. Überhaupt wird man
festhalten müssen, daß die Vorkommnisse in Rom, wo gerade
in der österlichen Zeit Pilger aus allen Ländern eingetroffen
waren, rasch in die Feme verbreitet wurden. Als das Schisma
ausgebrochen war, sandte Urban VI. einen Gesandten Charlot
Maramaur nach England, um den König über die jüngsten Vor-
kommnisse zu unterrichten.* Der Gesandte, den Richard II.
zurückbehielt, bekam vom König am 20. September 1378 eine
lebenslängliche Pension von 25 Mark zugewiesen. Beachtens-
wert ist es, daß man das Vorgehen der Kardinäle wider Ur-
ban VI. in England in erster Linie dem Umstände zuschrieb,
daß der Papst Gerechtigkeit übte und gegen die Hab-
sucht und Schwelgerei der Kardinäle auftrat. Das gelbe
Metall, sagt Walsingham, habe sie ihrer Pflichten gegen jene
Völker, zu denen sie gesandt waren, vergessen lassen.' Das
war nun auch ganz die Meinung Wiclifs, wie sie in England
in allen Kreisen verbreitet war. Beachtenswert ist auch das
Motiv, das man sich in England für das ungestüme Vorgehen
des Papstes gegen Jean de la Grange, den Kardinal von Amiens,
erzählte: er habe den von Gregor XI. ersehnten Frieden zwi-
schen England und Frankreich hintertrieben.* In England, wo
man anfänglich die tieferen Motive des Konfliktes zwischen dem
Papsttum und dem Kardinalate nicht erkannte, wo alles, wie
man aus so vielen Schriften Wiclifs sieht, den Frieden ernstlich
ersehnte, hielt man sich um so eifriger an Urban VI. und bil-
ligte dessen Vorgehen gegen die Kardinäle. Es folgt nun zuerst
der versteckte Krieg zwischen Papsttum und Kardinalat, dann
des letzteren offene Absage an den Papst, der, wie bemerkt,
seinen Gesandten nach England schickt, um hier aufklärend zu
wirken. Das tat nun auch der Gegenpapst. Jene verbreiteten
offenbar die Erzählungen über die Genesis des Schismas, wie
man sie in den Chroniken eines Thomas Walsingham, im Ap-
pendix zum Ranulphus de Higden, in der Continuatio Eulogii,
* Rymer, Foedera II, 49.
* Walsingham I, 381: Fulvo corropti mctallo aut excecati pecunia plus
▼enabantur argentam, qaam paccm gentium.
* S. die Zosammenstellang der Quellen bei Valoia I, 71.
80 VI. Abhandlung: Loserth.
im Chronikon des Henricus Enighton u. a. findet/ soweit sich
ihre Kenntnis nicht schon durch engHsche Rorafahrer im Lande
verbreitet hatte. Wie das Eulogium Historiarum meldet, ließ
der König beide Gesandtschaften durch den Erzbischof von
Canterbury verhören und ihn die Entscheidung fällen, an wel-
chen der beiden Päpste man sich zu halten habe. Der Erz-
bischof wies nun aus den Schriften der Kardinäle selbst ihr
Unrecht und die RechtsglÜtigkeit ihrer ersten Wahl nach.* Nach-
dem er sich über den Sachverhalt belehrt/ kam er ins Parla-
ment: So würde ich, sagt er, wünschen, vor Gott zu sprechen:
Haltet Euch an Urban VI.* Und so wurde hier die Obödienz
für Urban VI. beschlossen.
Hat Wiclif auf die Beschlußfassung eingewirkt? Wir wer-
den daran nicht zweifeln dürfen, wenn wir Wiclifs Wertschätzung
des neuen Papstes, von dem weiter unten noch die Rede sein
wird, im Auge behalten. Das Parlament von Gloucester stand
unter dem Einflüsse Herzog Johanns von Lancaster, und dessen
Vertrauensmann war Wiclif — jetzt vielleicht mehr als jemals
früher. Darum die Sorge, die in den Klosterchroniken Englands
aus jenen Tagen einen breiten Raum einnimmt: man werde
Hand auf das Vermögen der Kirche Englands legen ^ und habe
eben deshalb einen von London weitab liegenden Platz für das
Parlament ausgesucht, um dem Einflüsse der Londoner, falls
diese für die Mönche eintreten würden, entrückt zu sein. Andere
* Walsingham I, 212: DecUrantes iniarias et damna qae idcm dominus
papa pertulit insolencia apostatarnm cardinalium, qui nitebantar eun-
dem cam uni versa ecclesia sabvertere et infirroare.
' Invenit in eomm litcris electionem factam de illo Apostolico et ita lu-
culenter iUoram populo declaravit errorem . . .; ibid. 213.
' Eul Hist. III, 347: Auditis partibus.
* Sicut rcspondere volo coram Deo: Recipiatis Urban am.
^ AValsingham I, 380: Retulit fama vulgaris, quod inestimabilt summa pe-
cuniae decreverant regnum multasse ac eciam Sanctam ecclesiam de
pluribos possessionibus spoliasse, si faissent snum perversum propositum
consecuti. In gleicher Weise das Chronicon Angliae, p. 211: nur wird
hier noch die PersOnltclikeit Jobanns von Lancastor genannt, die Ur-
heberin der ganzen Geschichte ist, und dessen Verbindung mit Wiclif
ließ nicht viel Gutes erwarten. Im Appendix zum Chronicon des Kanal-
phus liest man p. 449: In whiche parliament princes and lorde^ acom-
panyede to theim diverse doctors and clerkes to consente to theim, in-
te ndinge uttcrly to destroy the privilegc of churches.
Stadien sur Kircbenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 81
fürchteten für ihre kirchlichen Freiheiten; in der Tat war diese
Furcht keine grundlose, und es war ein merkwürdiges Zu-
sammentreffen von Umständen, daß nun gerade während der
Anwesenheit der päpstlichen Gesandtschaft im Parlament kirchen-
politische Fragen von prinzipieller Bedeutung zur Verhandlung
kamen. Die Gesandten Urbans VI. konnten sich hier die Über-
zeugung verschaffen, daß die kircheupolitischen Ansichten der
neuen Regierung nicht um ein Haar breit von jenen abwichen,
die Eduard lU. gehabt hatte. In offener Sitzung konnten sie
nun jenen Mann, gegen den anderthalb Jahre zuvor der Bann-
strahl gezückt worden war, namens und im Auftrage der Re-
gierung deren Unternehmen gegen die Westminsterabtei — die
poUutio Westmonasterii ^ — verteidigen und die Beweise dafür
* Was Wiclif im Parlamente vortrug, ist das Gatachten De captivo Hitpa-
nenn sive De filio comilis de Dene (Shirley, A Catalogue, p. 23, Nr. 66),
wie Shirlej es mit Recht betitelt hat: On the privilege of tanctuaries.
Wiclif hat es als Kapitel VlI seinem Bnch De Ecdetia einverleibt. Anch
die nächstfolgenden Kapitel enthalten Ausführungen über diese Sache,
und es mag hiervon noch ein und das andere im Parlament gesagt wor-
den sein. Die Continuatio £ulogii Uistoriarum gibt, was bei
Wiclif fehlt, den Wortlaut des betreffenden Beschlusses: Declaratumque
fuit ibidem, quod rex potest concedere libertatem ad tempns illis qui
ccciderunt a casu in inpotenciam solvendi utpote per rapinam, combu-
stioncm vel submersionem usque ad tempus potenciae solvendi: sed rex
non potest concedere raptori vel fraudulento detentori rei
aliene, nt gaudeat tali übertäte, quod cogi non possit ad sol-
vendum et parciatur inde cum abbate pro domus locacione.
Hoc nou Privilegium sed pravilegium dici debet. Die Continuatio Eulogii
hat uns in einigen HauptsXtzen die ganze Parlamentsaktion in dieser
Westminstersache mitgeteilt. Man entnimmt daraus, daß die Ansichten,
die Wiclif in seinem Gutachten vortrug, im Parlament zur Geltung
kamen. Das Enlogium Historiarum zitiert ein Stück ans der Stiftungs-
Urkunde der Westminsterabtei und fügt dann an, daß dieses Privilegium
in diversis casibus, qui possunt contingere, periculosum esset observare;
Wiclif führt diese Casus an. Das Eulogium sagt: Et quod ecclesia illa
non magis modo polluta fuit quam quando monachus olim monachum
iuxU summum altare interfecit . . . Und bei Wiclif (p. 229) liest man :
Nee consonat fidei religionis Christi, quod monachus, si per possibile
occiderit hominem in dicto ioco, erit post liberior... oder:
Eulogium Historiarum III, p. 346:
Rex non non potest dispensare
cum minima concupiscentia rei
De Ecclesia, p. 236:
Si ergo non licet alicui dispen-
sare cum aliquo preceptornm do-
aliene contra mandatum Dei ... | mini, manifestum videtur, quod non
Sitsufibw. d. pkU.-Ust. Kl. 166. Bd. S. Abh. 6
82 VI. Abhandlung: Loserth.
erbringen höreO; daß der König unter Umständen über das
Asylrecht einer Kirche hinausgehen könne. Der Motivenbericht,
den Wiclif vorlegte, enthält einen guten Teil seiner reformato-
rischen Tendenzen. Die Westminsterabtei wurde nicht bloß selbst
wegen Verachtung der Landesgesetze, beziehungsweise des Kö-
nigs, auf das empfindlichste gestraft:^ auch die ganze Debatte
über den Gegenstand gestaltete sich für die kirchliche Partei
zu einer höchst unerquicklichen, indem der volle Gegensatz
zwischen den Ansprüchen jener und den Interessen des Staates
zum Ausdrucke kam.* Man wird nicht finden, daß Wiclif, der
die letzteren zu verteidigen hatte, auch nur ein Titelchen von
den Rechten des Staates preisgegeben hätte; vielmehr kommt
er auch in seinem Parlamentsgutachten wiederholt auf einzelne
der von der Kurie verurteilten Thesen wieder zurück.' Nament-
lich sind es jene, die gegen die Fortdauer geistlicher Stiftungen
oder davon sprechen, daß man dem Klerus unter Umständen
den weltlichen Besitz zu entziehen das Recht habe. Daß die
englische Geschichte reich an Beispielen für diese Praxis ist,
mag von einzelnen betont worden sein. Dem König wird hier
snbiacet poteatati hamane priTÜe-
giare locnm rel hominem, nt liceat
sibi yivere contra mandatum domi-
nicam . . .
oder:
Et nundine CaDtuaricnscs in
yico principali statuebantur . . .
pertinaciter defendunt qaod in ec-
clesiis suiB ac cimiteriia suis tint
nandine et secalaria negoeia, qoe
nunquam Bine dolo et crimine mal-
tiplici ezercentnr.
* Westmonasterinm propter contemptam regia (dies iat der techniiehe Aus-
druck) in non Teniendo alias ad citaciones snas prirabatur temporal ibus,
ita ut vix sex solidos et octo denarios haberet pro esculentis et pocu-
lentis . . . Eulog. Hist. III, 346.
' Man kann die Debatte im Parlament nocb verfolgen 1. ans den ein-
seinen Sätsen der Darstellung im Eulogium Historiarum, 2. indem Wiclif
in dem Buche De Ecclesia auf Einwendungen su sprechen kommt, die
gegen seine Darlegungen gemacht worden waren. Z. B. p. 272: Unde
audivi quenidam doctorem negare consequenciam etc. . . .
' Die dritte These lautet: Carte humanUut adinvenle de herediUUe perpetua
»unt imposnbüe». Man yergleiche damit De Ecclesia, p. 27S: Videtur
quod mtäte carte perpelue eUnio^ine »apiuni . . . blatphemutm et MU p e r b i am
... p. 277: Homo non potest ratificare perpetuitatem dominii . . .
Stadien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 83
geradezu das Recht zuerkannt, ein jedes Privilegium irgend-
eines seiner Vorgänger zu widerrufen.* Man kann noch weiter-
gehen und sagen, daß der Motivenbericht zu dem Parlaments-
gutachten WicKfs erst eine rechte Begründung der einschlägigen
Thesen enthielt, ohne die sie mitunter noch etwas unklarer
bleiben. Wie stark der Streit um die 18 Thesen selbst jetzt
noch in diesem Motivenberichte nachwirkt, mag man daraus
entnehmen, daß er sich hier wie damals fast mit den gleichen
Worten dagegen verwahrt, daß er die weltlichen Herren anreize,
die Güter der Kirche einzuziehen.* Wenn sich, was ja nicht
unmögUch ist, die Gesandten des Papstes im Parlamente ein-
fanden und die Westminsterdebatte anhörten, so wird man
ihnen gesagt haben, daß Wiclif in nachdrücklichen Worten dem
Papste das Recht bestritt, Zahlungen von England und seinem
Könige einzufordern, daß Besitzrechte und Einkünfte, auf die
er in England Ansprüche machen wolle, nur dann zugebilligt
werden können, wenn sie vom König, von dem sie zu Lehen
gehen, freiwillig ratifiziert werden: denn das Königreich Eng-
land ist weder dem Kaisertum unterworfen noch dem Teile des
Reiches,' der dem Papste zugeteilt ist.* Wir haben das Gut-
achten Wiclifs für das Parlament deswegen etwas stärker heraus-
gehoben, weil es den Vortragenden selbst in dem Augen-
blicke zeigt, in welchem sein Einfluß wohl am höch-
^ Eulogtum Historiarnm m, 346: Et qaod rez priyilegium predeceBsoris
sui possit soBpendere et revocare . . . Vgl. De Ecclesia, p. 279: Rex debet
corrigere errores tarn sui quam progenitorum suorum.
' S. oben. Man mag daxu noch folgende Stelle hereinziehen:
Walsingham I, 369:
8ed absit ex illo credere qaod
intencionis mee sit aecalares domi-
no8 licite posse anferre qnandocnn-
qae et quomodoeunque Tolaerint
etc. . . .
De Ecclesia, p. 281 :
Sed absit, ut aliqniB reportet
me, qaod dem occasionem dominis
temporal ibns ad spoliandum sanc-
tam ecclesiam yel ad conti nuand um
(sie) elemosinas, qaas progenitoros
eoram inceperant . . .
' Infolge der konstantinischen Schenkang.
* De Ecclesia, p. 281/2: Non pertinet ad papam propter obligacionem
regis et regni antiquis temporibos pensionem vel elemosinam annualem
ab istis reqairere; nam in lege Christi talis perpetuus redditus non ha-
betar, nee ex lege imperial! post dotacionem factam a cesare . . . Papa
. . . omnia, qae habet in Anglia, tenet de rege tum quia dominium regni
nostri non est sabiectum imperio . . .
6*
84 VI. Abhandlung: Loserth.
sten stand. Man mag daraus entnehmen, wie schwer es den
^geistlichen Behörden gemacht ward, wider ihn einzuschreiten.
Vonseiten der Kurie selbst ist weder jetzt noch während der
ganzen noch übrigen Lebenszeit Wiciifs ein Schritt gegen ihn
getan worden. Jetzt verteidigt er laut seinen Herrn, den Herzog
Johann von Lancaster, und teilt einen bezeichnenden Ausspruch
aus dessen Munde mit, der ersehen lasse, daß es bei dieser
Westminstersache nicht in seinen Absichten lag, etwas zu tun,
was gegen die Privilegien der Abtei verstoßen hätte.*
Während das Parlament sonach für die Obödienz Urbans VI.
eintritt,* werden alle die alten und neueren kirchenpolitiscfaen
Gesetze, um die in den Tagen Eduards HI. so lange gekämpft
wurde, aufs strengste durchgeführt. Im nächsten Parlament, das
im März in London tagt, wird die Westminstersache gänzlich
beigelegt, aber kaum nach dem Wunsche des Klerus: in Zu-
kunft sollte das Asylrecht nicht unter allen Umständen Geltung
haben; jenen, die, imi der Schuldhaft zu entgehen, das Asyl
einer Kirche aufsuchen wollen, wird staatlicherseits ein Riegel
vorgeschoben. Und nicht anders ist das Verhalten der Regie-
rung bei den kirchlichen Wahlen,^ bei Provisionen des Papstes
usw. Wir übergehen einzelne Beispiele und haben auch nur
das Vorhergehende erwähnt, weil es mehr als anderes den großen
Einfluß bezeugt, den die Reformpartei in England besitzt Da-
hin gehört ja wohl auch die außerordentlich scharfe Besteuerung
des reichen Klerus, sie ist unter jene Maßregeln zu ziehen, die
in letzter Linie auf WicHf zurückgehen und über die in den
klösterlichen Kreisen des Landes so sehr geklagt wird.*
' p. 266: Nam sentencia domini mei, domini dueis fait, quod conseira-
retur in eis qaodcnnqno privilegiam ... in tantum quod audiTimiis eum
dicere, quod tolerabile foret, ut profugi haberent ibi refu^am in canaa
alicuius specici criminis lese regio maiestatis . . .
* In England spricht man jetzt schon nicht mehr: Clemens sed demens . . .
Walsingham I, 393.
' Der Fall von Edmundsbnry, von dem in den Chroniken Englands aus
jener Zeit viel die Rede ist, ist in der Beziehung sehr lehrreich; s. Wal-
singham I|414, 417, 428. Der Papst traut sich nicht, eine Provision, die
er vorgrenommen, aufrecht zu halten.
* Walsingham I, 392: In quo decreto patet roanifestius eos bono iudicio
caruisse, quia talia statuere, dum quilibet pauperrimns abbas pro cor-
nibus suis teneretur solvere tantum, sicut ditissimos comitum vel episeo-
porum . . .
Stadien zur Kirchenpolttik Englands im 14. Jahrhundert. 85
Um auf die päpstliche Gesandtschaft zarUckzukommen
wurde die Persönlichkeit eines Papstes^ dessen erstes Auftreten
das eines Reformpapstes war, von der englischen Reformpartei
mit unverhohlener Freude begrüßt: ein Papst, der kein Fran-
zose, kein Angehöriger des Erbfeindes war, der nicht, wenn er
zwei Seelen hätte, die eine für seinen französischen Freund
dahingehen möchte, hatte von vornherein alle Sympathien im
Lande iUr sich, und was man jetzt von einem und dem anderen
Gegner dieses Papstes vernahm, wie von dem stolzen Jean de
la Grange, vermehrte die Sympathien, die man für den Neu-
gewählten hatte.
Indem England Urban VI. als den rechtmäßigen Papst
anerkannte, ist er für Wiclif wie für jeden rechten Engländer
,unser' Papst oder ,unser^ Urban und dies ,un8er^ ist nun fast
stets das Epiiheian omans, das diesem Papste in Wiclifs Schriften
zuteil wird. Da spielen in den meisten Fällen keine anderen
Rücksichten als die auf den Staat mit. Die moderne Kritik hat
aus dem Umstände, daß WicHf den Papst Urban VI. meist
,unseren' Urban nennt, gewisse Schlußfolgerungen gezogen, wie
die oben erwähnten, womach es vornehmlich die moralischen
Qualitäten dieses Papstes waren, die ihn zur Anerkennung Ur-
bans bewogen, und daß Wiclif sich in dem Augenblicke von
ihm abwandte, da er sich in seinen Erwartungen getäuscht sah.
Diese Ansicht ist nicht zutreflfend. Als strenger Anhänger und
Freund der staatlichen Rechte der kirchlichen Gewalt gegen-
über war seine Stellungnahme gegen den Papst durch die Rück-
sicht auf den Staat vorgeschrieben. Er nennt den Papst ,un8eren
Urban' noch in einer Zeit, wo seine Überzeugung von den sitt-
lichen Qualitäten dieses Papstes längst eine andere war als 1378.^
Dieser Ausdruck ,unser' Urban ist demnach so zu verstehen:
Urban VI., den England als Papst anerkennt. Bezöge
*■ In der 65. Predigt des zweiten Teiles der Predigten liest man: Et uti-
nam regnum Anglie attenderet et servaret istam sentenciam ; tnnc enim
non foret depauperatum regnum per ambos ypocritas sicut modo.
Qewiß ein starker Ausdruck 1 Und nun beachte man, daß er in dem-
selben Teile seiner Predigten (Sermo X, p. 70) sagt: Et ex hinc senten-
ciatur dissensio de eleccione Roberti Gibboneusis ut nostri Urban i.
Und so auch Serm. III, p. 161: Sic enim dicitur Urbanus noster cum
suis cardinalibus excommunicare Qybbonensem...; p. 222: cum in
prima creacione Urbani nostri . . .; p. 276: quem Urbanus noster . . .
86 VL Abhandlung: Loserth.
sich das ,noster' auf eine Anerkennting des Papstes im Hin-
blick auf dessen sittlichen Vorzüge vor seinem Gegner, wie
ließe sich die Stelle in der 33. Predigt des dritten Teiles seiner
Predigten erklären, in der er sagt: Wir sagen, daß nnser Urban,
dem wir mehr Glauben schenken, uns als wahrer Papst gilt,
weil es zum Seelenheil hierzu als notwendig erachtet wird. Wir
lehren auch, daß wir ,unserem' Urban, dem Robert von Genf
und so jedem anderen gehorchen wollen, soweit sie das evan-
gclische Gesetz verkündigen; weiter aber nicht. Hier ist ihm
der eine so gut als der andere, sofern er Gottes Gesetz
verkündigt. De Eucharistia ist gleichfalls in einer Zeit ge-
schrieben worden, in der WicUfs Glaube an Urban VI. als einen
Reformpapst erschüttert war, und dennoch nennt er ihn Urbanus
noster.^ Ja diese Stelle scheint geradezu den Beweis zu abringen,
daß das ,noster^ nicht in dem Sinne einer persönlichen Aner-
kennung vermöge der sittlichen Hoheit des Papstes zu verstehen
ist. Denn in der betreffenden Stelle macht er die Rechtmäßig-
keit des einen oder des anderen Papstes davon abhängig, wie
sich der eine oder der andere zu seiner Lehre vom Abendmalil
stellen werde. In dem Traktate De Simonia wünscht er, daß
,un8er^ Urban auf allen Reichtum der Erde Verzicht leisten
möchte, wie es Petrus tat.' Alles das sagt er in einer Zeit, in
der er schreibt: Und es gibt gute Christenmenschen, die weder
von diesem (Urban) noch von jenem (Klemens) etwas wissen.
Der Glaube an unsem Herrn Jesus Christus allein genügt.' Ja
Wiclif nennt Urban VI. noch den Unseren in einer Zeit, in
der er schreibt: O, wenn doch unser Reich einst nach Urbans VL
Tode durch die Satrapen nicht so verführt würde, daß es sich
von einem derartigen Oberhaupte zu befreien vermöchte und
daß es diese Bla.>phemie von sich abtun könnte, daß es zum
Seelenheil der Christen nötig sei, einem solchen Oberhaupte
Obödienz zu leisten. Dann, fürwahr, wäre die Blasphemie des
Antichrists vernichtet.^ In demselben Atemzug, wo er dies
> p. 125.
* p. 67: O quam gloriosum foret exempUr ecclesie, si Urbanas noster VI.
renunctaret omniboB mandi divictts sicnt Petrus.
' De AposUBia: Sic etiam vivant mnlti fideles in diTisione Urbani et Ro-
bertt nee non in altis contrattia eonrenia per alios apostolos, qai ifno.
rant utrnmqae istoram . ..
* De Bla-^phemia, p. 7, 8.
Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 87
sagt, nennt er Urban den Unseren.' Ja, was will man mehr,
er wünscht, daß ,unser' Urban von seinem Gegner exkommu-
niziert würde, und so gibt es noch eine ziemliche Anzahl von
Belegstellen, die es erweisen, daß ,unser' Urban, das heißt der-
selbe, der die staatliche Anerkennung in England gefunden hat,
nicht ,unser' Urban, d. h. nicht der Mann ist, der dem Ideale
Wiclifs von dem wahren Papste entspricht. So kommt es, daß
ihm am Ende seines Lebens — im Opus Evangelicum — ein
Papst so gut oder so schlecht als der andere ist; die Franzosen
schelten uns ob der Anhänglichkeit an unseren Urban, wir sie
für ihre Obödienz gegen Riemens VII.; auswärts Stehende
schelten uns beide als Ketzer, weil wir den Glauben an unser
Evangelium verloren haben. Aus dem ,noster' Urbanus in den
verschiedenen Schriften Wiclifs sind demnach die oben ge-
nannten Folgerungen nicht zu ziehen. Gleichwohl ist es sicher,
daß WicUf anfangs die Überzeugung hegte, daß der von Eng-
land anerkannte Papst ein wahrer Beformpapst sein würde.
Welche Hofihungen in ihm durch die Wahl Urbans VI.
rege wurden, entnimmt man jener Flugschrift, denn einen Brief
darf man sie nicht nennen, die er bei diesem Anlaß an den
Papst gerichtet hat.* Man hat ihren Zweck gänzlich verkannt,
wenn man sie mit Shirley, Lechler und anderen in das Jahr
1384 verlegt' Sie gehört in das Jahr 1378. Wie lagen da die
Dinge fllr WicUf? Nachdem Gregor XL den Prozeß gegen ihn
eingeleitet hatte, weil er seine Stimme zugunsten der Einziehung
des geistlichen Gutes erhoben hatte, gab es nun einen Papst,
von dem es scheinen konnte, daß er selbst dem rigorosesten
Armutsideal durch sein Beispiel nachkommen werde — ein Bei-
spiel, das aber nur £Ür seine Anfilnge nach allen Seiten hin zu-
triflft. Eine der ersten Taten Urbans VI. war es, die Kardinäle
an eine einfache Lebensführung zu mahnen. Das geschah be-
kanntUch in einer Weise, daß der Geschichtsschreiber des
> p. 103, 109; vgl. aach 162.
" Gedr. Shirley, Fase, zizaniomm, p. 341/2. Lechler, Johann Ton WicUf IT,
633/4. Die Bonstigen lateinischen und englischen Drucke ebenda I, 713
' 8. darOber meinen Aufsats: Über das vermeintliche Schreiben Wiclifs an
Urban VI. und einige verlorene Flugschriften Wiclifs aus seinen letzten
Lebenstagen im 75. Bd. der Hist. Zeitschr., 8. 476 ff.
88 VI. Abhandlnng: Loser th.
Schismas darin den Hauptgrund zu dem kommenden Risse sieht ^
In Oxford hat man hierüber sicher schon sehr frühzeitig Kunde
erhalten, und was sich im Polychronikon Ranulphs von Higden,
einer Quelle, die Wiclif gern zu Rate zog, darüber findet, geht
auf dasselbe hinaus.* Man hatte jetzt einen Papst, der Wiclifs
Idealen entsprach, der, wie man hoffen durfte, ein Leben fUhren
würde, wie Christus es durch sein Beispiel gelehrt hatte, also
geneigt sein würde, unter Verzicht auf weltliche Herrschaft in
Armut zu leben und seinen Klerus dazu anzuhalten. Das ist in
der Tat der fünfte Punkt seines sogenannten Sendschreibens.'
Da Gott, schreibt er weiter, unserem Papste die rechten evan-
gelischen Triebe verliehen hat, dürfen wir beten, daß diese
Triebe nicht durch hinterlistige Ratschläge ausgetilgt und Papst
und Kardinäle bewogen werden, etwas gegen Oottes Gesetz zu
tun: Flehen wir Gott an, daß er unsem Papst so erwecke, daß
er fortfahre, wie er schon begonnen hat, auch in seinem Wandel
Christo nachzuahmen.^ Wenn man die Urteile Wiclifs über das
Papsttum in De Civili Dominio mit dem Inhalt dieses seines
Sendschreibens vergleicht, so fallen die Unterschiede sofort ins
Auge; diese sind natürlich noch viel gewaltiger; wenn man das
Sendschreiben mit jenen bitteren Anklagen über das Papsttum
zusammenhält, die man etwa in den Streitschriften, im Tria-
logus, Dialogus, in seinen meisten Sermonen oder im Opus
Evangelicum findet, so muß man billigerweise die Frage auf-
werfen: Welches war Wiclifs Meinung vom Papsttum? Standen
' Njem, De scismat« I, c«p. V, p. 17: Fuerunt enim increpaciones ille in-
tempestiye fomentum scismatiB subsequentis.
* Polychrontcon VII, p. 396 (Appendix): Cum ist« papa Urbanos TolaiaMt,
qaod cardinales siii suas magnas pompas dimisiBBent et cum mo-
derata familia ac cibis et potibuB moderatis yixiBsent anos-
qae titaloB reparaBBent, yidebatar eiB grave, qaod ipBiB nitebator
imponere. So anch WalBingham I, 381/2. 8. Bonstige Belegstellen bei
Gayet, Le Grand SchiBme d'Occident II, 167 ff.
* Ex iBtiB elicio tamquam consiliam, qaod papa dimittat Beculari brachio
domin inm temporale (daa versetst uns gans in die Zeit der Thesen und
in das Jahr 137HV
^Sicut inceperat; diese zwei Worte werden aber nach ut so stellen
.^ein, ut, sicut inceperat, imitetnr ... In den achtziger Jahren hStte Wi-
clif vom Papste kaum noch geschrieben: cum summos Christi Yiearins
in terris . . .
Studien sur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 89
seine Überzeugungen von der Notwendigkeit oder Entbehrlich-
keit des Papsttums schon zu Beginn seiner kirchenpolitischen
Tätigkeit auf derselben Linie wie in den genannten Werken
oder haben wir einen Wandel in seinen Grundanschauungen zu
bemerken? Wie kommt er dazu^ in seinen Sermonen zu predi-
gen, daß Papst und Kardinäle der Kirche zur Last gereichen,*
daß das päpstliche Amt für die Kirche reines Gift sei,^ oder im
Dialogus zu lehren, daß der Papst ein eingefleischter Ketzer
ist,' dessen Fall niemand zu beweinen Grund habe,* daß der
Name Papst, den die Bibel nicht einmal kennt,^ nichts anderes
ist als eine Erfindung der Welt® und es besser wäre, würde
die Welt so schnell als möglich von Papst und Kardinälen be-
freit, und wie diese hundert und aber hundert Stellen lauten.
Dies führt uns notwendigerweise zur Erörterung des Inhaltes
des nächsten Buches in der Summa: De Potestate Pape.
2. Wiolifs Lehre vom wahren und flEQsohen Papsttum und
sein Buch »De Potestate Pape'.
Wenn es auch nicht das Schisma war, das in Wiclif die
Abwendung vom Papsttum bewirkt hat, so war doch der Ein-
druck des Ereignisses auf ihn ein gewaltiger. Er hat seiner
andächtigen Zuhörerschaft wohl gelegentlich selbst gesagt, wie
er über die Folgen des Schismas nachgedacht habe,' er freut
sich, das Ereignis erlebt zu haben, denn es bilde die Probe auf
sein Rechenexempel, es zwinge die Theologen, sich mit der
Frage der Existenzberechtigung des Papsttums zu beschäftigen.
Jene Ansichten, die er über das Papsttum vordem, als er für
die Einziehung der Güter der toten Hand und für die Umsetzung
des Armutsideals in der Kirche in die Wirklichkeit kämpfte,
verteidigt hat, sie gelten ilmi jetzt als unangreifbare Axiome.
» Senn. II, 468, 482. " IV, 196. • Di*I. 14, 6. * Dial. 49, 28.
» Dial. 49, 20.
* Serm. II, 277; I, 401 — 404: pape, epiacopt snperflue partes ecclesie;
Serm. lY, 167: Ponitur pro magno merito si quis destraeret papatum;
Serm. III, 276: Detestamur papas . . .; ib. 453: Principinm debet esse
fidelibus quod superfluit in ecclesia esse papas . . .; IV, 133: Papa plus
presnmit diabolo; IV, 64: Papa fallibilis; peccabilis: III, 508.
* Serm. UI, 274.
90 VI. AbhandlQD^: Loserth.
Spricht er jetzt von den Päpsten^ so nennt er eS; und zwar in
immer kräftigeren Ausdrücken, eine Anmaßung von ihnen, sich
unmittelbare Stellvertreter Christi zu nennen,^ sich als Haupt
der Kirche zu bezeichnen* usw. In kühler Weise setzt er seiner
Zuhörerschaft auseinander, es sei wahrlich nicht notwendig, zum
Papste, sei es nach Kom, sei es nach Avignon zu laufen, um
Bitten an ihn zu richten.^ Jeder Ort ist dem wahrhaft Reuigen
gut genug, denn der dreieinige Gott ist überall. Unser Papst
ist Christus, der gewährt uns reichere Gnaden, und dies noch
in einer Zeit, da wir auf Erden wallen.
Hier hat Wiclif, wie man sieht, mit dem Papsttum abge-
schlossen: aber doch nur mit jenem Papsttum, wie es besteht
Sieht man der Sache auf den Grund, so wird man finden, daß
er selbst noch in den letzten Zeiten seines Lebens kein prinzi-
pieller Gegner des Papsttums an sich gewesen, sondern nur
jenes Papsttums, wie es sich seit seiner ,Verkaiserung' durch
Konstantin entwickelt hat. Die Kirche wird bestehen und hat
auch bestanden in Zeiten, wo es keinen Papst gibt, aber wie
es in der Welt keine Ordnung ohne höhere Einheit gibt, so
kann es nicht schaden, wenn die streitende Kirche auf Erden
einen sichtbaren Führer hat. Aber was für Qualitäten muß
dieser haben? Wer setzt dieses Oberhaupt ein? Wie sieht es
mit seinen Ansprüchen auf weltliche Herrschaft aus? Mit einem
Wort: den Unterschied zwischen dem festzustellen, was
der Papst sein soll, falls man überhaupt einen braucht,
und dem, als was die Päpste in Wiclifs Tagen erschei-
nen, ist die Aufgabe seines Buches ,Von der Gewalt
des Papstes^ Und es mag gestattet sein, ehe wir in eine Ana-
lyse des Werkes eintreten, gleich gewisse Hauptgrundsätze zu
markieren: die streitende Kirche braucht ein Oberhaupt. Das
ist aber nicht jener Papst, den die Kardinäle wählen, sondern
den Gott der Kirche gibt. Gott kann nur jemanden zum Papst
machen, der prädestiniert, also würdig ist, es zu sein. Die
Wähler können dann jemanden zum Papst machen, wenn ihre
Wahl auf einen von Gott Erwählten fällt. Das ist nicht immer
der Fall. Die Wähler lassen sich zumeist von irdischen Motiven
leiten. Sie selbst sind vielleicht nicht prädestiniert und wählen
> IV. 166/7. • IV, 77. • III, 146.
Stadien zur Kircbenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 91
jemanden, der es auch nicht ist, also nicht einmal Mitglied der
Kirche ist — einen rechten Antichrist. Als Papst hat man nur
den zu betrachten, der in Lehre und der Nachfolge dem Hei-
land und Petrus am ähnlichsten und dessen Reich nicht von
dieser Welt ist.^
Das alles sind aber Grundsätze und Lehren, die Wiclif
schon vor dem Ausbruch des Schismas gelehrt hat;* nur werden
sie hier schon viel prononzierter vorgetragen. Li seinem Buche
Von der Gewalt des Papstes würde er nicht mehr, wie es noch
in De CiviU Dominio der Fall ist, das Kardinalskollegium jene
verehmngswtirdige Versammlung nennen, die die Pflicht und
das Recht hat, bei Verschuldungen des Papsttums einzugi'eifen.
Ein wahrer Papst kann übrigens nicht im Zustande der Schuld
sein, denn ist er dies, so ist er nicht wahrer Papst.
Doch es ist Zeit, die Lehren Wiclifs vom wahren und
felschen Papsttum näher zu betrachten.
Zunächst ist zu sagen, daß auch das Werk De Poiestat€
Pope noch in enger Verbindung mit dem Kampfe um die
18 Thesen steht.' Wie in allen seinen Werken beginnt Wiclif
auch hier mit ausführlichen theoretischen Erörterungen. Gewalt
des Papstes! Was versteht man unter Gewalt? Was unter Papst?
Man könnte die meist aus Aristoteles genommenen Ausführungen
über die Begriflfsbestimmung der Gewalt und deren Arten über-
gehen, würden nicht schon hier an vielen Stellen seine Reform-
ideen zu Tage treten. Er gibt z. B. die Teilung der Gewalt in
Es ist (^t, daß ein Papst ist: De Polestate Pape, p. 266. Dort wird aus-
einandergesetzt, wie der ideale Papst aussieht. Er wird mit St. Bern-
hards Worten gezeichnet.
Nar einige von den vielen SteUen: Papa debet gerere typam Christi.
De Civili Domiuio II, 17 : ... debet esse tocius populi humillimus, mi-
tissimos et effectualissimus niinistrator, bonorum fortune strictissimus ab-
dicator et omni genere yirtutum et potissime in renunciacione secularium
negociorum ac contemplacione celestinm teuere inter omnes personas ec-
clesie monarchiam. Den Unterschied zwischen wahrem und falschem
Papsttum 8. in De CiviU Dominio I, 415 (s. oben).
Nondum . . . tantum fuit sopitum dominium Romani imperii nee ad tan-
tnm inyaluit usurpacio Romani pontificis quod fuit reputatum hereticnm,
quod donUni temporale* pogmrU au/erre temporalia ab eede»ia deUnquente
(s These 6). De Potestate Pape, p. 181.
92 VI. Abhandlang: Loierth.
eine gcistliclie und weltliche zu, weist aber die weiteren Lehren,
nach denen die geistliche Gewalt die höhere, würdigere und
ältere sei, mit ihrer Anwendung auf die Beziehungen zwischen
Staats- und Kirchengewalt zurück. In der alten Kirche be-
dienten sich die Apostel der bürgerhchen Gewalt nicht, und so
könne auch jetzt durch päpstliche Bullen keinem Untergebenen
die geißthche Gewalt zugeteilt werden, diese gibt nur Gott und
nur dem, der fähig ist zur Erbauung der Kirche. Die Ter-
liehenen Gewalten können gemindert, ja ganz verloren werden.
So hat der Klerus von heute die Gewalten der Apostel nicht
mehr. Jedem Christen ist die ausreichende Gewalt zur Er-
bauung der Kirche gegeben. Er muß nur den Willen haben,
Gottes Helfer zu sein.^ Wie steht es um die Gewalten, die die
Apostel besaßen? Noch heute meint der Klerus, er könne den
heil. Geist spenden; das haben nicht einmal die Apostel in An-
spruch genommen: sie beteten, daß jemand den Geist Gottes
erhalte. Den kann nur Gott geben. Nicht anders steht es um
die Sündenvergebung und die Exkommunikation. Heutzutage
maßt sich der Priester das Recht der Sündenvergebung an:
nicht einmal Gott absolviert jemanden, der nicht hierzu befähigt
ist. So kann auch kein Geistlicher, und stünde er noch so hoch,
jemanden absolvieren, der nicht zuvor absolviert ist von Gott.
Wem verleiht Gott die Gewalt? Er gibt sie jedem und es macht
keinen Unterschied, ob sie jemand unter einem sichtbaren Zei-
chen oder durch innere Eingebung erhält. Das äußere Zeichen
brauchen ungetreue Christen, die nicht das Wesen des Sakra-
mentes besitzen.* Es gibt Reihenfolgen in der äußeren geist-
lichen Gewalt: der eine erhält die Gabe der Administration,
der andere Weisheit, der dritte die Gewalt, Krankheiten zu
heilen, ein vierter ist zum Apostel bestimmt usw. Verlustig geht
der geistlichen Gewalt, wer in eine Todsünde fUllt.
Nachdem die Gewalten der Glieder der Kirche abgehan-
delt sind, geht WicUf auf die Gewalt des Papstes ein. Papst
— schon diese Benennung sagt ihm nicht zu; denn der Name
* Quilibet antem, clericoB vel laicus, habet potestatem sufBcientem edifi-
candi eccleäiam, si voluerit esse I)ei adintor, p. 24.
' Infideles chrtstiaiü Signa qaerente« ad sacramenta sensibilia, dimiaM re
sacramenti, attenderent, p. 33.
Stadien lar Kircheopolitik EnglindB im 14. Jahrhundert. 93
hat keine Begründung in der Schrift.* Wie steht es um seinen
Primat? Nach allen Zeugnissen hatte Petrus einen Vorzug als
Erster und diesen verdiente er durch seinen Glauben, seine
Demut und Liebe;* er erhielt ihn auch fUr seine Nachfolger in
der streitenden Kirche.^ Wie er diesen Vorzug erhielt, weil er
seinem Lehrer im Leben und in der Lehre nachfolgte, so kann
auch niemand sein wahrer Nachfolger sein, der nicht ebenso
tut; und kein Untergebener darf ihm gehorchen, wenn er nicht
selbst Christus nachfolgt. Keine menschliche Wahl gilt hierbei,
sofern sie der göttlichen nicht entspricht. Ob die Wähler des
Papstes eine gute, ob sie eine schlechte Wahl getroffen: glauben
darf man nur seinen verdienstlichen Werken.* Nach diesen
Worten wird man das früher zitierte Sendschreiben
Wiclifs an Urban VL verstehen. Indem dieser mit einer
kräftigen Reform im Eardinalskollegium einzusetzen begann,
leistete er ein so verdienstliches Werk, daß Wiclif ihn als einen
gottgesandten Papst ansehen konnte. Kein Mensch, fUhrt er
fort, darf glauben, daß Gott infolge irgendeiner Festsetzimg den
Wählern beisteht und ihre Wahl bestätigt, wie sie auch aus-
fallt. Dann wären sie unfehlbar, indes sie oft genug eine Person
berufen, die vor Gott untauglich ist. Am besten ist die Wahl
durch das Los wie beim Apostel Matthias. Alle Wahlgesetze
sind überflüssig. So hat Petrus den Markus und Klemens, Paulus
den Titus und Timotheus ins Amt eingeführt; die übrigen
Apostel ordinierten Bischöfe für die bekehrten Völker. Jetzt
werden über diese Anordnung hinaus Gesetze gegeben: über
Elektionen, Präsentationen, Institutionen, Konfirmationen etc.,
die den modernen Pharisäern soviel gelten als das Evangelium,
Der Vorrang, den Petrus hatte, bezog sich in keiner Weise
auf eine allgemeine Jurisdiktion über die streitende Kirche oder
auf eine solche Gewalt über die einzelnen Apostel, denn diese
erbauten die Kirche in anderen Gegenden, ohne daß Petrus
davon wußte und ohne seine Erlaubnis. Sie hatten einen stärkeren
* Pro nomine papa notandnm, qnod in scriptara sacra, si bene habeo, non
exprimitur; cap. VIII.
* cap. III.
' Non eolam accepit primatum pro se ipso sed pro eins vicariiB in ecclesia
militantOy p. 62.
* Nemo gerit vicem Christi vel Petri si non sequator enm in moribos, p. 63 .
94 VI. Abhandlang: Loserth.
Beistand: so sage Paulus, daß weder Petrus noch ein anderer
ihm sein Lehramt übertragen habe, vielmehr durfte Paulus den
Petrus in seiner eigenen Pfarre tadeln. Die Jurisdiktion haben
alle Apostel in gleicher Weise. Ferne sei es, daß irgendein Bi-
schof, wenn er glaube, in einer anderen Diözese ersprießlicher
zu wirken, daran gehindert werde.* Leider ist heute diese gol-
dene Regel aus der apostolischen Zeit zerbrochen: das heilige
Predigtamt ist zu einem Geldsammlungsamte geworden; unsere
Satrapen streiten schnöden Gewinnes halber über die Grenzen
ihrer Jurisdiktion.' So sagt man uns Westländem heute, der
Bischof zu Rom maße sich an, zu sagen, daß niemand selig
werden könne, der nicht seine Taxe bezahle.'
Will der Papst der Erzvikar Christi sein, so muß er in
vollkommenster Armut leben. Wäre das anders, so hätten schon
Christus und die Apostel die Kirche dotiert.* Diese Dotation
macht die Kleriker zu ihrem Amte unfähig. Vor der Dotation
der Kirche waren die Kaiser die obersten Priester, damals
lebten die Bischöfe arm, im Elend, und entbehrten, wie Wiclif
ironisch* hinzufügt, jener Vollendung, die die Kirche jetzt durch
ihren Reichtum hat. Heute möchte es der Würde des Papstes
nicht entsprechen, wenn er nicht Königreiche besäße und reiche
Herrschaften. Man möge sich darauf nicht stützen, daß viele
Heilige diesen Reichtum der Kirche gebilligt: gegen die Aus-
sagen Christi haben diese Argumente keinen Wert. Einst be-
stand der Primat nicht in äußerer Herrschaft, sondern in größerer
Demut. Der gemeinsame Rat der Priester hat einst die Apostel,
^ Absit, quin rector vel episcopas debeat proficere de alia parrocbia sive
djocesi, et in caau quo crederet plus prodesse ecclesie et placere Christo,
debet parrochiam suam dimittere et aUia in quibus magis proficeret te
gratia adiungere . . .
* Sed heu ista religiosa regula primeva temporalium cupiditate disrnm-
pitar, et nostri satrape vertant evangeUzacionem in pecnnie colleccionem
et propter questum circa limites iarisdiccionis contenditur . . ., p. 79.
* Dicitar enim quod Romanas pontifex vendicat infideliter, quod nemo
salvabitur, nisi subiaceat taxis suis.
^ p. 81: Hoc enim movebat Petram, lohannem et ceteros apostolos, qai
potuerunt facillime, copiosissime et splendidissime faisse dotatt et tarnen
ex religione et debito imitandi mag^strum illad omiserant.
* p. 87: Imperatores sunt pontifices . . . ante dotacionem erant summi pon.
tifices, quia tunc episcopi exproprietarie Tiventes erant miseri et egeni-
cum caruerunt perfeccione, quam modo ecclesie habet ex mondi diTicüi,
Stadien rar Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 95
80 auch Petrus ausgesandt. Ein größeres Regiment als diese
habe Paulus besessen. Sowie die Apostel untereinander Genossen
und Freunde waren, würde es auch heute sein, wenn nicht die
Dotation dies Band aufgelöst hätte.
Wie keiner der Apostel eine Gewalt besaß wie Christus,
so erhielt auch kein Papst die volle Gewalt der Apostel.* Da
Wiclif sich in den betreffenden Ausführungen auf die Bibel be-
ruft, kommt er auf sie als auf die Norm des Glaubens mit Ar-
gumenten zu sprechen, die wir schon kennen. Zum ersten Male
finden wir hier aber auch jene knappen Antithesen: Was Chri-
stus ist und was der ,kaiserliche' Papst. Jener die Wahrheit,
dieser die Lüge, jener arm, dieser reich, jener die Sanftmut,
dieser der Hochmut und die Grausamkeit selbst usw. — Diese
Gegenüberstellung: Christus und der Papst, d. i. der Widerchrist,
nahm Wiclif in den meisten späteren Schriften vor. Sie bildet
den Gegenstand einer eigenen Flugschrift, die er drei Jahre
später in die Welt schickte: Von Christus und seinem Wider-
sacher, dem Antichrist.
Muß denn nun aber gerade der römische Bischof Papst,
also Stellvertreter Christi auf Erden sein?* Was heißt Papst?
In der Heil. Schrift wird der Name nicht genannt. Einst nannte
man heiligmäßige Männer so, und so nennen die Griechen noch
jetzt jeden Priester. Seit der Dotation der Kirche wird der
römische Bischof so genannt. Anzunehmen sei, daß Papst nur
der sein kann, der dem Heiland im Leben und in der Lehre
am meisten folge. Das ist bei dem römischen Bischof nicht der
Fall. Daher sucht man nach anderen Motiven: sie treffen alle
nicht zu. Wenn Richard von Arraagh sage, weil Rom die
Hauptstadt der Christenheit sei, müsse der Papst dort sein:
klagt er denn damit nicht Christus an, der es vorzog, in Jeru-
salem zu weilen? Residieren denn alle Päpste in Rom? Sieht
man sie nicht jetzt ,gemästet^ (incrassati) in Avignon sitzen?
Wenn er römischer Bischof ist, was kümmert er sich nicht um
seine Gemeinde? Von einer Begründung des römischen Papst-
tums durch Christus ist keine Rede und so erzähle Ranulphus
de Higden, daß der berüchtigte Phokas es war, der es zugab,
» cap. VI.
' Item restat yidere, si oporteat regulariter Romanum pontificem esse pa-
pam et immediatam ac proxlmam vicarium Christi in terris . . ., p. 166.
96 VI. Abhandlung: Loserth.
daß das Oberhaupt der Kirche, der heil. Petrus, Papst genannt
werde.
Spät genug (cap. IX) gelangt WicHf zur Erörterung der
Frage: Muß ein Papst sein, und wenn einer sein muß, welches
sind die Grenzen seiner Gewalt? Viele behaupten die Notwen-
digkeit, daß ein Papst sei. Man mag das zugeben. Christus ist
das Haupt der Kirche; daneben bestimmt er aber zweifellos
irgendeinen der Prädestinierten, der schon wegen der bei der
Erbauung der Kirche vorkommenden Verfehlungen ihr nicht
fehlen darf: das ist der Papst; er ist es durch die Wahl
Gottes, und diese Wahl kann durch keine menschliche Wahl
beseitigt werden.^ Man sieht hier genau, daß auch Wiclif für
die streitende Kirche ein Oberhaupt als notwendig ansieht Aber
die Wahl eines solchen steht bei Gott allein. Nichts falscher,
als daß menschliche Wahl jemanden zum Papst macht: Gott
allein macht den Menschen zu einem Gerechten.' Alles, was
man heute von der Berechtigung der Kardinäle sagt, ist er-
dichtet, der Wahlmodus skandalös und ohne jedwede Begrün-
dung in der Bibel. Wie können sich diese Kardinäle anmaßen,
den Stellvertreter Cliristi zu wählen, Menschen, deren Name
nichts Gutes besagt?' Vor der Dotation der Kirche wurden Bi-
schöfe, Presbyter und einfache Priester unter der einen Be-
zeichnung Apostel zusammengefaßt. Jetzt habe die Kirche keine
Hirten, sondern Mietlinge. Dieser neue Wahlmodus und die
Austeilung von Benefizien an die Kreaturen des Gewählten
gebe den Anlaß, seine Machtfülle ins Ungebührliche zu erhöhen-
Doktoren, die von ihm ein Benefiz erhaschen wollen, schmei-
* Necesso est Christum, qui solns est capnt uniTersalis ecclesie esM uaque
ad finem secuU cum ecclesia militante ... et preter hec necesse est esae
confuso aliqaem predestinatam viantem, quem DeuB propter ezcessnm
edificacionis ecclesie soe plas approbat. Quem oportet ex eleccione
Domini esse papam. Et illam eleccionem non potest frustrare humana
eleccio . . . Oportet nnam militantem ecclesiam habere conversantem
unnm prepositum, cum secundum pbilosophos omnis multitudo ad nni-
tatem reducitur, p. 194.
' Nichil falsius quam quod humana eleccio facit papam, nam aolns Dens
iustificat hominem. Omnis qui facit papam vel membrum sancte matria
ecclesie, facit iustum : igitur solus Dominus facit papam . . ., p. 195.
' Unde quidam dicunt quod cardinalis dicitur a cardine, qnia in illis porie
inferi sunt rotste, sunt filie sanguisuge, da qua ProT. XHL
Stadien zur KirchenpolUik Englands im 14. Jahrhundert 97
cheln ihm, als sei seine MachtfUlle eine ^enzenlose, daß er alles
vermag, noch über die Könige hinaus; und doch hat er von
Gott nur die Befugnis erhalten, die Kirche zu erbauen. Wenn
ein solcher Mann von solchen Wählern erkiest wird, soll man
ihn nicht lieber Apostaticus nennen statt Apostolicus? Wie
könne man jemanden Apostolicus nennen, dessen Wahl (wie
die Urbans VI.) durch kriegerische oder pöbelhafte Tumulte
erzwungen ward.* Nochmals kommt er auf den kaiserlichen Ur-
sprung des jetzt bestehenden Papsttums zu sprechen und in
immer neuen Wendungen wird erklärt, daß menschliche Wahl
nicht genüge, jemanden zu seinem verantwortungsvollen Amte
würdig zu machen. Wie einst der römische Kaiser den römi-
schen Bischof zum Papste erhoben, so könnten, vorausgesetzt
sie würden Christen, die mongolischen Kaiser ihre Bischöfe zu
Päpsten machen.* Was würde der von Rom dazu sagen?
Freilich sagt man, wenn der Papst keine weltliche Macht
hat, könne er sein Amt nicht ausüben. Wie falsch das sei,
lehre das Beispiel des heil. Petrus." Während Paulus in Korinth
für die Armen Jerusalems Almosen sammelte, bestimmen der
Papst und die Kardinäle herrischerweise, wie viel an jährlichem
Einkommen der Papst aus England haben müsse. Das ist für-
wahr nicht der Ruf eines Armen, sondern eines Mannes, der
hinterlistigerweise das Gut der Armen plündert Wie das Papst-
tum die einzelnen Reiche herabbringe, ersehe man an dem
Kaisertum der Deutschen. Schon sei es so heruntergekommen.
' Man beachte, wie hier offenbar unter Hinweis auf die letzte Wahl von
der Papstwahl gesprochen wird — auch ein Beweis, daß das Urbanus
noster nicht eine persönliche Anerkennung des Papstes bedeutet, da er
ihn noch wenige Zeilen weiter unten so nennt.
' Unde notaremus cronicas predictas quomodo inolevit papalis dignitas.
Et narrat dominus Ardmacanus . . . quomodo Imperator Constantinus
circa annum 301 hoc censuit et precepit, quod suus episcopus ab Omni-
bus papa vocaretur ... et Foca imperator hoc idem ex cleri instancia
confirroavit . . . Quomodo igitur saltaret in summum sacramentum eccle-
sie, quod imperator terrenns tarn irreligiöse instituit, ymmo ut inquit:
8i imperator Thartarie ecclesiam de Cambalek aut de Cathaj conversus
ad Christian ismam capnt omnium aliarum ecclesiarum constitueret, ce-
deret ceteris paribus capitalitas Romane ecclesie, p. 215/6.
» Kap. X.
8UiOBftb«r. d. phU.-hiflt. Kl. 156. Bd. 6. Abb. 7
98 VI. Abbandlaog: Loserth.
daß ihm kaum noch ein Herzog oder ein Graf Untertan ist*
Unser England mag dem Papste insoweit gehorchen, als er nach
der TIeil. Schrift beanspruchen darf.* Sieht man die Geschichte
der Kirche durch, so wird man finden, daß bis zur konstanti-
nischen Schenkung der römische Bischof ein gleichstehen-
der Genosse der anderen Bischöfe war: erst seit diesem
Dekrete wurde er Herrscher.* Es ist aber nicht Sache eines
Menschen, sondern Gottes, jemandem eine geistliche Würde zu
geben. Eine Gewalt, die einen solchen Ursprung hat,
nenne ich daher eine kaiserliche und die Indulgcnzen
und andere Privilegien solcher Art kaiserliche.* Damit
ist also der Ursprung des falschen Papsttums gezeichnet Wie
das wahre seine Quelle in Gott, so hat das falsche seinen Ur-
sprung im Kaiser. Daher, filhrt Wiclif fort, weisen die Griechen
die Ansprüche dieses Papsttums ab und wollen von seinen In-
dulgcnzen nichts wissen. Sie wissen, daß ein jeder nach seiner
Würdigkeit seine Indulgenzen von Gott hat, und falls der Papst
solche verteilt, kann er es nur als Werkzeug Gottes;^ in an-
derer Weise betrügt er das Volk. Diese Sentenz, sagt Wiclif,
hat, wie ich vernommen habe, Urban VI. selbst den Kardinälen
gesagt, und weil er von ihnen einen Lebenswandel im Sinne
der Apostel verlangte, haben sie sich gegen ihn verschworen. ***
' Sic eiiim translatum est Romanum imperiam in Germanos et tantum
aporiatur, quod v'ix sibi subditur civiliter dux rel comos, p. 227.
' Satis est igitur, quod regnam nostruiu tantum sibi obediat, quantum do-
cero potest ex scriptura. Ebenda.
' Patet ex prcdictis, quomodo Romanas pontifcx fuit cousocius aliis ponti-
ficibus usquo ad dotacionem ecclesie et exhiuc ex auctoritate cesaris
cepit capitalitcr dominari . . .
* Propter hoc quidam {so nennt WlcUf sich meistens selbst) Tocant hanc
potestatcm iurisdiccionis ... et prtvilegia cesarea . . •, p. 232.
^ In quantum fuerit fidclis Domini promulgator.
* Quam scntenciam audiTi de papa nostro Urbano VI ipsum dixisse car-
dinalibus Gregorii, qui excessit decalogum; ac quia incrcpans eorum
(ayariciani) limitavit eos ad vitam apostolicam primeram, couspiraTerunt
contra eum, eligendo sibi Robcrtum Gilbonensem, virum nt dicitnr dis-
solutum, supcrbum, bellicosum et legis Christi ignaram . . . Man darf
bei der Stellung, die Wiclif im Herbste 1378 im Parlamente einnahm,
zugeben, daß er mit Mitgliedern der römischen Gesandtschaft selbst in
Verbindung stand und von ihr — sei es anmittelbar oder mittelbar —
diese Worte vernehmen konnte.
Studien zur KirchenpoHtik Englands im 14. Jahrhundert. 99
Man sieht aus dieser Stelle klar, wie Wiclif trotz seiner Dehre
vom wahren und falschen Papsttum Urban VI. für den recht-
mäßigen Papst hält und daß es andererseits dieser seiner Lehre
nicht widerspricht, wenn er sich etwa in der Folpo von ihm
abwendet. Darum fügt er auch hinzu: Lasset uns also Urban
folgen, soweit er uns auf den Wegen Christi vorangeht,
aber nicht weiter.
Deutlicher noch als hier spricht er sich an einer späteren
Stelle über das wahre und falsche Papsttum aus. Der päpst-
Uche und der bischöfliche Stand sind der Kirche nötig, aber
man beachte: es gibt einen doppelten Stand der Priester: einen,
der auf kaiserlicher, einen anderen, der auf göttlicher Einsetzung
beruht. Jener sucht Reichtümer und Ehren, dieser den Nutzen
der Kirche. Es kann ja auch vorkommen, daß menschliche
Wahl einmal eine Persönlichkeit trifft, die Gott zu einem solchen
Amt auserlesen hat; ist das nicht der Fall, dann ist der Er-
wählte ein Antichrist.
Nach den natürlichen Gesetzen und denen des alten Bundes
ist ein einziger Leiter der Kirche notwendig; das wird zuge-
geben und erläutert, wie diese Leitung beschaffen sein muß.
Man hält es für recht, daß der Papst der Reichste sei, während
er zur äußersten Armut verpflichtet ist* Jetzt ist die Armut in
Herrschaft, die heil. Predigt in die Verteidigung irdischer Strei-
tigkeiten verkehrt. Ein solches Oberhaupt — das ist der Greuel
der Verwüstung an heiliger Stätte. Ein solches Oberhaupt,
sagt Wiclif, nenne ich einen kaiserlichen Papst, jener,
der die entgegengesetzten Eigenschaften hat, ist der
wahre Papst* DeutHcher kann wohl die Scheidung nicht aus-
gesprochen werden. Der heil. Bernhard zählt 34 Eigenschaften
auf, die der wahre Papst haben soll: hat er sie nicht, zieht er
den Wolfspelz an, dann ist er der Kirche das schrecklichste
Ungeheuer.* Man muß also den kaiserlichen Priester vom Jünger
^ Pretenditur autem esse ordo, quod papa sit mundo ditissimus, et tarnen
est abusus ordinis abicctissimus, cum Christus, cuius ordini strictissime
obligatur, fuit mundo paupcrrimus . . ., p. 26G.
' Et talem vocant quidam (wiederum WicliQ papam cesareum et alium
condicionis opposite papam Christi . . ., p. 266.
• p. 267.
7*
100 VI. Abhandlnog: Loserth.
Christi scheiden:* jener strebt nach Herrschaft und ist in seiner
Verrichtung lässig, dieser betrachtet die Herrschaft als Last
und lebt seinem Dienste. Will jemand der Papst Christi sein,
dann muß er den kaiserlichen Besitztitel verlassen und den
göttlichen suchen. Da es auch im neuen Bunde ein Haupt aller
Priester geben muß, kann dies kein anderes sein als Jesus
Christus. Zwingt irgendjemand auf Erden uns zu dem Glauben,
daß er selbst Haupt der heil. Mutter Kirche sei, so überhebt er
sich über Gott. Was Christus von sich gelehrt hat, der Anti-
christ führt es ftir sich an. Die Apostel haben sich weder die
Heiligsten noch auch Häupter der Kirche, sondern Diener des
Herrn und der Kirche genannt.*
Wiclif beantwortet zunächst die Einwände, die man gegen
seine Lehre machen könne. Gewiß, sagt er, es ist nützlich, daß
ein Papst ist. Um aber die Schwierigkeiten nicht größer zu
machen, wollen wir uns darauf beschränken, von dem kaiser-
lichenPapst zu sprechen, und da scheint es schädlich zu sein,
daß ein solcher vorhanden ist.^ Petrus hatte keine seine Ge-
nossen überragende Stellung, der Kaiser aber kein Recht, eine
solche zu verleihen. Würde es keinen solchen Papst geben, so
würde sich die Kirche wie in ihrer ersten Zeit behelfen. Auch
wenn es keinen Papst gibt und keine Prälaten, werden die
priesterlichen Funktionen geübt werden: denn der geringste
Priester genügt, um die in der Bibel begründeten Sakramente
zu spenden, und schließlich: kein Sünder, und wäre er es noch
so sehr, ist, der nicht Gnade finden könnte, auch wenn er dem
Priester nicht beichtet. Das Beichten mag ja verdienstlich sein:
zum Seelenheil ist es nicht notwendig. Ist dann nicht der Priester
ül)ei41üssig? Alle frommen Christen sind Priester, und so kann
auch eine Frau Priesterin sein, ja selbst Päpstin. Man versteht
OS, wohin Wiclif zielt: Wie es in der alten Kirche nur Priester
und Diakonen gab, so soll es auch jetzt sein. Damals waren
Bischof und Priester identisch, heute gibt es, sagt Wiclif ironisch,
* p. 268/9: Ex istis piano colligitur seosns discfimendi fiacerdoiem cesa-
reum a Christi discipulo . . .
' sed habende secum sammnm ponti6cem usqne ad consummacionem se-
call vocanint se aerros Christi in tribnlacione, socio« et ministros ec*
clesie . . .
^ Et tunc Tidetnr mihi quod multnm officit esse talem, p. 293.
Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 101
wohl einen Gegensatz: heute fiihrt ein Priester, der in Gottes
Gesetz bewandert ist, ein heiliges Leben, während das des Bi-
schofs das vollständige Gegenteil ist.
Wie kann aber der Papst überflüssig sein, wenn es eines
Hauptes bedarf, um kirchliche Streitigkeiten zu schlichten,
Pfründen auszuteilen, Privilegien zu verleihen. Wie stand es denn
damals, als es noch keine Dotation gab?^ Wie ehrerbietig würde
alles Volk einen Papst begrüßen, der es gemäß der Ordination
Christi ist. Im heiligen Wandel wird er als solcher sich zeigen,
nicht in seinen Bannstrahlen, auch nicht im Scheren seiner
Schafe. Man berühmt sich heute dieses kaiserlichen Sakramentes
so hoch. Warum erweist man seine Berechtigung nicht aus der
Bibel?
Auch für die Verteilung der Benefizien wird Christi Gesetz
genügen. Sein Wille und sein Zeichen wird den benennen, der
ihm genehm ist. Das Volk wird der beste Richter sein und dem
Bischof den Würdigsten benennen. Die jetzige Art, Stellen zu
besetzen, haben die wahren Päpste nicht gekannt. Jetzt kommen
sie meist auf Empfehlungen zur Besetzung.* Die Examinatoren
kennen nicht einmal den Lebenswandel dos von ihnen Erwähl-
ten. In der Lehre vom guten Hirten liegt das Vorbild für die
Wahl des Prälaten. Heute ist es der Reichtum der Kirche, an
dem der Glaube zerschellt.
Es kann in einer Schrift, die von der Gewalt des Papstes
handelt und im Jahre 1379 geschrieben ist, nicht an Streif-
lichtem fehlen, die das Schisma beleuchten. Schlecht kommt der
Gegenpapst weg: ein Mann zügelloser Art, hochmütig, kriege-
risch, des göttlichen Gesetzes unkundig. Verschiedene Stellen
preisen das Schisma: weil es die Wahrheit, wie es um das
Papsttum bestellt ist, an den Tag bringt.' Und so ruft er noch
später aus: Glückbringendes Schisma: es lehrt uns viele katho-
lische Wahrheiten. So sehr er anfänglich Urban VI. zuneigt:
Auch in diesem Kapitel liest man: Necesse est dtstingnero inter papam
vel episcopnm cesareuro et roinistrum simplicem christiannm . . ., p. 318.
Papa non dobet propter peticionem aut instanciam secalarinm domino-
rum pre6cere clericnm vel carnm regia in episco]»um vel prelatura ec-
cleaie, dum repntat vel reputare debeat alium magis aptum.
Benedictns Dens veritatis, qui ordinavit istam dtMensionem, ut veritas
huius fidei elucescat.
102 VI. Abhandlung: Loserth.
er ötellt sich doch auf eine höhere Warte.* Ehe noch die konziliaren
Ideen in Paris an die Öffentlichkeit kommen, bricht hier schon
der Gedanke an ein Konzil hervor, wird aber auch schon in
Erwäg^ung gezogen, wie schwer es sein werde, es zustande zu
bringen, denn gesetzt, daß der eine Papst es verlangt, wird der
andere es hindern.* Was könnte freilich ein Konzil fllr einen
Wandel schaflfcn, auf dem nicht Priester des Herrn, sondern
,verkaiserte^ Prälaten das große Wort filhrten. Das wird wohl
auch der Grund gewesen sein, weshalb er in seinen späteren
Werken auf die konziliaren Ideen nicht mehr zurückge-
kommen ist.
Wir haben oben eine Stelle vermerkt, die auf den Kampf
um die Thesen zurückweist. Auch sonst erinnert er mehrfach
daran, daß und warum ihn die Verurteilung des Papstes ge-
troffen. Mögen, sagt er im Hinblick auf das Schisma, die Kle-
riker, die jene verketzern, welche die wahren Kirchengesetze
aufdecken, zusehen, ob sie nicht selbst infolge des Ärgernisses,
das sie gegeben, Ketzer sind. Jetzt werden in der Tat die als
Feinde Gottes behandelt, die für die wahren Privilegien der
Kirche kämpfen. Das gehe so weit, daß jetzt ein unwissender
Doktor deswegen, weil er vom Papste eine Pfründe erlangt hat,
Wiclif an öffentlichen Orten als Ketzer ausschreien darf.'
Es gereicht Wiclif zweifellos zu großem Vergnügen, die
alten Kardinäle Gregors XI., die nun von Urban abgefallen,
anzugreifen: Jetzt (1378 Herbst) tiberschütten sie uns mit Briefen
und senden uns Botschaften, in denen sie ihre Wahl als eine
unrechtmäßige hinstellen: und doch sagen unsere Theologen
— Wiclif meint sich selbst — daß Urban, mag der Wahlakt
selbst ein verruchter gewesen sein, auf göttliche Eingebung
hin gewählt wurde und so seine Wahl eine gesetzmäßige sei."*
* Nam ego — fidelis philosophtts extra utramque istarum parciam sie
opinancinm . . .
* Et sie uno precipiente suis quod veniaot, diu foret, anteqaam esset
utramque concilium con^regatum.
* Quod quidam doctor ig^arus, quia adeptuB est dotacionem pontificis, de-
clamat acucius in locis plus publicis, quod talis est hereticns et hostis
ccclesie . . .
* Quod licet eleccio eorum ut vere creditur fuerit maledicta, eleccio tarnen
passiTa Urbani nostri ex olectione acttva Dei e(»t valida . . . dum tarnen
tiat ab ipso electo in veris factis papalibus recompeusa . . .
Stadien zur Kircheupolitik Englands im 14. Jahrhundert. 103
Wiclif spricht noch die Erwartung aus, daß dieser Papst jene
Eigenschaften haben werde, die von einem rechtmäßigen Papst
verlangt werden. Diese Theologen, setzt er weiter hinzu, be-
haupten aber zweitens, daß es fiir die Kirche am besten wäre,
wenn es keinen verkaiserten Papst gäbe,^ und sagen fürs
dritte, nach den Anzeichen der Tugend, die man an Urban VI.
merke, dürfe man ihn als einen wahren Papst bezeiclmen. Da
man an Klemens VII. einen Hochmut gewahre, der schlecht zu
der Würde passe, die er sich anmaßt, dürfe man ihn gar nicht
einmal für ein MitgUed der Kirche halten.' Andere Parteien,
sagt Wiclif, werden vielleicht so von unserem Urban sprechen:
in jedem Fall muß man ihre Taten abwarten, denn nichts ist
so trügerisch als menschliche Wahl. Beide Parteien — Urban
wie Robert — haben die gleichen Traditionen für sich. Zweifel-
los weiß keine, ob ihr Weg der rechte ist.^ Der Theologe ver-
urteilt keine, sondern sagt, kraft der Freiheit, die es im apo-
stolischen Zeitalter gab, daß beide Teile gleich katholisch wandeln
können. Mit anderen Worten: Auf den Papst komme es nicht an.
Geht Wiclif im Verlaufe seiner Darlegungen auf die Obö-
dienzfrage ein, so geschieht es nicht in dem Sinne, den man in
den Tagen des Schismas erwarten sollte, sondern ganz im
Geiste seines Buches: dem Papst ist der Gehorsam zu versagen,
wenn er Anordnungen trifft, die wider Gottes Gesetz sind.
Zum Schluß stellt er die Mißbräuche der Päpste zusam-
men; es sind ihrer zwölf: sie alle haben nochmals als Beweis
zu dienen, daß diese Päpste von heute nicht die wahren sind.
Man muß sich, sagt Wiclif, wundem, daß die römische Kirche
den Kaiser Konstantin nicht unter die HeiHgen versetzt hat.
Es sei das, fügt er ironisch hinzu, deswegen nicht geschehen,
weil er nicht sein ganzes Reich hergeschenkt hat. Latrinen zu
reinigen, wäre dem Klerus eine ebenso passende Aufgabe, als
über diese weltlichen Dinge zu herrschen, die der Apostel Un-
rat (stercora) nenne. Und so kommt noch einmal am Schlüsse
das Armutsideal der Kirche zu Wort.
> Nedom cathoHce sed melius quam modo conversaretur fideiis ecclesia
qnocunquc papa cesareo subducto . . .
* Robertum non repatant explicite papam yel membrum sancte ecciesie
. . . quia amat snperbiam.
' Neutra pars noscit evidencium vie sue.
104 VI. Abhandlung: Loserth.
7. Die letzten Bfieher der Snmma Theologie.
Es wurde schon oben bemerkt,^ daß es Wiclifs ursprüng-
licher Plan war, an das Buch De Veritate Sacre Scripture un-
mittelbar das Buch De Simania anzufügen. Wir kennen auch
die Gründe, die ihn veranlaßt haben, seine ursprüngliche Ab-
sicht aufzugeben und zwischen diese beiden Werke noch drei
andere einzuschieben. Daß er aber bereits begonnen hatte, an
De Simofiia zu arbeiten, entnimmt man gleich der ersten Zeile,
die unvermittelt an die letzte von De Veritate Sacre Scriphire
anknüpft. Ein Simonist ist der, der die von öott gegebene Ord-
nung zertrümmert. Die Simonie ist ein Laster, das wie der
Aussatz unheilbar ist. Schon hat sie den größten Teil der Hier-
archie ergriffen: den Papst, die Bischöfe, die besitzenden Orden.
Die weltlichen Herren mögen aufschauen und ihre Pflicht tun.
Das ist in größter Kürze ihr Inhalt. Hat Wiclif die ersten drei
Kapitel von De Simofiia, wie man annehmen darf, schon im
Jahre 1378 niedergeschrieben,* so ist dies ein Beweis daAlr,
daß er schon früher, als man gemeiniglich anzunehmen pflegt,
sich mit der Lehre von der Transsubstantiation beschäftigt und
sich dabei in einen vollen Gegensatz zu der herrschenden Kir-
chenlehrc gesetzt hat: denn hier spricht er schon im dritten
Kapitel von den Ketzereien, die es heute in Hinsicht auf das
Altarssakrament gebe; er trilgt schon hier jene Lehre vor, die
kaum in einem seiner späteren Werke übersehen wird.* Daß
er diese Lehre etwa in einem der späteren Kapitel vorträgt,*
» p. 47—48.
* Ich bemerke, daß die Schlußfolgerung allerdings keine zwingende ist:
der Beginn tuu De Simouia ist nnmittelbar nach De Veritate Sacre
Scripture geschrieben, — Cap. IV erwKhnt schon den Traktat De Pote-
state Pape: ergo ist cap. IV nach diesem, cap. I— III nach De Veritate
Sacre Scripture geschrieben. Der ganzen Sachlage nach wird es sich aber
wohl dergestalt verhalten.
' p. 39: Dogmatisatur per cultores signorum, quod quicunque negavcrit sa-
eramentum altarif esse accidens sine subiecto, sit tanquam hereticns
iudicandus . . .
* p. G9: Magna cecitas inducta est in ecclesiam per Antichristum et suo«
complices de sacramento altaris, quod mnlti credunt nedum illud sacra-
mentum esse accidens sine subiecto, sed ydemptice Deum sunm . . .
Studien zur Kirchen pol itik Englands im 14. Jahrhundert. lOo
würde begreiflicher erscheinen, denn diese sind bereits nach
Abfassung des Buches von der Gewalt des Papstes geschrieben.
Man wird darnach sagen dUrfen, daß das Buch De Simania
schon jener großen Reihe von Büchern angehört, die sich ent-
weder ganz oder vorwiegend mit seiner Lehre vom Abendmahle
beschäftigen, wie De Eucharistia, der Trialogus usw. Wer den
knappen Satz, den er im 5. Kapitel über diesen Gegenstand
anführt, genau betrachtet, wird sagen, daß in dem Momente,
da er ihn niederschrieb, seine Überzeugungen über seine Abend-
mahlslehre schon allseitig gefestigt waren.
Und doch hängt auch das Buch von der Simonie noch
mit dem Thesenstreit zusammen. Im 5. Kapitel zählt er unter
den Ketzereien, die in den Köpfen der Schüler des Antichrists
spuken, auch die auf, daß der Papst ein unbedingtes Recht
habe, zu binden und zu lösen, und daß die Bischöfe, die die
Verurteilung des betreffenden Satzes Wiclifs herbeigeführt haben,
sich der Ketzerei mitschuldig gemacht haben.* Auch hier spielt
noch die Frage der Einziehung des Kirchengutes mit.* Darf
der Papst, heißt es hier, über alles der toten Hand gehörige
Gut verfügen? Nein, denn er würde sich das Recht der Könige
anmaßen. Der König habe die Verpflichtung, darauf zu sehen,
daß das Land mit solchen Kuraten versehen werde, die das
Volk auf Gottes Wege leiten. Wenn dem entgegen der Papst
in einzelnen Königreichen Kardinäle und andere untaugliche
Prälaten einsetzt, dann hat der König die Pflicht, solche Simonie
auszureuten. Aber wehe! Wenn auch unser Königreich für
einen Augenblick für diesen Zweck eine gute Erleuchtung durch
die Eingebung des heil. Geistes erhält (eine ganz zweifellose
' De Simonia, p. G8: Ulterius omnis fidelis horreret hereses, que sunt hodie
per Antichriflti discipulos publice defenaate, nt publice dicitnr dampna-
tum a Qregorio XI. tamquam heroticum, quod non eo ipso, qnod papa
pretenderit se quoTismodo solvere vcl ligare, eo ipso sie solvit vel
ligat . . .
* p. 31 : Et patet, qnod papa contendendo contra collacionem vel domina-
cionem bonorum fortune degenerat et per consequens est argumentum
topicum, quod si papa vendicat de bonis ecciesie tale dominium, tuuc
partitnr iniuste et illicite tanquam eorum improvidus dispensator. Et si
sine revelacione vendicat habere dominium omnium bonorum ecciesie
sponse sue, tunc est meridianum demonium et capitalis discipulus Anti-
christi.
106 VI. AbhandluDg: Loserth.
Anspielung auf das gute Parlament), gleich drängt dieser Anti-
christ mit seinem Klerus herzu und tilgt die besten Vorsätze
aus.^ Eine Bemerkung aus dem Buche De Simonia verdient
noch besonders herausgehoben zu werden, da sie ein Streiflicht
auf die Kirchenpolitik Schottlands wirft: da diese päpstlichen
Provisionen hierzulande nur infolge unserer blinden und unzu*
lässigen Willfahrigkeit Geltung erlangen, so sollten wir es zum
mindesten den Schotten gleichtun, die den Kardinälen nur dann
den Nutzgenuß von ihren reichen Pfründen geben, wenn sie
ihn im Lande selbst zu dessen Nutzen verbrauchen. Sonst mag
sie der König, wozu er nach evangelischem Gesetz und könig-
lichem Recht verpflichtet ist, ihnen wegnehmen.' Mit Schärfe
wird betont, daß der Papst kein Recht auf die Kirchenpatronate
habe und auf die Einkünfte geistlicher Güter im ersten Jahre;
zieht er sie dennoch ein, so hat der Laie die Pflicht, sie ihm
wegzunehmen. Die Annahme der Annaten ist offenkundige Si-
monie. Und diese wird allgemein betrieben. Weigert sich ein
Kleriker zu zahlen, so wird er, und sei er zu seinem Amte noch
so tauglich, ausgetrieben und ein Untauglicher an seine Stelle
gesetzt. Vielleicht sind die Wünsche und Hoffnungen, die Wiclif
noch auf Urban VI. setzt, ein Beweis dafür, daß man die Ab-
fassung des Buches nicht zu spät ansetzen darf.'
^ Sed heu, li regnum nostrom instiDctum bonnin ad horam ex Spiritn
Sancto qaoad iUud habuerit et ordinacionem cvangelicam ad cassandam
haue hercsim discrete Btataerit, statim inpellit AntichrLStus per pscndo-
clericos nostros, ut dicitur, et tarn sanctum prupositum dissipat et disflol-
Vit. Ibid., p. 32.
' p. 32 : Cum ergo provisio ista papalis de beneficiis regni nostri non habet
robur nisi ex accepciono nostra ceca atque illicita, utamar qaoad roint-
mum cantela regni Scotorum Bubridendo dicencium, nos andisse, qnod
papa contolit suU cardinalibus pinguiora beneficia regni nostri: sed
fruetufl beneficiorum, nisi voloerint infra regnum ad eins ntilitatem ex-
pendere, non habebunt . . .
' p. G7 : O quam gloriosum foret exemplar eccleiie, st Urbanns noster VI.
renunciaret omnibus mundi diviciis sicut Petms, ita quod in Urbano I.
et VI. compleatar circulns, quo clerns religione Christi relicta in seca-
laribus evagatar ... Ich übersehe nicht, daß S. 1 10 De Eucharistia zi-
tiert wird nud dies Werk erst 13H2/3 geschrieben wurde. Ich habe aber
schon wiederholt bemerkt, daß solche Zitate auch später eingefügt wor-
den sind. Da muß in jedem Einseifalle erst eine Untersuchung yorge>
nommen werden.
Studien zur Kirchenpolitik Eng^lands im 14. Jahrhundert. 107
Anders steht es mit den beiden letzten Büchern der Summa:
De Apostasia und De Blasjyliemia, Haben auch sie ihren Ur-
sprung in den Studien Wiclifs über die Wahrheit der Heil.
Schrift, 80 wurde ihre Bearbeitung doch erst in einer Zeit in
Angriff genommen, als der Kampf, der sich um die Thesen
entsponnen hatte, durch den viel heftigeren abgelöst war, den
er gegen die Orden führte, als er sich in den Hoffnungen, die
er auf Urban VI., den ,wahren' Papst gesetzt hatte, getäuscht
sah, er selbst als Kirchenpolitiker von der Schaubühne abge-
treten war und sich ganz und ausschließlich den Fragen der
kirchlichen Reform zugewandt hatte. Wie sehr es ihm vor allem
um seine Lehre vom Abendmahl zu tun war, entnimmt man
seiner Klage, daß zur Strafe für unsere Sünden die Kirche so
verblendet ist, daß man in ganz England nicht zwei Kapitel
oder Prälaten finde, die es wüßten, was das Altarssakrament
sei.* Die Lehre vom Abendmahl nimmt denn auch in dem
Buche De Apostasia das ganze Feld ein, und die Frage der
Säkularisierung der Güter der toten Hand tritt in den Hinter-
grund. Es ist geradezu eine Ausnahme, wenn Wiclif etwa wie
im 7. Kapitel darauf zurückkommt und wenigstens die Ein-
ziehung der freistehenden Kirchengüter verlangt:* es genüge,
dem Klerus so viel zu lassen, als er für Zwecke seines Amtes
braucht, oder wenn er im 15. Kapitel auch auf die Verurteilung
von zwei seiner Thesen zurückkommt^ Daß er aber jetzt noch,
ein Jahr vor seinem Tode, seine Lehre ,vom wahren \md fal-
schen Papsttum' festhält, ist gewiß in hohem Grade bezeich-
nend. Prinzipiell verwirft er Papst und Papsttum auch jetzt
nicht: Christus ist das Haupt der Kirche und der Papst,
' De Apostasia, p. 57: Sic igfitur in penam peccati cccatur ecciesia, qiiod
vix in tota Anglia invcnies duo capitula vcl prelatos, qui sciant, quid
Sit sacrameutum altaris.
' p. 88: Unde, nt alias declaravi, regnum nostrum instaret in par-
liamentis, quod de bonis temporalibas cleri ina^^is vacantibas rex et
regnum ad eins subsidium releventur; omnia enim ista sunt bona pan-
pcrum, de quibns propter superfluitatem et ocium rcgnnm debet pro
tempore nccesditatis citissime relevari: et potissime, cum istud po&set
fieri cxoncratis religiosis et episcopis habentibus religiöse tantum de lern-
poralibus, quantum oportet ad explecionem sui ministerii.
» p. 201.
108 VI. Abhandlang: Loserth.
soweit er lebt wie Christus/ ist dessen Stellvertreter.
Ja man wird finden, daß er nirgends kürzer und sachgemäßer
seine Lehre vom Papste und von dessen Ansprüchen vorge-
tragen hat als hier: ,Aber freilich, festsetzen, daß irgendeiner,
mag er beschaffen sein wie immer, schon deswegen, weil er
römischer Bischof ist, auch Haupt der ganzen Kirche sei, das
ist eine Blasphemie, da es in keines Menschen Macht steht,
festzusetzen, daß irgendjemand Mitglied der Kirche, viel weniger
noch deren Haupt sei. Das ist, wie man sieht, schon die Lehre
Wiclifs in den ersten Büchern der Summa gewesen.* Auch
hier liest man: Christus selbst ruft zu dem Amt des Spenders
seines geistlichen Schatzes, wen er will, dazu braucht es
keiner menschlichen Wahl: die Werke und die Tugen-
den bringen es an den Tag, wen er dazu beruft: daher
dürfen wir ,dem Papste' Augustinus mehr Glauben schenken als
einem der Päpste seit den Tagen des heil. Gregor.'
Ahnlich wie mit De Apostasia verhält es sich mit dem
letzten Werke der Summa De Blasphemia, Wer törichterweise
Gott die ihm gebührende Ehre entzieht, begeht Blasphemie, sei
es, daß er ihm Eigenschaften zuschreibt, die ihm nicht zukom-
men, oder jene leugnet, die er besitzt, oder einer irdischen
Kreatur zuweist, was Gott gebührt. Man begreift, daß er sich
Ibid.: Oportet C8sc in occlesia unnm capat pro fide et causis eccleaie
dccidendis; qnem oportet esse Romanum pontificem iDimediatuni Christi
vicarium . . . Conceditur . . . cum Christas sit eaput milttantis (?) eccle-
sie; et si contingat Romanum pontificem esse panperrimum et hnmilli-
mum et proxime seqaentem Christum . . . ipse est immediate Christi vi-
carins, ut creditnr fuisse de beato Gregorio.
Und so wie in De Ecclesia oder De Potestate Pape heißt es auch hier
p. 203: Caput igitur ecclesic foret Christus; et lex Doi derelicta in terris
foret regula sufficiens ad qnascunqne causas fidei vel sentcncias ecciesie
decidendas. Sed suspenso ritu gentili prefecctone Romani episcopi foret
ecclesia per Christum perfeccius capitata. Sic enim fuit a tempore Christi
iisque ad stultam dotacionero ecclesic Romane. Sic eciam vivunt multi
fideles in divisione Urbani et Roberti, nee non in aliis contrattis con-
versis per altos apostolos, qni Ignorant utrnmqne istomm.
p. 202: Et Yoco hnnc magnnm Augusttnum papam, quia sie vocat eum
sanctus Prosper . . . Scripta dncent quod b. Augustinus fuit scripture sacre
interpres prndencior quam omues isti Romani pontifires . . . igitur non
oportet currere ad Romanum pontificem pro quibuslibet causis ambiguit
decidendis.
Stadien sar Eirchenpolitik Englanda im 14. Jahrhundert. 109
vornehmlich mit dem dritten Punkt fiepen die Kurie wendet.
So veriockend es wäre, dieses von reformatorischen Tendenzen
mehr als eines der früheren erfüllte Buch auf seinen vollen In-
halt hin zu analysieren, so sind hier doch nur jene Punkte
herauszuheben, in denen es seinen Anschluß an die späteren
Werke der Summa findet. Die Frage des Schismas wird ge-
legentlich gestreift: hätte man diese verweltlichte Hierarchie
nicht, dann gäbe es in der Kirche weder eine Spaltung, noch
eine Apostasie oder eine Blasphemie. Da diese Hierarchie an
all dem Elend schuld ist, muß sie beseitigt werden.^ Im 4. Ka-
pitel gibt er die Merkmale an, wodurch der wahre Papst sich
vom falschen unterscheidet.* Das bedeutendste ist, daß Silvester
vom Kaiser Konstantin die verderbenbringende Dotation ent-
gegennahm. Schreckliche Blasphemien stehen damit in Verbin-
dung, auf die er weitläufig eingeht. Keine andere Hierarchie
darf es geben als in der Kirche der ersten Zeit. Alle
Argumente, sagt er, die man zur Begründung des päpstlichen
Amtes — gemeint ist natürlich stets das falsche Papsttum —
oder des Kardinalates vorbringen kann, sind nicht des Aufhebens
wert.^ Es gibt ein dreifaches Reich: des Antichrists, des welt-
lichen Herrn und das Christi. Das erste ist zu vernichten, das
zweite zu beraten, das dritte zu erwerben. Das erste besteht
aus den Pseudopäpsten mit ihren Kardinälen, Bischöfen, Äbten,
Prälaten und den anderen Untergebenen.* Die Grade dieser
Hierarchie werden einzeln vorgenommen.* Am schlechtesten
kommen die Kardinäle weg: schon ihr Name deutet auf ihre
Verworfenheit hin — ein Gedanke, dem er schon im Buche von
der weltlichen Gewalt Ausdruck gegeben hat.^ Wie sehr Ur-
* p. 47/8: Sicut ergo est cxpcdtciua militanti ecclesie, quod Christus ascen-
derit, ... sie foret expodicias quod tota ecclesia militans aspiraret ad
cum . . . quam quod constituat super so unum capitaneum secundum le-
^cm maioritatis ccsarce . . .
* p. 55: Et patet, quomodo pseudopapa diacernitur a fideli . . .
' Argumenta, que fiunt ad stabiliendum papatus Tel cardinalatns officium,
non sunt dtgna memoria . . .
* p. 68.
' Kap. IV beschäftigt sich mit dem Papsttum, V mit dem Kardinalat, VI
mit den Bischöfen usw.
' Xebmen wir das Wort Cardinalis nach den vier Silben Car, Di, Na, Lis,
so bedeute es Carior Dlaboli Natus, Ltcium Seminator: Teuerster
HO VI. Abhandlung: Loserth.
ban VI. seit der Zeit, da er das erste Mal in einem der Bücher
der Summa genannt wurde, in der Achtung des Autors ge-
sunken ist, entnimmt man einer seiner Äußerungen im 7. Ka-
pitel, womach unter den gegenwärtigen Verhältnissen, in denen
ein Papst den andern exkommuniziert und nicht ersehen
werden kann, auf welcher Seite das Recht ist, der
weltliche Arm keinen von beiden in Schutz nehmen,
sondern zulassen soll, daß sie beide sich vernichten.
Weder der Bannstrahl des einen noch der des andern hat eine
Berechtigung.* Wenn man bedenkt, daß Urban VI. hier auf
dieselbe Linie gestellt wird wie Klemens VII., so wird man
gewiß zugeben, daß der Ausdruck ,unser Urban^, den WicHf
einige Bogen weiter unten gebraucht, keine Anerkennung dieses
Papstes seitens WicHfs in sich schließt. Die Pflichten eines
wahren Papstes vergißt er auch später nicht sorgsam hervorzu-
heben; und wie in den ersten und mittleren Büchern der Summa
die kirchenpolitischen Theorien, wie sie im guten Parlament zur
Sprache kamen, in aller Ausftihrlichkeit vorgetragen werden,
so werden hier in der Form einer Bill, deren Durchsetzung
von den Vornehmen (proceres) — also wohl im Parlament —
versucht werden soll, zusammengestellt.* Sie enthält sieben
Punkte:
1. König und Reich sollen weder dem apostolischen Stuhl
noch einem Prälaten gehorchen, es sei denn der Beweis aus
der Bibel erbracht, daß dies im Sinne des Gehorsams gegen
den Heiland geschieht.
2. Weder die römische noch die Kurie von Avignon darf
aus England Gelder beziehen, es sei denn der Beweis erbracht,
daß es eine schriftgemäße Schuld sei.
3. Weder ein Kardinal noch sonst ein anderer darf ein
Kircheneinkommen aus England besitzen, wenn er nicht seine
Residenzpflicht ausübt oder mit legitimen Geschäften des Landes
zu tun hat.
Sohn des Teufels, Vater des Streites; nehme man es nach den zehn
Buchstaben, so bedeute es Custos Apostatarum Regni DiaboH, luvans
Neqnissimum Ad Legem Indicis Sopiendam; darin sei die Summe aller
Schlechtigkeit eingeschlossen.
» p. 109.
' f^optom inprecaciones ad tntelam regni Aoglie per eius procerej exe-
quende; De Blasphemia, p. 270/1.
Stadien aar KirchenpoUtik Englands im 14. Jahrhundert. 111
4. Die Kommunen Englands sollen nicht mit ungebühr-
lichen Steuern belastet werden, so lange das Kirchengut noch
nicht erschöpft ist.
5. Fällt ein Bischof oder ein Kurat in eine TodsUnde,
dann hat der König die Pflicht, seine Temporalien einzuziehen.
6. Der König soll keinen Bischof und keinen Kuratcn in
irgendeinem weltlichen Dienst beschäftigen.
7. Er soll keinen, der der Exkommunikation verfallen ist,
einkerkern dürfen.
Wie man sieht, sind das Forderungen, die zum Teile schon
fünf Jahre früher gestellt worden sind.
Außer in den großen Büchern der Summa, deren Genesis
oben im einzelnen vermerkt wurde, finden sich diese Forde-
rungen aber auch noch in kleinen Abhandlungen, die Wiclif
als Flugschriften unter das Volk schickte, und zwar des bes-
seren Verständnisses wegen auch in englischer Sprache. Diese
Flugschriften sind zunächst noch in übersichtlicher Weise kri-
tisch zu behandeln. Wie sehr sie oft mit dem einen und dem
anderen Kapitel aus einem der großen Bücher der Summa über-
einstimmen, zeigt nicht bloß die Schrift De capHvo Hispanemiy
die als 7. Kapitel in De Ecclesia eingeschoben, sondern auch
die noch ungedruckte Flugschrift De Incarcerandis Fidelibus,
die fast ganz dem 12. Buch der Summa entnommen ist.
112 VI. Abhandlung: Loserth.
Beilagen.
1. Die 33 Konklusionen Wlclifs.
(Cod. bibl. univ Prag. 111, G. 11.)
1. riiristuß, Deus nostcr, caput aniversalis ec<5le8ie fuit
pro tempore liaius peregrinacionis homo paupcrrimus.
2. Christus fuit tarn quoad cius divinitatcni quam quoad
ei US humanitatem abiecto tytulo secularis dominii homo ditissimus.
3. Omnes sacerdotes christiani: papo; cardinalcs^ episcopi,
abbatos, priores vel eius subditi tenentur sequi Christum in
evangelica paupertate.
4. Non licet alicui pure clerico pro tempore le^is gracie
quo est huiusmodi civiliter dominari.
5. Repupiat statu! domini pape (sicut)* cuiuslibet Christi
pontificis civiliter dominari.
6. Stiit dominum papam et alios prclatos ecclesie habere
licite usum quotlibet dominiorura sine dominacione civili ex*
tytulo meritorie elemosyne secularium dominorum.
7. Eo ipso, quo sacerdotes Christi, eciam dominus papa,
abutitur bonis ecclesie, deficit sibi ius ad illa.
8. Peccatum mortale foret ecclesiam ' Anplicanam vel quam-
cunque* aliam ministrare domino pape bona ecclesie ad expu^-
nandum Christicolas, ut super eis vel super bonis coruni civiliter
dominentur.
* Fehlt; ergänzt nach dem in der Handschrift befindlichen ToIIen Text.
* rcctc [wie im vollen Text]: ex mero tytulo meritorie . . .
■ Cod.: eciam.
* Cod.: quantumcumqoe.
Studien zar KirchenpoUtik EngUnds im 14. Jahrhundert. 113
9. Illicitum est cnicunque sacerdoti Christi, eciam Romano
pontifici, excommunicare quemquam pure propter pecunias vel
aliquod temporale.
10. Non obstante excommunicaeione protensa, interdicto
vel alia censura ecclesiastica minata^ sive imposita debet chri-
stianus exequi Christi consilia et mandata.
11. Licet laicis spiritualiter subiectis suis prepositis de
eoram operibus iudicare.
12. Sicut Deus non potest donare creature super quoquam
dominium nisi exprimendo vel subintelligendo quod donatarius
serviat sibi in gracia, sie non licet domino temporali donare
clerico bonum fortune nisi sub condicione quod serviat Deo in
gracia et prosit ecclesie; nee clerico licet propter donacionem
huiusmodi evangelicam dimittere paupertatem.
13. Licet dotacio ecclesie sit meritoria, utrobique tamen
Status expropriacionis, in quo Christus ipsam instituit, fuit per-
fectior, meritorior atque securior.
14. Medium temptandi, utrum clerici sint plus aifecti tem-
poralibus quam deberent, est videre eorum solicitudinem ipsa
acquirendi, diligenciam retinendi et tristiciam deperdendi.
15. Licet mundi principibus tarn subtrahere quam auferre
temporalia a Romano pontifice, cum quo eis habitualiter abutatur.
16. Si cardinalis aliquis vel cetus plurium per abusum
temporalium fuerit ad onus et periculum subversionis ecclesie,
domini temporales et laici eis subditi tenentur ipsum fraterne
corripere et post contumacionem oblaciones et elemosinas con-
stanter subtrahere.
17. Quocunque episcopo habitualiter et notorie abutente
bonis ecclesie principes seculi debent in casu ipsa ad sui cor-
repcionem et bonorum pauperum restitucionem subtrahere.
18. Quacunque abbacia vel domo religiosorum possessiona-
torum, regularium vel secularium clericorum, habitualiter abutente
elemosinis secularium dominorum, ad ipsos vel ad heredes eorum
seu regem pertinet in prelatorum desidia proporcionalem sub-
traccionem elemosine collate defectum corrigere.
19. Quocunque rectore vel curato, capellano vel clerico
elemosinario notorie et habitualiter abutente bonis ecclesie vel
' So nach dem ToUen Text. Sonst: inimica.
Silinngibor d. phil -hist. Kl. 156. B4. 6. Abh.
114 VI. Abhandlung: Loserth.
patroni; ad regem vel patronum pertinet in defectu spiritualis
propositi coUatam elemosinam subtrahere proporcionaliter ad
delietum.
20. Fucus, quo fingitur, non licere laicis defectus cleri-
corum cognoscere vel ipsos corrigere, qnomodocanque peccave-
riiit, est nimis sopbistice palliatus.^
21. Non licet regi vel alicui domino secolari; sacerdotem
Christi et specialiter religiosam vel curatum suo secolari ser-
vicio mancipare.
22. Nedum episcopi procurantes se in talibus negociis im-
plicari se reddant dampnabiles; sed si omnino tacent dominos se-
culares in hoc instmere aut coratos sibi snbiectos in isto corripere.
23. Minns malum esset qaod expropriata ibrent omnia
temporalia; qnibus ecclesia Anglicana dotatar^ ut eorum proven-
tibus darentnr stipendia servitoribos regis nostri; quam qaod epi-
scopi et alii cnrati forent adeo secolaribus regni negociis implicati.
24. Periculosior irreligiositatis condicio foret clemm nostram
d prosperitatem mundanam nimis attendere et inter ipsam ac
veram prosperitatem atque divicias nescire distingnere.
25. Impossibile est pacem in popnlo stabiliri; nisi primo
omniom stabilita fuerit pax cum Deo.
26. Causa precipua defectus vere pacis ecclesic videtur
esse fastus^ avaricia et lubricitas sacerdotum.
27. Sicut maior est fomicacio spiritualis quam corporalis^
sie gravior est luxuriacio corporalis in clerico^ in sacerdote
Christi quam in coniuge laicali^ et hinc in eins punicionem leges
tam graves sunt edite.
28. Rectificacio sacerdotum per laycos ad pacificandum rem-
publicam est per scripturam autenticam multiplieiter exemplata.
29. Rectificacio facillima pertinencior laicis in hac parte
vidctur esse elemosinarum subtraccio et collatarum ablacio.
30. Oracio elemosinarii, dum peccat mortaliter, nedum caret
merito quoad orantem et quemlibet alium, pro quo erat, sed vel
iniuste dampnificat proxinios vel iniuste detinet spirituale ad-
iutorium quod ex lege Christi teneretur persolvere.
31. Sivo progenitorcs defuncti doniinorum superstitum sint
i celo, purgutorio vel in in emo, expediens foret in casu, quo
* Cmi : |ialliAttini.
Stadien zur KirchenpoUiik EngUnds im 14. Jfthrhnndert. 115
elemosinarii abntantur eonim elcmosinis, ipsarum subtraccio et
conversio in alios pios usus.
32. Vcrisimiliter credi potest^ quod bona ecclesie minus
male consumpta forent per dominos scculares quam in presen-
ciarum consumuntur in manibus clericorum.
33. Officium dominorum temporalium et repim preeipue
est legem evangelicam potestative dcfendere et ipsam in sua
conversacione diligencius observare.
2. Zur Entstehung des Werkes De Officio Regis.
Conoloflio trioesixna teroia.
(Cod. bibl. univ. Prag. III, G. 11, fol. 48».)
Officium dofninorum temparalinm et reguni preeipue est le-
gem evangelicam potestative defendere et ipsam in sua conversa-
cione diligendus observare.
Patet ex hoc, quod omnes huiusmodi principes tenentur
sub pena dampnacionis Domino desorvire iuxta illud Psalmi II:
Et nunc reges intelligite, erudimini qui iudicatis terram. Servite
Domino in timore. Totuni vero servicium placens Deo stat in
observancia legis sue. Non autem observatur, nisi defendatur.
Ideo sicut^ clericorum est de lege Christi racionem reddere, sie
militum est usque ad mortem ipsam defendere. Unde Augusti-
nus Epistola XXXIII ad Bonifacium declarat ex scriptura, quod
ofücium regis consistit in quatuor: Primo debet subservire Deo
leges iustas legi Dei consonas sanciendo, seeundo secundum
dictas leges divino cultui contraria destmendo, tercio ad placan-
dum Deum populum compellendo, et* quarto ad pacificandum
populum tam extrinsecus quam intrinsecus seculare brachium
si oporteat apponendo. Non enim sine ministerio constituit cum
Dominus in isto officio: unde impossibilc est nisi propter defcc-
tum in aliquo istorum quatuor regnum temporale deficere, et,
ut breviter dicatur, nisi propter defcctum observancie legis Christi.
Probatur: eo ipso quo regnum conscrvat legem illam, diligit
dominum lesum Christum et per consequens prius diligitur ab
* Cod.: ȟb.
* Cod. fehlt. Ergänzt nach X, D. 10, uniy. Prag., fol. 45 *.
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