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Full text of "Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Classe"

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SITZUNGSBERICHTE 


DEB  KilSEBLICHEN 


AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEiN. 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE  CLASSE. 


SIEBENUNDACHTZIGSTER  BAND. 


WIEN,  1877. 

IN   C0MMI8S10N   BEI   KARL   GEROLD'S   SOHN 

BUCMHlMDLKH  DKR  KAIB.  AKADEMIE  DKH  WISSBNSCUAFTKM. 


CW.iJ-'  (=  '(ÄS" 


SITZUNGSBERICHTE 


DES 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN  CLASSE 


DES  KAISESLICHEN 


AKADEMIE   DER  WISSENSCHAFTEN. 


SIEBENUNDACHTZIGSTER  BAND. 
JAHRGANG  1877. 

MIT  DREI  KABTEN. 


WIEN,    1877. 
IN  COMMISSION  BEI  KAKL  GEROLD'S  SOHN 

BUCHUlllDLBB  DKB  KA18.  AKADEMIE  DBB  WIBBBBSCHArTBII. 


LSoc^9t«S- 


Druck  von  Adolt  HoUhanaen  in  Wien 
k.  k.  UniTeraitilto-Bachdruckci-ei. 


INIJALT. 


Seite 

XVII.  Sitxiiner  vom  4.  Juli  1877 3 

XVIII.  Sitennfr  vom  11.  Jnli  1877 5 

Hartel:    Demostheniscbe  Btndien 7 

TomaRchek:    Centralaiiiatifiche  Stadien.    I.  Sogdiana.    (Mit  3 

Karten) 67 

<2>  ]^inong:    Hnme-Htndien.    1 185 

XIX.  Sitssnng  vom  18.  Jnli  1877 261 

PfiEmaier:      Das     Han»    einen     Statthalters    von    Fari-ma. 

II.  Abtheilung 263 

^Heinzel:    lieber  die  Endsilben  der  altnordischen  Sprache       .  343 
Kaltenbrunner:      Die     Polemik    über    die     Gregorianische 

Kalender-Reform 485 


SITZUNGSBERICHTE 


DER 


KAISERLICHEN  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN. 


PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE  CLA8SE. 


LXXXVII.  BAND.  I.  HEFT. 


JAHRGANG  1877.  —  JULI. 


«tenirixr.  d.  phlL-hUt  O.  LXXXTIL  Bd.  I.  Hft. 


Aufig-eg^hen  am  17.  Deeember  1877. 


XVII.  SITZUNG  VOM  4.  JULI  1877. 


Die  Direction  des  k.  k.  Realgymnasiums  zu  Freiberg  spricht 
ihren  Dank  aus  für  die  Ueberlassung  akademischer  Publicationen. 


Herr  Dr.  Michael  Ring,  Professor  an  der  königl. 
Akademie  zu  Fressburg,  übersendet  eine  Abhandlung  unter  dem 
Titel :  ^Das  Werden'sche  Fragment  der  Historia  Apollonii  Regis 
Tyri',  mit  dem  Ersuchen  um  ihre  Aufnahme  in  die  Sitzungs- 
berichte. 

Herr  Franz  Gotthard,  Professor  am  Gymnasium  in  Neu- 
haus, übersendet  eine  Abhandlung :  ,Ueber  die  possessiven  Ad- 
jectiva  auf  av  (Hv)  ova,  ovo  und  über  die  Form  auf  üj,  über 
die  Personennamen  auf  d,  und  über  die  Deutung  der  possessiven 
Pronomina  moj,  tvoj,  svoj  (mAj,  tvAj,  svüj)  im  Slavischen^  mit 
dem  Er-suchen  um  Aufnahme  derselben  in  die  Sitzungsberichte. 


Verzeichniss  der  vorgelegten  Druekschriften: 

Acad^mie  royal  des  Sciences,  des  Iiettres  et  des  Beaux-Arts  de  Belgiqae  : 

Bulletin.  46«  Ann^e,  2«  S^rie,  Tome  43.  Kr.  4.  Broxelles,  1877;  8^. 
Äkftdemijft  jagoslavenska  znanosti  i  umjetnosti :  Rad.   Enjiga  XXXIX.  U 

Zagrebn,  1877;  8«. 
Genootschap,  Bataafscli  der  Proefonderyindelljke  Wijsbegeerte  te  Rotterdam : 

Nienve  VerhandeUngen«   Tweede   Reeks:   Tweede    Deel,   Tweede   Stnk. 

Rotterdam,  1876;  4». 

—  het  Provinciaal  Utrechts  van  Künsten  en  Wetenschappen :  La  Constmc- 
tion  de  TEglise  paroissiale  de  St.  Jaques  k  Utrecht  par  W.  Pleyte. 
Iieide,  1876;  folio. 

Gesellschaft,    k.  k.  geographische,    in  Wien:    Mittheilnngen.    Band  XX. 
(nener  Folge  X.)  Nr.  6,  6  und  7.  Wien,  1877;  4». 

—  Oberlausitzische  der  Wissenschaften :  Neues  Lausitzisches  Magazin.  53.  Band. 
1.  Heft.  Görlitz,  1877;  8°. 

1* 


Harx-Yerein  for  Geschichte  und  Alterthimiakiuide :  Zeitschrift.  ErginzoogB- 

heft  zum  9.  Jahrgänge.  Wernigerode,  1877;  4«. 
Institnut  koninklijk  voor  de  Taal-,  Lind-  en  Yolkenknnde  tui  KederUndsch- 

Indie.    Bijdragen.    Derde    Volgreeks.    Elfde    Deel.    2«  Stok.   —   Vierde 

Volgreeks.  Erste  Deel.  1*  Stak.  —  Verslag  der  feestriering  van  het  Tijf- 

en  twintig-jarig  bestaan  tu  het  InsÜtirat  (1851 — 1876).  *8  GniTenhage, 

1876;  8«. 
Littre,  Emil:  Supplement  au DicÜonnaire  de  la  langne  finufaise.  1'*  liTiaiaon. 

Paris,  1877;  4« 
JKeTne   politique    et   litteraire'    et  ^Reme  scientifiqne  de  la  France  et  de 

l'Etranger*.  VI«  Annec,  2«  Serie.  Nr.  52—53.  Paris,  1877;  4«. 
Societj,  the  rojal  Asiatic:  The  Journal  of  the  Bomhaj  brauch.  Vol.  XIL 

Nr.  XXXIV.  1876.  Bombay,  London,  1877;  8«. 
Verein,  für  Geschichte  und  Alterthnm  Schlesiens:   Zeitschrift   XIIL  Band. 

2.  Heft.  Breslau,  1877;  8®.  —  Scriptores  remm  Silesiaearum.   X.  Band. 

Annales  Glogovienses  bis  z.  J.  1493.  Breslau,  1877;  4*. 

—  für  Kunst  und  Alterthnm  in  Ulm  und  Oberschwaben :  Korrespondensblatt 
II.  Jahrgang.  Nr.  2—5.  Clm,  1877;  8». 

—  militar-wissenschaft lieber,  in   Wien:   Organ.  XFV.   Band.  4  und  5.  Heft 
Wien,  1877;  8«. 


XVIII.  SITZUNG  VOM  11.  JULI  1877. 


Dankschreiben  sind  eingelaufen  für  Subventionen  behufs 
der  Drucklegung  und  zwar  des  dritten  Bandes  der  , Geschichte 
des  Benedictinerstiftes  Admont'  von  Herrn  P.  Wichner,  des 
ersten  Bandes  des  ^Aruchlexikons  von  R.  Nathan  ben  Jechiel' 
von  Herrn  Dr.  Kohut,  und  der  ^Reise  in  den  egyptischen 
Aequatorialprovinzen  und  in  Kordofan'  von  Herrn  Marno. 


Das  w.  M.  Herr  Professor  Dr.  Hartel  legt  eine  für 
die  Sitzungsberichte  bestimmte  Abhandlung  unter  dem  Titel: 
jDemosthenische  Studien'  vor. 


Verzeiohniss  der  vorgelegten  Druokschriften : 

AcadÄmie  Imperiale  des  Sciences  de  St.-P^tersbonrg:  Memoires.  Tome  XXII. 

Nr.  11, 12etdernier.  St-P^tersbourg,  Riga,  Leipzig,  1876;  40.  —  Tome  XXIII. 

Nr.  2—8  et  dernier.  St.-P6tersbourg,  Biga,  Leipzig.    1876;  4<'.  —  Tome 

XXIV.  Nr.  1—3.  St.-Peter«bourg,  Riga,  Leipzig,  1876;  4«.  —  Tome  XXVIII. 

Nr.  2.  8t.-P^tersbourg,  1876;  8«.  —  Berichterstattung  über  die  18.  Zu- 

erkennung  der  Uvarov^schen  Preise.  St  Petersburg,  1876;  8^. 
Gesellschaft,  anthropologische,  in  Wien:  Mittheilungen.  VII.  Band.  Nr.  6. 

Wien,  1877;  12^ 
Halevy,  J.:   Priores   des  Falaschas  ou  Juifs  d*Abyssinie.    Paris,  1877;  12^. 
,ReTue    politique   et   litt^raire*    et    ,Revue    seentifique    de  la  France    et   de 

r^tranger*.  VII«  Ann^e,  2«  S^rie,  Nr.  1.  Paris,  1877;  40. 


6 

Societe  des  Antiqnaires  dn  Nord:  M^moires.  NoiiTelle  S^e.  1875/76. 
Copenhagae;  8^  —  Tillaeg  til  AaibSger  for  nordisk  Oldkyndighed  og 
Historie,  Aargiang  1875.  KjöbenhaTii,  1876;  8®.  ~  Aarbo^r  for  nordisk 
Oldkyndighed  og  Historie.  1876.  Tredie  og  Qerde  Heefte.  Kjöbenhayn;  8<>. 

UniTersitit,  kaiserlich  Kasan^scke:  Sitaniigsbericbte  nnd  I>enkschrifien. 
Band  XL.ni.  1876.  Nr.  1—6.  Kasan,  1876;  gr.  8». 

Verein,  f&r  Siebenbfirgische  Landeskande:  Archiv.  Nene  Folge.  XHI.  Band. 
I-ni.  Heft  Hermannstadt,  1876/77;  8«  »  Jahresbericht  fnr  dasVereins- 
jahr  1875/76.  Hermannstadt;  12®.  —  Programm  des  Oymnasinms  A.  B.  sn 
HermannsUdt  für  187.5/76.  Hermannstadt,  1876;  12. 


Hartel.    DemoftheDisehe  Stadien. 


Demosthenische  Studien. 

Von 

Prof.  Dr.  Wilhelm  Hartel, 

wirU.  Mitglied«  der  k.  Akademie  der  Wiitenschafteii. 


rür  Zeit  und  Verlauf  des  olynthischen  Krieges^  niclit 
minder^  um  Veranlassung  und  Erfolg  der  demosthenisclien 
Reden  zu  erkennen,  ist  eine  Stelle  des  Philochoros  von  Be- 
deutung, die  uns  Dionysius  in  dem  Briefe  an  Ammaeos  1,  9 
S.  734,  10  erhalten:  (6  'OXuvOiaxb?  xöXe[jLO<;)  ext  KaXXc[i.axou  Y^yovev 
ip/^ovTO?,  üx;  873X0T  0'.X6xopo<;  sv  •;'  ß(ßX(i)  vqq  'At6(8o;,  xata  Xd$iv  o&rw 
Ypif wv.  *Koik'kl\kT/oq  Uep^asf^ösv  •  exi  to6tou  'OXuvöioi^  xoXcfAOüfJLevot?  uxb 
4>'.X{x7:ou  xal  xp^aßst^  'AOi^vocI^e  x6[JL^a9iv  oc  "AOYjvaioc  au(jL(jioc)^iav  xe  exoii{- 
ffx/To  .  .  .  .  xal  ßsi^Osiav  IxcfJL'I^av,  xeXTaora«;  [x^v  SioxtXiouq  ipti^pei^  8^ 
Tpiixo*/Ta  TO^  [xera  XapirjTo?  xal  5^  QjvexXi^pwaav  ixtdi).  *  'Exsixa  5i- 
£$sX6ü)v  bXv^a  Ta  [xsta^b  Yevofjieva  TiOtjat  TauTt*  jUepl  8e  xbv  aufov  xp6vov 
XaXxiS^cov  Tb)v  ext  BpoxT]^  OXißopL^viov  t(J)  xoXqjLco  xai  xpecßeu^aiiievcov 
!\d;^va^£,  Xapßr^ii.ov  auroT?  Ixeji.^'av  ol  AOYjvatoi  tov  iv  *EXXy)(7xövt(i) 
crparcYjYOV  Iq  S^wv  5xT(i>xa{3exa  xpii^pei?  xal  xeXTacra^  Texpoxi^  x^^'^'^^^j 
wxeT?  Be  xevn^xo^/ra  xal  Ixativ,  ^iXOev  et;  xs  UaXXi^vriV  xal  xf^v  Bsxxiafav 
[JL6X*  'OXüv6to)v  xal  xt)v  x<»>pÄV  ^xöpOtjaev.'  "Exetö*  Oxsp  xrj;  xp{xY;(;  (ju|jLjji.a- 
Xioq  Xr^et  xxjxi"  jOaXiv  5^  xwv  'OXuvötwv  xp&aßeic  axoaxsiXavxwv  et^ 
xo^  A^va^  xal   dec(Asyu)v  (xi}   xepttBeTv  auxob^   xoxoxoXeixrjOevxa^,   aXXa 

^  Van  Herwerden  (Dionyni  HaliearTUuteMia  epUtolae  tre»,  Gronin^e  1864, 
p.  10)  hat  zuerst  statt  der  Vulgata  S(  xat  a.  (ohne  oxxto)  ans  dem  besten 
Codex  (Ambrosianas  D.  119)  xsi  Sc  ouvETcXiipcovav  oxtco  hergestellt  und 
constatirt  nach  aTj(i{i.a)f{av  xs  iiroiiJaavTo  eine  Lücke  von  18  Buchstaben. 
Ich  verdanke  eine  sehr  genaue  Collation  des  Ämbrosianns  Herrn  Professor 
F.  Knoell,  nach  welcher  die  Lücke  0*056",  also  fast  genan  eine  halbe 
Zeile  betrXgt.  Sie  beginnt  mit  dem  Anfang  der  Zeile,  ohne  dass  die  Be- 
schaffenheit des  Papiers  dazn  Veranlassung  gab. 


8  Hartel. 

Tzfo^  Tai;  uTcapxcOaai;  3uvd[jLeai  iziitj^on  ßo/jOeiov,  (jlv)  ^ev(XT;v^  aXX'  avriov 

8e  >  ::oXtTwv  iicXCta?  Btc/iXCoü^  xal  t-Kset;  Tptaxoafou;  sv  voüaiv  tzicYjYO^?  * 
crpamriYOV  Je  XipTjTa  toO  otoXou  Tcavtoi;.' 

Darauf  gestützt  bestimmte  Dionysins  als  das  Jahr^  in 
welchem  die  drei  olynthischen  Reden  gehalten  wurden,  Kalli- 
machos'  Archontat  (Ol.  107,  4  =  149/8),  a.  a.  O.  4,  S.  726,  4: 
e^l  3s  KoLXki\kdc/p\)  ....  tpsX;  SidOsTO  StjtAYpfopta;  icapaxaXb)v  "A^vaiou; 
ßoi^Ostav  'OXuvOtot;  airoorsiXai  TOt;  ncX6(ii.oupL£vo(;  incb  <l>iX('incou,  xp<i)TT;v 
jASv,  ^;  eoTiv  apxT^  ,'Ezi  xoXXwv  jxsv  tSeiv  dfv  xt;,  &vSpe;  *A.,  SoxeT 
jjLOt',  SsuTSpav  8^,  ,0'jxl  fauia  zapiffratai  jjLOt  YtYvwoxstv,  jltvSpe;  A.', 
tpiTTjv  Be,  /Avil  xoXXwv  äv,  jav^pei;  A.,  xP^^F^'^wv',  violleicht  auch 
die  von  unserer  handschriftlichen  Ueberiieferung  abweichende 
Aufeinanderfolge  derselben,  jedenfalls  aber  die  specielle  Ver- 
anlassung und  den  Erfolg  jeder  einzelnen,  indem  er  sie  mit 
den  drei  von  Philochoros  bezeugten  Hilfssendungen  in  Beziehung 
brachte,  deren  jede  durch  je  eine  Rede  des  Demosthenes  ver- 
anlasst worden.  ^  Das  geht  hervor  aus  10,  S.  736,  11 :  (Jisra  y^ 
öEpxovTa  KaXX{jjLaxov,  e^*  ou  xa?  et?  "OXuvOsv  ßoTiOeia?  onrdTcetXav  AOtj- 
vaToi  ^etaOevTe;  Ottd  AtiiAocOevoui;,  Oei^tXd?  imv  5p)fwv,  xa6'  3v  expa- 
TTjcre  Tf|?  'OXuvOiwv  ^oXecoq  «I>{/a7nco;,  welche  Worte  die  Scholien 
S.  74,  10  Dind.  verdeutlichen:  torsov  Be  cv,  fr^civ  5  <tiX6xopo;  oti 
ipet?  ßdi^Os'.ai  ez^fA^ÖYjffav,  xaO'  gxaorov  Xcvcv  [xia;  x£;jLTOii.r/r,(;5  w;  rij; 
7:pu)TY;;  (At}  cuoti?  IxxnJ;.  Davon  sagt  Philochoros  nichts  und 
konnte  kaum  etwas  sagen;  denn  Demosthenes  polemisirt  in 
seinen  Reden  lebhaft  gegen  derartige  Söldner-Expeditionen  und 
hat,  wie  ich  in  meiner  Abhandlung  ,Demosthenische  Anträge' 
nachzuweisen  versuchte,  keinen  selbständigen  Antrag  gestellt.' 


1  Der  Codex  hat  nach  Kaoell  tiuv  noXiTtuv  o};X(tsc  h\  xtX. 

3  Vgl.  Schaefer  II  149,  Weil,  2et  harangues  de  Dhnosihhie  p.  168  f., 
Fr.  Blass,  die  alt  ßeredaamkeit  (Demosthenes)  III  1,  S.  278.  Dagegen 
Spengel  A7](xy)Y-  (Abh.  der  k.  bayr.  Akademie  d.  W.  I.  GL,  IX.  B.» 
I.  Abth.  1860)  p.  70|. 

3  Ich  freue  mich  in  diesem  Punkte  mit  Blass  fast  völlig  übereinzustimmen, 
dessen  Werk  mir  erst  nach  dem  Druck  jener  Abhandlung  zukam.  Zur 
zweiten  olynthischen  Rede  bemerkt  derselbe  a.  a.  O.  S.  272:  ,Weder  über 
die  Hilfssendung  noch  über  die  Gesandtschaft  lässt  sich  Demosthenes  auf 
genauere  Entwicklungen  ein;  einen  Antrag  wird  er  also  nicht  ge- 
stellt haben*;  und  zur  dritten  8.  276:  , Augenscheinlich  war  auch  diese 
Rede  Ton  einem  Antrage  nicht  begleitet*;  zur  ersten  S.  270:  ,Es  hat  nicht 


DenMiheniBch«  Btndien.  \) 

Seinen  Namen  hat  demnach  Philochoros  in  keinem  Psephisma 
lesen  können.  Nur  aber,  wenn  Demosthenes  als  Antragsteller 
die  einzelnen  Hilfssendungen  veranlasst  und  dies  Philochoros 
urkundlich  bezeugt  vorlag,  konnte  er  mit  einiger  Wahrschein- 
lichkeit die  erhaltenen  drei  Reden  mit  den  drei  Hilfssendungen 
in  ui*8ächliche  Verbindung  bringen.  Hätte  er  aber  eine  derartige 
Vermuthung  ausgesprochen,  so  würde  Dionysius  sie  anzuführen 
nicht  unterlassen  haben.  Philochoros  bezeugte  also  nur  die 
di*ei  Hilfssendungen,  alles  andere  ist  Conjectur  des  Dionysius, 
eine  Conjectur,  die  auf  nichts  als  auf  dem  rein  äusserlichen 
und  zufälligen  Umstand  der  übereinstimmenden  Zahl  der  Reden 
und  Expeditionen  zu  fussen  scheint. 

Gleichwohl  halten  vorsichtige  Forscher  die  Meinung  des 
Dionysius  wenigstens  theilweise  für  richtig  und  lassen,  wenn 
sie  auch  einen  Causalzusammenhang  zwischen  den  Reden  und 
den  Expeditionen  bündig  in  Abrede   stellen,  *   nach  je   einer 


den  Anschein  als  sei  diese  Rede  von  einem  förmlichen  Antrag  begleitet 
gewesen:  der  ertheilte  Bsth  ist  wenig  ausgeführt  and  sehr  kurz  in  seinen 
Einzelheiten  begründet,  und  was  Demosthenes  über  die  Geldmittel  sagt,  ist 
nichts  als  Hinweisung  auf  die  Schwierigkeit,  die  in  der  Verwendung  der 
Ueberschüsse  zu  Schaugeldern  lag,  während  er  die  Stellung  eines  Antrages 
darüber  ausdrücklich  ablehnt.  Die  Absicht  der  Rede  ist  also  wesentlich, 
das  Volk  im  Allgemeinen  anzuspornen  und  zu  energischem  Handeln,  vor 
Allem  auch  zu  persönlichem  Kriegsdienst  willig  zu  macheu*,  während  ich, 
was  diese  Bede  betrifft,  in  den  §  16  über  die  Modalität  der  Rüstung  und 
Kriegsführung  gegebenen  Rathschlägen  Anträge  erkenne,  über  die  freilich 
nicht  in  dieser  Versammlung,  auf  deren  Tagesordnung  weder  die  Ausfüh- 
mngsfrage  noch  die  Oeldbeschaffung  stand,  abgestimmt  werden  sollte. 
Auch  glaube  ich  nicht,  dass  er  §  2  es  ,v  erlauf  ig  als  seine  Meinung  hin- 
stelle, dass  man  die  von  den  Olynthiern  erbetene  Hilfe  baldigst  schicken 
und  eine  Gesandtschaft  abordnen  solle*  (S.  269),  sondern  dort  schUesst  er 
sich  einem  von  anderer  Seite,  wie  ich  vermuthe  vom  Rath  gestellten 
Antrag  an,  worauf  schon  der  Wortlaut  führt  <{nf]9(aaaOai  \i.h  ffir^  t^v 
ßoiJOfiiav. 
'  So  bemerkt  richtig  A.  Schaefer  11  161:  ,Aber  selbst  wenn  bezeugt  wäre, 
dass  die  Athener  auf  die  Reden  des  Demosthenes  und  gemäss  seinen 
Anträgen  die  zur  Ausführung  gebrachten  Beschlüsse  fassten,  so  müssten 
wir  erklären,  dass  nicht  die  erhaltenen  Reden,  sondern  andere,  welche 
nicht  herausgegeben  wurden,  diese  Wirkung  gehabt  hätten ;  denn  mit  Aus- 
nahme der  letzten  Sendung  steht  die  Art  der  Rüstung  durchaus  in  Wider- 
spruch mit  dem  Willen  des  Demosthenes,  wie  die  drei  olynthischen  Reden 
ihn  kundgeben*. 


10  Hartel. 

Rede  einen  Hilfszug  abgehen.  So  setzt  Grote  die  drei  von 
Philochoros  erwähnten  Hilfszüge  allerdings  nicht  ohne  einen 
Zweifel  an  der  Richtigkeit  dieses  Zeugnisses  zu  änssem^  in 
das  Jahr  Ol.  107;  4  =  349/8;  ausser  diesen  nimmt  er  aber 
noch  zwei  Expeditionen  im  I^ufe  des  vorbeigehenden  Jahres, 
dem  er  die  drei  Reden  zuweist,  an,  indem  er  die  eine  im 
Herbst  3öO  einige  Zeit  nach  der  zweiten  (wie  Grote  meint 
ersten)  Rede,  die  andere  aber  kurz  vor  dem  Beginn  des 
Jahres  349,  also  nach  der  dritten  oljnthischen  Rede,  aber 
nicht  in  Folge  derselben  in  See  stechen  lässt  (vgl.  die  Meisner- 
Höpfner'sche  üebers.  VI  S.  263iß,  267,  279).  A.  Schaefer,  an 
der  überlieferten  Abfolge  der  Reden  festhaltend,  lässt  nach  der 
ersten  den  Chares  mit  seinem  Corps,  nach  der  zweiten  Chari- 
demos,  längere  Zeit  nach  der  dritten  das  Bürgercorps  Olynth 
zu  Hilfe  ziehen.  Aber  nicht  die  Autorität  des  Dionysius  ist 
fdr  solche  Anschauungen  bestimmend,  sondern  es  liegen  un- 
verächtliche Indicien  dafür  in  den  Reden  selbst  Sie  treten  am 
unzweideutigsten  in  der  dritten  Rede  hervor,  und  um  ihre  Art 
und  Tragweite  kennen  zu  lernen,  wird  es  angezeigt  sein,  von 
dieser  Rede  auszugehen. 

Schon  Libanius  erkannte  auf  Grund  einer  aufmerksamen 
Leetüre  derselben,  dass  die  Athener  zuvor  ein  Hilfscorps  gesandt, 
von  dem  günstige,  das  Volk  zu  kühnen  Hoffnungen  erregende 
Nachrichten  eingelaufen  waren,  vgl.  Einl.  S.  27 :  £iue(i.6av  ßoifOetov 
Totq  *OXuv6{otq  oi  'AOrjvaiot  xat  v.  xoTopOoDv  l8o5«v  8  t'  auitj^,  %a\  Toura 
auTöT?  ancf^^iXkt'vo.  6  51  S^[i.o;  zepi^api^;,  ot  xe  ^i^Tope^  icapotxaXouaiv 
exl  Ti{jL(i)p(3y  ^iXCtc^oü  xtX.  ^ 

Die  Stellen  der  Rede,  welche  dafür  in  Betracht  kommen, 
sind  folgende.  §  35:  oux  eortv  5xou  \Lyfih  i^l^  7:oiou9t  ts  tc^v  icotouvrtov 
efcov  üq  861  v^fAStv,  ou5'  oircob^  jjl^v  dp^sTv  %x\  c^oXal^stv  xal  ÄicopeTv, 
5ti  8^  o\  Tou  8eivo^  vty.h)9i  5ivoi  Tauxa  wjvOavecBaf  Tauia  y«P 
vüvt  ^i^^fiOLi,  xal  6i//\  [i.i|x^O|JLai  wotoüvxa  xt  xwv  Seivxwv  uicep 
u(jLu>v,  dXXa  xal  ujjlo«;  xnzkp  u[m>v  auT(5v  d^iü»  «parreiv  xoura  e^^  oiq 
ixepou^  xtiAore,  xat  [ji.73  icapoxc^peTv,  ti  £v8p6^  AOT)vatoi,  ty)^  to^edK,  ^v 
ü[JLtv  ol  zpo^ovoi  vfi^  Äpc'nS^  [Aexa  twXXöv  xal  xaX(5v  xtv86v(i>v  XTiQ^aiAevot 
xax^Xixov.  §  1 :  &x/\  xauxa  TcapijxaTai  [xot  Yi1fV(offX6iv,  S>  av8p6?  'A^Tjvalot, 
orav  xe  st?  xa  zpoYjjiaxa  aicoßXe^u)  xal  oxov  Tzphq  xou^  Xi^o^  0^  dxouü)  * 


Vgl.  Schol.  sn  §.  1,  S.  28,  1:  ejnjpjjivov  xbv  8ii[iov  tg  v^xyi  guot^Xeu 


Demo^thenisnlte  Stadien.  11 

TOü?  iJL^v  Y*P  Xö^ou?  rept  ToO  TijJLwpi^aaaOai  ^>{Xtx7cov  opö  fiY^o- 
|4.svoo^,  T«  84  xpiYJxaT«  eJq  toüto  icpoiixo^/xa,  ft^Te  oicw?  [xi;  iceta6[Jt.£6a 
auTOi  icpcT£pov  xaxb)^  axe^'^aOa'.  8sov. 

Wir  entnehmen  daraus,  dass  die  Athener  ein  Heer,  and 
zwar  ein  Söldnerheer  nach  Olynth  gesandt,  dass  dieses  gegen 
Philipp  oder  seine  Truppen  Vortheile  errungen,  welche  das 
Siegesbulletin  des  Führers  oder  seine  athenischen  Exegeten 
als  den  Beginn  einer  entschiedenen  Wendung  zum  Bessern 
begrüssten,  die  aber  der  Redner  in  dieser  Bedeutung  nicht 
anerkennen  will,  indem  er  der  Ueberzeugung  ist,  dass  die 
Athener  im  Kampfe  gegen  Philipp  noch  nichts  gethan,  was 
seiner  Grösse  entspräche  und  eingedenk  dessen  vielleicht,  was 
Thukydides  von  Perikles  sagt  II  65 :  6tc6t6  y^^v  awjOoiTi  Tt  autou^ 
•^rapa  xatpbv  tJßpet  öap(JOuvTa(;,  Xsywv  a^/rexXYjccev  iitl  tb  ^oßetaOai,  v.oA 
3sBi6Ta?  flw  4X670)?  dvTixaOCöTiQ  waXtv  exl  xb  OapaeTv. 

Welches  Söldnerheer  auf  Chalkidike  glücklich  gekämpft, 
wissen  wir  nicht.  Grote  denkt  an  eine  Expedition,  die  350  noch 
vor  dem  Beginn  des  euböischen  Krieges  nach  Olynth  abgefertigt 
ward  und  die  er  nicht  für  unansehnlich  hält,  indem  er  auf  sie 
die  aus  der  Rede  gegen  Meidias  bekannten  freiwilligen  Schen- 
kungen reicher  Bürger  bezieht  (Grote  II  26727).  Uiesö  An- 
nahme beruht  aber  auf  einer  völlig  irrthümlichen  Behandlung 
der  Philochoros-Stelle  bei  Dionysius,  der,  ,zufrieden  drei  Ex- 
peditionen nach  Olynthos  zu  finden,  die  sich  mit  den  drei  Reden 
des  Demosthenes  in  Verbindung  bringen  Hessen,  die  drei  aus 
Philochoros  zu  hastig  herausgeschrieben  und  die  Zeitangabe 
349 — 348  V.  Chr.  den  drei  Reden  zugewiesen  hat,  bloss  weil 
er  bei  Philochoros  diese  Jahre  den  drei  Expeditionen  beigelegt 
fand'  (a.  a.  O.).  Dass  diese  Stelle  an  Irrthümern  leide,  ist  auch 
meine  Meinung,  nur  fallen  dieselben  nicht  Dionysius,  sondern 
Philochoros  zur  Last,  der  sich  bei  seiner  chronikartigen  Dar- 
stellungsart bemühte,  die  sachlich  zusammengehörenden  Ereig- 
nisse unter  einem  Archontat  unterzubringen  und  so  in  dieses 
Dinge  zusammendrängte,^  die  sich  auf  eine  längere  Zeit 
vertheilen.  Aber  ein  Fehler,  wie  ihn  Grote  vermuthet,  ist 
nicht  wahrscheinlich.  Denn  zwischen  dem  Vertragsabschluss 
und  der  Expedition  unter  Chares  hat  Philochoros  keine  Expedition 
angesetzt,  wie  der  Wortlaut  zeigt,  und  dort  kann  Dionysius 
keine  übersprungen  haben.  Die  von  Grote  postulirte  musste  aber 


12  Hartel. 

hier  erwähnt  sein.  Auch  sieht  es  Dionysius  nicht  gleich,  dass 
er,  indem  er  aus  Philochoros  die  für  Fixirung  demosthenischer 
Reden  dienenden  Ereignisse  excerpirte,  jene  Expedition  sich 
entgehen  liess,  welche  nach  Grotes  Schätzung  alle  andern  bis 
auf  die  letzte  an  Bedeutung  übertroffen,  noch  weniger  Philo- 
choros, dass  er  gerade  sie  nicht  mitgezählt. 

Es  kann  demnach  nur  an  eine  der  drei  philochorischen 
Expeditionen  gedacht  werden,  und  zwar  an  jene,  welche  auf 
die  Gesandtschaft  der  Chalkidier  Charidemos  gegen  Philipp 
führte;  denn  diese  scheint  nicht  erfolglos  operirt  zu  haben, 
indem  sie  in  Verbindung  mit  den  Olynthiern  nach  Bottiaea, 
also  in  macedonisches  Gebiet  vordrang  und  das  Land  verwüstete. 
Dieselbe  war  auch  nicht,  was  die  Truppenzahl  betrifft,  gering- 
fügig, sie  zählte  18  Trieren,  4000  Peltasten  und  150  Reiter. 
Aus  Philochoros*  Worten  ist  nicht  mit  zweifelloser  Sicherheit  zu 
entnehmen,  dass  sie  erst  einige  Zeit  nach  der  ersten  Expedition, 
welche  auf  die  Gesandtschaft  der  Olynthier  unter  Chares'  Com- 
mando  ^  abgesandt  ward  und  2000  Peltasten,  die  30  Trieren, 
die  er  führte  und  überdies  noch  acht  in  Athen  bemannte  Schiffe 
umfasste,  abging  oder  später  auf  dem  Kriegsschauplatz  ankam.  ^ 
Auch  stand  Charidemos,  der  im  Herbst  des  Jahres  351  mit 
einem  Observationscorps  gegen  Philipp  nach  dem  Hellespont 
geschickt  worden  war,  dem  Kriegsschauplatz  näher,  und  darauf 
deutet  wohl  Philochoros,  indem  er  ihn  tcv  ev  'EXXYjcnuivTC})  (jTpanijYov 
nennt.  Auch  das  kann  gegen  eine  gleichzeitige  oder  nahezu 
gleichzeitige  Absendung  beider  Führer  nicht  eingewendet  werden, 
dass   dadurch   die   Einheit   der   Kriegsführung  von   vornherein 

1  Daas  Chares  Commandant  war,  B^gt  Philochoros  nicht  ausdrücklich ,  aber 
er  meinte  dies  wohl  und  so  war  es,  wie  dies  auch  Suidas*  Irrthum  be- 
stfitigen  kann,  unter  Kapavo; :  o|jlcü;  h\  ßo7]6ou(  tr,i\i'^w  ^AOifjvatoi  ^a,^^  \k'  xaX 
XapyjTa  aipairjov  •  ou  y  £1[jlwvi  oKoXrjflpOsvTO^  rpoSovTwv  h\  Ti^v  "OXuvOov  EuOu- 
xpaTOu;  xai  AaoO^vou;  t^v  (jlW  avaoraatv  ino^Tjae  (<^{Xl7^loc),  der  hier  offenbar 
die  erste  und  dritte  Expedition  confundirt,  durch  das  gleiche  Commando 
irre  geführt.  Die  Zahl  von  40  Trieren  ist  rund  die  der  ersten  Expe- 
dition (38  nach  berichtigter  Losart);  die  dritte  und  letzte  zählte  nur  17 
neu  ausgerüstete,  die  wie  das  Wörtchen  li/pa;  zeigt  zu  den  früher  aus- 
geschickten stossen  sollten.     Vgl.  auch  Weil  S.  112. 

>  jPhüockoiftSy  qui  dana  aes  Annales ^  auiisait  exactement  Vordre  des  temps^ 
trouvaü  peu  de  faiU  h  enregiib'er  entre  le  premier  et  U  second  tecoura; 
iU  se  suivaient  donc  de  prkt*  Weil  p.  ISö}. 


Demostbenische  Studien.  13 

gefährdet  war.  Denn  sie  brauchten  nicht  gleich  Anfangs  dasselbe 
Operationsfeld  zu  haben,  was  auch  anzunehmen  durch  Philo- 
choros'  Worte  gerade  nicht  nahe  gelegt  wird;  indem  einmal  die 
Olyntl^er  und  dann  die  Chalkidier  Athen  um  Hilfe  angehen. 
Es  konnten  ganz  wohl  Städte  des  olynthischen  Bundes,  die  von 
Olynth  entfernt  lagen  Athens  Schutz  auf  Grund  des  auch  f&r 
sie  abgeschlossenen  Bündnisses  in  Anspruch  nehmen  und  zu 
ihrer  Unterstützung  zunächst  Charidemos  heranrücken.  Dass 
in  der  That  beide  Qeneräle  auf  Chalkidike  gleichzeitig  operirten, 
wird  später  noch  dargethan  werden. 

Ob  nun  Chares  oder  Charidemos  oder  auch  beide  einigen 
Erfolg  gehabt  und  ihre  Meldungen  in  Athen  gute  Hoffnungen 
erweckten,  Athen  hatte  zu  der  Zeit,  da  die  dritte  olynthische 
Rede  gehalten  ward,  bereits  für  die  bedrängten  Bundesgenossen 
etwas  geleistet.  Qleichwohl  ignorirt  dies  Demosthenes  von  seinem 
Standpunkt  aus,  indem  nur  das  Aufgebot  aller  verfugbaren 
Kraft,  vor  allem  aber  die  Mobilisirung  eines  Bürgerheeres  dem 
Ernst  des  Augenblickes  zu  entsprechen  schien,  vollständig  und 
geisselt  in  Ausdrücken  die  Fahrlässigkeit,  Trägheit  und  Blind- 
heit seiner  Mitbürger,  als  ob  sie  bis  dahin  auch  nicht  die  Hand 
gerührt.     Er  sagt 

§  3:  TTficetGiAat  y^P  ^^  <<^^  icapcov  %2\  oxoucov  ouvoiSa  ik  rXetfa) 
Töv  TipayiiiiTcov  'ft[iaq  h.7:^t\jr(Vfon  Tcji  [xyj  ßouXeaOai  ta  BeovTa  icotetv 
i)  TW  ixf|  ouvt^vat. 

§  14 :  Ol)  jjiijv  Oü8'  exetvo  ^  \>[Kaiq  «Y^oeTv  Bei,  &  devSpeq  AOTjvawi, 
3ti  ^^ic\UL  ouSevb?  a^töv  ^ortv,  Äv  jjly;  wpo<TYivt)Tat  xb  icoteTv  iOdXeiv  xa 
YE  Sd^avxa  i:po%[Ud<;  üjaä;.  et  *{kp  autapxT]  xa  f^fi<j\LonoL  ^v  .  .  .  ., 
o5x'  Äv  uixst;  TfoXXi  <J/iQ®ilJ6ix€vot  [jt.ty,pa  [xaXXov  8'  ouB^v  expixxexe 
xo6xwv,  0UX6  4>{XirK0?  xocoOxov  ußpCxet  yjpS'fo^, 

§  16:  xiva  "^ap  xP^vov  9i  xtv«  xatpbv,  &  ivBpc?  AOrjvaTot,  xoö 
xap6vxo?  ßeXxto)  IjTjxeixe,  ^  x6x6  5  Set  Tcpa^exe,  et  [JLtj  vOvj  cu^ 
XKTna  (Asv  iQ{jLb>v  zpoeCXiQ^e  x3e  x<^p^'^  &v6p<«)ico^,  et  3i  xai  xae6xiQ(  xupto^ 
Tij?  X^^^  Y^^^^'^'j  ^a^w*'  aX(T/jLv:o[,  X6icr6[i.e0a ;  ou^r  ot^;  sl  xoXe(ji.i^9aeev, 
mi\Mq  7a>9e(v  {KcioxvcujjieOa,  ouxot  vjv  xoXeixouat;  xxX. 

§  20:  ouxci  aü>9p6y(i)V  OüSe  YsvvaCwv  eoxtv  avöpcüxwv,  iXXeticovxa? 
XI  8i*  SvBetav  ^P'^H^i'^f  wv  xöv  xou  xoX^jacü  eu^epco^  x3t  xotaux'  iveßy) 
f  spetv,  oü8'  ext  [jikv  KoptvObu^  xal  MeYapea?  apxöfaavxa^  xa  SxXa  xopeu- 
ecOai,  <I>tXtxxov  8'  eav  xoXei;  'EXXtjvCS«;  avSpaxö8(?6a0at  8t' 
dixop{av  ^9o8((i>v  xot^  9xpaxeuo[i.^vo'.^. 


14  H»rtel. 

Ja  nicht  einen  Einwurf  etwa  wie  ^Weist  Du  nicht  dasB 
wir  den  Olynthiern  bereits  Söldner  geschickt,  dass  diese  gesiegt?^ 
erwartet  er,  sondern  er  darf  (§  3:  aXX'  5ti  [kh  8ti  Jet  ßoY)ÖeTv, 
efrcot  Tiq  av,  wavre^  6YV(ll)xajAev,  xai  ßoY20i^9O[Aev)  der  Majorität  der 
Versammlung  die  Meinung  insinuiren,  dass  die  gebotene  Hilfe 
keine  war,  dass  man  den  Bundesgenossen  die  Einlösung  des 
beschworenen  Versprechens,  sie  'jcavil  oO^vei  xara  xb  3uvat6v  zu 
unterstützen,  noch  schulde.  So  fest  stand  bei  Demosthenes  und 
Anderen  die  Ueberzeugung  von  der  Unzulänglichkeit  und  Kriegs- 
untüchtigkeit  der  Söldnertruppen  im  Kampfe  gegen  eine  Macht 
wie  die  makedonische  und  dass  nur  von  einem  Bürgerheer 
Rettung  zu  hoffen,  dessen  endliche  Ausrüstung  energisch  ge- 
fordert wird  (vgl.  §§.  6,  8,  9,  30,  33,  36). 

An  diesen  Aeusserungen  der  dritten  Rede  gemessen,  ver- 
lieren meines  Erachtens  alle  jene  der  zweiten,  welche  gegen 
die  Voraussetzung  der  Absendung  eines  oder  mehrerer  Söldner- 
heere zu  sprechen  scheinen,  lun  so  mehr  ihre  Beweiskraft,  als 
nicht  etwa  ein  das  Volk  mit  Freude  und  Hoffnung  erfüllender 
Sieg  die  Schroffheit  des  Urtheils  milderte.  Die  bezüglichen 
Aeusserungen  erinnern  häufig  selbst  im  Ausdruck  an  ähnliche 
Stellen  der  dritten  Rede.  Es  sind 

§  2:  3et  To(vüv,  &  düvSpe^  AÖYjvoio'.,  toOt'  ffit]  oxoweTv  auroOq, 
Stcüi?  jxyj  yeipou^  icepl  i^fjia^  autou?  elvai  86§ojjLev  twv  in:apx6vTU)v,  üq 
Iffti  Tüiv  ai9XP<^^;  i^aXXov  8^  töv  atcxtaxwv,  [at;  ptivov  TcdXecDV  xal 
t67;(i)v  ü)v  ^[jl^v  icore  x6pioi  9a{vea6at  Tcpcie^iievcu^,  iXkk  xat  t(i>v  dvo 
TV^q  TU^iQ^  icapa9xeua70ivT(ov  9U[i.[i.axcov  xai  xaipcov  (vgl.  III 
§  7  und  §  8:  x<«>pk  T^P  '"5?  xeptoriijYiq  Äv  t^^jl»;  ataxuvYji;  xxX.). 

§  3:  TO  [ji.4v  ouv,  &  of.  A.,  ty]v  4>iXiinuou  ^(i>[JLrjV  Sie^idvat  %a\  Sia 
to6twv  töv  X^ywv  icpotpeweiv  xa  S^ovt«  woteTv  ü^xa?  ou^'i  >WfXü)^  ex^tv 
il^ou(jM(i  (vgl.  III  §  3:  TG)  [xv]  ßouXeoOai  T3e  BäovTa  Tcoieiv). 

§  11:  ^Yjfxi  8^  8eTv  i^jj-a?  toT^  [aev  X)Xüv8{ot?  ßoTjöeTv,  xat 
8k<»>?  Tt?  Xi^st  xdXXiffxa  xai  Toxiffia,  oütox;  apeoxst  [xot  (vgl.  III  §  10 : 
dXX'  5x1  |i.ev  873  8£t  ßorjOetv,  sfcot  xi?  dtv,  i:avx£<;  €Y^ü)xaiJL£v,  xat 
ßoif)0i^ao[JLev).- 

§  12:  ffxoTceioöe  [xevxot  xouxo,  (o  &  A.,  oicw;  jjlt;  X6you?  jaövov 
ol  wap'  T^jJLÖv  icpdaßet?,  dXXa  xai  Ipyov  xi  8eixv6£:v  iS^^aiv  £^£Xif]Xu> 
Ö6x(i>v  ufjLÖv  d^icDq  x?3?  tuoXew?  xai  5vx(i)v  €7ci  X0T5  xpaYii.a^t  xxX. 
(vgl.  III  §  33:  £av  o3v  aXXa  vöv  y'  exi  d7caXXaYivx£<;  xouxwv  xöv  iOwv 
eOeXt^g/jxs    Gxpax£ü£a6at  xai  Tcpaxxfitv    a^ltaq  ujjlwv  auxdiv  xxX.) 


DtmosthtniBch«  Studien.  15 

§  13:  TcoXXtjv  86  tT|V  [xeTdorafftv  xal  [jL6YflcXt;v  Seixiiov  ir^v  [xeia- 
ßoXifVy  etfffepovxa^  i^iövTa^  &icavTa  icotouvxa^  iTO^iJLco^,  eiicep 
Ti;  uiJLtv  zpoffi^ei  Tov  voüv,  x5v  tauia  eOsXi^avjTe  &?  Tcpo^i^xet  xal 
l^  TTspaCvecv  (vgl.  III  §  30—34). 

§  20:  SoxeT  8'  Siaoiys^  &  dKvSpe;  AOiqvoioC;  Se^^eiv  oux  ei^  (jLaxpiv, 
d^  ot  TS  Oeoi  0£X(i>ai  xai  u(4.et(  ßouXYjvOe. 

§  22:  ou  jjLYjv  aXX'  i^to^e^  ei  xt^  atjpeciv  jAOt  8o6q,  ttjv  tyj^  T^jjLe- 
TJpo^  TCÖXeox;  t6xv)v  dlv  ^Xo{(jly]v,  eOeXövToiv  £  icpo9i^xei  icoieiv  u(4.d)v 
auTü>v  xal  xaTa  (Aixpbv  ^  ti]v  exeivou. 

§  23:  dXX'  cT|jLai  xa0i^(jLe6a  ouBev  icocouvtc^*  cux  Ivi  8'  aütbv 
dpYöuvTa  ouSe  xot?  ^(Xoi^  eiciTarretv  ux^p  aüToG  ti  «oteTv,  [xyj  t{  y^  5tj 
ToT(  Osot^.  ou  8t3  0<xu(Aot9T6v  eoTiv,  ei  aipaieu^iAevo^  xai  irovuv  exetvo^ 
auTO^  xal  7capu>v  e^"  Smaai  xal  (jiiQSeva  xaipbv  (Arj8'  (opav  nopaXedccDV 
ilJ}jL(i>v  [jieXX6vTb)v  xal  (l<v]9i!^C(ji.dv(i>v  xal  iruvOavo(ji.dvb>v  ?cepiY(Y^CTai* 
ou8i  Oau{JidC(d  tout'  eYu>.  Touvavrtov  y^  ^^  ^^  6au{i,a9T6v^  ei  [jLig8^v 
t:oiouvt6?  TQlJi-ei?  2)v  xot^  «oXeiAOÖct  icpo^i^xei  tou  ravia  wotouvro? 
7epi?3{jLev  (vgl.  III  §  35:  oux  lotiv  oicou  (Aig8äv  i-^^  icotouatv  t3i 
Tuv  i?oco'Jvt(i)v  eT?cov  d)^  8£i  vd|jLeiv,  ou8'  auxou^  (a^v  apY^iv  xal  a^^ 
Xil^eiv  xal  dicopeTv^  5x1  8^  ot  toO  8£tyo{  vtxa>fft  ^ivoi,  xaura  icuvOi- 
veffOai  xxX.y  §  14:  e!  y^P  «uxdpxv]  x3c  f^^io^LOL'zoL  ^v  ^  u{jidg  ovoYxdl^ecv 
3  rpoai^xet  icpdxxetv  xxX.). 

§  24:  xal  xoXXd  I8(a  icXsovexx^ffat  xoXXoxi;  ujaTv  e^'o^  oy>^  i^Öe- 
Xi^jaaxe,  dXX'  Tv'  oi  oXXoi  x6xwai  xöv  8txa{o)v,  xd  ujjiixep'  auxdv  dvY)X{axexe 
elfffspovxe^  xal  7:poexiy8uveuexe  9xpaxeu6(Aeyot,  vuvl  8'  8xvetxe 
eqi^vai  xal  [xdXXexe  ela^epeiv  uicep  xcöv  u{i.ex^p(i>v  auxiov  xxiQ(jLdx(i)v, 
xal  xou^  {jiiy  dXXou^  areardl>xaxe  TcoXXdxi^  Tcdvxa^  xaO'  Iva  auxüiv  iv  (x^pei, 
xd  8'  üjxdxep'  auxc5v  dicoXu)Xex6xe(  xdOiQoOe  (vgl.  HI  §  9:  dXXd  [jltjv 
elxi^  u|ju5v  et{  xouxo  dvaßdXXexai  icoii^9£iv  xd  8dovxay  t8£Tv  ^yT^Osv 
ßouXexat  xd  8ecvd;  d^bv  dxo6eiv  dXXoOi  y^T^V^'^^)  ^^^  ßov]Oob^  iaux^ 
Ctixetv,  45^v  vuv  Ixipot?  auxbv  ßoYjOsTv). 

§  27:  Y^\d  8i}  8eTv  eia^ipeiv  xp^|ji.axa,  auxou;  i^i^vat  xxX. 

Aus  diesen  Stellen  geht  zunächst  allerdings  nur  so  viel 
hervor,  dass  sie,  auch  wenn  ein  oder  mehr  Söldnerheere  Athens 
auf  Chalkidike  standen,  gesagt  worden  sein  können,  nicht 
aber,  dass  solche  dort  in  Wirklichkeit  operirten.  Wer  aber 
an  den  Aeussorungen  der  dritten  Rede  sein  Ohr  für  die  Fein- 
heit demosthenischer  Wendungen  geschärft,  wer  namentlich 
den  gleichen  Nachdruck  beachtet,  der  auf  persönlichen  Kriegs- 
dienst gelegt  wird,   und  dass  die  consequente  Forderung  der 


16  Hartel. 

höchsten  Leistung  die  Bestätigung  einer  kleinen  Abschlags- 
zahlung nicht  ausBchliesst,  sondern  den  Gedanken  daran  viel- 
mehr nahelegt)  indem  das  zu  Leistende  (xa  S^ovxa)  noch 
durch  einen  steigernden  Zusatz  präcisirt  wird  (vgl.  §  12: 
dXXa  xal  Sp-^ov  xi  Betxv^eiv  f^ouatv  e§eXY]Xu66T(i>v  uijlcov  i^itaq  i^; 
Tcö'keijiiq^  §  13:  x2v  xaura  lOeXifoiQTe  &^  icpoai^xet  xal  S))  xepoCvstv, 
§  23:  {xiqS^v  icoiouvre^  i^fJtet^  &v  xoXi;  icoXepLouai  rpoai^xet  und 
vorher  als  Gegensatz  cTpaT£u6[j.evO(;  xai  iccvcov  exeivo^  auxbq  xal 
i?ap(«)v,  §  22:  eOeXdvxtov  £  ^p09i{xei  ttocsTv  u[ji.(i)v  auT(5v.  §  24: 
Jxveiie  i^t^vai):  der  wird  der  Annahme  nicht  widerstreben, 
selbst  wenn  sich  weitere  Indicien  für  sie  nicht  gewinnen  Hessen, 
dass  die  Situation  zur  Zeit  dieser  Rede  die  gleiche  war,  dass 
die  Athener,  was  sich  ohne  grosse  Opfer  thun  Hess,  fUr  Olynth 
gethan  hatten,  indem  ihre  Söldnerheere  bereits  dahin  abge- 
gangen waren,  welche,  wie  sie  hofften,  ihnen  die  Mühe  persön- 
lichen Kriegsdienstes  ersparen  würden. 

An  Indicien  solcher  Art  aber  fehlt  es  nicht.  §  26  schil- 
dert Demosthenes  die  Lage  und  das  Verhalten  der  Athener 
während  des  ganzen  Krieges  mit  Philipp  und  im  gegenwärtigen 
Augenblick:  rare  y*P  Si^'ifou  touO',  8xi  (jlsXXövtcov  auxüiv,  Ix^pou? 
Ttva^  dXiciCovTWv  Tcpa^stv,  aiTUi)[ji.ivo)v  dXXi^Xou^,  xptvövrwv,  icoXtv 
iXm^övxwv,  o^eSbv  xauxa  Sicep  vuvl  xoioövkov  Sckol^  b  xp^vo^  JieXi^ 
Xü6ev.  Man  könnte  bei  flüchtiger  Betrachtung  der  Stelle  aller- 
dings glauben,  dass  aus  dieser  Vergleichung  schon  um  des 
o^eBöv  willen  nicht  alle  Züge  sich  wiederholen  müssen,  dass 
die  Athener  nicht  im  Augenblicke  sich  mit  Hoffnungen  auf 
die  Erfolge  ihrer  Söldnerfuhrer  (h^pou?  xtva?  IXic(2^6vx(i)y  icpöt^eiv, 
wozu  die  Scholien  bemerken:  oiov  xou^  §^vou^  xat  Xapvjxa  xai 
Xap{8T2|jLov)  zu  tragen  brauchen.  Allein  gerade  dieser  Punkt 
ist  der  Kernpunkt  des  Vergleiches,  wie  die  weitere  Ausführung 
zeigt  ,Glaubt  ihr^  fährt  der  Redner  fort  ,dass  durch  eben 
dasselbe  Verfahren,  welches  unsere  Macht  so  herabgebracht, 
diese  sich  wieder  erheben  könne?  Das  steht  um  so  weniger 
zu  erwarten,  je  schwieriger  es  ist,  Verlorenes  wiederzugewinnen, 
als  sich  im  Besitz  zu  behaupten.  Wir  aber  müssen  Alles 
wiedererobem.  Das  aber  vermögen  nicht  andere,  jene  §xepc{ 
xiv6^,  sondern  nur  wir  selber.'    abxöv  ouv  t^jjlöv  Sp^ov  xoux'  ffit^. 

Noch  unwidersprechlicher  zeig^  das  Folgende  §  27  ff., 
dass  die  öffentliche  Meinung  sich  im  Augenblicke  lebhaft  mit 


Dettosthenuehe  Studien.  l7 

den  Generälen  beschäftigte,  die  in  gewohnter  Weise  ihrem 
eigenen  Vortheil  nachgingen  oder^  weil  ohne  die  nöthige  Unter- 
stützung gelassen,  nachgehen  mussten,  dass  gegen  sie  Vorwürfe 
und  Anklagen  laut  wurden,  welche  der  Redner  bis  nach  Been- 
digung des  Krieges  auf  sich  beruhen  zu  lassen  auffordert.  Es 
ist  ganz  undenkbar,  dass  ohne  actuelle  Veranlassung  auf  Grund 
von  alten  Erfahrungen  hier  diese  Methode  der  Kriegsfiihrung 
akademisch  discutirt  würde,  >  und  um  so  mehr,  als  auf 
einen  der  Führer,  auf  Chares  wie  mit  dem  Finger  gewiesen 
wird.  ^  Aber  man  würde  irren,  wenn  man  darauf  gestützt 
meinte,  dass  zu  der  Zeit  Chares  allein,  noch  nicht  Charidemos 
neben  ihm  auf  Chalkidike  gegen  Philipp  im  Felde  stand.  Denn 
der  Redner  spricht  nicht  von  einem,  sondern  von  mehreren 
Generälen   (§  28:    si  SeT  ti  twv    Svtwv   xaJ  zept   töv   cjTpaTr^Ywv 

1  Man  ygL  damit  den  Ton,  in  welchem  die  Mängel  des  Söldnerwesens 
z.  B.  in  der  ersten  philippischen  Rede  §  46  behandelt  werden,  um  den 
Unterschied  zn  fühlen. 

*  §  28 :  hat  8i  xfvSuvot  jiiv  iXcircou^,  la  8i  Xijp,(xats  twv  i?p6crc7|xoT«ov  xai  twv 
oTpaTuoTtov,  AiiJL^^axo;  £{YEtov  xa  nXoia  S  ouXcoaiv.  Sigeion  war  Chares*  Resi- 
denz  sobald  er  nicht  zu  einem  Commando  berufen  ward.  Diese  Stadt  sowie 
Lampsakos  hatte  er  im  Bundesgenossenkriege  für  sich  erobert  (vgl. 
A.  Schaefer  IT  51).  Die  Beziehung  auf  Chares  erkannte  auch  der  Scho- 
liast  zu  Wo\}^  .  .  .  7coX.^[jiou; :  ?8(ou;  Xifzi  oO;  autoi  loita^  Ttoiouvtai  exto;  tt)^ 
t:oX£cü;.  aivfrcstai  8e  ^aco?  €??  tbv  XapT)Ta,  und  treffend  bemerkt  Weil  zu 
dieser  Stelle:  Au  lieu  de  combatlre  P?Ulippe,  et  de  venir  en  aide  aux 
OhfnÜikna,  Charit,  n*ayaiU  pas  de  quoi  nourrir  et  payer  see  aoldcUa,  avaii 
San»  doute  pilU  de  neutre»,  capturi  de  vaisseaux,  Pourquoi  Dimosthhne 
eOKuseraitril  ici  cea  abtu,  si  un  abus  pareil  ne  foumissait  pcu  alors  mime 
un  grief  ä  ceux  qui  voulaient  faire  rivoquer  Charks,  et  qui  y  riussirent 
en  effetf  —  nur  ist  die  Behauptung,  dass  Chares  abberufen  wurde,  die 
sich  auch  bei  A.  Schaefer  II,  131  findet,  unrichtig.  Denn  darüber  haben 
wir  keine  Nachricht  Sie  stützt  sich,  so  weit  ich  sehe,  nur  darauf,  dass 
man  die  von  Aristoteles  Rhet  3,  10  S.  1411%  6  citirte  Aeusserung  des 
Kephisodotos :  Krj^ia^SoTo;  <ncouBa2^ovTO(  Xapr^TO^  cuOuva^  Souvai  iiipX  tov 
DXuvOiocxbv  :cdX£[jLov  i^YavöbcTSi,  ^aaxcov  ei;  nvry|xa  tov  StJiaov  fyovia  toc^  euOuva^ 
n£ipa96ai  Souvai,  auf  eine  Anklage  bezieht,  die  Chares  auf  Grund  seiner 
ersten  Expedition  in  Athen  persönlich  zu  bestehen  hatte,  auf  welche 
Demosthenes  (Olynth.  II  §  29:  oTav  h\  8ovi6(  Xo^ov  Ta^  dvayxa^  obco6a7jt£ 
Tsuto^  a9(ETE)  anspiele.  Wenn  aber  in  diesem  Hinweis  auf  die  von  Athen 
verschuldete  Nothlage  ein  ,die  Kehle  zuschnüren*  liegt,  so  kann  zu  solcher 
Anklage  und  Vertheidigung  eine  gleich  passende  Gelegenheit  nach  der 
Beendigung  des  Krieges  gesucht  werden.  Wie  aber,  wenn  Chares  an  der 
Spitze  seiner  Truppen  von  Olynth  ans  dem  Rath  seine  Rechtfertigung 
aitanngiber.  d.  phiL-hirt.  a.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hft  2 


18  Hariel. 

ei-KcTv,  §  27:  ^r^ji-l  Syj  Setv  ....  [xi^Sev'  attiaTSat  -jcptv  5v  täv  icpaY[xoKTu>v 
xpaTii5(n;Te,  TrjVtxauta  Bs  air'  auxwv  xwv  epywv  xpivavTai;  xob?  |X£v  i^^O'J? 
ezatvoü  Ttp^v,  toü?  S'  dSistoüvT«?  xoXaJeiv).  Und  wie  §  27  deutlich 
genug  zwei  Führer  bezeichnet  werden,  die  nicht  einer  dem 
anderen  untergeordnet,  sondern  selbständig  für  Athen  Krieg 
führen,  so  tritt  noch  greifbarer  diese  Doppelfuhrung,  welche 
bis  in  das  athenische  Parteitreiben  ihre  Schatten  wirft ,  in 
der  Vergleichung  der  politischen  Organisation  mit  dem  Sym- 
morienwesen  für  die  Steuereinhebung  hervor,  in  der  wenigstens 
das  eine  klar  ist,  dass  der  Redner  von  zwei  Parteien  spricht,  die 
den  Staat  zerklüften,  deren  jede  um  das  Duumvirat  eines 
Redners  und  Generals  sich  schaart  (§  29:  vüvl  Ss  iroXiTeiscOe 
xara  ou|i.[xcp{a^  *  pi^Twp  •^y£|jlü)v  sxaTSpcov  xal  ffrpa-nQYO?  ^^  to6tcj)).  > 
Wir  haben  keine  Veranlassung  ausser  Chares  und  Charidemos, 
die  im  olynthischen  Kriege  ihre  Rolle  gespielt,  nach  anderen 
Namen  zu  suchen,  auf  welche  die  Worte  des  Redners  gehen 
könnten,  und  werden  demnach  nicht  zweifeln,  dass  die  beiden 
ersten  Hilfsheere,  von  denen  Philochoros  meldet,  vor  dieser 
Rede  bereits  nach  Chalkidike  abgegangen  und  Nachrichten  von 
dort  in  Athen  eingelaufen  waren. 

Kurze  Zeit  vorher  wurde  die  erste  olynthische  Rede 
gehalten.  Auch  sie  setzt  die  Absendung  eines  oder  mehrerer 
Söldnerheere  voraus;  dass  von  denselben  bereits  eine  Nach- 
richt nach  Athen  gelangt,  ist  aus  der  Rede  nicht  zu  ersehen. 
Diese  Behauptung  wird  selbst  bei  denjenigen,  welche  sich 
durch  die  bisherige  Betrachtung  überzeugen  Hessen,  auf  starke 
Bedenken   stossen.    Auch    ist   an   keiner   Stelle   der  Rede    auf 


gegen  erhobene  Beschuldigungen  eingesandt  und  durch  die  Androhung 
Reine»  Abzugs  in  jene  Zwangslage  versetzte,  die  Kephisodotos  so  bittrr 
ärgerte  und  Senat  und  Volk  ein  Auge  zudrücken  Hess?  Wie  dem  auch 
sei,  als  die  Olynthier  zum  letzten  Male  nach  Athen  um  Hilfe  sandten, 
war  Chares  neben  Charidemos  noch  in  Chalkidike;  denn  sie  verlangen 
Tzpoq  Tat?  uTiapyouaat;  ouvdc|jLEai  7c^(X'}ai  ßoiJOEiav,  p^  feviXTJv  aXX*  auTwv 
'AOrjvattüv  und  Athen  sendet  TpiijpEi;  |xkv  kxipoii  i^'  xtX. 
^  Hlass  a.  a.  O.  8.  272^  macht  nicht  unerhebliche  Bedenken  gegen  den 
Satz  §  29  Tipotepov  ^h  —  ixsfvou?  geltend:  ,Nfimlich  dieses  Stück  hat 
so  viel  Hiaten  und  rhythmische  Verstösse,  und  ist  auch  dem  Ausdruck 
und  Gedanken  nach  so  hart  und  unausgeführt,  dass  man  es  nicht  als 
Theil  der  ausgearbeiteten  Rede  betrachten  kann.  Der  Zusammenhang 
gewinnt  durch  die  Entfernung*  u.  s.  w. 


ÜAidoitheniseh«  Stadien.  19 

Generäle,  die  für  Athen  Krieg  führten,  oder  einen  Erfolg 
derselben  hingedeutet.  Allein  das,  was  die  Lage  der  Dinge 
fordert,  die  sofortige  Mobilisirung  des  gesammten  Bürgerheeres, 
wird  mit  solchem  Nachdruck  verlangt,  auf  den  persönlichen 
Dienst  ein  solcher  Accent  gelegt,  wie  er  ohne  den  Eindruck 
verwirrenden  Befremdens  nie  hätte  gelegt  werden  können, 
wenn  Athen  sich  nicht  bereits  in  der  gewöhnlichen  Weise 
durch  Absendung  von  Söldnern,  über  die  es  verfügte,  der  olyn- 
thischen  Forderung  gegenüber  für  abgefunden  hielt. 

,Der  gegenwärtige  Augenblick'  so  beginnt  der  Redner 
»ruft  mit  lauter  Stimme,  dass  ihr  die  Dinge  dort  persönlich  in 
die  Hand  nehmen  müsst,  wenn  euch  ihre  Rettung  am  Herzen 
liegt'  (§  2:  6  |jlsv  ouv  ^opJDV  xatpoc,  &  av3p£^  AOyjyatoi,  (iivov  ou^^ 
Kt{t\  fuvvjv  oL^xuq  cTt  Twv  rpaYlAoctcov  ufAtv  exetvcov  auToT?  avTiXiQ'rcTSOv 
isTiv,  etxep  Oxsp  ot^vriplou;  autäv  cpo'/rtCeTs).  ,Meine  Ansicht  ist,  die 
Expedition  sofort  zu  beschliessen  und  sie  auf  das  rascheste  aus- 
zurüsten, damit  ihr  von  hier  aus  Hilfe  bringet  und  nicht 
dieselbe  Erfahrung  machet,  wie  schon  fi*üher'  (lott  §€  toc  Y  ^t^^ 
Soxo'jna,  tlnr^iuaaOat  \kh  ifßri  ty)v  ßo-njöeiav  xal  TcapaaKsudaaffBa«.  ty;v 
txj^faitjv,  otcwj;  svd^vSe  ßoY;8i^(JTQTe  xal  fJiT)  waörjte  tautbv  tep  xat 
xpörepov).  —  ,Von  hier  aus'  sagt  er,  das  heisst  mit  einem 
athenischen  Bürgerheer,  wie  er  §  17  auffordert  xohq  touto  ^oi-f^- 
?9via^  ffTpaTi(i>Ta;  exxepLxeiv,  imd  nicht  mit  einem  anderwärts 
gedungenen  Söldnerheer,  und  zugleich  vielleicht  mit  einer  An- 
spielung auf  die  Sendung  des  Charidemos,  die  von  seiner  Station 
im  Hellespont  aus  erfolgte.  Auch  Ohares  dürfte,  als  er  Ordre 
erhielt,  Olynth  zu  schützen,  sich  auswärts  herumgetrieben  haben 
(vgl. Philochoros :  lxs|jL'|r/ . . .  xpii^petc  X'  xa^  [xcTa  Xdprt^xo^' . . . Xap{8iQ)j.ov 
ibv  ev  'EXXrjOxcvTa)  ffrpaiTJYOv).  Die  Erfahrung  aber,  die  als  Lehre 
dienen  soll,  setzt  er  in  §  8  ausführlicher  auseinander:  ,Als  die 
Belagerung  von  Pydna,  Potidaea,  Methone,  Pagasae  gemeldet 
wurde,  wenn  wir  damals  gleich  einer  dieser  Städte  bereitwillig 
und  in  der  erforderlichen  Art  mit  einem  Bürgerheer  Hilfe 
gebracht  hätten,  dann  hätten  wir  mit  Philipp  jetzt  eine  leich- 
tere Arbeit  und  er  stünde  nicht  so  mächtig  da'  (^^vi^a  IIu8ya 
IloTßata  MeOojvri  Ua^^OLcal  TaXXa,  Iva  jat;  xaO'  hiOLOxa  Xsfwv  BtaTpißu), 
^sXiöpxoujjieva  aT:Y;^f^iXX£To,  ei  Tore  toütwv  evt  xw  icpwio)  TcpoOujjiax; 
im  «5  icp09Y;y.sv  eßoiQOii^aatJLev  auTot,  paovi  •mlI  tcoXu  TaireivoTipü) 
vuv  av   €Xp(b(A£Qot   TW   ^'.Xfeü)).    In   doppelter    Hinsicht    war    die 

2* 


20  fiarteU 

damals  geleistete  Hilfe  unzulänglich  und  darum  erfolglos.  Theils 
indem  sie  zu  spät  in  Stand  gesetzt  nach  der  Einnahme  jener 
Plätze  ankam,  was  wir  aus  der  ersten  philippischen  wissen 
(§  35,  vgl.  §  4),  und  dann,  weil  kein  Büi^erheer  auszog, 
was  wir  aus  dieser  Stelle  ersehen  und  den  mit  Rücksicht 
auf  solche  Erfahrungen  gemachten  Vorschlägen  der  ersten 
philippischen  Rede  entnehmen  können.  Dass  jeder  Hörer  die 
Stelle  so  verstehen  musste,  das  erreichte  der  Redner,  indem  er 
an  das  musterhafte  Vorgehen  Athens,  als  es  im  Jahre  357  galt 
Euboea  zu  retten,  erinnerte  (§  8:  et  vap  50'  f|Xs;jLev  Eußoeuai  ßeßor^ 

0»pi5t£^     XXI     TZOLSftfSTi    Api.ft7C0XsTfa>V    *l6pa5     *«l    -TpflrtOxX^i;     hA    TOUtl    TO 

ß^{xa,  xsXeucvTS^  i^ixa^  xXeTv  %ai  «apaXaiA^Ecv  ti;v  «oXtv,  Tijv  a7i7;v 
X2pei/C{ie0'  iQ{Ji£i^  uxsp  if^{juiiv  gtjtciiv  zpsdJtJL'Iay  ^yi:ep  uirep  vf^^  £i>ßo£ii>y 
cbrrnpioc,  etxex*  dv  "Aix^ixoXiy  tots  xtX.).  Damals  ward  die  erbetene 
Hilfe  rasch  und  voll  gewährt:  för  den  Flottendienst  rief  man 
freiwillige  Trierarchen  auf,  in  drei  bis  fünf  Tagen  war  mobi- 
lisirt  und  gelandet,  in  dreissig  Tagen  der  Feldzug  siegreich 
beendet  Damals  zpoOüfjud^  xat  ü^  TzpoorpLsy  i^v^^tox)»  2Üto{  (vgl. 
Schaefer  I  143  flF.). 

Dass  die  Athener  für  Olynth  bereits  etwas,  aber  nicht 
das  was  sie  mussten  (t2  Hoyzz)  ganz  und  voll  gethan,  das  liegt 
noch  in  anderen  Stellen  ausgesprochen  vor,  so  §  11:  X2t  irepl 
Tü)y  7parf(Aitfa>v  cvT(a>^  oi  (aTi  /pr|Ci(Aeyot  toT{  xaipot^  5p6u>^  o^' 
61  cuyeßi;  ti  i:api  xÄy  6ewy  xpi;cTby  {jtyTfiAoyeuoüot,  §  14:  et  3*  6  jisy 
(4>{Xi'K7:c;)  w;  ae»  ti  |A£ii;oy  TÄy  O^apxoyrwy  Bei  i:parcety  e^y^xw;  lor», 
i^{iet;  Bs  ü)^  cuBsyc?  iyTtXij^Teoy  eppiojjieyü)^  Töy  xpavjiaTwy, 
7xozeis6e  ei;  it  xcr'  eXzt^  -zxjzol  TeXeuiijjaL  Das  aber,  was  der 
Augenblick  verlangt  und  was  der  Redner  auch  hier  zu  fordern 
nicht  müde  wird,  ist  ein  zahlreiches,  wohl  ausgerüstetes 
Bürgerheer  (§  27:  Bet  Tciyjy  .  .  .  stoi{jici>^  cuvipacOai  xa  ^oy- 
ixaxa,  xal  xpäjßeucjjieyow;  es'  a  Zei  xai  5TpaT£jc;jL6vou^  auxoO;,  vgl. 
noch  §  17,  18,  24),  in  das,  wie  er  mit  einiger  Ueberschwäng- 
lichkeit  am  Schlüsse  sagt,  alle  eintreten  sollen  (§28:  xocyra  Bti 
Txjra  Sei  cuviBsyra^  äxayTa^  ßoijOeiy).  Und  so  ist  es  auch  be- 
zeichnend, dass  Demosthenes  besorgt,  Philipp  würde  die  Athener 
Olynth  gegenüber  verleumden,  nicht  damit,  dass  sie  dem  ge- 
schlossenen Bundesvertrage  entgegen  keinerlei  Hilfe  gesandt, 
sondern  nur,  dass  sie  selber  nicht  als  Helfer  erschienen  (§  3: 
xa  B' t;ja5^  BtaßiXXuiy  xai  xtjy  aTTsuciay  xT,y  f|[JLexepay).    Dass  dies 


Demoitlieniiclie  Stodieo.  21 

aber  von  allem  Anfang  der  Wunsch  der  Olynthier  gewesen 
und  sie  ihn  nicht  erst  gefasst  und  durch  die  letzte  Gesandt- 
schaft geäussert  {%i[u^ax  ßoi^Oeioev,  |ji.^  ^svtxifv,  dikV  autäiv  A6Y]va{ü>v), 
nachdem  sie  vielleicht  unter  dem  Hader  des  Chares  und  Cha- 
ridemos  gelitten^  ist  selbstverständlich.  Hatten  sie  ja  berech- 
tigten Anspruch  darauf,  und  die  Nichterfüllung  dieser  Pflicht 
mochte  die  philippische  Partei  in  Olynth  gegen  Athen  geltend 
machen.  ^ 

Die  Athener  waren  ihrer  Verpflichtung  nachzukommen 
besten  Willens.  Das  gesteht  ihnen  selbst  Demosthenes  zu,  nur 
fehlte  es  an  den  Geldmitteln  für  die  Ausführung.  Indem  sie 
thaten,  was  sie  zu  thun  im  Stande  waren,  sandten  sie  bald 
nach  Abschluss  des  Bündnisses  mit  Olynth,  welches,  wie  in  der 
Abhandlung  ,Demostheni8che  Anträge'  nachgewiesen  wurde,  in 
den  Anfang  des  Jahres  350,  Ol.  107,  2  unter  das  Archontat  des 
Theellos^  zu  setzen  ist,  Chares  und  wohl  gleichzeitig  Chari- 
demos  mit  ihren  Söldnern,  indem  sie  die  unter  Chares'  Führung 
stehende  Macht  um  acht  in  Athen  bemannte  Trieren  verstärkten 
und  zu  Charidemos  von  Euboea  aus  ein  Detachement  von 
150  Reitern  stossen  Hessen,  so  dass  beide  Corps  hauptsächlich 
ans  Söldnern  bestanden.  Für  diese  aussergewöhnliche  Finanznoth 
bedarf  es  einer  Erklärung,  die  sich  ungezwungen  bei  unserem 
Ansätze  des  Bündnisses,  das  mit  dem  Ausbruch  des  Krieges 
wohl  zusammenfallt,  aus  der  Lage  Athens  im  Frühjahr  350  ergibt. 


II. 

In  einer  Processrede  aus  demosthenischer  Zeit,  welche  in 
dem  Corpus  dieses  Kedners  uns  erhalten  ist,  ohne  von  ihm 
verfasst  zu  sein,  in  der  Rede  gegen  Neaera  §  3  S.  1346,  2  flF. 


>  Grote  stützt  sieh  auf  diese  SteUe,  am  darznthun,  dass  der  ersten  olyn- 
ihischen  Rede  in  der  Reihe  der  Reden  der  letzte  Platz  gebühre,  indem 
eine  solche  Verdfichtigung  eine  längere  Zeit  seit  Abschluss  des  Bundes- 
Tertrage«  Toraussetze.  Einer  solchen  Voraussetzung  ist  man  überhoben, 
wenn  die  Olynthier  an  Stelle  des  Bürgerheeres,  das  sie  erwarteten,  mit 
SÖldnerhaufen  sich  zufrieden  geben  mussten. 

»  Vgl.  über  Theellos  Carl  Curtius'  in  Jen.  Literaturzeitg.  1877,  Nr,  32, 
S.  ÖOU 


22  Hsrtel. 

wird  Athens  Lage  zur  Zeit  des  Ausbruches  des  olynthischen 
Krieges  in  charakteristischen  Zügen  also  geschildert:  (TujAßivTo^ 
T^  xoXet  xaipoü  toioutou  xäc  TCOAejAOu  ev  &>  ^v  i^j  xpan^aaatv  i^jxiv  jisYtcroic 
T(i)v  '£XXii)v(i)v  eivae  xal  avaix^icßYjTi^TG);  xa  xe  Opiexepa  aurt^v  xexojjiCoOat 
x«t  xararcexoXeiJiTjjc^vat  ^OvITWtov  ij  uorepiiffaGt  xy;  ßoy)Ö€{a  xat  xpoe^Jisvst; 
Touq  cufjLjjiaxou?,  8t'  azopiav  /pYjjxaTwv  xaxaXuO^vToq  to5  ctpot« 
xoTceSoü,  TOÜTOüq  x'  dncoXeaai  y.al  xoT;  oXXoi^  "'EXXtjaiv  dictJTOüq  elvat 
Soxetv  xat  xivS'jvsusiv  irspi  xwv  OttoXcitcwv,  xepi  xe  Aijjjlvou  xai  Ifxßpoy 
xal  Xxupcu  xai  Xeppovi^aou,  xat  (xeXXcvxcov  axpaxeöeaOat  u{Jiü>y  zavBr^piec 
eti;  xe  £ußciav  xat  "OXuvOov,  lyptttf^s  ^^iviJLa  ev  x^  ßouXiJ  AicoXXc- 
Bü>po^  ßoüXeuü)v  xal  e^i^vsTxe  xpoßoiXeü|xa  elq  xbv  SijfJiov,  Xeywv  Sia- 
/etpoxovtjffat  xbv  SiJiJiov  eixe  Soxet  xa  wepiovxa  xp/,]jLaxa  xij^  Btoat^fCec«)^ 
TcpoxKoxtxa  slvai  eixe  Oecoptxa,  xeXeusvx<ov  [ih  xd)v  vc[au)v,  Sxav  icöXefjio; 
jj,  xa  iceptovxa  XP^H'^'^^  '^s  ^toixi^aeo)^  crxpaxtcoxtxa  elvai  xxX. 

Aus  dieser  Stelle,  verbunden  mit  einigen  Angaben  der 
Rede  gegen  Meidias,  geht  zunächst  hervor,  dass  die  Athener, 
nachdem  sie  mit  Olynth  den  Bundesvertrag  geschlossen  und 
ihr  Ansehen  auf  dem  Spiele  stand,  wenn  sie  ihren  Bundes- 
genossen nicht  Hilfe  brächten,  zugleich  Krieg  auf  Euboea  zu 
fuhren  hatten,  und  sie  lassen  wenigstens  die  wichtigsten  Ereig- 
nisse dieses  Krieges  und  ihre  Aufeinanderfolge  noch  erkennen. 
Plutarch,  der  Tyrann  von  Eretria,  hatte  von  Athen  Hilfe  gegen 
seine  Gegner  begehrt  und  sie  ward  ihm  auf  Verwendung  des 
Meidias  und  seiner  Freunde  gegen  Demosthenes'  Rath  zugesagt. 
Zu  diesem  Zwecke  wurden  freiwillige  Trierarchen  aufgerufen 
(§  11);  es  war  dies  der  zweite  Fall  derartiger  Trierarchie  *  und 
damals  war  es  wohl  auch,  dass  Apollodoros,  um  für  so  weit- 
ausschauende Unternehmungen   die   Mittel   flüssig  zu   machen. 


1  Rede  g.  Meidias  161  S.  566,  23:  Ey^vovT  £c(  KlSßoiav  s7:iSo9Et(  rap'*  u[xtv 
TTptüTai.  TOüTwv  oux  Jjv  MetSfac,  aXX'  sytü,  xai  auvrpH^papyo^  ^v  {jloi  4>iXtvo5 
6  NixoaTpoTou.  £TEpai  8euT£pai  [xcia  Tauia  ei;  "OXuvOov.  ou$l  toutcov 
^v  MetSfa^.  xa{TOi  tov  ye  89)  9iX6ti{j.ov  jcavtayou  npoaTJxsv  EEeToR^eaOai.  xpixai 
vuv  aurai  Yeydvaaiv  eniBdaEt;  •  EvtauO'  etc^coxev.  kw?  ;  ev  ti)  ßouXj  yt^voii^vüiv 
£}:ioo9E(i>v  naptüv  oux  enE8{oou  t^te.  insid^  Bl  ;;oXiopxEUjOat  tou(  ev  Ta(i.tjvatc 
QxpaxuhxoL^  s^YYcXXsio,  xal  TiavTa;  c^isvai  tou;  u7coXo&:ouc  iKfzia^,  oiv  sTc 
ol^To;  ^v,  KpoeßouXeuaEv  ii  ßouXtJ,  TYjvixaura  9oßy]0Ei(  r^v  aTpatECav  Tauiijv,  e?{ 
xfjv  ETCtouaav  ExxX7)a(av,  Tcpiv  xal  npo^Bpou^  xa&il^EaÖai,  7;apEX0(ov  etc^Bojxev  .  .  . 
(§  163)  oox  av^ßaivEv  ekI  ttjv  vauv  Sjv  ezeocüxev,  aXXa  xbv  fie'Toixov  efsnE^Juls 
TOV  Aiy^giTiov,  na(i.9tXov,  aurb;  ok  {/.^vcjv  svOaBs  toT^  Aiovuaioi^  SisisparrsTo 
TaOi'  eo'  oiq  vuvl  xpfvEiai  xtX. 


Demostheoisclie  Studien.  |^3 

seinen  Antrag  auf  Verwendung  der  Theorika  für  Kriegszwecke 
stellte.  Gegen  Ende  des  Winters  nach  den  Xosi;,  die  am  12.  An- 
thesterion  gefeiert  wurden,  landete  Phokion  an  zwei  verschie- 
denen Punkten;  das  Reitercorps  mit  jener  Reiterabtheilung,  die 
für  Olynth  bestimmt  war,  ging  bei  Chalkis  über  und  lagerte 
bei  Argura.  Der  andere  Haupttheil,  aus  Fussvolk  und  Reitern 
bestehend,  setzte  sich  bei  Tamynae  fest.  ^  Zur  Feier  der 
Dionysien  wurden  zahlreiche  Bürger,  die  damit  zu  thun  hatten, 
beurlaubt;  auch  die  Reiter  von  Argura  gingen  nach  Athen 
zurück,  um  bei  dem  dionysischen  Festaufzug  mitzuwirken,  bis 
auf  jene  Abtheilung,  die,  für  Olynth  bestimmt,  nun  dahin  trans- 
portirt  wurde.  Die  Lage  des  Heeres  bei  Tamynae  wurde  bald 
eine  sehr  schwierige.  Auf  die  Nachricht,  dass  es  sich  in  arger 
Bedrängniss  finde,  wurden  ein  drittes  Mal  freiwillige  Trierarchen 
aufgerufen  und  im  Rathe  beschlossen,  dass  eine  neue  Armee 
mit  dem  Rest  der  Reiter  und  einem  neuen  Geschwader  von 
Triremen  nach  Euboea  gehen  solle.  Als  aber  noch  vor  den 
Dionysien  Nachrichten  von  dem  Siege  Phokions  bei  Tamynae 
einliefen,  nahm  die  Volksversammlung  davon  Umgang,  ver- 
harrte aber  bei  der  Ausrüstung  der  Schiffe.  Phokion  kehrte 
gegen  Ablauf  des  Jahres  im  Sommer  mit  dem  Heere  und  der 
Flotte  nach  Athen  zurück,  nur  eine  kleine  Abtheilung  ver- 
blieb unter  Molossus  als  Bewachung.    Sie  wurde  sammt  ihrem 


1  figBoeotos  §  16  S.  999,  6:  xat  yap  vuv,  ox"  e^  Ta(Jiuvac  T^ap^Oov  o\ 
aXXot,  EvOaSs  tou;  Xo«;  aywv  aneX£{90T)  xai  xoT?  Aiovuc{oi«  xarajjLEiva;  £)(^dpEU£v, 
(u;  onavTE;  !copaO*  oi  £ni07)p.ouvT£$.  —  §  17:  abzEXOovTwv  5'  £$  Kußo{a;  t(ov  arpa- 
TKüTüjv  XmoxoL^ioM  nooaExXijOT),  xaytj  Ta^iapytüV  rrj;  9uX^?  ■?^yar('/.o^l^6\xr^v  xaTOi 
Tou  ovoaaToc  Tou  ijjLauTou  TiaTpoÖEV  8^5(^£aOai  ttjv  XtJSiv.  x«i  Et  (jii'dOb;  £:rop{a67) 
roT(  $ixaaT7]p{oi( ,  eltiJYov  av  dfjXov  ort  xtX,  —  RgMeid.  132  S.  558,  2:  izzpX 
Be  x(5v  cruaTpaxewaoifJL^vwv  Iktie'wv  eZ?  "Apyoupav  'i<jt£  Sijnou  Kxne^ 
ol*  £87]{i.9]YdpY]aE  Kap'  «{itv,  oO'  ^xev  ex  XaXx(8o5,  xaTTjyopwv  xai  9a(7xeDV 
ovEiBo^  e^eXOeTv  t^v  OTpaiiav  toujttjv  tt)  7;dX£i  ....  xa{Toi  izoxtp*  tlah  oveiBo?, 
w  MEi8(a,  t5  ti^Xei,  ol  SiaßdivTE^  £v  Tot^Ei  xai  t^v  oxeu^v  £)(^ovt£5,  ^v  ;:poa^xE  tou; 
hü  Tob?  7coX£[ji{ou;  e^idvTa?  xai  <7U|ißaXou{JL^vou;  toT?  au^[idc)(^oi;  ?j  a^,  6  |x^ 
Xo-^^eTv  £0yd(jL£VO(  Tcov  E^idvTcov,  OT^  ExXvjpou,  Tov  Ocupaxa  B*  ouBEncüTCor'  evSu;, 
hC  aatpaß7]i;  V  dx^o6(Ji£VO(  ap^upac,  xffi  e^  Eußo(a$  ....  xauta  yotp  eU  tou« 
0ÄX{Ta5  iQjia?  oTWjYy^XeTo  •  oO  yap  £?;  TaOxbv  :^|X£t<;  xouxois  St^ß7][jL£v.  —  Ebend. 
197  S.  578,  1:  £vOu[X£taOE  rap'  ujiTv  auxoT?,  oxi  ouxo?  xwv  (xeÖ'  lauxou 
(JTpaxEuaajjL^vtüv  l:::u^wv,  ox' ei;  "OXuvOov  Bi^ßrjaav,  iXOtov  rpo;  ufxa; 
£15  xj)v  ExxX7]9iav  xaxTi^dpEi,  ;^aXiv  vuv  |X£{va5  npo^  xou;  iSfiXTjXuOdxa;  xou 
Bi{|iou  xaxv]Y0piiJ9£i. 


24  Hartel. 

Feldherrn  zu  Qefangenen  gemacht  und  musste  um  50  Talente 
von  den  Athenern  ausgelöst  werden.  So  endete  dieser  Krieg 
schimpflich  und  nicht  ohne  den  empfindlichsten  Nachtheil  für 
die  athenischen  Finanzen.  Von  der  Noth,  in  welche  die  gleich- 
zeitigen Rüstungen  für  Olynth  und  Euhoea  im  Jahre  350  den 
Staat  gebracht^  gibt  der  Umstand  eine  Vorstellung,  dass  eine 
Zeit  lang  nicht  genug  Geld  in  den  Gassen  war,  um  die  Dika- 
sterien  zu  bezahlen. 

Wir  sind  mit  dieser  Expedition  in  der  eigenthümlichen 
Lage,  dass  wir  über  ihren  Verlauf  und  eine  Reihe  gleichzeitiger 
Massregeln  im  Innern,  die  sich  auf  sie  beziehen,  detaillirter 
unterrichtet  sind  als  über  eine  andere  dieser  Epoche;  aber 
über  das  Jahr,  in  welches  sie  fkllt,  fehlt  jedes  Zeugniss  und 
wir  können  dasselbe  nur  auf  dem  Wege  der  Conjectur  fest- 
stellen.  Nur  so  viel  ist  sicher,  dass  sie  mit  den  beiden  andern 
Expeditionen  nach  Euboea  vom  Jahre  357  und  341  v.  Chr. 
nichts  zu  thun  hat.  Sie  muss  zwischen  sie  fallen.  Zur  chrono- 
logischen Fixiining  dient  zunächst  die  Thatsache,  dass  während 
sie  vorbereitet  wurde  und  im  Gange  war,  in  Athen  auch  für 
Olynth  gerüstet  wurde  und  eine  Expedition  dahin  abging. 

Dem  Zwange  dieser  Thatsache  sucht  man  in  verschiedener 
Art  gerecht  zu  werden,  indem  man  entweder  an  der  philochori- 
sehen  Datirung  des  olynthischen  Krieges  (Ol.  107,  4)  festhaltend, 
den  euboeischen  Zug  in  das  Jahr  349  oder  348  setzt,  oder 
aber,  indem  man  den  Ausbruch  des  Krieges  auf  Chalkidike 
im  Jahre  350  erfolgen  und  die  Athener  auf  ein  unbestimmtes 
Gerücht  davon  einen  militärischen  Spaziergang  nach  Olynth 
unternehmen  lässt.  In  beiden  Fällen  ist  die  Comcidenz  des 
euboeischen  und  olynthischen  Krieges  und  der  athenischen 
Rüstungen  für  Beide  gewahrt.  Die  erstere  Ansicht  vertheidigen 
Grote  und  Weil  mit  dem  Unterschiede,  dass  Grote  den  euboei- 
schen Zug  nach  den  Reden  des  Demosthenes  und  den  drei 
philochorischen  Hilfssendungen  in  den  Frühling  des  Jahres  348 
setzt,  während  Weil  mit  zum  Theile  eigenthümlicher  Begrün- 
dung ApoUodors  Antrag  und  die  Rüstungen  für  Euboea  und 
Olynth  in  dem  Winter  und  Frühling  des  Jahres  348  vor  sich  geben 
lässt,  während  bereits  Charidemos,  der  Führer  der  zweiten 
philochorischen  Expedition,  auf  Chalkidike  operirte.  Ihm  ist 
es  gelungen,    eine  Autorität  auf  diesem  Gebiete  wie  Friedrich 


Demosthenische  Studien.  25 

Blas 8  für  seine  Uebei*zeagung  zu  gewinnen  (a.  a.  O.  S.  276 
u.  bes.  287  f.).  Die  andere  Meinung  wird  von  A.  Schaefer  ver- 
treten und  hat  in  Emil  Müller  einen  wackeren  Vertheidiger 
g;efunden.  ^  Die  Erwägungen  beider  Parteien  sind  grossentheils 
richtig,  aber  was  sie  einander  vorzuwerfen  haben,  nicht  minder; 
denn  die  Äuskunftsmittel,  den  Schwierigkeiten,  in  die  beide 
Annahmen  verwickeln,  zu  begegnen,  sind  nicht  leicht  und 
unbedenklich. 

Wie  soll  man  es  mit  der  Thatsache,  an  der  Schaefer  als 
an  einer  unumstösslichen  festhält,  dass  Philipp  ernstlich  erst 
im  Jahre  349  in  Chalkidike  eingefallen,  dass  Olynth  erst  in 
diesem  Jahre  das  Bündniss  mit  Athen  geschlossen  und  von 
Athen  Zuzug  erhalten,  vereinbar  finden,  dass  ein  Jahr  zuvor 
eine  Flotte  mit  Reiterei  Olynth  ohne  dringende  Veranlassung 
und  ohne  dass  Athen  vertragsmässig  zu  einer  solchen  Leistung 
verpflichtet  war,  zu  Hilfe  zog?  Allerdings  verweist  Schaefer 
(H 114)  auf  zwei  Stellen  (Phil.  I  §  17  und  Ol.  I  §  13),  in  welchen 
eine  vorübergehende  Qefehrdung  olynthischen  Gebietes  durch 
Philipp  angedeutet  sein  soll.  Dass  diese  Auffassung  irrig  ist,  glaube 
ich  in  meiner  Abhandlung  ,Demosthenische  Anträge'  (S.  525) 
gezeigt  zu  haben.  Dieselbe  aber  als  richtig  vorausgesetzt,  wer 
erkennt  in  dieser  Handlungsweise  die  Athener  des  nächsten 
Jahres  wieder,  welche  Olynth  bis  an  den  Rand  des  Verderbens 
kommen  Hessen,  ohne  zu  kräftiger  Unterstützung  sich  aufzu- 
raffen? Sie  sollten,  ohne  Olynths  Bundesgenossen  zu  sein^  auf 
eine  feindliche  Demonstration  Philipps  hin  in  solcher  Art 
reagirt  haben?  Sie  sollten  bloss  aus  politischer  Vorsorglichkeit 
zu  einer  Zeit,  da  sie  kaum  die  Kosten  für  die  euboeische  Unter- 
nehmung zu  bestreiten  vermochten,  sich  noch  einen  weit  kost- 
spieligeren Krieg  in  der  Ferne  aufgelastet  haben?  Sie  sollten 
durch  keine  Vertragspflicht  gedrängt  aus  blosser  Opferwilligkeit 
auf  die  Theorikengelder  durch  Volksbeschluss  haben  ver- 
zichten wollen,  und  Demosthenes  sollte  sich  nicht  daran  in 
einer  seiner  olynthischen  Reden  erinnern  müssen,  um  wirkungs- 
voll die  Fahrlässigkeit  des  Augenblicks  mit  dem  guten  Willen 
vom  vorigen  Jahre  zu  vergleichen?  Würde  er  wohl  gesagt 
haben:  ,Stehen  nicht  die  jetzt  im  Kriege,  welche  wir  bereitwillig 

*  Ansgewfihlte  Reden    des  Demosthenes  erklärt  von  Anton  Westermann, 
1.  Bdch.,  7.  Aufl.  von  Bmil  Müller,  Berlin  1876,  S.  390  ff. 


26  Uartol. 

ZU  retten  versprachen,  wenn  es  zum  Kriege  kommen  sollte?^ 
(Ol.  III  §  16:  oux  o^;?  €1  'KsXepLT^aratEv,  ^toCpiu)^  ccÄffStv  ü«ii(j)rvo6|jt£0a, 
ouToi  vOv  iroXspiouaiv),  und  nicht  vielmehr:  , werden  nicht  die  jetzt 
vom  Kriege  bedrängt,  die  wir,  da  blosse  Gefahr  sie  bedrohte, 
bereit  und  thatkräftig  unterstützten  und  so  mit  blindem  Ver- 
trauen zu  uns  erfüllten'?  Würde  er  sagen  können:  ,Nun  hat 
sich  das,  wovon  ihr  alle  den  Mund  voll  hattet,  dass  man  die 
Oljnthier  mit  Philipp  entzweien  müsse,  von  selbst  gemacht 
und  in  der  Art,  wie  wir  es  nur  wünschen  konnten?'  (Ol.  I  §  7: 
vuvl  Y°^?5  S  roivTeq  eöpuXeiTS,  w?  DXuvöiou?  ey.'TroXepLcoaat  Set  ^lAferw, 
YSYSvsv  auT6|xaT0v,  xal  xaud'  C^q  dlv  ujjitv  [j.iXt9ta  ffufji^epot)  oder:  ,wir 
haben  nichts  gethan,  um  diese  günstige  Gelegenheit  des  olyn- 
thischen  Krieges  herbeizuführen,  sie  ist  ungesucht  dem  Staate 
in  den  Schooss  gefallen'  (Ol.  I  §  9:  vuvt  3tj  xaipb;  ^xei  Ttq  cuto; 
6  xöv  DXuv6tü)v  auTÖjAOTO^  vfi  ^oXst). 

Wir  wissen  überdies  aus  der  Rede  gegen  Neaera,  dass,  als 
die  Athener  während  der  euboeischen  Händel  für  Olynth  rüsteten, 
sie  dies  nicht  für  ein  fremdes  Volk,  sondern  für  ihre  Bundes- 
genossen thaten,  dass  sie  dies  thaten,  um  nicht  der  Untreue 
geziehen  zu  werden,  um  mit  ihrer  Hilfe  nicht  zu  spät  zu 
kommen,  indem  man  besorgte,  dass  das  für  diesen  Zweck 
bestimmte  Heer  sich  auflösen  könnte.  Schaefer  muss  dieses 
Heer  gegen  Sinn  und  Zusammenhang  der  ganzen  Stelle,  die 
nur  an  Olynth  denken  lässt,  ^  auf  Euboea  suchen,  wo  doch  Phokion 
seine  Truppen  der  Feste  wegen  zum  Theile  sogar  beurlauben 
konnte  und  bei  welchem  eine  derartige  Situation,  die  Gefahr 
der  Auflösung,  nicht  leicht  denkbar  ist.  Es  kann  nur  ein 
Söldnerheer  gemeint  sein,  das  entweder  bereits  in  Olynth  stand 
oder  dahin  abzugehen  im  Begriffe  war.  Man  wird  an  Chares 
oder  an  Charidemos  oder  besser  an  Beide  zu  denken  haben. 
An  das  Heer  des  Chares,  weil  wir  in  der  zweiten  olynthischen 
Rede  von  einer  frappant  ähnlichen  Situation  dieses  Heeres  und 
von  Handlungen  seines  Führers  vernehmen,  welche  Demosthenes 
zwar  nicht  vertheidigt,  aber  mit  der  Nothlage  der  Truppen, 
dem  Mangel  an  Sold  entschuldigt.  ^ 

^  ,Die  Hauptgefahr  ist  demnach  augenscheinlich  die  um  Olynth,   nicht  die 

des  Heeres  auf  Euboea*   Blase   a.  a.  O.  p.  276,  Weil  Harangues  p,  165. 

2  VgL    Ol.    II    §   27:    ^tjfii   orj   oetv    .    .    .    xaq   Rpo^aaei;    o'   a96XEtv    xat   ti 


Demosthenisclie  Studien.  27 

Der  Einwurf,  den  nian  gegen  diese  Conjectur  erheben 
könnte,  dass  das  die  gewöhnliche  Lage  athenischer  Söldner- 
heere jener  Zeit  gewesen  und  dieselben  nicht  Einmal  nur  wegen 
Soldmangels  auseinander  gingen,  besagt  nichts  gegen  ein  wei- 
teres Moment,  welches  ihre  Wahrscheinlichkeit  in  hohem  Qrade 
vermehrt.  In  der  Notiz  des  Philochoros,  welche  die  Stärke 
des  Expeditionsoorps  unter  Chares  angibt,  werden  ausdi*ücklich 
die  acht  Trieren,  welche  die  Athener  bemannten,  von  den 
Truppen  und  Trieren,  die  Chares  führte,  unterschieden  und  wir 
werden  nicht  irren,  wenn  wir  die  freiwillige  Beisteuer,  die 
eztSc^etq  £(<;  \)XuvOov  aus  der  Midiana  auf  sie  beziehen.  Für 
die  Beiter,  welche  von  Euboea  nach  Olynth  übersetzten,  ist 
allerdings  in  den  Corps  des  Chares  kein  Platz,  aber  derselbe 
Philochoros  meldet,  dass  Charidemos  ausser  4000  Pel tasten 
150  Reiter  commandirte,  welche  dem  euboeischen  Detachement 
auch  der  Zahl  nach  entsprechen  dürften.  Zudem  ist  ein  so 
geringer  Zug  von  Reiterei  als  selbstständig  operirende  Truppe 
kaum  denkbar.  Indem  wir  dieselben  unter  Charidemos  stellen, 
sind  wir  der  unbezeugten  Annahme  Grotes  überhoben,  dass 
ein  noch  zahlreicheres  Corps  Hopliten  diese  Reiter  begleitete. 
Unsere  Combination  hat  den  weiteren,  unverächtlichen  Vorzug, 
dass  durch  sie  Philochoros'  Angaben  ebenso  viel  an  Präcision 
gewinnen,  als  sie  durch  die  bekämpfte  Hypothese  daran  ein- 
bussten,  indem  nach  ihr  Philochoros  eine,  wenn  auch  um  ein 
Jahr  vorausliegende,  so  doch  nicht  unbedeutende  Leistung  Athens 
für  Olynth  mit  Stillschweigen  übergangen  haben  würde. 

Gegen  die  Stelle  der  Rede  wider  Neaera,  welche,  wie 
wir  sehen,  gegen  Schaefers  Hypothese  in  allen  Punkten  unweg- 
räumbaren  Widerspruch  erhebt,  indem  nach  ihrer  Darstellung 
zu  der  Zeit,  als  ApoUodor  die  Verwendung  der  Schaugelder 
für  Kriegszwecke  beantragte,  der  Entscheidungsjtampf  mit 
Philipp    um    das    politische    Uebergewicht    in    Hellas    ausge- 


«v  fiYj  izap*  u(A(uv  auieüv  TipüSiov  U7:ac^i]  xk  deovia-  r(vo;  ^ap  evExa  (u  avSps; 
'AOi^vatoi  vo{i.^ETE  TOUTOv  {i^v  ^^{f^zvi  Tov  noXE{i.ov  jcavta?  oaoüi  av  ex7c^(Ji<]/T)rs 
TTporojyou?,  IZioM^  5'  Eupfoxsiv  7:oX/(jLO\i;,  ei  SeT  ti  töSv  ovtcov  xai  nepi  twv 
TTpstr^Y^v  EiTCE^ ;  oTi  evTauOa  [a^v  eoti  ta  aOXa  unkp  ojv  Eariv  o  iz6Xe\i.oi  u[jls- 
Tcpa,  xav  Xnj^O^  [so  nach  Madvi^  A.  C.  I  456  für  die  Vulgata  ^Aia^^tioXi; 
xai  äy  Xij^Oij],  TzapQC/(fifl\i.oi  l\uX^  xo{xi6ra0£  *  ot  tk  x^vBuvoi  tcov  e^ettvjxötcov  'tBiot, 
{itaOb;   8*  oOx  ^oTtv. 


28  Hsrtel. 

brochen  ist,  die  Olynthier  bereits  als  Bundesgenossen  Athens 
erscheinen y  Athen  selbst  in  Gefahr  schwebt,  durch  säumige 
Leistung  seiner  Vertragspflicht  das  Vertrauen  der  Nation  zu 
verlieren,  ein  für  Olynth  zusammengebrachtes  Heer  aus  Mangel 
an  Sold  auseinander  zu  gehen  droht,  gegen  diese  Stelle  hat 
Emil  Müller  in  verständiger  Taktik  seinen  Hauptangriff 
gerichtet,  indem  er  in  ihr  ,durchaus  den  Stempel  übertrei- 
bender Ungenauigkeit'  erkennen  will.  Welches  sind  die  ver- 
dächtigenden Merkmale?  Der  Redner  versichert,  ,die  Athener 
seien,  als  ApoUodor  seinen  Antrag  einbrachte,  im  Begriffe  ge- 
wesen, mit  ihrer  gesammten  waffenfähigen  Mannschaft  (navSi;{jic{) 
nach  Euboea  und  Olynth  zu  ziehen  (da  dieselben  doch  selbst 
in  ihrer  besten  Zeit  nach  einem  entlegenen,  überseeischen 
Kriegsschauplatz  niemals  mit  gesammter  Mannschaft  ausge- 
zogen sind  und  auf  den  letzten  Nothschrei  der  Olynthier  nur 
2000  Bürgerhopliten  und  300  Reiter  ausgesandt  hatten),  und 
behauptet  ganz  unglaublicher  Weise,  der  Volksbeschluss  auf 
Verwendung  der  Ueberschüsse  zum  Kriege,  sei  ein  einstimmiger 
gewesen  (ov>8ei?  dvTexeipoTsvr^aev  §  4),  die  Verurtheilung  Apollo- 
dors  in  dem  Paranomenprocesse  aber  sei  nur  durch  persönliche 
Verläumdungen  des  Anklägers  und  falsche  Zeugen  herbeigeführt 
worden/  Allein  weder  in  dem  7cav8t3|xe{  noch  in  dem  ouSet? 
dvTex£ipo'f6vY)aev  liegt  etwas  unerklärliches,  unannehmbares.  In 
ersterem  nicht,  denn  wir  haben  es  eben  mit  einem  hochtra- 
benden Psephisma  zu  thun,  wie  sie  damals  in  Athen  beliebt 
waren  ^  imd  brauchen  uns  nur  an  den  Beschluss  vom  Winter  352 
zu  erinnern,  wo  man  auch  xavBv;(i.e{  auszuziehen  gedachte  (OL  III 
§  4:  Tob?  P^s/pi  ic£vx£  xal  TerrapaxcvTa  etwv  auTOu;^  gjxßaCvetv),  obwohl 
es  einen  Zug  nach  dem  thrakischen  Cherronesos  galt,  und 
nicht  wie  im  vorliegenden  Falle  nach  Olynth  und  Euboea  oder, 
wie  Müller  will,  bloss  nach  Euboea,  von  wo  man  in  längstens 


*  Vgl. Phil. I § 20 :  xa\  OTitoq  jjit]  TCOiijarjTe,  onoXXaxt;  &{j.a?  £ßXa<|*ev  j:avT*  iXairrw 
vo(Jin^ovTe{  eTvai  xou  Ö^ovto;  xai  t«  jx^yiat'  iv  toTc  <|'T)9{a(Jia9iv  alpo6(jievoi, 
lizi  Tto  7:paTT£iv  oOSi  Tot  (iixpa  ;:oi£tTE,  und  Ol.  I  §  28:  k«vt«  5ij  rauta  5et 
ouv'.B^VTa;    ^TsavTa;  ßoT]0£tv. 

2  aaTo6$  verlangte  für  aOrov;  Nanck  im  Bnlletin  de  TAcademie  de  St.  P^ters- 
bourg  tom.  VI  p.  51,  eine  Conjectur,  welche  darch  die  vorher  (S.  26  ff.) 
ansgeBchriebenen  Stellen  über  persönlichen  Kriegsdienst,  wq  nirgends 
das  Wort  octtoC  gebraucht  ist,  widerlegt  wird. 


DenoatheBiBclie  Stadien.  29 

SOTageB;  wie  Ol.  105,  3,  zurück  zu  sein  hoffen  durfte  (vgl. 
Schaefer  I  143,  H  754). 

Aber  auch  jenes  ohleu;  avtsxeipoTCVYjoev  muss  nicht  auf  die 
Abstimmung  über  den  Antrag  ApoUodors  bezogen  werden  und 
eine  übertreibende  Unwahrheit  enthalten,  sondei'n  es  kann  ganz 
wohl  als  ein  doppeldeutiger  Ausdruck  für  eine  wahre  That- 
Sache  aufgefasst  werden.  Die  Worte  lauten  (§  5  S.  1346,  26): 
YSvojjLsvY)«;  Y«P  '^^  StoxeipOTOvta?  ouSei;  a^ns.x&ipo'iOYtiQt^  üq  cü  SeT  toT*; 
Xpi^(juzc(  To6TOiq  crpoTWüTixotj;  yu^a^ai^  akXk  xal  vuv  ext,  eiv  xou  kcr^oq 
Ysvijrai  xapa  icavrwv  6|xoXoYeTTat  o);  Ta  ßeXTicjTa  efea?  deSiXÄ  xiOot. 
Ist  es  plausibel,  dass  der  Redner  in  dem  Falle,  dass  wirklich 
alle  oder  auch  nur  mehrere  einfiussreiche  Persönlichkeiten  aus 
der  Zahl  der  Vertheidiger  der  Schaugelder  simpel  ftir  den 
Antrag  ApoUodors  gestimmt  und  sich  so  in  Widerspruch  mit 
ihren  Ueberzeugungen  gesetzt  hätten,  dafür  diesen  milden  Aus- 
druck, diese  vorsichtig  negative  Fassung  würde  gewählt  haben? 
Zudem  enthält  die  zweite  Hälfte  des  Satzes,  wenn  auch  die 
erste  an  eine  förmliche  Abstimmung  denken  lässt,  nicht  den 
förmlichen  und  wörtlichen  Antrag,  sondern  gleicht  mehr  einer 
Resolution,  einem  Stück  Motivirung,  ja  vielleicht  der  Motivirung 
einer  etwas  abweichenden  Ansicht.  Denn  ,keiner  stimmte  da- 
gegen, dass  man  diese  Gelder  nicht  als  Eriegsgelder  benützen 
dürfe,'  legt  die  Ergänzung  nahe,  wenngleich  mancher  Bedenken 
trug,  dass  es  in  dieser  Weise,  d.  h.  durch  ein  einfaches  Pse- 
phisma  und  nicht  auf  dem  allein  verfassungsmässigen,  legis- 
latorischen Wege  geschehen  solle.  Dass  gleichwohl  nicht  sofort, 
wie  es  scheint,  gegen  den  Antrag  eine  fpa^Y)  xapavcfjiwv  ein- 
gebracht wurde,  wird  verständlich,  wenn  es  der  Partei,  von 
welcher  eine  solche  Opposition  zu  erwarten  war,  im  Augen- 
blicke nur  darauf  ankam,  die  euboeische  Expedition  nicht 
scheitern  zu  lassen.  ^ 

'  Wie  hier  die  aus  der  Debatte  über  den  Antrag  ersichtliche,  allgemeine 
Zustimmung  den  Antragsteller  zu  entlasten  dienen  soll,  in  ähnlicher  Weise 
rechtfertigt  Aeschines  mit  der  ^einstimmigen*  Annahme  durch  das  Volk 
ein  gesetzwidriges  Psephisma  des  Philokrates,  welches  dieser  dbipoßo^XEurov, 
wie  ich  glaube,  unmittelbar  in  der  Ekklesie  eingebracht  hatte,  vgl.  Aesch. 
RvdGes,  §  13;  Sfdcocri  tj^9icr[xa  <l)iXoxpaT7](  o  ^Ayvouato^  xat  6  ofjjjio;  oizciq 
o^jLOYvtojjLcuv  f/Etpotdv7}OEv  E^ETvai  <I>iX{7;3Cbj  xtX.  und  kurz  vorher  tou  otJiiou 
Q^6^p!*  aj:o865«(jivou  ...  «vxEiJidvxo;  o'oOSevo^.  —  Zu  dieser  die  Wahr- 
heit kaum  verhüllenden  Uebertreibnug  vergleiche  man  Demosthen es' Aussage 


30  Kartet. 

Alle  andern  Umstände  jener  in  ihrer  Glaubwürdigkeit 
angefochtenen  Darstellung  sind  Thatsachen,  die,  wenn  auch 
übertrieben  dargestellt,  sich  nicht  fortinterpretiren  lassen. 
Um  über  sie  hinwegzukommen,  bleibt  Müller  nur  die  verzwei- 
felte Ausflucht  übrig,  dass  der  Redner  die  Zuhörer  verleite, 
,jene  Vorboten  des  olynthischen  Krieges,  zu  deren  Zeit  der 
Antrag  gestellt  ward,  mit  dem  olynthischen  Kriege  selbst  zu- 
sammenzuwerfen, welchem  Bestreben  die  natürliche  Neigung 
der  Zuhörer,  jene  unter  sich  zusammenhängenden,  zur  Zeit 
der  Rede  aber  längst  abgethanen  Ereignisse,  ohne  genauere 
Beachtung  der  Stadien  ihrer  Entwicklung  in  der  Erinnerung 
als  ein  Qanzes  zu  fassen,  von  selbst  entgegenkamt  Diesen 
Vortheil  wahrnehmend,  suche  er  seinen  Zweck  durch  eine 
allgemeine  Schilderung  der  drangvollen  und  entscheidungs- 
schwangeren Lage  mit  stai*kem  Farbenauftrag  zu  erreichen, 
nenne  den  euboeischen  Krieg  und  die  Anstrengungen  zur 
Rettung  Olynths  in  äinem  Athem,  hüte  sich  aber,  durch  eine 
bestimmtere  Bezeichnung  des  Zeitpunktes  erst  darauf  auf- 
merksam zu  machen,  dass  die  damalige  Heeressendung  nach 
Olynth  ein  militärischer  Spaziergang  blieb  und  der  wirkliche 
Ausbruch  des  olynthischen  Krieges  erst  18  oder  19  Monate 
später  erfolgte.  Dass  aber  jene  Vorboten  eitel  Fiction  sind, 
meinen  wir  unwidersprechlich  dargethan  und  damit  die  Wahrheit 
und  Treue  dieser  historischen  Charakteristik,  welche  lebendiger, 
treffender  und  nachdrucksvoller  kaum  Demosthenes  selbst  hätte 
liefern  können,  im  Allgemeinen  wie  im  Einzelnen  gerettet  zu 
haben. 

Wenn  es  aber  mit  jenen  Vorboten  des  olynthischen 
Krieges,  welche  Schaefer  und  Müller  präsumiren,  nichts  ist, 
dann  wird  die  Zuverlässigkeit  der  philochorischen  Nachricht, 
dass  der  Krieg  erst  Ol.  107,  4  ausgebrochen  sei,  durch  eine 
Stelle  der  ersten  olynthischen  Rede  (§  13)  vollends  erschüttert. 

über  die  seine  Person  betreflfende  Abstimmting  RgMeid.  §  2  8.  616,  2: 
oOo^  obceßXEtjiev  et;  t«;  ouvta^  lo^  toutcov  ouS^  'zaq  bitov^ion^y  aXXoc  |jLta 
yvto[i.y)  xaTe/£tpoTovv)9Ev  «utou,  —  RgTimokratos  §  67  S.  715,  27: 
yjsijv  9E  .  .  .  £t  7:a9iv  X07)va{oi$  iSoxEt,  ypa^Eiv  xat  vo^aoOetsTv,  n&chdera 
kuriB  vorher  (§  65)  die  Zahl  der  Znstimmenden  auf  6000  festgesetst  war. 
ITebrigens  sind  die»  nicht  die  einzigen  Beispiele  soloh^  nnschuldiger 
Zahlen- Hyperbel. 


Dcniosthenisehe  Stndien.  31 

Dort  lässt  nämlieh  DemostheiieS;  iudein  or  die  rasch  aufoinander 
folgenden  Züge  Philipps  aufzählt,  unmittelbar  auf  den  thra- 
kiscben  Zug  und  die  Erkrankung  desselben  im  Jahre  352 
V.  Chr.  die  Befehdung  Olynths  folgen  (xaXiv  ^wa;  oux  £xl  to 
paOu|i£Tv  dTvSxXtvev,  aXX*  eüOu?  W^uvOictj;  kizs/dpTt<jev).  Allerdings 
lässt  der  Ausdruck  eu66^  eine  strenge  Bemessung  seiner  Dauer 
nicht  zu,  und  fände  sich  die  Stelle  in  der  Eranzrede^  so  wäi*e 
die  Annahme  eines  mehrjährigen  Zwischenraumes  durchaus 
zulässig.  Aber  dieses  Wort  findet  sich,  wie  Grote  S.  2574  treffend 
bemerkt;  hier  in  einer  Rede,  die  wahrscheinlich  in  der  letzten 
Hälfte  des  Jahres  350  v.  Chr.,  ganz  gewiss  aber  nicht  später, 
als  in  der  eraten  Hälfte  von  348  v.  Chr.  gehalten  worden  ist. 
Demnach  ist  für  das  durch  euOu;  bezeichnete  Zeitintervall 
höchstens  die  Dauer  eines  halben  Jahres  anzusetzen,  wodurch 
^vir,  indem  wir  Philipp  ungefähr  Mitte  351  v.  Chr.  genesen 
lassen,  auf  den  Anfang  des  Jahres  350  geführt  werden. 

Während  wir  gegen  Schaefers  Behandlung  der  entschei- 
denden Stellen  aus  den  Reden  gegen  Meidias  und  Neaera 
Einsprache  erheben  mussten^  finden  wir  uns  mit  der  übrigen 
Untersuchung  desselben  über  die  Zeit  des  euboeischen  Krieges 
in  vollem  Einklänge.  Was  Weil  dagegen  vorbrachte,  ja  vor- 
zubringen, sich  gezwungen  sah,  um  seine  Behauptung  zu 
halten,  ist  hinfallig  und  zum  Theil  bereits  von  Müller  richtig 
widerlegt,  so  dass  eine  kurze  Hinweisung  auf  die  von  Schaefer 
acceptirten  oder  neu  beigebrachten  Argumente  an  dieser  Stelle 
genügen  wird. 

In  durchaus  unverfänglicher  Weise  bezeugt  Dionysius, 
dass  die  Abfassung  der  Rede  gegen  Meidias  in  das  Archontat 
des  Kallimachos  (Ol.  107,  4)  falle.  Drei  Jahre  vorher,  d.  i. 
Ol.  107,  2  =  351  V.  Chr.,  übernahm  Demosthenes  freiwillig 
die  Choregie  für  seine  Phyle  und  genügte  an  den  Dionysien 
im  Frühjahre  350  dieser  Pflicht  zu  jener  Zeit,  da  das  athenische 
Heer  auf  Euboea  stand.  Es  war  bei  dieser  Gelegenheit,  dass 
Meidias  den  Demosthenes  in  gemeiner  Weise  insultirte.  Um 
diese  Dionysien  zu  feiern,  war  Boeotos,  wie  wir  aus  der  Rede 
,gegen  Boeotos  vom  Namen'  erfahren,  in  Athen  geblieben  und 
wurde  deshalb  wegen  Fahnenflucht  belangt;  da  aber  in  Folge 
mangelnden  Richtersoldes  die  Gerichte  nicht  fungirten,  kam 
der  Process  nicht  sofort  zur  Verhandlung,  wohl  aber  unmittelbar 


32  fiartel. 

nach  Eröffnung  der  Dikaaterien.  Die  bezügliche  Proceasrede 
des  DemoBthenes  setzt  nun  Dionysius  in  die  Archontenjahre 
Ol.  107,  2  oder  107,  3  (vgl.  Dionys.  Dein.  c.  11  S.  656,  6: 
6  [kh  Y<*P  Av)|JLca6£voü^  xepl  toj  6vO[j.aTO?  Xo^o;  .  .  .  xxca  BecaaXbv  ^ 
'AxoXX6$a)pov  dpr/orzx  xsTeXecrai,  üx;  ev  toT?  irspl  Ar^pLccOevou;  SeSij/jih 
xa{jLey).  So  wie  Dionysius'  Zeitansatz  der  Midiana  sich  durcli 
Heranziehung  der  in  ihr  erwähnten  historischen  Thatsachen 
mit  seinen  Mitteln  leicht  und  sicher  machen  Hess,  so  ist  es 
offenbar  die  in  der  Rede  vom  Namen  §  16  S.  999,  7  berührte 
Schlacht  bei  Tamynae,  auf  welcher  sein  Zeitansatz  dieser  fusst 
Wäre  aber  bei  Tamynae  erst  Ol.  107,  3  gekämpft  worden, 
dann  konnte  er  nicht  annehmen,  dass  der  Process  und  die 
Rede  Ol.  107,  2  oder  3  falle,  sie  musste  dann  dem  Jahre 
107,  3  zugewiesen  werden.  *   Auch  kann  der  euboeische  Feldzug 


Bla08  (a.  a.  O.  S.  288)  erkennt  auch  nach  dem  was  Müller  (a.  a.  O.  S.  399) 
gegen  Weil  (Harang.  p.  166)  vorgebracht,  in  dem  Zeugniss  des  Dionysins 
einen  Irrthum,  den  er  aufklären  zu  können  meint  ,Denn  er  las,  wie  es 
scheint,  in  seinem  Exemplar  statt  Ta[jLuva;  die  Verderbniss  IluXac,  und 
somit  sagt  er  anderswo  [in  derselben  Schrift  c.  12  ii^{j.vi]rai  Y^p  cu;  vecoari 
TTjt  £?(  IluXac  g^öSou  yevoiJi^VT];  (Dem.  Boiot.  16  xai  yap  vuv,  ots  ei;  To^iuvo; 
napfSXOov  ol  aXXoi)'  ii  5'  ei?  [IluXa?]  'AOrjvaiwv  ?5o5o5  Eiti  BouSijjxou  opj^ovio; 
t^ivtxo,  TpioxaiB^xarov  eto?  AEivap)(^ou  ex,ovtoc],  dass  die  Rede  vom  Namen 
bald  nach  dem  106,  4  fallenden  Seezuge  nach  Thermopylae  geschrieben 
sei;  weiter  aber  kurz  darauf,  dass  die  andere  Rede,  gegen  denselben 
Boiotos  oder  Mantitheos,  von  der  Mitgift,  zwei  oder  drei  Jahre  spfiter 
als  die  vom  Namen  falle,  das  heisst  107,  2  oder  3.  Nun  lieg^  es  nahe  zu 
vermutheu,  dass  er  an  jener  erstoren  Stelle  einfach  die  beiden  Boden 
gegen  Boiotos  mit  einander  verwechselt*.  Zunächst  dünkt  es  mir  uu- 
wahrscheinlich,  dass  Dionysius  durch  einen  Fehler  seines  Textes,  den  or, 
wenn  or  zwei  Zeilen  weiter  las,  leicht  verbessern  konnte,  in  einen  so 
folgenschweren  Irrtbum  geführt  worden  sein  soll;  denn  durch  die  nächsten 
Worte  (RvNam.  16  S.  999,  9  (xkeXOövtwv  o'  s?  Eußofa;)  wurde  er  an  den 
ihm  aus  der  Midiana  wohlbekannten  euboeischen  Feldzug  erinnert.  Es 
wäre  ebenso  leicht  denkbar,  dass  des  Rhetors  Worte  durch  ein  Verderb- 
niss oder  eine  Interpolation  entstellt  ursprünglich  das  Richtige  enthielten, 
dass  er  von  Tamynae  sprach  und  darnach  den  Archonten  richtig  nannte. 
Auch  Deinarchos*  Altorsbezoichnung  widerspricht  seiner  eigenen  Berech- 
nung, wornach  dieser  erst  107,  4  im  dreizehnten  Jahre  stand.  Aber  wenn 
Dionysius  iu  grosser  Zerstreutheit  irrte,  wo  ist  ein  solcher  Irrthum  psycho- 
logisch wahrscheinlicher?  Doch  niclit  dort,  wo  er  über  die  Zeit  der  beiden 
Reden  eingehende  Untersuchung  anstellte,  in  der  Schrift  über  Demo- 
Rthencs,  auf  deren  Begründung  seiner  AnsStze  er  beide  Mal  verweist, 
a.  a.  O.  c.  1 1  ü);  £v  ToT;  nspi  A7jp.o<T0£vo'j;  8£ÖTjXf6xa[i.£v  (für  den  Ansatz  der 


D«mostltaniMba  Stadien.  33 

erst  nach  Ende  des  Jahres  107,  1  ausgebrochen  sein,  da  die 
erste  philippische  Rede  von  ihm  nichts  weiss,  wo  von  euboei- 
schen  Angelegenheiten  die  Rede  ist  wie  §  37,  und  er  ist  zu 
Ende  des  Jahres  107,  4  (348)  durch  einen  Frieden  geschlossen 
worden.  Somit  muss  der  Aufbruch  nach  Euboea,  sowie  die 
damit  gleichzeitige  Rüstung  für  Olynth  in  den  Anfang  des 
Jahres  350  gesetzt  werden. 

Diese  Thatsachen  sind  es  zunächst,  welche  die  von  Grote 
und  Weil  empfohlene  Verlegung  des  euboeischen  Unternehmens 
in  die  Mitte  des  olynthischen  Krieges,  nachdem  Demosthenes 
bereits  seine  Reden  gehalten,  verbieten.  Aber  auch  die  Reden  selbst 
vertragen  sich  mit  diesem  Ansätze  nicht.  Demosthenes  kommt 
an  zwei  Stellen  derselben,  I  §  19  und  III  §  10—13,  auf  die 
Theorikengelder  zu  sprechen  in  einer  Weise,  die  nur  unter  der 
Voraussetzung  begi*eiflich  wird,  dass  dieselben  bereits  einmal 
iiir  Bedeckung  der  Kriegskosten,  aber  erfolglos  in  Aussicht 
genommen  worden  waren.  *  Nachdem  er  also  an  der  ersten 
Stelle  dargelegt,  dass  es  an  Kriegsgeldern  nicht  mangle,  dass 
diese  aber  für  andere  Zwecke  leichtsinnig  verwendet  werden, 
lässt  er  sich  den  Einwurf  machen:  ,du  stellst  den  Antrag, 
dass  diese  Gelder  Kriegpgelder  sein  sollen?'  und  antwortet 
hierauf:  ,Gott  bewahr',  ich  stelle  keinen  Antrag.  Es  ist  das 
nur  meine  Meinung,  dass  man  Soldaten  ausrüste,  dass  diese 
Gelder  dazu  zu  dienen  haben  und  dass  eine  Anordnung  die 
Bezahlung  und  Leistung  des  Gebührenden  regeln  müsse,  dass 
ihr  sie  aber,  ohne  euch  dafür  anzustrengen  für  die  Feste  in 
Empfang  nehmet^  Warum  diese  Ablehnung  einen  Antrag  zu 
stellen,  der  nach  seiner  Ueberzeugung  billig  war  und  eine 
nicht  unergiebige  Geldquelle  eröffnen  konnte?  Warum  die 
Hervorhebung  dessen,  was  seine  Meinung  ist,  wenn  nicht  eine 

Rede  Tom  Nam.  107,  2  oder  3)  nnd  c.  13  co;  axpiß^aT£pov  ntpX  autcuv  iv 
T^  izzp\  A7]p.oo6^vou^  TP^?!)  ^£^^^o^xa[i.£v  (dafür  dass  die  andere  Rede  zwei 
oder  drei  Jahre  später  falle).  Ebenso  mnss  Dionjsias  in  seinen  Angaben 
über  die  Midiana  sich  geirrt  haben,  damit  diese  Ansicht  sich  halten  könne. 
Doch  darüber  Tgl.  Müller  a.  a.  O.  S.  399. 

*  Wenngleich  ich  Blass  (a.  a.  O.  S.  276)  zugestehe,  dass  Demosthenes 
ausdrücklich  nirgends  sagt,  dass  ein  solcher  Versnch  auch  gemacht  sei. 
Dazu  hatte  er  wohl  seinen  Grund,  indem  ihm  von  feindlicher  Seite  die 
höhnische  Insinuation,  er  selber  hfitte  es  wagen  sollen,  nicht  erspart  ge- 
bUeben  sein  mag. 

Sitrangtber.  d.  phil.-hist.  Gl.  LXXXTII.  Bd.  L  Hft.  3 


34  Hart«!. 

andere,  entgegengesetzte  Meinung  vorher  zum  unzweideutigen 
Ausdruck  gekommen?  Wozu  der  sarkastische  Humor  dieser  Aus- 
lassung^ wenn  nicht  in  ihm  der  Aei^cr  bitterer  Erfahrung  oder  ge- 
täuschter Hoffnung  sich  ausspricht?  Sinn  und  Beziehung  der  Stelle 
werden  mit  einem  Schlage  klar^  wenn  wir  uns  des  verunglückten 
apollodorischen  Antrags  erinnern,  der  für  seinen  Urheber  leicht 
mit  der  Verurtheilung  zu  einer  unerschwinglichen  Geldstrafe  — 
der  Ankläger  hatte  fünfzehn  Talente  beantragt  —  enden  konnte. 
Noch  schlagender  erhellt  diese  Beziehung  auf  eine  that- 
sächliche  Erfahrung  aus  der  andern  Stelle  (Ol.  III  §  10) 
,Was  die  Geldmittel  betrifft'  sagt  er  dort  ,so  wundert  euch 
nicht,  wenn  ich  etwas  rathe,  was  der  Mehrzahl  sonderbar  er- 
scheinen wird.  Setzt  Nomotheten  nieder.  Durch  diese  lasst 
aber  keine  neuen  Gesetze  aufstellen,  denn  wir  haben  deren 
genug,  sondern  hebt  jene,  die  im  Augenblick  Schaden  stiften, 
auf;  ich  meine  die  über  die  Theorikengelder  ohne  alle  Um- 
schweife (in  der  ersten  olynthischen  Rede  hatte  er  sichtlich  den 
Namen  vermieden,  mit  Xa{xßaveTs  si;  la^  iop-iq  §  20  nur  auf  die 
Sache  anspielend),  und  einige  über  die  Mobilisii*ung,  von  denen 
jene  die  Kriegsgelder  denen  die  zu  Hause  bleiben  als  Festgelder 
zutheilen,  jene  aber,  die  ihrer  Dienstpflicht  sich  entziehen,  straflos 
halten  und  die,  welche  ihrer  Pflicht  nachkommen  wollen,  nur  mit 
grösserer  Unlust  erfüllen.  Erst,  wenn  ihr  diese  aufgehoben  und 
den  Weg  das  Beste  zu  rathen,  gefahrlos  gemacht,  dann  suchet 
jenen,  welcher  das,  was,  wie  ihr  alle  wisst,  frommt,  beantragen 
wird.  Bevor  ihr  dies  gethan,  erwartet  keinen,  der  dafür,  dass 
er  in  eurem  Interesse  das  Beste  räth,  durch  euch  wird  zu  Grunde 
gehen  wollen;  denn  ihr  werdet  ihn  nicht  finden,  zumal  ja  nur 
das  dabei  herauskommen  könnte,  dass  der,  welcher  dies  räth 
und  beantragt,  ungerecht  zu  Schaden  käme,  der  Sache  aber  nichts 
nützte,  sondern  iiir  die  Zukunft  noch  mehr  abschreckte,  das 
Beste  zu  rathen.  Diese  Gesetze  aber  aufzuheben,  rauss  man 
dieselben  auffordern,  welche  sie  gegeben  haben,  denn  es  ist 
nicht  gerecht,  dass  die  Popularität  einer  Massregel,  welche  dem 
ganzen  Staate  Schaden  brachte,  jenen,  die  sie  veranlasst,  ver- 
bleibe, die  Gehässigkeit  des  Vorschlags  aber,  durch  den  wir  alle 
in  bessere  Lage  kommen  dürften,  dem,  der  jetzt  das  Beste  räth, 
als  Strafe  zu  Theil  werde.  Bevor  aber  das  in  Ordnung  gebracht, 
muthet    Niemanden    zu,    bei    euch    so     einflussreich    zu    sein. 


D«mosth«nise]ie  8tiidi«ii.  35 

ungestraft  sich  über  diese  Gesetze  hinwegsetzen  zu  können,  oder 
80  thöricht;  dass  er  sich  in  das  sichere  Unglück  stürzen  möchtet 
Wenn  die  Verhältnisse  zur  Zeit  der  Rede  so  waren,  wie  sie 
Weil  voraussetzt,  dass  sich  jener,  welcher  Verwendung  der 
Schaagelder  für  Kriegsgelder  beantragte  vielleicht  nur  eine 
Ypa^i  xapav6{A(i>v  zuzog,  wenn  er  aber  das  nicht  wollte,  nur  den 
legislatorischen  Umweg  einzuschlagen  hatte,  dann  sind  Demo- 
sthenes'  Worte  wahrlich  nicht  ein  Denkmal  seines  Muthes  und 
unternehmenden  Patriotismus,  sondern  das  Gegentheil;  sie  sind 
unpassend,  unbegreiflich.  Aber  noch  unbegreiflicher  erscheint 
es,  wenn  das  Schicksal  eines  solchen  Wagnisses  so  unzweifelhaft 
und  unabwendbar  feststand,  wie  Demosthenes  es  hier  darlegt, 
dass  Apollodor  einige  Zeit  darauf  den  Antrag,  welchen  Demo- 
sthenes ablehnte,  wirklich  stellte  und  damit  beim  Rath  und 
Volke  ohne  erheblichen  Widerstand  durchdrang. 

Zu  einer  ganz  entgegengesetzten,  richtigeren  Folgerung 
aus  diesen  Stellen  gelangt  Müller,  welcher  erkannte,  dass 
Demosthenes'  Worte  auf  die  Voraussetzung  führen,  ,es  müsse 
nicht  lange  vorher  einem  ein  solcher  Antrag  übel  bekommen 
sein,  und  das  Volk  müsse  vor  Kurzem  seine  Willensmeinung, 
die  Ueberschüsse  für  die  Festspenden  und  nicht  für  den 
Krieg  zu  verwenden,  von  Neuem  auf  das  Unzweideutigste 
zu  erkennen  gegeben  habend  Aber  derselbe  will  darin  sogar 
eine  Bestätigung  der  von  Libanius  und  den  Scholien  über- 
lieferten Nachricht  sehen,  dass  Eubulos  bei  dieser  Gelegenheit 
nach  der  Verurtheilung  Apollodors  ein  Gesetz  veranlasst, 
welches  jeden  ähnlichen  Versuch,  selbst  den  Antrag  einer 
Abänderung  auf  dem  verfassungsmässigen  Wege  mit  Todes- 
strafe bedrohte.  Darin  aber  liegt  ein  doppelter  Irrthum,  indem 
die  Gefahr  einzig  und  allein  demjenigen,  welcher  wie  Apollodor 
durch  ein  einfaches  Psephisma  den  Theorikengeldem  beizu- 
kommen suchte,  drohte.  Dass  aber  Todesstrafe  auf  einen  solchen 
Versuch  gesetzt  worden  sei,  das  müsste  besser  bezeugt  sein, 
als  durch  die  Scholiasten   und  Libanius,  ^    um  glaubwürdig  zu 


Das  sind  nicht  mehrere  Zeugen  für  dieselbe  Sache,  sondern  sie  stellen  nnr 
ein  Zengniss  dar,  indem  Libanius  unsere  Scholien  oder  eine  bessere  und 
reichere  Sammlung  derselben  benutzte.  Wie  ein  Erklärer  auf  diesen 
Einfall  kam,  habe  ich  Anm.  28  meiner  ,Demosthenischen  Anträge*  dar- 
zuthun  versucht.   Für  denjenigen,  welcher  selbst  nach  dem  dort  über  die 

3* 


36  Hariel. 

scheinen.  Auch  wüi-de  einer  solchen  Ungeheuerlichkeit  gegen- 
über Demosthenes'  Tadel  ganz  anders  gelautet  haben,  zudem 
dadurch  nicht  bloss  die  Theorikengesetze,  sondern  auch  Gesetze 
über  den  Kriegsdienst  vor  Abänderung  geschützt  sein  mussten; 
denn  er  redet  zugleich  von  beiden.  Ja  er  hätte  nicht  sagen 
können,  wenn  bereits  jeder  Versuch  mit  Todesstrafe  bedroht 
war,  dass  ein  solches  Wagniss  noch  mehr  davon  abschrecken 
werde,  das  Beste  zu  rathen  (xal  si?  xo  Xciicbv  ixaXXov  ixi  üj  vüv 
To  xa  ßeXxtaTa  Xe^eiv  (pcßspwtepov  zot^cyai).  Ueberdies  wird  im 
weiteren  Verlauf  eines  derartigen  drakonischen  Gesetzes  mit 
keiner  Sylbe  gedacht.  Allerdings  hat  Demosthenes,  nachdem 
er  durch  Jahre  hindurch  in  einflussreicher  Stellung  Athens 
Politik  bestimmt,  erst  als  die  patriotische  Partei  im  Jahre  341 
und  340  glänzende  Siege  errungen^  am  Vorabende  der  Ent- 
scheidungsschlacht von  Chaeroneia,  zur  Zeit,  da  Philipp  bereits 
Elateia  belagerte,  die  Theorikengelder  einer  bessern  Verwen- 
dung zugeführt  (Ol.  110,  2  =  339/8).  ^  Wir  brauchen  jedoch, 
um  dies  zu  erklären,  nicht  mit  Müller  an  die  drohende  Gefahr  der 
Todesstrafe  zu  denken.  Weshalb  er  als  leitender  und  an  Einfluss 
wachsender  Staatsmann  eine  Massregel,  die  er  als  Oppositions- 
redner wiederholt  hervorgekehrt,  nicht  sofort  und  ohne  die 
zwingendste  Veranlassung  in  die  Hand  nehmen  wollte,  das 
sagt  uns  mit  einer  Aufrichtigkeit,  die  nichts  zu  wünschen 
übrig  lässt,  Demosthenes  selbst  in  der  besprochenen  Stelle  der 
dritten  olynthischen  Rede.  Dass  er  damals  nicht  an  die  Sache 
herantreten  wollte,  dazu  bedarf  es  nicht  dieser  Erklärung;  denn 

Beziehung  de»  Wortes  a7:oX£o8ai,  nicht  bloss  auf  Todesstrafe,  sondern  auf 
gerichtliche  Verurtheilung  überhaupt  bemerkten  noch  zweifeln  sollte,  mag 
verwiesen  werden  auf  die  RgTimokrates  §  121  8.  738,  15:  o^toi  aüroi 
aitoT;  SixaCo^^^®*  «koXoivto  xai  t«  /pijjjLara  xaraOetev  BexaffXavia  xrX., 
RgMeid.  §  83  S.  541,  21:  OKtp  tov  TaXaficcopov  oux  opOcu;  .  .  .  ouoc  ^ixa^cof 
aTroXcoXsxsv  von  der  Atimie  Stratons  (vgl.  §  87:  aTcavTtüV  Ä::earT^p7)Tai  twv 
£v  T^  Tz6X£i  xai  xaOaTua?  anji.05  ys'yove,  §  91 :  6  {Jikv  fj(jjLWTai  xai  izapanokttiXi'* 
und  §  99),  RvdGes.  §  287  S.  433,  17:  (KjAop^oO  cxtcoXwXe  xäi  OppKTrai, 
vgl.  §  2:  tbv  {jikv  avyJpTjxe  tc5v  etci  Ta;  Eo06vac  eXOovtcov,  welche  Stelle  zu 
einem  ähnlichen  MissverstKndniss  Veranlassung  gab  im  Leb.  d.  x.  R. 
S.  841a:   0  $1  (Tl^Lapyoi)  ixXiTruv  tov  ayt^va  auTOv   ftvi{pTiQ9Ev,   a>(  icou  ^vjai 

1  Vgl.  Philochoros  bei  Dionysius  ad  Amm.  I  11  S.  742,  4:  Au<n{ioc)(^{Sr^; 
""Ayopveus'  bkI  toutou  .  .  .  .  ta  ypi5(JLaT'  fid^ij^iaravro  jiöivt'  s7vai  arpaTicorixa 
Aif]{jio90^vou(  ypd^wzo^. 


DemoBtheniBChe  Studien.  37 

an  Popularität  hatte  er  zu  jener  Zeit  vermuthlieh  wenig  ein- 
zubüssen.  Aber  er  konnte  in  Erinnerung  an  das  frische  Sehicksal 
des  apollodorischen  Antrages  nicht  hoSeHy  auf  dem  chikanen- 
reichen  Wege  der  Gesetzgebung  durchzudringen  oder  rechtzeitig 
etwas  zu  erreichen.  Wie  es  sich  aber  auch  damit  verhalte,  die 
beiden  Reden  fordern  unabweislich;  dass  Apollodors  Antrag 
sammt  dem  euboeischen  Krieg,  in  welchen  er  fällt,  vor  dieselben 
gesetzt  werde. 

Zu  derselben  Folgerung  sehen  wir  uns  durch  eine  andere 
Stelle  der  dritten  olynthischen  Rede  geführt.  Demosthenes 
berechnet  dort  (§  28)  die  bis  dahin  erwachsenen  Kosten  des 
Krieges  mit  Philipp  auf  1500  Talente;  es  mag  zugegeben  werden, 
dass  diese  Berechnung  nur  eine  summarische  sei,  auch  das, 
dass  Demosthenes,  um  die  Summe  abzurunden,  die  wirkliche 
Auslage  um  etwas  erhöht,  wodurch  auch  begreiflich  würde, 
dass  Aeschines,  der  um  einige  Jahre  später  dieselbe  Berech- 
nung der  Ausgaben  von  der  Zeit  der  Einnahme  von  Amphi- 
polis  im  Jahre  358/7  bis  zum  Frieden  von  346  anstellt,  zu 
derselben  Ziffer  gelangt  (Aesch.  2,  71);  denn  nach  unserer 
Annahme  liegt  als  wichtigster  Ausgabeposten  zwischen  beiden 
Additionen  das  Erforderniss  für  die  dritte  Expedition  nach 
Chalkidike,  welches  kaum  erheblich  ins  Gewicht  fallen  konnte, 
wenn  die  Armee  auf  die  Nachricht  von  Olynths  Einnahme  sofort 
zurückkehrte.  Von  kriegerischen  Expeditionen,  die  nach  diesem 
Zeitpunkte  stattgefunden,  erfahren  wir  nichts.  Wie  aber  soll 
nach  der  Groteschen  Annahme  das  Resultat  beider  Kostenberech- 
nungen noch  stimmen,  wenn  nach  der  dritten  olynthischen  Rede 
d.  i.  nach  dem  demosthenischen  Rechnungsabschluss  noch  die 
Kosten  für  die  drei  philochorischen  Expeditionen  nach  Olynth 
und  den  kostspieligen  Krieg  auf  Euboea  bestritten  wurden? 
Die  Ausgaben  für  diese  Unternehmungen,  deren  zerrüttenden 
Einfluss  auf  Athens  Finanzen  er  anerkennt,  müssten  gleich  Null 
sein,  wenn  die  Ziffer  des  Aeschines  als  richtig  erachtet  wird, 
Grote  bleibt  demnach  nichts  übrig,  als  auf  diese  Berechnungen 
kein  grosses  Gewicht  zu  legen.  Das  no7i  liquet  ist  aber  nur 
eine  Folge  seiner  verfehlten  historischen  Construction.  * 

1  Wenn  Äescliineii  auch  in  gewohnter  Uebertreibung  nnr  Chares  nennt, 
welcher  die  Verlnste  verschuldet  nnd  die  Summen  verausgabt,  so  hat  er 
doch  sammtliche  Verluste  und  Ausgaben  im  Äuge.    Ob  er  f^ber  selbst 


38  Hartel. 

In  den  behandelten  Fragen  ist,  wie  wir  sahen^  vor  Allem 
ein  Punkt,  and  zwar  von  allen  Gelehrten  bis  auf  Boehneeke 
und  Grote,  als  unumstösslich  festgehalten  worden,  nämlich  das 
Zeugniss  des  Philochoros,  welches  den  Beginn  des  olynthischen 
Krieges  vor  Ol.  107,  4  nothwendig  ausschliesst,  und  daraus 
ergaben  sich  alle  die  Widersprüche  und  Inconvenienzen  mit 
andern  nicht  minder  wohlbezeugten  Thatsachen.  Wir  glauben, 
die  Autorität  des  Philochoros  in  diesem  einen  Punkte  durch 
die  bisherigen  Untersuchungen  entkräftet  zu  haben.  Es  lässt 
sich  aber  die  Zuverlässigkeit  seiner  chronologischen  Bestim- 
mung selbst  durch  eine  Stelle  der  dritten  olynthischen  Rede 
(§  4),  wenn  dieselbe  richtig  erledigt  wird,  in  Zweifel  ziehen. 
Hier  rechnet  nämlich  der  Redner  von  dem  Augenblick,  da  er 
spricht,  bis  zur  Belagerung  von  Heraion  Teiches  im  Maima- 
kterion  des  Jahres  352  zurück  und  bezeichnet  die  Zeit- 
distanz durch  TptTOv  t)  TeiapTOv  £toc  touTf  (jxejjLvr^ffOe,  &  ovSpeq 
'AOr^voiot,  5t*  dxr;^ff€AOiQ  ^(Xitttco^  'j|mv  ev  Bpoxf)  xpCxov  i)  teTaprov 
2x0?  TO'jxl  *Hpaiov  xeT^o?  xoXiopxöv.  xixs  to(vuv  [i.t;v  jjl^v  Jjv  [jiati|JLaxT)Q- 
piwv).  Die  Worte  sind  in  sehr  abweichender  Weise  interpretirt 
worden.  Rehdantz  bemerkt  zu  der  Stelle:  , Jetzt  vor  drei  bis 
vier  Jahren  (Poppe  zu  Thuk.  1.  82.  2,  so  kann,  was  im  Mai- 
makterion,  d.  i.  November  1870  geschehen  ist,  im  Januar  1874 
als  vor  drei  oder  vier  Jahren  geschehen  bezeichnet  werden)'. 
Ein  solcher  Ausdruck  scheint  nicht  unzulässig,  wo  es  dem 
Sprechenden  darauf  ankommt,  annäherungsweise  genau  zu  sein 
und  wo  er  durch  das  kurze  ,drei  bis  vier'  der  genaueren  Da- 
tirung  ,drei  Jahre  und  so  viel  Monate'  überhoben  sein  will. 
Das  ist  aber  hier  nicht  anzunehmen,  und  eine  beiläufige  Bo- 
zeichnung  des  Jahres  bei  genauer  Angabe  des  Monats  um  so 
unangemessener,  als  sich  der  Redner  einer  Menge  Details  aus 
jenen  Monaten  klar  zu  entsinnen  weiss.  Diesen  in  der  unbe- 
stimmten oder  unsichern  Jahresangabe  liegenden  Anstoss  fühlte 
richtig  Westermann  und  stellte  in  seiner  Anmerkung  folgende 
Erklärung  auf,  welche  Weil  als  die  einzig  richtige  acceptirte: 
,Der  Redner  scheint  die  Wahl  zwischen  drei  und  vier  Jahren 
deshalb  zu  lassen,   weil   man  verschieden  rechnen  kann:    Von 

die  Rechnung  gemacht,  mag  zweifeUiaft  sein:  denn  für  die  Zahl  der 
verlorenen  Schiffe  nennt  er  seine  Quelle:  xai  laOia  ujitv  ev  toT;  dyw«« 
ii\  ToTi;  Xapy)To;  ol  xaxif^yopoi  $eixvuou9iv. 


Demoithanische  Studien.  39 

Tag  zu  Tag  nach  natürlichen  Jahren^  oder,  wie  den  Athenern 
geläufig,  nach  bürgerlichen  Jahren  von  Archont  zu  Archont, 
das  Jahr,  in  welchem  jene  Nachricht  eintraf,  mitgerechnet. 
Nach  der  ersten  Zählung  lief  das  dritte  Jahr  im  November  349, 
das  vierte  im  November  348,  nach  der  andern  das  dritte  im 
Juli  349,  das  vierte  im  Juli  348  ab.  Hätte  sich  Demosthenes 
also  ganz  genau  ausgedrückt,  so  müsste  die  Rede  vor  Novem- 
ber 349  gehalten  sein,  denn  wäre  sie  erst  Anfang  348  gehalten 
worden,  so  fiele  sie  nach  beiden  Zählungen  in  das  vierte  Jahr.'  * 
Um  die  Worte  so  zu  verstehen,  bedarf  es  allerdings  eines 
Commentars,  indem  ohne  einen  solchen  Niemand  herauszufinden 
vermöchte,  dass  die  durch  ein  kurzes  ,Oder'  verbundenen  Zahlen 
verschiedene  Bedeutung  und  Beziehung  haben;  für  die  Sache 
allerdings  verschlägt  es  nicht  viel,  ob  man  so  oder  so  zählt, 
indem  die  Differenz  beider  Zählungen  nur  drei  Monate  be- 
trägt, aber  beide  können  unmöglich  mit  einander  verkoppelt 
sein.  Dass  nun  der  Redner  nach  dem  attischen  Jahr  rechnet, 
geht  aus  §  5  mit  voller  Evidenz  hervor:  xal  [xeia  ta-ka  8ieX- 
OovToq  Tou  svtauTOu  TOüTOü  ixaTO{jLßau«»y,  {AeTaYetTviwv,  ßoY23p9[Ai(i)y * 
to6toü  tou  [LTi^nq  ix^yt?  fj^xa  Tot  (ju>0Ti^pia  Sex«  vou^  aicscrceiXaTe.  TpCiov 
i)  TetapTov  ixoq  bedeutet  also,  nach  griechischer  Art  zu  zählen, 
es  ist  das  zweitfolgende  oder  das  dritte  Jahr.  Beides  kann 
nicht  richtig  sein.  ,Wir  müssen  entweder  das  Eine  oder  das 
Andere  wählen^  bemerkt  Grote  S.  26829  ^^^  ^tpitov  hoq  fuhrt 
uns  zum  Jahre  350/49  v.  Chr.^  Wenn  Grote  damit  meint, 
dass  Demothenes  nicht  Beides  neben  einander  geschrieben 
haben  könne,  so  pflichte  ich  ihm  bei  und  halte  die  Worte  t} 
-£TapTov  für  Interpolation,  indem  leicht  ersichtlich  ist,  wie  gerade 
sie  in  den  Text  kommen  konnten.  Ein  aufmerksamer  Leser, 
der  seinen  Dionysius  zur  Hand  hatte,  verglich  die  Daten  und 
fand,  indem  er  vom  Archontat  des  Kallimachos,  in  welches  die 
demosthenischen  Reden  gesetzt  werden,  bis  zur  Belagerung  der 
Ilerafeste  zurückrechnete,  vier  Jahre  und  schrieb  so  sein 
fl  TeiapTov  als  berichtigende  Losart  in  den  Text.    Der  Scholiast 

1  Wie  ich  sehe,  hat  sich  nun  auch  Rehdantz  in  der  ehen  erschienenen 
5.  Auflage  seines  verdienstvoUen  Commentars  dieser  Ansicht  ange- 
schlossen. ,80  könnten  wir*  meint  er  ,von  einem  Factum  des  Mai  1874 
im  April  1877  sagen,  es  sei  seitdem  das  dritte  (natürliche)  oder  vierte 
(Calender)Jahr^    Allerdings,  aher  mit  Weglassnng  der  Klammern, 


40  Hartel. 

zui*  RgMeid.  13,  S.  518,  27  scheint  unsere  Stelle  noch  ohne 
diese  Interpolation  gelesen  zu  haben.  Demostbenes  selbst  konnte 
also  nur  TpiTOv  ho^  schreiben  und  somit  fällt  diese  Rede  in  die 
Zeit  vom  Mittsommer  von  350  auf  Mittsommer  von  349. 

Aus  den  bisher  festgestellten  Thatsachen  wird  sich  ein 
genaueres  Bild  der  Situation,  für  welche  die  drei  olynthischen 
Beden  berechnet  sind,  entwerfen  lassen.  Athen  hatte  bereits 
zu  Anfang  des  Jahres  3öO  mit  Olynth  einen  Bundesvertrag 
geschlossen.  Als  Philipp  Olynth  bedrohte  oder  zu  bedrohen 
schien,  sandten  die  Athener,  die  ganze  Bedeutung  des  Augen- 
blicks erkennend,  kurz  hintereinander  zwei  Corps,  das  eine 
unter  Chares,  das  andere  unter  Charidemos.  Ausrüstung  und 
Transport  dieser  Truppen  ward  zum  Theile  durch  freiwillige 
Beiträge  reicher  Bürger  bestritten.  Sie  bemannten  acht  Trieren 
für  das  Corps  des  Chares  und  gaben  einer  Abtheilung  Oavallerie 
den  Auftrag,  von  Euboea  nach  Chalkidike  überzusetzen,  um 
Charidemos  zu  verstärken.  Inzwischen  hatte  Athen  die  Expe- 
dition nach  Euboea  unternommen,  von  der  Demosthenes,  wie 
nun  klar  ist,  um  eine  Zersplitterung  der  Kräfte  zu  verhüten, 
vergeblich  abmahnte,  indem  man  dieselbe  leicht  und  rasch 
zu  beenden  hoffen  mochte.  Die  Dinge  kamen  anders.  Der 
Feldzug  auf  Euboea  zog  sich  in  die  Länge  und  verschlang 
grosse  Summen,  so  dass  man  aus  Geldmangel  die  Dikasterien 
schliessen  musste.  Die  Opferwilligkeit  der  Büi^er  ward  durch 
dieses  erfolglose  Unternehmen  vollends  erschöpft.  So  ist  es 
begreiflich,  dass  an  Olynth  und  eine  energische  Unterstützung 
jener  Bundesgenossen  in  diesem  Jahre  nicht  gedacht  werden 
konnte. 

Vielleicht  hoffte  man,  mit  dem,  was  man  bereits  für 
Olynth  gethan,  genug  gethan  zu  haben,  auch  mochte  der  Krieg 
im  ersten  Jahre  von  Seiten  Philipps  nicht  mit  jener  Energie 
geführt  werden,  welche  eine  schnelle  oder  für  Olynth  unglück- 
liche Entscheidung  befürchten  liess;  *  stellte  es  ja  Philipp 
anfangs  überhaupt  in  Abrede,  es  auf  Olynth  abgesehen  zu  haben 


>  Noch  in  der  zweiten  Rede  nimmt  Demosthenes  (§  1),  wie  der  Gebraach 
des  Faturum  in  dieser  Stelle  anzudeuten  scheint,  eine  lange  Daner  des 
Krieges  in  Aussicht  (ib  ykp  tou^  noXEfjiiJaovrac  «PiXdnwü  ycYgvijfföai  xat 
/(op«v  o(JLOpov  xai  8uva{x{v  ttva  x£xtt)(i.^vou;  x«i  .  .  .  i^v  U3ckp  tou  7;oX^p.ou 
YVtüji7)v  ToiaOnjv  tyip^fzoL^  xtX.) 


Denotthenitolie  Studien.  41 

und  wies  solche  Anschuldigung  wiederholt  durch  Gesandte 
zurück.  Als  Charidemos  auf  Chalkidike  erschien;  waren  die 
Olynthier  um  die  Vertheidigung  ihres  Gebietes  so  wenig  be* 
sorgt;  dass  sie  mit  ihm  vereint  einen  Einfall  in  die  makedo- 
nische Landschaft  Bottiaea  unternehmen  konnten.  Und  als 
schon  der  Krieg  im  Gange  war,  hofiPte  ja  Philipp  noch  immer 
durch  kluges  Diplomatisiren  Olynth  von  dem  athenischen  Bund* 
nisse  abzudrängen.  Alle  diese  Umstände  reichen  hin^  die 
zuwartende  und  lässige  Politik  des  in  seinen  Finanzen  völlig 
erschöpften  Athens  zu  erklären.  Energischer  begann  die  Cam- 
pagne  des  nächsten  Jahres,  in  dessen  Anfang  wir  die  drei 
olynthischen  Reden  stellen,  und  immer  enger  zog  Philipp  um 
Olynth  und  seine  Städte  den  Kreis.  ^  Dringend  unterstützte 
Demosthenes  in  seiner  ersten  Bede  den  Antrag  auf  Ausrüstung 
und  rasche  Absendung  eines  Bürgerheeres.  Es  ist  bezeichnend; 
dass   es    ihm    nur    zunächst    auf    die    Durchbringung    dieses 

*  Dies  scheint  aus  einer  Nachricht  bei  Plinias  hervorzugehen,  welche  zuerst 
Boehnecke  heranzog,  um  nachzuweisen,  dass  Philipp  Ol.  107,  3  =  350/49 
gegen  Chalkidike  im  Felde  gestanden.  Die  Worte  lauten:  Plin.  H.  N. 
II  27  (97):  ,Fit  ei  eadi  ipaitu  hiatu$,  quod  vocant  ehasma.  FU  et  ton^tnea 
ipeeiCj  quo  nihil  terrihiUtu  mortalium  Umori  e»t^  incendium  ad  terrtu  ectdem 
inde;  iieut  Olpmpiadia  eenteaimae  aeptimae  anno  tertio^  cum  rex 
PhilippuM  Oraeeiavi  quateret.  Atque  ego  haee  atcUU  tempoHbu9  na- 
turae,  ut  cetera,  arbitror  exUtere,  non,  ut  plerique,  variü  de  catuis,  qua9^  inge- 
niorum  aeunien  excogitaty  quippe  ingentium  niatorum  fuere  praenunda ;  nd  ea 
accidisae  non  quia  haec  facta  tunt  arbitror,  verum  haee  ideo  facta,  quia  xnca- 
9ura  erant  itta,  raritate  autem  occuUam  eortim  es»e  rationem,  ideoque  non 
aicut  exortua  nipradictoa  defecttisque  et  multa  alia  noad*,  Schaefer  (II  147) 
gesteht  zu,  dass  Plinins  damit  die  Zerstörung  der  chalkidischeu  Stfidte 
meine,  aber  auch,  fügt  er  hinzu,  ,die  Verwüstung  Phokiens  und  alles 
Unheil,  was  Philipp  über  Griechenland  gebrach tS  um  durch  diese  weitere 
Deutung  die  chronologische  Beweiskraft  der  Stelle  zu  schwächen.  Wie 
ich  glaube,  mit  Unrecht.  Allerdings  konnte  zwischen  den  Vorzeichen 
und  den  Ereignissen,  die  sie  anzukündigen  schienen,  ein  längerer  Zwischen- 
raum eintreten,  aber  Plinius  setzt  sie  gleichzeitig,  und  dass  er  dies  nicht 
auf  eigene  Faust  gethan,  sondern  einem  Historiker  folgend,  der  nach  den 
Jahren  die  Ereignisse  erzählte,  scheint  die  Art  dieser  Notiz,  die  Ver- 
bindung einer  datirten  historischen  Thatsache  mit  dem  Falle  des  blut- 
farbigen  Meteors  zu  verbürgen.  Was  Philipp  bisher  gegen  Griechenland 
gethan,  das  waren  einzelne  Schläge,  deren  Stärke  und  Zusammenhang 
die  öffentliche  Meinung  kaum  fühlte.  Aber  als  eine  chalkidische  Stadt 
nach  der  anderen  fiel  (das  war  eben  Ol.  107,  3),  da  begann  ganz  Griechen* 
Und  zu  beben. 


42  Hartel. 

BeschlusBcs  ankam.  Die  Hauptschwierigkcit  der  Geldbeschaffung 
berührte  er  nicht  ernstlich;  nur  für  die  Modalität  der  Kriegs- 
führung  stellte  er  einen  vorläufigen  Antrag.  Mahnten  vielleicht 
die  bedrängten  Olynthier  und  wollte  er  sie  zunächst  mit  diesem 
Beschlüsse  beschwichtigen?  Wollte  er  das  Volk  durch  einen 
Beschluss  nur  neuerdings  verpflichten ,  auf  dass  diese  beste 
Gelegenheit^  den  langen  Krieg  gegen  Philipp  zum  endlichen 
erfolgreichen  Abschlüsse  zu  fuhren^  nicht  bei  längerem  Säumen 
ungenützt  vorübei*streiche?  Ich  vermuthe  das  letztere.  Auf 
diesen  Beschluss  gestützt^  urgirte  er  drängender  in  der  zweiten 
und  dritten  Rede  Ausrüstung  und  Abmarsch,  aber  bei  der 
Uneinbringlichkeit  oder  Geringfügigkeit  der  ausgeschriebenen 
Vermögenssteuern  fruchtlos.  ^  Erst  als  eine  neue  Gesandtschaft 
Olynths  die  Athener  von  der  Unzulänglichkeit  der  Söldnercorps 
und  dem  Ernst  der  Lage  überzeugte  und  ausdrücklich  ein 
Bürgerheer  verlangte,  da  geschah  das  oft  Geforderte,  und  zwar 
in  einer  Form,  die  bereits  Demosthenes  in  der  ersten  philippi- 
schen Rede  empfohlen,  indem  die  in  Olynth  vorhandenen 
Söldnertruppen  durch  ein  Bürgerheer,  und  zwar  2000  Hopliten 
und  300  Reiter  verstärkt  wurden  und  Chares  das  Commando 
über  die  vereinigten  Truppen  übernahm  als  (TTpaiTj^b?  tou  otoXoj 
xavTÖ^. 


III. 


Die  genaue  Betrachtung  der  ersten  philippischen  und  der 
drei  olynthischen  Reden,  die  ich  hier  und  in  der  Abhandlung 
,Demo8thenische  Anträge*  durchgeführt,  hatte  den  Zweck,  das 
Verständniss  derselben  dadurch  zu  fördern,  dass  durch  die  Fest- 
stellung und  Unterscheidung  dessen,  was  Demosthenes  förmlich 
beantragte,  von  dem,  was  er  bloss  rieth  und  wozu  er  ermahnte, 
durch  die  Erwägung  der  praktischen  Aufgaben  des  Augenblicks 

<i  Die  Situation,  aus  welcher  die  drei  olynthischen  Reden  hervorgingen,  ist 
demnach  fast  unverfindert  geblieben.  Daher  erklärt  es  Bich,  dass  der 
mit  dem  Aufwand  grossen  Scharfsinns  und  wiederholt  gemachte  Versudi, 
aus  den  Reden  selbst  ihre  Abfolge  zu  bestimmen,  nur  dürftige  Resultate 
erzielte,  welche  nicht  stark  genug  waren,  gegnerische  Meinungen  voll- 
ständig zum  Schweigen  zu  bringen. 


Demoathanisdi«  Stadien. 


and  seiner  ideellen  Ziele,  die  politische  Bedeutung  derselben 
klarer  erkannt  würde.  Wir  sahen  dabei,  dass  jene  Massregeln, 
zu  deren  Durchführung  er  mit  der  Stellung  förmlicher  Anträge 
die  Initiative  ergriff,  nur  dann  einigermassen  beurtheilt  werden 
können,  wenn  wir  uns  Zeit  und  Veranlassung  derselben,  innere 
und  äussere  Zustände  des  Staates  durch  sorgsame  Verwerthung 
unserer  dürftigen  Tradition  in  schärferem  Umriss  vergegen- 
wärtigten; eine  Würdigung  der  Politik  des  Demosthenes,  glaubten 
wir,  müsse  sich  auf  einer  zusammenfassenden  Erwägung  aller 
dieser  Momente  aufbauen;  sie  habe  sich  zu  hüten,  jede  über- 
schwängliche  Motivirung  in  eine  wirkliche  Ueberzeugung  des 
Redners  umzusetzen,  aus  jedem  herben  Tadel  eine  historische 
Thatsache,  aus  jedem  Imperativ  ein  fertiges  Psephisma  heraus- 
zuschälen; allerdings  aber  müsse  sie  aus  den  Worten  desselben 
zu  gewinnen  suchen,  was  er  weise  oder  zufidlig  verschweigt, 
was  seine  Gegner,  die  wir  nicht  mehr  ins  Verhör  nehmen 
können,  gewollt  und  gedacht;  ohne  dieses  vorsichtige  Abwägen 
nach  allen  Seiten  würde  sie  sich  in  einen  Knäuel  von  Wider- 
sprüchen verwickeln. 

Das  Nützliche  und  Zeitgemässe  unseres  Versuches,  für 
eine  solche  Würdigung  der  demosthenischen  Politik  den  Boden 
zu  ebnen,  konnte  nicht  schlagender  demonstrirt  werden,  als 
durch  eine  jüngst  erschienene  Abhandlung  A.  Weidners  (im 
Phil.  36,  246  ff.),  welcher  auf  Grund  der  von  uns  behandelten 
Reden,  Demosthenes'  Politik  dieser  Epoche  einer  einschnei- 
denden Kritik  unterzieht  und  dabei  zu  einem  Resultate  gelangt, 
welches  den  bisher  geltenden,  von  Männern  wie  Grote  und 
A.  Schaefer  getheilten  Ansichten  diametral  entgegensteht.  Diese 
fanden  in  den  bezüglichen  Reden  alle  Qualitäten  eines  grossen 
Staatsmannes  ausgeprägt.  Freilich  an  der  Grösse  der  Erfolge, 
wonach  als  Massstab  Weidner  nicht  bloss  Demosthenes'  intel- 
lectuelle,  sondern  auch  seine  moralischen  Eigenschaften  ab- 
schätzen zu  können  meint,  sahen  und  suchten  sie  dieselben 
nicht  Mit  Recht.  Denn  das  hiesse  bei  unserer  dürftigen  Kennt- 
niss  jener  Zeit  mit  mehreren  Unbekannten  rechnen.  Wenn  auch 
das  Resultat  von  Demosthenes'  Bemühungen  gegen  Philipp  uns 
gleich  Null  erscheint,  wer  wollte  sagen,  wie  sich  Athens  Lage 
ohne  die  von  Demosthenes  genährte  und  gesteigerte  Wider- 
standskraft gestaltet  hätte?  Wer  will  auch  nur  behaupten,  dasQ 


44  Hartel. 

es  damals  in  Athen  fernsichtigere  Politiker  gab,  die  mitten 
im  Strome  der  Bewegung  den  Irrthum  des  Demosthenes^  der 
unS;  die  wir  das  Ende  der  Entwicklung  tibersehen,  klar  vor- 
liegt, durchschaut  und  in  dieser  Erkenntniss  es  widerrathen, 
gegen  die  schlagfertige,  von  einem  Herrn  wie  Philipp  geleitete 
makedonische  Macht  das  innerlich  morsche  und  zerklüftete 
Athen  in  Kampf  zu  bringen?  Von  solchen  Irrthümern  lebt  die 
Weltgeschichte.  Wie  gross  der  demosthenische  war,  lässt  sich 
bei  unserer  Unkenntniss  der  realen  Machtverhältnisse  kaum 
mehr  bestimmen,  und  darum  ist  auf  diesem  Wege  zu  einer 
billigen  Beurtheilung  des  Redners  nicht  zu  gelangen. 

Demosthenes  bezeichnet  an  einer  klassischen  Stelle  seiner 
Rede  vom  Kranz  (§  246  S.  308,  26),  worin  die  Verantwortlichkeit 
eines  Staatsmannes  liege.  ,Er  muss'  sagt  er  ,die  Dinge  in 
ihrem  Anfange  wahrnehmen,  ihre  Bedeutung  voraus  erkennen 
und  sie  den  Andern  im  voraus  ansagen,  ferner  so  viel,  wie 
möglich,  die  von  der  Leitung  einer  freien  Stadt  unzertrenn- 
lichen Mängel;  die  langsamen  Bewegungen,  die  Bedenklich- 
keiten, die  Unkenntniss  und  die  Eifersüchteleien  mindern  und 
im  Gegentheile  den  Bürgern  Eintracht,  wohlwollende  Gesin- 
nungen und  Eifer  für  die  Erfüllung  ihrer  Pflichten  einflössen'. 
Es  kann  uns  genügen,  was  hier  von  dem  Politiker  gefordert 
wird,  um  innerhalb  dieses  erkenn-  und  abschätzbaren  Kreises 
von  Pflichten  die  Prüfung  vorzunehmen. 

Grote  findet,  dass  gleich  die  erste  philippische  Rede 
Demosthenes  das  Recht  gibt,  das  Verdienst  in  Anspruch  zu 
nehmen,  die  Dinge  in  ihren  ersten  Anfängen  wahrgenommen 
und  seine  Mitbürger  gewarnt  zu  haben.  ,Wir  sehen  hier'  sagt 
derselbe  (a.  a.  0.  S.  252)  ,wie  Demosthenes,  ein  Mann  von  nur 
erst  30  Jahren,  ein  Jüngling  erst  im  politischen  Leben,  13  Jahre 
vor  der  Schlacht  von  Chaeroneia,  die  politischen  Beziehungen 
zwischen  Athen  und  Philipp  genau  abwägt,  wie  er  diese  Be- 
ziehungen während  der  Vergangenheit  prüft,  wie  er  aufzeigt, 
wie  sie  sich  von  Jahr  zu  Jahr  ungünstiger  gestaltet  haben  und 
wie  er  die  Gefahren  und  Ereignisse  der  Zukunft  vorhersagt, 
wenn  nicht  bessere  Vorkehrungen  getroffen  würden,  wie  er 
nicht  nur  die  bisherige  schlechte  Verwaltung  der  Staatsmänner, 
sondern  auch  jene  tadelnswerthen  Gesinnungen  des  Volkes  selbst, 
in  denen  diese  Verwaltung  wurzelte,  muthig  und  ofi^en  zur  Schau 


DemoMthenltehe  Stadien.  45 

stellt  und  dem  Tadel  unterwirft;  wie  er  endlich  auf  seine  eigene 
Verantwortlichkeit  hin  es  wagt;  in  die  widerwilligen  Bürger  zu 
dringen;  dass  sie  die  schwere  Last  der  Steuern  und  persönlichen 
Strapazen  auf  sich  nehmen.  Sein  beharrliches  Bestehen  auf 
dieser  nämlichen  Verpflichtung;  das  den  leitenden  Staatsmännern 
80  lästig  wie  dem  Volke  ward;  begegnet  uns  in  allen  seinen 
philippischen  und  olynthischen  Reden  wieder.  Wir  hören  seine 
Warnungen  in  einer  so  frühen  Zeit  gegeben,  wo  rechtzeitige 
Vorkehrungen  so  leicht  auszuführen  gewesen  wären;  wir  be- 
merken seine  Ueberlegenheit  über  ältere  Staatsmänner,  wie 
Eubulos  undPhokion  in  der  besonnenen  Würdigung;  in  der  klugen 
Voraussicht;  in  dem  Mutho;  unangenehme  Wahrheiten  auszu- 
sprechen'. Grote  findet  aber;  dass  er  auch  den  andern  Theil 
staatsmännischer  Pflicht  glänzend  erfüllt,  ;nämlich  seine  Bürger 
zu  einmütbigem  und  entschlossenem  Handeln  anzuhalten  und 
sie  zu  jener  Höhe  der  Gesinnung  emporzuheben;  die  erforderlich 
ist;  um  gegen  den  öfiPentlichen  Feind  nicht  bloss  zu  sprechen 
und  zu  beschliesseU;  sondern  auch  zu  handeln  und  zu  leidend 
Die  erste  philippische  Kode  erscheint  ihm  als  ein  oratorisches 
Meisterstück;  ;da8  mit  Kraft  und  Unwiderstehlichkeit  an  die 
Leidenschaften  appellirt;  das  Auditorium  auf  vielerlei  und  ver- 
schiedenen  Wegen  zu  der  grossen  Ueberzeugung  führt;  die  der 
Redner  ihm  beizubringen  und  einzuprägen  sucht;  durch  und 
durch  von  echtem  panhellenischen  Patriotismus  durchweht  und 
von  der  Würde  jenes  freien  Griechenlands;  das  jetzt  von  einem 
Monarchen  von  Aussen  bedroht  wird;  erfüllt  ist^  Es  ist  nur 
eine  Wiederholung  und  Steigerung  dieses  bewundernden  ür- 
theilS;  welches  nicht  minder  dem  oratorischen  Effect;  als  der 
staatsmännischen  Einsicht  gerecht  zu  werden  sucht;  zu  welchem 
Grote  durch  die  olynthischen  Reden  sich  hingerissen  fühlt 
(vgl.  263;  266;  270). 

Es  kann  der  einsichtigen;  massvollen  Politik;  welche  die 
erste  philippische  Rede  des  Demosthenes  vertritt;  kaum  ein 
grösseres  Lob  gespendet  werden;  als  die  Worte  Schaefers  über 
dieselbe  enthalten  (H  61):  ;Was  Demosthenes  zu  Ende  seiner 
Rede  ausspricht;  dass  er  der  Wahrheit  die  Ehre  gibt;  unbe- 
kümmert darum;  ob  sie  auch  angenehm  zu  hören  ist;  weil  sie 
allein  den  Staat  retten  kann,  das  ist  der  Eindruck,  den  die 
ganze  Rede  in  uns  hinterlässt.    Sie  bekämpft  alles  eitle  Schein- 


46  Hftrtftl. 

wesen^  erspart  den  Athenern  keinen  verdienten  Vorwurf,  aber 
nicht  aus  Tadelsucht,  sondern  um  sie  aufzurichten  und  zum 
besseren  zu  führen.  Dabei  strebt  der  Redner  nicht  einem  Ideale 
nach,  das  nicht  zu  erreichen  steht,  sondern  den  ersten  Schritt 
der  sich  thun  lässt  und  der  vorwärts  bringt,  den  will  er  nur 
erst  gethan  wissen:  er  hält  sich  aufs  strengste  an  das  mit 
den  vorhandenen  Mitteln  ausführbare.  Ebenso  wenig  treibt  er 
blindlings  in  den  Krieg,  sondern  er  will  nur,  dass  der  obwal- 
tende Krieg,  den  er  nicht  angestiftet  hat,  so  geführt  werde, 
dass  man  zu  einem  .ehrenvollen  Frieden  oder  zum  Siege  ge- 
langet Und  über  die  olynthischen  Reden  urtheilt  mit  nicht 
minderer  Anerkennung  derselbe  (II  119):  ,Die  olynthischen 
Reden  sind  ein  so  grossartiges  Denkmal  staatsmännischer  Ein- 
sicht und  edler  Freimüthigkeit,  welche  die  Gunst  der  Menge 
verschmäht  und  den  Machthabern,  welche  ihren  Neigungen 
schmeicheln  und  durch  eigene  Entwürdigung  auf  Kosten  des 
gemeinen  Wesens  ihre  Huldigungen  erkaufen,  die  Hülle  her- 
unterreisst;  sie  sind  dabei  so  wohl  bemessen,  bei  aller  Wärme 
des  Gefühls  und  sittlicher  Entrüstung,  die  aus  freier  Liebe 
zum  Vaterlande  entspringt,  mit  solcher  Kunst  durchgearbeitet, 
dass  es  unmöglich  ist,  in  einer  Skizze  ihre  Bedeutung  nur  von 
ferne  anschaulich  zu  machend 

Ganz  anders  das  Bild,  das  uns  Weidner  von  Demosthenes 
und  seiner  Politik  entwirft.  Man  möchte  kaum  glauben,  dass 
auf  Grund  derselben  Urkunden  eine  solche  Verschiedenheit  des 
Urtheils  möglich  ist.  Mit  ,kluger  Umgehung  des  Solonischen 
Gesetzes  über  die  Reihenfolge  der  Sprecher  in  der  Volksver- 
sammlung,' stürme  der  Redner  mit  seiner  ersten  Philippika 
auf  das  ßijpia  und  verstehe  es,  mit  kecker  Anschuldigung  sein 
, vorschnelles  Auftreten'  zu  motiviren.  Durch  ein  ,leeres  So- 
phisma,  das  der  Wahrheit  entbehre'  (§  2),  suche  er  zu  trösten, 
durch  ,ein  für  diesen  Zweck  wenig  zutreffendes  Beispiel'  zu 
ermuthigen  (§  3),  ,mit  leichtfertiger  Sophistik  glaube  er  den 
Einwurf,  dass  Philipp  schwer  für  Athen  zu  bekriegen  sei, 
beseitigen  zu  können'  (§  4).  Wenn  er  den  Athenern  Erfolge 
verspreche,  wofern  nur  jeder  Bürger  seine  Schuldigkeit  thut, 
und  einen  Umschwung  des  Glückes  in  Aussicht  stelle,  so  seien 
das  ,Phrasen,  idealistische  Redensarten,  geknüpft  an  ein  un- 
sicheres Wenn',  ja,  was  weit  schlimmer,  ,Demosthenes  sei  es 


D«mo8tliraiMh«  Stadien.  47 

mit  seinem  herrlichen  Versprechen  nicht  einmal  Ernst'  (S.  249,«). 
WeDD  er  §  15  als  Ziel  seines  Planes  wörtlich   bezeichne:   ib>^ 

so  jlasse  diese  Alternative  die  Möglichkeit  ganz  ausser  Acht, 
dass  Athen  auch  wider  Willen  zum  Frieden  gezwungen  werden 
könne'.  ,Wenn  Demosthenes  nicht  einen  ausfuhrbaren  Vor- 
schlag bringe^  dessen  Realisirung  die  beklagenswerthe  Lage 
des  Staates  völlig  zu  ändern  im  Stande  sei/  mit  diesen  Trost- 
gründen und  Versprechungen,  mit  dieser  Discussion  von  Möglich- 
keiten sei  nichts  geleistet,  aber  freilich  Demosthenes  sei  ,Oppo- 
sitionsredner,  und  die  Opposition  verliere  sofort  ihre  Schwingen, 
Bo  wie  sie  zur  Prosa  der  praktischen  Wirklichkeit  herabsteiget 
Seine  Vorschläge  seien  ,armselig'  und  unzureichend.  Was  die 
Mobilisirung  von  50  Kriegsschiffen  und  eines  entsprechenden 
Bürgercontingentes  betreffe,  so  ,wage  Demosthenes  den  Antrag 
doch  nicht  zu  stellen'  (§  16);  ,er  begnüge  sich  also  mit  einem 
Söldnerheere,  dem  sich  wenige  Bürger  anschliessen  sollen,  einer 
Macht,  welche  freilich  die  Kriegslage  nicht  ändern,  ja  nicht 
einmal  den  Feind  belästigen  könnte,  weil  ihr  Bestand  voraus- 
sichtlich nicht  von  langer  Dauer  wäre'.  Ja  Demosthenes,  ,der 
heftige  Gegner  der  bisherigen  schlaffen  Kriegsführung,  wage 
nicht  einmal  den  Sold  für  jene  Söldner  zu  fordern,  es  sei  ihm 
genug,  wenn  sie  die  Verpflegungsgelder  erhalten  (§  20,  23), 
weil  eben  der  Staat  und  die  Bürgerschaft  kein  Geld  habe! 
(§  23.)  Er  begehe  zwar  die  Täuschung,  dass  er  wiederholt  von 
der  Leistung  des  Soldes  spreche  (§  24),  aber  später,  wo  er  die 
Geldmittel  bespreche,  müsse  er  bekennen,  dass  es  genug  sei, 
wenn  das  (jiXYjpecriov  bezahlt  werde  (§  29),  und  dass  man  dann 
erwarten  dürfe,  dass  das  Heer  sich  den  Sold  ([xiaObv  vntkir^ 
selbst  verschaffe,  ohne  natürlich  einen  der  Bundesgenossen  zu 
belästigen!  Ja,  in  prahlerischer  Weise  füge  der  Redner  hinzu: 
£r  wolle  selbst  mitfahren  und  mit  seinem  Leben  für  den  Erfolg 
einstehen!  Sähe  das  nicht  ganz  Gambetta  ähnlich?  Und  doch, 
welche  Verblendung!^  u.  s.  w.  ,Demosthenes  hätte  wissen  können, 
dass  die  Söldner  sich  gegen  die  Bundesgenossen  hätten  wenden 
müssen,  wenn  Philipp,  wie  es  zu  erwarten  wäre,  seine  Länder 
mit  Umsicht  und  Energie  vertheidigte^  ,Officiere  unserer  Zeit 
würden  einen  solchen  Vorschlag,  dass  zur  Controle  der  Kriegs- 
leitung Büi^ersleute    mit  ins  Feld   ziehen,   als  eine  Ausgeburt 


48  Hftrtel. 

demokratischer  Raserei  bezeichnend  Am  Schlüsse  der  Rede 
,ergehe  er  sich  wieder  in  den  stolzesten  Versprechungen  genau 
so  prahlerisch,  wie  in  der  Einleitung.^  Endlich  folge  die  ,Unge- 
heuerlichkeit,  dass  Athen  die  meisten  Trieren,  Hopliten,  Reiter 
und  Staatseinkünfte  besitze,  eine  Behauptung,  welche  gegenüber 
dem  armseligen  Vorschlag  des  Demosthenes,  wie  der  Aufputz 
im  Narrenspiele  aussehe,  —  wenn  nur  diese  Art  prahlerischer 
Ueberhebung  nicht  einen  tiefen  Blick  in  die  gewissenlose  Leicht- 
fertigkeit gewisser  athenischer  Demagogen  eröfinete^ 

Ebenso  wenig,  wie  hier,  findet  Weidner  in  den  olynthi- 
schen  Reden,  von  denen  er  die  erste  und  zweite  einer  genaueren 
Prüfung  unterzieht,  ,grosse  politische  Weisheit  oder  auch  nur 
praktische  Rathschläge'  (S.  255),  vielmehr  dieselbe  ,frivole 
Schmeichelei  gegen  die  Volksmasse,'  dieselbe  totale  Verkennung 
der  Lage,  in  welcher  es  ,eine  Thorheit  gewesen  wäre,  um 
Olynths  willen  sich  mit  Philipp  zu  verfeinden,'  sowie  ,ein 
Frevel,  die  Existenz  des  Staates  an  die  Verfolgung  einer  so 
unglücklichen  Politik  zu  setzen'  (S.  258);  das  habe  besser  Iso- 
krates  erkannt,  ,mochte  er  auch  nur  Professor  sein  und  Piaton 
dessen  politische  Weisheit  für  Wahnsinn  erklären  müsse,  wer 
die  Politik  des  Demosthenes  billigen  wolle'  (259).  Was  er  von 
der  besonders  ungünstigen  Lage  Philipps  sage  (I  §  21),  sei 
,willkürliche  Ansicht  des  Redners,  ohne  reelle  Basis^  veranlasst 
durch  die  unglaubliche  Geduld,  welche  Philipp  Olynth  gegen-' 
über  bewahrt  hätte'  (261).  Was  Demosthenes  beantrage,  wenn 
er  überhaupt  einen  eigenen  Antrag  bringe,  sei  ungenügend 
und  unüberlegt.  Neues  enthalte  auch  die  zweite  Rede  nicht, 
,wenn  man  nicht  das  §  3  bis  4  aufgestellte  Programm  dafür 
halten  wolle,  welches  mit  unverblümten  Worten  erkläre,  dass 
es  staatsmännisch  ist,  nicht  etwa  die  Macht  des  Gegners  zu 
erwägen,  sondern  möglichst  viel  Schimpf  und  Schande  auf  das 
Haupt  des  Feindes  zu  geifern'  (263).  ,Da8  moralische  Pathos 
des  §  6,  welches  fast  an  Aeschines  und  Stahl  erinnere,  sei  dem 
Feinde  gegenüber  im  Kriege  ebenso  nutzlos  als  widerlich'. 
,Trotz  der  auffallenden  Schwäche  seiner  Darlegung  versteige 
er  sich  zu  der  kecken  Herausforderung:  ij  rapeXOtäv  Tt?  eixot  See- 
53tTw  xtX.  Mit  sophistischer  Kunst  stelle  der  Redner  die  Fragen 
so,  dass  diese  bejaht  werden  könnten,  ohne  dass  deshalb  seine 
Beweisführung   anerkannt   würde'   (264).    Ebenso  ,leichtfertig', 


Demostheniscbo  Studien.  49 

wie  die  Rechnung,  dass  das  ganze  Gebäude  von  Philipps  Macht 
selbst  in  Makedonien  sich  morsch  und  faul  erweisen  werde, 
wenn  Athen  sich  zur  Thatkraft  aufraffe,  ,ebenso  einseitig  und 
abgeschmackt  erscheine  die  Charakteristik  des  makedonischen 
Hofes'  (§  18).  Das  geringschätzige  Urtheil  über  Makedoniens 
Militärmacht  (§  14)  sei  ,mehr  leichtfertig  als  lächerlich'  (265). 
,Auf  die  unvernünftigen  Schmähungen  (§  18  ff.)  des  Nähern 
einzugehen,  glaube  er  dem  Leser  ersparen  zu  dürfen.  Solche 
gewissenlose  Vorwürfe  erblassten  vor  den  grossen  Thaten  des 
Mannes;  Demosthenes  selbst  verwickle  sich  in  die  ärgsten 
Widersprüche,  wenn  er  sonst  die  unglaubliche  Thatkraft  des 
Mannes  seinen  Mitbürgern  zum  Beispiel  und  zur  Nachahmung 
vorführe'  (266).  Demnach  ,könne  er  auch  in  dieser  Rede  staats- 
männische oder  militärische  Gedanken,  welche  dem  Kriege  eine 
Wendung  hätten  geben  können,  nicht  vorfinden.  Denn  die 
wiederholte  Forderung,  Geld  zu  zahlen  und  in  den  Krieg  zu 
ziehen,  würden  auch  andere  Redner  vor  und  nach  Demosthenes 
variirt  haben;  solche  allgemeine  Leitartikel  genügten  nicht 
zur  Regierung  eines  Staates.  Umgekehrt  entdecke  er  sehr  viele 
Irrthümer,  bewusste  oder  unbewusste  sei  gleichgültig,  welche 
die  Athener  nicht  zur  Einsicht  und  Mässigung  führen,  wohl 
aber  in  verhängniss volle  Leidenschaft  verstricken  mussten'  (267). 
In  gi*elleren  Farben  kann  man  diesen  Gerngross  eines 
Duodezstaates  mit  seiner  Kirchthurmpolitik,  diesen  verbissenen, 
beschränkten,  aufgeblasenen  Sophisten  nicht  malen,  stärker 
nicht  verdammen,  unbarmherziger  nicht  den  Irrthum  des  un- 
kritischen Haufens,  der  bisher  voll  Bewunderung  und  Andacht 
dem  Redner  gelauscht,  vernichten.  Aber  Weidner  glaubt  bei 
seinem  zuversichtlichen  Tadel  festen  Boden  unter  den  Füssen 
zu  haben,  er  weiss  nicht  bloss,  was  Demosthenes  schlecht  ge- 
macht, er  kann  sagen,  wie  er  es  besser  zu  machen  hatte; 
indem  er  das  zeigt,  setzt  er  an  Stelle  des  deplacirten  Demo- 
sthenes ein  neues  Götzenbild,  Philipp  den  Braven,  der  insofern 
einer  gesicherteren  Lage  sich  erfreut,  als  er  klug  genug  war, 
bei  Lebzeiten  über  die  Motive  seiner  Handlungen  zu  schweigen 
und  vorsichtig  genug,  um  das  Gegentheil  von  dem  zu  sagen, 
was  er  dachte.  ,£in  Staatsmann'  so  lehrt  Weidner  ,welcher 
wie  Demosthenes  vor  eine  so  traurige  Wirklichkeit  gestellt 
ist,  dass  er  zur  Bekämpfung  des  Feindes  grössere  und  bessere 

Sitaugs^M.  d.  p)iU..hUt.  Gl.  LXXXVIL  Hd.  I.  Hft.  4 


50  Hartel. 

Mittel  nicht  mehr  vorschlagen  kann,  wird,  wenn  es  ihm  erastlich 
um  das  Wohl  seines  Vaterlandes  zu  thun  ist,  nicht  von  Krieg 
und  Rache  poltern ,  sondern  seinen  Mitbürgern  den  ernsten 
Kath  ertheilen,  augenblicklich  einen  mögliclist  günstigen  Frieden 
zu  schliessen.  Solche  Staatsmänner  hat  es  zu  Athen  auch  ge- 
geben; Demosthenes  nennt  sie  nach  dem  Sprachgebrauch  tyranni- 
scher Demagogen  Verräther'  (S.  252).  ,Das  geschwächte  Athen 
durfte  nur,  um  sicher  zu  Bein,  nicht  die  unhaltbare  Stellung 
einer  entscheidenden  Grossmacht  beanspruchen'  (S.262).  Und  dies 
war  um  so  gebotener  einem  Herrscher  wie  Philipp  gegenüber, 
^dessen  bisherige  Bemühungen  nur  das  Bestreben  zeigten,  für 
sein  Vaterland  natürlichere  Grenzen  und  Lebensbedingungen  zu 
gewinnen,  dem  ein  weiteres  Uebergreifen  über  die  Machtsphäre 
Makedoniens  hinaus,  d.  h.  Eroberungssucht  fernlag'  (S.  259). 
Nicht  Philipp  war  der  Friedensstörer,  sondern  die  Veranlassung 
zum  Krieg  ist  in  den  Umtrieben  der  Volkspartei  in  Olynth  zu 
suchen,  die  von  Athen  aus  gehetzt  und  geschürt  wurde  (S.  256). 
Dass  durch  diese  neue  Auffassung  Philipps  als  eines 
Eroberers  wider  Willen  seine  historische  Bedeutung  und  Grösse 
verwischt  und  herabgedrückt  wird,  liegt  auf  der  Hand.  Aber 
man  wünschte  sie  nicht  ohne  Beweis  hingestellt  zu  sehen,  ja 
sie  müsste  unwiderleglich  dastehen,  um  von  ihr  aus  das  ganze 
Streben  Demosthenes'  in  den  ersten  Jahren  seines  öffentlichen 
Wirkens  als  eine  Thorheit  stigmatisiren  zu  können.  Dass  aber 
Philipp  zuerst  Olynth  Wohlthaten  erwies,  um  es  mit  Athen  zu 
verhetzen  und  sein  Misstrauen  einzuschläfern,  dann  aber,  als 
er  sich  stark  genug  fühlte,  es  zu  vernichten,  von  Friede  und 
Freundschaft  den  Mund  voll  nahm,  ist  kein  Beweis  dafür, 
sondern  ein  Zeichen  seiner  diplomatischen  Kunst,  die  wohl 
auch  um  Mittel  nicht  verlegen  war,  den  Angegriffenen  die 
KoIIe  des  Friedensstörers  spielen  zu  lassen.  Vielleicht  dass  er 
damit,  so  wie  mit  dem  bescheidenen  Verlangen  nach  den  natür- 
lichen Grenzen  den  einen  oder  andern  Athener  eine  Weile 
getäuscht  und  dadurch  der  Friedenspartei,  welcher  bei  den 
damaligen  Verhältnissen  des  Staates  die  Majorität  leicht  folgte, 
einen  Halt  gegeben.  *   Als  aber  der  Fall  Olynths  und  so  vieler 

*  Dass  im  Gegfensatz  zu  diesen  Andere  in  ihrer  Furcht  vor  Philipp  yiel 
weiter  gingen  als  Demosthenes  für  richtig  hielt,  können  Stellen  wie 
1  Phil.  §  48  ff.  zeigen. 


DemoBthenische  Stadien.  51 

hellenischer  Städte  den  Schleier  seiner  Politik  lüftete,  sein 
zielbewusstes,  unentwegbares  Streben  zeigte  und  seine  Pläne 
in  ihrer  ganzen  Furchtbarkeit  erscheinen  Hess,  da  fiel  es  Eu- 
bulos  und  seinen  Genossen,  den  Vertretern  des  Friedens  um 
jeden  Preis,  wie  Schuppen  von  den  Augen;  da  schrieen  sie 
nach  den  Waffen,  sandten  nach  allen  Richtungen  Kriegsboten 
aus  und  riefen  Hellas  zum  Kampfe  gegen  Philipp,  *  indem  sie 
dadurch  Demosthenes'  Politik,  welche  sie,  wenn  nicht  bekämpft, 
so  doch  nicht  unterstützt  hatten,  da  es  noch  Zeit  war,  als  die 
richtige  anerkannten.  So  wenig,  wie  die  Furchtbarkeit  der 
Pläne  des  makedonischen  Eroberers,  war  Demosthenes  die  Stärke 
seiner  militärischen  Macht,  sein  Feldherrntalent,  die  schlag- 
fertige Oi^anisation  seines  Reiches,  die  Unzugänglichkeit  und 
Unangreifbarkeit  seiner  Grenzen  unbekannt;  wenn  er  gleich- 
wohl den  Kampf  mit  ihm  aufnahm,  so  geschah  dies  im  Glauben 
an  die  nationale  Mission  Athens,  im  Vertrauen  zu  der  Uner- 
schöpflichkeit der  Hilfsquellen  des  Staate^,  die  er  zu  mehren 
bestrebt  war ;  es  erfüllte  ihn  wohl  auch  die  trügerische  Hoffnung, 
dass  Makedoniens  Macht,  wie  sie  plötzlich  aus  dem  Boden 
emporgeschossen,  so  leicht  und  schnell  zerfallen  könnte.  Es 
mögen  dies  Fehler  sein,  deren  Erkenntniss  aber  noch  nicht 
jene  Politik  an  die  Hand  geben  musste,  welche  als  die  Athen 
allein  angemessene  uns  gerühmt  wird,  Philipp  nach  Belieben 
in  Griechenland  schalten  zu  lassen ;  denn  es  handelte  sich  nicht 
nur  um  Athens  politische,  sondern  eben  so  sehr  um  seine 
materielle  Existenz,  die  von  dem  Augenblick  ab,  als  Philipp 
den  Cherronesos  und  die  wichtigste  Handelsstrasse  nach  dem 
schwarzen  Meere  beherrschte,  in  seinen  Händen  lag.  Und, 
wie  Weidner  wenn  auch  nicht  neu  so  doch  wahr  bemerkt, 
jVerloren  ist  der  Staat,  dessen  Sicherheit  und  Freiheit  auf 
fremdem  Willen  und  fremder  Macht  beruht^  (S.  258). 

Was  Demosthenes  der  von  Makedonien  drohenden  Gefahr, 
die  er  am  frühesten  und  vollsten  erkannt  hatte,  zu  begegnen 
vorschlägt,  verdient  dadurch,  dass  es  über  die  verfügbaren 
Mittel  des  Staates  nicht  hinausgreift,  die  grösste  Anerkennung. 
Allerdings  tritt  er,    wie  es  uns  scheinen  will,   in  seiner  ersten 

»  Vgl.  Dem.  RwdQe».   10  8.    344,   3.   302   ff.   S.    438,   4.  .311   S.   441,   6. 
Aescb.  2,  §  164;  Schaefer  II  156  ff. 

4* 


52  Hartel. 

philippischen  Rede  etwas  vorschnell  mit  »einer  Meinung  hervor,  * 
aber  doch  nur,  weil  er  von  der  Vortrefflichkeit  seines  Planes 
durchdrungen  ist.  Ebenso  war  er  der  erste  auf  der  Redner- 
bühne, als  er  seinen  Symmorienentwurf  vorzulegen  hatte  (vgl. 
Dem.  15,  5  S.  192,  2:  •fydv,'  eßojXeuecOs  dzkp  Toiv  ßaciAixwv,  7:apeX0ü>v 
izpCixo^  £-]fa)  zapVjveca).  In  den  olynthischen  Reden  sehen  wir  ihn 
sich  bescheiden  unterordnen,  indem  er  nicht  seine  Anträge, 
sondern  was  andere  vorgeschlagen  mit  gleicher  Wärme  ver- 
theidigt  und  nur  den  einen  und  andern  Gedanken  fiir  die  Art 
der  Ausführung  einer  weitern  Berathung  anheimstellt.  Und  in 
diesem  Sinne  müssen  auch  die  demosthenischen  Anträge  der 
ersten  philippischen  Rede,  die  wegen  ihrer  Originalität  für  das 
Verständniss  seiner  Politik  von  ganz  besonderer  Wichtigkeit 
sind,  beurtheilt  werden;  sie  treten  uns  als  ein  umfassendes 
Programm,  welches  nach  dieser  Einführung  in  der  Volksver- 
sammlung der  reifen  Erwägung  des  Rathes  unterbreitet  und  in 
seinem  Detail  noch  ausgearbeitet  sein  wollte,  ja  von  welchem 
Theile  vielleicht  ohne  Gesetzesänderung  nicht  einmal  durchfuhrbar 
waren,  entgegen.  Wer  freilich  dieselben  und  die  Dinge,  wozu 
sonst  Demosthenes  in  seiner  Rede  auffordert,  so  ansieht,  als 
ob  sie  mit  ihrer  Mittheilung  und  der  sie  begleitenden  Empfeh- 
lung genügend  vorbereitet  wären,  um  sofort  vom  Volke  durch 
Abstimmung  angenommen  zu  werden,  dem  muss  vieles  daran 
mangelhaft,  unverständlich,  verkehrt  erscheinen;  der  muss  im 
Unterschiede  von  ihnen  in  den  perikleischen  Reden  bei  Thu- 
kydides  ,überall  bewusste  Planmässigkeit,  nirgends  allgemeine 
Forderungen  ohne  bestimmte  Ziele'  finden  (Weidner  S.  26O.27V 
Eine  solche  Auffassung  erzeugt  Schwierigkeiten  ohne  Zahl. 
So  findet  denn  Weidner  die  Aeusserung  Demosthenes'  in  der 
ersten  olynthischen  Rede  (§  20):  , Andere  schlagen  andere 
Massregeln  vor,  um  das  nöthige  Geld  zu  finden,  nun  wählt, 
was  euch  zuträglich  und  zweckmässig  erscheint,'  höchst  auf- 
fallend und  bemerkt  dazu,  ,dass  er  in  Perikles*  Reden  ein 
solches    Schwanken   nirgends   gefunden;    eine   moderne  Volks- 

^  Dass  er  sich  dabei  klug  über  das  solonische  Gesetz  von  der  Reihenfolge 
der  Redner  (Äeschines  I  §  25)  hinweggesetzt,  ist  ein  unhaltbarer  Vor- 
wurf; denn  dieses  Gesetz  war  längst  ausser  Gebrauch  gekommen,  wie 
Äeschines  III  §  2  u.  §  3  ausdrücklich  sagt  und  auch  aus  Demosthenes' 
RvKr.  §  170  ff.  zu  entnehmen  sein  dürfte. 


Demosthenische  Studien.  53 

Vertretung  würde  aus  solchen  Worten  schliessen^  dass  es  dem 
Antragsteller  mit  seinem  Antrage  nicht  Ernst  sei^  (S.  26I29). 
Möchte  man  sich  doch  bei  Demosthenes  nicht  abhalten  lassen 
dasselbe  zu  thun  und  erkennen  ^  dass  es  verschiedene  Aus- 
drucksformen  für  einen  Gedanken  gibt  und  der  Redner 
seine  Meinung  ,mir  ist  es  gleichgiltig,  woher  ihr  das  Geld 
nehmet,  wenn  es  nur  beschafft  wird/  auch  in  die  Form  der 
Auffordemng  kleiden  konnte,  ohne  das  Präsidium  in  Versuchung 
zu  fuhren,  diese  Imperative  als  Anträge  zur  Abstimmung  zu 
bringen.  Aber  freilich  Weidner  hat  über  die  parlamentari- 
schen Usancen  seine  eigene  Meinung;  er  glaubt,  dass  es 
jeden  Augenblick  jedem  Redner  möglich  war,  durch  besondere 
Anträge  und  Beschlüsse  die  herrschende  Richtung  zu  durch- 
kreuzen' (S.  260)  und  dass  deshalb  von  einer  consequenten 
Leitung  der  athenischen  Politik,  also  auch  von  der  Verantwort- 
lichkeit einer  Regierungspartei  nicht  die  Rede  sein  könne. 

Nur  unter  solchen  Voraussetzungen  hat  die  scharfe  Kritik 
Weidners  gegen  die  Anträge  der  ersten  olynthischen  Rede 
auf  Absendung  eines  zweifachen  Hilfsheeres,  zur  Vortheidigung 
der  chalkidischen  Städte  und  zum  Angriffe  auf  die  eigenen 
Besitzungen  Philipps  (§  16)  Berechtigung,  ja  ihre  vollste  Be- 
rechtigung; er  findet  dabei  eine  Menge  Umstände  nicht  erwogen, 
sowie  Mängel,  die  eine  sofortige  Annahme  derselben  ganz 
undenkbar  erscheinen  lassen:  ,Wie  gross  sollten  die  beiden 
Hilfsarmeen  sein?  Wie  sollte  die  Aushebung  vor  sich  gehen? 
Wie  lange  sollten  die  Armeen  das  Feld  behaupten  und  woher 
sollte  Unterhalt  und  Sold  genommen  werden?  Wo  sollte  die 
Angriffsarmee  landen?  Auf  alle  diese  nothwendigen  Fragen 
erhalten  wir  keine  Antwort.  Und  doch  kommt  es  in  solchen 
Fragen  nicht  auf  Wunsch  oder  Willen,  sondern  auf  Ausführ- 
barkeit, Planmässigkeit  und  Ausdauer  an^  Das  sind  Fragen, 
auf  w^elchc  eine  Antwort  gegeben  sein  musste,  bevor  zur  Ab- 
stimmung geschritten  werden  konnte.  Wenn  diese  Antwort  ver- 
gebens in  der  Rede  gesucht  wird,  nun  dann  wird  eben  in  jener 
Versammlung  die  Abstimmung  über  diese  Punkte  auch  nicht 
erfolgt  sein.  ^    Es  müsste  *gegen    eine  Annahme  der  Art,   dass 

*  Diese  Erwägxmgeii  waren  es,  welche  mich  bestimmten,  in  diesen  Vor- 
schlägen nicht  Amendements  zu  dem  ::poßouX£U[ia  des  Rathes  zu  erblicken, 
über  welche   sofort  abzustimmen  war.    Ich   benutze  die  Geleg-enheit,   um 


54  Hartol. 

darüber  und  über  ähnliche  der  Berathung  des  Volkes  unter- 
breitete Vorschläge  zuerst  der  Kath  commissioniren  musste, 
ebenso  viel  sprechen^  als  in  Wahrheit  für  sie  spricht^  ehe  man 
aus  den  von  Weidner  richtig  erkannten  Eigenheiten  demosthe- 
nischer  Anträge  einen  so  schweren  Tadel  gegen  den  Antrag- 
steller zu  ziehen  befugt  wäre,  üebrigens  würde  derselbe  nicht 
die  Anträge  selbst,  ihre  Nützlichkeit  und  Angemessenheit, 
sondern  nur  die  Art  der  Einführung  und  Begründung  treffen 
können,  welche  fiir  die  athenischen  Hörer,  die  eine  Menge 
Wissen  über  die  Verhältnisse  des  Augenblicks  in  die  Ver- 
sammlung mitbrachten,  auch  in  jener  Art  vollauf  genügen 
mochte,  welche  wir  durchaus  ungenügend  finden.  Diess  Wissen 
hatte  der  Historiker  Thukydides  durch  seine  Reden  selbst 
zumeist  seinen  Lesern  zu  vermitteln.  Darf  darum  der  Unter- 
schied der  Reden  beider  den  demosthenischen  nachtheilig  aus- 
gelegt werden? 

Die  Angemessenheit  der  demosthenischen  Anträge,  welche 
die  erste  philippische  Rede  enthält,  in  wiefern  dieselbe  aus 
den  damaligen  Verhältnissen  und  ihrer  wahrscheinlichen  Ver- 
anlassung erkennbar,  habe  ich  zum  Theil  bereits  in  meiner 
Abhandlung  ,Demosthenische  Anträge'  darzulegen  gesucht.  Ich 
will  hier,  um  nicht  zu  wiederholen,  nur  kurz  die  irrigen 
Voraussetzungen  bezeichnen,  von  denen  die  ,kritisch-pol]tische 
Untersuchung'  Weidners  ausgeht;  allein  über  sie  alle  zu 
sprechen,  auch  das  würde  zu  weit  führen,  indem  in  seinem 
Resume  kaum  ein  Gedanke  des  Redners  unentstellt  und 
unverdreht  geblieben  ist.  Ich  beschränke  mich  auf  die  wesent- 


die  in  meiner  Abhandlung  ,DeniostheniBche  Anträge*  S.  521  über  Zusatz- 
antrlige  im  Allgemeinen  mit  zu  grosser  Zuversicht  vorgetragene  Ansicht 
auf  ihr  richtiges  Mass  zurückzuführen.  Ich  hielt  dort  im  Anschluss  an 
U.  Köhler  gegen  Sauppe  die  Ergänzung  der  Inschrift  CJA  II  1  nr.  55  Z.  6 
2aTupo5  für  sicher.  Diese  Sicherlieit  wird  einigermassen  erschüttert  durch 
die  jüngst  entdeckte,  von  U.  Köhler  in  den  Mittheilungen  des  deutschon 
archaeologischen  Instituts  in  Athen  I  1 84  ff.  behandelte  Unterwerfungsacte 
der  Chalkidier  auf  Euboea  vom  Jahre  44G/Ö,  wo  die  Amendements-Formel 
vollständiger  als  in  einer  anderen  von  den  mir  bekannten  Urkunden 
erhalten  ist.  Nachdem  dort  Z.  40  ff.  'Avtixat-;  eThsv  ayaO^  Tuyi]  t^  'AOt,- 
vaCtüv  KotetaOai  tov  opxov  xiX.  der  Hauptantrag  mitgetheUt  ist,  folgt  Z.  70  ff. 
der  Zusatzantrag:  'Apy^axpaTo[;]  eT-e-  t«  \t.h  aXXa  xxdaaztp  fAJvTixX^«,  -a? 
[o]£  sjOtiva«  XaAxiÖEuai  xaia  ajfüv  aOiüiv  sTvai  xtX. 


Domosthenischo  Studien.  OÖ 

liebsten  Punkte^  deren  genug  sind.  Denn  nicht  nur  das  Ziel^ 
welches  sich  Demosthenes  in  dieser  Rede  als  nächstes  ge- 
steekty  ist  falsch  aufgefasst,  sondern  auch  seine  Massregeln  in 
ihrer  Bedeutung  und  ihrem  Zusammenhang  verkannt.  Es  ist 
eine  Täuschung  anzunehmen^  wie  Weidner  thut,  Demosthenes 
lege  die  Auffassung  nahe,  seine  Vorschläge  seien  das  Radical- 
mittel;  welches  die  beklagenswerthe  Lage  des  Staates  sofort 
und  völlig  zu  ändern  im  Stande  sei  (Weidner  S.  248),  durch 
welches  mit  Sicherheit  alles  Verlorne  werde  wiedergewonnen 
werden.  Im  Gegentheil,  darnach  scheint  ihm  die  gegenwärtige 
Lage  nicht  angethan:  an  eine  Aufnahme  der  Offensive  gegen 
Philipp  ist  jetzt  nicht  zu  denken  (§  23:  ov>x  evi  vuv  i^jjliv  icopi- 
wjOai  BuvafjLiv  tt;v  ixsfvw  irapaxa^ofjievTQv).  Als  der  Krieg  ausbrach, 
konnte  man  so  hochfliegende  Plane  hegen,  Philipp  zu  strafen, 
jetzt  müsse  man  zusehen,  nicht  selber  Schaden  zu  nehmen 
(§  43:  ^xj^Li^tji  ,  .  V.  iJLY;Ssi;  u[ji.wv  .  .  .  opYt^sTai  öpwv  tyjv  jasv  apxV 
TcO  ^loXspLOu  7£Y£*^ji.£VY;v  -juepl  toü  Ttfxwpi^jaaOai  ^'tXtwiccv,  tt;v  8^  TsXeutTjv 
cjsav  rfir^  uxsp  toO  jjlt;  TiaOfiTv  xay.o);  u-icb  tcu  4>im'w:oj).  Der  räth 
jetzt  das  Richtige,  welcher  zeigt,  welche  Macht,  in  welcher 
Stärke  und  mit  welchen  Mitteln  erhalten,  im  Stande  sein 
wird  auszudauern,  bis  man  entweder  den  Krieg  durch  Unter- 
handlung abschliesst  oder  den  Feind  besiegt;  denn  nur  im 
Besitze  einer  solchen  Macht  dürfte  man  fürderhin  keinem  Nach- 
theil mehr  ausgesetzt  sein  (§  15:  it^  xopiJÖsija  TrapaoxeuY)  xal 
-foTj  xal  TTCÖev  Siafjistva'.  SjvijasTai,  ?io;  äv  i)  ciaXuffwixeOa  xetoOevTS? 
ibv  TioXspiov  tJ  xepiYSvwjji.sOa  twv  e/Öpwv '  cutü)  ^ap  ouy.eTt  tou  Xoitco'j 
»2T/o'.(jL£v  (Sv  xay.ü>q).  Noch  näher  bezeichnet  der  Redner  als 
unmittelbare  Folge  seiner  Vorkehrungen  den  Schutz  vor  wei- 
teren Unbilden  (§  34:  toD  icdcxstv  auiol  xaxö^;  e^w  ^evT^asoOe), 
dass  Philipp  nicht  mehr  wie  bis  jetzt  athenische  Bürger  von 
den  Inseln  in  die  Gefangenschaft  führen,  Getreidekähne  mit 
unermesslicher  Habe  aufgreifen,  noch  das  heilige  Schiff  bei 
Marathon  kapern  werde,  sowie  dass  er  in  Zukunft  die  Mittel 
zur  Kriegführung  nicht  mehr  durch  Plünderung  athenischer 
Bundesgenossen  sich  werde  schaffen  können  (§  34:  xae  ht.  7cpb<; 
TO/rcd  icpÖTOV  |JL£V  xbv  {Ae^i^ov  TÖv  £xs(vou  '^cdpwv  ayaipiJceaOe.  ^ori  B'  outo? 
•{;;  oTcb  TÖv  ufxsxepwv  u[jLtv  zoXefxsT  au[jL|JLax(i)v,  ay^*'  **•  ?^pwv  tou^ 
Tikio^notq  triv  OiAaiTav).  Kann  der  defensive  Zweck  der  aufzustellen- 
den Heeresmacht  klarer  und  nachdrücklicher  bezeichnet  werden? 


56  Hartel. 

Um  diese  kräftige  Defensive  einzuleiten,  entwickelt  De- 
inosthenes  ein  Programm  von  Massregeln,  welche  nicht  minder 
durch  ihre  Neuheit,  wie  durch  eine  bei  dem  jugendlichen  Redner 
geradezu  überraschende  Tiefe  der  Ueberlegung  sich  auszeichnen. 
Man  muss  es  ihm  dabei  zu  Gute  halten,  wenn  er  an  die 
gewissenhafte  Durchführung  derselben  Hoffnungen  knüpft,  die 
über  das  zunächst  durch  sie  zu  erreichende  Ziel  weit  hinaus- 
liegen und  muss  in  seinem  Selbstgefühle,  das  auf  der  festen 
Ueberzeugung  ein  Heilmittel  für  den  siechen  Staat  gefunden 
zu  haben  beruht,  nicht  unehrliche  Prahlerei  und  ungerechtfer- 
tigte Ueberhebung  finden.  Worin  Athens  Sch.wäche  und  Philipps 
Stärke  liege,  das  meinte  er  richtig  erkannt  zu  haben.  Nicht 
darin  lag  sie,  dass  Athen  als  Seemacht  gegen  eine  starke  Land- 
macht fem  von  seinen  Hilfsmitteln  den  Kampf  zu  fuhren  hatte, 
konnte  es  ja  nicht  einmal  als  Seemacht  sich  und  seine  Bundes- 
genossen vor  den  Angriffen  dieser  Landmacht  völlig  schützen,  son- 
dern ihm  fehlte  ein  stehendes  Heer,  das  nicht  bloss  während 
der  guten  Jahreszeit,  sondern  auch  während  der  schlechten  Fahr- 
zeit und  im  Winter  am  Platze  sei.  Aus  diesem  Mangel  erklärt 
er  die  ganze  Misere  der  bisherigen  Kriegführung,  die  drastischer 
nicht  geschildert  werden  kann.  Mit  der  Schöpfung  eines  solchen 
schien  allem  Elende  mit  einem  Schlage  ein  Ende  gemacht. 
Darin  ist  der  Kern  seiner  Anträge  zu  suchen  (§  19:  'scpb  Zk 
TOüTwv  8üva[jL(v  Ttva,  &  a.  'A.,  9y;[jl'  zpoxetpiaacOat  8eTv  i^ixa;,  i^  cuvexöq 
7:oXe(Ai^(7ei  %ol\  xatccot;  exeTvov  ::otT^|(jei  und  §  31:  toi?  luveiifjLafft  xal 
'zoiiq  wpat^  toO  ho'jq  la  7:oXXa  i:poXa(JLßay(i)v  JiaxpoTTSTai  <I>(Xt7c::o?  xäI 
^uXd$a(;  tou?  irTiGict^  ij  tov  /et{jt.(ova  ^n^eipsT,  tI;v(x'  äv  ii\kv.q  jaij  Suvat- 
(AeOa  IxsTae  a^aecOai.  BeT  to(vuv  Taut"  evOu{Aou[jLevou^  {av]  ßdTjOstociq 
xoXejxeTv  (jj(r:sp\o\j[LVf  vip  axavTwv),  aXXa  xapaaxsüt]  auve/ei  xat 
Suvifxsi  xtX.).  Um  zu  diesem  Ziele  zu  gelangen,  geht  er  be- 
hutsam vor  und  verlangt  nicht  auf  einmal  Alles.  Besser,  man 
thue  etwas  Bescheidenes  ganz  und  wenn  das  nicht  auszureichen 
scheint,  lege  man  etwas  zu,  als  dass  man  grossartige  Pläne 
entwirft  und  dann  unausgeführt  lässt  (§  20:  la  (jLtxp3e  ^n^^avTe^ 
xal  woptWi»Ts<;  toOtoi?  7:poT:{ÖSTS,  äv  iXicata  ^afvTQTat).  Er  begnügt 
sich  demnach  mit  der  Aufstellung  eines  kleinen  Corps,  lässt 
davon  noch  die  grössere  Hälfte  Söldner  sein  und  nimmt  für 
die  Erhaltung  desselben  zunächst  die  bescheidensten  Mittel  in 
Anspruch   (§  23:   XtjtJTeiejv    dvavxiQ  xal  toutw  tw  TpÖTcco  tou  -KoXejjiou 


Democtheniscbe  Stadien.  57 

Xp^s6ai  TY]v  7:pü)TY}v),  indem  er  wohl  hoffen  mochte,  dass  aus 
einem  solchen  Anfange,  wenn  man  sich  vom  Nutzen  der  Sache 
überzeugt,  eine  grössere  und  solidere  Organisation  heraus- 
wachsen werde. 

Dieses  stehende  Heer  combinirt  Demosthenes  mit  der  bis- 
her üblichen  Mobilisirung  fiir  einzelne  und  bestimmte  Aufgaben 
in  der  Art,  dass,  während  jenes  in  der  Nähe  des  Feindes 
operirt,  um  ihn  unablässig  zu  bewachen  und  zu  belästigen, 
eine  andere,  grössere  Macht  für  den  eintretenden  Bedarf  mit 
Allem,  was  für  ihren  Ausmarsch  erforderlich  ist,  zu  Hause  bereit 
gehalten  werden  soll.  £s  ist  reine  Willkür  anzunehmen,  dass 
Demosthenes  den  Antrag,  fünfzig  Trieren  und  ein  entsprechen- 
des Bürgercontingent  in  Bereitschaft  zu  halten,  doch  nicht  zu 
stellen  gewagt  habe  (Weidner  S.  251).  Er  ist  ein  Theil  seines 
Gesammtprogramms  und  mit  diesem  beantragt,  d.  h.  der  weitern 
Berathung  und  endlichen  Beschliessung  anheimgegeben.  Den 
Antrag  auf  sofortige  Mobilisirung,  welchen  Weidner  zu  erwarten 
scheint,  musste  er  nur  dann  ausdrücklich  stellen,  wenn  es  sich 
um  eine  aggressive  Operation  gegen  Philipp,  um  Zurückweisung 
eines  Angriffes  desselben  handelte,  was  nicht  der  Fall  war; 
denn  auch  dieses  Bürgerheer  hat  die  rein  defensive  Aufgabe, 
gegen  Philipp  auszurücken,  wenn  dieser  einen  Punkt,  wo  Athens 
Interesse  im  Spiele  ist,  bedroht  (§  17:  lauta  |jl€v  oTfxai  Selv  Oicdpxeiv 
£rt  T«^  e^awvT)^  TauTo?  anm  rfiq  cixeta?  X^P^^  aurou  axpaxeictq  slq 
üdXaq  %a\  XeppivTQCjov  xat  "OXuvOov  %a\  ozot  ßo6XeTai).  Auch  liegt  in 
den  Worten  §  18:  oötoc  TcavTeXö?  ou8'  e?  jxt^^  xottjcait'  äv  touto,  w? 
s^w^e  fr,|Ai  8elv,  euxaTafpovYjTov  ecrctv  nicht  ausgesprochen,  dass  es 
dem  Redner  gleichgiltig  sei,  ob  sie  diese  Massregel  ausführen 
oder  nicht,  sondern  er  behauptet  nur,  dass  dieselbe  auch  in 
dem  Falle,  dass  sie  nicht  so  durchgeführt  würde,  wie  er  sie 
durchgeführt  wissen  will,  wenn  sie  z.  B.  statt  selbst  die  Schiffe 
zu  besteigen  (§  16:  wXeuTc^ov  s'!?'Ta6Ta^  au-oT^  ejjLßdfctv)  Söldner 
werben,  oder  in  geringerer  Zahl  sich  einschiffen  würden,  dennoch 
nicht  unverächtlich  erscheinen  und  Philipp  von  dieser  Bereit- 
schaft in  Eenntniss  gesetzt,  Ruhe  halten  werde. 

Eine  doppelte  Täuschung  findet  Weidner  in  der  vorgeschla- 
genen Ausführung  des  gesammten  Planes,  indem  Demosthenes 
bald  von  Zahlung  des  Soldes  für  die  Truppen  spreche,  an 
der  entscheidenden  Stelle  aber,   wo  er   auseinandersetzt,    was 


58  Hftrtel. 

der  Staat  für  diese  Expedition  an  Kosten  aufzubringen  habe 
(§  28),  nur  das  Verpflegsgeld,  nicht  aber  die  Löhnung,  wie  sie 
neben  jenem  in  gleichem  Betrage  in  der  Regel  bezahlt  wurde, 
in  Rechnung  stellte;  ferner  darin,  dass  die  Ausgaben  nur  für 
ein  Jahr  berechnet  werden.  Auch  davon  steht  das  Gegentheil 
bei  Demosthenes.  Für  die  stehende  Truppe  nimmt  er  von  vorn 
herein  und  consequent  als  etwas  von  der  Staatscassa  zu  lei- 
stendes nur  die  Verpflegsgelder  in  Anspruch  (§  20,  22).  Dass  diese 
auf  eine  Soldzahlung  aus  der  Staatscassa  nicht  rechnen  dürfe, 
wird  §  23  ausdrücklich  gesagt  und  aus  eben  diesem  Gesichts- 
punkt die  geringe  Zahl  der  Truppen  gerechtfertigt,  indem  diese 
sich  den  fehlenden  Lohn  leicht  durch  Freibeuterei  verschaffen 
werden,  was  bei  einem  grösseren  Truppenkörper  nicht  möglich 
sei,  daher  man  einem  solchen  nothwendig  Sold  zahlen  müsste, 
wofür  aber  das  Geld  fehle  (§  23:  tocau-njv  [ih^  w  &.  'A.,  ou 
Taih«,  CTi  oinc  svi  vjv  t^ijlTv  TcopiaaaOat  Suvajji'.v  tTjV  exeivco  7:apaTa$0|jivr|V, 
aXXa  XTjOTSuetv  avi^XY)  xal  touto)  tw  TpoTTW  to5  %oki\f.o\)  yjpria^OLi  t^v 
xpwTTiV  cu  Totvuv  ü7:ipcYy.ov  aW^v,  ou  y^P  seit  [xicOb;,  oucs  zx/reXw; 
TaxsivrjV  etvai  SsT).  Ebenso  ist  es  aber  andererseits  consequente 
Voraussetzung,  dass  das  Heer  nicht  ohne  Sold  dienen  könne 
und  werde  (vgl.  §  24:  ou  fotp  s(jt'  äpy^ev^  [i-tj  SiScvTa  [xioOsv,  §  25 
und  46).  Nur  soll  dieser  Sold  nicht  aus  der  Staatscasse  fliessen, 
daher  von  Demosthenes  keine  Summe  dafür  in  das  Budget 
gestellt  wird,  sondern  die  die  Truppe  begleitenden  Zahlmeister 
werden  ihn  aus  dem  Erlös  der  Beute  flüssig  machen.  Der 
Redner  ist  von  der  Möglichkeit,  dass  dem  Heere  die  Löhnung 
aus  dem  Ertrag  der  Beute,  ohne  dass  dabei  einem  Hellenen 
oder  ,  einem  Bundesgenossen  ein  Schaden  zugefügt  wird,  be- 
schafft werden  könne,  so  überzeugt,  dass  er  mit  seinem  Kopfe 
dafür  einstehen  will  (§  29:  £i  U  ti;  siexat  |JL'.>cpav  d(popp.Y;v  etvat 
airrjpsdiov  toT^  cTpaTS'JOfXEvci;  uzap^ew,  oux  cpöw;  eyvwxsv  eya)  ^ap 
oloa  GOL^dq  Ott,  toOt'  5v  fr/i^Tai,  ^poo^rspiet  Ta  Xon^a  airrb  to  arpi- 
TsufjLa  axb  toj  xoXsfjiO'j,  ouosva  twv  'EXXtjvwv  aBixouv  ouSe  twv  (7U[jLjxa)fwv, 
wen'  e^siv  [awOgv  evTsX^  •  i-^ii  au[jLTrX£wv  eOsXovir;;  zas^eiv  ^Ttouv  Itciiac^, 
eav  [xt;  Taut'  outw;  i)(ri).  ^ 

*  Diese  Art  durch  Freibeuterei  das  Kriegsbudget  zu  entlasten  ist  für  jene 
Zeit  etwas  durchaus  gewölinliches;  das  zeigt  «clion  der  Ton,  in  welchem 
die  Schriftsteller  davon  erzählen.  Nach  dem  Siege  des  Thrasybulos  über 
den  spaiianischen  Harmosten  auf  Lesbos  im  Jahre  390  t«;  (xb  npoor^yoTTro 


DemoBthenische  Studien.  59 

Wer  darf,  von  dem  unaufmerksamen  Leser  abgesehen, 
sich  beklagen;  hierin  von  Demosthenes  getäuscht  zu  sein? 
Aber  freilich  ^so  viel  konnte  und  musste  Demosthenes  wissen, 
dass  es  für  das  Heer  leichter  war,  die  eigenen  Bundesgenossen 
als  Philipps  Staaten  zu  plündern,  und  dass  die  Söldner  sich 
gegen  die  Bundesgenossen  wenden  mussten,  wenn  Philipp, 
wie  es  zu  erwarten  war,  seine  Länder  mit  Umsicht  und  Energie 
vertheidigte'  (Weidner  S.  252).  Wie  gross  die  Seemacht  war, 
über  welche  Philipp  damals  bereits  verfügte,  wissen  wir  nicht, 
aber  dass  sie  kaum  über  ihre  ersten  Anfänge  hinaus  war, 
erhellt  daraus,  dass  Demosthenes  in  zehn  Schnellfahrern  einen 
genügenden  Schutz  gegen  dieselbe  sieht  (§  22:  Sei  ^op,  iy ovxoq 
a£ivo'j  vauTixov,  xal  toxeiwv  Tpti^püiv  Tl;iJitv,  äxw;  a'3<f(xk(d<;  i^  8uva[jLt; 
*AeT]),  sowie  das  maritime  Uebergewicht  Athens  sich  darin  zeigt, 
dass  ohne  eine  besondere  Anstrengung  von  seiner  Seite  Philipps 
Häfen  blokirt  und  der  Handel  Makedoniens  so  gut  wie  ver- 
nichtet war  (vgl.  Olynth.  II  §  16  und  meine  ,Demo3th.  Antr.^ 
Anm.  23).  Wie  aber  der  König  ohne  eine  mächtige  Flotte  mit 
Erfolg  gegen  eine  freibeuternde  Flotille  sich  und  seine  Bundes- 
genossen schützen  konnte,  ist  nicht  abzusehen.  Ferner  heisst 
es  doch  Demosthenes'  Intentionen  absichtlich  verkennen,  wenn 
man  nicht  sehen  will,  dass  die  ganze  Organisation  der  stehenden 


T(üv  }:^£a)v,  ex  Bl  Tcov  ou  npoo/copouacov  XE7)XaT(ov  )(^pi)[iaTa  tot;  arpa- 
itwTai?  6<n:£uaev  lU  trjv  TdSov  aoix^aOai.  oj:ü){  8'  av  xai  inLiX  o); 
£pp(o[i£vf  aTttTOV  To  aTpocTEujjia  ^roniaaiTO,  e$  oXXwv  t£  h^Xeiüv  i^pyu- 
poXoyEi  xat  U  *Aai:£v8ov  a9ix(JjjL£vos  «opixfaaio  £?s  tov  Eupu(jL/SovTa  Tiotajxov. 
^§7)  8'  fyovTO?  «üTou  ypijfjLaTa  7:«pa  TtSv  *Aa7:£v8(ü)v,  a§tXY]vavT(DV  ti  Ix 
Twv  drjfpöjv  Tüiv  arpaTitoTtüV,  opyiaO^VTs;  o\  'Aa;:{v6ioi  .  .  ,  xaraxo;rrou9tv  ,  , 
auTov  (Xenoph.  Hell.  IV  8,  30).  Daraus,  wie  aus  Diodors  Worten  (XIV  99: 
/piSoaia  £i>.r|90io(  auTou  izotpa,  xüjv  'Aotievo^wv  0{j.ü>5  tiv^  Toiv  OTparitoTwv 
söTjwaav  Tijv  y(top%Mi)  sieht  man,  dass  es  sich  um  Kriegscontributionen 
bandelt,  welche,  um  von  weiteren  Plünderungen  verschont  zu  bleiben,  die 
neutralen  oder  feindlichen  Gebiete  entrichteten.  Vgl.  Bnsolt,  der  zweite 
athen.  Bund  8.  &16  (J.  f.  Phil.  Suppl.  N.  F.  VII)  —  Dieselbe  Einnahms- 
quelle  hat  Isocrates  im  Auge  BvUmtausch  112:  Ti^dBfo;  rioTföaiav  eTXcv 
flbio  T(5v  yjsr^jiocTtov  wv  auib;  iii6pi(js,  xat  twv  auVTaffitov  xciSv  oazo  6pix7)(. 
Im  Jahre  365  erhielt  Timotheos  seine  2000  Peltasten  auf  solche  Art  (Ix 
ti](  7:oX£[jL(a(  (jLiaObv  xrj^tixz).  Eine  gute  Berechnung  der  Höhe  dieser 
Einnahmsquelle  auf  Grund  dieser  und  anderer  Stellen  gibt  Bnsolt 
a.  a.  O.  718  ff. 


60  Hartel. 

Truppe   darauf  berechnet   ist,   Ausschreitungen    derselben   un- 
möglich zu  machen. 

Die    zu    schaffende    Armee    soll    eine    Staatsarmee    oder 
wenigstens    eine    Armee    in    eigener    Regie    sein    (§    19:    {jii^ 

SuvcijAsi? ,  aXX'  i^  t^;  ic6X£(i)(;  latat  und  §  27),  von  einem  dem 
Staate  verantwortlichen,  vom  Volke  gewählten  Feldherrn  geführt 
(§  33:  Twv  Ik  xpi§eu>v  xapa  tou  TrpanfJYOJ  tov  X670V  ^ijTOjvrec,  §  27: 
xal  Ol)  Tov  av8pa  [jLc[jLf6|xevo^  Taüta  Xi^w,  aXX'  69'  OjAtSy  eBsi  xsxsipsTOvri- 
jxevov  eTvaj  toutov,  0?  ti<;  dv  ij),  welchem  uneingeschränkt  die  stra- 
tegische Leitung  zukommen  wird  (§33:  ä  (aIv  ouv  xp^aerat  xa; 
z6t8  Tfj  ^uvifjiei,  7:apa  tov  xaipbv  5  toütwv  x6pio?  xaTarra^  Of'  upuSv 
ßouXsüffeTai) ;  dass  auch  die  übrigen  vom  Volke  gewählten  militäri- 
schen Chargen  dabei  sein  sollten,  wird  wenigstens  nahe  gelegt 
(§  27 :  ou  Y^p  ^xptjv  Ta5iap/cü^  7:ap'  ujjtwv  feap^ov  i:ap^  üjxuiv  ap;fovTa; 
oixfitou?  eTvat,  Tv'  Jjv  w?  aXr^Ocoq  t^;  TcdXeox;  1^  Suvajx'.;;).  Es  ist  selbstver- 
ständlich, dass  Demosthenes  den  im  Heere  an  der  Seite  der  Söldner 
dienenden  Bürgern  keinerlei  Ingerenz  auf  die  strategische  Lei- 
tung zugesteht,  wohl  aber  sieht  er  dieselben  an  als  Wächter 
der  Heerfuhrung  (§  25)  &<j7:ep  erixTag  tcüv  crpotnQYOuiJLcVwv,  aber 
doch  nur  in  dem  Sinne,  um  die  bei  Soldtruppen  gewöhnlichen 
Ausschreitungen,  dass  diese  ihre  Waffen  gegen  Freunde  und 
Bundesgenossen  kehren  (§  24:  e^  ou  B*  auta  /.aö'  aOia  xa  ^e^fnux 
u|i.Tv  oTpaTeueTat,  Tobg  ^iXou^  vixa  xai  tou^  au\i,\kx/o^q  und  §45:  01  3s 
au|i.(Aaxoi  TeOvaat  tw  Seei  Tcbg  toicutou^  dn:offToXou<;),  ihre  eigenen  Ziele 
verfolgen .  und  den  Feldherrn  zwingen,  ihnen  zu  folgen  (§  24), 
von  vornherein  unmöglich  zu  machen  und  vor  allem  darüber 
zu  wachen,  dass  die  Beutegelder  ihrer  nunmehrigen  Bestimmung 
der  Soldzahlung  richtig  zugeführt  werden  (§  33:  twv  jx^v  xp>JFetu)v 
auTol  TafA^ai  xat  70pc(7Tat  -^ifKi^v^oi)  und  dass  sie  zurückgekehrt 
nach  der  Heimat  als  Augenzeugen  ein  gerechtes  Urtheil  über 
die  Handlungen  der  Feldherren  ermöglichen  und  der  crassen 
Ungerechtigkeit  und  Verkehrtheit  ein  Ende  machen,  indem 
jetzt  auf  blosse  Gerüchte  hin  dieselben  ungehört  verurtheilt 
wurden  (§  47).  Sieht  das  der  ,Ausgeburt  einer  demokratischen 
Raserei'  ähnlich,  wenn  Demosthenes  auf  Grund  zahlreicher 
übler  Erfahrungen,  welche  Athen  mit  seinen  Söldnern  gemacht, 
auf  diese  Weise  das  Bewusstsein  der  Verantwortlichkeit  in  den 
Führern    schärfte   und   lebendig  erhielt?    Wenn  er  durch  Bei- 


Demotthenisebe  Stadien.  61 

mischuDg  eines  besseren  Elements  athenischer  Bürger,  welche 
für  das  Interesse  ihres  Staates  kämpften,  den  Geist  der  Ti'uppe 
hob  und  kräftigte?  ^Konnte  und  musste  Demosthenes  wissen/ 
dass  dieses  Heer  die  eigenen  Bundesgenossen  plündern  würde, 
nachdem  auf  diese  Art  die  Erhaltung  der  Disciplin  mit  allen 
erdenklichen  Garantien  umgeben  war? 

Weiter  bezeichnet  Weidner  (S.  252)  es  als  ^merkwürdig,  dass 
auch  das  aiTiQpeaiov  nur  für  ein  Jahr  berechnet  wird,  während 
doch  diese  Ausgabe  eine  Reihe  von  Jahren  ertragen  werden 
musste,  wenn  das  Heer  als  auvex^<;  oder  ouveonQxoi;  bestand  und 
Wirkung  haben  sollte'.  Unter  allen  Einwürfen,  die  wider  De- 
mosthenes erhoben  wurden,  scheint  mir  dies  der  merkwürdigste. 
In  nichts  zeigt  sich  nämlich  die  einschneidende  Bedeutung  der 
demosthenischen  Reform  klarer  als  in  der  Art,  wie  er  ihre 
Bedeckung  bespricht.  Wenn  es  sich  nur  um  eine  Expedition 
nach  einem  Punkt  der  makedonischen  Küste  handelte,  um 
einen  kurzen  Jahresfeldzug,  dann  brauchte  Demosthenes,  nach- 
dem er  das  ciTigpeatcv  für  ein  Jahr  berechnet,  kein  Wort  mehr 
zu  verlieren.  Es  galt  dann  nur  die  Bestreitung  einer  ausser- 
ordentlichen einmaligen  Ausgabe,  für  welche  vermuthlich  die 
Geldmittel,  welche  bereits  füi*  die  seit  Monaten  geplante  thra- 
kische  Expedition  in  Aussicht  genommen  waren,  doppelt  und 
dreifach  genügt  hätten.  Oder  es  bedurfte  des  einfachen  An- 
trags auf  Ausschreibung  einer  Vermögenssteuer,  womit  sonst 
vorübergehende  Ausgaben  gedeckt  wurden.  Indem  aber  mit 
der  Aufstellung  eines  stehenden  Heeres  eine  dauernde,  jährlich 
sich  wiederholende  Ausgabe  geschaffen  war,  musste  in  den  regel- 
mässigen Einnahmen  des  Staates  dafiir  nach  einer  Bedeckung 
gesucht  werden,  und  diese  entwickelte  ein  sorgflütig  ausgearbei- 
teter Finanzplan,  welchen  der  Redner  als  Basis  der  weiteren  Be- 
rathung  in  seiner  Rede  mittheilte.  Wie  konnte  aber  Demosthenes 
dabei  anders  vorgehen,  als  dass  er  die  Eriegskosten  für  ein  Jahr 
berechnete?  Leider  ist  uns  dieses  Finanzprogramm  verloren 
gegangen  und  wir  können  demnach  nicht  wissen,  wie  er  den 
Hehrauslagen  durch  Ersparungen  im  Budget  oder  Vermehrung 
der  Einnahmen  gerecht  wurde.  Nur  so  viel  steht  auch  ohne 
Einsieht  in  dieses  Programm  fest,  dass  er  die  Kosten  für  seine 
militärische  Reform  nicht  in  einer  vorübergehenden  Massregel 
gefunden  haben  wird. 


62  Hartel. 

Zur  Durchführung  des  demosthenischen  Programms  ge- 
nügte nicht  die  einfache  Annahme  desselben  durch  die  Volks- 
versammlung, nachdem  es  an  dieselbe  mit  einem  Rathsgutachten 
zurückgelangt  war,  sondern  —  und  daraus  erhellt  wieder 
schlagend,  dass  damit  nichts  weniger  als  eine  transitorische 
Massregel  intendirt  war  —  ohne  Oesetzesänderung  mag  selbst 
Demosthenes  es  nicht  für  durchführbar  gehalten  haben,  wovon 
einige  Andeutungen  in  der  Rede  leicht  überzeugen  können. 
So  scheint  wenigstens  die  Verpflichtung,  dass  athenische  Bürger 
längere  Zeit  Sommer  und  Winter  ausserhalb  des  Landes  dienen 
sollten,  durch  ein  Gesetz  ausgesprochen  werden  zu  sollen  (§  33: 
äv  Taura,  w  ä,  'A.,  TuopCcrjTs  Ta  /pT^ixorca  -irpÖTOv  ä  XeYW,  elxa,  r.a\ 
tSXX«  xapacxeuaaavTe?  toü^  arparwoTa?  Ta<;  -pti^pst^  tou?  te^a?   evxeXij, 

xaaav  Ttjv  SuvaiJLiv  v6|jl<i>  xaTaxXe(ffTr)Te  *  exi  tw  TzoXi[uo  jxsveiv , 

xauaeoO'  aet  «ept  töv  auTcov  ßoüÄ€u6[JL6vot  xal  rXsov  ouSev  xoioOvre?), 
wenngleich  das  ganze  Militärwesen  einer  gesetzlichen  Regelung 
überaus  bedürftig  ist;  denn  während  bei  den  Festen  alles  zur 
rechten  Zeit  und  ordnungsmässig  verläuft,  so  herrscht  in  allen 
kriegerischen  Vornahmen  bare  Unordnung  (§  36:  ott  exsTva  piev 
SicavTa  v6|jL«i>  TETax-cai,  xas  xposiSev  S^aoro?  üjxöv  ex  xoXXoö  t{?  X®P^®? 
9)  Y^jAvadfap^o?  -rij^;  ^uXyjc,  xöxe  xal  xapa  toö  xal  T{va  Xaßdvra  t{  Bei 
xotetv,  oüSev  aveSsTaorov  ouS'  aöptorcv  ev  touroig  T^jxeXTjTai,  ev  8e  xdi? 
xepl  Tou  xoXefJLOu  xal  lij  toutoü  xapaoxeutj  aiaxta  äSiöpöwxa  di6pi5Ta 
äxavTa). 

Die  Regelung  dieser  Verhältnisse  brauchte  Demosthenes 
im  Detail  nicht  jetzt  schon  in  Vorschlag  zu  bringen;  sie  ei^ab 
sich  als  eine  unabweisliche  Consequenz,  sobald  sein  übriges 
Programm  einmal  angenommen  war.  Und  so  erklärt  sich  auch, 
dass  er  noch  andere  Fragen  offen  lässt,  wie  die  Altersclasse 
und  Dienstzeit  des  Aufgebots,  die  Ablösung  desselben  (§  21: 
Xe^w  8t)  tou?  xavra?  arpaTiwTa^  8iaxtX{oü<;,  toütwv  Ss  'Aörjvatou?  ©rijxt 
SeTv  etvat  xevTaxoafoug,  e^  ?;  <£v  inoq  üjjLtv  i^Xixta?  xaXw?  l/eiv  8oxt), 
Xp6vov  taxTOv  GTpaT6üO[JLivou;,  {jLY)  (jLaxpov  TOUTOv,  aXX*  5<J0v  äv  Soxtj 
xaX(5(;  exetv,  ex  BtaSo/ij;  äXXiJXoK;).  Auch  war  es  misslich,  detaillirte 
Anträge  über  alles  und  jedes,  was  mit  den  Hauptpunkten  dieses 


1  Verpflichtung  durch  ein  Gesetz  bedeutet  auch  der  Ausdruck  bei  Andok. 
3,  7:  avTjv^yxÄfjLEV  x.^ia  xaXavta  ilq  t^v  axprfroXiv  x«i  vojjlco  xaTExXsfcTafxsv 


Demosthenische  Studien.  63 

Programms  zusammenhing,  ehe  die  Entscheidung  über  diese 
von  competenter  Seite  vorlag;  zu  stellen.  Demosthenes  ist  sich 
klar  bewusst;  mit  seiner  Programmrede  über  den  Anfang 
nicht  hinausgekommen  zu  sein;  er  weiss^  dass  ihm  eine  Reihe 
langwieriger  Verhandlungen  in  Aussicht  standen,  wenn  es  ihm 
gelang,  das  Volk  zu  bestimmen,  auf  die  Berathung  einzugehen; 
denn  er  fürchtet  nicht  ohne  Grund  den  Vorwurf,  dass  er  den 
auf  der  Tagesordnung  stehenden  Zug  gegen  Philipp  hinaus- 
schieben wolle  (§  14:  [uß^  div  e^  «PX^?  oovtXb  xvn  xaivTjV  xapaoxsjYjv 

,Ti^|jLcpov'  etrovTe;  ixa/ucra  v.q  8sov  Xs^oustv).  Er  verzichtet  um 
den  PreiS;  den  Unternehmungen  gegen  Philipp  eine  solide 
Grundlage  und  dem  Staate,  was  dieser  bisher  nicht  hatte,  eine 
stehende  Truppe  im  Felde  zu  geben,  aus  der  mit  der  Zeit 
eine  kriegstüchtige  Armee  sich  bilden  konnte,  auf  eine  sofortige 
Expedition  nach  dem  thrakischen  Cherrones,  welche  auszurüsten 
man  im  Augenblicke  nicht  abgeneigt  schien. 

Demosthenes  müsste  von  der  Wirksamkeit  und  Bedeutung 
seines  Programms  weniger  überzeugt  sein,  als  er  es  in  der 
That  ist,  wenn  er  nicht  hie  und  da  einen  siegesfrohen,  selbst- 
bewussten  Ton  anschlagen  durfte.  Er  wäre  ein  schlechter 
Vertreter  seiner  Sache,  wenn  er  nicht  wüsste,  dass  er  diese 
siegesfrohe  Hoffnung  dem  Volke  mitzutheilen  habe,  um  es  für 
die  Annahme  so  entscheidender  Reformen  geneigt  zu  machen. 
Und  berechtigte  dieser  Zeitpunkt  nicht  mehr  dazu  als  ein 
anderer?  Die  rasche  Expedition  nach  Pylae  hatte  Philipp 
von  Mittelgriechenland  ferngehalten.  Der  thrakische  Zug  Phi- 
lipps schien,  Dank  der  Erkrankung  desselben ^  ohne  ernste 
Folgen  für  den  athenischen  Besitz  vorüberzugehen.  Man  konnte 
hoffen,  bald  einen  mächtigen  Bundesgenossen  wie  den  chalki- 
dischen  Städtebund  im  Kampfe  gegen  Philipp  an  der  Seite  zu 
haben  und  dadurch  die  grossen  Nachtheile,  welche  eine  See- 
macht im  Kriege  mit  einer  Landmacht  zu  überwinden  hat, 
auszugleichen.  Gleichwohl  regt  Demosthenes  trügerische  Hoff- 
nungen nicht  an.  Von  einem  völligen  Umschwünge  der  innem 
Verhältnisse,  von  der  opferwilligen  Bereitheit  für  die  Interessen 
des  Staates  mit  Out  und  Blut  einzustehen,  wovon  die  gestellten 
Forderungen  nur  den  Anfang  und  einen  Theil  bezeichneten^ 
macht  er   den  Wiedergewinn   des   Verlornen    abhängig   (§.  7: 


64  Hart«!. 

awtb^  JJL6V  ouBiv  IxÄffro^  iron^cetv  eXxil^idv,  ibv  3i  tiX^joiov  icivO'  üi:^p 
ouTou  ?:pol^eiv*  xat  toc  ujjieTep^  auTuv  xojjLteToOe,  (ht  Oeb^  OsXt),  xal  xa 
xaT6ppaOu|jLi2|jL£va  ^iXiv  avaXi^^^co^e  xdbcetvov  TC{Afa)pi^7eo6s).  Nur  unter 
dieser  VorauBsetzung  erscheint  ihm  der  schwierige  Kampf  mit 
diesem  gewaltigen  G^^er,  dessen  Grösse  er^  wie  es  dem 
praktischen  Staatsmann  ziemt^  kennt  und  anerkennt^  die  er 
nicht  y widerlegen  und  umgehen'  will  (§  4:  et  6^  tu;  0|jLh)v  Sucxo- 
XejxijTOv  oieTai  tov  ♦iXwwrov  eivai,  cxo^v  t6  te  xXi^^  t^^  iw:apxo6ar|^ 
ouTCi)  Suvitieu)^  xxi  to  ta  ;((i>pi2  icfna  a'^oXbiXevai  xrj  icoXei,  ipOö>{  |A£v 
oisTai);  nicht  aussichtslos.  Wenn  dabei  hie  und  da  seine  von 
edler  Leidenschaft  durchglühte  Logik  sich  ein  Sophisma  oder, 
was  uns  so  erscheinen  will,  erlaubt,  so  verbietet  schon  der 
Ernst  seiner  Ueberzeugung,  der  überall  zu  Tage- tritt,  an  be- 
wusste  Täuschung  zu  denken.  Gerecht  und  einsichtsvoll  hat 
über  Sophismus  und  Entstellung  Blass  (a.  a.  O.  184  £F.)  ge- 
sprochen. 

Auf  diesem  Gebiete  aber  bewegen  sich  zumeist  die  Aus- 
stellungen, welche  Weidner  gegen  die  olynthischen  Reden  erhebt, 
deren  Werth  und  politische  Bedeutung,  wenn  auch  sein  Tadel 
noch  so  b^ründet  wäre,  dadurch  nicht  berührt  würden.  Aber  es 
heisst  dem  Redner  die  Seele  nehmen,  aus  welcher  allein  Leben 
und  Erregung  strömt,  aus  der  die  Funken  sprühen  müssen, 
um  Kopf  und  Herz  der  trägen  Versammlung  zu  entflammen, 
wenn  ihm  die  Ruhe  und  Kaltblütigkeit  des  Historikers  wohl 
anstehen  soll.  Wenn  demnach  Weidner  die  persönlichen  In- 
vectiven  gegen  Philipp  und  den  makedonischen  Hof  als  über- 
trieben und  ungerechtfertigt  tadelt,  so  mag  er  Recht  behalten, 
ausser  Theopomp  und  seinesgleichen  wird  doch  niemand  daraus 
Geschichte  machen.  Aber  dem  Redner  muss  es  zu  Gute  ge- 
halten werden,  wenn  er,  wie  es  ihm  gut  dünkt,  die  Entrüstung 
gegen  Athens  furchtbarsten  Feind,  welche  im  Augenblick  ihn 
eifüllt,  in  die  Seelen  seiner  Hörer  überleitet,  um  sie  zu  zwingen, 
so  zu  denken  und  zu  fUhlen  wie  er.  Um  vieles  gerechter  muss 
aber  der  Zorn  und  die  Entrüstung,  welche  ihn  gegen  die  innern 
Gegner  seiner  damaligen  Politik  entflammte,  erscheinen,  denn  diese 
Vertreter  einer  friedlichen  Politik  hatten  durch  eine  Reihe  von 
Jahren  das  Militärwesen  verkommen. lassen,  das  Kriegsbudget  be- 
schnitten, anstatt  einen  Schatz  für  Kriegszwecke  zu  sammeln  und 


DemottliMisohe  Stadien.  65 

dadurch  den  Staat  stark  und  widerstandsfähig  zu  machen,  die 
Mehreinnahmen  auf  Feste  und  fUr  Besoldung  des  Volkes,  welches 
sich  das  gern  gefallen  Hess,  verwendet,  und  setzten  diese  Politik 
zu  der  Zeit,  da  sich  Athens  Schicksal  entscheiden  sollte, 
unbedenklich  fort.  Wenn  in  diesen  Männern  Demosthenes  die 
Mithelfer  von  Philipp  sieht,  ist  er  nicht  im  Unrecht;  dass  er 
sie  des  bewussten  Verrathes  zeiht,  was  übrigens  in  diesen  Reden 
nicht  geschieht,  mag  unbillig  und  ungerechtfertigt  sein.  Seine 
Heilmittel  zu  ertragen,  war  Athen  nicht  mehr  stark  genug. 
£ine  moralische  Umwandlung  des  siechen  Volksgeistes,  dessen 
nationale  Regungen  in  erhabenen  Seelen  selbst  bei  einem 
Piaton  fast  erstorben  erscheinen,  von  der  Rednerbühne  aus  zu 
bewirken,  dünkt  uns  von  vornherein  ein  vergebliches  Bemühen; 
ihm  däuchte  es  eine  patriotische  Pflicht,  und  darin  liegt  der 
tragische  Zug,  der  Demosthenes'  Leben  und  Streben  durchzieht, 
das  von  Jahr  zu  Jahr  an  getäuschten  Illusionen  reicher,  doch 
immer  wieder  hoffend  und  übermenschlich  ringend,  endlich 
jener  grössern  Macht  der  Verhältnisse  unterliegt,  nicht  ohne 
durch  manche  Schuld  den  Ausgang  zu  rechtfertigen.  Dieser 
Schuld  nicht  bloss  im  Allgemeinen  zu  gedenken,  sondern  sie 
im  Einzelnen  zu  suchen,  zu  bestimmen,  zu  begrenzen,  halte 
ich  für  eine  Pflicht  der  historischen  Wissenschaft,  und  bin  weit 
entfernt,  den  kritisch-politischen  Versuch  Weidners  als  einen 
principiell  unberechtigten  zu  verwerfen.  Nur  meine  ich  nicht, 
dass  davon  sich  viel  oder  auch  nur  etwas  in  jener  Sturm-  und 
Drangperiode,  in  welche  die  besprochenen  Reden  fallen,  werde 
nachweisen  lassen.  Die  Ausführlichkeit  der  Begründung  dieser 
Meinung  möge  durch  die  Bedeutung  des  Gegenstandes  fiir  ge- 
nügend entschuldigt  gelten. 

Dass  das  von  Demosthenes  in  der  ersten  philippischen 
Rede  vorgelegte  Programm  nicht  durchgedrungen  ist,  unterliegt 
keinem  Zweifel.  Demosthenes  schweigt  von  dem  Erfolg  seiner 
.  Anträge,  ja  noch  mehr,  er  schweigt  von  den  Anträgen  selbst,  wo 
sich  eine  Gelegenheit  ihrer  zu  gedenken  bot,  wie  §  4  der  dritten 
oljnthischen  Rede.  Er  versagt  es  sich,  in  nutzlosen  Recrimi- 
nationen  gegen  jene  aufzutreten,  die  rechtzeitige,  wohl  überlegte 
und  leicht  ausführbare  Vorkehrungen  zu  treffen  verschmähten. 
Um  so  weniger  darf  es  befremden,  dass  Demosthenes  in  den 
olynthischen  Reden  an  keiner  Stelle  den  euboeischen  Feldzug, 

Sittongvber.  d.  phiL-lüit.  CI.  LXXXVir.  Bd.  I.  Hft.  5 


ob  Hart«I.    Demostheniiehe  Stadien. 

von  dem  er  in  erfolgloser  Opposition  gegen  die  herrschende  Partei 
abgerathen^  in  Erinnerung  bringt,  ein  Umstand,  der  bedeutsam 
genug  erschien,  um  damit  die  Annahme,  dass  diese  Reden  vor 
dem  Ausbruch  desselben  gehalten  wurden,  zu  begründen.  Ein 
solches  Argument  stützt  sich  zugleich  auf  eine  andere  Voraus- 
setzung, die  nicht  ohne  weiteres  zugestanden  werden  darf, 
darauf  nämlich,  dass  Demosthenes  in  der  olynthischen  Frage 
nur  mit  den  uns  erhaltenen  Reden  und  nicht  zuvor  das  Wort 
ergriflFen.  Wer  das  nicht  glaubt,  wird  sich  leicht  eine  Gelegen- 
heit denken  können,  bei  welcher  derselbe  Eubulos  und  den 
Andern  ihre  verkehrte  euboeische  Politik  vorgehalten  und  dann 
sich  um  so  leichter  zufrieden  geben,  wenn  er  in  den  erhaltenen 
Reden  eine  Wiederholung  solcher  Recriminationen  nicht  findet, 
als  dies  nur  dazu  beitragen  konnte,  in  unnützer  Weise  den 
inneren  Hader  zu  mehren,  *  ja  vielleicht  die  Sache  der  Bundes- 
genossen zu  gefährden. 

^  Wurde  ja  Demosthenes  selbst,  der  den  Zug  nach  Euboea  widerratben 
(RvFr.  §  ö;  lyro  yip^  rTi  a.  'A.,  ^ptoTov  piv,  ^^vix"*  ?n£i8ov  upia;  itüv  ev  Eußo(i 
7:paY(AdlT(i>v  Taparco(x^vtov  ßo7)0Etv  IlXourapytü  xat  7co\s{xov  aSo^ov  xai  8au:aviripov 
apaaOai,  irptoTo;  x«i  pidvo^  napEXStov  avTEtnov  xai  (xovov  ou  StEfficaoOTjv), 
yielleicht  in  Folge  dessen  für  den  ungünstigen  Verlauf  verantwortlich 
gemacht,  vgl.  Rg.Meid.  §  110  S.  560,  25:  (MEi$(a;)  -mm  iv  Kv>ßo{a  jrpayfndTcov 
—  TouTi  yap  au  piixpou  xap^O*  pi^  cinstv  —  a  llXoutop/o^  6  toutou  ^i'io^ 
xai  f^IXoi  BiETcpfli^aTO,  w;  iyto  aKrio?  £?[ii,  xarsixsiia^e  izpo  tou  to  ^icayjia 
IfEv^aÖai  Kaai  9av£pbv  6  t«  IIXouTap/^ou  yeyov^;. 


Tomaschek.    CentralMiatlflChe  Studien.  I.  H7 


Centralasiatisehe  Studien. 

Von 

Wilhelm  Tomaschek, 

Lekrer  an  dem  Mariahilfer  Commnnal-Beal-  nnd  Ober-Gymnasinm  in  Wien. 

I. 

Sogdiana. 

(Mit  drei  KArten.) 

Den  Namen  ,Sogd'  lernte  die  occidentalische  Welt  zuerst 
durch  den  Vater  der  Geschichte,  Herodotos,  kennen.  Dieser 
fiihrt  einmal  in  seiner  Uebersicht  der  durch  Dareios  eingerich- 
teten Steuerbezirke  (III  89 — 95),  in  welchen  ohne  Rücksicht 
auf  ethnischen  Zusammenhang  so  wie  auf  Satrapenverwaltung 
benachbarte  Volker  so  zusammengestellt  sind,  dass  die  Steuer- 
quoten jeder  Gruppe  eine  runde  Summe  ausmachen  (ähnlich 
wie  in  den  Steuerlisten  aus  der  Sassaniden-  und  Khalifenzeit 
bei  Khurdäd-beh  und  Qodäma),  als  in  der  sechzehnten  Steuer- 
gruppe vereinigt  folgende  ansehnliche  und  weitab  entlegene 
Völkerschaften  an  (93):  IlotpOoi  5s  yjxi  XopacjAtoi  xat  S^y^oc  ts  xai 
"Apstoi  TpiY]x67(a  TaXavra  (dtTcoryivgov)  •  v6[jlo;  ixxo?  y,al  8äxaT0<;  outo<;; 
dann  in  der  Aufzählung  (VII  61 — 99)  der  Völkerschaften  und 
Heeresmassen,  welche  Xerxes  auf  seinem  Zuge  nach  Hellas 
in  der  Ebene  von  Doriskos  musterte,  in  ziemlich  paralleler 
Zusammenstellung  (66):  IlapOoi  Bs  xai  XopaajjLioi  xat  26780t  xs  xai 
Trtldpiot  xat  AaSixat,  Tyjv  auTt)v  cxsü-^v  Eyof'zeq,  ri^v  xoti  BaxTpiot 
STTpaTEüovTo.  Dic  Parther  und  Chorasmier  hatten  ihren  eigenen 
Heerführer,  ebenso  die  Gandarier  und  Dadiker,  SoySwv  8s  (•^/pxs) 
ACflrnjq  6  Apratou.  —  Sehen  wir  uns  nach  den  einheimischen 
Denkmälern  um,  die  aus  den  Zeiten  des  Dareios  und  seiner 
Nachfolger  stammen  und  welche  entziffert  zu  haben  die  Wissen^ 
Bchaft  unseres  Jahrhunderts  sich  zu  höchstem  Ruhme  anrechnen 
darf,  so  müssen  wir  zuerst  in  die  grosse  Inschrift  von  Bahistan 

6* 


68  Tomaichek. 

Einsicht  nehmen ,  in  welcher  Dareios  die  Provinzen  seines 
Reiches  theils  nach  einer  gewissen  Rangordnung,  tbeils  in 
geographischen  Gruppen  geordnet  aufzählt,  und  worin  als  acht- 
zehnte Provinz  Sogdiana  vorkommt;  nach  Katapatuka  (Cappa- 
docia)  folgt  nämlich  folgende  Reihe  von  Namen :  Parthava  (13), 
Zaraka  (14),  Haraiva  (15),  Uvärazmiya  (16),  Bäkhtris  (17), 
gvGVDA  (XVIII),  Gandara  (19),  ^aka  (20)  etc.;  die  letzten 
fUnf  Namen  lauten  in  den  Keilschriften  der  dritten  Ordnung  oder 
in  assyrischer  Sprache:  Huvariismu  (16),  Baahtar  (17),  Swkdv 
(XVUI),  Paaruparaisaanna  (19),  Gimiri  (20).  In  der  zunächst 
zu  beachtenden  Inschrift  von  Persepolis  lesen  wir  in  nur  wenig 
erweiterter  und  verstellter  Reihenfolge  folgende  Provinzen  der 
östlichen  Reichshälfte :  Ayagarta  (13),  Parthava  (14),  Zaraka  (15), 
Haraiva  (16),  Bäkhtris  (17),  Qvgda  (XVIII),  Uvärazmiya 
(19)  etc.  In  der  grossen  Inschrift  von  Näkhs-I-Rüstam  endlich, 
oder  der  Grabinschrift  des  Dareios,  folgen  die  Ostprovinzen 
gleich  hinter  den  im  Range  höchsten,  Pär9a,  Mäda  und  Uvaga, 
und  zwar  wieder  in  ähnlicher  Aufeinanderfolge:  Parthava  (4), 
Haraiva  (5),  Bäkhtris  (6),  Sygvda  (VII),  üvärazmis  (8), 
Zaraka  (9)  etc.;  in  assyrischer  Sprache:  Partuu  (4),  Ariivu  (5), 
Baahtar  (6),  Swkdv  (VII),  HuvariiSmu  (8),  Zaraanga  (9)  etc. 
Wir  sehen,  dftss  die  Gruppirung  bei  Herodotos  doch  einiger- 
massen  zu  der  von  Dareios  beliebten  stimmt,  insofern  als  auch 
in  den  Keilinschriften  Parthien,  Areia,  Sogdiana  und  Chorasmia 
einander  meist  nahe  gerückt  sind;  in  bedeutsamer  Verbindung 
schliesst  sich  aber  ^^g^^^  ^^^^^  ^^  Bäkhtris  an. 

In  eine  viel  ältere  Zeit,  in  die  Epoche  des  assyrischen 
Weltreiches,  verlegt  den  Namen  Sogdiana's  jener  griechische 
Geschichtsschreiber,  welcher  zuerst  eine  pragmatische  Dar- 
stellung der  sagenhaften  Eroberungszüge  der  Herrschergrössen 
Ninos  und  Semiramis  zu  geben  versucht  hat,  Ktesias  aus  Knidos. 
Dass  die  assyrische  Herrschaft  Arachosien  und  Baktra  um- 
fasste,  scheint  eine  alte,  durch  manche  Denkmäler  bezeugte 
Tradition  der  Orientalen  gewesen  zu  sein;  Semiramis  selbst 
rühmt  sich  auf  einer  Stele  (Polyaen.  VIII  26,  1  offenbar  nach 
Ktesias),  gegen  Osten  den  Fluss  Dyamuna  oder  lofiiivw;«;  als 
Reichsgrenze  festgesetzt  zu  haben,  gegen  Norden  aber  das 
Gebiet  der  Sogdier  und  Saken,  ZxMiq  xal  Xo^Bou^.  Liesse  sich 
eine  dauerndere  Besitznahme  der  nordischen  iranischen  Lande, 


CoDtnlMUtuehe  Stadien.  I.  69 

Baktra  und  Sogd,  durch  die  Assyrier  oder  selbst  durch  die 
Meder  als  wahracheinlich  hinnehmen^  so  könnten  wir  uns  die 
frühzeitigen  Einflüsse  der  semitischen  Glaubens-  und  Cultur- 
weit  auf  die  Tränier  und  auf  den  zarathustrischen  Glauben 
leichter  erklären,  und  wir  hätten  nicht  einmal  nöthig,  die  später 
entwickelte  Tradition  von  der  Herkunft  Zarathustra's  aus 
Atropatene  gläubig  hinzunehmen.  Wenn,  sicherlich  nach  ein- 
heimischer Sago,  berichtet  wird  (Diodoros  I  94,  2  nach  Ktesias), 
-apa  Tol;  *AptavoT(;  Zaöpauanrjv  tov  cr/'aöbv  Satfxova  (=  Ahuramazda) 
zpo970(i^(Taa6at  tsu;  vc{jlou<;  auTo)  ^iBovac  so  muss  unter  diesen  Arianern 
die  iranische  Bevölkerung  von  Ost-  und  Nord-Irän  verstanden 
werden.  Mit  vollem  Recht  behauptet  Strabo  XV-  p.  724: 
eZiXTSivsTai  5s  To5vc|j.a  t^;  'Apta^/Yj^  x«l  In  ixs^pt  twv  itpo^  apxtov 
BaxTpiü)v  xat  2io73iavü)V'  slal  ^dp  icci)?  xat  öixoYXwxrot  xapa  [Atxpov. 
Der  kundige  Apollodoros  (Strabo  XI  p.  510)  nennt  Baktrien 
die  Zier  von  ganz  Ariana,  rriq  ou|j.7caar<<;  Aptavijq  rpCdxr^iJLa.  Es  ist 
bei  diesem  Namen  offenbar  nicht  an  die  Satrapie  "Apeia,  Haraiva, 
zu  denken,  sondern  an  die  viel  allgemeinere  uralte  Bezeichnung 
der  iranischen  Ostlande,  Airyana. 

Die  einheimische  Sagenwelt  der  Perser  stellt  an  die  Spitze 
aller  Genealogie  die  durchweg  der  Mythologie  angehörigen 
Paradhäta's  oder  die  Schöpfer  der  menschlichen  Satzungen  und 
Sitten,  den  Beginn  und  Fortlauf  des  nationalen  Lebens  jedoch 
verlegt  sie  in  die  nachfolgende  Zeit  der  Dynastie  der  Kavya's, 
welche  mit  Kava  Kaväta  beginnt  und  ausgefüllt  ist  mit  Kämpfen 
wider  die  Turanier,  unter  welchen  nicht  etwa  Stämme,  die  in 
Kace,  Religion  und  Sprache  von  den  Iraniern  total  abwichen, 
etwa  türkischer  oder  tübetischer  Abkunft,  verstanden  werden 
dürfen,  sondern  Stammverwandte  oder  Bruderstämme,  deren 
Herrscher  ihr  Geschlecht  gleichfalls  auf  die  Paradhäta's  zurück- 
führten und  mit  dem  Herrscherhause  der  Kavya's  in  einem 
ununterbrochenen  Kampfe  der  Blutrache  verfehdet  waren.  Wir 
werden  noch  nachzuweisen  versuchen,  dass  in  alt-iranischer 
Zeit  die  durchaus  stammverwandten  Saken  und  Massageten 
des  Nordostgebietes  es  waren,  welche  als  ständige  Feinde  oder 
Tura's  auftraten,  und  dass  erst  seit  der  Existenz  der  türkischen 
Khäqäne  oder  seit  dem  fünften  Jahrhundert  n.  Chr.  diese  Rolle 
den  Türken  zugeschrieben  werden  konnte,  eine  Auffassung, 
welche  mit  Consequenz  z.  B.  im  äah-nämah   durchgeführt  ist, 


70  Tomaicb«k. 

worin  Afrüsläb  (Fraügragyan)   ganz   und  gar  wie   ein  Türken- 
khäqän  geBchildert  erscheint.    Gleichwohl  ist  das  Bewusstsein, 
dass  vor  Kyros  und  Dareios  das  alt-iranische  Leben  vorzüglich 
in  Baktra  pulsierte  und  dass  dort  die  höchste  Herrschermacht 
ihren  Sitz  hatte^   der  persischen  Sagenwelt   niemals  ganz  ent* 
schwunden ;  im  Königsbuch  ist  es  Lohrasp  (Kava  Aurvafaypa), 
der  die  Residenz   nach  Balkh   verlegt   und   dort   einen  Feuer- 
tempel  errichtet;    Balkh  ist  die  Residenz   auch   unter   seinem 
Nachfolger  Gu§tasp  (Kava  Vi8tä9pa);  und  Zarathustra,  der  unter 
Guätasp   lehi-te,   vollendete   seine  Prophetenlaufbahn   in  Balkh. 
Auch  nachher,  als  die  Pär9a  die  Führerschaft  in  den  iranischen 
Landen    erworben    hatten ,    regte    sich   zu   Zeiten    das   Selbst- 
bewusstsein  des  alt-iranischen  Herrschergebietes.     Noch   unter 
Kjros,    nach   der  Besitznahme    von  Lydien^   erhoben   sich    die 
Baktrer  und  Saken  (Hdt.  I  153) ;  auch  unter  Xerxes  gab  sich 
dort  ein  gewisses  Bestreben   nach  Selbständigkeit  und  Sonder- 
verwaltung  kund   (Hdt   X    113);   später   durfte  Bessos    daran 
denken^    in  Baktra   und  Sogdiana  ein    selbständiges   nationales 
Reich  zu  gründen.     Und  wie  sehr  in  Baktra^   noch  mehr  aber 
in  Sogdiana,  das  nationale  Selbstgefühl  lebendig  war,  lehrt   die 
Geschichte  der  Eroberung  durch  Alexander.    Während  in   den 
meisten    übrigen    iranischen    Provinzen   der   Volkskrieg    wider 
die  Fremdherrschaft  entweder  gar  nicht  oder  nur  schwach  zum 
Durchbruch    gelangte,   hatte  Alexander  in  Sogd   die  blutigsten 
Kämpfe  mit  der  Einwohnerschaft  zu  bestehen,  Sogd  wäre  fast 
im  Stande  gewesen,  die  makedonischen  Colonnen  zu  erdrücken 
und   der   Heldenlaufbahn    des   tollkühnen   Eroberers    vor     der 
Zeit  ein  Ziel  zu  setzen.    ,In  Sogd  lebte  noch  ungebrochen    bei 
dem  mächtigen  Adel   wie  bei  dem  kräftigen  Volke  eine  wilde 
Freiheitsliebe ,    ein    trotziges    asiatisches    Nationalgefühl ;     den 
turanischen  Nachbarstämmen  fühlte  man  sich  weniger  fremd  als 
den   stolzen  herrischen  Makedonen,  die  mit  dem  beleidigenden 
Hochmuth    einer    höheren    Race    die    nationale    und    religiöse 
Gährung  wachriefen'  (Hertzberg,  Feldzüge  AI.  d.  Gr.  IL  Th.). 
Nur  dem  Aufgebote  der  höchsten  Raschheit  und  Enei^ie  so  i^rie 
der   Anwendung   einer   unmenschlichen  Vemichtungswuth    von 
Seite   des  Eroberers  gelang  es  die  wiederholt   ausgebrochenen 
Volksaufstände  zu  unterdrücken  und  in  Sogd  Ruhe,  freilich  die 
Buhe  einer  Leichenstätte,  zu  schaffen.   Es  scheinen  in  Sogd  die 


CentnlMMtiMlia  Stadien.  I.  71 

Fremden  vorzüglich  das  religiöse  Gefühl,  den  zarathustrischen 
Glauben,  in  roher  Weise  angetastet  und  die  Qläubigen  zu 
fanatischem  Widerstände  gereizt  zu  haben;  doch  besitzen  wir 
hierüber  sowie  überhaupt  über  die  innere  Seite  der  make- 
donischen Invasion  nur  äusserst  spärliche  Andeutungen.  So 
berichtet  Onesikritos  (Strabo  XI  p.  517)  als  ein  Zeichen  der 
Barbarei  bei  den  Sogdianen  und  Baktriem;  es  habe  bei  ihnen 
die  Sitte  geherrscht  die  altersschwachen  Greise  den  Hunden 
zum  Frasse  vorzuwerfen,  und  die  Hunde  seien  eigens  zu  diesem 
Zwecke,  als  evTa^iaorai,  gefüttert  worden ;  Alexander  aber  habe 
diesen  Unfug  abgestellt.  Wir  wissen,  wie  innig  dieser  Ge- 
brauch mit  den  Ideen  der  Lichtreligion  über  das  Jenseits 
zusammenhängt  und  wie  der  Gläubige  glücklich  geschätzt  wird, 
dessen  in  dem  Leichenbehälter  ausgesetzter  Gadaver  den  Hun- 
den und  Raben  zum  Frasse  dient.  In  jenem  Falle  aber  hat 
sich  das  Verbot  des  HeiTschers  gegenüber  der  eingewurzelten 
religiösen  Sitte  unwirksam  erwiesen.  So  wie  Justinus  (XLI 
3,  ö)  von  den  Parthern  berichtet:  ,sepultura  vulgo  aut  avium 
aut  canum  laniatus  est;  nuda  demum  ossa  terra  obruunt'  und 
wie  Andere  von  anderen  iranischen  Stämmen  Aehnliches  be- 
richten, so  schildern  sinische  Beobachter  denselben  Brauch  der 
Leichenbestattung  als  eine  in  Sogdiana  noch  im  sechsten  Jahr- 
hundert fest  bestehende  Sitte  (Abel-R^musat,  Nouv.  möl.  asiat. 
I  p.  230):  ,11  y  a  au  dehors  de  la  ville  royale  deux  cents 
familles  de  gens  qui  se  consacrent  particuli^rement  au  soin  des 
fiinerailles.  Ils  bätissent  des  pavillons  dans  lesquelles  ils 
nourissent  des  chiens.  Quand  un  homme  meurt,  ils  vont  cher- 
cher  son  cadavre,  le  deposent  dans  un  de  ces  pavillons  et  le 
fönt  divorer  par  leurs  chiens;  lorsqu^l  n'y  a  plus  de  chair. 
Ils  recueillent  les  os  et  les  enterrent,  mais  sans  les  mettre  dans 
une  bi&re^  Hier  bemerken  wir  gleich,  dass  derselbe  sinische 
Berichterstatter  sich  auch  über  einige  sogdianische  Feste  und 
Gebräuche  verbreitet,  welche  ihrem  Wesen  nach  mit  dem 
zarathustrischen  Glauben  zusammenzuhängen  scheinen,  obwohl 
es  für  uns  schwer  ist  eine  Kritik  darüber  zu  versuchen,  bevor 
uns  das  grosse  chronologische  Werk  al-Blrünf  s,  welches  äusserst 
werthvolle  Angaben  über  die  Jahreseintheilung,  über  die  Fest- 
tage, über  die  Bräuche  und  Sitten  der  Sogdianer  sowie  aller 
älteren  Culturvölker  enthält  und  dessen  Herausgabe  die  kritische 


72  Tomasehek. 

Hand  Sachau's  besorgt^  ganz  vorliegt.  ,Le  commencement  de 
l'annee^,  heisst  es  bei  Ma-tuan-lin  (Abel-Kemusat  I  p.  229), 
^est  fixe  chez  eux  au  premier  jour  de  la  sixi^iue  lune.  Ce 
jour-Iäy  le  roi  et  jusqu'aux  hommes  du  peuple  se  revetent 
d'habits  neufs,  se  rasent  les  cheveux  et  la  barbe,  et  se  ren- 
dent  dans  une  foret  qui  est  ä  Torient  de  la  ville  (Samarqand) 
pour  tirer  de  Tarc^  ä  cheval.  Le  jour  oü  Ton  veut  terminer 
cet  exercice,  on  suspend  une  piece  de  monnaie  d'or  devant 
une  feuille  de  papier,  et  celui  qui  Tatteint  en  tirant  obtient  le 
titre  de  roi  pendant  une  journee^  Nach  dieser  Schilderung 
des  Festes  Naw-rüz  folgt  eine  Angabe  über  ein  Naturfest^  das 
uns  an  die  trieterische  Feier  des  phrygisch-thrakischen  Dio- 
nysos, so  wie  an  die  Adonisfeier  gemahnt,  aber  auch  auf  Wesen 
der  zarathustrischen  Religion,  z.  B.  auf  die  von  Ahurö  Mazdäo 
abstammenden  Amesa  ^penta's  Vohumanö  und  Qpenta-ärmaiti, 
die  Genien  des  Gedeihens  und  Fruchtsegens,  sowie  auf  Mithra, 
den  Gott  des  Lichtes,  und  das  grosse  Fest  Mithragän  bezogen 
werden  darf.  ,Ils  adorent  Tesprit  divin  et  se  montrent  tr&s 
zeles  dans  le  culte  qu'ils  lui  adressent.  IIb  racontent  que  le 
fils  de  Dieu  est  mort  ä  la  septi^me  lune,  et  que  ses  ossements 
ont  ete  perdus.  Chaque  mois  les  personnes  consacrees  au  culte, 
et  ce  mois-lä  surtout,  les  autres  habitants,  sans  distinction,  pa- 
raissent  revetus  de  robes  de  iaine  noire ;  ils  vont  pieds  nus  en 
se  frappant  la  poitrine,  poussant  de  grands  cris  et  versant  des 
turrents  de  larmes.  Trois  cent  cinq  personnes,  tant  hommes  que 
femmes,  jettent  de  Therbe  et  parcourent  les  champs  en  cher- 
chant  les  os  du  iils  de  Dieu.  Cette  cer^monie  cesse  au  bout 
de  sept  jours.'  Wir  können  nicht  ermessen,  ob  und  in  welchem 
Grade  sich  bei  dem  Volke  der  Sogdianer  mit  den  alt-iranischen 
Glaubeusanschauungen  und  Festbräuchen  einerseits  hellenische 
Naturculte,  anderseits  buddhistische  Satzungen  und  Ideen  ver- 
mischt und  verquickt  haben.  Was  den  Buddhismus  betriflFt, 
so  lässt  sich  mit  Sicherheit  behaupten,  dass  derselbe  seit  der 
Gründung  des  indo-skjthischen  Reiches  auch  in  Baktra  und 
Sogd  Wurzeln  gefasst  und  sich  mächtig  entfaltet  hat.  Aus- 
drücklich bemerkt  der  sinische  Bericht  (p.  230)  ,ils  honorent 
Feu-thu  (Buddha)'  und  (p.  228)  ,on  adore  Fo^  Uebrigens 
kommt  auch  noch  das  barbarische  Volkselement  in  Betracht, 
das  mit  den  Nomaden  Hochasiens  in  das  alte  Culturgebiet  des 


C«iitnÜMUtiMha  Stadien.  I.  73 

Zweistromlandes  eindrang  und  sich  gleichfalls  in  Lebens- 
einrichtungen  Sitten  und  Ceremonien  äusserte;  so  heisst  es  in 
obigem  Bericht  (p.  228):  ,Les  usages  relatifs  aux  mariages  et 
aux  funärailles  sont  les  m&mes  que  chez  les  Turcs'^  und  an 
das  Wesen  des  Schamanenthums  gemahnen  uns  Bemerkungen 
solcher  Art  (p.  230):  ^Ils  adressent  des  sacrifices  aux  esprits 
malins,  et  executent  des  Operations  magiques.  A  la  onzi^me 
lune,  on  frappe  des  tambours  pour  demander  du  froid,  etc^ 
Im  grossen  Ganzen  aber  mögen  sich  dennoch  die  herrschenden 
Stämme  —  namentlich  von  den  Eusänen  lässt  sich  dies  be- 
haupten —  den  Einflüssen  der  höheren  Cultur  der  ansässigen 
Iranier  und  auch  dem  Glauben  derselben  zugänglich  erwiesen 
haben.  Und  so  dürfen  wir  wohl  Recht  haben,  wenn  wir  später 
versuchen  werden  den  Gott  Te-si,  welcher  den  sinischen  Nach* 
richten  zufolge  in  Tsao  (Sogd)  verehrt  wurde,  mit  zarathustri- 
schen  Göttergestalten  zusammenzustellen  und  aus  iranischen 
Sprachmitteln  zu  deuten. 

£s  scheint  überhaupt  in  keinem  iranischen  Lande  der 
zarathustrische  Glaube  seit  Alters  so  sehr  in  den  Volksgeist 
eingedrungen  zu  sein  wie  in  Sogdiana,  ja  wir  können  be- 
haupten, Sogdiana  sei  die  älteste  Culturstätte  gewesen,  wo  sich 
das  iranische  Volksleben  von  der  ursprünglichen  nomadisch- 
patriarchalischen Lebensweise  zu  einem  höher  entwickelten 
politischen  Dasein,  zu  complicierteren  staatlichen  Verhältnissen 
erhoben  hat.  So  wie  das  Vordringen  der  östlichen  Arier  in 
den  indischen  Landen  mehrere  Phasen  und  Stillstände  auf- 
zuweisen hat,  so  haben  auch  die  westlichen  Stämme  oder  die 
iranier  in  ihrer  stetigen  Ausbreitung  nach  Süd  und  West,  ent- 
lang den  grossen  Strömen  und  den  binnenländischen  Wasser- 
adern und  Canälen,  an  mehreren  Buhepunkten  sich  gesammelt 
and  entwickelt,  um  wiederholt  ein  ,ver  sacrum'  auszusenden 
und  immer  weitere  Gebiete  der  iranischen  Welt  zu  erobern, 
bis  endlich  die  Berge  Armenieu's  und  der  Frät  dem  Vordringen 
ein  Ziel  setzten.  Der  älteste  dieser  Buhepunkte,  der  ursprüng- 
lichen Heimat  der  Arier  an  den  Ufern  des  Jaxartes  zunächst 
gelegen,  war  unstreitig  Sogdiana,  das  breite  fruchtbare  Thal, 
welches  der  ZarafSän  durchfliesst.  Es  ist  wohl  kein  Zufall, 
dass  die  älteste  Urkunde  des  iranischen  Geisteslebens,  das 
Zendavesta,  in  dem  ersten  Fargard  des  Vendidäd,  worin  Ahura- 


74  Tomftioltak. 

mazda  seine  Schöpfungen  so  wie  die  Gegenschöpfungen  Aftgra- 
mainyu's  aufzählt,  unmittelbar  nach  dem  arianischen  Quellen- 
lande, worin  durch  zehn  Monate  Winter  herrscht  und  nur 
durch  zwei  Monate  Sommer,  als  zweite  Schöpfung  des  guten 
Qeistes  anführt:  6&um  yim  Qughdhösayanem  d.  h.  G-ava,  die 
Wohnung  von  Cughdha,  und  erst  dann  auf  Möuru,  auf  Bäkhdhi, 
auf  Ni9ft  u.  s.  w.  übergeht.  Können  wir  auch  nicht  der  An- 
sicht huldigen,  dass  in  diesem  Fargard  mit  Bewusstsein  und 
gleichsam  in  Erinneining  der  ältesten  Geschehnisse  der  Gang 
der  iranischen  Wanderung  angegeben  sei,  so  können  wir  uns 
hinwieder  nicht  der  Meinung  entschlagen,  dass  mit  der  Voran- 
Btellung  des  sogdischen  Gebietes  demselben  eine  gewisse  Prä- 
ponderanz,  sei  es  auf  religiösem,  sei  es  auf  politischem  Ge- 
biete, eingeräumt  wird,  und  dass  es  in  der  Anschauung  des 
Verfassers  gleichsam  den  Ausgangspunkt,  den  Focus  des  na- 
tionalen Culturlebens  bildete,  von  welchem  die  übrigen  Lande 
strahlenförmig  nach  allen  Seiten  ihr  Licht  erhielten. 

Schon  der  Name  ^ughdha  ist  charakteristisch  genug  und 
bezeichnet,  hieratisch  aufgefasst,  das  Gebiet,  worin  Licht  und 
Reinheit  herrscht,  worin  alles  Unreine  und  Finstere,  alles 
Feindliche  und  Schädliche,  alles  Ahrimanische,  verbannt  und 
ausgeschlossen  ist.  Für  die  baktrisch-sogdianische  Form  9^^* 
dha  sahen  wir  in  den  Keil  Inschriften  der  ersten  Ordnung  die 
altpersischen  Modificationen  ^^gT^da,  Suguda,  Cugda,  in  jenen 
der  dritten  die  assyrische  Aussprache  Suukdu  (Sükdu)  ein- 
treten ;  die  Schriftwerke  der  neueren  Perser  und  die  arabischen 
Geographen  bieten  die  verkürzten  Formen  iX^^^  4Xi^?  i^Ajo 
Süghd  (Soghd)  oder  ijJughd.  Die  Griechen  nennen  die  Ein- 
wohner Sö^Bot  (so  namentlich  Herodotos),  Scy^ioi,  Xo^Biawi,  ^07- 
Siavo'!,  ZofBaiw.,  woneben  die  im  Stammvocal  reineren  Formen 
für  das  Land  Soü^Bir/ij  (Zonar.  Lex.  p.  1661,  Eustath.  zu  Dion. 
Per.  747),  lou-fiia  und  Sou^oia;  (Dion.  Per.  747,  Niceph.  et 
Paraphr.  ibid.)  sporadisch  auftreten;  auch  bei  Mela  I  13  und 
III  42  haben  die  besten  Handschriften  Svgdiani.  Der  Name 
ist  echt  iranisch,  und  die  Sprachforacher  leiten  denselben  über- 
einstimmend ab  von  der  arischen  Wurzel  9UÖ  ,leuchten,  strah- 
len, glänzen',  ,brennen,  glühen',  neupers.  (Inf.)  sükhtan,  wozu 
baktr.  9üöa  ,klar,'  9üka  ,leuchtend,  Erleuchtung'  und  9ukhra 
,hellfarbig,   roth,'   gehört;    der  Eintritt  der  Media- Aspirata   ist 


OntralMiaftuebe  Si&di«n.  I.  75 

bedingt  durch  den  nachfolgenden  Causativcharakter  dha,  welcher 
mit  skr.  dhä  baktr.  da  ^setzen,  machen,  schaffen^,  identisch  ist. 
In  Form  und  Bedeutung  stimmt  mit  fughdha  Vollständig  überein 
das  ösische  Adjectiv  (tag.)  süghdä-g,  (südl.)  sighda-g,  ^lauter, 
ptti>  rein,  heilig'^  welches  in  dem  reineren,  digorischen  Dialekte, 
dessen  Sprachschatz  noch  nicht  in  Wünschenswerther  Vollstän- 
digkeit vorliegt,  jedenfalls  sughda^g  oder  sughda-k  lauten 
iiiüsste.  In  derselben,  mitten  im  Kaukasus  gesprochenen,  ira- 
nischen Sprache  findet  sich  auch  neben  sug  ,Feuerbrand,  Feuers- 
brunst' (baktr.  9aoda)  das  Compositum  sugh-zarine  ,lauteres 
Gold,  Reingold';  und  weil  die  Ösen  oder  As  unstreitig  Nach- 
kommen der  mächtigen  Alanen  sind,  welche  seit  dem  ersten 
Jahrhundert  v.  Chr.  bis  auf  Timur's  Zeit  in  der  Geschichte 
eine  Rolle  spielen,  so  halten  wir  folgende  Notiz  über  eine 
gleichnamige  alanische  Ortschaft  in  der  Krym  für  keinen 
müssigen  Beitrag  zur  iranischen  Nomenclatur.  Das  heutige 
Sudagh  nämlich,  ein  schöner  Hafenplatz  an  der  Südostküste 
Taurien's,  im  Mittelalter  Sitz  eines  bedeutenden  Handels  für 
Pelzwaaren,  Sklaven  und  nordische  Waaren,  Station  erst  der 
Venetianer,  hierauf  der  Genuesen,  tartarisch  seit  1223,  heisst 
in  den  griechischen  Episkopatlisten  und  bei  den  byzantinischen 
Historikern  lou^Baia,  in  dem  Briefe  des  Khazaren-khftqftn's  Josef 
a.  960  (Russische  Revue  1875  S.  87)  Sugdai,  in  der  altslove- 
nischen  Legende  vom  hl.  Kyrillos  (Denkschr.  d.  Wiener  Akad. 
Bd.  XIX,  p.  227)  Coyi'MH,  auf  den  italienischen  Seekarten 
Sodaia  oder  Soldaia  (Soldadia),  während  die  arabischen  Geo- 
graphen die  Form  Südäq  {^^^y^)  bieten;  die  echte  Bezeich- 
nung für  diesen,  einem  Synaxarion  zufolge  (Zapiski  Odeskago 
obSöestwa,  V  p.  605)  bereits  im  Jahre  212  gegründeten.  Ort 
war  ohne  Zweifel  Sughdag,  dem  ösischen  sughdag  ,heilig'  ent- 
sprechend, eine  Gründung  der  Alanen.  Man  erstaune  nicht  über 
diese  Combination!  'AXav{a  hiess  im  Mittelalter  der  taurische 
Küstenstrich  bei  Kapsi-khör,  Uskut  (Scuti),  Tuak;  im  vierzehnten 
Jahrhundert  stritten  sich  um  denselben  die  Metropoliten  von 
Cherson  und  von  Gothia  (Acta  Patriarch.  Cpol.  II  p.  67,  150). 
Eine  Ansiedlung  auch  im  westlichen  Taurien,  im  Gebiete  von 
Cherson,  wird  ausdrücklich  in  dem  ao^o«;  AXavixo;  des  Bischofs 
Theodoros  a.  1230  bezeugt  (Nova  Patrum  Bibliotheca  ed. 
Mai,  VI  p.  382 — 384).     Bereits   aus  dem   fünften  Jahrhundert 


76  Tomaschek. 

berichtet  über  Kaffa  ein  Periplus  Euxini  Ponti  (§  51,  p.  415  M.): 
vjv  3e  AevsTat  -^  ÖeoBoaia  rf)  AXavtxYj  -liTOt.  ty;  Taüpixt)  SiaXextci)  Apd- 
aßSa,  TouTeoTiv  iicriOso^.  Müllenhoff  (Monatsber.  d.  Berliner  Äkad. 
1866  p.  564)  vorbessert  ganz  mit  Recht  'AßBapSa,  und  ich  be- 
merke, dass  der  Consonantismus  beider  Wortbestandtheile  spe- 
cifisch  ösisch  ist:  aß3-  ^sieben'  ist  ös.  awd,  baktr.  hapta,  dtpSa 
ist  ard  ,hehr,  göttlich,  Genius^,  baktr.  areta  ereta,  altpers.  arta 
(vgl.  dazu  öS.  ardar  aldar  ,IIerr,  Äeltester',  armen,  ardar  ^ge- 
recht,  wahrhaftig',  *Ap8apo^  und  "Ap^iponuoq  sarmat.  Eigennamen 
auf  Inschriften,  endlich  "AXoy;  alanische  Prinzessin  bei  Ke- 
drenos  II  p.  503  a.  1033),  wozu  noch  das  ös.  Pluralsuffix  -tha 
getreten  ist.  ,Die  sieben  Herren  (Genien)'  sind  offenbar  die 
sieben  Ameää-9peiita,  ein  Wahrzeichen  dafür,  dass  die  Alanen 
aus  Centralasien  ausgezogen  sind  und  als  jüngste  iranische  An- 
kömmlinge des  zoroastrischen  Lichtgluubcns  theilhaftig  waren, 
während  ihre  Vorgänger,  die  Skoloten,  ihren  eigenen  Mythen- 
kreis besassen,  den  noch  keine  zoroastrischen  Ideen  berührt 
hatten. 

Doch  kehren  wir  zurück  zu  ^ughdha,  dem  ,reiu  geschaffe- 
nen, heiligen'  Lande  des  Ostens!  Wir  müssen  nämlich  von 
einer  zweiten  Bezeichnung  für  dasselbe  Meldung  thun,  der 
allerdings  ein  späteres  Alter  zukommt.  Im  Huzväreä  nämlich 
wird  ^ughdha  mit  Surik  (-{ms  und  >ii^yy**  mit  der  Variation 
vJK«^  Süräk)  umschrieben,  und  heisst  es  vom  Arang:  ,er 
fliesst  vom  Har-burz  in  das  Land  Sürik,  das  man  auch  Same 
nennt'  (Bundehes  cap.  XX,  mit  Justi's  Verbesserung  Same-de 
für  Ame-öe).  Beruht  auch  letztere  Angabe  auf  einer  Ver- 
wechslung von  Sürik  mit  Süristän  oder  Säim,  und  ist  es  auch 
noch  immer  nicht  ausgemacht,  ob  unter  Arang,  baktr.  RaAha^ 
was  ursprünglich  Bezeichnung  eines  mythischen  Stromes  ge- 
wesen, später  der  Jaxartes  oder  der  Oxus  verstanden  worden 
ist,  so  steht  doch  die  Existenz  des  Namens  Sürik  für  Sogdiana 
fest.  Wir  legen  weniger  Werth  auf  das  von  Spiegel  (Eran. 
Alt.  I  S.  220)  herbeigezogene  Appellativ  eines  neben  dem 
Könige  von  Kabul  genannten  Fürsten  im  Sah-nämah,  Süri, 
weil  wir  der  Meinung  sind,  dass  darunter  nur  der  Marzabfta 
von  Marw  verstanden  werden  darf,  sowie  ja  noch  unter  Yaz- 
dagird  ein  fast  unabhängiger  Fürst  Mäha-vöh  Süri  erwähnt 
wird,   der  alles  Land  bis  zum  Oxus  besass,    während  die  Jen- 


CeatnlMiatStelie  Studiea.  I.  77 

seitigen  Lande  dem  Ehäqän  gehörten  (T&bari,  p.  Zotenberg, 
in  p.  504);  sondern  verweisen  vielmehr  auf  eine  Notiz,  die 
sich  bei  Hiuan-Thsang  findet.  Dieser  sinische  Pilger,  welcher 
um  630  n.  Chr.  den  Boden  Sogdiana's  betrat,  bietet  nämlich 
zwei  Gesammtbenennungen  für  die  Länder  des  Da-äb,  eine 
fiir  die  südliche  Hälfte  oder  das  Gebiet  von  Baktra,  nämlich 
Tv-Ho-Lo  (|^  j^  f^)  oder  Tukhftra,  und  eine  für  den  nörd- 
lichen Ijändercomplex,  welcher  von  dem  ,eisernen  Thore'  bei 
KasAna  (Ke§§)  bis  hoch  hinauf  zu  der  Residenz  des  Ehäqän's 
am  Flusse  Öui  sich  erstreckte,  nämlich  Sv-li  (t&C  5|H|)  ^^^^ 
Sürik.  Die  Stelle  lautet  (Si-yü-ki,  p.  St.  Julien,  I  p.  12  sv.): 
jDepuis  la  ville  de  la  rivifere  Su-§e,  jusqu'au  royaume  de  Kie- 
ioang-na,  le  pays  s'appelle  Su-li,  et  les  habitants  portent  le 
meme  nom.  Cette  dönomination  s'applique  aussi  k  T^criture  et 
au  langage.  Les  formes  radicales  des  signes  graphiques  sont 
peu  nombrenses;  elles  se  riduisent  k  trente-deux  lettres,  qui, 
en  se  combinant  ensemble,  ont,  peu  k  peu,  donnä  naissance  k 
un  grand  nombre  de  mots'.  Damit  ist  eine  zweite  Stelle  zu 
verbinden  (p.  24):  ,L'6criture  (dans  le  pays  de  Tu*ho-lo)  se 
compose  de  vingt-cinq  signes  radicaux  qui  se  combinent  en- 
semble; ils  servent  k  exprimer  toutes  choses.  Les  livres  sont 
ecrits  en  travers  et  se  lisent  de  gauche  k  droite.  Les  compo- 
sitions  litteraires  et  les  m^moires  historiques  se  sont  augment^s 
peu  a  peu,  et  sont,  aujourd^iui,  plus  nombreux  que  ceux  du 
pays  de  Su-li'.  Man  könnte  versucht  sein  diesen  Namen  aus 
türkischen  Sprachmitteln  zu  erklären,  und  da  böte  sich  aller- 
dings z.  B.  sülu  süly,  in  älterer  Form  sughluq  suwlyq,  ,wasser- 
reich',  eine  nicht  unpassende  Bezeichnung  für  das  Zweistrom- 
land.  Indess,  das  Sürik  des  BundeheS  spricht  unab weislich  für 
Identität  mit  Su-li,  trotzdem  dass  der  Gebietsumfang  des  letz- 
teren nach  Norden  zu  ein  weiterer  ist  als  der  von  Sogdiana. 
Entweder  ist  Sürik  eine  directe  Entstellung  von  Qughdha  in 
türkischem  Munde,  ähnlich  wie  jenes  Sughdag  in  der  Krym 
zufolge  der  tief-gutturalen  Aussprache  des  gh  bei  Arabern, 
Tataren  und  Russen  auch  zu  Formen  wie  Surdag  (Frähn,  Ibn- 
Foszlan  über  die  Russen,  S.  28),  Surag  oder  Suro2  mundgerecht 
gemacht  wurde;  oder  wir  haben  in  dem  Namen  ein  buddhi- 
stisches Aequivalent   für   die   iranische  Benennung,   wobei   auf 


78  Tomaiieliek. 

skr.  sQrya  hindust.  sürag  ^Sonoe,  Sonnenglanz,  Glück,  Herr- 
lichkeit^ und  ved.  süri  ^glänzend,  reich,  heiTÜch,  Opferherr' 
verwiesen  werden  darf.  Dass  in  Sogd,  wie  in  Baktra,  in  den  ■ 
ersten  Jahrhunderten  n.  Chr.  der  buddhistische  Cultureinfluss 
sehr  mächtig  war  und  den  Parsismus  zeitweilig  überwog,  ist 
eine  ausgemachte  Thatsache;  es  dürfte  uns  das  Vorkommen 
eines  hieratischen  Appellativums  indischen  Ursprungs  durchaus 
nicht  Wunder  nehmen.  Bemerkenswerth  ist  übrigens  die  That- 
sache, dass,  während  in  Tukhärist&n  entweder  eine  einfache 
Abart  der  Keilschrift  oder  das  primitive  Alphabet  von  24  (25) 
Zeichen  (etwa  gar  das  griechische?)  in  Uebung  war,  in  Sogd 
dagegen  eine  compliciertere  Gestaltung  desselben,  nach  Art  des 
Zend-  oder  Sanskrit-Alphabets  oder  den  34  Zeichen  der  tübe- 
tischen  Schrift  ähnlich,  angewendet  wurde. 

Versuchen  wir  nun  in  grösster  Kürze  —  wie  es  auch  das 
spärliche  Quellenmateriale  mit  sich  bringt  —  eine  Schilderung 
des  sogdischen  Gebietes  nach  den  ältesten  Berichten  zu  geben 
und  beginnen  wir  mit  der  Hauptader  desselben,  auf  deren 
beiden  Seiten  das  iranische  Leben  am  regsten  blühte,  mit  dem 
Zarafdän. 

Der  Sogdfluss  führt  bei  den  Geschichtschreibern  der 
Thaten  Alexander's  des  Grossen  den  Namen,  welchen  ihm  nach 
dem  ausdrücklichen  Zeugniss  des  Aristobulos  (Strabo  XI 
p.  518)  Griechen  und  Makedonier  beilegten,  noX'JT{|j.r|To^  d.  i. 
,vielgeschätzt,  hochgeehrt,  verehrungsreich*.  Unmöglich  können 
die  Fremdlinge  aus  Eigenem  eine  so  überschwängliche  Be- 
zeichnung für  einen  Fluss,  der  ihnen  kaum  anders  vorkommen 
mochte  wie  viele  andere  Hyrkanien's,  Baktra's  oder  der  par- 
thischen  Wüstenstriche,  aufgestellt  haben :  wir  besitzen  in  dem 
griechischen  Worte  offenbar  nur  die  getreue  Uebersetzung  einer 
einheimischen,  iranischen  Bezeichnung,  deren  Lautcomplex  zu 
erschliessen  uns  vielleicht  noch  gelingen  wird.  Die  Sogdianer 
allerdings  hatten  vollen  Grund  dem  heiligen  Strome  ihres  L<an> 
des,  der  ihnen  Alles  gab  und  spendete,  mit  solch'  ausser- 
gewöhnlichem  Namen  ihre  Verehrung  und  Dankbarkeit  zu  be- 
zeugen. Ziemlich  unzureichend  sind  übrigens  die  Nachrichten 
über  selben,  welche  uns  in  den  Auszügen  aus  den  sicherlich 
reichhaltigeren    Quellenwerken    der    alexandrinischeu    Kpoche 


C«ntralttifttiseho  Studien.   I.  79 

vorliegen.  Im  Herbst  des  Jahres  329  hatte  sich  Spitamenes 
mit  der  aufständischen  Macht  vor  dem  Andringen  des  Lykiers 
Phamuches  aus  der  Umgebung  von  Marakanda  weiter  nach 
Westen  zurückgezogen^  to;  eut  tov  tzotolilo^  tov  IIoXut{[at^tov  (Arr.  IV 
5,  6),  um  plötzlich,  vier  Tagmärsche  westlich  von  Marakanda, 
über  Pharnuches  herzufallen;  die  makedonischen  Reiter  wurden 
auf  eine  Insel  (v^ao^  ti^  töv  ev  tw  TbOrafjuü  o-j  [xs^aAT;  §  9)  des 
steiluferigen  Polytimetos  (xpT)|xv<j;)5ei?  ai  25xöai  §  7)  gedrängt, 
wobei  viele  in  den  Wellen  durch  die  feindlichen  Pfeile  ihren 
Tod  fanden;  der  Rest  wurde  auf  der  Insel  niedei^emacht. 
Als  hierauf  Spitamenes  nochmals  Marakanda  bedrohte,  eilte 
Alexander  selbst  herbei,  trieb  den  Rebellen  bis  zu  den  Steppen- 
rändern vor  sich  her  und  nahm  für  die  Niedermetzelung  der 
Division  Pharnuches  schreckliche  Rache :  e^XOe  ^dcaov  tyjv  x<«>p^v 
5ct;v  6  TzoxoLiko^  6  noXuT{|ji.t)To?  eicapSwv  eTCSpxetai,  übergab  alle  Dörfer 
und  Städte  der  blühenden  Sogdlandschaft  den  Flammen  und 
der  Plünderung,  wobei  120.000  Einwohner  (Diodor  XVII  x-y') 
niedei^ehauen  wurden.  Es  heisst  da  von  dem  Flusse,  dessen 
Wellen  von  Sogdianerblut  geförbt  wurden:  o  noXüT{jit}Toq  zoXu 
ETI  |i.6i!i(«)v  ^  iK.oi'za.  tbv  IlYjvetbv  xoTa|Ji6v  kazi  (Arr.  IV  6,  7).  Die 
Makedonier  verfolgten  den  Lauf  bis  dahin,  tva  afavd^etai  xb) 
zv:oL\iM  TO  uBcop  •  opavCCetai  ^k  YMiizzp  xoXXou  lov  lioaio;  eq  tyjv  tj^ötjjLjjLOv 
(§6);  vgl.  Strabo  XI  p.  518:  et;  tt)v  a'ixfjLOv  xaTazivetai  b  IIoXü- 
TijiiiTo;,  und  Curtius  VII  39:  ingens  spatium  rectae  regionis 
est,  per  quam  amnis  —  Polytimetum  vocant  incolae  —  fertur 
torrens.  Eum  ripae  in  tenuem  alveum  cogunt;  deinde  caverna 
excipit  et  sub  terram  rapit.  Cursus  absconditi  indicium  est  aquae 
meantis  sonus,  cum  ipsum  solum,  sub  quo  tantus  amnis  fluit, 
ne  modico  quidem  resudet  humore.  —  Bei  Ptolemaeus  ent- 
springt ein  namenloser  Fluss  auf  den  IlcyBia  5pr^  und  ergiesst 
sich  nach  einem  bogenförmig  gekrümmten  Laufe  in  der  'Q^siocvy) 
XiV/v],  zwischen  dem  Oxus  und  Jaxartes,  ganz  nahe  an  ersterem, 
—  also  kein  anderer  als  der  Sogdfluss.  Den  Namen  DoXuTiiJLVito; 
legt  Ptolemaeus  sonderbarer  Weise  einem  Flusse  bei,  der 
zwischen  Jaxartes  und  Oxus  in  das  kaspische  Meer  einmünden 
soll,  —  ein  gewaltiger  Irrthum!  Wenn  wir  von  einer  sehr 
zweifelhaften  Notiz  absehen,  die  sich  bei  Julius  Honorius  und 
Ethicus  findet,  worin  von  einem  Fl.  Svgotan  (SoYBiavog?)  die 
Rede:   nascitur   de  raonte  Caucaso  et  geminatur  et  facit  coro- 


80  Toniftsohek. 

nam  etc.,    so  haben  wir   alles    was   die  Alten    über   den  Sogd- 
fluss  berichten. 

Genauere  Nachrichten  bieten  schon  die  arabischen  Geo- 
graphen, namentlich  Ibn  9auqal  und  Tdqüt,  mag  auch  deren 
Kunde  über  den  Oberlauf  des  Flusses  immerhin  noch  dürftig 
sein.  Ihnen  zufolge  entspringt  der  ,F1ubs  von  l^ughd^  in  dem 
Gebirge  Buttam  (|%jü)  im  I^nde  der  Qarluq-Türken,  nach  der 
Seite  von  al-Räit  und  ^aghäniyän  und  gegen  Farghftna  hin. 
Die  Länge  des  Thaies  bis  Bukhftrft  hin  beträgt  50  Parasangen 
oder  acht  Tagereisen.  Nach  längerem  Laufe  sammelt  sich  das 
Wasser  zu  einer  Art  kleinen  See's,  Namens  Wal  (,5^,  etwa 
baktr.  vaidhi?  oder  scüir.  ^s^  wari,  baktr.  vairi  ^Seebecken', 
vairya  ,Canal'?).  Hierauf  folgen  Ortschaften,  namentlich  der 
unter  dem  Namen  Burghar  oder  Yurghas  bekannte  Gau.  Der 
Fluss  gelangt  zum  Orte  Waraghsar  ( w^ij^),  der  bereits  zu 
Samarkand  gehört;  hier  ist  ein  Damm  aufgeführt,  dessen  Er- 
haltung den  Bewohnern  obliegt,  was  ihnen  als  Aequivalent 
der  Kopfsteuer  (kharag)  angerechnet  wird;  hier  theilen  sich 
die  Gewässer  in  zahlreiche  Canäle,  um  sich  hinter  Samarkand 
zu  einem  Hauptfluss  wieder  zu  vereinigen.  Von  der  Quelle 
bis  zu  den  Mauern  Samarkand's  sind  es  mehr  als  20  Para- 
sangen. Hinter  Bukhärä  und  Baikand  in  der  Steppe  verlieren 
sich  die  Gewässer  in  einem  Wasserbecken,  das  bei  Idrisi  (II 
p.  194)  den  Namen  Sam-ga^  führt.  Dies  die  Nachrichten  der 
Araber  den  Hauptumrissen  nach;  in  die  Namen  der  zahlreichen, 
das  Gebiet  Samarkand's  bewässernden  Canäle,  welche  sie 
anführen,  wollen  wir  nicht  eindringen,  sondern  gleich  einige 
ergänzende  Notizen  aus  anderen  raorgenländischen  Quellen 
anfügen.  Bei  den  persischen  Geschichtschreibern  bis  auf  die 
neueste  Zeit  herab  ist  kein  anderer  Name  für  den  Sogdfluss 
häufiger  in  Gebrauch  als  Kühikfiuss,  äb-i-Kühik.  Die  Be- 
zeichnung rührt  von  einer  tumulusartigen  Anhöhe  auf  der  Nord- 
seite Samarkand's  her,  an  welcher  der  Fluss  vorüber  flieset, 
und  die  jetzt  unter  dem  türkischen  Namen  Cupän-ätä-täpä 
bekannt  ist,  vormals  aber  den  persischen  Namen  Kühik  ,monti- 
culus'  führte  (Memoires  de  Baber,  p.  Pavet  de  Courteille  I 
p.  98) ;  hier  hatte  Mirza  Ulugh-begh  sein  astronomisches  Obser- 
vatorium errichtet  zum  Behufe  der  Rectificirung  der  Erdtafeln 
seines  Vorgängers  Khoga  Na^ir  al-T^^iy  eine  Gründung,  welche 


C«Dtralwtfttiscb6  Stndlen.  I.  81 

nachmals  der  Zerstör ungswuth  Saibäni  Ehän's  erlag.   Der  Name 
Kühik  (Qühik)  Hndet  sich  besonders  häufig  bei  dem  Geschieht- 
Schreiber  Timur's,    Öarlf  al-dln  'All   (p.  Petis  de  la  Croix  III 
p.  221.   IV  p.   261,   282   etc.),    und   bei   Bäbr.     Der  Bezirk, 
worin  sich  der  Fluss   verliert,    führt  bei  letzterem    nach   einer 
Ortschaft  an  der  Westseite  den  Namen  Qara-göl ;  nach  neueren 
Berichten  wird  das  Schlammbecken   selbst  Teftgiz  oder  ,Meer' 
schlechtweg  genannt.     Ueber  den  Ursprung  des  Daryä  Qühik 
weiss    selbst   Mir  I'zzet-ullah    (Magasin    asiatique    II    p.    165) 
nichts  anderes  zu  sagen,  als  er  liege  nach  der  Seite  von  Darwäz 
und  Sari-qol  (Taäkurghan),   wodurch  wir  allzuweit  nach  Osten 
gefährt  werden.     Licht  in  diese   dunkle   geographische  Frage 
hat  erst  in  neuester  Zeit  (1870)  die  russische  Expedition  unter 
General  Abramow  gebracht,  welcher  sich  der  Reisende  A.  Fed- 
^enko  angeschlossen  hatte.    Als  Resultat  derselben  ergab  sich, 
dass  sich  die  Quellen  des  Zaraf  San  auf  einem,  das  Alai-Plateau 
(dast-i-Aläi,   Öarlf-al-din  I   p.  174,  185;   vgl.  Wu-lui*  in   einer 
sinischen   Beschreibung   der  Westgebiete,  Deguignes    1,   2   p. 
LXXXV)  im  Westen  abschliessenden  Gebirgsrücken  in  einem 
7  y<2  Meilen  langen  Gletscher  befinde  und  von  demselben  herab 
in  gerader  Richtung  nach  Westen   an   den  Gebirgsorten   Pal- 
durak  und  Ab-burdan  vorüber  unter  dem  Namen  Ma6a  fliesse 
und  sich  bei  Warza-minar  mit   einem  zweiten,   ebenso    bedeu- 
tenden Zufiuss  aus  Süden,  dem  Fan,  vereinige.    Dieser  letztere 
entspringt  in  dem  Küh-tan,  dem  Scheidegebirge  zwischen  Bad- 
Hi^är  und  dem  Zarafdangebiet,    durchfliesst  den  Iskandar-göl, 
der  einen  Umfang  von  ly^  Meilen  besitzt  und  7000  Fuss  hoch 
liegt,  und  nimmt  von  Osten  her  den  Yäghan-äb,  welcher  einen  mit 
dem  Maöa  fast  parallelen  Lauf  hat,  und  von  entgegengesetzter 
Seite  den  Bach  Pfts-rüd  auf.     Das  Fängebiet  hatte  drei  Jahr- 
zehende vorher  (1841)  AI.  Lehmann  betreten  und  durchforscht; 
aber  bereits   im  Jahre  1500   war  Bäbr  auf  seinem  Zuge   von 
Qara-tagin   und   Hi^är   nach    Yär-ya'ilaq    in    denselben   unweg- 
samen Bergdistrict  gelangt :  aus  dem  Thale  des  Kem-rüd,  eines 
Nebenflusses  des  Hi^ärstromes,   hatte  er  nämlich   den   fast  un- 
übersteiglichen  Gebirgsrücken  Sarw-tagh,  wahrscheinlich  in  dem 
12.300  Fuss  hohen  Murapass,   überstiegen,  um  in  das  Territo- 
riam  Fän   einzudringen,    das   seinen    eigenen   Fürsten    besass, 
von  welchem  Bäbr  Pferde  bester  Race  zum  Geschenk  erhielt; 

SitiuigsW.  d.  phiL-hist  CI.  LXXXYIL  Bd.  I.  Hft  6 


82  Tomftscbak. 

daselbst  fand  er  einen  herrlichen  Bergsee,  wahrscheinlich  den 
Qül-I-qaIän  der  neuesten  Berichte  (I  p.  176:  Au  milieu  des 
montagnes  de  Fan  se  trouve  un  grand  lac  qui  a  enviroo  un 
ser'i  de  circuit;  c'est  une  belle  nappe  d'eau  et  qui  offre  un 
spectacle  des  plus  curieux),  und  schlug  hierauf  nordwestwärts 
den  Weg  über  Eiätüt  nach  dem  Qühik  ein.  Die  Berg^amen 
Fan  und  Qän  werden  uns  noch  später  begegnen.  —  Hier  nur 
noch  die  Erörterung  des  heutzutage  fasst  ausschliesslich  in 
Uebung  bestehenden  Namens  Zar-afään,  d.  i.  xp^^^f^p^^*  D^n 
Grund  zu  dieser  Bezeichnung  bot  unzweifelhaft  die  Thatsacbe, 
dass  die  Wassermassen  der  oberen  Zuflüsse  aus  dem  Kühtan 
und  Qara-tagh  einen  mit  Goldkörnchen  und  Goldkrystallen 
untermischten  Bergschutt  mit  sich  führen  und  dieses  Geschiebe, 
zu  überaus  dünnen  Plättchen  ausgeschmiedet,  an  den  flacheren 
Uferstellen  absetzen;  dass  jenes  Gebirge  Ganggold  enthalten 
muss,  ergiebt  sich  auch  aus  dem  Vorhandensein  von  Gold- 
Schüppchen  in  den  das  Gebiet  von  Hi9är  durchschneidenden 
Zuflüssen  des  Oxus.  Schon  die  sinischen  Berichte  fähren  Gold 
als  ein  Product  von  Sogd  an,  und  die  arabischen  Geographen 
bezeugen  das  Vorkommen  von  Gold  in  dem  Gebirge  Buttam. 
Der  reisende  Naturforscher  Lehmann  erfuhr  (S.  115),  dass 
die  Tagik's  bei  Ura-mlthan  aus  dem  Ufersande  des  Flusses 
Gold  in  feinen  Körnchen  wüschen;  er  selbst  sah  (S.  119,  122) 
einige  feine  Goldkörnchen,  die  10  Werst  aufwärts  von  Warza- 
minar  an  dem  Fänbach  waren  erwaschen  worden,  und  be- 
schreibt das  mühsame  Verfahren  der  überaus  spärlichen  Gold- 
gewinnung, mit  welcher  sich  vornehmlich  die  Juden  befassen 
sollen.  Uebrigens  ist  der  Name  Zaraf  San  ein  durchaus  modemer 
und  in  keiner  älteren  Schriftquelle  nachzuweisen;  denn  dass 
bei  Aristoteles  Meteorol.  I,  13  der  Flussname  6  Xodan^  ver- 
ändert werden  müsse  in  Zapiaa^i;  und  dass  der  Zarafsän  damit 
gemeint  sei,  wie  Roesler  (Aralseefrage  S.  52)  will,  —  credat 
Judaeus  Apella. 

Sollte  sich  der  älteste  Name  des  Sogdflusses  gar  nicht 
erschliessen  lassen?  Doch  vielleicht,  wenn  wir  den  sinischen 
Berichten  über  Sogdiana  aus  den  Zeiten  der  Dynastien  Su'i 
und  Thang  Aufmerksamkeit  schenken  wollen;  darin  ist  mehr- 
mals von  dem  Na-mi  sui'  oder  dem  Flusse  Na-mi  (^ß  f^)  die 
Rede,  und  es  wird  bemerkt,  Khang  oder  Sa-mo-kien  (Samarkand) 


CentnlMiatisebo  Studien.  I.  83 

liege  südlich  vom  Na-mi  (Klaproth,  Magasin  asiatique  I  p.  106), 
der  Sitz  des  Herrschers  von  Mi  (Maimurgh)  sei  westlich  vom 
Na-mi  (Deguignes  1,  2  p.  LXXII;  Abel-Remusat,  Nouv.  m^l. 
aa.  I  p.  233;  Klaproth  p.  105),  das  westliche  Tsao  (lätikhan) 
liege  nur  wenige  Li  entfernt  vom  Südufer  des  Na-mi  (Klaproth 
p.  105),  der  Vorort  des  Reiches  Ho  (Qawa)  befinde  sich  mehrere 
Li  südlich  vom  Na-mi  (Klaproth  ebd.;  A.  Remusat  p.  237; 
fehlerhaft  Deguignes  p.  LXXIII:  k  plusieurs  mille  li  au  sud 
de  la  rivifere  Na-mi  §u'i),  ferner  das  westliche  'An  liege  südlich 
(Klaproth  p.  107 ;  nördlich,  Remusat  p.  232)  vom  Na-mi,  end- 
lich der  Hauptort  der  A-si  liege  ,sur  la  rivifere  Na-mi,  au  sud 
de  cette  rivi^re ;  cette  ville  ^tait  entour^e  d*un  quintuple  cercle 
d'eau  courante^  Lassen  wir  die  letzte  Angabe,  bei  welcher 
eine  Verwechslung  mit  einem  anderen  Flusse,  vielleicht  dem 
Murgh-äb,  mitspielen  dürfte,  bei  Seite,  so  laufen  alle  übrigen 
topographischen  Angaben  auf  die.  eine  Thatsache  hinaus,  dass 
unter  Na-mi,  wie  zuerst  Klaproth  (p.  121)  ersehen  hat,  kein 
anderer  Strom  als  der  heutige  Zaraf §än  verstanden  werden 
darf;  auch  die  nach  dem  Thang-§u  und  einer  vollständigeren 
Redaction  des  Hiuan-Thsang  zusammengestellte  japanische 
Karte  vom  Jahre  1710  zeichnet  den  Lauf  des  Na-mi  sui  dem 
Sachverhalt  genau  entsprechend  nordwärts  vom  Oxus  oberhalb 
der  Orte  Mi-mo-ho  Sa-mo-kien  Kiü-soang-ni-kia  und  Pu-ho 
(Bakhär).  Dieser  von  den  sinischen  Berichterstattern  gebotene 
Name  fiir  den  Sogdfluss  verdient  unseres  £rachtens  näher  in's 
Auge  gefasst  zu  werden,  da  wir  mit  vollem  Rechte  annehmen 
dürfen,  dass  in  dem  Lautcomplex  Na-mi,  wofür  mehreren 
Analogien  zufolge  entweder  Namidh  oder  Namiq  substituiert 
werden  kann,  die  in  Sogdiana  alteinheimische  Bezeichnung  für 
den  heiligen  Strom,  welcher  das  Sogdthal  befeuchtet  und  mit 
Pflanzenwuchs  segnet,  enthalten  ist,  während  der  von  den 
Griechen  ausgegangene  Name  IIoXuT{|it)TO(;  bloss  die  Uebersetzung 
des  altiranischen  Namens  darbietet.  Es  läge  nun  nahe,  auf 
baktr.  nämau,  altpers.  näma,  neupers.  näm  ,nomen,  fama,  gloria', 
und  baktr.  namista  ,nobilissimus',  neupers.  näml  (^b,  aus 
näm  -|-  ya)  ,illustris,  celebratus*  hinzuweisen;  das  Richtigere 
glauben  wir  indess  zu  treffen,  wenn  wir  eine  sogdianische 
Namensform  Namiq  statuieren,  welche  einem  älteren  Nemanhya 
oder  Namaqya  =  ved.  namasia   ,adoranduB,    reverendus,    izpoq- 

6* 


84  Tomascbek. 

%'xfTiTioq,  xoXut{|xiqto;'  entspräche  und  wie  baktr.  nemaqjämahi 
,wir  beten  an,  huldigen',  nemanh  ved.  nämas  ^Anbetung,  Ver- 
ehrung' auf  den  arischen  Verbalstamm  nam  ^sich  beugen' 
zurückgie9ge.  Einen  ähnlichen  Gang  in  der  Lautentwickelung 
muss  auch  ösisches  (dig.)  namug  (tag.)  namüg  (südl.)  namig 
,Korn,  Getreide'  durchgemacht  haben,  wenn  es  wirklich  wie 
neupers.  namak  («^JU3)  ,Salz'  ursprünglich  die  ,verehrnngs- 
würdige,  heilige'  Nahrung,  die  Speise  der  Opferflamroe,  bedeu- 
tete. —  Wenn  wir  Namiq  als  einheimische  Vulgärbezeichnung 
für  den  ZarafiSan  hinstellen,  welche  die  sinischen  Pionniere 
des  Westens  im  sechsten  und  siebenten  Jahrhundert  nach  Chr. 
in  ausschliesslichem  Gebrauche  stehend  vorgefunden  haben, 
so  sind  wir  damit  noch  nicht  zu  der  Annahme  gezwungen, 
dass  dieser  Name  seit  ältester  Zeit  der  einzige  gewesen,  welcher 
für  den  heiligen  Strom  in  Uebung  war.  Es  konnten  neben 
Namaqya  recht  wohl  auch  noch  andere,  vorzugsweise  hieratische, 
Bezeichnungen  bestanden  haben:  so  ist  es  z.  B.  in  hohem 
Grade  wahrscheinlich,  dass  der  in  dem  Avesta  vorkommende 
Däitya,  huzv.  Däitik,  der  aus  Airyana  vaega  fliesst  und  an 
welchem  Zoroaster  seine  Offenbarungen  erhalten  haben  soll, 
bevor  er  nach  Balkh  zog,  kein  anderer  ist  als  der  Sogdfiuss, 
—  eine  Meinung,  welche  uns  gelegentlich  Prof.  Sachau  mit- 
getheilt  hat  und  die  derselbe  hoffentlich  bald  gründlich  dar- 
legen wird.  Wir  können  uns  wenigstens  nicht  mit  der  Ansicht 
befreunden,  welche  das  arische  Quellenland  nach  Medien  und 
Atropatene  verlegt  und  den  Däitya  bald  mit  dem  Araxes,  bald 
mit  dem  Kür  identificiert ;  für  Airyana- vaega  gilt  uns  noch 
immer  die  östliche  oder  Gebirgsseite  von  Sogd  mit  den  an- 
grenzenden Cantonen  Farghäna,  Darwäz  etc.;  auch  haben  wir 
keinen  Gnind  im  ersten  Fargard  des  Vendidäd  bei  den  Worten 
airyanem  vaögö  vafthuhyäo  däityayäo  von  der  traditionellen 
Uebersetzung  ,der  guten  Däitya'  abzuweichen,  da  wir  uns  nicht 
zu  wundern  brauchen,  dass  der  Däitya,  falls  wir  darin  den 
Sogdfluss  erblicken  dürfen^  eine  solche  Wichtigkeit  beigelegt 
wird;  wenn  es  heisst:  ,der  Däitik  ist  reich  an  Kharfastar's 
oder  schädlichen,  ahrimanischen  Thieren',  so  kann  dies,  wenig- 
stens für  den  Unterlauf  des  Flusses,  wirklich  zutreffend  sein  und 
kann  das  Ungeziefer  gerade  so  als  Gegenschöpfung  Ahriman's 
gegolten    haben    wie   der   Winter   Airyana-vaägas.     Justi  ver- 


CeDtralasiatiiche  Stadien.  I.  85 

muthety  daes  der  im  BundeheiS  angeführte  Fluss  Zi&inand,  der 
von  Sogd  aus  gegen  den  Khagand  fiiessen  soll,  der  Zarafdän 
sei;  dies  geht  nicht  an;  gemeint  ist  entweder  der  Yilan-ötii 
von  Dizak  oder  der  Fluss  von  Ura-tübä;  nicht  einmal  an  den 
bei  Ölsmän  an  dem  Nürätänyn  Aq-tau  vorüberstreichenden 
Zufluss  des  Zaraf^n  kann  gedacht  werden. 

Ausser  dem  Zaraf§an  kommt  nur  noch  der  Fluss  von 
^ahr-I-sabz  in  Betracht,  welcher  im  SultAn-Häzrat-Tagh,  dem 
Verbindungsknoten  zwischen  dem  Samarkand-Tagh  und  dem 
Kuh-i-tan,  entspringt  und  über  QardI  in  der  Richtung  gegen 
Bukhärä  fiiesst,  um  sich  im  Sande  zu  verlaufen  oder^  gleich 
dem  ZarafSän,  ein  Wüsten wasserbassin  auszufüllen ;  sein  be- 
deutendster Zufluss  ist  der  Fluss  von  Khuzär,  der  bei  Qarsi 
einmündet.  Dieses  Wassersystem,  obwohl  von  minderer  Be- 
deutung als  das  des  Zarafdän,  ist  für  die  alten  Dependenzen 
von  Sogd,  Kaiäniya  und  Nakhäap,  die  Quelle  des  Gedeihens 
und  der  Blüthe  gewesen,  und  noch  jetzt  soll  das  Gebiet  von 
Sahr-l-sabz  an  Wohlstand  und  Industrie  Bukhärä  und  Samar- 
qand  zum  mindesten  erreichen,  wo  nicht  übertreffen.  Von 
Flussnamen  alten  Klanges  auf  diesem  Gebiete,  in  welchem  auch 
das  später  zu  erörternde  Nauioxa  oder  Nawqat  lag,  erfahren 
wir  nur  wenig  in  den  Schriftwerken  der  Vergangenheit.  Bei 
Idrisl  (II  p.  200)  finden  wir  eine  Notiz  über  zwei  Flüsse  im 
Gebiete  von  Ke§§,  von  denen  der  eine  Qa§arln  im  Gebirge 
Bttttam,  der  andere  As-rüd  im  Gaue  Ea§ka  entspringt;  beide 
vereinigen  sich  bei  Nasaf,  dem  heutigen  Qar§i.  In  eine  viel 
ältere  Zeit  geht  zurück  die  Angabe  der  sinischen  Annalen 
(Abel-Kömusat,  Nouv.  mä.  asiat.  I  p.  238;  Klaproth,  Magas. 
aaiat.  I  p.  105;  Deguignes  I,  2  p.  LXXII):  ,le  pays  de  Sse 
est  a  dix  li  au  midi  de  la  rivifere  tv-mo'.  Wir  werden  später 
sehen,  das»  das  Territorium  von  Sse  so  ziemlich  mit  Kess  zu- 
sammenfallt; der  Flussname  Tumo  §ui  oder  Tüma  ist  iranischen 
Ursprungs,  und  wir  vergleichen  baktr.  tüma  ,kräftig,  strotzend', 
von  WZ.  tu  ,strotzen,  vermögen',  wie  skr.  tümra  ,geschwollen, 
feist,  kräftig'  und  lat.  tumidus.  Freilich  finden  wir  auch  im 
Türkischen  \^^y^  tümäq  ,rivifere'  (Pavet  de  Courteille,  Dic- 
tionnaire  p.  245).  Es  ist  uns  gelungen  die  sinische  Nachricht 
durch  eine  Notiz  aus  später  Zeit  zu  bekräftigen.  Bei  dem 
Geschichtschreiber   Timur's,    Sarif-al-din    *Ali   al-Yazdi,    finden 


86  Tomaschek. 

sich  folgende  zwei  Stellen,  welche  auf  den>  bei  Ta&-kurghftn 
laufenden  Zufluss  des  Kadka-daryä  bezogen  werden  müssen 
(I  p.  147) :  jAlaga  Itu  et  Pulad  Bugha  etoient  campes  au  ruis- 
seau  de  Tum,  et  TEmir  Hussein  ätoit  arrivä  k  Qaräi^;  (III 
p.  174) :  ,Timur  alla  camper  au  bord  d'une  petite  rivi^re,  nomm^e 
Tum'  und  am  folgenden  Tage  ,dans  la  d^liceuse  campagne 
de  Ke§§^  So  genau  und  zuverlässig  sind  die  Angaben  der 
sinischen  Berichterstatter  über  die  so  entfernten  Westgebiete! 
Uebrigens  findet  sich  bei  Serif  al-din  auch  der  Name  Kaska 
oder  Khuäka  für  den  Fluss  von  Kess,  z.  B.  (I  p.  205):  ,il 
alla  Camper  dans  la  plaine  de  Khüämls  sur  le  bord  de  la  belle 
rivi^re  de  Ehuäka^  Ist  es  gestattet  den  Namen  mit  neupers. 
khuäk  baktr.  huska  ,trocken^  in  Verbindung  zu  bringen,  so  hätten 
wir  da  einen  Gegensatz  zu  dem  ^wasserreichen,  strotzenden' 
Zufluss  Tum;  auch  sonst  wird  berichtet,  dass  der  Fluss  von 
Qarsi  und  Kesä  im  Sommer  wasserarm  sei  und  mitunter  gänzlich 
austrockne.  Indess  sind  auch  andere  Ableitungen,  zumal  im 
Zusammenhange  mit  dem  Ortsnamen  Kess^  möglich. 


Wenden  wir  uns  von  den  Wasseradern  zu  den  Rippen 
des  Landes  Sogd !  Der  Name  von  Sogd  haftet  bei  Ptolemaeus 
einem  Gebirge  an,  das  sich  über  das  Land  von  Westen  nach 
Osten  in  langem  Zuge  erstreckt  und  dessen  Westende  den  Lauf 
des  nicht  genannten  Polytimetos  an  der  südlichen  Uferseite  bis 
zur  Krümmung  begleitet;  es  umfasst  also  die  ptolemäische 
Bezeichnung  Ta  lo^Bia  5piQ  zunächst  jenen  Gebirgszug,  der  aus 
der  Nachbarschaft  Bukhfträ's,  entlang  dem  ZarafSan  bis  zu 
dessen  Quelle  streicht,  dann  aber  auch  das  System  aller  jener 
parallelen  Ketten,  welche  nach  Osten  hin  bis  zu  den  Quellen 
des  Jaxartes  und  Oxus  sich  hinziehen,  und  als  deren  Fort- 
setzung der  Thian-§an  gelten  darf,  also  die  Gebirge  von  OsrüSana 
und  Farghäna  einerseits  und  die  von  Hi^är  und  Qai*a-tagin 
anderseits;  Ptolemaeus  bemerkt  nämlich:  ärh  twv  ^oySiwv  6pwv 
xoTap.ol  Siappeouci  xXetou;  avü)vu[jioi,  cujjißaAAovTe?  toT?  86o  TCOTapioT^, 
und  meint  darunter  die  Zuflüsse  zum  Oxus  in  Hi^är  und 
Qara-tagin  und  jene  zum  Jaxartes  in  Khöqand.  —  Treffend 
charakterisirt  die  vorherrschende  Richtung  der  sogdischen  Ge- 
birge  von  West   nach   Ost   der   arabische  Geograph  Qodäma, 


CentnOMiatiselio  Studien.  I.  87 

wenn  er  bei  der  Position  Ktil,  welche,  wie  wir  sehen  werden, 
etwas  nördlich  von  dem  heutigen  Bustän  in  Bukhäräi  gesucht 
werden  muss,  bemerkt  (Sprenger,  Post-  und  Reiserouten,  S.  17) : 
^südlich  davon  beginnen  die  Berge,  welche  sich  bis  Sin  aus^ 
dehnend  Wir  übergehen  die  Sonderbezeichnungen,  die  sich 
bei  anderen  arabischen  Geographen  für  diesen  Bergzug  vor- 
finden, und  erwähnen  nur  den  Namen  Sah,  den  al-Iftakhri 
(übers,  v.  Mordtmann,  S.  130)  für  das  Gebirge  südlich  von 
Samarqand  kennt.  Am  häufigsten  begegnet  der  Name  Buttam 
{f^)  als  Gesammtbezeichnung  für  den  Gebirgsstock,  welcher 
im  Gebiet  von  Nakhsap  und  Kiss  anhebt  und  in  der  Richtung 
nach  Osten  sich  hinziehend  die  Quellen  des  ZarafSän  in  sich 
schliesst,  so  wie  die  Quellen  aller  jener  Zuflüsse,  welche  Oxus 
und  Jaxartes  aufnehmen;  in  neuerer  Zeit,  zum  ersten  Male 
bei  Bäbr  (I  p.  56),  begegnet  dafür  der  Name  Küh-i-tan  oder 
Küh-tan,  und  auch  die  neuesten  Kartenwerke  bieten  fiLr  das 
Scheidegebirge  von  Ki§fi  und  Hi^är  den  entstellten  Namen 
Koten  oder  Kütün.  Seit  Lehmann  sind  auch  die  Benennungen 
Wafi&an-tau  und  Fän-tau  (von  neupers.  &n  ,morsch,  brüchig^) 
für  die  südwärts  von  Ura-mithan  und  Warza-minar  am  Zarafään 
sich  erhebenden  Bergzüge  in  Gebrauch. 

Auch  in  den  sinischen  Schriftwerken  finden  sich  Angaben 
über  Gebii*ge  in  Sogd.  So  findet  sich  z.  B.  die  Notiz,  südlich 
von  Tong-Tsao  oder  Osrü§ana  nach  Fe'i-'an  oder  Farghftna  hin 
erstrecke  sich  der  Po-si  ian  oder  das  Gebirge  Po-si  (Abel- 
Remusat,  Nouv.  mel.  asiat.  I  p.  235;  Po-sie,  bei  Deguignes), 
,ou  sont  des  retranchements  et  des  foss^s  creusäs  par  un  g^n^ral 
du  temps  des  Han' ;  man  wäre  versucht  in  dem  Namen  baktr. 
parsti  neupers.  püSt  ,Rücken'  zu  suchen,  oder  Basä  (Lmo),  was 
bei  einigen  Geographen  als  Gesammtname  für  die  von  Galöa's 
bewohnten  Gebirgscantone  von  Wärukh,  Sükh  und  Hü§iyär 
vorkommt ;  sogar  an  die  Thalschlucht  Basmanda,  durch  welche 
man  von  Ura-täpä  in  das  ZarafSänthal  hinübergelangt,  könnte 
gedacht  werden.  Bald  darauf  heisst  es  in  demselben  Berichte : 
,on  y  voit  la  ville  de  Ye-6a,  qui  est  gard^e  par  un  comman- 
dant.  On  sacrifie  deux  fois  par  an,  en  se  tenant  debout  vis-a-vis 
d'une  caverne  d'ou  il  sort  de  la  fumäe;  le  premier  qui  la 
touche  est  frapp6  de  mort.'  Bei  diesem  Naturwunder  werden 
wir  an  die  heiligen  Feuer  der  Parsen  gemahnt,  noch  mehr  aber 


88  Tomasohek. 

an  das  intereseante  Phänomen,  welches  Lehmann  zur  Rechten 
des  Fanbaches  unterhalb  Wair-flbäd  nahe  einem  Berggipfel 
beobachtete  (S.  127  f.)  und  das  durch  das  Vorhandensein 
brennender  Steinkohlenlager  im  Innern  des  Berges  erzeugt  wird. 
,Wir  näherten  uns  dem  Gipfel  des  Berges,  als  uns  plötzlich 
erstickende  Dämpfe  umfingen,  deren  starker  Schwefelgeruch 
augenblicklich  über  ihre  Natur  belehrte.  Wir  hatten  die  ewigen 
Feuer  erreicht  und  befanden  uns  vor  einem  natürlichen  Ofen; 
zwischen  den  Spalten  der  Sandsteinschichten  drangen  nämlich 
an  mehreren  Stellen  heisse,  unterirdische  Dämpfe  und  zuweilen 
helle  Flammen  hervor.  Hier  hat  man  in  den  Fels  eine  kleine 
Höhle  in  Form  eines  Backofens  hineingehauen  und  die  Wände 
derselben  mit  Steinen  ausgemauert.     Aus  der  Tiefe  des  Ofens 

'  vernahmen  wir  ein  beständiges  Kauschen,  Murmeln  und  Kochen. 
Etwa  50 — 100  Fuss  über  dem  Ofen  und  etwas  weiter  öst- 
lich gewahrten  wir  mehrere  künstliche  Vertiefungen,  die 
locker  ausgefüllt  waren,  so  dass  durch  die  Zwischenräume  be- 

.  ständig  heisse  Dämpfe  emporstiegen;  wir  sahen  das  ganze 
Gemäuer  mit  einem  Aggregat  von  3chwefelkrystallen  bekleidet. 
Anderen  ähnlichen  Gruben  entstiegen  ausser  den  Schwefel- 
dämpfen auch  Salpeterdämpfe,  die  sich  in  der  Gestalt  niedlicher, 
fast  Zoll  hoher  Dendriten  condensieren.  Schwefel  und  Salpeter 
wird  zum  Verkauf  eingesammelt,  etc.*  —  Schon  der  arabische 
Polyhistor  Qazwin!,  und  nach  ihm  mehrere  Verfasser  geo^a* 
phischer  Compendien,  kennen  dieses  Phänomen  und  berichten 
darüber  ungeßihr  Folgendes  (Baqüwi,  Notices  et  extraits  des 
manuscripts,  tome  H  p.  508;  Mesalek  alabsar,  Not.  et  extr., 
tome  Xni  p.  256;  vgl.  auch  I^takhrl  S.  130,  Idrisi  I  p.  486  etc.): 
,Buttam  ist  ein  Gebirgscanton  im  Bereich  von  Farghäna.  Die 
Berge  von  Buttam  sind  hoch  und  ziemlich  unzugänglich ;  gleich- 
wohl giebt  es  daselbst  viele  Heerden  von  Schafen ,  Rindern 
und  Pferden,  in  den  Thälern  blühende  Dörfer,  an  den  Berg- 
abhängen starke  Vesten.  Man  findet  daselbst  Gold,  Silber, 
Ammoniaksalz,  Borax,  Vitriol;  ferner  Eisen,  Blei,  Kupfer, 
Quecksilber;  auch  Steine,  welche  wie  Kohlen  brennen.  Daselbst 
ist  nämlich  ein  Fels  mit  einer  natürlichen  Höhle,  aus  welcher 
beständig  Dämpfe  dringen,  die  bei  Nacht  hell  leuchten;  der 
Qualm  ist  unerträglich;  an  den  Wänden  werden  die  Dämpfe 
fest,    und   die  Anwohner   sammeln   die  so   gebildeten  Brocken 


CentnÜMiAtische  Studien.  I. 


von  Ammoniak  und  Salpeter^  Schwerlich  bezieht  sich  auf 
diese  Gegend  der  Bericht,  der  sich  bei  Mas*üdi  (Les  Prairies 
d'or,  p.  Barbier  de  Meynard,  I  p.  347  sq.)  findet  und  worin 
die  Rede  ist  von  einem  40—50  Meilen  langen  Thalo,  welches 
die  Karawanen  passieren  müssen,  wenn  sie  aus  Khurftsän  über 
Sughd  nach  Sin  ziehen :  in  diesem  befänden  sich  die  Berge,  aus 
welchen  Ammoniak  (nuSädar)  gewonnen .  wird.  Denn  man  kann 
dabei  mit  Reinaud  (Geographie  d^Aboulfeda  p.  CCCLXXII) 
viel  eher  an  die  flammenden  Berge  Ho-San  im  Thian-San 
denken;  vgl.  auch  die  Stelle  aus  dem  Kao-dhang-hing-ki  (Journal 
asiat.  IV.  s^rie,  tome  IX,  p.  63):  ,on  tire  du  sei  ammoniac 
d'une  montagne  situ^e  au  nord  de  Pe-thing  (=  Urumtsi)'. 
Mit  grösserer  Berechtigung  ziehen  wir  hieher  eine  Notiz  aus 
dem  Alterthum,  die  sich  bei  Plinius,  dem  Naturforscher,  findet 
(II  §  237) :  flagrat  in  Bactris  Cophanti  noctibus  vortex.  Baktra 
ist  hier  in  weiterem  Sinne  für  das  makedonisch-baktrische 
Reich  zu  nehmen,  welches  auch  Sogdiaua  umfasste ;  der  Name 
RwoflcvTT;<;  (vgl.  KbxpavTa,  Ort  in  Karmanien,  Ptolem.  VI.  8,  14, 
und  yj^jS  Küfan,  6  Fars.  v.  Abiward,  Yäqüt)  geht  zurück  auf 
baktr.  kaofa,  altpers.  kaufa  ,Höckery  Bergrücken^,  woraus 
neupers.  koh  ,Berg^  hervorgegangen,  und  bedeutet  somit  ,höckrig, 
kuppenreich^  Zu  kühn  wäre  wohl  die  Vermuthung,  dass  der 
in  dem  Reiseberichte  Fedtschenko's  vorkommende  Name  Kan- 
tagh  fiir  den  Berg,  auf  dessen  brennenden  Steinkohlenschichten 
Schwefel  gewonnen  wird,  in  irgend  welchem  lautlichen  Zu- 
sammenhange, etwa  durch  die  Mittelform  Kuhän,  mit  dem 
plinianischen  Cophantes  stünde;  auch  müssen  wir  absehen  von 
der  Variante  Qän  für  Fan,  die  sich  in  dem  persischen  Texte 
bei  Bäber  (I  p.  176:  nous  arrivames  aux  limites  du  district 
de  Fan  etc. ;  laissant  Fän  k  main  droite,  nous  primes  la  route 
de  Kiätüt  etc.)  vorfindet.  Auch  eine  zweite,  sich  uns  auf- 
drängende Vermuthung,  dass  nämlich  die  Völkerschaft  der 
KivBapoc,  welche  Ptolemaeus  neben  den  (, waldbewohnenden*) 
ApußixTai  im  östlichen  oder  gebirgigen  Sogdiana  anführt,  etwa 
das  Thal  (darra,  derena)  des  Berges  Kan  bewohnt  haben  möge, 
müssen  wir  zurückweisen,  da  einmal  der  heutige  Name  des 
Berges  keine  alte  Gewähr  besitzt  imd  anderseits  die  KdvBapoi 
auch  anderswohin  verlegt  werden  dürfen,  in  das  Kandargebirge 
ÖBtUch   von   TaS-kurghän   (Sary-qol),    das   seinen   Namen    von 


90  Tomascbek. 

einer  aromatischen  Holzart  (skr.  kandara,  neupers.  kandär)  zu 
haben  scheint. 

Einen  fabelhaften  Ruf  haben  durch  Alexander's  Helden- 
thaten  gleich  dem  Felsen  Aornos  an  der  Grenze  von  Indien 
drei  Gebirgspositionen  in  diesen  nordischen  Gegenden  erlangt, 
deren  Schilderung  so  ziemlich  das  Gepräge  orientalischer  Dich- 
tung trägt  —  so  wie  denn  im  «Sah-nämah  unter  anderm  die 
Bergveste  Sipend  fast  mit  denselben  Details  ausgemalt  wird 
wie  die  sogdianischo  Pelsenburg,  von  welcher  die  Geschichte 
Alexander's  Kimde  gibt.  Wiewohl  nun  die  griechischen  Berichte 
fast  nur  die  romanhaft-poetische  Seite  hervorkehren  und  aller 
topographischen  Genauigkeit  ermangeln,  so  lässt  sich  doch 
vielleicht  aus  dem  Sachverhalt  und  der  Aufeinanderfolge  der 
Thatsachen  die  Lage  der  drei  Gebirgsvesten  annähernd  be- 
stimmen. Machen  wir  den  Versuch  mit  den  beiden  ersten, 
der  baktrischen  und  der  sogdianischen  Veste;  die  dritte,  in 
Paraitakana  gelegene,  soll  Gegenstand  der  Untersuchung  in  der 
zweiten  Abhandlung  sein,  worin  wir  die  sakischen  I^ande 
schildern  werden. 

Im  Spätherbst  oder  zu  Winterbeginn  des  Jahres  328  war 
es    der    makedonischen    Truppenmacht    gelungen    den    sogdia- 
nischen Rebellen  Spitamenes  vollständig  zu  schlagen    und  den 
Westen  der  Provinz   dauernd  zu  beruhigen.     Die  Gefahr  war 
jedoch  für  die  Eroberer   noch   immer   bedeutend  gross,    da  sie 
fürchten  mussten  von  Baktra  abgeschnitten  zu  werden,    indem 
die  Aufständischen    die  Cantone   von  Xenippa  (Nakhfiap)    und 
Nautaka  (Nawqat)  mit   den    südwärts    gelegenen  Gebirgszügen 
besetzt  hielten,    so   dass   den   Makedoniern   geradeso    wie    bei 
Beginn   der  Expedition   nur  der  Weg   durch  die  Wüste   offen 
blieb.    Alexander  nun  nahm  zuerst  Xenippa  ein  und  eroberte, 
bevor  er  in  Nautaka  das  Heer  in   den  Winterquartieren    aus- 
ruhen Hess,  die  starke  Felsenposition  des  Sysimithres,  wodurch 
die  Verbindung  mit  Baktra  über  das  Gebirge  hin  ein  f)ir  alle- 
mal   hergestellt   und   gesichert   war.     Diese   Position,   tq    ev    x^ 
BoxTpiavtj  1^  2ici{x{6pou  ^sipa  (Strabo  XI  p.  517),    war  15  Stadien 
(9000  Fuss)  hoch  und  zählte  am  Fusse  80  Stadien  oder  2  Meilen 
im  Umfang ;   auf  der  breiten  befestigten  Höhe  des  Berges  konnte 
für  1500  Mann  Korn   angebaut   werden,    so  dass  für   die  Ver- 
theidiger   der    Position   Nahrungsmangel    nicht    zu    befürchten 


Cantnlttifttiiche  Stadien.  I.  91 

war.  Zur  Ergänzung  diene  der  Bericht,  der  sich  bei  Curtius 
VIII  8,  19  findet:  ,in  regionem,  quam  Nautaca  appellant,  rex 
cum  toto  exercitu  venit.  Satrapes  erat  Sysioiithres :  is  armatis 
popularibus  fauces  regionis,  qua  in  artissimum  cogitur,  valido 
munimento  saepserat.  Praeterfluebat  torrens  amnis,  terga  petra 
claudebat:  hanc  manu  perviam  incolae  fecerant.  Sed  aditus 
specus  accipit  lucem,  interiora  obscura  sunt.  Perpetuus  cuniculus 
iter  praebet  in  campos,  ignotum  nisi  indigenis  etc^  Alexander 
nahm  zuerst  die  von  Sysimithres  aufgeführten  Bollwerke  ein 
und  drang  über  den  Bergstrom,  —  ,interveniebat  fluvius^ 
coeuntibus  aquis  ex  superiore  fastigio  in  vallem'  —  zu  der 
zsTpa  vor,  die  er  nach  allen  Kegeln  der  Kriegskunst  belagerte, 
bis  sich  Sysimithres  ergab.  Wir  haben  also  in  dieser  iziTpx 
einen  Engpass  vor  uns,  einen  angeblich  durch  Menschenhand 
bewerkstelligten  ungemein  schmalen  Durchgang  mitten  durch 
einen  steilen  Felsenrücken,  auf  welchem  ein  geräumiges  Schloss 
Unterkunft  für  zahlreiche  Vertheidiger  bot;  eine  sich  lang 
hinziehende  Clause,  durch  welche  man  wieder  in  ebenes  Ge- 
biet gelangte.  Dieser  Umstand,  sowie  das  gänzliche  Schweigen 
über  die  Nachbarschaft  des  Oxus,  verbietet  an  die  Position 
von  Kalif  (v-äJI^)  zu  denken,  welche  bei  persischen  Autoren 
ganz  ähnlich  beschrieben  wird;  wir  müssen  uns,  schon  wegen 
der  Anführung  des  nahe  gelegenen  Nautaka,  das,  wie  wir 
sehen  werden,  in  dem  Gebiete  von  Kisä  oder  Sahr-I-sabz  ge- 
sucht werden  muss,  zu  der  östlicheren  Passage  wenden,  welche 
nach  Tarmidh  (baktr.  tarö-maetha  ,jenseitige  Ansiedelung  ?0 
fuhrt  und  das  Scheidegebirge  zwischen  KiSs  und  Bas-Hi^&r 
oder  den  Küh-i-tan  in  dem  ,ei8ernen^  Pass  durchschneidet. 
Dass  die  Burg  des  Sysimithres  noch  zu  dem  Gebiete  von  Baktra 
gerechnet  wird,  darf  uns  nicht  stören;  wie  später  das  Gebiet 
der  Tukhära  vom  eisernen  Pass  anhub,  so  mag  in  alter  Zeit 
die  Satrapie  Baktra  nordwärts  über  den  Oxus  gereicht  und 
das  Stromgebiet  des  Flusses  von  Tarmidh  mit  dem  benachbarten 
Durchgangsthore  umfasst  haben.  —  Den  iranischen  Namen 
des  ,ei8ernen  Thores',  Dar-1-ähin,  bietet  einer  der  ältesten 
arabischen  Geographen,  Ya*qübi  in  seinem  ,Buch  der  Länder^ ; 
nach  ihm  ist  Dar-i-ähln  eine  nördlich  von  Balkh  gelegene, 
bewohnte  Ortschaft  wie  Ki&s  und  Nakhsap ;  auch  Idrisi  spricht 
von  einer  ,kleinen,   bevölkerten  Stadt'  bei  dem  Engpass.    Das 


92  Tomftsehek. 

vollständige  Itinerar  zwischen  NakhSap  und  Baikh  lautet  bei 
den  arabischen  Geographen  seit  Ibn-Qawqäl  so :  Nakhsap, 
Sünigy  Didakl;  Kandak,  Bäb  al-]^adid  oder  ^das  eiserne  Thor', 
Därank,  HäSim-gird,  Tarniidh;  von  Tarmidh  über  den  Oxus 
nach  Siyah-gird  oder  ^Schwarzburg^ ,  dann  nach  Balkh.  Im 
Ganzen  sind  es  neun  Stationen  oder  Tagemärsche,  und  zwar 
von  Nakhsap  nach  dem  eisernen  Thore  vier,  und  von  da  nach 
Balkh  fünf.  —  Sehr  genaue  Angaben  über  diese  wichtige 
Position  liefern  die  sinischen  Schriftwerke.  Kurz  ist  allerdings 
die  Notiz  bei  Ma-tuau  Lin,  der  in  seinen  Excerpten  aus  der 
älteren  Keiseliteratur  nach  einer  gedrungenen  Beschreibung 
des  Reiches  von  KiäS  Folgendes  hinzufugt  (Abel-Remusat,  Nouv. 
mel.  asiat.  I  p.  238):  ,C'est  lä  qu'est  la  porte  de  fer;  les  mon- 
tagnes  a  droite  et  ä  gauche  sont  inaccessibles.  Les  rochers 
sont  de  couleur  de  fer,  et  ce  d^filä  sert  de  limite  ä  deux 
royaumes.  On  le  ferme  effectivement  avec  des  portes  de  mätal^ 
Dagegen  beschreibt  Hiuan-Thsang  (um  630  n.  Chr.)  das  süd- 
lich von  KäSftna  oder  Ka§§  gelegene  Gebiet  und  den  eisernen 
Pass  in  folgender  ausführlicher  Weise  (Si-yü-ki,  par  St.  Julien^  I 
p.  22):  ,En  sortant  de  ce  royaume,  il  fit  environ  deux  cents 
li  au  sud-ouest,  et  entra  dans  des  montagnes.  La  route  des 
montagnes  ^tait  rüde  et  raboteuse,  et  les  sentiers  des  ravins 
etaient  bordös  de  pröcipices;  on  ne  rencontrait  aucun  village, 
et  Ton  ne  voyait  ni  eau  ni  herbes,  (p.  23):  II  fit  environ  trois 
Cents  li  au  sud-est,  ä  travers  les  montagnes,  et  entra  dans  les 
Portes  de  fer.  On  appelle  ainsi  les  gorges  de  deux  montagnes 
paralleles,  qui  s'äfevent  ä  droite  et  k  gauche,  et  dont  la  hauteur 
est  prodigieuse.  EUes  ne  sont  sdparöes  que  par  un  sentier  qui 
est  fort  etroit,  et,  en  outro,  härisse  de  precipices.  Ces  mon- 
tagnes forment,  des  deux  cötös,  de  grands  murs  de  pierre  dont 
la  couleur  ressemble  ä  celle  du  fer.  On  y  a  etabli  des  portes 
k  deux  battants,  qu'on  a  consolidees  avec  du  fer.  On  a  suspendu 
aux  battants  une  multitude  de  sonnettes  en  fer;  et,  comme  cc 
passage  est  difficile  et  fortement  defendu,  on  lui  a  donne  le 
nom  qu41  porte  aujourd'hui.  Lorsqu'on  est  sorti  des  Portes  de 
fer,  on  entre  dans  le  royaume  de  Tu-ho-lo  (Tukhärä)^  Der 
sinische  Pilger  gieng  also  von  Kä^na  aus  zwei  Tagreisen  lang 
in  südwestlicher  Richtung  gegen  Nakh§ap  zu,  ungeföhr  bis  zur 
Station  Sünig  oder  bis  Didaki,  wofiir  auch  die  Variante  Dizqän 


C«ntnlMUtiM]i*  Bedien.  I.  93 

begegnet;  und  schlug  von  da  eine  mehr  südöstliche  Route  ein, 
bis  er  in  drei  Tagereisen  zum  eisernen  Thore  gelangte,  dessen 
Befestigung  er  noch  wohlerhalten  antraf.  —  In  der  mongo- 
lischen Epoche,  im  Jahre  1222,  gelangte  Ehieu  Cang-Uhün  in 
diese  Gegend,  auch  ein  gleichzeitig  Reisewerk  Ye-lü-öhu-thsai' 
bietet  Angaben  über  selbe;  ersterer  schildert  als  Augenzeuge 
die  vielen  Gebirgszüge  südlich  von  Sie-mi-sse-kan  (Samarkand) 
und  Ki-Si  (KisS),  sowie  die  eiserne  Pforte,  durch  welche  er  in 
südöstlicher  Richtung  zum  A-mu  gelangte  (Pauthier,  Journal 
asiat,  VI.  s^rie,  tome  IX,  p.  76,  77).  Auch  in  einem  Abriss 
der  Thaten  Cingis-khdn's  wird  der  eisernen  Pforte  und  des 
A-mu  gedacht  (Pauthier,  Marco  Polo,  p.  CXXII).  In  allen 
diesen  Schriftwerken  finden  sich  die  Charaktere  Thie-men 
1^  P^  ,£isen  —  Pforte*  für  die  Localität  angewendet,  während 
der  mongolische  Name,  der  seit  dem  dreizehnten  Jahrhundert  den 
iranischen  und  arabischen  verdrängt  hat,  Tämür-^aghalgha 
lautet,  worin  der  zweite  Bestandtheil  auf  das  Verbum  xsLghs^yo 
,verschliessen^  zui*ückgeht  ,*  in  persischen  und  alttürkischen 
Schriftwerken  findet  sich  dafür  die  Modification  Tlmür-qahlaqa 
oder  -qohluga  (xälgV  ^%-hh)-  Wir  fiihren  die  zwei  wichtigsten 
Stellen  aus  Sarif-al-din  'Ali  an;  in  der  einen  (tome  III  p.  173) 
werden  folgende  Localitäten,  welche  Timur  1398  berührte, 
angeführt:  Tarmidh,  der  kiSlaq  von  Ölhän-Säh,  Tarki,  das 
eiserne  Thor  oder  Qohluga  mit  dem  Bergstrom  Bärik,  der  Ort 
Cikdaliq,  ferner  Qüzimundaq,  Dürbilgln,  der  Fluss  Tum,  endlich 
Keii;  in  der  anderen,  ziemlich  parallelen  Stelle  (IV  p.  173): 
Tarmidh,  Qohluga,  Sikdaliq,  Dulburgin,  KeSs.  Anderorts  wird 
der  Fluss  von  Sikdaliq  (I  p.  69),  sowie  der  Ort  Quzimundaq 
(1  p.  141)  erwähnt.  —  Da  wir  bereits  die  Hauptresultate  der 
russischen  Expedition  nach  Hi§är  kennen,  sind  wir  auch  in 
der  Lage  die  Position  der  eisernen  Pforte  auf  der  heutigen 
Landkarte  genauer  zu  fixiren  und  in  ein  helleres  Licht  zu 
stellen,  als  es  bisher  nach  den  allgemeinen  Angaben  der  älteren 
Reiseberichte  möglich  war  (vgl.  Majew,  Izwestija  der  kais. 
russ.  Geogr.  Ges.  XII,  1876,  Heft  5,  S.  349—363;  Lerch,  Russ. 
Rev.  VII,  1875,  Heft  8).  Wir  erfahren,  dass  der  Fluss  von 
Khüzär,  der  sich  mit  dem  KaSka-darya  vereinigt,  in  seinem 
Oberlaufe  aus  zwei  mächtigen  Quellenarmen  besteht,  dem 
«grossen  (katta)^  und  , kleinen  (kiöl)*  üru-darya.   Dieser  letztere 


94  ToBfttc^ok. 

entspringt  in  dem  Baii^ün-tagh,  einem  bedeutenden,  von  Nord- 
ost nach  Südwest  streichenden  Querriegel,  welcher  die  Wasser- 
scheide gegen  den  Oxas  bildet,  dem  er  nach  Süden  zu  den 
Fluss  von  Siräbäd  zuschickt.  Verfolgt  man  den  Weg  von 
Khüzdr  ostwärts  mit  einer  ziemlichen  Neigung  nach  Südost, 
so  gelangt  man  an  dem  Weiler  KuSluS  vorüber  in  das  Thal 
des  Kidi-uru-darya  und  über  Tang-i-khurftm  zu  dem  4509  engl. 
Fuss  hohen  Pass  von  Aq-robät;  aus  dem  sich  anschliessenden 
breiten  (Jaköathale  gelangt  •  man  zu  dem  Passe  von  Derbend 
oder  der  ^eisernen  Pforte',  welche  die  hohe  südwestlich  strei- 
chende Bergkette  durchbricht  und  über  den  Ki6laq  Derbend 
nach  der  ziemlich  bedeutenden  Ortschaft  Bai'-i^ün  führt.  Es 
ist  eine  schmale  Schlucht,  2  Werst  lang  und  5  bis  35  Schritte 
breit,  mannigfach  gewunden  und  von  einem  Giessbach  durch- 
strömt, der  im  Sommer  austi*ocknet  und  nur  bei  Hochwasser 
den  Siräbäd-darya  erreicht;  ihr  westliches  Ende  liegt  3740,  ihr 
östliches  3540  Fuss  hoch.  Diese  Schlucht  (,perpetuu8  cuniculus' 
bei  Curtius)  fuhrt  jetzt  den  Namen  Buzghala-khana  ,Haus  des 
wilden  Ziegenbockes',  der  Bach  (,torren8  amnis'  bei  Curtius), 
den  Serifeddln  Bärik  nennt,  Buzghala-khana-bulaq.  Auf  den 
älteren  Karten  findet  sich  ein  Ort  Darwan  verzeichnet,  das  ist 
offenbar  Darband,  ein  etwa  aus  500  Gehöften  bestehendes 
Winterdorf,  nach  welchem  der  Fluss  von  Slräbad  auch  Darband- 
darya  genannt  wird.  Diese  am  östlichen  Ausgange  des  eisernen 
Thores  gelegene  Oertlichkeit  erwähnt  auch  der  Reisende  Ruy 
Gonzales  de  Clavijo,  welcher  (1403)  im  Auftrage  des  Königs 
von  Castilien  Henrique  III.  zu  Timur  nach  Samarkand  zog 
und  eine  ziemlich  genaue  Beschreibung  des  eisernen  Thores 
giebt,  dessen  Befestigungen  damals  bereits  in  Trümmern  lagen 
(Historia  del  grau  Tamorlan,  Madrid  1782,  p.  140);  Clavijo 
schliesst  nämlich  seine  Beschreibung  mit  folgender  Notiz 
(p.  141):  Darbante  es  una  muy  gran  ciudad,  que  se  cuenta 
SU  senorio  con  una  grande  tierra,  e  las  primeras  destas  puertas, 
que  son  mas  cerca  de  nos  se  llaman  las  puertas  del  Fierro 
de  cerca  Darbante,  e  las  otras  postrimeras  se  llaman  las  puer- 
tas de  Fierro  cerca  Tennit  que  confinan  con  el  terreno  del 
India  menor.  Die  Ruinen  von  Tarmidh  (Terraiz)  sind  an  dem 
Ausfluss  des  Sürkhän  in  den  Amü  bei  dem  Flecken  Gulgul 
aufgefunden    worden.      Von    Tarmidh    nach    dem    östlicheren 


G«ntnaMUtiaebe  Stadien.  I.  95 

Qabädiyän  zählen  die  arabischen  Geographen,  ebenso  wie  nach 
Balkh,  zwei  Tagereisen.  —  So  viel  über  den  Felsen  des  Sysi- 
mithres ! 

Ganz  im  Unklaren  sind  wir  dagegen  über  die  Lage  des 
zweiten  Felsens,  der  ^sogdianischen'  Il^ipa,  welche  von  Aria- 
mazes  vertheidigt  worden  war.  Die  Verschiedenheit  der  Nach- 
richten über  diese  Felsenburg  ist  so  gross,  dass  wir  diese  mit 
gleichem  Rechte  in  den  äussersten  Westen  wie  in  den  äussersten 
Osten  von  Sogdiana  verlegen  dürfen,  je  nachdem  wir  die 
Tradition  des  Curtius  oder  die  des  Arrianos  zu  Grunde  legen. 
Curtius  schildert  sie  uns  so :  ,petra  in  altitudinem  XXX  eminet 
stadia,  circuitu  C  et  L  complectitur.  Undique  abscissa  et  abrupta 
semita  perangusta  aditur;  in  medio  altitudinis  spatio  habet 
specum  .  .  .;  fontes  per  totum  fere  specum  manant,  e  quibus 
collatae  aquae  per  prona  montis  flumen  emittunt^  Also  nicht 
ein  Engpass,  sondern  ein  hohes  Felsplateau  mit  einer  Veste; 
Ariamazes  soll  daselbst  30.000  Bewaffnete  beherbergt  und 
Lebensmittel  auf  zwei  Jahre  aufgespeichert  haben!  Wo  sollen 
wir  nun  das  Felsennest  mit  einem  Umfang  von  3^^  Meilen 
und  einer  Höhe  von  18.000  Fuss  suchen?  Curtius  und  seine  Ge- 
währsmänner (Kleitarchos  und  Timagenes)  verlegen  die  Ein- 
nahme desselben  in  die  Zeit  der  Expedition  nach  Margiana. 
Als  nämlich  Alexander  im  Winter  329/328  in  Baktra-Zariaspa 
Quartier  hielt,  brach  in  dem  kaum  bewältigten  Sogdiana  aller- 
orten der  Aufstand  mit  verstärkter  Wuth  aus,  und  scheint 
diesmal  der  Hauptstützpunkt  der  Insurrection  das  westliche 
Steppengebiet  gewesen  zu  sein,  wo  heute  die  Türkmänen  noma- 
disiren,  im  Alterthum  aber  die  Daher  und  Massageten  hausten. 
Für  das  Frühjahr  328  entwarf  Alexander  den  Verhältnissen 
gemäss  folgenden  Feldzugsplan:  um  die  westliche  Linie  zu 
decken  und  die  Verbindung  mit  Hyrkanien  und  Parthien  auf- 
recht zu  erhalten,  sollte  eine  Expedition  von  Baktra  längs  des 
OxuB  nach  Margiana  und  dann  weiter  nach  dem  Ochus  vor- 
dringen und  diese  Flanke  durch  Anlegung  von  Colonien  dauernd 
befestigen;  war  dies  geschehen,  sollten  dann  mehrere  selbst- 
ständig  operirende  Colonnen  Sogdiana  von  West  nach  Ost 
durchziehen  und  sich  im  Centrura  des  Landes,  in  Marakanda, 
vereinigen,  so  dass  hierauf  die  Möglichkeit  geboten  wurde, 
auch  an  die  Unterwerfung  der  östlichen  Berggebiete,  namentlich 


96  Tomateh«k. 

Paraitakana's,  zu  denken.  Der  Zug  nach  Margiana  wird  von 
Curtius  kurz  berührt  (VII  §  40):  ^Alexander  exercitu  aucto 
ad  ea,  quae  defectione  turbata  erant,  componenda  processit; 
quarto  die  ad  flumen  Oxum  perventum  est.  Superatis  deinde 
amnibuB  Ocho  et  Oxo,  ad  urbem  Margianam  (codd.  marganiam) 
pervenit;  circa  eam  VI  oppidis  condendis  electa  sedes  est: 
duo  ad  meridiem  versa,  quattuor  spectantia  orientem,  modicis 
inter  se  spatiis  distabant,  ne  procul  repetendum  esset  mutunm 
auxilium^  Gleich  daran  schliesst  sich  mit  den  Weiten  ,et 
cetera  quidem  pacaverat  rex;  una  erat  petra  etc.'  die  Schilderung 
der  Einnahme  des  Felsens  und  die  Nachricht,  dass  Alexander 
die  Gefangenen  und  die  gefundenen  Schätze  unter  die  Colonisten 
jener  neuen  Städte  vertheilt  habe.  Unter  Margiana  ist  nun 
offenbar  das  Mouru  des  Avesta,  Margus  der  Keilinschriften, 
Marw  aUlähigan  (,Königsseele')  der  arabischen  Geographen 
oder  das  heutige  Märw  in  der  Türkmänensteppe  gemeint,  eine 
Stadt,  die  nach  dem  Glauben  der  Perser  von  TahmQraf  ge- 
gründet, von  Alexander  dem  Griechen  erneuert  und  vergrössert 
worden  war,  wie  denn  auch  Sirakhs,  30  Farsang  südlich  von 
Marw,'  Kai-käwQs  angelegt  und  Alexander  befestigt  haben  soll. 
Wenn  dann  von  einer  Ueberschreitung  des  Ochus,  d.  i.  des 
Tegend  oder  des  Unterlaufes  des  Hare-rüd,  die  Rede  ist,  so 
haben  wir  darin  den  Fingerzeig,  dass  sich  die  Expedition  bis 
Nasa  oder  Nisä  an  der  Grenze  von  Hyrkanien  erstreckt  hat. 
In  der  angrenzenden  Steppe  sassen  die  Dahae,  ein  den  Parthern 
verwandtes  Nomadenvolk,  das  in  mehrere  Stämme  zerfiel,  unter 
welchen  namentlich  die  "Azapvoi  oder  Ilapvot  (zend.  aperenäyüka 
, Bursche'  perena  neupers.  barnft  ,voll,  erwachsen,  Knabe'),  SivBioi 
und  Uiaffoupot  (vgl.  den  Flecken  Pissurak  in  Dihistän)  erwähnt 
werden;  Reiterschaaren  dieses  Volkes  waren  von  Spitamenes, 
dem  Haupte  der  aufständischen  Sogdianer,  aufgeboten  worden 
und  beunruhigten  die  von  den  Makedonen  unterworfenen  Ge- 
biete, Baktra,  Margiana,  Areia,  ferner  \\<rtaür|VT^  (Astawa  oder 
Ustuwa  s^umI  der  arab.  Geographen,  wo  jetzt  Khabüsän  oder 
KhüSän  liegt)  und  das  benachbarte  NT;aa{a  (Nisä  Lm^^),  welches 
der  "öxo?  durchfloss  (Strabo  XI  p.  509).  Dort,  wo  der  Ochus 
das  Hochland  verlässt,  indem  er  den  Nordabhang  des  Gulistän- 
gebirges  bespült,  war  eine  alte  Grenzscheide  iranischen  und 
turanischen    (sakischcn)   Gebietes.     Hamza    meldet   die    Sage, 


Centralaalatlsoh«  Studien.  1.  97 

ManoSöihr  habe  in  dem  Vertrag  mit  Afnisiäb  durch  einen 
Pfeilwurf  die  Grenze  seiner  Herrschaft  bis  Mazdörän  (etwa 
.das  grosse  Thor')  festgesetzt,  einen  Ort  zwischen  T^üs  und 
Sirakhs,  nach  welchem  der  Küh-T-Gulistän  bei  Ptolemaeus  den 
Namen  xo  Mac§b)pavbv  5po<;  führt.  Eine  andere  Bezeichnung 
dieses  Gebirgszuges,  Oschobates  (var.  Ochobaris),  lernen  wir 
aus  einer  Notiz  kennen,  welche  auf  die  Chorographia  des 
M.  Agprippa  oder  die  Weltkarte  des  Augustus  zurückgeht,  bei 
Ethicus  (Mela  ed.  Gronov.,  p.  726  =  Orosius  Hist.  1,  2  p.  20 
Hav.) :  ab  öppido  Catippi  (=  KaXXiow))  usque  ad  vicum  Saphrim 
(=  2a9p{,  Isid.  Charac.  §  12)  inter  Dahas  Sacaraycas  et 
Parthyenos  mens  Oschobates.  Hier  werden  neben  den  alt- 
einheimischen Dahern  auch  die  ^akä  rawakä  (SaxapaOy.ai,  Z<xr,i- 
pxjxoi)  erwähnt,  welche  gleich  den  Tukhärä  (To^apot)  ans  Inner- 
asien stammend  um  130  v.  Chr.  über  den  Jaxartes  gedrungen 
waren  und,  während  die  Tocharer  dem  baktrianischen  Reiche 
der  Diadochen  Alexander's  ein  Ende  machten,  für  sich  die 
Sitze  der  westlichen  Saken  und  Chorasmier  eingenommen  hatten 
und  von  da  aus  oft  in  die  Geschicke  des  parthischen  Reiches 
eingriffen,  also  die  Vorfahren  der  Haital  oder  der  ,wei8sen 
Hunnen^  Den  Dahern  lagen  auch  die  Xipaxs^  nahe,  nach  welchen 
Ptolemaeus  eine  Ijandschaft  am  Tegend  Xtpay.r^vYJ  benennt,  deren 
Vorort  ohne  Zweifel  die  alte  Stadt  Sirakhs  oder  Sirkhas  (etwa 
iq  Zipaxaq?  vgl.  über  sie  Yäqüt  s.  (jjaä^wui)  bildete.  Ist  es  nun 
nicht  möglich,  dass  in  der  Nähe  dieses  äussersten  Vorpostens 
von  Khuräsän  und  im  Machtgebiet  der  befreundeten  Daher  der 
Megistane  Ariamazes  mit  den  flüchtigen  Sogdianern  eine  feste 
und  sichere  Position  gefunden  hatte,  von  wo  aus  er  die  make- 
donischen Zuzüge  auf  der  grossen  Verkehrsstrasse  über  den 
Hare-rüd  mit  Erfolg  zu  beunruhigen  gedachte?  Wenn  sich 
nicht  in  den  Gebirgen  von  Marw  al-rüd  oder  auch  (woran 
Mützell  gedacht  hat)  von  T^lliqän  eine  Localität  vorfindet, 
welche  auf  die  Beschreibung  der  ITitpa  passt,  worüber  indess 
jede  Nachricht  fehlt,  so  schlagen  wir  vor,  die  Position  von 
Kilät  (cyik^  bei  Yäqüt;  vgl.  Qilat  io^*  in  Dailam)  heran- 
zuziehen, da  diese  so  ziemlich  zu  passen  scheint.  ,Da8  heutige 
Kilat,'  sagt  Spiegel  (Iran.  Alterth.  I  54),  ,liegt  in  einem  Thale, 
das  .5  bis  6  Stunden  breit  von  Ost  nach  West,  und  10  bis  11 
geogr,  Meilen  lang  ist;  ein  kleiner  Strom  durchsetzt  das  Thal; 

Sitciiiigi.ber.  d.  phü.-hist   Cl.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hft.  7 


98  T«>aicbek. 

die  Felsen,  auf  denen  die  Veste  liegt,  sind  fast  unersteiglich; 
sie  kann  bei  einiger  Aufmerksamkeit  leicht  vertheidigt  werden/ 
Vielleicht  ist  damit  identisch  Ju»l  ^^  Kharaq  al-gebel  oder 
Qar'ak  der  arab.  Geographen ;  auch  im  Bundehes  ist  von  einem 
Berge  Rawak  die  Rede,  auf  dessen  beiden  Seiten  ein  Weg  in 
die  Burg  sdj^y3  Qarak  läuft;  ,man  nennt  diesen  Ort  auch  die 
Pforte  des  Landes  Sirak  (vj^)^  Zwischen  Sirakhs  und  Abiward 
(Bjlward)  lagen  auch  noch  andere  Vesten,  wie  Khawarän  und 
Sawkftn.  Weiter  nach  Süden,  gegen  Tös  und  Abr-§ahr  oder 
NlsApür  (Nisiaea  im  Thalgebiet  IIapöa6-viffa,  Isid.  Charac.  §  12), 
ist  die  sagenberühmte  Stätte,  wo  Iranier  und  Turanier  manch 
harten  Strauss  ausgefochten  haben  sollen;  wir  erinnern  nur 
an  die  Namen  Gonäwat  und  Rewand  (Raevanta).  —  Eine  andere 
Aussicht  böte  sich  aus  der  Angabe  des  Curtius,  dass  bei  jener 
Expedition  auch  der  Oxus  überschritten  wurde;  dann  könnte 
man  auch  an  die  Position  von  Kalif  (Kilif)  denken,  welche 
zwischen  Tarmidh  und  Amol  auf  dem  äussersten  Ausläufer 
der  von  Ost  nach  Südwest  streichenden  sogdianischen  Gebirge 
gelegen  das  Oxusgebiet  gegenüber  von  Baktra  beherrscht. 
Sehr  gut  stimmt  dazu  die  Bezeichnung  i^  toO  ^Q^om  icetp«,  welche 
nach  Strabo  XI  p.  517  identisch  sein  soll  mit  i^  xsO  'Apiaixz^isu 
z^Tpa.  Die  Araber  zählen  von  Balkh  nach  Kalif  IH  bis  20 
Farsang,  und  in  persischen  Schriftwerken  findet  sich  die  An- 
gabe ,que  cette  place  forte  occupe  le  sommet  d'une  montagne 
couverte  de  rochers  noirs  et  qui  a  8  farsakhs  de  circuit;  les 
abords  en  sont  inaccessibles ,  mais  sur  le  plateau  sont  des 
sources  et  des  paturagcs'  (Barbier  de  Meynard,  Dictionnaire 
g^ographique  de  la  Perse,  p.  474,  N.  2). 

Arrianos  dagegen,  der  aus  den  zuverlässigen  Memoiren 
des  Ptolemaeus  Lagi  und  des  Aristobulos  geschöpft  hat,  ver- 
setzt das  Ereignis»  der  Einnahme  des  sogdianischen  Felsens 
durch  die  300  xpriiJLvsßiTa'.  in  den  Frühling  des  Jahres  327, 
in  jene  Zeit,  wo  Alexander  bereits  aus  den  Winterquartieren 
von  Nautaka  aufgebrochen  war  und  in  Baktra  alle  Vorberei- 
tungen zu  seinem  Zuge  nach  Indien  traf.  Sein  Werk  war 
indess  damals  noch  nicht  vollendet;  nach  der  energischen 
Bewältigung  der  mehrmaligen  Aufstände  in  Westr  und  Central- 
Sogdiana,  so  wie  nach  der  bereits  erfolgten  Einnahme  der  ,eiser- 
nen  Klause',   musste  er  daran   gehen  auch   noch   die  östlichen 


CentraluUtische  Stadien.  I.  '  99 

Berggebiete  von  Sogdiana  so  wie  Paraitakana  (BädakhSän) 
zu  unterwerfen,  um  hinter  seinem  Rücken  einen  allseitig  ge- 
sicherten und  dauernden  Besitz  zu  lassen.  Viele  sogdianische 
Häuptlinge  hatten  in  den  unwegsamen  Berggebieten  des  öst- 
lichen Theiles,  welcher  sich  bis  zu  den  Quellen  des  Oxus  und 
noch  darüber  hinaus  erstreckte,  Zuflucht  und  Sicherheit  gesucht 
und  waren  bereit,  zu  gelegener  Zeit  aus  ihren  Verstecken 
hervoraubrechen  und  das  nationale  Werk  der  Befreiung  von 
der  verhassten  Fremdherrschaft  wieder  aufzunehmen.  Merk- 
würdiger Weise  weiss  Arrian  in  seinem  Bericht  nichts  von 
Ariamazes;  er  meldet  bloss,  dass  ausser  vielen  sogdianischen 
Adeligen  auch  die  Familie  des  baktrischen  Pahluvän's  Oxyartes 
(d.  i.  wohl  Vakhsuvarta),  zumal  dessen  Tochter  Roxane,  ,die 
Rose  des  Orients',  sich  auf  dem  Felsen  in  Sicherheit  befunden 
habe.  Da  nun  Curtius  selbst  im  Verlauf  der  Begebenheiten 
des  Frühjahres  327  auch  die  Unterwerfung  des  Oxyartes  und 
die  Vermälung  Alexander 's  mit  Roxane  anführt,  so  dürfen 
wir  vermuthen,  dass  w^ir  es  mit  einem  ganz  verschiedenen 
Factum  zu  thun  haben  und  dass  der  Felsen  des  Arimazes  und 
der  ,sogdianische'  Felsen,  auf  welchem  Roxane  gefangen  wurde, 
verschiedene  Localitäten  sind,  die  in  den  oberflächlichen  Dar- 
stellungen der  späteren  Epitomatoren  und  Geographen  will- 
kürlich vermengt  erscheinen.  Wie  gaüz  anders  würden  wir 
über  diese  topographischen  Fragen  urtheilen  können,  wenn 
wir  die  gleichzeitigen  Memoiren  sowie  die  i^TaOjjLol  vf^q  'AXe^av- 
2pou  TOpsta;  eines  ßatiwv,  Aioyvtqtoc,  \\[x6vTa^  u.  a.  besässen! 
Arrian  theilt  fast  gar  nichts  über  die  vor  den  Aufbruch  nach 
Indien  fallenden  Expeditionen  mit  und  weiss  ausser  der  Ein- 
nahme des  ,sogdianischen'  Felsens  überhaupt  nur  die  Unter- 
werfung des  Chorienes  in  Paraitakana  zu  melden;  nur  der 
,Rhetor'  Curtius  bietet  einige  topographische  Einzelheiten,  die 
wir  näher  erörtern  wollen,  nachdem  wir  die  wichtigsten  Nach- 
richten der  arabischen  und  sinischen  Berichterstatter  über  die 
Gebiete  von  Hi^är  Wakh§  und  Khuttal  vorausgeschickt  und 
mit  der  heutigen  Kunde  über  diese  vor  kurzem  erschlossenen 
Regionen  verglichen  haben.  Aus  dem  Alterthum  ist  noch  die 
bestimmte  Angabe  des  Ptolemaeus  über  das  Volk  der  Ape^iavoi 
von  Belang,  welches  das  Gebiet  zwischen  Oxus  und  Jaxartes 
inne  gehabt  haben  soll ;  dort  lag  Aps'J/a  ii  |jLr,Tp6;:oAt?,  ein  Vorort, 

7* 


100  Tomaschek. 

der  nur  das  heutige  Hi§är  gewesen  sein  kann ;  er  darf  nämlich 
nicht  mit  Apatl^xy,«  oder  dem  heutigen  Kunduz^  das  bei  Ptole- 
maeus  den  Namen  Xoiva  (sin.  Ahuan  oder  Huo)  führt,  ver- 
wechselt werden;  die  Namensähnlichkeit  soll  uns  nicht  täuschen, 
da  ein  generelles  Appellativum,  welches  den  Begriff  der  Herr- 
schaft (baktr.  drafga  ,Banner,  Fahne',  neup.  diraf§)  ausdrückt 
und  verschiedene  Herrschersitzen  anhaften  konnte  —  auch 
Baktra  heisst  im  Awesta  eredhwödraf§a  ,mit  hohem  Banner  ver- 
sehen, weit  gebietend',  —  beiden  Namen  zu  Grunde  liegt.  Sind 
doch  Balkh  Kunduz  und  Hi^är  bis  in  spätere  Jahrhunderte 
die  Hauptsitze  der  Macht  im  nordöstlichen  Khuräsän  gewesen! 
Eine  andere  Oertlichkeit  bei  Ptolemaeus,  XoXßiaiva  (var.  XoXßücca) 
an  der  rechten  Uferseite  des  oberen  Oxus  (Koköa),  scheint 
identisch  mit  Hulbuk  siLJjD,  dem  Sitze  der  Sultane  von  Khuttal, 
zu  sein;  keinen  Zweifel  leidet  es  aber,  dass  die  Position 
'AXe^avSpeia  eaxa-nr),  südwestlich  von  der  ipsivt]  Ko[i.r|3u)v  in  der 
Nähe  des  oberen  Oxus,  in  Khuttal  anzusetzen  ist;  eine  feste 
Stadt  daselbst  heisst  noch  bei  den  arabischen  Geographen 
Iskandra  S^OüXamI  (Yäqüt  s.  Jüülf)  oder  Sikandra,  gleichwie 
die  neuesten  Pionniere  des  Ostens  für  den  Quellensee  des 
Panga  oder  den  Sari-kul  auch  die  Benennung  Sikandar  vor- 
fanden und  wir  von  einem  Iskandar-kul  im  Gebiet  des  oberen 
Zarafsan  Kunde  haben.  Es  scheint  keine  blosse  Erdichtung, 
sondern  eine  glaubhafte  Tradition  zu  sein,  wenn  die  Fürsten 
von  Bädakh§än,  Wakhän,  Saginän,  Köänän  und  Darwäz  nach 
alten  und  neuen  Berichten  ihre  Macht  bis  auf  den  Griechen 
Alexander  zurückführen;  hatte  doch  der  Eroberer  auf  ihrem 
Boden  gewaltet  und  Städte  seines  Namens  angelegt,  während 
seine  Nachfolger  ihre  Macht,  wie  Strabo  bezeugt,  bis  nach 
Tibet  ausdehnten,  [xsxpt  Srjpwv  xat  ^puvwv  (XI  p.  516).  Die 
Vermälung  Alexander's  mit  der  schönen  Baktrierin  Roxane 
und  das  kluge  politische  Verfahren,  welches  er  in  der  Besetzung 
der  Machtstellen  befolgte,  hatte  allmälig  eine  solche  Sinnes- 
änderung bei  dem  iranischen  Adel  hervorgerufen,  dass  die 
stolzen  Megistane  freiwillig  die  Macht  des  Eroberers  unter- 
stützten und  sich  seiner  Herrschaft  fügen  lernten;  sein  Name 
wurde  fortan  gefeiert.  Sage  und  Tradition  sind  seines  Ruhmes 
voll.  —  Nach  dem  Sturze  der  griechischen  Herrschaft  in 
Baktra-Sogdiana     durch    die    Yätya    und    Tukhära,     war     die 


Centralasifttieche  Stadien.  I.  101 

Herrsch ergewalt  daselbst  im  Besitze  von  Nomadenfürsten  hoch- 
asiatischer Abkunft.  Während  das  indische  Culturelement  in 
seiner  buddhistischen  Gestaltung  immer  stärker  eindrang, 
entfremdeten  sich  diese  alt-iranischen  Lande  dem  Grossreiche 
der  Arsaciden  und  Sassaniden  immer  mehr  und  nur  zeitweilig 
gelang  es  den  Herrschern  des  Westreichs  Tukhäristan  in  ihren 
Machtbereich  zu  bringen;  stärker  erwies  sich  von  Norden  her 
seit  dem  sechsten  Jahrhundert  die  Gewalt  der  Türken.  Nach 
dem  Untergange  der  Königsfamilie  der  Kusänen  zerfiel  das 
ganze  Gebiet  am  obern  Oxus  in  27  gesonderte  Fürstenthümer, 
die  mehr  oder  weniger  unter  der  Suprematie  des  türkischen 
Khäqän's  standen,  welcher  am  Flusse  Sui  (Cui)  im  Norden 
von  Farghäna  seinen  Sitz  hatte.  Nur  vorübergehend  war  die 
Oberhoheit  des  sinischen  Reiches  in  diesen  so  fernen  West- 
gebieten (seit  ()56).  Als  die  Araber  alle  iranischen  Lande 
unterworfen  hatten,  benützten  sie  die  Fehden  der  einzelnen 
Fürsten  unter  einander,  um  die  Macht  der  Türken  einzu- 
schränken, und  es  gelang  ihnen,  ganz  Tukhäristan  in  ihre 
Gewalt  zu  bringen;  die  Sämäniden  herrschten  unangefochten 
in  allen  Oxusländern  bis  an  die  Grenzen  von  Wakhän,  Saqniya, 
Qumidh  und  al-Rägt;  weiter  ostwärts  war  türkischer  Boden, 
unterthan  dem  Ehäqän  der  Qarlüq.  —  In  der  Aufzählung  der 
nördlich  vom  Oxus  (WakSu,  sin.  Fo-tsu)  gelegenen  tukha- 
rischen  Fürstenthümer  beginnen  wir  mit  dem  an  Baktra  und 
das  ,eiserne  Thor'  zunächst  gelegenen  Reiche  Ta-mi  (||g[  ^), 
d.  i.,  wie  Cunningham  erkannte,  Tarmit  (v;;ajoo)  oder  Tarmidh 
(JooJ)),  dessen  gleichnamiger  Fluss  im  Bundehes  als  Neben- 
fluss  des  Veh-rut  angeführt  erscheint;  der  Fluss  von  Tarmidh, 
äbi-Tarmidh,  oder  der  heutige  Surkhän,  ist  wasserreich  und 
einer  der  grössten  Zuflüsse  des  Oxus,  so  wie  der  wichtigste 
Strom  des  Hi§ärgebietes ;  sein  Unterlauf  durchfliesst  jetzt  eine 
mit  Röhricht  erfüllte  wüste  Strecke,  wo  sich  allerlei  Wild 
herumtreibt,  Tiger,  Schakale  und  Wildschweine.  Die  Stadt 
selbst,  welcHe  auf  Felsen  an  beiden  Ufern  des  Flusses  gebaut 
^ar  und  deren  Mauern  von  Süden  her  der  Oxus  bespülte, 
war,  wie  wir  aus  dem  Säh-näma  und  Moqadassl  ersehen,  seit 
Alters  ein  wichtiger  Uebergangspunkt  über  den  Oxus,  ein  volk- 
reicher Hafenort ;  ihr  Gebiet  betrug  nach  Hiuan-Thsang  sechs 
(sin.)  Tagereisen  von  Ost  nach  West,  vier  von  Süd  nach  Nord; 


102  Tomaschek. 

in  der  Capitale  fand  der  Pilger  zehn  sanghäräma's  (buddh. 
Klöster)  mit  1000  Gläubigen.  Zu  Tarmidh  gehörten  wahr- 
scheinlich noch  die  an  der  Strasse  nach  i^aghäniyän  entlang 
dem  Ufer  des  Surkhän  gelegenen  Orte  $armingän  (^jLsLowiö) 
oder  Carmiqän  (jjliüyo*.^)  und  weiter  nordwärts  Därzingl 
(^^AXjyf4>);  ebenso  der  District  äafa,  welchen  Bäbr  (I  p.  261), 
und  die  Prairie  Buya,  welche  8arif-al-dln  (I  p.  182)  nennt. 
In  der  arabischen  Epoche  bildete  die  Herrschaft  Tarmidh  eine 
Dependenz  von  ^aghäniyän.  Weiter  gegen  Nordosten,  und 
zwar  noch  immer  im  Stromgebiet  des  Surkhän,  in  einer  breiten 
fruchtbaren  Ebene,  welche  für  den  Äckerbau  trefflich  geeignet 
war  —  der  Sage  nach  war  sie  einst  so  dicht  bewohnt  gewesen, 
dass  sich  ohne  Unterbrechung  bis  zum  Oxus  Dach  an  Dach 
reihte,  —  erstreckte  sich  in  einer  Breite  von  vier  und  einer 
Länge  von  fünf  (sin.)  Tagereisen  das  Fürstenthum  Chi-oo-yan-na 
(^  ^  flf  W^)y  ^'  ^->  ^^®  Cunningham  zuerst  gesehen, 
Caghäniyän  (^jLoUä»)  oder  ^aghäniyän  (^jLüU-o),  ein  Name, 
den  wir  auf  mongol.  caghan  ,weiss'  zurückfuhren  möchten, 
wenn  wir  sicher  wüssten,  dass  unter  den  Tukhära's  mongolische 
Elemente  vorhanden  gewesen ;  vgl.  auch  Gäghän  (^LcLä»)  oder 
l^äghän  (^jL^Lö),  eine  Burg  bei  Marw  (Yäqüt).  Nach  der 
Hauptstadt  heisst  auch  der  Strom  Surkhän  bei  den  arabischen 
Geographen  meist  ,der  Fluss  von  Caghäniyän'  und  I^takhrl 
sagt  ausdrücklich,  dass  die  Einwohner  von  Tarmidh  das  Wasser 
aus  dem  öai^ün  und  dem  , Flusse  von  Caghäniyän'  holen; 
vgl.  auch  die  Namen  Gaghäna  und  öaghän-rüd  bei  Sarif-al-din 
(I  p.  108,  123).  Kurz  und  treffend  ist  die  Schilderung,  welche 
wir  bei  al-Bal§ärT  al-MoqaddasI  lesen:  ,$aghäniyän  ist  ein 
grosses  Wilajät  in  Mawarä'1-nahr,  welches  mit  seinem  Gebiet 
an  Tarmidh  grenzt;  eine  Gegend  von  ausgiebiger  Cultur,  reich 
an  Wohlstand,  gleich  Palästina,  nur  mit  reicheren  Tränke- 
plätzen an  den  Flüssen  versehen ;  die  Wässer  ergiessen  sich  in 
den  Gaitün,  bleiben  aber  in  heissen  Jahren  aus.  Es  sind  da 
bei  16.000  Dörfer,  aus  welchen  10.000  Krieger  vollgerüstet 
und  mit  Proviant  und  Vieh  versehen  dem  (Sämäniden-)  Sultan 
*A1t  Zuzug  geleistet  haben.  Die  Hauptstadt  gleichen  Namens 
gleicht  Kamla,  nur  dass  sie  schöner  ist;  daselbst  herrscht  eine 
grosse  Billigkeit  der  Nahrungsmittel;  mitten  auf  dem  Markte 
steht   die    Moschee;   jedes    Haus   hat   sein    fliessendes   Wasser 


CentralMiatiseh«  Studien.  1.  103 

mit  Baumpfianzungen.  Hier  finden  sich  viele  Vogel,  viel  Wild. 
Die  Weideplätze  an  dem  Ufer  haben  so  üppigen  Graswuchs, 
dasB  sich  Reiter  darin  verbergen  können.  Die  Stadt,  so  blühend 
sie  einst  war,  gerieth,  so  scheint  es,  zur  Zeit  der  Einfälle  der 
Ghozz  und  später  der  Moghol  immer  mehr  in  Verfall  und  Bäbr 
(I  p.  56,  121,  122,  201,  II  p.  164)  kennt  wohl  den  District, 
nicht  aber  die  Stadt,  auf  deren  Koston  Hisar-l-6admän  sich 
immer  mächtiger  erhob.  Die  Tägik's  dieses  alten  Culturgebietes 
scheinen  seither  einen  neuen  Ort,  den  sie  Dih-i-näu  oder  Dih- 
näu  (y^(>)  ^den  neuen  Gau'  benannten,  cultiviert  zu  haben; 
gegenwärtig  werden  auch  Qalüq,  Yüröi,  Sar-i-asyä,  Sar-i-gui 
und  Regär  (d.  i.  Hi^ärek  oder  Hifär-payan  der  Chronisten) 
als  blühende  Ortschaften  angeführt.  Von  Sar-i-gui  führt  ein 
Gebirgsweg  über  den  Sangri-dagh  nach  Khüzär  und  Sahr-I-sabz; 
dieser-  Berg  mit  dem  Phänomen  eines  Bergnebels  und  Wasser- 
sturzes wird  von  Sidi-Ali  (a.  U^f^,  Journ.  asiat.  IX.  Paris  1826, 
p.  205  sq.  vj<>  JCu*#)  beschrieben ;  der  Fluss,  der  bei  Sar-i-guY 
vorüberfiiesst  und  in  den  mächtigen  Surkhän  sich  ergiesst,  ist 
der  bei  den  Chronisten  häufig  genannte  Tupaläu  oder  Tufaläq, 
den  man  bisher  irrthümlich  für  den  Hauptstrom  gehalten  hat. 
Auch  die  arabischen  Geographen  ^  namentlich  I^tftkhrl  und 
MoqaddasI,  führen  zahlreiche  Ortschaften  an;  doch  sind  die 
Lesarten  sehr  unsicher;  wir  führen  nur  an:  Bärsend  {öJumXj) 
oder  BäSend  ((XJLamL)  gegen  Osten  im  Gebirge,  Gür^äb  (v^K^) 
oder  Kür-äb  (^Uy^)  oder  Bür-äb  (v^K^),  Hanbär  (jLiiß), 
Sinür  (cuvopta)  oder  Dinür  (%yüt>),  Ghadar  (^Aä),  Bahäm 
(|»L^),  Barabdä  (IcXjv?)  oder  Nübdä  (tJo^)  etc.;  Qodäma 
nennt  auch  'Aman,  ,ein  grosses  volkreiches  Dorf,  7  Farsakh 
von  Därzingl.  Aus  allem  ersehen  wir,  dass  Caghäniyän  aus 
kleinen  Anfangen  —  Hiuan-Thsang  nennt  die  Stadt  kleiner 
als  Tarmidh  und  zählt  daselbst  nur  fUnf  sanghäräma's  —  sich 
unter  der  Herrschaft  der  Araber,  namentlich  unter  den  Sftmä- 
niden,  zu  dominirender  Bedeutung  emporgehoben  hat,  um  später 
wieder  zu  verfallen.  —  Weiterhin,  gegen  Nordosten,  nennt 
der  sinische  Pilger  das  Fürstenthum  Ho-lv-mo  (^^  ^  J^), 
das  in  einem  langen  Thal  drei  (sin.)  Tagreisen  von  Süd  nach 
!Nord,  eine  Tagereise  von  Ost  nach  West  sich  erstreckt  haben 
soll;  er  zählt  in  der  Stadt,  welche  an  Grösse  Caghäniyän 
g^leichkam,    nur  zwei  Conventikel   mit   hundert  Gläubigen  und 


104  Tomaschek. 

bemerkt,  der  Fürst  des  Ländchens  sei  ein  Türke  aus  dem 
Stamme  Hi-su  (^  ^)  oder  Ho-su  (Ghozz?).  Weiters  reiht 
er  an  das  Fiirstenthum  Sv-man  (|^  ^)  in  einer  Ausdehnung 
von  vier  Tagereisen  von  West  nach  Ost  und  hundert  Li 
(=:  einem  sin.  Tagmarsch)  von  Süd  nach  Nord;  gegen  Südost 
reichte  es  bis  in  die  Nähe  des  Fo-tsu  (Wakhs);  die  Haupt- 
stadt war  noch  kleiner  als  die  vorige  und  besass  ebenfalls  nur 
zwei  Convente  mit  einer  kleinen  Anzahl  von  Frommen;  der 
Herrscher  stammte  gleichfalls  von  den  Hi-su-Türken  ab.  Weiter 
gegen  Südwest  (also  wieder  gegen  Tarmidh  und  Caghäniyän 
hin)  schloss  sich  an  Su-man  das  Fürstenthum  Kio-ho-yan-na 
(jUII  5^  ^  ^)  ^^}  i^  einer  Ausdehnung  von  zwei  Tagereisen 
von  Ost  nach  West  und  drei  Tagereisen  von  Nord  nach  Süd; 
die  Stadt  war  so  gross  wie  Öaghäniyän  und  hatte  drei  sanghä- 
ränia's  mit  hundert  Religiösen.  Oestlich  von  Su-man  (und  wohl 
auch  von  Kio-ho-yan-na)  erstreckte  sich  in  einer  Längen- 
ausdehnung von  fünf  Tagereisen  entlang  dem  Fo-tsu  (Wakh§) 
und  einer  Breite  von  drei  Tagereisen  das  Reich  Hv-Sa  (^  Ü^)f 
dessen  Hauptstadt  eine  ziemliche  Grösse  besass.  Gegen  Osten 
von  Hu-Sa  war  das  Reich  Kho-tv-lo  (IpJ  ||{[}  |^)  in  der  bedeu- 
tenden Länge  und  Breite  von  zehn  Tagereisen  und  mit  einer 
Hauptstadt  so  gross  wie  Tarmidh.  Noch  weiter  gegen  Osten 
lag  das  Reich  Kiv-mi-tho  (:f^  gjjr  jjß)  im  Centrum  des  Ta- 
Tsong-ling,  zwanzig  Tagereisen  von  West  nach  Ost,  zwei  (?)  von 
Süd  nach  Nord  ausgedehnt,  mit  einer  ebenso  grossen  Capitale 
wie  das  vorige;  gegen  Südwest  stiess  es  an  den  Fluss  Fo-tsu 
(äb-i-Panga)  an.  Endlich,  gegen  Süden  von  Kiü-mi-tho,  kam 
das  Reich  Si  -  kiii  -  ni  (  P  ^  f^) ,  welches  Hiuan  -  Thsang 
(p.  St.  Julien  H  p.  205  sq.)  bei  seiner  Rückreise  aus  Indien  und 
Ghazna  über  Andaräba,  Khwasta,  Mungän,  Karsama,  Bädakhgäna, 
Yämagäna,  Kuräna,  Mastug  und  (Wakhän  —  diese  Partie  ist 
offenbar  ausgefallen  — )  als  nordwärts  von  letzterem  gelegen  an- 
führt und  näher  beschreibt;  sein  Umfang  betrug  zwanzig  Tage- 
reisen, die  Hauptstadt  war  unbedeutend;  das  mit  Getreide  noch 
einigermassen  gesegnete,  aber  sonst  ziemlich  sterile  Gebiet  be- 
steht aus  einer  Reihe  von  Bergen  und  Thälern,  abwechselnd  mit 
sandigen  und  felsigen  Hochsteppen;  ist  es  doch  das  Vorland 
zu  dem  gegen  Osten  sich  erstreckenden  wüsten  und  von  rauhen 
Bergketten    durchzogenen   Plateau   Po-mi-lo  (Äfr  ^  S|)  oder 


CentralMiatische  Studien.  I.  105 

Pamira,  das  bis  an  die  Reiche  Ebabanda  (Tas-qurghän),  U-§a 
(Waödha)  und  KäSaghära  reicht ;  dieser  Lage  entsprechend  ist 
auch  das  Klima  von  Si-khi-ni  kalt  und  rauh;  die  Einwohner, 
rauh  und  abgehärtet,  sind  ohne  höhere  Cultur,  gehen  in  Fellen 
.  und  Wollstoffen  gekleidet,  und  führen  ein  räuberisches  Leben ; 
der  buddhistische  Glaube  ist  dahin  nicht  gedrungen;  ihre 
Schrift  ist  der  tukhärischen  ähnlich,  aber  die  Sprache  hat  einen 
verschiedenen  Charakter.  —  Wir  haben  hier  alle  nördlich  vom 
Wakh&  und  Fang  gelegenen  Reiche  aufgezählt,  um  deren 
gegenseitige  Stellung  zu  fixiren  und  auf  der  heutigen  Land- 
karte sicher  zu  stellen.  Die  Forscher,  welche  eine  Kritik  der 
sinischen  Nachrichten  versucht  haben,  wie  Reinaud  (Memoire 
sur  linde  p.  152  sqq.),  Alex.  Cunningham  (Journ.  asiat.  soc. 
Bengal.  1848,  XVII  2),  Vivien  de  Saint- Martin  (Memoire 
analytique  sur  la  carte  de  TAsie  centrale  et  de  Tlnde)  und 
H,  Yule  (Journ.  asiat.  soc.  Gr.  Br.  1873,  VI  p.  92—120), 
stimmen  darin  überein,  dass  unter  Si-khi-ni  das  heutige  Sugnän 
oder  Saghinän,  unter  Kiü-mi-tho  das  Land  der  ptolemäischen 
Ko{jLv;^ac  oder  das  heutige  Darwäz,  unter  Kho-tu-lo  das  so  oft 
erwähnte  Reich  Khuttal  (pl.  Khuttalän,  Khotlän)  oder  die 
beutige  Herrschaft  Kül-äb,  unter  Su-man  das  in  arabischen 
Schriftwerken  genannte  Gebiet  Sümän  zu  verstehen  sei;  nur 
über  Ho-lu-mo,  Hu-§a  und  Kio-ho-yan-na  gehen  die  Meinungen 
auseinander.  Was  nun  Ho-lu-mo  betrifft,  so  ist  es  offenbar, 
dass  Yule  Unrecht  hat,  wenn  er  darin  Gharm  in  der  Land- 
schaft Qara- tagin  am  oberen  Kyzyl-sü  (WakhS)  finden  will; 
der  Reihenfolge  nach  kann  nur  an  den  heutigen  Vorort  Qara- 
tagh  am  oberen  Surkhän  gedacht  werden,  und  wenn  wir  die 
Distanzangaben  der  arabischen  Geographen  berücksichtigen,  so 
fällt  ebendahin  die  von  Caghäniyän  10,  von  Sümän  13  Far- 
sang  entfernte  Ortschaft  Hamürän  {{^Uf4^)  oder  Hamawärän 
'v:^'y^^'  Var.  ,jUI^-^),  an  einem  wädl  gelegen,  d,  h.  dem 
FluBsthal  des  Qaratagh-daryä ,  das  man  passiert,  um  nach 
Dah-i-näwät  und  nach  Hsiär  zu  gelangen.  Hi^är-i-bälä  oder 
i-»ädmän  (,das  obere',  ,das  freudenreiche*)  ist  vielleicht  erst  in 
der  ghozzischen  Zeit  zur  Bedeutung  gelangt,  und  entspricht 
dieser  Veste  in  den  arabischen  Itinerarien  die  Station  Abär- 
qair  (*-ÄJ%Ll,  Var.  ijfyCiAMb  oder  ^\i>yA*S[j\  etc.),  so  dass 
wir  dann  weiter   Sümän   nach   dem    heutigen    Dü-§amba   ver- 


106  TomaRchek. 

legen  dürfen.  Indessen  wäre  es  gewagt,  den  Namen  Hamüran, 
wie  Cnnningham  versnelit  hat,  mit  Ho-lu-mo  zusammenzustellen; 
der  Analogie  zufolge  dürfen  wir  nur  mit  Gharma  Kharüma 
Rüma  und  ähnlichen  transscribieren,  und  da  bieten  sich,  da 
wir  das  von  Reinaud  herbeigezogene  Kholom  nirgends  be- 
glaubigt änden,  zwei  M^iglichkeiten.  In  der  Geschichte  der 
Eroberungen  der  Araber  berichtet  al-Balädhüri,  dass  Qotaiba, 
welcher  a.  H.  86  (=  704  n.  Chr.)  zum  Wäll  von  Khuräsän 
ernannt  worden  war,  bald  darauf  zu  faliqän  (^jLäJUo)  im 
Gebiete  von  Marw  al-rüd  seine  Truppen  zusammenzog  und, 
vereint  mit  den  Vasallenfürsten  und  Dihqänen  von  Balkh  und 
'J.^ukhäristnn,  den  Oxus  überschritt;  während  des  Uebersetzens 
kam  zu  ihm  der  König  von  Saghäniyän  mit  Geschenken  und 
mit  goldenem  Schlfissel,  gelobte  ihm  Gehorsam  und  lud  ihn 
ein,  in  seinem  liande  zu  campioren;  er  war  nämlich  damals 
hart  bedrängt  von  den  benachbarten  Fürsten  von  a-Rharün 
(,j^%Ä.I,  Var.  (J^Vä»';  doch  vgl.  Yäqüt  s,  \j^j^)  ^^nd  Sümän 
(^J^y^)f  und  forderte  Hilfe.  Qotaiba  leistete  der  Einladung 
Folge,  beliess  den  König  von  Saghäniyän  in  seiner  Herrschaft, 
wies  die  Fürsten  von  Kharün  und  §umän  in  ihre  Schranken, 
und  kehrte  mit  reicher  Beute  nach  Marw  zurück.  Dürfen  wir 
in  Kharün  eine  spätere  Form  von  Kharüma  (Ho-lu-mo)  er- 
blicken? Anderseits  ist  in  persischen  Schriftwerken  öfter  von 
einem  District  und  Vorort  Harm  (t^y^y  Var.  t^)^  und  &}y^) 
die  Rede,  aber  ohne  nähere  Bezeichnung  der  Lage ;  nur  durch 
die  gelegentliche  Anfuhrung  des  Ortes  Na^vandak  (bei  Sarlf- 
al-dln  I  p.  109  1,  10),  der  nach  Bäbr  (I  p.  175,  II  p.  164) 
zwischen  Caghäniyän  und  dem  Kam-rüd  lag,  werden  wir  in 's 
Hi^rgebiet  geführt.  —  Was  Su-man  oder  Sümän  (jjL«^) 
betrifft,  das  wir  nach  Dü-8amba  verlegen,  so  wissen  wir  aus 
dem  Thang-Su,  dass  die  sinische  Regierung  bei  Gelegenheit 
der  Organisation  der  tukhärischen  Fürstenthümer  im  Jahre  661 
das  Reich  Ho-su  mit  dein  Vororte  Su-man  als  viertes  Gouver- 
nement (tu-tu-fu)  mit  zwei  Districten  (ceu)  unter  dem  Titel 
Thian-ma  eingerichtet  hat;  wir  wissen  ferner,  dass  Qotaiba 
a.  H.  Ol  eine  neuerliche  Expedition  gegen  Sümän  unternahm 
und  das  Reich  nach  Besiegung  des  Fürsten  'All-Säh  und  Er- 
beutung ungeheurer  Schätze  der  Herrschaft  der  Gläubigen 
unterwarf;  die  arabischen  Geographen  bieten  die  kurze  Notiz: 


CentralMiatUobe  Studien.  I.  107 

Suinän  ist  kleiner  als  Tarmidh,  der  Bezirk  gut  bebaut  und 
besonders  ergiebig  an  Safran.  Ibn-Dasta  nennt  auch  die  Flüsse, 
welche  diese  Gegend  bewässern;  er  sagt  (Lerch,  Russ.  Revue 
VII.  1875  H.  8) :  ,unter  den  Nebenflüssen  des  Öai^ün  ist  noch 
der  Fluss,  welcher  Rümidh  4>Juoi%  (corr.  Juyo^K  Raomidh) 
genannt  wird;  er  kommt  aus  dem  Lande  al-Rri§t,  darauf  fliesst 
er  in  das  Gebiet  von  §aghäniyän ;  in  ihn  ergiessen  sich  mehrere 
Flüsse,  welche  von  dem  Gebirge  Buttam  und  den  Bergen  von 
Sanum,  Nihflm  und  Khäwar  kommen  und  Kam-rüdh,  Niham- 
rfidh,  Khäwar- rüdh  heissen.  Und  es  fliesst  dieser  Rfimidh  bis 
zum  Ende  des  Gebietes  von  Saghriniyan,  dann  ergiosst  er  sich 
in  den  Gaibün  oberhalb  Tarmidh.  Die  Gebirgsgegend  zwischen 
dem  Rfimidh  und  dem  WakhS-ab  wird  Qobndhiyan  genannt'. 
Wir  sehen,  Ibn-Dasta  vermengt  die  beiden  Flüsse  von  »Saghä- 
niyan  und  von  Qobadhiyän  mit  einander  und  macht  daraus 
einen  Fluss,  den  Ramidh ;  es  ist  aber  ein  wichtiges  Resultat 
der  jüngsten  Hi§ar-Expedition,  dass  der  Oxus  von  dieser  Seite 
zwei  grosse  Flüsse  aufnimmt,  den  Surkhan  (=  Fluss  von 
Tarmidh  und  ^aghaniyan)  und  den  ab-I-Qaflr-nihan  (==  Fluss 
von  Qobadhiyän),  der  aus  Qara-tagln  (al-Rast)  kommt.  Der 
Hauptquellfluss  des  letzteren  heisst  noch  jetzt  Rumit-darya, 
nach  einem  Orte  seines  Oberlaufes  Rümit  oder  Raomidh  (zend. 
rao-maetha  ,offener,  freundlicher  Ort'?);  ein  zweiter  Zufluss 
heisst  Zigdi-darya,  .  an  welchem  Dü-samba  liegt,  und  ein 
dritter,  an  welchem  Higär  gelegen,  Khanakardaryä.  Das  Thal 
des  letzteren  bildet  mit  dem  des  oberen  Surkhan  ein  fast  gar 
nicht  unterbrochenes  Ganzes;  daher  auch  der  Irrthum  des 
arabischen  Geographen  entschuldigt  werden  mag.  Einer  dieser 
Quellflüsse,  vielleicht  der  des  Surkhän  oder  der  Qaratagh- 
darya,  fiihrt  seit  Alters  den  iranischen  und  mit  der  Benennung 
des  kaspischen  Meeres  im  Bundehe§  gleichlautenden  Namen 
Kam-rüdh;  durch  das  Thal  desselben  gelangte  man  über  einen 
hohen  Pass  des  Sarah-tagh  (var.  Sarw-tagh)  in  das  Zaraf§än- 
gebiet;  vgl.  Bäbr  I  p.  71  et  p.  175:  ,Nous  primes  le  parti  de  franchir 
leServ-tagh  en  remontant  la  vallee  du  Kem-roud';  ,nous  entr^mes 
dans  la  vallee  du  Kem-roud  et  la  remontames.  Beaucoup  de 
chevaux  et  de  chameaux  ne  purent  nous  suivre  dans  ses  passages 
etroits  et  escarpes,  sur  ces  pentes  raides  et  k  pic.  Apr^s  avoir 
fait  trois  ou  quatre  haltes,  nous  atteignimes  le  col  du  Serv-tagh'; 


108  Tomaschek. 

^enfin,  apr&s  etre  sortis  au  prix  des  plus  grands  efForts  de  ces 
defiles  p^rilleux  et  impraticables^  nous  arrivames  aux  limites 
du  district  de  Fän*.  An  dem  Rümit-daryä,  bei  der  Einmündung 
des  Ilaq,  liegt  jetzt  der  Ort  Qaftr-nihän,  der  dem  Hauptfluss 
den  Namen  verliehen  hat;  in  den  arabischen  Itinerarien  heisst 
der  entsprechende  Ort  Andiyän  (,jL>Jüt)  oder  Amdiyär  (sLjool), 
5  Farsang  von  Sümän  und  5  von  Wasgird  entfernt.  Wäsagird 
(4>*X«if^)  oder  Wasgird  i*>ys>^{J^^y)  gehörte  wahrscheinlich  bereits 
zu  dem  Districte  WakhS  und  war  ,eine  kleine  Stadt,  kleiner 
als  Tarmidh  und  Sümän;  hier  herrscht  lebhafter  Handelsverkehr; 
Leute  kommen  aus  Saghäniyän  und  Khuttal  und  Qawädhiyän 
und  verkaufen  Leinwand,  Krapp  u.  a.;  von  hier  wird  Safran 
nach  anderen  Gegenden  ausgeführt^  Auf  der  heutigen  Karte 
entspricht  diesem,  im  Sah-nrima  in  der  dichterischen  Form 
Wesa-gird  (4>J?iu*o^  d.  i.  ,Stadt  des  W^sa*,  des  Vaters  des 
turanischen  Helden  Pirän)  vorkommenden  Orte  Faizäbäd,  am 
Ilag  gelegen  und  von  Tägik's  bewohnt,  durch  den  Nür-tagh 
und  einen  3350  engl.  Fuss  hohen  Pass  von  dem  Orte  Närak 
getrennt,  der  bereits  am  Wakh§-äb  liegt.  Wir  setzen,  Cunningham 
folgend,  Hu-§a  des  Hiuan-thsang  Wäsagird  und  WakhS  gleich; 
auch  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  in  Kio-ho-yan-na, 
wie  Yule  erkannt  hat,  der  berühmte  Ort  Qobädhiyän  (^jUiLo) 
oder  Qawädhiyän  ((jL><>l»J')  enthalten  ist,  der  nach  Einigen 
persischen  Quellen  von  dem  mythischen  Kavi-kaväta  (Kaikobad), 
nach  Anderen  von  dem  Sassaniden  Qowad  I.  (490 — 531)  ge- 
gründet worden  sein  soll;  letztere  Meinung  (Täbarl,  p.  Zoten- 
berg,  II  p.  147:  ,11  fonda  sur  le  territoire  de  Khotlän  une  ville, 
nomm6o  Qobäd-abäd,  qu*on  appelle  aujourd'hui  Qowädyän;  il 
fonda  aussi  Termed  et  une  ville  nommee  Wazm-gird,  sur  les 
bords  du  öltün  etc.')  däucht  uns  trotz  ihrer  Bestimmtheit 
minder  glaubhaft  als  die  erstere,  wonach  das  Alterthum  der 
Stadt  in  die  altbaktrische  Epoche  hinauf  gerückt  wird,  da  der 
Saasanide,  ein  Zeitgenosse  des  mächtigen  indoskythischen  Königs 
Oolla,  ganz  unter  dem  Einflüsse  der  Haital  stand  und  erst  sein 
Nachfolger  Khusraw  Nüsirwän  in  Balkh  und  Tukhäristän 
namhafte  Erfolge  errungen  hat.  Die  arabischen  Geographen  be- 
merken :  , Qawädhiyän  ist  eine  Stadt,  etwas  kleiner  als  Tarmidh, 
und  ein  Wilajat  am  Gaibün,  zwischen  Tarmidh  und  Khuttal 
gelegen,  von  Tarmidh  zwei,  von  $aghäniyän  drei  (arab.)  Tage- 


Centraluiatische  Studien.  I.  109 

märsche  entfernt.  Die  Gegend  ist  im  Norden  sehr  gebirgig 
und  steril;  südlieh  liegt  Uwaga  oder  Ubäg,  ein  Uebergangs- 
punkt  über  den  Oxus^  Der  von  I^takhri  genannte  ^Fluss  von 
Qobädhijan'  ist  kein  anderer  als  der  äb-i-Qafir-nihän,  oder 
der  Kamid  des  Ibn-Dasta.  Wenn  letzterer  u.  a.  Qowädhiylln 
zu  Rhuttal  rechnet,  so  mag  er  Recht  haben;  das  Thalgebiet 
des  WakhS-äb  (iran.  Surkh-äb,  türk.  Kyzyl-su)  gehörte  bis 
WäSagird  hinauf  zu  dem  Wilajat  WakhS  oder  dem  linken, 
westlichen  Khuttal.  Denn  es  gab,  wie  Yäqut  bemerkt,  zwei 
Khnttalän,  verbunden  zu  einem  Gebiet;  das  eine,  links  ge- 
legene, führte  den  speciellen  Namen  al-Wakh§  ((jibÄ^I)  und 
war  ein  langgestreckter  District,  reich  an  Naturgaben,  mit 
angenehmer  Luft;  ,hier  gibt  es  Quartiere  der  Könige  und  es 
herrscht  ein  grosser  Wohlstand^;  zu  demselben  gehörten  auch 
die  grossen  Städte  Haläward  ((>  w^Üd)  und  Läwakand  {OuSyf), 
welche  beide  an  dem  Wakhs-ub  lagen:  eine  davon  entspricht 
sicherlich  dem  heutigen  Qurghän-tübä,  in  dessen  Nähe  gold- 
haltiger Sand  aus  dem  Flusse  gewonnen  wird;  der  Wakhs-äb 
selbst  mündete  bei  dem  Orte  Milah  (&JLju0,  arab.  ,campus, 
desertum^),  welcher  berühmt  ist  durch  einen  Sieg  des  Mahmud 
von  Ghazna,  in  den  Gäriyäb  oder  Wakhkhäb  (=  äb-I-Pang, 
der  grosse  Oxus);  dieses  Mündungsgebiet  ist  jetzt  eine  mit 
Wassertümpeln  und  mit  Rohr  und  Gestrüpp  bedeckte,  von 
Tigern  bewohnte  Niederung,  welche  Fieberluft  erzeugt  und  an 
die  indischen  D^ungeln  erinnert.  So  viel  über  Kio-ho-jan-na 
und  Hu-§a.  —  Das  zweite  oder  eigentliche  Khuttal  (cki^.),  sin. 
Kho-tu-lo,  nach  den  daselbst  häufigen  Bergkesseln  und  Pässen 
so  genannt,  schildert  Moqaddasi  folge ndermassen :  ,Es  ist  ein 
weiter  District  an  der  Grenze  von  §ind,  jenseit  des  Gai];^an, 
zu  Haital  gehörig,  bedeutender  als  l^aghäniyän  und  an  Lände- 
reien und  grossen  Städten  reicher,  auch  an  Wohlstand  und 
Naturgaben  gesegneter ;  seine  Capitale  ist  die  zweitgrösste  Stadt 
Hulbuk  oder  Hulbak  (dLJÜo),  wo  der  Sultan  seinen  Sitz  hat; 
die  erste  und  grösste  Stadt  ist  Munk  (dLüo);  ausserdem  sind 
zu  bemerken  Tamliyät  (^jLJU-))  oder  Tamliyäb,  Käwand  (Ju^l^), 
Iskandra  (s^JüJCu^I)  und  das  Dorf  Bangärä'  (cKL^o)^  Andere 
fügen  hinzu:  ,Khuttal  liegt  zwischen  dem  Gariyäb  (v^L^)  und 
dem  Wakhsäb;  es  erzeugt  viele  Saatfelder  und  Früchte;  der 
fruchtbare    Boden    nährt    viele    Hausthiere,    besonders    Pferde 


110  TomaBchek. 

vorzüglicher  Race,  ihresgleichen  gibt  es  in  keinem  Laude  der 
Welt.  Die  Einwohner  sind  vorzügliche  Jäger  und  beständig  mit 
Jagd  beschäftigte  Kamen  somit  die  Einfiissler  des  Mahabharata; 
welche  dem  Yudhisthira  (360  v.  Chr.)  huldigten,  darbringend 
,wilde,  sehr  schnelle,  cochenillen-farbige,  weisse,  regenbogen- 
farbige, morgenrothfarbige,  buntfarbige  Pferde^,  und  die  vor 
den  Königen  genannt  werden,  welche  die  Esel  von  Vanksu 
(Oxus)  brachten,  aus  dem  sakischen  Lande  Khuttal?  Auch 
die  Annalen  der  Hau  preisen  die  ,blutschwitzenden'  Argamak's 
von  Ta-wan  und  Tukharistan.  In  der  Sassaniden-Epoche  führte 
der  Herrscher  des  Landes  den  Titel  Khuttalän-khudah ;  auch 
der  Name  »Sabll  (Jül^m),  in  dessen  zweitem  Bestandtheil  skr. 
päla  ,Für8t^  enthalten  zu  sein  seheint  wie  in  dem  Namen  des 
Kabulän-Säh  Zotbil  (=  Yätya-päla),  begegnet  a.  H.  80.  Die 
Distanzangaben,  die  sich  bei  MoqaddasI  und  I^t^kbrl  finden, 
sind  sehr  verworren;  wir  halten  folgende  Skizze  für  die  an- 
nähernd richtigste :  , Wenn  man  von  Bädakhsän  aus  den  Gariyäb 
überschreitet  —  1  Farsakh  von  diesem  Flussübergang  entfernt 
liegt  Käwand  (var.  Kaubeng  ^^  oder  Käweng),  d.  i.  das 
spätere  Dilli,  bei  Sidi-Ali,  Journ.  asiat.  Paris  1826,  IX  p.  205,  — 
so  gelangt  man  in  zwei  Tagereisen  nach  Hulbak  (vielleicht  das 
jetzige  Khülbagh  am  Balguun-darjä  oder  Kiöl-surkhäb),  wo  man 
den  Fluss  Äkh§  oder  Akhis  jm^I  überschreitet;  es  folgt  der 
Fluss  Bartän  (jL->>J,  noch  weiter  der  Fluss  Färighl  oder  Färighän 
oder  Pärighar,  endlich  der  äb-i-Bangärä',  worauf  man  nach 
Munk  gelangt,  das  von  Hulbak  zwei  Tagereisen  entfernt  ist 
(offenbar  das  heutige  Bälguan,  Bälgwän  bei  Sarif-al-din  I  p.  64, 
wenngleich  die  Anführung  von  vier  Flüssen  Schwierigkeiten 
macht,  da  wir  jetzt  nur  zwei  Flüsse  in  diesem  Gebiete  kennen, 
den  Bälguän-daryä  und  den  Kül-äb,  vgl.  Kül-äbe  nS^y^  bei 
Sidi- Ali  1.  c.  p.  205  und  im  Akbar-näma ;  beide  voreinigen  sich 
bei  Khülbagh);  von  Munk  zählen  die  Itinerarien  bis  zur  Ueber- 
fahrt  über  den  Wakh§,  sowie  nach  Läwkand  und  Holäward 
am  Wakhä-äb  je  einen  Tagmarsch;  letztere  Orte  selbst  waren 
einen  Tag  von  einander  entfernt.  In  der  Nähe  von  Munk  \s^ 
der  Gau  Tämliyät,  und  von  da  bis  zum  Wakhs-äb  zählte  man 
4  Farsang;  die  Verbindung  von  Khuttal  mit  Wäsagird  war 
durch  eine  Brücke  hergestellt,  unter  welcher  der  wasserreiche 
Strom  in  einem  wunderbar  zwischen  Felsen  eingeengten  Bette 


OentralMiatitche  Stadien.  I.  111 

dahinfloss;    so  dass   sein  Lauf  in   der  Erde  sich  zu  verbergen 
schien;    diese   Brücke    führte    den    Namen    Pül-I-saogin    d.   i. 
,8teinerne  Brücke'   (türk.  taS-köprü),    eine  Position,   die   durch 
die   mannigfaltigsten   Zeugnisse  Berühmtheit   erhalten  hat.    So 
sagt  Ibn-Dasta:   ,Der  Wakhs-ab   kommt  aus   dem  Lande   der 
Qarlüq-Türken  und  fliesst  den  Fämir  (Pämir)  zur  Seite  lassend 
in's  Land  al-RäSt,  dann  in's  Land  der  Qumidh;   darauf  fliesst 
er  zwischen  den  Bergen,  die  einerseits  im  Gebiete  von  Wä&agird 
(j.    Gebirge    Nür-tagh),    anderseits    im    rustäq    Tamliyät    des 
Landes  Khuttal  (j.  Bergzüge  Khod^a-yuqur  und  Säbistän  mit 
dem   3Ö80  Fuss   hohen   Passe   GüI-I-zindän)   liegen;   in   dieser 
Bergenge  führt  eine  Brücke,  welche  die  steinerne  Brücke  heisst, 
von    Khuttal   nach    dem    links    gelegenen    Wäsagird';    kürzer 
I^takhn:    ,Der  Wakh§-äb  fliesst  aus   dem  Lande   der  Türken, 
bis  er  nach  Wakliä  kommt;  in  diesem  Gebiete  durchbricht  er 
das   Gebirge   und   passiert  eine   Brücke,    welche   Khuttal   von 
Wäsagird  trennt ;  man  kennt  keinen  Fluss,  der  bei  der  Menge 
seines  Wassers   sich  so  einengt,   wie   der  Wakhs-äb  an  dieser 
Stellet    Idrisi  behauptet  daher,    der  Strom  verliere  sich  unter 
der  Erde  und  breche  erst  eine  lange  Strecke  unterhalb  wieder 
hervor.    Diese  Brücke,   zehn  Schritte  lang,    an   zwei  vorsprin- 
gende   Felsen    befestigt,    passiert   man    noch   heute    bei    dem 
Uebergang  von  Balguän  nach  Närak  und  Faizftbäd.    Sie  nennt 
ausserdem  Sarif-al-din  (II  p.  11:  ,1a  rivi^re  de  Wakhs'  ,le  pont 
de  pierre,  nomm6  Tas-köprü'  ,au  royaume  de  Khotlän';  I  p.  64: 
,du  c5te  de  Balgawän'  ,entre  Giala  et  le  pont  Sangin'  ,au  bout 
du  pont  Sangln'  etc.),    ferner  Sidi-Ali  (L  c.  ,1a  ville  de  Öar-sü 
^^l^'    ,de  lä,   rencontrant  le  fleuve,    nous    passämes  le  pont 
Pül-i-sangln  ^^^jJCUm Jo'  ,nou8  continuamos notre  route  pour  arriver 
ä  Bazarend  Jü^KL  et  au  bourg  de  öehär-samba  auJu^  )^y^y  ^^ 
Ik  notre  route  nous  conduisit  ä  la  forteresse  Sädmän  ^Lo(>Lim  etc/) 
und  Andere.  Es  ist  daher  merkwürdig,  dass  Hiuan-thsang  dieser 
Brücke   nicht   gedenkt.    —    Was    nun    das    Reich    Kiü-mi-tho 
(=  Kümidha)  betrifft,  welches  sich  zwanzig  Tagereisen  im  Nord- 
osten von   Khuttal   erstreckte,    so   ist   das   Vorkommen   dieses 
Namens  bei  dem  sinischen  Pilger  so  wie  bei  dem  arabischen 
Geographen  Ibn-Dasta  (in  der  Form  Juyo^  Kümidh,  Kom6dh) 
eines   dei*  glänzendsten  Zeugnisse   für   die  Akribie  der  ptole- 
maeischen  Nachrichten   über   den  Handelsweg  von  Sogd  nach 


112  TomAselielr. 

Cina.  Bei  Ptolemaeus  ist  i^  spstvtj  Ko{i.Y;Sü)v,  t^  twv  Kfa>|jiv)$(5v  hpivdt 
ein  vastes  Berggebiet,  aus  welchem  der  Jaxartes  und  seine 
Zuflüsse  hervorgehen ;  die  Karavanen,  welche  nach  Serina  zogen, 
betraten  dieses  Hochplateau  äT:h  twv  lovBiavwv,  aber  von  der 
nördlichen  Seite  her  (aus  der  Gegend  von  Marghlnän  und  Us 
in  Fargh&na),  und  durchmassen  dasselbe  in  mehreren  Tage- 
reisen (gegen  3000  Stadien)  von  Nordwesten  nach  Südosten, 
indem  sie  offenbar  das  Alaiplateau  und  einige  der  sechs  von 
Ost  nach  West  streichenden  Parallelketten  des  Pamir  (wyoLj) 
überschritten ;  sie  gelangten  hierauf  (am  Fusse  des  Kyzyl-yart) 
in  ein  langgestrecktes  Hochthal,  -fi  ^ipa^;  tiov  K(«>[j.rjSfa)v  (d.  i. 
,the  Tägharma  plain^),  dessen  Länge  in  der  Richtung  von 
Südwesten  nach  Nordosten  50  schoenen,  d.  i.  3000  Stadien 
oder  sechs  ptolem.  Grade,  betrug;  am  Ausgange  dieses  Hocb- 
thales  lag  der  berühmte  A(6ivo(;  roipYo?,  d.  i.  nach  H.  C.  Rawlin- 
son's  treffender  Vermuthung  (Journ.  of  the  R.  Qeogr.  Soc.  1872 
p.  504)  das  heutige  Qilä-I-TaS-qürghän  in  Sir-i-qAl,  und  von 
da  führte  der  Weg  v.q  zo  y.aTa  ib  "Ifxacv  5po;  ipfj-Yj-n^pisv  twv  v^ 
T»)v  Si^pav  6[jLTCop£üO|i.6V(i)v,  d.  i.  nach  Yärkand.  Die  Anwohner 
jener  opeivij  nennt  Ptolemaeus  KofjL^B«'.,  während  er  an  die 
Jaxartesquellen  das  Volk  der  ApicneT?  setzt;  beide  gehörten  zu 
dem  mit  den  Iraniern  verwandten  Volke  der  Zr/.a'.;  selbst  der 
Name  der  Komeder  ist  nicht  ohne  Analogie  (vgl.  Juy0%^Küroidh, 
Veste  in  T^baristän,  bei  Yäqüt ;  Kumüda,  eine  der  zehn  eisigen 
Höllen  der  buddhistischen  Mythologie,  im  Dharmapradipiku ; 
ja  selbst  ein  dem  Vanksu  benachbartes  Gebirge  wird  so  ge- 
nannt, im  Brähma^a-purä^a).  Aus  dem  Alterthum  hat  sich 
noch  ein  zweites,  wenngleich  entstelltes  Zeugniss  über  das 
Volk  erhalten ;  auf  der  Weltkarte  des  Augustus,  deren  Spuren 
sich  nach  Müllenhoff's  Untersuchung  noch  in  dem  Machwerk 
des  sogenannten  Ethicus  und  Julius  Honorius  nachweisen  lassen, 
hoisst  es:  Oxos  ff.  nascitur  de  monte  Cavmkste;  in  quinque 
alveos  dividitur  et  transeunt  omnes  per  montem  Caucasum 
(:=  Meru,  mit  dem  See  Anavatapta;  also  eine  indische  An- 
schauung !)  etc. ;  hier  ist  offenbar  zu  lesen :  de  monte  Cavmede. 
Bei  den  Genannten  findet  sich  auch  ein  innerasiatisches  Volk 
Travmedae,  d.  i.  Cavmbdae,  wenn  nicht  die  Taupc{i.7;5oi.  Bei 
Hiuan-Thsang  umfasst  das  Gebiet  der  Kiü-mi-tho  vornehmlich 
die  heutigen  Landschaften  Darwäz^  Wänag  (oder  Wang;  etwa 


r«DtralMiaiMehe  Studien.  I.  113 

das  in  indischen  Schriftwerken  genannte  pferdereiche  nordische 
Land  Vanäyuga  oder  Vanäyu?)  und  Ku&nän,  worin  die  Haupt- 
orte Qilä-i-Khumb,  QÜÄ-i-Wang,  QÜÄ-I-Wämär  liegen.  Eine 
uralte  Capitale  der  Saken  hiess  nach  Ktesias  (bei  Nikolaos 
V.  Damaskos)  Tw^avaxtj*  ii  x6Xi;,  vf^OL  Zay.a'.^  to  ßa(j{X6iov  ^jv, 
vgl.  Steph.  Byz.  "PoSovoKata-  tccXi;  {laxwv)^  auch  dieser  Name 
ist  echt  iranisch,  von  baktr.  raokhsna  , glänzend,  leuchtend, 
GlanZy  Licht/  neupers.  röian  ^»y^yy  herzuleiten ;  die  Benennung 
hat  sich  noch  jetzt  auf  dem  alten  sakischen  Boden  erhalten, 
eben  in  jenem  an  dem  äb-i-Pang  ober  Sighn&n  gelegenen 
Canton  Ruinän  (oder  RöSän;  auch  südlich  von  Yassln  in 
Dardistän  finden  wir  einen  gleichnamigen  Ort);  mehr  über 
die  Saken  so  wie  über  das  Land  Highnän,  über  welches  Blruni 
vorzügliche  Nachrichten  bietet,  anderen  Ortes.  —  Kehren  wir 
nach  Wäfiagird  zurück  und  verfolgen  wir  noch  das  Itinerar 
nach  dem  Lande  al-RnSt.  Einen  Tagmarsch  nach  WäSagird 
in  nördlicher  Richtung  (also  am  Westufer  des  WakhS-äb  oder 
Kyzyl-su)  war  die  Station  Iläq  oder  Ailäq  (^'i^^l,  nach  welcher 
noch  heute  der  Zufluss  des  Käfir-nihän  den  Namen  Iläk  führt; 
auch  Bäbr  (I  p.  259,  260,  309)  gedenkt  der  Sommerhalden 
oder  yailaq's  im  Gebiet  von  Hi^Ar  und  Qara-tagin.  Eine  Tag- 
reise  weiter  war  die  Klause  Darband  Jüj%4>,  einen  Tag  weiter 
der  Ort  Gabäkhän  ^jL^U:»  oder  Gäwkän  (jl^^l^  oder  Käwkän 
^l^^l^,  und  noch  einen  Tag  weiter  das  Felsenschloss  al-Qalaa 
uJUil,  wo  die  äussersten  Vorposten  des  musulmanischen 
Khuräsän's  standen.  Ibn-Khurdädbeh  und  Ibn-Sayd  berichten 
über  diesen  Grenzort :  ,er  liegt  zwischen  zwei  Gebirgen,  gegen 
Farghdna  hin,  in  dem  Lande  al-Rä§t ;  hier  brachen  die  Qarlüq- 
Türken  ein,  um  Raubzüge  zu  machen;  um  diese  Einfalle  zu 
verhindern,  Hess  hier  der  Wazir  Fadhl  ben  Yahiyä  ben  Khaled 
al-Bärmaki  (a.  793  n.  Chr.)  eine  Mauer  von  Nord  nach  Süd 
aufführen,  welche  durch  zwei  Castelle  geschützt  wurde;  von 
diesem  Thore  (al-bäb)  gegen  Ost  ist  KäSghär  gelegen^  Der 
äosserste  Ort  in  Farghäna  allen  arabischen  Nachrichten  zufolge 
war  Uz^kand ;  ostwärts  lag  das  Gebiet  des  Gür-takin  al-dihqän, 
und  man  gelangte  nach  einer  Tagreise  zu  dem  Fuss  eines 
hohen  Gebirges,  über  welches  zwischen  hohen  Felswänden 
ein  steiler  und  dann  jäh  abfallender  Pass  führte,  welcher 
unwegsam  wurde,  wenn  Schnee  fiel;  am  zweiten  Tage  gelangte 

Sitnngsber.  d.  phil.-hitt.  Ol.  LXXXVII.  Bd.  I.  Hft.  8 


114  Tomatchelr. 

man  nach  Atäs,  welches  auf  einem  Hochplateau  lag^  von  wo 
aus  man  durch  wüste  und  unbewohnte  Strecken  in  sechs  Tagen 
nach  Ober-Birsgän  (am  obern  Sirr  oder  Narin)  und  in  sieben 
Tagen  nach  Tubat  (Yärkand)  gelangte.  Dieses  an  dem  Berg- 
stutz gebaute  At&s  und  die  Veste  al-RäSt  müssen  als  die 
äussersten  Grenzpunkte  des  erst  in  neuester  Zeit  erschlossenen 
Alaiplateau's  in  Ost  und  in  West  betrachtet  werden.  Die 
Veste  al-Rä§t  lag  wohl  in  irgend  einem  der  Pässe  (etwa  dem 
Tarak-dawän  ?)  der  hohen  Gebirgskette,  welche  Farghäna  von 
Qara-tagln  scheidet;  den  Namen  R&dt  (siia^äK,  Var.  v^>dM#b 
Qasb,  wobei  an  die  bei  Herodot  III  93,  VII  67,  86  neben  den 
baktrischen  Saken  genannten  K(xa7;io(  gedacht  werden  könnte, 
wenn  die  Lesart  sicher  wäre)  oder  AriSt,  RiSt  (v»uä^I,  väa-ä^) 
so  wie  den  in  Farghäna  seitwärts  von  Vh  und  den  Jaxartes- 
quellen  gelegenen  Ort  Riitän  (^Lcmj)  sind  wir  versucht  in 
Zusammenhang  zu  bringen  mit  dem  Volke  der  'Apurrel«;,  welches 
Ptolemaeus  an  die  Jaxarteszuflüsse  setzt;  der  heutige  Name 
der  Landschaft  Qara- tagin,  welche  von  Galöi's  oder  persisch 
sprechenden  ,montagnards'  bewohnt  wird,  liihrt  von  einem 
türkischen  Machthaber  der  Khitan  her;  als  Eigenname  begegnet 
er  schon  unter  den  späteren  Sämäuiden  (von  qara  , schwarz' 
und  ^jjJo  takln,  tagin  , Wohlgestalt,  kräftig,  muthig,  Held'). 
Ueber  Karitegin  hat  in  neuerer  Zeit  der  russische  General 
Abramow  einen  kurzen  Bericht  veröflFentlicht  (Journ.  of  the 
Roy.  Geogr.  soc,  1871,  XLI  p.  338—342);  darin  erscheinen  als 
wichtigere  Ortschaften  Gharm  (der  Vorort,  mit  800  Häusern), 
Qalai,  Sar-I-pül,  Sarym-saly,  Naudanak,  Komar-äb,  Tang>l- 
namazga,  Langar-sah  (wo  Salz  gewonnen  wird)  u.  a.,  sämmtlich 
in  der  Nähe  des  Kyzyl-sü  (Surkh-äb,  WakhS,  Oxus)  gelegen; 
Sar-pül  und  Zankun  nennt  8arlf-al-din  (I  p.  23).  Somit  sind 
wir  mit  der  Beschreibung  des  Hi^ärgebietes  zu  Ende,  und  wir 
widmen  noch  einige  Aufmerksamkeit  den  Zügen  Alexander's, 
so  weit  sie  das  östliche  Sogdiana  oder  die  Striche  ostwärts 
von  dem  ,eisernen  Thor'  (dem  Felsen  des  Sisymithres)  be- 
treffen. —  Curtius  gibt  folgende  kurze  Nachricht  (VIH  14,  1): 
tertio  mense  (a.  327)  ex  hibernis  (vgl.  Arrian.  IV  18,  2: 
'AXi5«v8po^  xepl  xa  Naiixaxa  avs-jcaue  17)7  cxpaTiav  OTticsp  dx{jtmov 
Tou  YeK[iMi^oq  ?iv)  movit  exercitum,  regionem  quae  Gabaza  appel- 
latur  aditurus.     Diese  Gegend  lässt  sich  nicht  bestimmen,   da 


C«ntralastAtUche  SUdien.  I.  115 

von    einem    annähernd    ahn  liehen    Namen    nirgend    eine    Spur 
vorhanden;  weder  Qobftdhiyftn  noch  Ubaga  noch  jenes  Gabäkhftn 
oder  Gräwakftn^  welches  wir  bei  dem  Dorband  al-Ra§t  kennen 
gelernt   haben,   will   recht   stimmen.     Da   das   ^eiserne   Thor^, 
der  Schlüssel  zu  der  Hi^ärlandschaft,    sich   bereits  in  der  Ge- 
walt  des   Eroberers  befand ,    so   ist   die   Annahme,    dass   wir 
Gabaza  jenseit  des  Surkhftn  und  gegen  den  Wakh§-äb  hin  zu 
suchen   haben,   keine  allzu  kühne.     Curtius  spricht  von  einem 
Saltus^    wo   die   makedonischen   Colonnen  von   einem    grossen 
Gewitter  überrascht  wurden ;  furchtbar  litt  das  Heer  von  Winter- 
frost   und   Mangel;    wenige   Weiler,    von    Barbaren    bewohnt, 
lagen   am   Ausgange   der   Enge   und  in   den   Bergthälem   ver- 
steckt;   doch   zur  rechten  Zeit   erschien   die   von    Sysimithres 
geleistete  Zufuhr,   welche  das  Heer  reichlich  versorgte.    Berg- 
engen und  Pässe  gibt  es  nach  dieser  Seite  hin  viele.    Dass  wir 
uns  aber  nicht  weit   von  Khuttal   und  Signän   befinden,   lehrt 
die    sofortige    Änreihung    der    Expedition    gegen    die    Saken : 
,rex  sex  dierum  cocta  cibaria  ferro  milites  iussit,  Saqas  petens. 
Totam   hanc    regionem    depopulatus   XXX   milia  pecorum   ex 
praeda  Sysimithri  dono   dat'   (VH!  15,  20).     Arrian   übergeht 
diese   Expedition,    obwohl   es   (VH    10,    5)   bei    ihm    heisst: 
AXs^avSpo;   vt>to)v  —  xal  Bay.Tptou;   xat  ^oxa;.     Diese   Saken   sind 
verschieden  von  jenen  Reiterhorden,  welche  jenseit  des  Jaxartes 
(Tanais)  nomadisirten  und  meist  ^xuOat  ol  "Aßcoi  genannt  werden, 
auch  von  den  Massageten  zwischen  Chorasraien  und  dem  Sogd- 
fluss.     Es   sind   die   Saken   am   obern   Oxus    (äb-i-Pang),    die 
Nachbarn  der  Inder;  vgl.  Curtius  VII  IT),  6:  venturos  Choras- 
mios  et    E^ahas   Sacasque    et    Indos   et    ultra   Tanain   omnem 
colentes  Scythas;  V  9,  5:  Bactra  intacta  sunt,  Indi  et  Sacae; 
Strabo  XI  p.  513:   ^Yjai  o'  'EpaTO<;0£vif]^,   Xoxaq  [asv  xai  So^Siavou^ 
"coi;  okov;  eSößpeaiv  avTixsTffOai  rj)  IvoixYJ.    Drei  ihrer  Stammesfürsten 
unter  Darius  I.   (bei  Polyaen.  VII   12)   haben   echt   iranische 
Kamen:    SaxecfapY)?   (^aka-i^fära),    '0[jiapYir)<;   (Haumavarga,  vgl. 
\K\vj^({Qi   bei   Herodotos),    ©afjLupt;    (Tahmüraf);    ihr  Heerftihrer 
unter  Darius  III.   führt  den    echt   skythischen  Namen  MaüaxTj? 
(Arr.  III  8,  3;   vgl.  Meuöbcr^q  auf  bosporan.  Inschr.).     Choirilos 
(Strabo  VII  p.  303)  nennt  die  Saken  [jLY)Aov6|^.ot,  und  wir  dürfen 
uns  nicht  wundern,  wenn  die  Makedonen  ihnen  30.000  Schafe 
wegtrieben.     Ob    sich    die    Expedition    bis    zu    ihrer   Capitale 

8*        ' 


116  ToinaBch«k. 

Rökh§änaka  erstreckte,  wird  nicht  berichtet  und  ist  auch  kaum 
anzunehmen ;  dass  aber  Khuttal  erobert  wurde,  können  wir  aus 
der  Gründung  Sikandra  schliessen.  Curtius  berichtet  weiter: 
,inde  pervenit  in  regionem,  cui  Oxyartes  satrapes  nobilis 
praeerat,  qui  se  regia  potestati  fideique  permisit'.  Fällt  also 
in  diesen  Verlauf  der  Heereszüge  die  Einnahme  des  ,80gdia- 
nischen'  Felsens,  tq  toj  "Q^ou  Trexpa?  Uebereinstimmend  mit 
Curtius  verlegt  in  diese  Zeit  Arrian  die  Vermälung  Alexander's 
mit  Roxane,  der  Tochter  des  Oxyartes,  welche  auf  dem  Felsen 
verwahrt  gewesen.  Arrian  berichtet  unmittelbar  darauf  von 
der  Expedition  nach  Bädakhfiän;  denn  dass  unter  Paraitakana 
die  heutige  Landschaft  Paraigän  und  unter  dem  Gebiete  des 
Xopisvr^  (vgl.  Xopii'/Y)^  Xwpidvr^c,  Perser  bei  Prokopius  b.  Ooth. 
IV  1  u.  8)  der  Canton  Khuryäna  oder  Qurrän  verstanden 
werden  darf,  werden  wir  anderen  Ortes  darlegen.  Nachdem 
auch  noch  die  Häuptlinge  Austana  und  Katanna  bewältigt 
worden  waren  und  nachdem  Polysperchon  die  Landschaft 
Bubakana  (vgl,  BoußaxYj;,  Perser  bei  Arn  II  12,  8)  durchzogen 
fUnd  unterworfen  hatte,  gieng  es  mit  gesammelten  Streitkräften 
frischen  Muthes  durch's  Kabulthal  —  nach  Indien! 


Indem  wir  nun  die  am  Zarafsan  gelegenen  Hauptgebiete 
und  die  am  meisten  genannten  Ortschaften  des  Herzens  von 
Sogd  nach  den  vorhandenen  ältesten  Schriftwerken  zu  schildern 
versuchen,  folgen  wir  im  grossen  Ganzen  der  Reiseroute, 
welche  der  bewährteste  Führer  auf  diesem  Gebiete,  der  sinische 
Pilger  Hiuan-Thsang,  in  seinem  Si-yü-ki  einzuhalten  fiir  gut 
fand^  und  beginnen  mit  der  Landschaft,  welche  die  sinische 
Bezeichnung  Tong-Tsao  (]^  "fif)  kue  oder  ,das  östliche  Reich 
Tsao'  fuhrt,  worin  Tsao  (sin.  ,1a  multitude*)  schwerlich  auf 
einen  Namen  iranischen  oder  türkischen  Ursprungs  zurückgeht ; 
es  ist  dieselbe  Landschaft,  welche  bei  den  arabischen  und 
persischen  Schriftstellern  0§rüsenah  genannt  wird.  Matuan-lin 
gibt  aus  den  Annalen  der  Dynastien  Sui'  und  Thang  folgendes 
R^sume  über  dieses  Gebiet,  als  dessen  Centrum  das  heutige 
Ura-täpä  gelten  muss  (Abel-Remusat,  Nouveaux  melanges 
asiatiques,  I  p.  235):  ,1a  partie  Orientale  du  pays  de  Tsao  se 
nomme  aussi  Tu-su-Sa-na,  Su-tui-sa-na,  Su-tu-Si-ni.    Elle  est  au 


CentralMiatiiohe  Stadien.  I.         .  117 

Dord  du  mont  Po-si.  Elle  est  k  deux  cents  li  de  Öi  (TaSkend) 
vers  le  nord,  de  EhaDg  (Samarkand)  vers  Touest,  de  Ning-yuan 
(Fai-ghäna)  vers  Test.  II  y  a  au  midi  cinq  eents  li  jusqu'au 
Tokbarestan.  On  y  voit  la  ville  de  Ye-öa,  qui  est  gardöe  par 
un  commaudant^  Wir  finden  ausserdem  die  Notiz  (p.  203): 
,le  royaume  de  Su-tu'i-Sa-na,  qui  fut  connu  sous  les  Su'i,  n'est 
antre  que  le  pays  des  Ta-wan  au  temps  des  Han'  —  eine  An- 
gabe, der  wir  nur  den  Werth  einer  blossen  Conjectur  beimessen 
können,  da  weit  gewichtigere  Gründe  dafür  sprechen,  dass  wir 
unter  Ta-wan  ein  östlicheres  Gebiet  (Farghäna,  wenn  nicht 
Caghäniyän)  zu  verstehen  haben.  Weiters  berichteten  die 
Annalen,  dass  die  Herrscher  von  Su-tui-Sa-na  zu  wiederholten 
Haien  Gesandte  an  den  sinischen  Hof  schickten,  um  ihre 
Erg^ebenheit  und  Unterwürfigkeit  zu  bezeugen,  so  namentlich 
um  618  bis  626  n.  Chr.;  im  Jahre  752  wurden  Boten  nach 
Bin  abgeschickt,  um  Hilfe  gegen  die  stetigen  Einfälle  der 
Araber  (,les  Ta-Si  k  robe  noire')  zu  erbitten;  die  praktisch- 
kluge Regierung  des  entfernten  Reiches  der  Mitte  fand  es 
nicht  rathsam  dem  Ansuchen  zu  willfahren.  Vor  den  Arabern 
waren  es  die  westlichen  Türken,  welche  wie  in  den  Jaxartes- 
landen  so  auch  in  Osrüäenah  zeitweilig  die  Oberherrschaft 
besassen.  Ursprünglich  gehörte  jedoch  das  Gebiet  zu  Hai^al. 
Ueber  die  Eroberung  durch  die  Araber  geben  die  orientalischen 
Schriftwerke  nur  kurze  Notizen.  Balädhürl  berichtet,  dass 
im  Jahre  94  d.  H.  Qotaiba  gegen  Odrüsnah  und  Khogand 
gezogen  und  bis  Kägän  und  Ura§t  in  Farghäna  vorgedrungen 
sei;  später  wird  von  einer  Besitznahme  OSrüsna's  durch  Sa'id 
la.  103  H.)  und  durch  Fadhl  (a.  178)  berichtet.  Der  Name 
des  letzten  einheimischen  Fürsten  von  Oärüsnah  soll  Affiln 
oder  If&In  gelautet  haben;  er  hat  das  Gepräge  eines  Appella- 
tivura's  und  eines  iranischen  Ursprungs.  —  Hören  wir  was 
Hiuan-Thsang  über  OSrfisnah  berichtet ;  er  war  von  Ce-Si  (CäS) 
nach  Fe'i-han  (Farghäna)  gezogen  und  verfolgte  nun  weiter 
seine  Route.  ,En  partant  de  ce  pays  —  heisst  es  im  Si-yü-ki, 
p.  Stanisl.  Julien  I.  p.  17  — -,  dans  la  direction  de  Touest,  il 
lit  environ  mille  li,  et  arriva  au  royaume  de  Su-tu-li-se-na. 
Le  royaume  de  Sv-tv-li-se-na  (^  ^  7^  |^  ^)  a  de  qua- 
torze  a  quinz«  cents  li  de  tour.    A  Test,  il  est  voisin  du  fleuvc 


118  Tomaachek. 

Se.     Le    8b-ho    (^   ^)    sort    du   plateau    septentrional    des 
monts  Tsong-ling,  et  coule  au  nord-ouest.    Sous  le  rapport  des 
produits  du  sol  et   des  mceurs^    ce  royaume   ressemble  k  celui 
de  Ce-Ii  (Cäl).     Depuis   qu'il  a   uu   roi,   11  s'est  mis  sous   la 
d^pendance  des  Tu-kiue  (Turcs).     En  partant  de  ce  royaume, 
dans  la  direetion  du  nord-ouest,  on  entre  dans  un  grand  desert 
sablonneux,  oü  Ton  ne  voit  ni  eau,  ni  herbes.    La  route  s'ätend 
ä  perte  de  vue,    et  11  est  impossible    d'en   calculer  les  limites. 
II  faut   regarder  dans  le  lointain  quelque    haute   montagne,    et 
chercher  des  ossements   abandonn^s,   pour   savoir  comment  se 
diriger    et    reconnaitre   le   chemin    qn'on    doit    suivre.      Apr^s 
avoir  fait  environ   cinq   cents  li,    il  arriva  au  royaume  de  Sa- 
mo-kien  (Sainarkand)^  Was  der  buddhistische  Iteisende  von  der 
wüstenartigen  Beschaffenheit  des  Landes  in  der  Richtung  nach 
Westen  (und  Südwesten)  berichtet,  stimmt   vortrefflich  zu  der 
Schilderung,  welche  ein  anderer  sinischer  Berichterstatter  Jahr- 
hunderte   später    (1221)    von    der    Strecke    südlich    von     dem 
Khogendflusse  oder  dem  Sirr   bis  Samarkand    entwirft  (Jouru. 
asiat.  VI*  ser.  tome  IX  p.   69):   ,Au   sud-ouest   du  fleuve  Ho- 
khian  (ou  Ho-tan,   i.  e.  Khogand)  on  fait   plus  de  deux    cents 
li  Sans  trouver  absolument  ni  eau,  ni  herbe.    Ensuite  au  midi, 
on  aper^oit  de  hautes   montagnes   couvertee    de   neige*.     Auch 
die    arabischen    Geographen    reden    von    einer    ausgebreiteten 
Steppe  zwischen  Dizak  und  Zämin,   und  neuere  Reiseberichte 
schildern  uns  die  nordwestlich  von  Ura-tübä  sich  erstreckende 
Gegend   als   ein   sandiges  Gebiet,    das   im  Sommer,    wenn    die 
Gluthitze   unerträglich   wird,   alles   vegetabilischen  und  anima- 
lischen Lebens   ermangelt;    Nazarow   (Magasin   asiat.  I   p.   66) 
macht  sogar  die  Bemerkung :  ,C'est  pourquoi  Ton  n'elfeve  dans 
ce  pays  qu'une  tres-petite  quantite  de  bctaiP.    Diesen  Angaben 
zufolge  wagen  wir  sogar  den  Namen  Usru^ranah,  dessen  ältere 
Form  im  Si-yü-ki  mit  8u-tu-li-se-na  (Suthriyana)  wiedergegeben 
ist,    durch   die   Annahme    einer   alt-sogdianischen    Namensform 
Khäudra^änaka   mit   der   Bedeutung  ,Vcrnichtung   alles    leben- 
digen   Samens^    zu    deuten,    indem    wir    auf   baktr.    Khsudra^ 
huzw.  §usr,    neupers.    suhr  ,Same*   verweisen,    wofür   wir    eine 
im   siebenten  Jahrhundert    bestehende   sogdianische  Mittelform 
Suthr  annehmen  dürfen,  die  später  in  der  Zusammensetzung'  zu 
uSthr  und  uSr  degenerierte,  so  wie  auf  baktr.  ^äna  ,Zerreibiing, 


CentmUsiatische  Studien.  I.  119 

Veruichtung^  und  ^^naka  ,Steppe*,  von  ^an  ,zerstüren*.  Aller- 
dings könnten  wir  auch  baktr.  ustra  neupers.  uStur  Sutur 
jKameeP  zu  Hilfe  nehmen;  <iber,  wir  denken ,  die  von  uns 
vorgezogene,  nicht  minder  durchsichtige  Lautdeckung  ergibt 
sich  auch,  wenn  wir  eine  sogdianische  Völkerschaft  aus  dem 
höchsten  Alterthum  herbeiziehen,  welche  i\ns  Ptolemaeus  nord- 
wärts von  26v3ia  opyj  gegen  die  Jaxartesbiegung  hin,  also  genau 
in  der  Landschaft  Osinisnah,  anführt:  wir  meinen  das  Volk 
der  X)^3paYxat  oder  '05'jopaaYy,2i,  das  bekanntlich  auch  an  dem 
Indus  einen  Namensvetter  besitzt,  den  wir  mit  den  Sanskrit- 
lauten Ksudraka  wiederzugeben  gewohnt  sind.  Sicherlich  hat 
unsere  Deutung  mehr  Bestand  als  die  von  Vivien  de  Saint- 
Martin  vorgebrachte,  wonach  für  Satrugna  indischer  Ursprung 
angenommen  werden  müsste,  unter  Berufung  auf  skr.  ^atru- 
ghnd  (-ghand,  -hin)  ,Feinde  schlagend,  Gegner  vernichtend', 
,une  denomination  connue  dans  Tancienne  geographie  sanscrite 
et  qui  se  rattache  aux  vieilles  legendes  de  la  race  solaire^ 
Auch  werden  wir  uns  hüten  die  Existenz  einer  buddhistischen 
Colonie  tief  im  Norden  des  Oxus  anzunehmen,  da  es  kaum 
glaublich,  dass  HiuanThsang  von  derselben  nicht  Meldung 
gethan  hätte.  Unsere  Zusammenstellung  mit  'O^üSpa^xat  dagegen 
darf  schwerlich  abgewiesen  werden.  Ausser  diesem  Volke 
nennt  Ptolemaeus  den  mittleren  Jaxartes  entlang  auf  der  West- 
seite die  AiTfaXot,  ferner  die  'laiio'.  xat  Toxopoi,  endlich  gegen 
die  Mündungen  des  Stromes  hin  die  'Aptobiai.  Die  ersteren 
dürfen  kaum  mit  den  räthselhaften  AtfXot  des  Herodotos  III 
p.  92  zusammengestellt  werden ;  eher  dürfen  wir  an  die  Au^ioici 
iOvc^  Macaa-feTcov  Steph.  Byz.  p.  145  (wonach  zu  corrigiren  o\ 
'Xiractoi  bei  Strabo  XI  p.  513)  denken,  worin  wir  als  ersten 
Bestandtheil  das  die  Nähe  und  Umgebung  ausdrückende  bak- 
trische  Vorwort  aiwi,  als  zweiten  eine  geographische  Position 
wie  das  später  zu  erwähnende  Foc^a  erkennen.  Bemerkenswerth 
ist  aber  die  Thatsache,  dass  der  Quellenschriftsteller,  welchen 
Mai'inos  oder  Ptolemaios  vor  sich  hatte,  die  lortoi  (oder  Yatya, 
sin.  Yue-ti  und  Ya-ta,  I-ta)  und  die  Tixopo:  oder  Tc/apoi  (Thogari 
bei  Justinus,  sin.  Tu-ho-lo,  die  Bewohner  von  X^ikhäristan 
oder,  wie  Yäqüt  auch  schreibt,  Takhyristän  ^\jiM*yfJ^ic)  erst 
an  der  Nordgrenze  von  Sogd  nomadisierend  kannte;  es  muss 
diese  Angabe  aus  einer  Zeit  sta.mmen,  wo  diese  beiden  inner- 


120  Tom»ichek.' 

asiatischen   Stämme   das    baktrianische  Reich   bedrohten,   aber 
noch   nicht    aufgelöst   hatten  —  wir   müssten    denn    lieber  an- 
nehmen,  dass   darunter  nur  einzelne   zurückgebliebene  Theile 
der   nach  Süden   gezogenen  Stämme   zu    verstehen   seien.    Die 
Landschaft;    welche   diese    beiden  Völker    bei  Ptolemaios   ein- 
nehmen,   entspricht    dem    Qebiete    Yläq   der   arabischen    Geo- 
graphen,   wofür  wir  eine   ältere  Form  Yraq    (vgl.  die  'Aptixa'. 
des  Ptolem.)  substituieren  dürfen,  trotzdem  auch  an  türk.  yailaq 
,Sommerweideplatz'    gedacht    werden    kann.     Durch    die    ein- 
gewanderten Yatya  und  Tukhära  wurden  die  iranischen  'Apiaxai 
von  den  A'>faatot   und  *05u5paYx,a'.    verdrängt    und   nach  Norden 
geschoben.     Unter  die   iranischen  Stämme  Sogdiana's   gehören 
vielleicht  auch  die  ^aßa^tst,  welche  Ptolemaeus  sammt  MapoiuxvBa 
und   dem  Flusse  AapYapiavK;  an   den  Paropanisos    versetzt    hat; 
die  arabischen  Geographen    erwähnen  in  Osrü&nah  eine  grosse 
Stadt  Säbädh  oder  Säbäth   östlich  von  Zämin.  —  Nach  diesen 
ethnologischen    Bemerkungen    können    wir   auch    die    wenigen 
Localitäten,  von  denen  die  Schriftsteller  über  Alexander  melden, 
erörtern.     Nachdem   Alexander  Marakanda   eingenommen    und 
daselbst  eine  massige  Besatzung   zurückgelassen  hatte,    zog  er 
nordwärts;   auf  einem   benachbarten   steilen  Berge  (5po?  '^9^/y 
TÄTOv  xal  ^avTY)  «1:3101X07,  Arr.  III  30,  10),  entweder  dem  saniar- 
kandischen    Cupän-ätä-täpä    (vgl.    Plutarch.    de    Alex,    virtute 
1,  2  u.  2,  9  zpb;  Mapaxavcoi;)  oder  dem  Khodym-tagh  auf  der 
Passage  von  Süzän-ghirän,  hatten  sich  gegen  30.000  Sogdianer 
gesammelt,   um   ihm   den  Durchgang  zu  verwehren.     Hier    er- 
hielt  Alexander    einen    Pfeilschuss   in's   Schienbein,    aber    die 
Sogdianer    wurden    geworfen    und    nur    8000    überlebten    die 
Niederlage.    Nun  ging  es  durch  die  Steppe  bis  an  das  Ufer  des 
Jaxartes;  die  Entfernung  von  Marakanda  wird  zu  1500  Stadien 
(=  37  ^/.2  geographische  Meilen  oder  über  278  Kilometer)    an- 
gegeben.    In   dieser   nordischen   Gegend   gab   es   sieben    feste 
Plätze,    welche  Sogdiana   vor   den  jenseit   des  Jaxartes  noma- 
disierenden Saken  schützten.    Alexander  liess  in  diesen  Plätzen 
Besatzungen   zurück   und    fasste   den   Plan    an    dem   Ufer    des 
Jaxartes  eine  mächtige  Schutzwehr  gegen  die  nordischen  Bar- 
baren  zu  gründen,    welche    seinen   Namen    tragen    sollte.    Da 
brach  auf  einmal  in  ganz  Sogdiana  ein  Volksaufstand  los,  dem 
sich  sofort  auch  die  sieben  Vesten  von  Osrü&nah   anschlössen. 


CentnlMiatifche  Btndien.  I.  121 

Alexander  überliess  die  Belagerung  des  wichtigsten  Platzes, 
RupdroXe^  oder  KOpa,  wo  sich  15.000  streitbare  Sogdiaoer  an- 
geBammelt  hatten,  seinem  Feldherrn  Krateros;  er  selbst  warf 
sich  mit  rasender  Energie  zunächst  auf  Vd^oL  (Arr.  IV  2), 
welches  allsogleich  fiel,  nahm  noch  an  demselben  Tage  drei 
andere  Plätze  ein,  zog  hierauf  vor  Mat^Aoxa  und  rächte  die 
Niedermetzlung  der  makedonischen  Besatzung  mit  der  gänz- 
lichen Zerstörung  dieser  starken  Position  (Curt.  VII  27: 
Maemaceki,  valida  gens.  Alexander  urbem  Corona  circumdedit, 
munitiorem  quam  ut  primo  impetu  capi  posset  .  .  .  non  alia 
urbs  fortius  obsidionem  tulit  .  .  .  cuniculo  suffossa  moenia  .  .  . 
Victor  urbem  dirui  iussit).  Nach  Einnahme  dieser  ringsum 
gelegenen  Vesten  konnte  die  Belagerung  von  Eyra  um  so 
ernstlicher  betrieben  werden;  Alexander  drang  durch  das 
ausgetrocknete  Flussbett  (zo':oi\Loq  5ia  vfi<;  xoXsa);  yji[Ldppo\}q  wv 
hip^ziaiy  Arr.  IV  3)  in  die  Stadt  und  drängte  die  Rebellen  in 
hitzigem  Strassengefecht,  wobei  er  im  Nacken  verwundet  wurde, 
in  die  Burg  (ig  oxpa);  aber  auch  diese  musste  wegen  Wasser- 
noth  capitulieren,  und  Kyra  wurde  der  gänzlichen  Zerstörung 
anheim  gegeben.  Nachdem  auch  noch  Marakanda  wieder  be- 
wältigt worden  war,  konnte  der  Eroberer,  wenn  auch  nur  in 
Hast,  die  geplante  Gründung  von  'AXs^avSpeta  durchführen; 
um  die  Macht  der  makedonischen  Waffen  den  Völkern  der 
äussersten  Nordgrenze  des  Reiches  fühlbar  zu  machen,  setzte 
er  sogar  über  den  Jaxartes,  auf  welchen  Strom  der  Name 
Tana'is  übertragen  wurde,  und  unternahm  in  einer  Strecke  von 
60  Stadien  in  dem  unbekannten  Lande  der  Massageten,  welche 
man  für  die  Abier  des  Homeros  hielt,  eine  abenteuerliche 
erfolglose  Recognoscierung.  Es  ist  nicht  möglich,  die  genannten 
Positionen  auf  der  heutigen  Karte  mit  voller  Sicherheit  zu 
bestimmen;  Vermuthungen  sind  jedoch  nicht  ausgeschlossen. 
Und  so  dürfen  wir  annehmen,  dass  KupcTroXi^  oder  Kupa  mit 
dem  Vororte  der  Landschaft  OSrüsnah,  dem  heutigen  Ura-tübä, 
in  dessen  Bereich  gegen  den  Sir  hin  noch  jetzt  ein  Kurghan 
den  Namen  Eür-kend  führt,  ferner  faCa  mit  Dlzak  (öizakh), 
die  unbenannte  benachbarte  Veste,  ':eiyoq  ^pijtvcv  t5  atX  oux  u^jXöv 
lArr.  IV  2)  mit  Zamln  (baktr.  zemaßna  zemaönya  '^n^Vvc<;,  slav. 
zemlini),  die  drei  folgenden  Plätze  mit  Säbät  Suwa-kath  und 
Khawast,'  M«'[jia-Aa  mit  einer  südlich  von  Ura-tübä  im  Gebirge 


122  Tomaschek. 

gelegenen    festen    Position,    etwa    mit    Dakh-kath    oder    mit 
Ma§ikhay  endlich  'AXe^avBpsu  mit  Khogenda  zu  identificieren  sei. 
Hier   noeli  die  Bemerkung  über  KupouwoXi;.     Neuere  Forscher, 
welche  in  dem  'Apa;r<(;  des  Herodotos   durchaus  nur  den  Oxos 
(Amii)  erkannt  und  die  Massageten  nur  nach  Chorasmien  ver- 
legt wissen   wollen,    wie  Roesler  (Aralseefrage  S.  8  ff.  82  ff.), 
vergessen  ganz  auf  die  Nachrichten  der  Alten,    wonach  Kyros 
alles  Land  bis  zum  mittleren  Jaxartes  besessen  und  als  Denk- 
mal seiner  sieghaften  Thätigkeit  gegen  die  nordischen  Barbaren 
in   der  Nähe   des  Araxes    oder  Orxantes   oder  Jaxartes  (etwa 
baktr.  Yamkhsanta  ?    oder  Vara   khSaeta  , leuchtendes  Wasser- 
becken^ ?)  die  starke  Veste  Kupa  oder  Kupo67:o>vt^  angelegt  haben 
soll;    vgl.    Strabo  XI    p.  517:   Tic  Köpa,    sc/aTOv    ov  Kupoj    xTiajJia 
£-1  TO)  laJapTYj    i:OTa|Jwo    y.£{(j.£vcv,    czsp    ^v    cpicv    t^;  lUpffcov    ap/i^;; 
Arr.  IV  8:   Kupou-oXic,   TSTiiyt^iJir/Y)  t£  '^v  O'JflrjXoTepw  tsixci  *i|Xep  a'. 
a>xAai  7c6A£t^,    ola  87)  uTcb  Kupou  oixiaOcIora.     Ueberhaupt   wurde    der 
Jaxartes  als  die   äusscrste  Grenze   aller   alten  Eroberungszüge 
angesehen,  vgl.  Plin.  VI  §  49 :  arae  ab  Hercule  et  Libero  Patre 
constitutae,    item  Samiramide   et   Cyro   atque   Alexandre,    finis 
omnium  eorum  ductus,   includente   flumine  Jaxarte.    Vielleicht 
gab  es  noch  eine   zweite  Gründung   des  Kyros   und   zwar   am 
oberen  Jaxartes,   die    durch   ihre  weitere  Entfernung  der  Zer- 
störung durch  Alexander  entgieng ;  wenigstens  kennt  Ptolemaeus 
einen  Ort  Kupe^r/^ata,  dessen  Lage  er  so  genau  situiert,  dass  wir 
darin  die  Position  des  heutigen  Usgent  oder  Uz-qand  erkennen 
müssen;    ,hier   vereinigen    sich   die   Jaxartesquellen'    heisst    es 
bei  Ptolemaeus   wie   bei   den  Arabern.     Auch   die  Massageten 
werden  wir  in  das  Jaxartesgebiet   versetzen,    uns  aber  gleich- 
wohl hüten,  eine  genauere  Kenntniss  des  unteren  Jaxartes  oder 
gar  des  Aralsees  bei  den  alten  Persern  wie  bei  den  Griechen 
(vor  Ptolemaeus)  vorauszusetzen ;  was  Herodot  über  den  Araxes 
berichtet,  vage  und  phantastische  Anschauungen,  ist  Wiederhall 
orientalischer  Sagen  und  Vorstellungen ;  aber  der  Jaxartes  liegt 
denselben  zu  Grunde.     Nach  Alexander  soll  auch  Demodamas 
(,Seleuci  et  Antiochi   regum  dux'  Plin.  1.  c.)  den  Strom   über- 
schritten haben ;   uns  fehlen  aber  Nachrichten  über  diese  Expe- 
dition.   Bei  Ptolemaeus  finden  sich  richtige  Angaben  über  den 
Jaxartes  so  wie  über  Völkerschaften  jenseit  des  Stromes,    die 
—    wie    wir    zu    beweisen    gedenken    —    auf    glaubwürdigen 


CentnlasiatiBChe  Studien.  I.  123 

Orig^nalnachrichten  beruhen;  aus  guter  Quelle  stammt  auch 
die  Notiz  bei  Plin.  XXX  §  74:  in  Bactris  duo  lacus  vasti, 
alter  ad  Scythas  versus,  alter  ad  ArioS;  sale  exaestuant;  da 
Baktra  hier,  wie  öfter,  das  baktrianische  Reich  in  seiner 
grössten  Ausdehnung  bezeichnen  kann,  so  dürfen  wir  in  dem 
gegen  die  ,Skythen'  gelegenen  See  das  schmale,  aber  sehr 
langgestreckte  Salzbecken  von  Tiiz-khanah  nordwestlich  von 
tiizakh  erblicken.  So  weit  die  Nachrichten  der  griechisch- 
römiBchen  Schriftsteller  über  OSrüsnah. 

Viel  reichhaltiger  an  topographischen  Daten  sind  die 
arabischen.  Geographen.  Yäqüt  gibt  folgenden  Ueberblick  s.  v. 
&x4M^%dMl:  ,0§rüsene,  eine  grosse  Landschaft  in  Transoxanien, 
nach  Moqaddasi  zu  Haital  gehörig,  zwischen  dem  Saif^ün  und 
Samarqand,  26  Farsang  von  letzterem.  I§takhri  sagt,  es  gebe 
keinen  Ort  und  keine  Stadt  dieses  Namens,  derselbe  gelte  nur 
für  die  Landschaft;  gegen  Süden  ist  selbe  mit  Gebirgen  an« 
gefüllt,  an  welche  sich  dann  die  Gebiete  von  Ke§§,  l^aghäniyftn, 
iSümän,  Buttam  und  Radt  anschliesseu,  während  Farghäna  im 
Osten  liegt.  Die  grösste  Stadt  ist  Bulsän;  andere  Orte  sind 
Bungikat,  Säbä(,  Zämin,  Dlzak,  Kharqäna^  Daneben  heisst 
es  wieder:  ,die  grösste  Stadt  und  der  Sitz  des  Wäll  ist 
Bungikat,  die  nächste  hierauf  Zämln^  Unter  diesem  Artikel 
i\J^^))  bemerkt  Yäqüt :  ,Zämin,  eine  volkreiche  Stadt,  welche 
auch  den  Namen  Sabadha  sJu^m^  führt;  in  ihrem  Rücken  be- 
ginnen die  Berge  von  OSrüsena,  gegen  Westen  sind  Steppen 
und  Ebenen^  Man  erinnere  sich  an  die  I^aßaBtoi  des  Ptolemacus, 
über  deren  Sitz  wir  oben  eine  Verniuthung  ausgesprochen 
haben.  Der  Vorort  von  Osrüsene  heisst  bei  Idrisl  Bümange- 
kath  (oXs\x>^),  bei  dem  Verfasser  des  Mesalek  al-absar  gar 
Nauba-kath  (o^^a^,  o) ;  vielleicht  ist  eine  Verwechslung  mit 
Bangl-kath,  d.  i.  Pang-kand  am  Soghdfluss,  im  Spiel;  jeden- 
falls ist  das  obige  Bulsän,  so  wie  das  bei  al-BaqüwI  vor- 
kommende Sebll,  räthselhaft;  auch  mit  Ye-öa  der  sinischen 
Berichte  wissen  wir  nichts  anzufangen.  Der  Hauptort  von 
Osrüsene  lag  sicherlich  im  Centrum  der  Landschaft,  wie  sich 
aus  den  Itinerarien  ergibt,  und  ist  das  heutige  Ura-tübä,  wie 
Bäber  (I  p.  16)  bemerkt:  ,le  nom  de  Ura-tipa  s'öcrit  origi- 
nairement  Usrüsana  et  Usrügana'.  Die  Araber  zählen  von 
Dizak  {^yiO)  über  Qifrän-darra  (5j4>   (jl  Jaj)  oder  auch  über 


124  Tomasehek. 

Kharqäna  (&iÜ^)  nach  Zämin  (^j^a^U)  9  Farsangen;  von  da 
nach  Säbät  (ieULw)  4  Farsangen;  von  da  über  Ur-kand  und 
Süwa-kath  (oder  8äwa-kath)  nach  Khogenda  zwei  Tage  oder 
10  Farsangen.  Von  Säbät  nach  der  Hauptstadt  von  Ofirüsene 
3  (Variente  9)  Farsangen ;  von  da  über  Kür-kath  (ov5^^  Var. 
\lSöS)  und  ^Araq  (osx)  nach  Khogenda  7  Farsangen.  Von 
der  Hauptstadt  nach  Asbäni-kath  (öJCa^LajimI)  oder  dem  heutigen 
Asfänah  an  der  Grenze  von  Farghäna  9  Farsangen.  Von  Zämln 
führt  ein  Weg  nach  Taskand  über  Yftm  und  KhäSt  (väa^ää.;  Var. 
Khawast;  Khawüs,  Khäs  etc.).  Ausserdem  werden  genannt 
Marsminda  (sJuLm«'«^),  Dah-kath  (v^aXcJ),  Bfig-kath  (vaJkj>.o) 
und  andere  Orte  mit  zweifelhaften  Lesarten.  Von  Belang  ist 
nur  noch  das  Itinerar  Mir-rzzel-Ullah's,  worin  folgende  Orte 
vorkommen  zwischen  Khogend  und  Dizak:  Aq-tipa  (auuCSf), 
Aq-sü  (^-»*fcSl)  ,derni6re  Station  du  territoire  de  Khokand',  Qür- 
kant  (sa^ÄS^y»)  jvillage  entoure  d'un  mur  de  pierre  et  de  terre 
qui  forme  un  carre;  c'est  le  dernier  endroit  du  territoire 
d'Ura-tipa',  Ura-tippah  (&jük^l)  ,8  heures  de  Qur-kant,  cite 
entre  deux  hautes  coHines,  le  long  desquelles  les  maisons 
s'ötendent;  eile  est  d^fendue  par  un  mur',  Urä-kant  (sä^ii^lj^), 
Sawät  («yU^)  ,grand  village  avec  un  fort  en  terre',  Yam  (*L>) 
,grand  village  avec  un  mur  en  terre',  Quduq  ((^'«W),  Dizakh 
(-^S4>).  In  Qur-kant,  dem  Kür-kath  der  arabischen  Geographen, 
könnte  man  eine  Spur  des  uralten  KOpa  erblicken ;  doch  ziehen 
wir  die  Gleichstellung  mit  Ura-tippah  vor;  auch  lässt  sich  der 
Name  Kür-kath  recht  gut  aus  dem  Türkischen  deuten,  von 
qür  sJü  ,ceinture,  aime,  garde,  defense'  (indogerm.  vära). 
Ueber  die  uralte  Metropole  von  OSrüöene  oder  das  heutige 
Ura-täpä  (tübä,  tippah)  veröffentlichte  zuerst  Generalmajor  Gens 
(Beiträge  z.  Kenntniss  d.  Russ.  Reiches,  IL  Bd.  1839  S.  73  ff.) 
einige  Daten :  ,Der  Berg  Ura-täpä  (also  die  iV-pa  von  Kupo,koXi;) 
ist  nur  ein  paar  hundert  Fuss  hoch  und  trägt  eine,  Citadelle; 
die  Stadt  selbst  liegt  am  Fusse  des  Berges  und  ist  mit  einer 
Mauer  umgeben ;  zwischen  der  Stadt  und  der  Citadelle  befindet 
sich  der  Bazar,  den  ein  auf  dem  Berge  entspringender  Bach 
durchfliesst;  ein  anderer  Bach,  der  diesen  in  sich  aufnimmt, 
(also  der  Tcoxaixbi;  ysiixippou;  öv  von  KupcOzoXi;),  strömt  durch  die 
Stadt  und  versorgt  sie  hinreichend  mit  Süsswasser.  Die  Häuser 
sind  aus  Lehm  erbaut'.    ,30  Werst  von  Ura-täpä  gegen  Khogand 


CentnUsifttiscbe  Stadien.  I.  125 

befindet  sich  ein  bucharischer  Wachtposten,  an  eiDem  Bache, 
der  sich  in  den  Syr-darya  ergiesst',  offenbar  das  obige  Qürkand. 
—  Für  die  Topographie  der  Landschaft  bieten  noch  die  Me- 
moiren Bäbr's  einige  Ergänzungen.  Erwähnt  sind  darin  (I  p.  37) 
Aq-sü  gegen  den  Cir  (Syr-darya)  hin,  im  Territorium  von 
üratipa  die  Flüsse  Bürdan-sui  und  Amäni-sm  (I  p.  214), 
welche  aus  den  Bergen  von  Ma^ikha'i  kommen  und  die  Ebene 
von  Yalghär  bewässern;  ferner  Dah-kat  oder  Dakh-kat  (I  p.  208 
suiv.),  ,run  des  districts  d'Uratipa,  situe  dans  le  Maliq-tagh; 
il  se  trouve  au  pied  d'une  haute  montagne ;  de  Tautre  c6t6  de 
cette  montagne  Bietend  le  gouvernement  de  Masikhai,  dont  les 
habitants,  quoique  tagik,  poss^dent  des  troupeaux  de  chevaux 
et  de  moutons,  comme  les  tribus  turquctf;  Dah-kat  est  situäe 
sur  un  terrain  bas  et  uni^;  und  am  Oberlauf  des  Bürdan-sui 
der  Weiler  Äb-bürdan  (p.  214),  ,le  village  le  plus  bas  situe  de 
la  d^pendance  de  Masikhai^  Südlich  und  westlich  von  Uratipa 
sind  viele  yailaq's  (p.  130),  z.  B,  Böreke-ya'iiaqi  (p.  168)  auf 
dem  Wege  nach  Sang-zär,  dem  Vororte  des  Districtes  Yär- 
yailaq  (p.  120),  und  Aq-kapcighai  (p.  26)  ,ä  18  igag  k  Test 
de  Samarkand^  Sehr  häufig  ist  bei  ihm  und  den  persischen 
Chronisten  die  Rede  von  Zämin,  von  Yäm  (oder  öam)  und  dem 
Flusse  von  Yäm,  von  Dizäk  und  den  Passagen  von  Biti-quduq 
und  Suzän-ghirän.  Von  Zämin  führte  nach  Süden  ein  Weg 
nach  dem  District  Yär-yailaq  über  Pesä-ghyr  (Bäbr  I  p.  127, 
129,  208).  Und  somit  scheiden  wir  von  dem  uralten  Gebiet 
der  Oxydranker  und  deren  Metropole  Suthrisana,  um  mit 
Hiuan-Thsang  nach  dem  hochberühmten  Kaftha,  nach  Samar- 
kand,  zu  pilgern. 


,Le  royaume  de  Sa-mo-kibn  (j^  jjgjj  ^)S  sagt  der  sinische 
Wanderer,  welcher  die  Stadt  in  ftinf  Tagereisen  oder  nach 
Zurücklegung  von  500  Li  erreichte,  ,a  une  circonförence  de 
seize  ä  dix-sept  cents  li.  II  est  allongä  de  Test  a  Touest,  et 
resserrä  du  sud  au  nord.  La  capitale  a  environ  vingt  li  de 
tour.  II  est  protögä  par  des  obstacles  naturels  et  poss^de  une 
nombreuse  population.  Les  marchandises  les  plus  pr^cieuses  de 
pays  itrangers  se  trouvent  r^unies  en  quantite  dans  ce  royaume. 
Le  sol  est  gras  et  fei*tile,  et  donne  d'abondantes  moissons.    Les 


126  Touaschek. 

arbres  des  for&ts  offrent  unc  magiiiüque  v^g^tation,  et  les  fleurs 
et  les  fruits  viennent  en  abondance.  Ce  pays  fournit  beaucoup 
d'excellents  chevaux.  Les  habitants  se  distinguent  de  ceux  des 
autres  pays  par  une  grande  habilete  dans  les  arts  et  m^tiers. 
Le  climat  est  doux  et  temp^r^,  les  mcBurs  respirent  Tenergie 
et  la  bravoure.  Ce  royaume  occupe  le  centre  des  pays  barbares. 
Pour  tont  ce  qui  regarde  la  conduite  morale  et  les  rfegles  de 
la  biens^ance,  les  peaples  voisins  et  ^loign6s  se  mod^lent  sur 
lui.  Le  roi  est  plein  de  courage,  et  les  royaumes  voisins  obäissent 
k  ses  ordres.  II  a  une  forte  arm^e  et  une  nombreuse  cavalerie. 
La  plupart  de  ses  soldats  sont  de  la  i*ace  des  Cb-kie.  Les 
Öe-kie  sont  d'un  naturel  brave  et  imp^tueux,  et  affrontent  la 
mort  avec  joie;  quand  ils  combattent,  nul  ennemi  ne  saurait 
tenir  devant  eux^  Zur  Ergänzung  der  allerdings  kurzen 
Schilderung  Hiuau  -  Thsang's  mögen  einige  Notizen  dienen, 
welche  Ma-tuan-lin  in  seiner  ^umfassenden  Prüfung  der  alten 
Litteratur'  (uen  hian  thung  khao)  älteren  Schriftwerken  aus  den 
Zeiten  der  Dynastien  Han,  Tsin,  Wei,  Sui  und  Thang  entnommen 
hat  (Abel-R^musat,  Nouv.  m^l.  asiat.  I  p.  225—239).  ,Ce 
royaume  peut  6tre  appele  puissant;  beaucoup  d'etats  sont  soumis 
ä  celui-lk.  Les  habitants  ont  tous  les  yeux  enfonc^s,  le  nez 
proeminent  et  une  barbe  touifue.  Ils  excellent  dans  rexercice 
du  negoce;  beaucoup  de  barbares  se  rendent  chez  eux  pour 
echanger  des  chevaux.  On  voit  dans  ce  pays  de  grands  et  de 
petits  tambours,  des  guitares,  des  luths  k  cinq  cordes^  des  flütes 
de  plusieurs  espfeces.'  ,Le  climat  est  doux  et  tempore,  il  convient 
aux  diverses  sortes  de  grains;  on  donne  beaucoup  de  soins  k 
Tentretien  des  jardins^  oü  l'on  cultive  des  l^gumes,  des  arbres, 
des  fleurs  odoriferautes.  Le  pays  produit  des  chevaux,  des 
chameaux,  des  muletS;  des  bo^ufs  k  bosse,  de  l'or,  du  sei 
ammoniaque,  des  pignons  doux,  du  asana,  sorte  de  parfum,  du 
phi-pha,  de  la  peau  de  cerf,  des  tapis,  des  ctoffes  de  laine  brodees, 
beaucoup  de  vin  de  raisin;  les  maisons  riches  en  conservent 
quelquefois  jusqu'a  mille  §i,  et  il  ne  se  gäte  pas  dans  Tespare 
de  plusieurs  annees.  II  y  a  dans  ce  royaume  trente  grandes 
villes  et  deux  cents  hameaux.^  Fruchtbarkeit  des  Bodens  und 
Reichthum  der  Producte  wissen  schon  die  griechischen  Schrift- 
steller zu  rühmen;  voll  des  Preises  sind  aber  die  arabischen 
Geographen,  wenn  sie  auf  $oghd  zu  reden  kommen;  das  $oghd- 


Centtuluifttiaohe  Stadien.  I.  127 

thal  gilt  den  Orientalen  fiir  eines  der  vier  irdischen  Paradiese, 
wie  das  Thal  von  Biwän  in  FarS;  von  Ghawtah  bei  Damask, 
UDd  das  Flussgebiet  von  Obullah.  Gewöhnlich  ist  von  zwei 
$oghd  die  Rede,  nämlich  $oghd  von  Samarqand,  und  Soghd 
vonBukhärä  (HäzimI,  bei  Yäqüt);  das  erstere  heisst  im  Munde 
der  Perser  auch  $oghd-i-kaIän,  ^das  grosse  l^oghd^  Moqaddasi 
rechnet  es  zu  Haital  und  sagt:  ,$oghd  ist  ein  prachtvoller 
District  mit  der  Hauptstadt  Samarqand.  Es  sind  zusammen- 
hängende Dörfer,  umgeben  von  Bäumen  und  Gärten,  von 
Samarqand  bis  nahe  an  Bukhärä;  man  sieht  kein  Dorf,  ehe 
man  hineinkommt,  wegen  der  Bäume  in  und  um  dasselbe;  es 
ist  das  schönste  Land  auf  Gottes  Erden^  reich  an  Bäumen  und 
voll  von  Flüssen,  von  Vogelgesang  durchtönt^  Aehnlich  drückt 
sich  I^tanhri  aus:  ^^oghd  erstreckt  sich  von  der  Grenze  Bukhärä's, 
rechts  und  links  entlang  dem  Wadi  von  $oghd  bis  zur  Grenze 
von  Buttam,  ununterbrochen,  in  einer  I^änge  von  acht  Tage- 
reisen. Es  ist  voll  von  Wiesen,  Gärten  und  Feldern,  überall 
sind  Wasseradern  und  Brunnen.  Das  Grüne  der  Bäume  und 
der  Saaten  verbreitet  sich  an  beiden  Ufern  des  Thaies,  um- 
geben wird  es  von  bebauten  Feldern;  hinter  diesen  sind  wiederum 
Weideplätze  für  die  Kamele.  Ganz  $oghd  erscheint  wie  ein 
Kleid  von  grünem  Brocat,  in  das  blaue  Adern  fliessenden 
Wassers  eingestickt  sind,  geziert  mit  dem  Weissen  der  Bulben 
und  Wohnhäuser*.  In  dichterischer  Weise  vergleicht  GaihänT 
in  seinem  Buche  Mutagäwabe  $oghd  von  Samarqand  mit  der 
Gestalt  eines  Menschen.  ,Sein  Haupt  ist  Bungikat,  seine  Füsse 
Kaiänija,  sein  Rücken  Wadhär,  sein  Unterleib  Kabüdangkat, 
seine  Hände  Mäyamurgh  und  Buzmägar.  Seine  Breite  beträgt 
36,  seine  Länge  46  Parasangen'  (Yäqüt  s.  öJuc).  Wir  fügen 
hier  die  begeisterte  Schilderung  eines  Reisenden  an,  welcher 
das  mittlere  Zaraf§anthal  in  jüngster  Zeit  besucht  und  be- 
schrieben hat  (Radioff,  Zeitschr.  d.  Ges.  f.  Erdk.  zu  Berlin, 
1871,8.401—439,497—526):  ,Das  ganze  ZarafSanthal,  soweit 
es  mit  einem  Netze  von  Canälen  bedeckt  ist,  bildet  eine  un- 
unterbrochene Reihe  von  Ansiedlungen.  Wenn  man  auf  der 
Höhe  der  Grenzgebirge  entlang  reitet,  so  sieht  man  in  der 
Niederung  einen  dunkeln  Wald  sich  hinziehen,  der  sich  scharf 
gegen  die  hell  erleuchtete  Steppe  abgi-enzt:  dies  ist  das  mit 
Ansiedlungen  bedeckte  Thal  des  ZarafSan.    Hier  grenzt  Acker 


128  Tomasckek. 

an  Acker,  Garten  an  Garten,  ohne  die  geringste  Unterbrechung, 
jedes  Fleckchen  Land  ist  bearbeitet.  Wenn  man  von  der  kahlen 
Höhe  zu  dem  Thale  hinabreitet,  glaubt  man  sich  aus  der  Wüste 
in  ein  Paradies  versetzt  zu  sehen.  Herrliche  Wiesen,  mit  dem 
grünen  Bädäkraute  besäet,  prangen  im  schönsten  Grün  des 
Frühlings,  zwischen  ihnen  sind  üppige  Felder  mit  Tabak, 
türkischem  Weizen,  Arbusen,  Melonen.  Die  Felder  sind  alle 
in  regelmässige  Vierecke  abgotheilt.  Sprudelnde  Bäche  fliessen 
rauschend  zwischen  ihnen  dahin,  deren  Ufer  meist  dichte  Baum- 
reihen begleiten.  Zwischen  diesen  Feldern  liegen  die  Gärten, 
über  deren  niedrige  Lehmmauern  ein  dichter  Wald  von  Bäumen 
emporragt.  Hier  recken  hohe  Pappeln  mit  silbergrauen  ge- 
zähnten Blättern  ihre  schlanken  Stämme  hoch  in  die  Luft 
zwischen  den  mächtigen  dunklen  Karagaö  -  Bäumen  mit  den 
runden  ballonförmigcn  Kronen.  Dort  erscheinen  saftgrüne  BVucht- 
bäume,  die  ihre  von  Aepfeln,  Pfirsichen,  Aprikosen  u.  s.  w.  be- 
ladenen  Aeste  herabhängen  lassen.  Hier  sehen  wir  von  Wasser 
bedeckte  gelbgrüne  Reisfelder^  dort  Baumwollpflanzungen.  Das 
Auge  kann  sich  gar  nicht  satt  sehen  an  all  der  Pracht,  die  in 
buntem  Durcheinander  uns  umgibt.  Wir  glauben  zu  träumen. 
Eben  befanden  wir  uns  noch  in  der  öden  Steppe,  die  Sonne 
brannte  mit  sengender  Gluth  auf  uns  herab,  uns  umgab  die 
endlose  graugelbe  Steppe,  Menschen  und  Thiere  waren  erschlafft 
in  der  todten  menschen-  und  thierlosen  Umgebung.  Jetzt  ruhen 
wir  im  Schatten  der  mächtigen  Bäume,  umgeben  von  herrlichen 
Bildern  einer  mannigfach  gruppirten  Landschaft.  Ein  munteres 
Treiben  herrscht  um  uns  her,  überall  sehen  wir  Arbeiter  auf 
den  Feldern,  die  ihrem  Tagewerke  nachgehen;  die  Hitze,  wenn 
auch  noch  bedeutend,  erscheint  uns  hier  Kühlung  gegen  die 
sengende  Gluth  der  Steppe.  Und  all  diese  Pracht  und  Herrlich- 
keit dankt  der  Mensch  allein  dem  Wasser,  das  in  Silberadern 
die  Steppen  durchrinnt  und  sie  zu  einem  Paradiese  umschafft. 
Nirgends  auf  der  Erde  sieht  man  die  wohlthuende  Wirkung 
des  Wassers  so  deutlich  wie  hier*.  So  beschaffen  ist  ^ugl^^^l^^? 
das  , reine,  hellglänzende'  Gebiet,  auf  welchem  die  Iranier  sich 
zuerst  aus  der  nomadisch-patriarchalischen  Lebensweise  zu  einer 
höheren  Cultur  emporgearbeitet  haben;  wo  der  Lichtglaube  zu 
seiner  ersten  Blüthe  gedieh;  wo  der  nationale  Geist  der  Iranier 
am  regsten  sich  entfaltete,  am  kräftigsten  sich  zu  vertheidigen 


CentrftlMiatiscbe  Stadien.  I.  *  129 

wusste;  wo  noch  immer  der  FleiBs  der  Tägikbevölkerung  dem 
Lehmboden  durch  künetliche  Bewässerung  Schritt  auf  Schritt 
die  schönsten  Früchte  abringt.  Fürwahr,  das  Ufergelände  des 
, verehrungswürdigen  (namaqya)^  des  ,gesetzlichen  (däitya)' 
Stromes^  welcher  tausende  von  Canälen  mit  Wasser  speist  und 
dadurch  den  fleissigen  Anwohnern  grasreiche  Wiesen,  pracht- 
volle Felder,  herrliche  Gärten  hervorzaubert,  heisst  mit  Recht 
ein  Paradies  der  Erde,  und  ist  ein  schönes  Denkmal  des  iranischen 
Fleisses,  eine  bleibende  Stätte  menschlicher  Thätigkeit! 

Allerdings,  das  Ueberwiegen  der  indolenten  türkischen 
Nomadenbevölkerung,  so  wie  die  Unsicherheit  der  politischen 
Zustände  bis  in  die  Zeit  der  russischen  Invasion,  hat  auch  hier 
Vieles  umgestaltet,  manche  herrliche  Culturbiüthe  zum  Welken 
gebracht,  manche  Oase  in  ödes  Gebiet  verwandelt.  Am  stärksten 
bat  die  Ungunst  der  Zeiten  die  Metropole  selbst  betroffen;  das 
alte  Marakanda  oder  Samarqand  ist  schon  lange  nicht  mehr 
das  was  es  einst  gewesen  unter  den  Makedonen  sowohl  wie  unter 
den  Haital's,  unter  den  Sämäniden  wie  unter  Timür.  Die  zahl- 
reichen Ruinen  alter  grosser  Gebäude  und  die  Verödung  der 
Vororte  sind  sprechende  Zeugen  des  allmäligen  Sinkens  der 
Stadt,  und  erwecken  in  dem  Besucher  trübe  Gedanken.  Indem 
wir  die  Schilderung  der  alten  Prachtbauten,  der  Medressen  und 
Grabdenkmäler,  den  Reisenden,  welche  Samarkand  aus  eigener 
Anschauung  kennen  gelernt  haben  (wie  Khanikoff,  Lehmann, 
Vämbery,  Radioff  u.  a.),  überlassen,  beschränken  wir  uns  auf 
die  Darlegung  der  allerdings  spärlichen  Zeugnisse  über  die 
Metropole  aus  dem  höheren  Alterthum.  —  Ueber  Umfang  und 
Grösse  derselben  zur  Zeit  Alexander's  haben  wir  eine  einzige 
kurze  Notiz  bei  Curtius  (VII  26,  10);  als  nämlich  Bessus  be- 
seitigt worden  war  und  Alexander  zum  ersten  Male  Sogdiana 
betreten  hatte,  marschierte  er  direct,ad  urbem  Maracanda;  LXX 
stadia  murus  urbis  amplectitur;  arx  alio  cingitur  muro^  Curtius 
bezeugt  hiemit  das  Vorhandensein  der  Citadelle  (arx,  i^  axpa 
Arr.  IV  3,  6;  5,  2,  pers.  'arq)  und  unterscheidet  von  der  Burg- 
mauer die  äussere  Stadtmauer;  die  Länge  der  letzteren  betrug 
70  Stadien  {J^^li  Stunden)  oder  etwas  über  3  Parasangen. 
Hiuan-Thsang  gibt  nur  20  Li  oder  1  Parasange  an;  wenn  er 
die  äussere  Umfassung  gemeint  hat  und  wenn  die  Stadt,  wie 
doch  vorauszusetzen,    unter   den   Fürsten    der  Kuei-Suang   und 

SitsQQgiber.  d.  pbü.-hist.  Gl.  LXXXVn.  Bd.  I.  Hft.  9 


130*  Toni»8ch0k. 

Ye-ta  nicht  an  Umfang  eingebüsst  hat,  so  dürften  60  Li  richtiger 
sein.  Ungemein  an  Umfang  und  Blüthe  gewann  die  Stadt  zur 
Zeit  der  Sämäniden;  die  arabischen  Geographen  unterscheiden 
gleichfalls  eine  innere  und  äussere  Stadt;  ,die  innere  Stadt  hat 
vier  Thore,  und  ihre  Area  beträgt  2500  gerib ;  die  äussere  Stadt 
hat  zwölf  Thore,  eines  von  dem  andern  ist  je  1  Parasange 
entfernt,  so  dass  der  Umfang  der  Mauer  12  Parasangen  be- 
trägt; die  Stadttheile  liegen  auf  beiden  Seiten  des  $oghd- 
thales^  Eine  classische  Beschreibung  Samarkand's  und  seiner 
nächsten  Umgebung  bietet  Bäber  in  seinen  Memoiren  (p.  Pavet 
de  Courteille,  Paris  1871,  I  p.  96 — 105);  wir  entnehmen 
derselben  folgende  Einzelnheiten.  Die  Stadt,  deren  Umfang 
10.600  Schritte  beträgt  (d.  i.  mehr  als  2'/.2  arab.  Meilen  oder 
fast  1  Parasange,  wie  bei  Hiuan-Thsang),  liegt  südlich  von 
dem  äb-I-Kühik  und  dem  Hügel  Kühik  (j.  Cupän-ätä),  west- 
lich von  dem  Bach  äb-i-rahmet  (,eau  de  la  merci'),  welcher  die 
Wiesengründe  von  Khan-yurti  und  Kän-i-gül  bewässert,  und 
nördlich  von  dem  Fluss  oder  Canal  Dargham,  der  bei  Külbeh 
in  den  Kühikfiuss  einmündet.  Ucber  den  Kühikfluss  fiihrt  die 
Brücke  pül-i-mughäk  (,le  pont  profond*).  Reizende  Gärten  um- 
geben die  Stadt;  ausser  dem  bägh-i-bihist  (,jardin  du  paradis') 
und  dem  bagh-i-semäl  (Jardin  du  Nord^)  und  dem  nordöstlichen 
oder  ,Türkisthor^  unmittelbar  anliegenden  Garten  budeneh- 
kurughi  (,parc  aux  cailles^),  an  welchen  sich  weiterhin  die 
Anlagen  Nak§-i-gihän  (,le  tabicau  du  monde*)  und  bägh-I-dilkuSä 
(,le  jardin  qui  ouvre  le  coeur*)  anschli essen ,  sind  weiter  be- 
merkenswcrth  der  bägh-boldi  (,lo  jardin  parfait*)  und  der  bägh- 
I-öinär  (jardin  des  platanes^),  ferner  der  an  dem  Südwestabhang 
des  Kühikberges  und  in  der  Nähe  des  astronomischen  Obser- 
vatoriums gelegene  bägh-I-maidän,  worin  Ulugh-begh*s  wunder- 
voll construirter  Palast  öihil-sutün  (,le8  quarantes  colonnes*) 
und  der  berühmte  Porcelainpavillon  sich  befinden,  endlich  der 
schönste  der  Gärten,  der  von  Dcrwis  Mohammed  Tarkhan  im 
Nordwesten  der  Stadt  angelegte  ^'ehär-bägh.  In  noch  weiterem 
Umkreis  umschlicssen  die  Stadt  gras-  und  wasserreiche,  mit 
Ansiedlungen  belebte  Wiesengründe  und  Ebenen,  so  gleich  im 
Anschluss  an  den  letztgenannten  Garten  die  Prairie  göKl-mughäk 
(,de  r^tang  profond*),  die  Prairie  von  Külbeh  an  dem  Kühik- 
fluss, und  im  Osten   die   an   dem  Kahmetbache  sich  dehnende 


Ceatralasiatiscke  Stadien.  I.  131 

Ebene  K&n-I-gül  (^mine  des  roses')  und  die  Wiese  von  Khan- 
yurti  (,1a  demeure  du  khan^).  In  der  Nähe  des  südöstlichen 
oder  ,eisernen*  Thores  befindet  sich  die  Grabstätte  des  Glaubens- 
boten Qäsim  ben-Abbas,  mazär-I-Säb  (^le  monument  fun^raire 
du  roi^.  Südlich  von  der  Stadt  beginnt  das  Gebirge  Aghallyk- 
tagh,  an  dessen  Fuss  ein  Weg  nach  Westen  (gegen  Eattah- 
qürghän)  führt.  —  Arrianos  sagt  von  Marakanda  (III  30,  6): 
ti  M  i(m  ßac^Xsia  t^c  2oY3ioevwv  yjiipoLq.  Er  kennt  aber  noch  einen 
zweiten  Herrschersitz  dort,  wo  Ptolemaeus  Tp{ßaxTpa  anftihrt 
(d.  i,  entweder  Baikand  oder  Bokhärä),  und  spricht  im  All- 
gemeinen von  mehreren  epOfjLata  twv  SofStavöv  im  Bereich  des 
Polytimetos  (IV  15,  7;  16,  3);  es  ist  nicht  unmöglich,  dass  der 
Sitz  der  Herrschaft  zu  verschiedenen  Zeiten  gewechselt  hat. 
Die  Annalen  der  Han  geben  als  Residenz  von  Khang-kiü  an 
die  Stadt  Pi-thian  im  Bezirke  Lo-yuei-ni;  die  Annalen  der 
Sui  den  Ort  A-lu-ti  an  dem  Flusse  Sa-pao  —  Localitäten,  die 
sich  jetzt  nicht  mehr  bestimmen  lassen.  Das  Awesta  nennt 
Gäu  oder  Gava  die  Wohnung  von  Sughdha;  wir  werden  weiter 
unten  nachzuweisen  versuchen,  dass  darunter  die  Capitale  des 
Reiches  Hoa  oder  KüSäni-kath,  das  spätere  Ribat-i-^oghd  oder 
das  heutige  Kattah-qurghän ,  verstanden  werden  müsse  oder 
dürfe.  Auch  sonst  finden  wir  ausser  Samarqand  den  Ort 
AStikhan,  ausser  Bokhärä  den  Ort  Baikand  als  Residenz  an- 
geführt. 

Von  den  classischen  Autoren  wird  Marakanda  höchst  selten 
erwähnt;  Ptolemaeus  verlegt  es  in  merkwürdiger  Confusion  nach 
Baktriana  an  den  Nordabhang  des  Paropanisos;  Plinius  führt 
es  an  richtiger  Stelle  an,  doch  ist  die  Leseart  der  Handschriften 
verstümmelt:  denn  (VI  §  49)  statt  oppiduin  Panda  muss  es  offen- 
bar heissen  oppidum  [MaraJcANOA.  Es  fallt  somit  Wilson's 
(Asiat.  Research.  XV  p.  12,  95)  und  Lassen's  (Ind.  Alterth. 
2.  A.  I  p.  800)  Anknüpfung  der  indischen  Pändava's  an  Sogdiana 
in  Nichts  zusammen.  Nach  den  übereinstimmenden  Sagen  der 
Orientalen  soll  die  Stadt  al-Iskandar  erbaut  haben,  —  er,  welcher 
den  geschichtlichen  Zeugnissen  zufolge  Sogdiana  gräulich  ver- 
wüstet, Marakanda  mehrinal  eingenommen  und  nach  Strabo 
(XI  p.  517)  sogar  der  Zerstörung  preisgegeben  hat.  Wenn  die 
Stadt  und  das  Land  die  alte  Blüthc  wieder  erreicht  hat,  so 
geschah   dies    erst   nach  Bewältigung  der  Aufstände   mit  Hilfe 

9* 


132  Tomasebek. 

der  Colonien,    welche   der   Eroberer   aus   allen  Theilen   seines 
Reiches;   sogar  aus  Hellas^   hieher  gezogen  hatte;    er  soll  ev  tc 
TYj  Bay-TpiavY)  y,al  tt;  Xo^BtavY)  6y.T(i)  izokei^    nach   Strabo   XI  p.  517, 
duodecim  urbes  nach  Trogus  Pompeius  gegründet  haben;   von 
Städtegründungen  ev  vr,  Xo^Siavi)  spricht  auch  Arrian  IV  16,  3. 
Als  Alexander  in  Indien  war,   wollten  3000  Griechen,   welche 
wider  ihren  Willen  hieher  verschleppt  worden  waren,  ihre  Heimat 
wiedergewinnen   und   giengen    bei   diesem   Versuche   elend   zu 
Grunde  (Diod.  XVII  99,  5:    oi  xaia  tyjv  BaxTpiav7)v  xal  2oY5iavt;v 
xaToix'.GrOevTS?  "EXXtivfi^  ix  tuoXXoü  [jlsv  tov  ev  Tot«;  ßapßapoi?  xaToex{qi.bv 
/aXe^w;  fdpovie«;  etc.).     Marakanda  erholte  sich  erst  unter  den 
Diadochen,  unter  welchen  Sogdiana  einen  Adnex  der  baktrischen 
Provinz   bildete;    bereits   im  Jahre  323   bei   der   Tbeilung   des 
Reiches  durch  Perdikkas  wurde  dem  Philippos,  Sohn  des  Balakros, 
il  BaxTptavT)   xai   Io^^ioly/i   verliehen   (Diod.  XVIII  3,  Phot.  bibl. 
cod.  82).    Diodotos,  welcher  255  von  den  Seleukiden  abfiel  und 
ein  eigenes  griechisch-baktrisches  Reich   begründete,  wird  von 
Trogus  Pompeius   ,mllle    urbiura   Bactrianarum   praefectus'  ge- 
nannt; darunter  sind  offenbar   auch  die  Städte   Sogdiana's  und 
der   sakischen    Ostlande    mit    einbegriffen.     Die   Blüthe   dieses 
Reiches  dauerte   bis  140  v.  Chr.,   zu    welcher  Zeit  ,Bactriani, 
Sogdianorum  et  Arachotorum  et  Drangianorum  Indorumque  bellis 
fatigati^  ad  postremum  ab  invalidioribus  Parthis  velut  exsangues 
oppressi  sunt^  Wir  dürfen  vermuthen,  dass  speciell  in  Sogdiana 
das  einheimische   nationale  Element  wieder   sich   erhoben  und, 
unterstützt  von  den  stammverwandten  Parthern  und  den  nordi- 
schen   Nomadenvölkern    oder    den    , Wasser  -  Saken'    (Awaaiflcxai 
Strabo  XI  p.  513,  Polyb.  X  48,  Steph.  Byz.,  Paesicae,  Pestiei, 
Pasicae,  Psacae  bei  den  Römern),  sich  frei  zu  machen  veraucht 
hatte.    Die  Parther  unter  Mithradatcs  nahmen  damals  von  Baktra 
Besitz,  und  wieder  waren  auf  kurze  Zeit  alle  iranischen  Lande 
bis  zu  den  Indern  und  den  Oxusquellen  vereinigt;  aber  schon 
zehn   Jahre   später   zogen,    von   den    Hunnen   gedrängt,   inner- 
asiatische Stämme  aus  dem  Ot^ap^ri^-Bassin  und  vom  Lob-naor 
in  das  Sakengebiet  und  über  den  Jaxartes  ein,  und  gründeten 
eigene  Herrschaften,   welche   seither  in    steter  Fehde  mit  den 
Parthern  stehen,  die  Tukhära  in  Baktra,  die  (^akäraukä  in  Choras- 
mien  und  Dahistan,  die  Asya  und  Yatya  in  Sogdiana;  letztere 
überflutheten  in  allmäligem  Vordringen  auch  Baktra,  das  Kabul- 


CentrmiuiatiBcke  Studien.  I.  133 

thal  und  die  Indusebenen,  und  gründeten  das  mächtige  indo- 
skythische  Reich.  —  Nichtsdestoweniger  war  die  makedonisch- 
griechische Herrschaft  von  solcher  Dauer  gewesen,  dass  die 
Cttltureindrücke  und  Einflüsse  des  hellenischen  Lebens  sich 
nicht  so  schnell  und  nicht  spurlos  verwischen  Hessen.  In  diese 
Epoche  könnnen  wir  z.  B.  die  Verbreitung  des  Weinstockes 
und  der  rationellen  Weincultur  nach  Centralasien  setzen;  helle- 
nische Ansiedlungen  sind  mit  der  Cultur  der  Rebe,  der  süssen 
Gabe  des  Bakchos,  unzertrennlich  verbunden;  seither  ward  in 
Margiana,  und  noch  weiter  nördlich,  die  Rebe  gepflegt,  und 
die  sinischen  Annalen  der  Handynastie  rühmen  die  po-tao 
Frucht  (ßorpu-;)  als  das  herrlichste  Erzeugniss  der  Länder  'An-si, 
Ta-hia  und  Khang-kiü.  Wie  wir  oben  andeuteten,  mochte  sogar 
die  trieterische  Festfeier  des  Dionysos  sich  mit  den  iranischen 
Jahresfesten  verbunden  haben.  Alexander  soll,  den  Sagen  der 
Parsen  zufolge,  in  Samarkand  ein  goldgeschmücktes  oder  mit 
goldenen  Lettern  geschriebenes  Exemplar  des  Awesta  in  einem 
ätaS-gäb  zu  ewigem  Andenken  niedergelegt  haben,  es  ist  wohl 
möglich,  dass  in  dem  letzten  Jahre  seiner  Herrschaft  sich  das 
hellenische  Element  mit  dem  einheimischen  vollständig  ausge- 
söhnt hat  und  dass  namentlich  auch  die  religiösen  Ansichten 
der  Tränier  in  klugpolitischer  Weise  von  den  späteren  Macht- 
habern  geschont  wurden. 

Wir  wollen  nun  eine  Deutung  des  Namens  Marakanda 
versuchen  und  über  die  verschiedenen  Formen  und  Synonymen 
desselben  handeln.  Wir  halten  die  älteste,  aus  der  Zeit 
Alexander's  überlieferte  Form  xa  MapaxavSa,  trotzdem  man  an 
baktr.  mara  skr.  smara  ,Erinnerung,  Ruf  oder  an  baktr.  mära 
neupers.  mär  ,Schlange,  Reptil  denken  könnte,  für  eine  im 
Anlaut  verstümmelte,  indem  wir  als  ersten  Bestandtheil  das 
altpers.  hamara  ,Kampf,  eigentlich  das  Zusammenkommen'  hin- 
stellen und  zwar  in  der  zufolge  der  Etymologie  nicht  unmög- 
lichen Bedeutung ,  Versammlung'  (skr.  samaryä. ,  Festversammlung, 
Panegyris',  ähnlich  baktr.  hangamana,  neupers.  anguman),  weil 
die  I^age  des  Ortes  von  selbst  zu  dieser  Erklärung  drängt;  hier, 
wo  die  Flussadern  und  Canäle  von  Sogd  zusammentreffen,  wo 
die  Wege  aus  Khuräsän  nach  den  turanischen  Landen  und 
nach  Sin  einen  Vereinigungsknoten  bilden,  war  seit  Alters  ein 
Sammelpunkt  der  Stammesgenossen,  eine  Panegyris  der  Handels- 


134  Tomascbek. 

leute  und  Kauflustigen.  Eine  zweite  Deutung  wäre  übrigens 
ebenfalls  statthaft,  wenn  wir  von  baktr.  hama  ,Sommer'  armen, 
amarh  ausgiengen  (vgl.  'Aixapojaa,  Ort  in  Hyrkanien  bei  Ptolem.) 
und  auf  die  sommerliche  Beschaffenheit  des  sogdianischen  Klimas 
hinwiesen;  doch  macht  die  Ableitungssylbe  -ra,  welche  im  Zead 
mangelt,  Schwierigkeit.  So  viel  ist  gewiss,  dass  einerseits  die 
Makedonen  sich  kein  Gewissen  daraus  zu  machen  brauchten, 
wenn  sie  ta  *A[xapaxav5a  in  xa  MapaxavSa  verkürzten,  und  daas 
anderseits  die  Sogdianer  selbst  während  der  180jährigen  make- 
donischen Herrschaft  mit  Leichtigkeit  sich  die  hibride,  durch 
den  griechischen  Artikel  bceinflusste  Form  Thamarakanda  oder 
Samarakanda  aneignen  mochten;  Koesler  (Aralseefrage  S.  11 
Anm.  2)  denkt  sogar  an  die  Formel  s;  Mapanavoa,  um  das  s 
zu  erklären,  wobei  jedoch  der  Ausfall  des  Artikels  befremdet 
(vgl.  \  Tav  itöXtv,  stamboli);  sogar  ein  secundärer  Einflass 
buddhistischer  Sprechweise,  wodurch  der  im  Indischen  übliche 
s- Anlaut  für  baktr.  h  sich  festigen  mochte,  könnte  angenommen 
werden.  Als  Hiuan-Thsang  die  Stadt  besuchte  (630  n.  Chr.), 
war  die  Aussprache  zweifellos  Samarkand  (Sa-mo-kian);  auch 
als  die  Araber  das  Zweistromland  betraten,  fanden  sie  den 
Namen  JJil^dww  (4Xx9y»dw)  in  unbestrittener  Geltung.  Die  ein- 
gedrungenen Hunnen,  Türken  und  Mongolen  jedoch  legten  sich 
den  Namen  ihrem  Idiom  zurecht;  al-Blrünl  behauptet  (Sprenger, 
Post-  und  Reiserouten  S.  20),  im  Türkischen  sage  man  Samiz- 
kand  öuSL^Mi,  d.  i.  ,Sonnenstadt^  Die  Etymologie  ist  unrichtig, 
weil  dem  arabischen  ((jam>^)  entnommen;  in  allen  türkischen 
Dialekten  bedeutet  yA4^  samiz  w^  sämiz  v^^^  sämir  j.  t  *  *or 
simäz  \y4^,'M>  \y4^  simuz  (jak.  ämis,  tat.  sämis  sämäs  simis) 
,fett,  dick,  saftreich^  und  verwandt  ist  mong.  simä  ,Nahrung8- 
saft,  Kraft'  (adi.  simätäi  , saftig,  markig,  wohlhabend,  reichO, 
mandz.  simengge  ,Fett,  VoUsaftigkeit,  Ueberschwang,  Freude', 
semc^en  und  semsu  ,Fett'  etc.  Jedenfalls  ist  die  türkische  Be- 
nennung für  die  reiche,  an  Boden  und  Fruchtertrag  gesegnete 
Metropole  von  Sogd  eine  höchst  zutreffende.  Auch  Bäber  berichtet 
(I  p.  96),  die  türkischen  und  mongolischen  Stämme  gebrauchten 
den  Namen  Simer-kent.  Der  sinische  General  Cang-öhün  (a.  1221) 
bezeichnet  die  Stadt  gleichfalls  mit  Charakteren,  denen  die  Aus- 
sprache Si-mi-sse-kan  (Simizqand)  zukommt  (Journ.  asiat.  VP  ser. 
IX  p.  70),  ebenso  der  sinische  Bericht  über  die  Thaten  Cingis- 


CentrulMiatiBcbe  Studien.  I.  135 

khan's  und  Hulagu^s.  Auch  Gonzalez  de  Clavijo  bedient  sich 
der  Form  Cimesquinte,  und  im  Jahre  1328  wird  ein  christlicher 
Bischof  ;in  civitate  Semiscantensi^  erwiihnt.  Was  nun  den  zweiten 
Bestandtheil  betrifft,  der  sich  sonst  nirgend  bei  Ptolemaeus  vor- 
findet (denn  Scoxav^a  in  Hyrkanien  ist  offenbar  baktr.  ^aokenta 
jbrennend^),  so  glauben  wir  nicht  zu  irren,  wenn  wir  xivSa 
(kand,  qand,  kent)  auf  baktr.  kanta  ,gegraben'  (von  kan, 
neupers.  kandan  ,graben^)  in  der  Bedeutung  ,Qraben,  Canal^ 
oder  ,Veste,  ein  mit  Gräben  und  Mauern  versehener  Ort'  zuiück- 
fähren,  wie  Uz-qand  auf  baktr.  u9-kanta.  Sicherlich  ist  dieses 
in  so  vielen  Ortsnamen  des  iranischen  Dü-äbe  vorkommende 
Element  nicht  türkischen  Ursprungs,  wie  noch  VuUers  (Lex. 
Pers.  2,  894),  freilich  auf  Grund  arabischer  und  persischer 
Notizen,  anzunehmen  geneigt  ist;  denn  in  allen  diesen  Orts- 
namen bietet  die  echte  türkische  Form  statt  -kand  das  Apellativ- 
Clement  -kat,  -kath,  was  im  Türkischen  ,Haus,  Heim,  Zelt' 
bedeutet. 

Als  zweite  Bezeichnung  für  Samarkand  und  das  Reich 
Sogd  kommt  in  Betracht  der  in  den  sinischen  Annalen  der 
Dynastien  We'i,  Su'i  und  Thang  vorkommende  Name  Khang. 
Schon  die  Annalen  der  Handynastie  kennen  ein  grosses  Reich 
des  Westens,  das  sich  zwischen  den  U-sün  oder  den  Qazaq- 
Türken  und  den  Yuei-si  bis  nach  Ta-wan  und  Ta-hia  erstreckte, 
unter  dem  Namen  Khang-kiü  (Khanggü),  beschreiben  es  aber 
in  so  allgemeinen  und  ungenauen  Ausdrücken,  dass  die  ge- 
wiegtesten Sinologen  im  Zweifel  darüber  waren,  ob  damit  Kip^ak 
oder  etwa  ein  südlicheres  Gebiet  verstanden  werden  solle.  Noch 
Deguignes  (1,  2  p.  LXIX— LXXVII)  hatte  Khang  und  Khang- 
kiü  nach  Kipöak  versetzt;  dem  aufmerksamen  Auge  Visdelou^s 
war  es  jedoch  nicht  en%angen,  dass  im  Thang-su  ausdrücklich 
bemerkt  wird,  Khang  werde  auch  Sa-mo-kian  genannt.  Wir 
halten  an  dieser  Identität  fest  und  werfen  die  Frage  auf,  ob 
Khang  eine  Bezeichnung  barbarischen  (hunnisch-baitalischen) 
Ursprungs  war  oder  eine  altiranische,  hieratische  Bezeichnung, 
die  von  den  eingedrungenen  Nomaden  nachmals  adoptirt  wurde. 
Allerdings  wissen  wir  nichts  über  die  Sprache  jener  Barbaren; 
doch  ist  es  uns  gestattet,  eine  Verwandtschaft  derselben  mit  den 
späteren  Türken  anzunehmen,  und  somit  wäre  der  Hinweis  auf 
uignr.  käng  (dim.  kängäs,  adv.  kängrü)  cag.   kän    ,weit;    breit, 


136  Tomateliek. 

geräumig'  (Vambery,  Kudatku>bilik  215)  gar  nicht  zu  verwerfen. 
In  neuerer  Zeit  ist  jedoch  die  andere  Ansicht  mehrfach  vor- 
gebracht worden  und  verdient  in  £rwägung  gezogen  zu  werden. 
In  dem  Awesta  findet  sich  nämlich  der  Ausdruck  Kaftha  ftir 
eine  sagenhafte  Region^  welche  östlich  vom  See  Vourukasa  lag; 
und  das  Königsbuch  weiss  zu  erzählen  von  Kang,  der  Haupt- 
stadt des  turanischen  Königs  Afräsiäb,  von  Kang-bihi§t,  der 
prachtvollen,  auf  einem  Felsenrücken  jenseits  des  Gul-zarriün 
gelegenen  Veste  Afräsiäb's,  von  dem  paradiesischen  Gau  Kang- 
d\i  im  Osten  hinter  dem  Meere  von  Cin  mit  seinem  von  Siyäwüs 
erbauten  uneinnehmbaren  Felsen  schlösse.  Der  Ausdruck  gehört 
allerdings  seinem  Wesen  und  Ursprünge  nach  der  mythischen 
Komenclatur  an  und  entbehrt  somit  einer  wirklichen  geographi- 
schen Unterlage.  Indess  ist  die  Annahme  nicht  ausgeschlossen, 
dass  die  Iranier  diesen  mythischen  Namen  auch  für  ganz  be- 
stimmte Oertlichkeiten  des  Nordens  und  Ostens  angewendet 
haben.  So  hat  es  H.  C.  Rawlinson  (Journ.  of  the  Roy.  Geogr. 
Soc.  1872  p.  503)  wahrscheinlich  gemacht,  dass  das  heutige 
Ta§-qurghän  im  Sdr-i-q61gebiet  vor  Alters  mit  Kang  bezeichnet 
wurde;  so  fuhren  arabische  Geographen  jenseits  des  Jaxartes 
zwischen  Isping-äb  und  Fär-äb  einen  Gau  Kang-dih  (oder  -d\i) 
an;  das  Säh-nämah  kennt  ein  weiteres  Kang-dii^,  die  Stadt 
Baikand  in  Bokhärä;  möglich,  dass  auch  Khwärizm  so  hiess 
(Sachau,  Zur  Gesch.  u.  Chron.  v.  Khw.  S.  17)  —  und  endlich, 
dass  auch  das  herrliche  Soghdthal,  welches  die  Orientalen  für 
eines  der  vier  irdischen  Paradiese  ansehen,  dieser  alte  Sitz 
iranischer  Cultur  und  Glaubensreinheit  im  hohen  turanischen 
Norden,  mit  Kang  bezeichnet  wurde.  Und  so  dürfte  Reinaud^ 
welcher  zuerst  das  mythische  Kang  einer  gründlichen  Betrachtung 
unterzogen  und  mit  Khang,  dem  sinischen  Namen  von  Sogdiana 
und  Samarkand,  in  Verbindung  gebracht  hat  (Geographie 
d'Aboulfeda  I  p.  CCXX— CCXXUI),  mit  dieser  GleichsteUung 
keinen  unglücklichen  Wurf  gemacht  haben.  Dazu  kommt  folgende 
Erwägung.  Die  sinischen  Annalen  erwähnen  wiederholt,  dass 
nicht  nur  das  Herrscherhaus  in  Khang,  sondern  auch  in  den 
übrigen  sogdianischen  Fürstenthümern  den  Namen  Cao-wu  oder 
Sao-wu  geführt  habe  und  dass  sich  die  Fürsten  dieser  Abkunft 
rühmten.  Zwar  wird  bemerkt,  dass  dies  ursprünglich  der  Name 
einer  Ortschaft  in  der  Urheimat  der  Yuei'-si,  d.  h.  im  Gebirge 


Centnlasiatiselie  Studien.  I.  137 

KbUian  lan  der  Provinz  Kan-su  gewesen  sei,  und  dass  der 
Name  so  viel  wie  ,berühniter  Krieger^  bedeute;  doch  scheint 
diese  Anknüpfung  an  die  sinische  Heimat  willkürliche  Erfindung 
zu  sein.  Viel  wahrscheinlicher  dünkt  uns  die  Annahme,  dass 
in  Sao-wu  der  Name  des  iranischen  Heros  Siy&wüS  (SiyäwakhS, 
baktr.  Qy^^arääna,  Sohn  des  Kava  U^a)  enthalten  sei,  den  die 
sogdianischen  Herrscher  an  die  Spitze  ihrer  Stammtafeln  gesetzt 
hatten,  um  eine  Anknüpfung  ihrer  barbarischen  Abkunft  an  die 
Traditionen  der  Iranier  zu  schaffen.  Kein  Name  ist  seit  Alters 
im  turanischen  Norden  berühmter  gewesen  als  der  des  SiyäwüS, 
welcher  sein  Dasein  dem  Ehebunde  des  iranischen  Herrschers 
Eai-käus  mit  einer  turanischen  Prinzessin  verdankte,  welcher 
in  Turan  ein  Asyl  gefunden  und  daselbst  Kang-di£  erbaut 
hatte,  zuletzt  aber  der  turanischen  Hinterlist  zum  Opfer  gefallen 
war.  In  der  Urgeschichte  von  Bokhärä  spielt  Siyäwüd  eine 
Rolle,  da  er  das  Schloss  von  Bokhärä  gegründet  haben  soll 
(TaVlkh-i-Naräakhl,  Vdmb^ry  S.  1  f.);  er  soll  auch  nach 
Khwärizm  gekommen  sein,  woselbst  seine  Nachkommen  über 
zweitausend  Jahre  den  Thron  inne  hatten  (Sachau,  1.  c.  S.  17); 
auch  die  Herrscher  von  Kabandha  scheinen  einer  Tradition  bei 
Hiuan-Thsang  zufolge  auf  Siyäwüs  ihr  Geschlecht  zurückgeführt 
zu  haben.  Warum  sollten  nicht  auch  die  Fürsten  von  Soghd 
und  Samarqand,  das  vor  allem  den  Namen  Kang  führte,  von 
dem  glorreichen  Heros  abzustammen  sich  gerühmt  haben? 

Eine  Ausgeburt  orientalischer  Phantasie  und  zugleich  un- 
geschickter Pragmatik  ist  die  Sage,  unter  Qobäd,  dem  Sohne 
des  Piröz,  habe  Samar  oder  §umar,  Sprössling  eines  Tubba", 
an  der  Spitze  einer  arabischen  Heldenschaar  einen  Zug  durch 
Iran  bis  nach  Türkistan  und  Sin  unternommen,  um  endlich  in 
Tubbat  eine  Herrschaft  zu  gründen;  jenseit  des  Gai^ün  habe 
er  eine  starkbefestigte  Stadt,  genannt  Öln,  durch  Verrath  der 
Königstochter,  einer  zweiten  Tarpeia,  eingenommen  und  nach 
sich  entweder  Sumran  (,jl>4-&  bei  Yäqüt)  oder  §amar-qand 
(Täbari,  p.  Zotenberg  II  p.  156—159,  mit  der  Bemerkung, 
kand  bedeute  im  Türkischen  , Stadt')  benannt.  Oft  sind  Appella- 
tive sprechende  Merkmale  wichtiger,  historischer  Thatsachen 
und  Zeugnisse  des  Völkerverkehrs  in  alter  Zeit.  So  auch  hier; 
trotz  der  Verkehrtheit  der  ganzen  Sage  verdient  doch  die  Nach- 
richt, Samarkand  habe  vormals   Sin    oder  Cina   geheissen   und 


138  Toraasehek. 

Sinesen  hätten  zur  Sassanidenzeit  die  Stadt  bewohnt  und  be- 
Bessen,  alle  Beachtung.  Die  Annalen  der  Handynastie  gedenken 
der  rühmlichen  Thatsache,  Söhne  des  sinischen  Ostens  hätten 
die  Westbarbaren  in  der  Fertigkeit,  Metalle  zu  giessen  und 
Waffen  und  Gefässe  zu  fabriciren  unterwiesen,  so  wie  sinische 
Kaufleute  schon  damals  Seide,  Porzellan  und  Firniss  nach  Ta- 
wan  und  den  übrigen  Westlanden  brachten.  T^bari  (p.  158) 
schreibt  ihnen  auch  die  Erfindung  des  Papiers  zu;  Thatsache 
ist,  dass  das  Papier  von  Samarkand  im  Orient  die  grösste  Be- 
rühmtheit genoss;  Bäber  bemerkt  hierüber  (I  p,  103):  ,Le 
roeilleur  papier  qui  existe  au  monde  provient  de  Samarkand; 
Tespice  appelee  geväz  sort  en  totalite  de  Kän-I-güI^  Anderseits 
wird  in  den  sinischen  Berichten  den  Bewohnern  von  Khang 
selbst  Handelsgeist  und  ausgebildeter  Gewerbfleiss  nachgerühmt, 
und  Wei-tsi  bemerkt  in  seiner  Geschichte  der  Westvölker 
(Nouv.  möl.  asiat.  I  p.  229),  in  Khang  würden  die  Knaben 
schon  im  fünften  Lebensjahre  im  Lesen  und  Rechnen  unter- 
richtet, um  zu  Kaufleuten  ausgebildet  zu  werden.  Auch  in 
der  Geographie,  welche  dem  Geschichtswerke  des  Moses  von 
Khorni  einverleibt  ist,  werden  die  Sogdiq  als  intelligente  und 
thätige  Kaufleute  hervorgehoben  (Saint-Martin,  Mcimoires  sur 
TArm^nie  H  p.  374),  Den  byzantinischen  Nachrichten  aus 
der  Kegierungszeit  Justinian's  zufolge  waren  die  Sogdianer  (ol 
SouYSaiTat)  die  Vermittler  des  Seidenhandels  zwischen  Öin  und 
dem  Abondlande,  sowohl  unter  der  Sassanidenherrschaft  als 
auch,  seitdem  KhüSnawäz,  der  Haitalänääh  ('E^OocXavo;  'E^OocXtxcov 
ßa<TiX€u?  Theophan.  in  Phot.  bibl.),  nach  der  Besiegung  des 
Piröz  (um  485)  sich  in  den  Besitz  der  kaspischen  Emporien 
gesetzt  hatte^  so  wie  sich  schon  seit  lange  die  indischen  Häfen^ 
namentlich  der  Stapelplatz  Barygaza,  im  Besitze  der  Indo- 
skythen  befanden;  die  Hunnen  hatten  damals  die  nomadische 
Lebensweise  bereits  aufgegeben  und  waren,  gleich  ihren  Unter- 
thanen,  den  Sogdianern,  ein  städtebewohnendes  Volk  geworden 
(ol  'EfOaXiTa'.  diaiixot  to  ^uXcv,  Menander  p.  299  Nieb.).  Handels- 
interessen waren  es  also  vorzugsweise,  welche  die  Herrscher 
des  sinischen  Ostens  bewogen  die  Verbindungen  mit  den  Völkern 
des  Zweistromlandes  zu  pflegen  und  aufrecht  zu  erhalten,  und 
die  politischen  Verhältnisse  des  Westens  mit  aufmerksamen 
Augen  zu  überwachen.    Zwar  misslang  die  Mission  des  sinischen 


CentnluiatiMho  SUdien.  I.  139 

Generals  Cang-kian  nach  Ehang-kiü  (122  v.  Chr.)  in  Folge 
der  feindlichen  Haltung  der  Iliung-nu,  sowie  die  Expedition 
des  Generals  Kan-'ing  (97  v.  Chr.)  nach  ien  Gestaden  des 
kaspischen  Meeres  in  Folge  der  Passageschwierigkeiten;  aber 
immerhin  wurden  Handelsbeziehungen  angeknüpft  und  lange 
Zeit  unterhalten.  Die  politischen  Verhältnisse  des  Orients  gaben 
Bcbon  dem  weitsichtigen  Minister  des  Augustus,  Maecenas,  zu 
denkeiJ^  (Horat.  od.  1,  12  ,tu  nrbi  sollicitus  times,  quid  Seres 
et  regnata  Cyro  Bactra  parent  Tanaisque  discors*);  schon  da- 
mals schickten  die  Indoskythen  und  die  Baktrer  Gesandte  nach 
Rom  ,orando  foederis  Unter  Traianus  ist  die  Rede  nicht  nur 
von  den  ,proceres  Parthorum',  sondern  auch  von  den  ^duces 
Serum'  (Martial.  XH  8).  Unter  Hadrianus  schickten  die  ,reges 
Bactranorum'  (Aet.  Spartianus  21  §  14),  d.  i.  die  Fürsten  der 
Kutanen,  nochmals  Gesandtschaften  nach  Rom,  um  BUndniss  und 
Freundschaft  zu  erbitten,  wahrscheinlich  um  sich  vor  der  Ueber- 
macht  der  Parther  zu  sichern ;  sie  erlagen  jedoch  derselben,  und 
Baktra  ist  gegen  das  Ende  der  Ardakidenepoche  förmlich  ein 
Adnex  des  parthischen  Reiches,  wie  Sagistan,  Armenien  und  das 
kaukasische  Albanien.  In  dem  Kampfe  des  armenischen  Fürsten 
Khusraw  mit  dem  Begründer  der  Sassauidendynastie  Artasir 
(227 — 237  n.  Chr.)  steht  der  König  der  Kudanq  Veh-sagan  auf 
Seiten  des  erstereu,  welcher  die  Rechte  der  gestürzten  Arsakiden 
verficht.  Bemerkenswerth  in  diesen  politischen  Wirren  ist 
die  ausdrücklich  bezeugte  Einmischung  des  Gen-bagur  oder 
Himmelssohnes  von  Genastan  (Clna-biigaputhra,  arab.  )^ajü  )y^ 
baghbür  faghfür),  der  damals  als  Vermittler  und  Friedensstifter 
auftrat.  In  einem  freundlichen  Verhältniss  stand  der  sinische 
Hof  namentlich  zu  Khusraw  NüSlrwän  (531 — 578),  an  dessen 
,brüderliche  Majestät^  der  Faghfür  ein  Schreiben  gerichtet  haben 
aoll,  dessen  Eingang  Ma§'üdl  (Les  prairies  d'or  II  p.  200)  über- 
liefert hat.  Seitdem  der  hai talische  Fürst  K«tO'jX^c^  sich  dem 
Türken-khäqan  'Aaxuiv  (sin.  Sse-kin  Mokan  ko-han)  unterworfen 
hatte  (um  565),  waren  die  Türken  das  herrschende  Volk  in 
Centralasien  geworden;  die  letzten  Sassaniden  machten  unge- 
heure, aber  vergebliche  Anstrengungen,  sich  der  Türkenmacht 
zu  erwehren.  Von  Tong  ae-hu  ko-han  melden  die  Annalen  der 
Thangdynastie,  dass  er  nicht  nur  Balkh,  das  Reich  der  Kudanen, 
sondern  auch  Persien,  wo  Ku-so-ho  (Khusraw  Abarwiz)  herrschte, 


140  Toinaschok. 

tributär   gemacht   habe   (627).     Gegen   dessen   Nachfolger   Sse 
öe-hu,  welcher  mit  barbarischem  Terrorismus  wüthete,  sachten 
die   Fürsten  von  Ehang  vergebliche  Hilfe   bei   dem    sinischen 
Kaiser  (631,  also  zur  Zeit,  als  Hiuan-Thsang  das  Dü-äb  durch- 
wanderte); einige  Jahre  später  (638)  soll   sogar  Yazdigird   III. 
(sin.  I-sse-keu)  einen  marzabän  (sin.  mo-sse-pan)  an  den  sinischen 
Hof  unter  Darbringung  zahlreicher  Geschenke  geschickt  haben, 
freilich  ohne  den  gewünschten  Succurs  gegen  seine  FeiÄie,  die 
Araber,    zu   erhalten    —   auch    die   persischen   und   arabischen 
Berichte   lassen   Yazdigird    bei    dem    König   von   Soghd,    dem 
Khäqän  der  Türken,  und  dem  Kaiser  von  Ölnastän  Hilfe  suchen. 
Einer  der  folgenden  Khane,  Thu-lu  (d.  i.  Twr  khan,  Fürst  von 
Tukhäristän,  zu  welchem  Yazdagird  geflohen  war),   behauptete 
sich,    von   Prätendenten    verdrängt,   gerade  in  Khang  und  Tu- 
ho-lo;    er  bewies  bei  der  Einnahme  von  Mi  (oder  Mayamurgh) 
eine  barbarische  Zerstörungswuth  (642).     Bald  aber  gelang  es 
der  glorreichen  Thangdynastie,  den  sinischen  Waffen  im  Westen 
achtunggebietende  Erfolge  zu  verschaffen  und  eine  bedeutende 
Ländermasse  dem  Reiche  der  Mitte  einzuverleiben;  im  Jahre  650 
hatten    die   sinischen  Generale   alle   türkischen  Oststämme  zur 
Unterwerfung  gebracht   und  versucht,   dieselben   an  Ackerbau 
und  friedliche  Arbeiten  zu  gewöhnen;  der  Himmelssohn  konnte 
nunmehr  auch  an    die  Bändigung   der  westlichen  Türken    und 
die  Pacification  der  jenseits  des  Tsong-ling  und  Thian-&an  g^c- 
legenen  Länder  denken.  Schon  im  Jahre  052  begann  der  Krieg 
gegen  den  mächtigen  Khäqän  A-sse-na  Ho-lu,  und  nach  harten 
zahlreichen  Kämpfen   gelang  es  dem   sinischen  Heerführer  Su- 
ting-fang  die  Macht  der  westlichen  Türken  zu  brechen,  und  das 
ganze  Ili-  und  Jaxartesgebiet  dem  Reiche  einzuverleiben  (657), 
was  zur  Folge  hatte,  dass  auch  die  Vasallenstaaten  der  Türken 
bis  zur  Grenze   von  Khuräsän   in   ein   ähnliches,   aber  gewiss 
freundlicheres  Abhängigkeitsverhältniss   zu  Sin    traten,    dessen 
Staatsmänner   sich  in  den    neuen   Eroberungen   als   praktische 
Organisatoren  bewiesen.    Ausdrücklich  heisst  es  im  Thang-§u: 
,üie  Heerführer   öffneten  Strassen   und  Wege   und   errichteten 
ordentliche  Posten  in  gleichen  Zwischenräumen  bis  nach  'An-sL 
Provinzen  wurden  eingerichtet  und  in  Districte,   Gamisonsorte 
und    Gaue   eingetheilt^     Den   Türken   wurden   ihre   Stammes- 
Oberhäupter  und  Khane,  den  Vasallen  die  erblichen  Vicekönige 


0«ntr»lMialiscbe  Studien.  I.  141 

(tu-tu  tseu-ssc)  belassen;  als  oberste  Instanz  stand  über  beiden 
der  sinische  Generalcommandant  (tu-tu).  Allerding^s  behaupteten 
sich  die  sinischen  Garnisonen  gegen  die  stets  rebellirenden 
Horden  nicht  allerorten  und  äusserte  sich  die  Macht  der  nach 
voller  Selbständigkeit  strebenden  Erbkhane,  so  namentlich  Ä-sse- 
na  tu-Si's,  welcher  sich  mit  den  Tubat  verband  und  (677)  sogar 
'Än-si  bedrohte,  in  fühlbarer  Weise;  trotzdem  hielt  sich  das 
sinische  Gouvernement  in  Sui-se  öing  (am  Flusse  Cui),  also 
dort,  wo  auch  der  jeweilige  Khäqän  seinen  Sitz  hatte,  bis  zum 
Beginn  des  achten  Jahrhunderts  aufrecht.  Während  die  sinische 
Politik  ihren  Einfiuss  im  Norden  vergeblich  dadurch  zu  be- 
haupten suchte,  dass  sie  den  Erbfolgestreit,  welcher  nach  dem 
gewaltsamen  Tode  des  Khäqäns  Salax  oder  So-lo  (737)  zwischen 
der  ,schwarzen^  und  der  ,gelben'  Linie  eintrat,  zu  gelegener 
Zeit  schürte  und  bald  diese,  bald  jene  Partei  begünstigte,  was 
freilich  endlich  dahin  ausschlug,  dass  der  herrschende  Stamm 
der  Tu-ki-si  (arab.  Türqid;  Reste  derselben  gibt  es  noch  jetzt 
im  kleinen  Altai  unter  dem  Namen  Tirgäs)  aufgerieben  oder 
verdrängt  wurde,  und  die  Kho-lo-lo  (türk.  Qarluq  arab.  Khar- 
lukhija)  zu  Macht  und  zu  voller  Selbständigkeit  gelangten  (766), 
währte  die  sinische  Oberherrschaft  in  den.  südlicheren  Vasallen- 
staaten, wenn  auch  nur  dem  Namen  nach,  in  Folge  der  regen 
Handelsbeziehungen  und  der  Gemeinsamkeit  der  buddhistischen 
Cultur  unangefochten  wenigstens  so  lange,  bis  das  Vordringen 
der  Ta-si  (Tägik's)  oder  der  glaubensfanatischen  Araber  ihr  ein 
jähes  Ende  bereitete.  Noch  im  Jahre  661  wurde  in  Tu-ho-lo 
das  sinische  Gouvernement  mit  dem  Hauptsitze  in  A-hwan 
Yue-6i  fu  (j.  Kunduz)  eingerichtet  und  wurden  in  15  andere 
ringsum  gelegene  Königreiche,  welche  im  Thang»§u  aufgezählt 
sind  (Abel-Remusat,  Memoires  de  Tinstitut  royal,  tome  VIII 
p.  86 — 88),  Garnisonen  gelegt,  so  dass  es  im  Ganzen  88  Districte, 
HO  Bezirke  und  126  Garnisonsplätze  gab;  sogar  Po-sse  (Par9a) 
erscheint  darunter  als  tributäres  Gebiet,  worin  der  Sohn  Yaz- 
dagird's  Pi-lu-sse  (vielleicht  Firüz  Khüsän-sedah),  der  bisher  als 
Flüchtling  in  Tukhäristän  herum  geirrt  war,  das  Gouvernement 
führte,  mit  dem  Sitze  in  Tsi-ling  (etwa  2{pirf5  an  der  Grenze 
von  Täpuristän  und  Varkäna  bei  Polyb.  X  31,  6?  oder  Zarang 
in  Sagistan?)  —  freilich  nur  auf  kurze  Zeit;  denn  von  den 
Ta4i  vertrieben,  flüchtete  er  nach  Sin  und  starb  daselbst  (672), 


142  Tomaschek. 

einen  Sohn  Ni-nie-sse  (Narseh)  hinterlassend,  den  (679)  General 
PeY-hing-kian  wieder  einsetzen  sollte;  letzterer  zog  es  aber  vor, 
in   Sui-se   zu   verbleiben,    ohne   sich   mit   den    Ta-Sl  in    einen 
harten  und  erfolglosen  Kampf  einzulassen.   Von  etwas  lUngerer 
Dauer   war   die  sinische   Oberhoheit   in   Khang   selbst.      Noch 
während  der  Kämpfe  mit  den  Westttirken  hatte  sich  der  Fürst 
von   Samarkand   Fo-hu-man  (Vahumän)   unter   das  Protectorat 
des  Himmelssohnes  gestellt  und  wurde   mit  dem  Titel  Khang- 
kiü  tu-tu  belohnt;  ebenso  bewies  sich  Fürst  Tu-so  pa-ti  (Tu9a 
paiti)  dem  sinischen  Hofe  ergeben  (696),  sowie  sein  Nachfolger 
To-hoen  (Tarkhün).   Die  Intentionen  der  sinischen  Politik  waren 
vorwiegend   auf  Herstellung  friedJichen  Handels   und  Wandels 
gerichtet;  die  Vasall enfursten  anerkannten  diese  Culturmission 
zu  wiederholten  Malen  durch  Gesandtschaften,  welche  die  Er- 
zeugnisse heimischer  Natur  und  Industrie  überbrachten.  Freilich, 
festen  Rückhalt   und   dauernden  Waffenschutz   gegen   die  bald 
alles    niederwerfende    Gewalt    der    muselmanischen    Glaubens- 
schaaren  fanden  auch  die  Fürsten  von  Khang  wohl  niemals  in 
der  Macht   des  Ostreiches;   zu  gross   war  die   Entfernung,    zu 
bedeutend   die   Hindernisse,   welche   Sandwüsten   und   unüber- 
steigliche  Gebirge,  sowie  die  Stützigkeit  der  türkischen  Horden 
der  Entfaltung  bedeutender  sinischer  Heeresmassen  in  den  Weg 
legten.     Dies  zeigte  sich  noch  unter  Tarkhün,  den  die  Araber 
unter  Qotaiba  a.  H.  90  so  sehr  in   die  Enge  trieben,    dass  er, 
ohne    auf   den   Schutz    der   sinischen  Waffen    zu   bauen ,    mit 
Qotaiba  einen  höchst  ungünstigen   und   schmachvollen  Frieden 
schliesscn  und  sich  zu  einer  enormen  Tributleistung  verpflichten 
musste.    Gleich  darauf  beseitigten  die  Sogdianer  ihren  Fürsten 
und  wählten  Ghürek    {^)y^,  sin.  'U-le-kia)  aus   dem  Fürsten- 
hause   Osrüseno's,    den    Enkel    des   Aföln,    zu    ihrem   Haupte. 
Qotaiba  zog  a.  H.  92  mit  20.000  Gläubigen  gegen  den  Präten- 
denten,   nahm    Samarkand   mehr   durch    List   als   mit  Waffen- 
gewalt ein,   und   machte  Soghd  tributär,    ohne  jedoch,    wie    es 
scheint,    den  Ghürek   zu  beseitigen.     Von    diesem   meldet    das 
Thang-äu,   dass  er  gerade   damals  (713)  unter  Sendung  werth- 
voller  Geschenke  den  Schutz  des  sinischen  Kaisers  ei*äeht  habe; 
es  war  aber  zu  spät;    die  Ta-Si   standen    bereits    in  Farghana. 
Aus  den  arabischen  Berichten  über  die  Eroberung  von  Mawara 
al-nahar  ersehen  wir,  dass  die  Fürsten  von  Baikand,  Bokharä^ 


CentnlMiatiBCbe  Stadien.  1.  143 

KeiS,  Soghd,  Säd  u.  8.  w.  zu  dem'  Khftqän  der  Türken,  und 
durch  diesen,  der  ein  Vasall  von  8in  war,  zu  dem  Reiche  der 
Mitte  selbst  in  einem  gewissen  Abhängigkeits-  oder  Feudal- 
yerhältnisse  standen,  und  dass  sinische  Generale  und  Truppen 
die  Heei-esmassen  der  Türken  zu  begleiten  pflegten.  In  Rao- 
methan  z.  B.  traf  Qotaiba  den  Türken  Kür  boghän,  welcher 
200.000  Krieger  befehligte  und  ein  Neffe  des  sinischen  Kaisers 
gewesen  sein  soll.  Das  TaVikh-i-Nar§akhl  lässt  Raom^than 
Ton  Sekegket,  welcher  die  Tochter  des  Kaisers  von  Sin  zur 
Frau  hatte,  erbaut  werden;  die  Braut  soll  ihm  zur  Mitgift 
goldene  (Buddha-)  Idole  mitgebracht  haben.  Als  Qotaiba  Käftän 
und  Ure&t  in  FarghUna  erobert  hatte,  fand  er  sein  £nde;  das 
Grab  des  heldenhaften  Eroberers  in  i^m  ((JJuo),  d.  h.  auf  dem 
§m  unterworfenen  Boden  Farghäna's,  verblieb,  wie  wir  aus 
einem  Verse  des  *Abd-aMlahman  ben  Guroanah  al-Bahöli  er- 
sehen, in  ruhmvollem  Angedenken  bei  den  Gläubigen.  Nach 
seinem  Tode  gieng  ein  Theil  der  nordischen  Eroberungen  auf 
längere  Zeit  wieder  verloren ;  darum  melden  auch  die  sinischen 
Annalen,  dass  U-le-kia's  Nachfolger  Tu-ho  (Tugha)  mit  seinen 
Sympathien  sich  wieder  dem  sinischen  Reiche  zugewendet  habe; 
ob  dieser  Reaction  erhielt  er  den  Titel  Kin-hoa-wang  und  die 
verwitwete  Königin-Mutter  oder  die  Khatun  den  Zunamen 
Kiün-fu-2in.  Von  da  an  hören  alle  Nachrichten  aus  dem  Ost- 
reiche über  Khang  auf.  Wir  mussten  aber  an  alle  diese  histo- 
rischen Thatsachen  erinnern,  um  die  Bedeutung  des  Beinamens 
Sin  und  die  Existenz  einer  sinischen  Handclscolonie  in  Samar- 
kand  in's  rechte  Licht  zu  bringen.  Nur  von  topographischem 
Interesse  ist  der  Name  al-ÖIn,  welchen  das  östliche  gegen  Sin 
gerichtete  Thor  von  Samarkand    unter  den  Sämäniden   führte. 


Von  Samarkand  zog  Hiuan-Thsang  in  südöstlicher  Richtung 
nach  Mi-mo-ho ;  er  gibt  folgende  Notiz  über  diesen  Herrscher- 
sitz  (I  p.  19):  ,le  royaume  de  Mi-mo-ho  ^  J^  ^)  a  do  quatre 
k  cinq  cents  li  de  tour.  II  est  situe  au  milieu  d'une  vall^e; 
il  est  resserre  de  Test  k  Tonest,  et  allong^  du  sud  au  nord. 
Sous  le  rapport  des  produits  du  sol  et  des  moBurs,  il  ressemble 
an  royaume  de  8a-mo-kien'.  Ma-tuan-lin  (Abel-Remusat,  Nouv. 
mel.  asiat.  I  p.  233,  vgl.  Deguignes  I,  2  p.  LXXII,  Klaproth, 


144  Tomaschak. 

Magas.  asiat.  I  p.  104,  105,  107)  bietet  folgende  Daten:  ^le 
pays  de  Mi  (sin.  -^  g  mi-kue  d.  i.  ^le  rojaume  du  riz')  ou 
Mi-mo  est  situ^  k  Toaest  de  la  rivi^re  Na-mi,  dans  Tancien 
Khang-kiü.  II  n'a  pas  de  roi,  mais  un  prince  de  la  famille  de 
8ao-wü,  issu  des  rois  de  Khang,  et  dont  le  titre  est  pi-öue. 
La  ville  a  deux  li  en  carr^,  et  il  y  a  quelques  centaines  de 
soldats.  On  compte  cinq  cents  li  vers  le  nord-ouest  jusqa'au 
royaume  de  Su-tui-sa-na,  deux  cents  li  au  sud-ouest  jusqu'ä 
celui  de  Sse,  et  six  mille  six  cents  li  a  Test  jusqu-k  Kua-5eu. 
Les  habitants  ont  pay^  le  tribut  en  raretes  de  leur  pays  dans 
les  annees  Ta-niei  de  la  dynastie  des  Sui  (605 — 616)^  Hiezu 
füge  man  noch  folgende  Angabe  (Abel-R^musat,  Memoires  de 
Tinstitut  royal,  YIII  p.  95;  Deguignes  1.  c):  ,1a  capitale  du 
royaume  de  Mi,  etait  la  ville  de  Po-si-te'.  Im  Thang-Su  endlich 
finden  wir  die  historische  Notiz  zum  Jahre  642:  Thu-lu,  der 
Ko-han  der  westlichen  Turkhorden  (d.  i.  T^r-khän;  vielleicht 
derselbe,  der  nach  YäqQt  s.  )^^y^  den  letzten  Sprossen  des 
buddhistischen  Hohenpriestergeschlechtes  der  Bärroak  zu  Balkh 
vergewaltigte),  nahm  Khang-kiü  in  Besitz;  ,auf  dem  Marsche 
nach  Khang  griff  er  Mi  an,  bewältigte  es,  Hess  die  waffenfähigen 
Einwohner  über  die  Klinge  springen,  verkaufte  den  Rest  in 
die  Sklaverei  und  verheerte  das  Gebiet'.  Indess  wird  bald 
wieder,  zum  Jahre  658,  ein  Fürst  in  Mi  erwähnt,  Sao-wü 
Khai'öue,  dessen  Sympathien  sich  dem  Reiche  der  Mitte  zu- 
wandten; und  noch  zur  Zeit  des  Khalifats,  um  742,  wird 
eines  Fürsten  von  Mi,  Namens  Me-öhue,  gedacht.  Was  den 
Namen  der  Capitale  Po-si-te  betrifft,  so  erinnern  wir  an  das 
oben  erwähnte  Gebirge  Po-si  ian;  aber  noch  mehr  empfiehlt 
sich  die  Gleichstellung  mit  einer  uralten,  in  der  Geschichte 
Alexander's  genannten  Localität  Bidwia;  vgl.  Diodor  XVII  v.c: 
rspl  T5J  6v  BajisTC'.c  xj^/y^yisu  -/.ai  tou  zX/iÖsj;  twv  h  auT«  OY;pic«)v. 
Ausfiihrliches  berichtet  darüber  Curtius  VIII  1,7:  , Alexander 
Sogdianis  rursus  subactis  Maracanda  repetit';  ibi  ,stativa  ha- 
buit;  quibus  adiunctis',  (§  10)  ^in  regionem  quae  appellatur 
Bazista  (codd.  bazaira)  pervenit'.  (Gap.  2)  ,Barbarae  opulentiae 
in  illis  locis  haud  ulla  sunt  maiora  indicia  quam  mag^nis 
nemoribus  saltibusque  nobilium  ferarum  greges  clusi.  Spatiosas 
ad  hoc  cligunt  silvas,  crebris  perennium  aquarum  fontibus 
amoenas;  muris  nemora  cinguntur,  turresque  habeut,  venantium 


G«ntrmlMiatiieha  Stndian.  I.  145 

receptacula.  Quattuor  continuiB  aetatibus  intactam  saltum  fuisBe 
coDstabat;  quem  Alexander  cam  toto  exercitu  ingressus,  agitari 
andique  feras  iussit'.  ^Rex^  IV  milibus  ferarum  deiectis;  in 
eodem  saltu  cam  toto  exercitu  epulatus  est.  Inde  Maracanda 
reditum  est'.  Wir  werden  gar  nicht  irren,  wenn  wir  diesen 
in  der  Nähe  von  Samarkand  gelegenen  Thiergarten  (icapiSetoro^) 
von  Bazista  (sin.  Po-si-te)  an  den  quellen-  und  baumreichen 
Nordabhang  des  Eaman-baran-tau  oder  Samarkand-tau,  etwa 
in  das  Flussthal  von  Urgut,  dessen  Platanengarten  Berühmtheit 
geniesBt,  verlegen  und  Mi-mo-ho,  d.  i.  Maimaghar  oder  Mai- 
margha  (vgl.  neupers.  ^Lo  mäi  ,animal  repens,  reptile,  serpens, 
formica  etc.'  und  baktr.  meregha,  os.  margh,  neupers.  murgh 
,ayis')  als  den  Namen  des  Bezirkes,  welcher  später  auf  die 
Capitale  selbst  übertragen  wurde,  auffassen.  In  der  That  finden 
wir  bei  den  arabischen  Geographen  eine  sogdianische  Ortschaft 
Mäimürgh^  und  bereits  Abel-K^musat  hat  beide  Namen  mit 
einander  identificiert.  In  den  sinischen  Berichten  wird  die 
Entfernung  Mi's  von  Sse  (oder  KeSs)  zu  200  Li,  d.  i.  zwei 
Tagereisen;  jene  Samarkand's  von  Sse  zu  240  oder  300  Li 
angegeben;  auch  heisst  es  (Klaproth  p.  105):  Ja  räsidence  du 
roi  de  Mi  4tait  alors  k  Toccident  de  la  rivi&re  Na-mi;  de  Ik 
au  nord-oüest  jusqu'au  royaume  de  Ehang,  on  comptoit  100  Li'. 
Auf  der  japanischen  Karte  erscheint  Mi-mo-ho  auf  einer  Insel, 
umgeben  von  Canälen  des  Na-mi  äu'i,  dem  hier  eine  mehr 
nordwestliche  Richtung  beigemessen  wird.  Wenn  wir  das 
Maass  der  Entfernungen  für  die  angegebenen  Positionen  auf 
der  heutigen  Karte  ansetzen,  so  müssen  wir  Mi  in  das  Gebiet 
des  heutigen  Guma'a-bazär  und  zwar  mehr  in  die  Nähe  des 
ZarafSän  (Namiq)  setzen,  zwischen  die  Weiler  Durgän,  Plwän, 
Eijik  und  Tutak ;  hier  vereinigt  sich  der  aus  der  Thalschlucht 
von  Urgut  kommende  Fluss  mit  den  äussersten  Canälen  von 
Soghd,  namentlich  mit  dem  Läzän,  imd  umschliesst  eine  wasser- 
reiche fruchtbare  Niederung,  welche  südwärts  von  den  Äb- 
bängen  des  Kaman-baran-tau  umschlossen  wird.  Jedenfalls 
müssen  wir  die  Annahme  Vivien  de  Saint-Martin's  zurück- 
weisen, wonach  Mi-mo-ho  mit  dem  heutigen  Maghyän  eins 
wäre;  denn  dieser  mitten  im  Hochgebirge  an  einem  Zufluss 
des  Zaraf  &än  gelegene  Kurghän  liegt  bereits  viel  zu  weit  nach 
Südosten,    und  ist  von   Samarkand  noch  weiter  entfernt  als 

SitiQonber.  d.  phil.-hist.  Cl.  LXXXVII.  Bd.  I.  Hft.  10 


146  TomasGh«k. 

Pangkand    und   Farap.    —    Welche    Angaben    bieten    nun    die 
arabischen  Geographen   über   die  Gegend,    wo   das   alte  Reich 
Mi  gelegen  war?   Idnsi  (p.  Jaubert  II  p.  202)  belegt  die  Ge- 
birgslandschaft südlich  von  Pangkand  mit  dem  Namen  Säwdär 
(\\ö^\m)    oder   Säwdhär   (J^^LJ),    und   für   Pangkand   selbst 
verwenden   die  Araber   die  Form   Bungikath   oder  Bangikath 
(c>Xs3u).     6aihani   nennt  Bangikath   ,das   Haupt  von  Soghd' 
oder  die  äusserste  Position   gegen  Osten;   von  Samarqand  bis 
dahin    wurden   9   Parasangen    gezählt.     Zu   dem    Gebiete   von 
Samarqand  gehörte  noch  der  Ort  Waraghsar  (y^M^s^),  wo  sich 
der  Soghdfluss  theilte,  etwa  das  heutige  Pang-äambe  (Päiiämbi) ; 
dann   folgte   der   Gau   DarghaS  {(J^)<^\   wofilr   auch   die  Va- 
rianten Darghan    {^j^)f>\   WarghaS  {jL£\^),   Burghas  (jLtyj) 
und  Burghar   (y^y^)  sich  vorfinden,  4  Parasangen  von  Samar- 
qand ;  eine  Parasange  weiter  Mäimarkath  [yS^S'y^Ji^),  wofür  bei 
MoqaddasI  die  Lesart  Mäimarkhag  (^^y^rXjo)   begegnet,    und 
landeinwärts  Sahr-faghin.    Wir  dürften  wohl  dieses  Mäimarkath 
dem    sinischen  Mi-mo-ho   gleichsetzen;   indess    ziehen  wir   die 
Gleichstellung  mit  Mäimürgh  vor.    Ueber  diese  Ortschaft  finden 
wir  folgende  Angaben :  Gaihänl  (bei  Yäqüt)  nennt  Mäyamürgh 
(6y^}ue)  und  das   wahrscheinlich   nördlich   vom  Soghdfluss  ge- 
legene Büzmägar  (y^aXjOsy^,  Var.   ^^^Low  Büzmägan,  ^^Lo^ 
Bümägar)  ,die  beiden  Hände  von  Soghd';    Yäqüt  selbst  bietet 
folgende  Artikel :   t^yt^    ,Dargham  ist  eine  Landschaft  und  ein 
District  des  Gebietes  von  Samarqand;  es  umfasst  eine  Anzahl 
von  Dörfern,  welche  an  den  District  von  Mäyamürgh  grenzen'; 
c%^Le  ,Mäyamürgh  ist  (erstens   ein  Dorf  Bukhärä's   auf  dem 
Wege  nach  Nasaf ;    zweitens)  eine  Ortschaft  in  der  Nähe    von 
Samarqand,    dessen  Gebiet  mit  dem  Gebiet   von  Dargham   zu- 
sammenstösst ;   kein  District  ausser  Samarqand  ist  so  überfüllt 
mit  Bäumen    und   volkreichen  Weilern   wie  Mäyamürgh'.    Der 
Wanderer    traf   also    von    Samarkand    ausgehend    zuerst    den 
rostäq  al-Dargham  (j*.itj jJf)  oder  Dhargam  ([^><>),  dessen  auch 
andere  Geographen  wie  MoqaddasI  und  Idrisl  gedenken,    und, 
noch   weiter   gegen    Südosten,    etwa   in   einer   Entfernung    von 
5  Parasangen,    welche   den  100  Li  (=  eine  kleine  Tagereise), 
welche  von  Khang  nach  Mi  gezählt  wurden,    entsprechen,   den 
volkreichen  und  blühenden  District  Mäimürgh  oder  Mi-mo-ho, 


CentralMi&tische  Stadien.  I.  147 

eine  Hauptposition  von  Soghd.  —  Was  den  Canton  Dargham 
betrifft,  so  hatte  er  seinen  Namen  von  dem  wichtigsten  Canale 
des  Gebietes  von  Samarkand,  dem  heutigen  Anggar-daryä; 
Bäbr  (I  p.  98)  bemerkt:  ,on  a  pratique  dans  le  cours  d'eau 
une  large  saignee  qui  forme  comme  un  petit  fleuve:  c'est  1® 
Dargam  qui  coule  au  sud  de  Samarkand^  k  la  distance  d'un 
ser'i;  il  sert  ä  föconder  les  jardins  et  les  faubourgs  de  la 
capitale  ainsi  que  plusieurs  districts  qui  en  ddpendent^  Diese 
wichtige  Wasserader  war  schon  in  den  heiligen  Büchern  der 
Parsen  Gegenstand  des  Preises;  der  Bundehes  nennt  gleich 
nach  dem  Däitya  den  Fluss  Dargäm  (*Ü\4>),  welcher  in  Südah 
(}t^y^j  d.  i.  Süghda)  fliesst,  und  zu  vergleichen  ist  wohl  auch 
der  zendische  Darega  in  Airyanem-vaögö,  der  Heimat  Zara- 
thuBtra's.  Auffallend  ist,  dass  Ptolemaeus  einen  Fluss  AapYap'<^vic 
in  dem  Gebiete  der  Paropanisaden  entspringen  und  im  Gebiete 
der  ZaßiSioi  in  den  Fluss  ^Qyjx;  einmünden  lässt;  noch  auf- 
fallender,  dass  er  an  das  Ufer  des  Dargamanis  die  Stadt 
MapoxavSa  versetzt.  Sollten  bei  dieser  heillosen  Verwirrung 
aller  Ortslagen  zugleich  mit  der  Stadt  nicht  auch  der  Dargam 
oder  der  längste  Canal  von  Sogd  (vgl.  baktr.  daregha  ,lang*) 
und  ebenso  die  Sabadier  von  OSrüsene  in  die  unrechte  Lage 
versetzt  worden  sein,  da  man  annehmen  darf,  dass  Ptolemaeus 
den  Fluss  Dargamanis  als  die  wichtigste  Wasserader  von 
Marakanda  bei  irgend  einem  Gewährsmann  vorgefunden  haben 
mochte?  Dass  er  Marakanda  gar  an  den  Hindukoh  versetzt 
hat,  erklärt  sich  daraus,  dass  im  Bereich  dieses  Gebirges  und 
am  Indus  wirklich  eine  Völkerschaft  unter  dem  Namen  ZoeßiSioi 
(Sabei;  Soßat,  Zißat^  j.  Swät)  existierte,  mit  der  er  leicht  den 
sogdianischen  Stamm  zusammenwürfeln  konnte.  —  Den  süd- 
lich von  Guma'a-bazär  und  Pangkand  gelegenen  Bergdistrict 
Säwdär  schildert  uns  Bäber  (I  p.  107)  folgendermassen :  ,le 
district  de  Säwdär  est  contigu  &  Samarkand  et  h  ses  faubourgs. 
C'est  un  tres-beau  canton,  Tun  des  c6t6s  du  dequel  est  occupö 
par  la  montagne  qui  est  entre  Samarkand  et  Sahr-i-sabz.  Les 
villages  y  sont  nombreux,  et  sont  bätis,  par  la  plupart,  au 
pied  de  cette  montagne.  La  partie  de  ce  district,  qui  est 
arros^  par  le  Qühik,  jouit  d'une  tempörature  salubre  et  tr^s- 
pure;  Teau  y  abonde  et  son  territoire  est  trfes-fertile  et  trfes- 
riche.     Les  voyageurs  qui  ont  visit^  TEgypte  et  la  Syrie  n'ont 

10* 


148  TonnABoliak. 

cit6  aucun  pays  qui  puissent  latter  avec  lui';  auch  sonst  kommt 
er  auf  dieses  Gebiet  zu  sprechen;  z.  B.  (p.  88)  ^un  chäteau, 
appel^  Erket  (j.  Urgut),  au  pied  du  mont  Sftwdar';  (p.  128) 
,je  sortis  de  Zamln  et;  passant  par  le  chemin  des  montagnes, 
je  marchai  contre  Ribät-I-Khoga,  place,  oü  röside  le  gouvemeur 
du  district  de  oäwdär  (also  vielleicht  identisch  mit  Pang- 
kand?)';  (p.  178)  ,apr&s  avoir  traverse  la  rivifere  du  Qühik 
sur  un  pont,  en  face  d'Yäri,  je  chargeai  les  begs  draller  s'em- 
parer  par  surprise  de  la  forteresse  de  Ribät-I-Khoga ;  (p.  179) 
,nous  traversämes  le  Qühik  au-dessous  de  Kibät-I-Ehoga  et 
regagnämes  le  Yär-yailaq^  —  Nördlich  vom  ZarafSän  ist  das 
Sunggar-  oder  ,  Falkengebirge',  und  noch  weiter  der  Sang-zftr- 
tau,  die  Grenze  von  OSrüsene;  dazwischen  die  grasreichen 
Niederungen  und  Steppen  von  Yar-yailaq  und  der  Bach  Yilän- 
otü,  welcher  Gizakh  erreicht  und  sich  dann  in  der  , Hunger- 
steppe' von  OSrüsene  verliert.  Bäber:  (I  p.  178):  je  laissai 
derrifere  moi  Yäri  et,  franchissant  la  montagne  de  Sunkär- 
khäneh,  j'entrai  sur  le  territoire  de  Yar-ya'ilaq' ;  (p.  120)  ,quant 
k  moi,  passant  par  Börekeh-yaYlaqi,  je  parvins  k  Sang-zAr, 
place  oü  räside  le  gouverneur  de  Yar-yailaq';  (p.  178)  ,nou8 
arrivämes  au  village  fortifiö  dlsfendek,  qui  depend  du  Yar- 
yailaq';  (p.  181)  ,nous  nous  rendtmes  dlsfendek  ä  Wäsmind 
(vers  Samarkand)'.  Die  arabischen  Geographen  zählen  von 
Samarkand  nach  Zämln  17  Parasangen  und  erwähnen  auf  dieser 
Nordostost-Route  die  Station  Abärkath  oder  Bärkath  (v^aS^UI), 
j.  Äq-täpä,  ein  grosser  Marktflecken ;  die  Steppe  Qitwäne  oder 
Fitwäne  (xjl^Jaj),  d.  i.  Yar-yailaq,  mit  dem  Weiler  Qisr-baghl; 
dann  ein  Gebirge,  d.  i.  Sang-zär,  mit  dem  Weiler  Fawraha 
(?Ä5tk*j),  endlich  Zämln  in  OSrüsene.  Auch  das  oben  er- 
wähnte Büzmägar,  so  wie  Wazmind  (Jüuov^,  Var.  iX^\y)f 
Rlwerd  (*>^^0  und  Raskhftn  {^^\) ,  müssen  nach  dieser 
Seite  hin  gesucht  werden.  Verfolgen  wir  nun  eine  mehr  nörd- 
lich gewendete  Route! 


Hiuan-Thsang  fahrt  in  seinem  Reiseberichte  fort:  ,£a 
partant  de  ce  pays  (Mi-mo-ho),  dans  la  direction  du  nord,  on 
arrive  au  royaume  de  Kie-pu-ta-na.  Le  royaume  de  Kib-pv- 
TA-NA  (£ß  ^  QB.  ^)   ^   ^^   quatorze  k  quinze   cents  li  de 


C«DtnlMUtii6lie  Studien.  I.  149 

toor;  il  est  allongö  de  Test  k  Touest,  et  resserrä  da  sud  au 
Dord.  Sons  le  rapport  des  propri^t^s  da  sol  et  des  moeurs,  il 
ressemble  au  royaume  de  Sa-mo-kien.  En  partant  de  ce  royaume, 
il  fit  enviroD  trois  cents  li  k  Touest,  et  arriva  au  royaume  de 
Khiü-§oang-ni-kia'.  Lag  nun  Eapütana  Dördlich  von  M&imorgh, 
dem  heutigen  Urgut  oder  Öuma'a-bazar,  und  drei  Tagereisen 
westlich  von  KuSftnI-kath  oder  Kattah-qurghän,  so  muss  es 
direet  nördlich  von  Samarkand,  an  dem  Abhänge  des  Eodym- 
taa  und  im  Bewässerungsrayon  des  Bulangghyr,  gesucht  werden. 
In  der  That  finden  wir  daselbst  noch  heute  einen  Ort  Gubdan 
oder  GubduUy  worin  eine  Entstellung  von  Kaputana  in  türkischem 
Munde  ersichtlich;  hier  war  also  in  alter  Zeit  ein  Sitz  der 
haitalischen  Fürsten,  die  Bevölkerung  muss  jedoch  vorwiegend 
iranisch  gewesen  sein.  Schon  der  Name  des  Vorortes  ist  ent- 
schieden iranischen  Ursprungs,  und  wir  kennen  noch  zwei 
Localitäten  auf  iranischem  Boden,  welche  gleichbenannt  sind. 
Einmal  fuhrt  Ptolemaeus  in  nächster  Nähe  von  'Apeta  (Haraiva, 
Har6),  etwas  nach  Nordwesten,  unter  104°  30'  und  35®  30'  eine 
Stadt  an,  Namens  KaTcorava  i)  KoTcouTava,  d.  i.  Eabudan  ^'{öyjS 
;pagus  in  vicino  Nlfiapürae'  (VuUers).  Dann  heisst  auch 
der  Urmiyahsee  in  Adharbaigan  bei  den  Armeniern  Kapotan 
(«^«»•y»-»«Ä ,  Moses  von  Ehorni  bei  Saint -Martin,  Mimoires 
8ur  TArminie  II  p.  370,  I  p.  17),  von  armen,  ^«r-yiv**  kapojt 
jhimmelblau,  meerblau',  wie  denn  auch  bei  Strabo,  der  (p.  529) 
diese  Deutung  wohl  kennt,  anderen  Ortes  (p.  523)  statt  ^Ixauxa 
gelesen  werden  muss  Kaicaura  (vgl.  KoncoOia  in  Oross-Armenien, 
Ptolem.  V  13,  21);  auch  die  arabischen  und  persischen  Geo- 
graphen nennen  den  See  mitunter  Kabudän  (^jl^^^;  vgl. 
Qnatremfere,  Histoire  des  Mongols,  par  Ra^ideddin  p.  316,  Mas'üdl 

Les  prairies  d'or  I  p.  98;  auch  Yäqüt  s.  v.  «uuo>i  8>^  nennt 
die  mitten  im  See  sich  erhebende  Gebirgsplatte,  auf  welcher 
eine  starke  Veste  erbaut  war,  ^li^AJ^Kabüdhän;  vgl.  neupers. 
^yS  ,azurblau'  {j^f^  kabütar  ,Taube',  skr.  kap6ta  ,TäuberichS 
von  der  grau-bläulichen  Farbe  der  wilden  Taube?).  —  Nach 
der  in  Japan  verfertigten  Karte  vom  Jahre  1710  lag  Kie-pu- 
tan-na  im  Reiche  Öono-Tsao  {fp  ^)  oder  dem  ,mittleren  Tsao', 
Wobei  zu  erinnern,  dass  das  ,östliche'  Tsao  nach  Ura-tübä,  das 
»westliche*  nach   Ktikhau   fällt.     Ma-tuan-lin   (Abel-Remusat   I 


150  Tomaschek. 

p.  237)   berichtet   über   dieses   Reich:   ,il  y  a  ä  Test  du  Tsao 
d'occident   et  au  nord  de  Samarkaiid   une  division  du  pays  de 
Tsao  qu'on  nomme  moyenne.    Le  roi  fait  sa  r^sidence  dans  la 
ville  de  Kia-ti-öin.    Les  habitants  sont  grands  de  taille  et  trfes 
belliqueux^     Die  an  Canälen   so   reiche  Mittellandschaft  nörd- 
lich  von   Samarkand   ist  das  ^grosse  Sogd',   l^oghd-i-kalän   der 
persischen  Schriftwerke;   daselbst  wird   eine   ziemliche   Menge 
von  festen  und  offenen  Ortschaften  erwähnt,  z.  B.  Khoga-didär, 
Wadhär    (;t<>^)   ,der    Rücken    von    §oghd',   Mürdän    {J^f>^y^)j 
Ribat-mulq,  ferner  Siräz  (\Ljum),   einer  der  häufigst  genannten 
Orte,  nach  Yäqüt  4  Parasangen  nördlich  von  Samarkand,  doch 
schon   zu   Bäber's   Zeiten   in    Ruinen   liegend   (I  p.  82),    nahe 
dabei   Käbid,   ferner   Saqrüge   und   *Ali-abäd,   Khüb-kent   und 
Qara-kent,  u.  a.     Da  es  uns  gelang,   Kuputana  sogar  noch  in 
der  Gegenwart  nachzuweisen,  so  müsste  es  uns  Wunder  nehmen, 
wenn   nicht  auch   die   arabischen   Geographen   dieser  Position 
gedächten.     Vivien    de   Saint-Martin   (Memoire   analytique  etc. 
p.  281)  verweist  auf  Kebud-mehe-ket,  eine  Localität  von  Sogd 
auf   der   rechten    oder   nördlichen    Seite   des   Flusses   bei   Ibn- 
IJawqal  und  I^takhri  (Oriental  Geography,  p.  Ouseley  p.  279), 
unter    der    Voraussetzung    natürlich,    dass    die    Leseart    einer 
Correctur    bedürfe.     In    der   That    muss    für    öJCagJ^xS^  oder 
\^i>yjS,   bis  wohin  von  Samarkand  aus  4  Parasangen  gezählt 
werden,   gelesen   werden   \SJ<^^*öyjS  und  \iuS'öyjS'\   denn    nach 
Yäqüt  ist   Kabüdhange-kat   ,eine   2   Parasangen    (sie!   s.    ^yjS 
4  Parasangen)  von   Samarqand    entfernte   Landschaft,    ein    be> 
bauter    rostäq    mit    der     Stadt     LangQ'kath     öXd^^sÜ'     and 
Gaihani  nennt  Kabüdhange-kat  ,den  Unterleib  von  $oghd^  Dass 
Kabüdang  eine  sogdianische  Vulgärform  für  das  ältere  Kapötana 
war,   wozu   noch    das  türkische  Appellativum  kath  (,Sitz,    Re- 
sidenz^  hinzutrat,    ist   nicht   zu    bezweifeln;    in   welchem  Ver- 
hältniss  jedoch   dieser  Name   zu   dem  von  Yäqüt   angeführten 
Langü'kath  und  zu  dem  von  Ma-tuan-lin  angegebenen  Kia-ti-öin 
gestanden  haben  mochte,  ist  schwer  zu  sagen;  von  wichtigeren 
Ortschaften  auf  diesem  Gebiete   führen  wir   aus    den   heutigen 
Karten    noch   an,   Dagbit   am   Aq-daryä,   Ciläk,  Guma'a-bazar, 
Yangi-qurghän   (auf  der   Süzän-ghirän-Passage),   Sarailyk    (bei 
Gubdan),   Sirln-kent,   Khoba,  Aq-täpä  (am  Canale  Tailan)   und 
Yam-bai   (am   Be§-aryk   oder    den   ,fünf  Canälen',    nordöstlich 


CenlnlasiatUcho  Studien.  I.  151 

vom  Cupäa-ätä).  Wer  aber  möchte  bei  der  Lesung  des  un- 
scheinbaren Ortes  Gubdun  das  hohe  Alterthum  desselben  und 
das  Bezeugtsein  durch  sinische  Berichte  voraussetzen?! 


Ueber  Si-Tsao  oder  das  ^westliche  Tsao'  bringt  Ma-tuan-lin 
folgendes  Resumä  (Nouv.  mal.  asiat.  I  p.  234):  ,Le  royaume  de 
Tsao  a  6i&  connu  du  temps  de  la  dynastie  des  Sui.  C'est  une 
aneienne  ville  d^pendante  du  Khang-kiü,  qui  n'a  pas  de  prince 
particulier,  mais  que  le  roi  de  Khang-kiü  donna  ä  gouverner 
a  son  fils  Niao-kian;  ce  prince  a  mille  hommes  sous  son 
conunandement.  C'est  dans  ce  royaume  que  se  trouve  le  dieu 
Te-si,  adorö  par  tous  les  habitants  des  royaumes  voisins  jusqu'k 
la  mer  occidentale.  Ce  dieu  est  figur^  par  une  statue  d'or  de 
Pho-lo-kuo  (Balkh?),  haute  de  quinze  pieds,  trfes  bien  pro- 
portionnee  du  haut  en  bas.  Chaque  lune  on  lui  immole  cinq 
chameaux,  dix  chevaux,  et  cent  moutons;  plusieurs  milliers  de 
personnes  vivent  habituellement  de  la  chair  de  ces  victimes 
Sans  jamais  l'^puiser.  On  compte  au  sud-est  cent  li  jusqu'au 
royaume  de  Khang  (Samarkand);  a  Touest,  cent  cinquante  li 
jusqu'a  celui  de  Ho  (Qawa),  k  Test  six  mille  six  cents  li 
jusqu'ä  Kua-£eu.  Ils  envoyerent  payer  le  tribut  dans  les  annees 
Ta-nie'i  de  la  dynastie  des  Sui'^  (p.  236)  ,Le  Tsao  occidental 
a  et6  connu  du  temps  de  Sui.  Au  midi  il  touche  ä  Sse-ki-po- 
lan.  La  capitale  est  la  ville  de  Se-ti-hen.  Au  nord-est,  dans 
la  ville  de  Yuei-iü-ti,  il  y  a  un  temple  du  dieu  Te-si  oü  les 
gens  du  pays  vont  offrir  des  sacrifices.  On  y  voit  un  vase  fait 
d'or  et  de  coquilles  qu'ils  prötendent  leur  avoir  ete  donne  par 
Tempereur  (bagaputhra  de  la  Chine)  au  temps  de  la  dynastie 
des  Han,  Ils  vinrent  ä  la  cour  dans  les  annees  Wu-te  (618 — 626). 
La  premiire  ann^e  Thian-pao  (742)  leur  roi  Ko-lo-pu-lo  (Qara- 
bura  ,8chwarzgrau*  oder  qarabul,  qaraghul  , Wächter'?)  envoya 
en  tribut  des  marchandises  de  ce  pays;  un  decret  lui  accorda 
le  titre  de  roi  de  hoai-te  (,qui  a  la  vertu  dans  le  c(Bur').  II 
fit  representer  que  ses  ancetres  et  son  p^re  ayant  toujours  ete 
attach^s  au  Khan  Celeste,  il  desirait  vivre  en  bonne  intelligence 
avec  les  Chinois,  et  seconder  le  fils  du  ciel  dans  ses  expeditions^ 
Um  die  Nachricht  über  den  Gott  Te-si  würdigen  zu  können, 
erinnern  wir  uns  vorerst  an  das^  was  Herodot  am  Schluss  des 


152  Tomaiohek. 

ersten  Buches  von  den  Massageten  berichtet:  öewv  piouvov  f^Xtov 
a^ßovtai,  TW  06oüfft  Tincou^.  N6o(;  Be  outo<;  vf^q  6uff{rj;.  Twv  öeöv  tw 
Tax^oTCi)  ravTwv  twv  ö^/iqtwv  xb  tox^"®^  BaisovTai.  In  den  heiligen 
Büchern  der  Parsen  erhält  wohl  die  Sonne  das  Beiwort  aurvat- 
a9pa  ,mit  schnellen  Pferden  begabt^;  dass  jedoch  das  Tages- 
gestirn bei  den  ältesten  Iraniern  eine  viel  reichere  Mythologie 
hatte,  lässt  sich  aus  den  Gebräuchen  schliessen,  welche  die 
nordischen  Massageten  treuer  bewahrt  haben,  als  ihre  culti- 
virteren  Stammesgenossen.  Bei  diesen  fand  eine  andere  Ge- 
stirngottheit grössere  Verehrung,  der  glänzende,  majestätische 
Tistrya  oder^x^'  T^Star  (Spiegel,  Eran.  Alterth.  II  p.  70),  der 
Peiniger  aller  bösen  Geister,  welche  Trockenheit  und  Misswachs 
verbreiten,  der  Daeva's  und  Pairika's,  der  Spender  männlicher 
Nachkommenschaft,  von  Rindern,  Schafen  und  Pferden,  der 
für  seine  Gaben  von  den  Menschen  Opfer  von  Haoma  und 
Fleisch  der  lichten,  gutfarbigen  Thiere  erhält.  Dürfen  wir  also 
in  Te-si  eine  Verunstaltung  von  TeStri  erblicken  ?  An  Thwäia, 
den  Gott  des  unendlichen  Raumes,  dem  gleichfalls  geopfert 
wurde,  oder  auch  an  ätars,  äta§  ,Feuer'  wollen  wir  nicht  denken. 
Die  haitalischen  Fürsten  haben  sich  stets  der  iranischen  Cultur 
zugänglich  gezeigt  und  Hessen  sicherlich  den  Götterglauben  der 
Sogdianer  unangetastet.  —  Was  nun  die  geographische  Li^e 
des  ,westlichen^  Tsao  betrifft,  so  kann  den  obigen  Distanz- 
angaben zufolge  gar  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  wir  es 
im  Herzen  von  Sogd,  nordwestlich  von  Samarkand,  zwischen 
Kattah-qurghän  und  Gubdan  suchen  müssen.  Der  Vorort  und 
Herrschersitz  von  Si-Tsao  lag  nur  einige  Li  entfernt  vom  süd- 
lichen Ufer  des  Na-mi  (Elaproth,  Mag.  asiat.  I  p.  105)  oder 
dem  Aq-daryä,  dem  Hauptflussbett  des  Zarafään;  und  der  Name 
desselben  Se-ti-hen  entspricht  Silbe  für  Silbe  dem  Lautcomplex 
Astikhan  oder  Ktikhan,  wie  noch  heutigen  Tages  der  be- 
deutendste Ort  zwischen  Kattah-qurghän  und  Ciläk  genannt 
wird.  Auch  dieser  Name  ist  entschieden  iranisch,  und  bereits 
Ptolemaeus  nennt  einen  Ort  'A(jTaxava  unter  112<*  und  43®  20', 
den  wir  ohne  weiters  mit  Ifitlkhan  identifizieren  würden,  wenn 
nicht  der  heutige  Weiler  Astänah  am  Amu-daryä  unterhalb 
Eerki,  den  auch  Yäqüt  unter  diesem  Namen  (lüÜuMt)  als  zu 
Balkh  gehörig  anführt,  ein  grösseres  Anrecht  hätte  dafür  zu 
gelten;    eine    Vertauschung    der    Ortslagen    ist    übrigens    bei 


CADtnlMiatisoha  Stadien.  I.  153 

Ptolemaeus  nichts  seltenes.  Dass  Astikhan  ein  alter  Herrscher- 
sitz  in  Sogd  gewesen^  wird  von  den  Arabern  ausdinicklich 
berichtet;  so  sagt  al-Balädhori  bei  Gelegenheit  der  Expedition 
Qotaiba's  gegen  Samarqand:  ,die  Könige  von  Soghd  residierten 
früher  in  Samarqand,  dann  aber  bezogen  sie  Istlkhan^  (vgl. 
Reinaud,  Memoire  sur  Finde  p.  183);  ja  einige  behaupteten 
Bogar^  wie  Yäqüt  s.  JlLio  angibt;  iStikhan  (^.■^v.VmJ)  sei  die 
Hauptstadt  von  $oghd  und  ihr  gebühre  der  Vorzug  vor  Samarqand. 
Yäqüt  bietet  folgendes  Resumö  s.  ^j.'^vyovt:  ^iStlkhan,  eines 
von  den  Dörfern  §oghd's  von  Samarqand,  4  (sie)  Parasangen 
von  letzterem  entfernt.  Nach  I^takhri  ist  Iltikhan  eine  selbst- 
ständige Landschaft,  von  Samarqand  unabhängig;  es  hat  bebaute 
Felder  und  Dörfer,  ist  an  Gärten,  Wiesen  und  Bäumen,  an 
Saaten  und  Obst  reich  und  äusserst  gesund;  es  hat  eine  Citadelle 
und  einen  robadh,  vereinzelte  Gehöfte  mit  Canälen^  I^takhrl 
rechnet  von  Samarqand  nach  iStikhan  9  Farsang,  von  IStikhan 
nach  EaSänija  westlich  davon  5  Farsang;  die  richtigste  Angabe 
ist  wohl  die  bei  Idrlsi  (II  p.  202),  wonach  die  Distanz  von 
Samarqand  nach  IstIkhan  21  Meilen  oder  7  Farsang  beträgt. 
Andere  Geographen,  wie  MoqaddasI,  ftihren  nur  den  Namen 
an,  unter  den  acht  gi'össeren  Städten  von  §oghd.  —  Unter  dem 
Territorium  Sse-ki  po-lan  müssen  wir  den  Bergzug  verstehen, 
welcher  Sogd  von  der  südlichen  Steppengegend  scheidet,  den 
Eaman-baran,  welcher  bei  I^takhrl  den  Namen  Säk  führt;  vgl. 
auch  Sakistän  (^IJumXi&),  nach  Yäqüt  ,ein  Dorf  iStikhan's  in 
$oghd,  nahe  an  Samarqand^,  und  den  zendischen  Bergnamen 
Barana.  Die  Ortschaft  Yuei-iü-ti,  wo  der  Gott  Te-si  seinen 
Tempel  besass,  ist  vielleicht  das  heutige  Methan  (baktr.  maethana 
,Niederla8sung,  Stadt',  neupers.  möhan)  oder,  wenn  die  Richtung 
Nordost  in  Südost  verändert  werden  darf,  Dagbit  (vgl.  but 
yQötze*)  oder  Eabid  (türk.  ,Form,  Gestalt,  Statue').  Auf  dem 
Wege  von  Samarkand  nach  IStikhan  liegt  jetzt  Afrin-kent, 
welcher  Ort  häufig  genannt  wird,  ferner  Mozan  (nach  Yäqüt  s. 
(jWo  ,gro8se  Burg,  3  Farsakh  von  Samarqand'),  und  die  be- 
deutende Ortschaft  Yangi-qurghän. 


Von  Eapötana  gelangte  Hiuan-Thsang  in  drei  Tagemärschen 
nach  E*iü-§oang-ni-kia  im  Westen  (I  p.  2Ö) ;  er  schildert  dieses 
Fürstenthum  also :  ,le  royaume  deE'iü-SoANG-Ni-KiA  (^  ^  j^  JljJ) 


154  Tomaechok. 

a  de  quatorze  k  quinze  cents  li  de  tour;  il  est  resserr^  de  Test 
k  Touest  et  allongö  du  sud  au  nord.  Sous  le  rapport  des 
produits  du  sol  et  des  incBurs,  il  ressemble  au  royaume  de 
Sa-mo-kien^  Der  Name  Kiü-§oang-ni-kia  kann  allen  Analogieen 
zufolge  nicht  anders  umschrieben  werden  als  mit  Kü§änl-kath 
d.  i.  yKuSanensitz'^  zumal  wenn  wir  noch  die  Thatsache  berück- 
sichtigen, dass  die  sinische  Regierung  um  655,  nach  Unter- 
werfung der  westlichen  Türken  und  gleichzeitig  mit  der  Or- 
ganisirung  von  Ehang,  auch  aus  diesem  Fürstenthum  einen 
Vasallenstaat  bildete,  welcher  die  Bezeichnung  Kuei-§oang-deu 
(,arrondi88ement  de  Kue'i-Soang'  Abel-Römusat  I  p.  237  suiv.) 
fährte.  Euei'-soang  hiess  einer  der  fünf  Stämme  der  Yue-ti 
(Fo-kue-ki  p.  83,  Deguignes  I,  2  p.  LXXXIX);  der  Vorort 
desselben  war  Hu-tsao,  welche  Benennung  fast  wie  eine  Com- 
bination  von  Hu  (d.  i.  Ho  oder  Gawa)  und  von  Tsao  (Osrüsene, 
Eap6tana,  I§tikhan)  erscheint.  Es  wird  aber  berichtet,  dass 
dieser  Stamm  ungefähr  um  16  n.  Chr.  unter  dem  Fürsten 
Küöüko  (sin.  Kieu-tsieu-kio),  der  von  Lassen  (Ind.  Alterth. 
n.  Bd.  2.  A.  p.  372,  819)  dem  BACIAEYC  OHMO  KAA^ICHC 
gleichgestellt  wird,  die  Obmacht  über  die  vier  anderen  Stämme 
der  Yu6-ti,  nämlich  Hieu-mi,  Soang-mi,  Hi-tün  und  Kao-fu  oder 
Tu-mi,  errungen  und  dass  der  Sieger  den  Dynastienamen  Kue'i- 
§oang  oder  Eusan  angenommen  habe,  wobei  zu  beachten,  dass 
der  Name  sich  bereits  in  den  arianischen  Legenden  der  Münzen 
eines  früheren  Fürsten  der  Yu§-ti,  nämlich  des  KOZOrAO 
KAAOICHC  (arian.  kugala  kasasa  ku§ana  yarugasa  dharmathidasa) 
vorfindet  und  dass  auch  der  mächtige  KANHPKI  oder  EaniSka, 
welcher  um  10 — 40  n.  Chr.  in  Purufia-pura  und  Ka^mira 
herrschte,  sich  mahä-räga  des  Volkes  GuSang  genannt  haben 
soll  (A.  Cunningham,  J.  of  the  As.  soc.  of  Beng.  XVH  p.  20). 
Mit  Unrecht  wird  jedoch  der  auf  den  Münzen  so  häufige  Aus- 
druck KOPANO  mit  Ku§ana  in  Verbindung  gebracht,  auch  kann 
OHMO  oder  OOMHN  auf  den  Münzen  des  Eadphises  II.  nicht 
den  Stamm  Hieu-mi  oder  dessen  Vorort  Ho-me  bedeuten.  Was 
aber  Eü§än  ursprünglich  bedeutete,  ob  etwa  ,Todt8chläger', 
von  baktr.  ku§,  neupers.  ku§tan  ,tödten',  oder  ,kraftvoll,  mächtig, 
kühn',  ui'gur.  küöin,  öerem.  kostan  (von  osm.  küö,  güö,  jak.  käs, 
mand2.  yjo&iin  ,Eraft,  Gewalt'),  weiss  Niemand.  Da  die  Yue-ti 
anfänglich  Sogdiana  besassen,  wie  denn  noch  später  die  Fürsten 


CentreluUtisohe  Stuaien.  1.  155 

vonKhang  ausdrücklich  dieser  Race  entstammt  heissen  (Nouv. 
mä.  as.  I  p.  227),  so  ist  es  möglich,  dass  der  zur  Oberherr- 
schaft gelangte  Stamm  Kuei-soang  ursprünglich  im  Herzen  des 
Soghdthales  sass  und  von  da  aus  vorrückend  Tukhäristän,  Kabul 
und  das  Pangäb  sich  zu  eigen  machte.  Die  ai*menischen  6e- 
schichtBchreiber  kennen  ein  mächtiges ,  mit  den  ArSakiden 
verbündetes  Volk  Kuäanq,  welches  süd-  und  nordwärts  vom 
Veh-rut  (Oxus)  sass;  auch  Firdösi  weiss  die  Macht  der  Kutanen 
EU  rühmen  (Vivien  de  St.-Martin,  Nouv.  ann.  des  voyages, 
1849,  in  p.  49  sq.).  Der  syrische  Gnostiker  Bardesanes  ge- 
braucht bei  der  Schilderung  der  Sitten  und  des  Luxus  der 
baktrianischen  Frauen,  welche  ihre  Männer  gänzlich  beherrschten, 
—  ähnliches  berichten  die  sinischen  Autoren;  das  Sui-Su  fügt 
noch  hinzu:  ,bei  den  Ye-tha  in  Tu-ho-lo  herrscht  Polyandrie; 
mehrere  Brüder  nehmen  zusammen  eine  Frau;  die  Frau,  welche 
einen  Mann  hat,  trägt  auf  der  Mütze  ein  Hörn;  diejenige, 
welche  mehrere  Brüder  zusammen  hat,  trägt  so  viele  Homer, 
als  sie  Männer  hat',  also  ganz  so  wie  in  Tübät  und  Tanggut  — 
synonym  mit  BaxTpoi  den  Namen  Qufiani  oder  QaSani  (Cureton, 
Spicilegium  Syriacum,  London  1855,  p.  20,  21,  22,  82).  In 
den  römischen  Schriftwerken  linden  wir  allerdings,  wie  bereits 
erwähnt,  nur  die  Bezeichnung  Bactrianoe  (Tab.  Peut.)  oder 
Bactrani  (Script.  Hist.  Aug.,  Jul.  Honorius,  Amm.  Marcell. 
XXIII  6,  55  ,natio  antehas  bellatrix  et  potentissima  Persisque 
semper  infesta,  antequam  circumsitos  populos  omnes  ad  dicionem 
gentilitatemque  traheret  nominis  sui:  quam  rexere  veteribus 
secnlis  etiam  Arsaci  formidabiles  reges*,  und  57  ,gentes  Bactranis 
oboediunt  plures,  quas  exsuperant  Tochari';  glossa  Placidi  ex 
Isidoro  ,Bactrani  Scythae  fuerunt,  qui  suorum  factione  a  sedibus 
suis  pulsi  iuxta  Bactron  fluvium  consederunt^  Trogus  Pomp. 
II  3,  6  ,Scythae  Bactrianum  imperium  condiderunt') ;  es  ist 
aber  wahrscheinlich,  dass  der  Name  Cvsani  an  zwei  oder  drei 
Stellen  bei  Ammianus  Marcellinus  herzustellen  sein  wird.  Zu- 
nächst XVI  9,  4  (a.  356):  ,Tamsapor  refert  ad  regem,  quod 
Constantius  pacem  postulat  precativam;  dumque  ad  Chionitas 
et  EvsENOB  haec  scripta  mittuntur,  in  quorum  confiniis  agebat 
hiemem  Sapor,  tempus  interstitit  longum^  H.  Kiepert,  der 
einzige  Gelehrte  unseres  Wissens,  welcher  auf  die  Stelle 
des  Ammian  Bezug  genommen,   versetzt  allerdings  auf  seinen 


156  Tomaschek. 

trefflichen  Karten  die  Euseni  in  die  Regionen  des  IlifluBses, 
indem  er  offenbar  dabei  an  das  Volk  der  U-siün  oder  U-sün 
der  Annalen  der  Handynastie  gedacht  hat,  welches  jene  nor- 
dische Qegend  seit  dem  ersten  Jahrhundert  v.  Chr.  inne  hatte 
und  später  den  Hiung-nu  gehorchte;  der  Name  lebt  heute  noch 
unter  den  Kazäqen  fort,  deren  ,grosse  Horde'  (ulu-diüz)  sich 
Üeisün  nennt  (Radioff,  Proben  d.  Volkliteratur  d.  sibir.  Türken 
ni.  Bd.  S.  XV  u.  5).  Aber  die  Annahme,  dass  Sapur  IL 
(309 — 380)  in  seinen  Kriegszügen  wider  die  Turanier  bis  zum 
Ili  vorgedrungen  wäre,  ist  zu  kühn  und  widerstreitet  der  That- 
sache,  dass  die  Macht  der  Sassaniden  auch  zu  ihrer  höchsten 
Blüthezeit  niemals  über  den  Oxus  und  dessen  Zuflüsse  hinaus 
sich  erstreckt  hat;  wohl  aber  ist  an  eine  Expedition  gegen 
die  baktrischen  Kutanen  zu  denken,  da  auch  von  Arta§Ir  I. 
(226 — 240)  berichtet  wird,  er  habe  NiSapur,  Marw,  Balkh  und 
Khwarizm  eingenommen  und  zur  Anerkennung  der  persischen 
Oberhoheit  gezwungen.  Man  lese  also  Cvsanos;  das  gleiche 
schlagen  wir  vor  in  der  Parallelstelle  XVII  5,  1  (a.  358) :  ,rex 
Persarum  in  confiniis  agens  adhuc  gentium  extimarum,  iamque 
cum  Chionitis  et  Gelanis  omnium  acerrimis  bellatoribus  pignore 
icto  societatis  rediturus  ad  sua,  Tamsaporis  scripta  suscepit, 
pacem  Romanum  principem  nuntiantis  poscere  precativam'.  Hier 
tritt  für  euseni  die  Schreibweise  celani  ein,  und  doch  sind 
offenbar  dieselben  Völker  gemeint;  dieser  Umstand,  sowue  der 
Ausdruck  gentes  extimae,  hindert  uns  an  die  Q61än  (FigXoC  oder 
FtjXai)  zu  denken,  welche  gleich  den  Tapurän  Kadu^iyän  und 
Dailamän  zu  verschiedenen  Zeiten  der  persischen  Herrschaft 
Widerstand  entgegengesetzt  und  stets  eine  gewisse  Selbständig- 
keit bewahrt  haben.  Sapur  schloss  also  mit  den  Chioniten 
und  den  Kuschanen,  den  Nachbarn  im  Korden  und  Nordosten 
von  Khuräsan,  Frieden  und  Waffenbrüderschaft.  Die  letztere 
zeig^  sich  bei  der  Belagerung  der  festen  Stadt  Amida,  XIX  2,  3 
(a.   359):   ,Pbrsab   omnes   murorum   ambitus   obsidebant;  pars, 

quae  orientem  spectabat,    Chionitis  evenit; meri- 

diano  lateri  sunt  destinati;  tractum  servabant  septentrionis 
Albani;  occidentali  portae  oppositi  sunt  Segestani,  acerrimi 
omnium  bellatores^  Was  für  ein  Volk  auf  der  Südseite  Amida 
bestürmte,  kann  für  uns  nicht  zweifelhaft  sein;  wir  iiillen  die 
Lücke  von  etwa  acht  Buchstaben,  welche  in  den  besten  Hand- 


CentnlatlfttiMho  Studien.  I.  157 

Schriften  V^  P  b  zur  Noth  mit  cuius  ausgefüllt  erscheint,  zu- 
versichtlich mit  CvsANi  aus,  so  dass  auch  hier  die  Kuschanen 
den  Chioniten  zur  Seite  stehen.  Dass  die  Chionitae  (vgl.  ^j^-^ 
haiün  ^Pferd,  KameeP  bei  Firdosi)  kein  anderes  Volk  sind  als 
die  Chunniy  Ouvvot  der  klassischen  Autoren,  die  Xeouvvl  oder 
X»iwi  des  Theophylaktos,  die  HüQa  (Hära-HüQa,  Cedi-HQ^a  etc.) 
des  Mahä-bhärata,  und  die  Hiung-nu  oder  Hiün-yo  der  sinischen 
Annalen,  darf  ebenfalls  nicht  bezweifelt  werden ;  aus  den  letzteren 
erfahren  wir,  dass  die  nördliche  Horde  der  Hunnen  im  Jahre 
90  n.  Chr.  grosse  Niederlagen  erhielt  und  gezwungen  wurde, 
westwärts  zu  ziehen;  das  Land,  welches  sie  fortan  bewohnte, 
hiess  Yue-pan  (vgl.  türk.  ^bb  yäbän  ,däsert,  plaine  vaste  et 
Don  cnltiy^e')  und  erstreckte  sich  von  dem  Flusse  I-li  bis  zum 
Aral.  Weiter  gegen  West  war  das  Land  der  Yan-tsai  oder 
A-lan-na  ('AXavo{  und  'AXauvoi  des  Ptolem.)  und  reichte  bis 
Ta-Tsin  oder  an  die  Grenzen  des  römischen  Reiches;  es  enthielt 
jSümpfe,  die  weder  Ufer  noch  bestimmte  Grenzen  haben',  und 
besass  Städte,  welche  von  zahlreichen  Kaufleuten  besucht  wurden. 
Mit  den  A-lan-na  kamen  die  Hunnen  in  Conflict,  und  es  heisst, 
der  Öen-yü  der  Hunnen  habe  den  König  der  A-lan-na  getödtet 
(Deguignes  I,  2  p.  LXXVH  sq.  123,  279  sq.  289).  Ammian 
und  die  abendländischen  Chronisten  gedenken  der  Hunnen  erst 
seit  375,  und  berichten  als  abgeschlossene  Thatsache,  dass  die 
Hannen  ,pervasi8  Alanorum  regionibus'  dies  Volk  sich  unter- 
worfen und  zur  Waffengenossenschaft  gebracht  hatten;  dass 
diese  Thatsache  schon  lange  vorher  eingetreten  war,  schliessen 
wir  daraus,  dass  bereits  Ptolemaeus  in  bedeutungsvoller  Nach- 
barschaft der  europäischen  Alanen  die  Xouvot  anführt,  während 
die  Weltkarte  des  Augustus  die  Hunnen  noch  in  ihren  alten 
innerasiatischen  Wohnsitzen  angesetzt  hatte  (Chvnni  Scyth^ 
bei  Jul.  Honorius  und  Ethicus;  vgl.  Orosius  H  p.  21  Hav.:  ,a 
foDtibus  Ottorogorrae  usque  ad  civitatem  Ottorogorram  inter 
Chvmmos  Sctthas  et  Gandaridas  mons  Caucasus').  Gewiss 
wird  sich  die  Hunnenmacht  auch  südwärts,  gegen  Khwärizm 
und  Soghd,  sieghaft  geäussert  haben ;  Beweis  hiefür  die  That- 
sache, dass  sowohl  die  Ephthaliten  übereinstimmend  Hunnen  ge- 
nannt werden,  als  auch  bei  Cosmas  jene  Indoskythen,  welche 
nach  den  Yu@-ti  das  Indusgebiet  besassen.  Von  den  Hunnen- 
abtheilungen, gegen  welche  die  Sassanidenkönige  einigemale  mit 


158  Tomascbek. 

Glück,  meist  aber  unglücklich  gekämpft  haben,  begegnen  am 
häufigsten  die  Namen  Ouvvo'.  KaSi(7Y]vo{  (z.  B.  bei  Jo.  MalalaS; 
Hermes  VI.  Bd.  S.  327)  und  Oülwot  KiSaptTat;  letztere  führen 
diesen  Namen  entweder  von  ihrer  turbanähnlichen  Kopfbe- 
kleidung (xföapi?*  TzXkoq  ßa(jiXixb?  5v  xai  Tiatpav  Hesych.;  hebr.  keter, 
armen,  khojr)  oder  von  einem  ihrer  Hauptsitze  Eidar  oder 
Kedr  (^J^  Var.  ^öof  ^öjS)  im  Gebiet  Bäräb  (yl^L?)  am 
unteren  Jaxartes.  Andere  wichtige  Bollwerke  waren  Fcpya  oder 
Top^w,  d.  i.,  nach  Sachau,  Urva  des  Awesta  oder,  wie  bereits 
Deguignes  erkannt  hat,  das  spätere  Gorgang  (arab.  Gorgäniya, 
türk.  Urgeng,  auf  mittelalterlichen  Karten  Organcia),  ferner 
BaXoYav,  d.  i.  KhwärizmI-kath,  welches  in  der  Nähe  des  Berges 
Balgän  ^L^o  gelegen  war.  Einer  der  mächtigsten  Hunnen- 
fürsten KhuSnawäz  besass  nicht  nur  Khwärizm,  sondern  auch 
Soghd,  alle  Lande  der  Kutanen,  Bädakhsän,  T^l^h^ristan, 
Gargistän,  Marw  und  Bädegh^s;  eine  grosse  Anzahl  kleinerer 
Fürsten  war  ihm  tributär.  Im  Besitze  des  zwischen  Harät  und 
Marw  al-rüd  gelegenen  Bezirkes  Bädeghös  (baktr.  Väitigae9ö) 
können  die  Hunnen  allerdings  nur  zur  Zeit  ihrer  höchsten  Macht 
gewesen  sein;  der  Vorort  Bawan,  Baün,  Bün  (^j^),  auch  Bina 
(&Juu)  genannt,  heisst  (bei  Yäqüt)  ausdrücklich  eine  Capitale 
der  Hayäjila,  und  noch  a.  H.  84 — 90  herrscht  hier  ein  fast 
unabhängiger  Fürst  Nizek  (pers.  ,Lanze') ;  auch  der  Sar  (,König') 
des  benachbarten  Berggebietes  von  Ghar&istän,  der  in  BaSln 
(ijjLäo)  seinen  Sitz  hatte,  war  den  Hayätila  zeitweilig  tribut- 
pflichtig. Die  arabischen  Geographen,  vornehmlich  MoqaddasI, 
rechnen  im  Gegensatz  zuKhuräsän  und  dem  westlichen  Khwärizm, 
alles  Land  jenseit  des  Gaill^ün  zu  Haitäl,  namentlich  Bokhäräy 
Samarqand,  Khogenda  sammt  Nasaf,  Ka^s  und  $aghäniyän; 
Khwärizm  selbst  zerfiel,  nach  MoqaddasI,  in  zwei  der  Sprache 
und  den  Sitten  nach  ganz  verschiedene  Theile,  das  haijalische 
mit  der  am  Ostufer  des  Gaibun  gelegenen  Hauptstadt  Khw&riz- 
miya-käth,  und  das  khuräsänische  mit  Gorgäniya.  Da'qäl,  der 
Genealogist,  redet  von  zwei  Brüdern,  Khuräsän  und  Haitäl, 
Söhnen  des  'Alam  ben  Sam  ben  Noah,  von  denen  Haitäl  der 
Ahnherr  des  beläd  al-Hayätila  wurde.  Täbäri  versichert,  haitäl 
bedeute  in  der  Sprache  von  Bokhärä  einen  ,Tapferen^  Wir 
wollen  uns  hier  nicht  in  weitläufigen  Untersuchungen  ergehen, 
welche  von   den   überlieferten  Namensformen,   ob  arab,  Haitäl 


CentralMiatische  Stadien.  L  159 

(pl.  Hayätila),  oder  armen.  Hephthal  Thetal,  oder  byzant. 
'E^eaXtxat  'AßosXo(,  oder  sin.  Ye-tha,  Yi-ta,  Ye-yi-ta,  I-ta,  den 
Vorzug  verdiene  und  was  dann  die  ursprüngliche  Bedeutung 
gewesen  sei;  wir  können  aber  nicht  verhehlen,  dass  uns  alle 
diese  Formen  wie  eine  Erweiterung,  eine  vollere  Aussprache 
des  älteren  Namens  Yue-ti  oder  'litioi  vorkommen,  und  dass 
nichts  wider  die  Annahme  spricht,  dieser  alte  Name  sei  auf 
die  neuere  Schichte  der  Hunnen  übergegangen,  wie  denn  auch 
die  sinischen  Annalen  bemerken  ,les  Ye-tha  sont  de  la  race 
des  grands  Yuei-Si*  (Nouv.  m61.  asiat.  I  p.  240,  243).  Noch 
heute  sind  Ueberreste  des  einst  so  niächtigen  Volkes  der  ütioi 
oder  der  Indoskythen  in  Multän  und  in  Sewistän  vorhanden, 
in  dem  Stamme  der  Yät  oder  Gät,  welche  das  yätki  oder  gätaki, 
einen  Dialekt  des  Sindhi  und  Pangäbi,  sprechen;  die  arabischen 
Berichte  über  die  Eroberung  des  Ostgebietes  nennen  diesen 
Stamm  Zot  oder  Zat,  zwei  Abtheilungen  desselben  fuhrt  das 
Königsbuch  an  unter  den  Namen  Mäi  und  Murgh.  Wenn  nun 
die  Balüöen  fUr  eben  diese  Gat  die  Bezeichnung  G-agdal  oder 
öawdal  (ursprünglich  wohl  Yawdal)  anwenden,  so  dürfen  wir 
darin  dieselbe  erweiterte  Form  erkennen,  die  wir  ziemlich  rein 
in  'AßSsXoi  (Theophylaktos  VII  7  p.  282)  oder  in  dem  Gau 
Yaftal  (Yäqüt  s.  J^^),  verstümmelt  in  T^Üq^n  (armen.  Italakan) 
wiederfinden. 

Die  ausdrücklich  überlieferte  Thatsache,  der  Hunnenfürst 
Khi^nawäz  habe  seinen  Hauptsitz  in  $oghd,  und  zwar  irgendwo 
zwischen  Bokhärft  und  Samarqand,  gehabt,  führt  uns  wieder 
nach  Eü£ftni-kath  zurück.  An  diese  Position  knüpft  sich 
nämlich,  so  scheint  es,  eine  weitere  geschichtliche  Erinnerung, 
welche  mit  dem  Auftreten  und  der  Machtentwicklung  der 
Hunnen  in  Zusammenhang  steht.  Ein  sinischer  Bericht  (Nouv. 
mel.  asiat  I  p.  243)  meldet,  ,que  ce  nom  de  Ye-tha  6tait  pri- 
mitivement  celui  de  la  famille  royale  du  pays  de  Hoa,  dont 
les  habitants  furent  connus  avant  Tan  144  de  J.-C,  et  avaient 
assuj^ti  tous  les  royauines  voisins,  la  Perse,  Hiei-pan  (vielleicht 
Yuei-pan,  oder  besser  Kho-pan,  d.  i.  Khabandha  in  SÄr-i-q61), 
la  Cophfene  (sin.  Ki-pin),  Su-le  (Kasgar),  Ku-me  (Bai),  Kue'i- 
tseu  (Kuöe),  Yü-thian  (Khuttan)  etc.' ;  vgl.  (p.  242)  ,les  regions 
de  Toccident,  le  Khang-kiü,  Khuttan,  Su-le,  les  A-si,  et  plus 
de   trente   autres   petits    royaumes,    se   trouvirent   places   dans 


160  Tomasobek. 

leur  d^pendance,  et  ils  formferent  un  empire  puissant  qui  s'unit 
par  dos  mariages  avec  les  Öo-fio  ou  2u-2u  (d.  i.  mit  den  'O^ti^p, 
sin.  Yeu'kieu-liü,  deren  Fürst  um  402  n.  Chr.  nach  Besiegung 
der  Hunnen  in  Yuö-pan  sich  zuerst  den  Titel  "pj*  f^  Kho-han 
und  seiner  Gemalin  den  Titel  "pj*  ^  Kho-tun  beigelegt  hat)^ 
Die  Hunnen  also,  welche  in  Ceutralasien  mächtig  wurden  und 
auf  welche  der  Name  der  Yuö-ti  übergegangen  war,  hatten 
einen  ihrer  ältesten  Hauptsitze ,  einen  Ausgangspunkt  ihrer 
Dynastie,  in  Hoa,  was  nach  Vivien  de  St-Martin  eins  ist  mit 
Ho  in  Khang-kiü,  oder  dem  Reiche,  worin  KüSänI-kath  Vorort 
war.  Ueber  das  Fürstenthum  Ho  ('^)  gibt  Matuanlin  folgende 
Notiz  (Nouv.  m61.  asiat.  I  p.  237):  ,ce  pays  est  au  midi  de  la 
rivi^re  Na-mi,  ä  plusieurs  li;  il  faisait  aussi  partie  de  Tancien 
Khang-kiü.  A  Torient,  jusqu'ä  Tsao  (Btikhan),  on  compte  cent 
cinquante  li;  ä  Toccident,  jusqu'au  pays  des  petits  'An,  il  y 
a  trois  cents  li.  Les  moeurs  des  habitants  sont  les  mSmesque 
Celles  de  Khang.  Le  roi,  de  la  famille  Sao-wü  (SiyäwüS),  est 
parent  du  roi  de  Khang;  il  a  mille  hommes  de  troupes.  Sur 
le  mur  septentrional  d'un  pavillon  qui  est  dans  la  ville  royale 
(KüSänl-kath),  on  voit  les  portraits  des  empereurs  de  la  Sin; 
sur  le  mur  occidental,  sont  ceux  des  rois  des  etats  qui  fönt 
partie  du  Fu-lin  (^coXtv,  Teropire  Romain);  et  enfin,  sur  le  mur 
oriental,  on  a  peint  ceux  des  princes  turcs  et  brahmanes^ 
Samarkand  war  allerdings  zu  jeder  Zeit  der  Brennpunkt  des 
geistigen  Lebens,  der  Sammelplatz  der  Kaufleute,  der  Sitz 
des  Wohlstandes  und  der  Industrie;  aber  auch  Ho  oder  Hoa, 
mitten  in  Sogd  gelegen,  hatte  seine  Bedeutung,  seine  grosse 
Vergangenheit  als  dynastischer  Sitz  unter  den  Kuschanen 
sowohl  wie  unter  den  haitalischen  Hunnen.  Wir  glauben,  die- 
selbe Bedeutung  des  Machtsitzes  auch  ftir  die  urälteste  Zeit 
des  Iranierthums  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen,  und  sind 
überzeugt,  dass  der  sinische  Name  Ho  das  zendische  Gau  oder 
Gava  wiedergibt.  Erinnern  wir  uns,  dass  im  ersten  Fargard 
des  Vendidäd  Ahuramazda  sich  rühmt  als  besten  der  Plätze 
geschaffen  zu  haben  Airyanem  vaSgö  vanguhyäo  däityayäo, 
und  dann,  Gäum  yim  gughdhöäayanem  oder  ,Gava,  das  in 
Sogd  gegründete',  und  dass  darin  Angramainyus  als  Gegen- 
schöpfung ,eine  Wespe  (9kaiti  kann  auch  den  RiStawurm  oder 
den   in   Sogd   häufigen  Skorpion    oder    eine   Phalangengattang 


CeutralitliUtiocho  tituUioii.  1.  161 

beaeichnen)  die  voll  Tod  ist  für  Rinder  und  Felder^  Der 
Name  gava  (skr.  gö);  in  coUectivem  Sinne  genommen,  bedeutet 
,RiBderheerde  y  Hab  und  Qut'  und  ist  auf  einen  Landstrich 
angewendet,  welcher  an  Weideplätzen  und  Ackerland  nicht 
Mangel  hat.  Die  eingedrungenen  Nomaden  haben  also  —  diese 
Beobachtung  konnten  wir  schon  mehrmal  machen  —  eine 
einheimische  Benennung  beibehalten;  wir  haben  nicht  nöthig 
den  Namen  Ho  oder  Hoa  aus  einer  innerasiatischen  Sprache 
(etwa  aus  mong.  ghowa  ghowai  ,schön,  lieblich')  zu  deuten. 
Ein  weiteres  iranisches  Appellativum  scheint  auch  in  der  Be- 
zeichnung Fu  me  (Deguignes  p.  LXX,  Klaproth  Magas.  asiat. 
I  p.  107  ,Ho  etait  dans  lancien  territoire  de  Fou-me^  enthalten 
zu  sein,  die  zur  Zeit  der  Han^  namentlich  um  32 — 8  v.  Chr., 
iiir  diesen  Landstrich  üblich  war  (vgl.  Klaproth  p.  104:  ^dans 
le  Khang-kiü,  il  y  avait  cinq  roitelets  appel^s  rois  de  Su-hiai, 
de  Fu-me,  de  Yü-ni  ou  Ua-ni^  de  Ki,  de  'Ao-kian  ou  Yüe-kian'); 
wir  können  darin  baktr.  bümi  (skr.  bhümi);  neupers.  büm  ^Erd- 
bodeD;  Ackerland'  erblicken.  Wenn  wir  uns  fragen,  welches 
Gebiet  auf  der  heutigen  Karte  dem  uralten  Bezirk  Gau  oder 
Buffl  entspricht,  so  müssen  wir  zunächst  von  der  Nachricht 
aasgehen,  dass  das  Reich  Ho  sich  südlich  vom  Namiq  und 
westlich  von  Samarqand  und  I&tikhan  in  der  Längenausdehnung 
von  äüd  nach  Nord  erstreckt  habe;  die  Südgrenze  war  also 
der  Tim-tau,  welcher  terrassenförmig  zum  Canal  Nurpai  und 
zum  Zarafdän  abfällt;  die  Abhänge  sind  baumlos,  enthalten 
aber  zahlreiche  Ansiedlungen  mit  unabsehbaren  Getreidefeldern, 
die  allerdings  nur  dünn  besäet  sind  und  einen  geringen  Ertrag 
abwerfen.  Schon  Ibn-Khordädbeh  führt  Tim  (falsche  Lesart 
f^  Nim)  als  einen  District  von  Soghd  an,  der  an  der  Steuer- 
leistung Antheil  hatte^  und  Yäqüt  bemerkt  s.  *jü  ,Tim,  in  der 
Sprache  von  Khurä-sän  ein  Karawansarai  bezeichnend,  auch 
Tlmek  genannt,  ist  wie  Kasaf  und  Nasaf  eine  Burg  in  §oghd 
von  Samarqand^  Unter  den  Ansiedlungen  sind  hervorzuheben : 
Qala-i-dawüs  mit  sehr  ausgedehnten  Begräbnissplätzen,  Zeugen 
einer  einstigen  zahlreichen  Bevölkerung  (Lehmann  8.  97), 
höchst  wahrscheinlich  das  alte  Dabüsiya;  das  Dorf  Mir; 
ferner  Buzdubai  oder  ^irin-khatün,  auch  Sahr-i-qatän  genannt, 
d.  i.  Kibät-I-qatän  der  pers.  Chronisten,  mit  vielen  Ruinen; 
Khoga  -  qurghän ,     Arab  -  khäna ;     im    Gebirge    Sarai  -  qurghän, 

^itzongiber.  d.  phil.-hist.  Cl.  LXKXVU.  Bd.  I.  Hft.  11 


162  Tömasohek. 

vielleicht  die  alte ,  Burg  Tim ;  endlich  am  Canale  Nurpai, 
60 — 70  Werst  westlich  von  Samarkand,  Eattah-qurghän,  in 
einem  Quadrat  gebaut,  mit  vier  Thoren  und  einer  Citadelle. 
Der  letztere  Ort,  Sitz  eines  Emirs,  scheint  vormals  den  Namen 
Qaba-methan  (vgl.  Öarif-al-din  I  p.  71  a.  1363,  p.  229  a.  1371; 
baktr.  Gawa-maethana),  später  Ribät-I-§oghd  (vgl.  Bäbr  I  p.  148) 
und  Qala'a  (bei  Sidi-Ali  a*  1555)  gefuhrt  zu  haben.  Auf  dem 
Wege  nach  lätlkhan  liegt  Öinbai,  vielleicht  Eün-baü  des  Bäbr. 
Die  ganze  zwischen  Dabüs  und  Ifitlkhan  gelegene  Sogdland- 
schaft,  welche  vom  ZarafSan  und  zahlreichen  Canälen  durch- 
schnitten wird,  heisst  bei  den  persischen  Schriftstellern  ge- 
wöhnlich Miyän-qäl  (pl.  -qälät)  d.  i.  ,zwischen  den  Vesten 
gelegen^  Zwischen  Samarqand  und  Kattah-qurghän ,  in  der 
geraden  Distanz  von  8  Farsakh,  nennt  Mir  Tzzet  UUah  fol- 
gende Stationen:  Ribät  Öarkhi  {f^f>))  Dawül  (J^^(>^,  Na§r- 
abädy  Qamäruq,  A§ek-atä,  Qarä-sü,  Kattah-qurghän  (^L^^^  tjf 
,das  grosse  Fort').  Das  Itinerar  der  arabischen  Geographen 
fuhrt  uns  von  Samarqand  den  Sogdfluss  entlang  (in  7  Para- 
sangen)  nach  Istlkhan;  von  da  zählt  es  5  Parasangen  wesIr 
wärts  nach  Kosäniya,  dann  7  Parasangen  über  Arbingan  nach 
Dabüsiya,  endlich  5  nach  Earmlniya;  oder  man  gieng  von 
Qa§r-*alqama,  das  2  Parasangen  westlich  von  Samarkand  li^, 
5  Parasangen  weit  nach  Zormän  oder  Rozmän,  das  selbst 
wieder  nur  2  Paransangen  von  lätikhan  entfernt  war,  und  ge- 
langte in  6  Parasangen  nach  obigem  Arbingan.  lieber  Eo&äniya 
bemerkt  Yäqüt  s.  ^ujUwil  ,es  ist  eine  Landschaft  von  Samar- 
qand, nördlich  (sie?)  vom  Thale  §oghd;  es  ist  das  Herz  der 
Städte  ^oghd's;  seine  Bewohner  sind  jedoch  die  geringsten  an 
Zahl;  zwischen  Easäniya  und  Samarqand  sind  12  Parasangen^ 
Gaihäni  nennt  kx^LiS  ,den  Fuss'  oder  die  westliche  Spitze 
des  samarkandischen  $oghd.  Moqaddasi  fuhrt  gleichfalls  ^L^i^ 
Kosänl  unter  den  Hauptstädten  von  $oghd  an,  ebenso  iQtakhri 
und  Blrüni,  und  in  späterer  Zeit  Abu'lfida.  Wir  können  daher 
Sprenger  (Post-  und  Reiserouten  S.  30)  nicht  beistimmen, 
wenn  er  eine  Verwechslung  mit  Kadäniya  oder  KeSs  annimmt. 
Der  Name  Hesse  sich  allerdings  aus  pers.  xiLal^,  luL&S'  oder 
^LmI^  £lä§änah  oder  Kä^än  ,habitation  d'hiver,  salle  echauffte* 
(vgl.  Kasan  in  Fai-ghäna)  erklären;  aber  wir  geben  zu  be- 
denken, dass  die  ursprüngliche  Aussprache,  wie  aus  den  sinischen 


Centralasifttiiche  Studien,  l.  163 

fierichten  und  Uraschreibungen  zur  Genüge  erhellt,  vielmehr 
Eosäniya,  Kuääniya  lautete.  Die  Distanzangaben  der  arabischen 
Itinerarien  und  der  sinischen  Berichte  fuhren  uns  nach  dem 
heutigen  Kattah-qurghän.  Indess  maclicn  wir  auch  auf  eine 
östlich  von  Katyröi  und  nördlich  vom  Hauptflussbett  gelegene 
Localität  Kasan  aufmerksam,  welche  Ruinen  eines  alten  Schlosses 
enthalten  soll,  und  empfehlen  russischen  Gelehrten  die  archäo- 
logische Durchforschung  dieses  Gebietes.  Und  so  hätten  wir 
denn  das  Alterthum  dieser  wichtigen  Position  von  Sogd, 
Kiti-soang-ni-kia ,  worin  zuerst  Keinaud  (Memoire  sur  Finde 
p.  82,  163)  Kosaniya  der  Araber  wieder  erkannt  hat,  ausführlich 
dargelegt. 


,Quand  on  a  quitte  ce  royaume',  fährt  Hiuan-Thsang  in 
seinem  Si-yü-ki  fort,  ,ä  une  distance  d'environ  deux  cents  li  a 
l'ouest,  on  arrive  au  royaume  de  Ho-han.  Le  royaume  de 
IIo-HAN  (|1^  5(^)  a  environ  raille  li  de  tour.  Sous  le  rapport 
des  produits  du  sol  et  des  moeurs,  il  ressemble  au  royaume 
de  Sa-mo-kian.  Quand  on  a  quitte  ce  royaume,  ä  une  distance 
d'environ  quatre  cents  li  k  Touest,  on  arrive  au  royaume  de 
Pu-ho'.  Hier  wollen  wir  gleich  bemerken,  dass  der  Name 
des  Reiches  mit  einer  geringen  Veränderung  in  der  ersten 
Hälfte  (^)  KiE-HAN  lautet  und  dass  beide  Schreibweisen, 
allen  Analogien  zu  Folge,  auf  einen  Lautcomplex  wie  Garghän 
oder  Karqän  zurückweisen.  Nach  Hoei-Ii,  Ma-tuan-lin  und  der 
Karte  vom  Jahre  1710  hiess  dieses  Reich  auch  Tong-'an,  ,le 
pays  des  'An  orientaux'  und  Siao-'An  ,le  petit  'An',  und  lag 
südlich  vom  Na*mi  Sui;  es  hatte  zwanzig  Städte  und  hundert 
kleinere  Ortschaften.  Nach  der  Umgestaltung  von  Khang-kiü 
in  ein  sinisches  Vasallenreich,  etwa  um  656,  wurde  Tong-'an 
unter  dem  Namen  Mu-lan  öeu  in  das  sinische  Gouvernement 
einbezogen,  der  Fürst  Sao-wu  pi-si  fügte  sich  der  sinischen 
Oberherrlichkeit,  Ho-han  öing  ward  damals  auch  Yo-kin  ge- 
nannt. Da  Pu-ho  unstreitig  Bukhär  gleichzusetzen  ist,  so 
müssen  wir  Garghana  oder  Karqäna  auf  der  Sogdstrasse  zwischen 
Bukhärä  und  Katty-qurghän  suchen;  wir  verfolgen  also  das 
Itinerar,  welches  die  arabischen  Geographen  bieten.  Auf  Bu- 
khärä folgt  bei  ihnen  nach  4  Parasangen  Sorgh  (py^)  mit  einer 


11* 


164  Tomaschek. 

Burg  und  einem  Bazar;  hierauf  nach  3  Parasangen  der  Canton 
Tawäwes  (jjao^I^),  reich  an  fliessenden  Gewässern,  an  Gärten 
und  Anlagen,  mit  Bazaren  und  Jahrmärkten,  die  stark  be- 
sucht wurden;  hierauf  nach  3  Parasangen  Kül  (JyC  Var.  bei 
Ibn-Khordädbeh  Kür  yyf  mit  dem  Zusatz  ^jJix^j,  etwa  da§tqan 
,Ort  in  der  Steppe*).  Qodäma  (Sprenger,  Post-  und  Reise- 
routen 8.  17)  macht  hier  die  wichtige  Bemerkung:  ,Kül  ist 
das  Dorf  von  JuL^^,  d.  h.  Jü^^  Gargand;  daselbst  hält 
sich  der  König  der  Türken  auf  zum  Behuf  von  Raubanfallen. 
Südlich  davon  sind  Berge,  und  diese  dehnen  sich  bis  Sin  ans^ 
Wer  wird  in  dem  Territorium  Gargand  Fürstenthum  und  Stadt 
Ho-han  verkennen  wollen?  Vielleicht  findet  sich  auch  bei 
MoqaddasI  eine  Spur  dieses  Namens;  er  führt  unter  den  Städten 
Bokhära  8  ausser  Tawäwes  und  anderen  auch  an  ^^r^  öarghan 
und  yc:^j[^y^  Uarghänkath.  In  demselben  Gebiet,  das  in  der 
haitalischen  Epoche  von  einem  Machthaber  zweiten  Ranges 
beherrscht  worden  war,  hausten  also  noch  zur  Sämänidenzeit 
räuberische  Nomadenhorden,  welche  unter  einem  König  standen. 
Es  folgt  nach  4  Parasangen  Karminiya  (äuJUx^i^),  ein  Ort  in 
Miyän-qäl,  bald  zu  Bokhärä,  bald  zu  Soghd  gerechnet,  welcher 
noch  heute  unter  diesem  Namen  (Uuuo^y  Karmihä)  existiert 
und  somit  einen  Anhaltäpunkt  gewährt,  die  genannten  Posi- 
tionen genauer  zu  fixieren ;  nach  5  Parasangen  kommt  endlich 
das  oben  erwähnte  Dabüsiya  oder  Dabbüs.  Die  Berge,  von 
welchen  Qodäma  spricht,  sind  die  ^97812  Bprq  des  Ptolemacus, 
deren  westliche,  bis  Bostän  und  WangänzT  reichende  Ausläufer 
die  Namen  Qara-quttuk-,  Kyz-bibi-  und  Karn-äb-tau  tragen; 
weiterhin  nach  Osten,  gegen  Katty-qurghän,  folgt  der  oben- 
erwähnte Tlm-tau.  Südlich  von  diesen  Bergen  ist  die  grosse 
Steppe  Orta-ßöl,  welche  von  dem  wasserarmen  Flussbett  des 
Karn-äb  durchschnitten  wird.  Auch  der  Nordabhang  dieser 
Berge  erhält,  je  weiter  man  gegen  West  und  gegen  den  Zaraf  sän 
vorschreitet,  immer  mehr  den  Charakter  der  Steppe;  eine  förm- 
liche Wüste  erstreckt  sich  zwischen  Karminiya  und  dem  Weiler 
Bostän.  Lehmann  gibt  hierüber  folgende  Auskunft  (S.  86  flF.): 
,Nachdem  wir  uns  4  Werst  von  Bostän  entfernt  hatten,  hörte 
das  Culturland  mit  dem  letzten  Canale,  der  vom  Norden  her 
aus  dem  Zarafgän  kommt,  plötzlich  auf  und  folgte  eine  aus- 
gedehnte Wüste.    Die  Mälikwüste,  wie  wir  sie  nennen  wollen. 


CentnlMiatische  Studien.  I.  165 

bildet  einen  wunderbaren  Contrast  zu  den  üppigen  Fluren,  die 
iiDB  bisher  begleitet  hatten;  man  kann  sie  wegen  ihrer  Dürre 
und  Unfruchtbarkeit  den  flachen  Theilen  der  abscheulichen 
Kyzil-qumwüste  vergleichen;  sie  dehnt  sich  von  West  nach 
Ost  über  35  Werst  aus.  Die  Mfllikwüste  wird  von  dem  Volke 
in  drei  Abtheilungen  gebracht:  das  westliche  Dritttheil  wurde 
mir  Khamrabat  (d.  i.  wohl  Khan-I-robät),  das  mittlere  Kuyuk, 
das  östliche  Kharkhana  genannt'.  Der  letzte  Name  erinnert 
auffallend  an  die  alten  Bezeichnungen  Garghän,  Earqgn,  und 
wir  dürfen  auch  hier  einen  Ueberrest  der  alten  Nomenclatur  Sog- 
diana's  statuieren.  ,Aus  der  Mitte  der  Wüste,  18  Werst  von 
Bostän,  taucht  plötzlich  eine  kleine  Oase  hervor.  Es  sind  die 
Ruinen  eines  festen  Schlosses,  welches  zu  den. ältesten  Ueber- 
resten  der  Vorzeit  dieses  Landes  gehört;  denn  nach  der 
Aussage  Aller,  die  ich  darüber  befragte,  blühte  es  vor  etwa 
achthundert  Jahren  und  soll  von  einem  Häuptlinge  irgend  eines 
Nomadenstammes  des  alten  Mawera'l-nahar  erbaut  w^orden  sein. 
Mälik-khän,  so  hiess  der  abenteuerliche  Stifter  dieser  Veste, 
zog  nun  von  ihr  aus  raubend  und  plündernd  im  Lande  umher 
und  war  weit  und  breit  gefürchtet.  Nach  ihm  führt  die  Ruine, 
welche  ein  grosses  Viereck,  106  starke  Schritte  lang  und 
eben  so  breit,  bildet  und  von  schönen  gebrannten  Ziegeln 
ausserordentlich  sauber  und  regelmässig  erbaut  ist,  so  wie  das 
nahe  gelegene  Dörfchen,  noch  jetzt  den  Namen  Mälik'.  Stimmt 
diese  Sage  nicht  vortreflflich  zu  der  Nachricht  Qodäma's  über 
Kül,  den  Sitz  eines  viJULo  nomadischer  Türken  ?  Es  ist  übrigens 
noch  die  Frage,  ob  ftir  Ho-han  öing  der  sinischen  Berichte, 
zumal  wenn  man  die  Distanzangaben  Hiuan-Thsang's  und 
Ma-tuan-lin's  berücksichtigt  (vier  Tagereisen  von  Bukhär,  und 
zwei  von  Ho  oder  KuSäniya),  nicht  vielmehr  eine  östlichere 
Position  angenommen  werden  muss,  etwa  Karminiya  selbst, 
welches  17  Werst  von  Mälik  und  6  Werst  vom  Rande  der 
Steppe  Kharkhana  entfernt  ist ;  das  Gebiet  dieser  Stadt  ist  ein 
alter  Cultursitz,  reich  an  Wassercanälen,  an  vortreflflich  ge- 
pflegten Gartenanlagen,  an  Earawan-sarai's,  an  Landsitzen  und 
ergiebigem  Ackerlande.  Von  Karminiya  führte  seit  Alters  eine 
Passage  in  das  nördliche  Berg-  und  Steppengebiet.  Nach 
I^takhri  lag,  der  Stadt  gerade  gegenüber^  1  Parasango  jenseit 
des  Soghdthales,    links   von  der  Samarqandstrasse,    Ganmkan; 


166  Tomasoliek. 

1  Parasange  höher  hinauf,  Madiyangekath ;  und  endlich  ge- 
langte raan  nach  Nur  im  Gebirge.  Gegenwärtig  führt  auch 
ein  Weg  nach  Westen,  nach  GhugduwÄn  und  Wardanzi,  Ort- 
schaften, die  zu  Bokhfträ  gehören. 


Ueber  Bukhärä,  das  in  neuerer  Zeit  die  Aufmerksamkeit 
der  politischen  und  wissenschaftlichen  Welt  in  eben  so  hohem 
Grade  auf  sich  gezogen  hat,  wie  Khiwa  oder  Khw&rizm,  dürfen 
'wir  uns  kürzer  fassen,  da  wir  über  diesen  alten  Cultursitz 
ausreichende  Berichte  aus  der  Sämänidenzeit  sowohl  wie  aus 
allen  nachfolgenden  geschichtlichen  £pochen  besitzen;  wir  ver- 
weisen in  dieser  Beziehung  auf  das  Werk  des  unternehmenden 
und  verdienstvollen  Reisenden  Hermann  Vdmböry  , Geschichte 
Bochara's,  Stuttgart  1872,  zwei  Bände'.  Die  wissenschaftliche 
Kritik  hat  dieser  Arbeit,  allerdings  mit  Recht,  den  einen  Mangel 
vorgeworfen,  dass  darin  die  ältesten  Zeiten,  die  iranische,  die 
makedonische,  die  hunnisch-haitalische,  ja  selbst  die  arabische, 
gar  nicht  oder  doch  in  unzureichender  Weise  berücksichtigt 
sind;  aber  man  muss  bedenken,  dass  es  einerseits  nicht  in  der 
Absicht  des  Verfassers  lag  die  zendischen^  griechischen,  sinischen 
und  arabischen  Berichte  zu  sammeln  und  einer  vergleichenden 
Prüfung  zu  unterziehen,  und  dass  anderseits,  was  speciell  die 
Stadt  Bukhärä  betrifft,  die  Nachrichten  aus  der  vorislamitischen 
Zeit,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  höchst  spärlich  fliessen. 

,Le  royaume  de  Pv-ho  (|£  |1^)  a  de  seize  k  dix-sept 
Cents  li  de  tour.  II  est  allonge  de  Test  k  Touest  et  resserrä  du 
sud  au  nord.  Sous  le  rapport  des  produits  du  sol  et  des 
moeurs  des  habitants,  il  ressemble  au  royaume  de  Sa-mo-kiau^ 
So  der  kurze  Artikel  im  Si-yü-ki.  Etwas  mehr  bietet  die 
Sammlung  Ma-tuan-lin's.  Wir  lesen  darin  (Nouv.  mel.  asiat. 
I  p.  231):  ,Le  pays  de  'An,  aussi  nomm6  Pv-ho,  est  celui  qu'on 
nommait  Niev-mi  au  temps  des  premiers  *Wei.  Du  cöte  du 
nord-est,  il  est  k  cent  li  (sie)  du  'An  oriental  (Tong-'An,  Ho-han^ ; 
et  du  cötä  du  sud-ouest,  k  la  mcme  distance  de  Pi.  II  est  borne 
k  Touest  par  le  cours  de  fleuve  U-hiü  (Veh,  Oxus).  La  capitale 
est  la  ville  d'A-lan-mi.  C'est  un  petit  6tat  du  Khang-kiü^  et 
Tancien  pays  du  roi  de  Ki.  On  y  compte  quarante  grandes 
villes  et  un  millier  de  hameaux.    Les  soldats  les  plus  courageux 


CentnlMifttMche  Stadien.  I.  167 

sont  appel^s  Ce-kiei.  Ce-kiei,  en  langiie  du  royaume  du  milieu, 
signifie  guerrier^  £s  ist  dann  weiter  die  Rede  von  Gesandt- 
schaften und  Tributleistungen  an  den  siniscfaen  Hof,  namentlich 
zu  jener  Zeit,  wo  nach  Unterjochung  der  westlichen  Türken 
Sogdiana  in  ein  sinisches  Gouvernement  (Ehang-kiü  tu-tu-fu) 
umgewandelt  wurde;  von  dem  damaligen  Fürsten  in  'An  heisst 
es,  dass  dessen  Familie  bereits  zweiundzwanzig  Generationen 
sich  im  Besitze  der  Herrschaft  befinde.  Handelsleute  aus  allen 
lündern  kamen  hier  zusammen.  In  der  That  findet  sich  Pu-ho 
oder  Pu-huo  als  Station  auf  der  mittleren  Route  jener  drei 
Handeisstrassen  genannt,  welche  der  sinische  General  Pei-kiü 
in  seiner , Geschichte  und  geographisch-statistischen  Beschreibung 
der  Westländer^  (um  601  n.  Chr.)  nach  Erkundigungen  aus 
dem  Munde  der  Kaufleute  statuiert  hat;  diese  mittlere  Route 
führte  dmch  das  Uigurenland  Kao-cang,  über  Su-le  (KaSgar) 
und  einen  Pass  des  Tsong-ling,  dann  weiter  über  Fo-han 
(Farghana)  Khang  und  Ho,  endlich  durch  Gross-  und  Klein- 
'An  nach   dem  Königreiche    Mu  (Marw)   und  so   nach   Po-sse 

{Par9a)r^ie  feilt  zusammen  mit  der  alten  Handelsstrasse  nach, 

Serike.  (Was  nun  den  Namen  Pu-ho  betriflFt,  so  ist  er  offenbar 
auf  den  Lautcomplex  Bukhär  (collect.  Plur.  Bukhärä,  Bukhäräi) 
zurückzuführen;  diese  Bezeichnung  der  Hauptstadt  ist  jedoch 
nicht  die  älteste,  sondern  datirt  aus  der  haitalischen  Epoche, 
in  welcher  der  Buddhacultus  der  herrschende  war.  Denn  es 
wird  ausdrücklich  berichtet  (Niqbi  ben  Massud,  bei  Silvestre 
de  Sacy,  Notices  et  Extraits  des  Manuscrits,  U  p.  384):  ,Bukhärä 
antiquioribus  temporibus  vocata  est  (Nü)meg-kath;  et  bukhar 
liogua  idololatrorum  Catayae  et  Uighuriae  significat  templum 
idolorum';  und  in  der  That  finden  wir  auch  im  Mongolischen, 
das  die  buddhistische  Terminologie  am  getreuesten  bewahrt 
hat,  die  an  bukhär  sich  anschliessende  Form  buxar  kiyit  == 
skr.  vihära  6aitya  ,cella  eremitica^;  das  sin.  pu-ho  ist  also  eine 
Variante  für  pi-ho-lo,  skr.  vihära  ,locus  secretus,  claustrum 
8.  templum  buddhisticum^  Die  Hayätila  haben  somit  dem 
iodischen  Worte  vihära  dieselbe  Form  gegeben,  wie  später  die 
Cighuren  und  Mongolen,  während  sonst  dafür  auf  iranischem 
Boden  die  Form  behär  einzutreten  pflegt/ vgl.  )^^y^  Nau-behär, 
der  Klostersitz  des  buddhistischen  Hohenpriestergeschlechtes 
der  Barmakiden  in  Balkh  (Yäqüt  s.  v.),  ferner  jL^Lm  Sä-behär 


168  Tomasehek. 

(Yäqüt  s.  V.)  und  »^^Lgj  Behär-zah  (al-Farghäni  bei  Yäqüt 
8.  jjLeLw),  Localitäten  bei  Balkh.  Wie  der  Fo-cultus  noch  zu 
Beginn  des  achten  Jahrhunderts  in  BukhärA  mächtig  war,  ersehen 
wir  aus  Balädhori's  Bericht  über  die  Einnahme  der  Stadt  Bikand 
durch  Qotaiba  a.  H.  .87;  unter  der  reichen  Beute  fand  man 
daselbst  ein  mächtig-es  Götzenbild  (des  Fo)  aus  Gold,  welches 
ein  bedeutendes  Gewicht  besass;  an  Stelle  der  Augen  waren 
Perlen  von  aussergewöhnlicher  Grösse  und  Schönheit  eingefügt; 
wir  werden  dabei  an  den  büt  des  Gebirges  gebel  al-Zör  (W)) 
in  Zaniin  Dawar  (Yäqüt  s.  v.)  gemahnt,  welcher  Augen  von 
Rubin  hatte,  und  an  den  weissen  und  rothen  büt  von  Bämiyän. 
Das  Ta'nkh-i-  NarSakhi  (Vämb^ry  S.  16)  bemerkt:  ,nach  alter 
Sitte  von  der  Zeit  her,  als  die  Einwohner  von  Bokhdrä  noch 
Götzenanbeter  waren,  besorgten  sie  ihren  Götzeneinkauf  an  den 
Markttagen*;  in  Raomethan  ferner  waren  die  Götzen  unter- 
gebracht, welche  die  Tochter  des  Kaisers  von  Sin  ihrem  Gemale, 
dem  Türken  Sekegket,  zur  Mitgift  gebracht  hatte  (Vdmbery  S.  2). 
—  Eine  andere  Erklärung  des  Namens  böte  sich  aus  der  An- 
nahme, dass  an  Stelle  Bukhärä's  in  ältester  Zeit  der  Ort 
TpißaxTpa  gestanden  habe ;  TpißoxTpa  wenigstens  nimmt  bei 
Ptolemaeus  fast  ganz  dieselbe  Position  ein  wie  Bokhäi*a,  und 
so  wie  aus  Boxtpa,  altpers.  Bäkhtari  oder  Bäkhtri,  baktr.  Bäkhdhi, 
sich  allmälig  die  Form  Bähar  oder  Bahr,  sin.  Fo-ho4o,  arm. 
Bahl,  entwickelt  hat,  woraus  durch  Metathese  Balkh  wurde,  so 
mochte  auch  TptßoxTpa,  das  bereits  zur  Zeit  Alexander's  einfach 
Baxxpa  genannt  wurde  (Gurt.  VII  38,  10  ,Alexander  ad  Mara- 
canda  urbem  contendit,  ex  qua  Spitamenes  comperto  eius  ad- 
ventu  Bactra  perfugerat'  =  Arr.  IV  5,  3  ,IxiTa|JL6VTj<;  «5)c  iq  t« 
ßacrf/vsta  t^<;  I^o^Siav^c;  oL'^v/jbipei')^  unter  dem  Einflüsse  einer  bar- 
barischen Aussprache  in  Bu^är  sich  umwandeln.  Wir  theilen 
indesB  diese  Ansicht  nicht,  weil  in  der  ältesten  Zeit  niclit 
Bukhärä,  sondern  Pai'kand  die  Metropole  und  der  Herrschersitz 
von  Westsogdiana  war.  Wir  werden  vielmehr  also  den  Namen 
TpißaxTpa  oder  BoxTpa,  Ta  ßaarAeia  t^*;  Zo^ha^friq,  für  Paikand  in 
Anspruch  nehmen  und  voraussetzen,  dass  derselbe  in  der  haifa- 
lischen  Zeit  ausser  Gebrauch  kam  und  allmälig  in  Vergessen- 
heit gerieth,  nachdem  die  appellative  Bezeichnung  Paiti-kanta, 
die  wahrscheinlich  dem  persischen  Namen  Pai'-kand  (arab.  JüJCo 
Baikand,   in  Ermangelung  der  Tenuis)   zu  Grunde    liegt,    sich 


CeniralAsiatiBChe  Stadien.  I.  169 

Geltung  verschafft  hatte.  Wir  erkennen  diese  neue  Bezeichnung 
auch  i»  sin.  Pa-ti-yan  (Nouv.  m^I.  asiat.  I  p.  240) :  ,Le  roi  des 
Ye-tha  faisait  sa  risidence  dans  la  ville  de  Pa-ti-jan,  ce  qui 
veut  dire  demeure  rojale;  cette  ville  avait  plus  de  dix  li  en 
carre;  on  y  voyait  beaucoup  de  temples  et  de  tours,  tous  ornes 
d  or*),  und  in  herkömmlich  stark  verkürzter  Form  in  Pi,  das, 
wie  wir  oben  lasen,  eine  Tagreise  südwestlich  von  Pu-ho  ent- 
fernt lag.  Freilich  hat  Sachau  in  scharfsinniger  Weise,  aus- 
gehend von  der  arabischeil  Aussprache,  Baikand  auf  Vaekereta 
des  Vendldäd  zurückzuführen  und  aus  baktr.  vi,  huzw.  vae 
,Vogel'  zu  deuten  versucht;  jedoch  hat  diese  Gleichstellung  und 
Deutung  ihre  sachlichen  und  lautlichen  Schwierigkeiten,  und 
hat  namentlich  die  Annahme,  dass  kand  älterem  kereta  ent- 
spreche, sehr  viele  Bedenken  hervorgerufen.  Kawlinson,  welcher 
ähnliches  vermuthet,  zieht  auch  das  später  zu  besprechende 
Fa-ti  des  Hiuan-Thsang  herbei;  wir  werden  jedoch  sehen,  dass 
dies  der  Distanzangaben  wegen  nicht  gestattet  ist.  —  Nach 
Firdosi  hiess  Paikand  ehemals  Kang-di2,  und  Fr6dün  soll 
daselbst  einen  Feuertempel  gebaut  und  das  Awesta  mit  goldenen 
Buchstaben  geschrieben  niedergelegt  haben;  nach  dem  Ta'rikh-i- 
NarSakhl  war  Bokhärä  vormals  eine  Niederung,  die  mit  Sümpfen 
und  Morästen,  mit  Wäldern  und  Röhricht  bedeckt  war,  und 
die  Metropole  darin  Paikand,  wo  Abarzi  Herrscher  war.  Vor 
dessen  Tyrannei  sollen  die  Wohlhabenden  geflüchtet  sein  und 
weiter  nördlich  im  Gebiete  der  Türken  eine  neue  Stadt  gegründet 
haben,  die  sie  Gemu-kath  benannten;  diese  soll  später  Bokhärä 
genannt  worden  sein.  Wir  halten  Gemu-kath  für  eine  verdorbene 
Lesart  für  Nümeg-kath  und  die  Deutungen  Vdmbery's  (,schöne, 
gute  Stadt')  und  SpiegeFs  (,von  Öem  oder  Yima  gemacht')  für 
unnöthig.  Es  heisst  ferner,  ,durch  die  Türken  wurde  Abarzi 
getödtet,  und  türkische  Fürsten  herrschten  seither  in  Paikand ; 
vor  Ankunft  der  Araber  regierte  Bendün,  der  das  von  SiyäwüS 
in  Bokhärä  gegründete  Schloss  restaurierte;  er  hinterliess  einen 
minderjährigen  Sohn  Tüg-säde,  in  dessen  Namen  die  Khätun 
oder  Königin- Witwe  die  Herrschaft  führte  bis  zur  Ankunft  der 
Araber.  In  der  That  ist  von  dieser  Khätun  sowohl  in  den 
sinischen  Annalen,  wie  in  abendländischen  Quellen  (z.  B. 
Echellensis  ad  a.  m.  6174)  die  Rede.  Nach  den  arabischen 
Schriftstellern   soll    bereits  'Obaid-allah   ben  Abu-Bakara,    der- 


170  Tomaschek. 

selbe,   welcher   den  Zotbil  von   Kabul  bekämpfte,   den  Gai'bun 
überschritten  und  Baikand,  dessen  König  nach  Samarkand  ge- 
flohen  war,    und    hierauf  ganz  Bokhärä   eingenommen  haben; 
sein  Nachfolger,  Muhallab,  soll  seinen  Sohn  Habib  gegen  KesS 
und  gegen  Bokhära,  dessen  König  40.000  Bewaffnete  entgegen- 
stellen  konnte,    geschickt    haben    (a.   H.   80—82).     Dauernde 
Erfolge   errang  aber   erst   der  Wall  Qotaiba  ben  Muslim,    der 
nach  Unterwerfung  des  Fürsten  von  Bädeghes,  Nizek,  a.  H.  87 
bei  Zamm  über  den  Gai^un  setzte,  und  nach  einem  glücklichen 
Treffen  mit  den  Türken,   welche  von  Soghd   Succurs    erhalten 
hatten,    und    nach   kurzer   Belagerung  Baikand  (JüXaj),    ,eine 
grosse  und  schöne  Stadt  zwischen  dem  Qai^un  und  der  Haupt- 
stadt Bokhärä^  von  letzterer  nur  einen  grossen  Tagmarsch  ent- 
fernt^, einnahm.    Alle  Bewohner  derselben  wurden  ausgerottet, 
eine  ungeheure  Beute  fiel  den  Siegern  in  die  Hände,  darunter 
aucli  jener  goldene  Götze.     Ein  grosser  .Theil  der  männlichen 
Bevölkerung  soll  sich  indess  damals  nicht  in  der  Stadt,  sondern 
Handels  halber  auswärts  befunden  haben;  es  waren  dies  wahr- 
scheinlich die  Kes-kuSän,  die  weder  Einheimische  noch  Araber, 
weder    Feueranbeter    noch    Moslim,    sondern    Buddhaverehrer 
waren ;    sich   zumeist  mit   Handel   beschäftigten   und    in   ganz 
Bukhärä  in  grossem  Ansehen  standen  (Vämbery  S,  17)  —  also 
Nachkommen  der  Kuschanen  und  der  Ephthaliten.    Sie  bauten 
sich  später,  als  die  Araber   das  Land    beherrschten,    neue  An- 
Siedlungen,  namentlich  bei  Bokhärä,  und  lebten  in  Frieden  als 
wohlhabende  Kauf  leute.    Noch  unter  den  Arabern  hiess  Baikand 
,die  Stadt  der  Kaufleute',   und   es   herrschte   daselbst  ein    leb- 
hafter Waaren  verkehr  bis  zum  Westraeer  und  bis  Sin  anderseits; 
darum  sagt  auch  der  Verfasser  des  KitJlb-al-*iqlim  (über  climatum) : 
,eine  jede  Stadt  Mawerä'lnahar's  hat  Saatfelder  und  Dörfer,   nur 
nicht    Baikand;    hier    sind    nur    Bazare    und    Stationsgebäude 
(Hotels),  deren  Zahl  an  tausend  beträgt;  doch  hat  es  Festungs- 
mauernd    —    Qotaiba    nahm    hierauf   (a.    H.    88)    Nüme^kath 
(vaJCau»^,    falsche   Lesart  ^Xa^.?'  oder  s:>X]<^^  Tümuäkatb) 
ein,  d.  i.  die  Stadt  Bokhärä  mit  älterem  Namen,  nachdem  die 
Einwohner  freiwillige  Unterwerfung  und  Zahlung  eines  grossen 
Tributes    angeboten    hatten;    ferner    zog    er    vor    Raumethan 
(^wAAJuo^K,    falsche   Lesarten  2uJUxvl    ^^^^^^    und   ^j-AJuev*,  im 
Ta'rikh-i-NarSakhl   ^Aie'^),   dessen  Bewohner  sich  gleichfalls 


C«ntnlMiatiMhe  Studien.  I.  171 

ohne  Schwertstreich  unterwarfen.  Was  dann  von  der  Besiegung 
des  Königs  Wardftn-khodsäh  und  der  mit  ihm  verbündeten 
Türken,  sowie  von  der  Einnahme  von  Bokhärä  durch  List  und 
Ueberrumpelung  erzählt  wird,  scheint  nur  eine  modificirte 
Wiederholung  der  früheren  Ereignisse  zu  sein.  Es  schliessen 
sich  daran  die  Expeditionen  gegen  KeilS  und  Nasaf ,  so  wie 
gegen  Soghd  und  Sainarqand  an.  —  Auch  Moqaddasi,  nach 
welchem  der  Kreis  von  Bokhärä  12  Parasangen  lang  und 
12  Parasangen  breit  ist  (Sprenger  S.  20),  sagt:  die  Hauptstadt 
heisst  Nümeg-kath  (vi^X^^,  Var.  vä^X^^^'^  Namüg-kath),  ebenso 
I^takhri  (oJCä»^,  Var.  v:;jC^^  Bümeg-kath).  Dass  wir  von 
den  bezeugten  Lesarten  Gemu,  Bumeg,  Meg,  TümuS,  NümeS, 
Namüg,  Nümeg  gerade  der  letzteren  den  Vorzug  geben,  woraus 
wir  auf  eine  ältere  Form  Numeg  oder  Nümig  schliessen  dürfen, 
glauben  wir  genugsam  begründen  zu  können  durch  die  Heran- 
ziehung der  sinischen  Namensform  Nieu-mi;  über  den  gleichfalls 
überlieferten  Namen  A-lan-mi  sind  wir  dagegen  zu  keinem 
Resultat  gekommen,  und  es  ist  sogar  möglich,  dass  die  Angabe 
nur  irrthümlich  von  den  sinischen  Gelehrten  mit  Pu-ho  oder 
Nieu-mi  in  Verbindung  gebracht  worden  ist.  Der  sinische  Name 
des  Reiches  'An  bedeutet  ,beruhigte8  Gebiet',  Cong-'An  ,da8 
centrale  'An'  im  Gegensatz  zu  dem  östlichen  und  westlichen 
Fürstenthum,  Ta-'An  ,das  grosse  'An'  im  Gegensatz  zu  dem 
kleinen;  was  jedoch  der  älteste  überlieferte  Name  Ki  bedeute 
und  ob  derselbe,  wie  bei  Ho  und  Fu-me,  auf  ein  iranisches 
Wort  zurückgehe,  kann  Niemand  sagen.  —  Was  Raum^than 
(,jjuuo^K)  betrifft,  das  wie  Bokhärä  selbst  von  Samarkand 
37  Parasangen  entfernt  ist  (falsch  17  Parasangen,  Yäqüt 
8.  ijjuyotO,  nur  dass  es  westlicher  und  auf  der  andern  Seite 
des  Sogdflusses  liegt,  so  finden  wir  darin  als  ersten  Bestandtheil 
baktr.  rava,  rao  ,leicht,  frei,  offen,  freundlich',  als  zweiten  das 
baktr.  Appellativum  maethana  (v.  mith  ,vereinigen')  , Ansiedelung, 
Wohnung,  Stadt'  neupers.  ^^^-j^  m^han  ,mansio,  domus  cum 
familia,  populus  vel  tribus'  (Vullers  H  p.  1260;  über  5  als 
dentalen  Hauch,  vgl.  die  reiche  Sammlung  bei  Fr.  Müller,  Beitr. 
z.  Lautlehre  d.  neupers.  Spr.  I  p.  10;  der  bukharische  Dialekt 
hat  also  hier  gegenüber  dem  von  Fars  die  ältere  Lautstufe 
bewahrt!),  wie  in  dem  gleichfalls  bokharischen  Ort  Zör-methan 
(worin  zura,  zävare  ,Gewalt,  Stärke*)  und  Methan  (2   Farsakh 


172  Tomaschek. 

Büdlich  von  Bokhärä);  in  dem  khwftrizmischen  KhöS-m^than 
(Moqaddasi)  und  Artha-khöSm^than  (Yäqüt,  und  in  den  ost- 
BOgdianiBchen  Oertlichkeiten  Methan  (zwischen  iStikhan  und 
Ciläk),  Ura-m^than  (3  Farsakh  östlich  von  Pangkand  am  Za- 
rafään);  Khaba-mdthan  (bei  Sarif-al-d!n)  etc.  Dieser  alte  Bezirk, 
auch  unter  dem  Namen  Cär-Sanbe  bekann t^  wurde  im  Jahre 
1868  plötzlich  durch  die  Sandmassen  der  westlichen  Wüste 
total  verschüttet,  ein  gleiches  Loos  erfuhr  der  stark  bevölkerte 
und  reiche  Bezirk  Wardänzi,  und  man  beftirchtet,  dass  die 
Versandung  des  Khanates  in  der  Richtung  von  Nordwest  nach 
Stidost  immer  mehr  vorschreiten  und  endlich  die  Hauptstadt 
selbst  erreichen  wird;  die  immer  mehr  um  sich  greifende  Ent- 
waldung der  nördlichen  Bezirke  und  die  Vernachlässigung  und 
Zerstörung  der  Canäle  scheint  bei  diesem  Naturprocesse  mit- 
zuwirken. Gross  ist  die  Menge  der  Ortschaften,  welche  die 
arabischen  Geographen,  namentlich  Moqaddasl  und  Yäqüt,  als 
in  Bukhära'i  gelegen  anführen;  da  jedoch  die  Lesarten  meist 
zweifelhaft  sind,  so  fuhren  wir  nur  einige  wenige  namentlich 
an:  Zindana  (aüjüv),  auch  Bukhar-zindana  genannt,  4  Farsakh 
nördlich  von  Bukhärä,  Dima§  (^jm^^),  nahe  bei  Sorgh,  Sikath 
(öjCuär),  KoSu-faghn  (^^^JU^),  Moghakän  {^j^^m)  oder  Mükän 
(jjl^^),  Mästi  (^^Äd»A*Lo),  Ghordän  (,jJ4>>ä),  Qurfiän  etc.  Möge 
dieses  einst  so  blühende  und  reiche  Gebiet,  wenn  es  dereinst, 
wie  sicher  zu  erwarten  steht,  unter  die  russische  Herrschaft 
gelangt,  und  wenn  der  Verheerung  durch  die  Sandmassen 
eine  erneute  sorgsamere  Canalisierung  Einhalt  gebieten  ^ird,  zu 
neuem  Flor  gelangen ! 


,Quand  on  a  quittö  ce  royaume  (de  Pu-ho)',  lautet  weiter 
der  Bericht  im  Si-yü-ki,  ,a  une  distance  d'environ  quatre  cents 
li  ä  Touest,  on  arrive  au  royaume  de  Fa-ti.  Le  royaume  de 
Fa-ti  {^^  j/lj^)  a  environ  quatre  cents  li  de  tour.  Sous  le 
rapport  des  produits  du  sol  et  des  moeurs  des  habitants,  il 
ressemble  au  royaume  de  Sa-mo-kian.  Quand  on  a  quitte  ce 
royaume,  k  une  distance  d'environ  cinq  cents  li  au  sud-ouest  (sie), 
on  arrive  au  royaume  de  Ho-li-si-mi-kia.  Le  royaume  de 
Ho-Li-si-Hi-KiA  (j^  7^1)  ^  Sj^  jjjn)  est  situe  sur  les  deiix 
rivcs  du  fleuve  Fo-tsu  (j|fi  ^).    II  a  de  vingt  k  trente  li  de 


OntralMiatitehe  Studien.  I.  173 

Test  ä  Touest,  et  cinq  cents  li  du  sud  au  nord.  Sous  le  rapport 
des  produits  du  sol  et  des  moeurs  des  habitants,  il  ressemble 
au  royaume  de  Fa-ti;  mais  la  langue  parl^e  est  un  peu  diff^ 
rente.'  —  lieber  das  Fürstenthum  Fa-ti,  das  auch  Si-'an  oder 
das  , westliche  'An'  genannt  wurde,  können  wir  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  mittheilen  als  was  Vivien  de  St-Martin 
(Memoire  analytique  etc.  p.  282)  vorgebracht  hat:  ,Fa-ti, 
ä  400  li  vers  Fouest  de  Pu-ho,  n'est  representee  dans  cette 
direction  par  aucune  localite  historique;  le  seul  Heu  qui  nous 
paraisse  pouvoir  convenir  ä  cette  indication  est  Betik;  Heu 
sitiiö  sur  la  droite  de  TOxus,  ä  une  trentaine  de  Heues  au  sud- 
ouest  de  Boukhara.  L'importance  de  Betik  est  d'^tro  le  point 
de  passage  du  fleuve  le  plus  frequentö  entre  le  Khora^än 
Occidental  et  la  Boukharie,  et  cette  importance  nous  paraft 
expliquer  suffisamment  la  mention  qui  en  aurait  et^  faite  au 
voyageur  chinois  parmi  les  informations  qu'il  recueillit  k  Samar- 
kand  sur  la  r6gion  du  nord  de  TOxus'.  Der  Umstand,  dass 
Hiuan-Thsang  diese  Theilfürstenthümer  wahrscheinlich  nicht 
selbst  bereist  hat,  sondern  nur  aus  den  Erkundigungen,  die  er 
zu  Khang  eingezogen,  schildert,  macht  uns  die  Dürftigkeit  der 
gebotenen  Angaben  und  die  ünzuverlässigkeit  der  Distanzen 
und  Richtungen,  so  wie  die  auffällige  Thatsache  erklärlich, 
dass  die  Lage  von  Fa-ti  am  Oxusufer  nicht  besonders  hervor- 
gehoben wird.  Die  arabischen  Geographen  zählen  von  Bukhärä 
bis  Flrabr  am  Oxus  20  (Var.  17)  Parasangen,  eine  Distanz, 
welche  so  ziemlich  stimmt  zu  den  400  Li  (d.  i.  vier  kurzen 
Tagmärschen)  des  Si-yü-ki;  dies  angenommen,  erscheint  dann 
die  Distanz  nach  Khwärizmi-kath,  nämlich  500  Li,  viel  zu 
kurz;  sie  muss  vielmehr  zu  1500  Li  (d.  i.  fünfzehn  sinischen 
oder  zwölf  arabischen  Tagmärschen)  angesetzt  werden;  auch 
ist  die  Richtung  Südwest  in  Nordwest  zu  verbessern.  Was 
aber  sehr  gegen  die  Vcrmuthung  des  Pariser  Geographen  zu 
sprechen  scheint,  ist  der  Umstand,  dass  kein  einziger  arabischer 
oder  persischer  Schriftsteller  der  Vergangenheit  für  jenen  Ueber- 
gangsplatz  von  Sogd  nach  Khuräsän  den  modernen  und  türkisch 
klingenden  Namen  Betik  anführt,  sondern  dass  diese  stets  nur 
Firabr  oder  Perebr  (j^v?)  nennen.  Es  ist  indess  möglich,  dass 
das  Gebiet  am  rechten  Oxusufer  von  Ilöik  (bei  Betik)  bis 
Elöik,  den  weiter  unterhalb  gelegenen  Hafen-  und  Stappelplatz 


174  Tomafchek. 

von  Bukhäräy  vor  Alters  den  Namen  Vaidhika  (von  baktr. 
vaidhi  ^^^^s^^^^i^g'  väidhi  , Flugs')  geführt  hat  und  dass 
daraus  in  späterer  Aussprache  Betik  entstanden  ist.  Vielleicht 
ist  eine  Spur  dieser  Benennung  in  einem  Orte,  welchen  Mo- 
qaddasl  als  zu  Bukhärä  gehörig  anführt,  erhalten,  nämlich, 
wenn  die  Lesung  richtig  ist,  in  Dü-bedek  (d  Jo^O).  Jedenfalls 
hat  diese  Darlegung  mehr  Gewähr,  als  wenn  wir  vermuthen 
würden,  Fa-ti  sei  in  direct  westlicher  Richtung  von  Bokhfirä 
in  dem  gegen  Khwärizm  hin  sich  erstreckenden  Steppengebiete 
anzusetzen,  in  einem  Territorium,  worin  selbst  die  arabischen 
Geographen  nur  vereinzelte  Ribät's  (z.  B.  Ribät  Täs  Jwlj  ioL^, 
Sörükh  ^^syjSut,  Remel  Jüox,  Ribät  Toghän  ^Ule  etc.  bei  Mo- 
qaddasi)  anführen  und  für  ein  Culturgebiet  sicher  kein  Platz 
ist.  Man  könnte  sich  darauf  berufen,  dass  in  einer  früheren 
Zeitepoche  der  Westen  Bukhärä's  gesegnetere,  mit  Wasser- 
adern erfüllte  Culturstriche  enthalten  haben  mochte,  wie  denn 
noch  jetzt  zeitweilig  Ueberreste  alter  bedeutender  Canäle  in 
den  versandeten  Strecken  der  Kyzil-qüm wüste  zu  Tage  treten. 
Auch  ist  bei  Arrian  die  Rede  von  einer  in  Westsogdiana  an 
der  Grenze  der  Steppe  gelegenen  Veste  Borfat  (vgl.  pers.  bägh 
, Garten',  l^b  Bäghwä,  alter  Ort  in  Dahistän  zwischen  Faräwä 
und  Nisä),  bei  welcher  Spitamenes  mit  3000  massagetischen 
Reitern  in  Sogd  einbrach,  (IV  17,  4):  i^  Baya;  (unus  codex 
Taßi;,  wobei  man  an  Gäu  des  Vendidäd  erinnert  wird),  x^^ptov 
TTjc  SoYOiavi;^  ^^^p^''?  ^''  jJLsOopiü)  ttj?  t£  SoYBiavwv  -pj;  xai  -rij?  Maaja- 
Y£T(i)v  Zy.uOü)v  (ox(?[JL£v3v ;  die  Nennung  der  Massageten  macht  es 
jedoch  wahrscheinlich,  dass  wir  diese  Veste  mehr  nordwestlich, 
etwa  bei  dem  späteren  Nur  (j.  Nürätä,  nördlich  von  Earmlniya, 
im  Aq-tau),  suchen  müssen.  Auch  ist  zu  bedenken,  dass  die 
Zeit  Hiuan-Thsang's  nicht  gar  zu  weit  der  arabischen  Epoche 
entrückt  ist  und  dass  die  Cultursitze,  welche  der  sinische  Pilger 
sonst  anführt,  sämmtlich  auch  bei  den  arabischen  Geographen 
sich  nachweisen  lassen.  —  MoqaddasI  führt  zahlreiche  Oxus- 
Übergänge  an;  nach  Tarmidh,  Kalif  und  Kerkera  (j,  Kerki) 
folgen  bei  ihm  Ribät,  Khawärän,  Sar,  Nü-wa'idhä  (»Jlj^,  ,wo 
die  Leute  von  Samarkand  über  den  Fluss  setzen*;  ein  Name, 
der  auffallend  zu  Fa-ti  und  dem  von  uns  statuirten  Vaidhika 
stimmt;  vgl.  Nü-waizä  ^'jity^j  Burg  bei  Sirakhs,  und  obiges 
ijju^4>?),   dann   noch   drei  andere,  ferner  Firabr    und  Ämül^ 


CentraUsiatiaclid  Studien.  I.  175 

eDdlich  Sekäwa  Mfthegirän  und  Darghän,  der  Greozort  von 
Khwärizm,  Marw  und  Ankhwärä  (Kl^l,  d.  i.  Bukhärä?). 
Firabr  gegenüber;  1  Parasange  vom  linken  Oxusufer,  lag  Äraüya 
(Amüi;  Ämü)  oder  Ämül,  sin.  '0-niei  oder  '0-mo,  das  spätere 
Cär-gui*  (zuerst  bei  Bäbr  I  p.  126),  der  wichtigste  Uebergangs- 
punkt  von  Khurasän^  Sammelplatz  der  Karavanen  und  als 
solcher  wichtig  genug,  um  dem  Oxus  seinen  Namen  zu  geben : 
äb-I-Ämu,  daher  bei  Clavijo  (p.  137)  Viadme,  (p.  199)  Biamo, 
oder  Amü-daryä.  Von  da  nach  Marw  oder  dem  zendischen 
Möoru,  der  Metropole  der  Satrapie  Margiana,  werden  36  Para- 
saogen  gezählt.  Dieser  alte  Cultursitz  wird  unter  dem  Namen 
Mo  (Mü  R^musat;  M^u  Klaproth)  auch  in  den  sinischen  Be- 
richten genannt,  als  Handelsstation  von  Khang  nach  Po-sse 
(Persien)  und  als  ein  Hauptsitz  des  Reiches  'An-si  ('An-sie, 
'An-sik),  von  dem  schon  in  den  Annalen  der  Han  die  Rede 
ist.  So  heisst  es  im  Sse-ki  des  Historikers  Sse-ma-tsian  (trad. 
par  Brossel,  Journ.  asiat.,  Paris  1828,  11  p.  424  sq.) :  ,'An-si,  k 
quelques  milliers  de  li  a  Toccident  des  Ta-Yue-§i,  peuple 
s^dentaire  et  cultivateur.  Les  champs  produisent  du  riz  et  du 
vin  de  po-tao,  leurs  villes  mürbes  sont  comme  Celles  de  Ta-wan. 
Ce  pays,  qui  est  fort  giand,  peut  avoir  en  tout  sens  mille  li. 
II  est  situ6  vers  le  fleuve  üei'  (' Weii).  On  y  trouve  des  march^s : 
les  n^gociants  fönt  usage  de  chariots  et  de  barques  pour  aller 
dans  les  pays  voisins  jusqu'k  quelques  mille  li.  Tis  ont  des 
pi^ces  de  monnaie  en  argent,  ä  Teffigie  du  roi:  k  sa  mort  on 
change  les  empreintes  pour  celles  du  nouveau  roi;  des  traits 
obliques  semblables  k  des  plantes  entrelacees  servent  de  date'. 
Wir  sehen,  dass  unter  'An-si  im  Grossen  Parthien,  der  Sitz 
der  Arsakiden,  gemeint  ist,  und  müssen  uns  daran  erinnern, 
dass  Marw  als  Dependenz  dazu  gehörte  und  dass  es  der  Haupt- 
prägeort der  parthischen  Münzen  war.  Zur  Ergänzung  diene 
die  prägnante  Schilderung  des  Landes  bei  Plinius:  ,difficilis 
aditu  propter  harenosas  solitudines  per  UXX  p.  Margiana  regio 
apricitatis  inclutae  —  sola  in  eo  tractu  vinifera  —  undique 
inclusa  montibus  amoenis,  ambitu  stadiorum  MD,  contra  Par- 
tbiae  tractum  sita'.  Zur  Zeit  der  Machtentfaltung  der  HaitaFs 
war  Mo-kue  öing  Sitz  selbständiger  Fürsten  aus  der  Race  der 
sogdianischen  Yue-5i,  die  ihr  Geschlecht  auf  Öao-wü  (SiyäwuS) 
zurückführten,  mit  dem  Titel  A-lan-mi  (Nouv.  mel.  asiat.  I  p.  234) ; 


176  Tomaschek. 

und  es  heisst:  ,Ia  capitale  du  pays  de  Mu  est  ä  Touest  du 
U-hiü  ho  (du  fleuve  Oxus  ou  W^h-rut);  on  compte  cinq  cents 
li  au  nord-est  jusqu'au  pays  des  *An  (Pu-ho),  et  deux  Cents  li 
a  Torient  jusqu'k  celui  de  U-na-'o  ;  vers  Toccident,  il  y  a  plus 
de  quatre  mille  li  jusqu'au  royaume  de  Po-sse'.  Ueber  U-na-'o 
(Unaga ;  wenn  iranisch,  entweder  Gunawftt  oder  Annawa  Annau 
vgl.  'Ava'jK^  in  Har^,  Isid.  mans.  Parth.),  den  zweiten  haitalischen 
Sitz  am  linken  Oxusufer,  den  näher  zu  bestimmen  uns  bisher 
nicht  gelungen  ist,  heisst  es  (I.  c.  p.  233):  ,le  royaume  de 
U-na-'o  est  a  Touest  du  U-hiü  ho,  dans  Tancien  pays  des  *An-8i. 
Le  roi  est  de  la  famille  Sao-wu,  issu^  comme  les  precedents, 
de  la  race  royale  des  pays  de  Khang,  et  portant  le  titre  de 
Fo-61.  La  ville  capitale  de  cet  6tat  a  deux  li  en  carre;  les 
troupes  quHl  entretient  sont  de  plusieurs  centaines  d'hommes. 
On  compte  vers  le  nordest,  jusqu'au  royaume  des  'An  (Pu-ho), 
quatre  cents  li ;  au  sud-ouest,  jusqu'ä  celui  de  Mu,  deux  cents 
li  et  davantage^ 

Was  endlich  Ho-li-si-mi-kia  des  Hiuan-Thsang  betrifft,  so 
ist  darin  der  Lautcomplex  Khwärizmiya-  oder  KhwÄrizmI-kSth 
nicht  zu  verkennen;  die  Hauptstadt  des  Landes  Chorasmien 
war  in  ältester  Zeit  nicht  Gurgäng,  sondern  Khwärizm,  wofür 
auch  das  Appellativum  Käth  (c^l^,  nach  Yäqüt  so  viel  wie 
,Mauer,  Einfriedigung  auf  freiem  Felde',  gew.  «o^  kath  in 
türkischen  Ortsnamen  für  pers.  kand)  in  Gebrauch  war.  Sachau 
(Zur  Gesch.  u.  Chronologie  von  Khwärizm  L,  Abh.  d.  Akad.) 
hat  die  Identität  von  Khwärizm  und  Käth  als  zweier  Namen 
einer  und  derselben  Stadt  nachgewiesen  und  dargethan,  dass 
Khwärizm  ,die  alte  Stadt',  al-Fil  die  Citadelle,  und  Käth  ,die 
neue  Stadt'  unmittelbar  an  einander  lagen,  und  zwar  am  öst- 
lichen oder  rechten  Ufer  des  Oxus,  in  der  Nähe  der  Anhöhe 
Balgän  (^L^o,  nach  Ibn-Arathir,  ßaAai|i.  bei  Priscus).  Wie 
nun  Ibn-Khurdäd-bih  Khwärizm  und  Käth  neben  einander  stellt, 
so  erscheinen  beide  Namen  bei  dem  sinischen  Pilger  bedeutungs- 
voll in  einen  verbunden  (,Kath  von  Khwärizm,  Chorasmierstadt') ; 
auch  wird  das  Land  ganz  richtig  als  ein  schmaler,  aber  lang 
gestreckter  Culturstrich  zu  beiden  Seiten  des  Fo-tsu  (Wakhäu, 
"Q^o^)  geschildert.  Ergänzend  fügt  Ma-tuan-lin  hinzu,  dass  dieses 
Reich,  namentlich  der  westlich  vom  Flusse  gelegene  Theil  (wo 
Gorgäng  lag),    den  sinischen  Namen   Ho-tsin   führe   und    dass 


CentraUsiatisch e  Studien .  1 .  177 

daselbst  Fürsten,  welche  von  Sao-wü  (Siyäwüs)  abstammten, 
Frieren.  —  Den  Namen  Khwärizm  (f^s\^),  baktr.  Qäirizem, 
altpers.  üvarazmiya,  assyr.  Huvarismu,  bringen  Spiegel  und 
Jasti  in  Zusammenhang  mit  baktr.  qar  ,tadeln,  verletzen^,  qäiri 
,Tadel,  Herabsetzung',  neupers.  )^y^  khwär  ^niedrig,  schlecht', 
und  erklären  ihn  als  ,8chlechte8,  unfruchtbares  Land';  Lerch 
(Khiwa  oder  Kharezm  S.  2  ff.)  schliesst  sich  dieser  Etymologie 
an,  deutet  jedoch  den  Namen  als  ^niedriges  Land,  das  Land 
der  Niederung';  Sachau  dagegen  verharrt  bei  der  von  Burnouf 
vorgeschlagenen  Erklärung  durch  ,Futterland',  von  baktr.  qar 
(skr.  hvar)  ,essen,  verzehren',  neupers.  khwardan,  oset.  yjorun 
jCsseo',  xor  ,Nahrung,  Brod,  Weizen',  zumal  da  auch  Andeu- 
tungen, welche  sich  bei  arabischen  Geographen  finden,  sie  zu 
bestätigen  scheinen.  Wir  unserseits  geben  zu  bedenken,  dass 
die  Iranier  die  Oase  des  unteren  Oxus,  welche  einen  erfreu- 
lichen Gegensatz  zu  den  sie  umgebenden  Wüsten  bietet,  diesen 
alten  Cultursitz,  gewiss  nicht  mit  einem  geringschätzenden  und 
herabsetzenden  Prädicat  werden  bedacht  haben.  Der  Name  des 
Landes  ist  frühzeitig  nach  dem  Westen  gedrungen ;  die  Xopacixioi 
nennt  zweimal  Herodot  in  Verbindung  mit  den  IloepOoi  (III  93, 
VII  66)  und  spricht  von  einen  ttsBiov,  iv  oupoiai  sbv  XspaJixfwv  t6 
xal  Tp-iwcvtcov  xai  napOa)v  etc.  (III  117);  merkwürdig,  wenn  aus 
dem  alten  und  echten  Hekataios  entlehnt,  ist  folgende  Angabe 
bei  Athen.  II  p.  70  B:  *EvtaTaTo;  AaCa?  Tcsptr^-pjaci  •  ,IIapOü)v  r^poq 
f//.isv  SniT/p^rzoL  Xopotffjj.wt  O'JtsoüC'.,  -|T//  iyo'ntq  vtai  -rieSia  xal  oupsa*  ev 
Ik  zöizi  oupsffi  86v5p£a  evi  a'Ypia,  axavöa  y,uvapr<,  itsr,,  ixuptjtri.  ev  Zk 
Tjzou;  ic6Xt^  Xopac7|i.{Y)' ;  hier  kann  izä'kiq  sowohl  ,Staat,  Gebiet'  als 
auch  ,Stadt'  bedeuten,  und  wir  hätten  in  letzterem  Falle  das 
älteste  Zeugniss  über  die  Metropole  vor  uns.  Zu  Alexander's 
Zeit  schlössen  sich  die  sakisch-iranischen  Chorasmier  der  na- 
tionalen Bewegung,  welche  von  Sogdiana  ausgieng,  an  und  boten 
dem  Spitamenes  Schutz  und  Hilfe;  vgl.  Strabo  XI  p.  513: 
Toü  Ik  Tü)v  MaffffaYETÄv  xal  twv  Saxwv  sOvou«;  xal  ol  'ÄTTajioi  (d.  i.  ent- 
weder AuY«5ioi  oder  ATcaaiaxai)  xai  ol  XwpaciJLioi,  dq  ouq  oltzo  twv 
BzxTpiovüiv  x«i  Twv  ScY^iavaiv  £(puY^  S^iTafAevr)?.  Später  aber,  als  die 
Aufstände  bewältigt  und  die  Reiterhorden  der  Steppe  zurück- 
gedrängt worden  waren,  zog  es  der  Chorasmierfürst  vor,  in 
ein  freundschaftliches  Verhältniss  zu  dem  Eroberer  zu  treten; 
vgl.  Curtius  VIII  1,  8 :  Phrataphernes,  qui  Chorasmiis  praeerat, 

Sitsnngsber.  d.  phil.-hist.  Gl.  LXXXVII.  Bd.  I.  Hft.  12 


178  Tomaschek. 

Massagetis  et  Dahis  regionum  confinio  adiunctus,  misit  qui 
facturum  imperata  poUicerentur ;  Arr.  IV  15:  <I>apa(7ji.avYjc  5 
X(i>pa7[x{(i)v  ßaffiXsu;  d^{xsTo  7:ap'  'AXeJavBpov  ojv  htizejai  X'^-O'?  "''•*' 
?C6VTaxoGr{oti;  *  l^aoxs  8c  cfxopo^  otx£iv  tw  t£  KoX^wv  ysvsi  xat  Tat^  Y^vaiHl 
Tai;  'A|i.aJ;6(7i.  Er  hatte  also,  wahrscheinlich  in  Folge  von  Handels- 
beziehungen, Kunde  von  den  Völkerschaften  des  Kaukasus  und 
den  Sarmato-Alanen,  deren  Weiber  als  sehr  kriegerisch  ge- 
schildert werden.  In  der  römischen  Zeit  werden  die  Chorasmier 
nur  selten  genannt;  auf  der  Augusteischen  Weltkarte  waren  die 
Chorasmii  am  unteren  Oxus  in  der  Nachbarschaft  der  MASSA- 
GETAE-  PASICAE-  DAHAE  und  DERBICCAE  (Var.  DER- 
VICAE,  DREVICES,  etc.  ,quorum  medios  finis  secat  Oxus 
amnis';  vgl.  baktr.  driwika  ,Bettelhaftigkeit,  Armuth';  zu  unter- 
scheiden sind  die  ApCßjxsc,  die  Ptolemaeus  in  Medien  ansetzt,  und 
von  denen  eine  Spur  in  dem  Derfek-dagh  in  Dailemän  vorhanden 
ist)  verzeichnet.  Auch  in  armenischen  Schriftwerken  begegnen 
die  Khrazmiq.  Die  weitere  Geschichte  und  Topographie  dieses 
Culturgebietes  ist  von  Sachau  und  Lerch  erschöpfend  dargethan. 


Als  MittelpuiKvt  eines  zu  Khang  oder  Sogdiana  gehörigen 
Reiches  begegnet  uns  in  den  sinischen  Nachrichten  aus  dem 
sechsten  und  siebenten  Jahrhundert  der  Name  Na-se-po  (oder 
Na-Si-pho);  ausser  diesem  Namen  und  der  Bemerkung,  dass 
daselbst  gleichfalls  Herrscher,  welche  von  Sao-wü  abzustammen 
sich  rühmten,  ihren  Sitz  hatten,  findet  sich  keine  weitere,  in'b 
Einzelne  gehende  Notiz  über  dieses  Fürstenthum.  Erst  die 
Araber  ziehen  den  Ort  wieder  aus  dem  Dunkel  hervor.  In 
seiner  Geschichte  der  Eroberungen  erzählt  BalädhorT,  dass  im 
Jahre  89  d.  H.,  nachdem  BaAand  und  Bukhärä  in  die  Hände 
der  Gläubigen  gefallen  waren,  Qotaiba  den  Gai]|^un  nochmals 
überschritt  und  ohne  Schwertstreich  ausser  einigen  Cantonen 
von  Soghd  Ki§S  und  das  gegen  die  bukharische  Wüste  hin 
gelegene  Territorium  von  Nasaf  einnahm ,  worauf  er  nach 
Bukhärä  und  über  den  Fluss  zurück  nach  Marw  zog;  im 
Jahre  91  d.  H.  wurden  KisS  und  Nasaf  von  neuem  in  Besitz 
genommen ;  auch  in  den  späteren  Kämpfen  mit  den  Khäqänen 
der  Türken  geschieht  beider  Orte  Erwähnung.  Yäqüt  hat  über 
Nasaf  (v-ft-wwJ)  folgende  Daten :  ,Na8af  ist  eine  grosse  Stadt,  reich 


CentnUsiatische  Stadien.  I.  179 

an  Bevölkerung  und  bebauten  Landstrecken,  zwischen  dem 
6ai{^un  und  Samarqand  gelegen ;  es  wird  auch  Nakhsab  (n^aA^cO) 
genannt.  J§takhri  sagt:  ^Nasaf  hat  eine  Citadelle,  einen  ribät, 
vier  Thore,  und  einen  Fluss,  der  mitten  durch  die  Stadt  fliesst 
and  die  Gewässer  von  Ki§3  aufnimmt;  die  Wasseradern  ver- 
theilen  sich  unter  die  umliegenden  Dörfer.  Das  Haus  des 
Imärat's  liegt  am  Ufer '  dieses  Flusses  bei  dem  Brückenkopf 
(ras  al-qantara).  Nasaf  liegt  in  der  Höhe  von  Bokhärä  und 
Balkh,  in  einer  Ebene,  welche  durch  die  Berge  von  Ei§i  be- 
grenzt wird;  gegen  den  Gait^ün  dagegen  ist  eine  Wüste  ohne 
Berge.  Jener  eine  Fluss  trocknet  in  manchen  Jahren  ganz  aus^ 
Die  übrigen  Geographen,  namentlich  MoqaddasI,  bieten  folgen- 
des Itinerar  von  Bukhärjl  nach  Nasaf:  ,Bukhära,  ein  Tag 
(T'/j  Farsang)  nach  Farägün  (^^1*^;  Yäqüt  kennt  auch  einen 
Ort  Färigak  siiL>»^U,  nach  welchem  das  südöstliche  Viertel  und 
Thor  von  Bukhärä  bäh  al-Färigak  hiess),  weiter  ein  Tag 
(7  Farsang)  durch  wüste  Strecken  nach  Mubärikäk  (c)LC>sLjo, 
j.  Khoga  Mobärek),  weiter  ein  grosser  Tag  (87.2  Farsang)  nach 
Mäyamürgh,  endlich  ein  Tag  (7  Farsang)  nach  Nasaf.  Ferner 
werden  folgende  Dependenzen  oder  grössere  Orte  bei  Nasaf 
angeführt:  Sirkath  (v^a^Ixam),  östlich  von  Nasaf,  d.  i.  Sirkend 
bei  Öarif  al-din  (I  p.  115);  Kasba  (&a^,  Var.  Kasiya  «uumJ^ 
und  EaSta  SmS,  bei  Yäqüt  auch  Kasaf,  baktr.  etwa  Ka9ava 
oder  Ea9apa),  4  Farsang  westlich  von  Nasaf;  endlich  Bazda 
(»J%j),  6  Farsang  südwestlich  von  Nasaf;  Bazda,  bei  Yäqüt 
auch  in  der  volleren  Form  Bazdava  (5^4>yi),  war  mit  Mauern 
und  einer  Citadelle  versehen  und  lag  auf  der  Strasse  von 
Bakhära  nach  Kalif.  MoqaddasI  kennt  auf  dieser  Strasse  mitten 
durch  die  Wüste  folgende  Stationen :  ,von  Bukhärä  nach  Qakim 
ein  Tag,  nach  dem  „alten  Ribät"  ein  Tag,  nach  der  Cisterne 
des  Sa*d  ein  Tag,  nach  Bazda  ein  Tag,  dann  nach  dem  Bukharier- 
dorf  (am  Gaibün)  zwei  Tage,  nach  dem  Khwärizmierdorf  ein 
Tag,  endlich  nach  Kalif  zwei  Tage^  Yäqüt  fuhrt  in  der  Nähe 
von  Nasaf  noch  an:  Gawbag  oder  6ubaq,  Warghagan  oder 
Wazghagan  ([j^')^)}  endlich  Khuzär  G'v^)  oder  das  heutige 
Qozar  auf  der  Strasse  nach  Tirmidh  und  Balkh,  nach  welchem 
Orte  der  Khuzär-rüd  benannt  ist.  Sehr  oft  wird  NakhSab  auch 
von  den  persischen  Chronisten  genannt  doch  ist  seit  der  mon- 
golischen Epoche  der  Name  Qar^I  {f^yS),  was  im  Uighurischen 

12» 


180  Tomascliek. 

und  im  Mongolischen  »Palast*  bedeutet,  weit  häufiger.  Einen 
Palast  hatte  nämlich  der  Khan  Käpäk  (oder  Koyuk?),  Sohn 
des  OktaY,  2^/^  Meilen  von  NakhSab,  das  damals  bereits  in 
Ruinen  lag,  erbaut,  und  die  neue  Gründung  verdrängte  seither 
den  alten  iranischen  Namen  des  zu  einer  Dorfschaft  herabge- 
kommenen Ortes.  —  Wir  bemerken  noch,  dass  südlich  von 
Khuzär  in  dem  von  Nordost  nach  Südwest  gegen  Kalif  sich 
hinziehenden  Ba§qurd-dagh  Steinsalz  gewonnen  wird,  welches 
Sogd  versorgt  und  als  ,samarkandische8'  Salz  in  Kauf  kommt; 
schon  Ibn  Khurdadbih  nennt  unter  den  Steuerbezirken  von 
Soghd  ,1a  mine  de  sel^  (Journ.  asiat.  VI*  sör.,  V  p.  247). 

Wenn  uns  nicht  alles  trügt,  so  gibt  bereits  die  Geschichte 
Alexander's  von  NakhSap  Kunde.  Wir  halten  nämlich  Xenippa, 
welches  Alexander  gegen  Ende  des  Jahres  328  einnahm,  für 
NakhSap  oder  das  heutige  KarSi.  Einzig  bei  Q.  Curtius  Rufus, 
dem  wir  auch  sonst  manche  denkwürdige  Notiz  verdanken, 
finden  wir  den  Ort  erwähnt.  Die  Stelle  lautet  (VIII  7,  13  sq.): 
,decem  diebus  apud  Maracanda  consumptis,  cum  parte  exercitus 
Hephaestionem  in  regionem  Bactrianam  misit,  commoatus  in 
faiemem  paraturum;  ipse  Xenippa  pervenit  Scythiae  confinis 
est  regio  habitaturque  pluribus  ac  frequentibus  vicis,  quia  ubertas 
terrae  non  indigenas  modo  detinet,  sed  etiam  advenas  invitat. 
Bactrianorum  exulum,  qui  ab  Alexandro  defecerant,  receptacu- 
lum  fuerat^  Die  Zahl  der  Aufständischen  betrug  2500  Reiter; 
diese  kampfgeübte  Rotte  focht  mit  wilder  Verzweiflung  und 
gab  dem  makedonischen  Feldherrn  Amyntas  viel  zu  schaffen; 
erst  nach  hartem  blutigem  Strausso  gelang  deren  Bewältigung. 
Es  heisst  dann  weiter:  ,his  in  fidem  acceptis  in  regionem,  quam 
Naütaca  appellant,  rcx  cum  toto  exercitu  venit'.  Aus  dem 
Zusammenhango  der  Thatsachen  wird  klar,  dass  Xenippa  in 
jenem  Theile  Sogdiana's  lag,  der  an  Baktra  angrenzte,  und 
dass  unter  Skythien  hier  jene  Wüste  gemeint  ist,  welche  den 
Unterlauf  des  Polytimetos  von  Baktra  und  dem  Oxus  schied.  Das 
Stromgebiet  des  Polytimetos  war  seiner  ganzen  Länge  nach 
von  den  makedonischen  Colonnen  zur  Ruhe  gebracht  und  von 
Insurgenten  gesäubert  worden;  mittlerweile  hatte  jedoch  die 
Verbindung  mit  Baktra  selbst  eine  Unterbrechung  erlitten, 
indem  die  Cantone  zwischen  Sogdiana  und  Baktra  den  aus 
dem  Polytimetosthale  verjagten  Reiterschaaren  Unterkunft  boten 


CeDtralasiatische  Studien.  I.  181 

und  80  der  Schauplatz  erneuter  Insurrection  wurden.  Alexander 
musste  in  aller  £ile  von  Samarkand  aufbrechen  und  die  wichtigen 
Positionen  von  Xenippa  und  Nautaka^  d.  i.  von  Kar^i  und 
Sahr-i-sabZ;  wiederzugewinnen  trachten.  Für  den  erstgenannten 
Canton^  der  als  gut  angebaut  und  dicht  bevölkert  geschildert 
wird,  passt  die  Lage  des  heutigen  oasenreichen  Gebietes  von 
Karsi  ausnehmend;  sogar  den  I^auten  nach  sind  wir  versucht, 
zwischen  Eivixica  und  NakhSap  einen  Zusammenhang  anzunehmen; 
es  ist  sehr  leicht  möglich,  dass  die  griechischen  Eroberer  den 
ihnen  fremd  klingenden  iranischen  Namen  ihrem  Idiome  mög- 
lichst anbequemt  haben,  wie  denn  Silbenumstellungen  und 
Consonantenversetzungen  bei  Wiedergabe  orientalischer  Orts- 
namen nicht  selten  eine  Rollo  spielen.  Nakhäap  dürfen  wir 
wohl  aus  iranischem  Sprachgut  deuten,  sei  es  dass  wir  das 
neupers.  w>A?^  nakhäab  ,leuchtend,  hell  scheinend  (vom  Voll- 
mond)^ zu  Grunde  legen,  oder  dass  wir  nakh§-ap  mit  Rücksicht 
auf  die  Nebenform  nas-af  als  den  mit  einem  todten  oder  lang- 
sam fliessenden  Wasser  behafteten  Ort  (vgl.  baktr.  naQU  v£xp6<;) 
deuten.  HävticTca  selbst  wird  dann  nicht  mehr  erwähnt,  wir 
müssten  denn  zu  einer  Conjectur  Zuflucht  nehmen  und  den  von 
Ptolemaeus  im  Flussgebiete  des  Zariaspes  angeführten  Ort 
Vhvaxia  in  Seva^ria  verändern  und  nach  Sogdiana  verlegen  wollen; 
dergleichen  Transpositionen  dürfen  wir  bei  Ptolemaeus,  dessen 
Abriss  von  Nord-Iran  zu  den  confusesten  Partien  der  Frdkarte 
gehört,  ohne  Bedenken  annehmen. 

Das  von  Curtius  genannte  Nautaka,  la  Nauiaxa,  spielt  in 
den  Kriegen  Alexander's  eine  wichtige  Rolle.  Als  Bessos  die 
Satrapie  Baktra,  die  ihm  keinen  festen  Stützpunkt  mehr  zu 
bieten  schien,  da  Drapsaka  (Kunduz),  Aornos  (baktr.  VarÖna) 
und  die  Meti-opole  Zariaspa  oder  Baktra  in  die  Hände  des 
raschen  Eroberers  gefallen  waren,  verlassen  hatte  und  die 
Richtung  nach  Marakanda  über  das  eiserne  Thor  einschlug,  um 
in  Sogdiana  den  Krieg  fortzuführen  und  für  sich,  wenn  möglich, 
eine  Herrschaft  zu  gründen,  hielt  er  zuerst  Rast  in  Nautaka; 
vgl.  Arr.  III  28,  9:  Bf^aaoq  dq  NauTaxa  rfiq  Zo-^ßia^riq  y^j^pOLq  dwe- 
Xu>psi.  Das  nachrückende  makedonische  Heer  nahm  einen  an- 
deren Weg:  es  durchzog  die  wasserarmen  brennenden  Sand- 
steppen  auf  dem  rechten  Oxusufer  und  schlug,  indem  es  den 
von  Hochsogdiana   in's  Flachland   nach  Südwest   verlaufenden 


182  TomaRchek. 

Querrieg^l  und  das  eiserne  Thor  vermied,  eine  mehr  westliche 
Richtung  nach  Marakanda  ein,  offenbar  desshalb,  um  mit  Um- 
gehung von  Nautaka  dem  Prätendenten,  der  bei  der  Organi- 
sierung des  Widerstandes  mit  der  Rivalität  der  Heerfiihrer  viel 
zu  schaffen  hatte,  zuvor  zu  kommen.  Es  gelang  wirklich  der 
von  Ptolemaios  geführten  Avantgarde,  welche  damals  in  vier 
Tagen  eine  Strecke  von  zehn  Tagmärschen  durchflog,  Bessos, 
der  Nautaka  bereits  verlassen  hatte  und  den  Weg  nach  Mara- 
kanda über  das  Gebirge  einzuschlagen  im  Begriffe  stand,  ein- 
zuholen und  im  Einverständniss  neidischer  Verräther  gefangen 
zu  nehmen.  Alexander  hatte  indess  an  der  Spitze  der  Haupt- 
armee das  sogdianische  Flachland  (loca  deserta  Sogdianorum 
Curt  VII  20)  durchzogen  und  unter  anderm  an  den  Branchiden 
und  dem  von  ihnen  bewohnten  Städtchen  (to  twv  Bpa-f/i^öv  äctj, 
Strab.  XI  p.  517;  Branchidae  bilingues,  Curt.)  eine  sehr  un- 
rühmliche Rachsucht  bewiesen ;  als  er  hierauf  die  rings  um  das 
verlassene  Nautaka  gelegenen  Districte  in  Besitz  nahm,  konnte 
er  den  sehr  zusammengeschmolzenen  Bestand  der  Pferde  durch 
Requisitionen  wieder  auf  die  frühere  Höhe  (viertausend  Stücke) 
bringen ;  er  fand  da  eine  ausgezeichnete  Race  voii  Reitpferden 
vor,  wie  denn  die  Pferde  von  Khang  und  Ta-wan  drei  Jahr- 
hunderte später  auch  bei  den  sinischen  Heerführern  Lob  und 
Bewunderung  gefunden  haben.  Dann  gieng  es  mit  frischen 
Kräften  gegen  Marakanda,  in  das  Herz  von  Sogd!  —  Auch 
nach  der  Bewältigung  der  sogdianischen  Aufstände  wird  Nau- 
taka genannt,  namentlich  desshalb,  weil  Alexander  den  Winter 
328/327  vor  seinem  Zuge  nach  Indien  zwei  bis  drei  Monate 
daselbst  Quartier  hielt.  Kurz  vorher  hatten  Xenippa  und  Nau- 
taka eine  Invasion  durch  die  nationalen  Reiterschaaren  erfahren, 
auch  das  eiserne  Thor  war  noch  in  der  Gewalt  des  Sisvmithres; 
die  Verbindung  mit  Baktra  war  also  ernstlich  gefiihrdet.  Nach- 
dem jedoch  Xenippa  wieder  erobert  worden  war,  schlug  der 
Sieger  in  Nautaka  sein  Lager  auf  und  begann  von  da  aus  seine 
Operationen  gegen  die  Pässe  und  Bergdistricte  Ostsogdiana's ; 
vgl.  Diodor.  XVII  x8':  orpaTEta  tou  ßaatXso)^  el^  toüc  (sie)  xaXcü- 
[xdvoü;  NauTaxa^  xai  ^Oopi  -rij«;  5üva|x£0);  \jt:o  icoXX^?  y^^foq.  Die 
Schlappe,  von  der  hier  die  Rede,  erlitt  das  Heer  im  District 
Gabaza,  den  wir  oben  im  WakhSgebiet  gesucht  haben.  —  Was 
den  Namen  betrifft,    so   ist   derselbe   auf  den  ersten  Blick  als 


CentnüuiatiBche  Studien.  I.  183 

iranisch  zu  erkennen;  näutak  (iJÜ^b)  bedeutet , schiffbar',  und 
so  heisst  auch  ein  Fluss  in  Ghaznin,  auf  der  Hochebene  Peilyan- 
m,  bis  wohin  Afräsiyäb  vorgedrungen  sein  soll  (Bundehe^ 
cap.  XXX);  auch  die  Deutung  ,neu  fliessend,  neuer  Wasser- 
lauf' ist  möglich,  da  der  Strom  von  KiSS  zeitweilig  sein  Bett 
veräadert  haben  mochte;  oder  es  ist  NauToxx  eine  Entstellung 
in  griechischem  Munde  für  Naukata  (vgl.  baktr.  kata  ,Hau8, 
Leichenbehälter'),  wobei  man  sich  auf  die  im  Qebiet  von  Eädä 
gelegene  Ortschaft  Nauqat  oder  Nauqad  berufen  könnte,  wo 
der  sogdianische  Prophet  al-Moqanna,  dem  die  Secte  der  ,WeisB'- 
gekleideten'  anhing,  volle  dreizehn  Jahre  hindurch  (767 — 780) 
seinen  Sitz  inne  hatte;  sein  Wohnsitz  wird  indess  auch  auf 
den  Bergrücken  Sanäm  verlegt.  Die  arabischen  Geographen 
zählen  von  Nasaf  nach  Sünig  4  Farsang,  weiter  nach  Nüqäd 
und  Qari§  einen  Tag,  und  dann  nach  Küh  einen  Tag  (5  Farsang). 
MoqaddasI  nennt  bei  KisS  folgende  Ortschaften:  Nüqad  (cXiy), 
Qarii  {{J^jS)  oder  Qawi§  (^JitjyS),  ferner  Sünig  {^yjJ)  oder 
Surnig  i^M^syM)^  und  Eski-faghn  (^jJLäaJCimI),  das  von  Nasaf 
etwas  entternter  lag  als  Sünig.  Im  Jahre  1377  verliess  Timur 
mit  seinem  Heere  Qaräl  und  lagerte  auf  den  weiten  und  gras- 
reichen Gefilden  bei  Nauqat  (Sarif  al-din  I  p.  141). 

Ueber  KiSS  selbst  bieten  die  ältesten  Nachrichten  die 
sioischen  Schriftwerke.  Ma-tuan-lin  fasst  den  Sucus  derselben 
in  folgende  Worte  (Abel-Remusat,  Nouv.  m^l.  asiat.  I  p.  238)  : 
,Le  pays  de  Sse  est  k  dix  li  au  midi  de  la  rivifere  Tu-mo 
(d.  i.  Tum,  bei  Sarif-al-din ;  s.  o. !);  il  a  fait  aussi  partie  de 
I'ancien  Ehang-kiü.  Le  roi  est  de  la  famiile  de  Sao-wu,  et 
parent  de  celui  de  Samarkand.  II  a  plus  de  mille  soldats. 
Les  coutumes  de  cet  etat  sont  pareilles  a  Celles  de  Khang,  dont 
il  est  eloigne,  au  nord,  de  deux  cent  trente  li  (240  li,  Klaproth 
Mag.  asiat.  I  p.  105;  300  li,  Hiuan-Thsang);  du  cot^  du  midi, 
il  est  ä  cinq  cents  li  du  Tokharestan;  ä  l'ouest,  il  est  k  deux 
Cents  li  de  Na-se-po;  au  nord-est,  il  est  k  deux  cents  li  de 
Mi*.  ,La  ville  de  Chuang-kian  Ki-sse  (KiiS  ^jS)  devint  la 
capitale  de  plusieurs  milliers  de  li  de  pays,  et  eut  jusq'k  vingt 
mille  familles.  C'est  Ik  qu'est  la  porte  de  fer.  II  y  a  dans 
la  ville  des  temples  d^dies  aux  esprits :  on  leur  sacrifie  toujours 
mille  moutons  k  la  fois'.     ,Au    temps    des    ann^es   Hian-khing 


184  TomftBchek.   Ccntralasiatiaclie  Stadien.  I. 

(656 — 660),  on  Terigea  en  arrondiBsement  (ou  Ceu)  de  Ehiü-§a, 
et  le  roi  eut  le  titre  de  juge'.  Auch  wird  bemerkt  (Deguignes 
I,  2  p.  LXXII,  Klaproth  p.  107):  ,Ici  il  y  avait  autrefois 
(32-8  a.  Chr.)  la  ville  de  Su-hiai  (cf.  p.  104:  dans  le  Khang- 
kiü  il  y  avait  cinq  roitelets  appeles  rois  de  Su-hiai,  de  Fu-me, 
de  Yü-ni,  de  Ki  et  de  'Ao-kian)^  Hiuan-Thsang  traf  auf  seiner 
Pilgerfahrt  von  Sa-mo-kien  nach  Ta-mi  (Tarniidh)  über  den 
Qebirgspass  des  ^eisernen  Thores*  nach  einem  Marsche  von 
300  Li  zuerst  Stadt  und  Reich  Kie-soang-na  (Ka^äna),  und 
bemerkt :  ,Le  royaume  de  Kie-Soan(j-na  (^^  ^  Jlß)  a  de  qua- 
torze  ä  quinze  cents  li  de  tour.  Sous  le  rapport  des  produits 
du  Bol  et  des  moßurs  des  habitants,  il  ressemble  au  royaume 
de  Sa-mo-kien^  Der  Name  Käääna  oder  Kaääniya  fiir  Kasä 
oder  KiSä  findet  sich  auch  bei  arabischen  Geographen,  z.  B. 
Birüni,  und  bei  Mirkhwand;  derselbe  ist,  wie  wir  oben  dar- 
gelegt haben,  wohl  zu  unterscheiden  von  Eüsänl-kath  oder 
Euääniya,  und  bedeutet  ,Winterwohnung^ ;  Kadfi  ist  wohl  nur 
Abkürzung  davon.  Der  sinische  Name  des  Reiches  Sse  oder 
Ssü,  scheint  darauf  hinzuweisen,  dass  zeitweilig  Sir-kath  (Wir- 
kend, 8.  0.)  die  Capitale  war,  ein  Ort,  der  weiter  gen  Nasaf 
hin  lag.  Für  Kes^  findet  sich  in  späterer  Zeit  das  Synonym 
8ahr-i-sabz  (,ciie  grüne  Stadt*),  namentlich  bei  barif  al-dln 
(z.  B.  I  p.  150,  307,  II  p.  415;  Kesä  I  p.  30,  II  p.  404,  III  p.  174), 
der  eine  grosse  Zahl  von  Oertlichkeiten  in  diesem  Territorium 
anführt.  Das  eiserne  Thor  beschreibt  Hiuan-Thsang  ausführlich; 
dass  der  Felsen  des  Sisymithres  dieselbe  Position  bedeute,  haben 
wir  unumstösslich  dargethan.  Und  so  sind  wir  denn  bei  UDserein 
Versuche,  die  Topographie  Sogdiana's  nach  den  ältesten  Quellen 
darzustellen,  wieder-  dahin  gelangt,  woher  wir  den  Ausgang 
genommen  haben. 


im. 


LitJiuiDsL^XQk».  J^&n. 


]f?2. 


jrs. 


Meinong.    Hame  -  Studien.  I.  185 


Hume-Studieü. 
I. 

Zur  Geschichte  und  Kritik  des  modernen  Nominalismus. 

Von 

Dr.    Alexias   Meinong. 

Jus  gibt  leider  in  der  Psychologie  nur  zu  viele  Fragen, 
deren  Lösung  schon  in  der  verschiedensten  Weise  versucht 
worden  ist,  ohne  dass  es  gelungen  wäre,  eine  allgemeine  Ueber- 
einstimmuDg  in  Bezug  auf  diese  Lösung  zu  erzielen;  aber  zum 
Glücke  geht  die  Uneinigkeit  doch  nur  in  wenigen  Fällen  so 
weit,  dass  sie  sich  nicht  blos  auf  die  Erklärung,  sondern  selbst 
auf  die  Existenz  eines  psychischen  Phänomens  erstreckte, 
wie  dies  bei  der  Abstractionsfrage  der  Fall  ist.  Nicht  nur 
darum  handelt  es  sich  seit  Berkeley,  wie  man  zu  abstracten 
Begriffen  gelange,  sondern  ob  es  überhaupt  solche  Begriffe 
gebe,  —  nicht  wie  der  Abstractionsact  beschaffen,  ob  er  ein 
psychischer  Vorgang  ganz  eigener  Art,  oder  aus  einem  oder 
mehreren  andern  psychischen  Acten  erklärbar  sei,  muss  in 
erster  Linie  festgestellt  werden,  sondern,  ob  ein  solcher  Ab- 
stractionsact überhaupt  möglich  sei^  ob  er  nicht  die  mensch- 
lichen Fähigkeiten  weit  übersteige. 

Es  müssen  erhebliche  Schwierigkeiten  der  Lösung  dieses 
Problems  entgegenstehen^  wenn  eine  so  lange  Zeit  dieselbe  so 
wenig  zu  fordern  vermochte,  und  kaum  wird  sich  heute  ein 
Einzelner  noch  Kraft  genug  zutrauen,  gleichsam  mit  einem 
Schlage  alle  Zweifel  und  Controversen  in  dieser  Hinsicht  zu 
beseitigen.  Aber  was  sich  nicht  mit  einem  Wurfe  gewinnen 
lässt,  mag  vielleicht  doch  allmälig.  Schritt  vor  Schritt,  zu  er- 
reichen sein,  und  zu  diesem  Ende  hat  es  sich  stets  als  das 
Leichteste  und  doch  zugleich  Lohnendste  herausgestellt,  eine 
kritische  Betrachtung  des  bereits  Geleisteten  der  eigenen  Unter- 
suchung  zu  Grunde   zu  legen.     Wenn    daher  an  dieser  Stelle 


186  Meinong. 

die  eine  der  beiden  heute  einander  gegenüberstehenden  Ab- 
stractionstheorien  in  der  Darstellung,  die  sie  durch  ihre  ersten 
und  hervorragendsten  Vertreter  gefunden  hat,  einer  eingehenden 
Prüfung  unterzogen  wird;  so  ist  mindestens  nicht  alle  Hoffnung 
ausgeschlossen,  dass  aus  einer  solchen  Untersuchung  ausser  für 
die  Geschichte  der  Philosophie  auch  für  die  Aufklärung  der 
in  Rede  stehenden  Frage  selbst  mancher  Nutzen  erwachsen 
könnte. 


Die  Historiker  haben  sich  mit  der  Behauptung,  ein  spä- 
teres Ereigniss  sei  die  nothwendige  Folge  dieses  oder  jenes 
früheren  gewesen,  niemals  sehr  zurückhaltend  gezeigt;  ja  sie 
pflegen  Thesen  dieser  Art  mit  einer  Sicherheit  aufzustellen, 
als  ob  nicht  schon  dem  Bemühen,  das  wirkliche  Vorhanden- 
sein eines  solchen  Verhältnisses  auch  nur  einigermassen  wahr- 
scheinlich zu  machen,  in  der  Regel  die  grössten  Schwierig- 
keiten im  Wege  stünden.  In  dieser  Beziehung  muss  die  That- 
sache,  welche  zur  Ausbildung  der  modernen  nominalistischen  Ab- 
stractionstheorie  gewissermassen  den  Anstoss  gegeben  hat,  zu 
den  Ausnahmen  zählen.  Wer  sich  die  Charakteristik  vergegen- 
wärtigt, die  John  Locke  im  vierten  Buche  seines  , Essay  con- 
cerning  human  understanding'  von  den  abstracten  ,Ideen'  ent- 
wirft, —  der  wird  in  der  That,  heute  wenigstens,  kaum  anders 
denken  können,  als  dass  eine  Reaction,  wie  sie  in  Berkeleys 
Schriften   bald  genug  eintrat,    geradezu  unvermeidlich  war. 

,Achten  wir  genau  auf  sie^,  sagt  Locke,  ^  ,so  werden  wir 
finden,  dass  allgemeine  Ideen  Gebilde  und  Erfindungen  des 
Geistes  sind,  die  nicht  ohne  Schwierigkeit  gebildet  werden  imd 
sich  nicht  so  leicht  von  selbst  einstellen,  wie  wir  zu  glauben 
geneigt  sind.  Erheischt  es  z.  B.  nicht  einige  Mühe  und  Ge- 
schicklichkeit, die  allgemeine  Idee  eines  Dreiecks  zu  bilden, 
die  doch  noch  keine  der  abstractesten ,  umfassendsten  und 
schwierigsten  ist?  Es  soll  die  Idee  eines  Dreiecks  gebildet 
werden,  welches  weder  schiefwinklig  noch  rechtwinklig,  weder 
gleichseitig,   noch   gleichschenklig,   noch  ungleichschenklig  sei, 


a.  &.  O.  eh.  VII  sect.  9. 


Hume-SlndieD.   I.  187 

sondern  alles  dieses  und  zugleich  nichts  von  diesem.  In  der 
That  ist  dies  etwas  Unvollständiges,  das  nicht  existiren  kann, 
eine  Idee,  worin  einige  Theile  von  verschiedenen  und  mit 
einander  unvereinbaren  Ideen  zusammengestellt  sind^  Was 
Locke  bei  diesen  Worten  vorschwebte,  kann  nicht  im  Geringsten 
zweifelhaft  sein;  aber  indem  er  Umfang  und  Inhalt  des  Be- 
griffes Dreieck  nicht  auseinanderhielt,  behaftete  er  den  letz- 
teren zugestandener  Massen  mit  einem  inneren  Widerspruch, 
und  wer  ihm  einmal  so  weit  folgte,  fUr  den  lag  wohl  nichts 
näher,  als  noch  einen  Schritt  weiter  zu  gehen  und  solchen 
abstracten  Begriffen  die  Existenz  kurzweg  abzusprechen. 

Wirklich  liegt  denn  auch  in  Berkeley's  Ausführungen  auf 
der  Negation  das  Hauptgewicht.  Er  leugnet,  dass  die  innere 
Erfahrung  von  einem  psychischen  Vorgange  des  Abstrahirens 
Kenntniss  gebe^  <  er  bestreitet  die  Möglichkeit  eines  Abstrac- 
tums  mit  Rücksicht  auf  den  Satz  des  Widerspruches,  ^  —  ein 
dritter  Einwand,  die  Frage,  wann  sich  das  Individuum  die 
Fähigkeit  zu  der  von  Locke  als  so  schwierig  geschilderten 
Operation  eigentlich  erwerbe, '  ist  den  beiden  ersten  gegenüber 
natürlich  nur  von  sehr  untergeordneter  Bedeutung.  So  weit 
ist  auch  Alles  klar  und  präcis;  nicht  das  Nämliche  ist  aber 
von  der  Art  und  Weise  zu  sagen,  in  der  er  die  so  in  die 
Erklärung  der  psychischen  Phänomene  gerissene  Lücke  wieder 
auszufüllen  sucht. 

Es  handelt  sich  einfach  um  die  Frage:  wie  sind,  wenn 
es  keine  Abstracta  gibt,  allgemeine  Erkenntnisse  möglich? 
ja  was  ist  überhaupt,  wenn  die  Dinge  sich  so  verhalten, 
unter  Allgemeinheit  zu  verstehen?  ,Allgemeinheit  besteht'  nach 
Berkeley's  Meinung  ,nicht  in  dem  absoluten,  positiven  Wesen 
oder  Begriff  von  irgend  etwas,  sondern  in  der  Beziehung,  in 
welcher  etwas  zu  anderem  Einzelnen  steht,  was  dadurch  be- 
zeichnet oder  vertreten  wird,  wodurch  es  geschieht,  dass  Dinge, 
Namen  oder  Begriffe,  die  ihrer  eigenen  Natur  nach  particulär 
sind,  allgemein  werden.'^  Von  den  ,allgemeinen  Dingen'  kann 

^  A  treatise  conceruing  the  principles   of  human   knowledge,  introduction 

8cct  10,  —  Alciphron  or  the  minnte  philosopher,  dial.  VII  sect  6. 
^  Treat.  intr.  sect.  13,  noch  ausdrücklicher  Min.  phil.  a.  a.  O. 
^  Treat  intr.  sect  14. 
*  ihid.  sect.  16. 


188  MeinoBf. 

bei  der  vorliegenden  erkenntnisstheoretischen  (Vage  natürlich 
nicht  eingehender  die  Rede  sein,  um  so  mehr  aber  von  den 
allgemeinen  Namen  und  allgemeinen  Begriffen. 

Gibt  es  also  auch  keine  abstracte  allgemeine  Idee,  so 
können  allgemeine  Ideen  doch  auf  anderem  Wege  entstehen. 
Eine  particuläre  Idee  wird  dadurch  allgemein,  ^dass  sie  dazu 
verwendet  wird,  alle  anderen  Einzelvorstellungen  derselben  Art 
zu  repräsentiren  oder  statt  derselben  aufzutreten'.  *  Die  Ideen 
vordanken  daher  ihre  Allgemeinheit  dem,  was  sie  bezeichnen, 
man  betrachtet  sie  darum  auch  ,viel  mehr  nach  ihrem  relativen 
Werthe,  insofern  sie  für  andere  substituirt  sind,  als  nach  ihrer 
eigenen  Natur  oder  um  ihrer  selbst  willen'.  ^  Wie  freilich 
diese  Substitution,  wie  jene  Repräsentation  zu  denken  sei,  dar- 
über finden  wir  bei  Berkeley  keinerlei  Aufschluss. 

Mit  dieser  Theorie  von  den  allgemeinen  Begriffen  möchte 
es  nun  ganz  wohl  verträglich  erscheinen,  bezüglich  der  allge- 
meinen Worte  an  Locke's  Behauptung  festzuhalten:  ,Worte 
werden  dadurch  allgemein,  dass  sie  zu  Zeichen  allgemeiner 
Ideen  gemacht  werden,' ^  aber  Berkeley  widerspricht  dieser 
Ansicht.  Nach  ihm  wird  ein  Wort  allgemein,  indem  es  als 
Zeichen  gebraucht  wird  für  alle  particulären  Ideen,  welche 
vermöge  ihrer  Aehnlichkeit  zu  derselben  Art  gehören  und  deren 
jede  es  besonders  im  Geiste  anregt;^  es  ist,  wie  man  sieht,  so 
ziemlich  derselbe  Vorgang  wie  bei  der  Bildung  der  allgemeinen 
Ideen.  ,Ebenso,  wie  die  einzelne  Linie  dadurch,  dass  sie  als 
Zeichen  dient,  allgemein  wird,  so  ist  der  Name  Linie,  der  an 
sich  particulär  ist,  dadurch,  dass  er  als  Zeichen  diente  allgemein 
geworden.  Und  wie  die  Aligemeinheit  jener  Idee  nicht  darauf 
beruht,  dass  sie  ein  Zeichen  für  eine  abstracte  oder  allgemeine 
Linie  wäre,  sondern  darauf,  dass  sie  ein  Zeichen  für  alle  ein- 
zelnen geraden  Linien  ist,  die  existiren  können,  so  muss  auch 
angenommen  werden,  dass  das  Wort  Linie  seine  Allgemeinheit 
von  derselben  Ursache  herleite,  nämlich  von  dem  Umstände,  dass 
es  verschiedene  einzelne  Linien  unterschiedlos  bezeichnet/^ 


1  ibid.  sect.  12. 

^  Min.  phil.  l.  c. 

3  Essay  book  III  chapt.  III  sect.  6. 

*  Treat.  intr.  sect.  11  uud  18,  Min.  phil.  1.  c. 

*  Treat  intr.  sect.  12. 


Hmie- Studien.    I.  189 

Sonach  steht  der  allgemeine  Begriff  wie  das  allgemeine 
Wort  in  gleicher  Weise  denselben  particulären  Ideen  als  deren 
Zeichen  gegenüber.  Aber  wie  verhalten  sich  allgemeines  Wort 
and  allgemeiner  Begriff  zu  einander?  Sie  sind  nicht  identisch^ 
denn  die  allgemeine  Idee  ist  ja,  wie  gesagt  wurde,  ihrer  Natur 
nach  den  particulären  Ideen  gleichartig,  die  sie  vertritt,  — 
nicht  so  das  allgemeine  Wort.  Dieses  ist  aber  auch  nicht  ein 
Zeichen  für  die  allgemeine  Idee,  denn  es  bezeichnet,  wie  eben 
gezeigt,  alle  particulären  Vorstellungen  derselben  Art  unter- 
schiedlos. ^  Dass  aber  gar  die  Idee  ein  Zeichen  für  das  Wort 
sein  sollte,  das  hat  weder  Berkeley  noch  irgend  jemand  vor 
oder  nach  ihm  behauptet.  Besteht  also  gar  keine  Beziehung 
zwischen  allgemeinen  W^orten  und  allgemeinen  Ideen?  Das 
scheint  denn  doch  der  Erfahrung  zu  widersprechen,  aber 
Berkeley  selbst  hat  einen  Weg,  auf  dem  die  Schwierigkeit  zu 
lösen  wäre,  nicht  gezeigt,  und  in  der  That  ist  kaum  denkbar, 
wie  hier  ein  Lösungsversuch  zum  Ziele  führen  könnte. 

Also  Worte  werden  allgemein,  indem  sie  Zeichen  für 
particuläre  Ideen  werden;  daraus  darf  jedoch  nicht  gefolgert 
werden,  dass,  so  oft  wir  einen  allgemeinen  Namen  hören,  in 
uns  noth wendig  eine  solche  Idee  erregt  werden  muss,  da  viel- 
mehr ,im  Lesen  und  Sprechen  Gemeinnamen  grösstentheils  so 
gebraucht  werden  wie  Buchstaben  in  der  Algebra,  wo,  obschon 
durch  jeden  Buchstaben  eine  bestimmte  Quantität  bezeichnet 
wird,  es  doch  zum  Zwecke  des  richtigen  Fortganges  der  Rech- 


*  Dies  der  Grund,  weshalb  ich  mich  der  in  diesem  Sinne  von  Kuno  Fischer 
(^Francis  Bacon  und  seine  Nachfolger*,  2.  Aufl.,  Leipzig  1876,  S.  706) 
gegebenen  Lösung  nicht  anschliessen  kann.  Er  fasst  Berkeley's  An- 
sicht so:  ,Die  Worte  sind  Zeichen  (nicht  abstracter,  sondern)  allgemeiner 
Vorstellungen,  welche  selbst  Zeichen  sind  für  eine  Reihe  gleichartiger 
Vorstellungen*.  Dies  entspricht  im  Ganzen  H um e's  Interpretation,  deren 
Unstatthaftigkeit^  weiter  unten  dargethan  werden  soll.  Hier  nur  so 
viel :  Ich  habe  keine  Stelle  finden  können,  welche  K.  Fischer^s  Auffassung 
stützte,  wShrend  alles  oben  aus  Berkeley  Citirte  ihr  entgegenzustehen 
scheint.  Uebrigens  wfire  es  doch  höchst  auffallend,  dass  Berkeley  die 
Locke^sche  Definition  von  allgemeinen  Worten,  die  er  zum  Zwecke  der 
Polemik  (Treat.  intr.  sect.  11)  anführt,  nicht  zugleich  in  seinem  Sinne 
adoptirt,  wenn  sie,  seinen  Begrilf  von  allgemeinen  Ideen  vorausgesetzt, 
seinen  Intentionen  so  vollkommen  entspräche,  als  nach  K.  Fischer  der 
Fall  sein  müsste. 


1 90  M  e  i  n  0  n  if . 

nung  nicht  erforderlich  ist,  dass  bei  einem  jeden  Schritt  jeder 
Buchstabe  die  bestimmte  Quantität;  zu  deren  Vertretung  er 
bestimmt  war,  ins  Bewusstsein  treten  lasse'.  ^  Aber  noch  mehr: 
es  gibt  allgemeine  Worte,  denen  gar  keine  Einzelvorstellungen 
zu  Grunde  liegen;  ein  activer  Geist  z.  B.  ,kann  weder  eine 
Idee,  noch  einer  Idee  ähnlich  sein',  denn  eine  Idee  ist  absolut 
inactiv.  ,  Daraus  scheint  zu  folgen,  dass  Worte,  die  ein  actives 
Princip  bezeichnen,  wie  Seele  oder  Geist,  streng  genommen 
nicht  für  Ideen  stehen,  aber  trotzdem  sind  sie  nicht  bedeutungs- 
los, denn  ich  verstehe,  was  der  Ausdruck  Ich  bedeutet,  obwohl 
dies  weder  eine  Idee,  noch  einer  Idee  ähnlich  ist,  sondern  das, 
was  denkt,  will,  Ideen  empföngt  und  mit  denselben  operirt/^ 
Ebenso  können  wir  den  Worten  Zahl,  Kraft  keine  bestimmte 
Idee  zu  Grunde  legen,  dennoch  stellen  wir  bezüglich  Beider 
höchst  evidente  und  nützliche  Behauptungen  auf.^ 

Diese  Ausführungen  könnten  leicht  zu  der  Meinung  Anlass 
geben,  als  sei  es  Berkeley  hier  darum  zu  thun.  Locke's  Be- 
hauptung, Worte  seien  Zeichen  für  Ideen,  in  dem  Sinne  zu 
berichtigen,  das  Worte  vielmehr  Zeichen  für  vorgestellte  Gegen- 
stände seien.  Dass  dies  jedoch,  zum  Mindesten  in  seiner 
Allgemeinheit,  der  Ansicht  des  Irländers  nicht  entspricht,  erhellt 
schon  daraus,  dass  wenigstens  bezüglich  der  Aussenwelt  der 
Satz  Locke's,  so  universell  gefasst,  niemandem  besser  zusagen 
konnte  als  eben  Berkeley,  für  den  ja  alle  sogenannten  Aussen- 
dinge nichts  als  Ideen  sind.  Uebrigens  muss  jedem  schon  bei 
den  wenigen,  im  Laufe  unserer  Darstellung  citirten  Stellen 
aufgefallen  sein,  wie  Berkeley  ohne  Unterschied  bald  von  Ideen, 
bald  von  Gegenständen  spricht;  im  Treatise  sect.  1  und  2 
weiMien  ,Ideen'  und  ,Objecte  der  menschlichen  Erkenntniss*  aus- 
drücklich gleichgesetzt,  —  von  einer  Entgegenstelluhg  derselben 
kann  daher  auch,  wo  es  sich  um  die  Bedeutung  der  Namen 
handelt,  nicht  die  Rede  sein.  Es  scheint  sich  vielmehr  aus 
den  angeführten  Beispielen  zu  ergeben,  dass  für  Berkeley  hier 
zwei  sehr  verschiedene  Gesichtspunkte  massgebend  waren: 
Worte   wie    Seele,    Geist   stehen    nicht   für  Ideen,    weil  wir 


»  TreaL  intr.  sect.  19,  auch  Min.  phil.  a.  a.  O. 
2  Min.  pbU.  dial.  VII  sect.  8. 
»  a.  «.  O.  sect.  8—10. 


Hnme  -  Stadien.   I.  191 

nach  Berkeley's  Metaphysik  vom  thätigen  Träger  der  Ideen 
überhaupt  keine  Idee  haben  können.^  Auch  bezüglich  der  Kraft 
wäre  es  zum  Mindesten  naheliegend  genug,  die  Inactivität  der 
Ideen  geltend  zu  machen;  aber  Berkeley  thut  es  nicht,  und 
bezüglich  der  Zahl  kann  er  es  nicht  thun,  dasselbe  gilt  von 
den  in  demselben  Sinne  aufgeiiihrten  Worten  wie  Zufall  und 
Schicksal,^  was  mag  also  Berkeley  hier  vorgeschwebt  haben? 
Da  er  selbst  den  Punkt  nicht  weiter  aufgeklärt  hat,  kann  man 
eben  nichts  als  eine  Vermuthung  aufstellen,  und  es  liegt  wohl 
am  nächsten,  an  solche  Worte  zu  denken,  von  denen  man  in 
gewöhnlicher  Ausdrucks  weise  zu  sagen  pflegt,  dass  sie  nicht 
einzelne  Dinge,  sondern  Attribute  oder  Relationen  bezeichnen. 
Sind  alle  Allgemeinbegriffe  ihrem  Wesen  nach  nur  concret,  so 
mass  es  mindestens  sehr  zweifelhaft  sein,  ob  Gegenständen, 
denen  für  sich  gar  keine  Existenz  zukommt,  überhaupt  eine 
,präci8e^  Idee  entsprechen  kann.  Es  genügt  z.  B.  nicht,  bei 
dem  Worte  Zahl  an  Zwei  oder  Drei  zu  denken;  denn  auch 
davon  kann^man  keine  concreto  Idee  bilden,  sondern  nur  von 
gezählten  Dingen,  —  gleichwohl  wenden  wir  in  solchen  Fällen 
Worte  an,  sie  sind  weit  entfernt,  bedeutungslos  zu  sein,  aber 
es  sind  Worte  ohne  Ideen. 

All  dies  ist  für  die  Abstractionsfrage  insofern  von  Belang, 
als  Berkeley  in  der  Verkennung  dieser  Thatsachen  den  Anlass 
zur  irrthümlichen  Annahme  von  abstracten  Begriffen  zu  finden 
glaubt.  Setzen  wir  voraus,  ,jeder  Name,  der  etwas  bezeichne, 
stehe  für  eine  Idee,  ....  und  ist  es  zugleich  gewiss,  dass  Namen, 
die  doch  nicht  für  ganz  bedeutungslos  gelten,  nicht  immer  denk- 
bare Einzelvorstellungen  ausdrücken,  so  lässt  sich  mit  Strenge 
folgern,  dass  sie  für  einen  abstracten  Begriff  stehen*.  ^  So  ist 
durch  die  hier  dargestellte  Theorie  nicht  nur  eine  in  sich 
widerspruchsvolle  Lehre  zurückgewiesen,  nicht  nur  eine  neue 
Erklärung  an  Stelle  der  unhaltbaren  gesetzt,  sondern  zugleich 
auch  der  Ursprung  des  alten,  für  alle  Philosophie  so  verhäng- 
nissvollen Fehlers  nachgewiesen. 


*  Vergl.  Treatise    sect.    135,   worauf  Berkeley  an  der   in  Rede   stehenden 

SteUe  selbst  hinweist. 
'  Min.  phil.  dial.  VII  sect.  11. 
3  Treat.  intr.  sect.  19. 


192  Meinong. 

Werfen  wir  nunmehr  einen  kritischen  Blick  auf  die 
hier  in  möglichster  Gedrängtheit  wiedergegebenen  Ausführungen 
des  Bischofs  von  Cloyne,  so  muss  in  erster  Linie  bezüglich 
seines  Verhältnisses  zu  Locke  hervorgehoben  werden,  dass  der 
Charakteristik  gegenüber,  die  dieser  von  der  Abstraction 
gab,  dasselbe  Dilemma  anzuwenden  war,  das  jeder  mit  der 
Wirklichkeit  nicht  übereinstimmenden  Definition  entgegen- 
gehalten werden  muss,  nämlich:  entweder  die  Definition  ist 
richtig,  dann  kann  in  der  That  das  beschriebene  Ding  nicht 
existiren,  —  oder  aber,  die  Definition  ist  falsch,  und  dann 
kann  allerdings  das  fragliche  Ding  noch  ganz  wohl  existiren, 
natürlich  aber  theilweise  mit  anderen  Merkmalen  als  den  ihm 
in  dieser  Definition  ertheilten.  Berkeley  hat  nun  den  funda- 
mentalen Fehler  begangen,  von  diesem  Dilemma  nur  das  eine 
Glied  zu  berücksichtigen.  Es  wird  heute  Wenige  geben,  die 
sich  seiner  Polemik  gegen  Locke's  Darstellung  der  Abstrac- 
tion nicht  anschliessen  möchten;  aber  wenn  man  auch  zugeben 
muss,  dass  in  den  meisten  Fällen  das  ,Abtrennen'  metaphysi- 
scher oder  logischer  Begrifi'stheile  bei  Weitem  nicht  so  selbst- 
verständlich vor  sich  geht,  als  Locke  anzunehmen  scheint, 
wenn  man  ferner  den  von  Locke  postulirten  Widerspruch 
zurückweisen  muss,  wäre  damit  implicite  schon  die  Möglich- 
keit aller  Abstraction  aufgehoben?  Kann  es  nicht  darum  noch 
immer  abstracto  Begriffe  geben,  wenn  sie  nur  auf  anderem 
Wege  entstanden,  und  von  denen  Locke's  noch  insofern  ver- 
schieden sind,  als  sie  nicht  die  Conception  eines  Widerspruches 
voraussetzen? 

Dass  dem  scharfsinnigen  Denker  gerade  diese  Seite  der 
Frage  entging,  muss  um  so  mehr  bedauert  werden,  als  einige  in 
seiner  Darstellung  als  Inconsequenzen  erscheinende  Zugeständ- 
nisse, gehörig  ausgebildet,  zu  einer  viel  befriedigenderen  Er- 
klärung der  Abstractionsphänomene  hätten  führen  müssen,  als 
Berkeley  auf  dem  von  ihm  eingeschlagenen  Wege  gelingen 
konnte. 

Die  eine  dieser  Concessionen  finden  wir  am  klarsten  in 
folgender  Weise  formulirt:  ,Ich  bestreite  nicht,  dass'  der  mensch- 
liche Geist  ,in  gewissem  Sinne  abstrahiren  kann,  insofern  näm- 
lich, als  Dinge,  die  in  Wirklichkeit  für  sich  zu  existiren  ver- 
mögen   oder    so    percipirt   werden   können,   auch   abgesondert 


Hnne- Studien.  I.  193 

vorgestellt^  oder  eines  vom  andern  abstrahirt  werden  können, 
z.  B.  der  Kopf  eines  Menschen  von  seinem  Leib,  Farbe  von 
Bewegung,  Gestalt  von  Qe wicht/ ^  Dem  zufolge  erleidet  die 
allgemeine  Behauptung,  es  gebe  keine  Abstracta,  schon  sehr 
beträchtliche  Ausnahmen.  Zwar  meint  Berkeley,  man  pflege 
das  Wort  Abstraction  gewöhnlich  nicht  in  diesem  Sinne  zu 
gebrauchen,  aber  schon  das  kann  nicht  durchaus  zugegeben 
werden.  Wollte  man  z.  B.  die  Körper  nur  in  Bezug  auf  Gestalt 
und  Farbe  betrachten,  dagegen  von  allen  anderen  Eigenschaften 
derselben,  z.  B.  Gewicht,  Solidität  u.  s.  w.  absehen,  so  würde 
wohl  Niemand,  der  den  Kaum  nicht  etwa  für  eine  ,Anschauung^ 
a  priori  hält.  Anstand  nehmen,  einen  solchen  Körperbegriff 
zwar  minder  abstract  als  den  geometrischen,  aber  abstracter 
als  den  physikalischen  Begriff  des  Körpers  zu  nennen,  —  und 
doch  unterscheidet  sich  unser  Begriff  von  dem  letztgenannten 
nur  dadurch,  dass  von  diesem  alle  nicht  direct  durch  den  Ge- 
sichtssinn wahrgenommenen,  also  gewiss  auch  für  sich  perci- 
pirbaren  Merkmale  weggelassen  wurden. 

Man  braucht  darum  noch  gar  nicht  so  weit  zu  gehen,  wie 
William  Hamilton,  der  in  seinen  Vorlesungen  über  Metaphysik^ 
im  Anschlüsse  an  Laromigui^re  sogar  von  einer  ,Abstraction 
der  Sinne^  spricht  und  zur  Erläuterung  folgende  Darlegung  des 
Letzteren  reproducirt:  ,Da  wir  mit  fünf  verschiedenen  Organen 
ausgestattet  sind,  deren  jedes  dazu  dient,  eine  bestimmte  Classe 
von  Perceptionen  und  Vorstellungen  uns  zu  Qemüth  zu  führen, 
theilen  wir  natürlich  alle  sensiblen  Objecte  in  fünf  Qualitäts- 
classen  ein.  Der  menschliche  Körper  ist  demnach  sozusagen 
selbst  eine  Art  Abstractionsmaschine.  Die  Sinne  können 
nichts  als  abstrahiren.  Könnte  das  Auge  nicht  Farben  abstra- 
hiren,  so  raüsste  es  diese  verschmolzen  mit  Gerüchen  und 
Geschmäcken  sehen,  und  Gerüche  und  Geschmäcke  müssten 
nothwendig  Objecte  des  Gesichts  sein^  Hier  ist  nun  wirklich 
das  Wort  Abstraction  ganz  unglücklich  angewendet.  Denn 
jedenfalls  muss  unter  Abstraction,  mag  es  nun  eine  solche 
geben  oder  nicht,  ein  psychischer  Act  verstanden  werden,  durch 


1  Min.  phil.  dial.  VII  sect.  8. 

3  Lectares   on  metaphysics  and  logic,  ed.   Mansel  und  Veitch,  Edinburgh 

und  London  1870.  Bd.  IL  S.  284  ff. 
SiteongtbM.  d.  pUI.-hüt  Ol.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hft.  13 


194  Meinong. 

den  eine  oder  mehrere  Vorstellungen  aus  einem  grösseren  Vor- 
stellungscomplexe  ausgeschieden  oder  doch  hervorgehoben 
werden;  ehe  also  ein  solcher  vorhanden  ist,  kann  von  keiner 
Abstraction  die  Rede  sein.  Wird  daher  auch,  was  gewiss  nicht 
selbstverständlich  ist,  eingeräumt,  dass  die  Ursachen  mehrerer 
Vorstellungen  einer  Substanz  anhaften,  so  sind  dann  zwar 
Complexe  realer  Qualitäten  gegeben,  nicht  aber  Vorstellungs- 
complexe,  von  denen  allein  erst  abstrahirt  werden  könnte. 
Dass  hingegen  ein  solcher  Einwand  bei  den  von  Berkeley 
bemhrten  Fällen  nicht  angebracht  werden  kann,  leuchtet  auf 
den  ersten  Blick  ein;  denn  sind  Vorstellungen  auch  abgesondert, 
von  einander  percipirt  worden,  so  können  sie  doch  durch  Asso- 
ciation eng  genug  an  einander  geknüpft  sein,  um  zur  Loslösung 
eines  besonderen  psychischen  Actes  zu  bedürfen. 

Von  einer  Beschränkung  des  Wortes  Abstraction  wird 
also  besser  Umgang  genommen  werden;  darum  ist  indessen 
Berkeley's  Unterscheidung  an  sich  durchaus  nicht  werthlos. 
Unabhängig  percipirbare  Vorstellungselemente  (vor  Allem 
kommen  hier  solche  in  Betracht,  welche  gleich  denen  im 
obigen  Beispiele  dem  Gebiete  verschiedener  Sinne  angehören) 
haften  in  der  That  weit  weniger  fest  an  einander,  als  solche, 
die  stets  nur  zusammen  wahrgenommen  werden  können;  darum 
gelingt  dort  in  der  Kegel  die  Abstraction  in  weit  vollkomme- 
nerem Maassc  als  hier.  Ich  kann  mir  ganz  gut  ein  Stück 
Steinsalz  vorstellen  und  dabei  von  dessen  Geschmack  völlig 
absehen,  während  es  mir  unmöglich  wäre,  ein  solches  Mineral 
ohne  jede  Farbe  zu  denken. 

Auf  ganz  ein  anderes  Gebiet  gehörig  und  völlig  unzu- 
treffend ist  jedoch  Berkeley's  Beispiel  vom  Kopf  und  Leib 
des  Menschen;  denn,  wenn  er  damit  auch  die  Fähigkeit,  phy- 
sische Theile  von  einander  zu  sondern,  durch  die  Bedingung 
selbstständiger  Existenz  oder  eben  solcher  Wahrnehmbarkeit 
einzuschränken  sucht,  gibt  er  unausweichlich  unhaltbaren  Con- 
Sequenzen  Raum,  die  sofort  zu  Tage  treten,  sobald  man  ver- 
sucht, diesen  Grundsatz  bei  dem  wichtigsten  unserer  Sinne, 
dem  Gesicht,  zur  Anwendung  zu  bringen.  Percipiren  wir  einen 
Gegenstand  durch  directes  Sehen,  was  auf  einen  Blick  ge- 
schehen kann,  wenn  er  klein  oder  fern,  mittelst  Augenbe- 
wegung   dagegen,    wenn    er  gross  oder  nah  ist,  so  müssen  wir 


Harne -Stadien.    I.  195 

gleichzeitig  seine  Umgebung  mitpercipiren;  diese  mag  wechseln, 
aber  immer  wird  irgend  eine  sich  der  Wahrnehmung  aufdrängen. 
Es  scheint  also,  dass  wir  bei  der  Vorstellung  eines  direct  ge- 
sehenen Gegenstandes  von  einer  Umgebung  (was  bei  Berkeley 
so  viel  besagt  als  von  einer  concreten  Umgebung)  unmöglich 
abstrahiren  können^  wenn  Berkeley's  Einschränkung  begründet 
ist.  Nicht  ganz  dasselbe  gilt  nun  allerdings  von  einem  indirect 
gesehenen  Object.  Zwar  ist  durch  Augenbrauen,  Nase  und 
Wangen  das  binoculare  Qesichtsfeld  nach  oben  und  unten,  das 
monoculare  auch  nach  innen  in  sichtbarer  Weise  begrenzt,  so 
dass  jedes  Objecto  möchte  es  in  den  angegebenen  Richtungen 
auch  noch  so  weit  vom  Fixationspunkte  abstehen,  immer  noch, 
wenn  überhaupt  sichtbar,  die  bezeichneten  Theile  des  Antlitzes 
zur  Umgebung  hätte.  Aber  nach  aussen  ist  jedes  Gesichtsfeld 
offen;  natürlich  nicht  ins  Unendliche,  aber  doch  so,  dass  ein 
Begrenzendes  hier  nicht  wahrgenommen  wird.  Auf  diesen 
Umstand  könnte  man  sich  nun  zur  Vertheidigung  Berkeley's 
berufen,  da  es  doch  mindestens  möglich  sei,  die  Axe  eines 
Auges  so  zu  stellen,  dass  der  fragliche  Gegenstand  gerade  an 
die  Grenze  des  Sehfeldes  zu  liegen  käme,  und  so  wenigstens 
theilweise  ohne  Umgebung  percipirt  würde.  Wer  dieses  be- 
hauptete, übersähe  jedoch,  einmal  dass  eine  solche  Stellung 
zufällig  nur  äusserst  selten  eintreten  könnte,  einer  Absicht 
aber,  sie  herbeizuführen,  sich  wohl  keiner,  dem  es  nicht  etwa 
um  das  Experiment  zu  thun  war,  zu  erinnern  weiss,  —  ferner, 
dass  die  Bilder  an  diesem  äussersten  Ende  des  Gesichtsfeldes 
so  schwach  und  undeutlich  sind,  dass  sie  kaum  mehr  vermögen 
als  die  Reproduction  von  vorher  durch  directeres  Sehen  er- 
haltenen Perceptionen  zu  erleichtern,  ein  Gegensatz  so  indirect 
erhaltener  Bilder  gegen  directer  erhaltene  daher  die  Repro- 
duction gewiss  nicht  zu  Gunsten  der  ersteren  beeinflussen  würde. 
Uebrigens  scheint  auch  die  Erfahrung  eines  Jeden  ganz  unzwei- 
deutig zu  zeigen,  dass,  wenn  wir  uns  eines  gesehenen  Gegen- 
standes erinnern,  wir  denselben  als  möglichst  direct  (selbst  mit 
Zuhilfenahme  der  Augenbewegung)  gesehen  zu  repräsentiren 
pflegen,  —  kurz,  Alles  weist  darauf  hin,  dass  auch  das  indirecte 
•Sehen  in  unserem  Falle  von  keinem  Nutzen  sein  könnte.  Es 
ergibt  sich  daraus  von  selbst,  dass,  wenn  Berkeley  Recht  hat, 
wir  völlig  ausser  Stande  sind,  die  Idee  eines  Gegenstandes  von 

13* 


196  Meinong. 

der  einer  ganz  bostimniten  Umgebung  zu  abstrahiren.  Dies 
widerspriqht  aber  aller  Erfahrung;  und  auch  Berkeley  hätte 
gewiss  Anstand  genommen,  explicite  aufrecht  zu  erhalten,  was, 
wie  wir  sehen,  implicite  mit  seiner  Behauptung  stehen  und 
fallen  muss. 

Wir  hätten  uns  bei  diesem  scheinbar  so  minutiösen  Falle 
kaum  so  lange  aufgehalten,  wenn  Berkeley 's  Beispiel  nicht 
eines  von  denen  wäre,  welche  die  richtige  Lösung  der  Haupt- 
frage ganz  besonders  nahe  legen.  Mag  einer  auch  über  seine 
Fähigkeit,  von  metaphysischen  oder  logischen  Theilen  abzu- 
sehen, zweifelhaft  sein,  so  wird  ähnliches  Bedenken  bei  phy- 
sischen kaum  aufkommen.  Keiner  zweifelt  daran,  dass  er 
von  den  verschiedenen  Eindrücken,  die  sich  etwa  dem  Auge 
oder  Ohr  auf  einmal  darbieten,  in  sehr  vei*8chiedener  Weise 
Notiz  nimmt.  Fragt  man  aber  einen,  der  sich  nie  mit  philo- 
sophischen Speculationen  beschäftigt  hat,  wie  ihm  dies  oder 
jenes  entgehen  konnte,  was  er  unzweifelhaft  vor  Augen  gehabt 
haben  muss,  so  antwortet  er  etwa  einfach,  er  habe  eben  auf 
etwas  ganz  Anderes  Acht  gegeben.  Dabei  ahnt  er  natürlich 
nicht,  dass  seine  Antwort  den  Gesichtspunkt  enthalte,  unter 
dem  vielleicht  eine  vieldiscutirte  philosophische  Streitfrage 
ziemlich  einfach  zu  entscheiden  wäre. 

Es  ist  übrigens  leicht  zu  zeigen,  dass  auch  Berkeley 
selbst  den  Schlüssel  zur  Beseitigung  aller  Schwierigkeit  in 
Händen  hält,  ja  zuweilen  unwillkürlich  benützt,  —  und  es  ist 
auffallend  genug,  dass  er  dennoch  von  dessen  eigentlicher  Be- 
deutung keine  Ahnung  zu  haben  scheint.  ,Die  Ueberein- 
stimmungen  und  Verschiedenheiten  zu  unterscheiden',  sagt  er 
einmal,  *  ,die  zwischen  unseren  Ideen  bestehen,  zu  sehen,  welche 
Ideen  in  einer  zusammengesetzten  Idee  enthalten  sind  und 
welche  nicht,  dazu  ist  nicht  mehr  erforderlich,  als  eine  auf- 
merksame Wahrnehmung  dessen,  was  in  meinem  eigenen 
denkenden  Geiste  vorgeht.'  Diese  Stelle  müsste,  alleinstehend, 
sehr  befremden;  es  ist  nicht  abzusehen,  wie  man  Elemente 
eines  Ideencomplexes  unterscheiden  kann,  wenn  man  diese 
Elemente,  die  doch  Abstracta  sein  müssten,  nicht  vorzustellen 
vermag.    Aber  die  Stelle  wird  vollkommen  verständlich,  wenn 

*  Treat.  intr.  sect  22. 


Hnne- Stadien.   I.  197 

man  eine  andere  zu  Rathe  ziebt^  welche  das  zweite  und  wich- 
tigste der  oben  berührten  Zugeständnisse  des  irischen  Philo- 
sophen enthält;  sie  lautet:  ^Es  muss  hier  zugegeben  werden, 
dass  es  möglich  ist,  eine  Figur  blos  als  Dreieck  zu  betrachten, 
ohne  dass  man  auf  die  besonderen  Eigenschaften  der  Winkel 
oder  Verhältnisse  der  Seiten  achtet.  Insofern  kann  man  ab- 
strahiren,  aber  dies  beweist  keineswegs,  dass  man  eine  abstracte, 
allgemeine,  mit  innerem  Widerspruch  behaftete  Idee  eines  Drei- 
ecks bilden  könne.  In  gleicher  Weise  können  wir  Peter,  inso- 
fern er  ein  Mensch  ist,  oder  insofern  er  ein  lebendes  Wesen  ist, 
betrachten,  ohne  die  vorerwähnte  abstracte  Idee  eines  Menschen 
oder  eines  lebenden  Wesens  zu  bilden,  indem  nicht  alles 
Percipirte  in  Betracht  gezogen  wird/*  In  der  That, 
damit  könnte  sich  der  eifrigste  Vertreter  des  Conceptualismus 
zufrieden  geben.  ^ 

Um  die  Tragweite  dieser  Worte  zu  ermessen,  um  zugleich 
zu  erkennen,  wie  der  Irländer,  und  wäre  es  auch  zum  Schaden 
seiner  Consequenz,  der  Wahrheit  zuweilen  näher  kommen  Jkonnte, 
als  viele  seiner  Nachfolger,  muss  man  auf  den  Zusammenhang 
Kücksicht  nehmen,  in  dem  er  sich  zu  diesem  Ausspruche  ge- 
drängt fühlt.  Gemäss  den  oben  reproducirten  Erörterungen 
über  die  Allgemeinheit  von  Ideen  und  Worten  lässt  sich  zwar 
vielleicht  denken,  wie  wir  dazu  gelangen  können,  allgemeine 
Sätze  aufzustellen,  wie  sind  wir  aber  im  Stande,  sie  zu  be- 
weisen? Die  von  Berkeley  betonte  Repräsentation  kann  hier 
augenscheinlich  keinen  Dienst  leisten;  denn  repräsentirte  auch 
die  Vorstellung  a  die  ähnlichen  6,  c,  d,  u.  s.  f.,  so  sind  die 
letzteren  doch  nur  ähnlich,  nicht  gleich  a,  und  nicht  Alles, 
was  von  a  bewiesen  werden  könnte,  muss  darum  fiir  die  übrigen 
Geltung  haben,  —  inwiefern  aber  a  die  anderen  Vorstellungen 
vertritt,  ist  durch  die  einfache  Thatsache  der  Repräsentation 
völlig  unbestimmt  gelassen.  Berkeley  verkennt  keineswegs  das 
Vorhandensein  einer  Schwierigkeit,  er  selbst  wirft  die  Beweis- 
frage auf,  und  fährt  dann  (a.  a.  O.)  fort:  ,Ich  antworte  darauf, 
dass,  obschon  die  Idee,  die  ich  im  Auge  habe,  während  ich 
den   Beweis    führe,   z.   B.    die    eines   gleichschenkligen,   recht- 

*  Treat.  intr.  sect.  16. 

'  Vergl.   Ueberweg  s    Uebersetzung    des    Treat.   (Berlin   1869,  Bd.   12   der 
Kirchmann*8cheii  ,philoB.  Bibliothek')  S.  109,  Anmerk.  5. 


198  Meinong. 

winkligen  Dreiecks  ist,  dessen  Seiten  von  einer  bestimmten 
Länge  sind,  ich  nichtsdestoweniger  gewiss  sein  kann,  derselbe 
Beweis  finde  Anwendung  auf  alle  anderen  geradlinigen  Drei- 
ecke, von  welcher  Form  und  Grösse  dieselben  immer  sein 
mögen,  und  zwar  darum,  weil  weder  der  rechte  Winkel,  noch 
die  Gleichheit  zweier  Seiten,  noch  auch  die  bestimmte  Länge 
der  Seiten  irgendwo  bei  der  Beweisführung  in  Betracht 
gezogen  worden  sind^  üebrigens  liegt  auch  in  diesen 
Worten  nur,  was  schon  die  erst  citirte  Stelle  enthält,  nämlich: 
dass  es  in  unserer  Macht  liegt,  die  Aufmerksamkeit  bei 
der  Betrachtung  eines  Individuums  in  solchem  Maasse  aut 
einige  Merkmale  desselben  zu  concentriren,  dass  wir  in  Folge 
dessen  von  den  übrigen  Attributen  absehen  können.  Wenn 
sich  das  aber  so  verhält,  dann  ist  auch  ein  grosser  Theil  von 
Berkeley's  Polemik  völlig  gegenstandslos.  Denn  gehört  die 
Aufmerksamkeit  auch  zu  jenen  Thatsachen  des  geistigen  Lebens, 
für  deren  Erklärung  die  Psychologie  noch  am  allerwenigsten 
gethan .  hat,  *  so  kennen  wir  sie  doch.  Dank  der  innei'en  Er- 
fahrung, gut  genug,  dass  die  Frage  nach  der  Abstraction 
wenigstens  als  gelöst  zu  betrachten  ist,  sobald  sich  diese,  wie 
dem  Verfasser  kaum  zweifelhaft  sein  kann,  auf  die  Phänonaene 
der  Aufmerksamkeit  und  der  Ideenassociation  zurückfühfen  lässt 

Die  letzten  Erörterungen  haben  uns  von  Berkeley's  nega- 
tiven Aufstellungen  über  Abstraction  zu  dessen  positiven  über 
Verallgemeinerung,  von  der  Frage  nach  dem  Inhalt  zur  Frage 
nach  dem  Umfang  der  BegriflFe,  sowie  dem  Verhältniss  von 
Inhalt  und  Umfang  zu  einander  geführt,  einem  Thema,  über 
das  auch  in  der  neueren  Logik  und  Psychologie  vielfach  noch 
ziemliche  Unklarheit  herrscht.  Es  empfiehlt  sich  daher  wohl, 
ehe  wir  in  der  Prüfung  Berkeley's  fortfahren,  erst  selbst  ein 
wenig  nach  Klarheit  zu  suchen.  Haben  wir  diese  einmal  ge- 
wonnen, dann  wird  auch  die  Beurtheilung  sowohl  Berkeley's 
als  seiner  Nachfolger  viel  rascher  und  sicherer  von  Statten 
gehen,  ja  wir  werden  uns,  so  weit  wir  auf  neuere  Leistungen 
zu  sprechen  kommen,  leicht  jeder  Kritik  enthalten  können,  da 
der  Vergleich  sich  dem  Leser  von  selbst  aufdrängen  wird. 

Berkeley  selbst  hat  uns,  wie  wir  sahen,  den  Gesichts- 
punkt   gegeben,    unter    dem    sowohl    die    Berechtigung    seiner 


Hnme- Studien.  I.  199 

Haupteinwendimgen  gegen  Locke,  als  auch  das  Vorhandensein 
abstracter  Ideen  anerkannt  werden  kann.  Wie  die  Aufmerk- 
samkeit sich  bei  der  Bildung  abstracter  Begriffe  aus  concreten 
thätig  erweist,  das  erkennt  jeder  leicht,  der  auf  sein  eigenes 
Geistesleben  achtet,  und  eine  weiter  unten  (S.  249  f.)  wieder- 
zugebende Darlegung  John  Stuart  MilFs  wird  noch  ein  Uebriges 
thun,  den  Vorgang  klar  zu  stellen.  Ebenso  ist  es  selbstver- 
ständlich, dass  das,  was  die  Logiker  den  Inhalt  eines  Begriffes 
nennen,  bei  abstracten  Begriffen  nur  mit  dem  durch  die  Auf- 
merksamkeit hervorgehobenen  Theile  des  betreffenden  concreten 
Vorstellungscomplexes  zusammenfällt,  während  in  den  Umfang 
dieses  Begriffes  alle  Individuen  gerechnet  werden  müssen, 
welche  sämmtliche  den  Inhalt  desselben  ausmachende  Attribute 
an  sich  tragen.  Sobald  wir  nun  aber  daran  gehen  wollen,  das 
Verhalten  von  Abstract  und  Concret  zu  Universell  und  Parti- 
culär  auseinanderzusetzen,  tritt  uns  sofort  ein  Hinderniss  ent- 
gegen, das  schon  mancher  philosophischen  Untersuchung  ver- 
hängnissvoll geworden  ist,  Unsicherheit  und  Verwirrung  in  der 
Terminologie. 

Von  vielen  wurden  und  werden  nämlich  die  in  Rede 
stehenden  Ausdrücke  ganz  unterschiedlos  für  einander  ge- 
braucht, so  dass  J.  St.  Mill  sich  in  Folge  dessen  berechtigt 
glaubte,  die  gewissermassen  bestimmungslos  gewordenen  Worte 
abstract  und  concret  im  Anschlüsse  an  die  scholastische 
Diction  zur  Bezeichnung  eines  Unterschiedes  in  der  Classe  der 
allgemeinen  Namen  zu  verwenden.  ^  Auch  in  Deutschland  haben 
Manche  (z.  B.  Ueberweg,  Siegwart)  diese  Ausdrucksweise  accep- 
tirt;  dennoch  widerspricht  sie  noch  immer  dem  gewöhnlichen 
Sprachgebrauche  genug,  dass  eine  Erwägung,  ob  denn  gar 
nichts  zu  Gunsten  des  Letzteren  anzubringen  wäre,  gewiss 
nicht  verspätet  genannt  werden  kann.  Eines  mindestens  scheint 
ausser  Zweifel:  wer  behauptet,  dass  die  Prädicate  allgemein 
und  abstract,  oder  besonder  und  concret  sich  allemal  von 
denselben  Begriffen  aussagen  lassen,  meint  in  der  Regel  damit 
eine  sehr  wichtige  psychologische  Thatsache  anerkannt,  keines- 
wegs aber  blos  eine  leere  Tautologie  gesagt  zu  haben;  als 
gleichbedeutend   gelten   also   diese  Worte   auch    dem   gewöhn- 


^  Vergl.  System  of  logic.  b.  I,  chapt.  II,  §.  4. 


200  Meinong. 

liehen  Sprachgebrauche  keineswegs.  Jedermann  erkennt  im 
Gegentheil  bei  geringer  Ueberlegung,  dass  die  Worte  allge- 
mein und  particulär  auf  den  Umfang,  die  Worte  abstract 
und  CO  n  er  et  auf  den  Inhalt  der  Vorstellungen  gehen.  Allge- 
mein ist  ein  Begriff,  dem  mehrere  Gegenstände  entsprechen 
oder  doch  entsprechen  können,  particulär  oder  individuell  hin- 
gegen der,  welcher  ohne  Widerspruch  oder  wenigstens  ohne 
unendlich  grosse  Unwahrscheinlichkeit  eine  Beziehung  auf  mehr 
als  ein  Object  nicht  zulässt.  i  Auf  der  andern  Seite  liegt  es 
am  nächsten,  jeden  Begriff  abstract  zu  nennen,  der  als  das 
Resultat  einer  Abstraction  erscheint,  während  jeder,  an  dem 
noch  nichts  derartiges  vorgegangen  ist,  als  concret  zu  be- 
zeichnen sein  wird.^ 

Eine  Definition  von  der  Art  wie  die  beiden  letzten  könnte 
leicht  ein  idem  per  idem  genannt  werden,  denn  im  Grunde 
besagen  Beide  doch  niclit  mehr  als:  ,abstract  heisst,  was  ab- 
strahirt  ist^,  —  allein  jedenfalls  ist  dies  das  Naheliegendste 
und  schon  dieser  Umstand  ist  bei  Divergenzen  im  Sprach- 
gebrauch ein  Vortheil.  Uebrigens  kann  aber  auch  nicht  gut 
daran  gezweifelt  werden,  dass  diese  Definition  für  J.  St.  Mill 
nicht  minder  massgebend  gewesen  ist.  Er  spricht  sich  zwar 
(a.  a.  0.)  dagegen  aus,  ,den  Ausdruck  ,abstracter  Name^  auf 
alle  Namen  anzuwenden,  welche  das  Ergebniss  der  Abstraction 
.  .  .  sind^,  —  was  konnte  ihn  aber  bestimmen,  auch  nur  die 
Namen  der  Atribute  ,abstract^  zu  nennen,  wenn  nicht  eben  der 
Umstand,   dass   diese   als   ,Ergebni8s   der   Abstraction^  gelten? 


^  In  den  meisten  Definitionen  bleibt  die  physische  Unmöglichkeit  unbe- 
räcksichtigt,  aber  mit  Unrecht,  wie  wir  sehen  werden.  —  Ungenüfj^nd 
w&re  es,  den  Individualbegriff  als  einen  zu  bestimmen,  ,unter  dem  nur 
ein  Object  vorgestellt  wird*;  denn  das  gilt  auch  von  jedem  Allgemein- 
begpriff,  sofern  er  sich  nicht  etwa  auf  ein  Collectiv  be/aeht.  Sagt  mau: 
,ein  Mensch',  so  stellt  man  sich  gewiss  nicht  mehrere  vor;  aber  jeder 
Mensch  kann  dieser  eine  sein,  der  Begriff  ist  also  ohne  Frage  universell. 

3  Drobisch  (neue  Darstellung  der  Logik,  3.  Aufl.,  Leipzig  1 863,  §.  19,  S.  21  ff.) 
bezieht  abstract  und  concret,  sowie  allgemein  und  besonder  auf  Gattung 
und  Art,  gebraucht  diese  Namen  also  relativ.  Dagegen  ist  jedoch  ein- 
zuwenden, dass  hiezu  Bezeichnungen  wie:  allgemeiner  und  weniger  all- 
gemein, abstracter  und  weniger  abstract  gewiss  deutlicher  wfiren,  indess 
andererseits  in  Folge  jener  Ausdruck sweise  auch  für  die  von  uns  indi- 
viduell und  concret  genannten  Begriffe  die  Termini  fehlen. 


Ham«- Stadien,    l.  201 

Kann  dies  aber  von  Weisse,  Menschenthum,  Alter  aus- 
gesagt werden;  so  gewiss  auch  von  weiss,  Mensch,  alt;  die 
letzteren  Namen  (respective  Begriffe)  von  der  Classe  auszu- 
schliessen,  der  die  ersteron  angehören,  obwohl  die  speeiiische 
Differenz  der  Classe  allen  in  gleicher  Weise  eigenthümlich  ist, 
kann  daher  nur  als  ein  logischer  Fehler  betrachtet  werden. 
Damit  ist  natürlich  durchaus  nicht  in  Abrede  gestellt,  dass  ein 
Unterschied  besteht  zwischen  den  Namen  der  Attribute  und 
denen  der  Gegenstände,  und  um  diesem  Unterschiede  auch 
im  Ausdrucke  gerecht  zu  werden,  ohne  neue  Namen  erfinden 
zu  müssen,  möchte  es  vielleicht  angemessen  sein,  die  erst- 
genannte Gruppe  als  ,Abstracta  im  engeren  Sinne^  den  Ab- 
stractis  in  der  weiteren  Bedeutung  des  Wortes  entgegenzu- 
stellen. 

Ist  die  Terminologie  in  dieser  Weise  geregelt,  so  kann 
keiner  der  in  Rede  stehenden  Ausdrücke  überflüssig  heissen; 
denn  jedem  derselben  entspricht  ein  ganz  bestimmter,  eigen- 
thüinlicher  Begriff,  und  wenn  sich  zwei  dieser  Begriffe  auf 
denselben  Gegenstand  beziehen  sollten,  so  wären  sie  darum 
nicht  weniger  verschieden  als  etwa  die  Begriffe:  ,bei  0^  Celsius 
gefrierend'  und:  ,aus  Sauerstoff  und  Wasserstoff  bestehend^, 
die  bekanntlich  beide  von  demselben  Dinge,  dem  Wasser,  aus- 
gesagt werden  können. 

Besteht  nun  aber  wirklich  eine  solche  CoincidenzV  Dass 
ein  Begriff  zugleich  allgemein  und  individuell  sein  könnte,  wie 
Drobisch  meint,  *  oder  zugleich  abstract  und  concret,  wie  James 
MilP  und  Alexander  Bain*^  aufstellen,  ist  durch  die  obigen 
Definitionen  von  selbst  ausgeschlossen,  —  dagegen  dürfte  die 
oft  gehörte  Behauptung  des  umgekehrten  Quantitäts Verhältnisses 
von  Umfang  und  Inhalt  eines  Begriffes*  um  so  bereitwilligere 
Zustimmung  finden.  Das  fragliche  Gesetz  lässt  sich  etwa  so 
aussprechen:  je  grösser  der  Umfang  eines  Begriffs,  desto  kleiner 
der  Inhalt;  je  grösser  der  Inhalt,  desto  kleiner  der  Umfang. 
Anders  ausgedrückt:  je  allgemeiner,  desto  abstracter;  je  weniger 

'  a.  a.  O.  S.  23. 

^  Aoaljsis  of  the   phenonieiia  of  the  human  niind  ed.  J.  St.  Mill  London 

1869,  vol.  I  eh.  VIII  S.  -269  f. 
'  Logic  part  I.  dedaction  London  1870,  S.  7  §.  10. 
*  Vergl.  z.  B.  Hamilton  a.  a.  O.  Lectnre  XXXIV  Schlußs  (S.  298  f.). 


202  Meinong. 

abstract,  desto  weniger  allgemein.  Ist  der  Inhalt  =  1  (ein- 
facher Begriff),  80  ist  der  Umfang  unendlich  gross.  Ist  der 
Inhalt  unendlich  gross  (das  wird  gewöhnlich  als  fligenthüm- 
lichkeit  concreter  Vorstellungen  angegeben),  so  ist  der  Umfang 
=  1,  d.  h.  jede  concreto  Vorstellung  ist  individuell,  jede  in- 
dividuelle concret,  woraus  sich  von  selbst  ergibt,  dass  auch 
alle  Abstracta  allgemein,  alle  Universalbegriffe  abstract  sind. 
Umfang  und  Inhalt  bestimmen  sich  also  gegenseitig. 

Dass  zunächst  in   der   That   alle  concreten  Vorstellungen 
zugleich  auch  individuell  sind,   muss  jedem  klar  sein,  der  be- 
denkt, dass  jede  concreto  Vorstellung   eines   psychischen   oder 
physischen  Objectes  ganz  bestimmte  Daten  der  Zeity  respective 
des   Raumes   und   der  Zeit   enthält  und  in  keinem  der  beiden 
Fälle  eine  Mehrheit  von  Vorstelhingsgegenständen  angenommen 
werden  kann,  wenn  auch  der  Grund,  der  diese  Annahme  ver- 
bietet, dort  und  hier  nicht  völlig  gleichartig  ist.  Im  ersten  Falle 
schlösse   die   entgegengesetzte   Behauptung  einen  Widerspruch 
in   sich;    denn   wenn    irgend    etwas,    so  wird   durch   das  Wort 
Identität  das   Verhältniss   eines   psychischen    Phänomens    zu 
einem   psychischen   Phänomen   bezeichnet,   das    mit  jenem    in 
allen  Stücken,  die  Zeit  eingerechnet,  übereinstimmt.     Nicht  so 
im  zweiten  Falle;  der  noch  schwebende  Streit  der  Psychologen, 
ob    man   an    ein    und    demselben    Orte    zugleich    verschiedene 
Farben  sehen  könne,  ^  beweist;  mindestens,  dass  eine  solche  An- 
nahme nicht  absurd  ist.    Das  Gesetz  der  Undurchdringlichkeit 
der  Körper  ist  nicht  analytisch;  und  ist  es  nicht  widersprechend, 
dass   verschiedene  Gegenstände   gleichzeitig   einen  Raum  ein- 
nehmen könnten,  so  ist  nicht  abzusehen,  warum   diese  Gegen- 
stände ihre  verschiedene  Individualität  einbüssen  sollten,  wenn 
sie  zufallig  sonst  in  jeder  Hinsicht  übereinstimmten.  Von  prak- 
tischer Bedeutung   ist   diese  Distinction   natürlich   nicht;  denn 
hat  das  Gesetz  der  Undurchdringlichkeit  nicht  mathematische^ 
so  hat  es  doch  jedenfalls  physische  Sicherheit,  —  aber  dies 
konnte    uns    nicht    davon    dispensiren,    bereits   in   der    obigen 
Deiinition    des   Individuellen    diesen    Unterschied    namhaft    zu 
machen. 


1  Vergl.  Helmholtz  Handbuch  der  physiologischen   Optik   (Kiursten^s   allge- 
meine Encyklopädie  der  Physik,  Bd.  IX),   Leipzig   1867,  §.  20  S.  273  ff. 


Rnne- Studien.   I.  203 

Also  die  Daten  der  Zeit^  beziehungsweise  des  Raumes 
and  der  Zeit,  weisen  unzweideutig  auf  ein  Individuum;  will 
man  dagegen  von  Raum  und  Zeit  absehen,  so  kann  das  nur 
durch  Abstraction  geschehen,  und  die  fragliche  Vorstellung 
kört  damit  auf,  eine  concreto  zu  sein.  Das  ist  aber  nicht 
etwa  so  zu  verstehen,  als  ob  die  concreto  Vorstellung  alle 
dem  voi^estellten  Gegenstande  eigenthümlichen  Merkmale  ent- 
halten müsste;  deren  mag  es  unendlich  viele  geben,  viele 
mögen  den  Sinnen  erst  spät,  viele  gar  nicht  zugänglich  werden, 
—  die  Zahl  der  Elemente  des  concreten  Begriffs  bleibt  dagegen 
eine  beschränkte,  nicht  einmal  alle  dem  Vorstellenden  be- 
kannten Attribute  des  Objectes  müssen  in  der  Vorstellung 
enthalten  sein,  ja  sie  können  es  oft  gar  nicht,  namentlich  wenn 
diese  Attribute  Relationen  zu  andern  Objecten  voraussetzen. 
Das  Concretum  umfasst  eben  nichts  als  den  Complex  von 
Merkmalen,  die  sieh  vermöge  der  Natur  des  Gegenstandes  den 
Sinnen  auf  einmal  aufdrängen,  also  vor  Allem  die,  welche 
unter  Vermittlung  des  eben  am  meisten  in  Anspruch  genomme- 
nen Sinnes,  in  der  Regel  des  Gesichts,  zum  Bewusstsein  ge- 
langen, —  Daten  anderer  Sinne  wohl  nur,  wenn  sie  sich  in 
so  auffallender  Weise  geltend  machen,  dass  sie  mit  den  ersteren 
sofort  eine  starke  Association  eingehen,  die  sich  im  Falle 
späterer  Reproduction  gar  nicht  oder  sehr  schwer  lösbar  er- 
weist. So  mag  z.  B.  das  Gesichtsbild  eines  Wasserfalles  sich 
lur  den  nahestehenden  Beschauer  mit  der  gleichzeitig  wahrge- 
nommenen Gehörsempfindung  des  Rauschens  vielleicht  zu  dem 
Ganzen  einer  concreten  Vorstellung  vereinigen;  vielleicht  ver- 
halten sich  auch  verschiedene  Subjecte  demselben  Gegenstande 
gegenüber  verschieden.  Uebrigens  sei,  um  Misverständnisse  zu 
verhüten,  hier  ausdrücklich  hervorgehoben,  dass,  sobald  der 
Beobachter  in  unserem  Beispiele  den  Gegenstand  der  Vor- 
stellung als  jdiesen  Wasserfall^  bezeichnet,  er  damit  nicht  nur 
das  Vorhandensein  einer  concreten,  sondern  auch  das  einer 
abstracteu  Vorstellung  verräth;  denn  jene  Worte  sagen  bereits 
eine  Subsumtion  des  eben  wahrgenommenen  Phänomens  unter 
eine  Classe  aus,  was  ohne  allgemeine  (und  daher  abstracto) 
Idee  nicht  geschehen  kann. 

Eines  Falles  ganz  eigenthümlicher  Art,  der  aber  auch  in 
diesem  Zusammenhange  wenigstens  erwähnt  zu  werden  verdient. 


204  MeiBong. 

gedenkt  Ä.  Bain.  ,Beim  Sehen/  meint  er,  ^  ,können  wir  mehr 
mit  den  muskulären  Elementen  beschäftigt  sein  als  mit  den 
optischen  und  umgekehrt;  aber  wir  können  die  beiden  nicht 
ganz  von  einander  trennen/  Hier  wären  also  Daten  ganz  ver- 
schiedener Sinne  (Gesichtsem piindung  und  Muskelgefühl)  immer 
und  überall  zu  einem  Concretum  verschmolzen;  fraglich  bleibt 
nur,  ob  Bain  mit  der  Behauptung  der  Untrennbarkeit  Recht 
hat;  und  das  muss  bei  dem  Umstände,  dass  nichts  der  Auf- 
merksamkeit leichter  entgeht  als  Muskelempfindungen,  min- 
destens sehr  zweifelhaft  bleiben. 

Also   alle   concreten   Begriffe   sind   particulär;   sind   aber 
auch  alle  particulären  Begriffe  concret?     Schon   Hamilton    hat 
versucht,  das  Vorhandensein  particulärer  Abstracta  zu  consta- 
tiren.     ,Die  Vorstellung   von   der  Gestalt  des  Pultes  vor  mir/ 
sagt   er,^  ,ist   eine   abstracte  Idee,  ....  aber  sie  ist  zugleich 
individuell,  denn  sie  repräsentirt  die  Gestalt  dieses  besonderen 
Pultes  und  nicht  die  irgend  eines  anderen  Körpers/     Aber  so 
unangreifbar    dies    auch    sein   mag,   wenn   man   mit  Hamilton 
eine  Substanz,  deren  Vorstellung  angeboren  ist,  den  sensiblen 
Qualitäten  zu  Grunde  legt,  so  bedenklich  muss  es  andererseits 
erscheinen,    eine    so    vielbestrittene   metaphysische  Theorie 
ohne   Erörterung    derselben    als   Basis   psychologischer   Unter- 
suchung zu  verwenden.    Stellt  man  sich  einen  Augenblick  auf 
den  Standpunkt   von  Hamilton's  Gegnern,   betrachtet   man  die 
äusseren  Gegenstände,   um   mit  J.  St.  Mill  zu  sprechen^^  blos 
als    ,Gruppen    von   Sensationen',   so   erkennt  man   sofort,    wie 
unglücklich   es   war,  gerade   die  Gestalt  als  Beispiel  heraus- 
zugreifen. Die  Gestalt  bestimmt  die  Ausdehnung  des  Pultes, 
aber  auch  dessen  Farbe  tritt  in  ganz  bestimmter  Gestalt  auf, 
und   diese   letztere  Gestalt   coincidirt   ohne  Frage  vollkommen 
mit    der   ersteren;   haben    wir   es   aber   darum   nur   mit  einer 
Gestalt  zu  thun?    Dies   muss   um  so  mehr  bezweifelt  werden, 
als  Ausdehnung    und   mit   ihr   Gestalt   des   Pultes   auch    noch 
durch    den   Tastsinn    percipirt  werden    können,    während    die 


'  Mental  and  inoral  science,  London  1876,  8.  177. 

2  Lecturea  a.  a.  O.  S.  287  f. 

3  An  examination  of  Sir  William  Hamilton \s  philosophy  chapt.  XI,  in  der 
dem  Verfasser  allein  zug^änglich  fi^wesenen  französischen  Uebersetarang' 
von  Cazelles  (Paris  1869)  8.  216. 


Ham«-8taditn.    I.  205 

Farbe  und  die  auf  diese  bezügliche  Gestalt  doch  dem  Oebiete 
des  Gesichtssinnes  angehört.  Um  was  handelt  es  sich  dem- 
nach;  all  dies  als  richtig  angenommen^  wenn  von  Gestalt  des 
Pultes  die  Rede  ist?  Offenbar  um  eine  Mehrheit,  und  damit 
hat  der  abstracte  Begriff  aufgehört,  ein  individueller  zu  sein. 
Wir  haben  zwar  hier  die  Autorität  J.  St.  Mill's  für  uns 
in  Anspruch  genommen;  dennoch  würde  dieser  unsere  Objec- 
tion  gegen  seinen  Gegner  Hamilton  schwerlich  unterstützen. 
Coincidirt  wirklich  z.  B.  die  gesehene  und  getastete  Gestalt  voll- 
ständig, so  würde  er  wohl  kein  Bedenken  tragen,  beide  nicht 
nur  für  gleich,  sondern  für  identisch  zu  nehmen.  Denn  er 
geht  in  dieser  Richtung  noch  viel  weiter.  Indem  er  sich  für 
berechtigt  hält,  völlig  gleiche  Attribute  für  identisch  zu 
setzen,  creirt  auch  er  eine  ganze  Classe  abstracter  Individualien, 
abstract  in  seinem,  folglich  jedenfalls  auch  in  unserem  Sinne. 
,Wenn  nur  ein  Attribut,'  meint  er,*  ,das  weder  Grades-  noch 
Artunterschiede  zulässt,  durch  den  Namen  bezeichnet  wird, 
wie  Sichtbarkeit,  Greifbarkeit,  Gleichheit,  Viereckigkeit,  Milch- 
weisse,  —  dann  kann  der  Name  kaum  als  ein  allgemeiner  be- 
trachtet werden;  denn  obgleich  er  ein  Attribut  vieler  ver- 
schiedener Objecto  bezeichnet,  so  wird  das  Attribut  selbst  doch 
immer  als  eines,  nicht  als  eine  Vielheit  gedacht'.  Ohne  Frage 
hat  Mill  hier  den  Sprachgebrauch  in  ganz  ausserordentlichem 
Umfange  für  sich.  Täglich  sagt  man  und  hört  man  sagen, 
diese  und  jene  Dinge  hätten  dieselbe  Grösse,  dieselbe  Farbe 
u.  8.  f.,  —  aber  fast  eben  so  oft  kommt  der  Ausdruck  gleiche 
Farbe,  gleiche  Grösse  etc.  für  dieselben  Fälle  vor,  so  dass 
es  doch  höchst  bedenklich  erscheinen  niuss,  sich  blos  auf  die 
erste  Redeweise  zu  stützen,  da  die  zweite  doch  hinlänglich 
beweist,  wie  wenig  der  gemeine  Gebrauch  die  Worte  Iden- 
tität und  Gleichheit  auseinanderzuhalten  weiss.  Es  bleibt  also 
nichts  übrig,  als  sich  den  Sinn  beider  Namen  selbst  möglichst 
deutlich  zu  machen.  In  der  That,  wollte  man  nichts  identisch 
nennen,  was  ,sich  für  unsere  Sinjie  nicht  durch  dieselben  Einzel- 
empfindungen kundgibt,'  so  müsste,  wie  Mill  mit  Recht  gegen- 
über Herbert  Spencer  geltend  macht,  ^  ,auch  das  Menschenthum 


^  Log^ik  Buch  I  Cap.  II  §.  4. 

'  a.  a.  O.  Buch  II  Cap.  II  §.  4  Anmerkung. 


206  Meiaong. 

eines  und  desselben  Mensehen  in  diesem  Augenblicke  und  eine 
halbe  Stunde  später  als  verschieden  betrachtet  werdend  Nicht 
einmal  absolute  Gleichheit  der  Empfindungen  ist  erforder- 
lich; wir  betrachten  einen  Gegenstand  meist  auch  dann  noch 
als  identisch,  wenn  wir  ihn  zu  verschiedener  Zeit  an  ver- 
schiedenen Orten  wahrnehmen,  und  so  wenig  geht  die  Gleich- 
heit stets  mit  der  Identität  zusammen,  dass,  wenn  wir  die  be- 
treffenden zwei  Perceptionen  einander  noch  ähnlicher  machen, 
indem  wir  unter  Belassung  der  verschiedenen  Ortsbestimmun- 
gen die  Zeit  für  Beide  gleichsetzen,  gerade  dadurch  die  Iden- 
tität aufgehoben  wird.  Bezüglich  der  Identität  bei  Gegen- 
ständen scheint  indessen  kaum  eine  Unklarheit  möglich,  — 
wie  steht  es  aber  bei  den  Attributen?  Gesetzt,  wir  hätten 
zwei  congruente  Dreiecke,  A  und  B]  ist  nun  die  Dreieckigkeit 
von  A  identisch  mit  der  Dreieckigkeit  von  B?  —  d.  h.  ist  die 
Dreieckigkeit  von  A  die  Dreieckigkeit  von  jB?  Niemand  wird 
bestreiten,  dass  A  fortbestehen  kann,  auch  wenn  B  vernichtet 
ist,  —  ebenso  wenig  wird  angefochten  werden,  dass  das  Attribut 
an  seinem  Gegenstande  haftet,  mit  ihm  besteht,  aber  auch  mit 
ihm  vergeht.  Gibt  es  nun  B  nicht  mehr,  so  existirt  auch  nicht 
die  Dreieckigkeit  von  By  dagegen  existirt  A  und  die  Drei- 
eckigkeit von  A  ungestört  fort.  Nun  ist  aber  die  Dreieckigkeit 
von  A  nach  Mill  die  Dreieckigkeit  von  By  somit  existirt  die- 
selbe Dreieckigkeit  imd  existirt  doch  wieder  nicht,  was  wohl 
Niemand  für  möglich  zu  halten  geneigt  sein  wird.  —  Was  diese 
dem  Anschein  nach  ziemlich  müssigen  Erörterungen  darthun 
sollen,  ist  nur,  dass  wenn  man  bei  gleichen  Attributen  ver- 
schiedener Dinge  von  Identität  spricht,  damit  unmöglich  Iden- 
tität im  strengen  Sinne  gemeint  sein  kann,  und  dass  es  ebenso 
ungenau  ist,  die  allgemeine  Vorstellung  das  ,Eine  im  Mannig- 
faltigen* zu  nennen,  wie  Mill  thut.  Will  man  einmal  ein  Attribut 
als  Individuum  betrachten,  so  muss  man  dann  auch  so  viele 
attributive  Individuen  anerkennen,  als  es  reale  gibt;  MiU's 
,Abstractum*  muss  daher  genau  so  weit  universell  bleiben,  als 
das  zugehörige  ,Concretum*  allgemein  ist;  —  dies  war  auch 
der  Grund,  weshalb  wir  schon  oben  (S.  199)  diese  ,Abstracta' 
zu  den  , allgemeinen  Namen'  rechneten. 

Jedenfalls    ist   in   dieser  Frage   Hamilton    der   Wahrheit 
näher  gekommen^   denn   er   hat   sich    im   Grunde   nur  in    der 


Harne -Stadien.   I.  207 

Wahl  des  Beispieles  vergriffen.  Hätte  er  statt  der  Gestalt  etwa 
die  Farbe  seines  Pultes  vorgeführt;  so  wäre  seine  Behaup- 
tung wohl  von  jedem  Standpunkte  aus  unanfechtbar.  Sollten 
aber  Beispiele  individueller  Abstracta  nur  unter  den  Vor- 
stellungen von  Attributen  anzutreffen  sein?  Wenn  ich  an  einen 
Freund  denke,  so  habe  ich  sicher  von  ihm  eine  particuläre 
Vorstellung;  aber  ich  weiss  nicht,  wo  er  sich  eben  jetzt  be- 
findet, jener  Vorstellung  fehlt  also  das  Datum  des  Ortes,  sie 
kann  somit  nicht  mehr  concret  sein.  —  Ich  komme  an  einen 
Ort,  wo,  wie  ich  weiss,  mein  Freund  gewesen  ist;  allein  ich 
weiss  nicht  wann,  denke  ich  ihn  daher  an  dieser  Stelle, 
so  muss  ich  die  Zeit  unbestimmt  lassen.  Aber  auch  ohne 
solchen  besonderen  Anlass  denke  ich  an  den  Freund  als  in 
seinem  Wesen  den  Wechsel  von  Raum  und  Zeit  überdauernd, 
d.  h.  ich  ab  strahl  re  in  der  R^el  bei  der  Vorstellung  dieses 
Menschen  von  Raum  und  Zeit.  Dasselbe  gilt  auch  von  leblosen 
Gegenständen,  sofern  Raum  oder  Zeit  nicht  etwa  ein  wesent- 
liches Merkmal  derselben  ausmacht.  —  Betrachten  wir  ein 
anderes  Beispiel:  In  einem  Sacke  befinden  sich  unreife  Aepfel; 
jemand  nimmt  einen  Apfel  heraus,  geht  hierauf  zum  £igen- 
thümer  und  bittet  ihn  uro  diesen  Apfel.  Der  Eigenthümer 
aber,  der  in  eine  Arbeit  vertieft  ist,  antwortet,  ohne  aufzu- 
sehen: ,Du  wirst  ihn  nicht  geniessen  können,  er  ist  noch 
unreif^  Der  Redende  denkt  hier  gewiss  nur  an  einen  Apfel 
(der  Andere  hat  ja  nur  einen  genommen),  er  abstrahirt  vom 
Räume  (er  weiss  ja  gar  nicht,  wo  der  Apfel  ist),  ebenso  von 
einem  bestimmten  Augenblicke  (der  Apfel  wird  in  einer  Stunde 
noch  eben  so  gut  unreif  sein,  als  er  es  vor  einer  Stunde  war); 
aber  noch  mehr:  er  hat  auch  keine  bestimmte  Vorstellung  von 
Farbe,  Gestalt,  Grösse  des  Apfels,  denn  wenn  er  auch  jedes 
Stück  seiner  Aepfel  von  andern  zu  erkennen  vermöchte,  so 
kann  er  doch  keinen  ausschliesslich  im  Auge  haben,  denn  er 
weiss  nicht,  welcher  herausgenommen  worden  ist.  —  In  gleicher 
Weise  spreche  ich  von  dem  Schreiner,  der  meinen  Schreib- 
tisch hergestellt  hat;  ich  denke  nur  ein  Individuum,  aber  ich 
habe  ihn  nie  gesehen,  kann  also  unmöglich  eine  concreto  Vor- 
stellung von  ihm  haben.  Betrachtet  man  endlich  Vorstellungen 
'Wie:  Der  Weiseste  von  allen  Menschen,  der  glänzendste  von 
Allen   Sternen,   so   wird   man   auch   nicht   die  Spur  von  etwas 


208  Meinong. 

Concretein  antreffen,  sie  sind  aber  nichtsdestoweniger  individuell; 
denn  wären  z.  B.  zwei  Menschen  weiser  als  alle  anderen,  so 
könnte  man  sie  zwar  die  Weisesten  von  Allen,  streng  genommen 
aber  Keinen  von  ihnen  den  Weisesten  von  Allen  nennen. 

Augenscheinlich  sind  also  die  abstracten  Individualbegriffe 
keineswegs  etwas  so  Seltenes,  als  noch  selbst  nach  Hamilton's 
Weise,  die  Sache  darzustellen,  zu  vermuthen  war.  Aber  vielleicht 
gelingt  es  uns  nun  auch,  die  mannigfachen,  aus  der  Erfahrung 
zusammengelesenen  Fälle  unter  einige  einheitliche  Gesichts- 
punkte zu  bringen.  Offenbar  kommt  es  vor  Allem  darauf  an, 
zu  ermitteln,  was  erforderlich  ist,  um  einer  Vorstellung  den 
Charakter  des  Individualbegriffes  zu  geben.  Auf  dreierlei  Weise 
scheint  dies  möglich  zu  sein:  entweder  1.  der  Begriff  ist  con- 
cret,  oder  2.  sein  Gegenstand  wird  in  Relation  gedacht  zu 
einer  concreten  Vorstellung  oder  deren  Gegenstand,  und  zwar 
in  einer  solchen  Relation,  die  eine  Mehrheit  der  Glieder  auf 
Seite  des  erstgenannten  Gegenstandes  ausschliesst,  oder  endlich 
3.  die  Relation  bezieht  sich  auf  alle  Individuen  der  Classe, 
welcher  der  fragliche  Gegenstand  angehört,  mit  einziger  Aus- 
nahme eben  dieses  Gegenstandes  selbst. 

Die  erste  Art  umfasst  alle  concreten  Individualien  und 
wurde  bereits  oben  unter  dem  Titel  der  Concreta,  mit  denen  sie 
ja  ganz  und  gar  zusammenfällt,  abgehandelt.  Dies  ist  die  Form, 
in  der  jedes  empirische  Datum  uns  zuerst  ins  Bewusstsein 
kommt,  und  insofern  sind  die  Concreta  die  Grundlage  aller 
Erkenntniss.  Aber  Erkenntniss  geht  zunächst  nicht  auf  unsere 
Vorstellungen,  sondern  auf  deren  Gegenstände,  sie  sucht  das 
diesen  Eigenthümliche  von  dem  durch  den  betreffenden  Vor- 
stellungsact  hinzugebrachten  Zufalligen  möglichst  loszulösen,  — 
damit  wird  aber  fast  immer  gerade  das  entfallen,  was  die  Vor- 
stellung zur  concreten  macht,  und  schon  daraus  erhellt,  dass 
die  allermeisten  Begriffe  von  Individuen  Abstracta  sein  müssen. 

Diese  abstracten  Individualbegriffe  nun  sind  unter  den 
zweiten  und  dritten  der  obigen  Fälle  zu  subsumiren.  Charak- 
teristisch ist  für  den  einen  wie  für  den  andern  eine  Rela- 
tion; während  aber  in  der  zweiten  Gruppe  wenigstens  das  Cor- 
relat  noch  concret  ist,  fallt  in  der  dritten  Gruppe  auch  dies 
weg,  so  dass  hier  der  Individualbegriff  nur  aus  abstracten 
Begriffen  besteht. 


Hame-Stadien.   I.  209 

Von  diesen  beiden  Classen  ist  die  erste,  als  die  bei  Weitem 
umfangreichste,  vor  Allem  wichtig.  Hierher  gehörige  Beispiele 
sind  die  oben  gegebenen  vom  Freunde,  vom  Apfel,  vom  Schreiner. 
Zur  völligen  Klarstellung  mögen  hier  noch  einige  Bemerkungen 
Platz  finden:  Dass  das  Correlat  hier  immer  individuell  ist, 
also  eine  Verwechslung  verhindert,  dafür  bürgt  schon  seine 
Natur  als  Concretum.  Nicht  dasselbe  kann  von  jeder  Relation 
gelten.  Sage  ich:  ,dieser  Mensch'  (den  ich  eben  sehe  oder 
gestern  gesehen  habe),  so  ist  die  Persönlichkeit  vollkommen  be- 
stimmt; es  liegt  eine  concreto  Sinneswahrnehmung  vor  und  ein 
Object,  das  als  deren  Ursache  gedacht  wird,  —  diese  Sinnes- 
wahmehmung  konnte  offenbar  nur  durch  ein  Object  bewirkt 
werden,  wobei  darüber,  ob  dieses  Object  etwa  ein  CoUectiv 
sei  oder  nicht,  natürlich  noch  gar  nicht  präjudicirt  ist.  Das 
Concretum  kann  auch  in  mittelbarer  Relation  zum  Gegenstande 
der  Individualvorstellung  stehen;  so,  wenn  ich  sage:  Der  Vater 
dieses  Menschen.  Auch  hier  ist  die  Individualität  des  Be- 
griffes unzweifelhaft;  hätte  ich  dagegen  gesagt:  Sohn  dieses 
Menschen,  Nachbar  dieses  Menschen,  so  wären  das  zunächst 
Allgemeinbegriffe,  die  zu  ihrer  Individualisirung  noch  einer 
näheren  Bestimmung  bedürften.  —  Es  ist  übrigens  ziemlich 
selbstverständlich,  dass  es  für  den  Charakter  der  in  Rede  ste- 
henden Begriffe  ganz  einerlei  bleibt,  ob  das  Vorgestellte  ein 
Ding  oder  ein  blosses  Attribut  ist.  Ein  Beispiel  der  letzteren 
Art  ist,  von  dem  oben  geltend  gemachten  Bedenken  abgesehen, 
das  von  Hamilton  erwähnte  particuläre  Abstractum;  in  der  That^ 
ob  ich  dieses  Pult  vorstelle,  oder  das  Merkmal  x  dieses 
Pultes,  in  jedem  Falle  kann  sich  die  Vorstellung  nur  auf 
einen   Gegenstand  beziehen. 

Die  zweite  Art  abstracter  Individualbegriffe  ist  durch  die 
Beispiele  vom  weisesten  Menschen  und  schönsten  Stern  wohl 
genügend  beleuchtet  worden.  Während  in  der  vorigen  Classe 
dem  Vorhandensein  mehrerer  Gegenstände  meist  nur  unend- 
lich grosse  UnWahrscheinlichkeit  entgegenstand,  ist  dies  hier 
durch  den  Satz  des  Widerspruches  ausgeschlossen.  In  der 
Sprache  entspricht  diesen  Vorstellungen,  wie  es  scheint,  eine 
eigene  Ausdrucksform,  der  Superlativus  singularis  des  Adjectivs. 

Hat  sich  demnach  aus  unserer  Untersuchung  eingeben, 
dass  nicht  nur  nicht  alle,  sondern  nur  die  wenigsten  Individual- 

8itnngtb«r.  d.  phil.-Hist.  C\.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hfl.  U 


210  Meinouff. 

begriffe  concret  genannt  werden  können^  so  folgt  nun  von 
selbst;  dass  zwar  alle  Allgemeinbcgriffe  abstract;  nicht  aber 
alle  Abstracta  allgemein  sind.  Wie  steht  es  nun  aber  mit 
dem  scheinbar  so  plausiblen  Gesetz  vom  umgekehrten  Ver- 
hältnisse in  dem  Umfang  und  Inhalt  der  Begriffe  sich  verändern 
sollen? 

Wird  auch  der  Umfang  eines  einfachen  Begriffes  als  un- 
endlich gross  zugegeben,  so  ist  doch  noch  gar  nicht  abzusehen, 
warum  nicht  auch  ein  complexer  Begriff  unendlich  viele  Ob- 
jecto unter  sich  begreifen  könnte,  auch  wenn  es  deren  weniger 
sein  sollen  als  die,  welche  der  einfache  Begriff  umfasste.  Aber 
bezüglich  des  Inhaltes  der  Individualbegriffe  lässt  sich  schon 
das  Zugeständniss  der  Unendlichkeit  in  keiner  Weise  machen« 
Ein  Begriff  mit  unendlich  vielen  Merkmalen  wäre  eine  For- 
derung, die  die  Grenzen  unserer  Fassungskraft  wohl  weit 
überstiege;  übrigens  haben  wir  schon  bei  den  concreten  Indi- 
vidualvorstellungen  nur  eine  beschränkte  Zahl  von  Merkmalen 
antreffen  können,  —  dass  von  den  abstracten  Individualien  das- 
selbe nur  noch  in  erhöhtem  Grade  gilt,  braucht  kaum  hervor- 
gehoben zu  werden.  Wir  denken  zwar  das  Individuum  als 
mit  unendlich  vielen  (wenn  auch  uns  unbekannten)  Attributen 
ausgestattet,  aber  die  Vorstellung  von  etwas  Unendlichem  hat 
doch  sicher  nicht  selbst  unendlich  viele  vorgestellte  Bestand- 
theile.  Zum  Ueberfluss  dürfte  sich,  wenn  man  nun  einmal 
diese  Attribute  ins  Auge  fasst,  schwerlich  ein  Grund  an- 
geben lassen,  warum  mehrere  Individuen  nicht  auch  in  einer 
unendlichen  Zahl  von  Attributen  übereinstimmen  könnten 
(das  Zusammentreffen  von  Raum-  und  Zeitbestimmung  natür- 
lich ausgenommen).  Hat  ein  Individuum  wirklich  unendlich 
viele  Merkmale,  und  lässt  man  davon  die  (endlich. vielen)  seine 
Individualität  voraussetzenden  weg,  so  ist  der  Rest  immer  noch 
unendlich  gross  und  kann  ohne  Widerspruch  als  allgemein 
gelten. 

Wir  haben  ferner  gefunden,  dass  Individualbegriffe,  die 
doch  alle  gleichen  Umfang  haben,  sehr  verschieden  grossen 
Inhalt  aufweisen  können.  Auch  liegt  es  auf  der  Hand,  dass 
es  Fälle  gibt,  wo  ein  Zuwachs  oder  eine  Abnahme  bezüglich 
des  Inhaltes  eines  Begriffes  den  Umfang  ganz  unverändert 
lässt,  nämlich,  wenn  man  einem  Gattungs-  oder  Artbegriff  ein 


Hnme- Studien.   I.  211 

Proprium  dieser  Gattung  oder  Art  zufügt  oder  umgekehrt  den  in 
letzterer  Weise  complicirten  Begriff  durch  Weglassung  des  Pro- 
prium auf  den  blossen  ßattungs-,  respective  Ärtbegriff  reduciii;. 
Kurz,  es  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen^  dass  das  fragliche 
Gesetz,  wenigstens  in  seiner  Allgemeinheit;  völlig  unhaltbar 
ist.  Drobisch  hat  daher  den  Versuch  gemacht^  dasselbe  min- 
destens auf  beschränktem  Gebiete  zu  constatiren  ^  und  bezüglich 
einiger  einfacher  Fälle  das  Verhältniss  von  Umfang  und  Inhalt 
sogar  in  mathematische  Formeln  zu  bringen.^  Aber  zu  den 
schon  von  Ueberwcg^  geltend  gemachten  praktischen  Bedenken 
gegen  diese  Formeln  kommt  noch  ein  theoretisches.  Drobisch 
hat  sich  die  Lösung  seiner  Aufgabe  wesentlich  erleichtert,  ja 
einzig  möglich  gemacht  durch  seine  Definition  vom  Umfange. 
Dieser  ist  nach  ihm  ,die  geordnete  Gesammtheit  aller  einander 
beigeordneten  Arten'  des  Objectsbegriffs, *  es*  sind  damit 
natürlich  die  niedrigsten  Arten  gemeint.  Durch  diese  Definition 
ist  aber  der  Sinn  des  Wortes  Umfang  ganz  verschoben;  ge- 
wöhnlich meint  man  damit  doch  die  Gesammtheit  der  unter 
den  fraglichen  Begriff  fallenden  Individuen,  während  nach 
Drobisch  bei  den  niedrigsten  Arten  ein  Umfang  gar  nicht 
mehr  in  Frage  kommen  oder  höchstens  als  Einheit  betrachtet 
werden  kann.  Unter  Voraussetzung  des  gewöhnlichen  und 
wohl  einzig  statthaften  Begriffes  jedoch  sind  die  in  Rede 
stehenden  Formeln  unanwendbar;  denn  eben  weil  sie  die  nie- 
drigsten Arten  sämmtlich  =  1  setzen,  werden  deren  Umfange 
als  durchaus  gleich  behandelt,  was  der  Wirklichkeit  wohl  kaum 
in  irgend  einem  Falle  entsprechen  wird. 

Abgesehen  von  dem  mathematischen  Theile  wird  man 
aber  Drobisch's  Modificationen  nur  beipflichten  können.  Nach 
ihm  erhält  das  Gesetz  diese  Form:  ,In  jeder  Reihe  einander 
untergeordneter  Begriffe  kommt  demjenigen  von  je  zwei  mit 
einander  verglichenen  Begriffen,  welcher  einen  grösseren  Inhalt 
als  der  andere  hat,  ein  kleinerer  Umfang,  und  umgekehrt  dem- 
jenigen,  welcher   einen   grösseren  Umfang  als  der  andere  hat, 

»  a.  a.  O.  §.  26  8.  29f. 

^  ibid.  S.  206  ff.  Loirisch-mathematificber  Anhang^  I. 

^  System  der  Logik  2.  Aufl.  Bonn  1865,  §.  54  S.  104. 

*  a.  a.  O.  §.  25  S.  28. 

14* 


212  Meinonff. 

ein  kleinerer  Inhalt  zu^  Es  muss  hier  ira  Auge  behalten 
werden,  dass  nur  von  einer  Reihe  ßubordinirter  Begriffe 
die  Rede  und  die  Grösse  von  Zuwachs  oder  Abnahme  ganz 
unbestimmt  gelassen  ist.  Ueber  diese  Grenzen  hinaus  kann 
dem  Gesetze  nicht  einmal  eine  annähernde  Richtigkeit  einge- 
räumt werden.  — 

Was  sich  aus  unseren  Betrachtungen  ergeben  hat,  ist  in 
Kurzem  dies:  Für  die  Frage,  ob  ein  Begriff  universell  oder 
particulär  sei,  ist  die  Anzahl  der  dem  Inhalt  desselben  aus- 
machenden Attribute  ganz  unwesentlich,  nicht  ebenso  die  Qua- 
lität dieser  Attribute;  denn  je  nachdem  mit  Rücksicht  auf 
diese  Qualität  das  Vorhandensein  von  mehreren,  dem  fraglichen 
Begriffe  entsprechenden  Individuen  als  mathematisch  oder  phy- 
sisch unmöglich  betrachtet  werden  muss  oder  nicht,  muss  auch 
der  Begriff  als  individuell  oder  allgemein  gelten.  Für  die  Frage 
dagegen,  ob  ein  universeller  Begriff  mehr  oder  minder 
universell  sei,  kann  die  Inhaltsgrösse  unter  Umständen  von 
Belang  sein,  und  die  Inhaltsqualität  ist  es  immer,  aber  aus 
dieser  oder  jener  oder  beiden  allein  wäre  darüber  gar  nichts 
zu  entnehmen;  denn  beim  Umfang  handelt  es  sich  um  ein 
Verhältniss  und  mit  dem  Inhalte  ist  nur  ein  Glied  des- 
selben gegeben,  das  zweite  kann  nur  durch  die  Erfahrung  bei- 
gebracht werden. 

Der  Umfang  ist,  und  das  verdient  wohl  festgehalten  zu 
werden,  nicht  etwas,  das,  gleich  dem  Inhalte,  selbstverständlich 
oder  gar  noth wendig  in  dem  Begriffe  vorgestellt  würde.  Man 
wird  zwar  häufig,  wenn  man  einen  Begriff  denkt,  sich  auch 
vergegenwärtigen,  ob  der  Umfang  desselben  gross  oder  klein 
sei;  aber  dies  ist  durchaus  nicht  wesentlich,  und  wenn  nach- 
trägliche Erfahrung  ergibt,  dass  der  Umfang  weit  grösser  ist 
als  man  vorher  glaubte,  kann  dies  am  Begriffe  selbst  nicht  das 
Geringste  ändern.  Deshalb  wird  der  Umfang  des  Universal- 
begriffes gewöhnlich  als  etwas  für  unsere  Erkenntniss  Unbe- 
stimmtes gedacht,  da  Vieles  in  denselben  gehören  mag^  das 
wir  niemals  vorgestellt  haben.  Der  wirkliche  Umfang  ist 
eben  von  unserer  Erkenntniss  gerade  so  unabhängig  als  ii^nd 
eine  Thatsache  der  äusseren  Welt;  dass  daher  zwischen  allge- 
meiner und  individueller  Vorstellung  erst  eine  Association 
contrahirt  werden  müsste,  damit   die  letztere  unter  die  erstere 


Httine- Studien.  I.  213 

subsamirt  werden  könnte^  ist  durch  das  Gesagte  von  selbst 
ausgeschlossen,  wenn  auch  niemand  bestreiten  wird^  dass  eine 
solche  Association,  schon  in  Folge  der  Aehnlichkeit  zwischen 
dem  universellen  Begriff  und  den  untergeordneten  Particular- 
ideen,  nichts  eben  Seltenes  ist.  Wo  sie  auftritt,  wird  sie  sich 
natürlich  auch  durch  Reproduction  des  einen  Gliedes  beim 
Erscheinen  des  anderen  äussern;  aber  es  ist  klar,  dass  der 
gewaltig  fehlgehen  würde,  der  in  dieser  Reproduction  das 
Wesen  des  Umfanges  zu  erblicken  glaubte. 

Kehren  wir  nach  dieser  längeren,  aber  hoffentlich  nicht 
ganz  ergebnisslosen  Abschweifung  nun  wieder  zur  Prüfung 
Berkeley 's  zurück.  Wie  wir  sahen,  hat  er  von  der  Aufmerk- 
samkeit als  Erkläruugsprincip  für  das  Phänomen  der  Verall- 
gemeinerung eigentlich  keinen  Gebrauch  gemacht.  Durch  die 
Opposition  gegen  Locke  bis  zur  Leugnung  aller  Abstraction 
getrieben ,  hat  er  sich  selbst  die  Möglichkeit  entzogen ,  die 
Frage  nach  der  Universalität  befriedigend  zu  lösen.  Damit  ist 
manche  richtige  Bemerkung  im  Einzelnen  natürlich  noch  sehr 
wohl  vereinbar.  Er  hat,  wie  wir  nun  wissen,  ganz  Recht,  zu 
behaupten,  die  Allgemeinheit  bestehe  nicht  in  dem  ,absoluten, 
positiven  Wesen'  von  etwas  allein;  auch  wenn  er  davon  spricht, 
dass  allgemeine  Begriffe  die  individuellen  vertreten,  kann  das 
in  zutreffender  Weise  aufgefasst  werden.  Aber  Alles,  was  er  in 
diesem  Zusammenhange  sagt,  ist  lückenhaft,  unbestimmt.  Liest 
man,  dass  die  Ideen  ihre  Allgemeinheit  dem  verdanken,  was  sie 
bezeichnen,  so  weiss  man  schon  nicht,  ob  man  es  hier  nicht 
etwa  mit  einem  Ansatz  zu  einer  Associationstheorie  zu  thun  hat; 
vollends  zurückweisen  muss  man  aber  die  Ansicht,  als  könnten 
Begriffe,  ,die  ihrer  eigenen  Natur  nach  particulär  sind^,  anders 
als  eben  durch  Aufgeben  dieser  Natur  allgemein  werden. 

Nicht  eben  so  rasch  können  wir  an  Berkeley's  Aufstel- 
lungen über  die  Bedeutung  der  Worte  vorübergehen.  Hat  sich 
ans  auch  bereits  ergeben,  dass  seine  Polemik  gegen  Locke  in 
dieser  Hinsicht  nicht  als  ein  Eintreten  für  die  Beziehung  der 
Worte  auf  Dinge  aufgefasst  werden  kann,  so  ist  damit  doch 
keineswegs  ausgeschlossen,  dass  Berkeley's  Behauptungen  dem 
wirklichen  Sachverhalte  weit  näher  stehen  als  die  Locke's. 
Wenn  nämlich  dieser  den  Gebrauch  der  Worte   für  Dinge  als 


214  Heinon;. 

einen  verkehrten  bezeichnet/  so  hat  dagegen  J.  St.  Mill  mit 
Recht  darauf  hingewiesen,  ^  wie  wir  weit  davon  entfernt  sind, 
mit  dem  Satze:  ,die  Sonne  ist  die  Ursache  des  Tageslichts^ 
etwas  über  unsere  Vorstellungen  aussagen  zu  wollen.  Berkeley 
steht  nun  gewissermassen  in  der  Mitte  zwischen  diesen  Gegen- 
sätzen, indem  für  ihn  der  Unterschied  zwischen  Idee  und  Ob- 
ject  nicht  existirt;  der  Fortschritt  gegen  Locke  wird  aber  in 
der  Behauptung  deutlich;  dass  das  allgemeine  Wort  nicht  eine 
allgemeine  Idee,  sondern  Individualvorstellungen  bezeichne. 
In  der  That,  wenn  man  sagt:  jeder  Körper  ist  schwer',  so 
meint  man  dabei  niemals,  der  Allgemeinbegriff  Körper  sei 
schwer  oder  dergleichen,  man  spricht  im  Gegentheil  von  allen 
Einzelindividuen,  die  allerdings  nach  Berkeley  nur  Einzel- 
ideen sind. 

Bezieht  man  also  den  in  Rede  stehenden  Satz  Berkeley 's 
nur  auf  die  Bedeutung  des  allgemeinen  Wortes,  so  ist  der- 
selbe, von  der  metaphysischen  Seite  natürlich  abgesehen,  durch- 
aus unangreifbar.  In  der  unbeschränkten  Fassung  jedoch,  in 
der  wir  ihn  antreffen,  muss  er,  wie  schon  oben  (S.  189)  be- 
merkt wurde,  Bedenken  erregen.  In  gewissem  Sinne  ist  ja 
das  allgemeine  Wort  doch  Zeichen  einer  allgemeinen  Idee. 
Schon  Hobbes  definirt  den  Namen  als  ,ein  Wort,  ....  das, 
Andern  gegenüber  ausgesprochen,  diesen  als  Zeichen  eines 
Gedankens  dient,  den  der  Sprechende  früher  in  seinem  Geiste 
hatte  .  .  .  .^  und  J.  St.  Mill  muss  diese  von  ihm  (a.  a.  O.) 
wiedergegebene  Bestimmung  als  fehlerfrei  anerkennen.  Spricht 
also  einer  einen  allgemeinen  Namen  aus,  so  wird  der  Hörer 
daraus  in  der  Regel  den  Schluss  ziehen  dürfen,  dem  Sprecher 
schwebe  eine  Idee  von  mehreren  Einzelobjecten,  d.  h.  eben 
eine  allgemeine  Idee  vor^  welche  für  ihn  Veranlassung  war, 
das  Wort  zu  sagen.  Es  wäre  somit  ebenso  einseitig  zu  be- 
haupten, Worte  bezeichnen  n u r  Gegenstände,  als:  sie  bezeichnen 
nur  Vorstellungen;  es  ist  vielmehr  Beides  der  Fall,  aber,  wie 
wohl  zu  beachten  ist,  Jedes  in  einem  anderen  Sinne.  Uebrigens 
trifft  natürlich  Keines  von  Beiden  ausnahmslos  zu.  Wenn  jemand 
ein  Wort  nicht  versteht,  so  kann  er  es  doch  nachsprechen;  in 


*  Eüsay  concerning  hum.  underst.  b.  III  eh.  II  sect.  5. 
'  Logic  b.  I  eh.  II  §.  1. 


Hnme- Studien.  I.  215 

diesem  Falle  bezeichnet  es  eben  gai*  nichts.  Minder  selbstver- 
ständlich ist  eine  Reihe  von  andern  Ausnahmen^  auf  die  Ber- 
keley nicht  ganz  mit  Unrecht  hinweist,  wo  es  sich  nämlich 
um  Worte  handelt^  die  uns  durchaus  nicht  unverständlich  er- 
scheinen. 

£s  ist  Thatsache,  dass  wir  oft  Worte  gebrauchen,  und 
richtig  gebrauchen,  ohne  uns  im  Äugenblicke  ihrer  Verwendung 
ihren  Sinn  klar  zu  vergegenwäi*tigen ;  darauf  hat  schon  vor 
Berkeley  Leibnitz  und  Locke  aufmerksam  gemacht^  auch  nach 
ihm  war  diese  Thatsache  Gegenstand  wiederholter  Erörterung 
diesseits  wie  jenseits  des  Canals,  >  und  heute  sind  sonst  so 
gegensätzliche  Schulen  wie  die  empirische  und  intuitive  in 
England  über  diesen  Punkt  vollkommen  einig;  —  aber  Berkeley 
geht  weiter  als  sie  Alle,  indem  er  behauptet,  wir  brauchen 
Worte  zu  richtigem  und  fruchtbarem  Urtheilen  auch  dort, 
wo  wir  mit  den  Worten  nie  Ideen  verbunden  haben  noch  ver- 
binden können/^  Das  hiesse  denn  doch,  das  nur  zu  oft  mit 
Recht  auf  philosophische  Speculationen  angewandte  Dichter- 
wort: ,Wo  Begriffe  fehlen,  da  stellt  ein  Wort  zur  rechten  Zeit 
sich  ein'  zum  erkenntnisstheoretischen  Grundsatz  erheben.  Von 
einer  Widerlegung  dieser  Ansicht  Berkeley's  oder  einer  Kritik 
der  von  ihm  beigebrachten  Beispiele  wird  also  wohl  Umgang 
genommen  werden  können. 

Eine  Frage  muss  aber  noch  beantwortet  werden,  ehe 
wir  uns  von  der  Lehre  Berkeley's  zu  der  seines  Nachfolgers 
wenden,  die  Frage,  ob  Berkeley  zu  den  nominalistischen  oder 
zu  den  conceptualistischen  Denkern  zu  zählen  sei.  Es  geschah 


^  Vergl.  Hamilton,  lect.  yol.  III.  S.  171  ff.,  wo  aber  gerade  Berkeley  un- 
berücksichtigt bleibt;  das  sonderbare  Missverständniss  S.  183,  als  wären 
die  von  Leibnitz  gebrauchten  Ausdrücke  ^synthetisches'  und  ,intuitives' 
Denken  entsprechend  dem  deutschen  ^Begriff^  und  , Anschauung*,  hat  schon 
J.  St  Mill  berichtigt  (Examination,  chapt.  XVII.  in  der  franz.  Uebers. 
S.  385,  Anm.). 

3  Aus  der  Einleitung  zum  Treatise  ist  hierüber  noch  kaum  etwas  zu  ent- 
nehmen, um  so  mehr  aus  dem  Min.  phil.,  so  dass  die  Vermuthung  nahe 
liegt,  Berkeley  habe  sich  durch  sein  hier  hervortretendes  Streben,  die 
Trinität  und  andere  Mysterien  der  christlichen  Religion  zu  rechtfertigen 
(dial.  VII  sect.  11),  mehr  als  billig  beeinflussen  lassen. 


216  Meinong. 

zum  Theil  mit  Rücksicht  auf  diese  Frage,  dass  wir  des  Irländers 
Aufstellungen  über  allgemeine  Namen  in  das  Bereich  unserer 
Darstellung  und  Kritik  zogen,  —  nun  haben  wir  das  Material 
vor  unS;  die  Entscheidung  wird  also  rasch  erfolgen  können. 

Man  hat  sich  so  sehr  gewöhnt^  Berkeley  als  einen  der 
hervorragendsten  Begründer  des  modernen  Nomin alismus  zu 
betrachten^  dass  man  gar  nichts  Auffallendes  darin  iindet,  wenn 
z.  B.  Hamilton  ihn  kurzweg  den  , zweiten  grossen  Nominalisten^ 
nennt,'  oder  Kuno  Fischer  den  Satz  ausspricht:  ,Unter  den 
neueren  Philosophen  ist  die  nominalistische  Denkweise  ein- 
heimisch, aber  sie  ist  von  Keinem  so  sehr  in  den  Vordergrund 
aller  philosophischen  Betrachtung  gerückt ,  so  grundsätzlich 
geltend  gemacht  worden  als  von  Berkeley^  ^  In  der  That,  dass 
alle  nominalistischen  Theorien  dieses  wie  des  vorigen  Jahr* 
hunderts  an  Berkeley  anknüpfen,  ist  sicher;  aber  das  allein 
könnte  doch  wohl  nicht  ausreichen,  um  ihn  selbst  als  Nomi- 
nalisten zu  erweisen.  Blickt  man  dagegen  auf  seine  Lehre, 
so  stellen  sich  dem  Nachweis  sofort  Hindernisse  entgegen. 
Freilich,  wer  mit  Hamilton  jene  Ansicht  nominalistisch  nennt, 
die  behauptet,  ,dass  jeder  Begriff,  für  sich  betrachtet,  particulär 
ist,  aber  allgemein  wird  durch  die  Intention  des  Gemüthes, 
ihn  jeden  ihm  ähnlichen  Begriff  repräsentiren  zu  lassen^  der 
muss  mit  ihm  auch  den  irischen  Philosophen  in  die  Classe  der 
Nominalisten  einreihen,  und  Alles  ist  in  diesem  Falle  klar 
und  gerechtfertigt,  nur  nicht  der  Name  Nominal  ist  selbst,  da 
die  Worte  bei  einer  solchen  Theorie  gar  keine  wesentliche 
Rolle  spielen.  Daher  dürfte  es  sich  mehr  empfehlen,  mit 
J.  St.  Mill  unter  Nominalisten  jene  zu  verstehen,  die  ,behaupten, 
es  gebe  nichts  Universelles  als  Namen' ;^  und  nun  muss  sogleich 
jedem  einleuchten,  dass  Berkeley  in  diese  Classe  nicht  gehört, 
denn  er  kennt  zwar  allgemeine  Namen,  aber  er  kennt  auch, 
wie  wir  fanden,  allgemeine  Ideen.  Allerdings,  insofern  es  bei 
ihm  Erkenntnisse  gibt  durch  Worte,  denen  gar  keine  Ideen 
zu   Grunde    liegen,    insofern    ist    er   Nominalist   bis   zu  einem 


1  Lect.  vol.  II  S.  305. 

2  Francis  Bacon  S.  703. 

3  a.  a.  O.  vol.  II,  S.  297. 

*  Examinatiou,  eh.  XVII,  a.  a.  O.  Ö.  359. 


Hnm«.  Studien.   I.  217 

Extrem,  zu  dem  sieh  glücklicher  Weise  keiner  seiner  Nach- 
folger vorgewagt  hat;  im  Uebrigen  aber  erweisen  sich  bei  ihm 
die  Namen  zum  Zustandekommen  der  AllgemeinbegrifFe  noch 
gar  nicht  als  wesentlich,  —  wir  sind  somit  genöthigt,  ihm  eine 
Mittelstellung  zwischen  den  Vertretern  des  Nominalismus 
und  Conceptualismus  zuzuerkennen. 

Um  Berkeley's  Abstractionslehre  richtig  zu  verstehen  und 
zu  würdigen,  muss  man  wohl  stets  vor  Augen  behalten,  dass 
sie  doch  vor  Allem  ein  Stadium  des  Ueberganges,  der  Ent- 
wicklung repräsentirt,  das,  mochte  es  vielleicht  auch  bestimmt 
sein,  zu  namhaften  Erfolgen  zu  führen,  doch  in  sich  den 
Charakter  des  Unfertigen  nicht  verleugnen  konnte.  In  Locke 
finden  wir  noch  den  alten  Nominalismus,  der  sich  seines  Gegen- 
satzes gegen  den  Realismus  noch  wohl  bewusst  ist,  vereinbar 
und  vereinigt  mit  dem  Conceptualismus;  Berkeley  vermittelt 
den  Uebergang  von  dem  alten  Nominaiismus  zum  neuen,  dem 
der  Gegensatz  gegen  den  Conceptualismus  wesentlich  ist,  — 
aber  er  steht  selbst  noch  mit  einem  Fusse  auf  dem  Boden,  den 
er  durch  seinen  Angriff  auf  die  abstracten  Ideen  zu  erschüttern 
sucht,  ja  er  bringt  selbst  Gedanken  zur  Geltung,  die,  gehörig 
entwickelt,  vielleicht  geeignet  sein  könnten,  gerade  dem  Con- 
ceptualismus eine  unerschütterliche  Grundlage  zu  geben.  Man 
kann  demnach  noch  in  einem  anderen  Sinne  die  eben  ausge- 
sprochene Behauptung  wiederholen,  dass  Berkeley  in  der  Mitte 
zwischen  den  sich  bekämpfenden  Ansichten  stehe,  in  dem  Sinne 
nämlich,  dass  er  gewissermassen  Ansätze  zu  beiden  Theorien 
in  sich  schliesst. 

Aber  nach  dem  Keime  lässt  sich  eben  keine  Frucht  be- 
urtheilen,  und  so  war  es  denn  nöthig,  dass  seine  Lehre  erst 
eine  geeignete  Fortbildung  erfahre,  wenn  sich  ergeben  sollte, 
ob  er  den  rechten  Weg  gewiesen  oder  nicht.  Ein  solcher  Fort- 
bildner hat  sich  gefunden,  und  zwar  in  der  Person  des  Schotten 
David  Hume,  dessen  Aufstellungen  wir  uns  nunmehr  zu- 
wenden. 


218  Meinong. 

David  Hume  schliesst  sich  in  seinem  ersten  und  umfang- 
reichsten Werke,  dem  jTreatise  concerning  human  nature',  das 
wir  hier  zunächst  allein  in  Betracht  ziehen,  bezüglich  der  Ab- 
stractionsfrage  ausdrücklich  an  Berkeley's  Forschungen  an ;  er 
nennt  das  Resultat  derselben  ,eine  der  werthvollsten  Entdeckun- 
gen, welche  in  den  letzten  Jahren  in  der  Republik  der  Wissen- 
schaften gemacht  worden  sind^,  und  stellt  sich  nur  die  Aufgabe, 
diese  Entdeckung  durch  einige  neue  Argumente  völlig  ausser 
Zweifel  zu  setzen. '  Durch  diese  Erklärung,  die  an  Deutlichkeit 
nichts  zu  wünschen  übrig  lässt,  scheint  das  Verhältniss  der 
beiden  Denker  zu  einander  in  klarster  Weise  festgestellt;  und 
wirklich  hat  man  niemals  Bedenken  getragen,  Plume's  Abstrac- 
tionstheorie  als  einfache  Wiederholung  und  höchstens  Neube- 
gründung der  Berkeley'schen  zu  bezeichnen,  —  auch  der 
neueste  und  wohl  gründlichste  Darsteller  der  Hume'schen  Philo- 
sophie, E.  Pfleiderer^  macht  hierin  keine  Ausnahme. 

Aber  trotzdem  möchte  es  vielleicht  nicht  rathsam  sein, 
auf  Grund  dessen,  was  Hume  selbst  über  seine  Beziehungen 
zu  Berkeley  sagt,  die  Art,  in  der  er  die  Ansicht  Berkeley's 
wiedergibt,  ganz  und  gar  zu  vernachlässigen.  Berkeley,  sagt 
er,  ,hat  behauptet,  alle  allgemeinen  Ideen  seien  nichts  als  par- 
ticuläre,  geknüpft  an  einen  bestimmten  Ausdruck,  der  ihnen 
eine  ausgedehntere  Bedeutung  verleiht  und  bewirkt,  dass  sie 
bei  Gelegenheit  andere  Individuen,  die  ihnen  ähnlich  sind,  ins 
Gedächtniss  rufen'.  ^  Ist  dies  nun  wirklich  Berkeley's  Ansicht?  * 
Wenn  wir  diese  oben  richtig  dargestellt  haben,  so  liegt  der 
Unterschied  auf  der  Hand.  Richtig  ist,  dass  nach  Berkeley 
wie  nach  Hume  die  allgemeinen  Ideen  particuläre  Ideen  mit 
allgemeiner  Bedeutung   sind;"'   falsch   ist   aber,    dass  sie  nach 


^  Treatise,  book  I  part.  I  sect.  VII  in  der  neuen  vierbändig^n  Ausgabe 
von  T.  H.  Green  und  T.  H.  Grose  (The  philosophical  worka  of  David 
Hume,  London  1874)  Bd.  I,  S.  325. 

2  Empirismns  und  Skepsis  in  David  Hume's  Philosophie,  Berlin  1874,  S.  123. 

3  Treatise  a.  a.  O. 

♦  F.  Jodl  (Leben  und  Philosophie  David  Hume's,  Halle  1872,  S.  33)  repro- 
ducirt  Hume's  Auffassung  kurzweg  als  die  Berkeley's,  aber  er  hat  unter- 
lassen, dafür  auch  nur  eine  Belegstelle  aus  Berkeley  anzuführen. 

5  Darum  dürfte  Pfleiderer  irren,  wenn  er  (a.  a.  O.  S.  122  letzte  Zeile) 
behauptet,    Hume    leugne   Geltung    oder  Vorhandensein    allgemeiner 


Hame-Sftadie&.    I.  219 

Berkeley  ihre  Allgemeinheit  den  an  sie  geknüpften  Ausdrücken 
verdanken.  Schon  oben  ^  wurde  dargethan,  dass  nichts  in  Ber- 
keley's  Ausfuhrungen  auf  einen  Zusammenhang  zwischen  Worten 
und  allgemeinen  Ideen  hinweist;  dass  aber  vollends  Hume's 
Interpretation  den  Intentionen  des  Irländers  geradezu  wider- 
streitet;  ergibt  sich  leicht  aus  folgender  Erwägung :  Gegen  £nde 
der  oft  citirten  Einleitung  in  die  Abhandlung  über  die  Prin- 
cipien  der  menschlichen  Erkenntniss  lesen  wir:  ^Weil  demgemäss 
Worte  so  leicht  den  Geist  tu  täuschen  vermögen,  so  werde  ich, 
welche  Ideen  auch  immer  ich  betrachte,  versuchen,  sie  gleich- 
sam bloss  und  nackt  anzuschauen,  indem  ich  aus  meinem 
Denken,  so  weit  ich  es  vermag,  jene  Benennungen  ent- 
ferne, welche  eine  lange  und  beständige  Gewohnheit  so  eng 
mit  ihnen  verknüpft  hat  .  .  /^  Ein  solches  ,Denken  ohne 
Benennungen',  das  doch  wohl,  wie  jedes  wissenschaftliche 
Denken,  Allgemeinbegriffe  voraussetzt,  wäre  nun  aber  nach 
Hume  schlechterdings  unmöglich;  nach  seiner  Meinung  werden 
ja  die  particulären  Ideen  erst  durch  die  an  sie  geknüpften 
Worte  allgemein.  Werden  daher  diese  von  den  Ideen  getrennt, 
so  haben  letztere  ihre  Allgemeinheit  verloren  und  niemand 
könnte  begreifen,  wie  Berkeley  davon  Vortheil  für  seine  wissen- 
schaftlichen Untersuchungen  erwarten  mochte.  Es  erhellt  daraus 
in  völlig  evidenter  Weise,  dass  Hume  in  die  Berkeley'sche  Lehre 
ein  dieser  völlig  fremdes  Moment  hineingetragen  hat. 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  natürlich  die,  ob  dieses  neue 
jMoment  nicht  zugleich  einen  wesentlichen  Fortschritt  auf  dem 
von  Berkeley  betretenen  Weg  in  sich  schliesst,  sobald  man  von 
seinem  Streben,  die  Begriffe  von  den  Worten  zu  emancipiren, 
absieht.  Eines  wenigstens  ist,  noch  ehe  man  Hume's  Ar- 
gumente kennt,  aus  der  blossen  Formulirung  seiner  These  zu 
entnehmen:  die  wesentlichsten  Lücken  der  Berkeley'schen 
Aufstellungen  sind  hier  ausgefüllt.  Das  Verhältniss  ^wischen 
allgemeinen  Worten    und   allgemeinen  Ideen   ist  wenigstens  in 


Ideen,  während  Hume's  wie  Berkeley's  Angriffe  nur  gegen  die  Abstracta 
gehen.  Aber  vielleicht  haben  wir  es  hier  nur  mit  einer  kleinen  Unge- 
nanigkeit  im  Ausdruck  zu  thun,  wie  der  Schluss  der  Ausführung  (S.  125 
in  der  Mitte)  wahrscheinlich  macht, 

»   S.  189  in  der  Note. 

2  a.  a.  O.  sect.  21. 


220  M  e  i  n  0  n  g;. 

irgend  einer  Weise  präcisirt,  und  vor  Allem  die  Frage,  wie 
eine  particuläre  Idee  dazu  komme,  andere  gleichartige  Ideen 
zu  ,reprä8entiren'  oder  zu  ,bezeichnen',  und  so  allgemein  zu 
werden,  hat  eine  Antwort  gefunden.  Mag  die  Hypothese  nun 
haltbar  sein  oder  nicht,  jedenfalls  ist  sie  dadurch,  dass  die 
Namen  in  den  Vordergrund  treten,  klar  und  discutirbar  ge- 
worden, und  aus  der  Erörterung  derselben  kann  für  die  Psy- 
chologie nur  Gewinn  erwachsen;  ins9fern  hat  sich  also  Hume 
um  die  Förderung  der  Untersuchungen  über  Abstracta  weit 
mehr  und  namentlich  weit  selbstständiger  verdient  gemacht, 
als  man  gewöhnlich  anzunehmen  geneigt  ist.  Er,  nicht  Berkeley, 
hat  den  Worten  jene  so  hervorragende  Stelle  in  unserem  Geistes- 
leben zuerkannt,  welche  uns  berechtigt,  seine  und  seiner  Nach- 
folger Theorie  als  nominalistische  zu  bezeichnen,  und  so 
verdient  er  weit  mehr  als  Berkeley  den  Namen  des  eigent- 
lichen Begiünders  des  modernen  Nominalismus. 

Treten  wir  nun  näher  an  die  Hume'schen  Untersuchungen 
heran.  Diese  gehen  davon  aus,  dass  die  meisten  oder  alle  all- 
gemeinen Ideen  von  dem  speciellen  Grade  der  Qualität  und 
Quantität  abstrahiren,  da  ein  solcher  doch  nicht  leicht  einen 
Artunterschied  begründen  kann.  Dennoch  ,repräsentirt  die  ab- 
stracto Idee  Mensch  Menschen  von  allen  Grössen  und  Eigen- 
schaften, und  man  nimmt  an,  dies  könne  nicht  anders  geschehen, 
als  indem  sie  entweder  alle  möglichen  Grössen  und  Eigenschaften 
auf  einmal,  oder  gar  keine  davon  repräsentirt'.  Das  Erstere 
scheint  eine  unendliche  Fassungskraft  vorauszusetzen;  man  hat 
sich  daher  zu  Gunsten  des  Letzteren  entschieden.  Dem  gegen- 
über will  Hume  zeigen,  einmal,  dass  es  unmöglich  ist,  Quantität 
oder  Qualität  ohne  bestimmten  Grad  vorzustellen,  —  ferner,  dass 
wir  uns  trotz  unserer  blos  endlichen  Fassungskraft  ,einen  Begriff 
von  allen  möglichen  Graden  von  Quantität  und  Qualität'  machen 
können,  nicht  vollständig  zwar,  aber  doch  in  einer  Weise,  die 
allen  praktischen  Zwecken  genügt.  ^ 

Den  ersten,  negativen  Theil  seiner  Behauptung  stützt 
Hume  durch  folgende  drei  Argumeßte: 


Treatise  b.  I  p.  I  eh.  VII,  WW.  Bd.  I,  S.  825  f. 


HniiM-BUdiM.   I.  221 

1.  Was  verschieden  ist,  ist  unterscheidbar,  was  unter- 
scheidbar; ist  auch  in  der  Vorstellung  trennbar;  und  umge- 
kehrt: was  trennbar,  ist  auch  unterscheidbar  und  daher  ver- 
schieden. Um  zu  entscheiden,  ob  bei  der  Abstraction  eine 
Trennung  überhaupt  vor  sich  gehen  kann,  muss  daher  nur 
ermittelt  werden,  ob  das,  was  bei  einer  allgemeinen  Idee  ab- 
strahirt  wird,  von  dem,  was  als  Wesen  zurückbleiben  soll,  auch 
unterscheidbar  und  verschieden  ist.  Nun  ist  z.  B.  die  bestimmte 
Länge  einer  Linie  von  der  Linie  selbst,  der  bestimmte  Grad 
einer  Qualität  von  der  Qualität  selbst  so  wenig  verschieden 
als  unterscheidbar,  es  kann  somit  auch  von  keiner  Trennung 
die  Rede  sein.  ^ 

2.  Es  ist  anerkannt,  dass  uns  keine  Impression  zum  Be- 
wusstsein  kommt,  sie  wäre  denn  bezüglich  des  Grades  der 
Qualität  und  Quantität  bestimmt;  das  Gegentheil  enthielte  eine 
contradictio  in  terminis.  Ideen  sind  aber  Copien  von  Impres- 
sionen, die  sich  von  diesen  nur  durch  ihre  geringere  Inten- 
sität unterscheiden;  auch  sie  müssen  daher  graduell  determi- 
nirt  sein.  2 

3.  Jedermann  räumt  ein,  dass  Alles  in  der  Natur  indi- 
viduell ist,  und  dass  es  absurd  wäre,  ein  reales  Dreieck  ohne 
bestimmte  Dimensionen  anzuerkennen.  Was  in  der  Realität 
absurd  ist,  muss  es  auch  in  der  Idee  sein,  denn  nichts  ist 
unmöglich,  wovon  sich  eine  klare  und  deutliche  Vorstellung 
bilden  lässt.  Es  ist  ferner  dasselbe,  die  Idee  eines  Gegen- 
standes oder  eine  Idee  schlechtweg  zu  bilden,  denn  die  Be- 
ziehung der  Idee  auf  ein  Object  ist  nur  eine  äusserliche  Be- 
nennung, die  nicht  im  Wesen  der  Idee  begründet  ist.  Ist  es 
also  unmöglich,  die  Idee  eines  Gegenstandes  zu  bilden  ohne 
graduelle  Bestimmung,  so  gilt  dasselbe  auch  von  einer  Idee 
überhaupt.  ^ 

Alle  abstracten  Ideen  sind  somit  an  sich  individuell; 
gleichwohl  können  sie  im  Denken  ebenso  angewendet  werden, 
als  wenn  sie  allgemein  wären;  —  darauf  geht  der  positive 
Theil  von  Hume's  Behauptung. 


'  ibid.  8.  326. 

*  ibid.  S.  327,  aucb  b.  I  p.  III  sect.  I  (a.  a.  O.  8.  376). 

'  ibid.  S.  327. 


222  H«inong. 

Der  Weg,  auf  dem  die  particulären  Ideen  zu  dieser  all- 
gemeinen Anwendbarkeit  gelangen,  ist  nun  aber  folgender: 
,Haben  wir  zwischen  mehreren  Objecten  eine  Aehnlichkeit  ge- 
funden, die  uns  oft  begegnet,  so  wenden  wir  auf  sie  Alle  ein 
und  denselben  Namen  an,  was  immer  für  Unterschiede  wir  in 
Bezug  auf  den  Grad  ihrer  Quantität  und  Qualität  beobachten, 
oder  was  immer  für  andere  Diflferenzen  an  ihnen  erscheinen 
mögen.  Nachdem  wir  eine  Gewohnheit  dieser  Art  erlangt 
haben,  ruft  das  Hören  jenes  Namens  die  Idee  eines  dieser 
Objecte  wach  und  Uisst  die  Einbildungskraft  das  letztere  mit 
allen  besonderen  Umständen  und  Verhältnissen  vorstellen.  Aber 
da  dasselbe  Wort,  wie  gesagt,  häutig  auch  auf  andere  Individuen 
angewendet  worden  ist,  die  in  verschiedener  Hinsicht  von  der 
dem  Geiste  unmittelbar  gegenwärtigen  Idee  verschieden  sind, 
so  ist  das  Wort  zwar  nicht  im  Stande,  die  Idee  aller  dieser 
Individuen  wiederzuerwecken,  aber  es  gibt  der  Seele  einen 
Anstoss  (touches  the  soul),  wenn  dieser  Ausdruck  erlaubt  ist, 
und  ruft  jene  Gewohnheit  wieder  ins  Leben,  die  wir  durch 
Ueberblicken  jener  Individuen  (by  surveying  them)  erworben 
haben.  Sie  sind  nicht  wirklich  und  actuell  in  unserem  Be- 
wusstsein  gegenwärtig,  sondern  blos  virtuell;  wir  ziehen  sie 
in  der  Einbildungskraft  nicht  alle  distinct  hervor,  sondern  wir 
halten  uns  in  Bereitschaft,  welche  immer  von  ihnen  zu  über- 
blicken (to  survey  any  of  them),  je  nachdem  wir  durch  Ab- 
sicht oder  Nothwendigkeit  eben  veranlasst  werden.  Das  Wort 
erregt  also  eine  individuelle  Idee,  zugleich  mit  einer  gewissen 
Gewohnheit,  und  diese  Gewohnheit  erzeugt  irgend  eine  andere 
individuelle  Idee,  für  die  wir  eben  eine  Anregung  haben.  Aber 
da  die  Erzeugung  aller  Ideen,  für  welche  der  Name  verwendet 
worden  sein  mag,  in  den  meisten  Fällen  unmöglich  ist,  so 
kürzen  wir  das  Geschäft  durch  eine  mehr  partielle  Betrachtung 
ab,  und  finden,  dass  in  unserem  Denken  nur  wenige  Unzu- 
kömmlichkeiten aus  dieser  Abkürzung  erwachsen.' 

Dies  ist  dem  ,höchst  merkwürdigen  Umstände'  zuzuschrei- 
ben, dass  uns  jene  Gewohnheit  sofort  auch  irgend  eines  von 
den  andern  Individuen  vergegenwärtigt,  sobald  wir  zu&llig 
einen  Gedanken  bilden,  der  dem  betreffenden  Individuum  nicht 
gemäss  ist.  Hören  wir  z.  B.  den  Namen  Dreieck,  so  denken 
wir   zunächst   etwa   an    ein   bestimmtes  gleichseitiges  Dreieck; 


Harne -Stadien.   I.  223 

wollten  wir  jedoch,  auf  Grund  dessen  behaupten,  jedes  Dreieck 
habe  gleiche  Winkel,  so  käme  uns  sogleich  ii-gend  ein  gleich- 
schenkliges oder  ungleichseitiges  Dreieck  in  den  Sinn.  Oeschieht 
nicht»  dergleichen,  so  beruht  dies  auf  einer  Unvollkommenheit 
der  Geistesfahigkeiten,  die  dann  leicht  zu  falschen  Urtheilen 
Änlass  gibt.  Doch  kommt  solches  meist  nur  bei  abstrusen  und 
complicirten  Ideen  vor,  —  in  der  Regel  ist  im  Gegen theil  die 
Gewohnheit  so  fest,  dass  sogar  dieselbe  Idee  an  verschie- 
dene Worte  geknüpft  sein  kann,  ohne  dass  die  Gefahr  einer 
Verwirrung  vorläge.  So  könnte  z.  B.  bei  den  Worten:  Figur, 
geradlinige  Figur,  regelmässige  Figur,  Dreieck,  gleich- 
seitiges Dreieck  uns  immer  die  Idee  ein  und  desselben  gleich- 
Beitigen  Dreieckes  vorschweben. 

,Ehe  derlei  Gewohnheiten  gehörig  ausgebildet  sind,  mag 
das  Gemüth  vielleicht  nicht  damit  zufrieden  sein,  die  Idee  nur 
eines  Individuums  zu  bilden,  sondern  vielleicht  über  mehrere 
hineilen,  um  sich  selbst  seine  Meinung  und  den  Umfang  der 
CoUection  klar  zu  machen,  die  es  mit  dem  allgemeinen  Aus- 
drucke bezeichnen  will.  Um  den  Sinn  des  Wortes  Figur  zu 
fixiren,  betrachten  wir  im  Geiste  die  Ideen  von  Kreisen,  Qua- 
draten, Parallelogrammen,  Dreiecken  von  verschiedenen  Grössen 
und  Proportionen,  und  lassen  es  nicht  bei  einem  Bilde,  oder 
einer  Idee  bewenden.  Wie  dem  aber  auch  sein  mag,  gewiss 
ist,  dass  wir  die  Idee  von  Individuen  bilden,  wann  immer  wir 
irgend  welche  allgemeine  Ausdrücke  gebrauchen,  dass  wir  selten 
oder  nie  diese  Individuen  erschöpfen  können,  und  dass  die, 
welche  übrig  bleiben,  nm*  durch  den  Habitus  repräsentirt  werden, 
durch  welchen  wir  sie  uns  ins  Gedächtniss  rufen,  wann  immer 
eine  sich  eben  ergebende  Gelegenheit  es  erfordert.' ^ 

Der  einzige  Punkt,  der  Hume  bei  dieser  Erklärung  nicht 
ohne  Schwierigkeit  scheint,  ist  eben  die  Gewohnheit,  die  hier 
eine  so  wichtige  Rolle  spielt.  Aber  da  es  unmöglich  wäre,  die 
Seelenthätigkeiten  auf  ihre  letzten  Ursachen  zurückzuführen, 
80  ist  ein  Act  des  Geistes  genügend  erklärt,  wenn  man  andere 
Acte  aufweist,  welche  ihm  analog  sind  oder  ihn  unterstützen. 
Zu  diesem  Ende  weist  Hume  darauf  hin,  dass  auch  sonst  sich 
oft  ein  Habitus  an  ein  einziges  Wort  knüpft,  z.  B.  die  Erinne- 

»  a.  a.  O.  S.  328. 


224  MeinoBff. 

rung  an  Sätze  und  Verse.  *  In  unserem  Falle  aber  wird  der 
Wiedereintritt  der  eben  nöthigen  Idee  ins  Bewusstsein  durch 
die  Aehnlichkeit  der  unter  einem  allgemeinen  Ausdruck  ver- 
einigten Individualbegriffe  wesentlich  erleichtert.'*  Was  endlich 
die  Unvollkommenheit  betrifft^  die  allen  allgemeinen  Ideen  eigen 
ist,  80  findet  auch  diese  ihre  Analoga:  wir  können  von  grossen 
Zahlen  keine  adäquate  Idee  bilden,  dennoch  stört  uns  dies  nicht 
im  Denken;*'  ebenso  sprechen  wir  von  verwickelten  Dingen 
wie  Regierung,  Kirche,  Unterhandlung,  Eroberung,  ohne  uns 
alle  in  diesen  Complexen  enthaltenen  einfachen  Ideen  zu  ver- 
gegenwärtigen, —  gleichwohl  werden  wir  nichts  Widerspre- 
chendes von  ihnen  aussagen,  weil  sich  die  Oewohnheit,  die 
Ideen  in  gewisse  Relationen  zu  bringen,  auch  auf  die  Worte 
erstreckt.  * 

Damit  hofft  Hume  seine  Hypothese  genügend  gestützt  zu 
haben.  Aber  das  Schwergewicht  legt  er  auf  den  negativen 
Beweis.  Nachdem  die  abstracten  Ideen  als  etwas  Unmögliches 
dargethan  sind,  erhebt  sich  ein  Bedürfniss  nach  Erklärung  der 
Thatsachen,  und  da  ist  nach  seiner  Meinung  kein  Weg  offen 
als  der  von  ihm  eingeschlagene.*^ 

Es  ist  unter  solchen  Umständen  nur  natürlich,  dass  auch 
wir  bei  der  piüfenden  Betrachtung  der  Hume'schen  Darstellung 
von  dem  negativen  Theile  derselben  ausgehen. 

Schon  die  Formulirung  der  negativen  These  ist  höchst 
auffallend.  Aus  der  Einleitung  zu  Sect.  VII  ei^ibt  sich  doch 
unzweifelhaft  genug,  dass  es  Hume's  Absicht  ist,  alle  Abstrac- 
tion  zu  leugnen;^  dennoch  präcisirt  er  dann  seine  Behauptung 
dahin,  ,dass  es  schlechterdings  unmöglich  sei,  eine  Qualität 
oder  Quantität  vorzustellen,  ohne  einen  bestimmten  Begriff  ihres 


'  ibid.  8.  330. 
'  ibid.  S.  331. 
3  ibid.  S.  330. 
«  ibid.  S.  331. 
*  ibid.  S.  332. 
ö  ,Ein  grosser  Philosoph  hat  ...  .  behauptet,  dass  alle  allgemeinen  Ideen 

nichts  als  particuläre  seien  ,  .  .  Ich  will  mich  bemühen,  dies  durch  einig-e 

Argumente  zu  bekrKftigen  .  .  .  .*  (8.  325). 


Hnme-StnAitn.    I.  225 

Orades  zu  bildend*  Wie  wenig  alle  AbstractionsföUe  hier  ein- 
begriffen sind,  Hegt  auf  der  Iland;  denn  wenn  es  auch  in  der 
That  sich  als  unmöglich  herausstellen  sollte,  Qualität  oder 
Quantität  in  der  Vorstellung  von  ihrem  Grade  zu  trennen,  so 
ist  damit  ja  noch  gar  nicht  entschieden,  ob  Complexe  mehr 
als  graduell  verschiedener  Qualitäten  trennbare  Elemente 
enthalten  oder  nicht.  Man  wird,  um  ein  recht  auffallendos 
Beispiel  zu  wählen,  doch  gewiss  nicht  behaupten  wollen,  Farbe 
sei  ein  Qrad  von  Ausdehnung  oder  Ausdehnung  ein  Grad  von 
Farbe;  es  würde  also  nach  Hume's  These  nichts  im  Wege 
stehen,  etwa  eine  Fläche  ohne  Farbe  vorzustellen,  und  doch 
ist  gerade  dieser  Fall  schon  von  James  Mill  als  ein  Hauptfall 
der  , untrennbaren  Ideenassociation'  aufgeführt  worden.^ 

Bleibt  also  ein  Attribut  nur  graduell  bestimmt,  so  scheint 
im  Uebrigen  die  Möglichkeit,  abstracto  Vorstellungen  davon  zu 
bilden,  unbeschränkt,  und  auf  Fälle,  wo  von  Gradunterschieden 
überhaupt  nicht  die  Rede  sein  kann,  wie  gleich,  dreieckig,^ 
fände  der  Satz  vollends  keine  Anwendung.  Gesetzt,  es  sei 
Hume  gelungen,  seine  Thesis  in  unwiderleglicher  Weise  zu  be- 
gründen, so  ist  doch  der  ausdrücklich  daraus  gezogene  Schluss, 
Allgemeinbegrtffe  seien  ihrem  Wesen  nach  nur  concret,  ^  wenig- 
stens in  seiner  Allgemeinheit  unstatthaft,  und  er  könnte  um  so 
mehr  befremden,  als  er,  zum  Mindesten  auf  den  ersten  Blick, 
einer  der  Haupteinth eilungen,  welche  Hume  von  allen  psychi- 
schen Phänomenen  gibt,  bestimmt  zu  widerstreiten  scheint. 

Nach  Hume  zerfallen  die  Perceptionen  bekanntlich  einmal 
in  Impressionen  und  Ideen,  dann  aber  auch  in  einfache  und 
complexe  Perceptionen.'*    »Obgleich^,  fügt  er  erläuternd  hinzu. 


1  S.  326.  —  ^Quantität*  bedeutet  hier  nichts  als  Grösse;  das  Grösser  nnd 
Kleiner  ist  in  ziemlich  nngewöhnlicher  Weise  als  Qnantitätsgrad  be- 
zeichnet. 

2  Analysis  chapt.  III  (Bd.  I  S.  93). 

3  Es  sind  die  Fälle,  die  wir  oben  S.  206  ff.  als  J.  St.  MilVs  particulärc 
Abstracta  zur  Sprache  brachten. 

^  Hume  schliesst  das  dritte  Argument  mit  der  Behauptung:  es  sei  un- 
möglich, eine  Idee  zu  bilden,  die  Qualität  und  Quantität,  aber  keinen 
bestimmten  Grad  davon  hätte.  ,Abstracte  Ideen,'  fährt  er  fort,  ,sind 
daher  an  sich  individuell  .  .  .<  (S.  327  f). 

»  Treat  b.  I  p.  I  sect.  I  a.  a.  O.  S.  311  f. 
Sitoongitber.  d.  phiU-hliit.  Cl.  LXXXYIL  Bd.  I.  Hft.  15 


226  Vftinong. 

^bestimmte  Farbe,  Geschmack;  Geruch  alle  als  Eigenschaften 
an  diesem  Apfel  vereinigt  sind,  so  ist  doch  leicht  einzusehen, 
dass  dieselben  nicht  einerlei,  sondern  mindestens  von  einander 
zu  unterscheiden  sind/  Nur  unter  einer  Annahme  ist  diese 
Stelle  mit  Hume's  in  Rede  stehender  Theorie  vereinbar,  unter 
der  Voraussetzung  grösster  Ungenauigkeit  im  Ausdruck.  Meint 
Hume,  indem  er  einfach  von  ,Farbe^  spricht,  alles  durch  das 
Auge  am  Apfel  Wahrgenommene,  umfasst  er  somit  unter  seiner 
einfachen  Idee  bestimmte  Farbe  und  bestimmte  Ausdehnung 
zusammengenommen,  dann  bleibt  seine  Ausführung  hier  vom 
Vorwurfe  der  Inconsequenz  frei.  Es  spricht  für  diese  Auf- 
fassung, dass  Hume  in  der  hier  angezogenen  Stelle  augen- 
scheinlich die  Wahrnehmungen  ji^ei-schiedener  Sinne  einander 
entgegensetzt,  —  gegen  diese  Auffassung  kann  ausser  dem 
Wortlaute  die  Thatsache  geltend  gemacht  werden,  dass  Hume 
auch  in  dem  Anhange,  der  dem  dritten  Buche  seines  Erstlings- 
werkes beigegeben  ist,  zwar  ausdrücklich  die  Farbenvorstel- 
lungen als  einfache  Ideen  hervorhebt,  *  der  Ausdehnung  aber 
auch  da  mit  keinem  Worte  gedenkt. 

Nimmt  man  nun  aber  die  Stelle,  wie  sie  ist,  so  kann  der 
Widerspruch  nicht  vermieden  werden;  denn  was  ist  eine  Vor- 
stellung von  Farbe,  und  wäre  es  auch  von  der  bestimmtesten 
Schattirung,  Anderes  als  ein  Abstractum?  Und  was  von  Farbe 
gilt,  gilt  auch  von  Geschmack  u.  s.  f.,  kurz  so  ziemlich  von 
jeder  , einfachen  Idee^  Man  könnte  vielleicht  zur  Vertheidi- 
gung  Hume's  geltend  machen,  dass  er  nicht  nur  von  ein- 
fachen Ideen,  sondern  auch  von  einfachen  Impressionen 
spreche,  dass  erstere  eben  so  gut  als  Copien  der  letzteren 
betrachtet  werden  könnten,  wie  zusammengesetzte  Ideen  als 
Abbilder  zusammengesetzter  Impressionen,  und  dass  somit  die 
Annahme  einfacher  Ideen  noch  gar  nicht  die  eines  Abstrac- 
tionsactes  involvire.  Gerade  mit  Rücksicht  auf  die  Beziehungen 
von  Farbe  und  Ausdehnung  zu  einander  ist  dieser  Einwurf, 
wenn  man  Hume's  Raumtheorie  mit  in  Betracht  zieht,  nicht 
ohne  Schein.  Wir  werden  sehen,  dass  man  nach  Hume  farbige 
Punkte  percipiren  kann,  die  gleichwohl  ausdehnungslos  sind, 
während  die  Idee  der  Ausdehnung   erst  durch  die  Disposition 


^  Als  Note  zn  S,  328  der  von  uns  benutzten  Ausgabe  abgedruckt 


Hane-StadiM.   I.  227 

dieser  Punkte  in  uns  erregt  wird;  wir  percipiren  also  in  diesem 
Falle  Farbe  ohne  Ausdehnung.  —  Aber  auch  wenn  dies  richtig 
wäre,  würde  darum  nicht  nur  Farbe  percipirt;  wir  hätten  ja 
doch  farbige  Punkte,  denen  mindestens  eine  Ortsbestimmung 
nicht  fehlen  könnte.  Ueberdies  kommt  diese  Seite  der  Frage 
beim  Apfelbeispiel  gar  nicht  in  Betracht.  Die  Farbe  des  Apfels 
ist  (schon  um  der  Nuancen  willen,  die  jeder  an  sich  trägt)  die 
Farbe  einer  Fläche,  d.  i.  nach  Hume,  mehrerer  Punkte,  bei 
denen  dann  selbstverständlich  die  Disposition  mit  in  die  Per- 
ception  fällt.  Es  liegt  daher  viel  näher,  Hume's  Ansicht  dahin 
za  interpretiren,  dass  wir  zwar  nur  complexe  Impressionen 
erhalten,  dann  aber  durch  Analyse  der  sie  copierenden  com- 
plexen  Ideen  auf  deren  einfache  Elemente  gelangen,  die  dann 
ihrerseits  erst  den  Schluss  auf  gleichfalls  einfache  Originale 
gestatten.  Zum  Ueberfluss  bestätigt  Hume  selbst  diese  Auf- 
fassung im  zweiten  der  sogleich  näher  zu  eröi^ternden  Beweise 
seiner  These,  indem  er  erklärt,  dass  ,keiDe  Impression  in  unser 
Bewusstsein  gelangen  könne,  ohne  bezüglich  des  Grades  von 
Qualität  und  Quantität  determinirt  zu  sein^  ^  Gibt  es  keine 
Impression  ohne  bestimmten  Grad  von  Qualität  und  Quantität, 
80  noch  viel  weniger  eine  ohne  diese  Qualität  und  Quantität 
selbst;  jede  einfache  Idee  kann  daher  nicht  anders  als  durch 
Abstraction  entstanden  sein. 

Das  scheint  nun  eigentlich  so  selbstverständlich,  dass  man 
leicht  geneigt  sein  könnte,  Hume*s  gesammte  Ausführungen  nur 
auf  die  Frage  zu  beziehen,  ob  Quantitäten  und  Qualitäten  ohne 
bestimmten  Grad  vorstellbar  seien  oder  nicht,  —  was  dagegen 
auf  Hereinziehung  der  ganzen  Abstractionstheorie  deutet,  als 
ungenau  ausgedrückt  bei  Seite  zu  lassen.  Aber  auf  der  anderen 
Seite  sind  wieder  die  Aufstellungen  letzterer  Art  so  bestimmt, 
Hume  bezeichnet  sich  so  ausdrücklich  als  Vertreter  der  Ber- 
keley'schen  Theorie,  dass  man  schliesslich  doch  der  her- 
gebrachten Auffassung  der  Hume'schen  Doctrin  beipflichten, 
den  daraus  entstehenden  Widerspruch  in  Ilume's  Behauptungen 
aber  durch  Annahme  eines  Lapsus  im  Ausdruck  beseitigen 
muss.  Befriedigend  ist  diese  Lösung  nicht;  wir  haben  eben 
einen  jener    misslichen^  Fälle    vor    uns,    wo    gegen   jede    der 


a.  Ä.  O.  S.  327. 

15» 


228  Meinong. 

beiden   möglichen  Interpretationen  Einwände  aufrecht   bleiben 
müssen. 

Aber  sehen  wir  nun  des  Näheren  zw,  wie  es  um  die  Be- 
weiskraft der  drei  Argumente  bestellt  ist,  die  Hume  zu  Gunsten 
seiner  negativen  Behauptung  vorführt. 

Schon  der  Satz,  mit  dem  Hume  seinen  ersten  Beweis  er- 
öffnet, und  der  auch  in  späteren  Partien  des  Treatise  wieder- 
holte Anwendung  findet,  scheint  höchst  bedenklich.  Wie  sollen 
wir  die  Qleichsetzung  des  Verschiedenen  mit  dem  Unterscheid- 
baren verstehen?  Heisst  unterscheidbar  das,  was  unter  Voraus- 
setzung einer  unbegrenzten  Empfindlichkeit  der  Sinne  selbst 
für  die  geringsten  Differenzen  nicht  als  gleich  betrachtet  werden 
könnte?  Ist  dies  der  Fall,  so  ist  der  Satz  tautologisch  und 
praktisch  unbrauchbar,  —  wo  nicht,  so  ist  er  falsch,  man  wollte 
denn  behaupten,  dass  z.  B.  die  Nebelflecke,  die  bekanntlich 
W.  Herschel  sämmtlich  für  Stemsysteme  hielt,  damals  alle  ganz 
gleichartig  waren,  und  erst  durch  Anwendung  der  Spectral- 
analyse  zu  ihrer  Erforschung  sich  einige  von  ihnen  in  glühende 
Gase  verwandelt  haben. 

Weit  wichtiger  als  dieser  erste  Satz  ist  aber  für  den 
Beweis  die  sich  unmittelbar  an  jenen  schliessende  Behauptung, 
alles  Unterscheid  bare  könne  getrennt  werden.  Man  kann  sich 
im  ersten  Augenblick  einer  gewissen  Verwunderung  darüber 
nicht  erwehren,  dass  eine  Polemik  gegen  das  Vorhandensein 
von  Abstractis  ein  so  umfassendes  Zugeständniss  gegen  die 
Abtrennungstheorie  im  Locke'schen  Sinne  enthält,  wie  es  heute 
kaum  ein  Vertheidiger  der  Abstraction  in  Anspruch  nehmen 
möchte,  -  ein  Hinweis  auf  die  schon  berührten  Fälle  der  so- 
genannten untrennbaren  Association  genügt,  die  Tragweite  dieser 
Concession  anschaulich  zu  mac}ien.  Gleichwohl  folgert  Hume 
daraus  für  sich,  und  zwar  in  ganz  correcter  Weise,  so  dass,  &Us 
die  Beispiele,  die  er  anfuhrt,  genügen,  gegen  den  Schluss  nichts 
(wenigstens  nichts  zu  Gunsten  der  Trennbarkeit)  einzuwendeii  ist. 

Kann  man  aber  einräumen,  dass  die  bestimmfe  iJiBge 
einer  Linie  von  dieser  selbst  weder  verschieden  noch  luter- 
scheidbar  sei?  Sind  Länge  und  Linie  nicht  versdikd««.  so 
sind  sie  dasselbe,  —  mit  der  Länge  ist  also  die  Linie  creg^eben : 
ob  sie  übrigens  gerade  oder  krumm  ist,    ob  sie  in  dk«r  oder 


Harne -Studien.   I.  229 

jener  Ebene  liegt,  ist  dann  völlig  einerlei;  denn  ist  Länge  gleich 
Linie,  so  ist  auch  Linie  gleich  Länge  und  Anderes  kann  nicht 
in  Betracht  kommen.  Nicht  minder  befremdliche  Consequenzen 
ergibt  das  zweite  Beispiel.  Der  Grad  einer  Qualität  soll  von 
dieser  nicht  verschieden  sein,  also  Grad  gleich  Qualität,  z.  B. 
rosenroth  gleich  roth.  Aber  auch  dunkelroth  ist  gleich  roth, 
daher  rosenroth  gleich  dunkelroth,  oder  falls  man  davon  aus- 
geht, dass  rosenroth  verschieden  sei  von  dunkelroth,  so  ist  auch 
roth  verschieden  von  roth. 

über  den  Werth  des  in  Rede  stehenden  Argumentes  kann 
nach  dem  Gesagten  wohl  kaum  mehr  ein  Zweifel  obwalten. 
Hume  hat  nicht  nur  nicht  bewiesen,  was  er  beweisen  wollte, 
sondern^  indem  er  alles  Unterscheidbare  auch  fiir  in  der  Vor- 
stellung trennbar  erklärt,  hat  er  zugleich  den  Gegnern  nur 
neue  Waffen  in  die  Hand  gegeben,  die  sie  befähigen,  ihre 
Theorie  weit  über  die  Grenzen  der  Wahrheit  hinaus  zu  ver- 
theidigen. 

Das  zweite  Argument  geht,  wie  wir  sahen,  davon  aus, 
dass  es  widersprechend  wäre,  eine  Impression  anzunehmen, 
die  nicht  bezüglich  des  Grades  von  Quantität  und  Qualität 
bestimmt  wäre.  Dem  steht  aber  ein  anderer  Ausspruch  Hume's 
entgegen,  auf  den  Green  mit  Recht  hingewiesen  hat. '  Bei  der 
Erörtenmg  der  Frage  nach  der  Immaterialität  der  Seele  ^  tritt 
Hume  nämlich  für  die  ,von  mehreren  Metaphysikern  verwor- 
fene* Theorie  ein,  ,däss  ein  Object  existiren  und  dennoch  an 
keinem  Orte  sein  könne*.  ,Man  kann,'  föhrt  er  fort,  ,von  einem 
Gegenstande  sagen,  er  sei  nirgendwo,  wenn  seine  Theile  nicht 
so  gegen  einander  disponirt  sind,  als  nöthig  wäre,  um  irgend 
eine  Gestalt  oder  Grösse  (quantity)  auszumachen,  wenn  sich 
ferner  das  Ganze  zu  anderen  Körpern  nicht  so  verhält,  wie  es 
unsern  Begriffen  von  Contiguität  oder  Distanz  entspricht.  Dies 
ist  unzweifelhaft  bei  allen  unseren  Perceptionen  und  Objecten 
der  Fall,  mit  Ausnahme  von  denen  des  Sehens  und  Tastens. 
Eine  moralische  Reflexion  kann  nicht  auf  die  rechte  oder  linke 
Seite   einer  Gemüthsbewegung   gestellt  werden,  eben  so  wenig 


1  Tn  der  hier  stets  citirten  Hume- Ausgabe  Bd.  I  S^.  327  Anm.  1. 

2  TrcÄtise  book  I  part.  IV  sect.  V.  a.  a.  O.  S.  520. 


230  Meinong. 

kann  ein  Geruch  oder  Schall  kreisrund  oder  viereckig  sein/ 
Wie  viel  hievon  zugegeben  werden  kann,  wie  viel  zu  verwerfen 
ist,  wird  sich  uns  vielleicht  aus  einer  späteren  Betrachtung 
ergeben.  Für  unsem  nächsten  Zweck  genügt,  festgestellt  zu 
haben,  dass  Hume  selbst  die  Möglichkeit,  ja  das  Vorhanden- 
sein quantitätsloser  Impressionen  zugesteht,  also  nur  in  offenem 
Widerspruch  gegen  sich  selbst  oder  höchstens  in  sehr  uneigent- 
lichem Sinne  des  Wortes  eine  Bestimmtheit  aller  Impressionen 
bezüglich  der  Quantität  oder  gar  eines  Quantitätsgrades  in 
Anspruch  nehmen  kann.  Dass  es  übrigens  andererseits  auch 
Qualitäten  gibt,  die  eine  graduelle  Bestimmung  gar  nicht  zu- 
lassen, wie  z.  B.  dreieckig,  quadratisch  (von  Relationsquali- 
täten gar  nicht  zu  reden),  das  ist  schon  oben  zur  Sprache  ge- 
bracht worden. 

Aber  auch  der  zweite  Schritt,  den  Hume  in  diesem  Be- 
weise thut,  widerspricht  einem,  und  zwar  diesmal  einem  schon 
früher  von  ihm  geltend  gemachten  Grundsatze,  dem  Princip 
der  ,Freiheit  der  Einbildungskraft,  die  Ideen  zusammenzusetzen 
oder  zu  vertauschend*  Dass  Impressionen  sich  durch  nichts 
als  durch  ihre  grössere  Intensität  von  den  Ideen  unterscheiden, 
hat  Hume  allerdings  auch  schon  früher  aufgestellt,  aber  nicht 
von  den  Vorstellungscomplexen,  sondern  nur  von  den  Ele- 
menten, während  von  jenen  im  Gegentheil  ausdrücklich  aus- 
gesagt wurde,  ,dass  es  nicht  zwei  Impressionen  gibt,  die  völlig 
untrennbar  wären'.  ^  Speciell  für  den  in  Rede  stehenden  Beweis 
wird  übrigens  dieser  Widerspruch  praktisch  bedeutungslos,  so- 
bald sich  zeigen  lässt,  dass  Hume  eine  graduell  bestimmte 
Quantitäts-,  oder  Qualitätsidee  für  einfach  nimmt.  Bezüglich 
der  letzteren  wenigstens  hat  er  dies  in  der  That  im  Anhange 
zum  dritten  Bande  des  Treatise  ausdrücklich  betont,  wo  die 
Auseinandersetzung  darüber,  dass  ähnliche  Ideen  auch  noch 
ganz  wohl  einfach  sein  könnten,  mit  den  Worten  schliesst: 
,In  derselben  Weise  verhält  es  sich  mit  allen  Graden  irgend 
einer  Qualität.  Sie  sind  alle  einander  ähnlich,  dennoch  ist  im 
einzelnen    Falle   die   Qualität   von   ihrem    Grade    nicht   unter- 


»  Treatise  b.  I  pari.  I  sect.  III.  a.  a.  O.  S.  818. 
2  a.  a.  O.  S.  319. 


Hnme- Stadien.   I.  231 

schieden.^  *  Vor  sich  selbst  erscheint  demnach  Hume  in  diesem 
Punkte  so  ziemlich  gerechtfertigt. 

Können  aber  auch  wir  zugeben,  dass  die  Impression  der 
Qualität  mit  der  ihres  Grades  ein  einfaches  Ganze  ausmacht, 
an  dem  die  Einbildungskraft  nichts  als  die  Intensität  ändern 
kann?  Hätte  Hume  Recht,  so  könnten  wir,  sofern  es  nicht 
etwa  angeborene  Ideen  gibt,  offenbar  nur  solche  Qualitätsgrade 
vorstellen,  von  denen  wir  eine  Impression  erhalten  haben. 
Denn  so  wie  wir  einen  andern  Grad  als  Grad  derselben  Qua- 
lität vorstellten,  hätten  wir  die  Idee  der  letzteren  von  den  Ideen 
sämmtlicher  Grade,  die  wir  bisher  von  ihr  kennen  gelernt  haben, 
getrennt,  da  wir  die  Qualität  doch  nicht  zugleich  in  einem 
der  uns  aus  directer  Erfahrung  bekannten  und  in  einem  neuen 
Grade  vorzustellen  im  Stande  wären.  Gleichwohl  hat  Hume 
selbst  an  anderer  Stelle  einen  hieher  gehörigen  Fall  angeiiihrt, 
aber  freilich  nicht  zu  erklären  vermocht.  Er  glaubt  nämlich,^ 
die  einzige  Ausnahme  von  dem  Gesetz,  dass  jede  Idee  Copie 
einer  Impression  sei,  darin  zu  finden,  dass,  wenn  Einer  z.  B. 
alle  Schattirungen  von  Blau  ausser  einer  erfahren  hätte,  und 
alle  ihm  bekannten  Nuancen  ihm  der  Reihe  nach  vorgeführt 
würden,  er  nicht  nur  diese  Lücke  wahrzunehmen,  sondern  auch 
durch  die  entsprechende  Idee  zu  ergänzen  vermöchte.  Aber 
auch  andere  Fälle  dieser  Art  sind  uns  geläufig:  Wenn  uns 
heute  das  hellste  Weiss  vor  Augen  kommt,  das  wir  je  gesehen, 
80  können  wir  uns  immer  noch  ein  helleres  denken.  Wird  ein 
Ton  von  so  vielen  Instrimienten  auf  einmal  angegeben,  wie 
wir  nie  zusammenspielen  gehört  haben,  so  können  wir  uns  den 
Ton  doch  immer  noch  stärker  und  voller  vorstellen  u.  dgl.  m. 
Wären  diese  und  ähnliche  Fälle  wirklich,  wie  Hume  conse- 
quenterweise  zugestehen  müsste,  widersprechende  Instanzen 
gegen  die  empirische  Erkenntnisstheorie,  so  wäre  es  in  der 
That  um  diese  schlimm  genug  bestellt.  Zum  Glück  für  sie  ist 
aber  die  Erklärung  der  obigen  Fälle  ziemlich  naheliegend, 
wenn  man  festhält,  dass  mit  zwei  Vorstellungen  auch  deren 
Relationen  zu  einander  gegeben  sind,  und  dass  die  Glieder 
verschiedener  Vorstellungspaare  zu  einander  in  derselben 


»  ibid.  S.  328. 

»  Treatise  b.  I  p.  I  s.  I.  ».  a.  O.  S.  316. 


232  MelDong. 

Relation  steheu  könneu.  Man  ist  täglich  in  der  Lage,  sich  davon 
zu  überzeugen,  dass,  wenn  wir  Voretellungsreihen  reproduciren 
wollen,  dabei  diese  Relationen  oft  eine  weit  grössere  Rolle 
spielen  als  die  Vorstellungen  selbst.  Wer  ein  Lied,  das  er 
gehört  hat,  nachsingt,  wird,  selbst  wenn  er  ein  sehr  geübter 
Musiker  wäre,  nur  sehr  selten  auch  dieselbe  Tonart  wieder- 
geben (er  hätte  denn  seine  Aufmerksamkeit  besonders  daraaf 
gerichtet).  Was  hat  er  demnach  sich  eigentlich  gemerkt,  die 
Töne  selbst  und  deren  Aufeinanderfolge?  Gewiss  nicht,  sonst 
hätte  er  nicht  um  eine  Terz  oder  Quint  tiefer  singen  können 
als  die  Tonlage  war,  in  der  er  das  Lied  hörte.  Was  er  sich 
gemerkt  hat,  waren  demnach  nur  die  Tonintervalle  und 
deren  Reihenfolge,  die  Uebertragung  derBelben  auf  die  durch 
die  Intonation  vielleicht  ganz  zufällig  bestimmte  Tonreihe  geht 
dann  ohne  jede  Schwierigkeit  vor  sich.-  Mit  eben  solchen  Re- 
lationsübertragungen nun  haben  wir  es  auch  in  den  obigen 
Beispielen  zu  thun,  die  sich  gewissermassen  durch  die  Formel: 

a  :  b  ^=  b  :  X 

wo  a  und  b  gegeben  sind,  x  bestimmt  werden  kann,  veran- 
schaulichen lassen.  Hätten  wir  an  jeder  der  Farben  des  Sonnen- 
spectrums  stets  nur  einen  Helligkeitsgrad,  ebenso  an  jedem 
Tone  nur  einen  Stärkegrad  wahrgenommen  u.  s.  f.,  dann 
möchte  es  allerdings  kaum  gelingen,  Vorstellungen  von  anderen 
Graden  zu  bilden,  —  wenn  es  aber  gelänge,  eine  empirische 
Erklärung  schwerlich  möglich  sein.  Mit  den  verschiedenen 
Graden  ist  aber  auch  das  Verhältniss  derselben  zu  einander 
gegeben,  und  wir  sind  in  den  Stand  gesetzt,  dieses  auch  über 
die  Grenzen  der  Erfahrung  hinaus  zu  übertragen. 

In  dieser  Weise  fällt  das  von  Hume  selbst  gegen  den 
Empirismus  geltend  gemachte  Bedenken;  aber  auch  seine  Be- 
hauptung über  die  Einfachheit  der  graduell  bestimmten  Qua- 
litätsidee kann  demselben  Schicksale  nicht  entgehen.  Wir 
stellen  den  Ton,  den  wir  schwächer  hörten,  stärker  vor  als 
wir  ihn  je  hören  konnten;  es  ist  derselbe  Ton  geblieben,  dem 
Wesen  nach  dieselbe  Qualität,  dem  Grade  nach  aber  ver- 
schieden, —  und  da  die  neue  Grad  Vorstellung  mit  der  alten  nicht 
zusammenbestehen    kann,    so    war    erst    eine    Trennung  der 


Harne. Stadien.    I.  233 

letzteren  von  der  Qualitätsidee  nöthig,  wenn  die  erstere  Platz 
finden  sollte.  Es  liegt  uns  natürlich  nichts  ferner,  als  auf 
Grand  dessen  etwa  anzunehmen,  man  könne  eine  Qualität 
ohne  jeden  Grad,  oder  gar  einen  Grad  ohne  jede  Qualität, 
von  der  er  der  Grad  wäre,  vorstellen;  wir  glauben  im  Gegen- 
theil,  dass  die  Qualität  und  ihr  Grad  sich  in  dieser  Hinsicht 
analog  verhalten  wie  Farbe  und  Ausdehnung.  Niemand  vermag 
eine  Farbe  ohne  jede  Ausdehnung  zu  denken,  aber  für  Keinen 
ist  sie  an  irgend  eine  bestimmte.  Ausdehnung  untrennbar  ge- 
knüpft, wie  nothwendig  der  Fall  sein  müsste,  wenn  beide  eine 
einfache  Impression  ausmachten.  Es  ist  sonach  nicht  der 
Zweck  unserer  Polemik,  für  Lockens  Abtrennungstheorie  ein- 
zutreten; aber  in  gleicher  Weise  wie  sie  ist  diesmal  auch  die 
von  uns  geltend  gemachte  Anschauung  über  das  Wesen  der 
Äbstraction  durch  Hume's  Aufstellungen  gefährdet.  Wäre  Qua- 
lität und  Grad  zusammen  wirklich  etwas  Einfaches,  könnten 
sich  deren  Impression  und  Idee  durch  nichts  als  durch  die 
Intensität  des  untrennbaren  Vorstellungsganzen  von  einander 
unterscheiden,  so  wäre  natürlich  auch  die  Concentration  der 
Aufmerksamkeit  auf  einen  Theil,  da  ein  solcher  sich  gar  nicht 
vorfände,  undenkbar.  Für  die  Richtigkeit  der  Ansicht,  welche 
gerade  auf  diese  Concentration  Gewicht  legt,  ist  natürlich  durch 
die  hier  gegebenen  Erörterungen  gar  nichts  bewiesen,  \\m  so 
mehr  aber  gegen  die  Stichhaltigkeit  von  Hume's  zweitem  Ar- 
gument, dessen  Prüfung  hier  ja  vor  Allem  unsere  Aufgabe  war. 

Indem  wir  zur  Besprocliung  des  dritten  Argumentes  über- 
gehen, erweist  es  sich  vor  Allem  als  nöthig,  einige  Missver- 
ständnisse  zu  beseitigen,  die  wohl  durch  Aequivocation  ent- 
standen sein  mögen.  Ist  der  Satz:  ,that  everything  in  nature 
is  individual',  so  zu  veratehen:  ,dass  jedes  Ding  in  der  Natur 
individuell  ist^,  so  kann  niemand  Bedenken  tragen,  diese  Be- 
hauptung als  analytisch  zu  acceptiren;  auch  damit,  dass  die 
Idee  jedes  ,Dinges  in  der  Natur'  individuell  sei,  wird  jeder- 
mann einverstanden  sein  müssen,  wenn  man  dabei  blos  die 
nur  diesem  Dinge  entsprechende  Idee,  d.  i.  eben  dessen  Indi- 
vidualidee  im  Auge  hat.  Auf  der  anderen  Seite  wird  auch 
dagegen  nichts  eingewendet  werden  können,  dass  es  einerlei 
bedeute,  eine  Idee  von  etwas  zu  bilden,  oder  einfach  eine  Idee  zu 


234  Meinong. 

bilden,  —  mit  anderen  Worten,  dasB  jede  Idee  ein  immanentes 
Object  habe,  wenn  auch  gegen  die  hiefur  von  Hume  gegebene 
Begründung  (auf  die  wir  hier  noch  nicht  eingehen  können), 
mancherlei  zu  erinnern  sein  sollte.  Nur  wie  sich  aus  diesen 
beiden  Prämissen  der  Schluss  ergeben  könnte,  dass  jede  Idee 
individuell  sein  müsse,  das  scheint  vorerst  noch  ganz  unbe- 
greiflich. Argumentirt  man  hingegen  so:  jedes  Object  in  der 
Natur  ist  individuell  (und  also  hinsichtlich  des  Qualitäts-  und 
Quantitätsgrades  bestimmt),  somit  auch  die  Idee  jedes  Objectes; 
jede  Idee  ist  aber  die  Idee  von  einem  Object,  daher  ist  jede  Idee 
individuell  (respective  in  der  eben  angedeuteten  Weise  bestimmt), 
—  wenn  man,  sagen  wir,  in  dieser  Weise  argumentirt,  so  liegt 
in  der  That  der  Schein  eines  Schlusses  vor,  aber  dieser  wird 
hervorgerufen  durch  eine  Aequivocation  im  Worte  Object.  In 
der  ersten  und  zweiten  Prämisse  bezeichnet  es  ein  wirklich  und 
für  sich  existirendes  Ding,  in  der  dritten  Prämisse  dagegen 
ein  immanentes  Object,  oder  wenigstens  einen  Vorstellungs- 
gegenstand,  dem  zwar  vielleicht  äussere,  aber  gewiss  nicht 
nothwendig  selbstständige  Existenz  zugeschrieben  wird.  Der 
Formfehler  wäre  beseitigt,  wenn  man  in  der  dritten  Prämisse 
das  Wort  Object  in  demselben  Sinne  nähme  wie  in  den  beiden 
ersten  Prämissen;  dann  ist  aber  die  dritte  falsch,  denn  nicht 
jede  Idee  ist  die  Idee  eines  wirklich  und  selbstständig  existi- 
renden  Dinges.  Stelle  ich  z.  B.  roth,  blau,  gerade,  schwer  u.  dgl. 
vor,  so  sind  das  zwar  Eigenschaften  solcher  Dinge,  aber  nicht 
selbst  Dinge;  denke  ich  aber  gar  an  Apollo  oder,  um  ein  be- 
liebtes Beispiel  Hume's  zu  gebrauchen,  an  einen  goldenen  Berg, 
so  habe  ich  Ideen,  denen  meiner  Vorstellung  nach  gar  nichts 
in  Wirklichkeit  entspricht. 

Noch  eine  Auffassung  wäre  möglich,  in  der  der  Hume'sche 
Schluss  giltig  scheinen  könnte,  nämlich,  wenn  wir  den  oben 
englisch  citirten  Satz  so  übersetzen:  , Alles  in  der  Natur  ist 
individuell',  1  und  dann  fortfahren:  daher  ist  jede  Idee  von 
etwas  individuell,  jede  Idee  ist  aber  die  Idee  von  etwas  u.  s.  f. 
Allein  diesmal  ist,  wenn  auch  alles  Andere  richtig  sein  sollte, 
doch  die  erste  Prämisse  so  weit  davon  entfernt  analytisch  zu 


I  Dies   scheint  sprachlich   am   nächsten  zii   liegen  und  wurde  daher  auch 
bei  der   referirenden  Wiedergabe   des  vorliegenden  Arguments  acceptirt. 


H«in«>  Stadien.  1.  235 

seiD;  dass  sie  im  Gegentheil  falsch  ist.  Denn  nennt  man  indi- 
viduell alles  das,  was  entweder  selbst  ein  Individuum  ist,  oder 
sich  nur  auf  ein  Individuum  beziehen  kann,  so  fallen  unter 
diesen  Begriff  zwar  alle  Einzeldinge;  dagegen  gibt  es  aber 
kein  einziges  Attribut,  das,  für  sich  allein  betrachtet,  nur  von 
einem  Individuum  ausgesagt  werden  könnte.  Trotzdem  sind 
die  Attribute  nicht  minder  wirklich  als  die  Dinge,  an  denen 
sie  haften;  es  kann  somit  durchaus  nicht  Alles  in  der  Natur 
individuell  genannt  werden. 

Man  sieht,  wie  immer  man  Hume's  Beweis  wendet,  immer 
tritt  bald  ein  formeller  Fehler,  bald  ein  materieller  Irrthum 
zu  Tage.  Welche  von  den  beiden  hier  versuchten  Auf- 
fassungen auch  dem  schottischen  Philosophen  vorgeschwebt 
haben  mag,  in  jedem  Falle  scheint  dabei  eine  Aequivocation 
im  Spiele.  Im  ersten  Falle  läge  sie,  wie  schon  bemerkt,  im 
Worte  ,object';  im  zweiten  Falle  läge  mindestens  nahe,  in  dem 
Worte  jCverything*  die  Ursache  der  Täuschung  zu  suchen,  das, 
sobald  man  es  mit  ,every  thing'  gleichsetzt,  leicht  eine  irre- 
fahrende Nebenbedeutung  annehmen  kann. 

Aber  es  liegt  noch  ein  sehr  beträchtliches  Versehen  in 
diesem  Beweise.  Was  wir  im  Vorhergehenden  der  Kürze  halber 
einfach  als  zweite  Prämisse  bezeichneten  und  übrigens  ganz 
ununtersucht  liessen,  soll  ja  selbst  aus  dem  ersten  Satze  ge- 
folgert sein.  Allein  wie  kann  sich  der  zweite  Satz  aus  dem 
ersten  ergeben,  selbst  wenn  wir  diesen  so  interpretiren,  dass 
er  eine  Wahrheit  aussagt?  Wenn  es  absurd  ist,  ein  Ding  in 
der  Natur  anzunehmen,  dessen  Qualität  und  Quantität  nicht 
graduell  bestimmt  wäre,  wenn  man  demnach  jedes  Ding  als 
ein  in  dieser  Weise  Determinirtes  vorstellen  muss,  folgt  daraus, 
dass  auch  jede  Idee  von  einem  solchen  Dinge  alle  diese 
Bestimmungen  mit  Nothwendigkeit  an  sich  trägt?  Das  anzu- 
nehmen, wäre  eben  so  verfehlt  wie  die  von  uns  schon  früher 
zurückgewiesene  (und  sich  theil weise  damit  deckende)  Be- 
hauptung: weil  das  Individuum  unendlich  viele  Merkmale  habe, 
müsse  auch  der  Inhalt  des  Individual  begriff  es  unendlich  gross 
sein.  ^     Ueberdies   ist,  wie  wir   auch   schon  hervorzuheben  Ge- 


1   Hame*8  Irrthnm  drückt  sich  am  prSgnantesten  in  dem  Satze  aus,  der  dieses 
Argument  beschliesst:  ,Now  as  His  impossible  to   form  an  idea  of  an 


236  Mtinong. 

legenheit  hatten,  eine  Idee  von  einem  Individuum  noch  lange 
keine  Individualidee;  aber  nur,  wenn  dies  der  Fall  wäre,  Hesse 
sich  von  der  durchgängigen  Individualität  der  Dinge  auf  die 
der  Ideen  schliessen. 

Was  noch  an  diesem  Beweise  als  befremdlich  in  die  Äugen 
fällt,  ist  der  ausdrückliche  Gegensatz,  in  den  hier  Realität  und 
Idealität  gestellt  sind,  und  der  Hume's  sonstigen  Ansichten  über 
diesen  Punkt  kaum  zu  entsprechen  scheint.  Da  uns  jedoch 
Hume's  Metaphysik  erst  später  beschäftigen  wird,  müssen  wir 
uns  hier  begnügen,  auf  das  Auffallende  dieser  Thatsache  hin- 
gewiesen zu  haben. 

Schauen  wir  einen  Augenblick  auf  die  Resultate  unserer 
bisherigen  Betrachtungen  zurück,  so  müssen  wir  dieselben  als 
durchaus  negativ  bezeichnen.  Die  These,  die  Hume  aufstellt, 
um  Berkeley's  Verwerfung  aller  abstracten  Ideen  neu  und  ab- 
schliessend zu  begründen,  hat  sich  hiefiir  als  zu  schwach,  die 
zu  Qunsten  dieser  These  vorgebrachten  Argumente  haben  sich 
aus  den  verschiedensten  Gründen  als  ungeeignet  erwiesen,  das 
unmittelbar  zu  Beweisende,  —  noch  ungeeigneter,  das  mittel- 
bar zu  Beweisende  zu  stützen.  Aber  wir  haben  Berkeley's 
Polemik  gegen  Lockens  Ansichten  in  der  Hauptsache  als  be- 
rechtigt anerkennen  müssen;  hat  also  auch  Hume  zu  dieser 
Polemik  nichts  Neues  hinzubringen  können,  was  haltbar  wäre, 
so  berechtigt  uns  dies,  vom  historischen  Interesse  ganz  abge- 
sehen, auch  sachlich  noch  keineswegs,  Hume's  Versuch,  die 
Theorie  Berkeley's  auch  nach  der  positiven  Seite  bin  auszu- 
bilden, einfach  unberücksichtigt  zu  lassen,  und  dies  um  so 
weniger,  als  sich  Berkeley 's  Positionen  gerade  als  der  schwä- 
chere Theil  seiner  Ausführungen  herausgestellt  haben. 

Die  Erscheinung,  um  deren  Erklärung  es  sich  handelt, 
ist,  wie  wir    wissen,   die^   dass   die   nach  Hume's  Meinung   als 


object,  that  is  possessed  of  quantity  and  quality,  and  yet  is  posseased  of  no 
precise  degree  of  eitber;  it  foUows  that  there  is  an  eqnal  impossibility 
of  forming  an  idea,  that  is  not  limited  and  confined  in  both  these  par- 
ticulars*  (a.  a.  O.  S.  327).  Bezieht  sich  hier  das  ,that*  im  Vorder8At«e, 
wie  wohl  am  natürlichsten  wäre,  anf  ,objpct',  so  ist  der  Satz  richtig,  aber 
für  Hume  unbrauchbar;  bezieht  es  sich  dagegen  anf  ,idea*,  so  stimmt  er 
zu  Hume's  Absicht,  ist  aber  falsch. 


Ham«-8todi«n.   I.  237 

concret  erwiesenen  Ideen  dennoch  allgemeine  Bedeutung  haben 
können.  Seine  Erklärungshypothese  ist  oben  fast  ganz  in  ex- 
tenso vorgeführt  worden,  und  zwar  aus  einem  Grunde ,  der, 
nachdem  dieselbe  schon  wiederholt  anstandslos  dargestellt 
worden  ist,  vielleicht  in  einer  für  den  Verfasser  nicht  eben 
günstigen  Weise  auffallen  mag.  Es  ist  ihm  nämlich  trotz 
redlicher  Mühe  nicht  gelungen,  darüber,  wie  sich  Hume  eigent- 
lich den  oben  beschriebenen  Vorgang  denkt,  volle  Klarheit  zu 
gewinnen,  und  auch  die  hier  ziemlich  cursorischen  Referate 
Jodrs  ^  und  Pfleiderer's^  haben  ihm  die  dunklen  Punkte  nicht  zu 
erhellen  vermocht.  Sollte  an  dieser  Unklarheit  nun  doch  Hume 
selbst  die  Schuld  tragen,  so  leuchtet  wohl  ein,  dass  wenigstens 
dies  zu  constatiren  eine  unerlässliche  Aufgabe  einer  jeden 
Kritik  sein  müsste. 

Der  Ausgangspunkt  seiner  Theorie  ist  zunächst  noch  voll- 
kommen verständlich:  wir  benennen  ähnliche  Gegenstände  mit 
demselben  Wort  Hume  hätte  sich  zur  Unterstützung  dieser 
Aufstellung  auf  das  Gesetz  der  Association  durch  Aehnlichkeit 
berufen  können,  welches  vollkommen  begreiflich  erscheinen 
Hesse,  dass,  wenn  wir  einen  Gegenstand  benannt  haben  und  ein 
ihm  ähnlicher  uns  begegnet,  wir  ganz  von  selbst  den  ersteren 
Gegenstand,  und  dann  mittelbar  auch  das  für  diesen  ein- 
geführte Wort  reproduciren;  von  da  aus  liegt  es  nahe  genug, 
auch  für  den  zweiten  Gegenstand  dasselbe  Wort  zu  ver- 
wenden. Aus  der  mittelbaren  Association  wird  so  eine  unmittel- 
bare, und  diese  mag  sich  leicht  allmälig  auf  eine  ganze  Reihe 
gleichartiger  Objecto  erstrecken.  Hören  wir  nun  den  Namen, 
so  tritt  uns  eine  der  associirten  Individualvorstellungen  ins  Be- 
wusstsein,  und  zwar  die,  welche  aus  irgend  welchen  zufälligen 
Granden  sich  eben  als  nächste  darbietet.  Wie  verhält  es  sich 
aber  mit  den  andern,  gleichfalls  associirten  Ideen?  Sie  sind 
uns,  sagt  Hume,  nicht  wirklich,  sondern  nur  facultativ  gegen- 
wärtig. Aber  seit  wann?  —  erst  seit  der  erneuten  Nennung  des 
Namens?  Nach  Hume's  Darstellung  scheint  das  gemeint;  muss 
aber  nicht  eine  Disposition,  die  fraglichen  Individuen  vorzu- 
stellen, schon  vorgelegen   haben,  wenn  sie  eventuell  mit  Hilfe 


*  Leben  und  Lehre  David  Hurae's  S.  33  f. 
^  KmpiriBmus  und  Skepsis  S.  123  ff. 


238  Meinong. 

dos  Wortes  reproducibel  waren  (und  das  waren  sie  doch  alle, 
da  a  priori  nicht  feststand;  welche  Idee  der  gehörte  Name 
erwecken  werde)?  Das  scheint  ausser  Zweifel;  der  Unterschied 
könnte  also  besten  Falles  ein  gradueller^  die  Disposition  nach 
Hören  des  Wortes  stärker  sein  als  vorher.  Aber  so  stark 
die  Disposition  sein  mag,  Disposition  zu  einer  Vorstellung  ist 
niemals  selbst  Vorstellung;  die  durch  das  Wort  explicite  re- 
producirte  Idee  ist  also  nach  wie  vor  particulär  und  das  Wort 
mit  ihr. 

Um  so  mehr  muss  man  erstaunt  sein,  wenn  Hume  nun 
doch  erklärt;  das  Wort  erzeuge  neben  der  Individualidee  eine 
Gewohnheit  (das  ist  doch  wohl  die  besprochene  Disposition?),  ^ 
und  diese  erzeuge  wieder  eine  andere  individuelle  Idee,  ;for 
which  we  may  have  occasion^  Dies  kann  nur  etwa  so  zurecht- 
gelegt werden ;  dass  jene  Gewohnheit  als  eine  permancDte, 
unentbehrliche  Vorbedingung  der  letztgenannten  Idee,  jene  ;0cca- 
sion'  dagegen  als  zeitlich  letzte  Ursache  zu  betrachten  ist  Dann 
steht  und  fällt  aber  die  ganze  Theorie  mit  dieser  Occasion; 
muss  also  eine  solche  sich  jedesmal  einfinden,  so  oft  wir  jenes 
Wort  hören?  Hume  sagt  nichts  davon;  es  ist  auch  nicht  ab- 
zusehen, worin  eine  solche  Noth wendigkeit  begründet  sein  sollte, 
—  dennoch  kann,  sobald  diese  Occasion  entfiillt,  von  Allge- 
meinheit nun  wieder  nicht  die  Rede  sein. 

Welcher  Art  diese  Occasionen  seien,  erfahren  wir  nur 
ganz  im  Vorübergehen,  wenn  wir  nämlich  berechtigt  sind,  jene 
,  Absicht  oder  Noth  wendigkeit'  hieher  zu  zählen,  die,  wie  wir 
hörten,  die  vermöge  jener  Disposition  vorzustellende  Einzelidee 
bestimmt.  Ueber  die  Anzahl  der  Occasionen,  die  bei  einem 
Worte  sich  geltend  machen  können,  lässt  uns  Hume  völlig  ohne 
Aufklärung;  aber  es  ist  zu  vermuthen,  dass  deren  mehrere  sein 
müssen,  da  auf  diesem  mittelbaren  Wege  augenscheinlich  mehrere 
Ideen  zum  Bewusstsein  gebracht  werden.  Alle  Individuen  jedoch, 
an  die  sich  jener  Name  knüpfen  soll,  vorzustellen,  ist  meist  un- 
möglich  (warum,    wenn  es  möglich  ist,    einige   vorzustellen?), 


*  Ueber  allen  Zweifel  sicher  ist  dies  nicht.  Im  Text  heisst  es :  ,that  cuakom, 
which  we  have  acquired  bysurveying  them*  (die  Individuen  nämlich), 
aber  von  einem  ,Burveying*  war  vorher  gar  nicht  die  Rede,  «ondem  nur 
von  einem  Anknüpfen  derselben  Worte  an  tihuliche  Individaen. 


Hnme- Stadien.    I.  239 

wir  begnügen  uns  daher  mit  einer  ,partial  considoration^,  wobei 
aber  wieder  nicht  zu  ersehen  ist,  ob  jener  Mangel  zur  blos  theil- 
weisen  Betrachtung  des  Inhaltes  oder  des  Umfangs  des  betreffen- 
den Begriffes  führt  (wenn  es  erlaubt  ist,  uns  für  einen  Moment 
der  uns  heute  geläufigen  Ausdrucksweise  zu  bedienen).  Der 
erste  Schein  spricht  natürlich  flir  das  Letztere;  aber  Hume's 
noch  zu  besprechende  Ausführungen  über  die  ^distinctio  rationis^ 
zeigen,  dass  auch  die  erstere  Deutung  nicht  schlechthin  von  der 
Hand  zu  weisen  ist. 

Indessen  gerathen  alle  bisher  wahrscheinlich  gemachten 
Interpretationen  wieder  ins  Schwanken,  wenn  man  denselben 
Hume's  nachträgliche  Bemerkung  entgegenhält,  dass,  ehe  jene 
Gewohnheit  durchgebildet  sei,  wir  oft  statt  einer  Idee  mehrere 
hinter  einander  bilden,  um  uns  über  den  Sinn  jenes  Wortes 
aufzuklären.  Dies  wird  unfraglich  als  etwas  von  dem  obigen 
Vorgange  ganz  Verschiedenes  geltend  gemacht;  worin  soll 
aber,  wenn  wir  Hume  bisher  richtig  verstanden  haben,  die  Ver- 
schiedenheit liegen?  Wodurch  kann  dieses  Zusammensuchen 
verschiedener  mit  demselben  Worte  bezeichneter  Gegenstände 
ermöglicht  werden,  wenn  nicht  durch  die  Associationen,  welche 
sich  an  das  Wort  knüpfen,  also  durch  das,  was  Hume  früher 
Gewohnheit  genannt  hat?  Man  könnte  einen  Augenblick  lang 
an  Association  der  Vorstellungen  selbst  nach  dem  Gesetze  der 
Aehnlichkeit  denken,  aber  auch  nur  einen  Augenblick.  Denn, 
um  bei  Hume's  Beispiel  zu  bleiben,  hätten  wir  zur  Illustration 
dessen,  was  Figur  bedeutet,  einen  concreten  Kreis  vorgestellt, 
der,  da  er  doch  Farbe  haben  muss,  etwa  weiss  sein  mag,  so 
könnte  sich  nach  dem  Gesetze  der  Aehnlichkeit  Schnee  oder 
Zucker  daran  mindestens  ebensogut  associiren,  als  ein  weisses 
Quadrat.  —  Auch  darin,  dass  wir  hier  einen  Gegenstand 
nach  dem  andern  vorstellen,  kann  kein  Unterschied  gegen- 
über dem  ersten  Falle  liegen;  denn  mag  jene  Gewohnheit  auch 
eine  Disposition  für  alle  associirten  Ideen  begründen,  so 
können  diese,  mögen  wir  ihrer  viele  oder  wenige  wirklich 
vorstellen,  doch  kaum  jemals  sich  alle  gleichzeitig  im  Bewusst- 
sein  vorfinden. 

Die  hier  hervorgehobenen  Schwierigkeiten  zu  lösen,  ist 
der  Verfasser,  wie  schon  oben  bemerkt,  nicht  im  Stande.  Sollte 
es  einem  schärferen  Verstände  gelingen,  das  scheinbar  Dunkle 


240  MeinoBg. 

dieser  Ausführungen  aufzukellen  ^  so  wird  er  sich  dankbar  der 
besseren  Einsicht  anschliessen;  wenn  aber  nicht,  so  glaubt  er  nun 
in  der  That  so  viel  ausgemacht  zu  haben,  dass  die  Hume'sche 
Theorie  hier  an  Unklarheiten  leidet,  über  die  man  bei  der  Dar- 
stellung zwar  leicht  hinwegspringen,  die  man  jedoch  unmöglich 
durch  Interpretation  beseitigen  kann. 

Es  versteht  sich  unter  solchen  Umständen  von  selbst,  dass 
hier  das  Gebiet  der  sachlichen  Kritik  ein  ziemlich  beschränktes 
sein  muss.  Gleichwohl  dürfte  sie  auch  hier  nicht  werthlos  sein, 
einestheils^  weil  wir  erwarten  dürfen,  auf  diesem  Wege  neues 
Material  zur  Charakteristik  der  vorliegenden  Untersuchungen 
zu  gewinnen,  —  dann  aber  auch,  weil  sich  daraus  wohl  ergeben 
muss,  welche  Aussicht  ein  etwaiger  Versuch  hätte,  Hume's 
Theorie  unter  Beibehaltung  der  wesentlichen  Grundlagen  weiter 
auszubilden. 

Schon  der  erste  Schritt  Hume's,  die  Anwendung  desselben 
Wortes  auf  ähnliche  Gegenstände,  führt,  von  seinem  Stand- 
punkte aus  betrachtet,  auf  Inconvenienzen.  Zwar  haben  wir 
selbst  zur  Unterstützung  dieses  Princips  auf  die  Association 
durch  Aehnlichkeit  hingewiesen,  und  sind  auch  jetzt  weit  ent- 
fernt, dessen  Bedeutung  für  die  Bildung  allgemeiner  Namen  zu 
unterschätzen;  aber  es  muss  hier  darauf  hingewiesen  werden, 
wie  wenig  Association  ohne  Abstraction  in  dieser  Richtung  zu 
leisten  vermöchte.  Gesetzt,  wir  hätten  etwas  Kreisförmiges  vor 
uns,  sei  es  nun  ein  gezeichneter  Kreis,  ein  kreisrundes  Papier 
oder  ein  Mühlstein  (einen  Kreis  in  abstracto  können  wir  ja 
nach  Hume  gar  nicht  denken)  und  nennten  dies  Figur,*  so 
lässt  sich  wohl  mit  ziemlicher  Sicherheit  behaupten,  dass  uns 
nie  und  nimmer  einfallen  würde,  sobald  wir  nun  etwa  ein  qua- 
dratisch abgegrenztes  Kornfeld  sähen,  uns  jener  ,Figur'  als 
ähnlich  zu  erinnern  und  so  auch  dem  Felde  den  Kamen  Figur 
zu  geben.  Freilich,  sind  wir  im  Stande,  an  Gestalt  in  ab- 
stracto dabei  zu  denken,  dann  ist  Alles  einfach;  aber  eben  das 
ist  die  Voraussetzung,  die  Hume  am  allerwenigsten  zulässt. 
Die  Schwierigkeit  wird  natürlich  um  so  grösser,  je  allgemeiner 

>  Um  die  philologiacbe  Richtigkeit  ist  es  ans  hier  natürlich  nicht  zu  thnn. 


Hnme- Studien.    I.  241 

der  Name  sein  soll:  was  z.  B.  d^s  eben  berührte  Wort  Gestalt 
anlaogt,.  so  kann  es  auf  alle  Gegenstände  im  Räume  ange- 
wendet werden,  beruht  also  auf  einer  Aehnlichkeit,  die,  wenn 
man  den  Gegenstand  nur  stets  mit  allen  seinen  Details  be- 
trachten kann,  viel  zu  verbreitet  und  darum  viel  zu  wenig 
auffallend  ist,  um  eine  Association  zu  begründen. 

Wenn   übrigens  Hume   über   die  Festigkeit  der  oben  oft 
genannten  »Gewohnheit*  staunt,  welche  gestattet,  dass  ohne  Miss- 
verständniss  dieselbe  Parti cularidee  an  verschiedene  allgemeine 
Worte  geknüpft  werden  kann,  so  liegt  dem  offenbar  eine  That- 
sache  zu  Grunde,  die  noch  viel  erstaunlicher  ist.  Wie  ist  man 
denn   nur   darauf  verfallen,    ein    und   derselben  Particularidee, 
bevor  jene  Gewohnheit   sich  bildete,  die  allerverschiedensten 
Namen   zu   geben,    z.  B.  dasselbe  Ding   einmal  Mühlstein,  ein 
andermal  ein  Rundes,  dann  ein  Weisses,  Schweres,  einen  Körper 
u.  8.  w.  u.   s.   w.   zu   nennen,    und    dann,   sobald   man   andere 
ähnliche  Dinge  antraf,  diesen  bald  den  einen,  bald  den  anderen 
jener  vielen    Namen   zu  geben,   und   zwar  so,  dass  den  unter 
einander  ähnlichen   Dingen   immer  auch  dieselben  Namen  zu- 
fallen, nicht  aber  unterschiedlos  bald  diesem,  bald  jenem  Gegen- 
stande,  wie   doch    zu    erwarten   wäre,    wenn   die   Aehnlichkeit 
immer   nur   im  Ganzen,    und   nicht  in  Beziehung  auf  einzelne 
Attribute    in  Wirksamkeit   treten   könnte?     Eines  mindestens 
scheint  sich  aus  der  ganzen  Verwirrung  ziemlich  unzweifelhaft 
zu  ergeben.    Dasselbe  Wort  wird  fiir  sehr  viele  und  sehr  ver- 
schiedene Dinge  gebraucht;  dasselbe  Ding  wird  (und  zwar,  wie 
es  scheint,  ganz  grundlos)   mit  einer  sehr  grossen  Anzahl  ver- 
schiedener Namen  benannt,  —  es  ist  also  nicht  abzusehen,  wie 
sich   unter   so   ungünstigen  Umständen    eine  auch  nur  einiger- 
massen  merkliche  Association  zwischen  Wort  und  Idee  bilden 
könnte. 

Gesetzt  jedoch,  alle  hier  geltend  gemachten  Bedenken 
bestünden  nicht,  gesetzt,  es  gelänge,  die  Associationen  ganz  so 
zu  contrahiren,  wie  Hume  verlangt:  so  gerathen  wir  doch  sofort 
auf  eine  neue  Schwierigkeit,  sobald  wir  die  auf  dem  Hume'schen 
Wege  gebildeten  ,allgemeinen  Ideen'  zu  Urtheilen  zu  verwen- 
den suchen.  Denn  man  erkennt  leicht,  dass  Letztere  durch 
Hume's  Theorie  alle  Bedeutung  verlieren.  Spreche  ich  etwa 
den  Satz  aus:   ,Die  Wölfe   sind  Säugethiere',  so  ist  damit  zu- 

SiteUBgiber.  d.  phil.-hirt.  Ci.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hfl.  16 


242  if«iiioiig. 

nächBt  nur  etwas  über  Worte  ausgesagt;  bezüglich  der  Dinge 
lässt  sich  daraus  nur  ganz  im  Allgemeinen  auf  eine  Aehnlich- 
keit  schliessen,  welche  die  Association  an  das  Wort  Säuge- 
thier  voraussetzt,  —  da  aber  dieselben  Gegenstände  auch  noch 
mit  vielen  anderen  z.  B.  an  den  Namen  organisches  Wesen 
associirt  sind,  so  ist  mit  der  Erkenntniss  jener  Aehnlichkeit 
so  gut  wie  gar  nichts  gewonnen. 

Lassen  wir  aber  auch  dies  Alles  bei  Seite,  so  bleibt 
immer  noch  das  sogenannte  abgekürzte  Verfahren,  das  nach 
Hume's  Ansicht  ja  in  der  Regel  eintritt,  als  etwas  höchst  Son- 
derbares übrig.  Es  ist  sehr  begreiflich,  dass  dem,  der  ein 
Attribut  denkt,  in  Folge  dessen  ein  Gegenstand  in  den  Sinn 
kommt,  der  dieses  Attribut  an  sich  trägt.  Dass  uns  aber  darum, 
weil  wir  ein  Attribut  vorstellen,  ein  Object  einfallen  soll,  das 
dieses  Merkmal  gerade  nicht  besitzt,  das  ist  nicht  nur,  wie 
schon  Hume  meint,  ,einer  der  ausser  ordentlichsten  Umstände^, 
sondern  das  widerspricht  allem  über  Association  und  Repro- 
duction  Beobachteten  so  sehr,  dass  eine  umfangreiche  Begrün- 
dung durch  analoge  Fälle  erforderlich  wäre,  um  einen  solchen 
Erklärungsversuch  überhaupt  statthaft,  um  so  mehr  also,  um 
ihn  wahrscheinlich  zu  machen. 

Ganz  ausser  Acht  gelassen  hat  Hume  übrigens  den  Ana- 
logiebeweis nicht,  wenn  er  ihn  auch  nicht  zu  Gunsten  des  letzt- 
besprochenen Punktes  anwendet,  sondern  um  anderweitig  seine 
Theorie  zu  stützen.  Allein  die  von  ihm  herbeigezogenen  F«älle 
erweisen  sich  als  wenig  zu  diesem  Zwecke  geeignet.  Das  Re- 
produciren  von  Versen  mit  Hilfe  des  Anfangswortes  ist  doch 
nicht  mehr  als  ein  Beispiel  einfacher  Ideenassociation,  deren 
Vorhandensein  Hume  an  dieser  Stelle  nicht  erst  sicher  zu  stellen 
hat.  Weist  er  ferner  auf  die  Aehnlichkeit  als  Hilfe  für  die  Re- 
production  hin,  so  wissen  wir  schon  aus  den  obigen  Betrach- 
tungen, ein  wie  zweifelhafter  Bundesgenosse  diese  Aehnlichkeit 
gerade  für  Hume's  Theorie  ist.  Aehnlich  in  irgend  einer 
Hinsicht  (wie  ein  Vertheidiger  der  abstracten  BegrilBFe  wohl 
sagen  darf,  nicht  aber  Hume)  ist  der  durch  das  Wort  zunächst 
ins  Bewusstsein  gerufene  Gegenstand  in  der  Regel  sowohl  den 
anderweitig  unter  jenes  Wort  als  den  nicht  darunter  fallenden 
Dingen ;  vermag  die  Aehnlichkeit  also  einerseits  die  Reproduc- 
tion   im  Sinne  Hume's   zu   fördern,    so   erleichtert   sie  auf  der 


Harne -Stadien.    I.  243 

andern  Seite  Verwechslungen  in  eben  demselben  Maasse.  — 
Die  beiden  noch  übrigen  Beispiele  beziehen  sich  auf  den  schon 
oben  (8.  215)  erwähnten  Fall  des  richtigen  Gebrauches  von 
Worten,  deren  Sinn  wir  uns  gar  nicht  oder  nur  theilweise 
gegenwärtig  halten.  Eine  Analogie  zu  Hume's  Abstractions- 
theorie  ist  aber  darin  nicht  zu  erkennen. 

Zum  Schlüsse  sei  nur  noch  darauf  hingewiesen^  dass 
Hume's  Hypothese,  auch  wenn  ihr  sonst  nichts  im  Wege 
stünde,  doch  durchaus  nicht  im  Stande  wäre,  Alles,  was  man 
gewöhnlich  unter  die  Phänomene  der  Abstraction  einbegreift, 
zu  erklären.  Man  hört  häufig  genug  von  Familienzügen,  die 
Verwandten  gemeinsam  sein  sollen,  von  Nationaltypen,  National- 
charakter, —  auch  vom  Styl  einer  Literatur  oder  Eunstperiode 
wird  oft  genug  die  Rede  sein.  Neben  manchen  Unklarheiten, 
die  hier  gewiss  mit  unterlaufen,  handelt  es  sich  doch  um  wirk- 
lich gemachte  Beobachtungen,  um  Merkmale,  die  mehreren 
oder  vielen  Individuen  gemeinsam  sind.  Die  Vorstellungen  dieser 
Attribute  erscheinen  demnach  als  Allgemeinbegriffe,  bei  denen 
aber  kaum  jemand  bestreiten  wird,  dass  das  Gemeinsame  erst  als 
solches  bemerkt  werden  musste,  ehe  man  ihm  einen  Namen  gab 
(wenn  es  nämlich  überhaupt  zur  Namengebung  gekommen  ist). 
Hier  also  erhält  sicher  der  Name  durch  den  Begriff  seine  Allge- 
meinheit, nicht  der  Begriff  durch  den  Namen. 

Auch  auf  das  Urtheil  müssen  wir  in  diesem  Zusammen- 
hange noch  einmal  zurückkommen,  da  sich  hier  Hume's  Auf- 
stellungen als  vollends  ungenügend  erweisen.  Wen  meinen  wir 
mit  dem  Satze:  ,Alle  Menschen  sind  sterblich',  nur  die,  welche 
wir  gesehen,  oder  an  die  wir  als  Einzelne  gedacht  haben? 
Gewiss  nicht;  jedermann  will  damit  etwas  von  allen  Menschen 
ausgesagt  haben,  die  existiren,  existirt  haben  und  existiren 
werden.  Dass  aber  nicht  die  Vorstellungen  von  allen  diesen 
mit  dem  Worte  Mensch  einzeln  Associationen  eingegangen  sein 
können,  dass  andererseits  der  allgemeine  Satz,  wenn  auf  den 
durch  Hume's  Theorie  geforderten  Umfang  eingeschränkt,  den 
Charakter  der  Allgemeinheit  völlig  einbüssen  müsste,  das  ist 
wohl  handgreiflich  genug. 

Vielleicht  hat  mancher  Leser  bei  der  hier  versuchten  Dar- 
stellung der  Hume'schen  Abstractionstheorie  und  noch  mehr  bei 

16* 


244  Ifeinong. 

der  Kritik  derselben  die  Berücksichtigung  der  Ausführungen 
unseres  Philosophen  über  die  ^distinctio  rationis'  vermisst,  ja 
den  Verfasser  des  Leichtsinns  oder  der  Parteilichkeit  beschul- 
digt, wenn  er  Einwendungen  gegen  Hume  erhob,  welche  mit 
Hilfe  dieser  Distinctio  allenfalls  zu  Gunsten  Hume's  zu  besei- 
tigen gewesen  wären.  Aber  eben  in  dieser  Möglichkeit  konnte 
der  Anlass  zu  dem  Missverständniss  liegen,  als  wäre  das,  was 
Hume  über  die  distinctio  sagt,  ein  wesentlicher  Theil  seiner 
Abstractionstheorie,^  während  er  doch  die  vorliegende  Frage  erst 
anhangsweise  zur  Sprache  bringt  und  noch  ausdrücklich  hervor- 
hebt: ,Zur  Beseitigung  dieser  Schwierigkeiten  müssen  wir  auf 
die  obige  Erklärung  der  abstracten  Ideen  recurriren*.^  Er  will 
also  mir  eine  Anwendung  der  zuvor  aufgestellten  Principien 
geben;  diese  Anwendung  kann  aber,  mag  sie  nun  auf  that- 
sächlich  richtige  oder  falsche  Resultate  führen,  weder  unbedingt 
für,  noch  unbedingt  gegen  jene  Principien  zeugen,  da  ja  neben- 
her noch  immer  die  Frage,  ob  die  Anwendung  auch  eine  rich- 
tige war,  in  Betracht  kommen  muss.  Die  Entscheidung  über 
diese  Frage  orfordert  nun  aber  bereits  ein  möglichstes  Ver- 
ständniss  der  anzuwendenden  Theorie;  und  da  überdies  die 
vorliegende  Anwendung  von  Hume  nicht  erst  als  Beweis  für 
jene  in  Anspruch  genommen,  der  Beweisversuch  vielmehr,  wie 
wir  sahen,  auf  ganz  andere  Fundamente  gestützt  wird,  so  haben 
wir  uns  auch  keiner  Ungerechtigkeit  schuldig  gemacht,  wenn 
wir  die  Theorie  für  sich  einer  Prüfung  unterzogen  und  für 
Inconvenienzen  verantwortlich  machten,  die  sie  unvermeidlich 
mit  sich  zu  fuhren  schien.  Sollten  wir  aber  richtig  geurtheilt 
haben,  so  wirft  es  schon  von  vorn  herein  kein  eben  günstiges 
Licht  auf  die  Anwendung,  wenn  bei  dieser  Bedenken  ver- 
schwinden können,  die  aus  jenen  Principien  in  correcter  Weise 
erschlossen  worden  sind. 

Ueberdies  erkennt  man  leicht,  wie  wenig  diese  ,Anwcn- 
düng'  im  Stande  ist,  das  über  der  Theorie  schwebende  Dunkel 
etwa  aufzuhellen.  Es  handelt  sich  hier  um  die  Unterscheidung 
zwischen   der   Gestalt   und   dem   gestalteten   Körper,   zwischen 


'  Das  scheint  wirklich  Green's  Meinung,  vergl.  §.  218  der  ,6eneral  intro- 

duction*  zu  der  von  uns  benützten  Hume-Ausgabe  (Bd.  I  8.  179  f.). 
»  a.  a.  O.  ß.  382. 


Hnme- Studien.   I.  245 

Bewegung  und  dem  bewegten  Körper.  ,Die  Schwierigkeit,  diese 
Distiuction  zu  erklären/  sagt  Hume,  ^entsteht  aus  dem  oben 
erörterten  Princip,  dass  alle  Ideen,  die  verschieden  sind,  trenn- 
bar seien.  Denn  es  folgt  daraus,  dass,  wenn  die  Gestalt  von 
dem  Körper  verschieden  ist,  deren  Ideen  sowohl  trennbar  als 
uoterscheidbar  sein  müssen;  sind  jene  nicht  verschieden,  so 
können  ihre  Ideen  weder  trennbar  noch  unterscheid  bar  sein.^ 
Das  Dilemma  lautet  unzweideutig  genug,  und  wenn  man  ein 
Paar  Zeilen  weiter  unten  Hume's  Behauptung  liest,  Gestalt  und 
pjestalteter  Körper  seien  ,in  Wirklichkeit  weder  unterscheidbar, 
noch  verschieden,  noch  trennbar',  so  kann  man  nicht  anders 
denken,  als  dass  die  Frage  nach  der  distinctio  rationis  nun 
dahin  entschieden  sei,  dass  es  eben  nichts  dergleichen  geben 
könne.  Aber  Hume  argumentirt  anders.  Der  Geist  hätte,  meint 
er,  von  einer  solchen  Unterscheidung  niemals  auch  nur  geträumt, 
^bemerkte  er  nicht,  dass  selbst  in  dieser  Einfachheit  mancherlei 
Aehnlichkeiten  und  Relationen  sich  vorfindend  An  der  Idee 
einer  weissen  Marmorkugel  z.  B.  können  wir  in  der  That  Farbe 
und  Gestalt  weder  trennen  noch  unterscheiden,  aber  der  Ver- 
gleich derselben  mit  einer  Kugel  von  schwarzem,  einem 
Würfel  von  weissem  Marmor  ergibt  zwei  verschiedene  Aehn- 
lichkeiten. Mit  einiger  Uebung  unterscheiden  ^ir  nun  Gestalt 
und  Farbe,  d.  h.,  wir  stellen  Beide  zusammen  vor,  ,da  sie 
faetisch  identisch  und  ununterscheidbar  sind,  aber  wir  betrachten 
sie  von  verschiedenen  Gesichtspunkten,  je  nach  den  Aehnlich- 
keiten, deren  sie  föhig  sind.  Wollen  wir  daher  nur  die  Gestalt 
der  weissen  Marmorkugel  betrachten,  so  bilden  wir  in  Wirk- 
lichkeit eine  Idee  sowohl  von  Gestalt  als  von  Farbe,  —  aber  wir 
richten  stillschweigend  unser  Auge  auf  die  Aehnlichkeit  mit  der 
schwarzen  Marmorkugel;  in  gleicher  Weise  wenden  wir,  wenn 
wir  nur  die  Farbe'  in  Betracht  ziehen  wollen,  unseren  Blick  auf 
die  Aehnlichkeit  mit  dem  Würfel  von  weissem  Marmor.  So 
begleiten  wir  unsere  Ideen  mit  einer  Art  Reflexion,  auf  die 
uns  die  Gewohnheit  in  hohem  Grade  unachtsam  machte  ^ 

Wenn  Hu,me  versprochen  hat,  die  distinctio  rationis  durch 
seine  Abstractionstheorie  zu  erklären,  so  wissen  wir  nun,  dass 
er  von  dieser  nichts  als  den  Satz  von  der  Untrennbarkeit  und 


Treatise,  a.  a.  O.  S.  332  f. 


246  Heinong. 

UnUnterscheidbarkeit  des  Identischen  herbeigezogen  hat.  Aber 
es  muss  selbst  bezüglich  dieses  Satzes  sehr  fraglich  erscheinen, 
ob  Hume  durch  ihn,  ob  er  nicht  vielmehr  im  Gegensatze 
zu  ihm  das  eben  dargestellte  Resultat  erreichte.  Zwar  hält  ihn 
Hume,  wie  wir  sahen,  fortwährend  aufrecht,  er  erklärt  wieder- 
holt Farbe  und  Gestalt  als  identisch  und  ununterseheidbar; 
wie  es  dann  aber  möglich  ist,  dass  zwischen  Farbe  und  Gestalt 
nim  doch,  und  wäre  es  auch  durch  die  complicirteste  Gedanken- 
operation, eine  Unterscheidung  erfolgen  kann,  das  ist  ein  Räthsel, 
zu  dessen  Lösung  uns  Hume  nicht  verholfen  hat,  dessen  Lösung 
zu  finden  wohl  auch  niemand  Anderer  im  Stande  wäre. 

Hier  liegt  also  jedenfalls  ein  Widerspruch;  aber  noch  ein 
Anderes  muss  hervorgehoben  werden.  In  dem  Beispiel  von 
Kugeln  und  Würfel  ist  von  dem  Wahrnehmen  zweier  ver- 
schiedener Aehnlichkeiten  die  Rede.  Zwar  spielt,  wie  wir  sahen, 
auch  in  der  Hume'schen  Abstractionstheorie  die  Aehnlichkeit 
eine  grosse  Rolle;  indessen  haben  wir  uns  stets  bemüht,  an 
den  betreffenden  Stellen  diese  Relation  zwar  als  associations- 
erregendes  Factum  in  Betracht  zu  ziehen,  die  Vorstellung 
der  Aehnlichkeit  aber  aus  dem  Spiele  zu  lassen.  Der  Grund 
dafür  war  einfach:  Erwies  sich  der  Grad  einer  Qualität  von 
dieser,  die  Qualität  selbst  von  dem  mit  ihr  behafteten  Körper  als 
weder  verschieden  noch  unterscheidbar  noch  trennbar,  so  musste 
dasselbe  von  einer  Relation  und  deren  Fundamenten  gelten; 
man  konnte  also  nach  Hume  höchstens  zwei  ähnliche  Dinge, 
aber  niemals  Aehnlichkeiten  vorstellen.  Noch  weniger  war 
an  die  Möglichkeit  zu  denken,  Ideen  von  Relationen  zwischen 
Attributen  zu  bilden;  und  da  solche  wohl  nöthig  wären,  um 
ein  Ding  mit  mehreren  andern  in  verschiedener  Hinsicht 
ähnlich  zu  finden,  so  glaubten  wir  diese  Möglichkeit,  auch  wo 
sie  zu  Gunsten  Hume's  in  Rechnung  gezogen  werden  konnte, 
ausser  Acht  lassen  zu  müssen.  Wie  nun,  wenn  die  uns  früher 
unmöglich  erscheinende  Annahme  nun  die  Grundlage  zur  Er- 
klärung der  distinctio  rationis  wird?  Sicher  ist,  dass  dieser 
Umstand  allein  nichts  dazu  beitragen  kann,  unsere  früheren 
Bedenken  zu  beseitigen;  im  Gegentheil  tritt  hier  noch  ein 
Moment  hinzu,  durch  das  diese  Erklärungsweise  vollends  un- 
statthaft wird:  Um  zu  einem  Unterschiede  zwischen  Gestalt 
und  gestaltetem  Körper  zu  gelangen,  müssen  wir,  wie  dargethan. 


Hnme- Studien.   I.  247 

zavor  zwei  verschiedene  Aehnlichkeiten  wahrnohmeii;  Aehniich- 
keiten,  sagen  wir;  setzt  dies  nicht  schon  eine  Unterscheidung 
zwischen  Aehnlichkeit  und  den  ähnlichen  Gegenständen  voraus? 
Das  scheint  ziemlich  sicher;  ist  dem  aber  so,  dann  hat  Hume 
die  distinctio   rationis  durch  —  die   distinctio   rationis   erklärt 


Wir  haben  bei  der  Darstellung  und  Analyse  der  Hume- 
schen Abstractionslehre  von  dem^  was  wir  vorher  selbstständig 
zu  ermitteln  versuchten,  fast  ganz  und  gar  abgesehen;  und  in 
dieser  Zurückhaltung  lag  wohl  der  beste  Schutz  gegen  jede 
Parteilichkeit.  Denn  wenn  wir  die  fragliche  Theorie  sich-ge- 
wissermassen  an  sich  selbst  und  an  der  Erfahrung  erproben 
Hessen,  so  konnte  bei  der  Beurtheilung,  ob  sie  diese  Probe 
bestanden  habe  oder  nicht,  Voreingenommenheit  für  oder  gegen 
sie  unmöglich  die  Oberhand  gewinnen. 

Nachdem  wir  nun  aber  auf  diesem  Wege  zu  einem  Resultate 
gelangt  sind,  ist  es  auch  leicht,  den  Punkt  namhaft  zu  machen, 
der  ein  Misslingen    des   vorliegenden  Erklärungsversuches  zur 
Nothwendigkeit  werden  Hess.  Das  Ausserachtlassen  des  Be- 
griffsinhalts, das  Einführen  der  Ideenassociation  zur 
Ableitung  der  Erscheinungen  des  Begriffsumfanges  — 
das  sind  die  beiden  Grundfehler  der  Hume'schen  Abstractions- 
theorie.     Jetzt   ist   es  wohl  erlaubt,  ohne  weitere  Begründung 
auf  unsere  frühere  Darlegung  zurückzuweisen.  Klar  genug  dürfte 
sich  dort  namentlich  ergeben  haben,    wie  wenig   der   Begriffs- 
umfang  mit  der  Ideenassociation  gemein  hat;    und   die  völlige 
Unzulänglichkeit   von    Hume's  Associationshypothese   wird   nur 
geeignet  sein,  diese  Wahrheit  in  ein  noch  helleres  Licht  zu  setzen. 
Aber   auf  Grund    alles   dessen   könnte  leicht  ein  Zweifel 
entstehen,  ob  Ausführungen,  die  sich  so  in  jeder  Hinsicht  als 
unhaltbar  herausstellen  mussten,  und  daher  die  Gedankenrich- 
tuDg  von  Hume's  Nachfolgern  gewiss  nicht  nachhaltig  beeinflussen 
konnten,  —  ob   solche  Ausführungen,    sagen    wir,  einer  einge- 
henden Betrachtung  überhaupt  werth  gewesen  wären.    Solchen 
Einwürfen  gegenüber   ist  jedoch  zweierlei  geltend  zu  machen. 
Vor  Allem   ist   eben  Hume's  Unternehmen,    die   Allgemeinheit 
der   Universalbegriffe   auf  Association   zurückzuführen,  so  ver- 


248  Meinong. 

fehlt  es  ist,  als  ein  Schritt  und  zwar  einer  der  ersten  Schritte 
in  der  Richtung  zu  betrachten,  die  seit  Hume  für  die  £Dt- 
wickelung  der  empirischen  Schule  von  entscheidenstem  Belang 
geworden  ist,  indem  sie  deren  Philosophie  im  eigentlichen  Sinne 
zu  einer  Philosophie  der  Ideenassociation  gemacht  hat.  Wenn 
J.  St.  Mill  gerade  bei  der  Erörterung  der  auf  die  Abstraction 
bezüglichen  Fragen  sich  zu  dem  Ausspruche  gedrängt  fiihlt. 
ydass  es  in  der  Psychologie  nichts  Universelles  gibt,  ausser 
den  Gesetzen  der  Association',  ^  so  ist  dies  nicht  nur  höchst 
bezeichnend  für  die  denn  doch  über  Gebühr  grosse  Rolle, 
welche  dieses,  gewiss  höchst  bedeutungsvolle,  Princip  in  der 
englischen  Psychologie  der  Gegenwart  spielt,  sondern  es  be- 
leuchtet zugleich  in  unverkennbarer  Weise  den  Einäuss,  den 
Hume  im  Laufe  eines  Jahrhunderts  auf  das  Denken  seiner 
Landsleute  zu  nehmen  vermochte.  Denn  es  bedai'f  nur  noch 
eines  Blickes  auf  die  Weise,  in  der  noch  J.  Locke  am  Ende 
des  zweiten  Buches  seines  Essay  die  Phänomene  der  Ideen- 
association behandelt,  um  zu  erkennen,  wie  Hume  es  war,  der 
zu  einer  wissenschaftlichen  Verwerthung  der  Association  zur 
Erklärung  anderer  psychischer  Erscheinungen  erst  recht  eigent- 
lich den  Anstoss  gegeben  hat. 

Bezieht  sich  das  eben  Gesagte  zwar  nicht  nur  auf  Hume's 
Abstractionstheorie,  doch  sicher  auch  auf  diese,  so  muss 
zweitens  unter  alleiniger  Rücksicht  auf  letztere  noch  einmal 
an  das  erinnert  werden,  was  schon  oben''^  über  das  Verhältniss 
Hume's  zu  Berkeley  festgestellt  wurde.  Wenn  heute  unter  den 
englischen  Empirikern  der  Nominalismus  als  die  herrschende 
Lehre  gilt,  so  ist  das  eine  Thatsache,  die,  wie  wir  wissen,  zu- 
nächst nicht  auf  die  berühmte  Einleitung  in  Berkeley's  Ab- 
handlung, sondern  auf  die  hier  von  uns  geprüften  Ausführungen 
Hume's  zurückweist. 

Freilich,  wer  den  modernen  englischen  Nominalismus  nach 
dem  beurtheilen  wollte,  was  J.  St.  Mill,  der  sich  selbst  auch 
unter  die  Nominalisten  zählt,  über  Abstracta  sagt,  der  könnte 
leicht   zu   der   Meinung   gelangen,   dass   dieser  ,Nominalismus' 


1  Examination  cfa.  XVII,  a.  a.  O.  S.  379. 

2  S.  218  ff. 


Home -Stadien.    I.  249 

selbst  nichts  mehr  als  ein  leerer  Name,  und  somit  Hume's 
Einfluss  in  dieser  Richtung  nicht  eben  hoch  anzuschlagen  sei. 
Die  Bedeutung  MilPs  berechtigt  uns  wohl,  die  vor  Allem 
hiehergehörige  Stelle  aus  seinem  Buche  über  Hamilton  >  mit- 
zutheilen. 

,Die  Bildung  eines  Begriffes/  heisst  es  da,  ^besteht  nicht 
darin,  dass  wir  die  Attribute,  die  ihn  zusammensetzten;  von 
allen  andei-n  Attributen  desselben  Objectes  trennen,  und  uns  in 
den  Stand  setzen,  jene  Attribute  abgesondert  von  den  übrigen 
vorzustellen.  Wir  concipiren  sie  nicht,  wir  denken  sie  nicht, 
wir  apprehendiren  sie  nicht  als  Dinge  für  sich,  sondern  nur 
als  Bestandtheile  der  Idee  eines  particulären  Objectes  neben 
vielen  andern  Attributen,  mit  denen  sie  zusammengesetzt  sind. 
Aber  eben  indem  wir  sie  als  Theile  eines  grösseren  Qanzen 
auffassen,  haben  wir  die  Fähigkeit,  unsere  Aufmerksamkeit  auf 
sie  zu  richten,  so  dass  wir  die  übrigen  Attribute,  mit  denen 
wir  sie  als  combinirt  vorgestellt  haben,  vernachlässigen.  So 
lange  diese  Concentration  der  Aufmerksamkeit  wirklich  dauert, 
sind  wir,  sofern  diese  intensiv  genug  ist,  im  Stande,  von  eini- 
gen der  übrigen  Attribute  kein  Bewusstsein  zu  haben  und  für 
eine  kurze  Zeit  nichts  gegenwärtig  zu  halten,  als  die  Attribute, 
welche  den  Begriff  constituiren.  In  der  Regel  ist  indess  die  Auf- 
merksamkeit nicht  so  exclusiv  und  lässt  im  Bewusstsein  Raum 
für  andere  Elemente  der  concreten  Idee,  obwohl  das  Bewusst- 
sein dieser  Elemente  entsprechend  der  Energie  und  Stärke  der 
Concentration  schwach  ist,  —  und  in  dem  Momente,  in  dem 
die  Aufmerksamkeit  nachlässt,  erscheinen  diese  andern  Be- 
standtheile im  Bewusstsein,  sofern  dieselbe  Idee  fortfährt,  den 
Geist  zu  beschäftigen.  Wir  haben  demnach,  genau  zu  reden, 
keine  allgemeinen  Begriffe,  wir  haben  nur  complexe  Ideen  von 
Objecten  in  concreto;  aber  wir  können  unsere  Aufmerksamkeit 
aasBchliesslich  auf  gewisse  Theile  der  concreten  Idee  richten, 
und  durch  diese  exclusive  Aufmerksamkeit  geben  wir  diesen 
Theilen  die  Fähigkeit,  ausschliesslich  den  Lauf  unserer  Ge- 
danken, wie  sie  die  Association  successiv  hervorruft,  zu  be- 
stiaimen,  und  sind  bereit,  einer  Kette  von  Meditationen  oder 
Folgerungen   in   Bezug   auf  diese  Theile   zu   folgen,    ganz    so, 


t   Chapt.  XVII,  a.  a.  O.  S.  371. 


250  Meinong. 

als   ob  wir  im  Stande  wären,    sie  abgesondert  vom  Reste  vor- 
zustellen/ 

Es  wai'  vielleicht  schon  um  der  Sache  willen  nicht  ganz 
unpassend,  nachdem  wir  uns  hier  so  viel  mit  Polemik  beschäf- 
tigt haben,  nun  auch  einer  Darstellung  des  Abstractionsactes 
zu  gedenken,  mit  der  wir  uns,  abgesehen  von  der  nicht  eben 
vielsagenden  nominalistischen  Klausel,  ziemlich  rückhaltslos 
einverstanden  erklären  können.  Aber  auch  dieser  Differenz- 
punkt verdient  hervorgehoben  zu  werden,  da  es  sich  dabei  um 
eine,  sowohl  in  unserem  nächsten  Zusammenhange,  als  auch 
für  die  Charakteristik  der  modernen  englischen  Philosophie 
nicht  unwesentliche  Thatsache  handelt. 

Wir  sprechen  eben  von  J.  St.  Mill's  sogenanntem  Nomi- 
nalismus, und  müssen  hier  nochmals  auf  die  schon  oben  *  be- 
nützte Definition,  die  Mill  selbst  von  dem  in  Rede  stehenden 
Worte  gibt,  recurriren.  Ist  wirklich  den  Nominalisten  die  An- 
sicht wesentlich,  dass  die  Namen  das  einzige  Allgemeine  seien, 
was  existirt,  so  wird  zunächst  wenigstens  jedermann  zugeben, 
dass  aus  der  hier  oeproducirten  Stelle  kaum  etwas  von  einer 
derartigen  Meinung  ihres  Verfassers  zu  entnehmen  ist.  Er  fahrt 
dann  zwar  fort:  ,Was  uns  dieses  Vermögen  gibt,  ist  vor  Allem 
die  Anwendung  von  Zeichen,  und  zwar  insbesondere  jener  Art 
von  Zeichen,  welche  am  wirksamsten  und  uns  vertrautesten  ist, 
d.  i.  der  Namen';  allein  dies  kann  nicht  genügen,  um  MilFs 
Theorie  zur  nominalistischen  im  obigen  Sinne  zu  machen. 
Angenommen,  was  zu  untersuchen  uns  hier  zu  weit  fuhren 
würde,  Mill  habe  in  diesem  Punkte  Recht,  gesetzt,  es  komme 
nie  eine  Verallgemeinerung  zu  Stande  ohne  Namen,  so  besagt 
dies  nur,  dass  der  Name  eine  conditio  sine  qua  non  der  Ver- 
allgemeinerung sei,  nicht  aber,  dass  in  ihm  diese  selbst  liege. 
Im  Gegentheil  hat  Mill  selbst  von  Concentration  der  Aufmerk- 
samkeit auf  gewisse  Theile  des  Concretums  gesprochen;  durch 
was  immer  diese  veranlasst  sei,  sie  ist  ein  psychischer  Act; 
der  Begriff,  dem  die  Aufmerksamkeit  höchstens  als  Ganzem 
zugewendet  ist,  unterscheidet  sich  psychologisch  von  dem 
Begriffe,  bei  dem  einzelne  Theile  durch  die  Aufmerksamkeit 
vor  den  andern  ausgezeichnet  sind;  dor  Unterschied  liegt  somit 

»  S,  216. 


Hnne- Stadien.   I.  251 

zwar  nicht  in  der  Zahl  der  Theile,  wie  Locke  meinte,  sondern 
im  Verhältniss  der  Vorsteliungselemente  zu  einander  und  zum 
vorstellenden  Subjecte,  —  aber  der  Unterschied  zwischen  diesen 
Begriffen,  den  concreten  einerseits,  den  von  uns  abstract  ge- 
nannten andererseits,  ist  unverkennbar.  Nach  MilPs  eigener 
Theorie  ist  demgemäss  ,die  Allgemeinheit  nicht  nur  ein  Attribut 
der  Namen,  sondern  sie  ist  auch  ein  Attribut  der  Ideen.  Die 
äusseren  Objecto  sind  alle  individuell,  aber  jedem  Namen  ent- 
spricht ein  allgemeiner  Begriff',  —  das  ist  aber  wörtlich  genau 
die  Charakteristik,  welche  Mill  selbst  *  von  den  Conceptua- 
listen  entwirft,  zu  deren  Gegnern  er  sich  bekennt; 

Es  versteht  sich,  dass,  wenn  es  sich  bei  der  ganzen  An- 
gelegenheit nur  um  Namen  handelte,  eine  eingehende  Erörte- 
rung hier  um  so  weniger  motivirt  gewesen  wäre,  als  sich  ja 
die  Anwendung  der  Bezeichnung  ,Nominalismus',  für  die  Mill 
eine  begreifliche  Vorliebe  haben  konnte^  auf  seine  Theorie  in 
gewissem  Sinne  wenigstens  rechtfertigen  Hesse.  Aber  dieser 
Sinn  wäre  eben  einer,  den  sonst  weder  J.  St.  Mill  selbst  noch 
jemand  Anderer  gewöhnlich  mit  diesem  Worte  verbindet,  und 
darum  kann  die  Behauptung,  Mill  sei  ein  Nominalist,  auch  wenn 
sie  von  ihm  selbst  ausgeht,  nicht  anders  als  irrig  genannt 
werden. 

Das  Eine  scheint  also  ausser  Frage:  Auf  J.  St.  MilFs 
Ansichten  über  Abstraction  und  Verallgemeinerung  hat  Hume 
keinen  nennenswerthen  Einäuss  zu  gewinnen  vermocht.  Sollte 
es  mit  den  übrigen  Anhängern  des  Nominalismus  ebenso  be- 
wandt, sollte  für  sie  Hume's  Theorie  wirklich  so  überwunden 
sein,  dass  nichts  auf  ihn  zurückweist,  als  etwa  der  Name,  den 
sie  sich  beilegen? 

Man  könnte  in  der  Meinung,  dass  dem  so  sei,  durch  eine 
Bemerkung  A.  Bain's  noch  bestärkt  werden.  ,Wir  sind  fähig,' 
sagt  dieser,*^  ,auf  die  Punkte  der  Uebereinstimmung  ähnlicher 
Dinge  zu  achten,  und  die  Differenzpunkte  zu  vernachlässigen; 
so  wenn  wir  an  das  Licht  leuchtender,  oder  an  die  Rundheit 
runder  Körper  denken,  —  diese  Kraft  heisst  Abstraction'.  Aber 

^  Examiiiation,  h.  a.  O.  S.  359  f. 

'  Mental  and  moral  scieuce  b.  II  eh.  V  §.  2  S.  176. 


252  M«iaoDg. 

man  braucht  nur  um  Weniges  weiter  zu  lesen,  um  den  Irrthum 
mindestens  bezüglich  Bain's  zu  erkennen.  Ungefähr  eine  Seite 
hinter  der  obigen  Stelle ^  finden  wir  Folgendes:  ^Abstraction 
besteht  nicht  eigentlich  darin,  eine  Eigenschaft  eines  Dinges 
von  den  andern  im  Geiste  zu  trennen,  z.  B.  die  Rundheit  des 
Mondes,  abgesondert  von  seiner  Helligkeit  und  seiner  schein- 
baren Grösse,  zu  denken.  P]ine  solche  Trennung  ist  undurch- 
führbar, niemand  kann  einen  Kreis  ohne  Farbe  und  bestimmte 
Grösse  vorstellen.  Alle  Zwecke  der  abstracten  Idee  werden 
erreicht,  indem  man  ein  concretes  Ding  vorstellt  in  Gemein- 
schaft mit  anderen  Dingen,  die  ihm  in  Bezug  auf  das  frag- 
liche Attribut  gleichen;  und  indem  man  von  dem  einen  Con- 
cretum  nichts  aussagt,  als  was  auch  für  alle  übrigen  wahr  ist.' 
Es  ist  hier  wohl  kaum  nöthig,  den  Leser  an  Hume's  Beispiel 
von  Marmorkugel  an  Marmorwürfel  zu  erinnern,  um  ihn  zu 
überzeugen,  dass  Bain  im  Grunde  nur  Hume's  Theorie  über 
die  distinctio  rationis  seiner  Erklärung  zu  Grunde  gelegt  hat. 
Dieser  Erklärung  gegenüber  ist  auch  kein  Anlass  vorhanden, 
die  Wirklichkeit  des  durch  sie  gestützten  ,Nominalismus'  in 
Zweifel  zu  ziehen.  Denn,  dass  ein  Vorgang,  wie  der  von  Bain 
geschilderte,  keine  Abstraction  ist,  das  muss  jeder  zugeben, 
wenn  auch  vielleicht  nicht  jeder  zugeben  wird,  dass  es  möglich 
sei,  auf  diesem  Wege  zu  wirklicher  Allgemeinheit  zu  ge- 
langen. 

Es  würde  natürlich  die  uns  gesteckten  Grenzen  weit  über- 
schreiten, wollten  wir  es  unternehmen,  die  Entwicklung,  welche 
die  Abstractionstheorie  in  England  seit  Hume  genommen  hat. 
Schritt  für  Schritt  zu  verfolgen;  was  wir  allein  thun  können, 
ist,  die  Anknüpfungspunkte  an  Hume  in  Beispielen  aufzu- 
weisen, und  zu  diesem  Zwecke  mag  hier  noch  zweier  Denker 
der  neuesten  Zeit  gedacht  sein. 

Der  erste  ist  James  Mill,  der  im  achten  Capitel  seiner 
,Anal7sis  of  the  phenomena  of  the  human  mind'  die  Frage  der 
Verallgemeinerung  eingehend  erörtert:  ,Der  Mensch,'  führt  er 
aus,  ,wird  zuerst  mit  Individuen  bekannt,  er  benennt'  daher 
auch  ,zuerst  Individuen.    Aber  Indivirlueu  sind  unzählbar,  der 

'  a.  a.  O.  §.  3  S.  177f. 


Hnme- Studien.    I.  253 

Mensch  kann  nicht  unendlich  viele  Namen  behalten,  muss  daher 
einen  Namen  für  viele  Individuen  dienen  lassen.'  Er  bedarf 
eben  eines  Abkürzungsmittels,  und  als  solches  fungiren  Namen, 
die  in  gleicher  Weise  ,eine  Anzahl  von  Individuen  mit  allen 
ihren  Besonderheiten  bezeichnen',  um  von  vielen  auf  einmal 
sprechen  zu  können.^  ,Worte  erhalten  ihre  Bedeutung  nur 
durch  Association'  mit  einer  Idee.  2  Wird  nun  z.  B.  das  Wort 
Mensch  zunächst  nur  auf  ein  Individuum  angewendet,  so  asso- 
ciirt  es  sich  mit  der  Idee  desselben  und  gewinnt  die  Kraft, 
diese  wachzurufen;  das  Gleiche  gilt  von  der  Anwendung  auf 
ein  zweites,  drittes  Individuum  u.  s.  f.,  bis  das  Wort  ,mit  einer 
unbestimmten  Zahl  associirt  ist,  und  die  Kraft  erlangt  hat,  eine 
unbestimmte  Anzahl  dieser  Ideen  indifferent  aufzurufen'.  Das 
Letztere  geschieht  nun  in  der  That,  so  oft  dieses  Wort  vor- 
kommt, und  indem  es  jene  Ideen  ,in  enger  Verbindung  wach- 
ruft, gestaltet  es  sie  zu  einer  Art  complexer  Idee',  wie  auch 
sonst  die  Association  oft  complexe  Ideen  aus  einer  unbestimmten 
Anzahl  von  Ideen  bildet.  ^  ,Es  ist  auch  eine  Thatsache,  dass, 
wenn  eine  Idee  bis  zu  gewissem  Grade  complex  ist,  sie  ver- 
möge der  Mannigfaltigkeit  der  Vorstellungen,  die  sie  enthält, 
auch  nothwendig  indistiuct  ist',  z.  B.  die  eines  Tausendecks, 
eines  Heeres,  Forstes  u.  dgl.  Wenn  in  dieser  Weise  ,das- 
«elbe  Wort  Mensch  die  Idee  einer  unbestimmten  Zahl  von 
Individuen  erweckt,  nicht  nur  aller  derjenigen,  denen  ich  in- 
dividuell den  Namen  gegeben  habe,  sondern  auch  derer,  denen 
ich  ihn  in  der  Phantasie  gegeben  habe,  oder  von  denen  ich 
mir  einbilde,  dass  er  ihnen  je  gegeben  werden  wird,  ....  so 
ist  es  offenbar  eine  sehr  complexe  Idee  und  daher  indistinct, 
und  diese  Indistinctheit  ist  ohne  Zweifel  eine  Ursache  des 
Dunkels,  welches  darüber  verbreitet  schien'.  *  ,E8  ist  daraus  zu 
entnehmen,  dass  Appellativa  oder  allgemeine  Namen  eine 
doppelte  Bedeutung  haben;  ...  die  einfachen  Ideen,  die  .  .  . 
bei  jedem  Individuum  zu  einer  complexen  Idee  zusammenge- 
wachsen sind,  sind  das  eine  Ding,  das  durch  jedes  Appellativ 


^  a.  a.  O.  Bd.  I  S.  260. 
2  ibid.  8.  262. 
»  ibid.  8.  264. 
*  ibid.  8.  265. 


254  Meinong. 

bezeichnet  wird,  und  diese  coniplexe  Idee  des  Individuums, 
verwachsen  mit  einer  andern,  einer  dritten  derselben  Art  u.  s.  f. 
ohne  Ende  ist  das  andere  der  dadurch  bezeichneten  Dinge.  So 
bezeichnet  das  Wort  Rose  vor  Allem  einen  bestimmten  Ge- 
ruch, bestimmte  Farbe,  Gestalt,  Consistenz,  so  associirt,  dass 
sie  eine  Idee,  die  des  Individuums,  ausmachen;  ferner  be- 
zeichnet es  dieses  Individuum,  associirt  mit  einem  andern, 
einem  dritten,  vierten  u.  s.  f.,  mit  einem  Wort,  es  bezeichnet 
die  Classe/  * 

Gerade  die  letzten  Zusammenfassungen  legen  den  Ver- 
gleich mit  Hume  ungemein  nahe.  Wie  bei  diesem  haben  wir 
auch  bei  James  Mill  den  Versuch  vor  uns,  die  Verallgemeine- 
rung als  specicllen  Fall  der  Ideenassociation  zu  erweisen;  wie 
dort,  so  ist  hier  der  Name  zunächst  an  das  Individuum  geknüpft 
und  erweckt  auch  jederzeit  zunächst  die  concrete  Individual- 
Vorstellung  mit  all  ihren  Bestimmungen;  wie  dort,  so  schliesst 
sich  hier  an  diese  ein  eigenthümliches  psychisches  Phänomen, 
das  vermöge  der  concurrirenden  Association  verechiedener  Indi- 
vidualbegrifFe  an  denselben  Namen  entsteht,  und  dem  in  Folge 
der  grossen  Anzahl  dieser  Individualia  eine  gewisse  Unklarheit 
anhaftet,  was  Hume  als  blos  virtuelle  Gegenwart  der  Einzel- 
vorstellungen, Mill  als  Indistinctheit  seiner  complexen  Idee 
bezeichnet.  Natürlich  liegt  uns  eine  Kritik  Milfs  hier  völlig 
fern;  so  viel  kann  man  jedoch  schon  auf  den  ersten  Blick  er- 
kennen, dass  Hume  ihm  wenigstens  in  einem  Punkte  über- 
legen scheint:  er  hat  auf  die  zum  Zustandekommen  einer 
geregelten  Association  noth wendig  erforderliche  Aehnlichkeit 
der  Individuen  hingewiesen,  die  James  Mill  völlig  ausser  Acht 
gelassen  hat. 

Mancher  Leser  wird  vielleicht  ein  wenig  befremdet  sein, 
an  zweiter  und  letzter  Stelle  in  diesem  Zusammenhange  den 
Namen  H.  Taine's  anzutreffen.  Er  gedenkt  wohl  der  Charak- 
teristik, die  der  Verfasser  des  ,Positivisme  anglais'  in  seiner 
etwas  rhetorischen  Weise  von  der  Abstraction  gegeben  hat. 
,Eine  neue  Fähigkeit  erscheint',  sagt  er  unter  Anderem  in  der 


»  ibid.  8.  266. 


Hane- Studien.    I.  255 

erwähnten  Schrift,  *  ,dio  Quelle  der  Sprache,  die  Erklärerin 
der  Natur,  die  Mutter  der  Religionen  und  Philosophien,  der 
einzige  wirkliche  Unterschied,  der  je  nach  seinem  Qrade  den 
Menschen  vom  Thiere,  die  grossen  Menschen  von  den  unbe- 
deutenden trennt,  —  ich  meine  die  Abstraction,  die  das 
Vermögen  ist,  die  Elemente  der  Thatsachen  zu  isoliren  und 
abgesondert  zu  betrachten;'  —  und  da  möchte  man  wirklich 
ebenso  geneigt  sein,  zu  fragen,  wie  dieser  so  zweifellos  con- 
ceptualistische  Denker  unter  die  Nominalisten  gerathe, 
als  auf  der  anderen  Seite  das  Hereinziehen  des  Franzosen 
in  eine  Studie  über  englische  Philosophie  auffallen  kann. 
Beide  Bedenken  dürften  indess  schwinden,  sobald  man  die 
weitläufigen  Ausführungen  in  Betracht  zieht,  die  dieser  geist- 
volle Schriftsteller  in  seinem  späteren  Werke  ,De  l'intelligence* - 
demselben  Gegenstände  widmet. 

jPrüfen  wir,'  sagt  Taine  in  dem  in  Rede  stehenden  Buche, 
,was  in  uns  vorgeht,  wenn  mehrere  Perceptionen  uns  eine  all- 
gemeine Idee  zuführen,  so  finden  wir  in  uns  niemals  etwas 
Anderes  als  die  Bildung,  Vollendung  und  Präponderanz  eines 
Strebens,  das  einen  Ausdruck  und  unter  anderen  Ausdrücken 
einen  Namen  hervorruft.' ^  , Sobald  wir  eine  Reihe  von  Gegen- 
ständen gesehen  haben,  die  mit  einer  gemeinsamen  Eigenschaft 
ausgestattet  sind,  zeigen  wir  eine  bestimmte  Tendenz,  die  der 

gemeinsamen   Eigenschaft   und   nur   dieser    entspricht 

Wir  nehmen  nicht  die  allgemeinen  Qualitäten  oder  Merkmale 
der  Dinge  wahr;  wir  haben  blos  in  ihrer  Gegenwart  diese  oder 
jene  distincte  Tendenz,  die  in  der  Natursprache  zu  der  und 
der  Mimik,  in  unserer  künstlichen  Sprache  zu  dem  und  dem 
Namen  führt.  Wir  haben  keine  allgemeinen  Ideen  im  strengen 
Sinne  des  Wortes;  wir  haben  Tendenzen  zum  Benennen  und 
Namen,'*  ,Was  wir  eine  allgemeine  Idee,  eine  Gesammt- 
vorstellung  nennen,  ist  nichts  als  ein  Name;  nicht  der  ein- 
fache Schall,  der  in  der  Luft  schwingt  oder  unser  Ohr  er- 
schüttert, oder  eine  Ansammlung  von  Buchstaben,  die  das  Papier 


^  Le  posiüviBine  anglalB,  ätude  sur  Stuart  Mill,  Paris  1864,  8.  116. 

2  Paris  1870,  2  Bde. 

3  a.  a.  O.  Bd.  I  8.  33. 
*  ibid.  8.  34f. 


250  HttinoiiK. 

schwärzen  oder  unsere  Angen  afficiren,  nicht  einmal  diese 
Buchstaben  als  im  Geiste  wahrgenommen,  oder  dieser  Schall 
als  in  Gedanken  ausgesprochen,  sondern  dieser  Schall  oder 
diese  Buchstaben  als  mit  einer  doppelten  Eigenthümlichkeit 
versehen,  sobald  wir  sie  wahrnehmen  oder  uns  vergegenwär- 
tigen, nämlich  der  Eigenschaft,  in  uns  die  Bilder  der  zu  einer 
bestimmten  Classe  gehörigen  Individuen,  und  nur  dieser  zu  er- 
wecken, —  femer  der  Eigenschaft,  jedesmal  wieder  zu  entstehen, 
wenn  ein  Individuum  dieser  selben  Classe,  und  nur,  wenn  ein 
Individuum  dieser  Classe  sich  unserem  Gedächtniss  oder  unserer 
Erfahrung  darbietet/'  So  entspricht  der  Name  ,der  gemein- 
samen und  unterscheidenden  Qualität,  welche  die  Classe  con- 
stituirt  und  von  andern  trennt,  und  entspricht  allein  dieser 
Qualität ...  In  dieser  Weise  ist  er  ihr  geistiger  Repräsentant 
und  erweist  sich  als  Substitut  einer  Erfahrung,  die  uns  ver- 
sagt ist'.  2  Denn  ,wir  können  in  unserem  Geiste  die  allgemeinen 
Qualitäten  isolirt  weder  percipiren,  noch  behalten  ....  Wir 
machen'  daher  ,einen  Umweg;  wir  associiren  an  jede  abstracto 
und  allgemeine  Qualität  ein  kleines  particuläres  und  complexes 
Ereigniss,  einen  Ton,  eine  Figur,  leicht  vorzustellen  und  zu 
reproduciren,  "^  wir  gestalten  diese  Association  so  exact  und  so 
eng,  dass  in  der  Folge  die  Qualität  in  den  Dingen  nicht  er- 
scheinen oder  fehlen  kann,  ohne  dass  der  Name  in  unserem 
Geiste  erscheint  oder  fehlt  und  umgekehrt'.^  ,Handelt  es  sich,' 
also  ,um  eine  allgemeine  Qualität,  von  der  wir  weder  eine  Er- 
fahrung noch  sensible  Vorstellung  haben  können,  so  substituirea 
wir  der  unmöglichen  Vorstellung  einen  Namen,  und  thun  das  mit 
vollem  Recht.  Er  hat  dieselben  Verwandtschaften  und  dieselben 
Gegensätze,  wie  die  Vorstellung,  dieselben  Hindernisse  und  Be- 
dingungen der  Existenz,  dieselbe  Ausdehnung  und  dieselben 
Grenzen  des  Auftretens  .  .  .'  ^  ,Eine  allgemeine  oder  abstraete 
Idee  ist'  somit  ,ein  Name,  nichts  als  ein  Name,  dei*  bezeich- 
nende und  verstandene  Name  einer  Classe  ähnlicher  Individuen, 

1  ibid.  8.  35. 

2  ibid.  8.  36  f. 

'  Wir  associiren  also  wohl  eine  Vorstellung',  die  wir  haben,  an  etwas,  dsfl 
wir  nicht  haben? 

*  ibid.  8.  37. 

*  ibid.  8.  38. 


Hnme- Studien.  I.  257 

gewöhnlich  begleitet  durch  die  sensible  aber  vage  Vorstellung 
von  einer  dieser  Thatsachen  oder  Individuen/*  ^Allein  diese  Vor- 
stellung ist  nicht  die  allgemeine  und  abstracto  Idee,  sie  ist  nur 
deren  Begleitung,  .....  meine  abstracto  Idee  ist  vollkommen  klar 
und  bestimmt/ 2  jene  Vorstellung  hingegen  ist  nur  ,ein  Resi- 
duum der  zahlreichen  abgeschwächten  und  verworrenen  Erinne- 
rungen*. 3 

Was  hier  aus  Taine's  von  Tautologien  keineswegs  freier 
Darstellung  hervorgehoben  ist,  genügt  wohl,  um  über  seine 
Stellung  in  der  Abstractionscontroverse  nicht  den  leisesten 
Zweifel  übrig  zu  lassen.  Wir  haben  einen  Nominalismus  vor 
uns,  der  weiter  geht,  als  heute  irgend  ein  anderer  namhafter 
Vertreter  dieser  Richtung  zu  billigen  geneigt  sein  dürfte,  — 
weiter  auch  als  der  David  Hume's,  der  bei  aller  Verwandtschaft 
mit  der  Taine'schen  Ansicht  doch  nie  die  Namen  mit  den 
abstracten  oder  allgemeinen  Ideen  kurzweg  identificirt  hat. 

Das  gilt  zunächst  natürlich  nur  von  Taine,  dem  Verfasser 
des  Buches  ,De  Tintelligence*;  wie  sich  damit  die  allem  An- 
scheine nach  gerade  entgegengesetzten  Aeusserungen  des  Autors 
des  ,Positivisme  anglais'  vereinigen  lassen,  darüber  wird  nicht 
leicht  eine  Hypothese  aufzustellen  sein.  Liegt  zwischen  den 
Jahren  1864  und  1870  keine  Meinungsänderung  von  Seiten 
Taine's,  so  ist  es  immerhin  nicht  ohne  ein  eigenthümliches  Inter- 
esse, in  dem  im  erstgenannten  Jahre  verfassten  Buche  den 
Nominalisten  Taine  gegen  den  angeblichen  Nominalismus  des 
Conceptualisten  J.  St.  Mill  polemisiren  zu  sehen.  — 

Nur  Beiträge  zur  Geschichte  des  englischen  Nominalis- 
mus  zu  liefern,  war  die  Aufgabe  -  dieser  Schrift,  —  nicht  eine 
Geschichte  desselben;  aber  auch  die  wenigen  hier  beige- 
brachten Daten  werden  hinreichen,  uns  vor  dem  Vorwurfe  zu 
bewahren,  als  wäre  Hume's  Abstractionstheorie  an  sich  und  in 
ihren  Consequenzen  etwas  Ueberwundenes  und  daher  eine  ein- 
gehende  Prüfung   derselben   nicht  mehr  gerechtfertigt.     Aber 


^  Bd.  II    S.  241,  rergl.  auch   das  Folgende,   in   der  Hanptsache  nur  eine 

Wiederholang  des  schon  im  ersten  Bande  Gesagten. 
'  Bd.  II  S.  243. 
*  ibid.  S.  229. 
SiUangtber.  d.  phil.-hist.  Ol.  LXXXVil.  Bd.  1.  üft.  17 


258  Hainon^. 

wenn  auch  gegen  die  Kritik  im  Allgemeinen  nichts  einzuwen- 
den ist,  so  scheint  doch  ein  anderer  Vorwurf  die  vorliegende 
Studie  mit  um  so  mehr  Recht  zu  treffen.  Wenn  es  sich  nur 
darum  handelte,  die  Unhaltbarkeit  der  Hume'schen  Ansichten 
über  Abstraction  darzuthun,  wäre  diese  Absicht  nicht  auf  viel 
kürzerem  Wege  zu  erreichen  gewesen?  War  es  denn  dazu 
nöthig,  auf  Locke  zurückzugehen,  eingehend  bei  Berkeley  zu 
verweilen,  ja  eine  Zeit  lang  ganz  ohne  Rücksicht  auf  histo- 
rische Facta  von  Inhalt  und  Umfang  und  deren  Verhältniss 
zu  handeln?  Und  was  Hume  selbst  anlangt,  welches  Interesse 
konnte  es  haben,  alle  Fehler  in  seinem  Raisonnement  namhaft 
zu  machen,  wo  doch  einer  genügt  hätte,  das  Resultat  umzu- 
stossen? 

In  der  That,  wäre  es  uns  nur  um  Widerlegung  Hume's 
zu  thun  gewesen,  wir  müssten  auf  all  diese  Fragen  die  Ant- 
wort schuldig  bleiben.  Indessen  waren  es,  wie  schon  eingangs 
angedeutet,  zwei  viel  weitere  Gesichtspunkte,  denen  wir  in 
dieser  Studie  Rechnung  trugen  und  bei  dem  essayistisch-mono- 
graphischen Charakter  derselben  wohl  auch  Rechnung  tragen 
durften.  Die  beiden  Gesichtspunkte,  die  wir  meinen,  sind  der 
sachliche  und  der  historische,  von  denen  für  uns  keiner  dem 
anderen  an  Wichtigkeit  nachstand.  Um  des  ersteren  willen 
wurde,  namentlich  in  dem  hauptsächlich  Berkeley  gewidmeten 
Theile  der  Arbeit,  Manches  aufgenommen  und  ausgeführt,  an 
dem  historisch  wenig  mehr  aufzuklären  war;  aus  demselben 
Grunde  wurde  einmal  die  historisch-kritische  Darstellungsweise 
ganz  fallen  gelassen,  weil  zu  hoffen  war,  so  einige  der  wichtig- 
sten Fragen  rascher  zum  Austrag  zu  bringen.  Dagegen  war  es 
wieder  das  historische  Interesse,  das  uns  schon  bei  manchen 
Stellen  aus  Berkeley  zu  verweilen  zwang,  zumal  sich  oi^ab, 
dass  über  seine  Beziehungen  zu  Hume  noch  manche  irrige  An- 
sicht herrsche;  und  dieser  Gesichtspunkt  ist  es  denn  auch  vor 
Allem,  von  dem  aus  unser  Vorgehen  in  Betreff  der  Hume'schen 
Hypothese  wohl  zu  rechtfertigen  sein  wird. 

Bekanntlich  hat  Hume  sein  Jugendwerk,  den  ,Treatise 
on  the  human  nature^  «päter  einer  gründlichen  Umarbeitung 
unterzogen.  Zwar  liegen  über  das  Verhältuiss  der  ersten  und 
zweiten  Fassung  seiner  Ansichten  die  unzweideutigsten  Aeuase- 
rungen    von  Seiten    des  Autors    selbst  vor;    trotzdem  hat  man 


Home-StodieD.   I.  259 

bisher  noch  zu  keiner  rechten  Klarheit  über  diesen  Punkt 
kommen  können.  Da  nun  Hume  einige  Themen  aus  dem 
Treatise  in  die  zweite  Bearbeitung  gar  nicht  mehr  aufgenommen 
hat,  80  wird  ein  Versuch,  die  in  Rede  stehende  Frage  zur  Ent- 
scheidung zu  bringen;  zweierlei  zu  leisten  haben:  einerseits 
müssen  allerdings  die  doppelten  Behandlungen  derselben  Ge- 
genstände verglichen^  andererseits  aber  auch  die  nur  einmal 
behandelten  Partien  untersucht  werden,  um  auf  Grund  dieser 
Untersuchung  eine  Ansicht  darüber  zu  gewinnen,  was  Hume 
veranlassen  konnte,  Gegenstände  von  hervorragender  Bedeu- 
tung nachträglich  aus  dem  Kreise  seiner  Betrachtungen  aus- 
zuschliessen.  Zu  diesem  Zwecke  ist  jedoch  ein  genaues 
Eingehen  auch  auf  Einzelheiten  erforderlich;  denn  man  be- 
urtheilt  eine  wissenschaftliche  Arbeit  nicht  nur  nach  der 
Qualität  des  Resultats,  sondern  auch  nach  der  Qualität  der 
Erwägungen  und  Beweise,  welche  ihm  vorangehen,  —  und 
dies  war  der  Beweggrund,  der  den  Verfasser  dieser  Studie 
veranlasste,  die  Kritik  der  Hume'schen  Abstractionstheorie  bis 
zur  Ermüdung  ins  Detail  zu  führen.  Das  Abstractionscapitel 
ist  eben  eines  von  den  nachher  fallen  gelassenen,  und  der 
Verfasser  hat  es  sich  in  der  vorliegenden  Arbeit  zur  Aufgabe 
gemacht,  Material  zur  entscheidenden  Lösung  der  Redactionen- 
frage  wenigstens  in  Bezug  auf  die  hier  behandelte  Partie  bei- 
zubringen. Erst  wenn  auch  die  übrigen  in  dieser  Hinsicht  in 
Betracht  kommenden  Abschnitte  des  Treatise  einer  ebenso 
eingehenden  Betrachtung  unterzogen  sind,  wird  an  einen  end- 
lichen, dann  aber  auch  abschliessenden  Austrag  der  in  Rede 
stehenden  Angelegenheit  zu  denken  sein;  und  die  Geschicht- 
schreiber der  Philosophie  thäten  wohl  hier,  wie  noch  in  man- 
chen anderen  Fällen,  besser  daran,  ihre  Kräfte  zunächst  den 
Vorarbeiten  zuzuwenden,  statt  gleich  von  vorn  herein  sich  eine 
Auffassung  des  Ganzen  zurecht  zu  legen,  die,  eben  weil  ihr 
die  Grundlage  fehlt,  von  Willkürlichkeiten  wohl  niemals  frei 
sein  kann. 

Eines  aber  können  wir,  ohne  den  Ergebnissen  der  Einzel- 
untersuchung vorzugreifen,  schon  jetzt  aussprechen,  und  es  ist 
vielleicht  nicht  überflüssig,  am  Schlüsse  einer  vorwiegend  ver- 
werfenden Beurtheilung  dies  ausdrücklich  hervorzuheben:  Ge- 
setzt, die  ablehnende  Haltung,  die  Hume  in  der  Folge  seinem 


2C0  Meinong.    Hume-Stadien.  I. 

Jugendwerke  gegenüber  eiugenommen  zu  haben  scheint,  wäre 
in  jeder  Hinsicht  berechtigt,  so  wird  das  doch  nicht  im  Stande 
sein  können,  der  Achtung,  die  der  schottische  Denker  wohl 
jedem  eingeflösst  hat,  der  ihm  näher  zu  treten  sich  die  Mühe 
nahm,  auch  nur  den  mindesten  Eintrag  zu  thun.  Fürwahr,  es 
muss  ein  gewaltiger  Geist  gewesen  sein,  der  durch  sein  Erst- 
lingswerk, ja  durch  einen  so  kleinen  und  im  Grunde  ganz 
verfehlten  Theil  desselben  einen  so  umfassenden  Einfluss  auf 
die  Nachwelt  zu  üben  vermochte,  wie  ihn  David  Hume  blos 
durch  seine  Aufstellungen  über  ,ab8tracte  Ideen'  thatsächlich 
geübt  hat. 


XIX.  SITZUNG  VOM  18.  JULI  1877. 


Das  w.  M.  Herr  Professor  Dr.  Maassen  ersucht  um  die 
Intervention  der  Classe  zur  Erlangung  von  vier  Codices  aus 
Paris,  St.  Gallen,  Engelberg  und  München. 


Der  Berichterstatter  der  Weisthümer-Commission  theilt  mit, 
dass  letzterer  von  Sr.  Excellenz  dem  Grafen  Johann  Wilczek 
eiue  Handschrift  aus  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  mit  Taidingen 
des  Wiener  Domcapitels  von  Matzleinsdorf,  Bisamberg  und 
Atzgei-sdorf  zur  Copiatur  übergeben  wurde. 


Das  w.  M.  Herr  Dr.  Pfizmaier  legt  eine  für  die  Sitzungs- 
berichte bestimmte  Abhandludg  unter  dem  Titel:  ,Da8  Haus 
eines  Statthalters  von  Fari-ma,  II.  Abtheilung'  vor. 


Das  w.  M.  Herr  Professor  Conze  legt  ein  drittes  Heft 
Römischer  Bildwerke  einheimischen  Fundorts  in  Oesterreich' 
zur  Aufnahme  in  die  Denkschriften  vor. 


Das  c.  M.  Herr  Professor  Dr.  Heinzel  legt  eine  für  die 
Sitzungsberichte  bestimmte  Abhandlung:  ,Ueber  die  Endsilben 
der  altnordischen  Sprache'  vor. 


Herr  Dr.  Ferdinand  Kaltenb runner  bespricht  in  einem 
Vortrage :  ,Die  Polemik  über  die  Gregorianische  Kalenderreform' 
und  ersucht  um  Aufnahme  der  Abhandlung  in  die  Sitzungs- 
berichte. 


262 


Verzeiohniss  der  vorgelegten  Druckschriften: 

Accademia  B.  dei  Lincei:    Atti.  Anno  CCLXXIII.  1875/76.    Serie  secondA. 

Volume    III.    Parte    prima.    Transunti  e  Ballettino    bibliografico.   Roma, 

1876;  40. 
Akademie  der  Wissenschafteo,  königlich  preussische,  zu  Berlin:  Monatsbericht 

März  und  April  1877.  Berlin,  1877;  8«. 
Gentral-CommissioUyk.  k.  zur  Erforschung  und  Erhaltung  der  Kunst-  and 

historischen  Denkmale:  Mittheilungen.  lU.  Band,  2.  Heft.  Wien,  1877;  i\ 
Gesellschaft,  Geographische,  in  Bremen:  Deutsche  geographische  Blätter. 

Jahrgang   I.    Heft   IL    Bremen,    1877;    80.   —  Katalog   der   Ausstellang 

ethnog^phischer     und     naturwissenschaftlicher     Sammlungen.     Bremen, 

1877;  80. 

—  Deutsche    Morgenlfindische :    Abhandlungen    für   die  Kunde   des  Morgen- 
landes. VI.  Band,  Nr.  3.  Leipzig,  1877;  80. 

—  Antiquarische:    Mittheilungen.    Band    XIX.    Heft    2,    3    und    4.    Zürich, 
1876/77;  4«. 

Jahrbuch,    Statistisches    des  k.  k.  Ackerbau-Ministeriums   für  1870.   Wien, 

1877;  80. 
,Revue    politique    et    Htt^raire'    et  ,Revue    scientifique   de  la  France  et  de 

TEtranger*.  VII«  Ann^e,  2«  Serie.  Nr.  2.  Paris,  1877;  40. 
Roulez,  J.:  Trois  MMaillons  de  poteries  romaines.  Paris,  1877;  4®.. 
Society     Italiana    di  Antropologia  et  di  Etnologia:    Archivio.    VII.  Volume. 

Fascicolo  I.  Firenze,  1877;  8«. 
Soci^tö    d'Histoire    et    d' Archäologie  de  Gen^ve:    Memoires    et  Documenta. 

Tome  XIX.  Livraison  2.  Geneve,  Paris,  1877;  8^. 
Society,  the  royal  geographica!:  Journal.  Vol.  XLVI.  1876.  London,  1876;  8*^. 
Verein,  historischer,  von  Unterfranken  und  A schaff enburg:    Archiv.  XXIV. 

Band.  1.  Heft.  Würzburg,  1877;  8«.  —  Die  Geschichte  des  Bauernkrieges 

in  Ostfranken  von  Magister  Lorenz  Fries.  Würzburg,  1876;  8°. 


Pfizmaier.    Das  Hans  eines  Statthalters  von  Fari-ma.  263 


Das  Haus  eines  Statthalters  von  Fari-ma. 

(II.  Abtheilung.) 
Von 

Dr.  A.  Pfizmaier, 

wirklichem  Hitgliedc  der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Die  vorliegende  Abhandlung  bringt  die  Erklärung  der 
zweiten  Hälfte  des  japanischen  Werkes  1^  ^  ^  ^  mei- 
geUU'sei'dan  ^klare  Besprechungen  über  das  Haus  Aka-tsuki', 
dessen  erste  Hälfte  bereits  früher  (in  dem  Novemberhefte  des 
Jahrganges  1876  der  Sitzungsberichte)  erklärt  wurde.  Das 
hier  Gebotene  enthält  den  Ausgang  eines  auf  eine  Anzahl 
Jahre  sich  erstreckenden  geheimnissvollen  Ereignisses  in  dem 
Hause  E6-tari  Jori-nori  Ason's^  Statthalters  von  Fari-ma,  und 
zeigt  sich  in  dem  Laufe  der  Entwickelung,  dass  die  Nebenfrau 
Faru-uo  I  nicht,  wie  man  glauben  machte,  auf  Befehl  des 
Statthalters  hingerichtet,  sondern  durch  den  ältesten  Hausdiener 
Eazu-sada  in  einer  fernen  Gegend  verborgen  wurde.  Dieselbe 
ist  die  schon  in  dem  ersten  Theile  vorkommende  Nonne  J^  J^ 
Sei-getsu,  ihr  Sohn  ist  der  in  die  Dienste  des  Hauses  Aka- 
tsuki  getretene  I-suke,  welcher  zuletzt  an  der  Stelle  seines  ent- 
arteten Bruders  Fan-go-r6  Statthalter  von  Fari-ma  wird.  Die 
Erzählung  fällt  in  das  vierzehnte  Jahrhundert  unserer  Zeit- 
rechnung, und  ist  auch  dieser  Theil  derselben  reich  an  Nach- 
richten von  dem  Leben  und  den  Sitten  der  damaligen  Zeit, 
worunter  die  ausführliche  Schilderung  eines  am  sechzehnten 
Tage  des  siebenten  Monates  in  der  Umgebung  von  Mijako 
stattfindenden  Volksfestes  besonders  erwähnenswerth  sein  dürfte. 

Die  Ueberschriften  der  in  der  Abhandlung  bearbeiteten 
weiteren  fünf  Capitel  lauten  im  Japanischen : 


264  Pfixmaier. 

(siü-gib-zta)  'j^  Ä  (ke-ij-wo  kokoro-mu.  ,Ein  alter  Ackersmann 
erklärt  die  Verödung.  Der  den  Wandel  Ordnende  prüft  die 
Seltsamkeiten.' 

^  ]^  (Mon-mu)  inw-se-wo  3^  (jakuj-si  \  jft  -^  (tsiu-si) 
^  j^  (an-ki)'WO  ^  (rd)-8U,  ,Der  Mann  der  Schrift  und  des 
Krieges  gibt  das  Versprechen  wegen  Schwester  und  Bruder. 
Der  redliche  Eriegsmann  kümmert  sich  um  Sicherheit  und 
Gefahr.' 

^  (Kan)-wo  tsuUumeru  some-te-nugui  \  ^  (ziüj-wo  tsidzi- 
meru  date-ju-kata.  ,Da8  den  Verrath  einhüllende  gefärbte 
Taschentuch.  Das  die  Langjährigkeit  verschrumpfen  machende 
durchwirkte  Sommerkleid.' 

^  1^  (Sai-kuai)'seru  wari-kb-gai  \  -^  ^  (kt-gitj-nasu 
jume-no  ura-kata.  ,Die  das  Wiedersehen  veranlassende  ge- 
spaltene Haarnadel.  Die  das  wunderbare  Begegnen  bewerk- 
stelligende Auslegung  des  Traumes.' 

Kegare-wo  nagasu  jodo-gawa-no  fotori  \  foniare-wo  todomu 
jama-zaki-no  ^  (go).  ^Die  Seite  des  den  Schmutz  treibenden 
Flusses  Jodo-gawa.  Der  die  Lobpreisung  aufhaltende  Kreis 
Jama-zaki'. 

Die  Titel  japanischer  Bücher  werden  von  europäischen 
Japonisten  nicht  selten  unrichtig  übersetzt.  Um  den  Titel 
richtig  wiedergeben  zu  können,  muss  man  in  der  Regel  das 
ganze  Buch  durchgelesen  und  den  Inhalt  vollkommen  ver- 
standen haben.  Einen  Beleg  für  diese  Wahrheit  liefert  der 
oben  angeführte  Titel,  über  welchen  in  dem  Vorworte  zu  der 
ersten  Abtheilung  Einiges  angedeutet  wurde.  Noch  mehr  gilt 
das  Gesagte  von  den  Ueberschriften,  welche,  durch  kleinere 
Zeichen  ausgedrückt,  bisweilen  mit  dem  Haupttitel  vereinigt 
sind.  Bei  dem  Titel  des  Mei-getsu-sei-dan  sind  in  kleiner 
Schrift  die  AVorte  ^jlj  ^  -^  j^  (aen-sai-ki-jm)  vorangesetzt. 
Dieselben,  an  sich  völlig  unerklärbar,  werden  erst  nach  Durch- 
lesung des  Werkes  verständlich,  und  ihr  Sinn  ist:  Die  wunder- 
baren Beziehungen  0-sen*s  und  Sai-zi-ro's.  ^[Ij  (aen)  ist  näm- 
lich die  Abkürzung  des  Namens  ^  ^jlj  0-sen,  ^  (sai)  die 
Abkürzung  des  Namens  ^  ^  ^  Sai-zi-rö. 


Dm  Haus  eines  Statthalters  ron  Fari-ina.  265 

Fanasi  ini-si-je-ni  kajeru,  ^fe  |5|  P^  (Sa-e-man)  ^  ^ 
(huti-8ada)-wa  \  saki-tsu  tosi  kimi-no  Sse-ni  joUe  \  Jami-ga 
^  ^  (ai-«ö)  ^  (faru)-no  ^  (i)'WO  ^  ^  (tsiü-nkuj-vi  \ 
mwo  ^  ^  (tsuki'Waka)'too-mo  ^ßr  ^  (setau-gaij-nasi-te  \ 
^  ;|^  (tan-konj-no  fakari-goto-wo  nasan-to  se-si-ni  \  sude-ni 
foka-ni  fff  ^  (kan-zoku)  ari-te  \  itsi-fajaku  ^^  (waka)'WO 
ubai'kakuse^si'WO  \  uairo-jasu-karazu-ja  omot-ken  \  sono  iki-sini- 
too  tadasan  tote  \  ^  '&  (giiirkunj'ni  si-i-te  susume-idte-matsuri  \ 
onore  sono  utte-to  nari  \  itoma-wo  koi-te  taist-ide-si  ^  Qo)  \ 
fasi-naku  juki-tsigb  fitori-no  kuse-mono  \  sono  ide-tatsi-no  kokoro- 
jergatcücu  I  atO'WO  sitoje-domo  ^  ^  ((^n-ja)  nare-ba  |  tsui-ni 
kore-wo  toraje-jezu. 

Die  Erzählung  kehrt  za  der  alten  Zeit  zurück.  Sa-e-mon 
Eazu-sada  hatte  in  früheren  Jahren  dem  Befehle  des  Gebieters 
gemäss  Faru-no  I,  die  geliebte  Nebenfrau  des  Gebieters,  mit 
dem  Tode  bestraft.  Indem  er  noch  nach  seinem  Plane  Tsuki- 
waka  zu  morden  und  die  Wurzel  abzuschneiden  gedachte,  war 
ausserdem  ein  Verräther,  welcher  Waka  schnell  raubte  und 
verbarg.  In  der  Meinung,  dass  für  die  Zukunft  keine  Sicher- 
heit sein  werde,  wollte  er  über  Leben  und  Tod  nachforschen 
und  redete  dem  Vorgesetzten  und  Gebieter  eindringlich  zu, 
indem  er  sagte :  Jn  der  Nacht,  in  welcher  ich  der  Todtschläger 
wurde,  Urlaub  begehrte  und  auszog,  begegnete  mir  zufallig  ein 
Bösewicht,  dessen  Verkleidung  mir  unbegreiflich  war.  Ich 
folgte  .ihm  nach,  doch  in  der  finsteren  Nacht  konnte  ich  ihn 
zuletzt  nicht  festnehmend 

Sore-jori  so-ko  ko-ko  saguru-to  ije-domo  \  ^^  (wakaj-ga 
ari-sama-no  sadaka-narazu,  Ko-wa  ^  H|  {td"koku)-ni-wa  arazi- 
kasi.  Tatoje  '(jg  ^  (fenpi)  J^  J^  (en-kiö)  tari-to-mo  |  ame-ga 
sita-ni  dani  aru  naraha  \  ika-de-ka  saguri-jezari-beki-to  \  köre- 
jori  ^  ^  (u'-fatsu)-no  j^  ^  ^  (siü'gib-zta)'ni  ide-tatsi  \ 
sena-m-wa  ]g  |f,  (zi-ß)  ^  ^  (ai-min)- no  j/jj^  ^  (dzi-zoj-wo 
woje-do  I  mune-ni  j^  ^  (zan-gai)  BBf  ^  (ka-siakuj-no  oni-wo 
idaki  \  migi-ni  ^k  ^^  (fu-sibj-wo  utsi-narasi  \  fidam-ni  jaiba- 
wo  kome-si  tsuje-too  tsuki-tate  \  omote-wa  'jj^  ^  (siü-zen)  utsi- 
"''  ^  15  f^a-aiw;  ^  ^  (ze-fi)  komo-gomo  ^  ^  V^ 
(ftt-fun-mib),  Ito-mo  okdsi-ku-to  fitori-jemi  \  fari-ma^no  kuni-tvo 
tatsi'toakare  \  ina-ba-no  jama-no  matsu-to  si-mo  |  iü-beki  ukara-no 


266  Pfizmaier. 

imi'kirai  |  tsiri-akuta-nasu  fowa-ki-no  kuni  \  sono  fatca-ki-  ^ 
(gij-^o  ari'to  kike-do  \  waka-ni-wa  imada  mina-saka-no  \  ada-ki- 
naki  j^  (jo)'ni  idzumo-  j^  (zij-to  \  omoje-do  sasu-ga  numo-no 
fu-no  kokoro  juruganu  ^  ^  (iwarmi)-gaia. 

, Obgleich  ich  hier  und  dort  suchte,  war  es  nicht  bestunmt, 
wie  es  um  Waka  steht  Dieser  dürfte  sich  nicht  in  diesem 
Reiche  befinden.  Seien  es  auch  seitwärts  liegende  Flecken, 
ferne  Gränzen,  wenn  er  sich  nur  in  der  Welt  befindet,  wie 
könnte  das  Suchen  nicht  von  Erfolg  sein?'  —  Hierauf  ver- 
kleidete er  sich  in  einen  den  Wandel  Ordnenden,  der  sein 
Haupthaar  behält.  Obgleich  er  auf  dem  Rücken  den  mitleidigen, 
bedauernden  Qott  der  Erdkammer  trug,  schloss  er  an  die  Brust 
den  verderbenden  und  züchtigenden  Dämon.  Mit  der  Rechten 
schlug  er  die  Aentenglocke,  mit  der  Linken  stiess  er  einen 
Stab  auf,  in  welchen  eine  Klinge  eingelegt  war.  Aeusserlich 
übte  er  das  Gute,  innerlich  tbat  er  Böses,  Recht  und  Unrecht 
wurden  gegenseitig  nicht  deutlich  unterschieden.  Mit  den 
Worten:  Sehr  sonderbar!  für  sich  allein  lachend,  trennte  er 
sich  von  dem  Reiche  Fari-ma.  Die  Verwandten,  welche  man 
Fichten  der  Bei^e  von  Ina-ba  nennen  konnte,  verabscheuten 
ihn.  Er  hörte,  dass  das  Reich  Fawa-ki,  welches  dem  Staube 
und  den  Abfällen  gleich  ist,  Besenbäume  habe,  doch  er  glaubte, 
dass  für  Waka  noch  Mima-saka,  in  der  unglücklichen  Welt 
der  Weg  von  Idzumo  sei,  und  somit  war  es  die  Seite  von  Iwa- 
mi,  wo  das  Herz  des  Kriegsmannes  nicht  erschüttert  ward. 

,Das  Aentengeschlecht'  hiess  ehemals  in  China  der  Ver- 
fertiger der  Glocken.  Der  Ausdruck  hat  den  Sinn  des  Hohlen 
und  Schwimmenden,  weil  die  Aente  in  das  Wasser  geht^  ohne 
zu  ertrinken. 

Fawa-ki  ist  der  alte  Name  des  Reiches  F6-ki.  Pawor-kx-gi 
,Besenbaum'  oder  favoa-ki-kusa  ,Besenpflanze'  ist  ein  Baum, 
aus  welchem  Besen  verfertigt  werden.  Pawa-ki-gi  ist  hier  eine 
Anspielung  auf  den  Namen  des  Reiches  Fawa-ki. 

Tosi-tmki  iiaga-to  su-fo-jori  \  j{^  j^  (kiü-siü)  ^  g  (si- 
koku)'Wo  fe-meguri'to  \  sanu-ki-no  kuni-wo  so-ko  ko-ko-to  \  J^  ^ 
(si-doj-no  ura-ni-wa  ^  ]^  (fudzi-wara)  >5  Jt  ^  (fu-hi-toyga 
^  ^  (^'io)-wo  ]^  (kan)'Zi  \  jaaima-no  ura-ni-toa  ^  ^ 
(gen-fei)  ^  ^  (red'ZiJ-no  ^  ^  (ei-koJ-woV^  (tan)'zi  \  ^  ^ 


Dm  Hans  eines  Stattbolten  von  FftrUn».  267 

(maru'kamej'no  ^  (jeki)'jori  bin-go-ni  toatari  \  bittsiü  bi-zen-wo 
fMguri-fatere-ba  \  sasu-ga  furu-aato-no  natsukasi-ku  \  fito-madzu 
j:  ^  (siü-kunj-ni  ^  (es)  si-tsuUu  \  toai'Uuki-no  ku-rd-wo 
kikoje-age  \  sono  notsi  W  B|  (to-gokuj-wo-mo  saguran-to  \  fari- 
ma-no  kuni-ni  tafsi-modoii-si-ga  \  jafswe-fate-taru  waga  sugata- 
?w^  B  (yj<o-«wJ  ibuaeku'ja  omoi-ken  \  kam  fukahi-to  ntst-owoi  | 
sinobi'te  ^  "fC  (zib'ka)-ni  iran-to  »u. 

Durch  Jahre  und  Monde  durchwanderte  er,  von  Naga-to 
und  Su-w8  kommend,  Kiü-siü  und  Si-koku.  In  dem  Reiche 
Sanu-ki  hier  und  dort  umherziehend,  bewunderte  er  an  der 
Bucht  von  Si-do  die  verständigen  Entwürfe  Fudzi-wara  Fu- 
bi-to's,  beseufzte  an  der  Buclit  der  acht  Inseln  die  Blüthe  und 
das  Verdorren  der  zwei  Geschlechter  Qen  und  Fei.  Von  dem 
Standorte  von  Maru-kame  nach  Bin-go  übersetzend,  durch- 
wanderte er  ganz  Bittsiü  und  Bi-zen.  Unterdessen  sehnsüchtig 
nach  seiner  Heimath,  wollte  er  einmal  früher  den  Vorgesetzten 
und  Gebieter  besuchen,  dabei  das  Leiden  von  Jahren  und 
Monden  zu  Ohren  bringen  und  dann  auch  die  östlichen  Reiche 
durchsuchen.  Er  kehrte  daher  in  das  Reich  Fari-ma  zurück. 
Indem  er  glaubte,  dass  seine  völlig  herabgekommene  Gestalt 
den  Menschen  auffallen  würde,  drückte  er  den  Hut  tief  in  das 
Gesicht  und  wollte  heimlich  in  die  Stadt  unter  der  Feste  treten. 

Geni'ja  to-tose-wo  fito-rmücasi-to  ijeru-ni  \  kuni-guni-wo 
saguri-motomuru  koto  \  aude-ni  towo-mari  nana-tose-wo  fe-nure- 
ba  I  wono-dzukara  S  Q  (zi-moku)'tDO  odorokasu  koto-no  o-oku  ] 
koko-ni  oi-te  ^^  ^  (setsu-butsu)  ^  -^  (fü-kubj-no  ^  (f^^)' 
zi'jcistJci'WO  |d|  (tan) '81  \  i^  (matsu)-mo  rnukasi-to  nagame-taru  \ 
taka-sagchno  ura-wo  ^^  ^  (t8ib'bd)'8i  \  kono  watari-jori  ma- 
ntsi-ni  atari  j|m  "^  j||  (ka-kO'gawa)'to  ijeru  ari. 

In  Wahrheit  wohl  nennt  man  zehn  Jahre  ein  Ehemals. 
Indem  er  die  Reiche  durchsuchte,  waren  bereits  über  siebzehn 
Jahre  vergangen,  und  es  waren  die  das  Auge  und  das  Ohr 
erschreckenden  Dinge  viele.  Demgemäss  beseufzte  er  die  leichte 
Verwandlung  der  Dinge  der  Zeit,  des  Windglanzes  und  sagte 
den  Vers:  ,Die  Fichten  auch  ehemals^  her.  Als  er  in  die  Feme 
auf  die  Bucht  von  Taka-sago  blickte,  lag  von  dieser  Durchfahrt 
gerade  im  Westen  ein  Ort  Namens  Ka-ko-gawa, 


268  Pfismaier. 

Nagam/kf  durch  ^  ausgedrückt;  hat  auch  die  Bedeutung : 
hersagen. 

Koko-ni  ^  ^  (tai-stüj'no  simo-jcisiki-no  ari-keru-ga  \  kttzu- 
sada  koko-ni  ki-kakari  miru-m  \  ani  fakaran-ja  \  sasi-mo  ^S  JS 
(gioku-ten)  ^  ^  (san-ranj-to  site  ^  ^  (feki-un)'ni  magaje 
^  ^  (^in-rÖ)  ^  V^  (kaku'kakayto  site  ^  g|  f«e*:*v^;  ^ 
Q'ei)'Ze'8i-mo  \  ika-nari-ken  "^  ^  (kub-faij-si  \  ^  P^  f^iÄ-monj 
naname-ni  kutsi-te  kusa  sigeri  [^  ^  (kö-reo)  j/jj^  (tsi)'ni  joko- 
tawaUe  fukuro-no  sumi-ka-to  nareru-ni  \  kazu-sada  akiruru  koto 
Wi  ^J  r*^"^**i)  nari'to  ije-domo  \  sara-ni  sono  ^  ^  (^mö- 
fatj'seru  ju-e-too  jjß  (ge)-8ezu. 

Hier  befand  sich  der  besondere  Wohnsitz  des  Statthalters. 
Als  Eazu-sada  hier  anlangte^  sah  er  —  wie  sollte  man  es  ver- 
muthen?  selbst  ein  solcher  Edelsteinpalast,  schimmernd  den 
lasurblauen  Wolken  nachgebildet,  mit  goldenen  Söllern,  die 
hell  in  der  Abendsonne  wiederglänzten,  war,  wie  mochte  es 
zugegangen  sein?  wüst  und  verfallen.  Das  mennigrothe  Thor 
war  schief  und  faulte,  die  Pflanzen  wuchsen  in  Fülle,  die  Regen- 
bogenbalken lagen  quer  auf  dem  Boden,  der  Ort  war  der  Wohn- 
sitz der  Eulen  geworden.  Das  Staunen  Kazu-sada's  dauerte 
mehrere  Viertelstunden,  doch  er  konnte  sich  die  Ursache  der 
Wüstheit  und  des  Verfalls  durchaus  nicht  erklären. 

K6-red  , Regenbogenbalken'  sind  Dachbalken,  welche  gleich 
dem  Regenbogen  gekrümmt  sind. 

Katatoara-ni  fito-tsu-no  kuzu-ja-no  ari-te  \  noki-ni  fisago 
wara-gutau-wo  burari-se-st-wa  \  midzu-siki  ^  -^  (no-fuj-to-wa 
iwade-mo  drusL  Kazu-sada-wa  kore-ga  kado-be-ni  tsuje-xco 
tatete  \  fisoka-ni  utsi-wo  mi-iruru-ni  \  aruzi-mekeru  nana-so-dzi-no 
oja-dzi  kiseru-wo  naname-ni  kuwaje-tsutsn  \  foso-nawa  nai-taru 
omO'ZOM'Wa  |  imada  mt-siranu  mono^nare-ba  \  kokovo-wo  jasun-zi 
to-gutsi-ni  tatsi-jori  \  ko-wa  ^  |||  (sio-kokuj-wo  meguru  su-gib- 
zia  naru-ga     ^  J^  (fb-stj-ni  sibasi  ikowase-tamaje. 

Zur  Seite  befand  sich  ein  mit  Flachs  gedecktes  Haus.  Dass 
man  an  dem  Vordache  Kürbisse  und  Strohschuhe  schwanken  liess, 
war,  ohne  dass  man  es  zu  sagen  brauchte,  ein  Zeichen,  dass 
hier  ein  wasserbreitender  Ackersmann  wohne.  Kazu-sada  stellte 
an  das  Thor  den  Stab  und  blickte  heimlich  hinein.  Ein  siebzig- 
jähriger Greis,  welcher  der  Besitzer  zu  sein  schien,  drehte,  eine 


Das  Hans  eines  Statthalters  Ton  Fari-ma.  269 

Tabakpfeife  schräg  zwischen  den  Zähnen  haltend,  einen  Strick. 
Jener,  da  es  nach  den  Gesichtszügen  ein  Mensch  war,  den  er 
noch  nicht  gesehen  hatte,  war  im  Herzen  beruhigt.  An  den 
£ingang  gelehnt,  rief  er :  Ich  bin  ein  den  Wandel  Ordnender, 
der  die  Reiche  durchwandert.  Habet  die  Güte  und  lasset  mich 
eine  Weile  ausruhen. 

Kano  ^  ^  (ro-fu)  to-no  kata-too  mi-idasi  |  so-wa  ito 
jasusi.  Kotsi'je  iri-ne,  Tanbako-no  ß-wa  kano  ßki-kara-fan.  Sä>U' 
tsia-wa  kanata-no  fa-kama-ni  koso,  Miraruru-ga  goto  wäre  narade 
fito  Jiasi.  Noman-to  nara-ba  mani-mani-si-tabe.  KazU'8ada''Wa 
1^  ^p  (e'8iaku)'na8i  \  na-kokoro-dzukai-si'tamai'SO'to  |  owoUtaru 
kasa-wo  nugi^te  \  aruzi-no  katawara-ni  kosi-utai-kake  |  jo-mo 
jama-no  fana^-no  taui-de-ni  \  kono  tonari-taru  fito-kamaje-wa 
ika-ni-mo  ate-btto-no  tatsi-to  mye-taru-ga  \  ika-de-ka  kh-made 
^  )S  (^^^'f<*^)'^^'^-^-^  I  sa-aranu  sama-ni  joao-nagara  toje-ba. 

Jener  alte  Mann  blickte  bei  der  Thüre  heraus  und  sagte : 
Dieses  ist  sehr  leicht.  Tretet  hier  ein!  Das  Tabakfeuer  ist  in 
dieser  Sägespäneschüssel,  der  herbe  Thee  ist  dort  in  dem 
Flügelkessel.  Wie  zu  sehen,  ist  ausser  mir  Niemand  da.  Wenn 
ihr  trinket,  so  thut  nach  eurem  Belieben.  —  Kazu-sada  ent- 
schuldigte sich  und  sagte:  Gebet  euch  keine  solche  Mühe!  — 
Indem  er  den  Hut,  mit  welchem  er  bedeckt  war,  ablegte,  setzte 
er  sich  neben  den  Wirth.  Bei  Gelegenheit  des  Gespräches  über 
sämmtliche  Gegenden  fragte  er  gleichgiltig,  als  ob  es  ihn  nicht 
beträfe:  Der  Bau  in  dieser  Nachbarschaft  erscheint  einiger- 
massen  wie  der  Palast  eines  vornehmen  Menschen.  Wie  kommt 
es,  dass  er  in  einem  solchen  Masse  wüst  wurde  und  verfiel. 

Aruzi'Wa  nai-sasi-taru  nawa-too  sasi-noki  \  kaiawara-no 
sibu-utsi-fa  tori-te  fiza-ni  tsuki-tate  \  ko-wa  ito  rmgaki  mono-gatan 
nare-do  sono  aramasi-wo  Mkase-rnösan,  Wa-nami-wa  to-toae  amari 
maje-tau  kata  \  joao-kunirjoH  kono  -^  (reqj-ni  kitare-ba  \  ao-ga 
maje-wa  aadaka-ni  airane-do  \  ima-jori-wa  fata-toae  taikaki  ini-ai- 
je  \  ^=^  (ßb'bu)-no  -j^  ||  (ta-jü)  ^  ^  (jon-norij-to  kikoje- 
si  kimi  ari-ai-ga  \  aono  ^  ^  (ai-aeoywo  ^  (faru)-no  ^  (ij-to- 
ka  tjeri-ai-ni  \  ika-naru  Tnaga-taumika  mitai-biki-ken  \  fiaoka-ni 
kaj6  koto-tauma-no  ari-ai-wo  \  kimi  kore-wo  airoai-meai  \  o-oi-ni 
ikari  tatai-matai-ni  \  te-utai-ni  aen-to  ai-tamai-ai-wo  \  toki-no  i^  ^ 
(sikk€n)'ni  -J^  |^  p^  (aa-e-mon)  ^  ^  (kazu-aadaj-to-ka  ijeru 


270  Pfismaier. 

mono  I  ko-wa  mata  nasake-ndki  mono-nite  \  tsumi-no  karo-karan 
kotO'WO  isamen-io-wa  sede  \  kimi-ni  koi-te  kano-faru-no  i-wo  ßttate  \ 
iß  ^h  (^i^-g^fii)-''^  siba-fu-nt  aje-naku  ^^  (tsiüj'si-ofvari'nu. 

Der  Wirth  legte  den  Strick,  den  er  zu  drehen  aufgehört 
hatte,  weg  und  einen  zur  Seite  befindlichen  mit  Saft  gefärbten 
Fächer  auf  das  Knie  Btossend,  sagte  er:  ^Dieses  ist  zwar  eine 
lange  Erzählung,  doch  ich  werde  es  in  Kürze  zu  Ohren  bringen. 
Ich  bin  vor  mehr  als  zehn  Jahren  aus  einem  auswärtigen 
Reiche  in  diese  Statthalterschaft  gekommen.  Wie  lange  es  vor 
diesem  gewesen,  weiss  ich  nicht,  doch  von  jetzt  an  nahezu 
zwanzig  Jahre  in  das  Ehemals  zurück  lebte  ein  Gebieter,  der 
unter  dem  Namen  Jori-mori,  der  grosse  Stützende  von  der 
Abtheilung  der  Krieger,  bekannt  war.  Dessen  geliebte  Neben- 
frau hiess  Faru-no  I.  Dieselbe  hatte  —  was  für  ein  Unglücks- 
gott wird  sie  des  Weges  gefuhrt  haben  ?  einen  Buhlen,  mit  dem 
sie  heimlich  verkehrte.  Der  Gebieter,  der  dieses  erfuhr,  wurde 
sehr  zornig  und  wollte  sie  plötzlich  niederhauen.  Der  damalige 
Inhaber  der  Macht  war  ein  Mann  Namens  Sa-e-mon  Kazu-sada. 
Dieser,  auch  ein  gefühlloser  Mensch,  richtete,  ohne  vorzu- 
stellen, dass  das  Verbrechen  leicht  sein  werde,  an  den  Gebieter 
die  Bitte,  zog  jene  Faru-no  I  mit  sich  und  tödtete  sie  auf  dem 
Rasenplatze  ausserhalb  der  Feste  auf  unglückselige  Weiset 

Sono  fima-ni  kokoro-kiki-taru  mono  ari-te  \  kano  faru-no  i 
fara-ni  umare-tamb  \  ^  ^  (san-sai^no  waka-gimi ^  ^  (tsukt- 
waka)'to  ijeru-wo  |  nani-mono-ka  ubat-kakuse-si-wo  \  kazu-sada 
tatsi'kajette  kore-wo  kiki  \  sute-oki-gatasi-to-ja  omoi-ken  \  waka-ga 
jl^  ^  (sib-sij-wo  tadasazun-ba  \  notsi  kanarazu  km  aran  nado  ' 
sama-zama-ni  sakasira-goto-ai  \  isui-ni  kimi-ni  koi-te  kuni-wo  ide- 
ai'Wa  I  faja  to-m>ari  nanorja-tose  \  ima-ni  kazu-sada  kajeri-konu- 
wa  I  ^  (ten)  sono  ^  ^  (zan-ninj-wo  nikumi-tamai  \  ^  ^j^ 
(to-roj-ni  ihre-  ^  (sij'Se-si  naran. 

,Unterde8sen  gab  es  einen  scharfsinnigen  Menschen,  indem 
den  von  jener  Faru-no  I  geborenen  dreijährigen  jungen  Gebieter 
Tsuki-waka  irgend  Jemand  raubte  und  versteckte.  Als  Kazu- 
sada  zurückkehrte  und  dieses  hörte,  mochte  er  glauben,  dass 
man  die  Sache  nicht  auf  sich  beruhen  lassen  könne.  Er  führte 
allerhand  glatte  Reden  und  sagte,  wenn  man  nicht  ausfindig 
mache,  ob  Waka  am  Leben  oder  todt  sei,  werde  man  es  später 


Dm  Haas  eines  Stettkaltan  tod  Fari-ma.  271 

gewiss  zu  bereuen  haben.  Er  erbat  es  hierauf  von  dem  Ge- 
bieter^ und  dass  er  aus  dem  Reiche  ausgezogen,  sind  bereits 
siebzehn  bis  achtzehn  Jahre.  Indem  Kazu-sada  jetzt  nicht 
zurückkommt,  wird  der  Himmel  seine  Grausamkeit  verabscheut 
und  ihn  auf  dem  Wege  fallen  und  sterben  gemacht  haben/ 

So-wa  tamare  kaku-mo  are  \  sore-jon-wa  jori-nori-gimi  \  futa- 
tabi  Ä^  ^  (ai'8e6)'W0  sadametamatoazu  Ifita-sura  j£  ^  (stb- 
8it8u)-wo  ^^  A  (t8ib-ai)'ma8i-ma8e-si-ga  \  — •  SB  (ittsib)  ^  ^ 
(ki'kiüJ'Tio  jamai'Wo  uke-tamai  \  BD  Q  (soku  -  zitsti)  2^  -^ 
(8okkio)'7iasUtamb,  Waka-tono  ^  ^  (fana-xßoka)  ^  ^^  (kai- 
meij'si-tamai  \  >ft  3l  ^  (fan-go-röj-kimi-to  tonaje-tsutsu  \  ka- 
toku-no  mi'Wa  tsugi-tamaje-do  \  ^  ^  (teS-sin)  kori-kazuje  -j^  ^ 
(nohu-mitnj-to  ijeru-ga  sikken-to  site  \  B|  J^  (koku-sei)  mina 
nobu-mitsi-ga  Ht  tH  (fd-sunj-ni  idete  \  aono  jj  (wi)  ataka-mo 
asa-ß-no  8aka-noboru-ga  gotoku. 

^Dieses  sei  wie  ihm  wolle.  Seit  dieser  Zeit  bestimmte 
der  Gebieter  Jori-nori  Niemanden  mehr  zur  geliebten  Neben- 
frau und  schenkte  seine  Gunst  einzig  der  rechtmässigen  Gattin. 
Eines  Morgens  von  einer  gefährlichen  Krankheit  befallen,  ver- 
schied er  an  demselben  Tage.  Der  junge  Gebieter,  indem  er 
seinen  Namen  veränderte  und  sich  Gebieter  Fan-go-ro  nannte, 
folgte  als  Erbe  des  Hauses  nach,  jedoch  der  älteste  Diener 
Nobu-mitsi,  Haupt  der  Rechnungen  des  Kreises,  wurde  Inhaber 
der  Macht.  Alle  Dinge  der  Lenkung  des  Reiches  geschahen 
nach  dem  Willen  Nobu-mitsi^s,  und  seine  Gewalt  war  gerade 
der  glänzend  aufsteigenden  Morgensonne  gleich.' 

Sika  nomi  narazu  kano  -4^  ^  (ic?i-/:ttn)-no  ^  ^  (kd- 
sitsti)  ij^  (fnaki)-no  H^  (kata)'fo  ^  ^  (kan-tsüj-si  \  ono-ga 
^1  ^  (sai-sedj'no  gotoku  j^  ^  (in-rakuj-se-si-ni  |  sono  notsi 
nohu-mitsi-ga  kosi-moto-ni  \  Jft  (namij-no  Jj^  (uje)'to^ka  ijeru 
tconna  \  moto-wa  nani-wa-no  kata-i-naka-ni  \  ijan-ki  mono-no 
musume  nare-do  \  katatd  koto-ni  uruwasi-kare-ba  \  tatsi-matsi 
kore-wo  soba-me-to  nase-si-ga  \  kano  tconna  kokoro-zama-no  ja- 
karanu  mono-nite  \  to-zama  ko-zama  pf  7^  (ku'niil)'8uru'W0  nobu- 
nütsi'Wa  aono  ^  ^  (ze-ßj-wo  wakimbru  koto  atawazu  \  iü-ga 
mani'mani'tii  toH-fakaraje-ba  '  J^,  "K  (^^'ff^)  uvami-wo  musubu 
mono  sukuna-karazu. 


272  Pfi.m»ier. 

^Ausserdem  hatte  er  mit  Maki-no  kata,  der  Witwe  jenes 
früheren  Gebieters^  geheimen  Umgang  und  vergnügte  sich  mit 
ihr  wie  mit  seiner  Gattin  und  Nebenfrau.  Später  war  ein 
Weib^  Namens  Nami-no  uje  die  Magd  Nobu-mitsi's.  Dieselbe 
war  eigentlich  die  Tochter  gemeiner  Leute  aus  einem  Dorfe 
seitwärts  von  Nani-wa,  doch  da  sie  von  Gestalt  besonders  schön 
war,  machte  er  sie  plötzlich  zu  seiner  Nebenfrau.  Dieses  Weib, 
von  Gemüthsart  nicht  gut,  befasste  sich  auf  jegliche  Weise 
mit  Zwischenträgerei.  Nobu-mitsi,  nicht  im  Stande,  Richtiges 
und  Unrichtiges  dabei  zu  unterscheiden,  handelte  ganz  nach 
ihren  Worten.  Die  Höheren  und  Niederen,  welche  auf  ihn 
einen  Hass  warfen,  waren  nicht  wenige.' 

Nakan-dzuku  kano  kd-süsu  maki-no  kata-wa  \  kore-wo 
urami-netami'tamai  \  siba-siba  nobu-miisi-to  idomi-arasoi-si-ga 
ika-nari'ken  maki-no  kata  |  fakavazu  ^^  Ä  (i-aitmiyni  kakari' 
tamai  \  nka  nomi  narazu  |£  ^  (aku-sb)  saje  ^  (fas)'8i'ker&' 
ba  I  nobu-mitsi-no  fakarai-mote  \  kono  tonari-naru  simo-jagöci-ni 
osi-koTne-tari-si-ga  \  iku-baku  narade  2^  (sos)  aerare-taru. 

,Vornehmlich  zürnte  und  eiferte  dagegen  jene  Witwe  Maki- 
no  kata  und  hatte  häufig  mit  Nobu-mitsi  Streit.  Es  mochte 
irgendwie  geschehen  sein.  Maki-no  kata  wurde  unvermuthet 
von  einer  seltsamen  Krankheit  befallen,  und  ausserdem  brach 
eben  an  ihr  ein  böser  Ausschlag  hervor.  Auf  Veranstaltung 
Nobu-mitsi's  wurde  sie  in  dem  hier  in  der  Nachbarschaft  be- 
findlichen besonderen  Palaste  eingeschlossen,  und  nach  nicht 
langer  Zeit  starb  sie.' 

Saru-kara-ni  sono  ä^  ^  (stü-nekij-no  todomari-keru-ga 
kano  tatsi-^o  mamoru  mono  \  wake-naki-ni  utsubari-ni  ^  (mei)- 
wo  tsizime  |  aru-wa  i-do-ni  kotobvki-wo  sidzumu  koto  sono  kazu- 
tco  sirazu.  Notsi-notsi-ni  itari-te-wa  fasira-wo  ugokasi  ^  ^ 
(ten-zibj-wo  narasu.  Tare-ka  kore-wo  sinobu  mono  aran  \  tcare- 
kara  saki-to  nige-idete  \  tsut-ni  fitori-to  site  mamoru  mono  na- 
kere-ba  ^  \^  (nen-nen)  jg^  \^  (sei-set)  are-masari  \  ima-wa  '|^  ^, 
(ke-ij-no  ari-nasi-wa  sirane-do  \  bake-mono  ja-kata-to  odzi-osore  ! 
P^  ^  (mon-gumj-ni  saje  asi-wo  tomezu.  A-a  — •  ^  (itsi-zin) 
^  ^  (tan-rei)  nare-ba  — •  g  (ihkoku)  ^  (ran)-wo  nasu-to 
iü.  Kami-ni  1^  ^  (mei -hin)  S?  |^  (ken-sin)  ara-ba  \  ika-de 
kore-ra-no  'ß  Ä  (ke-i)  aran. 


Dm  Haas  eines  Statthalten  von  Fari-ma.  273 

^Hierauf  hatte  diese  Hartnäckigkeit  ein  Ende.  Die  Menschen, 
welche  diesen  Palast  bewachten,  verkürzten  ohne  Ursache  an 
den  Dachbalken  ihr  Leben,  Einige  versenkten  in  dem  Brunnen 
ihre  Langjährigkeit.  Ihre  Zahl  ist  nicht  bekannt.  In  viel 
späterer  Zeit  bewegte  es  die  Pfeiler  und  machte  die  Zimmer- 
decken ertönen.  Wer  mochte  dieses  ertragen?  Von  mir  an- 
gefangen floh  man  hinaus,  und  zuletzt  war  nicht  ein  Einziger, 
welcher  den  Ort  bewachte.  Er  wurde  von  Jahr  zu  Jahr  wüster. 
Gegenwärtig  weiss  man  zwar  nicht,  ob  es  Seltsamkeiten  gibt 
oder  keine,  aber  man  furchtet  ihn  als  einen  Palast  der  Ge- 
spenster und  hält  nicht  einmal  vor  dem  Thore  den  Fuss  an. 
Ach,  wenn  der  einzige  Mensch  gierig  und  ungesetzlich  ist,  so 
bewirkt  er  die  Unordnung  des  ganzen  Reiches.  Wenn  es  nach 
oben  einen  erleuchteten  Gebieter  und  weise  Diener  gibt,  wie 
könnte  es  dann  dergleichen  Seltsamkeiten  geben?' 

^  i  (^To-«iÄ)  fan-go-ro-kimi-to  ije^m  |  imada  j|Jt  jfiE 
(ah-nenytO'Xoa  i-i-nagara  \  jhf^  j^  (fb-itsu)  ^  ßf  (mU'Zan)'no 
fui-umai  o-oJcu  \  ä^  ^  (8ikken)-no  nobu-mitd  okonai  mala  kaku- 
no  gotosi,  Sai'u-kara  TO  ^  (si-min)  nbaraku-mo  \  jasuki  kokw^o- 
naku  1^  ^  (fakU'fibywo  \  fumu-ga  gotoki-no  omoi-sen, 

,Der  gegenwärtige  Vorgesetzte,  der  Gebieter  Fan-go-r6, 
obgleich  noch  nicht  in  reifen  Jahren,  hat  häufig  ein  nichts- 
würdiges und  ruchloses  Benehmen.  Die  Handlungen  Nobu- 
miti's,  des  Inhabers  der  Macht,  sind  ebenfalls  so  beschaffen. 
In  Folge  dessen  hatte  das  Volk  der  vier  Gegenden  bald  keinen 
ruhigen  Sinn  und  machte  sich  Gedanken  wie  bei  dem  Treten 
auf  dünnes  Eis.' 

Ktmi  klkazu-ja  \  l|||  ^  (mei-8tü)-no  moto-ni  ^  B  (reo- 
nn)  ari'to  \  -^  ^  (aen-kun)  jori-nori-  ^  (koj-wa  \  ^  ^ 
(zin-zi)-no  ^1^  (8ib)'to  i-i-tsuthru-ni  \  nobu-mitsi-wa  na-ni  ni-ge- 
naki  \  makoto-no  mitsi-wa  kari-ni-mo  naku  \  ]jjff  ^  (kan-aku) 
3flJ  ft  (zia-kiokuyno  ^  g  (hb-koku)'no  ^  (sin).  Ima  — •  ^ 
(ikko)'no  kazu'Sada-wa  \  db  (8ijü)-ni  fitosi-ki  soba-me-wo  g^ 
(tsiil)-si  '  nawo  waka-gimi-wo  ^  (gai)-8en'to  fakaru  I  sono  ^&  ^ 
(seki'aku)'no  kazu  sadame-gatasi.  Toki  saiwai-ni  HJ^  ^  (tai- 
f^yno  ^^  (jo)  nare-ba   koso   \  jo-midare-taru-iio   toki  nara-ba 

SitziuiKib«r.  d.  phil.-hiBt.  Cl.  LXXXVII.  Bd.  I.  Hft.  18 


274  Pffsmaier. 

jo-mo-no  ^  m  (rin-kokn)  tatsi-matsi  okoUe  \  tadatsi-ni  J|  |^ 
(ba-teij-no  ato  nomi  nokoru-ran.     Ifo  aja-usi-aja-im, 

,Hört  es  der  Gebieter  nicht?  Bei  einem  erleuchteten 
Vorgesetzten  befinden  sich  vortreffliche  Diener.  Es  wird  ge- 
sagt, dass  der  frühere  Gebieter,  Fürst  Jori-ttori  ein  mensch- 
licher und  wohlwollender  AnfUhrer  gewesen.  Nobu-mitsi  hat, 
im  Gegensatze  zu  seinem  Namen,  nicht  das  Geringste  von  dem 
wahren  Wege,  *  er  ist  ein  verrätherischer,  verderbter,  gegen 
das  Reich  verschworener  Diener.  Jetzt  hat  ein  Kazu-sada  die 
dem  Vorgesetzten  gleichgestellte  Nebenfrau  getödtet  und  geht 
noch  damit  um,  den  jungen  Gebieter  zu  morden.  Die  Zahl 
dieser  gehäuften  Bosheiten  zu  bestimmen,  ^  ist  unmöglich.  Jetzt 
ist  zum  Glück  ein  Zeitalter  des  grossen  Friedens.  Wäre  es 
ein  Zeitalter  der  Unordnung,  so  würden  die  benachbarten  Reiche 
der  vier  Gegenden  plötzlich  sich  erheben,  und  es  würden 
gerade  die  Spuren  der  Pferdehufe  nur  noch  übrig  sein.  Es 
ist  sehr  gefährlich,  sehr  gefahrlich! 

To  omowazu  iro-wo  ugokasi  \  kata-wo  aohijasi-ie  katari- 
keru-ga  \  kono  foki  kokoro-dzuki-taru  sama-nite  \  ano-ga  te-nte 
kutsi'ico  owoi  \  ^^  "S^  (feki-ni)  ^  J3  (seki'k6)-no  jo-no  naka- 
ni  I  ware-wo  wasurete  kimi-tco  ^^  ^  (fi-f6)'su.  Jume-jume 
siü-ged'Zta  kono  kvdari-wo  \  wa-nami-ga  tsuge-si-to  morasi-tamai- 
80-to  I  kbbe-wo  sa-jü-ni  megurasi-te  se-do  kado-no  be-wo  mi^deuru- 
toa  I  foka-ni  kiku  mono-no    3&  ^   (u-mu^wo  saguru  nam-besi* 

So  sprach  er  unbedacht  mit  erregter  Miene  und  aufge- 
zogenen Schultern.  Jetzt,  als  ob  er  sich  besonnen  hätte,  ver- 
deckte er  mit  seiner  Hand  den  Mund  und  sagte :  In  einem  Zeit- 
alter, in  welchem  die  Wände  Ohren,  die  Steine  einen  Mund 
haben,  vergesse  ich  mich  und  lästere  den  Gebieter.  Möge  der 
den  Wandel  Ordnende  ja  nicht  verrathon,  dass  ich  ihm  diese 
Sachen  erzählt  habe.  —  Indem  er  das  Haupt  nach  rechts  und 
links  drehte  und  bei  der  Hinterthüre  und  Thorseite  hinaus- 
blickte, mochte  er  suchen,  ob  sonst  ein  Mensch  da  sei,  der 
es  hörte. 

KazU'Sada-ioa  kono  fanasi-wo  kiku-ga  mani-ma  \  (trui-tca 
odoroki  arui-wa  ikari  \  vmta-wa  kanasi-mi  katsu  osore  \  kono 

*  Nobti-miUi  bedeutet:  der  sich  ausdehnende  Weg. 

3  Kazu-9<ida  wird  als  ketzu  ^adamuru  ,die  Zahl  bestimmen*  betrachtet. 


Dm  Hau  eints  8tattbalt«n  ron  Fari-ma.  275 

toki  nagakt  iki-^wo  tsuki  \  waga  mi-ni  adzukani  koto  narane-do  \ 
sa-ta-no  foka-nam  ^  ^  (te6'8in)'no  sama  kann.  Sare-do 
^  ^  (ien-ofc«}  ^^  ^  (tod-fd)'Wa  ^  |lij^  (sia-rinyiio  goto  \ 
kano  ^^  ^  (sai'&yga  uma-wo  imnai-si  tamesi.  fl|^  (Rnn)'wa 
yp  C^i^O-wo  ki-zasi-to-mo  ije-ha  \  jl^  -^  (tsi-si)  jft^  ^  f^««f?- 
«»^  fito-tahi  okora-ha  \  — •  J^  (ikkioj-ni  kofo-no  ^  yj^  (fei- 
dzij-sen,    FukaJai  na-urami-tamai-so. 

Während  Kazu-sada  diese  Erzählung  hörte,  war  er  bald 
erschrocken,  bald  zorM^.  Ferner  betrübt  und  auch  sich  fürchtend, 
seufzte  er  jetzt  lange  uttd  sagte:  Die  Sache  geht  mich  zwar 
nichts  an,  doch  welch'  ein  unerhörtes  Vorgehen  von  Seite  dieses 
ältesten  Dieners !  Indessen  ist  die  entsprechende  Vergeltung  des 
Guten  und  Bösen  gleich  dem  Rade  des  Wagens.  Jener  Greis 
von  Sai,  der  das  Pferd  verlor,  ist  davon  ein  Beispiel.  *  Die 
Unordnung  ist  das  Aufsprossen  der  Ordnung.  Wenn  verständige 
Kriegsmänner,  redliche  Diener  einmal  aufstehen,  werden  sie 
durch  ein  einziges  Unternehmen  die  Zurechtbringung  der  Sache 
bewirken.     Seid  nicht  tief  gekränkt! 

To  nawo  kika-ma-fosi-ki  koto  are-do  \  ono-ga  uje  saje  i-i- 
taterare  \  sasu-ga-^i  omo'-iiaku'ja  omoi-ken  \  jawora  mi-wo  okosi 
atsuku  JU-  (zia)'si  \  kane  utsi-narasi  nen-butsu-wo  fonaje  \  kono 
ja-wo  idete  omojeraku  -4^  ^  (sen-kim)  sude-ni  2^  (sos)  st- 
tanvai-si  uje-toa  \  futa-tabi  db  ^  (siü-kaj-ni  kajeru-to-mo  JS 
(senynaku  \  kajette  waga  mi-no  aja-u-kani-hesL    Jami-nan-nan. 

Es  waren  zwar  Dinge,  die  er  noch  zu  hören  wünschte, 
allein  es  war  nur  von  ihm  die  Rede,  und  er  mochte  es  in  der 
That  für  eine  Schande  go^)alten  haben.  VjV  erhob  sich  langsam, 
bedankte  sich  höflich,  Hess  dann  die  Glocke  ertönen  und  betete 
laut  zu  Buddha.  Aus  diesem  Hause  tretend,  dachte  er  sich: 
Der  frühere  Gebieter  ist  bereits  gestorben.  Wenn  ich  auch 
wieder  in  d^s  Haus  des  Vorgesetzten  zurückkehre,  ist  es  von 
keinem  Nutzen,  es  wird  vielmehr  für  mich  gefährlich  sein. 
Ich  werde  davon  abstehen. 

Saru-nite-mo  \  fata-iose  tsikaki  ini-si-je-wo  \  sinobure-ba  mi- 
«  tama-dare-no  \  utsi-no  ajornaku  jukasi-ku-te  Ifisoka-m  moto-no 

*  Der  Greis  von  Sai  glaubte,  daaa  das  Böse  immer  sein  Gutes  habe.    Das* 
Pferd,  welches  er  verlor,  kam  später  zurück  und  brachte  ihm  ein  anderes 
schnelles  Pferd. 

18* 


276  Pfizmaier. 

kudzure-ja  kata-ni  tatsi-kajeri  \  tsui-dzi-no  kudzvre-jori  koje-ire- 
do  I  tare  togamu-beki-ni  arazare-ba  \  ^  l|lljl  (fansb)  J^  ^ 
(gua-rekij-wo  fumi-koje-koje  \  ^  ^  (no-inJ-tDatari-wo  mi- 
megwu-ni  ,  ^  ^S&  (gioku-ren)  naka-ba  tsi-girete  kumo-no  i-ni  todzi- 
rare  I  fa-zttomi föne  kutsi-te  kadzura-no  tsuru-ni  karameraru  \  koke 
^  (sibj-ztte  J^  ^  (feki'kanJ'WO  okasi  \  takanna  -^  (tedJ-ziU 
^  /jj|[  (tai-jen)-ni  semai^  ari-mma.  Sasu-ga  ^  ^  (zan-mn)- 
no  kctzu-sada-mo  |  fara-wata-too  tatsu-no  omoi-nam  j  ono-dzukara 
JS  ^  r^ei-ÄWi;  ^  ^  fez-fa>;  I  ^  ^  («-w?;;  1$  ^  (ten- 
fen)-no  kotowari-xco  J||  (kanj-zi  \  ^  ^  (iiiJ-ze^ij-io  «te  i- 
tari-si-ga. 

Er  hatte  indessen  eine  Vergangenheit  von  nahezu  zwanzig 
Jahren  ertragen,  das  Innere  der  Edelsteinvorhänge,  welches  er 
gesehen  hatte,  war  nicht  zu  unterscheiden,  und  er  verlangte 
nach  ihm.  Wenn  er  zu  dem  ursprünglichen  eingefallenen 
Gebäude  zurückkehren,  über  die  eingefallene  Mauer  steigen 
und  eintreten  würde,  wäre  Niemand,  der  ihm  dieses  als  eine 
Schuld  anrechnen  könnte.  Ueber  die  mannichfachen  Pflanzen 
und  die  Ziegelsteine  immerfort  tretend,  blickte  er  in  dem  Durch- 
gange des  Bücherhauses  umher.  Die  mit  Edelsteinen  besetzten 
Thürmatten  waren  zur  Hälfte  entzweigerissen  und  mit  Spinnen- 
fäden  geheftet,  die  Rahmen  der  Schubfenster  verfault  und  mit 
den  Ilanken  der  Schlingpflanzen  gebunden.  Das  wachsende  Moos 
nahm  die  Zwischenräume  der  Wände  ein,  die  in  die  Höhe 
schiessenden  Bambussprossen  hatten  das  Aussehen,  als  ob  sie 
gegen  die  kahlen  Thürmatten  drängten.  In  Wahrheit  hatte 
selbst  der  hartherzige  Kazu-sada  ein  Gefühl,  als  ob  es  ihm  die 
Eingeweide  durchschnitte.  Von  der  Einrichtung  der  Fülle  und 
des  Schwindens,  der  Blüthe  und  des  Verdorrens,  der  Umwälzung 
und  Veränderung  des  Bestehenden  ergriffen  ^  weilte  er  be- 
trübnissvoll. 

Kono  toki  ^  A  (ien-sioku)  sude-ni  kure  \  sikamo  ame 
saje  furi-ide-kere-ba  \  kazu-sada-wa  utsi-unadzuki  \  tatoje  ^^  4^ 
(jb'kvai)'Vio  (dzuru-to-mo  \  nani-fodo-no  koto  aran,  Siit-gühzia-no 
jadori-ni-wa  kukkib-no  ^  ^  (sin-sio)  nari-to  \  nuki'-cm'Site 
.  ktUsi-taru  juka-ni  nobon  \  iairi-wo  sa-jü-ni  kaki-noke-tsutsu  \  oi- 
tvo  orosij^  ^^  (zib-dan)'no  \  siki-i-wo  makura-ni  kost- wo  nobtxst  ] 
fu8U'ka-to  sure-ba  gb-gb-to  fojuru-ga  gotoku  ibiki-wo  kaki  \  J^  ^^^ 


Das  Hsns  eines  Statthalter«  70n  Fari-ma.  277 

(sen-goj-mo   toakade  -U^  |^  (kan-8ui)'8eri.    Fikkeo  sono  ^fl^  'ß 
(p>'kuai)'no  \  idzura-kn  ina-tra  ^  [g|  (ko-ktialj-ni  tokn-he^i. 

Um  diese  Zeit  war  die  Farbe  des  Himmels  bereits  abend- 
lieh;  und  es  schickte  sich  eben  zum  Regnen  an.  Kazu-sada 
nickte  mit  dem  Haupte  und  sagte:  Gesetzt,  die  Ungeheuer- 
lichkeit kommt  zum  Vorschein,  welche  Bedeutung  könnte  es 
haben?  Bei  der  Einkehr  des  den  Wandel  Ordnenden  ist  es 
eine  vortreffliche  Schlafstätte.  —  Leise  auftretend,  stieg  er  auf 
ein  verfaultes  Bett,  streifte  den  Staub  rechts  und  links  weg 
und  stellte  dabei  den  Bücherkoffer  nieder.  Die  Schwelle  der 
oberen  Stufe  zu  einem  Polster  machend,  streckte  er  die  Lenden 
und  machte  es  sich  zum  Liegen  zurecht.  Mit  einem  Geschnarche, 
welches  einem  Biüllen  glich,  schlief  er,  ohne  Vorhergegangenes 
und  Nachfolgendes  zu  unterscheiden,  fest  ein.  Ob  endlich  diese 
Ungeheuerlichkeit  zum  Vorschein  gekommen,  wird  sich  in 
einem  späteren  Abschnitte  aufklären. 

S?  (Km)-tco  ^  (ken)'to  site  iro-ni  kaje-jo-to  ^  ^  -^ 
(ko'fu-8i)'no  imasime  ube-naru  kana.  ^  ^  (Aka-tsuki)  1^  ^  ^ 
(sai'zi-r6)  jq  ^  (motO'faru)'Wa  — •  ^  (ittsib)  jodo-gawa-no 
)t  ^  (^^-joym  I  ^y  ^  (sio-zio)  f{^  f([|  (o-8en)-ga  ^  ^ 
(ki'kiü)-wo  aware-mi  \  — •  |^  (itsi-jdj-no  ftine-ni  ^  ^  (bu- 
rai)'ioo  8ake'8i-ga  \  köre  ^  ^  (ten'en)-no  sikarasimuru  tokoro- 
ni-ja  I  tsui-ni  ai-oniö-no  omoi  tokete  \  ^  ^  (kairh)  ^  3|| 
Cren-riyno  t8ikai  ntue-si-jori  \  moto-faru-mo  ^  ^  (m-boj-no 
omoi  -^  (8et8u)-ni  site  \  fi8oka-ni  ^  ^  (sai-kuaij-no  toki  naki- 
wo  urami-si-ga  \  8ono  ^  ^  (ren-zib)  todome-gataku-ja  ari-ken  \ 
aru  toki  H^  ^  (8ato-^i)  ^  J|j[f  (i-8uke)'^oo  maneki  \  kano 
^Iflf  rtl  (sen-tsiUJ-no  tsigiH'Wo  tsngete  |  fumi-wo  o-sen-ni  U  (t8ÜJ' 
zen  koto-wo  gj  (takuj-su, 

,Man  mache  die  Weisheit  zur  Weisheit  und  wechsle  die  Sinn- 
lichkeit.' Wie  angemessen  ist  diese  Warnung  Kung-fu-tse's !  Aka- 
tsuki  Sai-zi-ro  Moto-faru  hatte  eines  Morgens  auf  einer  Lustfahrt 
auf  dem  Flusse  Jodo-gawa  Mitleid  bei  der  Gefahr  des  jungen 
Mädchens  0-sen  und  vermied  auf  einem  Schiffe  den  Nichts- 
würdigen. Dieses  wurde  vielleicht  durch  die  Beziehungen  des 
Himmels  so  eingerichtet.  Zuletzt  lösten  sich  die  Gedanken,  mit 


278  Pfiimftier. 

denen  sie  an  einander  dachten,  und  sie  thaten  den  Schwur  des 
gemeinschaftlichen  Altwerdens,  des  Zusammen  Wachsens  der 
Zweige.  Seitdem  waren  bei  Moto-faru  die  Gedanken  der  Liebe 
schmerzh'ch,  und  er  kränkte  sich  im  Geheimen,  dass  zu  einer 
nochmaligen  Zusammenkunft  die  Zeit  nicht  war.  Einst  —  es 
mochte  ihm  wohl  unmöglich  gewesen  sein,  seiner  Leidenschaft 
Einhalt  zu  thun  —  berief  er  Sato-mi  I-suke  zu  sich,  erzählte 
ihm  von  jenem  Bunde,  den  er  in  dem  Schiffe  geschlossen,  und 
betraute  ihn  mit  der  Uebermittlung  eines  Briefes  an  0-sen, 

I-suke-mo  moto'faru-gajb-su-wo  \  fobo  sirazaru-ni-wa  arane- 
domo  I  am  fakaran-ja  ka-bakari  -^  (setsuj-naran-to-wa  \  tadaUi-ni 
isamete  to-zaken-to  omoi-si-ga  ,  ina-ina  koto-waza-ni  ijeru  midzu-no 
de-bana  \  d-i-te  kore-wo  sajegiran-to  suint-wa  \  iwajuru  — •  Ä  ^ 
(issia-aiJiJ'no  ^  (j^j-wt  —  jj^  (ippaij-no  \  midzu-wo  motte  suru- 
ni  ni'taru-beku  \  sika  nomi  narazu  ika-naru  jo-karanu  koto  aran- 
mo  fakari-gatasL  Josi-josi  aibaraku  ^  (meij-ni  sitagai-te 
jori'jori-ni  isame-wo  iren-ni-wa-to  \  fumi-wo  o-sen-ni  ^J  (tsü^ze- 
81'jori  kono  kata  \  ai-miru  koto-wa  katad-io  ije-domo  \  nha-siba 
juki-kai-no  fumi-ni  ^  (zib)-wo  nobe  \  adasi-gokoro-wo  ^  (seij-si 
^  (aeij-serare  \  kami-ni  fotoke-ni  tsikai-si-ka-ba  \  naka-naka  ai- 
h-Jori-wa  ija-masi-ni  \  fukaki  tsigiri-to  nari-ni-keriu 

Es  war  zwar  nicht  der  Fall,  dass  Lsuke  den  Zustand 
Moto-faru's  nicht  im  Ganzen  gekannt  hätte,  doch  wie  sollte  er 
Rath  schaffen?  Wo  eine  solche  Heftigkeit  sein  wird,  darf  man 
nicht  daran  denken,  Vorstellungen  zu  machen  und  fern  zu 
halten.  Es  ist  wie  es  in  dem  Sprichworte  heisst:  Bei  der 
gross ten  Höhe  des  Wassers  dieses  mit  Gewalt  verschliessen 
wollen.  Es  wird  etwas  Aehnliches  sein  wie:  Bei  dem  Feuer 
von  einem  Wagen  Brennholz  mit  einem  Becher  Wasser  thätig 
sein.  Ausserdem  lässt  sich  nicht  ermessen,  welche  üblen  Dinge 
entstehen  werden.  Gut!  Man  wird  einstweilen  dem  Befehle 
gehorchen  und  von  Zeit  zu  Zeit  Vorstellungen  machen.  —  So 
denkend,  übermittelte  er  den  Brief  an  0-sen.  Seitdem  war  es 
zwar  unmöglich,  sich  zu  sehen,  doch  durch  die  häufig  an- 
kommenden Briefe  gab  man  der  Leidenschaft  Ausdruck,  wehrte 
dem  falschen  Sinne.  Diesem  wurde  gewehrt,  und  man  schwor 
zu  den  Göttern  und  Buddha.  In  der  That,  seit  sie  einander 
begegnet,  wurde  der  Bund  immer  inniger. 


Dab  Haas  eines  Stattiiaiters  Ton  Fari-ma.  279 

I'suke-wa  an-ni  jjjQ  ^  (sh-ij-nan  \  kaku  ^^  4^  (ren-zib) 
atsu-karan-ni  \  itsu-ka-wa  fodasi-wo  tatsu-beki-to  \  fitori  kokoro- 
wo  kurusime-si-ga  \  sude-ni  — •  j^  (itsi-zibj-no  aawari  koso  (der 
ki-ni'keri. 

I-suke  quälte  sich  in  Gedanken  und  Bagte  zu  sich  selbst: 
Es  ist  nicht  anders^  als  ich  vermuthete.  Wenn  eine  Leiden- 
schaft so  heftig  wird;  so  muss  sie  eines  Tages  die  Fesseln 
durchschneiden.  —  Indessen  hatte  sich  bereits  ein  Hinderniss 
gezeigt. 

Sono  ju-e-tva  \  kono  goro  mijdko  ^  ^  ^  (fö-sio^zi) 
(ll  ^h  "«  (tsiü-na-gon)  tote  \  koto-ni  tokt-meki-tamai-si-ga  \ 
^  (keoj-ni  ^  ^  (kin-datsi)  fime-gimi  amata  masi-masu-ga 
naka-'Ui'mo  \  ^  ^  (waka-nayno  ^  (kimi)'fo  ijent  ßme-iio 
tosi  to-mari  nafia-tose-ni  nari-tamh-ga  \  J|^  ^  (ßi-zi)  ^  Ä 
(jo-nokti)  fagui-naki  nomi  narazu  \  te-kaki  mono-jomi-wa  iü-mo 
sara-nari  \  jorodzu-no  waza-ni  ^  (tsibj-ze-sase-tavib  mono-kara  \ 
mi-kado-jori-mo  mesase-tamb-to  ije-domo  \  tsitst-no  ^j^  (kib)  obosi- 
tamb  iokoro  nri-te  \  koto-wo  ^  >fe  (sa-nj-in  josete  \  ||^  (zi)'8i' 
tate-matstirL 

Der  Anlass  war  folgender.  Um  diese  Zeit  stand  der  mittlere 
Rath  des  Klosters  Fo-sio  von  Mijako  in  besonders  grossem  An- 
sehen. Unter  den  Söhnen  und  Töchtern  dieses  Keichsministers 
war  eine  Tochter  Namens  Waka-na-no  kimi,  welche  über 
siebzehn  Jahre  alt  war.  Ihre  Gestalt  und  ihre  Züge  waren 
nicht  allein  ohne  Gleichen,  sie  war  nebst  dem  Lesen  und 
Schreiben  in  den  zehntausend  Künsten  erfahren.  Von  Seite 
des  Kaisers  erging  daher  eine  Berufung,  jedoch  ihr  Vater,  der 
Reichsminister,  der  einen  Wunsch  hatte,  brachte  die  Sache  zur 
Verlautbarung  und  schlug  es  aus. 

Nani-to-zo  kore-ga  — •  |^  (ittsuij-ni  site  \  mi-ma-fosi-ki 
muko-mo  gana-to  \  moppara  ^  ^  ^  (bi-seo-neriywo  saguri- 
tamb-ni  \  fiio  atte  aka-tsuki-ke-no  IßF  ^  (so-zi)  sei-zi-ro  moto^ 
faru  ko80  I  ini-si-je-no  Ä  3l  (zai-go)  fikaru  kimi-ni  ija-masaru" 
to-mo  otorti-mazi'ku  \  sika  nomi  narazu  A^  "^  (mon-buj-wo 
^^  Ä  (ken-bij-si  |  su-e-danomosi-ki  -^  ^  (tai'Sib)'ZO'to  kiki- 
tamai  j(^  fb  (sin-tsiUJ-ni  jjS  J^  (man-zokuj-nasi. 

Er  sagte :  Ö  wie  wünschte  ich  einen  Schwiegersohn  zu 
sehen,   der   sich   ihr  gegenüber   stellen   könnte!    —    Indem   er 


280  Ffizmaier. 

ausschliesslich  einen  schönen  Jüngling  suchte,  sagte  Jemand 
zu  ihm :  Sei-zi-r6  Moto-faru,  der  Sohn  des  Hauses  Aka^tsuki^ 
wenn  er  den  unter  den  Fünfen  gläuzenden  Gebieter  nicht  über- 
trifft; so  kann  er  ihm  doch  nicht  nachstehen.  Ausserdem  ist 
er  in  der  Schrift  und  in  der  Kriegskunst  gleich  bewandert 
und  für  die  Zukunft  ein  verlässlicher  grosser  Anführer.  —  Als 
er  dieses  hörte,  war  er  im  Herzen  ganz  vergnügt. 

Naka-datsi-mo  gana-fo  \  knnefe  ^  ^^  (bin-gQ-wo  motoine- 
tamai'si-ga  \  ko-tabi  ^^  |^  (kln-kaku)  ^  J^  (reiku-seij-ni 
jotte  aka-tsuki-ke-ni-mo  3^  S^  (tmi'ki)'WO  sasage  \  iojo-kata 
mi-dzukara  J^  ^  (zih-raku)'8i  \  J^  5^  (a8i'knga)-ke'ni  'fpj  ^ 
(si'ko)  nase-si-Jii  |  soiw  &  j^  (reO'en)-no  foki  itarH-ni-ja  |  tsiü- 
na-gon-no  ^  (kih)'mo  ^  jj^  (tai-ziü)-wo  form-tamai-te  \  ^  ^ 
(siü-en)  take-nawa-no  nori-karn  \  tojo-kata  '^  ^  (st-koj-no 
josi-wo  ^S  (8d)'se-si'ka-ha  kanete  9S  IX  (tsiö-gii) -no  tojo-kata 
nare-ba  \  "^  jj^  (tai-ziü)  sono  &  (seki)'ni  mesarete  sakadzuki- 
wo  tanib. 

Einen  Vermittler  wünschend,  suchte  er  vorerst  eine  Ge- 
legenheit. Weil  die  Niederlassung  des  goldenen  Söllers  *  jetzt 
vollendet  war,  überreichte  er  dem  Hause  Aka-tsuki  kostbare 
Geräthe.  Tojo-kata  kam  in  eigener  Person  in  die  Nieder- 
lassung und  machte  dem  Hause  Asi-kaga  seine  Aufwartung. 
Es  mochte  die  Zeit  für  das  treffliche  Verhältniss  gekommen 
sein,  als  auch  der  Reichsminister,  der  mittlere  Rath,  den  Sio- 
gun  besuchte.  Als  man  bei  dem  Weinfeste  eben  im  Trinken 
begriffen  war,  meldete  Tojo-kata,  dass  er  seine  Aufwartung 
mache.  Da  es  Tojo-kata  war,  welcher  vorher  der  Gunst  theil- 
haftig  geworden,  berief  ihn  der  Siö-gun  zu  seinem  Teppiche 
und  verlieh  ihm  einen  Becher. 

Tsiü' na-gon-no  kib-ioa  \  watari-ni  fune  je-si  kokot^i-nasl 
ito  nemogoro-m  '&*  ^  (e-siakuj-si-taviai  \  jo-mo-ja-mo-no  fanasi- 
no  tsui-de-ni  \  kaneU  kikn  tojo'kata-ni-wa  \  ito  joki  gf  B§ 
(sb'zij'too  motasi'tamb'to  \  ware-mo  fitori-jw  tootome  ari.  Ko-wo 
tsib-ai-surii  oja-gokoro-ni-wa  \  "]^  ^  ^  (ge-se'tüaj-nt  ijeru 
-+-     A    (ziü-nin)-nami  naran-ga  \  ika-de-ka  kakaru  otto-wo  koso  \ 


*  Der  goldene  Söller   ist  der  von  dem  Siö-gun  Josi-mitsu  erbaute  PaluBt, 
von  welchem  in  der  ersten  Abtheilung  (S.  361)  die  Rede  war. 


Dm  Hau  ein«s  Statthali«TB  von  Fui-m«.  281 

je-ie  gi-gana-to-wa  omoje-domo  \  imada  joki  jeni-si-wo  musubazu- 
to  I  kokoro-ari-ge-no  ^  (kiö)''no  kotoba-wo  \  tai-ziü  fobo  s<mo 
^  (i)'tco  ^  (sas)  81  I  ika-ni  tojo^kata  ^  (ki'ö)'no  kaku- 
made  ^f^  (sib)-8i'tamb''Wa  \  ito  men-hoku-no  koto  nan-men,  Koto- 
sara  moto-fam  ni-awam-ki  tosi-goro^nare-ba  \  fjM  (kib-ni  &  -^ 
(soku'zioJ'WO  kat-motome  \  moto-fani-gn  ^  (8%t8u)-to  nase-jo 
wäre  kore-ga  naka-datsi  f^ran-to  jft  (ked^zi-famb. 

Der  Reichsminister,  der  mittlere  Rath,  hatte  das  Geföhl^ 
als  ob  er  an  der  Ueberfahrt  ein  SchifF  erlangt  hätte.  £r  ent- 
schuldigte sich  sehr  artig  und  sagte  bei  Gelegenheit  des  nach 
allen  Seiten  sich  wendenden  Gespräches:  Ich  habe  vorhin 
gehört,  dass  Tojo-kata  einen  sehr  vortrefflichen  Sohn  besitzt. 
Auch  ich  habe  eine  Tochter.  In  dem  Herzen  des  Vaters,  der 
sein  Kind  liebt,  werden  es,  wie  das  Sprichwort  sagt,  zehn 
Menschen  sein.  Wie  sehr  ich  auch  wünschte,  für  sie  einen 
solchen  Mann  zu  finden,  habe  ich  noch  kein  gutes  Verhältniss 
geknüpft.  —  Der  Sio-gun,  im  Ganzen  den  Sinn  der  bedeutungs- 
vollen Worte  des  Reichsministers  errathend,  sagte  vergnügt: 
Tojo-kata!  Dass  der  Reichsminister  in  einem  solchen  Maasse 
preist,  dürfte  eine  grosse  Ehre  sein.  Besonders  da  Moto-faru 
in  dem  angemessenen  Jahren  ist,  so  begehre  von  dem  Reichs- 
minister die  Tochter  und  mache  sie  zur  Gattin  Moto-faru's. 
Ich  werde  fiir  ihn  der  Vermittler  sein. 

^  ^  (Kun-mei)  ika-de  =j^  (zi)-siiru  koto-wo  jen.  Tojo- 
kata-wa  ^  g|[  (tei'to)-si  \  m-i-gataku  seO'fsi'tsnkh'maUum. 
Sari-nagara  \  j^J  J^  (ken-gekij-wo  koto-to  suru  inaka-bu-si  \ 
fl^  (kib)  osorakii'Wa  kirai-tamawan,  Tsiü-na-gon-no  ktb  koto- 
ni  man-zaku-si-tamai  \  makoio-wa  kanefe  ^^  ^  (kon-mGynaae- 
do  I  sokka-no  kokoro-wo  fakaH-kfine-fd  \  motomu-to  ara-ba  ika-de 
"^^  (zi)'sen-to  o-oi-ni  Ä  +&  (ki-jetsu)  ari-si-ka-ba. 

Wie  könnte  man  sich  bei  dem  Befehle  des  Gebieters 
weigern?  Tojo-kata  senkte  das  Haupt  und  sagte:  Ich  nehme 
e»  dankbar  an.  Indessen  bin  ich  ein  mit  Schwertern  und 
Hakenlanzen  sich  befassender  Kriegsmann  vom  Lande.  Ich 
fürchte,  dass  der  Reichsminister  vor  mir  Abscheu  haben  wird.  — 
Der  Reichsminister,  der  mittlere  Rath,  war  besonders  zufrieden 
gestellt  und  sagte:  Ich  habe  wirklich  früher  den  ernstlichen 
Wunsch  gehabt,   doch   ich   konnte   euer  Herz   nicht  ermessen. 


282  Pfismaier. 

Wenn  ihr  es   begehret,   wie  könnte  ich  mich  weigern?  —  Er 
hatte  grosse  Freude. 

TojO'kata-mo  kotihm  jorohohi  \  tai-ziü-je-^no  on-  ifi  (rn) 
mawosi-age  \  sa-aran-ni-toa  gegare  ojobi  |^  (sin'ra)'tu-mo  i-i-ki- 
kcue  \  "^  J^  (kis9in)'WO  motte  ^  j^  (jtU'nh)'WO  tate-matguran- 
to  I  kata-^mi-ni  kataku  kei-jaku-si  \  nawo  giba-siba  sakadzuki-wo 
megurasi  \jagate  won-itoma-wo  tamawari-ie  \  tojo-kata  |  j^  BB 
(ki'kokuyn'tamai'tautgu  \  ^  -^  (ka-ro)  J^  ^  (jo-nin)- 
wo  ataumerare  \  madzu  asi-kaga-ke-no  "^  JS  (sik-bij-wo  tsuge- 
tamai  \  nawo  mala  -^  j^  (tai'Ziü)-no  tcon-naka-datn-nite 
Ä  Ä  ^  (fh'iiih'zi)-no  i^  (kib)-no  fime-tco  i-i-nadz^tke-se-n 
jon-wo  tsuge  ^  jfflb  (jui'nh)'no  Q  J^  (nitsi-zi)'WO  eramasime-tamb. 

Auch  Tojo-kata  war  besonders  erfreut.  Bei  dem  Sio-gun 
sich  bedankend,  sagte  er:  Also  werde  ich  es  meinem  Sohne 
und  den  Dienern  mittheilen  und  an  einem  glücklichen  Tage 
das  Brautgeschenk  darreichen.  —  Indem  man  sich  gegenseitig 
das  bindende  Versprechen  gab,  Hess  man  den  Becher  noch 
häufiger  im  Kreise  herumgehen.  Sogleich  Abschied  nehmend, 
kehrte  Tojo-kata  in  das  Reich  zurück,  und  als  die  Aeltesten 
des  Hauses  und  die  in  Verwendung  stehenden  Menschen  ver- 
sammelt waren,  erzählte  er  zuerst  alles  auf  das  Haus  Asi-kaga 
Bezügliche.  Dann  erzählte  er  ihnen  auch,  dass  man  durch  die 
Vermittlung  des  Sid-gun  die  Tochter  des  Reichsministers  von 
dem  Kloster  F6-sio  verlobt  habe  und  Hess  sie  den  Tag  and 
die  Stunde  für  das  Brautgeschenk  wählen. 

^  E  (Sio-8hi)-ra  ~J^  jg^  (ban-zei)'WO  tonaje-tstUsit  o-oi- 
ni  isami-dojameki-n-ga  \  madzn  icon-  W  ^  (sb-ziyni-mo  tstige- 
taie-matsuran-to  ^  g  (tsib-sin)  ^  Q  (furu-ta)  J^  J||  (ten- 
zen)  I  moto-faini-no  moto-ni  ma-iri  \  kono  josi  otsi-naku  jjjg^  ^^ 
(fi-roj-nasu-ni  \  moto-faru-tca  kanete-jori  \  o-sen-to  kata-mi-ni 
adagi-gokoro-wo  utsusazi-to  \  kami-ni  fgikai-si  koto  are-ba  Joro- 
koH-no  iro  sara-ni  naku  gama-zama-ni  inami-tamb,  Ten-zen 
an-ni  gb-i^aite  \  iro-iro  mitgt-tco  motte  toku-to  ije-do  \  katgu  "^^  Q 
(fu'to)  ^i  ^1  (gib'in)  arazare-ba  \  ten-zenwa  gen-kat^i-naku 
^  ^  (tai'giüj'in  kono  mune  ^  J^,  (gon-zibj-gi  kagamte  ^  ^ 
(ßb-gi)'ioo  nagan-to  »«. 

Sämmtliche  Diener,  in  den  Ruf:  Zehntausend  Jahre!  ein- 
stimmend, waren  sehr  guter  Dinge  imd  lärmten.    Um  es  früher 


Dm  Hans  eines  Statthftlten  ron  Furi-ma.  283 

dem  Sohne  zu  melden,  begab  sich  der  älteste  Diener  Furu*ta, 
Vorgesetzter  der  Speisen,  zu  Moto-faru  und  machte  ihm  diese 
Sache,  ohne  etwas  zu  verschweigen,  bekannt.  Moto-faru,  der 
schon  früher  zu  den  Göttern  geschworen  hatte,  dass  er  und 
0-sen  gegenseitig  das  entfremdete  Herz  nicht  entziehen  dürfen, 
zeigte  durchaus  keine  freudige  Miene  und  weigerte  sich  auf 
allerlei  Weise.  Der  Vorsteher  der  Speisen,  der  dieses  nicht 
vermuthet  hatte,  erklärte  sich  mit  Hilfe  verschiedener  Mittel, 
doch  Jener  willigte  wider  Vermuthen  gar  nicht  ein.  Der  Vor- 
steher der  Speisen,  nicht  wissend,  was  er  thun  solle,  meldete 
diesen  Umstand  dem  Statthalter  mündlich  und  wollte  noch  ein- 
mal darüber  zu  Rathe  gehen. 

Tojo-kata-ioa  ke-siki-wo  j^  (8on)'Zi  \  ^  jj^  (tai'Ziü)'no 
won-naka-datsi-fo  i-i  \  fsitsi-ga  3^  (jah^yse-si  tsuma-sadanie-wo  \ 
■?•  (ko)'to  Site  inamu  miisi-ja  aru.  Kono  uje-wa  fai-ziü-no 
mhsi-wake  \  seppuku-sen-jori-foka  nasi-to  \  •Ä  ^  (fun-zen)-to 
nie  no-tamaje-ba  ten-zen-wa  kore-wo  isame-tate-matsuH  \  ^  (sin) 
Ä  (zanj-zm-u  mune-mo  toje-ba  sihcm  ^  (sinj-ni  makase-tamaje- 
to  I  jb'jb-ni  nadame-tate-matsuri  \  tadatsi-ni  Tnoto-faru-ga  ^  -^ 
(zi-dztoj-ra-wo  maneki  \  fisoka-ni  moto-faru-ga  jom-wo  sagui^-ni 
kano  (hsen-ga  koto-wo  usu-usii-to  kiki-fe  \  sa-koso  arame-to  utsi- 
unadzuki. 

Tojo-kata  zeigte  sich  verletzt  und  rief  unwillig:  Eine 
Bestimmung  der  Gattin,  wobei  der  Siö-gun  sagte,  dass  er  der 
Vermittler  sein  werde,  der  Vater  das  Versprechen  gab,  ist  es 
Recht,  dass  der  Sohn  auf  sie  nicht  eingeht?  Ueberdiess  bat 
man  keinen  Ausweg,  als  dass  der  Siö-gun  sein  Wort  zu  nichte 
macht.  —  Der  Vorsteher  der  Speisen  rieth  davon .  ab  und 
sagte:  Ich  frage  noch  um  die  Absicht,  die  man  hat.  Uebcj?- 
lasset  es  für  den  Augenblick  mir  I  —  Hiermit  beruhigte  er  ihn 
endlich.  Er  berief  geradezu  die  Aufwärterinnen  Moto-faru's 
zu  sich  und  forschte  sie  insgeheim  über  das  Verhalten  Moto- 
faru's  aus.  Er  hörte  etwas  von  jener  O-sen  und  nickte  mit 
dem  Kopfe,  indem  er  sagte :  So  wird  es  sein. 

Ono-ga  ja-siki-ni  kajeri-tsutsu  \  fisoka-ni  sato-mi  i-suke-wo 
maneki-jose  \  kono  kudcn^i-wo  tsubara-ni  toki-te  \  kari-some-naranu 
aai-kaga-ke-no  on-naka-datsi  \  ima-sara  inami-taU-maUuran-wa  \ 
o-ije-no  ^  *^  (fu-tsin)    kono    toki-to   \   aama-zama   kokoro-wo 


284  Pfixmftier. 

itamuru-ni  \  ani  fakaran-ja  fisoka-ni  kike-ha  -^Q  ^  (r«d-miwj- 
no  fvonna-ni  ^^  (tsii)-zi'tamai'te  \  sono  naka-datsi-wa  nandzi 
naru  josi  \  n-jatsn  fn-todoki-no  si-waza  kana-to  \  fito-tahi  kokoro- 
ni  ikari-omoje-do  \  mnta  sirizoi-fe  kangajuru-ni  tosi-waka  nare-do 
jj^  A  (ziün-fsiü)'no  nandzi  \  fiJcaki  omon-fakari-no  artk^hen- 
to  I  omö-ga  ju-e-ni  tadzumiru  nari.  Ika-ni-se-ha  ^  BJ  (sb-zi)- 
no  uke-fiki^tainai  \  n-ijp.  nn-do-no  jorokohi-wo  nasan. 

Zw  seinem  Wohnhause  zurückkehrend,  berief  er  heimlich 
♦Sato-mi  I-suke  zu  sich  und  sagte  zu  ihm :  Wenn  ich  mir  diese 
Sache  umständlich  erkläre,  ist  die  Vermittlung  des  Hauses  Asi- 
kaga  nichts  Geringes.  Indem  man  es  jetzt  wieder  ausschlagen 
will,  fiillt  Schwimmen  und  Untersinken  des  eigenen  Hauses  in 
diese  Zeit,  und  dieses  schmerzt  mich  vielfach  im  Herzen.  Wie 
sollte  ich  Kath  schaffen?  Insgeheim  verlautet,  dass  er  mit  einem 
Weibe  des  Volkes  der  Statthalterschaft  verkehrt  und  dass  du 
der  Vermittler  bist.  Denkend:  Von  diesem  Menschen  welch' 
ein  ungebührliches  Beginnen!  war  ich  einmal  im  Herzen  er- 
zürnt, doch  ich  ging  wieder  zurück  und  untersuchte  es.  Weil 
ich  glaube,  dass  du  ungeachtet  deiner  Jugend,  bei  deiner  reinen 
Redlichkeit,  tiefe  Ueberlegung  haben  wirst,  frage  ich  dich  aus. 
Wie  wird  man  es  anstellen,  dass  der  Sohn  einwilligt  und  das 
Haus  sich  der  Ruhe  erfreut? 

Lsuke-wa  kono  toki  fitai-joH  taki-nasu  ase-wo  wosi-nugui 
ari-gataki  sikken-no  bse  \  naka-naka  kono  mi-no  woki-tokoro  nasu 
Soregasi  moto-jori  A  ^  (fi-zenj-no  mono-wo  \  nami-narcmu 
"^  tJ*  (tai'8iil)-no  meg^imi-wo  motte  \  wo-ije-ni  -fe  (koj-si 
amassaje  \  waka-tono-no  ^  ^  (siü-goj-ni  '^  (meij-gi- 
tamaje-ba  \  ^  ^  (bi-tsiu)  kokoni  tsukuaazun-ba  \  itsu-ka 
j^  J@l  (kun'0n)'W0  ^  (/dj-su-beki-to  \  ^  jjjf^  (zi-motm) 
IS  ilfe  (ten'faij'ino  kokoro-wo  fanatazan-si-ka-domo  \  kcJcaru 
itadzura-no  ide-kitari-si  \  sono  fazime-wa  sika-sika  nari  sono 
notsi'wa  kaku-kaku-to, 

I-suke,  um  diese  Zeit  von  der  Stime  den  einem  Wasser- 
falle ähnlichen  Schweiss  abwischend,  sagte:  Der  schätzbare 
Befehl  des  Inhabers  der  Macht  hat  in  der  That  bei  mir  keinen 
Ort,  wo  man  ihn  anbringt.  Mir,  dem  ursprünglich  niedrigen 
Menschen,  der  ich  durch  die  ungewöhnliche  Gnade  des  Statthalters 
in  dem  Hause  aufwarte,  hat  man  überdiess  den  Befehl  zur  Be- 


Dm  Haut  eines  Stattlialters  von  Fari-ma.  285 

wachung  des  jungen  Gebieters  gegeben.  Wenn  ich  die  geringe 
Redlichkeit  hier  nicht  erschöpfte,  so  hätte  ich,  um  eines  Tages 
die  Gnade  des  Gebieters  vergelten  zu  können,  auch  bei  Umsturz 
und  Verwirrung  der  Dinge  im  Herzen  nicht  abgelassen,  doch 
es  ereignete  sich  eine  solche  Ungehörigkeit.  Der  Anfang  war 
u.  s.  f.    Später  war  es  so  u.  s.  f. 

Jodo-gawa-mte  o-sen-ga  j^  ^  (ki-kiHJ-wo  \  tasuke-si  kudari 
tsubara-ni  mono-gatari  |  sove-jori  kono  kata  waka-tono-no  6b  ^ 
(nai-mei)  \  |^  (zij-sure-domo  jui^si-tamawazu,  Tabi-tabi-^o  wo- 
Uvkai  tsukamatsun'si'Wa  \  köre  mattaku  soregaai-ga  oi^-do-ni 
Site  I  ^  (tsinj'zuru-ni  kotoba  nasi.  Sari-nagara  kore-ga  ju-e-ni 
jori  I  mosi'Tno  sawari-no  koto  aran-ni-wa  \  to-site  kaku  aen-no 
kokoro-gamaje  \  arakazime  ^  ;|^  (dan-kon)-no  fakari-goto-wa  | 
ojobazu-nagara  kaku  - go  -  seri,  Sikken  negatoaku-tva  tsumi-wo 
jurusi  I  soregasMii  kore-ioo  jazast-tama-wa-ba  \  Ö  ^j^  (st-zeii) 
tDoka-tona-no  jj^  ^jj^  (kon-tn)-ico  \  uke-fiki-t^mb-ni  itaru-beai. 

Er  erzählte  ausführlich  wie  man  O-sen  aus  der  Gefahr 
auf  dem  Flusse  Jodo-gawa  rettete,  wie  er  sich  seitdem  bei  den 
inneren  Befehlen  des  jungon  Gebieters  geweigeii;,  doch  dass  dieser 
ihn  nicht  enthoben.  Er  sagte :  Dass  ich  oftmals  die  Aufträge 
ausrichtete,  dieses  ist  einzig  mein  Fehler,  und  ich  habe  keine 
Worte,  es  zu  läugnen.  Indessen  wird  unter  diesen  Umständen 
vielleicht  ein  Hinderniss  sein.  Ich  bin  jedenfalls  darauf  gefasst 
und  habe  vorläufig,  sind  sie  auch  ungenügend,  Verfügungen  zum 
Abschneiden  der  Wurzel  getroffen.  Ich  bitte,  dass  der  Inhaber 
der  Macht  mir  meine  Schuld  verzeihe.  Wenn  ihr  mir  dieses 
anvertrauet,  wird  es  dahin  kommen,  dass  der  junge  Gebieter 
von  selbst  in  die  Vermälung  willigt. 

Ten-zen  nikko-to  utsi-fowo-jemi  \  nandzi  sa-aran-ta  omo-ga 
ju-e  I  fisoka-ni  tadzune  kokoro-mu^'U-ni  |  fatasi-te  kokoro-ni  4^  -^ 
(fu-gcj-seri.  Sikare-donw  nawo  J^  ^  (en-rioj-nasi  \  ^  ^ 
(bH'i)-no  fakarai  koso  fff'  SE  (kan-jö)  nare. 

Der  Vorgesetzte  der  Speisen  lächelte  und  sagte:  Weil 
du  glaubst,  dass  es  so  sein  werde,  forsche  ich  im  Stillen  nach 
und  prüfe  es.  Es  stimmt  in  der  That  mit  meinen  Gedanken 
überein.  Indessen  überlege  man  noch  immer,  und  es  wird 
ein  unveränderlicher  Plan  nothwendig  sein. 


Pfliaai«r. 


I'Suke-wa  i-i-to  ^  1^  (ton-nnj-vasi  \  jagate  fe-ja-ni  tatsi- 
hajeri  \  moro-te-wo  komanuki  JQ^  Ä  (si-iioj-wo  meguragi  '  naga- 
jaka-noJt&m  iki-wo  tsugi  \  wäre  ajaTiiatei^-ajamaUrL  Futa-ba-no 
toki-ni  karazun-ba  \  wono-wo  mottnjuru-no  urei  aH-to  \  aude-ni 
futa-ba-no  toki-wa  sugure-do  \  mata  wono-wo  motsijuru-no  ^ 
(goj-ni-mo  ojobazi  \  a-a  omoje-ba  ^  ^  (fu'bin)-no  ari-sama 
nare-do  \  j^  ^  (kun-kaj-no  ^  ^  (dai-zi)-nt'Wa  kaje-gaiasi. 
Sika-nari-aika-vari-to  toare-ni  toi  ware-ni  kotaje-si  i-suke-ga 
H^  dl  (keo-taiü)  \  ika-iiaru  ai-an-ka  fakari-gatasu 

I-suk6  sagte  Ja,  neigte  das  Haupt  und  kehrte  sogleich  in 
sein  Gemach  zurück.  Beide  Hände  zusammenschliessend;  liess 
er  die  Gedanken  umherschweifen;  seufzte  lange  Zeit  und  sagte : 
Ich  habe  gefehlt!  ich  habe  gefehlt!  Wenn  man  es  um  die 
Zeit  der  zwei  Blätter  nicht  abmäht^  hat  man  den  Kummer  der 
Anwendung  der  Axt.  Obgleich  die  Zeit  der  zwei  Blätter 
vorüber  ist,  hat  man  auch  die  Zeit  zur  Anwendung  der  Axt 
nicht  erreicht.  Ach,  nach  meiner  Meinung  sind  es  zwar  un- 
gelegene Umstände,  doch  in  der  grossen  Sache  des  Hauses 
des  Gebieters  lässt  es  sich  unmöglich  ändern.  So  ist  es!  So 
ist  es!  —  Dabei  fragte  er  sich  selbst  und  gab  selbst  sich  die 
Antwort.  Von  welcher  Art  die  Ueberlegung  in  der  Brust 
I-suke's  war,  liess  sich  nicht  ermessen. 

Koko'ui  ^  g  (th'koku)-no  ^  ^  (riü-reij-nite  \  tosi-goto 
fu'dzuki  ziü-roku-nitsi-no  ^  (jo)'Wa     i^  "fl  (ze6'ka)'ni  ^  ^ 
(ki'sen)-no  J|  ^  (nan-nioj-ico  tsvdoje  \    — •  ^  (itd-ja)  odori- 
wo  jurusase-tamb.     So-mo-bo-mo    odovi-no  fazimari-to    ippa 
3^  ^  (8iaku-son)-no  ^  ffy  ^  (mi-de-si)  g  ^  !$  # 
(moku-ren-8on'zia)'ga  fawa  \  ^  ^  (zb-aku)  ^  ]^  ^  (/w-zi- 
fi^no  kotO'ka  ari-ken  |  Jff  ^  (s^-go)  tadatai-ni  dzi-gokti-ni  ^ 
(das)  »t  I  0  ^  (nitsi-ja)  Iffif  ^  (ka-siaku)'no  kurusi-ni  b-wo 
siaku-ton  ^  Jg^  (sen-ri)  ^   ^  (sib-ranyno   manorzin   mote 
8ono  ^  ^  ßu-genj'wo  ^  ^  (sattsij-si-taniai  \   sunatvatsi 
moku-ren-ni  tsuge-iamb. 

In  diesem  Reiche  war  es  Sitte,  dass  man  alljährlich  in 
der  Nacht  des  sechzehnten  Tages  des  siebenten  Monats  unter 
der  Feste  Männer  und  Weiber,  Vornehme  und  Geringe,  ver- 
sammelte   und    ihnen    die    ganze    Nacht    hindurch   zu    tanzen 


Du  Emiob  ein«!  Stotthalton  von  Fari-na.  287 

erlaubte.  Der  Ursprung  des  Tanzes  ist  der  folgende.  Die 
Mutter  des  geehrten  Moku-ren,  eines  Schülers  Scbaka-Buddha's, 
stürzte,  da  verübtes  Böses  und  unbarmherzige  Handlungen  be- 
stehen mochten;  nach  ihrem  Tode  geradezu  in  die  Hölle  und 
erlitt  Tag  und  Nacht  die  Qualen  der  Züchtigung.  Schaka- 
Buddha  entdeckte  durch  seine  tausend  Ri  erleuchtend  über- 
blickenden Augenwinkel  dieses  Leiden  und  meldete  es  Moku-ren. 

Moku-ren  ika-de  jo-so-ni  kiku-beku  \  ^  j^  (koku-kiHJ-site 
kore-wo  tukuwan  koto-wo  k8.  Siaku-aon  moku-ren-ni  ioodjuru- 
m  I  fu'dzvki  towo-ka-jori  "^j^  d^  J^  (se-ga-kij-too  naaasimu.  Kot'e 
äl  fiS  ^L  ftt-t-a-fconj-no  fazime  nari.  Mokit-ren-ga  fawa  ojobi 
H^  (9io)-no  1(2  ^  (mo'zia)  \  sono  ^  fy  (gongeöjno  ^  ^ 
(ku-riki)'nijotte  dzi-goku-no  kurusi-mi  tofiii-ni  ffffi  (gej-si  fazimete 
Jt  rfi  (zib'bon)  J^  ^  (zib-se6)-iOO  je-tan-si-ka-ba  \  te-no  mal 
aBi-no  fumi-do-wo  tcasure  \  tana-gokoiv-too  age  kibüu-wo  sora-ni 
$i  I  jorokobi-isami  |^  j^  (ju-jakuJ'Se'Si'jwH  \  odori-to  iü  koto 
fazimari'tarL 

Wie  hätte  es  Moku-ren  anderswo  hören  können?  Er 
wehklagte,  weinte  und  bat,  dass  man  sie  rette.  Schaka-Buddha 
gab  Moku-ren  einen  Ratli  und  hiess  ihn  von  dem  zehnten  Tage 
des  siebenten  Monates  angefangen  die  Betheilung  der  hunge- 
rigen Dämonen  vornehmen.  Dieses  ist  der  Anfang  des  Todten- 
opfers.  Die  Mutter  Moku-ren's  und  alle  Todten  wurden  durch 
die  Kraft  dieser  angestrengten  Handlung  von  den  Qualen 
der  Hölle  schnell  befreit  und  erlangten  jetzt  erst  die  höhere 
Cigenschaft;  das  höhere  Leben.  Bei  dem  Drehen  der  Hände 
den  Ort  des  Auftretens  der  Füsse  vergessend,  erhob  man  die 
Handflächen,  warf  die  Fersen  in  die  Luft  und  hüpfte  freudig 
und  kühn.     Hiervon  hat  dieser  Tanz  seinen  Ursprung. 

Sare-ba  Ä  B  (tb-gokuj-no  ^  ^  ()ian-nio)'Wa  \  tosi-tosi 
jubi'Wo  wori  fi-wo  kazoja  \  sono  to/ci  tsikaku  naru  majna-ni 
kanete  ju-kata-no  mo-jb-konomi  \  aini-toa  obi-no  ori-nui  viade  , 
ofnai-omoi-ni  takumi-wo  naai  \  aono  fi  wososi-to  matsu  koto  naru- 
ni  I  sai-zi-ro  moUhfaru-toa  \  ko-tabi  fakaranu  tsuma-sadame'WO  \ 
ten-zen-wo  mote  inami'Si'ka'do  \  nawo  ika-ga  aran-to  ^  i(^  (ku- 
8in)'9ure-domo  \  sono  notsi  tajete  oto-dzure  na-kere-ba  \  sukosi 
koküro-wo  jasun-zi-tsutsu  |  sore-ni  tsuki-te-mo  kano  o-sen-ni  \ 
jK  '^  (sai-kuatj-naki-wo  urami-si-ga  \  kitto  ^  ^f*  (tkkeij-wo 


288  Pfiimaier. 

an-suide  \  sib-soko  koma^goma-fo  sitatamete  \  ßsoka-ni  i-suke-wo 
maneki-jose  \  nandzi  ^  ^  (taru-i)-ni  jvki-mvkai  \  Ä  J^  (sei- 
get^-ni  sika-sika  i-i-te  ßma  ara-ha  \  kono  fumi-wo  o-sen-m 
watase-to  '^  (mei)-zuru'ni  \  i-suke  kokoro-joku  ukegai-te  \  mi- 
kokoro  Jasu'kare  siü-bi  nasan-to  \  sono  mama  taru-i-ni  omobuki-tari. 

Die  Männer  und  Weiber  dieses  Reiches  brachen  Jahr 
und  Jahr  die  Finger,  zählten  die  Tage.  Wenn  die  Zeit  nahe 
war,  verfertigten  sie  früher  nach  ihren  Gedanken  das  Be- 
liebte der  Blumenmuster  der  Badekleider,  bisweilen  selbst  das 
Gewebe  und  die  Naht  der  Gürtel  und  konnten  diesen  Tag 
nicht  erwarten.  Sai-zi-rö  Moto-faru  hatte  dieses  Mal  die  ihm 
bestimmte  Gattin  vermittelst  des  Vorgesetzten  der  Speisen  aus- 
geschlagen, doch  er  quälte  sich  noch  immer  im  Herzen,  wie 
dieses  ausfallen  w^erde.  Als  später  durchaus  nichts  verlautete, 
wurde  er  im  Herzen  ein  wenig  ruhiger,  und  es  verdross  ihn 
demgemäss  auch,  dass  er  mit  0-sen  keine  Zusammenkunft 
mehr  hatte.  Sorgfältig  einen  Plan  aussinnend,  schrieb  er  in 
kleiner  Schrift  einen  Brief,  winkte  heimlich  I-suke  zu  sich 
und  gab  ihm  Befehle,  indem  er  sagte :  Gehe  in  das  Haus  Taru-I, 
sprich  zu  Sei-getsu  so  und  so,  und  wenn  eine  Gelegenheit  ist, 
so  übergib  0-sen  diesen  Brief.  —  I-suke  stimmte  freudig  zu  und 
sagte :  Seid  im  Herzen  ruhig !  Ich  werde  die  Sache  zu  Stande 
bringen.  —  Hiermit  ging  er  wie  früher  zu  dem  Hause  Taru-I. 

Koko-ni  jjj  ||^  (jama-zciki)-no  ^  ^  (reo-naij-ni  \  ^  ^ 
(iai^'i)  ^  "j^  ^  p^  (kiiUe-monJ-to  ijeru  ari,  Mot<hjori  jflh  ^ 
(jo-jo)sumeru  tami  narane-do  ^  (deii)-fata  soko-baku-wo  motat- 
taru-kara  \  tje  ito  jutaka-ni  wotoko-woniina  amata  tsukai-ie 
jorodzu  kotO'tarai'taru  aumi-nasi  nari.  Ai*uzi  ktü-e-mon-wa 
fajaku'jori  \  fotoke-gokoro-ja  fuka-karv-ken  \  moro-kuni-guni-no 
kamifotoke\  j|p[  ^  (ziijin-fat)'sen  tarne  sugi-tsurfi  tost  \  ije-wo 
^^  (dzi)'8ite  kajeri-kozu. 

Hier  in  der  Statthalterschaft  von  Jama-zaki  lebte  ein 
Mann  Namens  Taru-I  Kiü-e-mon.  Derselbe  war  eigentlich  kein 
Mann  des  die  Goschlechtsalter  hindurch  ansässigen  Volkes, 
doch  da  er  zahlreiche  Felder  bcsass,  war  sein  Haus  sehr  an- 
sehnlich. £r  nahm  viele  Knechte  und  Mägde  in  seinen  Dienst 
und  lebte  in  jeder  Hinsicht  an  seinem  Wohnsitze  zufrieden. 
Dieser  Besitzer  Eiü-e-mon,  dessen  Sinn  für  Buddha  frühzeitig 


Dm  Hftai  einea  Stottbftltert  Ton  Fari-ma.  289 

innig  gewesen  sein  mochte,  hatte,  um  die  göttlichen  Buddha- 
Altare  sämmtlicher  Reiche  zu  verehren;  in  vergangenen  Jahren 
von  dem  Hause  sich  verabschiedet  und  war  nicht  zurück- 
gekommen. 

Eu-su-moru  tsuma-^o  ^  ^  (sei-getsu)  tote  \  kore-^mo  mi- 
dori-no  kuro-gami-wo  \  sogi  ama-to  si-mo  mi-wo  kajete  {fitori-no 
medzu'ko  Jjj^  ^^  (o-aenj-to  tomo  wotto-ga  ru-su-wo  mamori-si- 
ga  I  8ugi-tsuru  jajoi-no  sure-tsu  kata  \  ^  ^  ^  (kin-kaku-zi) 
mbde-no  kajeru-sa-ni  \  fakarazu-mo  ^  ^  (bu-rai)-no  Ä  (fo)- 
m  ide-ai  \  sude-ni  o-sen-wo  t^nb-be-ka^n-ai-wo  \  ^^  i  (reo- 
8iil)-no  sb-zi  i  :ÄJ  (stü'ziilj'ni  mkuware  \  amassaje  sei-gefsu- 
f^  (ni)  I  i-8uke-ga  atsuki  nasake-wo  iikesi  \  sono  JH  1&  (on- 
geiJ'WO  toki-no  ma-mo  wasurede  \  fi-hi-ni  i-i-idenu  koto-mo  naku  \ 
tada  kari'8ome-no  ta-makura-ni-mo  \  ^^  i  (red-siüj-no  kata- 
wo  ato-ni  nasazari-n-ga. 

Die  in  dem  Hause  zurückgebliebene  Gattin  hiess  Sei- 
getsu.  Auch  diese  schor  das  grünschwarze  Haupthaar  und 
wurde  eine  Nonne.  So  verändert,  bewachte  sie  mit  der  einzigen 
geliebten  Tochter  0-sen  während  der  Abwesenheit  des  Mannes 
das  Haus.  In  der  letzten  Decade  des  verwichenen  dritten 
Monates  des  Jahres  auf  der  Rückkehr  von  dem  Besuche  des 
Klosters  des  goldenen  Söllers  begriffen,  begegnete  sie  unver- 
muthet  nichtswürdigen  Genossen  und  konnte  bereits  0-sen 
verloren  haben,  als  diese  von  dem  jungen  Sohne  des  leitenden 
Vorgesetzten,  von  Herr  und  Diener,  gerettet  wurde.  Ueber- 
diess  ward  die  Nonne  Sei-getsu  der  grossen  Güte  I-suke's 
theilhaftig.  Diese  Güte  in  den  Zwischenräumen  der  Zeit  nicht 
vergessend  und  Tag  für  Tag  es  nicht  unterlassend,  davon  zu 
sprechen,  setzte  sie  selbst  in  einem  leichten  Schlafe,  in  welchem 
sie  die  Hand  zum  Polster  machte,  die  Gegend  des  leitenden 
Vorgesetzten  nicht  zurück. 

Medzu-ko  ist  so  viel  als  medzuru  ko  ,geliebtes  Kind'. 

Tori'Waki  o-sen-wa  -^  dl  (sen-tdUynite  \  kano  moto-faru- 
ga  nagake-wo  jete  \  fukaJcu-mo  ^  jH^  (m-sej-ico  tsikai-si-joH  j 
fito  iirezu  asa-ni  koi  \  jü-be-ni  sitai  \  tama-tama-ni  i-suke-ga 
tgutajuru  fumi-wo  \  ai-miru  omoi-ni  omoi-wo  ijamasi  \  nani-to 
fiaku  kofio  gorO'Wa  \  mi-mo  Jose  katatsi-no  otoroje-si-ka-ba  \  sei- 
getsu-wa  odoroki-te  \  ^  ßjß  (i'si)'Wo  mukaje  ^  ^  (jaku-zt)- 

SiUuagthw.  d.  phil.-hiat.  Cl.  LXXXYII.  Bd.  L  Hft.  19 


290  Pfismaler. 

WO  fodokose-do  i  moto-jori  l|j|jl  ;|^  (sb-kon)  ^  ^  (hoku-fi)  mote  i 
iie-wo  tatsU'beM-no  jainai  narane-ba  \  sara-m  sofio  sirusi-wo 
jezari-si-ga. 

Insonderheit  0-sen,  welche  in  dem  Schiffe  die  Gute  jenes 
Faru-moto  erfahren,  seitdem  sie  feierlich  auf  die  zwei  Welten 
geschworen,  liebte  sie,  ohne  dass  die  Menschen  es  wussten,  am 
Morgen,  sehnte  sich  am  Abend.  Von  Zeit  zu  Zeit  in  die 
Briefe,  welche  I-suke  brachte,  blickend,  vermehrte  sie  bei  ihrem 
Sehnen  das  Sehnen.  Ohne  dass  etwas  vorgefallen,  magerte 
um  diese  Zeit  ihr  Leib  ab,  ihre  Gestalt  schwand.  Sei-getsu 
erschrack  und  holte  einen  Arzt,  man  wendete  Arzneimittel  an, 
doch  da  es  eigentlich  keine  Krankheit  war,  bei  der  man  durch 
Pflanzenwurzeln  und  Baumrinden  die  Wurzel  abschneiden  konnte, 
erzielte  man  durchaus  keine  Wirkung. 

Am  toki  ^  ^  (te-dai)  ^  ^  ^  (teo-ku-rb)  sei-getsu- 
ni-fii  mvkai  ijeru-wa  \  kono  goro  ^jj^  ^^  (go-re6)'7io  won-najami- 
wo  I  1^  ^j^  (i-si)'mo  f(^  ^  (sin-kij-no  musubore-to  ijeri,  Oe- 
ni  sa-mo  ari-nan.  Sono  ju-e-wa  \  kano  jodo-gawa-no  Ar  ^  (fci- 
ki4)-ni  kori  \  sore-jori  tajete  mono-mi-wo  osore  \  — •  -^  Oppo)- 
no  foka-ni  ide-tnmawazv,  Toki  sude-ni  ^&  ^  (zan-stoj-to  ije- 
do  I  kofo-waza-ni  ijerii^  B  (zib-go)-no  fitai-fo  j  ^^  "^  (bon- 
zenj-no  ntsiim  faje-gataki  icori-ni  \  •Ä  Ä  (sin-sb)'7n  nomi  tare- 
komete-wa  \  tatoi  ^  ^  (tassiahno  mono-tari-to-mo  \  ^  |^ 
(ki'UfsnJ-no  najami-no  ide-ku^he-kere. 

Zu  einer  Zeit  sprach  der  Stellvertreter  Teo-ku-r(^  zu  der 
Nonne  Sei-getsu:  ,Jüng3t  nannte  der  Arzt  das  Leiden  eurer 
Tochter  eine  Verdunkelung  der  Luft  des  Herzens.  In  Wahrheit 
wird  es  so  sein.  Die  Ursache  ist,  dass  sie  durch  die  Gefahren  des 
Flusses  Jodo-gawa  gewitzigt  wurde,  sertdem  durchaus  die  Späher 
fürchtet  und  keinen  Schritt  vor  das  Haus  geht.  Die  Zeit  ist  be- 
reits die  übriggebliebene  Hitze,  doch,  wie  das  Sprichwort  sagt, 
an  der  Stirne  des  Trichters,  um  die  Zeit  vor  dem  Todtenfeste, 
wo  die  Hitze  unerträglich  ist,  an  dem  verhängten  tiefen  Fenster 
sich  einschliessen,  gesetzt  ein  Gesunder  würde  dieses  thun,  es 
müsste  das  Leiden  der  Schwermuth  zum  Vorachein  kommen.' 

Siknzu  wori'Wori  jü-kage-nüica  \  no-be-ni  kawa-be-m  tcUsi- 
ide-masi  \  sxiznmi-tori-isutsu  fi-ni  nure-si-mo  \  fatsu-cM-no  tsuld- 
ni  kawakasi-tamawa-ha  1  mala   mi-kusitru-no  tasuke-to-mo  nari- 


Du  Hans  et  dm  Staithalton  too  Fari-m». 


293 


na«.    Kadzu  narane-domo  kono  teö-ku-rb  1  wontonn^asa-i^^"^       / 
de-ka-wa  \  jubi-mo  sasu-beki  mono  aran  \  nka-n-tamaje-to  ^'V^ 
gaUn-ni  \  to-iii   iden  koto-tco   susiimuru-wü    \    Jj^   j^P  (8oko-t)-7io 
fodo-toa  sirane-domo  \   A  (fsiUJ-to  fonhru  siro-nedzumi  \fige  kntsi 
iigokan  tsamure-ba. 

,Da8  Beste  ist,  sie  geht  von  Zeit  zu  Zeit  im  Abend- 
schatten auf  die  Felder,  an  die  Ufer  des  Flusses  hinaus.  Wenn 
sie,  frische  Luft  schöpfend,  in  der  Sonne  feucht  wird,  in  dem 
Monde  des  Herbstanfangs  die  Kleider  trocknet,  so  wird  dieses 
auch  eine  Beihilfe  für  ihre  Arzneien  sein.  Ich  zähle  zwar 
nicht  mit,  doch  wenn  dieser  Teö-ku-rö  sie  begleitet,  wie  sollte 
da  Jemand  sein,  auf  den  man  mit  dem  Finger  zeigen  kann? 
Thuet  so!'  —  Indem  er  so  mit  Gewalt  zum  Ausgehen  rieth, 
wusste  man  nicht,  welche  Hintergedanken  er  hatte,  doch  als 
weisse  Ratte,  welche  das  Wort  Redlichkeit  hersagt,  bewegte 
er  Bart  und  Mund  und  machte  Vorstellungen. 

Sei-get^-ni-wa  utsi-unadzuki  \  ao-ioa  joku-mo  kokoro-dzuki- 
si  sari-nagara  \  sono  jodo-gawa-no  ^  Ä  (fu'rio)'no  |||  ^l 
(mn-gi)  \  moto-faru-gimi-no  masi-masazu-wa  \  ika-naran  uki-me- 
ni-ka  b-heki-to  \  kaganaje-mire-ba  ito-mo  kasikosi,  Wa-nami-wa 
moto-jori  musume  made  \  kore-ni  fnkakit  mono-odzisite  \  to-ni 
iden  kotoba  josl-to  sezare-do  \  on-mi-ga  isame-mo  mata  kotowari 
nare-ba  \  wori-wo  mite  suaume-min-to  \  ßto-wo  sodafsuru  ^  ^j 
(rei'ri)'no  kotoba. 

Die  Nonne  Sei-getsu  nickte  mit  dem  Haupte  und  sagte: 
Hier  bist  du  gut  bedacht.  Doch  bei  der  unvermutheten  Gefahr 
des  Flusses  Jodo-gawa,  wenn  der  Gebieter  Moto-faru  nicht 
gewesen  wäre,  was  für  einen  Kummer  hätten  wir  erfahren ! 
Wenn  ich  dieses  betrachte,  habe  ich  grosse  Scheu.  Ich  bin 
eigentlich  in  Bezug  auf  meine  Tochter  dadurch  äusserst  ängstlich 
geworden.  Ich  halte  deine  Worte,  dass  sie  ausgehen  möge,  nicht 
für  gut,  doch  deine  Vorstellungen  haben  auch  ihre  Berechtigung. 
,Man  sieht  den  Zeitpunkt  und  wird  sehen,  wozu  man  räth.' 
Dieses  ist  ein  kluges  Wort  bei  der  Erziehung  der  Menschen. 
Teö-ku-^b-wa  si-taH-gawo  \  a-a  wäre  sono  toki-ni  i-aivase- 
nase-ba  |  bu-rai-no  jakara-ga  muna-moto-wo  \  kb  tori-te  kaku 
kadzuki  |  fidari-jori  kakaru-tvo  sa-soku-ni  ke-tbsi  \  migi-joii 
kakmni-wo  kb  nedzi'te  \  sono  mama  mnkb-je  dzu-den-do  \  mata- 
mo  kakaru-wo   kb    tori-te-to  \  ware-wo   wasurete   si-kata-banasi  \ 

19* 


^ 
y 


290  Pfli«»Ur. 

wo  foih?*'^^'^^  '^o-emi-nagara  \  kai-tatte  j^  J^  (nan'do)'ni 
'^"tnä"  I  kosi-mou  -ra  kata-mi-ni  me-tco  müawcue  \  ano-ga  viani- 
nu^ni  sono  ha-noo  sam-wo  \  sirade  teo-ku-rb  nawo  fokori-ka-id  \ 
kata-se  okan-ku  ajancut-te  \  kb  si-kakure-ba  kaku  farai  \  kaku 
tore-ba  kb  simete-to  \  ataka-mo  jj^  dl  (sui-tnüj-ico  ojogu  gotokn 
ude-wo  nohasi  mata-wa  Uidzime  \  anii-wa  furi-age  sa-u-wo  farai 
ka-bakari  najamasi  ^  ^S  (bu-rai)'tco  korasa-ba  \  t^ri-dziri 
batto  nige-nqn  mono-tco  \  sono  ^  (zaj-ni  tzarisi-wa  ito  ]^  x 
(zan-nen)  \  sa-toa  obosazu-ja. 

Teö-ku-rö  sagte  mit  wichtiger  Miene:  Ach  wenn  ich 
damals  anwesend  gewesen  wäre,  ich  hätte  die  nichtswürdigen 
Leute  bei  der  Brust  so  ergriffen,  so  zugedeckt.  Den  von  links 
Andringenden  hätte  ich  sofort  niedergetreten,  den  von  rechts 
Andringenden  so  gedreht,  den  unterdess  nach  der  entgegen- 
gesetzten Seite  kopfüber  Stürzenden  und  nochmals  Andringenden 
so  gepackt.  —  Während  er  so,  sich  vergessend,  unter  Geberden 
sprach,  erhob  sieb  die  Nonne  Sei-getsu  lächelnd  und  trat  in 
den  Verschlag.  Die  Mägde,  einander  anblickend,  gingen  eigen- 
mächtig von  dem  Orte  weg.  Teo-ku-rö,  der  dieses  nicht  wusste^ 
sagte  mit  noch  grösserem  Stolze  und  den  Leib  auf  seltsame 
Weise  krümmend:  Wenn  sie  so  angreifen,  treibe  ich  sie  so 
weg.  Wenn  sie  so  anpacken,  drücke  ich  sie  so  zusammen.  — 
Dabei  streckte  er,  gerade  als  ob  er  in  dem  Wasser  schwämme, 
die  Arme  und  zog  sie  auch  zusammen.  Zuweilen  warf  er 
sie  empor  und  fegte  nach  rechts  und  links.  Er  fuhr  fort: 
Wenn  ich  sie  so  sehr  quäle  und  die  Nichtswürdigen  züchtige, 
werden  sie  sich  zerstreuen  und  entlaufen!  Dass  sie  an  ihrena 
Sitze  nicht  geblieben  sind,  thut  mir  sehr  leid.  Meinet  ihr 
nicht  so? 

To  ose  nugui  \  ataH-wo  mire-ba  fito-wa  naku  \  tso-ku-rö-wa 
ware-nagara  |  amari-no  koio-ni  akire-tsutsu  \  a-a  3^  ]^  ($iaku' 
8on)-mo  no-tamai-8i  \  wonna-ni-wa  toku-be-karazu  j^  QenJ-naki 
^  ^  (siü'zibj'wa  |§[  (doj-si-gatasi-to  \  fitori  tsubajaJci  taian- 
to  se-si-ni  \  saki-jori  koko-ni  ki-kakari-taru  \  sato-^mi  i-suke-ica 
ted'ku-rh-ga  \  ai-te-mo  aranu-ni  ajasi-ki  furumai  \  fotondo  /(^  ^ 
(sin-rij-ni  ibukasi-mi  \  masa-ni  köre  kitsune-tsuki  narazu-tca 
osoraku  ijj  ^  (ked'ki)'ni  nari-taru-ka-to  \  ^  ^  (u-kitatsu)- 
ni-mo  jobi-kakezu  \  sibasi  mi-awase-i'tari-si'ga. 


Das  Hans  eines  Statthalters  tod  Fari-ma.  293 

Als  er,  den  Schweiss  trocknend,  hinblickte,  war  Niemand 
da.  Teö-ku-rö,  seinerseits  überaus  erstaunt,  flüsterte  für  sich: 
Ach,  auch  Schaka-Buddha  hat  es  gesagt.  *  Weibern  kann  man 
die  Schriften  nicht  erklären.  Beziehungslose  Geborene  kann 
man  unmöglich  retten.  —  Hiermit  wollte  er  sich  erheben. 
Sato-mi  I-suke,  der  schon  früher  hier  angekommen  war,  über 
das  sonderbare  Benehmen  Te6-ku-r6's,  indem  dieser  keinen 
Gegner  hatte,  innerlich  äusserst  verwundert,  dachte  sich :  Wenn 
Dieser  eben  nicht  von  einem  Fuchse  besessen  ist,  so  glaube 
ich  wohl,  er  ist  wahnsinnig  geworden.  —  Ohne  ihn  in  der 
Entfernung  anzurufen,  heftete  er  eine  Zeitlang  auf  ihn  die 
Blicke. 

Kono  toki  ko-e-kake  no  ijä^  ^  (ban-tdydono  |  te6-ku-rb- 
doiw-to  i(i  ko-e-ni  \  mi-hunii-nasi-te  bikkuri-si  |  furi-kajeri  mite 
ko-wa  i'8uke-dano.  Wa-nusi-mo  fito-no  utd-ni  ira-ha  \  nado  an- 
nai'Wa  nasazaru-ja.  Ito-mo  name-ge-naru  onoko  kana-to  tdasi- 
nukare-si  fara-tatsi-no  \  atari-nianako-no  ^  Ä  (tsuki-go-e)  \ 
i-svke-ga  ki-gi-to  kiku-jori-mo  \  musubu-no  kami-no  omoi-wo  tum  \ 
o-sen-wa  isogi  tatsi-ide-si-ga. 

Bei  dem  jetzt  ertönenden  Rufe :  He,  Herr  Dienstältester ! 
Herr  Te6-ku-r6!  fuhr  dieser  erschrocken  zusammen.  Schnell 
hinblickend,  sagte  er:  Es  ist  Herr  I-suke.  Wenn  ihr  in  das 
Haus  eines  Menschen  tretet,  warum  lasset  ihr  euch  nicht  an- 
melden? Ein  sehr  unartiger  Mann!  —  Er  sagte  ihm  dieses 
unter  die  Augen  mit  einer  plötzlich  herausgestossenen  zornigen 
Stimme.  Sobald  0-sen  hörte,  dass  I-suke  gekommen,  machte 
sie  sich  die  Gedanken  des  knüpfenden  Gottes  und  trat  eilig 
hervor. 

Aja-mku  teo-ku-rh-ga  kuma-taka-me  \  ko-wa  joku  koto  ki- 
tamat-tsiiJ-e-to  \  i-i-si  fakan-ni  me-mote  sirase-ba  |  i-suke  kokoro- 
je  "^  fÜ  (kuai-tsiu)  osije  |  sa-aranu  sama-ni  kono  goro-no 
atauaa  \  itadzuki  ika-ga  owasu-ran,  Sarade-mo  sinogi-gataki  mono- 
wo  I  sazo-kasi  Q  (kdyzi'tamh-ran'to  \  i-i-tsutsu  kosi-wo  utai- 
kakete  \  bgi-no  kaze-ni  ase-wo  fosu. 

Zum  Unglück  das  Höhenfalkenauge  Teö-ku-rö's!  Ihr 
seid  zum  Glück  hergekommen !  —  Dieses  sagend,  gab  sie  ihm 
einen  Wink  mit  den  Augen.  I-suke,  es  verstehend,  drückte 
den  Brusttheil  des  Kleides  nieder  und  sagte  verstellter  Weise : 
Wie  wird   es   bei   der   gegenwärtigen  Hitze   mit  euren  Leiden 


294  Pfismai«r. 

stehen  ?  Ohnehin  ist  es  schwer  zu  ertragen.  Ihr  dürftet  somit 
angegriffen  sein.  —  Dabei  setzte  er  sich  und  trocknete  in  dem 
Winde  des  Fächers  den  Schweiss. 

Osije  steht  für  osajey  niederdrücken. 

O-sen-mo  motsi-si  kurenai-no  \  utsi-wa-mote  i-suke-ga  sohira- 
wo  bgi  I  utsi-ni  wiru  dani  atsuki  mono-wo  \  to-no  juki-kai-wa  omoi- 
jaru-to  I  fito-kata-naranu  asiraini  \  teo-ku-rb-tva  j^  H  (fo-kai) 
fe  ^  frin-Ai)  I  nb  i-suke-nusi  \  wa-nusi  nado-wa  sikasu-ga-ni 
Z^  ^  :^  (ni-gb-fanj-de-mo  :tt  ^j^  ^  (fu-tsi-nin)  nare-ha 
aara-ni  siru-masi  ^  jS  (nO'8eo)'Wa  inu-no  te  nura-mo  fito-no 
te-ni  I  kajen-to  iü  fodo  isogcLai-ki  \  kono  ^^  (bon)-maje-ni  furari- 
darari  [  naga-banasi-te  kokoro-tiaki  \  mono-to  ^  ^  (siü-zinj-m 
sodrare-tamb-na.  Sikazu  kokoro-wo  5pJ  (kika)  aan-ni-iva-to  \  sono 
kajeran-to  isogasvrwa  \  o-seti-ga  oto-dzure-wo  fedaten-tame-ka. 

Auch  0-sen  fächelte  mit  dem  scharlachrothen  Rund- 
fächer, den  sie  in  der  Hand  hielt,  den  Rücken  I-suke's  und 
sagte:  Selbst  zu  Hause  ist  es  heiss.  Wie  es  draussen  beim 
Umhergehen  ist,  lässt  sich  denken.  —  Bei  der  nicht  einseitigeo 
Unterhaltung  sagte  Teo-ku-rö  voll  Eifersucht  in  Bezug  auf 
die  Gränze  der  Vorschrift:  Höret,  Herr  I-suke!  Da  ihr  ein  iu 
einem  Maasse  von  dritthalb  Löffeln  betheilter  Angestellter  seid, 
so  werdet  ihr  es  genau  wissen.  Vor  diesem  Todtenfeste,  mit 
welchem  es  eine  solche  Eile  hat,  dasSj  wie  die  Ackersleute 
und  Kauf  leute  sagen,  man  selbst  Hundepfoten  gegen  Menschen- 
hände vertauschen  würde,  lasset  euch  nicht  von  den  Menschen 
schelten,  dass  ihr  auf's  Gerathewohl  lange  Gespräche  führet 
und  ein  sinnloser  Mensch  seid.  Wenn  man  mit  den  Worten, 
dass  es  das  Beste  ist,  die  Sinne  zu  schärfen  und  dabei  heimzu- 
kehren, euch  eilen  heisst,  geschieht  dieses,  damit  ihr  euch 
zwischen  die  Nachricliten  von  O-sen  stellet? 

Sei-getsu-ni-wa  teo-ku-rb-ga  \  name'-ge-no  kotoba-wo  kiki- 
kanete  \  sarasi-no  no-reii  osi-age-tsutsu  \  ko-wa  usuke-gimi-ka 
joku'Zo  ki-mase-si  \  so-ko-wa  kaze-mo  tori-gatasu  Konata-jt  ki- 
mase»  '^  jH^  (Sen-zaiJ-joH  \  fuki'ini  kaze-no  suzusi-sa-wa 
noki-horno  suzu-no  ne-ni-mo  sirusL  Iza-iza-to  i-i-nagara  \  wäre- 
kara  sakt-ni  ^  (za)'WO  sadame  \  fito-wo  matted  ari-sama-ni 
0'Sen-W(i  kokoro'uresi-kn-te  \  fatva-no  kaku-made  no-tamb-wo  , 
warawa-ga    a-nai-to    i-suke-ga   soha-ni  \   tatsi-joru  fvri-no  sodt- 


Om  Hans  einet  Statthftlters  too  Fari-mft.  295 

gaki-ni  \  ted^ku-rb-ga  me-wo  fedatsure-ba  \  i-suke  te-haja-ni 
motO'faru-ga  \  fumi-wo  watcm-te  sa-aranu  sama  \  ika-aama  ban- 
t^ga  iwaf'Uini  gotoku  \  mono-iaogawusi-ki  wori-kara  nare-ba  \ 
kimi-^o  P   J^  (kö'zib)  nobe-tara-ba  \  toku  kajeri-nan  no  teo-ku. 

Die  Nonne  Sei-getsu^  nicht  im  Stande,  die  unartigen 
Worte  Teü-ku-r6*8  anzuhören,  rief,  indem  sie  den  Thürvorhang 
von  gebleichtem  Tuche  erhob:  Ist  es  Herr  I-suke?  Ihr  seid 
willkommen.  Dort  kann  die  Luft  unmöglich  durchdringen. 
Kommet  hierher!  Dass  von  dem  Vorgarten  die  kühle  I^uft 
hereinweht,  erkennt  man  auch  an  dem  Tone  der  Glöckchen  des 
Vordaches.  Wohlan  denn!  —  Dabei  bestimmte  sie  weiter  voran 
als  für  sich  selbst  den  Sitz  und  bonahm  sich  wie  bei  der  Er- 
wartung eines  Gastes.  0-sen,  im  Herzen  erfreut,  sagte:  Die 
Mutter  spricht  es  insoweit  aus.  Ich  fiihre  euch.  —  Sich  an 
die  Seite  I-suke's  drängend,  schloss  sie  an  dem  Melonenzaune 
die  Blicke  Teo-ku-rö's  ab.  I-suke  übergab  ihr  flink  den  Brief 
Moto-faru*8,  und  als  ob  nichts  wäre,  sagte  er:  Jedenfalls,  wie 
der  Hauptbedienstete  sagt,  ist  es  gerade  die  Zeit,  wo  man  Eile 
hat.  Wenn  ich  den  mündlichen  Auftrag  des  Gebieters  ausge- 
richtet  habe,   werde   ich   schnell   zurückkehren.    Nun   Teo-ku! 

To  I  kaia-fo-ni  emi-te  oku-ni  iri  \  sei-getsu-ni-nl  i-rnukai-te  \ 
madzu  mi-tsukai-no  ovwviuki-wa  \  sono  notsi  tajete  |^  U  (tai- 
men)-naku  \  saiwai  fodo-nh  odori-ni  nari-nu.  Musume-wo  tsurete 
kitare-jo  \  kamaje-taru  ^&  Wb  (aaii-zikij-ni  an-nai-noitasen,  Kure- 
gure  fajaku  ki-mase-jo'to  \  nemogoro-ni  no-tambto. 

Mit  der  einen  Wange  lächelnd,  trat  er  in  das  Innere  und 
sagte  zu  der  Nonne  Sei-getsu:  Meine  Botschaft  besteht  vorerst 
in  Folgendem.  Der  Gebieter  sagte  freundlich:  Später  wird 
dui-chaus  keine  Zusammenkunft  sein,  doch  zum  Glück  wird 
nach  einiger  Zeit  der  Tanz  stattfinden.  Komm  mit  dem  Mädchen. 
Ich  werde  sie  auf  den  errichteten  Altan  führen  lassen.  Komm 
immer  wieder  schnell! 

Kiku'jari  sei-getsu  ija-kasikomi  \  mi-ni  amm*u  bse  o-o-ke- 
naku  oboje^faberu.  Ika-sama  itsu-tote-mo  nigiwasi-ki-ni  \  ko-tosi- 
wa  wdki'ki  toja-tosi  nare-ba  \  sa-koso  nigitoai  faberu-besi,  O-sen- 
mo  kono  goro  itadzvki-nagara  \  odori-wa  to-zo  ^  ijjfff  (ken-bus) 
si-tasi-to  I  kosi-moto  nado-to  ||^  ^k  (seo-gi)  nasL  Jukata-no 
mo-jb  to-ni  kaku-to  \  toku  ^  (ke6)-zome-jii  at»urajete  ■  jb-jb  kino 
ide^ki'si-wo  |  fajaku  ke-sa-jori  tatsi-nui-seri. 


296  Pfismaier. 

Sobald  sie  dieses  hörte,  spracl)  Sei-getsu  sehr  ehrerbietig: 
,Für  den  Befehl,  der  für  mich  zu  viel  ist,  bin  ich  dankbar. 
£s  geht  auf  irgend  welche  Weise  immer  lebhaft  zu.  Da  dieses 
Jahr  ein  ausgezeichnetes,  fruchtbares  Jahr  ist,  wird  eine  solche 
Lebhaftigkeit  stattfinden.  0-sen  ist  um  diese  Zeit  leidend,  doch 
wenn  man  sie  um  den  Tanz  fragt,  so  will  sie  ihn  sehen,  und 
bei  den  Mägden  ist  kein  Feilschen.  Sie  hat  das  Blumenmuster 
des  Sonnenkleides  jedenfalls  schnell  in  der  Färberei  der  Haupt- 
stadt bestellt,  und  da  es  endlich  gestern  herausgekommen  ist^ 
hat  sie  schon  seit  heute  Morgen  daran  genäht.^ 

Waki-ki,  welches  sonst  nirgends  vorkommt,  scheint  ein 
von  waku  ,theilen'  abgeleitetes  Adjectivum  zu  sein  und  die 
Bedeutung  ,be8onders'  zu  haben. 

Sugi'si  fi  aja-uki  koto-ni  odzi  \  aoto-ni-wa  katsu  ^  |§ 
(fU'to)  ide-mo  sezu  \  ide-si-mo  jarane-ba  ito  ^  ^  (da-tej-naru  i 
odori-jukata-wa  ^  (jo^nasi-to  \  omo  mono-kara  ^  |^  (ki-utsu)- 
to  jaran  \  SL  ^£  (u8sed)-to  jaran-ni  najamu  sama  |  miru  me 
koto-nb  jasu'karane-ba  \  kokoro-wo  |fe|*  (i)-suru  tarne  bakari  \ 
nad-no  mani-mani  makase-nure-do  \  koto-ni  ßto-datsi-no  odori-tio 
iMj   (ba)  I  ito-mo  ajabumi-fanberu. 

,Vor  der  Gefahr  der  vergangenen  Tage  zitternd,  geht  sie 
einstweilen  nicht  unversehens  aus,  und  wenn  sie  nicht  ausgeht, 
ist  das  sehr  aufgezierte  Tanzkleid  für  sie  von  keinem  Gebrauche. 
Weil  sie  dieses  denkt,  ist  es  nicht  ununterschieden  leicht  anzu- 
sehen, wie  sie  in  ihrer  Schwermuth,  in  ihrer  Anlage  zur  Schwer- 
muth  gequält  ist.  Ich  habe  es  zwar  ihrem  Belieben  überlassen, 
zu  thun,  was  zu  ihrer  Ausheiterung  dient,  doch  ist  besonders 
der  Schauplatz  des  Tanzes  einer  Menschenschaar  sehr  gefährlich,' 

To  I  ijervrni  i-siike  utsi-xvarai  \  sono  onwi-fakari-ioa  kotowari 
nare-do  I  so-wa  tokoro-ni-mo  joru-be-kere,  -^  ^  (Tai-sui)  "^  ^ 
(sb-zij-mo  mi-sonaivan  \  ^  ^  (fi-zih)  ^  ^  (kei-goj'no  ^  j^ 
(sio'si)  O'Oku  I  J^  mj^  (ba'Sio)'no  Hj  >^  (stü  tsu-jnkuj-nasem 
mono'kara  \  kart-some-no  arasoi-mo  arii-be-karazu,  Onore-mo  kanete 
80110  kazu  nare-ba  '  jo-so-nagara-mo  J^^  -^  (sokvrdzioj-too  ^dj^  ^£ 
(8iü'go)'8en  \  usiro-joau-ku  omoi-tamaje, 

I-suke  lachte  und  sagte:  Diese  Erwägung  ist  zwar  ver- 
nünftig, doch  man  soll  auf  den  Ort  Rücksicht  nehmen.  Da  der 
Statthalter  und   dessen  junger  Sohn  zusehen,    die  gegen  unge- 


Dm  Haas  eines  Stettbaltera  Ton  Fftri-na.  297 

wohnliche  Ereignisse  gerüsteten  Kriegsmänner  in  Menge  auf 
dem  Schauplatze  zum  Dienste  ausrücken,  so  kann  auch  nicht 
der  geringfügigste  Streit  vorkommen.  Da  auch  ich  früher  zu 
der  Zahl  gehöre,  so  werde  ich,  obgleich  ich  ihr  fern  stehe, 
eure  Tochter  bewachen.     Seid  in  eurem  Herzen  ruhig! 

Sei-getsU'Wa  ]BF  ^  (sb-zi)  i-suke-ga  \  ima-ni  fazimenu 
J?  Iw  (kh'zih)-wo  I  o-sen-ni  tsugen-to  maneku  ko-e-ni  \  fai-to 
irajete  ßhjb-ni  \  fito-me-wo  fukaku  sinobu  gusa  \  mitd-no  ku-gami- 
ni  moto-faru-ga  \  fumuno  j^  A,  (fen-ziywo  kaki-otoari-te  \ 
futokoro-ni  kakusi  maro-te-site  \  ima  nui-tate-taru  odori-jnkata- 
wo  I  iso^o-to  Site  motsi-ide-tsutsu  \  moto-farurgimi-no  hse^goto  \ 
more-kiki  ito-mo  ari-gatasi.  Sono  uje  i-suke-gimi-no  mcLsi-masa- 
ha  I  ito-do  kokoro-tcmka  nari.  Nani-to-zo  ko-tosi  odori-no  ^Ü^ 
Qo)  I  sibasi  itoma-wo  tdbi-tamaje,  I-suke-gimi  köre  mi-tamai 
tsi'toae-no  ;^  (matauj-ni  ^&  JÖ  (fudzi-vandyno  \  kaJcaru  mo- 
jh-wo  me-sirusi'to  site  \  nani-goto-ni-mare  negi-ma-irasu-to, 

Sei'getsu,  in  der  Absicht,  0-sen  das  nicht  jetzt  beginnende 
grosse  Wohlwollen  des  jungen  Sohnes  und  I-suke's  zu  verkünden, 
winkte  ihr.  Dieselbe,  mit  Ja  antwortend,  hatte  endlich,  vor  den 
Äugen  der  Menschen  tief  verborgen,  auf  Papier  des  Reiches  Mutsu 
die  Antwort  auf  den  Brief  Moto-faru's  zu  Ende  geschrieben 
und  versteckte  sie  in  dem  Busen.  Mit  beiden  Händen  das 
Tanzkleid,  welches  sie  jetzt  genäht  hatte,  in  Eile  erfassend, 
trat  sie  hervor  und  sagte:  Ich  habe  das,  was  Herr  Moto-faru 
befiehlt,  herüber  gehört)  und  es  ist  mir  sehr  schätzbar.  Wenn 
Herr  I-suke  dabei  ist,  bii^-  ich  sehr  beruhigt.  Gewähret  mir  für 
die  Nacht  des  diesjährigen  Tanzes  eine  Weile  Freiheit.  Der 
Herr  I-suke  sieht  dieses:  Auf  tausendjährigen  Fichten  Wellen 
der  Färberröthe.  Ein  solches  Blumenmuster  mache  ich  zum 
Kennzeichen.     Was  es  auch  sei,  ich  bitte  darum. 

Kokoro-wo  kome-si  kotoba-no  nazo  \  i-mke-wa  kokoro-ni  una- 
dzuki'te  kokorO'jasU'kare  ^  Q  (jo-mej-nagara  \  kono  ^  ^ 
(da-te)  mo-jb'WO  me-ate-nite  J^  j^  (ba-sioj-no  ^  ^  (bin-gi)- 
wo  fakarawan.  Sei-getsu-ni-wa  sore-to  si-mo  \  kokoro-dzukane- 
ba  o-sen-wo  ^j^  (seij-n  \  ika-ni  kokoro-joku  no-tamb-to-mo  \  i-suke^ 
gimi-wa  tono-no  go-  ^   O'ö)  |  on-mi-no  se-wa-wa  negai-gatasi. 

Diesem  Räthsel  der  Worte,  in  welches  sie  einen  Sinn 
legte,  stimmte  I-suke  innerlich   zu  und  mochte  unbesorgt  sein. 


298  Pfiim»i«r. 

Selbst  in  der  Nacht  dieses  BIumenmuBter  des  Putzes  zum  Ziele 
machend,  wollte  er  die  Gelegenheit  des  Schauplatzes  ermessen. 
Die  Nonne  Sei-getsu  bedachte  nicht,  dass  es  so  sei.  Sie  wehrte 
0-sen  indem  sie  sagte:  Ob  er  auch  irgendwie  wohlgelaunt 
spricht,  Herr  I-suke  handelt  fiir  den  Gebieter.  Hinsichtlich 
deiner  Dazwischenkunft  kannst  du  unmöglich  bitten. 

Kono  toki  ban-to  \  tm-ku-ro  ^  ^Sk  (no-renj-no  finia-jori 
tsn-to  idete  \  hse  sika-nari-sika-nari-keri.  '^A  (Ztb)-no  mori-ni-tca 
kono  ban-to  \  teo-kn-rh  koso  H^  Jffi  (sh-wh)  nari,  To-kaku  M| 
Czib)-zama-wa  soregad-wo  \  >#C  f^  (de'ku)'no  gotoku-ni  omoi-si- 
tamaje-do  \  ware-mo  mata  ofoko  nari,  Tare-ni-mo  are  jubi-de-mo 
sasa-ba  \  ^  ^  ^   (san-go-niuyno  ai-te  nani-ka  osoren. 

Um  diese  Zeit  trat  der  Hauptbedienstete  Teo-ku-rö  plötzlich 
aus  dem  Vorhange  hervor  und  sagte :  Das  Wort  war  recht,  es 
war  recht.  Zur  Beschützung  des  Fräuleins  ist  dieser  Haupt- 
bedienstete Te6-ku-r{)  geeignet.  Jedenfalls  achtet  mich  das 
Fräulein  einer  Holzpuppe  gleich,  doch  auch  ich  bin  ein  Mann. 
Wer  es  auch  sei,  wenn  man  mit  dem  Finger  zeigt,  drei  bis 
fiinf  Gegner,  wie  sollte  ich  sie  ftirchten? 

De-ku  wird  in  den  westlichen  Reichen  für  de^kurabb 
,Holzpuppe'  gesagt. 

I-snke  ^  ^S  (kuaii'Ziyto  utn-warai-te  \  sn-koso  ari-nan 
sn-koHo  aru'besi,  Nanigrisi  4q  ^J  (sen-koku)  kitari-si  toki 
^  ^  (ko'küJ'WO  tsukami  tatami-ivo  utn  \  ßfori  JS^  "db  (gei-ko)- 
110  -^  ^^^  [8iilL-ren)-no  fodo  \  jaja  appare-no  fntaraki-to  \  warajc- 
ba  sei-getsu  ojobi  o-sen  \  kosi-moto  midzusi-me  niade  \  fuki-dasi- 
dasi  I  .Ä  P  ^  Ä  (i-ku'dO'OnJ'in  dotto  waraje-ba  \  teo-ku-rb 
sasu-ga  ja  jjf  (man-menj-ni  (Me-wo  nas^i  \  sono  ^  (za)-ni 
tamarazti  nige-ide-tari. 

I-suke  lachte  herzlich  und  sagte:  So  wird  es  sein,  so 
kann  es  sein!  Als  ich  vorhin  kam,  erfasstest  du  den  leeren 
Raum,  schlugst  die  Flurmatte.  Es  war  ein  Maass  von  Geschick- 
lichkeit, wobei  du  dich  allein  übtest,  eine  ziemlich  erstaunliche 
Thätigkeit.  —  Sei-getsu  und  0-sen,  die  Aufwärterinnen,  selbst  die 
Ktichenmägde  platzten  mit  verschiedenem  Munde  und  gleichem 
Tone  in  ein  Gelächter  heraus.  Teo-ku-rö  hatte  in  der  That 
das  ganze  Gesicht  voll  Schweiss.  Er  verweilte  nicht  in  dem 
Saale  und  floh  nach  aussen. 


Du  H»us  eines  StattbalterB  ron  Fari-m».  299 

O-sen-wa  warai-dojameku  ßma-ni  \  i-suke-ni  ^  ^  (/^*" 
zi)'U>o  fisokorni  watase-ba  \  i-suke  tokit  tori  tamoto-ni  si  |  kure- 
gure  sotio  ^^  (jo)'WO  j^  (jakuj-si-isutsu  |  geni  joki  jukata-no 
mono-zuki'to  \  i-suke-wa  kajesi-vii  utsi-kajesi-mite  \  kokoro-ni 
tmadzuki  ßto-bito-ni  itoma-wo  tsugete  tatsi-kajeru. 

0-sen  übergab  während  des  lauten  Lachens  I-suLe  heim- 
lich die  Antwort.  I-suke  nahm  sie  schnell  und  verbarg  sie  in 
dem  Aermel.  Immer  wieder  für  jene  Nacht  das  Versprechen 
gebend,  sagte  er:  In  Wahrheit,  ein  guter  Geschmack  für  ein 
Sommerkleid!  —  Die  Blicke  wechselnd,  ausdrucksvoll  die  Blicke 
wechselnd,  stimmte  er  innerlich  zu,  sagte  den  Menschen  Lebe- 
wohl und  kehrte  nach  Hause  zurück. 


Sdte-^tio  fumi-dzuki  ziü-roku-nitsi  \  ^£  'Wj  (ka-reij-no  odori 
aru-besi  tote  \  (yte-no  ^  "K  (zed-ka)  ^^  ^  (tO'Zai)-ni  jarai-wo 
musubi  I  t^  -^  (tsitl'iühj-ni  -^  ^  (tai-siü)  ojobi  ^  "^ 
(sb'Zi)'no  sa-ziki-wo  kamaje  \  sono  foka  ^  ^  J^  (sio-ka-BiJ-no 
mono-mi-ba-wo  sitsurai  \  ^  "jk  (aa-jü^no  noki-ni-wa  kurenai 
aki-no  W  ^  (sö-kua)-no  e-gakl-si  :Ö^  j|^  (teo-idn)  \  kira-fosi-no 
gotoku  kake-tsurane  I  ^  ^  @  (sio'kei'go)'jio  asi-garu  f^  ^ 
(ß-ztb)-wo  imasinie  |  tai-sik  san-ziki-ni  ide-tavib  riiade  ^^  ^ 
(t6'Zat)-no   ki-do-wo  katame  ]|^  ^  (zb-kaku)-wo  ire-simezu. 

Am  sechzehnten  Tage  des  siebenten  Monats  sollte  der 
übliche  Festtanz  stattfinden.  Man  knüpfte  zu  diesem  Behufe 
im  Osten  und  Westen  der  an  der  Vorderseite  der  Feste  be- 
findlichen Stadt  Pfahlwerk,  baute  in  der  Mitte  den  Altan  des 
Statthalters  und  des  jungen  Sohnes,  errichtete  ausserdem  für 
die  Kriegsmänner  der  Häuser  Schaubühnen,  hängte  an  den 
Vordächern  rechts  und  links  Laternen,  auf  welche  scharlach- 
rothe  Pflanzen  und  Blumen  des  Herbstes  gemalt  waren,  gleich 
funkelnden  Sternen  in  Reihen.  Die  ausgerüsteten  Kriegsleute 
zu  Fusse  wehrten  ungewöhnlichen  Ereignissen,  besetzten  bis 
zu  dem  Heraustreten  des  Statthalters  auf  den  Altan  das  öst- 
liche und  westliche  Festungsthor  und  Hessen  die  lärmenden 
Gäste  nicht  herein. 

Sono  toki-ni  ifari-te  "Jj^  ^  (tai-koj-no  ai-dzu-ni  ki-do-wo 
ßrakan-to  kamaje- tarL  Sare-ba  ^  H  (td-gokii)-no  yj^  ^ 
(rb-niakuj'wa  moto-jori  \    ^  H  (kin-goku)  ^  ^  (rin-gdyno 


300  Pfiim»i«r. 

Ä;  ^  (ki'S^n)  Jl  ^  (nan-nio)  |  :^  ^  (kija-sia)  ^  j^ 
(fü-riü)  ^  ^^  (zen'bi)'tco  tsukttsi  |  mada  kiwe-jaranu  koro- 
jori-mo  \  ija-ga  uje-ni  ^  ^  C^un-^anJ-na^u. 

Als  die  Stunde  kam,  war  man  im  BegrifFe,  auf  das  Zeichen 
der  Trommel  das  Festungsthor  zu  öffnen.  Indessen  trafen  nebst 
den  Alten  und  Jungen  dieses  Reiches,  Männer  und  Weiber 
vornehmen  und  geringen  Standes  aus  den  nahen  Reichen  und 
benachbarten  Bezirken,  Artigkeit,  Zierlichkeit  und  Schönheit 
erschöpfend,  noch  vor  Sonnenuntergang  über  und  über  in 
Schaaren  ein. 

Kore-ga  tame-ni  odori-ba-no  "^  ^  (sen'goJ-ni'Wa  \  mise- 
wo  ßraki-te   Ö^   J\^  (seo-giJ'WO  tsurane  \  ^^  (tHa)'Wo  niru  ari 
sake    uru   ari.      An- hat  josi-to  jobe-ba  ßto-jo-zake-to    scJcebi 
$  H  "T"  ß^^d<^^^'9o)   '^iese-to   ije-ba  ^  S^  ^   (jvrdo-fu) 
ika-ni'fo  akinb  \  sono  nigiwai  o-o-kata-narazu. 

In  Betracht  dessen  eröffnete  man  vor  und  hinter  dem 
Tanzplatze  Buden  und  stellte  Bänke  in  Reihen.  Einige  kochten 
Theo,  Andere  verkauften  Wein.  Rief  man :  Der  Geschmack  ist 
gut!  so  schrie  man:  Einnächtiger  Wein!  Sagte  man:  Esset  Klösse 
an  Speilern!  so  handelte  man,  indem  man  sagte:  Eingelegte 
Bohnen  mit  Brühe!  —   Die  Geschäftigkeit  war  keine  geringe. 

Kakaru  i^  ^  (gnn-aanyno  sono  naka-ni  fito-kiwa  me- 
datsii»  — '  ^  (ittai)'no  wonna  |  köre  sunawatsi  J||J  ^  (betsu- 
zin)  narade  \  taru-i  o-sen-ga  i  ^fjj^  (siü-ziü^nite  \  sugata-wa 
t»une-no  furi-sode-mo  |  '^  ^  (kijasiaj-wo  takumi-no  Jg^  ^ 
(fö'Si)  ^  ^  (jd'biy  I  kosi^moto  pg  H  (red'san)  ^  ^ 
(zen-go)'WO  kakoi  i  ko-mono-ga  motsi-si  fiikn-sa-dzutsumi-wa  \  köre 
kano  odon-jukata  naru-besi. 

Unter  den  so  eintreffenden  Schaaren  war  eine  Gruppe 
Frauen  ganz  besonders  auffällig.  Dieselben  waren  keine  anderen 
als  Taru-I,  O-sen  und  ihre  Dienerinnen.  Was  das  Aeussere  der 
Ersteren  betrifft,  so  waren  der  gewöhnliche  zitternde  Aermel, 
die  mit  Artigkeit  verbundene  künstliche  Miene  und  die  Züge. 
Zwei  oder  drei  Aufwärterinnen  umgaben  sie  vorn  und  rückwärts. 
Ein  Bündel  Seidenflor,  welches  ein  kleiner  Knabe  hielt,  konnte 
das  Tanzkleid  sein. 

Siri-je-ni  ban-td  teo-ku-rb  |  ^  (sijüj-no  ki-reo-wo  waga 
mono-gawo-ni  \  kataico  ikarasi  f^  d^  (gun-zUlJ-wo  UHike-timtsu  \ 


Das  Haus  eiaes  StAtthalters  Ton  Fari-ma.  301 

Uharu  ^  J^  (sa-tenym  tsu-to  iri-te  |  imada  H^  ^J  (zi-koku)- 
ni  ma-mo  are-ha  \  koko-nite  ^tic  J^  (ki^-soku)  rKm-tamaje-to  \ 
atari-too  mire-ba  o-oku-no  maro-uto-ni  \ja8urh  Ö^  J\^  (^^o^)- 
mo  arazare-ba  \  teo-ku-rh-wa  aruzi-ni  bakari  \  jb-jb  — —  ^ 
(ikkiaku)-no  j^  J\j^  (sib-gij-wo  kaki-ide  \  ^  :^  (siü-sdü)  kore- 
ni  kosi'%00  kakare-do  \  kosi-moto-rcL-wa  kokoro  uwa-no  sora  \  kure- 
fatezaru'WO  uramu-meri.  O-sen-mo  onazi-omoi-nagara  \  odori-no 
cd'dzu-wa  ^^  *S|  (b-8e)-no  naka-datsi  faja-mo  »irase-wo  maUi" 
gawo  nari. 

Hinter  ihnen  zuckte  der  Hauptbedienstete  Teö-ku-r6,  mit 
einem  Gesichte,  als  ob  die  schön  aussehende  Vorgesetzte  sein 
Eigen  wäre,  die  Achseln.  Die  angesammelten  Schaaren  zer- 
theilend,  trat  er  plötzlich  in  eine  Theebude  und  rief:  Da  es 
noch  Zeit  ist,  so  ruhet  hier  aus!  —  Als  er  hinblickte, 
waren  für  die  vielen  Gäste  keine  Ruhebänke.  Te8-ku-rö  zog 
für  die  Gebieterin  endlich  eine  Bank  hervor.  Die  Gebieterin 
und  deren  Dienerinnen  setzten  sich  zwar  auf  dieselbe,  doch  die 
Mägde  waren  zerstreut,  und  es  schien  sie  zu  verdriessen,  dass 
es  nicht  ganz  finster  geworden.  Auch  0-sen  hatte  gleiche 
Gedanken.  Das  Zeichen  zum  Tanze  war  der  Vermittler  der 
begegnenden  Stromschnelle,  und  ihre  Züge  drückten  die  Er- 
wartung aus,  dass  man  es  schnell  kundgebe. 

Wori'kara  kore-mo  ZIL  ^  (ni-kuj-no  faru  mada  koje-gate- 
no  ßtori-no  musume  |  fawa-to  obosi-ki  mu-so-zuno  8na  \  kata-te- 
ni  fu-ro'siki  tsutsumuwo  motsi  \  onazu  Ä  (tsiaj-mise-ni  tatsi-ire- 
do  I  kata-no  gotoku-no  ^^  ^S,  (gun'kiaku)-ni  \  jasurb  tokoro-mo 
arazare-ba  \  ika-ga-wa  sen-to  tatazumu-wo  \  o-sen-tva  köre- wo 
mi'kane-tgutsu  \  ito  semaku-to-mö  itoi-naku-ba  \  koko-ni  jasuma^e- 
tamaje  tote  \  loaga  mi  sukosi  kata-je-je  jore-ba  \  ona-wa  koto-ni 
jorokobi-te  \  o-tosi-wakaki-ni  jasasi-ki  wo-kotoba  \  wa-nami-xoa  to 
are  kore-no  mv^ume  \  fisoM-ku  jami-si  notsi  nare-ba  \  sibaraku 
kata-je-wo  kan-te  tabe-to  \  musume-wo-Tno  ikowasete  \  onore-mo 
kata-kosi  utsi-kake-tsutsu  \  kono  won-tsut^umi-wa  jukata  naran  \ 
wa-nami-ga  motsi- si-mo  jukata  nare-ba  \  name-ge  nare-domo 
kaJcn  sen-to. 

Um  diese  Zeit  traten  auch  ein  Mädchen,  welches  zweimal 
neun  Frühlinge  nicht  überschritten  haben  konnte,  und  eine 
sechzigjährige  alte  Frau,  welche  die  Mutter  zu  sein  schien  und 


802  Pflsmftier. 

in  einer  Hand  ein  Tuchbündel  hielt,  in  die  nämliche  Thee- 
bude.  Da  jedoch  für  die  gewöhnlichen  Gäste  kein  Ruheplatz 
war,  blieben  sie,  nicht  wissend,  was  sie  thun  sollten,  stehen. 
0-sen,  welche  dieses  nicht  sehen  konnte,  sagte :  Der  Raum  ist 
wohl  sehr  eng,  doch  wenn  es  euch  nicht  zuwider  ist,  so  ruhet 
hier  aus.  —  Hiermit  rückte  sie  ein  wenig  auf  die  Seite.  Die 
alte  Frau,  besonders  erfreut,  sagte:  Bei  eurer  Jugend  ein 
liebenswürdiges  Wort!  Bei  mir  habe  es  sein  Bewenden.  Dieses 
Mädchen  hier  ist  lange  Zeit  krank  gewesen.  Möget  ihr  eine 
Weile  sie  an  eure  Seite  lassen.  —  Indem  sie  das  Mädchen 
ausruhen  liess  und  sich  selbst  zur  Hälfte  niedersetzte,  sagte 
sie:  Dieses  Bündel  wird  das  Sommerkleid  sein.  Da  auch  ich 
ein  Sonnenkleid  mitgebracht  habe,  so  werde  ich,  obgleich  es 
unartig  ist,  es  so  machen. 

O-sen-ga  tsutsumi-to  kasane-oki  \  säte  itsu-ni  kawaranu  nigi 
kana.  Wa-nami-mo  mu-so-zt-no  jowai-wa  ki-fure-do  \  ima-mo 
odon-fca  omo-sirosi.  Sare-do  acuu-ga-ni  tori-ni  fctdzi-te  \  kono 
futa-tose-mari  mizari-fd-ga  \  kore-no  musume  saJci-tsv.  tosi-jori  \ 
nant-wa-no  kata-ni  mya-dzukaje-se-ai-ga  \  sugi-ni-si  koro-jori 
najami  ari-te  |  ije^-ni  kajeri-te  -^j^  ^  (fo-jbj-fuisi  \  jh-jaktt-ni 
najami-mo  lookotain-si-ga  \  ßsasi-bwi-ni  odori-wo  mi-t^ui-to  |  lü-ga 
mani-mani-ni  ^  (nta-dzi^wa  sttki  \  wakaki  toki-ni-wa  waga 
mure-no  \  — •  (itn)'to  jobare-si  odori-no  J^  -^  (ziö-dzu)  \  atcare 
ko-joi'Wa  te-wo  furite  \  mtikctsi-no  -^  jjjj^  (diHrrenywo  J^  (siü)- 
ni  simesan.  Ko-wa  mala  ai-dzu-no  ososa-wa. 

Hiermit  legte  sie  es  über  das  Bündel  0-sen*8  und  sagte: 
O  eine  niemals  veränderte  Lebhaftigkeit !  Ich  habe  das  sechzigste 
Lebensjahr  überschritten,  doch  noch  jetzt  ist  der  Tanz  angenehm. 
Indessen  schäme  ich  mich  doch  meiner  Jahre  und  habe  ihn 
durch  diese  zwei  Jahre  nicht  gesehen.  Dieses  Mädchen  hier 
verrichtete  in  früheren  Jahren  in  Nami-wa  den  Dienst  des 
Palastes.  In  einer  verwichenen  Zeit  ward  sie  von  einem  Leiden 
befallen.  Sie  kehrte  nach  Hause  zurück  und  pflegte  sich.  Ihr 
Leiden  hat  sich  kaum  gebessert.  Indem  ich  schon  lange  Zeit 
sagte,  dass  ich  den  Tanz  sehen  wolle,  findet  sie  daran  Gefallen. 
In  ihrer  zarten  Jugend  war  sie  eine  geschickte  Tänzerin, 
welche  in  ihrer  Schaar  die  Einzige  genannt  wurde.  Ach  heute 
Abend    wird    sie    die    Hände    schwingen    und    ihre    ehemalige 


Du  Haut  einet  SUtthalttrt  ron  Ftfi-ma.  303 

Geschicklichkeit  Allen  darthun.  Dieses  ist  auch  eine  Langsam- 
keit mit  dem  Zeichen. 

Towazu-gatari-mo  oi-no  kuse  \  o-sen-wa  joki-ni  asiraje-do  \ 
mimi-ni'Wa  sara-ni  iri-ai-no  \  kane-no  fibiki-ni  ^^  ^j|  (gun-zih) 
ijamcui  \  ^  J&  (ei-tobj-ei-wh  wosi-b  utsi-ni  \  te-nugui-nite 
omote-wo  tstitsumi-si  futari-mi-tari-no  \  saburai  kono  ^  (sa)- 
mise-wo  sasi-nozoki  \  seki-barai-site  juki-mgure-ba  \  teo-kv^rh-wa 
tsvrto  tatte  omote-no  katn-ni  tatsi-ide-tari. 

Ungefragt  sprechen  ist  die  Gewohnheit  alter  Leute.  0-sen 
behandelte  sie  zwar  gut,  doch  in  dem  Ohre  wiederhallte  völlig 
der  Ton  der  Qlocke  des  Sonnenuntergangs.  Während  die  an- 
gesammelten Schaaren  immer  mehr  unter  Freudenrufen  sich 
drängten,  spähten  zwei  bis  drei  Kriegsmänner,  welche  das 
Angesicht  mit  Taschentüchern  verhüllt  hatten,  nach  dieser  Thee- 
bude  und  gingen  hustend  vorüber.  Te6-ku-rö  erhob  sich  rasch 
und  trat  an  der  äusseren  Seite  hinaus. 

O-sen-toa  kanete  moto-faru-ni  \  ^^  *^  (b'8e)-no  3j|J  Äff 
(zia'ma)'7io  ted-ku-rb-ga  \  idzutsi-je-ka  juki-si  kono  ßma-ni  \  faja- 
mo  ai-dzu-no  are-kasi-to  \  kokoro  isogeru  wori-kara-ni  |  jb^aku 
sonaje-ja  totmioi-ken  \  ai-dzu-no  iai-ko-no  kikojure-ba  \  suwa-ja-to 
i'i'Uuisu  ffijr  ^C^  (su-senj-no  ^^  d^  (gun-ziü)  \  wäre   saki^ni 

ißosi-ai  tsuki-ai  \  arasoi  j^    B  (ki-do^ni  iran-to  su. 

Während  Teö-ku-r6,  früher  für  die  Zusammenkunft  mit 
Moto-faru  ein  Hinderniss,  irgend  wohin  gegangen  war,  hatte 
0-sen,  wünschend,  dass  das  Zeichen  bereits  gegeben  werde, 
im  Herzen  Eile.  In  diesem  Augenblicke  —  man  mochte  die 
Vorbereitungen  endlich  getroffen  haben  —  hörte  man  die  das 
Zeichen  gebende  Trommel.  Mit  dem  Rufe  Ah!  wollte  eine 
angesammelte  Schaar  von  mehreren  Tausenden,  einer  dem 
anderen  voran,  unter  gegenseitigem  Drängen,  gegenseitigem 
Stossen,  wetteifernd  in  das  Festungsthor  eintreten. 

O-sen-wa  tobiAat^u  uresi-aa-ni  \  kokoro-bakari-wa  fajare- 
domo  I  8(i8u-ga  ^j^  ^j|  (gun-ziüj-no  kastko-sa-ni  \  ika^ga-wa  aefi- 
io  tatnerb  tokoro-je  ted-ku-rb-toa  fasiri-kitari  \  ima  kanata-made 
i'Suke-no  ki-mtm-te  |  ki-do-gutsi-wa  koto-n^  abunasi  \  figasi-no 
kutsi-je  mawari'tamfije  Ißsoka-naru  iri-kutsi-ni  a-nai-dts  '  ^  bJ 
fsb'z{)'no  sa-ziki-je  ire-mbsan  \  sare-do  o-ozn-wa  nari-gatasi. 
Kon-motx>-8ih'Wa  ato-jori  ki-mase  \  wa-nuai  fitori  M|  (zib^wo  'fi 


304  Pfiimaier. 

(gu)'9i  I  isogi  ku^besi-to  i-i-tari-si  \  i-suke-ga  kanata-ni  matsi-te' 
ka  aran  \  fajaku'fajaku-to  ira-daUure-ha  \  o-sen-toa  ^  BJ  (sh- 
ziyno  sa-ziki-to  kiki  \  on-mi-ra  ato-jori  ki-mase-to  \  isami-jorokobi 
ted'ku-rb-ga  |  a-nat-ni  tsurete  fasiri-juku, 

0-sen,  in  ihrer  auffliegenden  Freude,  war  im  Herzen 
schnell  entschlossen,  doch  in  ihrer  Scheu  vor  den  angesam- 
melten Schaaren  wusste  sie  in  der  That  nicht,  was  sie  tbun 
solle  und  zögerte,  als  Teö-ku-r6  gelaufen  kam  und  sagte :  Jetzt 
ist  bis  dorthin  I-suke  gekommen  und  sagte:  Das  Festungs- 
thor ist  besonders  gefahrlich.  Wendet  euch  zu  dem  östlichen 
Thore.  Ich  werde  sie  zu  einem  geheimen  Eingang  fuhren 
und  in  den  Altan  des  jungen  Sohnes  treten  lassen.  Es 
dürfen  jedoch  nicht  Mehrere  sein.  Die  Aufwärterinnen  mögen 
nachkommen.  Ich  werde  allein  das  Fräulein  begleiten  und 
eilig  kommen.  —  I-suke  wird  wohl  dort  warten.  Schnell !  schnell ! 
—  So  sagte  er  ärgerlich.  Als  0-sen  von  dem  Altane  des 
jungen  Sohnes  hörte,  sagte  sie :  Kommet  nach !  —  Muthig  und 
voll  Freude  lief  sie  unter  der  Führung  Teö-ku-rö's  fort. 

Ato-ni  kos^i-moto-ra-wa  kutsi-gtitsi-ni  j  msi-jori  iran  ßgasi- 
ka  jukan-to  \  sazameki-nagara  fitori-no  kosi-moto  \  ko-wa  fu-ro- 
siki-dzutsumi-no  kawari-si-wa  \  saki-no  ona-ga  tori-tsigafe-si-ga  \ 
■^  "ft  (sekkaku)  to-ja  kb  fM  (zibj-sama-no  \  kokoro-wo  tsukusi- 
tamai'taru  jukata-wo  \  sono  mama  sasi-okan-wa  \  mina  wart- 
ivare-ga  otsi-do  nari,  Kano  -^  -^  (bo-stj-dzure-mo  foka-ni-wa 
arazi  j  fajaku  nisi-gutsi-jori  wake-iri-te  \  tori-^nodosi-te  o-  jfi  (zib)- 
ni  mesasen  \  sa-nam-sa-nari-to  kosi-moto-ra  \  utsi-tsure  J^  fjff 
(ha-sio^ni  faairi'jvki'taru 

Während  die  nachfolgenden  Aufwärterinnen  mit  einander 
flüsterten  und  sich  fragten,  ob  sie  von  Westen  eintreten  werden, 
oder  ob  sie  nach  Osten  gehen  werden,  sagte  eine  Auf  Wärterin : 
Das  Tuchbündel  hier  ist  verwechselt.  Die  alte  Frau  von  vor- 
hin hat  es  aus  Irrthiun  mitgenommen.  Das  Sommerkleid,  auf 
welches  das  Fräulein  jedenfalls  die  grösste  Sorgfalt  verwendet 
hat,  so  zurücklassen,  wäre  von  unserer  Seite  ein  Vergehen, 
Jene  Mutter  und  ihr  Kind  können  sich  nicht  aussen  befinden. 
Wir  werden  schnell  durch  den  westlichen  Eingang  eintreten, 
es  zurücknehmen  und  es  dem  Fräulein  anziehen.  So  sei  es,  so 
sei  es!  —  Die  Aufwärterinnen  liefen  mit  einander  nach  dem 
Platze  fort. 


Du  Hans  eiae«  Statthalten  Toa  Puri-ma.  305 

Jutaka-naru  -^j^  (jo)'no  sirvsi  tote  \  ^  ^^  (tsi-joj-no 
fazime-no  fatsvrodori  \  madzv^wa  i^  (matauyzaka  koje-tari-to  \ 
^  "tft  ("fni-joJ'WO  JUJ  (siukuj-se-si  ßna-btisi-no  \  ko-e  ito  ^ 
(aja)'ni  utbre-ba  \  ari-ja  kori-ja-to  ko-e  soroje  \  ot-mo  wakaki- 
mo  osi-nahete  \  te  furi  kosi  furi  mi-wo  aja-^aai  \  takumi-naru 
ari  "jf^  'Jj^  -^  (fii-bib-si)  ari  \  ono-ga  sama-zama  odoreru-wa  \ 
geni  wosamareru  o-o-mi-  jti^  (jo)-wo  \  tftutsi-kure-wo  ntte  jorokobu- 
ni  koto-fiarazu  \  ube-mo  fatsu-aki-no  ^  (mi)-mono  nari-keri. 

Man  sang  in  sehr  kläglichem  Tone  die  gemeine  Weise, 
durch  welche  man  das  erhabene  Zeitalter  feierte:  Des  gedeih- 
lichen Zeitalters  |  Zeichen  damit  es  sei,  |  des  Anfangs  der 
tausend  Zeitalter  |  erster  Tanz  |  zuerst  die  Bergtreppe  der 
Fichten  |  er  überschritt.  —  Mit  dem  einstimmigen  Rufe:  Es 
ist  es!  Dieses  ist  es!  bewegten  Alte  und  Junge  insgesammt 
die  Hände,  bewegten  die  Hüften,  stellten  den  Leib  seltsam. 
Es  gab  deren,  welche  kunstreich  waren,  es  gab  deren,  welche 
den  Tact  nicht  hielten.  Indem  auf  eigene  Arten  getanzt  wurde, 
war  es  in  der  That  nicht  anders,  als  ob  man  über  das  ge- 
ordnete hohe  Zeitalter,  einen  Erdkloss  schlagend,  sich  freute. 
Es  war  fuglich  eine  Sehenswürdigkeit  des  Anfangs  des  Herbstes. 
Koko-ni  sato-mi  i-svke  "j^  — •  (tctka-katsuj-wa  \  furu-ta 
ten-zen-ni  kofoba  2^  (jaku)'»{  \  aka-fsuki-no  A  Bj^  (kd-faiywo 
iikegai-si-jovi  sama-zama  kokoro-ioo  kunisime-si-ga  \  fofe-mo  W  ^ 
(sb'Zi)-no  moto-faru-ga  \  Ä^  ^E  (ai-dziakuyno  'j^  (nefii)-no  tatsi- 
gafaki-too  3&  (sas)  si  \  fu-bin-nagara-mo  o-sen-wo  SS  (gaij-si  ; 
viajoi-no  tane-foo  \  nozokan  mono-to  \  onazi-ku  da-te-naru  jukafa-wo 
4^  (tsiakuj-si  I  te'7mgui'mte  ftdcaku  omote-wo  tsiitsumt  \  odori- 
ko-ni  magire  tomo-ni  fe-wo  fuH  \  knuaia-konaia^to  sagwu-to  ije- 
damo  I  1^  -^  (susenj-no  yji^  ^^  (rb-niakn)-m  fedaterave  (  katsii- 
te  o-sen-ni  ide-awazu, 

Sato-mi  I-suke  Taka-katsu,  nachdem  er  Furu-ta,  dem 
Vorgesetzten  der  Speisen,  das  Versprechen  gegeben,  und  Er- 
hebung und  Sturz  des  Hauses  Aka-tsuki  auf  sich  genommen, 
quälte  sein  Herz  auf  allerlei  Weise.  In  Betracht,  dass  es 
jedenfalls  unmöglich  sei,  die  Liebesgedanken  des  jungen  Sohnes 
Moto-faru  abzuschneiden,  wollte  er,  so  leid  es  ihm  auch  that, 
O-sen  morden,  die  Saat  der  Verirrung  wegschaffen.  Er  zog 
daher  ein  eben  so  verziertes  Sommerkleid  an,  verhüllte  mit 
einem  Taschentuche    tief  das  Gesicht   und  bewegte,  unter  die 

Siteungiber.  d.  phil-hist.  Ol.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hfi.  20 


306  PfiBm»i«r. 

Tänzer  gemengt^  mit  diesen  zugleich  die  Hände.  Obgleich  er 
hier  und  dort  suchte,  war  er,  durch  mehrere  Tausende  alter 
und  junger  Leute  getrennt,  0-sen  nicht  begegnet. 

I'Stike  o-oi-ni  kokoro-wo  iratsi  \  mosi  kono  toki-wo  sugosi- 
na-ba  |  kasanete  wori-wo  u-be-karan-to  \  nmco-mo  aUi-kotsi  saguni 
tokaro-ni  \  o-sen-ga  ^  ^  (ten-ziüj-ja  koko^ni  tsvki'ken  \  — •  ^ 
(iUai)'no  wonna-tswe  \  da-te-naru  jvkaia  tort-dori-no  \  naka-ni 
mi'oboje-aru  da-te-mo-jb  \  omote-fca  te-nugui  ma-buka-ni  kite 
sika-to  swe-fo-wa  mi-sadamene-do  \  matsu^ni  kakareru  fudzi-nami 
ko80  I  magb  kata-naki  o-sen  nare-ba  \  i-suke  ikor-de^ka  jü-jo-sU' 
beki  I  fu-bin-nagara-mo  o-ije-no  tame-to  \  kutsi-ni  ^ffi  r^  (stb*me6) 
fasiri'kakari  \  Ulka-jori-sama-ni  nuki-utsu-m  \  o-sen-ga  kata-saki 
fi-wara-wo  koke  \  parari  tH  (8un)'to  kim-sagure-ba  \  atto  tama- 
giru  ko-e-to  fitosi-ku  \  db-to  nokke-ni  tbruru-wo  |  okosi-mo  tatezu 
ßppusete  I  na-mu  a-mi-da-butsu-to  todome-wo  sasu. 

I-suke  war  sehr  ärgerlich  und  dachte  sich,  wenn  er  diese 
Zeit  vergehen  lasse,  würde  er  nicht  wieder  eine  Gelegenheit 
finden.  Während  er  nochmals  hier  und  dort  suchte,  zeigte  sich 
—  die  von  dem  Himmel  gewährte  Langjährigkeit  0-sen's  mochte 
hier  geendet  haben  —  bei  einer  Gruppe  Frauen,  unter  den 
verschiedenen  aufgezierten  Sommerkleidern  das  als  Zierath 
dienende  Blumenmuster,  das  er  sich  vom  Sehen  gemerkt  hatte. 
Ueber  ihr  Angesicht  war  ein  Taschentuch  tief  gedeckt,  und 
er  sah  nicht  mit  Bestimmtheit,  ob  sie  es  sei,  doch  die  an 
Fichten  hängenden  Wellen  der  Färberröthe  Hessen  keinen  Irr- 
thum  zu,  es  war  O-sen.  Wie  konnte  I-suke  unschlüssig  sein? 
Obgleich  es  ihm  leid  that,  sagte  er  mit  dem  Munde:  Um  des 
Hauses  des  Gebieters  willen !  und  lief  hinzu.  In  dem  Augen- 
blicke, als  er  sich  näherte,  das  Schwert  ziehend  und  schlagend, 
führte  er  über  die  Schulter  und  die  Kippen  O-sen's  herab 
einen  Hieb.  Sie  stürzte  mit  einem  herzzerreissenden  Schrei 
zu  gleicher  Zeit  rücklings  zu  Boden.  Ohne  sie  aufzurichten, 
zog  er  sie  nieder  und  machte  ihr  mit  den  Worten:  Namu 
Amida-Buddha !  den  Garaus. 

A'fi  kono  ^  -^  (seo-dzio)  \  mi-iii -^-^  S^  (itteti)'iw  tsum 
naki-mo  i  ^  ^  (seki-enj-wo  moto-faru-to  musuhi-si'-jori  i  ^  ^ 
(faku-zinj-no  sita-ni  ^  (metj-ico  tsidzimu  |  köre  j^  St  (sitSJcu- 
g6)'t0'Wa  i-i-nagara  \  fu-hin-to  iü-mo  amari  ari.  Sare-ba  katawara- 
no  ß^  -^  (nan-nio)  — •  ^  (fito-me)  miru-jori  \  suwa ßto-gorwi- 


Daa  Haas  eines  Stottbalters  Ton  Pari-raa.  307 

to  iü  fodo-nt  I  ||j|r  j^  (su'sen)'no  ^  ^  (gim-san)  uro-taje- 
sawaffi  \  atcJca-mo  kanaje-no  waku-ga  gotoku  \  uje-wo  sita-to 
Ä  flL  (^ö'*-''«w)-*w.  UtsutO'ni  ^  ^  (keigo)'no  tomo-gaTa- 
no  I  kore-wo  sidzumen-ni  tajoH-naku  \  bd-zen-to  die  i-tari-ai-ga. 

Ach  dieses  junge  Mädchen,  das  nicht  mit  einem  Punkte 
Schuld  beladen,  seit  es  das  rothe  Verhäitniss  mit  Moto-faru 
geknüpft,  schrumpft  unter  der  weissen  Klinge  ihr  Lebensloos 
zusammen !  Nennt  man  dabei  auch  die  Beschäftigung  des 
früheren  Lebens,  es  ist  mehr  als  beklagcnswerth.  Sobald  die 
zur  Seite  befindlichen  Männer  und  Weiber  dieses  mit  einem 
Blicke  gesehen,  riefen  sie :  Ah,  ein  Mord !  —  Die  aus  mehreren 
Tausenden  bestehende  Versammlung  war  bestürzt  und  auf- 
geregt. Es  war  gerade  wie  ein  siedender  Kessel,  und  man 
mengte  das  Obere  mit  dem  Unteren.  Die  Wachen  innen  und 
aussen  hatten  kein  Mittel,  die  Ruhe  herzustellen  und  waren 
vor  Staunen  ausser  sich. 

Kono  tokl  i'suke  -j^  Ä  (dni-on)  age  \  }S  j3t  (rh-zekt)- 
mono  koso  sato-mi  i-fnüce-ga  karame-tari.  Mina-mina  odm^oku  koto 
na-kare,  Sare-do  ^^  ^  (tat-sanj-wa  ono-ga  mani-mani  \  kokoro- 
ioo  sidzume  'ß  ^  (ke-gayaurn-na-to  \  jobawaru  ko-e-ni  ^  |Sj 
(ge%'ko)-no  ^  J^  (sto-si)  \  ze-fi-wa  sirane-do  i-suke-ga  ko^e-ni  \ 
karame-fottaru-to  kiku-jari-mo  \  kono  omomvki-wo  S  ^  f.^w"- 
sanj-ni  tsutaje  \  sawagu-mazito-zo  ^  (seij-sure-bn  \  sukoni-wa 
kore-^i  sidzumai^-to  ije-do  \  mina  ware-saki-ni  kono  J^  (ba)-wo 
saran-to  su, 

I-suke  erhob  jetzt  die  Stimme  und  rief:  Der  Gewalt- 
mensch Sato-mi  I-suke  ist  gebunden.  Qerathet  nicht  in  Schrecken! 
Indessen  steht  es  Jedem  frei,  sich  zurückzuziehen.  Beruhigt  euch 
und  machet  keinen  Schaden!  —  Bei  diesem  Rufe  wussten  die 
wachehaltenden  Kriegsmänner  zwar  nicht,  was  an  der  Sache 
Wahres  oder  Falsches  sei,  doch  sobald  sie  aus  dem  Rufe 
I-suke's  vernahmen,  dass  er  gebunden  sei,  meldeten  sie  diesen 
Umstand  den  Versammelten.  Sie  sagten,  dass  sie  nicht  be- 
unruhigt zu  sein  brauchen,  und  wiesen  sie  zurecht.  Obgleich 
hierdurch  ein  wenig  Ruhe  eintrat,  schickten  sich  Alle  im  Wett- 
eifer an,  den  Platz   zu  verlassen. 

I-anke-mo  fisoka-ni  ki-do-wo  kugtiriide  \  ^  "^  (ziö-ka) 
fadzure-no  ^  |g  (kub-gm)'ni  itari  \  ktisa-mura-ni  ^  (za)-wo 

20* 


308  Pfismftier. 

simete  \  fu-tokoro-gami-wo  tori-idasi  \  ja-tate-no  sumuni  kuro- 
guro'to  I  ^  ^  (kwi'kaj-no  tame-ni  o-sen-wo  ä^  (yaij-si  , 
^  ^  (sb'zi)-no  ^  ;|^  (bib'kon)-wo  tatsi-taru  amomuki  j  matta 
^  -^  (tai'Hiü)  J^  ^  (zib-ranj-no  j&  mr  (ba-sioj-wo  satoagasi 
taumi-naki  wonna-ico  äS  (gaijse-n  tsumi  \  tadatsi-ni  seppuku- 
tsukamatsuru'to  \  kotoba-mizikaku  »itatarne  \  obi-tam  katana-no 
sage-o-nl  jui-tsuke  \  kono-uje-wa  ^ä  ^  (i-nefij-nasi  j  sa-koso 
o^sen-no  ware-wo  uramin  \  kono  i-i-wake-wa  jorni-dzi-ni  nasan-to 
saai'Zoje  saka-de-ni  tari-nawosi  \  sude-ni  fidari-ni  tstiki-taten-to  m, 

I-suke  schlüpfte  heimlich  durch  das  Festungsthor  und  ge- 
langte zu  der  an  dem  Ende  der  Stadt  gelegenen  weiten  Ebene. 
In  dem  Grase  sich  einen  Sitz  bereitend^  nahm  er  Busenpapier 
heraus  und  schrieb  mit  der  Tinte  des  Tintenhorns  ganz  schwarz 
mit  kurzen  Worten  nieder,  dass  er  um  des  Gebieterhauses 
willen  0-sen  gemordet  und  die  Wurzel  der  Krankheit  des 
jungen  Sohnes  abgeschnitten  habe.  Für  das  Verbrechen,  dass 
er  noch  den  Schauplatz,  auf  welchen  der  Statthalter  blickte, 
in  Verwirrung  gebracht,  ein  schuldloses  Weib  gemordet,  schneide 
er  sich  geradezu  den  Bauch  auf.  Er  band  die  Schrift  an  die 
Schnur  des  Griffes  des  umgürteten  Schwertes.  Dabei  war 
sein  letzter  Gedanke :  So  sehr  wird  O-sen  mich  hassen.  Die 
Erklärung  werde  ich  in  der  Unterwelt  geben.  —  Hiermit  drehte 
er  das  kleine  Schwert  um  und  wollte  es  sich  bereits  in  die 
linke  Seite  stossen. 

Wori-kara  ^ä  ^  (rib-sanj-no  waka-vdo-ra  kowa-ddka-ni 
katarai  \  säte  mugo-taru-siku  kiri-si  mono  kana,  Ai-te-toa  sirane- 
do  kiraresi  wonna-wa  \  jJJ^  j/^  ^  (ko-tm-do^ga  mura-no  kano 
odori'Zitki  \  I^  ^L  ^  (zin-go-zaj-ga  baba-no  musume  nari. 
Kano  musume 'Zo  mi-tose  maje  \  nani'Wa'WataH'no  jasiki-to 
jara-ni  \  fo-ko  nase-si-ni  kmio  faru-jori  \  ^B  ^  (bib-ki)  nari 
tote  kajeri-isi-ga  \  sadamete  baba-ga  suki-no  odori  \  musume-wo 
tsurete  jvki-si  mono-ka.  Kakaru  ^  ^  Cfi'-goJ'ni  ^  (d)'Su 
nara-ba  \  toku-mo  jamai-ni  slnuru  kata  \  ika-bakari-ka-wa  masaru- 
be»i,  Sa-ni  arazu-ja-io  fokori-ka-ni  jo-so-no  aware-mo  sira-nami- 
no  I  ko-e-taka-daka-to  fanasi-mote  juku-wo. 

In  diesem  Augenblicke  führten  zwei  bis  drei  junge  Männer 
mit  lauter  Stimme  ein  Gespräch,  indem  sie  sagten:  0  erbar- 
mungslos  niedergehauen!     Der  Gegner   ist  unbekannt,  jedoch 


Dm  Haas  einet  Statthjüten  von  Fari-ma.  309 

das  Weib,  welches  niedergehauen  wurde,  ist  die  Tochter  jener 
Tanzfreundin,  der  alten  Frau  Zin-go-za  aus  dem  hierher  ge- 
hörenden Dorfe.  Jenes  Mädchen  hat  vor  drei  Jahren  auf  einem 
Grunde  an  der  Durchfahrt  von  Nani-wa  gedient  und  ist  in 
diesem  Frühlinge  wegen  Krankheit  nach  Hause  zurückgekehrt. 
Wahrscheinlich  ist  die  alte  Frau  zu  dem  Tanze,  welchen  sie 
liebt,  in  Begleitung  der  Tochter  hingegangen.  Wenn  man  in 
einer  solchen  Schuldlosigkeit  stirbt,  um  wie  viel  würde  es  da 
besser  sein,  schnell  an  der  Krankheit  sterben !  Ist  es  nicht  so?  — 
Stolz,  in  fremdem  Bedauern  mit  der  lauten  Stimme  der  weissen 
Welle  sprechend,  gingen  sie  weiter. 

I-9uke-wa  kiku-jori  ^&  4ff^  (gaku-zen)4o  si  \  masasi-ku  ma- 
zinufi-no  da-te-jukata  \  matsu-in  fuzi-nami  kakarxi-beki  \  fito- 
tagaje'to-wa  ibukasi-to  \  kokoro-madoi-te  jaiba-wo  sute  \  akire-fafe- 
taru  usiro-jori  \  nd  i-suke-nusi  o-sen  koso  ju-e  atte  saki-ni  koko- 
wo  sari  \  jodo-gawa-dzutsumi-wo  kudari-tari.  Fajaku  ai-juki- 
famö-besi.  jM  \^  (Tri-tstJ-se-ba  tde-b  koto  katasL  Faja  toku- 
foku'to  isogase-ba  i-avke-wa  sute-taru  jaiba-ioo  wottori  |  sore-jatte- 
wa-to  iü  mama-ni  \  suso  fase-wori-te  kakeri-juku.  Kono  i-suke-too 
isogasi'iaru-wa  nan-mono-zo  so-wa  su-e-no  maki-ni  siraru-besi. 

Sobald  I-suke  dieses  hörte,  entsetzte  er  sich  und  sagte: 
Es  war  richtig  das  Sommerkleid  mit  den  als  Kennzeichen 
dienenden  Verzierungen.  An  Fichten  sollten  Wellen  der  Färber- 
röthe  hängen.  Dass  eine  Verkennung  stattfand,  ist  sonderbar.  — 
Verwirrten  Sinnes  warf  er  die  Klinge  weg  und  war  vor  Staunen 
ausser  sich,  als  hinter  ihm  eine  Stimme  rief;  Herr  I-suke! 
O-sen  ist  aus  einer  Ursache  früher  von  hier  weggegangen  und 
den  Damm  des  Flusses  Jodo-gawa  hinabgestiegen.  Ihr  könnet 
ihr  schnell  nachgehen.  Wenn  ihr  euch  verspätet,  ist  es  schwer, 
ihr  zu  begegnen.  Schnell,  schnell!  —  Mit  diesen  Worten  zur 
Eile  angetrieben,  erfasste  I-suke  die  weggeworfene  Klinge.  Er 
sagte:  Sie  ist  abgeglitten.  —  In  demselben  Augenblicke  sprengte 
er,  den  Saum  des  Kleides  im  Laufe  brechend,  fort.  Was  für 
ein  Mann  es  gewesen,  der  I-suke  zur  Eile  antrieb,  wird  in 
dem  letzten  Capitel  bekannt  werden. 


Koko-ni  |j^  ^  (kb'tari)  ^  3l  ^  ßan-go-rbywa  \  sugi- 
koro  M^  ^  (ri-kiHyno  *£  "^  (sia-zeiij-nite  \  taru-i-ga  te-dai- 


42d 


310  Pfiinaier 

teS-ku-rh-m  tsikadzuki-fo  nari  \  o-sen-wo  si-i-te  motomen-to  fakaru- 
ni  I  jodo-gawa-nite  ^  ^S  (bu-raiyni  iderai-si  koro-jori  \  aka- 
tsuki"  ^  (keJ'Tio  ^  ^  (sb'zi)  sai-zi-ro  moto-faru-wo  ; 
(ke-nenj'si  ßsoka-ni  ^  ^  (kai-rbywo  tsikai-taru-wo  hki 
f^  |fa  (sin-tsiü)  jaku-ga gotoku  mala  musu-ga  gotoku  \  ^  (wj-tio 
fone-woH-site  taka-no  ^ff  ^  (e'Ziki)'to  \  sekkakn  tahakari-te  sei- 
getsU'WO  fiki-wake  \  o-sen-wo  J^  (sen-tsiUJ-ni  oi-kome-si-wa  \  wäre 
mi'dzukara  te-biki-nasi  \  sai-zi-ro-ni  me-awase-ai-ni  koto-narazn, 
Sono  uje  ^  fb  (sui-tsiUyni  waga  famari-ai-wa  \  kare-ni  iwai- 
no  midzu  abuse-wo  \  wäre  mata  kawari-si  kokotsi-site  \  ^l  ^ 
(ren-boj-ni  urami  utsi-kasane  \  onore  sai-zi-rS-ni  fana  akaaen-to  I 
teo-ku-rh'WO  fita-aura  tanome-ha  \  moto-jori  Ä  5|s|)  (^-no  rij-wo 
taunori-muaabo^'u, 

K6-tari  Ban-go-r6  war  in  den  vergangenen  Tagen  vor  dem 
Altäre  des  getrennten  Palastes  mit  Teo-ku-rö^  dem  Haupt- 
bediensteten des  Hauses  Taru-I,  bekannt  geworden  und  überlegte, 
wie  er  0-sen  mit  Gewalt  erlangen  könne.  Seit  der  Zeit,  wo 
er  ihr  auf  nichtswürdige  Weise  an  dem  Flusse  Jodo-gawa  be- 
gegnet war,  hörte  er,  dass  sie  an  Sai-zi-rö  Moto-faru,  den 
jungen  Sohn  des  Hauses  Äka-tsuki,  ihre  Gedanken  gehängt 
und  heimlich  den  Schwur  des  gemeinschaftlichen  Alterns  gethan 
habe.  Im  Herzen  war  es  ihm,  als  ob  es  brennte,  es  war  auch 
als  ob  es  dünstete.  Er  sagte  sich:  Indem  ich,  mit  der  An- 
strengung des  Wasserraben,  mit  der  Lockspeise  des  Falken 
mühevoll  betrügend,  Sei-getsu  wegzog,  0-sen  in  das  Schiflf  trieb, 
ist  es  nicht  anders,  als  ob  ich  selbst  sie  an  der  Hand  geführt 
und  an  Sai-zi-r6  vermalt  hätte.  Indem  ich  überdiess  in  das 
Wasser  tauchte,  liess  ich  ihn  das  Wasser  der  Festlichkeit  ver- 
giessen.  Mit  einem  Gefühle,  als  ob  ich  ebenfalls  verändert  wäre, 
hat  bei  der  Liebe  der  Hass  sich  verdoppelt.  Ich  werde  Sai-zi-ro 
die  Nase  röthen.  —  Dabei  vei-liess  er  sich  gänzlich  auf  Teo-ku-rö, 
und  dieser  begehrte  im  Grunde  mehr  Ehre  und  Nutzen. 

Ted-ku-rb  iro-iro  moku-^'omi  nasi  \  |K|  (nanj-naku  odari- 
ba-ni  I  o-aen-wo  fakari  \  kanete  jo-i-no  kago-ni  woai-komi  \  tote- 
ni  joko-ni  foeo-nawa-mote  kukuri  \  fan^go-rö  ^  :^  (aiü'ziü)'ni 
wataaure-ba  |  fi-nezumi-no  kawa-wo  je-ai  kokotai-nite  \  kago- 
^  JSi  (n^'f^'^okuj-wo  wottate-wottaie  \  jodo-gawa-dzutaumi-ico 
ma-  — »  ^  ^  (itat-mO'Zi)'ni  \  -j^  "Jj^^  (nagara)'Watar%-ni  küari- 


Dfta  Hmm  eines  Statthalters  von  Fari-m».  31 1 

taru-ni  \  oi-kurtt  mono-mo  arazare-ba  \  sukosi  kokoro-wo  jcuun-zi- 
UuUfu  I  fiio-iki  foito  tsugi-taru-ni  \  teo-ku-rh-wa  kanete-no  moku- 
romi  I  siü^bi  joku  J^  ]j^  (zib'ziü)-8e'Si  uje-wa  \  ikkado-no  fo- 
hi'wo  musaboran-io  |  kago-ni  »iri-je-ni  fase-kitari  \  onazi-ku  iki- 
wo  tsugi'tsutsu'fno  \  migi-te-ni  ase-wo  on-nugui  Ifidari-de-ni  hgi- 
no  jabururu  made  \  utsi-bgi-tsutsu  sa-koso  kata-kata  \  o-o-kata- 
narann  ^  fljjf  (^n-ku)  narame.  Sare-do  man-morto  fakari-ose  \ 
fan-go-rö-iiitsi-no   jSfi  Jß   (man-zoku)-8i-tamawan. 

Te6-ku-rö  machte  allerhand  Entwürfe.  Er  berückte  O-sen 
ohne  Mühe  auf  dem  Tanzplatze,  schob  sie  in  eine  bereit  ge- 
haltene Sänfte,  band  diese  in  die  Länge  und  Quere  mit  dünnen 
Stricken  und  brachte  sie  zu  Fan-go-ro  und  dessen  Gefährten. 
Ban-go-ro,  mit  einem  Gefühle,  als  ob  er  das  Fell  einer  Feuer- 
ratte erlangt  hätte,  die  Tr^er  der  Sänfte  immer  weiter  treibend 
und  in  gerader  liinie  an  den  Damm  des  Flusses  Jodo-gawa 
sich  haltend,  gelangte  zu  der  Durchfahrt  von  Nagara.  Da  keine 
Verfolger  nachkamen,  schöpfte  er,  im  Herzen  ein  wenig  be- 
ruhigt, einmal  Athem.  Teo-ku-rö,  der  den  früher  entworfenen 
Plan  vom  Anfang  bis  zu  Ende  gut  ausgeführt  hatte  und  den 
überdiess  nach  einer  vorzüglichen  Belohnung  gelüsten  mochte, 
kam  hinter  der  Sänfte  dahergelaufen.  Zu  gleicher  Zeit  Athem 
schöpfend  und  mit  der  rechten  Hand  sich  den  Schweiss  trocknend, 
mit  der  linken  Hand,  bis  der  Fächer  zerbrochen  wurde,  sich 
ffLchelnd,  sagte  er:  So  wird  jedes  Einzelne  eine  nicht  unbe- 
trächtliche Mühe  sein.  Indessen  möge  man  es  vollkommen 
prüfen.     Der  Herr  Ban-go-r6  wird  zufrieden  sein. 

Ban-go-ro-wa  atari-xco  mite  i  kaburl-si  te-nugui  sukosijurume  \ 
on-mi-ga  -^  J^Qj  (8iü'dan)'ni  arazare-ba  |  66  -fj^  (o-teki)  ika^de 
waga  te-ni  iran.  Kono  jorokobi-wa  ^  (si)-to-mo  wasurezi-to  ! 
bffi-sasi'taru  ono-ga  hgi-wo  \  isogawasi-ge-ni  motsi-kajete  |  ted-ku- 
ro-wo  hgi  ^  (rd)'Wo  ^dk  (8ia)'se-ba  \  ted-ku-rb  sono  te-wo  todome  \ 
sa-na  j^  \^  (jü'jü)-taru  toori  narazii,  Ima-ni-mo  otte-no  kakari- 
tara-ba  \  §||  (red)-wo  e-gaki-te  me-wo  irezaru-ga  gotosi,  Toku 
idzutai-ni-mare  isogi-tamaje. 

Ban-go-r6,  umherblickend;  lockerte  ein  wenig  das  Taschen- 
tuch, mit  welchem  er  sich  bedeckt  hatte,  und  sagte:  Wenn 
deine  Veranstaltung  nicht  gewesen  wäre,  wie  könnte  das  ge- 
suchte Weib  in  meine  Hände  fallen?   Die  Freude  darüber  kann 


312  Pfismaier. 

ich  auch  im  Tode  nicht  vergeflsen.  —  Dabei  drehte  er  den 
eigenen  Fächer,  mit  dem  er  sich  zu  fächeln  aufhörte,  eilig  im 
Griffe  um  und  fächelte  Te6-ku-r6,  ihm  für  die  Mühe  dankend. 
Teo-ku-rö  hielt  ihm  die  Hand  zurück  und  sagte:  Es  ist  nicht 
die  Zeit,  in  der  man  so  sorglos  ist.  Wenn  jetzt  die  Verfolger 
herankommen,  ist  es,  als  ob  man  einen  Drachen  gemalt  und 
die  Augen  nicht  eingesetzt  hätte.  Schnell !  Eilet  fort,  wohin  es 
auch  seil 

Ban-go-ro  utsi-una-dzyki  \  sa-narisa-nari  kago-no  mono  \ 
ima  fitO'iki-wo  isogu-besi.  Ki-gane-no  saka-te-wo  ath-heki-zo  \ 
fajaku'fajaku'to  ge-dzi-nase-ba  \  so-wa  ari-gatasi-to  kago  kaki- 
age  \  itsi-asi  dasi-te  fasiran-to  su. 

Ban-go-ro  sagte  kopfnickend:  So  ist  es,  so  ist  es!  Sänften- 
träger !  Ihr  müsset  jetzt  in  einem  Athem  eilen.  Ich  werde  das 
Trinkgeld  in  gelbem  Golde  geben.  Schnell,  schnell!  —  Bei 
dieser  Weisung  erhoben  die  Träger  mit  den  Worten:  Dieses 
ist  schätzbar!  die  Sänfte  imd  wollten  mit  leichten  Schritten 
*  enteilen. 

TeS-ku-rb  odoroki  saki-ni  fusagaH  \  madzu  matsi-tamaje 
fan-go-rd-gimi  \  sokka  koso  omd  wonnorwo  ete  |  ato-ni-wn  nozomi 
na-karu-besi.  Wa-nami-wa  kartete  JR  ^  (kei-neriyse-si  \  fana- 
wo  mi'dzukara  ta-wori-mo  sede  \  sokka-no  te-ike-ni  ncLse-d-xca 
nani'ju-e-zo  \  ima-no  fl^  ^jf  (zi-setsuj-m  kake-uri  kofmvari  \  fatoi 
go-  ^  i&  (kon-i)  tsikadzuki-de-mo  \  migi-to  fidari-no  3E)J  ^ 
(gen-kin)  akinai.  Sare-domo  ware-wa  umare-jete  \  kokoro-jotvaku- 
te  anagaUi-ni  \  iwanu  iro-naru  jama-buki-no  \  fana-no  sugata-too 
mi-ma-fosi-to  \  nikko-to  warb  j/jj^  |^  (dzi-zbj-gatvo. 

Teo-ku-ro,  erschrocken,  stellte  sich  vorn  in  den  Weg  und 
rief:  Wartet  vorerst!  Herr  Ban-go-ro!  Ihr  habt  das  Weib,  das 
ihr  wünschet,  erlangt,  und  später  wird  kein  Begehren  sein.  Dass 
ich  die  Blume,  an  welche  ich  die  Gedanken  gehängt  hatte, 
ohne  sie  zu  brechen,  durch  eure  Hand  lebendig  erhalten  Hess, 
aus  welchem  Grunde  geschah  dieses?  In  der  gegenwärtigen 
Zeit  verkauft  man  nicht  auf  Borg.  Gesetzt  auch,  ihr  seid  ein 
freundlicher  Bekannter,  es  ist  rechts  und  links  ein  Handel 
gegen  baares  Geld.  Indessen  bin  ich  von  Geburt  schwach- 
herzig, ich  möchte  durchaus  die  Gestalt  der  Blüthen  der  Muss- 
pflanze von  nicht  sprechender  Farbe  sehen.  —  Dabei  hatte  er 
das  lächelnde  Gesicht  der  Erdkammer. 


Dm  Hau  eines  Statthalters  tod  Fari-ma.  313 

Iwanuriro  ,die  nicht  sprechende  Farbe'  ist  die  Farbe  des 
gelben  Jasmins  (kutsi-nan)  und  wird  so  genannt,  weil  kutsi- 
nasi  die  Bedeutung  ^mundlos'  hat.  Desswegen  wird  es  auch 
von  der  gelben  Farbe  der  Blüthen  der  Musspflanze  (jama-huki), 
des  Baldrians  (womina-fesi)  und  anderer  Pflanzen  gesagt. 

Banrgg-rd-wa  utsi-unadzuki  \  sa-na  iwaztl-to-mo  kono  kudaH- 
no  I  fone-toori  fjfy  Ä  (ku-roj-wa  aara-ni  tvasurezi.  Kuni-ni 
hijera-ba  sute-okade  \  tomi-ni  tsi-gane-wo  okuru-heaL  Sono  sirusi- 
ni'wa  sugi-ni'si  ß  ije-ni  tsutajerti  iM^  |^  (fi-zhj-no  sina-wo  \ 
nandzi-ni  adzuke-oki-taru  koso  \  kotoba-wo  tagajenu  sinisi  nari- 
k&'e.  Koko-nüe  ki-gane-wo  ataje-taku  \  om6  mono-kara  miru-ga 
gotoki  ,  '^  pb  (kuai-tsiü)  aara-ni  munasi-kere-ba  ,  itsuwari  aranu- 
wa  mono-no  fu-no  tsune  \  ika-de  sora-goto  lü-be-ken,  Fukaku 
utagai-ajabumi-zo  \  ga-ten-juki-si-ga  utagai  toke-si-ga  \  sara-ba 
isoge-to. 

Ban-go-rö  nickte  mit  dem  Kopfe  und  sagte :  So  sage  ich 
wohl  nicht.  Diese  Qual  und  Mühe  kann  ich  durchaus  nicht 
vergessen.  Wenn  ich  in  das  Reich  zurückkehre,  werde  ich  es 
nicht  unterlassen  und  schnell  tausend  Kobang  schicken.  Als  ein 
Zeichen 'dessen  habe  ich  dir  an  einem  verwichenen  Tage  einen 
in  dem  Hause  vererbten,  im  Geheimen  aufbewahrten  Gegen- 
stand anvertraut.  Es  mag  ein  Zeichen  sein,  dass  ich  mein 
Wort  nicht  breche.  Ich  wollte  dir  hier  gelbes  Gold  geben. 
Indem  ich  daran  denke,  ist,  wie  ich  sehe,  mein  Busen  ganz 
leer.  Nicht  lügen,  ist  Gewohnheit  des  Kriegers,  wie  könnte 
ich  eine  unbegründete  Sache  gesagt  haben  ?  Der  tiefe  Argwohn 
wurde  verstanden,  der  Zweifel  wurde  gelöst.     Also  eilet! 

Kaki-aguru  \  kago-wo  sika-to  teo-ku-rh  \  kotoba-mo  kakezu 
fiki-todome  \  kukuri-si  nawa-wo  tokan-to  sit.  Fan-go-ro-wa  ^^  ^j^ 
(gdku'Zen)-to  si  |  ijj^E  ^  (ked-kiynase-si-ga  teo-ku-ro  \  sono  nawa 
toka-ba  tatsi-matsi-ni  \  tonde  ide-nan  fina-no  ko-tori  \  mata  toH- 
nt'gasan  kokoro-ni-ja-to  \  tagajeru  fan-go-rb  totte  tsuki-noke  \  sude- 
ni  c-sen-wo  fiki-idasan-to  su,  Fan-go-rb  o-oi-ni  ikari  |  kiki-wake- 
nctsi'to  teo-ku-rb-ga  \  jeri-gami  totte  fiki-tbsi  \  suwa  kono  fimorto 
kaki'idasu. 

Die  getragene  Sänfte,  ohne  ein  Wort  zu  sprechen, 
fest  anhaltend,  wollte  Teo-ku-rö  die  Stricke,  mit  denen  sie 
gebunden  war,  lösen.  Ban-go-r6,  vor  Staunen  ausser  sich, 
dachte:     Er   ist   wahnsinnig  geworden.     Wenn  Teo-ku-ro    die 


314  Pfitmaier. 

Stricke  löst,  wird  das  KtichleiD;  der  kleine  Vogel  plötzlich 
herausfliegen.  Oder  geschieht  es  in  der  Absicht,  sie  entfliehen 
zu  lassen  ?  —  Jener,  den  sich  widersetzenden  Ban-go-r6  fassend 
und  wegstossend,  schickte  sich  schon  an,  0-sen  herauszuziehen. 
Ban-go-r6,  sehr  zornig,  ergrifi^  mit  dem  Worte:  Unüberlegt! 
Teö-ku-rö  bei  dem  Kragen  und  zog  ihn  zu  Boden.  Mit  dem 
Rufe:    Ach  in  dieser  Zwischenzeit!  trug  man  die  Sänfte  weg. 

Kago-ni  teo-kii-rh-wa  sigami-tsxild  \  matoka-naru  me^wo  muld' 
idasi  I  -^  -^  (bu'siyni  itsuwmn  naki-zo-to-wa  \  dono  kutsi-wo 
mote  ijei'u  naran.  Mtisiime-too  "Mf  M  (siil-bi)  ^S]  (joku)  wafasi- 
na-ha  \  fone-icori-siro-wa  nare-ga  nozomi-ni  \  atajen-to  si-mo 
itcazarU'ja.  Ki-gane-ico  je-maku  omö-kara  \  Ä  M^  (faku-ßbj-ico 
fnmu  aja-nki  waza-sife  \  on-mi-no  jfe  Ä  (fon-i)'WO  toge-sase- 
si-ni  I  kiini-m  kajeri-te  notsi-iii-to-wa  sa-mo  naga-naga-aiki  jama- 
doH-no  I  O'koto-ga  kokoro-no  mani^-mani-wa  \  je-koso  mata-mazi 
ima-to  iü  \  ma-wo  dani  ososi  fM-gane  momo-gane  |  sore  dani  ono- 
ga  kokoro-ni  tarazwha  \  atara-siro-mono  je-koso  nritasazi. 

Teo-ku-rö  hielt  sich  an  der  Sänfte  fest,  machte  die  runden 
Augen  heraustreten  und  sagte :  ,Das8  ein  Krieger  nicht  lügt, 
mit  welchem  Munde  wird  dieses  gesagt  werden?  Habt  ihr  nicht 
gesagt,  dass,  wenn  ich  das  Mädchen  ganz  glücklich  überbringe, 
ihr  mir  eine  Vergütung  für  die  Mühe  nach  meinem  Wunsche 
geben  werdet?  Weil  ich  gelbes  Gold  zu  erlangen  wünschte, 
unternahm  ich  eine  Sache,  welche  gefahrlich  ist  wie  das  Treten 
auf  dünnes  Eis,  und  Hess  euch  eure  Absicht  erreichen.  Ihr 
saget:  Wenn  ich  in  das  Reich  zurückgekehrt  sein  werde.  Ich 
kann  nicht  warten,  bis  ich  es  nach  eurem  Belieben,  nach  des 
ewigen  Bergvogels  Belieben  erhalte.  Selbst  den  gegenwärtigen 
Augenblick  halte  ich  für  spät.  Tausend  Kobang,  hundert  Kobang, 
wenn  ich  damit  eben  nicht  befriedigt  werde,  kann  ich  die 
neue  Waare  nicht  überbringen.' 

On-mi-ga  kuni-ni  kajeri-jvki-te  \  ki^gane  totonoje  ki-iamo 
viade  I  siro-mono-wa  onore  adzukai^u.  Kane^wa  on-mi-no  mono 
siro-mono-tva  ko-tsi-no  mono  \  tare-ka  watasanu-wo  ^k  (^J-'wn- 
to  iü'beki.  To-ni  kaku  miisume-wa  ite  koso  kajere.  Kakaru  on- 
mi-ga  J^  ^  (dztü-daij-mo  \  ware-ni  ^^  (jekiynaki  kono  ko- 
dzuka  I  sara-ba  kajesu-to  iü  niama-ni  j  kata-je-ni  fata-io  utsi-sute- 
tsutsu  I  nawo-mata  kago-wo  ßrakan-to  su. 


Dftfl  Hau  •ioM  StotthAlten  Ton  rari-ma.  315 

^Bis  ihr,  in  das  Reich  zurückgekehrt,  gelbes  Gold  her- 
schaffet und  kommet;  bleibt  die  Waare  mir  anvertraut.  Das 
Geld  gehört  euch,  die  Waare  gcihört  mir.  Wer  könnte  sagen, 
es  sei  unrecht,  dass  ich  sie  nicht  überbringe  ?  Jedenfalls  werde 
ich  mit  dem  Mädchen  heimkehren.  Eine  solche  von  euch  die 
Geschlechtsalter  hindurch  aufbewahrte  Sache,  den  für  mich 
nutzlosen  kleinen  Stiel,  ich  gebe  ihn  also  zurück.'  —  Indem 
er  dieses  sagte,  warf  er  den  Gegenstand  bei  Seite  und  schickte 
sieb  noch  immer  an,  die  Sänfte  zu  öffnen. 

Ban-go-rb  nani  omoi-ken  omote-wo  jawarage  nare-ga  kotoba 
toki-te  Jl^  (ri)  ari.  Ware  — •  "«  (fitO'koto)'no  ^  ^  (tsin-zia)- 
mo  nasi.  Sara-ba  inia  sukosi  jnki-te  \  nani-wa-no  kata-ni  itari- 
na-ba  \  ki-gane  motomen  josu-ga-mo  ari,  Tote-mo  ^  ^  (ku-ro)- 
no  isui-de-nite  \  kano  tokoro-mcuJe  ajvmi'kure-jo.  Teo-ku-rb-wa 
utsi-fowo-emi  \  ki-gane  dani  mi-ni  tsuku  kofo  nara-ba  \  uayii-ica- 
tca  oroka  minn  moro-kosi  ^  4A  (ien-dzikn)  ^  5J|$  (d-naj-wo- 
mo  fowo9i-to  sezu.  Sara-ba  kago-no  ^S   (siil)  isoge-iro-to. 

Ban-go-rö  —  er  mochte  etwas  gedacht  haben  —  nahm 
eine  ruhige  Miene  an  und  sagte:  Wenn  ich  deine  Worte  er- 
kläre, hast  du  Recht.  Ich  habe  nicht  ein  einziges  Wort  zur 
Entschuldigung.  Ich  werde  also  jetzt  ein  wenig  weiter  gehen, 
und  wenn  ich  zu  der  Seite  von  Nani-wa  gelange,  habe  ich 
Mittel,  gelbes  Gold  zu  erlangen.  Gehe  jedenfalls,  nach  Maass- 
gabe der  Mühe,  bis  zu  jenem  Orte  mit.  —  Teo-ku-ro  erwiederte 
lächelnd:  Wenn  es  nur  der  Fall  ist,  dass  mir  gelbes  Gold 
zusteht,  so  halte  ich,  von  Nani-wa  nicht  zu  reden,  auch  die  un- 
gesehene westliche  Erde,  Indien  und  China,  nicht  für  entfernt. 
Eilet  also,  Leute  der  Sänfte ! 

Toi'taru  nawa-wo  fiki-musubi  koko-wo  sime  kasiko-wo  ßke- 
clo  I  ju-dan-wo  mi-sumasi  nuki-uisi-ni  \  teo-ku-rb-ga  kata-saki 
— >  t|"  (san-sunj-bakari  \  zu-ba-to  kire-ba  atto  sakende  tbre-sama  \ 
fan-g(Hrb'ga  asi-ni  sigami-tsuki  onore  fone-wori-fdro-wo  ubawan- 
to  Jotoke-ni  tsikaki  teo-ku-rb-wo  damasi  utsi-to-wa  ^  j^  (fi- 
keo)  nari,  Ja-jo  kono  watari-no  fito-hito-jo  \  ide-ai-tamaje  fito- 
gorosi'fo  I  wameki-nagara-mo  ban-go-rb-ni  \  tsukami-kakaru-too 
si'jatsu  ^  -^  (men-doj-to  furi-fodoki-sama  eguru  fi-bara  \  ^ 
(siHJ-wo  uri-tani  -J^  'S  (ten-batauj-no  \  ika-de  nogaren 
P3  ^  A  ^  (W-/«<-/aÄ:Ä:/t)  |  ^  ^  (kO'kü)'WO  tsukande  Jj^ 
f8i)'St'tari'k€i'i, 


316  Pfixmaier. 

Hiermit  band  er  den  gelösten  Strick  zusammen  und  war, 
obgleich  hier  schnürend,  dort  ziehend,  sorglos.  Jener  bemerkte 
dieses.  Das  Schwert  ziehend  und  zuschlagend,  hieb  er  die 
Schulter  Teö-ku-rö's  drei  Zoll  tief  ein.  Mit  einem  Schrei  zu 
Boden  fallend,  hielt  sich  Te6-ku-r6  an  dem  Fusse  Ban-goro'ß 
fest  und  rief:  Um  den  Lohn  für  meine  Mühe  zu  entreissen, 
den  nahe  an  Buddha  stehenden  Teö-ku-r6  betrügen  und  tödten, 
ist  das  Ende.  Leute,  die  ihr  an  dieser  Durchfahrt  seid,  kommet 
herbei!  Ein  Mörder!  —  So  schreiend,  wollte  er  sich  an  Ban- 
ge-rö  mit  den  Händen  anhängen.  Mit  den  Worten:  Der 
Mensch  ist  lästig!  schüttelte  ihn  dieser  ab  und  hatte  ihm  in 
demselben  Augenblicke  die  Seite  der  Rippen  ausgehöhlt.  Wie 
sollte  der  Himmelsstrafe  dafür,  dass  man  den  Vorgesetzten 
verkauft  hat,  zu  entkommen  sein?  In  vierfacher,  achtfacher 
Qual  ergriff  Te6-ku-rö  den  leeren  Raum  und  starb. 

Zu-ha-to  kiru  ist  so  viel  als  zuppari-to  kiru  ,mit  Heftigkeit 
durchhauend  Es  soll  ein  Wort  der  gewöhnlichen  gesprochenen 
Sprache  sein. 

Ban-go-rh-wa  atari-wo  mi-mawasi  \  ^^  |K  (kin-zo)  ^  ^ 
(un-feij-ra-ni  si-gai-wo  kakusasime  \  furm-ononoku  kago-kaki-tco 
Jobi'te  I  kano  kago-wo  kaki-age-saae  \  itsi-asi-dasi-te  fasircm-to 
stiru-ni  \  kata-je-no  Bf  ^  (asi'ma)-joii  ßtori-no  mono-no  fu 
araware-idzuru-to  mije-taru-ga  sono  mama  kago-no  ^^  m,  (^o- 
bana)  oeaje  \  JZl  J  (ni-tchj-tatsi-m-zo  tattaH-keru.  Köre  nan- 
bitO'ZO  sato-mi  i-suke  taka-itsu  nari. 

Ban-go-rö,  rings  umherblickend,  Hess  durch  Rin-zo  und 
Un-fei  den  Leichnam  verstecken.  Er  rief  die  zitternden  Sänften- 
träger, Hess  jene  Sänfte  emporheben  und  wollte  mit  schnellen 
Schritten  enteilen,  als  zwischen  dem  zur  Seite  befindlichen 
Schilfrohr  ein  Krieger  hervorzukommen  schien.  Derselbe  drückte 
sogleich  das  Ende  der  Sänftenstange  nieder  und  stellte  sich  in 
der  Haltung  der  zwei  Könige  vor  ihn  hin.  Was  für  ein  Mensch 
war  dieser?     Es  war  Sato-mi  I-suke  Taka-itsu. 

Ban-go-ro-wa  — •  ^    (ikkeSJ-se-si-ga   \    ^  1^   (mu-tai)- 
ni  kago'WO   osi-jartt-ni  \  i-suke-mo    ^^  p||J    ^   (kon'gb^ki)'^^) 
idasi  \  korO'korO'to  osi-modose-ha  \  kin-zo  un-fei  kago-no  mono 
ßtosi'ku  kago-wo  utaUotosi  \  sirl-je-ni  do-to  thre-fusu. 


Dm  Hans  •taes  Stftttküten  ron  Fari-ma.  317 

Ban-go-rö  war  erschrocken.  Er  schob  mit  Gewalt  die 
Sänfte  fort,  doch  auch  I-suke  entfaltete  die  Kon-g6kraft  und 
drängte  ihn  heftig  zmück.  Kin-zö,  Un-fei  und  die  Sänften- 
träger Hessen  gleichzeitig  die  Sänfte  fallen  und  stürzten  rück- 
lings zu  Boden. 

Ban-go-rb  o-oi-ni  ikari  \  nandzi  nani-mono  nare-ba  ^  ^^ 
(fu'i)-ni  ide-kite  \  waga  j^  ^  (wb-rai)-wo  samatagen-to  suru- 
ja,  I-stike  ^  ^J\  (kuan-zi)'to  utsi-warai  |  ware-wa  aka-t^uki-ke- 
no  asi-garu-ni  \  sato-mi  i-suke-to  iü  mono  nai-i,  Ju-e  atte  saki-joi-i 
ukagcd  ^  ^t  (si-matsn)  koto-goto-ku  ^  pS  (mi-monyseri, 
Mata  kono  kago-nai-u  wonna-ni-wa  \  wäre  sukosi-no  ffl  (j6) 
are-ba  I  B.  <^  (i-gij-naku  wa-nami-ni  tcatasu-besi.  Most  ajamatle 
majori'Wo  tori  wonna-wo  watasazi-to  suru  nara-ba  |  wäre  nandzi- 
ra-wo  itaku  korasan.  Fajakn  wonna-wo  idase-jo-to. 

Ban-go-r6,  sehr  zornig,  rief:  Was  für  ein  Mensch  bist 
du,  der  du  unverhofft  hervorkommst  und  meinem  Gehen  und 
Kommen  hinderlich  sein  willst?  —  I-suke  lächelte  und  sagte: 
Ich  bin  ein  Fussgänger  des  Hauses  Aka-tsuki  und  heisse  Sato- 
mi  I-suke.  Aus  einer  Ursache  habe  ich  vorhin  gespäht  und 
alles  vom  Anfang  bis  zu  Ende  gesehen  und  gehört.  Da  ich 
ferner  das  in  dieser  Sänfte  befindliche  Weib  ein  wenig  brauche, 
so  wird  man  sie  mir  ohne  Widerrede  ausfolgen.  Wenn  man 
eine  Irrung  annimmt  und  thut  als  ob  man  das  Weib  nicht  aus- 
folgen dürfe,  so  werde  ich  euch  alle  empfindlich  züchtigen. 
Schnell,  gib  das  Weib  heraus! 

Kiku'jo^'i  ban-go-rh  *ß  ^  (fun-zenj-to  site  \  kanete  kiki- 
ojobu  sato-mi  i-suke  \  manekazaru-ni  jokn  ^  j/j^  (si-tsij-ni 
kitareri.  Ide-ja  o-aen-wo  watasi-jaran  ,  aore-to  p^  J^  (red'si)-ni 
me-kubase-sure-ba  kin-zb  nn-fei  tsit-to  tatsi-joH  kobusi-wo  katamete 
7^  yb  (sa-jüj-jori  i-sttke-ga  g^  J^  (dzu-zeo)-wo  utte  kakare-ba  \ 
i'Suke  sukasazu  mi-wo  ßraku-ni  \  tsikara-amari-te  kin-zb  un-fei  \ 
kata-mi-ni  omote-wo  ^  -^  (do-si)  uttd-ai  \  ^  J^  (reo-si)  ikatte 
muna-^noto   kosi-giwa  '^  ^  {zen-go)'^i   wakarete  sika-to   torii. 

Sobald  Ban-go-rö  dieses  hörte,  entgegnete  er  aufgebracht: 
Sato-mi  I-suke,  von  dem  ich  schon  gehört  habe,  wurde  nicht  ge- 
beten, er  ist  auf  dem  Boden  des  Todes  willkommen.  Wohlan !  Ich 
werde O-sen  ausfolgen.  So!  —  Hiermit  richtete  er  den  Blick  auf  die 
beiden  Kriegsmänner.    Kin-z6  und  Un-fei  erhoben  sich  sogleich, 


318  Pfiimaier. 

ballten  die  Fäuste  und  begannen^  von  rechts  und  links  auf 
das  Haupt  I-suke's  zu  schlagen.  I-suke,  unmittelbar  sich  er- 
schliessend,  schlug  mit  übermässiger  Kraft  die  Angesichter 
Kin-zö's  und  Un-fei's  aneinander.  Die  beiden  Kriegsmänoer, 
zornig,  erfassten  ihn,  nach  vorwärts  und  rückwärts  sich 
trennend,  fest  an  Brust  und  Hüften. 

I-Buke  1j^  ^  {hi-8ed)-si.  sitoorasi-ja-to  \  muna-moto  tm-si 
tm-fei-ga  |  ^ide-kuhi  sika-to  ta-nigire-ha  ffit  (miaku)  saje  taje- 
faru  kokotsi'site  \  masasi-ku  ^  |ß|  (en-koj-ga  furi-sagam-ga 
gotoku  I  tsuri-age-nagara  mi-gi-de-mote  usiro-ni  tori-tsuku  ^  ^ 
(fatsvrse)  kin-zb  \  ohi-giwa  totfe  usiro-  ^^  r?^>)-wi  |  fatta-fo  ^ 
(ke)  re-ba  fvsi-marobv-wo  \  okosi-mo  tatezn  J^  "7C  (sokkaj-ni 
fume-ha  I  ataka-mo  midzu-xco  ojogn-ga  gotoku  te  asi-wo  mogakn- 
wo  han-go-ro  |J^  "^  (gan-zen)  ^  -£-  (ribsi)-ga  tfi-gome-^o 
ari'Sama  \  mi-kanefe  usiro-je  mawaru-to  fitofti-ku  \  ^^  -Jl^  (d^n- 
kub)  ina-dzuma  nuki-ritsi-ni  '  i-suke-ga  kata-saki  h'ri-t»iJcurU'WO 
8a  sittaru-wa-to  snto-mi  i-suke  firari-to  kawase-ba  "^  |^  Q'oii- 
^^)  %J  iü  (fafsu-se)  I  mi'tari  ßtosi-ku  nuki-tsurete  \  kanaje-no 
gotoku  ^  H^  (aan'hb)'jori  kitte  kakare-ba  jamu  koto-tco  jezn 
isuke-mo  onnzi-ku  katana  masaguH  \  mi-tari-wo  ai-te-ni  kiri- 
musubn. 

I-suke  lächelte.  Mit  dem  Rufe:  O  herrlich!  erfasste  er 
mit  festem  Griffe  das  Handgelenk  Un-fei*s,  der  ihn  an  der 
Brust  ergriffen  hatte.  Während  dieser  ein  Gefühl  hatte,  als 
ob  die  Adern  nur  zerrissen  wären,  hakte  er  ihn  gerade  einem 
sich  herabschwingenden  Affen  ähnlich  auf,  erfasste  dabei  mit 
der  rechten  Hand  das  Gürtelende  Fatsu-se  Kin-zö*s,  der  ihn 
rückwärts  festhielt,  und  trat  ihn,  nach  rückwärts  mit  dem 
Fusse  ausschlagend,  nieder.  Den  zu  Boden  Fallenden  nicht 
aufstehen  lassend,  trat  er  ihn  unter  den  Füssen.  Gerade  als  ob 
er  in  dem  Wasser  schwämme,  verdrehte  dieser  Hände  und 
Füsse.  Ban-go-rö,  nicht  im  Stande,  die  unbeholfene  Haltung 
der  beiden  Kriegsmänner  zu  sehen,  drehte  sich  nach  rückwärts 
und  führte,  zugleich  blitzschnell  das  Schwert  ziehend,  einen 
Hieb  nach  I-suke's  Schulter.  Als  Sato-mi  I-suke,  dieses  früh- 
zeitig erkennend,  hurtig  den  Platz  wechselte,  zogen  Josi-no  und 
Fatsu-se  die  Schwerter,  und  drei  Menschen,  einem  dreifüssigen 
Kessel  gleich,    hieben   in   Gemeinschaft;   von   drei   Seiten   ein. 


Dm  Hans  eines  StattluütoTs  tod  Fari-ma.  319 

I-suke,  der  nicht  ablassen  konnte,  suchte  ebenfalls  nach  dem 
Schwerte,  machte  die  drei  Menschen  zu  Gegnern  und  hieb  auf 
einen  nach  dem  anderen  ein. 

I-suke-wa  moto-jori  mi-tari-wo  korasi  ,  ^  |||  (hu-nanyni 
(hun-wo  tori-kajesan-to  j  (mrai-asirai-i-iari-sUga  \  kaku-te-ioa  fatezi-- 
to  me-ico  ikarasi  \  nandzi-ra  mi-tari-ni  ada  na-kere-ba  ]  ikete  kajesan- 
to  omoi'8i-ni  \  mi-no  fodo  nranu  natsu-mtm-no  |  fonde  sono  mi- 
u>o  kogasan-^to-ka.  Ima-wa  nani-wo-ka  hM  IS^  (t8i-yi)-su  beki-to  \ 
Q  ^  (faku-zin)  fito-furi  furn-jo-to  mye-si-ga  \  un-fei  kin-zb 
kaia-saki  fi-bara  \  kissaki  ftikaku  kiri-sagerare  \  na-m  6  un-fei 
^  ^  (rakkun)  :^  ^  (mi-dzin)  kin-zb  momiJzi-no  tsirajeru 
gotoku  I  kara-kurenai-ni  tbre-fusu. 

I-suke,  der  eigentlich  die  Drei  züchtigen  und  0-sen  ohne 
Mühe  zurücknehmen  wollte,  war  schonend  verfahren.  Da  es  so 
nicht  zu  Ende  ging,  blickte  er  zornig  und  rief:  Da  zu  euch  Dreien 
keine  Feindschaft  besteht,  gedachte  ich,  euch  lebendig  zurück- 
zuschicken, doch  will  das  seine  Lage  nicht  kennende  Sommer- 
inseet  im  Fluge  sich  verbrennen?  Wess wegen  sollte  ich  jetzt 
zögern  und  zweifeln?  —  Hierbei  sah  man,  wie  die  blosse  Klinge 
sausend  niederfuhr.  Die  Schulter  und  die  Rippen  Un-fei's  und 
Kin-zö's  wurden  von  der  Schwertspitze  tief  durchhauen.  Die 
an  dem  Namen  getragenen  fallenden  Blüthen  Un-fei*s  wurden 
Staub,  Kin-zö,  als  ob  rothe  Blätter  sich  zerstreuten,  stürzte 
und  lag  in  chinesischem  Safranroth  auf  dem  Boden. 

Josi-no,  der  Geschlechtsname  Un-fei's,  findet  sich  nebst 
■^  1^  josi-no  ,glückliches  Feld'  auch  ^  |^  (josi-no)  ,wohl- 
riechendes  Feld'  geschrieben,  daher  die  Anspielung  auf  Blüthen, 
^$  |8|  (Kin'Zb)j  übrigens  auch  ^  ^  (Kin-zb)  geschrieben, 
bedeutet  ,Kamraer  des  Goldbrocats',  daher  die  Anspielung  auf 
rothe  Blätter. 

Ban-go-^*b'Wa  kore-ni  ^  j[||  (kib-ku)-8i  |  itsi-asi  dasi- 
fe  ntgen-to  stiru-wo  \  tofte  fippase  j^  "TC  (sikka)-ni  osaje  ' 
kafxt-je-ni  otn-taru  ko-dzuka^wo  firoi  ,  tokku-to  nagame  — *  ^ 
(ikked)-st''tstitsu  \  inotsi  tcoai-ku-wa  tasuke-mo  jescisen.  Sari-nagara 
to  koto  ari.  Saki-ni  teo-kx^-rb-to  ^  ^HT  (mon-dd)'ni  \  won-mi-wa 
"^f  f^  (dzi'(l'dai)'no  mono  naH-to-mo  \  ware-ni-wa  sara-ni  ^^ 
(jeki)'nast'to  \  nage-kajesi-taru  kono  ko-dziika  \  nana-ko-dzi-ni 
ijfff^  ^  (si'8i)-no  ^  (8aku)'mor\o  \  kore-wo  ^  ^  (dzril'dai)- 
to  si-mo  ijeru,  Nandzi-ga  j^  ^^   (sei-mei)   tsutstimazu  na-nore. 


320  Pfixmaier. 

Ban-go-r6;  darüber  entsetzt,  streckte  schnell  die  Fiisse 
aus  und  wollte  entfliehen.  Jener,  ihn  ergreifend,  zog  ihn  nieder 
und  drückte  ihn  unter  die  Knie.  Den  zur  Seite  herabgefallenen 
kleinen  Stiel  auflesend  und  ihn  genau  ins  Auge  fassend,  sagte 
er  erschrocken:  Wenn  dir  um  das  Leben  leid  ist,  werde  ich 
dir  Hilfe  angedeihen  lassen.  Indessen  habe  ich  etwas  zu  fragen. 
Dieser  kleine  Stiel,  das  Werk  mit  einem  Löwen  auf  einem 
Fischgrunde,  welches  vorhin  im  Gespräche  mit  Te6-ku-r6  mit 
den  Worten:  Für  euch  mag  es  ein  die  Geschlechtsalter  hin- 
durch vererbter  Gegenstand  sein,  für  mich  ist  es  ganz  ohne 
Nutzen!  zurückgeworfen  wurde,  man  hat  es  einen  die  Oe- 
schlechtsalter  hindurch  vererbten  Gegenstand  genannt.  Nenne 
ohne  Rückhalt  deinen  Geschlechtsnamen  und  Namen! 

Ban-go-ro-ioa  ima  kakaru  wori-kara  \  ^  ^^  (ka-meij-wo 
tsugen-wa  kutsi-wosi-kere^domo  \  itsuioari-tari-to-mo  jo-mo  jurusazi- 
to  I  ware-wa  tSf  W  (ban-siü)  kb-tari-no  -^  ^  (reo-siü)  han- 
gorTÖ-to  si-mo  lü  mono  nari-ga  \  mala  sono  ko-dzuka-wa  ije-no 
Ä  -f^  (dziü'dai)  \  waga  J^  ij^  (do-dziynam-ni  ^  ^  (/«- 
8in)-ga  am, 

Ban-go-r6  erwiederte:  Jetzt,  in  einem  solchen  Augenblicke 
den  Namen  des  Hauses  nennen,  ist  zwar  bedauerlich,  doch 
dass  ich  gelogen  habe,  darf  ich  niemals  zugeben.  Ich  bin  der 
leitende  Vorgesetzte  von  dem  Geschlechte  K6-tari  in  Fari-ma 
und  heisse  Ban-go-ro.  Auch  ist  dieser  kleine  Stiel  ein  die 
Geschlechtsalter  hindurch  aufbewahi'ter  Gegenstand  des  Hauses. 
Dass  ich  ihn  besitze,  hat  etwas  Wunderbares  an  sich. 

I-suke-wa  ko-tari-no  -^  i  (re6-8iü)'to  kiki  \  nani  omoi' 
ken  fiza-wo  jurume-ha  \  je-tari-to  ban-go-rh  oki-tatte  \  tada  fito- 
utsi-to  furi-agtiru  \  ahara-wo  teo-to  i-svJce-ga  te-no  utn  \  han-go- 
rh  tamarazu  nokke-sama-ni  |  dö-to  tbruru-wo  mi-muki-mo  jarazu  \ 
^^  FJI  (kuai'tsiil)  ma-saguri  f^  >|$  i^^^^'ß)^^^^  kb-gai  \  fori- 
idasi-tsutsu  kano  ko-dzuka-to  \  tJ"  ^  (sun-bun)  tagawanu  ^  ^ 
(do'saku)    ^  ^  (d6-mei). 

I-suke,  das  Wort  ,leitender  Vorgesetzter  von  dem  Ge- 
schlechte K6-tari'  hörend,  lockerte  —  was  mochte  er  gedacht 
haben  —  die  Knie.  Ban-go-rö,  Zeit  gewinnend,  erhob  sich. 
Mit  den  Worten:  Nur  einen  Schlag!  versetzte  ihm  Jener  mit 
der   erhobenen    flachen    Hand   einen    Schlag   auf   die   Rippen. 


Du  Hau  eines  SUtthalters  von  Fari-ma.  321 

Ban-go-r6,  es  nicht  aushaltend,  fiel  rücklings  zu  Boden.  Ohne 
nach  ihm  zu  blicken,  suchte  I-suke  in  dem  Busen  und  nahm 
eine  einästige  Haarnadel  heraus.  Sie  war  von  jeiiem  kleinen 
Stiele  nicht  im  geringsten  verschieden,  es  war  dasselbe  Werk, 
dieselbe  Inschrift. 

Ihukaru  wori-kara  kanata-jori  \  tohi-huru  ^  ^  j^  (siü' 
ri'ken)  i-stike-ga  maje-ni  \  sttku-to  tafe-ni  \  i-suke  smoagazu  \  nvki- 
tofte  mire-ba  ko-wa  ikn-ni  \  kore-nan  — •  Äf  (ittstiij-no  kb- 
gai  nari,  l-suke  odoroki  mi-aguru  ffij  "iw  (men-zen)  \  fitorUno 
Ü^  ^  ^  («iÄ-y«o-2iaj  fs^tki'fafai'tsufsti  ika-ni  waka-ndo  \  sono 
kh-gai-wa  oboje-ari-ga.  I-svke  kofajefe  ika-ni-mo  sikari  \  won- 
mi  mala  ika-ni^site  ^  j^  (knta-je)  ^fi(  1f^  (sio-dziyaurn-jn. 

Während  er  sich  verwunderte,  blieb  ein  von  der  anderen 
Seite  berbeifliegendes  Wurfschwert  gerade  vor  I-suke  stecken. 
I-suke  zog  es  unerschrocken  heraus  und  sah  es  an.  Wie  war 
dieses?  Es  war  die  eine  Haarnadel  des  Paares.  Als  er  voll 
Erstaunen  aufblickte,  stand  dicht  vor  ihm  ein  den  Wandel 
Ordnender  und  sagte:  Junger  Mann!  Ist  dir  diese  Haarnadel 
bekannt?  —  I-suke  erwiederte:  Wie  kommt  dieses  und  wie 
besitzest  du  noch  den  einen  Ast? 

Siü-geo  zia  kotajete  \  waga  kata-je-ico  fifr  Ij^  (sio-dzt)- 
nnsu-ni-wa  \  — •  j&  (itsi-dioj-no  si-sai  nri,  Waka-udo-ga  imtfa 
fff  ^  (siO'dziJ'tidsU'Wa]  tsitsi-no  judzurl-ga  kika-ina-fosi.  I-suke 
uuadzuki  wäre  imada  \  -^  J\^  ^  (roku'sitsisaiyno  wori-kara 
tsitsi-iiaru  mono  \  kono  kb-gai-wo  ware-ni  ataje  |  si-sat  atte  kono 
fito-sina  \  nandzi-ni  sadzuke-aü)  mama  \  SB  ^  (tto-ho)  fada-mi- 
ICO  fanatazu  mote-jo  \  Ö  ^  (si'Zen)-ni  omoiawasii  koto  aru- 
besi'to  I  i'i'8i  fakari-ni  si-sai-wo  katarazu. 

Der  den  Wandel  Ordnende  erwiederte:  Dass  ich  den 
einen  Ast  besitze,  hat  eine  Ursache.  Hinsichtlich  desjenigen, 
welches  der  junge  Manu  noch  besitzt,  möchte  ich  hören,  wie 
es  der  Vater  hinterlassen  hat.  —  I-suke  nickte  mit  dem  Kopfe 
und  sagte :  Als  ich  erst  sechs  bis  sieben  Jahre  alt  war,  gab  mir 
der  Vater  diese  Haarnadel  mit  den  Worten :  Ich  übergebe  dir 
aus  einem  Grunde  diesen  Gegenstand.  Behalte  ihn,  ohne  ihn  am 
Morgen  und  am  Abend  von  deinem  Leibe  zu  lassen.  Es  wird  sich 
vielleicht  etwas  ereignen,  das  du  in  Gedanken  damit  zusammen- 
stellst —   Er  sagte   mir  nicht  den  Grund  dieser  Vermuthung. 

SitzuQgsber.  d.  phil.-hi>t  Gl.  LXXXYII.  Bd.  I.  Uft.  21 


322  Pfizasier. 

Siü-gib-zia-ioa  ke-sikt-site  '  sate-koao  aate-koso  \  wäre  makofo- 
wa  kh'tari-  ^  (ke)'no  womuni  \  naga-wo  aa-e-mon  kazu-sada-to 
ijei^  mono.  Itau-zo-ja  ban-stü  ^  ||^  (kuma'8aki)'7io  iri-je-nite 
ajasi-ki  de-tatsi-no  — •  'jÖ  (ikko)-no  mono-no  fu\juki'tngai-sama 

togame-si-ni  ,  kotaje-ni  Jffi  (6)'zite  sono  kb-gai  ware-ni  utsi-kake 
jami-wa  aja-naku  \  ato-wo  kuramasi  otsi-use-taru-wa  \  nandzi-ga 
tsitai-nite  ari-keru-na. 

Der  den  Wandel  Ordnende  machte  ein  Gesicht  und  sagte : 
Also!  Also!  Ich  bin  in  Wirklichkeit  ein  Diener  des  Hauses 
Kö-tari  und  heisse  Naga-wo  Sa-e-mon  Kazu-sada.  In  dem 
Augenblicke  als  ich  einst  an  der  Einfahrt  von  Kuma-saki  in 
Fari-ma  einem  Krieger  von  seltsamem  Aussehen  begegnete, 
beanständete  ich  ihn.  Als  Antwort  warf  er  die  Haarnadel  auf 
mich.  In  der  Dunkelheit  war  nichts  zu  unterscheiden,  er  A^er- 
barg  seine  Spuren  und  verschwand.    Es  war  dein  Vater! 

I'SuJce  sara-ni  >p  ^^  (fu-trinj-nasi  |  naga  toku  tokoro  sono 
jSp  (i)-wo  jezu.  Waga  tsitsi-wa  moto  tadzi-ma-no  kuni-no  |  ijasi- 
ki  ijj^  Ij^  (gio^'ed)'WO  waza-to  nase-ha  \  so-wa  osoraku-wa  fito- 
tagaje  naran, 

I-suke  war  durchaus  im  Zweifel  und  sagte:  Den  Sinn 
deiner  Darlegung  verstehe  ich  nicht.  Da  mein  Vater  eigentlich 
in  dem  Reiche  Tadzi-ma  niedrigen  Fischfang  und  Jagd  zu 
seinem  Geschäfte  macht,  so  glaube  ich,  dass  hier  eine  Ver- 
wechslung mit  einem  Anderen  stattfinden  wird. 

Sada-kazu  kasira-ivo  sa-jv^ni  furi  \  sono  viania  ijasi-ki 
j^  ^  {gio-zin)'no  mi-nite  \  sono  kh-gat-wa  ika-de  tmtate-si. 
I'Suke-wa  kore-ni  ^  ^  (fen-tbj-naku  \  te-tvo  komanui-te  t^dtatm 
vxyi^'kara  \  sono  si-sai-wa  soregasi  rabsan-to  \  tsutsumi-no  kage- 
joH  fai-ide-taru-wa  \  o-sen-ga  kago-wo  kaki-taru  ;^  ^  (rb-fu) 
kamuri'si  te-nugui-wo    toki-nagara  \  won-mi-wa  S^  ^^  (jo-mei) 

^  ^  ^  (i-no  suke)  narazu-ja,    Ware  koso  tsitstno  ^  r^  ^ 
(i'ta-jHyjo. 

Sada-kazu  schüttelte  den  Kopf  nach  rechts  und  links  und 
sagte :  Wie  hätte  er  somit  als  ein  gemeiner  Fischer  die  Haar- 
nadel vererbt?  —  I-suke  hatte  hierauf  keine  Antwort.  Er  ver- 
schränkte die  Arme  und  erhob  sich  plötzlich.  In  diesem 
Augenblicke  kroch  mit  den  Worten:  Den  Grund  werde  ich 
angeben!    aus    dem    Schatten    des    Dammes    ein    alter   Mann, 


Dm  Hmb  eines  BUtthftltora  tob  Fari-ma.  823 

welcher  die  Sänfte  O-sen's  getragen  hatte,  hervor.  Das  Taschen- 
tuch, mit  welchem  er  sich  verhüllt  hatte,  lösend,  sagte  er:  Ist 
dein  Kindername  nicht  I-no  suke  ?  Ich  bin  dein  Vater  I-ta-jü ! 

I'suke  odorokijoku  mire-ha  \  geni-mo  tadzi-ma-no  tsiUinam- 
ni  I  Ba9u-ga  tsugezu-te  H  j|^  (koku-enj-ae-si  \  sono  ajamatsi-wo 
kajeri-mife  \  kfisira-wo  tarete  i-tari-si-ga  \  i-ta-jü-tca  ko^'e-wa  ^^ 
(sas)  8%  I  sa  na-kokorO'WO-ba  tstiijasi-so,  Aka-tmki-no  ije-no  asi- 
garu'fii  ,  i-siike-to  ijeru  JH  i^  (o'ko)'iw  mono-no  fu  \  ain-to  karte- 
gane  kiku-nnje-ni  \  waga  ko-mo  kakaran  ä  J^  (jü-sij'to  nara- 
ha  I  wäre  nani-fodoka  uresi-karan-to  \  urajami-onio  i-suke-fo 
ijeru'zo  \  tka-de-ka  siran,  Waga  ko  naran-to-toa  \  jorokobi  koso 
8ure  nikusi'to  omowazi.  So-wa  madzu  sasi-oki  kazu-sada-mm-ni 
koto^iowan. 

I-suke,  erschrocken,  blickte  genau  hin:  es  war  wirklich 
sein  Vater  aus  Tadzi-ma.  Indessen  hatte  er,  ohne  es  bekannt 
zu  geben,  sich  von  dem  Reiche  fern  gehalten.  Sein  Ver- 
gehen betrachtend,  stand  er  mit  gesenktem  Haupte.  I-ta-jü 
errieth  dieses  und  sagte:  ,Zerquäle  nicht  so  dein  Herz.  Als 
ich  früher  hörte,  dass  unter  den  Fussgängern  des  Hauses  Aka- 
tsuki  ein  begnadeter  Krieger  Namens  I-suke  sich  befindet,  dachte 
ich  mit  Neid :  Wenn  mein  Sohn  ein  solcher  muthiger  Kriegs - 
mann  wäre,  wie  froh  würde  ich  sein!  Wie  sollte  ich  wissen, 
dass  du  I-suke  genannt  wirst?  Der  Gedanke,  dass  es  mein 
Sohn  sein  wird,  wäre  nur  eine  Freude  gewesen,  es  hätte  mich 
nicht  verdriessen  dürfen.  Vorerst  lasse  ich  dieses  bei  Seite 
und  werde  mit  Herrn  Kazu-sada  ein  Wort  sprechen*. 

Saje-ni,  durch  ^f^  ausgedrückt,  hat  die  Bedeutung  ,zu- 
gleich*. 

Waga  ko-ga  motsi-tai-u  fc  jjs^  (kata'je)-no  kb-gai-wo  \ 
togame-tamh-mo  ^  ^  (fana-wakaydono-no  \  am-ka-wo  sirnn 
tarne  naran,  Sono  waka-gimi-toa  foka  narazi  \  waga  ko  i-no  stdce  | 
imano  na-iva  sato-mi  i-svke-zo  waka-gimi  nari-to. 

,Das8  ihr  an  der  einästigen  Haarnadel,  welche  mein  Sohn 
besitzt,  einen  Anstand  findet,  wird  desswegen  sein,  um  den 
Aufenthalt  des  Qebieters  Fana-waka  zu  erfahren.  Dieser  junge 
Gebieter  ist  kein  anderer.  Mein  Sohn  I-no  suke,  jetzt  mit  Namen 
Sato-mi  I-suke  genannt,  ist  der  junge  Gebieter.' 

Kotoba-ni  i-suke  kazu-sada-mo  \  »J^  ^  (gaku-zenyto  säe 
odoroki-tsutsu  \  si-sai  ika-ni-to   ibvkaru-ni  \  i-da-jü  ma-naka-ni 

21* 


324  Pfitmftiar. 

J^  (za)'WO  simete  \  kaganaje-mire-ha  -p  /V  ^  (ziü-fatsi-nen) 
koro-VM  jajoi'UO  tsu^gomori-gata  \  ^  (jo)  anü  utan-to  kuma- 
saki-no  \  watari-ni  — •  1^  (itsi-jdj-no  fune-wo  ukame  \  iri-je-no 
fasi  8ita-ni  fune-wo  todome  \  fuJcami-ni  ami-vco  zan-bu-to  utsi- 
komu  I  tO'tan-no  W  ^  (fib-styni  fasi-no  uje-jori  db-to  funa- 
soko-ni  otsuru  mono  ari.  Odoroki  junde-ni  adzuna-wo  motsi 
me-de-ni  funa-soko  kai-sagure-ba  \  ani  fakaran-ja  osana-go  nari 

Bei  diesen  Worte  waren  I-suke  und  Kazu-sada  vor  Staunen 
ausser  sich.  Erschrocken  fragend :  Was  ist  der  Grund  ?  hegten 
sie  Zweifel.  I-ta-jü  -  nahm  in  der  Mitte  einen  Sitz  ein  und 
sprach:  ,Wenn  ich  es  überdenke,  sind  es  achtzehn  Jahre.  Es 
war  an  dem  ersten  Tage  des  dritten  Monats,  als  ich  in  der 
Nacht,  um  ein  Netz  auszuwerfen,  in  der  Durchfahrt  von  Kuma- 
saki  ein  Schiff  schwimmen  Hess.  Ich  legte  das  Schiff  unter 
der  Brücke  der  Einfahrt  an.  Ebeu  als  ich  das  Netz  in  die 
Tiefe  warf,  Hei  von  der  Höhe  der  Brücke  ein  Gegenstand  auf 
den  Boden  des  Schiffes.  Erschrocken  fasste  ich  mit  der  linken 
Hand  das  Seil  des  Netzes,  mit  der  rechten  Hand  suchte  ich 
auf  dem  Schiffsboden.  Wie  sollte  man  es  muthmassenV  Es 
war  ein  Knäblein. 

Ko'Wa  ^  J^  (keo-zihyjori  ajainatte  \  tori-otose-si-ka-to 
bgi-mire-domo  \  awtUe-odoroku  fito-nio  nasi.  Sa-wa  tote  jo-fxdct- 
kakaru  ^  ^  (gai'si)-no  \  fitori  fai-kon  jb-mo  nasi.  ^  (Sas) 
suru-ni  ko-wa  ije  madzim-ku-te  \  — •  -^  (issij-ico  fagokumu  |f^ 
(zlütsuj-nasa-ni  \  kano  sute-go-wo-ja  imsi-tarii-ran,  ßSaru-nitemo 
ono-ga  ko-wo  \  'jjc  pb  (sui-tshtj-ni  ^  (idj-zuru  oja-gokoro 
oni-to-mo  4^  (zxa)'tO'mo  itl-be-kere.  Josi-josi  saiwai  waga  ko-to 
si  I  oi'juku  notsi-no  tanosimi-to  sen-to  \  tadatsi-ni  idaki-te  tatsi- 
kajerv. 

,In  der  Meinung,  dass  man  es  von  der  Brücke  vielleicht 
aus  Versehen  herabfallen  gelassen  habe,  blickte  ich  empor, 
doch  es  war  Niemand,  der  erschrocken  gewesen  wäre.  Ich 
sagte  mir  also :  Im  Beginne  der  tiefen  Nacht  kann  ein  Knäblein 
allein  nicht  herbeikriechen.  Nach  meiner  Vermuthung  ist  das 
Haus  arm  und  hat  kein  Geschäft,  um  ein  Kind  zu  ernähren, 
wesshalb  man  das  Kind  weggeworfen  haben  wird.  Das  Herz 
der  Aeltern,  welche  somit  das  eigene  Kind  in  das  Wasser 
werfen,   kann   man  ein  Dämonen-,    ein  Schlangenherz   nennen. 


Das  HftQS  eines  Statthslten  Ton  Fari-m«  325 

Gut!  Es  ist  ein  Glück.  Ich  werde  es  zu  meinem  Kinde  machen 
und  an  ihm,  wenn  ich  alt  geworden  bin,  Freude  haben.  — 
Ich  nahm  es  geradezu  in  die  Arme  und  kehrte  nach  Hause 
zurück/ 

Tsutaumi-m  ajasi-ki  mono-no  fu-no  arasoi  JJ  ^  (asi-ma)- 
je  fisonii  vkagaje-domo  I  ika-naru  si-sai-ga  sara-ni  tokezu.  Jagate 
tcaga  ^  (jaj'f^i  tatsi-kajeri  \  toboai-bi  kakage  joku  mire-ba  \  tama- 
wo  azamukn  ^  ^  (JH-bi)-no  osana-go  \  mi-ni-wa  j^  j^  (red- 
ra)'no  kvnt-wo  matoi-si-xca  \  tada-bito  naranu  tane-to-wa  sire-do  I 
sirare-gataki'Wa  osana-go-ga  ^y  j^  (kata-jej-no  ko-gai  tanigiri- 
te  I  fanatsi-mo  jaramt  am-samn-wa  ko-ion  sute-iaru  ßto-ga  notsi- 
no  sirusi-ka, 

,Den  Streit  mit  einem  seltsamen  Krieger  an  dem  Damme 
hatte  ich,  zwischen  dem  Schilfrohr  versteckt,  zwar  beobachtet, 
doch  aus  welcher  Ursache  er  stattfand,  konnte  ich  mir  durch- 
aus nicht  erklären.  In  mein  Haus  sogleich  zurückgekehrt, 
hängte  ich  eine  Lampe  auf  und  sah  genau.  Es  war  ein  des 
weissen  Edelsteines  spottendes  liebliches  Knäblcin,  um  dessen 
Leib  ein  Kleid  aus  feinem  Seidenflor  gewickelt  war.  Dass  es 
kein  Kind  gewöhnlicher  Menschen  sei,  wusste  ich,  aber  nicht 
wissen  Hess  sich,  warum  das  Knäblein  eine  einästige  Haarnadel 
in  der  Hand  hielt  und  aussah,  als  ob  es  sie  nicht  losliesse.  War 
dieses  ein  späteres  Kennzeichen  für  die  Menschen,  welche  das 
Kind  weggeworfen  hatten?' 

Sara-ba  ^  pb  (sui-tsinj-ni-tcn  ^  (töj-zu-mazi-ki-ga  |  ^ß 
(sas)  Huru-ni  osana-go-no  \  Ö  ^  (si-zenj-ni  ^  pb  (stti-Uiü)' 
ni  :^  (t6)'Zeraren-^oo  \  kokoro-m  osore  siite-si  oja-wo  \  fanare-zi 
mono-io  kore-kare-ni  \  tori-tstiki  8vgaru  sono  worini  \  mosi  ntike- 
idesi'wo  ^  ^  (isikara-giyto  \  ta-nigiH-nagara  otsi-tari-si-ga  \ 
to-mare  kakit-mare  mi-ni  soje-na-ba  \  notsi-no  sv^si-to  ßsome- 
oki-si-ga, 

,Dann  hätte  man  es  nicht  in  das  Wasser  werfen  dürfen. 
Nach  meiner  Vermuthung  war  das  Knäblein,  als  es  mit  Bedacht 
in  das  Wasser  geworfen  werden  sollte,  im  Herzen  voll  Furcht 
und  hielt  sich,  damit  es  der  Vater,  der  es  wegwarf,  nicht  los- 
lasse, hier  und  dort  fest.  In  diesem  Augenblicke  zog  es  vielleicht 
die  Haarnadel  heraus,  und  indem  es  dieselbe  als  einen  Baum 
der  Stärke  ergriflF,    fiel  es  herab.     Es  mochte  wie  immer  sein, 


326  Pfismaier. 

wenn  ich  sie  mir  aneignete^  so  war  es  ein  späteres  Kennzeichen^ 
und  ich  legte  sie  heimtich  nieder/ 

Soiio  notsi  otn-kotsi-no  uwasa-wo  hiku-ni  \  kb-fari-no  mi-taisi- 
no  waka-gimi-wo  \  nan-mono-ga  tihai-toH-si-to-mo  i-i  \  mata  sono 
waka-gimi-no  ktihi  utan-to  \  miobi-te  saguru  mono  aH-to  ,  kiku-ga 
mani-mani  kokoro-odoroki  j  sate-wa  kono  waka  sore  naran,  ^  ,|^ 
(Kiü'teo)  8W'a  fu-tokoi^o-ni  ire-ba  \  kari-suru  mono  dani  kore-tco 
torazu  I  iwan-ja  fu-sigi-ni  fune-ni  iri-si  \  tsumt-toga-mo  naki 
osana-go-ioo, 

,Wie  ich  später  durch  ein  hier  und  dort  verbreitetes 
Gerücht  erfuhr,  hatte  den  jungen  Gebieter  des  Palastes  des 
Geschlechtes  Kö-tari  irgend  Jemand  geraubt.  Ich  hörte  auch, 
dass  Jemand  sei,  der  heimlich  suche,  um  diesem  jungen  Gebieter 
das  Haupt  abschlagen  zu  können.  Im  Herzen  voll  Schrecken, 
sagte  ich  mir :  Also  wird  es  dieser  junge  Gebieter  sein.  Selbst 
wenn  ein  erschöpfter  Vogel  in  den  Busen  kommt,  ergreift  ihn 
nicht  der  Jäger.  Um  wie  viel  mehr  ist  dieses  der  Fall  bei 
dem  auf  wunderbare  Weise  in  das  Schiff  gekommenen  schuld- 
losen Knäblein!' 

Mosi-mO'ja  saguri-ubaware-na-ba  \  ika-bakari-ka-wa  kutsi- 
tvosi-karan-to  |  fitori-zumi-naru  kokoro-jasn-sa  ^  ^fe  (Jo-f^^J- 
ni  magirete  kuni-wo  tatsi-noki  \  tazi-ma-no  kuni-no  siru-be-ni 
tajori  I  wadzuka-ni  kefuri-wo  tafe-taru-ni  \  kono  ko  -^  ^  j^ 
(ziü-srtn-sai)-to  lü  tosi-ni  \  ije-wo  idete  kajeri-kozu.  Sate-wa  fisoka- 
m  kono  watari  made  \  kano  ^&  ^  (aku-nm)-ra-no  saguri-kltf 
tsui-ni  torajerare-ja  sf-tamb-ran-to  \  omoje-ba  kokoro-mo  kokoro- 
nararle  \  mata  1^  jHj  (han-sinj-ni  tafsi-kojete  Ißsoka-ni  jS-^tt-tco 
saguH-kiku-ni  \  sore-fo  tasika-ni  sirarezare-ba  ^  ~J\  (zeo-ka)' 
fadzure-ni  mata  ^^  J^  (dziH'kio)'8ite  \  fi-bi-ni  jh-su-wo  ukagai- 
tsutßu  I  tosi'Uuki'Wo  ßiru  koto  snd^-ni  -^  ^  (rokv-nen). 

,Ich  dachte:  Wenn  man  es  aufsuchte  und  raubte,  wie 
sehr  bedauerlich  würde  dieses  sein?  Bei  der  Sicherheit  meines 
Alleinwohnens  verliess  ich  unter  dem  Schutze  der  Mitternacht 
das  Reich  imd  brachte,  indem  ich  an  einer  Bekanntschaft  in 
dem  Reiche  Tazi-ma  eine  Stütze  fand,  in  winzigem  Maasse 
Rauch  zuwege.  Doch  dieser  Sohn  ging  in  seinem  dreizehnten 
Jahre  aus  dem  Hause  und  kam  nicht  zurück.  Ich  dachte: 
Also  sind  heimlich  bis  zu  dieser  Durchfahrt  jene  schlechten 
Menschen  im  Suchen  gekommen,  und  er  wird  endlieh  ergriffen 


Das  HftUB  eines  Stattluütera  von  Fari-roa.  327 

worden  sein.  Wider  Willen  zog  ich  wieder  nach  Fari-ma 
hinüber,  forschte  heimlich  nach  den  Umständen  und  horchte, 
doch  es  war  von  der  Sache  nichts  Sicheres  bekannt.  An  dem 
Ende  der  unter  der  Feste  befindlichen  Stadt  nahm  ich  wieder 
meinen  Wohnort,  und  dass  ich,  Tag  für  Tag  die  Umstände 
beobachtend,  Jahre  und  Monde  verbringe,  sind  bereits  sechs 
Jahre/ 

Sikaru-m  wototsui-no  jü-sari-gafa  — •  ^  (ikko)-no 
j^  ^  ^  (siü-geö-zta)  waga  ^  0'ß)'ni  itoi  \  jo-so-nagara 
j^  ^  (f^nn-kayno  ^  XT  (fai-bbj-wo-tadzune  \  joku-joku  mire-  j 
ha  ^  rt^  (kt$ma-/iaki)-no  in-je-ni  \  ^  ^  (an-jaj'nagara'fno 
mkasi-mi-si  \  fitori-no  mono-no  fu-ni  sa-mo  ni-tam.  Ko-ja  kiki" 
ojohu  ^  ^^  (bu-dd)'no  ff  (sin)  \  sa-je-mon  kazu-sada-ni-mo 
aran-ka-to  \  "^  ^  (kun-kaj-no  art^sama-wo  kataru  utsi-ni  ' 
sono  l(^  pb  (sin-tsiü-wo  sag^iri-miru-ni  \  j^  ^  (zannin)-ni'Wa 
katsu-te  arazu, 

,Indessen  ruhte  um  die  Zeit  des  vorgestrigen  Abends  ein 
den  Wandel  Ordnender  in  meinem  Hause  aus.  Derselbe  fragte, 
obgleich  fremd,  wegen  der  Zerstörung  des  Hauses  des  Gebieters. 
Als  ich  ihn  ganz  genau  anblickte,  hatte  er  grosse  Aehnlichkeit 
mit  dem  einen  Krieger,  den  ich  an  der  Einfahrt  von  Kuma-saki 
in  finsterer  Nacht  ersehen  hatte.  Mich  fragend,  ob  dieses  der 
gesetzlose  Diener  Sa-je-mon  Kazu-sada,  von  dem  ich  gehört 
hatte,  sein  werde,  erforschte  ich,  während  er  von  dem  Zustande 
des  Hauses  des  Gebieters  sprach,  dessen  Herz,  und  er  war 
keineswegs  ein  verderblicher  Mensch.' 

Sate-wa  waka-gimi-no  won-mi-no  uje-mo  \  ^?  (ki)-dzukai 
arazi-to  kokoro-wo  jasunzi  \fazimete  maktira-wo  takb  se-si  ne-gomi- 
u'o  okosu  na-nusi-no  ko-e  ^  i  (reo-siuyno  ^  J^  (nin-soku)- 
in  o-mi  ko80  atareri.  Asntte-iw  asa  -^  ^  (/nsi-viij-ni  itare-to  \ 
^ft  ^  (hu'jekiyno  ^  Jg^  (hun-fai)  inami-gataku  \  ke-sa  kite 
klke-ha  sika-sika-iw  koto-to  \  jo-karanu  icaza-mo  ^^  i  (reo- 
siil)'7io  [j|[  ^^  (ziki'dan)  |  jamu  koto-wo  jezu  sasi-dzv-no  mani- 
ma  I  wonna-wo  nosete  fasiri-si-ga  \  saki-jori  isurugi-no  isakm-m  \ 
mi-no  ke  jodatsi-te  ^  M  (asi-mayni  kakure  \  ^  ^fe  (^^' 
matsuj'tvo  kiku-ni  j&  ^  ^  (siu-geo-ziayica  ^j^  -^  (sui-reoy 
ni  tagawazU'to  i-i  ^  j^  (knta-je)-no  kh-gai-no  -Ä-  ^  (ai- 
mon)-jori  \  ijo-ijo  tcaka- giml'naru'koto  akirake-si-to. 


328  Pfizmaier. 

,Ua  ich  also  wegen  des  jungen  Gebieters  nicht  besorgt 
zu  sein  brauchte,  war  ich  im  Herzen  beruhigt.  Ich  war,  indem 
ich  das  Polster  erhöht  hatte,  erst  eingeschlafen,  als  mich  die 
Stimme  des  Dorfvorstehers  erweckte.  Er  sagte:  Zu  einem  Träger 
des  leitenden  Vorgesetzten  hast  du  es  gebracht.  Uebermorgen 
früh  triff  in  Fusi-mi  ein.  —  Bei  der  Zutheilung  eines  Fuss- 
dienstes  konnte  ich  mich  unmöglich  weigern.  Als  ich  heute 
Morgens  ankam  und  hörte,  nannte  man  mir  solche  und  solche 
Dinge.  Waren  es  auch  keine  guten  Verrichtungen,  der  leitende 
Vorgesetzte  sagte  es  mit  eigenem  Munde,  und  ich  konnte  nicht 
davon  abstehen.  Der  Weisung  gemäss  trug  ich  ein  Weib  in 
einer  Sänfte  und  lief.  Bei  dem  voran  sich  entspinnenden 
Kampfe  mit  Schwertern  standen  mir  die  Haare  zu  Berge. 
Zwischen  dem  Schilfrohr  verborgen,  hörte  ich  den  Anfang  und 
das  Ende.  Aus  den  Reden  ergab  sich,  dass  es  sich  mit  dem 
den  Wandel  Ordnenden  nicht  anders  verhielt,  als  ich  ver- 
muthete.  Durch  die  Zusammenfügung  der  einästigen  Haarnadel 
wurde  es  vollkommen  offenbar,  dass  es  der  junge  Gebieter  sei.' 

Itsi  bu-si-ziü'WO  ioki-alcase-ha  \  kazu-sada  i-suke-ga  maje-ni 
fei'i-kurJan  |  sate-wa  vtayai-mo  nakl  kb-tarl-  ^  (ke)-no  \  fana- 
waka-ghni-nlte  masi-viasu-zo-ja.  Onore  ka-hahiri  sv^ata-wo  kaje  , 
koio-ni  ^i  ^  (zan-niiij-to  moro-hito-no  \  ;[§  g§  (si-tö)'ni  ka- 
kam  801X0  ju-e-wa  \  sihi-sika  narito  tokan-se-si  \  won-kara  knia- 
gata  sibaraku-to  \  ko-e  kake-idzuru-wa  \  akatstiki-ke-no  \  -^  ^ 
(teo-sin)  furu-ta  ten-zen  iiari. 

Hiermit  erklärte  er  alles  vom  Anfang  bis  zum  Ende. 
Kazu-sada  demüthigte  sich  vor  I-suke  und  sagte:  Also  seid 
ihr  ohne  Zweifel  der  Gebieter  Fana-waka  aus  dem  Hause 
Kö-tari.  Mein  Aussehen  ist  so  verändert,  dass  ich  an  die 
Finger  aller  Menschen  als  besonders  grausam  angehängt  bin. 
Die  Ursache  davon  ist  —  Er  wollte  sich  erklären,  als  Jemand 
mit  den  Worten:  Herren,  einen  Augenblick!  sie  anrief.  Es 
war  Furu-ta,  Vorgesetzter  der  Speisen,  der  älteste  Diener  des 
Hauses  Aka-tsuki. 

Odoroku  i-suke-wo  jobi-kakete  |  nandzi-ni  g^  (takuyse-si 
koto-wa  ika-ni.  I-suke  kastkomi-tsuttatte  \  o-sen-ga  non-taru  kago- 
nagara  \  gutta  tsukkomu  sira-fa-no  kissaJci  \  te-gotoje-nakt-wa 
tbukdsi'to  !  nawa  kiri-fodoki  ake-mire-ba  ani  fakaran-ja  o-sentca 
mofO'jovi    fito-kage  sara-ni  arazare-ba  \  i-sukewa  ^  ^  (gtJcw 


Dis  Hana  ei&ei  Statth&lten  von  Furi-ma.  329 

zen)'to  odoroki'tsutsu  \  — •  ^  (itsi-do)  narazu  ^  ^  (saUdo)- 
made  \  utsi-morase-ai  koso  kntsi-wosi'kere'do  \  do^to  J^  (zaj-wo 
sime  katana  saka-de  \  sude-ni   Ö   ^   (seppukuynasan-to-sxL, 

Dem  erschrockenen  I-suke  rief  er  zu :  Wie  steht  es  mit  der 
Sache,  die  ich  dir  anvertraut  habe?  —  I-suke  erhob  sich 
ehrerbietig  und  löste  an  der  Sänfte,  in  welche  0-sen  gestiegen 
war,  mit  der  schnell  hereingestossenen  Spitze  der  blossen  Klinge, 
sich  wundernd,  dass  ihm  nichts  Antwort  gab,  die  Stricke.  Als 
er  öffnete  und  hineinblickte,  war  —  wie  sollte  man  es  ver- 
muthen?  von  O-sen  eigentlich  nicht  einmal  der  Schatten  vor- 
handen. Erstaunt  und  erschrocken,  bedauerte  er  zwar,  dass 
sie  nicht  bloss  einmal,  sondern  selbst  zweimal  ihm  entschlüpft 
war,  doch  er  setzte  sich  fest  nieder,  kehrte  das  Schwert  um 
und  wollte  sich  den  Bauch  aufschneiden. 

KazU'Sada  fase-jori  sikka-to  todome  \  sono  kono  moto-wa 
sirane-domo  \  kimi  fadznkasimeraru  toki-wa  ^  (sin)  ^  (si)- 
su'to  I  madzu  sono  si-sai-tco  katari-tamaje.  Ten-zen  nikko-to  site 
{'suke-ni  mnkai  \  kago-nl  o-sen-no  arazarwico  \  sa-koso  >p  ^ 
(fu-sinj-ni  omi-heku  \  maiu  kata-gata-mo  kiki-tamajc,  Ware  sugi- 
fsuiui  koro  jamn-zaki-no  \  ||ft  S  (ri-kiü)  ^  d^  (fatsi-manj-m 
mhde-si-ni  \  jßj^  "^  (sia-zenj-no  ^  ^^  (siü-roj-ni  me-narezaru  \ 
^  ^  (reo-sanyno  J^  (si)-to  ^^  ^  (reo-minyno  \  taru'i-no 
te-dai  ted-ku-rt  \  jM  ^fi  (rei-setsuj-wo  midase-si  ^  ^  (siü-jen) 
*^  Sj5  (idn-sui)  \  koto-ni  "^  Ä  (ko'SedJ-no  monogatan-no 
utsi  I  ka7io  aka-tstikUno  sa{-zi-r6  |  aru-wa  moto-faru  ki-jafsu  sono 
mama  |  ika-de   okamasi   tada   okazi-to  \  ito   niktisa-ge-narti  kata- 

Kazu-sada,  hinzulaufend,  hielt  ihn  mit  Kraft  zurück  und 
sagte:  Ich  weiss  zwar  nicht,  was  der  Grund  ist,  doch  es  heisst: 
Wenn  der  Gebieter  mit  Schande  bedeckt  wird,  stirbt  der 
Diener.  Saget  mir  früher  die  Ursache.  —  Der  Vorgesetzte 
der  Speisen  lächelte  und  sprach  zu  I-suke:  ,Da8s  O-sen  sich 
nicht  in  der  Sänfte  befindet,  möget  ihr  für  sonderbar  halten. 
Ihr  Herren,  höret  es  ebenfalls!  Als  ich  in  den  verwichenen 
Tagen  zu  dem  Fatsi-man  des  abgesonderten  Palastes  von 
Jania-zaki  ging,  hatten  in  einem  vor  dem  Altare  befindlichen 
Weinhause  zwei  bis  drei  mir  von  Anblick  fremde  Kriegsmänner 
und    der  zu  dem  Volke    der  Statthalterschaft    gehörende  Teo- 


330  Pfiimftier. 

ku-rö,  Ilauptbediensteter  des  Haases  Taru-I,  ein  Weingelag, 
welches  die  ümgränzung  der  Gebräuche  verwirrte.  Volltrunken, 
sagten  sie  in  ihrem  Gespräche,  das  sie  mit  besonders  lauter 
Stimme  führten :  Jener  Sai-zi-ro  oder  Moto-faru  aus  dem  Hause 
Aka-tsuki,  wie  wird  er  es  bleiben  lassen?  Er  lässt  es  aber  nicht 
bleiben.  —  Es  war  ein  sehr  widerlicher  gegenseitiger  Handeln 

Ko'Wa  ibnkasi-to  sore-jori-wa  \  kokoro-wo  jwimsade  ari-tsuru- 
ga  I  ko-tahi  ^  ^|^  ^  (fh-sib-zi)-  ^  (ke)-no  tsuma-sadame-wo  ' 
^  ^  (sb'Zi)'no  fäkalen  inami-tamh  |  sono  mMo-wa  kano  o-sen- 
to  I  fukaku  ^  "^  (kai'rh)'WO  Uikh-qa  ju-e-to  \  kikit-join  nandzi- 
ga  ]^  S^  (si-rioj-wo  saguru-ni  \  o-seyi-wo  nozokan  — •  Q  (itsi- 
dzu)-no  ^^  ^  (kei'sahi)  \  ito-mo  uhe-naru  koto-nagara  j  mala 
sirizoi-te  ^  ^  (gn-iywo  meguram-ni  \  ^  ^  (red-rmn)  tsumi- 
naki-ni  ^  (gai-sen)-wa  \  motto-mo  Ä  Ä  (zi-ketj-no  mitsi  na- 
razi'to  \  jisoka-ni  W  flj  (so-zi)-wo  hnme-tate-mat^unini  \  kam 
wonna-wo  dani  katawara-ni  oka-ba  \  suhete  tsiima-sadame  inamazi- 
to  I  soHU-ga  tcaka-ge-no  si-an-no  foka  \  moio-jori  J^  (ai)  "^  ^ 
(tai'fuyni  ^  ^  (8ai-8ed)'7io  \  sadamp-si  are-ha  nani  faba- 
karan-to, 

, Darüber  verwundert,  war  ich  seitdem  nicht  sorglos. 
Sobald  ich  hörte,  dass  der  junge  Sohn  hinsichtlich  der  von 
Seite  des  Hauses  des  Klosters  Fo-sio  erfolgten  Bestimmung  zur 
Gattin  aus  dem  Grunde  entschieden  sich  weigert,  weil  er  jener 
O-sen  feierlich  den  Eid  des  gemeinschaftlichen  Alterns  ge- 
schworen, erforschte  ich  deine  Gedanken.  Obgleich  der  Plan, 
O-scn  aus  dem  Wege  zu  räumen,  etwas  sehr  Angemessenes 
war,  ging  ich  wieder  zurück  und  überlegte.  Mir  sagend, 
dass,  wenn  die  Menschen  des  Volkes  der  Statthalterschaft 
schuldlos  sind,  sie  morden,  schlechterdings  nicht  der  Weg  des 
Wohlwollens  und  der  Güte  sei,  wollte  ich  heimlich  dem  jungen 
Sohne  Vorstellungen  machen  und  ihm  sagen,  wenn  er  jenes 
Weib  nur  zur  Seite  hinsetzte,  brauche  er  sich  hinsichtlich  der 
Bestimmung  zur  Gattin  nicht  zu  weigern.  In  der  That  ist  die 
Jugend  anders  als  man  denkt.  Da  es  ursprünglich  für  Kriegs- 
männer und  Grosse  eine  Bestimmung  hinsichtlich  der  Gattin 
und  der  Nebenfrau  gibt,  was  sollte  er  sich  da  schämen? 

Kon^-ni  ^^  (kesj  se-si-wa  keo-no  Ju-zari  nandzi-fü  kono  koto 
tsfifajen-to  \  omoje-do  mo-faja  wodori-no  ^j  ^  (koku-gen)  \  ^ 


Dm  Hau  e{n«s  StatihAlten  Ton  Fari-mft.  33.1 

(reij-no  ^  fö^  (fi'Zib)'WO  inumme-no  tarne  \  sinonde  so-ko  mi- 
megum-ni  \  kano  ffi|  ^  (rl-küD-nite  mukake-si  J^  (st)  \  to-aru 
mono-gake-ni  ßsomi-tru-wo  \  si-ja  ibukasi-to  ukagb  woH-kara  \ 
taru'i-no  te-dai  teö-ku-rb  |  ßtori-no  wotome-wo  ßttate-kitari  \ 
In  |ris  (mthtaij'nikago'mwosi-komete  \  ^  ^  (red-sanj-no  ]^  J^ 
(bu-st)'to  moro^tomo-ni  \  tsutsnmi-no  kata-je  fase-juku-wo  miru-jori 
kokoro-ni  omo  jh  \  ko-wa  kartete  kiku  o-sen  naran-ka,  Sa-ara-ba 
^  "^  (ß^o-tej-ni  watasi-na-ba  \  kajette  koto-no  totonoi-gatasi-to. 

jHierzu  entschlossen,  gedachte  ich,  heute  Abend  dir  diese 
Sache  xnitzutheilen,  doch  es  war  bereits  die  bestimmte  Zeit 
des  Tanzes.  Während  ich  wegen  der  üblichen  Vorkehrungen 
gegen  ungewöhnliche  Ereignisse  im  Stillen  dort  umherblickte, 
waren  die  Kriegsmänner,  welche  ich  in  jenem  abgesonderten 
Palaste  gesehen  hatte,  in  einem  Verstecke  verborgen.  Als  ich, 
über  sie  verwundert,  beobachtete,  zerrte  Teo-ku-ro,  der  Haupt- 
bedienstete des  Hauses  Taru-I,  ein  Mädchen  herbei,  schob  sie 
mit  Gewalt  in  eine  Sänfte  und  lief  zugleich  mit  den  zwei  bis 
drei  Kriegsmännern  nach  der  Gegend  des  Dammes  fort.  Sobald 
ich  dieses  sah,  dachte  ich  mir:  Dieses  wird  wohl  O-sen  sein, 
von  der  ich  früher  gehört  habe.  Wenn  man  sie  also  anderen 
Händen  übergibt,  ist  es  wieder  unmöglich,  dass  die  Sache 
zusammenstimmt.^ 

Okure-8i'7iagara  okkake-si-ni  fu-si-gi-ja  saki-ni  osi-komerare^ 
fti  I  otome-tca  ^  ^  (bu'ZtJ-ni  tai-M-i-no  ama-to  \  ko-knge-ni  ja- 
surb-nt  kokor^o-madoi  \  si-sai-wo  toje-ba  sirnrenu  ^^  -it  (rb-zio)- 
ga  I  seügefsu-ni  tsngete  kore-no  j^^  -^  (soku-dzio)  \  j^  ^  (ki- 
kiü)-no  koto-no  fanberu-zo  \  fajfilciL  odorl-ba-ni  fjuki-ne-to  j  wostje- 
no  mant-ma  koko^ni  kite  \  jukuri-naku  o-sen-ni  ni-si-to  i-i  \  o-sen- 
ni  toje-ba  kore-wa  onazi-ku  \  teo-kti-rb-ga  ffi  |hk  (mH-taf')-m  kago- 
no  utsi-ni  \  osi4rerarn.L-to  omoi-si-ni  \  fitori-no  ona-no  fase-kitari 
tcarawa-wo  tasuke-si-to  omoi-si-ga  \  sore-jori  notsi-wa  jnme  ufsutsu  \ 
ato-saki  sirade  fakarazu-mo  \  fav:a-no  ki-masu-ni  ai-si-to  id. 

,Al8  ich,  obgleich  ich  mich  verspätet  hatte,  ihnen  nach- 
setzte, ruhte  —  0  wunderbar!  das  Mädchen,  welches  vorhin  in 
die  Sänfte  geschoben  wurde,  wohlbehalten  mit  der  Nonne  des 
Hauses  Taru-I  in  dem  Schatten  der  Bäume  aus.  Verblüfft 
fragte  ich  die  Nonne  Sei-getsu  um  den  Grund.  Sie  sagte: 
Eine    unbekannte   alte  Frau   sagte   zu   mir:    Die  Tochter  hier 


332  Pfismafer. 

schwebt  in  Gefahr.  Gehet  schnell  auf  den  Tanzplatz!  Diesem 
Käthe  gemäss  kam  ich  hierher  und  traf  unvermuthet  0-sen.  — 
Ich  fragte  O-sen.  Diese  sagte  auf  gleiche  Weise:  Als  ich 
glaubte,  dass  ich  durch  Teö-ku-rö  mit  Gewalt  in  die  Sänfte 
geschoben  worden,  kam  eine  alte  Frau  herbeigelaufen.  Ich 
glaubte,  dass  sie  mir  heraushalf.  Hierauf  wusste  ich  nicht,  was 
Traum  oder  Wirklichkeit,  was  nachfolgte  oder  vorherging,  und 
unverhofft  kam  die  Mutter,  mit  der  ich  zusammentraft. 

Kare-kore  ajasi-ki  wori-kava-ni  \  ^  >teS  (iiagaraj-fjoatari- 
ni  sato-mi  i-stike  \  mata-mo  o-sen-wo  ^  (gaij-se-si-to  \  tare-to- 
mo  sirazu  tsuguru-wo  kiku-jori  \  si-sai-wo  min-to  fntari-too  izanb, 
Seugetsu  moro-to-mo  koko-je-koko-je-to  ■  nianeki-ni  sei-getsu  o-sen- 
mo  t(yino-in  \  i-suke-ga  ^5  to  (ki-sikij-tvo  osoru-osont,  \  koko-m 
ide-kite  kazu-sada-wo  miru-jori  \  ko-wa  waga  tmima-ka  t^tsi-nje- 
110  I  joku  ko80  kajein-kima^te-si-to  \  sei-getsu  o-sen  tatsi-joreba  | 
ten-zen-tca  jf%  ^^  (fu-shij-iiasi  \  sate-wa  faiu-i  ^  ^  Ä&  P^ 
(kiH-za-je-m^nJ-to-ioa  \  won-mi-no  koto-nite  ari-keru-ka. 

,Diese8  und  jenes  war  wunderbar,  als  Jemand  —  man  wusste 
nicht,  wer  es  war  —  meldete,  an  der  Durchfahrt  von  Nagara 
habe  Sa-tomi  I-suke  noch  O-sen  gemordet.  Sobald  ich  dieses 
hörte,  habe  ich,  um  den  Grund  zu  erfahren.  Beide  mitgenommen. 
Sei-getsu,  kommet  mit  ihr  hierher,  hierher!'  —  Mit  diesen 
Worten  herbeigerufen,  kamen  Sei-getsu  und  O-sen,  bei  dem 
Anblicke  I-suke's  furchtsam,  hierher.  Sobald  sie  Kazu-sada 
erblickten,  drängten  Beide  mit  den  Rufen:  Mein  Gatte!  Der 
Vater  ist  glücklich  heimgekehrt!  sich  an  ihn  heran.  Der  Vor- 
steher der  Speisen  staunte  und  sagte:  Also  Taru-I  Kiü-za-je-mon 
seid  ihr  gewesen? 

KazU'sada-wa  — •  Jj^  (itsi-jü)'si  \  ika-m-mo  ^  ^  (go- 
redj'no  ku-za-je-mon-wa  \  snnawatsi  onore-ga  kari-na-ni  site  j 
fukaki  ai-sauno  fanhevu-nari-to  \  i-i-tsutsu  kazu-sada  mi-wo  okosi 
sei-getsu  o-sen-ga  te-wo  iotte  \  Usuke-ga  kaiatcara-ni  suje-orasime 
ilca-ni  f^  ^  (ni-ko)  o-sen-gimi  \  kore-naru  sai^mi  i-sttke-to 
ijerU'ZO  \  f^  ^  (ni-koj-ga  waka-gimi  "^  ^  (fana-wakaydono- 
nite  I  o-sen-gimi-to-wa  Ä  (sinj-no  ^  jj^  (ren-sij-fo. 

Kazu-sada  machte  eine  Verbeugung  und  sagte:  Wie  es 
auch  sei,  in  eurer  Statthalterschaft  ist  Ku-za-je-mon  mein  ent- 
lehnter Name,    und  es  hat  einen  tiefen  Grund.  —    Mit  diesen 


Du  Haas  einei  Stattbaltora  Ton  Fari-ma.  333 

Worten  erhob  er  sich,  setzte,  die  Hände  Beider  ergreifend, 
Sei-getsu  und  O-sen  an  die  Seite  I-Buke's  und  sprach:  Frau 
Nonne!  Herrin  O-sen!  Dieser  sogenannte  Sato-uii  I-suke  ist 
der  junge  Gebieter  der  Frau  Nonne,  der  Herr  Fana-waka,  und 
der  wahre  mit  der  Herrin  0-sen  zusammengewachsene  Zweig. 
Kiku-jori  sei-getau  omoi-kakene-do  \  tosi  tsuki  kogare-si  waga 
ko'to  kiki  fana-waka  naru-ka-to  tori-sugaru-wo  |  i-suke-wa  todo- 
mete  ko-ja-ko-ja  aa-je-mon  I  sei-getsu  -^  -^  (bo-sO-ga  nandzi-too 
mote  I  fjoottO'jo  tsitsi-to  Ol  dani  ibukaai,  Saru-wo  nandzi-ga  tsuma 
ko'WO  mote  \  mata^mo  onore-ga  fawa  imo-uto-to-wa  kata-kata  sono 
kokoro  ^   (geJ-si-gatasL 

Sei-getsu,  wie  unerwartet  ilir  dieses  auch  kam,  sobald  sie 
hörte,  dass  dieses  ihr  Sohn  sei,  um  den  sie  durch  Jahre  und 
Monde  sich  gekränkt,  schloss  sich  mit  dem  Rufe:  Bist  du 
Fana-waka?  an  ihn  fest.  I-suke  hielt  sie  zurück  un4  sagte: 
Höre,  Sa-je-mon !  Dass  Sei-getsu  und  ihr  Kind  dich  den  Mann 
und  den  Vater  nennen,  ist  eben  wunderbar.  Dass  aber  deine 
Gattin  und  dein  Kind  andererseits  auch  meine  Mutter  und 
meine  jüngere  Schwester  sind,  welchen  Sinn  dieses  hat,  kann 
ich  mir  unmöglich  erklären. 

Kazu-sada-wa  ^  "^  (ton-8iil)-iiasi  \  tosi-tsuki  jubi-wori 
kaganaje-ba  \  kono  ^  -^  ^  (i-ta'jüj-ga  ijeru  gotoku  \  fata- 
tose-tsikaki  niaje-tsu  kata  \  i  Ä  (sin-kun)  £^  ^  (jori-nori) 
soregasi'ico  \  ßsoka-ni  niesare  ko-ja  kazu-sada  nare-ga  mame-naru 
0k  5  AÜ^  (tesseki-ain)  \  wäre  siru-ga  ju-e  |  /(^  fb  (sin-tsiü)- 
no  -y^  ^  (dfii'zi)'WO  uokosazu  tsutb  nari.  Nandzi-mo  siru 
gotoku  ;jj)|  (Tiiakijno  ^  (kata)  ^  (fariij-no  ^  (i)  \  ^  ^ 
(sai'seo)  sono  naka  mutsumazi-ku  ^k  "ffi  (sni-gioj-no  maziwari- 
ico  nasu-to  ije-domo  \  sono   S^  ^  (siü-neki)  koso  kasiko-kere. 

Kazu-sada  neigte  das  Haupt  zu  Boden  und  sagte :  ,Wenn 
ich  Jahre  und  Monde  an  den  Fingern  nachzähle,  so  war  es, 
wie  dieser  I-ta-jü  sagt,  nahezu  vor  zwanzig  Jahren.  Der  Vor- 
gesetzte und  Gebieter  Jori-nori  beschied  mich  heimlich  zu  sich 
und  sprach:  O  Kazu-sada!  Weil  ich  dein  redliches  Herz, 
welches  Eisen  und  Stein  ist,  kenne,  theile  ich  dir  eine  wichtige 
.Sache  meines  Herzens,  ohne  etwas  wegzulassen,  mit.  Wie  du 
weisst,  ist  das  Verhältniss  zwischen  Maki-nokata  und  Faru-no  I, 
Gattin  und  Nebenfrau,  ein  inniges  und  bewirkt  die  Vereinigung 


334  PfiKBfti«r. 

von    Wasser    und    Fisch.     Gleichwohl    ist    ihr   Eigensinn    zu 
fürchtend 

Sugi-tsuru  ^  4i  (jO'Wa)'no  jume-no  ulsi '  waga  migi-fidari- 
ni  maki-no  kata  \  faru-no  i  moro-tonio  fusi-taru-ga  \  futari-no 
mune-jori  futa-tsu-no  fehl  \  araware-idete  ^  (jo^ga  ma-uje-ni 
kata-mi-ni  febi-no  agito-wo  naroii  me-wo  ikarasUte  knuai-si-ga  \ 
tsui-ni  faru-no  i-ga  febi-wa  kizu-tsukerare  naki-no  kata-no  febi- 
wa  fokori-ka-ni  Icasira-wo  motage  jo-mo-wo  mUmegtiH  \  ^  (jo)- 
ga  1^  ^  (ked'kanj'tii  kldzu-tsuken-to  8e-»i-ga  !  aka-UukUno  kane 
makura-ni  ßbiki  \  jume-wa  ^  (atoj-naku  same'tarisi'ga. 

,In  einem  Traume,  den  ich  in  der  vergangenen  Mitternacht 
träumte,  lagen  zu  meiner  Rechten  und  Linken  Maki-no  kata 
und  Faru-no  I  zugleich.  Aus  der  Brust  Beider  kamen  zwei 
Schlangen  zum  Vorachein  und  Hessen  über  mir  gegenseitig 
die  Schlangenkinnlade  ertönen,  rissen  zornig  die  Augen  auf 
und  bissen  einander.  Endlich  wurde  die  Schlange  Faru-no  Fs 
verwundet.  Die  Schlange  Maki-no  kata's  erhob  stolz  das  Haupt, 
blickte  nach  den  vier  Gegenden  umher  und  schickte  sich  an, 
mich  an  der  Brust  zu  verwunden.  Die  Glocke  des  Tages- 
anbruchs wiederhalltc  an  dem  Polster,  und  ich  erwachte  ohne 
die  Spur  einer  Verwundung  aus  dem  Traume. 

Tsura^isura  omo-m  kono  mama  nara-ha  \  ika-narii  3^  Ä 
(tsin-zi)  aran-xoa  sirezi  \  sikazu  faru-no  t-tvo  airizoken-ni'Wa-to 
omo  mono-kara  mame-mame-siki  \  kare-ga  misawo-no  tadasi-ki 
uje  I  mata-mo  mi-gomori-tavu  josi-wo  \  ^  "fC  (mu-ge)'ni  nasan- 
mo  ^  ^  (fu'hin)  nari-to  sasu-gani  omoi-sadamezaH-gi-ga 
faru-no  i  koao  misoka-wo  are-to  \  maki-no  kata-jovi  fisoka-no 
P  ^  (ku-niü)  I  8Utca-ja  masasi-ki  junie-no  ura-kata,  Faja 
koto  koko-ni  ojobure-ba  \  nandzi  kaku  se-jo  wäre  sika  sen.  Sono 
notsi  nandzi  faru-no  i-xco  ^^  (gu)-8i  \  ika-naru  kata-ni-mo  sino- 
base-jo-to. 

,Ich  überlegte  reiflich  und  dachte:  Wenn  es  so  bleibt, 
weiss  man  nicht,  was  für  Seltsamkeiten  es  geben  wird.  Man 
muss  Faru-no  I  zurücktreten  lassen.  —  Sofort  dachte  ich 
wieder:  Bei  ihrer  Redlichkeit  ihre  lautere  Festigkeit,  ferner 
ihre  Schwangerschaft  auf  das  Niedrigste  veranschlagen,  wäre 
bedauerlich.  —  Ich  war  in  der  That  nicht  entschlössen.  Die 
heimliche  Hinterbringung  von  Seite  Maki-no  kata's,  dass  Faru- 


Dm  Hftnt  einet  Stotthalten  von  Fari-m».  335 

DO  I  e'men  Buhlen  habe,  siehe  da!  es  ist  die  richtige  Aus- 
leguDg  des  Traumes.  Da  es  mit  der  Sache  bereits  bis  dahin 
gekommen  ist,  so  thue  du  so  und  so,  ich  werde  so  und  so 
thun.  Hierauf  leiste  du  Faru-no  I  Gesellschaft  und  verstecke 
sie  in  irgend  einer  Gegend^ 

Ki-gane  soko-baku  tamaware-ba  \  kimi-no  ||^  '^  (kon-mei) 
1^  (zi)'zi  gataku  \  soregasi  misoka-wo-no  katatsi  nasi  \  kimi-mo 
ikari-no  sama  nasi-tamai  \  soregasi-ni  '^  (meij-zite  utai-sute-to 
no-tamb.  8aru-kara  ^  ^k  (kb-guaij-ni  ^  (tsiüj'Sii^wo  na-to  si 
9ono  ^^  (jo)  airU'be-no  kata-ni  adziike  |  ^^  (tsiUj-se-si  sama-nite 
tatsi'kajeH'Si'-ga, 

,Da  er  mir  gelbes  Gold  in  Menge  schenkte,  konnte  ich 
mich  bei  dem  ernsten  Befehle  des  Gebieters  unmöglich  weigern. 
Ich  machte  den  Buhlen,  der  Gebieter  stellte  sich  zornig  und 
befahl  mir,  sie  zu  tödtcn  und  liegen  zu  lassen.  Ich  gab  somit 
vor,  dass  ich  sie  ausserhalb  der  Vorwerke  hinrichte,  Hess  sie 
in  dieser  Nacht  bei  einem  Bekannten  in  Verwahrung,  und 
indem  ich  that,  als  ob  ich  sie  hingerichtet  hätte,  kehrte  ich 
sogleich  zurück*. 

Ani  fakaran  fito  atte  \  fana-waka-gimi-wo  kaktise-si-wa  \ 
8ono  kokoro  Josi-asl  wakatazu.  Kata-gata  xoaka-gimi-wo  saguran- 
<o  I  ^  ^  (siü'kunyni  ^  JJ|J  (ri-hetsuj-iio  ^  (zio)-wo  nobe  ; 
fisoka-ni  faru^iio  i-gimi-too  tamonai-te  \  kono  jama-zaki-no  kata 
fotori-ni  \  stimi-ka-too  motome  oniote-ni-ica  \  nanigasi-ga  ^  (mey 
to  kari-ni  jobi  \  jorl-jori  jakata-no  ^  3J  (an-fiywo  kiku-ni  \ 
ajii  fakarari'ja  fodo-mo  naka  ;  ^^^^  (jori-nori)-  ^  (kd^ni-tva 
^1  ^  (Äi-AimJ-^jo  koto-nüe  ^  -^  (sei-kioj-niasi-masi  ^j^ 
(koku-seij-wa  \  — •  IQ  (it»i-jen)  ^  ^|*  (kazu'je)'ga  fosi-i-mama- 
m  I  nasu  naru  josi-wo  kiku-jori-mo  |  aoiio  ^  J^  (i-kan)  fito- 
kata-narazu, 

,Wie  sollte  man  es  vermuthen?  Es  war  Jemand,  der 
den  Gebieter  Fana-waka  versteckte,  und  ob  es  in  guter  oder 
schlechter  Absicht  geschehen,  erkannte  man  nicht.  Um  den 
jungen  Gebieter  in  verschiedenen  Gegenden  aufzusuchen,  er- 
klärte ich  dem  Vorgesetzten  und  Gebieter,  dass  ich  geneigt  sei, 
mich  zu  trennen.  Indem  ich  die  Gebieterin  Faru-no  I  heimlich 
begleitete,  suchte  ich  hier  in  der  Nähe  von  Jama-zaki  einen 
Wohnort  und  nannte  sie  zum  Scheine  meine  Gattin.    Während 


336  Pfiimaier. 

ich  von  Zeit  zu  Zeit  hörte,  wie  es  in  dem  Palaste  Btehe,  hörte 
ich  —  wie  sollte  man  es  vermuthen?  nicht  lange  nachher  in 
Betreff  des  Fürsten  Jori-nori,  dass  er  in  Gefahr  und  Bedrängniss 
aus  der  Welt  geschieden^  dass  die  TiCnkung  des  Reiches  ganz 
der  Willkür  des  Rechnungsvorstehers  überlassen  sei.  Meine 
Theilnahme  war  keine  geringe/ 

Farn  no  i-gimi-mo  kore-uo  kikasi-te  \  midoH-no  kuro-gami- 
tvonagitamö.  Onore-mo  ^  ^  (u-fafsuj-no  ^  ^  (kuni-koku) 
Üi^  'fr  (^^^'''9^^)  i  ^  (siü'lcuH)'no  on-tame  futa-tsu-ni-wa 
fana-waka-gimi-no  J^  ^jß  (seo-sij-no  fodo-mo  \  kiki-sadamen-to 
ije-too  ^f^  (zij'si  amaneku  kuni-guni-ico  fe-meguri-sUni  \  furu- 
sato-no  natsukasi'Sa  \  sinobi-fe  ^jjSf  Wl  {han-sidyni  ^  (tsiakv)- 
se-si-ga  \  kimi-ga  JJ|j  ^  (hekkuanj-no  &  -^  (fai-böj-too  kam 
'^  ^  ^  (f'ta-jü)'tO'Wa  sirane-domo  I  ^  ^  (n6'fu)-ni  kwoasi- 
ku  ktkt'si'jori  \  fisoka-ni  abara-jn-ni  — •  J^  (issiühi-ai  \  ^  'ß 
(jh'kuai)'no  ^  ft|  (u'mu)'ico  kokoro-mi-si-ni, 

,Die  Gebieterin  Faru-no  I,  als  sie  diedcs  hörte,  schor  ihr 
grünschwarzes  Haupthaar  ab.  Ich  selbst,  als  ein  das  Haupt- 
haar behaltender,  in  den  Reichen  herumziehender  Ordner  des 
Wandels,  nahm  des  Vorgesetzten  und  Gebieters  wegen,  dann 
auch,  um  über  Leben  und  Tod  des  Gebieters  Fana-waka 
Gewisses  zu  hören,  von  dem  Hause  Abschied  und  wanderte 
in  sämmtlichen  Reichen  umher.  In  der  Sehnsucht  nach  meiner 
Heimath  gelangte  ich  heimlich  nach  Fari-ma.  Warum  der  be- 
sondere Palast  des  Gebieters  zerstört  sei,  wusste  jener  I-ta-jü 
zwar  nicht,  doch  nachdem  ich  von  dem  Ackersmanne  genaue 
Kunde  eingezogen,  übernachtete  ich  insgeheim  in  dem  zerstörten 
Hause  und  suchte  zu  erfahren,  ob  es  eine  Ungeheuerlichkeit 
gebe  oder  nicht. 

Tajete  ajasi-mi-nio  na-kari-sika-donw  \  aka-tsuki-tsikaki 
jume-no  vtsi-iii  \  — •  ^  (ikko)-uo  ^  ^  (ju-kon)  makara- 
kami-ni  tatte  l-on-mi-ga  motomtiru  icaka-gimi  koso  asatte-no  fi-ni 
sirarU'besi,  hogi  jodo-gawa-tco  noboru-besi  >  jutne  na-utagai-tamai- 
80'to  I  m-ka-to  omoje-ba  sino-no  meno  \  sora-danome-naru  jume- 
no  utsi-to  I  omoi-nagara-mo  josi-ja  waga  \  sutni^ka-mo  t^asi, 
Saiwai-ni  \  faru-no  i-gimi-nimo  ^^  (es)  sento  \  isogi  kajereru 
kono  tokoro  fafasl-te  i  ^Jj^  (siii-ziü)  meguri-b  \  -^  j^  (h'-jenj- 
no  fodo  koso  fu-si-gi  nare-to. 


Dms  Hans  «inai  3totthaU«n  Ton  Fari-ma.  337 

,£s  gab  durchaus  nichts  Wunderbares,  allein  in  einem 
Traume,  den  ich  gegen  Tagesanbruch  träumte,  stand  ein  Geist 
über  dem  Polster  und  sagte:  Der  junge  Gebieter,  den  ihr 
suchet,  wird  an  dem  morgigen  Tage  erkannt  werden.  Ihr 
sollet  eilig  zu  dem  Flusse  Jodo-gawa  hinaufziehen.  Seid  ja 
nicht  im  Zweifel!  —  So,  wie  ich  glaube,  sagte  er.  Ich  hielt 
es  für  einen  bei  Tagesgrauen  geträumten  unzuverlässigen  Traum, 
doch  dachte  ich:  Gesetzt  auch,  so  ist  mein  Wohnort  nahe.  Ich 
werde  glücklicher  Weise  die  Gebieterin  Faru-no  I  besuchen! 
—  Indem  ich  eilig  heimkehrte,  traf  ich  an  diesem  Orte  im 
Umherwandern  wirklich  den  Vorgesetzten  und  die  Begleiter. 
Die  Beschaffenheit  der  wunderbaren  Beziehung  ist  seltsam.' 

Ari'si  si'dai'WO  katari-oware-ba  \  sei-getsu-  f^  (ntj-wa 
Ä  ^^  (kiü-kaatj-no  \  namida-wo  osaje-kane-nagara  \  ima  kazu- 
sada-nusi-ga  tokeru  gotoku  \  mi-wa  nure-ginu-wo  oi-sikanasi-saljai- 
ha-mfusi-te  moro-fito-ni  ,  akaki  kokoro-wo  misen-to  omoje-do  \  wori- 
fuai  himi-ga  on^nasake-no  tane-wo  jadose-ba  \  u-ba-tama-no  \  jami- 
jorijami-ni  majowasanan-to  \  imada  minu  -^  (koj-ni  kokoro-ßkare  \ 
wosi-karanu  tsuki-ß-wo  okuri-tsutsu  \  umi'Otose'si-wa  kono  o-sen. 
Als  er  mit  der  Erzählung  des  Vorgefallenen  zu  Ende 
war^  sagte  die  Nonne  Sei-getsu,  die  längst  angesammelten 
Thränen  zu  unterdrücken  nicht  im  Stande :  ,In  meiner  Traurig- 
keit darüber,  dass  ich,  wie  jetzt  Herr  Kazu-sada  dargelegt  hat, 
ein*  feuchtes  Kleid  auf  dem  Rücken  trug,  gedachte  ich,  mich 
in  die  Klinge  zu  stürzen  und  allen  Menschen  das  rothe  Herz 
zu  zeigen,  doch  da  ich  die  Saat  der  zeitweiligen  Neigung  des 
Gebieters  beherbergte,  wollte  ich  nicht  von  schwarzer  Finsterniss 
in  Finsterniss  irren  lassen.  Von  dem  Kinde,  das  ich  noch  nicht 
sah,  im  Herzen  angezogen,  verlebte  ich  die  nicht  bedauerten 
Monde  und  Tage,  und  das  Geborene  war  diese  0-sen.' 

Sare^mo  jj^  (jo)'Wa'ba  fabakari-te  \  kazu-sada-nusi-wo 
iHUi'to  jobi  I  fawO'Wo  tsikara-ni  fawa-wa  -^  (ko)'WO  \  tajori- 
to  nasi'te  \  kono  tosi-Uuki  tsuraki  ^  f^  (sin-kuj-wo  nase^si 
kai  I  ^  (si)-8e-8i'to  omoi-si  fana-waka-ica  \  sitasi-ku  katarb  isuke- 
nnsi'io-wa  \  jfiji  (kami)  naranu  mi-no  sirade  sugi-si  |  ^  ^ 
(Tcin-kakti)  mbde-no  kajeru-sa-ni  |  on-mi-ni  fazimete  cd-  ^  (take)- 
no  I  ^  ^  (fud-miyno  sato-jon  on-mi-no  se-na-ni  l^oware-tarU 
n-mo  oja-to  ko-no  \  tsukinu  jinii-si  ari-st-ka-tx)  \  kata-mi-ni  te-ni 
te-too  tori'kawasi  \  ureai-namida-wo  ndgaae-si-ga, 

Siteaugiber.  d.  phU.-hiitt.  a.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hfl.  22 


338  Pfitmaier. 

JndesBen,  vor  der  Welt  mich  schämend,  nannte  ich  Herrn 
Eazu-8ada  Vater.  Dass  sie  auf  die  Mutter  baute,  die  Mutter 
das  Kind  zur  Stütze  machte  und  diese  Jahre  und  Monde  hin- 
durch harte  Mühsal  ertrug,  war  von  Nutzen.  Indem  ich,  da 
ich  keine  Gottheit  bin,  nicht  wusste,  dass  Fana-waka,  den  ich 
für  gestorben  hielt,  Herr  I-suke  sei,  mit  dem  ich.  selbst  ge- 
sprochen, traf  ich  auf  der  Rückkehr  von  dem  Besuche  in  dem 
goldenen  Söller  mit  dir  zum  ersten  Male  zusammen.  Dass  ich 
von  dem  Dorfe  Fusi-mi  aus  auf  deinem  Rücken  getragen  wurde, 
ist  wohl  das  nicht  endende  Verhältniss  zwischen  A eitern  imd 
Kind  gewesen.^  —  Hier  nahmen  sie  sich  gegenseitig  bei  der 
Hand  und  vergossen  Freudenthränen. 

Ten'Zen-wa  kata-gata-no  \  ^  ^R  (ki-güj'too  fotondo  J^  Äj 
(kan'tan)-8t  \  saru-nite-mo  -^  -^  (bosi)  ^  ^  (svä-ziin)  '  tarn- 
atsume-si  ajasi-ki  -^  -^  (rb-dzio)  \  ika-naru  9^  (rei)-no  nasu 
waza-ni-ja-to  \  ibukaru  kata-je-no  jj^  ^  (asi-Tnayjori  \  hait^ 
^  ^  (vi'ki)-no  tatau-to  fitosi-ku  |  ito-mo  jase-taru  wonna-no 
augata  \  same-zame-to  naku  kawo-katatsi-wo  \  faru-no  t-tca  tauku- 
dzuku  mite  \  won-mi  maki-no  kata-ni  masi-rrMsazu-ja.  Kazu-sada- 
mo  me-wo  tomete  \  geni-mo  ^  \^  (toku-toku)  mi-tate-matsure- 
ba  I  tajete  fisasi-ki  oku-gata  narazu-ja-to. 

Der  Vorgesetzte  der  Speisen,  die  merkwürdige  Begeg- 
nung dieser  Menschen  sich  zu  Herzen  nehmend,  sprach  ver- 
wundert: Die  seltsame  alte  Frau,  welche  Mutter  und  Eünd, 
Vorgesetzten  und  Diener  zusammenführte,  was  fiir  eines  Geistes 
Werk  ist  es,  welches  sie  verrichtet?  —  Zwischen  dem  zur 
Seite  befindlichen  Schilfrohr  kam  plötzlich,  mit  der  aufsteigen- 
den Luft  der  Finsterniss  gleich,  die  Gestalt  eines  sehr  abge- 
magerten Weibes  bitterlich  weinend  hervor.  Faru-no  I,  genau 
ihr  in  das  Angesicht  blickend,  fragte:  Seid  ihr  nicht  Maki-no 
kata?  —  Auch  Kazu-sada  heftete  das  Auge  auf  sie  und  sagte: 
Ich  betrachte  euch  in  der  That  aufmerksam.  Seid  ihr  nicht 
die  lange  Zeit  getrennte  Hausfrau? 

Fai^u-no  i  moro-tomo  tstka-joru-ni  |  aru-ka  naki-ka-ni  kagerd- 
no  I  faka-naki-nagara  taje-daje-no  \  musi-no  ne  naseru  ko-e  ari-te 
medzurasi-ja  faru-no   i-gimi  \  kazu'aada-misi'ni'mo  cuamasi-ki 
augata-wo ma'mije-mbaan'Wa  ito-mo fadzukaai 8ari'n<igara\  f||^|^ 
(aan-gej'fii  taumi-wo  jd^  (mea)  au-to  kike-ba  \  aore^wo  taikara-ni 


Das  Haui  eines  Statthalten  ron  Fari-raa.  339 

ari'si  "j^^  (joj-no  ,  kltanaki  kokoroiio  kazu-kazu-wo  |  koto  nagdku- 
t<Hno  kiki'te  tabe. 

Als  Faru-Do  I  zugleich  nahe  trat,  erklang  undeutlich  eine 
dem  abgerissenen  Insectentone  der  vergänglichen  Libelle  ähn- 
liche Stimme^  welche  sagte:  ^Dass  ich  vor  der  seltenen  Ge- 
bieterin Faru-no  I  und  dem  Herrn  Kazu-sada  in  ärmlicher 
Gestalt  erscheinen  werde,  ist  sehr  beschämend.  Indessen  hörte 
ich:  Durch  Busse  tilgt  man  die  Schuld.  Kraft  dessen  möget 
ihr  die  zahlreichen  unreinen  Neigungen  der  gewesenen  Welt, 
ist  die  Sache  auch  langwierig,  hören*. 

Saki-ni  kazu-sada-ga  ijeri-d  gotoku  \  faru-no  ugimi-wo 
waga  kimi-no  \  itsukusi-mi-masi-masu-ga  kokoro-nikuku  \  ito  net^Jt- 
masi'ku  amd-kara  \  kori-kazuje-m  amd  mune-wo  \  uUt-akcisi-tsutsti 
fakari-goto-wo  koje-ba  \  sika-aika  se-jo-to  osije-si  mama  \  faru-no 
ügimi-ni  misoka-ivo  ari-io  \  ato-nasi-koto-wo  makaUhai-jaka-ni 
P  >\  (k6-mü)'8e'Si'ka'ba  fakaruno  gotoku  \  waga  kimi-no  koto- 
ni  ikari-masi'te  \  faru-no  i-gimi-wo  ^  (kd)-zesime  \  tsui-ni  m- 
je-mon-wo  site  ^  (tsiüj-aesime-tamb. 

,Wie  früher  Kazu-sada  gesagt,  voll  Verdruss  darüber,  dass 
der  Gebieter  die  Gebieterin  Faru-no  I  begünstigte,  empfand 
ich  grossen  Neid,  und  indem  ich  dem  Vorsteher  der  Rechnungen 
des  Sa*eises  meine  Gedanken  mittheilte,  bat  ich  ihn  um  Rath. 
£r  rieth  mir,  so  und  so  zu  thun.  Diesem  gemäss  hinterbrachte 
ich  auf  eine  Weise,  als  ob  es  wahr  wäre,  das  unbegründete 
Wort,  dass  die  Gebieterin  Faru-no  I  einen  Buhlen  habe.  Wie 
zu  vermuthen,  war  mein  Gebieter  besonders  zornig.  Er  brachte 
die  Gebieterin  Faru-no  I  in  Verlegenheit  und  Hess  sie  hierauf 
durch  Sa-je-mon  hinrichten.' 

Kazuje-wa  nawo-yno  ne-wo  tatan-to  \  fana-waka-dono-wo 
fisoka-ni  ubai  \  kuma-saki-to  jnran  iri-je-ni  sidzume  \  warawa-ga 
nozomi'WO  kanaje-si-ga  sore-jori  warawa-ni  to-ni  kaku-to  j  1^  ^ 
(ren-bo)-no  ¥^  (zihj-wo  kaki-kudoku.  Ko-wa  mifai-naramt  mono- 
to  omoje-do  \  warawa-ga  ^f  "A  (mitsu-ziJ'WO  nasi-owose  \  koto 
totanoje-ai  uje-kara-wa  |  ina-to-mo  saau-ga  je-mo  iwade  \  kare-ga 
mani-mani  mi-wo  makaae, 

,Der  Vorgesetzte  der  Rechnungen,  um  noch  mehr  die 
Wurzel  abzuschneiden,  raubte  heimlich  den  Herrn  Fana-waka, 
versenkte  ihn  in  der  Einfahrt  von  Kuma-saki  und  erfüllte 
meinen  Wunsch.     Hierauf  sprach   er   zu  mir   auf  jede  Weise 

22* 


340  Pfiimftier. 

von  der  Heftigkeit  seiner  Neigung.  Ich  hielt  dieses  zwar  für 
etwas  Ungebührendes,  doch  weil  er  meine  Geheimnisse  bei 
sich  trug  und  die  Sache  eingerichtet  hatte,  konnte  ich  that- 
sächlich  nicht  Nein  sagen    und  überliess  mich  seinem  Willen.' 

Makura-no  kazu-wo  kasanure-ha  \  itsn-si  kimi-wo  nku  omi  \ 
mata-nio  kazuje-to  fakari-tsutau  \  ^  Ij^k  (mottaij-naku-mo  waga 
kimi-ni  \  J^  s  (tsin-dokuj-wo  susume  momo-tose-no  joicai-wo 
tsidzime-tate-matsuri  \  sore-jori-wa  tare  fahakaran  -  tsuTna-Jo  tvotto- 
to  namameki'te  \  Q  ^  (niisi-ja)  jj^  ^  (in-rakuj-too  fosi-i- 
mama-ni  se-si-ni  \  ^  Sf-  (ten-batau)  ika-de  nogaru-beku  \  waga 
mesi'Uukb  }&  (namij-no  J^  (uje)-to  iü  kosi-moto-ni  niata-mo-ja 
kokorO'WO  knjowasite  |  ^  (sedj-ju-mo  kowade  soba-me-to  se-ai-ni. 

,Als  er  die  Zahl  der  Polster  vermehrte,  dachte  ich  einst 
bekümmert  an  den  Gebieter.  Indem  ich  mich  nochmals  mit 
dem  Vorgesetzten  der  Rechnungen  berieth,  reichte  ich  schänd- 
licher Weise  meinem  Gebieter  Gift  und  verkürzte  sein  hundert- 
jähriges Lebensalter.  Hierauf  —  wer  sollte  sich  schämen? 
schmeichelte  ich  mich  ein  wie  die  Gattin  bei  dem  Manne  und 
beging  Tag  und  Nacht  Ausschweifungen  nach  Gefallen.  Wie 
konnte  ich  der  Himmelsstrafe  entkommen?  Mit  einer  Auf- 
wärterin Namens  Nami-no  uje,  welche  ich  in  Dienst  nahm, 
tauschte  er  ebenfalls  die  Gedanken  aus  und  machte  sie,  ohne 
sie  von  mir  auszubitten,  zur  Nebenfrau.' 

Kano  nami-no  itje-wa  kawo-ni  iii-ge-naki  ^  ^  (doku-fu) 
nare-ba  \  sama-zama  jokosirna-wo  susume-tsuf^u  |  tsui-ni  toarawa- 
mo  ^  7^  (dokusas)  serave-nv.  Q  ^  (In-gua)  j^  ^  (teki- 
fb)-no  jj^  (jo)-no  ari-aama  |  ^  ^  ^  ^  (zi-gb-zi-tohihto 
i'i-nagara  \  semete-wa  kazuje-ga  ^&  ^  (aku-gfakuj-wo  \  kono 
kata-gata'7i{  tsnge-uüajen-to  \  kare-kore  koko-ni-wa  ^^  ^|  (/«- 
injseru 

,Diese  Nami-no  uje  war,  im  Widerspruche  mit  ihrem 
Gesichte,  ein  boshaftes  Weib.  Sie  beredete  ihn  zu  allerlei 
Unrecht,  und  zuletzt  ward  auch  ich  durch  Gift  getödtet  Nach 
der  Beschaffenheit  der  Welt  der  Strafe  für  Böses,  der  treffen- 
den Vergeltung  empfangt  man  je  nach  den  Werken,  doch  um 
wenigstens  die  Unthaten  des  Vorstehers  der  Rechnungen  euch 
Allen  anzuzeigen,   habe    ich  jeden  Einzelnen  hierher  geführt, 


Dms  Hau  eines  Staftthftlten  von  Fari-ma.  341 

Sate-ntata  saki-ni  i-suke-nusi-ga  |  o-sen-misi-zo-to  ^  ^ 
(setsu-gaij'nase'si'^ca  \  JJ|j  ^  (hetsu-zin)  narade  maje-ni  toki-si  \ 
kazuje-ga  aoba-me-no  jÖ  (nami)-no  J^  (uje)  nari.  Warawa-ga 
H  ^  (on'gü)'WO  wasurnru-ncmi'ka,  Kare-ga  ^  JfJ  (zetth)- 
ni  j|t  (gaij-serare-tare-ha  \  toaga  ä||  ^  (siü-neki)-nite  i-suke- 
nuai-ga  te-too  kam-motsi-te  2fe  '^  (fon-gwn)'WO  ^  (Ifa«)  «eW. 

, Ferner  ist  diejenige,  welche  vorhin  Herr  I-suke,  sie  für 
die  Gebieterin  0-sen  haltend,  mit  dem  Schwerte  tödtete,  keine 
andere,  als  Nami-no  uje,  die  Nebenfrau  des  Rechnungsvor- 
stehers, über  welche  ich  früher  Aufschluss  gegeben  habe.  Ver- 
gisst  man  einfach  meine  gütige  Begegnung?  Da  ich  durch  ihr 
Zungenschwert  gemordet  wurde,  hat  durch  meine  Grimmigkeit 
Herr  I-suke  die  Hand  geliehen  und  ihren  Busen  durchdrungen/ 

Kakai^  ]^  ^  (zan'nin)'no  warawa-ga  fara-ni  \  [jj  ^ 
(fiüssedj-nase-si  -Ife  ^  9{  (ban-go-rö)  ^  (tenj-no  nikumi-ni 
^  ħ  (hurai)'no  wotsi-wotsi  \  kono  notsi  i-suke-nusi-wo  kimi- 
^0  hgi  I  JjS^  J^  (kb-tari)  ^  (udzi)'WO  tsugase-tamaje,  Mata  han- 
gchrb'Wa  sikasu-ga-m  \  jori-nori-kS-no  on-tane  nare-ba  \  koH-no 
ije-wo  tsugastmete  \  nagaku  ^  ^  (ka-sinj-to  nasasime-taniaje. 
Waga  4^  ^  (nen-riki)  mote  keo  tada-ima  jokosima-wo  aizoke 
su-e-nagakti  \  kb-tari-udzi-no  J^  ^^  (tsiü-soj-to  na^an-to. 

,Der  aus  meinem,  der  so  Grausamen,  Leibe  hervorge- 
kommene Ban-go-r6  spielt  zum  Abscheu  des  Himmels  nichts- 
würdige Stücke.  Von  jetzt  blicket  zu  dem  Herrn  I-suke  als 
dem  Gebieter  empor  und  lasset  ihn  das  Geschlecht  K6-tari  fort- 
setzen. Da  ferner  Ban-go-rö  in  der  That  der  Sprössling  des 
Fürsten  Jori-nori  ist,  so  lasset  ihn  das  Haus  des  Kreises  fort- 
setzen und  für  immer  sich  zu  einem  Diener  des  Hauses  machen. 
Durch  meinen  Entschluss  wird  er  heute,  eben  jetzt,  das  Unrecht 
zurückweisen  und  lange  Zeit  bis  zu  Ende  bei  dem  Geschlechte 
Kö-tari  sich  zum  Fussgestell  der  Redlichkeit  machen.' 

Kotoba-no  sita-jori  fitori-no  oni-bi  \  thre-fusi-taru  ban-gb-rb- 
ga  I  mune-no  aida-ni  irn-to  mije-»i-ga  \  jcigate  ban-go-rb  ^  ^ 
(mU'ku)'to  oki'te  \  atari-wo  nagame  i-suke-ga  maje-ni  nukadzuki- 
noM  I  saki-jori  ^t  dl  (mu-tsiil)'7ii  nakt-bawa-iio  |  sugi-kosi-kata- 
no  "hh  ^jr  (8i-matsu)-wo  katari  |  itakti  onore-ico  imoMme-tamai- 
si   I  airazaru   koto    tote    ^  ;|^    (d6-kon)'no  |   waga    imo-nto-wo 

^  (ken-renj-si  \  mata  ^  f^  (ked-daij-to    ^  ^    (faku- 


342  PfiimftUr.    Dm  Hau  eine«  StatthAlton  Yon  Fari-m». 

zinj'ißo  awase-si  koto  koao  kasiko-kere.  Ima-Jori  »otd-ica  3J|5  ^ 
(zia-aku)-%oo  tozake  \  nagaku  kb-tari-no  omi  taran-to  \  ^  4^ 
(aku-neii)  tatsi-matsi  ^  j^  (fokkij-site  \  -jg  i^  {sin-gi)-^o 
mono-no  fu-to  nari-taru-wa  \  iio  ari-gataki  koto  nari-kein. 

Am  Schlüsse  dieser  Worte  schien  ein  Irrlicht  in  die  Brust 
des  zu  Boden  gefallenen  Ban-go-r6  zu  dringen.  Ban-go-r6  stand 
sogleich  unverdrossen  auf,  blickte  vor  sich  hin  und  vor  I-suke 
sich  niederbeugend,  sagte  er :  Vorhin  erzählte  mir  im  Traume 
die  todte  Mutter  den  Anfang  und  das  Ende  längstvergangener 
Dinge.  Es  war  Unbekanntes,  wegen  dessen  sie  mich  streng 
tadelte.  Dass  ich  zu  meiner  Jüngern  Schwester,  welche  aus 
derselben  Wurzel  gesprossen,  in  Liebe  entbrannte,  ferner  mit 
dem  Bruder  die  blosse  Klinge  kreuzte,  es  erfüllt  mich  mit 
Scheu.  Von  nun  an  werde  ich  das  Böse  fernhalten  und  fiir 
immer  der  Diener  des  Geschlechtes  K6-tari  sein.  —  Indem 
seine  bösen  Gedanken  plötzlich  verflogen,  wurde  er  ein  treuer 
und  gerechter  Eriegsmann:   es  war  etwas  sehr  Schätzbares. 

Maki-no  kata-no  "^  ^  (bb-reij-wa  \  kawa-kami-wo  küto 
mite  I  are-are  kanata^ni  ma-fo  agete  \  koko-ni  noboreru  funa-kage 
ko80.  ^  ^  (Kokvrzoku)  kazuje  ^  ^^  (itobu-mitstj-ga  \  ban- 
go-rb-no  mukai-to  jBk  (seoj-si  \  kokorono  utsi-ni-wa  ^  ^r  (bö- 
kei)  atte  \  mijako-ni  noborerti  fune  nari-keri.  Toki-mo  tvori  tote 
koko-ni  kuru  koso  ^  jft3  (ten-mo)  nogarezaru  tokoro  nari.  Ana 
uresi-ja-to  iü-ka-to  omoje-ba  \  sugatawa  mijezu  naH-ni-kerL 

Der  Geist  Maki-no  kata's  blickte  scharf  nach  dem  oberen 
Laufe  des  Flusses  und  sprach :  Dort  auf  jener  Seite  hat  man 
ein  Segel  aufgespannt,  hier  ist  das  Bild  eines  herauffahrenden 
Schiffes.  Der  Reichsräuber,  der  Rechnungsvorsteher  Nobu-mitsi 
gibt  vor,  Ban-go-rö  entgegen  zu  ziehen,  in  seinem  Herzen  hat 
er  Hinterlist,  es  war  das  nach  Mijako  hinauffahrende  Schiff. 
Meinend,  es  sei  die  Zeit,  kommt  er  hierher,  es  ist  der  Ort,  wo  er 
dem  Netze  des  Himmels  nicht  entkommt.  O  wie  erfreulich!  — 
Man  glaubte,  dass  sie  so  sprach,  und  ihre  Gestalt  war  ver- 
schwunden. 

Bemerkung. 

Das  zehnte  Capitel  folgt  an  einem  anderen  Orte  nach- 
träglich. 


He  in  sei.    üeber  die  Bsdailben  der  altnordieclien  Sprache.  343 


Ueber  die  Endsilben  der  altnordischen  Sprache. 


Von 

Biohard  Heinzel. 


Einleitung. 

XJie  Gestalt  der  altnordischen  Sprache,  wie  wir  sie  aus 
den  Handschriften  des  dreizehnten  und  der  folgenden  Jahr- 
hunderte kennen,  muss  schon  geraume  Zeit  vorher  ausgebildet 
worden  sein.  Denn  die  Inschriften,  welche  die  dänischen  Könige 
Gorm  und  Harald  Ende  des  neunten  oder  in  der  ersten  Hälfte 
des  zehnten  Jahrhunderts  *  in  Jaellinge  einhauen  Hessen,  zeigen 
im  wesentlichen  schon  das  nordische  unserer  Grammatiken. 
Ueber  die  Jaellingesteine  siehe  Wimmer  Opuscula  ad  Madvigium 
a  discipulis  missa  S.  193  ff. 

Denselben  Sprachformen  aber  begegnen  wir  auch  in  einer 
Reihe  runischer  Denkmäler,  welche  zwar  keine  historische 
Fixierung  zulassen,  aber  sich  eines  alterthümlicheren  Alpha- 
betes bedienen  als  die  jaellingischen,  die  Steine  von  Ealderup, 
Snoldelev,  Helnaes  u.  s.  w.  Ebenfalls  dänische  Inschriften, 
welche  demnach  nicht  mit  den  Jaellingesteinen  als  gleichzeitig 
angenommen  werden  dürfen.  Ein  Jahrhundert  können  vrir 
getrost  als  Zwischenraum  ansetzen.  S.  Wimmer  Runeskriftens 
oprindelse  S.  177. 

Vorangehen  müssen  diesen  verhältnissmässig  jungen  In- 
schriften jene,  welche  ganz  in  dem  älteren  Alphabet,  der 
längeren  Reihe,  abgefasst  sind.  Verschiedenheiten  in  Gestalt 
und  Verwerthung  der  Zeichen,  sich  deckend  mit  Verschieden- 


1  Dahlmann  Geschichte  von  Dänemark  I,  68  ff. 


344  HeiDsel. 

heiten    der   LautgebuDg,   nöthigen    die   Zeit  dieser  sehr  alten 

Denkmäler   in   zwei   Perioden    zu   zerlegen,  die   eine    die  der 

ältesten    Schrift   und    der   ältesten  Sprache,  die   zweite   einen 
Uebergang  bildend. 

Die  Sprachformen  nun,  welche  die  älteste  Periode  bietet, 
sind  so  beschaffen,  dass  sie  unmittelbar  oder  sehr  bald  nach 
der  Geburt  des  germanischen  Sprachtypus,  d.  i.  nach  Eintritt 
des  vocalischen  Auslautgesetzes,  entstanden  sein  können.  Da- 
durch ergibt  sich  eine  mit  der  Geschichte  der  Schrift  parallele 
Periodisierung  der  nordischen  Sprache  seit  ihrer  Ablösung  von 
einer  europäisch -arischen  Urform  bis  auf  die  Zeit  der  uns 
geläufigen  Sprachform  von  selbst.  Denn  wenn  es  auch  gar 
keine  älteren  Inschriften  gäbe  als  die  von  Kalderup  oder  die 
Jaellingesteine,  so  müsste  man  doch  versuchen,  die  nordische 
Schriftsprache  von  einer  älteren  Form  abzuleiten,  welche  aus 
einer  Vergleichung  der  ältesten  geimanischen  Sprachen  mit 
den  übrigen  der  europäisch-arischen  Gruppe,  sowie  mit  der 
nordischen  Schriftsprache  zu  erschliessen  wäre.  Dass  der 
Infinitiv  im  ältesten  nordisch  einmal  faran  gelautet,  der  Genitiv 
Sing,  der  masc.  neut.  a-Stämme  einen  Vocal  vor  dem  s  gehabt 
haben  müsse  u.  s.  w.,  kann  man  mit  aller  Sicherheit  voraus- 
setzen. Und  da  z.  B.  der  i-Umlaut  im  gewöhnlichen  Nordisch 
nicht  mehr  wirkt,  in  der  ältesten  nach  Massgabe  der  übrigen 
germanischen  Dialekte  noch  nicht  vorhanden  war,  ergibt  sich 
nothwendig  eine  zweite  Periode. 

Die  dritte  Periode  bildet  die  Sprache  unserer  Hand- 
schriften, welche  aber,  wie  gesagt,  sich  bis  vor  die  Zeit  König 
Gorms  zurück  verfolgen  lässt. 

In  dem  folgenden  ist  der  Versuch  gemacht,  ein  Bild  der 
nordischen  Sprachentwicklung  —  vorzugsweise  aber  doch  nicht 
ausschliesslich  der  Endungen  —  in  diesen  drei  Perioden  zu 
zeichnen:  für  die  erste  und  zweite  Periode  sind  die  inschrift- 
lichen Belege  des  ersten  und  zweiten  Alphabets,  nach  Wimmers 
Eintheilung,  Runeskriftens  oprindelse  S.  177  beigesetzt. 

Die  Endungen  sind  bei  jedem  Vocal  zunächst  in  Gruppen 
gesondert,  welche  sich  aus  dem  gleichen  Schicksal  der  unter 
ihnen  vereinigten  Fälle  ergeben:  innerhalb  derselben  herrscht 
alphabetische  Ordnung. 


üeber  die  Endsilbtii  der  altBordisohen  Sprache.  345 

Eingerückt  sind  die  Formen,  in  welchen  der  fragliche 
Vocal  nach  Eintritt  der  vocalischen  Auslautgesetze  vor  der 
letzten  Silbe  zu  stehen  kommt,  eingeklammert  jenC;  welche 
später  durch  Analogiebildungen  verdrängt  wurden,  so  wie  diese 
selbst. 

Die  Beispiele  sind  zum  grossen  Theil  die  Paradigmen 
der  Wimmer'schen  Grammatik.  Hie  und  da  wurden  andere 
Wörter  gewählt,  um  die  Einwirkung  des  Umlautes  ersichtlich 
zu  machen.  Die  meisten  werden  am  Schluss  der  Abhandlung 
zu  dem  gewöhnlichen  Schema  def  Declination  und  Conjugation 
vereinigt  vorgeführt. 


346 


Heinxel. 


Yoi  den  Auslaatgesetzen. 


Letste  Silbe. 
A  -am      .     .     .     . 


-an«     .... 
A  -ä 

-dn 

-är 

•dt 

Ä   'da 

-am,  -aäm,  -däm 


Erste  Periode. 

Letzte  Silbe. 
armä  (A.Sg.),  staina  Tune,  landä 
(N.A.Sg.),  korna  (A.Sg.) 
GallehuuB,  hlaiya  (N.  Sg.)  Bö, 
spakanä  (A.  Sg.  Masc),  mxnä 
(G.  Sg.),  innanä  (Adv.) 

armann  (A.Pl.),  spakann  (A.Pl. 
Masc.) 

landu  (N.A.Pl.),  vaJcu  (N.Sg.), 
Saraln  Orstad,  spaku  (N.Sg. 
Fem.  N.  A.P1.  Neut.),  [faru 
(l.Sg.)] 

hana  (N.Sg.),  ll(a)r(l)la  Etel- 
hem,  Wlwila  Vaeblungsnaes, 
Nlnwila  Varde. 

fadar  (N.Sg.) 

tamida  (3.Sg.),w(o)rta  Etelhem. 


kalld  (l.Sg.  Ind.   [2.Sg.Imp.]) 

mannd  (G.Pl.),  arbingano  Tuoe, 
»pakaro,  armo  (G.Pl.),  [vako 
(A.Sg.)],  vak6  {Gt.Tl),  spako 
(A.Sg.  Fem.),  tamido  (l.Sg.), 
tawldo  Gallehuus,  faihido 
Einang,  wird  towidö^WOrahto 
Tune. 

tungo  (N.Sg.),  Flno  Berga, 
Lntliro  Dalby,  Hariso  Hün- 
linghöje,  augo  (N.A.Sg.) 

armSr  (N.Pl.),  ^<^J^  (Q.Sg.N. 
A.Pl.),  ThuingoB  (G.Sg.) 
Tune,  rnnoB  (A.Pl.)  Var- 
num,  Einang,  thaior  (N.A.P1. 
Fem.) 


üeber  die  Endwlbeik  dar  altnordisdien  Spnohe. 


347 


Zweite  Periode. 

Letste  Silbe. 
A  arma  (A.Sg.)  HariwnlAf A  Ista- 
by,  Hathuwolafa  Gommor, 
landa  (N.  A,  PI.)  ,  spakana 
(A.  Sg.  Masc),  mina  (G.  Sg.), 
innana  (Adv.) 

arman  (A.PL),  spakan  (A.Pl. 
Masc.) 

A  löndu(S.  A.¥l)y  üöikt*  (N. Sg.), 
spöku  (N. Sg.  Fem.  N.  A.Pl. 
Neut),  [föm  (l.Sg.)] 

hane  (N.Sg.),  dandeBjörketorp. 


Dritte  Pmode, 

IietBte  Silbe. 

arm  (A.Sg.),  land  (N.A.Sg.), 
spakan  (A.  Sg.  Masc.) ,  min 
(G.Sg.),  innan  (Adv.) 


arma  (A.Pl.),  spaka  (A.PL  Masc.) 


lönd  (N.A.P1.),  vök  (N.Sg.), 
spök  (N.  Sg.  Fem.  N.  A.  PI. 
Neut),  [fer  (l.Sg.)] 


hani  (N.Sg.) 


fader  (N.Sg.)  fadtr  (N.Sg.) 

tamde   (3.  Sg.),   sate   Gomraor,  i  tamdi  (3,Sg.) 

wurte  ?  Tjörkö. 


A  kalU  (l.Sg.  Ind.   [2.Sg.  Imp.]) 

mannd,   spakarä,   armäf   vakä 

(G.  PL),  [vakä  (A.  Sg. )],  spakd 

(A.Sg. Fem.),  tomda(l.Sg.) 


tungd  (N.Sg.),  augä  (N.Sg.) 

armdr  (N.PL),  vakdr  (G.Sg.N. 
A.  PL),  rnnaR  (A.  PL)  Istaby, 
Björketorp,  rnnoB  Tjörkö, 
ronoR  Stentofte,  thaidr  (N. 
A.PL  Fem.),  thaiaB  (A.  PL) 
Istaby. 


kalla  (1.  Sg.  Ind.   [2.  Sg.  Imp.]) 

manna,  spakra,  arma,  vaka  (G. 

PL),    [v'ök    (A:Sg.)],   spaka 

(A.Sg. Fem.),  tainda  (l.Sg.) 


tunga  (N.Sg.),  auga  (N.Sg.) 

armar   (N.PL),    vcJcar  (G.Sg. 
N.  A.  PL),  ^er  (N.  A.PL  Fem.) 


348 


Heiniel. 


Vor  den  Auslautgesetzen.    !  Erste  Periode. 

Letste  Silbe.  <       Letate  Silbe. 

'ds ^  apt&r  (Adv.) 

'  iUd  (Adv.) 


(l7lt 


Vor  der  letzten  Silbe. 
A  -anam  ('alam^  -aram) 


-anam 

-anäm 

-ancis 

-ani 

-antdn 

-anti 

-alfis 

-anaa    

-aras 

-ald,  -alaamdi,  -aläi,  -alai, 
-alaiasy  -alanam 


-anai 

^arai 

-asja    .     . 


tamidSn  (3.  PL)  wird  tamdun. 

Vor  der  letaten  Silbe. 
thnmalä,   aptanä,    hanuirä 
(A.  Sg.),  spakanä,  gama- 
lanä,    audeganä   (A.  Sg. 
Masc),  innanä  (Adv.) 
hanan  (A.Sg.) 

[hanand{Q,Fl,)],  arbingano 
Tune,  augand  (G.Pl.) 
hanann  (G.  Sg.  A.  PI.),  [hanann 
(N.   PI.)],   Kethan  (G.  Sg.) 
Belland. 
faran    (Inf.),    hanan    (D. Sg.) 
wltadahalaiban  Tune. 
faranda  (Part.  Prs.) 
farann  (3.  PI.) 

thumalr  (N.Sg.) 
aptanr  (N.Sg.) 
hamarr  (N.Sg.) 

gamalu  (N.Sg.  Fem.  N.A. 
PI.  Neut.) ,    ganicdummu 
(D.  Sg.  Masc.) ,    gamalu 
( D.  Sg.  Neut.) ,    th  umale 
(D.Sg.),  jfamaZer(N.  PI. 
Masc),  gamalanä  (A.8g. 
Masc.) 
aptane  (D.Sg.) 
hamare  (D.Sg.) 
armasSj    thumalassy    apiafutsit. 
hamarass  (G.Sg.),  Hnabdas 
Bö,  Godagas  ValsQord,  lan- 
dass  (G.Sg.),  onA<w(D. PI.) 


Ueber  die  Bndgilb«n  der  altnordisehen  Sprache. 


349 


Zweite  Periode. 

LetBte  Silbe. 

aptär  (Adv.) 
illd  (Adv,) 

tömdun  (3.  PI.) 

Vor  der  letzten  Silbe. 
A  thumala,  aptana,  hamara 

(A.  Sg.),  spakana,  gam^- 
lana,   audegana   (A.  Sg. 
Masc),  innana  (Adv.) 
hanan  (A.Sg.) 

[hanand  (G.Pl.)],    auganä 
(G.Pl.) 
hanan    (G.  Sg.  A.  Fl.) ,     [hanan 

(N.Pl.)] 
faran  (Inf.),  hanan  (D.  Sg.) 


farande  (Part.  Prs.) 
faran  (3.  PI.) 

thumalr  (N.Sg.) 
aptanr  (N.Sg.) 
hamarr  (N.Sg.) 

gömulu  (N.  Sg.  Fem.  N.  A. 
PI.  Neut),  gömulumu  (D. 
Sg.  Masc),   gömtdu  (D. 
Sg.  Neut.),  thumale  (D. 
Sg.) ,    gamaler    (N.  PI. 
Masc),  gamalana  (A.Sg. 
Masc.) 
aptane  (D.  Sg.) 
hamare  (D.Sg.) 
armas,  thumalaSj  aptanas,  ha- 
maras,  landab  (G»Sg.),  onkar 
(D.Pl.) 


Dritte  Periode. 

Letzte  Silbe. 
aptar  (Adv.) 
üla  (Adv.) 

tömdu  (3.  PI.) 

Vor  der  letzten  Silbe. 

thumal,  aptan^  hamar  (A. 
Sg.) ,    spaJcan ,    gamlan, 
audgan    (A.  Sg.  Masc), 
innan  (Adv.) 
hana  (A.Sg.) 

[hana{Q.?l)laugna{Q.Fl) 

hana  (G.Sg.  A.  PL),  [hanar  (N. 

PI.)] 
fara  (Inf.),  hana  (D.Sg.) 


farandi  (Part.  Prs.) 
fara  (3.  PI.) 

thunmll  (N.Sg.) 
aptann  (N.Sg.) 
hamarr  (N.  Sg.) 

gömul  (N.Sg.  Fem.  N.A. 
PI. Neut.),  göndum  (D. 
Sg.Masc),  gömlu(D.Sg. 
Neut.),  thumli  (D.Sg.), 
gamlir  (N.  PI.  Masc), 
gamlan    (A.  Sg.   Masc.) 

aptni  (D.Sg.) 
hamri  (D.Sg.) 
armSy  thumah,  aptans,  hamars, 
lands  (G.Sg.),  okkr  (D.Pl.) 


350 


Hein  tel. 


Yor  den  Auslautgesetzen. 

Vor  der  letsten  Silbe. 

'Osäm,  -asjäs,  -asjdi 


-atai . 
-atjani 


^adam 

^akas 
-anas 


-akaiaSj  -akasmäi 


-anaiaa,  -anasmai 


-ata 

-am 

-ama    . 

'anbkims 

-anam 

'Osmäi 

Ä   'dni 

'dnidn 

'dnti 

'dsdVf  'dstaa   .     .     . 

-Ärf 

'dta 

'ddhäm,  -ddhäma  usw. 


Erste  Periode. 

Vor  der  letsten  Silbe. 

spakaro  (G.Pl.)i  spakaror 
(G.  Sg.  Fem.) ,  spakare 
(D.  8g.  Fem.) 

haitade  (S.Sg.Pass.) 

hugassan  (Inf.) 

that   (N.A.Sg.),   spakat  (N.A. 

Sg.  Neut.) 
audegr  (N.Sg.  Masc.) 
farenr,  takenr  (Part.  Pf.),  hai- 
tlnaBTanum,  heidhenr,  openr 
(N.Sg.  Masc.) 

audeger  (N.  PI.  Masc. j,  an- 

degummu  (D.Sg.Masc.) 

heidJiener ,    operier   (N.  PI. 

Masc.) ;     heidhenummu, 

openummu  (D.Sg.  Masc.) 

fared  (2.  PI.) 

after    (Praep.),    afteB    Tune, 
yhar  (Praep.),  obaR  Varnmn. 

farum  (l.Pl.) 

armumry  landumr,  hanumr,  /i«- 
gumr  (D.Pl.) 
fadurä  (A.Sg.) 
spakummu  (D.Sg. Masc.) 
kalldn  (Inf.) 

kalldnda  (PartPrs.) 
kalldnn  (3.  PI.) 

spakdra  (N.Sg.  Masc),  spa- 
kostr  (N.Sg. Masc),  sin- 
gOsteB    (N.  PL  Masc.) 
Tune. 
kall6r  (2.Sg.) 
\kamd  (2.  PI.)] 

kallodd  (l.Sg.),  kalWddm 
(l.Pl.)  wird  kalludufiu 


Ueber  die  Endsilben  der  altnordischen  Sprache. 


351 


Zweite  Periode. 

Vor  der  lotsten  Silbe. 
sfpdkard  (G.PL),  apakarär 

(G.  Sg.  Fem.) ,    spakare 

(D.Sg.Fem.) 
heitade  (3.  Sg.  Pass.) 
hugasan  (Inf.) 

that  (N.  A.  Sg.),  that  Björketorp, 
spdkat  (N.  A.Sg.Neut.) 

audegr  (N.  Sg.  Masc.) 

farenvy  tekinr  (Part.  Pf.),  heid- 
hmr,  openr  (N.Sg.Masc.) 

audger  (N.  PL  Masc),  aud- 
gumu  (D.  Sg.  Masc.) 

heidhner  y  opner  (N.  PI. 
Masc),  heidhnumu,  op- 
nnmu  (D.  Sg.Masc.) 

fared  (2.  PI.) 

eftir  (Praep.),  yßr  (Praep.) 

forum  (l.Pl.) 

örnumr,  löndumrj  hönumr,  au- 
gumr  (D.Pl.) 
f'ödura  (A.  Sg.) 
spökumu  (D.  Sg.) 
Ä  kallän  (Inf.) 

kaUdnde  (Part.Prs.) 
kcdldn  (3.  PI.) 

spakare  (N.Sg.Masc),  spa- 
kästr  (N.  Sg.Masc j 


kalldr  (2.Sg.) 
[kaUdd  (2.  PI.)] 

kallddd  (l.Sg.),  köUudum 
(l.Pl.)  usw. 


Dritte  Periode. 

Vor  der  lotsten  Silbe. 

spakra  (G.  PI.) ,  spakrar 
(G.Sg.Fem.),  8pakn{D. 
Sg.  Fem.) 

heiti  (3.Sg.Pass.) 

kugsa  (Inf.) 

that  (N.  A.  Sg.),  spakt  (N.  A.  Sg. 

Nei^t.) 
audigr  (N.Sg.Masc) 
farinn,  tekinn  (Part.  Pf.)  heiiinn, 

opinn  (N.  Sg.  Masc.) 

audgir  (N.  PI.  Masc),  aud- 
gum  (D. Sg.Masc) 

heidnir,  o/mir(N.Pl.Masc), 
heidnum,  opnnm  (D.Sg. 

Masc.) 

faHd  (2.  PI.) 

epHr  (Praep.),  yfir  (Praep.) 

ßh^m  (l.Pl.) 

öi-mum,  löndum,  hönwn,  augum 
(D.Pl.) 

födur  (A.S.) 

spökum  (D.Sg.) 
kalla  (Inf.) 

kaUandi  (Part.  Prs.) 
kalla  (3.  PI.) 

spakari  (N.  Sg.  Masc),  spa- 
ka^tr  (N.Sg.Masc) 


kallar  (2.Sg.) 
[kallid  (2.?l)] 

kallada  (l.Sg.),   kölludum 
(1.  PI.)  usw. 


352 


Heiniel- 


Vor  den  Auslautgesetzen. 

Vor  der  lotsten  Silbo. 
-dtaa 


-an 


-ana     .     . 

'änam  .     . 

'änäm 


'dnas 


'dnhhims 
'äni 


Letzte  Silbe. 


JA   -ja 


"jam 
'ijam 

'jas 


'jus 

'Jans 
'Jans 


JA  'ja 


Erste  Periode. 

Vor  der  letsten  Silbe. 

kaUddr  (Part.  Pf.) 

tamiddr  (2.  Sg.)  wird  tamddr, 

kalldm  (l.Pl.)  wird  kaüum,  ta- 

middm  (1.  PI.)  wird  tamdum, 
augon  (N.  A.Pl.)  wird  atigun, 
tungon  (A.Sg.)  wird  tungun. 
tungond  (G.Pl.)  wird  tun- 
guno. 
tungdnn  (G.  Sg.),  Igingon  Sten- 

stad,    wird    tungunnj    \iun- 

gdnn  (N.A.Pl.)] 
vakomr   (D.  PI.)   wird    vakumr^ 

tungdmr  (D.Pl.)  wird  tungumr, 
tungon  (D.  Sg.)  wird  tungun. 

LetBte  Silbe. 
tami,  bargi,  domi  (2.Sg.Imp.) 

kunjä  (N.  A.Sg.),  bakjä  (A.Sg.) 
Uddhijä  (N.  A.  Sg.),  hallijä  (A. 
Sg.) 

hakir  (N.  Sg.),  frdgir,  vdnir  (N. 
Sg.Masc);  SaligastiB  Ber- 
ga,  HlewagastiB  Gallehaus, 
ThallB  Bratsberg,  MariR 
Thorsbjerg. 

halltr  (N.Sg.) 

batir,  haMir  (Adv.) 

bakjann  (A.Pl.) 
halljann  (A.Pl.) 

tamju  (l.Sg.),  angju  (N.Sg.), 
kunju  (S.A.F\.)yfrägjn,  van- 
ju  (N.Sg. Fem.) 


XTelier  die  Endsilben  der  altnordischen  Sprache. 


353 


Zweite  Periode. 

Vor  der  letsten  Silbe. 
kallddr  (Part.  Pf.) 

famder  (2.  Sg.) 

Mlum  (l.Pl.),  tömdum  (l.Pl.) 

augun  (N.A.P1.) 
tungun  (A.Sg.) 

tungunä  (G.Pl.) 

tungun  (G.  Sg.),  \tungun  (N.  A. 
PL)] 

vokumr  (D.  PL),  tungumr  (D.  PL) 

tungun  (D.Sg.) 

Letste  Silbe. 
JA  temiy  bergt,  doemi  (2,  Sg.  Imp.) 

kifnja  (N.  A.Sg.),  bekja  (A.Sg.) 
klaedhija  (N.  A.  Sg.),  hellija  (A. 

Sg.) 

bekir   (N.  Sg.),  fraegir,    vaenir 

(N.Sg.Masc.) 


Dritte  Periode. 

Vor  der  letzten  Silbe. 
kaUadr  (Part  Pf.) 

tamdir  (2.  Sg.) 

köllum  (l.PL),  midum  (l.PL) 

augu  (N.A.PL) 
tungu  (A.Sg.) 

tungna  (G.PL) 

tungu  (G.  Sg.)  [tungur  (N.  A.  PL)] 

v^kum  (D.PL),  tungum{D.V\.) 

tungu  (D.Sg.) 

Letste  Silbe. 
<em,  berg,  doem  (2.  Sg.Imp.) 

kyn  (N.A.Sg.),  bekk  (A.Sg.) 
klaedi  (N.  A.  Sg.),  hellt  (A.  Sg.) 

bekkr   (N.Sg.),  fraegr,    vaenn 

(N.Sg.Masc.) 


hdlir  (N.  Sg.),  HaeruwulaflR?     heüir  (N.  Sg.) 

Istaby. 
betir,  heldir  (Adv.) 

bekjan  (A.PL)  wird  bekin 
helljan  (A.PL) 


betVj  heldr  (Adv.) 

bekki  (A.PL) 
hella  (A.PL) 


JA  temju  (l.Sg.),  engjn  (N.Sg.),  iem  (l.Sg.),  mg  (N  Sg.),  kyn 
kynju  (N.A.PL),  fraegju,  ,  (N.A.PL),  fraeg,  vaen  (N. 
vaenju  (N.Sg. Fem.)  |       Sg.  Fem.) 


SitiiingBber.  d.  phfl.-hi8i  a.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hft. 


23 


354 


Heiniel. 


Vor  den  AuslaatgeBetzen.    '  lirste  Periode. 

Iietste  Silbe.  Letste  Silbe. 

-ijd I  bargijuy  ddmijn  (l.Sg.),  armgu 

I       (N.Sg.),  klädhiju  (N.A.Pl.) 


'ijän 
'ijän 


'ja. 

'jäm 
'jäm 
-jäm 
'ijäm 
'jaäm 


atadja  (N.Sg.) 
andja  (N.Sg.) 

JA  'ja aggjo  (l.Sg.Ind.  [2.Sg.Imp.]j 

frägjd  (A.Sg.Fem.) 

vänjd  (A.Sg.Fem.) 

[angjd  (A.Sg.)] 

[arm/ö  (A.Sg.)J 

bakjd,  kunjd,  rtkjS  (G.Pl.) 

haUjo,  klddhjd  (G.Pl.) 

-jääm angjo  (G.Pl.) 

'jääm armjd  (G.Pl.) 

-jäm I  forjd ,    tdkjo ,    tamidjo    (später 

tamdjS)y  hargidjo,  ddmidj6, 
vakedjd  (später  vaktj6)y  kal- 
lddj6  (l.Sg.Opt.) 

bulgjd  (N.Sg.) 

haUj6  (N.Sg.),  aurj6  (N.  A.Sg.) 


'jän 

-jän 

'jän [frödi  (N.Sg.)J 


-jäs 
•jäs 


Vor  der  letzten  Silbe. 
JA   -ja^ 


bakjdr  (N.Pl.) 

angjdr  (G.Sg.  N.  A.  PI.) 

armj6r  (G.Sg. N.A.Pl.) 

Vor  der  letsten  Silbe. 

tamir  (2.  Sg.Ind.) 


'ijasi I  bargtr,  d&mir  (2.Sg.Lid.) 

'jasja baktsSj  kuniss  (G.  Sg.),  frdgtssy 

,       vänise  (G.  Sg.  Masc.  Neut.) 

'ijasja '  hallisSf  klddhiss,  rikSss  (G.  Sg.) 

I 
'janam atadjan  (A.  Sg.) 

'janam andjan  (A.  Sg.) 


üeb«r  die  BndsilbM  der  ftUnordiiicbeD  Sprache. 


355 


Zweite  Fehode. 

Leiste  Silbe. 

bergiju,  doemiju  (1.  Sg.),  ermiju 
(N.  Sg.),  klaedkiju  (N.  A.  PL) 

ttedje  (N.Sg.) 
mdje  (N.Sg.) 

JA  eggjd  (1.1^.  Ind.    [2.Sg.Imp.)] 
fraegjä  (A.Sg.Fem.) 
vamjd  (A.Sg.Fem.) 
[engjd  (A.Sg.)] 
[ermjd  (A.Sg.)] 
hekjd,  hynjd,  nkja  (G.Pl.) 
hdljd,  klaedhjd  (G.  Fl.) 
engjd  (G.Pl.) 
ermjä  (G.Pl.) 

fonjd,  toekjn,  temdjd,  bergiiijd, 
doemidjd ,    wJctjd,    kaVädjd 

(i.Se.Opt.) 

hylgjd  (N.Sg.) 

kdljd  (N.Sg.),  eifrjd  (N.A.Sg.) 

\Jroedi  (N.Sg.)] 

hekjär  (N.  PI.)  wird  heUr. 
engjdr  (N.A.Pl.) 
ermjdr  (N.A.Pl.) 

Vor  der  letzten  Silbe. 

JA   tendr  (2.Sg.Ind.) 

her^T,  doemir  (2.Sg.Ind.) 
hekü,   kynis   (G.Sg.),  fraegisj 
vaenü  (G.Sg. Masc.Neut.) 

hellta,  klaedhts,  likts  (G.Sg.) 

stedjan  (A.Sg.) 
endjan  (A.Sg.) 


Dritte  Periode. 

Letste  SUbe. 

bergi\  doemi  (1.  Sg.),  ermi  \ermr] 
(N.Sg.),  klaedi  (N.A.Pl.) 

stedi  (N.Sg.) 
endi  (N.Sg.) 

^ggja  (l.Sg.Ind.    [2.Sg.Imp.]) 

fraegja  (A.Sg.Fem.)r 

vciena  (A.Sg.Fem.) 

[mg  (A.Sg.)J 

[ermi  (A.Sg.)] 

bekkja,  kynja,  rikja  (G.Pl.) 

hdla,  klaeda  (G.Pl.) 

engja  (G.Pl.) 

erma  (G.Pl.) 

fofra,    toeka,    ternda,    bergda, 

doemda,  vekta,  kallada  (1.  Sg. 

Opt.) 

f>yigja  (N.Sg.) 

heila  (N.Sg.),  eyra  (N.A.Sg.j 

[froedi  (N.Sg.)] 

hekkir  (N.Pl.) 
engjar  (N.A.Pl.) 
ei^ar  (N.A.Pl.) 

Vor  der  letzten  Silbe. 
iemr  (2.Sg.Ind.) 
hergiry  doemir  (2.  Sg.  Ind.) 
hekks   [hekkjar\,   kyns  (G.Sg.), 

fraegs,    vaens   (G.  Sg.  Masc. 

Neut.) 
hdlis,  klaedia,  rikis  (G.Sg.) 


stedja  (A.Sg.) 
enda  (A.Sg.) 


28* 


356 


H«inxel. 


Vor  den  Ansiautgesetzen. 

Vor  der  lotsten  Silbe. 
-jantM 


-jani 
'jani 
"jani 
'jani 


'jantän 


'jantdn 


-janti 
-janti 


-jasämy  -jasjäsy  -jasjäi 


-jata 


'jama  .  . 
'jama  .  . 
'janbhims , 


'janbhims . 


-janbhims . 

'janbhims . 
-jasmdi 
'jasmäi 


JA  'jädhäm,  'ji 

•jäni 


-jdntdn 


Erste  Periode. 

Vor  der  lotsten  Silbe. 
stadjann  (G.Sg.  A.PL),  Thra- 
wingan  (G.Sg.)  Tanum,  [stad- 
jann (N.Pl.)] 
andjann   (G.  Sg.  A.  PI.) ,    [and- 

jann  (N.PL)] 
stadjan  (D.Sg.) 
andjan  (D.Sg.) 
tamjan  bargjan  (Inf.) 
ddmjan  (Inf.) 

tamjanda,  bargjanda  (Part. 

Pr8.) 
domjanda  (Part.PrB.) 
tamjann,  barg  jann  (3.  PL) 
ddmjann  (3.  PL) 

frdgjaro  (G.  Fl),frdgjar6r 
(G.Sg.  Fem.),  frdgjare 
(D.Sg.  Fem.) 

tamjedj  bargjed,  d&mjed  (2.  PL) 

tamjum,  bargjum  (1.  PL) 
ddmjum  (l.PL) 
bakjumr ,     kunjumr ,     i-ikjumrj 
frdgjumr  (D.  PL) 

halljumr,   klddhjumr,   vdnjumr 

(D.Pl.) 
stadjumr  (D.PL) 
andjumr  (D.  PL) 

frdgjummu  (D.  Sg.  Masc.) 
vdnjummu  (D.Sg. Masc.) 

agg j6d6  {l.Sg,),  aggjod^ 
(l.PL)  wird  aggjudum 
usw. 

aggjonda  (Part.  Prs.) 


Veih%r  die  Endiilben  der  altnordiiolien  Spnche. 


357 


Zweite  Periode. 

Vor  der  leisten  Silbe. 
ttedjan  (G.Sg.A.PL),  [stedjan 
(N.Pl.)] 

endjan   (G.  Sg.  A.Pl.),    [mdjan 

(N.Pl.)] 
stedjan  (D.Sg.) 
endjan  (D.Sg.) 
temjany  bergjan  (Inf.) 
doemjan  (Inf.) 

temjandej  bergjande  (Part. 

Pr8.) 
doemjande  (Part.  Prs.) 
temjan,  bergjan  (3.  PI.) 
doemjan  (3.  PI.) 

fraegjard  (G.Pl.),  fraeg- 
jardr(Ot.Sg.Fein.),fraeg- 
jare  (D.Sg. Fem.) 

temjedf  bergjed,  domjed  (2.  PI.) 

ternjum,  bergjum  (l.Pl.) 

doemjum  (l.Pl.) 

bekjumr ,    gestnm  R    Stentofte, 

kynjumr,  rikjumry  fraegjumr 

(D.Pl.) 
helljumry  klaedhjumr,  vaenjumr 

(D.Pl.) 
stedjumr  (D.Pl.) 
endjumr   (D.  PI.) 

fraegjumu  (D.  Sg.  Masc.) 
vaenjumu  (D.Sg. Masc.) 

J-^  *?S/^<^"  (l'SgO?  ^ggjudum 

(l.Pl.)  usw. 

eggjdn  (Inf.) 

eggjdnde  (Part.  Prs.) 


Dritte  Periode. 

Vor  der  lotsten  Silbe, 

siedja    (G.Sg.A.PL),    [siedjar 
(N.Pl.)] 

enda  (G.Sg.A.PL),  [endar  (N. 

PL)] 
steäja  (D.Sg.) 
enda  (D.Sg.) 
temja,  bergja  (Inf.) 
doema  (Inf.) 

temjandiy    bergjandi  (Part. 

Prs.) 
doemandi  (Part.  Prs.) 
temjaj  bergja  (3  PL) 
doeina  (3.  PL) 

fraegra  (G.PL),  fra^,grar 
(G.  Sg.  Fem.)  ,  fraegri 
(D.Sg.  Fem.) 

temid,  bevgid,  doemid  (2.  PL) 

temjwn  bergjum,  (l.PL) 
doemum  (l.PL) 

bekkjum,  kynjum,  rikjum^  fraeg- 
jum  (D.PL) 

hellum,  klaedum,  vaenum  (D.Pl.) 

stedjum  (D.PL) 

endiim  (D.PL) 

fraegjum  (D.Sg. Masc.) 
vaenum  (D.Sg. Masc.) 

eggjada  (l.Sg.),  eggjudum 
(l.PL)  usw. 

eggja  (Inf.) 

eggjandi  (Part.  Prs.) 


3Ö8 


HeiBieL 


Tor  den  Auslautgesetzen. 

Vor  der  lotsten  Silbe. 

-jdnti 

'jdsi 

-y^to 

'jdtas 

'jdma 

'jdnam 

'jänam 

'jdnam 

-jdnam 

'jdna^ 

'jdnas 

'jdnhhims 

-jdnhhims 

'jdnbhims 

'jdnbhims 

'jdnt 

'jdni 

LetBte  Silbe. 
t  'tnt 

4t 


Vor  der  letsten  Silbe. 

I  'ilam^  -inam    .     .     . 

-üaa,  'inas 


I 


Siste  Periode. 

Vor  der  letsten  Silbe. 

aggjdnn  (3.  PL) 

[aggjdd  (2.  PL)] 
aggjddr  (Part.  Pf.) 

aggjom  (l.PL)  wird  aggjum, 
hulgjon  (A.  Sg.)  wird  bulgjun. 
halljdn  (A.Sg.)  wird  halljun. 
bulgjdnS  (G.PL)  wirdbfdg' 

juno. 
halljdnd  (G.  PL)  wird  hau- 
jund. 
hdgjonn  (G.Sg.)  wird  hvlgjunn^ 

[hulgjmn  (N.A.PL)] 
halljonn  (G.  Sg.)  wird  halljunn, 

[halljdnn  (N.A.PL)] 
angj&mr  (D.  PL)  wird  angjumr. 
armj&mr  (D.PL)  wird  armjvmr. 
bulgjomr  (D.PL)  wird  bulgjumr, 
halljdmr  (D.  PL)  wird  halljumr, 
bulgjdn  (D.  Sg.)  wird  bulgfun. 
haUjdn  (D.Sg.)  wird  kaUjun. 

Iietste  Silbe. 

f6rin,  toiän,  tamidtn  (später 
tamdin)^  bargidtn^  ddmiün, 
vakedtn  (später  vakt  n),  kaUo- 
din  (3.PL0pt.) 

fdri,  t6U,  tamidt  (später  tamdi), 
bargidi,  dßmidi,  vakedt  (spä- 
ter vaktijj  kaUddi  (3.  Sg. 
Opt.) 

Vor  der  letaten  Silbe. 

lukilä,  himinä  (A.  Sg.) 
lukilr,   himinr   (N.Sg.),  mücür 
(N.Sg.Masc.) 


Ueber  die  Bndtilben  der  »linordischeii  Sprache. 


359 


Zweite  Periode. 

Vor  der  lotsten  Silbe. 
egsjän  (3.  PI.) 
egsjär  (2.Sg.) 
[egajäd  (2.  PI.)] 
eggjädr  (Part.  Pf.) 

eggjum  (l.Pl.) 
hflgjun  (A.Sg.) 
helljun  (A.Sg.) 

hylgjunä  (G.Pl.) 

Mljunä  (G.P1.) 

hylgjun   (G.Sg.),    \hylgjun   (N. 

A.Pl.)] 
hdljun  (G.Sg.),  \Mljun  (N.A. 

PI.)]  ■ 
engjumr  (D.Pl.) 
ermjumr  (D.Pl.) 
hylgjumr  (D.Pl.) 
kelljumr  (D.Pl.) 
bylgjun  (D.  Sg.) 
helljun  (D.Sg.) 

Leiste  BÜbe. 

1  /oeriny  toekin,  temdin,  bergidtiiy 
ddmidin  y  vekHn ,  kcUlddtn 
(S.PLOpt.) 

yoert ,  toekt ,  temdi ,  bergidt, 
doemidi,  vekti,  kallddi  (3.Sg. 
Opt.) 


Vor  der  letaten  Silbe. 

lykila,  himina  (A.Sg.) 
lykilr,   himinr  (N.Sg.)^   mikilr 
(N.Sg.Maßc.) 


Dritte  Periode. 

Vor  der  lotsten  Silbe. 
eggja  (3.  PI.) 
eggjar  (2.Sg.) 
[eggid  (2.  PI.)] 
eggjadr  (Part.  Pf.) 

^ggjum  (l.Pl.) 

hylgju  (A.Sg.) 
hellu  (A.Sg.) 

hylgna  (G.Pl.) 

hellna  (G.Pl.) 

hylgju   (G.Sg.),     [hylgjur    (N. 

A.P1.)] 
hdlu  (G.  Sg.),  [ÄeKuf  (N.  A.  P1.)J 

engjum  (D.  PI.) 
ermum  (D.Pl.) 
6y^Mm  (D.Pl.) 
AeHwm  (D.Pl.) 
bylgju  (D.Sg.) 
heUu  (D.Sg.) 

Lotste  Silbe. 
foeriy  toeki,  temdiy  hergdi,  doem- 
diy  vektiy  kalladi(d.  PI  Oipt) 


foeri,  toeki,  temdi,  bergdi,  doemdi, 
vektiy  kalladi  (3.Sg.  Opt.) 


Vor  der  lotsten  Silbe. 

lykil,  himin  (A.Sg.) 
lykill,   himinn   (N.Sg.),    mikül 
(N.Sg.Masc.) 


360 


H«iniel. 


Vor  den  Auslautgesetzen. 

Vor  der  lotsten  SUbe. 

'idJiämy  'idhjäm  .     ,     . 


-idhäm,  -idhjäm  . 


-Hai,  'ilaias,  -ilaamäi 


-isdn 
'ist  .     . 
'istcts   .     . 

'itd 
'itaa     .     , 
'itaa     . 
4ti  .     . 

'Üjä 

'ihhims 
1  4ma     . 

'isi  .     .     . 

'ita .     , 


Erste  Periode. 

Vor  der  letEten  Silbe. 

tamidA  (1 .  Sg.  Ind.),  tawido 
Gallehuus^  wird  tamdo, 
worahto  (l.Sg.)  Tune, 
w(o)rta(3.  Sg.)  Etelhem, 
usw.  —  tamidjd  (l.Sg. 
Opt.)  wird  tamdjo  uaw. 
bargid6,d6mido(l.Sg.lnd.)j 
faihido  Einang,  usw.  — 
hargidjoy  domidjö  (l.Sg. 
Opt.)  usw. 
lukile,  himine  (D.Sg.),  miki' 
ler  (N.  Pl.Masc),  miki' 
lummu  (D.Sg.Masc.) 
batira  (N.Sg.Masc.) 
farir  (2.Sg.) 
batistr  (N.  Sg.  Masc.) 
diupidhu  (N.  Sg.) 
tamidr  (Part.  Pf.) 
bargidr,  dömidr  (Part.  Pf.) 
Ifarid  (3.Sg.)] 

hmissu  (N.A.P1.) 
\burdufnrj  stadumr  (D.  PL)] 

fdrim,  toJnm,  tamidim  (später 
tamdtm),  bargidtm,  domidim, 
vakedim  (später  vakttm)^  kal- 
lödim  (1.  PL  Opt.) 

forir,  tokir,  tamidir  (später 
tamdir) ,  hargidir ,  ddmidir, 
vakedir  (später  vakHr),  kaüo- 
dir  (2.Sg.0pt.) 

forid,  tolAd,  tamidid  (später 
tamdtd),  bargidid,  d6midtd, 
vakedtd  (später  vak^d),  kallo- 
did  (2.  PL  Opt) 


U«ber  die  Bvdailban  der  altnorduchen  Sprache. 


361 


Zweite  Periode. 

Vor  der  leisten  Silbe. 
tamdd  (l.Sg.Ind.)  ubw.  — 
iemdjd  (l.Sg.Opt.)  usw. 


hergiddy  doemida(  l.Sg.Ind.) 
usw.  —  hergidjäy  doemid- 
ja  (l.Sg.Opt.)  usw. 

lykUey  himine  (D.  Sg.),  mi- 
käer  (N.  Pl.Masc),  miJd- 
lumu  (D.Sg.Masc.) 
hetire  (N.Sg.Masc.) 
ferir  (2.  Sg.) 
hetistr  (N.Sg.Masc.) 
d^idhu  (N.Sg.) 
inmdr  (Part.  Pf.) 
bergidry  domidr  (Part.  Pf.) 
[ferid  (3.  Sg.)],  abariutith  Sten- 
tofte. 
hoentsu  (N.A.P1.) 

[burdumr,  stödumr  (D.  PI.)] 

1  foertmy  toekiniy  temdtniy  hergidtm, 
doemidim ,  vektim^  kallddim 
(l.PLOpt.) 

foeiir,  toeMr,  temdh\  hergidir^ 
doemidir ,  vektir ,  kallddir 
(2.Sg.0pt.) 

foerid,  toekid,  temdid,  bergidid, 
doemidtd ,  vekttd  y  kallddid 
(2.P1.0pt.) 


Dritte  Periode. 

Vor  der  letsten  Silbe. 

tamda  (l.Sg.Ind.)  usw.  — 
temda  (l.Sg.Opt.)  usw. 


bergda,  doemda  (1.  Sg.Ind.) 
usw.  —  bergday  doemda 
(l.Sg.Opt.)  usw. 

lykliy  himni  (D.  Sg.),  miklir 
(N.  PL  Masc.)  ,  miklum 
(D.  Sg.  Masc.) 

betri  (N.Sg.Masc.) 

betstr  (N.Sg.Masc.) 

dypt  (N.Sg.) 
tamdi'  (Part.  Pf.) 
bergdr,  doemdr  (Part.  Pf.) 

[/.rr  (3.  Sg.)] 

hoens  (N.A.Pl.) 
burdurtty  stödum  (D.  PI.) 

foerimy  toekimy  temdimy  bergdim^ 
doemdim,  vektiniy  kcdladim 
(l.PLOpt.) 

foevir,  toekiry  temdivy  bergdir, 
doemdiTy  vektiry  kalladir  (2. 
Sg.Opt.) 

foeridy  toekidy  t^nidid,  bergdid, 
doemdidy  vektid,  kaUadid  (2. 
PI.  Opt.) 


362 


Heiniel. 


Yor  den  Auslautgesetzen. 

Vor  der  letsten  Silbe. 
'tkai(My  -ikasmäi.     .     . 


'inaiaSf  'inasmdi. 


•ikaa 

'inas 

Letzte  Silbe. 

U  -u 

-um 

-uns . 

'Unt 

'U8 

Vor  der  letzten  Silbe. 

U    'UlcLS 

-unaa   

'ubhima     

'Uraa 

'ukaiaSy  -uhasmdi     . 

-ulam 

-ulai 

'Unam 

'Wnai 

-uram 

-urai 


Erste  Periode. 

Vor  der  letsten  Silbe. 

mahttger  (N.Pl.Masc. ),  mah' 
tigummu  (D.  Sg.  Masc.) 
werden  mahteger,  mahie- 
gummu. 
guldhtner  (N.Pl.Masc),  gul- 
dhtnummu  (D.  Sg.  Masc.) 
werden  gtddhenery  gvl- 
dhenummu. 
mahttgr  (N.  Sg.  Masc.)  wirdmoA- 

tegr. 
guldhtnr    (N.  Sg.  Masc.)    wird 
gnldhenr. 

Letste  Silbe« 

fehu  (N.A.Sg.),  arm  (Praep.) 
vallu  (A.  Sg.) 

vallunn  (A.  PL) 

f6run  (3.  PI.) 

vallur  (N.Sg.),  waruR?  Tomstai 

Vor  der  letsten  Silbe. 

sadulr  (N.Sg.) 
iatunr  (N.Sg.) 
vallumr  (D.Pl.) 
ßaturr  (N.Sg.) 

afluger  (N.Pl.Masc),  aflii- 

gummu  (D.  Sg.Masc.) 
aadvlä  (A.Sg.) 
8aduU  (D.Sg.) 
iatunä  (A.Sg.) 
iatune  (D.  Sg.) 
foaturä  (A.  Sg.) 
fiature  (D.Sg.) 


üeber  die  Bndnlbmi  d«r  altnordischen  Spraclie.  363 

Zweite  Periode.  !  Dritte  Periode. 


Vor  der  lotsten  Silbe. 
moA^^er  (N.PLMasc),  Tnaht- 
gumu  (D.Sg.Masc.) 


guldhner  (N.Pl.Masc),  gul- 
dhnumu  (D.Sg.Masc.) 


mahtegr  (N.Sg.Masc.) 
guidhenr  (N.Sg.MaBC.) 


Letste  Silbe. 

U  feku  (N. A.Sg.),  änu,  onu (Praep.) 
völlu  (A.Sg.) 

völlun  (A.P1.) 
fdrun  (3.  PL) 
vöUur  (N.Sg.) 

Vor  der  letsten  Silbe. 

ü  södulr  (N.Sg.) 
iötunr  (N.Sg.) 
vöUumr  (D.Pl.) 
fiötvar  (N.Sg.) 

ößuger  (N.Pl.Masc),  öflu- 
gumu  (D.Sg.Masc.) 

9ödula  (A.  Sg.) 

södule  (D.Sg.) 

iötuna  (A.Sg.) 

iötune  (D.Sg.) 
ßötura  (A.Sg.) 
föture  (D.Sg.) 


Vor  der  letzten  Silbe. 
mdtikiv  (N.  PI.  Masc),  matt- 
kum  (D.Sg.Masc.) 


gidlnir  (N.  PI.  Masc),  gfwH- 
num  (D.Sg.Masc) 


mätiigr  (N.Sg.Masc) 
gullinn  (N.Sg.Masc) 


Letzte  Silbe. 

fe  (N.A.Sg.),  äfiy  Ön  (Praep.) 
voll  (A.  Sg.),  sunu  Sölvesborg, 

Helnaes. 
vöUu  (A.P1.) 
foru  (3.  PI.) 
völlr  (N.Sg.) 

Vor  der  letzten  Silbe. 

södull  (N.Sg.) 
iötunn  (N.Sg.) 
vöUum  (D.Pl.) 
fiöturr  (N.Sg.) 

öflgir  (N.Pl.Masc),  öflgum 

(D.Sg.Masc) 
södul  (A.Sg.) 
södli  (D.Sg.) 
lötun  (A.Sg.) 
iötni  (D.Sg.) 
ßötur  (A.Sg.) 
ßötri  (D.Sg.) 


364  HaiiiBel. 

Vor  den  Auslautgesetzen.  Erste  Periode. 

Letste  Silbe.  IjetBte  Silbe. 

AI  -ai haitctde  (3.Sg.FaB8,),  armey  lande 

(D.Sg.),  Hite  Varnum,  Wo- 
duride  Tune  [apaker  (S.?l 
,       Masc.)],  singoster  Tune^  vah 
(2.Sg.Imp.) 

-aint fareti  (3.  PI.  Opt.) 

-alt fare  (3.  Sg.  Opt.) 

-aia vake  (i.Sg.  Ind.) 

-aians burdenn  (A.  PL) 

-aias fcMrdei' (N.  PI.),  «oA^er(N.A.Pl.) 

-aiint vaken  (3.  PI.  Opt.) 

'aiit vake  (3.  Sg.  Opt.) 

-aiam ^  faro  (l.Sg.Opt.) 

-aiiam i  vako  (l.Sg.Opt.) 

-aiäm burdo,  sohto  (G.  PI.) 

-aias [  burdoTy  sohtor  (G.Sg.) 

AI   -ai,  'osmdij  -aai |  t;aÄ;u  (D.Sg.),  «pa/cummu  (D.Sg. 

.Masc),   »paku  (D.Sg.  Neut.) 

-asQ'Jdi '  spakare  (D.Sg. Fem.) 

'dint !  kallen  f3.P1.0pt.) 

'dit 1  kalle  (3.Sg.0pt.) 

-diam ,  kallo  (l.Sg.Opt.) 

Vor  der  letzten  Silbe.  |       Vor  der  letzten  Silbe. 

I 

AI  'aidhävij'aidjäm,'aidhdma  vakedo   (l.Sg.  Ind.)   usw., 

vakedß  (l.Sg.Opt.)  usw. 
—  vakedöm  (1.  PL  Ind.) 
usw.  werden  vakto,  vak- 
tjd,  vaktum  usw. 

-aima '  farem  (1.  PL  Opt.) 

vaker  (2.  Sg.  Ind.),  faver  (2.  Sg. 

Opt.) 
vaked  (2.  PL  Ind.),  fared  (2.  PI. 
Opt.) 


-am 


'Ulla 


Ueber  die  EndsHb^n  der  altnordischen  Sprache. 


365 


Zweite  Periode. 

i  Lotste  Silbe. 

I     AI  heit€tde(3,Sg.Va,BS.)yarmej lande 
!  (D.Sg.),  f^aAer(N.Pl.Ma8c.)J, 

vake  (2.Sg.Imp.) 

faren  (3.P1.0pt) 
fare  (S.Sg.Opt.) 

vake  (l.Sg.Ind.) 

bürden  (A.Pl.) 

burder  (N.PL),  sohter  (N.A.Pl.) 

vaken  (S.Pl.Opt.) 
vake  (S.Sg.Opt.) 

farä  (l.Sg.Opt.) 
vakä  (l.Sg.Opt.) 
burda,  sohtd  (G.Pl.) 
burddr,  sohiär  (G.Sg.) 

AI  vöku  (D.Sg.),  spokumu  (D.Sg. 
Masc),  spoku  (D.  Sg.Neut.) 

spakare  (D.Sg. Fem.) 
kaUen  (S.Pl.Opt.) 
kaUe  (S.Sg.Opt.) 

kalld  (l.Sg.Opt.) 

Vor  der  letzten  Silbe. 
AI  vaktd  (l.Sg.Ind.)  usw.,  vekt- 

ja  (1.  Sg.Opt.)  usw.,  vök- 
tum  (l,  PL  Ind.)  usw. 


farem  (l.Pl.Opt.) 

vaker  (2.  Sg.  Ind.),  farer  (2.  Sg. 

Opt.) 
vcJced  (2.  PI.  Ind.),  fared  (2.  PI. 

Opt.) 


Dritte  Periode. 

Letste  Silbe. 
heiti  (S.  Sg.  Pass.),   armiy   landi 

(D.Sg.),  [«pafcir(N.Pl.Ma8c.)], 
mki  (2.Sg.  Imp.) 


fari  (3.  PL  Opt.) 
fan  (S.Sg.Opt.) 

vaki  (l.Sg.Ind.) 

burdi  (A.PL) 

burdir  (N.PL),  sottir  (N.A.PL) 

vaJd  (S.  PL  Opt.) 
vaki  (3.  Sg.  Opt.) 

fara  (l.Sg.Opt.) 
vaka  (1.  Sg.  Opt.) 
burdaj  sdtta  (Q.PLj 
burdavj* sottar  (G.Sg.) 

vöku,  vök  (D.  Sg.),  apöhim  (D. 
Sg.Masc),  «[pöÄ:M(D.Sg.Neut.) 

spakri  (D.Sg. Fem.) 
kalU  (3.  PL  Opt.) 
kalli  (3.  Sg.  Opt.) 

kalla  (1.  Sg.  Opt.) 

Vor  der  letsten  Silbe. 

vakta  (1.  Sg.  Ind.)  usw., 
vekta  (l.Sg.Opt.)  usw., 
vöktum  (1.  PL  Ind.)  usw. 


farivi  (1.  PL  Opt.) 

vakir  (2.Sg.Ind.), /anV(2.Sg. 

Opt.) 
vakid  (2.  PL  Ind.),  fand  (2.  PL 

Opt.) 


366 


H6lni«l: 


Yor  den  Anslautgesetzen. 

Vor  der  letsten  Silbe. 


Erste  Periode. 

Vor  der  letsten  Silbe. 


^aiima j  vakem  (1.  PL  Opt.) 

vaker  (2.Sg.0pt.) 
vaked  (2.  PL  Opt.) 


-attst 
-aiita 

AI  'äima 
-dita 


Letste  Silbe. 
JAI  "jai 


-^jaint   , 

'jaü 
-jaiam  . 
'jaiam 


JAI  'jdi,  "jaai 
-jäi,  'jaai 
"jdiam .     . 


Vor  der  letsten  Silbe. 
JAI  'jaima 


'jaisi 
-jaita 


Iietste  Silbe. 
AU  -auas  .  .  .  . 
^aucta  .  .  .  . 
-aut  .  .  .  . 
-auäm .  .  .  . 
-auas    .     .     .     . 


kallwi  (1.  PL  Opt.) 
kaller  (2.Sg.0pt) 
kaUed  (2.  PL  Opt.) 

Letste  Silbe. 
hakje,  hallje^  kunje,  klddhje  (D. 

SgO>  A«<7M  ^nj^  (N.PL 

Masc.) 
tamjen,  hargjen,  domfen   (3.  PL 

Opt.) 
tamje,  hargje^  domje  (3.Sg.0pt.) 
tamjo,  hargj6  (l.Sg.Opt.) 
ddmjo  (l.Sg.Opt.) 

angju  (D.Sg.),  frdgju  (D.Sg. 

Neut.) 
[armju  (D.Sg.)],  vdnju  (D.Sg. 

Neut.) 
aggjo  (l.Sg.Opt.) 

Vor  der  letsten  Silbe. 
tamjemy  hargjem,  domjem  (1.  PI. 

Opt.) 
tarnjeTj   bargjei',   ddmjer  (2.Sg. 

Opt.) 
tamjed,   hargjedj  dSmjed  (2.  PL 

Opt.) 

IietBte  Silbe. 

vaUir  (N.Pl.) 

handir  (N.PL),  dohtrlr  Tune. 

vom  (D.Sg.) 

vom  (G.pi.) 

vaüdr  (G.Sg.) 


üab«r  die  Eadtllbei  der  a1toordf«e1ien  Spraebe. 


367 


Zweite  Periode. 

Vor  der  letzten  Silbe. 
vakem  (l.Pl.Opt.) 
vaker  (2.Sg.0pt.) 
•      vaked  (2.P1.0pt.) 

AI  kaOem  (l.Pl.Opt.) 
kaller  (2.Sg.0pt.) 
kaUed  (2.P1.0pt.) 

IiOtste  Silbe. 
JAI  bekJB,  helljSf  hynje,  klaedhje  (D. 

Sg.),  fraegjer,  vaenjet  (N.  PI. 

Masc.) 
temjen,  bergjen,  doemjen  (3.  PI. 

Opt.) 
temje,  bergje,  doemje  (S.Sg.Opt.) 
temjd^  bergjd  (l.Sg.Opt.) 
dö^ä  (l.Sg.Opt.) 

JAI  engjuy  eng  (D.  Sg.),  fraegju  (D. 
Sg.Neut.) 
\ermju  (D.  Sg.)],  vaenju  (D.  Sg. 

Neut.) 

«9a;«  (l.Sg.Opt.) 

Vor  der  letsten  Silbe. 
AI  temjem^  hergjem,  doemjem  (1.  PI. 

Opt.) 
temjer,  hergjer,   doemjer  (2.  Sg. 

Opt.) 
temjed-y  bergjed,  doemjed  (2.  PI. 

Opt.) 

Iietste  Silbe. 
U  vemr  (N.Pl.) 
Aendir  (N.Pl.) 
veUi  (D.Sg.) 

V€Mm   (Q.Pl.) 

wzOdr  (G.Sg.) 


Mtte  Periode. 

Vor  der  letsten  Silbe. 
vakim  (l.Pl.Opt.) 
vakir  (2.Sg.0pt.) 
vcJcid  (2.  PI.  Opt.) 

hdlim  (l.Pl.Opt.) 
kallir  (2.Sg.0pt.) 
kaUid  (2.  PI.  Opt.) 

Letste  Silbe. 

bekki  [bekk],  helli,  kym\  klaedi 
(D.  Sg.),  fraegiry  v€ienir  (D. 
PI.  Masc.) 

temi,  bergi,  doemi  (S.  PI.  Opt.) 

temi,   bergi,  doemi  (S.Sg.Opt.) 
temja,  bergja  (l.Sg.Opt.) 
doema  (l.Sg.Opt.) 

engju,  eng  (D.  Sg.),  fraegju  (D. 

Sg.  Neut.) 
[ermi  (D.Sg.)],   vaenu   (D.Sg. 

Neut.) 
eggja  (l.Sg.Opt.) 

Vor  der  letsten  Silbe. 
temim,   bergim,   doemim   (l.Pl. 

Opt.) 
temiry    bergir ,    doemir    (2.  Sg. 

Opt.) 
temid,   bergid,    doemid   (2.  PI. 

Opt.) 

Iietste  Silbe. 

velKr  (N.Pl.) 
hendr  (N.Pl.) 
veUi  (D  Sg.) 
vaUa  (G.Pl.) 
vallar  (G.Sg.) 


368  Heinxel. 


ERLÄUTERUNGEN  ZU  PERIODE  I. 


A. 

A  ursprünglich  in  letzter  Silbe/ 

Kurz  A. 

Das  Auslautgesetz  ist  vollzogen ,  kurzes  a  letzter  Silbe 
ab-  oder  ausgefallen.  Die  Inschriften  zeigen  Thrawingan  (G.  Sg.) 
Tanum,  Igingon  (G.  Sg.)  Stenstad,  iii(i)k  (A.  Sg.)  Etelhem,  rit 
(N.Dual)  Varnum,  was  (3. Sg. Pf. Ind.)  Tanum. 

Aber  vor  r  des  N. Sg.  scheint  a  sich  erhalten  zu  haben: 
WiwaR  Tune,  lathingaB  Reidstad,  HiligaB  Orstad,  EirilaR 
Vaeblungsnaes,  ErilaB,  LagnB  Lindholm,  ErilaB,  HarabanaB 
Varnum,  HoltingaB  Gallehuus,  DiigaR  £inang,  HagnstaldaR 
ValsQord  (nach  Zeichnung  a) ),  halaB  Stenstad,  stainaB  Krog- 
stad,  thewaB  Valsfjord,  Thorsbjerg. 

Man  könnte  dieses  a  fiir  sy Ilabisch  halten,  für  das  alt- 
arische  a  der  Endung  -as,  da  es  anders  behandelt  wird  als  die 
epenthetischen  a,  welche  oft  in  I  und  II '^'zwischen  Consonanten 
ähnlich  wie  im  ahd.  erscheinen:  witadahalaiban,  got.  gahlaiba 
(comes),  worahto  Tune,  HarabanaB,  ahn.  Hrafn,  warita  Var- 
num für  *tt?rrtM,  Sarala  Orstad  I,  HariwuIAfA,  HathawalAfR, 
HaerawulAflR,  wArait  Istaby  (^4  das  gewöhnliche  Zeichen  des 
alten  Alphabets,  welches  später  nasaliertes  a  wiedergibt,  a  die 
alte  Jotrune),  atharabasba^  ahn.  ütharfaspä,  barntB^  altn. 
br^tr,  arageu,  altn.  ergil,  falah,  altn.  fal  Björketorp,   Haiku- 

*  Unter  letzter  Silbe  ist  im  Folgenden  auch  der  Fall  zu  verstehen,  wenn 
die  vocalisch  auslautende  Snffixsilbe  mit  einer  yocaliseh  auslautenden 
Endung  versehen  wird:  a-din,  ai-dm^  au-dm. 

*  I,  II,  III  ist  im  Folgenden  immer  für  erste,  zweite,  dritte  Periode  ver- 
wendet. 


Uebar  die  Endsilbea  der  altnordischen  Sprache.  369 

wolafB,  HariwolafB,  abarlutith,  altn.  hrytr^  Stentofte,  Hatha- 
wolafB  Gommor  II.  Aehnliches  zeigt  sich  auch  in  der  späteren 
Sprache,  dem  gewöhnlichen  altn.,  s.  Oislason  Aarböger  for 
nordißk  oldkyndighed  1869,  S.  35,  —  über  andere  Epenthesen 
der  späteren  Sprache ,  bei  denen  der  Vocal  gerne  dem  der 
nächsten  Silbe  gleicht ,  s.  Bugge  Tidskrift  for  philologi  og 
paedagogik  7,  232.  8,  190.  Aber  vor  den  R  des  N.Sg. 
erscheint  i4  in  11  nicht  mehr.  —  Die  Erhaltung  eines  thema- 
tischen a  an  dieser  Stelle  in  I  wäre  nicht  unglaublich.  Die 
auslautenden  8  des  N.  Sg.  und  des  G.  Sg.  A.  PI.  wurden,  wenn  sie 
nach  n  zu  stehen  kommen,  verschieden  behandelt,  hana  (G.  Sg. 
A.Pl.)  aber  aptann  (N.Sg.),  werden  also  verschiedene  Qualität 
gehabt  haben.  /  hätte  sich  demnach  in  letzter  Silbe  ganz,  n  im 
Auslaut  und  vor  den  meisten  r  verloren,  vor  r  des  N.  Sg., 
dann  auch  vor  m  und  ns  bewahrt,  wie  wir  unten  sehen^  t«  ganz 
erhalten.  —  Die  finnischen  und  lappischen  kuningaSy  gonogcta, 
Icemas,  ruhtinas  (dröttinn),  Thomson  Einfluss  der  germanischen 
Sprachen  auf  die  finnisch-lappischen  S.  86  ff.,  könnten  diese 
Auffassung  stützen,  aber  wohl  nicht  begründen,  jedenfalls  ent- 
scheiden sie  nicht  über  die  syllabische  Qualität  des  a.  Wahr- 
scheinlich sind  die  Anleihen  aus  dem  germanischen  uralt  und 
vor  der  Durchführung  des  vocalischen  Auslautgesetzes  gemacht. 
Wenn  die  Finnen  in  kulta  (aurum),  Thomson,  S.  73.  89,  eine 
nordische  Sprachform,  die  hinter  das  neunte  Jahrhundert  zurück- 
reicht, bis  heute  bewahrt  haben,  dann  können  sie  ebensogut 
noch  viele  Jahrhunderte  vorher  schon  im  Mittelrussland  von 
den  Vorfahren  der  späteren  Goten  und  Skandinavier  kttningaa 
entlehnt  haben,  s.  Thomson  S.  121  ff.  Aber  allerdings  erst  nach 
Beginn  des  consonantischen  Auslautgesetzes.  Denn  germanisches 
gulthariy  got.  giilihj  wäre  im  finnischen  wahrscheinlich  kultan  nicht 
kulta  geworden,  da  diese  Sprache  keine  Abneigung  gegen  aus- 
lautendes 71  hat  5  s.  Thomson  S.  29.  —  Die  Schwierigkeit  liegt 
in  der  späten  Entwicklung.  In  II  wird  a  von  fadar  I  zu  e,  in 
III  zu  f,  fadh-y  d  von  tamiddr  (2.  Sg.  Pf.  Ind.)  geht  den  gleichen 
Weg,  lamdiTy  a  in  hamai-r  bleibt  a.  A  vor  dem  r  des  N.  Sg.  hätte 
dann  auf  unerklärliche  Weise  eine  von  den  verwandtesten  Fällen 
—  denn  r  zeigt  hier  überall  gleiche  Qualität  —  abweichende 
Bahn  eingeschlagen,  es  wäre  in  II  verschwunden,  -wolafB, 
neben  gefärbtem  oder  erhaltenem  a  in  fadet*,  hamarr  II,  fadiry 

SiUnngüber.  d.  phil.-hiai.  Gl.  LXXXYII.  Bd.  1.  Hfk.  24 


370  Heinxel. 

hamarr  III.  —  Da  erscheint  es  doch  sicherer  a  in  -aR  I  als  eine 
Schreibung  zu  betrachten,  welche  versuchte  dem  neuen  Laat- 
werth  einer  Rune,  die  ursprünglich  z  bedeutete  und  jetzt  tönendes 
r  auszudrücken  hatte,  gerecht  zu  werden.  Natürlich  wurde 
dadurch  der  Unterschied  zwischen  halaB  (N.  Sg.)  und  ttbaB 
(Praep.)  verwischt.  In  II  schien  diese  umständliche  Bezeichnung 
des  Nominativ-r  nicht  mehr  nöthig. 

Dagegen  ist  kein  Grund  an  der  syllabischen  Geltung  des 
-a  im  A.  Sg.  Masc.  N.  A.  Sg.  Neut.  der  a-Stämme  zu  zweifeln. 
Wimmer  Aarböger  1867,  S.  56,  Bugge  Tidskrift  f.  ph,  7,  118, 
Aarböger  1870,  S.  202,  und  Lundgren,  Om  substantivens  stam- 
mar  S.  86,.  weisen  auf  die  Gestalt  gewisser  Consonantauslaute 
hin,  welche  nordisch  ganz  anders  sein  müsste,  wenn  nicht 
dahinter  ein  a  gestanden  hätte :  band  (N.  A.  Sg.),  aber  hatt  (Pf. 
von  binda),  hring  (A.  Sg.),  aber  gekk  (Pf.  von  ganga),  —  Vgl. 
auch  finn.  kulta,  Thomsen  a.  a.  O,  S.  86.  —  A  muss  einst  hier 
gehört  worden  sein,  während  es  sonst  schon  geschwunden  war. 

Wahrscheinlich  ist  es  die  Nasalierung,  welche  die  aus  -am 
entstandenen  -a  vor  der  Wirkung  des  Auslautgesetzes  schützte. 
Im  gotischen,  sächsischen,  friesischen  wird  wenigstens  der  A.  Sg. 
Masc.  Adj.  nasaliertes  -a  gehabt  haben,  blindana.  Ebenso  die  im 
gotischen  am  besten  bewahrten  Adverbia  auf  -ana.  Nur  ^innanam 
erklärt  das  altn.  innan  der  dritten  Periode:  ^iiinani  z.  B.  hätte 
inna  ergeben,  wie  hana  D.  Sg.,  fara  Inf.,  —  innandt,  Bezzen- 
berger  Untersuchungen  über  die  got.  Adv.  und  Part.  S.  77, 
hätte  altn.  zu  innana,  got.  zu  innano  geführt;  s.  die  Adv.  auf 
altn.  -a,  got.  -ö.  Wie  innana  werden  gegangen  sein  ütan,  got. 
ütana,  undan,  framan,  vestariy   austan,  sunnan^  nordan,  sicUdan. 

Die  Qualität  dieses  -a  von  -am  war  von  der  des  auf  vor- 
germanisch -au  zui-ückgehenden  N,  Sg.  der  an-Stämme  Masc. 
unterschieden.  Denn  A.  Sg.  staiua,  N.  A.  Sg.  horna  wird  in 
der  dritten  Periode  stein,  hom,  während  hana  (N.  Sg.)  I  hani 
ni  ergibt.  Uebrigens  verwendet  die  Inschrift  von  Istaby  II 
für  das  letzte  a  in  üariwulAfA  (A.  Sg.)  dasselbe  Zeichen,  mit 
dem  sie  epenthetische  a  von  anderen  unterscheidet  Und  eben 
dieses  brauchen  die  jüngeren  Inschriften  zur  Bezeichnung  des 
nasalierten  a  (A,  q.) ;  Wimmer  Runeskriftens  oprindelse  S.  177. 
Wir  lernen  daraus  nebenbei,  dass  das  epenthetische  wie  nasa- 
lierte a  in  der  Aussprache  von  dem  gewöhnlichen  a  nicht  weit 


Ueb«r  die  Endsilben  der  altnordiKcheu  Sprache.  371 

abgestanden  haben  kann,  wie  denn  die  OommorinBcbrift  II 
die  graphische  Unterscheidung  des  Istabysteines  nicht  kennt. 
Keinesfalls  aber  wurde  ar  in  -WulAfAB  ausgesprochen,  wie 
im  neuisländischen,  als  -ur.  Auch  hätte  das  nasalierte  a  des 
A.  Sg.  mit  dieser  Geltung  Umlaut  wirken  müssen,  also  in  III 
arm  für  ai'm  ergeben. 

Aber  die  Nasaliernng  war  wohl  facultativ.  Die  a »-Stämme 
müssen  -am  durch  das  Auslautgesetz  ganz  verloren  haben. 
Sonst  wäre  lianan  die  Form  des  A.  Sg.  statt  hana. 

Dagegen  scheinen  die  tor-Stämme  -a  gehabt  zu  haben, 
fadurä  (A.Sg.j;  s.  unten  ,a  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe*  I. 
In  der  pronominalen  Declination  möchte  ich  weniger 
Gewicht  legen  auf  tbat  in  der  archaisierenden  Björketorper 
Inschrift  —  s.  Bugge  Tidskrift  f.  ph.  7,  341  —  als  auf  spdkt 
(N.  A.  ?^g.  Neut.)  in  III.  Setzte  man  in  I  spakatä,  II  spakata 
an,  so  hätten  wir  hier  den  einzigen  Fall,  dass  a  vorletzter 
Silbe  zugleich  mit  dem  Vocal  der  letzten  ausgefallen  wäre, 
8.  hanwrs,  hamar  (G.  A.  Sg.)  III.  Es  wird  im  altn.  wie  im  west- 
germanischen in  I  that  spakat  gegolten  haben.  —  Auch  die 
Ausnahme  heidinn  (A.  Sg.  Masc.)  in  III  gegenüber  gamlan  beruht 
wohl  darauf,  dass  man  bei  aTz- Ableitungen  des  Adj.  nicht  -and 
in  I  sprach,  sondern  -an. 

Auch  bei  and-,  i-,  ti- Stämmen  zwingt  nichts  A.  Sg.  auf 
-andäy  -t,  -ü  anzunehmen. 

Ganz  dieselbe  Erhaltung  eines  nasalierten  a  gegenüber 
einem  Gesetze,  das  a  letzter  Silbe  befehdet,  in  III;  s.  unten. 
Der  A.  PI.  der  a-Stämme  kann  in  I  nicht  anders  als  auf 
nn  ausgelautet  haben.  S  wurde  durch  das  consonantische  Aus- 
lautgesetz nicht  angegriffen,  aber  dem  n  assimiliert,  und  a 
fand  vor  dem  vocalischen  durch  die  Doppelconsonanz  Schutz: 
dagns  armns,  dagnr  armnr  ^  9^9^^  ai-mnn  wären  undeutliche 
Formen  gewesen,  dagans  wmans,  daganr  aiKoanr  I  hätten 
in  III  ann  ergeben,  wie  aptanas  in  I  aptanr,  in  III  aptann. 
ebenso  wurden  die  -ans  behandelt,  welche  sich  aus  -anas  nach 
Eintritt  des  vocalischen  Auslautgesetzes  gebildet  hatten,  im 
G.  Sg.  A.  PI.  der  masc.  an-Stämme,  —  ähnlich  -ans  im  G.  Sg.  A.  PI. 
der  cm-Stämme.  Ueberliefert  sind  die  G.  Sg.  Masc.  Eethan 
Belland,   Thrawingan  Tanum,   Igingon  Stenstad;   s.  Wimmer 

24* 


372  Heintel. 

Navneordenes  böjning  S.  119  Anm.  Vgl.  die  gleiche  Behand- 
lung des  nt  zwischen  letzter  und  vorletzter  Silbe :  fara  (3.  PL) 
aus  faranti  setzt  farann  als  Uebergangsform  voraus.  —  Der 
N.  Sg.  Masc.  aber  duldet  diese  Assimilation  nicht,  s.  haitinaR 
Tanuni^  HarabaiiaB  Varnum,  wo  -naR  nach  dem  oben  Ent- 
wickelten gleich  -nr  ist.  Das  s  wird  hier  länger  tonlose  Qualität 
bewahrt  haben,  wenn  es  auch  in  I  schon  tönend  ist.  Die  Mög- 
lichkeit, 8  tonlos  und  tönend  zu  sprechen,  wurde  zur  Diffe- 
renzierung benutzt.  —  Nähme  man  in  I  schon  nn  für  nr  in 
N.  Sg.  an  wie  fiir  den  G.  Sg.  der  an-Stämme,  so  ei^äbe  dies  in 
III  apta  statt  aptann  wie  hana  (G.Sg.),  fara  (3.  PL). 

A  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Lang  A. 

Vorbemerkung  Über  d  und  a. 

Es  ist  hier  unmöglich,  die  sprachlichen  Thatsachen  zu 
erklären,  wenn  man  nicht  verschiedene  Qualität  der  zu  Grunde 
liegenden  vorgermanischen  Laute  annimmt.  Eine  Gruppe  alt- 
arischer langer  a  letzter  Silbe  wird  nordisch  inlautend  zuerst  a, 
in  der  dritten  Periode  ?,  auslautend  ti,  das  in  III  abf&llt,  — 
eine  andere  zeigt  zuerst  o,  in  dritter  Periode  a,  und  zwar 
zum  Theil  unter  denselben  Bedingungen  wie  die  erste  Gruppe. 
Sowohl  auslautend  als  in  den  Formeln  -a»,  -dt  wird  altarisch  d 
einerseits  zu  i,  andererseits  zu  a :  vaku  I,  vök  III  (N.  Sg.),  aber 
k€dla  in  (1.  Sg.),  hana  I,  hani  III  (N.  Sg.),  aber  tungo  I, 
itinga  III  (N.  Sg.),  tamida  I,  tamdi  III  (3.  Sg.  Pf.  Ind.),  aber 
lila  III  (Adv.),  sind  bezeugte  Formen  fiir  die  erste  und  dritte 
Periode. 

Scherer  hat  GDS.  S.  120  zur  Erklärung  der  verschiedenen 
Behandlung,  welche  in  allen  germanischen  Sprachen  die  vor- 
germanischen d  letzter  Silbe  erfahren,  auf  die  vedischen  aa, 
doy  ad  aufmerksam  gemacht,  über  welche  Kuhn  Beiträge  4, 
180  ff.  handelt.  Es  gab  wahrscheinlich  schon  im  altarischen 
zwei  lange  a,  ein  einfaches  und  ein  übermässiges. 

Wenn  wir  nun  im  nordischen  der  Periode  III  einerseits  r/, 
andererseits  *  finden ,    und  »  nur  ganz  selten  —   tamdir  (2.  Sg. 


üeber  die  Endsilben  der  aUnordisehen  Sprache.  373 

Pf.  Ind.),  —  a  ganz  regelmässig  einer  Länge  in  den  verwandten 
germanischen  Sprachen  gegenübersteht,  so  wird  man  geneigt 
sein,  in  den  nordischen  Formen  mit  a  ursprünglich  ä,  in  den 
andern  mit  i  einfach  langes  ä  vorauszusetzen. 

Aber  zu  den  in  den  Veden  als  zweisilbig  bezeugten  d 
der  G.  PI. ,  s.  Kuhn  a.  a.  O.  S.  180 ,  der  Aoristformen  der 
Wurzel  dhd,  s.  S.  181,  der  N.  PI.  auf -eis,  s.  S.  181,  der  Adver- 
bien auf  'ät^  s.  S.  181,  treten  für  das  nord.  noch  hinzu  die  mit 
dem  G.  PI.  gleich  gebildeten  A.  Sg.  der  a-Stämme,  von  denen 
aber  nur  die  adjectivischen,  spaka,  sich  erhalten,  während  die 
substantivischen  in  der  dritten  Periode  dem  Nominativ  gleich 
sind ,  vök,  —  der  mit  dem  N.  PI.  auf  -ds  übereinstimmende 
G.  Sg.  der  a-Stämme,  s.  Scherer  GDS.  S.  120,  —  die  l.Sg.Prs. 
Ind.  der  schwachen  Verba,  welche  got.  ahd.  6  als  Themavocal 
haben,  vielleicht  weil  sie  in  der  That  auf  da  ausging,  wahr- 
scheinlicher aber  wohl  wegen  der  d  der  vorletzten  Silben,  die 
sich  im  germanischen  als  o,  in  III  des  nord.  als  a,  erhielten 
—  kalhr  (2.  Sg.  Prs.  Ind.),  :—  auch  die  2.  Sg.  Imp.  bewahrt  hier 
ursprünglich  auslautendes  d  als  a  in  III,  im  Gegensatz  zum 
ahd.,  8.  Braune  in  seinen  und  PauFs  Beiträgen  2,  152,  —  ferner 
an  im  N.  Sg.  Fem.  der  aw-Stämme,  im  N.  A.  Sg.  Neut.  der 
a;i- Stämme. 

Dieses  aus  ä  entstandene  o  in  I  habe  ich  als  lang  ange- 
setzt, weil  es  in  der  zweiten  Periode  als  a  bezeugt  ist,  das 
wenn  es  kurz  gewesen  wäre,  jedenfalls  auslautend  in  dritter 
Periode  hätte  abfallen  müssen,  s.  ami  (A.  Sg.),  land  (N.  A.  Sg.) 
usw.  Auch  vor  einfachem  r  wäre  es  wohl  ausgefallen,  wie  in 
okkr  (D.  PL). 

Vor  erhaltenem  n  ist  6  vor  II,  der  Periode  der  Umlaute, 
zu   u  geworden,  wie  tömdu  in  III  zeigt. 

Dagegen  ist  a  I  aus  einfachem  d  als  kurz  anzusehen, 
wie  es  das  Auslautgesetz  verlangt. 

Auslautend  muss  dieses  d  schon  vor  dem  consonantischen 
Auslautgesetz  eine  andere  Klangfarbe  gehabt  haben,  als  die  d 
in  -4n,  N.  Sg.  der  masc.  aw-Stämme,  oder  in  -dtf  3.  Sg.  Pf.  Ind. 
schwacher  Verba.  Es  wäre  sonst  nicht  zu  begreifen,  wie  die 
Sprache  ursprünglich  auslautende  und  durch  das  consonantische 
Auslautgesetz  in  den  Auslaut  versetzte  d  unterschieden  hätte. 
Bei  'dn  könnte  man  an  Nasalierung  denken,  aber  hier  so  wenig 


374  Heinzel. 

als  bei  -at  begegnet   uns   die   dunklere  Färbung^   sondern   bei 
ursprünglichem  Auslaut. 

Fer  (1.  Sg.)  in  III  ist  natürlich  nur  eine  Analogieform: 
fari  braucht  sogar  nie  wirklich  bestanden  zu  haben.  Vielleicht 
ist  im  Medium  föru-nik  die  ursprüngliche  Form  erhalten? 
S.  Blomberg  Bidrag   tili   den   germaniska   omljudsläran  S.  67. 

Handn  war  die  Urform  des  N.  Sg.  Masc.  der  an-Stämme. 
Aus  hanans  wäre  in  III  zwar  nicht  hana  geworden,  wie  aus 
armaas  (A.  PI.)  aimaj  s.  oben  S.  369,  371,  aber  hanann,  wie 
apta7i7i.  Vgl,  Leskien  Die  Declination  im  slavisch-litauischen 
und  germanischen  S.  20.  Die  Endung  a  ist  für  I  in  Inschriften 
bezeugt.  Vgl.  auch  finnisch  hertua  (hertugi),  Thomson  a.  a.  O, 
S.  106. 

Ebenso  pcUdr  nicht  patars,  weil  dieses  in  III  nicht  -ir, 
sondern  -arr  oder  vielleicht  -nrr  ergeben  hätte,  wie  hamarry 
ßSturr;  s.  Leskien  a.  a.  O.  S.  23  f.,  Scherer  GDS.  S.  316. 
Vgl.  J.  Schmidt  Vocalismus  2,  241,  416. 

Die  3.  Sg.  Pf.  Ind.  der  schwachen  Verba  geht  auf  ein- 
faches 'dt  in  der  Endung  -adhdt  zurück;  s.  Scherer  GDS. 
S.  202  f.  Allerdings  ist  w(o)rta  auf  der  Etelhemer  Inschrift 
nicht  ganz  sicher;  s.  Wimmer  Aarböger  18G7,  S.  56,  —  und  die 
Einanginschrift :  DagaR  thaR  runo(R)  faihido  kann  doch  min- 
destens auch  in  der  dritten  Person  abgefasst  sein,  —  gegen 
Bugge  Forhandlinger  i  Videnskabs-Selskabet  i  Christiania  1872 
(gedruckt  1873),  S.  325.  Nur  weil  die  zweite  Periode  den  Aus- 
gang -e  aufweist,  säte,  und  die  dritte  Periode  tamdi  in  3.  Sg.^ 
tamda  in  1.  Sg.  zeigt,  sind  wir  berechtigt,  die  Möglichkeit 
eines  vorgermanischen  Unterschiedes  -dm  1.  Sg.,  -dt  3.  Sg.  zur 
Wahrscheinlichkeit  zu  erheben.  Das  -di  der  3.  Sg.  Pf.  Ind.  kann 
nicht  mit  dem  ablativischen  -dt  des  Adv.  zusammengefallen  sein. 

Ueber  die  1.  Sg.  Prs.  Ind.  2.  Sg.  Inip.  der  schwachen  Verba, 
welche  got.  ahd.  den  Stammcharakter  o  zeigen,  sowie  über  die 
A.  Sg.  der  (^-Stämme  vbk  und  apaka  s.  oben  S.  373. 

Dass  die  1.  Sg.  Pf.  Ind.  der  schwachen  Verba  den  Vocal 
der  Wurzel  dhd  lang  erhalten  hat,  als  6  von  übermässigem  ^r^ 
gegenüber  der  3.  Sg.  —  während  in  den  Veden  auch  die 
3.  Sg.  der  Aoristformen  von  <^- Wurzeln  zweisilbig  ausgesprochen 


Ueber  die  Eudüilben  der  altiiordiachen  Sprache.  375 

werden  kann,  b.  Kuhn  Beiträge  4,  181,  ist  vielleicht  in  der 
Aehnliehkeit  mit  der  Form  des  G.  PL  oder  nur  in  der  folgen- 
den Nasah's  begründet:  -(ajdhdm  Scherer  GDS.  S.  202  f.  Auch 
die  Part.  Pf.  auf  äna  haben  Doppel  -a,  Kuhn  a.  a.  O.  S.  182. 
S.  J.  Schmidt  über  Dehnung  des  a  vor  einfachem  n  im  Sanskrit, 
Vocalismus  1,  39.  —  lieber  den  Unterschied  der  1.  und  3.  Sg. 
Pf.  Ind.  des  schwachen  Verba  s.  Bugge  Tidskrift  f.  phil.  7,  221 
und  schon  Munch  Aarböger  1847  S.  334. 

N.  Sg.  Fem.  der  a»-Stämme  ist  in  I  auf  6  bezeugt  — 
vgl.  im  finn.  kallio  (hella),  Thomsen  a.  a.  O.  S.  106,  —  nicht 
auf  '6n  für  -onn  von  -6n«,  und  mit  ihm  stimmt  in  der  Endung 
a  in  das  Neut.  der  an-Stämme  überein.  —  An  mit  übermässiger 
Quantität  war  die  vorgermanische  Endung.  Vgl.  Scherer  GDS. 
S.  120,  316.  Leskien  a.  a.  O.  S.  63,  Delbrück  KZs.  22,  272 
beweisen  für  das  slaw.  und  ind.  dass  N.  A.  Sg.  der  neut. 
a/2-Stämme  auf  Länge  mehr  Nasalis  endete. 

Wimmer  fasst  Aarböger  1867  S.  55  Luthro  und  Hariso 
als  Frauennamen  der  a-Classe,  in  Navneordenes  böjning  S.  68 
sagt  er,  der  N.  Sg.  der  a-Stämme  habe  auf  -o,  der  der  a?i-Stämme 
auf  'O  ausgelautet.  Ob  Luthro,  Hariso  zu  den  einen  oder  den 
andern  gehören,  lasse  sich  nicht  entscheiden.  Auch  den  N.  A. 
PI.  der  neut.  a-Stämme  setzt  er  consequenter  Weise  als  -o  an, 
Navneordenes  böjning  S.  47.  In  Runeskriftens  oprindelse  S.  182 
wird  Saraltt  Orstad  als  jüngere  Form  von  Saralu  erklärt  und 
allgemein  bemerkt,  dass  älteres  o  schon  in  den  ältesten  In- 
schriften manchmal  zu  u  werde,  ebenso  wie  langes  6  in  rnnoB 
später  als  a  erscheine,  runaB.  Aber  die  Denkmäler  berechtigen 
eine  solche  Auffassung  nicht.  Dass  o  zu  u  wird,  sehen  wir 
nur  in  der  Wurzelsilbe  und  nur  in  der  zweiten  Periode:  Hathu- 
wolafR,  HariwolafB  Stentofte  I,  HathnwulAfB  Istaby  IL 
U  erscheint  als  Endung  in  den  Inschriften  der  ersten  Periode 
nur  in  Saralü  (N.  Sg.)  Orstad,  waritu  (1.  Dual)  Varnum,  da- 
lidun  (3.  PI.)  Tune ;  —  o  in  ThuingoB  (G.  Sg.)  Tune,  runoB 
Varnum,  Einang,  Fino  (N.  Sg.)  Berga,  Luthro  (N.  Sg.)  Dalby 
(Straarup),  Hariso  (N.  Sg.)  Himlinghöje,  Igingon  (G.  Sg.) 
worahto  (l.Sg.)  Tune,  tawido  (1.  Sg.)  Gallehuus,  faihido 
(^l.Sg.)  Einang.  Kein  Fall  der  zwänge  einen  Uebergang  aus 
einem  Laut  in  den  andern  anzunehmen,  ausser  vor  erhaltenem  n  in 
dalidan  (3.P1.)  gegenüber  Igingon^  dem  G.Sg.  eines  an-Stammes, 


376  Heinzel. 

dessen  -on  vor  der  zweiten  Periode  ebenfalls  zu  -wn  geworden 
sein  rauss,  wie  der  Umlaut  ausweist,  götu.  Die  Lautbezeichnung 
und  gewiss  auch  der  Lautwerth  der  ersten  Periode  ist  constant, 
nie  R  im  N.  Sg.  der  masc.  a-Stämme  wie  in  II,  nur  -aR,  nie 
-ai?  im  G.  Sg.  N.A.  PI.  der  a-Stämme  wie  in  II,  nur  -6Ä.  Auch 
Bugge  Tidskrift  f.  phil.  7,  245.  251  erklärt  Harlso,  Fino  fiir 
dii-Stämme.  Aber  mit  ihm,  Aarböger  1871  S.  209,  Saraln  gleich- 
falls für  einen  rm-Stamm  zu  halten  —  u  sei  nur  ungenaue 
Bezeichnung  des  o-Lautes  —  sehe  ich  keinen  Grund. 

Die  Comparativadverbien  auf  -ar  III  müssen  in  I  auch  -6r 
gehabt  haben,  da  -ai*  sich  nicht  erhalten  hätte,  wie  fadir  in  III 
zeigt.  Wie  aptar  sind  zu  beurtheilen  optar,  sialdnar,  vidav, 
nordar,  sunnavy  aiistar,  vestar,  Utar,  Innar,  ofar^  nednr,  hindar, 
wahrscheinlich  vorgermanisch  auf  -äs  auslautend,  wie  lengr 
skemr,  ßrr,  naer,  göiT  (ö  =  t-Umlaut  von  o),  betr,  verr,  mim 
(midr),  meir,  heldr,  fyn\  auf  -ji8j  s.  Scherer  GDS.  S.  105  f. 
Das  d  blieb  hier  unverkürzt  wegen  der  adjectivischen  Fülle, 
in  denen  der  Vocal  vor  der  letzten  Silbe  stand.  Bezeugt  ist  siii- 
gOSteR  (N.  PL  Masc.)  Tune.  Das  Verhältniss  also  wie  in  2,  Sg. 
Imp.  der  schwachen  Verba  dritter  Conjugation. 

Ueber  thalör  (N.  A.  PI.  Fem.) ,  in  III  thaer ,  s.  unten 
bei   ai. 

Die  3.  PI.  Pf.  Ind.  der  schwachen  Verba  auf  -änt  von 
adhänt,  Scherer  GDS.  202,  hat  wahrscheinlich  übermässiges  d 
gehabt,  nach  Ausweis  des  ahd. ;  s.  Braune  in  seinen  und  Paurs 
Beiträgen  2,  136.  Aber  es  wurde  schon  in  I  zu  xt  wie  dalidun 
Tune  und  der  u-Umlaut  der  zweiten  Periode  zeigt. 


A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  A. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

A  ist  meist  bewahrt,  zum  Theil  bezeugt,  zum  Theil  durch 
a  in  III  gesichert:  vor  n  (A.  Sg.  der  masc.  an-Stämme,  im 
Inf.),  vor  nrty  d.  i.  altem  nas  (G.  Sg.  A.  PL  der  an-Stämme  i 
und  nti  (3.  PI.  Prs.  Ind.),  dann  vor  /r,  nvy  rr  (N.  Sg.)  und  vor 
s8  (G.  Sg.  der  a-Stämme). 


üeber  die  Endsilben  der  altnordischen  Sprache.  377 

Bei  n  wäre  zu  bemerken,  dass  die  nach  Scherer  GDS. 
S.474  für  den  Inf.  angenommene  Locativfonn  auf  -ani  nicht  die 
einzig  mögliche  ist.  Auch  -anam  (A.  Sg.  Neut.),  b.  Ebel  KZs. 
5,  303,  Zimmer  Zs.  19,  433,  könnte  in  III  a  ergeben,  da  die 
Nasalierung  des  a  ja  facultativ  ist;  s.  oben  S.  371. 

Was  nn  anbelangt  so  ist  der  N.  PI.  der  masc.  an-Stämme 
deutlich  eine  Analogieform  nach  der  a-Classe.  Regelmässig 
müsste  es  in  III  statt  hanas  hana  lauten,  wie  im  G.  Sg.  A.  PL, 
s.  Lyngby  Tidskrift  f.  phil.  6,  48.  Noch' jüngere  Formen  rfind 
giimnar,  hragnar  III;  sie  setzen  den  schwächsten  Casus  des 
G.Pl.  abna  III  voraus;  s.  unten  über  D.Pl. 

Dass  hamarr  in  III  bleibt,  während  fadar  zu  fadir  wird, 
mag  in  der  verschiedenen  Consonanz  oder  in  dem  vorgermani* 
sehen  ä  begründet  sein,  auf  welches  fadar  zurückgeht. 

A  in  G.  Sg.  der  masc.  neut.  a-Stämme  ist  bezeugt.  Das 
Doppel-«  des  Ansatzes  soll  mehr  an  die  Bewahrung  des 
«-Lautes  durch  Assimilation  des  folgenden  j  erinnern^  als  die 
Aussprache  aas  für  I  behaupten.  ^  Aber  -assa  muss  jedenfalls 
einmal  gegolten  haben,  sonst  wäre  arms  neben  fei-r,  temr^ 
doemir  unerklärlich;  s.  Lyngby  Tidskrift  f.  phil.  6,  27,  Bugge 
Aarböger  1870,  S.  201.  Nur  das  hat  Gislason  Tidskrift  f.  phil.  6, 237 
mit  Recht  bemerkt,  dass  man  sich  nicht  auf  thess  berufen  dürfe. 
Aber  seine  Erklärung  aus  thers  nach  Analogie  von  hvers  scheint 
mir  weniger  wahrscheinlich,  als  die  Scherer's  GDS.  S.  364, 
nach  welcher  es  von  thes-si  stamme,  wie  man  mit  Bugge  Tid- 
skrift f.  phil,  9,  115  ansetzen  kann. 

Diesen  G. Sg.  habe  ich  auch  nnkas  (D.Dual.)  beigestellt, 
als  Vertreter  der  Formen  okkr,  ykkvj  oss,  ydr  in  III,  welche 
Kuhn  KZs.  15,  130  und  Scherer  GDS.  242  f.  als  ursprüng- 
liche Genitive  deuten.  Leskien  Die  Declination  S.  152  macht 
auf  die  lautgesetzliche  Schwierigkeit  aufmerksam,  welche  das 
nordische  beireite:  sja  ist  sonst  nur  als  s,  nicht  als  r  erhalten, 
ai-ms,  landsj  thess.  Aber  seine  Erklärung  unterliegt  grösseren. 
Es  hält  das  r  der  D.  (und  A.)  PL  okkr,  ykkr,  oss,  ydr  für 
eine  Analogiebildung  nach  dem  Singular,  r,  ursprünglich  is 
wie    im  got.  ugh's  neben  ugk,   sei  dem  wie  das  gotische  zeige. 


1  Obwohl  99  in  Hss.  vorkommt,  hirdi99,  riki99;  s.  Gislason  Oldnord.  Form- 
laere  S.  37. 


37H  Heinxel. 

zur  Dativ-  und  Accusativbezeichnung  ausreichenden  nns^  so- 
mit auch  einem  idv  (izv),  unk,  ink  angehängt  worden.  Aber 
wenn  es  in  erster  Periode  ynsir  unkir  usw.  hiess,  wäre  Umlaut 
eingetreten  wie  in  betr,  heldr,  —  setzt  man  -er  an  nach  den 
mi^r,  ther,  str,  so  erhalten  wir  die  Analogie  hurdir  (N.  PI.  der  t-St.), 
das  auf  burder  in  I  zurückgeht^  oder  die  der  Partikeln  nach 
after  in  I,  eptir  in  III.  Wo  bei  diesen  kein  Umlaut  erscheint, 
wie  in  undir  oder  furir  neben  fyriv,  da  ist  i  in  III  bewahrt. 
Der  Ausfall  des  a  von  as  der  ersten  Periode  in  III  aber 
stimmt  gut  zu  armass  I,  arms  III.  Dass  s  hier  nicht  verdoppelt 
wurde,  also  der  Umwandlung  zu  z  und  r  erlag,  ist  nichts  andres 
als  was  dem  Element  sja  im  Innern  des  Wortes  bei  der  prono- 
minalen Declination  der  Feminina,  got.  thizai,  thizos,  blindaizosj 
ahn.  theirij  theirar,  blindri,  blindrar,  geschehen  ist.  Eben  die 
singulare  Verwendung  eines  Genitivsufßxes  für  dativischen 
Gebrauch  mag  diese  verschiedene  Behandlung  hervoi^erufen 
haben.  Die  Analogie  von  armass  ward  nicht  empfunden  und 
der  Laut  unterlag  dem  Zuge,  welcher  die  nordischen  «-Laute 
erst  tönend  machte,  dann  zu  R,  r  trieb.  Sehen  wir  doch  in 
der  Sprache  der  dritten  Periode  noch  es  und  er,  vesa  und  vera. ' 

Ueber  that,  spakat,  s.  oben  S.  371. 

Aber  das  a  der  Suffixe  an  und  ag  hat  häufig  Färbung 
erlitten,  zu  e  und  m,  in  III  i  und  w.  Denn  wenn  auch  die 
Inschrift  von  Tanum  haitinaR  =  haitinr  zeigt,  so  beweist 
doch  der  Mangel  des  Umlauts  in  III,  dass  i  hier  nicht  die 
gewöhnliche  Geltung  haben  könne.  Nur  nach  Gutturalen  finden 
wir  Umlaut  in  den  Part.  Pf.,  tekinn  neben  haldinn,  s.  Wimmer 
Navneordenes  böjning  S.  53,  Bugge  Tidskrift  f.  phil.  7,  250, 
Holtzmann  Gramm.  1,  82.  2,  63.*^ 

Selten  blieb  a  bewahrt,  im  substantivischen  aptann,  in 
dem  vereinzelten  heüagr.  Die  vertretenden  Vocale  schwanken, 
morginn  und  morgtmn,  atfdigr  und  audugr,  s.  Gislason  Form- 
laere  S.  15,  oder  werden  zur  Differenzierung  verwendet^  so 
Adj.  und  Part.  Pf.  nur  auf  -iyin. 


^  Uebrigens  vgl.  über  dieses  *  und  r  im  Dativ  des  Personalpronomen  Bugge 

KZs.  4,   244. 
2  Ueber  den  Einfluss  der  Gutturalen  auf  Färbung  bis  zu  •  in  der  folgenden 

Ableitungssilbe,  s.  Leflfler  Tidskrift  f.  f.,  Neue  Folge,  2,  U.  274,  STd. 


Ueber  die  Endvilheo  der  aUnordiechen  Sprache.  379 

Allerdings  könnte  unter  den  Adj.  auf  -ugr  eines  oder  das 
andere  mit  echtem  ug,  s.  got.  handugsj  vorkommen^  gewiss 
keines  mit  echtem  -ig-,  oder  -in-,  got.  nur  fulgins»  Denn  auf 
eine  Färbung  des  echten  i  zu  e,  wie  wir  sie  hier  wegen  des 
fehlenden  Umlauts  doch  annehmen  müssten,  werden  wir  sonst 
nirgends  geführt, 

Wohl  aber  haben  die  Adj.  auf  got.  -eigs,  -eins  ihr  altes 
i  gegen  e,  in  III  i  ohne  Umlaut  aufgegeben,  o£fenbar  nach 
Analogie  der  Adj.  auf  -inrij  -igVy  s.  unten  ,i  ursprünglich  vor 
der  letzten  Silbe^  Freilich  ist  es  nur  sehr  wahrscheinlich,  dass 
nord.  gidlinnj  mdttigr,  Ableitungen  mit  altem  jnn,  jag  sind 
wie  got.  gulihems,  mnhteigs.  Vgl.  Blomberg  Bidrag  tili  omljuds- 
läran  S.  16.  21. 

Aehnlich  scheint  es  den  Ableitungen  auf  al  ergangen  zu 
sein.  Auch  hier  neben  erhaltenem  a,  bagcdlf  gamall,  i^  ohne 
Umlaut,  und  u  in  III,  öfters  in  einem  Worte  schwankend 
heimill  heimall,  drasill  drösull,  vadill  vödull,  s.  Blomberg  a.  a.  O. 
S.  20. 

Fared  (2.  PL  Prs.  Ind.)  ist  eine  wahrscheinlichere  Form  für 
die  erste  Periode  als  farad.     Denn  der  Weg  a  I,   e  II,    i  III, 
also   in   dritter  Periode   ohne  Umlaut  faHdj   kommt   sonst  bei 
ursprünglich  vorletzten  Silben  nicht  vor.    Inlautend  finden  wir 
ihn  nur  bei  fadar  I,  in   ursprünglich  letzter  Silbe,  das  in  III 
fadir   wird.     A    in    -ar    von  fadar    I    aber    stammt    von    vor- 
germanisch dj   hatte   also  vielleicht   eine  verschiedene  Qualität 
und   die  Schlussconsonanz   ist   eine   andre.     Dazu  kommt  dass 
got.   hier   die   Färbung    des    Stamm vocals  zu   i  bietet,  farithy 
übereinstimmend  mit  e,  i,  im  griech.,  lat.,  altir.,  altslaw.,  während 
die  westgermanischen  Sprachen,  wie  das  litauische,   a  bewahrt 
haben.     Ein    europäisches    e    hier    mit    Curtius    Spaltung    des 
^-Lautes  S.  26,  J.  Schmidt  KZs.  21,  284,  LeflFler  Tidskrift  f.  f., 
Neue  Folge,  2,  271,  anzunehmen,  von  dem  dann  einige  Sprachen 
wieder   auf  a  zurückgegangen  wären,    ist  sehr  bedenklich   und 
ganz  unnöthig.     Es  liegen  für  ost-   und  westgermanisch   zwei 
Formen  vor,   deren   eine  ja  ganz  gut  und  ohne  die  Verwandt- 
schaft  der   germanischen   Sprachen   irgendwie   zu   erschüttern, 
mit   der  Form  anderer  arischer  Sprachen   sich  begegnen  kann. 
Schwankend  behandelt  sind  die  Partikeln  auf  vorgerma- 
nisch -arif  8.  Bezzenberger  Untersuchungen  über  die  got,  Adv. 


380  Heinsel. 

und  Pavt.  S.  112,  Scherer  GDS.  S.  466,  Lyngby  Tidksrift  f. 
phil.  10,  89.  Die  Inschriften  haben  in  I  after,  afteB  und 
nbaR  bewahrt,  welche  in  der  dritten  Periode  aptir  und  yßr 
lauten.  Umlaut  hat  in  III  auch  fyrir,  daneben  aber  funr  und 
undir.  Die  Partikeln  beharren  also  in  I  zum  Theil  wie  fadar 
(N.  Sg.)  von  faddr  auf  a,  und  haben  in  III  i  ohne  Umlaut,  was 
in  II,  der  Periode  der  Umlaute,  e  voraussetzen  lässt  —  undir,  furir 
wie  fadir  in  III,  —  zum  Theil  haben  sie  in  I  bereits  e,  das  in 
zweiter  Periode  i  ergeben  haben  muss,  da  III  Umlaut  zeigt,  epfir, 
fyrivj  yfir.  Im  ahd.  werden  die  Partikeln  ganz  ähnlich  behandelt, 
und  gerade  dieses  Schwanken  zwischen  a  und  i  gegenüber 
dem  entschiedenen  Vorangehen,  welches  die  Partikeln  zeigen, 
wenn  es  sich  um  die  Lautwandlung  i — e  handelt,  zwingt  dort 
den  Weg,  welchen  die  Partikeln  von  a  nach  e,  i  zurücklegen, 
nicht  als  Schwächung,  wie  die  Senkung  des  i  auf  e,  sondern 
als  Färbung  im  eigentlichen  Sinne  anzusehen;  s.  Sitzungs- 
berichte der  Wiener  Akademie  81^  121  f. 

Vor  m  wird  a  schon  in  I  zu  t^  geworden  sein.  Ein  aus- 
drückliches Zeugniss  mangelt  allerdings,  in  II  gesfuniR,  Aber 
da  n  schwächer  auf  a  einwirkt  als  wi,  fara  (Inf.  3.  PL)  neben 
fömm  (1.  PI.),  vor  n  aber  u  für  a  in  I  bezeugt  ist,  s.  oben 
S.-  376  dalidan,  dürfen  wir  auch  bei  kurz  a  vor  m  u  annehmen. 
Vor  allem  aber  ist  der  tt-Umlaut  nicht  über  die  zweite  Periode 
hinaus  wirksam.  Es  ist  das  einfachste  die  Ursachen  desselben 
in  I  anzunehmen;  s.  bei  II,  Vorbemerkung. 

Der  Ansatz  -anbhims,  auch  für  die  a-Stämme,  soll  die  Ent- 
stehung des  m  für  bh  im  germ.,  slaw.,  lit.,  D.  PL,  im  slaw., 
Ht.,  D.  Dual.  Instr.  Sg.  erklären.  Es  ist  das  Resultat  einer  bei 
den  an-Stämme  verständlichen  Assimilation  —  anbhims,  ambhins, 
ammimSj  amims  —  auf  die  vocalischen  Stämme  übertragen 
worden.  —  Für  das  Vicariat  von  an-Stämmen  und  vocalischen 
bieten  sich  aus  dem  germanischen  die  Parallelen  des  G.  PI. 
der  a-Stämme,  die  A.  Sg.  Masc.  der  a-Stämme  auf  -an  dar,  die 
adjecti vischen  wie  die  vereinzelten  nach  ahd.  gotan.  Die  got. 
nord.  Dative  nach  abnamy  uxnam  hätten  dann  das  Suffix  an 
zweimal,  oder  sind  einfach  Analogiebildungen,  da  man  neben 
hanaraVy  hanumr  doch  nicht  mehr  ababr,  oder  wegen  des  Casus 
schwächster  Bildung,  des  G.  PL,  s.  unten  S.  382,  abnabr,  sagen 
konnte;  vgl.  über  N.  PL  S.  374. 


Ueber  die  Endsilb«!!  der  altnordischen  Sprache.  381 

Im  altslaw.  allerdings  wie  es  scheint,  kein  ähnlicher 
Fall.  Denn  der  G.  Sg.  der  o-Stärame  rqky,  gleich  dem  A.  PI., 
kann,  wie  Leskien  Die  Declination  S.  41  gezeigt  hat,  nicht 
ohne  Verletzung  der  Lautgesetze  auf  -an-a«  zurückgeführt 
werden,  ebensowenig  freilich  auf  eine  Locativform  -d^dm. 
Im  ersteren  Falle  wäre  rqkane  das  Resultat,  im  zweiten  rakq 
oder  rqkü.  —  Aber  im  lit.  wird  der  G.  Sg.  der  ^a-Stämme 
statt  -68  öfters  -§8  geschrieben,  Geitler  Lit.  Studien  S.  57,  setzt 
also  älteres  -eiis  voraus,  wie  akmins,  G.  Sg.  eines  an-Stammes ; 
vgl.  men8  neben  twä,  N.  PI.  des  Pers.  Pron.  1.  Person,  Geitler 
Lit.  Studien  S.  96.  —  Im  lit.  ferner  kann  ü  im  Loc.  PI.  vilkäsu 
nur  auf  au  oder  an  zurückgehen.  Ati  wäre  kaum  erklärlich,  an 
empfiehlt  sich  durch  zemaitisches  vilkunse.  VilkÜ8u  ist  also  auf- 
zufassen wie  vezüs  (vehor)  von  einem  alten  vazan-si,  Schleicher 
Comp.  §.  101.  —  Vielleicht  gehört  auch  N.  PL  der  lit.  i-  und 
tt-Stämme  hieher:  dkya  ("=  akS8),  sünüs.  —  Es  sind  dies 
Zeugnisse  für  den  Parallelismus  der  vocalischen  und  an-Stämme, 
über  welchen  OsthoflF  in  zweiten  Theil  seiner  Forschungen 
gehandelt  hat. 

Leskien  Die  Declination  S.  100  hat  zwar  die  Erklärung 
Bergaignes^  der  das  Element  sma  herbeizieht,  durch  Verweisung 
auf  die  preussische  Dativendung  -man8  neben  atesmu  widerlegt, 
selbst  aber  einen  ganz  singulären  Vorgang,  Angleichung  des 
anlautenden  an  den  auslautenden  Suffixconsonanten  angenommen 
—  also  wie  lat.  coquo  aus  pequo,  qidnque  aus  pinque,  s.  Blom- 
berg  Bidrag  tili  den  germaniska  omljudsläran  S.  4,  —  der 
selbst  wieder  nur  an  einem  nicht  vorhandenen  Singularsuffix 
des  Instrumental  -bhjam  zuerst  stattgefunden  haben  könnte. 
S.  J.  Schmidt  in  seiner  Recension  der  Leskien'schen  Schrift 
Jenaische  Litteraturzeitung  1877  S.  269  ff. 

Das  altirische  scheint  mit  seinen  durchgehenden  4b  (-a-ib)^ 
das  eigentlich  nur  für  die  i-  und  Ja-Stämme  passt  —  auch 
talvmnaib  von  einem  an-Stamm  —  ein  Gegenspiel  zu  den 
nordeuropäischen  -am,  -um  zu  bieten. 

Denn  auch  hier  ist  altn.  a  zu  u  geworden,  und  wirkt 
in    II  Umlaut. 


382  Heintel. 

A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  A. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten   Silbe. 

A  bleibt  fast  durchweg.  Bezeugt  ist  es  allerdings  nur  in 
arbingano  (G.  PL,  wohl  von  einem  ^an-Stamm),  aber  es  ist 
kein  Grund  Ausfall  oder  Färbung  anzunehmen,  ausser  in  den 
Adj.  und  Part.  Pf.  auf  -in«,  -igr  III,  deren  Lautwandel  oben 
S.  378  besprochen  worden  ist. 

Der  G.  PI.  der  masc.  a?i-Stämme  hat  sich  nicht  erhalten. 
In  III  heisst  er  liana,  boga.  Das  geht  nicht  auf  -ano  zurück, 
da  sonst  hogna  wie  Fem.  Neut.  tungna,  augna  erwartet  werden 
müsste.  Solches  -na  ist  aber  nur  eine  seltene  Ausnahme,  gumna, 
bragna,  vgl.  got.  abne,  und  aus  dem  G.  PI.  sogar  in  die  übrigen 
Casus  des  Plural,  den  N.  (A.)  D.  PI.,  gedrungen ;  s.  oben  S.  377, 
381  und  Lyngby  Tidskrift  f.  pliil.  6,  48. 

Haitade  (3.  Sg.  Pass.)  ist  sehr  unsicher ,  aber  möglich 
wegen  des  ags.  hätte  (vocor,  vocatur),  Grein  Ablaut  S.  37, 
Scherer  GDS.  197.  Allerdings  könnte  auch  Uebertritt  des 
Praesens  in  die  schwache  Conjugation  stattgefunden  haben,  wie 
bei  so  manchem  andern  starken  Verbum,  ohne  dass  passivische 
Bedeutung  vorläge,  z.  B.  hlota.  Aber  das  hateka,  welches 
Bugge  auf  dem  Lindholmer  Amulet  liest  und  dui'ch  heitik  über- 
setzt, Aarböger  1871,  S.  187,  1872,  S.  194,  ist  nach  Lesung 
und  Deutung  viel  zu  zweifelhaft,  als  dass  es  zu  einem  Beweis 
gegen  die  angesetzte  Form  und  gegen  die  Annahme,  dass  a  vor- 
letzter Silbe  sich  in  I  noch  erhalten  habe  —  s.  das  überlieferte 
arbingano  —  dienen  könnte. 

Der  Inf.  hagassan  in  III  hugsa  ist  einem  vorgermanischen 
-atjani  gegenüber  gestellt.  Es  beruht  dies  auf  Holtzmanns 
Beobachtung  Gramm.  1,  130,  dass  dem  nordischen  heilsa  (salu- 
tare),  ags.  hdlettan^  ahd.  heäazjan  entspricht,  nicht  heilison, 
ags.  hdlsjan  (augurari),  das  nord.  durch  heilla  gegeben  wird. 
S.  über  hoetis  bei  ,i  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe^  Betreff 
der  scheinbar  unterbliebenen  Lautverschiebung  im  got.  ags. 
s.  Leo  Meyer  Got.  Sprache  §.  107.  Tj  kann  zu  s  nur  werden 
über  ts,  88,  Also  derselbe,  nur  weiter  fortgeführte  Process  wie 


U»ber  die  Endsilben  der  altnordiachen  Sprache.  383 

got.  matzia,  Pifzia,  worüber  in  meiner  Geschichte  der  nieder- 
fränkischen Geschäftsprache  S.  147.  Den  dort  nach  Wacker- 
nagel  angeführten  Ziurichi,  Ziaherna  für  Zürich,  Zabern  wäre 
vielleicht  hinzuzufügen  Zurzach,  dem  ein  französisches  Tortiacum 
entspricht,  und  Abudiacum  am  Lech,  wofür  später  Abuzacum; 
s.  Bacmeister  Alemannische  Wanderungen  S.  20.  27. 

Das  a  vor  den  Endungen  G.  D.  Sg.  Fem.  des  Adjectivs 
ist  nach  dem  sanskritischen  Pronominaladjectivum  angesetzt, 
s.  Sievers  in  Paul  und  Braune's  Beiträgen  2,  99  ff.  Da  der 
G.  PI.  dieselbe  Entwicklung  zeigt,  liegt  auch  hier  für  das 
germanische  wahrscheinlich  -asäm  zu  Grunde. 

Die  a  vor-  und  drittletzter  Silbe,  (D.  Sg.  Masc.  G.  D.  Sg. 
Fem.  G.  PL),  welche  in  den  Ableitungssilben  der  Adj.  und  Part. 
Pf.  auf  -inuy  4gr  III  zu  e  gefärbt  worden  waren,  sind  in  I 
gewiss  noch  nicht  ausgefallen.  Ausfall  des  e  in  I  findet  sich 
bloss  bei  den  durchaus  kurzen  Wurzeln  der  zweiten  schwachen 
Konjugation  (got.  ai-Stämme),  während  die  erwähnten  Adj.  und 
Part.  Pf.  sowohl  lange  als  kurze  Wurzeln  zeigen.  Auch  die 
Part.  Pf.  nach  tekinn  III,  welche  allerdings  nur  einfache  Con- 
Bonanz  am  Schlüsse  der  Wurzel  bieten,  haben  ihren  schon 
in  I  zu  i  vorgedrungenen  Ableitungsvocal  bewahrt,  denn  nie 
findet  man  in  III  z.  B.  taknirj  wie  luklar  von  lykllL  — 
Die  kurzwurzeligen  Verba  erster  schwacher  Conjugation  haben 
allerdings,  wie  wir  bei  ,t  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe' 
sehen  werden,  schon  in  I  den  Ableitungsvocal  verloren,  tamda 
III,  tamdö  I. 

U  erscheint   für   a   des  Suffixes    im   A.  Sg.    von  fadar  I, 

faitir  in :  fadurä.  Man  möchte  vermuthen,  dass  födur  III  sich 

nach  ßöturrj  wfurr   usw.   gerichtet   habe,    wenn    diese  Wörter, 

wie    doch  wahrscheinlich,    alte  Stämme  auf  -ara  sind   und  den 

Ableitungsvocal   im   Gegensatz    z.  B.    zu  hamaiT,   wo  er  blieb, 

zu   ti  (nicht  auch  zu  e)  gefärbt  haben.  —  Auf  G.  D.  Sg.  ist  dies 

II    ^wohl   übertragen ,    da    wir   allen    Grund    haben    schwächere 

Bildungen   wie  fadn-  (G.  Sg.),  got.  fadrsj  fadr   (D.  Sg.),   got. 

fadLry  als  die  ursprünglichen  anzunehmen.  —  Das  u  im  G.  D. 

Sg"-,    also  in  letzter  Silbe,  wäre  in  III  wohl  ausgefallen,  wie  u 

in    wjlh*. 

Vor  TD  geht  a  hier,    wie  der  Umlaut  in  II  zeigt,   ebenso 
zu    «/,  w^ie  in  letzter  Silbe. 


384  Heiniel. 

Die  den  Endungen  auf  ?«  vorangehenden  Suffixsüben  haben 
ihr  a  wahrscheinlich  schon  in  I  dem  folgenden  Vocal  assimiliert^ 
da  sie  in  II  Umlaut  wirken,  gönml  (N.  Sg.  Fem.  N.  A.  PI.  Neut), 
gömlum  (D.  Sg.  Masc). 


A   ursprünglich  vor  der  letzten   Silbe. 
Lang  A, 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Lang  a  ist  bewahrt  als  &  im  G,  Sg.  Igingon,  das  aber 
wohl  ein  jan-Stamm  sein  wird.  Vor  m  wandern  diese  o,  wie 
die  kurzen  a  ursprünglich  vorletzter  Silbe  zu  u;  ebenso 
vor  n,  wie  lang  a  ursprünglich  letzter  Silbe,  dalidan ;  s.  oben 
S.  376,  380.  In  II  sehen  wir  den  dadurch  entstandenen  Umlaut. 
Aber  der  Inf.  und  die  3.  PI.  Prs.  Ind.  der  dritten  schwachen 
Conjugation  (got.  ö- Stämme)  wollen  den  charakteristischen 
Vocal  nicht  entbehren^  in  III  kallä.  Vor  m  wirkt  diese  Rück- 
sicht nichts  köUttm  IIL 

Durch  Analogie  zu  erklären  ist  kallid  III  (2.  PI.  Prs.  Ind.), 
das  nicht  auf  das  angesetzte  kalldd  zurückgehen  kann:  das 
hätte  kailad  ergeben.  Die  übrigen  germanischen  Sprachen,  wie 
die  Natur  der  Sache,  lassen  keinen  Zweifel,  dass  einst  der- 
selbe ö- Vocal  die  ganze  dritte  Conjugation  der  schwachen  Verba 
beherrschte. 

Auch  tömdud  III  —  in  I  tamidddf  —  verdankt  sein  n 
wohl  nur  der  1.  und  3.  PI.  oder  dem  starken  Perf. 

Schwierig  ist  tamdir  (2.  Sg.  Pf.  Ind.)  in  III  zu  erklären. 
Das  vermuthungsweise  angesetzte  tamiddr  ist  sehr  zweifelhaft. 
Gehen  wir  von  der  Endung  (ajdhäsi  aus,  so  konnte  keines- 
falls tamidor  das  Resultat  in  I  sein,  da  dies  nie  durch  r^el- 
mässige  Entwicklung  in  UI  tamdir  ergeben  hätte.  Dagegen 
hindert  nichts  in  dieser  Endung,  die  ja  eigentlich  keine  ist, 
bloss  Länge  des  a,  nicht  auch  Färbung  zu  6  anzunehmen,  wie 
in  dädy  got.  deda:  tamiddr  wäre  dann  als  die  einzige  Endung 
auf  ^  in  I  ebenso  behandelt  worden,  wie  eine  Endung  auf  ar, 
wie  fadar  I,  fadir  III. 


lieber  die  Budailben  der  altnordischen  Sprache.  385 

Aber  möglicherweise  hatten  die  ostgermanischen  Sprachen 
die  secundäre  Endung  dhäs.  Dann  ist  es  wieder  zweifelhaft^ 
ob  das  d  als  übermässig  betrachtet  wurde  oder  nicht.  In 
letzterem  Falle  hätten  wir  in  I  tamidar  wie  fadar,  in  III  ton?^ 
dir  wie  fadir,  —  im  ersten  Falle  müssten  wir  wie  früher  dar 
als  Entsprechung  eines  vorgermanischen  dhäs  ansetzen;  was 
ja  bei  dieser  eigenthüm  liehen  Endung  wohl  möglich  wäre. 

Immer  wäre  die  Uebereinstimmung  zwischen  gotisch  und 
nordisch  -dJea,  -dar  oder  -dar  I,  -dir  III  gegenüber  hd.  alts. 
neritöst,  neridos  bemerkenswerth. 

Aber  auch  an  die  Analogie  der  Praesensformen  lang- 
silbiger  schwacher  Verba  könnte  man  denken,  die  sich  im 
Praes.  so  mancher  starken  geltend  macht. 

Nur  aug&n  (N.  A.  PL)  I  erklärt  augu  in  III,  und  führt  auf 
vorgermanisches  -äna,  Aiigan  in  I  aus  augana  wäre  auga  III 
geworden  wie  D.  Sg.  hana  aus  hanani  III.  Auga  stimmt  dem- 
nach bis  auf  die  Voraussetzung  eines  a-Stammes  zu  got.  augdna 
und  steht  den  westgermanischen  Formen  gegenüber  wie  N.  A. 
Sg.  auga  III,  got.  augd,  dem  hd.  ouga.  Es  wird  kein  Zufall 
sein,  dass  die  beiden  germanischen  Sprachen,  welche  eine  Form 
des  N.  A.  Sg.  der  neut  an-Stämme ,  sowie  des  N.  Sg.  der  dn- 
Stämme  auf  an  voraussetzen  —  s.  oben  S.  373,  —  im  N.  A.  PL 
der  neut.  an-Stämme  auch  Länge  des  Ableitungsvocales  zeigen. 
Dadurch  entfallt  die  Analogie  der  nur  ostarischen  Endung 
'äni;  s.  Scherer  GDS.  S.  432  und  Zs.  f.  Österreich.  Gymn. 
1874,  S.  258. 

Genau  aber  entsprechen  den  got.  Formen  die  ältesten 
dänischen  und  schwedischen  öghon,  örun,  Lyngby  Tidskrift  f. 
phil.  6,  47,  Wimraer  Navneordenes  böjning  S.  113.  Hier  liegt 
ein  Stamm  auf  -dna  zu  Grunde,  wie  im  got.  —  Die  nordische 
Urform  in  I  wäre  augdnu. 

Deutliche  Analogieform  in  III  ist  tungur  (N.  A.  PL)  nach 
vcLkar,  sdttir.  Das  Gesetzmässige  wäre  tungu,  wie  G.  Sg. ;  s.  oben 
über  hanar  S.  377.  Lyngby  Tidskrift  f.  phil.  6,  48  hat  richtig 
gesehen,  dass  die  eigentliche  Form  des  N.  A.  PL  der  an-Stämme 
im  schwachen  Adj.  erhalten  ist,  spöku,  die,  weil  sie  auch  dem 
N.  A.  Neut.  zukam,  erst  auf  N.  A.  Masc.  übertragen  wurde,  um 
dann  allmälig  alle  Casus  des  Plural  zu  erobern. 

SiUangKber.  d.  pUl.-hut  Ci.  LXXXVil.  Bd.  I.  Hft.  26 


386  Heinsei. 

Uebermässiges  ä  haben  vielleicht  einige  Formen  des 
schwachen  Perfectums.  Das  macht  hier  keinen  Unterschied. 
Der  Vertreter  eines  langen  altarischen  a  ursprünglich  vorletzter 
Silbe  ist  6,  das  in  UI  zu  a  wird;  über  die  mögliche  Ausnahme 
in  tamdir  2.  Sg.  Pf.  Ind.  III  s.  oben  S.  384. 


A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Lang  A. 

Nach  Auslautgesetz   vor  der  letzten  Silbe. 

Auch  hier   ist  6  bezeugt  und    erscheint   in  III  als  a. 

Für  kalldddm  (1.  PL  Pf.  Ind.)  scheint  über  kallodum  sich 
noch  in  I  kalludum  eingestellt  zu  haben^  da  wir  in  III  die  in 
II  umgelautete  Form  kölludum  finden.  * 

TungSno  (G.  PL)  verdumpft  sein  vorletztes  6  vor  7i  zu  w, 
wie  dies  langem  d  auch  in  letzter  Silbe  der  Periode  I  geschieht; 
s.  S.  373,  384.  Nur  ti,  d.  h.  kurzer  Vocal,  erklärt  uns  den 
Ausfall  in  III  tungna,  wie  iötna  (G.  PL)  von  iöttimi. 

Vor  nd  aber  bleibt  o,  in  III  a,  kallandly  vielleicht  nur 
um  den  charakteristischen  Vocal  der  dritten  schwachen  Con- 
jugation  (got.  ö-Stämme)  zu  erhalten. 

ExGurs  Über  ä  und  ä. 

Die  andern  germanischen  Sprachen  lassen  die  zweifache 
Qualität  des  langen  a  ebenso  deutlich  erkennen,  als  das  nor- 
dische. Aber  die  Auftheilung  beider  Laute  schwankt. 

Im  gotischen  gilt  für  einfach  lang  das  vorgermanische  d 
im  Auslaut,  also  N.  A.  PL  Neut.  der  a-Stämme,  N.  Sg.  der 
<^-Stämme,  1.  Sg.  Prs.  Ind.  starker  Verba,  dann  ä  in  dn,  N.  Sg. 
der  masc.  an-Stämme,  d  in  äi*,  N.  Sg.  der  ar-Stämme,  d  in  dt 
3.  Sg.  Pf.  Ind.  der  schwachen  Verba,  alles  wie  im  nordischen. 
Aber  darüber  hinaus  auch  d  in  dniy  A.  Sg,  der  a-Stämme,  und 
1.  Sg.  Pf.  Ind.    der    schwachen    Verba.     In    diesen    Fällen   ist 


^  Blomberg'  Bidrag  tili  den  germaniska  omljadslärau  8.  6  fahrt  ein  eUkaäum 
neben  dem  regebnfissigen  elskudum  an. 


Ueber  die  End9ilbeD  der  altnordischen  Sprache.  387 

gotischer  Vertreter  des  alten  d  kurzes  a,  entsprechend  nord.  a 
in  erster,  %  in  dritter  Periode,  mit  Ausnahme  des  Auslautes, 
wo  nord.  u  herrscht. 

Also  altn.  landu  (N.  A.  PL)  I,  lönd  III,  got.  hmda, 

altn.  hlindu  (N.  A.  PI.  Neut.)  I,  hlind  III,  got,  hlinda, 
altn.  giafu  (N.  Sg.)  I,  giJöf  III,  got.  giba^ 
altn.  blindu  (K.  Sg.  Fem.)  I,  hlind  III,  got.  blinda^ 
altn,  [faru  (1.  Sg.)]  I,  [fer]  III,  got.  faruy 
altn.  hana  (N.  Sg.)  I,  haut  III,  got.  hana, 
altn.  fadar  (N.  Sg.)  I,  fadir  III,  got.  fadar, 
altn.  tamida  (3.  Sg.)  I,  tamdi  III,  got.  tamida] 
Aber  altn.  [^/ia/ö  (A.  Sg.)]  I,  [giöf]  III.  got.  giba^ 

altn.  blindo  (A.  Sg.  Fem.),  I,  blinda  III,  got.  blinda, 
altn.  tamidd  (1.  Sg.)  I,  tamda  III,  got.  tnmida. 
Uebermässiges  fi  zeigt  auch  im  got.  noch   langen  Vocal, 
der  entweder   wie   nord.  wahrscheinlich   schon    sehr  früh  zu  8 
gefärbt  worden  ist   —  oder  aber  zunächst  ä  blieb  —  vgl.  das 
oben    S.   384    vermuthungsweise    angesetzte    altn.    tamidär   — 
später   aber  den   Weg   zu   e   einschlägt.    A  und  6   wird   einst 
geschwankt   haben   und   dieses  Schwankens  bediente  man  sich 
zur  DiflFerenzierung  der  Formen.  —  Beiden  Sprachen  gemein- 
sam  ist   übermässiges  ^  in  1.  Sg.  Prs.  Ind.,  2.  Sg.  Prs.  Imp.  der 
dritten  schwachen  Conjugation,  im  G.  Pl.^  im  N.  Sg.  der  -dn  und 
der  neut.  aw-Stämme,  im  N.  PI.  der  masc.  a-  und  der  a-Stämme, 
ebenso  im  G.  Sg.  A.  PI.   der  <J-Stämme ,   in   den  Adverbien  auf 
got.  -ö  und  den  Comparativadverbien  auf  gotisch  -6«, 
Also  altn.  kalld  (1.  Sg.)  I,  kalla  III,  got.  salho^ 

altn.  mannd  (G.  PI.)  I,  manna  TU,  got.  mannen 
altn.  dag6  (G.  PI.)  I,  daga  III,  got.  dagiy 
altn.  giaß  (G.  PI.)  I,  giafa  III,  got.  gib6^ 
altn.  tungo  (N.  Sg.)  I,  tunga  III,  got.  tuggö, 
altn.  augo  (N.  Sg.)  I,  auga  III,  got.  augo, 
altn.  dagtr  (N.  PI.)  I,  dagar  III,  got.  dagds^ 
altn.  giafor  (G.  Sg.  N.  A.  PI.)  I,  giafar  III,  got.  gibos, 
altn.  aptör  (Adv.  Comp.)  I,  aptar  III,  got.  -letkos, 
altn.  -liko  (Adv.)  I,  -liga  III,  got.  -leiko. 
Das   nordische  zeigt   nun   in   seinem   A.  Sg.  Fem.  blinda^ 
der   in  I  ein  6  voraussetzt,   dass  im  nord.  wenigstens  d  in  dm 
des   A.  Sg.  als  übermässig  aufgefasst  wurde,  dass  also  der  A.  Sg. 

26* 


388  H«insel. 

der  subst.  d-Stämme,  giöf,  nur  die  übertragene  Nominativform 
ist.  Bei  der  grossen  Uebereinstimmung,  welche  sich  zwischen 
nordisch  und  gotisch  in  Behandlung  des  alten  d  zeigt^  darf 
man  vermuthen,  dass  der  got.  A.  Sg.  Fem.  giha,  hlinda  nicht 
von  dem  als  einfach  lang  angesehenen  d  in  -dm  stammen, 
sondern  dass  sie^  wie  A.  Sg.  giöf,  Analogieformen  nach  dem 
Nominativ  sind.  0  scheint  sogar  erhalten  in  A.  Sg.  hveilöhuH, 
ainohun;  aber  es  ist  nicht  sicher,  ob  dieses  o  Resultat  des  Aus- 
lautgesetzes ist,  da  auch  N.  Sg.  ainöhvn  vorkommt ;  s.  Scherer 
GD8.  S.  107.  119.  —  Möglich  dass  auch  die  l.Sg.Pf.Ind. 
schwacher  Verba  im  got.  ursprünglich  auf  6  oder  e  —  s.  die 
2.  Sg.  tamides  —  ausgelautet  und  erst  später  die  Form  der 
dritten  Person  angenommen  hat. 

Auch  nur  möglich,  keinesfalls  nothwendig  ist  es,  dass  got.  a, 
wo  es  vorgermanischem  d  des  Auslauts  entspricht,  einen  tieferen 
Klang  hatte,  als  das  gewöhnliche  a,  s.  oben  S.  373,  oder  von  einem 
langen  d  u,  o  etwa  zu  der  Zeit  als  die  nicht  zu  6  gefärbten 
früheren  zu  e  wanderten,  auf  a  erhoben  wurde.  Schon  vor  Bil- 
dung der  germanischen  Sprachen  kann  jene  arische  Gemein- 
schaft, aus  welcher  später  die  Goten  hervorgingen,  auslautend  d 
gesprochen  haben,  wie  die  Slawen  und  Litauer,  die  Stammväter 
der  Skandinavier  und  der  Westgermanen  aber  -o  oder  -t?. 


Ahd.,  Alts.,  Ags.,   Altfr.  stimmen  darin  überein,   dass  sie 
die  d  derselben  Endungen  als  einfach  oder  übermässig  betrach- 
ten, nicht  aber  in   den  Lautwerthen,    welche   sie  zur  Bezeich- 
nung dieses  Unterschiedes   gebrauchen.    Nur  u,   das  ahd.  alts. 
mit  o  wechseln  kann,   ist   in   allen  Sprachen  Stellvertreter  des 
alten   auslautenden   -a.    Sonst   verwendet   für  vorgermanisches 
einfaches   d   das   ahd.   und   alts.  kurzes  a,    das  ags.  und  altfr. 
kurzes  e,  —   für  vorgermam'sches  übermässig  langes  a  ahd.  o, 
das    nicht  mit  u   wechselt,  —  s.   Braune  in  seinen  und  Pauls 
Beiträgen  2,    152,   —   6  und  a,  alts.   o  und  a,    wohl  langes  6, 
dj  ags.  altfr.  a. 
Einfaches  d. 
ahd.  8kif(u)  (N.  A.  PI.),  alts.  skipu,  ags.  scipu,  altfr.  «ctp«, 
ahd.  fafar  (N.  Sg.),  alts.  fadaVy  ags.  fdder,  altfr.  feder, 
ahd.  neftita  (3.  Sg.),  alts.  nerida,  ags.  iierede,  altfr,  neredej 
ahd.  geba  (A.  Sg.),  alts.  geba,  ags.  gife,  altfr.  jeve^ 


üeber  di«  Bu drüben  d«r  altnordischan  Sprache.  389 

ahd.  blinta  (A.  Sg.\  alts.  hlinda^  ags.  blinde,  altfr.  blinde, 
ahd.  neriVa  (1.  Sg.),  alts.  nerida,  ags.  nerecia,  altfr.  nerede, 
ahd.  ztin^a  (N.  Sg.);  alts.  tunga,  ags.  ^lAn^e,  altfr.  tunge, 
ahd.  öra  (N.  A.  Sg.),  alts.  dra,  ags.  eäre,  altfr.  dre, 
ahd.  96&a  (G.  Sg.);  alts.  geba,  ags.  gefe,  altfr.  ^eve. 

Andre  Fälle  stimmen  nicht. 

ahd.  geba  (N.  Sg.),  alts.  geba,  ags.  ^i/m,  altfr.  jeve. 

Höchst  wahrscheinlich  hat  nur  das  ags.  das  richtige  be- 
wahrt; ahd.,  alts.,  altfr.  zeigen  die  Accusativform  oder  sind  dem 
Nom.  der  ^n-Stämme  nachgebildet;  s.  Scherer  GDS.  S.429.  Ahd. 
and  alts.  haben  ja  noch  -u  zum  Theil  erhalten;  s.  Scherer 
GDS.  S.  118.  431. 

ahd.  blintu  (N.Sg.  Fem.),  alts.  blind,  ags.  blind(u),  altfr.  blinde. 

Im  alts.  hat  das  Fem.  gleich  dem  Masc.  Neut.  die  kürzere 

Form  angenommen,   die  auch  ahd.   und  ags.   gilt,  —  im  altfr. 

wirkt   die  Analogie  des  A.  Sg.  oder  des  N.  Sg.  der  schwachen 

Declination. 

ahd.    blintu    (N.  A.  PI.  Neut.) ,   alts.    blindu  -a ,    ags.    blindu, 

altfr.  blinda  -e. 
Im   altfr.   ist   durchweg,    im   alts.    zum    Theil   die   Form 
des  Masc.  ins  Neut.  getreten. 

ahd.  faru  (1.  Sg.),  alts.  faru,  ags.  fare,  altfr.  fare. 

Ags.  und  altfr.  scheint  optativische  Foi*m  yorzuliegen. 

Uebermässiges  a. 
ahd.  hano  (N.  Sg.),  alts.  hano,  ags.  hana^  altfr.  hona, 
ahd.  manno  (G.  PL),  alts.  manno,  ags.  monna,  altfr.  monna, 
ahd.  fisko  (G.  PI.),  alts.  ßsko,  ags.  ßska,  altfr.  ßska, 
ahd.  gebono  (G.  PL),  alts.  gehono,  ags.  gifena,  altfr.  jevena, 
ahd.^Ä:a«-a-a(N.A.Pl.),  dXi^.fiskos'aa-a,  ags.ßsccts,  alth.ßskar, 
ahd.  gebä  (N.  A.  PL),  alts.  geiä,  ags.  gtfa,  altfr.  jeva. 

Der  N.  PL  der  masc.  a-Stämme  lautet  im  ahd.  gewöhnlich 
auf  kurzes  a  aus,  aber  Spuren  einstiger  Länge  sind  nachgewiesen, 
s.  Braune  in  seinen  und  Paul's  Beiträgen  2,  135.  151,  und  as, 
das  nur  äs  sein  kann,  ist  in  Ortsnamen  häufig.  Ob  d  eine 
Nebenform  von  äs  gewesen,  die  auf  altem  äs  beruhte,  wie 
dieses  auf  äsas,  ist  zweifelhaft.  Das  Uebergewicht  der  nicht 
auf  s  ausgehenden  N.  PL  scheint  mir  nach  Scherer  GDS.  S.  427 


390  Heinxel. 

genügend;  um  ä,  a  im  ahd.  und  alts.  zu  erklären.  Ebenso  hat 
im  altn.  die  Mehrzahl  der  auf  r  ausgehenden  N.  A.  PI.  hanar 
und  tungur  geschaffen;  s.  oben  S.  377.  385. 

Auch  hier  weichen  andere  Formen  in  den  verschiedenen 
Sprachen  von  einander  ab. 

ahd.  salböni  (1.  Sg.);  alts.  salbon,  ags.  sealfje,  altfr.  salvje. 

Ags.  und  altfr.  folgen  der  Analogie  der  ersten  schwachen 
Conjugation,   und  diese  selbst  hat  den  Ausgang  auf  e  mit  den 
starken  Verben  gemein, 
ahd.  neritdn  -un  (3.  PI.),  alts.  net^un,  ags.  neredon,  altfr.  nieredon. 

Im  ahd.  herrscht  meist,  im  alts.  stäts  der  Vocal  der 
schwachen  Form ;  ags.,  altfr.  neredon^  wie  fundon, 

ahd.  7ieritÖ8t  (2.  Sg.),  alts.  netndos,  ags.  neredes,  altfr.  neredes. 

Im  ags.;  altfr.  scheint  die  Praesensform  eingedrungen 
zu  sein. 

ahd.  gemor  (Adv.),  alts.  gemor,  ags.  geomoi\ 

Das  r  ist  hier  geblieben,  weil  die  Comparativform  sonst 
unkenntlich  geworden  wäre.  Das  o  im  ags.  fallt  auf.  Es  hat 
sich  hier  auch  in  letzter  Silbe  das  alte  o  bewahrt,  wegen  der 
adjectivischen  Formen  geomost  und  des  später  syncopierten 
Comparativs  *  geornora^  vgl.  sealfjan  usw.  neben  sealfodc. 
S.  Braune  in  seinen  und  Paul's  Beiträgen  2,  151  Anm. 
ahd.  gemo  (Adv.),  alts.  gerno,  ags.  geomej  altfr.  j&rne, 

Ags.  und  altfr.  haben  vielleicht  das  schwache  Neut.  Sg. 
für  die  Adverbialform  eingesetzt. 

Der  wichtigste  Unterschied  vom  ostgermanischen  besteht 
in  der  entgegengesetzten  Behandlung  der  -an,  welche  ursprüng- 
lich für  N.  Sg.  Masc.  Fem.  Neut.  der  an-  und  mi-Stämme  gedient 
hatten.  Für  die  Ostgermanen  war  das  r?  von  au  im  Fem.Neut.  über- 
mässig gewesen.  Für  die  Westgermanen  ist  es  das  Masc.  Vgl. 
die  'drty  mit  welchen  im  griech.  und  lat.  gerne  Masculina  ab- 
geleitet werden,  gegenüber  -on  im  Fem.  —  aquilo,  caro ;  L.  Meyer 
Vergleich.  Gramm.  2,  140,  Osthoff  Forschungen  2,  154  f. 

Dass  der  G.A.Sg.  der  a-Stämme  im  westgermanischen  ein- 
faches d  voraussetzt,  ist  vielleicht  nur  scheinbar.  Es  könnte 
ahd.  ursprünglich  d  geherrscht  haben,  das,  nachdem  der  N.  Sg. 
die  Form  der  schwachen  Declination  angenommen,  seine  Quan- 
tität aufgegeben  hätte. 


Ueber  die  Endsilbeu  der  altBordischen  Sprache.  391 

Auch  die  l.Sg.  Pf.  Ind.  der  schwachen  Verba  gleich  mit  der 
dritten  mag  Formübertragung  sein  wie  im  got.^  s.  oben  S.  389. 

So  dass  man  sagen  kann:  in  allen  germanischen  Sprachen 
liegt  einfaches  d  zu  Qrunde  dem  N.  A.  PL  Neut.  der  o-Stämme^ 
dem  N.Sg.  der  (i-Stärame,  der  1.  Sg.  Prs.  Ind..  der  starken  Verba, 
—  vielleicht  dem  Instr.  Sg.,  dessen  Form  i*,  o  aber  nur  ahd. 
und  alts.  erhalten  ist,  s.  Scherer  GDS.  S.  425  Anm.,  —  ferner 
dem  N.  Sg.  der  ar-Stämme,  der  3.  Sg.  Pf.  Ind.  der  schwachen 
Verba.  —  Dagegen  übermässiges  ä  der  l.Sg,  Prs.  Ind.  der  schwa- 
chen Verba  dritter  Classe,  dem  G.  PL,  dem  N.  PL  der  a-Stämme, 
dem  N.  A.  PL  der  a-Stämme. 


JA. 

Vorbemerkung  über  ja   and  jd. 

In  III  finden  wir  Endungen,  in  welchen  wir  ursprüng- 
liches ja  oder  jd  voraussetzen  dürfen,  theils  mit  dem  Vocal  i, 
theils  ohne  Vocal,  immer  aber  mit  umgelauteter  Wurzel.  Und 
zwar  hängt  diese  verschiedene  Behandlung  der  alten  Formeln 
ja,  jd  von  der  Gestalt  der  vorhergehenden  Wurzelsilbe  ab^ 
Nach  kurzer  —  langer  Vocal  oder  gg  im  Auslaut  der  Wurzel 
machen  nicht  Position,  s.  Holtzmann  Gramm.  1,  108.  2,  64, 
Lundgren  Om  substantivens  stammar  S.  70.  73,  Wimmer  Forn- 
nordisk  formlära  §.  43,  b,  3  —  oder  auf  Gutturalis  ausgehender 
Wurzel  zeigt  sich  Ausfall  des  ursprünglichen  ja,  nach  Länge 
mit  beliebigem,  aber  nicht  gutturalem  Consonanten  am  Ende 
bleibt  i:  bed,  vegg,  gn^,  bekk,  aber  helli  (A.  Sg.),  bedr,  veggr, 
gn^,  beJclcr,  aber  hellir  (N.  Sg.),  *  ben,  egg,  ey,  eng,  aber  ermi 
(N.A.Sg.). 

Bei  den  Neutris  der  ja-Stärame  und  den  Verben  der  ersten 
schwachen  Conjugation  gibt  Kürze  und  Länge  der  Wurzelsilbe 
allein  den  Ausschlag:   kyn,   skegg,  jley,  aber  klaedi,  riki,  engt 

»  FylJdr  ist  eine  Ausnahme.  Ebenso  die  Fälle  ohne  Umlant  avafnir^  Tdfnir, 
GnHr,  Thorir,  tUlir  neben  yüir,  guüir  nSben  gylUry  s.  Leffler  Tidskrift 
f.  f.f  Neue  Folge,  2,  241.  309.  Eigennamen  und  poetische  NeubUdungen 
entzogen  sich  der  Regel,  s.  Wimmer  Gramm.  §.  41,  Gislason  Oldnordisk 
Formlaere  S.  92. 


392  Heinsel. 

(N.  A.  Sg.  N.  A.  PL),   fem,   (hrek),   legg^   gny,   aber  doemi,    hergi 
(1.  Sg.  Prs.Ind.).  Vgl.  dagegen  bekk,  dreng^  skraek  (A.Sg.). 

Genau  wieder  nach  dem  zuerst  erwähnten  Princip  wird 
in  anderen  Fällen  j  vor  a,  u  entweder  beibehalten  oder  aus- 
geworfen :  kynjaj  skeggjaj  fieyJQy  i-tkja,  engja,  aber  klaeda  (6.  PI.), 
—  henja,  eggja,  e^ja^  engja ,  aber  erma  (G.  PL),  —  benjar^ 
eggjar,  eyjar^  engjar^  aber  ermar  (N.  A.  PL),  —  miäja,  dyggja^ 
n^'a,  fraegja,  aber  vaena  (A.  Sg.  Fem.),  —  ntedjay  ttggjay  virkJGy 
aber  enda  (A.  Sg.),  —  kynjum,  skeggjum,  fleyjitm,  inkjvm,  aber 
klaedum  (D.  PL),  —  hedjum,  veggjum,  gnijjum,  bekkjumy  aber 
hdlum  (D.  PL),  —  benjum,  aggjumj  eyjum^  evgjttm,  aber  ermiim 
(D.  PL),  —  temjum  (hrekjumjf  l^ggju'nt,  gn^um^  bergjum^  aber 
doemum  (1.  PL  Prs.  Ind.)  usw.  Ebenso  in  vorletzter  Silbe  tem- 
jandi  (hrekjandi),  leggjandi,  gn^'andiy  bergjandi,  aber  doemandi 
(Part.  Prs.). » 

Die  Fälle,  in  welchen  j  vor  a,  u  in  III  entweder  bleibt 
oder  ausf&llt,  lehren,  dass  j  nach  Kürze,  Gutturalis  oder  Vocal 
bequemer  lag  als  ohne  diese  Bedingungen.  Nach  Vocal  sehr 
begreiflich,  —  die  Gutturalen  g,  k  sind  mit  j  verwandt  und 
scheinen  es   im  altn.    sogar  hervorzubringen,   s.  die  Part.  Perf. 


^  Die  Regel  über  ja,  jd  Megt  in  den  Beispielen  bei  Grimm,  Wimmer, 
Oislaflon  klar  za  Tage;  s.  Wimmer  Gramm.  §§.  41,  42,  43,  64,  66,  71, 
74,  83,  142,  145,  146,  147,  148,  149,  161,—  und  einzelne  Bemerkongen 
über  die  Wichtigkeit  der  Kürze  und  des  consonantischen  Aoslauts  sind 
schon  lange  gemacht  worden;  s.  Grimm  Gramm.  1*  569,  575,  Holtzmann 
Gramm.  2,  61  f.,  Gislason  Formlaere  S.  92,  Wimmer  Gramm.  §§.  34  d, 
42,  43,  71,  136.  Aber  nur  in  der  schwedischen  Ausgabe  von  Wimmcr's 
Grammatik,  Fomnordisk  formlära  Lund  1874,  wo  der  Abschnitt  über  die 
^a-Dedination,  auch  der  Adjectiva  §.  83,  eine  wesentliche  Umarbeitaog 
erfahren  hat,  ist  sie  im  wesentlichen  übereinstimmend  mit  dem  obigt'n 
allsgesprochen.  Die  deutsche  Ausgabe  lehrt  über  das  Princip,  welches 
bekkr  und  hirdir,  kcUla  und  eggja  scheidet,  §.  40.  151,  gar  nichts. 
§.  42  b  heisst  es:  ,wie  eng  (;4- Stamm)  geht  eine  Anzahl  Wörter  mit 
langer  und  besonders  mit  kurzer  Stammsilbe*.  Aber  von  Längen  finden 
sich  nur  Pura  oder  solche  mit  Gutturalausgang.  —  §.  43  b :  ,wie  h/n 
werden  flectiert  eine  Reihe  Wörter  mit  langer  Stammsilbe*,  wieder  nur 
Pura  oder  Wurzeln  mit  Gutturalauslaut,  bis  auf  das  dunkle  ^/,  das  auch 
nach  ord  geht  Nicht  ausreichend  sind  daselbst  auch  die  Angaben  über 
die  Behandlung  des  ja  in  jan-,  j<t?i- Stämmen  §§.  66,  69,  71,  über  die 
jo-Stämme  der  Adj.  §.  83:  Adj.  wie  vaenn,  welche  nur  Umlant,  aber 
nirgends  mehr  i  oder  j  vor   a,  u  zeigen,  bleiben   ganz  unberücksichtigt. 


Üeber  die  EndBÜben  der  altnordisclien  Sprache.  393 

tekinriy  sleginn,  aber  farinn,  haldin  n;  —  was  die  Kürze  anbelangt, 
80  kann  man  den  Abfall  des  j  nach  langer  Silber  als  eine  Ent- 
lastung auffassen^  ähnlich  wie  wenn  im  altsächsischen  Consonant- 
um  laut  zwar  bei  Uggjan  eintritt^  aber  nicht  bei  wegjan,  bei  lettjan^ 
aber  nicht  bei  hotjariy  bei  queädjan^  aber  nicht  bei  leJjan, 

Das  gotische  zeigt  etwas  dem  nordischen  Verfahren  ähn- 
liches. Altes  ja  erscheint  als  ji  oder  als  ei,  altes ^a  als^a  oder  t. 
Aber  nur  Kürze  oder  Länge  der  Wurzel  und  die  Silbenzahl 
des  Wortes  entscheidet.  Consonantischer  und  vocalischer  Aus- 
laut werden  verschieden  behandelt.  Es  stehen  sich  gegenüber 
harjis,  tojis  und  hairdeis,  lekeiSy  laisareis  (N.  Sg.),  —  nayiSy 
stojis  und  sandpis  (2.  Sg.),  —  sibja  und  bändig  thivi,  hvdftuU 
(S,  Sg).  Also  td-,  8t6'  gilt  als  Kürze,  Mm-  als  Länge.  —  Die 
Neutra  der  got.  ja-Stämme  sind  einförmig  kuni  wie  andhahti. 
—  Vor  anderen  Vocalen  als  i  bleibt  got.  j  immer  bewahrt,  — 
harjam  wie  hairdjam  (D.  PL) ,  nasjos  wie  sdkjos  (1.  Dual.), 
während  nord.  engja,  erma  (G.  PI.),  hekkjiim,  hellum  (D.  PI.)  usw. 

Die  nähere  Uebereinstimmung  zwischen  gotisch  und  nor- 
disch beschränkt  sich  also  auf  jene  gotischen  Fälle,  in  denen  ein 
zu  Ji  gewordenes  ja  sich  in  ei  und  ji  spaltet,  altes  ja  entweder 
als  Ja  bewahrt  wird  oder  zu  i  geworden  ist:  harjis  :  hekkr, 
kyn  =  hairdeis  :  hellirj  klaedi  =  sihja  :  eng  =  bnndi  :  ermi. 

Wenn  wir  für  diese  Formen  aus  dem  gotischen  eine 
Erklärung  finden,  so  wird  sie  wahrscheinlich  auch  für  das 
altnordische  ausreichen. 

Scherer  GDS.  S.  113  erklärt  gotisch  hnrjis,  hairdeis  mit 
J.  Schmidt's  Beistimmung  KZs.  21,  283  Anm.  •  durch  Zer- 
dehnung  des  Suffixes  ia  zu  ija:  harijas,  hairdijas  ergäben 
gesetzmässig  die  gotischen  Formen.  Aber  dann  müsste  zunächst 
hat'ijs  entstanden  sein,  darauf  erst  durch  eine  unwahrschein- 
liche Umsetzung  harjis. 

Wenn  wir  im  germanischen,  wo  das  Suffix  schon  ja,  nicht 
ia  war,  ^  einen  N.  Sg.  -jis  neben  -eis  erblicken,  so  ist  das  nächst 
wahrscheinliche  doch,    dass    in  dem  ersten  Falle  j  seine  Stelle 

'  Aber  der  Beweis  aus  dem  Slawischen,  welchen  J.  Schmidt  vorträgst,  wird 
von  A.  Bezzenberger  in  seiner  Besprechung  von  Geitler*s  litauischen 
Studien,  Göttinger  gelehrte  Anzeigen  187ö  S.  2S1  angefochten. 

2  Benfey  Abhandlungen  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Göttingen 
1871  Bd.  16. 


394  H«iDzeK 

bewahrt  habe^  unisomebr^  als  er  unter  der  Bedingung  kurzer 
Wurzelsilbe  eintritt ,  derselben^  die  im  altnordischen  mit  der 
andern  Bedingung  des  gutturalen  Wurzelauslautes  altes  j  erhält. 
Man  wird  also  auch  im  gotischen  nach  langer  Wurzelsilbe 
weniger  geneigt  gewesen  sein  j  zu  articulieren  als  nach  kurzer. 

—  Das  fuhrt  auf  die  Vermuthung,  dass  es  neben  jener  oben 
S.  392  erwähnten  nordischen  Methode  der  unbequemen  Aussprache 
durch  Verschweigen  des  j  abzuhelfen  —  kynjaj  klaeda  (G.  PI.) 

—  auch  eine  andre  gegeben  habe,  nämlich  dem  ja  ein  t  vor- 
zuschlagen; vgl.  das  altind.  Dieser  vocalische  Einsatz  desj 
wird  auch  bei  kurzer  Wurzelsilbe  nicht  ganz  gefehlt  haben, 
entschiedener,  deutlicher  war  er  bei  langer.  Zimmer  weist 
Zs.  19,  419  auf  das  germanische  Accentgesetz  hin  —  gewiss 
mit  Recht  —  hdrjü  aber  hairdjis  (N.  Sg.),  —  vgl.  den  Gebrauch 
des  indischen  Svarita.  Hairdijis  mag  ganz  constant  gewesen 
sein,  harijis  mit  harjis  gewechselt  haben.  Das  Auslautgesetz 
ergibt  aus  hairdijas,  hairdeis,  bei  harjis  bewirkte  die  schwan- 
kende Form,  dass  gleichsam  ein  Mittelweg  zwischen  harijs  und 
karjs  eingeschlagen  wurde,  harjis.  S.  Gislason  Tidskrift  f. 
phil.  6,  240. 

Da  nun  sandeisy  nasjis  (2.  Sg.)  ebenso  behandelt  werden 
wie  hairdeis,  harjis  (N.  Sg.),  ist  es  gerathen,  dieselbe  Erklärung 
auch  hier  anzuwenden,  d.  h.  von  ja  nicht  von  altem  q/a,  ya 
auszugehen,  wie  es  Scherer  wenigstens  für  die  Imp.  sandei, 
nasei  thut,  GDS.  S.  179  f.;  s.  auch  J.  Schmidt  KZs.  18,  283  und 
Leffler  Tidskrift  f.  f..  Neue  Folge,  2,  268  Anm.  2,  269  Anm.  3 
billigen.  Vgl.  auch  Ebel  KZs.  5,  302  Anm.  —  Allerdings  genau 
dasselbe  kann  mit  sandeis,  nasjis  nicht  vor  sich  gegangen  sein, 
was  mit  hairdeis,  harjis  geschehen,  da  auf  diese  das  Auslaut- 
gesetz gewirkt  hat,  auf  jene  nicht.  Aber  j  in  nasjis  hat  seine 
ursprüngliche  Stellung  nach  kurzer  Wurzelsilbe  gewahrt  wie 
harjiSf  sandeis  erklärt  sich  aus  sandijas  wie  hairdeis,  Nasei 
(2.  Sg.  Imp.)  wird  eine  Analogieform  sein  für  nasi  nach  sandei 
aus  sandija,  wie  altn.  ttm,  doem  (2.  Sg.  Imp.)  neben  temr, 
doemir  (2.  Sg.  Ind.). 

Wir  sehen  ja  auch  sonst  ähnliche  Behandlung  alter  y^, 
ja  in  ursprünglich  letzter  und  vorletzter  Silbe.  Schon  vor  dem 
Auslautgesetz  muss  für  das  gotische  Zusammenziehuog  der 
Formeln  ja,  ja   zu  i  angenommen  werden,   in  den  Fem.  nach 


üeber  die  EndiiilbeB  der  altnordischeu  Sprache.  395 

bandiy  und  für  got.  wie  die  andern  germ.  Sprachen  in  den 
Comparativadverbien  nach  haldisj  s.  Scherer  GDS.  S.  105  — 
dann  im  Innern  des  Wortes  bei  dem  ersten  Comparativsuffix 
der  Adj.,  bei  dem  ja  des  Perfectstammes  von  Verben  erster 
schwacher  Conjugation,  bei  dem  ja  des  Opt.  Pf.;  mit  Ausnahme 
der  1.  Sg.  im  got.  nord.,  bei  den  ja  der  Adj.  auf  got.  -eins 
-eigSj  der  Subst.  auf  -eins. 

Nach  Analogie  von  harjls^  hairdeis  kann  man  sich  somit 
für  altn.  bekkr,  hellir  vorstellen,  dass  beiden  Paradigmen  vor 
Eintritt  des  Auslautgesetzes  stärkere  und  geringere  Neigung  zu 
-ijas  eigen  war,  deren  Resultat  in  dem  einen  Falle  als  -tV,  in 
dem  andern  als  -r  vorliegt.  /  von  -?r  in  III  kann  aber  in  I 
nicht  kurz  i  gewesen  sein,  das  wäre  in  UI  ausgefallen  wie  in 
fem'  (2.  Sg.).  —  'IR  ist  allerdings  inschriftlich  nur  in  Wörtern 
überliefert,  welche  sonst  nach  bekkr  gehen  —  ThaliR  ist  zweifel- 
haft. Aber  wenn  schon  diese  i  in  der  Endung  hatten,  um  wie 
viel  mehr  jene  nach  hellir^  welche  es  noch  in  III  besitzen, 
aber  nicht  dasselbe  i,  da  seine  Entwicklung  eine  andere  ist, 
hdlir,  bekkr.  Vergleicht  man  überdiess  got.  hairddsj  so  bleibt 
kaum  etwas  anderes  übrig,  als  Länge  des  i:  hallir.  -R  in  III 
bei  Paradigma  bekkr  könnte  auf  Ja,  ji,  i  in  I  zurückgehen, 
überliefert  ist  -iR.  Aber  der  Gebrauch  der  Jotruue  ist  schon  in 
den  ältesten  Inschriften  sogar  vor  a,  u  im  Absterben,  arbingano 
.6.  PI.)  Tune  für  arbingjano,  Thrawingan  (G.  Sg.)  Tanum  für 
Thrawinyjanfj  gestümR  (D.  PL)  Stentofte  für  gesfjumr ;  vgl. 
iah  für  jah  Varnum ;  s.  Bugge  Tidskrift  f.  phil.  7,  243,  —  die 
Schwäche  des  j  in  III  ist  bekannt.  Wimmer  Gramm.  §.  83. 
Wenn  wir  an  got.  harjis  denken  und  erwägen,  dass  die  nach 
Paradigma  btkkr  geformten  Wurzeln  keine  Abneigung  vor  j  an 
den  Tag  legen,  so  werden  wir  kaum  zweifeln,  dass  MariB,  das 
spätere  maerr^  —  Bugge  Tidskrift  f.  ph.  7,  246  —  für  Mdrjir 
s:tehe.  Also  bakjir  :  harjis  =  hallir  zu  hairdeis.  Ueber  die  in 
maerr  vorliegende  Abweichung  vom  Princip,   s.  unten  S.  397. 

Das  finnische  scheint  hier  auf  einen  dem  vocalischen 
Auslautgesetz  vorausgehenden  Zustand  hinzuweisen,  autia  (Adj.), 
got.  auths  Thomson  a.  a.  O.  S.  93. 

Ahd.  alts.  kurz  i  aber  im  N.  Sg.  aller  masc.  Ja-Stämme 
setzt,  wenn  wir  diesen  Laut  als  das  Resultat  des  Auslautgesetzes 
ansehen,  vorgermanische  Contraction  des  ja  zu  i  voraus. 


396  Hein  sei. 

Aber  bei  ja  trügt  die  got.  Analogie.  Wenn  wir  ent- 
sprechend dem  got.  sihja,  bandi  nord.  I  angjuy  armi  ansetzen, 
so  finden  wir  in  III  noch  enni  (neben  etmr),  nicht  eiyn.  Der 
Abfall  eines  in  I  kurzen  i  aber  wäre  nothwendig.  Dass  N.  Sg. 
erini  Formübertragung  aus  dem  A.  8g.  sei,  ist  sehr  unwahr- 
scheinlichy  da  im  nord.  vielmehr  der  A.  Sg.  der  fem.  Nomina 
die  Form  des  N.  Sg.  angenommen  hat;   s.  oben  S.  373.  387. 

Da  hier  ein  Vorgang  wie  in  got.  bandi  jedenfalls  nicht  vor- 
liegt, sonst  aber  die  Formel  -ja  im  got.  als  -ja,  in  den  übrigen 
germ.  Sprachen  als  -ju  bewahrt  ist,  wird  nach  Princip  ju  und  iju 
für  unsere  Periode  anzunehmen  sein.  Auslautendes  u  muss, 
w^enn  es  in  die  Periode  III  tritt,  abfallen  wie  a  unter  den- 
selben Umständen.  Das  erklärt  etig,  ernii  (N.  Sg.),  tem,  doemi 
(1.  Sg.)  usw. 

Auch  sonst  ist  es  das  sicherste  für  den  nord.  Sprachstand 
unmittelbar  nach  dem  vocalischen  Auslautgesetz  die  uncontra- 
hierten  Formen  anzunehmen,  wenn  nicht  bestimmte  Gründe 
dagegen  sprechen. 

So  bei  jam,  A.  Sg.  der  masc.  ja-Stämme,  N.  A.  Sg.  der 
neut.  ja-Stämme.  Am  war  uns  in  den  entsprechenden  Fällen 
A.  Sg.  Masc.  N.  A.  Sg.  Neut.  der  a-Stämme  substantivischer 
Function  als  a  I  entgegengetreten,  eine  Qualität,  welche  am, 
an  sofort  nach  Eintritt  des  consonantischen  Auslautgesetzes 
erhalten  haben  musste.  —  Die  Analogie  des  got.  und  der  west- 
germanischen Sprachen  reicht  hier  nicht  aus,  da  dort  -am  in 
den  erwähnten  Fällen  nicht  zu  ä  geworden,  sondern  abgefallen 
ist.  —  Da  wir  demnach  über  die  Behandlung  des  jam  nichts 
wissen,  dürften  wir  am  wenigsten  fehl  gehen,  wenn  wir  bei  ihm 
dieselbe  Entwicklung  wie  bei  am,  ä  voraussetzen,  also  ja  oder 
nach  Princip  ijä. 

Bei  Jans ,  A.  PI.  der  masc.  ^a-Stämme,  und  bei  jdn,  N. 
Sg.  der  masc.  ^aw-Stämme,  haben  auch  das  got.  und  die  west- 
germanischen Sprachen  j  und  den  folgenden  Vocal  gewahrt  — 
harjans  (A.  PL),  ü/YJa,  (N.  Sg.). 

In  der  Tabelle  ist  überall  schon  Verlust  des  j  vor  i 
angenommen. 

Betrachten  wir  das  einzelne. 


ü«ber  die  Eudsilb«!!  der  altnordiechen  Sprache.  397 


JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  JA. 

Ueber  ja  2,  Sg.  Imp.  der  schwachen  Verba  erster  Conju- 
g^ation  s.  oben  S.  394. 

Jam  und  jas  gehen  meist  nach  Princip.  Von  ja  aus  jam 
schwindet  in  III  j  natürlich  nach  Abfall  des  a,  i  von  ijä  bleibt. 
/  wie  ij  haben  in  II  Umlaut  gewirkt :  l<yn,  klaedi  (N.  A,  Sg,), 
lekk,  hdli  (A.  Sg.). 

Ueber  die  Störung  des  Princips  bei  den  neut.  /a-Stämmen 
B.  oben  S.  391. 

Um  die  Zeugnisse  für  jas  (N.  Sg.)  id  I  steht  es  misslich. 
Ob  ThaliK  kurze  oder  lange  Wurzel  habe,  können  wir  nicht 
sagen.  MariK  scheint  mit  dem  Adj.  maerr  identisch  zu  sein 
und  entzieht  sich  dadurch  der  Regel.  Die  adj.  ^a-Stämme  sind 
allerdings  durch  erhaltenes  oder  verlorenes  j  vor  a,  «  unter- 
schieden, in  den  übrigen  Formen  aber  uniformirt :  vaenn,  saell, 
froekfiy  wie  miär,  n^s,  fraegr,  —  Die  andern  Beispiele  sind 
Namen  auf  -ga^tlB,  —  ein  Wort,  das  wohl  ursprünglich  wie 
im  got.  ahd.  zu  den  i-Stämmen  gehört  haben  wird,  aber  im 
wesentlichen  die  Declination  der  Ja-Stämme  angenommen  hat. 
—  Es  hat  nie  j  vor  a,  t*,  aber  im  N.  Sg.  gestr^  nicht  gestir, 
G.  Sg.  gestsj  nicht  gestir,  A.  Sg.  gest^  nicht  geati;  s.  Wimmer 
Gramm.  §§.  43,  b,  2.  46. 

Die  Comparativadverbien  erster  Comparation,  welche  in  III 
einförmig  -r  in  der  Endung  mit  Umlaut  der  Wurzel  zeigen, 
hetTj  heldry  haben  jatf  —  s.  Scherer  GDS.  S.  179  —  gewiss 
auch  zu  ijas  erweitert,  aber  heldr  ist  Analogiebildung  nach 
hetr.  Man  sollte  heldir,  hetr  in  III,  also  heldir,  hetjir,  betir 
in  I  erwarten. 

Jan8  zeigt  in  lU  hekkij  hella  (A.  PI.).  Also  kein  ija  im 
zweiten  Fall.  Ja,  von  Jans  wurde  zunächst  bewahrt  wie  a  von 
ans,  s.  oben  S.  371,  und  dann  j  abgeworfen,  die  erste  Methode 
sich  der  unbequemen  Lautverbindung  zu  entledigen ;  s.  S.  392.  /in 
bekki  weist  auf  i  in  einer  früheren  Periode,  das  nur  aus  einem 
ja  stammen  kann,  welches  nach  dem  Auslautgesetz  sich  auf  t 
zusammengezogen  hatte.  Contraction  vor  dem  Auslautgesetz 
würde   deutlicheres   t  vor  Ja   in  jans   bei  Paradigma  6eX;ftr  als 


398 


Heinsei. 


bei  Paradigma  hellir  voraussetzen,  —  bakijans,  halljam  —  was 
gegen  unsere  sonstige  Erfahrung  ist.  Denn  ohne  i*  vor  jans 
ergäbe  das  Auslautgesetz  nach  Contraction  baU^  in  III  hekk.  — 
Ob  die  Contraction  in  I  oder  II  stattgefunden  habe,  ist  freilich 
zweifelhaft  und  der  Ansatz  in  II  ziemlich  willkürlich,  lieber 
die  mögliche  Veranlassung  der  Contraction,  welche  wir  auch 
im  N.  PI.  finden  werden,  s.  S.  400. 

Auf  der  älteren  Stufe  sind  geblieben  nidr^  herr  —  noch 
in  in  A.  PL  nidja,  herja,  und  facultativ  auch  Grikkja,  vaengja; 
8.  Wimmer  Gramm.  §.  41,  b,  3.  —  Im  altdän.  und  alt- 
schwed.  sind  das  die  gesetzmässigen  Formen  dieser  Declination; 
8.  Wimmer  Navneordenes  böjning  S.  49  flF.  58  f.  —  Nidja 
verhält  sich  also  zu  hella  (A.  PI.),  wie  kynja  zu  klaedu  (G,  PL). 

Excurs  Über  die  masculinen  ja-Stämme. 

Die  hier  und  oben  beim  N.  Sg.  A.  PL  vertretene  Auffassung 
der   Declination    des   Paradigma    hekkr  ist  nicht    die    einzige. 
Scherer  GDS.  S.  420  flF.  sieht  nach  Grimm  in  diesen  Wörtern 
t-Stämme;   auch  Leskien  Die  Declination   im  Slaw.,    Lit.  und 
Germ.  S.  78  f.   Scherer   hält  Paradigma   bekkr   und   hurdr  für 
Eine  Declination,    weil   sie   in  den  Endungen   übereinstimmeD, 
und  gewisse  Endungen  keiner  andern  Declination  nachgebildet 
sein  können,    so  D.  Sg.,  hekk  wie  huvd,  A.  PL  hekki  wie  hurdi, 
und  erklärt  den  in  allen  Casus  erscheinenden  Wechsel  zwischen 
Umlaut  und  Laut  aus  dem  a  des  Gunadiphthongs,  das  einerseits 
bis  i  getrieben  worden  sei,  in  hekkr,   andrerseits  auf  a  oder  e 
beharrt  habe^  in  hurdr.    —    Aber   einmal   sind  die  Thatsachen 
nicht  ganz  richtig.     Die  Endungen  G.  Sg.  hekk»,  D.  Sg.  hekki, 
welche  neben  hekkjar,  hekk  erscheinen,  sind  nicht  berücksich- 
tigt;   s.    die   flexionslosen    D.  Sg.    in   der    a-Classe,    Wimmer 
Gramm.  §.   31,   —   und   reiner   Laut  auf  der  einen,    Umlaut 
auf  der  anderen  Seite  in  der  ganzen  Declination  wäi'C  schwer 
begreiflich.  Wir  müssten  uns  voi-stellen,  dass  die  Masse  der  in 
der  Wimmer'schen  Grammatik  als  f-   und  y«-Stämme   bezeich- 
neten Nomina  sich  dadurch  von  einander  unterschieden  hätten, 
dass   die  auf  Gutturalis  ausgehenden  langen,   sowie   ein  Theil 
der    kurzen  Wurzeln    den    Gunadiphthong    ai    im    G.  D.  Sg. 


Ueb«r  die  Endiilben  der  aUnordisehen  Sprache.  399 

N.  G.  PI.  ZU  ü,  ij  getrieben  hätten,  ein  andrer  Theil  der 
ebenso  gestalteten  Wurzeln  hugr,  bragr,  gripr,  grunr,  klutr, 
konr,  skridr,  skutr,  rnnr,  thulr ,  fridr,  kvidr,  matr,  salr,  zw- 
sammt  den  langwurzeligen,  welche  nicht  auf  Gutturalis  endigen, 
fmrdvj  burr,  feldr,  fundr^  Jcostr,  kvittr ,  sandr^  akurdr,  aultr, 
verdr  diese  Färbung  unterlassen  hätten,  —  dass  ferner  bei  den 
ersteren  N.  A.  Sg.  D.  A.  PI.  in  der  Annahme  des  Umlauts  nur 
der  Analogie  der  übrigen  Casus  gefolgt  wären.  —  Schon  letzteres 
ist  unwahrscheinlich ,  wenn  man  sich  des  Vocal wechseis  der 
tt-Classe  erinnert,  vöUr,  vallar,  velli,  voll,  vdlir,  valla,  völlum 
vöUu.  Aber  vor  allem  ist  Färbung  eines  vorgermanischen  a 
sonst  nicht  von  dem  Auslaut  der  vorhergehenden  Silbe  abhängige 
und  warum  Auslaut  g,  k  nur  bei  langer  Wurzelsilbe  die  Färbung 
erzeugt  habe  und  warum  die  Kürzen  ganz  reelles  bald  nach 
bekkr  bald  nach  stadr  decliniert  werden,  bleibt  unbegreiflich. 
Als  ja-Stämme  gefasst  haben  die  Nomina  nach  bekkr 
nichts  auffalliges  bis  auf  N.  A.  PL  bekkir  bekki  neben  hellar, 
hella.  Wenn  wir  daneben  die  Fem.  N.  A.  PI.  engjar,  ermar  sehen, 
so  ist  doch  das  wahrscheinlichste,  dass  ja  in  bakjann  (A.  PL), 
jo  in  bakjor  (N.  PL),  den  Formen  von  I,  sich  nach  Eintritt  der 
Auslautgesetze  ebenso  zu  t  zusammengezogen  habe,  wie  wir 
dies  sonst  in  der  vorgermanischen  Periode  anzunehmen  ge- 
nöthigt  sind.  Die  Analogie  der  Feminina  und  Neutra  macht  es 
fast  unmöglich  bekkr  neben  helUr  anders  zu  erklären  als  eng  und 
kyn  neben  ermi  und  klaedi,  —  Ö.Sg.  bekksj  D.Sg.  bekkt  sind 
die  richtigen  Formen,  bekkjar  und  bekk  Analogiebildungen. 

Aber  vereinzelt  mag  auch  im  nordischen  Färbung  des 
Gnnadiphthongs  oder  reiner  Themavocal  ohne  Guna  bei  der 
i-Declination  vorgekommen  sein.  Die  Anomalie  gestr,  gloepr 
erklärt  sich  daraus.  Wenn  in  I  der  G.  PL  gasHjo,  gastio  war, 
so  lag  bakjoj  halljo,  der  G.  PL  der  ^a-Stämme,  nahe.  Allerdings 
nur  ein  Casus.  Aber  bei  einer  so  vereinzelten  Bildung,  wie 
dieses  gastr  durch  die  Färbung  seines  Gunadiphthongs  oder 
ungxinierten  Stammvocal  gewesen  sein  muss,  ist  es  begreiflich, 
dass  auch  ein  geringer  Anlass  genügte,  es  in  die  Bahnen  einer 
gewöhnlicheren  Declination  zu  drängen.  Auffällig  aber,  dass 
Paradigma  bekkr,  nicht  hellir,  gewählt  wurde,  das  doch  durch 
die  Wurzelgestalt  näher  lag.  Vielleicht  darf  dies  die  Wag- 
schale   zu    Gunsten    der  Form    gastio,    nicht   gastijo    (G.  PL), 


400  Heinsal. 

senken^    da   bei  halljd  sicher  eher  ein  i  vorgeschlagen  werden 
konnte,  als  bei  hakj6\  s.  oben  S.  393  ff. 

Daher  der  anorganische  schon  in  I  bezeugte  N.  Sg.  -gastiR 
gleich  gastjir^  und  der  durchgeführte  Umlaut  in  II.  III. 

Es  ist  möglich  und  wahrscheinlich,  dass  die  oben  S.  397 
und  unten  S.  408  erwähnte,  in  I  und  II  vollzogene  Contraction 
der  -jor,  -jann  (N.  A.  PL)  von  Paradigma  bekkr  durch  die 
gesetzmässigen  gasttr,  gastinn  (N.  A.  PI.)  befördert,  wenn  nicht 
hervorgerufen  wurde,  so  dass  nicht  nur  Paradigma  bekkr  auf 
gestr,  sondern  auch  dieses  auf  jenes  eingewirkt  hätte.  Denn 
die  erwähnte  Contraction  ist  nach  dem  Auslautgesetz  ein  sehr 
vereinzelter  Fall. 

Vielleicht  verdankt  auch  die  Nebenform  des  D.  Sg.  hekk 
neben  bekki  den  Wörtern,  welche  ursprünglich  der  i-Declination 
angehörten,  ihre  Entstehung.  GestVf  gloepr  haben  D.  Sg.  nur 
gest,  gloep.  Das  weist  auf  vorgermanisch  gast-i-i,  I.  II  gasti. 

Diese  ungunierte  Dativform  wird  auch  in  jenen  Fem.  der 
t-Classe  Statt  gehabt  haben,  deren  ganze  Declination  zwischen 
Laut  und  Umlaut  schwankt,  dtt  aett,  kvän  kvaen,  bon  boen, 
satt  saett,  Wimmer  Gramm.  §.  48,  3.  Neben  den  regelmässigen 
Formen  herrschte  hier  einst  G.  Sg.  N.  A.  PI.  ahtir  I,  aus  cJitijaSf 
D.  Sg.  ahti  I,  aus  aktiu  Bei  so  vereinzelten  Fällen  wäre  es 
begreiflich,  dass  der  Umlaut  sich  nicht  auf  den  Formen,  wo  er 
zu  Recht  bestand,  fest  setzte,  sondern  facultativ  das  ganze  Wort 
ei^riff.  —  Im  ags.  bekanntlich  Umlaut  in  allen  Casus  der  fem. 
.-Declination. 


JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Lang  JA. 

Uebermässige  Länge  des  ä  in  ja  wird  vor  allem  in  jenen 
Fällen  anzunehmen  sein,  wo  wir  übermässiges  d  gefunden  hatten, 
da  ja  der  Unterschied  zwischen  ä  und  ä  in  die  arische  Urzeit 
hinaufreichen  muss,  —  also  in  1.  Sg.  Prs.  Ind.  2.  Sg.  Imp.  der 
dritten  schwachen  Conjugation  (got.  j6-Stämme),  im  A.  Sg.  der 
jä-Siämmey  im  G.  PI.,  im  N.  Sg.  der  jän-  und  der  neutralen 
yan-Stämme,  im  N.  (A.)  PI.  der  ja-  und  y^f-Stämme;  dazu 
käme  auch  die  1.  Sg.  Opt.  Pf.,  vielleicht  von  jd-am,  —  oder  es 


Ueber  die  EodsilbAn  der  altnordischen  Sprache.  401 

genügte  die  Analogie  der  G.  PI.  —  Entsprechend  den  Formen 
mit  einfach  langem  d  liegt  einfaches  ja  zu  Grunde  der  1.  Sg. 
Prs.  Ind.  der  ja-Conjugation,  dem  N.  A.  PI.  Neut.  derya-Stämme, 
dem  N.  Sg.  der  ^a-Stämme,  dem  N.  Sg.  der  masc.  jian-Stämme. 
Letztere  Gruppe  zeigt  in  III  entweder  t  oder  gar  keinen 
vocalischen  Rest,  erstere  a  oder  ja^  in  beiden  Fällen  aber  ist 
der  Vocal  der  vorhergehenden  Silbe  umgelautet. 

Darnach  hat  für  ja  in  unserer  Periode  j6'  gegolten,  wie 
für  ä  6f  —  für  jd  im  Auslaut  ju,  sonst  ja. 

Betrachten  wir  die  Gruppe  einfach  langer  ja,  zunächst 
auslautendes  -jd.  Wenn  wir  wie  bei  altem  jam  jä^  ijä  so  hier  jm 
iju  unterscheiden,  ergeben  sich  die  Formen  der  Periode  III  von 
selbst  Ich  hebe  nur  hervor,  dass  ich  für  N.  Sg.  der  ^a-Stämme 
nach  Paradigma  ermr  die  Nebenform  auf  -i  als  die  ächte  und 
alte  angenommen  habe.  Auch  Wimmer  Navneordenes  böjning 
S.  60  scheint  r  für  jünger  zu  halten.  Vgl.  auch  Blomberg 
Bidrag  tili  den  germaniska  omijudsläran  S.  73.  Schlüter  Die 
mit  dem  Suffix  ja  gebildeten  deutschen  Nomina  S.  214  weist 
mit  Recht,  darauf  hin,  dass  nirgends  sonst  in  einer  arischen 
Sprache  «  hinter  einem  d  des  N.  Sg,  erscheint.  —  Wenn 
es  auch  ein  Kennzeichen  der  jüngeren  isländischen  Sprache 
ist,  die  -i-Form  statt  der  auf  -r  einzusetzen,  so  ist  erstere 
doch  bei  gewissen  Wörtern  alt;  s.  Wimmer  Gramip.  §.  42,  1. 
Dass  dafür  r  in  regelmässigen  Gebrauch  kam,  hängt  vielleicht 
mit  dem  Umstände  zusammen,  dass  so  viele  weibliche  Eigen- 
namen nach  dieser  Declination  gehen.  Wenn  nun  neben  denen 
auf  "dia  für  -diar  das  Appellativum  dU  als  i-Stamm  auftritt,  Plural 
d^ir^  so  mag  es  sich  mit  den  übrigen  weiblichen  Eigennamen 
auf  r  auch  so  verhalten  haben.  D.  h.  als  N,  G.  D.  A.  Sg.  der 
fem.  i-Stämme  ihre  eigenthümliche  Declination  verloren  und 
sich  nach  dem  Muster  der  a-Classe  richteten,  widerstrebten 
die  Eigennamen  begreiflicher  Weise,  —  sie  fugten  sich  nur  zum 
Theil,  nahmen  D.  A.  Sg.  der^a-Stämme  an,  behielten  aber  ihren 
N.  und  vielleicht  auch  G.  Sg.  auf  -r,  -ar :  Iitunr,  dann  Idunn 
(N.  Sg.),  Idnnar  (G.  Sg.),  Thi^Mr,  Thrüdar.  Nach  den  Eigen- 
namen mögen  sich  dann  jene  Feminina  der  jf'a-Classe  gerichtet 
haben,  welche  ihnen  den  D.  A.  Sg.  auf  i  geliehen  hatten^  das 
sind  die  langsilbigen  ohne  g,  k  am  Ende  der  WuVzel,  heidvj 
ermr.  Vgl.  oben  S.  400.   Den  Eigennamen  folgten  dann  einige 

Sitxnngsber.  d.  phil.-hist.  Ol.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hft.  26 


402  Heinsei. 

Appellativa  der  t-Classe;  briidr,  unnr  (udr),  gunnr  Cgudr)  — 
hrHäA'  Bezeichnung  einer  Frau,  nnnvj  gunnr  in  Frauennamen 
verwendet,  —  Wörter,  die  sich  von  den  eigentlichen  ji(S-StämmeD 
durch  Mangel  des  Umlautes  unterscheiden.  Vgl.  Gislason  Tid- 
skrift  f.  phil.  6,  241.  —  Aber  auch  die  appellativen  Feminina 
der  n-Classe  kommen  in  Betracht.  Als  deren  eigenthümliche 
Declination  zum  grössten  Theile  aufgegeben  wurde ,  konnte 
sich  doch  die  Erinnerung  an  das  r  des  N.  Sg.  bewahren: 
s.  floedr,  got.  flodua. 

Bei  den  gutturalisch  endigenden  Wurzeln  ist  ein  gewisses 
Schwanken  bomerklich:  ßski  (fiskr  kommt  nicht  vor),  gffgr, 
r^gr  *  gehen  nach  ermr,  ermi. 

Der  N.  Sg.  Fem.  der  Adj.  ist  gleichförmig  gebildet,  wie 
der  N.  Sg.  Masc.  und  wie  die  2.  Sg.  Imp.  der  ;a-8tämme :  in  III 
vaen  wie  fraeg.  Es  ist  entweder  hier  die  Wurzelgestalt  unbe- 
achtet geblieben ,  oder  ein  älteres  vaem  dem  fraeg  gleich 
gemacht  worden. 

Ueber  die  Modificierung  des  Princips  in  der  l.Sg.  Prs. 
Ind.  der  schwachen  Verba  erster  Classe  und  im  N.A.  PI.  der 
neut.  jfa-Stämme  s.  oben  S.  391 . 

In  jäny  N.  Sg.  der  masc.  ^an-Stämme,  ist  der  Unterschied 
beider  Wortgruppen  vielleicht  nur  verwischt.  Setzen  wir  in  I 
stadja,  andija  an,  so  ergibt  dies  in  III  —  über  stedje  endije 
in  II,  s.  hana  I,  hane  11,  hani  III,  —  stedji  stedi,  endiß  endi 
s.  unten.  Langes  i  aber  kennt  das  altnordische  in  Endung  nicht. 

In  der  Grammatik  müsste  hervorgehoben  werden,  dass 
endi  und  die  Worte  nach  stedi  einer  Declination,  der  der  jan- 
Stämme  angehören,  ebenso  wie  vaenn,  froekn  nicht  weniger 
ya-Stämme  sind  als  midr^  nifTj  fraegr. 

Allerdings  macht  es  die  Nebenform  endir,  got.  andeis, 
wahrscheinlich,  dass  endi  nicht  von  Anfang  an  ein  ya/j-Stamm 
war.  Aber  ja/i-Stämme,  die  wie  endi  flectiert  wurden,  muss  es 
doch  gegeben  haben,  sonst  wäre  die  Beschränkung  der  nach 
stedi  gehenden  auf  Kürze  oder  Gutturalausgang  der  vorher- 
gehenden Silbe  unbegreiflich. 

Wenden  wir  uns  zu  ja. 

*  Die  bei  Wimmer  Gramm.  §.  42,  1  also  nach  ermr  Cheidr)  gehend  ange- 
führten gorvif  lygi,  mykr    haben  nach  Cleasbv  in  0.  Sg.  nie  jar  oder  «r. 


üeber  di«  Endsilben  der  sHnordischen  Sprache .  403 

Den  Ausgang  -ja  setzt  voraus  die  1 .  Sg.  Prs.  Ind.  (2.  Sg. 
Imp.)  der  schwachen  Verba,  welche  vor  dem  Themavocale  a,  6 
noch  ein  j  haben,  ^^99J^*  ^^  ^^^  eigenthümlich,  dass  der  Charakter 
ja  III  nur  in  solchen  Verben  vorzukommen  scheint,  deren  Wurzel 
kurz  ist  oder  auf  Guttural is  auslautet.  Im  gotischen  findet  sich 
diese  Beschränkung  nicht.  Es  sind  vielleicht  im  nordischen 
noch  y^-Stämme  unter  den  Verben  nach  kalla  versteckt. 

J  bleibt  demnach  bis  III,  eggja. 

Der  A.  Sg.  der  ja-Stämme  ist  wie  bei  den  a-Stämmen 
nur  im  Adj.  erhalten,  welches  nach  Princip  in  III  a  oder  ja 
zeigt  In  Paradigma  eng^  ermi  (ermr)  ist  die  oben  S.  401 
besprochene  Nominativform  auch  in  den  Accusativ  getreten, 
wie  vök  für  vaka  erscheint. 

Ganz  rein  erscheint  das  Princip  im  G.  PL  auf  jäm,  jadm^ 
jdäm,  —  während  jäm  der  l.Sg.  Opt.  Pf.  durchaus  sein  j  in 
III  verliert:  toeka,  gi^'pa,  skyta  wie  foera^  statt  toekja  usw.  Es 
galt  hier  nicht  einmal,  wie  oben  S.  391,'  das  Princip  der  Länge. 
Oder  es  wurde  nach  Massgabe  der  überwiegenden  Fälle  der 
Länge  vor  den  Endungen  des  Opt.  Pf.  eine  Uniformierung  aller 
1.  Sg.  Opt.  Pf.  vorgenommen.  Jedenfalls  aber  liegt  dem  got.  -jaw, 
wie  dem  nord.  -a  mit  Umlaut  der  Wurzel  ja-  m  zu  Grunde, 
nicht  t-  m,  wie  den  -i  der  westgermanischen  Sprachen.  Vgl. 
Ebel  KZs.  5,  55,  Scherer  GDS.  S.  472. 

Das  alte  jän,  N.  Sg.  eines  ^*<f  n-Stammes,  erscheint  in  III 
als  ja,  hylgja,  oder  er,  hellOf  nach  Princip;  s.  Wimmer  Gramm. 
§§.  69.  71,  —  parallel  dem  tunga  III,  tungo  I.  Wir  werden 
dadurch  für  I  auf  -/ö  gefUhrt:  hulgjo,  halljo. 

Exciirs  Über  die  ja-  und  jcJ^i-Stäiniiie. 

Die  angesetzte  Form  bidgjo  ist  ganz  gleich  dem  got. 
rathjOy  snorjd,  —  und  wie  gotisch  Paradigma  Tnnnagei,  zum 
grössten  Theil  von  Adj.  abgeleitete  Abstracta,  —  so  hat 
Periode  III  des  altn.  neben  hylgja,  hella  eine  Reihe  Feminina, 
fast  durchweg  derselben  Herkunft  auf  i,  Paradigma  froedi. 
I  g'eht  durch  alle  Casus  des  Sg.,  Plural  kommt  nicht  vor.  — 
Wenigstens  die  obliquen  Casus  von  got.  managei  können  nur 
von  einem  in-,  das  ist  einem  jfVm-Stamme,  kommen,  und  con- 
sonantisch  jedenfalls   ist  auch  die  Declination  von  froedi.    Es 

26* 


404  Heinxei. 

scheint  demnach  dass  froedi  sich  zu  hylgja  ähnlich  verhält  wie 
Tiella,  also  wie  hellir  zu  bekkr,  klaedi  zu  kyn^  emu  zu  eng,  erma 
zu  engja,  und  in  der  That  haben  die  Nomina  nach  hylgja  kurze 
oder  auf  Gutturalis  ausgehende  Wurzelsilben,  die  nach  Mla 
wahrscheinlich  immer,  die  nach  froedi  zum  grössten  Theile 
Länge  ohne  Gutturalis. 

Es  sind  also  im  nord.  die  N.  Sg.  der  Jan-Stämme  mit 
langer,  nicht  auf  g,  k  endigender  Wurzel  zum  Theil  den 
Stämmen  mit  kurzer  oder  gutturalisch  auslautender  Wurzel 
gegenüber  gestellt  worden,  wie  A.  Sg.  Fem.  vaena  dem  A.  Sg, 
Fem.  fraegja,  müssen  also  in  I  j6  gehabt  haben,  —  zum  Theil 
aber  ist  dieses  j6  irgend  einmal  zu  i  contrahiert  worden. 

Eine  Dreitheilung  wie  in  froedi,  heUn,  hylgja  findet  sich 
auch  im  N.  A.  PL  der  masc.  ja-Stämme,  hekkir  hekkt\  hellar  hella, 
aber  auch  mdjar  nidja,  kerjar  herja  usw. ;  s.  oben  S.  397.  400 
und  unten  bei  jds. 

Aber  das  Princip,  nach  welchem  vaena  (A.  Sg.  Fem.)  sich 
von  fraegja  scheidet,  ist  im  Verhältniss  dieser  ja  zu  i  gerade 
umgedreht.  Die  Wurzelgestalt  im  Paradigma  bekkr  zeigt  Kürze 
oder  Länge  mit  Gutturalis,  im  Paradigma /roe(f{  meist  Länge 
ohne  Gutturalis. 

Auffiillig  ist  auch,  dass  diese  Form  der  Wurzel  keines- 
wegs ausschliesslich  das  Paradigma  froedi  hervorruft.  Durch- 
gehendes i  im  Sing,  haben  nicht  nur  Wörter,  welche  nach 
hello  gehen  sollten,  sondern  auch  solche,  welche  wir  unter 
Paradigma  hylgja  vermuthen  möchten,  gledi,  gremi,  Uli,  myki, 
lygi,  ^  ergi,  rekki,  —  dann  die  von  den  Adj.  auf  -agr,  -igr,  -vgr 
gebildeten  helgij  graedgi,  usw. 

Nach  der  Analogie  hekkr,  eng  sollten  in  Paradigma /ro^A* 
entweder  nur  Nomina  nach  hylgja  oder  nur  nach  hella  erscheinen. 

Im  gotischen  eine  ähnliche  Unregelmässigkeit.  Allerdings 
zeigt  Paradigma  managet  (nord.  froedi)  durchweg  Länge  der 
Wurzel  oder  nach  dieser  nach  ein  Suffix,  s.  Leo  Meyer  Got. 
Sprache  §.  465,  aber  in  Paradigma  rathjo  (nord.  hylgja)  ziem- 
lich gleich  viel  Längen  und  Kürzen,  s.  Leo  Meyer  a.  a.  0. 
§.   459.     Es    hat   sich    also    auch    hier    die    Contraction   nicht 


1  S.  Anm.  auf  S.  402. 


üeber  die  Endsilben  der  altnordischen  dprach«.  405 

ausschliesslich  einer  Wortclasse  bemächtigt^  was  bei  Paradigma 
handij  hairdeis  doch  geschehen  ist. 

Die  inconsequente  Dui*chführung  eines  deutlich  zu  Grunde 
liegenden  Principes  führt  zu  der  Vermuthung,  dass  hier  eine 
alte  Formübertragung  vorliege. 

£ine  solche  bot  sich  in  der  That  leicht  dar.  Bekannt 
sind  die  weiblichen  von  schwachen  Vocalstämmen  abgeleiteten 
Abstracta  mit  den  Stämmen  auf  tni^  dni,  jäniy  atniy  s.  Scherer 
GDS.  S.  179,  —  got.  daupeinSf  gamitons,  sunjonsj  tkulains, 
eigentlich  Nomina  actionis ;  Leskien  Die  Declination  S.  96.  Die 
Stämme  auf  mi  setzen  natürlich  jani  voraus.  Die  Declination 
eines  solchen  Nomens  vor  der  Contraction  und  vor  dem  voca- 
lischen  Auslautgesetze  hatte  mit  der  eines  fem.  ^an-Stammes 
grosse  Aehnlichkeit. 

1)  N.  Sg.  daujjjams  2)  N.  Sg.  frodjd 

G.  Sg.  daufjanaiaa  G.  Sg.  frodjdnas 

D.  Sg.  daupjanaii  D.  Sg.  frodjdni 

A.  Sg.  daupjani  A.  Sg.  frddjdna. 

Vielleicht  gab  es  neben  daupjanaii  (D.  Sg.)  auch  eine  Form 
ohne  Guna  daupjanuj  wie  D.  Sg.  kosti  aus  kostii  im  altslaw., 
vielleicht  andere  mit  Färbung  des  Gunadiphthongs  im  G.  D. 
daupjanijas,  daupjaniji,  s.  oben  S.  400. 

Der  Perfectstamm  nun  der  schwachen  Verba  erster  Con- 
jugation  muss  ebenso  wie  die  Adjectivsuffixe  jan,  jag,  das 
Optativsuffix  jd,  sehr  früh  eine  Contraction  des  ja  zu  i  vor- 
genommen haben,  und  gewiss  auch  das  Nominalsuffix  jani  von 
daupeins,  da  nirgends  mehr  eine  Spur  des  ja  erhalten  scheint, 
mag  die  vorhergehende  Wurzel  kurz  oder  lang  sein;  s.  Leo 
Meyer  Die  got.  Sprache  §.  399.  Wenn  nun  daupjanis  zu 
dauptnis  wurde,  so  ist  es  begreiflich,  dass  unter  den  so  ähn- 
liehen jan-Stämmen  besonders  jene  die  Contraction  nachahmten, 
welche  durch  ihre  Wurzelgestalt  eine  gewisse  Neigung  zu  ijd 
statt  jdy  also  zu  vocalischem  und  zwar  i-farbigem  Einsatz  der 
Suffixsilbe  hatten,  aber  auch  andere,  welche  durch  ihre  Bedeu- 
tung als  Abstracta  Verwandtschaft  mit  den  ^ant-Stämmen  zeigten. 
1)  N.  Sg.  dauptnis  2)  frodi 

G.  Sg.  daupmaias  frodinas 

D.  Sg.  dauptnaii  frodini 

A.  Sg.  daupini  frödina 


406  H«iiiiel. 

Nach  Eintritt  der  Auslautgesetze  erscheint  für  1.  got 
daupemsj  daupeinais,  daupeinai,  daupein,  nord.  kurzes  i  vor  n 
in  I  voraussetzend  keym  (got.  hauseins),  s.  Grimm  Gramm.  2, 
159,  *  —  fiir  2.  got.  managei,  manageins,  managein,  managein, 
nord.  froedi  durchaus,  was  für  Periode  I  frodi  ei^bt.  Die 
Formen  sind  regelmässig  bis  auf  N.  Sg.,  welcher  im  nord.  I 
wie  im  got.  die  Länge  der  Suffixsilbe  wohl  dem  Uebergewicht 
der  obliquen  Casus  verdankt. 

Nur  unter  Voraussetzung  von  jdn^S^mmen  neben  jani- 
Stämmen  in  uralter  Zeit,  erklärt  sich  die  im  gotischen  wie  im 
nordischen  erscheinende  Vernachlässigung  der  Wurzelgestalt 
bei  der  Scheidung  der  Jan-Stämme  in  contrahierte  und  nicht- 
contrahierte.  Ein  Princip  der  Bedeutung  hat  über  das  formelle 
gesiegt.  Unter  den  J^Sn-Stämmen  bezeichnete  nun  m  die  Adjectiv- 
abstracta,  jdn  diente  für  die  übrigen  Wörter.  Das  gotische 
suchte  zu  vermitteln.  Es  bewahrt  nur  solche  Adjectivabstracta, 
welche  zugleich  lange  Wurzel  haben  oder  mehrsilbig  sind. 

Schon  Scherer  GDS.  S.  431  hat  auf  die  Stämme  mit  int, 
die  got.  Nomina  auf  -eins  hingewiesen,  aber  nur  zur  Erklärung 
der  ahd.  Form  menegin  neben  menegL  Das  n  in  der  Declination 
des  got.  managet  aber  hält  er  nur  für  eine  Folgerung  aus  dem 
G.  PI.  Aehnlich  Zimmer  Zs.  19,  425.  —  Leskien  Die  Declination 
S.  94  ff.  verwendet  die  Fem.  auf  got.  eiyjs  von  Suffix  tjd  aller- 
dings zur  Erklärung  des  got.  G.  Sg.  manageins ,  D.  A.  Sg. 
managein,  aber  in  wenig  überzeugender  Weise.  An  Stelle  des 
Wortes  managei  manageins  usw.  habe  ursprünglich  ein  Ja-Stamm 
gestanden,  weil  ja  in  allen  indogermanischen  Sprachen  derartige 
von  Adj.  abgeleitete  Abstracte  bilde,  S.  95;  —  ebenso  Scherer 
S.  430,  Zimmer  a.  a.  O.  —  diese  hätten,  da  die  vorhergehende 
Wurzel  fast  immer  lang  ist,  den  N.  Sg.  vor  dem  Auslautgesetz 
auf  i  gebildet,  wie  man  diess  für  die  jd-Stämme  nach  got. 
bandi  annehmen  müsse.  Von  ihnen  nun  seien  die  andern  von 
Verben  gebildeten  Abstracta  ähnlicher  Bedeutung  auf  -tnis 
schon  vor  dem  Auslautgesetz  nicht  sicher  zu  scheiden  gewesen, 
man  hätte  z.  B.  den  A.  Sg.  faurhtinin  von  faurhtmis  auch  als 


*  Eljan,  herjan  stammen   von  Verben   der  dritten  Classe   wie  skipan,  vgl. 
got.  9unj6ns, 


Ueb«r  die  Endsilben  der  »Iteordiachen  Sprache.  407 

A.  Sg.  des  Ja-Stammes  faurhtt  (nach  got.  bandi),  der  faurkt- 
jdn  (got.  handja)  lauten  musste,  missverstehen  können^  S.  97. 
£benso  muss  Leskien  sich  wohl  auch  die  Entstehung  von  ahd. 
menegin  aus  metiegi  durch  Vermittlung  des  Paradigma  toufin 
vorstellen;  obwohl  er  nur  das  gotische  berücksichtigt,  S.  99. 

Das  angenommene  Miss verständniss/at^rAtömn  (A.  Sg.)  von 
faurhHnis,  für  faürhtjän  (A.  Sg.)  von  faürhti  scheint  schwer 
glaublich.  Die  Laute  liegen  weit  ab.  Das  charakteristische  n 
der  Ableitung  fehlt  in  dem  einen  Fall. 

Vor  allem  aber :  in  verschiedenen  germanischen  Sprachen 
liegen  abstracte  Feminina  vor,  deren  Declination  auf  einen  in-, 
jan-Stamm  zurückweist.  Jan  ist  auch  sonst  als  ein  Suffix 
bekannt,  das  aus  nominalen  Stämmen  feminine  Abstracta  zu 
bilden  geeignet  ist,  lat.  communis  eommunio,  got.  gamainei, 
vgl.  miru8  mirio,  s.  Osthoff  Forschungen  2,  91  ff.  88,  L.  Meyer 
Orient  und  Occident  2,  BIL  Dass  im  ahd.  daneben  vor  den- 
selben Stämmen  auch  Bildungen  auf  ja  vorkommen,  ahd. 
menegi  neben  menegin,  kann  doch  die  Berechtigung  nicht  rauben, 
in  got.  managet,  altn.  froedt)  ahd.  menegin,  in  der  That  das  zu 
sehen,  was  diese  Worte  zu  sein  scheinen,  nämlich  Jein-Stämme ; 

B.  lat.  luditM  ludio,  amasius  amasio,  laniua  lanio,  Osthoff  For- 
schungen 2,  62  f.  Vgl.  im  got.  selbst  die  neutralen  Abstracte 
auf  Suffix  ja  und  daneben  Fem.  auf  jd^i:  aglaiti  aglaitei, 
bamtski  bamiskei,  s.  Leskien  a.  a.  O.  S.  98,  im  alts.  antsceini 
anUceint,  ahd.  äbtdgi  äbulgi,  s.  Schlüter  Die  mit  Suffix  ja  ge- 
bildeten deutschen  Nomina  S.  141,  vgl.  ganudi  (Neut.),  gariudjo 
Schlüter  S.  133.  —  Allerdings  sind  im  lateinischen  fem.  Abstracta 
von  Adj.  wie  communio  viel  seltener  als  im  deutschen.  Die 
häufige  Verwendung  des  Suffixes  jdn  in  diesem  Falle  muss 
als  eine  germanische  Eigenthümlichkeit  angesehen  werden. 

Das  ahd.  hat,  wie  die  ostgermanischen  Sprachen,  jdn- 
Stämme  von  Adjectiven.  Es  unterscheidet  sich  von  ihnen  da- 
durch, dass  es  daneben  von  denselben  Adjectivstämmen  mittelst 
des  im  westgermanischen  beliebteren  Suffixes  ^ä  auch  ja-Stämme 
bildet,  und  zwar  in  einer  Form,  welche  durch  Contraction  sich 
von  den  selteneren  nicht  von  Adj.  abgeleiteten  Ja-Stämmen 
unterscheidet,  aippea,  wunnea,  suntea  usw.  —  Die  Contraction 
wurde  vielleicht  spät  voi^enommen,  da  dem  menegi  ein  sippe 
gegenübersteht.    Aber   der   N.  Sg.   menegi   konnte  wie   bei  den 


406  H«iiiiel. 

ja«-Stämmen,  ahd.  menegin  (N.  Sg.),  got.  managet,  altn.  froedi 
(frddt  I)y  aus  den  obliquen  Casus  gefolgert  sein,  wo  sich  langes 
}  auch  bei  Contraction  vor  dem  Auslautgesetz  begriffe. 

Gewiss  aber  ist  alt  die  Contraction  in  den  Jan-Stämmen, 
entsprechend  dem  gotischen  und  nordischen,  und  aus  demselben 
Grunde,  durch  Einwirkung  der  Verbalabstracta  auf  -tni-.  Der 
AnschlusB  an  diese  war  im  ahd.  sogar  noch  genauer  und  hatte 
den  unorganischen  N.  Sg.  auf  in  zur  Folge. 

Sehr  wahrscheinlich  finde  ich,  dass  die  Scheidung  der 
ja-Stämme,  nach  welcher  die  auf  Adj.  zurückgehenden  ja  con- 
trahierten,  die  übrigen  nicht,  undea,  sundea  —  ganz  selten 
Fälle  wie  nppe,  gerte,  unde,  —  erst  durch  die  ältere  der  jän- 
Stämme  veranlasst  ward.  Man  sagte  menegi  statt  menegea.  weil 
man  daneben  menegin  brauchte. 

Im  ahd.  wirken  die  jän-,  tn-Stämme  auf  die  jani-,  int- 
Stämme  zurück.  Sie  sind  es  offenbar,  welche  den  Verlust  der 
Endungen  des  G.  D.  Sg.  zuerst  in  dieser  Gruppe,  dann  in  der 
ganzen  i-DecIination  veranlassen  ;  s.  Scherer  GDS.  S.  431. 439. 


Das  Neutrum  eyra  setzt  einen  Jan-Stamm  voraus  —  vgl. 
got.  sigljd,  —  ist  aber  wohl  das  einzige  Beispiel.  Seiner  Wurzel- 
gestalt und  späteren  Entwicklung  wegen  ist  es  mit  dem  Fem. 
hella  aufgeführt. 

Die  N.  PI.  der  masc.  ja-Stämme  habe  ich  in  dieser  Periode 
gleich  angesetzt,  sowohl  im  Paradigma  bekkr  als  hellir,  auf  -jör, 
entsprechend  dem  -or  der  masc.  a-Stämme,  obwohl  III  bekkir 
und  hellar  zeigt,  ebenso  wie  A.  PI.  bekki,  hella,  s.  oben  S.  397. 
Wie  dort  müssen  wir  sagen:  hätte  in  I  sofort  nach  dem  Aus- 
lautgesetz bakir  gegolten,  neben  halljor,  das  wegen  hellar  in 
III  durchaus  nothwendig  ist,  so  wäre  vor  dem  Auslautgesetz 
der  Vorschlag  des  i  vor  ja  nach  Gutturalis  oder  kurzer  Silbe 
deutlicher  gewesen,  als  ohne  diese  Bedingungen,  was  unsrer 
Erfahrung  widerstreitet.  Setzen  wir  einfache  Contraction  des 
ja  zu  i  vor  Auslautgesetz  an,  so  ergäbe  diess  in  I  bekkir,  in 
III  bekkr. 

Wann  aus  altem  bakjdr  bakir  geworden^  ob  in  I  oder  II, 
ist  ungewiss,  der  Ansatz  in  II  blosse  Vermuthung.  S.  oben 
über  A.  PL  bekki  S.  397,  und  über  die  Ursache ,  welche  viel- 
leicht die  Contraction  hervorgerufen  hat  S.  399. 


üaber  dl«  BiidiUb«B  d«r  altnordiMheii  Sprache.  409 

Auch  hier  bleiben  niäjar,  herjar  *  und  öfters  auch  Grikkjar, 
vaengjar  als  Reste  der  alten  Bildung^  genau  nach  dem  Princip 
heUar  entsprechend^  zurück.  S.  Wimmer  Oramm.  §.  41,  b,  3 
und  Navneordenes  böjning  S.  58 ;  altschwedische  und  altdänische 
Beispiele  auch  bei  Lyngby  Tidskrift  f.  phil.  6^  35. 

N.  A.  PL  der  ^d-Stämme  entwickelt  sich  nach  Princip. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  JA. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Der  Wechsel  zwischen  i  und  Ausfall  des  Vocals  in  III 
ist  ganz  gleich  dem  Verhältniss  in  ursprünglich  letzter  Silbe, 
B.  oben  S.  394,  also  wohl  auf  dieselbe  Weise  zu  erklären, 
durch  ja  und  ya,  woraus  in  I  ji  (i)  und  t  wurde,  um  in  III 
entweder  zu  verschwinden  oder  als  i  zurückzubleiben.  Das 
Princip  ist  gewahrt  mit  der  oben  S.  391.  397  für  die  erste 
schwache  Conjugation  für  die  Neutra  der  ya-Classe  und  für  die 
adjecti vischen  jf'a-Stämme  angeführten  Modification.  Also  temr 
(hrekr)j  teggr^  gn^r^  doemir,  bergir  (2.  3.  Sg.),  —  kynsj  akeggs, 
fleys,  klaedis,  rikis,  engis  (6.  Sg.),  —  mids,  n^s,  fraegs,  vaens, 
8aeU,  froekna  (G.  Sg.  Masc.  Neut.). 

Vor  n,  nt  bleibt  ja,  in  III  a  oder  ja  nach  Princip.  Dass 
die  bezeugte  Schreibung  G.  Sg.  Thrawingan  j  wahrscheinlich 
nur  nicht  ausdrückt,  wurde  oben  S.  395  bemerkt.  Noch  in  III 
höfdingja,  —  Stedjar  (N.  PL)  ist  Analogieform  wie  hanar,  s.  oben 
S.  377. 

Was  die  2.  PI.  Prs.  Ind.  der  ersten  schwachen  Conjugation 
anbelangt,  so  zeigt  III  durchweg  «,  temid,  doenüd.  Es  könnte 
eine  üniformierung  vorliegen  wie  im  Imp.,  s.  oben  S.  394.  Aber 
der  Unterschied  konnte  auch  in  III  nur  verwischt  sein  wie  im 
N.  Sg.  der  masc.  jan-Stämme,  s.  oben  S.  402.  Vielleicht  galt 
in  I  tamjed  —  s.  oben  über  den  Stammvocal  der  2.  PI.  Prs. 
Ind.  S.  379  —  und  dömijed.,  was  in  III  temid,  doemid  ergab. 
Langes  i  aber  erhielt  sich  in  der  Flexion  nicht. 

<  Wimmer  Gramm.  §.  41,  b,  2  sagt  herr-  werde  im  Plural  nicht  gebraucht, 
aber  s.  Cleaaby. 


410  H«i»iel. 

Vor  m  verwandelt  »ich  ja  in  ju,  in  III  nach  Princip  tt  and 
ju.  II  zeigt  allerdings  nur  den  i-Umlaut,  aber  wegen  der  ent- 
sprechenden Fälle  von  am  ist  auch  ^um  schon  in  I  wahrscheinlich. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  JA. 

Nach  Äuslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

Auch  hier  erhält  sich  ja,  selbst  vor  nt  im  Part.  Prs.,  wo 
in  III  Wechsel  mit  a  nach  Princip  stattfindet. 

Ebenso  wird  auch  hier  ja  vor  m  (D.  Sg.  des  Adj.  Masc.) 
zu  ju  und  wechselt  in  III  mit  u  nach  Princip. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Lang  JA. 

Nach  Aus)autgesetz  in  letzter  Silbe. 

J6  bleibt  zunächst  überall.  2.  PI.  Prs.  Ind.  Imp.  aggjU 
wird  später  durch  eine  Analogiebildung  auf  -id  verdrängt, 
s.  oben  S.  384  über  kallid. 

Auch  wegen  des  entsprechenden  Schicksals  der  d  vor 
m,  n  müssen  wir  hier  noch  in  I  Uebei^ang  der  Formeln  ovi, 
6n  in  um,  un  ansetzen.  Nur  die  Ja-Stämme  nach  eggja  halten 
wie  kcdla  in  3.  PI.  Prs.  Ind.    den  charakteristischen  Vocal   fest. 

Analogieform  ist  N.  A.  PI.  hylgjur  für  bylgju;  s.  oben  über 
hanar,  tungur,  stedjar  S.  377.  385.  409. 

Die  dunklere  Färbung  des  alten  ja  zeigt  sich  hier  deut- 
lich gegenüber  altem  ja,  das  vor  n  blieb,  s.  oben  S.  409. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Lang  JA. 

Nach   Auslautgesetz  vor   der  letzten  Silbe. 

J6  bleibt  zunächst  unangetastet:  geht  aber  allmälig  im  PI. 
Pf.  Ind.  der  dritten  schwachen  Conjugation  (got.  jfö-Stämme),  — 
eggjudum  III,  —  und  wohl  auch  vor  n  zu  ju  über,  wie  d  im 
gleichen  Fall.   Vor  nt.  im  Prt.  Prs.  erhielt  sich  6  aus  n  ebenfalls. 


ü«l>«r  di«  En(Uilb«a  der  »Itnordiicbe»  Sprach«.  411 


/  ursprünglich  in   letzter  Silbe. 

ExcuTS  Über  kurzes  i  letzter  Silbe. 

Der  Vocal  ist  hier  spurlos  abgefallen.  Bugge  Forhand- 
lingen  i  Videnskabs-Selskabet  i  Christiania  1872  (gedr.  1873) 
S.  316  liest  in  der  ValsQordinschrift  HagnstaldiR  (N.  Sg.) 
und  erklärt  das  Wort  für  einen  i-Stamm,  ebenso  wie  MariB 
Thorsbjerg,  -gastlB  Gallehuus,  Berga,  s.  oben  S.  397.  Die 
Valsfjorder  Inschrift  ist  ausserordentlich  abgeschliffen,  s.  Bugge 
a.  a.  O.  S.  312,  so  dass  eine  sichere  Lesung  nicht  überall  möglich 
sein  dürfte.  Wenn  Bugge  sagt,  in  Bezug  auf  i  in  HagustaldiB 
seien  seine  drei  Abschriften  einig,  so  ist  das  nicht  ganz  richtig, 
da  die  Zeichnung  a)  auch  die  Lesung  -aR  erlaubt.  Allerdings 
hat  er  den  fraglichen  Buchstaben  nochmals  untersuchen  lassen. 
Aber  da  die  Buchstaben  kaum  mehr  eine  Vertiefung  zeigen, 
auf  ihre  Gestalt  nur  aus  der  Farbe  des  Steines  geschlossen 
werden  kann,  so  ist  wahrscheinlich  gar  nicht  möglich  zu  ent- 
scheiden, ob  der  Schaft  des  i  nicht  die  zwei  kleinen  Seiten- 
striche gehabt  habe,  die  sich  in  der  Zeichnung  a)  finden  und 
den  Buchstaben  zu  a  machen  würden.  —  Dazu  kommt  dass 
UagustaldiR  sprachlich  bedenklich  ist.  Nord,  haukstaldr,  wie 
die  entsprechenden  Formen  der  übrigen  germanischen  Sprachen, 
ist  ein  a-Stamm,  während  MariR,  -gastiR  ja-Stämme  sind  nach 
Ausweis  des  Umlauts,  —  maerr  gestr.  —  Wäre  HagnstaldiR 
die  richtige  Schreibung,  so  müssten  wir  annehmen,  eine  spätere 
Form  -steldir  sei  verloren  gegangen,  oder  das  Wort  früh  aus 
der  Ja- Ciasee  in  die  a-Classe  übergegangen.  Denn  erhaltenes 
i  eines  i-Stammes  im  N.  Sg.  ist  ganz  unglaublich.  Der  tiefste 
Vocal  u  erhält  sich  auch  im  nordischen  am  längsten.  Noch  im 
Anfang  von  III  galt  sunu  (A.  Sg.),  wir  finden  die  Form  auf 
den  Inschriften  von  Sölvesberg  und  Helnaes.  Dass  a  inr  der 
Endung  -ali  (N.  Sg.)  von  o-Stämmen,  nicht  der  alte  Stammvocal 
sei,  erschien  uns  oben  S.  369  als  wahrscheinlich.  Jedenfalls  ist 
a  in  der  Genitivendung  -as  ausgefallen,  Thrawingau  Tanum, 
Kethan  Belland,  Igingon  Stenstad,  t  im  D.  Sg.  witadahalaiban 


412  Btinsel. 

Tune.  Vgl.  Wimmer  Aarböger  1867,  S.  53.  —  Wie  liätte  sich 
i  im  N.  Sg.  gehalten? 

Vor  allem  aber  wie  erklärt  sich  der  Mangel  des  Umlauts 
in  ni;  da  wir  sonst,  wo  offenbar  kurzes  i  in  I,  der  ältesten  Periode 
der  Sprache,  den  Vocal  der  letzten  Silbe  bildete,  in  III  dieser 
zwar  verschwimden  ist,  aber  Umlaut  zurückgelassen  hat  jen 
(2.Sg),  heldr  {kAv,)'i 

Aarböger  1870,  S.  203,  will  Bugge  sogar  —  mit  Lyngby's 
Beistimmung  Tidskrift  f.  ph.  10,  89  —  in  einer  Reihe  von  ags. 
Wörtern,  welche  allerdings  got.  und  nord.  z-Stämme  sind,  den 
bewahrten  Stammvocal  finden :  mete  got.  matSj  stede  got.  stath^ 
siege  got.  slaha,  aele  altn.  salr,  häle  altn.  halr,  Deiie  altn.  Dam^ 
vine  altn.  vinr,  hyge  got.  hvgr,  byre  got.  baüvy  myne  got.  mum. 
Noch  andre  bei  Grimm,  1^,  555.  Uebergang  in  die  jfa-Classe 
könne  nicht  stattgefunden  haben,  da  der  Consonantumlaut 
mangle :  mete^  aber  z.  B.  flette^  stede^  aber  beddj  Dene,  aber  denn. 

—  Aber  es  können  ja  die  fraglichen  Wörter  ganz  junge  Ana- 
logiebildungen sein.  Die  t-Declination  wurde  aufgegeben  und 
dafür  die  durch  den  Umlaut  nächstverwandte  ja-Classe  gewählt 
Niemand  kann  die  Pedanterie  erwarten,  dass  dabei  auch  die 
Wurzelgestalt  geändert  worden  wäre.  Im  alts.  D.  PL  der 
t-Stämme    gestiun,    winiun    liegt   der  Uebergang    deutlich   vor. 

—  Die  meisten  Neutra  der  ja-Classe  werden  durch  Verlust 
des  e  der  a-Classe  angeähnlicht ,  aber  der  Consonantumlaut 
bleibt  natürlich,  cynn  aus  cynne.  Der  Unterschied  zwischen 
kurzer  und  langer  Wurzel  kommt  hier  nicht  in  Betracht:  denn 
cynne,   woraus   cynn  hervorgegangen,    ist  ebenso  lang  als  yrfe. 

Ebensowenig  als  die  ags.  beweisen  die  altfriesischen  und 
ahd.  Fälle,  welche  Leffler  Tidskrift  f.  f..  Neue  Folge,  2,  262 
Anm.  3.  beibringt,  -kerne  -kimi)  -kvemi  -kumi.  Man  sagt  ja  doch 
altfries.  leimi  von  lamjan,  ahd.  ztnian  von  tamjanj  ohne  Conso- 
nantumlaut. 

Bewahrung  des  Stammvocals  i  ist  im  ags.  auch  deshalb 
unwahrscheinlich,  weil  diese  Sprache  die  u  im  N.  A.  PI.  Neut. 
aus  altem  d  schon  meist  verloren  hat. 

Bugge  beruft  sich  ferner  Aarböger  1870,  S.  207  auf  die 
ags.  Feminina  ven,  est,  got.  vms,  ansfs:  das  sei  Umlaut  eines 
vorhergehenden  von,  ost;  s.  Holtzmann  Gramm.  1,  200.  Ve« 
könnte  auch  altes  e  haben  für  d,  vgl.  g^^den  Part.  Pf.,  Holtzmann 


Ü«b6r  dt«  Bnd«Ub«n  der  aUnordinohen  Sprach«.  413 

Gramra.  1,  201.  Aber  der  Umlaut  uralautföhiger  Vocale  ist  bei 
den  fem.  t-Stämmen  überhaupt  Regel;  s.  Sievers  in  Paul  und 
Braune's  Beiträgen  1,  4U5  S.  Die  Erklärung  s.  oben  S.  399.  ^ 
Nicht  aufgeführt  ist  ferner  in  unserer  Tabelle  die  Endung 
-t'fi«  (A.  PI.  der  i-Stämme),  in  III  i  ohne  Umlaut,  burdi\  sotti. 
Das  Fehlen  des  Umlauts  ist  zu  auffallend  in  einer  Sprache,  die  so 
grosse  Empfindlichkeit  der  Vocale  fiir  folgendes  i /,  u  v  zeigt  wie 
die  nordische^  die  in  der  ?/-Clas8e  beide  Umlaute  neben  dem  reinen 
Laut  in  buntem  Wechsel  braucht.  Wo  j-Umlaut  nordisch  fehlt, 
geschieht  es  in  Ableitungssilben,  -ari  neben  -m  bei  den  Nom. 
Agentis  der  ja-Classe,  die  in  die  yan-Classe  übergetreten  sind, 

—  im  Suffix  'uly  wenn  das  erste  Comparativsuffix  antritt,  giöfulU 
fiir  giöfulliriy  —  im  Fem.  der  zweiten  Comparation  apakarij  — 
im  Opt.  Pf.  der  dritten  schwachen  Conjugation,  um  den  charakte- 
ristischen Vocal  zu  erhalten,  —  hier  wie  im  Comparativ  auf 
-ari  war  übrigens  a  in  11,  der  Periode  des  Umlauts,  noch  lang, 

—  in  ßandr  (N.  PI.)  neben  gefendr;  s.  Lundgren  Om  substan- 
tivens  stammar  S.  17.  —  Dann  in  Fällen  falscher  Analogie,  so 
in  den  Adj.  auf  -inn  von  Stamm  -ma-,  gullinn,  auf  -igr  von 
Stamm  -iga-  mdtttgr,  wegen  der  ähnlichen  Formen  der  ana- 
und  a^a-Stämme,  opifWj  audigr,  die  keinen  Umlaut  haben 
können,  s.*  oben  S.  378.  —  Die  Nebenformen  von  tamdr  und  huldr 
(Ptc.  Pf  Pass.),  tamidr  und  hulidr,  sind  gewiss  nicht  die  ächten, 
wenn  sie  auch  den  altern  Quellen  eigenthümlich  sind.  Wimmer 
Gramm.  §§.  *152,  2.  Das  Verhältniss  zu  den  Verben  langer 
Wurzel  ist  gerade  umgekehrt :  2.  3.  Sg.  Prs.  Ind.  doemir  bergiVf 
aber  tewr,  hylr.  Im  Ind.  Pf.  doemda  bergda,  aber  tamda  hulda. 
In  tamda f  hulda  muss  i  in  11^  der  Periode  des  Umlauts,  schon 
fortgefallen  sein,  in  den  Verben  mit  langer  Wurzel  noch  nicht. 
Ebenso  entsprechen  sich  regelrecht  Part.  Pf.  doemdr,  hergdr  und 
tamdr'  huldr.  Wahrscheinlich  geht  tamidr  huldr  auf  taminn^ 
huünn  zurück,  auf  Analogie  der  starken  Verba,  welche  bei  doema, 
hergja  nicht  so  leicht  wirken  konnte,  da  diese  Verba  sich  durch 
den  Umlaut  der  Perfectformen  zu  deutlich  von  allen  starken 
unterschieden.     Bei  tamdr,    huldr,    oder    vielmehr   den  für  sie 


^  Wenn  finnisch  kaunis,  got.  tkauns,  erscheint,  Thomsen  a.  a.  O.  8.  96  so 
beweist  dies  für  die  Gestalt  des  nordischen  nach  Darchfühmng  des  Aus- 
lantgesetzes  ebensowenig  als  kunigeu;  s.  oben  S.  369. 


414  Reiiix«1. 

vorauszusetzenden  alten  tamid/r,  hulidr  in  I  konnte  man  aller- 
dings an  farinn,  bundinn  erinnert  werden,  um  so  mehr  wenn  man 
Formen  wie  h^ja,  hafinuj  sverja  svarinn  vor  Augen  hatte.  —  Die 
falschen  Formen  taminn,  huUinn  wurden  dann  nach  Maassgabe  der 
übrigen  scliwachen  Part.  Pf.  corrigirt,  haben  sich  aber  im  neu- 
isländischen und  nur  bei  Verben  dieser  Classe  erhalten.  In  ein- 
zelnen Wörtern  sollen  sie  schon  sehr  früh  vorkommen ;  s.  Wimmer 
Gramm.  §.  144  Anm.  ^ 

Auslautend  i  ohne  Umlaut  sehen  wir  nun  in  III  in  solchen 
Fällen,  welche  deutlich  entweder  auf  altes  -An,  -af,  hani  (N.  Sg.), 
tamdi  (3.  Sg.)  zurückgehen,  s.  oben  S.  373,  oder  auf  ai,  aitj 
aint,  ata,  aicu,  aiit,  aiint:  heiti  (1.  3.  Sg.  Pass.),  afwi  (D.  Sg.),  t>aki 
(Imp.),  fari  (3.  Sg.  Opt.),  faH  (3.  PI.  Opt.),  vaki  (1.  Sg.  Ind.), 
hurdir  (N.  PI.),  vaki  (3.  Sg.  Opt.),  vaki  (3.  PL  Opt).  An  -«n, 
-di  ist  nicht  zu  denken,  wohl  aber  möchte  man  vermuthen, 
dass  für  burdiy  sotH  (A.  PI.)  eine  Form  vorauszusetzen  sei,  in 
welcher  der  Stammvocal  i  gunicrt  worden  wäre.  Vielleicht 
-aiana  nach  Muster  der  a-Classe.  Vgl.  griech.  x6X6flu;,  -{kjxia; 
neben  N.  PL  ttoXsi;,  ^k^julzIcj  lat.  oveis  omSy  umbrisch  aveif,  neben 
N.  PL  auf  -es,  -er,  besonders  aber  slawisch  synovy  neben  syny 
(A.  PL)  gegenüber  synove  (N.  PL).  Synovy  bedingt  Qunierung 
des  u  und  Annahme  der  Endung  -ans;  s.  Schleicher  Compen- 
dium  §.  250. 

/  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  J. 

Die  Optativformen  des  Perfects  3.  Sg.  3.  PL  kommen  in 
Betracht.  III  hat  die  Endung  i  mit  Umlaut  der  Wurzel,  was 
in  unsrer  Periode  nach  dem  über  ja,  ja  ursprünglich  letzter 
Silbe  gesagten  auf  t  schliessen  lässt.  Dass  sich  die  Länge 
bewahrt  habe,  ist  nur  bei  den  schwachen  Verben  begreiflich, 
wo  der  vielleicht  zu  i  gefärbte  Vocal  der  Wurzel  dha  sich  mit 
i  von  ja  verband.  Hier  hat  das  ahd.  auch  die  Länge  gewahrt. 


1  Wohl  junge  Bildungen  sind  einige  Abstracta  auf  n-tn«/;  kradning,  ruimn^y 
»pamingy  «purning,  koming^  droUnnig,  —  neben  aetning,  fettning;  b.  Leffler 
Tidskrift  f.  f.,  Neue  Folge,  2,  14.  15.  306,  Blomberg  Bidrag  tiU  den  germ^ 
niska  omljudsläran  S.  15.  —  Sie  setsen  altes  -aningu  voraus. 


TTeb«r  die  Endsilbun  der  altnordijiclieii  Sprache.  415 

8.  Braune  in  seinen  und  PauFs  Beiträgen  2,  136.  137.  Scherer 
hat  dazu  das  griechische  öeCiQ  verglichen,  GDS.  S.  204.  Die 
3.  Sg.  der  starken  Verba  ist  ahd.  kurz,  die  3.  PI.  lang  wie  in 
der  schwachen  Conjugation,  s.  Braune  a.  a.  O.  Offenbar  hat 
«ich  im  nordischen  der  Einfluss  der  schwachen  Optative  auf 
die  3.  Sg.  wie  3.  PL  erstreckt,  der  im  ahd.  auf  die  3.  PL 
beschränkt  blieb. 

Keinesfalls  ist  für  die  3.  PL  -ma  wie  im  gotischen  vor- 
auszusetzen, daraus  wäre  in  III  -in  geworden,  wie  aus  aptanä 
(A.  Sg.)  in  III  aptan, 

I  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  1. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

/  bleibt  durchaus. 

Die  %  in  himinny  mikill  sind  als  ursprünglich  angenommen 
worden,  weil  gotisch  und  ahd.  in  i  übereinstimmen.  Das  Wort 
ErilaB  erscheint  in  den  ältesten  Runen  viermal  nur  mit  i, 
Leffler  Tidskrift  f.  f.,  Neue  Folge,  2,  316.  Ausgemacht  ist  die 
Sache  darum  nicht.  Drottinny  moiyinn  (morgunn),  —  drasill  (drö- 
sull)y  ßkutill^  studilly  svadiUy  vadill  (vöduU)  können  trotz  got. 
maurgins  in  I  noch  nicht  i  gehabt  haben,  sondern  nur  e  (u) 
aus  a;  s.  Leffler  a.  a.  O.  2,  15.  273  und  oben  S.  379. 

Aber  i  in  lykill  und  ähnlichen  ist  des  Umlauts  wegen 
alt.  Obwohl  doch  vielleicht  erst  im  Verlauf  der  Periode  I  oder 
n  entstanden.  Denn  die  Gruppe  lykill,  Egill,  ketill,  ti'ygül, 
tygill  zeigt  vier  Wurzelausgänge  auf  Gutturalis.  Dagegen  drasill, 
skutill,  studill,  svadill,  vadill.  Das  erinnert  an  tekinn  neben 
farirm  (Part.  Pf.);  s.  oben  S.  378.»  Aber  es  könnte  Zufall  im 
Spiele  sein,  und  der  Ableitungsvocal  der  Nomina  nach  lykill 
wäre  doch  vorgermanisch.  Ich  habe  es  deshalb  für  sicherer  ge- 
halten, lykill  hier,  nicht  bei  a  aufzuführen. 

Hieher  gehören  auch  die  weiblichen  Abstracta  der  t-Classe 
nach  heym  (got.  hauseins).  Das  alte  ja  muss  hier  schon  vor 
dem  Auslautgesetze  kurz  gewesen   sein  wie  im  Perfectstamme 


^  Engilly  D.  S^.  engliy  stammt  vielleicht  aus  dem  deutschen. 


416  Heins«l. 

der  ja-Yerhsi, ;  s.  oben  S.  405  f.  Eigenthümlich  sind  die  Fonnen 
ohne  Umlaut  lausrij  thaum,  spum  Gislason  Formlaere  §.  133  d, 
Blomberg  Bidrag  tili  den  gerraaniska  omljudsläran  S.  15.  Bei 
dem  kurzwurzeligen  spum  begriffe  sich  Ausfall  des  i  in  I  noch 
eher,  s.  unten  die  schwachen  Perfecta  der  ersten  Classe,  aber 
lausHj  thausn  sind  wohl  keine  echten  Bildungen. 

Das  Comparativsuffix  im  Superlativ  des  Adj.  in  heztr'ui 
jedenfalls  vorgermanisch  is  gewesen,  nicht  jaa,  wie  man  für 
den  Comp.  Adv.  heldr^  betr  annehmen  muss ;  s.  oben  S.  397. 

Ueber  die  Part.  Pf.  der  ja-Stämme  bei  Besprechung  des 
Ind.  Opt.  unter  den  Silben,  welche  nach  dem  Auslautgesetz  Tor 
der  letzten  stehen.  Von  den  Formen  tamidr,  hulidr  neben  tamir 
huldr  wurde  oben  S.  413  gehandelt. 

Die  3.  Sg.  Prs.  Ind.  wurde  hier  mit  -id  angesetzt,  weil 
noch  n  abariutith  Stentofte  zeigt  gegenüber  dem  barntB  der 
nah  verwandten  von  Björkethorp  und  ubbrintB  auf  dem  Stein 
von  Glimming,  s.  Wimmer  Runeskriftens  oprindelse  S.  220.  — 
Hier  wie  in  der  2.  Sg.  Prs.  Ind.  ist  das  alte  a  schon  vor- 
gormanisch  als  i  anzunehmen.  Jedenfalls  für  das  nordische :  wäre 
hier  nach  dem  Auslautgesetz  noch  e  gehört  worden,  so  wäre 
es  als  i  in  III  erhalten,  und  die  Wurzel  zeigte  keinen  Umlaat 
8.  Leffler  Tidskrift  f.  f..  Neue  Folge,  2,  270. 

Der  D.  PI.  der  i-Classe  hat  sich  nach  der  u-  und  a-Classe 
gerichtet  wie  der  «-Umlaut  in  II.  III  zeigt,  stödumr, 

I  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  J. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

Hier  beginnt  bereits  der  Ausfall  der  Vocale.  Noch  nicht 
im  A.  Sg.  der  Stämme  -i7a-,  -ina-y  da  in  III  noch  lykil,  himin. 
Aber  im  Pf.  der  schwachen  Verba  erster  Classe. 

Die  Perfecte  der  ^a-Stämme  müssen  ihr  ja  schon  sehr 
früh  contrahiert  und  t  dann  verkürzt  haben.  Keine  germanische 
Sprache  hat  hier  eine  Spur  der  Länge.  Zum  Theil  sind  diese 
kurzen  i  schon  in  I  ausgefallen.  Auf  das  überlieferte  worahto, 
worta  darf  man  sich  allerdings  nicht  berufen ;  s.  unten.  Aber  die 
kurzsilbigen  ja-Stämme  müssen  trotz  der  inschriftlichen  tawido, 


üeber  di«  Endiilben  der  altnordischen  Spnthe.  417 

dalidnn!  noch  in  I  i  verloren  haben,  da  sie  in  III  ohne  Umlaut 
erecheinen:  tamda,  hulda  usw.  Die  1.  Sg.  Opt.  temda,  hylda 
rechtfertigt  ihren  Umlaut  durch  das  j\  welches  jedenfalls  noch 
in  II  vor  dem  a  gestanden  hat.  Das  überlieferte  tawido  hatte 
demnach  noch  in  I  eine  weitere  Veränderung  tawdo  erlitten, 
und  wohl  auch  faihido,  wofür  in  III,  wo  das  Verbum  nach  kalla 
geht,  fäda  erscheint,  ohne  Umlaut.  Das  h  wird  in  I  schon  so 
schwach  gewesen  sein,  dass  man  das  Wort  wie  eine  vocalisch 
aaslautende,  also  kurze  Wurzel  behandelte. 

Lange  Wurzeln  auch  auf  Guttural  auslautende,  s.  oben 
S.  392,  zeigen  in  III  Umlaut^  müssen  also  i  in  II  noch 
gehabt  haben. 

Die  Part.  Pf.  machen  begreiflicher  Weise  diese  Unter- 
scheidungen kurzer  und  langer  Silben  mit. 

In  den  masculinen  Stämmen  -ila-,  -ina-,  welche  in  III  den 
D.  Sg.  imd  'den  ganzen  Plural  mit  Ausnahme  des  G.  PI.  des 
Adj.  contrahieren,  wird  i  in  I  sich  im  Ganzen  noch  gehalten 
haben,  wie  der  Umlaut  in  lyklij  lyklar  usw.  in  III  zeigt.  Aber 
daneben  muss  auch  Ausfall  in  I  angenommen  werden,  da  sonst 
Formen  wie  lukli,  luklar,  s.  Wimmer  Gramm.  §.  37,  2,  Gislason 
Formlaere  S.  80,  Blomberg  Bidrag  tili  den  germaniska  omljuds- 
läran  S.  56,  welche  in  III  neben  den  umgelauteten  erscheinen, 
unerklärbar  blieben ;  s.  oben  S.  415.  Auch  hier  nur  Kürzen  wie 
im  schwachen  Verbum. 

Noch  deutlicher  ist  der  Einfluss  der  Quantität  auf  Er- 
haltung oder  Verlust  des  i  in  I  bei  den  Deminutivbildungen, 
Atli,  aber  kyndla,  Blomberg  a.  a.  O.  S.  15. 

Unter  den  Adjectiven  finde  ich  keine  umlautbaren. 

Der  Comparativ  des  Adj.  hat  jedenfalls  i  in  I.  II  bewahrt: 
in  III  betri.  Ebenso  in  den  Ableitungen  auf  it-:  in  III  dypt,  hoens. 

Dieses  hoens  (N.  A.  PL)  ist  auf  itjä  zurückgeführt,  nicht 
auf  'isäf  woran  Grimm  denkt,  Gramm.  1^  575.  2,  270,  das  aber 
nur  hoenn  für  hoenr  ergeben  könnte.  Die  Bildung  ist  wie  bei 
hugsa,  s.  oben  S.  382.  Man  darf  gegen  Ansetzung  eines  Neutral- 
stammes  honitja-  nicht  belti,  milti  anführen,  welche  nach  dem 
oft  erwähnten  Princip  i  in  ITI  gewahrt  haben,  wie  klaedi. 
Durch  Uebergang  des  ij  in  ss  wurde  das  Wort  honitjd,  honissu 

Sittongaber.  d.  phil.-hist.  Cl.  LXXXVII.  Bd.  I.  Hft.  27 


418  Reinsei. 

ganz  aus  der  Analogie  der  ^a-Stämme  herausge^ssen  ^  und  wie 
ord  behandelt,  d.  h.  wie  ein  a-Stamm,  aber  mit  Suffix  w», 
dessen  i  in  II  Umlaut  wirkte,  in  III  abfiel.  Hoens  vergleicht 
sich  somit  den  hd.  neutralen  ^a-Stämmen,  ahd.  mahalezij  fisgazzi, 
Grimm  Gramm.  2,  214,  altfries.  benefe,  atente  Schlüter.  Die  mit 
dem  Suffix  ja  gebildeten  deutschen  Nomina  S.  437.  '^ 

ExGurs  Über  die  erste  schwache  Coqjugation. 

In  Bezug  auf  die  Perfectbildung  steht  das  altnordische  im 
Gegensatz  zu  den  westgermanischen  Sprachen.  Während  in 
diesen  bei  langer  Wurzelsilbe  der  Äbleitungsvocal  fehlen  und  die 
Wurzel  den  reinen  Laut  zeigen  kann,  finden  wir  im  nordischen 
bei  durchgehendem  Ausfall  des  Ableitungsvocals  Umlaut  gerade 
in  dem  langen,  reinen  Laut  in  den  kurzen  Wurzeln,  doemda^ 
tamda.  Die  kurzwurzeligen  müssen  also  ihr  i  schon  vor  Ein- 
tritt der  Umlautperiode  verloren  haben.  Das  ist  nicht  die  Regel; 
dypt,  hoensj  betri  lehrt  uns,  dass  i  der  vorletzten  Silbe  zur  Zeit 
des  Umlauts  noch  gesprochen  wurde,  diupidhu,  honisu.  Bei  den 
Substantiven  nach  lykill  ist  der  Ausfall  nur  facultativ.  £in 
äusserer  Einfluss  muss  in  den  schwachen  Perf.  kurzer  Wurzel 
vorzeitigen  Abfall  des  i  in  vorletzter  Silbe  bewirkt  haben.  Das 
können  nur  die  Praeteritopraesentia,  an  welche  sich  formal  das 
Verbum  , wollen'  schliesst;  s.  Scherer  Zs.  19,  157,  gewesen  sein, 
Perfectbildungen,  welche  mit  denen  der  schwachen  Verba  eine 
gewisse  Aehnlichkeit  haben,  vielleicht  aber  ganz  andrer  Herkunft 
sind ;  s.  Windisch  Beiträge  zur  vergleichenden  Sprachforschung  8, 
457  ff.  Ihnen  hatten  sich  schon  sehr  früh  in  allen  germanischen 
Sprachen  eine  Reihe  von  schwachen  Verben  angeschlossen, 
deren  Wurzel  auf  Gutturalis  endigt.  Die  gebräuchlichsten  sind 


1  Aehnlich  wie  im  G.  D.  Sg.  Fem.  der  starken  Adjectivdeclinatioii  der  frühe 
Ausfall  des  j  im  Elemente  »ja  die  nord.  westgerm.  r,  die  got  z  erklärt. 
S.  Leskieu:  Die  Declination  S.  129. 

2  Zimmer  Zs.  19,  414  stellt  eine  Erörterung  unsres  Wortes  in  Aassicht, 
Ebel  nimmt  einen  ci«- Stamm  an,  KZs.  5,  54.  356,  ebenso  Thomsen  Elin- 
fluss  der  germanischen  Sprachen  auf  die  finnisch-lappischen  und  Lund- 
gren  Om  Substautivens  stammar  S.  33.  Fick  Vergleichendes  Wörterbuch 
33  61  setzt  Grundform  hönisna  an  wegen  des  heutigen  haensn;  s.  auch 
Leffler  Tidskrift  f.  f.,  Neue  Folge,  2,  319.  Aber  nur  geschürftes  *  erklärt 
den  Sachverhalt. 


Üeber  die  Endsilben  der  altnordiscbeu  Sprache.  419 

^t.  h'ahta,  thahta^  thuhtOy  vaurhta,  hauhta,  brühta,  altn.  thätta, 
ihottüy  orta  (worahto  Tune),  sotta,  alts.  brähta,  thdhta^  thühtay 
warhtay  aohta,  gihoht^  ags.  hrohie,  thohte,  ikdhtey  vorhte^  »ohte, 
bohte.  Das  auffällige  dieser  Bildungen  liegt  in  dem  ht  fUr  gd, 
kd,  vgl.  alts.  wegdttf  lagda^  sagda,  altn.  bergda,  skenkta.  Wohl 
aber  ist  allen  germanischen  Sprachen  ht  eigen  für  altes  g^  k 
mehr  altem  t,  got.  nahts,  altn.  ndtt,  alts.  naht^  got.  aihts,  altn. 
aeitf  ags.  aeht  Das  ahd.  ist  demnach  nicht  in  Rechnung  zu 
ziehen;  da  seine  ddhta^  dühta,  worhta  doch  möglicher  Weise, 
obwohl  es  unwahrscheinlich  wäre,  der  hd.  Lautrerschiebung 
ihren  Ursprung  verdanken. 

Dass  es  Wurzeln  auf  Gutturalis  sind,  welche  sich  den 
Praeteritopraesentibus  anschliessen,  mag  darin  begründet  sein, 
dass  Qutturalis  als  mit  j  verwandt  die  Aussprache  eines  folgen- 
den ja  nicht  durch  Einschub  eines  t  zu  erleichtern  brauchte; 
s.  oben  S.  394.  Ja  wurde  hier  noch  früher  zu  C,  i,  als  bei 
anderen;  s.  oben  S.  416.  Sie  standen  dadurch  dem  Perfect  der 
Praeteritopraesentia  näher.  Aber  die  Mehrzahl  der  gutturalisch 
endigenden  Wurzeln  blieb  natürlich  der  ihnen  eigenthümlichen 
Bildung  getreu. 

Es  gab  demnach  in  allen  germanischen  Sprachen  eine 
Gruppe  von  Verben,  bestehend  aus  Praeteritopraesentibus  und 
einer  Anzahl  häufig  gebrauchter  Verben,  welche  ein  schwaches 
Perfect  ohne  Stammvocal  bildeten.  Da  diese  letzteren  sonst 
der  ersten  schwachen  Conjugation  angehörten,  ist  es  begreif- 
lich, dass  allmälig  die  Neigung  entstand,  in  dieser  Conjugation 
diejenigen  Verba  um  ihr  Ableitungs-i  zu  verkürzen ,  welche 
jener  Gruppe  am  ähnlichsten  sahen.  Aehnlichkeit  ist  aber  in 
gewisser  Weise  subjectiv.  Die  Westgermanen  haben  eine  Ueber- 
zahl  langer  Wurzeln  in  der  Gesammtzahl  jener  Vorbilder.  Die 
Praeteritopraesentia  nämlich  stellen  sich  westgermanisch  gleich, 
wenn  man  das  sächsische  man  vernachlässigt,  sechs  Kürzen, 
sechs  Längen.  Zu  diesen  Längen  kommen  aber  noch  alts.  hrähta, 
thdhta,  thühtay  warhtäy  sohid,  denen  nur  giboht  gegenüber  steht. 
Sie  schlössen  also:  bei  den  langsilbigen  ist  es  erlaubt,  i  im 
schwachen  Perfect  auszulassen,  —  mit  Vernachlässigung  des 
germanischen  Betonungsprincips. 

Im  nordischen  liegt  die  Sache  etwas  anders.  Hier  über- 
wiegen   bei    den    Praeteritopraesentibus    die    Kürzen:     mega^ 

27» 


420 


Heinzel. 


kndttUj  mwia,  munu,  akulu,  vita,  viJja,  sieben  Kürzen,  an  Längen 
nur  vier:  eiga^  kumia,  unna,  thurfa;  daursan,  motan  ist  verloren, 
das  futurisebe  munu  hinzugekommen.  Allerdings  ergibt  sich 
auch  hier  eine  Majorität  der  Längen  durch  die  hinzutretenden 
thdtta,  thotta,  orta,  sotta.  Aber  die  Skandinavier  werden  nur  das 
Muster  der  Praeteritopraesentia  vor  Augen  gehabt  haben.  Dazu 
wirkte  vielleicht  das  germanische  Accentgesetz  con servierend, 
wenn  es  sich  in  dem  die  ganze  Flexion  verbaler  wie  nominaler 
^a-Stämme  beherrschenden  Bestreben  das  Suffix  nach  kurzer  Silbe 
zu  beseitigen,  nach  langer  Silbe  als  t  zu  conser vieren  geltend 
macht,  —  kyn  klaedi,  bekkr  heUir,  tem  doemi,  temr  doemir;  s.  S.  394. 
Nur  der  allgemeinste  Zug  in  Behandlung  dieses  Suffixes  war 
wirksam,  die  Sonderstellung  der  gutturalisch  endigenden  Wurzeln 
fand  hier  keine  Nachahmung,  —  bergda  wie  doemdoj  dagegen 
bekkr  hellir,  Wohl  aber  gilt  vocalischer  Ausgang  oder  kurzer 
Vocal  mehr  gg  auch  hier  für  Kürze;  s.  oben  S.  391. 

Aber  auch  bei  den  neut.  ^a-Stämmen  und  den  Praesens- 
stämmen  der  ersten  schwachen  Conjugation  ist  nur  Länge  und 
Kürze  der  Wurzel  massgebend;  s.  oben  S.  391.  Tamda  :  lagda  : 
gnüda  :  bergda  :  doemda  =  kyn  :  skegg  :  fley :  riki  :  klaedi  = 
tem  :  legg  :  gn^  :  bergi  :  doemi. 

Natürlich  muss  auch  hier  —  wie  im  ahd.  immer  —  noch 
lange  ein  Schwanken  zwischen  den  alten  und  den  Analogieformen 
geherrscht  haben.  In  I  ist  tawido,  dalldnn!  bezeugt,  und  doch 
sind  wir  genötbigt,  in  dieser  Periode  das  t  der  kurzwurzeligen 
abfallen  zu  lassen,  da  sonst  das  Fehlen  des  Umlauts  unbegreif- 
lich wäre. 

/  ursprünglich    vor    der   letzten   Silbe. 

Lang  /. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

I  des  Opt.  Pf.  muss  hier  lang  gewesen  sein,  da  in  III 
noch  foerir  (2.  Sg.  Pf.  Opt.),  neben  hleypr  (2.  Sg.  Ind.  Prs.),  gilt. 
/  in  foerir  also  wie  bergir,  doemir ^  s.  oben  S.  409. 

Die  Adjectivstämme  auf  -igä-^  4na-,  got.  -et</»,  -e»w  ent- 
behren in  III  des  Umlauts,  mdttigry  gullinn.  Sie  haben  sich 
nach  den  ähnlichen  auf  -iga-,  'Ina-  aus  -aga-,  -ana-  gefärbten 
gerichtet  und  darnach  wahrscheinlich  in  unserer  Periode  e 
gehabt,  s.  oben  Ö.  378. 


Ueber  die  EndHÜben   der  altnordischen  Sprache.  421 

/  ursprflnglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Lang  I. 

Nach  Aiislautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

Nur  die  eben  erwähnten  Adjectiva,  welche  auch  hier  e 
angenommen  haben  werden,  wie  die  Adjectivstämme  auf  -aga-, 
-ana-;  s.  oben  S.  383. 

U. 

U  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Dass  u  in  I  noch  vorhanden  war,  lehren  nicht  so  sehr 
die  Runen  aus  I.  II.  IIl,  HagnstaldaR  Valsfjord  I,  Hathn- 
wnlAfR  Istaby  II,  sunu  (A.  Sg.)  III,  auf  späteren  Runen- 
inschriften, s.  Wimmer  Navneordenes  böjning  S.  74  f.,  als  der 
Umlaut  in  III.  ^ 

U  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Auch  hier  erweist  der  Umlaut  in  III  Existenz  des  u  in 
der  Ableitungssilbe  vor  der  Periode  des  Umlauts,  IL 

ü  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Nach  Auslautgesetz   vor  der  letzten  Silbe. 

Dasselbe  beweist  dieselbe  Thatsache  wie  im  vorhergehen- 
den Falle. 

Es  sind  hier  einige  Formen  von  öflvgr  aufgenommen,  weil 
dieses  Wort  fast  constant  u,  beinahe  nie  i  in  der  Ableitung 
zeigt,  vgl.  got.  handugs;  s.  Gislason  Formlaere  S.  15  und 
oben  S.  379. 

^  WepsUch   olus  (altn.  öl),   Thomsen  Einflass  der  gfermanischen  Sprachen 
auf  die  finnisch-lappischen  S.  102. 


422  HeUxel. 


Excuis  Über  ia,  tV;. 

Der  BrechungsdiphthoDg  ia  im  gewählten  Paradigma  iöhim 
aas  etunn  >  bedarf  der  Rechtfertigung.  Nicht  nach  der  gewöhn- 
lichen Auffassung,  welcher  iö  «-Umlaut  des  ia  ist.  Wenn  wir 
in  II  die  Periode  des  Umlauts  sehen,  so  muss  ia  in  I,  wenn 
auch  vielleicht  erst  Ende  der  Periode  entstanden  und  nie 
bezeichnet  worden  sein.  Wohl  aber  gegenüber  J.  Schmidt,  der 
Vocalimus  2,  392  ff.  ia  als  a-Umlaut  des  iö  (d.  i.  io)  zu  erweisen 
sucht.  Uebrigens  s.  schon  Holtzmann  Gramm.  1,  80. 

Braune  Centralblatt  1875,  S.  1553,  und  Siever's  Jena'sche 
Litteraturzeitung  1876,  Artikel  79,  haben  dem  gegenüber  auf 
die  andern  nordischen  Sprachen  hingewiesen,  in  denen  zum 
Theil  ja  flir  altn.  ia  und  lö  (io)  gilt,  wie  a  für  altes  a  und 
H  (o).  Es  sei  in  diesen  Sprachen  ia,  das  J.  Schmidt  als  a-Um- 
laut  vor  iö  (io)  auffasse,  thei]weise  noch  vor  u  erhalten,  gerade 
wie  a  auch  noch  mitunter  vor  u  stehen  geblieben  sei,  ia  müsse 
demnach  als  der  ältere  Diphthong  aufgefasst  werden,  der  vor 
u,  V  im  isländischen  ganz,  im  schwedisch-dänischen  nur  zum 
Theil  der  Assimilation  iö  (io)  erlegen  sei. 

Aber  Wimmer  sagt  Runeskriftens  oprindelse  S.  215  mit 
Recht,  dass  der  u-Umlaut  des  a,  also  auch  des  za,  im  schwe- 
disch-dänischen zwar  vielleicht  geringere  Ausdehnung  hatte 
als  im  altnordischen,  dass  es  sich  aber  kaum  werde  ausmachen 
lassen,  wann  in  jedem  Falle  ö  (o)  in  diesen  jungem  Sprachen 
durch  a  verdrängt  worden  sei. 

Im  aitdänischen  finden  wir  neben  Formen  auf  ö,  iÖ  (o,  io) 
auch  a,  ia  :  annnr  (N.  Sg.  Fem.  N.  A.  PI.  Neut.),  dagum  (D.  PL-, 
«oA,  marc,  tharfj  graf  (N.  A.  Sg.),  land,  fang,  all  (N.  A.  PL, 
«afAfiZ,  satvgs  (G.  Sg.),  —  giald  (N.  A.  PI.),  fiatur,  fiatre  (D.  Sg.  , 
Wimmer  Navneordenes  böjoing  S.  34;  aber  auch  skioldae. 
ßordh  S.  77,  biörn,  biorn  S.  79. 

Im  altschwedischen  führt  Rydkvist  auf,  4,  124,  iafur, 
iatun  und  iaetuiiy  giarth  und  giaerth,  iarth  und  iorth^  iarmuH- 
grundj  129  ßakumm  (ßögurum). 


«  Nor  f,  nicht  auch  •  erleidet  die  Brechung,  8.  Leflfler  Tidskrift  t  C  Nene 
r/.re,  2,  151.  240. 


Ueber  die  Endnilben  der  altnordischen  Sprache.  423 

Nun  findet  sich  aber  im  altschwedischen  ia  auch  für  id^ 
Rydkvist  4^  126  tkianaj  thianosta,  fiarthi. 

Dänisch  scheint  ia  für  lo  zwar  nicht  bezeugt,  Petersen 
Det  danske  usw.  Sprogs  historie  1,  100.  146.  221,  Wimmer 
Navneordenes  böjning  S.  7.  Aber  es  war  doch  wahrscheinlich 
vorhanden.  Denn  nach  den  bei  Orimm  Gramm.  1^  509  f.  521  f. 
gesammelten  Beispielen  entspricht  im  neuschwedischen  wie  im 
neudänischen  je  nur  altn.  ia,  nicht  altn.  iö,  für  welches  ja,  jo, 
jö  gilt,  wohl  aber  auch  einigen  altn.  20,  schwed.  tjena,  tjenst, 
fjerde,  dän.  tjene,  tjeneste^  fjerde.  Allerdings  neudän.  fjäder  als 
wie  vom  altn.  fiötnrrj  nicht  vom  altdän.  fiatur;  doch  wird  neudän. 
auch  f jeder   wie  neuschwed.  f jetter  neben  fjätter  geschrieben. 

Man  könnte  darnach  vermuthen,  dass  die  Grenze  zwischen 
den  Gebieten  von  ia  und  iö  im  schwedischen  und  dänischen 
ursprünglich  keine  andern  gewesen  seien,  als  im  altnordischen, 
dass  aber  später  im  schwedisch-dänischen  ein  Theil  der  alten 
io  zu  ia  wurde  und  dabei  einige  iö  (io)  in  dieselbe  Bewegung 
zog.  Aber  ganz  befestigt  haben  sich  diese  ia  für  iö  (io)  nie, 
die  alten  Formen  werden  daneben  auch  gegolten  haben,  so 
dass  dem  altschw.  iatun^  giarthj  iarth  jetzt  jiUte,  gjord,  jord 
g^enübersteht,  dem  altdän.  ßatur,  fjäder. 

Die  Sache  bedarf  genauerer  Untersuchung. 

J.  Schmidt's  Ansicht  aber  unterliegt  anderen  Bedenken. 
Nach  ihm  ist  ia  immer  a-Umlaut  eines  iö  (io),  welches  aus  e,  i 
durch  folgendes  w,  v,  n-farbiges  h,  und  «-farbige  l-  und  r- Ver- 
bindungen entstanden  sei.  Die  Consequenz  dieser  Auffassung 
ist  eine  vollkommene  Scheidung  der  Fälle,  wo  Brechung  durch 
folgendes  u  veranlasst  wird  von  jenen  wo  r-  und  Z- Verbindungen 
vorliegen.  Denn  die  Grundformen,  welche  J.  Schmidt  für  beide 
Processe  voraussetzt,  sind  durch  Jahrhunderte  von  einander 
getrennt.  Das  nord.  Wort  iarl  (N.  Sg.)  kann  nach  seiner  Theorie 
nur  erklärt  werden,  wenn  man  iarlar  voraussetzt,  S.  398.  Ueber 
die  a  vor  dem  Nom.  r  s.  oben  8.  369  fif.  Und  ganz  entschieden 
in  die  Urzeit  führt  die  2.  Sg.  Imp.  hialpy  giald,  giall,  biarg, 
skialf,  deren  ia  aus  noch  älteren  eOy  io  nur  durch  die  alte 
Endung  a  zu  erklären  ist.  Analogie  des  Ind.  fallt  wog:  der 
heisst  helpr,  geldr,  gellr^  bergr,  skelfr. 

Auch  die  2.  PL  Prs.  Ind.  hialpid  kann  nur  vor  der  got. 
nord.  Färbung  des  Then^avocals  entstanden  sein,  —  die  3.  Sg. 


424  Heinzel 

Opt.  hialpi  begriffe  sich  zur  Noth^  wenn  man  die  alte  Endung 
-ait  vor  Augen  hat.  Aber  ai  der  Endung  ist  schon  in  Periode  I 
zu  6  geworden,  s.  unten. 

Dagegen  setzt  der  a-Stamm  ßöl^  fialar^  fiöluj  fiöl,  fialar^ 
fiala,  ßölum,  ßala,  eine  Zeit  voraus,  wo  N.  D.  A.  Sg.  D.  PI.  schon 
u  angenommen  hatten,  oder  wenigstens  einige  dieser  Endungen; 
s.  Vocalismus  2,  395. 

Auch  die  ti-Declination  zeigt  mit  ihrem  i  der  Wurzel  im 
D.  Sg.  N.  PI.  gegenüber  lö,  ia  in  den  übrigen  Casus,  dass  Fär- 
bung des  Gunadiphthongs  au  zu  tu  schon  eingetreten  war,  als 
man  das  ursprünglich  nur  für  N.  A.  Sg.  D.  A.  PI.  passende  w  auf 
G.  Sg.  G.  PL  übertrug,  wo  es  dann  unten  dem  Einfluss  des  fol- 
genden a  zu  ia  werden  musste,  Vocalismus  2,  395.  Bevor  tiara 
(Theer)  für  tiorva,  tiörva  entstand,  —  vgl.  tyrrj  D.  Sg.  <yn;i, 
Lundgren  Om  Substantivens  stammar  S.  47,  —  musste  sogar 
schon  V  ausgefallen  sein. 

Unmöglich  wäre  eine  solche  Wiederholung  des  Processes 
nicht,  stünde  aber  doch  sehr  vereinzelt  da. 

Der  Ausgangspunkt  fiir  J.  Schmidt's  Untersuchungen 
scheint  der  Gedanke  gewesen  zu  sein :  weil  bei  den  u-Stämmen 
wie  kiölr,  den  a-Stämmen  nach  giöf  und  den  va-Stämmen  nach 
hiörr  die  Brechung  deutlich  ihre  Ursache  in  folgendem  «,  v 
hat,  so  ist  es  einmal  wahrscheinlich,  dass,  wo  wir  Brechung 
vor  r-,  Z-Verbindungen  sehen,  ein  diesen  Lauten  innewohnender 
ti-ähnlicher  Klang  ebenso  wirkte  wie  dort  wirkliches  u,  t?,  — 
und  zweitens,  dass  unter  den  zwei  Brechungsformen  ia,  iö  jene 
die  ältere  sei,  welche  dem  u-hant  näher  steht.  —  Beiden  Folge- 
rungen stehen  Bedenken  entgegen.  Die  ältesten  Denkmäler  der 
nordischen  Sprache  erleichtern  Z-  und  r- Verbindungen  durch 
eingeschobenes  a,  kaum  je  durch  i,  s.  Bugge  Aarböger  1870, 
S.  209,  nie  durch  u,  so  abgesehen  von  den  a  vor  Nominativ-r, 
wie  HarabanaB,  waritu  Varnum,  warait  UariwalAfA,  Haera- 
walaflB  HathnwalAfR  Istaby. 

Aber  es  scheint  auch  gar  nicht  nothwendig,  dass  eine 
Assimilation  des  e  an  nachfolgendes  u  durch  Anfügung  des 
dem  u  nächstverwandten  Lautes,  des  o,  ein  e  bewerkstelligt 
werde,  auch  ea,  ia  ist  eine  Assimilation  des  e  an  u.  Und  nur 
eine  Art  Assimilation  erklärt  die  Sache,  da  man  eine  «-Moullie- 
rung   der   Tenuis   doch   nicht   annehmen   kann    —  fiöturr.    — 


üeber  die  Endsilben  der  altnordischen  Sprache.  425 

Wenn  aus  sekkva,  got.  sigqany  sökkva  (unser  Laut  ö)  wird,  so 
ist  auch  nur  die  dem  e  zunächst  stehende  Vertiefung  gewählt, 
0  läge  dem  u,  v  näher. 

Es  könnten  also  sowohl  u,  v  als  auch  die  i-,  r- Verbindungen 
ein  e  der  vorhergehenden  Silbe  zunächst  zu  ea,  ia  verändert 
haben.  —  Ob  nicht  die  sonderbare  Schreibung  der  Inschrift  von 
Istabj  II,  UaerawnlaflB,  auf  ea  deutet?  Zu  Qrunde  liegt 
offenbar  hiön',  s.  HiihUlfr.  Allerdings  auch  haera,  altn.  hSr^ 
Björkethorp  IL  Wie  ist  EirilaR  Vaeblungsnaes  I  statt  des 
gewöhnlichen . £n7a/f  zu  deuten? 

Wenn  aus  diesen  ia  iö  wurde,  so  ist  dies  ein  Fortschritt 
der  Assimilation,  vor  l-^  r  «Verbindungen  vielleicht  bedingt 
durch  veränderte  Articulation  dieser  Liquiden. 

Gegen  J.  Schmidt's  Annahme  sprechen  auch  die  com- 
ponierten  Nomina,  welche  gewöhnlich  ia  zeigen.  So  von  biörk 
Biarkey,  von  fiödr  bei  Cleasby  6  Beispiele  wie  fiadrhamr,  von 
giöf  10  Beispiele  wie  giafvinr,  von  hiörd  6  Beispiele  wie 
hiardhundr,  von  iörd  52  Beispiele  wie  tardfe,  von  miöll  2  Bei- 
spiele wie  miallhvttrf  von  biöni  14  Beispiele  wie  bianiskinn, 
von  hiörtr  3  Beispiele  wie  hiartskinn^  von  kiölr  3  Beispiele  wie 
kialtre  —  daneben  Möls^'a,  —  von  niördvj  Niördr  4  Beispiele 
wie  Niardmk,  von  hiörr  42  Beispiele  wie  hiördomr,  von  miöl 
10  Beispiele  wie  miölbelgr,  von  miödr  5  Beispiele  wie  miöd- 
drykkja,  Miödr  ist  u-Stamm,  hiörr,  miöl  i?a-Stämme.  Letztere 
stehen  allerdings  vereinzelt,  aber  u-Stämme  waren  auch  biöm, 
hiörtr,  kiölr,  niördr,  skiöldr.  Ein  Gesetz  lässt  sich  wohl  nicht 
abnehmen.  Aber  deutlich  ist,  dass,  wenn  wir  auch  in  den 
ersten  Bestandtheilen  der  Composita  eine  ursprünglichere  Wort- 
form erwarten  dürfen,  als  wo  sie  als  einfache  Wörter  auftreten, 
doch  in  einzelnen  Fällen  die  ursprüngliche  Gestalt  gegen  die 
gegenwärtige  Nominativform  aufgegeben  worden  sein  kann. 
Aber  wie  man  dazu  kam,  wenn  N.  Sg.  immer  biöi-n,  giöf  lautete, 
hiamakinn,  giafvinr  zu  sagen,  lässt  sich  nicht  begreifen. 

Wie  will  J.  Schmidt  ferner  aiau  erklären.  Ich  kann  in 
tiau  für  sibun  neben  fdö  nur  eine  erstarrte  Form  sehen,  in  der 
ia  trotz  des  folgenden  u  geblieben  ist. 

Das  Verhältniss  von  dau  zu  silX  erinnert  an  die  Ortho- 
graphie einer  norwegischen  Handschrift  aus  dem  Anfang  des 
vierzehnten  Jahrhunderts,  die  Liiiencron  Zs.  7,  568  beschrieben 


426  Heiniel. 

hat.  Sie  bezeichnet  den  ti-Umlaut  des  a,  wenn  «  weggefallen  ist, 
bei  erhaltenem  n  bleibt  er  unbezeichnet,  —  aök^  mannum. 

Ein  Punkt  verdient  noch  hervorgehoben  zu  werden.  Altn. 
idj  aus  e  vor  ursprünglichem,  vorgermanischem  v  oder  Uj  hat 
vielleicht  nicht  genau  dieselbe  Aussprache  gehabt,  wie  iö  vor 
einem  Uy  das  auf  altarischem  d  beruht.  Denn  im  altschwedischen 
finden  sich  jene  oben  S.  423  erwähnten  ia  nur  für  letzteren 
Fall:  jard  neben  jord,  aber  nicht  hjart  neben  kjort,  Blomberg 
Bidrag  tili  den  germaniska  omljudsläran  8.  14.  47.  53. 55.  Wahr- 
scheinlich lag  jö  von  altem  u,  v,  dem  ju,  einem  im  schwedischen 
beliebten  Laut,  Blomberg  S.  47,  nahe  und  entzog  sich  dadurch 
dem  oben  S.  423  angenommenen  Rückgange  auf  ja.  U  aus 
altarisch  u  wird  dagegen  mehr  nach  o  hin  ge&rbt  gewesen 
sein,  s.  oben  S.  373. 


AI. 

AI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  AI. 

E  als  angenommener  Vertreter  des  Lautes  in  I  ist 
inschriftlich  bezeugt,  müsste  aber  auch  ohne  äussere  Zeugnisse 
angesetzt  werden,  weil  w^ir  in  III  für  altes  ai  ein  i  treffen, 
das  keinen  Umlaut  wirken,  also  erst  in  dieser  dritten  Periode 
entstanden  sein  kann.  S.  oben  über  haniy  fadir^   tamdi  S.  374. 

Ueber  das  angesetzte  Dativsuffix  s.  unten  bei  ,äi  ursprüng- 
lich in  letzter  Silbe^ 

Die  2.  Sg.  Prs.  Imp.  1.  Sg.  Prs.  Ind.  der  Verba  nach  Para- 
digma vaka  sind  deutliche  Anzeichen,  dass  die  at-Classe  der 
schwachen  Verba  in  einzelnen  Formen  noch  erhalten  war. 
Vaki  ist  hier  nur  aus  dem  Thema  vakai  zu  erklären.  —  Die 
2.  Sg.  Imp.  hat  hier  wie  vielleicht  auch  das  gotische  und  sicher 
das  althochdeutsche,  Braune  in  seinen  und  PauPs  Beiträgen  2, 
153,  den  Stammesdiphthong  den  Auslautgesetzen  unterworfen. 
Abweichend  von  der  2.  Sg.  Imp.  der  dritten  schwachen  Conju- 
gation,  s.  oben  S.  373.' 

N.  PI.  Masc.  des  Adj.  hat  schon  in  I,  s.  singOsteB,  sich 
nach    Analogie    der   Substantiva    ein   r  zugesetzt,    s.   Lyngby 


Ueber  die  Endsilben  d«r  altnordiiclien  Sprache.  427 

Tidskrift  f.  phil.  6,  47,  und  die  ganze  Endung  ir  ist  dann  dem 
N.  PI.  Masc.  des  Pronomens  sä  angefUgt  worden^  the-dr.  Ebenso 
im  Neutrum.  Thau  ist  thä,  das  in  I  tho  gewesen  wäre,  wie  im 
gotischen,  mehr  u,  der  Endung  des  N.  A.  PI.  Subst  Adj.  Neut. 
Wie  der  Plural  vor  sä  ist  auch  tveir,  tvaer,  tvau  gebildet. 

Die  3.  PI.  Prs.  Opt.,  in  III  fari,  ist  im  .nordischen  regel- 
mässiger als  im  ahd.  faren^  das  sein  langes  e  wohl  nur  den 
übrigen  Personen  des  Plural  verdankt.  Keinesfalls  setzt  fori 
die  gotische  Endung  -aina  voraus :  die  hätte  in  III  nur  farin 
zum  Resultat  haben  können,  vgl.  got.  hlindana  (A.  Sg.  Masc), 
altn.  blwdan. 

Die  3.  Sg.  Prs.  Opt.,  in  III  fari,  wird  wie  im  got.  farai 
(fare)  und  ahd.  fare  die  regelmässige  Verkürzung  erlitten  haben. 

Aber  auch  wenn  auf  ai  noch  a,  ans,  as  folgt,  finden  wir 
in  ni  i  ohne  Umlaut  der  Wurzel.  Das  kann  entweder  auf 
Abfall  der  zweiten  a  in  der  Formel  aia  durch  Wirkung  des 
vocalischen  Auslautgesetzes  beruhen,  worauf  das  zurückbleibende 
Ol  in  I  ebenso  behandelt  wurde  wie  ai  ursprünglich  vor  der 
letzten  Silbe,  farim  (1.  PI.  Prs.  Opt.)  III,  von  farem  I,  s.  unten, 
—  oder  i  fiel  zwischen  beiden  a  aus  und  ä  machte  denselben 
Weg  wie  in  hani  faS>ir  III,  aus  hana  fadar  I,  hane  fader  II. 
Dass  für  die  Tabelle  die  erstere  Möglichkeit  gewählt  wurde,  ist 
ziemlich  willkürlich.  E  statt  a  in  I  für  altes  aia  hat  nur  den 
Vortheil,  dass  die  in  I  bezeugte  Form  des  N.  PI.  Masc.  der 
Adj.,  singOSteB,  aus  -ai  sich  leichter  erklärt^  wenn  daneben 
masc.  Substantiva  mit  gesetzmässigem  -e?*  erschienen.  Obwohl 
allerdings  tungur  N.  A.  PI.  sein  r  ohne  Analogie  einer  Declination 
erhält,  welche  gesetzmässig  -ur  im  N.  A.  PL  hervorbrachte. 
Jedenfalls  dürfen  burdir,  sottir  (N.  A.  PI.)  nicht  wegen  der  übrigen 
gernianischen  Sprachen  von  ijas  abgeleitet  werden.  Schon 
der  Hinblick  auf  vaki  (1.  Sg.  Prs.  Ind.  der  at-Classe)  verbietet 
dies.  Vaki  kann  nur  von  aia  stammen  und  hat  in  lU  i  ohne 
Umlaut.  Die  mögliche  Urform  von  burdir  auf  aias  wird  dadurch 
beinahe  zur  Nothwendigkeit.  Färbung  des  Gunadiphthongs  in 
der  nord.  i-Declination  ist  seltene  Ausnahme;   s.  oben  S.  399. 

Leskien  Die  Declination  S.  79  —  er  hält  bekkr  fiir  einen 
t-Stamm,  s.  oben  S.  398  —  erklärt  den  Mangel  des  Umlauts  bei 
burdr  als  eine  Rückkehr  zum  reinen  Laut.  Im  nordischen 
ganz  unglaublich,  s.  oben  S.  413. 


428  Heinzel. 

Die  Analogie,  welche  er  anführt,  Uebergang  einer  Reihe 
von  (^-Stämmen  in  die  i-Classe  durch  äusserliche  Annahme  der 
Pluralendungen  N.  A.  auf  iV,  ohne  deren  nothwendige  Wirkung, 
den  Umlaut,  beruht  wieder  auf  der  willkürlichen  Annahme, 
dass  ir  nothwendig  für  altes  ir  aus  ijas  stehen  müsse.  Gerade 
dadurch,  dass,  kein  Umlaut  der  Wurzel  stattfand,  war  eine 
Mischung  der  d-  und  i-Stämme  möglich  oder  erleichtert. 

Ueber  den  A.  PL  der  i-Stämme  s.  oben  S.  413. 

Sicher  ergab  ai  mehr  ?*  in  I  e  wie  einfaches  ai.  Ob  vaki 
(3.  Sg.  PI.  Prs.  Opt.)  in  III  mit  den  gotischen  und  althochdeutschen 
Formen  übereinstimme,  können  wir  nicht  sagen,  got.  hahai  ist 
zweideutig,  habaina^  eine  dem  nordischen  fremde  Bildung,  s. 
oben  S.  427,  ahd.  habee,  habeen  nicht  klar.  S.  Braune  in  seinen^ 
und  PauFs  Beiträgen  2,  136  Anm. 

Worin  die  Flexionslosigkeit  des  D.  Sg.  der  masc.  und 
fem.  t-Stämme  ihren  Grund  hat,  ist  schwer  zu  sagen.  S.  400 
war  für  gestr,  aett,  dtt  -ii  als  alte  Endung  vermuthet  worden. 
Aber  der  D.  Sg.  der  grossen  Mehrzahl  der  {-Stämme  kann  sich 
nicht  daraus  entwickelt  haben.  Alle  organischen  Erklärungen 
sind  unmöglich  oder  unwahrscheinlich.  Aii  hätte  in  UI  t  ergeben 
ohne  Umlaut,  aus  e  in  I,  II,  wie  vaki  (3.  Sg.  Opt.),  —  -iji 
ge&rbter  Gunadiphthong,  —  s.  got.  gaateia,  ansteis  (N.  PL),  s. 
Scherer  Zs.  f.  österr.  Gymn.  1873,  S.  294,  —  wäre  in  III  t 
geworden  mit  umgelauteter  Wurzel,  in  I.  II  langes  t,  —  von 
ii  als  i  ausgesprochen  —  vgl.  hellis  (G.  Sg.),  s.  oben  S.  409, 
und  slaw.  kosti  aus  kostii  —  hätte  man  in  I.  II  i  erhalten,  das 
in  II  Umlaut  gewirkt  hätte  um  in  III  zu  verschwinden,  vgl.  tsm 
(2.  Sg.  Imp.).  —  Aussprache  des  ü  als  ji  würde  den  Abfall  der 
Endung  in  I  erklären,  ist  aber  bedenklich  wegen  des  D.  Sg.  gest, 
aett  und  wegen  der  fast  durchweg  langen  Wurzeln  der  Feminina, 
weiche  kaum  das  bequeme  ii,  i,  für  das  unbequeme  ji  vertauscht 
hätten ;  s.  oben  S.  392  f.  Analogie  der  consonantischen  Feminina 
nach  Paradigma  rot,  N.  PL  roetr,  oder  nach  Paradigma  froedi 
konnte  hier  nicht  so  leicht  wirken,  als  im  ahd.,  da  im  nordischen 
auch  die  masc.  i-Stämme  ihre  eigenthümliche  Declination  im 
Singular  erhalten  haben.  Die  consonantischen  Masc.  aber  haben  i 
im  D.  Sg.,  fingn,  foetiy  —  an  födur  ist  nicht  zu  denken.  —  Viel- 
leicht waren  ursprünglich  die  Endungen  aii  und  ii  gleich- 
berechtigt: erstere  ergab  bürde  I.  II,    burdi  III,   letztere  hurdi 


tJeber  die  Endsilben  der  altnordipchen  Sprache.  429 

I,  byrdi  U,  byrd  UI,  —  und  bv)d  entstand  in  III  aus  dem 
Schwanken  zwischen  burdi  und  byrd.  Man  fasste  den  Umlaut 
in  byrd  wahrscheinlich  als  Fehler  auf^  weil  man  daneben  artni 
und  arm  (D.  Sg.)  hörte. 

Folgt  auf  ai  aber  -am,  -iam,  -ämy  so  entsteht  offenbar 
nach  Ausfall  des  j  übermässiges  ä,  das  nach  Auslautgesetz 
die  Länge  6  zurücklässt,  s.  oben  S.  373.  Der  Fall  aiam  (1.  Sg. 
Prs.  Opt.)  woraus  aam ,  vergleicht  sich  dem  G.  PI.  der  con- 
sonantischen  Stämme,  -6  I  aus  -änu  —  Denn  am,  nicht  ?», 
wird  in  jenem  arischen«  Dialekt,  aus  dem  die  nordische 
Sprache  hervorging,  an  das  Moduszeichen  der  1.  Sg.  Prs.  Opt. 
getreten  sein,  wie  man  es  füi*  das  gotische  annehmen  muss, 
s.  Scherer  GDS.  S.  472.  228.  Die  übrigen  germanischen 
Sprachen  setzen  -i-m  voraus.  Aus  aim  aber  wäre  got.  nie 
a«,  nord.  III  nie  a  hervorgegangen.  Vgl.  oben  über  1.  Sg.  Opt. 
Pf.  S.  403. 

Aber  auch  der  G.  Sg.  der  i-Stämme  hat  in  III  -avy  weist 
also  auf  -ör  unserer  Periode  zurück,  burdar,  aSttar,  im  Gegen- 
satz zu  dem  auf  die  gleiche  Urform  zurückgehenden  N.  PI. 
burdir,  sottir.  An  ijas  ist  natürlich  noch  weniger  zu  denken 
als  im  N.  PI.  Aber  aias  wurde  anders  behandelt  als  im  N. 
PL  Dort  standen  einst  der  Endung  aias  von  i-Stämmen  die 
Endungen  äs  von  a-,  ^-Stämmen  und  ivas  von  u-Stämmen 
gegenüber,  wesentlich  von  einander  abweichende  Formen,  deren 
Einfluss  auf  aias  sich  gegenseitig  aufhob.  Im  G.Sg.  können 
nur  verglichen  werden  äs,  G.  Sg.  der  a-Stämme,  und  ungefärbtes 
aucu  von  ii-Stämmen.  Hier  ist  es  eher  begreiflich,  dass  die 
Form  äs  die  beiden  andern  gänzlich  aufzehrte.  Vielleicht  fiel 
schon  vorgermanisch  j,  v  in  ajas,  avas  aus  und  äs  galt  als  über- 
mässig. N.  A.  Sg.  der  fem.  i-Stämme  sind  ja  auch  den  a-Stäm- 
men  nachgebildet. 


AI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  AI. 

Ai  mit  langem  a  wurde  zum  Theil  von  ai  mit  kurzem 
4X  unterschieden,  zum  Theil  als  derselbe  Laut  aufgefasst.  Die 
ächten  Dative  Sg.  der  nominalen  ä-Stämme,   der  pronominalen 


430  Heiasal. 

a-Stämme  der  Masc.  and  Neut.  haben  u,  zum  Theil  noch  in 
ni  vöku  neben  vök,  spöku.  Dass  daneben  in  spökuni  (D.  Sg. 
Masc.)  tt  durchweg  abgefallen  ist,  kommt  wohl  auf  Rechnung 
der  Pluralform ;  vgl.  theim  D.  Sg.  PI. 

Nicht  übersehen  werden  darf,  dass  die  u  aus  di  beständiger 
sind  als  jene,  welche  aus  einfachem  d  entspringen,  diese  sind 
in  in  niemals  erhalten.  Zum  deutlichen  Zeichen,  dass  erst  i 
abfiel,  dann  d  etwas  später  als  das  ursprünglich  auslautende  d 
seinen  Weg  zu  kurzem  u  einschlug. 

Spöku  (D.  Sg.  Neut.)  anders  denn  als  ächten  Dativ  auf- 
zufassen, wäre  misslich.  Locativ  -ai  ei^äbe  in  III  t,  Ablativ 
nach  Massgabe  der  Adv.  a,  Instrumental,  bei  dem  man  auch  6 
aus  übermässigem  d  (ad)  vermuthen  könnte,  nach  Massgabe 
des  ahd.  alts.  allerdings  auch  n,  aber  eines,  das  sich  in  III 
nur  mehr  durch  Umlaut  der  vorhergehenden  Silbe  verriethe. 

Wie  im  got.  D.  Sg.  Fem.  der  Adj.  ohne  sja,  so  ist  im 
nord.  D.  Sg.  Neut.  ohne  sma  gebildet. 

Wohl  aber  könnten  Locative  sein  die  D.  Sg.  thvt  km  für 
älteres  thvi  hvij  das  in  unserer  Periode  thve  hve  gelautet  hätte, 
—  aber  ebenso  möglich  ist  es,  dass  auch  hier  wirkliche  Dative 
vorliegen,  wie  im  Femininum  der  pronominalen  Declination, 
wobei  dann  di  wie  ai  behandelt  wurde;  vgl.  to>,  tv)  quoiy  und 
got.  thi  hve  spricht  dafür.  E  wäre  zu  beurtheilen  wie  in 
ainummShun  u.  dgL,  die  Länge  im  Auslaut  einer  einsilbigen 
Form  bewahrt  wie  sonst.  Da  altn,  thvi  h%  und  got.  thve  hve 
sich  aus  di  erklären  lassen,  aus  dem  Locativ  aber  nicht,  der 
wäre  got.  wohl  thai  hvai,  ebensowenig  aus  dem  Instrumental, 
der  altn.  thu  hvu  lauten  müsste,  oder  aus  dem  Ablativ,  für 
den  man  got.  nur  tho  hvo  erwarten  konnte,  sind  wir  wohl 
genöthigt  uns  für  den  Dativ  zu  entscheiden. 

Dieselbe  Ungenauigkeit  in  Behandlung  der  äi  auch  im  Opt 
Prs.  der  schwachen  Verba  dritter  Conjugation  (got.  6-Themen), 
wenn  nicht  junge  nach  der  Umlautperiode  eingetretene  Fonn- 
übertragung  stattfand. 

Wie  bei  kurzem  ai  scheint  i  oder  j  ausgefallen,  wenn 
auf  di  am  folgte.  Es  entstand  übermässiges  a,  welches  in  I 
Länge  zurückliess. 

Auffällig  ist  thaiaB  (A.  PI.  Fem.  des  Dem.  Pron.)  in  der 
Inschrift  von  Istaby  II,  was  in  unserer  Periode  thaior  gewesen 


Ueber  die  Endsilben  der  altnordivchen  Sprache.  431 

wäre.  Man  könnte  an  thdi-ch  denken,  an  eine  Uebertragung 
der  fem.  Nominalendung  schon  vor  den  Auslautgesetzen,  — 
ihdi  wäre  ja  sonst  in  I  the  oder  thu  geworden,  —  auf  den  wie 
im  lat  und  griech.  mit  i  gebildeten  N.  PL  Aber  es  ist  unwahr- 
scheinlich, dass  diäa  anders  behandelt  worden  sein  sollte,  als 
-aiamy  aiäm.  Vielleicht  wurde  erst  in  II,  nachdem  man  an  ihe 
(N.  PI.  Masc.)  I.  II  -iV,  an  tho  (N.  PL  Neut.)  I,  thä  II  -u  angehängt 
hatte,  s.  S.  426  f.  und  so  diese  Endungen  ganz  adjectivisch  geworden 
waren,  das  noch  übrig  gebliebene  thdr  I,  thär  II  (N.  PL  Fem.) 
als  eine  Unregelmässigkeit  empfunden.  Nach  dem  Wurzelvocal 
sollte  die  Adjectivendung  folgen,  thoor  war  nicht  deutlich  genug, 
man  wählte  die  Endung  der  ya-Stämme,  in  lU  fraegjar,  also  in 
II  thdjär.  Die  Schreibung  mit  i  statt  j  wie  iah  fiir  jah  in  der  In- 
schrift von  Varnum.  —  In  II  aber  mussj  Umlaut  wirken.  ThaiaR 
steht  also  für  tkaejar,  In  III  fallt  j  aus  und  thaear  wird  thaer^ 
wie  dar,  dr.   Ebenso  wäre  natürlich  tvaer  zu  beurtheilen. 

Da  thaiar  sicher  in  der  Bedeutung  has  überliefert  ist 
und  das  altn.  thaer  sich  daraus  begreift,  so  scheint  es  mir 
unnöthig  hier  mit  Bugge  Tidskrift  f.  phiL  7,  320,  an  den 
t-Umlaut  des  r  zu  denken ,  von  dem  Blomberg  Bidrag  tili 
omljudsläran  S.  17  allerdings  einige  beachtenswerthe  Beispiele 
gibt;  berr  (nudus),  her  (vas),  usw.,  ohne  j  vor  ö,  u  trotz  der 
kurzen  Wurzel.  —  Wenn  daneben  auf  der  Einanger  Inschrift 
thaB  vorkommt,  so  ist  das  vielleicht  die  dem  got.  thos  ent- 
sprechende Nebenform.  Aber  man  sollte  tho^^  erwarten,  es 
müsste  denn  die  Inschrift  an  das  Ende  der  ersten  Periode 
fallen.  Oder  ist  es  das  Adv.  thar?  s.  Scherer  GDS.  465.  — 
Auch  im  Anfang  der  verzweifelten  Rökinschrift,  die  schon 
nach  III  gehört,  liest  Bugge  Tidskrift  f.  phiL  9,  112  wohl 
richtig :  aft  Uaninth  stAnta  ranaB  thaB,  was  dieselben  Deu- 
tungen zulässt. 

Dem  alten  ai  entspricht  demnach  im  nordischen  e,  später 
t,  dem  alten  di,  u  und  ebenfalls  e,  später  t.  Es  kann  nicht 
zweifelhaft  sein,  dass  u  die  eigentliche  Vertretung  des  alten  di 
ist,  ej  i  beruht  auf  einer  Vernachlässigung  des  Quantitätsunter- 
schiedes.  Dass  u  von  di  stammt,  ist  nach  dem,  was  wir  über  d 
wissen,  begreiflich,  u  von  ai  wäre  aller  Erfahrung  wider- 
sprechend. 


432  Heinsei. 

Kurz  und  lang  ai  haben  demnach  oder  können  in  I 
dieselbe  Lautgestalt  haben,  wie  gefärbtes  a  in  den  Adj.  auf 
Suffix-an,  -ag,  oder  i  in  den  Adj.  auf  4n,  -ig;  s.  oben  S-  420. 
Von  n  ab  schliessen  sich  beiden  Gruppen  die  e  an^  welche 
auf  vorgermanisch  d  zurückgehen,  s.  oben  S.  372  f. 


ExGurs  Über  die  Yorgermanischen  Endungen  mit  ai,  di. 

Ebenso  wie  die  westgermanischen  Sprachen  mit  dem 
nordischen  in  Bezug  auf  u  aus  auslautendem  alten  ä  überein- 
stimmten; zeigen  sie  uns  auch  hier  u  für  äi,  nui*  zum  Theil 
mit  grösserer  Consequenz  als  das  nordische. 

altn.  tkeim   (D.  Sg.  Masc),   blindnm   (D.  Sg.  Masc.) ,  giöf(u)  (D. 
Sg.),  theirri  (D.  Sg.  Fem.),  hlindri  (D.  Sg.  Fem.), 

ahd.  demu  (D.  Sg.  Masc),  blintemu  (D.  Sg.  Masc),  gebu  (D.  Sg.), 
deru  (D.  Sg.  Fem.),  blinteru  (D.  Sg.  Fem.), 

alts.    themu  (D.  Sg.  Masc),  blindamu  (D.  Sg.  Masc),  geiu  (D.  Sg.), 
theru  (D.  Sg.  Fem.),  blindaru  (D.  Sg.  Fem.), 

ags.    thdm  (D.  Sg.  Masc),  blindum  (D.  Sg.  Masc),  gife  (D.  Sg.), 
thaere  (D.  Sg.  Fem,),  blindre  (D.  Sg.  Fem.), 

altfr.  tham   (D.  Sg.  Masc),    jeve    (D.  Sg.),    there    (D.  Sg.  Fem.), 
blindere  (D.  Sg.  Fem.). 

Ahd.,  alts.  haben  durchweg  u,  die  richtige  Entsprechung, 
das  ags.  hat  noch  weniger  u  erhalten  als  das  nordische  und  gar 
keines  das  altfriesische,  welches  auch  von  u  aus  auslautendem 
langem  a  nur  N.  A.  PL  der  Neutra  kennt. 

Noch  nähere  Uebereinstimmung  bei  altem  ai» 

altn.  fiski,  landi  (D.  Sg.) ,   [blindir]  (N.  PI.  Masc.) ,  fari  (3.  Sg. 

Opt),  heiti  (1.  Sg.  Pass.), 
ahd.  fiske,  lande  (D.Sg.),  blinde  (N.  PL  Masc),  fare  (3.Sg.0pt.), 
alts.  fsice,  lande  (D.Sg.),  blinde  (N.  PL  Masc),  fare  (3.Sg.0pt.), 
ags.  fisce,  lande  (D.Sg.),  blinde  (N.  PL  Masc),  fare  (3.Sg.Opt.), 

hätte  (1.3.  Sg.  Pass.), 
altfr.  >fce,  Uinde  (D.Sg.),  blinde  (N.  PL  Masc),  fare  (3.Sg.Opt.). 


Ueber  die  Endsilben  der  altnordischen  Sprache.  433 

Neben  e  im  ahd.,  alts.,  altfr.  überall  auch  «.  Ob  darauf 
etwas  zu  geben  ist^  dass  altfr.  nur  hier,  nicht  aber  wo  altes 
dl  entspricht,  a  als  Nebenform  angeführt  wird,  untersuche 
ich  nicht. 

Wichtiger  ist  das  gotische.  In  die  gewonnene  Proportion 
ai  :  di  =z  e  :  u  wäre  für  e  und  u  jedenfalls  ai  und  a  einzusetzen. 
Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein  in  welcher  Ordnung. 

dt:  thamma  (D.  Sg.  Masc.  Neut.),  5-fiWamwa  (D. Sg.  Masc. Neut.), 
gibai  (D.  Sg.),  thizai  (D.  Sg.  Fem.),   hlindai  (D.  Sg.  Fem.), 

ai:   daga,   landa  (D.  Sg.),    hlindai  (N.  PI.  Masc.) ,  farai  (3.  Sg. 
Opt.),  haitada  (3.  Sg.  Pass.). 

Da  im  gotischen  a  aus  altem  d  des  Auslauts  entsteht, 
wie  u  in  den  andern  germanischen  Sprachen,  ja  die  Länge 
des  Vocals  als  e  noch  erhalten  ist  im  ainummekun^  hvammehy 
hvarjammeh ,  so  muss  a  in  unseren  Fällen  als  Vertreter  des 
alten  äi  aufgefasst  werden,  ai  demnach  die  gotische  Form  für 
altarisches  ai  bezeichnen.  Dazu  stimmt  gut  thamma,  blindamma, 
ebenso  hlindai  (N.  PI.  Masc),  farai  (3.  Sg.  Opt.).  Nur  gab  es 
Uebertragungen.  Thamma,  hlindamma  zog  daga,  landa  nach 
sich,  —  im  gotischen  ist  ja  der  D.  Sg.  Neut.  nicht  wie  im 
nordischen  von  dem  D.  Sg.  Masc.  verschieden ;  —  während  in 
gibai  (D.  Sg.).,  hlindai^  thizai  (D.  Sg.  Fem.)  die  Länge  des  di 
vernachlässigt  wurde.  —  Haitada  (3.  Sg.  Pass.)  verdankt  sein  a 
statt  ai  wohl  der  3.  Sg.  Perf.  lud.  der  schwachen  Verba. 

Der  Lautwerth  dieser  ai  kann  nur  kurzes  e  gewesen  sein, 
da  der  Diphthong,  welchen  die  gotische  Formel  ai  bezeichnen 
kann,  durch  das  Auslautgesetz  ausgeschlossen  ist.  Es  ist,  da 
doppelte  Verkürzung  des  di  feststeht,  nach  dem  Zeugnisse  der 
übrigen  Dialekte  und  bei  der  durchgehenden  Empfindlichkeit 
der  germanischen  Sprachen  für  i  letzter  Silbe  unglaublich,  dass 
ai  auf  dem  arischen  Standpunkt  verblieben,  dt  zu  a  geworden 
sei.  Gegen  Braune  in  seinen  und  Paulis  Beiträgen  2,  163. 

Scherer  QDS.  S.  118  f.  nimmt  als  gotische  Entsprechung 
eines  arischen  kurzen  ai  Wechsel  von  a  und  ai  (e)  an,  der  aber 
nicht  wie  ahd.,  alts.  in  6iner  Wortform  sich  zeige,  sondern  für 
D.  Sg.  Masc.  Neut.  der  a-Stämme  und  für  das  Passivum  wurde 
a  gewählt,    für   N.  PI.  Masc.  der  pronominalen  Declination,  für 

SiUnngsber.  d.  phlL-hist.  Cl.  LXXXYH.  Bd.  I.  Hft.  28 


434  Heinzel. 

3.  Sg.  Opt.  ai.  Ein  solcher  Wechsel  ist  nach  den  übrigen  ger- 
manischen Sprachen  nicht  wahrscheinlich.  Vor  allem  aber  ist 
der  Thatsache  nicht  Rechnung  getragen,  dass  dort,  wo  wir  mit 
allem  Fug,  wenn  nicht  dringende  Gründe  abrathen,  vorgerma- 
nisches dl  annehmen  dürfen^  sich  ganz  derselbe  Wechsel  zeigt, 
a  und  aiy  thamma  imd  hlindai  (D.  Sg.),  dass  also  wie  in  den 
Schwestersprachen  für  die  beiden  alten  Diphthonge  ai  und  di 
sich  zwei  Zeichen  finden,  die  wir  ohne  Noth  nicht  für  Vertreter 
dreier  Laute  f«,  ai,  e)  halten  werden.  Wohl  aber  können  wir  bei  so 
nahverwandten  Lauten  wie  ai,  di^  die  im  D.  Sg.  in  ähnlicher 
Function  auftreten,  auf  Verwechslungen  imd  Formübertragungen 
gefasst  sein.  So  lange  es  irgend  möglich  ist,  got.  a  und  ai  dem 
alten  ai  und  di  gegenüberzustellen,  sind  wir  nicht  berechtigt 
ein  Schwanken  in  der  Vertretung  anzunehmen. 

Weder  ein  sonst  im  germanischen  nicht  vorkommender 
Locativsuffix  für  D.  Sg.  gibai  ist  nöthig,  —  Scherer  GDS. 
S.  118.  287.  423,  Leskien  Declination  im  slaw.,  litt,  und 
germ.  S.  43  f.,  —  noch  ein  Instrumental,  —  Braune  a.  a.  0. 
2,  161,  —  oder  ein  dem  slaw.,  litt.  germ.  sonst  unbekannter 
Ablativ,  Paul  a.  a.  O.  2,  339  für  D.  Sg.  daga.  Auch  ist  das 
Aufgeben  der  Dativendung  wohl  für  die  Form  des  Locativs, 
nicht  aber  für  die  des  Instrumentals  oder  Ablativs  wahrschein- 
lich. —  Der  germanische  D.  Sg.  der  Nomina  Masc,  Fem.  und 
Neut.  ist  Locativ,  vielleicht  mit  Ausnahme  der  el-Stämme,  wo 
di  aus  d'i  oder  d-ai  stammen  kann. 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  AI. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 
Durchweg  in  DI  i  ohne  Umlaut,  also  e  in  unserer  Periode, 
wie  in  ursprünglich  letzter  Silbe.  Auch  aii  folgt  hier  wie  dort 
dieser  Entwicklung. 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  AI. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 
Die    schwachen   Verba    der    ai-Classe    scheinen    wie   die 
kurzwurzeligen   der  ersten  bereits  in  I  das  aus  ai  entstandene 


Ueber  di«  Endsilben  der  dltnordischen  Sprache.  435 

e  vor  dem  Hülfsverb  der  Perf.  verloren  zu  haben,  da  in  II 
das  iy  j  des  Optativs  den  Wurzelvocal  umlautet,  in  III  Ind. 
vaktaj  Opt.  vekta. 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Lang  AI. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 
Derselbe  Vorgang  wie  bei  kurz  ai. 


JAL 

JAI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Knrz  JJLI. 

Nichts  fuhrt  darauf,  dass  jaij  jdi  schon  vor  dem  Auslaut- 
gesetz zu  t  zusammengezogen  worden  sei.  Auch  bei  ja,  ja 
schien  diese  Annahme  nur  fiir  Paradigma  froediy  oben  S.  403 
und  für  die  S.  394  f.  angeführten  Fälle  sich  zu  empfehlen.  Auch 
zeigen  die  andern  germanischen  Sprachen,  wo  jai^  jdi  zu  Grunde 
liegt,  überall  noch  j  bewahrt,  oder  lassen  durchblicken,  dass 
sie  es  einmal  gehabt  haben.  Es  ist  somit  am  sichersten  für 
ai,  di  in  jaij  jdi  dieselbe  Entwicklung  anzunehmen,  wie  für 
einfaches  at,  di. 

Nur  D.  Sg.  der  ^a-Stämme  Masc.  hekk  neben  hekki  gegen- 
über helli  in  in  könnte  zur  Vermuthung  führen,  dass  hier  jai 
wie  Jos  behandelt  worden  sei :  hekk  :  helli  (D.  Sg.)  =  bekkr  : 
JieUir  (N.  Sg.),  —  dass  also  in  I  bakji  später  baki,  s.  oben 
S.  395.  397,  neben  hallt  aus  vorgermanisch  bakjai,  hallijai  anzu- 
setzen wären.  Aber  bekk  (D.  Sg.)  neben  kyni  wie  kiaedi  (D.  Sg.) 
ist  gewiss  eine  Analogieform  und  bekki  die  alte  richtige  En- 
dung. Da  bekh'  in  Folge  jüngerer  Entwicklung,  vielleicht 
durch  Vermittlung  von  gestr,  s.  oben  S.  400,  N.  A.  PI.  bekkir^ 
hekki  bekommen  hat,  also  den  t-Stämmen  sehr  ähnlich  ge- 
worden ist,  begreift  es  sich,  dass  man  auch  den  D.  Sg.  nach 
Paradigma  burdJr  bildete. 

28* 


436  UeiDzel. 

Die  in  I  angesetzten  je  werden  von  II  ab  denselben  Ent- 
wicklungsgang durchgemacht  haben,  wie  die  e  von  altem  ai 
oder  von  altem  dn,  dr,  dt :  also  je  blieb,  wirkte  natürlich  Um- 
laut in  II,  in  III  Färbung  des  e  zu  i  und  Abfall  des  j. 

Jaiam  (1.  Sg.  Opt.  Prs.  der  jf'a- Stämme)  hat  i  früh  ver- 
loren, wie  -aiam,  -aiiamj  -aidm,  -aias  -diarnj  -dias^  da  wir  es 
behandelt  finden  wie  -jdm  :  temja^  hergja  :  doema  =  fraegja  : 
vaena  (A.  Sg.  Fem.)  =  kynja,  hekkja  :  hella^  klaeda  (G.  PL). 

JAI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  JAI. 

Jdi  verliert  i,  wie  jedes  i  letzter  Silbe  verloren  gehen 
muss,  und  jd  wird  zu  juy  wie  d  zu  Uy  das  in  III  noch  erhalten 
ist,  wie  im  D.  Sg.  vöiw,  D.  Sg.  Neut.  spöku. 

Was  den  D.  Sg.  der  nominalen  ^a-Stämme  anbelangt,  so 
verhält  sich  engju  zu  der  Nebenform  e^tg  offenbar  wie  vöku 
zu  vök.  Das  u  von  di  ist  etwas  länger  bewahrt  als  u  von 
auslautendem  d  oder  altes  ti,  in  III  durchaus  vök  (N.  Sg.),  lönd 
(N.  A.  PL),  sunu  (A.  Sg.),  zwar  in  Inschriften  aus  dem  Anfang 
der  dritten  Periode,  aber  sun  in  der  Literatur.  Eng  in  III  steht 
also  für  engj,  —  Aber  auffällig  ist  ei^mi  (D.  Sg.)  neben  vaenu 
(D.  Sg.  Neut.).  Man  sollte  ermuy  erm  vermuthen.  Vielleicht 
haben  die  i-Formen  des  N.  A.  Sg.  dazu  beigetragen,  dass  ein 
früheres  ermiju  sein  u  definitiv  verlor,  worauf  ermi  blieb. 

Jdiam  (1.  Sg.  Opt.  Prs.  der  y(J-Stämme)  muss  i  früh  ver- 
loren  haben,  wie  -jaiam,  s.   oben.     Das  Resultat   ist  dasselbe. 

Die  3.  Sg.  PL  Opt.  Prs.  der  Stämme  auf  jd  haben  in  III 
ebenfalls  i  und  Umlaut,  mögen  also  denselben  Weg  gegangen 
sein:  eggje,  eggjen  I.  II,  eggi,  eggt  III. 

JAI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  JAL 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

In  III  durchaus  i  und  Umlaut,  also  nach  Analogie  von 
ai  in  I  je,  in  II    desgleichen,    in   III  Färbung   des  e  zu  t  und 


Ueber  die  Endsilben  der  aUnordischen  Sprache.  437 

Ausfall  des  j,  —  Auch  jdi  in  1.2.  PI.  2.  Sg.  Prs.  Opt.  scheint 
so  behandelt  worden  zu  sein.  Also  aggjem,  aggjedy  aggjer  in  I, 
eggjem,  eggjed,  eggjer  in  II. 


AU. 

AU  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Der  D.  Sg.  der  ti-Classe  velli  setzt  -iui  aus  -aui  voraus. 
Aus  'im  wurde  entweder  schon  vor  dem  Auslautgesetz  -jui, 
-n,  nach  demselben  %  wenn  wir  nicht  nach  dem  Muster  von 
bekkir,  bekki  (N.  A.  PL),  s.  oben  S.  397.  399.  408,  .jüngere  Con- 
traction  des  ju  zu  {  in  I  oder  II  annehmen  wollen.  In  beiden 
Fällen  wäre  kurzes  i  und  Umlaut  der  Wurzel  in  HI  Resultat. 
Aber  letzterer  Weg  ist  unwahrscheinlich,  da  die  Coritraction  nach 
dem  Auslautgesetz  selbst  bei  ja  sehr  vereinzelt  ist  und  wir 
hier  nicht  wie  dort  eine  äussere  Veranlassung  dazu  nachweisen 
können;  s.  oben  S.  399.  Ju  von  Ja,  jai  erhält  sich  bis  II  und 
selbst  bis  III :  tem  (1.  iSg.),  fraegju,  vaenu  (D.  Sg.  Neut.).  Da 
ist  es  wohl  gerathener  die  Contraction  des  tu,  ju  in  {  vor  das 
vocalische  Auslautgesetz  zurückzuverlegen,  -iwi,  -jui,  -ti,  nach 
dem  Auslautgesetz  ?,  in  III  i  mit  Umlaut  der  Wurzel. 

Dasselbe,  d.  i.  derselbe  unbeträchtliche  Grad  von  Wahr- 
scheinlichkeit, gilt  vom  N.  PI.  Auch  hier  ist  der  begreiflichste 
Weg  iuas,  -juas,  -las,  nach  Auslautgesetz ,  vielleicht  über 
'ijas  'tr,  in  III  ir  mit  Umlaut  der  Wurzel.  Also  abweichend 
vom  got.  sunjus;  aber  das  westgermanische  suni,  neben  welchem 
ganz  vereinzeltes  ahd.  suniu,  ist  vielleicht  mit  der  nordischen 
Form  identisch. 

Aber  der  G.  Sg.  vallar  III,  der  auch  auf  mias  zurück- 
geht, wurde  anders  behandelt,  ebenso  der  G.  PI.  valla  III.  — 
Ueber  die  Genitivendung  ar  des  Singulars  und  den  hier  wahr- 
scheinlichen Ausfall  des  v  in  avas  s.  oben  S.  432.  Dieselbe 
Entwicklung  wie  im  G.  Sg.  auch  im  G.  PI.,  —  wenn  wirklich 
hier  au  vorhanden  war.  Abneigung  gegen  v  nach  kurzem  Vocal 
ist  auch  in  III  sehr  ersichtlich,  s.  Grimm  Gramm.  1^  260  f.,  Holtz- 
mann  Gramm.  1,  120.  Snivinn  ist  nur  dichterisch,  s.  Wimmer 
Gramm.  §.  122,  9. 


438  Heinifl. 


Excurs  über  die  yConsonantischen  Stamme'. 

N.  PL  foetr  verhält  sich  zu  N.  PI.  ve«iV,  wie  hekkr  (N.Sg.) 
zu  hellir  usw.  Da  der  Sing,  deutlich  einen  ti-Stamm  verräth, 
—  D.  Sg.  foeti,  —  so  ist  es  hier  wohl  sicher,  dass  altes  -auctSj 
'iuas  sein  u,  v  vor  dem  Auslautgesetz  verloren  hat,  und  -üu, 
-ja8  dann  nach  demselben  -ir  ergab,  wie  bei  hekkr  aus  bakja»\ 
s.  oben  S.  394.  DohtriR,  in  III  doetrj  ist  überliefert;  s.  Wimmer 
Navneordenes  böjning  S.  54.  99.  —  Warum  dieser  masculine 
u-Stamm  —  auch  got.  fotus  —  anders  behandelt  wurde,  als  die 
Masc.  nach  vöUr,  ist  räthselhaft.  Bei  vetry  got.  vi^UniSf  könnte 
man  vermuthen,  dass  das  consonantische  Fem.  vaettr,  N.  A.  PI. 
vaettr,  von  Einfluss  gewesen.  —  Vielleicht  wurde  foetr  hendr 
nachgebildet,  s.  Qislason  Tidskrift  f.  phil.  6,  250;  denn  wie 
fotr  gehen  im  Plural  die  a-Stämme  verwandter  Bedeutung 
fingVy  nagl.  Aber  auch  madr  und  Völkernamen:  madr^  wohl 
durch  Vermittlung  seines  organischen  N.  A.  PI.  mannr  nach 
consonan tischer  Declination,  vgl.  mdnaär^  manudr  (N.  PI.)  in 
der  Graugans,  Lyngby  Tidskrift  f.  phil.  6,  45,  —  und  nach 
madr  haben  sich  die  Völkemamen  gerichtet,  wie  nach  kyr,  spr, 
aer  der  Plural  yxn  von  uxi;  s.  unten. 

Was  die  Feminina  anbelangt,  deren  N.  A.  PI.  in  III  wie 
das  Masc.  fotr  nur  r  ansetzt  und  Umlaut  der  Wurzel  zeigt, 
so  ist  gewiss  der  Umstand  von  Belang,  dass  im  nordischen 
Feminina  der  u-Classe  gänzlich  fehlen;  s.  Gislason  Tidskrift 
f.  phil.  6,  248.  Vgl.  im  altslaw.  die  Fem.  auf  y  neben  den 
Masc.  auf  ü.  Man  kann  vermuthen,  dass  viele  der  wie  geit 
önd,  rotj  müs  flectierten  Fem.  alte  u-Stämme  sind,  die  sich  im 
Sing,  nach  der  i-Classe  richten,  im  N.  A.  PI.  aber  die  zweite 
Entsprechung  des  alten  auaSy  iuas  voraussetzen,  nämlich  -ias, 
'JOB.  Vielleicht  wurde  einst  N.  PL  Masc.  in  der  Regel  von  'i%ias^ 
N.  PI.  Fem.  in  der  Regel  von  -icw,  -jas  gebildet.  Im  gotischen 
entspricht  dem  nordischen  Idnn  kinmia,  dem  nordischen  hond 
handus. '    Vocalische   Stämme   verrathen   die  Form   hönd  stäng 

1  Die  Wurzelgestalt  kommt  allem  Anschein  nach  nicht  in  Betracht.  Die 
Verzeichnisse  bei  Wimmer  Gramm.  §§.  49 — 62  und  55 — 59  ergeben,  dass 
unter  den  gewöhnlichen  Masc.  auf  u  sich  ebensoviel  kurze  oder  gutta- 
ralisch  endigende  Wurzeln  finden,  als  unter  den  Fem.  nach  geitr,  hier  26 


Ueber  die  Endsilbpn  der  sltnordischeD  Sprache.  439 

neben  vatt,  Pf.  von   vinda,   stöng  neben   gekkj   Pf.   von  ganga] 
8.  Lundgren  Om  Substantivens  stammar  S.  22. 

Aber  auch  t-Stämme  wären  denkbar,  —  der  i^-Umlaut 
im  N.  A.Pl.  hindert  natürlich  nicht,  ond  (anas)  wie  önd  (spiritus). 
Denn  auch  von  -aias  (G.  Sg.  N.  PI.)  kann  -jcLS  durch  Vermitt- 
lang von  -ya«,  der  Urform  für  den  got.  ahd.  N.  PL,  entstehen, 
wenn  i,  j  wie  oben  u,  v  ausgefallen  ist.  —  Dann  ursprünglich 
consonantische  Feminina.  Sie  können  selbst  unter  jenen  vor- 
kommen, welche  Umlaut  zeigen.  Er  wird  natürlich  nur  durch 
die  ähnlichen  Formen  der  u-,  i-Declination,  wo  er  berechtigt 
war,  hineingekommen  sein.  So  vor  allem  vaettr^  N.  A.  PI.  vaeür, 
vaettir,  got.  vaihts,  G.  Sg.  vaihts,  vaihtais,  A.  PL  vaihtSj  vaihtins. 
Im  gotischen  müssen  wir  hier  und  in  den  verwandten  Wörtern 
consonantischen  Stamm  ansetzen,  weil,  wenn  im  G.  Sg.  N.  A.  PL 
ja8  die  Endung  gewesen  wäre,  sie  uns  nach  der  Analogie  von 
harjis,  hairdeisy  haldia  ihren  Vocal  in  irgend  einer  Weise 
erhalten  hätte.  —  Die  übrigen  nordischen  Feminina,  welche 
durch  Endung  -r  im  G.  Sg.  ohne  Umlaut  sich  als  consonantische 
Stämme  ausweisen ,  haben  das  Nominativzeichen  verloren : 
kverh,  G.  Sg.  N.  A.  PL  kverkr,  miolk,  G.  Sg.  N.  A.  PL  midlkr^ 
got.  miluksj  G.  Sg.  miluks,  vik,  G.  Sg.  N.  A.  PL  vikr,  —  facul- 
tativ  kommt  dieser  G.  Sg.  auch  bei  eik,  saeing,  tik  vor,  —  bei 
ndtt,  got.  ndhts,  G.  Sg.  N.  A.  PL  nahts,  sogar  mit  Umlaut; 
8.  Wimmer  Gramm.  §§.  56,  1.  58  b. 

Dieser  G.  Sg.  auf  r  mit  Umlaut  der  Wurzel  kann  organisch 
sein,  d.  h.  einem  aus  ituis  oder  lias  stammenden  G.  Sg.  eines 
vocalischen  Stammes  auf  ias,  jas  nachgebildet  sein.  S.  die 
Feminina  k^j  spr,  (wr:  dieselbe  Form  im  N.  Sg.  wie  im  G.  Sg. 
N.  A.  PL,  also  abweichend  vom  Sing,  der  Fem.  nach  rot^  G.  Sg. 
rHar.  Wahrscheinlich  liegen  diesen  Thiernamen  i-Stämme  zu 
Grunde.  Neben  drei  ä:^,  s^,  är  konnte  sich  das  eine  Hr, 
8Ür,  cter  des  N.  Sg.  nicht  halten.  Nätt  aber  widerstand. 


auf  63,  dort  24  auf  62:  Von  consonantisch  gebildeten  Masc.  gar  kein 
Fall  knrzer  oder  auf  Gutturalis  endigenden  Wurzel,  während  wir  doch 
eine  Majorität  derselben  erwarten  müssten,  wenn  foetr  sich  zu  vellir  ver- 
hielte wie  hekkr  zu  hellir,  —  Auch  die  gewöhnlichen  t-Stämme  Masc.  wie 
Fem.  haben  Wurzelsilben  der  einen  wie  der  andern  Art:  Paradigma 
hurär  und  8ladi\,  ohne  die  Fälle  auf  -nadr,  'skapr^  17  Kürzen,  12  Längen. 


440  He  in  sei. 

Der  verwandten  Bedeutung  wegen  wurde  nxnar^  gebildet 
wie  gumnar^  s.  oben  S.  377,  gegen  yxn  für  yamr  aufgegeben^ 
8.  Lundgren  Om  Substantivens  stammar  S.  17. 

Dass  eonsonan tische  Stämme  sich  nach  i-,  u-Stänunen 
richten,  erklärt  sich  aus  der  allgemeinen  Aehnlichkeit  beider 
Declinationeu,  gegenüber  den  a-Stämmen,  welche  in  unserem 
Falle  durch  die  besondere  Entwicklung  der  vocalischen  noch 
vermehrt  wurde;  vgl.  Lundgren  a.  a.  O.  S.  51. 

Sicher  consonantisch  waren  ursprünglich  die  Verwandt- 
schaftsnamen auf  tar  und  die  Part.  Prs.  substantivischer  Bedeu- 
tung. Aber  wenigstens  die  ersteren  haben  nicht  etwa  fadiT  (N. 
A.  PI.)  nach  Analogie  der  Nomina  wie  foetry  wie  mennr  für 
niannry  mit  Umlaut  versehen,  sondern  sie  sind  schon  früh  in 
die  Analogie  der  hier  behandelten  Gruppe  von  ti-Stämmen 
gezogen  w^orden,  —  got,  hröthruluho  neben  brothraluho  und 
dohtriR  auf  dem  Tunestein.  Aus  dohtriv  (N.  PI.)  von  dohtrjas 
wurde  doettr,  wie  roetr,  foetr  auf  demselben  Wege  entstand. 
Ebenso  gefendr  aus  gefandr  (N.  A.  PL).  AUmälig  ergriff  dieser 
Umlaut  bei  den  Verwandtschaftsnamen  auf  tar^  wohl  wegen 
des  zweisilbigen  Stammes  im  Sing.,  den  ganzen  Plural,  so  dass 
er  wie  ein  Numeralzeichen  wirkte :  fedra  fedrum  (G.  D.  PI.). 
Sogar  gefendum  (D.  PI.)  zuweilen  neben  regelmässigem  geföndum. 

Eigenthümlich  sind  die  D.  Sg.  hroedr^  s.  Wimmer  Gramm. 
§.  Gl  Anm.  Die  Form  sieht  wie  ein  Compromiss  aus  zwischen 
der  gewöhnlichen  Endungslosigkeit  und  dem  Umlaut  in  foeti. 
Zu  dem  Muster  fotr  wurde  man  natürlich  durch  N.  A.  PI. 
fottr,  broedr  gedrängt.  Vgl.  über  D.  Sg.  burdj  sott  S.  428, 
über  bekkrj  lielHr  S.  394. 

Im  ags.,  wo  diu  w-Declination  in  Auflösung  begriffen  ist, 
finden  sich  älmliche  Bildungen,  mit  Ausnahme  von  burh,  mägd^ 
tiirf,  nur  in  Wörtern,  denen  nordische  entsprechen.  Umlaut 
ohne  Endung  haben  im  N.  A.  PI.  die  Feminina :  6öc,  broc,  gös^ 
ctly  luSf  mil.Sj  nihi,  N.  A.  PI.  hilc  usw.,  —  die  Masculina : /6/, 
man,  iöth,  turf,  N.  A.  PI.  ßt  usw. ;  s.  Sievers  in  Paul  und 
Braune's  Beiträgen  1,  499  f.  Es  w^ird  wie  im  nord.  jas  aus 
i(u)a8f  i(i)a8  zu  Grunde  liegen.  Dieselbe  Endung,  aber  zum 
Unterschiede  vom  nordischen  —  wo  nur  broedr  —  auch  im  D.  Sg. 
und  zuweilen  wie  in  den  oben  angeführten  Fällen  des  nordischen 
auch  im  G.  Sg,    Auch   hier  wird  man   von   den   Grundformen 


Ueber  die  Endsilben  der  a1tnordi<;chen  Sprtche.  441 

'i(u)i  'i(u)a8j  -i(J)i  -iQJas  ausgehen.  Aber  auff&Uig  ist  im  N. 
A.  PL,  wie  Q.  D.  Sg.,  das  Fehlen  der  Endung.  -JaSy  -ji  konnte 
nach  ags.  Gebrauch  nicht  verschwinden,  nachdem  es  seine 
Spar  in  dem  Umlaut  der  Wurzel  zurückgelassen,  s.  byre  (N. 
Sg.),  nerje  (1.  Sg.).  Cynn  für  und  neben  cynne  richtet  sich 
nach  ovd.  Die  Ursache  dieser  Verstümmlung  werden  wir  in  den 
Wörtern  bürg,  niht^  man  sehen  dürfen,  welche  im  gotischen  deut- 
lich consonantische  Flexion  zeigen,  deren  scheinbare  Flexions- 
losigkeit  also  berechtigt  ist.  Diese  mögen  von  den  ti-,  t-Stämmen 
unserer  Gruppe  im  G.  D.  Sg.  N.  A.  PI.  Umlaut  angenommen,  ihnen 
dafür  aber  Flexionslosigkeit  dieser  Casus  zurückgegeben  haben. 

Suna  (G.  Sg.  N.  A.  PI.)  kann  nur  auf  ungefärbtes  auaa 
zurückgehen,  wie  altn.  G.  Sg.  vallavy  —  sunu  (N.  A.  PL)  auf 
woas,  Scherer  GDS.  S.  434,  oder  Formübertragung  aus  dem 
A.  PL  sein.  S.  Lundgren  Om  Substantivens  stammar  S.  62. 

D.  Sg.  breder  neben  N.  A.  PI.  brodru  hat  sich  ohne  die 
Beihülfe  dieses  Casus  nach  fot  gerichtet. 


ERLÄUTERUNGEN  ZU  PERIODE  IL 


Vorbemerkung^  Über  die   Umlaute. 

II  ist  die  Periode  der  Umlaute.  Bezeugt  sind  sie  aller- 
dings nicht,  mit  Ausnahme  von  gestnmR  Stentofte,  in  einer 
archaisierenden  Inschrift,  Wimmer  Runeskriftens  oprindelse 
S.  170,  Bugge  Tidskrift  f.  phil.  7,  34L  Dagegen  HathnwnlAfB^ 
HarlwuIAfA,  thaiaB  Istaby  (Schweden),  aragent,  barutR 
Björketorp,  abariutith  Stentofte;  s.  Bugge  Tidskrift  f.  phil.  7, 
332.  338. 

Aber  auch  in  Beginn  der  Periode  III  wird  der  Umlaut 
häufig  nicht  bezeichnet,  obwohl  einzelne  Schreibungen  gar 
keinen  Zweifel  daran  aufkommen  lassen,  dass  er  existierte; 
8.  Wimmer  Runeskriftens  oprindelse  S.  214  ff.,  batri  aherfrinta, 
baistr,  —  fathur  aber  hukua^  Tanmaurk,  fUr  betri^  fraenda,  btztr, 
föduvy  köggvoj  Dannwrk.  I  und  u  für  ^,  h  zeigen,  dass  in  III 
schon  ganz  entschiedene  e  und  o  herrschten.     Auch   die   alten 


442  Heinzel. 

Handschriften  drücken  den  Umlaut  oft  nicht  aus;  s.  Gislason 
Um  frumparta  S.  21  f.,  Vigfusson  Eyrbyggja  saga  S.  XXXVII. 
Die  Reime  von  a  auf  ö  (o),  hards:  iördu  beweisen  nichts. 
Es  reimt  ja  auch  i  auf  y,  u  auf  o.  —  Aber  allerdings  können 
wir  in  Periode  II  nur  eine  leise  Hinneigung  des  alten  a  zu 
e  oder  o  annehmen^  und  so  auch  in  den  übrigen  Fällen.  — 
Vor  allem  aber  gibt  es  in  HI  eine  Reihe  von  i,  der  Endung, 
welche  keinen  Umlaut  wirken  und  historisch  betrachtet,  auch 
nicht  auf  i  oder  j  mehr  Vocal  zurückweisen.  Sie  können  erst 
entstanden  sein,  nachdem  eine  Periode  vorhergegangen,  in 
welcher  der  t-Umlaut  gewirkt  und  sich  erschöpft  hatte.  Ebenso 
scheint  kein  ci-Umlaut  in  III  mehr  vorzukommen  —  hananum, 
avganu  (D.  Sg.  mit  suffigiertem  Artikel) ,  und  der  li-Uralant 
des  langen  n  konnte  sich  nicht  befestigen.  —  Ebensowenig 
wirkt  das  epenthetische  u  des  neuisländischen,  seit  dem  vier- 
zehnten Jahrhundert,  Umlaut,  Munch  Oldn.  Gramm.  S.  81. 

Beide  Umlaute  müssen  ziemlich  gleichzeitig  gewirkt  haben. 
Der  N.  PI.  des  ti-Stammes  spönn  für  spann  heisst  spoenir^  von 
spann  ist  er  spaenir,  Spoenir  zeigt,  dass  hier  eher  d  in  den 
Casus  auf  u  zu  d  geworden  war,  als  i  der  folgenden  Silbe 
seinen  Einfluss  äussert,  heUum  aber  (D.  PI.)  von  hellir  hat  zuerst 
Umlaut  der  a  zu  e  erlitten  und  konnte  deshalb  auch  nach 
Ausfall  des  j  in  IH  von  folgendem  u  nicht  mehr  angegriffen 
werden,  obwohl  sonst  t-  und  u-Umlaut  gemeinsam  auftreten 
können,  sökkva  (unser  Laut  ö),  got.  sagqjan. 


A  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Knrz  A.    ' 

Nasaliertes  a  wurde  in  dieser  Periode  gewöhnliches  a,  da 
in  III  nur  dieses,  nicht  aber  das  durch  Abfall  des  n  entstandene 
und  als  nasaliert  bezeugte  a  abfiel ,  fara  in  III  aus  farany  s. 
bei  ,a  ursprünglich  in  letzter  Silbe'  III.  Allerdings  schreibt  die 
Inschrift  von  Istaby  noch  HarlwulAfA^  dass  ist  für  Schluss-a 
die  alte  a-Rune,  welche  später  zum  Zeichen  des  nasalierten 
Lautes  verwendet  wurde,    kristnA    (Inf.)    auf   dem  grösseren 


Ueb«r  die  Endsilben  d«r  altnordischen  Sprache.  443 

JaelHngesteiD,  stAtr  (3.  Sg.)  auf  dem  Flemlöseßtein,  s.  Wimmer 
Raneskriftens  oprindelse  S.  217.  238.  Aber  das  wird  sich  im 
Verlauf  der  Epoche  II  geändert  haben.  Dass  ältere  Formen 
sich  hie  und  da  in  II  zeigen,  ist  ja  ganz  natürlich;  s.  unten 
bei  yd  ursprünglich  in  letzter  Silbe'  rniioB  und  rnnaR. 

Ann  muss  consonantischen  Schluss  bewahrt  haben,  da  a 
sonst  in  HI  verloren  gegangen  wäre,  nn  aber  hat  sich  wohl  zu 
n  vereinfacht:  es  fällt  in  III  ab. 


A  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Lang  A. 

Auslautend  u  bleibt  und  wirkt  Umlaut. 

A  von  altem  dn,  dr,  dt  mit  einfach  langem  a  wird  e, 
zum  Theil  bezeugt,  zum  Theil  durch  i  in  III  ohne  Umlaut  der 
Wurzel  zu  erschliessen.  Solches  t  geht  immer  auf  e  zurück, 
das  entweder  auf  altem  ai  beruht,  oder  auf  a  (2.  PL  Prs.  Ind.), 
s.  oben  S.  379,  und  in  den  gefärbten  Ableitimgen  der  Adj.  auf 
alt  -a»-,  -ag-,  welchen  sich  die  Adj.  auf  alt  -in,  -ig  anschliessen, 
oder  auf  einfach  langes  altes  d, 

0  wird  a.  Ar  ist  bezeugt.  RnnoB  daneben  könnte,  da 
es  auf  dem  Stentoftestein  vorkommt,  Archaismus  sein,  oder  es 
deutet  auf  einen  Uebergangszustand ,  wie  auf  dem  Bracteaten 
von  Tjörkö.  BnnaR  beweist  auch  fiir  aftdr. 

Die  Länge  des  a  wird  bewiesen  durch  a  in  III,  s.  oben 
S.  373. 

Aber  u  aus  altem  d  in  -dnt,  3.  PL  Pf.  der  schwachen 
Verba,  bleibt  u  und  wirkt  Umlaut. 

A  ursprünglich   vor  der  letzten   Silbe. 
Knrz  A. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Wo  a  in  I  galt,  da  ist  es  geblieben,  entweder  weil  es 
noch  in  III  vorhanden,  wie  in  hana  (A.  Sg.),  fara  (Inf.),  aptann 
(N.  Sg.)  usw.,  oder  weil  es  in  III  ausfällt,  was  bei  Färbung 
zu  e  nach  unserer  sonstigen  Erfahrung  nicht  geschehen  wäre. 
Armes  (G.  Sg.)  in  11  müsste  nach  Analogie  von  fanr  (2.  Sg.  Opt.), 


444  Heinzel. 

farimy  faridj  fari  (1.  2.  3.  PI.  Opt.)  oder  fadir  (N.  Sg.),  oder 
audigVy   heidinn  (N.  Sg.  Masc.)  in  III   i   ohne  Umlaut   ergeben. 

Was  den  scheinbaren  Widerspruch  zwischen  fader  II 
(N.  Sg.)  aus  fadar  I  und  hamarr  in  I.  II  betrifft,  s.  oben  S.  377. 

Auch  die  aus  a  entstandenen  e  in  2.  PI.  Prs.  Ind.,  in  den 
Adj.  Part,  auf  -an-,  -ag  sind  geblieben,  nur  nach  Qutturalis  — 
vgl.  D.  Sg.  degt,  Grimm  Gramm.  1^  567,  Wimmer  Navneordenes 
böjning  S.  39  —  bei  den  Part.  Pf.  und  in  ein  paar  Praeposi- 
tionen,  s.  oben  S.  378.  379  f.  zu  i  vorgeschritten,  welches  die 
vorhergehende  Wurzel  umlautet. 

U  aus  a  wirkt  Umlaut. 


A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Karz  JL. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

Wo  in  I  a  war,  ist  kein  Grund  an  Lautwandel  oder 
Ausfall  zu  denken.  Wenn  a  in  arma  in  III  verloren  gehen 
konnte,  ohne  erst  e  geworden  zu  sein,  s.  oben,  so  gewiss 
auch  in  Fällen  vorletzter  Silbe. 

In  spakana  (A.  Sg.  Masc),  innana  {Adv. ),farande  (Part.  Prs.) 
ist  a  vorletzter  Silbe  noch  in  III  erhalten,  spakan,  innan,  farandi. 

Aber  wo  a  in  I  sich  zu  e  gefkrbt  hatte,  in  den  Part,  und 
Adj.  auf  alt  -ag^  -an,  ist  dieses  e  in  vorletzter  und  drittletzter 
Silbe  ausgefallen,  denn  bei  u  letzter  Silbe  hat  III  Umlaut; 
z.  B.  öldnu  (A.  Sg.  Fem.  der  schwachen  Declination)  oder  höldvu 
(D.  Sg.  Neut.).  In  I  waren  bereits  die  e,  i  nach  kurzer  Wurzel 
im  Pf.  der  ersten  und  zweiten  (got.  ai-Themen)  schwacher 
Conjugation  verschwunden.  Nach  langer  Wurzel  halten  sie  sich 
noch  in  unserer  Periode;  s.  bei  ,i  ursprünglich  und  in  II  vor 
der  letzten  Silbe'.  Vielleicht  erklärt  sich  dieser  Vorrang  des  « 
vor  i  nach  langer  Wurzelsilbe  in  II  daraus,  dass  es  unter  den 
Participien  und  Adjectiven  auf  alt  -an,  -ag  so  viele  mit  kurzer 
Wurzelsilbe  gab ;  s.  die  Part.  Pf.  nach  farinn.  —  Aber  nicht 
überall  f^lt  e  vor  der  letzten  Silbe  aus ;  es  bleibt  im  N.  Sg. 
Fem.  N.  A.  PI.  Neut.  N.  A.  Sg.  Neut.  in  III  audig^  audigt^  also 
in  II  audegu,  audegat,  —  im  G.  Sg.  Masc.  Neut.,  in  III  audtgs, 
also  in  II  audegas^  —  im  G.  D.  Sg.  Fem.,  in  III  audigravy  andtgri, 


üeb«r  die  Endsilben  der  altfiordiscben  Sprache.  445 

also  in  II  audegrar,  audegre,  —  im  G.  PI,  in  III  audigra,  also 
in  11  audeg^dy  d.  h.  e  aus  a  fallt  nicht  aus  vor  Doppelconsonanz, 
jr,  nr,  und  wo  nach  dem  Abfall  in  III  zu  schliessen  eine  gewisse 
Schwäche  des  Vocals  nächster  Silbe  sich  schon  in  II  bemerkbar 
gemacht  haben  wird :  N.  Sg.  Fem.  N.  A.  PI.  Neut.,  in  III  audig, 
N.  A.  Sg.  Neut,  in  III  audigt,  G.  Sg.  Masc.  Neut.,  in  III  audigs. 

Ueber  die  Ausnahme  heidinn  A.  Sg.  Masc.  III,  also  in  II 
heidhenan,  s.  oben  S.  371. 

U  aus  a  bleibt  und  wirkt  Umlaut. 

A  ursprünglich  vor  der   letzten  Silbe. 
Lang  A. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Ueber  2.  Sg.  Pf.  Ind.  der  schwachen  Verba  in  I  auf  -<Jr, 
nun  auf  -er,  wie  in  den  Fällen,  welche  auf  altes  einfaches  ä 
ursprünglich  letzter  Silbe  zurückgehen,  s.  oben  S.  384. 

Die  früheren  6  werden  d,  die  in  I  vor  m,  n  entstandenen 
u  bleiben  und  wirken  Umlaut. 

A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Lang  A. 

Nach  Auslautgesetz   vor  der  letzten  Silbe. 

0  wird  d.  Wo  u  aus  6  entstanden  war,  s.  oben  S.  386, 
erleidet  der  Wurzelvocal  Umlaut. 


JA. 

JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Knrz  JA» 

Keine  wesentliche  Aenderung.  Nur  wie  -ä  von  I  in  II  -a 
wird,  so  'ja  von  I  in  II  -ja;  s.  oben  S.  442.  —  /  bleibt  und 
t  bleibt  lang,  da  es  in  III  als  kurz  i  erhalten.  —  /  wie  j 
wirken  Umlaut.  —  Dass  der  Uebergang  von  -janny  -Jan  zu  in, 
A.  Fl.  des  Paradigma  hekkr ,  nicht  mit  Sicherheit  unserer 
Periode  zuzuschreiben  ist,  wurde  oben  S.  397  bemerkt. 


446  Heinsei. 

JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Lang  JA. 

Ju  aus   einfach   langem  jd   bleibt   und  wirkt   t-Umlaut. 

—  Ja  aus  altem  jdn  wird  ^e,  wie  a,  das  in  I  aus  ebfacli 
langem  a  entstanden  war,  in  II  «  wird,  ja  aus  ja  I  daneben 
ist  kein  Widerspruch. 

Aus  yS,  jtr  I  wird  ja,  jdr  wie  aus  6  und  8r,  d  und 
ar.  —  Von  dem  Uebergang  des  jdr  in  tr  N.  PL  des  Para- 
digma hekkr,  gilt  dasselbe  was  eben  vorher  über  den  A.Pl. 
gesagt  wurde;  s.  oben  S.  388. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Knrz  JA. 
Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 
Alles  bleibt   wie   es  in  I  gewesen,  iy  t  —  in  III  noch  t, 

—  j<^>  j^j  j^>  i^^r  ^-Umlaut.  In  gestnmB  Stentofte  ist  der 
Umlaut  bezeugt,  seine  Ursache  aber  entweder  schon  weg- 
gefallen oder  nicht  ausgedrückt,  s.  oben  S.  441. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Knrz  JA. 
Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 
Ja  wie  ju  bleiben  imd  wirken  i-Umlaut. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten   Silbe. 
Lang  JA. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 
J6  wird  jd,    das  aus  j6  entstandene  ju   von  I  bleibt; 
beides  wirkt  «-Umlaut. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Lang  JA. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 
Jd  wird  jdj  ju  bleibt;  überall  t-Umlaut 


Üeber  di«  Eodfilben  der  allnordischeD  Sprache.  447 

L 

/  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  I. 

I  wirkt  Umlaut  und  bleibt  lang,  da  es  in  III  als  i  er- 
scheint; 8.  %  aus  ja  S.  446. 

1  ursprünglich   vor  der  letzten   Silbe. 
Knrz  /. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 
/  bleibt  und  wirkt  Umlaut;  s.  i  von  ja  S.  446. 

/  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  I. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten   Silbe. 

1  bleibt  meist  und  wirkt  Umlaut.  Nur  bei  gewissen  kurz- 
wurzeligen Substantiven  auf  -ill  kann  Ausfall  vorkommen,  lykli 
und  lukli  in  III  von  lykill]  s.  oben  S.  415.  417. 

/  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Lang  /. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Lang  %  bleibt,  da  es  in  III  als  i  erscheint,  und  wirkt 
Umlaut;  s.  i  von  ja  S.  445. 

Wo  ?  in  I  e  geworden,  bleibt  e  in  II,  wie  e  von  a,  4, 
wie  je  von  altem  jd^  s.  S.  445,  und  wie  e  von  ai;  s.  dieses. 

/  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Lang  /. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

E  von  t  in  den  Adj.  auf  alt  -^,  -in  richtet  sich  gewiss 
nach  den  Adj.  Part,  auf  alt  -ajf,  -an,  —  s.  S.  444,  —  mit 
denen  es  in  I  zusammengeflossen,  und  wirft  e  aus. 


448  Heiniel. 

u. 

U  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

U  bleibt  und  wirkt  Umlaut^  wie  u  aus  auslautendem  altem 
d;  8.  oben  S.  443. 

U  ursprünglich   vor  der  letzten  Silbe. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

U  bleibt  und   wirkt  Umlaut,   wie  u  von  a,  d;  s.  oben 
S.  443  f. 

ü  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

U  bleibt  und   wirkt  Umlaut,   wie   u  von  a,   d;   s.   oben 
S.  443  f. 


AI. 

AI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Kurz  AI. 

E  bleibt  wie  e  von  a,  alt  d^  s.  oben  S.  443,  wie  je  von 
ja,  jdj  s.  oben  S.  446,  wie  e  von  %,  s.  oben  S.  447. 

Wo  ai  mit  folgendem  -am,  -lam,  -dm,  -o«  in  I  o  ergeben 
hatte,  erscheint  jetzt  d,  wie  d  Vertreter  des  8  aus  altem  ä 
ist;  s.  oben  S.  443.  445. 

AI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  AL 

U  aus  'di  bleibt,  wie  altes  u,  s.  oben,  wie  u  aus  altem 
auslautendem  a,  s.  oben  S.  443. 

E  bleibt  wie  im  vorhergehenden  Fall. 

Das  0,  das  in  I  aus  di  mehr  -am  entstanden  war,  wandert 
zu  d,  wie  d  in  II  für  o  aus  ä;  s.  oben  S.  443  f. 


üeber  die  Endsilben  der  altnordischen  Sprache.  449 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  AI. 

Nach  ÄUBlautgesetz  in  letzter  Silbe. 
E  bleibt  wie  im  yorhergehenden  Fall. 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Lang  AI. 
Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 
E  bleibt  wie  im  yorhergehenden  Fall. 


JAI. 

JAI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  JAI. 

Je  bleibt  und  wirkt  Umlaut^  wie  je  yon  ja  aus  altem  jäj 
8.  oben  S.  446.  Wo  jai  mit  folgendem  am  in  I  j6  gebildet 
hatte,  wird  es  ja  und  wirkt  Umlaut,  wie  ja  yon  j6  aus  altem 
jäj  8.  oben  S.  446. 

JAI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  JAI. 

Ju  bleibt  ja  und  wirkt  Umlaut  wie  ju  von  altem  ja, 
8.  oben  S.  446.  J6  wird  ja  und  wirkt  Umlant  wie  ja  yon 
jd  aus  altem  ja,  s.  oben  S.  446. 

JAI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  JAI. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Je  bleibt  und  wirkt  Umlaut  wie  je  vor  ja  aus  altem  jd, 
B.  oben  S.  446. 


Sitsnngsber.  d.  phU.-hist.  U.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hft.  29 


450  Heinzel. 

AU. 

AU  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

1  bleibt  in  II  und  wirkt  Umlaut  wie  i,  gleich  altem  i, 
8.  oben  S.  447,  und  gleich  i  von  ja^  s.  oben  S.  446. 

Auch  kurz  i  bleibt  und  wirkt  Umlaut,  wie  kurz  i  von 
ja,  8.  oben  S.  446,  oder  wie  altes  i,  s.  oben  S.  447. 

Desgleichen  bleibt  ju  und  wirkt  Umlaut  wie  ju  von  ja^ 
jd^   8.  oben  S.  446,   imd  wie  ju  von  jäi,   s.  oben  S.  449. 

0  aber  wird  ä  wie  6  von  altem  <?,  oder  von  ai,  di  mehr 
-am,  'iamy  -dm,  -aa,  8.  oben  S.  448. 


Zusammenfassung. 

Die  Veränderungen  der  Periode  11  sind  «-Umlaut,  tt-Umlaut, 
B.  oben  S.  441,  ferner  wird  ä  zn  a,  a  aus  altem  a  zu  e,  —  also 
e  erstens  von  ai,  in  I  e,  zweitens  von  i,  in  I  e,  drittens  von  «, 
in  I  a,  —  6,  sowohl  solches,  das  auf  ä  beruht,  als  das  aus 
ai,  au  mehr  folgendem  a,  d  hervorgegangen,  wird  a,  —  jo, 
sowohl  der  Vertreter  des  alten  ja,  als  das  aus  jai,  jdi  mehr 
a  entstandene,  wird  jd,  Ausfall  nur  vor  der  letzten  Silbe,  e  von 
altem  a  und  i;  s.  oben  S.  444. 


ERLÄUTERUNGEN  ZU  PERIODE  III. 


A  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Karz  A. 

Auslautendes  a  fallt  ab,  zugleich  auslautendes  n.  Geht 
diesem  a  voran,  so  wird  es  durch  Nasalierung  geschützt,  ot-m 
(A.  Sg.),  arma  (A.  PL),  hana  (A.  Sg.).  Nasalierung  ist  bekannt- 
lich noch  im  zwölften  Jahrhundert  bezeugt  und  die  ältesten 
Runen  drücken  sie  aus:  stAtB  (stendr)  Flemlöse,  Wimmer 
Runeskriftens  opriudelse  S.  238,  thAusi  (theiina),  hAns,  AnAn 


Ueber  die  Endsilbeu  der  altnordiochen  Sprache.  451 

Glavendrup,  Wimmer  S.  247;  thAnsi  dreimal^  klAmalan  (diser- 
tum)  Tryggevaelde,  Wimmer  S.  255,  standA  (Inf.)  Hällestad, 
Wimmer  S.  172,  kristnA  (Inf.),  auf  dem  grossen  Jaellingestein, 
8.  Wimmer  Opuscula  philologica  ad  Madvigium  a  discipulis 
DiisBa  S.  198,  Hofmann  Sitzungsberichte  der  Münchoner  Aka- 
demie 1866,  S.  218,  Lyngby  Tidekrift  f.  phil.  2,  317.  6,  25. 
Consequent  ist  diese  Schreibung  allerdings  nicht  durchgeführt. 
Nasalierung  ist  z.  B.  nicht  bezeichnet  in  thansl^  aithaiarthan 
([eidverdan])  Qlavendrup,  klAmulan,  man,  hithan  Tryggevaelde. 
In  der  Skivuminschrift  —  hAn  uas . . .  mAnA  baistr  i  tAnmarku 
ank  fnrstr,  Wimmer  S.  216,  —  ist  das  zweite  A  von  mAnA 
(manna)  gewiss  falsch. 

A  ursprünglich  in  letzter  Silbe, 
Lang  A. 

Ursprünglich  einfach  langes  a.  U  fallt  ab,  e  wird  i,  wirkt 
aber  keinen  Umlaut  und  bleibt. 

Ursprünglich  ä,  Ä  wird  a,  wo  S  in  I  «  geworden,  bleibt 
tt  nach  Wegfall  des  n,  wie  a  in  a^fna  (A.  PI.) 

A  ursprünglich  vor  der  letzten   Silbe. 

Kurz  A. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Dass  a  vor  n,  das  in  II  auslautet,  nicht  ausfiel,  obwohl 
dieses  verloren  ging,  haben  wir  eben  erwähnt.  Ausserdem 
erschien  a  letzter  Silbe  in  II  nur  noch  vor  Doppelconsonanz 
Ir,  in  III  Uy  nr  in  UI  nn,  it,  dann  vor  8,  t,  r.  In  diesen  letzten 
Fällen  ging  es  in  III  verloren,  vor  Doppelconsonanz  bleibt  es. 
Also  arms,  spakt^  okkr  —  aber  natürlich  that  musste  bleiben, 
—  dagegen  thumall,  aptann,  hamarr.  Hinmll,  aptnn,  hamrr 
wäre  schwierige  und  undeutliche  Aussprache  gewesen,  thumlr, 
aptnr,  haniarr  mit  vocalischem  r  des  Nominativzeichens  aller- 
dings nicht,  aber  die  Neigung  zur  Assimilation  ist  in  ahn.  III 
ausserordentlich  stark.  S.  auch  unten  bei  ,i  ursprünglich  vor 
der  letzten  Silbe'. 

E  —  wie  e  von  altem  a,  s.  oben,  —  wird  i,  das  keinen 
Umlaut  wirkt. 

29* 


452  Heinxol. 

Die  Praepositionen  q^tir,  yfir  bleiben  was  sie  schon  in  II 
gewesen;  s.  S.  444.  379. 
U  vor  m  bleibt. 

A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  A. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

A  fallt  auS;  aber  nicht  vor  Doppelconsonanz  und  nicht 
wenn  a  der  nächsten  Silbe  ausgefallen  ist;  s.  oben  in  II  über 
6  aus  a  und  %  ^ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe'  S.  444.  447. 
Also  augna  (G.  PL),  gamlan  (A.  Sg.  Masc),  thundi  (D.  Sg.), 
spakra  (G.  PL),  spakri  (D.  Sg.  Fem.),  hugsa  (Inf.),  —  aber 
gamaUar,  gamalli  (G.  D.  Sg.  Fem.),  gamalla  (G.  PI.),  thumalf 
aptan,  hamar  (A.  Sg.),  spakan  (A.  Sg.  Masc),  thumals^  apUm, 
hamars  (G.  Sg.),  farandi  (Part.  Prs.).  —  Vgl.  den  Schutz,  welchen 
Doppelconsonanz  dem  a  letzter  Silbe  gewährt. 

Wie  a  werden  die  von  a  stammenden  u  behandelt;  göm- 
lum  (D.  Sg.  Masc.) ,  gömlu  (D.  Sg.  Neut.) ,  —  aber  ßdur  (A. 
Sg.),  spökum  (D.  Sg.  Masc). 

A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Lang  A. 
Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 
E  wird   i,   das   keinen  Umlaut   wirkt  und  bleibt,   tamdtr 
(2.  Sg.  Pf.  Ind.) 

A  wird  a.  U  bleibt,  da  es  in  U  nie  im  Auslaut  steht, 
tritt  aber  in  denselben  durch  Abfall  des  n,  tungu  (G.  D.  A.  Sg.). 

A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Lang  A. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten   Silbe. 

A  wird  a.  —  U  fallt  aus,  in  tungna,  wie  u  aus  ö,  das 
ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe  stand,  bleibt  aber  in  köüuiumj 
wohl  um  die  Harmonie  der  Formen  in  der  dritten  Conjiigation 
der  schwachen  Verba  zu  erhalten. 


lieber  die  Endeilben  der  altnordischen  Sprache.  453 

JA. 

JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Kurz  JA. 

Auslautendes  n  geht  überall,  j  im  Auslaut  und  vor  i  ver- 
loren;  vor  a,   u  schwindet   es   odet*   erhält   sich  nach  Princip. 

/  fallt  ab  und  aus,  %  wird  /. 

Ja  aus  ja  I  verliert  n^  vgl.  a  von  a  I  S.  450,  und  j  kann 
sich  natürlich  nicht  halten,  so  dass  die  Formel  ja  schwindet^ 
ija  i  ergibt. 

Jan  aber  behält  a,  wie  a  aus  an  II  entsteht,  s.  oben  S.  450^ 
und  verliert  j  nach  Princip. 

JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Lang  e74. 

^  in  ju  fallt  ab,  wie  u  von  altem  a;  s.  oben  S.  451« 
Vorhergehendes  j  kann  sich  auslautend  nicht  erhalten :  ju  ver- 
schwindet, iju  ergibt  i. 

E  in  je  wird  i,  wie  e  von  altem  a,  d,  s.  oben  S.  451. 
Es  bleibt  wie  dieses,  verliert  aber  vorhergehendes  j. 

A  von  jd  wird  a,  wie  a  von  6  I,  altem  übermässigem  d; 
8.  oben  S.  451.  J  verschwindet  nach  Princip.  Ueber  die  gleich- 
massige  Behandlung  des  Opt.  Pf.  s.  oben  S.  403. 

/  wird  auch  hier  t,  wie  x  von  kurzem  ja. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  JA. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

J  fällt  aus,  %  wird  t,  s.  oben  Ja,  jd  in  ursprünglich  letzter 
Silbe.  Ueber  die  gleichmässige  Behandlung  des  G.  Sg.  Masc. 
Neut.  des  Adj.,  fraegsj  vaens,  s.  oben  S.  409.  397. 

Die  Formel  jan  behält  a,  s.  oben  Ja  in  ursprünglich 
letzter  Silbe',  und  verliert  j  nach  Princip. 

Ebenso  bleibt  u  von  ju  vor  tu,  wie  u  von  a,  a,  s.  oben 
S.   451  f.  J  fällt  ab  nach  Princip. 


454  Heinsal. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  JA. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten   Silbe. 

A  in  ja  fHlIt  unter  denselben  Bedingungen  aus^  wie  a  im 
gleichen  Falle,  s.  oben  S.  452,  fraegra  (G.  PL),  aber  fraegjan 
(A.  Sg.  Masc),  temjandi  (Part.  Prs.).  J  schwindet  nach  Princip. 

U  von  ju  aus  ja  muss  bleiben,  da  es  nur  vor  auslauten- 
dem u  letzter  Silbe  steht,  das  abfällt,  fraegjuvrij  vaenum  (D.  Sg. 
Masc.) ;  s.  oben  über  u  aus  a,  S.  452.  J  schwindet  nach  Princip. 

JA   ursprünglich   vor  der  letzten   Silbe. 

Lang  JA. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

Ja  wird  ja,  wie  in  ursprünglich  letzter  Silbe. 

Ju,  das  in  II  durchaus  Consonanz  hinter  sich  hatte,  bleibt 
auch  nach  Ausfall  des  n,  s.  oben  S.  452.  J  fällt  nach  Princip 
aus.  Ebenso  bleibt  ju  aus  kurzem  ja  im  gleichen  Fall  und 
verliert  j  nach  Princip. 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Lang  JA. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

Ja  wird  ja,  wie  in  ursprünglich  letzter  Silbe.  —  Ju 
verliert  u  und  somit  j  in  hylgna,  hellna  (G.  PI.),  wie  «  von 
d  in  tungna  ausfällt,  s.  oben  S.  452;  —  in  eggjudam  wird 
es  wohl  aus  demselben  Grunde  belassen,  wie  u  in  köUudum; 
s.  ebendaselbst. 


I. 

/  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  I. 

Lang  i  wird  zu  kurz  i;   s.   oben  bei  ja,  ja  S.  453. 


Ueber  die  Endsilben  der  altnordieclien  Sprache.  455 

/  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  I. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

1  fallt  aus,  wie  i  von  ja  in  ursprünglich  letzter  und  vor- 
letzter Silbe ;  s.  S.  453,  auch  vor  Doppelconsonanz  heUtr 
(N.  Sg.  Masc),  hergdvy  doemdr  (Part.  Pf.).  Aber  nicht  vor  nn^  II 
aus  nr,  Ir:  himfin,  lykll,  mikll  wäre  schwierig  und  undeutlich 
gewesen;  s.  oben  a  im  gleichen  Falle  S.  451. 

U  bleibt;  nämlich  vor  w,  wie  m  von  a,  d,  s.  oben  S.  451  f., 
wie  ju  von  y«,  jä^  s.  oben  S.  453, 

/  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  I. 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

/  erhält  sich  nur,  wenn  a  der  letzten  Silbe  ausgefallen 
ist.  Abfall  des  u  nächster  Silbe  hindert  den  Verlust  des  i  nicht, 
lykil  (A.  Sg.),  aber  dypi ,  dyrd  (N.  Sg.),  dyptar ,  dyrdar  (G. 
Sg.),  hoena  (N.  A.  PL);  s.  oben  über  a,  ja  im  gleichen  Falle 
S.  452.  454. 

Im  A.  Sg.  Masc.  litinn,  mikifm  hat  eine  ähnliche  Bildung 
Platz  gegriffen,  wie  bei  heidinn,  s.  oben  S.  371.  In  einigen 
Adj.,  wie  in  heimüan  (A.  Sg.  Masc),  ist  auffUlliger  Weise  das 
i  der  Ableitung  bewahrt;  s.  unten  bei  u  im  gleichen  Falle. 

/  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Lang  T. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

i  wird  i,  wie  in  ursprünglich  letzter  Silbe  und  wie  i  von 
jaj  ja  ursprünglich  in  letzter  und  vor  der  letzten  Silbe,  s.  oben 
S.    453. 

E  von  altem  t  wird  i  wie  e  von  altem  ä  in  ursprünglich 
letzter  Silbe,  s.  oben  S.  451,  und  wie  e  in  je  von  altem  ja  an 
gleicher  Stelle,  s.  oben  S.  454.  Kein  Umlaut. 


456  HeiDtel. 

U. 

ü  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

U  fkllt  ab,  ausser  wo  in  II  n  dahinter  stand.  Vielleicht 
schwand  u  im  Anfang  der  Periode  III  nur  im  Auslaut^  wie  u 
aus  altem  -4,  -jd,  s.  oben  S.  451.  453.  Denn  gunu  (A.  Sg.)  ist 
inschriftlich  noch  in  III  erhalten,  nur  wisßen  wir  nicht,  ob 
dagegen  noch  fehu  oder  schon  ft  galt.  Sunu,  vbllu  (A.  Sg.) 
könnte  sein  bewahrtes  u  der  alten  Nasalierung  verdanken, 
welche  über  I.  II  gedauert  hätte,  wie  a  von  altem  -am  in  I 
bleibt,  8.  oben  S.  370.  Auch  an  Analogie  von  arm  (A.  Sg.) 
könnte  man  bei  der  späteren  Form  voll  (A.  Sg.)  denken.  — 
Ganz  wie  a  nach  Abfall  des  in  II  noch  vorhandenen  n,  s.  oben 
S.  442,  bleibt  u  in  vöüu  (A.  PL),  tthndu  (3.  PI.  Pf.  Ind.). 

U  ursprünglicli  vor  der  letzten  Silbe. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

U  bleibt,  immer  vor  consonantischem  Auslaut,  wie  die  u 
a,  äj  ja,  jäy  i  an  gleicher  Stelle ;  s.  oben  S.  452.  453.  455. 

U  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe. 

U  fällt  aus  unter  denselben  Bedingungen  wie  a,  u  von 
a,  jaj  an  gleicher  Stelle,  s.  oben  S.  452.  454,  ^jfigir  (N.  PI.  Masc), 
öflgum  (D.  Sg.  Masc),  södli,  iötni,  fiöiri  (D.  Sg.),  —  aber  «öJuZ, 
iötun,ßötur  (A.  Sg.),  öflugra  (G.  PL).  - 

Hie  und  da  ist  u,  wo  man  einen  Verlust  erwarten  sollte, 
erhalten,  s.  Wimmer  Gramm.  §.  80,  A,  1,  klAmnlan  (disertum) 
Tryggevaelde,  Wimmer  Runeskriftens  oprindelse  S.  255. 

Excurs  Über  u  der  Ableitimg  und  Endung. 

Man  sieht,  wie  zähe  altes  u  ursprünglich  letzter  Silbe 
haftet,  besonders  wo  es  von  di  stammt,  s.  oben  S.  430,  nach- 
dem von  a,  i  kaum  mehr  eine  Spur  vorhanden.  Die  «-Stämme 
wirken  im  N.  A.  Sg.  Umlaut,  völlr,  voll,  die  i-Stämme  nicht, 
stadr,  stad.  —  Auch  vor  der  letzten  Silbe  ist  u  später  ausgefallen 


Ueber  die  Endsilben  der  altDordiBchen  Sprache.  457 

als  ey  i:  tamday  vakta  war  uns  schon  in  I  begegnet  (l.Sg.  Pf. 
Ind.),  s.  oben  S.  416,  e  in  II,  s.  oben  S.  444.  447,  in  Perioden, 
deren  a  und  u  noch  unerschüttert  fest  standen.  In  III  fällt  i 
aus,  wo  u  bleibt,  d()pt  aus  dppiduy  aber  gömul  aus  gamalu, 
g&mulu;  s.  oben  S.  455. 

Öldnv  (A,  Sg.  Fem.  der  schwachen  Declination)  zeigt  uns, 
dass  e  von  aldinn  eher  ausgefallen  ist,  als  Umlaut  der  Periode 
II  wirkte,  also  wohl  im  Anfang  von  11,  —  iötni  (D.  Sg.),  und  dass 
u  zu  einer  Zeit  abfiel,  vor  welcher  der  Umlaut  von  II  bereits 
gewirkt  hatte.  Gegen  Braune  Centralblatt  1877,  S.  48.  Dass  u 
für  das  deutsche  Accentgesetz  ein  passender  Endungsvocal  war, 
ist  eine  gewiss  richtige  Beobachtung  Scherer's  GDS.  S.  121  ffi 
Im  littauischen  allerdings  sagt  man  jetzt  pons  für  ponaa,  aber 
alAs  wie  suniis;  der  littauische  Accent  ist  eben  ein  andrer. 

Dass  neben  dem  Schwund  der  a,  ti,  alter  und  aus  ja 
entstandener  t,  die  e  von  II  als  i  sich  in  III  bewahren,  darf 
nicht  auffallen.  Die  Kraft,  welche  e  zu  i  trieb,  ruhte  auf 
einem  ganz  andren  Princip,  als  dem  daneben  wirksamen  Be- 
streben, die  Endsilben  zu  schwächen.  Sie  trug  den  Sieg  davon. 
Wenn  sie  ausreichte,  den  Abfall  der  e  aufzuhalten,  so  war  sie 
natürlich  auch  im  Stande,  das  von  ihr  aus  e  geschaffene  i  zu 
schützen.  Auch  -d  II  wird  in  III  -a,  ohne  dass  dieses  wegen 
des  alten  a  in  gleicher  Stelle  abfallen  müsste,  at^m  (A.  Sg.), 
aber  arma  (G.  PL). 

AL 

AI  ursprüngKch  in  letzter  Silbe. 

Kurz  AI. 

E  wird  zu  t,  das  keinen  Umlaut  bewirkt,  ebenso  wie  e 
von  altem  ä;  s.  oben  S.  451. 

A  wird  a  wie  a  von  altem  &;  s.  oben  S.  451. 

AI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  AI. 

XJ  ist  hier  besser  bewahrt,  als  wo  es  von  w,  ttiw,  ur  oder 
von  auslautendem  d  stammt,  vliku  und  vök]  s.  oben  S.  451.  456. 


458  Heinzel. 

Niir  im  D.  Sg.  Masc.  der  starken  Adjectiya  ist  es  später  au»- 
gefallen;  s.  oben  S.  430. 

E  wird  zu  iy  das  keinen  Umlaut  wirkt,  wie  e  von  kurz  m. 

Ä  wird  a,  wie  ä  aus  kurz  ai.  In  thaejdr  (N.  A.  PL  Fem.) 
assimiliert  sich  das  aus  ä  entstandene  a  nach  Ausfall  desj 
dem  vorhergehenden  ae;  s.  oben  S.  431. 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  AI. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

E  wird  ij  das  keinen  Umlaut  wirkt,  wie  in  ursprünglich 
letzter  Silbe. 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Lang  AI. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe. 

E  wird  if  das  keinen  Umlaut  wirkt,  wie  in  ursprünglich 
letzter  Silbe. 


JAI. 

JAI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Kurz  JAI. 

Je  wird  ji  und  j  ftlUt  aus,  wie  in  je  von  altem  ja;  s.  oben 
S.  453. 

Ja  wird  ja  und  verliert  oder  behält  j  nach  Princip,  wie 
ja  von  altem  ja;  s.  oben  S.  455. 

JAI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 
Lang  JAI. 

Ju  bleibt  und  verliert  j  nach  Princip.  Im  D.  Sg.  der  fem. 
jä'Siämme  schwindet  es  allmälig,  wie  bei  den  4-Stämmen  und 
j  kann  sich  auslautend  nicht  halten;  s.  altes  äi  im  gleichen 
Falle  S.  457  f. 

Jd  wird  jay  wie  altes  ja,  s.  oben  S.  453. 


Ueber  die  Endsilben  der  ftltnordicchen  Sprache.  459 

JAI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 
Kurz  JAI. 

Je  wird  ji  und  j  fallt  aus,   wie  je  von  jai  in  ursprüng- 
lich letzter  Silbe. 


AU. 

A  U  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

I  wird  i,  kurz  i  fallt  aus,  wie  i,  i  von  ja,  s.  oben  S.  453, 
oder  wie  altes  i,  %  ursprünglich  in  letzter  und  vor  der  letzten 
Silbe,  s.  oben  S.  453. 

A  wird  a,  wie  a  von  altem  ä,  s.  oben  S.  451. 


Zusammenfassung. 

Charakteristisch  für  III  ist  der  Abfall  dos  w,  das  aber 
Nasalierung  zurücklässt,  wodurch  die  vorhergehenden  Vocale 
gestützt  werden,  hana  (A.  Sg.),  fara  Inf.,  tunga  (A.  Sg.),  —  ferner 
der  durchgehende  Abfall  des  j  vor  e,  das  zu  i  wird,  und  der 
nach  dem  Princip  geregelte  vor  a,  ti,  s.  stedi,  endi  (N.  Sg.), 
kyrija,  klaeda  (G.  PL),  kynjum,  Tdaedum  (D.  PL). 

Die  Veränderungen  des  Vocalisraus  von  II  auf  III  sind 
folgende.  Die  gewählten  Beispiele  sollen  nur  einige  Fälle 
illustrieren. 

Vocalwandel  in  letzter  und  vorletzter  Silbe. 

An  II  wird  a,  in  der  Tabelle  durch  a  bezeichnet,  arma 
(A.  PL),  hana  (A.  Sg.),  fara  (Inf.  3.  PL),  —  jan  II  wird  ä  oder 
jäj  heUa  (A.  PL),  enda^  stedja  (A.  Sg.). 

Lange  Vocale  werden  verkürzt,  a  zu  a,  t  zu  i:  kaüa 
(1.  Sg.  Prs.  Ind.),  kallada  (1.  Sg.),  spakari  (N.  Sg.  Masc),  manna 
(Q.  PL),  armar,  vakar  (N.  PL)  von  altem  ä,  —  hurdar,  sottar  (G. 
Sg.)  von  altem  am,  —  vaUar  (Qt.  Sg.)  von  altem  aua,  —  foeri\ 
temdi  (3.  Sg.  PL  Pf.  Opt.)  von  altem  i,  —  bergir,  doemir  (2.  Sg.  Prs. 
Ind.),  heUis^  klaedis  G.  Sg.  von  altem  ja,  —  bekkir  (N.  PL)  von 
altem  ja,  —  vellir  (N.  PL),  velli  (D.  Sg.),  von  altem  aiM,   auL 


4f)0  Heinzel. 

E  wird  I,  welches  bleibt,  haniy  fadir  (N.  Sg.),  tamdi 
(3.  Sg.  Pf.  Ind.)  von  altem  a,  —  famdir  (2.  Sg.  Pf.  Ind.)  von  altem 
äj  —  aüdigr,  farinn  (N.  Sg.  Masc),  farid  (2.  PI.  Prs.  Ind.)  von 
altem  a,  —  stedi  (N.  Sg.),  femidj  doennd  (2.  PI.  Prs.  Ind.)  von 
altem  ja,  —  mdttigr  (N.  Sg.  Masc.)  von  altem  t,  —  arwit,  ihumli, 
landi  (D.  Sg.),  fari  (3.  Sg.  PI.  Prs.  Opt.),  burdir  (N.  PL),  »pakir 
(N.  PI.  Masc.)  von  altem  m,  aia,  —  bekh',  hellt  (D.  Sg.),  fratgir 
(N.  PI.  Masc),  temi  (3.  Sg.  PI.  Prs.  Opt.)  von  altem  jai. 

Vocalschwund  in  letzter  Silbe. 

Die  kurzen  Vocale  a,  t,  u  III,  welche  in  II  nicht 
vor  Nasalis  standen,  noch  in  II  einen  anderen  Lautwerth 
hatten,  fallen  in  III  ab,  ausser  vor  Doppelconsonanz.  Also 
a  in  arm,  thumal  (A.  Sg.),  land  (N.  A.  Sg.),  von  altem  a»i, 
in  II  a,  —  beJck,  helli  (A.  Sg.),  kyn,  klaedi  (N.  A.  Sg.)  von 
altem  jam,  ijam,  in  II  ja,  {ja,  —  nrms,  thumah,  lands,  (Q. 
Sg.) ,  okkr  (D.  PI.)  von  altem  aaja ,  in  II  o« ,  —  spakt  (N. 
A.  Sg.  Neut.)  von  altem  atam ,  in  II  af,  —  {  in  tem,  doem 
(2.  Sg.  Imp.)  von  altem  ja,  in  II  i,  —  bekh*  (N.  Sg.),  fraegr 
(N.  Sg.  Masc),  betr  (Adv.)  von  altem  jas,  in  II  ir,  —  temr 
(2.  Sg.)  von  altem  jasi,  in  II  ir,  —  bekks  (G.  Sg.)  von  altem 
jaßja,  in  II  i«,  —  ferr  (2.  Sg.)  von  altem  m,  in  II  ir,  — 
betstr  (N.  Sg.  Masc.)  von  altem  istas,  in  II  itstr,  —  doemdr 
(Part.  Pf.)  von  altem  itas,  in  II  idr,  —  hendr  (N.  A.  PI.) 
von  altem  atuis,  in  II  ir,  —  t*  in  Zönd  (N.  A.  PL),  «pök  (N.  Sg. 
Fem.  N.  A.  PL  Neut.)  von  altem  d,  in  II  u,  —  eng  (N.  Sg.), 
kyn,  klaedi  (N.  A.  PL)  von  altem  ja,  in  II  ju,  —  fe  (N.  A.  Sg.) 
von  altem  u,  in  II  ti,  —  voll  (A.  Sg,)  von  altem  um,  in  II  ti, 
—  vöUr,  (N.  Sg.)  von  altem  ua,  in  II  ur,  —  vök  (neben  vöku 
D.  Sg.)  von  altem  di,  in  II  u,  —  eng  (neben  engju,  D.  Sg.) 
von  altem  jai,  in  II  ju. 

Aber  erhalten  bleiben  nach  der  aufgestellten  Regel  a  in 
arma  (A.  PL)  von  altem  ans,  hana  (A.  Sg.)  von  altem  anam,  — 
fara  (Inf.)  von  altem  ani,  —  fara  (3.  PL)  von  altem  anti,  — 
stedja,  enda  (A.  Sg.)  von  altem  janam,  —  i  überall  in  II  -o«, 
Jan,  —  manna  (G.  PL)  von  altem  Am,  in  II  d,  —  von  t  in 
fadir  (N.  Sg.)  von  altem  dr,  in  II  er,  —  tamdi  (3.  Sg.)  von  altem 
dt,  in  II  e,  —  foeri  (3.  Sg.  Pf.  Opt.)  von  altem  it,  in  II  t,  —  « 
in  forum  (l.PL)  von  altem  ama,  in  II  iiw,  —  ^rmum  (D. PI.) 
von  altem  anbhims,  in  II  umr, augu  (N.  A.  PL)  von  altem 


Üeber  die  EndsilbeD  der  altnoidiechen  Spreche.  461 

ana,  in  II  un,  —  tungu  (A.  Sg.)  von  altem  dnamy  in  II  un,  — 
hylgjn  ( A.  Sg.)  von  altem  jdnam ,  in  II  un,  —  völlu  (A.  Pl.)> 
von  altem  U7is,  in  II  un. 

Vor  Doppelconsonanz  bleibt  a  in  thumally  aptann,  haman' 
(N.  Sg.)  von  altem  alciSf  anas,  aras,  —  i  in  lykäl^  himinn  (N. 
Sg.)  von  altem  ilas^  inasy  —  u  in  södull,  iötunn,  ßöturr  (N.  Sg.) 
von  altem  ulasy  wias,  urcu. 

Ausserdem  ist  u  im  D.  Sg.  vöku  beinahe,  im  D.  Sg.  Neut. 
spöku  vollkommen  constant.  Dieses  u  beruht  auf  di  und  war 
vielleicht  länger  als  die  übrigen ;  s.  oben  S.  430. 

Vocalschwund  vor  der  letzten  Silbe. 

Die  kurzen  Vocale  a,  ij  u,  welche  schon  in  II  diese 
Qualität  haben,  werden  in  vor-  und  drittletzter  Silbe  aus- 
geworfen, wenn  der  Vocal  der  nächsten  Silbe  nicht  nach  der 
früher  angeführten  Regel  schwinden  muss  und  wenn  nicht 
Doppelconsonanz  folgt.  S.  oben  S.  445.  /  macht  eine  Ausnahme, 
indem  es  ausfällt  in  einigen  Fällen  folgender  Doppelconsonanz 
und  gewöhnlich  auch  dann,  wenn  die  nächste  Silbe  gleichfalls 
ihren  Vocal  verliert;  s.  oben  S.  456. 

A  fällt  aus  in  augna  (Q.  PL),  von  altem  anäm,  gamlir 
(N.  Fl.  Masc.)  von  altem  alaiy  gamlan  (A.  Sg.  Masc.)  von  altem 
alcumdij  spdkra  (G.  PI.)  von  altem  asärrij  spakrar  (G.  Sg.  Fem.) 
von  altem  asQ'Jäsy  spakri,  gamalli  (D.  Sg.  Fem.)  von  altem  aajdi^ 
hugsa  (Inf.)  von  altem  atjaniy  —  fraegra  (G.  PI.)  von  altem 
jcLsäm,  fraegrar  (G.  Sg.  Fem.)  von  altem  ja8(j)äs^  —  i  in  bergda, 
doeinda  (1.  Sg.)  von  altem  idhäntj  lykli,  himni  (D.  Sg.)  von  altem 
ilaij  inaiy  miklir  (N.  PI.  Masc.)  von  altem  ilai,  miklum  (D.  Sg. 
Masc.)  von  altem  ilasmdi,  betri  (N.  Sg.  Masc.)  von  altem  f«an, 
dypt  (N.  Sg.),  von  altem  iidy  hoens  (N.  A.  PL)  von  altem  itjdy 
betstr  (N.  Sg.  Masc.)  von  altem  iatasj  bergdr,  doemdr  (Part.  Pf.)  von 
altem  itasy  —  u  in  götnlum  (D.  Sg.  Masc.  D.  PL)  von  altem  alasmdiy 
alanbhimsy  gömlu  (D.  Sg.  Neut.)  von  altem  aldiy  tungna  (G.  PL) 
von  altem  dnärriy  bylgnay  kellna  (G.  PL)  von  altem  jdnäm,  öflgir 
(N.  PL  Masc.)  von  altem  nkaiy  öflgum  (D.  Sg.  Masc.  D.  PL)  von 
altem  ukasmdiy  ukanbhimsy  södli  (D.  Sg.)  von  altem  ulau 

Aber  erhalten  bleibt  a  in  apakan,  gamlan  (A.  Sg.  Masc.) 
von  altem  anamy  in  II  anuy  thumals  (G.  Sg.)  von  altem  asjoy 
in  II  asy  gamals  (G.  Sg.  Masc.)  von  altem  asja,  in  II  asy  —  i 
in  doemi  (1.  Sg.)  von  altem  ya,  in  II  ijuy   ermi  (N.  Sg.),  klaedi 


462 


Heiozel 


(N.  A.  PI.)  von  altem  ijd,  in  II  ?!/«,  lykil,  himin  (A.  Sg.)  von 
altem  ilamj  inam,  in  II  ilay  ina,  mikiUa  (6.  PI)  von  altem 
ilasämj  in  II  ilardj  —  um  göniul  (N.  Sg.  Fem.  N.  A.  PL  Neut.) 
von  altem  ald,  in  II  ulu,  södul  (A.  Sg.)  von  altem  nlam,  in  II 
ulay  öflugra  (Gr.  PI.)  von  altem  nkasämy  in  II  ugard. 

Durch  Position  verhindert  ist  der  Ausfall  von  a  in  farandi 
(Part.  Prs.),  von  altem  anidn,  in  II  ande,  iemjandiy  (Ptc.  Prs.), 
von  altem  jantdn,  in  II  jande. 

Von  späteren  Lautwandlungen  will  ich  nur  hervorheben, 
dass /an  (1.  Sg.  Prs.  Opt.),  foeri  (1.  Sg.  Pf.  Opt.),  temi  (1.  Sg. 
Prs.Opt.),  tamdi  (1.  Sg.  Pf.  Ind.),  temdi  (1.  Sg.  Pf.  Opt.)  für 
fara,  foera,  temja,  tamda,  temda  nur  nach  Analogie  der  3.  Sg. 
gebildet  sein  kann,  da  a  sonst  erhalten  bleibt. 

Auch  e  und  o  fUr  V,  n  der  Endung  scheint  spätere  Ent- 
wicklung zu  sein,  obwohl  gerade  die  ältesten  Handschriften 
diese  Orthographie  lieben.  Aber  da  i  auch  im  Opt.  Pf.  erscheint, 
o  im  Pronomen  ihü  und  sonst,  wo  jedenfalls  t,  u  zu  Grunde 
liegt,  —  Gislason  Um  frumparta,  S.  187  -legr,  -lega,  kaleca 
(calix),  töke  (3.  Sg.  Pf.  Opt.),  196  iitom  (Titum),  bkuiom 
(Blasium)f  —  Hävamäl  132  R  mvndo  (=  mundu  2.  Sg,),  da  die 
Umlaute  wie  j  und  v  beweisen,  von  i,  i/,  nicht  von  e,  o  aus- 
gingen, —  so  muss  man  schliessen,  älteres  t,  u  sei  zu  e,  o 
geworden,  um  wieder  zu  t,  u  zurückzukehren.  Im  Anfang  des 
vierzehnten  Jahrhunderts  scheinen  in  Norwegen  i  u  und  e  o 
ausgesprochen  worden  zu  sein,  da  z.  B.  eine  Handschrift  der 
Dietrichsage  zwischen  beiden  Lautgruppen  nach  Massgabe  des 
vorhergehenden  Wurzelvocals  wählt.  Eine  Art  Vocalharmonie. 
S.  Lilienkron  Zs.  7,  570  ff. 


Uebttr  die  Endiilbeu  d«T  ultoordücheu  Sprache. 


463 


PARADIGMEN  ZU  DEN  DREI  PERIODEN. 


Substantiv  a. 

^-Stämme. 
Maaculiua. 


Sg.N. 

arm  Ar  (brachixim) 

armr 

armr  8.  S.  368 

G. 

armas8 

armas 

arms  8.  8.  377.  443.  451 

D. 

arme 

arme 

armi  s.  S.  434 

A. 

armä 

arma 

arm  s.  S.  370.  443.  450 

P1.N. 

arm6r 

armdr 

armar 

G. 

armo 

ai-md 

arma 

D. 

armumr 

öi'mumr 

örmum  s.  S.  380 

A. 

armann 

arman 

Neutra. 

arma  s.  S.  371.  443.  450 

Sg.N. 

landä  (terra) 

landa 

land  8.  S.  370 

G. 

landasa 

landas 

lands  8.  S.  377.  443.  451 

D. 

lande 

lande 

landi  8.  S.  434 

A. 

landä 

landa 

land  8.  S.  370 

PL  N. 

landu 

löndu 

läfid 

G. 

lando 

landä 

landa 

D. 

landumr 

Ibndumr 

löndum  8.  S.  380 

A. 

landu 

löndu 

lönd 

-d-Stämme. 

Feminioa. 

Sg.N. 

vaJcu  (foramen  in 

vöku 

vök  8.  S.  373 

G. 

vakor 

glacie) 

vakdr 

vakdr  8.  S.  373 

D. 

vaku 

vöku 

vöku  8.  S.  429.  434.  457 

A. 

vako 

vakd 

vök  8.  8.  373.  374.  387 

PI.  N. 

vakor 

vakdr 

vakar  s.  8.  443 

G. 

vakd 

vakd 

vaka 

D. 

vakomr 

vökumr 

vökum  s.  8.  352.  380 

A. 

vakor 

vakdr 

vakar  8.  8.  443 

464 

HeiBial. 

JilStämme. 

MMctdina. 

Sg.N.  hakir  (nuus) 

hekir 

bekkr  8.  S.  395.  397 

G.  bdkiss 

behis 

bekks  8.  S.  409 

D.  hakje 

bekje 

bekki  8.  S.  400.  435 

A-  baJcjä 

bekja 

bekk  8.  S.  396.  397 

PI.  N.  6ai;6r 

bekir 

bekkir  8.  S.  400.  408 

G.  JaAJS 

bekja 

bekkja  8.  S.  403 

D.  bakjumr 

bekjumr 

bekkjmi  8.  S.  410 

A.  bdkjann 

bekin 

bekki  8.  S.  396.  397. 400 

Sg.N.  AaWir  ("»pec«») 

hdlir 

heUir  8.  S.  395.  397 

G.  ^;/^« 

MtU 

hellü  8.  S.  409 

D.  haUje 

hellje 

heüi  8.  S.  435 

A.  AaUtjd 

hellija 

hellt  8.  S.  396.  397 

PI.  N.  halljSr 

heUjdr 

hellar  8.  S.  408 

G.  ÄaW^Ö 

Mljd 

heUa  8.  S.  403 

D.  halljutnr 

heüjumr 

hellum  8.  S.  410 

A.  halljann 

hdljan 
Neutra. 

hella  8.  S.  396.  397 

Sg.N.  A;u7i;ä  (genus) 

kynja 

kyn  8.  S.  391.  393.  397 

G.  Ä»nt«« 

kynis 

kyns  8.  S.  409 

D.  Äwny« 

kynje 

hftii  8.  S.  435 

A.  X;un;d 

kynja 

kyn  8.  S.  391.  393.  397 

PI.  N.  ikun;« 

kynju 

kyn  8.  S.  391.  402 

Q.  kunj6 

kynjä 

kynja  8.  S.  403 

D.  kunjumr 

kynjumr 

kynjum  8.  S.  410 

A.  X»inyu 

kynju 

kyn  8.  S.  391.  402 

Sg.N.  JkMdÄyä  ^«e«<i«; 

klaedhija 

kUiedi  8.  S.  391.  393. 397 

G.  Jk;<{(2Ais« 

klaedhu, 

UaedU  8.  S.  409 

D.  Mädhje 

klaedhje 

Uaedi  8.  S.  435 

A.  Jk;<£<2Atyä 

klaedhija 

klaedi  8.  S.  391.  393. 397 

PI.  N.  Mädhiju 

tdaedhiju 

klaedi  8.  S.  391.  402 

Q.  ÄMdÄ/Ö 

klaedhjd 

Uaeda  8.  S.  403 

D.  Uddhjumr 

klaedhjumr 

kkudum  s.  S.  310 

A.  Jk^äcJAtju 

klaedhiju 

klaedi  8.  S.  391.  402 

Ueber  die  Endsilben  der  ftltnoidischen  Sprache. 


46r) 


JÄ'Stämme. 

Feminina. 

Sg.  N.  angju  (prnttim) 

eug;« 

eng  8.  S.  393.  396 

G.  aJifjjor 

e»g/(fr 

engjar  s.  S.   392 

D.  an^ii 

ß'W" 

engju  s.  S.  436.  458 

A.  angjo 

ai^ya 

eng  s.  S.  403 

PL  N.  angjor 

^^*ä/<^^' 

engjar  s.  S.  409 

G.  angjd 

ewg/a 

engja  8.  S.  403 

D.  angjomr 

en^Jwmr 

mgjum  s.  S.  392.  410 

A.  angjor 

eng/ar 

engjar  s.  S.  409 

Sg.  N.  m^niju  (manica) 

erwii/tt 

ermi  s.  S.  393.  396.  401 

G.  annjor 

errn/ar 

erDiar  s.  S.  392 

D.  armju 

6»7wyi* 

ermi  s.  S.  436.  458 

A.  armjo 

er7w/(^ 

ei-mi  8.  S.  403 

PI.  N.  arwijor 

erwyar 

ermar  s.  S.  409 

G.  armjo 

frmjd 

&rma  s.  S.  403 

D.  amijomr 

evmjumr 

ermum  s.  S.  392.  410 

A.  annjor 

ennjdr 

ei-mar  8.  S.  409 

/-Stämme 

). 

Masculina. 

Sg.  N.  fri^rdr  (parfus) 

6wrdr 

Imrdr  8.  S.  411.  427.  429 

G.  hurdor 

burddr 

bmdar  s.  S.  429 

D.  6wrde 

bürde 

burd  8.  S.  428 

A.  6«ird 

burd 

burd  8.  S.  429 

Fl.  N.  iurder 

burder 

burdir  8.  S.  427 

G.  fewrdö 

burdä 

burda 

D.  hurdumr 

burdumr 

burdum  s.  S.  416 

A.  burdenn 

bürden 
Feminina. 

burdi  8.  S.  413 

8g.  N.  «oÄfr  (morbus) 

sohtr 

s6tt  8.  S.  411.  427.  429 

G.  «oÄ^or 

sohtär 

sottar  8.  S.  429 

D.  «r?Ä<e 

sohle 

s6tt  8.  S.  428 

A.  «oÄ^ 

soht 

sott  8.  S.  429 

PI.  N.  «oAfer 

sohter 

«6«<r  8.  S.  427 

G.  «oA<ö 

sohtd 

sotta 

D.  sohtumr 

sohtumr 

sottum  8.  S.  416 

A.  sohter 

sohter 

sdUir  8.  S.  427 

SttznngBber.  d.  phil-hiiit.  Cl.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hfl. 


30 


4G() 

Heinzel. 

Ü^-Stämme. 

1 

Masculiua. 

Sg.  N.  vaUur  (aimpusj 

vöMwr 

vö«r  8.  S.  421 

G.  vallSr 

t^aUdr 

t;a«ar  8.  S.  429.  437 

D.  valli 

y^«« 

velli  8.  S.  437 

A.  vallu 

vöWt* 

voll  8.  S.  421.  456 

PL  N.  mZßr 

t?«Kir 

vellir  8.  S.  437 

G.  vaUd 

vaKa 

valla  8.  S.  437 

D.  vallumr 

vöWiimr 

üöZ/«in 

A.  vallunn 

t?öMim 
FemiaiiUL 

völlu  8.  S.  456 

Sg.N.  handur  (mamis) 

Äöndwr 

Aönd  8.  S.  439 

G.  handor 

Äawd<fr 

handar  s.  S.  429.  437 

D.  Äand« 

AendC 

hmdi  8.  S.  437 

A.  handu 

AöndM 

hönd  8.  S.  439 

PL  N.  ÄandtV 

Äander 

hendr  8.  S.  438.  439 

G.  Aa^ido 

Aa7ie{<2 

handa  8,  S.  437 

D.  handumr 

Aöu(2f{mr 

höndum 

A.  handir 

Ae/id/r 

hendr  8.  S.  438.  439 

AW-Stämme. 

MascoUna. 

Sg.N.  Äana  (gaUvft) 

Aane 

hani  8.  S.  373 

G.  hanann 

Aawan 

hana 

D.  hanan 

Aanan 

hana 

A.  hanan 

Aanan 

hana  8.  S.  371.  443.  450 

PL  N.  Aanann 

Aanan 

hanar  8.  S.  377 

G.  hanand 

Aanci/i(!i 

hana  8.  S.  382 

D.  havumr 

Äö'nwmr 

hönum 

A.  Aanann 

Aanan 
Neotra. 

hana  8.  S.  376 

Sg.N.  ai/jfo  (oculna) 

awjf^f 

auga  s.  S.  375 

G.  augann 

ati^a» 

auga 

D.  angan 

au^a?i 

auga 

A.  at^^d 

aw(7<!c 

auga  s.  S.  375 

PL  N.  augon 

au^wi 

augu  8.  S.  385 

G.  augnnd 

atM/anei 

nngna  8.  S.  452 

D.  augumr 

aMgriimr 

augum 

A.  augon 

£iti<^un 

augu  8.  S.  385 

Ueber  dio  Endsilben  der  altnordischen  Sprache. 


4G7 


Sg.N.  tungd  (lingua) 

G.  tungonn 

D.  tungonn 

A.  tungou 
PL  N.  tungdn 

G.  tungonö 

D.  tungömr 

A.  Uingönn 


Sg.N.  stadja  (incus) 
Q,  stadjaim 
D.  stadjan 
A.  stadjan 

PI.  N.  stadjann 
G.  stadjano 
D.  sfadjumr 
A.  stadjann 

Sg.N.  andja  (finis) 

G.  andjann 

D.  andjan 

A.  andjan 
PL  N.  andjann 

G.  andjano 

D.  andjumr 

A.  andjann 

Sg.N.  awr/ß  (auris) 

G.  aurjnnn 

D.  aurjan 

A.  awr/ö 
PL  N.  ai*r/dn 

G.  aurjanS 

D,  aurjumr 

A.  aurjdn 


Feminina. 
tungä 
tungun 
tungun 
tungun 
tungun 
tunguna 
tungumr 
tungun 

JAN'Siäm 
Masculina. 

stedjan 

stetJjan 

stedjan 

stedjan 

stedjmid 

stedjumy 

stedjan 

endje 

ttndjan 

endjnn 

endjan 

endjan 

endjand 

endjumr 

endjan 

Neutra. 
eyrjd 
eyrjan 
eyrjan 
eyrjd 
eyrjun 
eyrjand 
eyrjumr 
eyrjun 


me. 

<tin^a  s.  S.  375 
etin^u  8.  S.  384.  452 
<un(^?<  8.  S.  452 
tungu  8.  S.  452 
tungur  8.  S.  385 
fungna  s.  S.  386.  452 

tungur  s.  S.  385 
me. 

«««(t/  8.  S.  402 

stedja  8.  S.  409 

stedja 

sfedja  8.  S.  392 

stedjar  8.  S.  409 

stedja 

stedjum 

stedja 

endi  s.  S.  402 

enda  8.  S.  409 

enda 

enda  s.  S.  392 

endar  8.  S.  409 

enda 

endum 

enda 

eyra  8.  S.  408 

eyra 

eyra 

eyra 

eyru 

eyma 

eyi^um 

eyru 

30* 


468 


Hei  nx6l. 


Sg.  N.  bulgjo  (wida) 

G.  hulgjonn 

D.  buigjdn 

A.  hulgjon 
PI.  N.  hulgjonn 

G.  hulgjono 

D.  hulgjomr 

A.  bulgjonn 


Feminina. 
hylgjd 
hylgjun 
hylgjun 
hylgjun 
lylgjun 
hylgjund 
bylgjumr 
hylgjun 


Sg.  N.  Äa-?//6  ( lamina  la-     hdijd 
G.  halljonn      piden)     helljun 


D.  halljon 

A.  halljon 

PI.  N.  Äa;//ö/m 

G.  halljonn 

D.  halljomr 

A.  halljonn 

Sg.N. /rödi 
G.  frödinn 
D.  frodin 
A.  frodtn 


IieUjun 

helljun 

htlljun 

heUjnnd 

helljumr 

helljun 

froedtn 
froedin 
froedin 
froedtn 


hylgja  s.  S.   403 

hylgju 

hylgju 

hylgju 

hylgjar  s.  S.  410 

hylgna  s,  S.  454 

hylgjum  s.  S.  410 

bylgjuv  8.  S.  410 


//öZia  8.  S.  403 

hellu 

hellu 

hellur  s.  S.  410 

A^ZZna  s.  S.  454 

hellum  s.  S.  410 

hellur  s.  S.  410 

/roetfi  8.  S.  403.  408 

froedi  s.  S.  403 

froedi  8.  S.  403 

froedi  s.  S.  403 


A.  d  j  e  c  t  i  V  a 

^-Stämme. 
Masculina. 
.spakr 


Sg.  N.  spakAr  (sapiens) 

G.  spakass  spakas 

D.  spakummu  spökumu 

A.  spakanä  spakana 

PL  N.  spaker  spaker 

G.  spakaro  spakarä 

D.  spakumr  spökumr 

A.  spakann  spnkan 


spakr 

spaks 

spökum  8.  S.  429.  452 

spakan  8.  S.  452 

spakir  s.  S.  426 

spakra  s.  S.  452 

spaka 


Ueber  die  EitdHÜbeo  der  aUnordiai'hen  Sprticlie. 


46Ü 


Neutra. 

Sg.  N.  spakat  (sapiens) 

»pa/cai 

spakt  8.  S.  371.  451 

G.  spakass 

^paÄ:a« 

«paJ;« 

D.  spaku 

«2?öiwma 

«pöiw  s.  S.  429 

A.  s])akat 

spaiai 

spakt  8.  S.  371.  451 

PI.  N.  spaku 

«pÖÄM 

spök 

G.  spakaro 

*paiam 

spakra 

D.  spakumr 

Ä-pöÄiMwr 

spökum 

A.  spaku 

Feminina. 

spök 

Sg.  N.  «paiw  (sapiens) 

«pöÄw 

spök 

G-  spakaror 

ÄpaÄarar 

spakrar  s.  S.  418 

D.  spakare 

spaÄ:are 

spakri  8.  S.  418.  452 

A.  «paÄ;6 

«paÄ:^:? 

«pate  8.  S.  373 

PI.  N.  *pai6r 

«pafcar 

spakar 

G.  spakaro 

spafaim 

spakra 

D.  spakorar 

spökumr 

spökum 

A.  spakor 

spakdr 

spakar 

J^-Stäinme. 

Masculina. 

Sg.  N.  fragil^  (clarxis) 

/rae^V 

fraegr  s.  S.  397.  402 

G.  /r^^w« 

fraegis 

fraegs  s.  S.  409 

D,  frdgjummu 

fraegjumu 

fraegjum  s.  S.  410 

A.  frdgjanä 

fraegjana 

fraegjan  s.  8.  454 

PI.  N.  fragjer 

fraegjer 

fraegir 

G.  frdgjaro 

fraegjard 

fraegra  s.  S.  410.  454 

D.  frdgjumr 

fraegjumr 

fraegjum  s.  S.  410 

A.  frdgjann 

fraegjan 
Neutra. 

fra^gja 

Sg.N.  frdgjat  (darum) 

fraegjat 

fraegt 

G.  /rajfw« 

fraegis 

fraegs  8.  S.  409 

D.  /'«a/w 

fraegju 

fraegju 

A.  ß'dgjat 

fraegjat 

fraegt 

Wim.  frdgju 

fraegju 

fraeg 

G.  frdgjard 

fraegjard 

fraegra 

D.  frdgjumr 

fraegjumr 

fraegjum 

A.  /mä/tt 

fraegju 

fraeg 

470 


Heintel. 


Sg.  N.  fi'd^u  (clara) 
G.  frdgjar&i* 
D.  frägjare 
A.  frdgjo 

PL  N.  fi'ägjdr 
G.  frdgjaro 
D.  frdgjomr 
A.  frdgjor 


Sg.N.  vdnir  (pulcher) 

G.  vdniss 

D.  vdnjummu 

A.  vdnjanä 

PI.  N.  mryer 

G.  vdnjard 

D.  vdnjumr 

A.  vdnjann 


Feminina. 

fraegju 

fraegjardr 

fraegjare 

fraegjd 

fraegjdr 

fraegjard 

fraegjuvxr 

fraegjdr 

Masculina. 
vaenir 
vaenia 
vaenjumu 
vaenjana 
vaenjer 
vaenjard 
vaenjumr 
vaenjan 


Neutra. 

Sg.N.  vdnjat (pulchrum)  vaenjat 

G.  vdnns  vaenia 

D.  vdnju  vaenju 

A.  vdnjat  vaenjat 

PL  N.  mn/ti  vaenju 

Q.  vdnjard  vaenjard 

D.  vdvjumr  vaenjumr 

A.  t7<£n/ti  vaenju 


Sg.N.  t?<!En;tt  (pulchra) 

G.  vdnjaror 

D.  vdnjare 

A.  t?a«y6 
PL  N.  vdnjor 

G.  vdnjard 

D.  vdnjomr 

A.  vdnjor 


Feminina. 

vaenju 

vaenjardr 

vaenjare 

vaenjd 

vaenjdr 

vaenjard 

vaenjumr 

vaenjdr 


fraeg  8.  S.  402 

fraegrar  s.  S.  410 

fraegri  s.  S.  410 

/ra6g/a  s.  S.  392.  403 

fraegjar 

fraegra 

fraegjum 

fraegjar 


vaenn  B.  S.  397.  402 
t;a€fi5  8.  S.  409 
vaenum  8.  S.  410 
vaenan  s.  S.  454 
t?a«niV 

vaenna  s.  S.  410.  454 
vaenum  s.  S,  410 
vaena 


vaent 

vaens  8.  S.  409 

vaenu 

va£nt 

vaen 

vaenna 

vaenum 

vaen 


vaen  s.  S.  402 

vaennar  8.  S.  410 

vaenni  s.  S.  410 

vaena  8.  S.  392.  403 

vaenar 

vaenna 

vaenum 

vaenar 


Uebei  die  Eodsilbeu  der  altuordisclien  Sprache. 


471 


Schwache   Decl 

ination. 

MasculinH. 

Sg.  N.  spaka  (sapiens) 

spake 

S2>ftki 

G.  spakann 

spakan 

spaka 

D.  spakan 

spakan 

spaka 

A.  spakan 

spakan 

spaka 

PI.  N.  spakann 

spakan 

»pöku  8.  S.  385. 

G.  spakano 

spakanä 

spöku 

D.  spakumr 

spökumr 

spökum 

A.  apakann 

spakan 
Neutra. 

spöku  8.  S.  385 

Sg.  N.  «paAo  (sapiens) 

spakä 

spaka 

G.  spakann 

npakan 

spaka 

D.  spakan 

spakan 

spaka 

A.  ^aiö 

»pakä 

spaka 

PL  N.  «/>aftÖH 

spökun 

spöku  s.  S.  385 

G.  spakano 

spakanä 

spöku 

D.  spakumr 

spökumr 

spökum 

A.  s-pakon 

spökun 

spöku  8.  S.  385      • 

Sg.  N.  »paÄo  (sapiens) 

spakä 

spaka 

G.  spakonn 

spökun 

spöku 

D.  spakon 

spökun 

spöku 

A.  spakdn 

npökun 

spöku 

PL  N.  »pakonn 

spökun 

spöku  8.  S.  385 

G.  spakono 

spökund 

spöku 

D.  spakdmv 

spökumr 

spökum 

A.  spakdnn 

spökun 

spöku  8.  S.  385 

Ve  r  b 

a. 

Pra.  Ind. 

il-Stämme. 

Sg.  1.  /artt  (veh&r) 

/oru 

fer  8.  S.  374 

2.  /anr 

/enr 

ferr  8.  S.  416 

3.  /and 

/^•id 

ferr  s.  S.  416 

PL  1.  /art«m 

/örww 

forum 

2.  /arcd 

fared 

farid  8.  S.  379.  451 

3.  farann 

faran 

fara 

472 

Hei  D2e!. 

Pre.  Opt. 

Sg.  1.  färb 

/am 

fara  8.  8.  429 

2.  fctrer 

/arer 

farir 

3.  fare 

/are 

fari  8.  S.  427 

PL  1.  farem 

/arewi 

farim 

2.  fared 

/a?-ed 

farid 

3.  faren 

/ar«» 

fari  8.  S.  427 

Pra.  Imp. 

Sg.  2. /ar 

/ar 

far 

PI.  1.  farum 

/örwm 

forum 

2.  /arerf 

fared 

farid 

Pf.  Ind. 

Sg.l./6r 

for 

ßr 

2.  /Ol« 

f(yrt 

fort 

3.  ßr 

for 

/f 

PI.  1.  /onim 

forum 

forum 

2.  /oi-ttd 

forud 

forud 

3.  forun 

forun 

foru 

Pf.  Opt 

Sg.l. /Örjo 

foerjd 

foera  8.  S.  395.  400f.  403 

2. /örCr 

foerir 

foerir  s.  S.  420 

3. /Ör« 

foeri 

foeri  8.  S.  414 

PI.  1.  f6Am 

foemm 

foerim 

2.  /md 

foemd 

foei'id 

3.  förin 

foerin 

foeri  8.  S.  414 

Inf. 

faran 

faran 

fara  s.  S.  377.  443 

Part.  Prs. 

faranda 

faranJe 

farandi  s.  S.  444 

Part.  Pf. 

fareiiAr 

favtnr 

farinn  s.  S.  378.  392 

Ptb.  Ind. 

J4-Stämme. 

Sg.  1.  faTw/w  (dmno) 

teniju 

tem  s.  S.  392.  401 

2.  tonu'/' 

temir 

tenir  s.  S.  416 

3.  tamid 

teniid 

temr  s.  S.  416 

PI.  1.  tamjnm 

temjnm 

temjum  s.  S.  392.  410 

2.  tamjed 

temjed 

temid  8.  S.  409 

3.  tamjann 

ternjan 

temja 

üeber  die  Endnilbeii  d4?r  altuordischen  Sprache. 


473 


Prs.  Opt. 

Sg.  1.  tamjö 

tenijd 

temja  s.  S.  436 

2.  tamjer 

temjer 

temir 

3.  tamje 

temje 

temi 

PL  1.  tamjem 

temjem 

temim 

2.  tamjed 

temjed 

temid 

3.  temjen 

temjen 

temi 

Prs.  Imp. 

Sg.2.  tami 

temi 

tem  8.  S.  394 

PI.  1.  tainjum 

temjum 

temjum 

2.  tamjed 

temid 

temid 

Pf.  Ind. 

Sg.  1.  «amidö 

tamdd 

^        ,    8.  S.  374.  387.  413.417. 
tamaa        420 

2.  tamiddr 

tamder 

tamdir  s.  S.  384.  452 

3.  tamida 

tamde 

tamdi  8.  S.  372.  374.  387 

PL  1.  tamidom 

tönidum 

tömdum 

2.  tamidod 

tömdud 

tömdud  8.  S.  384 

3.  tamidon 

tomdun 

tömdu  8.  S.  376.  384.  443.  456 

Pf.  Opt 

Sg.  1.  tamidjo 

temdjä 

temda  8.  S.  403.  417 

2.  tamidtr 

temdir 

temdir 

3.  towid« 

temdi 

temdi 

PL  1.  tamidim 

temdim 

temdim 

2.  tamidid 

temdid 

tfmidid 

3.  tamidin 

temdin 

temdi 

Inf. 

' 

farn/aw 

temjan 

temja 

Part.  Prs. 

tom/anda 

temjande 

temjandi  8.  S.  410.  454 

Part.  Pf. 

<amidi4r 

tamdr 

tamdr  s.  S.  413.  417 

Pra.  Ind. 

Sg.  1.  domiju  (iudico) 

doemiju 

doemi 

2.  domir 

doemtr 

doemtr 

3.  dömed 

doemul 

doemir 

PL  1.  ddmjum 

doemjum 

doemum 

2.  domjed 

doemjed 

doemid 

3.  danijann 

doemjan 

doema 

474 

Heiuzel. 

Prs.  Opt. 

Sg.  1.  d6mjd 

(2oetn;(:£ 

doema 

2.  domjer 

do^«* 

doemir 

3.  ddmje 

doewy« 

doemi 

PL  1.  domjem 

doemjem 

doemim 

2.  domjed 

doemjed 

doemid 

3.  dörnjeii 

doemjen 

doemi 

Prs.  Imp. 

Sg.2.  domi 

doeml 

doem 

PI.  1.  domjum 

doemjum 

doemum 

2.  domjed 

doemjed 

doemid 

Pf.  Ind. 

Sg.  1.  rfSmidÖ 

doemidä 

doemda 

2.  ddmidär 

doemider 

doemdir 

3.  ddmida 

doemide 

doemdi 

PI.  1.  dömieWm 

doemidum 

doemdum 

2.  domidU 

doemidud 

doemdud 

3.  domidon 

doemidun 

doemdu 

Pf.  Opt 

Sg.l.  dSmidjo 

doemidjd 

doemda 

2.  ddmidir 

doemidir 

doemdir 

3.  d6mi(2t 

doemidi 

doemdi 

PI.  1.  dömidm 

doemidtm 

doemdim 

2.  domidtd 

doemidtd 

doemdid 

3.  domidtn 

doemidin 

doemdi 

Inf. 

rföwyan 

doemjan 

doema 

Part.  Pr». 

domjanda 

doemjande 

doemandi 

Part  Pf. 

d6mid-4r 

doemidr 

doemdr 

il/-Stämme. 

Prs.  Ind. 

Sg.  1.  rafce  (vigilo) 

vake 

vaki  8.  S 

2.  raier 

vakcr 

vakir 

3.  vaĀd 

vaked 

vakir 

PI.  1.  vaiem 

vakem 

vökum 

2.  vai^d 

vaked 

vakid 

3.  vakenn 

vaken 

vaka 

üeber  die  Eiidailben  dar  altnordischen  Sprache. 


475 


Pre.  Opt. 

Sg.  1.  vakd 

m&d 

vaka 

2.  vaker 

vaker 

vakir 

3.  vake 

vake 

vaki  8.  S.  428 

PI.  1.  vakem 

vakem 

vakim  8.  S.  434 

2.  vaked 

vaked 

vakid 

3.  vaken 

vaken 

vaki  8.  S.  428 

Prs.  Imp. 

1^.2.  vake 

vake 

vaki  8.  S.  426 

PI.  1.  uaA^m 

vakem 

vökum 

2.  vofccd 

vaked 

vakid 

Pf.  Ind. 

Sg.  1.  vakedÖ 

vaktd 

vakta  8.  S.  434  f.      . 

2.  vakedär 

vakter 

vaktir 

3.  vakeda 

vakte 

vakti 

PI.  1.  üatedom 

vöktum 

vöktum 

2.  vakeddd 

vöktud 

vöktud 

3.  vakeddn 

vöktun 

vöktu 

Pf.  Opt. 

Sg.  1.  vakedjo 

vektjä 

vekta  8.  S.  403.  434  f. 

2.  mied«;- 

vektir 

vektir 

3.  uaÄedJ 

vektt 

vekti 

PI.  1.  i;dked«m 

veküra 

vektim 

2.  vakedtd 

vektU 

vektid 

3.  vakedin 

vektin 

vekti 

Inf. 

t;aÄ:en 

vaken 

vaka 

Part.  Prs. 

t?aX:en(2a 

vaJcende 

vakandi 

Part.  Pf. 

vaiedilr 

vakedr 

vakat 

Pr».  Ind. 

-4-Stämme. 

Sg.  1.  kalld  (adpello) 

kalld 

kalla  8.  S.  373 

2.  kall&r 

kalldr 

kallar 

3.  kalldd 

kalldd 

kallar 

PL  1.  fcaZZow 

köllum 

köllum  8.  S.  384 

2.  AaKÖd 

kalldd 

kallid  8.  S.  384 

3.  Aa«ö/in 

kalldn 

kalla  8.  S.  384 

476 

Prs.  Opt. 

Sg.  1.  kalld 

2.  kaller 

3.  kalle 
PL  1.  kaltem 

2.  kalled 

3.  kauen 

Prs.  Imp. 

Sg.2.  kalld 

PL  1.  kallom 

2.  kallöd 


Pf.  Ind. 

sg.i. 

2. 
3. 
1. 
2. 
3. 


PI 


Pf.  Opt. 

Sg.l. 
2. 
3. 
1. 
2. 
3. 


PL 


Inf. 


Part.  Prs. 


Part.  Pf. 


kallodd 

kallöddr 

kalloda 

kallodom 

kallodöd 

kallodon 

kallddjd 

kallddtr 

kallddi 

kallddim 

kallddid 

kallddtn 

kalldn 

kalldnda 

kallddAr 


Heinzel. 

kalld 

kalla  8.  S.  430 

kallei' 

Icallir 

kalte 

kalli 

kaltem 

kallim 

kalled 

kallid 

kalten 

kalli 

kalld 

kalla  8.  S.  373 

köllum 

köllum 

katldd 

kallid  8.  S.  384 

kattddd 

kallada 

kalldder 

kalladir 

katldde 

kaltadi 

kölluduni 

kölludam  s.  S.  386.  452 

kölludud 

kölludud 

kölludun 

kölludu 

kallddjd 

kallada  s.  8.  403 

kaltddir 

kalladir 

kallddi 

kalladi 

kallddim 

kalladim 

kallddid 

katladid 

kallddtn 

kalladi 

kalldn 

kalla  8.  S.  384 

kalldnde 

kallandi  s.  S.  386 

kallddv 

kalladr 

üeber  dio  Endsilben  der  aUnorditcben  Sprache.  477 


Inschriften  der  ersten  und  zweiten  Periode. 


Für  die  erste  Periode  wurden  folgende  Inschriften  be- 
nützt. Wenn  nichts  besonderes  angegeben,  sind  es  Inschriften 
auf  Stein. 

Berga,  Schweden,  Södermansland. 

saligastiR  flno  —  Stephens  The  oldnoiihern  runic  monuments 
London  1866,  1,  176.  2,  886,  Bugge  Tidskrift  for  philo- 
logi  og  paedagogik  7,  244.  313,  Wimmer  Aarböger  for 
nordisk  Oldkyndighed  1867  S.  53,  Runeskriftens  oprin- 
delse  S.  137. 

Bell  and,  Norwegen,  Lister. 

.  .  .  R  kethan  —  Stephens  1,  261,  Wimmer  Runeskriftens 
oprindelse  S.  137. 

Bö,  Norwegen,  Stavanger. 

hnabdas  hlaira  —  Stephens  2,  846,    Bugge  Tidskrift  7,  320. 

Bratsberg,  Norwegen,  Tronjem. 

thaliB  —  Stephens  1,  267,     Bugge  Tidskrift  7,  247.  8,  166, 

Wimmer  Aarböger  1867  S.  54. 
Dalby  (Strarup),  Dänemark,  Südjütland,  auf  einem  Diadem. 
lathro  —  Stephens  1,  283,  Wimmer  Aarb<%er  1867  S.  55. 
Einang,  Norwegen,  Valdres. 
dagaR  thaB  runo  faihido   —   Bugge  Forhandlinger  i  norske 

videnskabs  selskabet  i  Christiania  1872/73  S.  319. 
£telhem,  Schweden,  Gotland,  auf  einer  Spange. 
mk  mrla  wrta  —  Stephens  1,  182,    Bugge  Tidskrift  7,  246. 

8,  197,    Wimmer  Aarböger  1867  S.  56. 
Gallehuus,  Dänemark,  Nordjütland,  auf  einem  Hom. 
ek  hlewagastiR  holtingaR  horna  tawido  —  Stephens  1,  320, 

Dietrich  Die  Blekinger  Inschriften  S.  28,   Bugge  Tidskrift 

7,  215.  312.  8,  187,   Wimmer  Aarböger  1867,  S.  34.  51. 


478  ir«inzel. 

Himlinghöjß,  Dänemark,  Seeland,  auf  einer  Spange. 
hariso  —  Stephens  1,  297,  Dietrich  Germania  10,  296,  Bugge 
Tidskrift  7,  251.  8,  198,   Wimmer  Aarböger  1867  S.  55. 

Krogstad,  Schweden,  Upland. 

Nur  stainaü  ist  deutlich.  —  Stephens  1,  184,  Bugge  Tidskrift 
8,  167,  Forhandlinger  i  videnskabe  selskabet  i  ChriatiaDia 
1872/73  S.  327,  Aarböger  1871  S.  197,  Wimmer  Rudc- 
skriftens  oprindelse  106.  137.  181. 

Lindholm,  Schweden,  Skon^,  auf  einem  Amulet. 

ek  erilaR  s»!  lagaB  hateka  —  Stephens  1,  219,  Wimmer 
Aarböger  1867  S.  38.  53,  Runeskriftens  oprindelse  145, 
Bugge  Aarböger  1871  S.  187,   1872  S.  194. 

Orstad,  Norwegen,  Stavanger. 

hlligaB  snraln  —  Stephens  1,  258,  Wimmer  Aarböger  1867 
S.  29.  53,    Runeskriftens  oprindelse  S.  182. 

Reidstad,  Norwegen,  Lister. 

Nur  InthingaR^  wraita  ist  deutlich  —  Stephens  1,  256,  Bugge 

Tidskrift  8,    172.   307,    Wimmer   Aarböger  1867  S.  53, 

Runeskriftens  oprindelse  S.  179.  181. 
Stenstad,  Norwegen,  Thelemark. 
igingon  halaB   —    Stephens  1,  254,    Bugge  Tidskrift  7,  250. 

8,  176,  W^immer  Aarböger  1867  S.  53,  Navneordenes  böj- 

ning  S.  45.  119,   Runeskriftens  oprindelse  S.  137. 

Tan  um,  Schweden,  Bohuslen. 

thrawingan  haftlnaB  was  —  Stephens  1,  196,  Bugge  Tid- 
skrift 7,  248.  361.  8,  197,  Wimmer  Runeskriftens  oprin- 
delse S.  138. 

Thorsbjerg,  Dänemark,  Südjütland,  auf  einem  Beschläge. 

Deutlich  ist  nur  thewaB,  mariB  —  Stephens  1,  295,  Wimmer 
Aarböger  1867  S.  53,  Runeskriftens  oprindelse  S.  92  An- 
merkung, Bugge  Tidskrift  8,  180,  Forhandlinger  in  ri- 
denskabs  selskabet  i  Christiania  1872/73  S.  316. 

Tomstad,  Norwegen,  Lister. 

...  an  waruB  -  Stephens  1,  264.  2,  841,  Bugge  Tidskrift 
8,  179. 


Ueber  die  Eiidsilban  der  altnordischen  Sprache.  479 

Tune,  Norwegen^  Smaalenene. 

1.  ek  wiwaB  after  wodnride  wltadahalAiban  worahto  .  .  . 

2.  arbinga  singosteR  arbingano  thningoB  dobtriB  dalidan 

[afteJR  wodorlde  stafna  —  Stephens  1,  247^  Muoch 
Äarsberetning  fra  foreningen  til  norske  fortidsmindesmaer- 
kers  bevaring  1856,  Uppsti^öm  Nova  acta  regiae  societatis 
Upsaliensis  1858  S.351,  Dietrich  Die  Blekinger  Inschriften 
S.  22,  Bugge  Tidskrift  7,  225,  312.  8,  189,  Wimmer 
Aarböger  1867  S.  37.  51.  54.  56.  57.  60,  Navneordenes 
böjning  S.  41,  Runeskriftens  oprindelse  S.  133. 

Vaeblungsnaes,  Norwegen,  Romsdal. 

eirilaK  wiwila  —  Stephens  1,  274,  Bendixen  und  Bugge  Aar- 
böger 1872  S.  189. 

Valsfjord,  Norwegen,  Fose. 

hagnstaldiR  tbewaB  godagas  oder  hagnstaldaR  —  Bugge 
Forhandlinger  i  videnskabs  selskabet  i  Christiania  1872/73 
S.  319. 

Varde,  Dänemark,  Jütland,  auf  einem  Bracteaten. 

niawila  —  Wimmer  Runeskriftens  oprindelse  S.  180. 

Varnum,  Schweden,  Vermland. 

[a]baB  bite  harabanaR  [wl]t  iah  ek  erilaR  rnnoR  waritn 

—  Stephens  1,  216,  Bugge  Tidskrift  7,  237,  360.  8,  196, 
Wimmer  Aarböger  1867  S.  38  Anmerkung,  53.  56,  Rune- 
skriftens oprindelse  S.  140. 

Für  die  zweite  Periode: 

Björketorp,  Schweden,  Bleking. 

ntharabasba  saR  that  barntR  nti  eB  wela  dande  haera  ma- 
lansR  ginarnnaR  aragen  falah  ak  hadR  oag  haidRrn- 
noronii  —  Stephens  1,  165,  Dietrich  Die  Blekinger  In- 
schriften S.  6,  Hofmann  Sitzungsberichte  der  Münchener 
Akademie  1866,  2,  119,  Bugge  Tidskrift  7,  323.  8,  198, 
Wimmer  Aarböger  1867  S.  56.  58.  59,  Runeskriftens 
oprindelse  S.  170. 

Gommor,  Schweden,  Bleking. 

stathatbr  in  der  ersten  Zeile  ist  zweifelhaft,  dann  säte  hathn- 
WOlafa   —   Stephens  1,  206,    Dietrich  Die  Blekinger  In- 


480  Heinzel. 

Schriften  S.  21,    Hofmann  Sitzungsberichte  1866,   2,  126, 
Bugge  Tidskrift  7,  347,    Wimmer  Aarböger  1867  S.  54. 

Istaby,  Schweden,  Bleking. 

afAtR  hariwnlAfA  hathuwnlAfB  haernwalAflB  vArait  rn- 
naB  thaiaR  —  Stephens  1,  173,  Dietrich  Die  Blekinger 
Inschriften  S.  19,  Hofmann  Sitzungsberichte  1866,  2,  116, 
Bugge  Tidskrift  7,  314.  8,  198,  Wimmer  Aarböger  18G7 
S.  38.  51.  54.  56. 

Stentofte,  Schweden,  Bleking. 

Deutlich  ist  bordnmR,  gestumr,  hathuwoIafR  gaf  hariwolafB« 
hideRrnngno^  ginoronoR  abarintith,  s.  Björketorp,  — 
Stephens  1,  169,  Munch  Annaler  for  nordisk  oldkyndighed 
1848  S.  281,  Dietrich  Die  Blekinger  Inschriften  S.  13, 
Hofmann  Sitzungsberichte  1866,  2,  119,  Bugge  Tidskrift 
7,  323.  8,  200.  308,  Aarböger  1872  S.  196,  Wimmer  Aar 
böger  1867  S.  59,  Runeskriftens  oprindelse  S.  170. 

Tjörkö,  Schweden,  Carlscrona,  auf  einem  Bracteaten. 

Deutlich  ist  thnrte  (wurte!)  VunoR,  heldaR  kunimndiii  — 
Stephens  2,  539,  Bugge  Tidskrift  7,  247.  348. 

Gegen  Bugge's  Deutung  der  ältesten  Runen  richtet 
sich  zum  Theil  der  Aufsatz  6islason*s,  Aarböger  1869 
S.  35  ff.  Ueber  beide  hat  Möbius  referiert  KZs.  18,  lo3. 
19,  208. 


Für  die  dritte  Periode  hebe  ich  nur  hervor: 

Helnaes,  Dänemark,  Fünen. 

rhualfR  sati  stain  iinRaknthi  aft  knthnmat  bruthnrsnnn 
sin  trukenathn  .  .  .  AvaiR  fathi  —  Stephens  1,  338, 
Wimmer  Runeskriftens  oprindelse  S.  230. 

Sölvesborg,  Schweden,  Bleking. 

ruti  wai  .  .  .  Asmut  sunu  sin  —  Stephens  1,  192,  Bugge 
Tidskrift  7,  349.  8,  201.  308,  Wimmer  Runeskriftens  oprin- 
delse S.  184. 


üaber  die  BndsUbaa  dar  altnordischen  Spraokt.  48 1 


Inhalt. 


Einleitang 3^3 

Tabelle  za  den   drei  Perioden 346 

A — 

J^ 362 

^ 368 

^ 862 

^^ 364 

JAI 306 

AU _ 

ErlSnternng^en  zu   Periode  I 368 

A   A  nrsprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  A — 

Lang  A .^ 372 

Vorbemerkung  über  A  und  Ä — 

A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  A.  Nach  Anslantgesetz  in  letzter  Silbe 876 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe 382 

Lang  A,  Nach  Ansiautgesetz  in  letzter  Silbe 384 

Nach  Anslantgesetz  vor  der  letzten  Silbe 386 

Excurs  über  A  und  A  in  den  übrigen  gormanischen  Sprachen  .     .     .     .      — 

JA   Vorbemerkung  über  JA  und  JA 391 

JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  JA 397 

Excurs  über  die  masc.  Ja-Stämme 398 

Lang  JA 400 

Excurs  über  die  jd-  und  jdnStämme 403 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Knrz  JA.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 409 

Nach  Anslantgesetz  vor  der  letzten  Silbe 410 

Lang  JA,  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzen  Silbe — 

/    /  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Excurs  über  kurzes  %  letzter  Silbe 411 

Lang  / 414 

Sitsnagsber.  d.  phil.-bist.  Ci.  LXXXVII.  Bd.  I.  Hft.  31 


482  HtlmtL 

8«lte 
/  urspränglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  /.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 415 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe 416 

Excurs  über  die  erste  schwache  Conjngation 418 

Lang  /.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 420 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe 421 

U    U  ursprünglich  in  letzter  Silbe — 

U  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

Excurs  über  la,  »ö 422 

AI   AI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  AI 426 

Lang  AI 429 

Kxcurs  über  die  vorgermanischen  Endungen  ai,  6i 432 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  AI,  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 434 

Nach  Auslautgesetz  vor  de?  letzten  Silbe — 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Lang  AI.  Nach  Ansiautgesetz  in  letzter  Silbe 435 

JAI  JAI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  JAI — 

Lang  JAI 436 

JAI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  JAL  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 437 

AU   AU  ursprünglich  in  letzter  Silbe — 

Excurs  über  die  consonan tischen  Stämme 438 

Erläuterungen  zu  Periode   II 441 

Vorbemerkung  über  die  Umlaute — 

A    A  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  A 442 

Lang  A *** 

A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  A.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe 444 

Lang  A.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 445 

Nach  Auslantgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

JA    JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  JA "~ 

Laug  JA -Wß 


Utber  di«  BniUllbts  d«r  »Itooirdiiehda  Bpraelid.  483 


8«lt« 


JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  JA,  Nach  Aoslautgesetz  in  letzter  Silbe 446 

Nach  AuBlautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

Lang  JA,  Nach  Aaslaatgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Aufllantgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

1  J  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  I .447 

1  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  i.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

Lang  7.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

ü   ü  ursprünglich  in  letzter  Silbe 448 

U  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

AI   AI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  AI ^ — 

Lang  AI — 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  AI,  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 449 

Lang  AI,  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

JAl   JAI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  JAI — 

Lang  JAI — 

JAI  ursprünglich  vor  der  letzton  Silbe. 

Kurz  JAI.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

AU   AU  ursprünglich  in  letzter  Silbe 460 

Zusammenfassung — 

Erläuterungen   zu  Periode   III — 

A    A  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  A — 

Lang  A 461 

A  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  A,  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe 462 

Lang  A,  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

JA    JA  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kur*  JA 463 

Lang  JA "- 

31» 


484  H «in sei.    üeb«r  die  En<lnlb«n  d«r  aUnordlMhen  Sprache. 

Seit« 

JA  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  JA*  Nach  Auslantgesetz  in  letzter  Silbe 453 

Nach  Aaslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe 454 

Lang  JA.  Nach  Aaslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

1  I  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Lang  / — 

I  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  7.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 455 

Nacli  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

Lang  7.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

U   U  ursprünglich  in  letzter  Silbe 456 

U  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

Nach  Auslautgesetz  vor  der  letzten  Silbe — 

Excurs  über  w  der  Ableitung  und  Endung — 

AI  AI  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  AI ^. 457 

Lang  AI — 

AI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  AI  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe 458 

Lang  AI.  Nach  Auslautgesetz  in  letzter  Silbe — 

JAI  JÄT  ursprünglich  in  letzter  Silbe. 

Kurz  JAI — 

Lang  JAI — 

JAI  ursprünglich  vor  der  letzten  Silbe. 

Kurz  JAI 459 

AU  AU  ursprünglich  in  letzter  Silbe — 

Zusammenfassung — 

Paradigmen   zu   den   drei  Perioden 46.5 

Inschriften  der  ersten  und  zweiten  Periode 47 1 


Kaltenbrunner.   Die  Polemik  «ber  die  Oregoriuiisehe  Kalenderrefonii.        485 


Die  Polemik  über  die  Gregorianische  Kalender- 
Reform. 

Von 

Dr.  Ferdinand  Kaltenbrunner, 

Priratdocent  an  der  Universit&t  6rax. 


Jahrhunderte  hindurch  war  der  Ruf  nach  Verbegserung 
des  Julianischen  Kalenders  von  Mathematikern  und  Theologen 
erhoben  worden.  £inige  Male  schien  eS;  als  ob  die  Reform 
verwirklicht  werden  sollte;  doch  stets  scheiterte  sie  entweder 
an  den  äusseren  Verhältnissen  oder  an  den  ihr  anhaftenden 
inneren  Schwierigkeiten.  Endlich  unter  Qregor  XÜI.  glaubte 
man  die  letzteren  überwinden  zu  können,  und  mit  grosser 
Energie  wurde  nun  die  Reform  von  diesem  Pabste  durch- 
geführt. Aber  damals  lagen  die  äusseren  Verhältnisse  für  ein 
solches  Werk  möglichst  ungünstig.  Die  Kirchenspaltung  war 
unheilbar  geworden,  Katholiken  und  Anhänger  der  neuen  Lehre 
standen  sich  nach  sechzigjährigem  Kampfe  noch  unermattet 
gegenüber,  stets  bereit  zur  Abwehr  gegen  jeden  Oedanken,  der 
aus  dem  feindlichen  Lager  kam.  In  solchen  unruhigen  Zeiten, 
in  denen  die  Gemüther  aufs  höchste  erregt  und  erregbar  sind, 
ist  kein  Platz  für  eine  gemeinnützige  That:  denn  einerseits 
drückt  der  Urheber  unwillkürlich  derselben  den  Stempel  seiner 
Oeistesrichtung  auf,  und  andererseits  übersieht  der  Gegner  nur 
allzttleicht  ihren  wahren  Charakter  und  Werth  und  stösst  sich 
entweder  an  den  sie  begleitenden  Nebenumständen,  oder  was 
noch  schlimmer  ist,  er  sieht  von  der  Sache  ab  und  bekämpft 
nur  ihren  Urheber.  Dieses  Schicksal  nun  hatte  die  Kalender- 
reform Gregor  XIII.  Es  wird  heute  Niemandem  beifallen,  aus 
dem  Kalender  eine  Glaubenssach^  zu  machen  und  die  Zeit- 
rechnung in  irgend  einen  Zusammenhang  mit  confessionellen 
oder  religiösen  Dingen  zu  bringen.  Von  unserem  Standpunkte 
aus   müssen  wir   daher  die  Durchführung  der  höchst  nöthigen 


486  Kaltenbrumnar. 

und  längst  gewünschten  Reform  als  gemeinnützige  That  an- 
sehen,  deren  Vortheile  wir  noch  heute  geniessen.  Diese  Auf- 
fassung aber  hatten  die  Menschen  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
nicht.  Man  wird  nicht  leugnen  können,  dass  Gregor  XIII.^ 
als  er  mit  der  Bulle  hinter  gravissimas^  einen  neuen  Zankapfel 
in  die  Welt  schleuderte,  zunächst  nur  die  Katholiken  im  Auge 
hatte;  so  ging  der  neue  Kalender,  mit  dem  Fluche  confessioneller 
Autorschaft  beladen,  in  die  Welt  hinaus.  Und  daraus  erklärt 
sich  von  selbst  die  heftige  Opposition  der  Gegenpartei,  deren 
Gründe  uns  allerdings  nicht  stichhältig  sein  können,  ja  die  uns 
unbegreiflich  und  thöricht  erscheinen,  wenn  wir  uns  nicht  auf 
den  Standpunkt  jener  Zeiten  zurückversetzen. 

Bekanntlich  wurde  der  Streit  erst  endgültig  durch  König 
Friedrich  IL  von  Preussen  beendet.  Doch  indem  ich  hier  die 
Polemik  über  die  Kalenderreform  behandeln  will,  ist  es  nicht 
meine  Absicht,  die  Erzählung  so  weit  auszudehnen;  ich  be- 
schränke mich  auf  den  unmittelbar  nach  der  Kalenderreform 
zwischen  Theologen  und  Mathematikern  der  beiden  Parteien 
ausgetragenen  Kampf,  und  setze  als  Grenze  die  officielle  Ver- 
theidigung  des  Kalenders  durch  Clavius.  In  der  That  lässt 
sich  hier  ein  Abschnitt  machen,  denn  weiter  hinaus  verliert 
einerseits  der  Kampf  an  Lebhaftigkeit  und  Intensität,  anderer- 
seits handelt  es  sich  im  ferneren  Verlaufe  nicht  darum,  warum 
der  Kalender  fehlerhaft  und  unannehmbar  sei,  sondern  darum, 
wie  eine  Einigung  erzielt  werden  könnte.  —  Es  wird  bei  einer 
solchen  Arbeit  nicht  auffallen,  wenn  sich  der  Verfasser  ent- 
schuldigt, nicht  alles,  was  er  wollte,  geleistet  zu  haben.  Meist 
handelt  es  sich  da  um  schwer  zugängliche  Bücher,  und  obwohl 
es  mir  vergönnt  war,  in  Wien  und  Berlin  die  Bibliotheken  be- 
nützen zu  können,  und  obwohl  ich  wegen  einzelner  Werke 
auch  in  München  nachfragte,  so  habe  ich  doch  lange  nicht 
das  Material  erschöpft.  Von  den  mathematischen  Schriften  habe 
ich  allerdings  bis  auf  eine  sämmtliche  mir  bekannt  gewordenen 
benützen  können.  Grosse  liücken  dagegen  muss  ich  bei  den 
theologischen  Tractaten  constatiren.  Mit  wenigen  Ausnahmen 
glaube  ich  jedoch  diesen  Mangel  nicht  sehr  beklagen  zu  müssen; 
es  konnte  sich  ja  doch  nur  darum  handeln,  Specimina  anzu- 
führen und  zu  besprechen.  Eine  Darlegung  aller  dieser  Schriften 
x^ürde  ohne  Zweifel  ermüden  und  kaum  Neues  bringen;  denn 


Die  Polemik  ftber  die  Gregoriftnisehe  Kalenderreform.  487 

auch  die  grösstc  Phantasie  kann  über  einen  GegenBtand  nur 
eine  bestimmte  Anzahl  von  Argumenten  ins  Feld  fuhren^  und 
dass  in  der  Kalenderfrag^e  die  Einbildungskraft  der  Theologen 
Grosses  geleistet  hat,  wird  sich  schon  aus  den  hier  besprochenen 
Tractaten  ergeben.  Zur  grösseren  Verständlichkeit  mancher  auf- 
geworfener Streitfragen  habe  ich  es  fiir  nöthig  erachtet,  auch 
kurz  das  Wesen  der  Reform  selbst  einer  Betrachtung  zu  unter- 
ziehen, und  die  politischen  Verhandlungen  über  die  Kalender- 
angelegenheit flüchtig  zu  berühren.  Zu  letzterem  habe  ich 
umfangreiches  Material  des  Haus-,  Hof-  und  Staats -Archiv es 
in  Wien  benützen  können.  So  sehr  diese  interessanten  und 
bisher  völlig  unbeachteten  Acten  zu  einer  weitläufigen  Bearbei- 
tung verleiteten,  so  musste  ich  doch  davon  abstehen,  da  es 
nicht  in  den  Rahmen  der  vorgesetzten  Arbeit  gehört. 

I.  Vorarbeiten  und  Pnblication  der  Kalenderreform. 

Trotz  mehrfacher  Aufforderung*  hatte  das  Concil  von 
Trient  keinen  Beschluss  über  die  Verbesserung  des  Kalenders 
gefasst,  wohl  aber  hatte  es  in  seiner  letzten  Sitzung  am  4.  De- 
cember  1563  dem  Pabste  die  Reform  des  Brevier's  und  Missal's 
aufgetragen,  2  und  es  lag  nahe,  dass  bei  der  Ausführung  dieses 
Canon  auch  der  Kalender  mit  einbezogen  wurde,  war  und  ist 
doch  das  Calendarium  perpetuum  ein  Bestandtheil  des  Breviers. 
In  der  That  ist  auch  in  der  im  Jahre  1568  erschienenen  neuen 
Ausgabe  desselben  ^  eine  Verbesserung  am  Kalender  angebracht. 
Dieselbe  besteht  darin,  dass  man  die  Numeri  aurei  entsprechend  - 
dem  damaligen  Fehler  des  Mondcyclus  um  drei  Tage  zurtick- 
rückte  und  ausserdem  bestimmte,  dass  in  je  300  Jahren  ein 
Bissextus  eingeschaltet  werden  solle.  ^ 

'  Vergl.  meine  Abhandlung:  Die  Vorgeschichte  der  Gregorianischen  Kalen- 
derreform. Wiener  Sitzungsberichte.  B.  82.  pag.  402  u.  ff. 

2  Theiner,  Acta  Oenuina  concilii  Tridentini,  Tom.  II.  pag.  5()ö. 

'  Breviarium  Romanum  ex  decreto  concilii  Tridentini  reiititntum  Pii  V,  juflsn 
editum.  Rom.  P.  Madrucius  1668.  (Ueber  die  weiteren  Ausgaben  vergl. 
Bmnet,  Manuel  du  Libraire.) 

*  In  dem  Compntns,  welcher  nach  alter  Sitte  dem  Brevier  vorgestellt  ist, 
und  für  den  das  Jahr  1568  als  annus  praesens  gilt,  findet  sich  folgende 
Stelle:  ,Vernm,  qnia  aureus  numerus  propter  quasdam  temporis  minutias, 
qnibns  lunaris  cjrclus  cum  solari  cursu  non  cong^nit,  multis  abhinc  annis 


488  Ealt^nbrunner. 

Dies  ist  einerseits  so  unvollständig  und  primitiv,  anderer- 
seits so  sinnlos,  1  dass  man  auch  in  Rom  nicht  daran  denken 
konnte,  damit  das  lang  besprochene  Problem  gelöst  zu  haben^ 
und    so   können   wir  mit  ziemlicher  Sicherheit  sagen,  dass  der 


acT  inveniendam  novam  Innam  non  deserrit,  nisi  per  qninque  (sie)  dies 
illis  sjrllabifl,  in  quibus  est  hie  contentuB,  retrocedatnr  ab  eo  loco,  ubi  in 
calendario  positus  est,  ideo  ad  eum  reductus  est  locam,  qui  diem  con- 
junctionis  lunae  cum  sole  demonstrat.  Ne  autem  in  fatnruin,  nt  prius, 
a  loco  sno  dimoveatnr,  sin^lis  trecentis  annis  unns  dies  intercalandas 
erit,  quod  fieri  incipiet  MDCCC/ 

Unvollfltfindig  ist  diese  Massregel,  weil  man  den  anf  10  Tage  ange- 
wachsenen Fehler  des  Sonnenjahres  ganz  anberücksichtigt  Hess,  primitiv, 
weil  man  für  die  Correctur  des  Mondcyclus  eine  Form  gewählt  hatte, 
welche  schon  Computisten  des  13.  Jahrhunderts  vorgeschlagen  hatten, 
welche  aber  nun  tief  unter  dem  Niveau  der  von  da  ab  in  der  Frage  der 
Kalenderverbesserung  gemachten  Fortschritte  stand.  Sinnlos  aber  ist 
sie,  weil  die  Einschaltung  eines  Tages  in  je  300  Jahren  —  abgesehen 
davon,  dass  sie  den  Fehler  des  Julianischen  Jahres  um  mehr  als  V:^ 
des  bisherigen  Betrages  vergrösserte  —  ja  auch  in  Bezug  auf  die  Neu- 
monde gerade  das  Gegentheil  des  Beabsichtigten  bewirkt  hätte.  Denn 
die  19  Julianischen  Jahre  des  Mondcyclus  sind  schon  länger  als  die  in 
ihnen  enthaltenen  236  Mondmonate;  es  g^lt  daher  entweder  die  Sonnen- 
jahre zu  verkürzen,  oder  die  numeri  aurei  abermals  um  1  Tag  zurück- 
zurücken.  Schaltete  man  aber  1  Tag  ein,  so  traten  ja  die  ihre  Stellang  fix 
einnehmenden  Numeri  aurei  noch  um  1  Tag  zurück,  d.  h.  die  Neumonde 
fielen  noch  um  1  Tag  später  als  bisher,  während  sie  doch  umgekehrt 
um  1  Tag  früher  angezeigt  werden  sollen.  Auch  aus  einem  dritten  Grunde 
war  diese  Massregel  thöricht.  Der  Computus  gibt  die  Anleitung  zur  Oster- 
bestimmung; wollte  man  aber  nun  aus  den  numeris  aureis  des  Brevier's 
die  Ostervollmonde  berechnen,  so  gerieth  man  in  vielfachen  Conflict  mit 
der  kirchlichen  Ostertafel,  die  ja  noch  inmier  die  alte  blieb.  Es  konnte 
sich  in  allen  Jahren  des  neunzehnjährigen  Cyclus  eine  Differenz  von 
8  Tagen  zwischen  beiden  Ansätzen  ergeben;  ja  in  den  numeris  aureis 
XVI  und  y  eine  von  4  bis  6  Wochen,  denn  im  Julianischen  Kalender 
sind  dies  die  frühesten  termini  paschales  (21.  und  22.  März).  Diese  um 
3  Tage  zurückgerückt,  ergibt  den  18.  und  19.  März,  welche  als  vor  dem 
angeblichen  Aequinoctium  stehend,  nicht  zur  Ostergrenze  taugten;  man 
musste  also  um  1  Monat  weiter  gehen  und  erhielt  den  16.  und  17.  April 
als  terminus  paschalis.  —  Man  scheint  in  Rom  sich  auch  nicht  viel  auf 
diese  Reform  eingebildet  zu  haben;  das  beweist  schon  das  bescheidene 
Plätzchen,  welches  man  ihr  im  Computus  einräumte,  wo  sie  denn  in  der 
That  bisher  unbeachtet  schlummerte.  Nach  der  Gregorianischen  Kalender- 
reform wurde  auch  schon  im  Jahre  1687  durch  Sixtus  V.  eine  neue  Aus- 
gabe des  Brevier's  veranstaltet,  in  welcher  Computus  und  Calendarium 
derselben  entsprechend  abgeändert  sind. 


Die  PolMBft  Aber  di«  Oregoriuiisek«  Kalenderreform.  489 

Wunsch  nach  Reform,  der  sich  unter  Pius  V.  in  so  wenig 
zutreffender  Weise  manifestirt  hatte,  auch  seinen  Nachfolger 
Gregor  XIII.  beseelte.  Aber  mehr  können  wir  nicht  annehmen 
—  wir  haben  keine  Nachricht,  dass  von  ihm  jemand  angeregt 
worden  wäre,  abermals  an  die  Lösung  des  Problems  zu  gehen. 

Inzwischen  aber  arbeitete  ein  Arzt  in  8üditalien  —  Aloisio 
Lilio^  —  10  Jahre  daran,  einen  Cyclus  zu  construiren,  der 
möglichst  dem  alten  adaequat,  doch  so  viel  verjüngende  Kraft 
in  sich  selbst  besitzt,  auch  für  die  kommenden  Zeiten  Gültig- 
keit zu  haben.  Es  war  dem  Manne  nicht  beschieden,  die 
Flüchte  seiner  Arbeit  reifen  zu  sehen;  er  hinterliess  das  fer- 
tige Manuscript  seinem  Bruder  Antonio,  der  dasselbe  bei  der 
päbstlichen  Curie  einreichte  mit  der  Bitte,  es  prüfen  zu  lassen 
und  das  Privilegium  zum  Druck  zu  ertheilen.  Gregor  XIII. 
legte  die  Arbeit  gerade  in  Rom  anwesenden  Mathematikern 
vor,  und  unter  ihnen  war  schon  Clavius,  der  fortan  die  Seele 
des  Unternehmens  wurde;  auch  Vincentio  Laureo  wird  uns 
namentlich  angeführt. 

Wir  haben  über  diese  Vorgänge  sehr  magere  Nachrichten  ; 
selbst  Pietro  Maffei  in  seinen  Annali  di  Gregorio  XIII.,'^  der 
über  die  Einführung  des  Kalenders  in  den  einzelnen  Ländern 
werthvolle  Aufschlüsse  gibt,  berichtet  über  die  Vorgänge  in 
der  Commission  sehr  wenig.  In  derselben  waren  ausser  den 
beiden  schon  genannten  Männern  der  Cardinal  Sirlet,  der 
nach  Ranke  3  den  grössten  Einfluss  auf  die  Sache  ausübte, 
dann  der  Spanier  Ciaconius  und  Ignazio  Danti;  doch  wissen 
wir  nicht,  ob  dieselben  gleich  zu  Anfang  von  Gregor   berufen 

<  Ueber  die  Lebensumstfinde  des  Mannes  besitzen  wir  äusserst  spärliche 
Notizen.  Selbst  sein  Geburtsort  wird  vernchieden  angegeben.  Jedoch  ist 
di^  Angabe  des  Cardinal  Noris  (Tratato  sopra  il  cicle  Ravennate)  und 
Riccioli*B  (Almagesturo  Novum),  dass  er  ein  Veronese  sei,  nicht  haltbar 
gegenüber  Clavius  (Rumani  Calendarii  Explicatio)  und  Pietro  Maffei 
(Annali  di  Gregorio  XIII.),  welche  ihm  Ziro  in  Calabrien  als  Geburtsort 
zuweisen.  Dem  stimmen  auch  Neuere  bei,  so  Tiraboschi  (Storia  d.  letter. 
Ital.  VII.  1.  pag.  390)  und  die  Biographie  Universelle. 

^  Pietro  Maffei:  Degli  Annali  di  Gregorio  XIII.  dati  in  luce  da  Carlo 
Cocquelines.  Rom  1742.  Tom.  II.  pag.  270. 

3  Ranke:  Die  Römischen  Päpste  I.  428.  Dafür  spricht  auch,  dass  dem 
Cardinal  mehrere  anlässlich  der  Reform  abgefasste  Schriften  gewidmet 
wurden. 


490  KftlteBbrunnvr. 

oder  erst  im  Laufe  der  Jahre  beigezog^n  wurden,  als  der  Plan 
gereift  war,  auf  Grund  des  Vorschlages  Lilio's  den  Kalender  zu 
reformiren.  1577  hatte  Antonio  das  Werk  eingereicht  und 
Anfang  1578  war  es  zu  Rom  entschieden,  dass  Aloisio  Lilio 
unter  die  Unsterblichen  eingereiht  werden  solle.  Das  Werk 
Lilio's  wurde  nicht  gedruckt,  sondern  seine  Prüfung  und  Be- 
nützung fand  am  Manuseripte  statt.  Dagegen  wurde  daraus 
ein  Auszug  gemacht,  und  derselbe  den  katholischen  Fürsten 
und  Universitäten  zur  Begutachtung  überschickt.  Als  Grund 
dieses  Vorgehens  wird  von  Gregor  selbst  der  Wunsch  ange- 
geben, das  Reformwerk  möglichst  zu  beschleunigen. 

Dieser  Auszug  fuhrt  den  Titel:  ,C*ompendium  novae  ra- 
tionis  restituendi  Kalendarii'  und  wahrscheinlich  wurde  auch 
er  nur  handsehriftlich  versandt,  denn  ich  finde  nii^ends  eine 
Nachricht  über  seinen  Druck,  und  auch  nur  in  diesem  Falle 
hat  es  einen  Sinn,  wenn  (Mavius  in  der  Vorrede  zu  seiner 
,Expl]catio'  schreibt,  er  habe  das  Compendium  seinem  Werke 
vorgesetzt,  ,tum  ut  apud  posteros  eins  (Lilii")  memoria  relin- 
quatur,  tum  vero  maxime,  ut  omnibus  pateat,  quid  in  eo  ab 
iis,  quibus  cura  commissa  fuit  Kalendarii  emendandi,  muta- 
tum  sit^ 

Betrachten  wir  nun  das  Compendium,  so  erweist  sich  das 
Werk  Lilio's  nicht  angethan,  dass  auf  Grund  desselben  sogleich 
die  Reform  hätte  vorgenommen  werden  können.  Seine  Haupt- 
bedeutung liegt  in  dem  Epactencyclus,  der  ohne  Zweifel  die  beste 
Art  der  Mondrechnung  angibt^  die  bisher  aufgestellt  worden 
war.  Im  Uebrigen  ist  die  Arbeit  ganz  so,  wie  alle  früheren 
Tractatc,  in  welchen  alle  möglichen  Arten  der  Correctur  auf- 
gezählt werden,  wobei  sich  der  Autor  begnügt,  der  einen  oder 
andern  seinen  Beifall  zu  spenden.  So  gibt  Lilio  den  Alphon- 
sinischen  Tafeln  gegenüber  den  Prutenischen  den  Vorzug,  ,quiÄ 
earum  mensura  inter  varias  media  est,  atque  ideo  erron  minm 
obnoxia';  aber  er  trägt  daneben  auch  dem  Copemikanischen 
Jahresansatzo  Rechnung.  In  noch  weniger  präciser  Weise  eut- 
scheidet  sich  Lilio  über  den  Modus  der  acuten  Reform  —  so 
möchte  ich  die  Auslassung  einer  Anzahl  von  Tagen  behnfe 
Correctur  des  Sonnenjahres  nennen.  Wenn  er  auch  entschieden 
das  Aequinoctium  vernum  auf  den  Staud  zur  Zeit  des  Nicaeui- 
schen  Concils,    also  auf  den   2L  März,  hergestellt  wissen  will. 


Di«  Polemik  ftb«r  di«  Qrafroiiiinisolie  Kalendemform.  491 

80  bleibt  es  bei  ihm  dagegen  eine  völlig  offene  Frage,  ob  die 
10  Tage  auf  einmal  oder  innerhalb  40  Jahre  durch  Sistirung 
der  Schaltungen  auszulassen  seien;  für  beide  Eventualitäten 
sind  die  Aenderungen  im  achtundzwanzigjährigen  Honnencyclus 
angegeben.  In  dieser  Form^  also  auch  noch  in  der  unent- 
schiedenen,  wurde  es  nun  in  einem  Auszuge  zur  Begutachtung 
versandt,  ,weil  der  Pabst  eine  gemeinsame  Angelegenheit  auch 
mit  allgemeiner  Zustimmung  durchführen  wolltet  Natürlich 
gehörten  die  Ketzer  nicht  dazu,  denn  zum  eigenen  Schaden 
kehrte  man  in  Rom  von  Anfang  an  allzusehr  den  kirchlichen 
Charakter  der  Reform  hervor.  Auffallend  ist,  dass  der  einge- 
laufenen Gutachten  später  mit  keinem  Worte  erwähnt  wird; 
dass  welche  einliefen,  berichtet  Ranke  ausdrücklich,  und  wir 
sind  in  der  glücklichen  Lage,  wenigstens  eines  besprechen  zu 
können  —  das  der  Universität  Wien. 

Die  Aufforderung  zur  Begutachtung  des  Compendium's 
hatte  die  Wiener  Universität  nicht  direct  von  Rom  aus  son- 
dern durch  den  Kaiser  zugeschickt  erhalten,  der  ihr  mittelst 
Decret  auftrug,  das  Compendium  durch  Dr.  Paulus  Fabricius, 
Professor  der  Mathematik,  prüfen  zu  lassen  und  dessen  Arbeit 
sammt  eigenem  Gutachten  an  ihn  zu  überschicken.  Auffallend 
rasch  entledigte  sich  die  Universität  dieser  Aufgabe,  denn  schon 
am  26.  Juli  1578  konnte  der  Rector  Dr.  theol.  Petrus  Muchitsch 
die  beiden  verlangten  Stücke  dem  Kaiser  übermitteln.  *  Es 
kann  daher  nicht  Wunder  nehmen,  dass  beide  nicht  sehr  aus- 
fuhrlich geworden  sind.  Immerhin  aber  berührt  das  ,Judiciuin^ 
des  Fabricius  alle  bei  der  Reform  in  Frage  kommenden  Punkte 
und  der  Autor  hatte  selbst  Zeit,  in  einer  ziemlich  langathmigen 
Einleitung  das  Wesen  der  Zeitrechnung  und  die  bisher  ge- 
brauchten Formen  derselben  auseinanderzusetzen,  worauf  er 
mit  einer  Lobpreisung  Gregor  XIII.,  dem  unsterblicher  Ruhm 
erblühen  werde,  zum  sachlichen  Theil  übergeht.  So  sehr  nun 
auch  der  Verfasser    bei   jeder  Gelegenheit  die  Vortrefflichkeit 


1  Die  beiden  Schriftstücke  finden  mIoIi  in  dem  Actenfaacikel  ^eichssachen 
in  specie'  38*/^  im  peb.  Haus-,  Hof-  und  StaatsarchiTe  zu  Wien,  welcher 
die  gesammte  vom  Kaiser  goführte  Correspondenz  über  die  Kalender- 
frage enthSlt.  Sämmtliche  in  der  Fol^re  citirten  Actenstücke  sind  — 
wenn  nicht  ausdrücklich  ein  anderer  Fundort  angegeben  ist  —  dem- 
selben entnommen. 


492  Kaltenbranner. 

des  Lilio'schen  Werkes  betont,  so  zeigt  er  sich  doch  in  man- 
chem Punkte  nicht  einverstanden,  ja  es  macht  sich  jener 
principielle  Gegensatz  ziemlich  stark  bemerkbar,  der  zu  An- 
fang des  Jahrhunderts  bei  Erwägung  der  Frage  das  lieber- 
gewicht  hatte,  und  der  in  der  folgenden  Polemik,  noch  mehr 
aber  kurz  vor  Einführung  des  ,Verbesserten  Reichskalenders' 
eine  bedeutende  Rolle  spielt.  Der  Mathematiker  Fabricius 
wünscht,  dass  an  Stelle  der  cjclischen  Rechnung  der  astrono- 
mische Calcül  eingeführt  werde.  Er  weist  darauf  hin,  welchen 
grossen  Aufschwung  gerade  seine  Wissenschaft  in  letzter  Zeit 
gemacht  habe,  und  er  befürchtet,  dass  der  Eifer  für  dieselbe 
wieder  erlahmen  würde,  wenn  man  ihren  Vertretern  diesen 
wichtigen  Zweig  versperren  würde.  Wollte  man  die  astrono- 
mische  Rechnung  in  den  Kalender  einfuhren,  so  wäre  dies  ein 
Trieb,  allen  Eifer  auf  die  genauere  Bestimmung  der  Umlaufs- 
zeiten von  Sonne  und  Mond  zu  verwenden,  um  stets  Verbesse- 
rungen am  Kalender  machen  zu  können.  Derlei  Aenderungen 
aber  würden  jetzt  bei  den  grossen  Fortschritten  der  Buch- 
druckerkunst leicht  und  ohne  grosse  Kosten  zu  bewerkstelligen 
sein.  Den  von  Lilio  vorgeschlagenen  Epactencyclus  erklärt 
Fabricius  für  das  vollkommenste,  was  in  dieser  Hinsicht  ge- 
leistet werden  könnte,  geht  aber  nicht  näher  auf  denselben 
ein  —  natürlich,  weil  er  im  Früheren  die  cyclische  Rechnung 
im  Princip  verworfen  hatte.  Dagegen  bietet  sich  bei  der  Cor- 
rectur  des  Sonnenjahres  ihm  mehrfache  Gelegenheit  dar,  andere 
Ansichten  auszusprechen  und  zu  begründen. 

Dadurch,    dass   das  Compendium    selbst   den  Modus,  wie 
der   bisher   aufgehäufte   Fehler   beseitigt  werden  sollte,  unent- 
schieden   lässt,    hält    sich   Fabricius    für   berechtigt,    auch  die 
andern    möglichen   Arten   in  Betracht  zu  ziehen.     Die  Durch- 
führung  der   Reform    in    40  Jahren  findet  nicht  seinen  Beifall 
und  wohl  mit  Recht;   von    der  plötzlichen  Ausscheidung  einer 
Anzahl    von  Tagen   befürchtet   er  Verwirrung   und  Tumult  in 
weltlichen  Dingen   und  allzugrosse  Störung  des  Kirchenjahres. 
So   spricht   er   schliesslich   der   Art   das  Wort,    dass  in  einem 
Jahre  allmälig  durch  Verkürzung  der  Monate  die  überflüssigen 
Tage   ausgeschieden    werden    sollen.     Auch    begreift  Fabricius 
nicht,    warum    bis    zum  Jahre  1582  gewartet  werden  muss;  er 
schlägt  daher  vor,  das  Jahr  1580  zu  wählen,  denn  je  eher  die 


Die  Polemik  ftber  die  Oregorianisehe  Kalenderreform.  '493 

ersehnte  Reform  durchgeführt  werde,  desto  besser  sei  es,  und  dann 
empfehle  sich  1580  gerade  durch  seine  Eigenschaft  als  Schalt- 
jahr. Bei  dieser  Besprechung  hatte  Fabricius  die  Frage  offen 
gelassen,  auf  welchen  Stand  der  Kalender  wieder  zurückge- 
bracht werden  solle,  jetzt  aber  bekämpft  er  die  Auslassung  von 
10  Tagen  und  meint,  es  sei  der  Natur  der  Sache  viel  ange- 
messener, wenn  der  Stand  Julius  Caesar's  wieder  hergestellt 
würde,  mit  dem  sozusagen  die  Kömische  Monarchie  und  die 
christliche  Kirche  begann.  Demgemäss  plaidirt  er  für  die 
Auslassung  von  13  Tagen. 

Das  Gutachten  des  Fabricius  wurde  durch  eine  vom  Kector 
niedei*gesetzte  Commission '  geprüft;  wie  aus  dem  Wortlaute 
des  Actenstückes  hervorgeht,  reforirte  in  derselben  Fabricius 
über  das  Compendium  imd  knüpfte  daran  seine  im  Gutachten 
gemachten  Bemerkungen.  So  stellt  sich  denn  auch  das  Gut- 
achten der  Universität  als  blosses  Referat  über  die  Arbeit  des 
Fabricius  dar.  Sie  stimmt  in  allen  Punkten  den  Auseinander- 
setzungen desBelben  bei,  auch  in  dem  Punkte  der  astrono- 
mischen Rechnung,  ,weil  der  von  Lilio  allerdings  geistreich 
und  eifrig  ausgedachte  Cyclus  der  Epacten  schwierig  und  was 
noch  mehr  besagt,  nicht  also  sicher,  fest  und  dauerhaft  sei, 
dasB  nicht  mit  ihm  Fehler  gemacht  werden  können,  und  er 
nicht  späterhin  abermals  einer  Correctur  bedürftig  sein  werdet 

Ausserdem  sind  eine  Anzahl  von  Arbeiten  anzuführen, 
die  wahrscheinlich  schon  auf  Grund  des  Compendium's  abge< 
fasBt  worden  sind.  1579  gab  der  Genuese  Georg  de  Caretto 
einen  Tractat  ,de  cursu  anni  et  calendario  reformando'  zu  Mantua 
heraus,  und  im  selben  Jahre  veröffentlichte  Franciscus  Juncti- 
nus  die  , Synopsis  de  restitutione  Kalcndarii'  zu  Florenz  und 
Johann  Bernhard  Rastellius  die  ,Correctio  Calendarii'  in  Paris. 
1580  erschienen  dann  zu  Venedig  des  Jos.  Lardinus  ,Tractatus 
de   Vera  anni   forma   et   de   ejus   emendatione' '^   und   des  Jos. 

>  Die  CommiBsion  bestand  aus  den  vier  Decauen,  dann  zwei  Doctores  der 
Theologie  des  Jesuiten -Collegiams,  dem  Dr.  juris  Stephan  Englmeier,  dem 
Dr.  medicinae  Andreas  Dudius  und  dem  Professor  der  Mathematik  Martin 
Bengel. 

*  Die  vier  bis  hieher  angeführten  Tractate  waren  mir  nicht  zugänglich ;  ich 
habe  von  ihnen  nur  Kunde  durcli  Lipenius:  Bibliotheca  Realis  Philo- 
sophica.  (Frankfurt  1682.) 


494  K>lt6nbranner. 

Zarlinus   ,de   vera   anni  forma  sive  de  recta  ejus  emendatione 
ad    S.    Gregorium  XIII^     Aus   gleichem   Anlass    wie   Zarlinus 
schrieb  der  Bischof  Hugolinus  Martellus  zwei  Tractate^  die 
beide  1582  zu  Lüttich  gedruckt  worden  sind.  Die  erste  Arbeit 
dieses    Bischofs    ist   dem    Cardinal   Sirlet  gewidmet,   der   von 
Qregor  XIII.  mit  der  Ausführung  der  Kalonderreform  betraut 
worden   sei.     Hugolinus  Martellus    ist  Theologe    und    nur    als 
solcher  behandelt  er  die  Frage.  Die  cyclische  Rechnung  heisst 
er  stillschweigend    gut,    dagegen  ist  er  durchaus  nicht  einver- 
standen,   dass    der  Kalender   auf   den  Stand   des  Nicaenischen 
Concils  zurückgefiihrt  werden  sollte,  sondern  er  will  vielmehr 
durch   eine   Ausscheidung   von    14  Tagen   denselben  auf  seine 
ursprüngliche  Gestalt  zurückgebracht  wissen.    Um  diese  Frage 
drehen    sich    beide    Schriften;^    vor    Allem    macht    Martellus 
geltend,  dass  es  müssig  sei,  sich  da  auf  Autoritäten  zu  berufeu, 
denn  sicher  sei  doch  die  der  Apostel  und  ihrer  Schüler  grösser, 
als  die  des  Nicaenischen  Concils.     Bezeichnend  ist  auch,  dass 
Martellus  den  Utilitätsstandpunkt  hervorhebt;  er  macht  nämlich 
aufmerksam,    dass   man  auf  die  Haeretiker  Rücksicht  nehmen 
müsse,  die  schon  wegen  der  starken  Betonung  des  Nicaenischen 
Concils  dem  Kalender  Opposition  machen  werden;  würde  man 
dagegen   auf  die   Zeit    Christi   zurückgehen,    so   hätten   sie  in 
dieser  Hinsicht  keinen  Anhaltspunkt  zum  Widerspruch.   Diese 
Mahnung  des  katholischen  Bischofs  ist  wohl  zu  beachten,  denn 
er  hat  richtig  vorhergesagt,  und  andererseits  ist  es  die  einzige 
katholische  Stimme,  die  mit  der  künftigen  Gegenpartei  rechnet, 
während  sonst  von  Rom  aus  mit  vollständiger  Ausserachtlassung 
der  Evangelischen  vorgegangen  wurde. '^    Auch  die  Arbeit  des 
Musikdirectors   bei    St.    Marco  Josefus  Zarlinus   dreht  sich 
vornehmlich  um  die  von  Martellus  angeregte  Frage  der  Redu- 
cirung  auf  die  Zeit  Christi.    Daneben  geht  aber  dieser  Autor, 
der  ebenfalls  den  Cardinal  Sirlet  als  die  Hauptperson  der  Ka- 
lender-Commission  bezeichnet,  auch  auf  die  andern  Punkte  der 

^  aj  De  anni  integra  in  integrum  restitutione  unacum  Apologia,  quae  est 
sacrorum  teraporum  assertio.    hj  Sacrorum  teniponim  assertio. 

2  Später  hat  »ich  H.  MarteUns  doch  mit  der  Reform  befreundet,  denn  er 
Hchrieb  eine  ,Chiave  del  Calendario  Gregoriano'  und  nach  Tarfuri  (Utoria 
degli  Scrittori  nati  nel  Regno  di  Napoli  175*2)  hat  er  auch  den  Kalender 
gegen  die  Angriffe  Maestliu's  und  äcaliger's  vertbeidigt. 


Die  Polemik  ftber  die  OrttgoriaDUche  Kalenderreform.  495 

Reform  ein,  aber  in  äusserst  schwerfalliger,  umständlicher  Weise, 
so  dass  es  uns  nicht  Wunder  nehmen  kann,  wenn  derlei  Arbeiten 
von  der  Commission  nicht  berücksichtigt  wurden. 

Nachdem  die  Commission  in  Rom  mit  der  principiellen 
Annahme  des  Lilio'schen  W^erkes  und  der  Abfassung  und 
Verschickung  des  Compendium's  den  ersten  Abschnitt  ihrer 
Thätigkeit  vollendet  hatte,  arbeitete  sie  rüstig  weiter,  um  die 
Durchfuhrung  des  Reformwerkes  zu  ermöglichen.  Ob  die  vielen 
eingesandten  Werke  und  Gutachten  Beachtung  fanden,  ist  sehr 
zweifelhaft,  denn  Clavius  nimmt  in  seinen  Werken  auf  keines 
derselben  auch  nur  mit  einem  Worte  Bezug.  Dagegen  wurde 
neben  der  Fassung  von  definitiven  Beschlüssen  in  jenen  Fragen, 
welche  Lilio  noch  offen  gelassen  hatte,  auch  der  Epactencyclus 
einer  durchgreifenden  Revision  unterzogen  und  in  einigen 
Punkten  abgeändert.  Am  24.  Februar  endlich  des  Jahres  1581/2 
erliess  Pabst  Gregor  XIII.  die  Bulle  ,Inter  Gravissimas^  in 
feierlicher  Form,  und  nun  wurden  von  Seite  der  Curie  die 
grössten  Anstrengungen  gemacht,  die  Annahme  der  Reform 
möglichst  zu  beschleunigen,  was  denn  auch  in  den  rein  katho- 
lischen Reichen  und  in  Frankreich  sehr  gut  gelang.  Neben  der 
Bulle  wurden  die  ,Canones  in  Kalendarium  Gregorianum  per- 
petuum'  verschickt,  die  uns  nun  etwas  zu  beschäftigen  haben 
werden,  deshalb  weil  sie  die  Grundlage  des  jetzigen  Kalenders 
bilden,  und  weil  sie  doch  noch  nicht  so  gewürdigt  sind,  als  es 
geschehen  sollte.  ^  Diese  Canones  nun  sind  sehr  kurz  gefasst; 
eine  Begründung  der  Reform  enthalten  sie  fast  gar  nicht;  in 
dieser  Beziehung  wird  mehrmals  verwiesen  auf  den  demnächst 
erscheinenden  ,liber  novae  rationis  restituendi  Kalendarii^,  der 
aber  niemals  ausgegeben  wurde.  Erst  1603  veröffentlichte 
Clavius  an  dessen  Stelle  die  ,£xplicatio  Romani  Kalendarii  a 
Gregorio  XIII.  restitutio 


1  So  bringt  selbst  Ideler  den  Immerwfihrenden  Gregorianischen  Kalender 
ungenau,  indem  er  die  gleich  unten  anzuführenden  Details  übersieht. 
In  neuerer  Zeit  (1869)  ist  der  Gregorianische  Kalender  durch  Fr.  Attens- 
berger  weitläufig  auseinandergesetzt  worden;  doch  ohne  grosses  Glück, 
denn  der  Verfasser  mischt  Uebersetzung  der  Explicatio  des  Clavius  und 
seine  eigene  Darstellung  so  wirr  durcheinander,  dass  man  aus  dem 
206  Seiten  z&hlenden  Buche  wenig  Belehrung  schöpfen  kann. 


496  KaltenbruiiDer. 

Hatte  Lilio  den  Alphonsifiischen  Tafeln  den  Vorzug  ge- 
geben, 80  legte  man  jetzt  die  PruteniBchen  zu  Grunde,  trotz- 
dem der  Hauptarbeiter  der  Commission,  Clavius,  mit  dem 
SjBteme  ihres  Urhebers  Copernicus  durchaus  nicht  einver- 
standen war.  ^  Die  Ausscheidung  von  10  Tagen  wurde  bekannt- 
lich auf  den  October  1582  festgesetzt.  Mehrfachen  Veränderun- 
gen wurde  sodann  der  Epactencyclus  unterworfen,  sowohl  in 
seiner  Einschreibung  im  immerwährenden  Kalender,  als  auch 
in  den  Tabellen,  welche  für  die  einzelnen  Aequationsperioden 
die  den  numeris  aureis  entsprechenden  £pacten  enthalten.  Lilio 
hat  bekanntlich  die  dem  Julianischen  Kalender  eingeschriebenen 
Numeri  aurei  fallen  lassen,  weil  sie  in  ihrer  Art  starr  waren; 
denn  —  sollten  sie  wirklich  ein  Bestandtheil  des  Calendarium 
perpetuum  sein,  so  konnte  die  allmälig  in  310  Jahren  zu  1  Tag 
anwachsende  Differenz  zwischen  solaren  und  lunaren  Erschei- 
nungen nicht  berücksichtigt  werden.  An  ihre  Stelle  setzte  nun 
Lilio  die  Epacten,  indem  er  vom  1.  Jänner  mit  0  beginnend, 
abwechselnd  30  und  29  Tage  weiterzählt  und  an  den  be- 
troffenen Tagen  abermals  Epacte  0  verzeichnet.  Im  December 
angelangt,  geht  er  wieder  zuiück  auf  den  Jänner  und  ver- 
zeichnet nun  zu  dem  Tage,  auf  den  er  durch  Weiterzählung 
um  30  gelangt,  Epacte  XI  (0  +  U)?  beim  nächsten  üebergang 
Epacte  XXII  (11  +  11),  dann  Epacte  III  (22— 19),  alles  dies 
entsprechend  dem  Vorschreiten  oder  Zurückbleiben  der  lunaren 
Erscheinungen  über  die  solaren  in  den  einzelnen  Jahren  des 
n.eunzehnjährigen  Cyclus.  Durch  diese  Manipulation  erhält 
Lilio  schliesslich  zu  allen  Kalendertagen  Zahlen,  die  sich  also 
von  0  (in  diesem  Falle  =  30)  bis  1  inclusive  absteigende 
Reihen  dem  Auge  darstellen.  Diese  Epacten  haben  jetzt  eine 
ganz  andere  Bedeutung  als  früher  im  Julianischen  Kalender; 
dort  bezeichnen  sie  das  Mondalter  des  22.  März,  hier  sind  sie 
Bezeichnungswerthe  für  die  Neumonde.  Ihr  arithmetisches  Ver- 
hältniss  aber  ist  dasselbe,  denn  hier  wie  dort  steigen  sie 
von   einem   Jahr   zum   nächsten    um  11   auf,  wenn  ein  lunares 

*  Clavius  urtheilt  über  das  CopernikaiuBche  Sonnensystem  bei  Bespre- 
chung der  Prutenischen  Tafeln,  denen  nicht  yoUkommene  Richtigkeit 
beizumessen  sei,  ,praesertim  cum  incertis  hypothesibus  nedum  absordis 
et  a  communi  horainum  opinione  abliorrentibus,  ac  quibus  omnes  Philo- 
soph! naturales  repngnant,  fundatae  sint^ 


t)ie  Polemik  über  die  Gregorianische  KAJenderreform«  497 

Gemeinjahr  zu  354  Tagen  gegenübergestellt  wird  den  365  vollen 
Tagen  des  SonnenjahreS;  oder  sie  fallen  um  19  in  embolisti- 
sehen  Jahren,  weil  dann  nach  384  Tagen  die  Lunarerschei- 
nungen  um  19  Tage  später  eintreten  als  die  des  solaren  Jahres. 
Die  Qregorianischen  Epacten  also  zeigen  nicht  direct  die  Neu- 
monde an,  sondern  sie  sind  nur  Vertreter  der  Numeri  aurei. 
Jeder  der  19  Zahlen  des  Cyclus  entspncht  eine  solche.  Wenn 
man  also  früher  direct  mit  dem  berechneten  numerus  aureus 
des  Jahres  aus  dem  immerwährenden  Kalender  die  Neumonds- 
tage bestimmen  konnte,  so  muss  man  jetzt  erst  die  dem  nu- 
merus aureus  entsprechende  Epacte  suchen,  und  diese  zeigt 
dann  im  Kalender  das  erwünschte  an.  Der  Zweck  dieser  Ein- 
richtung zeigt  sich  erst,  wenn  eine  jener  zwei  Modificationen  an- 
gewendet wird,  welche  Lilio  für  die  immerwährende  Gültigkeit 
des  Kalenders  eingeführt  hat,  nämlich  die  Auslassung  dreier 
Schalttage  in  je  400  und  die  Correctur  des  Mondkalenders  in  je 
300  Jahren.  Denn,  wenn  ein  Bissextus  aussergewöhnlicher  Weise 
weg&Ut  —  es  tritt  dies  bekanntlich  in  allen  centenaren  Jahren 
ein,  die  nach  Hinweglassung  der  beiden  unteren  Stellen  (00) 
bei  der  Division  durch  4  einen  Rest  ergeben  —  handelt  es 
sich  darum,  dass  von  dieser  Massregel  der  Lunarkalender  nicht 
betroffen  werde.  Dies  wird  dadurch  erreicht,  dass  die  den 
Numeris  aureis  entsprechenden  Epacten  um  1  Tag  vermindert 
werden,  was  zur  Folge  hat,  dass  der  Kalender  die  Neumonde 
von  nun  an  um  1  Tag  später  angibt.  Dadurch  wird  also  be- 
wirkt, dass  der  Lunarkalender  durch  die  Modification  der 
Schaltregel  nicht  irritirt  wird,  und  somit  bleibt  das  alte  Ver- 
hältniss  zwischen  19  julianischen  Jahren  und  235  synodischen 
Mondmonaten  bestehen.  Nun  wächst  aber  der  Ueberschuss  der 
ersteren  über  die  lunaren  Erscheinungen  nach  den  Prutenischen 
Tafeln  (beiläufig)  in  31272  Jahren  zu  1  Tag  an.  Um  dies  zu 
berücksichtigen  und  den  Epactencyclus  mit  den  wirklichen 
Himmelserscheinungen  im  Einklang  zu  erhalten,  mussten  in  je 
312  V)  Jahren  die  Neumonde  im  Kalender  um  1  Tag  zurück- 
gerückt werden;  der  grösseren  Uebersichtlichkeit  halber  ver- 
legte man  auch  hier  die  Correctur  auf  die  centenaren  Jahre 
und  erhöhte  daher  die  Epacten  siebenmal  nach  je  300  und 
hierauf  nach  400  Jahren  um  1.  Es  ergibt  dies  einen  Cyclus 
von  2500  Jahren,  der  durch  312 '/2  dividirt,  genau  8  gibt.    In 

Sitzongiber.  d.  phU.-hi8t.  Cl.  LXIXVII.  Bd.  I.  Uffc.  32 


498  Kaltenbrnnner. 

Folge  dieser  zweifachen  Verschiebung  (der  aequatio  solaris  und 
aequatio  lunaris)  durchlaufen  mit  der  Zeit  sämmtliche  30  Epacten 
die  einzelnen  19  numeri  aurei,  aber  erst  nach  300.000  Jahren 
kehrt  die  Ordnung,  in  der  die  beiden  Aequationen  und  die  zu- 
gehörigen Epacten  reihen  wechseln,  wieder. 

Dieser  grosse  Cyclus  beruht  auf  folgenden  Thatsachen: 
Eine  doppelte  Manipulation  wird  mit  den  Epacten  vorgenom- 
men. In  2500  Jahren  werden  sie  um  8  erhöht  und  in  diesem 
Zeitraum  aber  auch  um  ^^  X  3  =  188/4  vermindert ;  gehen 
wir  zur  nächst  höheren  Zahl,  wo  wir  Ganze  statt  der  78-74 
erhalten,  über  d.  i.  4  X  2500  =  10000,  so  erhalten  wir  eine 
Verschiebung  von  (4  X  I8V4)  -  (4  X  8)  =  75  —  32  =  43.  Nach 
einem  Zeitraum  von  10000  Jahren  kehrt  also  das  Verhältniss 
der  beiden  Aequationen  zu  einander  wieder,  d.  h.  die  Auf- 
einanderfolge der  beiden  Aequationen  und  deren  Zusammen- 
fallen, sowie  ihr  Wegbleiben  in  jenen  centenaren  Jahren,  die 
durch  4  theilbar  sind  und  ohne  Lunar-Aequation  bleiben,  ist 
nach  Verlauf  von  10000  Jahren  dasselbe.  Da  jedoch  43  und 
30  (d.  i.  die  Anzahl  der  Epacten)  incommensurabel  sind,  so  ist 
klar,  dass  erst  nach  30  X  10.000,  d.  i.  nach  300.000  Jahren,  die 
beiden  Aequationen  mit  den  gleichen  Epacten  reihen  wiederkehren 
können.  Dies  ist  das  Wesen  des  Epactencyclus ;  und  nun  komme 
ich  zu  den  Details.  Um  das  Alterniren  von  vollen  und  hohlen 
Mondmonaten  darstellen  zu  können,  musste  Lilio  in  letzteren 
2  Epacten  an  1  Tag  zusammenfallen  lassen.  Er  entschied  sich 
für  den  Anfang  der  Zahlenreihe  und  setzte  O(XXX)  und  XXIX 
zusammen.  1  Daran  knüpft  sich  nun  eine  Modification,  die  sich 
nur  aus  dem  ängstlichen  Bemühen  erklären  lässt,  möglichst  die 
Eigenschaften  des  alten  Cyclus  zu  wahren.  Wenn  zu  1  Kalender- 
tage die  2  Epacten  verzeichnet  standen,  traten  in  dem  Falle, 
dass  die  Epacten  0  und  XXIX  in  einer  und  derselben  Aequa- 
tionsperiode  zwei  goldenen  Zahlen  zufielen,  in  2  Jahren  des 
neunzehnjährigen  Cyclus  je  6  Neumonde  des  Jahres  am  selben 
Tage  ein.  Dies  war  natürlich  beim  alten  Numerus  aureus  nicht 
möglich    gewesen,    mit  Ausnahme   in    der  December  -  Lunation 

^  Die  Ansicht  Idelers,  die  auch  Grotefend  nachspricht,  Lilio  habe  willkürlich 
XXV  und  XXIV  gewählt,  ist  danach  zu  berichtigen.  Wir  werden  später 
sehen,  dass  die  Äenderung  in  XXV  und  XXIV  von  der  Cominission  nicht 
ohne  Grund  vorgenommen  wurde. 


Die  Polemik  über  die  Uifgorianische  E»lenderrefonii.  499 

der  numeri  aurei  XIII  und  II,  was  aber  auch  schon  von  mittel- 
alterlichen Computisten  —  so  von  Paulus  v.  Middelburg  —  als 
absurd  erklärt  wurde,  da  es  im  Wesen  des  neunzehnjährigen 
Cyclus  liege,  dass  erst  nach  Ablauf  von  19  Jahren  die  Neu- 
monde wieder  an  denselben  Kalendertagen  eintreten.  Um  nun 
dies  zu  vermeiden,  unterschied  Lilio  zwischen  2  Epacten  0; 
die  er  mit  *  und  o)  bezeichnet.  Das  arithmetische  YerhältnisS; 
in  welchem  die  £pacten  in  den  Aequationstafeln  zu  einander 
stehen  —  indem  sie  entweder  um  11  steigen  oder  um  19 
fallen  —  bringt  es  mit  sich,  dass  nur  in  einem  ganz  bestimmten 
Abstände  der  numeri  aurei  zwei  unmittelbar  arithmetisch  aufein- 
anderfolgende Epacten  auftreten  können.  Das  Verhältniss  stellt 
sich  nun  so,  dass  in  einem  Abstände  von  11  immer  die  um 
1  höhere  Epacte  eintritt,  d.  h.  im  numerus  aureus  XII  erscheint 
die  Epacte  um  1  grösser  als  im  numerus  aureus  I  und  so  fort 
bis  zur  Grenze  XIX  und  VIII.  Umgekehrt  aber  ist  es  gar 
nicht  möglich,  dass  einer  Epacte  in  der  ersten  Hälfte  des 
Mondcyclus  die  um  1  niedere  in  derselben  Aequationstabelle 
folgt,  denn  selbst  für  die  Epacte  des  numerus  I  folgt  die  um 
1  niedere  erst  im  iingirten  numerus  aureus  XX.  Wenden  wir 
dies  nun  auf  die  Epacten  0  und  XXIX  an :  (hiebei  setzen  wir 
0  =  XXX,  denn  arithmetisch  sind  sie  in  diesem  Falle  einander 
vollkommen  gleich).  Nur  in  dem  Falle,  dass  Epacte  XXIX  zu 
einem  numerus  aureus  kleiner  als  IX  fällt,  findet  sich  auch  in  der 
Aequationstafel  Epacte  XXX  (0);  umgekehrt,  wenn  Epacte 
XXX  (0)  in  einem  numerus  aureus  der  ersten  Hälfte  des  Cyclus 
auftritt,  erscheint  Epacte  XXIX  nicht  in  derselben  Tabelle. 
Also  nur  im  ersten  Falle  würde  die  zu  vermeidende  Culmini- 
rung  zweier  Neumonde  in  2  verschiedenen  numeris  aureis  ein- 
treten. Daher  setzt  in  diesem  Falle  Lilio  die  zweite  Art  von  0, 
d.  i.  0)  zu  der  vorherstehenden  Epacte  I,  und  natürlich  erscheint 
dann  in  einer  solchen  Aequationstafel  ebenfalls  dieselbe  —  mit 
andern  Worten,  Lilio  setzt  den  numeris  aureis  I — VIII  (incl.)  die 
Epacte  «,  den  späteren  die  Epacte  d)  bei.  Im  immerwährenden 
Kalender  aber  erscheint  folgendes  Bild: 

II. 

Lü) 

*  XXIX 

xxvm. 

32* 


500  Kallentirunner. 

In  den  6  vollen  Monaten^  wo  Epacte  #  und  XXIX  zu 
aufeinanderfolgenden  Tagen  gesetzt  sind;  ist  dies  alles  natürlich 
nicht  nöthig;  jedoch  um  keine  Verwirrung  hervorzubringen  und 
die  Sache  übersichtlich  dai-zustelleh^  setzt  Lilio  die  beiden  Arten  von 
Epacte  0  («  und  la)  nebeneinander;  hätte  er  dies  vernachlässigt, 
so  würden  sich  nämlich  in  den  Fällen,  wo  Epacte  (i>  gilt,  streng 
genommen  für  die  vollen  Monate  keine  Neumonde  ergeben 
haben.  Aus  demselben  Motive  entsprang  dann  noch  eine  zweite 
Modification,  die  jedoch  äusserst  selten  auftritt.  Sie  betrifft  den 
Fall;  dass  numerus  aureus  XIX  mit  Epacte  XIX  zusammen- 
fällt. Da  das  19.  Jahr  des  Cyclus  embolistisch  ist,  zugleich 
aber  auch  den  Saltus  lunae  enthält,  so  hat  es  13  Mondmonate 
und  eine  Tagessumme  von  383  Tagen.  Da  zum  2.  December 
Epacte  XIX  eingeschrieben  ist,  so  würde  man  einen  hohlen  Monat 
weiter  gehend  zum  31.  December  als  der  nächsten  Lunation^ 
d.  i.  dem  ersten  Neumond  des  nächsten  Cyclus  gelangen,  von  wo 
aus  man  dann  -|-  einen  vollen  Monat  den  30.  Jänner  erreicht, 
wo  wirklich  Epacte  I  verzeichnet  steht.  Aber  der  immer- 
währende Kalender  Lilio's  hat  zum  31.  December  Epacte  XX 
verzeichnet  und  würde  also  gar  nicht  diesen  Neumond  an- 
zeigen. Um  dies  zu  vermeiden,  setzte  Lilio  zu  diesem  Tag 
neben  Epacte  XX  19.  Das  angeführte  arithmetische  Verhält- 
niss  bringt  es  mit  sich,  dass,  wenn  zum  numerus  aureus  XIX 
19  verzeichnet  steht^  keinem  numerus  aureus  die  Epacte  XX 
zufällt,  so  dass  das  ängstlich  vermiedene  Zusammentreffen 
zweier  Neumonde  in  verschiedenen  Numeris  aureis  nicht  zu 
befürchten  war. 

An  diesem  Epactencyclus  wurde  nun  von  der  Commis- 
sion  die  Aenderung  vorgenommen,  dass  das  Culminiren  der 
Epacten  nicht  zwischen  0  und  XXIX,  sondern  zu  XXV  und 
XXIV  gesetzt  wurde.  Entsprechend  den  Lilio'scheu  Epacteu 
*  und  (I)  unterscheidet  man  jetzt  zwischen  XXV  und  25,  so 
dass  dies  folgendes  Bild  gibt: 

In  den  hohlen  Monaten:        i         In  den  vollen  Monaten: 
XXVI.  25  XXVI 

XXV  XXIV  XXV.  25 

XXIII.  ;  XXIV. 


Die  Polemik  über  die  Gregorianische  Ralenderreform.  ftOl 

Es  ist  klar,  dass  dies  nicht  ohne  Grund  geschehen  ist. 
Derselbe  wurzelt  ebenfalls  in  dem  Bestreben,  möglichst  die 
alten  computistischen  Regeln  zu  wahren  und  sich  an  den  alten 
Dionysisch-Bedai'schen  Cyclus  anzuschliessen.  In  demselben 
waren  säramtliche  Ostermonate  hohl  gewesen ;  dies  war  jetzt 
allerdings  nicht  mehr  möglich ,  da  sich  nun  die  Zahl  der 
möglichen  Ostermonate  um  11  vermehrt  hatte;  denn  vom 
8.  März  bis  5.  April  incl.  sind  29  Tage  und  dazu  kommt  im 
Lilio'schen  Kalender  die  Epacte  (a>  ^  im  Gregorianischen  25; 
somit  sind  30  mögliche  Fälle  hiefiir  gegeben,  während  früher 
nur  19  waren. 

Es  war  nun  in  den  Augen  der  Commission  die  Aufgabe 
gestellt,  die  Epactenzahlen  innerhalb  dieses  Raumes  stets  um 
29  Tage  von  einander  abstehen  zu  lassen.  Im  Anfang  geht  dies 
auch  ganz  gut,  denn  Epacte  XXIII,  die  am  8.  März  die  Reihe 
beginnt,  begegnet  uns  wieder  am  6.  April,  d.  i.  29  Tage  später; 
dies  geht  so  fort,  bis  im  Lilio'schen  Kalender  zum  30.  März 
Epacten  I  w  stehen ;  Epacte  I  tritt  wieder  auf  am  28.  April, 
dies  ergibt  als  noch  einen  hohlen  Monat,  aber  die  nächste 
Epacte  (I)  findet  sich  erst  am  29.  April  und  somit  erhalten  wir 
den  ersten  vollen  Monat.  Dagegen  wird  nochmals  ein  hohler 
gewonnen,  indem  Epacte  «  am  31.  März  und  29.  April  steht. 
Von  da  ab  erhalten  wir  im  Lilio'schen  Kalender  lauter  volle 
Monate,  denn  Epacte  XXIX,  die  am  31.  März  mit  Epacte  « 
culminirt;  erscheint  wieder  am  30.  April,  also  um  30  Tage 
später,  und  um  die  gleiche  Tagessumme  stehen  die  Epacten  in 
den  noch  übrigen  5  Tagen  (1. — 5.  April  incl.)  von  einander 
ab.  Im  Ganzen  hat  also  Lilio  unter  den  30  möglichen  Oster- 
monaten  7  volle  erhalten.  Vollständig  Hess  sich  dies  nicht  besei- 
tigen, da  man  eben  alle  30  Epacten  zu  passiren  hatte;  aber 
die  Fälle  Hessen  sich  reduciren,  sobald  man  die  culminirenden 
Epacten  ganz  an  das  Ende  der  Reihe,  d.  i.  zum  5.  April  setzte, 
denn  gerade  diese  hatten  ja  das  Unheil  angerichtet.  Dort  steht 
nun  Epacte  XXV  und  dazu  rückte  man  XXIV.  Auf  diese 
Weise  erhielt  man  nur  2  volle  Monate,  nämlich  zwischen  den 
Epacten  25  f4.  April  und  4.  Mai)  und  zwischen  XXIV  und 
XXIV  (5.  April  und  5.  Mai),  während  die  dazwischenliegende 
Epacte  XXV  am  5.  April  und  4.  Mai  einen  hohlen  Monat  ergab. 
Ausserdem  wurde  auch  die  Aequationstafel  LiHo's  einer  durch- 


502  Kaltenbranner. 

greifenden  Aenderung  unterzogen,  indem  sämmtliche  Epacten- 
zahlen  um  1  niederer  gestellt  wurden,  d.  h.  die  Commission 
rückte  sämmtliche  durch  den  Epactencyclus  zu  berechnenden 
Neumonde  um  1  Tag  im  Kalender  vor;  auch  dies  hatte  seinen 
guten  Grund;  man  wollte  soviel  als  möglich  vermeiden,  dass 
Ostern  am  Vollmondstage  selbst  gefeiert  werde,  was  denn  bei 
der  Un Vollständigkeit  und  Unsicherheit,  die  jedem  Cyclus  an- 
haftet, immerhin  oft  möglich  war.  Indem  also  die  Commission 
alle  Neumonde  um  1  Tag  später  eintreten  lässt;  als  Lilio;  ver- 
mindert sie  natürlich  wesentlich  diese  Qefahr.  Schliesslich  haben 
wir  einer  Aenderung  zu  gedenken,  die  wohl  für  den  Gebrauch 
des  Kalenders  ziemlich  nebensächlich  ist^  und  der  auch  Clavius 
nur  insofern  Gewicht  beimisst,  als  sie  zeigt,  mit  welcher  Sorg- 
falt man  in  Rom  zu  Werke  ging.  Sie  betrifft  den  dreihundert- 
tausendjährigen Cyclus  des  Lilio,  der  nicht  in  dem  Compen- 
dium  und  nicht  in  den  Canones^  wohl  aber  von  Clavius  in  der 
,Explicatio'  wiedergegeben  und  dort  offenbar  dem  Lilio'schen 
Werke  entlehnt  ist.  Der  Gregorianische  Kalender  setzt  nach 
den  Pruteniachen  Tafeln  die  Dauer  des  synodischen  Mond- 
monats zu  29^  12»»  44'  3"  10'"  48""  an ;  dies  ergibt  für  die 
235  Mondmonate  des  neunzehnjährigen  Cyclus  ein  Product  von 
6939^  16^  32'  27"  18"'.  Der  Ueberschuss  der  19  solaren  Jahre 
beträgt  demnach  P  17'  32"  42"'  und  diese  sind  also  in  der 
vorzunehmenden  Lunar - Aequation  zu  berücksichtigen;  diese 
Aequation,  in  der  jedesmal  die  Epacten  um  1  erhöht,  also  die 
Neumonde  im  Kalender  um  1  Tag  zurückgesetzt  werden,  tritt 
in  2500  Jahren  achtmal  auf.  Lässt  man  aber  den  oben  ange- 
gebenen Ueberschuss  der  Julianischen  Jahre  2500  Jahre  lang 
anwachsen^  so  ergibt  sich  ein  Product  von  8^  10^  30'  36"  T'^/io  "• 
In  2500  Jahren  werden  also  nach  der  Gregorianischen  Aequation 
die  Neumonde  um  10**  30'  36"  7  'Vid' '  ^u  wenig  zurückgeschoben, 

nach  abermals2500Jahren  wird  dieser  Fehler  zu2Pl'12"15«Vi9^ 
und  nach  dem  weiteren  Verlauf  einer  solchen  Aequationsperiode 
ist  der  Fehler  über  einen  Tag  angewachsen.  Im  Gregorianischen 
Kalender  tritt  die  ersteLunar- Aequation  undderAnfang  der  Periode 
von  2500  Jahren  im  J.  1800  ein,  somit  überschreitet  der  Fehler 
in  der  Periode  zwischen  6800  (1800  +  [2  X  2500J)  und  9300 
(6800  +  2500)  die  Grenze  von  24  Stunden  und  zwar  tritt  dieser 
Uebergang  ein  zwischen  der  2.  und  3.  Aequation,  d.  i.  zwischen 


Die  Polemik  fiber  die  Gregorianische  Kalenderreform.  503 

7400  und  7700.  *  Diesem  Fehler  oun  kann  abgeholfen  werden, 
wenn  im  Jahre  7700  die  Epacten  um  2  erhöht  werden,  denn 
dann  treten  die  Neumonde  um  2  statt  um  1  Tag  früher  ein. 
Clavius  verschiebt  diese  Operation  auf  das  Jahr  8200  aus  einem 
Grunde,  den  ich  nicht  anzugeben  vermag;  er  bringt  nämlich 
die  oben  angeführte  Rechnung  nicht,  sondern  sagt  nur,  er  habe, 
als  er  für  viele  Jahrtausende  die  mittleren  Neumonde  berech- 
nete, gefunden,  dass  von  diesem  Jahre  an  die  Epacten  Lilio's 
durchwegs  die  Neumonde  um  1  Tag  zu  spät  anzeigen,  und  er 
macht  die  Nachwelt  darauf  aufmerksam,  wie  für  den  Fall,  dass 
der  Prutenische  Ansatz  da  noch  anerkannt  sein  wird,  vom 
Jahre  8200  an  die  richtigen  Neumonde  gefunden  werden  können. 
Man  müsste  von  hier  an  zu  den  Epacten  Lilio's  1  hinzu- 
zählen und  vom  Jahre  14600  (8200  +  8200  —  1800)  2  und  so 
fort.  Damit  ist  natürlich  der  dreihunderttausendjährige  Cyclus 
fallen  gelassen.  Es  ist  übrigens  sehr  fraglich,  ob  dies  schon 
von  der  Commission  festgestellt  wurde,  denn  wie  gesagt,  findet 
sich  in  den  Canones  davon  keine  Silbe.  Es  ist  daher  nicht  un- 
wahrscheinlich, dass  erst  späterhin  Clavius  bei  seiner  Verthei- 
digung  des  Kalenders  auf  diesen  Gedanken  kam  und  ihn  be- 
rührte, um  zu  zeigen,  dass  er  und  seine  Collegen  den  Fehler 
nicht  übersehen,  sondern  ihn  wegen  seiner  Geringfügigkeit 
übergangen  hätten. 

IL    Die  Aufnahme  des  Kalenders  in  Deutschland  und  die 
Polemik  der  protestantischen  Theologen. 

So  leicht,  die  Einführung  des  Kalenders  in  Italien,  Spanien, 
Frankreich  und  Polen  von  statten  ging,  ebenso  grosse  Schwie- 
rigkeiten stellten  sich  derselben  in  Deutschland  entgegen.  Ob 
man  dies  in  Rom  ahnte,  ist  schwer  zu  sagen,  eine  katholische 
Stimme  —  Hugolinus  Martellus  —  haben  wir  wohl  die  Befürch- 
tung aussprechen  hören.  Auffallend  ist  es  immerhin,  dass  der 
Pabst  auf  dem  1582  zu  Augsburg  um  Kaiser  Rudolf  versam- 
melten Reichstage  den  Kalender  nicht  vorlegte.  Es  war  dies 
jedenfalls  sehr  gefehlt,  denn  man  hätte  manchen  Punkt  des  An- 
griffs den  Protestanten   von  vornherein   abgeschnitten,  und   bei 

'    Nach  Angaben   neuerer  Astronomen   wächst  der  Fehler  erst  nach   etwa 
21.000  Jahren  zu  1  Tag  au. 


504  Kalten  brnnnfr. 

der  Stirn muDg,  die  zu  Anfang  auch  unter  den  protestantischen 
Fürsten  gegen  den  Kalender  herrschte,  hätte  möglicherweise 
eine  Einigung  erzielt  werden  können.  Die  folgende  Darstellung 
wird  zeigen,  dass  erst,  als  die  Theologen  sich  des  Stoffes  be- 
mächtigten, die  Fürsten  davon  beeinflusst  dem  Reformwerke 
Widerstand  entgegensetzten.  Ideler  hat  behauptet,  dass  die  Curie 
zu  Augsburg  die  Sache  zur  Sprache  brachte,  und  dass  gleich  zu 
Anfang  der  ChurfUrst  von  Sachsen  und  Landgraf  Wilhelm  von 
Hessen  Opposition  gemacht  hätten.  Diese  Nachricht  findet  sich 
bereits  bei  Lundorp,  *  welcher  auch  eine  Exposition  der  Giünde 
gibt,  die  der  Churfurst  von  Sachsen  bei  seiner  Opposition  geltend 
machte.  Dennoch  halte  ich  die  Nachricht  für  falsch.  Die 
Reichstags-Verhandlungen  2  enthalten  auch  nicht  ein  Wort  dar- 
über, und  der  Abgesandte  des  Erzherzogs  Ferdinand  von  Tyrol, 
von  seinem  Herrn  beauftragt,  wohl  auf  die  Kalender -Verliand- 
lungen  zu  Augsburg  Acht  zu  haben,  berichtet  diesem,  dass  keine 
stattgefunden  hätten.  Auch  wäre  es  sehr  auffallend,  wenn  der 
Churfurst  von  Sachsen  in  dem  gleich  unten  zu  besprechenden 
Schreiben  an  den  Kaiser  nicht  auf  seine  zu  Augsburg  in  dessen 
Gegenwart  geäusserten  Bedenken  Bezug  genommen  hätte  Die 
Exposition  der  Gründe  des  Churfürsten  bei  I^undorp  hat  auf- 
fallende Aehnlichkeit  mit  eben  dem  Schreiben  desselben  an  den 
Kaiser  —  konnte  nicht  vielleicht  dasselbe  zu  einer  Flugschrift 
verarbeitet  und  als  Oppositionsmittel  verwendet  worden  sein? 
Freilich  konnte  in  derselben  nicht  gesagt  werden,  dass  diese 
Gründe  vom  Churfürsten  in  Augsburg  geltend  gemacht  wurden, 
denn  gerade  über  das  Schweigen  der  Curie  zu  Augsburg  vor 
den  Protestanten  beklagen  sich  dieselben.  So  würde  also  der 
Nachricht  Lundorp's  die  thatsächliche  Meinung  Sachsens  zu 
Grunde  liegen,  dagegen  die  Verlegung  ihrer  Aeusserung  nach 
Augsburg  ein  Fehler  dieses  Historikers  sein. 

Dagegen  wurde  vom  päbstlichen  Legaten,  dem  Cardinal 
von  Trient  Madrucius,  privatim  an  mehrere  katholische  Fürsten 
die  Mittheilung  gemacht,  ^  und  namentlich  auch  der  Kaiser  zur 

1  M.  C.  Lundorp.  Continuatio  Sleidani.  (1604—1619.)  T.  III.  a.  a.  1582. 

2  Mainzer   Erakanzler- Archiv.    Reichstag   1682.    4  Bände.    (Wiener  Haus-, 
Hof-  und  Staats-Archiv.) 

3  Das  erfahren  wir  z.  B.  aus  dem  später  noch  zu  erwähnenden  Briefe  de» 
Churfürsten  von  Mainz  an  den  Kaiser  vom  18. '28.  Jänner  1683. 


Die  Polemik  db<»r  die  Qregorinnlsrhe  Kalenderrefnrm.  50o 

schleunigen  Publicirung  des  Kalenders  im  Reiche  und  in  den  Erb- 
landen gedrängt.  Aber  schon  damals  erklärte  Rudolf  in  einem 
Schreiben  an  den  Cardinal-Legaten,  er  könne  da  nicht  allein 
entscheiden,  sondern  er  müsse  die  Sache  vor  die  Stände  des 
Reiches  bringen,  so  sehr  er  auch  für  seine  Person  die  Kalender- 
reform als  nützlich  und  nothwendig  erachte.*  Es  ist  selbst- 
verständlich, dass  in  Folge  dessen  der  Termin  der  Einführung 
am  5.  October  1582  nicht  eingehalten  werden  konnte.  Für  eine 
solche  Eventualität  hatte  man  übrigens  in  Rom  vorgesorgt,  denn 
am  Schlüsse  der  Canones  findet  sich  eine  Anleitung  für  die- 
jenigen, welche  erst  im  nächsten  oder  in  den  folgenden  Jahren 
den  Kalender  publiciren  werden.  Für  1583  wird  wieder  der 
5.  October  als  Termin  bezeichnet ;  davon  aber  ging  man  später 
ab,  indem  ein  päbstliches  Breve  vom  7.  Nov./28.  Oct.  1582 
anbefiehlt,  die  10  Tage  im  Februar  1583  auszulassen.  ^  Dies 
beim  Kaiser  durchzusetzen,  wurden  von  Rom  aus  grosse  An- 
strengungen gemacht;  der  Pabst  schrieb  deshalb  an  ihn,  und 
der  Nuntius  am  kaiserlichen  Hofe  bemühte  sich  durch  mehrere 
Eingaben  an  den  Kaiser  und  dessen  geheime  Räthe,  ihn  gefügig 
zu  machen.  In  diesen  Actenstücken  des  Nuntius  wird  bereits 
der  Fall  einer  möglichen  Opposition  der  Protestanten  besprochen. 
Der  Kaiser  wird  aber  daran  erinnert,  was  schlimmer  sei,  wenn 
in  Deutschland  einige  Ländchen  von  der  allgemeinen  Zeit- 
rechnung abweichen,  oder  wenn  der  Kaiser  mit  ganz  Deutsch- 
land sich  von  der  übrigen  christlichen  Welt  absondere.  Es  wird 
ihm  vorgestellt,  welch'  schwerer  Kummer  durch  dieses  sein 
Zögern  dem  Pabste  gemacht  werde,  denn  nimmer  hätte  dieser 
sich  träumen  lassen,  dass  der  Kaiser,  der  früher  seine  Bereit- 
willigkeit für  das  Reformwerk  so  unzweideutig  geäussert  habe, 

1  Dieser  Brief  de«  Kaisers  ist  datirt:  Aagsbnrg  20.  Sept.  1582.  Dass  trotz 
der  Anwesenheit  beider  Betheiligter  eine  schriftliche  Mittheilung  des  Kaisers 
erfolgte,  lässt  annehmen,  dass  derselbe  diese  als  officielles  Actensttick  für 
Rom  auffasste.  Der  Brief  findet  sich  in  Copie  im  lunsbrucker  Statthal- 
terei-Arehiv  als  Beilage  eines  kaiserlichen  Schreibens  an  Erzherzog  Fer- 
dinand. 

'  Domini  Gregorii  Papae  XIII.  Constitutio  super  observatione  Kalendarii 
nuper  editi  pro  iis,  qui  de  mense  Octobre  proximo  praeterito  illud  obser- 
varc  non  coeperunt  (gedruckt).  Vom  9.  Februar  sollte  auf  den  20.  über- 
gegangen werden.  Der  Grund  für  diese  Aenderung  ist  darin  zu  suchen, 
dass  man  für  \ii'<:i  eine  Differenz  in  der  Osterfeier  vermeiden  wollte. 


506  Kaltenbrnnner. 

nun  demselben  solche  Schwierigkeit  bereiten  werde.  *  Der  Kaiser 
befand  sich  in  einer  misslichen  Lage,  denn  einerseits  konnte 
es  ihm  nicht  gleichgültig  sein,  wenn  er  fortwährend  von  Rom 
gedrängt  und  an  sein  gegebenes  Wort  erinnert  wurde,  und 
andererseits  wurde  er  auch  von  Herzog  Wilhelm  von  Baiem 
und  den  Bischöfen  des  Salzburger  Sprengeis  getrieben.  Diese 
Heisssporne  dachten  gar  nicht  an  ihre  Mitstände  und  Nachbarn, 
sondern  Hessen  dem  Kaiser  durch  Herzog  Wilhelm  verkünden, 
dass  sie  fest  entschlossen  seien,  in  ihren  weltlichen  und  geist- 
lichen Gebieten  den  Kalender  im  Februar  1583  einzuführen. 
Dadurch  aber  waren  des  Kaisers  Erblande  direct  betroffen,  und 
es  war  zu  befürchten,  dass  nur  allzubald  Conflicte  zwischen 
weltlichen  und  geistlichen  Obrigkeiten  entstehen  würden,  wie 
dies  denn  auch  wirklich  im  nächsten  Jahre  in  den  vorder- 
österreichischen  Landen  geschah. 

Nichtsdestoweniger  ging  dem  Nuntius  am  20./30.  December 
von  der  Hof  kanzlei  der  Bescheid  zu,  dass  der  Kaiser  ohne  Zu- 
stimmung der  Churfürsten  nichts  vornehmen  wolle  und  könne, 
und  dass  er  auch  dem  Ansinnen  des  Pabstes,  wenigstens  in 
seinen  Erblanden  im  Februar  den  Kalender  einzufuhren,  nicht 
Folge  leisten  werde. 

Vom  selben  Tage  ist  nun  das  Rundschreiben  des  Kaisers 
an  die  Churfürsten  datirt.  Rudolf  meint  in  demselben,  die 
deutschen  Fürsten  sollten  den  Kalender  mit  Rücksicht  auf  den 
Verkehr  mit  den  Nachbarvölkern  und  auf  seine  mathematische 
Begründung  hin  annehmen.  Darauf  erfolgten  im  Laufe  des 
nächsten  Jahres  fünf  Antworten,  von  denen  jede  für  sich  charak- 
teristisch ist.  Zunächst  erklärt  Trier  seine  vollste  Ueberein- 
stimmung  und  drückt  die  Hoffnung  aus,  dass  alles  nach  Wunsch 
Sr.  Heiligkeit  in  Deutschland  gehen  werde.  Acht  Tage  darauf 
aber  betont  Mainz,  dass  unbedingt  einhellig  vorgegangen  werden 

'  Als  der  Kaiser  im  Jänner  1579  das  Gutachten  der  Wiener  Univ^ersitfit 
dem  Pabstc  überschickte,  schrieb  er  ihm  in  sehr  zuvorkommender  Weise 
und  schloss  mit  der  Versicherung,  dass  er  (iott  anflehe,  er  möge  die 
frommen  Bestrebungen  und  den  Eifer  des  Pabstes  in  dieser  Angelegenheit 
zu  einem  glücklichen  Abschluss  und  zum  Ruhm  der  ganzen  Christenheit 
gedeihen  lassen.  Ausser  dieser  ist  mir  keine  Kundgebung  Rudolph^s  dem 
Pabste  gegenüber  bekannt,  auf  die  sich  dor  Nuntius  an  dieser  ti teile  be- 
rufen könnte. 


Die  Poleraik  über  die  Gregorianische  Kalenüerreform.  IM)? 

müsste.  Der  Churfürst  schlägt  vor,  im  Falle^  das8  die  andern 
Churfürsten  sich  überhaupt  der  Sache  geneigt  zeigen,  eine  De- 
putation zusammenkommen  zu  lassen,  um  über  ein  einhelliges 
Vorgehen  zu  berathen;  im  andern  Fall  kann  er  dem  Kaiser 
nicht  rathen,  den  Kalender  zu  publieiren.  Am  bedeutsamsten 
ist  aber  ohne  Zweifel  die  Antwort  Brandenburg's ;  der  Churfürst 
erklärt  sich  vollständig  einverstanden,  wenn  der  Kaiser  den 
Kalender  publicire,  denn  dann  gehe  das  Werk  von  ihm  und 
nicht  vom  Pabste  aus.  Nur  meint  er,  dass  die  Frist  bis  zum 
Februar  etwas  kurz  sein  werde.  Wie  wenig  der  Churfürst  an 
einen  Widerstand  seitens  seiner  Qlaubensgenossen  dachte,  be- 
weist der  Umstand,  dass  er  schliesslich  dem  Kaiser  Rathschläge 
über  den  Modus  der  Publication  gibt ;  da  die  in  Rom  gedruckten 
Exemplare  des  Kalenders  nirgends  zu  bekommen  seien,  so 
empfiehlt  er,  der  Kaiser  solle  dieselben,  versehen  mit  einer  neuen 
zweckmässigen  Vorrede,  nachdrucken  und  jedem  der  Stände 
eins  oder  mehrere  Exemplare  zukommen  lassen.  Im  Gegensatz 
zu  dieser  zuvorkommenden  und  gewiss  vernünftigen  Haltung 
Brandenburg's  Hess  die  Antwort  des  Churfürsten  von  Sachsen 
bereits  ahnen,  dass  die  Sache  nicht  glatt  ablaufen  werde.  Es 
ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  dieselbe  mit  Zuziehung  eines 
Theologen  abgefasst  ist,  denn  sie  strotzt  von  Gelehrsamkeit. 
,Stet8  sei  es  Sache  der  Kaiser  gewesen,  die  Zeitrechnung  zu 
bestimmen ;  so  habe  Kaiser  Julius  (Caesar)  den  Kalender 
reformirt  und  Kaiser  Karl  neue  Monatsnamen  eingeführt; 
auch  zu  Nicaea  haben  die  Concilsväter  dem  Kaiser  Constantin 
nicht  vorgreifen  wollen,  denn  nur  dadurch  ist  es  zu  erklären, 
dass  sie  nicht  wieder  den  Kalender  auf  den  Stand  Christi 
zurückgeführt  haben;  sie  wollten  eben  die  fiüheren  Jahre  als 
kaiserliche  Einrichtungen  un verrückt  lassen,  und  nur  dem 
Befehle  Constantin's  gemäss  den  tobenden  Osterstreit  besei- 
tigen. Der  Pabst  habe  also  jetzt  durchaus  kein  Recht,  sich  auf 
dieses  Concil  zu  berufen,  denn  damals  und  auch  noch  bis  über 
das  Constanzer  Concil  hinaus  stand  der  Pabst  unter  den  ver- 
sammelten Vätern/  So  sehr  nun  auch  der  Churfürst  in  der 
Absicht  des  Kaisers  dessen  väterliche  Fürsorge  für  das  Reich 
erkennt,  so  kommt  ihm  dieselbe  doch  bedenklich  vor,  nicht  bloss 
wegen  der  grossen  Zerrüttung  in  kirchlichen  und  weltlichen 
Dingen,    sondern   auch,    weil   dadurch  leicht   dem    Pabste   ein 


508  Kftltenbrnnner. 

Eingriff  in  die  Rechte  und  die  Ehre  des  Reiches  gestattet  werden 
könnte.  Indem  er  der  Leiden  gedenkt,  die  das  deutsche  Vater- 
land durch  die  Päbste  schon  erlitten,  kann  er  nicht  rathen,  auf 
des  Pabstes  Befehl  hin  den  Kalender  zu  publiciren.  Jedoch  will 
er  nicht  absolut  dagegen  sein  und  beantragt  daher,  die  An- 
gelegenheit von  einem  Deputationstage  berathen  zu  lassen,  aber 
in  keinem  Falle  dürfe  Rom  irgend  eine  Jurisdiction  und  Herr- 
schaft über  das  Reich  eingeräumt  werden. 

Auf  den  Vorschlag  Sachsens  und  Mainz's,  die  Kalender- 
frage einem  Deputationstage  zur  Berathung  vorzulegen,  ging 
der  Kaiser  nicht  ein,  er  Hess  sich  offenbar  lieber  durch  die 
zwei  anderen  Antworten  beeinflussen,  und  so  schrieb  er  am 
25.  März/4.  April  an  Sachsen,  er  hätte  sich  entschlossen,  den 
Kalender  in  Reich  und  Erblanden  im  kommenden  October  zu 
publiciren,  verspricht  aber,  dass  sicherlich  dabei  der  Würde 
des  Reiches  nichts  werde  vergeben  werden.  Dies  befriedigte 
jedoch  keineswegs  den  Churfürsten,  denn  in  einem  zweiten 
Schreiben  vom  26.  April/6.  Mai  schlägt  er  einen  entschiedeneren 
Ton  an.  Es  stehe  ihm  zu,  seine  Bedenken  wegen  der  Publi- 
cation  im  Reiche  auszusprechen,  wenn  er  auch  nicht  berufen 
sei,  irgend  eine  Handlung  des  Kaisers  in  dessen  Erblanden  zu 
beurtheilen.  Er  habe  nun  in  Erfahrung  gebracht,  dass  der  Pabst 
nicht  nur  nicht  die  Haltung  des  Kalenders  ,mandire',  sondern 
auch  sich  ungescheut  rühme,  dass  diese  Reform  vom  Triden- 
tiner  Concil  als  Reservat  des  päbstlichen  Stuhls  erklärt  worden 
sei.  Der  Kaiser  wisse,  was  die  Evangelischen  gegen  dieses 
Concil  eingewendet  haben ;  da  nun  der  Pabst  den  Kalender  als 
ein  Werk  desselben  ausgibt,  so  werde  den  Evangelischen  nichts 
anderes  übrig  bleiben,  als  die  Annahme  desselben  zu  ver- 
weigern. Sollte  aber  der  Kaiser  trotz  dieser  Erklärung  den 
Kalender  im  Reiche  publiciren,  so  werde  er  für  seine  Person 
dem  nicht  Folge  leisten  können,  ehe  er  sich  nicht  mit  den  seiner 
Confession  zugethanen  Ständen  verglichen  haben  wird.  Dies  ist 
schon  ziemlich  deutlich  gesprochen,  doch  immerhin  Hess  diese 
Erklärung  noch  Hoffnung  auf  ein  Einverständniss  zu.  Ganz 
kurz  und  schroff  abweisend  dagegen  ist  die  fünfte  Antwort,  die 
erst  am  3./13.  September  vom  Churfürsten  Von  der  Pfalz  er- 
folgte. Diese  Meinungsäusserung  ist  bereits  direct  beeinflusst 
durch  das  Gutachten  eines  deutschen  Gelehrten  —  des  Michael 


t)ie  Polemik  fiber  die  Gregorianische  Kalenderrefonn.  509 

Maestlin.  —  Ehe  ich  jedoch  diese  und  die  ihr  verwandten  Streit- 
schriften bespreche^  will  ich  noch  kurz  das  weitere  Verhalten 
des  Kaisers  bis  zur  definitiven  Entscheidung  darstellen. 

Der  Februar-Termin  war  natürlich  wieder  verstrichen  und 
schon  im  zweiten  Schreiben  an  den  Churfürsten  von  Sachsen 
hatte  der  Kaiser  den  October  als  solchen  bezeichnet.  Bei  diesem 
Beschlüsse  beharrte  er  denn  auch  trotz  der  ablehnenden  Haltung 
Sachsen's.  Die  Verhältnisse  drängten  eben  zu  einer  definitiven 
Entscheidung;  vom  Pabste  erhielt  Rudolf  geradezu  eine  Rüge 
über  sein  zögerndes  Verhalten^  und  da  mehrere  Bischöfe^  deren 
Sprengel  in  die  österreichischen  Erblande  hineinreichten,  den 
Kalender  im  Februar  eingeführt  hatten,  so  drohten  ernsthafte 
Verwicklungen.  In  Ober-  und  Niederösterreich  wusste  allerdings 
Erzherzog  Ernst  Ordnung  zu  halten,  indem  er  den  Bischof  von 
Passau  zwang,  die  Publication  in  seinen  österreichischen  Pfar- 
reien wieder  rückgängig  zu  machen;  um  so  mehr  hatte  Erz- 
herzog Ferdinand  in  Tirol  zu  leiden,  zu  dessen  Gebiet  die 
Sprengel  von  Trient  und  Augsburg  gehörten,^  namentlich  von 
den  Amtleuten  Südtirols  lief  Klage  auf  Klage  über  das  liick- 
sichtslose  Vorgehen  des  Cardinal  Madrucius  ein.  Ferdinand 
drängte  daher  fortwährend  zuletzt  schon  durch  eigene  Couriere 
den  Kaiser,  eine  Entscheidung  zu  treffen.  In  der  kaiserlichen 
Kanzlei  war  man  nun  bemüht,  für  die  Publication  eine  Form 
zu  finden,  die  nach  dem  Wunsche  des  Churfürsten  von  Sachsen 
die  Ehre  des  Reiches  nicht  verletzen  konnte.  Auf  Befehl  des 
Kaisers  erstatteten  die  beiden  Geheimen  Räthe  Harrach  und 
Viehäuser  über  den  Modus  des  Ausschreibens  an  die  Stände 
ihr  Gutachten.  Der  erstere  meint,  es  solle  die  Publication  in 
der  Weise  verfasst  werden,  wie  es  die  Curie  wünschte,  jedoch 
im  Namen  des  Kaisers  und  mit  Hinweglassung  des  Namens 
des  Pabstes  und  alles  dessen,  was  in  der  Sache  mit  Rom  ver- 
handelt worden  ist.  Der  in  diesem  Sinne  abgefasste  Entwurf 
sollte  aber  nochmals  den  Churfürsten  zur  Begutachtung  vor- 
gelegt werden,  und  wenn  sich  die  Mehrzahl  günstig  dafür  aus- 
spreche, könne  Se.  Majestät  die  Publicirung  getrost  vornehmen. 
Es  wurde  auch  die  Frage  aufgeworfen,  ob  nicht  das  Ausschreiben 


*  Salzburg  und  Brixen  hatten  dagegen  auf  Ansuchen  Ferdinands  die  Publi- 
cation bis  October  verschoben. 


510  KdltPTibrnnnpr. 

in  doppelter  Weise  vorgenommen  werden  sollte,  für  die  katho- 
lischen Stände  in  Mandaten  mit  Anführung  des  päbstlichen 
Willens,  für  die  evangelischen  in  literae  clausae  ohne  diese 
Beigabe.  Viehäuser  bespricht  in  seinem  Gutachten  ausfuhrlich 
diesen  Punkt  und  meint,  es  solle  durchweg  die  Publication  in 
literae  clausae  ohne  Nennung  des  päbstlichen  Namens  geschehen. 
Denn  für  den  Fall  mancher  Weigerung  würde  so  der  kaiser- 
lichen Reputation  weniger  geschadet,  und  dann  besitze  ja  der 
Kaiser  allen  Ständen  gegenüber  gleiche  Autorität,  die'  durch 
päbstliche  Einäussnahme  auch  gegenüber  den  katholischen  nicht 
geschädigt  werden  solle.  Viehäuser's  Ansicht  drang  auch  durch, 
denn  ganz  in  seinem  Sinne  wurde  das  kaiserliche  Rundschreiben 
vom  4./14.  September  abgefasst.  Vom  Pabste  ist  darin  mit  keinem 
Worte  die  Rede,  sondern  die  Eingangsworte  lauten  folgender- 
massen:  ,Derwegen  denn  unlängst  nit  allein  mit  unserm  vor- 
wissen, sondern  auch  nit  weniger  auf  etlicher  unserer  als  an- 
derer christlichen  Potentaten  und  Herrschaften  fiirnemer  Mathe- 
maticorum  vleissiges  nachdenkhen  vnd  gutachten  ein  Neues 
Calendarium  verfasset  vnd  angerichtet  ist  worden*.  Und  nun 
wird  der  Stellung  Deutschlands  inmitten  der  anderen  Reiche 
gedacht,  aus  welcher  sich  mit  Nothwendigkeit  ergibt,  dass  es 
Uniformität  in  der  Zeitrechnung  wegen  Handel  und  Verkehr 
haben  müsse.  Demgemäss  wird  auch  die  kirchliche  Seite  der 
Reform  —  Osterfeier  und  Heiligenfeste  —  vollständig  ausser 
Acht  gelassen;  kurz  der  Wortlaut  ist  so  gehalten,  dass  auch 
der  vorsichtigste  Protestant  an  ihm  keinen  E^ehl  hätte  finden 
können. 

Wir  sind  nun  beim  entscheidenden  Schritte  des  Kaisers 
angelangt,  aber  zugleich  auch  bei  einem  Wendepunkt  seines 
Verhaltens.  Man  wird  seinem  bisherigen  Vorgehen  nicht  ab- 
sprechen können,  dass  es  sicher  und  correct  gewesen  sei,  von 
nun  an  kann  man  dies  nicht  mehr  behaupten.  Das  Rund- 
schreiben gelangte  an  die  Churfürsten,  die  vornehmsten  geist- 
lichen und  weltlichen  Grossen  und  an  mehrere  Städte  zur  Ver- 
sendung, theilweise  aber  so  spät,  dass  manche  es  erst  nach 
dem  5.  October  —  dem  Termin  der  Einführung  —  erhielten.' 


^  So   erhielt   selbst  M&inz   das   Rundschreibeo    so   spät,    dass   dort  erst  im 
November  der  Kalender  eingeführt  werden  konnte. 


f>ie  Polemik  ftb«r  die  Oregoriftnische  Kftlenderreform.  511 

Dann  aber  wurde  die  Verschickung  plötzlich  suspendirt  und  die 
bereits  mit  UnterBchrift  und  AdresBe  verBehenen  Exemplare  blieben 
in  der  kaiserlichen  Kanzlei  liegen.  VerhältnisBe  in  den  Erblanden 
waren  die  Veranlassung  zu  diesem  auffallenden  Verbalten. 

In  Ober-  und  Niederösterreich  glaubte  man  ohne  Zu- 
stimmung der  Stände  vorgehen  zu  können^  obwohl  man  auch 
hier  es  ftir  gut  befand,  mit  äusserster  Vorsicht,  ja  mit  List  die 
Publication  vorzunehmen.  ^  In  Böhmen  aber  verhandelte  man 
mit  den  Ständen;  es  fehlte  nicht  an  Widerstand  in  Prag;  so 
verweigerten  die  dortigen  Mathematiker  dem  Erzbischof  ent- 
schieden jede  Mithülfe,  als  er  ein  Kalenderfragment  und  die 
Aenderung  des  Festkalenders  zum  Drucke  vorbereitete.  Auch 
die  Stände  waren  schwierig  und  erst  nach  mehrfachen  Bedenken 
gaben  sie  im  November  ihre  Einwilligung.  Als  man  in  der  kaiser- 
lichen Kanzlei  im  September  mit  der  Verschickung  des  Rund- 
schreibens begann,  glaubte  man  wohl,  dass  diese  Zustimmung 
früher  erfolgen  werde ;  als  keine  Aussicht  mehr  dazu  vorhanden 
war,  sistirte  man  die  weitere  Versendung.  Nun  sollte  man  meinen, 
dass  der  Kaiser,  welcher  gerade  auch  in  dem  Rundschreiben 
die   Nothwendigkeit   eines   einhelligen   Vorgehens    betont,    die 

^  In  Oberösterreich  wurden  die  Stände  geradezu  überrumpelt.  Obwohl  das 
Kalenderpatent  für  Ober-  und  Niederösterreich  vom  l./ll.  Oetober  datirt 
ist,  so  wurde  doch  erst  am  *20.  Oetober  alten  Styls  dasselbe  vom  Landes- 
hauptmann den  gerade  versammelten  Ständen  übermittelt  und  noch  am 
selben  Tage  die  Poblication  von  den  Kanzeln  anbefohlen.  Trotzdem  also 
der  Einführungstermin  bereits  verstrichen  war,  sollte  doch  die  Auslassung 
der  10  Tage  gelten,  und  der  Landeshauptmann  führte  dies  gleich  praktisch 
durch,  indem  sein  diesbezügliches  Patent  vom  Vortage,  d.  i.  dem  19.  Oetober 
vom  29.  Oetober  neuen  Styls  datirt  ist.  Es  ist  dieses  auffallende  Benehmen 
wohl  nicht  anders  zu  erklären,  als  dass  man  jeder  Opposition  das  Wort 
abschneiden  wollte;  und  in  der  That  gluckte  es.  Am  nächsten  Tage  be- 
antworteten die  oberösterreichischen  Stände  eine  Anfrage  ihrer  steirischen 
GoUegen,  wie  sie  sich  dem  neuen  Kalender  gegenüber  verhalten  werden. 
Obwohl  sie  ihre  Verwunderung  über  das  rasche  Vorgehen  des  Landes- 
hauptmanns nicht  verbergen,  so  erklären  sie  doch,  sie  wollten  sich  in 
dieser  Sache  als  getreue  Unterthanen  erweisen,  da  sie  nicht  ex  auctoritat« 
papali  —  welche  ihnen  hier  zu  Lande  nichts  zu  gebieten  habe  —  sondern 
aus  Reichs-  und  Landesfiirstlicher  Macht  und  Gewalt  vorgenommen  worden 
sei,  und  da  sie  ad  politicam  und  nicht  per  se  ad  religionem  gehörig  sei. 
(Linzer  Landes-Archiv.  Annalen.  Vol.  XVI.  fol.  273  u.  f.)  Dieses  Vor- 
gehen der  oberösterreichischen  Stände,  die  sonst  wegen  ihrer  Sanftmuth 
eben  nicht  berühmt  sind,  ist  gewiss  sehr  merkwürdig. 


512  K  alteobrunner. 

Publication  bei  den  bereits  benachrichtigten  Ständen  rückgängig 
machte.  Dies  aber  geschah  nicht,  selbst  nicht  in  Nieder-  und 
Oberösterreich,  wo  das  Patent  vom  l./ll,  October  in  Kraft 
bestehen  blieb,  wenn  es  auch,  wie  aus  mehreren  Briefen  des 
Erzherzogs  Ernst  hervorgeht,  durchaus  nicht  allgemein  befolgt 
wurde.  Der  Stein  des  Anstosses  war  jetzt  durch  die  Erklärung 
der  böhmischen  Stände  beseitigt,  und  nun  verfasste  man  in  der 
kaiserlichen  Kanzlei  ein  zweites  Schreiben,  (d.  d.  18./28.  Dec), 
worin  neben  Angabe  des  Qrundes  der  Verzögerung  die  Aus- 
lassung der  10  Tage  vom  7.  zum  17.  Jänner  1584  anbefohlen 
wird.  Aber  auch  dieses  blieb  in  zahlreichen  adressirten  Exem- 
plaren liegen,  während  es  andererseits  an  viele  Stände  verschickt 
wurde.  Vielleicht  hatte  man  inzwischen  eingesehen,  dass  von 
den  Evangelischen  keine  Willfährigkeit  mehr  zu  erwarten  sei, 
und  in  der  That  weisen  die  Adressen  meist  auf  protestantische 
Gebiete  hin.  Denn  in  den  drei  Monaten,  die  zwischen  den  beiden 
Ausschreibungen  liegen,  konnte  man  ja  die  Wirkungen  des 
ersten  beobachten,  und  diese  waren  wahrlich  traurig  genug.  Den 
beiden  Vettern  des  Kaisers  in  Graz  und  Innsbruck  erwuchsen 
aus  der  Publication  des  Kalenders,  die  sie  im  October  vor- 
genommen hatten,  keine  frohen  Stunden.  Karl  hatte  die  heftig- 
sten Kämpfe  mit  seinen  Ständen  durchzufechten  ^  und  Ferdi- 
nand entstanden  wie  früher  aus  dem  neuen,  nun  aus  dem  alten 
Kalender  Schwierigkeiten  in  seinen  Vorlanden,  namentlich  gab 
es  arge  Streitigkeiten  in  Hagenau  und  Lindau. 

In  Ober-  und  Niederösterreich,  wo  man  auf  keinen 
offenen  Widerstand  stiess,  war  man  doch  so  flau  in  der 
Haltung  des  Gebotes,  dass  es  eines  neuerlichen  Patentes  (vom 
20./10.  Jänner  1584)  bedurfte.  Noch  viel  schlimmer  sah  es  im 
Reiche  aus.  So  war  es  in  Augsburg  zu  getilhrlichen  Händeln 
zwischen  dem  Käthe  und  der  evangelischen  Bürgerschaft  gekom- 
men,   die   den  Kaiser   schliesslich  zum  Einschreiten  zwangen.^ 


*  Vgl.  ZahD,  Der  Kaleuderstreit  in  Steiermark.  (Mittheilungen  des  histVer. 
f.  Steiermark.  1864.) 

2  Die  ausführlichste  auf  Acteu  des  Augsburger  Stadt-Archivs  beruhende 
Erzählung  des  Angsburger  Kaleuderstreites  findet  sich  in  Paul  von  Stetten's 
Geschichte  der  Stadt  Augsburg  (Frankf:  und  Leipz.  1743.  Tom  1.)  Ich 
behalte  mir  vor,   eine  Darstellung  dieser  für  das  damalige  Städteleben 


Die  Polemik  über  die  Gregoriftnische  Kaleuderreform.  513 

Zudem  liefen  von  einzelnen  Reichsständen  Antworten  auf  das 
Randschreiben  ein,  die  wenig  Tröstliches  meldeten.  Wohl  zeigten 
Mainz  und  Trier  an,  dass  sie  den  Kalender  publicirt  hätten, 
aber  der  Bischof  von  Speier  zum  Beispiele  erklärt,  zu  seinem 
grössten  Bedauern  verhindert  zu  sein,  dem  Befehle  des  Kaisers 
nachzukommen,  denn  er  sei  des  Friedens  willen  gezwungen,  auf 
seine  Kachbarn  Rücksicht  zu  nehmen,  und  in  ganz  gleichem 
Sinne  antworteten  die  Städte  Regensburg,  Nürnberg  und  Strass- 
burg.  Von  den  protestantischen  Fürsten  aber  gelangte  gar  keine 
Antwort  mehr  an  den  Kaiser  —  auch  nicht  von  Brandenburg  —  ; 
die  Verhetzung  der  Theologen  trug  bereits  ihre  Früchte. 

Air  diese  Dinge  machten  dem  Kaiser  schwere  Sorgen, 
und  er  wandte  sich  daher  an  die  Erzherzoge  Ferdinand  und 
Ernst  um  Rath.  Während  der  erstere  keinen  zu  geben  weiss, 
fuhrt  Ernst  in  einem  weitläufigen  und  sehr  merkwürdigen 
Schreiben  aus,  dass  es  seiner  Ansicht  nach  das  beste  wäre, 
wenn  der  Kaiser  die  Publication  des  Kalenders  wieder  rück« 
gängig  machte.  Man  hätte  zwischen  zwei  Uebeln  zu  wählen; 
die  Protestanten  haben  sich  einmal  verbunden  ,  den  neuen 
Kalender  nicht  anzunehmen  und  sie  werden,  einmal  im  gemein- 
samen Handeln  begriffen,  noch  andere  Schritte  unternehmen, 
die  für  den  ohnehin  so  hart  bedrängten  Katholicismus  höchst 
gefahrlich  werden  können.  Ernst  spricht  geradezu  die  Befürch- 
tung aus,  dass  es  den  Protestanten  beim  Kalenderhandel  nur 
um  einen  Anfang  zu  thun  sei  und  dass  sie  weitere  gefahr- 
lichere Angriffe  gegen  die  Katholischen  im  Schilde  führen. 
Auf  der  anderen  Seite  kann  man  sich  nicht  verhehlen,  dass  — 
sollte  der  Kaiser  die  Publication  zurücknehmen  —  den  Prote- 
stanten dies  als  grosser  Sieg  erscheinen  müsste,  der  sie  —  die 
ohnehin  schon  die  Stärkeren  sind  —  leicht  verleiten  könnte, 
nun  mit  grösserer  Hartnäckigkeit  ihre  Ziele  zu  verfolgen.  In 
Hinblick  auf  die  Türkennoth  räth  aber  Ernst,  doch  nachzugeben, 
da  ohne  Reichshülfe  gegen  den  Erbfeind  nichts  auszurichten 
wäre,  geschweige  denn,  dass  man  innere  Streitigkeiten  im 
Kücken  habend,  die  Reichsgrenzen  vertheidigen  könnte.  Diesen 
Rath   nun   befolgte  der  Kaiser   wohl   nicht,    sondern   er    datirt 


interessanten  Händel,   für  welche  sich  umfangreiches  Material  im  Wiener 
Haus-,  Hof-  und  Staats-Archiv  findet,  zu  geben. 
SiUongiiber.  d.  phiL-hist.  Cl.  LXIXVII.  Bd.  I.  Hft.  33 


514  Kaltenbrnnner. 

seine  Briefe  vom  7./17.  Jänner  1584  an  nach  neuem  Styl;  aber 
er  that  auch  fernerhin  nichts  mehr  in  dieser  Frage  bis  zum 
Jahre  1603,  wo  Erzherzog  Mathias  am  Reichstage  zu  Regens- 
bürg  in  seinem  Aufti-age  die  Stände  zu  einer  Vergleichung 
aufforderte.  Die  Delegirten  der  protestantischen  Stände  aber 
erklärten^  hiefür  keine  Instructionen  zu  besitzen^  ^  und  so  blieb 
die  Sache  beim  Alten  bis  zum  Jahre  1699,  wo  wenigstens  eine 
theilweise  Einigung  erzielt  wurde.  ^ 

Ich  habe  bei  der  Darstellung  der  Schicksale  des  Kalenders 
vor  dem  Forum  der  Reichsfürsten  mehrmals  des  Einflusses  zu 
erwähnen  gehabt,  den  Schriften  von  protestantischen  Gelehrten 
auf  ihre  Entschliessungen  ausübten.  Ich  gehe  nun  zur  Bespre- 
chung derselben  über.  Den  Retgen  eröffnet  jenes  Gutachten, 
auf  das  sich  der  Pfalzgraf  bei  Rhein  dem  Kaiser  gegenüber 
beruft,  und  das  in  seinem  Auftrage  von  dem  Professor  der 
Mathematik  in  Heidelberg  —  Michael  Maestlin  —  ab- 
gefasst  ist. 

Maestlin  theilt  seine  Arbeit,'  abgesehen  von  der  lang- 
athmigen  Einleitung  in  drei  Theile.  Im  ersten  handelt  er  über 
die  Nothwendigkeit  der  Reform;  es  klingt  nun  in  dem  Munde 
eines  Astronomen  —  Maestlin  ist  der  Lehrer  Kepler's  —  der 
zudem  sich  über  die  Bestrebungen  der  früheren  Jahrhunderte 
nach  Kalenderreform  sehr  gut  unterrichtet  erweist,  befremdlich, 
wenn  er  deren  Berechtigung  und  Nothwendigkeit  überhaupt 
bestreitet.     Für   den  ,6emeinen  Mann^  und    den  Gelehrten  sei 

^  Die  Reicbstags-Aeten  des  Jahres  1603  aus  dem  Chnr-Mainzischen  Archir, 
denen  ich  diese  Notiz  entnehme,  befinden  sich  merkwürdiger  Weise  im 
Linzer  Landes-Archive. 

^  Ueber  die  weiteren  Schicksale  des  Kalenders  im  17.  und  18.  Jahrhunderte 
hat  Piper  in  der  Geschichte  des  Osterfestes  nach  der  Gregorianischen 
Kalenderreform  gehandelt. 

3  Die  Schrift  führt  den  Titel:  Ausführlicher  Bericht  von  dem  allgemynen 
Kalender  oder  Jahrrechnung  wie  sie  erstlich  angestellt  worden  und  was 
Irthumb  allgem&chlich  drjn  seycn  eingeschlichen;  item  ob  und  wie  die- 
selbige  zu  verbessern  weren ;  sampt  Erkl&rung  der  newlichen  aussgegmn- 
genen  Reformation  von  Bapst  Gregorio  XIII.  und  was  davon  zu  halten 
aej.  —  Zuerst  gedruckt  1583  von  Jakob  Müller  zu  Heidelberg;  dann 
wiederholt  in  einem  bei  Johann  Spies  in  Heidelberg  1584  gedruckten 
Buche,  das  ausserdem  noch  andere  derartige  Gutachten  von  protesten- 
tischen  Gelehrten  enthält.  Ich  citire  dasselbe  im  folgenden  als  »Heidel- 
berger  Sammelbaud^ 


Die  Polemik  fiber  die  Gregorianische  KAlenderreform.  515 

sie  überflüsBig,  denn  man  habe  sich  bisher  ganz  gut  mit  dem 
fehlerhaften  Kalender  beholfen,  durch  einen  neuen  könne 
höchstens  Zwietracht  entstehen.  Für  den  Gottesdienst  aber  habe 
überhaupt  die  Zeitrechnung  keine  Bedeutung,  denn  die  Oster- 
regel  sei  kein  Glaubensartikel  und  die  unbeweglichen  Feste 
stehen  in  keinem  Zusammenhang  mit  den  Erscheinungen  des 
SonnenjahreS;  in  die  man  sie  in  den  ersten  christlichen  Zeiten 
gebracht  hat.  Alle  diese  Bedenken  aber  werden  dadurch  erhöht^ 
dass  es  sich  gar  nicht  mehr  lohnt,  für  die  kurze  Zeit,  welche 
die  Welt  noch  bestehen  wird,  Unordnung  und  Zerrüttung  durch 
Äenderung  der  Zeitrechnung  herbeizuführen ;  denn  sicher  rücke 
das  Ende  der  Welt  nahe  heran.  ^  Die  Tendenz  der  Schrift, 
welche  schon  in  diesem  Abschnitte  hervorleuchtet,  zeigt  sich 
nun  deutlich  im  zweiten  Theile,  in  welchem  Maestlin  unter- 
sucht, was  denn  von  der  Reform  Gregor  XIII.  zu  halten  sei. 
Er  spricht  dem  Pabste  das  Recht  zur  Reform  direct  ab,  und 
übt  an  dem  Vorgehen  Gregor's  die  härteste  Kritik.  Die  Kalender- 
reform sei  kein  politisch,  sondern  ein  kirchlich  Ding;  wenig- 
stens fasse  man  sie  in  Rom  so  auf;  dies  zeige  die  fortwährende 
Berufung  auf  das  Concil  von  Nicaea  und  die  Worte  des  Pabstes 
in  der  Bulle  ,Inter  Gravissimas'.  Es  gilt  daher  für  die  Prote- 
stanten ihre  evangelische  Freiheit,  die  ihnen  durch  geheiligte 
Verträge  gewährleistet  ist,  zu  wahren;  denn  indem  der  Pabst 
den  neuen  Kalender  ,mandire',  greife  er  ein  in  das  kirchliche 
und  politische  Leben  der  Nation.  Im  Besonderen  tadelt  Maestlin^ 
dass  Gregor  dabei  auf  die  Evangelischen  keine  Rücksicht  ge- 


*  Der  Glanbe  an  den  nahen  Weltuntergang  spukte  in  der  Keformationa- 
zeit  gewaltig.  Nachdem  der  von  Joh.  Stoff  1er  aus  astrologischen  Gründen 
vorhergesagte  Weltkrach  im  Jahre  1524  nicht  eingetreten  war,  (vgl.Vorgesch. 
d.  Greg.  Kal.-Ref.  p.  390)  übernahmen  die  Historiker  das  Geschäft  der 
Ung^lücksraben.  Sleidanus  (De  quatuor  summis  imperiis  libri  tres  Lib.  III.) 
und  Melauchton-Peuccr  (Chronicon  Carionis.  Ep.  dedicat.)  benützten  die 
Prophetien  DaniePs  für  ihre  geschichtsphilosophischen  Drechseleien,  indem 
sie  die  Weltgeschichte  in  ,periodi  universales*  zu  je  oOO  Jahren  (70  pro- 
phetische Wochen.  1  Wochentag  —  1  gemeinen  Jahr)  theilten.  Ging  die 
Rechnung  nicht  zusammen,  so  musste  der  Zorn  Gottes  über  das  sündige 
Treiben  der  Menschen  die  Periode  abkürzen.  Wenn  nun  gar  der  Anti- 
chriat  dazukam,  der  ja  zweifellos  in  Born  sein  Unwesen  trieb,  so  war  der 
Weltuntergang  jetzt,  wo  wieder  eine  solche  Periode  im  Ablaufen  war, 
ganz  sicher  zu  erwarten. 

33* 


516  KaU«nbiiiniier. 

nommen  habe  und  hebt  im  Gegensätze  hierzu  das  Vorgehen 
Leo  X.  rühmend  hervor,  der  von  allen  Universitäten  Gutachten 
eingefordert  und  ausserdem  die  Hülfe  der  weltlichen  Macht  von 
Anbeginn  an  in  Anspruch  genommen  habe.'  Maestlin  macht 
ferner  darauf  aufmerksam,  dass  der  Pabst  zu  Augsburg  den 
versammelten  Ständen  seinen  Plan  verschwiegen  habe,  ferner 
dass  er  ohne  über  das  Reformwerk  eine  ausführliche  Begrün- 
dung zu  geben,  die  Haltung  des  neuen  Kalenders  anbefehle, 
und  zwar  binnen  sehr  kurzgestellter  Fristen.  Maestlin  glaubt  den 
Grund  zu  diesem  Vorgehen  darin  suchen  zu  müssen,  dass  der 
Pabst  eine  gründliche  Prüfung  seines  Werkes  durch  Gelehrte 
scheute  und  andererseits  der  Meinung  war,  dass  nach  Annahme 
des  Kalenders  auch  im  Falle,  dass  die  Fehler  desselben  erkannt 
würden,  derselbe  doch  von  Niemand  mehr  abgestellt  werden 
würde.  Der  Pabst  habe  die  Evangelischen  von  Anfang  an  igno- 
rirt,  aber  er  wusste  recht  gut,  dass,  wenn  die  Katholiken  den 
Kalender  annehmen  werden,  entweder  die  Protestanten  ihnen 
nachfolgen  und  damit  selbst  ihre  evangelische  Freiheit  schädigen 
müssten,  oder  dass  in  Folge  der  Weigerung  derselben  steter 
Hader  zwischen  den  beiden  Religion Bparteien  in  Deutschland 
entstehen  werde,  was  ja  auch  für  die  geheimen  Pläne  des  Pabst- 
thums  recht  gut  passt.  Im  dritten  Theile  geht  nun  Maestlin  auf 
eine  sachliche  Kritik  des  neuen  Kalenders  ein,  für  den  Fall, 
dass  wirklich  so  allgemein,  wie  behauptet  wird,  eine  Reform 
des  alten  gewünscht  werde.  Hiebei  machen  sich  mehrere  prin- 
cipiello  Gegensätze  zu  demselben  bemerkbar.  Der  eine  betrifft 
die  Frage  des  Osterfestes,  die  ja  den  Angelpunkt  des  alten  und 
neuen  Kalenders  bildet.  Maestlin  ist  oflfenbar  durch  Luthers 
Schrift  ,Von  den  Concilien'^  beeinflusst,  wenn  er  für  die  Fixirung 
des  Osterfestes  an  einem  bestimmten  Tage  plaidirt ;  er  geht  aber 
noch  einen  Schritt  weiter,  wenn  er  den  Satz  aufstellt,  die  kirch- 
lichen Gebräuche  müssen  sich  nach  den  Einrichtungen  des  bürger- 
lichen Jahres  richten  und  nicht  umgekehrt.  Soll  das  Sonnenjahr 
wirklich  corrigirt  werden,  so  hat  es  keinen  Sinn,  den  Stand  des 

^  Leo*X.  brachte  die  Kalenderreform  auf  dem  Lateranensischen  Coucil  zur 
VerhandluDg,  und  forderte  durch  Kaiser  MaximiUan  Gutachten  von  den 
deutschen  Universitäten.  (Vgl.  die  Vorgeschichte  der  Gregorianischen 
Kalenderreform  p.  385  u.  ff.) 

2  Lutheri  Opera  edd.  Walch.  Th.  XII.  p.  'J676  u.  ff. 


Die  Polemik  Ober  <Iie  Or<»sorianisc1ie  Kalenderreform.  517 

Nicaenisclien  ConcilB  herzustellen,  denn  Christus  gelte  doch  mehr 
als  dasselbe.  Hier  zeige  sich  so  recht  die  Wahrheit  der  früheren 
Behauptung,  dass  es  dem  Pabste  nur  um  das  Brevier  und  Missal 
und  um  seine  Herrschaft,  nicht  aber  um  die  allgemeine  Wohl- 
fahrt zu  thun  sei.  Müssen  nun  wirklich  Tage  ausgelassen  werden, 
so  möge  man  doch  bis  IßOO  warten,  denn  bis  dahin  könne 
Nutzen  und  Bedeutung  der  Reform  der  heranwachsenden  Gene- 
ration deutlich  gemacht  werden,  während  die  alten  Leute,  die 
sich  schwer  in  neue  Verhältnisse  fügen  können,  grösstentheils 
abgestorben  sein  werden;  auch  könnten  die  Ästronomen  bis 
dahin  der  Aenderung  in  ihren  Tafeln  Rechnung  tragen,  zumal 
da  mit  1600  die  meisten  Ephemeriden  ablaufen.  In  Bezug  auf 
den  Epactencyclns  muss  Maestlin  eingestehen,  dass  sein  Autor 
,viele  subtile  Kunst'  angewendet  habe.  Ob  dies  aber  nützlich 
und  nothwendig  sei,  möge  man  daraus  entnehmen,  dass  diese 
Subtilitäten  meist  ihren  Nutzen  viele  hundert  Jahre  nach  dem 
jüngsten  Tage  haben  werden.  Maestlin  fragt,  ob  also  Gott,  die 
Engel  und  wir  in  der  ewigen  Herrlichkeit  auch  diesen  Kalender 
werden  gebrauchen  müssen?  Ueberhaupt  fällt  es  ihm  auf, 
dass  in  den  Schriftstücken  des  Pabstes  niemals  vom  jüngsten 
Tage  die  Rede  ist,  und  er  meint  daraus  und  aus  dem  Ausdruck 
,Ka]endarium  perpetuum'  den  Schluss  ziehen  zu  dürfen,  dass 
der  Pabst  und  seine  Anhänger  überhaupt  an  den  jüngsten  Tag 
nicht  glauben.  Aber  abgesehen  von  allem  dem  fragt  es  sich, 
ob  denn  diese  subtilen  Rechnungen  mit  dem  astronomischen 
Calcül  stimmen,  oder  ob  trotz  derselben  Fehler  unterlaufen 
können.  Da  macht  sich  nun  der  zweite  principielle  Gegensatz 
bemerkbar:  denn  sobald  Maestlin  diese  Frage  beantworten  will, 
muss  er  der  astronomischen  Zeitrechnung  das  Wort  gegenüber 
der  cycHschen  reden.  Indem  es  Maestlin  gelingt,  an  bestimmten 
Fällen  eine  Differenz  zwischen  beiden  Rechnungen  nachzuweisen, 
fragt  er,  was  es  denn  für  einen  Sinn  hat,  astronomische  Sub- 
tilitäten in  den  Kalender  hineinzubringen,  wenn  man  auf  der 
anderen  Seite  doch  eingestehen  muss,  dass  dieselben  nur  manch- 
mal, aber  nicht  immer  richtig  sind.  Auch  findet  es  Maestlin 
merkwürdig,  dass  man  nicht  die  zu  Grunde  gelegten  Tafeln 
namentlich  angeführt  habe ;  auf  jeden  Fall  müsse  mit  der  An- 
nahme des  Kalenders  gewartet  werden,  bis  darüber  von  Rom 
Aufklärung  gegeben  worden  sei;    denn   wenn   die   bisher   auf- 


518  Kaltenbrunner. 

gestellten  dabei  benützt  wurden^  so  sei  das  Werk  schon  des- 
halb hinfällig,  habe  man  aber  dafür  neue  gemacht;  so  müssen 
diese  erst  eine  Prüfung  von  Seite  des  Astronomen  aushalten. 
Indem  Maestlin  an  dieser  Stelle  von  der  Schwierigkeit,  gute 
Tafeln  aufzustellen,  spricht  und  die  astronomische  Richtigkeit 
eines  neuen  Kalenders  mit  allem  Nachdrucke  betont,  kommt 
er  zum  Schlüsse,  dass  ein  jedes  derartiges  Unternehmen  hin- 
fällig sei,  und  daher  am  besten  von  der  Reform  überhaupt 
Umgang  genommen  werden  solle.  Mit  diesem  negativen  Resul- 
tate schliesst  Maestlin  seine  Arbeit  ab. 

So  wüthend  bereits  der  Protestantismus  in  dieser  Schrift 
gegen  das  Pabstthum  ankämpfte,  so  war  damit  noch  lange  nicht 
der  Höhepunkt  eireicht;  dies  leisteten  im  selben  Jahre  der 
Reihe  nach  protestantische  Theologen,  deren  Schriften  wir  nun 
kurz  zu  betrachten  haben.  Der  Tübinger  Professor  Lucas 
Ossiander^  glaubt  folgenden  Beweggrund  für  die  Kalender- 
reform gefunden  zu  haben.  Da  dem  Pabste  mit  den  Ablass- 
briefen nun  in  Deutschland  das  Handwerk  gelegt  sei,  so  wolle 
er  jetzt  statt  der  Abiasszettel  Kalender  feil  haben  und  dies  sei 
recht  schlau  angepackt,  denn  erstere  kaufte  man  nur  in  be- 
stimmten Jahren,  Kalender  aber  müsse  man  alle  Jahre  haben. 
Um  dies  Geschäft  recht  ausgiebig  zu  machen,  unterstehe  sich 
der  Pabst,  mit  diesem  seinem  Kram  ein  Monopol  aufzurichten, 
indem  er  allen  Christen  bei  Strafe  des  Bannes  und  1000  Ducaten 
Busse  verbietet,  seinen  neuen  Kalender  nachzudrucken.^  Ossian- 
der sieht  schon  darin  eine  Beeinträchtigung  der  deutschen  Na- 
tion, da  die  Monopole  in  den  Reichsconstitutionen  und  auf  vielen 
Reichstagen  verboten  worden  seien.  Nach  dieser  schönen  Einleitung 


1  Bedenken,  ob  der  Newe  Bfipstliche  Kalender  eine  Nothdorfit  by  der 
Christenheit  seye  unnd  wie  trewiich  dieser  Bapst  Gregorius  XIIL  die 
Sachen  damit  meyne;  ob  der  Bapst  Macht  habe,  diesen  Kalender  der 
Christenheit  auflTzudringen.  Ob  auch  fromme  und  rechte  Christen  schuldig 
seyn,  denselbigen  anzunehmen.  (Heidelberger  Sammelhand.  111.).  Froher 
gedruckt  bei  Georg  Gruppenbach  in  Tübingen  1583. 

2  In  der  That  findet  sich  in  der  Bulle  dieser  Passus.  Als  Grund  dafür  wird 
angegeben,  dass  dadurch  Verwirrungen  hintan  gehalten  werden  sollen, 
und  man  wird  dies  wohl  als  das  wahre  Motiv  des  Verbotes  ansehen 
können.  Gehalten  wurde  es  aber  keineswegs,  denn  es  lassen  sich  Kalender- 
fragmente nachweisen,  die  in  Wien,  München,  Trier  und  Dansig  ge- 
druckt sind. 


Die  Polemik  Aber  die  Gregorianische  Kftlenderrefonn.  519 

geht  Oßsiander  auf  den  ersten  der  im  Titel  angekündigten 
Punkte  über.  Aus  theologischen  Gründen^  deren  Auseinander- 
setzung man  mir  gerne  erlassen  wird,  bestreitet  er  die  Nothwen- 
digkeit  der  Reform,  zumal  da  der  Pabst  lieber  darauf  sehen 
sollte,  seine  Kirche  als  den  Kalender  zu  reformiren.  Indem 
Ossiander  von  den  Anmassungen  des  Antichrist  in  Rom  spricht, 
verdächtigt  er  den  Pabst,  dass  er  auch  den  Gestirnen  gebieten 
wolle,  nach  seinem  Kalender  zu  gehen.  Wenn  aber  etwa 
Mathematiker  demselben  Fehler  nachweisen  sollten,  wird  man 
zu  Rom  sagen,  dass  diese,  nicht  der  Pabst  fehlen.  Zu  dieser 
Unordnung  habe  jedenfalls  Josua  Veranlassung  gegeben,  als  er 
Sonne  und  Mond  stille  stehen  liess,  hätte  er  sie  damals  ruhig 
laufen  lassen,  so  würden  ihre  Erscheinungen  sicherlich  mit  dem 
Gregorianischen  Kalender  übereinstimmen.  Wie  Maestlin'  schiebt 
auch  Ossiander  der  Curie  unredliche  Absichten  unter:  sie  will 
nach  seiner  Meinung  unter  den  Reichsständen  Zwietracht  säen 
und  unter  ihren  Anhängern  selbst  sondiren;  jene  katholischen 
Stände,  die  nicht  allsogleich  und  bereitwillig  den  neuen  Ka- 
lender annehmen  würden,  werden  von  nun  an  von  ihren  geheimen 
Plänen  nicht  mehr  unterrichtet  werden. 

Bei  diesen  Gesinnungen  ist  es  natürlich,  dass  Ossiander 
dem  Pabste  das  Recht  streitig  macht,  die  Reform  vorzunehmen 
und  wieder  ihm  die  evangelische  Freiheit  als  Schild  entgegen- 
hält. In  Folge  dessen  ist  es  auch  für  Ossiander  eine  aus- 
gemachte Sache,  dass  die  Evangelischen  mit  allen  Kräften  gegen 
die  Reform  sich  wehren  müssen;  wie  aber  sollen  sich  jene 
Religionsgenossen  verhalten,  die  unter  katholischer  Herrschaft 
leben?  Zunächst  sollen  auch  sie  sich  auf  ihre  durch  Verträge 
geheiligte  Freiheit  berufen  und  die  Annahme  des  Kalenders 
verweigern.  Sollte  es  aber  soweit  kommen,  dass  die  Obrigkeit 
mit  Gewalt  und  Schliessung  der  Kirchen  droht,  so  sollen  sie 
sich  dem  Zwange  fugen;  aber  an  den  nun  falsch  gefeierten 
Festtagen  sollen  die  Prediger  erklären,  dass  sie  nur  gezwungen 
sich  der  Gewalt  gefügt  und  dem  römischen  Antichrist  auch  in 
diesem  Punkte  nicht  unterworfen  seien. 

Dieser  Rath  Ossianders  gewann  praktische  Bedeutung  in 
Steiermark;  es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  das  ganz  in  diesem 
Sinne  abgefasste  Gutachten  der  Tübinger  Universität  an  die 
Stände  dieses  Landes  unter  dem  Einfluss  Ossiander's  abgefasst 


520  KalUnbrnnner. 

wurde.  ^  Vom  gleichen  Standpunkte  und  einem  ähnlichen 
Gedankengange  folgend,  bekämpft  Lambert  Floridus  Plie- 
ninger  den  Qregorianisclien  Kalender.^  Ihm  ist  die  Aufstellung 
dcBselben  ein  Zeugniss  mehr,  dass  der  Pabat  der  Antichrist  sei. 
Denn  indem  er  den  Kalender  auf  das  Nicaenische  Concil  und 
nicht  auf  die  Zeit  Christi  zurückführt,  zeigt  er,  dass  er  nicht 
ein  Nachfolger  des  Heilands,  sondern  der  heidnischen  Kaiser 
sei.  Nun  habe  zur  Zeit  des  Nicaenums  die  Herrschaft  des 
Antichrist  begonnen,  denn  damals  haben  sich  die  Päbste  zuerst 
in  weltliche  Händel  gemischt.  Nun  beginnt  eine  lange  Abhand* 
lung  über  Pabst,  Antichrist  und  das  Thier,  welchem  in  der 
Apocalypse  (cap.  XHI)  42  Monate  gegeben  werden;  natürlich 
wird  der  Pabst  mit  diesem  identificirt  und  zugleich  wird  aus 
dem  Ablaufen  dieser  42  Monate  (1  Monat  =  30  Tag,  1  Pro- 
phetischer Tag  =  1  Jahr)  das  Herannahen  des  Weltunterganges 
angekündigt.  Nähere  Ausführungen  wird  man  mir  gerne  er- 
lassen; ich  war  nur  genöthigt,  diese  Abirrungen  menschlicher 
Vernunft  anzuführen,  weil  der  Kalender  darin  eine  Praemisse 
bildet.  Noch  klarer  als  Ossiander  erkennt  Plieninger  die  Ab- 
sicht Roms,  wieder  festen  Fuss  in  Deutschland  zu  fassen, 
nachdem  es  nicht  gelungen  sei,  die  Inquisition  daselbst  einzu- 
führen. Er  macht  darauf  aufmerksam,  dass  in  dem  auf  Befehl 
des  Herzogs  Wilhelm  von  Baiern  zu  München  gedruckten 
deutschen  Kalenderfragment  gesagt  werde,  der  Pabst  habe  die 
Emendation  vorgenommen  auf  emsiges  Anhalten  der  kaiser- 
lichen Majestät  und  anderer  vornehmer  christlicher  Potentaten; 
dagegen  in  dem  vom  Pabste  selbst  herausgegebenen  von  einem 
Befehle  des  Tridentiner  Concils  die  Rede  sei.  Dahinter  stecke 
der  Plan  Roms,  durch  den  deutschen  Kalender  die  Fürsten  zu 
bewegen,  den  Kalender  anzunehmen,  ehe  sie  durch  den  italie- 
nischen erfahren,  welche  Zwecke  man  eigentlich  mit  dem 
Kalender  verfolge.  Aus  der  (in  allen  päbstlichen  Bullen  vor- 
kommenden) Strafandrohung  leitet  Plieninger  des  Pabstes 
Absicht  her,  den  Religionsfrieden  zu  stören.  Er  warnt  in  eb- 
dringlichen,   mit   den   giftigsten  AusiUllen  auf  Rom  getränkten 

1  vgl.  Zahn,  a.  a.  O. 

2  Kurtz  Bedenken  von  der  Emendation  des  Jahrs  durch  Bapst  Gregorium  Xm. 
fürgenoramen  etc.  (Heidelberger  8amme1band.  V.)  Vorher  gednickt  bei 
Josias  Ricel  zn  Strassbnrg. 


Die  Polemik  über  die  Gregorianisrhe  Kalenderreforin.  521 

Worten  die  deutschen  Fürsten^  sich  nicht  übertölpeln  zu  lassen, 
damit  nicht  über  sie  ein  Herzog  Alba  oder  eine  Bartholomäus- 
nacht komme. 

Sachlicher  und  in  anständigerem  Tone  gehalten  sind  zwei 
^Gutachtens  die  sich  ebenfalls  im  Heidelberger  Sammelbande 
finden.  Das  eine^  ist  verfasst  auf  der  Pfalzgräflichen  Schule 
zu  Neustadt  a.  d.  Hardt  und  für  den  Pfalzgrafen  bei  Rhein 
bestimmt.  Schon  dadurch  unterscheidet  sich  der  Verfasser  von 
seinen  eben  besprochenen  Collegen,  dass  er  die  dringende 
Nothwendigkeit  einer  Reform  anerkennt,  und  geradezu  den 
Einwand,  dieselbe  sei  wegen  des  herannahenden  Weltunter- 
ganges überflüssig,  bekämpft.  Auch  er  ist  von  Luther  beein- 
flusst  und  wünscht  ein  stabiles  Osterfest;  ausser  den  von  Luther 
angeführten  Gründen,  weiss  er  aber  noch  andere  für  ein  solches 
anzugeben.  Da  einerseits  durch  cyctische  Rechnung  niemals 
vollständig  richtige  Ostertage  erzielt  werden  können,  anderer- 
seits die  astronomische  Rechnung  wegen  der  Verschiedenheit 
der  Ortslagen  undurchführbar  sei,  so  wäre  es  eben  das  beste 
und  vernünftigste,  irgend  einen  Sonntag  für  den  Ostertag  aus- 
zuwählen. Den  Einwand,  dass  dadurch  wegen  einer  Sonnen- 
finsterniss  am  Ostertage  der  Kirche  von  Seite  der  Juden  Spott 
erwachsen  könnte,  löst  der  Verfasser  auf  sehr  vernünftige  Weise, 
indem  er  daran  erinnert,  dass  ja  die  christliche  Kirche  ihren 
Gottesdienst  am  Sonntag  feiere,  trotzdem  Christus  ihn  am 
Sabbath  gehalten  hat;  weicht  man  in  diesem  und  manchem 
andern  von  den  Gebräuchen  der  ältesten  Kirche  ab,  so  hat  es 
keinen  Sinn  an  anderen  so  ängstlich  festzuhalten.  Bezüglich 
der  Frage,  ob  die  protestantischen  Fürsten  den  Kalender  an- 
nehmen sollen,  meint  er,  es  komme  alles  auf  ein  Ueberein- 
kommen  an;  er  hofft,  dass  die  Katholiken  nicht  übereilt  und 
ohne  Rücksicht  auf  ihre  Mitstände  handeln  werden,  dass  sie 
mehr  der  Wohlfahrt  ihrer  Nation  als  des  Gehorsams  gegen  den 
Pabst  eingedenk  sein  werden,  und  in  Uebereinstimmung  mit 
den  Protestanten  gemeinsam  und  zugleich  den  Kalender  an- 
nehmen, oder  denselben  in  bequemerer  Weise,  als  es  vom 
Pabste  geschehen  sei,  reformiren  werden. 


J  Heidelberger  Sammelband  II.    Zuerst  gedruckt  in  der   fürstlichen  Pfalz 
zu  Neustadt  durch  Mathias  Harnisch.  11^83. 


*>22  Kaltenbrimner. 

Der  Verfasser  des  andern  an  die  bairischen  Fürsten  ge- 
richteten Gutachtens*  mahnt  die  protestantischen  Fürsten  zur 
äussersten  Vorsicht,  denn  obwohl  die  Reform  dringend  nöthig 
sei,  so  sei  doch  dieses  schnelle  Vorgehen  des  Pabstes  höchst 
verdächtig,  da  derselbe  den  Kalender  ohne  Zuziehung  der 
deutschen  Fürsten  und  Mathematiker  und  noch  dazu  ohne 
gehörige  Begründung  herausgegeben  habe.  Dies  sei  fiir  die 
Evangelischen  Grund  genug,  sich  wegen  dieses  heimlichen  und 
verdächtigen  Werkes  beim  Kaiser  zu  beschweren,  und  für  den 
Fall,  dass  sie  noch  weiter  gedrängt  werden  sollten,  zu  ver- 
langen, der  Pabst  müsse  früher  in  einem  gründlichen  Werke 
das  Wesen  des  neuen  Kalenders  auseinandersetzen,  ehe  der- 
selbe in  Deutschland  angenommen  werde.  Hält  dann  der 
Kalender  die  Prüfung  der  Astronomen  aus  und  zeigt  es  sich, 
dass  er  der  evangelischen  Freiheit  nicht  gefährlich  sei,  so  wird 
es  keinen  Anstand  haben,  dass  derselbe  angenommen  werde. 
Nur  wird  dabei  die  Erkläi'ung  nöthig  sein,  dass  die  protestan- 
tischen Stände  den  Kalender  nicht  vom  Pabste,  sondern  vom 
Kaiser  als  ihrer  höchsten  Obrigkeit  annehmen  wollen. 

Wenn  bereits  die  zuletzt  betrachteten  Gutachten  vernünf- 
tigen und  ruhigen  Vorstellungen  einen  Platz  gönnten,  so  thut 
dies  noch  mehr  eine  lateinische  am  l./H.  December  1582  aus 
Altdorf  an  die  bairischen  Fürsten  gerichtete  Schrift.  ^  Allerdings 
sieht  der  Verfasser  die  Nothwendigkeit  einer  Reform  nicht  ein, 
denn  das  langsame  Rückschreiten  der  Jahrpunkte  und  Neu- 
monde sei  schon  noch  zu  ertragen,  besonders  wenn  man  das 
ehrwürdige  Alter  dieser  Einrichtungen  erwägt.  In  einem  cor- 
rigirten  Cyclus  könne  man  ebensowenig  auf  die  astronomische 
Rechnung  Rücksicht  nehmen,  wie  im  alten  und  auch  keine 
Dauerhaftigkeit  erzielen;  daher  sei  jetzt  die  Reform  nur  ftir 
diejenigen  nöthig,  welche  es  als  Pflicht  erachten,  die  Decrete 
der  Päbste  zu  befolgen.  Dem  Verfasser  war  vom  Herzog 
Wilhelm  von  Baiern  das  schon  erwähnte  Kalenderfragment  zu- 
geschickt worden;  an  demselben  hat  er  nichts  auszusetzen,  aber 
er  kann  sich  daraus  kein  Urtheil  über  die  Reform  selbst  bilden, 
was   sehr   begreiflich   ist.     Mehr   als   alle  übrigen  wendet  der 

*  Heidelberger  Sammelband.  VI.  a. 
3  Heidelberger  Sammelband  VI.  b. 


Die  Polemik  über  die  Oregon aniscbe  Kalenderreform.  523 

Verfasser  sein  Augenmerk  darauf,  wie  denn  bei  der  voraus- 
sichtlichen Zurückweisung  des  Kalenders  durch  die  Protestanten 
Ordnung  in  die  Zeitrechnung  gebracht  werden  könnte.  Im 
Falle  einer  einhelligen  Weigerung  wünscht  er,  dass  die  be- 
weglichen Feste  von  ihnen  ganz  beseitigt,  dagegen  das  Sonnen- 
jahr durch  Auslassung  von  10  Tagen  mit  dem  Jahre  der  Papisten 
in  Einklang  gebracht  werden  solle.  Wenn  aber  weder  eine  Ver- 
einigung zwischen  Katholiken  und  Protestanten,  noch  unter  letz- 
teren der  angegebene  Beschluss  zu  Stande  kommen  würde,  so 
wünscht  er,  dass  jeder  nach  seinem  Gutdünken  einen  der  beiden 
Kalender  halten  sollte,  dabei  aber  müsste  energisch  dafiir  gesorgt 
werden,  dass  nicht  noch  ein  dritter  Modus  hinzutrete. 

Gleichfalls  unter  dem  Uebelstande  ungenügender  Infor- 
mation leidet  das  an  den  Landgrafen  Wilhelm  von  Hessen 
gerichtete  Gutachten  des  bekannten  Martinus  Chemnitius.^ 
Wohl  kennt  derselbe  Kalenderfragmente  aus  Danzig,  Posen  und 
München,  aber  daraus  erfahre  man  blutwenig  über  das  Wesen 
der  Reform.  Chemnitius  ist  übrigens  derselben  günstig  gesinnt, 
denn  indem  er  die  Fehler  des  alten  Kalenders  entwickelt  und 
auch  von  den  Reformbestrebungen  der  früheren  Zeiten  spricht,^ 
erkennt  er  ihren  Nutzen  und  ihre  Nothwendigkeit  vollständig  an; 
auch  theilt  er  nicht  die  Befürchtung,  es  werde  durch  die  Aus- 
lassung von  10  Tagen  grosse  Verwirrung  entstehen,  denn  1583 
würde  ja  alles  wieder  im  alten  Geleise  sein,  wenn  nur  ein- 
hellig vorgegangen  werden  würde.  Dagegen  macht  auch  er 
aufmerksam,  dass  man  ja  mit  einer  etwaigen  Annahme  der 
Reform  dem  Pabste  keine  Rechte  über  die  evangelische  Kirche 
einräume. 

Noch  im  selben  Jahre  erfolgte  aber  auch  von  protestan- 
tischer Seite  die  vollste  Zustimmung  zur  Reform,  nämlich  von 


>  Bericht  vom  newen  Päpstischen  Gregoriano  Calendario  an  den  Land- 
graffen  zu  Hessen,  abgefasst  1582,  gedrackt  1584  s.  1. 

2  Hiebei  bringt  Cliemnitius  die  interessante  Notiz,  dass  er  beim  Besuche 
der  Bibliothera  Prutenica  des  Johannes  Begiomontanns  ,Con8ilium  de 
reformatione  calendarii'  gesehen  habe.  Das  kann  nur  das  von  Regiomon- 
tanus  beabsichtigte  Werk:  ,De  instauratione  Kalendarii  ecclesiae*  sein, 
und  dadurch  wird  meine  (Vorgesch.  d.  Gregor.  Kalenderref.  pag.  370) 
ausgesprochene  Vermuthung  von  der  geschehenen  Abfassung  desselben 
bestätigt. 


524  Kaltenbranner. 

dem  Qörlitzer  Patrizier  Bartholomäus  Scultetus  in  dem 
an  den  Kaiser  gerichteten  Kalendarium  Komanum,  ^  das  mir 
leider  weder  in  Wien  noch  in  Berlin  zugänglich  war. 

Alle  diese  bisher  betrachteten  Schriften  sind  mehr  oder 
weniger  in  die  Form  von  Gutachten  gebracht  und  als  solche 
entweder  an  die  Nation  oder  an  einzelne  Fürsten  gerichtet. 
Sie  hatten  denn  auch  den  von  ihren  Verfassern  gewünschten 
Erfolg:  aller  Orten  machte  sich  Opposition  bemerkbar,  die 
sich  in  Steiermark,  namentlich  aber  in  Augsbui^  zu  bedenk* 
liehen  Tumulten  steigerte.  Gerade  um  den  Ealenderstreit  zu 
Augsburg  drehen  sich  nun  mehrere  Schriften,  die  meist  ausser- 
halb des  Rahmens  dieser  Betrachtung  gehören,  da  sie  nur  die 
an  denselben  geknüpften  rechtliehen  Fragen  behandeln.  Aber 
einer  Schrift  müssen  wir  noch  Aufmerksamkeit  schenken,  da 
sie  an  einer  bedeutenden  Universität  entstand  und  den  An- 
stoss  zu  einer  ausführlichen  Widerlegung  von  katholischer 
Seite  gab.  Der  Tübinger  Professor  Jakobus  Heerbrandua 
fand  sich  veranlasst,  die  renitenten  Prediger  von  Augsburg  zum 
Ausharren  im  Widerstand  gegen  ihre  Obrigkeit  zu  ermuntern, 
und  stellte  zu  dem  Behufe  Thesen  über  die  Kalenderfrage  auf.^ 


^  Diesea  KAlendarlnm  Roroannm  nnis»  eine  aiiAfiihrliobe  Begründong  und 
Vertheidigung  der  Qregorianischen  Reform  als  Einleitung  haben.  Wir 
erfahren  diea  sowohl  ans  der  später  zu  besprechenden  Schrift  des  Pro- 
testanten  Schalin  als  auch  ans  der  Moscovia  des  Jesuiten  Possevinus* 
Letzterer,  welcher  darauf  grosses  Gewicht  legt,  erzählt  auch,  dass  Scul- 
tetus eine  zweite  derartige  Schrift  zur  Herausgabe  vorbereite,  in  welche 
er  auch  Einblick  erhalten  habe.    Eine  Stelle  theilt  Possevinus  daraus  mit, 

—  Scultetus  bedauert  darin,  daMS  man  eine  an  sich  gute  Sache  aas  Hass 
gegen  ihren  Urheber  bekämpfe,  das  Licht  der  Finsterniss  vorziehe  n.  s.  f. 

—  Ob  diese  Arbeit  jemals  gedruckt  wurde,  vermag  ich  nicht  anzugeben. 
Gewiss  wurde  das  Kalendarium  veröffentlicht,  aber  trotz  seiner  versöhn« 
liehen  Haltung  in  Oesterreich  vom  Kaiser  verboten.  Es  geschah  die«  anf 
Antrag  des  Dr.  Paulus  Fabricius  und  zwar  deshalb,  weil  Scultetus  neben 
dem  alten  und  neuen  Kalender  eine  dritte  Form  aufgestellt  hatte,  in 
welcher  1585  ein  Schaltjahr  sein  sollte.  Fabricius,  der  gerade  über  diese 
Frage  ein  Gutachten  an  den  Kaiser  abgab,  beantragte  diese  IfassregeK 
weil  er  fürchtete,  es  könnte  der  Kalender  des  Scultetus  Verwirrung  an- 
stiften. Ueberhaupt  beschäftigte  sich  die  damals  in  Bliithe  kommende 
Büchercensur  auch  mit  den  Kalendern  (vgl.  Wiedcmann,  Die  kirchliche 
Büchercensur  in  der  Erzdiöcese  Wien.  Archiv  f.  österr.  Gesch.  L.  1.). 

2  Disputatio  de  Adiaphorin  et  calendario  Gregoriano.  Tübingen  1684.  Mit 
einer  Vorrede   an   die  Doctoren,   Pastoren   und  Diakonen  von  AQ|r*bnrg^. 


Die  Polemik  über  die  Gre^orünUch«  KaleDderreform.  526 

Auch  Ueerbrand  erkennt,  dass  der  Pabst  durch  sein  Kalender- 
werk neuerdings  bewiesen  habe,  dass  er  der  Antichrist  sei.  Die 
Begründung  hiefür  nimmt  er  aus  der  Prophezeiung  Daniels, 
wo  von  ihm  gesagt  wird  ,putabit  se  posse  mutare  temporal ' 
Es  ist  daher  auch  für  ihn  eine  ausgemachte  Sache,  dass  hinter 
dem  Kalender  böse  Pläne  versteckt  sind;  er  vergleicht  den 
Pabst  mit  dem  Wolfe,  der  heulend  die  Hürden  der  Lämmer 
umkreist,  den  Kalender  mit  dem  trojanischen  Pferd,  das,  würde 
es  in  die  evangelische  Kirche  gebracht  werden,  bald  seinen 
verbängnissvollen  Inhalt  päbstlicher  Knechtschaft  und  Abgötterei 
entleeren  und  namenlosen  Jammer  über  die  Getreuen  Gottes 
bringen  würde.  Denn  zum  Zwecke  des  Götzendienstes  ist  doch 
der  Kalender  gemacht,  denn  in  der  Bulle  gibt  Gregor  aus- 
drücklich aUy  dass  die  Gedächtnisstage  der  Heiligen  wieder 
richtig  gestellt  werden  sollen.  Interessant  und  neu  ist  es  nun, 
dass  Heerbrand  die  Frage  des  Adiaphoron  herbeizieht.  '^  Luther 
im  Buche  ,von  den  Concilien^  und  die  Apologie  der  Augsburger 
Confession  hatten  die  Festfeier  —  Ostern  mit  inbegriffen  — 
als  für  den  Glauben  gleichgültig  hingestellt  und  etwaige  Aen- 
derungen  als  zur  Competenz  der  weltlichen  Obrigkeit  gehörig 
erklärt.  Indem  Heerbrand  nun  zu  erweisen  sucht,  dass  die 
jetzige  Frage  kein  Adiaphoron  sei,  fühlt  er  sich  veranlasst, 
diese  beiden  Aussprüche  zu  umgehen.  Luther  hatte  zu  klar 
gesprochen,  als  dass  sich  da  etwas  deuteln  liess.  Heerbrand 
greift  daher  einen  andern  Satz  desselben  heraus,  nämlich,  dass 
man  in  Bezug  auf  ,an  sich  gleichgültige  Dinge'  äusserst  vor- 
sichtig sein  müsse,  damit  nicht  etwa  unter  dem  Verwände  der 
weltlichen  Sache  die  christliche  Freiheit  beeinträchtigt  werde. 
In  dieser  Lage  aber  befindet  sich  nach  Heerbrand's  Ansicht 
die  evangelische  Kirche  in  der  Kalenderfrage.  Denn  wenn 
auch  von  der  weltlichen  Obrigkeit  der  Kalender  publicirt  wurde, 
so  geschah  dies  —  man   mag   es  nun  noch  so  läugnen  —  auf 


In  Folge  dieser  wurde  Heerbrand'a  Schrift  vom  Augsburger  Rathe  ver- 
boten. (Brief  des  Job.  Maior  an  Tycho  de  Brahe.  Cod.  Vindob.  106866« 
fül.  7öb.) 

»  Daniel  7,  25. 

^  Vgl.  über  Begriff  und  Geschichte  des  Adiaphoron  in   der  evangelischen 
Kirche:  Herzog,  Real-£ncyclopaedie.  I.  126. 


526  Kaltenbranner. 

Antrieb  des  Pabstcs,  und  wenn  auch  die  Obi'igkeiten  keine 
Bchlimmen  Hintergedanken  haben^  so  hat  sie  doch  der  Pabst^ 
was  von  ihm  und  seinen  CoUegen  klar  bewiesen  worden  sei. 
Also  würde  auch  Luther  in  diesem  Falle  gegen  die  Annahme 
des  Kalenders  sprechen.  Leichter  wird  Ileerbrand  mit  der 
Augsburger  Apologie  fertig,  zumal  da  ihm  im  Eifer  die  Logik 
abhanden  kommt.  Dieselbe  nennt  die  Feier  der  Feste  ^ordi- 
nationes  politicae^*  Er  führt  nun  aus,  wie  griechisch  xsXutia 
bedeute:  ,gubernatio,  regimen  et  quacumque  administratione 
accipitur'.  Diese  Verwaltung  aber  sei  eine  doppelte,  eine  welt- 
liche und  eine  geistliche,  und  wenn  daher  von  einer  ordinatio 
politica  die  Rede  sei,  so  werde  damit  nicht  gesagt,  dass  sie  in 
den  Bereich  der  weltlichen  Obrigkeit  gehöre,  sondern  sie  könne 
ebenso  gut  kirchliche  Angelegenheit  sein.  Jener  Ausdruck  be- 
sage also  nur,  dass  die  Festfeier  keine  Glaubenssache  sei,  aber 
eine  kirchliche  Angelegenheit  bleibe  sie  doch,  und  eine  solche 
könne  von  der  Obrigkeit  nur  mit  Herbeiziehung  von  Theologen 
behandelt  werden.  Nun  hätten  sich  aus  allbekannten  Gründen 
die  protestantischen  Geistlichen  gegen  die  Annahme  des  Ka- 
lenders entschieden,  und  daher  stehe  es  der  weltlichen  Obrigkeit 
nicht  zu,  ihnen  denselben  aufzudrängen.  Hccrbrand  behauptet 
also,  dass  die  an  sich  für  den  Glauben  gleichgültige  Frage  durch 
die  aus  ihr  erwachsenden  Gefahren  und  die  sie  begleitenden 
Nebenumstände  aus  dem  Bereiche  des  Adiaphoron  heraustrete. 
Dazu  kommt  folgende  Erwägung:  Wenn  auch  der  Kalender 
an  sich  Adiaphoron  ist,  so  gehört  zum  Wesen  desselben  gc^n- 
seitige  Uebcreinkunft,  respective  Nachgiebigkeit  des  Stärkeren 
gegenüber  dem  Schwächeren  in  einer  den  Glauben  nicht  be- 
rührenden Sache.  Hier  aber  ist  von  keiner  Uebereinkunft  die 
Rede,  denn  der  Pabst  verständigte  von  Anfang  an  nur  die 
katholischen  Fürsten  und  Universitäten,  und  er  befiehlt  unter 
Androhung  des  Bannes  und  des  Zornes  der  Apostelfürsten^ 
und  so  tritt  von  Seite  der  Katholischen  Zwang  an  die  Stelle 
des  Zugeständnisses,  was  überdies  auch  das  ,Mandamus'  und 
der  Satz:  ,Nulli  ergo  omnino  hominum'  des  Bulle  deutlich 
beweist.  Nehmen  also  die  Protestanten  den  Kalender  an,  so 
machen  sie  sich  zu  Knechten  des  Pabstes  und  zu  Dienern  seiner 


1  Artikel  28. 


Die  Polemik  aber  die  Greforianische  Kalenderreform.  527 

Götzeu  und  räumen  ihm  Jumdiction  über  ihre  Kirchen  ein, 
welche  ihm  durch  den  Passauer  Vertrag  und  den  Augsburger 
Keligionsfrieden  gesetzlich  entzogen  ist.  * 


'  Dem  hier  gepredigtea  Terroriitmas  verdankt  folgende  Schrift  ihre  Ent- 
stehung :  JohannesSchulin:  Entachuidigung  und  Ableinung  wegen  der 
Praefation  oder  Declaratiuu  den  neuen  pKpstischen  Kalender  betreffend, 
welche  ohne  sein  wissen  willen  und  meinung  seinen  Calcndariis  ist  fUr- 
gesetzt  worden.  Tübingen  1684.  Die  Sache  verhält  sich  nach  des  Ver- 
fassers Erzählung  folge ndermassen:  Der  Buchdrucker  Niclas  Knor  in 
Nürnberg  setzte  ßchnlin*s  Kalender  für  das  Jahr  1584  eine  Praefatio  vor^ 
in  der  die  Kalenderreform  als  nothwendig  und  richtig  anerkannt  wird; 
ausserdem  enthielt  der  Kalender  die  Feste  und  Jahrmärkte  nach  altem 
und  neuem  Styl  gegenübergestellt.  Deshalb  nun  wurde  Schulin  von 
yhochverstendigen*  Leuten  verdächtigt,  als  ob  er  mit  dem  Pabste  unter 
einem  Hütlein  spiele  und  dessen  unnöthiges  gerumpeltes  Zeug  als  richtig 
anerkenne.  Schulin  verwahrt  sich  nun  dagegen  feierlidist  und  erklärt, 
er  für  seine  Person  halte  es  —  trotz  der  Fehler  des  julianischen  Jahres 
—  nicht  mehr  für  nöthig,  dasselbe  zu  corrlgiren,  da  nach  der  Prophezeiung 
Daniels  nur  mehr  416  Jahre  bis  zum  Ende  der  Welt  seien.  Auch  sei  klar 
und  deutlich,  dass  der  Pabst  mit  dem  neuen  Kalender  nur  Verwirrung  an- 
richten und  die  evangelische  Kirche  knechten  wolle.  Bezüglich  der  leidigen 
Praefatio  aber  verhalte  es  sich  folgendermassen :  Kurz  vor  Erscheinen 
des  Druckes  habe  ihm  Knor  geschrieben,  er  hätte  eine  Praefatio  zum 
Kalender  gewünscht,  da  aber  nicht  mehr  Zeit  zur  Abfassung  einer  solchen 
sei,  so  habe  er  die  ans  dem  Kalender  des  Scultetus  genommen  und  vor- 
gedruckt. Sollte  Schulin  dieselbe  nicht  haben  wollen,  so  solle  er  nur 
die  zwei  vorderen  Blätter  zusammenkleben  lassen.  Da  aber  die  Kalender 
gleich  von  Nürnberg  aus  verschickt  wurden,  so  habe  dies  nicht  geschehen 
können  und  so  sei  die  unsinnige  Praefatio  stehen  geblieben.  Dass  er  die 
Feste  und  Jahrmärkte  nach  dem  neuen  Kalender  beigegeben  habe,  könne 
man  ihm  nicht  zum  Vorwurf  machen;  obwohl  er  hoffe,  dass  der  Pabst 
seinen  Lumpenkram  bald  wieder  aus  Deutschland  werde  zurückziehen 
müssen,  so  habe  er  jene  Glaubensgenossen,  denen  von  ihrer  Obrigkeit 
der  neue  Kalender  aufgenöthigt  wurde,  vor  Irrthum  bewahren  und  so 
den  Plan  des  Pabstes,  Verwirrung  anzurichten,  vereiteln  wollen.  — 
Praktische  Bedeutung  gewann  diese  zelotische  Ansicht  Heerbrand's  in 
Stejr,  wo  die  protestantischen  Prediger,  gemäss  des  Beschlusses  der  ober- 
österreichischen Stände,  den  Kalender  von  der  Kanzel  verkündet  hatten, 
nachdem  ihre  Bitte,  man  möge  ihnen  wenigstens  die  Publication  in  der 
Kirche  erlassen,  vom  Landeshanptmanne  abgeschlagen  worden  war.  Als 
88  sich  nun  im  Jahre  t&86  um  die  Besetzung  einer  neuen  Praedicanten- 
Stelle  handelte,  verweigerte  der  Superintendent  in  Regensburg  —  Bar- 
tholomaeus  Kosinus,  —  die  Ordination,  weil  das  Ministerium  in  Steyr  durch 
Annahme  des  neuen  Kalenders  sich  wieder  unter  das  Pabstthum  begeben 
habe.  (Vgl.  Preuenhuber,  Annales  Styrienses,  pag.  302.) 


528  Kalienbrunner. 

Der  Vorwurf,  dass  hiedurch  Unfrieden  im  Reiche  gpestiftet 
werde,  der  berühre  weiter  nicht  die  Protestanten,  denn  wer 
hat  hier  die  Schuld,  der,  welcher  den  Grund  zum  Bruche  des 
Keligionsfriedeus  gibt,  oder  der,  welcher  nur  sein  verbrieftes 
Recht,  vertheidigt?  Der  glühendste  Hass  gegen  Rom  durch- 
weht die  ganze  Schrift  Hecrbrand's,  und  sie  bezeichnet  den 
Höhepunkt  der  Angriffe,  die  vom  theologischen  Standpunkte  aus 
gegen  den  Kalender  gemacht  wurden. 

Natürlich  fehlte  es  auch  nicht  an  Flugschriften  in  dieser 
Angelegenheit.  So  wurde  anonym  jener  Absatz  der  Lutherischen 
Schrift  ,von  den  Concilien',  der  über  den  Kalender  handelt  und 
der,  wie  wir  gesehen  haben,  schon  von  mehreren  benutzt  wurde, 
herausgegeben.  Der  Anonymus  fügt  demselben  eine  entsprechende 
Einleitung  bei,  worin  er  die  Meinung  ausspricht,  der  Pabst 
wolle  alle  Nationen,  die  noch  unter  seiner  Stockmeisterei  liegen, 
von  den  Deutschen  in  Handel  und  Wandel  trennen  und  ausser- 
dem Zwietracht  und  Hader  unter  ihnen  selbst  slien.  Auch  ,ein 
Neu  Jahrsgeschenk'  erhielten  1584  die  christlichen  Leser  in 
einem  Gedichte,  in  welchem  der  Pabst  verglichen  wird  mit 
dem  Athener  Cynesias,  ^  der  darin  seine  Hauptbeschäftigung 
sah,  das  zu  thun,  was  andere  Leute  nicht  thaten.  So  wolle 
auch  der  Pabst  jetzt  die  ganze  Ordnung  des  Jahres  verwirren, 
in  der  Absicht,  Zwietracht  zu  säen  und  Aergerniss  zu  erregen* 
Der  Dichter  gibt  sich  übrigens  der  Hoffnung  hin,  dass  ihm 
dies  nicht  gelingen  werde,  und  geht  dann  zu  der  sehr  nütz- 
lichen Beweisführung  über,  dass  Gregor  XHI.  der  wahre  Pabst- 
esel  sei.  Drollig  und  voll  des  derben  Witzes  jener  Zeit  ist  ,ein 
kurtzweiliges  Gespräch  zweier  meissnerischer  Bauern 
über  den  neuen  Bäpstischen  Kalender^,  das  1584  zu 
Dresden  gedruckt  wurde.  An  die  Spitze  desselben  sind  zwei 
Verse  gestellt,  von  denen  der  eine  unbedingt  aus  älterer  Zeit 
herrührt,  der  andere  dem  analogen  Verhältnisse  entsprechend 
sich  auf  das  Jahr  1584  bezieht.     Sie  lauten: 

a.  »Bremenses  Asioi  clanaabaDt  Resurexi 
Cam  Popalus  Dei  cantavit  Oculi  mei/ 

6.  jWeiin  wir  Bawru  Oculi  mei  han 

Des  Bapst'B  Gesindt  ihr  Ostern  beghan.* 


1  Es  ist  hiemit  oflfenbar  der  Dytbryrambendichter  Oinesias  gemeint  (vgl.  Aup. 
Pauly  Real-Encyclopfidie  der  klassischen  Alterth  ums  Wissenschaften). 


Die  Polemik  fiber  die  Oregorianiiche  Kalenderreforra.  529 

Den  ersten  Vers  berührt  schon  Regiomontanus,  der  die 
Thatsache  erzählt,  dass  die  Priester  von  Bremen  einst  Ostern 
um  vier  Wochen  früher  als  die  übrigen  Christen  gefeiert  haben.  * 
Der  zweite  bezieht  sich  auf  die  Osterdifferenz  des  Jahres  1584, 
in  welchem  nach  dem  Gregorianischen  Kalender  am  1.  April 
(alter  Styl  22.  März),  nach  dem  alten  am  19.  April  Ostern 
gefeiert  wurde. 

Von  dieser  Verschiedenheit  der  Osterfeier  erzählt  Herten 
beim  Weinkrug  seinem  Freunde  -ßebel  und  nun  beginnen  beide 
ihren  Gedankenaustausch  über  das  neueste  Werk  des  Antichrist. 
Natürlich  sehen  sie  die  Nothwendigkeit  einer  Reform  des  alten 
Kalenders,  in  und  nach  welchem  Christus  geboren  worden  sei, 
nicht  ein;  auch  müsse  der  alte  der  richtige  sein,  da  ihn  doch 
die  Thiere  halten,  so  fliege  der  Storch  genau  nach  diesem  und 
nicht  nach  dem  neuen  Kalender  weg.  Auch  sie  erkennen  in 
diesem  Werke  teuflische  Bosheit;  der  Pabst  fürchte,  der  jüngste 
Tag  möge  zu  rasch  kommen;  nun  habe  er  den  neuen  Kalender 
gemacht,  damit  Christus  irre  werde  und  nicht  wissen  soll,  wann 
er  denn  eigentlich  zum  Gericht  zu  erscheinen  hat,  so  dass  der 
Pabst  noch  länger  seine  Bubenstücke  vollführen  könne. 

Kbenfalls  an  diese  Osterdifferenz  knüpft  eine  ,Bawren- 
klag  über  des  Römischen  Bapstes  Gregorii  XIII.  newen 
Calender'  an.  Im  Besonderen  wird  hier  geklagt,  dass  der 
neue  Kalender  die  Loostage  verrückt  habe,  so  dass  die  Bauern 
nicht  mehr  wissen,  wann  sie  das  Feld  bestellen  sollen;  auch 
die  Vögel  sind  nun  in  Ungewissheit,  wann  sie  singen  und  ab- 
fliegen sollen.  Als  Strafe  für  all'  dieses  Wirrniss,  welches  der 
Pabst  angerichtet,  wünscht  ihm  der  Dichter,  dass  Gott  mit 
ihm  das  jüngste  Gericht  10  Tage  früher  als  mit  allen  übrigen 
Menschen  anrichten  möge.  Nur  in  ganz  losem  Zusammenhang 
steht  die  Kalenderfrage  in  dem  1590  gedruckten  Gedichte: 
,Der  Weiber  Krieg  wider  den  Bapst,  darumb  das  er 
zehen  tage  aus  dem  Calender  gestohlen  hat^  Das  weib- 
liche Regiment  über  die  Männer  erstreckt  sich  über  das  ganze 
Jahr  mit  Ausnahme  der  Marterwoche,  wo  diese  nicht  gehindert 
werden    können,    in   die  Trinkstube   und   zur  Unterhaltung  zu 


*  V^l.    Die    Vorgeschichte    der    Gregor.    Kalenderreform,    pag.    370.     Der 
Wortlaut  des  Verses  möge  als  Nachtrag  zur  dortigen  Notiz  gelten. 
Sitinngibar.  d.  phiL-Mst.  Q.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hft.  34 


530  Kaltenbrunner. 

gehen  (!).  Durch  die  Auslassung  von  10  Tagen  wird  nun  insofern 
das  angemasste  Recht  der  Frauen  verletzt,  als  nun  die  Männer 
zwei  Marterwochen,  nach  altem  und  neuem  Kalender  nämlich, 
annehmen;  daher  trachten  die  ersteren  darnach,  den  Pabst  zu 
bekriegen  und  ihn  zur  Rücknahme  seines  Werkes  zu  zwingen. 
Da  der  Dichter  sichtlich  auch  unter  der  Herrschaft  seiner  Ehe- 
hälfte schmachtet,  so  sollte  man  meinen,  er  stünde  auf  Seite 
des  Gregorianischen  Kalenders;  aber  mit  nichten,  er  zieht  es 
noch  immer  vor,  auf  der  Erde  die  durch  die  Weiber  ange- 
zündete Hölle  zu  ertragen,  als  im  ewigen  Feuer  mit  den 
Papisten  zu  braten. 

III.  Katholische  Antworten. 

Alle  diese  heftigen  Angriffe  gegen  den  Kalender  muifeten 
natürlich  auch  auf  katholischer  Seite  zu  Erwiderungen  führen; 
wir  bemerken  aber  eine  auffallende  Ruhe,  die  wohl  nur  darin 
ihre  Erklärung  finden  kann,  dass  man  erwartete,  von  Rom  aus 
werde  eine  energische  Entgegnung  erfolgen.  Dort  aber  ignorirte 
man  alle  diese  Angriffe,  und  erst  als  eine  sachliche  Opposition 
sich  entwickelte,  da  sah  man  sich  genöthigt,  in  den  Kampf 
einzutreten.  Ganz  jedoch  fehlte  es  doch  nicht  an  Erwiderungen, 
die  natürlich  auch  über  das  Ziel  hinausschiessen;  aber  die  Mass- 
losigkeit  der  Gegner  macht  es  ihnen  leicht,  eine  gewisse  geistige 
Ueberlegenheit  zur  Schau  zu  tragen. 

Die  erste  Widerlegung  erfuhren  die  Gegner  von  jenem 
Dr.  Fabricius,  dessen  Gutachten  über  die  Keform  wir  kennen 
gelernt  haben.  Freilich  ist  dieselbe  nicht  in  die  Oeffentlichkeit 
gedrungen,  denn  es  lässt  sich  kein  Druck  nachweisen,  aber  sie 
war  für   den  Kaiser   bestimmt   und   hat   insofern    Bedeutung.  * 

*  Die  Schrift  des  Fabricius  findet  sich  handschriftlich  im  Cod.  Vindob.  10711. 
Anffalleud  ist  dabei,  dass  sich  dieselbe  auf  der  kaiserlichen  Hofbibliothek 
findet,  während  alle  Schriftstücke  über  die  Kalenderfrage  in  zwei  Fascikeln 
des  Haus-,  Hof-  und  Staats-Archives  zusammengetragen  sind.  Durch  diesen 
Umstand  könnte  man  versucht  werden,  anzunehmen,  dass  Fabriciira  die 
Schrift  an  den  Kaiser  nicht  eingereicht  habe,  zumal  da  der  vorliegende 
Codex  nicht  Entwurf,  sondern  Beinschrift  ist.  Dass  sie  auf  Befehl  des 
Kaisers  abgefasst  ist,  sagt  Fabricius  ausdrücklich  nebst  Angabe  der  Ver- 
anlassung hiezu ;  ausserdem  findet  sich  auf  dem  Briefe  des  Pfalzgrafen  die 
Kanzleinote  vom  26.  Sept./6.  October:  ,die8e  Censura  soll  dem  Dr.  Fabricias 
zur  Begutachtung  zugestellt  werden'.    Maestlin  erzählt  in  seiner  zweiten 


Di«  Polemik  über  4i«  Gregerlanieehe  Kalenderreform.  531 

Die  Schrift  des  Maestlin  nämlich  war  vom  Pfalzgrafen  Ludwig 
Philipp  dem  Kaiser  mit  dem  Briefe  vom  3./ 13.  Sept.  1583, 
überschickt  worden  und  dieser  befahl,  dieselbe  dem  Fabricius 
zur  Begutachtung  zuzustellen.  Des  Fabricius  Schrift  ist  daher 
nur  gegen  Maestlin  gerichtet  im  allgemeinen  und  besonderen. 
Er  übergeht  die  von  demselben  angeregten  Religionsfragen  als 
nicht  zur  Sache  gehörig  und  wendet  sich  hauptsächlich  gegen 
jene  Punkte,  die  Maestlin  dafür  angeführt  hatte,  dass  die  Reform 
des  Kalenders  an  sich  unnütz  und  schädlich  sei. 

jlst  es  doch  durch  das  Naturrecht  geboten,  dass  ein  an- 
erkannter Fehler  beseitigt  werde.  Da  bis  jetzt  10  Tage  zu 
viel  gezählt  worden  sind,  so  sind  diese  nichts  als  leere  Zahlen, 
ein  effectus  sine  sua  causa  oder  doch  efFectus  prior  sua  causa. 
Da  es  nun  absurd  ist,  efFectum  ponere  ante  causam  aut  sine  sua 
causa,  so  müssen  auch  aus  logischen  Gründen  diese  10  Tage 
ausgelassen  werden.  Zudem  widerspreche  sich  Maestlin  ver- 
blendet vom  Hasse  gegen  den  Pabst,  wenn  er  einerseits  keine 
Reform  will  und  von  der  Auslassung  von  10  Tagen  Verwirrung 
befürchtet,  und  andei^rseits  sich  gegenüber  der  angewendeten 
Form  für  eine  solche  von  13  Tagen  ausspricht.  Interessant  ist, 
dass  Fabricius  ebenfalls  die  Schrift  Luther^s  herbeizieht  und 
aus  seinen  Worten  folgert,  dass  die  Protestanten  mit  gutem 
Gewissen  den  Kalender  annehmen  können,  nachdem  ihn  der 
Kaiser  als  weltliche  Obrigkeit  publicirt  habe. 

Maestlin  hatte  —  wie  angeführt  wurde  —  das  heran- 
nahende Ende  der  Welt  als  Argument  gegen  die  Reform  an- 
geführt und  zugleich  das  unternehmen  des  Pabstes  als  ein 
Symptom  desselben  bezeichnet.  Fabricius  fragt  ihn  nun,  was 
es  bei  diesen  seinen  Ansichten  fiir  einen  Sinn  habe,  noch  bis 
1600  die  Reform  zu  verschieben?  Andererseits,  wenn  seine 
An«*icht   richtig   sei  —  was  ihm  von  glaubwürdigen  Theologen 

Arbelt  -  dem  Altcnim  Examen  —  üähs  ein  Mathematiker  von  bedeuten- 
dem Ruf  willer  ihn  g-eschrieben  habe,  aber  durch  höhere  Autorität  ver- 
hindert worden  »ei,  die  Schrift  v.n  veröffentlichen,  da  sie  allzu  starke 
AusfKUe  g^egen  seine  Person  enthalten  habe.  Möglieh  ist  es  immerhin, 
dass  dies  auf  Wahrheit  beruht,  und  dann  könnte  man  es  recht  gut  auf 
des  Fabricius  Schrift  beziehen,  in  Hinblick  auf  die  Aengstlichkeit,  mit  der 
man  am  kaiserlichen  Hofe  bemüht  war,  eine  Einigung  in  der  Kalender- 
sache  herbeizuführen. 

34» 


532  Kaltenbrvnntr. 

auch  versichert  werde  —  wie  kann  er  es  wagen,  gegen  dieses 
Zeichen  anzukämpfen,  meint  er  etwa,  damit  den  jüngsten  Tag 
aufhalten  zu  können?  Nicht  ohne  Geschick  bekämpft  Fabricius 
die  Behauptung  des  Gegners,  dass  die  Protestanten  schon  wegen 
seines  päbstlichen  Ursprungs  den  Kalender  nicht  annelmien 
könnten.  Befurchtet  Maestlin  aus  einem  Lutheraner  ein  Papist 
zu  werden,  so  möge  er  doch  bedenken,  dass  er  dann  allzeit 
päbstisch  gewesen  sei,  indem  er  doch  bisher  mit  den  Papisten 
den  Kalender  und  die  vornehmsten  Feste  gehalten  habe.  Auch 
sieht  Fabricius  nicht  ein,  wie  denn  durch  die  Auslassung  von 
10  Tagen  so  grosse  Verwirrung  entstehen  könnte;  überhaupt 
könnte  dies  nur  im  Correctionsjahre  selbst  der  Fall  sein,  aber 
wenn  den  Bauern  wegen  ihrer  Loostage  und  Kegeln  die  Sache 
von  den  Predigern  gehörig  eingeprägt  würde,  werden  sie  es 
wohl  begreifen,  und  bei  Zinsen  und  Gehalten  muss  eben  darauf 
Rücksicht  genommen  werden,  dass  10  Tage  fehlen  und  müssen 
diese  in  Abzug  gebracht  werden.^  In  einem  Punkte  aber  be- 
gegnen sich  die  beiden  Männer,  nämlich  in  der  Frage  der 
cyclischen  Berechnung  und  Fabricius  erklärt,  Maestlin  hätte 
mehr  Ehre  geemtet,  wenn  er  einzig  in  diesem  Punkte  sein 
Müthchen  am  Pabste  gekühlt  hätte,  anstatt  die  ganze  Religions- 
sache herbeizuziehen.  So  bittet  er  denn  schliesslich  seinen 
Herrn  und  Kaiser,  er  möge  dem  Buche  Maestlin 's  gar  keine 
Beachtung  schenken,  mit  Ausnahme  seiner  Bemerkungen  ,über 
die  Zirkelraitung  und  die  observationes  motuum  coelestium^ '^ 

^  In  der  That  wurde  dies  in  Innerösterreieh  gethan  und  den  Beamten  die 
Quote  von  10  Tagen  abgezogen.  (Kürschner,  Die  Einführung  des  Gregor. 
Kalenders  bei  der  Beichs-Hofkammer.  Oesterreichische  Wocbenscbrift.  1872. 
Heft  27,  pag.  849.) 

'  Fabricius  war  auch  sonst  in  der  Kalender- Angelegenheit  thätig.  1583  ver- 
faaste  er  einen  Kalender,  der  sich  handschriftlich  im  Cod.  Viudob.  U»693 
findet.  Er  will  damit  den  Uebergang  zum  neuen  Styl  erleichtern  und  steUr 
daher  bis  16U0  die  Angaben  des  alten  und  des  neuen  Kalenders  gegenfiber. 
Daneben  aber  macht  sich  auch  bei  ihm  die  Neuerungssucht  geltend,  denn  «1^ 
drittes  erscheint  ein  «Kalendarium  adoptivum*,  dessen  Angaben  denen  des 
alten  um  1  Tag  voraus  sind.  Wie  sich  Fabricius  dieses  gedacht  bat,  läast 
sich  nicht  sagen,  denn  er  verweist  nur  in  der  Ueberschrift  zu  dieser  Columne 
auf  ein  anderes  Werk,  wo  er  ausführlich  darüber  gehandelt  habe.  In  dem 
grösstentheils  Lambecius  entnommenen  Verzeichnisse  seiner  Werke  bei 
Adelung  (Gelehrtenlexicon)  findet  sich  kein  entsprechendes  angegeben  and 
auch  sonst  ist  mir  dasselbe  nicht  bekannt  geworden. 


Die  Polemik  ftber  die  Gkregorianieohe  K»lenderreform.  533 

Jenen  Thesen,  welche  Jacobus  Heerbrandus  gegen  den 
Kalender  aufgestellt  hatte,  wurden  zu  Mainz  von  dem  Jesuiten 
Johann  Busaeus  solche  entgegengestellt.  *  Abgesehen  davon, 
dass  Busaeus  den  Fehler  begeht,  die  Autorität  des  Pabstes  als 
unanfechtbar  hinzustellen,  was  natürlich  für  einen  Polemiker, 
der  ganz  in  den  Ideenkreis  des  Oegners  eingehen  soll,  einem 
Protestanten  gegenüber  schlecht  angewendet  ist,  muss  man 
sagen,  dass  er  mit  grosser  Ueberlegenheit  und  Gewandtheit  die 
Behauptungen  seines  Gegners  entkräftet.  Heerbrand  und  alle 
seine  Qesinnungsgenossep  hatten  behauptet,  dass  wegen  des 
Pabstes  der  neue  Kalender  nicht  angenommen  werden  könne, 
sondern  dass  die  Reform  Sache  der  weltlichen  Obrigkeit  ist 
und  stets  war,  wobei  hauptsächlich  Caesar  und  Constantin 
herbeigezogen  wurden.  Busaeus  macht  mit  Recht  dagegen 
geltend,  dass  Caesar  nicht  als  Dictator,  sondern  als  Pontifex 
Maximus  seine  Reform  unternommen  und  dass  Constantin  nur 
die  Initiative,  nicht  aber  die  Ausführung  der  Osterregelung  er- 
griffen habe.  Busaeus  ist  so  schlau,  nicht  zu  behaupten,  dass 
der  Pabst  der  einzige  sei,  der  jetzt  die  Reform  vornehmen 
dürfe,  sondern  er  stellt  die  These  auf,  dass  er  unter  den  gegen- 
wärtigen Verhältnissen  der  einzige  sei,  welcher  sie  durchführen 
könne.  Er  erinnert  die  Evangelischen  daran,  dass  Deutschland 
nicht  allein  in  Europa  da  sei,  und  dass  in  Folge  dessen  die 
deutschen  Fürsten  nicht  von  Europa  verlangen  können,  dass 
man  entweder  von  der  als  nöthig  erkannten  Reform  abstehe, 
oder  ihnen  zu  Liebe  eine  andere  Form  derselben  wähle.  Die 
Berufung  auf  ein  allgemeines  Concil  sei  auch  müssig,  denn  die 
Nicht-Anerkennung  des  Pabstes  als  Vorsitzenden  desselben  bildet 
eine  zu  grosse  Kluft  zwischen  beiden  Parteien.  Höhnend  hält 
Busaeus  den  Gegnern  vor,  dass  sie  ja  selbst  unter  sich  nicht 
einig  sind,  dass  das  von  den  Protestanten  Behauptete  aufs 
heftigste  von  den  Calvinisten  bekämpft  werde  und  umgekehrt. 

Wer  also  —  fragt  Busaeus  —  wäre  in  den  gegenwärtigen 
Zeiten  im  Stande,  in  Europa  ein  Werk  durchzuführen,  als  der 
Pabst?     Nun    könne    man  ja   von    den  Protestanten  gar  nicht 


*  De  Cklendario  Gregoriano  DiBputatto  apologetica,  Doctoris  Theologiae 
Dispntationi  Lutheranae  Tübingens!  opposita  et  in  Academia  Moguntia 
anno  MDLXXXV  proposita.  Main/.  1586. 


534  Kaltenbrnnner. 

verlangen^  dass  sie  aus  Gehorsam  gegen  denselben  den  neuen 
Kalender  annehmen  sollen;  nur  vom  Standpunkt  der  Nützlich- 
keit und  des  Friedens  halber  hätten  sie  sich  dem  Willen  der 
Katholischen  fügen  sollen.  Im  Weiteren  sucht  Busaeus  zu 
beweisen^  dass  der  Kalender  ein  Adiaphoron  sei  und  von 
den  Protestanten,  obwohl  vom  Pabste  kommend,  angenommen 
werden  könnte.  Die  Herbeiziehung  des  Wortes  ,Mandamu8' 
der  Bulle  sei  ganz  unrichtig,  denn  der  Pabst  habe  ja  damit 
nur  den  Gläubigen,  nicht  den  Ketzern  etwas  befohlen;  des- 
gleichen kann  ja  die  Androhung  dqs  Bannes  für  die  schon 
längst  Excommunicirtcn  und  Ausgestossenen  nichts  gelten.  Den 
Protestanten  sei  die  Haltung  des  Kalenders  vom  Kaiser  ohne 
Nennung  des  päbstlichen  Namens  anbefohlen  worden;  wie 
steht  es  da  mit  der  Aufrichtigkeit  des  Hoerbrand  und  seiner 
Genossen,  die  behaupteten,  dass  der  Kalender  anzunehmen 
gewesen  wäre,  wenn  er  vom  Kaiser  publicirt  worden  wäre? 
Der  Kalender  gehört  ferner  unter  jene  Dinge,  die  Katholiken 
und  Protestanten  gemeinsam  sind,  haben  doch  bis  jetzt  alle 
Ketzer  aus  gutem  Willen  das  Osterfest  mit  der  Kirche  gefeiert; 
ist  doch  auch  der  verbesserte  Kalender  nur  der  Form,  nicht 
dem  Wesen  nach,  vom  alten  verschieden  und  berührt  doch 
diese  Form  nicht  die  Glaubenslehre,  sondern  gehört  in  das 
Gebiet  der  Mathematik,  daher  auch  die  Aenderungen  lediglich 
durch  den  Fleiss  der  Mathematiker,  nicht  der  Theologen,  in 
Rom  zu  Stande  gekommen  sind. 

Auch  von  München  aus  wurde  der  Kalender  vertheidigt. 
Im  Jahre  1586  gab  dort  Johannes  Rasch  ein  deutsches  Buch 
zu  dem  Behufe  heraus,  das  mir  leider  nicht  zugänglich  war; 
ich  kenne  nur  ein  Capitel  desselben  aus  Maestlin's  später  zu 
besprechender  Schrift.  Aus  diesem  geht  hervor,  dass  Rasch 
sich  auch  auf  die  astronomischen  Fragen  einlässt  (^das  Capitel 
führt  die  Ueberschrift  ,Epacta')  und  gegen  Maestlin's  Buch 
polemisirt.  Besonders  geschickt  scheint  übrigens  die  Verthei- 
digung  nicht  gewesen  zu  sein,  denn  Rasch  erklärt  die  von 
Maestlin  nachgewiesenen  Fehler  der  Epactenrechnung  durch 
die  Anwendung  einer  anderen  Tagesepoche  und  eines  anderen 
Meridians,  und  scheint  so  weit  über  das  Ziel  hinausgeschossen 
zu  haben,  indem  er  den  Kalender  über  alle  Fehler  erhaben 
hinstellte. 


Die  Polemik  Aber  die  Gregori^niache  Kalenderrefom.  Öo5 

Auch  an  Flugschriften  Iiess  man  es  katholische rseits 
nicht  fehlen,  so  dass  wy*  jene  drei  Specimina  des  Angriffs  durch 
drei  gleichartige  Vertheidiguugs-Methoden  vertreten  finden.  Jene 
zwei  meissnerischen  Bauern  hatten  erwähnt,  dass  die  Störche 
nach  dem  alten  nicht  nach  dem  neuen  Kalender  wegfliegen, 
und  wohl  jedermann  wii*d  ihnen  dies  geglaubt  haben.  Katho- 
lischerseits  stellte  man  grössere  Ansprüche  auf  Vertrauens- 
seligkeit, denn  nach  einer  lö84  zu  Mainz  gedruckten  , Zeitung^  ■ 
richteten  sich  die  Naturerscheinungen  nach  dem  neuen  Kalender 
d.  h.  sie  berücksichtigten  die  Auslassung  von  10  Tagen.  Dies 
wird  bewiesen  durch  den  Bi'ief  eines  Reisenden  an  den  Pfarr- 
herrn von  Nicolöburg  folgenden  Inhalte.  Als  der  Schreiber 
nach  Graz  zum  Krzherzog  Karl  kam,  erzählte  ihm  dieser,  dass 
in  dem  Dorfe  Campo  Longo  bei  Görz  ein  Nussbaum  stehe,  der 
jedesmal  am  Johannestage  zu  grünen  und  Früchte  zu  tragen 
anfange.  Als  nun  1583  die  10  Tage  ausgelassen  wurden,  habe 
der  Baum  ebenfalls  am  Johannistage,  also  10  Tage  früher  als 
in  den  Vorjahren  gegrünt  und  damit  wohl  deutlich  bewiesen, 
dass  er  sich  nach  dem  neuen  Kalender  richte.  Der  Schreiber 
selbst  ist  dann  in  Görz  gewesen  und  hat  das  Wunder  vom 
Kichter  und  Pfarrherrn  bestätigen  hören  und  auch  vernommen, 
dass  zahlreiche  Leute  namentlich  aus  Italien  dahin  pilgern, 
um  den  Wunderbaum  zu  sehen.  Wie  aus  der  weiteren  Er- 
zählung hervorgeht,  wurde  daraus  Capital  geschlagen,  denn 
Erzherzog  Karl  soll  das  Wunder  durch  den  Nuntius  nach  Rom 
berichtet  haben,  und  der  Schreiber  selbst  sagt,  er  habe  Zweige 
des  Baumes  an  den  Bischof  von  Olmütz  und  an  den  Grafen 
von  Dietrichstein  geschickt  mit  der  Bitte,  die  Sache  dem  Kaiser 
zu  erzählen. 

Jene  Klage  der  Bauern,  dass  die  Loostage  geändei*t  worden 
seien  und  dass  man  sich  nicht  mehr  beim  Feldbau  zurecht  finden 


'  Dieselbe  findet  sich  als  Anhang  in  einem  158  4  zn  Mainz  j^ednickten 
Buche  mit  dem  Titel:  C.  F.  D.  Warer  Hericht,  warnmb  das  alt  römisch 
Calender  dieser  Zeit  notwendijr  ersehen  und  gebessert  worden,  wie  im 
Nicenischen  Concil  vor  1265  Jahren  auff  begercn  des  grosszmächtigen 
Römischen  Keysers  Constantin  Magni  aufh  beschehen.  Die  Darlegung 
der  Gregorianischen  Reform,  die  als  nützlith  und  n(»thweudig  erklärt 
wird,  ist  völlig  bedeutungslos,  zumal  da  sich  der  Pseudonjmus  aller 
Polemik  enthalt. 


536  K»It«DbrttDner. 

könne,  fand  eine  Erwiderung  in  ähnlicher  Form. '  Der  Dichter 
gibt  eine  Anleitung,  wie  man  sich  trotz  des  neuen  Kalenders 
der  LooBtage  bedienen  könne,  und  führt  uns  dann  in  eine  Ver- 
sammlung der  Vögel,  worin  diese  erklären,  sie  kümmerten  sich 
um  den  Kalender  der  Menschen  gar  nicht,  sondern  nur  um 
den  Himmelslauf,  sie  müssten  dies  auch  thun,  da  sie  bei  ihren 
Wanderungen  in  die  fernen  Länder  auf  manch'  andere  Kalender 
stossen.  Der  jetzige  Kalenderhandel  kümmerte  sie  also  gar  nichts 
und  dabei  sprechen  sie  folgende  Verse,  die  ganz  gut  an  den 
SchluBs  dieses  ersten  Hauptabschnittes  unserer  Abhandlung 
pausen:  ' 

,Doch  wissen  anter  uns  die  Alten 
Dass  man  vor  Zeiten  hat  gehalten 
In  dem  Land,  das  heisst  Christenheit, 
Eine  bessere  Einhelligkeit/ 


lY.  Die  Angriffe  der  Mathematiker. 

Die  protestantischen  Theologen  hatten  ihr  Ziel  erreicht; 
ihre  Fürsten  waren  auf  ihre  Gedanken  eingegangen,  und  so  war 
denn  wirklich  die  evangelische  Kirche  vor  dem  drohenden  Ein- 
griff des  Pabstthums  bewahrt  geblieben.  Dafür  hatte  Deutsch- 
land zu  allem  übrigen  Hader  noch  einen  neuen  bekommen,  der 
aller  Orten  hervorbrach.  Man  sollte  nun  meinen,  dass  die  Oppo- 
sitionspartei Licht  und  Schatten  gleichmässig  vertheilt  hätte  und 
dass  sie  das,  was  sie  für  ihre  eigenen  Keiigionsgenossen  for- 
derte, auch  den  Katholiken  gewährte,  d.  h.  dass  sie  den  unter 
protestantischer  Obrigkeit  lebenden  Katholiken  auch  gönnte,  den 
neuen  Kalender  zu  benützen.  Es  lässt  sich  nachweisen,  dass 
beim  Kalenderstreit  in  Augsburg  protestantische  Fürsten,  wie 
Pfalz  und  Würtemberg,  offene  Partei  für  die  renitenten  Pre- 
diger nahmen  und  es  eben  als  Eingriff  in  den  Keligionsfrieden 
bezeichneten,  dass  der  Augsburger  Rath  den  neuen  Kalender 
auch  den  Evangelischen  aufnöthigen  wollte.  Umgekehrt  aber 
haben  wir  Beispiele,  dass  protestantische  Magistrate  der  katho- 
lischen   Geistlichkeit   die  Annahme   des   neuen  Kalenders  mit 


1  Bawren  Rathscbla^  aber  den  neweu  Kalender  auf  ihnen  zugemessene  and 
aussg^egangene  Bawrenklag. 


Die  Pelemik  ftber  die  Qregoriaoiieh«  Kalenderreförm.  537 

Gewalt  wehrten.  So  lieBB  der  Wormser  Rath  die  Publication 
des  Kalenders,  welche  der  Bischof  gemäss  des  kaiserlichen 
Rundschreibens  im  October  1583  an  die  Kirchenthüren  hatte 
schlagen  lassen,  durch  die  Stadtknechte  herunterreissen  und 
zwang  den  Clerus,  auch  fortan  den  alten  Kalender  zu  benützen, 
und  ähnliches  geschah  in  Hagenau  und  Lindau.  Erst  allmählich 
nach  Beilegung  all'  dieser  localen  Streitigkeiten  kommt  es  dahin, 
dass  man  die  Benützung  des  einen  oder  andern  Kalenders  nach 
Territorien  scheiden  kann.  Die  vorausgehende  Darstellung  hat 
es  gezeigt,  dass  bis  zu  diesem  Zeitpunkte  wesentlich  nur  auf 
theologisch-politischem  G-ebiete  gekämpft  wurde.  Wir  haben 
erst  einen  Mann  —  Michael  Maestlin  —  mathematische  Gründe 
ins  Feld  führen  sehen,  aber  auch  der  hat  durch  seine  früheren 
Auseinandersetzungen  die  Leser  derart  eingenommen,  und  hat 
auch  die  mathematischen  Theile  seiner  Schrift  mit  solchen  Aus- 
fällen auf  den  Pabst  gewürzt,  dass  von  einer  einigermassen 
unparteiischen  Beurtheilung  nicht  die  Rede  sein  kann.  Indem 
wir  jetzt  die  Angriflfe  der  Mathematiker  vorfiihren  werden,  so 
wird  zu  Anfang  uns  auch  noch  dies  entgegentreten^  und  erst 
im  zweiten  Theile  dieses  Capitek  werden  wir  auf  rein  sach- 
liche Kritik  stossen. 

Der  erste  derartige  Angriff  ging  von  dem  Zwickauer  Astro- 
nomen Tobias  Müller  aus  in  einem  1583  zu  Mainz  und  dann 
im  Heidelberger  Sammelbandc  gedruckten  Buche.  Ganz  eigen- 
thümliche  Motive  leiteten  den  Mann  bei  Abfassung  desselben, 
unter  welche  gekränkte  Eitelkeit  jedenfalls  gehört.  Denn  Müller 
hatte  dem  1582  zu  Augsburg  versammelten  Reichstage  eine 
Bittschrift  eingereicht,  den  Kalender  zu  reformiren,  wofür  er 
die  beste  Lösung  gefunden  zu  haben  meinte.  Er  bittet  seinen 
Reformvorschlag  durch  eine  Commission  von  Gelehrten  prüfen 
zu  lassen  und  im  Falle  der  Gutheissung  ihm  die  Kosten,  die 
er  nur  auf  30.000  Guldeu  anschlägt,  zu  ersetzen.  *  Es  war 
darauf  keine  Erledigung  erfolgt  und  aller  Orten  machte  sich 
jetzt  der  päbstliche  Kalender  breit.  Da  ergriff  er  wieder  die 
Feder,    um    die    schönen  Künste   und  die  liebliche  Astronomie 


»  Mainzer  Erzkanzler-Archiv.  Reichstagsacten  1582.  Tom.  I.  Supplicationum 
pag.  389. 


538  KalteDbrunner. 

vor  gänzlichem  Untergang  zu  erretten,  um  der  verblendeten 
Welt  zu  zeigen,  dass  das  ganze  päbstlidie  Kalendermachwerk 
von  Stümpern  in  der  Astronomie  gemacht,  und  jedes  richtigen 
Fundaments  baar  sei.  Denn  im  neuen  Kalender  sind  die  canones 
motuuni  coelestium  nicht  berücksichtigt  und  weder  neue  Tafeln 
noch  corrigirte  Ephemeriden  benützt  worden.  Denn  auf  den 
astronomischen  Tafeln,  nicht  auf  dem  Sonnencyclus  und  dem 
Numerus  aureus  beruhe  die  Zeitrechnung.  Der  Kalender  habe 
kein  Fundament,  weil  die  Dauer  des  tropischen  Jahres  gar  nicht 
angegeben  werde  und  weil  man  nicht  berücksichtigt,  dass  die 
Dauer  der  einzelnen  Jahre  selbst  von  einander  abweiche;  wie 
könne  man  bei  einem  solchen  Vorgehen  dem  Julianischen  Kalen- 
der vorwerfen,  dass  er  das  Jahr  unrichtig  ansetzt!  Ferner  ist 
die  Reform  falsch,  weil  sie  ii\  der  Wegwerfung  der  Tage  so 
weit  gefehlt  habe,  denn  wenn  man  einen  Fehler  corrigire,  so 
habe  es  nur  Sinn,  wenn  man  den  ganzen  corrigirt,  also  hätte 
man  auf  die  Zeit  Caesar's  zurückgehen  müssen,  und  wenn  man 
sagt^  dass  dieser  Stunden  und  Minuten  bei  seinem  Jahresansatze 
zu  wenig  berücksichtigt  habe,  so  sei  es  sinnlos,  jetzt  bei  der 
Correctur  doch  wieder  nur  v#lle  Tage  zu  nehmen.  Obwohl  nun 
Müller  noch  zwanzig  derartige  Einwürfe  in  der  Tasche  hätte, 
so  will  er  doch  fUr  diesmal  schweigen  mit  Rücksicht  darauf, 
dass  die  von  ihm  ausgedachte  Reform  so  viel  Mühe  und  Zeit 
gtikostet  habe  und  er  furchtet,  es  möchte  ihm,  wenn  er  alle  seine 
Gesichtspunkte  darlegen  würde,  ein  Anderer  seine  Arbeit  weg- 
schnappen. Wie  diese  Restitution  ausgesehen  hat,  wissen  wir 
nicht,  denn  Müller  hat  seine  hier  ausgesprochene  Absicht,  die- 
selbe in  Druck  zu  legen,  nicht  ausgeführt.  Wir  hätten  einen 
neuen  Monatsnamen  erhalten,  denn  Müller  hätte  den  September 
zu  Ehren  des  Churfürsten  von  Sachsen,  von  dem  er  angeblich 
zu  seinem  Werke  angeregt  worden  ist,  ,Elector*  genannt.  Sie 
beruhte  auf  den  richtigen  astronomischen  Tafeln  und  ihrem 
wahren  Calcül,  und  hätte  auch  ein  so  gewisses  Judicium  mit 
sich  geführt,  dass  sich  viele  darüber  gewundert  hätten.  Müller 
vertraut  auch  deshalb  mit  voller  Zuversicht  sein  Werk  der 
Prüfung  der  Astronomen  an,  denn  er  ist  überzeugt,  dass  kein 
einziger  etwas  dagegen  einzuwenden  haben  wird. 

Weit    gemässigter    und   von    andern    Beweggründen  aus- 
gehend,  urtheilt   um   dieselbe  Zeit  Jacobus  Cuno  zu  Fiank- 


Die  Polemik  ftber  die  Qregorianische  Kalenderrefonn.  539 

furt  a./d.  Oder  über  den  Kalender.  ^  Er  meint,  die  Gregoria- 
nische Reform  sei  weder  mit  dem  harten  Tadel,  noch  mit  dem 
unbedingten  Lobe  zu  belegen»  wie  es  bisher  geschehen  sei.  Der 
Verfasser  scheint  Katholik  zu  sein,  lebt  aber  in  einem  Lande, 
wo  1583  der  neue  Kalender  noch  nicht  angenommen  ist,  und  so 
ist  er  bestrebt,  einen  Mittelweg  einzuschlagen.  Er  meint,  das  rich- 
tige Aequinoctium  sei  in  der  Weise  zu  berücksichtigen,  dass  man 
für  eine  lange  Reihe  von  Jahren  dasselbe  aus  den  Prutenischen 
Tafeln  berechnet,  und  nun  jene  Jahre  des  Bissextus  beraubt, 
in  welchen  die  Differenz  zwischen  Julianischem  und  Coperni- 
kanischem  Jahr  wieder  zu  1  Tag  angewachsen  ist;  auf  diese  Weise 
würde  das  Aequinoctium  vernum  so  ziemlich  stets  am  2L  März 
haften  bleiben,  was  es  im  Gregorianischen  Kalender  keineswegs 
thue.  Ferner  sollten  die  mittleren  Ostervollmonde  berechnet 
und  benützt  werden,  mit  der  Beschränkung,  dass  in  den  Fällen, 
wo  diese  auf  den  Tag  des  Aequinoctium's  fallen,  der  astronomisch 
bestimmte  Vollmond  zur  Osterberechnung  verwendet  werde. 

Diese  beiden  Angriffe  konnten  in  ihrer  allgemeinen  Fassung 
dem  Reformwerk  nicht  gefahrlich  werden  und  so  blieben  sie 
auch  unbeantwortet.  Bisher  war  man  in  eine  sachliche  Kritik 
nicht  eingegangen ;  jetzt  aber  eröffnete  jener  Maestlin,  von  dem 
zuerst  der  allgemeine  Angriff  begonnen  worden  war,  auch  den 
Reigen  der  Mathematiker,  und  jetzt  spielt  die  Polemik  über  auf's 
sachliche  und  wird  ein  Beitrag  zur  Gelehrtengeschichte  jener 
Zeit.  Nun  verlassen  wir  auch  den  wüsten  Schmäh  ton,  der  bisher 
in  so  trauriger  Weise  vorgeherrscht  hatte,  und  begegnen  durch- 
aus akademischen  in  lateinischer  Sprache  abgefassten  Schriften. 
Sehr  zart  allerdings  fassen  sich  auch  jetzt  die  Gegner  nicht  an, 
doch  dies  ist  ein  Merkmal,  das  den  polemischen  Schriften  aller 
Zeiten  besonders  aber  jener  Periode  anhaftet. 

Maestlin  hatte  seine  erste  Schrift  in  ganz  anderer  Absicht 
verfasst  als  die  jetzige.^  Damals  galt  es,  seinen  Fürsten  und  die 

1  Theses  de  calendario  Juliano,  quo  ecclesia  imuc  utitur  viciato,  ejusdemque 
restitutione.  Frankfurt  a.  d.  O.  1ö83. 

2  Die  Schrift  führt  den  Titel;  Alterum  Examen  Novi  PontilicaliB  Grego- 
riani  Kalendarii,  quo  ex  ipsis  fontibus  demoustraUirf  quod  novum  Kalen- 
darinm  omnibus  9atis  partibus,  quibus  quam  rectissime  reformatus  vel  est 
vel  esse  putatur,  maltis  modis  mendosum  et  in  ipsis  fundamentis  vitiosum 
Sit.  Tübingen  1586. 


540  KalteDbrunaer. 

Glaubensgenossen  abzuhalten,  den  Kalender  anzunehmen,  und 
nichts  war  da  geeigneter,  als  die  Keligionsfrage  in  den  Vorder- 
grund zu  stellen.  Jetzt  war  dieser  Zweck  erreicht  und  es  galt, 
nun,  auch  die  flüchtig  hingeworfenen  Bemerkungen  über  die 
Fehlerhaftigkeit  der  Reform  näher  zu  begründen.  So  wird  denn 
jetzt  in  der  Schrift  selbst  nur  die  mathematische  Seite  der 
Reform  in*s  Auge  gefasst,  dagegen  hören  wir  in  der  Vorrede 
und  in  der  Conclusio  Maestlin  mehrmals  den  finiheren  Ton  an- 
schlagen, wenn  er  auch  etwas  durch  die  lateinische  Sprache 
gemildert  wird.  Zwei  Motive  lassen  sich  in  Maestlin's  Arbeit 
erkennen.  Das  eine  spricht  er  in  der  Vorrede  deutlich  genug 
aus:  Im  Bewusstsein,  dass  der  neue  Kalender  durchaus  fehler- 
haft sei,  kann  er  es  nicht  begreifen,  wie  in  dem  Zeitraum  von 
vier  Jahren  kein  einziger  Mathematiker  aufgestanden  ist  und  die 
herrliche  Wissenschaft  der  Astronomie  gegen  derlei  Verunzie- 
rungen in  Schutz  genommen  hat.  So  sieht  er  es  denn  für  seine 
Pflicht  an,  aufzutreten  und  der  gelehrten  Welt  die  ganze  Halt- 
losigkeit des  vom  Pabste  unternommenen  Werkes  darzulegen. 
Im  weiteren  Verlaufe  dagegen  entschuldigt  er  sich,  dass  er 
astronomische  Subtilitäten  —  die  nach  seiner  und  aller  ver- 
nünftigen Leute  Ansicht  gar  nichts  mit  der  Zeitrechnung  zu 
thun  haben  —  in  den  Kreis  seiner  Betrachtungen  ziehe.  Lediglich 
die  hochtönende  Sprache  der  päbstlichen  Bulle,  vornehmlich 
die  Worte  ,quod  ipsum  (Kalendarium)  tam  perfectum  sit,  ne 
ulli  umquam  mutationi  sit  obnoxium  in  futurum^  bewege  ihn, 
dies  zu  thun.  Maestlin's  Werken  und  fast  allen  zu  besprechenden 
Angriffen  wäre  die  Spitze  abgebrochen  gewesen,  ja  sie  wären 
beinahe  unmöglich  oder  nur  leer  gewesen,  wenn  von  Rom  jenes 
in  den  Canones  versprochene  Werk  über  eine  nähere  Begrün- 
dung der  Reform  herausgegeben  worden  wäre.  Auf  diese  un- 
begründete Hinstellung  der  Reform  fusst  Maestlin  abermals^ 
fordert  aber  zugleich  auch  die  römischen  Mathematiker  auf 
seinem  Angriff  zu  entgegnen,  widrigenfalls  sie  als  unfähig  hiezu 
und  als  Störer  der  öffentlichen  Ruhe  erscheinen  müssten. 

Zunächst  kritisirt  Maestlin  die  Modiiication  der  Schalt- 
regel, dass  also  in  je  400  Jahren  drei  bissexti  ausgelassen  werden 
sollen.  Aus  derselben  erkennt  er,  dass  die  Prutenischen  Tafeln 
zu  Grunde  gelegt  sind ;  wie  sehr  aber  über  diese  von  den  Mathe- 
matikern geklagt  werde,  ist  bekannt.  Nun  ist  es  auch  ausgemachte 


Die  Polemik  Aber  die  Gregoriftniselie  Eftlenderreform.  541 

Sache,  dass  die  tropischen  Jahre  nicht  gleiche  Dauer  haben, 
sondern  bis  33'  15"  untereinander  abweichen  können ;  die  Folge 
davon  ist,  dass  die  Jahrpunkte  nicht  in  133  Jahren  um  1  Tag 
im  julianischen  Jahre  zurückinicken,  sondern  in  Zwischenräumen, 
die  zwischen  50  und  300  schwanken;  daraus  folgt,  dass  das 
Aequinoctium  durchaus  nicht  so  fix  am  21.  März  haften  wird, 
als  es  die  Bulle  des  Pabstes  verspricht.  Maestlin  gibt  hiefür 
ein  schlagendes  Beispiel  durch  Vergleichung  der  Aequinoctien 
in  den  Jahren  1600  und  1900.  Ersteres  fällt  am  10.  März  alten 
Styls,  letzteres  am  9.  März.  Die  Anticipatio  beträgt  also  1  Tag; 
nach  der  neuen  Schaltregel  aber  werden  3  Tage  ausgelassen 
(1700,  1800,  1900),  die  Aequinoctien  fallen  also  nach  ihr  im 
alten  Styl  am  10.  und  12.,  nach  neuem  am  20.  (10  -f  10)  und 
22.  (9  +  10  +  3)  März.  Dass  es  in  der  Jetztzeit  sehr  häufig 
auf  den  20.  März  fällt,  entschuldigt  bei  den  Schaltjahren  selbst 
Maestlin,  aber  das  Beispiel  von  1900  stehe  im  vollen  Wider- 
spruche mit  dem  Versprechen  des  Pabstes.  Ein  Massstab  für 
die  Richtigkeit  ist  ihm  auch  folgender  Umstand:  wenn  man 
von  jetzt  an  die  Schaltregel  zurück  bis  zum  Concil  von  Nicaea 
anwendet,  so  muss  man  vom  11.  März  —  dem  jetzigen  Stand 
des  Aequinoctium's  —  zum  21.  März  gelangen,  denn  man  kam 
eben  dadurch  vom  21.  zum  11.,  dass  man  die  centenaren  Jahre 
500,  600,  700,  900,  1000,  1100,  1300,  1400,  1500  bissextil 
setzte;  nun  sind  dies  9;  vorausgesetzt  also,  dass  der  Ansatz 
des  Nicaenischen  Concils  richtig  ist,  was  man  in  Rom  gewiss 
nicht  bezweifelt  —  so  gelangt  man  zurück  zum  20.,  nicht  zum 
21.  März.  Also  auch  jener  Satz  der  Bulle,  der  so  sehr  die  Her- 
stellung des  Nicaenischen  Standes  betont,  ist  unrichtig.  Den 
gleichen  Weg  wie  beim  Sonnenjahre  schlägt  Maestlin  auch  bei 
Besprechung  des  Epactencyclus  ein;  auch  hier  hängt  er  sich 
an  die  anpreisenden  Worte  des  Pabstes;  er  findet  zwischen  diesen 
und  dem  Zugeständnisse  der  Canones,  dass  in  der  Epacten- 
rechnung  unvermeidlich  Fehler  vorkommen  müssen,  einen  un- 
auflösbaren Widerspruch;  aber  nicht  bloss  in  der  Bestimmung 
der  Neumonde,  sondern  auch  in  der  der  termini  paschales  unter- 
laufen Fehler,  so  dass  alle  fünf  möglichen  Fälle  einer  falschen 
Osterberechnung,  die  im  alten  Kalender  vorkamen,  auch  im 
neuen  eintreten  können,  was  er  durch  zahlreiche  Beispiele  er- 
härtet.   Maestlin  kommt  zum  Schlüsse:  Er  glaubt  bewiesen  zu 


542  Kaltenbrunner. 

haben,    da88   der    neue  Kalender  ein  ^Colluvium  omnium  erro- 
rum'  ist;    er  zweifelt,  ob  Gregor  XIII.  alle  diese  Fehler  über- 
sehen habe;    ist  ihm  dies  geschehen,  so  ist  seine  Sorglosigkeit 
nicht  genug  zu  rügen,  und  der  Christenheit  bleibt  nichts  übrig 
als  a  Pontifice  male  informato  ad  Pontificem  melius  informan- 
dum  zu  appelliren.  Maestlin  ist  aber  geneigt,  anzunehmen,  dass 
sowohl  Autor  als  Pabst  sich   der  Fehler   wohl   bewusst   waren 
und  aus  ganz  bestimmten  Gründen  —  der  eine  aus  Ruhmsucht, 
der   andere    um  seine  Decrete  in  die  reformirte  Kirche  einzu- 
schmuggeln —  das  Werk  dennoch  veröffentlicht  hätten.  Dies  be- 
weist der  Vorgang  bei  der  Publicirung ;  warum  hat  man  gerade 
1582,    das  weder  centenar   noch   bissextil  war,    dazu  gewählt? 
Dass    der  Pabst   nicht   länger   gewartet   habe,   glaubt  Maestlin 
damit   erklären    zu    können,    dass  Gregor  selbst  noch  die  Ein- 
führung seines  Werkes  erleben  wollte  und  gefürchtet  habe^  dass 
die  Fehler  desselben  aufgedeckt  werden,  sobald  man  Zeit  zur 
Prüfung  gebe.  Aber  wenn  schon  mit  solchem  Eifer  voi^egangen 
wurde,    warum   hat   man   erst  im  October  und  nicht  schon  im 
Februar   corrigirt,    in   welchem  Falle   dann  1582  schon  Ostern 
,richtig^  gefeiert  worden  wäre.  Maestlin  weiss  auch  hiefiir  einen 
Grund,  der  boshaft  genug  ist.     1582  lit.  douiinic.  C  num.  aur. 
VI.  term.  pasch.  17.  April  B  hätte  nach  neuem  Styl  am  18.  April 
Ostern  gehabt,  an  welchem  Tage  aber  nach  dem  astronomischen 
Calcül  Vollmond  fiel;    somit   wäre   gleich  im  ersten  Jahre  der 
Reform  Ostern  falsch  gefeiert   worden,    um    dies   nun    zu    ver- 
meiden,   habe    man  bis  October  gewartet.     Zum  Schlüsse  geht 
Maestlin    in    eine    Kritik    einiger    Vertheidigungsschriften    ein, 
nämlich  des  C.  F.  D.,    des  Johannes  Rasch  und  des  Johannes 
Busaeus.  Da  Maestlin  sich  vorgenommen  hat,  in  dieser  Schrift 
nur  von  der  astronomischen  Seite  der  Reform  zu    handeln,    st» 
hat  er  dabei  nicht   viele  Gelegenheit   zur  Entgegnung.     Nach- 
dem er  den  Pseudonym  als  astronomisch  ungebildet  abgefertigt 
hat,  erwidert  er  dem  J.  Rasch,    indem   er  das  früher  erwähnte 
Capitel  seiner  Schrift   heraushebt;    er  erklärt,   dass  alle  Nach- 
weise über  die  Fehlerhaftigkeit   des  Epactencyclus,    welche   er 
gegeben,  auf  den  Meridian  von  Rom  und  die  Mitternachtsepoche 
berechnet  seien,  daher  sei  der  Einwurf  des  Rasch  haltlos;  jedoch 
bittet  er  ihn,  in  seinem  in  Aussicht  gestellten  Computus  auf  die 
neuerlichen  Angriffe  einzugehen  und  wenn  möglich  sie  zu  wider 


Die  PAlenilc  aber  die  Orefoiianitche  Kalendarreform.  543 

legen.  Auch  die  Thesen  des  Busaeus  geben  nicht  viel  Stoff; 
und  nar  die  Behauptung  desselben,  dass  die  besten  Mathema- 
tiker der  Erde  den  Kalender  theils  gemacht,  theils  gut  geheissen, 
veranlassen  Maestlin  zu  der  Bemerkung,  wie  merkwürdig  es 
doch  sei,  dass  Busaeus  keinen  einzigen  deraelben  beim  Namen 
nenne.  Wie  schlecht  es  übrigens  mit  dem  Vertrauen  auf  das 
Werk  beim  Pabste  selbst  bestellt  sein  müsse,  zeigt,  dass  er 
allen  Mathematikern  die  Discnssion  über  die  Reform  verbietet 
und  es  ^erzieht,  mit  dem  Bannfluche  statt  durch  überzeugende 
Gründe  die  Annahme  derselben  zu  erzwingen.  Mit  einer  aber- 
maligen Ermahnung  an  die  Mathematiker,  ihre  Augen  zu  öffnen 
und  diesen  ihrer  schönen  Wissenschaft  Hohn  sprechenden  Kalen- 
der gehörig  zurückzuweisen,  schliesst  Maestlin  seine  Schrift  ab. 

Diese  Aufforderung  an  die  Gegner,  ihn  zu  widerlegen, 
blieb  in  der  That  in  Rom  nicht  unbeachtet,  denn  endlich  ging 
Clavius  daran,  eine  ausführliche  Begründung  des  Kalenderwerkes 
herauszugeben,  die  ihre  Spitze  gegen  Maestlin  richtete.  Ehe 
jedoch  dieses  Buch,  das  uns  bald  zu  beschäftigen  haben  wird, 
erschien,  wurde  dem  Maestlin  vom  Jesuiten  Antonius  Posse- 
vinus  in  seiner  Moscovia  erwidert.*  Derselbe  weiss,  dass  Cla- 
vius die  Absicht  habe,  zu  antworten  und  so  begnügt  er  sich, 
den  Angriff  als  nichtig  und  eitel  hinzustellen,  mehr  nützlich 
dem  Reformwerk  als  schädlich.  Nur  auf  eine  Inconsequenz, 
besser  gesagt  auf  einen  Widei*spruch  Maestlin's  macht  Posse- 
vinus  aufmerksam,  um  damit  einen  Massstab  für  die  Beurthei- 
lung  des  ganzen  Werkes  zu  geben.  Maestlin  mache  es  den  rö- 
mischen Mathematikern  zum  Vorwurf,  dass  sie  nicht  neue  Tafeln 
sondern  die  fehlerhaften  Prutenischen  Tafeln  zu  Grunde  gelegt 
haben,  und  andererseits  benutzt  er  dooh  dieselben,  um  mit  An- 
gabe von  speciellen  Fällen  zu  beweisen,  dass  das  Aequinoctium 
vernum  durchaus  nicht  am  21.  März  gefestigt  worden  sei. 

Auf  diesen  Angriff  gab  Maestlin  1588  eine  ,Defensio  al- 
terius  sui  examinis^  heraus.  Er  constatirt,  dass  ausser  Posse- 
vinus  in  einem  Zeitraum  von  zwei  Jahren  kein  Mathematiker  ihm 
geantwortet  habe,  denn  auch  das  von  demselben  angekündigte 
Buch   des  Clavius  sei    ihm    trotz    eifrigen  Nachforschens   nicht 

'  Moflcovia  et  alia  opera  de  statu  hnjus  aaecuH  adversus  Catholicae  eccle- 
siae  hostes  in  officina  Birkmannica  1587.  Sect.  IV.  De  anni  et  paschae 
emendatione. 


544  Kaltenbrunner. 

ZU  Gesichte  gekommen J  Durch  Schweigen  also  geben  die 
Gegner  zu,  dass  alle  gemachten  Angriffe  gerechtfertigt  sind. 
Den  Possevinus  hält  er  eigentlich  der  Entgegnung  nicht  für 
würdig,  aber  er  will  nicht,  dass  Anhänger  des  Kalenders,  na- 
mentlich solche,  die,  weil  in  der  Mathematik  unkundig,  sein 
Alterum  examen  nicht  gelesen  haben,  sich  durch  derlei  jesui- 
tische Kunstgriffe  täuschen  lassen,  und  des  Possevinus  Behaup 
tung  glauben,  er  habe  trotz  eines  dröhnenden  Titels  durchaus 
nicht  dem  neuen  Kalender  geschadet.  Der  Reihe  nach  wieder- 
holt nun  Maestlin  seine  Angriffe  und  hält  sich  besonders  ein- 
gehend bei  der  Correctur  des  Sonnenjahres  auf.  Den  angeführten 
Einwurf  des  Possevinus  nun  weiss  er  sehr  geschickt  zu  um- 
gehen. Indem  er  nachwies,  dass  die  Aequinoctien  sehr  schwan- 
kend also  durch  den  neuen  Kalender  nicht  am  21.  März  ge- 
festigt seien,  habe  er  allerdings  die  Prutenischen  Tafeln  als  die 
verhältnissmässig  besten  benützt,  nachdem  die  Kalendermacher 
in  Rom  ihre  Pflicht,  neue  aufzustellen,  versäumt  hatten.  Die 
Prutenischen  Tafeln  seien,  wenn  auch  im  Einzelnen  fehlerhaft, 
doch  auf  richtigen  Grundlagen  aufgebaut,  und  eine  derselben 
sei  die  Anomalie  der  Jahrpunkte  —  der  Grund  ihrer  Schwan- 
kungen. Indem  er  nun  bestritten  habe,  dass  das  Aequinoctium  fix 
am  21.  März  bleibe,  habe  er  die  Qualität  der  Anomalie,  nicht 
deren  Quantität  im  Auge  gehabt,  und  nur  nothgedrungen  habe 
er  sich  hiebei  der  allerdings  nicht  sicheren  speciellen  Beispiele 
aus  den  Prutenischen  Tafeln  bedient.  Wenn  endlich  Clavius, 
oder  ein  anderer  das  versprochene  Werk  publiciren  und  von 
(irund  aus  ihn  eines  andern  belehren  werden,  so  ist  Maestlin 
bereit,  der  Wahrheit  die  Ehre  zu  geben;  wenn  aber  Clavius 
nichts  besseres  zu  sagen  weiss,  als  Possevinus,  so  möge  gleich 
diese  Schrift  als  Antwort  ihm  gelten.  ^ 

'  In  der  Thai  erschien  die  betreffende  Schrift  de»  Clavins  erst  im  Jahre  1588 
5  Maestlin  schrieb  denn  in  der  That  auch  fernerhin  über  den  Kalender, 
wozu  ihm  ohne  Zweifel  die  Erwiderung  des  Clavius  Anlass  gegeben  hat. 
Die  Schrift  führt  den  Titel:  ^Examina  eorumdeoiqne  Apologin*;  leider 
findet  flieh  dieses  Werk  auf  keiner  der  drei  genannten  Bibliotheken  und 
ich  kenne  den  Titel  nur  aus  Lipenius,  Bihliotheca  Realis  Philosophica. 
Dieser  gibt  169S  als  Jahr  des  Erscheinens  an;  vielleicht  ist  dies  in  1597 
zu  corrigiren,  denn  am  9./19.  März  dieses  Jahres  schreibt  Maestlin  an 
Kepler,  er  habe  vor  einer  Woche  seine  neue  Schrift  gegen  den  Grego- 
rianischen Kalender  vollendet.  Aus  dem  Wortlaut  des  Briefes  geht  hervor» 


Die  Polemik  Aber  die  OregorianiHche  Kaien  derreform.  545 

Im  selben  Jahre,  in  welchem  Maestlin  seine  Defensio  al- 
terius  examinis  herausgab,  erschien  endlich  von  Rom  aus  eine 
Erwiderung  und  zwar  von  Christof  Clavius,  der  schon  bis- 
her die  Seele  des  Unternehmens  gewesen  war  und  der  von  nun 
an  unermüdlich  thätig  ist,  seine  Schöpfung  zu  vertheidigen.  ^ 
Wie  schon  Possevinus  angekündigt  hatte,  ist  die  Schrift  direct 
gegen  Maestlin  gerichtet,  riierkwürdigerweise  aber  nicht  dem 
Pabste,  sondern  dem  Kaiser  gewidmet.  In  der  VoiTede  setzt 
Clavius  die  Gründe  hiefür  auseinander ;  der  Kaiser  als  Scliirm- 
vogt  der  Kirche  müsse  klar  sehen,  ob  das  von  ihm  unterstützte 
Kalenderwerk  aufrichtigen  Grundlagen  aufgebaut  sei  oder  nicht; 
ihm  müsse  ein  Buch,  das  für  die  Ehre  der  Kirche  kämpft,  ge- 
widmet werden.  Die  Erwiderung  gegen  Maestlin  betrifft  nur 
das  Älterum  Examen,  ausdrücklich  sagt  Clavius,  dass  ihm  die 
deutsche  Schrift  desselben  nicht  zu  Gesicht  gekommen  sei,  und 
wie  wir  aus  der  Tendenz  und  Haltung  des  Clavius  annehmen 
können,  wäre  er  auf  dieselbe  gar  nicht  eingegangen,  denn  ihm, 
dem  Jesuiten^  stand  es  ja  fest,  dass  der  Pabst  das  Recht  habe, 
derlei  Werke  für  die  Christenheit  zu  unternehmen ;  ausdrücklich 
sagt  er  auch,  er  wolle  alle  Schmähungen  gegen  den  Pabst  un- 
erwidert lassen,  obwohl  es  ihm  schon  daraus  ein  leichtes  wäre 
zu  beweisen,  dass  Maestlin  seinen  Angriff  nicht  aus  Wahrheits- 
liebe und  Sorge  für  das  öffentliche  Wohl  sondern  lediglich  aus 
Hass  gegen  Rom  unternommen  habe.  Also  nur  auf  das  Sach- 
liche ist  sein  Blick  gerichtet,  und  da  spitzt  sich  nun  die  ganze 
Frage   auf  die   Behauptung  Maestlin's   zu,    dass   der  Kalender 


dass  er  im  Auftrage  der  Universität  Tübingen  dieses  Werk  abfasste,  denn 
er  klagt,  dass  ihm  die  etwas  verspätete  Vollendung  manche  Unannehm- 
lichkeit und  eine  Rüge  vom  Senate  zugezogen  habe.  (J.  Kepler!  Opera 
edd.  Frisch.  I.  34.)  Ist  die  Angabe  des  Lipenius  richtig,  so  bleibt  nichts 
anders  übrig,  als  in  dieser  1597  vollendeten  Schrift  einen  fünften  Angriff 
Maestlin's  zu  sehen. 

1  Ich  bin  genöthigt,  schon  hier  die  Schrift  des  Clavius  anzuführen,  ehe  ich  mit 
der  Darlegung  der  weiteren  mathematischen  Gegenschriften  fortfahren  kann; 
denn  die  meisten  derselben  nehmen  schon  auf  sie  Bezug  und  so  würde  eine 
Darlegung  derselben  ohne  ihre  Kenntniss  sehr  erschwert  werden.  Sie 
führt  den  Titel:  Novi  Calendarii  Romani  Apologia  adversus  Michaelem 
Maestlinum  Göppingensem  in  Tübingensi  Academia  Mathematicum  tribus 
libris  explicata.  Rom  1688.  ^Wiederholt  im  V.  Bande  der  Opera  Clavii. 
Mainz  1612,  mit  Hinweglassung  des  dritten  Theiis.) 

SitzoBgsber.  d.  pbil.-hist.  Cl.  LXXXYII.  Bd.  I.  Hft.  3ö 


546  Kaltenbrunner. 

durchaus  nicht  mit  den  Himmelsbewegungen  übereinstimme, 
trotzdem  dies  in  der  Bulle  Gregorys  behauptet  worden  sei. 
Ersteres  gesteht  Clavius  ehrlich  und  offen  ein,  und  kommt  da 
auf  die  Frage,  die  uns  schon  mehrmals  begegnete,  nämlich,  ob 
cyclische  oder  ob  astronomische  Rechnung  für  den  Kalender 
tauglich  sei?  Sobald  man  ersterer  den  Vorzug  gebe,  —  und 
Maestlin  habe  das  Gegentheil  nicht  bewiesen  —  so  könne  man 
dem  Gregorianischen  Kalender  aus  Detailfehlern  keinen  Vor- 
wurf machen,  und  ein  Angriff  kann  nur  dann  gerechtfertigt 
erscheinen,  wenn  man  nachweisen  wollte,  dass  in  einem  anders 
eingerichteten  cyclischen  Kalender  weniger  Gattungen  von 
Fehlern  und  diese  überhaupt  seltener  eintreten  können.  Die 
Gründe,  welche  Clavius  für  die  cyclische  Rechnung  anführt, 
sind  folgende. ' 

1.  Die  wirklichen  Bewegungen  sind  bald  schneller  bald 
langsamer,  die  mittleren  dagegen  gleichförmig;  daher  lassen 
sich  nur  mit  Hülfe  der  letzteren  leicht  fassliche  Regeln  für  die 
Bestimmung  der  Jahrpunkte  und  Neumonde  aufstellen,  obne 
welche  Irrthümer  und  Verwirrungen  in  der  Zeitrechnung  un- 
vermeidlich sind.  Es  ist  von  keinem  Belange,  dass  nur  die 
wirklichen  Bewegungen  ihre  Basis  in  den  Himmelserscheinungen 
haben,  die  mittleren  dagegen  nur  durch  Abstraction  gewonnen 
sind,  denn  zu  keiner  Zeit  war  die  Kirche  an  die  strengen  Ge- 
setze der  Bewegungen  von  Sonne  und  Mond  gebunden,  sondern 
für  sie  kommt  es  darauf  an,  in  kunstloser,  leicht  fasslicher 
Weise  ihre  Zeitrechnung  daran  zu  knüpfen;  und  nur  darauf 
muss  sie  bedacht  sein,  dass  unbeschadet  dieses  Gesichtspunktes 
dieselbe  nicht  allzusehr  von  ihnen  abweiche. 

2.  Die  Berücksichtigung  der  wirklichen  Bewegungen  würde 
stets  eine  Quelle  von  Differenzen  in  Bezug  auf  die  Feier  des 
Osterfestes  sein,  denn  da  es  keineswegs  allgemein  anerkannte 
astronomische  Tafeln  gibt  —  wie  denn  jetzt  zwischen  Alphon- 
sinischen  und  Prutenischen  ein  Kampf  besteht  —  so  müsste 
sich  durch  die  Benützung  verschiedener  Tafeln  unabweislich 
hie  und  da  ein  verschiedener  Osterausatz  ergeben. 


^  Cap.  IV.  Kcdesia  cur  posthabitis  motibufl  veris  apparentibusve  medios 
tantom  sive  aequales  aut  potius  cjclos  in  mobil iam  festomra  celebraUoDe 
usurpet. 


Di«  Pol«mlk  ttb»r  die  Oregorianiieb«  Kftleoderreform .  547 

3.  Bis  jetzt  sind  noch  keine  astronomische  Tafeln  verfertigt 
worden,  durch  welche  auf  alle  Zeiten  hin  und  ohne  allen  Irr- 
thuni  die  Bewegungen  der  Gestirne  bestimmt  werden  können; 
der  sprechendste  Beweis  hiefiir  ist,  dass  die  Ptolomaeischen 
Tafeln  durch  die  Alphonsinischen,  und  diese  wieder  durch  die 
Prutenischen  verdrängt  worden  sind.  Wer  aber  bürgt  uns  dafür, 
dass  letztere  die  richtigen  sind,  da  es  jetzt  schon  viele  Astro- 
nomen gibt,  die  den  Alphonsinischen  den  Vorzug  geben,  und 
da  ihnen  namentlich  durch  Tycho  de  Brahe  viele  Fehler  nach- 
gewiesen worden  sind?  Wer  nun  wollte  so  leichtsinnig  und 
vermessen  sein,  diepKirche  an  so  trügerische  und  unsichere 
Angaben  der  Astronomen  zu  binden?  Gewiss  niemand,  er 
müsste  denn  auch  zugleich  wollen,  dass  die  Kirche  bald  den 
einen,  bald  den  andern  Tafeln  folgen  solle,  jenachdem  die  einen 
oder  anderen  in  grösserem  Einklang  mit  den  Himmelsbewe- 
gungen und  den  gerade  herrschenden  Theorien  über  dieselben 
gefunden  werden.  Dies  würde  denn  doch  nichts  anderes  sein, 
als  das  Schwanken  der  Zeitrechnung  in  Permanenz  erklären.  > 

4.  Aber  wenn  auch  die  genauesten  und  untrüglichsten 
Tafeln  bestünden,  so  hätte  das  ängstliche  Beobachten  von  Stunden 
und  Stundentheilen  keinen  Sinn,  denn  durch  die  Verschieden- 
heit der  Ortslagen  würde  alle  Mühe  vereitelt  werden.  Denn  in 
Folge  derselben  kann  es  sich  ereignen^  dass  ein  Vollmond  im 
Osten  bereits  als  Ostergrenze  tauglich  ist,  dagegen  im  Westen 
noch  vor  dem  Aequinoctium  vernum  steht,  wodurch  sich  eine 
Differenz  von  4  bis  5  Wochen  zwischen  beiden  Osteransätzen 
ergeben  müsste,  abgesehen  davon,  dass  noch  öfter  ein  Unter- 
schied von  8  Tagen  eintreten  würde,  so  oft  nämlich  Vollmond 
im  Westen  spät  am  Samstag  eintritt,  in  welchem  Falle  er  im 
Osten  auf  den  Sonntag  fällt.  Einer  Verschiedenheit  der  Oster- 
feier  aber  steht  der  oberste  Grundsatz  des  Nicaenischen  Oster- 
canons  gegenüber,  abgesehen  davon,  dass  dadurch  unausbleiblich 
Verwirrung  in  den  weltlichen  Dingen  entstehen  müsste. 

5.  Von  jeher  hat  die  Kirche  an  den  mittleren  Bewegungen 
festgehalten,   warum  soll  sie  jetzt  davon  abweichen,    zumal  da 


*  Dabei  verwahrt  sich  Claviu»  nachdrücklich  dagegen,  als  woUte  er  und 
seine  Freunde  die  Arbeiten  der  Astronomen  für  unnütz  erklären;  denn 
stets  habe  er  es  für  erhaben  und  höchst  lobenswerth  gehalten,  mit  Bienen- 
fleiss  die  Bewegungen  der  Gestirne  zu  erforschen. 

36* 


548  Kaltenbrnnner. 

aus  den  heiligen  Schriften  des  alten  Bundes  sich  erweisen 
lässt,  dass  Gott  auch  die  Juden  nur  an  die  mittleren  nicht 
an  die  wirklichen  Bewegungen  im  Ceremoniengesetze  gebun- 
den habe. 

6.  Für  die  cyclische  Rechnung  spricht  die  Autorität  vieler 
gelehrter  Männer,  welche  über  die  Zeitrechnung  geschrieben 
haben. 

Dies  sind  im  Wesentlichen  die  Gründe,  welche  Clavius 
für  die  cyclische  Rechnung  anfuhrt,  und  es  wird  wohl  kaum  be- 
stritten werden  können,  dass  die  ersten  vier  Punkte  ihre  volle 
Berechtigung  haben.  Die  beiden  letzteren  allerdings  sind  schwach^ 
namentlich  der  sechste,  denn  die  von  Clavius  angeführten  Gewährs- 
männer, Campanus,  Paulus  von  Middelburg  und  Johannes  Stöffler 
sprechen  eben  über  den  Kalender,  wie  er  vorlag;  bei  letzterem 
habe  ich  nachgewiesen,  dass  er  der  astronomischen  Rechnung 
gegenüber  der  cyclischen  in  seinen  Vorschlägen  für  die  Kalender- 
reform das  Wort  sprach.  * 

Indem  sich  also  Clavius,  gestützt  auf  diese  Gründe,  auf 
die  Seite  der  cyclischen  Rechnung  stellt,  lässt  er  natürlich  dem 
Maestlin  nicht  gelten,  wenn  er  an  der  Hand  astronomischer 
Tafeln  dem  Kalender  einzelne  Fehler  nachweist.  Ja  er  gesteht 
selbst  zu,  dass  das  Aequinoctium  vernum  zur  Jetztzeit  meist 
auf  den  20.  März  fallt,  und  dass  —  wie  Maestlin  behauptet 
hatte  —  sich  dasselbe  nach  1600  noch  mehr  vom  21.  entfernen 
werde.  Aber  er  stellt  dem  gegenüber,  dass  es  doch  immer  und 
immer  wieder  darauf  zurückkehren  werde,  und  dass  derlei 
Schwankungen  bei  der  ungleichen  Dauer  des  tropischen  Jahres 
durchaus  nicht  vermieden  werden  können.  Und  hier  greift  nun 
Clavius  jenen  Satz  des  Maestlin  heraus,  dass  er  selbst  nicht 
der  Ansicht  sei,  als  ob  astronomische  Subtilitäten  Werth  und 
Bedeutung  für  die  Zeitrechnung  hätten,  aber  in  Folge  der  hoch- 
tönenden Sprache  des  Pabstes  habe  er  sie  herangezogen.  Cla- 
vius bestreitet  das  letztere,  und  indem  er  erklärt  und  beweist, 
wie  der  Ausdruck  ,Kalendarium  perpetuum^  und  der  Satz  ,aequatio 
est  perfecta,  ut  nulli  mutationi  sit  obnoxia'  zu  verstehen  seien, 
wirft  er  alle  Argumente  Maestlin's  über  den  Haufen.  Letzterer 
Satz   war   von  der  Modification   der  Schaltregel  ausgesprochen 

*  Vorgeschichte  der  Gregorianischen  Kalenderrefonn,  pag.  391  n.  ff. 


Di0  Polemik  ftb«r  die  Oregoriasische  Kalenderreform.  549 

worden,  und  da  fragt  Clavius,  ob  irgend  eine  andere  aufgestellt 
werden  könne,  die  mit  dem  jetzigen  mittleren  Ansätze  des  tro- 
pischen Jahres  genauer  übereinstimmt,  dabei  aber  auch  die 
nöthige  Bequemlichkeit  und  Fasslichkeit  besitzt?  Nur  so  war 
der  Satz  gemeint,  nicht  wie  Maestlin  behauptet,  dass  man  in 
Rom  meinte,  das  Aequinoctium  werde  niemals  an  einem  anderen 
Tage  als  den  21.  März  eintreten.  Denn  das  könne  mau  doch 
ihm  und  seinen  Collegen  zumuthen,  dass  sie  recht  gut  von  den 
durch  die  Anomalie  der  Jahrpunkte  bedingten  Schwankungen 
des  tropischen  Jahres  unterrichtet  waren.  Den  Ausdruck  ,Kalen- 
darium  perpetuum'  und  ,perpetuitas  Kalendarii'  deutet  Clavius 
nur  in  Bezug  auf  die  Einschreibung  der  Epacten  zu  den  Monats- 
tagen und  mit  einigen  Beschränkungen  auf  die  Aequationstafel. 
Hinsichtlich  eraterer  hatte  man  ja  auch  schon  vom  Julianischen 
Kalender  als  von  einem  ,immerwährenden'  gesprochen,  nur  dass 
dort  Numeri  aurei,  hier  Epacten  ein  für  allemal  den  Tagen  zu- 
gewiesen sind.  Bezüglich  der  Aequationstafeln  ist  Clavius  äusserst 
vorsichtig,  und  man  muss  gestehen,  dass  die  Ealenderrefor- 
matoren  in  dieser  Hinsicht  sehr  einsichtsvoll  und  selbstlos  vor- 
gegangen sind.  Die  Aequationstafel  des  Gregorianischen  Kalen- 
ders besteht  aus  zwei  Theilen,  aus  der  tabula  Epactarum,  d.  i. 
einer  Combination  der  30  Epacten  mit  den  19  Jahren  des  Mond- 
cyclus  (denn  im  Laufe  der  Zeiten  konnte  jede  Epacte  jedem 
Jahre  desselben  zufallen),  und  aus  der  tabula  expansa,  dem 
Regulator  der  ersteren.  In  derselben  sind  eben  die  einzelnen 
Perioden  von  Jahren  gegeben,  für  welche  die  verschiedenen 
Combination en  zwischen  Epacten  und  Numerus  aureus  gelten. 
Nun  ist  die  tabula  Epactarum  ihrer  Natur  nach  ebenso  perpe- 
tuell,  wie  der  immerwährende  Kalender,  denn  in  ihr  sind  nur 
die  Combinationen  zwischen  den  beiden  Factoren  der  Mond- 
rechnung gegeben.  Nun  hätte  man  auch  die  ganze  Aequations- 
tafel perpetuell  machen  können,  sobald  man  einfach  die  einzelnen 
Perioden  für  die  Aequationen  als  absolut  richtig  hinstellte ;  dann 
hätte  es  auch  gar  nicht  der  tabula  expansa  bedurft,  sondern 
man  hätte  neben  der  tabula  Epactarum  in  eine  Rubrik  etwa 
mit  der  Ueberschrift  ,anni  expansi^  die  einzelnen  Perioden  setzen 
können.  Aber  weil  man  nicht  so  bestimmt  vorgehen  wollte, 
indem  man  sich  bewusst  war,  dass  eventuell  die  Nachwelt  Ver- 
besserungen  der   Aequationsperioden    etwa    durch   Abänderung 


550  Kaltenbrnnnar. 

der  Schaltregel  oder  Verschiebung  der  Mondgleichen  anbringen 
könnte,  stellte  man  die  tabula  expansä  auf,  in  welcher  neben 
den  jetzt  als  richtig  vorausgesetzten  Perioden  Buchstaben  stehen, 
mit  welchen  man  dann  in  die  tabula  epactarum  gehen  muss,  um 
für  die  betreffende  Aequationsperiode  die  Combination  zwischen 
Epacte  und  Numerus  aureus  zu  finden.  Wollte  man  also  even- 
tuell Aenderungen  vornehmen,  so  brauchte  man  einfach  die 
Perioden  dahin  abzuändern,  aber  die  ihre  Werthe  vertretenden 
Buchstaben  bleiben  bestehen.  * 

Clavius  hat  hiemit  die  beiden  Hauptargumente  Maestlin's 
entkräftet.  Es  würde  zu  weit  führen,  air  die  Details  anzuführen, 
die  nun  Clavius  auf  dessen  specielle  Angriffe  anführt;  nur  jenes 
boshaften  Einwurfs  des  Maestlin  will  ich  gedenken,  dass  nämlich 
1582  erst  im  October  der  Kalender  eingeführt  worden  sei,  weil 
man  nach  ihm  sonst  schon  in  diesem  Jahre  Ostern  falsch  ge- 
feiert hätte.  Clavius  sagt,  man  habe  dieses  Jahr  gewählt,  weil 
man  da  gerade  fertig  geworden  war,  und  den  October,  weil 
man  einerseits  die  Festzeit  vor  Ostern  nicht  verkürzen  wollte, 
andererseits  in  diesem  Monat  am  wenigsten  Feste  alterirt  wurden. 
Andererseits  hatte  es  einen  guten  Grund,  dass  man  für  die- 
jenigen, welche  zu  diesem  Termin  die  10  Tage  noch  nicht  aus- 
gelassen hatten,  dies  auf  den  Februar  1583  bestimmte,  hätte 
man  auch  da  dem  oben  angegebenen  Grrunde  Raum  gegönnt, 
so  wäre  eine  Differenz  in  der  Osterfeier  entstanden.  Im  übrigen 
hätte  der  neue  Kalender  1582  mit  der  Bestimmung  des  Oster- 
festes keinen  Fehler   begangen,   denn   sowohl  nach  den  Prute- 


1  Clavius  schreibt:  jAdscripsimus  autem  trig^nta  hisre  lineis  epactarum  ta- 
bulae  expansae  literas  potios  alphabeti,  quam  annos  domini,  qtiibus  sin- 
gulae  lineae  respondent,  qoia  voliunus  tabulam  haue  expausam  et  perpetuam 
esse  f  et  ad  quamcuinque  anni  solaris  magnitudinem  posse  accomodari, 
quod  non  fieret,  si  anni  domini  apponerentur,  tum  quia  in  tarn  exigiio 
spatio  omnes  anni  coraprehendi  non  posaunt,  tum  vero  maxime,  qnoniam 
incerta  adhuc  sit  et  noudum  satis  explorata  anni  solaris  magnitudo,  in- 
certum  quoque  est,  num  anni  domiui  semper  lineis  illis  epactarum  sint 
respousuri,  quibus  praefixi  sunt.  Quare  ut  posteris  liberum  sit,  aliam 
rationem  aequaudi  annum  solarem  instituere,  si  forte  haec  nostra  aequandi 
ratio  post  aliquot  annos  ab  astronomis  a  vero  aberrare  deprehendatur, 
apposuimus  literas  alphabeti,  nt  quaelibet  earum  cuivis  anno  domini  res- 
pondere  possit.  Ita  enim  fit,  ut  tabula  £pactarum  et  perpetua  fit^ 


Die  Polemik  ftber  die  Gregorianieebe  KalenderrefoinL  551 

nischen  Tafelo;  als  auch  nach  denen  des  J.  Maginas '  sei  die 
mittlere  Conjunction  am  17./7.  'April  eingetreten,  somit  w&re 
denn  doch  Ostern  nach  dem  Vollmondtage  gefeiert  worden. 

Ehe  noch  Clavius  seine  Apologia  in  die  Welt  versandte, 
kam  ihm  jener  zweite  Angriff  Maestlin's  zu,  in  welchem  wohl 
nichts  Neues  gebracht,  aber  der  alte  mit  schärferem  Nach- 
druck wiederholt  wird.  Chivius  widmete  demselben  einen  Ap- 
pendix, 2  worin  er  namentlich  die  Gesichtspunkte  hervorhebt, 
unter  welchen  von  einem  ,Kalendarium  Gregorianum  perpe- 
tuum'  die  Rede  sein  könne.  Ausdrücklich  führt  er  auch  an,  dass 
vier  Fehler  dem  neuen  Kalender  anhaften:  1.  Das  Schwanken 
des  Aequinoctiunrs ;  2.  dass  die  Epacten  das  Mondalter  manchmal 
etwas  zu  spät  angeben  und  daher  Ostern  möglicherweise  in  die 
vierte  Woche  des  Ostermondmonats  fallt;  3.  dass  Ostern  statt 
in  den  ersten,  in  den  letzten  des  Vorjahres  oder  in  den  zweiten 
des  laufenden  Jahres  fallen  kann  (d.  h.  dass  Ostern  sowohl  vor 
dem  Aequinoctinm  als  4  bis  5  Wochen  nach  demselben  fallen 
kann) ;  4.  dass  Ostern  am  Vollmondstage  selbst  eintreten  kann. 
Aber  alle  diese  Fehler  —  wenn  man  überhaupt  das  ,Fehler^ 
nennen  wolle,  was  nicht  vermieden  werden  kann  —  sind  nicht 
zu  umgehen  in  jedem  Kalender,  der  auf  Cyclen  und  gleich- 
förmigen und  leichtfasslichen  Kegeln  beruht.  Wenn  also  Maestlin 
auch  fernerhin  gegen  den  Gregorianischen  Kalender  ankämpfen 
wolle,  so  zeichnet  ihm  Clavius  folgenden  Weg  vor :  er  muss  zu 
beweisen  suchen,  dass  im  Gregorianischen  Kalender  ausser  diesen 
vier  auch  noch  andere  Fehler  vorkommen,  und  dass  diese  im 
neuen  öfter  eintreten,  als  im  alten  juHanischen.  Leugnet  er 
aber,  dass  diese  vier  unvermeidlich  sind^  so  muss  er  darnach 
streben,  einen  Kalender  zu  construiren,  der  ebenfalls  auf  cy- 
clischer  leicht  fasslicher  Rechnung  beruht,  ohne  diese  vier 
Mängel  zu  haben. 

An  diesen  Appendix  schliesst  sich  dann  ein  dritter  Theil 
an,  worin  der  neue  Computus  ecclesiasticus  auseinandergesetzt 
wird,  worin  aber  Clavius  nicht  polemisch  vorgeht. 


1  J.  £.  Maginns  gab  Ephemeriden  für  1580 — 1630  heraus. 
3  Appendix,  qua  A.  Posseviuus  defenditur  et  summa  totius  Apologiae  expU- 
catur. 


552  Kalten  brauner. 

Die  bisher  betrachteten  Angriffe  der  Mathematiker  waren 
gegen  das  Wesen  der  Reform  gerichtet;  es  machte  sich  bei 
ihnen  ein  principieller  Gegensatz  bemerkbar,  mit  dem  es  kein 
Paktiren  gab.  Ganz  anders  ist  dies  bei  den  nun  zu  betrach- 
tenden Schriften.  Ihre  Tendenz  geht  dahin,  auf  dem  Boden 
der  gemachten  Reform  stehend,  dieselbe  genau  zu  prüfen  und 
Verbesserungen  an  derselben  anzubringen,  oder  sie  stellen  — 
wenigstens  das  Princip  beibehaltend  —  neue  Correcturen  auf. 
Den  Anfang  hiemit  macht  ein  Mann,  der  unbedingt  einer  der  be- 
deutendsten Gelehrten  seiner  Zeit  war,  wenn  er  auch  leider 
durch  üeberhastung  das  im  riesigen  Umfange  zusammengetra- 
gene Material  nicht  immer  richtig  verwerthete.  Es  ist  Josef 
Scaliger,  der  in  der  Gelehrten -Welt  jener  Zeit  fast  unum- 
schränktes Ansehen  genoss,  bis  ihm  in  Dionysius  Petavius  ein 
überlegener  Gegner  erwuchs,  der  mit  grossem  Scharfsinn,  aber 
auch  schonungsloser  und  zum  Theil  ungerechter  Härte  Blatt 
für  Blatt   aus  dem  Ruhmeskranze  Scaliger^s  vernichtete. 

Im  Jahre  15^3  erschien  zu  Lüttich  Scaliger's  grosses  Werk 
,De  emendatione  temporum^,  worin  zum  ersten  Male  der  Versuch 
gemacht  wird,  systematisch  die  Zeitrechnungen  der  verschie- 
denen Völker  miteinander  zu  vergleichen.  Wie  sich  schon 
früher  an  solche  chronologische  Werke  bei  Paulus  von  Middel- 
burg,  Stöffler  und  Lucas  Gauricas  auch  Betrachtungen  über  die 
Fehler  des  julianischen  Kalenders  und  Vorschläge  zu  deren 
Beseitigung  angeknüpft  hatten,  so  behandelt  auch  Scaliger,  dem 
hiefür  ein  reiches  Material  zur  Verfügung  stand, '  diese  Frag-e 
im  vierten  Buche.  Auffallend  ist  es  immerhin,  dass  Scaliger  hiebet 
mit  keinem  Worte  der  Gregorianischen  Reform  P>wähnung 
macht,  nachdem  bereits  1578  das  Lilio'sche  Compendium  ver- 
schickt worden  war.  Aber  Scaliger  war  Protestant  und  lebte 
in  einem  protestantischen  Lande,  und  so  ist  es  immerhin  wahr- 
scheinlich, dass  Scaliger  bei  Abfassung  dieses  Theiles  seines 
Werkes  von  den  Plänen  Roms  noch  nicht  unterrichtet  war. 
Es  ist  daher  von  Petavius  nicht  ehrlich,  dass  er  bei  der  Be- 
kämpfung alles  dessen,  was  Scaliger  gegen  die  Gregorianische 
Reform    vorbrachte,    auch   diesen  Theil    seiner   Schrift   herbei- 

J  So    publicirte    Scaliger    ein    Bruchstück    aus    dem    Computus    des    laaac 
Argyrus. 


Dia  Polemilc  ftber  die  Gregorianische  Kalenderreform.  553 

zieht,  1  denn  wahrlich,  mau  konnte  es  ihm  doch  nicht  zum  Vor- 
wurfe machen,  dass  er  nicht  ganz  das  Gleiche  ausdachte,  was 
dem  Lilio  eingefallen  war;  höchstens  konnte  es  Petavius  übel 
vermerken,  dass  Scaliger  später  im  achten  Buche  seine  noch 
unabhängig  von  Lilio  aufgestellten  Methoden  für  besser  hält  als 
die  Qregorianische.  Aber  in  seinen  späteren  Schriften  kommt 
Scaliger  nicht  mehr  auf  diese  Vorschläge  zurück,  wir  können 
also  darin  keine  Bekämpfung  des  Gregorianischen  Kalenders 
sehen,  und  müssen  daher  die  hier  aufgestellten  Methoden,  als 
ausserhalb  des  Rahmens  unserer  Betrachtung  stehend,  auffassen. 
Zudem  steht  ja  Scaliger  auf  demselben  Principe,  denn  er  will 
sowohl  die  cyclische  Rechnung  beibehalten  als  auch  den  Ka- 
lender auf  den  Stand  des  Nicaenischen  Concils  zurückfuhren. 
Am  Ende  seines  Werkes  aber  —  im  achten  Buche  —  kommt 
Scaliger  kurz  auf  die  ,Lilio'sche  Reform^  zu  sprechen.  Nur  in 
Form  eines  Nachtrags  erscheinen  diese  zwei  kurzen  Abschnitte, 
von  denen  der  eine  die  Correctur  des  Sonnenjahres,  der  andere 
den  Epactencyclas  behandelt.  Bei  ersterer  tadelt  Scaliger,  dass 
die  Auslassung  der  bissexti  an  die  centenaren  Jahre  geknüpft 
sei,  er  will  sie  in  der  vierhundertjährigen  Periode  nach  zwei- 
mal 132  und  dann  nach  136  Jahren  eintreten  lassen,  denn  nur 
dies  entspreche  den  Himmelsbewegungen.  Aus  gleichem  Grunde 
findet  Scaliger  die  £pacten*Aequation  in  den  centenaren  Jahren 
tiir  unlogisch,  denn  nur  in  Vielfachen  von  19  könne  dieselbe 
vorgenommen  werden.  Auf  die  Einrichtung  des  immerwährenden 
Kalenders,  sowie  auf  andere  Details  lässt  sich  Scaliger  nicht 
ein,  da  er  sicher  ist,  dass  die  Gelehrten  seinen  beiden  vorge- 
schlagenen Reform  -  Methoden  unbedingt  den  Vorzug  vor  der 
Lilio'schen  geben  werden.  Jedoch  wird  dies  alles  ruhig  und 
in  gemessenem  Tone  gesagt,  gleichsam  als  ob  der  neue  Ka- 
lender nichts  weiter  wäre  als  eine  literarische  Novität;  nicht 
in  einem  Worte  lässt  sich  die  Absicht  erkennen,  als  wollte 
Scaliger  von  der  Annahme  des  päbstlichen  Werkes  abrathen.^ 


*  Doctrina  temponim  Tom.  I.  Lib.  V. 

2  Ueber  die  Wirkung,  welche  trotzdem  dieser  Angriflf  Sealiger'g  hervor- 
brachte (oder  hervorgebracht  haben  soll),  vgl.  J.  Bernays,  J.  J.  Scaliger, 
Berlin  1855  pag.  167.  Scaliger  agitirte  nach  Bernays  gleich  darauf 
namentlich  bei  der  Genfer  Geistlichkeit  gegen  die  Annahme  des  Kalenders. 


554  Kaltcnbranner. 

Wieder  war  es  Possevinus,  der  die  erste  Erwiderung 
machte,  natürlich  wieder  nur  in  so  allgemeinen  Worten  wie  bei 
Maestlin;  iihev  doch  mit  einer  gewissen  Scheu  vor  der  Gelehr- 
samkeit des  Mannes,  bei  dem  er  schmerzlich  eine  ebenso  grosse 
Glaubenstreue  vermisst.  Auch  hier  wird  darauf  verwiesen, 
dass  Clavius  auf  alle  Angriffe  Sealiger's  antworten  werde. 
Acht  Jahre  zögerte  Scaliger  mit  der  Antwort,  weil  er  dieses 
angekündigte  Buch  erwartete;  da  dies  aber  nicht  erschien,  gab 
er  1595  den  Elenchus  et  Castigatio  Anni  Gregoriani 
heraus.*  In  der  Vorrede  hiezu  spricht  Scaliger  Worte,  wie 
wir  sie  bisher  im  Verlaufe  der  Polemik  noch  nie  gehört  haben: 
,Nachdem  der  Gregorianische  Kalender  angenommen  sei,  so 
müssen  wir  mit  allen  Kräften  darnach  streben,  dass  er  makelias 
und  zwar  mit  Zustimmung  aller  derer  werde,  welche  ihn  mehr 
gierig  als  überlegt  angenommen  haben;  dies  wäre  gewiss  schon 
geschehen,  wenn  sie  nicht  ein  so  blindes  Vertrauen  auf  seine 
Urheber  gesetzt  hätten,  die  allerdings  darauf  sehr  viel  Fleiss 
und  Gelehrsamkeit  verwendet  haben,  aber  doch  vielen  Fehlern 
nicht  entgehen  konnten.  Ersteres  ist  an  ihnen  zu  loben  und 
zu  bewundern,  letzteres  zu  entschuldigen.  Er  will  es  nun  ver- 
suchen, ob  es  möglich  ist,  die  Fehler  zu  beseitigen,  und  will 
sich  dabei  möglichst  der  Mässigung  befleissigen,  weil  er  bedenkt, 
dass  jene  gefehlt  haben,  weil  sie  Menschen  sind,  und  dass  im 
gleichen  Maasse  auch  er  diesem  ausgesetzt  sei.  Und  doch  fahren 
diejenigen,  welche  heute  Kritik  üben,  mit  solcher  Heftigkeit 
gegen  fremde  Fehler  los,  dass,  wenn  jetzt  bäuerliche  Ungezogen- 
heit bei  irgend  einer  Gattung  von  Menschen  constatirt  werden 
kann,  sie  vor  Allem  bei  jenen  gefunden  wird,  welche  der 
Wissenschaft  obliegen.  So  hat  auch  er  dem  Hasse  nicht  ent- 
gehen können,  als  er  am  Ende  seines  Werkes  ,De  emendatione 
temporum'  kurz  und  zart  über  die  Kalenderverbesserung  sprach. 
Es  widerfuhr  ihm  dies  von  einem  jener  Menschen,  welche  sich 
verletzt  und  gekränkt  fühlten,  wenn  man  nicht  blind  auf  ihre 
Worte  schwört  und  nicht  glaubt,  dass  sie  unfehlbar  seiend 

Scaliger  erwähnt  nun,  dass  Clavius,  von  dem  er  an  dieser 
Stelle  mit  der  höchsten  Achtung  spricht,  den  Auftrag  erhalten 


^  Zusammen  mit:  Hyppolyti  episcopi  Canon  Paschalis  cum  comnnentario  et 
Excerpta  ex  computo  Graeco  Isacii  Argyri  de  correctione  Paschatis. 


Dia  Polemik  abor  die  OregorianlBChe  K»lenderreform.  555 

habe,  wider  ihn  zu  schreiben,  wie  er  aus  den  Aeusserungen  des 
PoBsevinuB  sowohl  als  auch  aus  mündlichem  und  brieflichem 
Verkehre  wisse;  er  kann  sich  übrigens  gar  nicht  denken,  was 
denn  Gegenstand  des  Angriffs  sein  werde,  da  er  gar  nichts 
Verletzendes  geschrieben  habe. 

Da  Scaliger  die  Absicht  hat,  Verbesserungen  am  Grego- 
rianischen Kalender  vorzunehmen,  so  stellt  er  sich  natürlich 
auf  den  Standpunkt  der  Reform  und  spricht  nicht  ein  Wort 
gegen  die  cyclische  Rechnung  zu  Gunsten  der  astronomischen. 
An  beiden  Hauptpunkten  des  neuen  Kalenders  hat  er  aber 
etwas  zu  tadeln.  In  Bezug  auf  das  Sonnenjahr  wiederholt  er 
seine  früher  gemachte  Ausstellung,  dass  die  Modification  der 
Schaltregel  im  Widerspruch  stehe  mit  der  thatsächlichen  Ent- 
wicklung des  Fehlers  und  fordert  nun,  dass  nach  je  zweimal 
'l32  und  dann  nach  136  Jahren  (132  H  132  +  13(5  ^  400)  ein 
bissextus  ausgelassen  werde.  Indem  nun  Sealiger  diesen  seinen 
Vorschlag  noch  weiter  begründen  will,  ist  er  sehr  unglücklich. 
Ausser  dem  logischen  Zusammenhange  zwischen  Modification 
der  Schaltregel  und  den  Himmelserscheinungen  führt  er  nämlich 
auch  die  grössere  Bequemlichkeit  seiner  Methode  ins  Feld.  Er 
meint,  dass  die  Reihe  der  Sonntagsbuchstaben  in  der  vierhundert- 
jährigen Periode  bei  Lilio  viermal,  bei  ihm  nur  dreimal  unter- 
brochen werde;  dies  ist  nun  vollständig  unrichtig,  denn  da  auch 
im  Gregorianischen  Kalender  nur  drei  Schalttage  und  zwar  am 
Ende  der  Jahrhunderte  ausgelassen  werden,  so  wird  auch  hier 
die  Reihe  nur  dreimal  unterbrochen.  Bezüglich  des  Epacten- 
cyclus,  respective  der  (Jonstruction  des  immerwährenden  Ka- 
lenders differirt  Scaliger  in  zwei  Punkten.  Er  will  —  gestützt 
auf  Gregor  von  Tours  ^  —  das  Jahr  wieder  im  März  beginnen 
lassen,  in  Folge  dessen  stehen  bei  Scaliger  die  Epacten  im 
Jänner  und  Februar  in  der  Regel  um  11  niederer  als  im  Grego- 
rianischen Kalender;  jedoch  soll  diese  März -Epoche  nur  für 
den  Mondkalender  gelten,  beim  Sonnenjahre  behält  er  die  bür- 
gerliche Epoche  bei,  was  sich  auch  äusserlich  manifestirt,  da 
Jänner  und  Februar  als  die  beiden  ersten  Monate  im  Kalender 
Scaliger's  erscheinen.   Ferner  lässt  Scaliger  jene  feinen  Unter- 


'  Gregor  v.  Tours  zählt  in  der  That  die  Monate  vom  März  an.  (Lib.  VIII.  1 ; 
IX.  2,  3;  XX  und  XXI.) 


556  Kaltenbrunner. 

schiede  mit  Epaete  XXV  und  25  weg  und  setzt  das  Culminiren 
der  Epacten  wieder  bei  Epaete  *  und  XXIX,  sowie  es  Lilio 
gethan  hatte.  Man  könnte  da  leicht  auf  die  Vermuthung  kommen, 
dass  Scaliger  hiebei  einfach  auf  den  Lilio'schen  Vorschlag 
zurückgegangen  sei,  und  in  der  That  hat  ihn  Clavius  dieses 
Plagiats  beschuldigt.  Doch  glaube  ich,  dass  el*  hierin  dem 
Scaliger  Unrecht  gethan  hat.  Einmal  ist  ja  die  von  Lilio  und 
Scaliger  angewendete  Art  die  nächst  liegende,  und  Scaliger 
stimmt  nur  in  diesem  Punkte  mit  Lilio  überein,  während  er 
die  von  jenem  angewendeten  Nuancen  fallen  lässt.  Allerdings 
muss  er  den  Lilio'schen  Entwurf  gekannt  haben,  wenn  nicht 
im  Compendium  —  was,  wie  ich  früher  ausgeführt  habe,  un- 
wahrscheinlich ist,  —  aber  aus  der  Apologia  des  Clavius,  die 
er  mehrmals  citirt.  Gegen  Clavius  spricht  auch,  dass  sich 
Scaliger  gar  nicht  des  Unterschiedes  zwischen  der  Lilio'schen 
und  Gregorianischen  Kedaction  bewusst  ist,  denn  er  spricht 
oft  von  Lilio'schen  Epacten,  wo  unbedingt  die  Gregorianischen 
gemeint  sind;  freilich  ist  dies  eine  Nachlässigkeit  des  Scaliger, 
denn  wie  gesagt,  aus  der  Apologie,  wo  der  Unterschied  und 
die  Begründung  der  Abänderungen  weitläufig  auseinandergesetzt 
sind,  hätte  er  sich  darüber  klar  werden  sollen.  Auch  nimmt 
ja  Scaliger  diese  Rückänderung  am  Gregorianischen  Kalender 
nicht  ohne  Begründung  vor,  wenn  auch  zugestanden  werden 
muss,  dass  dieselbe  ziemlich  matt  ist.  Er  greift  nämlich  ein- 
zelne Fälle  heraus,  wo  die  Gregorianischen  Epacten,  den  wirk- 
lichen Neumonden  nach,  im  März  um  1  Tag  zu  spät  an- 
gesetzt sind;  z.  B.  1900  num.  aur.  L  Epaete  XXIX  Neumond 
3L  März.  Daher  sollte  zu  diesem  31.  März  Epaete  XXIX 
stehen,  es  steht  aber  erst  *  (XXX)  da  und  so  tritt  nach  dem 
Kalender  erst  am  1.  April  Neumond  ein;  dabei  muss  auch 
Scaliger  zugestehen,  dass  sich  dies  Missverhältniss  am  4/5  April 
(Epaete  XXV,  XXIV)  wieder  ausgleicht;  aber  er  betont,  dass 
sein  Kalender  ganz  richtig  zum  31.  März  Epaete  XXIX  (neben  *) 
habe.  Dem  ganzen  Charakter  des  Angrilffes  entspricht  es,  dass 
Scaliger  nur  Details  bringt.  Zwei  Punkte  noch  behandelt  er 
eingehend;  der  eine  bezieht  sich  auf  die  Dauer  der  lunaren 
Aequationsperiode ;  merkwürdigerweise  folgt  er  hierin  der  ganz 
rohen  Angabe  der  mittelalterlichen  Computisten,  nach  welchen 
die    lunaren  Erscheinungen   nach    304  julianischen  Jahren  um 


Die  Polemik  ftber  die  (Iregorianische  Kalenderreform.  557 

1  Tag  vor  den  solaren  eintreten,  während  die  römischen  Ka- 
lendermacher diese  Periode,  gestützt  auf  die  Prutenischen  Tafeln, 
zu  312 V2  Jahren  ansetzten.  Der  zweite  Punkt  betrifft  die  Frage, 
ob  es  richtig  sei,  dass  die  luna  XIV  als  Vollmond  tauglich  zur 
Ostergrenze  angesehen  werden  dürfe.  Bekanntlich  war  dies 
auch  Gegenstand  der  Controverse  in  der  alten  Kirche,  dort  aus 
dem  Grunde,  um  niemals  Ostern  mit  dem  jüdischen  Paschah 
zusammenfallen  zu  lassen.  Dies  greift  Scaliger  wieder  auf  und 
kehrt  allerdings  nicht  diesen  Standpunkt  hervor,  macht  aber 
dafür  auf  den  inneren  Widerspruch  in  der  Osterregel  auf- 
merksam: Ostern  soll  niemals  am  Vollmondstage  gefeiert  werden. 
Astronomisch  ist  aber  sicher,  dass  erst  14  Tage  nach  Neumond 
(d.  i.  luna  XV)  Vollmond  fällt;  tritt  nun  an  einem  Samstag 
luna  XIV  ein,  so  ist  der  nächste  Sonntag  Ostersonntag;  dieser 
ßlllt  daher  auf  luna  XV,  d.  i.  auf  den  VoUmondstag.  Auf  den 
ersten  Anblick  kann  man  diesen  Schluss  gelten  lassen;  aber 
die  mittelalterliche  Osterregel,  der  auch  der  Gregorianische 
Kalender  folgt,  setzt  nach  dem  Worte  ,Vollmond8tag'  die  Worte: 
,d.  i.  luna  XIV^  Und  in  diesem  Sinne,  also  mit  der  Wahrung 
des  Althergebrachten,  bekämpft  auch  später  Clavius  diese  Con- 
clusio  des  Scaliger,  der  übrigens  —  abgesehen  von  den  Alten 
—  in  diesen  Jahrhunderten  nicht  der  erste  ist,  der  diese  Frage 
aufwarf;  dies  hat  100  Jahre  früher  schon  Paulus  v,  Middelburg 
gethan.  ^ 

Durch  die  später  zu  besprechende  Entgegnung  des  Clavius 
muss  sich  Scaliger  verletzt  gefühlt  haben,  denn  noch  einmal 
trat  er  gegen  den  Gregorianischen  Kalender  auf,  gelegentlich 
seiner  Ausgabe  des  Chronicon  Eusebii.^  Von  dem  massvollen 
Tone,  den  er  bisher  dieser  Frage  gegenüber  beobachtet  hatte, 
ist  nun  keine  Spur  mehr  vorhanden;  eine  Selbstkritik  hätte 
Scaliger  unbedingt  zwingen  müssen,  jene  getadelte  ,bäuerliche 
Ungezogenheit'  der  Literaten  nun  auch  auf  sich  zu  beziehen. 
Es  macht  einen  komischen  Eindruck,  wenn  er  jetzt  den  Clavius, 


^  Vorgeschichte  der  Gregor.  Kalenderreform  pag.  383. 

^  ThesanrnB  terapornm  Ensebii  Pamphili  Caesareae  Palaestinae  episcopi. 
Lüttich  1606.  Als  Anhang:  Isagogiconim  chrononoligiao  canonmn  libri 
tres,  in  quibns  operis  de  Emendatione  temporum  doctrinae  totius  prae- 
cepta  demonstrative  traduntur  ac  multa  praeterea  hactenus  non  vulgata 
docentar.  (Lib.  III.  handelt  über  den  Kalender.) 


558  Kalten  braun  er. 

den  er  früher  als  yinsignis  mathematicus  et  aBtronomus^  be- 
zeichnet, baar  aller  mathematischen  Kenntnisse  schildert,  trotz- 
dem Clavius  sowohl  in  dem  gegen  Scaliger  direct  gerichteten 
Buche  als  auch  in  der  ,Explicatio^  kaum  einen  Gedanken  aus- 
gesprochen hatte,  der  nicht  schon  in  der  dem  Scaliger  bekannten 
Apologie  wenigstens  angedeutet  wäre.  Was  nun  den  sachlichen 
Inhalt  anbelangt,  so  bringt  er  durchaus  nichts  neues,  sondern 
wiederholt  seine  früheren  Behauptungen  und  Vorschläge,  nun 
aber  gewürzt  mit  den  bissigsten  persönlichen  Ausfällen  gegen 
Clavius.  Hervorzuheben  ist  aber,  dass  Scaliger  auch  in  dieser 
Arbeit  sich  aller  confessionellen  Angriffe  vollständig  enthält  — 
er  bleibt,  abgesehen  von  den  Persönlichkeiten,  durchaus  auf 
sachlichem  Boden,  was  denn  für  jene  Zeit  immerhin  Anerken- 
nung verdient. 

Aehnlich  wie  Scaliger  auf  dem  Principe  der  vorge- 
nommenen Reform  selbst  stehend,  bekämpften  den  neuen 
Kalender  Georgius  Germanus,  Franciscus  Vieta  und  Sethus 
Calvisius.  Der  erstere  veröffentlichte  nach  dem  Erscheinen  der 
Apologia  des  Clavius  zu  Frankfurt  an  der  Oder  seine  Schrift,' 
deren  Erscheinen  er  direct  mit  jener  Aufforderung  des  Clavius 
rechtfertigt,  man  möge  einen  Kalender  construiren,  der  auf 
cyclische  Weise  eingerichtet,  dennoch  weniger  als  die  vier 
erwähnten  Fehler  oder  doch  diese  seltener  zulässt  als  der 
Gregorianische.  Germanus  bekennt  sich  in  der  Vorrede  als 
Katholik  und  weiss  wohl,  dass  ihm  als  solchen  der  Vorwurf 
gemacht  werden  könnte,  als  begehe  er  mit  der  Opposition 
gegen  das  vom  Pabste  unternommene  Werk  einen  schweren 
Fehler.  Aber  jene  Aufforderung  des  Clavius  und  der  redliche 
Wille  i  der  Christenheit  durch  sein  Werk  nützlich  zu  sein, 
helfen  ihm  über  diese  Bedenken  hinweg.^  Germanus  verspricht 
nun,  dass  er  das  Aequinoctium  vernum  besser  am  21.  März 
erhalten  wolle  und  dafür  sorgen  werde,  dass  die  Ostervollmonde 


1  Computns  eccloslasticus  sive  Kalendarium  triplex,  Gregorüinum,  Antiqnoic 
et  Novun),  cum  vero  cyclo  lunari  et  refutatione  qnorundam  insigniniQ 
erromm  Christophori  Clavii  clarissimi  nostri  temporis  mathematici. 

2  Bei  dieser  Versicherung  des  Katholicismus  fallt  allerdings  auf,  dass  Ger- 
manus sein  Werk  dem  Professor  David  Origanus,  einem  eifrigen  Prote- 
stanten, zur  Begutachtung  einsandte  —  ein  Punkt,  der  auch  von  ClaTiu« 
in  seiner  Erwidenmg  aufgegriffen  wurde. 


Die  Polemik  ftber  die  GregoriftniBChe  Kalenderreform.  559 

nicht  vor  den  betreffenden  Angaben  der  Prutenischen  Tafeln 
fallen  werden.  Da  Qermanus  direct  an  die  Apologie  des  Clavius 
anknüpft;  so  kann  mau  ihm  hiebei  schon  zum  Vorwurf  machen, 
dass  er  gewichtige  Argumente  des  Gegners  hiebei  übersieht. 
Was  die  Regelung  des  Sonnenjahres  anbelangt^  so  vergisst  er, 
dass  Clavius  den  Prutenischen  Tafeln  durchaus  keine  absolute 
Richtigkeit  beimisst,  er  thut  dies  aber,  und  hat  hiebei  allerdings 
ein  leichtes  Spiel,  indem  er  —  diese  Tafeln  zur  Hand  nehmei\d 
—  einfach  jene  centenaren  Jahre  zu  Gemeinjahren  erklärt,  in 
welchen  der  Ueberschuss  der  Julianischen  Jahre  über  die  Coper- 
nikanischen  wieder  mehr  als  1  Tag  beträgt.  Auf  diese  Weise 
will  er  es  verhindern,  dass  das  Aequinoctium  vernum  über  den 
21.  März  hinausfallt,  dass  es  auch  unter  diesen  Tag  eintritt  zu 
verhindern,  hält  sich  auch  er  für  unfähig.  Im  Mondcyclus  will 
er  den  ^verbannten'  Numerus  aureus  wieder  zu  Ehren  bringen, 
da  aber  auch  er  die  Absicht  hat,  einen  immerwährenden  Ka- 
lender herzustellen  und  daneben  doch  berücksichtigen  muss, 
dass  sich  dann  die  Stellenwerthe  der  Numeri  aurei  ändern 
müssen,  so  erweitert  er  die  19  Zahlen  auf  30  und  zwar  so, 
dass  er  jedesmal  zwischen  2  um  zwei  Tage  von  einander 
abstehenden  Numeris  die  um  19  grössere  Zahl  schiebt.  Das 
arithmetische  Verhältniss  der  dem  julianischen  Kalender  ein- 
geschriebenen Numeri  aurei  bringt  es  mit  sich,  dass  der  höher 
stehende  stets  um  11  grösser  oder  um  11  — 19,  d.  i.  um  8  kleiner 
ist  als  der  ihm  zunächst  stehende,  und  zwar  ergibt  sich  die 
letztere  Differenz  da,  wo  ein  unbesetzter  Tag  zwischen  zwei 
Numeris  aureis  liegt.  Indem  nun  Germanus  zu  diesen  unbesetzten 
Tagen  Zahlen  einschiebt,  die  um  19  grösser  sind,  als  der  jedes- 
malige obere  numerus  aureus,  so  sind  dieselben  um  19  —  8, 
d.  i.  um  11  grösser  als  die  unten  stehenden  numeri,  und  so 
erhält  er  eine  Zahlenreihe,  die,  solange  es  geht,  um  19  steigt 
und  dann  ebensolange  um  11  fällt.*  Natürlich  müssen  nun  die 
Numeri  aurei  einen  Läuterungsprocess  durchmachen,  um  als  , nu- 
meri aurei  aequati'  für  die  verschiedenen  Aequationsperioden 
die  Neumondstage  bezeichnen  zu  können.  Dies  geschieht  durch 


1  Bei  dieser  Manipulation  kommt  Germanus  nicht  über  30  hinaus.  Denn 
im  FaUe,  dass  unten  der  höchste  Numerus  aureus  d.  i.  19  steht,  erscheint 
oben  nach  dem  erst  zu  besetzenden  Tage  19  —  8  =  11;  daher  ist  die 
einzuschiebende  Zahl  11  -f- 19  =  30. 


560  Kalten1)rnnner. 

Reductionszahlen,  deren  Reihe  Germanus  leicht  aufstellen  kann, 
indem  er  an  der  Hand  der  Prutenischen  Tafeln  berechnet,  wann 
denn  die  Neumonde  um  1  Tag  im  Kalender  zurückgestellt 
werden  müssen,  nachdem  sie  bei  der  jedesmaligen  Auslassung 
eines  bissextus  um  einen  vorgerückt  worden  waren.  Und  nun 
hat  Germanus  nur  jene  Operation  vorzunehmen,  die  schon  im 
Jahre  1345  Johann  v.  Muris  und  Firminus  de  Bella  Valle  aus- 
gehegt hatten.  *  Durch  Addition  von  Reductionszahlen  und 
eventuell  darauf  folgende  Subtraction  von  19  (wenn  die  Summe 
grösser  als  30  wird)  gewinnt  er  aus  dem  laufenden  Numerus 
aureus  des  Jahres  den  die  Neumonde  anzeigenden  für  die  ein- 
zelnen Aequationsperioden.  Ein  doppelter  Unterschied  aber 
besteht  zwischen  der  Methode  der  Mathematiker  des  vierzehnten 
Jahrhunderts  und  Germanus.  Erstere  hatten  die  mittleren  Um- 
laufszeiten angenommen,  liessen  daher  die  Aequation  jedesmal 
nach  310  Jahren  eintreten,  Germanus  aber  hat  ungleiche  Aequa- 
tionsperioden, die  nach  den  Prutenischen  Tafeln  bestimmt  sind; 
und  dann  hatten  jene  die  Aequation  sprungweise  bald  nach 
310,  bald  nach  620  Jahren  auftl*eten  lassen  müssen,  weil  sie 
eben  nicht  zu  allen  Tagen  numeri  aurei  vorfanden,  dem  ent- 
geht Germanus  durch  die  angeführte  Erweiterung  der  Zahlen- 
reihe auf  30.  Auf  diese  Weise  glaubt  Germanus  vermeiden 
zu  können,  dass  der  Ostervollmond  früher  gesetzt  werde,  als 
ihn  die  Prutenischen  Tafeln  anzeigen  und  hat  so  allerding«  die 
vier  von  Clavius  angeführten  Gattungen  der  Fehler  des  Grego- 
rianischen Kalenders  auf  drei  reducirt;  aber  um  den  Preis  der 
Leichtfasslichkeit  und  Handsamkeit  des  Kalenders,  so  dass  er 
denn  doch  eine  Bedingung  des  Clavius  nicht  erfüllt,  abgesehen 
davon,  dass  er  den  Prutenischen  Tafeln  absolute  Gültigkeit 
beimisst. 

In  ganz  eigenthümlicher  Weise  geht  Franciscus  Vieta 
bei   seinem  Angriffe  ^  vor.    Voll  Bewunderung  fiir  den  Grund- 


^  Vorgeschiclite  der  Gregorianisch en  Kalenderrefomi  pag-.  820  u.  f. 

2  Francisci  Vietae   Fontanensis    libellomm    sappliciim   in   Regia    niagistrit 

Relatio  Kalendarii  yere   Gregoriani  ad   ecc.Iesiasticos  doctores.     Exhibita 

Pontifice   Maximo   Clementi   VIII.     Anno   Christi    1600  Jubilaeo    Parisü. 

Wie   es   scheint,   wnrden   von   diesem   Buche   zwei   Ausgaben   im   selben 
•    Jahre  gemacht,   anders  kann  ich  mir  die  Vorwürfe  des  Clavius  und  des 

Pabstes  Clemens  nicht  erklären.     Diese   nämUch   behaupten,  Vieta  habe 


Die  Polemilc  ftber  die  Gregorianisclie  Kalenderreform.  561 

gedanken  der  Gregorianischen  Kalenderreform  stellt  er  die 
Behauptung  auf,  dass  die  Intentionen,  die  Gregor  XIII.  dabei 
leiteten,  von  seinen  Mathematikern  nicht  durchgeführt  worden 
seien.  Also  nicht  Gregor  XIII.,  sondern  dessen  Sosigines 
(Clavius)  gelte  sein  Angriff,  und  nach  den  Principien  des 
Pabstes  wolle  er  jetzt  den  ,reinen  Gregorianischen  Kalender' 
construiren.  Sehen  wir  zu,  wie  Vieta  dies  fertig  bringt:  Alle 
seine  Ausstellungen  beziehen  sich  auf  den  immerwährenden 
Kalender,  also  auf  die  Einschreibung  der  Epacten.  In  neun 
Punkten  fasst  Vieta  dieselben  zusammen;  wir  können  aber  den 
wenigsten  von  ihnen  Gültigkeit  beimessen.  Denn  dieselben  sind 
theils  ganz  aus  der  Luft  gegriffen,  theils  durch  mathematische 
Künsteleien  gewonnen,  theils  in  Verkennung  des  cjclischen 
Wesens  aufgestellt.  Zu  den  ersteren  gehört,  dass  Vieta  in 
Punkt  2  und  3  die  Behauptung  ausspricht,  man  könne  aus  einer 

seinem  Kalender  die  Bulle  ,Inter  Gravissimas'  beigefügt,  beschuldigen 
ihn,  er  habe  unter  der  Autorität  des  päbstlichen  Stuhles  eine  neue  Form 
des  Kalenders  einführen  wollen  und  bezeichnen  ihn  daher  geradezu  als 
Fälscher.  Das  mir  bekannte  Exemplar  der  kgl.  Bibliothek  in  Berlin  besteht 
aus  drei  Theilen,  entsprechend  der  Disposition  Vieta^s;  der  dritte  ist  nun 
allerdings  insofern  selbstständig,  als  eine  ganze  Seite  fUr  den  Titel:  ,Kalen- 
darium  Gregoriannm  perpetuum*  verwendet  ist,  aber  die  Paginirung  läuft 
durch  und  der  Drucker  (Jean  Mettayer  in  Paris)  nennt  sich  erst  am  Schlüsse 
dieses  dritten  Theils  und  vorher  nicht.  Nach  der  Beschreibung  dagegen, 
die  Clavius  von  dem  ihm  zugegangenen  Werke  gibt,  ist  derselbe  schon 
nach  dem  zweiten  Theile  angegeben  und  das  Kalendarium  perpetuum 
findet  sich  als  Appendix,  dem  die  Bulle  Gregor  XIII.  vorgesetzt  ist.  Aus 
der  Luft  kann  Clavius  dies  unmöglich  gegriffen  haben,  seine  und  des 
Pabstes  Worte  aber  sind  so  deutlich,  dass  ein  Irrthum  kaum  angekommen 
werden  kann.  Clavius  erklärt  es  für  ein  unerhörtes  Verbrechen  des  Vieta 
,qnod  Kalendarium  illud  suum  seorsim  sua  auctorite  excudendum  cnravit, 
iisdem  omnino  verbis,  quibus  Gregorianum  anno  1682  iij  lucem  aactori- 
täte  Pontificia  prodiit,  paucis  quibusdam  exceptis,  qaae  videlicet  aliena 
judicavit  ab  instituto  suo,  pracposita  quoque  ad  auctoritatem  Gregorii 
bulla,  ut  nimirum,  qui  libellum  illum  coemerint,  eoque  decepti  atque  adeo 
auctoritati  Sedis  Apostolicae  paruisse  videantur,  cum  tamen,  ut  deinceps 
demonstrabo,  nihil  Gregoriano  Kaiendario  magis  adversetur.*  Und  in  dem 
Breve  des  Pabstes  vom  J7./7.  März  160:>  heisst  es:  ,Ac  praecipue  quidam 
Franciscus  Vieta  in  tantam  impudentiam  pervenerit,  ut  Kalendarium  quod- 
dam  a  se  compositum  plenum  erroribus  et  Gregoriano  plene  contrariuro, 
(iregorianum  tamen  inscribere  et  edere  ausus  est,  eique  praedicti  Gregorii 
praedecessoris  literas  emendationis  et  resti tuend!  Calendarii  praeposuerit, 
ut  proposita  palam  veri  specie  falsae  suae  doctrinae  venenum  installaret* 
Sitzunffsber.  d.  pliil..hist.  Cl.  LXXXVII.  Bd.  I.  Hfl.  36 


562  Kaltenbrunner. 

Neumondsangabe    nicht   alle   anderen   des  Jahres   im  Kalender 
finden.     Denn    wenn   einem  Num.  aur.  XIX  Epacte  XIX  ent- 
spricht; tritt  am  31.  December  Neumond  ein;  zu  diesem  Tage 
aber   stehen   die    Epacten   XX  und  XIX,    will    ich   daher   die 
andern  Neumonde   des  Jahres   finden,  so   ist  mir  nicht  gesagt, 
ob  ich  sie  unter  Epacte  XIX  oder  XX  suchen  soll;  desgleichen 
wenn  der  Osterneumond   in   einem  Jahre    mit   num.   aur.    XII 
oder   >   XII  auf  den   4.  April  (Ep.  XXVI.  25.)   fällt,    denn 
gleich  im  nächsten  Monat  bin  ich  in  Verlegenheit,  ob  ich  Neu- 
mond am  3.  Mai  unter  Epacte  XXVI  oder  am  4.  unter  Epacte  25 
bestimmen  soll.     Es  ist  dies  nichts  als  ein  versteckter  Angriff 
gegen  das  Culminiren  der  Epacten  XXV  und  XXIV,  aber  ein 
sehr   unglücklicher,    denn  Vieta  vergisst,  dass,  wenn  man  eine 
Neumondsbestimmung    im    Gregorianischen    Kalender    machen 
will,    man    überhaupt   zuerst    in  der  Aequationstabelle  die  ent* 
sprechende  Epacte    suchen    niuss    und   nach    deren   Auffindung 
unmöglich   ein   solcher  Zweifel  entstehen  kann.     In  die  zweite 
Kategorie   kann   man  zählen,  wenn  Vieta  den  Vorwurf  erhebt, 
dass  die  Grenze  für  die  Epacten  XXV  und  25  unsymmetrisch 
gesteckt  worden    sei;    man  hätte  sie  in  die  Mitte  auf  numerus 
aureus    X    setzen    sollen    (Punkt  5)    und    wenn    er   nach    einer 
Bekämpfung    des   dreihunderttausendjährigen  Cyclus  des  Lilio, 
den  Clavius  ja   ohnehin    schon    fallen    gelassen    hatte,    erweist, 
dass  im  einhundertachtzigsten  und  zweihundertneunzehnten  Jahr- 
tausend die  Epacten  nicht  mehr  richtig  die  Neumonde  anzeigen 
können  (Punkt  8  und  9).   Es  bleiben  also  noch  vier  Einwürfe 
übrig,  die  uns  einigermassen  stichhältig  erscheinen  können,  aber 
doch    vom  Vorwurfe    nicht   frei    sind,    dass   sie   zu  wenig  dem 
cyclischen    Wesen    Rechnung   tragen.     Zwei   davon    (1   und  7) 
beziehen  sich  darauf,  dass  die  bissexti  Störungen  im  Alterniren 
von  hohlen  und  vollen  Monaten  hervorrufen;  denn  wenn  zwischen 
dem  6.  Februar  und  dem  Schalttage  ein  Neumond  eintritt,  ergibt 
sich  ein  einunddreissigtägiger  Mondmonat,  was  absurd  sei.    In 
der  That  ist  dies  der  Fall  und  überhaupt  werden  die  Neumonde, 
obwohl  die  Aequation  der  Epacten  nur  von  dem  Dazwischen- 
treten   oder    dem  Ausfall    der   bissexti   abhängt,  doch^auch  im 
Jänner   und  Februar   des    laufenden   bürgerlichen  Jahres,  also 
vor   Eintreten    dieser   Ursache    beeinflusst.     Die    beiden   übrig 
gebliebenen   Punkte   endlich    betreffen  die  leidige  Culminirung 


Die  Polomik  über  die  Gre^erianiBche  Kalenderrefonn.  563 

der  Epacten  XXV  und  XXIV,  d.  h.  die  hier  von  Vieta  hervor- 
gehobenen , Unregelmässigkeiten'  des  Gyclus  finden  darin  ihren 
Erklärungsgrund. 

Die  Veränderungen,  die  Vieta  am  Kalender  vornimmt, 
gehen  daher  nach  diesen  beiden  Seiten  hin;  einmal  will  er 
vermeiden,  dass  durch  die  bissexti  auch  die  Neumonde  vom 
1.  Jänner  bis  24.  Februar  irritirt  werden,  und  dann  sucht  er 
die  Unregelmässigkeiten,  die  sich  durch  das  Culminiren  der 
beiden  Epacten  ergeben,  zu  vermeiden.  Daher  beginnt  Vieta 
sein  Jahr  am  8.  März  ^  mit  einem  vollen  Mondmonat  und  zählt 
hierauf  hohle  und  volle  Monate  weiter,  indem  er  abwechselnd 
die  Zahlenreihen  von  XXIX  bis  0  und  XXIX  bis  I  den  Monats- 
tagen zuschreibt.  Also  das  Culminiren  der  Epacten  lässt  er 
ganz  fallen,  dafür  ergibt  sich  in  seinem  Kalender  ein  gewaltiger 
Uebelstand.  Entweder  behält  Vieta  in  der  Aequationstafel  die 
Epacte  0  bei,  dann  erhält  er  aber  für  den  Fall,  dass  ein  Numerus 
aureus  mit  Epacte  0  zusammenfällt,  aus  dem  Kalender  nur 
6  Neumonde  des  Jahres,  oder  er  nimmt  diese  nicht  in  die 
Tafel  auf,  dann  kann  auf  die  6  Tage,  zu  welchen  Epacte  0 
steht,  niemals  ein  Neumond  fallen.  Vieta  entschied  sich  für 
das  letztere  und  stellt  daher  die  Regel  auf:  ,der  dreissigste 
Tag  jedes  vollen  Monats  sei  kein  Neumond,  und  erhalte  den 
Charakter  0'. 

Ich  komme  nun  zu  Sethus  Calvisius,^  der  den  Reigen 
der  Bekämpfer  des  Gregorianischen  Kalenders  in  dieser  Periode 
abschliesst.  Calvisius,  der  seine  Schrift  gleich  Grermanus  dem 
David  Origanus  widmet,  geht  von  einem  etwas  anderen  Stand- 
punkte aus,  als  seine  Vorgänger.  Er  meint,  dass  die  vielen 
Verwirrungen,  welche  bisher  die  doppelte  Kalenderwirthschaft 
angerichtet  hatte,  endlich  die  Evangelischen  bewegen  werden, 
eine  Verständigung  mit  den  Katholischen  herbeizuführen;  anderer- 
seits dürften  auch  einmal  die  Katholiken  einsehen,  wie  sehr 
sie   mit   dem  Gregorianischen  Kalender   hinter's  Licht   geführt 


^  Die  Wahl  gerade  dieses  Tages  für  die  Jahresepocfae,  über  die  Vieta  keine 
Rechenschaft  gibt,  hängt  offenbar  damit  zusammen,  dass  auf  den  8.  MSrz 
der  früheste  Frühlings  -  Neumond  fällt. 

2  Elenchus  Calendarii  Gregoriani,  in  quo  errores,  qui  passim  in  anni  qnan- 
titate  et  Epactis  commituntur,  manifeste  demonstrantur  et  dupplex  Kalen- 
darii  melioris  et  expeditioris  formala  proponitur.  Frankfurt  1612. 

36* 


564  Kaltenbrnnner. 

wurden.  Calvisius  weiss,  dass  viele  der  Ansicht  sind,  es  lohne 
sich  überhaupt  nicht  mehr,  über  die  Kalenderfrage  zu  schreiben, 
denn  einerseits  rücke  das  Ende  der  Welt  heran,  und  es  würden 
weder  die  Katholischen  von  ihrem  Kalender  abstehen,  auch 
wenn  ihnen  noch  tausend  Fehler  blosgelegt  würden,  noch 
würden  die  Protestanten  denselben  annehmen,  auch  wenn  er 
ihnen  fehlerfrei  dargestellt  werden  könnte,  eben  wegen  seines 
Urhebers,  des  Antichrist.  Den  ersten  Einwand  fertigt  Calvisius 
damit  ab,  indem  er  meint,  dass  man  aus  demselben  Grunde 
auch  keine  Häuser  mehr  bauen  dürfte;  was  aber  den  schroffen 
Gegensatz  der  beiden  Parteien  anbelangt,  so  will  er  doch  nicht 
ganz  die  Hoffnung  aufgeben,  dass  sie  endlich  des  kleinlichen 
Haders  müde  würden.  Soll  aber  eine  Verständigung  herbei- 
geführt werden,  so  kann  nur  gegenseitige  Nachgiebigkeit  helfen 
und  da  gebe  es  kein  anderes  Mittel,  als  eben  eine  neue  Form 
des  Kalenders  aufzustellen,  die  möglichst  der  Gregorianischen 
ähnlich  ist,  andererseits  aber  manche  Fehler,  die  jener  anhaften, 
vermeidet.  Von  diesen  Fehlern  schliesst  Calvisius  wohl  theil- 
weise  jene  Gattungen  aus,  von  denen  Clavius  gesagt  hatte,  dass 
sie  in  jeder  cyclischen  Rechnung  vorkommen  müssen,  aber  er 
will  zeigen,  dass  zum  mindesten  dieselben  reducirt  werden 
können. 

In  Bezug  auf  das  Sonnenjahr  entschuldigt  er  wohl  die 
Kalendermacher,  da  ihnen  die  Beobachtungen  Tycho  de  Brahes 
nicht  zu  Gebote  gestanden  hatten,  aber  er  findet  schon  die 
Methode  ihrer  Schaltung  aus  denselben  Gründen  wie  Scaliger 
absurd.  Die  Entgegnung  des  Clavius,  dass  sie  am  fasslichsten 
und  am  leichtesten  erklärbar  sei,  lässt  er  nur  im  ersten  Falle 
gelten.  Im  Ganzen  unterscheidet  sich  der  Kalender  des  Calvisius 
sehr  wenig  von  dem  Gregorianischen;  die  Hauptsache  ist,  dass 
er  vollständig  die  vollen  Ostermondmonate  vermieden  hat,  um 
deren  willen  bekanntlich  die  Culminirung  der  Epacten  von 
*  XXIX  auf  XXV,  XXIV  geschoben  worden  war.  Calvisius 
rückte  dieselbe  zu  den  Epacten  XXIV  und  XXIII;  auf  diese 
Weise  erhält  er  allerdings  lauter  hohle  Ostermonde,  aber  um 
einen  theuren  Preis  —  sobald  nämlich  irgend  einem  numerus 
aureus  Epacte  XXIV  entspricht,  ergibt  sich  ihm  kein  Oster- 
Neumond,  denn  Epacte  XXIV  steht  bei  ihm  am  7.  März  und 
6.  April,  also  gerade  vor  und  nach  dessen  Grenzen. 


Die  Polemik  über  die  Gregoriani&che  KaJenderrefona.  565 

Die  Schi'ift  des  Calvisius  hat  meines  Wissens  keine  Er- 
widerung gefunden,  und  ich  habe  dieselbe  nur  aus  dem  Grunde 
angeführt,  weil  sie  zuerst  den  im  siebzehnten  Jahrhundert  lebhaft 
ventilirten  Gedanken  ausspricht,  einen  dritten  sozusagen  neu- 
tralen Kalender  aufzustellen. 

Y.  Die  Yertheidigung  des  Kalenders  durch  Glavins. 

Clavius  hatte,  wie  wir  gesehen  haben,  in  seiner  Apologie 
gegen  Maestlin  die  Hauptgesichtspunkte  der  Reform  klar  und 
deutlich  auseinandergesetzt.  Die  erneuerten  Angriffe  machten 
eine  neue  Entgegnung  nöthig.  Zunächst  erwiderte  Clavius  dem 
Scaliger  auf  seinen  zweiten  Angriif  (dem  Elenchus  et  castigatio 
Anni  Gregoriani).  Den  höflichen  Ton,  den  Scaliger  gegen  ihn 
angeschlagen  hatte,  erwidert  er  im  gleichen  Maasse  in  der  Vor- 
rede. Mit  Begierde  habe  er  dessen  Buch  ei-griiFen  und  in  der 
That  viel  Geistreiches  und  Gutes  darin  gefunden ;  daneben  freilich 
sei  ihm  auch  viel  Unbegiündetes  und  Falsches  aufgestossen  und 
zu  dem  habe  er  am  Rande  seine  Bemerkungen  gemacht.  Auf 
Andrängen  seiner  Freunde  gebe  er  diese  nun  heraus,  auf  dass 
man  bei  Beurtheilung  des  Kalenders  nicht  blind  der  Autorität 
Scaliger*8  folge.  Er  bittet  und  beschAvört  ihn,  es  nicht  übel  auf- 
zunehmen, wenn  nun  sein  Buch  verbessert  der  Welt  übergeben 
wird  und  ihm  das  geschieht,  was  er  dem  Gregorianischen  Kalen- 
der zugedacht  hatte.  Seine  schönen  Worte  in  der  Vorrede  er- 
muthigen  ihn  hiezu.     Die  Schrift  *  stellt  sich  nun  in  der  That 

^  J.  Scaligeri  Elenchus  et  castigatio  Kalendarii  Gregoriani  a  Chr.  Clayio 
castigata.  (Im  V.  Bande  der  Opera.)  Nach  Brunet  (a.  a.  O.)  soll  Clavius 
schon  früher  gegen  Scaliger  geschrieben  haben  und  zwar  1591  unter  dem 
Titel :  ,Adversus  J.  Scaligeri  £lenchum  et  castigationera  Kalendarii  Gre- 
goriani', und  ähnlich  berichtet  Calvisius,  nach  welchem  die  Schrift:  ,Ca- 
stigatus  Elenchus*  heissen  soll.  Dies  könnte  nur  eine  Antwort  auf  jene 
kurzen  Bemerkungen  sein,  die  Scaliger  in  ,de  Emendatione  temporum^ 
gemacht  hatte,  denn  die  zweite  Schrift  Scaliger's  erschien  erst  lö9&. 
Allerdings  hatte  Possevinus  eine  Entgegnung  des  Clavius  auf  den  ersten 
Angriff  des  Scaliger  angekündigt,  und  dieser  hatte  sie  auch  erwartet,  sagt 
aber  ausdrücklich,  dieselbe  sei  ihm  nicht  zu  Gesichte  gekommen.  Also 
Abgesehen  davon,  dass  es  sehr  unwahrscheinlich  ist,  dass  dem  Scaliger 
bei  seinen  weitverzweigten  Verbindungen  dies  vor  vier  Jahren  erschienene 
Buch  nicht  zugänglich  gewesen  sein  sollte,  so  stellt  Clavius  in  seiner  Schrift 
entschieden  in  Abrede,  dass  ihm  der  Auftrag  ertheilt  worden  sei,  gegen  Scaliger 


Ö66  KftUenbtiinner.  . 

als  glossirie  Arbeit  de»  Scaliger  dar,  indem  jedesmal  nach  den 
einzelnen  Absätzen  desselben  die  entsprechenden  Bemerkungen 
des  Clavius  folgen. 

Wir  haben  schon  gesehen,  dass  Scaliger  nur  Details  heraus- 
gehoben hat,  indem  er  selbst  auf  dem  Boden  cyclischer  Rech- 
nung steht  und  daher  auch  zugibt,  dass  in  derselben  Fehler 
vorkommen  müssen.  Gegen  die  Richtigkeit  seiner  Schaltmethode 
kann  natürlich  Clavius  nichts  einwenden,  aber  er  hält  derselben 
die  leichte  Fasslichkeit  der  seinen  gegenüber  und  meint,  derlei 
Subtilitäten  hätten  keinen  Sinn,  indem  ebenso  wenig  nach  Sca- 
liger als  nach  dem  Gregorianischen  Kalender  verhindert  werden 
kann,  dass  das  Aequinoctium  von  dem  21.  März  abirre;  es  könne 
sich  da  nur  handeln,  dieses  einzudämmen  und  darnach  zu  trachten, 
dass  es  nach  einem  gewissen  Zeitraum  wieder  auf  den  21.  Man 
komme.  Bezüglich  der  Hauptneuerung,  die  Scaliger  am  Mond- 
kalender vorgenommen  hatte,  nämlich  die  Verlegung  der  Epoche 
auf  den  1.  März,  kann  Clavius  im  Principe  nichts  einwenden, 
aber  er  erinnert  daran,  dass  alte  Gewohnheit  und  Bequemlichkeit 
dagegen  sprechen,  hier  eine  Aenderung  vorzunehmen.  Was  nun 
air  die  anderen  Einwendungen  betrifft,  die  Scaliger  gegen  die 
Details  des  Epactencyclus  macht,  kann  sie  Clavius  leicht  ent- 
kräften. Zunächst  bemerkt  er  zu  den  Beispielen,  die  jener  fiir 
manchen  künftigen  falschen  Osteransatz  anführt,  dass  er  ja 
schon  in  der  Apologie  derlei  Möglichkeiten  zugestanden  habe, 
und  dass  Scaliger  selbst  betone,  dass  mit  der  auch  nach  seiner 
Meinung  beizubehaltenden  cyclischen  Rechnung  Fehler  unter- 
laufen müssen.  Clavius  erklärt  daher  diese  Beispiele  mit  dieser 
Ansicht  Scaliger's  selbst  im  Widerspruche  stehend,  und  anderer- 
seits wird  es  ihm  natürlich  ein  Leichtes,  auch  aus  dem  von 
Scaliger  verbesserten  Epactencyclus  falsche  Osteransätze  heraus- 
zufinden. Scaliger  hatte  sich  hier  sowohl  als  in  andern  Punkten 
von  seiner  bekannten  Streitlust  zu  weit  hinreissen  lassen,  was 
dem  Clavius  Anlass  zu   mancher   spöttischen  Bemerkung  gibt; 


zu  schreiben,  und  Possevinus  habe  jedenfalls  die  Apologia  gemeint,  welche 
er  damals  gerade  in  der  Arbeit  gehabt  habe.  Somit  wird  wohl  unter 
dem  von  Bmnet  angefahrten  Bnche  die  uns  jetzt  beschäftigende  Arbeit 
des  Clavius  gemeint  sein.  Dieselbe  muss  abgefasst  sein  zwischen  1593 
und  1603,  denn  in  der  weiter  unten  zu  besprechenden  ,Explicatio%  die  in 
diesem  Jahre  erschien,  wiederholt  Clavius  dieselbe  bereits  im  Auszöge. 


Die  Polemik  über  di»  Oregoriauüchc  Kalenderreform.  567 

80  nennt  Scaliger  die  (/ulminirung  von  Epacte  XXV,  XXIV 
lächerlich  und  vergisst  dabei  ganz,  dass  er  ja  die  gleiche  Mass- 
regel bei  Epacte  *  XXIX  anwendet.  In  gleicherweise  ist  auch 
Clavius  seinem  Gegner  in  der  Frage  nach  der  Dauer  der  lunaren 
Aequationsperiode  überlegen,  dagegen  müssen  wir  dem  Scaliger 
bezüglich  seiner  Ansicht  über  den  Ostervolhnond  die  Superio- 
rität  einräumen;  Scaligcr  war  da  reclit  auf  seinem  Gebiete, 
hatte  massenhaftes  Material  zur  Verfügung  und  konnte  seinen 
bekannten  Scharfsinn  erproben;  hier  reicht  Clavius  nicht  hinan, 
und  er  führt  in  der  That  kein  anderes  stichhältiges  Argument 
dagegen  an,  als  dass  man  sich  in  Rom  möglichst  an  die 
Regeln  der  mittelalterlichen  Computisten  halten  wollte.  Zum 
Schlüsse  spricht  Clavius,  nachdem  er  seinen  Gegner  freund- 
schaftlichst ermahnt  hat,  von  seiner  unnützen  Opposition  ab- 
zustehen, zum  ersten  und  letzten  Male  über  die  Motive  der 
Angriffe  gegen  den  Kalender,  und  sieht  da  aber  von  Scaliger,  den 
er  nicht  mitzurechnen  scheint,  ab.  Nach  seiner  Meinung  steht  es 
fest,  dass  die  Sachsen  —  womit  er  wohl  die  deutschen  Prote- 
stanten meint  —  die  Engländer  und  Dänen  nicht  deshalb  den 
Kalender  zurückgewiesen  haben,  weil  er  fehlerhaft  sei,  sondern 
nur,  weil  er  vom  Pabste  kam.  Der  Kalender  gefalle,  der  Autor 
werde  gehasst. 

Zum  zweiten  Male  schreibt  Clavius  gegen  Scaliger  in  der 
Explicatio.  ^  Da  zwischen  der  eben  besprochenen  Schrift  und 
ihrem  Erscheinen  keine  Antwort  des  Scaliger  erfolgt  war,  so 
ist  das  lediglich  eine  Wiederholung,  respective  eine  Zusammen- 
fassung der  ersten  Entgegnung;  in  der  Form  dagegen  variiren 
beide  Redactionen  wesentlich,  indem  in  der  zweiten  der  Text 
Scaliger's  weggelassen  ist  und  die  Glossen  zu  einem  einheit- 
lichen Ganzen  verarbeitet  sind. 

Jener  dritte  Angriff  Scaliger's  in  der  Ausgabe  des  Chro- 
nicon  Eusebii  veranlasste  Clavius  nochmals  gegen  ihn  zu 
schreiben.*^  Wir  haben  gesehen,  dass  Scaliger  inzwischen  die 
schönen  Worte  in  der  Vorrede  zu  seinem  Elenchus  vergessen 
hatte  und  seiner  leidigen  Gewohnheit  gemäss  hochfahrend  und 

1  Cap.  XXIV.  Confiitautur  alii,  qui  Gregorianum  Kalendarium  oppugnarunt. 
^  Responsio   ad   convicia   et  CRlnmnias  J.  Scaligeri  in  Kaleadai'iam  Grego- 
riauum.  Mainz   1609. 


568  KftUenbrnnner. 

gehässig  geworden  war.  Kein  Wunder  ist  es  daher ,  dass  nun  auch 
Clavius  aus  seinem  ruhigen  Ton  herausfällt,  und  theilweise  in 
der  heftigsten  Weise  seinen  Gegner  bekämpft.  Da  im  übrigen 
Scaliger  nichts  neues  vorgebracht  hatte,  so  ist  auch  die  Er- 
widerung des  Clavius  für  uns  von  keiner  weiteren  Bedeutung, 
und  wir  haben  nur  aus  den  beiden  Schriften  das  traurige  Schau- 
spiel genossen,  dass  zwei  hochbedeutende  Männer  einander  in 
unwürdiger  Weise  bekämpfen,  nachdem  gerade  ihr  früheres 
Verhalten  zu  einander  der  einzige  Lichtblick  in  diesem  Bilde 
voll  Hass  und  Qeifer  gewesen  ist. 

Ich  habe  schon  mehrmals  das  Hauptwerk  des  Clavius,  die 
1603  zu  Rom  erschienene  Explicatio  Roraani  Kalendarii  a  Gre- 
gorio  XIII.  P.  M.  restituti  *  zu  erwähnen  gehabt,  und  es  handelt 
sich  nun  darum,  dessen  Werth  und  Bedeutung,  sowie  seine  Stel- 
lung innerhalb  der  Polemik  festzustellen.  Wir  haben  mehrmals 
den  Vorwurf  erheben  gehört,  dass  der  Gregorianische  Kalender 
ohne  Begi*ündung  in  die  Welt  gesandt  worden  sei,  und  gesehen, 
wie  auch  in  Rom  die  Nothwendigkeit  hiefiir  durch  das  von 
Anfang  an  gemachte  Versprechen  anerkannt  wurde,  dass  demnächst 
eine  solche  erscheinen  werde.  Nun  war  ja  von  dem  Hauptarbeiter 
der  Commission  im  Jahre  1588  die  Apologia  erschienen,  in  der 
das  ganze  Wesen  der  Reform  weitläufig  auseinandergesetzt 
wurde.  War  es  also  noch  nöthig,  neuerdings  ein  Werk  darüber 
herauszugeben,  zumal  da  der  nunmehrige  Hauptgegner  —  Sca- 
liger —  schon  in  einem  Separatbuche  bekämpft  und  widerlegt 


*  In  Rom  mu88  man  bis  kurz  vor  Erscheinen  des  Werkes  die  Absicht 
gehabt  haben,  dafür  jenen  von  Gregor  XIII.  in  den  Canones  angege- 
benen Titel:  ,Liber  novae  rationis  restituendi  Kalendarii  Romani*  anzu- 
wenden. Denn  Vieta  schreibt  in  seiner  zweiten  Schrift  gegen  Clavin«, 
dieser  habe  in  mehreren  Briefen  erwähnt,  er  habe  sein  (Vieta's)  Bach 
klar  widerlegt  in  dem  ,Liber  novae  rationis  restituendi  Kalendarii  ali- 
quando  si  Deo  placnerit  in  lucom  emitendus*.  Dies  gibt  Castellani,  den 
wir  noch  als  Gegner  Vieta's  kennen  lernen  werden,  für  einen  Brief  an 
den  Dr.  Adrianus  in  Rom  zu,  indem  er  sich  dabei  direct  auf  Clavius 
beruft.  Nun  ist  die  erste  Widerlegung  des  Vieta  in  der  Explicatio  und 
zwar  nach  Angabe  des  Clavius  nach  Schluss  des  Haupttheiles  geschrieben 
(,Absolveram  jam,  Deo  bene  juvante,  librum  hunc  [Explicationum]  eumqne 
proelo  propediem  mandare  decreveram,  ecce  in  manus  provenit  Vietae 
liber'.)  Also  erst  um  1603,  dem  Jahre  des  Erscheinens  der  Explicatio, 
muss  diese  Aendcrung  des  Titels  eingetreten  sein. 


J>ie  Polemik  üb«r  die  Gregoiiftnische  Kalenderreform.  569 

worden  war?  Die  Curie  hatte  bisher  noch  nicht  gesprochen  — 
jene  zwei  Arbeiten  des  Clavius  waren  privater  Natur;  und  so 
ist  das  Erscheinen  des  grossen  Werkes  des  Clavius  doch  zu 
rechtfertigen  und  zu  erklären.  Im  Auftrage  des  Pabstes,  mit 
dem  Erscheinen  einer  neuen  Kundgebung  desselben  tritt  nun 
Clavius  hervor,  antwortet  auf  alle  sachlichen  Einwürfe;  und 
gibt  eine  minutiöse  Darlegung  aller  nur  denkbaren  Verhältnisse 
des  Kalenders. 

Diesem  allgemeinen  Charakter  des  Werkes  entspricht  auch 
die  ganze  Anlage;  an  die  Spitze  werden  die  in  Frage  kom- 
menden Dinge  —  Lilio's  Compendium,  die  Bulle  ,Inter  Qra- 
vissimas'  und  die  Cauones  in  Kalendarium  Romanum  gestellt. 
Wie  verhält  es  sich  aber  mit  dem  Inhalt?  Wir  haben  gesehen, 
dass  sowohl  der  Angriff  Maestlin's,  als  die  Entgegnung  des  Cla- 
vius die  ganze  Kalenderfrage  umfasst,  in  folge  dessen  konnte 
Clavius  hier  nicht  viel  Neues  bringen.  Immerhin  aber  treten 
dem  Clavius  hier,  wo  es  sich  um  eine  allgemeine  Darlegung 
handelt,  und  wo  er  die  Absicht  hat,  alle  gegnerischen  Einwürfe 
zu  bekämpfen,  manche  Fragen  entgegen,  die  er  in  der  Apo- 
logie nicht  zu  berühren  Gelegenheit  hatte ;  der  von  Luther  aus- 
gesprochene Wunsch,  es  möge  das  ,Schuckeln  des  Osterfestes' 
beseitigt  werden,  wurde,  wie  w^ir  gesehen  haben,  mehrmals  in 
der  Polemik  aufgegriffen.  Clavius  gesteht  der  Kirche  das  Recht 
zu,  Ostern  zu  einem  imbeweglichen  Feste  zu  erklären,  aber 
wegen  der  tiefen  symbolischen  Bedeutung,  die  ihm  innewohne, 
habe  man  die  alte  Osterregel  beibehalten.^  Ferner  haben  wir 
mehrmals  dem  Einwurf  begegnet,  warum  denn  der  Stand  des 
Kicaenischen  Concils  und  nicht  der  Christi  wiederhergestellt 
worden  sei?  Vom  kirchlichen  Standpunkte  wird  man  dem 
Clavius  nicht  Unrecht  geben  können,  wenn  er  betont,  dass  es 
der  Würde  der  Kirche  angemessen  sei,  an  den  Beschlüssen 
eines  so  wichtigen  und  angesehenen  Concils  nichts  zu  ändern; 
auch  den  praktischen  Gesichtspunkt,  dass  im  entgegengesetzten 
Falle  alle  Breviere  und  Missale  völlig  unbrauchbar  geworden 
wären,    kann    man    gelten    lassen;    dagegen   ist   es    naiv    von 


<  Clavius  benift  sich  hiebe!  auf  Augustinus,  der  dem  Jauuarius  gegenüber 
die  Symbolik  der  Osterfeier  weitläufig  auseinandersetzte.  (Epist.  55  ad 
Januarium  Lib.  II.) 


570  Kaltenbrnnner. 

Clavius,  wenn  er  meint,  dass  mau  die  Gedächtnisstage  der  Hei- 
ligen, die  doch  meist  vor  oder  zur  Zeit  des  Nicaenischen  Concils 
gelebt  haben,  wieder  richtig  stellen  wollte;  als  ob  gleich  nach 
dem  Martyrium  oder  Tode  eines  Heiligen  sein  Gedächtnisstag 
in  den  Kalender  eingezeichnet  worden  wäre. 

Abgesehen  aber  von  diesen  vereinzelten  Zusätzen  ist  die 
Explicatio  bis  zum  Capitel  XXIV  eine  Umarbeitung  der  Apo- 
logie. ^  Aber  der  allgemeine  Charakter  ist  dadurch  gewahrt, 
dass  nun  die  früher  gegen  Maestlin  gerichteten  Entgegnungen 
verallgemeinert  sind,  was  so  weit  geht,  dass  niemals  des  Maest- 
lin Erwähnung  geschieht.  Die  äussere  Anlage  ist  insofern 
verändert,  als  eine  fortlaufende  Capitelzählung  eingeführt  ist, 
während  die  Apologie  in  drei  Bücher  getheilt  ist. 

Erst  vom  24.  Capitel  an  bis  zum  Schluss  tritt  eine  Aende- 
rung  ein;  es  ist  dies  aber  eigentlich  ein  Anhang,  wie  aus  der 
pag.  568  Anmerkung  1  angefahrten  Bemerkung  des  Clavius 
hervorgeht.  War  der  erste  Theil  der  Gesammtheit  der  Gegner 
und  aller  derer,  welche  Aufklärung  über  den  Kalender  wünschten, 
gewidmet  gewesen,  so  beschäftigt  sich  dieser  zweite  mit  jenen, 
die  Clavius  einer  besondern  Entgegnung  für  würdig  hält  Einen 
derselben  haben  wir  schon  in  Scaliger  kennen  gelernt,  der  andere 
ist  Franciscus  Vieta.  Clavius  meint,  es  könne  kaum  neben  den 
Kalendern  Gregor' s,  Scaliger's  und  Vieta's  ein  vierter  ausgedacht 
werden,  indem  er  nun  beweise,  dass  der  erstere  unter  den  drei 
der  beste  sei,  habe  er  seine  Tüchtigkeit,  ja  aligemeine  Gültig- 
keit nachgewiesen.  Es  ist  klar,  dass  Clavius  dem  Vieta  die  bit- 
tersten Vorwürfe  über  sein  allerdings  etwas  sonderbares  Vor- 
gehen macht,  seinen  Kalender  als  den  richtigen  Gregorianischen 
hinzustellen,  und  dies  durch  dessen  Bulle  bekräftigen  zu  lassen. 
Clavius  meint,  dass  er,  der  10  Jahre  an  der  Reform  gearbeitet 
und  fast  ebenso  lange  in  directem  Verkehr  mit  Gregor  XIII. 
gestanden  habe,  wohl  am  besten  wissen  werde,  was  die  Inten- 
tionen des  Pabstes  gewesen  seien.  Stets  habe  dieser  betont,  er 
wolle  so  wenig  wie  möglich  an  den  alten  Kalenderregeln  geändert 


«  Clavius  spricht  dies  auch  in  der  Vorrede  mit  folgfenden  Worten  ans:  ,Et 
qnciniam  anno   lft><8  adversns  haoreticum  qiiendam  satis  longam  noviKa- 

lendarii  Apologiam  edidimus transferimus   ex   ea  in  hoc  volnmen 

üinnia  quae  huic  rei  utilia  atque  opportuna  iudic^vimus^ 


Die  Pulcmik  über  die  OregoriftuiBche  Kaleaderrefonn.  571 

wissen;  wie  also  konnte  er  gewollt  haben,  dass  die  Epoche  auf 
den  8.  März  gesetzt  werde!  Damit  geht  Clavius  auf  die  sachliche 
Widerlegung  über.  Zunächst  schickt  er  die  schon  oft  gethano 
Aeusserung,  respective  das  Zugeständniss  voraus,  dass  jeder 
cjclischen  Rechnung  ähnliche  Unregelmässigkeiten,  wie  sie  Vieta 
dargestellt,  anhaften  müssen.  Daher  lässt  Clavius  auch  einige 
Punkte  des  Vieta  zu  Recht  bestehen  und  erwidert  nur  damit, 
dass  er  entweder  in  Vieta's  Kalender  ähnliche  Fehler  nachweist, 
oder  betont,  dass  bereits  im  alten  Mondcyclus  dasselbe  ein- 
getreten sei.  Dazu  gehören  das  Eintreten  von  einunddreissig- 
tägigen  Mondmonaten  in  bissextilen  Jahren  und  die  daraus  fol- 
il^enden  Fehler  der  Osterfeier.  Andere  aber  lässt  er  nicht  gelten 
und  zwar  mit  Recht,  so  den  Punkt  2  und  3,  wo  in  der  That 
Vieta  äusserst  sophistisch  vorgegangen  war,  und  Punkt  8  und 
9,  bezüglich  der  Unhaltbarkeit  des  dreihunderttausendjährigen 
Cyclus,  wo  Clavius  sich  darauf  beruft,  dass  dies  ja  keine  Be- 
deutung mehr  habe,  nachdem  man  in  Rom  selbst  denselben 
hatte  fallen  lassen.  * 

Ehe  wir  von  der  Explicatio   scheiden,    müssen    wir   noch 
der  an  ihre  Spitze  gestellten  Kundgebung  von  Seite  des  Pabstes 

*  Mit  dieser  Entgegnung-  hatte  Clavius  mit  Vieta  abgeschlossen,  aber  dieser 
gab  sich  mit  seinem  ersten  Angriffe  nicht  zufrieden,  sondern  veröffent- 
lichte noch  die,  Expostulatio  adversus  Chr.  Clavium*.  Ob  er  dabei  schon 
die  Entgegnung  desselben  gekannt  hat,  ist  sehr  zweifelhaft.  Zunftchst 
bin  ich  nicht  in  der  Lage,  das  Jahr  des  Erscheinens  dieser  zweiten  Schrift 
anzugeben,  da  ich  sie  nur  in  einer  Entgegnung  des  Laurentius  Castellani 
kenne;  Vieta  selbst  sagt  allerdings,  er  habe  nur  gehört,  dass  Clavius  in 
mehreren  Briefen  von  einer  beabsichtigten  Entgegnung  gesprochen  habe. 
Durch  diese  Aeusserung  des  Clavius  mag  er  bewogen  worden  sein,  noch- 
mals die  Feder  zur  Hand  zu  nehmen;  die  Schrift  ist  nur  sehr  wenig 
sachlich,  strotzt  aber  dafür  umsomehr  von  groben  Ausfällen  gegen  den 
Gegner,  die  darin  gipfeln,  dass  Vieta  den  Vätern  der  Gesellschaft  Jesu 
räth,  sie  möchten  doch  den  Clavius  von  ferneren  Arbeiten  über  den  Ka- 
lender abhalten,  denn  er  mache  ihrem  Orden  nur  Schande.  Die  Ver- 
theidigung  des  Clavius  unternehmen  zwei  Schüler  —  Theodosius  Rubens 
und  Laurentius  Castellani,  der  Natur  des  Angriffs  gemäss  in  höchst  be- 
leidigenden Ausdrücken  gegen  Vieta.  (1.  Admonitio  pro  Chr.  Clavio  ad- 
versus Fr.  Vietae  Expostulationem.  2.  Respousio  ad  Expostulationem 
Fr,  Vietae  adversus  Chr.  Clavium  im  5.  Bande  der  Opera  Clavii.)  Der 
letztere  hatte  sich  dabei  die  Form  der  Refutatio  Elenchi  et  Castigationis 
J.  Scaligeri  von  Clavius  zum  Muster  genommen,  und  nur  daraus  kennen 
wir  diese  Schrift  Vieta's. 


ui2  Kaltenbruaaer. 

ClemenB  VUI.  gedenken.  Das  Breve  (dat.  Rom  16./6.  März  1603) 
gesteht  selbst  zu,  dass  in  dem  Kalender  Fehler  vorkommen, 
da  eben  eine  cyclische  Rechnung  nicht  frei  davon  sein  könne; 
aber  es  komme  dies  im  Gregorianischen  Kalender  seltener  vor, 
als  in  allen  andern.  Als  Grund  zur  Abfassung  des  Werkes  des 
Clavius  werden  die  unerhörten  Angriffe,  die  der  Kalender  er- 
fahren, bezeichnet  und  ausdrücklich  wird  hier  Vieta  hervor- 
gehoben, dessen  Kalender  durch  die  charakteristiBchen  Merk- 
male gekennzeichnet  und  verboten  wird. 

Mit  diesem  grossen  Werke  hatte  Clavius,  der  schon  im 
hohen  Alter  stand,  seine  Lebensaufgabe  erfüllt.  25  Jahre  lang 
hatte  er  sich  der  Kalenderfrage  gewidmet ;  aber  auch  jetzt  noch 
glaubte  er  sich  keine  Ruhe  gönnen  zu  können.  Wir  haben  ge- 
sehen, wie  er  nochmals  die  Feder  gegen  Scaliger  ergriff,  und 
kaum  war  diese  Schrift  fertig,  so  ereilte  ihn  die  Kunde  von 
einem  neuen  Angriff,  nämlich  von  Georgius  Germanus.  Jetzt 
aber  stimmt  Clavius  seinen  Schwanengesang  an.  ^  Er  klagt,  dass 
er  —  der  Greis  —  von  Arbeit  zu  Arbeit  geschleppt  werde,  um 
die  Belagerungsmaschinen»  die  immer  und  immer  wieder  von 
neuem  gegen  seine  feste  Burg  aufgeführt  werden,  zu  erschüttern 
und  zu  zertfümmerr^.  Zu  Germanus  übergehend  sagt  er  diesem, 
dass  es  ihm  wenig  fromme,  wenn  er  von  ihm  als  der  beste 
Mathematiker  seiner  Zeit  bezeichnet  werde;  wollte  er  mit  diesem 
Lobspruch  das  beigebrachte  Gift  versüssen,  so  möge  er  wisseo, 
dass  dies  für  ihn,  den  alten  Mann,  werthlos  sei ;  er  schäle  den 
Kern  hervor,  und  dieser  sei,  dass  ihm  abermals  ein  Gegner 
erwachsen  sei,  und  noch  dazu  ein  angeblicher  Katholike,  den 
das  neuerliche  päbstliche  Verbot  hätte  abhalten  sollen,  gegen 
den  Kalender  zu  schreiben;  übrigens  bezweifelt  Clavius  den 
Katholicismus  des  Germanus,  da  derselbe  sein  Buch  dem  David 
Origanus  gewidmet  hatte.  Was  nun  die  sachliche  Erwiderung 
anbelangt,  so  ist  in  den  meisten  Punkten  Clavius  glücklich,  nur 
hätte  er  es  unterlassen  sollen,  dem  Kalender  des  Germanus 
falsche  Osteransätze  nachzuweisen,  nachdem  er  wie  in  allen 
seinen  Schriften  so  auch  hier  wieder  betont  hatte,  dass  gewisse 
Fehler   sich    durchaus   nicht   vermeiden   lassen.     Die   Art  der 

^  Confutatio  Kaleudarü  Georgii  Germani  Warteubergenig,  Bornssi.  Mainz.  1610. 
(auch  im  5.  Band  der  Opera  mit  separater  Paginirung). 


Die  Polemik  über  die  Grefrorianische  Kalenderreform.  o73 

Schaltung  des  Qerinanus  findet  Clavius  zu  coraplicirt,  und  mit 
Recht  macht  er  geltend,  dass  man  hiedurch  den  Prutenischen 
Tafeln  allzugrosses  Vertrauen  schenken  würde;  auch  kann  man 
dem  Clavius  beistimmen,  wenn  er  dem  Mondcyclus  des  Ger- 
manus zu  grosse  Umständlichkeit  und  Complicirtheit  zum  Vor- 
wurf macht. 

Hiemit  schliesst  die  Polemik  über  die  Gregorianische  Ka- 
lenderreform ab.  Der  Streit  freilich  ist  nicht  ausgetragen,  aber 
er  tritt  in  ein  neues  Stadium.  Die  Protestanten  bleiben  bei 
ihrem  Widerstand  und  im  Folgenden  dreht  sich  die  Frage 
darum,  wie  denn  ein  Modus  des  Einverständnisses  gefunden 
werden  könnte.  Ueber  den  Gregorianischen  Kalender  aber 
sind  die  Acten  geschlossen  —  die  Protestanten  erklären  ihn 
für  unannehmbar,  und  Rom  hatte  auch  sein  letztes  Wort  ge- 
sprochen, indem  es  die  Fehler  desselben  eingesteht,  aber  doch 
bei  der  vorgenommenen  Reform  beharrt. 

VI.  Competeiite  Urtheile  über  den  Kaleiiderstreit. 

Ich  kann  diese  Darstellung  nicht  besser  beschliessen,  als 
indem  ich  nach  so  vielem  kleinlichen  Hader  das  Urtheil  zweier 
Männer  wiedergebe,  welche  vor  allen  berufen  waren,  ihr  Votum 
in  dieser  Sache  zu  sprechen.  Ich  meine  die  beiden  grossen 
Astronomen  dieses  Zeitraums  Tycho  de  Brahe  und  Johannes 
Kepler. 

Tycho  de  Brahe,  der  damals  auf  seinem  Tusculum  zu 
Üraniburg  lebte,  interessirte  sich  lebhaft  für  die  ganze  Ange- 
legenheit, und  verlangte  von  seinen  Freunden  in  Deutschland, 
ihm  alle  in  derselben  erscheinenden  Bücher  zu  schicken.  Aus 
zwei  Briefen,  welche  ich  im  Anhange  mittheile,  •  geht  hinlänglich 

*  Ich  entnehme  die  beiden  bisher  unedirten  Briefe  dem  Cod.  Vindob.  10686**. 
Diese  Handschrift  ist  ein  Bestandtheil  des  Cod.  10686,  welcher  bis  zur 
Abfassung  des  neuen  Katalogs  als  Fascikel  in  der  kais.  Hofbibliothek 
aufbewahrt  und  dann  in  40  Volumina  gebunden  wurde,  und  zwar  so,  dassf 
jedes  selbststJindige  Stück  als  ein  Ganzes  betrachtet  und  nun  mehrere 
solche,  hie  und  da  aber  auch  nur  eines,  in  einen  Band  vereint  wurden. 
In  den  49  Blinden  sind  90  solche  Stücke  enthalten.  Der  grösste  Theil 
derselben  stellt  sich  dar  als  der  literarische  ungedruckte  Nachlass  Tycho 
de  Brahe^s;  gross tentheils  besteht  derselbe  aus  Briefen,  welche  sich  theilen 
lassen  in  Originale  und  in  bereita  nach  einem  bestimmten  Systeme  zum 
Zwecke  der  Herausgabe  angelegten  Abschriften.  Brahe  hatte  einen  Band 


574  Kaltenbrnnner. 

hervor,  welche  StelluDg  Brahe  gegenüber  der  ganzen  Frage 
einnahm.  Er  hat  es  erkannt,  dass  es  den  Protestanten  nicht 
um  die  Sache,  sondern  um  den  Autor  des  Kalenders  zu  thuD 
war;  sein  definitives  Urtheil  über  die  Reform  hält  er  übrigens 

seiner  Briefe  1596  zu  Uraniburg  herausgegeben,  und  zwar  ist  in  demselben 
enthalten   seine   Correspondenz   mit   dem  Landgrafen   Philipp  v.  Hessen. 
Der   Codex    10686^  nun   ist   ohne  Zweifel  das  zum  Drucke  vorbereitete 
Mannscript  des  zweiten  Bandes  der  Sammlung.     Ganz   entsprechend  der 
von  Anfang   an    ins   Auge    gefassten  Disposition    nach    Persönlichkeiten 
ist  derselbe   geordnet,  und  zwar  enthält  er   —   wie  der  erste  gedruckte 
Band    —    ein-    und    auslaufende    Briefe,    welche   letztere   meist    mit  der 
Ueberschrift:    ,responsio    mea    ad    hanc    epistolam'    versehen    sind.     Die 
Anlage   ist  derart,    dass   Brahe   von    verschiedenen    Schreibern    die    ein- 
zelnen Correspondenz  -  Gruppen   copiren    Hess   —    er   selbst  hatte  vorher 
schon  eine  Vorrede  verfasst,  welche  den  Plan  des  Ganzen  auseinander- 
setzt  und    bereits    den    Abschriften    vorangestellt   ist.     Keiner  ^er   hier 
enthaltenen   Briefe  geht   über   das   Jahr   1590   hinaus  —  um   diese  Zeit 
muss  also   das  Unternehmen   ins  Stocken   gerathen   sein,   denn   nament- 
lich  die   Correspondenz   mit   Thaddaeus    Hagecius,   die   auch   im   Codex 
schon  den  grössten  Platz   einnhnmt,   geht  bis  kurz  an  den  Tod  Brahe's 
heran,  und   alle  diese   Briefe   finden   sich   nun  im  Gesammt  -  Codex  zer- 
streut im  Originale  vor,  während  die  bereits  abgeschriebenen  nicht  mehr 
im  Originale  vorhanden  sind.     Ganz    das   gleiche  Verhältnis«  ergibt  sich 
bei  dem  Codex  1068  6^    Nach  dem  Tode  Brahe*s  im  Jahre  1601  gelangte 
dieser  literarische  Nachlass  an   die  Erben,  und  nun  wurde  der  Plan  des 
Verstorbenen,  die  Briefe  herauszugeben,  wieder  aufgenommen.  Es  wurde 
nun  das  im  Codex  lOese**^— "  stehende  Repertorium  der  Briefe  zusammen- 
gestellt.    So   weit  die  Abschriften   reichen,   schliesst  sich  dasselbe  en^ 
an  die  Codd.    10686^  und    10686^  an,   nur  reiht   es  einige   ausgelassene 
—  nun  im  Originale  befindliche  —  Briefe  ein,  und  verzeichnet  auch  die 
Briefe  von  1690  an  bis  an  den  Tod  Brahe^s  hinan.  Das  Repertorium  ist 
in  einem  Zuge  angelegt  und  es  kann  an  keine  nachträglichen  Einwägungen 
gedacht  werden.    Dieselbe  Hand  arbeitete  nun  auch  am  Codex  10686*, 
indem   sie   einerseits   Randglossen   zur  Uebersicht   bei    längeren   Briefen 
anlegte,    andererseits   Notizen    für    den   Drucker   anbrachte    (z.   B.   steht 
fol.  43*:  »dies  soll  in  klein  cursiv  gesetzet  werden*).    Der  Codex  10686' 
dagegen   ist  auf  diese  Weise  nicht  revidirt  worden.     Es  fragt  sich  nan, 
wer  dieser  Ordner  des  Nachlasses  war?    Hiebei  fUllt  sogleich  auf,  dass 
uns  in   den   Papieren  so   häufig  der  Name  Kepler 's   beg^egnet.    Doch 
wäre  dies  an  sich  noch  nichts  bedeutend,  denn  einerseits  konnte  ja  Brahe 
Arbeiten  Kepler's   leicht  in   seinem  Besitze  haben,  da  derselbe  ira  Jahre 
1600   vier  Monate   auf  der   Sternwarte   des   ersteren  gearbeitet  hatte  — 
daher  konnte  z.  B.  das  Autograph  KepWs  im  Codex  10686**-**  auf  diese 
Weise  in  die  Sammlung  gekommen  sein  — ,  andererseits   brauchte  der 
Umstand,  dass  Concepte  und  Abschriften   von  Vertragen   zwischen  den 


Die  Polemik  Ober  die  Oregorianische  Kalenderrefoim.  575 

hier  noch  zurück.  Dies  spricht  er  bestimmter  an  einer  dritten 
Stelle  aus,  die  sich  in  der  an  Kaiser  Rudolf  gerichteten  Vor- 
rede zu  seinem  Werke:  ,De  restitutione  stellaruin  inerrantium^ 
findet. '  Sie  lautet:  ,In  vanum  (itaque)  laborant,  qui  ex  Copernicis 

Erben  Brahe's  und  Kepler  wegen  der  von  letzterem  zu  besorgenden 
Tabalae  RadolfinAe  vorkommen  ^  niclit  aufzufallen,  denn  diese  konnten 
von  den  Erben  in  die  Papiere  ihres  Erblassers  gelegt  worden  sein.  Da- 
gegen ist  von  grösster  Wichtigkeit  für  diese  Frage,  dass  sich  auch  das 
mit  Unterschrift  und  (Siegel  versehene  Zeugniss  Brahe's  für  Kepler  betreffs 
seines  viermonatlichen  Anfenthaltes  auf  der  Sternwarte  in  der  Sammlung 
befindet  (Cod.  10686'*"*'*).  Wenn  man  also  nicht  annehmen  will,  dass 
Brahe  dieser  Act  nach  seiner  völligen  Ausfertigung  reute  und  er  das 
Zeugniss  zurückbehielt,  so  muss  man  auf  die  Lösung  kommen,  dass  der 
Nachlass  in  den  Händen  Kepler's  war,  und  die  Herausgabe  von  ihm 
beabsichtigt  wurde.  Diese  Annahme  wird  nun  wesentlich  untersttltzt 
durch  einen  in  Copie  im  Codex  10686*^*<>  enthaltenen  Brief  Kaiser 
Ferdinand's  II.  an  den  Herzog  Johann  Friedrich  von  Württenberg,  datirt 
Wien  5.  November  1621.  In  demselben  fordert  er  den  Herzog  auf,  er 
möge  den  von  Linz  nach  Stuttgart  Übersiedelten  Kepler  anhalten  zur 
Herausgabe  der  ihm  von  den  Brahe^schen  Erben  im  Jahre  1604  Über- 
lieferten, , schön  und  sauber  abgeschriebenen  und  in  viel  buecher  einge- 
bundenen Copien,  bei  welchen  ex  ipsis  autographis  gleichfalls  etwas 
mitgelaufen^  Freilich  steht  der  Annahme  auch  zweierlei  gegenüber: 
einmal,  dass  die  in  den  Codd.  10686  ^«-ii  und  10686^  gemachten  Vor- 
arbeiten zur  Edition  nicht  von  Kepler^s  Hand  stammen,  und  dann,  dass 
in  den  Verhandlungen  zwischen  den  Erben  und  Kepler  immer  nur  von 
den  Tabulae  Rudolfinae  die  Rede  ist,  welche  in  der  That  1627  durch 
Kepler  herausgegeben  wurden.  Jedoch  zwingen  diese  Umstände  denn 
doch  nicht  zur  Negation  der  aufgestellten  Vermuthung.  Es  kann  ja  eine 
<lritte,  uns  unbekannte  Person  zwisclien  dem  Tode  Brahe's  (1601)  und 
der  Uebergabe  des  Nachlasses  an  Kepler  im  Jahre  1604  bereits  Hand 
an  die  Ordnung  und  Verarbeitung  desselben  gelegt,  oder  es  kann  ja 
auch  ein  Famulus  Kepler's  nach  dessen  Anleitung  diese  Vorarbeiten 
gemacht  haben;  andererseits  ist  es  ziemlich  naheliegend,  dass,  wenn  die 
Erben  Brahe's  jemanden  mit  der  Herausgabe  des  Hauptwerkes  betrauten, 
sie  ihm  den  gesammten  Nachlass  anvertrauten,  ihn  aber  zunächst  zur 
Publicirung  des  grossen  Geld  und  Ansehen  verh eissenden  Werkes  an- 
trieben. Wie  der  ganze  Codex  an  die  kaiserliche  Bibliothek  gekommen 
ist,  vermag  ich  nicht  anzugeben,  vielleicht  ist  aber  der  Hinweis  darauf 
nicht  unwichtig,  dass  Papiere  Kepler's  zahlreicli  sich  auf  der  Hofbibliothek 
befinden,  so  der  noch  zu  besprechende  Codex  10704,  und  die  Codd. 
10702  und  10703,  welche  Abschriften  von  an  Kepler  eingelaufenen  Briefen, 
mitunter  auch  dessen  Antworten  enthalten. 
1  Ich  entnehme  diese  Stelle  Gassen di's  Calendarium  Romanum  eompendiose 
expositum  (Opera  V.  pag.  463;  in  der  Voraussetzung,  dass  sie  dieser  nicht 


576  Kaltenhrnnner. 

et  Prutenicis  numeris  anni  restitutionem  eruere  laborant;  fru- 
straque  neutericam  illam  Gregorianam  Reformationem  inde 
oppugnant,  cum  haec  longe  proprius  coelesti  normae  accedat, 
nee  summa  in  bis  praecisio  —  praesertim  inconsulto  ipso  coelo 
—  facile  datur,  aut  etiam  admodum  necessaria  est/  Wir  sehen 
also  hier  Tycho  de  Brahe  auf  jenem  Standpunkt  stehen,  den 
Clavius  stets  hervorgehoben  hatte  —  es  sei  kein  absolutes  Er- 
forderniss  der  Zeitrechnung,  dass  sie  vollständig  mit  dem  Himmel 
übereinstimme. 

Interessanter  und  bedeutsamer  ist  für  uns  die  Ansicht^ 
welche  Johannes  Kepler  über  die  ganze  Frage  hatte.  Zu- 
nächst spricht  er  sich  gegen  Maestlin  in  der  Antwort  auf  dessen 
Brief  vom  9/19  März  1597  aus.  ^  Natürlich  muss  Kepler  hier 
auf  seinen  verehrten  Lehrer,  der  so  stark  in  der  Sache  engagirt 
war,  Rücksicht  nehmen,  aber  trotzdem  ist  auch  diese  Meinungs- 
äusserung schon  klar  genug.  Er  will  ja  zugeben,  dass  die 
protestantischen  Theologen  Recht  hatten,  wenn  sie  untersuchten, 
ob  eine  Schlange  unter  den  Blumen  verborgen  sei,  und  er  will 
berücksichtigen,  dass  die  politischen  Obrigkeiten  der  Evange- 
lischen   furchten    mussten,    dass    sie    durch    die    schweigsame 

erdichtet  hat  Denn  gedruckt  kann  ich  sie  nicht  nachweisen,  da  Brahe 
niemals  ein  Werk:  ,De  restitutione  stellarum  inerrantium*  herausgegeben 
hat.  Wohl  aber  erschien  im  Jahre  1602  das  von  seinen  Erben  herans- 
grgebend  Werk:  ,A8tronomiae  instaaratae  progymnasmata,  quonim  haer 
prima  pars  de  restitutione  motuum  solis  et  lunae  stellarumque 
inerrantium  tractat,  et  praeterea  de  admiranda  nova  Stella  anno  tö72 
exorta  lucnlenter  agit*.  In  demselben  findet  sich  keine  Vorrede  Brahe's 
an  Rudolf  und  auch  sonst  nicht  die  angeführte  Stelle.  Brunet  gibt  einen 
früheren  Druck  von  1589  an,  hat  ihn  aber  selbst  nicht  gesehen,  und  die 
Bezeichnung  ,opus  posthumumS  sowie  der  Wortlaut  der  an  Kaiser  Rudolf 
gerichteten  Widmung  von  Seite  der  Erben  macht  denselben  ziemlich 
unwahrscheinlich.  Doch  sagen  diese  auch,  Brahe  habe  eine  Vorrede  über 
den  Werth  der  Astronomie  und  des  Werkes  schreiben  wollen,  und  hieven 
auch  einige  unvollkommene  Blütter  hinterlassen.  Dass  Brahe  bereits  uro 
das  Jahr  1680  an  dem  Werke  zu  drucken  anfing,  dass  er  darunter  bereits 
eine  Dedication  an  Kaiser  Rudolf  fertig  gebracht  hatte,  dass  ausserdem 
ein  kaiserliches  Privileg  vom  Jahre  1590  gedruckt  worden  war,  dass 
endlich  Brahe  diese  Bogen  an  Freunde  verschickte,  meldet  Friis:  Tyge 
Brahe.  (Kyobenhavn  1871.  pag.  304.)  Einem  solchen  Aushängebogen 
muss  also  Gassendi  die  Stelle  entnommen  haben. 
1  vgl.  pag.  644.  Anmerk.  2.  Das  uns  beschäftigende  Bruchstück  des  Briefes 
Kepler's  ist  abgedruckt  bei  Frisch,  a.  a.  O.  IV.  6. 


Die  Polemik  fiber  die  Qregorianieche  Kalendeireform.  577 

Annahme  der  Reform  bei  den  Katholiken  Spott  einärnten  würden; 
jetzt  aber  kümmert  ihn  nur  die  gegebene  Sachlage  und  diese 
ist  so,  dass  Deutschland  von  dem  übrigen  Europa  in  der  Zeit- 
rechnung getrennt  ist,  und  dass  nun  die  Annahme  des  Kalenders 
ohne  Störung  spielend  leicht  vor  sich  gehen  könnte.  Die 
Trennung  aber  kann  einzig  aufgehoben  werden,  wenn  sich  die 
Protestanten  fügen,  denn  das  könnten  sie  denn  doch  den  Katho- 
liken nicht  zumuthen,  dass  sie  wieder  ihre  unstreitbar  bessere 
Zeitrechnung  aufgeben  sollten;  durch  eine  dritte  Form  aber  ginge 
dies  ebensowenig,  denn  durch  eine  solche  könnte  und  müsste 
erst  recht  Verwirrung  entstehen,  auch  dürfte  sich  nicht  leicht 
jemand  zur  Aufstellung  einer  solchen  finden  lassen.  Kepler 
erinnert  daran,  dass  durch  150  Jahre  man  die  Correctur  ver- 
langte, und  wie  schmählich  es  sei,  dass  Deutschland,  welches 
durch  frühere  astronomische  Arbeiten  so  wesentlich  den  Weg 
für  sie  gebahnt  hatte,  nun  sich  von  ihr  fernhält.  Für  die  Fürsten 
und  Astronomen  aber  ist  es  nützlich,  wenn  sie  den  Widerstand 
aufgeben;  für  erstere  aus  nachbarlichen  Rücksichten  und  weil 
dann  wieder  mehr  Klarheit  in  die  politische  Situation  kommen 
kann ;  auch  mögen  dieselben  wohl  bedenken,  dass  einst  ein 
weniger  friedlich  gesinnter  Kaiser,  als  es  Rudolf  ist,  ihren 
Widerstand  gegen  den  Kalender  als  casus  belli  auffassen  könnte 
—  es  sei  doch  besser,  dieser  Gefahr  vorzubeugen,  ehe  sie 
drohend  emporsteigt,  denn  ist  dies  einmal  geschehen,  wird  die 
Nachgiebigkeit  als  Niederlage  erscheinen.  Und  gar  die  Astro- 
nomen sollten  sich  nicht  länger  sträuben,  denn  keiner  könnte 
die  grössere  Vollkommenheit  des  neuen  Kalenders  bestreiten; 
wollte  man  ihm  aber  sagen,  dass  denselben  durch  die  Nicht- 
annahme kein  Schaden  erwächst,  so  erwidert  er  darauf,  dass 
die  Astronomie  nicht  blos  auf  die  Nützlichkeit  zu  sehen  habe, 
sondern  auch  auf  Schönheit  und  Vollkommenheit,  welcher  in 
der  Natur  der  Zahlen  und  Grössen  selber  gelegen  sei.  Und  wenn 
nun  schon  Gefahr  für  die  Protestanten  bei  der  Annahme  der 
Reform  vorhanden  gewesen  wäre,  so  besteht  sie  doch  sicherlich 
jetzt  nicht  mehr.  Sie  haben  durch  fast  zwanzig  Jahre  dem  Pabste 
gegenüber  ihre  Freiheit  gewahrt,  und  er  muss  wohl  jetzt  schon 
einsehen,  dass  sie  die  alte  Zeitrechnung  beibehalten  könnten, 
und  dass,  wenn  sie  dieselbe  nun  so  verbessern,  wie  er  sie  ver- 
bessert  hat,    sie    dies   nicht  gezwungen  thun,  sondern  weil  sie 

SitznngBber.  d.  phil.-hi«t.  Ol.  LXXXVII.  Bd.  I.  Hft  37 


578  Kaltenbrunner. 

es  so  für  gut  und  nützlich  halten.  Dabei  könnte  ja  auch  ein 
Modus  der  Einführung  gefunden  werden,  welcher  den  Pabst 
gänzlich  aus  dem  Spiele  lassen  und  einzig  auf  der  Vereinbarung 
der  Keichsstände  und  dem  Gutachten  der  Mathematiker  beruhen 
könnte.  Kepler  drückt  den  lebhaften  Wunsch  aus,  dass  seine 
Glaubensgenossen  das  kommende  Jahr  1600  durch  diese  grosse 
und  nützliche  That  verewigen  möchten* 

Viel    wichtiger   für   uns  ist  aber  Kepler's  ^Dialogus  de 
Kaiendario  Gregoriano',*  weil  er  in  ihm  unumwunden,  frei 


'  Dies  ist  der  Titel,  welchen  Kepler  dem  von  Frisch  a.  a.  O.  IV.  9  aus 
einem    Manuscripte  Pulcavense   abgedruckten    Entwürfe    vorg^esetzt    hat 
Zuerst  ist  derselbe  herausgegeben  worden  von  Hanschen  im  Jahre  I7*jr. 
Jussu    atqne    anspiciis   Caroli   \'I.    n    mannscripto^     Der    Zeitpunkt   der 
Ausgabe  lässt  vermuthen,   dass   hiezu   der   Osterstreit   des  Jahres    1724 
Veranlassung    gab   (vgl.    Piper  a.   a.   O.  pap.  27  u.  ff.).     Ihr  liegt   eine 
lateinische  Redaction    mit   ausführlichem   Titel    vor,  welche   auch  sonst 
wesentliche  Unterschiede   mit   der  Redaction  A  (Pule.)  aufweist.     In  der 
Ausgabe  von  Frisch  sind  diese  Abweichungen  und  die  vielen  Zusätze  im 
Petitdruck    wiedergegeben.     Hanschen    führt    nicht    an,    woher    er   sein 
Mannscript   genommen    habe,   und    Frisch    vermag   dies    ebenfalls    meht 
anzugeben ;    er  lässt  es  auch  dahingestellt,  ob  Hanschen  nicht  etwa  ein 
deutsches  Manuscript  vorgelegen  habe,  welches  er  dann  —  wie  öfter  - 
ins  Latein  übersetzt  hätte.   Sicher  constatirt  aber  auch  Frisch,  dass  hier 
eine  Umarbeitung  der  Red.  Pule,  vorliegt,  welche  ihrerseits  nur  ein  Entwurf 
ist,   was  neben   der  äusseren  Form  auch  der  Umstand  beweist,  dass  sie 
am  Ende  mitten  in  einem  Batze  abbricht.    Nun  befindet  sich    im  Codex 
Vindöb.  1 0704  fol.  1  —  70  ebenfalls  der  Dialogus,  und  zwar  in  einer  Form, 
welche  auf  das  Verhältniss  der  Redactionen  ein  neues  Licht  wirft,  und 
einen    interessanten  Einblick    in    die  Arbeitsmethode   Kepler*s    gewahrt. 
Zunächst  stellt  sich  die  Red.  Vind.  dar,  als  die  in  einem  Zuge  gemachte, 
mit  einigen  stilistischen  Aendemngen  versebene  Reinschrift  der  Red.  Pale, 
sammt  einem  gleich   unten  anzuführenden,  dem  Zwecke   der  Abfassanf 
entsprechenden  Titel.     Auch  der  in  der  Red.  Pnlc.  fehlende  Schlnss  des 
letzten  Satzes  ist  nun  beigefügt.  Hierauf  brachte  Kopier  auf  der  anderen 
Hälfte  der    gefalzten   Seiten   in   einem   Zuge   zahlreiche   Verbesserungen 
und  Erweiternngen  an,  nnd   fügte   ausserdem  ein  passendes  Schlusswort 
hinzu.    Dieser  Redac.  Vind.  liegt  dann  die  Rede  Hansch.  zu  Grunde  und 
zwar  ist  ihre  Uebersetznng  im  engen  Anschlüsse  an  die  Vorlage  gemacht 
Daran,   dass   Hanschen   erst  diese  Uebersetznng  besorgt  habe,  ist  nicht 
zu  denken,   denn   in   der  Red.  Hansch.    finden  sich   Stellen,   welche  die 
Red.  Vind.   nicht  hat,  und  auch    der  umgekehrte  Fall   tritt   einmal  eis 
Somit  hat  Kepler  zweimal  sein  Werk  umgearbeitet,  nnd   dennoch  hat  er 
es  nicht  der  Oeffentlichkeit  übergeben.   Dass  er  die  Absicht  hiezu  hatte» 
geht  schon  aus  dem  Titel  der  Red.  Vind.  hervor.    Er  lautet:  ,Ein  GesprSeh 


Die  Polemik  ftber  die  OregorlHnlscbe  Kalenderreform  579 

von  persönlichen  Rücksichten  seine  Meinung  ausspricht.  Er 
hat  denselben  leider  nicht  dem  Drucke  übergeben,  und  erst 
1726  wurde  er  von  Hanschius  und  neuerdings  von  Frisch 
publicirt. 

Als  Beweggrund  zur  Abfassung  seiner  Kchrift  gibt  Kepler 
die  Aufforderung  vieler  seiner  Freunde  an,  welche  meinten,  er 
sei  vor  Allem  dazu  berufen,  seine  Meinung  über  die  Kalender- 
frage auszusprechen,  nachdem  Tycho  de  Brahe,  der  seine  Ar- 
beiten   bei    den  astronomischen  Studien  benützt  hatte,  sich  im 

von  der  Reformatiou  des  alten  Caleuders,  worauff  die  Corroctio  Gregoriana 
gegründet,  wie  wahr  sie  zuetreffe,  item  ob  diejenige  Stände  des  heiligen 
Römischen  Reichs  und  benachbarte  Königpreichc,  wölliche  das  Gregoriannm 
Calendarinm  noch  nit  angenommen,  iren  alten  julianischen  Calender 
für  sich  selbst  in  einem  oder  mehr  puncten  verändern,  oder  Ueber  das 
Caiendarium  Gregorianum  auch  annehmen,  oder  entlich  gar  bei  dem  alten 
verpleiben  wollen.  Allerhand  Fürschläge  zur  fiirhabenden  Correction 
dienstlich,  und  was  auff  alle  Fälle  beiderseitz  streitende  Partheieu  geistlich 
und  weltlich,  sowol  auch  die  Mathematici  vernünftiglich  drein  zu  reden 
oder  bey  der  Sachen  zu  bedenkhen  hätten.  Gestellt  und  zugerlcht  den- 
jenigen zum  underricht,  wölliclien  das  Caiendarium  amptshalben  obligt, 
und  doch  nit  Weil  haben^  alle  scribenten  in  dieser  Materi  durch zulauffen, 
und  die  privat  aÜ'ecte  von  der  Warhcit  zu  underscheideu,  durch  einen 
Liebhaber  der  Wahrheit.*  Der  Titel  in  der  Red.Hansch.  ist  eine  IJebersetzung 
desselben  bis  zum  Satze:  , Allerhand  Fürschläge*  und  in  Klammern  ist 
dann  hinzugefügt:  ,a  Johanne  Kopiere  Mathematico  CaesareoS  was  darauf 
schliessen  lässt,  dass  im  Mannscripte  der  Verfasser  gar  nicht  genannt 
wird.  Sowohl  der  ,Liebhaber  der  Wahrheit*,  als  das  Verschweigen  des 
Namens  in  der  Red.  Hansch.  zeigt,  dass  Kepler  die  Schrift  anonym  heraus- 
geben wollte,  und  damit  stimmt  wohl  nicht  ganz  die  Vermuthung  von 
Frisch,  dass  er  sie  ausgearbeitet  habe,  um  die  Reichsstände  in  Regens- 
burg zu  einer  Vereinigung  in  der  Kalendcrsache  zu  bewegen  —  immerhin 
aber  wird  sie  den  Zweck  gehabt  haben,  Kepler's  Thätigkeit  auf  dem 
Reichstage  1613  vorzuarbeiten,  d.  h.  den  Standpunkt  der  Frage  aus- 
einanderzulegen. In  Regensburg  wollte  nämlich  Kaiser  Mathias  eine 
Vereinbarung  erzielen  und  zu  dem  Behufe  berief  er  Kepler  dahin.  (Im 
Codex  Vindob.  10704  findet  sich  fol.  84*  das  Ausscbreiben  zum  Reichs- 
tage mit  der  Kanzlei  •  Notiz :  Citatur  ad  Comitia  Ratisbonensia  in  negocio 
Calendarii  Gregoriani  a  Mathia  Impuratore  Job.  Keplerus  Mathematicus'.) 
Kepler,  welcher  hiezu  von  den  Ständen  in  Linz  Urlaub  erhalten  hatte, 
arbeitete  auch  Propositionen  respective  die  Kalender -Vorlage  des  Kaisers 
aus,  welche  sich  bei  Frisch  (a.  a.  O.  IV.  pag.  öS)  ebenfalls  aus  dem 
Entwürfe  im  Manuscripte  Pulcavense  abgedruckt  findet.  Die  Schrift  führt 
den  Titel:  ,Was  die  Römische  kayserliche  Majestät  an  die  drey  Chur- 
fürsten  Augsburgischer  Confession  belangend  das  Kaleuderwesen  frucht- 

37* 


580  KaltenbruBner. 

Allgemeinen  mit  der  Reform  einverstanden  erklärt  habe.  Kepler 
verhehlt  sich  nicht,  wie  misslich  es  sei^  in  dieser  Sache  noch  neue 
Gesichtspunkte  hervorzuheben,  aber  er  gibt  sich  doch  der  Hoff- 
nung hin^  dass  es  trotzdem  den  streitenden  Parteien  nicht  un- 
angenehm sein  werde,  die  Wahrheit  zu  hören.  P]igentlich  — 
meint  Kepler  —  hätte  er  die  beiden  Hauptkämpfer,  Ciavius 
und  Maestlin  einander  gegenüberstellen  sollen,  aber  er  fürchtete, 
dass  in  den  Gemüthern  durch  Erinnerung  an  die  alte  Leiden- 
schaft der  alte  Hass  von  Neuem  angeregt,  und  dass  das  Gemüth 
seines  Freundes  (Maestlin)  dadurch  unangenehm  berührt  würde. 
So  lässt  er  auf  beiden  Seiten  je  zwei  —  einen  weltlichen  und 
einen  geistlichen  Beamten  -  die  Sache  besprechen;  damit  aber 
wäre  es  ihm  selbst  nicht  möglich  gewesen,  seine  eigene  Mei- 
nung auszusprechen,  und  so  führt  er  als  fünfte  Person  den 
Mathematicus  ein,  der  sich  bald,  als  über  den  Parteien  stehend, 
der  Leitung  des  Gesprächs  bemächtigt.  Wohl  alle  Gesichts- 
punkte, die  wir  im  Laufe  des  Streites  haben  aussprechen  hören, 
werden  hier  von  den  beiden  Gegnern  herangezogen;  in  mancheD 
Punkten  hält  sich  hiebei  der  Mathematiker  ganz  vom  Gespräche 
fern,  so  bei  der  Berechtigung  des  Pabstes  zur  Reform.  Ganz 
entsprechend  den  Dimensionen  und  dem  Resultate,  welche  die 
Polemik  genommen  hatte,  gelangen  die  Parteien  zu  keiner  Eini- 
gung, nachdem  die  Protestanten  direct  zugegeben  hatten,  dass, 
auch  wenn  der  Kalender  vollständig  frei  von  Fehlern  wäre,  sie 
ihn  doch  wegen  des  päbstlichen  Ursprungs  zurückweisen  würden. 
Das  weiteste  Zugeständuiss,  das  sie  machen,  ist,  dass  sie  zu- 
stimmen, wenn  von  Reichswegen  beschlossen  würde,  dass  Ostern 


barUch  gelangen  lassen  möchten'.  Dasselbe  Schriftstück  findet  sich  anch 
im  Codex  Vindob.  10704  fol.  8S*  und  auch  hier  ist  das  Verhältniss  der 
beiden  Redactionen  so  wie  beim  ,Dialogu8*.  —  loh  muss  es  mir  versagen, 
diese  and  zahlreiche  andere  Arbeiten  und  Rechnungen,  die  von  Kepler's 
Hand  sich  in  dem  Codex  Vindob.  1 0704  finden,  zu  besprechen.  Sie  hängen 
alle  mit  der  zuletzt  angeführten  Schrift  zusammen,  sind  also  theils  als 
Vorstudien  zu  betrachten,  theils  haben  sie  den  Zweck,  eine  Vereinbarung 
zwischen  den  beiden  Parteien  herbeizuführen ;  sie  liegen  also  schon  jenseits 
der  Grenze,  welche  sich  diese  Arbeit  gesetzt  hat.  Sehr  auffallen  muss 
es  aber,  dass  Frisch,  der  auf  der  Wiener  Bibliothek  arbeitete,  diesen 
werthvoUen  und  manches  bisher  unedirte  Schriftstück  Kepler's  enthal- 
tenden Codex  übersehen  hat.  Vielleicht  komme  ich  auf  denselben  bei 
anderer  Gelegenheit  noch  zu  sprechen. 


Die  Polemik  ftber  die  OregorianiBclie  Kalenderreform  581 

von  nun  an  nach  dem  Nicaenischen  Canon  gefeiert  und  den 
Astronomen  der  Auftrag  ertheilt  werden  sollte,  die  Ostertage 
gemäss  diesem,  jedoch  mit  Zuhülfenahme  des  astronomischen 
Caleüls  zu  bestimmen.  Welche  Stellung  nimmt  nun  der  im 
Mathematiker  vertretene  Kepler  ein?  Er  verkennt  natürlich 
nicht  im  mindesten  die  Fehler,  welche  der  Reform  anhaften, 
aber  er  meint  doch,  das»  man  mit  ihr  ganz  zufrieden  sein 
könne.  Besonders  hebt  er  hervor,  dass  die  Dauer  des  tro- 
pischen Jahres  richtig  angegeben  werde,  dies  haben  die  neueren 
Untersuchungen  Tycho  de  Brahe's  gelehrt,  der  aus  diesem 
Grunde  auch  die  Reform  gutgeheissen  hat,  wenn  er  auch  damit 
nicht  sagen  wollte,  dass  alles  übrige  völlig  fehlerfrei  sei.  Inter- 
essanter ist,  dass  Kepler  durchführt,  dass  die  Mathematiker 
überhaupt  nichts  mit  dem  ganzen  Streite  zu  thun  haben.  Wenn 
es  den  Theologen  gelüste,  Unfriede  und  Zwietracht  zu  stiften, 
so  mögen  sie  dies  allein  ausfechten,  aber  die  Mathematiker 
damit  verschonen.  Denn  ihr  Studium  sei  frei  von  Parteileiden- 
schaft, nur  der  Wahrheit  und  dem  Wohle  der  Menschheit  ge- 
widmet. Indem  sich  Kepler  durch  die  andern  einwerfen  lässt, 
dass  ja  gerade  die  Mathematiker  den  Streit  begonnen  und  stets 
darin  mitgesprochen  hätten,  erklärt  er,  dass  er  mit  einem  Mathe- 
matiker, der  mit  theologischen  und  politischen  Argumenten 
hantirt,  und  der  sich  von  der  Obrigkeit  seine  Meinung  vor- 
schreiben lässt,  nichts  zu  schaffen  haben  wolle,  denn  nur  der- 
jenige gehöre  für  ihn  zu  seinen  Wissenschafts -Genossen,  der 
einzig  und  allein  mit  Gründen  der  Mathematik  streitet  und 
begründet.  Von  diesem  bitteren  Vorwurfe  spricht  Kepler  selbst 
Clavius,  ja  selbst  seinen  Lehrer  Maestlin  nicht  frei.  Vor  der 
Kalenderreform  war  dies  eine  andere  Sache,  damals  traten 
Mathematiker  auf  und  bewiesen,  dass  der  Kalender  wirklich 
ihrer  Wissenschaft  Hohn  sprechende  Einrichtungen  zeige,  und 
mit  vollem  Rechte  verlangten  sie  deren  Beseitigung.  Diese  sind 
nun  entfernt  worden,  und  der  neue  Kalender  hat  weit  geringere 
und  durchaus  keine  Anstoss  erregenden  Fehler  mehr.  Daher 
ist  jetzt  in  der  That  die  mathematische  Verbesserung  über- 
flüssig geworden,  und  daher  sollen  die  Vertreter  dieser  Wissen- 
schaft dem  Streite  fern  bleiben;  denn  es  gezieme  ihnen  nicht, 
der  Kirche  und  dem  Staate  Gesetze  vorzuschreiben,  indem  sie 
das   kirchliche    und    bürgerliche  Jahr   genau   an    den  Lauf  der 


5o2  Kaltenbranner. 

Gestirne  binden  wollen.  Kepler  bricht  bei  dieser  Verhandlung 
in  die  Worte  aus:  ^Möchten  doch  die  Parteien  fernerhin  nicht 
mehr  sagen,  unsere  Mathematiker  fassen  die  Sache  so  auf  und 
unsere  so,  möchten  sie  doch  lieber  sagen,  wir  können  nach 
unserem  Belieben  unsere  Mathematiker  sprechen  machen,  denn 
sie  sind  unsere  Knechtet 

Es  ist  dies  ein  herbes  Urtheil,  das  da  Kepler  ausspricht, 
ob  es  wahr  ist,  darüber  möge  sich  jeder  selbst  ein  Urtheil  aus 
der  vorausgehenden  Darstellung  der  Polemik  bilden. 


ANHANG. 

A.  Zwei  Briefe  des  Pabstes  Gregor  XIII.  an  Kaiser 
Rudolf  II. ' 


Gregorius  Papa  XIII.  Carissiine  in  Christo  iili  noster 
salutem  et  apostolicam  benedictionem.  Post  susceptam  a  nobis 
necessariam  ac  perfectam  iamque  editani  Calendarii  emenda- 
tionem,  coepinius  vereri,  ne  forte  opus  ipsura  tardius  istuc  per- 
venerit,  quam  ut  posset,  qucmadmodum  decreveramus,  emen- 
dationis  initium  lieri  superiori  mense  Octobri.  Providendum 
igitur  nobis  omnino  fuit,  ne  quid  hoc  primo  anno  in  celebrando 
sauctissimo  Paschae  die,  cuius  potissimum  causa  hoc  negotium 
a  nobis  susceptum  est,  inter  Christianos  discrepare;  nihil  enim 
absurd] US  fieri  posse  intclligebamus,  quam  si  in  tam  celebri  die 
variaretur,  et  alii  alium  sibi  constituerent  diem;  Sic  autem  fa- 
cile  Provider:  posse  iudicauimus,  si  emendationis  initium  fiat 
sequenti  anno  post  diem  decimum  Februarii  statimque  post  cum 
diem  numeretur  vigesimus.  Hoc  autem  aliis  nostris  litteris 
decrevimus  earumque  exemplum  unacum  rationo  divinorum  offi- 
ciorum  congruenter  ad  hanc  emendationem  post  decimum  illum 
diem  celebrandorum  mittimus  Maiestati  tuae.  Sicubi  igitur  in 
tuis  locis  emendatio  hactenus  facta  non  est,  conueniet  magno- 
pere  spectatissimae  pietati  tuae,  ut  eures,  nostras  litteras  for- 
mamque    eam,   quam  mittimus,  diligentissime  servari.     Id  vero 

*  Originale  im  Hau«-,  Hof-  und  Staats -Archive   zu  Wien.  —  Vgl.  pag.  21 
und  25. 


Die  Polemik  fl1>er  die  Gregorianische  Kalenderreform.  583 

libentissime  facturam  Maiestatem  taam  non  dubitamus.  Caetera 
ex  Nuncio  nostro  cognosces;  cupimus,  ut  eius  verbis  omnem 
fidem  tribuas.  Datum  Romae  apud  aanctuni  Petrum  sub  anulo 
Piscatoriß,  die  XIII.  Novembris  MDLXXXII.  Pontificatus  nostri 
anno  undeeimo.  Ant.  Buecapadulius. 

IL 

Qregorius  Papa  XIII.  Carissime  in  Christo  fili  noster 
salutem  et  apostolicam  benedictionem.  Existimavimus  signi- 
ficandum  esse  Maiestati  tuae  piorum  hominum  desiderium: 
verentur  nonnulli^  ne  Calendarii  emenclatio  tardius  multo  quam 
oporteat  in  tuo  Imperio  reeipiatur.  Nos  vero  non  possumus 
quin,  quod  facturum  te  ostendisti,  eures  emendationem  ipsam 
proponi  proxinio  mense  Octobri,  eamque  diligentissime  obser- 
vari.  Voluimus  igitur  has  litteras  multo  ante  dare,  ut  intelligeres, 
id  a  catholicis  magnopere  expectari.  Rogamus,  ut  id  facias  tanto 
studio,  quantum  et  res  ipsa  et  eatholicarum  tarn  gravi  in  negotio 
ecclesiarum  ratio  exposcit.  Datum  Romae  apud  sanctum  Petrum 
sub  anulo  Piscatoris  die  XVI.  Julii  MDLXXXIII.  Pontificatus 
nostri  anno  duodecimo.  Ant.  Buecapadulius. 

B.  Zwei  Briefe  Tycho  de  Brabe's.  ^ 
I. 

Tycho  de  Brahe  Heinrico  Brucaeo.  ^ 

Desidero  etiam  Scriptum  illud  Germanicum  Maestlini,  quod 
significasti  ipsum  edidisse  contra  restitutionem  calendarii  Gre- 
gorianam.  Cupio  enim  illud  videre,  si  forte  ipsius  rationes  in 
anni  metis  constituendis  inde  perspicere  Hcuerit.  Non  usque 
adeo  mihi  displicet  illa  temporis  reformatio  a  Gregorio  Ponti- 
fice  noviter  instituta,  quamvis  plurimi  plus  odio  pontificum 
quam   veritatis  amore  huic  contradicunt.     Qua  in  re  affectibus 

'  ex  codice  Vindob.  10686««  fol.  77t>  und  84».  (vgl.  pag.  89.) 
2  Bruchstück.  Der  Brief  ist  nndatirt.  Seine  Abfasnnng  fallt  in  die  ersten 
Monate  des  Jahres  1854.  Brahe  begehrt  im  vorangehenden  Theile  von 
Bmcaeua  die  Besorgung  von  Scaliger's  ,De  Emendatione  tempomm*,  welches 
ihm  dieser  am  12/22  Jani  ttberschickt,  wie  ans  einem  der  folgenden  Briefe 
hervorgeht 


584  KftlteDbrnAner. 

veritatis  lumen  offuscantibus  nimium  indulgent.  Certam  est, 
scrupula  illa,  quae  ad.  6.  horarum  corapletionem  deiiciunt  super 
integros  dies  anni^  longo  lam  tempore  solstitia  aequinoctiaque 
per  plurimoB  dies  anticipasse,  ut  non  coincidant  dies  festl 
araplius  cum  constitutionibus  primitivae  ecclesiae.  Qaam  si 
rem  penitius  perspiciamus  in  christiana  republica,  nulla  severa 
fit  dierum  differentia  neque  rerum  externarum  usus  necessa- 
rius,  ubi  divinitus  non  mandantur;  vult  enim  vulgus  contioeri 
in  officio,  ordine  et  distributione  temporum  atque  cereraoniis. 
Praestabat  itaque  vero  propius  in  his  accedere,  et  cum  veterum 
constitutionibus  potius  concordare,  quam  longius  inde  deviare; 
quamvis  liac  in  ipsa  restitutione  Gregoriana  non  habeatur  ratio 
exactae  annuae  quantitatis  —  nam  et  haec  vulgaribus  Astro- 
nomis  adhuc  penitius  incognita  est.  Rogo  itaque,  ut  omnium 
eorum  scripta  in  Germania,  qui  aliquid  hoc  in  negotio  publi- 
carunt  —  sive  pro  sive  contra  —  mihi  transmittas,  ut,  quo- 
modo  invicem  et  cum  veritate  consentiant,  cognoscere  possira. 

11.1 
Tycho  de  Brahe  lohanni  Maiori  Augustano. 

Quas  ad  rae  ultimo  dedisti  literas,  eruditissime  lohannes 
Maior,  recte  accepi  et  de  libris  procuratis  gratias  liabeo ;  Wel- 
lerianos  hac  vice  non  cupio.  De  Calendario  Gregoriano,  quod 
tanta  fuerit  apud  vos  animarum  concertatio,  ut  ferme  ad  arma  res 
devenerit,  miror,  et  meo  iudicio  non  decuisset  eos,  qui  Theologiam 
apud  vos  profitentur,  occasionem  sie  dare  his  turbis,  et  populum 
contra  magistratum  legitimuro  commovere  in  re,  uti  opinor, 
adiaphora  et  religione,  quam  illi  tuentur,  nihil  profitente,  sed 
hac  tamen  salva,  quatenus  divino  verbo  fundatur.  Nonne  prions 
et  diu  usitati  calendarii  Nicaenum  Concilium  secuti  Romani 
Pontifices  auctores  et  conservatores  fuere,  et  aliorum  dieruni 
festorum  quibus  ii,  qui  se  Evangelium  nuncupant,  etiam  nunc 
utuntur?  Cur  igitur  Pontifici  Romano  non  liceret,  praesertiiD 
approbante  id  Imperatoria  Maiestate,  idem  calendarium,  q^w 
tenus    mancum    et   insufficiens   longo  aevi  tractu  redditum  est. 

*  Der  Brief  ist  die  Antwort  auf  ein   Schreiben   des  Johannes  Maior  «ro 
8.  Juni/21.  Mai  (postridie  Pentecostes)  15Ö4  (fol.  75»>). 


Die  Polemik  Über  die  aretrorianiaehe  Kalenderreform.  585 

emendare  et  in  melius,  quoad  fieri  potuit,  restituere?  Certe 
videntur  hi,  qui  tarn  contentiose  illi  obstrepunt,  non  zelo  secun- 
dum  Bcientiani  id  agere,  sed  potius  affectibus  indulgere  et  Phi- 
lantia  laborare,  atque  odio  poDtificis  saltem  id  facere.  Si  ante 
Lutheri  tempora  tali  modo  fuisset  renovatuni  calendariura, 
qaando  per  excellentem  Germanorum  Mathematieum  lohannem 
fiegiomontanum  pontifex,  qui  tum  Romae  praefuit,  id  fieri 
satagebaty  certe  Luther  huie  emeudationi  non  invite  aequies- 
cisset,  cum  nihil  contineret  ipaius  doctrinae  contrarium.  Et 
cur  non  successores  eins  eo,  quod  nunc  redintegratum  est, 
contenti  sunt?  Videant,  ne  sie  dent  occassionem  iis,  qui 
veterem  doctrinam  se  profiteri  aiunt,  obiiciendi,  quod  nimio 
contradictionis  studio  occaecati  quidvis  impugnent^  sive  id 
speciem  aliquam  dubitationis  mereatur,  sive  non,  atque  ideo, 
in  caeteris  quoque  minus  considerate  agere,  praesumatur.  Et 
si  quidem  de  hoc  Calendario  renovato  meam  exquiris  senten- 
tiam,  dicam  tibi  id,  quod  et  aliis  eadem  sciscitantibus  respondi. 
Calendarium  hoc  Gregorianum  noviter  renovatum  praevalet 
veteri  et  prius  usitato,  et  recte  factum  est  a  Pontifice,  opera 
Lilii  Mathematici,  ut  10.  dies  in  eo  ommissi  sunt.  Totidem 
enim  defectus  anni  caelestis  et  aequinoctialis  a  Juliane,  qui 
inde  a  Concilio  Nicaeno  direxit,  quamproxime  requirit.  Et  alia 
etiam  quaedam  non  inconvenienter  in  nupero  calendario  eraen- 
data  sunt;  licet  vero  aliqua  in  his  adhuc  castigatius  in  eo  pro- 
poni  possint,  si  caelitus  deducti  luminarium  motus  in  consilium 
adhiberentur;  tarnen  cum  hoc  non  facile  detur  in  tanta  exactis- 
simarum  observationum  penuria,  et  ccclesiae  ac  politiae  usus 
summam  in  his  praecisionem,  quam  ipsi  etiam  Astronomi  vix 
assequuntur,  non  exigat,  nee  etiam  magnopere  opus  habeat, 
acqniescendum  utique  erit  Pontificis  Romani,  cuius  etiam  nunc 
maxima  est  in  terris  auctoritas,  consultae  et  laudabili  provisioni 
in  Calendarii  diu  frustraque  desiderata  reformatione,  nee  temere 
quid  in  contrarium  movendum  cum  periculo  pacis  publicae. 
Habes  breviter,  quid  ego  sentiam  et  forte  mecum  viri  cordati 
non  pauci.  Quid  vero  penitius  in  hac  renovatione  praestari 
possit,  dicere  non  audeo,  antequam  de  exacto  motu  solis  et 
lunae  novis  illis  et  maximis,  quae  adorno,  organis  certius  quid 
expertus  fuero.  Nam  caelo  inconsulto  de  iis,  quae  inde  pro- 
fluunt,   censuram    proferre   volle,    temerarium    et  infultum  esse 


586         Kaltenbrunner.    Die  Polemik  Aber  die  Oregorianische  Kftlendeirefonn. 

iudico.  Laudo  itaque  amplissimae  vestrae  reipublicae  decisionem 
consultam,  quod  CaleDdarium  hoc  Gregorianum  pacis  pnblicae 
causa  et  ob  vicinarum  regionum  consuetudinem  atque  cum  lis 
commercia  susceperit,  quamquam  reclamitante  incerto  viilgo, 
quod  semper  stndia  in  contraria  scinditur.  Atque  de  bis  hoc 
tempore  satis,  de  quibus  per  occasionem,  si  res  ita  postulaverit, 
alia  plura  in  medium  proferam.  Vale.  Dabantur  ex  aede  nostra 
Knudstrupiana  15.  die  Julii  Stylo  Veteri  nobis  adhuc  usitato. 
an.  1584. 


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