Skip to main content

Full text of "Sitzungsberichte - Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Abteilung"

See other formats


rsnfcyifo  wmwetJtfo-^wta' 


a. 


/s% 


Sitzungsberichte 

der 

philosophisch -philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  ]\£ünchen. 


IV.  Band  I.     Jahrgang  1874. 


München. 

Akademische  Buchdruckeroi  von  F.  Straub. 

1874. 

In  Commission  bei  G.  Frans. 


As 
M822> 


Sitzungsberichte 

der 

philosophisch -philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  jNJlünchen. 


1874.     Heft  I. 


München. 

Akademische  Buehdruckerei  von  F.  Straub. 

1874. 

In  ComiT:ission  bei  G    Franz. 


Uebersicht  des  Inhaltes. 


Die  mit  *  bezeichneten  Vorträge  sind  ohne  Auszug. 

ßeffentliche  Sitzung  zur  Feier  des   115.  Stiftungstages  der 
Akademie  am  28.  März. 

Seite 

y.  Döllinger 161 

v.  Prantl:  Nekrologe 161 

▼.  Giesebrecht:  Nekrologe 179 


Oeffentliche  Sitzung  zur  Vorfeier  des  Geburts-  und  Namens- 
festes Seiner  Majestät  des  Königs  Ludwig  IL  am  25.  Juli. 
Neuwahlen    .     .    .    . 523 


Philosophisch-philologische  Classe. 

Sitzung  vom  3.  Januar. 
IMaurer:    Die  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Rechte  1 

Sitzung  vom  7.  Februar. 
Lauth:     Die  Schalttage  des  Ptolemäus   Euergetes  I  und  des 

Augustus 56 

Sitzung  vom  7.  März. 
Bursian:     Die    Antikensammlung    Raimund   Fuggers    nebst 
einem  Excurs  über  einige  andere  in  der  Inschriften- 
sammlung  von   Apianus    und   Amantius   abgebil- 
dete antike  Bildwerke    . 133 

Ohlenschlager:  Das  römische  Militärdiplom  von  Regensburg       193 
Mordtmann:     Zur  vergleichenden  Geographie  Persiens    .     .       231 
"♦Christ:     Die   Parakataloge  in   den   griechischen   und  römi- 
schen Dramen 262 


IV 

Sitzung  vom  2.  Mai. 
Unger:     Enneakrunos  und  Pelasgikon,  ein  Beitrag  zur  Topo- 
graphie des  alten  Athen 26£- 

Sitzung  vom  6.  Juni. 
Plath:    Die  fremden  barbarischen  Stämme  im  alten  China   .      450' 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  3   Januar. 
Friedrich:     Der  Jesuit  P.  Keller  als  der  wahre  Verfasser  der  _ 
unter   dem    Namen    Herwart   1618   in   München 
erschienenen  Schrift:    Ludovicus   IV    Imperator 

defensus 48> 

*v.  Lilieucron:  Ueber  die  Gegenstände  der  öffentlichen  Mein- 
ung in  der  2.  Hälfte  des    16.  Jahrhunderts        55- 

Sitzung  vom  7.  Februar. 
*Kluckhohn:      Beiträge    zur    Geschichte     des     bayerischen 

Schulwesens 130 

*Rockinger:    Ueber  eine  Handschrift  deutscher  Rechtsbriefe 

in  Münster 130 

Sitzung  vom  7.  März 
Friedrich:     Ueber  die  Zeit  der  Abfassung  des  Tit.  I.  10  der 

Lex  Baiuwariorum 352: 

Sitzung  vom  2.  Mai. 
Würdinger:     Friedrich  von  Lochen,    Landeshauptmann  in 

der  Mark  Brandenburg 373 

Rockinger:  Gelegentliche  Bemerkungen  zu  den  Hand- 
schriften des  kleinen  Kaiserrechtes,  insbeson- 
dere über  eine  Rechtsbücherhandschrift  in 
Münster  vermeintlich  v.  J.  1449 417 


Sitzungsberichte 


der 


königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 

Sitzung  vom  3.  Januar  1874. 


Herr  Maurer  trägt  vor: 

„Die  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem 
Rechte". 

Was  ich  über  die  nordische  Schuldknechtschaft  gelegentlich 
gesammelt  und  gearbeitet  hatte  eben  jetzt  nochmals  durch- 
zusehen und  abzuschliessen ,  bestimmte  mich  der  Zuspruch 
eines  werthen  Freundes,  des  Professors  Aloys  von  Brinz  an 
unserer  Universität.  Studien  über  das  römische  nexum  hatten 
diesem  die  Frage  nahe  gelegt,  was  etwa  andere  Rechte  an 
änlichen  Erscheinungen  enthalten  möchten,  und  meine  Mit- 
theilungen über  die  einschlägigen  Satzungen  der  nordgerma- 
nischen Rechtsbücher  schienen  ihm  hinreichend  bedeutsame 
Vergleichungspunkte  zu  ergeben,  um  ihm  eine  einlässliche 
Darstellung  der  altnordischen  Schuldknechtschaft  wünschens- 
werth  erscheinen  zu  lassen.  Je  seltener  nun  unter  unseren 
Juristen  jener  freiere  wissenschaftliche  Blick  ist,  welcher  dazu 
gehört,  um  unbehindert  durch  die  bisherigen  Schulgewohn- 
heiten aus  neuen  Methoden  der  Forschung  und  soeben  erst 
erschlossenen  Gebieten  derselben  Nutzen  ziehen  zu  können, 
um  so  weniger  glaubte  ich  mich  der  Aufforderung  unseres 
[1874,1.  Phil.  bist.  CL]  1 


2  Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  3.  Januar  1874, 

Pandektisten  entziehen  zu  dürfen,  und  ich  gebe  demnach  hier 
eine  Zusammenstellung  der  massgebenden  Vorschriften  der 
altnordischen  Rechte  über  den  Gegenstand,  sammt  einer 
möglichst  knappen  Erörterung  der  ihnen  zu  Grunde  liegenden 
Gesichtspunkte.  Jeder  Vergleichung  mit  dem  römischen  nexum 
habe  ich  mich  absichtlich  enthalten,  um  den  nordischen 
Rechtsstoff  durch  jede  Nebenrücksicht  unbehindert  in  mög- 
lichster Reinheit  vorzuführen.  Aber  auch  das  ältere  schwe- 
dische und  dänische  Recht  habe  ich  von  meiner  Betrachtung 
ausschliessen  zu  sollen  geglaubt,  weil  beide  meines  Erachtens 
nur  sehr  schwache  und  unsichere  Spuren  der  Schuldknecht- 
schaft zeigen,  und  ich  beschränke  diese  somit  auf  diejenigen 
Rechte,  in  welchen  allein  das  Institut  als  ein  vollkommen 
geschlossenes  auftritt,  also  auf  die  altnordischen  Rechte  im 
engeren  Sinne  des  Wortes,  d.  h.  die  norwegischen  Provincial- 
rechte  und  das  isländische  Recht. 

I.  Die  norwegischen  Rechte1). 
Für  die  Person ,  welche  der  Schuldknechtschaft  unter- 
liegt, brauchen  die  norwegischen  Rechte  je  nach  der  Ver- 
schiedenheit ihres  Geschlechts  als  technische  Bezeichnung  die 
Ausdrücke  skuldarmaSr  oder  skuldarkona,  d.  h.  Schuld- 
mann, Schuld weib;  man  sagt  auch  wohl  von  dem  Schuld- 
knechte, er  sei  fastr  fyrir  aura,  d*  h.  fest  für  eine  Geld- 


1)  Vgl.  A.  Gj  es  sing,  Trseldom  i  Norge,  S.  251—55,  in  den 
Annaler  for  nordisk  Oldkyndighed,  1862;  R.  Keys  er,  Norges  Stats- 
og  Retsforfatning  i  Middelalderen,  S.  356—59;  Fr.  Brandt,  Trsel- 
lenes  retsstilling  efter  Norges  gamle  Love,  S.  199 — 201,  in  der  Historisk 
Tidsskrift,  I;  K.  von  Amira,  das  altnorwegische  Vollstreckungs- 
verfahren, S.  228—29,  und  262—66.  Auf  ältere  Verfasser,  welche 
auf  die  Schuldknechtschaft  nur  ganz  gelegentlich  bei  Besprechung 
der  Sklaverei  einen  Blick  werfen,  ohne  sie  von  dieser  gehörig  zu 
scheiden,  wie  z.B.  Matth.  Calonius,  de  prisco  in  patria  servorum 
jure  (1780—93,  dann  1819,  und  in  dessen  Opera  omnia,  I,  S.  129 — 
344,  1829),  oder  Estrup,  Om  Trseldom  i  Norden  (1823),  glaube  ich 
nicht  weiter  eingehen  zu  sollen. 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Hechte»  3 

summe8);  den  Gegensatz  aber  zum  Schuldknechte  bildet 
derjenige,  welcher  skuldlauss,  d.  h.  frei  von  Schulden 
ist3).  Für  die  Ergebung  in  die  Schuldknechtschaft  gilt  der 
Ausdruck  gefask  i  skuld,  d.  h.  sich  in  Schuld  geben,  und 
für  die,  unter  Umständen  erlaubte,  Hingabe  eines  Andern  in 
dieselbe  der  Ausdruck  gefa  mann  i  skuld,  d.  h.  Einen 
in  Schuld  geben;  umgekehrt  sagt  man  von  dem  Gläubiger 
taka  i  skuld  oder  taka  skuldarmann,  d.  h.  Einen  in 
Schuld  nemen  oder  Einen  als  Schuldknecht  annemen.  Ueber 
die  rechtliche  Gestaltung  des  Institutes  aber  giebt  haupt- 
sächlich ein  ihm  eigens  gewidmeter  §.  der  Gulafcingslög  Auf- 
schluss4),  von  welchem  ebendarum  hier  auszugehen  ist. 

Hinsichtlich  der  Begründung  der  Schuldknecht- 
schaft bestimmt  diese  Stelle5),  dass  solche  stets  am  Ding 
erfolgen  müsse,  oder,  wenn  es  sich  um  die  Kinder  eines 
Freigelassenen  handle,  doch  wenigstens  in  einer  beliebigen 
anderen  Versammlung.  Dabei  musste  derjenige,  welcher  sich 
in  die  Schuldknechtschaft  begeben  wollte,  sich  stets  vorerst 
seinen  eigenen  Verwandten  anbieten,  unter  welchen  dann 
wider  der  Nächstgeborene  das  Vorzugsrecht  hatte,  und  nur 
für  den  Fall,  dass  kein  Verwandter  zugreifen  wollte,  durfte 
Jener  selbst  den  Mann  wählen,  dessen  Schuldknecht  er  werden 
wollte;  wenigstens  sehe  ich  keinen  Grund  ab,  der  mich  be- 


2)  Gl>L.  §.  71:  fä  J>ä  aura,  er  hann  er  fastr;  — ■  at  aurum  eigi 
meirum,  en  hann  var  fastr. 

3)  ebenda,  §.61:  nü  ef  hann  gefr  (frelsi)  skattalaust  okskulda; 
—  foeddr  upp  sidfan  skuldlaus;  §.  66:  ganga  skuldlaust  i  braut; 
§.  71 :  en  jamndyrr  skal  hann  J»a  at  rette  sem  hann  vaere  skuldlaus. 

4)  ebenda,  §.71;  das  in  Norges  gamle  Love,  I,  S.  115 — 17  ge- 
druckte Fragment  einer  weiteren  Hs.  bietet  keinerlei  beachtenswerthe 
Varianten. 

5)  A  Jingi  skal  skuldarmann  taka,  at  bjoäask  fraandum  fyrst;  sä 
er  nsestr  er  nanastr  er,  ef  hann  vill  hafa,  ed*a  sä  ellar,  er  hann  vill 
heizt  selja.  Engi  ma  kono  svä  taka  i  skuld,  nema  hafe  frsenda  rad" 
vid".    Leysings  börn  mä  taka  i  fjölda  hverjum  er  vill. 

1* 


4  Sitximg  der  phüos.-phüöl.  Gasse  vom  3.  Januar  1874. 

stimmen  könnte,  mit  R.  Keys  er,  welcher  im  Uebrigen  die 
Stelle  ebenso  versteht  wie  ich,  das  Wahlrecht  des  Mannes 
auf  den  Kreis  seiner  Verwandten  zu  beschränken,  und  diesen 
eventuell  seinem  Gläubiger  als  Schuldknecht  zufallen  zu  lassen. 
Doch  sollte  man  Weiber  nicht  ohne  die  Zustimmung  ihrer 
Verwandten  in  Schuld  nemen  dürfen,  und  Dasselbe  wird 
wohl  analog  auch  von  den  Minderjährigen  gegolten  haben, 
obwohl  ihrer  und  der  Zustimmung  ihrer  Vormünder  keine 
Erwähnung  gethan  wird.  Durch  ein  paar  später  nachge- 
tragene Sätze  werden  diese  Bestimmungen  noch  vervollständigt. 
Einerseits  nämlich  wird  gestattet6) ,  dass  der  ächtgeborene 
Mann  auch  berechtigt  sei  sein  eigenes  Kind  in  Schuld  zu 
geben,  und  dass  ein  derartiges  Geschäft  weder  von  dem 
Kinde  selbst  noch  von  irgend  einer  anderen  Person  ange- 
fochten werden  dürfe,  falls  dasselbe  nur  am  Ding,  in  der 
Gildestube  oder  vor  der  versammelten  Kirchgemeinde  abge- 
schlossen worden  sei;  nur  sollte  der  Vater  sein  Kind  unter 
keiner  Voraussetzung  um  einen  höheren  Betrag  als  um  den 
von  3  Mark  in  Schuld  geben,  d.  h»  nicht  um  einen  höheren 
Betrag  als  den  Durchschnittspreis  eines  gewöhnlichen  Unfreien7). 
Andererseits  wird  aber  auch  ausgesprochen8),  dass  der  freie, 
ächtgeborene  und  volljährige  Mann,  welcher  sich  selbst  in 
Schuld  geben  will,  an  die  gleiche  Werthgrenze  nicht  gebunden, 
vielmehr  befugt  sein  soll,  diess  um  jeden  beliebigen  Betrag 
zu  thun.  —  Nach  allem  Dem  scheint  mir  nicht  bezweifelt  werden 
zu  können,  dass  die  ganze  Stelle  lediglich  auf  eine  vertrags- 
weise Begründung  der  Schuldknechtschaft  bezogen  werden 
müsse.      Sie    verstattet    diese   freigeborenen    und    mündigen 

6)  -3Sttborenn  mad'r  ma  gefa  barn  sitt  i  skuld,  ef  hann  gefr  a 
Jingi,  eda  at  öldrhüsi,  eäfa  at  kirkjusokn,  ]>a  ma  hann  gefa  i  triggja 
marka  skuld  ok  eigi  meiri ;  J>a  skal  J>at  halda,  skal  eigi  barnet  rjüfa 
ok  engi  madr  annarra. 

7)  vgl.  Gj  es  sing,  S.  123—25. 

8)  Nu  gefsk  madr  i  skuld  frjals  ok  fulltida  ok  settborenn,  $ä  ma 
hann  gefask  i  svä  nrikla  skuld  sem  hann  vill. 


Maurer:  SchiddTcnechtschaft  nach  altnordischem  "Rechte.  5 

Männern  ohne  Weiters,  nur  dass*  dabei  änlich  wie  bei  der 
Veraüsserung  von  Stamm  gut  (öSal)  ein  Einstandsrecht  der 
geborenen  Erben,  und  eine  Verpflichtung  des  Anerbietens  zu 
dessen  Ausübung  bestand;  Weiber  dagegen  konnten  nur  mit 
Zustimmung  ihrer  Verwandtschaft  in  gleicher  Weise  über 
sich  verfügen.  Selbstverständlich  ist  diese  letztere  Beschränkung 
auf  die  Geschlechtsvormundschaft  zurückzuführen,  welche  die 
norwegischen  Provincialrechte  zwar  nicht  mehr  als  ein  ge- 
schlossenes und  rundum  ausgebildetes  Institut  kennen,  von 
welcher  dieselben  indessen  immerhin  noch  eine  ganze  Reihe 
einzelner  Consequenzen  festhalten.  Weiterhin  wird  aber  dem 
Vater  auch  noch  verstattet,  sein  Kind  in  Schuld  zu  geben, 
nur  dass  hier  für  den  Betrag  der  Schuld  eine  Werthgrenze 
gezogen  ist,  welche  für  die  Verfügung  über  die  eigene  Person 
nicht  besteht.  Ganz  allgemein  endlich  wird  ein  gewisses 
Mass  von  Publicitset  beim  Vertragsabschlüsse  gefordert,  wenn 
auch  in  verschiedenem  Grade  abgestuft  je  nach  der  Ver- 
schiedenheit .des  Standes  der  Personen,  welche  in  die  Schuld- 
knechtschaft treten  oder  gegeben  werden  wollen;  auch  diese 
Vorschrift  steht  aber  ganz  und  gar  nicht  isolirt,  da  das  Erfor- 
derniss  der  Oeffentlichkeit  auch  sonst  in  Fällen  widerzukehren 
pflegt,  in  welchen  die  gesammte  rechtliche  Stellung  einer 
Person,  und  damit  auch  deren  Beziehungen  zu  dritten  Per- 
sonen in  Frage  standen  9).  So  verstanden,  unterliegt  dem- 
nach unsere  Stelle  keinem  sachlichen  Bedenken;  aber  freilich 
scheint  dieselbe  einer  kleinen  Verbesserung  des  Textes  zu 
bedürfen,  um  die  bisher  vorgetragene  Auslegung  unangreifbar 
zu  machen10).  Man  könnte  freilich,  um  der  letzteren  Schwie- 
rigkeit auszuweichen,  allenfalls  zu  dem  Auswege  greifen  wollen, 
dass  man  die  Stelle  statt  auf  die  vertragsweise  Begründung 


9)  vgl.  Fr.  Brandt,  Brudstykker  af  Forelse  sninger  over  den 
norske  Retshistorie,  I,  S.  65. 

10)  In  den  oben,   S.  3,  Anm.  5,   angeführten  Worten:    „eda  sä 
ellar,  er  hann  vill  heizt  selja"  dürfte  nämlich  zu  lesen  sein  „seljask", 


6  Sitzung  der  philos.-pliüol.  Glasse  vom  3.  Januar  1874. 

der  Schuldhaft  vielmehr  *  auf  deren  einseitige  Verhängung 
durch  den  Gläubiger  über  seinen  insolventen  Schuldner  be- 
zöge, und  liesse  sich  hiefür  geltend  machen,  dass  an  deren 
Eingang  nur  von  einem  ,,taka  skuldarmann"  die  Rede  ist. 
Indessen  wird  doch  in  deren  weiterem  Verlaufe  auch  von 
einem  „gefa"  und  „gefask  i  skuld"  gesprochen,  und  die  so- 
fort folgenden  Worte :  ,,halda  skal  slikt  allt  sem  menn  veroa 
asättir,  ok  vättar  vituu,  deuten  gleichfalls  so  deutlich  als 
möglich  auf  die  vertragsweise  Begründung  des  Verhältnisses 
zurück;  nur  unter  dieser  Voraussetzung  hat  es  überdiess  einen 
Sinn,  wenn  von  der  Mitwirkung  der  Verwandten  beim  Ein- 
tritte eines  Weibes  in  die  Schüldhaft  gesprochen  wird,  da 
denn  doch  das  Recht  des  Gläubigers,  seinen  insolventen 
Schuldner  in  Haft  zu  nemen,  an  eine  solche  Mitwirkung 
nicht  gebunden  sein  konnte,  wenn  und  soweit  es  überhaupt 
bestand.  Weiterhin  wäre  auch  nickt  abzusehen,  warum  dem 
Gläubiger,  wie  diess  jene  andere  Auslegung  unserer  Stelle 
mit  sich  bringen  würde,  das  Recht  eingeräumt  sein  sollte, 
wenn  der  nächste  Verwandte  des  Schuldners  sein  Einstands- 
recht unbenutzt  lassen  wollte,  seinerseits  unter  dessen  ent- 
fernteren Verwandten  denjenigen  zu  wählen,  dem  er  ihn 
überlassen  wollte;  überdiess  aber  wäre  uns  eine  Verbesserung 
des  Textes  durch  das  gewählte  Auskunftsmittel  dennoch  nicht 
erspart,  indem  solchenfalls  für  bjöSask  „bjooa"  gelesen  werden 
müsste,  soferne  jene  erstere  Form  doch  nur  in  reflexivem, 
nicht  passivem  Sinne  verstanden  werden  könnte  J1).  Aber 
wenn  hiernach  zwar  allerdings  anzunemen  ist,  dass  unsere 
Stelle  nur  von  einer  Schuldhaft  spricht,  welche  auf  einen 
zwischen  Gläubiger  und  Schuldner  abgeschlossenen  Vertrag 
sich  gründet,  so  ist  doch  damit  selbstverständlich  noch 
keineswegs  entschieden,  ob  dieselbe  nicht  vielleicht  unter 
Umständen   auch   noch   auf  ganz   anderem   Wege    entstehen 


11)  vgl.  Guffbrandr  Vigfüsson,  Dictionary,  I,  S.  XXVI. 


Maurer:  Schuldlcnechtschaft  nach  altnordischem  Rechte.  7 

konnte,  und  in  der  That  fehlt  es  nicht  an  Spuren,  welche 
auf  solche  anderweitige  Begründungsarten  derselben  hinweisen. 
Gelegentlich  der  Freilassung  bespricht  unser  Rechtsbuch 
den  Fall,  da  ein  Herr  seinem  Unfreien  die  Freiheit  schenkt, 
ohne  ihm  dabei  eine  Schuld  oder  Abgaben  aufzuerlegen  12), 
und  gedenkt  dasselbe  insbesondere  auch  noch  des  Falles,  da 
ein  noch  nicht  dreijähriges  Kind  freigelassen,  und  sodann 
frei  von  jeder  Schuld  aufgezogen  wird13).  Beides  setzt  denn 
doch  nothwendig  auch  die  umgekehrte  Möglichkeit  voraus, 
dass  der  bisherige  Herr  seinem  Manne  bei  dessen  Freilassung 
eine  Schuld  auflege,  und  auf  dasselbe  Ergebniss  führt  auch 
ein  weiterer  Ausspruch  derselben  Stelle  hinaus,  nach  welchem 
der  Freilasser,  welcher  die  Freilassung  gegen  Entgeld  vor- 
genommen, aber  dabei  mindestens  die  Hälfte  des  Lösegeldes 
creditirt  hatte,  berechtigt  sein  sollte  den  noch  ausständigen 
Betrag  unter  Anwendung  von  Schlägen  einzutreiben,  ohne 
dadurch  ein  Gewette  an  den  König  zu  verwirken14);  dem 
Zusammenhange  nach  wird  nämlich  diese  Bestimmung  doch 
wohl  nur  dahin  verstanden  werden  können,  dass  für  den 
Fall,  da  ein  so  erheblicher  Theil  des  Kaufpreises  unbezahlt 
bleibe,  die  Behandlung  des  Freigelassenen  als  eines  Schuld- 
knechtes von  Rechtswegen  zulässig  sei,  während  sie  abge- 
sehen von  diesem  Falle  nur  auf  Grund  eines  bei  der  Frei- 
lassung gemachten  ausdrücklichen  Vorbehaltes  Platz  greifen 
dürfte.     Wir  haben  demnach  hier  eine  Schuldhaft  vor  uns, 


12)  Gl>L.  §.61:  Nu  leiÖTir  madr  Jrsel  sinn  til  kirkju,  edaäkistu 
setr,  ok  gefr  frelsi,  nü  ef  hann  gefr  skattalaust  ok  skulda,  5ä  ]>arf 
sä  eigi  at  gera  frelsisöl  sitt. 

13)  ok  sa  annarr,  er  fyrr  er  frelsi  gefit  en  hann  hafe  3.  nsetr 
hinar  helgu,  ok  foeddr  upp  sröan  skuldlaus. 

14)  Nu  reitfir  Irsell  eda  ambott  verdaura  sina,  ]>ä  skal  J>au  til 
kirkju  fcera,  ok  leggja  bok  ä  höfud*  J>eim,  ok  gefa  frelsi.  Nü  skal 
hann  ]>ar  vinna  12  manadr  fyri  skapdrottne  sinum.  En  ef  hanom 
er  svä  frelsi  gefit,  at  efter  stendr  halft  verö"  hans  eda  meira,  Ja  56 
at  hann  sceke  tat  meo"  hoggum  er  efter  stendr,  Jar  ä  ekki  konongr  a# 


8        Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

welche  auf  einem  einseitigen  Vorbehalte  bei  einer  einseitigen 
Verfügung,  und  unter  Umständen  sogar  unmittelbar  auf  einer 
Rechtsvorschrift  beruhte.  Auch  den  Satz  wird  man  noch 
unter  denselben  Gesichtspunkt  stellen  dürfen16),  dass  die 
Kinder  eines  Freigelassenen,  welchen  ihre  Aeltern  ihr  Erb- 
recht erkauft  haben,  für  den  verarmenden  Freilasser  zwar 
bis  an  seinen  Tod  arbeiten,  aber  sodann  unbelastet  durch 
irgendwelche  Schuld  weggehen  sollen,  wenn  sie  nicht  etwa 
vorziehen,  durch  Bezahlung  von  Alimentationskosten  sich 
von  dem  Dienste  und  der  damit  verbundenen  Freiheits- 
beschränkung loszukaufen.  Man  wird  nämlich  doch  wohl 
annemen  dürfen,  dass  der  Freilasser  berechtigt  war,  auf 
solche  Kinder  von  Freigelassenen,  denen  ihre  Aeltern  ihr 
Erbrecht  nicht  erkauft  hatten,  im  Verarmungsfall  eine  Schuld 
zu  legen.  —  Eine  andere  Bewandtnis  dürfte  es  dagegen  mit 
folgendem  Falle  haben16).  Hat  ein  Freigelassener  eine  Frei- 
gelassene geheirathet,  und  sind  beide  Theile  durch  die  Ab- 
haltung ihres  Freilassungsbieres  von  ihrem  früheren  Dienst- 
herrn völlig  frei  geworden,  so  erwerben  die  aus  ihrer  Ehe 
hervorgehenden  Kinder  zwar  das  volle  Recht  auf  den  Nach- 
lass  ihrer  Aeltern,  aber  sie  haben  dafür  auch  im  Verarmungs- 
falle keinen  Anspruch  auf  Alimentation  gegenüber  den  beiden 
Freilassern;  sie  werden  solchenfalls  grafgangsmenn,  d.  h. 
sie  werden  in  ein  offenes  Grab  gesetzt,  und  mögen  in  diesem 
verkommen,  nur  dass  der  Freilasser  verpflichtet  ist,  das  längst 


15)  GJL.  §.  66:  Kaupa  ma  leysingi  arf  bornom  sinom,  ef  teir 
verda  satter  ä ;  Ja  er  tat  jamfullt  sem  hann  hafde  skirt  far  sitt.  En 
ef  ]>rot  sceker  tau,  ok  er  keypt,  tä  skolo  born  J»eirra  vinna  fyri  Jeim 
medan  tau  lifa,  ok  gänga  skuldlaust  i  braut.  En  ef  tau  vilja  eigi 
tat,  gjalde  fostrlaun  tat  teirra,  er  i  braut  vill  fara. 

16)  GtL.  §.  63:  Nu  fser  leysingi  leysingju,  ok  er  gort  frelsisöl 
beggja  teirra,  tä  gegna  born  beggja  arfe.  En  ef  tau  veräa  at  l>rotom, 
tä  ero  tat  grafgangsmenn;  skal  grafa  grof  i  kirkjugarde,  ok  setja 
lau  ]>ar  i,  ok  lata  tar  deyja;  take  skapdröttenn  tat  6r,  er  lengst 
lifir,  ok  fcete  tat  sifran. 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Rechte.  9 

lebende  unter  den  Kindern  herauszunemen  und  zu  ernähren. 
Dabei  war  nun  aber  der  Freilasser,  oder  auch  derjenige, 
der  etwa  aus  blosem  Mitleid  eines  dieser  Kinder  aufziehen 
mochte,  berechtigt  dieselben  um  den  Betrag  der  auf  ihre 
Verpflegung  verwendeten  Kosten  in  Schuld  zu  nemen 17), 
obwohl  diess  nicht  gerade  üblich  gewesen  zu  sein  scheint, 
oder  die  Schuldhaft  doch  wenigstens  nicht  schon  von  Rechts- 
wegen eintrat;  ob  die  Absicht,  dieselben  für  die  Pflegekosten 
in  Schuld  zu  nemen  gleich  bei  der  ersten  Aufname  der  graf- 
gangsmenn  erklärt  werden  musste,  oder  ob  die  gleiche  Er- 
klärung auch  noch  hinterher  rechtsgültig  abgegeben  werden 
konnte,  bleibt  dabei  zweifelhaft.  Auch  in  diesem  Falle  liegt 
aber  ein  einseitiges  Recht  des  Gläubigers  vor,  die  Schuldhaft 
zu  verhängen;  jedoch  ist  dasselbe  nicht  wie  im  vorigen  Falle 
auf  einen  Vorbehalt  begründet,  welcher  bei  der  Entlassung 
aus  der  Unfreiheit  gemacht  wurde,  sondern  auf  eine  Auslage, 
welche  für  die  Erhaltung  des  Lebens  des  anderen  Theils  ge- 
macht worden  war,  also  auf  eine  Art  von  negotiorum  gestio. 
Ganz  denselben  Charakter  zeigt  aber  auch  noch  ein  weiterer 
Fall,  welchen  das  Recht  der  Landschaft  Drontheim  an  die 
Hand  giebt 18).  Stirbt  dem  Kinde  einer  Bettlerinn  seine 
Mutter  weg,  so  soll  der  Bauer,  in  dessen  Haus  diese  ge- 
storben ist,  dasselbe  Jedermann  anbieten,  der  es  „um  Gottes 
willen"  aufziehen  und  vermögensrechtlich  ausnützen  (fenyta) 
will;  erst  wenn  sich  hiezu  Niemand  bereit  erklärt,  soll  das- 
selbe  der   reihenweisen  Verpflegung  aller  Volklandsgenossen 


17)  GEL.  §.  298:  Nu  skal  eigi  leidangr  gera  fyri  Ja  menn,  er 
Erot  rekr  aptr  i  kyn,  ok  eigi  fyri  grafgängsmenn,  ef  maäfr  leggr  eigi 
skuld  ä  J>ä. 

18)  Fr]>L.  II,  §.2:  En  ef  kona  dceyr  frä  barne  sinu  sü  er  medial 
hüsa  gengr,  Ja  skal  bönde  foera  barn  5at  til  kirkju,  ok  lata  skira, 
ok  bjoda  hverjum  manni  er  foeda  vill  til  gu#s  J>akka.  En  ef  engi 
vill  vidr  taka,  ok  ser  at  fe  nyta,  l>ä  hafe  bonde  heim  med"  ser,  ok 
fcede  mänad"  hin  nsesta,  en  sidan  take  fylkismenn  aller,  ok  foed*e  til 
gu$s  lakka. 


10         Sitzung  der  philos.-phüol  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

verfallen.  Die  Verpflegung  um  Gottes  willen  und  die  ver- 
mögensrechtliche Ausnutzung  stimmen  offenbar  nicht  recht 
zusammen,  da  erstere  auf  uneigennützige,  letztere  auf  eigen- 
nützige Motive  bei  der  Aufname  des  Kindes  hinweist,  und 
man  möchte  darum  vermuthen,  dass  hier  wie  öfter  in  dem 
Rechtsbuche  ältere  und  neuere  Rechtsvorschriften  ungeschickt 
combinirt  seien;  die  Vermuthung  wird  bestätigt,  wenn  man 
bemerkt,  dass  die  Worte  ,,ok  ser  at  fe  nyta"  im  Cod.  Resen. 
feien,  und  auch  in  dem  Texte  ausgelassen  sind,  welcher  für 
das  sog.  Christenrecht  Sverrirs  benützt  wurde19),  dass  ferner 
das  Christenrecht  Erzbischof  Jons  ausdrücklich  hervorhebt, 
dass  solche  Kinder  um  Gottes  willen  aufgezogen  werden 
sollen,  und  nicht  zu  sklavischem  Dienste20).  Die  letztere 
Bemerkung  zeigt  deutlich,  dass  ein  älteres,  dem  Aufnemenden 
vermögensrechtliche  Vortheile  bietendes  Recht  unter  dem 
bewussten  Einflüsse  kirchlich-mildthätiger  Gesichtspunkte  um- 
gestaltet werden  wollte;  dieses  ältere  Recht  kann  aber  kaum 
anders  als  dahin  verstanden  werden,  dass  dasselbe  dem 
Pfleger  des  Kindes  gestattete,  den  Betrag  der  aufgewandten 
Verpflegungskosten  als  Schuld  auf  dieses  zu  legen.  In  ge- 
wissem Sinne  gehört  endlich  auch  noch  eine  weitere  Bestim- 
mung des  drönter  Rechtes  hieher,  welche  von  den  hülflosen 
Personen  handelt,  deren  bisheriger  Ernährer  sein  ganzes 
Vermögen  strafweise  verwirkt  hat21).  Zum  Behufe  der  Liqui- 
dation des  verwirkten  Vermögens  hat  des  Königs  Amtmann 
einen  Termin  anzusetzen,  an  welchem  neben  allen  anderen 
Masseglaübigern  auch  die  von  dem  Schuldigen  bisher  alimen- 
tirten  Personen  zu  erscheinen  haben.  Sind  nun  Liegenschaften 
vorhanden,  welche  an  die  Erben  des  letzteren  fallen,  und 
bleibt  nach  vollständiger  Befriedigung  der  sämmtlichen  übrigen 


19)  KrR.  Sverris,  §.  26. 

20)  KrR.   Jons,   §.  5:   sc   siäfan   allir  fylkismenn   skyldugir  at 
fceda  til  guds  J»akka,  en  eigi  ser  til  änaudarmaims. 

21)  FrJ»L.,  V,  §.  13. 


Maurer:  SchuldJcnechtschaft  nach  altnordischem  Hechte.        11 

Gläubiger  noch  ein  Rest  von  Fahrhabe  für  den  König,  be- 
ziehungsweise dessen  Amtmann  übrig,  so  werden  diese  beiden 
Vermögensmassen  abgeschätzt,  und  die  Alimentationsberech- 
tigten nach  Verhältniss  ihres  Werthes  unter  die  Erben  und 
den  Amtmann  vertheilt;  ist  kein  Land  da,  während  doch 
Fahrhabe  an  den  Amtmann  fällt,  so  hat  dieser  die  Alimen- 
tationsberechtigten allein  zu  übernemen,  wogegen  die  Ali- 
mentationspflicht umgekehrt  ihrem  vollen  Umfange  nach  die 
Erben  trifft,  wenn  zwar  Land  da  ist,  aber  dem  Amtmanne 
keine  Fahrhabe  verbleibt:  in  keinem  Falle  aber,  heisst  es, 
sollen  freigeborene  Personen  an  des  Königs  Kammer  fallen, 
vielmehr  sollen  sie  mit  ihren  Alimentationsansprüchen  stets 
dem  verwirkten  Vermögen  folgen 22).  Offenbar  will  damit 
gesagt  sein,  dass  solche  Personen  nicht  für  den  Betrag  der 
auf  sie  verwandten  Alimentationskosten  in  Schuld  genommen, 
sondern  als  eine  auf  dem  confiscirten  Gute  ruhende  Last  be- 
trachtet werden  sollten,  was  auch  ganz  in  der  Ordnung  war, 
weil  die  ihnen  gereichte  Verpflegung ,  anders  als  in  den  oben 
besprochenen  Fällen,  nicht  als  eine  aus  gutem  Willen  ge- 
gebene, und  darum  nur  vorgeschossene  gelten  konnte;  dass 
man  aber  eine  ausdrückliche  Erklärung  über  diesen  Punkt 
nöthig  fand,  zeigt  immerhin,  dass  man  mit  dem  Gedanken 
sehr  vertraut  war,  dass  der  Verpfleger  den  Verpflegten  für 
die  Pflegekosten  in  Schuldhaft  nemen  möge.  —  Widerum 
lassen  sich  mehrfache  Fälle  einer  strafweisen  Begründung 
der  Schuldknechtschaft  nachweisen.  Eine  geschichtliche  Quelle 
berichtet  uns23),  dass  K.  Haraldr  harfagri  ein  Gesetz  erlassen 
habe,  nach  welchem  Weiber,  welche  sich  ausserehelich  ver- 
gangen hatten,    dem  Könige  anheimfallen   und  ihre  Freiheit 

22)  Eigi  skulo  settborner  menn  i  konüngs  garä*  gänga;  setla 
skal  Jeim  fe  ok  atvinnu  af  ütlögum  eyre. 

23)  Fagrskinna,  §.17:  f>ä  gerifr.  ok  Haraldr  ny  log  um  kvenna- 
rett,  —  —  En  sü  kona  er  hon  leggsk  a  laun,  Ja  skal  hon  ganga 
i  konüngs  gard",  ok  tyna  frelsi  si'nu  5ar  til  hon  er  leyst  JaÖan  med" 
J>rem  mörkum  sex  alna  eyris. 


12        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

verlieren  sollten,  bis  sie  durch  eine  Zahlung  von  3  Mark 
ausgelöst  werden  würden.  In  unseren  Rechtsbüchern  kehrt 
eine  analoge  Vorschrift  wider,  aber  allerdings  im  Einzelnen 
in  sehr  verschiedener  Gestalt.  Das  ältere  Stadtrecht  lässt 
noch  ganz  die  ältere  Strenge  walten24).  Machen  sich  ächt- 
geborene Weiber  eines  ausserehelichen  Beischlafes  schuldig, 
so  verwirken  sie  nämlich  nach  ihm  dadurch  ein  Gewette  an 
den  König,  und  der  Schultheiss  hat  ihre  Verwandten  und 
Freunde  aufzufordern,  durch  dessen  Entrichtung  sie  auszu- 
lösen ;  geschieht  diess  nicht,  so  soll  er  das  schuldige  Weib 
um  den  Betrag  dieser  Schuld  im  Inlande  verkaufen.  Ist 
aber  das  schuldige  Weib  eine  Freigelassene,  so  kommen 
wesentlich  dieselben  Bestimmungen  zum  Zuge,  nur  dass  das 
Gewette  an  den  König  durch  eine  an  den  Freilasser  zu  ent- 
richtende Busse  ersetzt  wird.  Das  Recht  des  Guladinges 
bedroht  dagegen  nur  noch  den  ausserehelichen  Verkehr  des 
freien  Weibes  mit  einem  Unfreien  mit  dergleichen  Strafe*5); 
ist  das  Weib  freigeboren,  so  verfällt  sie  in  des  Königs  Kam- 
mer, ist  sie  eine  Freigelassene,  in  das  Recht  ihres  Freilassers, 
und  im  ersteren  Falle  ist  sie  mit  3  Mark,  im  letzteren  Falle 
mit  einer  nicht  angegebenen  Zahlung  auszulösen.  Aenlich 
steht  die  Sache  nach  dem  Rechte  der  Landschaft  Vikin  26), 

24)  Bjark.  R.,  III,  §.  127:  En  ef  settborin  kona  fyrirliggr  ser 
ok  verdr  sek  vid"  konüng,  Ja  skal  gjaldkyri  bjoda  frsendum  ok  vinum 
at  J>eir  leysi  hana  undan,  en  ef  engi  vill  undan  leysa,  }ä  skal  gjald- 
kyri selja  hana  til  Jeirrar  skuldar  innan  lands,  en  eigi  ütan.  En  ef 
leysingja  manns  fyrirliggr  ser  eda  frjälsgefa,  Ja  er  hon  sek  vid*  skap- 
drottin  sinn  3  mörkum,  jafnt  hinn  fjoräfa  sem  hinn  fyrsta,  en  sa  er 
lä  med*  er  sekr  6  aurum  vid*  hann;  ekki  ä  konüngr  a  J>vi. 

25)  GJL.  §.  198:  Aettboren  kona  legsk  med-  Jraele,  J>ä  skal  hon 
ganga  i  konongs  gar#,  ok  leysa  sik  J>e#an  3  mörkom;  ok  hverr  maJr 

a  at  taka  a  leysingju   sinni   6  aura. Ef  leysingja   legsk  med* 

Jrsele,  }>ä  skal  hon  gänga  i  gardr  skapdrottens  si'ns. 

26)  Blh.f  II,  §.  14:  En  ef  hon  segir  eigi  til  (fadernis)  innan 
manadr,  Ja  heitir  J>rsell  fader  at  Jvi  barne;  hon  hefir  leget  seekt  (sek) 
i  gard"  konongs  til  3  marka. 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Rechte.        13 

jedoch  mit  einer  erheblichen  Modification.  Für  den  Fall 
nämlich,  da  die  Kindsmutter  gleich  bei  der  Geburt  einen 
freien  Mann  als  Kindsvater  angiebt,  ist  von  keiner  Strafe 
für  sie  die  Rede;  nur  für  den  anderen  Fall,  da  sie  den 
Kindsvater  zu  nennen  verweigert,  und  da  in  Folge  dessen 
angenommen  wird,  dass  sie  das  Kind  mit  einem  unfreien 
Manne  gewonnen  habe,  wird  sowohl  des  Gewettes  von  3  Mark 
als  auch  des  Verfallens  in  des  Königs  Kammer  Erwähnung 
gethan.  Ganz  denselben  Weg  scheint  nun  auch  das  Recht 
von  Drontheim  zu  gehen27);  auch  hier  verwirkt  das  frei- 
geborene Weib  ihre  3  Mark  an  den  König  nur  dadurch,  dass 
sie  den  Kindsvater  anzugeben  verweigert,  und  dass  in  Folge 
dessen  ein  Unfreier  als  der  Vater  gilt.  Allerdings  ist  dabei 
von  einem  Verfallen  in  des  Königs  Kammer  nicht  die  Rede; 
aber  da  hinterher  von  der  Freigelassenen  gesagt  wird28), 
dass  sie  für  das  aussereheliche  ßeilager  ihrem  Freilasser 
3  Mark  schulde,  und  wenn  sie  nicht  um  diesen  Betrag  aus- 
gelöst werde,  und  dennoch  seiner  Gewalt  sich  zu  entziehen 
suche,  wie  eine  Sklavinn  eingebracht  werden  solle,  so  ist 
damit  denn  doch  auch  der  persönliche  Anfall  an  denselben 
ausgesprochen,  und  liegt  der  Schluss  nahe,  dass  bezüglich 
des  freigeborenen  Weibes  dieselbe  Eventualität  eben  nur  als 
selbstverständlich  unerwähnt  geblieben  sein  möge.  Ganz 
analog  verfährt  denn  auch  dasselbe  Rechtsbuch  in  dem  an- 
deren Falle,   da   eine  Nonne   sich  eines  änlichen  Vergehens 


27)  Fr]>L.  II,  §.  1:  En  ef  kona  vill  eigi  segja  til  fadfernis,  I>ä 
stefni  ärmadr  konungs  henne  l>ing,  ok  kalle  svä  fcrsell  eigi  barn  med* 
henne,  nema  hon  segi  til  fafrernis.  En  settboren  kona  sekizt  3  morkum 
silfrs  vidr  kondng  um  I>at  mal,  en  barn  skal  modor  fylgja.  Ebenso 
K.  R.  Sverris,  §.  31. 

28)  Fr)>L.  IX,  §.  16:  En  ef  leysingja  manns  fyrirliggr  ser,  H 
skal  hon  gjalda  skapdrottni  sfnum  3  merkr,  ok  reifri  sä  madr  fe  tat 
er  vill.  En  ef  hon  vill  brigfra  sik  sidan,  I>ä  skal  hon  fara  atleidzlu 
sem  mansmaäfr  til  skapdrottins. 


14        Sitzung  der  phüos.'phüol  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

schuldig  macht29);  sie  verfällt  der  Gewalt  des  Bischofs, 
welcher  hier  gewissermassen  die  Stelle  eines  Privatherrn 
einnimmt,  nur  wird  freilich  bei  ihr  nicht  unterschieden,  ob 
der  Mann  frei  oder  unfrei  ist,  mit  dem  sie  sich  eingelassen 
hat.  Mag  sein,  dass  die  Wortfassung  unserer  Quellen  nicht 
überall  eine  völlig  correcte  war,  und  dass  die  ßusszahlung 
sowohl  wie  der  Freiheitsverlust  dem  Weibe  von  Anfang  an 
nur  für  den  Fall  drohte,  da  dasselbe  sich  mit  einem  Un- 
freien eingelassen  hatte,  welcher  Fall  aber  freilich  sofort  als 
gegeben  galt,  sowie  ein  freier  Mann  als  Kindsvater  nicht 
nachgewiesen  werden  konnte  oder  wollte;  für  unseren  Zweck 
ist  jedenfalls  die  Erledigung  dieser  Frage  völlig  gleichgültig, 
und  gleichgültig  auch,  ob  im  einzelnen  Falle  die  Rechtsfolge 
zu  Gunsten  des  Königs,  des  Bischofs  oder  des  Freilassers 
verwirklicht  werden  sollte;  um  so  erheblicher  ist  aber  für 
diesen  Ort  die  Beantwortung  der  anderen  Frage,  ob  es  sich 
bei  den  besprochenen  Rechtsvorschriften  um  eine  strafweise 
eintretende  Unfreiheit,  oder  um  eine  strafweise  Begründung 
der  Schuldknechtschaft  handle.  Die  letztere  Anname  scheint 
mir  die  richtigere,  ohne  dass  ich  einen  Grund  fände,  mit 
einem  neueren  Schriftsteller30)  dieserhalb  zwischen  der  älteren 
und  neueren  Zeit  zu  unterscheiden.  Die  Möglichkeit,  sich 
um  einen  gesetzlich  bestimmt  bezeichneten  Geldbetrag  aus 
der  Haft  zu  lösen,  scheint  mir  von  Vornherein  auf  diese 
Auslegung  hinzudeuten,  und  wenn  das  Stadtrecht  von  einem 
„selja  til  skuldar({,  das  Borgardingsrecht  von  einem  „liggja 
sik  i  konÜQgsgarS  til  3  marka"  spricht,  oder  das  drönter 
Recht  die  straffällige  Freigelassene  erst  durch  den  wider- 
rechtlichen Versuch,    der  nächsten  Straffolge  sich  durch  die 


29)  FrI>L.  III,   §.  14:    Nu  ef  kona  vill  lata  vigja  sik  til  nunnu, 

En  ef  hon  misferr  siäan  med"  ser,  J>a  skal  hon  gänga  i  gartf 

biskups,   en  sä  er  glsepr  hana,  Ja  er  sa  ütlsegr,   en   biskup  hafe  fe 
hans.    Ebenso  KrR.  Sverris,  §.  68. 

30)  von  Amira,  S.  264. 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Beeilte.        15 

Flucht  zu  entziehen,  in  die  Unfreiheit  gerathen  lässt,  so 
dürfte  auch  hierinn  eine  Bestätigung  derselben  Auffassung 
liegen.  Dass  das  isländische  Recht,  wie  sich  unten  zeigen 
wird,  in  analogen  Fällen  ganz  unzweideutig  die  Schuld- 
knechtschaft eintreten  lässt,  dürfte  die  Richtigkeit  der  obigen 
Annaine  vollends  ausser  Zweifel  setzen,  und  jedenfalls  wird 
man  nicht  gegen  dieselbe  geltend  machen  dürfen,  dass  Adam 
von  Bremen  wissen  will,  man  habe  in  Dänemark  die  Weiber, 
die  sich  eines  Fleischesverbrechens  schuldig  gemacht  hätten, 
ohne  Weiters  verkauft31),  und  dass  Saxo  Grammaticus32)  seinen 
Frotho  III.  bestimmen  lässt,  dass  Weiber,  welche  sich  mit 
Unfreien  einliessen,  zu  deren  Stand  herabsinken  sollten ;  ganz 
abgesehen  nämlich  davon,  dass  beide  Satzungen  den  dänischen 
Rechtsbüchern  fremd33),  und  somit  zweifelhafter  Verlässigkeit 
sind,  müssten  dieselben  schon  darum  auf  einen  völlig  anderen 
Gesichtspunkt  zurückgeführt  werden,  weil  bei  ihnen  von  einer 
Auslösung  um  bestimmten  Preis  nicht  die  Rede  ist.  —  Aber 
noch  ein  paar  andere  Fälle  scheinen  unter  den  zuletzt  be- 
sprochenen Gesichtspunkt  zu  gehören.  Das  drönter  Land- 
recht, und  ihm  folgend  auch  das  ältere  Stadtrecht,  stellt  den 
Satz  auf34),   dass  gesunde  und  arbeitsfähige  Leute,  welche, 


31)  Adam.  Bremens.,  IV,  cap.  6,  S.  370:  mulieres,  si  constu- 
pratse  fuerint,  statim  venduntur. 

32)  Saxo  Grammaticus,  V,  S.  227:  At  si  libera  consensisset 
in  servum,  ejus  conditionem  sequaret,  libertatisque  beneficio  spoliata 
servilis  fortunae  statum  indueret. 

33)  Valdemars  Ssell.  Lov.  cap.  86,  S.  57—9,  und  Eriks 
Saell.  Lov,  II,  cap.  95,  S.  91— 2,  besprechen  den  Fall,  da  eine  Freie 
mit  einem  Unfreien  sich  einlässt,  ohne  von  obiger  Rechtsfolge  etwas 
zu  wissen. 

34)  FrJ>L.,  X,  §.39:  Allir  menn,  er  gänga  hüsa  ämed'al,  ok  ero 
eigi  Jyrmslamenn,  ok  ero  heilir,  ok  vilja  eigi  vinna,  Ja  er  sä  sekr 
mörkum  3,  sva  karl  sem  kona,  en  armaä"r  eda  annarr  madr  taki 
Jann  mann  med*  vattom,  ok  hafi  til  Kngs.  En  frsendr  hans  leysi 
hann  Ja  3  mörkum,  eäa  hinn  feny'ti  ser,  er  Jängat  haföi,  sem  hann 
vill.    Ebenso  Bjark.  R.,  III,  §.  163. 


16        Sitzung  der  phüos.'philöl.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

ohne  einem  Freilasser  unterthänig  zu  sein,  betteln  gehen 
und  nicht  arbeiten  wollen,  um  3  Mark  gebüsst  werden  sollen ; 
des  Königs  Amtmann,  oder  auch  ein  beliebiger  Anderer,  soll 
derartige  Menschen  aufgreifen  und  zum  Ding  bringen,  und 
wenn  sie  hier  nicht  von  ihren  Verwandten  ausgelöst  werden, 
soll  derjenige,  welcher  sie  vorführte,  sie  beliebig  vermögens- 
rechtlich ausnützen  dürfen.  Eine  änliche  Bestimmung  findet 
sich  in  dem  Rechte  der  Hochlande,  jedoch  nur  in  dessen 
älterer  Recension,  während  sie  aus  der  jüngeren  verschwunden 
ist35).  Weiber,  welche  sich  mit  Zauberei  oder  Besprechen 
abgeben,  sollen  nach  ihr  um  3  Mark  gebüsst  werden;  ver- 
mögen sie  diese  Busse  aber  nicht  zu  bezahlen,  so  soll  jeder 
Beliebige  sie  an  sich  nemen  und  vermögensrechtlich  ausnützen 
dürfen,  und  sollen  sie  der  Acht  verfallen,  wenn  diess  Nie- 
mand thun  mag.  Beide  Vorschriften  sind  kaum  anders  zu 
verstehen  als  dahin,  dass  derjenige,  welcher  die  von  dem 
unvermögenden  Schuldigen  verwirkte  Busse  für  ihn  entrichten* 
wollte,  ihn  selbst  dafür  auf  deren  Betrag  in  Schuld  nemen 
durfte;  darinn  dass  dieses  Recht  sei  es  nun  für  den  Fall, 
dass  des  Königs  Amtmann  nicht  zugreifen  wollte,  oder  auch 
gleich  in  erster  Linie  jedem  beliebigen  Privaten  eingeräumt 
wurde,  ist  dabei  nur  einer  der  zahlreichen  Anwendungsfälle 
einer  Pönalklage  zur  kräftigeren  Sicherung  des  Vollzuges  von 
Strafbestimmungen  zu  erkennen,  von  welchen  die  nordischen 
Rechte  wissen.  Im  Rechte  des  Guladings  wird  ferner  der 
Satz  ausgesprochen,  dass  der  Freigelassene,  welcher  sich 
groben  Undanks  gegen  seinen  Freilasser  schuldig  macht, 
dafür  in  seinen  früheren  Stand  zurückversetzt  werden  soll36); 


35)  EJL.,  I,  §.  45:  Kona  hver  er  ferr  med-  lif,  ok  lsez  kunna 
bceta  mannum,  of  hon  er  sonn  at  Jvf,  5a  er  hon  sek  3  morkum,  ef 
hon  hefer  fe  til.  En  ef  eigi  er  fe  til,  }a  take  hverr  er  vill,  ok  fe- 
nyti  ser;  en  ef  engi  vill  ser  fenyta,  Ja  fare  hon  ütlseg. 

36)  GJL.  §.  66:  En  ef  hann  gerer  einhvern  lut  J»eirra,  J>a  skal 
hann  fara  aftr  i  sess  hinn  sama  er  hann  var  fyrr,  ok  leysask  J>ed*an 


Maurer:  SchuldJcnechtschaft  nach  altnordischem  Rechte.        17 

der  Umstand,  dass  dabei  die  Widerauslösung  des  Undank- 
baren aus  der  Unfreiheit,  in  welche  er  zurückverfällt,  sofort 
ins  Auge  gefasst  wird,  scheint  darauf  hinzuweisen,  dass  damit 
nicht  eine  blose  Revocation  der  Freilassung  wegen  Undanks 
gemeint  sein  möge.  Das  drönter  Recht  bestätigt  diese  Ver- 
muthung,  soferne  es  den  Freigelassenen,  welcher  sich  für 
freigeboren  ausgiebt,  ohne  den  Beweis  seiner  freien  Geburt 
erbringen  zu  können,  mit  dem  Verluste  seines  ganzen  Ver- 
mögens an  den  Freilasser,  und  überdiess  noch  mit  einer 
Busse  von  3  Mark  bedroht,  „falls  er  sie  nicht  abverdient"37). 
Augenscheinlich  ist  hier  an  eine  blose  Schuldknechtschaft 
gedacht,  bei  welcher  der  Schuldknecht  die  Schuld  durch 
seine  Arbeit  abbezahlen  kann;  mag  wohl  sein,  dass  das  ,,fe- 
nyta",  von  welchem  in  mehreren  der  oben  angeführten  Stellen 
in  geradezu  technischer  Weise  gesprochen  wird,  ganz  in  dem- 
selben Sinne  verstanden  werden  muss. 

Dass  in  bestimmten,  einzelnen  Fällen  derjenige,  welcher 
eine  Busse  verwirkt  hatte  und  nicht  zu  erlegen  vermochte, 
oder  für  welchen  ein  Anderer  eine  Auslage  gemacht  hatte, 
die  er  nun  widererstattet  wissen  wollte,  einseitig  in  Schuld- 
haft genommen  werden  konnte,  dürfte  nach  dem  Bisherigen 
keinem  begründeten  Zweifel  unterliegen;  keineswegs  ist  aber 
damit  auch  sofort  gesagt,  dass  auch  bei  allen  anderen  Schuld- 
verhältnissen der  Gläubiger  einfach  zur  Schuldhaft  greifen 
durfte,  wenn  er  auf  anderem  Wege  keine  Zahlung  erlangen 
konnte.  Es  wäre  ja  recht  wohl  denkbar,  dass  diese  Be- 
rechtigung nur  auf  die  Fälle  sich  erstreckt  hätte,  in  welchen 


veräaurum;  fe  sinu  hefir  hann  ok  fyrirgjört;  ebenda,  §.  67:  En  ef 
hann  vill  eigi  aptr  fara,  ta  leidl  hann  vitni  ä  hönd  hänom,  at  hann 
er  leysingi  hans,  ok  fcere  hann  aptr  hvärt  sem  hann  vill  lausan  eda 
bundinn,  ok  setja  hann  i  sess  hinn  sama,  Ear  sem  hann  var  fyrr. 

37)  FrjL.,  IV,    §.  10:   En  ef  hann  fser  sik  eigi  skirt,    J>ä  hefir 
hann  fyrirgjört  fe  sinu   öllu  vid*  skapdrottinn ,   ok   liggja  ä  3  merkr 
silfrmetnar,  nema  hann  launi  af  ser.    Ueber  den  letzteren  Ausdruck 
vgl.  Fritzner,  s.  v.  launa. 
[1874. 1.  Phil.  bist.  Cl.]  2 


18        Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  3.   Janmr  1874. 

sie  entweder  vom  Rechte  ausdrücklich  vorgesehen,  oder  aber 
vom  Schuldner  vertragsweise  zugestanden  war,  oder  dass  sie 
doch  wenigstens  nur  für  liquide  Schulden  gegolten  hätte. 
Unsere  Quellen  sprechen  sich  über  diesen  Punkt  ebensowenig 
aus  wie  über  die  andere  Frage,  ob  die  Schuldhaft  in  den 
Fällen,  in  welchen  sie  einseitig  verhängt  werden  durfte,  so- 
gleich primär,  oder  erst  dann  verwirklicht  werden  durfte, 
wenn  vorerst  die  Execution  in  das  Vermögen  des  Schuldners 
vergeblich  versucht  worden  war.  Allerdings  hat  sowohl 
Gjessing,  S.  254,  als  Fr.  Brandt,  S.  199,  und  von  Amira, 
S.  262 — 3,  ein  Anderes  annemen,  und  eine  Stelle  des  drönter 
Rechtes  hieher  beziehen  wollen,  welche  von  der  gerichtlichen 
Verfolgung  eines  einschichtigen  Mannes  handelt88);  indessen, 
wie  mir  scheint,  mit  Unrecht.  Die  Stelle  bespricht  den  Fall, 
da  Jemand  einen  einschichtigen  Menschen,  an  den  er  etwas 
zu  fordern  hat,  innerhalb  des  Volklandes  betrifft.  Giebt 
solchenfalls  der  angebliche  Schuldner  auf  Befragen  sein  Do- 
micil  richtig  an,  so  soll  nur  gefordert  werden  können,  dass 
er  durch  ein  „tak",  d.  h.  Realsicherheit  oder  Bürgschaft, 
dafür  eine  Gewähr  biete,  dass  er  sich  dem  gerichtlichen 
Verfahren  nicht  entziehen  werde89);  giebt  er  dagegen  sein 
Domicil  nicht  gehörig  an,  oder  giebt  er  zwar  dieses  an,  je- 
doch ohne  die  gesetzlich  zu  beanspruchende  Sicherheit  be- 
stellen zu  können,  soll  sofort  ein  schärferes  Verfahren  ein- 
treten. Der  Kläger  soll  nämlich  solchenfalls  seinen  Gegner 
in  Haft  nemen  dürfen,  jedoch  so,  dass  er  ihm  durch  die  an- 
zulegenden Fesseln  keinen  bleibenden  Schaden  thue;  er  soll 
sodann  mit  Rücksicht  auf  das  von  Jenem  benannte,  oder 
eventuell  von  ihm  selber  innerhalb  des  Volklandes  gewählte 


38)  FrjL.,  X,  §.  26—27;  vgl.  Fragment  II,  in  Norges  gamle 
Love,  II,  S.  512-13. 

39)  Vgl.  über  das  tak  Fr.  Brandt,  Om  forelöbige  Retsmidier 
i  den  gamle  norske  Reettergang,  in  dessen  Pröveforeleesninger,  S.  86 
und  fgg.,  sowie  von  Amira,  S.  329—45. 


Maurer:  Schiiläknechtschaft  nach  altnordischem  Hechte.        19 

Domicil  ein  Ding  berufen,  an  diesem  den  Gegner  gefangen 
vorführen,  und  sodann  durch  Zeugen  seine  Forderung  be- 
weisen. Zahlt  nun  der  Schuldner  nicht,  so  soll  ihn  der 
Gläubiger  seinen  Verwandten  zur  Auslösung  um  den  Betrag 
anbieten,  auf  welchen  die  Zeugen  ausgesagt  haben;  wollen 
ihn  aber  diese  nicht  auslösen,  so  soll  man  seine  Glieder  auf 
den  Betrag  der  Schuld  anschlagen,  und  zwar  so,  dass  mit 
den  minder  werthvollen  Gliedmassen  der  Anfang  gemacht 
werden  soll,  und  soll  den  Verwandten  dadurch  keine  Busse 
fällig  werden,  wenn  er  ihnen  nur  vorher  gehörig  zur  Aus- 
lösung angeboten  worden  war40).  Ich  verstehe  diese  Worte 
dahin,  dass  der  Gläubiger  dem  Schuldner  soviele  Gliedmassen 
abhauen  sollte,  bis  deren  Werth  unter  Zugrundelegung  ihrer 
strafrechtlichen  Tariflrung  dem  Betrage  der  Schuld  gleichkam, 
und  dass  den  Verwandten  kein  Wergeid  zu  entrichten  kom- 
men sollte,  wenn  dem  Manne  auch  diese  Verstümmelung  das 
Leben  kosten  würde;  nur  musste  insoweit  schonend  verfahren 
werden,  als  man  nicht  minder  entbehrliche  Glieder  angreifen 
durfte,  solange  noch  entbehrlichere  vorhanden  waren.  Gjes- 
sing  hat  dagegen,  wiewohl  an  der  Richtigkeit  solcher  Er- 
klärung zweifelnd,  diese  Stelle  dahin  deuten  wollen,  als  ob 
der  Schuldner,  zur  Schuldhaft  verurtheilt,  mit  seiner  Person 
das  Entgeld  für  die  Schuld  bilden  solle,  weil  er  denn  doch 
seinen  Verwandten  zu  wenig  werth  scheine,  als  dass  sie  für 
ihn  bezahlen  möchten,  und  von  Amira  ist  ihm  ohne  irgend 
welches  Bedenken  zu  äussern  gefolgt;  mir  scheint  indessen 
nicht  nur  der  W7 ortlaut  der  Stelle  ausschliesslich  die  erstere 
Auslegung  zuzulassen,  sondern  überdiess  auch  noch  die  Ver- 
gleichung  einer  weiteren  Stelle  dieselbe  zu  bestätigen.  Das 
ältere  Stadtrecht   nämlich  lässt  denjenigen,   welcher,   wegen 


40)  Die  Worte  lauten  in  Fr.  II:  En  ef  5eir  vilja  eigi  leysa  hann 
undan,  J>a  skal  meta  limi  hans  til  skuldar,  I>adan  fyrri  sem  hann  er 
üdy'rri,  ok  ügildr  fraendum,  ef  hann  er  bodmn  äd*r.  Im  Cod.  Resen. 
sind  einzelne  Buchstaben  ausgefallen  oder  mit  unrichtigen  vertauscht. 

2* 


20        Sitzung  der  philos.'phüol.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

gewisser  strafrechtlicher  Handlungen  verfolgt,  nur  seine  eigene 
Person  als  Sicherheit  zu  bieten  vermag,  über  Nacht  in  Eisen 
halten  und  den  folgenden  Morgend  vor  Gericht  stellen ;  wird 
er  hier  überführt,  und  kann  er  nicht  selber  zahlen,  so  soll 
er  seinen  Freunden  und  Verwandten  zur  Auslösung  ange- 
boten werden,  für  den  Fall  aber  dass  diese  solche  verweigern, 
soll  der  Gläubiger  berechtigt  sein  von  ihm  herunter  zu  hauen 
wie  er  will,  von  oben  oder  von  unten41).  Ich  vermag  diese 
letzteren  Worte,  welche  uns  in  ganz  gleichlautender  Weise 
noch  an  einer  zweiten  Stelle  begegnen  werden,  nur  auf  ein 
dem  Gläubiger  eingeräumtes  Verstümmelungsrecht  zu  be- 
ziehen, wie  diess  seinerzeit  J.  Grimm  bereits  gethan  hat42), 
und  demnach  in  denselben  nur  mit  etwas  anderen  Ausdrücken 
Dasselbe  gesagt  zu  sehen,  was  jene  andere  Stelle  wo  mög- 
lich noch  rauher  und  drastischer  bezeichnet  hatte.  Da  das 
Verfahren  mit  tak,  und  insbesondere  auch  das  Gefangensetzen 
des  Beklagten,  welcher  solches  nicht  zu  stellen  im  Stande 
war,  auch  dem  Rechte  des  Guladinges  bekannt  war43),  liegt 
kaum  ein  Grund  vor  zu  bezweifeln,  dass  dieses  auch  eben- 
sogut wie  das  drönter  Recht  dem  Gläubiger  für  den  aüs- 
sersten  Fall  diese  Verstümmelungsbefugniss  eingeräumt  haben 
werde;  um  so  zweifelhafter  will  mir  aber  erscheinen,  ob  in 
unserem  Falle  überhaupt  von  einer  Schuldknechtschaft  ge- 
sprochen werden  dürfe.  Freilich  gestatten  die  hiehergehörigen 
Stellen  dem  Gläubiger,  seinen  Schuldner  in  Haft  zu  nemen; 
aber  diese  Haft  ist  keine  Schuldhaft,  sondern  nur  bestimmt, 
die  Stellung  des  Gegners  vor  Gericht  zu  sichern,  wie  sich 
diess  am  Deutlichsten  aus  dem  Stadtrechte  ergiebt,  welches 
sie   nur   eine   einzige  Nacht   währen   lässt.     Weiterhin   aber 


41)  Bjark.  R.,  II,  §.  50:  |>a  skal  bjoä'a  hann  frsendum  ok  vinum 
undan  at  leysa.  Nu  ef  J>eir  bjoda  eigi  log  fyrir  hann,  ]>ä  skal  sakarä- 
beri  höggva  af  honum  hvärt  sem  hann  vill,  ofan  e£a  nedan. 

42)  Rechtsalterthümer,  S.  617. 

43)  GJL.,  §.  102. 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  "Rechte.        21 

wird  dem  Gläubiger,  nachdem  seine  Forderung  bewiesen, 
und  damit  das  gerichtliche  Verfahren  zu  Ende  ist,  für  den 
Fall  der  Nichtauslösung  des  Schuldners  durch  seine  Ver- 
wandten nicht  etwa  das  Recht,  denselben  auch  fernerhin  in 
Haft  zu  behalten,  sondern  nur  jenes  Verstümmelungsrecht 
eingeräumt,  welches,  wie  sich  unten  noch  zeigen  wird,  dem 
Gläubiger  einem  aufs  Aeusserste  widerspenstigen  Schuldknechte 
gegenüber  zustand.  Es  wurde  demnach  in  diesem  zweiten 
Stadium  gleich  mit  dem  aüssersten  Ende  angefangen,  zu 
welchem  die  Schuldknechtschaft  unter  Umständen  führen 
konnte,  und  war  somit  für  sie  selbst  auch  hier  wider  kein 
Platz.  Nur  soviel  wird  sich  also  meines  Erachtens  mit 
Sicherheit  behaupten  lassen,  dass  das  dem  Gläubiger  zuge- 
standene Verstümmelungsrecht  dazu  benützt  werden  konnte, 
den  insolventen  Schuldner  zur  vertragsweisen  Ergebung  in 
die  Schuldknechtschaft  zu  zwingen,  und  hierinn  mag  in  der 
That  dessen  praktische  Bedeutung  gelegen  haben. 

Minder  schwierig  ist  es,  die  Wirkungen  der  Schuld- 
haft festzustellen,  und  haben  wir  in  dieser  Beziehung  wider 
von  der  oben  besprochenen  Hauptstelle  in  den  Gulafringslög 
auszugehen44).  Bei  der  durch  Vertrag  begründeten  Schuld- 
knechtschaft bemessen  sich  aber  diese  Wirkungen  in  erster 
Linie  nach  den  beim  Vertragsabschlüsse  beliebten  Bedingungen, 
soferne  dieselben  anders  durch  Zeugen  bewiesen  werden 
konnten  46);  die  Bestimmungen  also,  welche  das  Rechtsbuch 
selbst  dieserhalb  enthält,  konnten  im  Vertragswege  modificirt 
werden,  und  kamen  nur  für  den  Fall  unverändert  zur  An- 
wendung, dass  eine  vertragsweise  Beseitigung  nicht  erfolgt, 
und  allenfalls  sogar  die  Schuldhaft  überhaupt  nicht  auf  einen 
Vertrag  begründet  war.  Man  scheint  aber  dem  Schuldknechte 
zunächst  noch  eine  Frist  verstattet  zu  haben,   binnen  deren 


44)  G*L.,  §.  71. 

45)  Halda  skal  slikt  allt  sem  menn  verda  ä  satter,  ok  vattar  vitu, 


22        Sitzung  der  pTiilos.-philol  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

er  sich  bemühen  mochte  die  Zahlung  seiner  Schuld  aufzu- 
treiben, und  durfte  derselbe,  solange  diese  währte,  und  so- 
lange also  nicht  feststand,  dass  die  Zahlung  auf  solchem 
Wege  nicht  zu  erlangen  war,  nicht  wie  ein  Unfreier  mit 
Schlägen  zur  Arbeit  angehalten  werden46);  war  dagegen  erst 
dieser  Versuch  mislungen,  so  trat  für  den  Schuldner  auch 
sofort  die  Schuldhaft  in  ihrer  vollen  Härte  ein.  Von  jetzt 
ab  ist  der  Schuldner  seinem  Gläubiger,  dessen  Frau  und 
dessen  Sklaven  gegenüber  ,, rechtlos",  d.  h.  er  hat  diesen 
gegenüber  für  Verletzungen  seiner  Person,  welche  sonst  mit 
einfachen  Busszahlungen  gesühnt  werden  müssten,  solche  nicht 
mehr  zu  beanspruchen,  wogegen  er  auch  seinerseits  keine 
Busse  mehr  zu  entrichten  hat,  wenn  er  jenen  Personen  solche 
geringere  Verletzungen  zufügt47);  von  jetzt  ab  also  unterliegt 
er  der  häuslichen  Zucht  seines  Gläubigers,  und  kann  von 
diesem  beliebig  körperlich  abgestraft  werden.  Fremden  ge* 
genüber  gilt  diese  Rechtlosigkeit  nicht,  vielmehr  haben  diese 
für  jede  dem  Schuldknechte  zugefügte  Verletzung  die  volle 
Busse  zu  entrichten,  wie  sie  diesem  mit  Rücksicht  auf  seinen 
Geburtsstand  zukommt;  indessen  soll  von  diesem  Betrage 
der  Gläubiger  soviel  vorwegnemen,  als  er  für  seinen  öber- 
knecht  zu  beziehen  hätte,  wenn  diesem  die  gleiche  Verletzung 
zugefügt  worden  wäre,  und  nur  der  Ueberrest  soll  an  den 
Schuldknecht  selbst  fallen  48).  Vollkommen  folgerichtig  spricht 
eine  andere  Stelle  für  den  Fall,  da  eine  der  Schuldhaft 
unterliegende   Frauensperson    fleischlich    verletzt   wird,    den 


46)  So  verstehe  ich  wenigstens  die  Worte:  Eigi  skal  hann  meäf 
höggum  rä#a  hanom  til  verka,  nema  hann  megi  eigi  fa  af  hanom 
skuld  sina. 

47)  En  sröan  er  hann  rettlauss  vi#  hann,  ok  hans  kono,  ok  man 
hans  allt,  ok  svä  hvert  J>eirra  vid*  annat. 

48)  En  ef  atoer  menn  ljösta  hann,  J>ä  a  hann  slikan  rett  a  han- 
om, sem  a  brytja  sinum;  sjalfr  a  hann  tat  er  auk  er  sliks  rettar, 
sem  hann  a  burd"  til.  En  jamndyrr  skal  bann  J>ä  at  rette,  sem  hann 
vsere  skuldlauss, 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Rechte,        23 

Satz  aus,  dass  der  Schuldige  zwar  die  volle  Busse  zu  ent- 
richten habe,  wie  sie  sich  nach  dem  Geburtsstand  berechne, 
dass  aber  der  Gläubiger  von  diesem  Betrage  soviel  wegnemen 
möge  als  er  für  die  gleiche  Kränkung  seiner  besten  Sklavinn 
zu  bekommen  hätte,  wogegen  der  geborene  Erbe  des  Weibes, 
welcher  an  und  für  sich  die  volle  Busse  zu  empfangen  hätte, 
nur  den  sich  hienach  ergebenden  Mehrbetrag  erhält49).  Eine 
eigenthümliche  Schwierigkeit  ergiebt  sich  dabei  für  den  Fall, 
da  ein  in  der  Schuldknechtschaft  begriffenes  Weib  sich  mit 
einem  unfreien  Manne  vergeht.  Oben  war  bereits  zu  be- 
merken Gelegenheit50),  dass  freigeborene  Weiber,  welche  sich 
eines  solchen  Fehltrittes  schuldig  machten,  der  Schuldknecht- 
schaft des  Königs  verfielen,  aus  welcher  sie  sich  durch  eine 
Zahlung  im  Betrage  von  3  Mark  zu  lösen  hatten;  auf  die 
skuldarkona  angewandt,  musste  diese  Regel  aber  zu  einem 
Conflicte  der  Rechte  des  Königs  mit  denen  des  Schuldglaü- 
bigers  führen.  Da  entscheidet  nun  unsere  Stelle,  dass  des 
Königs  Amtmann  Nichts  an  das  Weib  zu  fordern  haben  solle, 
solange  dieses  nicht  seine  Schuld  abbezahlt  habe51),  und  sie 
lässt  demnach  das  Recht  des  Königs  dem  Rechte  des  Privat- 
glaübigers  nachstehen,  ganz  wie  derselbe  Grundsatz  auch  in 
einer  Reihe  von  anderen  Fällen  zur  Anwendung  kommt52). 
Eine  weitere  Besonderheit,  welche  die  Busssachen  der  Schuld- 
knechte zeigen,  ist  ferner  die,  dass  der  König  für  die  Ver- 
letzung eines  solchen  nur  unter  der  Voraussetzung  ein  Ge- 
wette  erhalten  sollte,   dass  der  Verletzte  selbst  einen  Theil 


49)  G5L.,  §.  198:  Madr  a  at  taka  a  skuldarkono  sinni  sh'kan 
rett  sem  a  ambott  sinni  bezto,  erfingi  $at  er  auk  er,  sliks  rettar  sem 
hon  ä  burfr  til. 

50)  oben,  S.  12,  Anm.  25. 

51)  GJ>L.,  §.  71:  En  ef  skuldarkona  legsk  med-  fcrsele,  J»a  ä  är- 
madr  ecki  a  henne  fyrr  en  hon  hafe  goldet  hina  skuld. 

.52)  vgl.  z.  B.  GJL.  §.  162;  189;  FrjL.,  IV,  §.  22;  Bjark.  R, 
II,  §.  33,  und  III,  §.  91. 


24        Sitzung  der  pliilos.-philol  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

der  Busse  bezog53);  für  Verletzungen  also,  welche  dem 
Schuldknechte  von  seinem  Gläubiger  oder  dessen  Hausgenossen 
zugefügt  wurden,  wurde  kein  Gewette  bezahlt.  Im  Uebrigen 
soll  der  Gläubiger  seinen  Schuldknecht  wesentlich  ebenso 
behandeln,  wie  er  seine  unfreien  Leute  behandelt.  Auf  der 
einen  Seite  darf  er  ihn  also  zur  Arbeit  anhalten  ganz  wie 
diese,  und  zwar  nötigenfalls  sogar  unter  Anwendung  von 
Schlägen;  auf  der  anderen  Seite  aber  soll  er  ihm  auch  ein 
Peculium  (orka)  verstatten,  wie  den  Sklaven  ein  solches  ver- 
stattet zu  werden  pflegte54).  Der  Ausdruck  „neyta",  ge- 
messen, gebrauchen,  wird  in  der  ersteren  Beziehung  gebraucht, 
ganz  wie  wir  an  einer  Reihe  anderer  hieher  gehöriger  Stellen 
die  Bezeichnung  „fenjta"  in  gleichem  Sinne  gebraucht  fanden55). 
Das  letztere  Wort  wird  anderwärts  auch  für  die  vermögens- 
rechtliche Ausnützung  von  Unfreien  verwendet56),  und  sogar 
für  den  Gebrauch  lebloser  Güter,  wie  etwa  von  Strandholz57) 
oder  Strandwalen58),  oder  auch  anderer  Fahrhabe59);  es  be- 
zeichnet sehr  charakteristisch  die  sachenrechtliche  Behandlung 
des  Schuldknechtes,  lässt  uns  aber  allerdings  darüber  im 
Unklaren,  ob  der  Ertrag  seiner  Arbeit  ihm  auf  seine  Schuld 
angerechnet  worden  sei  oder  nicht.  Wird  der  Schuldner 
während  der  Dauer  seiner  Schuldknechtschaft  arbeitsunfähig, 


53)  Engan  ä  konongr  rett  a  skuldarmamie,  J>ar  sem  själfr  liann 
ä  engan  rett  a  ser. 

54)  Nu  skal  hann  neyta  skuldarmann  sinn  sem  J>rsel  sinn,  ok  sva 
foera  hann  til  verka;  Ja  skal  orko  gefa  hänom  sem  Jraelom  sinum. 

55)  vgl.  Frl. L.,  II,  §.2;  X,  §.39;  Bjark.  R.,  III,  §.163;  E*L., 
I,  §.  45;  oben,  S.  9,  Anm.  18  und  15,  Anm.  34,  dann  16,  Anm.  35. 

56)  Kgsbk,  §.  111,  S.  191;  Vigsl.,  cap.  108,  S.  155;  so  wohl 
auch  Gl>L.,  §.  20,  wo  jedoch  ein  „eigi"  zu  feien  scheint. 

57)  Landab rb.,  cap.  52,  S.  357. 

58)  Arna  bps  s.,  cap.  58,  S.  760. 

59)  Flateyjarbok,  II,  S.  274;  die  geschichtl.  Olafs  s. 
helga,  cap.  131,  S.  154,  Heimskr.,  cap.  151,  S.  408,  und  FMS, 
IV,  cap.  137,  S.  340,  brauchen  das  Adjectiv  fenytr  oder  feneytr. 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Hechte.         25 

so  hat  ihn  der  Gläubiger  zu  alimentären ;  doch  kann  derselbe 
von  der  ihm  drohenden  Verpflichtung  sich  dadurch  frei 
machen,  dass  er  demselben  seine  Schuld  bereits  zu  einer  Zeit 
erlässt,  in  welcher  er  noch  arbeitstüchtig  ist,  und  in  welcher 
ihm  die  Schuldknechtschaft  somit  noch  Vortheil,  und  nicht 
blos  Nachtheil  bringt.  Die  Alimentationspflicht  trifft  solchen- 
falls die  Verwandten  des  bisherigen  Schuldknechtes,  wie  wenn 
dieser  niemals  in  Schuld  genommen  worden  wäre60).  Erzeugt 
ein  Schuldknecht  während  der  Dauer  seiner  Schuldknechtschaft 
Kinder,  so  liegt  deren  Unterhalt  zunächst  ihm  selber  ob, 
ganz  wie  auch  der  Unfreie  für  den  Unterhalt  seiner  Kinder 
in  erster  Linie  mit  seinem  Peculium  aufzukommen  hat61); 
eventuell  aber  hat  hier  der  Gläubiger  wie  dort  der  Eigen- 
tümer die  Alimentationslast  zu  übernemen.  Doch  soll  beim 
Schuldknechte  letzterenfalls  der  Betrag  der  Schuld,  für  welche 
er  verhaftet  ist,  um  den  vollen  Betrag  der  ausgelegten  Ali- 
mentationskosten  sich  vermehren,  und  von  dem  Augenblicke 
an,  da  die  Schuld  zufolge  dieser  Vermehrung  den  vollen 
Werth  des  Schuldknechtes  zu  übersteigen  beginnt,  die  Ali- 
mentation etwaiger  weiterer  Kinder  desselben  seine  Ver- 
wandten und  nicht  mehr  seinen  Gläubiger  treffen62).  Wie 
dabei  hinsichtlich  der  Abschätzung  des  Werthes  verfahren 
wurde,   wird  uns  nicht  gesagt;    indessen  kommt   auch  sonst 

60)  Nu  faer  hann  eigi  goldit  skuld,  ok  eldisk  hann  ä  hendr  J>eini 
manne  er  ä  at  honum  skuld,  ok  verdr  hann  at  ümaga,  J>ä  er  hann 
hans  ümage.  Hann  a  ok  kost  at  gefa  hanom  skuld  meäan  hann  er 
verkfcerr;  )>a  hverfr  hann  ä  hendr  frsendom,  Jo  at  hann  verär  at 
ümaga. 

61)  vgl.  GJ>L.,  §.  57. 

62)  Nu  ef  skuldarmao"r  getr  börn,  ])ä  er  vel  ef  hann  ä  själfr  fe 
til  at  fela  börn  sin  af  hendr  ser;  en  ef  hann  a  eigi  sjalfr  fe  til,  ]>ä 
skal  sä  fela,  er  skuld  ä  at  hanom ;  5ä  eyksk  hänom  skuld  sva  miklu 
sem  hann  felr  börn  hans  af  hendr  ser ,  sy  sli  J>eir  bäfrer  um  sta^  barne- 
Nu  skal  skuld  aukast  hänom  til  hann  fcykkir  fulldyrr  at  veröe.  En 
ef  hann  gerir  börn  sva  mörg,  H  skolo  frsendr  hans  taka  vi#  börnom 
stöan,  hvegi  mörg  sem  eru. 


26        Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

die  Taxirung  des  Werthes  von  Menschen  im  Rechtsbuche 
vor63),  sodass  dieselbe  an  und  für  sich  nichts  Auffälliges  hat. 
In  einem  Punkte  unterscheidet  sich  übrigens  die  Behandlung 
des  Schuldknechtes  sehr  wesentlich  von  der  des  Unfreien. 
Der  Gläubiger  durfte  nämlich  seinen  Schuldner  nicht  als 
Sklaven  verkaufen,  wenn  er  nicht  ganz  denselben  Strafen 
verfallen  wollte,  mit  denen  der  Verkauf  jedes  anderen  Freien 
bedroht  war,  es  sei  denn  dass  dieser  sich  seinem  Dienste 
durch  die  Flucht  zu  entziehen  suchte;  aber  in  diesem  letzteren 
Falle  verfiel  der  Schuldner,  wie  sich  unten  noch  zeigen  wird, 
ohnehin  der  Unfreiheit,  sodass  auch  solchenfalls  unsere  Regel 
keine  Ausname  erleidet 64).  Den  Verkäufer  sowohl  als  den 
Käufer,  wenn  anders  auch  dieser  letztere  um  den  wahren 
Sachverhalt  wusste,  soll  eine  Strafzahlung  von  je  40  Mark 
treffen,  und  wenn  dabei  gesagt  wird,  dass  der  Landherr 
(lendr  maSr),  der  eines  solchen  Vergehens  sich  schuldig  macht, 
diese  Zahlung  halb  an  den  König  und  halb  an  die  Angehörigen 
des  Volklandes  entrichten  solle,  der  Amtmann  (arma8r)  des 
Königs  dagegen  ganz  an  diese  letzteren,  so  ist  diess  nur  der 
Ausfluss  einer  Regel,  welche  auch  in  anderen  Fällen  beobachtet 
wurde 65) ,  und  welche  mit  der  verschiedenen  Würde  und 
dienstlichen  Stellung  beider  Classen  königlicher  Bediensteter 
zusammenhängt. 


63)  vgl.  GJ>L.,  §.  57. 

64)  Nu  ef  madr  selr  skuldarmann  mansale,  nema  hann  laupi  or 
8kuld,  t>ä  er  hann  sekr  40  marka,  ok  svä  hverr  er  frjälsan  mann  selr. 
En  ef  lendrmadr  selr,  J>ä  skal  hann  halft  kononge  gjalda,  en  hälft 
fylkismönnum.  En  ef  ärmaö"r  konongs  selr,  M  skal  hann  gjalda 
40  marka  fylkismönnum.  —  —  Engl  madr  skal  selja  frjälsan  mann 
mansale,  en  ef  hann  verehr  at  I>vi  kunnr  ok  sannr,  )>a  skal  hann  gjalda 
40  marka,   ok  svä  hinn  er  kaupir,   ef  hann  veit,   at  hann  var  frjäls. 

Ef  mad*r  selr  mann  frjälsan  ä  heidi  t  land,  l»ä  skal  hann  gjalda 

40  marka,  ok  koma  hänom   aptr,   ellar  gjalda  hann   gjöldum  aptr 
fraendum  häns. 

65)  vgl.  z.  B.  GJ>L.  §.  152  und  253. 


Maurer:  SchuldTcnechtschaft  nach  altnordischem  Hechte.         27 

Es  kann  nun  aber  vorkommen,  dass  der  eine  oder  an- 
dere Theil  die  Beendigung  der  Schuldknechtschaft 
durch  Zahlung  der  Schuld  herbeizuführen  wünscht,  für  welche 
der  Schuldknecht  verhaftet  ist,  und  auch  für  diesen  Fall  ist 
in  unserer  Stelle  Fürsorge  getroffen.  Ist  es  der  Schuldner, 
welcher  dem  Verhältnisse  ein  Ende  machen  möchte,  so  gilt 
es  für  ihn  eben  einfach  die  Mittel  zur  Zahlung  aufzutreiben. 
Er  kann  aber  von  seinem  Gläubiger  auf  einen  halben  Monat 
Urlaub  verlangen,  um  sich  innerhalb  des  Volklandes  um  diese 
umzuthun;  überschreitet  er  jedoch  diese  Grenzen,  oder  ver- 
lässt  er  heimlich  seinen  Dienst,  so  wird  diess  als  widerrecht- 
liche Flucht  angesehen,  und  zieht  ihm  die  Strafe  der  Sklaverei 
zu66).  Ist  es  umgekehrt  der  Gläubiger,  welcher  sein  Geld 
heraus  verlangt,  so  hat  widerum  zunächst  der  Schuldknecht 
selbst  dafür  zu  sorgen,  wie  er  es  auftreibe;  thut  er  diess 
nicht,  so  mag  ihn  der  Gläubiger  vorab  seinen  Verwandten 
anbieten,  sodann  aber,  wenn  ihn  diese  nicht  kaufen  wollen 
oder  können,  ihn  im  Inlande  verkaufen  an  wen  er  will,  je- 
doch nicht  um  einen  höheren  Preis  als  den  Betrag  der  Schuld, 
für  welche  er  verhaftet  ist67).  Während  demnach  eine  Ver- 
aüsserung  des  Schuldknechts  als  Sklaven  bei  strenger  Strafe 
verboten  war,  wurde  ein  Verkauf  desselben  als  Schuldknecht, 
oder  anders  ausgedrückt:  eine  Veraüsserung  der  Schuld,  welche 
auf  ihm  ruhte,  mit  dem  diese  Schuld  sichernden  Rechte  an 
seiner  Person,  allerdings  als  zulässig  betrachtet,  wenn  auch 

66)  Nu  skal  hann  I>ar  vera,  ok  fä  $a  aura  er  hann  er  fastr;  ef 
hann  vill  eigi  5ar  hafa  verit,  J>a  skal  hann  eiga  uinhvarf  hälfan 
manad4  innan  fylkis  at  sysla  um  skuld  l>a  er  hann  a  at  gjalda.  En  ef 
hann  ferr  huldu  hoffte,  eda  6r  fylki,  I»ä  er  hann  J>r»ll,  ef  hinn  tekr 
hann,  er  skuld  a  at  hänom. 

67)  Nu  vill  sa  aura  hafa  af  skuldarmanne  sinom,  $ä  er  vel  ef 
hann  sy'slar  själfr  um.  En  ef  hann  vill  eigi  själfr  um  sysla,  M  skal 
hann  bjofta  frsendom ;  l>ä  er  vel  ef  ]>eir  vilja  hafa  keypt,  ellar  skal 
hann  selja  hann  hvert  er  hann  vill  innan  lauds,  ok  selja  at  aurum 
eigi  meirum  en  hann  var  fastr. 


28        Sitzung  der  philos.-pMlöl.  Glasse  vom  3.  Januar  1874. 

nur  unter  gewissen  beschränkenden  Voraussetzungen.  Auch 
der  Fall  wird  ferner  speciell  vorgesehen,  da  sich  der  Schuld- 
knecht gegen  seinen  Gläubiger  widerspenstig  erweist  und  nicht 
für  ihn  arbeiten  will;  die  härtesten  Massregeln  werden  für 
diesen  Fall  in  Aussicht  genommen.  Der  Gläubiger  soll 
nämlich  seinen  trotzigen  Schuldner  zum  Ding  führen,  und 
hier  seinen  Verwandten  zur  Auslösung  anbieten;  wollen  oder 
können  ihn  diese  aber  nicht  auslösen,  so  darf  der  Gläubiger 
von  ihm  beliebig  welche  Stücke  herunterhauen,  sei  es  nun 
von  oben  oder  von  unten,  d.  h.  er  darf  ihn  beliebig  ver- 
stümmeln68). Die  letzteren  Worte  auf  ein  bloses  Züchtigungs- 
recht  zu  beziehen,  wie  neuerdings  versucht  wurde69),  scheint 
mir  nicht  zulässig;  der  Wortlaut  der  Stelle  sowohl  als  die 
Vergleichung  zweier  anderer,  oben  bereits  besprochener 
Stellen  scheint  mir  für  die  obige  Deutung  zu  sprechen,  und 
das  nochmalige  Anbieten  an  die  Verwandtschaft,  an  welchem 
man  Anstoss  genommen  hat,  dürfte  sich  vollkommen  befrie- 
digend aus  dem  neuen  und  ungleich  härteren  Prsejudice  er- 
klären, welches  in  diesem  Falle  an  die  Verweigerung  der 
Auslösung  sich  knüpfte.  —  Endlich  berücksichtigt  unsere 
Stelle  auch  noch  die  Möglichkeit,  dass  ein  freier  Mann  als 
Schuldknecht  behandelt  wird,  ohne  doch  in  rechtsgültiger 
Weise  in  Schuldhaft  genommen  worden  zu  sein70).  Ein  solcher, 
heisst  es,  soll  zum  Ding  gehen,  und  sich  hier  aus  der  Schuld 
ziehen,  ohne  dass  er  zu  solchem  Behufe  Jemanden  eine  Ladung 
zugehen   zu   lassen   brauchte;    aller  Wahrscheinlichkeit  nach 


68)  Nu  bydr  maJr  Erjot  Jeim  er  skuld  a  at  hanom,  ok  vill  eigi 
vinna  fyrir  hanom,  foere  haim  a  I>ing  ok  bjofre  fraendom  at  leysa  hann 
6r  skuld  Jeirri.  Nu  vi! ja  freendr  eigi  leysa  hann,  li  skal  sa  er  skuld 
ä  at  hanom,  eiga  kost  at  höggva  af  hanom  hvärt  sem  hann  vill,  ofan 
eda  nefran. 

69)  von  Amira,  S.  265. 

70)  Nu  kemr  frjäls  madr  i  skuld,  ok  er  eigi  rett  tekinn  i,  Ja 
skal  hann  fara  a  5ing,  ok  brigda  sik  6r  skuld;  J»arf  hann  engum 
manne  at  stefna  til. 


Maurer:  SchuldJcnechtschaft  nach  altnordischem  Hechte.        29 

will  demnach  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  der  angebliche 
Gläubiger  am  Dinge  anwesend  oder  nicht  anwesend  war,  der 
blosen  am  Dinge  vorgebrachten  Erklärung  des  angeblichen 
Schuldknechtes  die  Wirkung  beigelegt  werden,  dass  derselbe 
einstweilen  als  von  der  Schuldhaft  frei  zu  gelten  hat,  bis 
der  Gegner  den  Beweis  ihrer  rechtmässigen  Begründung  er- 
bringt. Ein  derartiger  Satz  wird  aber  dadurch  begreiflich, 
dass  die  vertragsmässige  Begründung  der  Schuldhaft  volle 
Publicitset  voraussetzte,  und  dass  doch  wohl  auch  bei  deren 
einseitiger  Verhängung,  soweit  solche  überhaupt  zulässig  war, 
eine  nachträgliche  öffentliche  Bekanntmachung  nothwendig 
gewesen  sein  wird,  obwohl  allerdings  unsere  Quellen  dieses 
Erfordernisses  keine  Erwähnung  thun. 

Man  sieht,  das  Bisherige  lässt  die  Stellung  sehr  genau 
erkennen,  welche  der  Schuldknechtschaft  im  altnorwegischen 
Rechte  eingeräumt  war.  Auf  der  einen  Seite  war  dieselbe  der 
Unfreiheit  sehr  änlich  gestaltet,  wie  denn  zumal  die  Ver- 
pflichtung des  Schuldners,  für  den  Gläubiger  zu  arbeiten, 
die  Beschränkung  seiner  Freizügigkeit,  seine  Rechtlosigkeit 
dem  Gläubiger  und  seinen  Hausgenossen  gegenüber,  dann 
der  dem  Gläubiger  eingeräumte  ßussbezug  für  seine  Verletz- 
ung den  Schuldknecht  dem  Sklaven  sehr  nahe  rückt.  Auf 
der  anderen  Seite  werden  aber  beide  Dienstverhältnisse  doch 
wider  scharf  geschieden,  wie  sich  diess  zumal  darinn  zeigt, 
dass  unter  Umständen  der  Schuldknecht  zur  Strafe  für  sein 
widerrechtliches  Verhalten  zum  Unfreien  gemacht  wird,  und 
dass  dessen  Verkauf  als  Schuldknecht  unter  Umständen  er- 
laubt ist,  während  sein  Verkauf  als  Unfreier  der  strengsten 
Strafe  unterliegt.  Es  kann  nicht  schwer  halten  den  Punkt 
ausfindig  zu  machen,  auf  welchem  sich  beide  Institute  zweien. 
Die  Unfreiheit  ist  auf  die  Dauer  berechnet;  sie  drückt  den 
ihr  Unterworfenen  Zeitlebens,  und  geht  selbst  für  alle  Zukunft 
auf  dessen  Nachkommen  über,  bis  ihr  etwa  eine  rechtsförm- 
liche Freilassung  ein  Ende  macht,   deren  Eintritt  doch  rein 


30        Sitzung  der  phüos.-pliilol.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

aüsserlich  in  den  Bestand  des  Verhältnisses  eingreift,  ohne 
irgendwie  in  dessen  Natur  begründet  zu  sein.  Die  Schuld- 
knechtschaft dagegen  ist  ihrer  innersten  Natur  nach  nur  zu 
vorübergehendem  Dasein  berufen;  sie  steht  und  fällt  mit  der 
Schuldforderung,  zu  deren  Gunsten  sie  entstanden  ist,  und 
wie  bei  der  Eingehung  eines  Schuldverhältnisses  bereits  dessen 
Untergang  durch  Zahlung  der  Schuld  ins  Auge  gefasst  ist, 
so  trägt  demnach  auch  die  Schuldhaft  von  Anfang  an  den 
Keim  ihrer  Auflösung  in  sich.  Mit  anderen  Worten:  die 
Freiheitsrechte,  welche  dem  Unfreien  fehlen,  sind  bei  dem 
Schuldknechte  nur  suspendirt,  und  selbst  während  der  Zeit, 
in  welcher  sie  suspendirt  sind,  muss  doch  immerhin  die  stets 
vorhandene  Möglichkeit  ihres  sofortigen  Widerauflebens  im 
Auge  behalten,  und  die  Thatsache  anerkannt  bleiben,  dass 
der  verhaftete  Mann  im  letzten  Grunde  seines  Wesens  eben 
doch  frei,  nicht  unfrei  sei.  Ein  gewisser  Zwiespalt  kommt 
von  hier  aus  ganz  unvermeidlich  in  das  letztere  Institut  herein, 
und  wenn  sich  zwar  alle  Seiten  seiner  rechtlichen  Ausprägung 
vollkommen  folgerichtig  aus  dessen  doppelter  Natur  ableiten 
lassen,  so  lässt  sich  doch  nicht  verkennen,  dass  die  Grenze, 
bis  zu  welcher  man  den  einen  und  den  andern  der  beiden 
streitenden  Gesichtspunkte  durchführen  wollte,  im  Einzelnen 
eine  willkürlich  gezogene  war,  und  dass  das  Institut  somit 
auch  recht  wohl  eine  mehrfach  andere  Gestalt  hätte  annemen 
können,  ohne  darum  minder  consequent  ausgebildet  zu  er- 
scheinen. —  Praktisch  genommen  verfolgt  die  Schuldknecht- 
schaft ferner  den  Zweck  der  Sicherstellung  einer  Forderung, 
und  sie  tritt  ebendarum  dem  Pfandrechte  an  die  Seite;  wenn 
wir  aber  im  altnorwegischen  Rechte  eine  doppelte  Art  der 
Verpfändung  unterschieden  sehen,  so  ist  es  die  malajörS 
oder  forsölujörS,  nicht  das  veS,  deren  Analogie  sie  folgt71). 


71)  vgl.  L.  M.  B.  Aubert,  Kontraktspantets  historiske  Udvikling 
isser  i  dansk  og  norsk  Ret  (1872),  und  meine  Bemerkungen  über 
diese  Schrift  in  der  Krit.  Vierteljahresschrift,  Bd.  XV,  S.  237  u.  fgg. 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Rechte.        31 

Von  einem  Verfallen  des  Pfandes  im  Falle  nicht  rechtzeitiger 
Tilgung  der  Schuld,  wie  solches  beim  veS  eintrat,  war  bei 
der  Schuldknechtschaft  nicht  die  Rede;  die  Sicherung  des 
Gläubigers  beruhte  bei  ihr  vielmehr  ganz  wie  bei  jener 
ersteren  Art  der  Verpfändung  lediglich  auf  dem  Besitze  und 
Genüsse  des  Pfandobjectes,  auf  dem  Einflüsse  welchen  die 
Entbehrung  dieses  Besitzes  auf  den  Willen  des  Schuldners 
ausüben  musste,  endlich  auch  auf  jenem  bedingten  und  be- 
schränkten Distractionsrechte,  welches  dem  Gläubiger  einge- 
räumt war.  Interessant  wäre  zu  wissen,  ob  die  Arbeit,  welche 
der  Schuldknecht  während  der  Dauer  seiner  Schuldhaft  ver- 
richtete, ihm  auf  seine  Schuld  angerechnet  wurde  oder  nicht. 
Der  an  einer  der  obigen  Stellen  gebrauchte  Ausdruck  „launa 
af  ser"72)  möchte  für  die  bejahende,  der  Umstand  dass  unsere 
Rechtsbücher  nirgends  Vorschriften  über  die  Feststellung  des 
Werthes  der  Arbeit  u.  dgl.  enthalten,  umgekehrt  für  die  ver- 
neinende Antwort  sprechen;  mag  sein,  dass  es  auch  in  dieser 
Beziehung  änlich  stand  wie  bei  der  mälajörS,  bei  welcher 
die  aus  dem  verpfändeten  Lande  gezogenen  Früchte  ur- 
sprünglich nicht  auf  die  Schuld  verrechnet  worden  waren, 
wahrend  später  in  dieser  Beziehung  der  Gebrauch  schwankte. 
Jedenfalls  erinnert  aber  die  für  die  Eingehung  der  Schuld- 
knechtschaft vorgeschriebene  Publicitaet,  sowie  die  Notwen- 
digkeit, den  Erben  des  Schuldners  dabei  den  Einstand  an- 
zubieten, wider  an  die  Vorschriften  über  die  Begründung 
jenes'  Immobiliarp fandrechtes ;  wenn  ferner  Weiber  nur  mit 
Zustimmung  ihrer  Verwandtschaft  sich  in  Schuld  geben  dürfen, 
so  wird  man  nicht  umhin  können  sich  zu  erinnern,  dass  zwar 
unsere  norwegischen  Rechtsbücher  die  Weiber  bei  der  Ver- 
aüsserung  von  Liegenschaften  nicht  ausdrücklich  an  die  Mit- 
wirkung eines  Geschlechtsvormundes  binden,   aber  doch  das 


72)  vgl.  oben,  S.  17,  Anm.  37. 


32         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

isländische  diese  zu  solchem  Behufe  fordert73),  worinn  denn 
doch  nur  ein  Ueberrest  der  älteren  norwegischen  Rechts- 
anschauung erkannt  werden  kann.  Vollkommen  consequent 
liess  sich  freilich  die  Analogie  des  Immobiliarpfandrechtes 
bei  der  Schuldknechtschaft  nicht  durchführen,  da  die  Eigen- 
schaft des  Pfandobjectes  als  einer  Person,  nicht  Sache,  bei 
dieser  eben  doch  gar  manche  Eigentümlichkeit  bedingte. 

Zum  Schlüsse  mag  noch  bemerkt  werden,  dass  die 
Schuldknechtschaft  in  der  späteren  norwegischen  Ge- 
setzgebung nur  noch  in  sehr  abgeschwächter  Gestalt  auf- 
tritt. Nach  dem  gemeinen  Landrechte,  und  ebenso  nach  der 
Jönsbök74),  soll  nämlich  der  Gläubiger  von  einem  Schuldner, 
welcher  unbescholtenen  Rufs  und  erweislichermassen  durch 
Schiffbruch,  Feuer  oder  einen  anderen  derartigen  Unglücks- 
fall um  sein  Vermögen  gekommen  ist,  nicht  mehr  fordern 
dürfen  als  das  eidliche  Versprechen,  dass  er  seine  Schuld 
sofort  berichtigen  werde,  sowie  ihm  Gott  zu  den  nöthigen 
Mitteln  verhelfe.  Kann  sich  dagegen  der  Schuldner  auf  keine 
derartige  Unglücksfälle  berufen,  so  mag  ihn  der  Gläubiger 
in  Haft  nemen  und  zum  Ding  führen;  hier  hat  er  ihn  sodann, 
seiner  Fesseln  entledigt,  seinen  Verwandten  zur  Auslösung 
um  den  Betrag  der  Schuld  anzubieten,  und  wenn  diese  ihn 
auszulösen  ablehnen,  wird  ihm,  wenn  er  anders  arbeitsfähig 
ist,  durch  Urtheil  und  Recht  die  Verpflichtung  auferlegt, 
seine  Schuld  durch  Arbeit  abzuverdienen,  jedoch  so,  dass  er 
seinen  Verdienst  da  suchen  mag  wo  er  ihn  findet,  und  nur 
für  den  Fall,  dass  er  sich  dieser  Verpflichtung  durch  die 
Flucht  zu  entziehen  sucht,  einer  im  Processwege  zu  reali- 
sir enden  Strafe  verfällt.     Im  gemeinen  Stadtrechte  kehrt  im 


73)  Kgsbk,  §.  152,  S.  45;  Festa>.,  cap.21,  S.  334,  undLanda- 
brb.,  cap.  2,  S.  214—16. 

74)  Landslög,  Kaupab.,  §.  5;  Jonsbok,  Kaupab.,  §.  7. 
Die  Jarnsifra  enthält  überhaupt  keine  hieher  bezüglichen  Bestim- 
mungen. 


Maurer:  Schiddknechtschaft  nach  altnordischem  Rechte.        33 

Wesentlichen  dieselbe  Bestimmung  wider75);  nur  wird  sie, 
von  einigen  prozessualischen  Besonderheiten  abgesehen,  dahin 
modificirt,  dass  dem  flüchtigen  Schuldner  statt  einer  unbe- 
stimmten Strafe  die  Rechtlosigkeit  angedroht  wird.  Von 
einer  Schuldhaft  ist  demnach  hier  im  Grunde  überhaupt  nicht 
mehr  die  Rede,  und  ebendarum  wird  man  diese  späteren 
Rechtsvorschriften  auch  nicht  dazu  benützen  dürfen,  um  auf 
die  allgemeine  Verwendung  der  Schuldknechtschaft  als  Voll- 
streckungsmittel bei  beliebig  welchen  Schuldforderungen  im 
älteren  Rechte  Schlüsse  zu  ziehen. 

IL  Das  isländische  Recht. 
Die  Terminologie  des  isländischen  Rechts  ist  in  Bezug 
auf  unser  Institut  ziemlich  dieselbe  wie  die  des  norwegischen; 
doch  fehlt  es  nicht  an  einzelnen  geringen  Verschiedenheiten 
des  Sprachgebrauches.  So  wird  z.  B.  für  die  Schuldknechte 
vergleichsweise  selten  die  einfache  Bezeichnung  skuldar- 
menn  gebraucht76),  während  regelmässig  die  in  solenner 
Weise  verstärkte  Form  lögskuldarmaSr,  lögskuldar- 
kona  verwendet  steht;  als  skuldfastr  oder  skyldfastr 
wird  derjenige  bezeichnet,  der  der  Schuldhaft  unterliegt77), 
und  als  skuldfesta  das  Versetzen  eines  Menschen  in  die 
Schuldhaft78),  sowie  als  skuldfestr  der  Act  dieses  Ver- 
setzens79).  Eine  Reihe  anderer  Ausdrücke,  welche  theils  die 
Begründung  der  Schuldknechtschaft,  theils  das  Verharren  in 
derselben,  oder  wider  die  Lösung  aus  derselben  zu  bezeich- 
nen pflegen,  wird  unten  noch  gelegentlich  anzuführen  sein. 

75)  Bjark.  R.,  Kaupab.,  §.  13. 

76)  z.  B.  Kgsbk.  §.  9,  S.  26;  §.  14,  S.  31;  §.  44,  S.  78;  §.  110, 
S.  189;  KrR.  hinn  gamli,  cap.  18,  S.  94;  cap.  23,  S«  110—12; 
Vigslofri,  cap.  111,  S.  162. 

77)  Kgsbk,  §.  128,  S.  4;  §.  96,  S.  171;  dmagab.,  cap.  1, 
S.  233;  Vigslotfi,  cap.  36,  S.  70. 

78)  Kgsbk,  §.  128,  S.  4;  Omagab.,  cap.  1,  S.  233;  Festal»., 
cap.  47,  S.  362—3. 

79)  Kgsbk,  §.  44,  S.  78;  dann  FestaJ.,  cap.  48,  S.  363, 
[1874,1.  Phil.  bist.  Cl.]  3 


34  Sitzung  der  yhüos.-philöl.  Classe  vom  3.  Januar- 1874, 

Auch  die  rechtliche  Ausprägung  der  Schuldknechtschaft 
war  auf  Island  eine  ziemlich  änliche  wie  in  Norwegen;  da 
dieselbe  aber  in  den  isländischen  Rechtsbüchern  immer  nur 
gelegentlich  erwähnt,  dagegen  nirgends  zusammenhängend 
besprochen  wird,  ist  es  nicht  leicht,  über  dieselbe  völlig  ins 
Klare  zu  kommen,  und  zwar  macht  auch  hier  wider  vor 
Allem  die  Frage  nach  der  Begründung  der  Schuldhaft 
Schwierigkeiten.  Die  einzelnen  Fälle,  in  welchen  diese  in 
den  Rechtsbüchern  besprochen  wird,  sind  folgende.  Wo  im- 
mer Jemand  verpflichtet  ist  die  Alimentation  eines  Anderen 
zu  übernemen,  da  soll  er  berechtigt  sein  diesen  für  die 
hierauf  erlaufenden  Auslagen  in  Schuld  zu  nemen80);  nur 
darf  diess  nicht  für  einen  höheren  Betrag  geschehen,  als 
welchen  der  Werth  des  Belasteten  erreicht,  und  muss  über- 
diess  die  nöthige  Publicity  dem  Acte  gegeben  werden.  Es 
ist  nur  eine  specielle  Anwendung  dieser  Regel,  wenn  ander- 
wärts ausgesprochen  wird81),  dass  derjenige,  welchem  ein 
Dieb  gerichtlich  als  Sklave  zugesprochen  worden  ist,  und 
welcher  demgemäss  die  bisher  von  diesem  verpflegten  Per- 
sonen nun  seinerseits  alimentiren  muss,  diese  letzteren  be- 
züglich der  Verpflegungskosten  in  Schuld  zu  nemen  befugt 
sein  solle.  Wenn  ferner  ein  Mann,  dessen  Aeltern  alimen- 
tationsbedürftig werden,  nicht  im  Stande  ist  diese  selbst  zu 
alimentiren,  so  muss  zwar  der  nächststehende  Verwandte, 
dessen  Vermögen  hiezu  hinreicht,  deren  Verpflegung  über- 
nemen; aber  derselbe  hat  das  Recht,  den  Sohn  für  deren 
Betrag  in   Schuld   zu  nemen 82).     Dabei   soll  zunächst  der 

80)  Oma  gab.,  cap.  30,  S.  292:  f>ä  er  omagar  koma  ä  hönd  manni, 
Ja  a  hann  kost  at  leggja  lögskuld  ä  omaga,  ok  segja  til  büum  sinum 
5,  ok  a  Jingi,  ok  banna  innihafnir  hans,  ok  leggja  eigi  meiri  skuld 
ä  enn  hinn  er  verd*r. 

81)  Kgsbk,  §.229,  S.  165:  sä  a  kost  at  leggja  lögskuld  a 
omaga  trselsens. 

82)  Kgsbk,  §.  128,  S.  3—4:  Ef  hann  hefir  eigi  fe  til,  H  skal 
hann  ganga  i   skuld  fyrir  mofror  sina.    Nu  Jarf  fafrir  hans  heldr 


Maurer:  SchulcTknechtschaft  nach  altnordischem  Hechte.        35 

Sohn  diesen  Verwandten  aufsuchen,  und  ihm  anbieten,  bei 
ihm  in  Schuld  zu  gehen,  wobei  jedoch  auch  wider  seine 
Verpflichtung  nicht  über  den  Werth  hinausreichen  soll,  welchen 
er  hätte,  wenn  er  ein  Unfreier  wäre;  wenn  er  sich  aber 
diesem  Schritte  entzieht,  soll  der  Verwandte  berechtigt  sein 
ihn  seinerseits  in  Schuldhaft  zu  nemen,  indem  er  ihn  nöthigen- 
falls  auch  ohne  seine  Anwesenheit  an  seinem  Domicile  förm- 
lich auffordert,  sich  bei  ihm  einzufinden,  und  wenn  diess 
Nichts  hilft,  ihm  die  Schuld  ohne  Weiters  auflegt,  wovon 
sodann  vor  5  Nachbarn,  und  weiterhin  am  Alldinge  Anzeige 
zu  machen  ist.  Hinter  der  Alimentationspflicht  gegen  die 
Aeltern  steht  sodann  die  gleiche  Verpflichtung  gegen  die 
eigenen  Kinder;  auch  für  diese  muss  man  nöthigenfalls  in 
Schuld  gehen,  soferne  man  nicht  etwa  vorzieht,  die  Kinder 
selbst  in  Schuld  zu  geben,  und  haben  die  Aeltern  zwischen 
beiden  Auswegen  freie  Wahl83).     Es  ist  im  Grunde  nur  eine 


framförslo,  Ja  skal  ganga  i  skuld  fyrir  hann.  Ef  hann  hefir  gengit 
1  skuld  fyrir  foäor  sinn,  enda  Jurfe  möfrir  hans  framförslo  sfdan,  Ja 
a  fafrir  hans  at  hverfa  til  freenda  sinna  at  framförslonne,  enn  hann 
skal  ganga  i  skuld  fyrir  modor  sina.  Ef  hann  hefir  eigi  fe  til  at 
füra  lau  fram  Ja  skal  hann  fara  Jangat  er  enn  nänaste  nidr  er  Jeim 
Jeirra  manna  er  fe  ä  til  at  föra  Jau  fram;  Ja  skal  hann  bjöäa  J>eim 
manne  at  ganga  i  skuld  fyrir  tau  Jar ;  skalat  hann  meire  skuld  eiga 

enn  hann  veere  verdr  ef  hann  vseri  Jreell. Ef  hann  vill  eigi 

ganga  i  skuldena,  Ja  ä  hinn  Jö  at  skuldfesta  hann  at  hväro.  Enn 
ef  hann  vill  firrazk  hann  e£a  flöja,  Ja  skal  hann  fara  til  heimilis 
hans,  ok  beida  hann  tilfarar;  enn  ef  hann  vill  eigi  til  fara,  Ja  skal 
hann  leggja  lögskuld  ä  hann  at  hvaro,  ef  hann  vill;  ly§a  skal  hann 
fyrir  heimilis  buom  sinom  5.  Hann  skal  ly'sa  at  lögbergi,  at  hann 
hefir  lögskuld  läget  a  hann,  enda  ä  hann  kost  alengr  at  verja  lyriti 
innehöfn  hans,  ok  svä  at  Jiggja  verk  at  hanom.  Ebenso  0  mag  ab., 
cap.  1,  S.  232 — 4,  wo  aber  vor  den  Worten  „skalat  hann  meire  skuld 
eiga",  eingeschoben  ist:  „Skalat  hann  meiri  skuld  eigä,  enn  hann 
leggr  fyrir  Jau  avaxtalaust,  Jott  sä  leggi  meira  fe  fyrir  Jau,  oku; 
ferner  nach  den  Worten:  „ef  hann  vill  eigi  ganga  i  skuldina",  „vnt 
Jann  mann  er  framförir  födor  hans  ok  modor  ok  börn". 

83)  Kgsbk,  §.  128,  S.  4—5:   Mafa  a  kost  hvärt  sem  hann  vill 

3* 


36         Sitzung  der  philos.-pMol  Classe  vom  3.  Januar  1874, 

eigentümliche  Anwendung  jenes  ersteren  Satzes,  wenn  an- 
derwärts ausgesprochen  wird,  dass  der  Patron  eines  ver- 
armten Freigelassenen,  welcher  wegen  Unvermögendheit  der 
Kinder  dieses  letzteren  dessen  Verpflegung  zu  übernemen 
hat,  berechtigt  sein  solle,  diese  Kinder  für  den  zu  machenden 
Aufwand  in  Schuld  zu  nemen84),  natürlich  auch  wider  mit 
der  Einschränkung,  dass  die  Kinder  in  keinem  Falle  für 
einen  höheren  Betrag  verhaftet  werden  dürfen  als  welchen 
ihr  Werth  erreichen  würde,  wenn  sie  unfreien  Standes  wären.85) 
Da  nämlich  nach  der  oben  ausgesprochenen  Regel  der  nächste 
Verwandte,  der  wegen  Armut  der  Kinder  ihre  Aeltern  ali- 
mentiren  muss,  berechtigt  erscheint,  für  den  Betrag  der  Ver- 
pflegungskosten die  Kinder  in  Schuld  zu  nemen,  so  ist  es 
nur  consequent,  wenn  das  gleiche  Recht  für  den  analogen 
Fall  auch  dem  Freilasser  eingeräumt  wird.  Ich  kann  übrigens 
die  von  Vilhjalmr  Finsen  aufgestellte  Behauptung86),  dass  die 
den  Aeltern  auferlegte  Verpflichtung,  für  ihre  bedürftigen 
Kinder  in  Schuld  zugehen,  falls  sie  nicht  vorziehen  diese  ihrer- 
seits in  Schuld  zu  geben,  erst  späteren  Rechtens  sei,  keineswegs 
begründet  finden.  Dass  eine  oben  bereits  mitgetheilte  Stelle  nur 


at  gänga  i  skuld  fyrir  born  sfn,  eäa  selja  Jau  i  skuld  ella;  sit  barn 
skal  hverr  madr  fram  fcera  a  lande  her;  Oma  gab.,  cap.  1,  S.  234 
und  nochmals  cap.  27,  S.  283,  ganz  gleichlautend. 

84)  Kgsbk,  §.134,  S.  17:  fess  a  hann  kost  ef  leysi'ngrinn  kömr 
a  hendr  honom,  at  taka  bornen  i  skuld,  hvart  sem  hann  vill  fleire 
eda  fsere,  ef  til  ero,  ä  5eim  12  manoä'om  er  leysinginn  kömr  a  hendr 
honom;  Omj,gab.,  cap.  11,  S.  265—66:  |>ess  a  hann  kost  ef  leysfnginn 
kömr  a  hendr  hanom,  at  taka  börnin  i  jammikla  skuld,  sem  hann 
leggr  fyrir  omagan  hvärt  sem  hann  vill  fleiri  edr  feerri,  ef  til  ero, 
A  ]?eim  12  mänadum  skal  I>at  göra,  er  leysinginn  kömr  ä  hendr  hänom. 

85)  Omagab.,  cap.  30,  S.  292:  A  J>eim  12  manafrom  skal  hann 
gera,  er  leysinginn  kömr  a  hendr  hänom,  jammikla  skuld,  sem  hann 
leggr  fyrir  omagan.  Eigi  skolo  I>au  meiri  skuld  eiga,  enn  $au  veri 
verd",  ef  l>au  veri  nauftig  (leg.  änauftig),  £6tt  hann  leggi  meira  fe 
fyrir  omagan. 

86)  Annaler  for  nordisk  Oldkyndighed,  1850,  S.  132—33. 


Maurer:  Schuläknechtschaft  nach  altnordischem  "Rechte.        37 

nach  dem  Texte  der  StaSarholsbök,  nicht  auch  der  Konüngsbok 
jener  Verpflichtung  der  Aeltern  Erwähnung  thut,87)  ist  völlig 
irrelevant,  da  jene  Stelle  ihrem  ganzen  Zusammenhange  nach 
eben  nur  von  der  Verpflichtung  der  Kinder  zur  Alimentation 
der  Aeltern  zu  handeln  hatte,  sodass  jene  Einschaltung  in 
der  StaSarholsbök  geradezu  störend  wirkt,  und  wenn  ein 
paar  andere  Stellen  die  den  Aeltern  obliegende  Alimentations- 
pflicht erörtern,  ohne  dabei  der  Schuldknechtschaft  zu  er- 
wähnen88), so  ist  auch  daraus  kein  Schluss  zu  ziehen,  da 
dieselben  eben  nur  die  Vertheilung  der  Last  zwischen  Vaters- 
seite und  Muttersseite  besprechen,  wobei  die  andere  Frage 
denn  doch  ganz  wohl  unberührt  bleiben  konnte,  wieweit  die 
Aeltern  den  hinter  ihnen  berufenen  Verwandten  für  die  um 
ihrer  eigenen  Vermögenslosigkeit  willen  ihnen  erwachsenen 
Verpflegungskosten  persönlich  verhaftet  seien  oder  nicht. 
Endlich  ist  zwar  allerdings  richtig,  dass  das  Heidenthum  die 
Aussetzung  der  Kinder  gestattete ;  aber  richtig  auch,  dass  es 
dieselbe  nur  unmittelbar  nach  der  Geburt  gestattete,  ehe  das 
Kind  noch  die  Wasserweihe  erhalten  hatte89),  und  dass  so- 
mit auch  vor  der  Zeit,  da  zufolge  kirchlicher  Einflüsse  die 
Kindsaussetzung  gänzlich  verboten  wurde,  bereits  recht  wohl 
eine  Alimentationspflicht  der  Aeltern  ihren  Kindern  gegen- 
über in  Frage  kommen  konnte.  —  Widerum  kann  ein  Weib, 
welches  sich  eines  ausserehelichen  Beilagers  schuldig  gemacht 
hat,  und  von  welchem  der  Klagsberechtigte  in  Folge  dessen 
eine  Busse  zu  erheben  hat,  von  diesem  für  deren  Betrag  in 
Schuld  genommen  werden,  falls  es  nicht  im  Stande  ist  den- 


87)  vgl.  Omagab.,   cap.  1,  S.  233,   mit  Kgsbk,   §.  128,  S.  4; 
siehe  oben,  S.  35,  Anm.  82. 

88)  dmagab.,  cap.  3,  S.  236—41;  Festal>.,  cap.  23,  S.  336—7; 
vgl.  Kgsbk,  §.  128,  S.  5-6,  und  §.  154,  S.  46. 

89)  Holmverja  s.,  cap.  8,  S.  22:  J>viat  ]>at  var  morö"  kallat,  at 
drepa  börn  frä  J>vi  er  $au  vom  vatni  ausin. 


38        Sitzung  der pliilos.-phildl.  Classe  vom  3.  Januar  1874.- 

selben  sofort  zu  erlegen90);  nur  muss  diess  gleich  bei  der 
Klage,  dem  Vergleiche,  oder  dem  Executionsgerichte  geschehen. 
Auch  soll  derjenige,  welcher  für  einen  Anderen  die  Busse 
zu  zahlen  übernimmt,  welche  dieser  auf  Grund  eines  Ver- 
gleiches wegen  eines  Fleischesverbrechens  zu  entrichten  hat, 
den  Bussfälligen  für  deren  Betrag  in  Schuld  nemen,  voraus- 
gesetzt nur,  dass  dieser  Betrag  nicht  höher  sich  belaufe  als 
der  Werth,  welchen  der  Schuldige  hätte,  wenn  er  ein  Un- 
freier wäre91);  ja  es  ist  sogar  Pflicht  des  Uebcrnemers  der 
Zahlung,  gegen  den  Schuldigen  in  dieser  Weise  vorzugehen, 
und  ihm  den  Ersatz  der  Busse  nicht  zu  erlassen,  ehe  er 
mindestens  die  Hälfte  derselben  abverdient  hat,  und  wird 
nur  zu  Gunsten  der  Aeltern  und  Geschwister  des  Schuldigen 
von  dieser  Regel  insoweit  eine  Ausname  gemacht,  als  diesen 


90)  Kgsbk,  §.  158,  S.  53:  Ef  kona  legz  med*  manne,  Ja  a  afrile 
sakar  at  taka  af  henne,  ef  hann  vill,  8  aura  ens  finita  tigar,  ef  hon 
a  fe  til.  Nu  ä  hon  eigi  fe  til,  ta  skal  hann  leggja  ä  hana  skuld, 
ok  segja  til  at  satt,  eäa  at  feränsdomi;  Festa  $.,  cap.  36,  S.  351; 
ferner  cap.  48,  S.  363—4:  )>ess  a  mao*r  ok  kost,  sa  er  a&ili  er 
legortfssakar,  ]>ar  er  kona  hefir  barn  alit  laungetit,  at  heimta  at 
henni  6  merkor,  ef  hon  ä  fe  til,  ed*a  skuldfesta  hana  ella  J>eim 
6  mörkom,  J>at  skal  hann  msela  at  heimili  kononnar.  An  der  ersteren 
Stelle  liest  die  St.  statt:   at  satt,  „at  sokn". 

91)  Festa  J>.,  cap.  47,  S.  362—3:  Ef  annarr  madr  handsalar 
satt  fyrir  mann  um  legorfrssök,  ok  skal  hann  skuldfesta  hinn  l>vi  fe, 
ok  gefa  hanom  eigi  tat  fe,  ädr  hann  hefir  unnit  halft  af  ser  e&r 
meira,  nema  faä'ir  edr  moäfir  edr  bröän*  edr  systkin  hans  nokkot 
leysi  hann  undan;  J>au  eigo  at  gefa  hanom  tat  fe,  er  tau  vilja.  En 
ef  annarr  maör  leysir  hinn  undan,  ok  skal  sa  skuldfesta  hinn  öllo 
Jvi  fe  er  hann  geldr  fyrir  hinn,  nema  hann  gjaldi  meira  enn  sä  veri 
verd'r,  ef  hann  veri  Jraell,  ok  skal  hann  eigi  meira  fe  skuldfesta,  enn 
hans  ver#  veri,  ef  hann  veri  i  anaud-.  Ferner  cap.  48,  S.  363:  J>ar 
er  madr  tekr  mann  i  skuld,  5ä  skal  hann  segja  til  heimilis  büom 
5  metf  vatta,  teim  er  hanom  büa  nsestir,  til  skuldfesti  hans,  ok  svä 
at  lögbergi  et  nsesta  sumar  eptir,  enda  mä  hann  5ä  verja  lyriti 
innihöfn  hans  ef  hann  vill.  {>ä  vardar  skoggäng  öllom  ödrom  mönnom, 
ef  hann  hafa  inni  ok  Idggja  verk  at  hanom,  ok  er  tat  fimtardoms  sök. 


Maurer:  SchuWcnechtschaft  nach  altnordischem  Bechte.       39 

verstattet  wird,  ihm  den  Betrag  seinem  vollen  Umfange  nach 
zu  schenken.  Auch  in  diesem  Falle  ist  übrigens  der  Ver- 
hängung der  Schuldhaft  volle  Publicitset  zu  geben. 

Man  sieht,  in  allen  diesen  Fällen  wird  dem  Gläubiger 
das  Recht  zugesprochen,  seinen  Schuldner  einseitig  in  die 
Schuldhaft  zu  nemen,  sei  es  nun  ohne  Weiters,  oder  doch 
wenigstens  für  den  Fall,  da  sich  derselbe  nicht  von  freien 
Stücken  zum  Eintritte  in  dieselbe  erbietet;  in  einem  Falle 
wird  überdiess  den  Aeltern  gestattet,  ihre  Kinder  einem 
Andern  anstatt  ihrer  in  Schuldhaft  zu  geben.  Ob  aber  das 
Letztere  den  Aeltern  in  allen  Fällen  erlaubt  war,  in  welchen 
sie  sich  nur  durch  die  Hingabe  ihrer  Kinder  von  der  eigenen 
Schuldhaft  befreien  konnten,  oder  nicht,  —  ob  man  ferner 
jeden  Schuldner,  dessen  Zahlpflicht  gehörig  feststand,  in  allen 
und  jeden  Fällen  als  Schuldknecht  in  Anspruch  nemen  konnte, 
wenn  dieselbe  von  ihm  nicht  erfüllt  werden  wollte  oder  konnte, 
oder  ob  nicht  etwa  abgesehen  von  jenen  ausdrücklich  vor- 
gesehenen Fällen  ein  besonderer  Vertrag  nothwendig  war, 
um  die  Schuldknechtschaft  zu  begründen,  das  ist  ein  Punkt, 
über  welchen  uns  die  Quellen  ohne  Aufschluss  lassen.  Die 
häufige  Erwähnung  der  Schuldknechte  in  denselben  lässt 
darauf  schliessen,  dass  wenigstens  eine  vertragsweise  Ergebung 
in  die  Haft  oft  genug  vorkommen  musste,  wenn  dieselbe  auch 
in  den  Rechtsbüchern  nicht  erwähnt  wird;  das  Schweigen 
dieser  Rechtsbücher  über  deren  Verwendung  als  regelmässiges 
Executionsmittel,  während  sie  doch  das  Verfahren  bei  der 
Execution  so  sorgfältig  und  detaillirt  besprechen,  scheint 
andererseits  darauf  schliessen  zu  lassen,  dass  ein  derartiger 
Gebrauch  des  Institutes  nicht  vorgesehen  war.  Aber  freilich, 
wie  im  norwegischen  Rechte  das  dem  Gläubiger  für  den 
aüssersten  Fall  eingeräumte  Recht,  den  insolventen  Schuldner 
an  seinem  Leibe  zu  verstümmeln,  indirect  dahin  wirken 
musste,  dass  dieser  gutwillig  der  Schuldknechtschaft  sich 
unterwarf,  so  musste  auch  auf  Island  die  Acht  ebendieselbe 


40         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

Wirkung  äussern,  welche  hier  den  Schlussstein  des  ganzen 
Executionsverfahrens  bildete,  und  thatsächlich  wird  hiernach 
hier  wie  dort  die  Sache  allerdings  so  gestanden  haben,  dass 
der  Gläubiger,  dessen  Schuldner  nicht  zahlen  konnte,  und 
für  welchen  auch  seine  Verwandten  die  Zahlung  nicht  auf- 
bringen wollten  oder  konnten,  sich  an  dessen  Person  halten 
mochte. 

In  den  sämmtlichen  oben  aufgezählten,  und  wohl  auch 
in  allen  anderen  Fällen,  in  welchen  eine  Schuldknechtschaft 
rechtmässig  begründet  werden  wollte,  war  aber  das  ein- 
zuhaltende Verfahren  folgendes.  Gleichviel,  ob  der 
Schuldner  verpflichtet  war,  sich  von  freien  Stücken  zum 
Eintritte  in  die  Schuldknechtschaft  zu  erbieten  (bjöSa  at 
ganga  i  skuld;  kürzer:  ganga  i  skuld)  oder  nicht,  so  ist  es 
der  Gläubiger,  welcher  denselben  in  Schuld  zu  nemen  hat 
(taka  i  skuld;  leggja  skuld,  lögskuld,  a  mann;  skuldfesta) 
und  nicht  anders  wird  es  auch  in  dem  Falle  gehalten  worden 
sein,  da  Aeltern  ihre  Kinder  in  Schuld  zu  geben  (selja  i 
skuld)  hatten.  Mag  sein,  dass  dabei  eine  gewisse  symbolische 
Handlung  vorgenommen  wurde,  eine  Ergreifung  etwa  mit 
der  Hand;  schlechthin  nothwendig  kann  diese  inzwischen 
nicht  gewesen  sein,  da  der  Gläubiger  über  den  Schuldner, 
der  sich  ihm  durch  die  Flucht  zu  entziehen  suchte,  die 
Schuldhaft  auch  in  seiner  Abwesenheit  verhängen  konnte, 
falls  diess  nur  an  seinem,  des  Schuldners,  legalem  Domicile 
geschah.  Unerlässlich  war  dagegen  eine  öffentliche  Bekannt- 
machung der  Verhängung  der  Schuldhaft  (segja  til  skuldfestis), 
und  zwar  hatte  diese  zunächst  vor  den  5  nächsten  Nachbarn 
des  Gläubigers  zu  geschehen,  und  sodann  am  nächstfolgenden 
Alldinge  vom  Lögberge  aus  widerholt  zu  werden;  mit  dieser 
Bekanntmachung  pflegte,  wie  es  scheint,  zugleich  ein  förm- 
liches Verbot  gegen  jede  Aufname  oder  dienstliche  Verwendung 
des  Schuldknechtes  durch  andere  Personen  verbunden  zu 
werden  (verja  lyriti  innihöfn  hans),  welches  zur  Folge  hatte, 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Hechte.        41 

dass  jeder  Zuwiderhandelnde  der  strengen  Acht  verfiel,  und 
vor  das  fünfte  Gericht  gestellt  werden  konnte92).  In  ein- 
zelnen Fällen  ist  eine  bestimmte  Zeitgrenze  gesetzt,  innerhalb 
deren  die  Schuldhaft  verhängt  werden  muss,  wenn  der 
Gläubiger  sein  Recht,  sie  zu  verhängen,  nicht  einbüssen  will93), 
oder  es  muss,  wo  die  Schuld  auf  einem  Vergleiche  oder 
Urtheilsspruche  beruht,  die  Absicht  wegen  ihrer  zur  Schuld- 
haft zu  greifen  gleich  bei  der  Klage,  bei  dem  Vergleiche, 
oder  längstens  beim  Executionsgerichte  ausgesprochen  wer- 
den94); generalisiren  darf  man  aber  derartige  Bestimmungen 
ebensowenig  als  die  andere,  für  einen  ganz  vereinzelten  Fall 
gegebene  Vorschrift,  dass  die  Verhängung  der  Schuldhaft 
nicht  nur  ein  Recht,  sondern  auch  eine  Pflicht  des  Gläubigers 
sei,  von  deren  Erfüllung  derselbe  nur  unter  ganz  bestimmten 
Voraussetzungen  Umgang  nemen  dürfe95).  Dagegen  wird 
als  allgemeine  Regel  der  Satz  gelten  müssen,  dass  Niemand 
für  einen  höheren  Betrag  in  Schuldhaft  genommen  werden 
dürfe,  als  welchen  er  wirklich  schuldig  geworden  war98), 
und  dass  überdiess  Niemand  für  einen  höheren  Betrag  ver- 
haftet werden  dürfe,  als  welcher  dem  Werthe  entspricht, 
den  er  haben  würde,  wenn  er  statt  frei  unfrei  wäre;  letzteres 
ein  Satz,  welcher  um  so  mehr  als  allgemein  gültig  und 
wurzelhaft  betrachtet  werden  darf,  als  auch  das  norwegische 
Recht,  wie  es  uns  vorliegt,  noch  Anklänge  an  denselben  er- 
halten zeigt.     Als  allgemein  gültig  scheint  endlich  auch  noch 


92)  Kgsbk,  §.  44,  S.  78;  Njala,  cap.  98,  S.  150,  Anm.  d.  Vgl. 
Festa  l.,  cap.  48,  S.  363,  oben  S.  38,  Anm.  91.  Im  Uebrigen  sei 
ein  für  allemal  auf  die  oben  schon  mitgetheilten  Stellen  verwiesen. 

93)  Kgsbk,  §.  134,  S.  17;  oben  S.  36,  Anm.  84. 

94)  ebenda,  §.  158,  S.  53;  oben  S.  38,  Anm.  90. 

95)  Festa  *.,  cap.  47,  S.  362;   oben  S.  38,  Anm.  91. 

96)  In  Omagab,  cap.  1,  S.  233,  wird  überdiess  ausgesprochen, 
dass  nur  der  Capitalwerth  der  Schuld,  nicht  auch  irgendwelche  Ver- 
zinsung, dabei  in  Betracht  komme,  —  ein  Ausspruch  dessen  allge- 
meine Anwendbarkeit  wohl  bezweifelt  werden  darf. 


42        Sitzung  der  philos.'philol.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

die  Bestimmung  angesehen  werden  zu  dürfen ,  dass  ein 
Gläubiger,  welcher  an  den  Schuldknecht  eines  Andern  eine 
Forderung  hat,  wegen  deren  er  an  und  für  sich  befugt  wäre 
seinen  Schuldner  in  Schuldhaft  zu  nemen,  berechtigt  sein 
soll  hinsichtlich  seiner  das  Einstandsrecht  zu  üben,  d.  h. 
ihn  aus  seiner  bisherigen  Schuldhaft  auszulösen,  und  dafür 
zu  seinem  eigenen  Schuldknechte  zu  machen97). 

Was  nun  denZustand  des  Schuldknechtes  während 
der  Zeit  betrifft,  während  deren  er  in  der  Schuldhaft  begriffen 
ist  (meSan  hann  er  i  skuldinni),  so  ist  einerseits  klar,  dass 
derselbe  nicht  mit  dem  des  Unfreien  zusammenfällt,  da  ja 
widerholt  von  dem  Werthe  gesprochen  wird,  den  er  hätte, 
wenn  er  ein  Unfreier  wäre,  und  da  ihm  überdiess  die  Ver- 
setzung in  die  Sklaverei  unter  Umständen  ausdrücklich  als 
Strafe  angedroht  werden  kann98);  andererseits  ist  aber  auch 
nicht  minder  klar,  dass  sein  Verhältniss  zu  demjenigen,  der 
ihn  in  der  Schuld  hält  (er  hann  hefir  i  skuldinni),  ziemlich 
dem  des  Unfreien  zu  seinem  Herrn  änlich  ist.  Was  ein 
Schuldknecht  an  jagdbaren  Thieren  erbeutet,  das  gehört 
seinem  Herrn  ganz  in  derselben  Weise  wie  die  Jagdbeute, 
welche  der  Unfreie  macht99).     Für  die  Arbeit  an  Tagen,  an 


97)  Kgsbk,  §.128,  S.  4:  Ef  hann  er  i  skuld  tekinn  äfrr,  ok 
Jykke  J>eim  manne  betra  at  hafa  hann  enn  eigi  i  skuldinne,  er  hefir 
fram  at  föra  annat  tveggja  fodor  hans  eda  modor,  Ja  skal  hann  fara 
at  bjoda  fyrir  hann  jafn  mikit  fe  sem  hann  er  skyldfastr,  ok  skal 
hann  Ja  ör  leysask  Jadan  ör  skuldinne,  en  hann  gänga  hinnveg  i 
skuldena  fyrir  fodor  sinn  efra  mödor  sina;   Omagab.,  cap.  1,  S.  233. 

98)  Festa  J>.,  cap.  48,  S.  363:  Nu  getr  hann  launbarn  annat 
inedan  hann  er  i  skuldinni,  ok  verdr  hann  Ja  Jraell  hins,  er  feit  ätt1 
at  hänom,  sva  sem  hann  veri  ambattar  sonr.  En  sa  er  feit  galt 
fyrir  hann,  skal  vardveita  barn  hans,  ok  ala  upp  i  anaud*.  En  ef 
handsalsmadr  görir  eigi  sva,  l>ä  verdr  hann  sekr  um  Jat  6  merkor, 
ok  ä  sä  sök  er  vill,  ok  skal  stefna  heiman,  ok  kvedja  til  5  heimilis- 
büa  a  Jingi  Jess  er  sottr  er. 

•  99)  Kgsbk,  §.  14,  S.  31:  a  sa  bjorn  er  fyrstr  kemr  a  banasari, 


Maurer:  SchuläJcnechtschaft  nach  altnordischem  "Rechte.       48 

welchen  als  an  Feiertagen  das  Arbeiten  strafbar  ist,  werden 
Schuldknechte  ebensowohl  wie  Unfreie  nur  unter  der  Voraus- 
setzung in  Strafe  genommen,  dass  sie  ,,at  sinu  raSi",  d.  h. 
nicht  auf  Geheiss  ihres  Herrn  arbeiten100);  sind  aber  freie 
Dienstboten  zugleich  mit  den  Unfreien  oder  Schuldknechten 
an  der  Arbeit,  so  sollen  zunächst  nur  jene  ersteren  für  diese 
haftbar  gemacht  werden,  und  sie  allein  werden  als  frelsingjar,  d.h. 
freie  Leute  bezeichnet101).  Tödtet  ein  Schuldknecht  seinen 
Gläubiger  oder  dessen  Frau,  so  wird  er  auf  dieselbe  grau- 
same Weise  ums  Leben  gebracht,  wie  ein  Unfreier,  welcher 
seinen  Herrn  umgebracht  hat102).  Endlich  ist  auch  das  Ver- 
fahren gegen  Schuldknechte,  welche  sich  ihrem  Dienste  durch 
die  Flucht  zu  entziehen  suchen,  vollkommen  in  derselben 
Weise  geordnet,  wie  das  Verfahren,  welches  flüchtigen  Sklaven 
gegenüber   eingeschlagen   wird103).     Dieser   eigentümlichen 


hvergi  er  land  a,  nema  Jraelar  vei^i  eda  skuldarmenn;  Ja  ä  sä  er 
fe  ätti  at  Jeim  mönnum;  KrR.  hinn  gamli,  cap.  23,  S.  110 — 12. 

100)  KrR.  hinn  gamli,  cap.  17,  S.  90:  Ef  ]>reelar  manns  eifrr 
skuldarmenn  vinna  ä  eykäf  at  sino  rafti,  ok  verda  I>eir  utlagir  um 
lat  fjorum  aurom,  ef  Jeir  eigo  ser  orkosto.  Vgl.  auch  die  in  der 
nächsten  Anmerkung  angeführte  Stelle. 

101)  Kgsbk,  §.9,  S.  26:  Ef  griö"menn  hafa  i  verki  verit,  ok 
skuldarmenn  e#a  Jraelar,  ok  a  frelsinga  fyrst  at  saekja.  Ef  Jeir  hafa 
unnit  a  eykt,  ok  veräa  J>eir  söttir  um,  ok  verjaz  teir  mali,  ef  J»eir 
geta  l»ann  kvifr,  at  eigi  ssei  söl,  ok  Jeir  myndi  skemr  vinna,  ef  söl 
ssei;  ]>at  er  ok  bjargkvntr,  ef  J^at  berr,  at  atfeersla  Jeirra  veri  svä 
"litil,  at  l>eir  terdi  eigi  heim  at  gänga  fyrir  ofriki  büandans,  ok  verö*r 
büandi  l>ar  ütlagr,  enn  eigi  J>eir;  KrR.,  cap.  18,  S.  92—4. 

102)  Kgsbk,  §.  110,  S.  189:  Svä  et  sama  skal  fara  um  skuld- 
armenn J>ä  er  at  lögom  ero  i  skuld  teknir  ok  er  sagt  til  at  lögbergi ; 
Vigslofri,  cap.  111,   S.  162. 

103)  vgl.  Kgsbk,  §.  44,  S.  78:  um  innihafnir  skuldarmanna  ok 
um  Jrsela  ]>eirra  er  til  skuldfestis  er  sagt  her  ä  aljingi,   ok  svä  I>atf 

er  menn  Jiggja  verk  at  5eim  monnom.     Die  Worte:    Jeirra a 

alKngi,  sind  entweder  als  eine  Randglosse  zu:  skuldarmanna  aufzu- 
fassen, oder  doch  jedenfalls  als  versetzt  zu  betrachten  Ferner  Njäla, 
ang.  0.:  ok  innihafnir  Jrsela  eö"a  skyldarmanna. 


44        Sitzung  der  phüos.-philol  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

Mittelstellung,  welche  die  Schuldknechte  zwischen  den  freien 
und  unfreien  Leuten  einnemen,  entspricht  denn  auch,  dass 
dieselben  auch  ihrer  sonstigen  Freiheitsrechte  nicht  vollständig 
beraubt  sind,  anderenteils  aber  auch  nicht  in  deren  völlig 
ungeschmälertem  Besitze  sich  befinden.  So  ist  der  Schuld- 
knecht des  Erbrechtes  fähig,  und  er  wird  gelegentlich  auch 
wohl  ausdrücklich  als  Erbe  bezeichnet104);  aber  er  erbt,  so- 
lange er  sich  in  der  Schuldhaft  befindet,  nur  die  Fahrhabe, 
nicht  aber  liegende  Güter105),  doch  wohl,  weil  das  von  ihm 
Geerbte  seinem  Herren  zu  Gute  kommt,  und  Liegenschaften 
soweit  möglich  der  Familie  nicht  abhanden  kommen  sollen. 
Ist  ein  Schuldknecht  zur  Blutklage  um  einen  erschlagenen 
Verwandten  berufen,  so  kann  er  diese  zwar  nicht  selber  an- 
stellen, aber  er  erhält  doch  von  der  Todtschlagsbusse  soviel 
als  die  Schuld  beträgt,  für  welche  er  verhaftet  ist106),  voraus- 
gesetzt natürlich,  dass  der  an  und  für  sich  ihm  gebührende 
Betrag  diese  Summe  überhaupt  erreicht.  Wird  umgekehrt 
ein  Schuldknecht  erschlagen,  so  steht  die  Blutklage  zwar 
seinen  Verwandten  zu  wie  gewöhnlich,  jedoch  nur  unter  der 
Voraussetzung,  dass  sie  zuvor  dem  Gläubiger  den  Betrag 
seiner  Schuld  ausbezahlen;  thun  sie  diess  nicht,  so  geht  die 
Berechtigung  zur  Anstellung  der  Blutklage  auf  den  Gläubiger 
selbst   über 107).     In   änlicher   Weise  soll   die  Klage   wegen 


104)  vgl.  unten,  Anm.  106. 

105)  Kgsbk,  §.  118,  S.  225:  {>at  er,  at  lögskuldarmadr  sä  er  i 
lögskuld  er  tekinn,  er  arfi  ens  frida,  enn  eigi  ens  ofrida.  Nu  er  hann 
6r  skuldinne,  ok  er  hann  Ja  hvärstveggja  arfi;  Arfa  ]>. ,  cap.  17, 
S.  221. 

106)  Kgsbk,  §.  96,  S.  171:  |>at  er  rnaelt,  at  hvär  5ess  er  lög- 
skuldarmadr  er  arftökomadr  ens  vegna,  ok  skalat  hann  med"  sök  fara ; 
enn  hann  a  sva  mikit  fe  af  botom,  sem  hann  er  skuldfastr;  Vig- 
slod"i,  cap.  36,  S.  69—70. 

107)  Kgsbk,  §.96,  S.  171—2:  Ef  lögskuldarmadr  verdr  veginn, 
I>a  eigo  fröndr  sök  J>a.  J>eir  skolo  bjöda  J>eim  manne,  er  fe  haföe 
att  at  honom,  jafn  mikit  fe  sem  hann  vseri  skuldfastr;   enn  ef  peir 


Maurer:  SchuldknechUchaft  nach  altnordischem  Rechte.        45 

ausserehelichen  Beischlafes,  welche  sonst  dem  Geschlechts- 
vormunde des  verletzten  Weibes  zusteht,  von  ihrem  Gläubiger 
erhoben  werden,  wenn  dieselbe  in  Schuldknechtschaft  begriffen 
ist;  dabei  ist  aber  auch  noch  der  weitere  Umstand  bemer- 
kenswerth,  dass  die  Klage  bei  der  skuldarkona  nicht  wie  bei 
dem  vollfreien,  unbescholtenen  Weibe  auf  die  strenge  Acht 
und  eine  Busse  um  6  Mark,  und  andererseits  auch  nicht  wie 
bei  der  Sklavinn  nur  auf  die  halbe  Busse  mit  3  Mark  geht, 
sondern  wie  bei  der  Freigelassenen  auf  Landesverweisung 
und  die  halbe  Busse,  und  nur  dann  auf  die  strenge  Acht, 
wenn  diese  oder  jene  einen  Sohn  freien  Standes  hat108). 

So  darf  man  denn  den  Schuldknecht  als  einen  in  seinen 
Freiheitsrechten  theils  suspendirten ,  theils  aber  auch  redu- 
cirten  Menschen  betrachten.  Für  einen  Theil  der  Beschränk- 
ungen, welche  ihm  auferlegt  wurden,  war  wie  es  scheint  ein 
Gedanke  massgebend,  dessen  Durchführung  ebensogut  im 
Interesse  seiner  selbst  als  im  Interesse  seines  Gläubigers  ge- 
legen war,  der  Gedanke  nämlich,  dass  alle  Vermögensbeträge, 
welche  ihm  kraft  Erbrechts  oder  kraft  eines  anderen  ver- 
wandtschaftlichen Titels  zufallen  würden,  am  Zweckmässigsten 


bjofra  eigi,   Ja  a  sökna  sä  er  feet  ätte  at  enom  vegna;   Vigslotfi» 
cap.  36,  S.  70,  mit  einigen,  hier  irrelevanten,  Zusätzen. 

108)  Kgsbk,  §.  156,  S.  48:  Ef  legit  er  med*  lögskuldarkono, 
Ja  ä  sa  sökina,  er  feit  a  at  henne,  enn  fjorbaugsgard*  vardar.  Ef 
legit  er  med*  ambatt,  Ja  sekz  mafrr  3  morkom  um  Jat,  ok  skal 
kvedja  til  5  heimilisbüa  a  Jingi  Jess  er  sottr  er.  Ef  niadr  liggr  meä* 
leysfngs  kono,  Ja  varfrar  fjorbaugsgard*,  nema  barnino  vaeri  frelsi  gefit, 
eda  sva  ef  hon  a  son  frjälsan;  Ja  vard*ar  skoggäng,  ok  skal  Ja  kvedja 
büa  heiman  til  9,  enda  ero  slik  mal  um  lögskuldar  konona,  ef  hon 
ä  sonin;  Festa  J.,  cap.  25,  S.  339—40,  wo  nach  den  Worten:  „enn 
fjorbaugsgard*  vaitfar",  eingeschaltet  wird:  „ok  hälfr  rettr,  skalkvedja 
ä  lingi  9  büa  Jadan  sem  um  önnor  legord*,  nema  sä  eigi  vigt  um; 
Ja  varäar  skoggäng.  Wegen  des  vollfreien  Weibes  vgl.  Kgsbk, 
§.  155,  S.  47-8,  und  Festa  J.,  cap.  24,  S.  338—9,  sowie  die  Klags- 
formel in  cap.  49,  S.  369—70,  und  öfter.  Vgl.  übrigens  auch  die 
Belgsdalsbok,  §.  50,  S.  241-2,  und  §.  51,  S.  242. 


46      Sitzung  der  philo$.~plälöl.  Classe  vom  5.  Januar  1874. 

statt  seiner  an  seinen  Gläubiger  giengen,  um  die  Schuld, 
für  welche  er  diesem  verhaftet  war,  zu  tilgen  oder  doch  zu 
vermindern;  denn  an  eine  Abrechnung  auf  den  Schuldbetrag 
wird  in  derartigen  Fällen  denn  doch  wohl  gedacht  werden 
müssen,  obwohl  in  den  Quellen  dieser  Gesichtspunkt  aller- 
dings nicht  ausdrücklich  hervorgehoben  wird.  Ausserdem 
wird  an  einer  Stelle  von  einem  Abverdienen  der  Schuld  durch 
die  Arbeit  des  Schuldknechtes  gesprochen109),  und  auch  eine 
geschichtliche  Quelle  erzählt,  wie  Björn  Köreksson  von  As- 
björn  Veghamar,  seinem  früheren  Dienstmanne,  nachdem 
derselbe  sich  selbstständig  nidergelassen,  aber  sofort  eine 
Menge  von  Schulden  sich  zugezogen  hatte,  verlangt  dass  er  wider 
zu  ihm  zurückkehre,  und  seine  Schulden  abverdiene110);  da 
auch  anderwärts  in  unseren  Rechtsbüchern  von  einer  Abschätzung 
des  Werthes  der  von  Dienstleuten  geleisteten  oder  zu  leistenden 
Arbeit  die  Rede  ist,  und  überdiess  die  gesetzlichen  Bestim- 
mungen über  den  Betrag  des  Lohnes,  welchen  freie  Dienst- 
boten sich  ausbedingen  durften,  in  dieser  Hinsicht  einen 
festen  Anhaltspunkt  gewährten,  konnte  eine  derartige  Ab- 
rechnung der  Arbeit  des  Schuldknechtes  auf  seine  Schuld 
keine  besondere  Schwierigkeit  bieten.  Ausserdem  war  selbst- 
verständlich auch  die  Möglichkeit  vorhanden,  dass  ein  Dritter 
sich  bewogen  fühlte  durch  Berichtigung  des  Schuldbetrages 
den  Schuldknecht  aus  der  Schuldhaft  auszulösen  (leysa  ör. 
skuldinni;  leysa  undan)111);  war  diess  freilich  ein  Gläubiger, 
welcher  nur  von  seinem  Einstandsrechte  Gebrauch  machen 
wollte,    so   wurde   der   Schuldknecht    durch    die   Auslösung 


109)  Festa  J>.,  cap.  47,  S.  362:  ädr  hann  hefir  unnit  halft  af 
ser  e#a  meira;  siehe  oben,  S.  38,  Anm.  91. 

110)  Gunnars  J>.  Jutfrandabana,  S.  366:  ok  vil  ek  Jü  farir 
aptr  til  vor,  ok  vinnir  af  ]>er  skuldina. 

111)  Kgsbk,  §.  128,  S.  4;  dmagab.,  cap.  1,  S.  233;  dann 
Festa  J>.,  cap.  47,  S.  362;  siehe  oben,  S.  42,  Anm.  97,  und  S.  38, 
Anm.  91. 


Maurer:  Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Rechte.       47 

nicht  frei,  sondern  nur  in  die  Schuldhaft  eines  anderen 
Herrn  gebracht,  wogegen  ihm  die  Auslösung  in  dem  anderen 
Falle  sofortige  Freiheit  bringen  musste,  da  sie  aus  Wohl- 
wollen für  seine  Person  erfolgte.  Eine  Beschränkung  dieses 
Auslösungsrechtes,  wie  solche  demjenigen  gegenüber  vor- 
kommt, welcher  wegen  einer  von  ihm  verwirkten  Unzuchts- 
busse der  Schuldknechtschaft  verfallen  war,  darf  natürlich 
ebensowenig  generalisirt  werden  wie  der  mit  ihr  aufs  Ge- 
naueste zusammenhängende  Satz,  dass  solche  Leute  von 
demjenigen  in  Schuldhaft  genommen  werden  mussten, 
welcher  für  sie  die  Busse  erlegte112).  Dasselbe  gilt  endlich 
auch  von  einer  anderen  Vorschrift,  nach  welcher  der  Schuld- 
knecht, welcher  einer  Unzuchtsbusse  wegen  in  die  Schuldhaft 
gekommen  ist }  und  nun  während  ihrer  Dauer  ein  weiteres 
uneheliches  Kind  erzeugt,  sammt  diesem  Kinde  der  Sklaverei 
verfällt,  wie  wenn  er  als  Sklave  geboren  wäre,  wobei  eben- 
falls wider  dem  Gläubiger  bei  strenger  Strafe  untersagt  ist, 
von  der  Härte  des  Gesetzes  irgend  Etwas  nachzulassen113). 
Allen  diesen  Bestimmungen  liegt  augenscheinlich  eine  ganz 
besondere  Strenge  gegen  die  Unzuchtsvergehen  zu  Grunde, 
keineswegs  aber  die  allgemeine  Beschaffenheit  der  Schuld- 
knechtschaft als  solcher;  sie  alle  sind  überdiess  nur  in  un- 
serem jüngeren  Rechtsbuche  zu  finden,  und  mögen  somit 
erst  späterer  Entstehung  sein,  obwohl  sie  allerdings  als 
nymseli  nicht  bezeichnet  werden. 


112)  vgl.  oben,  S.  38,  Anm.  91. 

113)  Festa  *.,  cap.  48,  S.  363;  oben,  S.  42,  Anm.  98. 


Sitzung  vom  3.  Januar  1874. 


Historische  Classe. 


Herr  Friedrich  trägt  vor: 

„Der  Jesuit  P.  Keller  als  der  wahre  Ver- 
fasser der  unter  dem  Namen  Herwärts 
1618  in  München  erschienenen  Schrift: 
Ludovicus  IV.  Imperator  defensus." 

In  meinem  Vortrage:  Ueber  die  Geschichtschreibung 
unter  Kurfürst  Maximilian  I. *)  schrieb  ich ,  da  ich  keine 
positiven  Anhaltspunkte  für  eine  gegenteilige  Ansicht  finden 
konnte,  die  Schrift  Ludovicus  defensus  dem  baierischen 
Kanzler  Herwart  von  Hohenburg  zu,  wie  es  ein  Decret  des 
Kurfürsten,  der  Titel  und  die  Vorrede  besagten,  obwohl  mir 
selbst  schon  einige  Bedenken  gegen  dessen  Autorschaft  vor- 
schwebten. Jüngst  gelang  es  mir  nun,  in  P.  Keller,  Rector 
des  Münchener  Jesuitencolleges,  den  wahren  Verfasser  des 
Buches  nachzuweisen ,  und  ich  will  es  nicht  versäumen, 
meinen  früheren  Vortrag  in  diesem  Punkte  nachträglich  zu 
verbessern. 

Bei  einem  Kaufgeschäfte  kam  auch  ein  Exemplar  der 
angeblichen  Herwart'schen  Schrift  aus   der  in  der  kgl.  Hof- 

1)  Vortrag  in  der  öffentl.  Sitzung  der  k.  Akad.  der  Wiss.  am 
27.  März  1872. 


Friedrich:  Der  Jesuit  P.  Keller.  49 

bibliothek  befindlichen  Bibliothek  des  Historikers  von  Oefele 
in  die  Hände  des  verehrten  Mitgliedes  unserer  Classe,  des 
Herrn  Oberbibliothekars  Föringer.  Beim  Durchblättern  des- 
selben entdeckte  dieser  von  der  Hand  Oefele's  selbst  eine 
Bemerkung,  worin  dieser  angibt,  dass  am  18.  März  1758 
der  damalige  Rector  des  hiesigen  Jesuitencollegs,  P.  Leder- 
hueber, zu  ihm  auf  die  kurf.  Bibliothek  gekommen  sei  und 
ihm  mitgetheilt  habe,  dass  er  unanfechtbare  Beweise  habe, 
dass  der  wahre  Verfasser  des  unter  Herwärts  Namen  be- 
kannten Buches  P.  Jacob  Keller,  der  damalige  Rector  des 
Collegs  in  München,  sei 2).  Die  Bemerkung  erschien  wichtig 
genug,  um  das  Exemplar  nicht  zu  veräussern,  und  der  Herr 
Oberbibliothekar  hatte  die  Güte,  mir  nicht  blos  darüber 
Mittheilung  zu  machen,  sondern  auch  das  Exemplar  zur  Ein- 
sicht zu  überlassen,  nachdem  ich  noch  andere  Randbemerk- 
ungen Oefele's  gefunden  hatte. 

Nähere  Anhaltspunkte  scheint  P.  Lederhueber  nicht  an- 
gegeben zu  haben ,  weil  Oefele  nicht  nur  nichts  bemerkt, 
sondern,  wenn  seine  Randbemerkungen  jünger  sind,  nur  aus 
einzelnen  Stellen  nachzuweisen  sucht,  dass  dieselben  nur  von 
einem  Jesuiten ,  nicht  von  Herwart  stammen  können.  Der 
vollständige  Aufschluss  wurde  ihm  auch  erst  später  und 
durch  Lori.  Nach  der  Vorrede  des  1.  Theils  des  Buches 
fand  ich  nämlich  einen  anderen  Eintrag  von  der  Hand  Oefele's, 
worin  er  angibt:  Am  20.  April  1759  sei  seine  frühere  Ver- 
muthung,  dass  Herwart  nicht  der  Verfasser  des  Ludovicus 
defensus   sei ,   zur  Gewissheit  geworden.     An  diesem   Tage 


2)  Auf  der  leeren  Seite  des  letzten  Blattes  des  I.  Theils  des 
Buches:  A.  1758.  18.  Martii  P.  Lederhueber  S.  J.  Coli.  Monacensis 
Praefectus  non  indiligens  mihi  A.  F.  Oefelio  in  Bibliotheca  aulica  a 
me  exceptus  coram  narravit  atque  asseveravit,  sibi  argumenta  suppe- 
tere  indubitata,  quibus  conficeret  Huius  Herwarti  nomine  Notae 
Apologiae  Ludovicianae  verum  autorem  esse  Jacobum  Kellerum 
Ptectorem  Coli,  monacensis. 
[1874,  1.  Phil.  hist.  Cl.]  4 


50  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

habe  ihm  nämlich  Lori  im  Maximilianischen  Archive  das 
Autograph  eines  Briefes  von  General  P.  Goswin  Nickel  an 
P.  Georg  Spaiser,  Rector  des  Münchener  Collegs,  gezeigt, 
worin  er  ihm  aufträgt,  die  Kurfürstin-Wittwe  Marianne  zu 
überreden ,  der  baierischen  Geschichte  des  P.  Vervaux  den 
Namen  eines  ihrer  Staatsbeamten  vorsetzen  zu  lassen, 
damit  um  so  sicherer  der  wahre  Verfasser  verborgen  bleibe, 
wie  es  auch  geschehen  sei,  als  dem  Georg  Herwart  befohlen 
wurde,  seinen  Namen  für  den  Ludovicus  defensus  des  P. 
Jacob  Keller  herzugeben3). 

Damit  steht  allerdings  die  Thatsache  fest,  dass  P.  Keller 
der  wahre  Verfasser  des  Ludovicus  defensus  ist.  Ob  aber 
über  die  Titelfrage  ebenfalls  wie  hinsichtlich  der  baierischen 
Geschichte  der  PP.  Brunner  und  Vervaux  lange  Unterhand- 
lungen mit  dem  Jesuitengeneral  gepflogen  wurden  und  auf 
dessen  Andringen  Herwart  als  Verfasser  figuriren  musste,  ist 
nicht  klar.  Ich  glaube  aber ,  dass  dieses  wirklich  nur  auf 
Befehl  Maximilians  und  wahrscheinlich  auf  den  Rath  Kellers 
geschehen  sei.  Aus  den  Briefen  Kellers  und  Rescripten 
Maximilians 4)  scheint  mir  hervorzugehen ,  dass  P.  Keller 
erst  im  Jahre  1618  den  Befehl  zur  Arbeit  erhielt,  und  das 
fertige  Manuscript  für  einen  Druckbogen  sofort  in  die  Presse 
ging,  so  dass  also  zu  langen  Verhandlungen  mit  Rom  keine 


3)  Quod  pridem  suspicatus  fueram,  Herwartum  huius  libri  Auc- 
torem  non  esse,  hac  XX.  April.  MDCCLXIX,  certo  didici.  Exhibuit 
enim  mihi  111.  Lorius  in  Archivo  Maximilianeo  Epistolam  Autograpbam 
P.  Gosuini  Nickel  Praepositi  Generalis  Soc.  Jesu  ad  P.  Georgium 
Spaiser  Rectorem  collegii  Monacensis,  in  qua  eidem  imponit  clittellam, 
ut  Mariae  Annae  Electrici  viduae  persuaderet,  sineret  P.  Joannis 
Verveaux  Historiae  Boicae,  nomen  alicuius  ex  Administris  Status  sui 
in  fronte  praefigere,  quo  tutius  lateret  verus  auctor,  quemad- 
modum  factum  esset,  quum  D.  Georgius  H  er  war  tu  s  jussus 
fuisset  nomen  suum  praebere  P.  Jacobi  KelleriLudo- 
vico  defenso.  And.  Felix  Oefelius. 

4)  Cod.  bav.  2210. 


Friedrich:  Der  Jesuit  P.  Keller.  51 

Zeit  war.  Offenbar  sollte  durch  die  grösstmögliche  Sorgfalt 
der  Verdacht  unmöglich  gemacht  werden,  dass  die  Arbeit 
von  einem  Jesuiten  stamme. 

Das  Geheimniss,  dass  P.  Keller  an  einer  Widerlegung 
des  Bzovius  arbeite,  wurde  aufs  strengste  gewahrt:  weder 
Maximilian  in  seinen  vielen  Rescripten  an  Gewold ,  noch 
Keller  in  seinen  Briefen  an  denselben,  der  nicht  blos  selbst 
an  einer  Verteidigung  Ludwigs  arbeitete,  sondern  dieselbe 
Bogen  für  Bogen  an  den  Jesuiten  zur  Censur  oder  richtiger 
zur  Correctur,  einsenden  musste,  verrathen  davon  eine  Silbe. 
Gewold  ist  überhaupt  von  Keller  nur  als  brauchbarer  Hand- 
langer für  Beschaffung  des  archivalischen  und  historischen 
Materials  benützt  worden.  Das  ging  doch  so  weit,  dass 
der  Jesuit,  um  wahrscheinlich  nicht  als  Verfasser  entdeckt 
zu  werden,  nicht  einmal  das  herzogliche  Archiv  benützte, 
sondern  Gewold  auf  herzoglichen  Befehl  umgehend  eine  Ab- 
schrift von  seiner  in  seinem  Werke  benützten  Abschrift  eines 
Dokuments  an  Keller  schicken  musste.  Dieser  lässt  Gewold 
beständig  in  dem  Glauben,  dass  neben  ihm  kein  anderer 
den  nämlichen  Gegenstand  bearbeite  und  seine  Arbeit  schliess- 
lich veröffentlicht  werden  solle;  er  überhäuft  ihn  mit  Lob, 
schickt  ihm  Censuren,  welche  er  nur  aus  Liebe  zu  Gewold 
mache,  lässt  sich  gelegentlich  auch  auf  eine  den  Gegenstand 
betreffende  Controverse  mit  ihm  ein  und  bewegt  ihn  sogar, 
sein  Buch  nicht  anonym ,  sondern  mit  seinem  Namen  er- 
scheinen zu  lassen.  Der  schlaue  Jesuit  hatte  inzwischen  das 
grosse  Interesse,  das  Maximilian  an  dem  Gegenstand  hatte, 
kennen  gelernt  und  machte  sich  mit  Hülfe  des  Gewoldischen 
Werkes  —  ich  werde  dies  später  zeigen  —  selbst  an  die  Arbeit: 
einen  solchen  Dienst  dem  erzürnten  Fürsten  zu  leisten,  durfte 
sich  die  Gesellschaft  Jesu  die  Gelegenheit  nicht  entgehen 
lassen.  Nebenbei  und  allmälig  wird  Gewolds  Arbeit  bei 
Maximilian,  wie  aus  den  fortlaufenden  Briefen  Kellers  und 
den  parallel  damit  gehenden  Rescripten  Maximilians  an  Gewold 


52  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

nicht  undeutlich  zu  erkennen  ist,  in  Misscredit  gebracht.  Im 
März  ist  Gewolds  Buch  druckfertig  und  hat  es  die  Censur 
Kellers  passirt;  dieser  empfiehlt  es  dem  Fürsten,  spricht 
aber  schon  von  einem  Kriege,  welchen  er  zu  Gunsten  Gewolds 
mit  Maximilian  zu  führen  hatte  und  verspricht,  auch  in  Zu- 
kunft gern  für  ihn  einen  neuen  Krieg  zu  führen5).  Gleich- 
zeitig ergeht  der  Befehl  Maximilians  an  den  Verfasser,  das 
Werk  in  den  Druck  gehen  zu  lassen ,  aber  nur  mit  der 
Censur  Kellers.  Habe  er  erhebliche  Bedenken  gegen  die 
Censur,  so  habe  er  vor  Beginn  des  Druckes  umständlich 
darüber  an  den  Fürsten  zu  berichten6).  Am  13.  Juni  ver- 
spricht Maximilian  dem  Gewold  eine  Unterstützung  für  die 
Drucklegung ,  wiederholt  aber  seinen  früheren  Befehl,  das 
Werk  nach  Kellers  Censur  einzurichten 7).  Am  2.  Juli 
spricht  Keller  in  einem  Brief  an  Gewold  seine  Sorge  aus, 
Bzovius  möchte  in  der  Gewold'schen  Schrift  eine  Blosse 
entdecken 8) ,  und  schon  am  9.  Juli  findet  sich  in  einem 
Rescripte  Maximilians  die  nämliche  Bemerkung 9).  Darauf 
folgen  noch  einige  Briefe  des  Jesuiten,  an  dessen  Buche 
inzwischen  ebenfalls  gedruckt  wurde;  er  überhäuft  Gewold 
mit  Lob,  namentlich  auch  weil  er  seine  Arbeit  unter  seinem 
Namen  erscheinen  lassen  wolle;  allein  plötzlich  befiehlt 
Maximilian  am  2.  August  die  Einstellung  des  Drucks  der 
Gewold'schen  Schrift.  „Dieweilen  wir  aber  ander  orthen 
auch  ein  refutation  wieder  besagten  Bzovium ,  damit  man 
nun  mehr  an  endt,  verfassen,  vnd  dir  solche  mit  negsten 
vmb  dein  Bedenckhen  zuekhommen  lassen  wollen,  allso  ist 
hiemit  vnnser  bevelch,  dass  du  mit  deiner  refutation  Inn- 
standt  haltest,  vnnd  weiter  darin  nichts  mehr  druckhen  lassest; 


5)  Cod.  bav.  2210.  fol.  159. 

6)  L.  c.  fol.  161. 

7)  L.  c.  fol.  183. 

8)  L.  c.  fol.  185. 

9)  L.  c.  fol.  189. 


Friedrich:  Der  Jesuit  P.  Keller.  53 

Sintemal  wir  noch  nit  resolviert,  ob  wir  beede  refutationes 
zugleich,  oder  aine,  vnd  welche  auss  dennselben  wollen 
ediern,  vnd  auskommen  lassen10)."  Da  aber  Gewold  an- 
zeigt, dass  der  Druck  seines  Buches  bereits  vollendet  sei, 
erhält  er  den  strengen  Befehl,  dass  er  durchaus  kein  Exem- 
plar in  andere  Hände  kommen  lasse  u). 

So  genau  ist  jedoch  das  Rescript  Maximilians  nicht 
zu  nehmen ;  denn  Keller  war  weder  mit  seiner  ganzen  Arbeit 
am  Ende,  noch  hatte  er  das  gesammte  Material  des  I.  Theiles 
beisammen.  In  dem  nämlichen  Rescript  vom  2.  August 
wird  Gewold  befohlen:  ,, Nachdem  auch  ein  sonderbare 
Notturfft,  dass  wir  der  jenigen  Schreiben,  so  von  wegen 
Kaysers  Ludwigs  Whal  von  Frankhfort  aus  an  die  von  Ach 
abgangen,  abschrifft  haben,  Alss  ist  hiemit  vnnser  gnädigister 
Bevelch,  das  du  Vnns  bey  Zaiger  diss  alss  baldt  solcher 
schreiben  Copias  ailher  ordnest18)."  Derjenige,  welcher 
aber  die  Abschrift  wirklich  bedurfte ,  war  P.  Keller 13), 
welcher  bereits  den  Druck  seines  Ludovicus  defensus  hatte 
beginnen  und  aus  Gewoids  Buch  das  erwähnte  Schreiben 
abdrucken  lassen ;  denn  gegen  seine  Gewohnheit  citirt  er  den 
Ort,  wo  er  es  her  habe,  nicht,  erst  später  bei  einer  gelegent- 
lichen Erwähnung  desselben  heisst  es:  in  archivo  Serenissimi 
(pag.  33.  67).  Auch  hatte  Keller  um  diese  Zeit  erst  das 
Wahldecret  Ludwigs,  welches  die  Kurfürsten  ausgestellt 
hatten,  die  ihn  gewählt  hatten,  aus  Augsburg  zurückerhalten, 
wo  der  Bischof  die  Abschrift  mit  dem  Original  verglichen 
und  die  Aechtheit  am  19.  Juli  1618  bestätigt  hatte.     Auch 


10)  L.  c.  fol.  199. 

11)  L.  c.  fol.  201. 

12)  Cod.  bav.  2210.  fol.  199. 

13)  L.  c.  fol.  187:  Deinde  oro,  uti  mihi  perscribat  e  quo  Ar- 
chivo, seu  alio  scrinio  petitae  sint  litterae  Francofurtensium ,  in 
quibus  dinumerantur  Principes  pro  Ludovico  suffragantes :  interest. 
u.  scire. 


54  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  3.  Januar  1874. 

dieses  Decret  ist  aus  Gewold  herübergenommen,  da  er  das 
gleiche  Datum  der  drei  Notare  gibt,  welche  dem  Gewold 
die  Aechtheit  bestätigt  hatten. 

Keller  hatte  seinen  Zweck  vollkommen  erreicht:  er  er- 
wies dem  Kurfürsten  einen  grossen  Dienst,  und  auf  der  anderen 
Seite  hatte  er  durch  den  Namen  Herwärts  die  Beschuldigung' 
von  seinem  Orden  ferngehalten ,  dass  er  gegen  Roms  An- 
sprüche sich  erhoben  hätte.  Dass  Herwart  der  eigentliche 
Verfasser  sei,  glaubten  alle  Nichteingeweihte,  wenn  sie  auch 
vermutheten ,  dass  Gewold  gewiss  seinen  Theil  daran  habe. 
So  schreibt  Jobst  aus  Regensburg  vom  21.  Juni  1619:  „Im 
fahl  der  Herr  Landschafft  Canzler  (darzu  der  Herr  Schwager 
zweiffelsohne  threulich  wirt  geholffen  haben)  dem  Bzovio  die 
Britschen  nit  recht  geschlagen,  so  weise  ich  nit,  was  britschen 
ist,  der  Teuffei  schreibe  mer  etwas  wider  euch  Bayrische 
Scribenten,  oder  Euern  Herrn  14)."  Auch  Johannes  Nieber, 
der  die  herbe  Weise,  mit  der  man  gegen  Bzovius  vorging, 
beklagt,  zweifelt  nicht  an  der  Autorschaft  Herwärts15).  Nur 
die  Jesuiten  scheinen  den  wahren  Autor  gekannt  zu  haben, 
wie  aus  einer  Anfrage  des  P.  Gallus  Zeidlhuber  aus  Passau 
bei  Rader  hervorzugehen  scheint 16).  Die  Billigung  des 
Ordens  scheint  Keller  jedoch  nicht  gefunden  zu  haben,  wenn 
eine  Stelle  in  der  Censura  circa  annales  provinciae  Germa- 
niae  superioiis  1615—1650,  worin  namentlich  auch  Keller 
wegen  Herausgabe  anonymer  und  pseudonymer  Schriften 
von  „gefährlichen  oder  undankbaren  Thematen"  getadelt 
wird  n),  sich  auch  auf  seinen  Ludovicus  bezieht. 

Auch  scheint  Keller  gefürchtet  zu  haben,  dass  er  doch  noch 
entdeckt  werden  dürfte,  und  aus  dem  Grunde  scheint  nach- 


14)  Cod   bav.  2212.  fol.  163. 

15)  Cod.  lat.  Mon.  1616.  fol.  324. 

16)  Cod.  lat.  Mon.  1611.  Ep.  89. 

17)  Allgem.  Reichsarchiv;  Jesuitica  in  genere  fasc.  9.  No,84\ 


Friedrich:  Der  Jesuit  P.  Keller.  55 

träglich  im  Jahre  1619  ein  neues  Titelblatt  gedruckt  wor- 
den zu  sein,  das  sich  von  dem  der  ursprünglichen  Ausgabe18) 
nur  dadurch  unterscheidet,  dass  statt  Monaci  Monachii  steht, 
auf  der  zweiten  Seite  ein  fingirtes  Deeret  an  Herwart  vom 
16.  März  1618  sich  findet,  worin  ihm  der  Befehl  zugeht, 
den  Ludovicus  defensus  zu  schreiben,  und  nach  der  ursprüng- 
lichen Vorrede  ein  Briefwechsel  zwischen  Bzovius  und  Her- 
wart vom  Jahre  1619  eingeschoben  ist.  Sonst  blieb  das 
Buch  unverändert. 


18)  Das  Exemplar  Oefele's  repräsentirt  die  ursprüngliche  Ausgabe. 


Herr  v.  Liliencron  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber  die  Gegenstände  der  öffentlichen 
Meinung  in  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts". 

(Wird  in  den  Denkschriften  veröffentlicht  werden.) 


Sitzung  vom  7.  Februar  1874. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 


Herr  Lauth  trägt  vor: 

„Die   Schalttage    des    Ptolemäus   Euer- 
getes  I.  und  des  Augustus". 
(Mit  einer  Tafel.) 

Seit  der  Auffindung  der  bilinguen  und  trigraphischen 
Inschrift  von  Rosette  am  Schlüsse  des  vorigen  Jahrhunderts 
hat  nicht  leicht  eine  Entdeckung  archäologischer  Art  in  der 
gelehrten  Welt  ein  ebenso  lebhaftes  Interesse  erregt,  als  die 
Entdeckung  des  gleicher  Weise  zweisprachig  und  dreischriftig 
abgefassten  Decretes  von  Kanopus  in  den  Trümmern  der 
alten  Stadt  Tanis  (San).  Indem  ich  die  zum  Theile  uner- 
quicklichen Prioritäts-Streitigkeiten  hier  bei  Seite  lasse  und 
nur  auf  die  betreffenden  Ausgaben1)  der  glücklichen  Finder 
hinweise ,  bleibt  vorläufig  noch  zweierlei  hervorzuheben. 
H.  Rösler  macht  auf  der  letzten  Seite  bemerklich,  dass 
Burton 2)  ein  Fragment  von  identischem  Inhalte  längst  init- 
getheilt  hatte  und   dass  dieses  jetzt  zu  einer  gewissen  Be- 


1)  Lepsius:  ,,Das  bilingue  Decret  von  Kanopus"  1866  (Berlin)  — 
Reinisch  und  Rösler:  „Die  zweisprachige  Inschrift  von  Tanis"  1866 
(Wien). 

2)  Excerpta  hieroglyphica  pl.  54  u.  55, 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ftolemäus  Euergetes  L  57 

deutung  gelangende  Bruchstück  von  De  Rouge,  als  der 
Sammlung  des  Louvre  angehörig,  in  seiner  Beschreibung 
erwähnt  werde.  In  der  That  äussert  sich  der  leider  zu 
früh  (31.  Dec.  1872)  verstorbene  Aegyptologe  Vicomte  Em- 
manuel de  Rouge  in  seiner  „Notice  des  monuments  egyp- 
tiens  du  musee  du  Louvre"  p.  69  unter  Nro.  122  hierüber 
folgendermassen :  Fragment  de  stele  en  basalte  vert  fonce. 
Haut  1,95m.  — -  larg.  0,40  m.  Cette  stele,  rompue  verti- 
calement,  contenait  un  decret  analogue  ä  celui  de  Rosette 
et  trilingue  comme  ce  dernier.  La  surface  en  est  pres- 
que  entierement  usee.  II  servait  de  seuil  a  la  mosquee 
Djema  emir  Kour,  au  Caire.  Quelques  mots  grecs  dechiffres 
par  M.  Letronne,  et  qui  ne  se  trouvent  pas  dans  l'inscrip- 
tion  de  Rosette,  montrerent  ä  ce  savant,  que'  ce  n'etait 
pas  le  meme  decret;  en  effet,  on  y  distingue  le  cartouche 
d'une  reine  (Arsinoe).  Quelques  mots  peuvent  etre  reconnus 
dans  les  trois  versions,  malgre  l'extreme  usure  de  la  pierre". 
Ich  selbst  hatte  1864  bei  meiner  Anwesenheit  in  Paris 
weitere  Stellen  zu  lesen  vermocht,  Was  aber  nicht  hinreichte, 
den  Inhalt  genauer  zu  präcisiren.  Dagegen  habe  ich  in 
meiner  Uebersetzung  des  liieroglyphischen  Textes  dieser  neben 
der  Rosettaua  als  Tanitica  zu  bezeichnenden  Inschrift 3), 
sowie  in  meiner  Kritik  namentlich  des  griechischen 
Textes4),  gegen  das  Schweigen  der  Herausgeber,  ja  gegen 
die  bestimmte  Abläugnung  eines  derselben  in  Betreff  der 
dem o tischen  Redaction,  sofort  die  Behauptung  gewagt, 
class  auch  diese  sich  auf  dem  Steine  finden  müsse.  Ich 
hatte  die  Genugthuung,  nach  Verlauf  kurzer  Zeit  durch 
meinen  Freund  II .  v.  Horrack  in  Paris,  die  erfreuliche  Nach- 
richt zu  erhalten,  dass  der  demotische  Text  sich  wirklich 
auf  dem  Steine   befindet,   nämlich  am    äussern  Rande,  der 


3)  Allgemeine  Zeitung  1866. 

4)  Litterar.  Centralblatt  1866. 


58        Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  7.  Februar  1874. 

wegen  des  umliegenden  Schuttes  zuerst  unbemerkt  bleiben 
musste.  H.  Mariette  hatte  unterdessen  einen  Abklatsch  des- 
selben an  H.  de  Rouge  nach  Paris  gesendet5). 

Hat  nun  auch  durch  die  Auffindung  der  ganzen  und 
gänzlich  wohlbehaltenen  Tanitica  das  Fragment  des  Louvre 
in  demselben  Augenblicke  scheinbar  seinen  Werth  verloren, 
wo  es  ihn  erhielt,  so  leistet  es  uns  doch  den  erklecklichen 
Dienst,  dass  wir  die  Bestimmung  des  Decretes,  wornach  der 
Beschluss  der  in  Kanopus  versammelten  Priesterschaft  in 
allen  Tempeln  erster  zweiter  und  dritter  Ordnung  als  Stele 
aufgestellt  werden  sollte,  hiemit  an  einem  zweiten  Beispiele 
verwirklicht  sehen.  Ja,  wenn  der  Nil  dem  neu  projectirten 
Museum  auf  der  (ehemaligen)  Insel  Geziret  bei  Cairo  einst 
einen  ähnlichen  Besuch  abstatten  sollte ,  wie  unlängst  dem 
von  Bulaq,  so  könnte  das  Pariser  Fragment  als  alleinige 
Originalquelle  dastehen  und  in  so  ferne  würde  es  sich  gewiss 
der  Mühe  verlohnen,  wenn  nach  der  zweiten  und  voraus- 
sichtlich besser  erhaltenen  Hälfte  desselben  in  der  Nähe  der 
Moschee  Djema-Emir-Kur'Nachforschungen  angestellt  würden. 

Obwohl  die  Tanitica  in  mehrfacher  Hinsicht  eines  der 
bedeutendsten  bilinguen  Denkmäler  des  Alterthums  ist  —  auch 
die  griechische  Epigraphik  dürfte  kein  grösseres  aufzuweisen 
haben  —  und,  weniger  für  die  vorgeschrittenen  Aegyptologen 
selbst,  als  für  die  Adepten  der  Wissenschaft  und  ihre  Be- 
mängler,  ein  mächtiges  Hülfsmittelzum  Verständnisse  altägypti- 
scher Texte  darbietet ,  so  liegt  doch  der  Schwerpunkt  ihrer 
Bedeutungin  der  ausführlich  erörterten  Kalender-Neuerung, 
welche  unter  Euergetes  I  Jahr  9  eingeführt  wurde.  Da  der  be- 
treffende Passus  für  mein  Thema  von  entscheidender  Wichtig- 
keit ist,  so  will  ich  ihn  nach  dem  griechischen  Originaltexte 
lin.  33 — 46  in  deutscher  Uebersetzung  vorführen.  Nachdem  die 


5)  Es  dürfte  nicht  mehr  zu  früh  erachtet  werden,    wenn  auch 
dieser  Text  der  Oeffentlichkeit  übergeben  würde. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  59 

Wohlthaten  und  Feldzüge  des  Euergetes,  sowie  die  Schaffung 
einer  neuen  Phyle  von  Priestern  weitläufig  erwähnt  worden 
ist,  heisst  es:  1.  33  .  .  .  „Und  sintemal  allmonatlich  in  den 
Tempeln  als  Feste  der  Götter  Euergeten  (d.h.  des  Königs 
und  seiner  Frau)  nach  dem  früheren  Beschlüsse 
1.  34  der  5.  und  9.  und  25.  (Tag)  begangen  werden  und 
man  den  übrigen  grössten  Göttern  alljährlich  öffent- 
liche Feste  und  Panegyrien  veranstaltet:  1.  35  so  soll  all- 
jährlich begangen  werden  eine  öffentliche  Panegyrie, 
sowohl  in  den  Tempeln  als  im  ganzen  Lande,  zu  Ehren  des 
Königs  Ptolemäus  und  der  Königin  Berenike,  1.  36  der 
Götter  Euergeten,  an  dem  Tage,  an  welchem  aufgeht 
(heliakalisch)  das  Gestirn  der  Isis,  welcher  (Tag) 
in  der  heiligen  Litteratur  als  Neujahr  gilt  — 
es  wird  diese  aber  jetzo  im  9.  Jahre  begangen, 
1.37  an  derNumenie  des  Monats  Payni,  in  welchem 
auch  die  kleinen  Bubastien  und  die  grossen  Bubastien  ge- 
feiert werden,  so  wie  in  ihm  auch  die  Einheimsung 
der  Feldfrüchte  und  1.  38  das  Steigen  des  Flusses 
erfolgt. 

Wenn  es  aber  auch  zutrifft,  dass  der  Auf- 
gang des  Gestirnes  auf  einen  andern  Tag  (des 
Wandeljahres)  übergeht  alle  vier  Jahre,  so  soll 
die  Panegyrie  nicht  (mit)  verlegt,  1.  39  sondern 
(fort  und  fort)  begangen  werden  an  der  Numenie 
des  Payni,  an  welcher  sie  anfänglich  (und)  im  neun- 
ten Jahre  begangen  ward;  und  zwar  soll  man  1.  40 
sie  auf  fünf  Tage  hinaus  veranstalten  unter  Tragung  von 
Kränzen,  unter  Darbringung  von  Thier-Opfern  und  Libationen, 
sowie  den  sonstigen  Gebräuchen.  Damit  aber  auch  die 
Jahreszeiten  ihre  Regel  einhalten  immerdar  ge- 
mäss.der  jetzigen  1.  41  Anordnung  des  Kosmos, 
und  damit  es  sich  nicht  ereigne,  dasseinige  der 
öffentlichen  Feste,  die  jetzt  in  den  Winter  fallen, 


60       Sitzung  der  philos.'phüol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

einst  im  Sommer  begangen  werden,  indem  das 
Gestirn  1.  42  alle  vier  Jahre  um  einen  Tag  vor- 
rückt; dass  dagegen  andere  derjetzt  indenSom- 
mer  fallenden  (Feste)  in  der  Folgezeit  im  Winter 
begangen  werden ,  wie  es  sich  1.43  sowohl  früher 
ereignet  hat,  als  auch  jetzt  (wieder)  geschehen 
würde,  wenn  die  Zusammensetzung  des  Jahres 
aus  den  (bekannten)  360Tagen  und  den  später  1.44 
üblich  gewordenen  5  Zusatztagen  (Epagomenen)  fort- 
bestehen bliebe:  so  soll  von  jetzt  an  ein  Tag  als 
Fest  der  Götter  Euergeten  hinzugesetzt  werden 
alle  vier  Jahre  zu  den  fünf  1.  45  Epagomenen 
(unmittelbar)  vor  dem  Neujahr,  damit  alle  wissen, 
(wie)  dass,  was  früher  mangelhaft  gewesen  in 
Betreff  der  Eintheilung  der  Jahreszeiten  und 
des  Jahres  und  der  bezüglich  der  1.  46  Gesamint- 
anordnung  des  Himmels  (jcolog)  geltenden  Heb- 
ung, verbessert  und  ergänzt  word  en  ist  durch 
die  Götter  Euergeten." 

So  weit  unser  Text,  der  nicht  den  sprüchwörtlichen 
Lapidarstil,  sondern  eher  eine  gelehrte  Breite  darbietet,  wie 
man  sie  nur  in  Schriften  anzutreffen  erwartet.  Trotz  dieser 
Ausführlichkeit  erheben  sich  grosse  Schwierigkeiten,  sobald 
man  die  Angaben  des  Textes  rechnerisch  verwerthen  will. 
Die  erste  Schwierigkeit  habe  ich  durch  richtige  Trennung 
der  Wörter  (von  lin.  43)  xävvv  av  eylvero  und  meine  Ueber- 
setzung  „und  wie)  es  auch  jetzt  (wieder)  geschehen  würde" 
zum  Theile  beseitigt  und  zwar  schon  in  meinem  kritischen 
Artikel  ad  xävvv  dveylvero  „und  (wie  es)  auch  jetzt  geschah" 
der  Wiener  Ausgabe.  Lepsius  trennt  und  übersetzt  wie  ich, 
ohne  indess  daraus  dieselbe  Schlussfolgerung  zu  ziehen,  wie 
wir  weiterhin  sehen  werden. 

Die  zweite  Schwierigkeit,  im  engsten  logischen  Zusammen- 
hange mit   der  ebengenannten  stehend,  liegt  in  den  Worten 


Latith:  Die  Schalttage  des  Ptölemäus  Euergetes  I.  61 

1.  39 :  ev  f  xal  e§  dQ%rjs  ijx&rj  £v  v<p  hart})  Irei.  Reinisch 
übersetzt:  „an  welchem  (Neumond  des  Payni  d.  h.  dem  1. 
dieses  Monats)  sie  schon  von  Anfang  gefeiert  worden  ist 
in  dem  Jahre".  Man  sieht  dass  er  evccTtt)  ausgelassen  hat. 
Lepsius  überträgt  diese  Stelle :  „an  welchem  sie  von  Anfang 
an  im  9.  Jahre  gefeiert  wurde",  wobei  das  xai  unberück- 
sichtigt geblieben  ist.  Vergleicht  man  die  dem  Sinne  nach 
identische  Stelle  von  1.  36/37:  ayszai  de  vvv ,  ev  tio  evdvco 
I'tei,  (rrj)  vovurjvla  tov  Ilavvl  [tyvog  „(das  Neujahrfest)  wird 
aber  jetzt,  im  9.  Jahre,  am  1.  Payni  begangen",  so  muss 
die  Verschiedenheit  des  Tempus  (rj^rj—ayeTai)  befremden. 
Nun  könnte  man  dieses  Bedenken  durch  die  Erwägung  heben, 
dass  in  der  Stelle  mit  rjydr]  Bestimmungen  für  die  Zukunft 
getroffen  werden ,  in  welcher  natürlich  die  Gegenwart  als 
Vergangenheit  erscheinen  muss.  Allein  der  hieroglyphische 
Text  lin.  18  leitet  die  dem  ayerai  entsprechende  Stelle  durch 

1\  ^^^v\   m-tu-tu   „man  soll  (begehen)"   ein,    so  dass 

der  Grieche,  seiner  sonstigen  Uebung  entsprechend,  einen 
Infinitivus  ayeodai  hätte  setzen  sollen.  Bedenkt  man  ferner, 
dass  in  dem  Vergleichungssatze  1.  42/43  ^a^diteq  kqotsqov 
TS  ovfißeßi]K£v  yeveödat  y.avvv  av  eylvezo,  ausser  der  all- 
gemeinen Verschiebung  der  Winter-  und  Sommerfeste  auch 
die  spezielle  Vorrückung  des  Sothis-Sternes  um  einen  Tag 
alle  vier  Jahre:  tov  ccotqov  fieTaßalvovTog  \iiav  r^ieqav  öid 
Teaodqiov  hwv  gern  eint  ist,  so  kommt  man  mit  mir  zu  dem 
Schlüsse,  dass  die  Fixiruug  des  Siriusaufgangs  auf  den  1.  Payni 
gerade  desshalb  so  hervorgehoben  und  darum  getroffen  wurde, 
weil  die  Vorrückung  auf  den  2.  Payni  des  Wandeljahres, 
ohne  diese  Anordnung,  sofort  erfolgt  wäre.  Jetzt  gewinnt 
das  oben  besprochene  wd  ein  anderes  Gesicht.  Obwohl 
man  es  mit  „auch"  oder  „schon"  übersetzen  könnte,  so 
dürfte  sich  doch,  im  Hinblicke  auf  das  bisher  Gesagte  und 
die  weiterhin  folgenden  Rechnungen,  allenfalls  die  Umsetzung 


62        Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  7:  Februar  1874. 

empfehlen:  ev  ft  (vovf,irjvia  xov  TIavvl)  e£  ccoyjtg  ry&r]  v.al 
Iv  tvj  evario  ezet  also  mit  Transposition  des  xcci,  oder :  h 
f  Kai  ei;  aoyrjg  rj'/Orj  tv  re  T(p  evdrq)  ETei,  was  die  Einsetz- 
ung des  Wörtchens  ts  vor  ry  erheischen  würde. 

Es  muss  ferner  berücksichtigt  werden,  dass  unser  Text 
1.  33/34  anlässlich  der  drei  monatlichen  Feste  zu  Ehren  der 
Euergeten  (5.  als  Geburtstag,  9.  vermuthlich  als  Datum  seiner 
Verheirathung  und  der  25.  als  Tag  der  Thronbesteigung) 
auf  ein  früheres  Decret  verweist:  xcctcc  tö  ttqotsqov 
ipfyiotia.  In  diesem  handelte  es  sich  wahrscheinlich  um 
die  Huldigung  und  sicher  um  die  Festsetzung  der  drei  ge- 
nannten Monatsfeste.  Aehnlich  bezieht  sich  das  Decret  von 
Philae6),  das  vom  21.  Jahre  des  Epiphanes  datirt  ist,  auf 
den  Beschluss  vom  Jahre  9  (d.  h.  die  Inschrift  von  Rosette) 
anlässlich  der  beiden  Monatsfeste  (30.  u.  17.),  fügt  aber  ein 
drittes  zu  den  von  der  Rosettana  her  bekannten  zwei: 
30.  Mesori  und  17.  Mechir,  nämlich  den  30.  Mechir,  welcher 
mit  dem  Namen  der  Königin  Kleopatra  in  Verbindung  steht, 
so  dass  also  jeder  30.  ein  Doppelfest  war,  weil  die  Verhei- 
rathung des  Königs  wie  seine  Geburt,  auf  einen  30.  gefallen 
war.  Aus  diesem  Grunde  habe  ich  oben  vermuthet,  dass 
in  der  Tanitica  der  9.  als  Monatsfest  sich  auf  das  gleiche 
Ereigniss:  die  Hochzeit  der  beiden  Euergeten,  bezieht.  Lep- 
sius  p.  10  denkt  an  das  Geburtsfest  derBerenike.  Dieses 
frühere  jp^cpiof.ia  —  leider  ist  das  Jahr  seiner  Abfassung 
nicht  angegeben !  —  steht  aber  in  engster  Verbindung,  weil 
Vordersatz  (sv  tdlg  ugolg),  mit  dem  Nachsatze,  in  welchem 
das  Euergeten-Fest  des  Siriusaufgangs  auf  dem  1.  Payni  fest- 
gehalten wird,  mit  dem  Unterschiede,  dass  die  betreffende 
Panegyrie  jetzt  eine  di^ioTeti.g  ,,  ö f  f  e  n  1 1  i  c h  e  u  wird,  wäh- 
rend sie  dem  früheren  ipr'tfiGfAa  zufolge  nur  in  den  Tem- 
peln begangen  und  mit  der  weiteren  Differenz,  dass  sie 
nach   Analogie   der  Feste   der  grossen  Götter  nur  einmal 

6)  Brugsch:  Demotische  Urkunden  pl.  III  1.  13. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  63 

im  Jahre  (nicht  jeden  Monat,  wie  die  drei  andern 
Feste),  gefeiert  werden  sollte.  Noch  ist  zu  erwägen,  dass 
der  griech.  Passus  v.ara  to  7fQÖxeqov  ^r^iöf-ia,  dem  hierogl. 

Ifck/  I  VQÖl  £*  "  „in  Ausführung  des  früher  ver- 
fassten  Beschlusses"  entspricht.  Aus  alle  dem  müssen  wir 
schliessen,  dass  in  den  Tempeln  schon  vor  dem  Jahre  9 
des  Euergetes  eine  Panegyrie  dieses  Betreffes  gehalten  wurde, 
und  da  bietet  sich  von  selbst  die  Annahme  dar,  dass  dieses 
damals  stattfand,  als  der  Siriusaufgang  mit  dem  1.  Payni 
ohne  besondere  Fixirung  von  selbst  zusammenfiel,  d.  h.  durch 
das  natürliche  Zurückbleiben  des  kürzeren  Wandeljahres  hinter 
dem  festen  Siriusjahre  herbeigeführt  wurde. 

Um  dieses  bestimmte  Jahr,  oder  auch  nur  das  betreffende 
Quadrienniura,  zu  ermitteln,  ist  ein  Blick  auf  die  Sothisperiode 
und  diejenige  ihrer  Epochen  geboten,  welche  der  fraglichen 
Zeit  zunächst  vorangeht  oder  nachfolgt.  Hier  kommt  nur 
letztere  in  Betracht,  auch  desswegen,  weil  wir  über  dieselbe 
die  classische  Angabe  des  Censorinus  de  die  natali  c.  18  u.  21 
besitzen.  Unmittelbar  nach  der  Besprechung  der  griechischen 
Mondcyclen  fährt  er  fort :  Ad  Aegyptiorum  vero  annum 
luna  non  pertinet;  quem  graece  kvvmov  latine  vero  cani- 
cularem  vocamus,  propterea  quod  initium  illius  sumitur, 
quum  primo  die  ejus  mensis,  quem  vocant  Aegyptii  Thoth, 
canictdae  sidus  exoritur.  Nam  eorum  annus  civilis  solos 
habet  dies  CCCLXV,  sine  uno  intercalari.  Itaque  quadrien- 
nium  apud  eos  uno  circiter  die  minus  est  quam  naturale 
quadriennium,  eoque  fit,  ut  anno  MCCCCLXI  ad  idem  revol- 
vatur  principium.  Hie  annus  etiam  rfiiaxog  a  quibusdam 
dicitur,  et  ab  aliis  6  deov  eviavzog. 

Soviel  über  die  Dauer  des  Jahres  und  der  Periode. 
Die  Epoche  anlangend,  schreibt  er  c.  21: 

Ut  a  nostris,  ita  ab  Aegyptiis,  quidam  anni  in 
litteras  relati  sunt,    ut  quos  Nabonnazaru( — qov)   nominant, 


64       Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

quod  a  primo  imperii  ejus  anno  consurgunt;  quorum  hie 
DCCCCLXXXVI.  Dies  sind  986  Jahre  des  Canons  auf 
Grund  der  Aera  Nabonnazar's ,  Epoche:  26.  Februar  747 
v.  Christus,  wie  ein  persisch-arabischer  Schriftsteller 7)  886 
Jahre  des  Bochtenasr  mit  der  Epoche :  erstes  Jahr  des  Kaisers 
Abtinus  (Antoninus)  zusammenbringt.  In  der  That  steht  nach 
Aegyptischer  Rechnung  der  Anfang  des  Antoninus jiuf  138, 
10.  Juli  nach  Christus,  also  10  Tage  vor  dem  Siriusaufgang 
(am  20.  Juli).  Aber  sowohl  136,  137,  138  als  auch  139 
nach  Christus  haben  dieselbe  Signatur.  Man  sieht,  dass  des 
Censorinus  Summe  gerade  um  runde  100  Jahre  grösser  ist: 
986  der  nabonass.  Aera.  Wirklich  sagt  er  bei  Anführung 
der  —  (item  Philippi  (Arrhidaei)  qui  ab  excessu  Alexandri 
Magni  numerantur  et  huc  usque  perducti ,  annos  DLXI1 
Consultant)  —  und  es  ergibt  auch  hier  die  Rechnung 
323  v.  Christus  +  562  ==  238/239  nach  Christus  wie  die 
Nennung  der  Consuln  beweist  —  Folgendes :  Hie  annus,  cujus 
velut  index  et  titulus  quidam  est  Ulpii  et  Pontiani  consu- 
latus.  Dieser  scheinbar  unvollendete  Satz  ist  als  emphatische 
Wiederholung  des  vorausgehenden  und  nur  durch  die  Paren- 
these (item  Philippi  etc.)  getrennten  quorum  hie  986  tu*  zu 
fassen.  Alsdann  heisst  es :  Sed  horum  initia  semper  a  primo 
die  mensis  ejus  sumuntur,  cui  apud  Aegyptios  nomen  est 
Thoth,  quique  hoc  anno  fuit  ante  diem  VII  Cal.  Jul.,  quum 
abhinc  annos  centum,  Imperatore  Antonino  Pio  II  (iterum) 
et  Bruttio  Praesente  Coss.  idem  dies  fuerit  ante  diem  XII 
Cal.  August.,  quo  tempore  solet  canicula  in  Aegypto  facere 
exortum.  Quare  scire  etiam  licet,  anni  illius  magni,  qui,  ut 
supra  dictum  est,  et  solaris  et  canicularis  et  Dei  annus  vocatur, 
nunc  agi  vertentem  annum  centesimum. 

Hier  haben  die  Bearbeiter  alle  die  Correctur  XIII  Cal. 
als  noth wendig  erkannt,  weil  -j-  oder  25  Tage  vom  25.  Juni 


7)  Tdeler:  Handbuch  der  Chronologie  II  G27. 


Lauth:  Die  Schälttage  des  Ptolcmäus  Energetes  I.  65 

weiter  gerechnet,  auf  den  20.  Juli:  XIII  Cal.  Aug.  führen, 
nicht  aber  auf  den  21.:  XUCal.  Aug.  Weniger  gewaltsam 
wird  die  Aenderung  erscheinen,  wenn  wir  die  Schreibung 
XHICal.  als  ursprünglich  ansehen  und  sie  archaisirend  als 
XIIKal.  auffassen  lassen,  woraus  dann  missverständlich  die 
falsche  Lesart  XII  Cal.  entstanden  ist. 

Auf  jeden  Fall  bezeichnet  der  Frühaufgang  des  Sirius 
am  20.  Juli  die  Tetraeteris  136,  137,  138,  139.  Dazu 
stimmt  es  vortrefflich,  dass  die  Kopten  auf  Grund  des  fixen 
sogenannten  alexandrinischen  Kalenders  jedesmal  ein  Jahr 
früher  einen  Tag  einschalteten,  als  der  julianische  Kalender. 
Da  nun  in  letzterem  das  Jahr  140  nach  Chr.  ein  Schaltjahr 
ist,  so  mussten  die  Aegypter  anno  139  ihr  Schaltjahr  haben, 
folglich  der  vorhergehende  Schalttag  in  das  Jahr  135  nach 
Chr.  gefallen  sein,  mit  dem  die  Siriusperiode  abschloss. 

Rechnet  man  nun  nach  diesem  Prinzipe  zurück,  so 
findet  man,  dass  der  heliakalische  Aufgang  des  Sirius  (Sothis, 
Gestirn  der  Isis)  auf  den  1.  Payni  gefallen  war  in  den  Jahren 
245,  244,  243,  242  vor  Christus8)  und  da  der  Schalttag 
sich  allmählig  aus  den  vier  Vierteltagen  summirt,  so  mochten 
die  Aegypter  während  der  Regierung  des  Euergetes  I,  der 
247  v.  Christus  auf  den  Thron  gelangte  und  bis  222  herrschte, 
in  den  Jahren  242,  238,  234,  230,  226,  222  einschalten, 
wenn  diese  neue  Einrichtung  schon  im  fünften  Jahre  dieses 
Königs  praktisch  wurde.  Statt  dieser  sechs  Schalttage  (oder 
Schaltjahre)  vermuthet  Lepsius  (p.  14  seiner  Einleitung)  nur 
die  fünf  zuletzt  genannten  als  möglich.  Ich  werde  die  An- 
sicht des  bewährten  Nestors  der  Aegyptologie  gewissenhaft 
prüfen,  aber  nur  zum  Theile  monumental  bestätigen,  übrigens 
seine  scharfsinnige  Bemerkung  über  die  mit  Philopator  ein- 
getretene Reaction   auf  Grund  eines  Denkmals  rechtfertigen. 


8)  Vergl.  P.  J.  Junker:    Untersuchungen  über  die  ägyptischen 
Sothisperioden  p.  30. 
[1874,  1.  Phil.  bist.   Cl.]  5 


66        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

Aber  in  Betreff  der  Siriusperiode-Epoche ,  die  er  mit  139 
n.  Christus  statt  mit  136  beginnen  lässt,  sowie  in  Bezug 
auf  die  nothwendig  vor  238  v.  Christus  anzusetzende  Pro- 
jectirung  der  Fixation  des  Siriusaufgangs  auf  den  1.  Payni, 
so  sehr  wir  in  der  Grundannahme  übereinstimmen,  bin  ich 
wegen  der  weiterhin  zu  besprechenden  Denkmäler  genöthigt, 
eine  andere  Ansicht  aufzustellen.  Da  man  aber  von  einem 
solchen  Forscher  immer  lernen  kann,  auch  wo  man  von  ihm 
abweicht,  und  seine  Hypothese  an  und  für  sich  die  grösste 
Beachtung  verdient,  so  will  ich  dieselbe  hier  zwar  in  mög- 
lichster Kürze,  aber  ohne  wesentliche  Auslassung  vorführen. 
Er  sagt  p.  13: 

„Von  Wichtigkeit  ist  nun  aber  die  Angabe  in  unserer 
Inschrift,  dass  im  9.  Jahre  Euergetes  I  der  Aufgang  d.h. 
der  heliakalische,  des  Isisgestirnes  auf  den  ersten  Payni 
fiel  (richtiger  ayercu  und  noch  besser  ayeo&ai  begangen 
werden  sollte).  Da  der  1.  Thoth  dieses  9.  Jahres  auf  den 
22.  Oktober  239  vor  Chr.  fiel  (zum  4.  Male,  nach  Lepsius 
zum  ersten  Male)  und  das  folgende  Julianische  (proleptische) 
Jahr  "kein  Schaltjahr  war,  so  fiel  der  1.  Payni  9  Monate 
oder  270  Tage  später  auf  den  19.  Julianischen  Juli  und  in 
den  drei  folgenden  Jahren  auf  den  18.  Juli.  Hierin  liegt 
eine  grosse  Schwierigkeit'1:  Lepsius  erwartet  mit  Andern 
statt  des  19.  Juli  den  20.  Juli  und  sieht  desshalb  „für  jetzt 
keine  befriedigende  Lösung  dieses  Widerspruchs".  Da  ihm 
nun  ,,das  dem  1.  Payni  (des  Wandeljahres)  entsprechende 
Julianische  Datum  immer  nur  zwischen  dem  19.  u.  18.  Juli, 
nicht  zwischen  dem  20.  u.  19.  Juli  schwanken  konnte,  wenn 
man  nämlich  die  Schwierigkeit  durch  eine  andere  Lage  des 
Schaltjahres  beseitigen  wollte,  so  stellt  er  provisorisch  „bis 
sich  vielleicht  eine  andere  Erklärung  darbietet",  folgende 
Vermuthung  auf:  „Wenn  die  ägyptischen  Priester  den  Plan 
der  Kalenderreform  vier  Jahre  früher  im  Jahre  242  v.  Chr., 
in    welchem  vielleicht  das    frühere  Decret  abgefasst  wurde, 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemüas  Euergetes  I.  67 

in  Ausführung  gebracht  hätten,  so  würde,  da  der  1.  Thoth 
damals  auf  den  23.  Oktober  fiel,  der  Sothisaufgang  in  der 
That  auf  den  1.  Payni  gefallen  sein,  während  er  im  Jahre 
238  vielmehr,  (nach  Censorinus)  auf  den  2.  Payni  fallen 
musste.  Vielleicht  war  schon  damals  (242)  das  Project  ge- 
fasst,  kam  aber  aus  irgend  einer  Ursache  nicht  zu  Stande. 
Die  Zweckmässigkeit,  den  Anfang  des  Sothis- 
j  ah  res  in  dem  laufenden,  hinfort  aber  zu  fix  ir  en- 
den Kalender  auf  den  1.  statt  auf  den  zweiten 
Tag  eines  Monats  zu  legen,  ist  nicht  zu  ver- 
kennen". Ich  habe  diese  Stelle  gesperrt  gegeben,  weil 
sie  wirklich  das  Räthsel  zum  Theile  löst.  Wir  wissen  aus 
den  Denkmälern  —  wenigstens  hoffe  ich  es  in  meinem  nächsten 
grösseren  Werke  „Sothis"  nachweisen  zu  können  —  dass 
die  Coincidenz  des  heliakal.  Sothisaufgangs  mit 
je  einem  ersten  Monatstage  des  Wandeljahres^be- 
sonders  gefeiert,  ja  eine  neue  Zählung  der  Re- 
gierungsjahre darauf  begründet  wurde.  „Es 
würde  dann,  fahrt  Lepsius  fort,  der  1.  Sothische  Thoth  genau 
um  9  Monate  später  als  der  1.  Thoth  des  Euergetischen  Jahres 
gefallen  sein.  Diese  gute  Gelegenheit  war  vorüber  und  kam 
erst  nach  120  (4x30)  Jahren  wieder".  Er  neigt  alsdann 
eher  zur  Annahme  eines  südlicheren  Breitegrades  für  den 
Sothisaufgang,  als  zu  einer  Rückdatirung,  die  allerdings  auch 
ihr  Missliches  hat.  Den  Kern  seiner  Ansicht  entnimmt  man 
unschwer  seiner  übersichtlichen  Tafel  p.  18,  deren  Schluss 
sich  so  darstellt: 

MonatX  =  Payni  1.  =  19.  Juli.  Feier  des  heliakalischen 

Siriusaufgangs.  Erster 
Tag  des  5  tägigen  den  Euer- 
geten  geweihten  Volksfestes. 
MonatX  =  Payni 2.  =20. Juli.  Der  heliakalische  Si- 
riusaufgang    nach    der 

Tradition. 

5* 


68        Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

Monat X  =  Payni  5.  =  23.  Juli.  Letzter  Tag  des  Volks- 
festes. 

Epagomene  6.  =21.0ctob.     Schalttag.     Fest    der 

Euergeten. 

L  Thoth  1.  =  22.  Octob.     Neujahrstag  des  10.  Re- 

gierungsjahres des  Euer- 
getes. 

Die  von  v.  Gutschmid 9)  nur  angekündigte  Erklärung 
aus  dem  macedonischen  Datum  ist  noch  nicht  erschienen. 
Die  von  A.  J.  H.  Vincent  auf  Grund  des  nämlichen  ägyptisch- 
macedonischen  Datums  7.  Apelläus  =  17.  Tybi  sowie  der 
Mondtafeln  von  Pingre  angestellte  Berechnung  führt  vor  den 
7.  März  238  v.  Chr.  als  Abfassungsdatum  der  Tanitica,  näm- 
lich in  das  Jahr  243  v.  Chr.  So  ansprechend  dieses  Aus- 
kunftsmittel auch  erscheint,  so  muss  ich  es  doch  mit  Lepsius 
zurückweisen,  weil  der  Ptolemäische  Canon,  für  dessen  Rich- 
tigkeit ich  weiterhin  zwei  schlagende  Beispiele  anführen 
werde ,  den  Anfang  der  Regierung  des  Euergetes  auf  247 
v.  Chr.  somit  dessen  9.  Jahr  =  238  setzt,  und  wir  eine  Mit- 
regentschaft des  Euergetes  mit  Philadelphus  nirgends  er- 
wähnt, ja  durch  genau  datirte  Inschriften  geradezu  aus- 
geschlossen finden. 

Indess  auch  die  zweimalige  Feier  des  Siriusaufgangs 
unmittelbar  hintereinander:  am  1.  und  2.  Payni,  wie  sie  Lep- 
sius supponirt,  wird  schwerlich  als  genügendes  Auskunfts- 
mittel erachtet  werden  können. 

Bei  dieser  Sachlage  wird  es  keiner  Entschuldigung  be- 
dürfen ,  wenn  ich  eine  andere  Lösung  versuche.  Ich  muss 
zu  diesem  Behufe  etwas  weiter  ausholen ,  um  den  Ort  der 
Einschaltung  d.  h.  die  Stelle  des  Jahres  zu  ermitteln,  wo 
der  aus  den  vier  Vierteln  erwachsende  Schalttag  alle  4  Jahre 
als  Festtag  der  Euergeten  eingesetzt  wurde. 


9)  Zeitschrift  für  aeg.  Spr.  1868  p.  36. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptokmäus  Euergetes  I.  69 

Wie  man  aus  obiger  Tafel  entnimmt,  betrachtet  ihn 
Lepsius  als  6.  Epagomen  und  gibt  ihm  daher  seinen  Platz 
unmittelbar  hinter  den  5  hergebrachten  Epagomenen.  Allein 
wenn  wirklich  ein  6.  Epagomen  beabsichtigt  gewesen  wäre, 
so  hätte  der  Text  der  Tanitica,  der  doch  sonst  so  aus- 
führlich ist,  sicherlich  eine  Stelle  enthalten,  die  allenfalls  so 
lauten  mochte  aixl  tcov  tcIvxb  rj^ieQwv  ei;  rjj^eqag  eTcdyeod-at 
öid  veTTctQüJv  hcov.  Statt  dessen  bietet  der  Text:  arco  %ov 
vvv  (.liav  fifxeqav  £Oqti]v  twv  Eveqyettov  &etov  ejtdyeo^at 
ötd  tegoccqcov  extov  evtl  xaig  nevre  Talg  licayo[ihaig  7t  q  6 
tov  vsov  evövg.  Dass  die  5  Epagomenen  von  jeher  den 
Jahresschluss  bildeten  und  also  unmittelbar  vor  das  Neu- 
jahr fielen,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Das  Gleiche  für  den 
alle  4  Jahre  erwachsenden  Schalttag  —  quem  in  f  es  tum 
diem  immutarent 10),  scheint  mit  Bezug  auf  diese  r^iega 
eoQxr]  der  Euergeten  gesagt  zu  sein  —  anzunehmen,  liegt  im 
Texte  wenigstens  kein  Zwang  vor,  da  das  iftdyeödai  zur 
Geltung  kommt,  unabhängig  von  der  Stelle  der  Einschaltung. 
Auch  zeigt  unser  eigner  Kalender  die  analoge  Erscheinung, 
dass  der  eigentliche  dies  intercalaris  nicht  hinter  dem  31.  Dec. 
hinzugefügt,  sondern  dem  Februar  einverleibt  und  auch  hier 
nicht  ans  Ende ,  sondern  als  bissextilis  d.  h.  24.  Februar 
(fuga  regum !)  eingesetzt  wird. 

Ich  habe  anderwärts  n)  auf  die  jedenfalls  frappante 
Thatsache  aufmerksam  gemacht,  dass  dieser  bissextile  24. 
Februar  genau  die  Mitte  des  Jahres  vorstellt,  wenn  man 
vom  29.  August  =  1  Thoth  des  alexandrinischen  Jahres 
6  Monate,  zu  30  Tagen,  also  180  Tage  weiter  zählt:  der 
181.  Tag  ist  alsdann  der  24.  Februar  bissextus  und  Hincks  12) 


10)  Schwur  der  Könige  nach   dem  Phänomm.   Arat.  dies  nicht 
thun  zu  wollen. 

11)  Les  zodiaques  de  Denderah  p.  82. 

12)  On  the  various  years  and  months. 


70        Sitzung  der  phüos.-phM.  Classe  vom  7.  Februar  187 i. 

war  der  Ansicht,  dass  die  dahinter  folgenden  Tage  25  26  27 
28  29  des  Februar  den  5  Epagomenen  entsprechen. 

Das  mag  nun  dahin  gestellt  bleiben.  Wichtiger,  weil 
auch  auf  die  älteren  astronomischen  Denkmäler  Aegyptens 
begründet,  scheint  mir  die  Wahrnehmung,  dass  die  Scene 
der  Intercalation ,  die  ich  in  den  (4)  Vierteln  des  Stieres, 
von  der  Menat,  der  Repräsentantin  des  Monats  Pha-menat, 
annexirt,  erkannt  habe,  also  die  Einschaltung  im  festen 
Siriusjahre  schon  frühzeitig  immer  der  Mitte  des 
Jahres  d.  h.  dem  19.  Decane  2(icit  („Theiler")  entspricht. 

Wenden  wir  dieses  auf  unsern  Fall  an.  Im  Jahre  239 
v.  Christus  war  der  22.  Oct.  —  1  Thoth.  Rechnet  man 
6  Monate  ä  30  Tage  weiter,  so  kommt  man  auf  den  20.  April 
238  =  1.  Phamenoth  als  vorausgesetzten  Schalttag  zu  Ehren 
der  Euergeten.  Hiemit  gewinnen  wir  scheinbar  Nichts,  was 
zur  Lösung  der  Schwierigkeiten  verhilft.  Aber  es  würde  diese 
Hypothese  uns  doch  wenigstens  erklären,  warum  das  Decret 
nicht  von  2  (noth wendig  anzunehmenden)  Zusatzschalttagen 
am  Ende  des  Jahres  spricht,  sondern  nur  von  einer  f^ega 
hoQtr)  w  Evegyertov  &ewv  ,  weil  eben  der  nach  der  alten 
Uebung  in  die  Jahresmitte  fallende  Schalttag  schon  durch 
das  itQOTSQOv  iprtfioiict  bestimmt  worden  war,  also  hier  nicht 
mehr  eigens  erwähnt  zu  werden  brauchte.  Die  Neuerung 
bestand  also  darin,  dass  cc7to  xov  vvv  der  früher  für  die 
Tempel  allein  bestimmte  Schalttag  jetzt  öi^orelr^  und 
öffentlich  begangen  wurde. 

Das  Haar  der  Berenike. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  Priesterschaft  schon  vor  dem 
Decrete  von  Kanopus  —  unserer  Tanitica  —  einen  plausiblen 
Anlass  gehabt  habe,  dem  Herrscherpaare  der  Euergeten  zu 
Ehren  eine  Kalender-Neuerung  zu  beschliessen.  Als  inneren 
Grund  habe  ich  bereits  die  Coi'ncidenz  des  Siriusaufganges 
mit  dem  1.  Payni  während  des  Quadrienniums  245—242  v.  Chr, 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  1,  71 

angeführt.  Aeussere  Veranlassungen  deutet  unsre  Inschrift 
selbst  an,  indem  in  lin.  10  —  12  die  siegreichen  Feldzüge 
des  Euergetes  nach  Asien,  die  Zurückbringung  der  von  den 
Persern  entführten  Götterbilder  und  die  Herstellung  des 
Landfriedens  geschildert  werden.  Droysen13)  lässt  die  Sieges- 
jahre mit  243  v.  Chr.  abgeschlossen  sein;  allein  Lepsius  p.  6 
vermuthet  mit  gutem  Grunde,  dass  dieser  Termin  weiter 
zurückverlegt  werden  müsse.  Hatte  schon  Droysen  p.  345 
die  Wichtigkeit  des  kleinen  Denkmals  in  Esneh  erkannt, 
worauf  zu  Champollion's  u)  Zeiten  (1829)  noch  11  mehreren- 
theils  asiatische  Völker  wie  z.  B.  Persu,  Zaha,  Arma,  Sosch, 
Karsu,  Schaben,  Orschi  neben  den  europäischen  Traiksu  und 
Makaden15)  zu  lesen  waren,  während  der  ganze  Tempel  von 
90  zu  60  Fuss  zur  Zeit  der  französischen  Expedition  fast 
unversehrt  war,  so  liess  sich  von  Lepsius  erwarten,  class  er 
dieses  Monument  zur  Illustration  unserer  Inschrift  (der  Ta- 
nitica)  verwerthen  würde.  Er  gelangt  in  der  That  zu  dem, 
wie  mir  scheint,  unanfechtbaren  Schlüsse,  dass  der  besagte 
Tempel  in  Esneh  von  Euergetes  zum  Andenken  jener  asiat- 
ischen Siege  eigens  gegründet  wurde.  Um  so  mehr  ist  dessen 
Zerstörung  zu  bedauern.  Denn  Champollion  fand  daselbst 
noch  die  ,,Safech,  die  Göttin  (Muse)16)  der  Geschichte  und 
Begleiterin  des  Thoth  (Hermes)  als  Herrin  der  Schrift  im 
Saale  der  Bücheru  dargestellt.  Vielleicht  war  daselbst  auch 
in  acht  ägyptischer  Weise  das  Wort  mench  =  EveQyerrjQ  A 
erläutert,  das  in  unsrer  Inschrift,  lin.  8  in  -0-eol  EveqytTai 
öiarelovoiv  rtollä  nal  ^eydla  eveQy  exovvx sg  (=  lin.  4/5 

13)  Gesch.  d.  Bildung  d.  hellenistischen  Staatensystems  II 337,  347. 

14)  Notices  descriptives  p.  284. 

15)  Man  vergleiche  die  grosse  Inschrift  von  Adulis,  sowie  das 
Datum  J.  10  Epiphi  7  des  Euergetes  I  (242)  im  Tempel  zu  Edfu,  dessen 
Bau  durch  die  Tanitica  veranlasst  zu  sein  scheint.  Zeitschrift  für 
ägypt.  Spr.  1872.  Ebendaseihst  steht:  „18.  Mesori  =  23.  Epiphi  (Euer- 
getes II  J.  28  =  1 42  v.  Chr.).1'    In  der  That  25  Tage  =  25x4  od.  100  J. 

16)  Vergl.  meine  vorige  Abhandlung  über  Altäg.  Musik  p.  519, 


72         Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 
deshierogl.  Textes  f^fj^^fff)  und  weiierh^  *•  18  «*«- 

M'lll  t)  <-~>     Cf 

vatov  eveqyeolav  =  1.  10  hierogl.   *aaa™^         <^>    |     ^^ 

W  /WWW  ..      -  fl1— ■•■    'V 

ebenfalls  wiederkehrt  und  durch  die  wirklichen  Wohlthaten 
anlässlich  der  Hungersnoth  etc.  einen  historischen  Hinter- 
grund bekömmt.  Es  verdient  desshalb  die  Angabe  des 
Hieronymus  17):  simulacra  deorum  2500,  in  quibus  erant 
quae  Cambyses  capta  Aegypto  in  Persas  asportaverat  .  .  . 
Denique  gens  Aegyptiorum,  quia  post  multos  annos  deos 
eorum  retulerat,  Euergetem  eum  appellavit,  allen  Glauben. 
Es  gab  aber  auch  zu  Kanopus,  der  Tanitica  zufolge,  ein 
Heiligthum  der  Euergeten,  wie  der  Arsinoe  Chloris,  der 
Mutter  des  Ptolemäus  Euergetes  I. 

In  einem  dieser  zwei  Tempel  von  Kanopos  wird  wohl 
auch  der  Thatsache  gedacht  worden  sein,  dass  Berenike  (II, 
die  Tochter  des  Magas),  die  Gemahlin  des  Euergetes  I,  welche 
während  der  Abwesenheit  ihres  Gemahls  in  Asien,  ihr  schönes 
Haupthaar  im  Tempel  der  Venus  Zephyritis  ex  voto  auf- 
zuhängen gelobt  gehabt,  es  den  Göttern  wirklich  gewidmet 
habe,  als  ihr  Gemahl  als  Sieger  heimgekehrt  war.  Als 
es  am  andern  Tage  vermisst  wurde,  erklärte  ein  Stern- 
kundiger Namens  Konon,  dasselbe  sei  unter  die  Götter  auf- 
genommen d.  h.  an  den  Himmel  versetzt  worden.  Wirklich 
zeigte  er  auch  im  Schweife  des  Löwen  sieben  Sterne, 
die  er  dafür  ausgab.  Diese  xo^  BeqerUrjg  besang  Kalli- 
machos  in  einem  von  Catullus  ,,De  coma  Berenices  (LXVI) 
nachgeahmten  Gedichte,  das  Warton  „epigramma  cultissimum" 
nennt,  der  Herausgeber  des  T  h  e  o  k r  i  t :  D  a  h  1  (und  schon  Hygin. 
poet.  astron.  II  p.  4  aber  mit  Unrecht)  auf  Berenike  I  bezieht, 
und    mit  Theokrit's  18)  Idyllion  XV  SvQaxouoica  V  liöcovia- 


17)  In  Daniel. 

18)  Ausgabe  von  Dahl,  Rostock  1804, 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptölemäus  Euergetes  I.  73 

'Qovoai  gleichzeitig  setzt.    Die  betreffenden  Verse  des  letzteren 
lauten:   106—111 

KvTtQL  Jaovala,  TV  (.iev  ä&avaxav  oltco  SvctTag, 
l4v&QC07itöv  cog  /nv&og,  £7toirj0ag  BeQevr/.av, 
^Af.ißqoaiav  eg  ovrftog  ccTtoozd^aoa  yvvaiyiog. 
Tlv  öe  %aqtoöof.dva,  tcolvcovvpe  tloi  TtoXvvae, 
14  BsQSVLxeta  d-vy aTrj  q  ,  cEXha  slxvla, 
L4qGLv6a  jxavTeöOi  xaXolg  axixakXu  ^dcoviv. 

Die  das  Adonisfest  veranstaltende  Königin  ist  Arsinoe19) 
Philadelphos,  folglich  die  hier  genannte  Bereuika  ihre  Mutter, 
die  Gattin  Ptölemäus  I  Lagi.  Der  Dichter  sagt  kein  Wort 
von  ihrem  Haare,  was  man  doch  erwarten  durfte,  wenn 
Berenike  I,  die  Gemahlin  des  ersten  Ptolemäers,  der  aller- 
dings auch  Feldzüge  nach  Asien  unternahm,  wie  die  Classiker 
nebst  der  Stele  von  Cairo  beweisen,  das  betreffende  Gelöbniss 
gethan  und  ausgeführt  hätte.  Dass  der  Dichter  diese  Bere- 
nike I  „aus  einer  Sterblichen  zu  einer  Unsterblichen"  durch 
die  Aphrodite  werden  lässt,  darf  nicht  befremden,  da  er  ja 
in  dem  nämlichen  Gedichte  v.  46 — 48  singt: 

7toXkd  toi,  co  ntoXs/.iäle,  7te7tolr]Tcu  xalä  egya, 
i£  co  iv  ädavaToig  6  tsacov,  ovdelg  xccY.osQyog 
daleirai  top  Iowa,  naqtqjtcov  yüyvTCTLOTL. 

Daraus  hat  meines  Wissens  noch  niemand  gefolgert, 
dass  der  Vater  (tskcov)  des  Ptol.  Philadelphus,  nämlich  Ptol. 


19)  Wie  verwirrend  die  Ptolemäergeschichte  ist,  zeigt  gerade 
dieser  Name.  Sie  war  die  Schwester  des  Philadelphos;  dieser  hei- 
rathete  aber  zuerst  ihre  mit  Lysimachos  erzeugte  Tochter  Arsinoe 
Chloris  die  Jüngere,  verstiess  diese  nach  vierjähriger  Ehe  und  hei-, 
rathete  dann  ihre  Mutter,  die  Wittwe  des  Lysimachos,  seine  Schwester 
Arsinoe  die  Aeltere,  die  desshalb  auf  den  Münzen  vom  VIII.  Jahre 
des  Philadelphos  an  erscheint.  Cf.  Champollion  —  Figeac:  Notice 
de  deux  papyrus  egyptiens. 


74         Sitzung  der  pJiilos.-pJiilolClasse  vom  7.  Februar  1874. 

Lagi  als  Sternbild  an  den  Himmel  versetzt  worden,  sondern 
nur,  dass  er  (der  $edg  2torrfQ)  gestorben  sei  20). 

Die  wirkliche  Schwester  des  Euergetes  hiess  aller- 
dings ebenfalls  Berenike,  aber  sie  war  noch  von  ihrem  Vater 
Phüadelphos  an  König  Antiochos  II  von  Syrien  verheirathet 
worden ,  der  desshalb  seine  erste  Gemahlin  Laodike  mit 
ihren  jungen  Söhnen  verstiess ,  aber  zur  Zeit  der  Thron- 
besteigung des  Euergetes  wieder  zurückrief.  Laodike  rächte 
sich  nun,  indem  sie  sowohl  den  Antiochos  als  die  Berenike 
mit  ihrem  Söhnchen  ermordete.  Diese  Gräuelthat  erzeugte 
den  Krieg  zunächst  in  Syrien  und  veranlasste  den  Euergetes 
zu  noch  weitern  Unternehmungen  in  Asien. 

Dass  Catull  in  zwei  Distichen  (10  u.  11)  der  Königin 
Berenice  von  ihrem  personificirten  weil  vergötterten  Haare 
sagen  lässt : 

Id  mea  me  multis  docuit  regina  querelis, 
Invisente  novo  proelia  torva  viro. 

At  tu  non  orbum  luxti  deserta  cubiie 
Et  fratris  cari  flebile  discidium  — 
ist  ganz  in  der  Ordnung,  da  die  Königinen  der  Ptolemäer- 
zeit,  auch  wenn  sie  nicht  —  wie  oft  genug!  —  die  wirk- 
lichen Schwestern  der  Könige  waren,  dennoch  diesen  Titel 
führten.  So  also  auch  unsere  Berenike  II  Euergetis,  die 
Tochter  des  Magas. 

Sie  that  das  Gelübde,  ihr  Haar  abzuschneiden  und  den 
Göttern  zu  weihen 

qua  rex  tempestate,  novo  auctus  hymenaeo, 
Vastatum  fines  iverat  Assyrios  — 

20)  Aus  der  Verwirrung,  die  durch  die  Wiederkehr  derselben  dynasti- 
schen Namen  verursacht  wird,  mögen  sich  Sätze  wie  folgende,  er- 
klären :  „Berenice,  des  zweiten  derPtolemäer,  Lagi,  und  der  Arsinoe, 
Tochter.  Sie  vermählte  sich,  nach  Art  der  Ptolemäerinen,  mit  ihrem 
Bruder  Evergetos.  Da  ihr  Gemahl  in  den  Krieg  zog,  gelobte 
sie  etc."  Neues  Conversationslexicon  oder  encyclopädisches' Hand- 
wörterbuch etc.  Köln  und  Bonn  1824 


Latith:  Die  Schalttage  des  Ftolemäus  Euergeles  I.  75 

was   doch  zum    Feldzuge  des   Euergetes   vortrefflich    passt. 
Weiterhin  v.  51  sqq.  lässt  der  Dichter  das  Haar  sagen: 
Abjunctae  paullo  ante  comae  mea  fata  sorores 

Lugebant,  quum  se  Memnonis  Aethiopis 
Unigena,  iinpellens  nutantibus  aera  pennis, 

Obtulit  Arsinoes  Chloridos  ales  equus. 
Isque  per  aetherias  nie  tollens  advolat  umbras, 

Et  Veneris  casto  conlocat  in  gremio. 
Ipsa  suum  Zephyritis  eo  famulum  legärat, 
Grata  C  an  opaeis  incola  littoribus. 

Der  Sinn  dieser  Stelle  ist  wohl  der,  dass  die  Venus 
Zephyritis  (von  einem  Vorgebirge  bei  Kanopus  so  genannt) 
den  eingebornen  (Pegasos)  des  Aethiopen  Memnon  (Sohnes 
der  Eos)  zu  einer  nach  der  Arsinoe21)  Chloris  benannten 
Üertlichkeit  gesendet  habe,  um  von  da  das  Haar  der  Berenike 
wegzunehmen  und  dann  an  den  Himmel  und  zwar  in  den 
keuschen  Schooss  der  Venus  niederzulegen. 

Die  Tanitica  nennt  in  der  That  1.  6/7  als  Versammlungs- 
ort der  Priester,  die  das  Decret  von  Kanopus  verfassten, 
„den  Tempel  der  Götter  Euergeten  in  Kanopos":  awsdqsv- 
oavTeg  tccvti]  xf  i][*€Q%  &  T<p  &  KavtOTUo  lEQcjy  %Cjv  Evsq- 
yerwv  decov,  ei/tav.  Die  lauge  Erörterung  1.  46  —  73  über 
die  Apotheose  der  .jungfräulichen  Berenike",  einer  Tochter 
der  Euergeten,  und  ihre  Beisetzung  im  Tempel  des  Osiris 
von  Kanopos  braucht  hier  nicht  weiter  besprochen  zu  werden. 
Nur  so  viel  sei  erwähnt,  dass  die  dort  in  den  Fundamenten 
aufgefundene  Goldplatte  mit  der  Inschrift  yOaiqei  etc.  und  den 
Namen  der  Ptolemäer  Euergeten  hinlänglich  für  die  Existenz 

21)  Die  weiterhin  zu  besprechende  Stele  des  Anemko  enthält 
den   Namen    dieser  'Aovivori  (XXwqis)  $ikci6t'k(pos  zweimal,    einmal 

lin.  4/5  in  Verbindung  mit  der  Legende     ||  ^0    ü 

„Tempel,  welcher  in   Ropen"  vermuthlich  das  Vorgebirge  ZecpvQtiDv 
meinend. 


76        Sitzung  der  phüos.-phüöl.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

des  Osiris  oder  Serapis-Tempels  in  Kanopos  beweist22).  Ebeu 
daher  stammt  auch  der  trilingue  Opferstein  der  Berliner  Samm- 
lung23) mit  der  Inschrift:  ^agaiCLÖt  deo)  f.ieya?uo  navlaxog 
2aQCL7tiu)vog.  Der  demot.  Text  ist  ausführlicher,  indem  er 
bietet  „der  koptitische  Osiris  in  Han üb  schenke  Leben  dem 
Pa-hmin  {TIav-Uog) ,  dem  Sohne  des  P-se-n-Osiris 
(2aQ(X7tiü)v)".  Der  hierogl.  Text  ist  noch  ausgedehnter;  ich 
führe  hier  nur  den  Titel  des  Osiris  an:  <gi — gpw^  chent 
Han  üb.  Dieses  erklärte  der  Rhetor  Aristides  als  ==  xqvoovv 
l'öacpog;  die  Griechen  aber  adaptirten  diesen  Namen  dem 
des  Steuermannes  Kavcoßog  (bei  Menelaos). 

Aus  alle  dem  geht  wenigstens  soviel  hervor,  dass  auch 
das  Heiligthum  der  L4qolv6tj  (Diladelyog  Xlwqig 24)  in 
Kanopus  sich  befand.  Dass  die  in  der  Tanitica  1.  55/56 
erwähnte  cHltov  dvyavrjQ,  mit  deren  Versetzung  an  den 
Himmel  der  Hintritt  der  jungfräulich  verstorbenen  Prinzessin 
BeqevUt]   so    ausführlich   verglichen    wird,    nicht  so  fast  die 

Tafnut    °    öIjO  ist,  wie  Lepsius  p.  16/17  annimmt,  sondern 

eher  Hathor,  die  ägyptische  Venus,  welcher  als  Menhet,  die 
Kosenamen  ßaoilela  und  oqaoig  eher  gebühren,  als  der  Tafnut, 
ist  klar.  Denn  das  Fest  der  ö  ^—  menhet  =  ßaoäela  ist 
im  Kalender  von  Esneh  unter  dem  17.  Tybi  angemerkt,  wie 
die  Tanitica  1.  55  sagt:  iv  reo  Tvßl  (.irjvl  und  dabei  ist  zu 
bemerken,  dass  eben  dieser  17.  Tybi  der  Tag  der  Ab- 
fassung   des  Decretes  ist.      Uebrigens  zeigt  die  ganze 


22)  Letronne :  Recueil  des  inscriptions  grecques  etc.  I. 

23)  Brugsch:  Demot.  Urkunden  Taf.  IV  B.  p.  19/20. 

24)  Chloris  bedeutet  „die  Blassgrüne"  und  wird  als  „Göttin 
der  Blumen"  (Flora)  aufgefasst.  Es  kann  nur  die  jüngere  Arsinoe 
(erste  Gemahlin  des  Philadelphos)  sein,  der  die  Euergeten  huldigen, 
da  die  ältere  'JQGivot},  die  Mutter,  aber  zugleich  Nachfolgerin  er- 
sterer  in  der  Ehe  mit  Philadelphos,  kinderlos  blieb.  Euergetes  war 
also  Sohn  der  Chloris. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  77 

weitläufige  Apotheose  der  jungfräulichen  BsQsvUr]  avaoocc  Ttaq- 
devtov,  wie  weit  die  Wohldienerei  des  ägyptischen  Priester- 
collegiums  schon  gediehen  war.  Lässt  sich  unter  sothanen 
Umständen  bezweifeln,  dass  man  von  der  Abschneidung  und 
Aufhängung  des  blonden  Lockenhaares  der  BegevUrj  Eveq- 
yhig  im  Heiligthume  der  'Aqoivotj  XIcoqiq  —  was  ich  für 
geschichtlich  halte  —  weniger  Aufhebens  gemacht  haben 
wird  ?  Alles  deutet  vielmehr  darauf  hin,  dass  man  aus  An- 
lass  dieses  Ereignisses  und  der  siegreichen  Heimkehr  des 
Euergetes  die  Euergeten-Tempel  in  Esneh  und  in  Kanopos 
eigens  gegründet  hat. 

Leider  haben  wir  die  untere  chronologische  Gränze 
dieser  Begebenheiten  hiemit  noch  immer  nicht  gewonnen. 
Aber  jedenfalls  können  sie  nicht  über  243  v.  Chr.  herabge- 
rückt werden,  so  dass  von  da  bis  zum  Schlüsse  des  Jahres 
242  v.  Chr. ,  wo  die  Verschiebung  des  Siriusaufgangs  vom 
1.  Payni  des  Wandeljahres  weg  sich  erst  fühlbar  zu  machen 
begann,  Zeit  genug  geblieben  ist,  um  jenes  ttqotzqov  ipfyiof-ia 
zu  Stande  zu  bringen,  das  sowohl  die  Einführung  der  drei 
Monatsfeste  — •  des  am  9.  besonders  wegen  bewiesener  Treue 
und  Anhänglichkeit  der  BegevUrj  —  als  die  Fixirung  der 
Coincidenz  des  Doppelkalenders  auf  den  1.  Payni  ent- 
hielt, zunächst  für  die  Tempel  (sv  xoig  UqoIq).  Die 
weitere  Ausdehnung  auf  den  bürgerlichen  Kalender  und  die 
Bestimmung  eines  öffentlichen  Volksfestes  für  diesen 
Schalttag  als  Fest  der  .,Euergeten"  folgte  einige  Jahre 
später  am  2.  Payni  des  Wandeljahres  238:  es  ist  der  In- 
halt der  Tanitica. 

Die  Grab-Stele  des  Teho. 

Bisher  haben  wir  uns  zwar  immer  auf  monumentalem 
und  classischem  Boden  bewegt;  aber  ein  eigentlicher  Beweis 
für  die  wirklich  erfolgte  Einschaltung  im  bürgerlichen  Kalen- 
der,   kurz,   der    Gebrauch    der   Intercalation    während    der 


78        Sitzung  der  pMlos.-philöl.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

Regierung  des  Euergetes  I  ist  aus  gleichzeitigen  Denkmälern 
bisher  noch  von  Niemand  geliefert  worden. 

Diesen  empfindlichen  Mangel  —  da  man  ja  immerhin 
denken  könnte,  der  ßeschluss  von  Kanopus  sei  ein  todter 
Buchstabe  oder  auf  die  Tempel  beschränkt  geblieben  — 
scheint  mir  ein  Denkmal  der  Wiener  Sammlung  endgültig 
zu  beseitigen.  Es  ist  eine  Grab-Stele  der  gewöhnlichen  Art, 
nur  von  etwas  grösserem  Umfange,  was  durch  die  Menge 
der  Titel  des  Verstorbenen  erklärlich  wird.  Als  ich  im 
Jahre  1865  (Juli)  Wien  besuchte,  musste  sie  mir  schon  wegen 
des  kürzeren  unterhalb  angebrachten  Textes  in  demotischer 
Schriftart  auffallen  25).  Der  betreffende  „Inhaber  dieser  Stele" 

fiiiHP  ne^  ^  ßu  flirte  den  Namen  CU=^)  ^  Te-ho  = 
Te(Ag  oder  Taywg,  wie  der  gleichnamige  König  der  XXX. 
Dyn.  gräcisirt  wurde.     Seine  Eltern  waren  der  Grosswürden- 

träger  ~H    $?  An-em-ho,  dessen  Namen  der  Wunsch  nrjfl 

anch-uza-sneb  „möge  er  leben  heil  und  gesund!"  nicht  um- 
sonst oder  als  Redensart  angefügt  wird.  Denn  ich  werde 
bei  der  Besprechung  seiner  Grabstele  nachweisen,  dass  er 
seinen  Sohn  Tecog  um  6  J.  2  M.  9  T.  überlebt  hat.  Den 
Schluss   der  hieroglyphischen   Legende   bildet   die   Angabe: 

?^  .  ¥^  •Y-a/wwxy     ^  i    ™     O  i  0  i  i  „Dauer  auf  Er- 

den  vom  Leben  des  Inhabers  dieser  Grabstele:  Jahre  44, 
Monate  6,  Tage  29". 

Der  demotische  Text  unterhalb26)  bestätigt  zunächst 
diese  Angabe   der   Lebensdauer  vollständig  in    allen    ihren 


25)  Bei  dieser  Gelegenheit  kann  ich  nicht  umhin,  Hrn.  Dr.  Rei- 
nisch  nieinen  öffentlichen  Dank  auszusprechen  für  die  freundliche 
Bereitwilligkeit,  womit  er  mir  seine  Copieen  zur  Vergleichung  mit 
meinen  Abschriften  zur  Verfügung  stellte. 

26)  Siehe  die  Tafel,  1. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  79 

Theilen;  ausserdem  gibt  er  aber  den  Geburtstag,  Sterbetag 
und  die  70  tägige  Einbalsamirungsperiode  an,  wie  folgt : 

„Die  Grabstele  (pe  uait)  des  Verwalters  (Uer)  der  shepa-t 
(Geschenke?)  Teho,  Sohnes  von  Anemho  dem  Setem- 
priester,  geboren  von  der  Her-anch.  Sein  Geburtstag: 
Jahrl727),  Monat  Epiphi,  Tag  29.  Der  Tag  des  Eintretens 
zu  seiner  Stätte  der  Mumifizirung  (airu)  :  Jahr  24,  Monat 
Mechir,  Tag  22.  Der  Tag  seiner  Beisetzung  (im  Grabe)  er- 
eignete sich  Jahr  24,  Monat  Pachons,  Tag  2.  Seine  Lebens- 
dauer betrug:  Jahre  44,  Monate  6,  Tage  29.  Dieses  (Denk- 
mal sammt  Inschrift)  bleibe  ewig  und  beständig!" 

Ich  will  aus  dieser  wichtigen  Inschrift  zuerst  die  70  tägige 
Procedur  der  Mumificirung  hervorheben.  Wir  wissen  dieselbe 
bereits  aus  Herodot  II  88  xaQLyßvovoL  Tag  eßdoprjxovTct 
i^dqag  vxu  tJXEixa  an"  cov  edcmar  mrocpeQeadat.  Die  Denk- 
mäler sind  ebenfalls  sehr  explicit  über  diesen  Punkt  und 
sehr  zahlreich.  Ich  will  der  Kürze  wegen  nur  noch  eines 
namhaft  machen.  Dieses  Beispiel  bietet  die  Stele  des  Pe- 
scherenptah,  der  im  11.  Jahre  derJKleopatra  VI  starb,  „and 
received  the  usual  Egyptian  embalraent  of  seventy  days, 
from  the  15th  of  Epiphi  to  the  20th28)  of  Thoth  of  the  next 
(12.)  regnal  year".  Unsere  Stele  des  Teho  liefert  einen  weiteren 
Beleg,  indem  zwischen  dem  Sterbetag:  Mechir  22  und  der 
Beisetzung  im  Grabe:  Pachons  2,  genau  70  Tage  (8+30+ 
30+2)  verfliessen.  Herr  Birch  hat  aus  den  Monumenten 
die  Ueberzeugung  gewonnen ,  dass  diese  70  tägige  Periode 
„was  in  some  instances  divided  into  two,  the  one  half  or 
thirty  five  days  being  employed  in  the  ®  j^  api  rut  or  „cere- 

monies",  and  the  other  29)  in  the  f  I  v\        Ö  sut  (lies  se-tuch) 

27)  Das  Zeichen  für  7  gleicht  mehr  dem  hieratischen,  als  dem 
sonstigen  demotischen  Siebener. 

28)  Birch:  On  two  egyptian  tablets  of  the  Ptolemaic  period 
p.  8.     Aus  Versehen  ist  30th  of  Thoth  gesetzt. 

29)  Thatsächlich  lässt  der  Rhind-Papyrus  I  p.  III  mit  dem  36. 
Tage  die  „Caerimonien  am  grossen  Teiche  des  Chons"  beginnen. 


80       Sitzung  der  phüos.-pJiilol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

or  „preparations".  Letzteres  Wort  bedeutet  eigentlich  im- 
praegnare  und  wird  im  Rhindpapyrus  12,7  demotisch  durch 
lelan  =  \äw\o)  ungere  übersetzt.  Es  ist  offenbar,  dass  diese 
70  tägige  Frist  ein  Multiplicat  zwischen  der  Siebenzahl  und  der 
decadischen  Woche  darstellt,  somit  als  die  ursprünglichere 
Einrichtung  erscheint.  Eine  Ausnahme  von  der  Regel  bildet 
folgender  Fall:  Tcupr)  TcpovTog  'HqarAkeiov  ^loir^og^  nrjTQog 
2aQa7TovTog30).  Eyevvrürj  %(#  s  exet  Idöoiavov  tou  xvqiov, 
IdSvq  ß,  y.al  heXevzrjG€V  T(p  ta  tTBi,  (xiqvl  Tvßl  sc,  €Ttuv  g 
fi-fjvwv  ovo,  rjf.ieQiov  ir\  %ai  Ira^rj  toj  iß  Ire«,  firjvl  'A&vq  iß  3 1). 
Die  junge  T-hfwt  „die  Schlange"  blieb  also  nach  dem  Sterbe- 
tag noch  299  statt  70  Tage  unbeigesetzt. 

Es  ist  auf  unserer  Stele  leider  keine  Regierung  angegeben. 
Allein  die  Vergleichung  mit  der  Stele  des  Anemho  (vergl. 
den  nächsten  Abschnitt)  des  Vaters  von  Teho,  beweist,  dass 
hier  nur  Ptolemäus  II  Philadelphus  und  Ptol.  III  Euergetes  I 
in  Betracht  kommen  können.  Setzen  wir  nun  nach  dem 
astronomischen  Canon  für  beide  die  Regierungssummen  38 
und  25  Jahre  an,  so  wurde  Teho  geboren  unter  Philadelphus 
Jahr  17,  Epiphi  29.  Er  lebte  also  unter  diesem  Könige, 
da  Epiphi  der  vorletzte  Monat  des  Jahres  ist  und  die  5  Epa- 
gomenen  am  Schlüsse  zum  Mesori  zählen,  noch  38  J.  minus 
16  J.  10  M.  29  T.  =  21  J.  1  M.  1  Tag.  Er  starb  unter  der 
Regierung  des  Euergetes  I  Jahr  24,  Mechir  22,  lebte  folglich 
unter  ihm  23  J.  5  M.  22  Tage.  Zählen  wir  dazu  den  vorigen 
Posten:  21  „  1  „  1  „  so  erhalten  wir  als 
Summe       44  J.  6  M.  23  Tage,  während   beide   Texte    oben 

30)  Den  Streit  zwischen  Birch  und  De  Rouge  wegen  Lautirung 
det  t  in  den  Namen  4>t"kovt~og}  Tcpovrog  und  Zagcmovrog  schlichtet 
endgültig  zu  Gunsten  des  Letzteren  der  Leydner  Pap.  gnost.,  der 
CdJpnOT  als  Transscription  liefert. 

31)  Revue  archeol.  1858  Februar  liefert  auch  die  hierogl.  Legende, 

die  das  Jahreszeichen  \  mit  sieben  Strichen  (das  7.)  und  als  Summe 
„6  Jahre  3  Monate"  rund  bietet. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  81 

die  Summe  44  J.  6  M.  29  Tage,  dargeboten  haben.  Es  be- 
steht also  eine  Differenz  von  sechs  Tagen  und  da  bei  der 
Uebereinstimmung  beider  Texte  in  der  grösseren  Summe, 
sowie  des  demotischen  Zwischenpostens  der  70  Tage,  an 
einen  Irrthum  des  Schreibers  so  wenig  gedacht  werden  kann, 
als  bei  den  ebenfalls  stimmenden  Posten  nebst  Summe  des 
väterlichen  Grabsteins,  wovon  im  nächsten  Abschnitte  mehr, 
so  bleibt  nur  die  Schlussfolgerung  übrig,  dass  die  sechs 
überschüssigen  Tage  der  Summe  44  J.  6  M.  29  T. 
von  den  durch  das  Decret  von  Kanopus  be- 
schlossenen vierjährigen  Einschaltungen  her- 
rühren, kurz,  dass  es  die  Schalttage  der  Regier- 
ungszeit des  Königs  Ptol.  Euergetes  I  sind. 

Da  dieser  nach  dem  Canon  25  Jahre  regiert  hat,  so 
unterliegt  diese  meine  Thesis  vorläufig  keiner  Beanstandung. 
Anders  aber  gestaltet  sich  die  Sache,  sobald  man  die  ein- 
zelnen Schaltjahre  namhaft  machen  soll.  Ich  bleibe  vorder- 
hand bei  meinem  oben  nur  hypothetisch  aufgestellten  An- 
sätze, wonach  wegen  der  siegreichen  Rückkehr  des  Euer- 
getes, die  nicht  wohl  vor  244  angenommen  werden  kann, 
der  Schalttag  für  die  Tetraeteris  235—242  um  2  Jahre 
anticipirt82)  also  auf  244  verlegt  wurde.  Dann  hätten  wir 
als  weitere  fünf  Schaltjahre:  240,  236,  232,  228,  224 
v.  Chr.  In  der  That  sagt  die  Tanitica  nirgends,  dass  das 
Jahr  der  Abfassung  des  Decretes:  238  v.  Chr.  ein  Schalt- 
jahr sei,  wie  man  scheinbar  mit  Recht  erwarten  sollte.  Was 
ferner  das  letzte  meiner  Schaltjahre:  224  v.  Chr.  betrifft, 
so  fällt  es  jedenfalls  in  den  Rahmen  des  letzten  Lebens- 
jahres von  Teho,  da  dieser  8  Tage  vor  der  Mitte  des  24. 
Regierungsjahres  von  Euergetes33),  also  im  Laufe  des  Jahres 

32)  Lepsius  setzt  ähnlich  den  Schalttag  in  je  das  erste  Jahr 
seiner  Quadriennien  z.  B.  238.  Auch  unser  Kalender  anticipirt  den 
Schalttag  um  222  Tage. 

33)  Nach  dem  Canon  regierte  er  vom  24.  October  247  bis  zum 
18.  October  222,  also  25  Jahre. 

[1874,  1.  Phil.  bist.  Cl.J  6 


82        Sitzung  der  philzs-philöl.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

223  v.  Chr.  gestorben  ist.  Im  Betreff  der  Wahl  gerade 
der  Mitte  des  Quadrienniums  ist  es  mir  oben  wahr- 
scheinlich vorgekommen ,  dass  man  auch  als  Einschaltungs- 
stelle des  aus  den  vier  Vierteln  erwachsenden  und  hienach 
also  zur  Hälfte  anticipirten  Schalttages  unter  Euergetes  die 
Jahresmitte  nach  altpharaonischem  Vorgange  gewählt 
haben  wird.  Dass  überhaupt  nicht  mehr  als  sechs  Schalt- 
tage unter  Euergetes  zur  Anwendung  kommen  konnten,  liegt 
einerseits  in  seiner  Regierungssumme  von  25  Jahren  be- 
gründet, andererseits  werde  ich  sofort  einen  monumentalen 
Beweis  beibringen,  dass  mit  der  Thronbesteigung  des  Philo- 
pator die  dessfalsige  Kalender-Neuerung  seines  Vaters  und 
unmittelbaren  Vorgängers  Euergetes  I  wieder  aufgehoben 
wurde,  aus  welchen  Gründen,  mag  hier  unerörtert  bleiben 
—  und  folglich  der  Siriusaufgang  auf  den  7.  Payni  des 
rehabilitirten  Wandeljahres  gesetzt  wurde,  wie  es  die  Natur 
der  Sache  erheischte.  Sonderbarer  Weise  muss  ich  diesen 
Beweis  aus  der  Grabstele  des  Vaters  unseres  Teho  schöpfen. 

Die  Grabstele  des  Anemho. 

Dieselbe  Wiener  Sammlung  besitzt  ein  zweites  Denk- 
mal ,  das  Brugsch 84)  bereits  veröffentlicht  und  mit  sach- 
gemässen  Bemerkungen  bedacht  hat.  Nachdem  der  Text  in 
10  Zeilen  die  zahlreichen  und  interessanten  Titel  des 
betreffenden  Beamten,  sowie  die  Namen  seiner  Eltern: 
Nes-seti  und  Nefersebek  35)  (so  auch  im  demotischen 
Theile,  nicht  Ta  nefersebek  (Brugsch)  aufgeführt  hat,  fährt 
er  fort: 


34)  Recueil  I  pl.  IX  pag.  16-18. 

35)  Birch  hat  in  der  Zeitschrift  für  ägypt.  Spr.  eine  Variante 
des  Namens  der  Königin  IxeftlocpQis  (ZßexvoyQvg)  Sebaknofru  mit- 
getheilt,  wo  unter  dem  Krokodil  Sebek  ebenfalls  ein  nicht  zu  lautir- 
endes  |_J  als  Untersatz  erscheint. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  f.  83 

i  i  i 


PWM^fe!?! 


Q>  j      1     -ö^    1   -ZI    III '     Ulli      s~"^ 

„Anemho  der  Se(te)m    war    geboren  im  Jahre  16,   Monat 


Pharmuti,   Tag  3,  des  Königs  Ptolemaios86).  Sein  Todestag  : 

fö|  |  |  ^^g  P,^  TV^/^Sprössling  deT^^»       ©/IptoiT^ZÖ  fl  (fl) 
'Oll^^^    Qlh   gff^uergeten  eto^Jj  ^     ^«^  ^Z 

J.  5  M.  Pharmuti  Tg.  26,  des  Königs  Ptol.  Philopator.     Seine 

I   o    w    1       §™Ff     '  i  n  i  i      i    <=>©  1 1 1 
Lebensdauer  auf  Erden:  J.  72,  M.  1,  T.  23." 

Der  dazu  gehörige  und  unmittelbar  darunter  stehende 
Text  in  demotischer  Schriftart37)  sagt  das  Nämliche  so: 

„Der  Setem  Anemho,  geboren  von  Nefersebek.  Sein 
Geburtstag:  Phamenot  Tag  3.  Man  brachte  ihn  in  sein 
Grab  im  Pharmuti  Tag  26.  Seine  Lebensdauer:  Jahre  72, 
Monat  1,  Tage  23."  Die  Computation  lasse  ich  durch  Brugsch 
sagen:  „Le  roi  premierement  designe  est  celui  que  les  Grecs 
nomment  Ptolemee  (I)  Soter  (I);  le  deuxieme  roi  cite: 
Ptolemee  (IV)  surnomme  Philopator  (I).  Si  donc  notre 
personnage  naquit  Tan  26  le  3.  Phamenoth  de  Ptolemee  I, 
qui  regna  20  ans  selon  les  listes  royales,  il  vecut  encore 
4  ans  5  mois  27  jours  sous  ce  roi.  Ajoutez-y  les  38  et 
25  ans  de  ses  successeurs  Ptolemee  II  (Philadel phus)  et  III 
(Euergetes)  et  les  4  ans  7  mois  26  jours  jusqu'  ä  sa  mort 
sous  le  quatrieme  Ptolemee,  et  vous  verrez  que  le  total  de 
sa  duree  de  vie  c.  a  d.  72  ans,  1  mois  et  27  (lies  23) 
jours  est  justifie  d'une  maniere  bien  precise". 

36)  Brugsch's  Lesung:  Poudouloumoujous  dürfte  jetzt  wohl 
aufzugeben  sein. 

37)  Vergl.  Tafel,  2. 

6* 


84        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

In  der  That,  es  kann  keine  Addition  besser  stimmen  und 
da  die  demotische  Summe  auch  hier  aufs  genaueste  mit  der 
hieroglyphischen  harmonirt,  so  ist  an  eine  Irrung  nicht  zu 
denken.  Für  unsern  vorliegenden  Zweck  leistet  uns  aber 
die  Grabstele  des  Anemho  noch  weitere  Dienste.  Zuvörderst 
werden  wir  dadurch  gesichert,  dass  die  Regierungsjahre  auf 
der  oben  besprochenen  Stele  des  Teho  wirklich  dem  Phila- 
delphus  und  Euergetes  I  angehören,  da  letzterer  (Teho)  der 
Sohn  des  ersteren  (Anemho)  ist.  Sodann  weist  der  Um- 
stand ,  dass  die  Summe  72  J.  1  M.  23  T.  genau  zu  den 
Posten  stimmt,  mit  gebieterischer  Notwendigkeit  darauf  hin, 
dass  hier  keine  Schalttage  anzusetzen  waren,  weil 
eben  mit  Philopator  die  Kalender-Neuerung  des 
Euergetes  sofort  wieder  aufgehoben  wurde.  Denn 
Anemho,  der  Vater,  überlebte  seinen  Sohn  Teho  um  6  J. 
2  M.  9  T.  Es  lässt  sich  also  auch  leicht  berechnen ,  in 
welchem  Lebensjahre  Anemho  stand,  als  ihm  sein  Sohn  Teho 
geboren  ward  und  ebenso,  wenigstens  approximativ,  die  Zeit 
seiner  Verheirathung  mit  der  grossen  Erheitrerin  (dhi-t)  des 
Ptah:  Heranch.  Um  dieses  mit  ziemlicher  Sicherheit  thun 
zu  können  und  um  einen  weiteren  illustrirenden  Beleg  zur 
Tanitica  zu  liefern,  will  ich  noch  ein  drittes  Denkmal  der 
nämlichen  Familie  vorführen,  das  ebenfalls  der  Wiener 
Sammlung  angehört. 

Die  Grabstele  des  Harmachu. 

So  wie  die  zwei  vorhergehenden  Wiener  Grabstelen  (des 
Teho  und  Anemho)  ursprünglich  aus  dem  Serapeum  von  Saqqa- 
rah  (Memphis)  stammen,  so  auch  eine  dritte,  auf  den  Namen 
Har-m-achu  lautend,  der  *  bekanntlich  auf  der  Stele  des 
grossen  Andro-Sphinx  bei  Gizeh  griechisch  durch  ^Qfiaxigi-vg) 
transscribirt  ist.  Da  mit  Rücksicht  auf  die  Erklärung  oder 
Illustration  der  Tanitica  (lin.  23—33)  die  Titel  des  Betreffen- 
den hier  wichtig  sind,  so  gebe  ich  mein  ganzes  Excerpt: 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  1.  85 

.1    f\  41»  ft  V    *= 

„Der   göttl.  Vater,  gottliebe ,   wa-Prophet  des  Ptah  ur-baiu, 

[  p  ö  -s '  ;         ».'.'st 

der   Sem    des  Wohlgeruchs   des    Cliär;    Schreiber   des    Ptah 

o  « '  ^  sr  *  — n  ' ' '  9  ' '  ^ 

Ä   I  !  I      ^  ^^-     I        O  I  I     A  I  I  J     ^ 

der   5.  Phyle,  Herr  vom  Anho  des  Tages  15    der  5.  Phyle, 

Herr  der  Emast   des  Tages  15  der  ersten  Phyle,  Herr  und 

swks         li ä  « 

Prophet   des        Scheschachähauses ,  Prophet  des  Horus 

m  m  \  2  1  i  111  5-wW 


vom  Scheschachähause,  Prophet  d.  Götter  d.  Scheschachähauses, 
Sescht  (Secretär)  des    göttlichen    Heiligthums    in   Memphis, 


der   anblicken  darf  den  geweihten  Ort  der  Nekropolis,    der 
Grossfürst  und  Meister  der  Kunst:   Har-m-achu,  der  selige. 


I        0  0 

Sohn  des  Grossfürfürsten,    Meisters   der   Kunst,   des   Setem 


ft  ?<*»>  f  ÄP 


39)  Im  Originale  mehr  entenartig. 


86        Sitzung  der  philos.-philol.  Classc  vom  7.  Februar  1874. 

skü^r  ä  ,l  um  iL 

Anemho    selig;    der    Name   seiner  Mutter,    der  grossen 

Erheitrerin  des  Ptah :  Heranch  (her)  selig." 

Es  kann  natürlich   nicht  meine  Absicht  sein,  hier  eine 

detaillirte  Erklärung  der  Titel  vorzunehmen ;  dies  würde  eine 

spezielle  Arbeit  erfordern.  Nur  über  einige  derselben  sind 
Nachweisungen,  resp.  Vergleichungen  beizuziehen. 

Was  zunächst  den  Titel  JL  betrifft,  dessen  Varianten 
z.  B.  auf  der  Stele  des  Anemho  lin.  2  mehr  der  Hieroglyphe 
J*)  gleichen,  die  auf  einer  andern  Wiener  Stele  (59  des 
Raneferhet)  wirklich  vorkommt,  und,  wie  stets,  mit  dem  Gotte 
Ptah   in  Verbindung  steht,     I^Qy^ö  nuter  wa  hon  Ptah 

„göttlicher  Wa  und  Priester  des  Ptah1'  (oder  Wa-Prophet 
des  Ptah),  so  bietet  die  dazu  gehörige  demot.  Inschrift40) 
die  Uebersetzung  nuter  sem  n  pa-Ptah  res  n  Mennufi 
„Göttlicher  Sem  des  Ptahhauses,  des  südlichen  von  Memphis" 
während  der  dem  hierogl.  Texte  der  Harmachustele  bei- 
gegebene demot.  Text41)  dafür  dreimal  die  Uebersetzung 
uer-schepau't  aufweist  (vergl.  auch  das  Demotische  des  Teho). 

Jenes   demot.  M  Xg   sonst   auch    [lt\     geschrieben,    wird 

seit  urältester  Zeit  gerade  so  vor  Ptah  gesetzt,  wie  S)\  beide 
decken  sich  also  dem  Begriffe  nach,  ohne  lautlich  zusammen 


®i 


40)  Siehe  Tafel,  4.  Im  hierogl.  Texte  erscheint  auch  die  Gruppe 
o 

Ba-Tcot  (Alexandria). 

rnnn 

41)  Siehe  Tafel,  3. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  87 

zu  fallen.  Ich  habe  in  einem  Artikel42)  gezeigt,  dass  diesem 
Stamm  sem  die  Bedeutung  „gross"  zukommt,  und  desshalb 
den  Namen  2eftsfxxprjg  der  I.  Dyn.  wegen  der  vielfach  be- 
legten Reduplication  semsem  —  auch  sems  — -  mit  der  Ueber- 
setzung  des  Eratosthenes :  TteQiOGOftehrjg  „der  mit  überschwäng- 

lichen  Gliedmassen"  zusammengebracht.  Dazu  stimmt  jO 
wa,  oT€i  magnitudo,  ottct  praestare,  besonders  aber  das 
Compositum  J%^(1^  l^43)  »der  grosse  Mann".  Es 
ist  also  der  W  a  oder  Sem  (mit  dem  Pantherfell)  jedenfalls 
der  Hohepriester  in  Memphis,  wie  der  „Erste  Prophet  des 
Ammon"  die  höchste  priesterliche  Würde  in  Theben44)  be- 
kleidete. Da  nun  ferner  die  Schreibung  setem  statt  sem 
sowohl  demot.  als  hierogl.  unendlich  oft  vorkommt  —  so 
auch  auf  unsrer  demot.  Version  der  Inschrift  des  Harmachu 

—  so  fragt  es  sich,  ob  auch  der  ±$  setem  unseres  Textes 
den  auditor  (ccotcm)  oder  als  Variante  wieder  den  se(te)m 
(ujom  excellens,  eminens)  bedeutet.  Da  sem  den  höchsten 
priesterlichen  Titel  darstellt,  so  begreift  es  sich,  dass  der 
Vater  Anemho  unmittelbar  vor  seinem  Namen  und  da  wo 
er  kurz  titulirt  werden  soll,  auf  allen  drei  Familienstelen 
nur  mit  sem  (setem)  eingeführt  wird. 

Jetzt  können  wir  die  demotische  Inschrift  am  Sockel 
der  Harmachu-Stele  etwas  besser  verstehen;  sie  bietet  die 
synonymen  Titel: 


42)  Zeitschrift  für  ägypt.  Spr.  unter  lefAEfupr}?.  Ich  erinnerte 
dabei  an  den  Wechsel  des  Q^  sem  mit  ^3  gadol  gross.  Beinisch 
(Miramar  p.  234,  3)  erwähnt  auch  Zapog  =  vtpog. 

43)  Cf.  Prisse :  Monumm.  pl.  XXX  col.  3.  Leemans  Monn.  Pap. 
Leyd.  I  356,    d.  1.  wo  ^  jfcfejft  neben   ^^fft  als  Parallelismus. 

44)  Vgl.  meine  Abhandlung  über  den  Hohepriester  Bokenchons. 


88        Sitzung  der  philos.-phrtol  Classe  vom  6.  Februar  1874. 

„Der  Uer-schepau't,  Prophet  des  Ptab  pe  Aer45)- 
baiu,  des  obersten  der  Geister46),  Prophet  des  Ptah,  Setem 
und  Uer-schepairt  des  Osiris,  Prophet  des  Ptah,  Uer- 
shepau't  der  göttlichen  Rechnung  (heseb),  der  wieder  (nem) 
auflebende." 

Hierin  fehlt  also  sogar  der  Name  des  Harmachu.     Dess- 

Q        — 
halb  darf  es  nicht  befremden,  dass  auch  der  Titel  m a  char 

unübersetzt  geblieben  ist.  Ich  hatte  anfänglich  geglaubt,  weil 
|ßj  unmittelbar  darauf  folgt,  es  müsse  cha  er  an  „erhoben 
zum  Schreiber  (des  Ptah)a  gelesen  werden.  Allein  die  Pa- 
rallelstelle in  der  Inschrift  des  Anemho  lin.  2  bietet       {m{H 

wo  man  doch  nicht  übersetzen  durf:  „erhoben  zu  den  beiden 
Göttern  Euergeten".  Weil  nun  auch  an  dieser  Stelle  wie 
auf  der  Stele  des  Harmachu,  dieses  chär  sich  unmittelbar 
an  die  Gruppe  netem-sti  (noTe.u-cToi)  „Wohlgeruch"  an- 
schliesst,  so  ist  die  ganze  Stelle  so  aufzufassen,  dass  Harma- 
chu wie  sein  Vater  Anemho  als  „Sem  (setem)-  Priester  des 
Wohlgeruches  oder  Weihrauches  der  c/mr-Pfanne  (mujid? 
acerra)  bezeichnet  werden  sollte.  In  der  That  sieht  man 
die  mit  dem  Pantherfell  bekleideten  Sem  -  Priester  häufig 
Weihrauchkörner  in  die  an  einem  Metallarme  angebrachte 
Pfanne  (char)  werfen. 

Bei  den  Varr.  der  Schescha-chä-Lokalität  unserer  In- 
schrift will  ich  mich  nicht  aufhalten ;  nur  so  viel  sei  bemerkt, 
dass  die  Stele  des  Anemho  lin.  8  zweimal  dafür  die  constante 


/www 


Schreibung  p"^      Q    sescht-en-cha  bietet.    Die  Abweichung 

°  »Tl fl 

erklärt  sich  daraus,   dass  man  auf  der  Stele  des  Harmachu 


45)  In    der   Rosettaua   lin.  23    Mitte     entspricht    dem    demot. 
pe  nuter  her  das  griech.  o  'kvqiwtcctos  &e6c. 

46)  Darnach   ist   auf  der  Stele  des  Anemho    lin.  2  Mitte  \7m 
zu  £i n  baiu  und  das  nächste  Zeichen  zu  ^  so(te)m  zu  corrigiren. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  89 

die  volkstümlichere47),  dem  kopt.  «jovujt-iil-uj&j  =  orjKÖQy 
(loculus  in  quo  idola  collocabantur)  entsprechende  Schreibung 
anwendete.  „Der  Prophet  der  Festgarderobe"  wird  die 
richtige  Uebersetzung  sein,  da  dem  sescht  häufig  das 
Determinativ  ^^  der  Binde  beigegeben  ist  und  ujujot  auch 
cervical  bedeutet.  Zwei  weitere  Titel  des  Harraachu  ver- 
dienen noch  Erläuterung.  Der  erstere  lautet  An-ho  ,, Schön- 
gesicht des  Tages  15."  Da  über  die  Phonetik  des  Auges48) 
mit  oder  ohne  Ellipse  =  an  wegen  der  kopt.  Transscription 
des  Pap.  gnost.  zu  Leyden :  ^h  kein  Zweifel  obwalten  kann 
und  im  Kopt.  p-aoi  videri,  p-aoi  gratus  placitus,  p-^naj 
pulchrum  facere,  placere,  bonum  esse,  erhalten  sind,  so  sind 
wir  wenigstens  über  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Titels 
AnhOj  der  bedeutsam  an  den  Namen  des  Vaters  Anemho 
anklingt,  vergewissert.     Bedenkt  man  jedoch,  dass  der  damit 

parallelgehende   Titel    1\    r|     Var.  4-  n        ^   em-ast,   am- 

ast-ä  „der  am  Platze,  der  Grosse  am  Platze"  besagt,  und 
ebenfalls  mit  „Tag  15"  verbunden  erscheint,  so  dürfte  sich 
der  Begriff  „Jour-habender"  oder  dergleichen  empfehlen  und 
jenes  ~än-ho  als  graphische  Anspielung  auf  den  Namen  des 
Vaters,  der  dieselbe  (astronomische?)  Charge  am  15.  des 
Mondmonats  bekleidete ,  statt  des  älteren  und  gewöhnlichen 
^f^  un-ho  =  ü)it£  patefacere,  oTtotio  adparere  zu  fassen 
sein,  so  dass  wir  auch  in  diesem  Titel  nur  den  Begriff 
apparitor  hätten. 

47)  Die  Inschrift  des  Harmachu  ist  überhaupt  nachlässiger  ge- 
schrieben;  sie  bietet   z.B.    dreimal    das  Zeichen   A   za  dar,   wo  die 

des    Anemho    richtiger      y   hon  „Prophet"   setzt.      Ist   aber   Ä   za 

richtig,  so  dürfte  ebensowohl  an  #2iO€  murus,  als  an  *xoi  navis 
gedacht  werden,  weil  za  ohne  Determinativ  ist. 

48)  Cf.  /wwvN^g^  —  «y  jjm,  ain  oculus. 


90        Sitzung  der  philos.-philol.  (lasse  vom  7.  Februar  1874. 


Wichtiger  aber  für  unsern  Zweck  ist  die  Gruppe  V 


I      I       ^=7 
I     I     I       ö 

wobei  unentschieden  bleiben  darf,  ob  nebt  als  Adj.  zu  diesem 
sa-u  5  „aller  5  Phylen"  oder  als  hh&  dominus  zum  Folgen- 
den zu  ziehen  sei.     Ersteres  ist  indessen  unwahrscheinlich, 

weil  wir  sonst  y][  *  analog  „jeder  ersten  Phyle"  über- 
setzen müssten.  Vor  allem  gebe  ich  zu  bedenken,  dass  die 
Striche  der  Ziffer  5  nicht  wie  sonst  ' .  U ,  sondern  beide 
Male  II  geschrieben  werden,  um  eben  anzudeuten,  dass 
der  fünfte  Strich  und  somit  die  fünfte  Phyle  als  Neu- 
erung hinzugekommen  war.  Gerade  über  diesen  Punkt 
gewährt  uns  die  Tanitica  die  befriedigendsten  Aufschlüsse; 
hören  wir  den  unsren  Titel  illustrirenden  Text  ausführlich: 
Lin.  23  —  33  (nach  Aufzählung  der  auf  das  Priesterthum 
der  Euergeten  bezüglichen  Vorschriften) :    „Es    soll  aber  zu 

den  jetzt  bestehenden  vier  Phylen  v  des  Collegiums 
der  Priester  in  jedem  Tempel  noch  eine  andre  hinzu- 
geschaffen werden  mit  der  Benennung  „fünfte  Phyle  V 

der  Götter  Euergeten,  da  es  ja  durch  glückliche  Fügung  sich 
ereignet  hat,  dass  auch  die  Geburt  des  Königs  Ptolemäus, 
des  Sohnes  der  Götter  Adel phen,  erfolgt  ist  am  fünften49) 
Dios,  die  ja  vieler  Güter  Ursprung  geworden  ist  bei  allen 
Menschen.  Es  sollen  aber  zu  dieser  Phyle  gezählt  werden 
die  seit  dem  ersten  Jahre  (247)  Priester  Gewesenen  und 
jene  welche  bis  zum  Monat  Mesori  im  9.  Jahre  werden  hin- 
zugeordnet werden,  sowie  ihre  Nachkommen  für  immer.  Die- 
jenigen aber  die  schon  früher  Priester  waren  bis  zum  ersten 
Jahre,  sollen  gleicher  Weise  in  den  nämlichen  Phylen  ver- 
bleiben, in  denen  sie  sich  früher  befanden,  ebenso  ihre 
Nachkommen   von   jetzt   an  in   dieselben  Phylen  eingereiht 


49)  Eine   ähnliche  wohldienerische  Spielerei  liegt  weiterhin  in 
dem  öios  {tviios)  statt  &etos. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ftolemäus  Euergetes  I.  91 

werden,  in  denen  ihre  Väter  sind.  Statt  der  zwanzig  Priester- 
räthe  (ßovfovrtov  IsQeiov)  welche  jetzt  gewählt  werden  jährlich 
aus  den  hergebrachten  vier  Phylen,  aus  denen  man  fünf 
von  jeder  Phyle  nimmt,  soll  es  fortan  fünf  und  zwanzig 
Priesterräthe  geben,  indem  aus  der  fünften  Phyle  der  Götter 
Euergeten  weitere  fünf  hinzugenommen  werden.  Es  sollen 
ferner  Theil  haben  auch  die  aus  der  fünften  Phyle  der 
Götter  Euergeten  an  den  Reinigungs-  und  allen  sonstigen 
Tempelgebühren.  Auch  soll  ein  Phylarch  über  dieselbe  ge- 
setzt sein  in  der  nämlichen  Weise ,  wie  es  auch  bei  den 
andern  vier  Phylen  der  Fall  ist". 

Ich  denke,  dieser  ausführliche  ja  weitschweifige  Text 
bedarf  keiner  Erläuterung.  Wir  schliessen  sofort  daraus, 
dass  unser  Harmachu  wie  sein  Bruder  Teho,  unter  Euer- 
getes I,  priesterliche  Funktionen  bekleidet  haben  muss,  weil 
auf  seinem  Grabsteine,  dessen  Setzung  in  die  Regierung  des 
Philopator  fällt,  da  er  seinen  Vater  Anemho  als  verstorben 
erwähnt,  ihm  der  hohe  Rang  eines  „Ptahschreibers  der 
fünften  Phyle",  eines  „Herrn  der  Präsenz  für  den  Tag  15 
der  5.  Phyle",  sowie  eines  „Herrn  des  Jour-habens  am 
Tag  15  der  1.  Phyle1'  zugeschrieben  wird. 

Auch  geht  aus  dieser  Thatsache  hervor,  dass  die 
„5.  Phyle,  derGötterEuergeten"  mitderThron- 
besteigung  des  Philopator  nicht  abgeschafft 
wurde,  wie  der  Schalttag  im  bürgerlichen  Ka- 
lender. In  der  That  hat  die  Creirung  der  5.  Phyle  mit 
der  Kalender-Neuerung  des  Euergetes  nichts  zu  schaffen  und 
wir  treffen  daher  auf  manchem  Denkmale  der  späteren  Zeit 
die  fünfte  Phyle  fort  und  fort  in  Function.  Aber  vor 
dem  9.  Jahre  des  Euergetes  wird  dieselbe  nir- 
gends erscheinen. 

Die  drei  werthvollen  Denkmäler  der  Wiener  Sammlung, 
die  ich  bisher  besprochen  habe,  gestatten  uns  jetzt,  folgende 
Corollare  zu  ziehen: 


92        Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

1.  Der  Ptolemäische  Canon,  der  auf  astronomische 
Beobachtungen  gegründet  ist,  erhält  für  die  ersten 
drei  Ptolemäer  bezüglich  der  angegebenen  Regierungs- 
dauer von  20,  38,  25  Jahren  eine  starke  Bestätigung. 

2.  Das  Decret  von  Kanopus  (Tanitica)  empfängt  da- 
durch eine  erwünschte  praktische  Illustration  in  seinen 
wichtigsten  Th eilen. 

3.  Die  sechsmal  erfolgte  Einschaltung  eines  Tages  unter 
Euergetes  ist  bewiesen;  die  Schaltjahre  244,  240, 
236,  232,  228,  224  wahrscheinlich  gemacht. 

4.  Die  mit  des  Philopator  Thronbesteigung  eingetretene 
Reaction  und  Wiederaufhebung  der  kalendarischen 
Neuerung  des  Euergetes  ist  erhärtet. 

5.  Die  siebzigtägige  Einbalsamirungsperiode  an  einem 
soliden  Beispiele  gezeigt. 

6.  Der  Fortbestand  der  5.  durch  die  Euergeten  ein- 
geführten Phyle  genügend  begründet. 

Die  Kalender-Neuerung  unter  Augustus. 

Ueber einstimmend  mit  der  vonLepsius51)  ausgesprochenen 
Vermuthung  „es  trat  wahrscheinlich  schon  mit  der  Thron- 
besteigung des  Philopator  die  Reaction  gegen  dieselbe  ein" 
nämlich  gegen  des  Euergetes  Kalender -„Reform",  habe  ich 
schon  früher52)  die  bestimmte  Behauptung  ausgesprochen: 
„That sächlich  ist  die  im  9.  Jahre  des  Euergetes  ge- 
troffene Einrichtung  bald  wieder  beseitigt  worden".  Ich 
denke  jetzt  den  Beweis  geliefert  zu  haben,  dass  wirklich  mit 
der  Thronbesteigung  des  Philopator  I  die  Neuerung  seines 
Vorgängers  wieder  aufgehoben  wurde.  Wenn  ich  mich  bis- 
her mit  Vorliebe  des  Ausdruckes  Kalender- „Neuerung"  statt 
„Reform"  bedient  habe,  so  wird  dies  kaum  die  Billigung 


50)  Decret  v.  Kanopus  p.  14. 

51)  Zeitschrift  f.  ägypt.  Sp.  1868  Aprilheft  p.  44. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptölemäus  Euergetes  I.  93 

meines  Freundes  Rösler 52)  finden,  der  unter  andern  das 
ä'gpyptische  Wandeljahr  „eine  der  schlechtesten  Jahresformen4' 
nennt.  Allerdings  ist  eine  Fixirung  des  vagen  alle  Jahres- 
zeiten Monate  und  Tage  des  natürlichen  Jahres  successive 
durchwandelnden  altägyptischen  Jahres  zu  365  Tagen  (ohne 
Einschaltung)  als  ein  Fortschritt,  eine  Reform,  ja  als  eine 
wirkliche  Verbesserung  anzusehen  —  wenn  nur  nicht  für 
Aegypten  die  bedeutsame  Ausnahme  geltend  gemacht  werden 
müsste,  dass  hier  das  Wandel  jähr  unzertrennlich  mit  der 
Sothisperiode  verbunden  war,  so  dass  die  Aegypter 
hierin  eine  untrügliche  astronomische  Aera  besassen. 
Ich  bleibe  daher  bei  meiner  Bezeichnung  ,, Kalender- 
Neuerung",  sowohl  für  die  Einrichtung  des  Euergetes  I, 
als  auch  die  des  Augustus,  weil  beide  in  ihrem  Wesen  iden- 
tisch sind.  Es  springt  jetzt  auch  sofort  in  die  Augen,  warum 
nun  von  Augustus  an  als  Ersatz  der  astronomischen  die 
historische  Aera  (des  Augustus)  geltend  wurde,  wie  nicht 
minder,  dass  die  Thatsache  der  Kalender-Neuerung  unter 
Augustus  die  vorangängige  Aufhebung  der  Schalttage  des  Euer- 
getes gebieterisch  voraussetzt.  Die  Epoche  jedoch  d.  h.  das 
bestimmte  Jahr  und  den  genauen  Tag  der  Kalender-Neuerung 
des  Augustus  betreffend ,  herrscht  noch  immer  die  grösste 
Unsicherheit.  Statt  weitläufiger  Citate  will  ich  die  dessfalsige 
Ansicht  des  so  bündig  und  klar  darstellenden  Lepsius53) 
hersetzen:  „Einnahme  von  Alexandrien  am  3.  August  30 
(nach  der  falschen  Rechnung  der  Pontifices  am  1.  August)- 
Das  feste  Alexandrische  Jahr,  von  Augustus  eingeführt, 
beginnt  am  29.  August,  weil  die  Pontifices  im  Jahre  30  am 
l.Thot  in  Rom  irrig  den  29.  statt  des  31.  August  zählten, 
was  später  berichtigt  wurde." 

52)  „Der  julianische  Kalender  und  die  Inschrift  von  Tanis" 
Zeitschr.  f.  österr.  Gymn.  1869,  1.  Vergl.  Lepsius  in  der  Zeitschr.  f. 
ägypt.  Spr.  1869  p.  77. 

53)  Chronologie  d.  Aeg.  p.  10  der  synoptischen  Tafeln. 


94       Sitzung  der  phüos.-philol.  Ciasse  vom  7.  Februar  1874. 

Es  ist  übrigens  nicht  recht  ersichtlich,  wie  die  Kalender- 
Neuerung  unter  Augustus  nothwendig  mit  der  Einnahme 
Alexandria's  zusammenhängen  müsse.  Allerdings,  so  viel 
ist  klar,  dass  die  ägyptische  Priesterschaft  dem  Augustus  sich 
analog  gefällig  oder  wohldienerisch  zeigen  wollte,  wie  früher 
dem  Euergetes  aus  Anlass  seiner  siegreichen  Heimkehr  vom 
asiatischen  Kriegszuge,  wie  denn  überhaupt  die  Idee  zur 
Aenderung  des  bisherigen  Wandel-Kalenders  unter  Augustus 
offenbar  durch  den  geschichtlichen  Präcedenzfall  des  Euer- 
getes I  hervorgerufen  worden  ist.  Verhält  sich  dieses  so, 
dann  müssen  wir  noch  eine  weitere  Analogie  der  beiden 
Fälle  vermuthen :  so  wiefürdasDecret  vonKanopos 
(Tanitica)  die  Coincidenz  des  Siriusaufgangs  mit 
dem  ersten  Tage  eines  Monats  im  Wandeljahre 
(Payni)  massgebend  war,  somusste  der  Verlegung 
des  als  Schmeichelei  gemeinten  Kalender-No- 
vums  unter  Augustus  auf  ein  späteres  Jahr  als 
das  der  factischen  Eroberung,  irgend  eine  kalen- 
darische oder  astronomische  Coincidenz  zu 
Grunde  liegen.  Ich  werde  diese  Hypothese  zur  That- 
sache  erheben  und  hiedurch  zur  Chronologie  einen  wesent- 
lichen Beitrag  liefern. 

Zuvörderst  handelt  es  sich  darum,  das  Jahr  zu  er- 
mitteln ,  in  welchem  die  Kalender-Neuerung  des  Augustus 
getroffen  wurde.  Da  im  koptischen  Kalender  fort  und 
fort  bis  auf  unsre  Tage  in  Aegypten  der  1.  Thoth  immer 
dem  29.  August  entspricht  —  mit  selbstverständlicher  Aus- 
nahme desjenigen  Jahres  jeder  Teträteris,  das  unmittelbar 
auf  das  Schaltjahr  folgt  —  so  muss  auch  die  ursprüngliche 
Einführung  der  durch  Nichts  unterbrochenen  Aera  des  Augustus 
als  Epochentag  den  29.  August  aufweisen  und  dieser  dem 
1.  Thoth  entsprechen. 

Nach   meinem    von   mehreren   Gelehrten54)  vertretenen 

54)  Vergl.  Gumpach  und  Junker  und  schon  Des  Vignoles. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptölemäus  Euergetes  I.  95 

Ansätze  der  nächsten  Epoche  des  sothischen  Cyclus :  136  bis 
139  nach  Christus,  entspricht  der  1.  Thoth  des  Wandeljahres 
dem  29.  August  während  des  Quadrienniums  25,  24,  23,  22 
vor  Christus.  Dasselbe  Resultat  erhält  man,  wenn  man  auf 
Grund  der  Tanitica  den  zwischen  dem  23.  October  (Epoche 
des  Decretes  von  Kanopus)  und  dem  29.  August  verstrichenen 
Zeitraum  =  23  +  30  (Sept.)  +  2  Tage  =  55  Tage  mit  4  multi- 
plicirt,  da  sie  ebenso  vielen  Quadriennien,  also  4x55  =  220 
Jahren  congruent  sind.  Zieht  man  diese  220  Jahre  von 
245  v.  Christus  ab,  so  bleibt  2  5  vor  Christus  als 
das  Epochen  jähr  derKalender-Neuerung  unter 
Augustus.  Da  wir  ferner  wissen,  dass  die  Aegypter  seit 
Einführung  des  fixen  Kalenders  je  ein  Jahr  vor  dem  Julian. 
Schaltjahr  ihre  Einschaltung  vornahmen,  so  müssen  wir  rück- 
wärts von  dem  Jahre  der  Geburt  Christi  (=1)  aufsteigend, 
die  Jahre  2,  6,  10,  14,  18,  22  als  Schaltjahre  ansetzen,  so 
dass  also,  genau  nach  der  Theorie,  die  erstmalige  Einschaltung 
eines  366.  Tages  in  Aegypten  unter  Augustus  auf  das  vierte 
Jahr  des  betreffenden  Quadrienniums  fiel:  (25,  24,  23)  22. 
Ob  als  6.  Epagomen  oder  an  einer  andern  Stelle  des  Jahres 
z.  B.  als  Fest  des  Augustus  iiÄw-n-*.UÄ.oTe  =  potentissimus, 
soll  vorderhand  nicht  untersucht  werden. 

Man  könnte  meine  Gleichung:  „29.  Aug.  =  1  Thoth 
25 — 22  v.  Chr."  eine  petitio  principii  nennen,  obschon  sie 
ein  rechnerisches  Ergebniss  ist,  eruirt  auf  Grund  einer  mehr- 
fach beglaubigten  Gleichsetzung  des  heliakalischen  Sothis- 
aufgangs  mit  dem  20.  Juli.  Allein  die  Bestätigung  durch 
einen  classischen  Astronomen  von  Fach  wird  doch  noch 
schwerer  in's  Gewicht  fallen.  Zu  diesem  Behufe  entnehme 
ich  der  berühmten  Angabe  des  Mathematikers  und  Astro- 
nomen Theon55)  von  Alexandria  dasjenige,  was  sich  auf  die 
Aera  Augusti  bezieht.  Theon  findet  als  Tag  des  Siriusauf- 
gangs im  100.  Jahre  seit  Diocletian  (—  284,  also  384  nach 

55)  Lepsius:  Königsbuch  p.  123;  Chronologie  d.  Aeg.  I  169. 


96        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

Christus)  den  29.  Epiphi  =  23  Juli  für  Alexandrien.  Dies 
gibt  für  den  Normalparallel,  der  ungefähr  3  Grade  südlicher 
lag,  den  2  6.  Epiphi  =  20.  Juli.  Die  damals  (384  nach 
Christus)  seit  Augustus  verflossenen  Tetraeteriden  (tccq  tots 
TeTQcceTrjQidag)  gibt  er  zu  102  an  (ovoag  qß  —  102).  In 
der  That  ergibt  die  Summirung  384  n.  Chr.  +  25  v.  Chr. 
409  Jahre,  welche  Zahl  mit  4  dividirt,  die  102  Quadriennien 
oder  Tetraeteriden  erklärt,  und  bestätigt  so  indirect  den 
Ansatz  der  Aeren-Epoche  auf  das  6.  Jahr  des  Augustus 
(25  v.  Chr.)  (aQxi  ^.vyovöiov  würde  Theon  gesagt  haben, 
da  er  für  284  n.  Chr.  den  Ausdruck  Ir^ig  Avyovaxov  setzt). 
Die  Sache  hat  indess  einen  kleinen  Haken.  Neben  ovoag 
qß  bietet  der  Text  noch  Xoiitbv  x«.  Diesen  „Rest  21"  bezog 
Biot56)  scharfsinnig  auf  die  Differenz  der  Jahre  zwischen 
Julius  Cäsar's  und  des  Augustus  Kalender-Reform.  Allein 
Lepsius  (Königsbuch  1.  1.)  machte  mit  Recht  dagegen  geltend, 
dass  diese  Notiz,  auch  wenn  sie  ganz  richtig  wäre,  doch 
hieher  nicht  gehört  und  auf  jeden  Fall  den  Zusammenhang 
des  Satzes  widersinnig  unterbricht,  Er  selbst  erklärt  Ioltcov 
%a  als  Randbemerkung,  die  später  irrig  in  den  Text  ge- 
kommen und  fasst  sie  als  =  y.al  d  (exog  =  -f-  1  Jahr)  oder 
als  %al  d'  „und  x/4  nämlich  Tag"  oder  endlich  als  Ioltcov  a 
„Rest  1  Jahr".  Letztere  Conjectur  kommt  der  Wahrheit 
am  nächsten.  Ich  nehme  die  Sache,  wie  sie  liegt,  folglich 
XoiTtöv  na  als  integrirenden  Theil  des  Textes  und  übersetze 
„Rest  +  (auch  y,al)  1  Jahr".  Nämlich  mit  Hinzurechnung 
des  terminus  ad  quem  d.  h.  des  Jahres  384  n.  Chr.  zu  25 
v.  Chr.  erhält  man  als  Quotient  der  Division  mit  4  die  102 
TerqaeTrjqidag  -f-  Rest  1  Jahr57). 

56)  Sur  divers  points  p.  131  note.  In  der  That  citirt  Letronne 
(Recueil  d.  Inscript.  grecq.  II  129)  eine  Inschrift  aus  Philae,  wo 
evovg  k   (20)  tov  xal  e   in  Bezug  auf  Augustus  gesetzt  ist. 

57)  Vielleicht  gehört  dies  xcc  zu  dem  nächstfolgenden  rci  "keinoviu 
und  ist  als  xatuXeinovxa  bei  solcher  Gräcität  nicht  auffallend. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptölemäus  Euergetes  I.  97 

Die  Bedeutung  +  (plus)  bei  Additionen  für  x,al  (hier  als 
Abbreviatur  bloss  x)  erscheint  auch  sonst,  und  ich  kann  im 
Aegyptischen  den  analogen  Gebrauch  des  *=*  ka  aufzeigen. 
Jetzt  schliesst  sich  auch  das  Folgende  ungezwungen  an  XoiTtov 
kcc'  tcc  helftovTa,  r^eqag  %-*.$,  xavxag  ärtolvGOv  and  @w^58) 
(sie !),  SidovTsg  sxccotco  firjvl  r^eqag  X,  cog  evQLOKeG&ai  wy 
snvzoXrjv  enl  tÖ69)  Jiovlrftiavov  ^Eitupi  %&'.  Wirklich 
führen  die  329  Tage  des  Restjahres  384  n.  Chr.  auf  den 
29.  (des  11.  Monats)  Epiphi.  Dass  diese  für  Alexandrien 
richtige  Ansetzung  des  heliakalischen  Siriusaufgangs  um 
3  Tage  hinaufzurücken  ist,  um  für  den  Normal-Parallel  der 
Sothis  gültig  zu  sein,  ist  oben  schon  bemerkt. 

Der  Ansatz  1.  Thoth  =  29.  August  im  Jahre  25  v.  Chr., 
wo  am  26.  Epiphi  der  heliakal.  (Früh-)aufgang  des  Sirius  statt- 
gefunden 60),  könnte  trotz  aller  bisher  vorgeführten  Zeugnisse 
doch  vielleicht  nur  die  conventionelle  Annahme  der  alexan- 
drinischen  Astronomen  sein.  Es  fehlt  also  zur  vollen  Evidenz 
noch  ein  urkundlicher  Beweis  aus  der  Regierungszeit  des 
Augustus  selbst.  Ich  schätze  mich  glücklich,  denselben 
liefern  zu  können. 

Der  Sothisaufgang  am  26.  Epiphi  im  Rhind- 
Papyrus61)  II. 

Die  Grundlage  meiner  Berechnung,  nämlich  das  Lebens- 
alter des  hier  in  Betracht  kommenden  Ehepaars,  gebe  ich, 
um  allen  Verdacht  einer  Zustutzung  der  Quelle  zu  Gunsten 


58)  Man  bemerke  dass  „der  erste"  wohl  gemeint  aber  nicht 
ausdrücklich  genannt  ist.  In  ägyptischen  Quellen  werden  wir  dieser 
Bezeichnungsweise  öfter  begegnen. 

59)  Vielleicht  q  oder  J  (wiederholt)  als  J—SeTva  zu  ergänzen. 

60)  Siehe  Junker:  Die  ägypt.  Sothisperioden  p.  32. 

61)  Cf.  Brugsch:  A.  Henry  Rhind's  Zwei  bilingue  Papyri.  Hiera- 
tisch und  demotisch.  Leipzig  1865  bei  Hinrichs. 

[1874, 1.  Phil.  hist.  CL]  7 


98        Sitzung  der  'philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

meiner  Hypothese   vorweg  abzuschneiden,    mit   den  Worten 
Brugsch's  (Zur  Einleitung  p.  V): 

„Die  beiden  Papyri  (zu  Abd-el-Qurnah  aufgefunden)  be- 
ziehen sich  auf  zwei  verschiedene  Personen,  Mann  und  Frau, 
deren  Name,  Abstammung,  Rang  und  Lebensepoche  genau 
und  meistens  sogar  zu  wiederholten  Malen  angegeben  sind. 
Der  Mann,  Gouverneur  von  Hermonthis  und  Commandant 
der  dort  stationirten  Truppen,  hiess  Sauf  .  .  .  die  Frau 
Tanua.  Er  ward  geboren  unter  Neos-Dionysos  und  lebte 
unter  dessen  Regierung  16  Jahre,  9  Monate  und  4  Tage; 
unter  Cleopatra  22  Jahre;  unter  des  Kaisers  Augustus  Re- 
gierung bis  zu  seinem  Todestage  20  Jahre,  10  Monate 
10  Tage.  Die  Rechnung  ergibt  richtig,  wie  der  Papyrus  es 
meldet,    für  seine  Lebensdauer  59  Jahre   7  Monate  14  Tage." 

„Seine  Frau  Tanua  war  gleichfalls  geboren  unter  Neos- 
Dionysos'  Herrschaft.  10  Jahre  3  Monate  10  Tage  lebte  sie 
unter  derselben,  22  unter  Cleopatra.  Bis  zu  ihrem  Todes- 
tage hin  unter  Augustus  20  Jahre  11  Monate  28  Tage. 
Ihre  Lebensdauer  betrug  demnach  53  Jahre  3  Monate  und 
8  Tage.  Die  beiden  letzten  Zahlen  sind  durch  eine  Lücke 
im  Papyrus  ausgefallen.  Sie  starb  demnach  48  Tage  nach 
dem  Tode  ihres  Mannes,  wie  es  wiederum  richtig  der  Papyrus 
angibt".  So  weit  Brugsch.  Prüfen  wir  diese  Ansätze  an 
den  beiden  Originalen  selbst. 

Um  mit  der  letzten  Angabe  zu  beginnen,  so  sagt  der 
Text  des  zweiten  bilinguen  Papyrus  pl.  XXVI  zur  Tanua :  „Du 
gingst  ein  in  die  Unterwelt,  als  du  warst  48  Tage  die  Wittwe 
deines  Ehemannes".  Da  nun  dieser  nach  dem  ersten  Papyrus 
pl.  II  u.  III  am  10.  Epiphi,  und  die  Tanua  nach  dem  zweiten 
Papyrus  pl.  XXV  am  28.  Mesori  desselben  21.  Regierungs- 
jahres von  Augustus  gestorben  ist,  so  sieht  man  sofort,  dass 
die  Differenz  vom  10.  Epiphi  bis  zum  28.  des  nächsten 
Monats  Mesori,  also  20  +  28  =  48  Tage  aufs  Genaueste  zu 
den  48  Tagen  der  Wittwenschaft  stimmt. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  99 

In  Bezug  auf  die  Lebensdauer  der  Tanua  kann  ich  mit 
Brugsch's  Ansatz:  53  J.  3  M.  8  Tage  (letztere  beide  ergänzt) 
nicht  ganz  übereinstimmen ,   da    beide  Schriftarten  deutlich 

54  J bieten,  die  auch  Brugsch  in  seiner  Uebersetzung 

richtig  wiedergibt. 

Um  die  Lücke  des  Textes  hinter  der  Angabe  von  Ta- 
nua's  Lebensjahren  auszufüllen,  haben  wir  einfach  die  Diffe- 
renz ihrer  Geburtszeit  heranzuziehen.  Da  der  Mann  im 
Jahre  13  am  27.  Athyr,  die  Frau  im  J.  19  am  26.  Pachons 
geboren  war,  so  beträgt  der  Unterschied  ihres  Geburtstages 
6  J.  5  Monate  (3  +  26  =)  29  Tage.  Diese  Partialsumme 
von  der  Gesammtlebensdauer  des  Mannes 

59  J.  7  M.  14  Tage  abgezogen 
6    „  5    „    29     „       bleiben  für  die  Lebens- 
dauer der  Tanua  53  J.  1  M.  15  Tage,    und   wenn    wir    die 
48  Tage  der  Wittwenschaft  dazu  addiren,  53  J.  3  M.  3  T., 
so  dass  die  Lücke  mit  ,,3  Monate  3  Tage"  auszufüllen  ist. 

Machen  wir  die  Gegenprobe  in  absoluter  Weise:  der 
Mann,  geboren  im  J.  13  des  Neos-Dionysos,  am  27.  Athyr, 
lebte  folglich,  da  der  Kanon  diesem  Könige  29  Regierungs- 
jahre zugetheilt  hat,  unter  ihm  noch 

16  J.     9  M.     4  Tage, 
unter  Cleopatra   22  „    —    „    —     „ 
unter  Augustus     20  ,,  10    „    10     „ 

Summa     59  J.     7  M.  14  Tage 
wie  es  der  Papyrus  richtig  angibt. 

So   wie  nun   bei   dem  Manne  das   60.   Lebensjahr   er- 
wähnt   und   mit  7  Monaten  14  Tagen  vertreten  ist,    ebenso 
ist  bei  der  Frau  das  54.  genannt,  weil  mit  3  Monat  3  Tag 
betheiligt.     Denn    seit  ihrer  Geburt  am    26.    Pachons    des 
19.  Regierungsjahres  verflossen  ihr  unter  Neos-Dionysos  noch 
10  J.     3  M.     5  Tage;  dazu  die 
22  „   —    „    —     „      der  Cleopatra  und 
von  Augustus     20  „   11    „    28     „      also 
im  Ganzen     53~T     3~M.     3  Tage, 


100      Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

nicht  53  J.  3  M.  8  Tage,  wie  Brugsch  (vielleicht  in  Folge 
eines  lapsus  calami)  ergänzt  hat.  Die  Differenz  von  5  Tagen 
ist  aber  hier  von  Belang,  weil  unmittelbar  hinter  der  zer- 
störten Stelle  ein  Fragment  auftritt  mit  Angabe  eines 
wichtigen  Festes,  das  auch,  scheinbar  ebenso  zusammen- 
hangslos, pl.  XXI  hors  de  ligne  6  im  Papyrus  des  Mannes 
erscheint.  Ich  werde  diese  beiden  höchst  interessanten  Bruch- 
stücke im  nächsten  Abschnitte  über  die  Sothis  eingehender 
behandeln. 

Nachdem  wir  so  eine  sichere  Basis  gewonnen  haben, 
schreite  ich  zur  Beantwortung  der  Frage :  Ist  in  den  Rhind- 
papyri  eine  Spur  des  fixen  Jahres  zu  365  V*  Tagen  zu  ent- 
decken? Die  obige  Rechnung  hat  eine  solche  nicht  auf- 
gezeigt. Aber  offenbar  ist  sie  in  folgender  zum  Glücke 
wiederholten  Legende  zu  sehen.  Nach  Anführung  der  In- 
gredienzien die  zur  Mumificirung  gehören  z.  B.  auch  des 
Prachtgewandes  (mench  scheps)  lässt  der  Verfasser  des  Textes 
den  Archon  Sauif  so  anreden  (pl.  III  l.  X) :  ,,Du  kommst  hervor 

„zu   schauen  den  kleinen  Sonnengott  im  Innern  seiner 

öi  4JJ.      J^o  i  m^A  im  ^  onui 

Udhesnefru-Barke  im    Ocean    am  26.  Choiahk." 

Brugsch  62)  hat  mit  gewohntem  Scharfblicke  die  Wich- 
tigkeit dieser  Stelle  erkannt  und  die  noth wendige  Correctur 
im  hieratischen63)  Texte  durch  Beiziehung  der  einstimmigen 
Legenden  des  zweiten  Rhind-Papyrus  (pl.  XXVII  lin.  11) 
genügend  motivirt,  auch  die  classischen  Stellen  angezogen, 
welche  beweisen,    dass    die  Sonne  des  Wintersolstitiums  bei 


62)  Materiaux  etc.  p.  43. 

63)  Aehnlich   bietet  der  hierogl.  Text  der   Rosettana  1.  5  von 
unten   anstatt  des  demot.  richtigen  17.  Mechir  den   17.  Phaophi! 


Lauth:  Die  Schälttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  101 

den  Aegyptern  (die  des  alexandrischen  Kalenders  sich  be- 
dienten) unter  dem  Symbole  eines  kleinen  Kindes  dar- 
gestellt wurde.  Ich  füge  den  von  ihm  citirten  Quellen  hinzu, 
da8S  auch  Plutarch  de  Is.  et  Osir.  an  zwei  Stellen  c.  52  u. 
65  b.  der  Wintersonnenwende  gedenkt  und  zwar  an  ersterer 
mit  Andeutung  der  7  Trauertage  um  Osiris64)  (sTtTccxig), 
indem  die  durch  die  Kuh  symbolisirte  Isis  durch  das  sieben- 
malige Herumtragen  um  den  Tempel :  ZrjTrjoig  des  Osiris 
genannt,  die  sieben  Tage  vom  24— 30  Choiahk  andeutet.  Nun 
ist  allerdings  schon  in  altpharaonischen  Kalendern  das  Fest 
des  Ptah-Sokar-Osiris  auf  den  26.  Choiahk  angemerkt  und 
insofern  könnte  es  scheinen,  als  ob  Brugsch  Recht  habe 
wenn  er  das  alexandrische  Jahr  von  Alters  her  im  Gebrauche 
sein  lässt.  An  der  zweiten  Stelle  c.  65  b.  setzt  Plutarch 
die  Geburt  des  s^QUOKQccrrjg  (äteh]g  xcci  vscxqoq)  in  die  Zeit 
usqI  rag  xqoTtag  xei^eqivag.  Dies  ist  der  ,, kleine  Sonnen- 
gott" unserer  vorliegenden  Legende,  dessen  Anknüpfung  an 
den  alten  Ptah-Sokar-Osiri  am  26.  Choiahk  für  ägypt.  Priester 
und  ihre  bunte  Mythologie  keinerlei  Schwierigkeit  darbot. 
—  In  der  That  entspricht  der  26.  Choiahk  des  alexandrini- 
schen  Kalenders  dem  23.  December  des  julianischen  Kalen- 
ders und  dass  Jul.  Cäsar  seine  bruma  oder  sein  solstitium 
hibernale  gerade  auf  diesen  Tag  ansetzte,  beweist  ausser 
vielen  andern  Quellen  die  Bemerkung  des  Servius  zu  VII 
Aeneid.  v»  720,  dass  Sol  novus  proprio  8  Tage  vor  dem 
1.  Januar  falle,  wo  in  Rom  natalis  Solis  invicti  gefeiert 
werde,  sowie  der  runde  Thierkreis  von  Denderah65),  der  die 
Epoche  des  römischen  Jahres  d.  h.  den  1.  Januar  acht  Tage 
nach  dem  Symbole  des  Wintersolstitiums  d.  h.  dem  23.  De- 
cember aufstellt. 

In   so  ferne   also   bin   ich   mit   Brugsch   völlig    einver- 
standen,   nämlich  den  26.  Choiahk   der  beiden  Rhind-Papyri 


64)  Vergl.  meinen  dessfalsigen  Aufsatz  in  der  Zeitschrift  1866. 

65)  Vergl.  meine  Zodiaques  de  Penderah  p.  13. 


102      Sitzung  der  phüos.'philöl.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

als  Wintersolstitium  des  alexandrinischen  Kalenders  zu  fassen. 
Wenn  er  aber  weiter  geht  und  auch  für  die  frühere,  ja  so- 
gar die  altpharaonische  Zeit  den  Gebrauch  eines  dem  alexan- 
drinischen identischen  fixen  Jahres  mit  der  Epoche  29.  Aug. 
=  1  Thoth,  neben  dem  vom  20.  Juli  an  laufenden  ebenfalls 
fixen  Sothisjahre  behauptet,  so  kann  ich  ihm  dahin  nicht 
folgen,  weil  die  Tanitica  dieses  absolut  unmöglich  macht. 

Haben  uns  somit  die  beiden  Rhind-Papyri,  unverwerf- 
liche weil  gleichzeitige  Zeugen,  die  Existenz  des  fixen  alexan- 
drinischen Jahres  zu  365  V*  Tagen  im  21.  Jahre  des  Augustus 
erhärtet,  so  liefert  der  letztere  von  beiden  uns  auch  die 
wichtige  Angabe  über  das  Fest  derSothis-Erschein- 
ung  am  26.  Epiphi  und  zwar  im  innigsten  An- 
schlüsse an  den  volksthümlichen  Namen  des 
Augustus,  wie  ihn  die  Aegypter  aus  Anlass  die- 
ser Neuerung  bildeten. 

Es  wird  nämlich  der  Todestag  der  Frau  Tanua  pl.  XXV 
1,  2  folgen dermassen  angegeben  und  zwar  unmittelbar  hinter 
der  bald  zu  besprechenden  wichtigen  Stelle  über  das  Fest 
der  Sothis-Erscheinung : 


nn       /^nnn  1 1 1 1 

A/WW\ 

io       iiiio  nun 


QMI~]J 


,Jahr  21    am   28.    Mesori     Cäsär's,    in    der 


M 


ErgänzuDg,  die  er  machte". 

Da  beim  Todestage  des  Mannes  Sauif  derselbe  Titel 
des  Cäsar  Augustus  wiederkehrt,  so  haben  wir  es  offenbar 
mit  einem  volksthümlichen  Namen  desselben  zu  thun,  der 
zunächst  zu  der  kalendarischen  Ergänzung  resp.  Fixirung 
des  Jahres  in  Beziehung  steht.  Aber  auch  in  Betreff  der 
Sothis-Erscheinung  gibt  uns  derselbe  Papyrus  wiederholt 
eine  bestimmte  Hinweisung,   die  keinenfalls  geeignet  scheint 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  103 

Kopfschütteln  im  verneinenden  Sinne  zu  erregen,  da  m&>£ 
in  dem  von  mir  adoptirten  Sinne  die  allein  berechtigte  Auf- 
fassung ist.  Ich  bin  glücklicherweise  im  Stande,  aus  der- 
selben Urkunde  zwei  fragmentarische  Legenden  mit  Angaben 
von  Festen  hieher  zu  ziehen.     Die  eine  findet  sich  pl.  XXI 


unter  der  Mitte  von  lin.  6  und  ist  deutlich    J .  o  oder 

0 


heb  =  Ttavi-yvQig.  Der  darüber  stehende  Text  handelt  schon 
auf  pl.  XIX/XX  von  den  chemurd-  und  chenisek-Stemen ; 
vom  Sahu  (Orion,  Repräsentant  der  5  Epagomenen)  am 
südlichen  Himmel ;  von  der  Sothis  (Supd  =  Sirius,  Repräs. 
des  fixen  Jahres)  mit  dem  Titel  „haq't  chebesu"  „Leiterin 
der  (36/37)  Decane";  ferner  von  den  Talismanen  und  andern 
Gaben  der  Götter  an  den  Verstorbenen  .  .  .  endlich  pl.  XXI 
lin.  5/6  „es  ist  seine  Speise  aufgestellt  auf  dem  Tische  des 
Osiris  alle  Tage  jeder  Sonne;  man  hört  seinen  Namen  in 
den  Wohnungen  der  Götter".  Nun  kann  zwar  auf  die  alten 
Aegypter  der  Göthe'sche  Spruch  angewendet  werden: 

„Dem  Völklein  da  ist  ein  jeder  Tag  ein  Fest" 

und  insoferne  lässt  sich  aus  der  Anbringung  der  Gruppe 
„Fest"  oder  „Panegyrie"  unter  lin.  6  (ohne  allen  grammati- 
schen Zusammenhang)  nichts  für  die  Kalenderfrage  folgern. 
Allein  bedenkt  man  die  offenbar  kalendarische  Gruppirung 
der  (Fixsterne,  Planeten)  der  5  Epagomenen,  des  Viertel- 
tages und  endlich  der  Sothis  mit  ihren  Decanen  als  Ver- 
tretern der  Decaden  (10  tägigen  Wochen),  so  gewinnt  das 
heb-Fest  unter  lin.  6  schon  mehr  und  mehr  ein  astronomi- 
sches oder  kalendarisches  Aussehen. 

Wir  werden  gewiss  in  dieser  Anschauung  bestärkt,  wenn 
wir  einen  Blick  auf  die  zweite  fragmentarische,  wenigstens 
erratisch  scheinende  Gruppe  werfen,  die  pl.  XXIV  lin.  11 
hinter  der  Lebensdauer  der  Tanua:  „Jahr  54.  (mit  3  Mo- 
naten und  3  Tagen)  in  drei  Etagen  so  sich  darstellt: 


104     Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 


n  ■  xi 


ta  cha't  Supd  nuter't 

„Die  Erscheinung  ...  der  göttlichen  Sothis  .  .  . 

J\   oder 

mah  chost)  hebai 

mah  (oder  choft)  des  Festtages". 

Es  war  offenbar  gemeint,  dass  der  Todestag  der  Tanua, 
nämlich  der  28.  Mesori,  der  unmittelbar  darauf  genannt 
wird,  als  der  so  und  so  vielte  (mah)  Tag  seit  dem  Feste  der 
Sothis-Erscheinung  gedacht  werden  sollte.  Da  mich  nun 
meine  bisherigen  Resultate  ermächtigen,  in  dem  unter  Cäsar 
Augustus  fixirten  Jahre  hiefür  den  26.  Epiphi  anzusetzen, 
so  Hesse  sich  die  Lücke  hinter  mah-hebai  durch  hru  33 
,,drei  und  dreisigster  Tag"  seit  der  Panegyrie  der  „Sothis- 
Erscheinung"  ausfüllen.  Denn  es  ist  wohl  zu  beachten,  dass 
hier  ein  den  Aegyptern  wohl  zuzutrauendes  Zifferspiel 
zwischen  33  (Tagen)  und  3  M.  3  T.  vorliegt,  um  welche 
Tanua  in  das  54.  Lebensjahr  hinüberragte.  Wir  werden 
die  nämlichen  33  Tage  auch  weiterhin  bei  der  Angabe  in 
Betreff  des  Lebensendes  von  Sauif  wieder  antreffen :  Dieser 
starb  den  10.  Epiphi,  d.  h.  den  16.  Tag  seit  dem  heseb-tep- 
Feste  oder  Sommersolstitium  und  16.  Tage  vor  der  Sothis- 
Erscheinung  am    26.  Epiphi  des   fixirten  Jahres. 

Das   Sommersolstitium   am    26.  Payni  =  17.  Juni 
nach  dem  Rhind- Papyrus  I. 

Wir  könnten  uns  mit  dieser  Ausbeute  der  beiden  Rhind- 
Papyri  einstweilen  begnügen,  da  sie  uns  den  Sothisaufgang 
am  26.  Epiphi  gewährleistet.  Aber  es  wartet  unser  noch 
ein  weiteres  wichtiges  Ergebniss.  Die  eben  erwähnte  Stelle 
in  Bezug  auf  den  Todestag  des  Mannes  (Sauif)  findet  sich 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  105 

im  Rhind-Papyrus  I  und  ist  zu  wichtig  als  dass  ich  sie  nicht 
genau  analysiren  müsste.  Nachdem  die  datirte  Geburt  und 
die  Gesammtlebensdauer  erwähnt  sind,  folgt  lin.  10/11  die 
Angabe  seines  Todestages  in  folgender  Fassung: 


f,  ,  — (41^] 


„Du  tratest    ein   in  die   Tiefe  Jahr  21  Cäsar's 

in  der  Ergänzung,    die  er  machte,  Epiphi  Tag  10,  den  16. 

LIP »  8  ffl  T 

Tag  seit  dem  Hebes-tep-Feste". 

Brugsch  übersetzt  diese  Stelle  so :  (jour  de  deces  de  Sauf) 
,,1'an  21  du  regne  d' August  (appele  Kaisaros)  selon 
Paccomplissement ,  qui  fait  le  mois  d5  Epiphi  le  jour  10e 
remplissant  le  jour  16e  a  la  panegyrie  hebs-tep".  Der- 
selbe bemerkt  übrigens  gewissenhaft  p.  67/68  ,,Le  texte 
demotique  öftre  les  memes  paroles,  seulement,  il  est  a  ob- 
server  que  la  date  du  10  (Epiphi)  y  est  exprimee  par  le 
chiffre  employe  pour  la  notation  des  jour  du  mois, 
tandisque  le  16ejour  estdesigne  par  les  chiffres 
ordinaires."  Der  zweite  Theil  des  letzten  Satzes  ist 
von  mir  unterstrichen,  um  bemerklich  zu  machen,  dass  es 
nach  Brugsch's  eigener  Angabe  unstatthaft  ist,  den  16.  Tag 
unserer  Stelle  zu  einem  Monatsdatum  zu  stempeln.  Er 
ist  eben  kein  quantieme  du  mois.  Damit  fallen  auch 
alle  Consequenzen,  die  Brugsch  daraus  ziehen  will,  besonders 
das  p.  92  geschlossene  Corollar :  La  correspondance  indiquee, 
selon  laquelle  le  10.  Epiphi,  Tan  21  du  regne  d' Auguste, 
tombe  sur  le  16e  jour  d'un  mois,  dont  on  a  sup- 
prime  le  nom,  s'expliquera  aisement,  par  notre  tableau 
synoptique.     II  nous  fait  voir  que  le  10.  Epiphi  civil  coincide 


106      Sitzung  der  phüos.-pJrilol.  Gasse  vom  7.  Februar  1874. 

avec  le  16.  Mesori,  si  le  1er  Thoth  sacre  correspond  au 
30.  Epiphi  civil." 

Ferner  hat  Brugsch  gewissenhaft  hinter  dem  letzten 
Zeichen  ^  der  Gruppe  meh-t  ein  ?  angebracht,  um  den 
Zweifel  in  die  Richtigkeit  dieser  Lesung  anzudeuten.  Dazu 
war  kein  Grund  vorhanden,  da  das  diesem  entsprechen 
sollende  Zeichen  ein  deutliches  hieratisches  <=*  ist.  Da  nun 
die  Kopten  noch  den  Ausdruck  „n^-n-&.Aidw§Te66)  poten- 
tissimus,  titulus  Augusti"  bewahrt  haben,  so  ist  kaum  zu 
bezweifeln,  dass  dieser  Titel  sich  ursprünglich  auf  die  Er- 
gänzung des  Wandeljahres  zum  fixen  durch  die  Einschalt- 
ung (oder  die  Erfüllung  des  Phönixcyclus  ?)  bezogen  hat, 
und  erst  in  späterer  Zeit  mit  der  Eroberung  ^au^otc 
occupatio  possessio  potentia  zusammengeworfen  wurde. 
Aehnlich  wird  in  der  Tanitica  1.  45—46  gesagt,  das  Fest 
der  Euergeten  solle  an  dem  Schalttage  gefeiert  wer- 
den, damit  alle  erfahren  (elöwoiv)  öton  ro  eXketftov  tvqoteqov 
.  .  .  .  dicoQ&cjo&aL  nal  avaTtETc'krjQtoo&ai  ovftßeßijxev 
dia  tcov  EvEQysrcov  öeiov.  Der  hieroglyphische  Text  bietet 
aber  für  ava7t£7tXrjQwo&cu  genau  dieselbe  Gruppe  meh  (1.  23) 
°5^,  die  in  beiden  Rhind-Papyri  hinter  dem  Schilde  des 
Kaisaros  (Augustus)  als  dessen  kalendarischer  und  wohl 
auch  volkstümlicher  Beiname  erscheint.  In  der  oben  citirten 
Stelle,  wo  dieser  Titel  pe-mahte  neben  Kaisaros  vorkommt 
(pl.  XXV)  lin.  2,  ist  Brugsch's  Auffassung  als  einer  „correspon- 
dance"  schon  desshalb  unzulässig,  weil  dort  keine  Zahl 
darauf  folgt,  mit  der  correspondirt  werden  könnte. 

Mit  Beseitigung  der  zwar  höchst  genialen,  aber  fortan  un- 
haltbaren Auffassung  unsrer  Stelle  wie  Brugsch  sie  gethan,  sind 
wir  indessen  der  Schwierigkeiten  noch  nicht  positiv  Meister 
geworden.     Verführt   duzch    Birch's67)    irrige    Uebersetzung 


66)  Vergl.  Zeitschr.  1867,  81  (Goodwin). 

67)  Facsimiles  of  two  papyri. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  107 

derselben:  he  went  to  the  Place  of  Enwrapping  in  the  21st 
year  of  Caesar.  The  funeral  was  made  from  the  tenth  to 
the  15th  Epiphi  —  war  ich  früher  in  meiner  Berechnung, 
obschon  ich  nach  15th  das  Wort  Epiphi  als  entschieden  un- 
statthaftunterdrückte, auf  Grund  des  Kalenders  von  Esneh68) 
vom  26.  Payni  ausgegangen,  weil  dort  ein  „Fest  des  Be- 
kleidens  mench  der  Krokodile"  und  zwar  als  „Neujahrs- 
fest" notirt  ist.  Von  hier  an  15  Tage  weiter  zählend, 
gelangte  ich  ungezwungen  auf  den  10.  Epiphi  unsres  Textes, 
der  recht  wohl  als  der  fünfzehnte  vom  oder  seit  dem  „Be- 
kleidungsfeste" gelten  mochte,  um  so  mehr,  als  ja  auch  der 
Rhind-Papyrus  I  unmittelbar  nach  der  fraglichen  Zahl  (15) 
ein  Fest  hebs-tep  „Bekleidung  des  Hauptes"  darbietet.  Allein 
mit  der  richtigen  Lesung  meh  hru  16  „der  16.  Tag"  zerfiel 
dieser  trügerische  Schein  in  Nichts.  Uebrigens  bleibt  als 
reeller  Gewinn  auch  hievon  (dem  Kai.  v.  Esneh)  der  26. 
Payni  als  Neujahrsfest  bestehen  und  zwar  ist  damit  der 
Beginn  des  tropischen  Jahres  gemeint:  17/18  Juni, 
wie  ich  dies  schon  1866  (Zeitschrift  für  ägypt.  Spr.  Dec.) 
ausgesprochen  und  durch  Romieu  (ibid.  1867  p.  104)  nicht 
widerlegt  gefunden  habe. 

Die  beiden  Rhind-Papyri  haben    uns  also  folgende  Re- 
sultate mit  aller  Bestimmtheit  geliefert: 

1.  Das  fixe  Jahr  zu  365 */±  Tagen.  In  diesem 
entspricht  der  1.  Thoth  dem  29.  August  des  julia- 
nischen Kalenders,  folglich  der  26.  Epiphi  dem 
20.  Juli  =  Sothis-Aufgang.  In  der  That,  zählt  man 
vom  29.  August  40  Tage  (29+11)  zurück,  so  ge- 
langt man  ebenso  zum  20.  Juli,  wie  man  40  Tage 
nach  dem  26.  Epiphi  vorwärts  zum  1.  Thoth  gelangt. 

2.  Das  Jahr  21  des  Augustus  hat  sich  als  Schalt- 
jahr   erwiesen   und   somit   die  Einschaltung  in  je- 


68)  Brugsch:  Materiaux  pl.  XIII  col.  15a. 


108      Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

dem  4.  Jahre  des  Quadrienniunis,  also  22,  18,  14, 
10,  6,  2  v.  Chr.  dargethan.  Diese  Folgerung  beruht 
auf  dem  Datum :  25  Payni  =  hebes-tep-Fest"  oder 
Sommersolstitium,  welches  in  den  drei  andern  Jahren 
der  Tetraeteris  wie  z.  B.  im  Kalender  von  Esneh, 
auf  den  26.  Payni  trifft. 

3.  Der  Sothisaufgang  am  26.  Epiphi  =  20.  Juli,  in 
Beziehung  gesetzt  zu  dem  33  Tage  später  erfolgten 
Tode  der  Frau  Tanua,  gewährleistet  die  Richtigkeit 
des  dessfalsigen  theoretischen  Ansatzes. 

4.  Das  Wintersolstitium  am  26.  Choiahk  zufolge  den 
beiden  Papyri  entspricht  dem  23.  December  des 
Julian.  Kalenders. 

5.  Das  Sommersolstitium  am  25.  (26.)  Payni  liegt  um 
sechs  volle  Monate  später,  wie  es  die  Theorie  er- 
heischt und  entspricht  dem  17./18.  Juni,  wo  nach 
dem  Julian.  Kalender  die  Sonne  in  das  Zeichen  des 
Krebses  übertritt. 

Im  Jahre  21  des  Augustus  (10  v.  Chr.)  war  also  der 
Tod  des  Sauif  am  10.  Epiphi  zufällig  gerade  so  viele  Tage 
(33)  vor,  als  der  Tod  seiner  Frau  Tanua  nach  dem  Sirius- 
aufgange erfolgt.  Diesem  Zusammentreffen  sonderbarer  Um- 
stände verdanken  wir  die  wichtigen  Notizen,  die  der  Verfasser 
gleichsam  als  Parenthesen ,  scheinbar  ohne  Zusammenhang, 
dem  Texte  der  beiden  Rhind-Papyri  einverleibt  hat.  Es 
übrigt  noch  ein  weiteres  Corollar  von  höchster  Wichtigkeit 
daraus  abzuleiten. 

Die  Epochen  der  Phönixperiode. 

Das  wichtigste  Ergebniss  unserer  Untersuchungen  liefert 
mir  das  hebes-tep-Fest  des  Rhind-Papyrus,  das  wir  so- 
eben als  dem  Sommersolstitium  entsprechend  erhärtet  haben, 
nämlich  die  Sc hluss- Epoche  der  Phönixperiode. 

Der   Text  der   beiden  Rhind-Papyri   zeigt   allenthalben 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  109 

poetisches  Gepräge.  Es  darf  uns  daher  nicht  Wunder 
nehmen,  häufig  Parallelismen  Antithesen  und  Wortspiele 
darin  anzutreffen.  Um  mich  auf  letztere  Klasse  zu  be- 
schränken, mache  ich  vorderhand  zwei  Beispiele  bemerklich. 
Das  eine  ist  uns  schon  in  dem  Ehrentitel  des  Augustus: 
pe-mahte  ,,der  der  Ergänzung"  im  Zusammenhalte  mit  mah 
MdwO  multiplicare,  praefix.  numerorum  ordinalium,  begegnet. 
Das  zweite  Beispiel,  das  ich  für  meinen  Zweck  heranziehe, 
liegt  in  der  Bezeichnung  hebes-begaau  (demotisch  ta  usech 
en  ta  tiawt  „der  Saal  der  Tiefe")  einerseits  und  dem 
Feste  hebes-tep(au)  andererseits.  Wir  wissen  aus  dem 
Todtenbuche,  namentlich  den  capp.  145  u.  146,  dass  mit 
hebes-begau  die  sebech'tu  oder  Pylone  der  Unterwelt  be- 
zeichnet werden,  welche  der  Verstorbene  passiren  muss. 
Brugsch  lex.  p.  437  übersetzt :  „Verhüller  des  Elends",  „Ver- 
hüller dessen  der  sich  ausruht",  vergisst  aber  nicht  zu  be- 
merken p.  949,  dass  dieses  |J0o  I JIP^^  ^6S  »nicht 
selten   geschrieben   wird   an   Stelle    von    |l|ö    heseb69)" 

welch  letzteres  =  DDH  heseb  computus.  Beherzigt  man,  dass 
manche  Stelle  wie  S70)  par-heseb  „Haus  der  Rechenschaft" 
(„der  Könige  des  Ober-  und  des  Unterlandes")  als  Parallelis- 

69)  In   dem  Kalender   von  Esneh  ist   unter   dem   26.  Payni  — 
18.  Juni  unter  der  Gruppe  „Neujahrsfest"  und  „Ersch  einungs- 

fest"  im  Hause  des  Atum"  auch  noch  0    ^^zs^menchet  en 

/wwv\     ^     /v/v/ww"1^??^. 

msuhu  „Bekleidung  der  Krokodile"  notirt.  Später  unter  dem  1.  Epi- 
phi,  welches  Datum,  soferne  es  dem  Wandel  jähre  angehört,  ich 
schon  in  (p.  91)  meinen  Zodiaques  de  Denderah  =  Sommersolstitium  und 
Phönixerscheinung  angesetzt  habe,  erscheint  eine  zweite  Bekleidung, 

diesmal  des  göttl.  Kindes  (Hekapechrud) :  |  fl]     ^\  .     So   darf  es 

es  uns  auch  nicht  befremden,  dass  unser  Rhind-Papyrus  den  Aus- 
druck hebes-tep  scheinbar  „Bekleidung  des  Hauptes"  anwendet, 
wo  ursprünglich  heseb-tep  gemeint  war. 

70)  Cf.  Reinisch:  Die  äg.  Denkmäler  in  Miramar  Taf.  XLIII  1. 1. 


110        Sitzung  der  phüos.-phüol.Classe  vom  7.  Februar  1874. 

mus  zu  vielen  andern  euphemistischen  Bezeichnungen  der 
Amenti  oder  Unterwelt  auftritt;  bedenkt  man  ferner,  dass 
an  den  citirten  Stellen  häufig  das  Verbum  eher  ^,-w-,  „haben, 

halten"    und  das  Substantiv    (IQ    ^      sap   „Untersuchung" 


damit  in  engster  Verbindung  steht,  dessen  juridische 
Bedeutung  ich  anderwärts71)  dargethan  habe,  so  werden  wir 
kaum  fehlgreifen,  wenn  wir  annehmen,  dass  die  personificirten 
Pylone  mit  der  Legende  eher  heseb  begaau  als  „die  trau- 
riges72) Gericht  abhaltenden  oder  enthaltenden"  ge- 
meint sind. 

Eine  ähnliche  Bewandtniss  hat  es  mit  dem  wohl  durch  die 
Namensähnlichkeit  und  wegen   der  Zeitangabe   als 

Wortspiel  eingeführten  Feste?   1  0^5  hebes-tepau  schein- 

bar „die  Panegyrie  der  Verhüllung  des  Hauptes"73).  Nimmt 
man,  nachdem  durch  meine  obigen  Deductionen  dieses  Fest 
als  dem  25/26.  Payni  =  Sommersolstitium  am  17/18.  Juni  ent- 
sprechend dargethan  ist,  die  nämliche  Metathesis  an,  wie 
vorher  bei  heseb  begaau  „die  traurige  Rechenschaft,  das 
peinliche  Gericht",  so  erhalten  wir  für  heseb-tep(au)  eine 
viel  besser^  passende  Bedeutung,  nämlich :  dies  festus  com- 
puti  primi.  Dass  dies  der  wahre  Sinn  unsrer  Stelle  ist, 
will  ich  sofort  beweisen. 

Wenn  die  Aegypter  bloss  beabsichtigt  hätten,  dem 
Augustus  zu  Ehren  eine  Kalender-Neuerung  in  der  Art  der 
unter  Euergetes  eingeführten  zu  beschliessen ,  so  wäre  dies 
sofort    nach    vollbrachter  Eroberung  Alexandria's    möglich 


71)  Papyrus  Abbott,  Sitzungsberichte  1870. 

72)  Im  Kopt.  entspricht  dem  begau  $il><(3>  privare,  ßl«2Sl  tortura; 
daher  so  gar  häufig  dahinter  nebst  dem  Bilde  des  schwachen  oder 

leidenden  Mannes  (fo  das  weitere  Determ.  des  weinenden  Auges  yPff" 

73)  Todtenbuch  c.  108,  6  scheint  hebes-tep   diese  Bedeutung- 
wirklich  zu  haben. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  111 

gewesen.  Denn  es  lag  keine  solche  Coincidenz  des  fixen 
Siriusaufgangs  mit  einem  Monats-Ersten  in  der  Nähe,  wie 
zur  Zeit  des  Euergetes ,  wo  die  Priesterschaft  zwar  wohl- 
dienerisch,  aber  doch  auf  Grund  der  ägyptischen  Jahres- 
formen den  concreten  Zeitpunkt :  1.  Payni  des  Wandeljahres 
=  Sothisaufgang  (20.  Juli)  mit  wohl  berechneter  Absicht 
klug  abwartete.  Da  nun  zur  Zeit,  wo  Augustus  Aegypten 
eroberte,  die  gleiche  Coincidenz  nicht  gegeben  war,  weil  seit 
245  v.  Chr.  mehr  als  einmal  120  (4x30)  und  weniger  als 
zweimal  120  oder  240  (2X30x4)  Jahre  verflossen  waren, 
so  fragt  es  sich,  ob  nicht  eine  andere  Coincidenz  im  Jahre 
25  v.  Chr.  sich  von  selbst  ungezwungen  dargeboten  habe. 
Dies  scheint  mir  wirklich  der  Fall  gewesen  zu  sein  und 
zwar  mit  der  erhöhten  Wichtigkeit ,  dass  es  sich  hier  um 
ein  Epochen  jähr  d.h.  den  Abschluss  eines  früheren  und 
den  Beginn  eines  neuen  Cyclus  handelte:  die  Apokata- 
stasis  der  Phönixperiode.  Diese  Ansicht  spreche 
ich  hier  nicht  zum  ersten  Male  aus ;  in  einem  meiner  früheren 
Werke74)  habe  ich  ausführlich  erörtert,  wie  die  Nachrichten 
der  Classiker  besonders  des  Tacitus  (Annal.  VI  28)  über  die 
Epochen  der  Phönixperiode  zu  verstehen  sind.  Dabei  hatte  ich 
unter  andern  p.  58  folgender  Ausdrücke  mich  bedient :,,...  Da 
ferner  Tacitus  eine  500  jährige  Dauer  der  Phönixperiode 
meldet,  was  richtig  ist,  wenn  man  nur  eine  der  drei  Jahres- 
zeiten berücksichtigt,  und  diese  wieder  in  zwei  Hälften  zu 
je  250  Jahren  zerlegt,  so  erkennt  man  leicht,  dass  der 
Theil  derselben,  welcher  bei  der  Katastrophe  des  Amasis  II, 
525  v.  Chr.,  also  250  Jahre  vor  275  (Ptolemäus  Phila- 
delphus  „ex  Macedonibus  tertius")  begonnen  hatte,  im  J.  25 
d.i.  unter  Augustus  zu  Ende  ging.  Daher  schreibt  sich 
auch  die  (übrigens  nur  scheinbare)  ,, Verwirrung"  der  römi- 
schen Pontifices  75)  ...  Da  die  kalendarische  Bewegung  des 

74)  Moses  der  Ebräer  p.  57—64  (1868). 

75)  Lepsius:  Königsbuch,  letzte  Textseite  rechts;  vgl.  oben  p.  93. 


112      Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

1.  Thoth  des  Wandeljahres  in  Bezug  auf  das  fixe  Jahr  eine 
rückwärtsschreitende  ist,  so  wird  die  Wahl  des  29.  statt 
des  31.  August  zur  Epoche  ihren  guten  Grund, 
warum  nicht  allenfalls  in  der  (25  v.  Chr.)  zu  Ende 
gehenden  Phönixperiode?  —  gehabt  haben". 

Was  ich  damals  nur  vermuthete  und  d esshalb  nur  mit 
einem  Fragesatze  wiedergab,  ist  mir  jetzt  zur  festen  Ueber- 
zeugung,  ja  zu  völliger  Gewissheit  geworden.  Wenn  meine 
Mitforscher  auf  dem  Gebiete  der  Aegyptologie  und  Chrono- 
logie dieser  meiner  Ansicht  bisher  keine  Beachtung  geschenkt 
haben,  so  mag  das  von  mir  selbst  angebrachte  ?  signum 
dubitationis  diese  Enthaltung  erklären  und  rechfertigen. 
Bedenklicher  aber  erscheint  das  beharrliche  Schweigen  selbst 
der  Kritik,  gegenüber  meiner  aus  dem  Papyrus  Leydens. 
I  350,  IV  4  geschöpften  Legende.  Hier  mag  die  Verstummung 
(oder  Verstimmung?)  sich  aus  dem  Umstände  begreifen 
lassen,  dass  man  autographirte  Bücher  als  solche  miss- 
achtet.    Die  Stelle  lautet  im  Zusammenhange: 

„Der  Mur-par  (Haus-Intendant)  Königssohn  (Prinz)  C ha- 
rn-oas  zog  aus  als  Oberer  der  göttlichen  Diener?  (Lücke 
durch  Verwischung)  Priester  guter  des  Königs  Ramessu76) 
Haq-Anu.  Anfang  des  Jahres  der  Zurückweichung". 
Die  letzt  genannte  Angabe  stellt  sich  hieroglyphisch  also  dar : 

j    O  _^ .a  ape't  en  ronpe't  n pahut 

und  ist  vollkommen  deutlich  erhalten.  Da  sie  sich  zu  dem 
überstehenden  und  weiterhin  1,351,1    wiederholten  Datum: 


^^n   „Jahr  52,  Monat  Mechir,  letzter 
d.  h.   30.  Tag"    als   integrirender  Theil    gesellt,   so    sollte, 

76)  Young  Hieroglyph.  II  86/87  bat  für  diesen  König  die  etwas 
seltene  Legende    ^zzz?  X     ]  M  \l  t)        xvqioq   TQiaxovTcaTrKjiöw 

xcMtisq  6"H"kios  (sonst  bekanntlich  "Hyouarog). 


Lanth :  Die  Schälttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  113 

dächt'  ich,  wenigstens  jeder  Aegyptologe  mit  mir  sofort  an 
die  Stelle  des  Tacitus  sich  erinnern  :  Sesostride  dominante 
primum  (alitem  phoenicem)  in  civitatem,  cuiHelio- 
polis  nomen,  advolavisse.     Auch  für  dieses  primum  hatte 

■^\         n  /www — m— —fifa 

ich    das   Aequivalent   in    der   Gruppe    v\  J  g     «   üben 

sop  tap  „aufleuchtend  das  erste  Mal*'  aus  cap.  140,  col.  5 
des  Todtenbuches  erwähnt.  Die  Stadt  Heliopolis  (On- 
Anu)  anlangend,  so  bietet  schon  das  Todtenbuch  allein  eine 
Fülle  von  Belegen  dafür,  dass  der  Bennu  (Phönix)  mit  dieser 
Stadt  aut's  Innigste  zusammenhing.  Ferner  wissen  wir  aus 
der  Uebersetzung  des  Hermapion,  die  sich  an  den  Obelisken 
Flaminius  und  Sallustianus  noch  jetzt  controliren  lässt,  dass 
der  König  c  PafAeGtrjs1 7)  ov  °'AiJ.^tov  dyarca  —  d.  i.  M.ia[iovv\ 

ov  c'Hliog  TtQoiy.Qivev  j\ — s   sotep-en-Ra  —  den  Tempel   des 

A/W 

Phönix  in  Anu  mit  Gütern  angefüllt  hat:  rtlrjQwaag  tov  vswv 
tov  ®olvizoQ  äya&wv,  wobei  TtlrjQcooag  zugleich  an  die 
Erfüllung  der  Phönixperiode  wortspielend  erinnert.  Fassen 
wir  diese  hier  nur  auszugsweise  mitgetheilten  Thatsachen 
zusammen,  so  kann  kein  Zweifel  bestehen,  dass  die  Nach- 
richt des  Tacitus  über  den  Beginn  der  Phönix- 
periode unter  RamsesII  Sesostris  auf  guter 
Grundlage  ruht. 

Eine  höchst  einfache  Rückrechnung  von  dem  Schluss- 
punkte aus,  den  die  ursprüngliche  Quelle  des  Tacitus  enthielt, 
nämlich  der  vom  Macedo  tertius  bis  zum  Imperator  Augustus 
d.  h.  vom  J.  275  (Philadelphus)  bis  25  v.  Chr.  verstrichenen 
*/e  Periode  zu  250  Jahren,  führt  mit  3x500  oder  6x250 
—  1500  auf  das  Jahr  1525  vor  Christus  als  das 
nächst  frühere    Epochenjahr   der  vollen  Phönix- 


77)  Diese  Gräcisirung   des   Namens   Ramessu,   sonst  cPa^ieaa^g, 
nähert  sich  am  meisten  dem  durch  Umstellung  der  Theile  gebildeten 
Spitznamen  Ra-sest-su  =  Sestsu  =  Zsgomjtqis,  Zeaowoig. 
[1874,  1.  Phil.  hist.   CL]  8 


1 14     Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

periode  zu  1500  Jahren.  Da  dieses  Phänomen  unter 
dem  Datum :  „J.  52  letzter  Mechir"  des  Sesostris  ange- 
schrieben steht  und  dieser  berühmteste  aller  Pharaonen  sich 
auch  durch  eine  ungewöhnlich  lange,  indess  wohlbeglaubigte 
Regierung  von  66  Jahren  2  Monaten  auszeichnete,  so  kom- 
men wir  für  das  Todesjahr  des  Sesostris  auf  die  Grenz- 
scheide von  1511/1510  v.  Chr.  Sein  Sohn  Menoptah,  unter 
dem  nach  Manetho  der  Exodus  der  Aussätzigen  stattfand, 
regierte  19  Jahre  6  Monate.  Wenn  nun  sein  Lebensende 
mit  dem  Exodus  gleichzeitig  sich  ereignete,  wie  Manetho 
andeutet  und  die  Bibel  ausdrücklich  behauptet,  so  kommen 
wir  auf  das  Jahr  1491  v.  Chr.  als  Epoche  dieses  auch  für 
Aegypten  so  wichtigen  Ereignisses,  dass  der  nationale  Ge- 
schichtschreiber und  Chrono  log  Manetho  eigens  darüber 
schrieb  und  in  seinen  ^ilyvTttia  v{io[ivri\xaxa  mit  Mevocpfrag 
die  XVIII.  Dynastie  abschliesst,  obgleich  der  nächstfolgende 
König  Ss&wg  bestimmt  ein  legitimer  Sohn  Menoptah's  ge- 
wesen ist.  Die  480  Jahre  vom  Tempelbau  Salomons  rück- 
wärts gerechnet  ergeben  ebenfalls  1491  v.  Chr.  als  das  Jahr 
des  Exodus.  Diese  Harmonie  von  Resultaten,  die  aus  gegen- 
seitig unabhängigen  Quellen  geflossen  sind,  hätte  doch  sicher- 
lich schon  längst  d.  h.  seit  5  Jahren,  einige  Beachtung  ver- 
dient, wenigstens  einen  oder  den  andern  der  Mitforscher 
zur  Prüfung  der  betreffenden  Ansätze  auffordern  sollen.  Da 
dies  bisher  nicht  geschehen  ist,  so  werde  ich  in  meinem 
nächsten  grössern  Werke  „Sothis"  die  Frage  von  Neuem 
aufnehmen  müssen.  So  viel  kann  ich  jetzt  schon  in  Aus- 
sicht stellen,  dass  die  beiden  Data:  1525  und  1491  v.  Chr. 
durch  zwei  ebenfalls  gegenseitig  unabhängige  Zeugnisse :  eines 
Sothisaufgangs  und  einer  bisher  übersehenen  directen 
Angabe  eines  classischen  Chronologen  glänzend  bestätigt 
werden.  Einstweilen  diene  den  Freunden  der  Chronologie 
zur  Beruhigung,  den  Bemänglern  aber  zur  Warnung,  dass 
der  Leydener  Papyrus,  der  uns  ,,das  Jahr  der  Zurückweichung" 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  115 

ergeben  hat,  an  einer  andern  Stelle  wieder  unter  dem 
30.  Mechir,  von  einem  Geschenke  spricht,  das  im 
Ramesseum  (!)  gegeben  wurde 

„ordinatori  (ujimc)  motus  cyclici  coeli,  Phoenicis,  et 
stellarum".  Ausserdem  habe  ich  in  einem  Turiner  hierat. 
Pap.  dieselbe  Gruppe  „Bewegung  des  Himmels"  in  Verbind- 
ung mit  dem  Autornamen  eines  Pharao  entdeckt,  der  über 
Astronomie  geschrieben  hat. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  der  unter  dem  Datum  des  letzten 
Mechir  gebotene  „Anfang  des  Jahres  der  Zurückweichung'', 
der  sofort  an  die  Vorrückung  der  Solstitien  und  Aequinoc- 
lien  gemahnt78),  auch  anderweitig  belegt  werden  könne.  Dies 
ist  in  mehr  als  ausreichendem  Maasse  der  Fall,  da  wieder 
das  Todtenbuch  davon  öfters  Meldung  thut,  z.  B.  c.  125 
col.  11/12,  besonders  ausgiebig  aber  cap.  140.  Ich  kann 
natürlich  hier  nicht  wieder  ausführlich  darüber  handeln. 
Nur  soviel  sei  bemerkt,  dass  das  Vorkommen  dieses  nach 
dem  Phönix  benannten  Cyclus  im  Todtenbuche  uns  von  vorn 
herein  nicht  befremden  darf,  da  dieses  ja  die  Geschichte  der 
Seele  oder  ihre  Wanderungen  und  Wandlungen  enthält  und 
die  von  Herodot  II  123  erwähnte  3000  jährige  TteQirjhvGig 
(rrjg  ipvyfis  yiveö&cu  sv  tqio%l%Loigi  ereot)  d.  h.  Seelen- 
wanderung in  3000  Jahren  vor  sich  geht :  das  ist  gerade 
eine  doppelte  Phönixperiode.  Ferner  will  ich  die  nöthigsten 
Gruppen  der  Legende  hersetzen:  cap.  125  col.  11  spricht 
der  Verstorbene :  „Ich  bin  rein  (quater).  Meine  Reinheit 
ist  die  Reinheit  des  B  e  n  n  u  -  (Phönix-)  Vogels,  jenes  (be- 
kannten) grossen  (wichtigen),  welcher  in  Chennsu  (Chanes 
oiihc  =  'HQaxleoTtofog)  col.  12.  Denn  ich  bin  die  Nase 
des  Herrn   der  Athmungen,    belebend  alle  reinen  Menschen 


"8)  Vergl.  Lepsius:  Chronolog.  p.  190  fg. 


116       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

"  (rochiu)  an  jenem  Tage  der  Berechnung  ö|l  1  £3   des  Uzat- 

Auges  in  Anu  (On-cHXiovrtolig)   ^^  ^^    am    letzten 

Tage  des  Monates  Mechir,  vor  (coram)  dem  Herrn  dieser 
Welt.      Ich    habe  geschaut    '  ^^§f\[l       die   Erfüllung 

(Ergänzung)  des  Uzat  Auges  in  Anu:  nicht  geschieht  etwas 
(bu)  Böses  (du)  wider  mich  in  diesem  Lande  der  Wahrheit". 
Aus  Vignette  und  Text  des  cap.  140  ergibt  sich  mit 
vollkommener  Sicherheit,  dass  j,das  Uzat-Auge"  weder  die 
Sonne,  noch  der  Mond  sein  kann  —  woran  Jemand 
wegen  des  mah  „Erfüllung"  denken  könnte  —  sondern  die 
Phönixperiode  selbst.  Es  erscheint  wieder  die  bedeutsame 
Gruppe   °<3*N  mah,   der  wir  in  der  Tanitica  und  im  Rhind- 

Papyrus  I  begegnet  sind  und  zwar  gerade  wieder  an  der 
Stelle,  wo  es  sich  um  eine  Ergänzung,  Ausgleichung  handelt. 
Wir  erfahren  ferner,  dass  eine  computatio  heseb  2DH)  dabei 
stattfand,  dass  auf  ,,das  erste  Mal"  sop-tep  Rücksicht  ge- 
nommen wird  und  dass  nach  col.  11  aus  dieser  Coincidenz 
und  Ausgleichung   zwischen    den  beiden    Uza't  (Sonne  und 

Bennu)    eine   Panegyrie    jj  J(^     gefeiert   wurde:    Elemente 

genug,  um  das  Fest  hebes-tep  (=  heseb-tep)  des  Rhind-Papyrus 

(am  10.  Epiphi  minus  16  Tage  =  Sommersolstitium)  9   1  1^5 

oder  vielmehr  jj  I  1  £3    ^^     begreiflich  erscheinen  zulassen. 

Der   in   der   Vignette   zu   cap.  140    auf    einem  Gestelle 

ruhende  schwarze  Schakal  mit  dem  ö  sechem- Scepter  ist  der 

aus  den  astronomisch-kalendarischen  Darstellungen  wohlbe- 
kannte Repräsentant  des  Monats  Mechir,  an  dessen  letztem 
Tage  jene  Ausgleichung  oder  Ergänzung  (mah)  vor  sich  geht. 
Ueberhaupt  sind  die  Vetreter  der  beiden  die  Jahresmitte 
vorstellenden  Monate  Mechir  (6.)  und  Phamenot  (7.)  immer 


Lauth:  Die  ■Schalttage  des  Ftoiemäm  Euergctes  1.  117 

symmetrisch  augebracht,  sei  es  in  Gestalt  von  Schakalen, 
Schweinen  oder  mit  der  gemeinschaftlichen  Benennung  rolch 
(pouo  fomes,  titio).  Es  begreift  sich  diese  vis-a-vis-Ord- 
nuug,  wenn  man  mit  mir  die  Einschaltung  oder 
Ausgleichung  des  Schalttages  in  die  Mitte  des 
Jahres  verlegt.  Ohne  mich  jetzt  darauf  weiter  einzu- 
lassen, gebe  ich  zu  bedenken,  dass  sowohl  1525  als  25  vor 
Christus  auch  im  hl.  Kalender  keine  Schaltjahre  waren, 
also  der  Repräsentant  des  Phamenot:  das  grosse  weibliche 
Nilpferd,  bei  der  (oben  geschilderten)  Scene  des  cap.  140 
und  im  Rhind-Papyrus  I  ebenso  wenig  erscheint ,  als  das 
Stierviertel  oder  der  ganze  Stier,  das  Symbol  des  einzu- 
schaltenden Tages.  Nach  Biot's  Berechnung  fiel  zwischen 
1500  u.  1600  v.  Chr.  das  Sommersolstitium  auf  den  7.  Juli. 
Rechnet  man  nun  auf  je  ein  Jahrhundert  1  Tag  Differenz 
wegen  der  Präcession,  so  würden  die  15  sich  so  seit  Seso- 
stris79)  ergebenden  Tage  auf  den  23.  Juni  für  die  Zeit  des 
Jul.  Cäsar  und  Augustus  führen.  Wirklich  ist  im  julianischen 
Kalender  unter  VIII  Kai.  und  VI  Kai.  Jul.  d.  h.  24.  u.  22. 
Juni  „Solstitium"  angemerkt,  so  dass  die  eigentliche  Mitte 
der  Sommersonnenwende  auf  den  den  23.  Juni  fällt.  Dieses 
Resultat  involvirt  übrigens  keinen  Widerspruch  mit  dem 
analog  doppelt  unter  XV  Kai.  und  XIII  Kai.  Jul.  d.h.  17. 
u.  19.  also  18.  Juni  notirten  Sol  in  Cancrum.  Denn  auch 
altägyptische  Darstellungen  z,  B.  im  Grabe  Ramses  VI,  wo  die 
5  Epagomenen  nicht  gezählt  sind  und  das  Fragment  des 
Louvre,  wo  die  Decaden  von  1 — 10,  10—20,  20—30  laufen, 
während  im  Grabe  Ramses  IV  die  Decaden  von  6. — 16., 
16.— 26.,  26.-6  gerechnet,  also  beide  Male  die  Epagomenen 
berücksichtigt  sind,    trifft   man   die    adäquate  Differenz  von 


79)  Das  Nilfest  am  lö.Epiphi  (=7.  Juli)  unter  Ramses  II  Seso- 
stris  bezieht  auch  Brugsch  Mater,  p.  37/38  auf  das  solstice  d'ete. 
Man  sieht,  wie  die  Differenz  von  15  Tagen  zu  15.  bis  1.  Epiphi  stimmt. 


118      Sitzung  der  •philus.-philol.  Clause  vom  7.  Februar  1874. 

5  Tagen.  Die  eigentliche  Neuerung  des  Kalenders  unter 
Augustus  bestand  also,  ausser  der  Fixirung  des  Wandeljahres, 
in  der  Anfügung  des  6,  Epagornens  hinter  den  5, 
und  wirklich  erscheint  dieser  erst  von  da  an. 

Wenn  man  Plinius  liest80)  so  erfährt  man  allerdings  von 
manchem  so  genannten  oder  falschen  Phönix.  Tacitus 
sagt  VI  28,  der  unter  dem  Cousulate  des  Paulus  Fabius  und 
L.  Vitellius  (im  21.  Jahre  des  Tiberius  =  34  nach  Christus) 
nach  Aegypten  gekommene  Phönix  sei  der  Ansicht  mehrerer 
zufolge  falsum  (nunc  phoenicem)  neque  Arabum  e  terris 
gewesen.  Ich  habe  nachgewiesen,  dass  der  reetanguläre 
Thierkreis  von  Denderah  mit  dem  Horoskope  des 
Kaisers  Tiberius,  auf  den  17.  Nov.  —  21.  Athyr  lautend,  die 
wahre  Veranlassung  zu  diesem  ,, falschen"  Phönix  gewesen. 
Ferner  hat  die  irrige  Auslegung  des  „e  Macedonibus  tertius" 
wegen  Verwechslung  mit  Ilroleixaioq  6  EveQyht]g  rgkog  ißaol- 
levoev  etc.  die  Epoche  der  letzten  Sechstelphönixperiode 
unter  Ptolemäus  Philadelphus  (275  v.  Chr.)  verwischt  und 
dadurch  ist  auch  Tiberius  an  die  Stelle  des  Augustus  ge- 
treten. So  kommt  es,  dass  die  jedenfalls  in  Aegypten  all- 
gemein bekannte  Thatsache  der  Erneuerung  desPhönix- 
Cyclus  hinter  der  Kalender-Neuerung  bei  den  Römern 
fast  ganz  in  Vergessenheit  gerieth.  Und  doch  hatte 
Augustus81)  den  Hermapion  beauftragt,  für  ihn 


80)  Vergl.  meine  Zodiaques  de  Denderah  p.  91  note:  „La 
reforme  du  cal.  egyptien  attribuee  ä  Auguste  l'an  25  avant  notre 
ere,  peut  se  rapporter  a  un  veritable  phenix  c'est-a-dire  a  la  co- 
ineidence  du  1er  Epiphi  avec  le  solstice  d'ete".  Der  1.  Epiphi 
zeigt  denselben  Abstand  vom  26.  (25).  Payni  d.  h.  5  oder  6  Tage, 
wie  der  23.  Juni  vom  18. 

81)  Ammianus  Marcellin.  XVII.  4:  quum  Octavianus  Augustus 
obeliscos  duos  ab  Heliopolitana  civitate  transtulisset  Aegyptia,  quorum 
unus  in  Circo  maximo  .  .  .  Qui  autem  notarum  textus  obelisco  incisus 
est  veteri,  quemvidemus  in  Circo,  Hermapionis  librum  sequuti  inter- 
pretatum  litteris  subjeeimus  graecis      Sharpe  (Egypt.  Ilieroglyphics 


Lcmth :  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Eueryetes  1.  119 

die  von  Sesostris  herrührende  Inschrift  des 
Obelisken  von  Heliopolis  (Flaminius)  in's  Grie- 
chische zu  übersetzen.  Wahrlich  dieses  einzige  Symptom 
spricht  deutlicher  als  viele  directen  Zeugnisse  und  wir  dürften 
schon  hieraus  schliessen,  dass  die  zwei  grössten  Herr- 
scher des  Alterthums:  RamsesII  Sesostris  und 
Cäsar  Augustus  mit  dem  Anfange  und  Ende  der 
1500jährigen  Phönixperiode  und  zwar  den  Epo- 
chenjahren 1525  und  25  v.  Chr.  zusammenhangen. 
Die  Nachricht  des  Plinius  H.  N.  36,  8—13  über  die  Obelisken 
schreibt  den  heliopolitanischen  bestimmt  dem  Sesothis 
zu  (in  der  That  ist  er  unter  Sethosis  I  und  Sesostris  er- 
richtet) und  meldet:  Divus  Augustus  eam  (scilicet  navem) 
quae  priorem  advexerat,  miraculi  gratia  Puteolis  navalibus 
dicaverat  .  .  .  is  autem  obeliscus,  quem  D.  Augustus  .  .  . 
statuit,  excisus  est  a  Sesothide.  Es  ist  der  Flaminius,  wie 
die  lateinische  Inschrift  am  Sockel  mit  der  Widmung  des 
Augustus  beweist.  Ich  habe  ferner  in  meinem  Werke 
über  dieThierkreise  vonDenderah  p.  86  darauf  hin- 
gewiesen, dass  nach  Tacitus  Annal.  19  idem  dies  accepti 
quondam  imperii  princeps  et  vitae  supremus  (fuit).  Der 
Geburts-  sowohl  als  der  Todestag  des  Augustus  war  aber 
der  1.  Sextilis  =  1.  Augusti,  ihm  zu  Ehren  so  umbenannt 
und  nach  der  „falschen"  Rechnung  der  Pontifices  sollte  auch 
die  Eroberung  Alexandria's  auf  den  1.  August  gefallen  sein. 
Dazu  kommt,  dass  der  Kaiser  Augustus  im  J.  14  nach  Chr. 
am  19.  August,  gerade  1  Tag  vor  dem  1.  Thoth  (des 
Wandeljahres)  das  Zeitliche  segnete. 

Diese  mannigfachen  Coincidenzen  nebst  dem  falschen 
Phönix  des  Tiberius,  machen  es  uns  begreiflich,  warum  die 
römischen   Autoren   uns   nicht   eben   so   Jahr   und  Tag  der 

p.  19)  verlegt  irrig  die  Uebersetzung  des  Hermapion  unter  Con- 
stantin,  weil  er  den  recens  advectum  obel.  mit  dem  veteri 
obelisco  verwechselt. 


120      Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  187-1. 

Augusteischen  Kalender  -  Neuerung  und  Phönix- 
Periode-Erneuerung  (in  Aegypten)  aufgezeichnet  haben, 
wie  sie  die  im  Jahre  der  Stadt  726  =  18  v.  Chr.  erfolgte 
Säcularfeier82)  notirten.  Es  trat  eben  aus  den  genannten 
Gründen  die  Epoche  des  ächten  ägyptischen  Phönix  im 
Bewusstsein  der  Späteren  in  den  Hintergrund.  Es  zeugen 
aber  die  falsi  Phoenices,  die  sich  nach  Augustus  förmlich 
häufen,  indirect  für  die  Existenz  eines  ächten  Phönix, 
der  während  des  Augustus  Regierung  in  Aegypten  erschienen 
war.  Die  Rhind-Papyrus  I  u.  II  haben  uns  durch  die  Bewahrung 
des  betreffenden  Festtages  am  26.  Payni,  sowie  des 
Siriusaufgangs  am  26.  Epiphi  nicht  nur  des  Augustus  Kalender- 
Fixation ,  sondern  auch  die  Epoche  der  ächten  und 
wahren  Phönixperiode  am  (20.  Juli  und  am  18.  Juui) 
des  Jahres  25  v.  Chr.  überliefert.  Wir  besitzen  übrigens  ein 
ziemlich  directes  Zeugniss  für  diese  Doppelbedeutung  des 
Augustus  in  kalendarisch-astronomischer  Beziehung.  Im  Ein- 
gange habe  ich  die  Stelle  des  Censorinus  d.  d.  n.  angeführt, 
wo  er  sagt,  dass  der  grosse  Cyclus  von  1460  julianischen  = 
1461  Wandeljahren  bald  fjliaxog,  bald  6  deov  sviccvTog 
genannt  werde.  Der  Ausdruck  r^haxog  bezieht  sich  nicht 
auf  den"Hliog  (Sol,  Sonnengott),  sondern  auf  den  helia- 
kali sehen  Frühaufgang  des  Sirius  (Sothis).  Was  aber 
den  d-eog  betrifft,  so  kann  wieder  nicht  c'Hhog  gemeint 
sein,  auch  nicht  2to$ig,  da  diese  ja  eine  Göttin  (Isis-Hathor). 
Aber  Augustus,  er  hatte  in  Aegypten  den  officiellen  Titel 
6  $e6g  g  |  jj  pe  nuter  und  darum  hiesss  Tiberius  &eov 
viog  83). 


82)  Vergl.  Horatius:  Carmen  saeculare  und  Tacit.  Annal  XI  1 
„64  Jahr  vor  800  der  Stadt,  wo  Claudius  die  Censura  bekleidete  cf. 
Plinius  h.  n.  X,  2  wo  wieder  ein  actenmässig  bezeugter,  aber  nichts 
desto  weniger  falscher  Phönix  in  coraitio  propositus  est. 

83)  Vergl.  meine  Zodiaques  de  Denderah  p.  73—75. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  l^olemäus  Euer  getan  I.  121 

Auf  einem  kleinen  bilinguen  und  darum  doppelt  interes- 
santen Denkmale  des  Museums  in  Bulaq 84)  bringt  ein  ge- 
wisser Ammonios  Claudianos  (noy^oyqa^axevg)  der  Triade 
von  Abydos :  Osiris-Isis-Horus  sein  Gebet  und  Opfer  dar. 
Er  gedeukt  dabei  einer  ausgeführten  ohodo^rj  unter  LIZ 
Tißeqiov  KaloccQog  2eßaöTOv  Tvßrt  IH.  Der  dazu  gehörige 
demotische  Text  ist  ausführlicher  und  setzt  z.  B.  das  Doppel- 

datum:  „Jahr  17  des  Tiberius  Kaisaros        ^s=> -yj  „Sohnes 

des  Gottes"  (nicht  ent  her,  enter  „des  obigen,  zur  Zeit" 
Brugsch)  Tybi  18  des  Joniers  =  Mechir  1  des  Aegypters". 
Die  Rechnung  stimmt:  der  18.  Tybi  des  fixen  griechisch- 
alexandrinischen  Jahres,  vom  29.  August  30  n.  Chr.  =  1.  Thoth 
an  gerechnet,  trifft  mit  dem  13.  Januar  des  J.  31  n.  Ghr. 
zusammen.  Eben  dahin  führt  das  Datum  1.  Mechir  des 
ägyptischen  Wandeljahres,  das  also  im  J.  31  n.  Chr.  noch 
immer  gebraucht  wurde.  Denn  im  Vorjahre  war  der 
1.  Wandelthoth  auf  den  16.  August  (14  Tage  vor  dem  29.) 
gefallen.  Zählt  man  von  da  5><30H-1  =  151  Tage  weiter 
d.  h.  gerade  wieder  um  die  14  Tage  mehr,  als  um  welche  der 
1.  Mechir  dem  18.  Tybi  überlegen  ist,  so  gelangt  man  zu 
dem  nämlichen  13.  Januar  als  Datum  des  Denkmals.  Hierin 
liegt  zugleich  ein  starker  Beweis,  dass  die  fixen  Tetraeteriden 
von  25  v.  Chr.  beginnen,  da  25  +  31  =  -f-  —  14. 

Jetz  begreifen  wir  auch,  warum  in  der  Stelle  des 
Tacitus  (Annal.  VI,  28)  und  sonst  die  Sirius-  und  die 
Phönixperiode  amalgamirt  erscheinen :  es  ist  eben  die 
Doppel-Coincidenz  unter  Augustus  (6  d-eog)  Schuld  daran, 
in  dessen  6.  Jahre:  25.  v.  Chr.  sowohl  der  1.  Thoth 
auf  den  *29.  August  fixirt  wurde,  als  auch  die 
Epoche  der  Phönixperiode  sich  ereignete.  —  Sollten 
die    Aegypter    diese    doppelte   Thatsache  nicht   nach    ihrer 


84)  Cf.  Brugsch:  Zeitschrift  für  aeg.  Spr.  1872  p.  27-29. 


122      Sitzung  der  phüos.'philöl.  Glosse  com  7.  Februar  1874. 

Weise  in  einem  Tempelbaue  zum  Ausdrucke  gebracht  und 
verewigt  haben?  Ich  glaube  diese  Frage  bestimmtest  be- 
jahen zu  können:  es  ist  der  Zodiacus  nebst  Kalen- 
der von  Esneh,  wohl  nicht  absichtslos  neben  den  kleinen 
Tempel  und  Zodiacus  des  Euergetes  I  (Letronne  Recueil 
d'inscript.  grecq.  I  201)  hingestellt,  den  Augustus  ebenfalls 
completirte.      Diese    Stadt   führt   nicht   umsonst   einen    von 

Anu    [I     Ann   (On,  Heliopolis)   abgeleiteten   Namen  [fl(|(] 

Anit  „die  Onischet;.  Ich  werde  hierüber,  sowie  über  die 
andern  On- Städte  (Anu-menth  =  Hermonthis,  Ant  =  Den- 
derah)  in  meinem  Werke  „Sothis"  ein  Mehr  eres  beibringen. 

Der  runde  Thierkreis  von  Denderah. 

Die  bisher  erzielten  Resultate  nöthigen  mich,  in  meinem 
öfter  citirten  Werke:  Les  zodiaques  de  Denderah  p.  {15 
folgende  Stelle  zu  streichen :  il  faut  y  voir  le  representant 
de  l'annee  alexandrine  fixe,  laquelle  commence  le 
29  Aoüt  Julien,  c'est-a-dire,  le  11.  Phaophi  de  l'annee 
sothiaque. 

Da  der  Zodiaque  circulaire,  wie  ich  daselbst  gründlichst 
nachgewiesen  habe,  aus  Anlass  der  neuen  Aera  der 
Kleopatra  als  &eä  vewreQa  'Ioig  gegründet  wurde, 
die  desshalb  ihr  16.  Jahr  =  1.  ihr  19  =  4.  und  ihr  21  =  6. 
auf  den  Münzen  und  sonst  bezeichnen  Hess,  so  lässt  sich 
jetzt  für  das  so  constatirte  Jahr  36  v.  Chr.  als  Epoche  des 
Rundbildes  von  Denderah  das  fixe  alexandrinische  Jahr  nicht 
mehr  festhalten,  nachdem  wir  die  Gewissheit  besitzen,  dass 
die  Fixirung  des  Wandeljahres  erst  im  Jahre  25  v.  Chr. 
durch  oder  unter  Augustus  getroffen  worden  ist. 

Was  beginnen  wir  aber  mit  dem  damals  hiefür  ange- 
sehenen Symbole?  ,,la  figure  assise  du  dieu  solaire 
au-dessus  du  Hon  zodiacal,  precisement  au  milieu  du  dos. 
Comme  cette  figure  repond  a  (vielmehr  tombe  sous  la  meine 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ftulemäus  Euer  gutes  I.  123 

ligne  avec)  l'embleine  du  mois  Phaophi  et  que  sa  position 
est  diametralement  opposee  ä  celle  des  autres  figures  —  eile 
regarde  le  quart  de  boeuf,  Symbole  de  l'intercalation  et  par 
consequent  de  l'annee  fixe  —  il  faut  y  voir  etc.". 

Bedenkt  man  —  was  ich  öfter  (z.  B.  p.  11  und  86)  her- 
vorgehoben hatte  —  dass  entsprechend  dieser  exceptio - 
n  eilen  Stellung  und  Richtung  des  betreffenden  Sonnen- 
gottes-Symbols ,  ebenso  exceptio n el  1,  wieder  unter  dem 
Repräsentanten  des  Monats  Phaophi  eine  Decanin  auf- 
tritt, die  den  Kopfschmuck  der  Doppelfeder  trägt,  wie  Isis- 
Sothis  im  astronomischen  Deckengemälde  des  Ramesseums, 
so  leuchtet  sofort  ein,  dass  an  diesem  Punkte  die 
neue  Aera  der  KleoTtarga  &eä  vecoTtqa  'lotg 
symbolisch  verkörpert  werden  sollte.  Der  De- 
Gan,     dessen    Stelle   hier    ausnahmsweise    durch    eine 

Decanin85)    vertreten    wird ,    führt    den   Namen    ot=^  1  ° 

ha-t'a't  =  cHttjt  und  dieser  Name,  da  er  wörtlich  „Anfang 
des  Schiffes"  oder  „der  Fahrt"  besagt,  mochte  mit  Absicht 
für  die  Begründerin  einer  neuen  Aera  um  so  eher 
und  passender  gewählt  werden,  als  er  der  einzige  unter  den 
Namen  der  36/37  Decane  war  der  mit  ~=^  ha  oh  initium 
begann.  Die  auf  einem  Throne  sitzende  Figur  des  solaren 
Gottes,  mit  Sperberkopf,  Discus  und  dem  Scepter  1,  erklärt 
sich  jetzt  als  Symbol  dieser  neueingeführten 
Aera  und  soll  uns  vermuthlich  die  Epoche  der- 
selben versinnbildlichen. 

DaKleopatra  nach  dem  Canon  im  Jahre  52,  am  5.  Sep- 
tember zur  Regierung  gelangt  war  und  folglich,  in  ihrem 
16.  Jahre  ihr  Anniversarium  nach  dem  Wandelkalender  auf 
den  1.  September  fiel,    wie  es  auch  die  computitische  Tafel 

85)  Weiterhin  werden  wir  nur  noch  IcoSig  und  Zu  als  solche 
treffen,  mit  denen  aber  Kleopatra  intentionell  identificirt  worden  ist. 


124      Sitzung  der  philos.-phUol.  Classc  vom  7.  Februar  1874. 

ausweist ,  so  besteht  für  mich  kein  Zweifel ,  d  a  s  s  der 
1.  September  des  Jahres  36  v.  Chr.  als  Regierungs- 
AiiDiversarium  und  zugleich  als  Epoche  der 
neuen  Aera,  wie  nicht  minder  als  beabsichtigtes 
Epochen  datum  des  Zodiaque  circulaire  zu  be- 
trachten ist.  Dabei  erwäge  man  noch  folgendes:  Die  Decanin, 
durch  welche  Kleopatra  selbst  vertreten  wird,  ist   die  vierte 

in   der   Reihe   der   Decane ,    die    mit    der  Sw&ig  als       f 

A  I  o 

Führerin  (hyq't  =  ßaolhoaa)  beginnen.  Man  sieht  wie  gut 
ausgeklügelt  die  Accommodation  des  Namens  „ Anfang  der 
Fahrt"  ~CH-Trfc  für  Kleopatra  war,  da  sie  hiemit  auf 
gleiche  Linie  mit  ihrem  Vorbilde:  der  Isis-Sothis  „Führerin 
der  Decane"  erhoben  wurde,  was  der  Fall  sein  muss,  wenn 
ihr  von  da  an  auf  den  Münzen  offiziell  geführter  Beiname  $ea 
vecoTega  'loig  einen  Sinn  haben  sollte.  Darauf  deutet  auch 
noch  der  weitere  Umstand,  dass  die  Göttin  Sati  mit  Bogen  und 
Pfeil  (cfc^  sagitta),  deren  Namen  zunächst  die  Gräcisirung 
Saftig  (statt  2ioq)&ig  =  Supd)  veranlasst  hat,  so  gar  absichtlich 
und  deutlich  mit  der  Decanin  'Httjt  (Kleopatra)  unter  der 
nämlichen  Centrallinie  steht.  Auch  zeigt  -die  Seiten-Inschrift 
(pl.  III  e  2.    Verticalcol.    meiner   Zodiaques)    die    Legende 

[i    * T    I         Sati  m  haq't  chabesu  ,,Sati  als  Führerin  der 

Supd  =  2toÜig.      Ferner 

ist  auffallend,  dass  die  beiden  Gruppen  cH-xy^  „Anfang-  und 
(Dov-rr'jT  (=z  pehu-tät)  „Ende  der  Fahrt"  oder  „Hintertheil 
des  Fahrzeuges",  die  sich  auf  allen  sonstigen  Darstellungen 
astronomischer  Natur  unmittelbar  folgen,  auf  dem  Rundbilde 
von  Denderah  durch  einen  Zwischen-Decan  mit  der  halb- 
zerstörten Legende   ||  jSß  •  •  •  ni(ut?)   eher   ,, unteren    Theil 

von  x"  getrennt  sind.  Da  nun  ferner  die  beregte  Pfeilgöttin 
Sati    mit    der    Sothiskuh    ausserhalb   der    übrigen   Decane 


Lauth:  Die  Schalttage  de*  Ptolemäus  Energetes  I.  125 

gerückt  ist  und  unmittelbar  an  ihre  Barke  sich  anschliesst, 
so  kommt  hier  offenbar  die  Liste  des  Hephästion  zur  Gelt- 
ung, der  als  erste  Decane  folgende  anführt:  2td&ig}  2ky 
KvovfXTjQj  Xaqxvov^g,  cHty]T,  (Oovttjt  etc.)  Jedenfalls  wurde 
die  cHxrtT ,  in  unserem  Falle  die  Decanin  Kleopatra,  hier 
als  die  Zwischenzeit  der  4.  und  5.  Decade  des  ägyptischen 
Jahres  darstellend  gedacht.  Rechnen  wir  nun  vom  20.  Juli 
als  dem  Normaltage  des  heliakalischen  Sothisaufgangs  bis 
zum  1.  September  weiter,  so  haben  wir  12  +  31=43  Tage, 
also  näher  der  4.  als  der  5.  Decade. 

Ich  denke,  hiemit  ist  ebenfalls,  wenigstens  annähernd, 
die  Epoche  des  Rundbildes,  nämlich  der  1.  Sep- 
tember 36  vor  Chr.  bewiesen,  wie  ich  sie  oben  auf 
Grund  des  astronomischen  Kanons  der  Ptolemäer-Könige 
schon  erschlossen  habe.  Wenn  ich  früher  den  Monat  „Juli" 
(Zodiaques  p.  10),  wegen  Identität  der  Kleopatra  mit  der 
Zio&ig,  angenommen  hatte,  so  habe  ich  doch  ebendaselbst 
p.  16  ausdrücklich  bemerkt:  ,,En  effet,  lepremierThoth 
vague  comcidait,  Tan  36  av.  J.  Chr.,  avec  le  premier 
Septembre  du  calendrier  fixe  (rom.)". 

Während  ich  also  den  zeitlichen  Abstand  der  Epochen 
der  beiden  Thierkreise  von  Denderah  damals  (1864)  auf 
runde  ,,70  Jahre"  (36  v.  Chr.  +  34  n.  Chr.)  angesetzt  habe, 
so  kann  ich  jetzt  genauer  die  Differenz  mit  70  Jahren  und 
77  Tagen  bezeichnen. 

Eine  zweite  Correctur ,  die  uns  eben  so  günstige  Re- 
sultate verspricht,  wie  die  Streichung  des  alexandrinischen 
Jahres,  betrifft  die  grande  figure.  Nachdem  ich  an  Ort  und 
Stelle  diese  allein  in  Denderah  verbliebene  Figur  betrachtet 
und  ihre  Umgebung ,  sowie  ihre  Orientation  erwogen  habe, 
ist  sie  weder  als  Pet  p  ^  hh't  =  coela  (nicht  coelum 
und  nicht  Coelus),  noch,    wie   ich  selbst86)  vermuthete,  als 


86)  Zodiaques  p.  9. 


126      Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

rrjz=~lGtg,  sondern  p  ^  hott  aufzufassen,  wie  sie  im 
Seitentexte  (unter  e  meiner  Tafel  III  col.  1  ult.)  mit  der 
Variante  ö®_®^  Nut  bezeichnet  ist.  Dieser  Name  ist  offen - 
bar  identisch  mit  hott  receptaculum  und  stellt  die  Feminin- 
form zu  itOTm  Horapollo's  vovv  =  äßvooog  dar,  um  die 
Raumgöttin  zu  bezeichnen.  Wenn  es  nun  einerseits  ge- 
wiss ist,  dass,  wie  Plutarch  in  Antonio  sagt :  Kleofcarga  = 
'loig  (&eä  vewzeQa) ,  ihre  Kinder  als  c'Hhog  Kai  2eh'vrj, 
LivTwviog  =  ^'OoiQig  dargestellt  wurden ,  so  bot  die  bunte 
ägyptische  Mythologie,  wenn  man  unter  dem  Bilde  der  Nut 
wieder  die  Kleopatra  denken  sollte,  für  den  Antonius  die 
Figur  des  Seb  —  Kqovogj  wie  Nut  =  cPea.  In  Herrn onthis, 
wo  Kleopatra  ihre  Niederkunft  mit  dem  Cäsarion  darstellen 
Hess87),  figurirt  Julius  Cäsar  als  Menthu  •=  Mwv&  —^Qqg. 
Er  könnte  also  hier,  weil  seit  8  Jahren  gestorben  (resp. 
ermordet)  SiWOoiQig  mitgemeint  sein.  Dass  Antonius  als  Seb 
(Erdgott),  der  die  Nut  seine  Gemahlin  kniend  betrachtet,  während 
er  die  Hand  auf  den  Boden  stützt  und  als  personificirtes 
Erdreich  (passim  und  speciell  auf  astronomischen  Denk- 
mälern) erhärtet  ist,  in  den  Darstellungen  des  Rundbildes, 
sowie  in  den  Begleittexten  nicht  in  den  Vordergrund  tritt, 
hatte  seinen  Grund  in  politischen  Rücksichten,  die  Antonius 
auf  den  Senat  in  Rom  zu  nehmen  hatte.  Indess  wird  es 
der  ägyptischen  Priesterschaft  nicht  schwer  gefallen  sein, 
den  Antonius,  der  es  selbst  liebte,  seinen  Namen  auf  den 
Heros  '!Avxog  zurückzuführen  und  der  sein  eigenes  Söhnchen 
""Avr-vXkog  benannte,  in  der  ägypto-griechischen  Gestalt  des 
livxaiog  wiederzufinden,  der  ein  Vertreter88)  des  Osiris  (J. 
Cäsar!)  war  und  als  Riese  ylyag  zu  den  yqyevelg  oder 
Sprösslingen  der  Taia  {Tr)  gehören  musste.  Daher  rührt 
es   auch,   dass  die  Kaiser  Aurelius  Antoninus  und  Verus 

87)  Vergl.  meine  ägypt.  Reisebriefe  No.  IX.  Allg.  Zeitung  1873. 

88)  Diodor  I  17   rwV  6k  xarcc    zrjv  Al&ioniocv    xcü    Atßvtiv  yAv- 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptolemäus  Euergetes  I.  127 

die  dem  l4vra1og  zu  Antäopolis  gewidmete  Inschrift  avevsw- 
oavro  (Letronne  Recueil  I  30,  222).  Erst  sehr  spät  wagte 
es  Antonius  auf  einem  Denkmale  zu  erscheinen  und  nur  als 
Object,  nicht  als  Subject.  Weseher,  der  Begleiter  de  Rouge's 
in  Aegypten  1 8 63/64 89)  ,,a  trouve  une  inscription  grecque, 
datee  de  Tan  19  =  4  de  Cl  eopätr  e  sur  un  monument 
dedie  ä  Antoine".  Dasselbe  XIX.  Jahr  der  Kleopatra 
mit  ihrem  Sohne  Cäsarion  steht  auf  einer  demot.  Apisstele 
(Young   Hierogl.  II  74)    mit    19    Sternen    und    dabei  eine 

andere  mit  6  Sternen,  denen  zu  Anfang  des  Textes   \ 

'©in 

entspricht,    während  weiterhin  das  Jahr   21    j  erwähnt 

wird.  Hier  haben  wir  also  einen  dritten  Beweis  für  die 
neue  Aera,  wornach  1.  16  =  1,  J.  19=4,  J.  21=6.  Es  ist 
bedeutsam  genug,  dass  mit  „Sternen"  bezeichnete  Jahre 
bis  jetzt  nur  unter  der  Regierung  der  Kleopatra  und  auch 
da  nur  von  ihrem  16.  Jahre  an  vorkommen  (*  =  &ea 
veiOTeQct  'Ig ig  Said- ig). 

Es  bleibt  mir  noch  eine  dritte  Rectification  resp.  Weg- 
streichung zu  machen  in  dem  Sclilusssatze  meiner  Zodiaques 
p.  98:  ,,Plüt  a  Dieu  que  le  cercle  des  connaisseurs  de  Pegypto- 
logie  s'elargisse  davantage,  et  que  cette  science  ait  toujours 
d'aussi  bons  critiques  que  M.  Chabas  (Melanges  I  et  II) 
pour  etre  sur  ses  gardes  contre  les  systemes  arbitraires". 
Dieser  Satz  wurde  geschrieben  unter  dem  noch  frischen  Ein- 
drucke der  Kritik,  welche  Chabas  an  einer  Behauptung 
Brugsch's  geübt  hatte,  dass  eine  Mondsf insterniss  unter 
Takelut  II  (XXII.  Dyn.)  auf  einem  Denkmale  erscheine.  In 
der  Zeitschrift  für  ägypt.  Spr.  1868  p.  29,  wo  der  Streit 
fortgesetzt  wurde,  erklärte  endlich  Lepsius,  auf  dessen  Text 
Chabas  sich  gestützt  hatte:    „Bei  der  Anfertigung  der  Tafel 


89)  Cf.  Revue  arch.    1864   p.   421.  Sept.   p.  220.     Siehe  meine 
Zodiaques   p.  11  note2.  —  Eine  Stele  im  Louvre  (C,  121)  zeigt  20  >i<. 


128      Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  7.  Februar  1874. 

256a  der  III.  Abth.  der  Denkmäler  war,  wie  den  HH.  Brugsch 
und  Chabas,  so  auch  mir  die  Copie  eines  Theiles  der  In- 
schrift von  (durch)  Wilkinson  in  den  Hieroglyphics  pl.  43 
entgangen,  sonst  hätte  der  Irrthum  in  den  ,, Denk- 
mälern" (der  preuss.  Expedition)  nicht  vorkommen 
können".  Schöpfen  wir  hieraus  den  authentischen  Beweis, 
dass  Prachtwerke,  wie  sie  wegen  des  Foliantenformates  schon 
an  und  für  sich  unhandsam  sind,  so  auch  keinerlei  Gewähr 
gegen  falsche  Anordnung  der  Texte  bieten,  so  musste  auch 
mein  Vertrauen  in  die  Kritik  des  H.  Chabas  einen  starken 
Stoss  erhalten;  denn  ein  Kritiker  hat  vor  Allem  die  Aechtheit 
seines  Textmateriales  zu  prüfen  und  über  allen  Zweifel  zu 
erheben.  H.  Chabas  seinerseits,  dessen  sonstige  Verdienste 
um  die  Aegyptologie  allseitig  anerkannt  sind,  ist  seitdem  in 
Bezug  auf  astronomische  und  chronologische  Fragen  sehr 
kopfscheu  geworden  und  nahe  daran,  Alles  über  Bord  zu 
werfen.  So  erklärt  er  z.  B.  in  seinem  neueren  Werke90) 
mit  Manetho  „table  rase"  zu  machen  d.h.  er  sägt  den 
Ast  ab,  auf  welchem  er  als  Aegyptologe  in  historischer  Be- 
ziehung sitzt.  Anderwärts91)  legt  er  die  kritische  Axt  so- 
gar an  die  Pfahlwurzel  des  Baumes,  von  dem  allein  uns 
chronologische  Früchte  in  Aussicht  stehen,  indem  er 
schreibt:  „Ainsi  donc,  au  lieu  de  confirmer  les  theories  des 
Dupuis,  des  Volney  etc.,  les  progres  de  la  science  les  ont 
reduits  ä  neant  (er  meint  die  7000  und  mehr  Jahre  Alter, 
die  man  den  Zodiaques  zugeschrieben  hatte).  Les  Dupuis 
du  present  et  ceux  de  l'avenir  peuvent  s'attendre  ä  quelque 
chose  de  semblable".  Wenn  unter  den  „Dupuis  du  present" 
ich  selbst  mit  meinem  Werke  „Zodiaques  de  Denderah" 
gemeint  bin,  wie  es  der  Zusammenhang  (cf.  p.  544)  wahr- 
scheinlich macht :  „II  est  certains  livres,  tels  que  le  Papyrus 


90)  Etudes  sur  l'antiquite  historique  p.  546. 

91)  Recherches  pour  servir  ä  l'histoire  de  la  XIXme  Dyn. 


Lauth:  Die  Schalttage  des  Ptölemäus  Euergetes  I.  129 

Prisse,  qu'ils  (les  egyptologues)  ne  reussissent  pas  a  de- 
chiffrer92)"  —  so  muss  ich  und  Jeder  Ehrliche  mit  mir  ihm 
erwiedern,  dass  die  Daten  Jahr  36  vor  Chr.  und  34  nach 
Chr.  die  sich  auf  griechische  und  hieroglyphische  Inschriften 
stützen,  weder  an  sich  extravagant,  noch  eine  Ausgeburt 
meiner  Phantasie  sind.  Trotz  der  bloss  negirenden 
Hyperkritik  des  H.  Chabas  werden  die  beiden 
„Zodiaques  de  Den  der  ah"  die  bilingues  für  die 
altpharaonische  Astronomie  bleiben,  wie  die 
beiden  bilinguen  Wiener  Stelen  uns  im  Vereine 
mit  den  beiden  bilinguen  Rhindpapyri  unsere 
hier  entwickelten  chronologischen  Resultate, 
und  die  beiden  bilingues:  Rosettana  und  Tani- 
tica  die  Aegyptologie  zur  Folge  gehabt  haben. 
Ausführlicheres  über  die  astronomischen  Denkmäler  in  mei- 
ner „  Sothisa. 


92)  So  eben  erhalte  ich  die  zwei  ersten  Bogen  einer  von  H. 
Chabas  redigirten  Zeitschrift:  l'Egyptologie.  Auf  p.  10  lin.  15  (cf. 
p.  12,  15)  steht  zu  lesen:  J'aborderai  quelque  jour  l'analyse  de  tous 
ces  documens  (worunter  auch  der  Papyrus  Prisse  und  Pap.  Sallierll, 
die  ich  seit  mehreren  Jahren  übersetzt  habe).  Es  ist  dieser  Ent- 
schluss,  von  der  unfruchtbaren  Verneinung  zu  positiver  Leistung 
überzugehen,  mit  Beifall  zu  begrüssen  und  der  Wissenschaft  kann 
nur  Förderliches  daraus  erwachsen. 


Corrigenda :  S.  81  lin.  21  lies  245  statt  235  ;  ebendaselbst 
Anmerk.  32  lin.  3  lies  311  statt  222. 


[1574. 1.  Phil.  hist.  Cl. 


130 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  Februar  1874. 


Herr  Kluckhohn  trug  vor: 

„Beiträge  zur  Geschichte  des  bayerischen 
Schulwesens". 

(Wird  in  den  Denkschriften  veröffentlicht  werden.) 


Herr  Rockinge r  hielt  einen  Vortrag 

,,Ueber  eine  Handschrift  deutscher  Rechts« 
b riefe  in  Münster". 

(Wird  später  in  den  Sitzungsberichten  veröffentlicht.) 


Einsendungen  von  Druckschriften.  131 


Verzeicliuiss  der  eingelaufenen  Büchergesehenke. 


Vom   Verein  für  Hansische  Geschichte  in  Lübeck: 
Hansische  Geschichts-Blätter.  Jahrgang  1872.  8. 

Vom  historischen   Verein  für  Schwaben  und  Neuburg  in  Augsburg: 
36.  Jahresbericht  für  die  Jahre  1871.  1872.  8. 

Vom  Verein  für  meklenburgische  Geschichte  und  AlterthumsTcunde 
in  Schwerin: 
Jahrbücher  und  Jahresbericht.  Jahrg.  38.  1873.  8. 

Von  der  1c.  böhmischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Prag: 
Sitzungsberichte.  Jahrg.  1873.  8. 

Vom  historischen    Verein  für  das  Grosslierzogthum  Hessen  in 
Barmstadt : 

a)  Register  zu  den  12    ersten   Bänden   des  Archivs   für  Hessische 

Geschichte  und  Alterthumskunde.  1873.  8. 

b)  Archiv  für  Hessische  Geschichte  und  Alterthumskunde.  Bd.  13. 
1873.  8. 

c)  Die  vormaligen  geistlichen  Stifte   im    Grossherzogthum  Hessen 
von  G.  W.  J.  Wagner.  1.  Band.  1873.  8. 

Von  der  Gesellschaft  für  bildende  Kunst  und  unterländische  Alter- 
thümer  in  Emden: 

Jahrbuch.  Heft  II.  1873.  8. 

Von  der  Tz.  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Leipzig: 

1)  Berichte:  Philos.-philolog.  Classe  1872. 

2)  Abhandlungen:  Philos.-philolog.  Classe.  Bd.  VII.  1873.  4. 

Vom  Essex  Institute  in  Salem,  Mass: 
Bulletin.  Vol.  4.  1872.  8. 


132  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Von  der  Gommissione  archeologica  municipale  in  Born: 
Bulletin.  1874.  S. 

Von  der  Smithsonian  Institution  in   Washington: 

a)  Miscellaneous  Collections.  Vol.  10.  1873.  8. 

b)  Annual  Report  of  the  Board  of  Regents,  for  the  year  1871.  8. 

Von  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Amsterdam: 

a)  Verhandelingen.  Deel  XIII.  1873.  4. 

b)  Jaarboek  voor  1872.  8. 

c)  Gaudia  domestica.  Elegia  Petri  Esseiva.  1873.  8. 

Von  der  American  Association  for  the  advancement  of  science  in 
Cambridge : 

Proceedings.  21.  Meeting,  held  at  Dubuque,  Jowa,  August  1872.  8. 


ZurAbhandlu/ia.  <v07i  DT Lautfi 


x. 


cUiyx^^x3?fo<-x.'2_^)'-4-R  ^D»<trf 


Sitzungsltr.  d.  k  b  Aliad.  dW.  /ifo los.  philo l.  CC.  1874,  Z . 


Sitzungsberichte 

der 

philosophisch  -  philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Müinchen. 


1874.     Heft  II. 


\, 


M  ü  11  c  h  e  n. 

Akademische  Buchdruckeroi  von  F.  Straub. 

1874. 

[»  Coraniissfon  bei  fi    Franz. 


Sitzungsberichte 


der 


königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  März  1874. 


Herr  v.  Halm  legt  vor: 

„Die  Antikensammlung  Raimund  Fuggers. 
Nebst  einem  Excurs  über  einige  andere 
in  derlnschriftensammlung  vonApianus 
und  Amantius  abgebildete  antike  Bild- 
werke" von  K.  Bursian. 

Die  Brüder  Raimund  und  Anton  Fugger,  die  jüngeren  Söhne 
des  am  14.  März  1506  verstorbenen  Georg  Fugger,  Begründer 
der  beiden  noch  jetzt  blühenden  Linien  des  Fuggerschen 
Hauses,  hatten  beide  ihre  stattlichen  Wohnhäuser  in  Augs- 
burg mit  Kunstwerken  verschiedener  Art  ausgeschmückt. 
Insbesondere  hatte  Raimund  Fugger  (geboren  am  14.  October 
1489,  gestorben  am  3.  December  1535)  seine  geschäftlichen 
Verbindungen  mit  Griechenland  und  Sicilien  benutzt,  um  in 
diesen  Ländern  eine  Anzahl  Antiken  anzukaufen,  welche  in 
mehreren  Gemächern  des  oberen  Stockwerkes  seines  Hauses 
aufgestellt  waren.  Diese  Sammlung,  welche  sowohl  an 
Reichhaltigkeit  als  an  künstlerischem  Werth  die  nur  römische 
Bildwerke  und  Münzen  enthaltenden  Sammlungen  Wilibald 
[1874, 2.  Phil.  hist.  Cl.]  10 


134        Sitzung  der  philos.-phäol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Pirckheimer's  und  Conrad  Peutinger's  weit  übertraf  und  über- 
haupt als  die  erste  bedeutendere  Antikensammlung  auf 
deutschem  Boden  bezeichnet  werden  muss,  ist  uns  von  dem 
trefflichen  Schlettstadter  Philologen  Beatus  Rhenanus  (Bild  von 
Rheinau)  in  der  hinter  seinen  cRerum  Germanicarum  libri  III' 
(Basel  1531)  abgedruckten  cEpistola  ad  D.  Philippum  Puchai- 
merum  de  locis  Plinii  per  St.  Aquaeum  attactis*  in  etwas 
rhetorisch  gefärbter  aber  anschaulicher  Weise  mit  folgenden 
Worten  beschrieben  worden  (p.  193  s.): 

„Sed  magis  nos  mouerunt  in  superius  coenaculum  de- 
ductos  tot  ac  tanta  monumenta  antiquitatis ,  ut  uix  ullo 
Italiae  loco  plura  crediderim  apud  unum  hominem  reperiri. 
Primum  aerea  contemplati  sumus  et  fusilia.  Quis  illic  ueterum 
deorum  non  saepe  nobis  occurrebat?  Juppiter  cum  suo 
fulmine ,  Neptunus  cum  tridente ,  cum  sacculo  petasoque 
Mercurius,  Pallas  cum  aegide.  et  erant  quos  uix  prae  uetu- 
state  licebat  agnoscere.  Nomismata  deinde  suo  loco  iacebant. 
Aderat  tantum  unum  illic  simulachrum  lapideum.  Circe 
fuit.  ea  ruda  recumbebat  innixa  plextro  brachio,  circum  se 
in  margine  tabulae  marmoreae  uarias  bestias  habens,  et  ad- 
huc  illa  magica  uirga  sua  quendam  in  brutum  conuertebat 
supereratque  pars  hominis  non  amplius  quam  dimidiata.  In 
altero  secretario  quod  saxeas  tantum  statuas  continebat  uidi- 
mus  Dianam  cum  luna  ac  pharetra,  uidimus  Apollinem, 
Mineruam,  Venerem  cum  Cupidine,  Taurum  qui  uehebat 
nudam  puellam  tensis  brachiis  auxilium  implorantem ,  et 
obscoenum  illum  deum  pudenda  sui  parte  prorsus  impu- 
dentem  cui  astabant  effigies  mulierum  plenos  phallis  calathos 
gestantium.  Apparebat  hortorum  limites  iüisse.  Mirum  uero 
potuisse  ista  tot  seculis  uspiam  integra  conseruari.  Frag- 
menta  statuarum  uix  numerare  erat.  Placebat  nobis  Somui 
dei  caput  clausos  habens  oculos  et  papauere  reuinctum. 
Bacchi  capita  multa  arguebant  serta  ex  racemis  et  pampinis. 
quaedam  colosseam   ferme  corporum    niaguhudinein  prae  se 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Baimund  Fuggers.         135 

ferebant.  Narrabatur  uero  nobis  ex  toto  propemodum  orbe 
conuecta  fuisse  ea  uetustatis  monumenta,  praecipue  tarnen 
ex  Graecia  atque  Sicilia.  Adeo  nullius  sumptus  Raimundum 
poenitet  ob  amorem  quem  literarum  minime  expers  erga 
antiquitatem  gerit,  modo  possit  talibus  rebus  potiri.  id  quod 
uere  nobilem  et  generosum  hominis  animum  ostendit." 

Aus  dieser  Beschreibung  können  wir  über  die  Anordnung 
und  den  Bestand  der  aus  den  verschiedensten  Gegenden, 
hauptsächlich  aber  aus  Griechenland  und  Sicilien,  zusammen- 
gebrachten Sammlung  Folgendes  entnehmen. 

Im  ersten  Zimmer  war  zunächst  eine  grössere  Anzahl 
von  Bronzestatuetten  aufgestellt ,  welche ,  soweit  sich  ihre 
Bedeutung  erkennen  Hess  —  manche  waren  durch  das  Alter, 
d.  h.  jedenfalls  durch  die  starke  Oxydirung  der  Oberfläche, 
unkenntlich  geworden  —  alle  oder  doch  zum  grössten  Theile 
Götter  darstellten;  und  zwar  waren  die  meisten  Götter- 
gestalten in  mehreren  Exemplaren  vertreten.  Da  fanden 
sich  Statuetten  des  Zeus  mit  dem  Blitz,  des  Poseidon  mit 
dem  Dreizack,  des  Hermes  mit  Beutel  und  Hut,  der  Pallas- 
Athene  mit  der  Aegis.  Ausserdem  befand  sich  in  demselben 
Zimmer  eine  Sammlung  antiker  Münzen  und  ein  Marmor- 
relief, welches  die  Verwandlung  der  Gefährten  des  Odysseus 
durch  Circe  darstellte.  Circe  liegt,  völlig  unbekleidet,  aul 
den  rechten  Arm  gestützt,  auf  einem  Ruhelager ;  in  der  einen 
Hand  hält  sie  die  Zaubergerte,  mit  welcher  sie  soeben  einen 
der  Gefährten  des  Odysseus,  der  in  halb  menschlicher,  halb 
thierischer  Gestalt  dargestellt  ist,  verwandelt;  verschiedene 
Thiergestalten  umgeben  das  Lager  der  Zauberin.  Dieses  Relief, 
welches  ebenso  wie  die  übrigen  Bildwerke  der  Fuggerschen 
Sammlung  von  den  Archäologen  bisher  ganz  unbeachtet 
geblieben  ist,  weicht  von  fast  allen  uns  sonst  bekannten 
Darstellungen  des  Circemythus,  die  auf  griechischen  Vasen, 
pompejanischen  Wandgemälden ,  einem  griechischen  Relief 
(Fragment  einer   tabula  Homerica),    einer   römischen  Thon- 

10* 


136         Sitzung  der  philos. -philo!,  (Hasse  vom  7.  März  1874. 

lampe,  einem  Contorniaten ,  etruskischen  Sarkophagreliefs 
und  Spiegeln  uns  erhalten  sind1),  wesentlich  ab.  Während 
auf  allen  diesen ,  mit  Ausnahme  des  von  0.  Jahn  in  der 
Archäologischen  Zeitung  1865  auf  Taf.  194  publicirten  nola- 
nischen  Vasenbildes  der  Sammlung  des  Prinzen  von  Wittgen« 
stein  in  Wiesbaden*)  und  eines  nur  aus  einer  kurzen  Erwähnung 
Raoul-Rochette's  (Monuments  inedits  p.  361 ;  von  mir  citirt 
nach  0.  Jahn  Archäologische  Beiträge  S.  407)  bekannten 
Vasenbildes,  Odysseus  selbst  anwesend  ist,  fehlt  derselbe 
auf  dem  Fuggerschen  Relief.  Man  könnte  diese  Differenz 
durch  die  Annahme,  dass  das  Relief  an  der  einen  Seite 
nicht  vollständig  erhalten  gewesen  sei,  beseitigen  wollen; 
allein  eine  solche  Annahme  wäre  mit  der  Beschreibung  des 
Beatus  Rhenanus,  besonders  mit  dessen  Worten  ccircum  se 
in  margine  tabulae  marmoreae  uarias  bestias  habens'  nicht 
wohl  zu  vereinigen;  wir  müssen  also  vielmehr  annehmen,  dass 
der  Künstler  einen  dem  Erscheinen  des  Odysseus  voraus- 
liegenden Moment  der  Sage  darstellen  wollte.  Eine  zweite 
Eigenthümlichkeit  des  Fugger'schen  Reliefs  bildet  die  Dar- 
stellung der  verwandelten  Gefährten  des  Odysseus  in  voller 
Thiergestalt,  dessen  der  eben  verwandelt  wird  in  halb-thieri- 
scher,  halb-menschlicher  Bildung  —  Rhenanus'  Worte  csupe- 
reratque  pars  hominis  non  amplius  quam  dimidiata'  können 
nicht  wohl  auf  einen  mit  einem  Thierkopfe  versehenen 
Menschenkörper,  sondern  nur  auf  eine  Gestalt  bezogen  werden, 
welche   nach   Analogie    der   in  Delphine   verwandelten    Tyr- 

1)  Vergl.  über  diese  0.  Jahn  Archäologische  Beiträge  S.  401  ff.; 
0 verbeck  Gallerie  heroischer  Bildwerke  S.  778  ff.;  dazu  0.  Jahn 
Archäologische  Zeitung  1865,  N.  194.  195  S.  17  ff.:  F.  Schlie  Die 
Darstellungen  des  Troischen  Sagenkreises  auf  etruskischen  Aschen- 
kisten S.  182  ff. ;  E.  Brunn  I  rilievi  delle  urne  etrusche  Vol.I,  p.  116  ss. 
tv.  LXXXVIII  u.  LXXXIX;  Gerhard  Etruskische  Spiegel  403,1  = 
W.  Fröhner  Les  musees  de  France  pl.  24. 

*)  Diese  Sammlung  ist  vor  Kurzem  durch  Prof.  H.  Hettner  für 
die  königliche  Antikensammlung  zu  Dresden  angekauft  worden. 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Baimund  Fuggers.  137 

rhener  auf  dem  Friese  des  choragischen  Denkmals  des  Lysi- 
krates  aus  einem  thierischen  Oberkörper  und  menschlichem 
Unterkörper  zusammengesetzt  ist  —  während  auf  den  übrigen 
Bildwerken  die  verwandelten  Gefährten  in  der  Regel  nur 
einen  Thierkopf  auf  dem  menschlichen  Körper  tragen.  Aus- 
nahmen von  dieser  Regel  bilden  jedoch  auch  das  Wittgen- 
steinische Vasenbild,  auf  welchem  der  von  Kirke  verzauberte 
Gefährte  des  Odysseus  zwar  im  Uebrigen  menschliche  Ge- 
stalt, aber  einen  Schweinskopf,  Schweinsschwanz  und  Klauen 
anstatt  der  Füsse  hat,  sowie  der  von  Gerhard  (Etrusk.  Spiegel 
403,  1)  und  von  Fröhner  (Les  musees  de  France  pl.  24)  publi- 
cirte,  aus  Corneto  stammende  etruskische  Spiegel  der  Samm- 
lung des  Louvre,  auf  welchem  vor  dem  Sessel,  auf  welchem 
Cerca  sitzt,  ein  Schwein  dargestellt  ist,  dessen  Hinterbeine 
die  Form  menschlicher  Beine  vom  Knie  abwärts  haben2). 

Ein  zweites  Zimmer  enthielt  eine  Anzahl  vollständig  er- 
haltener, beziehungsweise  ergänzter  Statuen  aus  Marmor 
oder  anderen  Steinarten  und  eine  grosse  Menge  von  Bruch- 
stücken solcher,  darunter  manche  von  colossalen  Dimensionen. 
Von  statuarischen  Werken  lernen  wir  durch  B.  Rhenanus 
folgende  kennen:  eine  Statue  der  Artemis  mit  dem  Köcher 
auf  dem  Rücken,  den  Halbmond  auf  dem  Haupte  (letzterer 
war  vielleicht,  wie  öfter  an  Artemisstatuen,  die  Zuthät  eines 
Ergänzers) ;  Statuen  des  Apolion  und  der  Athene ;  eine 
Gruppe  der  Aphrodite  und  des  Eros;  eine  Gruppe,  welche 
offenbar  Europa  darstellte,  unbekleidet  auf  dem  Rücken 
des  Stieres  sitzend,  beide  Arme  ängstlich  ausstreckend;    ein 


2)  Bei  der  schon  von  Brunn  (Bulletino  1864,  p.  23  s.)  bemerkten 
Uebereinstimmung  dieses  Spiegels  mit  einer  im  Codex  Pighianus 
erhaltenen  Spiegelzeichnung  (Annali  t.  XXIV  tav.  d'agg.  H  =±  Over- 
beck  Gallerie  her.  Bildwerke  T.  32,  15;  vgl.  0.  Jahn  Berichte  der 
sächs.  Ges.  d.  Wiss.  1868,  S.  182),  ist  es  höchst  wahrscheinlich,  dass 
auch  das  Original  dieser  Zeichnung  dieselbe  Eigenthümlichkeit  der 
Bildung  des  Schweines  enthielt. 


138        Sitzung  der  philos.-philöl.  Glasse  vom  7.  März  1874. 

Werk  welches  zu  den  wenigen  bisher  bekannten  Beispielen 
plastischer  Behandlung  dieser  mythischen  Scene3)  hinzuzufügen 
ist.  Das  nächst  diesem  von  B.  Rhenanus  beschriebene  Werk 
—  eine  Statue  oder  Herme  des  Priapos  oder  des  ithyphalli- 
schen  Dionysos,  daneben  Frauen,  welche  mit  Phallen  gefüllte 
Körbe,  d.  h.  jedenfalls  Liknen,  wie  sie  im  bakchischen  Culte 
gebräuchlich  sind,  tragen  —  sollte  man  nach  dem  Wortlaute 
der  Schilderung  ebenfalls  für  eine  Statuengruppe  halten; 
allein  die  Darstellung  einer  solchen  Scene,  wie  sie  namentlich 
auf  Terracottareliefs  öfter  vorkommt,  in  einer  Statuengruppe 
wäre  doch  mindestens  sehr  auffallend,  um  nicht  zu  sagen 
unerhört,  und  wir  sind  daher  berechtigt,  auch  das  Fuggersche 
Bildwerk  für  ein  Relief  zu  halten. 

Unter  den  Fragmenten  hebt  B.  Rhenanus  speciell  einen 
mit  Mohn  bekränzten  Kopf  des  Schlafgottes  mit  geschlossenen 
Augen  und  mehrere  durch  die  Bekränzung  mit  Weinlaub  und 
Trauben  kenntliche  Bakchosköpfe  hervor.  Was  den  ersteren 
anbetrifft,  so  fällt  bei  Vergleichung  desselben  mit  den  sonst 
bekannten,  neuerdings  mehrfach  behandelten  Darstellungen 
des  Hypnos4)  die  Nichterwähnung  der  Beflügelung  auf;  doch 
kann  man  wohl  annehmen,  dass  die  Flügel  an  dem  Kopfe 
abgestossen  waren  und  die  Ansätze  derselben  von  Rhenanus 
nicht  bemerkt  worden  sind.  Auch  die  Bekränzung  mit  Mohn 
ist  ungewöhnlich,  während  die  ganzen  Figuren  des  Schlaf- 
gottes gewöhnlich   einen  Mohnstengel   in   der  Hand   tragen; 

3)  Dieselben  sind  zuletzt,  nach  dem  Vorgange  L.  Stephani's  u. 
0.  Jahn's,  zusammengestellt  von  J.  Overbeck,  Griechische  Kunst- 
mythologie II,  S.  457  ff. 

4)  Vgl.  0.  Jahn  Archäologische  Beiträge  S.  53  ff.;  E.  Gerhard 
Archäologische  Zeitung  1862,  No.  157.  158.  159A.  S.  217  ff.,  dazu 
Tafel  157—159;  G.Krüger  Jahrbücher  für  Philologie  1863,  S.  289  ff.; 
H.  Brunn  Annali  1868,  p.  351  ss.  (Monumenti  Vol.  VIII,  tv.  59); 
dazu  kommt  noch  die  von  mir  in  meiner  Schrift  cAventicum  Helve- 
tioruin  Heft  IV  (Mittheilungen  der  antiquarischen  Gesellschaft  in 
Zürich  Bd.  XVI,  Abtheilung  I)  S.  46,  Tafel  XVII,  3  publicirte  Bronze- 
jBtatuette  aus  Avenches. 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Raimund  Fuggers.         139 

doch  zeigt  auch  die  in  der  Archäologischen  Zeitung  abge- 
bildete Florentinische  Erzfigur  des  Hypnos  eine  Mohnblume 
im  Haar. 

Ausser  der  Beschreibung  des  B.  Rhenanus  besitzen  wir 
aber  noch  ein  weiteres  Hilfsmittel  zur  Kenntniss  der  Antiken- 
sammlung Raimund  Fuggers  in  der  von  zwei  Professoren 
der  Universität  Ingolstadt,  dem  Professor  der  Mathematik 
Petrus  Apianus  und  dem  Professor  der  Poesie  und  Beredt- 
samkeit  Bartholomäus  Amantius,  auf  Kosten  R.  Fuggers 
veranstalteten  und  veröffentlichten  Sammlung  lateinischer 
und  griechischer  Inschriften  (Inscriptiones  sacrosanctae  vetu- 
statis  non  illae  quidem  romanae,  sed  totius  fere  orbis  summo 
studio  ac  maximis  impensis  Terra  Marique  conquisitae  feli- 
citer  incipiunt.  Magnifico  viro  domino  Ray  mundo  Fuggero 
invictissimorum  Caesaris  Caroli  Quinti  ac  Ferdinandi  Roma- 
norum Regis  a  Consiliis,  bonarum  literarum  Mecaenati  in- 
comparabili  Petrus  Apianus  Mathernaticus  Ingolstadtiensis  et 
Barptholomeus  Amantius  Poeta  DED.  Ingolstadii  in  aedibus 
P.  Apiani.  Anno  M.  D.  XXXIIII.) 5),  einem  der  stattlichsten 
Denkmäler  deutscher  Gelehrsamkeit  und  deutscher  Buch- 
druckerkunst des  16.  Jahrhunderts.     In  diesem  Werke  finden 


5)  Das  theils  mit  schwarzen,  theils  mit  rothen  Lettern  gedruckte 
Titelblatt  ziert  ein  grosser  Holzschnitt  nach  der  von  0.  Jahn  in 
seinem  Aufsatze  cCyriacus  von  Ancona  und  Albrecht  Dürer  (Aus  der 
Alterthumswissenschaft  Populäre  Aufsätze  von  Otto  Jahn  S.  349  f. 
Tafel  VII)  veröffentlichten  Zeichnung  Albrecht  Dürers.  Die  Stelle 
der  in  der  Zeichnung  links  oben  stehenden  griechischen  Inschrift 
nimmt  im  Holzschnitt  dichtes  Gewölk  ein.  Auch  die  zweite  von 
0.  Jahn  a.  a.  0.  (Tafel  VIII,  4)  publicirte  Dürer'sche  Zeichnung 
findet  sich,  allerdings  wesentlich  modificirt,  aber  mit  Wiederholung 
der  (jedenfalls  von  Cyriacus  herrührenden)  Beischrift  cPisce  super 
curuo  uectus  cantabat  Arion  in  unserer  Inschriftensammlung  wieder 
unter  den  Inscriptiones  Thraciae,  aber  ohne  nähere  Ortsangabe 
(p.  CCCCLXXXXVI) ;  Arion,  nach  rechts  gewandt,  sitzt,  mit  beiden 
Händen  Guitarre  spielend,  auf  dem  Rücken  des  nach  links  gewandten 
Delphins, 


140       Sitzung  der  phüos.-philol  Classe  vom  7.  März  1874. 

wir  zunächst,  abgesehen  von  den  Abbildungen  anderer  antiker 
Bildwerke,  auf  welche  ich  später  zurückkommen  werde,  auf 
p.  CLXX  u.  CLXXI  eine  Statuette  (jedenfalls  Bronzestatuette) 
des  Herakles  aus  R.  Fuggers  Sammlung  in  Vorder-  und 
Rückansicht  abgebildet.  Der  Heros  ist  bartlos,  nur  mit  dem 
vorn  auf  der  Brust  zusammengeknüpften  Löwenfell,  dessen 
Rachen  helmartig  den  Kopf  bedeckt  und  welches  über  den 
Arm  geworfen  ist,  bekleidet,  in  weitem  Ausschritt  vorwärts- 
stürmend (das  rechte  Bein  dient  als  Standbein,  das  zurück- 
gestreckte linke  als  Spielbein)  dargestellt:  in  der  erhobenen 
Rechten  schwingt  er  die  Keule,  deren  oberes  Ende  er  mit 
der  nach  rückwärts  gewandten  linken  Hand  erfasst.  Dieser 
letztere  durchaus  unverständliche  Zug  beruht  jedenfalls  auf 
einer  falschen  Ergänzung  des  abgebrochenen  linken  Unter- 
arms, welcher  wohl  ursprünglich  nur  die  Löwenhaut  zur 
Abwehr  eines  seitlichen  Angriffes  —  wir  haben  uns  den 
Heros  im  Kampfe  gegen  den  dreileibigen  Geryones  oder 
auch  gegen  die  Stymphalischeu  Vögel  begriffen  zu  denken  — 
emporhielt6).  Ferner  sind  drei  Bronzestatuetten  der  Athene 
aus  Fuggers  Sammlung  abgebildet  p.  CCCLXIV  u.  CCCLXV. 
Die  erste,  welche  in  doppelter  (Vorder-  und  Rücken-)  An- 
sicht abgebildet  ist,  wiederholt  im  wesentlichen,  abgesehen 
von  der  Haltung  des  rechten  Armes,  mit  welchem  die  Göttin 


6)  Das   unter    der   Abbildung    der   Vorderseite    der   Statuette 
stehende  Epigramm 

Transiui  intrepidus  per  mille  pericula  uictor; 
Non  acies  ferri,  non  clausis  moenia  portis 
Conatus  tenuere  meos :  domat  omnia  uirtus 
welches  Mommsen  Corpus  Inscriptionum  latinarum  III,  p.  29*  unter 
den  'Inseriptiones  falsae1  aufführt,  war  wohl  gar  nicht  an  dem  Bild- 
werke angebracht,  sondern  ist  von  Amantius  verfasst  und  natürlich 
ohne  jede  Absicht  die  Leser  zu  täuschen,  als  iniyQapfia,  €7ii6etxnxoy 
der  Abbildung  beigegeben  worden.     Jedenfalls  bietet  die  Unächtheit 
des  Epigramms   nicht  die  geringste  Veranlassung   zu  einem  Zweifel 
an  der  Aechtheit  des  Bildwerks, 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Baimund  Fuggers.         141 

die  Lanze  aufstützt,  den  Typus  der  Parthenos :  der  gesenkte 
linke  Arm  berührt  den  oberen  Rand  des  neben  dem  linken 
Beine  der  Göttin  stehenden  Schildes,  dessen  äussere  Seite 
mit  einem  Löwenkopfe  verziert  ist.  Die  zweite  Statuette 
zeigt  dieselbe  Stellung  und  Haltung  wie  die  erste  —  der 
Buckel  des  Schildes  läuft  in  eine  starke  Spitze  aus  —  aber 
die  Göttin  trägt  ausser  dem  langen  gegürteten  Doppelchiton 
und  dem  mit  dem  Medusenkopf  geschmückten  Brustpanzer  noch 
einen  auf  der  linken  Schulter  aufliegenden  Mantel,  welcher 
die  linke  Seite  der  Brust  und  des  Rückens  und  den  grössten 
Theil  das  Unterkörpers  umhüllt.  Dieselbe  Bekleidung  zeigt 
die  dritte  Statuette,  bei  welcher  aber  der  Schild  fehlt;  die 
an  den  Leib  gelegte  linke  Hand  scheint  eine  Falte  des 
Mantels  zu  fassen. 

Ferner  enthält  ein  unpaginirter  Anhang  der  Inschrift- 
sammlung (nach  p.  CCCCCXII)  Abbildungen  in  Holzschnitt 
von  8  Statuetten  (wohl  durchgängig  Bronzewerke)  der  Samm- 
lung R.  Fugger's,  mit  kurzen,  freilich  meist  verfehlten  Er- 
klärungen, die  jedenfalls  von  Bartholomeus  Amantius,  der 
auch  die  an  R.  Fugger  gerichtete  Vorrede  des  ganzen  Werkes 
verfasst  hat,  herrühren.  Dass  diese  Statuetten  nur  einen 
kleinen  Theil  der  Fuggerschen  Sammlung  von  Alterthümern 
ausmachten,  bezeugen  die  Herausgeber  ausdrücklich  in  dem 
Schlussworte  der  Inschriftsammlung,  das  zugleich  das  Vor- 
wort zu  dieser  Publication  der  Bildwerke  bildet;  für  die 
Publication  der  übrigen  verweisen  sie  die  Leser  auf  ein 
demnächst  zu  veröffentlichendes  Werk  cde  Numismatis  veterum 
Imperatorum3,  das  aber,  meines  Wissens,  niemals  erschie- 
nen ist7). 

7)  P.  CCCCCXII :  'Porro  et  hoc  te  latere  nolui  preter  has  veteres 
imagines  quas  subiunximus  fini  libri  antiquitatum,  et  quas  D.  Ray- 
mundu8  liberalster  communicauit  alias  quamplurimas  superesse  apud 
eum ,  Sed  quia  verebamur,  ne  in  nimis  magnum  modum  liber  excres- 
ceret,  Praeterea  ne  praecii  magnitudine  emptorem  oneraremus,  si 
omnes   adiicereraus  visum   est    in  presentia   omittere    et  differe  in 


142       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Auf  der  ersten  Seite  des  Anhangs  (ßl.  tt  recto)  sind 
zwei  Figuren  abgebildet,  von  denen  die  links,  von  Araantius 
als  Bacchantin  erklärt,  den  jugendlichen  Dionysos  oder  einen 
römischen  Lar  darstellt,  der  mit  vorgesetztem  linken  Fusse 
tanzartig  vorwärts  schreitet.  Bekleidet  ist  er  mit  einem  bis 
an  die  Kniee  reichenden  Aermelchiton,  einer  von  der  linken 
Schulter  aus  um  den  Leib  geschlungenen  Nebris  und  Stiefeln; 
der  mit  einem  Kranze  aus  Weinlaub  oder  Epheu  bekränzte 
Kopf,  von  welchem  zwei  lange  Locken  auf  die  Schultern  herab- 
fallen, ist  nach  links  gewandt;  in  der  erhobenen  Rechten  hält 
er  ein  Rhyton,  dessen  unteres  Ende  der  Vorderkörper  eines 
Panthers  bildet,  in  der  gesenkten  Linken  eine  Schale,  deren 
Inneres  mit  einem  Löwenkopf  verziert  ist8).  Die  Haltung  der 
Figur  erinnert  stark  an  bekannte  Darstellungen  der  römischen 
Laren9),  während  die  Nebris,  falls  dieselbe  nicht  etwa  einem 
Versehen  des  Zeichners  ihren  Ursprung  verdankt,  für  die 
Deutung  auf  Dionysos  spricht.  Die  Figur  rechts,  welche 
Amantius  als  cimago  Laocoontis3  deutet  —  eine  nackte  Knaben- 
gestalt, welche  mit  jeder  Hand  eine  um  den  Arm  sich  ringelnde 
Schlange  am  Halse  gepackt  hat  —  stellt  offenbar  den  die 
von  Hera  gegen  ihn  ausgesandten  Schlangen  erwürgenden 
Herakles  dar10).     Schwierigkeit  macht  nur  die  Kopfbedeckung, 

librum  quem  instituimus  de  Numismatis  veterum  Imperatorum  mox 
fortuna  aspirante  conatibus  nostris  in  publicum  edere,  opera  et  studio 
Maguificorum  virorum  Raymundi  Fuggeri,  Ioannis  Choleri  Praepositi 
Curiensis  Chunradi  Peutingeri  Augustani,  et  aliorum  apud  quos  huius- 
modi  sunt,  interim  hoc  opus  nostrum  accipito  hilariter,  et  ut  decet 
grato  animo\ 

8)  In  der  Zeichnung  erscheint  sie  wie  ein  kleines  rundes  Schild, 
dessen  Aussenseite  einen  Löwenkopf  zeigt:  doch  unterliegt  die  wirk- 
liche Bedeutung  wohl  keinem  Zweifel. 

9)  Man  vergleiche  namentlich  die  bei  v.  Sacken  Die  antiken 
Bronzen  des  k.  k.  Münz-  und  Antiken cabinets  Tfl.  XIII,  2  abgebil- 
dete Bronzestatuette   der  Wiener  Sammlung. 

10)  Die  sonstigen  statuarischen  Darstellungen  dieser  Scene  zeigen 
in  der  Regel  den  Heraklesknaben  am  Boden  sitzend  oder  knieend. 
Stehend  erscheint   er  auch  in  einer  Vaticanischen  Marmorstatue  bei 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Raimund  Fuggers.         143 

welche  in  der  Zeichnung  als  hohe  Crista  und  Nackenstück 
eines  Helmes  erscheint;  da  man  nicht  wohl  annehmen  kann, 
dass  ein  Zeichner  die  über  den  Kopf  gezogene  Löwenhaut 
in  solcher  Weise  versehen  habe,  muss  man  wohl  den  ganzen 
Kopf  für  die  Zuthat  eines  Ergänzers  halten. 

Die  auf  der  folgenden  Seite  (Bl.  tt  verso)  abgebildete 
Statuette  der  Athene  (cImaguncula  Mineruae  deae3)  ist  iden- 
tisch mit  der  auf  p.  CCCLXV  rechts  abgebildeten,  von  der 
wir  oben  (S.  141)  gesprochen  haben. 

Auf  der  dritten  Seite  (Bl.  tt  ii  recto)  sind  wieder  zwei 
Statuetten  abgebildet.  Die  links  ist  die  eines  jugendlichen 
unbärtigen  Mannes,  der  mit  einem  kurzen  gegürteten  Chiton 
und  einer  längeren  auf  der  rechten  Schulter  befestigten 
Chlamys  bekleidet  ist;  die  abwärts  gestreckten  Arme  zeigen 
kein  Attribut;  auf  dem  Kopfe  hat  er  nach  der  Zeichnung 
vier  Hörner,  welche  Amantius  zu  der  verkehrten  Deutung 
der  Figur  auf  Pan  veranlasst  haben.  Man  darf  wohl  ver- 
muthen,  dass  die  angeblichen  Hörner11)  vielmehr  Zacken 
sind,  welche  Strahlen  bezeichnen ,  wie  solche  gleichfalls  in 
der  Vierzahl  deutlich  sichtbar  sind  an  der  auf  der  folgenden 
Seite  (Bl.  tt  ii  verso)  in  Vorder-  und  Rückansicht  abgebildeten 
Figur,  welche  in  Tracht  und  Haltung  durchaus  mit  der 
unsrigen  übereinstimmt  (die  Füsse  von  den  Knöcheln  ab  und 
die  linke  Hand  fehlen),  und  demnach  beide  Statuetten  als 
Darstellungen  des  Helios  auffassen :  ob  die  Zahl  der  Strahlen 
ursprünglich  nur  vier  betragen  hat  oder  ob  an  jeder  der 
beiden  Figuren  einige  (etwa  3)  abgebrochen  sind,  wage  ich 
nicht   zu  entscheiden.      Eine   wirkliche   Darstellung  des  Pan 

Clarac  Musee  de  sculpture  pl.  781,  N.  1959;  doch  ist  die  Deutung 
dieser  Statue,  da  die  Schlangen  durchaus  auf  Ergänzung  beruhen, 
sehr  unsicher. 

11)  An  einen  deus  Lunus  oder  Men  mit  vier  statt  mit  zwei 
Mondhörnern  (vgl.  den  Kopf  an  einem  in  Bayeux  gefundenen  spät- 
römischen Säulencapitäl  Revue  archeologique  n.  s.  XIX  [Januar  1869] 
pl.  1)  wird  doch  wohl  Niemand  denken. 


144        Sitzung  der  phüos.'philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

gibt  dagegen  die  Abbildung  rechts  auf  S.  3 :  sie  zeigt  ihn 
bocksfüssig ,  ithyphallisch ,  in  der  erhobenen  Rechten  einen 
Schilfstengel,  in  der  gesenkten  Linken  ein  grosses  Hörn 
(wahrscheinlich  ein  Rhyton,  wenn  man  nicht  an  ein  falsch 
ergänztes  Lagobolon  denken  will)  haltend.  Der  bartlose 
Kopf  zeigt  ausser  den  gewöhnlichen  zwei  kurzen  Hörnern 
über  der  Stirn  noch  ein  drittes  grösseres  nach  vorn  gebogenes 
auf  dem  Scheitel.  Obgleich  nun  Darstellungen  von  Satyrn  und 
Panen  mit  drei  Hörnern  nicht  gerade  unerhört  sind  (man 
vgl.  das  Marmorrelief  bei  Müller- Wieseler  Denkmäler  der 
alten  Kunst/  II,  Tafel  43,  N»  544  und  dazu  die  Bemerkungen 
Wieselers  im  Text  S.  48),  so  wäre  doch  die  verschiedene 
Bildung  der  Hörner  sehr  auffallend  und  ich  vermuthe  daher, 
dass  das  grosse  nach  vorn  gebogene  Hörn  nur  einem  Irr- 
thum  des  Zeichners  seinen  Ursprung  verdankt,  der  eine  mit 
der  Spitze  nach  vorn  gebogene  Mütze12)  fälschlich  für  ein 
Hörn  gehalten  hat. 

S.  5  (Bl.  tt  iii  recto)  stellt  in  Vorder-  und  Rückansicht 
eine  jugendliche  Figur  mit  wild  gesträubtem  Haar ,  welche 
von  den  Hüften  abwärts  in  zwei  grosse  Schlangen  endigt, 
dar;  zwei  kleinere  Schlangen  sind  um  ihre  Arme  (von 
denen  der  linke  ausgestreckt,  der  rechte  gebogen  ist)  ge- 
wunden. Die  Zeichnung  der  Vorderseite  der  Figur,  welche 
ihr  deutlich  weibliche  Brüste  giebt,  steht  mit  Amantius  Text, 
der  sie  als  cImago  filii  Laocoontis3  bezeichnet,  im  Wider- 
spruch, und  es  wird  kaum  möglich  sein,  diesen  Widerspruch 
ohne  Prüfung  des,  wie  es  scheint,  verlornen  Originals  zu 
lösen.  Ist  die  Zeichnung  richtig,  so  müssen  wir  in  der 
Figur  eine  Darstellung  der  Echidna,  wie  sie  am  amykläischen 
Thron  neben  Typhon   gebildet  war13),  erkennen.     Sind  da- 

12)  Eine  spitze,  allerdings  nicht  umgebogene  Mütze  trägt  Pan 
auf  einer  Münze  von  Nikäa  in  Bithynien:  Müller -Wieseler  Denk- 
mäler II,  Tafel  43,  N.  534. 

13)  Paus.  III,  18, 10.  Ein  anschauliches  Bild  davon,  wie  die  Griechen 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Baimund  Fuggers.  145 

gegen  die  weiblichen  Brüste  eine  Zuthat  des  Zeichners,  so 
stellt  die  Figur  ohne  Zweifel  einen  schlangenfüssigen  Giganten 
dar,  wie  sie  auf  Bildwerken  der  römischen  Zeit  häufig,  und 
zwar  nicht  selten  bartlos  und  jugendlich  erscheinen14). 

Die  6.  und  letzte  Seite  des  Anhanges  (Bl.  tt  iii  verso) 
gibt  wiederum  in  Vorder-  und  Rückansicht  die  Abbildung  der 
Statue  oder  Statuette  eines  bärtigen  Mannes,  welcher  am 
ganzen  Körper  mit  einem  die  Arme  bis  an  die  Handwurzeln, 
die  Beine  bis  über  die  Knöchel  herab  bedeckenden  eng  an- 
liegenden tricotartigen  Gewände,  das  sternförmige  Ornamente 
zeigt,  und  einem  kurzen  auf  der  rechten  Schulter  befestigten, 
neben  der  rechten  Seite  des  Körpers  bis  fast  zum  Kniee 
herabhängenden  Mantel,  sowie  mit  Sandalen  an  den  Füssen 
bekleidet  ist.  Unter  der  Brust  und  über  den  Lenden  scheinen 
zwei  schmale  Bänder  als  Gürtel  über  dem  Untergewande 
angebracht  zu  sein.  Der  rechte  Unterarm  ist  mit  geschlossener 
Hand  vorgestreckt,  der  linke  ebenso  erhoben,  so  dass  beide 
Hände  ursprünglich  etwas  gehalten  zu  haben  scheinen.  Das 
rechte  Bein  dient  als  Standbein,  das  linke  als  Spielbein. 
Der  Kopf  ist  mit  dem  Ausdruck  tiefen  Schmerzes  im  Gesicht 
leise  nach  der  rechten  Seite  geneigt.  Dieser  Umstand  sowie 
>die  barbarische  Tracht  machen  es  wahrscheinlich,  dass  die 
Figur  einen  besiegten  und  gefangenen  Barbaren  darstellt; 
doch  darf  ich  nicht  verhehlen,  dass  es  mir  nicht  gelungen 
ist,  eine  völlig  entsprechende  Darstellung  auf  römischen  Bild- 
werken  zu   finden,    wie   z.  B.  die  Daker   in  den  Reliefs  der 


sich  dieEchidna  dachten,  gibt  der  Bericht  des  Herodot  (IV,  9)  über 
die  bei  den  Pontischen  Hellenen  verbreitete  Sage  vom  Zuge  des 
Herakles  nach  Skythien :  ip&avtci  de  uvtov  evgeiv  iv  «Vr^w  (xc^oTtaQ- 
&£v6v  xivu  e%i6vav  6i(pvEa,  trjs  tcc  ^ikv  cc'vio  arid  toÜv  ylovtiov  eivui 
yvpur/.og,  tu  de  eveQ&e  öcpiog.  Vgl.  Hesiod.  Theog.  v.  297  ff.; 
Fröhner  Melanges  d'epigraphie  et  d'archeologie  I — X  (Paris  1873) 
p.  20  s. 

14)  Vgl.  Wieseler  in  der  Allgemeinen  Encyclopädie  der  Wissen- 
schaften und  Künste  Sect.  I,  Bd.  67,  S.  159  ff. 


146  Sitzung  der  phüos.-philöl.  Ciasse  vom  7.  März  1874. 

Trajanssäule  nicht  tricotartige  Gewänder,  wie  unsere  Figur 
(deren  Costüm  noch  am  meisten  an  das  der  Amazonen  auf 
einigen  griechischen  Bildwerken  erinnert),  sondern  bis  zum 
Gürtel  emporreichende  Beinkleider ,  darüber  ein  bis  über 
die  Kniee  hinabreichendes  Aermelgewand  und  einen  Mantel 
tragen. 

Das  ist  alles  was  wir  über  den  Bestand  der  Antiken- 
sammlung Raymund  Fuggers  ermitteln  können.  Ueber  die 
Schicksale  derselben  vermag  ich  nichts  anzugeben ;  da  meines 
Wissens  kein  späterer  Antiquar  oder  Archäolog  ihrer  gedenkt, 
so  scheint  sie  nach  dem  Tode  ihres  Besitzers  zerstreut  wor- 
den oder  völlig  unbeachtet  geblieben  und  dadurch  zu  Grunde 
gegangen  zu  sein. 

Das  von  Apianus  und  Amantius  herausgegebene  In- 
schriftenwerk enthält,  wie  schon  oben  bemerkt,  ausser  den 
R.  Fugger  gehörigen  Bildwerken  auch  Abbildungen  zahlreicher 
anderer  bildlicher  Denkmäler,  von  denen  wenigstens  das  eine 
und  andere  eine  etwas  eingehendere  Besprechung  zu  ver- 
dienen scheinen. 

Beginnen  wir  mit  den  statuarischen  Werken,  so  finden 
wir  auf  S.  CXXXVI  ohne  Angabe  des  Fund-  oder  Aufbe- 
wahrungsorts neben  auf  den  Cult  der  Isis  bezüglichen  In- 
schriften15) und  Notizen  eine  weibliche  Figur  abgebildet,  welche 
mit  einem  unter  der  Brust  gegürteten  Aermelchiton,  dessen 
oberer  Theil  als  fyidiTthotdiov  (vgl.  Poll.  VII,  49)  nochmals 
Brust  und  Rücken  bis  zu  den  Hüften  bedeckt,  bekleidet,  mit 
einer  Mondsichel  übsr  der  Stirn,  beide  Arme  nach  unten 
ausstreckt.  Der  Mangel  jeder  weiteren  Angabe  in  Betreff 
der  Figur  lässt  vermuthen ,  dass  dieselbe  gar  nicht  nach 
einem  antiken  Original  gezeichnet,  sondern  von  Apianus  oder 

15)  Die  von  Apianus  mit  der  Ortsangabe  cCapuae  ad  S.  Bene- 
dictum  in  pauimento'  mitgetheilte  Inschrift  befindet  sich  jetzt  im 
Museo  nazionale  zu  Neapel  und  ist  nach  dem  Original  publicirt  bei 
Mommsen  Inscriptiones  regni  Neapolitani  n.  3580. 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Raimund  Fuggers.         147 

seinem  Gewährsmann  erfunden  ist,  nicht  etwa  in  betrügeri- 
scher Absicht,  sondern  um  seinen  Lesern  ein  deutliches 
Bild  von  der  Gestalt  der  Isis,  wie  er  sich  dieselbe  vorstellte, 
zu  geben. 

Unzweifelhaft  nach  einem  antiken  Original,  einer  im 
Besitz  Wilibald  Pirkheimers  befindlichen  Bronzestatuette, 
welche  jetzt  verschwunden  zu  sein  scheint 16) ,  ist  die  Figur 
eines  bartlosen  älteren  Mannes  auf  p.  CLVI  gezeichnet, 
welche  von  den  Herausgebern ,  offenbar  wegen  der  beiden 
Hähne,  welche  sie  in  der  abwärts  gestreckten  rechten  Hand 
hält,  als  Bildniss  des  Aesculapius  erklärt  wird,  eine  Er- 
klärung welche  sowohl  durch  die  Tracht  des  Mannes,  als 
durch  den  Fruchtschurz,  welchen  er  mit  dem  linken  Arme 
hält,  widerlegt  wird.  Nach  diesen  Kennzeichen  scheint  es 
mir  vielmehr  zweifellos,  dass  die  Statuette  den  Lampsakeni- 
schen Gott  Priapos  darstellt.  Dafür  sprechen,  ausser  dem 
schon  erwähnten  Fruchtschurz,  das  weibische  Kopftuch  welches 
den  ziemlich  kahlen  Kopf  umhüllt,  die  die  ganzen  Füsse 
bedeckenden  ungriechischen  Schuhe  und  die  eigenthümliche 
Schürzung  des  Gewandes  um  den  Leib,  dessen  Faltenwurf 
wohl  die  ithyphallische  Natur  des  Gottes  verhüllend  andeuten 
soll.  Während  nämlich  die  Mehrzahl  der  uns  erhaltenen 
langbekleideten  Priaposbilder  den  Gott  vorn  das  Gewand 
aufhebend  darstellt,  finden  wir  auch  Beispiele,  bei  welchen 
diese  Entblössung  nicht  stattfindet.  Man  vergleiche  die  reich- 
haltige Zusammenstellung  von  0.  Jahn  in  den  Berichten  der 
sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften,  philol.-histor. 
Classe,  1855,  S.  236  ff.  und  in  den  Jahrbüchern  des  Vereins 


16)  Wie  B.  Stark  in  seinen  'Archäologischen  Studien  zu  einer 
Revision  von  Müllers  Handbuch  der  Archäologie1  (Wetzlar  1852) 
S.  51  bemerkt,  ist  die  Pirkheimersche  Sammlung  als  Imhofsche  1G36 
grossen  Theils  an  den  Graf  Arundel  und  somit  nach  Oxford  ge- 
kommen, aber  in  der  englischen  Revolution  theilweise  vernichtet 
worden. 


148        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

von  Alterthuinsfreunden  im  Rheinlande  Heft  XXVII,  S.  45  ff. 
Auffallend  ist  allerdings  an  unserer  Statuette  der  Mangel 
des  Bartes,  während  in  der  Regel  der  Gott  mit  einem  zwar 
dünnen,  aber  langen  Barte  dargestellt  wird;  doch  ist  auch 
die  Bartlosigkeit  nicht  ohne  Beispiel  (vgl.  0.  Jahn  Jahr- 
bücher S.  60)  und  soll  jedenfalls  den  weibisch-weichlichen 
Character  der  Gestalt  noch  mehr  hervorheben.  Die  beiden 
Hähne,  welche  die  Statuette  in  der  Rechten  hält,  sind,  die 
Richtigkeit  der  Zeichnung  vorausgesetzt,  wohl  aus  der  brün- 
stigen Natur  dieser  Thiere  (vgl.  Aelian.  de  animal.  IV,  16) 
zu  erklären ;  auch  könnte  man  vielleicht  darin  eine  Anspiel- 
ung finden  auf  den  Beinamen  'OgvedTrjg  mit  welchem  Eupho- 
riou  von  Chersonesos,  der  Verfasser  von  ügiaTteia,  den  Gott 
bezeichnet  hatte17). 

P.  CCXXX  gibt  die  Abbildung  einer  in  Rom  befindlichen 
Statue  oder  Statuette  des  Mercurius,  welche  denselben  in 
bekannter  Weise  bartlos,  unbekleidet  bis  auf  die  von  der 
linken  Schulter  über  den  linken  Arm  herabfallende  Chlamys, 
auf  dem  Haupte  den  geflügelten  Petasos,  mit  Flügeln  an 
den  Knöcheln ,  in  der  vorgestreckten  Rechten  den  Beutel 
haltend  darstellt.  Ob  die  von  dem  Herausgeber  damit  ver- 
bundene Inschrift  MER.  SACR.  sowie  das  Distichon 

Sum  deus  alatis  qui  cruribus  aethera  carpo 
Quem  peperit  summo  lucida  Maia  Ioui 

wirklich  zu  dem  Bildwerke  gehören,  ist  sehr  fraglich.  Das 
Distichon  dürfte  wohl,  wie  das  oben  S.  140,  Anm.  6  erwähnte 
Epigramm  auf  Hercules,  von  Amantius  oder  auch  von  einem 
italiänischen  Humanisten  verfasst  sein.  Eine  andere  statua- 
rische Darstellung  des  Mercurius  mit  einer  grössern  Anzahl 
von  Attributen,  welche  sich  in  Conrad  Peutinger's  Hause  in 


17)  Vgl.  Strabon.  VIII,  p.  382,  wo  Meineke  das  von  den  Hand- 
schriften überlieferte  EixpQovios  nach  Hephästion  enchir.  c.  16  (p.  57 
ed.  Westphal)  richtig  in  Erpopitov  geändert  hat. 


Bursian:  Die  AntiJcensammlung  Baimund  Fuggers.         149 

Augsburg  befand,  ist  abgebildet  auf  S.  CCCCXXII.  Der 
Gott  mit  Flügeln  am  Haupt,  mit  einer  über  die  linke  Schulter 
geworfenen  Chlamys  bekleidet,  hält  in  der  erhobenen  Linken 
den  Heroldstab,  mit  der  gesenkten  Rechten  den  Beutel,  dessen 
Ende  den  Kopf  eines  neben  dem  Gotte  liegenden  Ziegenbocks 
berührt;  neben  dem  linken  Fusse  des  Gottes  steht  ein  Hahn. 
Das  Bildwerk  ist  noch  jetzt  erhalten  und  im  Maximilians- 
Museum  zu  Augsburg  aufgestellt;  s.  M.  Mezger  Die  römi- 
schen Steindenkmäler,  Inschriften  und  Gefässstempel  im 
Maximilians-Museum  zu  Augsburg  (Augsburg  1862)  S.  18, 
n.  IX.  Bock  und  Hahn  als  Attribute  des  Mercurius  sind  aus 
zahlreichen  Bildwerken  der  römischen  Zeit,  besonders  solchen, 
welche  auf  germanischem  Boden  gefunden  worden  sind,  be- 
kannt ;  ausser  den  schon  von  Mezger  verglichenen  in  Gerst- 
hofen  ausgegrabenen  Mercurbildern,  welche  sich  jetzt  ebenfalls 
im  Augsburger  Museum  befinden  (vgl.  Mezger  a.  a.  0.  S.20ff), 
ist  besonders  die  bei  Müller-Wieseler  Denkmäler  der  alten 
Kunst  II,  Tafel  29,  N.  325  abgebildete  Silberplatte  aus  Neu- 
wied zu  vergleichen;  dessgleichen  ein  jetzt  im  Stuttgarter 
Museum  befindliches  Relief  aus  Marbach :  s.  Verzeichniss  der 
in  Würtemberg  gefundenen  römischen  Steindenkmale  des 
k.  Museums  der  bildenden  Künste,  Stuttgart  1846,  S.  17,  n.  63. 
Auf  p.  CCCCXII  finden  wir  die  erste,  allerdings  in 
stylistischer  Hinsicht,  wie  alle  Abbildungen  des  Apianischen 
Buches,  sehr  ungenügende  Abbildung  der  lebensgrossen 
schönen  Bronzestatue  eines  bartlosen  jugendlichen  Mannes, 
welche  im  Jahre  1502  auf  dem  Helena-  oder  Magdalens- 
berge  am  östlichen  Rande  des  Zollfeldes  zwischen  Klagen- 
furt und  St.  Veit  in  Kärnthen  gefunden,  seit  dem  Jahre 
1806  eine  der  schönsten  Zierden  des  k.  k.  Münz-  und  An- 
tikencabinets  zu  Wien  bildet18)  und  neuerdings  durch  Gips- 


18)  S.  cDie  Sammlungen  dea  k.  k.  Münz-  und  Antiken-Cabinets, 
beschrieben  von  Dr.  E.  Freih.  von  Sacken  und  Dr.  F.  Kenner ,  Wien 
[1874,  2.  Phil.  hist.  GL]  11 


150       Sitzung  der  phüos.-phüol  Olasse  vom  7.  März  1874. 

abgüsse  genauer  bekannt  geworden  ist.  Die  Abbildung  ist 
desshalb  von  Werth,  weil  sie  die  beiden  zugleich  mit  der 
Statue  gefundenen  aber  längst  von  ihr  getrennten  und  wie 
es  scheint  verloren  gegangenen  Attribute  enthält :  eine  mit 
dem  Stiel  auf  der  Basis  neben  dem  linken  Fusse  stehende 
Streitaxt  (bipennis),  auf  welcher  die  linke  Hand  des  Jüng- 
lings ruht ,  sowie  einen  länglich-runden ,  in  der  Mitte  ver- 
tieften Gegenstand,  welcher  von  einigen  für  einen  Hut,  von 
anderen  für  ein  Diadem,  von  anderen  für  ein  Schild  ange- 
sehen worden  ist19).  Die  Bedeutung  dieses  Gegenstandes 
ist  desshalb  kaum  zu  bestimmen,  weil  sich  an  der  Statue 
selbst  keine  Spur  einer  Anfügung  desselben  findet;  wenigstens 
habe  ich  bei  der  genauesten  Prüfung  eines  von  mir  für  das 
archäologische  Museum  der  Universität  Jena  erworbenen 
Gipsabgusses  derselben  keine  derartige  Spur  entdecken  können : 
eine  runde  Vertiefung  auf  dem  Rücken  zwischen  den  beiden 
Schultern,  etwas  näher  an  der  linken,  kann,  wenn  sie  nicht 
einer  zufälligen  Verletzung  etwa  bei  der  Auffindung  der 
Statue  ihren  Ursprung  verdankt,  nur  von  einem  Krampen 
oder  Haspen  herrühren,  mit  welchem  die  Statue  an  einer 
Rückwand  befestigt  gewesen  sein  mag.  Eine  zweite  viel 
kleinere  Vertiefung  auf  der  Brust  des  Gipsabgusses  in 
der  Nähe  der  linken  Brustwarze  kann  nur  durch  Zufall 
entstanden  sein.  Allerdings  giebt  v.  Sacken  a.  a.  0.  S.  53 
an,  die  Statue  scheine  von  einem  geschickten  Künstler  der 
Renaissanceperiode    an    der    Oberfläche   überarbeitet    wor- 


1866,  S.  39,  N.  155;  v.  Sacken  Die  antiken  Bronzen  des  k.  k.  Münz- 
und  Antikencabinets  in  Wien,  Wien  1871,  Tfl.  XXI,  S.  52Jff. 

19)  Vgl.  Mommsen  Corpus  inscriptionum  latinarum  Vol,  III,  S.  II, 
p.  602  n.  4815,  wo  sowohl  die  auf  dem  rechten  Schenkel  der  Statue 
eingravirte  Inschrift  als  auch  die  welche  sich  auf  dem  Rande  des 
oben  erwähnten  Gegenstandes  befindet,  nebst  Notizen  über  die  Auf- 
findung und  die  späteren  Schicksale  der  Statue  und  ihrer  Beiwerke 
mitgetheilt  sind. 


Bursian:  Die  Antihensammlung  Baimund  Fuggers.        151 

den  zu  sein ;  aber  so  stark  kann  diese  Ueberarbeitung  doch 
kaum  gewesen  sein,  dass  dadurch  die  Spuren  der  Anfügung 
eines  Hutes  oder  Diadems  oder  Schildes  gänzlich  verwischt 
worden  wären.  Also  muss  die  Notiz,  welche  Apian  an  einer 
früheren  Stelle  seines  Buches,  wo  er  die  Inschriften  allein 
ohne  Abbildung  der  Statue  mittheilt  (p.  CCCXCVII),  giebt: 
cimago  aenea  uirilis  —  habens  in  capite  pileum  instar  lancis 
aeneum  auro  oblitum  cum  inscriptione5  nur  auf  einer  falschen 
Vermuthung  seines  Gewährsmannes  beruhen  und  wir  müssen 
vielmehr  annehmen  dass  der  fragliche  Gegenstand,  in  welchem 
auch  ich ,  wie  Mommsen ,  am  ehesten  ein  Schild  erkennen 
möchte,  gar  nicht  in  unmittelbarer  Beziehung  zu  der  Statue 
gestanden  hat,  eine  Annahme  die  sich  auch  desshalb  empfiehlt, 
weil  derselbe  laut  der  Inschrift  von  anderen  Persönlichkeiten 
geweiht  worden  ist  als  die  Statue  selbst.  Die  genaue  Prüfung 
des  Gipsabgusses  hat  mir  ferner  gezeigt,  dass  auch  die 
Haltung  der  linken  Hand,  wie  sie  in  Apians  Zeichnung  er- 
scheint, unmöglich  richtig  sein  kann.  Diese  Hand  ist  an 
der  Statue  halb  geschlossen  und  zwar  so,  dass  der  vierte 
und  fünfte  Finger  weiter  nach  dem  Innern  der  Hand  zu 
gebogen  sind  als  der  dritte  und  zweite  Finger;  am  Ballen 
bemerkt  man  in  der  Nähe  der  Wurzel  des  Daumens  eine 
Abplattung,  welche  nur  von  der  Anfügung  eines  stabartigen 
Gegenstandes,  welchen  die  Figur  in  der  Linken  hielt,  her- 
rühren kann.  Daraus  ergibt  sich,  dass  die  ohne  Zweifel  zu- 
gleich mit  der  Figur  entdeckte  Streitaxt  nicht  ursprünglich 
mit  dem  Stiel  auf  dem  Boden  gestanden  haben  und  von  der 
Hand  der  Figur  am  andern  Ende  berührt  worden  sein  kann, 
sondern  dass  sie,  wenn  sie,  wie  es  doch  mindestens  höchst  wahr- 
scheinlich ist,  ein  unmittelbares  Attribut  der  Statue  bildete, 
von  dieser  am  Stiel,  so  dass  die  Axt  nach  unten  gekehrt 
war,  gehalten  worden  ist.  Was  endlich  die  Deutung  der 
Statue  anbetrifft,  so  würde  die  gewöhnliche  Auffassung  der- 

11* 


152        Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  7.  Märe  1874. 

selben  als  Mercurius20)  unbedenklich  sein,  wenn  man  an- 
nehmen dürfte,  dass  dieselbe  einen  Heroldstab  in  der  Linken 
gehalten  habe.  Da  aber  nach  den  obigen  Erörterungen  das 
Attribut,  welches  sie  mit  dieser  Hand  hielt,  vielmehr  eine 
Streitaxt  gewesen  sein  muss,  so  können  wir  darin  nur  das 
Bild  einer  kriegerischen  Gottheit,  für  welche  auch  das  Schild 
als  Weihgeschenk  passt,  erkennen ;  schwerlich  des  römischen 
Mars,  da  für  diesen,  abgesehen  von  dem  Mangel  seines  ge- 
wöhnlichen Attributes,  des  Helmes,  die  Streitaxt  statt  des 
Schwertes  oder  der  Lanze  unpassend  ist,  sondern  einer  ein- 
heimischen Gottheit  der  Noriker  (Taurisker),  welche  von 
den  römischen  Ansiedlern  zwar  im  Allgemeinen  mit  ihrem 
Mars  identificirt,  aber  durch  einen  einheimischen  Beinamen, 
wie  wir  deren  für  Mars  so  viele  durch  Inschriften  aus  von 
keltischen  Völkerschaften  bewohnten  Gegenden  kennen,  näher 
characterisirt  worden  ist.  Für  einen  solchen  passt  ganz  die 
cAmazonia  securis',  welche  in  einer  bekannten  Stelle  des 
Horatius  (c.  IV,  4,  18  ss.)  als  die  stehende  Waffe  der  Vin- 
delici,  der  nördlichen  Nachbarn  der  Norici,  bezeichnet  wird. 
Aus  Noricum  speciell  ist  uns  als  eine  solche  mit  dem  römi- 
schen Mars  identificirte  Gottheit  der  Latobius  bekannt, 
dessen  Cult  durch  die  Inschriften  C.  I.  L.  vol. III,  p.  II,  n.  5097 
u.  5098  (cLatobio  Augusto  sacruu/),  n.  5320  (\Marti  Latobio 
Harmogio'  etc.)  und  n.  5321  (cLatobio  Q.  MorsW  etc.)  be- 
zeugt wird. 

P.  CCCCCVII  des  Apianischen  Werkes  gibt  die  Ab- 
bildung der  Statue  eines  mit  einem  langen,  faltenreichen, 
unter  der  Brust  gegürteten  Gewände  bekleideten  Mannes, 
welcher  die  Rechte  an  den  Gürtel  legt,  mit  der  Linken  ein 
mächtiges  Schwert  aufstützt.     Der  Kopf  und  der  obere  Theil 


20)  Arneths  Deutung  auf  Germanicus  wird  schwerlich  Jemand 
vertreten  wollen.  Auch  die  Ansicht  E  Hübners  (Die  antiken  Bild- 
werke in  Madrid  S.  9),  dass  die  Statue  ein  Porträt  sei,  scheint  mir 
durchaus  unhaltbar. 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Baimund  Fuggers.  153 

der  Brust  der  Statue,  als  deren  Standort  Pergamos  an- 
gegeben ist,  fehlen ;  die  mit  Sandalen  bekleideten  Füsse  stehen 
auf  einer  kugelförmigen  Basis,  welche  zunächst  auf  einem 
viereckigen  Pfeiler  ruht;  dieser  wird  von  einem  sehr  hohen 
architektonisch  reich  gegliederten  Piedestal,  welches  eine 
ionische  Basis  und  eine  viereckige  Plinthe  darunter  zeigt, 
getragen.  An  dem  Piedestal  befindet  sich  in  Capitälbuch- 
staben  die  Inschrift:  'Opus  Nicerati;  fertur  autem  imaginem 
fuisse  Eumenestis  regis*.  Dass  wir  es  hier  nicht  mit  einer 
antiken  Inschrift  zu  thun  haben,  ist  aus  der  Fassung  der- 
selben ohne  Weiteres  klar;  doch  berechtigt  uns  dies  durch- 
aus nicht,  das  Bildwerk  selbst  oder  auch  nur  den  Inhalt 
der  Inschrift  als  eine  Fiction  zu  betrachten,  sondern  wir 
dürfen  vermuthen,  dass  der  Gewährsmann  des  Apianus  (wahr- 
scheinlich Cyriacus  von  Ancona)  seiner  Zeichnung  der  Statue 
und  des  Piedestals  die  von  Apianus  wiederholte  Bemerkung 
theils  auf  Grund  einer  Inschrift  (NiKtgcccog  ittoirjoev),  theils 
nach  einer  an  Ort  und  Stelle  erhaltenen  mündlichen  Tradition 
über  die  in  der  Statue  dargestellte  Persönlichkeit  beigefügt 
hatte.  Ist  dies  richtig  —  und  ich  sehe  nicht  ein  was  uns 
berechtigen  könnte,  an  der  Existenz  der  bei  Apian  abgebil- 
deten Statue  und  einer  Inschrift  welche  sie  als  ein  Werk 
des  Nikeratos  bezeichnete  zu  zweifeln  —  so  gewinnen  wir 
für  die  griechische  Kunstgeschichte  die  interessante  That- 
sache,  dass  der  aus  Plinius  und  Tatian  bekannte  Bildner 
Nikeratos  aus  Athen  (vgl.  Brunn  Geschichte  der  griechischen 
Künstler  I,  S.  272)  für  Pergamos  die  Porträtstatue  eines 
der  pergamenischen  Herrscher  (ob  des  Eumenes  I  oder  eines 
andern  Mitgliedes  des  Herrscherhauses  der  Attaliden,  muss 
bei  der  Unsicherheit  der  Tradition  unentschieden  bleiben) 
gearbeitet  hat,  wornach  wir  die  Thätigkeit  des  Künstlers 
etwa  in  die  2.  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  vor  Christo 
zu  setzen  haben.  Dass  Plinius  (n.  h.  XXXIV,  8,  88)  von  ihm 
eine  Gruppe,   welche   den  Alkibiades   mit  seiner  Mutter  De- 


154       Sitzung  der  pkilos.-philol.  Gasse  vom  7.  März  1874. 

inarate  darstellte,  anführt  steht  mit  dieser  Ansetzung  durch- 
aus nicht  im  Widerspruch,  da  eine  Persönlichkeit  wie 
Alkibiades  gewiss  auch  für  Künstler  späterer  Jahrhunderte 
einen  dankbaren  Stoff  für  ihre  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete 
der  historischen  Sculptur  darbot;  erwähnt  doch  derselbe 
Plinius  (a.  a.  0.  §  80)  eine  statuarische  Darstellung  des 
Alkibiades  als  Lenkers  eines  Viergespanns  von  der  Hand 
des  Pyromachos,  in  welchem  wir  meiner  Ueberzeugung 
nach  keinen  andern  als  den  für  die  pergamenischen  Fürsten 
thätigen  Künstler  dieses  Namens  (s.  Brunn  Geschichte  der 
griechischen  Künstler  I,  S.  442)  erkennen  dürfen.  Als  ein 
Werk  des  Nikeratos  nennt  uns  Plinius  (a.  a.  0.  §  80)  ferner 
eine  Gruppe  des  Asklepios  und  der  Hygieia,  welche  zu  seiner 
Zeit  in  Rom  im  Tempel  der  Concordia  aufgestellt  war. 
Liegt  nun  nicht  die  Vermuthung  sehr  nahe,  dass  Nikeratos, 
den  wir  oben  als  in  Pergamos  thätig  kennen  gelernt  haben, 
diese  Gruppe  für  das  dortige  Asklepieion  gearbeitet  hat  und 
dass  dieselbe  erst  nach  der  Annexion  des  Reiches  der 
Attaliden  durch  die  Römer  nach  Rom  geschafft  worden  ist? 
Unter  den  bei  Apian  abgebildeten  Reliefs  sind  zunächst 
zwei  zu  erwähnen,  welche  sich  durch  Bild  und  Inschrift  als 
Weihgeschenke  an  Gottheiten  zu  erkennen  geben :  p.  CCLXXII 
mit  der  Ortsangabe  cRomae  iuxta  aedem  diui  Benedicti 
trans  Tyberim*  ein  Weihgeschenk  für  Jupiter  Optimus  Maxi- 
mus Dolichenus  (DOLOCHEVO  was  Apian  gibt  ist  offenbar 
verlesen  für  DOLICHENO),  über  dessen  Inschrift  und  Bildwerk 
kürzlich  eingehender  von  Fröhner  gehandelt  worden  ist  cLes 
Musees  de  France'  (Paris  1873)  p.  27  ss.,  und  p.  CCCCLVI  mit 
der  Notiz  capud  Etlingen  inuentum  sed  iussu  Maximiliani 
Caesaris  translatum  ad  Wyssenburgum5  ein  Weihgeschenk  für 
Neptunus,  welches  diesen  Gott  völlig  unbekleidet,  einen 
Delphin  in  der  Rechten,  den  Dreizack  in  der  Linken  haltend, 
neben  seinem  linken  Fusse  ein  geflügeltes  Seeungeheuer  mit 
einem  Vogelkopf  darstellt :  der  letztere  Stein  befindet  sich,  wie 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Baimund  Fuggers.         155 

ich  aus  Brambach's  Corpus  inscriptionum  Rhenanarum  p.  310, 
n.  1678  entnehme,  heut  zu  Tage  nach  mannigfachen  Wander- 
ungen wieder  in  Ettlingen  in  Baden ;  ein  in  Hinsicht  sowohl 
der  bildlichen  Darstellung  als  auch  der  Inschrift  genau  über- 
einstimmender Stein  ist  im  Jahre  1748  am  Fusse  des  Schloss- 
berges in  Baden-Baden  gefunden  worden :  s.  Brambach  a.  a.  0. 
p.  309,  n.  1668. 

Unter  den  zahlreichen  von  Apian  abgebildeten  Grab- 
reliefs verdienen  nur  wenige  wegen  ihrer  bildlichen  Dar- 
stellungen eine  eingehendere  Betrachtung.  So  zunächst  das 
p.  CC1X  abgebildete  Grabdenkmal  des  Q.  Virius  Severinus 
aus  Rom  cin  claustro  d.  Simpliciani  Columnacii3,  welches  einen 
mit  einer  bis  zu  den  Knieen  reichenden  Tunica  und  Schuhen 
bekleideten  Mann  darstellt,  der  in  beiden  Händen  einen  Strick 
hält ;  neben  ihm  steht,  den  Kopf  ihm  zuwendend,  ein  Esel  oder 
vielmehr  eine  Eselin.  Es  scheint  mir  unzweifelhalt,  dass  die 
von  Apian  gegebene  Abbildung  insofern  ungenau  ist,  als  auf 
dem  Relief  die  Eselin  nicht  einfach  neben  dem  das  Seil 
haltenden  Manne  stehend,  sondern  an  dem  Seile  fressend 
dargestellt  war,  dass  das  Relief  also  die  schon  von  Poly- 
gnotos  in  seinem  Gemälde  der  Unterwelt  in  der  Lesche  der 
Knidier  zu  Delphi  angebrachte  (s.  Paus.  X,  29,  2) ,  seitdem 
in  zahlreichen  Unterweltsdarstellungen  wiederholte  Gruppe 
des  Oknos,  welcher  ein  Seil  dreht,  das  von  einer  Eselin 
fortwährend  aufgefressen  wird,  darstellt21). 


21)  Die  Darstellungen  des  Oknos  sind  zusammengestellt  und 
erläutert  worden  von  0.  Jahn  in  den  Archäologischen  Beiträgen 
S.  125,  Anm.  10,  in  der  Abhandlung  über  die  Wandgemälde  des 
Columbariums  in  der  Villa  Pamfili  (Abhandlungen  d.  k.  bayer.  Akad. 
d.  W.  I.  Cl.  VIII.  Bd.  II.  Abth.  S.  245  ff.)  und  in  dem  Aufsatz  über 
Darstellungen  der  Unterwelt  auf  römischen  Sarkophagen  (Berichte 
der  k.  sächs.  Gesellschaft  d.  W.,  philol.-histor.  Cl.,  1856,  S.  267  ff.). 
Das  bei  Apian  abgebildete  Relief  hat  er  an  keiner  dieser  Stellen 
berücksichtigt.  Neuerdings  (1865)  ist  noch  eine  Darstellung  des 
Oknos    auf    einem   Wandgemälde    eines   Ostiensischen    Grabes   zum 


156  Sitzung  der  phüos.'phüoLClasse  vom  7.  März  1874. 

Zwei  der  bei  Apian  abgebildeten  Grabreliefs  (p.  CCCCXXXV 
und  p.  CCCCLVIII)  enthalten  Darstellungen  des  sogenannten 
Todten-  oder  richtiger  Familien m ahls ,  wie  sie  sowohl  auf 
griechischen  als  auf  römischen  Grabdenkmälern  so  häufig 
vorkommen22).  Das  erstere,  nach  Apian  in  dem  der  Familie 
Fugger  gehörigen  Schloss  Smiechen  gefunden,  war  früher  in 
der  Kirchhofmauer  zu  Stadtbergen  bei  Augsburg  eingemauert, 
von  wo  es  im  Jahre  1821  in  das  Museum  zu  Augsburg  ver- 
setzt worden  ist :  s.  M.  Mezger  Die  römischen  Steindenk- 
mäler u.  s.  w.  S.  53  f.  n.  XXIX,  aus  dessen  genauer  Beschreib- 
ung wir  entnehmen,  dass  das  Relief  in  der  Abbildung  bei 
Apian  umgekehrt  —  der  auf  dem  Ruhebette  liegende  Mann, 
offenbar  der  Verstorbene,  dem  das  Grabdenkmal  gilt,  nach 
rechts  anstatt  nach  links  gewendet  —  erscheint;  dass  die 
zu  Häupten  und  zu  Füssen  des  Ruhebettes  stehenden  Figuren 
weiblich  sind,  und  nicht,  wie  es  die  Abbildung  darstellt,  die 
Lehnen  des  Ruhebettes  anfassen,  sondern  die  am  Kopfende 
(jedenfalls  die  Gattin  des  auf  dem  Ruhebett  Liegenden)  das 
Kinn  mit  dem  rechten  Arme  und  diesen  mit  der  linken  Hand 
stützt,  die  am  Fussende  (offenbar  eine  Dienerin)  einen  Präs entir- 
teller  mit  Speisen  herbeibringt,  um  sie  auf  den  vor  dem 
Lager  stehenden  dreifüssigen  Tisch,  auf  welchen  der  Liegende 
mit  der  linken  Hand  deutet,  zu  setzen.  Das  hinter  der 
Dienerin  stehende  grosse  Wassergefäss,  auf  dessen  Rande 
zwei  Tauben  sitzen,  deren  eine  eben  im  Begriff  ist  zu  trinken, 
erinnert  an  die  bekannte  Capitolinische  Mosaik  aus  der  Villa 
Hadrians  zu  Tivoli  (Müller- Wieseler  Denkmäler  I,  Tfl.  55, 
n.  274)    und   ähnliche   Darstellungen23),    welche   sämmtlich 


Vorschein  gekommen:    s.  Monumenti  dell  inst.  VIII,    t.  28;    C.  L. 
Visconti  in  den  Annali  1866,  p.  304  ss. 

22)  Die  griechischen  Grabdenkmäler  dieser  Art  sind  am  voll- 
ständigsten zusammengestellt  von  P.  Pervanoglu  cDas  Familienmahl 
auf  altgriechischen  Grabsteinen   Leipzig  1872. 

23)  Zu  diesen  gehört   auch  ein   in   meiner  Schrift   tAventicum 


Sursian:  Die  Antikensammlung  Baimund  Fuggers.  157 

ein  von  Sosos  in  seinem  Oikos  asarotos  zu  Pergamos  an- 
gebrachtes Motiv  (s.  Plin.  n.  h.  XXXVI,  25,  184)  wiederholen. 
Das  zweite  Relief  mit  der  Darstellung  eines  Familien- 
mahles, welches  nach  Apian  in  dem  Thurme  des  Klosters 
Murrhardt  bei  Backnang  aufgestellt  war,  ist  heut  zu  Tage 
verschwunden:  s.  Brambach  Corpus  inscriptionum  Rhena- 
narum  p.  293,  n.  1570.  Die  Darstellung  ist  sehr  einfach: 
ein  bärtiger  Mann  in  halb  sitzender,  halb  liegender  Stellung 
auf  einem  Ruhelager,  vor  welchem  ein  runder  dreifüssiger 
Tisch  mit  drei  Broden  steht;  ein  am  Fussende  des  Lagers 
stehender  Diener,  der  in  der  gesenkten  Linken  wahrscheinlich 
eine  Serviette  (mappa)  hält,  die  in  der  Abbildung  wie  eine 
lange  Wurst  erscheint,  reicht  ihm  mit  der  Rechten  einen 
Becher,  den  der  Mann  mit  der  Rechten  ergreift,  während 
seine  Linke  auf  dem  Rande  des  Lagers  ruht.  Bemerkens- 
werth  sind  die  beiden  auf  den  Schmalseiten  des  Grabsteins 
dargestellten  Figuren :  links  ein  dem  Beschauer  den  Rücken 
zuwendender  unbekleideter  Mann,  der  mit  beiden  Händen 
!  ein  langes,  shawlartig  zusammengelegtes  Gewandstück  hält, 
rechts  eine  unbekleidete  Frau  die  das  rechte  Bein  über  das 
linke  geschlagen,  die  rechte  Hand  auf  das  mit  einem  Kopf- 
tuch umwundene  Haupt  gelegt  hat  (also  in  der  Stellung 
behaglicher,  lässiger  Ruhe),  in  der  gesenkten  Linken  ein  Tuch 
oder  ein  kurzes  Gewandstück  hält. 

Auch  eine  griechische  Grabstele  mit  Bild  und  Inschrift 
giebt  Apian  (p.  CCCCCIII),  jedenfalls  nach  Cyriacus  von 
Ancona,  mit  der  Notiz:  cInter  Cycladum  monumenta  est'. 
Die  Inschrift,  welche  sich  wegen  der  Unsicherheit  der  Ueber- 
lieferung  nicht  mit  Sicherheit  herstellen  lässt,  ist  wiederholt 
im  Corpus  Inscriptionum  graecarum  n.  2326;  das  Relief  zeigt 

Helvetiorum'  (Mittheilungen  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich 
Band  XVI,  Abth  I)  Heft  V,  Tfl.  26,  S.  67  publicirtes  Mosaik  aus 
Avenches,  welches  eine  auf  dem  Rande  eines  Wassergefässes  sitzende 
trinkende  Gans  (oder  Schwan)  darstellt. 


158         Sitzung  der  pliilos.- philo! .  Glasse  vom  7.  März  187 4. 

eine  nach  rechts  auf  einem  Sessel  ohne  Lehne,  mit  Fuss- 
bank,  sitzende  langbekleidete  Frau  mit  einem  den  Kopf  und 
Rücken  bedeckenden  Schleier  (offenbar  die  Verstorbene, 
Syntyche  Tochter  des  Karpos) ;  sie  reicht  zum  Abschied  die 
Rechte  einer  vor  ihr  stehenden  gleichfalls  langbekleideten 
Frau  (Dienerin  oder  Amme),  welche  mit  dem  linken  Unter- 
arme einen  Theil  ihres  Gewandes  eraporhält ;  jedenfalls  trug 
sie  auf  dem  Original  ein  Wickelkind.  Hinter  dem  Sessel 
der  Frau,  denselben  mit  der  Linken  berührend ,  steht  ein 
völlig  bekleidetes  kleines  Mädchen  mit  einem  Tuche  um  den 
Kopf;  jedenfalls  ein  Töchterchen  der  Syntyche. 

Zum  Schluss  mögen  noch  kurz  zwei  kleine  Denkmäler  er- 
wähnt werden,  deren  Kenntniss  die  Herausgeber  der  Sammlung 
aus  den  hinterlassenen  Papieren  des  Conrad  Celtis  (gestorben 
am  4.  Febr.  1508)  geschöpft  haben.  Das  erste  p.  CCCLXXXV 
abgebildete  trägt  die  Ueberschrift :  cNuper  a  Con.  Cel.  inuentum 
in  plumbea  lamina  in  Stiria  in  colle,  in  quo  est  Ecclesia  circa 
Sanctum  Andream.  Anno  M.  D.D  Die  Zeichnung  der  runden 
Platte  zeigt  rechts  einen  auf  einem  Felsblock  sitzenden  nackten 
Mann,  der  beide  Hände  vor  das  Gesicht  hält;  über  seinem 
Kopfe  steht  CLOTO.  Ihm  gegenüber  sitzt  am  Boden  ein 
nackter  geflügelter  Knabe ,  der  die  rechte  Hand  auf  das 
rechte  Knie  legt,  den  linken  Arm  auf  einen  Todtenschädel, 
der  einen  Knochen  zwischen  den  Zähnen  hat,  stützt;  über 
dem  Kopfe  des  Knaben  steht  LACHESIS,  auf  der  Stirn  des 
Schädels  ATROPOS.  Im  Hintergrunde  sieht  man  zwischen 
den  beiden  Figuren  eine  blühende  Pflanze,  am  linken  Rande 
des  Bildwerkes  ein  brennendes  Feuer.  Dass  die  beigeschriebenen 
Namen  zu  der  Darstellung  durchaus  nicht  passen,  ist  auf  den 
ersten  Blick  klar;  aber  auch  die  Darstellung  selbst  ist  so 
ganz  und  gar  unantik,  dass  wir  ihre  Erfindung  unmöglich 
einem  antiken  Künstler  oder  Handwerker  zuschreiben  können. 
Meiner  Ansicht  nach  haben  wir  es  indess  hier  nicht  mit 
einer  absichtlichen   Fälschung,   sondern  mit  einer  durchaus 


Bursian:  Die  Antikensammlung  Baimund  Fuggers.         159 

willkürlichen  Restauration  eines  unkenntlich  gewordenen  antiken 
Bildwerkes  zu  thun.  Ich  vermuthe  nämlich,  dass  das  von  Celtis 
als  cplumbea  lamina*  bezeichnete  Stück  ein  stark  oxydirter 
etruskischer  Spiegel  oder  Deckel  einer  Spiegelkapsel  gewesen 
ist,  auf  welchem  von  der  eingravirten  Zeichnung  nur  noch 
einige  undeutliche  Umrisse  erkennbar  waren ;  daraus  hat  ein 
Zeichner  mit  Hülfe  einer  lebhaften,  durch  kein  Verständniss 
für  die  Antike  gezügelten  Phantasie  das  uns  durch  Apian 
aufbewahrte  seltsame  Bild  gemacht;  die  Inschriften  hat  wahr- 
scheinlich Celtis,  weil  er  auf  dem  Original  Spuren  von  Buch- 
staben bemerkte,  von  sich  aus  beigefügt. 

Die  zweite  aus  Celtis'  Papieren  stammende  Abbildung 
(p.  CCCCLI)  mit  der  Notiz:  cEpigramma  repertum  a  Con- 
rado  Celte  in  gemma  signatoria  aureo  cruci  insitum  in  mona- 
sterio  Ritisch  iuxta  Olmuntz.  Mense  lulio  anno  Domini 
*M.  D.  IUI/  zeigt  uns  in  runder  Einfassung  links  eine  am 
Boden  sitzende  geflügelte  nackte  jugendliche  Figur,  deren 
Geschlecht  nicht  sicher  zu  erkennen  ist,  mit  einem  Kranze 
ums  Haupt,  mit  der  Rechten  die  Harfe  (das  Trigonon) 
spielend ;  ihr  gegenüber  steht  ein  nackter  geflügelter  Knabe, 
welcher  eine  mit  Kopftuch  und  zwei  langen  steifen  Zöpfen 
versehene  Maske  an  dem  einen  Zopfe  in  die  Höhe  hält.  Ueber 
der  sitzenden  Figur  steht  VENVS,  über  der  Maske  IOCVS, 
über  dem  sie  haltenden  Knaben  CVPIDO.  Die  ungehörigen 
Inschriften  (wer  hat  je  eine  geflügelte  harfenspielende  Venus 
gesehn?)  sind  jedenfalls  auch  hier  eine  Beigabe  des  Celtis, 
der  sie  aus  seinem  Lieblingsdichter  Horaz  (c.  I,  2,  33  s. : 
csiue  tu  mauis,  Erycina  ridens,  quam  locus  circumuolat  et 
Cupido*  entlehnt  hat;  das  Bild  selbst  aber  ist  gewiss  antik, 
d.  h.  von  einem  antiken  geschnittenen  Steine  entnommen, 
aber  durch  einen  wenig  geschickten  Zeichner  vergrössert  und 
dabei  in  mehrfacher  Beziehung  verballhornt  werden.  Der 
antike  Steinschneider  hatte  jedenfalls  zwei  Eroten  dargestellt : 
den  einen  auf  dem  Boden  sitzend,  die  Leier  oder  allenfalls  das 


160         Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Trigonon  spielend 24),  den  anderen  eine  mit  dem  Onkos  und 
langen  Haarflechten  versehene  Maske,  die  er  vielleicht  auf 
einem  Stabe  emporhebt,  neckisch  ihm  entgegenhaltend  25). 


24)  Ueber  Darstellungen  leierspielender  Eroten  vgl.  Stephani 
Compte  rendu  de  la  commission  imperiale  archeologique  pour  l'annee 
1869,  p.  184  s.;  dazu  die  Mosaik  ausAvenches  bei  Bursian  Aventicum 
Helvetiorum  Heft  V,  Tafel  28. 

25)  Vergleiche  über  ähnliche  Motive  in  der  alten  Kunst  den 
Aufsatz  von  0.  Jahn  cUeber  ein  antikes  Gemälde  im  Besitze  des 
Malers  Ch.  Ross  in  München  (Separatabdruck  aus  der  Kieler  Monats- 
schrift 1853,  S.  7  ff.). 


Oeffentliche  Sitzung  der  k.  Akademie  der  Wissen- 
schaften 

zur  Feier  des  115.  Stiftungstages 
am  28.  März  1874. 


Der  Präsident  der  k.  Akademie  Herr  von  Döllinger 
eröffnete  die  Sitzung  mit  einer  Gedächtnissrede  auf  König 
Johann  von  Sachsen,  welche  im  Verlage  der  k.  Aka- 
demie im  Drucke  erschienen  ist. 

Hierauf  sprach  der  Classensecretär  von  Prantl: 

Die  philosophisch-philologische  Classe  verlor  im  abge- 
laufenen Jahre  durch  den  Tod  vier  ordentliche  auswärtige 
Mitglieder,  nemlich  Joseph  Franz  von  Allioli  in  Augs- 
burg, Moriz  Haupt  in  Berlin,  Theodor  von  Karajan 
in  Wien,  Eduard  von  Kau s ler  in  Stuttgart,  und  ein 
correspondirendes  Mitglied  Johann  Christoph  von  Held 
in  Baireuth. 

Die  der  heutigen  Fest-Sitzung  zugemessene  Zeit  gestattet 
nicht,  die  wissenschaftlichen  Verdienste  der  Genannten  in 
ausführlicherem  Vortrage  zu  würdigen ;  es  werden  jedoch 
diese  Nekrologe  in  Bälde  in  den  Sitzungsberichten  der  Aka- 
demie gedruckt  erscheinen. 

Dieselben  sind  (nach  der  Zeitfolge  des  Eintrittes  in 
unsere  Akademie) : 


162  OeffentUche  Sitzung  vom  28,  Mars  1874. 

Joseph  Franz  töh  Allioli 

geboren  in  Sulzbach  am  10.  August  1793  studirte  an  den 
Lyceen  zu  München  und  Amberg,  dann  an  der  Universität 
Landshut,  wo  er  in  Folge  der  gekrönten  Bearbeitung  einer 
Preisaufgabe  am  21.  Dec.  1816  promovirte;  im  gleichen 
Jahre  zum  Priester  geweiht  begab  er  sich  i.  J.  1818,  um 
die  orientalischen  Sprachen  zu  studiren,  unterstützt  durch 
ein  reichliches  Reisestipendium  zunächst  nach  Wien  und,  da 
die  staatliche  Beihilfe  in  liberalster  Weise  noch  zweimal 
wiederholt  wurde,  auch  nach  Rom  und  Paris.  Im  J.  1821 
habilitirte  er  in  Landshut  als  Docent  für  arabische  und 
aramäische  Sprache  und  wurde  i.  J.  1823  zum  ausserordent- 
lichen und  i.  J.  1824  zum  ordentlichen  Professor  der  bibli- 
schen Alterthümer  und  der  orientalischen  Sprachen  befördert, 
zu  welchen  Fächern  er  in  München,  wohin  er  i.  J.  1826  mit 
der  Universität  übersiedelte,  auch  noch  die  neutestamentiiche 
Exegese  übernahm.  Im  J.  1830  nahm  ihn  unsere  Akademie 
unter  ihre  Mitglieder  auf.  Er  trat  i.  J.  1835  von  der 
Professur  zurück  und  ging  als  Domcapitular  nach  Regens- 
burg und  von  dort  i.  J.  1838  als  Domprobst  nach  Augs- 
burg; in  den  Jahren  1850,  1852  und  1853  finden  wir  ihn 
als  Mitglied  der  Kammer  der  Abgeordneten.  Er  starb  in. 
Augsburg  am  22.  Mai  1873.  Seine  literarische  Thätigkeit 
begann  er  mit  der  Veröffentlichung  der  genannten  Preis- 
schrift, nemlich  „Aphorismen  über  den  Zusammenhang  der 
hl.  Schriften  des  alten  und  neuen  Testamentes"  (1818); 
dann  folgten:  Lob  der  hebräischen  Sprache  (1821),  Ein 
hebräisches  Sonett  und  eine  arabische  Kasside  (1825),  Unter- 
dessen hatte  er  sich  auch  mit  einem  Gebiete,  welches  gegen 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  hauptsächlich  durch  den  Wiener 
Professor  Joh.  Jahn  in  die  Literatur  der  katholischen  Theologie 
eingeführt  worden  war,  nemlich  mit  der  biblischen  Archäologie 
näher  beschäftigt,   und   nachdem   Jahn's    hierauf  bezügliche 


v.  Prantl:  Nekrolog  auf  Joseph  Frans  von  Allioli.         163 

Schriften,  theilweise  auch  nach  dessen  Tode  (1816)  in  mehreren 
Bänden  erschienen  waren  (1797  u.  1805 — 25),  veröffentlichte 
auch  Allioli:  Biblische  Alterthümer  zu  Vorlesungen  (1.  Band: 
Häusliche  Alterthümer  der  Hebräer  nebst  biblischer  Geo- 
graphie. 1825);  den  gleichen  Gegenstand  nahm  er  noch 
später  wieder  auf  in  seinem  Handbuch  der  biblischen  Alter- 
thumskunde  unter  Mitwirkung  von  Gratz  und  Haneberg 
(1844).  Seine  Vorlesungen  über  Einleitung  in  die  Bücher 
des  alten  Testamentes  erschienen  durch  einen  seiner  Schüler 
(Haarlander)  in  lithographischer  Vervielfältigung  (1831  f.) 
und  aus  seiner  Thätigkeit  als  Universitäts  -  Lehrer  gingen 
seine  akademischen  Reden  an  angehende  Theologen  (1830) 
hervor.  In  den  Jahren  1830—35  erschien  die  erste  Auf- 
lage seiner  Uebersetzung  des  alten  und  neuen  Testamentes 
mit  kurzen  Anmerkungen  (in  6  Bänden,  eigentlich  als  3.  Auf- 
lage des  Braun-Feder'schen  Bibelwerkes),  für  welche  auf 
Betreiben  des  Nuntius  D'Argenteau  von  Papst  Pius  VIII  die 
Druckerlaubniss  ertheilt  worden  war;  da  diese  damals  die 
einzige  deutsche  Bibelübersetzung  war,  welche  sich  einer 
päpstlichen  Approbation  rühmen  konnte,  ist  es  erklärlich, 
dass  sie  von  den  meisten  Ordinariaten  empfohlen  wurde 
und  in  ihren  vielen  späteren  Auflagen  die  recipirte  Grund- 
lage fast  aller  katholischen  Schul-  und  Religions-Bücher 
blieb.  Im  Zusammenhange  mit  dem  Bibelwerke  steht  Allioli's 
Karte  des  biblischen  Schauplatzes  (1842),  sowie  desselben 
Ausführliche  Anmerkungen  zur  hl.  Schrift  (1855)  und  Bibli- 
sches Wörterbuch  (1856).  Ferner  schrieb  er:  Ueber  die 
Risalet  des  Koschairi  (1837  in  den  Denkschriften  unserer 
Akademie),  Ueber  die  inneren  Motive  der  canonischen  Hören 
(1847  u.  1848),  Die  Bronze-Thüre  des  Domes  zu  Augsburg 
(1853  im  Jahresbericht  des  hist.  Vereines  f.  Schwaben),  Die 
juristische  Persönlichkeit  des  Domcapitels  (1868).  Auch  in 
dem  von  der  Wissenschaft  etwas  abgelegenen  Gebiete  des 
Erbaulichen  bethätigte  er  sich;  dahin  gehören:  Leben  Jesu, 


164  Oeff entliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

eine  Evangelien-Harmonie  (1840),  Bild  einer  wahren  Kloster- 
frau (1861),  Glückseligkeitslehre  (1866  u.  1868),  Nicht  und 
Nichts  (1867),  Die  Klöster  auch  Heilanstalten  für  die  Welt 
(1868);  seine  Predigten  erschienen  1847  und  eine  Neue 
Folge  derselben  1869. 


Moriz  Haupt 

geboren  am  27.  Juli  1808  in  Zittau,  wo  sein  literarisch 
gebildeter  und  auch  schriftstellerisch  thätiger  Vater  das  Amt 
eines  Bürgermeisters  führte  (s.  Gust.  Freitag,  Bilder  aus  d. 
deutsch.  Vergangenheit,  Bd.  IV,  S.  325  ff.),  studirte  in  Leipzig 
von  1826 — 30  hauptsächlich  unter  Gotfr.  Hermann's  Leitung 
und  habilitirte  dort  1837  als  Privatdocent;  i.  J.  1838  wurde 
er  ausserordentlicher  Professor  und  1843  übertrug  ihm  die 
Regierung  den  neu  errichteten  ordentlichen  Lehrstuhl  für 
deutsche  Sprache  und  Literatur.  Um  jene  Zeit  vermählte 
er  sich  mit  der  Tochter  Gotfr.  Hermann's.  Im  J.  1848 
wurde  er  Mitglied  der  k.  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften, in  welcher  er  nach  Hermann's  Tod  (1850)  das 
Secretariat  der  histor.-philolog.  Classe  übernahm.  Das  Jahr 
1848  aber  zog  ihn  auch  in  die  politische  Bewegung,  und 
als  Mitglied  des  deutschen  Vereines  nahm  er  in  den  be- 
treffenden Fragen  mit  Entschiedenheit  Stellung,  wobei  er  auch 
gegen  den  von  der  Linken  bisweilen  ausgeübten  Terrorismus 
sich  aussprach.  Journalistische  Angriffe  auf  Hr.  v.  Beust, 
welche  von  Haupt  und  Th.  Mommsen  ausgegangen  waren, 
gaben  die  äussere  Veranlassung  zur  Einleitung  einer  Unter- 
suchung, welche  allerdings  mit  Freisprechung  endigte;  den- 
noch wurde  i.  J.  1850  Haupt  zusammen  mit  Mommsen  und 
Otto  Jahn  von  der  Professur  entlassen,  sowie  schon  1849  Karl 
Biedermann   das    gleiche   Schicksal   hatte   erfahren   müssen. 


v.  Prantl:  Nekrolog  auf  Moriz  Haupt.  165 

Als  1853  in  Berlin  K.  Lachmann  gestorben  war,  musste 
zweifellos  Haupt  als  sein  geeignetster  Nachfolger  erscheinen, 
und  derselbe  folgte  dem  an  ihn  ergangenen  Rufe.  Er  ver- 
trat dort  zunächst  sowohl  die  classische  als  auch  die  ger- 
manische Philologie;  nachdem  es  ihm  aber  gelungen  war, 
die  Berufung  MüllenhofFs  zu  veranlassen ,  zog  er  sich  von 
den  germanistischen  Vorlesungen  zurück.  In  der  Berliner 
Akademie,  welcher  er  seit  1854  angehörte,  wählte  ihn  (1861) 
die  philos.  histor.  Classe  an  Stelle  Böckh's  als  ihren  Secretär; 
unsere  Akademie  nahm  ihn  i.  J.  1854  in  die  Reihe  ihrer 
auswärtigen  Mitglieder  auf.  Haupt  starb  unerwartet  schnell 
am  5.  Febr.  1874,  nachdem  er  erst  am  vorhergehenden 
Tage  seine  Vorlesung  wegen  Unwohlseins  hatte  verlassen 
müssen. 

Haupt  war,  wie  er  selbst  erzählt  (Antrittsrede  in  der 
Berliner  Akademie  1854),  in  seiner  Jugend  zunächst  durch 
die  damals  emporwachsende  germanistische  Wissenschaft 
mächtigst  angeregt  worden  und  wendete  sich  hernach  zum 
classischen  Alterthume  im  Sinne  der  „kritischen  Philologie" 
Gottfr.  Hermann's.  Diesen  beiderseitigen  Gebieten,  welche 
er  in  seinen  Entwicklungs- Jahren  gepflegt  hatte,  blieb  er 
auch  Zeit  seines  Lebens  in  seiner  literarischen  Thätigkeit 
treu.  Sowie  er  die  Wechselbeziehungen  zwischen  deutscher 
und  classischer  Philologie  in  einer  Festrede  der  sächsischen 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  (1848)  von  den  Gesichts- 
puncten  der  Grammatik,  der  epischen  Poesie  und  der  Mytho- 
logie aus  näher  darlegte,  so  hatte  er  in  früheren  Jahren 
selbst  Parallel-Vorlesungen  über  die  homerischen  Gesänge  und 
das  Nibelungenlied  gehalten.  Auch  die  spätesten  Ausläufe 
des  Alterthumes  sowie  die  patristische  Literatur  und  die 
Renaissance-Periode  zog  er  in  den  Kreis  seiner  Studien,  und 
nicht  minder  wendete  er  dem  Gebiete  des  Romanischen  sein 
Interesse  zu  (der  Plan,  die  altfranzösischen  Lieder  des 
16.  Jahrh.  herauszugeben,  blieb  allerdings  unausgeführt); 
[1874,  2    Phil.  bist.  Cl.J  12 


166  OcffentUche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

dessgleichen  war  er  Kenner  der  modernen  Sprachen,  selbst 
der  böhmischen,  so  dass  er  z.  B.  bei  Aufdeckung  der  be- 
kannten tschechischen  Literatur-Fälschungen  ein  Mit-Verdienst 
beanspruchen  konnte.  Von  seinen  literarischen  Leistungen 
gehören  dem  Gebiete  der  classischen  Philologie  an:  Quae- 
stiones  Catullianae  (1837,  Habilitationsschrift),  eine  Ausgabe 
der  Halieutica  des  Ovidius  zusammen  mit  den  Cynegetica 
des  Gratius  Faliscus  und  des  Nemesianus  (1838),  Obser- 
vationes  criticae  (1841),  über  das  sog.  Epicedion  Drusi, 
d.  h.  eine  dem  Ovidius  oder  dem  Albinovanus  zugeschriebene 
Consolatio  ad  Liviam  (1850  Leipziger  Rectorats-Programm, 
in  welchem  er  das  genannte  Schriftwerk  als  ein  Erzeugniss 
der  Renaissance-Zeit  nachzuweisen  suchte),  eine  Ausgabe  des 
Horatius  (1851),  sowie  der  Metamorphosen  des  Ovidius  (1853, 
letztere  war  das  einzige ,  was  er  selbst  zu  der  von  ihm 
und  Sauppe  gegründeten  Weidmann'schen  Classiker-Samm- 
lung  beitrug),  De  carminibus  bucolicis  Calpurnii  et  Nemesiani 
(1854,  Berliner  Antritts-Prograinm),  eine  Ausgabe  der  Ger- 
mania des  Tacitus  (1855),  der  Werke  des  Vergilius  (1858), 
sowie  des  Catullus  zusammen  mit  Tibullus  und  Propertius 
(1861).  Der  germanischen  Philologie,  betreffs  deren  Ge- 
bietes nicht  unerwähnt  bleiben  möge,  dass  Haupt  auch  bei 
Entstehung  des  Planes  des  Grimm'schen  Wörterbuches  mit- 
betheiligt  war,  gehören  an:  Altdeutsche  Blätter  (2  Bände 
1835—40,  zusammen  mit  Heinr.  Hoffmann  herausgegeben), 
Zeitschrift  f.  deutsches  Alterthum  (seit  1841,  in  derselben 
sind  von  ihm  selbst  veröffentlicht:  Meier  Helmbrecht,  die 
Marter  der  hl.  Margaretha,  die  Warnung,  Bonus,  Servatius, 
Pantaleon ,  Oswalt) ,  ferner  die  Ausgaben :  Hartmann  von 
Aue,  Erec  (1839).  Rudolph  von  Ems,  der  gute  Gerhard 
(1840),  Hartmann  von  Aue,  Lieder  und  Büchlein  und  der 
arme  Heinrich  (1842),  Konrad  von  Würzburg,  Engelhart 
(1844),  der  Winsbecke  und  die  Winsbeckin  (1845),  Gott- 
fried von  Neifen  (1851),  Walther  von  der  Vogelweide  (1853), 


v.  Prantl:  Nekrolog  auf  Moriz  Haupt.  167 

Des  Minnesangs  Frühling  (1857,  begonnen  von  Lachmann, 
vollendet  von  Haupt),  Neidhart  von  Reuenthal  (1858),  Moriz 
von  Craon  (1871,  zur  Festfeier  Homeyer 's),  Von  dem  übelen 
Weibe  (1871);  hiezu  noch:  Bericht  über  das  germanische 
Museum  (in  der  „Süddeutschen  Presse"  1868,  19.  Aug.). 
Als  Mitglied  der  Berliner  Akademie  hielt  er  —  abgesehen 
von  offiziellen  Festreden  —  häufig  in  den  Classensitzungen 
Vorträge,  deren  Mehrzahl  jedoch  ungedruckt  blieb1).  Ausser- 
dem hatte  er  die  Aufgabe,  in  jedem  Semester  dem  Lections- 
Kataloge  der  Universität  ein  Programm  beizugeben ,  bei 
welcher  Gelegenheit  er  sowohl  verschiedene  literärgeschicht- 
liche  Funde  veröffentlichte  als  auch  insbesondere  zahlreiche 
Einzeln-Steilen  antiker  Autoren  kritisch  besprach  und  hiebei 
den  Beweis  lieferte,  dass  er  nicht  bloss,  —  wie  es  im  Hin- 
blicke auf  seine  Glassiker- Ausgaben  den  Anschein  haben 
könnte,  —  mit  der  römischen  Literatur  innigst  vertraut 
war,  sondern  in  gleichem  Umfange  sich  auch  mit  den  griechi- 
schen Autoren  beschäftigte2).     Diese  den  Umkreis  der  antiken 


1)  Gedruckt  sind :  Ueber  Hugo  von  Trimberg's  Kegistrum  mul- 
torum  auctorum  und  über  den  althochdeutschen  Leich  des  hl.  Georg 
(1854),  Ueber  Huschke's  Erklärung  einer  Inschrift  zu  Arolsen  (1855), 
Ueber  ein  althochdeutsches  Gedicht  (1856),  Ueber  die  Gedichte  Culex 
und  Ciris  (1858),  Ueber  die  Historia  Albani  Martyris  (1860),  Sechs 
Briefe  Bentley's  (1860),  Zu  Statius  (1861),  Ueber  die  Erzählungen 
des  Honorius  (1862),  Ueber  eine  christliche  Inschrift  (1865),  Ueber 
die  Handschriften  von  Arborea  (1870).  Ungedruckt  blieb  auch  die 
Gedächtnissrede  auf  Jac.  Grimm. 

2)  In  diesen  Programmen  sind  besprochen  einzelne  Stellen  aus : 
Aeschylus,  Aristophanes,  Athenäus,  Euripides,  Herodot,  Homer,  Kalli- 
machus,  Longinus,  Sophokles;  Ammianus  Marcellinus,  Catullus,  Cicero, 
Ennius,  Fronto,  Gellius,  Lucilius'  Aetna,  Manilius,  Ovidius,  Plautus, 
Propertius,  Seneca,  Vergilius ;  ferner  aus  dem  späten  Alterthume  der 
Grammatiker  Irenäus,  Helladius,  Anonymus  de  fluminibus  paradisi, 
Carmen  de  viribus  herbarum,  Liber  monstrorum  de  diversis  generibus, 
Grunnii  Corocottae  porcelli  testamentum,  ein  griechisch-lateinisches 
Gesprächbuch  aus  dem  9.  Jahrh .;  sodann:  Brief  des  Coluzzi  an  Pas- 

12* 


168  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

Literatur  umspannende  Allseitigkeit  tritt  noch  mehr  in  jenen 
Centurien  kritischer  Bemerkungen  und  zahlreicher  Conjecturen 
hervor,  welche  er  in  der  Zeitschrift  „Hermes"  veröffentlichte3). 
Endlich  hat  er  Einiges  aus  G.  Hermann's  Nachlass  publicirt 
und  neue  Auflagen  Lachmann'scher  Arbeiten  besorgt4). 

Haupt  hat  —  mit  Ausnahme  der  Einleitung  zu  Ovid's 
Metamorphosen  —  in  keinem  der  von  ihm  betretenen  Einzeln- 
Gebiete  irgend  eine  zusammenfassende  Darstellung  versucht, 
noch  auch  durch  weittragende  Forschungs-Ergebnisse  für  die 
Mit-  oder  Nach- Welt  Belehrung  gegeben,  sondern  sich  stets 

quino,  desgleichen  des  Grynaeus  an  Melanchthon,  ein  Brixener  Frag- 
ment einer  Vorrede  zu  Ulfilas,  eine  Stelle  aus  Walther  v.  d.  Vogel- 
weide, die  lyrischen  Gedichte  Kaiser  Heinrich's  VI. 

3)  Stellen  aus:  Achilles  Tatius,  Aelianus,  Aeneas  Taktikus, 
Aeschylus,  Aesop,  Anakreon,  Anthologia  graeca,  Apollonius  Rhodius, 
Archilochus,  Aristides,  Aristophanes,  Arrianus,  Athenäus,  Chariton, 
Comici  graeci,  Dinarchus,  Dionysius  Halikarn.,  Etymologicum  Magnum, 
Euripides,  Galenus,  Herodot,  Hesiod,  Hesychius,  Hippiatrici,  Homer, 
Longinus,  Lykurgus  g.  Leokr.,  Photius,  Plato,  Plutarch,  Pollux,  Poly- 
bius,  Sextus  Empir.,  Sophokles,  Stephanus  Byzant.,  Stobäus,  Theognis, 
Theophrast,  Thukydides,  Tzetzes,  Xenophon ;  Anthologia  latina,  Apu- 
lejus,  Ausonius,  Avianus,  Boethius,  Calpurnius,  Capitolinus,  Catullus, 
Charisius,  Cicero,  Claudianus,  Claudius  Mamert.,  Columella,  Curtius, 
Ennodius,  Exuperantius,  Eutropius,  Firmius  Maternus,  Florus,  Gellius, 
Germanicus  Phän.,  Grammatici  lat.,  Gromatici,  Horatius,  Isidorus, 
Justinus,  Juvenalis,  Lucanus,  Lucretius,  Martialis,  Mela,  Minucius 
Felix,  Nonius,  Ovidius,  Persius,  Petronius,  Plautus,  Plinius,  Propertius, 
Quintilianus,  Rutilius  Lupus,  Seneca,  Sidonius  Apoll.,  Spartianus, 
Statius,  Symmachus,  Tacitus,  Terentius,  Valerius  Flaccus,  Varro, 
Vaticana  fragm.,  Vellejus,  Vergilius;  Acta  Sanctorum  Combef.,  Ambro- 
sius,  Arnobius,  Dio  Chrysost.,  Gregorius  Naz.,  Hieronymus,  Tatianus, 
Tertullianus ;  Ermenrich  vita  S.  Galli;  Florentiner  Digesten;  Lob- 
reden auf  König  Theodhad. 

4)  Aus  Hermann's  Nachlass:  Ausgabe  des  Aeschylus  (1852)  und 
des  Bion  u.  Moschus  (1849);  Lachmann's  Betrachtungen  über  Homers 
Ilias  mit  Zusätzen  von  Haupt  (3.  Aufl.  1874);  neue  Auflagen  von 
Lachmann's  Ausgaben  des  Nibelungenliedes,  des  Wolfram  v.  Eschenb. 
und  des  Walther  v.  d.  Vogelw. 


v.  Prantl:  Nekrolog  auf  Moriz  Haupt.  169 

nur  in  Text- Ausgaben  und  Text-Kritik  bewegt.  Aber  inner- 
halb dieser  Beschränkung  auf  eine  Verfahrungsweise  der 
kritischen  Philologie  war  er,  was  den  Stoff  betrifft,  durch 
eine  ausgedehnteste  bis  in  das  Einzelne  der  Handschriften- 
kunde sich  erstreckende  Literatur-Kenntniss  und  durch  eine 
seltene  Gedächtnissgabe  unterstützt,  und  bezüglich  der  for- 
mellen Behandlung  durch  Feinheit  des  Gefühles,  Schärfe 
der  Beobachtung  und  Umsicht  der  Erwägung  geleitet,  so 
dass  er  sowohl  die  charakteristischen  Eigentümlichkeiten 
der  Schriftsteller  in  Stil  und  Metrik  als  auch  das  Verhält- 
niss  des  Wortschatzes,  über  welchen  dieselben  verfügen,  zum 
Gesammt-Reichthume  der  Sprache  und  nicht  minder  alle 
möglichen  Beziehungen  auf  das  Sachliche  eindringlich  zu 
erfassen  verstand.  Hiedurch  durfte  er  ein  berechtigtes  Ge- 
fühl einer  gewissen  Ueberlegenheit  in  sich  tragen  und  es 
versuchen,  gleichsam  als  Virtuose  der  Kritik  an  den  ver- 
schiedenartigsten Autoren  seine  Kunst  zu  erproben,  wenn 
auch  zuweilen  die  herbe  Schärfe  der  Beurtheilung  der  Mei- 
nungen Anderer  mit  einer  kühnen  Verwegenheit  der  selbst- 
eigenen Text-Aenderungen  gleichen  Schritt  hielt.  Als  ein 
kaum  zu  übertreffendes  Vorbild  im  Gebiete  der  lateinischen 
und  germanischen  Literatur  galt  ihm  Lachmann,  und  was 
dieser  irgend  geäussert  oder  behauptet  hatte,  fand  an  Haupt 
den  wärmsten,  ja  zuweilen  leidenschaftlichen  Vertheidiger 
( —  Veranlassung  zur  Entstehung  der  Zeitschrift  „Ger- 
mania" — ).  Eine  entschiedenste  Festigkeit  des  Auftretens 
und  ein  gewisses  aristokratisches  Selbstgefühl  verliehen  allen 
Leistungen  Haupt's  das  Gepräge  einer  wuchtigen  Persön- 
lichkeit ,  und  Respect  oder  selbst  Furcht  vor  ihm  hegten 
sicher  auch  diejenigen,  welche  nicht  in  Allem  seiner  Meinung 
waren.  (Ueber  Haupt  äusserten  sich :  Gust.  Freytag  in  ,,Im 
neuen  Reiche",  1874,  S.  347  ff.  und  Scherer  in  „Wiener 
deutsche  Zeitung",  1874,  Nr.  765  u.  768.) 


170  Oeff entliehe  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

Georg  Theodor  Ritter  von  Karajan. 

Die  Familie  Karajan  stammt  aus  Karajanis  bei  Koschani 
in  Macedonien,  von  wo  der  Vater  unseres  Gelehrten  vor  den 
Verfolgungen,  welche  die  Türken  verübten,  nach  Triest  floh; 
eine  Stelle  bei  einem  Wiener  Kaufmanne,  welcher  die  Leip- 
ziger Messen  beschickte,  gab  ihm  Gelegenheit,  in  Chemnitz 
eine  grosse  Spinnerei  einzurichten,  und  i.  J,  1792  in  den 
Reichsadel  erhoben  kehrte  er  nach  Wien  zurück.  Dort  wurde 
Georg  Theodor  am  22.  Januar  1810  geboren.  Dieser  studirte 
am  Gymnasium  und  an  der  philosophischen  Fakultät  zu 
Wien  und  fand  hierauf  (1829)  eine  Verwendung  im  Hof- 
kriegsrathe  sowie  (1832)  im  Archive  des  Finanzministeriums. 
Seit  d.  J.  1832  aber  nahm  er  durch  Privatstudium  den 
unterbrochenen  Faden  wissenschaftlicher  Fortbildung  wieder 
auf,  wobei  er  sich  hauptsächlich  mit  dem  Altdeutschen  be- 
schäftigte, in  welches  er  durch  Carl  August  Hahn  eingefühlt 
wurde.  Nachdem  er  hierauf  die  schriftstellerisch  gelehrte 
Laufbahn,  welcher  er  Zeit  seines  Lebens  treu  blieb,  bereits 
betreten  hatte,  wurde  er  (1841)  als  Scriptor  an  der  Hof- 
bibliothek angestellt.  Im  J.  1848  sendete  ihn  das  Vertrauen 
seiner  Mitbürger  in  das  Parlament,  wo  er  sich  an  das  rechte 
Centrum,  d.  h.  die  sog.  Partei  Gagern  anschloss.  Als  ihm 
in  Wien  die  Professur  der  deutschen  Sprache  angetragen 
wurde,  lehnte  er  zunächst  ab  und  empfahl  für  diesen  Lehr- 
stuhl Wackernagel,  und  erst  als  die  Verhandlungen  mit  diesem 
im  letzten  Augenblicke  scheiterten,  nahm  Karajan  (Jan.  1850) 
die  Stelle  an,  wobei  er  zugleich  von  der  Hofbibliothek  zurück- 
trat; jedoch  bald  musste  er  erfahren,  dass  confessionelle 
Engherzigkeit  ihm  wegen  seines  griechisch-nichtunirten  Be- 
kenntnisses den  Zutritt  zu  den  akademischen  Ehrenämtern 
verwehrte,  und  er  liess  sich  daher  (Sept.  1850)  von  der 
Professur  entheben.  Dafür  trat  er  wieder  an  die  Hof- 
bibliothek ein,  wo  er  (1852)  erster  Scriptor  und  später  (1857) 


v.  Prantl:  Nekrolog  auf  Gg.  Th.  Bitter  von  Karajan.        171 

erster  Custos  wurde,  in  welcher  Stellung  er  durch  seine 
Zuvorkommenheit  sich  die  fremden  Gelehrten  zu  wärmsten 
Danke  verpflichtete.  Die  historisch-philosophische  Classe 
der  i.  J.  1847  gegründeten  Akademie  zu  Wien  zählte  ihn 
seit  1848  zu  ihren  hervorragendsten  Mitgliedern  und  über- 
trug ihm  bald  den  Vorsitz;  i.  J.  1851  wurde  er  Vicepräsident 
der  Akademie  und  von  1866  bis  Aug.  1869  führte  er  das 
Präsidium  derselben.  Sowie  ihn  schon  früher  die  philo- 
sophische Facultät  zu  Kiel  (auf  Müllenhofi's  Antrag)  zum 
Ehren-Doctor  creirt  hatte,  so  nahm  ihn  auch  die  Berliner 
Akademie  (auf  J.  Grimm's  Antrag)  unter  ihre  correspon- 
direnden  Mitglieder  auf,  und  unsere  Akademie  wählte  ihn 
(1859)  als  auswärtiges  Mitglied.  Im  April  1867  trat  er  in 
das  Herrenhaus  ein,  wo  er  sich  der  Verfassungs-Partei  an- 
schloss.     Er  starb  in  Wien  am  28.  April  1873. 

Karajan ,  ein  Mann  von  schlichtem  Wesen,  tadellosem 
unabhängigen  Charakter  und  liebenswürdiger  Bescheidenheit, 
war  eine  Zierde  der  österreichischen  Gelehrtenwelt,  welche 
mit  Verehrung  sich  um  ihn  schaarte.  Seine  äusserst  gün- 
stigen Vermögens-Verhältnisse  gestatteten  ihm  die  Befriedig- 
ung der  edlen  Leidenschaft,  eine  reiche  Bibliothek  und  son- 
stige historische  Sammlungen  anzulegen  (er  liess  z.  B.  zur 
Zeit  der  baulichen  Veränderungen  Wien's  noch  Zeichnungen 
der  zum  Abbruche  bestimmten  Gebäude  anfertigen),  sowie 
im  geselligen  Verkehre  wissenschaftliches  Streben  zu  befördern. 
Dass  er  im  Wiener  Alterthums-Vereine  den  Vorsitz  führte, 
war  selbstverständlich ;  eine  „historische  Dienstags-Gesellschaft" 
verbreitete  unter  seiner  Leitung  den  Sinn  für  Detail-Studien 
der  österreichischen  Geschichte,  regelmässiger  Wochen-Ver- 
kehr führte  ihn  mit  Ferd.  Wolf,  Münch-Bellinghausen  und 
Lenau  zusammen.  Sowie  er  bereits  vor  der  Gründung  der 
kaiserlichen  Akademie  in  einer  gedrückteren  Zeit  das  Band 
der  Wissenschaft,  welches  alle  deutschen  Männer  umschlingt, 
in  seinen   heimathlichen  Kreisen   festgehalten  und  gekräftigt 


172  Oeff  entliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

hatte,  so  blieb  er  stets  auch  ausserhalb  Oesterreichs  durch 
literarische  Beziehungen  oder  freundschaftliche  Bande  mit 
hervorragendsten  Männern  verknüpft,  z.  B.  mit  Böhmer, 
Lachmann,  Otto  Jahn,  Uhland,  Jac.  Grimm,  Schindler,  Haupt, 
Wattenbach,  Dümmler  u.  A. 

Seine    literarischen    Leistungen    sind   nach  ihrer    Zeit- 
folge: Beiträge  zur  Geschichte  der  landesfürstlichen  Münzen 
im    Mittelalter    (1838).       Von   den    siben    Slafären   (1839). 
Frühlingsgabe  für  Freunde  älterer  Literatur  (1839,  2.  Aufl. 
unter  d.  Titel  „D.  Schatzgräber"  1842).     Kritische  u.  histor. 
Anmerkungen  zur  Lachmann'schen  Ausgabe  von  Ulr.  v.  Lichten- 
stein's  Frauenlob  (1841).     Michael  Behaim's  Buch  von  den 
Wienern  (1843).      Seifried   Helbling   (in   Haupt's  Zeitschrift 
1844).     Deutsche   Sprachdenkmale   des    12.   Jahrh.   (1846). 
Zehn  Gedichte  zur  Geschichte  Oesterreichs  u.  Ungarns  (1849). 
Wolfgang   Schmölzl's   Lobspruch    der    Stadt    Wien    (1849). 
Mittelhochdeutsche   Grammatik.    1.  Theil  (1850).     Zur  Ge- 
schichte  des   Concils   von  Lyon  (1850).      Heyrenbach's  An- 
merkungen  über    die   Tabula   Peutingeriana   (1852).      Ver- 
brüderungsbuch  des    Stiftes    St.  Peter  in   Salzburg   (1852). 
Ueber   zwei  Bruchstücke   eines   deutschen    Gedichtes   aus  d. 
13.  Jahrh.  (1854).     üeber  Heinrich  den  Teichner  (1854  f.). 
Joh.  Tichtel's  Tagebuch  v.  1477—95    (neben   anderem  der- 
gleichen im  1.  Baude  der  Fontes  rerum  austriacarum.  1855.). 
Festrede  bei  d.  feierl.  Uebernahme  des  Univ.-Gebäudes  durch 
die    Akademie    (1857).      Zwei    bisher   unbekannte   deutsche 
Sprachdenkmale   aus  heidnischer   Zeit   (ein  althochdeutscher 
Hundesegen.  1858).     Kaiser   Maximilians  I.   geheimes  Jagd- 
buch (1858).     Maria  Theresia  u.  Graf  Sylva  Tarouca  (Fest- 
rede 1859).     Kleinere  Quellen  z.  Gesch.  Oesterreichs  (1859). 
Bericht  über  die  Thätigkeit  d.  histor.  Commission  (1860  u. 
1862,  nemlich  über  zwei  Gedichte  Walther's  v.  d.  Vogelweide 
und  über  eine  Handschrift    der  Reimchronik  Ottacker's,  die 
beabsichtigte  Herausgabe  der   letzteren   blieb  unausgeführt). 


v.  Prantl:  Nekrolog  auf  Gg.  Th.  Bitter  von  Karajan.       173 

Haydn  in  London  (1861).  Aus  Metastasio's  Hofleben  (1861). 
Die  alte  Kaiserburg  in  Wien  vor  d.  J.  1500  (1863).  Ueber 
den  Leumund  der  Oesterreicher,  Böhmen  und  Ungarn  in  d. 
heimischen  Quellen  d.  Mittelalters  (Festrede  1863).  Maria 
Theresia  u.  Joseph  II.  während  d.  Mitregentschaft  (Festrede 
1865).  Abraham  a  Sancta  Clara  (1867).  Kaiser  Leopold  I. 
u.  Peter  Lambeck  (1868).  Endlich  auch  war  Karajan  thätig 
bei  der  Herstellung  des  Handschriften-Kataloges  der  Wiener 
Bibliothek  (seit  1864  bis  zum  6.  Bande). 

In  dieser  reichen  schriftstellerischen  Thätigkeit  macht 
sich  vor  Allem  der  Grundzug  bemerklich,  dass  Karajan  nach 
innerster  Neigung  vom  Dufte  des  heimathlichen  Alterthumes 
sich  angezogen  fühlte,  und  in  der  Veröffentlichung  zahlreicher 
unbekannter  Quellen  liegt  ein  bleibendes  Verdienst,  welches 
er  sich  um  die  historische  Wissenschaft  erwarb.  Hierin 
ragen  die  Schrift  über  den  Leumund  der  Oesterreicher 
und  die  Herausgabe  des  Salzburger  Verbrüderungsbuches 
als  köstliche  Fundgruben  weithvollster  linguistischer  und 
geschichtlicher  Schätze  ganz  besonders  hervor.  Aber  auch 
die  Methode,  in  welcher  er  solchen  Stoff  publicirte  und 
bearbeitete,  verdient  hohe  Anerkennung.  Mit  der  liebevollsten 
Hingabe  an  den  Gegenstand  verband  sich  die  strengste  philo- 
logische Genauigkeit;  Sauberkeit  und  Ordnung  sind  eine 
wohlthuende  Zierde  all  seiner  Arbeiten.  Handschriftenkunde 
und  alle  Forderungen,  welche  sich  an  dieselbe  anschliessen, 
büßten  eine  Grundlage  bei  Herausgabe  der  Inedita,  und 
in  der  Vorrede  zu  Heinrich  dem  Teichner  sprach  er  sich 
auch  theoretisch  über  die  Art  und  Weise  aus,  in  welcher 
ältere  Sprachschätze  verwerthet  werden  sollen.  Die  den 
Ausgaben  beigefügten  Erklärungen  beruhen  auf  einer  Fülle 
topographischer  und  genealogischer  Kenntnisse,  und  in  den 
trefflichen  Einleitungen  hat  Karajan  fürsorglich  einer  jeden 
weiteren  Benützung  der  neu  erschlossenen  Schätze  nach  allen 
möglichen  Seiten  vorgearbeitet.     Sein  Heinrich  der  Teichner 


174  Oeff entliehe  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

und  grösstentheils  auch  sein  Abraham  a  St.  Clara  sind 
wahrhaft  Vorbilder  für  die  exegetische  und  literar-geschicht- 
liche  Behandlung  derartiger  Literatur-Erscheinungen.  (Ueber 
Knrajan  äusserten  sich:  Heinzel  in  Wiener  Abendpost,  1873, 
Nr.  128;  Dümmler  in  Berliner  National-Zeitung,  1873,  Nr. 
211;  A.  Mayer  in  Blätter  d.  Vereins  f.  Landeskunde  v. 
Niederösterreich,   1873,  S.  88  ff.) 


Eduard  yoü  Kausler 

geboren  am  20.  August  1801  in  Winnenden  besuchte  als 
Studirender  der  Rechtswissenschaft  die  Universitäten  Tübingen, 
Berlin  und  Göttingen;  in  Berlin  aber  wurde  er  zugleich 
durch  Valentin  Schmidt  in  das  Studium  der  mittelalterlichen 
Poesie  eingeführt.  Im  J.  1826  fand  er  eine  Anstellung  am 
k.  württembergischen  Haus-  und  Staats-Archive  in  Stuttgart 
zunächst  als  Assistent  und  rückte  dort  zum  Archivare,  (1840) 
zum  Archivrathe  und  (1866)  zum  Vicedirector  vor.  Bei 
Gründung  des  rühmlichst  bekannten  literarischen  Vereines 
zu  Stuttgart  (1839)  übte  er  eine  hervorragende  Mitwirkung 
aus.  Schon  i.  J.  1829  hatte  Kausler  zu  wissenschaftlichen 
Zwecken  Paris  besucht  und  mit  einem  zweiten  dortigen  Auf- 
enthalte (1864)  verband  er  eine  Reise  nach  London;  übrigens 
pflegte  er  in  jedem  Herbste  durch  ausgedehnte  Gebirgsreisen 
Erholung  zu  suchen  (er  gehörte  z.  B.  zu  den  damals  noch 
wenigen  Besteigern  des  Monte  Rosa).  Seine  literarischen 
Verdienste  fanden  äussere  Anerkennung,  indem  ihn  die  Ge- 
sellschaft für  ältere  deutsche  Geschichtskunde,  das  archäo- 
logische Institut  zu  Lüttich  und  die  Maatschapij  der  neder- 
landsche  Letterkunde  in  Leyden  zu  ihren  Mitgliedern  er- 
nannten; unsere  Akademie  wählte  ihn  i.  J.  1867  als  aus- 
wärtiges Mitglied;  auch  wurden  ihm  der  württembergische 
Kronorden,  der  bayerische  Michaelsorden  und  der  preussische 


v.  I'rantl:  Nekrolog  auf  Eduard  von  Kausler.  175 

rothe  Adlerorden  III.  Cl.  verliehen.     Er  starb  nach  längerem 
Siechthume  in  Stuttgart  am  27.  Aug.   1873. 

Kausler  veröffentlichte :  Les  livres  des  assises  et  des 
usages  du  reaume  de  Jerusalem.  1.  und  einziger  Band  1839 
(die  Vollendung  unterblieb,  da  gleichzeitig  zwei  französische 
Concurrenz-Unternehmen  —  von  Foucher  und  von  Beugnot 
—  erschienen).  Geschichte  der  Kreuzzüge  und  des  König- 
reiches Jerusalem ,  aus  dem  Lateinischen  des  Erzbischofes 
Wilhelm  v.  Tyrus.  1840  (gemeinsam  mit  seinem  Bruder  be- 
arbeitet, mit  kurzer  biographischer  Einleitung,  geographisch- 
historischen Anmerkungen  und  2  Karten).  Denkmäler  alt- 
niederländischer Sprache  und  Literatur.  1.  Bd.  1840,  2.  Bd. 
1844,  3  Bd.  1866.  Cancioneiro  geral,  altportugiesische  Lieder- 
sammlung des  Edlen  Garcia  de  Resende  (in  der  ,, Bibliothek 
d.  lit.  Vereines  in  Stuttgart"  1.  Bd.  1846,  2.  Bd.  1848,  3.  Bd. 
1852,  eine  im  Auftrage  des  Königs  von  Portugal  veranstaltete 
neue  Ausgabe  des  fast  gänzlich  verschwundenen  alten  Druck- 
Exemplares,  mit  literär-geschichtlicher  Einleitung  und  den 
nöthigen  Text- Verbesserungen).  Wirtem bergisches  Urkunden- 
buch.  1.  Bd.  1849,  2.  Bd.  1858,  3.  Bd.  1871.  Burkhart 
Stickeis  Tagebuch  von  1566  —  98  (1868). 

Durch  Herausgabe  des  genannten  Urkundenbuches,  durch 
welches  ein  kaum  zu  bemessender  Reich thum  geschichtlichen 
und  juristischen  Materiales  erschlossen  wurde,  erprobte 
Kausler  nach  allen  Seiten  seine  bereits  bekannte  Gründlich- 
keit und  Solidität  wissenschaftlichen  Arbeitens;  die  sorg- 
fältigste und  besonnenste  Kritik  in  Wiedergabe  der  Texte 
verbindet  sich  mit  staunenswerthem  Umfange  der  Forschung 
betreffs  der  Ortsnamen,  der  Sigille  u.  dgl.,  und  sowie  hie- 
durch  die  in  reizender  Kürze  gefassten  Anmerkungen  eine 
Fülle  des  kostbarsten  Inhaltes  erhielten,  so  sind  die  Indices 
mit  mustergiltiger  Vortrefflichkeit  gearbeitet,  so  dass  keine 
Anforderung,  welche  an  ein  Urkunden-Werk  gestellt  werden 
kann,   unerfüllt   geblieben    ist.      Während   aber  aus  solchen 


176  Ueffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

Gründen  die  historische  Classe  es  als  beneidenswerthe  Be- 
vorzugung unserer  Classe  betrachten  könnte,  dass  Kausler 
zu  unseren  Mitgliedern  zählte,  hatte  derselbe  auch  in  philo- 
logischer Forschung  die  erheblichsten  Leistungen  aufzuweisen. 
Dieselben  erhalten  nicht  etwa  bloss  durch  den  äusseren  Um- 
stand einen  höheren  Werth,  dass  die  niederländische  und 
die  portugiesische  Literatur  überhaupt  in  Deutschland  zu 
den  wenig  vertretenen  Gebieten  gehören,  sondern  auch  hier 
ist  es  das  umfassende  Wissen,  welches  in  Verbindung  mit 
der  gründlichsten  Methode  den  Arbeiten  Kausler's  den  Stempel 
des  bleibendsten  Werthes  aufprägt.  Sowie  die  Einleitung 
zu  Resende's  Cancioneiro  hie  von  Zeugniss  gibt,  so  ist  die 
Herausgabe  und  Erklärung  der  niederländischen  Denkmäler 
welche  aus  der  in  Stuttgart  befindlichen  Komburger  Hand- 
schrift geschöpft  sind,  ein  rühm  würdiges  Erzeugniss  deutscher 
Gelehrsamkeit.  In  grammatischer,  lexicalischer,  kritischer, 
exegetischer  und  literar-geschichtlicher  Beziehung  sind  so- 
wohl die  Reimchronik  von  Flandern  als  auch  die  übrigen 
interessanten  Stücke  (z.  B.  der  Roman  von  der  Rose,  die 
niederländische  Bearbeitung  der  pseudo-aristotelischen  Secreta 
Secretorum  und  des  weisen  Cata  u.  dgl.)  in  erschöpfender 
Weise  behandelt,  indem  von  den  haarspaltenden  Fragen  an, 
welche  in  eine  entlegene  Handschriften-Literatur  sich  er- 
strecken, hindurch  durch  die  Untersuchungen  über  die 
Autoren  und  über  die  zur  steten  Vergleich ung  beigezogenen 
Quellen  jener  Denkmäler  bis  hinein  in  die  schätzenswerthe 
Fassung  der  Register  sich  überall  gleichmässig  die  Tüchtig- 
keit des  gediegenen  und  kenntnissreichen  Forschers  bewährt. 
Mögen  die  Erzeugnisse  dieser  geräuschlosen  gründlichen 
Arbeitskraft  Vielen  zur  erfrischenden  Belehrung  und  zum 
anregenden  Muster  dienen. 


v.  Prantl:  Nekrolog  auf  Johann  Christoph  von  Held.         177 

Johann  Christoph  von  Held 

geboren  am  21.  Deceniber  1791  in  Nürnberg  als  Sohn  eines 
reichsstädtischen  Beamten  studirte  am  Gymnasium  seiner 
Vaterstadt,  dann  1809—13  an  den  Universitäten  Heidelberg, 
Erlangen  und  Leipzig,  hielt  sich  hierauf  einige  Zeit  in  München 
auf,  um  die  Staatsbibliothek  zu  benützen,  promovirte  in 
Erlangen,  und  wurde  1815  am  Progymnasium  zu  Bayreuth 
angestellt;  einen  an  ihn  ergangenen  Ruf  nach  Frankfurt 
a.  M.  schlug  er  aus  und  rückte  in  Bayreuth  allmählig  zum 
Professor  der  Oberclasse  vor,  wobei  er  1835  auch  mit  Führ- 
ung des  Rectorates  betraut  wurde.  Mitglied  des  Kreis- 
scholarchates  war  er  schon  1832  geworden,  und  1860  er- 
hielt er  den  Titel  eines  Schulrathes,  sowie  1864  (bei  der 
200jährigen  Jubelfeier  des  Gymnasiums)  den  Civil- Verdienst- 
Orden  der  bayerischen  Krone.  Unsere  Akademie  wählte  ihn 
i.  J.  1854  als  correspondirendes  Mitglied.  Im  J.  1867  trat 
er  in  den  erbetenen  Ruhestand  und  starb  in  Bayreuth  am 
21.  März  1873.  Er  veröffentlichte  :  Annotationum  criticarum 
in  Plutarchi  vitas  parallelas  specimen  und  Annotationes  in 
Plutarchi  vitam  Alexandri  Magni  (in  den  Actis  philologorum 
Monacens.  Bd.  II,  Fase.  1.  u.  2).  Caesaris  Comment.  de 
bello  civili  mit  Anmerkungen.  (1822,  2.  Aufl.  1827,  3.  Aufl. 
1836).  Caesaris  Comment.  de  bello  gallico  (1825,  spätere 
Auflagen  1832,  1839,  1851).  Observationes  in  Plinii  Pane- 
gyricum  (1824).  Briefe  aus  Paris  (1831).  Prolegomena  in 
Plutarchi  vitam  Timoleontis  (3  Theile  1832—18^7).  Plu- 
tarchi vitae  Aemilii  Pauli  et  Timoleontis  (1831).  Piatonis 
Ciito,  Apologia,  Alcib.  I,  Laches  (1838 — 1846).  Lexicalische 
Uebungen  zu  Cicero  d.  offic.  (1858).  Ueber  den  Chor  in 
der  Elektra  des  Sophokles  (1861).  Sowie  er  durch  seine 
weit  verbreiteten  Ausgaben  Cäsars  und  durch  die  Bearbeitung 
Plutarch's  sich  als  Philologe  einen  geachteten  Namen  er- 
warb,   so    hat   er   als    langjähriger   Lehrer    und   trefflicher 


178  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

Rector  in  Verbreitung  gründlicher  Bildung  die  gedeihlichste 
Wirksamkeit  ausgeübt,  worüber  ihm  Nägelsbach  in  der 
Widmung  seiner  Stilistik  ein  ebenso  schönes  als  ehrendes 
Denkmal  setzte.  Zwei  Gymnasial-Programme  Held's  (Brief- 
wechsel zwischen  dem  Vater  eines  Schülers  und  dem  Rector. 
1851  u.  1855)  geben  Zeugniss  von  hoher  pädagogischer  Ein- 
sicht und  liebenswürdiger  Milde;  auch  die  von  ihm  ver- 
öffentlichten Schulreden  (1852  u.  1866),  in  deren  zweiter 
Sammlung  er  gelegentlich  dem  Freundschafts- Verhältnisse, 
in  welchem  er  mit  Jean  Paul  stand,  einen  warmen  Aus- 
druck gab,  reihen  sich  dem  Besten  an,  was  in  diesem  Zweige 
geleistet  wurde. 


v.  Giesebrecht :  Nekrolog  auf  Friedrich  von  Räumer.        179 


Der  Classensecretär  von  Giesebrecht  sprach: 

Die  historische  Classe  verlor  im  verflosseneu  Jahre  durch 
den  Tod  drei  ihrer  auswärtigen  Mitglieder,  nämlich  Friedr. 
v.  Räumer  in  Berlin ,  Charles  Purton  Cooper  in 
London,  Christoph  Friedrich  v.  Stalin  in  Stuttgart 
(unter  diesen  die  beiden  Senioren  der  Classe,  da  Raumer 
ihr  seitdem  Jahre  1830  und  Cooper  seit  1834  angehörte)  und 
ein  correspondirendes  Mitglied  Franz  Xaver  Remling  in 
Speier.  Die  Nekrologe  werden  in  den  Sitzungsberichten  ge- 
druckt erscheinen. 

Dieselben  sind: 

Der  Name  Friedrichs  von  Raumer  ist  unter  denen 
der  deutschen  Geschichtsschreiber  unfraglich  einer  der  popu- 
lärsten, und  ihm  ist  dauernd  eine  Stelle  in  den  Annalen  der 
deutschen  Wissenschaft  gesichert,  wenn  auch  die  Zeitström- 
ungen, auf  denen  seine  Popularität  beruhte,  vorübergegangen 
sein  werden.  Denn  kein  Forscher  ersten  Ranges,  aber  ein 
Mann  der  vielseitigsten  Interessen  und  der  mannigfachsten 
Kenntnisse,  kein  Gelehrter  nach  der  Regel,  aber  ein  Mann 
politischer  Bildung  und  weltläufiger  Art  hat  er  durch  seine 
ungemein  reiche  literarische  Thätigkeit,  die  zwei  Menschen- 
alter umfasst ,  viel  dazu  beigetragen ,  dass  die  deutsche 
Geschichtsschreibung  die  steifen  schulmeisterlichen  Formen 
früherer  Zeiten  abstreifte  und  sich  jene  literarischen  Vor- 
züge aneignete,  durch  welche  die  französischen  und  englischen 
Geschichtswerke  einen  tiefgreifenden  Einfluss  auf  die  all- 
gemeine Bildung  längst  gewonnen  hatten. 


180  Oeff entliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

Selten  ist  ein  Gelehrter  bei  seinen  Lebzeiten  von  Hoch 
und  Niedrig  so  sehr  erhoben  und  zugleich  so  tief  herab- 
gesetzt worden,  und  noch  seltener  hat  ein  Gelehrter  sich 
durch  Lob  und  Tadel  so  wenig  aus  seinem  Gleichmuth 
bringen  lassen ,  wie  es  bei  Räumer  der  Fall  war.  Wie 
berechtigt  die  Kritik  gegen  ihn  sein  mochte  —  sie  hatte 
leichte  Arbeit,  da  er  seine  Schwächen  wenig  verhehlte,  — 
er  war  dennoch  ein  ausserordentlicher  Mann;  nicht  allein 
wegen  seiner  ungewöhnlichen  Lebensdauer,  seiner  grossen 
literarischen  Fruchtbarkeit,  wegen  seiner  Vielseitigkeit  als 
Schriftsteller  —  denn  es  gibt  wenige  Gebiete  menschlichen 
Wissens,  auf  denen  er  sich  nicht  versucht  hätte,  und  auch 
als  verschämter  Novellendichter  ist  er  zu  nennen  —  auch 
nicht  allein  desshalb,  weil  er  selbst  noch  seine  nachgelassenen 
Werke  herausgab,  sondern  vielmehr  noch  wegen  seiner  bei- 
spiellosen Empfänglichkeit  für  alle  geistigen  Eindrücke,  der 
Leichtigkeit  sie  zu  verarbeiten  und  der  unerschöpflichen  Lust 
an  der  Mittheilung  der  gewonnenen  Resultate.  Es  war  ihm 
das  erste  Bedürfniss  immer  zu  lernen  und  immer  zu  lehren ; 
bis  in  das  höchste  Alter  hinein  bewahrte  er  eine  Leichtigkeit 
alles  Neue  aufzunehmen  ,  die  sonst  nur  der  Jugend  eigen 
ist,  und,  was  bei  einer  solchen  Natur  besonders  hoch  zu 
schätzen,  er  Hess  sich  nie  durch  die  Neuheit  der  Erschein- 
ungen zur  Ueberschätzuug  derselben  fortreissen;  er  wusste 
das  Bedeutende  vom  Unbedeutenden,  das  Bleibende  vom 
Nichtigen  mit  sicherem  Tact  zu  unterscheiden.  Auch  für 
den  persönlichen  Werth  von  Zeitgenossen,  selbst  wenn  sie 
ihm  hindernd  in  den  Weg  traten ,  behielt  er  immer  den 
richtigen  Massstab. 

Am  14.  Mai  1781  zu  Wörlitz  bei  Dessau  geboren,  kam 
Raumer  als  ein  zwölfjähriger  Knabe  nach  Berlin,  und  seit- 
dem wurde  die  preussische  Königstadt  seine  eigentliche  Hei- 
math. Ob  er  nachher  zu  Universitätsstudien  Halle  und 
Göttingen  besucht,  ob  er  als  Staatsbeamter  an  verschiedenen 


v.  Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Friedrich  von  Räumer.        181 

Orten  der  Monarchie  sich  aufgehalten,  ob  er  auf  seinen  Reisen 
fast  ganz  Europa  durchwandert,  den  Boden  Asiens  berührt 
und  selbst  den  Ocean  durchmessen  hat,  er  ist  stets  wieder 
nach  Berlin  zurückgekehrt ;  hier  empfing  seine  so  eindrucks- 
fähige Natur  ihre  stärksten  Impulse,  und  hier  fand  sein 
geschäftiger  Geist  den  Boden  zu  der  manigfachsten  Wirk- 
samkeit. Raumers  ganzes  Leben  hängt  mit  dem  Leben 
Berlins  in  diesem  Jahrhunderte  und  zugleich  mit  allen  Ent- 
wicklungen des  preussischen  Staatslebens,  die  von  hier  aus- 
gingen, auf  das  Innigste  zusammen. 

Friedrich  von  Raumer  erhielt  seine  erste  gelehrte  Bildung 
auf  dem  Joachimsthalischen  Gymnasium  in  Berlin,  welches 
damals  unter  dem  trefflichen  Meierotto  eines  grossen  und 
wohlverdienten  Rufs  sich  erfreute.  Ich  habe  viele  Schüler 
Meierottos  gekannt  —  zu  ihnen  zählte  mein  eigener  Vater, 
der  wenig  später  unter  ihm  seine  Studien  machte  und  in 
inniger  Freundschaft  mit  Friedrichs  jüngerem  Bruder  Karl 
verbunden  war,  —  und  immer  ist  mir  auffallend  gewesen, 
wie  sie  für  die  Lebenszeit  bei  der  Beschäftigung  mit  den 
klassischen  Autoren  verharrten,  zugleich  aber  sich  in  stete 
Berührung  mit  der  allgemeinen  Literatur  der  Gegenwart  zu 
setzen  wussten.  So  war  es  auch  bei  Friedrich  von  Raumer; 
bis  an  sein  Ende  las  er  mit  immer  neuer  Lust  die  griechi- 
schen und  lateinischen  Schriftsteller ,  und  nächst  Johannes 
von  Müller  und  Schiller  haben  die  Historiker  des  Alterthums 
vorzugsweise  auf  seine  Darstellungsweise  eingewirkt. 

Der  junge  Raumer  stand  zu  mehreren  hochgestellten 
Beamten  in  Berlin  in  verwandtschaftlichen  Beziehungen :  dies 
veranlasste  wohl  seinen  Entschluss  sich  dem  juristischen 
Studium  zuzuwenden,  um  dann  in  den  preussischen  Staats- 
dienst zu  treten.  Ohne  Mühe  eignete  er  sich  die  erforder- 
lichen Kenntnisse  an  und  zeigte  sich  in  verschiedenen  Stell- 
ungen als  einen  so  gewandten  und  einsichtigen  Beamten, 
dass  ihn  Hardenberg  als  er  im  Jahre  1810  die  Leitung  der 
[1874,  2.  Phil.  hist.  CL]  13 


182  Oeff entliehe  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

preussischen  Geschäfte  wieder  übernahm,  in  seine  unmittel- 
bare Nahe  zog  und  selbst  in  sein  Haus  aufnahm.  Kaum 
dreissig  Jahre  alt,  war  Raumer  in  die  Mitte  der  Staats- 
regierung versetzt;  an  den  grossen  Reorganisationsarbeiten 
jener  Zeit  nahm  er  lebhaften  Antheil;  sein  Einfluss  auf 
Hardenberg  schien  so  gross,  dass  man  ihn  wohl  den  kleinen 
Staatskanzler  nannte.  Eine  beneidenswerthe  Stellung  für 
einen  jungen  Staatsbeamten,  und  sie  wurde  ihm  hinreichend 
beneidet.  Dennoch  wurde  sie  nur  zu  bald  ihm  selbst  lästig, 
da  sie  ihn  hinderte  frei  seinem  Genius  zu  folgen,  der  ihn 
bereits  zu  den  historischen  Studien  und  besonders  zu  der 
Geschichte  der  Hohenstaufen  gezogen  hatte.  Er  erbat  sich 
schon  nach  Jahresfrist  die  Professur  der  Staatswissenschaft 
in  Breslau  und  erhielt  sie ,  da  er  allen  Vorstellungen ,  in 
seinen  bisherigen  Verhältnissen  zu  verharren,  hartnäckigen 
Widerstand  entgegensetzte. 

Noch  einmal  ist  Raumer  später,  und  dann  nicht  durch 
königliche  Ernennung,  sondern  durch  die  Volksgunst  zu  einer 
unmittelbar  politischen  Thätigkeit  berufen  worden.  Er  war 
bekanntlich  Mitglied  der  deutschen  Nationalversammlung  im 
Jahre  1848  und  übernahm  als  solcher  eine  diplomatische 
Mission  nach  Paris ;  auch  Mitglied  der  ersten,  damals  auf 
Wahl  beruhenden  preussischen  Kammer  ist  er  in  der  nächst- 
folgenden Zeit  gewesen.  Von  dieser  seiner  späteren  poli- 
tischen Thätigkeit  sagt  er  selbst:  ,,Ich  habe  durch  sie  viel 
gelernt,  aber  Keinen  bekehrt  und  Nichts  erwirkt";  und  nicht 
viel  anders,  als  eine  Lehrzeit,  hat  er  später  auch  die  Jahre 
seiner  Jugend  betrachtet,  welche  er  als  Verwaltungsbeamter 
zugebracht  hatte.  Unfraglich  sind  es  für  ihn  sehr  wichtige 
Lehrjahre  gewesen. 

Seit  Raum  er  die  Professur  erlangt  hatte,  fühlte  er  sich 
in  seinem  eigentlichen  Lebensberuf.  Er  lebte,  lernend  und 
lehrend,  in  den  weiten  Gebieten  der  Kunst  und  Wissenschaft 
und  weilte  am  liebsten  mit  seinen  Studien,  in  seinen  literarischen 


v.  Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Friedrich  von  Baumer.         183 

Arbeiten,  in  seinen  Vorlesungen  bei  den  grossen  Gestalten 
der  Vergangenheit,  ohne  sich  dabei  irgend  eine  beachtens- 
werthe  Erscheinung  der  Gegenwart  entgehen  zu  lassen. 
Schon  im  Jahre  1819  wurde  er  an  die  Berliner  Universität 
versetzt,  und  besonders  war  es  ihm  erwünscht,  dass  er  sich 
hier  vorzugsweise  historischen  Vorlesungen  zuwenden  konnte. 
Hier  kam  auch  seine  Geschichte  der  Hohenstaufen  zum  Ab- 
schluss;  sie  erschien  in  den  Jahren  1823  —  1825,  nachdem 
sie  ihn  fast  zwei  Decennien  beschäftigt  hatte. 

Dieses  Werk  hat  Raumers  Namen  gemacht  und  wird  ihn 
auch  dauernd  erhalten.  Das  überschwängliche  Lob  und  der 
bissige  Tadel,  die  zuerst  laut  wurden,  sind  verstummt ;  der  Reiz 
der  Neuheit,  den  es  Anfangs  sowohl  durch  den  Stoff  wie  durch 
die  Behandlung  hatte,  ist  längst  geschwunden;  aber  das  Buch 
wird  noch  heute  als  eine  der  würdigsten  Darstellungen 
deutscher  Geschichte  mit  Recht  genannt  und  wirkt  belehrend 
und  erwärmend  auf  einen  weiten  Leserkreis.  Es  ist  durch 
die  fortgeschrittene  Forschung  Vieles  berichtigt  worden,  die 
einzelnen  Theile  der  staufenschen  Geschichte  sind  genauer 
und  meines  Erachtens  auch  mit  grösserer  Anschaulichkeit 
und  Wärme  dargestellt  worden,  doch  hat  jene  Epoche,  wo 
die  grössten  welthistorischen  Entscheidungen  mit  den  Ge- 
schicken eines  edlen  deutschen  Geschlechts  in  der  eigen- 
thümlichsten  Weise  verbunden  waren,  noch  keine  Gesammt- 
darstellung  gefunden,  welche  der  Raumers  zur  Seite  gestellt 
werden  könnte.  Man  wird  viel  vermissen :  Sicherheit  in  der 
Quellenkritik,  Genauigkeit  der  Details,  Schärfe  der  Characte- 
ristik;  aber  es  ist  ein  Reichthum  der  Composition,  eine  Klar- 
heit und  Harmonie  der  Darstellung,  ein  Masshalten  des  Ur- 
theils  in  dem  Werke,  welches  ihm  einen  Anspruch  auf 
Classicität  verleiht. 

Der  Stoff  der  Hohenstaufen  war  Raumer,  wie  er  selbst 
sagte,  gleichsam  durch  Inspiration  zugekommen,  und  dieser 
Stoff  hat  ihn  dann  wie  mit  magischer  Gewalt  gefesselt.     So 

13* 


184  Oeffentliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

viel  später  Raumer  noch  geschrieben  hat,  von  keinem  andern 
Gegenstande,  den  er  behandelt.  Hesse  sich  Gleiches  sagen. 
Reichlich  hat  er  dafür  gesorgt,  dass  sein  Name  dem  Publicum 
nie  aus  dem  Gedächtniss  schwand,  und  er  hat,  so  lange  er 
schrieb,  viele  und  dankbare  Leser  gefunden,  aber  er  hat 
kein  Werk  mehr  geschaffen,  welches  den  Hohenstaufen  ver- 
glichen werden  könnte  und  seinen  Nachruhm  zu  steigern 
vermochte.  Zu  gleich  andauernden  Studien  konnte  er  sich 
nie  wieder  entschliessen.  Es  begann  sich  in  ihm,  trotz  der 
vorgerückteren  Jahre  die  Reiselust  mächtig  zu  regen  und 
längere  Zeit  hindurch  stehen  seine  Bücher  und  seine  Reisen 
in  gegenseitiger  Verbindung:  er  reiste  entweder,  weil  er 
dies  oder  jenes  Buch  schrieb,  oder  er  schrieb  ein  Buch, 
weil  er  diese  oder  jene  Reise  gemacht  hatte. 

Schon  in  den  Hohenstaufen  war  eine  gewisse  Scheu 
vor  Detailforschung  hervorgetreten  und  dem  Verfasser  vor- 
gehalten worden ;  sie  zeigt  sich  noch  deutlicher  in  den 
späteren  Arbeiten,  und  Raumer  selbst  hat  den  Mangel  nicht 
abgeläugnet,  aber  mit  seiner  Natur  entschuldigt.  „Diese  Art 
der  Geschichte  existirt  für  mich  nicht",  sagt  er  einmal, 
„also  bleibe  ich  davon  und  überlasse  Andern  Tadel,  so  wie 
Verdienst",  und  dann  an  einer  andern  Stelle:  „Es  bewährt 
sich  auch  bei  mir  das  alte  Sprüchwort:  man  kann  seine 
Natur  nicht  austreiben.  Ja,  ich  habe  dies  nicht  einmal  ver- 
sucht, weil  ich  mich  in  der  Mannigfaltigkeit  des  Beobachteten, 
Erlernten,  Erlebten  sehr  wohl  befand."  „Warum  treibe  ich 
Geschichte?"  ruft  er  aus.  „Weil  ich  mich  an  den  Helden 
erheben ,  durch  sie  begeistern ,  an  Gefühl  und  Gedanken 
reicher,  vielseitiger,  tiefsinniger  werden  und  dann,  wenn  ich 
sie  erst  recht  erkannt  habe,  mit  höchster  Theilnahme  des 
Geistes  und  Herzens  darstellen  will."  Gewiss  eine  sehr  an- 
ziehende Art  Geschichte  zu  treiben ;  aber  fraglich  bleibt  nur, 
ob  es  mehr  darauf  ankomme,  dass  die  Wissenschaft  gefördert 
werde,   oder   dass  der   Gelehrte   sich  angeregt   fühle.     Und 


v.  Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Friedrich  von  Baumer.        185 

eine  zweite  Frage  ist  die,  ob  nicht  die  Durchsichtigkeit  und 
Wärme  jeder  historischen  Darstellung  in  einem  bestimmten 
Verhältniss  zu  der  Gründlichkeit  der  Specialstudien  stehe. 
Man  könnte  geneigt  sein  zu  glauben,  dass  Raumer,  der  durch 
eine  seltene  Vereinigung  von  Talent  und  Arbeitskraft,  Welt- 
erfahrung und  Gelehrsamkeit,  Verstandesschärfe  und  Ge- 
schmackbildung zu  einem  der  ersten  Geschichtsschreiber 
unserer  Nation  gleichsam  geschaffen  schien,  nur  desshalb  so  oft 
unter  dem  Maasse  blieb,  was  an  ihn  zu  legen  war,  weil  er 
die  Geschichte  mehr  um  seinetwillen  als  um  ihrer  selbst 
willen  trieb. 

Wohl  selten  hat  ein  Gelehrter  eine  längere  Wirksamkeit 
auf  dem  Katheder  gehabt,  als  Raumer.  Obwohl  er  1859 
von  der  Verpflichtung  zu  Vorlesungen  an  der  Universität 
entbunden  wurde,  bestieg  er  dennoch  in  längeren  oder  kürzeren 
Zwischenräumen  noch  öfters  den  Lehrstuhl  bis  z.  J.  1869, 
bis  zu  seinem  achtundachtigsten  Jahre.  Die  Wirkung  auf 
die  Studirenden  seines  Fachs  war  zu  der  Zeit,  als  ich  in 
Berlin  studirte,  nur  gering  und  ist  auch  wohl  nie  eine  be- 
deutende gewesen;  man  hat  nie  von  einer  Raumer'schen 
Schule  gehört.  Raumer  war  ein  Gegner  einer  scharfein- 
schneidenden Kritik,  jedes  abgeschlossenen  Systems,  eine 
durchaus  eclectische  Natur,  wie  sie  Studirenden,  die  in  einer 
bestimmten  Wissenschaft  eine  feste  Richtung  zu  gewinnen 
suchen,  wenig  zu  entsprechen  pflegt.  Dagegen  musste  ein 
Mann  seiner  Celebrität,  seiner  Kenntnisse  und  vielseitigen 
Bildung  eine  nicht  geringe  Anziehungskraft  haben  für  Hörer, 
die  in  historischen  Vorträgen  vornehmlich  eine  Förderung 
ihrer  allgemeinen  Bildung  suchten;  er  würde  solche  ohne 
Zweifel  noch  mehr  gefesselt  haben,  wenn  seine  Rednergabe 
seiner  Mittheilsamkeit  gleich  gekommen  wäre. 

Der  berühmte  Geschichtsschreiber  hat  auch  erlauchten 
Fürsten  Vorträge  gehalten.  Schon  in  Breslau  hatte  er  den 
damaligen  Kronprinzen,    den  späteren  König  Friedrich  Wil* 


186  Oeff entliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

heim  IV.,  unterrichtet;  als  die  Regierung  desselben  dann  eine 
nach  Raumers  Meinung  verderbliche  Richtung  nahm,  hielt 
er  es  nicht  für  unpassend,  dieser  seiner  Meinung  im  Angesicht 
des  Königs  öffentlichen  Ausdruck  zu  geben.  So  trübte  sich 
das  Verhältniss  zwischen  Beiden.  Dagegen  scheint  Raumer 
stets  in  freundlichen  Beziehungen  zu  unserm  hochseligen  König 
Maximilian  IL  geblieben  zu  sein.  Im  Winter  1830  auf  1831 
hatte  er  dem  Kronprinzen  Bayerns  in  Berlin  besondere  Vor- 
lesungen über  die  neue  Geschichte  gehalten ;  er  schreibt  über 
den  Sohn  an  den  königlichen  Vater:  „Der  strengsten  Wahr- 
heit gemäss  muss  ich  bezeugen,  dass  seine  Theilnahme, 
Aufmerksamkeit  und  Gesinnung  mir  des  höchsten  Lobes 
werth  erscheinen  und  er  sich  in  dieser  Beziehung  nicht  blos 
vor  manchen  Prinzen,  sondern  selbst  vor  sehr  vielen  Jüng- 
lingen geringeren  Standes  auszeichnet."  Noch  sechszehn 
Jahre  später  verlangte  der  Kronprinz  von  seinem  alten  Lehrer 
Erläuterungen  über  einige  Aeusserungen  desselben,  welche 
die  Jesuiten  betrafen.  Raum  er  gab  die  Erläuterungen  in 
einem  längeren  Schreiben  an  den  Kronprinzen  und  sagt  am 
Schluss :  „Die  künftigen  Schicksale  des  edelsten  Volkes  sind 
wesentlich  den  Händen  Ihres  königlichen  Vaters  und  dereinst 
den  Ihrigen  anvertraut.  Wirken  Sie  für  Mässigung  in 
christlicher  Liebe.  Die  christliche  Sittenlehre ,  über  welche 
unter  allen  Christen  kein  Streit  ist,  möge  zum  Bande  des 
Friedens  und  der  Einigung  werden,  und  der  Vorwand,  den 
rechten  Glauben  zu  begründen ,  nicht  Teufeleien  aller  Art 
Thor  und  Thür  öffnen."  Als  König  Maximilian  II.  den 
Orden  seines  Namens  für  Wissenschaft  und  Kunst  gründete, 
nahm  er  Friedrich  von  Raumer  unter  die  ersten  Ritter  des- 
selben auf. 

Raumers  ganze  Natur  neigte  sich  zu  einer  mehr  popu- 
lären Behandlung  seiner  Wissenschaft ,  und  gerade  diese 
selbst  bietet  ja  manche  Seiten,  welche  sie  vorzugsweise 
zur   Popularisirung   eignen.     Eine  lange   Reihe  von   Jahren 


v    Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Friedrich  von  Baumer.        187 

hielt  Raumer  in  Berlin  historische  Vorträge  für  Damen  und 
fand  an  ihnen  ein  sehr  dankbares  Publicum ;  nicht  ohne 
Befriedigung  verzeichnet  er,  dass  die  Zahl  seiner  Schülerinen 
mehr  als  dreitausend  betragen  habe.  Aus  derselben  Richtung 
gingen  die  Vorlesungen  hervor,  welche  er  seit  1841  mit  befreun- 
deten Gelehrten  vor  einem  grossen  Kreis  von  Herren  und  Damen 
über  die  verschiedensten  wissenschaftlichen  Gegenstände  im 
Saale  der  Singakademie  hielt.  Das  Unternehmen  fand  An- 
fangs grossen  Widerspruch;  man  sah  in  demselben  eine 
Entweihung  der  Wissenschaft.  Aber  der  Widerspruch  ist 
längst  verstummt,  und  noch  alljährlich  werden  jene  Vor- 
lesungen und  neben  ihnen  andere  verwandter  Art  in  Berlin 
und  in  allen  grösseren  deutschen  Städten  gehalten.  Den 
Ertrag  jener  Vorlesungen  bestimmte  Raumer  zur  Gründung 
von  Volksbibliotheken  für  Berlin,  und  auch  dieser  Gedanke 
hat  sich  fruchtbar  gezeigt.  Wie  er  aus  dem  Quell  der 
Wissenschaft  immer  neue  Lebenskraft  geschöpft  hatte,  wollte 
er  zu  diesem  Quell  den  Zugang  möglichst  Allen  eröffnen, 
und  wer  mag  sagen,  wie  Vielen  er  so  geistige  Nahrung  ge- 
boten hat? 

Keiner  der  grossen  Motoren  in  der  grossen  Entwicklung 
unsres  Jahrhunderts,  aber  von  jedem  Anstoss  erregt  und 
dann  rastlos  thätig,  ist  er  ein  sehr  wirksames  Triebrad 
derselben  gewesen.  Von  nicht  starker  Körperconstitution, 
erhielt  er  sich,  aus  Wissenschaft  und  Kunst  Herzensstärkung 
nehmend,  nicht  nur  geistig,  sondern  auch  körperlich  bis 
zum  höchsten  Greisenalter  frisch.  Von  kleiner  Gestalt,  un- 
scheinbar in  seinem  Auftreten,  ohne  die  Prätensionen  eines 
Edelmanns  und  eines  Professors,  wurde  er  doch  bald  von 
Jedem  als  ein  Mann  erkannt,  der  nicht  mit  Unrecht  einen 
der  berühmtesten  Namen  führte.  Friedrich  von  Raumer 
starb  zu  Berlin  am  13.  Juni  1873. 


188  Oeff entliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

Charles  Purton  Cooper  war  Jurist,  er  betrat  früh 
die  Laufbahn  eines  Advokaten  und  machte  sich  durch  einige 
rechtsgeschichtliche  Arbeiten  bekannt.  Als  die  im  Jahre 
1800  vom  englischen  Parlament  eingesetzte  Report-Commission, 
über  deren  Arbeiten  und  Publicationen  vielfacher  Tadel  ver- 
lautete, unter  Lord  Brougham  im  Jahre  1830  neu  organisirt 
wurde,  erhielt  Cooper  in  derselben  das  Amt  eines  Schrift- 
führers. Im  Jahre  1832  veröffentlichte  er  in  zwei  Bänden 
einen  ausführlichen  Bericht  über  die  Arbeiten  der  Commis- 
sion,  welcher  die  besten  Hoffnungen  erweckte.  Sie  sollten 
sich  leider  nicht  erfüllen.  Die  Mängel  der  Commission 
waren  unheilbar,  und  dieselbe  wurde  i.  J.  1837  aufgelöst. 
In  den  Jahren  1838 — 1840  hat  Cooper  die  diplomatische 
Correspondenz  des  Bertrand  de  Salignac  de  la  Mothe  Fenelon, 
französischen  Gesandten  am  englischen  Hofe  in  den  Jahren 
1568 — 1575  in  sieben  Bänden  herausgegeben.  Später  scheint 
er  mit  historischen  Arbeiten  sich  nicht  mehr  beschäftigt  zu 
haben. 


Wenn  die  beiden  genannten  Gelehrten  unsrer  Akademie 
nie  persönlich  näher  getreten  sind,  so  war  dies  um  so  mehr 
der  Fall  bei  dem  dritten  auswärtigen  Mitglied,  welches  uns 
der  Tod  entrissen  hat,  und  wird  uns  deshalb  dieser  Verlust 
um  so  fühlbarer.  Am  12.  August  1873  starb  zu  Stuttgart 
der  Director  und  Oberbibliothekar  Christoph  Friedrich 
von  Stalin,  welcher  der  historischen  Commission  bei  unsrer 
Akademie  seit  ihrer  Begründung  durch  König  Maximilian  II. 
und  der  Akademie  selbst  seit  1859  als  ordentliches  Mitglied 
angehörte. 

Stalin  wurde  am  4.  August  1805  zu  Calw  geboren. 
Einer  wohlhabenden  Kaufmannsfamilie  entsprossen,  entschied 
er  sich  doch  früh   für  die  Studien   und  zeigte   bereits  auf 


v.  Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Chr.  Friedr.  von  Stalin.        189 

dem  Gymnasium  zu  Stuttgart  eine  nicht  gewöhnliche  Bean- 
lagung  für  eine  wissenschaftliche  Laufbahn.  Auf  den  Uni- 
versitäten Tübingen  und  Heidelberg  hörte  er  theologische, 
philosophische  und  philologische  Vorlesungen  und  wurde 
dann,  ehe  er  noch  sein  zwanzigstes  Jahr  vollendet  hatte, 
zu  Dienstleistungen  an  der  k.  Bibliothek  zu  Stuttgart  an- 
gestellt. Diese  Anstellung  ist  für  sein  ganzes  Leben  ent- 
scheidend gewesen ;  beinahe  ein  halbes  Jahrhundert  hat  er 
der  Stuttgarter  Bibliothek  angehört,  zu  deren  Vorstand  er 
im  Jahre  1846  ernannt  wurde.  Seine  Verwaltung  der 
Bibliothek  war  eine  musterhafte,  nicht  allein  wegen  der 
werthvollen  Erwerbungen,  die  man  ihm  dankte,  und  der 
durchgeführten  genauen  Katalogisirung,  sondern  besonders 
auch  wegen  der  liberalen  Art,  wie  die  Schätze  der  Bibliothek 
dem  Publicum  zugänglich  und  nutzbar  gemacht  wurden. 

Auf  seinen  Wunsch  wurde  Stalin  bald  nach  seinem 
Eintritt  in  die  Bibliothek  ein  längerer  Urlaub  zu  seiner 
weiteren  Ausbildung  gewährt.  Er  benützte  ihn  zu  ausge- 
dehnten Reisen  in  den  Jahren  1826  bis  1828,  auf  denen 
er  die  Mittelpunkte  des  wissenschaftlichen  Verkehrs  in 
Deutschland,  der  Schweiz,  Frankreich  und  England  kennen 
lernte ;  einige  Jahre  später  hat  er  dann  auch  einen  längeren 
Aufenthalt  in  den  Hauptstädten  Italiens  genommen.  Diese 
Reisen  wurden  ihm  nicht  nur  für  seine  bibliothekarische 
Stellung  wichtig,  sondern  führten  ihn  immer  bestimmter  zu 
historischen  Studien,  welche  sich  bald  durch  seine  persön- 
lichen Verhältnisse  auf  die  Württembergische  Geschichte 
concentrirten  und  endlich  zu  einer  zusammenhängenden 
Darstellung  derselben  auf  Grund  des  vollständigsten  Materials 
führten.  Der  erste  Band  der  Würtembergischen  Geschichte 
erschien  1841,  und  das  einstimmige  Urtheil  der  gelehrten 
Welt  ging  sogleich  dahin,  dass  hier  eine  wahrhaft  muster- 
gültige Leistung  vorliege,  die  alle  verwandten  Arbeiten  in 
unsrer    Literatur    übertreffe;     Stalin    gewann    sofort    einen 

13** 


190  Oeff entliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

Namen  neben  den  ersten  Männern  der  deutschen  Geschichts- 
wissenschaft. Diese  Anerkennung  ist  dann  mit  dem  Fort- 
schreiten der  Werke  immer  gestiegen.  Leider  ist  dasselbe 
nicht  zum  Abschluss  gekommen;  Stalins  letzte  Arbeiten 
gehören  dem  vierten  Bande  an,  welcher  bis  zum  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  reicht. 

Als  König  Maximilian  IL  im  Jahre  1858  mehrere 
deutsche  Gelehrte  versammelte,  um  seinen  so  fruchtbaren 
Gedanken,  eine  besondere  Commission  für  deutsche  Geschichts- 
und' Quellenforschung  an  unserer  Akademie  zu  errichten,  in 
Ausführung  zu  bringen,  war  es  für  die  sachgemässe  Be- 
gründung dieser  Commission  überaus  wichtig,  dass  auch 
Stalin  zu  jenen  Gelehrten  zählte.  Gleich  damals  regte  er 
mit  Pertz  die  Herausgabe  der  deutschen  Städtechroniken 
an,  die  dann  in  Hegels  kundige  Hand  gelegt  wurde.  Es 
giebt  kaum  ein  Unternehmen  der  Commission,  auf  welches 
er  in  der  Folge  nicht  rathend  und  helfend  eingewirkt  hätte ; 
an  der  Redaction  der  Forschungen  zur  deutschen  Geschichte 
hat  er  ein  Jahrzehnt  hindurch  unmittelbaren  Antheil  ge- 
nommen. Seit  dem  Jahre  1864  zugleich  Mitglied  der 
Centraldirection  der  Gesellschaft  für  ältere  deutsche  Ge- 
schichte und  seit  Decennien  mit  der  lebhaftesten  Theilnahme 
die  Arbeiten  Pertzs  und  Böhmers  für  die  Monumenta  Ger- 
maniae  historica  unterstützend,  war  es  sein  Wunsch,  auch 
die  Fortführung  der  Monumenta  in  nähere  Beziehung  mit 
den  Arbeiten  der  historischen  Commission  zu  setzen.  Er  hat 
in  diesem  Sinne  noch  im  vorigen  Jahre  zu  wirken  gesucht; 
als  über  die  Fortführung  der  Monumenta  im  Herbst  zu 
Berlin  berathen  wurde,  war  er  nicht  mehr  unter  den  Lebenden. 

Bis  zum  Jahre  1871  hat  Stalin  nie  in  den  Plenar- 
versammlungen  der  historischen  Commission  gefehlt.  Wir 
wissen  von  seinen  Angehörigen,  dass  ihm  diese  Versamm- 
lungen ein  Lichtblick  des  ganzen  Jahres  waren,  aber  wir 
wissen  zugleich,    mit  welcher  FVeude  er  von  Allen  erwartet. 


v.  Giesebrecht:  Nekrolog  auf  Franz  Xaver  Remling.         191 

von  Allen  begrüsst  wurde.  Er  stand  Allen  herzlich  gleich 
nahe;  sein  Rath,  sein  Urtheil,  so  wenig  er  es  aufdrängte, 
war  meist  entscheidend. 

Es  hat  Stalin  an  Auszeichnungen  nicht  gefehlt  —  auch 
er  gehörte  zu  den  Rittern  des  Maximiliansordens  —  aber 
Niemand  war  weiter  davon  entfernt,  sich  in  der  Vorder- 
grund zu  stellen.  Er  war  der  Mann  stiller,  aber  unendlich 
fruchtbarer  Arbeit  in  der  Bibliothek  und  unbefangenen 
Lebensgenusses  in  seinem  Hause,  treuherzig,  schlicht,  das 
Getümmel  und  den  Streit  der  Welt  meidend,  aber  dem 
Gang  der  Weltereignisse  mit  klugem  Blick  folgend  und  voll 
des  lebhaftesten  Interesses  für  jede  hervorragende  Persön- 
lichkeit. Um  ihn  ganz  verstehen  und  lieben  zu  lernen, 
musste  man  ihn  in  seiner  schwäbischen  Heimath,  in  seinem 
Hause  und  in  seiner  Bibliothek  aufsuchen.  Niemand  wird 
da  ohne  den  wärmsten  Dank  für  vielfache  Belehrung  und 
herzliche  Gastlichkeit  von  ihm  wieder  geschieden  sein. 

Stalin  war  von  stattlicher  Figur  und  einer  starken,  jeder 
Anstrengung  gewachsenen  Körperconstitution.  Er  erfreute 
sich  bis  zu  den  letzten  Jahren,  wo  ihn  ein  schweres  Magen- 
leiden befiel,  einer  dauerhaften  Gesundheit. 


Am  28.  Juni  1873  starb  zu  Speyer  der  Domcapitular 
Franz  Xaver  Remling ,  einer  der  verdientesten  Ge- 
schichtsschreiber der  Pfalz,  seit  1853  Correspondent  der 
Akademie. 

Remling,  geboren  am  10.  Juli  1803  zu  Edenkoben, 
machte  seine  theologischen  Studien  erst  zu  Mainz,  dann  im 
Jahre  1825  auf  dem  Lyceum  in  Äschaffenburg,  wo  damals 
der  jetzige  Vorstand  unsrer  Akademie  sein  Lehrer  war.  Im 
Jahre  1827  zum  Priester  geweiht  und  bald  darauf  als  Doin- 
vicar   in    Speyer    angestellt ,    wandte    sich    Remling    eifrigst 


192  Oeff entliche  Sitzung  vom  28.  März  1874. 

archivalischen  Forschungen  zu  und  wurde  dann  als  bischöf- 
licher Registrator  verwendet.  1832  erschien  seine  erste 
literarische  Arbeit,  eine  urkundliche  Geschichte  des  Klosters 
Heilsbruck;  schon  mit  ihr  schlug  er  die  Richtung  ein,  die 
er  dann  durch  fast  ein  halbes  Jahrhundert  eingehalten  hat. 

Obwohl  Remling  1833  auf  die  Pfarrei  Hambach  versetzt 
wurde ,  welche  er  dann  beinahe  zwanzig  Jahre  unter  sehr 
schwierigen  Verhältnissen  bekleidete,  blieb  er  doch  seinen 
historischen  Studien  stets  getreu  und  legte  die  Resultate 
derselben  in  einer  Reihe  von  Monographieen  nieder.  Seine 
bedeutendste  Schrift  ist  die  Geschichte  der  Bischöfe  von 
Speyer,  welche  in  den  Jahren  1852 — 1854  publicirt  wurde. 
Dieses  Werk  umfasst  mit  Einschluss  der  beiden  Urkunden- 
bände vier  Theile,  in  denen  die  Geschichte  des  Bisthumes 
von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Jahre  1802  dargestellt 
wird.  Als  Fortsetzungen  sind  anzusehen  die  bis  1836 
reichende  Neuere  Geschichte  der  Bischöfe  von  Speyer,  dann 
die  Biographien  des  Bischofs  Nicolaus  von  Weiss  und  des 
Cardinais  und  Erzbischofs  Johannes  von  Geissei;  das  letztere 
Werk  hat  Remling  bis  an  sein  Ende  beschäftigt. 

Remling  hatte  inzwischen  seine  Pfarre  verlassen  und 
war  im  Anfange  des  Jahres  1852  als  Domcapitular  nach 
Speyer  zurückgekehrt ;  er  war  hier  vom  Bischof  zum  Historio- 
graphen  des  Bisthums  ernannt  und  hat  diesem  Namen  die 
grösste  Ehre  gemacht.  Von  seinen  ausgedehnten  Studien 
zeugen  ausser  den  angeführten  noch  viele  andere  nützliche 
Werke.  Sie  ruhen  alle  auf  urkundlicher  Grundlage  und 
behalten  dadurch  einen  bleibenden  Werth. 


Sitzungsberichte 

der 

philosophisch  -  philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  Mlünchen. 


1874.     Heft  III. 


München. 

Akademische  Buchdruckeroi  von  F.  Straub. 

1874. 

In  Commission  bei  6.  Franz. 


Sitzungsberichte 


der 


königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch -philologische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  März  1874. 


Herr  Christ  legt  vor: 

„Das  römische  Militärdiplom  von  Regens- 
burg."    Von  Ohlenschlager. 

Jedem,  der  die  bis  jetzt  aus  den  reichen  Fundstätten 
Regensburgs  und  seiner  nächsten  Umgebung  hervorgegangenen 
zahlreichen  Inschriften  kennt,  musste  es  auffallend  erscheinen, 
dass  Denkmäler  zu  Ehren  der  Beherrscher  Roms  darunter 
gar  nicht  (wenn  man  nicht  das  Weintinger  Monument  zu 
Ehren  des  Alexander  Severus  hierher  rechnet),  Denkmäler  zu 
Ehren  der  Götter  nur  in  verschwindend  kleiner  Anzahl  vor- 
handen oder  überliefert  sind ]).  Unwillkürlich  drängt  sich 
hier  die  Frage  auf,  woher  es  kam,  dass  in  einem  der  be- 
deutendsten rätischen  Besatzungsplätze,  dessen  Grabinschriften 


1)  Es  sind  nur  drei  Altäre  bekannt:  IOM.  jetzt  verloren  (Hefner 
das  Römische  Baiern  3.  Aufl.  n.  XXI);  das  Bruchstück  eines  Altars: 
MERCVRIO  CENSVALI  (Hefner  n.  LX.);  und  das  Bruchstück  eines 
Altars  vom  J.  296,  von  dessen  Inschrift  nur  die  Weiheformel  und 
Zeitangabe  vorhanden  ist  (Hefner  n.  CCCXI.). 

[1874.  3.  Phil.  Inst.  Cl.]  14 


194        Sitzung  der  phüos.-philol  Classe  vom  7.  März  1874. 

und  Begräbnissstätten  ausser  den  Militärabtheilungen  eine 
stattliche  Civilbevölkerung  voraussetzen,  keine  öffentlichen 
Denkmäler  zum  Vorschein  kamen,  während  andere  nach- 
gewiesene Standlagerplätze,  selbst  viel  kleinere  z.  B.  Pfünz, 
Pföriug,  Kösching,  regelmässig  einige  dergleichen  aufweisen. 
Mehrere  Erklärungen  sind  hier  zulässig.  Die  öffentlichen 
Denkmäler  waren  jedenfalls  zum  grossen  Theil  im  Umfang 
des  Lagers  selbst  aufgestellt  und  fielen  bei  den  fortwähren- 
den Angriffen  der  Germanen  und  der  Notwendigkeit  zer- 
störte Befestigungen  rasch  wieder  herzustellen  dem  Selbst- 
erhaltungstrieb oder  der  Baulust  späterer  Bürger  zum  Opfer, 
die  Altäre  wurden  durch  den  frommen  Sinn  der  Christen 
zerstört  und  nur  die  Ruhestätte  der  Todten  bewahrte  der 
Nachwelt  eine  Anzahl  steinerner  Denkmäler  auf.  Auch  sind 
bis  jetzt  im  Innern  der  Stadt  verhältnissmässig  wenige  Fund- 
stätten aufgedeckt  worden,  während  der  Eisenbahnbau  einen 
grossen  Theil  des  Leichenfeldes  biossiegte. 

Erst  in  der  neuesten  Zeit  wurden  mehrere  Funde  öffent- 
licher Urkunden  gemacht,  die  uns  in  die  Blüthezeit  des 
römischen  Lebens  an  der  Donau  versetzen,  und  hier  kurz 
besprochen  werden  sollen. 

Das  erste  und  wichtigste  ist  ein  Militärdiplom,  das 
vierte  bis  jetzt  auf  bairischem  Boden  gefundene  Denkmal 
dieser  Art2),   welches  seine  Auffindung  und  Erhaltung  dem 

2)  1.  Fragment  eines  Diploms,  gefunden  zwischen  Pappenheim 
und  Rothenstein,  dessen  Jahr  bis  jetzt  nicht  genau  bestimmbar  ist, 
das  aber  aus  den  Zeugennamen  zu  schliessen  in  die  Zeit  Hadrians 
gehört.  (Hefner,  das  röm.  Baiern.  3.  Aufl.  n.  CLXIII.  C.  J.  L.  III. 
Diploma  XXXVII). 

2.  Vollständige  zweite  Platte  eines  Diploms  vom  J.  64  n.  Ch. 
gef.  1842  zu  Geiselbrechting.  Föringer  im  Oberb.  Archiv.  B.  4. 
S.  433  ff.;  (Hefner.  R.  B.  n.  CLXII;  C.  J.  L.  III.  Dipl.  III. 

3.  Das  vollständig  erhaltene  Militärdiplom  v.  J.  107,  gefunden 
1867  bei  Weissenburg,  herausgegeben  von  W.  Christ,  das  römische 
Militärdiplom  von  Weissenburg,  in  den  Sitzungsberichten  der  k.  b. 
Akad.  d.  W.  Jahrg.  1868.  Bd.  II. 


Olüenschiager :  Das  Begenshufger  römische  Militärdiplom.     195 

um  Regensburgs  römische  Denkmäler  hochverdienten  Herrn 
Pfarrer  Dahlem  verdankt,  der  mir  auch  das  Diplom  selbst, 
sowie  die  Angaben  über  Fundort  und  Fundweise  aufs  bereit- 
willigste und  freundlichste  überliess. 

Bei  Anlage  eines  neuen  Strässchens  zum  Keller  des 
Herrn  Behner  an  der  Strasse  von  Regensburg  nach  dem 
nahen  Kumpfmühl,  welches  an  der  alten  römischen  Strasse 
gelegen ,  schon  öfter  Spuren  verschwundenen  römischen 
Lebens  zu  Tage  treten  Hess,  zeigten  sich  im  November  1873 
zwei  kleine  römische  Häuser,  wovon  eines  mit  hypocaustum 
versehen  war,  dieselben  wurden  jedoch  nicht  untersucht, 
sondern  durch  das  neue  Strässchen  überbaut ;  rechts  ab  vom 
Wege  vor  und  auf  der  Anhöhe,  auf  welcher  der  Behner- 
keller  liegt,  sah  man  neun  kleine  römische  Wohnungen, 
und  in  der  ersten  derselben,  gleich  am  Anfange  des  von 
Herrn  Behner  angelegten  Strässchens,  fand  sich  das  Militär- 
diplom. Die  Wohnung  des  Veteranen  (wir  können  wohl  an- 
nehmen, dass  sie  mit  dem  Diplom  gleichen  Besitzer  hatte) 
war  ca.  3  m.  breit,  und  7  m.  lang,  bildete  einen  einzigen 
Zimmerraum  und  hatte  vor  derThüre  einen  2  m.  langen  und 
1,5  m.  breiten  Vorbau  zu  ihrem  Schutze.  Die  Mauern  der 
Wohnung    waren    aus    Kalk- Bruchsteinen   erbaut    und    mit 

Mommsen  im  C.  J.  L.  vol.  III.  Dipl.  XXIV  versetzt  dasselbe  in 
das  Jahr  108.  Da  mir  aber  die  Gründe  unbekannt  sind,  wonach  der 
treffliche  Forscher  diese  Jahresbestimmung  getroffen  hat,  welche  mit 
Clinton's  fasti  Romani  übereinstimmt,  die  Untersuchung  über  die 
Zeitbestimmung  aber  von  Christ  mit  Benutzung  aller  einschlägigen 
Quellen  aufs  gründlichste  geführt  ist,  und  nicht  bloss  mit  den  neueren 
Forschungen  über  den  Anfang  der  tribunitia  potestas  des  Kaisers 
M.  Aurelius  in  der  Dezemberwoche  jeden  Jahres  übereinstimmt, 
welche  von  H.  F.  Stobbe  im  Philologus  vol.  XXXII,  p.  40  ff.  ver- 
öffentlicht wurden,  sondern  auch  durch  Mommsens  eigene  frühere 
Ansicht  über  das  Datum  der  Erneuerung  der  tribunitia  potestas 
dieses  Kaisers  am  1.  Januar  (Abhandl.  zur  Lebensgeschichte  des 
jüngeren  Plinius)  nicht  umgestossen  wird,  so  nehme  ich  bis  zu 
besserer  Belehrung  das  Jahr  107  als  das  richtige  an. 

H* 


196        Sitzung  der  phitos.-philot.  Ctasse  vom  7.  Mars  1874. 

Mörtel  verbunden,  der  sich  durch  seine  ungewöhnlich  weisse 
Farbe  als  römisch  erweist  und  aus  reichlichem  Kalk  und 
grobem  Kies  bestand.  Er  war  im  Laufe  der  1700  Jahre 
so  hart  geworden ,  dass  beim  Zerschlagen  die  Steine  zer- 
sprangen, der  Mörtel  aber  nicht.  Den  Fussboden  bildete 
ein  Estrich  hergestellt  aus  zertrümmerten  gelandeten  Dach- 
platten und  Hohlziegeln  mit  darübergeschüttetem  Mörtelguss. 
Er  kleidete  noch  wie  zur  Zeit  des  Veteranen  die  ganze 
Bodenfläche  aus  und  nur  die  Feuerstelle,  die  auf  der  Erde 
war,  und  Herd  und  Ofen  zugleich  vertretend,  wahrscheinlich 
wie  die  heutigen  italiänischen  oder  französischen  Kamine  an- 
gelegt war,  fand  sich  abgenützt.  Die  Wände,  ringsum  innen 
mit  feinem  Mörtel  beworfen  und  geglättet,  waren  kalkweiss 
getüncht  und  durch  rothe  Streifen  und  Flächen  in  recht- 
eckigen Feldern  verschönert.  Die  Fensterlücken  mussten 
bereits  mit  Glas  geschlossen  sein,  denn  es  fand  sich  ein 
Stückchen  grünes  schwer  durchsichtiges  Fensterglas  neben 
unbedeutenden  Geschirr-  und  Metalltrümmern.  Da  das  Haus 
aus  Steinen  erbaut  war  und  von  Gebälk  nur  Decke  und 
Dach  hatte,  so  fand  sich  sehr  wenig  Asche ;  die  einstürzende 
Decke  und  das  schwere  Ziegeldach  zertrümmerten  im  Nieder- 
fallen, was  sie  trafen,  und  so  wurde  das  Diplom  zertrümmert 
und  die  Stückchen  lagen  theils  im  Brand-,  theils  im  Kalk- 
schutt. Von  den  beiden  Piatten ,  woraus  dasselbe  bestand 
sind  11  kleine  Stücke  der  einen  Tafel  und  ein  grösseres 
Bruchstück  der  zweiten  erhalten.  Sorgfältig  aneinander  ge- 
legt zeigt  das  Gesammtdiplom  eine  Länge  von  149  mm., 
während  die  Breite  109  mm.  beträgt.  Das  Material  ist  Bronce 
und  es  war  schon  vor  seiner  jetzigen  Auffindung  zertrümmert, 
da  die  Stücke,  welche  aneinander  passen,  ganz  verschiedene 
Oxydation  zeigen  und  auch  die  Bruchflächen  oxydirt  sind, 
was  nur  durch  verschiedene  Lage  oder  verschiedene  Nach- 
barschaft im  Boden ,  während  des  Vergrabenseins  sich  er- 
klären lässt. 


Ohlenschlager:  Das  Begensburger  römische  Militärdiplom.     197 

Die  Platten  zeigen  nur  je  eine  glatte  Fläche  an  der 
früheren  Aussenseite;  die  Innenseite  ist  mittelst  einer  groben 
Feile  nur  oberflächlich  geebnet  und  trägt  eine  weit  flüchtigere 
Schrift,  als  die  sorgfältiger  gravirte  äussere  Fläche.  Die 
Schrift  ist  mit  dem  Grabstichel  ausgeführt. 

Die  Platte,  zu  welcher  die  11  kleinen  Bruchstücke  ge- 
hörten, enthielt  auf  der  Aussenseite  die  ganze  Urkunde  mit 
Ausnahme  der  Zeugennamen,  auf  der  Innenseite  den  Anfang 
der  Urkunde. 

Das  grössere  Bruchstück  der  zweiten  Platte  enthält  die 
praenomina  und  Gentilnameu  der  Zeugen  und  einen  Theil 
des  Schlusses  der  Urkunde.  Die  beiliegende  Abbildung  zeigt 
die  Reste  der  Schrift  auf  beiden  Platten. 

Ergänzt  man  die  Aussenseite  der  ersten  Tafel  durch 
die  Schrift  auf  der  Rückseite,  so  ergibt  sich  nebenstehendes 
Bild,  worin  der  erhaltene  Text  der  Aussenseite  schwarz, 
das  nach  dem  Innern  Ergänzte  roth,  die  durch  Vermuthung 
auszufüllenden  Stellen  blau  eingezeichnet  sind  und  dessen 
Lücken  bis  auf  wenige  Buchstaben  mit  Sicherheit  ausgefüllt 
werden  können. 

Bedeutend  wird  diese  Arbeit  erleichtert  durch  das  im  J. 
1867  bei  Weissenburg  gefundene  Militärdiplom  des  Traian 
vom  30.  Juni  d.  J.  107 ,  welches  von  Prof.  Christ  in  den 
Sitzungsberichten  Jahrg.  1868  Bd.  II  veröffentlicht  wurde, 
und  worin  ein  grosser  Theil  der  hier  erscheinenden  Truppen- 
theile  bereits  genannt  ist. 

Das  Diplom  mit  seinen  Ergänzungen  lautet  folgender- 
massen : 


198        Sitzung  der  philo s-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Imp.  Gaes(ar)  M.  Aurelius  Antoninus  Aug(ustus) 
Armeniacus  pont(ifex)  max(imus)  trib(unicia)  pot(estate)  XX, 
imp(erator)  III,  co(n)s(ul)  III,  et 
imp.  Caes(ar)  L.  Aurelius  Verus  Aug(ustus)  Arme- 
niacus   Parthicus    max(imus)    trib(unicia)  pot(estate)    VI, 

imp(erator) 
III,  co(n)s(ul)  II,  proco(n)s(ul)  divi  Antonini  f(ilii),  divi  Ha- 
driani  nepotes,  divi  Traiani  Parthici 
pronepotes,  divi  Nervae  abnepotes 
equitib(us)  et  peditib(us)  qui  militaver(unt)  in 
dl(is)   III  quae  apell(antur)   I  Aur(iana)  et  1  Fl(avia) 

Gemell(iana) 
et  IFl(avia)  Sing(ularium)  et  cohortib(us)  XIII;  I  Fl(avia)  Ca 
nath(enorum  miliaria)  et  1  Breuc(orum   et    I  et   II  Baet 

(orum)  et  II 
Aquitan(orum)  et  III  Bracar(augustanorum)  et  III  Thrac 

(um)   Vet(eranorum) 
et    III    Thrac(um)    C(ivium)   B(omanorum)    et   III  Brit 

(annorum)  et  IV.  Gall(orum) 
et  V.   Braca(raugustanorum)   et  VII  Lusitanor(um)  et  X. 

Batav(orum) 
miliaria  et  sunt  in  Baetia  sub  (T?)  Dest(i)cio 
Severe-  p(rocuratore)  p(rovinciae)  quinq(ue)  et  vigint(i)  sti- 
pend(iis)  emerit(is)  dimi(ssis  honesta  miss- 
sion(e)  qiior(um)  nomin(a)  s(ubscripta  sunt) 
civitat(em)  Boman(am)  qui  (eorum  non  haberent) 
deder(unt)  et  conub(ium)  cu(m  uxoribus  quas) 
tunc  habuiss(ent)  cum  e(st  civitas  eis  data) 
aut  cum  is  quas  poste(a  duxissent  dum-) 

tax(at)  singulis  a.  d 

M.  Vibio  Liberale  P.  Martio  Vero  Co(nsulibus) 
Cohort(i)  II  Aquitan(orum  cui  praeest) 

Julius 

exequiite) 

Sicconi.  Juli 

Bescript(um)  et  recog(nitum  ex  tabula  aenea) 
quae  fixa  est  Bom(ae)  in  muro  post  templum 
divi.    Aug{usti)    ad.     (Minervam) 


OhlenscMager:  Das  JRegensburger  römische  Militärdiplom.  199* 


PCÄE  SM  A  V    R      E  L  I  V  SANTON    IN  V  S  A  V  G 
AR   MENIACVS    PONTM    Ax  T_RI  BPOT  XX 
IMP  III  COS  III         ET 

P    CAESLAV     R     ELIVSV'ERVSAVGARilE 

a  c v Spart  h  i  c  vsmaxtR'ib  pot  vi  i  m  p 

C  O  S  I  I  P  R  O  C  OS  D  1  Vi  A  N  T  O  N  I  N  I  F  D  I  V  I  h  A 
Li  A  N  I  N  E  P  O  T  E  S  D  I  V  I  x  R  A  I  A  N  I  P  A  R  ThlCJi 
10  NE  POTES  DIVIN  ERVAE  ABNEPOTES 
VITI  BETPE  D  ITIBQVIM  IL  IT  AVERIN 
in  QVAEAPPELLI  AVR  ET  I  F  L  G  E  M  E  L  L 
I  FL  SINGETCO  ±i  ORTIB  XIII  IFLAVIACA 
T  Jti  cfl  ETI  BREVCE  T  I  ET£RAET  ET  H 
VITAN    E  T  III  BRAC  ARE  T  III  ThR  AC  VET 

IhthraccretiiTbritt    ET  TV  G  A  L  L 


VBRACAET  VII  LVSITANORETX  BATAV 
ETSVNTINRAETIASVBT  D  ESTCIO 
EVEROPPR     QVINQETVIG     I     NTSTI 


;ndem  eritdimi  ssihon  estamis 
onqvornomins  v  b  sc  r  ip  tasvnt 
vitatromanqvieor  n  o  nhaber 
«deretconvb  c  v  m  vxoribvsqvas 
rnchabviss  cv  m  e  stciv  i  ta  seisdata 
rtcvmis  qvasposteadvxissentdvm 
.xsingvlisa    d  ???????? 

tbioliberalep    martioverocos 


HORTII AQVITANORCVIPRAEST. 

IVLIVS                                    ???????? 

EXEQVITE 

[CCONI.           IVLI               ?????????? 

lSCRIPTETRECOGNITEXTABVLAAENEA 

rAEFIXESTROM    I  NMVRO  POSTTEMPLVM 

VI       .       A  V  G      .         AD.           MINERVA! 

3.  Phil.  bist.  Cl.]  14*" 


200 


Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 


< 
H 

O 


1— 1 

£ 

H— 1 

U 

<j 

^ 

i— i 

P2 

l-H 

w 

^ 

C* 

ft 

> 

CM 

o 
o 
o 

m 
u 


h-H 

r— I 

< 

C/2 


C/j 

o 

N 


P4 

c/3 


h4 

J 

l-H 

H 

> 

h-1 

J 

ss 

l-H 

w 

> 

w 

pq 

Ph 

cfl 

£ 

HH 

o 

1 
l—l 

PH 

l-H 

s 

> 

o 

Ph 

P-. 

o 


Ohlenschlager :  Das  Regensburger  römische  Militärdiplom.     201 

Das  Jahr  der  Ausstellung  der  Originalurkunde  wird 
durch  die  trib.  potestas  XX.  des  M.  Aurelius  und  die  trib. 
pot.  VI.  des  Verus  auf  166  p.  Ch.  bestimmt,  der  Ausfertig- 
ungstag stand  auf  einem  fehlenden  Stück.  Das  imp.  III,  das 
M.  Aurel  seit  dem  J.  165  führte,  und  das  Fehlen  der  Namen 
Parthicus  Maximus  Medicus  deuten  auf  die  Zeit  vor  dem 
gemeinsamen  Triumph  desselben  mit  L.  Aurelius  Verus,  wobei 
der  Kaiser  diese  von  Verus  unterdessen  erworbenen  Titel  und 
das  imp.  IUI  annahm.  Jul.  Capitolin.  Verus.  c.  7:  partum- 
que  ipsi  ( Vero)  nomen  est  Armeniaci,  Parthici,  Medici,  quoä 
etiam  Marco  Bomae  agenti  delatum  est.  M.  Antonin.  cap.  9 : 
delatumque  Armeniacum  nomen  utrique  principum,  quod 
Marcus  per  verecundiam  primo  recusavit ,  postea  tarnen 
recepit.  Verus  c.  8 :  habuit  hanc  reverentiam  Marci  Verus,  ut 
nomina,  quae  sibi  delata  fuerant  cum  fratre  communicaret 
die  triumphi,  quem  pariter  celebrarunt. 

Wir  besitzen  von  M.  Aurelius  bereits  drei  Militärdiplome, 
doch  ist  leider  von  zweien  der  Anfang  zerstört ;  allein  ich 
habe  hier  um  so  weniger  Anstand  genommen  PONT.  MAX 
zu  ergänzen,  weil  das  Diplom  vom  5.  Mai  d.  J.  167  gef.  zu 
Altofen3)  denselben  Titel  aufweist  und  eine  andere  Ergänzung 
schwer  aufzufinden  wäre.  Auch  ist  während  des  Lebens 
des  L.  Verus  von  M.  Aurelius  dieser  Titel  zwar  nicht  regel- 
mässig geführt,  doch  auch  nicht  so  ängstlich  vermieden 
worden,  als  hie  und  da  angenommen  wird. 

Abgesehen  von  den  Münzen,  auf  welchen  M.  Aurel  zur 
Zeit  des  L.  Verus.  als  pontifex  Max.  erscheint  z.  B.  Cohen, 
description  des  monnaies  tome  VII.  n.  26.  27.  28.  29.  73. 
tome  II.  n.  4.  156.  158.  159.  160  etc.  findet  sich  dieser 
Titel  nicht   nur   auf  einer  Anzahl  von  Inschriften,    in  denen 


3)  Weszpremi  succincta  medicorum  Hungariae  et  Transsylvaniae 
biographia.  Viennae  1781  Centuria  altera,  p.  post.  p.  442.  C.  J.  L. 
vol.  III.  Dipl.  XLVI.  Die  beiden  andern  Diplome  ebenda  Dipl.  XLV. 
und  XLVII, 


202       Sitzung  der  pliilos.-philol.  Gasse  vom  7.  März  1874. 

M.  Aurelius  allein  genannt  ist,  z.  B.  Mommsen  J.  R.  N.  1099. 
4840.  Corp.  Insc.  Lat.  vol.  II.  3234,  sondern  auch  auf 
solchen,  in  denen  M.  Aurelius  mit  L.  Verus  zusammen  vor- 
kommt, bei  Renier,  inscript.  Romaines  de  l'Algerie  n.  1417 
(v.  J.  166),  Orelli  n.  5472  u.  876,  ja  in  einigen  Inschriften 
wird  auch  dem  L.  Verus  der  Titel  pont.  max.,  sei  es  aus 
Unkenntniss  oder  Schmeichelei  beigelegt,  Corp.  Insc.  Lat. 
vol.  II.  n.  158  (v.  J.  161)  und  n.  3399  (v.  J.  167)  vgl.  Orelli 
5483.  Die  Annahme  des  ihm  angebotenen  Titels  pater 
patriae  hatte  M.  Aurelius  bis  auf  die  Rückkehr  seines  Mit- 
regenten verschoben,  auch  bei  dessen  Lebzeiten  nicht  ge- 
führt, wesshalb  er  weder  hier  noch  im  Diplom  von  167  sich 
findet4).  Der  Titel  proconsul  des  L.  Verus  deutet  auf 
dessen  Abwesenheit  von  Rom.  (Dio.  Cass.  LIII.  17  u.  32 5). 

Den  Kaisertiteln  folgt  die  Aufzählung  der  begünstigten 
Militärabtheilungen,  drei  alae  und  dreizehn  Cohorten,  deren 
Namen  leider  nicht  vollständig  erhalten  sind. 

Von  den  alae  fehlt  gleich  die  erste,  deren  Name  durch 
höchstens  drei  Buchstaben  ausgedrückt  sein  konnte,  indem 
die  ganze  Lücke  etwa  5  Buchstaben  umfasste  und  auch  ET 
noch  Platz  finden  musste.  Nehmen  wir  zur  Ergänzung  als 
nächstliegend  die  hier  nicht  genannten  Namen  des  Weissen- 

burger  Diploms,  so  sind  wir  durch  die  Zahl  I  auf  die  ala  1 
Hispanorum  Auriana  oder  die  ala  I  Aug.  Thracum  an- 
gewiesen. Letztere  konnte  aber  sicher  nicht  mit  dem  ehren- 
den Beinamen  I  AVG.  allein  bezeichnet  werden,  den  sie  mit 
einer  ganzen  Anzahl  von  Abtheilungen  gemeinschaftlich  führte; 


4)  Dio  Cass.  LIII.  17  .  .  .  vnatoi  te  yaQ  7i"Keiari'<xcg  yiyvovxat, 
xal  ccv&vncitot,  del,  oaäxcg  ccp  c£w  tov  Ttm fxriQ iov  (Jat3 
ov  o  fXa  £  ovt  cci, 

5)  Juli  Capitolini  M.  Antoninus  philos.  c.  9 :  patris  patriae  nomen 
delatum  fratre  äbsente  in  eiusdem  praesentiam  distulit.  Vgl.  Eckhel 
doctrina  nummorum  vol.  VII.  p.  96. 


OHenschlager :  Das  Begensburger  römische  Militärdiplom.     203 

und  die  ala  I  Thracum  stand  zwischen  145  bis  160  in  Panno- 
nien.  C.  J.  L.  III.  Dipl.  XLII.  Anders  verhält  es  sich  mit  der 
ala  I  Hispan.  Auriana.  Hier  stehen  uns  mehrere  Belege 
zu  Gebot,  welche  bezeugen,  dass  der  gebräuchliche  Name 
dieser  Abtheilung  ala  Auriana  war  (Not.  Orient,  c.  35.  Tac. 
hist.  III.  5).  Die  Abkürzung  dieses  Namens  zu  AVR  ist 
ausserdem  durch  zwei  Inschriften  (Hefner  a.  a.  0.  n.  L  und 
LIX)  bezeugt  und  würde  durch  ihre  Buchstabenzahl  die 
Lücke  entsprechend  ausfüllen. 

Dann  folgt  die  ala  l  FL.  GEMELL. 

Wenn  auch  der  Beiname  gemella  gleichbedeutend  mit 
gemina  bei  Cäsar  b.  g.  III.  4  und  in  einer  Inschrift  der  leg.  VI. 
(Mommsen.  J.  R.  N.  5025  =  Orelli  Henzen  6677)  vorliegt 
und  ausserdem  eine  ala  I  und  II  Fl.  Gemina  in  einein 
Diplom  Vespasians  v.  J.  74  „in  Germania"  vorkommt, 
(Aschbach,  rhein.  Jahrb.  XX.  p.  33  f.  C.  J.  L.  III.  D.  IX) 
so  möchte  doch  die  hier  genannte  ala  eher  ALA  I  FL. 
GEMELLIANA  zu  lesen  sein,  die  ohne  den  Zusatz  Flavia  auf 
dem  Diplome  Neros  v.  J.  64,  gefunden  bei  Geiselbrechting 
uns  entgegen  tritt.  (Föringer,  Oberbair.  Archiv.  IV.  (1843) 
p.  433  sq.  C.  J.  L.  III.  D.  III.) 

Jenes  Diplom  ist  zwar  auf  noiischem  Boden  gefunden, 
konnte  aber  bei  der  Nähe  Rätiens  leicht  mit  seinem  Besitzer 
dorthin  ausgewandert  sein,  da  ja  der  Erfahrungssatz,  dass 
die  Diplome  in  denjenigen  Provinzen  gefunden  werden,  für 
deren  Besatzung  sie  ausgestellt  sind,  (Arneth ,  zwölf  röm. 
Militärdipl.  S.  63  A.  2)  bereits  einzelne  Ausnahmen  erlitten 
hat,  so  ist  z.  B.  das  Diplom  C.  J.  L.  III.  D.  IX.  ausgestellt  für 
Truppen  in  Germania,  aber  gefunden  zu  Sikator,  C.  J.  L.  III. 
D.  XIV.  für  Truppen  in  Judäa  gefunden  zu  Klosterneuburg. 

Von  dem  ersten  der  Cohortennamen  ist  nur  das  Ende 
NATH.  oo  erhalten.  Von  allen  bis  jetzt  aufgefundenen  Militär- 
abtheilungsnamen  lässt  sich  nur  coli.  I  FL.  CANATHENORVM 


204       Sitzung  der  philos.-phüol  Classe  vom  7.  März  1874. 

hier  ergänzen,  die  bei  Renier,  inscriptions  Romaines  de 
l'Algerie  n.  1534  und  1535  unter  dem  Tribun  M.  Plotius 
Faustus  erscheint  und  deren  Heimat  in  der  Stadt  Canatha 
in  Coelesyrien  gesucht  werden  mag. 6). 

Würde  diese  Vermuthung  durch  Auffindung  eines  der 
fehlenden  Bruchstücke  unseres  Diploms  bestätigt,  so  gewännen 
wir  eine  erfreuliche  Lösung  des  bis  jetzt  nicht  genügend 
entzifferten  Ziegelstempels  CIFC,  welcher  auf  der  Biburg  bei 
Pföring  häufig  gefunden  wird  und  der  sich  leicht  durch 
COH.I.F.  CANATHENORÜM  erklären  liesse7). 

Auch  steht  ein  Ziegelstempel,  der  beim  Umbau  eines 
altadelichen  Gebäudes  am  Römling  in  Regensburg  im  J.  1873 
gefunden  wurde,  mit  den  Buchstaben : 


COHICN 


vielleicht  mit  dieser  Cohorte  in  Verbindung. 

Alle  übrigen  Abtheilungen  mit  Ausnahme  der  COH  II 
AQVITAN,  die  hier  zum  zweitenmale  erscheint  (vgl.  Die  neuen 
Funde  römischer  Alterthümer  in  Regensburg.  Sitzgsb.  1872 
Bd.  II  S.  337)  und  der  COH.  X.  BATAVOR.  <x> ,  sind  aus  dem 
Weissenburger  Diplom  bekannt  und  nach  diesem  zum  Theil 
in  die  Lücken  eingesetzt  worden. 

Die  Ergänzung  des  Provinzialnamens  RAETIA  ist  be- 
rechtigt  durch   die   Lücke  für   drei  Buchstaben,   in   welche 


6)  Die  Auffindung  dieses  seltenen  Namens  wurde  mir  erleichtert 
durch  Dr.  W.  Harster's  treffliche  und  fleissig  gearbeitete  Schrift: 
Die  Nationen  des  Römerreiches  in  den  Heeren  der  Kaiser.  Speier  1873. 8. 

7)  Mommsen  hatte  C(ohors)  I  F(lavia)  C(ommagenorum?)  vor- 
geschlagen, (C.  J.  L.  III.  6001)  weil  diese  Ahtheilung,  für  deren  An- 
wesenheit in  Rätien  übrigens  kein  weiterer  Anhaltspunkt  gewonnen 
werden  konnte,  bis  jetzt  die  einzige  war,  deren  Anfangsbuchstaben 
sich  dem  Ziegelstempel  anpassten;  anno  157  stand  dieselbe  in  Dacia 
(C.  J.  L.  III.  Dipl.  XL). 


Ohlenschlager :  Das  Regensburger  römische  Militär diploni.     205 

sich  mit  TIA  kein  anderer  Provinzialnamen  einfügen  lässt, 
und  durch  die  Beobachtung,  dass  die  Militärdiplome  meist 
den  Namen  der  Provinz  enthalten,  in  welcher  sie  gefunden 
werden;  durch  die  vielen  mit  dem  Weissenburger  Diplom 
gleichlautenden  Abtheilungsnamen,  deren  einzelne  auch  durch 
anderweitige  Funde  für  Rätien  in  Anspruch  genommen 
werden  müssen,  wird  dieser  Name  mit  Notwendigkeit  ge- 
fordert. Die  Singularendung  dieses  Namens  bildet  einen  neuen 
Beleg  dafür,  dass  Rätien  um  diese  Zeit  noch  ungetheilt  war. 
Die  deutlichen  Reste  des  Statthalternamens  TCIO  mit  den 
davorstehenden  Theilen  eines  Buchstabens,  welche  einem  S 
anzugehören  scheinen ,  also  STCIO  wollten  sich  durchaus 
nicht  zu  einem  lateinischen  Namen  ergänzen  lassen ,  und 
alles  Suchen  nach  einem  solchen  wäre  vergeblich  gewesen, 
hätte  nicht  ein  glückliches  Zusammentreffen  in  diesen  Tagen 
eine  Inschrift  zum  Vorschein  kommen  lassen,  welche  einem 
T.DESTICIVS  SEVERVS  als  procurator  provinciae  Baetiae 
gewidmet  ist  und  die,  da  sie  auch  sonstige  Angaben  über  rätische 
Abtheilungen  enthält,  hier  unverkürzt  Aufnahme  finden  soll: 

T  .  DESTICIO  .  T  .  F 

CLA  .  SEVERO  .P.P.  LEG 
X  .  GEM  .  SVBPRAEF  .  VIGIL 
PROC  .  AVG  .  PROV  .  DACIAE 
SVPERIOR  .         PROC  .  PROVINC 

CAPPADOC  .  ITEM  .  ////ONTI  .  MEDI 
TERRAN  .  ET  .  A . . .  AE  .  MINOR  .  ET  .  LY 

CAON  .  Ah AN  .  PROC  .  PROV  .  RAE 

TIAE  .FLA DRIANI       P  0  N  T  I  F  I  C I 

COLONIAE 

ALA TIMANVS  .  MARTIAL  .  TITIANVS 

FRG  . . . .  N .  ALAE .  I .  FL .  IVL .  MEMORINVS 

IVLI ....  S.FL.SPERATVS.ALAE.I.SING.AELIVS 
SEVE ....  FRON .  IVLIANVS .  DECVRION .  EXERC 

RAETICI 

PRAESIDI    .    OPTIMO    .   ET    .    SANGTISSIMO 

L  .  D  .  D  .  D 


206        Sitzung  der  phüos.-phüol  Classc  vom  7.  März  1874. 

Dieselbe  ist  im  J.  1873  bei  Concordia  im  Venetianischen 
gefunden  und  im  Bulletino  dell'  instituto  di  Corrispondenza 
archeologica  für  1874  S.  34  und  eine  Berichtigung  der- 
selben ebendaselbst  S.  80  abgedruckt.  Die  Kenntniss  der- 
selben verdanke  ich  der  Güte  des  Herrn  Prof.  Brunn,  der 
mir  die  betreffenden  Bogen  freundlichst  mittheilte. 

Fehlt  auch  in  der  vorhandenen  Endung  TCIO  zwischen 
T  und  C  das  I,  das  auch  durch  keine  Ligatur  angedeutet 
ist,  so  wird  man  doch  den  Namen  DESTICIVS  nicht  von 
der  Hund  weisen  können,  weil  auch  das  cognomen  SEVERVS 
übereinstimmt  und  die  vorhandene  Lücke  auf  zwei,  höchstens 
drei  Buchstaben  hinweist.  Der  Name  DESTICIVS  findet 
sich  nur  noch  auf  Denkmälern  von  Concordia  G.  J.  L.  vol.  V. 
1875.  1876.  1877  und  auf  einem  Denkmal  aus  Caerleon 
(C.  J.  L.  VII.  n.  107.  Britannia)  worauf  ein  Desticius  Juba  als 
leg.  Aug.  pr.  pr.  zwischen  den  Jahren  253  —  259  p.  Ch.  ge- 
nannt wird,  der  wahrscheinlich  mit  dem  im  C.  J.  L.  vol.  V. 
n.  1875  u.  1876  vorkommenden  T.  Desticius  Juba  identisch  ist. 

Die  Formel  civitatem  Bomanam,  qui  eorum  non  haberent 
wird  erfordert  durch  das  nach  Romanam  vorhandene  qui, 
und  findet  sich  in  den  Diplomen  des  Antonin  Pius  v.  J.  145 
(C.  J.  L.  III.  D.  XXXVIII),  v.  J.  154  (Dipl.  XXXIX),  v.  J.  157 
(Dipl.  XL),  zwischen  d.  J.  145  u.  160  (Dipl.  XLII.  XLIII.), 
zwischen  146  u.  161  (Dipl.  XLIV);  des  M.  Antonius  v.J.  167 
(Dipl.  XLVI),  und  des  Severus  Alexander  v.  J.  230  (D.  LI). 

Wörtlich  aber  findet  sich  die  ganze  Formel  von  quorum 
nomina  subscripta  sunt  bis  singulis  in  sämmtlichen  Diplomen 
vom  J.  145 — 167  wie  diess  auch  in  der  trefflichen  alles 
umfassenden  Zusammenstellung  der  Einzelnheiten  aus  den 
Militärdiplomen,  in  dem  von  Theodor  Mommsen  mit  be- 
kannter Meisterschaft  redigirten  dritten  Bande  des  Corpus 
Inscriptionum  Latinarum  p.  907  ersichtlich  ist. 

Als  Mitconsul  des  M.  Vibius  Liberalis  nennt  uns  eine 
vom   23.  März  datirte  Inschrift  von  Perugia  den  P.  Martins 


Ohlensehlager:  Das  Begensburger  römische  Militär diplom.     207 

Verus,  für  welche  Orelli  n.  4038  irrthümlich  das  Jahr  179 
angibt,  während  Borghesi  oeuvres  V.  S.  258  dieselbe  In- 
schrift ohne  Beweisführung  in  das  Jahr  162  (915  a.  u.  c.) 
versetzt8).  Im  J.  179  war  nach  einer  wohl  mit  Unrecht 
verdächtigten  Inschrift  von  Aosta  (Orelli  n.  881)  P.  Martius 
Verus  zum  zweiten  Male  Consul  mit  IMP.  COMMOD.  II. 
und  ist  wahrscheinlich  derselbe ,  welcher  in  diesem  Jahre 
mit  Statius  Priscus  und  Avidius  Cassius  den  parthischen 
Krieg   für   den   unthätigen    imperator  L.  Verus  vollendete9). 

Nehmen  wir  als  Amtszeit  dieser  Consules  suffecti  nach 
dem  Stein  von  Perugia  die  zwei  Monate  März  und  April 
an,  so  muss  das  Diplom  während  dieser  Monate  ausgestellt 
sein,  jedenfalls  aber  vor  dem  23.  August  1G6,  weil  an  diesem 
Tage  nach  einer  Inschrift  bei  Giuter  1009,  12  M.  Aurelius 
schon  die  Titel  Parthic.  Max.  Medicus  führte,  die  auf  un- 
serm  Diplom  noch  nicht  erscheinen,  und  die  er  erst  bei  oder 
nach  dem  inzwischen  erfolgten  gemeinschaftlichen  Triumph 
mit  L.  Verus  annahm.  Die  Zeit  dieses  Triumphes  fällt 
demnach  jedenfalls  zwischen  den  23.  März  und  23.  August 
166  p.  Ch. 

Der  Ablativ  auf  e  des  Namens  Liberale  stimmt  über- 
ein mit  dem  Namen  auf  der  oben  angefühlten  Inschrift  und 
in  den  Militärdiplomen  haben  Adjektive  auf  is  regelmässig 
diese  Endung  statt  i,  vgl.  C.  J.  L.  vol.  III,  2  p.  919.  Natale 
schon   im  Dipl.  n.  V.  v.  J.  68.  p.  Ch.     Ueber  die   analoge 


8)  Borghesi  1.  c. :  un  cippo  esistente  nel  Museo  dell'  Universitä, 
che  porta  la  data 

M  .  VIBIO  LIBERALE  .  P  .  MARTIO  .  VERO .  COS 

X  KAPRILES  AVGVSTAE  PERVSIAE 
corrispondente  all' anno  Varroniano  915,   siccome  potrei  dimostrare, 
se  qui  importasse  di  farlo. 

9)  Jul  Capitolini  Yerus  c.  7 :  Antiochiam posteaquam  venit  (Verus), 
ipse  quidem  se  luxuriae  dediditt  duces  autem  confecerunt  Parthicum 
bellum,  Statins  Priscus  et  Avidius  Cassius  et  Marcius  Verus, 


208       Sitzung  der  philos.'philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Bildung  des  Ablativs  auf  e  von  substantivisch  gebrauchte 
Adjectiven  auf  is  hat  Friedr.  Neue,  Formenlehre  der  lateini 
sehen  Sprache  I.  S.  227  ff.  ausreichende  Belege  aus  Inschriftei 
und  Schriftstellern  beigebracht. 

Empfänger  des  Diploms  war  ein  gewesener  Reiter  der  II. 
aquitanischen  Cohorte,  welcher  nach  der  Aussenseite  der  erstei 
Platte  den  Namen  Sicco,  Juli  (jilius)  trug,  während  auf  dei 
Innenseite   der   zweiten  Platte  deutlich  Seccone  zu  lesen  ist, 
eine  orthographische  Verschiedenheit,   die  auch   in  andere] 
Namen  nicht  selten  ist,  wie  die  doppelte  Schreibweise  Virgi- 
lius  und  Vergilius  bezeugt,  die  aber  bei  jenem  offenbar  un« 
römischen  Namen,    dessen    Laute   wahrscheinlich   durch    die 
römischen  Buchstaben  nicht  vollständig  gedeckt  wurden,  ui 
so  weniger  auffallendes  hat. 

Der  Name  Secco  findet  sich  mehrfach  auf  rätischen  und 
norischen,  namentlich  aber  auf  pannonischen  Inschriften  (C.  J. 
L.  III.  Raetia  5786  etc.)  ist  wahrscheinlich  zu  Scccio  und 
Seccius  latinisirt  worden,  da  diese  Namensformen  mit  Secco 
in  denselben  Gegenden  vorkommen  und  hiess  im  Feminiuum 
Secu  (C.  J.  L.  III.  n.  962)  oder  Sicu  (C.  J.  L.  III  n.  707), 
welches  ebenfalls  latinisirt  als  Seccia  erscheint.  Durch  diesen 
Frauennamen  wird  das  Schwanken  zwischen  E  und  I  in  der 
ersten  Silbe  bestätigt. 

Die  Berechtigung  zur  Zusammenstellung  des  Femininums 
Sicu  mit  dem  Masculinum  Secco  liegt  in  mehreren  analogen 
Namen  auf  w,  die  einem  Männernamen  auf  o  entsprechen; 
neben  Matto  steht  Maüu  (C.  J.  L.  III.  3375)  neben  Mosso, 
Mottu  (C.  J.  L.  III.  5624)  neben  Feto,  Pettu  (C.  J.  L.  III. 
5370).  Auch  findet  sich  aus  derselben  Gegend  eine  grosse 
Masse  von  zweisilbigen  Namen,  welche  mit  Secco  im  sprach- 
lichen Bau  fast  oder  gänzlich  übereinstimmen.  Es  sollen 
hier  nur  einige  Platz  finden,  die  zweisilbig  sind,  auf  o  endigen 
und  vor  deren  Endvokal  zwei  gleiche  Consonanten  stehen. 
Die  Anzahl    derselben   könnte   leicht  aus  dem  Register  zum 


Ohlenschlager :  Das  Regensburger  römische  Militärdiplom.    209 

C.  J.  L.  vol.  III.  stark  vermehrt  werden,  dem  auch  die  folgenden 
entnommen  sind:  Abbo,  Ammo,  Anno,  Atto,  JBricco,  Butto, 
Gallo,  Cenno,  Citto,  Cosso,  Dallo,  Ecco,  Enno,  Eppo,  Fauvo, 
Hanno,  Itto,  Lallo,  Licco,  Otto  etc.10)  Die  Untersuchung, 
ob  und  wie  weit  diese  mit  deutschen  Kosenamen  vielfach 
gleichlautenden  Namen  auf  o  mit  Sicherheit  auf  germanische 
Sprachstämme  zurückzufuhren  sind,  und  ob  aus  diesen  und 
andern  Andeutungen  auf  das  frühe  Vorhandensein  germani- 
scher Stämme  südlich  der  Donau  geschlossen  werden  kann, 
liegt  ausserhalb  des  Bereiches  vorliegender  Arbeit. 

Die  Namen  der  Zeugen,  deren  Cognomina  fehlen,  lassen 
sich  aus  dem  halb  erhaltenen  Diplom  desselben  Kaisers  vom 
18.  Febr.  165  (C.  J.  L.  III.  Dipl.  XLV)  vollständig  ergänzen, 
weil  dort  ihre  vollen  Namen  angeführt  sind.  Auch  das  Diplom 
vom  5.  Mai  167  (C.  J.  L.  III.  Dipl.  XLVI)  enthält  dieselben 
Zeugen  bis  auf  den  ersten,  der  durch  Ocilius  Priscus  ersetzt  ist. 

Es  erübrigt  noch  einiges  zur  Geschichte  der  genannten 
Militärabtheilungen  nachzutragen. 

Die  Geschichte  der  ala  I  Hispanorum  Auriana  ist  be- 
handelt bei  Christ,  das  römische  Militärdiplom  von  Weissen- 
burg  S.  430  ff.11).   Einige  Schwierigkeit  machen  die  alae  I  mit 


10)  Vgl.  Dr.  Ludwig  Steub,  Die  oberdeutschen  Familiennamen. 
Anno  S.  91.  Abbo  S.  90.  Atto  S.  89.  Butto  S.  98.  Callo  S.  112. 
Dallo  S.  116.    Ecco  S.  91.    Hanno  S.  110  etc. 

1 1)  In  der  Anzeige  von  F.  C.  Planta's  „das  alte  Rätien"  (Jahn's 
Jahrbücher  1873  S.  278)  zweifelte  ich  ob  das  Pappenheimer  Diplom 
(C.  J.  L.  III.  Dipl.  XXXVII.)  einem  Reiter  der  ala  Auriana  angehört 
habe,  weil  derselbe  dort  mit  dem  Beiwort  ex  gregale  bezeichnet  ist. 
Seitdem  aber  habe  ich  mich  überzeugt,  dass  in  den  Militärdiplomen 
nur  bei  gewesenen  Soldaten  der  Cohorten  ausdrücklich  bemerkt  wird, 
ob  sie  zu  Pferd  {ex  equite)  oder  zu  Fuss  (ex  pedite)  gedient  haben, 
während  die  classici  und  die  Reiter  der  alae  kurzweg  mit  ex  gregale 
bezeichnet  werden;  bei  gemeinen  Soldaten  der  Cohortes  praetoriae 
und  urbanae  sowie  der  Legionen  steht  der  Name  des  Mannes  ohne 
jede  Bezeichnung.  Unteroffiziere  führen  das  ihrem  Rang  entsprechende 
Prädikat.  Vgl.  Mommsen  im  C.  J.  L.  III.  p.  913.  IX.  und  Henzen. 
Rhein,  Jahrb.  XIII.  S.  57. 


21Ö  Sitzung  der  philos.-philol.Classe  vom  7.  März  1874. 

dem  Beinamen  Flavia,  welche  auf  rätischen  Inschriften  gefunden 
werden  und  die  der  Uebersichtlichkeit  wegen  hier  zusammen- 
gestellt sein  sollen.  Es  fand  sich  die  ala  I.FL  auf  einem 
Grabstein  eines  Veteranen  derselben  zu  Kösching  (C.  J.  L.  III. 
n.  5907),  ein  Stein  von  Pfünz  nennt  einen  T.  Fl.  Romanus 
dec.  al.  I  Flaviae,  das  S.  205  abgedruckte  Desticiusdenkmal 
enthält  ebenfalls  einige  Namen  von  Decurionen  dieser  ala 
ex  exercitu  Baetico,  und  der  zu  Kösching  gefundene  Stein, 
den  eine  ala  I.  Fl.  C.  r.  dem  Kaiser  Hadrian  zu  Ehren  im 
J.  141  p.  Ch.  setzte  (C.  J.  L.  III  5906)  lässt  kaum  einen 
Zweifel  übrig,  dass  die  hier  auf  einem  öffentlichen  Denkmal 
mit  ihrem  ehrenden  Beinamen  erscheinende  ala  mit  der  auf 
dem  Köscliinger  Grabstein  genannten  gleich  sei  und  auch  die 
übrigen  Denkmäler  für  sie  in  Anspruch  genommen  werden 
müssen,  sowie,  dass  dieselbe  eine  Zeit  lang  zu  Kösching  ihre 
Lagerstelle  hatte. 

Keine  der  in  unserm  Diplom  genannten  beiden  Abtheil- 
ungen stimmt  im  Namen  mit  der  Benennung  der  ala  I  Fl. 
C.  r.  des  Köschinger  Denkmals  überein ,  wenn  man  nicht 
annehmen  will,  der  auf  diesem  Stein  zuletzt  noch  erscheinende 
Buchstabe  sei  ein  G,  der  Anfangsbuchstabe  von  Gemelliana 
und  kein  C  gewesen.  Das  Vorkommen  der  ala  I  Flavia  auf 
dem  Desticiusdenkmal,  worin  Abtheilungen  genannt  sind, 
die  mit  den  in  unserm  Diplom  vorkommenden  gleichzeitig 
in  Rätien  standen,  lässt  uns  nur  die  Wahl,  entweder  die 
daselbst  genannte  ala  I  Fl.  mit  einer  der  beiden  alae  I  Fl. 
des  Diploms  zu  identificiren  oder  anzunehmen,  dass  im 
Diplom  nicht  alle  damals  in  Rätien  liegenden  Auxiliai  truppen 
aufgezählt  sind. 

Da  wir  für  die  letzte  Möglichkeit  keinen  Anhaltspunkt 
haben,  so  sind  wir  genöthigt  die  im  Desticiusdenkmal  ge- 
nannte ala  I  Fl.  der  ala  I  Fl.  Gemell.,  die  dort  befindliche 
ala  I  sing,  aber  der  ala  I  Fl.  sing,  des  Diploms  zuzuweisen. 


Ohlenschtager: Das  Begensburger  römische  Militärdiplom.    211 

Befremdend  bleibt  es  immer,  dass  in  öffentlichen 
Urkunden  diese  Abtheilung,  sowohl  im  Jahre  107  im  Militär- 
diplom von  Weissenburg,  als  auf  einem  Denkmal  zu  Ehren 
des  Kaisers  Hadrian ,  welches  von  diesen  Reitern  im  Jahre 
141  auf  der  Biburg  bei  Pförring  errichtet  wurde,  (C.  J.  L. 
III.,  5912.)  den  Namen  Ala  I.  singularium  C.  B.  führt, 
während  in  unserem  Diplome  ala  L  Fl.  Sing,  steht,  ohne 
dass  man  annehmen  kann,  der  Zusatz  Flavia  sei  in  der 
Zwischenzeit  entstanden.  Welche  Gründe  die  Weglassung 
eines  solchen  Beinamens  veranlassten,  und  ob  sie  überhaupt 
einen  andern  Grund  als  den  der  Raumersparniss  hatte,  wird 
wohl  ohne  ganz  reichliche  Funde  immer  dunkel  bleiben. 

Dass  im  Laufe  der  Zeit  neben  dem  ursprünglichen 
Namen  viele  Abtheilungen  einen  oder  mehrere  ehrende  oder 
historische  Beinamen  erhielten,  ist  erwiesen,  und  manch- 
mal lässt  sich  sogar  der  Anlass  annähernd  bestimmen,  bei 
welchem  die  Namens  Verleihung  stattfand.  Ebenso  sicher 
dürfen  wir  annehmen,  dass,  beim  Vorhandensein  mehrerer 
Namen,  im  gewöhnlichen  Leben  vorzugsweise  nur  einer  und 
nicht  immer  der  ursprüngliche  Namen  gebraucht  wurde  und, 
wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  populär  geworden  war, 
und  diese  Namen  erscheinen  dann  auf  den  Grabsteinen  mit 
oder  ohne  Zusatz  des  oder  der  andern  Namen.  Ein  Gesetz, 
wonach  die  Wahl  solcher  populären  Namen  aus  dem  Gesammt- 
namen  stattgefunden  hat,  wird  sich  unmöglich  finden  lassen, 
weil  die  Gründe  zur  Wahl  unberechenbar  sind  und  sich 
jeder  Untersuchung  entziehen. 

Dass  auch  in  öffentlichen  Urkunden  manche  Abtheilungen 
nicht  mit  ihrem  vollen  Namen  erscheinen  ist  bekannt,  doch 
sind  dann  in  diesen  höchst  wahrscheinlich  die  offiziellen 
Stammnamen  der  Abtheilungen  ohne  die  Beinamen  zu  finden, 
und  über  den  etwaigen  Zusatz  von  Beinamen  entschied  der 
vorwiegende  Gebrauch  derselben  oder  das  Bedürfniss  gleich- 
[1874,  3.  Phil.  hist.  C1J     .  15 


212       Sitzung  der  phüos.'phüöl.  Classe  vom  7.  März  1874. 

namige  und  gleichnuinerirte  Militärabtheilungen  deutlich  zu 
unterscheiden. 

Alles,  was über  coh.  I  Fl.  Canathenorum  gesagt  werden 
kann,  ist  oben  erwähnt,  für  coh.  I  Breuc  sind  bei  Christ, 
das  römische  Militärdiplom  von  Weissenburg  Seite  438  die 
nöthigen  Angaben  zu  finden,  wohin  ich  auch  wegen  coh.  1 
et  II  Baetorum  verweise.  Doch  darf  hier  nicht  unerwähnt 
bleiben,  dass  die  coh.  II.  Raetorura  im  Wiesbadener  Diplom 
vom  Jahre  116  in  Germanien  und  zwar  nach  den  Funden 
zu  urtheilen  bei  Wiesbaden  und  auf  der  Saalburg  stand, 
was  die  Ergänzug  II  Raet.  zum  wenigsten  zweifelhaft  macht, 
die  sich  nur  auf  das  Weissenburger  Diplom  und  die  ganz 
gleiche  Aufzählung  I  et  II,  sowie  die  richtige  Ausfüllung  der 
Lücke  stützt.  Dass  keine  sonstigen  Denkmäler  dieser  Ab- 
theilungen in  Rätien  vorhanden  sind,  kann  nicht  als  Ein- 
wand geltend  gemacht  werden,  da  uns  Steindenkmale  auch 
für  andere  sonst  verbürgte  Abtheilungen  fehlen.  Die  wenigen 
Ueberbleibsel  der  coh.  II  Aqiiitanorum  sind  schon  früher 
berücksichtigt. 

Die  folgende  coh.  III  Bracaraugustanorum  liefert  einen 
interessanten  Beleg  für  häufigen  Garnisonswechsel. 

Im  Jahre  103  oder  104  war  dieselbe  in  Britannia 
(C.  J.  L.  VII.  n.  1193),  im  Jahre  107  in  Baetia  (C  J.  L. 
III.  dipl.  XXIV.),  im  Jahre  124  wieder  in  Britannia  (C.  J. 
L.  VII.  n.  1195)  und  im  Jahre  166  wieder  in  Baetia  in 
unserm  Diplom.  Die  Geschichte  der  Cohorten  der  Bracar- 
augustani  ist  zusammengestellt  von  Henzen  in  den  Jahr- 
büchern d.  Ver.  f.  Alterth.  im  Rheinlande  XIII.  S.  95.  Den 
dort  aufgezählten  Inschriften,  welche  die  cohors  III.  Bracar. 
nennen,  reiht  sich  noch  an  Orelli  6565,  Q  Papirius  Maximus 
praef.  coh.  III  Bracaraugust.  q.  e.  in  Raetia  und  Renier 
inscript.  Rom.  de  l'Algerie  n.  315,  der  die  auf  einem  fragmen- 
tarischen Steine  erhaltenen  Worte  coh.  III  Bra.  dieser  Cohorte 


Ohlenschlager:  Das  Megensburger  romische  Militärdiplom.    213 

zugeschrieben  hat.  Dieses  Beispiel  dürfte  auch  die  Bedenken 
zerstreuen,  welche  man  etwa  gegen  das  Einsetzen  der  coh. 
II  Raetorum  fassen  konnte,  die  im  Jahre  107  in  Baetia 
(Weissenburger  Diplom),  im  Jahre  116  in  Germania  stand, 
und  nach  unserer  Ergänzung  im  J.  166  wieder  in  Baetia 
gewesen  sein  soll. 

Auch  die  später  genannte  coh.  V  Bracaraugustanorum 
stand  nicht  immer  in  Raetia,  Orelli  5017  =  6852  über- 
liefert eine  Inschrift  des  M .  Stlaceius  Coranus  —  praef.  coh.  V. 
Bracar.  Augustanorum  in  Germania  —  praef.  equitum 
alae  Hispanorum  in  Britannia.  Da  nun  eine  ala  L  His- 
panorum  Asturum  im  J.  124  in  Britannia  genannt  wird, 
(C.  J.  L.  III.  dipl.  XXX)  so  hindert  nichts  diese  Inschrift 
in  jene  Zeit  zwischen  dem  Jahre  107  des  Weissenburger- 
Diploms  und  dem  J.  166  des  unsern  zu  versetzen. 

Es  liesse  sich  sogar  vermuthen,  die  coh.  V.  Bracar- 
augustanorum sei  mit  coh.  II.  Raetorum  zusammen  nach 
Germanien  und  mit  dieser  wieder  nach  Rätien  zurückversetzt 
worden.  Sie  müsste  dann  im  Wiesbadener  Diplom  (C.  J.  L. 
III.  dipl.  XXVII.)  die  15.  Stelle  vor  der  coh.  V.  Delmatorum 
eingenommen  haben. 

Die  beiden  Abtheilungen  der  Thraker  sind  zweifellos 
dieselben,  welche  auch  das  Weissenburger  Diplom  aufzu- 
zuweisen hat,  doch  ist  die  eine  coh.  III.  Thracum  mit  dem 
sonst  bei  dieser  Cohorte  nicht  bekannten  Zusätze  veteran- 
orum  versehen ,  wahrscheinlich  dieselbe ,  welche  noch  im 
J.  107  ohne  Beinamen  erscheint.  Ihre  Geschichte  ist  bei 
Böcking  not.  occid.  p.  687*  zu  finden,  während  Christ,  das  röm. 
Militär-Diplom  von  Weissenburg  p.  443  eingehend  und  trefflich 
die  Bildung  der  beiden  gleichnamigen  Abtheilungen  behandelt. 

Die  brittischen  alae  und  Cohorten  sind  zuletzt  zusammen- 
gestellt von   Carlo  Promis12)   l'iscrizione   Cuneese  p.  41  ff. 

12)  L'iscrizione  Cuneese  di  Catavignua.  Ivomagi.  Filius  illu- 
8trata  da  Carlo  Promis.  Torino  1870.  4. 

15* 


2l4       Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  7.  März  1874. 

Neben  coh.  I.  IL  III.  VI.  und  VII.  JBrittonum  steht  die 
cohors  III,  Britannorum  bis  jetzt  einzig  da.  Dieser  Name 
war  vor  Auffindung  des  Weissenburger  Diploms  im  J.  1867 
gar  nicht  bekannt,  hat  aber  seitdem  durch  einen  bei  Cuneo 
gefundenen  Stein  einen  bedeutenden  Beleg  gefunden.  Der- 
selbe trägt  die  Inschrift: 

D.     M. 

CATAVIGNI 

IVOMAGI  .  F 


MILIT  .  COH 
Hl  .  BRITAN 

NORVM  5  GESÄT 

VIX  .  ANN  .  XXV 

STI  .  VI  .  EXERCI 

TVS  .  RAETICI 

PATERNVS 

H  .  F  .  C 

COMMILITONI 

CARISSIMO 

und  gibt  uns  die  Gewissheit,  dass  der  Name  Britanni  nicht 
blos  eine  zufällige  mit  Brittones  völlig  gleiche  bedeutende 
Bildung  des  Völkernamens  ist.  Der  Name  Britanni  wird 
durchweg  auf  Inschriften  mit  einfachem  T  geschrieben,  die 
einzige  mir  bekannte  Ausnahme  bildet  die  ohnehin  fehler- 
hafte Form  Brittaninorum  der  Innenseite  des  Weissenburger 
Diploms,  während  Brittones  mit  wenigen  Ausnahmen  mit 
doppeltem  T  geschrieben  ist.  Dass  in  verschiedenen  Schrift- 
stellern auch  Britones  geschrieben  wird,  ist  mir  nicht  un- 
bekannt, auch  sind  zunächst  hier  nur  diejenigen  Inschriften 
berücksichtigt,  in  denen  sich  beide  Namen  mit  Sicherheit 
unterscheiden  lassen.  Auch  Britanniens  findet  sich  nur 
selten  mit  doppeltem  T  (z.  B.  C.  J.  L.  vol.  III  dipl.  XLII. 
XLIII,   wo   aber   der  Name  nicht  ausgeschrieben  ist)  und 


OJüenschlager :  Das  Begensburger  römische  MiUtärdiplom.     215 

neben  dem  regelmässigen  JBritannia  erscheint  Brittannia 
verschwindend  selten  (C.  J.  L.  III  Dipl.  XXIII.  XXX.  vol.  II 
n.  1262.  2078). 

Darf  man  aus  dieser  Orthographie  einen  Schluss  ziehen, 
so  wären  in  der  Regel  die  mit  BRITT.  abgekürzten  Namen 
nur  den  Brittones,  die  Namen  mit  BRIT.  aber  den  Britanni 
zuzuweisen.  Die  Abkürzung  BR.  aber  schwankt  zwischen 
beiden  oder  gehört  gar  den  Breuci  oder  Bracaraugustani 
an  und  ihre  Deutung  verlangt  andere  benachbarte  Funde, 
wenn  sie  als  gesichert  gelten  soll ,  während  BRE  wohl  nur 
Breuci,  BRA  nur  Bracaraugustani  bedeuten  kann.  Mit 
Recht  hat  demnach  Mommsen  im  C.  J.  L.  III.  n.  5935  in 

der  Steininschrift  von  Eining  coh.  III.  Britannorum  ergänzt, 
während  man  früher,  solange  diese  Cohorte  noch  nicht  be- 
kannt war,  auf  die  Notitia  gestützt ,  (welche  einen  tribunus 
cohortis  tertiae  Brittonum  Abusina  erwähnt,  not.  occid.  cap. 
XXXIV.)  dort  coh.  III  Brittonum  zu  lesen  pflegte. 

Keinenfalls  aber  dürfen  die  Inschriften  von  Pfünz  mit 
coh.  1  Brec.  (C.  J.  L.  III.  n.  5918  a)  und  coh.  1  Bre  (C.  J. 
L.  III.  n.  5918)  den  Brittones  zugeschrieben  werden,  wie 
diess  noch  von  Promis  a.  a.  0.  p.  42  aus  Mangel  an  guten 
Abschriften  geschah.  Ist  bei  diesen  Inschriften  die  auch 
von  Mommsen  1.  c.  beibehaltene  Erklärung  richtig,  so  wäre 
auch  der  Ziegelstempel  coh.  IUI  Bre.  (C.  J.  L.  VII.  1231 
Britannia)  einer  cohors  IV.  Breucorum  zuzuweisen ,  sofern 
der  Stempel  richtig  gelesen  und  überliefert  ist. 

Die  Geschichte  der  cohors  IV.  Oallorum  ist  von  BÖcking 
not.  Orient  p.  915*  und  von  Hübner,  die  römischen  Heeres- 
abtheilungen  in  Britannien  im  rhein.  Museum  Bd.  XI  p.  32 
besprochen  und  es  genügt  hier,  die  wenigen  seither  bekannt 
gewordenen  Zeugnisse  für  dieselbe  dort  anzureihen.  Es  ist 
dies  ein  Stein  aus  Waltonhouse  mit  1.  0.  M.  coh.  IUI 
Gallorum  (C.  J.  L.  VII.  878.  Britannia)  und  eine  Inschrift 
aus  Caesarea  in  Afrika,  (Renier,  inscr.  Rom.  de  l'Algerie  n. 


216        Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  7.  März  1874. 

3903.),  die  einen  L.  Arnims  Fabianus  als  praef.  coli.  Uli 
Gallor  in  Baetia  nennt.  Ein  gleichnamiger  L.  Annius 
Fabianus  war  vor  M.  Aurelius  leg.  Aug.  pr.  pr.  pr.  Daciae, 
(C.  J.  L.  III.  1455)  der  vielleicht  mit  unserm  Praefecten 
eine  und  dieselbe  Person  ist.    (Borghesi.  ann.  1855.  p.  32.) 

Im  Jahre  105  stand  sie  in  Moesia  inferior  (C.  J.  L. 
III.  Dipl.  XXII  =  Orelli  6857),  im  Jahre  107  in  Baetia 
(C.  J.  L.  III.  Dipl.  XXIV),  ebenso  nach  unserm  Diplom  im 
Jahre  166.  Eine  auffallende  Erscheinung  bleibt  es,  dass  in 
der  notitia  occidentis  (cap.  XXXVIII)  diese  Cohorte  als 
Besatzung  von  Britannia  zu  Vindolana  erscheint  und  nach 
der  not.  orientis  (cap.  XXXII)  in  provincia  Rodopa  zu 
Ulucitra  als  Garnison  angesetzt  wird,  wenn  wir  nicht  an 
verschiedene  Cohorten  der  Gallier,  oder  eine  ungleichzeitige 
Abfassung  der  notitiae  denken  wollen. 

Von  der  Cohors  VII  Lusitanorum  sind  nur  wenige 
Nachrichten  vorhanden ;  im  J.  107  stand  sje  nach  dem 
Weissenburger  Diplom  in  Baetia;  zwischen  d.  J.  145  und 
160  in  Pannonia  (C.  J.  L.  III.  Dipl.  XLII.  XLIII)  und 
ausser  einem  Präfecten  C.  Calpurnius  Fabatus  (Grut.  382,6) 
ist  mir  nur  noch  ein  G.  Julius  Fidus  eques  coh.  VII 
Lusitanorum  bekannt  geworden  (Renier  J.  de  l'Algerie  n.  752.) 

Die  Cohors  X.  Batavorum  oo  aber  ist  hier  zum  ersten- 
mal erwähnt.  Wohl  wusste  man  aus  Tacitus,  Hist.  I.  59, 
dass  acht  Cohorten  der  Bataver  im  J.  70  n.  Ch.  zu  den 
Hilfstruppen  der  XIV.  Legion  gehörten,  aus  anderen  Quellen 
aber  waren  nur  die  coh.  I.  IL  und  III.  Batavorum  bekannt, 
alle  drei  wie  die  X.  miliariae. 

Stellt  man  schliesslich  die  Militärabtheilungen  des  Weissen- 
burger Diploms  neben  die  des  Regensburger,  so  findet  sich 
in  Anbetracht  des  Zeitunterschiedes  von  59  Jahren  und  an- 
genommen, dass  in  den  Diplomen  alle  rätische  Abtheilungen 
genannt  sind,  nur  eine  geringe  Garnisonsveränderung.  Ge* 
nannt  werden  nämlich; 


Ohlenschlager :  Das  ßegensburger  römische  Milüärdiplom.     217 


im  Weissenburger  Diplom 

vom  Jahre  107. 

IV  alae 

f  HISPANORVM  AVRIANA 

T  SINGVLARIVM  C.  R 
^AVGVSTA  THRACVM 
II  FLAYIA  P  .  F  .  oo 

XI  cohortes. 

T  BREVCORVM 
I^RAETORVM 

II  RAETOKVM 

• / 

III  BRACARAVGVSTANORVM 
III  THRACVM 

III  THRACVM  C  .  R. 

III  BRITANNORVM 

IIl^BATAVORVMoo 

IIII  GALLORVM. 

V_BRACARAVGVSTANORVM 

VII  LVSITANORVM 


im  Regensburger  Diplom 

vom  Jahre  166. 

III  alae 

I  (Hispanor.  Aur?) 
I  FL .  GEMELL 
I  FL  .  SING. 


XIII  cohortes. 
T(/fcmaCa)NATHoo? 
I  BREVC  ' 

I  (Baetorum?) 

II  (Baetorum?) 
n^AQVITAN 

III  BRACAR 

III  THRAC  VET 
III  TRRAC  (c.  r.P) 
III  BRIT. 

TV  GALL. 
V_BRACA. 
VII.  LVSITAN. 
X  BATAV.oo 


Aq  andere  Standorte  gingen  demnach  ab  die 
ALA  T.AVG.  THRAC.  und 
ALA  II  FLA  VIA  P  .  F.  oo 

an  deren  Stelle  trat  die 

ALA  I  FL  .  GEMELL. 
Von  den  Cohorten  gingen  ab  die 

COH  III  BATAVORVM  oo 


218       Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 
Dagegen  traten  ein  die 

COH  T  (Flavia  Ca)  NATH.  oo 
COH  H  AQVITAN. 
COH  X  B  ATA  VOR  oo, 

wobei  angenommen  wird,  dass  die  coh.  III.  Thrac.  vet.  des 
Regensburger  und  die  coh.  III  Thracum  des  Weissenburger 
Diploms  die  gleichen  sind.  Die  cohors  II  Baetorum  stand 
in  der  Zwischenzeit  im  J.  116  in  Germania,  die  cohors  III 
Bracaraugustanorum  im  J.  124  in  Britannia,  wie  schon 
oben  bemerkt  worden  ist. 

Einige  Zeit  vor  der  Auffindung  des  Diploms  waren 
beim  Graben  eines  Kellers  des  Brauereibesitzers  Bergmüller 
am  Karmelitenbräuhause  in  Regensburg  in  den  ersten  Tagen 
des  Mai  1873  die  Fundamente  der  porta  principalis  dextra 
des  römischen  Lagerwalles  zum  Vorschein  gekommen.  Schon 
lange  hatte  man  an  dieser  Stelle  das  römische  Thor  ver- 
muthet13).  Beim  Abräumen  der  Steine,  die  zu  dem  Neubau 
verwendet  werden  sollten,  fand  sich  am  8.  Mai  1873,  nahe 
dem  östlichen  Ende  des  Thorausganges  auch  ein  Stein  2  m. 
lang,  0,90  m.  breit  und  0,42  m.  dick,  welcher  durch  einen  sehr 
feinen  aus  Ziegelbröckchen  und  Kalk  bereiteten  Mörtel  in  den 
Sockel  des  Vorbaues  eingefügt  war,  und  der  auf  der  unteren 
Seite  eine  Inschrift  aufwies.  Zugleich  fand  sich  ein  Kapital 
dorischer  Ordnung  und  Stücke  von  Säulenschäften,  sowie 
ein  Stück  des  Thorgesimses.  Am  5.  Juli  fand  sich  dann 
ein  weiteres  ebenfalls  im  Fundament  vermauertes  Stück  der- 
selben Inschrift  c«  l1/*  m.  lang,  ebenso  breit,  aber  dicker 
als  das  vorige.  Leider  Hess  sich  die  Stadt  Regensburg  die 
Gelegenheit  entgehen,  ein  so  werthvolles  Alterthum,  wie  die 


13)  Vgl.  Regensburg  in  seiner  Vergangenheit  und  Gegenwart 
herausgegeben  von  dem  histor,  Verein  für  Oberpfalz  und  Regens- 
burg 1869.  8.  S,  26. 


IMP.CAES.M.AVR.ANTONINVS.AVG.DIVI.PILF.DIVI.VERI.  FRATER.DIVI  .  HADRIp  I.N  EP  O  S.DIVITRAIANIP  ARTH  ICI 
PRO  N  E  POS .  D I V  IN  ERVAE .  A  B  NEPOS .  GERMAN I C  VS.SARMA  TICVS .  PONTIFEX .  MAX  I1MVS.TRIB .  POTESTATIS.  XXXVI.  I M  P .  VUll 
C  O  S.fflPi>.ET.IMR  CAES.LAVR.COMMODVS.AVG.SARMATI  CVS.G  E  R  M  A  N  I  C  V  S  .MAXI  M  V  S.  ANTONINLLVP.F.DIVI.PII 
N.DIVLHADRIANLPRON.DIVI.TRAIANI.ABN.TRIB.POT.inLI  MPfi.COS.ffVALLVM  CVMPORTISET.  TVRRIBVS.EFCINS TANTE 

M  HELVIO.CLE  MENTE  .  DEXTRI A  NO  .  LEG  .  A  VG.PR.  PR. 

[1874.    3.    Phil.    hist.    Cl.]  rrj  01ft, 

J  [Zu  pag.  219.] 


Ohlenschlager :  Das  Regensburger  römische  Müitärdiplom.    219 

Fragmente  des  Thores  waren,  zugleich  die  älteste  Urkunde 
über  ihre  Stadt,  an  einer  passenden  Stelle  wieder  aufrichten 
zu  lassen,  was  bei  dem  Vorhandensein  fast  aller  Profilstücke 
keine  allzu  grossen  Schwierigkeiten  gemacht  hätte,  und  so 
fielen  die  Stücke  theilweise  in  die  Hände  der  Steinmetzen, 
welche  sie  ohne  Kenntniss  ihres  Werthes  für  den  Neubau 
zurichteten.  Die  Inschrift  zierte  offenbar  den  oberen  Theil 
eines  unter  M.  Aurel  errichteten  Thores,  das  bei  einem  Ein- 
fall der  Germanen ,  wie  die  Spuren  zeigen ,  durch  Brand 
zerstört  wurde ,  und  dessen  Bruchstücke  bei  der  rasch 
nöthigen  Wiederherstellung  desselben  im  Fundamente  der 
erneuten  Befestigung  ihren  Platz  fanden.  Aehnlich,  wie  bei 
Errichtung  der  Mauern  von  Athen  (Thuc.  I.  93)  allerlei  zu 
andern  Zwecken  bestimmte  Steine,  selbst  Grabmäler  als 
Baumaterial  dienen  mussten;  wie  die  Umfassungsmauer  des 
Lorenzhügels  zu  Epfach  bis  zum  Jahre  1830  die  römischen 
Denkmäler  für  den  Forscher  aufbewahrte,  so  musste  auch 
hier  das  ehrende  Andenken  des  M.  Aurelius  die  späteren 
Geschlechter  beschützen  helfen  und  die  Erde  gab  auch  hier 
das  ihr  Anvertraute  gerade  zu  einer  Zeit  zurück ,  wo  die 
schützende  Hand  des  H.  Pfarrer  Dahlem  dieses  unersetzliche 
Denkmal  vor  gänzlicher  Vernichtung  rettete. 

Das  Schicksal  dieses  Steines  lässt  uns  auf  die  Art  des 
Verschwindens  der  übrigen  öffentlichen  Denkmäler  schliessen, 
die  Wiederauffindung  desselben  aber  lässt  uns  hoffen,  dass 
gelegentlich  noch  manche  wieder  ans  Tageslicht  kommen 
werden,  um  uns  über  die  Geschichte  ihrer  Zeit  zu  belehren. 

Beide  Steine  passen  unmittelbar  an  einander  und  tragen 
folgende  Inschrift: 

RATER.  DIVI  .HADRIANI  .  NE  POS  .  DI  VI  .  TRAlANIPi 
CVS.PONTIFEX.MA    IMVS. TRI  B.PO  TEST  ATIS.  XXXVI.  I 
VS.GERMANIC   /S  .  MAXIMVS.AN  TONINI.  BP 
MI.COS.II  VALLV     CVMPORTISET  .  TVRRI  BVS.EFCI 
«.HELVIO,    C        MENTE   ,  DE  XT  Rl  A  N  0  .LEG,  AV 


220       Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Eine  Ergänzung  der  Inschrift  konnte  erst  versucht 
werden  ,  nachdem  für  die  ursprüngliche  Grösse  derselben 
die  nöthigen  Anhaltspunkte  gewonnen  waren,  und  darüber 
musste  die  Gestalt  der  Steine  selbst,  sowie  die  aufgedeckten 
Fundamente  Aufschluss  geben. 

Nach  den  Grundmauern  zu  schliessen  hatte  das  ganze 
Thor  eine  Breite  von  10 — 11  m.;  die  Durchfahrt  war  etwas 
über  3V2  m.  weit.  Die  jetzt  noch  vorhandenen  beiden  Steine 
haben  nun  folgenden  Grundriss: 


o  o 


Der    dickere    von    beiden    hat   an 
2  Löcher,    in  welchen  eine  das  Ganze 
Verzierung    befestigt    war    und    bildete 
scheinung  nach   die   Mitte   des  Ganzen 
schrift  fehlt,  nach  der  letzten  Zeile  zu 
welches   etwa   dem    Mittelstück,    d.    h. 
beiden    erhaltenen  Steinen   gleichkam , 
welche    die    ganze  Inschrift    enthielten, 
folgende  Gestalt  hatten. 


der  oberen  Fläche 
krönende  Figur  oder 

seiner  ganzen  Er- 
.  Am  Ende  der  In- 
schliessen,  ein  Stück, 

dem  dickeren  von 
so   dass   die  Steine, 

im  Grundriss    etwa 


Die  erhaltenen  Stücke  messen  zusammen  bei  3,25  m., 
was  einer  Gesammtlänge  von  etwa  7,75 — 8  m.  entsprechen 
würde.  Der  so  am  Anfange  der  Inschrift  zur  Ergänzung 
gebotene  Raum  entspricht  etwa  40  Buchstaben  von  der  in 
der  Inschrift  angewendeten  Grösse.  Sind  die  vorstehenden 
Voraussetzungen  richtig,  so  mag  die  Gesammtinschrift  un- 
gefähr wie  die  Beilage  gelautet  haben. 


Ohlenschlager :  Das  Begensburger  römische  Militärdiplom.     221 

Wäre  in  dieser  Inschrift  nur  die  tribunitia  potestas 
XXXVI.  des  M.  Aurelius  enthalten,  so  erschiene  alles  Be- 
mühen das  Jahr  ihrer  Abfassung  zu  bestimmen  vergebens, 
da   weder  in  Inschriften,    noch    auf  Münzen   eine  trib.  pot. 

XXXV  oder  gar  XXXVI  dieses  Kaisers  vorkommt,  während 
alle  oben  gegebenen  Buchstaben  auf  dem  Stein  in  voller, 
unverkennbarer  Deutlichkeit  vorhanden  sind.     Die  trib.  pot. 

XXXVI  würde  uns  nach  der  gewöhnlichen  Berechnung  in 
das  Jahr  182  n.  Ch.  versetzen,  in  welchem  M.  Aurelius, 
der  hier  als  divi  Hadriani  nepos  unzweifelhaft  angegeben 
ist,  schon  todt  war. 

Glücklicherweise  fanden  sich  noch  einige  andere  Zeit- 
bestimmungen,  welche  die  Auffindung  des  Jahres  möglich 
machten.  Das  Wort;  Frater  lehrt,  uns  dass  das  Jahr  169, 
das  Todesjahr  des  Verus  vorüber  ist,  und  dass  bei  der 
zweiten  in  der  Inschrift  angedeuteten  Person  nur  an  Coin- 
modus  gedacht  werden  kann. 

L.  Aurelius  Commodus  aber  war  Imperator  II  vom 
J.  177  bis  gegen  das  Ende  des  J.  179,  wo  er  als  imp.  III 
erscheint  u).  Das  zweite  Consulat  desselben  fiel  in  das  Jahr 
179  ,5),  sein  drittes  in  das  Jahr  181,  so  dass  für  die  Ab- 
fassung der  Inschrift  das  Jahr  179  gesichert  ist,  in  welchem 
M.  Aurelius  die  trib.  potestas  XXXIII  bekleidete.  Warum 
zeigt  aber  der  Stein  die  Zahl  XXXVI?  Darüber  lassen  sich 
nur  Vermuthungen  aufstellen.  Nehmen  wir  an,  dem  Stein- 
metzen, welcher  die  Schrift  auszuführen  hatte,  sei  dieselbe 
in  Currentschrift  vorgelegt  worden,  so  konnte  eine  undeut- 
lich geschriebene  lll  leicht  als  11 1  gelesen  und  von  dem  Hand- 
werker, der  sicher  die  Regierungsjahre  des  Kaisers  nicht  im 
Kopfe  hatte,  auch  falsch  eingemeiselt  werden. 


14)  Eckhel.  doct.  num.  vol.  VII.  p.  107  f. 

15)  Clinton  fasti  Romani  A,  D.  179, 


222  Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  7.  März  1874. 

Auffallender  ist,  dass  der  Fehler  nicht  verbessert  wurde, 
entweder  weil  er  Niemand  auffiel,  oder  damit  der  Stein  nicht 
verunstaltet  werde.  Nach  Feststellung  des  Jahres  179  er- 
geben sich  die  übrigen  Titel  wie  folgt:  Schon  im  J.  178 
führte  M.  Aurelius  das  imp.  Villi,  cos.  III.  und  nahm  am 
Ende  des  Jahres  179  das  imperium  X.,  Commodus  das 
imp.  III  an16).  Da  nun  Commodus  noch  als  imp.  II  erscheint, 
so  ist  für  M.  Aurelius  imp.  Villi  anzusetzen.  Das  dritte 
Consulat  hatte  M.  Aurelius  schon  im  J.  161  angetreten. 

Die  übrigen  Titel  wurden  von  M.  Aurelius  zu  verschie- 
denen Zeiten  angenommen,  er  hiess  Pater  patriae  seit 
176  p.  Ob.  (Eckhel  doct.  num.  vol.  VII.  p.  71),  Germa- 
nicus  seit  172  (925  a.  u.  c.)17),  Sarmaticus  seit  175 
(928  a.  u.  c). 

Die  letzten  beiden  Namen  führte  Commodus  ebenfalls 
seit  d.  J.  176  in  Folge  seiner  um  diese  Zeit  erfolgten  Er- 
nennung zum  Mitregenten. 

Der  Beiname  Augustus  wurde  aber  dem  Commodus 
wahrscheinlich  bei  Gelegenheit  seiner  Vermählung  mit  Cris- 
pina  im  J.   177  verliehen18). 

Die  tribunitia  potestas  IUI  des  Commodus  fällt  mit  der 
tribunitia  potestas  XXXIII  des  M.  Aurelius  zusammen.  Die 
Buchstaben  EFCI  glaube  ich  durch  e  fundamentis  construxe- 
runt  instante  deuten  zu  dürfen.  (C.  J.  L.  III.  n.  5817.) 

Anlass  zur  Verstärkung  des  römischen  Lagers  der  Castra 
Regina    durch    steinerne   Mauern,    Thürme    und    befestigte 


16)  Dio  LXXI,  33.  6  MaQXog  —  zw  IlazEgvia  Sovg  %EtQcc  ^leyakriv 
enejxxpeu  avzov  eig  zou  zrjg  (td%r]g  äywvcc'  zccl  ol  ßctQßuQot  uvzEZEivctv 
{J.EV  diu  trjg  yfiEQccg  anäffrjg  xcczex67Zr]<jc<v  de  vno  zdv  cP(0{j,cci(oi'  nccvzeg 
xcu  6  MctQXog  td  Sekkzop  avzo  xqccz(oq  7ZQoat]yogev&t], 

17)  Dio  LXXI,  3.  XQazijaag  6e  avzaiv  V  eq  [Accvixo  g  Mvofxdad-ri. 
rEQficcvovg  yccQ  zovg  cV  tolg  civw  %(0()ioig  olxovvzccg  ofOftcifo/UEv. 

18)  H.  F.  Stobbe,  Die  Tribunenjahre  der  römischen  Kaiser  im 
Philologus  Bd.  XXXII,  S,  48, 


Öhlenschlager :  t)as  Regensburger  römische  Militär diplom.    223 

Thore  war  hinreichend  durch  die  Markomannenkriege  geboten, 
welche  M.  Aurelius  im  J.  178  wieder  begonnen  hatte  19). 
Wenn  sich  des  Kaisers  Fürsorge  auf  alle  Städte  seines  Reiches 
ausdehnte,  so  war20)  dies  um  so  mehr  bei  Regensburg  not- 
wendig, welches  als  Hauptwaffenplatz  des  limes  Raeticus  am 
weitesten  nördlich  vorgeschoben,  einen  der  gefährlichsten  An- 
griffspunkte gegen  die  Germanen  zu  decken  hatte.  Eine 
Reihe  mächtiger ,  bis  jetzt  in  ihrem  Zusammenhang  noch 
nicht  genügend  erforschter  Befestigungswerke  verband  Regens- 
burg mit  dem  Endpunkte  der  Teufelsmauer,  des  künstlichen 
limes  Raeticus  oder  vielmehr  mit  dem  diesem  Endpunkte 
gegenüberliegenden  Ufer  und  bildete  mit  trefflicher  Benützung 
der  Anhöhen,  durch  Abschluss  der  Defileen,  Verschanzung 
leicht  zugänglicher  Uferstellen  eine  Schutzmauer,  hinter  der 
sich  die  Bewohner,  bewacht  durch  ein  trefflich  geleitetes 
Heer,  den  Beschäftigungen  des  Friedens  in  aller  Ruhe  über- 
liessen,  wie  diess  zahlreiche  Funde  und  Gebäudereste  be- 
zeugen. 

Dass  bei  dem  Verfall  der  römischen  Kriegszucht  auch 
so  wohldurchdachte  Massregeln  den  Mangel  an  Manneskraft 
und  Heldenmuth  nicht  ersetzen  konnten,  zeigt  uns  die  Ge- 
schichte dieses  Thores,  welches  von  M.  Aurelius  errichtet, 
von  eindringenden  Germanen  durch  Brand  zerstört,  von  den 
Römern  wieder  aufgebaut  wurde.  Die  Stürme. der  Völker- 
wanderung verwischten  aufs  Neue  dessen  Spuren  von  der 
Erdoberfläche  und  erst  in  der  neuesten  Zeit  traten  die  an- 
sehnlichen Trümmer  desselben  zu  unserer  Belehrung  auf 
kurze  Zeit  ans  Tageslicht. 


19)  Capitolini  M.  Anton,  philos.  c.  27:  triennio  bellum  postea  cum 
Marcomannis  Hermunduris  Sarmatis  Quadis  etiam  egit  et,  si  anno  uno 
superfuisset  provincias  ex  his  fecisset.  ^ 

20)  Capitolini  M.  Antonin.  c.  23:  ipse  in  largitionibus  pecuniae 
publicae  parcissimus  fuit,  sed  tarnen  et  bonis  viris  pecunias  dedit  et 
oppidis  labentibus  auxilium  tulit  et  tributa  vel  vectigalia  —  remisit. 


^24        Sitzung  der  ptiüos.-phüot.  Classe  vom  7.  Mar£  1874. 

Den  Schluss  der  Inschrift  bildet  der  Name  des  Legatus 
Augusti  propraetore  unter  dessen  Leitung  damals  die  rätische 
Militärmacht  stand  und  unter  dessen  Leitung  dergleichen 
Bauten  wie  die  Lagerbefestigung  ausgeführt  wurden.  Früher 
war  Rätien  von  procuratores  verwaltet,  dies  war  wenigstens 
schon  im  J.  69  und  zu  Tacitus  Zeit  der  Fall  (Tacit.  hist.  I.  11. 
III.  5.)  und  Desticius  Severus  der  Befehlshaber  der  römischen 
Auxiliartruppen  in  Rätien  im  J.  166  wird  auf  der  Inschrift 
von  Concordia  noch  procurator  provinciae  Raetiae  genannt 
(vgl.  S.  205).  Unter  den  mit  bestimmten  Zeitangaben  ver- 
sehenen Nachrichten  von  Legaten  ist  M.  Helvius  Clemens 
Dextrianus  im  J.  179  derjenige,  welcher  dem  letzten,  dein 
Jahr  nach  bekannten,  procurator  T.  Desticius  Severus  v.  106 
am  nächsten  steht.  Die  Umwandlung  des  höchsten  Provinzial- 
beamten  in  einen  legatus  Augusti  propraetore  muss  demnach 
in  der  Zwischenzeit  stattgefunden  haben  und  wird  gewöhn- 
lich mit  der  Errichtung  der  legio  III.  Italica  in  Verbindung 
gebracht,  welche  von  F.  Kenner  mit  grosser  Wahrschein- 
lichkeit  in    die  Zeit  zwischen  166  und  170  verlegt  wird21). 

Gegen  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  endlich  (im  J.  291) 
und  später  sehen  wir  einen  Präses  an  der  Spitze  der 
Provinz. 

Eine  Reihe  von  Denkmälern  und  Schriftstellen  berichtet 
uns  von  rätischen  Statthaltern  und  wurden  dieselben  zuletzt 
von  P.  C.  Planta  in  seinem  Buche  ,,das  alte  Rätien"  S.  159  ff. 
jedoch  nicht  vollständig  zusammengestellt,  so  dass  eine  neue 
wo  möglich  chronologische  Aufzählung  hier  nicht  ungerecht- 
fertigt ist.  Doch  müssen  auch  solche  Nachrichten  aufge- 
nommen werden,  welche  uns  Männer  nennen,  die  eine  hohe 

21)  Kemier:  Die  Römerwerke  in  Niederöstreich,  im  Jahrbuch 
für  Landeskunde  von  Niederöstreich  II  (1869);  weil  166  der  Marko- 
mannenkrieg begann  und  aus  dem  Jahre  170  die  älteste  bekannte 
Inschrift  der  (mit  der  III.  italischen  gleichzeitig  errichteten  Dio 
Cassius  55,  24)  II  italischen  Legion  stammt.   (Gruter  260,  5  Spoleto). 


Ohtenschlager :  Das  Regensburger  römische  Militär diplom.     225 

militärische  Stellung  in  Rätien  einnahmen,  wenn  ihnen  auch 
der  Titel  procurator,  legatus,  oder  praeses  nicht  ausdrück- 
lich beigelegt  ist. 

1.  Die  früheste  Erwähnung  eines  Oberbefehlshabers  in 
einem  Gebiet  an  der  Donau,  welches  durch  die  Nachbar- 
schaft der  Hermunduren  als  Rätien  angesehen  werden  kann 
findet  sich  bei  Cassius  Dio  55,  10a.  6  yaq  Jopiriog  (L. 
Domitius  Aenobarbus)  tcqotbqov  (asv,  ecog  sri  tcov  7tqog  T(p 
^Iotqo)  xcoquov  7]QX£>  fovg  re  cEQ^iovvöovQOvg  ix  rrjg  oweiag 
ovk  oid'  ortcog  l^avaoxavvag  v.ai  xarcc  tyjTrjaiv  exeqag  yrtg 
Ttlavco^ivovg  VTtoXaßcov  sv  (.isqei  Ttg  MaQxofAccvvldog  xaTupxioe. 
Die  Thätigkeit  des  Domitius  an  der  Donau  fällt  in  das  letzte 
oder  die  letzten  Jahre  vor  der  christlichen  Zeitrechnung, 

2.  Sex.  PediusLusianus  aus  den  ersten  Jahrzehnten 
nach  Chr.  Geburt.  Mommsen  J.  R.  N.  n.  5330.  SEX.PEDIO. 
S  .  F .  LVSIANO  HIRRVTO  —  PRAEF .  RAETis  VINDOLICIs. 
VALLis  pOENINAE- PRAEF.  GERMANICi  CAESARis.  - 

Germanicus,  für  welchen  Sex.  Pedius  die  praefectur 
versah  (s.  Mommsen  J.  R.  N.  im  Index  p.  480  s.  v.praefecti) 
starb  bereits  im  J.  19  n.  Ch. 

3.  Im  J.  69.  Porcius  Septiminus,  procurator 
Tac.  tyst.  III.  5.  infesta  Baetia  cui  Porcius  Septiminus  pro- 
curator erat. 

4.  Im  J.  107  war  Ti.  Julius  Aquilinus  der  Be- 
fehlshaber der  römischen  Truppen  in  Baetia  s.  W.  Christ, 
Das  Weissenburger  Diplom. 

5.  Zwischen  161  und  169.  Q.  Caecilius  Cisiacus 
Septicius  Pica  Caecilianus  procurator  et  pro- 
legatus.  C.  J.  L.  vol.  V.  n.  3936.  Q  .CAICILIO  jj  CISIACO. 
SEPTICIO  ||  PICAI.CAICILIANO  |]  PltOCVR  .  AVGVSTOR. 
ET  PRO.LEG.PROVINCIAI;  RAITIAI  .  ET  .  VINDELIC  || 
ET. VALLIS. POENIN.  etc. 


226        Sitzung  der  philos.-philoi.  Classe  vom  7.  März  1874. 

6.  Im  J.  162  wurde  Aufidius  Victorinus  gegen 
die  Chatten  geschickt,  welche  in  Rätien  eingefallen  waren. 
Capitolini  Antoninus  philosophus  c.  8.  imminebat  etiam 
Britannicum  bellum  et  Chatti  in  Germaniam  ac  Baetiam 
irruperant.  et  adversus  Brittannos  quidem  Calpurnius  Agri- 
cola  missus  est,  contra  Chattos  Aufidius  Victorinus. 

7.  Vor  170  war  auch  P.  Helvius  Pertinax  als 
legatus  Augusti  propraetore  in  Rätien.  Capitolini  Pertinax 
c.  2 :  Marcus  imperator  .  .  .  praetorium  eum  (Pertinacem) 
fecit  et  primae  legioni  regendae  imposuit  statimque  Baetias 
et  Noricum  ab  Jiostibus  vindicavit.  ex  quo  eminente  industria 
studio  Marci  imperatoris  consul  est  designatus  und  später: 
Cassiano  motu  composito  e  Syria  ad  Banuvii  tutelam  pro- 
fectus  est.  Das  erste  Consulatsjahr  des  Pertinax  soll  179 
gewesen  sein  (Baiter,  fasti  consulares).  Zum  zweiten  Mal 
war  er  Consul  im  J.  192  (Clinton,  fasti  Romani)  mit  imp. 
Commodo  VII.  Nach  Capitolinus  zu  schliessen  war  er  legatus 
Augusti  propraetore  legionis  I  und  diess  lässt  uns  annehmen, 
dass  die  Thätigkeit  des  Pertinax  in  der  Zeit  vor  der  Er- 
richtung der  legio  III  Italica,  demnach  vor  170  n.  Ch.  statt- 
gefunden habe.  In  die  Zeit  unter  oder  vor  M.  Aurelius 
gehören  auch  noch 

8.  T.  Varius  Clemens  procurator  der  au8  einer 
Anzahl  von  Inschriften  bekannt  ist.  C.  J.  L.  III.  5211 — 5216, 
z.  B.  5215  T  .  VARIO .  CLEMENTI  AB  EPISTVLIS .  AVGV- 
STORVM  PROC .  PROVINCIAR  —  RAETIAE  etc.  Der  von 
ihm  zuletzt  erlangte  Titel  (s.  Mommsen  zu  den  oben  genannten 
Inschriften)  ab  epistulis  Augustorum  führt  uns  in  die  Zeit 
zwischen  161  und  169. 

9.  Cl.  Paternus  Clementianus  procurator. 
Er  wird  erwähnt  in  drei  Denkmälern  aus  Epfacli  (C.  J.  L. 
III.  5775.  5776.  5777.).  Da  er  auf  dem  letzten  Steine  kurz- 
weg PROC .  AVG  ohne  Beifügung  der  Provinz  genannt  wird, 


Ohtenschtager :  Das  Regensburger  römische  Militärdiplom,    227 

so  ist  es  mindestens  erlaubt  ihn  unter  die  Procuratoren 
derjenigen  Provinz  einzureihen,  in  welcher  der  Stein  gefun- 
den wurde. 

10.  Im  J.  166  T.  Desticius  Severus  procurator. 
bekannt  durch  die  S.  205  angeführte  Inschrift  und  das 
Regensburger  Militärdiplom. 

11.  Im  J.  179  M.  Helvius  Clemens  Dextrianus 
leg.  Aug. 

12.  Im  J.  196.  Appius.  Cl.  Lateranus  cos.  design. 
leg.  aug.  pr.  pr.  leg.  DI  Ital.  C.  J.  L.  III.  n.  5793. 
Der  Zusatz  cos.  designatus  weist  auf  das  Jahr  196  hin,  da 
Lateranus  im  J.  197  Consul  war  (Clinton,  fasti  Romani). 

13.  Dionysius  legatus  Augusti  pro  pr.,  der  in 
einer  sehr  fragmentarischen  Inschrift  von  Lauingen  genannt 
wird,  (C.  J.  L.  III.  n.  5874)  und  dessen  Amtsführung  wahr- 
scheinlich in  die  Zeit  des  Kaisers  M.  Aurelius  Antoninus 
(d.h.  Caracalla)  211—217  fällt. 

14.  Petronius  Pollianus  leg.  aug.  pr.  pr.  Raetiae, 
welcher  zu  Karlsbuig  ein  Denkmal  hinterliess.  C.  J.  L.  III 
n.  1017  GENIO  ||  IMP .  GORDIANI  ||  P .  f .  INVICT  ||  AVG. 
PFTRONIVS  ||  POLLIANVS  ||  v.c.  -  LEG.  AVG  ||  pr.pR. 
RAET .  It  ||  eM .  BELGICAE.   Zwischen  den  Jahren  238—244. 

15.  Eine  leider  ganz  fragmentarische  Inschrift  aus 
Renier:  inscriptions  de  l'Algerie,  Cirta  n.  1828:  PR  PRO- 
VINCIAE  RLII  ||  VSDEM  PORCIOPTATI  G  legato  Augusti 
pr.  pr{aetore)  provinciae  Reti(a.e)  (ei)usdem  Porci  Optati 
g(enero  ?) 

16.  Im  J.  253  führte  Licinius  Valerianus  in  Rätien 
den  Oberbefehl,  als  er  zum  Kaiser  ausgerufen  wurde.  Eutro- 
pius  IX.  7.  hinc  Licinius  Valerianus  in  Raetia  et  Norico 
agens  ab  exercitu  imperator  et  mox  Augustus  est  factus. 
Aurelius  Victor  de  Caesaribus  c.  31  f.  at  milites  qui  contracti 

[1874,  3.  Phil.  hist.  CL]  IG 


228        Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

undique  apud  Baetias  ob  instans  bellum  morabantur,  Licinio 
Valeriano  Imperium  deferunt. 

17.  Unter  Gallienus  (259—268)  stand  Aureolus  an 
der  Spitze  der  Militärmacht  in  Rätien:  Aurelius  Victor  de 
Caesaribus  c.  33:  namque  Aureolus  cum  per  Baetias  legio- 
nibus  praeesset,  excitus,  uti  mos  est,  socordia  tarn  ignavi 
ducis  sumpto  imperio  Bomano  Bomam  contendebat,  eine 
Angabe,  welche  durch  die  Stelle  in  den  vitac  XXX  tyr. 
c.  11.  Aureolus  quoque  Illyricianos  exercitus  regens  .... 
coactus  a  militibus  sumpsit  imperium  durchaus  nicht  auf- 
gehoben wird. 

18.  Um  261  erscheint  Fulvius  Boius  als  dux  Bae~ 
tici  limitis  (Vopisci  Aurelianus  c.  13)  und 

19.  unter  Aurelianus  im  J.  270—273.  Bonosus  als 
dux  Raetici  limitis  (Vopisci  Bonosus). 

Welche  Stellung  dieser  dux  Baetici  limitis  zu  den  bis- 
herigen legati  Augusti  pro  praetor e  einnahm,  ist  uns  aus 
Mangel  an  Quellen  nicht  bekannt,  ebensowenig,  ob  überhaupt 
beide  Würden  gleichzeitig  nebeneinander  bestanden  haben. 

Es  lässt  sich  nicht  behaupten ,  dass  der  bei  Vopiscus 
erwähnte  dux  Baetici  limitis  mit  dem  in  der  notitia  occi- 
dentis  (c.  XXXIV)  genannten  dux  Baetiae  primae  et  secundae 
identisch  sei,  denn  die  uns  bekannten  duces  Raetici  limitis 
gehören  der  Zeit  an ,  in  welcher  Rätien  noch  eine  unge- 
teilte Provinz  war,  und  ihr  Name  lässt  es  wohl  zu,  dass 
in  dem  inneren  Theile  Rätiens,  welcher  nicht  zum  limes 
gerechnet  wurde,  der  legatus  legionis  III.  Italicae,  noch  seine 
Thätigkeit  ausübte,  auch  wäre  es  möglich,  dass  Vopiscus 
die  zu  seiner  Zeit  geläufige  Benennung  auf  die  frühere  Zeit 
übertragen  hätte. 

20)  Olus  Terentius  Pudens  Uttedianus  leg. 
Augg.  propraet.  provinciae  Retiae  (C.  J.  L.  III 
n.  993)  genannt  in  einer  Inschrift  von  Knrlsburg  und  ebenso, 


Ohlenschlager:  Das  Begensburger  römische  Militärdiplom.    229 

wie  der  vorher  (n.  13)  erwähnte  Petronius  Pollianus  zuvor 
legatus  Augustoruin  legionis  XIII.  geminae.  Planta ,  das 
alte  Rätien  S.  161  Anm.  3  glaubt,  dass  unter  diesen  Augusti 
Diokletian  und  dessen  im  J.  286  angenommener  Mitregent 
Maximianus  zu  verstehen  seien. 

21.  Sept(imius  Vale)ntio  v(ir)  p(erfectissimus)  p(raeses) 
p(rovinciae)  R(aetiae)  welcher  dem  Diokletianus  zu  Ehren 
im  J.  290  zu  Augsburg  ein  Denkmal  errichtete  (C.  J.  L.  III. 
n.  5810).  Die  Auflösung  der  Buchstaben  VPPRR  zu  den 
oben  stehenden  Worten  vir  perfectissimus  praeses  provinciae 
Raetiae  bietet  zwar  grosse  Wahrscheinlichkeit,  kann  je- 
doch mit  völliger  Sicherheit  nicht  aufgestellt  werden.  Der 
Name  ist  ergänzt  nach  einer  erhaltenen  Inschrift  desselben 
Septimius  Valentio  bei  Orelli  1049. 

22.  Valerius  Venustus  v(ir)  p(erfectissimus)  p(raeses) 
p(rovinciae)  R(aetiae) ,  der  zu  Zwifalten  dem  Sonnengotte 
wegen  Wiedererlangung  geiner  Gesundheit  einen  Tempel 
von  Grund  aus  wieder  herstellte.  (C.  J.  L.  III.  n.  5862.) 

23.  Aurelius  Mucianus  v.  p.  p(raeses)  p(rovinciae) 
R(aetiae),  welcher  zu  Augsburg  dem  Herkules  eine  Statue 
errichtete.  (C.  J.  L.  III.  n.  5785.) 

24.  Den  Schluss  der  Reihe  bildet  Generidus,  welcher 
unter  dem  Kaiser  Honorius  (395—409)  die  Streitkräfte  des 
oberen  Pannoniens,  von  Norikum  und  Rätien  bis  an  die 
Alpen  unter  seinem  Oberbefehl  vereinigte.  Zosimus  V,  46 : 
J'Era^e  reviqidov  %&v   ev  JaK^iaxia   itavTiov  fyelo&ai,  ovtcc 


22)  Ob  der  in  der  Legende  der  heiligen  Äfra  erwähnte  judex 
Gaius  zugleich  der  höchste  Beamte  der  Provinz  gewesen  sei,  lässt 
sich  beim  Mangel  sonstiger  Nachrichten  nicht  entscheiden,  vgl. 
Passio  Sanctae  Afrae  bei  Welser  und  dessen  Anmerkung  6  und  12 
zu  dieser  Legende.  Die  Zeit  dieses  judex  Gaius  ist  angegeben  in 
der  ebenfalls  bei  Welser  abgedruckten  conversio  Sanctae  Afrae  et 
puellarum  eius:  tempore  quo  persecutio  Diocletiani  fervebat  im  Jahre 
303  -304. 

16* 


230        Sitzung  der  phüos.-philol  Gasse  vom  7.  März  1874. 

OTQctrtjydv  xai  twv  alktov ,  ooot  üaioviav  te  xi\v  avw  xai 
NcoQixotg  y.al  cPaivovg  l(pvXa%xov  v.ai  ooa  ccvtwv  iiiygi  tcuv 
AXtzewv. 

Obwohl  diese  stattliche  Reihe  von  hohen  Provinzial- 
beamten  bis  jetzt  unter  sich  nur  in  lockerem  Verbände  steht, 
so  lässt  sich  doch  hoffen  und  erwarten,  dass  die  vielen  noch 
unerhobenen  Schätze  römischer  Alterthümer  auf  rätischem 
Boden  nach  und  nach  manche  Lücke  verringern  oder  aus- 
füllen werden,  namentlich,  wenn  einmal  damit  begonnen 
wird  an  allen  Fundorten  den  Nachgrabungen  eine  solche 
Sorgfalt  zuzuwenden,  wie  dies  zuletzt  in  Regensburg  geschehen 
ist.  Besondere  Verdienste  darum  erwarb  sich  Herr  Pfarrer 
Dahlem  und  ich  fühle  mich  verpflichtet  demselben  für  die 
Aufmerksamkeit,  mit  welcher  er  alle  Erscheinungen  auf  dem 
reichen  Fundgebiete  Regensburgs  verfolgt,  für  die  Bereit- 
willigkeit, mit  der  er  mir  aufs  uneigennützigste  seine  reich- 
haltigen Fundberichte  mittheilte,  sowie  Herrn  Prof.  Christ 
für  die  rege  Theilnahme,  welche  er  dieser  Arbeit  durch  Auf- 
schlüsse aller  Art  und  persönliche  Anregung  zuwendete, 
meinen  herzlichsten  Dank  auszusprechen. 

Für  mich  aber  bitte  ich  um  Nachsicht,  wenn  diese 
Arbeit,  die  neben  vielen  Berufsgeschäften  rasch  zu  Ende 
gebracht  werden  musste,  nicht  in  allen  Theilen  so  eingehend 
erscheint,  als  sie  bei  hinreichender  Müsse  hätte  werden  können, 
und  als  mir  selbst  wünschenswerth  gewesen  wäre. 


Mordtmann:   Vergleichende  Geographie  Persiens.  231 


Der  Classensecretär  von  Prantl  legt  vor: 

„Zur   vergleichenden   Geographie   Persiensu 
von  Herrn  A.  D.  Mordtmann. 

Die  vergleichende  Geographie  Persiens  hat,  mit  Aus- 
nahme der  Küsten,  über  welche  wir  sehr  schätzbare  Nach- 
richten aus  dem  Alterthum  und  sehr  belehrende  Arbeiten 
aus  der  neueren  Zeit  besitzen,  im  ganzen  noch  geringe  Fort- 
schritte gemacht.  Im  Pars  (Fars,  Ilaqoig)  z.  ß.  ist  wohl 
eigentlich  nur  ein  einziger  Punkt  mit  völliger  Sicherheit 
festgestellt,  Persepolis,  dessen  grossartige  Denkmäler  jeden 
Zweifel  beseitigen.  Die  Identität  von  Pasargadae  mit  dem 
Monument  Mesdschid-i  Mader-i  Süleiman  in  der  Nähe  des 
heutigen  Murghäb  ist  ebenfalls  wohl  als  gesichert  anzusehen, 
obgleich  hier  noch  einzelne  Bedenken  obwalten.  Alles  übrige 
aber  ist  noch  dunkel  und  ungewiss;  Ptolemäus  (L.  VI,  c.  4) 
gibt  eine  Liste  von  34  Städten  in  Persis;  für  die  grosse 
Mehrzahl  derselben  ist  meines  Wissens  noch  gar  nicht  ein- 
mal ein  Versuch  gemacht,  in  dieses  lange  Register  Licht 
und  Ordnung  hineinzubringen. 

Die  alten  Geographen ,  mit  Ausnahme  des  Ptolemäus, 
so  wie  die  Geschichtschreiber  Alexanders  nennen  uns  nur 
sehr  wenige  Ortschaften  in  Persis;  Ptolemäus  wird  also  sein 
Verzeichniss  aus  den  Mittheilungen  des  Titianos,  eines  make- 
donischen Kaufmanns  entnommen  haben  (cf.  L.  I  c.  11).    In 


232       Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

den  Keilinschriften ,  sowie  in  den  armenischen  Historikern 
werden  uns  ebenfalls  einige  Ortschaften-  in  Persis  namhaft 
gemacht:  das  ist  alles,  was  wir  an  geographischen  Daten 
über  diese  Landschaft  aus  dem  Alterthum  besitzen.  Seit 
Marco  Polo  fingen  europäische  Reisende  an,  Persien  zu  durch- 
forschen ;  wenn  wir  aber  die  nach  ihren  Angaben  construirten 
Karten  der  neuesten  Zeit  mit  einander  vergleichen,  so  ergibt 
sich  daraus  die  Ueberzeugung  ,  dass  dieses  Land  noch  bei 
weitem  nicht  hinlänglich  erforscht  ist,  um  Studien  über  ver- 
gleichende Geographie  mit  Erfolg  anzustellen.  Wenn  ich 
nichts  desto  weniger  in  diesen  Blättern  einen  solchen  Versuch 
mache,  so  geschieht  dies  nicht  in  der  Ueberzeugung,  dass 
ich  sichere  Resultate  erzielt  habe,  sondern  vielmehr  um 
durch  Discussion  verschiedener  Punkte  Anregung  zu  weiteren 
Forschungen  zu  geben  und  namentlich  solche  Punkte  hervor- 
zuheben, welche  künftigen  wissenschaftlichen  Reisenden  einen 
Fingerzeig  geben  könnten,  in  welcher  Richtung  sie  ihre 
Untersuchungen  anzustellen  haben. 

Für  die  Zeiten  nach  dem  Islam  gewähren  die  arabischen 
und  persischen  Geographen  und  Geschichtschreiber  eine 
reiche  Ausbeute;  ihre  Notizen  über  vor-islamitische  Verhält- 
nisse aber  haben  nur  einen  geringen  Werth ;  die  bis  jetzt 
veröffentlichten  Werke  aus  der  Sassanidenzeit  liefern  nur 
sehr  dürftige  Notizen,  die  jedoch  keineswegs  zu  verschmähen 
sind.  Desto  mehr  Beiträge  aber  finden  wir  in  der  gleich- 
zeitigen syrischen  und  armenischen  Litteratur,  sowie  in  der 
Numismatik  der  Sassaniden,  wodurch  der  Anschluss  an  die 
parthische  Periode  und  endlich  an  die  Achämenidenzeit  er- 
möglicht wird. 

Ich  will  versuchen,  mit  Benützung  der  mir  zu  Gebote 
stehenden  Hülfsmittei  einige  Punkte,  zunächst  im  eigentlichen 
Pars  festzustellen,  um  damit  eine  sichere  Grundlage  für 
weitere  Forschungen  zu  gewinnen. 


Mordtmann:   Vergleichende  Geographie  Persiens.  233 

Da  hinsichtlich  der  Identität  von  Pasargadae  mit  dem 
heutigen  Murghäb  noch  einige  Bedenken  obwalten,  so  werde 
ich  zunächst  diesen  Punkt  discutiren. 

Die  Orthographie  des  Namens  ist  mehrfachen  Schwank- 
ungen unterworfen;  wir  lesen  TlaoaQ^a da  (oder  TIaodqqa%a) 
bei  Ptol.  VI,  4,  7. 

naoaqyadai  bei  Strabo  pg.  717,  728,  730.  Arr.  Exp. 
Alex.  VI,  29.  Plut.  in  Artox.  c.  3.  Appian.  Bell.  Mithr.  c.  66. 
Polyaen.  VII,  6.  Dionys.  Perieg.  1069.  Nicol.  Damasc.  (in 
Müller,  Fragm.  Hist.  Gr.  Vol.  III  p.  405). 

naooaqydöai  bei  Steph.  Byz. 

Pasargadae  bei  Plin.  H.  N.  VI,  26.  Solin.  Polyh.  c.  69. 

naoayaqöau  bei  Arr.  Exp.  Alex.  III,  18. 

Passagardae  bei  Plin.  H.  N.  VI,  29. 

Persagadae  bei  Curt.  V,  6.  X,  1. 

Parsagadae  bei  Geogr.  Ravenn.  II,  5. 

Nach  Steph.  Byz.  bedeutet  der  Name  „IleQOwv  cvqa- 
TOTtedov"  „das  Heerlager  der  Perser";  demnach  wäre  bloss 
die  bei  Curtius  und  bei  dem  Geographen  von  Ravenna  vor- 
kommende Form  richtig;  da  aber  bei  weitem  die  Mehrzahl 
der  Schriftsteller  die  Form  Pasargadae  haben,  so  darf  man 
wohl  letztere  für  die  richtige  halten  und  die  Uebersetzung 
„Heerlager  der  Perser"  ist  nicht  weiter  zu  beachten.  Die 
zweite  Hälfte  des  Wortes  erklärt  sich  leicht;  im  Neupers.  ist 
j^  „Haus"  s&f  1)  „Haus"  2)  „Dorf".  Diesem  Worte 
entspricht  das  oberdeutsche  Gaden  (Berchtesgaden)  und  das 
niederdeutsche  Kath  „Bauernhaus",  welches  letztere  Wort 
in  der  Schriftsprache  in  Norddeutschland  bald  „die  Käthe", 
bald  >5der  Käthen"  wiedergegeben  wird.  Die  altpersische 
Form  ist  vith,  Zend  vig,  woraus  hervorgeht,  dass  die  neu- 
persische Form  sich  schon  sehr  früh  entwickelt  hat.  Die 
Form  Raoayaqdat  ist  offenbar  gleichbedeutend,  und  entspricht 


234         Sitzung  der  philos.-philol.  Olasse  vom  7.  März  1874. 

in  ihrer  zweiten  Hälfte  dem  deutschen  Gart  (Stuttgart). 
Was  den  Hauptnamen  betrifft,  so  ist  er  sicher  von  den 
Pasargaden  entnommen,  demjenigen  persischen  Stamme, 
welchem  Kyros  und  seine  Familie,  die  Achämeniden,  ange- 
hören (Herod.  I,  125).  Es  wird  uns  berichtet,  dass  Kyros 
an  der  Stelle,  wo  er  seinen  entscheidenden  Sieg  über  die 
Meder  erfocht,  die  Stadt  Pasargadae  angelegt  habe;  die 
Ebene,  in  welcher  diese  Stadt  liegt,  sei  vom  Kyrosflusse 
durchströmt ;  später  habe  er  sich  hier  auch  sein  Grabmal 
errichten  lassen.  Alexander  der  Grosse  besuchte  dieses 
Grabmal,  und  Arrian  und  Strabo  geben  uns  ausführliche 
Beschreibungen  der  Lokalität,  des  Mausoleums  und  der  In- 
schrift auf  demselben.  (Arr.  Exp.  Alex.  VI,  29.  Strabo 
Lib.  XV,  p.  730).  Diese  Beschreibung  stimmt  in  allen  ihren 
Einzelheiten  zu  dem  Ruinen-Complex  in  der  Nähe  des  heu- 
tigen Murghäb,  nordöstlich  von  Persepolis,  bekannt  unter 
dem  Namen  Mesdschid-i  Mader-i  Suleiman  (Moschee  der 
Mutter  Salomon's),  indem  die  muhammedanische  Sage  das 
Mausoleum  zum  Grabmal  der  Bathseba  macht.  In  dem 
persischen  Wörterbuche  des  Mohammed  Kerim  ibn  Mehdi- 
kuliTebrizi,  lithographirt  in  Tebriz  im  J.  1260(1844)  heisst 
es  fol.  9,  recto : 

und  im  Burhan-i  Kati  p.  142  der  Ausgabe  von  Kahiia 
1251  (1835) 


La    x£   nc>xcjn;.x>    xsJaS    Jjt   sjuiv^    »wwb   &>-wL 


Mordtmann:  Vergleichende  Geographie  Pirsiens.  235 

Pas  er e  bedeutet  also  ein  Stück  Land,  dessen  Ertrag 
der  Staatskasse  überwiesen  ist,  und  demgemäss  Pasargadae 

d.  h.  Pasere  gade  aJ^s^L  (nach  der  Analogie  von  sJjCwCof) 
ein  Ort,  dessen  Einkünfte  dem  Staat  gehören,  eine  Staats- 
Domäne. 

Der  älteste  Reisende,  welcher  diese  Ruinenstätte  be- 
suchte, ist  der  venezianische  Gesandte  Giosafatte  Barbaro  im 
J.  1472 ;  ihm  folgte  der  Mecklenburger  Albrecht  von  Mandeslo, 
welcher  1638  Murghäb  besuchte  und  eine,  allerdings  nicht 
sehr  sorgfältige  Abbildung  des  Grabes  lieferte.  Von  allen 
späteren  Reisenden  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  ist  kein 
einziger  nach  Murghäb  gekommen,  obgleich  die  Entfernung  von 
Persepolis  nicht  sehr  gross  ist,  während  in  demselben  Zeitraum 
Garcias  de  Silva  Figueroa  (1618),  Pietro  dellaValle  (1622), 
Thomas  Herbert  (1628),  de  la  Boullaye  le  Gouz  (1648), 
Fryer(1673),  Chardin  (1674),  Kämpfer  (1686),  C.  Le  Bruyn 
(1704),  C.  Niebuhr  (1765)  Persepolis  besuchten  und  Ab- 
bildungen und  Beschreibungen  der  Ruinen  und  Copien  der 
Inschriften  gaben.  Im  J.  1808  kam  Adrien  Dupie  nach  Murghäb, 
erwähnt  aber  nichts  von  den  dort  befindlichen  Ruinen.  Im 
folgenden  Jahre  1809  kam  James  Morier  dahin  und  lieferte 
genaue  Abbildungen  des  Grabmals  und  Copien  der  Inschriften, 
und  sprach  sich  schon  damals  für  die  Identität  dieser  Oert- 
lichkeit  mit  dem  alten  Pasargadae  aus;  im  J.  1811  kam  er 
zum  zweitenmal  nach  Persien  in  Begleitung  des  englischen 
Gesandten  Sir  Gore  Ouseley  und  dessen  Bruders  Sir  William 
Ouseley;  er  wiederholte  damals  seinen  Besuch  in  Murghäb 
und  sprach  sich  auf's  neue  für  diese  Ansicht  aus,  obgleich 
Sir  William  Ouseley  das  alte  Pasargadae  in  dem  heutigen 
Fassa  suchte.  Ouseley  lieferte  indessen  neue  Copien  der 
Inschriften  von  Murghäb,  in  denen  schon  Grotefend  den 
Namen  Kyros  entzifferte. 

Im  J.  1818  kam  Sir  Robert  Ker  Porter  nach  Murghäb, 


236      Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874, 

machte  neue  Copien  der  Inschriften ,  und  erwähnte  auch 
Grotefend's  Auslegung.  Westergaard  nahm  eine  Revision 
sämmtlicher  Copien  der  Keilinschriften  vor,  und  überliess 
die  Inschriften  der  ersten  Gattung  dem  Prof.  C.  Lassen, 
welcher  ebenfalls  den  Namen  Kyros  las,  aber  das  Grabmal 
des  jüngeren  Kyros  in  dem  Mausoleum  suchte. 

Indessen  stimmt  die  Beschreibung  Arrian's  und  Strabo's 
zu  genau  mit  der  Lokalität  überein ,  als  dass  noch  ein 
Zweifel  zulässig  wäre.  Selbst  die  griechische  Uebersetzung 
der  Inschrift,  welche  Strabo  nach  Onesikritos  gab,  der 
Hexameter 

'Ev&dd''  eyw  xeificu  Kvqoq  ßaadevg  ßccodrjcov 

stimmt  fast  wörtlich  mit  dem  Original  überein : 

Adam  Kurusch  khschäyathiya  Hakhämanischiya 
(Ego     Cyrus  rex  Achaemenius) 

und  gerade  ihre  majestätische  Einfachheit  ist  das  beredteste 
Zeugniss  für  Kyros  den  älteren,  Stifter  der  persischen 
Monarchie. 

Gegen  dieses  Argument  verschwinden  alle  Zweifel,  und 
es  kann  sich  also  nur  noch  darum  handeln,  die  etwaigen 
auf  topographischen  Angaben  beruhenden  Zweifel  zu  ent- 
kräften. Es  ergibt  sich  übrigens ,  dass  die  topographischen 
Bedenken  in  der  Wirklichkeit  viel  geringfügiger  sind,  als 
einige  neuere  Geographen  vorgegeben  haben.  Diese  Bedenken 
sind  folgende: 

Aus  Arrian  (L.  III,  c.  18)  hat  man  geschlossen,  dass 
Alexander  auf  seinem  Marsche  von  den  Engpässen  Susiana's 
zuerst  nach  Pasargadae  und  alsdann  nach  Persepolis  ge- 
kommen sei,  so  dass  also  Pasargadae  im  Westen  von  Perse- 
polis liegen  müsse;  indessen  steht  davon  nichts  in  der  erwähnten 
Stelle,  und  dieses  Bedenken  ist  daher  ganz  ungegründet.  Im 
Gegentheil  wissen  wir  aus  den  Berichten  der  Historiker, 
dass  Alexander    auf  seinem    Rückmarsche    von    Karmanien 


Mordtmann:   Vergleichende  Geographie  Persiens.  237 

zuerst  nach  Pasargadae  und  dann  nach  Persepolis  kam,  und 
dies  stimmt  ganz  genau  mit  der  gegenseitigen  Lage  von 
Murghäb  und  Istachr. 

Ferner  wird  behauptet,  nach  Strabo  (p.  728)  liege 
Pasargadae  im  Südosten  von  Persepolis  (s.  Forbiger  in  Pauly's 
Real-Eneyclopädie  der  classischen  Alterthumswissenschaft 
Bd.  5,  S.  1214);  davon  steht  jedoch  kein  Wort  im  Strabo, 
und  somit  fällt  auch  dieses  Bedenken  weg. 

Nur  im  Ptolemäus  wird  Pasargadae  südöstlich  von 
Persepolis  angesetzt  und  Plinius  (H.  N,  VI.  26)  sagt,  dass 
man  mittelst  des  Flusses  Sitiogagus  in  sieben  Tagen 
nach  Pasargadae  gelange.  Der  Sitiogagus  des  Plinius  ist 
wahrscheinlich  derselbe  Fluss,  welchen  Arrian  in  seiner 
Hist.  Indica  c.  38  Sitccxog  nennt,  und  der  in  der  türkischen 
Geographie  des  Kiatib  Tschelebi  p.  274  ^zXzm,  Sitarekan 
heisst ;  Kiatib  Tschelebi  sagt,  der  Fluss  von  Firuzabad,  den 
er  sJo   Berare  nennt,   ergiesse  sich  in  den    Sitarekan.    — 

Firuzabad  hiess  früher  .<f  Kur,    arabisirt  .***>  Dschur,  und 

es  ist  möglich,  dass  dieser  Name  Kur  und  der  Name  des 
Flusses  Kvqog,  der  die  Ebene  von  Pasargadae  durchströmt, 
eine  Verwechslung  bei  Plinius  veranlasst  habe;  denn  sicher 
ist  es,  dass  man  weder  von  Murghäb  noch  von  Fassa, 
welches  P.  della  Valle  und  Sir  W.  Ouseley  für  Pasargadae 
hielten,  zu  Wasser  nach  dem  persischen  Meerbusen  gelangen 
kann;  da  nun  überdies  die  Stadt  Fassa,  deren  hohes  Alter 
sicher  beglaubigt  ist,  in  der  Nähe  von  Firuzabad  liegt,  so 
erklärt  sich  diese  Verwechslung  um  so  leichter. 

Herr  Haug  vermuthet,  dass  das  Fort  von  Pasargadae 
den  Namen  Schaspigan  itftfDDW  führte;  vgl.  An  Old  Zand- 
Pahlavi  Glossary,  p.  XXXVI. 

Herr  H.  Vambery  beschreibt  in  seinen  „Wanderungen 
und  Erlebnissen  in  Persien"  S.  198 — 201  die  Ruinenstätte 
und  berichtet,  dass  dieselbe  mit  dem  Namen  Guzin  bezeichnet 


238        Sitzung  der  phüos.-phüol  Glosse  vom  7.  März  1874. 

werde.  Ich  habe  diesen  Namen  bis  jetzt  in  keinem  andern 
Reisewerke  gefunden,  und  vermuthe  daher,  dass  es  ein  Irr- 
thum  sei. 

Sir  VV.  Ouseley,  überzeugt,  dass  Fassa  das  alte  Pasar- 
gadae  sei,  unternahm  von  Schiraz  aus  eine  Reise  dahin,  um 
das  Grab  des  Kyros  aufzusuchen ;  er  fand  sich  aber  in  seiner 
Hoffnung  vollständig  getäuscht,  und  konnte  nur  bestätigen,  was 
schon  P.  della  Valle  ausgesagt  hatte,  dass  es  in  Fassa  keinerlei 
Alterthümer  gebe.  Nichtsdestoweniger  lässt  sich  beweisen, 
dass  Fassa,  auchBassa  und  Passa  genannt,  schon  vor  dem  Islam 
existirte ;  zunächst  haben  wir  dafür  das  direkte  Zeugniss  Bela- 
dori's,  welcher  ausdrücklich  erwähnt  (p.  388,  ed.  Goeje),  dass 
Osman  ibn  Abül  Aassi  diese  Stadt  im  J.  24  der  Hidschret 
(645)  eroberte.  Ferner  erscheint  ihr  Name  auf  den  Münzen 
der  Sassaniden  (allerdings  nicht  sehr  häufig)  nämlich  im 
J.  29  Chusrav's  I  (559  n.  Ch.  G.),  im  J.  10  des  Hormuz  IV 
(588)  und  im  ersten  Jahre  Chusrav's  II  (591)  in  der  Form 

-UU|  NDI1  Baga  und  im  J.  28  Chusrav's  II  (618)  in  der 
Form  „LILLO  KDS  Faga  oder  Paga.  Desto  häufiger  aber 
kommt  sie  auf  den  ältesten  Chalifeninünzen  mit  Pehlevi- 
legenden  vor,  vom  J.  35  der  Hidschret  an  bis  zum  J.  83, 
so  wie  auf  den  Münzen  der  Ommiaden  und  Abbasiden  in 
der  Form  L*i.  —  Hamze  Ispahani  (p.  37  ed.  Gottwaldt) 
sagt,  die  Stadt  sei  von  Kei  Güschtasp  in  Form  eines  Drei- 
ecks unter  dem  Namen  Ram  Vaschnaskan  ^UuwLuä.  *K 
erbaut.  Die  Glaubwürdigkeit  dieser  letzteren  Nachricht  lassen 
wir  billigerweise  auf  sich  beruhen;  es  wäre  jedoch  immer- 
hin möglich,  dass  das  BaxSiva  des  Ptolemäus  (L.  VI,  4,  6) 
das  alte  Ram  Vaschnaskan  des  Hamze  und  das  heutige  Fassa 
(Bassa)  repräsentire  und  uns  zugleich  den  Uebergang  der 
älteren  Namensform  zu  der  neueren  zeige.  Ich  lege  indessen 
wenig  Werth  auf  diese  Vermuthung,  da  das  Batthina  des 
Ptolemäus  südwestlich  und  nicht  südöstlich  von  Persepolis 
angesetzt  ist.  


Mordtmann:  Vergleichende  Geographie  Persiens.  239 

Die  heutige  Provinz  Laristan  (ehemals  zu  Fars  gehörig) 
liefert  noch  weitere  interessante  Vergleichungen. 

Darius  berichtet  in  der  Keilinschrift  von  Bihistun,  Col.  I, 
Abschn.  XI,  der  Magier  Gomäta  habe  sich  in  dem  Gebirge 
Arakadriscli  in  der  Provinz  Pisiyäuvädä  empört  und  sich  für 
den  ermordeten  Bruder  des  Kambyses  ausgegeben. 

Ferner  heisst  es,  Col.  III,  Abschn.  V  bis  VIII,  dass  ein 
gewisser  Vahyazdäta  sich  in  Täravä  in  der  Provinz  Yutiyä 
in  Pars  gegen  Darius  empörte,  und  sich  ebenfalls  für  den 
ermordeten  Bartiya  (Smerdis)  ausgab.  Nach  der  ersten 
Schlacht,  die  ihm  Artavardiya,  der  General  des  Darius,  bei 
Rakha  in  Pars  lieferte,  zog  er  sich  nach  Pisiyäuvädä  zurück, 
und  bei  dem  Berge  Parga  wurde  er  zum  zweitenmale  besiegt 
und  gefangen  genommen,  und  in  der  Stadt  Uvädaidaya 
gekreuzigt. 

In  dem  Namen  Yutiyä  hat  schon  Oppert  den  Namen 
der  ÖvTioi  des  Herodot  vermuthet.  Letzterer  berichtet 
(L.  III,  c.  93),  dass  die  Sagarten ,  Sarangen ,  Thamanäer, 
Utier,  Myken  und  die  Inseln  im  erythräischen  Meere  die 
vierzehnte  Satrapie  bildeten.  Von  diesen  Namen  sind  nur 
die  Sarangen  (Drangianer)  und  die  Inseln  des  erythräischen 
Meeres  mit  Sicherheit  lokalisirt;  die  Sagarten  sind  laut 
Herodot  I  c.  125  eine  nomadische  Völkerschaft  in  Persis, 
deren  Wohnsitze  also  nicht  genauer  zu  bestimmen  sind; 
nehmen  wir  aber  die  beiden  festen  Punkte  an,  so  ergibt 
sich  mit  ziemlicher  Sicherheit  die  Strecke  von  Drangiane  an 
bis  zur  Mündung  des  persischen  Meerbusens  als  die  vier- 
zehnte Satrapie,  welche  demnach  das  heutige  Laristan,  Mo- 
gistan,  den  südlichen  Theil  von  Karmanien  und  Drangiane 
umfasst  und  wir  erkennen  in  dem  Namen  Mogistan  die 
Minoi  des  Herodot  wieder.  Moghistan  soll  nach  Kämpfer 
(Amoenit.  Exot.   p.  665)  und  den  persischen  Wörterbüchern 

L  ist  der  Name  der  Dattel- 


„Dattelland"  bedeuten ;  kx>  und  .^ 


240        Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  7.  März  1874. 

palme  in  Hormuz  und  der  Umgegend  von  Bender  Abbas; 
es  wäre  aber  auch  möglich,  dass  in  dem  Namen  die  alten 
Magier  noch  fortleben,  die  hier  ihren  Hauptssitz  gehabt  zu 
haben  scheinen,  wie  aus  den  Worten  des  Plinius  VI,  29 
hervorgeht. 

In  Laristan  finden  wir  die  Stadt  Forg  am  südlichen 
Abhänge  des  Gebirgszuges,  welcher  Laristan  von  Pars  trennt; 
sie  wird  nur  selten  von  Reisenden  besucht;  ich  kenne  nur 
zwei  Reisewerke,  in  denen  sie  erwähnt  wird ;  P.  della  Valle, 
der  sie  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  besuchte,  aber  wenig 
oder  nichts  darüber  zu  sagen  weiss;  er  erwähnt  jedoch 
einige  zerstörte  Befestigungswerke  in  dem  Engpasse,  der  von 
Pars  nach  Laristan  führt;  und  Adrien  Dupre,  der  hier  im 
Januar  1808  war;  es  war  damals  die  Hauptstadt  eines 
Distriktes,  der  sich  auf  der  Seite  von  Lar  bis  Kaie  Pendumi, 
3  Parasangen  von  Forg,  und  auf  der  Seite  von  Kinn  an  bis 
Beschagjerd,  8  Parasangen  von  Forg,  erstreckte.  Die  Be- 
völkerung schätzte  er  auf  2000  Seelen;  in  der  Entfernung 
einer  Parasange  auf  einem  niedrigen  Berge  sieht  man  ein 
theilweise  zerstörtes  und  mit  Thürmen  versehenes  Kastell, 
welches  vom  König  Behram  erbaut  wurde,  und  welches  auf 
der  Karte  d'Anville's  unter  dem  Namen  Chäteau  du  roi 
Bahmen  eingetragen  ist.  (Voyage  en  Perse.  Paris  1819. 
Vol.  I  p.  363.  369.)  In  diesem  Forg  erkennen  wir  ohne 
Mühe  den  Namen  des  Berges  Parga  oder  Paraga,  und  somit 
wäre  das  heutige  Forg  in  der  alten  Provinz  Pisiyäuvadiyä. 
Letzterer  Name  hat  sich  fast  unverändert  in  dem  so  eben 
erwähnten  Beschagjerd  erhalten ;  beide  Namen  sind  zusammen- 
gesetzt; das  gjerd  des  heutigen  Namens  ist  gleichbedeutend 
mit  dem  uvadiyä  des  alten  Namens  und  entspricht  den  End- 
ungen „hausen",  ,,gadenu,  ,,gart"  in  deutschen  Ortsnamen. 
Nach  einer  von  Sir  W.  Ouseley  (Travels,  Vol.  II,  p.  134) 
mitgetheilten  Stelle  des  Mudschmel  ul  Tevarich  hiess  die 
Stadt  Darabgird  in  älterer  Zeit,  ehe  Darius  ihr  seinen  Namen 


Mordtmann:   Vergleichende  Geographie  Persiens.  241 

gab,  Aspan  Fargan  ^ri  mU^'  dagegen  sagfc  Hamze 
Ispahani  p.  39,  dass  nicht  die  Stadt,  sondern  die  ganze 
Landschaft  früher  Asitan  Fargan  •  jfe'wi  <obuJ  (nicnfc  kjL^O 

hiess;  es  ergibt  sich  jedenfalls  aus  diesen  Notizen,  dass  der 
ganze  Gebirgszug  zwischen  Darabgird  und  Forg  wahrschein- 
lich derselbe  ist,  welcher  in  der  Bihistun-Inschrift  Parga 
oder  Paraga  genannt  wird.  Wahrscheinlich  ist  auch  das 
ndqva  des  Ptolemäus  VI,  4,  7  derselbe  Name ,  FTAPTA 
statt  TTAPrA,  im  Südwesten  von  Pasagarda. 

Die  Stadt  Täravä  würde  durch  das  heutige  Tarom 
repräsentirt  sein,  oder  was  mir  noch  viel  wahrscheinlicher 
ist,  durch  das  heutige  Darab  in  Pars;  wir  sind  gewohnt, 
nach  den  Angaben  der  arabischen  Geographen,  diese  Stadt 
Darabgird  (Darabdschird)  zu  nennen;  Sir  W.  Ouseley  belehrt 
uns  jedoch  (Travels,  Vol.  II  p.  130)  dass  die  Eingebornen 
sie  einfach  Darab  nennen,  und  Jakuti  in  seinem  geographischen 
Wörterbuche  Bd.  II  p.  561  berichtet,  dass  die  Stadt  ehe- 
mals Daraverd  ösJxö  genannt  wurde.  Der  Name  soll,  den- 
selben arabischen  Geographen  zufolge  „Werk  des  Darius" 
bedeuten,  was  indessen  eine  unzulässige  etymologische  Grille 
der  arabischen   Grammatiker  ist.     Das   Burhan-i  Kati  sagt 

(p.  520,  ed.  Constant.):;o*^L*x>  sjJo;  ^  (gircl)    öS 

)iX£+j>ö    „Gird     ^bedeutet    Stadt,   Ortschaft,    z.B. 

Darabgird,  Siaveschgird,  d.  h.  Stadt  des  Darab,  Stadt  des 
Siavesch". 

Der  Name  Darius  lautet  bekanntlich  altpersich  Dära- 
yavus,  und  „Stadt"  vardanam ;  letzteres  Wort  ist  das  eben 
besprochene  neupersische  c>S  gird  (wie  Vistäcpa  =  Gusch- 
tasp  =  Hystaspes);  es  hat  sich  in  seiner  archaistischen  Ge- 
stalt noch  in  einigen  Namen  erhalten,  z.  B.  Abiverd;  auch 
das  b  in  Darab  ist  eine  neuere  Form.     Jakuti  hat  also  ganz 


242       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

recht,  wenn  er  sagt,  dass  die  Stadt  ehemals  Daraverd  (er 
schreibt  i>^!u>  und  oJoK^,  nicht  ^l.b,  £JoUo) 
hiess,  und  dass  ein  Bewohner  der  Stadt  ^^..L^  heisse 
(ib.  p.  560).  Indem  nun  also  diese  Bemerkungen  die  Ver- 
gleichung  von  Tarava  mit  Darab  (Darabgird)  rechtfertigen, 
füge  ich  noch  hinzu,  dass  unter  den  Sassaniden  der  Ort 
sehr  bedeutend  gewesen  sein  muss.  In  der  Nähe  von  Darab 
fand  Ouseley  ein  Basrelief,  welches  Schapur  II  zu  Pferde 
vorstellt;  unter  den  Füssen  seines  Pferdes  liegt  der  er- 
schlagene Leichnam  des  Kaisers  Julian,  während  der  König 
dem  bittenden  Jovian  den  Frieden  bewilligt;  eine  andere 
Figur,  welche  dem  Pferde  in  die  Zügel  greift,  ist  mit  einem 
langen  Gewände  bekleidet,  und  soll  wohl  den  armenischen 
König  Tiridates,  Julian's  Bundesgenossen,  vorstellen.  Hinter 
beiden  sieht  man  noch  eine  Gruppe  von  23  Figuren  mit 
entblössten  Häuptern  und  ein  Pferd  ohne  Reiter,  und  hinter 
dem  Könige  Schapur  eine  Gruppe  von  16  persischen  Kriegern. 
Das  Basrelief  ist  in  Sir  W.  Ouseley's  Reisewerke  Vol.  II 
PL  XXXV  abgebildet.  -  Nach  Beladori  (p.  388  ed.  Goeje) 
war  Darabdschird  „eine  Hochburg  ^L^Lw  der  Wissen- 
schaft und  des  Glaubens"  und  war  zur  Zeit  der  Eroberung 
durch  die  Araber  die  Residenz  eines  Hirbed,  d.  h.  eines 
Hohenpriesters. 

Ferner  ist  auf  den  Sassaniden -Münzen  die  Signatur 
-1 1-3  (Da)  ungemein  häufig;  sie  kommt  von  Bahrain  V  an 
vor  und  erhält  sich  bis  zu  Ende  der  Regierung  Ardeschirs  III. 
Man  kann  diese  Abkürzung  Darab  (Darabgird)  und  Dämegän 
lesen;  letztere  Auslegung  aber  ist  unzulässig,  denn  1)  Dä- 
megän war  während  der  Jahre  4,  5,  6,  7  Chusrav's  II  (593 
bis  596)  in  den  Händen  des  Usurpators  Bestam,  während 
Münzen  Chusrav's  II  aus  jm  ^  aus  denselben  Jahren  vor- 
kommen ;  2)  Däräbschird  kommt  noch  unter  den  Ommiaden 
als  Prägestätte  vor,   während  in  Dämegän  weder  unter  den 


Mordtmann:    Vergleichende  Geographie  Persiens.  243 

Ommiaden  noch  unter  den  Abbasiden  Münzen  geprägt  wur- 
den. Unter  den  Statthaltern,  welche  unmittelbar  nach  der 
Eroberung  von  Persien  Münzen  nach  dem  Typus  Chusrav's  II 
prägen  Hessen,  entwickelte  die  Münzstätte  in  Darabgird  eine 
grosse  Thätigkeit;  die  in  jener  Epoche  dort  ausgeprägten 
Münzen  sind  nach  der  Jezdegirdischen  Aera  ausgeprägt 
(Vgl.  meine  Abhandlung  „Chronologie  der  ältesten  muham- 
medanischen  Münzen"  in  den  Sitzungsberichten  dieser  k. 
Akademie,  1871). 

Die  Stadt  Rakha,  wo  das  erste  Treffen  gegen  Vahyaz- 
däta stattfand,  würde  demnach  in  dem  heutigen  Derakan 
.jb'kc))  oder,  wie  Hamdullah  Mestofi  es  nennt,  Rudkan  ^Jföms 
zu  suchen  sein  (s.  Ouseley  Travels  V.  II  p.  134.  159),  was 
mit  den  Angaben  der  ßihistun-Inschrift  über  den  Gang  der 
militärischen  Operationen  gegen  Vahyazdäta  sehr  schön  über- 
einstimmen würde. 

Der  Ort  Uvädaidaya,  wo  Darius  den  Vahyazdäta  tödten 
Hess,  ist  in  der  Inschrift  nicht  näher  bestimmt  worden;  am 

meisten  würde  sich  Kale-i  Chuadan  ^t^t^.  tjiXs  nähern, 
ein  Ort  im  Distrikt  von  Fassa;    vgl.  Dschihannuma  p.  272. 

Ausser  dem  schon  erwähnten  Forg  finde  ich  im  Dschi- 
hannumma  p.  269  noch  einen  andern  Ort  desselben  Namens 
zwischen  Niriz  und  Darabgird,  9  Parasangen  vom  letzteren 
Orte  entfernt ,  und  ein  drittes  Foreg  oder  Pureg  auf  der 
Karte  zu  Alex.  Burnes'  Reisen  an  dem  Südabhange  des  Ge- 
birges, welches  Kirman  von  Beludschistan  trennt ;  von  beiden 
Orten  aber  habe  ich  in  keiner  mir  zugänglichen  Reisebe- 
schreibung eine  Spur  gefunden,  und  es  ist  mir  also  unmög- 
lich nachzuweisen,  auf  welche  Angaben  sich  diese  Eintrag- 
ungen beziehen. 

Unter  den  Sassaniden-Münzen  findet  sich  eine  ziemliche 

Anzahl ,  welche  auf  der  Rückseite  die  Buchstaben  ^£  Q^ 

Pr  oder  Fr  als  ihre  Prägestätte  bezeichnen;  ich  habe  sie  bisher 
[1874,  3.  Phil.  hist.  Cl.J  17 


244        Sitzung  der  phüos.-philol  Classe  vom  7.  März  1874. 

der  Stadt  Farra  in  Segistan  zugeschrieben;  indessen  kommen 
sie  zu  häufig  vor,  als  dass  sie  aus  einem  so  entfernten  Orte 
herstammen  sollten,  und  ich  bin  daher  geneigt  sie  eher  dem 
besprochenen  Forg  oder  Porg  zuzuschreiben,  und  wir  würden 
auf  diese  Weise  ein  Mittelglied  zwischen  dem  achämenidischen 
Paraga  oder  Parga,  dem  ptolemäischen  üagya  und  dem 
muhammedanischen  <J^  gewinnen.      Als  Münzstätte  kommt 

es  vom  25.  Jahre  Kobad's  I  (513)  bis  zum  letzten  Jahre 
Chusrav's  II  (628)  vor.  Muhammedanische  Münzen  aus  Forg 
sind  mir  bis  jetzt  nicht  vorgekommen ;  auch  Farra  war  kein 
muhammedanischer  Münzhof. 

Die  Namen  Parga,  Fork,  Bork,  Pork  u.  s.  w.  erinnern 
als  Gebirgsnamen  an  das  deutsche  „Berg"  (plattdeutsch 
„Barg")  und  als  Name  eines  Schlosses  an  das  armenische 
bürg  (schon  in  den  Keilinschriften  von  Van),  an  das  deutsche 
„Burg"  und  an  das  griechische  rtvqyog. 

Die  ÖvTioi  Herodots  sind  mit  den  Ovvtioi  Strabo's  durch- 
aus nicht  identisch.  Letztere  wohnten  an  der  Südküste  des 
kaspischen  Meeres,  wo  sie,  nach  der  Angabe  Strabo's  p.  508 
zwischen  den  !A[i(x^dol  und  IdvccQiaxcu  wohnten;  die  Aenianen 
hatten  in  der  Landschaft  Uitia  Ovtria  eine  Festung  Aeniana 
AhicLva  erbaut.  S.  514  gibt  Strabo  eine  etwas  veränderte 
Reihenfolge  an,  indem  er,  von  Osten  nach  Westen  gehend, 
sie  wie  folgt  aufzählt:  cYQx,avol}  l^^agöol,  lAvaqla^a^  Ka- 
dovoioi,  lAXßavoi,  Kaoraoi,  Ovtrwi.  So  viel  ist  also  sicher, 
dass  sie  mit  Herodot's  Utiern,  so  wie  mit  dem  Yutiya  der 
Bihistun-Inschrift  nichts  gemein  haben. 

Auf  den  Sassanidenmünzen  kommt  ein  Prägeort  |o  2JJ 
oder  D  fc±j  seit  der  Regierung  des  Piruz  ungemein  häufig 
vor;  wir  finden  ihn  bis  zum  Ende  der  Sassanidenherrschaft 
und  alsdann  noch  auf  den  Chalifenmünzen  bis  auf  Had- 
schadsch  bin  Jussuf.  Die  letzte  Münze,  auf  welcher  dieser 
Name  mir  vorgekommen  ist,  ist  vom  Jahre  78  der  Hid- 
schret  (697). 


Mordtmann:    Vergleichende  Geographie  Persiens.  245 

Für  die  Deutung  des  Namens  ist  eine  Gemme  des  k. 
Cabinets  von  Kopenhagen  von  der  grössten  Wichtigkeit; 
diese  Gemme  wurde  von  C,  Niebuhr  vor  mehr  als  hundert 
Jahren  aus  dem  Orient  gebracht;  sie  ist  in  seiner  Reise- 
beschreibung Th.  II  Taf.  XX.  a.  und  c.  abgebildet;  auf  mein 
Ersuchen  erhielt  ich  durch  die  freundliche  Vermittlung  des 
Hrn.  Etatsraths  Thomsen  einen  Abdruck  dieser  Gemme, 
welche  ich  in  meinen  ,, Studien  über  geschnittene  Steine  mit 
Pehlevi-Legenden"  No.  73  beschrieben  habe.  Die  sehr  deut- 
liche Legende  lautet  in  hebräischer  Transscription  ]KE013?K 
Ü1K  WDT  ÜHD  IkIk  „Azbutan,  ein  freier  Mann  (oder  Edel- 
mann) aus  dem  Lande  Ut".  Es  ergibt  sich  daraus,  dass 
das  Münzzeichen  p  2JLß  Dicht  ein  abgekürzter,  sondern  ein 
ganz  ausgeschriebener  Name  eines  Landes,  nicht  einer  Stadt, 
ist,  und  es  erübrigt  nur  noch  zu  ermitteln,  ob  es  das  Yutiya 
der  ßihistun-Inschrift,  der  Wohnsitz  der  herodotischen  Övtlol, 
oder  die  Landschaft  Oviticc,  Wohnsitz  der  OvCxioi  Strabo's 
ist.    Folgende  Münzen  sind  entscheidend  für  diese  Frage. 

1)  Von  Jezdegird  IV  kenne  ich  zwei  Münzen  aus  Ut, 
vom  12.  und  vom  16.  Regierungsjahre,  d.  h.  aus  den  Jahren 
642  und  646.  Im  J.  642  war  Jezdegird  noch  Herr  in  Pars; 
im  folgenden  Jahre  643  aber  verliess  er  seine  Residenz  Istachr 
und  flüchtete  nach  Kirman;  im  Oktober  desselben  Jahres 
besetzten  die  Araber  Schiraz,  Istachr,  Darabgird,  und  die 
Provinz  Pars  blieb  in  ihrem  Besitz;  zwar  empörte  sich  Istachr 
im  J.  648  und  Jezdegird  erschien  wieder  in  Pars,  aber  er 
musste  sich  sehr  bald  vor  den  aus  Arabien  angekommenen 
Verstärkungen  zurückziehen.  Jedenfalls  war  er  also  646 
nicht  Herr  in  Pars. 

2)  Unter  den  Münzen  der  arabischen  Statthalter  in 
Persien  existirt  eine  von  dem  Gegen-Chalifen  Katra  vom 
J.  75  der  Hidschret  aus  Ut;  wir  wissen  aus  der  Geschichte 
dass  er  in  Pars  nirgends  anerkannt  war,  wohl  aber,  dass  er 
in  Parthien,    Hyrkanien  und  Taberistan  sich  mehrere  Jahre 

17* 


246        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

gegen  die  Streitkräfte  der  Ommiaden  vertheidigte.  Ferner 
gibt  es  Münzen  von  Selem  bin  Zijad,  der  mehrere  Jahre 
Statthalter  in  Chorasan  war;  die  meisten  seiner  Münzen  sind 
in  Merv,  Mervrud  und  Herat  geprägt  und  stammen  aus  den 
Jahren  56  bis  69  der  Hidschret.  Eine  seiner  Münzen  aber 
ist  aus  Ut  und  gibt  als  Prägejahr  26  an,  offenbar  nach  der 
tabaristanischen  Aera,  welches  dem  J.  677  unserer  Zeit- 
rechnung und  den  Jahren  57  und  58  der  Hidschret  ent- 
spricht, also  chronologisch  zu  den  übrigen  Münzen  ganz 
genau  passt.  (Vgl.  meine  Abhandlung  „Chronologie  der 
ältesten  muhammedanischen  Münzen"  in  den  Sitzungsberichten 
dieser  k.  Akademie,  phil.-hist.  Cl.  J.  1871,  p.  697).  Die 
taberistanische  Aera  aus  Ut  gibt  aber  hinlänglich  zu  er- 
kennen, wo  wir  die  Landschaft  Ut  zu  suchen  haben,  nämlich 
auf  der  Südseite  des  kaspischen  Meeres,  da,  wo  die  Ov'Ctioi 
Strabo's  gewohnt  haben. 

Es  ergibt  sich  also  aus  dieser  Discussion,  dass  das  in 
der  Bihistun-Inschrift  genannte  Pisiyäuvädiyä  das  heutige 
Laristan,  und  Yutiya,  so  wie  die  Övxwi  Herodots  in  dem 
nordöstlichen  Theil  Laristan's,  gegen  Kirman,  war;  dass  da- 
gegen die  Landschaft  Ovvtta  des  Strabo,  das  Land  Ut  der 
Sassaniden,  auf  der  Südseite  des  kaspischen  Meeres  im 
heutigen  Mazanderän  zu  suchen  ist. 

Die  Tabula  Peutingeriana  hat  einige  Namen,  welche 
trotz  ihrer  gräulichen  Verunstaltungen  die  vorstehenden 
Identifikationen  zu  bestätigen  scheinen.  Auf  dem  Wege  von 
Persepolis  nach  dem  Lande  der  Ichthyophagen  gibt  sie 
folgende  Stationen: 

Persepolis  Mercium  Persarum 
Pantyene     .     .     LXX  mill. 
Arciotis       .     .     XXX     „ 
Caumatis     .     .       XX     „ 
Aradarum  .     .  X     „ 


Mordtmann:   Vergleichende  Geographie  Persiens.  247 

Tazarene     .     .     .     XX  mill. 
ßestia  deselutta   .     XX     ,, 
Rhana    ....     XX    ,, 

Der  Name  Persepolis  steht  bei  dem  Zeichen  einer  Stadt 
und  der  Verfasser  der  Karte  bezeichnet  damit  offenbar  die 
Hauptstadt  von  Persien;  die  beigefügte  Glosse  „Mercium 
Persarum"  könnte  sich  aber  vielleicht  auf  das  nahegelegene 
Pasargadae  beziehen,  als  eine  Verwechslung  des  persischen 
Wortes  A-Aj  bazar  ,, Marktplatz"  mit  den  Sylben  Pasar. 
Sonderbar  ist  aber  jedenfalls  der  Name  Caumatis  (vgl.  Gau- 
mata,  Gomata  der  Bihistun-Inschrift,  Cometes  bei  Justin. 
Histor.  I,  9,  Name  des  Pseudo-Smerdis)  zwischen  den  beiden 
Namen  Arciotis  und  Aradarum,  welche  an  das  Gebirge  Ara- 
kadris  erinnern.  In  Bestia  deselutta  steckt  vielleicht  der 
Name  Pisiyäuvädiyä,  und  in  der  Schrift  der  Peutingeriana 
sieht  der  Name  Rhana  dem  Namen  Rhaha  (Rakha  der  Inschrift) 

ungemein  ähnlich,  ÜHätyä  <*att  HHAHd- 
Wenn  diese  Zusammenstellungen  an  und  für  sich  auch  wenig 
Werth  haben,  so  bestätigen  sie  doch  jedenfalls,  dass  Gomata 
und  Vohyazdata  im  südöstlichen  Persien  ,  d.  h.  in  Laristan 
ihre  Rollen  spielten. 


Die  Hauptstadt  von  Pars  war  seit  der  arabischen  Er- 
oberung bis  auf  den  heutigen  Tag  Schiraz.  Die  morgen- 
ländischen  Geographen  sind  aber  in  Betreff  des  Alters  dieser 
Stadt  in  einem  auffallenden  Widerspruch  mit  den  Geschicht- 
schreibern. 

Istachri  (p.  97  u.  124  ed.  Goeje)  und  Ibn  Haukai  (p.  179 
u.  195  ed.  Goeje)  berichten,  Schiraz  sei  eine  moderne  Stadt; 
zur  Zeit  der  Eroberung  hätten  sich  hier  die  Araber  gelagert, 
als  sie  Persepolis  angriffen ;  später,  im  J.  76  der  Hidschret 
(695  n.  Chr.)    hätte    Mohammed  bin  Kassim  (ein  Vetter  des 


248        Sitzung  der  philos.-philol  Gasse  vom  7.  März  1874. 

Hadschadsch  bin  Jussuf)  hier  eine  Stadt  angelegt;  dieselbe 
sei  Schiraz  genannt,  d.  h.  Löwenmagen,  weil  sie  alle  Er- 
zeugnisse der  Umgegend  verschlinge,  und  dagegen  kein  ein- 
ziges Erzeugniss  wieder  ausführe. 

Abulfeda  wiederholt  in  seiner  Geographie  (p.  183  der 
Dresdner  Ausgabe)  diese  Notiz. 

Das  von  Sir  W.  Ouseley  (Vol.  II  p.  23)  citirte  Sur  ul 
Boldan,  so  wie  der  ebendaselbst  p.  24  citirte  Hafiz  Abru 
und  die  türkische  Geographie  Dschihannuma  p.  262  sagen 
alle  ungefähr  dasselbe. 

Hamdullah  Kazvini  (bei  Sir  W.  Ouseley,  Vol.  II  p.  22 
berichtet  noch,  Schiraz  sei  von  Tahmurath  Divebend  erbaut 
und  habe  ehemals  Fars  ^Xi  geheissen,  sei  aber  später 
zerstört  worden. 

In  Jakuti's  Wörterbuch  befindet  sich  noch  die  Notiz, 
dass  die  ursprüngliche  Orthographie  des  Namens  vjf'J&   und 

\sj-co  sei,  dass  man  aber  später  nach  der  Analogie  von  «jLjJ 

statt  jmLj  u.  s.  w.  auch  vlyjcco   eingeführt  habe. 

Dagegen  berichten  die  Geschichtschreiber  z.  B.  Beladori 
(p.  388  ed.  Goeje),  das  Raudhet  ül  Ebrar  (p.  134  der  Con- 
stantinopler  Ausgabe),  das  Raudhet  ül  Ahbab  (Vol.  II  p.  121), 
Ibn  Chaldun  (Supplementband  p.  122  der  Ausgabe  von  Bu- 
lak)  u.  s.  w.,  dass  Osman  ibn  Abul  Aassi  im  J.  23  der  Hid- 
schret  (644)  Schiraz  und  Istachr  erobert  habe.  Der  zuletzt 
erwähnte  Ibn  Chaldun  berichtet  überdies  (Bd.  II  p.  175),  dass 
Schiraz  schon  zur  Zeit  des  Firuz,  also  schon  im  fünften 
Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  existirt  habe. 

Zwischen  diesen  beiden  widersprechenden  Angaben  ist 
es  übrigens  unschwer  eine  Entscheidung  zu  treffen.  Schon 
an  sich  ist  es  gar  nicht  wahrscheinlich,  dass  Araber  für 
eine  von  ihnen  angelegte  Stadt  einen  persischen  Namen 
wählen;    das   war  nie  ihre  Sache;  albern  ist  jedenfalls  die 


Mordtmann:  Vergleichende  Geographie  Persiens.  249 

etymologische  Erklärung  des  Namens  und  wohl  weiter  nichts 
als  der  Einfall  irgend  eines  Spassvogels.  Wenn  aber  Istachri 
(p.  119)  und  Ibn  Haukai  (p.  190)  berichten,  dass  in  der 
Stadt  Schiraz  zwei  Feuertempel  .Lüfooo  vorhanden  sind, 
und  noch  ein  dritter  in  einem  der  nächsten  Dörfer,  so  ge- 
rathen  sie  augenscheinlich  mit  sich  selbst  in  Widerspruch, 
da  es  gar  nicht  denkbar  ist,  dass  die  siegreichen  Araber  in 
einer  von  ihnen  erst  am  Ende  des  siebenten  Jahrhunderts 
unserer  Zeitrechnung  angelegten  Stadt  sollten  Feueraltäre 
und  Ausübung  der  Religion  Zoroasters  geduldet  haben. 
Diese  Cultusstätten  werden  wohl  schon  längst  vor  der  Er- 
oberung vorhanden  gewesen  sein. 

Soviel  ist  aber  wohl  sicher,  dass  Schiraz  in  der  vor- 
islamitischen Zeit  nicht  diejenige  Bedeutung  hatte,  die  es 
später  erlangte.  Pasargadae  und  Persepolis,  die  Hauptstädte 
der  Achämeniden,  und  Istachr,  die  Hauptstadt  der  Sassa- 
niden,  lagen  zu  nahe;  es  wird  also  wohl  nicht  mehr  und 
nicht  weniger  als  eine  Provinzialstadt  gewesen  sein,  die 
aber  doch  bedeutend  genug  war,  um  ihre  Eroberung  durch 
Osman  sowie  die  den  Einwohnern  auferlegten  Capitulations- 
bedingungen  besonders  zu  erwähnen.  Indem  aber  Mohammed 
bin  Kassim  dahin  den  Regierungssitz  verlegte,  war  es  natür- 
lich, dass  der  Ort  eine  erhebliche  Vergrösserung  erfuhr;  es 
wurden  Regierungsgebäude,  Moscheen,  Schulen  u.  s.  w.  an- 
gelegt, und  somit  rechtfertigt  sich  auch  die  Angabe  der 
morgenländischen  Geographen,  ohne  mit  den  Historikern  in 
einen  unlösbaren  Widerspruch  zu  gerathen. 

Zu  diesen  Erwägungen  kommt  noch,  dass  in  Schiraz 
schon   zu   den   Zeiten    der    Sassaniden    eine    grosse   Anzahl 

Münzen  geprägt  worden  sind ;  sie  führen  das  Zeichen  LLL_ 

Schi(raz),  und  in  Uebereinstimmung  mit  Ibn  Chaldun  kommt 
es  schon  auf  den  älteren  Münzen  des  Piruz  vor;    es  dauert 


250        Sitzung  der  philos.-phüol  Classe  vom  7.  März  1874. 

als  Prägort  bis  auf  das  letzte  Jahr  Chusrav's  II  fort.  Auch 
die  Statthalter  der  Chalifen  Hessen  dort  noch  Münzen  prägen ; 
unter  den  Ommiaden  jedoch  ging  die  Münzstätte  ein. 


Wie  Persepolis  zur  Zeit  der  Achämeniden  hiess,  ist  bis 
jetzt  noch  nicht  ermittelt  worden;  F.  Spiegel's  Vermuthung 
(Eranische  Alterthuniskunde  Bd.  I  p.  93)  dass  es  Parca 
hiess,  hat  viel  Wahrscheinlichkeit  für  sich.  Zur  Zeit  der 
Sassaniden  aber  hiess  es  ohne  Zweifel  Stahr    \*a  u  Q02J' 

Das  Zendwort  stakhrö  i  j  £^uj  Co  2? ,  Pehlevi  A .  *q  jß ,  neu- 
persisch dJcL  bedeutet  „gross",  „kräftig",  „stark",  „hart" 
u.  s.  w.  Auf  den  Münzen  wird  Istachr  mit  tzu  (st)  be- 
zeichnet; sie  kommen  in  grosser  Anzahl  seit  dem  fünften 
Regierungsjahre  des  Piruz  (461)  bis  zum  letzten  Regierungs- 
jahre Hormuz  V  (632)  vor.  Dagegen  sind  mir  bis  jetzt 
keine  Münzen  von  Jezdegird  IV  aus  Istachr  zu  Gesicht  ge- 
kommen. Zijad  bin  Abu  Sofiau  und  sein  Enkel  Omer  bin 
Ubeidullah  haben  ebenfalls  in  Istachr  Münzen  prägen  lassen, 
und  unter  den  Ommiaden  und  Abbassiden  wurde  hier  noch 
fortwährend  geprägt. 

Auch  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  sämmtliche  Münzen, 

welche  die  Bezeichnung  p..<«..   Iran  tragen,  und  welche  von 

Kobad  I  an  beginnen  und  bis  auf  Hormuz  V  fortdauern, 
aus  Istachr  herstammen.  Von  Jezdegird  IV  kenne  ich  keine 
Münzen  n*it  dieser  Bezeichnung,  so  wenig  wie  mit  der  Be- 
zeichnung Üü  St(achr);  wahrscheinlich  hat  er  mit  dem 
heiligen  Feuer  und  mit  dem  Kronschatze  auch  den  Münz- 
apparat aus  Istachr  nach  Jezd  bringen  lassen.  Ueberhaupt 
aber  verschwindet  die  Bezeichnung  Iran  gänzlich  von  den 
Münzen;    nur   noch   eine   einzige  Münze  von   Ubeidullah  bin 


Mordtmann:  Vergleichende  Geographie  Persiens.  251 

Zijad  vom  J.  64  zeigt  den  Namen  Iran  (s.  Stickel,  Das 
Grossh.  Orientalische  Münzcabinet  zu  Jena,  Heft  2,  p.  90  u. 
Fig.  47).  Auf  den  Münzen  der  Ommiaden  und  Abbassiden 
fällt  der  Name  Iran  ebenfalls  ganz  weg.  Persien  hiess  fortan 
^  Adschem;  erst  in  Firdevsi's  Schahname  kommt  der 
Name  Iran  wieder  zu  Ehren. 


Strabo  (p.  728)  nennt  noch  zwei  andere  königliche 
Residenzen  in  Persis,  Gabae  rdßat  im  obern  Persis,  und 
Oke  *'Oxrj  an  der  Küste.  Statt  "Oxrj  ist,  wie  schon  längst 
nachgewiesen,  Taoxr]  zu  lesen ;  Dionys.  Perieg.  1069  erwähnt 
ihrer  gleichfalls;  nach  des  Ptolemäus  Angaben  VI,  4,  7, 
müsste  Gabae  südöstlich  von  Pasargadae  aufzusuchen  sein, 
und  da  er  schon  Pasargadae  südöstlich  von  Persepolis  an- 
setzt, so  ist  es  augenscheinlich,  dass  des  Ptolemäus  Angabe 
mit  Strabo  im  Widerspruch  ist.  Rawlinson  bespricht  dieses 
Gabae  im  Journal  of  the  R.  Asiat.  Soc.  Vol.  XV,  p.  258 ;  in 
seinen  Combinationen  geht  er  wohl  zu  weit,  wenn  er  den 
Namen  Gabiene  (in  Elymais)  damit  in  Verbindung  setzt,  da 
jedenfalls  Gabae  von  Gabiene  viel  zu  weit  entfernt  ist; 
übrigens  sind  seine  Conjecturen  in  Betreff  des  Derefsch-i 
Kavian  gewiss  nicht  ohne  Grund.  Leider  geben  uns  die 
kurzen  und  selbst  widersprechenden  Angaben  des  Strabo  und 
Ptolemäus  zu  wenig  Anhaltspunkte  zu  einer  sicheren  Bestimm- 
ung dieser  Oertlichkeit. 

Aus  Strabo's  Angaben  dürfen  wir  schliessen,  dass  Gabae 
in  Osten  und  Nordosten  von  Persepolis  zu  suchen  sei,  und 
da  wir  ausser  dieser  Angabe  lediglich  auf  den  Namen  des 
Ortes  selbst  beschränkt  sind,  so  bleibt  uns  nichts  weiter 
übrig,  als  auf  der  Karte  nachzusehen,  welcher  Ort  sich  etwa 
zu  einer  Identification  eignen  könnte. 

In  der  bezeichneten  Gegend  finden  wir  zunächst  Aberkuh, 
32  Parasangen   von   Istachr   entfernt.     Der   Name  bedeutet 


252        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

„auf  dem  Berge".  Die  erste  Hälfte  ist  die  Präposition  o! 
oder    o,    Pehlevi  "ISK,    altpers.  upariy,  Zend  upairi,  Sskrit. 

^TfK,  upari,  Pazend  var,  armen,  ver,  griech.  vrcsq,  deutsch 
über  (welches  sich  ebenfalls  im  Plattdeutschen  zu  äwer  und 
im  Holland,  und  Engl,  zu  over  erweicht  hat).  Die  zweite 
Hälfte  des  Wortes  ist  *S,  altpers.  kaufa,  Pehlevi  P)D  „der 
Berg"  und  bietet  eine  entfernte  Aehnlichkeit  mit  dem  Namen 
rdßcu  dar,  besonders  wenn  man  letzteren  so  liest,  wie  ihn 
die  Griechen  lesen.     Auch  ist  Aberkuh  kein  moderner  Ort, 

denn  er  kommt  in  der  Abkürzung   ^qjj    (afar)  auf  Sassa- 

niden-Münzen  vor  vom  J.  36  Kobad's  I  an  bis  zum  Ende 
der  Regierung  Horm uz  IV,  obgleich  nicht  sehr  häufig.  Später 
ist  er  mir  nur  noch  zweimal  vorgekommen,  im  4.  Jahre 
Chusrav's  II  und  im  zweiten  Jahre  Ardeschir's  III  (593  u.  629). 

Es  erhebt  sich  aber  ein  sehr  gewichtiges  Bedenken 
gegen  die  Identification  von  Aberkuh  mit  dem  alten  Gabae 
aus  dem  Umstände,  dass  die  ganze  Umgegend  kahl  und 
ohne  allen  Pflanzenwuchs  ist.  Jedenfalls  war  das  im  obern 
Persis  gelegene  Gabae  eine  Sommerresidenz,  und  zu  einer 
solchen  eignet  sich  doch  nur  ein  Ort  mit  reicher  Vegetation. 
Vgl.  Istachri  p.  125,  Ibn  Haukai  p.  196,  Dschihannuma 
p.  266.  Letzteres  Werk  erwähnt  noch,  dass  der  Ort  ur- 
sprünglich auf  einem  Berge  erbaut  sei  und  davon  seinen 
Namen  erhalten  habe;  später  aber  sei  der  Ort  in  die  Ebene 
verlegt,  ohne  seinen  Namen  zu  ändern. 

Noch  30  Parasangen  weiter  gegen'  Nordosten  treffen 
wir  die  Stadt  Jezd  in  einer  fruchtbaren  Oase,  die  eigentlich 
zu  Kirman  (Carmania)  gehört,  aber  administrativ  von  jeher 
zu  Pars  gerechnet  wurde.  Jrzd  ow  ist  eigentlich  der  Name 
des  ganzen  Distriktes,  der  Name  der  Stadt  aber  Kethe  &xf: 
auch  Homa  Jezd  jyj  &o.ä>;   der  Name  Kethe  scheint  aber 

schon   in   älterer   Zeit   dem  Namen   Jezd  Platz  gemacht  zu 


Mordtmann:   Vergleichende  Geographie  Persiens.  253 

haben,  denn  schon  auf  den  Sassaniden-Münzen  kommt  nur 
3  »■>  (&S)  vor ;  er  zeigt  sich  schon  in  der  ersten  Regierungs- 
zeit des  Piruz;  von  Kobad  I  sind  mir  keine  Münzen  aus 
Jezd  vorgekommen,  dagegen  ziemlich  häufig  von  Chusrav  I, 
Hormuz  IV,  Chusrav  II  und  besonders  von  Jezdegird  IV, 
der  hier  seine  Residenz  aufschlug,  als  er  vor  den  Arabern 
aus  Madain  und  Istachr  flüchten  musste ;  ich  kenne  von  ihm 
Münzen  aus  Jezd  aus  den  Regierungsjahren  7,  9,  10,  15  u.  16. 
Bis  dahin  also,  d.  h.  bis  zum  J.  646  n.  Ch.  war  Jezd  in 
den  Händen  der  Perser,  und  über  die  eigentliche  Eroberung 
der  Stadt  habe  ich  bei  keinem  einzigen  arabischen  Geschicht- 
schreiber eine  Angabe  gefunden.  In  seinem  zwanzigsten 
Regierungsjahre  aber,  im  Sommer  651  wurde  Jezdegird  IV 
bei  Merv  ermordet,  und  nunmehr  fiel  ganz  Persien  unter  die 
Herrschaft  der  Araber,  welche  dieser  Thatsache  einen  be- 
deutungsvollen Ausdruck  gaben,  indem  sie  die  erste  muham- 
medanische  Münze  genau  nach  dem  Typus  und  mit  dem 
Namen  Jezdegird  in  der  Stadt  Jezd  im  J.  20  (651)  prägen 
Hessen  und  bloss  am  Rande  ein  arabisches  aJUt  *^o  hinzu- 
fügten. Später  erscheinen  noch  Münzen  aus  Jezd  nach  dem 
Typus  und  mit  dem  Namen  Chusrav  II  aus  den  Jahrgängen 
26,  28,  37,  48  d.  h.  657,  659,  668  u.  679  unserer  Zeit- 
rechnung, und  von  Ubeidullah  bin  Zijad,  Statthalter  von 
Pars,  aus  den  Jahren  56  u.  58  der  Hidschret  (676  u.  678). 
Von  da  ab  verschwindet  der  Name  Jezd  aus  der  Numismatik 
der  Chalifen. 

Beide  Namen  aber,  Jezd  und  Kethe  lesen  wir  im  Ptole- 
mäus  VI,  6,  wo  es  heisst :  Kaxavefxovxat  de  xrtg  'Eqt^ov  (xrtg 
KaQfxavlag)  xd  fxev  (xeor^xßqiva,  ^laax  i%ai  Kai  Xov&o  i, 
xd  de  fieoa  radavwtvdqeg. 

Die  arabische  Form  tff  erinnert  an  das  schon  vorhin 
erwähnte  plattdeutsche  Wort  kath  (es  ist  weiblichen  Ge- 
schlechts). Die  griechische  Form  Xov&oi  aber  veranlasst 
uns  zu  einer  weiteren  Digression.     Wir  lesen  2  Kön.  XVII,  24  : 


254        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  März  1874. 
und  in  demselben  Capitel  Vers  30.  31. 

„Der  König  von  Assyrien  liess  (Bewohner)  von  Babylon, 
Kutha,  Avva.  Hamath  und  Sefarvaim  kommen  und  siedelte 
sie  in  den  Städten  von  Samaria  an  zwischen  den  Kindern 
Israel,  und  sie  nahmen  Samaria  in  Besitz  und  wohnten  in 
den  Städten  dieses  Landes". 

„Die  Babylonier  bauten  Hütten  für  die  Töchter;  die 
Kuthier  errichteten  den  Nergal ;  die  aus  Hamath  den  Aschima, 
die  Avväer  den  Nibchaz  und  den  Tharthak,  und  die  von 
Sefarvaim  verbrannten  ihre  Kinder  im  Feuer  zu  Ehren  ihrer 
Götter  Adramelek  und  Anamelek." 

Die  LXX  und  die  armenische  Uebersetzung  weichen  in 
der  Nomenklatur  mehr  oder  weniger  von  dem  Original  ab; 
die  Vulgata  schliesst  sich  dem  Originaltext  genauer  an; 


ist  in  der  LXX              bei  dem  Armenier 

nnis    •  •  . 

•    Xov&ä,        .     .     . 

.     Chutha, 

KW   •    •     •    • 

•    Id'ia  .... 

.     Aja, 

non    .  .  . 

.    u4i^dd-        .     . 

.     .     Ematha, 

D'TIBD      •    • 

•    2e7tq)(XQ0vcu(,i  . 

.     Sefaruima, 

rniQ  nDD  ■ 

•    2(ox%(od-  Bevld" 

.     Sukkoth  und  JBanoth, 

bm    •  -  • 

•    ^EoyeX     .     .     . 

.     Angel, 

NDWK      •     • 

•   Idomad- 

.     Asimath, 

iraz  und  pn" 

in   ^Eßlateq  xal  Qcc(, 

d-ax   Ablader,  Nebas  und 
Tharthak, 

"iböTIK    •     • 

.    3^4doaixel£x 

.     .     Adramelek, 

iW  . . . 

.    yu4vt]nele%  .     . 

.    Amelek. 

Morätmann:   Vergleichende  Geographie  Persiens.  255 

Von  den  genannten  fünf  Völkerschaften,  welche  Salma- 
nassar in  die  Wohnsitze  der  zehn  Stämme  Israel  führte, 
interessiren  uns  zunächst  die  Chutha  oder  Kuthäer,  denn 
Joseph.  Ant.  L.  IX,  c.  14  §  1  sagt:  ILolwci  ibv  Xaov  (xeT(p- 
xioev  elg  trjv  Mrjölav  y.ai  TLeqoida  ....  xal  tierctOTrpag  Iy. 
zavTrjg  aXXcc  e&vrj  and  Xov&ov  rortov  xtvbg  —  eozi  yäo  h 
zft  IleQoldi  jtOTafj,ög  tovxo  eyiov  zo  ovo/xa  —  xaTymoev  elg 
trv  ^afxaqeiav  x.ai  rrjv  rtov  'loQarjXirtov  yjwqav. 

Und  in  demselben  Capitel  §  3:  Ol  de  fxeToiyuo$evzeg 
elg  ttjv  ^a^iageiav  XovSaioi  —  Tavxrj  ydq  exQwvTO  pexQ1 
devoo  rr  TTQorjyoQLCc,  6id  to  ix.  tr^g  Xov&ag  xaXovfiivrjg  %toQccg 
Hercc%9rtvai ,  avzrj  fteoriv  ev  vfj  TleoGidi,  xai  7toxa\ibg  %ovt? 
e%o)v  ovofia  —  Wclotoi  xara  eSvog  Xdtov  d-eov  elg  xrtv  2afxd- 
Qeiav  xofiloavTeg  —  itevte  d'flaav  —  x,al  Tovtovg  xa&wg  rp 
itazoiov  avTölg  Geßofxevoi,  Ttaqo^vvovoi  xbv  fxeyiOTOv  &eov  elg 
6qyrtv  Kai  %6Xov. 

Und  L.  X,  c.  9  §  7  wiederholt  er  diese  Angaben :  2aX- 
^.avaoaqrjg  {lev  ovv  avaaTTjöag  Tovg  IOQarjXlrag  Karqmioev 
avT1  avzwv  ro  Xov&alcov  e&vog,  cß  Ttqoxeqov  evöoteQco  Trjg 
Tleqaiöog  xat  rrjg  Mrjötag  iqoav. 

Und  L.  XI,  c.  2,  §  1  wiederholt  er  noch  einmal,  dass 
die  Chuthäer  aus  Persien  und  Medien  nach  Samaria  geführt 
wurden.  Bemerkenswerth  ist  in  diesen  vier  Stellen ,  dass 
Josephus  immer  nur  die  Chuthäer  nennt  und  die  andern 
vier  Völkerschaften  unter  jener  gemeinsamen  Benennung  be- 
greift und  sie  alle  als  Perser  und  Meder  ansieht,  was  doch 
in  Betreff  der  Babylonier  gewiss  nicht  der  Fall  war. 

Seit  Th.  Hyde  und  Adr.  Reland  sind  jedoch  dieExegeten 
der  Meinung,  dass  das  erwähnte  Kutha  nicht  in  Persien  zu 
suchen  sei,  sondern  im  babylonischen  Irak,  wo  die  arabischen 
Geographen  zwei  Orte  des  Namens  LS$*f  beschreiben,  und 
diese  Ansicht  gründet  sich  vornehmlich  auf  den  Umstand, 
dass  die  Kuthäer  in  Samaria  ihre  Gottheit  Nergal  verehrten, 


256        Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

dessen  Cultus  bekanntlich  in  Babylon  herrschend  war;  dazu 
kommt,  dass  Kutha  unmittelbar  nach  Babylon  genannt  wird. 
Diese  Bedenken  fallen  so  schwer  ins  Gewicht,  dass  ich  mich 
nicht  entschliessen  kann,  der  Angabe  des  Josephus  beizu- 
stimmen. So  viel  aber  geht  doch  immer  aus  diesen  Angaben 
hervor,  dass  die  Xovdoi  des  Ptolemäus  auch  zur  Zeit  des 
Josephus  bekannt  waren,  d.  h.  beide  Autoren  verlegen  sie 
in  das  östliche  Persien,  da  ungefähr,  wo  die  arabischen 
Geographen  den  Ort  *££  d.  h.  das  heutige  Jezd  ansetzen, 
mögen  es  mn  diese  oder  die  Kuthäer  des  babylonischen 
Irak  gewesen  sein,  welche  Salmanassar  nach  Samaria  ver- 
pflanzte. Es  ist  übrigens  immerhin  denkbar,  dass  beide 
Kutha,  sowohl  das  karmanische  als  das  babylonische,  gleichen 
Ursprung  hatten,  da  die  Verschleppungen  der  Völkerschaften 
in  der  altorientalischen  Geschichte  häufig  genug  vorkommen. 

Jedenfalls  aber  befanden  sich  unter  diesen  unfreiwilligen 
Colonisten  Samariens  Perser ;  denn  der  Bericht  des  Chronisten 
lässt  in  dieser  Beziehung  wenig  Zweifel,  rny  kann  recht 
gut  das  raßai  des  Strabo  sein ;  das  hebräische  V  repräsentirt 
bekanntlich  zwei  Laute,  das  c  und  a  der  Araber;  da  aber 
keine  einzige  alte  Uebersetzung  diesen  Namen  mit  einem  g 
wiedergibt,  so  ist  diese  Hypothese  unstatthaft,  und  es  dürfte 

eher  an  das  &Ä  oder  »J  des  Abulfeda  (p.  229)  zwischen 
Hamadan  und  Kazvin  zu  denken  sein.  Die  Namen  ihrer 
Gottheiten  lassen  sich  leicht  aus  dem  Persischen  erklären; 
\Lgj  bedeutet  „Furcht"  (von  «jJu\L$3)  Tar  Thak  bedeutet 
im  Pehlevi  „der  stolze  Held". 

Auf  Avva  folgt  Hamath ,  deren  Auswanderer  sich  den 
Cultus  des  Asima  einrichteten.  Hamath  halten  fast  alle 
Ausleger  des  A.  T.  für  das  heutige  Hama  im  nördlichen 
Syrien;    aber  schon  den  Namen  ihrer  Gottheit   erklären  sie 

aus   dem  pers.    .jl^J  „Himmel",  altpers.  acman,      Augen- 


Mordtmann'  Vergleichende  Geographie  Persiens.  257 

scheinlich  aber  werden  im  A.  T.  unter  dem  Namen  n?jn  drei 
ganz  verschiedene  Lokalitäten  bezeichnet,  nämlich  1)  ein  Ort 
im  nordöstlichen  Palästina  Num.  XIII,  21,  XXXIV,  8;  2  Paral. 
VIII,  3 ;  2)  das  heutige  Hama  im  nördlichen  Syrien,  Epi- 
phania  der  Griechen  und  Römer;  2  Sam.  VIII,  9 ;  2  Reg. 
XVIII,  34  etc. ;  3)  die  Stadt  Hamadan  in  Medien,  Ekbatana  der 
Griechen ;  Arnos  VI,  2  und  in  unserer  Stelle  2  Reg.  XVII,  24 ; 
einmal  (Ezra  VI,  2)  kommt  dafür  auch  NTOOK  vor. 

Die  Sefarvaim  endlich  charakterisiren  sich  durch  ihre 
Gottheiten  Adramelek  und  Anamelek  hinlänglich  als  eine 
Völkerschaft  aus  dem  nördlichen  Persien,  wo  schon  turanische 
Elemente  ihren  Einfluss  ausüben.  Adramelek  ist  „Feuer- 
könig", ätarsh  im  Zend  ist  „Feuer";  Anamelek  ist  „Gott- 
König"  ;  an  in  den  Keilinschriften  zweiter  Gattung  ist  „Gott". 
Ueberdies  weist  der  Vokal  a,  der  diese  beiden  Namen  mit 
dem  semitischen  Worte  melek  verbindet,  auf  eine  Form  hin, 
die  im  Armenischen  Regel  ist.  Zur  Lokalisirung  dieser 
Sefarvaim  (im  Dual)  bieten  sich  ungezwungen  die  beiden 
Orte  Saferajin  und  Saphri  (bei  Isid.  Characen.)  in  Chorasan 
dar,  ersteres  westlich,  letzteres  östlich  von  Merv. 

Ohne  auf  alle  diese  Vermuthungen  einen  grossen  Werth 
zu  legen,  glaube  ich  doch  so  viel  erwiesen  zu  haben,  dass 
Gabae  die  Xov&oi  des  Ptolemäus ,  das  &Zf  der  arabischen 
Geographen,  das  Jezd  der  Sassaniden  repräsentirt.  Jezd 
war  von  jeher  und  ist  noch  heutzutage  für  die  Anhänger 
der  Lehre  Zoroasters  ein  heiliger  Ort,  worüber  wir  zahl- 
reiche Zeugnisse  besitzen. 


Ueber  Taoke  finden  wir  ausführliche  Angaben  in  Ar- 
rian's  Indischer  Geschichte,  c.  39,  wo  es  heisst:  3Bt  {ieocc^- 
ßqirjg  öi  OQftrj&evTEQ ,  Kai  diexTrlcooccvzeg  ovadlovg  ^.akioxa 
ig   öirjytooiovg,   ig    Tao%r\v    bqixltfivxai  irti  tioxcl^  rqaviör 


258  Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  7.  März  1874. 

xal  cL7to  tovtov  ig  zo  avw  IIsqgswv  ßaolXeia  rjVj  CLTciyovxa 
tov  TCO%a\iov  twv  exßolewv  oradlovg  ig  dirjY.oolovg. 

Nach  Ptolemäus  VI,  4,  3  heisst  die  ganze  Landschaft 
Taoxrvq,  und  nach  vorstehender  Angabe  des  Arrian  lag 
die  Residenz  Taoke  ungefähr  200  Stadien  von  der  Mündung 
des  Granis  entfernt.  Dieser  Fluss  ist  nach  den  Beschreib- 
ungen von  Arrian  und  Plinius  derselbe,  welcher  zwischen 
den  beiden  Häfen  Buschir  und  Benderrig  mündet,  und  dessen 
alter  Name  sich  noch  in  dem  Orte  Grä  erhalten  hat,  welcher 
an  demselben  liegt  (vgl.  C.  Niebuhr,  Reisebeschr.  Th.  II 
S.  110;  A.  Dupre,  Voyage  Vol.  II  p.  59).  Bei  den  arabischen 
Geographen  heisst  er  Ratin  ^jo\  (vgl.  Istachri  p.  120;  Ibn 
Haukai  p.  191). 

Bei  den  älteren  morgenländischen  Geographen  und  Hi- 
storikern finden  wir  fast  an  derselben  Stelle  einen  Ort  er- 
wähnt, der  beinahe  denselben  Namen  führt,  jedoch  ist  die 
Orthographie  und  die  Aussprache  schwankend.  Abulfeda 
führt  in  seiner  Geographie  (p.  181,  ed.  Dresd.)  drei  ver- 
schiedene Schreibarten  auf,  so  Tuh,  o*  Tuhh  und  ;j 
Tuz.  Dagegen  heisst  er  in  den  von  Goeje  besorgten  Ausgaben 
des  Beladori,  Istachri  und  Ibn  Haukai  _,J  Tevvedsch  auf 
die    Autorität  des   Jakuti   und   des  Mirassid   ül   Ittila.     Im 

Burhan-i  Kati  heisst  er  v J>  Tuz  und  *.$  Tuzh.  In  der 
Nähe  befindet  sich  das  Scha'ab  Buan  ^L>  ^jjlä  eins  der 
vier  Paradiese  der  arabischen  Geographen,  und  dieser  Um- 
stand hat  wahrscheinlich  die  Wahl  der  persischen  Könige 
bestimmt;  sie  benutzten  es  vielleicht  als  Winterresidenz,  da 
im  Sommer  der  Ort  wegen  seiner  niedrigen  Lage  sehr  heiss 
ist.  Tudsch,  oder  richtiger  wohl  Taudsch  oder  Tauz  wurde 
schon  im  J.  19  der  Hidschret  (640)  von  Osman  bin  Abul 
Aassi    oder   dessen  Bruder  Hekem    bin  Abul  Aassi  erobert, 


Mordtmann:    Vergleichende  Geographie  Persiens.  259 

und  ist  überhaupt  die  erste  Stadt  im  eigentlichen  Persien, 
welche  die  Araber  eroberten ;  s.  Beladori  p.  386,  387.  Ueber 
die  genauere  Lage  des  Ortes  gibt  uns  ein  Itinerar  in  Ibn 
Haukai  p.  200  die  beste  Auskunft: 

Von  Schiraz  nach  dem 

Chan  Essed  am  Flusse  Sekkan     .  6  Parasangen, 

Chan  Descht-i  Arzen 4  „ 

Dorf  Tire 4  „ 

Stadt  Kazerun 6  „ 

Dorf  Deriz 4  „ 

Chan  Ras  ül  Okba 4  „ 

Stadt  Tevvedsch 4  „ 

Stadt  Dschannabe 12  „ 

Demnach  lag  Taudsch  genau  in  der  Mitte  zwischen 
Kazerun  und  Dschannabe,  welche  beide  Orte  noch  auf  unsern 
heutigen  Karten  vorhanden  sind;  es  würde  dies  ungefähr 
mit  dem  heutigen  Khischt  ouki^  zusammen  fallen,  und  in 
der  That  berichtet  Sir  W.  Ouseley  auf  die  Aussage  eines 
Freundes,  dass  im  J.  1787  in  dem  Garten  eines  dortigen 
Bewohners  Basreliefs  vorhanden  waren.  Von  den  zahllosen 
Reisenden,  welche  die  Strecke  von  Buschir  nach  Schiraz 
zurückgelegt  haben ,  ist  meines  Wissens  nur  J.  S.  Bucking- 
liam  im  J.  1816  in  Khischt  gewesen;  s.  dessen  Travels  in 
Assyria,  Media  and  Persia,  Vol.  II  p.  98  (London  1830, 
2  Edition);  er  sagt  jedoch  nur,  dass  es  „a  small  village  of 
huts  with  some  ruined  houses"  sei. 

Jedenfalls  verdient  diese  Gegend  noch  eine  sehr  genaue 
Durchforschung,  die  vielleicht  zu  interessanten  Ergebnissen 
führen  würde.  Was  Taudsch  selbst  betrifft,  so  sagt  schon 
der  Verfasser  des  Burhan-i  Kati,  dass  der  Ort  zerstört  ist; 
in  der  türkischen  Geographie  (Dschihannuma)  des  Kiatib 
Tschelebi  wird  er  nicht  mehr  erwähnt. 


[1874,  3.  Phil.  bist.  C1J  18 


260         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Zu  den  Ortschaften  in  Persis,  welche,  wenn  auch  nicht 
im  hohen  Alterthum,  doch  jedenfalls  zur  Zeit  der  Sassanideu 
einen  hervorragenden  Platz  einnahmen ,  gehört  die  Stadt 
Schapur  ^Lä  (arab.  »oL  Sabur),  zwischen  Buschir  und 
Schiraz.  Die  merkwürdigen  Bildwerke  (Statuen,  Basreliefs) 
und  eine  Inschrift  aus  der  Zeit  des  Königs  Nersi,  sind  von 
Kämpfer,  Dupre,  Morier,  Ouseley,  Buckingham,  J.  Johnson 
und  Flaudin  abgebildet  und  beschrieben;  sie  stimmen  alle 
darin  überein,  dass  die  Basreliefs  sich  auf  Schapur's  I  Sieg 
über  den  römischen  Kaiser  Valerian  beziehen,  eine  Ansicht, 
die  mir  jedoch  irrig  erscheint.  Die  Figur  des  Perserkönigs, 
wie  sie  in  der  colossalen  Statue,  bo  wie  auf  diesen  Basreliefs 
erscheint,  hat  vielmehr  die  grösste  Aehnlichkeit  mit  dem 
Bilde  Schapur's  II,  wie  wir  es  auf  dessen  Münzen  sehen, 
und  ebenso  passen  die  übrigen  Darstellungen  viel  besser  aut 
den  Feldzug  Schapur's  II  gegen  Julian.  Der  Leichnam 
unter  dem  Pferde  Schapur's  ist  offenbar  nicht  der  Leichnam 
Valerian's,  der  bekanntlich  ledendig  gefangen  genommen 
wurde,  sondern  Julian's,  der  in  der  Schlacht  bei  Tummara 
fiel;  der  Römer,  der  sich  dem  Perserkönige  in  der  Haltung 
eines  Bittenden  nähert,  ist  Jovianus,  während  nach  Valerian's 
Grefangennehmung  kein  Römer  um  Frieden  bat.  Ebenso 
unterscheidet  man  neben  den  römischen  und  persischen 
Soldaten  auch  die  armenischen  Krieger,  welche  in  dem  Feld- 
zug von  363  Julian's  Verbündete  waren. 

Hamze  Ispahani,  Istachri,  Ibn  Haukai,  Jakuti  u.  s.  w. 
stimmen  alle  darin  überein,  dass  die  Stadt  Schapur  ursprüng- 
lich von  Tahmurath  erbaut  sei  und  Dindila  geheissen  habe; 
Alexander  habe  sie  zerstört  und  Schapur  I  habe  sie  wieder 
aufbauen  lassen;  sie  sei  desshalb  ^Li  *Lu  Bina-i  Schapur 

(Schapur's   Bau)    genannt,    woraus    allmählich    ßischapur, 
Bischaver  und  schliesslich  Schapur  geworden  sei. 

Abgesehen    von    dem   mythischen   Tahmurath    und    dei 


Mordtmann:   Vergleichende  Geographie  Persiens.  261 

von  ihm  erbauten  Stadt  Dindila,  deren  Name  sich  nicht  ein- 
mal mit  altpersischen  Buchstaben  schreiben  lässt,  ist  auch 
die  weitere  Nachricht  unglaublich ,  dass  sie  von  Schapur  I 
den  Namen  Bina-i  Schapur  erhalten  habe,  da  Schapur  I  be- 
kanntlich nicht  arabisch,  sondern  persich  sprach.  Es  ist 
vielmehr  wahrscheinlich,  dass  alles  dieses  nur  spätere 
Träumereien  der  arabischen  Grammatiker  sind,  welche  den 
persischen  Namen  Bischaver  „Waldig"  nicht  erklären  konnten. 
Auf  den  Münzen  der  Sassaniden  wird  sie  mit  den  Buchstaben 

_>X^)J  (Bisch)  bezeichnet,  und  zwar  von  den  Zeiten  Scha- 

pur's  II  an  bis  auf  Ardeschir  III  in  grosser  Anzahl.  Von 
dem  letzten  Jezdegird  aber  sind  mir  keine  Münzen  aus  Bi- 
schaver oder  Bischapur  vorgekommen,  wahrscheinlich  aus 
sehr  triftigen  Gründen;  Bischaver  lag  in  nächster  Nähe  der 
altpersischen  Residenz  Taoke  (Tudsch,  Tevvedsch)  und  war 
schon  frühzeitig  den  Arabern  in  die  Hände  gefallen.  '  Letztere 
aber  benutzten  die  vorhandenen  Prägewerkzeuge,  und  Hessen 
dort  Münzen  mit  dem  Namen  Chusrav's  prägen  (aus  den 
Jahren  35,  42,  47,  49  d.  h.  666,  673,  678,  680) ;  ferner 
der  Statthalter  von  Persien,  Zijad  bin  Abu  Sofian  in  den 
Jahren  der  Hidschret  53,  54  u.  56  (673,  674  u.  676)  und 
sein  Sohn  Ubeidullah  im  J.  58  (678).  Auch  später  liessen 
die  Ommiaden  noch  Münzen  in  Sabur  (Schapur)  prägen; 
Münzen  der  Abassiden  aus  dieser  Stadt  sind  mir  aber  nicht 
bekannt. 

Ob  Bischaver,  das  heutige  Schapur,  schon  den  Alten 
bekannt  war,  vermag  ich  nicht  zu  sagen;  zwar  kennt  Ptole- 
mäus  VI,  4,  5,  eine  Stadt  noTUccQcc,  deren  Lage  mit  dem 
heutigen  Schapur  ziemlich  übereinstimmen  würde ;  der  Name 
Potikara    bedeutet   augenscheinlich    „Bild",    „Bildniss",   im 

Altpers.  patikara,  Pehlevi  patkari,  armen.  <y  «*  yi  y  &-/* 

(patker),  neupers.    JCkj.     Dieser  Name  würde  ausgezeichnet 

18* 


262         Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  März  1874. 

passen ,  aber  Ptolemäus  lebte  lange  vor  Schapur  II,  Nersi 
und  selbst  vor  Schapur  I,  und  konnte  daher  nichts  von  den 
Basreliefs  und  Statuen  wissen,  welche  die  Sassaniden  zwei- 
hundert Jahre  später  dort  ausführen  Hessen;  Denkmäler  aus 
der  Achämenidenzeit  aber  sind  bis  jetzt  nicht  in  Schapur 
gefunden  worden.  Eben  so  stehen  mir  hier  keine  Codices 
von  Ptolemäus  zur  Verfügung,  auf  deren  Autorität  ich  allen- 
falls IIoTUaQct  für  eine  spätere  Interpolation  erklären  könnte. 


Herr  Christ  trug  vor: 

„Die   Parakataloge    in    den    griechischen 
und  römischen  Dramen*1. 

(Wird  in  den  Denkschriften  veröffentlicht  werden.) 


Sitzung  vom  2.  Mai  1874. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 


Der  Herr  Classensecretär  von  Prantl  legt  vor: 

„Enneakrunos  und  Pelasgikon.  Ein  Bei- 
trag zur  Topographie  des  alten  Athen", 
von  Herrn  Unger  in  Hof. 

Mitten  in  der  Beschreibung,  welche  Pausanias  von  den 
Sehenswürdigkeiten  Athens  gibt,  nachdem  er  1,8,4  von  den 
Standbildern  des  Harmodios  und  Aristogeiton  auf  dem  Markt- 
platz gesprochen  und  bevor  er  1,  14,  6  auf  den  Hephaistos- 
teinpel  oberhalb  des  Marktes  übergeht,  lesen  wir  1,  8,  5  bis 
1,  14,  6  die  Schilderung  einer  um  den  Brunnen  Enneakrunos 
gruppirten  Reihe  von  Bauwerken,  deren  Ortsbestimmung  in 
Ermanglung  anderer  Hülfsmittel  lediglich  von  der  Fixirung 
der  auch  sonst  oft  genannten  Quelle  abhängt.  Diese,  welche 
auch  den  Namen  Kallirrhoe  geführt  hat,  wird  von  allen  Be- 
arbeitern der  attischen  Topographie  in  einer  jetzt  noch 
Kallirrhöi  genannten  Quelle  am  Ilissos  wieder  erkannt  und 
werden  daher  auch  die  von  Pausanias  erwähnten  Baulich- 
keiten —  ein  Odeion,  ein  Tempel  der  Demeter  und  Köre, 
ein  zweiter,  von  dem  er  anstatt  die  Gottheit  zu  nennen 
bloss  angibt  dass  ein  Bild  des  Triptolemos  darin  war,  end- 
lich ein  Tempel  der  Eukleia  —  ausserhalb  der  Stadt  im 
Gebiete  von  Agrai  angesetzt.  Dies  verträgt  sich  aber  nicht 
mit  der  Darstellung  des  Pausanias,  welche  mit  keinem  Worte 
andeutet,  dass  1,  8,  4  die  Stadt  verlassen  oder  1,  14,  6  in 
dieselbe  zurückgekehrt  wird,  und  die  Merkwürdigkeiten  von 
Agrai  1,  19,  7  in  einer  ganz  andern  Umgebung  behandelt; 
derselbe  hat  vielmehr,  wenn  der  Text  in  Ordnung  ist,    die 


264        Sitzung  der  phüos.-philol.  Gasse  vom  2.  Mai  1874. 

Enneakrunosgruppe  im  Innern   der  Stadt  und   zwar  in  der 
Nähe  des  Kerameikosmarktes  gesehen. 

Die  zur  Lösung  der  Schwierigkeit,  welche  die  sogenannte 
Enneakrunos-Episode  macht,  unternommenen  Versuche  haben 
den  gewünschten  Erfolg  nicht  gehabt.  Wenn  Bursian  De  foro 
Athen,  p.  9  vermuthet,  Pausanias  habe  bei  einem  Gastfreund 
in  der  Nähe  des  Ilissos  gewohnt  und  sei,  da  am  ersten 
Tage  nach  Durchwanderung  der  einen  Hälfte  des  Marktes 
die  Zeit  zur  Erledigung  des  Restes  nicht  gereicht  habe, 
gegen  Abend  zu  seinem  Gastfreund  zurückgekehrt,  bei  welcher 
Gelegenheit  er  den  Ausflug  zum  Enneakrunosbrunnen  gemacht 
habe;  oder  wenn  E.  Curtius  Attische  Studien  2,  15  meinte, 
Pausanias  sei  zuerst  bei  dem  itonischen  Thore,  das  dem 
Brunnen  am  nächsten  lag,  eingetreten,  habe  aber  dann, 
eines  Besseren  belehrt,  den  rechten  Anfang  der  Periegese 
an  der  Westseite  gemacht,  und  in  seinem  Tagebuch  hätten 
in  Folge  dessen  jene  zuerst  besuchten  Punkte  eine  besondere 
Gruppe  gebildet:  so  wendet  C.  Wachsmuth  im  Rhein.  Mus. 
23,  34  mit  Recht  ein,  dass  beide  Erklärungen  das  unerklärt 
lassen,  was  einer  Aufhellung  am  meisten  bedarf,  nämlich 
die  Art  und  Weise,  in  welcher  die  ganze  Episode  bei  Pau- 
sanias auftritt.  Auch  die  spätere  Aufstellung  von  Curtius 
(Sieben  Karten  z.  Topogr.  v.  Athen.  Erläuternder  Text  p.  49), 
Pausanias  habe  sich  ganz  den  Ortsführern  angeschlossen  und 
die  Anordnung  seiner  Periegese  richte  sich  nach  der  vom 
Zufall  abhängigen  Vornahme  der  einzelnen  Wanderungen, 
ist,  wie  Wachsmuth  Rhein.  Mus.  24,  37  und  Schubart  in 
Fleckeisens  N.  Jahrb.  97,825  gezeigt  haben,  nicht  besser 
geeignet,  die  Frage  zu  lösen. 

Wachsmuth  a.  a.  0.  23,  35  will  den  Knoten  mit  dem 
Schwert  zerhauen:  er  versetzt  die  ganze  Episode  hinter 
1,  19,  7,  so  dass  sie  an  die  dort  gegebene  Beschreibung 
von  Agrai  angeschlossen  und  die  bisher  durch  dieselbe  ge- 
trennten Schilderungen   des   Marktes   und   der  Gegend  über 


Unger:  Ennedkrunos  und  Pelasgikon.  265 

dem  Markte  zusammengeschoben  werden.  Im  Text  findet 
sich  aber  keine  Spur  einer  früher  anders  gearteten  Ordnung, 
auch  kein  Anzeichen  in  einem  Homoioteleuton  u.  dgl.,  welches 
erlaubte,  die  Unordnung  auf  ein  Versehen  der  Abschreiber 
zurückzuführen;  Wachsmuth  hat  sich  daher  genöthigt  ge- 
sehen, eine  absichtliche  Transposition  anzunehmen :  ein  Leser, 
welcher  unsern  Schriftsteller  zu  historischen  Zwecken  studirte, 
habe  die  Umstellung  vorgenommen,  um  die  beiden  Haupt- 
massen der  bei  verschiedenen  Oertlichkeiten  gegebenen  Ex- 
curse  über  die  Diadochengeschichte  beisammen  zu  haben; 
ein  ähnliches  Schicksal  hätten  aristotelische  Schriften  unter 
den  Händen  späterer  Diorthoten  gehabt.  Dem  entgegnet 
Schubart  a.  a.  0.  97,  824  treffend,  dass  solche  Diorthosen, 
die  bei  Aristoteles  begreiflich  sind,  bei  einem  so  untergeord- 
neten, lange  Zeit  fast  vergessenen  Schriftsteller  wie  Pausanias 
keine  Wahrscheinlichkeit  haben;  auch  sei  ein  solches  Ver- 
fahren nur  ausführbar  gewesen,  wenn  der  Diorthot  zugleich 
Abschreiber  war;  eine  Vereinigung  beider  Thätigkeiten  lasse 
sich  aber  für  die  Schreiber  des  Pausaniastextes  nicht  gut 
annehmen.  Schubarts  eigne  Ansicht,  Pausanias  habe  nicht  die 
Absicht  gehabt,  eine  regelrechte  topographische  Beschreibung 
Athens  zu  liefern,  wird  durch  die  Thatsache,  dass  überall, 
wo  wir  ihn  controliren  können,  sich  die  planmässige  Ord- 
nung einer  solchen  herausstellt1),  und  durch  die  Aeusserung, 
welche  er  3,  11,  1  selbst  hierüber  thut,  genugsam  widerlegt; 
mit  Recht  haben  daher  auch  alle  Bearbeiter  der  Topographie 
Athens  die  entgegengesetzte  Voraussetzung  zu  Grunde  gelegt. 
Unter  diesen  Umständen,  Angesichts  der  Unzulänglich- 
keit aller  von  namhaften  Forschern  angestellten  Versuche, 
die  Darstellung  des  Pausanias  mit  dem  Ansatz  der  Ennea- 
krunos  ausserhalb  der  Stadt  in  Einklang  zu  bringen,  ist  es 
wohl   an  der  Zeit  die  Frage  aufzuwerfen:  ob  denn  die  An- 


1)  Vgl.  Wachsmuth  Rh.  M.  23,  5  sq. 


266        Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  2.  Mai  1874. 

nahuie,  dass  der  Enneakrunosbrunnen  mit  der  jetzt  noch 
Kallirrhöi  genannten  Quelle  am  Ilissos  eins  sei,  wirklich  so 
unumstösslich  festgestellt  ist,  wie  allgemein  vorausgesetzt 
wird?  Eine  Revision  der  einschlägigen  Zeugnisse,  wie  sie 
jetzt  angestellt  werden  soll,  dürfte  diese  Identification  sehr 
zweifelhaft  machen,  ja  zu  dem  positiven  Ergebniss  führen, 
dass  zwei  Quellen  des  Namens  Kallirrhoe  zu  unterscheiden 
sind:  eine,  welche  diesen  Namen  von  jeher  geführt,  und 
eine  zweite,  welche  ihn  schon  im  sechsten  Jahrhundert  vor 
Christus  mit  der  Benennung  Enneakrunos  vertauscht  hat. 
Letztere  innerhalb  der  Stadt  und  in  der  von  Pausanias  an- 
gedeuteten Gegend  zu  suchen ,  kann  uns  dann  nichts  mehr 
abhalten;  ja  es  steht  zu  erweisen,  dass  zwei  von  den 
Tempeln  der  Enneakrunosgruppe  dem  anerkannt  in  der  Stadt 
gelegenen  Eleusinion  angehört  haben  und  dass  dieses  Heilig- 
thum  sich  gerade  in  der  Gegend  befunden  hat,  in  welche 
wir  nach  Pausanias  die  ganze  Gruppe  zu  setzen  haben.  Im 
Zusammenhang  damit  wird  weiter  auch  die  Frage  über  das 
athenische  Pelasgikon  sich  einer  neuen  Behandlung  unter- 
ziehen lassen. 

I.  Enneakrunos. 

Leake2),  dessen  Behandlung  der  Frage  für  die  Nach- 
folgenden massgebend  geworden  ist,  citirt  für  die  Lage  der 
Enneakrunos  am  Ilissos  vier  Stellen,  von  denen  aber  drei 
(Thukyd.  2,  15.  Herod.  6,  137  und  Tarantinos  bei  Hierokles 
Hippiatr.  praef.)  ebenso  gut,  ja,  wie  sich  zeigen  wird,  viel- 
leicht mit  besserem  Recht  für  eine  Ansetzung  derselben  im 
Innern  der  Stadt  verwendet  werden  können;  das  Etymolo- 
gicum  magnum  p.  343,  22  freilich  hat  offenbar  die  Quelle 
Kallirrhöi    im  Auge ;    aber   seine  wie  andere  dahin  zielende 


2)  Topographie  Athens.  Zweite  Ausg.,  übers,  v.  Baiter  u.  Sauppe. 
1844  p.  128  sq. 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  267 

Angaben  stammen  erst  aus  byzantinischer  Zeit  und  sind  im 
Widerspruch  mit  den  älteren  Zeugnissen. 

Der  locus  classicus  über  die  Enneakrunos  findet  sich 
bei  Thukydides  2,  15.  Um  seine  Behauptung,  dass  bis  auf 
Theseus  die  Stadt  Athen  nur  aus  der  Akropolis  und  der  an 
ihrem  Südfuss  sich  ausbreitenden  Gegend  bestanden  habe, 
zu  erweisen ,  erinnert  derselbe  daran ,  dass  die  ältesten 
Heiligthümer  der  Stadt  auf  diesen  zwei  Plätzen  zu  finden 
waren,  und  in  gleicher  Absicht  beruft  er  sich  auf  die  alt- 
hergebrachte Wichtigkeit  und  Heiligkeit  des  Enneakrunos- 
wassers :  xal  tf  KQrjVJ]  vf,  vvv  fiev,  ztov  rvqavvcov  ovtco  ayteva- 
aavrcovy  'EvveaxQOvvci)  xaXovf.ievrj  ro  de  itaXcti  (paveqwv  twv 
Ttrjytov  ovowv  KccXXiQQOfl  (x>vo{iaoi.dviß  exslvol  te  syyvg  ovörj 
xcl  TtXeiöTOv  a%ia  exqcovto  xal  vvv  Mtl  arto  rov  aq%alov  tcqo 
xe  yaf.iiY,wv  xai  ig  aXXa  xwv  Uqiov  vo^iiCßtai  %($  vdati 
xqrod-ai.  Offenbar  lässt  diese  Stelle  die  Beziehung  auf  eine 
südlich  der  Burg  in  der  Stadt  befindliche  Quelle  ebensogut 
zu  wie  die  auf  die  Kallirrhöi  am  Ilissos ;  erstere  Erklärung 
darf  sogar  ein  Näherrecht  beanspruchen,  weil  Thukydides 
von  Theilen  der  Stadt  spricht.  Allerdings  ist  der  Ausdruck 
syyvg  övoj]  so  dehnbar,  dass  wenn  es  keine  andere  Quelle 
in  solcher  Nähe  jener  Gegend  gegeben  hätte  als  die  Kallirrhöi, 
man  immerhin  an  diese  denken  müsste;  obwohl  dann  auf- 
fallend wäre,  dass  Thukydides  von  der  Lage  des  Brunnens 
ausserhalb  der  Stadt  nichts  andeutet.  Aber  in  dieser  Ent- 
fernung war,  wie  unten  gezeigt  werden  soll,  die  Kallirrhöi 
mit  nichten  die  einzige  Süsswasserquelle;  die  besondere  Aus- 
zeichnung der  Enneakrunos  wird  daher  erst  dann  begreiflich, 
wenn  dieselbe  der  athenischen  Altstadt  selbst  angehörte  und, 
wie  Pausanias  1,  14,  1  ausdrücklich  angibt,  die  einzige  Quelle 
trinkbaren  Wassers  innerhalb  der  Stadt  gewesen  ist.  Als 
solche  ist  sie  auf  Grund  der  thukydideischen  Stelle  in  der 
Gegend  am  Südfuss  der  Burg  zu  suchen  :  was  sehr  gut  zu 
Pausanias   stimmt,   insofern   derselbe   auf  die  Enneakrunos- 


2G8  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

gruppe  zu  sprechen  kommt,  nachdem  er  von  Westen  her 
am  Aufgang  zur  Burg,  also  an  deren  westlichem  Abhang 
angelangt  ist. 

Der  durch  den  Brunnenbau  des  Peisistratos  (Pausan. 
1,  14,  1)  an  die  Stelle  von  Kallirrhoe  getretene  Name  Ennea- 
krunos  verblieb  der  Quelle  fortan  als  ihre  einzige  Benennung, 
soweit  wir  Erwähnungen  derselben  in  der  hellenischen,  make- 
donischen und  römischen  Zeit  verfolgen  können,  nachweislich 
sieben  Jahrhunderte  hindurch  bis  in  die  Zeit  der  Antonine; 
wo  der  frühere  Name  daneben  erwähnt  wird,  tritt  er  auch 
als  solcher  auf.  Ersteren  finden  wir  zunächst  bei  zwei  Zeit- 
genossen des  Thukydides,  dem  Komiker  Po  lyzelos  im  Demo- 
tyndareos,  Etymolog.  M.  343,  45  delgei  'Evveaxoovvov  evvöqov 
zotcovj  und  Herodot  6,  137  ccvroi  li^vaiot  liyovGi  —  (poizäv 
Tag  ocpersoag  SvyaTeqag  re  ymi  tovq  7taldag  Ire"  vdwo  hii 
t))v  'Evveaxoovvov.  Die  Zeit  des  pelasgischen  Mauerbaues  in 
Athen,  von  welcher  Herodot8)  hier  spricht,  liegt  viele  Jahr- 
hunderte vor  Peisistratos;  die  Quelle  hatte  damals  noch 
Kallirrhoe  geheissen.  Wenn  Herodot  und  seine  athenischen 
Berichterstatter  dieselbe  gleichwohl  dem  Sprachgebrauch 
ihrer  Zeit  folgend  Enneakrunos  nennen,  so  lässt  sich  daraus 
schliessen,  dass  im  Volksbewusstsein  der  ältere  Name  des 
Brunnens  bereits  erloschen  und  nur  gelehrten  Localforschern 
wie  Thukydides  bekannt  geblieben  war.  —  Im  Jahr  353 
schreibt  Isokrates  de  permutatione  §  296  ol  ixev  avTwv  snl 
tijg  'EvveaytQOvvov  xpvxovoiv  olvov ,  ol  <T  ev  TÖlg  xa7irjl€iotg 
7Vivovoiv,  £T£qol  (T  sv  Tolg  oy.^voQQacpEioig  "/.vßevovoiy  7to?J^ol 
<T  ev  xöig  rtov  avXrjTQiöcov  dtdccOKCcleloig  diaTqißovoi.  Die 
Schamlosigkeit  des  hier  geschilderten  Treibens  der  modernen 
Stadtjugend ,  desgleichen  früher  nicht  einmal  ein  ordent- 
licher Sclave  sich  gestattet  haben  würde  {itQOTEqov  ovo'  av 
or/.ezr]g   87tieixrjg   ovdsig   foolprjoev) ,    gipfelt   darin,    dass  es 

3)  Wir  werden  auf  diese  Stelle  gelegentlich  des  Pelasgikon 
zurückkommen. 


Unger:  Ennealcrunos  und  PelasgiJcon.  269 

mitten  in  der  Stadt,  vor  aller  Augen  vor  sich  gieng;  dort 
ist  gleich  den  andern  von  Isokrates  aufgeführten  Lokalitäten 
auch  die  Enneakrunos  gedacht,  während  bei  Beziehung  dieses 
Namens  auf  die  abgelegene  Gegend  draussen  am  Ilissos 
der  Vorwurf  seine  Spitze  verlieren  würde.  —  Wahrscheinlich 
einem  alexandrinischen  Paradoxographen  entnommen  ist  die 
Stelle  des  Plinius  hist.  nat.  31,  3,  28  Athenis  Enneacrunos 
nimbosa  aestate  frigidior  est  quam  puteus  in  Jovis  horto. 
Hier  und  an  anderen  (unten  angeführten)  Stellen  weisen  die 
Ausdrücke  Athenis,  l4xhrtvrjoi,  ev  l4&rjvccig  auf  Lage  in  der 
Stadt  hin;  ausnahmsweise  kommen  wohl  dieselben  auch  von 
Oertlichkeiten  in  der  Nähe  der  Stadt  vor:  es  wäre  aber 
doch  auflallend,  wenn  in  all  diesen  Fällen  nur  die  Ausnahme 
statt  der  Regel  Geltung  hätte;  bei  Plinius  kommt  aber  hinzu, 
dass  auch  die  andere  Oertlichkeit  innerhalb  der  Stadt  zu 
suchen  ist. 

Noch  unter  Antoninus  Pius  erkennt  Pasanias  1,  14,  1 
mittelst  der  Worte  ymXovgi  6i  ctvrrjp  'Eweccxqovvov  nur  diesen 
einzigen  Namen  an ;  dass  sein  Text  an  eine  Quelle  im  Innern 
der  Stadt  zn  denken  nöthigt,  haben  wir  oben  gesehen;  hie- 
zu  kommt  aber  noch  seine  ausdrückliche  Erklärung  a.  a.  0. : 
cpgectTct  f.iev  Aal  öia  Ttaöiqg  rrjg  7iolewg  sotl,  fcrjyr]  de  cacrj 
lidvif].  Zwar  scheint  er,  wie  Wachsmuth  Rhein.  Mus.  23,  18 
erinnert,  über  die  Ausdehnung  der  Stadt  auf  der  Ostseite, 
in  Folge  ihrer  Erweiterung  durch  Hadrians  Bauten  daselbst, 
nicht  ganz  im  Klaren  gewesen  zu  sein:  denn  er  bringt 
1,  19,  3—6  (vgl.  mit  c.  29,  2)  auch  Kynosarges,  Lykeion  und 
Agrai  sammt  dem  Ilissos  und  Kephissos  in  der  Stadtbe- 
schreibung unter ;  aber  diese  Bemerkung  über  die  Beschaffen- 
heit sämmtlicher  Wasser  Athens  verdankt  er  höchst  wahr- 
scheinlich nicht  eigener  Beobachtung,  zu  welcher  er  sich 
schwerlich  Zeit  genommen  hätte,  sondern  der  Mittheilung 
Einheimischer,  welche  über  die  Ausdehnung  ihrer  Stadt 
sicherlich  gut  Bescheid  wussten,  und  jedenfalls  ist  bei  dieser 


270         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  187 i, 

Wahrnehmung,  welche  so  gut  zu  der  von  Thukydides  und 
anderen  gemeldeten  Auszeichnung  der  Enneakrunos  passt, 
an  jene  vorstädtischen  Oertlichkeiten  nicht  mitgedacht.  Denn 
dort  gab  es  noch  andere  Süsswasserquellen  ausser  der 
Kallirrhöi:  zunächst  die  Eridanosquellen  und  den  Brunnen 
vor  dem  Thore  des  Diochares,  Strab.  9,  1,  19  elol  fxev  vvv 
al  Ttrjyal  (Hqiöavov)  kcc&ccqov  y,al  7tOTi(xov  vöarog,  wg  cpaGiv, 
extdg  twv  dioyaqovg  xaXov(.i£vtov  TtvXwv  7tXrjalov  tov  ylvueiov, 
Ttqoreqov  de  Kai  "/.qr^rj  xareGxevaoro  rtg  7tXrjOtov  7toXXov 
Aal  nalov  vdazog ;  ferner  die  von  Piaton  erwähnte  anmuthige 
Quelle  am  Ilissos  in  der  Gegend  von  Agrai,  Phaidr.  230,  b 
(vgl.  227,  a)  rj  ye  av  itrjyrj  %aqieorarri  vtco  Trjg  7tXaiavov 
qel  f.iaXa  xpvxgov  vdarog,  tog  ye  ti7  Ttodl  TeKixrßaö&ai,  vgl. 
Strab.  9,  1,  24  'lliooög  qecovi  ex  rtov  VTteq  rrg  ^Idyqag  xal 
rov  yLv^eiov  f,ieqcov  xal  rr^g  Tfrrjyrjg,  rjv  viivr\<5ev  ev  Oalöq^j 
Tllarwv.  Da  Sokrates  und  Phaidros  zu  ihr  gelangen,  indem 
sie  von  einer  dem  Olympieion  östlich  benachbarten  Stelle 
an  im  Bett  des  Ilissos  abwärts  waten  (227,  b.  229,  a.  230,  b.), 
so  könnte  recht  wohl  die  Kallirrhöi  selbst  gemeint  sein; 
doch  gibt  es  nördlich  von  dieser  und  näher  am  Olympieion 
noch  einen  anderen  Brunnen  guten  Wassers,  auf  welchen 
Stark  (s.  u.)  aufmerksam  gemacht  hat.  An  all  diesen  Punkten 
ist  Pausanias  vorbeigekommen,  konnte  also,  wenn  es  ihm 
selbst  um  eine  Kenntnissnahme  von  der  Beschaffenheit  der 
athenischen  Wasser  zu  thun  war,  mit  dem  Vorhandensein 
und  den  Eigenschaften  dieser  Quellen  nicht  unbekannt  bleiben; 
im  andern  Fall,  wenn  er  seine  Kenntniss  anderen  verdankt, 
sind  dies  jedenfalls  Ortsansässige  gewesen,  also  Leute,  welche 
wissen  konnten  und  mussten ,  wie  weit  sich  die  Stadt  er- 
streckte. In  beiden  Fällen  konnte  die  Enneakrunos  nur  unter 
der  Voraussetzung  der  einzige4)  Süsswasserbrunnen  der  Stadt 

4)  Natürlich  mit  Ausnahme  der  Klepsydra,  welche  nicht  dem 
Asty  sondern  der  Burg  angehörte  und  der  in  der  alten  Zeit  unbe- 
wohnten Seite  der  Unterstadt  zugewendet  war. 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  271 

genannt  werden ,  dass  er  sich  innerhalb  der  Stadtmauern 
befand.  Ebenso  konnte  sie  die  ihr  beigelegte  hervorragende 
Geltung  seit  ältester  Zeit  nur  dann  gewinnen,  wenn  sie  die 
eiuzige  in  nächster  Nähe  der  Stadtbewohner  befindliche 
Quelle  trinkbaren  Wassers  war;  dies  lässt  sich  aber  von 
der  Kallirrhöi  am  Uissos  nicht  sagen. 

Nach  der  Zeit  des  Pausanias  spricht  (um  von  Gramma- 
tikern und  andein  Compilatoren  abzusehen)  auch  noch  Alki- 
phron  3,  49  von  der  Quelle  Enneakrunos;  das  Fortbestehen 
dieses  Namens  kann  also  bis  gegen  Ende  des  zweiten  Jahr- 
hunderts n.  Chr.  nachgewiesen  werden.  Die  frühere  Benenn- 
ung dagegen  ist  bis  dahin  nicht  wieder  in  Gebrauch  ge- 
kommen; wenn  Statius  Trieb.  12,629  Calliroe  novies  erran- 
tibus  undis  sie  anwendet,  so  ist  zu  bedenken,  dass  er  die 
Heroenzeit  im  Auge  hat.  Sonst  wird  Kallirrhoe  nur  als 
ein  veralteter,  durch  die  Bezeichnung  Enneakrunos  verdrängter 
Name  der  altehrwürdigen  Quelle  angeführt,  so  von  Harpo- 
kration  lex.  rhetor.  73,  14  'EvveaKQOvvov  yivöiagb)  sv  tu 
7teqi  dvTidooewg.  xQ^vt]  zig  ev  }4&rjvaig7  tcqotsqov  <T  exa- 
Xeiro  KaXXiQorj  und  Hesychios  *EvveaxQOvvog'  Korpy  ^t^vrjoiVj 
fp>  TCQOveQOv  KaXhQorjv  eXeyov  twv  de  tvqccvvcov  ovrwg  avrrjv 
xaTaoxevaoavTwv  sxXrj&rj  'EvvectKQOvvog,  tog  q>r\Gi  zal  Qovxv- 
ölörjg.  Der  Zusatz  xai  bei  Hesych.  zeigt  an,  dass  Thuky- 
dides  nicht  die  Hauptquelle  dieser  Erklärung  ist;  die  Ver- 
fasser der  in  diesen  Compilationen  excerpirten  Glossare  zu 
den  Classikern,  ein  Aelius  Dionysius ,  Pausanias  Atticista, 
Diogenianus  schrieben  zur  Zeit,  als  Hadrian  eine  Nachblüthe 
der  hellenischen  Literatur  hervorgerufen  und  Athen  erneute 
Bedeutung  gewonnen  hatte,  und  waren  sicher  im  Stande, 
über  den  Namen  der  berühmtesten  attischen  Quelle  sich 
Gewissheit  zu  verschaffen.  Zur  Erklärung  des  von  einem 
alten  Redner  gebrauchten  Ausdrucks  lovTQOcpoqog  sagt  Harpokr. 


5)  Verwechslung  mit  Isokrates  a.  a.  0. 


272  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

122,  5  bxi  di  xd  Iovtqcl  Iy.6ia.iQov  ex  xrjg  vvv  pev  'Evveay.QOuvou 
Y.alov{ievi]Q  x,Qt']vrjg  71q6xeqov  de  KaXliQQOtjQ,  OiXooxsopavog6) 
sv  xw  Tzeoi  xqtjvwv  qrqoi.  Der  hier  citirte  Philostephanos 
von  Kyrene,  ein  Schüler  des  Kallimachos,  blühte  um  200 
v.  Chr.,  s.  G.  Müller  Fragm.  hist.  gr.  3,  28.  Auch  Julius 
Pollux,  unter  Com  modus  öffentlicher  Lehrer  in  Athen,  schreibt 
onomast.  3,  43  xal  Xovxqd  xig  '/.Of.u'Qovaa  XovxQO(f6qogy  !ddir 
vijoi  fisv  h&  xttg  KcdXiQoqg  elx'  al&ig  'EvveaxQOivov'1)  xfoj&EiorjQ. 

K  a  1 1  i  r  r  h  o  e. 

Ist  durch  die  bisherige  Auseinandersetzung  erwiesen, 
dass  der  heilige  Brunnen  der  Athener  von  den  Peisistratiden 
ab  bis  in  die  Zeit  des  K.  Commodus  bloss  Enneakrunos 
geheissen  hat,  so  muss  die  Kallirrhoe,  welche  im  Laufe  der- 
selben Zeiten  als  eine  athenische  Quelle  genannt  wird,  von 
jenem  verschieden  gewesen  sein. 

Die  erste  Erwähnung  derselben  findet  sich  in  dem 
pseudoplatonischen  Dialog  Axiochos  (s.  u.),  geschrieben  in 
makedonischer  Zeit,  s.  K.  Fr.  Hermann  System  der  plato- 
nischen Philosophie  1,  413  sqq.  Ungefähr  zu  gleicher  Zeit 
meldet,  wie  wir  eben  sahen,  Philostephanos  dass  der  Name 
Kallirrhoe  für  Enneakrunos  veraltet  sei,  also  muss  es  noch 
eine  zweite  Kallirrhoe  gegeben  haben. 

In  Alkiphrons  Briefen  kommen  beide  Namen  vor:  3,  51 
fA-exä  xov  Eiowxav  '/.ai  xd  Aeqvalov  vöcoq  y,al  xa  £IeiQitvi]Q 
vctfiaxa  eQtoxi  KaXXiQorjg  ex  Koqiv$ov  naXw  Id&rpaQE  xaxe- 
Ttelyopai ;  3,  49  ävdyxr]  fie  oxavdixag  so&leiv  *al  yrftva  r 
7c6ag  dvaXeysiv  Aal  xr{g  yEvveaxQOvvov  nivovxa  TtiimlaoÜai 
xrv  yaoxega.  Die  Gedanken  aber,  welche  er  an  sie  knüplt, 
sind  sehr  verschiedener  Natur:  nach  der  Kallirrhoe  hegt  er 


6)  Emendation  von  C.  Müller  statt  Tlolvaiscpcivos. 

7)  So  Bekker;   die   Hdss.   dittographisch   «v$is   ex   rtjg  'Rvveu- 

X(JQVVOV.m 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  273 

Sehnsucht,  an  ihr  wie  an  den  andern  3,  51  genannten  Quellen 
und  dem  „schönfliessenden"  Strom  Lakonines,  lässt  sich  die 
Zeit  in  ländlicher  Einsamkeit  verträumen;  Enneakrunos  ist 
der  Stadtbrunnen ,  an  dem  in  Ermanglung  des  Weines  er 
sich  alltäglich  zu  dem  dürftigen  Mahl  den  Durst  stillen  muss. 

Von  entscheidendem  Gewicht  ist,  dass  Plinius  hist.  nat. 
4,7,28  beide  Quellen  geradezu  neben  einander  aufführt: 
in  Attica  fontes  Cephisia,  Larine,  Callirroe,  Enneacrunos, 
montes  Brilessus,  Aegiaieus,  Icarius,  Hymettus,  Lycabettus. 
Um  die  vermeintliche  Identität  beider  Namen  zu  retten, 
schreiben  die  Herausgeber  seit  Harduin  mit  veränderter 
Interpunction  Cephisia,  Larine,  Callirroe  Enneacrunos,  montes 
Brilessus;  es  kommt  aber  weder  dieser  noch  ein  ähnlicher 
Doppelname  bei  den  Alten  vor.  Die  modernen  Sprachen 
mit  ihren  in  der  Endung  abgestumpften  Wörtern  können 
zwei  Namen  in  solcher  Weise  aneinanderkoppeln;  ein  Callir- 
roe-Enneacrunos  aber  wäre  so  wenig  antik  als  z.  B.  Ister- 
Danubius,  Epidamnus-Dyrrachium.  Wie  Plinius  Doppelnamen 
gibt,  zeigen  zahlreiche  Fälle,  z.  B.  4,  8,  29  oppidum  Almon 
ab  aliis  Halmon;  4,  11,  47  Pidaras  sive  Athidas;  4,  8,  30 
oppidum  Pagasae  idem  postea  Demetrias  dictum;  4,  12,  70 
Sicinus  quae  antea  Oenoe,  Heraclea  quae  Onus;  3,  23,  145 
Epidamnus  a  Romanis  Dyrrachium,  flumen  Aous  a  quibus- 
dam  Aeas  apellatus.  An  unserer  Stelle  aber  konnte  schon 
die  Uebereinstimmung  im  Asyndeton  zeigen,  dass  Kallirrhoe 
und  Enneakrunos  ebenso  wie  die  andern  ohne  Conjunction 
an  einander  gereihten  Namen  zu  behandeln,  mithin  als  Namen 
verschiedener  Quellen  anzusehen  sind. 

Hiezu  kommt  noch  die  Parallelstelle  eines  Scribenten, 
welcher  für  den  Epitomator  des  Plinius  gilt,  aber  auch  aus 
gemeinsamer  Quelle  geschöpft  haben  kann,  des  Solinus  7,  18: 
Callirrhoen  stupent  fontem  nee  ideo  Cruneson  fontem  alterum 
nullae  rei  nominant.  Von  einer  Krunesos,  die  wir  dem 
Solinus   zufolge  recht  oft  genannt  finden  sollten,  ist  sonst 


274        Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

nirgends  etwas  zu  lesen;  das  Wort  ist  daher  der  Verderb- 
niss  verdächtig  und  da  Solinus  auch  die  von  Plinius  ange- 
gebenen Berge  in  gleicher  Zahl  und  Benennung  aufführt,  so 
haben  die  Herausgeber  mit  gutem  Grund  vermuthet,  dass 
Solinus  einen  der  bei  Plinius  vorfindlichen  Quellennamen  und 
zwar,  weil  dieser  den  Buchstaben  nach  am  ähnlichsten  ist, 
Enneakrunos  gesetzt  hatte;  wenn  demnach  Solinus  wahr- 
scheinlich Callirrhoen  stupent  fontem  nee  Enneacrunon  fontem 
alterum  nullae  rei  nominant  geschrieben  hat,  so  ist  für  die 
sachliche  Verschiedenheit  beider  Namen  ein  neues  Zeugniss 
gewonnen. 

Der  Auszeichnung,  welche  nach  Solinus  diesen  beiden 
Quellen  zukam,  entspricht  es,  dass  sie  ursprünglich  beide 
denselben ,  ihren  Werth  ausdrückenden  Namen  Kallirrhoe 
geführt  haben ;  da  aber  innerhalb  der  Stadt  nur  eine  Quelle 
sich  befand,  deren  Wasser  durch  seine  Güte  diese  Bezeich- 
nung rechtfertigte,  und  die  Enneakrunos  der  innern  Stadt 
angehörte,  so  müssen  wir  die  Kallirrhoe  ausserhalb  der 
Stadtmauern  suchen.  In  der  That  befand  sie  sich  dort  am 
rechten  Ufer  des  Ilissos,  Axiochos  364,  a  e^iqvxi  poi  ig 
KvvoGccQyeg     x,ai    yEvof^svat     (xot    yiaxa.    zov    'lliooov    Sif^e 

(flOVl)  ßotOVTOQ  TOV,  SlüKQaTEg  2(OXQCCTEQ'  ibg  ÖE  7CEQlGTQaq)Eig 
7tEQLEGK07rOVV    07V0&EV    Eil],    KkElVlCLV    OQÜ)    TOV  !d^l6%OV    &EOVTCC 

etil  Kalhqorjv.  Nimmt  man  hinzu,  dass  weiter  abwärts  das 
itonische  Thor  und  die  Bildsäule  der  Amazone  (364,  d) 
Antiope  war,  welche  in  der  Nähe  des  Heiligthums  der  Ge 
Olympia  (Plut.  Thes.  27),  also  auch  des  Olympieion  stand,  so 
erhellt,  dass  die  Kallirrhoe  der  historischen  Periode  des  Alter- 
thums  sich  genau  in  derselben  Gegend  befunden  hat  wie 
die  jetzt  noch  mit  einem  altgriechischen  Worte  bezeichnete 
Kallirrhöi.  Dadurch  ist  die  Identität  der  letzteren  mit  der 
alten  Kallirrhoe  gesichert,  aber  auch  ihre  Identification  mit 
dem  Enneakrunosbrunnen  widerlegt. 

Gegen  letztere  spricht  auch  noch  eine  andere  Erwägung, 
dieselbe,  welche  einen  gelehrten  Reisenden  an  Ort  und  Stelle 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  275 

zu  der  Ansicht  bestimmt  hat,  die  nun  einmal  am  Ilissos 
geglaubte  Enneakrunos  sei  gleichwohl  von  der  Kallirhöi  zu 
unterscheiden.  B.  Stark  schreibt  in  der  Augsburger.  All- 
gemeinen Zeitung,  28.  Dec.  1871,  Beil.  p.  5398  Folgendes: 
,,Ich  gestehe  offen,  dass  die  Berichte  der  Alten  von  dem 
Brunnen  nah  am  Ilissos  mit  diesen  jetzigen  Quellen  nicht 
recht  stimmen ;  dass  es  mir  schwer  ist  zu  denken,  wie  hier 
mitten  in  dem  Ilissosbett,  das  so  von  der  Natur  unver- 
äusserlich gezeichnet  ist,  vor  jener  gewaltigen  Aushöhlung 
ein  künstlicher  Brunnenhausbau,  wie  ihn  Peisistratos  glänzend 
hergestellt  hat,  mit  neun  oder  zwölf8)  gefassten  Mündungen 
jemals  sich  befunden  habe.  Und  ich  kann  nicht  umhin  auf- 
merksam zu  machen,  dass  ganz  in  der  Nähe  der  Stätte, 
nördlich  unter  Bäumen,  ein  paar  Waschhäuser  an  einer 
breiten  künstlichen  Spalte  sich  befinden,  mit  altem  schönem 
Mauerwerk  im  Boden  und  reichem  trefflichem  Wasser.  Hier 
wäre  für  ein  Brunnenhaus  die  rechte  Stätte  und  noch  näher 
an  das  Olympieion9)  gerückt,  zu  dem  der  Brunnen  aus- 
drücklich in  Beziehung  gesetzt  wird."  Möglich,  dass  mit 
diesem  Brunnen  der  tiefe,  mit  Quadern  aufgemauerte  Kanal 
in  einem  Garten  zwischen  Ilissos  und  Olympieion  zusammen- 
hängt, welchen  Curtius  Sieben  Karten.  Text  p.  28  erwähnt; 
gewiss  aber  haben,  da  die  Kallirrhoi  nicht  erst  in  neueren 
Zeiten  diesen  ihren  Namen  erhalten  haben  kann,  nicht  zwei, 
wenige  Schritte  von  einander  entfernte  Quellen  denselben 
Namen  Kallirrhoe  geführt. 

Ortsbestimmung  der  Enneakrunos. 
Pausanias  kommt  zur  Enneakrunosgruppe,  nachdem  er 
den   Kerameikosmarkt    von   Nordwesten   her   durchschritten 
hat,   und    wendet   sich  dann    von  ihr  dem  Hephaistostempel 


8)  Die  Dodekakrunos  des  Kratinos  ist  nur  eine  poetische  Fiction. 

9)  In  dem  Fragment  des  Tarantinos  nach  der  Auslegung  Leake's, 
worüber  unten. 

[1874.  3.  Phil.  hist.  CK]  19 


276         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

über  dem  Markte  zu.  Er  fand  sie  also  am  südöstlichen 
Ende  des  Marktplatzes.  Die  letzte  Merkwürdigkeit  des  Kera- 
meikos,  welche  er  beschreibt,  ehe  er  zum  Odeion  und  Ennea- 
krunosbrunnen  gelangt,  bilden  die  Standbilder  des  Harmo- 
dios und  Aristogeiton,  von  welchen  aus  Arrian  Exp.  Alex. 
3,  16,  8  bekannt  ist,  dass  sie  am  Fuss  des  Aufgangs  zur 
Akropolis  standen.  Diesen  einander  bestätigenden  und  er- 
gänzenden Angaben  zufolge  haben  wir  die  Enneakrunos- 
gruppe  am  Fusse  des  westlichen  Abhangs  der  Burg  zu 
suchen ;  und  zwar  am  Südwestfuss :  denn  Thukydides  rechnet 
die  Enneakrunos  zu  den  Oertlichkeiten  des  ältesten,  unter- 
halb der  Südseite  der  Burg  ausgedehnten  Theiles  der  Unter- 
stadt und  Pausanias  kommt  in  südöstlicher  Richtung  gehend 
von  den  Statuen  der  Tyrann enm Order ,  welche  westlich  der 
Burg  standen,  zur  Enneakrunosgruppe,  welche  demnach  am 
Anfang  des  zur  Burg  hinaufführenden  Pfades,  in  der  Gegend 
des  herodeischen  Odeion  zu  finden  war.  Zu  keinem  Platze 
besser  als  zu  diesem  passt  die  Bemerkung  des  Thukydides, 
die  Athener  jener  Zeit  hätten  darum  die  Enneakrunos  so 
hoch  gehalten,  weil  dieselbe  ihnen  nahe  gewesen  sei:  denn 
hier,  am  Anfang  des  Burgaufganges,  befand  sie  sich  gerade 
in  der  Mitte  zwischen  den  zwei  damals  bewohnten  Theilen 
der  Stadt,  dem  Burghügel  und  der  Gegend  südlich  desselben. 
Zu  voller  Bestätigung  dieser  Ansetzung  wird  sich  unten 
zeigen  lassen,  dass,  mit  Ausnahme  des  sonst  nicht  genannten 
Eukleiatempels,  auch  die  von  Pausanias  um  den  Enneakrunos- 
brunnen  gruppirten  Bauwerke  theils  auf  Grund  bestimmter 
Zeugnisse  in  die  Gegend  des  herodeischen  Odeion  zu  setzen 
sind  theils  durch  einen  solchen  Ausatz  ihre  beste  Erklärung 
finden. 

In  Betreff  der  Frage,  ob  in  dieser  Gegend  sich  noch 
Spuren  eines  Brunnens  nachweisen  lassen,  welcher  sich  auf 
die  Enneakrunos  beziehen  Hesse,  darf  erinnert  werden,  dass 
im    Odeion    des    Herodes    ein    Brunnenschacht    aufgedeckt 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  277 

worden  ist,  dem  zwei  zu  demselben  Wasserzug  gehörende 
in  der  Nähe  des  Theaters  entsprechen,  ßötticher  im  Philo- 
logus  22,  76,  Philol.  Suppl.  3,  291  und  Curtius  Erl.  Text 
der  Sieben  Karten  p.  28.  Bötticher  erkennt  darin  die  süd- 
liche Abzweigung  einer  am  westlichen  Hang  des  Burgfelsens 
sich  hinziehenden  Wasserader,  deren  nördlichen  Zweig  die 
Süsswasserquelle  Klepsydra  am  Nordwestabhang  bildet.  Jener 
Schacht  im  Odeion  dürfte  um  so  mehr  für  ein  Ueberbleibsel 
der  Enneakrunos  anzusehen  sein ,  als  auch  eine  Chrie  des 
Aphthonios  dieselbe  an  den  Burgfelsen  zu  verweisen  scheint. 
In  dem  Enkomion  der  Akropolis  von  Alexandreia  hebt  er 
Progymnasm.  12  unter  andern  auch  hervor,  dass  die  Quelle 
derselben  besser  als  die  Enneakrunos  sei,  xQTJvrj  rit$  %(av 
neioiOTQccTidwv  a^ieivov  l'%ovca:  ein  Lob,  welches  doch  wohl 
voraussetzt,  dass  die  Quellen  zweier  Akropolen  mit  einander 
verglichen  werden  sollen. 

Verfall  der  Enneakrunos. 
Thukydides  a.  a.  0.  spielt  mit  den  Worten  itgo  ya^ixtav 
auf  die  griechische  Sitte  an,  dass  am  Hochzeitstage  früh 
sowohl  die  Braut  als  der  Bräutigam  ein  Bad  nahmen,  zu 
welchem  das  Wasser  aus  einer  für  solche  Zwecke  besonders 
bestimmten  Quelle  geschöpft  werden  musste10).  Zu  Athen 
genoss  nach  ihm  und  andern  Schriftstellern  diese  Bevor- 
zugung der  Enneakruuosbiunnen.  Merkwürdig  ist  aber,  dass 
mit  der  Zeit  in  Athen  der  Brunnen  dieses  Vorrecht  verloren 
hat,  Photius  Lex.  231,  5  Xovtqcl  h'9og  iorl  "*.Q\iituv  btil  to 
Cevyog  Talg  ya\iov^iivaig  xai  xolg  ya^iovoiv  eq>eQOv  de  to 
fxh  rtccXaiov  arco  Titg  'Evveaxoovvov  Xeyofxevrjg  y.qr^g  vöiuq. 
vvv  TtavTO&ev  XovTQO(poqovg  elg  Tovg  ya/xovg  wtefArtOv  xca 
lovTQoyoQOv  €7i€Ti&£<jav  zolg  aya^ioig  eici  twv  Tacpwv.  Die 
Imperfecta  zeigen,    dass   vvv   auf   die  Zeit  des  von  Photios 


10)  Schömann  Gr.  Alterth.  2,  531. 

19' 


278         Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

ausgeschriebenen  Schriftstellers  zu  beziehen  ist;  Photios 
selbst,  der  in  Byzantion  gross  wurde,  vor  seiner  Erhebung 
zum  Patriarchen  Gesandter  in  Bagdad  gewesen  war  und  in 
Armenien  als  Verbannter  starb,  hatte  schwerlich  persönliche 
Kenntniss  von  den  Sitten,  die  zu  seiner  Zeit,  im  neunten 
Jahrhundert,  in  Athen  herrschten.  Bei  dem  Conservatismus, 
welchen  in  solchen  Einrichtungen  die  Pietät  und  der  Aber- 
glaube mit  sich  bringt,  ist  die  richtige  Erklärung  dieser 
Veränderung  wohl  darin  zu  suchen,  dass  der  heilige  Brunnen 
nicht  mehr  benutzbar  gewesen  ist.  Sein  Verfall  datirt  wahr- 
scheinlich schon  aus  der  Zeit  vor  Kaiser  Commodus  (180 
bis  192):  denn  Pollux,  ein  Bewohner  Athens,  schreibt  bereits 
in  Ausdrücken  über  diese  Sache,  welche  auf  die  Vergangen- 
heit hinweisen :  3,  43  lowqa  tiq  xopi£ovoa  lovxqocpoqog, 
Zi&qvqai  f,iev  ex  zrß  KaXkiQQorjg  eW  av&ig  'Evvecty.QOvvov 
xXrj&eiorjg ,  all<x%6$i  de  od-ev  xal  xv%oi%  inaXeivo  de  tccvtcc 
y.ai  wiMpwa  Xovtqcc.  Er  sagt  nicht  vvv  sondern  elta,  nicht 
naXovfiivrjg  oder  xextypivTjg  sondern ,  eine  vorübergehende 
Benennung  anzeigend,  KXr]&elor]g,  erkennt  also  für  seine  Zeit 
diese  Benützung  des  Brunnens  nicht  an. 

Wodurch  der  Verfall  des  Brunnens  herbeigeführt  worden 
sei ,  ist  unschwer  zu  errathen.  Durch  die  von  Herodes 
Attikos  zwischen  160  und  170  in  grossen  Dimensionen  aus- 
geführte Anlage  des  Odeion  inusste,  wie  Bötticher  a.  a.  0. 
bemerkt,  das  Terrain  bedeutende  Umgestaltungen  erfahren, 
welche  auch  auf  die  Wasserleitung  nicht  ohne  Einfluss  bleiben 
konnten.  Nicht  bloss  dass  der  Brunnen,  weil  vom  Odeion 
umgeben ,  den  Blicken  entzogen  und  seine  Benützung  er- 
schwert wurde;  schon  durch  den  Bau  ist  vermuthlich  eine 
Verschüttung  herbeigeführt  worden.  Fortan  konnte  es  sich 
nur  noch  um  die  Erhaltung  seines  Andenkens  handeln, 
welche  gesichert  war,  so  lange  die  Universität  in  Athen 
bestand.  Diese  erlitt  schon  eine  starke  Erschütterung,  als 
unter  Theodosius   das   Christenthum  herrschend  wurde;  da- 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  279 

durch  aber,  dass  529  Justinianus  sie  ganz  schloss  und  ihre 
Fonds  einzog,  wurde  der  Kunde  hellenischer  Vorzeit  in 
Athen  der  Lebensnerv  abgeschnitten.  In  der  Zeit  byzan- 
tinischer Halbbarbarei,  welche  jetzt  herrschte,  darf  es  nicht 
wundern ,  wenn ,  wie  über  viele  andere  Merkwürdigkeiten 
der  Stadt,  so  auch  über  diese  Vergessenheit  oder  Irrthum 
hereinbrach.  Bei  der  mangelhaften  wissenschaftlichen  Bild- 
ung der  Verehrer  des  Alterthunis,  welche  jetzt  Athen  be- 
wohnten oder  besuchten,  lag  es,  da  die  Enneakrunos  selbst 
nicht  mehr  sprudelte,  sehr  nahe,  in  der  noch  vorhandenen 
Kallirrhöi  die  dermal  einst  auch  Kallirrhoe  genannte  Ennea- 
krunos wiederzufinden,  indem  sich  die  in  den  Wörterbüchern 
hierüber  vorfindliche  Notiz  unwillkürlich  in  den  Satz  um- 
gestaltete, die  Enneakrunos  habe  überhaupt  auch  Kallirrhoe 
geheissen.  In  diesem  Sinn  hat  zu  Photius  Lex.  231,  25  iz 
rrg  vvv  fiev  'Ewecckqovvov  xaXov[*€vr]g  KQfjvrjg  TtQÖreqov  de 
KaXXiqotjg  in  dem  1199  geschriebenen  Codex  Galeanus  eine 
jüngere  Hand  hinzugefügt :  äXXä  %al  vvv  avrr]  KaXXiqotj 
xaXettcci,  und  die  ganze  Stelle  findet  sich  unter  den  Zusätzen 
der  Veneta  von  1549  zum  Etymologicum  Magnum  p.  509,  3 
Sylb.  in  folgender  Gestalt  wiedergegeben:  XovTQoepOQog*  xa 
Xovrgd  (peqwv  rölg  ya^iovoivy  otg  e&og  rjv  xarä  ttjv  tov 
yccpov  fj/.i€Q<xv  %a  Xovrqd  \iExa7teiinia^(xi  1%  zrjg  'EvveayiQOvvov 
KaXovfxevrjg  HQrtvr]g,  rj  y.al  KccXXigor]  KaXetrai.  Eben- 
so sagt  Joannes  Doxopatros  Sikeliota,  Mönch  und  später 
Patriarch  von  Byzantion  *  *) ,  in  seinen  Homilien  zu  Aph- 
thonios  a.  a.  0.,  nachdem  er  die  Stelle  des  Thukydides  citirt 
hat :  xai  rct  vvv  öe  KaXXiqqorj  ovo^iaQetai. 

Hienach  lässt  sich  ermessen,  wie  viel  Werth  der  Angabe 
des  Etymologicum  p.  343,  42  beizumessen  ist,  der  einzigen 
unter   den   von   Lcake   citirten  Stellen,    welche  wirklich  für 


11)  Nach  Walz  Rhet.  gr.  4,  IX  sq.  identisch  mit  dem  Patriarchen 
Joannes  Kamateros,  welcher  1204  von  den  Lateinern  verjagt  wurde, 


280         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

die  gegenwärtig  herrschende  Ansicht  Zeugniss  ablegt: 
'EvveaxQOvvog  -/.Qrjvrj  naqd  'iXiooov,  rtrig  7tqoreqov  KaXXiqor] 
l'oxev'  agp1  ftg  zd  Xovtqcc  zeug  yctuoviievatg  fxeriaaiv.  Gerade 
die  Worte  7taqd  'iXiooov,  auf  welche  es  dieser  Ansicht  hier 
ankommen  muss,  sind  ein  (noch  dazu  recht  thörichtes)  Ein- 
schiebsel, sei  es  der  Abschreiber  oder  des  Compilators 
selbst12):  wer  die  Quelle  am  Ilissos  suchte,  der  musste 
wissen ,  dass  diese  jhren  Namen  Kallirrhoe  niemals  ver- 
loren hat. 

Leake  beruft  sich  auch  auf  eine  Stelle  der  Vorrede  zu 
den  Hippiatrika  des  Hierokles:  Taqavrlvog  de  latoqel  xov 
tov  dibg  vewv  xataOKeva^ovtag  l4$r]valovg  'Evveaxqovvov 
rtXtjoiov  eloeXa&TjVCU  xprjiploao&cti  rd  ex  t^g  *AT%w.rkg  eig  ro 
aarv  £evyr]  aitavta :  denn  es  habe  in  Athen  keinen  irgendwie 
berühmten  Tempel  des  Zeus  gegeben  als  das  Olympieion, 
dessen  Trümmer  sich  nahe  der  Kallirrhöi  finden.  Ausser 
im  Etymol.  M.  330,  40  eXivvecv  dqyelv ,  oxoXcc^eiv,  6  de 
Taqavxlvog  ro  f}Ov%d£eiv ,  wo  Sylburg  Taqqcuog  corrigirt, 
kommen  Fragmente  dieses  Schriftstellers  nur  iu  den  Geo- 
ponika  vor.  Aus  ihnen  geht  hervor,  dass  er  Paxamos,  den 
jüngeren  Manetho  und  vielleicht  Oppianos  gelesen  hat;  er 
selbst  ist  von  Anatolius  Vindanius,  welcher  ihn  nach  Africanus 
aufführt,  und  Palladius  benützt  worden.  S.  Niclas  Geopon. 
Praef.  p.  LXXI1L  Da  Tarantinos  hienach  am  Ende  des  dritten 
oder  zu  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts  nach  Christi  Geburt 
geschrieben  haben  dürfte,  so  wäre  er,  da  das  Etymologicum 
aus  dem  zehnten  oder  eilften  Jahrhundert  stammt,  als  der 
älteste  literarische  Vertreter  dieses  Irrthums  anzusehen:  wenn 
er  nämlich,  was  wir  bezweifeln,  das  Olympieion  im  Sinne 
gehabt  "hat.  Dagegen  spricht  aber  seine  Angabe  von  einem 
Psephisma  des  athenischen  Volkes ,  welches  wegen  jenes 
Baues  erlassen  worden  sei.      Denn    dos  Olympieion   ist  vom 


12)  Im  Etymologicum  Gudianum  fehlt  die  ganze  Glosse. 


Unger:  Enneakrunos  and  Pelasgilcon.  281 

Demos  weder  begonnen  noch  fortgesetzt  oder  vollendet 
worden;  der  Anfang  zu  dein  Bau  wurde  von  Peisistratos 
und  seinen  Söhnen  gemacht,  fortgesetzt  wurde  er  von  dem 
Syrerkönig  Antiochos  Epiphanes  und  K.  Hadrian  führte  ihn 
zum  Abschluss.  Auch  ist  der  von  Leake  geltend  gemachte 
Grund  nicht  hinreichend ,  um  die  Deutung  des  Zeustempels 
auf  das  Olympieion  zu  erweisen.  Es  gab  im  alten  Athen 
noch  einen  andern  liochgefeierten  Zeuscultus,  welcher,  wie 
die  Auslassungen  der  Redner13)  und  die  Inschriften14)  lehren, 
im  öffentlichen  Leben  der  athenischen  Demokratie  eine  be- 
deutendere Rolle  spielte  als  der  des  unvollendeten  Olym- 
pieion :  dies  ist  der  Cultus  des  Zeus  Eleutherios  oder  Soter 
im  Disotcrion  auf  dem  Kerameikosmarkt.  Gegründet  wurde 
dieser  in  der  Blüthezeit  des  athenischen  Freistaats  und  zu- 
gleich seiner  Bau thätigkeit,  vgl.  Didymos  bei  Harpokr.  70,  14 
&tfoftd"¥]  'Ehev&SQiog  did  zo  rtov  Mrjöixcov  ccftakXetyfyai  rovg 
Id&rjvaiovQ,  und  auf  diese  Unternehmung  dürfte  sich  die 
Notiz  des  Tarantinos  beziehen.  Von  der  Enneakrunos  frei- 
lich war  das  Disoterion  durch  den  Marktplatz  getrennt;  es 
hindert  uns  aber  nichts,  die  Erwähnung  des  Brunnens  auf 
den  Gestellungsplatz  zu  beziehen,  wo  die  vielen  Fahrzeuge 
sich  einzufinden  hatten.  Zu  dem  Bau  dieses  Tempels  allein 
war  eine  so  grosse  Austrengung  sicherlich  nicht  nöthig ; 
vielleicht  ist  aber  das  Psephisma  nur  bei  dieser  Gelegen- 
heit erlassen  worden.  Zu  gleicher  Zeit  waren  noch  viele 
andere  Bauten  an  verschiedenen  Stellen,  besonders  auf  der 
Akropolis  und  auf  dem  Markte,  im  Gang,  vgl.  Curtius  Sieben 
Karten  p.  35  über  die  Bauthätigkeit  des  Kimon.  Da  galt 
es  einen  grösseren  freien  Platz  im  Mittelpunkt  dieser  Ar- 
beiten  aufzufinden,    an   welchem    nicht,   wie   das    auf   dem 


13)  Isokrates  Euag.  57.  Lykurgos  g.  Leokr.  57;  136.  Hypereides 
bei  Harpokr.  70,  11.  Deinarchos  g.  Demosth.  36. 
H)  Stark  ?u  Hermann  Rel.  Alt.  §  61,  15. 


282        Sitzung  der  philos.-philol.  Glosse  vom  2.  Mai  1874. 

Marktplatz  der  Fall  gewesen  sein  würde,  die  Masse  und 
das  Getümmel  der  Wagen  den  Besuchern  und  den  Nachbarn 
lästig  wurde.  In  der  Nähe  des  Enneakrunosbrunnens  stand 
aber  ausser  dem  weiten  Eleusinion  besonders  auch  der  be- 
deutende und  vollständig  benutzbare  Raum  des  Pelasgikon 
in  dieser  Hinsicht  zur  Verfügung.  Eine  Vorstellung  von 
dem  Gewimmel  und  Getümmel,  welches  solche  Bauten  bei 
der  grossen  Menge  von  Menschen  und  Thieren,  Fahrzeugen 
und  Zurüstungen  aller  Art  hervorriefen,  gibt  Plutarch  Perikl.  13 
und  Cato  maj.  6  bei  Gelegenheit  der  Bauthätigkeit  des 
Perikles  ,5). 

In  der  ältesten  Beschreibung  Athens  aus  der  Zeit  der 
Türkenherrschaft,  geschrieben  um  1460  und  erhalten  in 
einer  Wiener  Handschrift,  wird  südöstlich  von  der  Stadt  in 
der  Uissosgegend  fj  NedxQOvvog  Ttrjyr)  r  KalliQQorj  erwähnt, 
s.  Laborde  Athenes  aux  XVe,  XVIe  et  XVIP  siecles  1,  19; 
die  unter  den  byzantinischen  Kaisern  aufgekommene  Identi- 
fication der  Kallirrhöi  mit  dem  altheiligen  Stadtbrunnen 
war  also  bei  den  Ortsgelehrten  bereits  zum  feststehenden 
Glaubenssatz  geworden.  Von  ihnen  haben  die  fränkischen 
Reisenden  dieses  topographische  Vorurtheil  ungeprüft  über- 
nommen und  von  Hand  zu  Hand  weitergegeben. 

II.  Eleusinion. 

Indem  Pausanias  1,  14,  3  die  an  der  Enneakrunos  ge- 
legenen Tempel  beschreibt,  erwähnt  er  auch,  ohne  eine 
Verschiedenheit  der  örtlichen  Lage  anzudeuten,  das  Eleusinion, 
ein  Heiligthum,  welches  unzweifelhaft  und  anerkannt  inner- 
halb der  Stadtmauern  gelegen  war,  vgl.  Corp.  inscript. 
Nr.  71  (Kirchhoff  Inscr.  att.  1),  Z.  37  ev  aaret  ev  tu   'Elev- 


15)  Da  Didyraos  a.  a  0.  wörtlich  genommen  nur  von  dem  Stand- 
bild des  Zeus  zu  sprechen  scheint,  so  könnte  der  Bau  des  Disoterion 
auch  in  die  Zeit  des  Perikles  gesetzt  werden. 


Unger:  Knneakrunos  und  Pelasgikon.  283 

aivup]  Thukyd.  2,  17  ertet  agjtxovTO  ig  uo  aorv,  (j[mr>oav 
y.clI  ta  hoä  xai  rä  ftoq>a  navxa  7thv  vrjg  azQOTtolecog  /al 
rov  'EXevoivlov ;  Xenoph.  de  re  equest.  1,  1  rov  Karo)  16 
^EXevolviov  IdfripTfiiv  %TC7tov  äovqiov ;  Lysias  g.  Andok.  4 
tu.  i-iev  ev  T<p  ev&ade  ^Elevoivlto,  rä  de  ev  %$  'Ehevolvi.  In 
der  sicheren  Voraussetzung,  dass  die  Enneakrunos  ausser- 
halb der  Stadt,  jenes  städtische  Heiligthum  also  nicht  an 
ihr  zu  suchen  sei,  haben  die  meisten  Forscher,  ohne  die  in 
der  Darstellung  des  Pausanias  begründete  entgegengesetzte 
Auffassung  eines  ernstlichen  WiderlegUDgsversuches  zu  wür- 
digen ,  angenommen ,  das  Eleusinion  werde  von  ihm  nur 
nebenbei  wegen  der  Verwandtschaft,  welche  zwischen  seinem 
und  dem  Cultus  der  an  dem  Brunnen  befindlichen  Tempel 
bestanden  habe,  erwähnt,  und  nachdem  Leake  in  der  zweiten 
Ausgabe  (Uebers.  p.  214)  seine  Meinung  geändert  hat,  halten 
nur  noch  BÖtticher  im  Philologus  Suppl.  3,  284  und  Forch- 
hammer Philologus  33,  118  an  der  natürlichen,  dem  unbe- 
fangenen Leser  sich  von  selbst  aufdrängenden  Erklärung 
fest,  dass  Pausanias  das  Eleusinion  desswegen  an  jener 
Stelle  erwähnt,  weil  es  in  der  Gegend  der  Enneakrunos 
gelegen  war.  Aber  entscheidende  Beweise  für  die  Not- 
wendigkeit dieser  Auffassung  haben  sie  nicht  beigebracht 
und  da  beide  das  über  die  Lage  des  Brunnens  bestehende 
Vorurtheil  theilen,  so  konnten  sie  auch  zu  keiner  über- 
zeugenden Fixirung  des  Eleusinion  gelangen.  Bötticher  setzt 
die  Bauwerke  der  Enneakrunosgruppe  ohne  allen  positiven 
Anhalt  in  den  Osten  der  Stadt  an  eine  von  der  Kallirrhöi 
nach  Norden  laufende  Linie;  Forchhammer  in  die  Gegend 
von  Agrai,  was  hinsichtlich  des  Eleusinion  durch  die  eben 
citirten  Stellen  widerlegt  wird:  denn  Agrai  lag  ausserhalb 
der  Stadt,  vgl.  Bötticher  Philol.  Suppl.  3,  297. 

Schon  der  Umstand,  dass  Pausanias  das  Eleusinion 
ohne  eine  topographische  Anmerkung  in  die  Beschreibung 
der   Enneakrunosgruppe    verflochten  hat,   ist  ein  Anzeichen, 


284        Sitzung  der  philos.-philol.  Olasse  vom  2.  Mai  1874. 

dass  es  derselben  Gegend  angehört  wie  diese.  Die  Perie- 
gese  des  Pausanias  ist  so  streng  nach  dem  Princip  örtlicher 
Aufeinanderfolge  geordnet,  dass  jeder  neue  Punkt,  auf  den 
sie  ohne  Beigabe  einer  ortsbestimmenden  Erinnerung  über- 
geht, als  Nachbarort  des  zunächst  vorher  beschriebenen 
anzusehen  ist.  Gar  oft  wird  ohne  Hinzufügung  und  mit  nur 
stillschweigender  Ergänzung  örtlicher  Hinweise  wie  evtavöcc, 
ftXyoiov,  ov  7toQQü) ,  £<pe!;rjg,  perä  tovto,  in  Ausdrücken, 
welche  nur  das  Vorhandensein  :(in  Athen)  überhaupt  anzu- 
zeigen scheinen,  ein  Punkt  von  ihm  erwähnt,  welcher  sich 
in  Wirklichkeit  an  den  zuletzt  genannten  örtlich  anschliesst. 
So  im  ersten  Buch  c.  3,  5  o^yiodofxriTai  de  xal  MrjTQog  &eiov 
Uqov;  19,  5  deUvvzai  de  kccI  ev&a  IleXoTtovv^aiot  Koöqov 
xreivovoi;  22,  4  xbItcu  de  xccl  0ql^og ;  25,  2  eoryxe  de  xal 
3OlvfX7ti6öwQog ;  23,  7  xai  l4qtefiidog  Uqov  eari,  vgl.  25,  2. 
So  besonders  fem  de  oder  eöTt  de  xcci,  s.  19,  1;  22,3; 
23,  5 ;  26,  5 ;  27,  6  u.  a.  Oft  wird  bloss  mit  de  eine  Bemerk- 
ung angefügt,  deren  grammatisches  oder  logisches  Subject 
als  die  örtlich  nächste  Merkwürdigkeit  angesehen  weiden 
soll,  wie  1,  18,  1  rö  de  Uqov  tiov  Jiookovqcov  earlv  ccqxcuov; 
19,  2  ig  de  rrjg  IdyQodhrig  tov  vaov  ovdelg  Xeyofievog  ö(piaiv 
eaxl  loyog;  8,  6;  18,  4;  18,  6;  22,  3;  23,  8;  24,  5;  28,  7. 
Diese  Scheu  vor  häufiger  Wiederholung  nackter  Ortsbe- 
stimmungen, welche  durch  ihre  Trockenheit  der  Periegese 
den  Stempel  eines  tabellarischen  Schematismus  aufdrücken 
könnten,  geht  so  weit,  dass,  anstatt  das  eigentliche  An- 
knüpfungsmotiv, die  topographische  Reihenfolge,  zu  erwähnen, 
lieber  irgend  ein  zufällig  vorhandenes  Prädicat,  welches  den 
zwei  einander  benachbarten*  Sehenswürdigkeiten  gemeinsam 
ist,  hervorgehoben  (Beispiele  hievon  gleich  nachher)  oder, 
um  zugleich  Abwechslung  hervorzubringen,  der  Beschreibung 
des  an  die  Reihe  kommenden  Gegenstandes  eine  historische 
Notiz  oder  irgend  eine  allgemeine  Bemerkung  vorausgeschickt 
wird,  vgl.  23,  1 ;  23,  7;  24.  3  (zweimal);  26,  4;  26,  6;  28,  8, 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  285 

Wo  dagegen  die  bisher  befolgte  Route  verlassen  und  eine 
neue  an  anderem  Orte  begonnen  wird,  da  fehlt  es  auch  an 
dem  nöthigen  topographischen  Wink  für  den  Leser  nicht, 
vgl.  14,  6;  20,  1 ;  ebenso  wenn  zur  Erklärung  eines  Punktes 
die  Erwähnung  eines  entfernten  anderen  nöthig  ist  (25,  7; 
27,  3),  es  müsste  denn  letzterer  an  seinem  Orte  derPeriegese 
einverleibt  sein  (vgl.  26,  3  mit  18,  3;  5,  5  mit  8,  9). 

Demnach  müsste,  da  Pausanias  das  Eleusinion  sonst 
nirgends  erwähnt,  die  Nennung  dieses  Heiligthums  neben 
dem  der  Demeter  und  Köre  und  dem  Triptolemostempel 
auch  dann  als  ein  Beweis  gleicher  Lage  gelten,  wenn  es 
richtig  wäre,  dass  zwischen  den  Culten  dieser  heiligen  Orte 
bloss  gegenseitige  Verwandtschaft  bestanden  hätte:  denn  als 
das  wahre  Motiv  der  Erwähnung  des  Eleusinion  an  dieser 
Stelle  müssen  wir  nicht  diese  Verwandtschaft,  sondern  die 
Ortseinheit  ansehen.  So  heisst  es  18,  9  nach  Erwähnung 
des  von  Hadrian  vollendeten  Olyinpieion :  !Aöqiavog  de  xare- 
OKevdoocTo  xai  aXka  l4&rjvaloig,  vadv  "Hqccq  etc. ;  oder  8,3 
xry  de  ld$r\vav  uioxqog  (e7tolr}0€v),  nachdem  to  tov  ZJqewq 
ayakfxa.  e7toh]Oev  ^lyia/^evrjg  vorausgegangen  ist:  gleich  als 
ob  es  sich  bloss  um  die  Kunde  von  dem  geineinsamen 
Schöpfer  der  beiderorts  erwähnten  Kunstwerke  und  nicht 
auch  um  die  Andeutung  ihrer  Ortsnähe  handelte.  Das  Ver- 
hältniss  indessen,  in  dem  die  erwähnten  zwei  Tempel  am 
Enueakrunosbrunnen  zum  Eleusinion  standen,  war  mehr  als 
Verwandtschaft:  der  Tempel  der  zwei  chthonischeu 
Göttinneu  und  der  nach  Triptolemos  benannte 
gehörten  dem  Eleusinion  selbst  an,  sie  bildeten 
die  zwei  vornehmsten  Gebäude  dieses  grossen  Heiligthums. 

Dem  eleusinischen  Cultus  eigenthümlich  ist  die  gemein- 
same Verehrung  der  Demeter  und  Köre  in  einem  und  dem- 
selben Tempel,  durch  eine  Priesterin  und  dieselben  Opfer, 
die  eleusinischen  Mysterien  gehören  beiden  zusammen  an. 
Diese  Zweieinheit  drückt   sich   in  der  Bezeichnung  rw  $ew, 


286        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

duovvfxoi  &ecti  aus,  Welcker  Griech.  Götterlehre  2,  532  ;  ihnen 
zusammen  gehört  der  Tempel  in  Eleusis,  Bursian  Geogr,  1, 330; 
ebenso  das  Opfer,  Corp.  inscr.  Nr.  523  ßorjögof-itcovi  i£i 
Jrtixrjxgi  ActlKogy  6eXcpay.a,  und  der  ganze  Dienst :  Paus.  1,  38,  3 
xet  de  leget  xoiv  &eolv  J?v(.io%7tog  xal  al  Svyaxegeg  ögwotv 
al  Keheov,  Andokid.  1,31  iiepvrjo&e  xai  ewgdy,axe  xoiv  &eolv 
xet  leget,  ebend.  1,  29 ;  32,  Xen.  Hell.  6,  3,  6  xd  Jrjprjxgog 
-Kai  Kogrjg  aggrjxa  leget,  Dio  Cass.  51,  4  xoiv  xoiv  deolv 
{.woxrjgiwv  (xere'kaßov,  Arrian  Alex.  3,  16,  8  hörig  \.ie\ivrjxai 
xeCw  &ealv  ev  'Ekevoivi;  daher  auch  die  Priester  Andokid. 
1,  124  legevg  cov  xrtg  fxrjxgdg  xai  xrkg  -frvyaxgog,  Phot.  Lex. 
748, 7  fj  legetet  xrtg  //rj(xrjxgog  r.al  Kogrjg  i  i^vovoa  xovg 
fivoxctg  ev  'Elevolvt.  Wie  es  hie  und  da  vorkam,  dass  ein 
Heiligthum  mehrere  Tempel  hatte16),  so  gehörte  auch  der 
andere  Tempel,  in  welchem  sich  das  Bild  des  Triptolemos 
befand,  zum  Eleusinion.  Triptolemos,  der  Sohn  des  Keleos 
von  Eleusis,  war  als  Gründer,  König  und  Gesetzgeber  dieser 
Stadt  ihr  eigentlicher  Heros,  zugleich  aber  auch  der  vor- 
nehmste Diener  der  eleusinischen  Göttinnen,  Pflegsohn  und 
erster  Priester  der  Demeter  in  Eleusis,  dort  und  von  dort 
aus  allenthalben  Stifter  des  Ackerbaus.  Darum  hatte  er 
auch  in  Eleusis  einen  Tempel,  Paus.  1,  38,  6. 

Wenn  Pausanias  das  Eleusinion  erst  nach  Erwähnung 
der  zwei  Tempel  nennt  und  das  zwischen  diesen  und  dem 
Heiligthum  bestehende  Verhältniss  nicht  anzeigt,  so  erklärt 
sich  die  abgerissene  Kürze  seiner  Darstellung  daraus,  dass 
er  bei  seinen  griechischen  Lesern  die  Kenntniss  dieses  Ver- 
hältnisses voraussetzen  durfte.  Auch  in  Beziehung  auf  Eleusis 
selbst  begnügt  er  sich  1,  38,  6,  wie  Forchhammer  Philol. 
24,  118  erinnert,  mit  der  Erwähnung  des  Triptolemostempels 
und  des  heiligen  Brunnens  Kallichoros,  um  dann  im  All- 
gemeinen  von   dem   „Heiligthum"   zu   sprechen.      Aehnlich 


16)  Z.  B.  das  Hieron  des  Dionysos  in  Limnai,  Paus.  1,  20,  3, 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  287 

wird  1,  2,  4  mit  den  Worten  (.isra  de  to  xov  Jtovvoov 
T£^t£v6g  eotiv  OMtif-ia  die  Benennung  des  heiligen  Bezirks  nach- 
geholt, von  welchem  er  vorher  schon  einen  Theil  hes prochen 
hatte)  llovXvviwvog  olxia>  Irf  e^iov  de  avüxo  Jtovvoov),  und 
1,  26, 6  wird  erst  das  Bild  der  Polias  beschrieben,  bevor 
1,  27,  1  des  Heiligthums  selbst  gedacht  wird.  Auch  diese 
Brachylogien  gehören  zu  den  Mitteln,  durch  welche  er  von 
seiner  Periegese  den  Schein  einer  trockenen  Statistik  fern- 
zuhalten sucht. 

Von  dem  Triptolemostempel  insbesondere  lässt  sich  noch 
viel  bestimmter  nachweisen,  dass  er  ein  Theil  des  athenischen 
Eleusinion  gewesen  ist.  Pausanias  sagt  1,  14,  3:  ttdooco  de 
ievai  f.ie  wq^iievov  xovde  tov  Xoyov  xal  otzoöcl  eg  efyyrjGiv 
e%EL  to  '^i&rjvrjGiv  legov  y.aXov\ievov  de  ^EXevoivtov  hteö%ev 
oxpig  SveiQocTog'  a  de  eg  necvzag  oglov  yqaqjeiv,  eg  xavxa 
a7toxQexpofxaL.  Indem  er  ankündigt,  dass  „in  dieser  Be- 
sprechung'1, also  in  dem  begonnenen  Thema,  fortzufahren 
und  alles,  was  das  eleusinische  Heiligthum  in  Athen  Merk- 
würdiges biete,  aufzuzeichnen  ein  Traum  ihn  abhalte,  gibt 
er  deutlich  genug  zu  verstehen ,  dass  schon  die  voraus- 
gegangene Auseinandersetzung  den  Merkwürdigkeiten  dieses 
Eleusinion  gegolten  hat.  Worin  besteht  nun  das  Voraus- 
gegangene? In  einem  Excurs  über  Triptolemos ,  welcher 
sich  an  die  Erwähnung  des  Triptolemostempels  anschliesst 
und  durch  die  Worte  tcc  de  eg  ccvtov  brcoia  Xeyerat  yQaipco 
7taqelg  ooov.  eg  zfrjiortrjv  e%ei  xov  Xoyov  eingeleitet  wird. 
Auf  diesen  Xoyog  beziehen  sich  also  die  Worte  xovde  rov 
Xoyov  und  der  Excurs  über  die  argivische  und  die  attische 
Sage  von  Triptolemos  nebst  den  beigefügten  eleusinischen 
Genealogien  desselben  ist  der  Anfang  dessen,  was  er  von 
den  an  das  Eleusinion  geknüpften  Legenden  für  mittheilbar 
hält;  was  der  Traum  zu  verschweigen  nöthigt',  ist  offenbar 
nichts  anders  als  die  bei  Ankündigung  der  Mittheilungen 
über  Triptolemos  als  Geheimniss  bezeichnete  Sage  von  Deiope. 


288  Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Diese,  die  Mutter  des  Triptolemos  und  Priesterin  der  De- 
meter in  Eleusis  (Pseudo-Aristot.  mirab.  ausc.  131)  gehört 
gleichfalls  in  den  Legendenkreis  des  Eleusinion ;  ihrem 
Namen  nach  und  als  mythische  Priesterin  ist  sie,  wie  Iphi- 
geneia,  Upis  u.  a.,  ursprünglich  mit  ihrer  Göttin  Demeter 
oder  Deo,  deren  Pflegsohn  Triptolemos  genannt  wird,  iden- 
tisch ;  wie  auch  Daeira  bald  Tochter  der  Demeter ,  bald 
Mutter  des  Eleusis  oder  Gattin  des  Eumolpos  genannt  wird. 

Aber  nicht  bloss  das  Vorhergehende,  sondern  auch 
das  auf  die  Erwähnung  des  Eleusinion  Folgende  bestätigt 
die  Zusammengehörigkeit  des  Triptolemostempels  mit  diesem 
Heiligthum.  Weiterzugehen  in  diesem  Thema,  sagt  Pausa- 
nias,  und  alles,  was  das  Eleusinion  Merkwürdiges  bietet, 
zu  verzeichnen,  hält  mich  ein  Traum gesicht  ab;  aber  was 
alle  wissen  dürfen,  dem  will  ich  mich  zuwenden.  Was  theilt 
er  nun  Wissenswürdiges  vom  Eleusinion  mit?  Wiederum 
etwas  wenigstens  örtlich  mit  dem  Triptolemostempel  sich 
Berührendes:  tvqo  tov  vaov  tovöb,  Iv&a  y,al  tov  Tqitzto- 
Xifxov  tÖ  ayccXfia,  k'oTi  ßovg  ola  ig  Svoiav  dyofievog'  TCErCQvr\xai 
de  xcc&ijUEvog  'Erciiieviörjg  Kvcooiog;  woran  er  dann  einen 
Excurs  über  den  kretischen  Priester  Epimenides  schliesst. 
Das  Sitzbild  des  Epimenides  befand  sich  also  im  eleusinischen 
Bezirk  und  da  es  am  Eingang  des  Triptolemostempels  war, 
so  muss  auch  dieser  im  Eleusinion  gestanden  haben. 

Was  Epimenides  mit  dem  eleusinischen  Cultus  zu  schaffen 
hat,  ist  aus  den  Mittheilungen  des  Pausanias  über  den  langen 
Schlaf,  die  epischen  Gedichte  und  die  Thätigkeit  desselben  als 
Sühnpriester  nicht  zu  ersehen ;  im  Gegentheil  steht  es  fest, 
dass  der  Kreter  Epimenides  ein  Priester  des  Apollon  gewesen 
ist.  Der  Epimenides  des  Eleusinion  ist  von  diesem  verschieden 
und,  wie  Bötticher  Philol.  Suppl.  3,  320  erkannt  hat,  kein 
andrer  als  Buzyges,  der  mythische  Repräsentant  und  Ahn- 
herr des  eleusinischen  Priestergeschlechts   der  Buzygen,  vgl. 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  289 

Hesychios  Bovtvyiqg'  f]Qtog  *  Azzw.bg  6  rtQiozog  ßovg  v/t 6 
(xqotqov  £ev§ag.  exaXelzo  de  E7tinevldr]g'  Y.a§Lozazo  de  itaq 
avzolg  y.al  6  zovg  leQOvg  aQOZOvg  eruzeXcov  Bov^vyrjg ;  Schol. 
Hom.  II.  2,  483  über  Eleusis:  Kai  ccqozqov  de  'E7titievidr]g 
(so  Lobeck  Aglaoph.  p.  206  statt  exet  Malvidog)  6  Kai  Bov- 
'Qvyrjg  l%ev%e.  ZQirco'kov  de  zijv  aqovqav  qtrjoiv,  ercel  Tqmvzo- 
Xefiog  TtqwTog  eoTieiQe  olzov ;  Ausonius  epist.  22,  46  hoc  si 
impetratum  munus  abs  te  accepero,  prior  colere  quam  Ceres; 
Triptolemon  olim  sive  Epimeniden  vocant  aut  Bulianum 
Buzygein  tuo  locabo  postferendos  nomini.  Seinen  Namen 
verdankt  er  ohne  Zweifel  wie  auch  Triptolemos,  Dysaules, 
Trisaules,  Buzyges  einer  Eigenthümlichkeit  des  eleusinischen 
Cultes:  er  bezeichnet  die  durch  Demeter  an  Stelle  der 
früheren  nomadischen  Lebensweise  eingeführte  Sesshaftigkeit 
(irtifieveiv)  des  Ackerbaus.  Die  heiligen  Ackerstiere,  welche 
von  den  Buzygen  gewartet  wurden  (Schol.  Aristid.  3,  473,  16 
Dind.),  fanden  ihre  Verwendung  bei  den  heiligen  Pflügungen, 
deren  eine,  die  buzygische,  am  Fuss  der  Burg  vollzogen 
wurde,  Plutarch  praecept.  coniug.  42  *A$r\vaioi  zgelg  dgo- 
zovg  ieQOvg  fjyov,  7tQtozov  eitl  2kiqw  zov  Ttalaizazov  zwv 
otcoqvjv  vTto^Lvr^ia,  devzeqov  ev  zf  ^PccQia,  zqizov  vitb  rtofav 
zov  xaXovpevov  BovQvyiov.  Die  Stätte  derselben,  wie  nach 
dem  Vorgang  von  0.  Müller  Kl.  Schrift.  2,  156  gewöhnlich 
geschieht,  nördlich  oder  nordöstlich  von  der  Burg  in  der 
Nähe  des  Prytaneion  zu  suchen,  weil  dort  nach  Pollux  8,  111 
und  Anekd.  Bekk.  449,  20  das  Bukoleion  sich  befand,  ist 
kein  Grund  vorhanden;  ja  der  Name  dieses  Platzes  könnte 
bei  dem  feindlichen  Gegensatz  zum  Hirtenleben,  welcher  den 
eleusinischen  Cultus  durchzieht,  eher  auf  eine  von  ihm  ent- 
fernte Lage  führen.  Die  naturgemässe  Stelle  des  heiligen 
Feldes  ist  im  Eleusinion  und  dessen  Lage  wird  auch  in 
derselben  Weise  bestimmt,  Clemens  Alex,  protrept.  p.  13 
Sylb.  ^IiAfxaqaöog  6  EvfioXrcov  Kai  Jaeiqag  ovyl   (KEKrtdevzai) 


290         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

sv  T<p  rtEQißolq)  tov  'Elevoivlov  vtco  rfj  TtoXst11);  die  von 
Kumanudis  im  Philistor  2,  238  veröffentlichte  athenische  In- 
schrift Z.  11  tov  'ElevGivlov  tov  vtco  Trt  tcoIsi  und  Z.  28 
sv  'Elsvoeivlxo  toj  vtco  Ty  tcoKsi. 

Die  pana thenaische  Procession. 

Die  von  den  Meisten  angenommene  Satzung  des  Eleu- 
sinion  östlich  oder  nordöstlich  der  Burg  ist  aufs  Gerathe- 
wohl  erdacht:  denn  der  einzige  Grund,  welcher  für  sie 
geltend  gemacht  wird,  dass  die  übrigen  Seiten  der  Burg- 
umgebung bereits  zu  dicht  mit  Heiligthümern  und  andern 
Anlagen  besetzt  seien,  als  dass  das  Eleusinion  dort  unter- 
gebracht werden  könnte,  darf,  so  lange  wir  über  die  Aus- 
dehnung der  einzelnen  Plätze  nicht  unterrichtet  sind,  auf 
Stichhaltigkeit  keinen  Anspruch  machen.  Besser  begründet, 
nur  zu  wenig  bestimmt  und  bloss  auf  zwei  Zeugnisse  (des 
Xenophon  und  Philostratos)  gestützt,  ist  die  von  Rangabe 
Bullettino  d.  Inst.  1850  p.  36 18)  und  Bursian  Geogr.  1,  296 
aufgestellte  Ansicht,  dass  es  nord-  oder  südwestlich  von  der 
Burg  zu  suchen  sei. 

Wir  müssen,  da  sich  uns  die  Tempel  der  chthonischen 
Göttinnen  und  des  Triptolemos  als  Bestandtheile  des  Eleu- 
sinion erwiesen  haben,  dieses  natürlich  da  suchen,  wo  wir 
den  jenen  Tempeln  benachbarten  Enneakrunosbrunnen  ge- 
funden haben,  also  südwestlich  der  Burg,  am  Beginn  des 
Aufgangs,  in  der  Gegend  wo  später  Herodes  das  neue  Odeion 
anlegte,  und  es  gilt  jetzt  die  Probe  zu  machen,  ob  diese 
Ansetzung   des  Eleusinion  geeignet  ist,    die  vielbesprochene 


17)  So  emendirt  Wachsmuth  Rhein.  Mus.  23,  58  das  überlieferte 
vn 6  xji  ctxQono'ket  auf  Grund  der  (missrathenen)  Uebersetzung  dieser 
Stelle  bei  Arnobius  adv.  gent.  6,  6  Dairas  et  Immarus  fratres  in 
Eleusino  consepto  quod  civitati  subiectum  est. 

18)  Später  hat  er  seine  Meinung  geändert,  Memoires  de  l'Acad. 
des  Inscr.  1864.  p.  2G5. 


Unger:  Ennedkrunos  und  Pelasgikon.  291 

Frage  Dach  dein  Gang  des  panathenaischen  Festzugs,  bei 
welcher  es  sich  hauptsächlich  um  die  Lage  jenes  Heiligthums 
handelt ,  mit  besserem  Erfolg  zu  lösen ,  als  es  bisher  ge- 
schehen ist. 

Am  Haupttag  der  grossen  Panathenaien,  dem  28.  Heka- 
tombaion  jedes  dritten  Olympiadenjahres,  wurde  der  Peplos 
der  Pallas  in  feierlichem  Aufzug  auf  einem  schiffähnlichen 
Gestell,  an  welchem  er  in  Art  eines  Segels  (aqixevov)  befestigt 
war,  aus  dem  äusseren,  v or städtischen . Kerameikos  durch 
das  Dipylon  in  den  inneren  (Thukyd.  6,  57  sq.  Plut.  Demetr.  12. 
Himerios  or.  3,  12)  und  hier  über  den  Markt  bis  an  den 
Aufgang  zur  Burg  gefahren,  Himerios  a.  a.  0.  ayovotv  litt  xov 
koXcovov  xrg  TIakXdöog  xo  oxacpog ;  Schol.  Aristid.  3,  342 
Dind.  vavg  tp  vitbxQoyog  Y.axaoxevao&£iGa ,  rpig  iv  xoig 
Ilava&rjvcdoig  oltco  xivog  xqtcov  ayo^ihr]  Itci  xrp  dyiQOTCoXtv 
eixsv  ccQfievov  und  3,  343  litoiovv  xotxov  xov  nenXov  toxlov 
x^g  vrjog,  f]Xig  V7t6xqo%og  xaxeoxevccGxo  Kai  ex.  xivog  xotiov 
TTQog  xrjv  äxQOTtohv  rtyexo.  Hier  wurde  der  Peplos  herab- 
genommen und  hinauf  in  das  Heiligthum  der  Polias  getragen 
(Plat.  Euthyphr.  6,  c.  Inschrift  aus  der  Zeit  zwischen  301 
und  287,  Ephemeris  archaiol.  1862,  Nr.  2257).  Vergleichen 
wir  mit  den  ausgeschriebenen  Stellen  das  Scholion  zu 
Aristoph.  Eq.  566  iölcc  Ttaqd  xolg  *u4&rjvaioig  rceTtXog  xo 
aQixevov  ivjg  üava-d'rivaiiirjg  vuog,  rjv  ol  ^t&rjvcaOL  xaxaoxev- 
atovoi  xft  &eto  öid  xsxQaexrjQidog ,  rtg  xai  xrjv  7t0[i7trjv 
OLTto  xov  Kegatiewov  TtoiovGi  fiexgc  xov  'ElevGivlov,  so  er- 
hellt, dass  hier  mit  pexQ1  T°v  'EXevoiviov  dasselbe  bezeichnet 
wird  wie  dort  mit  zrci  oder  TC^og  xrjv  axQOTtoliv,  nämlich 
das  Ziel  der  Fahrt  des  Rollwagens  durch  die  Unterstadt. 
Das  Eleusinion  lag  also  am  Beginn  des  Burgaufgangs. 

Andere  topographische  Notizen  fügt  Philostratos  in  der 

Schilderung  der  von  Herodes  Atticus  mit  besonderem  Glänze 

veranstalteten  Procession  hinzu,  bei  welcher  das  Schiff  statt 

von   Thieren  durch    eine  verborgene  Maschinerie  fortbewegt 

[1874,  3.  Phil.  hist.  Cl.]  20 


292        Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

wurde  und  nach  der  Abnahme  des  Peplos  noch  einen  längeren 
Weg  durch  die  Stadt  machte,  vit.  sophist.  2,  1,  5  Ttäxelva 
tzeqi  tcov  Ilava&rjvaicüv  tovtcov  r^ovov,  Ttinlov  tiev  ävrqj&ai 
Ttfi  vecoq  fjdlco  yoaoprjg,  ovv  ovolto  Ttp  x6X7tü),  docc^eiv  Öf: 
TTjv  vavv  ov%  VTioQvyiQiv  dyovrcov  dXV  STtiyeioig  ^yavaig 
VTtokiG&aivQ&Gav .  87.  KeQa^ieixov  aqaoav  yikia  kiotzt}  äcpelvai 
f7tl  to  ^EXevöiviov  Kai  rtegißecXomav  avTo  7TctQccfieiipcci  to 
TLtkaQytKOv  KOfii^oftevrjv  re  tragä  to  IIv&iov  eX&üv  oh 
vvv  wQiiiGTcu.  Nach  Wachsmuth ,  der  im  Rhein.  Museum 
23,  53  sqq.  den  Gang  der  Procession  eingehend  und  mit 
vollständigster  Beiziehung  des  Materials  behandelt  hat,  wäre 
durch  dieses  und  die  andern  Zeugnisse  festgestellt,  dass  der 
Festzug  sich  vom  Markt  nach  dem  Eleusinion  bewegte,  dies 
umkreiste,  dann  längs  des  Pelasgikon  hinging  und  zuletzt, 
während  das  Schiff  an  seinen  Ruheplatz  gebracht  wurde, 
den  Peplos  in  den  Burgtempel  hinaufbrachte.  Wachsmuth 
kommt,  wie  andere  vor  ihm,  durch  die  Ansetzung  des  Eleu- 
sinion nordöstlich  vom  Burghügel  zu  einer  doppelten,  den 
Nordabhang  der  Burg  entlang  nach  Osten  zum  Eleusinion 
hin  und  von  da  nach  Westen  zurück  laufenden  Bewegung. 
Diese  Setzung  ruht  aber,  wie  wir  sahen,  auf  schwachen 
Füssen;  auch  ist  nicht  abzusehen,  wie  das  Heiligthum  der 
chthonischen  Göttinnen  zu  der  Auszeichnung  kommt,  der 
Procession  eines  ihm  fremden  Cultus  als  Wendeziel  zu 
dienen.  Noch  schlimmer  ist  es,  dass  Wachsmuth,  da  das 
Pythion  südöstlich  von  der  Burg  lag,  für  seinen  panathenaischen 
Zug  ein  anderes  Heiligthum  dieses  Namens  im  Nordwesten 
statuiren  muss;  er  findet  es  in  dem  Grottenheiligthum  des 
Apollon  am  Nordwestabhang  des  Burghügels.  Später,  im 
Rhein.  Museum  24,  46  sq.,  hat  er  die  hiebei  dem  Pelasgikon 
gegebene  Ansetzung  nördlich  von  diesem  zurückgenommen 
und  auch  über  das  Pythion  sich  so  zweifelnd  ausgesprochen, 
dass  seine  ganze  Anstellung  fraglich  geworden  ist.  —  Curtius, 
Sieben  Karten  z.  Topogr.  v.  Athen.  Erläut.  Text  p.  23  lässt 


Unger:  Enneäkrimos  und  Pelasgikon.  293 

die  Procession  vom  Markt  her  zur  Nordwestseite  der  Burg, 
von  da  auf  das  auch  von  ihm  nordöstlich  derselben  gedachte 
Eleusinion  zu  und  um  die  ganze  Akropolis,  als  deren  Be- 
zeichnung er  den  Namen  Pelasgikon  nimmt,  herumgehen, 
bis  er  am  Pythion  vorbei  wieder  am  Bergaufgang  anlangte. 
Hiegegen  hat  aber  schon  Wachsmuth  Rh.  M.  24,  47  mit 
Recht  geltend  gemacht,  dass  diese  Auffassung  des  Pelasgikon 
nicht  mit  dem  Sprachgebrauch  übereinstimmt. 

Diese  neueren  Erklärungen  der  philostratischen  Stelle 
ebenso  wie  die  früheren ,  deren  Unhaltbarkeit  aufzuzeigen 
wir  im  Interesse  des  Raumes  unterlassen,  leiden  sämmtlich 
an  einem  exegetischen  Fehler:  indem  sie  voraussetzen,  dass 
der  Peplos  auf  dem  Schiff  geblieben  ist,  bis  dieses  alle  von 
Philostratos  aufgezählten  Heiligthümer  (Bötticher,  Philol. 
Suppl.  3,  300,  und  Wachsmuth  nehmen  nur  das  Pythion  aus) 
passirt  hatte,  übersehen  sie  die  ausdrückliche  Angabe,  des- 
selben, dass  und  wo  der  Peplos  von  dem  noch  eine  Strecke 
weiter  fahrenden  Schiffe  herabgenommen  worden  ist.  Philo- 
stratos sagt:  aus  dem  Kerameikos  mit  tausendfachem  Ruder- 
werk abgefahren  habe  es  (ihn,  den  Peplos)  zum  Eleusinion 
entlassen  (äcpelvcu)  und  nachdem  es  um  dieses  herumge- 
kommen das  Pelasgikon  passirt  und  sei  am  Pythion  vorbei 
an  den  Platz  geschafft  worden,  wo  es  jetzt  ankert.  Die 
Fahrt  vom  Eleusinion  bis  zum  Ruheplatz  des  Schiffes  hatte 
also  mit  der  Procession  nichts  mehr  zu  schaffen;  die  wichtige 
neue  Aufklärung,  welche  wir  hiebei  über  die  Lage  des  Pelas- 
gikon gewinnen,  wird  unten  zur  Verwerthung  kommen.  An 
der  Procession  hatte  die  Fahrt  des  Schiffes  nur  so  lang 
Theil,  als  es  den  Peplos  trug;  dieser  wurde  am  Eleusinion 
abgenommen.  Philostratos  stimmt  also  vollständig  mit  dem 
Scholiasten  des  Aristophanes  überein ,  nach  welchem  die 
Processionsfahrt  des  Schiffes  gleichfalls  am  Eleusinion  ihr 
Ziel  fand;  von  dort  wurde  der  Peplos  zur  Burg  hinauf 
getragen. 

20* 


294        Sitzung  der  philos.-philöl.  Ctasse  vom  2.  Mai  1874, 

Altar  der  Eudanemen. 

Die  Statuen  des  Aristogeiton  und  Harmodios  auf  dem 
Kerameikosmarkt ,  von  welchen  Pausanias  zu  dem  Odeion 
und  den  zwei  Tempeln  des  Eleusinion  kam ,  standen  auch 
nach  Aristoteles  rhetor.  1,  9,  38  und  Schol.  Aristoph.  Ekkles. 
682  ev  ayoqa,  und  zwar  auf  der  Seite,  wo  man  zur  Burg 
emporstieg,  nicht  weit  vom  Altar  der  Eudanemen,  Arrian 
Alex.  3,  16,  8  iv  KeQcc^ueixcj)  y  avifxev  eg  nokiv  KaTctvTMQv 
liakioxa  tov  Mtjtqüjov  ,  ov  naxoäv  twv  Evöavefxojv  tov 
ßio^ov.  Dieser  Altar  gehörte,  wie  Arrian,  selbst  ein  Priester 
der  Demeter  und  Köre  (Photios  biblioth.  cod.  93),  hinzu- 
fügt, dem  eleusinischen  Cultus  an:  ooTig  de  peftvrjTai  tcuv 
&eaiv  ev  'EXevolvi,  olöe  tov  Evöave^ov  ßcopöv  etzI  tov  öa- 
ttsöov  ovtcc.  Als  Nachkommen  eines  mythischen  Heroen 
Eudanemos  waren  die  Eudanemen,  gleich  den  Eumolpiden, 
Keryken,  Buzygen,  Krokoniden,  erbliche  Beamte  dieses  Cultus. 
Aus  Hesychios  Evöave^or  ayyeloi  tzcl$  Id&iqvaloig  ersieht 
man,  dass  ihre  Function  mit  der  des  Kerykengeschlechts 
sich  nahe  berührte;  eine  dem  Deinarchos  zugeschriebene 
Rede  betraf  einen  Process  beider  über  das  Recht,  den  mysti- 
schen Korb  zu  besorgen,  Dionys.  Halic  de  Din.  11  öiadt- 
Kaola  Evöavsficov  Tcqog  KrjQvv,ag  tteql  tov  xavcog.  Mehr  ist 
von  ihnen  nicht  bekannt;  was  Bötticher  Philol.  Suppl.  3,  365 
über  sie  vorträgt ,  ist  bodenlose  Speculation.  So  viel  aber 
ist  wahrscheinlich,  dass  auch  in  Athen,  nicht  bloss  in  Eleusis, 
der  Altar  in  dem  Heiligthum  gestanden  hat,  welchem  die 
Verrichtungen  der  Eudanemen  gegolten  haben,  nicht,  wie 
bisher  angenommen  werden  musste,  durch  die  ganze  Länge 
des  Burghügels  von  ihm  getrennt  war.  Wie  in  Eleusis  der 
Altar  des  Eudanemos  ausserhalb  des  Tempels  in  dem  Vor- 
hof (ßTti  tov  öaTteöov)  stand,  so  bildete  der  Eudanemenaltar ,9) 

19)  Die  Verschiedenheit   der  Bezeichnung  beider  Altäre  erklärt 
sich   vielleicht  daraus,  dass  bei  dem   in  Eleusis  ein  Standbild  des 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  295 

im  athenischen  Eleusinion  den  äussersten  Punkt  gegen  den 
Markt  hin.  Vielleicht  befand  er  sich  gerade  am  Eingang 
und  jedenfalls  hängt  diese  Aufstellung  mit  dem  Botendienste 
des  Geschlechtes  zusammen. 


Ortsbestimmung  des  Eleusinion. 

Die  Lage  des  Eleusinion  ist  durch  die  gegebenen  Aus- 
einandersetzungen in  der  Hauptsache  bereits  festgestellt. 
Die  panathenaische  Procession  bewegte  sich  mit  dem  heiligen 
Schiffe  vom  Markte  weg  zum  Burgaufgang  am  Eleusinion, 
wo  der  Peplos  herabgenommen  wurde,  um  hinauf  in  den 
Poliastempel  getragen  zu  werden;  vom  Kerameikosmarkte 
her,  wo  er  zuletzt  die  Bildsäulen  des  Harmodios  und  Aristo- 
geiton  sah,  kommt  Pausanias  zu  den  Bauwerken  am  Ennea- 
krunosbrunnen,  unter  welchen  die  zwei  Tempel  des  eleusini- 
schen  Heiligthums  waren;  nach  Arrian  waren  diese  Statuen 
am  Anfang  des  Aufgangs  zur  Burg,  nicht  weit  von  einem 
Altar,  der  zum  Eleusinion  gehört  haben  muss.  Bei  Pro- 
cessionen  empfiehlt  Xenophon  hipparch.  3,  2  der  athenischen 
Ritterschaft  eine  Umkreisung  des  Marktes,  an  welche  sich 
ein  Eilritt  von  den  dortigen  Hermen  bis  zum  Eleusinion 
schliessen  soll :  sireidäv  de  rcaliv  rcqog  Talg  cEq(xalg  yivwv- 
toli  7t€QieXr]lcniOTig ,  ivrev&ev  kccXov  f.ioi  Sonel  uvai  zata 
cpvldg  elg  tdyog  änevcu  xovg  %7t7tovg  (xI^ql  tov  ^Elevoiviov. 
Warum  gerade  bis  dahin?  Sicher  aus  demselben  Grunde, 
aus  welchem  das  Festschiff  des  Herodes,  nachdem  es  vor 
dem  Eleusinion  den  Peplos  zur  Weiterbeförderung  die  Burg 
hinauf  abgegeben  hatte,  im  Bogen  um  dieses  Heiligthum 
herumfuhr,  um  dann  das  Pelasgikon  und  Pythion  zu  passiren : 
desswegen  nämlich,  weil  der  Boden  dort  anstieg  und  bereits 


Eudanemos  angebracht  war;  dass  im  Uebrigen  die  Bestimmung  der- 
selben die  gleiche  war  (zu  Opfern  der  Eudanemen  zu  dienen),  darf 
aus  dem  Hinweis  von  dem  einen  auf  den  andern  geschlossen  werden. 


296        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

dem  unteren  Abhang  des  Burghügels  angehörte.  Dies  be- 
stätigt Pausanias  1,  14,  1  vaol  de  vjteq  rrtv  xQrjvrjv  6  piv 
JrjurjTQOg  TtETCoLrjTai  xai  Koqtjq,  ev  de  xq  TqiTCXokk\iov  xe/- 
ixevov  Igt w  ayak\ia.  Denn  dass  vtveq  m.  Accus,  bei  Pausa- 
nias oberhalb  bedeutet,  hat  Forchhammer  Philol.  33,  116 
aus  den  Parallelstellen  erwiesen,  s.  1,  41,  2  vöwq  £x  xcov  oqtov 
vfceq  xry  xQtvrjv  qv\vai\  8,  18,  7  VTteq  xrtv  NtovaxQiv  oqtj 
xalovpeva  ^Qoavia;  2,  17,  3  OTtooa  vrf£Q  xovg  xlovdg  eoxiv 
elgyao^eva ;  1,14,6  vjteq  xov  Ksga^emov  vaog  ioxw  cHcpai- 
Oxov,  womit  zu  vergl.  Harpokr.  114,  7  7taqa  xy  xolwv<p 
og  l(5xi  7vlr]olov  xrtg  dyoqag  ev&ct  xo  cHgjalaxewv. 

Das  Eleusinion  lag  an  der  rechten,  östlichen  Seite  des 
Burgaufgangs:  sonst  würde  die  von  Philostratos  erwähnte 
Umseglung  desselben  vor  und  nicht  nach  der  Abnahme  des 
Peplos  stattgefunden  haben,  mit  welchem  es  von  West  oder 
Nordwest  her  zum  Burgaufgang  heranfuhr.  Dieser  Pfad 
führte  am  Südwestabhang  des  Burgfelsens  empor :  also  haben 
wir  das  Eleusinion  oberhalb  des  herodeischen  Odeion  zu 
suchen.  In  dem  Brunnenschacht,  der  sich  im  Innern  dieses 
Odeion  vorfindet,  haben  wir  p.  277  den  letzten  Rest  der 
Enneakrunos  vermuthet:  womit  es  gut  übereinkommt,  dass 
nach  Pausanias  die  zwei  Tempel  des  Eleusinion  oberhalb 
dieses  Brunnens  standen.  Hiezu  tritt  noch  ein  anderer 
Umstand.  In  der  römischen  Kaiserzeit  wurde  zum  Schutz 
des  Burgaufgangs  ein  Castell  (cpqovqwv),  wahrscheinlich  am 
Fuss  des  Abhangs,  und  dann  ein  Festungsthor  etwa  zwischen 
diesem  Castell  und  der  itvqyog  genannten  Bastion,  welche 
den  Niketempel  trägt,  errichtet;  beides  nach  dem  Zeugniss 
von  Inschriften,  s.  Bursian  Geogr.  1,  306.  Die  das  Thor 
betreffende  Inschrift,  Corp.  inscr.  nr.  521  Q>L  2e7txl[xiog 
MctQxelXtvog  &Xccfi(riv)  v.al  aito  aywvo&exwv  £x  xwv  lölcov 
xovg  TivXiovag  vf  Ttolei,  wurde  an  dem  zweiten  oder  Haupt- 
thor einer  über  dem  Odeion  des  Herodes  befindlichen  Linie 
von   späteren   Vertheidigungswerken  des  Aufgangs  gefunden, 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  297 

neben  ihr  eine  zweite  ältere  Inschrift,  Corp.  inscr.  nr.  471 
MvrjOiyilrg  *E7tLKQ(XTOV  Olvcuog  —  ld[iq)WQ07trftw  Jr^tqL 
yictl  Koqrj  äve&rjxav.  Auch  diese  Inschrift  muss  einem  in 
nächster  Nähe  befindlich  gewesenen  Denkmal  entstammen ; 
wenn  Leake  Topogr.  221  an  das  Heiligthum  der  Ge  Kuro- 
trophos  und  Demeter  Chloe  (Paus.  1,  22,  3)  dachte,  dessen 
Terrasse  von  Köhler  Archäol.  Zeitg.  1866  p.  167  an  der 
senkrechten  Felswand  unter  dem  Niketempel  nachgewiesen 
worden  ist,  geschah  es  nur,  weil  er,  das  Eleusinion  auf  der 
Ostseite  der  Akropolis  suchend,  kein  andres  Demeterheilig- 
thum  in  der  Nähe  wusste.  Aus  unsrer  Auseinandersetzung 
ist  klar  und  dient  wiederum  ihr  zur  Bestätigung,  dass  diese 
Weihinschrift  von  dem  Tempel  der  Demeter  und  Köre  im 
Eleusinion  herrührt,  welcher  eben  in  dieser  Gegend,  unter 
jener  Terrasse  und  über  dem  Odeion  des  Herodes,  zu 
suchen  ist. 

III.  Odeion, 

Das  Odeion,  welches  Pausanias  am  Enneakrunosbrunnen 
sah,  müssen  wir  natürlich  in  derselben  Gegend  am  Südwest- 
fuss  der  Akropolis  suchen,  in  welcher  wir  den  Brunnen  und 
zwei  der  von  Pausanias  dort  gesehenen  Tempel  nachgewiesen 
haben,  und  dies  um  so  mehr,  als  die  Versuche,  ein  Odeion 
am  Ilissos  anzusetzen ,  schon  an  sich  wenig  Empfehlens- 
wertes haben.  Gewöhnlich  wird  es  dem  rechten,  der  Stadt 
näheren  Ufer  zugewiesen,  an  dem  die  Kallirrhöi  sich  be- 
findet. Hiegegen  erhebt  aber  Wachsmuth  Rhein.  Museum 
23,  29  den  gegründeten  Einwand,  dass  in  dieser  Gegend 
kein  zur  Anlage  eines  solchen  Gebäudes,  das  sich  an  eine 
natürliche  Felswand  anlehnen  musste,  geeigneter  Platz  zu 
finden  sei.  Er  selbst  entscheidet  sich,  mit  Zustimmung  von 
Curtius,  Sieben  Karten  p.  34,  für  das  linke  Ufer  unterhalb 
der  Stelle,  an  welcher  die  Kallirrhöi  einmündet.  Dagegen 
spricht  jedoch  der  Ausdruck  vtczq  %rp  xQivqv  Paus.  1,  14,  1: 


298        Sitzung  der  philos.'plrilol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

denn  wenn  Pausanias  die  Präposition  auch  im  Sinne  von 
über  —  hinaus  anwenden  konnte,  so  hat  er  das  doch  schwer- 
lich in  einer  Verbindung  gethan,  in  welcher  sie  das  Gegen- 
theil  der  bei  ihm  gewöhnlichen  Bedeutung  oberhalb  (s.  oben 
p.  296)  bezeichnet  haben  würde. 

Freilich  scheinen  auch  dem  Ansatz  dieses  Odeion  am 
Südwestfuss  der  Akropolis  sich  bedeutende  Schwierigkeiten 
entgegenzusetzen.  Denn  dort  stand  zwar  ein  Odeion,  näm- 
lich das  grossartige  von  Herodes  Atticus  zum  Ehrengedäeht- 
niss  seiner  160  verstorbenen  Gemahlin  Regula  aufgeführte, 
dessen  längst  bekannte  Ruinen  jetzt  vollständig  ausgegraben 
sind;  dies  hat  aber  Pausanias  nicht  gemeint.  Von  dem 
Odeion  in  Patrai  sagt  er  7,  20,  3,  es  sei  das  prächtigste  in 
Hellas  nächst  dem  von  Herodes  in  Athen  aufgeführten, 
welches  an  Umfang  und  Pracht  seines  gleichen  nicht  habe 
und  in  der  Periegese  Athens  desswegen  von  ihm  nicht  er- 
wähnt sei,  weil  sein  Bau  zur  Zeit  der  Abfassung  des  ersten 
Buchs  noch  nicht  in  Angriff  genommen  war. 

Hiezu  kommt  noch  ein  anderer  auffallender  Umstand. 
Das  Odeion,  welches  Pausanias  in  der  Periegese  Athens 
nennt,  ist  ausserdem  nicht  mit  Sicherheit  nachweisbar;  das- 
jenige aber,  welches  die  anderen  Quellen  kennen,  war  ihm, 
wenigstens  unter  diesem  Namen,  nicht  bekannt.  Das  be- 
rühmte Odeion,  welches  Perikles  erbauen  Hess,  lag  nach 
sicheren  Nachrichten  neben  dem  Theater  am  Südabhang  der 
Akropolis,  wo  noch  Spuren  eines  solchen  Baues  gefunden 
worden  sind,  s.  Bötticher  Philol.  Suppl.  3,  210,  Wachsmuth 
Rh.  Mus.  23,  24,  Curtius  Sieben  Karten  p.  36.  Genau  in 
dieser  Gegend  sah  Pausanias  einen  Bau  (ytaTaOTievaojLia), 
dessen  Form  an  das  Zelt  des  Xerxes  erinnern  sollte  (1,  20,  4) ; 
eben  diese  Bestimmung  hatte  aber  das  perikleische  Odeion 
nach   Plutarch    Per.  13   und   es  besteht   auch   nirgends  ein 


Unger:  Enneakrunos  imd  Pelasgikon.  299 

Zweifel,    dass   dieses   der  Bau  war,   den  Pausanias  gesehen 
hat,  ohne  seine  Benennung  zu  erfahren20). 

Einen  Beweis  der  Existenz  eines  älteren,  von  dem 
perikleischen  verschiedenen  Odeion  hat  man  bei  Hesychios 
'Qidetov  T07T0Q  ev  co  Ttqlv  to  d-laxqov  xaTaGKevao&rjvai  oi 
qaipcoöol  xal  oi  KLÜaQipdoi  ftfcovl^ovro  finden  wollen,  wo  ein 
vor  der  500  v.  Ch.  begonnenen  Anlage  des  Theaters  bestehen- 
des Odeion,  etwa  von  Solon  oder  Peisistratos  herrührend, 
erwähnt  zu  sein  scheint.  Wachsmuth  Rh.  Mus.  24,  31  lässt 
es  dem  Apoliocult  geweiht  sein  und  fügt  noch  mancherlei 
gewagte  Vermuthungen  über  die  ethnographischen  und  sa- 
cralen  Eigenthümlichkeiten  des  Gebietes  von  Agrai  hinzu, 
welche  wir  auf  sich  beruhen  lassen  können.  Neuerdiugs 
hat  aber  E.  Hiller  Hermes  7,  393  sqq.  gezeigt,  dass  jener 
Artikel  des  Hesychios  weiter  nichts  enthält  als  eine  entstellte 
und  verworrene  Parallelmittheilung  zu  Schol.  Aristoph. 
Vesp.  1109  und  Schol.  Aeschin.  Ktesiph.  67,  wo  in  ganz 
sachgemässer  Weise  von  den  Probevorträgen  der  Dichtungen 
im  Odeion  vor  ihrer  Aufführung  gesprochen  wird  und,  da 
die  gleichzeitige  Existenz  des  Theaters,  in  welchem  dieselben 
nachher  aufgeführt  wurden,  und  gegenseitige  Beziehungen 
beider  Gebäude  zu  einander  vorausgesetzt  sind ,  offenbar 
von  dem  zum  Theater  gehörigen  perikleischen  Odeion  die 
Rede  ist.  Derselbe  Gelehrte  beweist  weiter,  dass  sowohl 
das  als  Gerichtsstätte  bezeichnete  als  das  von  dem  Redner 
Lykurgos  wiederhergestellte  Odeion  kein  anderes  als  das 
perikleische  gewesen  ist,  ja  dass  überhaupt  alle  ein  Odeion 
der  classischen  Zeit  betreffenden  Stellen  auf  dieses  bezogen 
werden  müssen  oder  wenigstens  können.  Da  somit  für  die 
Annahme  eines  zweiten  Odeion  in  der  hellenischen  Periode 
kein  auch  nur  einigen  Halt  gewährendes  Zeugniss  aufzufinden 


20)  Leake  Topogr.  p.  100.   Bursian   Geogr.    1,  298.    Wachsmuth 
Rhein.  Mus.  23,  24  u.  a. 


300  Sitzung  der  phüos.-phüol  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

ist,  so  schliesst  Hiller,  dass  das  von  Pausanias  an  der  Ennea- 
krunos  gesehene  frühestens  aus  der  makedonischen  Zeit 
stammt. 

Auch  die  Art,  in  welcher  das  Odeion  des  Perikles  neben 
anderen  in  ihrer  Art  einzigen  Localitäten  erwähnt  wird, 
insbesondere  die  Beigabe  des  bestimmten  Artikels  beweist, 
dass  es  in  und  bei  Athen  lange  Zeit  nur  dieses  einzige  be- 
deckte Theater  gegeben  hat,  Xenoph.  Hellen.  2,  4,  9  elg  to 
yQidewv  Ttaoey.a'keoav  Tovg  OTtHtag,  vgl.  §  10  und  24;  Demosth. 
g.  Phorm.  37  vftiuv  ol  fiev  ev  T<p  ccgtsc  owovvreg  6ie(.ie- 
tqovvto  to)  alqtiTa  ev  %<$  'Qidelqj  ol  cT  ev  T(fi  IleiQateT', 
Hypereides  fr.  121  Bl.  (pyioöofxrjoe  (uivKOVQyog)  to  &eaToov, 
zo  y£2ideiovj  to)  vecogia.  Selbst  Strabon  9,  1,  17  kennt  noch 
kein  zweites:  Kai  eTt  to  ylecoytooiov  Kai  to  Qrjoeiov  (xv^ovg 
e%et  Kai  tj  l4.Kaör\\ila  Kai  ol  kttzol  twv  qpiXooocpojv  Kai  to 
'Qiöeiov  Kai  rj  HoiKiXrj  otocc  Kai  to)  leqa  Ta  ev  t^  tcoXu 
rtleioTa  e%ovTa  tz%vit(ov  eqya ;  doch  ist  daraus  kein  Schluss 
für  seine  Zeit  zu  ziehen,  sondern  nur  für  die  seiner  geo- 
graphischen Quellen,  des  Artemidoros  von  Ephesos  (um  200 
v.  Ch.)  und  Apollodoros  von  Athen  (um  100);  seine  späteste 
geschichtliche  Notiz  über  Athen  betrifft  die  Belagerung  durch 
Sulla.  Dagegen  vor  Hadrian  muss  das  Odeion  an  der 
Enneakrunos  schon  bestanden  haben;  sonst  würde  es  unter 
den  athenischen  Bauten  dieses  Kaisers  bei  Pausanias  1,  18,  9 
wohl  mit  aufgeführt  sein. 

Da  dieses  in  derselben  Gegend  gestanden  hat,  in  welcher 
sich  die  Ruinen  des  von  Herodes  Atticus  errichteten  finden, 
so  vermuthen  wir,  dass  dieser  nicht  einen  völlig  neuen  Bau 
aufgeführt,  sondern  den  schon  vorhandenen  vergrössert  und 
verschönert  hat.  Das  vor  Herodes  dort  befindliche  Odeion, 
dessen  Entstehung  wir  in  die  Zeit  zwischen  Apollodor  und 
Hadrian  setzen  müssen,  ist  wohl  nach  der  Einäscherung  des 
perikleischen  gebaut  worden;  wenigstens  war  vorher  kein 
Anlass    zu    dem   Bau    gegeben   und   der   Brand    des   alten 


Ungeri  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  301 

Gebäudes  fand  nach  der  Zeit  Apollodors  statt.  Man  darf 
vielleicht  noch  weiter  gehen  und  Ptolemaios  X  für  den 
Gründer  des  an  der  Enneakrunos  gelegenen  Odeion  halten. 
Schon  0.  Müller21)  war  durch  den  Umstand,  dass  sich 
am  Eingang  dieses  Theaters  die  Statuen  vieler  Ptolemaier 
befanden  (Paus.  1,  8,  6),  auf  die  Vermuthung  geführt  wor- 
den, es  sei  von  einem  derselben  aufgeführt  worden,  hatte 
aber  nicht  viel  Anklang  mit  diesem  Gedanken  gefunden,  da 
Pausanias  selbst  dasselbe  für  weit  älter  hält.  Derselbe  er- 
klärt 1,  9,  4  die  Aufstellung  der  Bildsäulen  des  Philipp, 
Alexander  und  Lysimachos  an  jenem  Platze  für  einen  Act 
der  Schmeichelei  von  Seiten  des  Demos  gegen  diese  mäch- 
tigen Könige,  glaubt  also,  das  Odeion  an  der  Enneakrunos 
habe  im  vierten  Jahrhundert  v.  Ch.  schon  bestanden.  Da- 
mals existirte  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  nur  ein  einziges 
Odeion,  das  des  Perikles,  und  da  Pausanias  noch  einen 
zweiten  Irrthum  in  Sachen  des  Odeion  begangen  hat,  indem 
er  dessen  wahren  Platz  nicht  kennend  da,  wo  es  stand,  nur 
von  einem  namenlosen  Bau,  der  das  Zelt  des  Xerxes  nach- 
ahmen solle,  spricht,  so  ist  man  zu  der  Annahme  berechtigt, 
dass  er  das  altberühmte  Odeion  in  dem  Gebäude  zu  er- 
kennen glaubte,  von  welchem  allein  ihm  die  Benennung 
Odeion  bekannt  war.  Seine  Ansicht  über  das  Alter  des 
Odeion  an  der  Enneakrunos  kann  uns  daher  ziemlich  gleich- 
gültig sein;  die  Thatsache  dagegen,  dass  vor  demselben  so 
viele  Ptolemaier  und  ausser  ihnen  nur  gerade  jene  drei  so 
eben  genannten  Makedonerkönige  aufgestellt  waren ,  weist 
auf  eine  enge  Beziehung  dieses  Gebäudes  zu  den  Ptolemaiern 
hin,  welche  wohl  ihre  passendste  Erklärung  in  der  Vermuth- 
ung findet ,  dass  einer  von  ihnen ,  natürlich  der  späteste, 
den  Bau  gestiftet  hat.  So  standen  auch  vor  dem  Zeustempel 
im  Olympieion   zahlreiche  Bildsäulen  Hadrians,    des  letzten 


21)  In  Ersch  und  Gruber's  Encyclopädie  VI,  236. 


302         Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Erbauers  (Paus.  1,  18,  6).  Philipp  und  Alexander,  der  in 
Alexandreia  bestattet  lag,  waren  die  Begründer  des  make- 
donischen Weltreichs,  aus  dem  die  Herrschaft  der  Ptole- 
maier  hervorging,  und  letztere  leiteteten  sich  in  weiblicher 
Linie  sogar  von  dem  makedonischen  Königsgeschlecht  ab, 
vgl.  Satyros  bei  Theophilos  an  Autolykos  2,  7 ;  Lysimachos 
aber ,  der  Schwager  und  Schwiegervater  des  Ptolemaios  II, 
war  in  seiner  letzteren  Eigenschaft  Ahnherr  aller  folgenden 
Ptolemaier.  Die  spätesten  unter  diesen,  welche  Pausanias 
a.  a.  0.  namhaft  macht ,  sind  Ptolemaios  X  Soter  II  und 
seine  Tochter  Berenike;  sie  sind  es  auch  über  welche  er 
sich  an  diesem  Orte  am  weitläufigsten  auslässt  (1,9,  1 — 3). 
Gerade  aber  zur  Zeit  des  Ptolemaios  X,  der  117  —  107  und 
88 — 81  über  Aegypten  herrschte,  geschah  es,  dass  das 
perikleische  Odeion  von  dem  Tyrannen  Aristion,  als  er  von 
Sulla  in  der  Burg  belagert  wurde,  angezündet  ward,  damit 
das  Holzwerk  nicht  von  den  Römern  zu  Belagerungsarbeiten 
gegen  dieselbe  benutzt  werden  konnte,  nicht  lange  nach  dem 
1 .  März  86,  an  welchem  die  Einnahme  der  Unterstadt  vor 
sich  gegangen  war22).  Bis  es  wieder  aus  den  Ruinen  er- 
stand, vergingen  mehrere  Jahrzehnte :  denn  Ariobarzanes  II 
Philopator,  der  durch  die  Architekten  G.  und  M.  Stallius 
und  Menalippos  dasselbe  wieder  herstellen  liess23),  kam 
nicht  vor  65  zur  Regierung34).  Die  vielen  Verdienste,  welche 
Ptolemaios  X  sich  nach  Pausanias25)  um  Athen  erwarb, 
bestanden  gewiss  hauptsächlich  in  Unterstützungen,  welche 
er  nach  den  Greueln  der  Belagerung  und  Einnahme  Athens 


22)  Plutarch  Sulla  14.  Appian  Mithrid.  38  sq. 

23)  Corp.  inscr.  graec.  nr.  357.  Vitruv  5,  9. 

24)  S.  die  Citate  in  Pauly's  Realencyklopädie  B.  I  u.  Ariobar- 
zanes und  Hertzberg  Gesch.  Griechenl.  1,  436. 

25)  1,  9,  3  * A&rpcäoi  vn*  avtov  nadovzeg  sv  noKXa,  te  xal  ovx 
ä£ia  s£r)yiJG€(x)s  %afatovv  xal  avtov  xal  BeQtvixriv  e&rpcav,  ij  [tovt]  oi 
yvr\ala  twv  naidtov  jfr,    Hertzberg  af  a.  0.  hat  beide  übergangen. 


Unger:  Ennedkrunos  und  PelasgiJcon.  303 

den  unglücklichen  Bewohnern  zukommen  Hess;  vielleicht 
gehörte  aber  auch  der  Bau  eines  neuen  Odeion  dazu.  Da 
er  wenige  Jahre  nach  der  Einnahme  Athens  starb  und  seine 
gegen  diese  Stadt  gleich  freundlich  gesinnte  Nachfolgerin 
nur  sechs  Monate  regierte ,  so  ist  der  Bau  wohl  nicht  so 
glänzend  ausgefallen ,  wie  es  ,  unter  anderen  Umständen  zu 
erwarten  gewesen  wäre;  jedenfalls  aber  war  dadurch,  dass 
er  ihn  an  einem  andern  Platze  aufführte,  dem  König  von 
Kappadokien  Gelegenheit  gegeben,  seine  Freundschaft  gegen 
Athen  durch  den  Wiederaufbau  des  alten  Odeion  zu  be- 
thätigen  *6). 


IV.  Pelasgikon. 

Durch  die  Beziehung,  in  welche  Herodot  6,  137  den 
vorübergehenden  Aufenthalt  der  tyrrhenischen  Pelasger  in 
Attika  zu  dem  Enneakrunosbrunnen  setzt,  wird  es  nöthig 
auch  die  Frage  über  die  Bedeutung  und  Lage  des  sogenannten 
Pelasgikon  in  Behandlung  zu  nehmen ;  ein  wichtiger  Beitrag 
zu  ihrer  Lösung  ist  bereits  durch  die  Erklärung  der  von 
Philostratos  geschilderten  Procession  gewonnen  worden.  Die 
Vorfrage,  ob  dasselbe  eine  örtliche  Einheit  gebildet  hat  oder 
zwei  getrennte  Localitäten  dieses  Namens  zu  unterscheiden 
sind,  lässt  sich  auf  Grund  der  zur  Sprache  kommenden 
Zeugnisse  mit  Entschiedenheit  in  letzterem  Sinne  beant- 
worten :  es  gab  eine  Pelasgerfeste,  JJelaGyiytov  velxog,  auch 
kurzweg  Ilehaoyixöv  genannt,  auf  der  Höhe  des  Burghügels, 
und  einen  Pelasgerhof,  Ilelccoyiytöv  (näml.  xtoQiov)^  am  Fuss 
des  Burgabhangs. 


26)  In  Betreff  der  Frage,  was  vor  dem  Bau  des  an  der  Ennea- 
krunos  gelegenen  Odeion  an  jener  Stelle  sich  befunden  hatte,  vgl. 
den  folgenden  Abschnitt. 


304         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

1.  Der  Pelasge#rhof. 

Dieser  lag  am  Fuss  der  Akropolis,  Thukyd.  2,  17  to 
IleXaoyixdv  KaXovfxevov  ro  vtto  Ttv  aKQOTtoliv,  vgl.  die  untei 
citirte  Stelle  aus  Pausan.  1,  28,  3.  Vermöge  dieser  seine] 
Lage  gehörte  er  zur  Unterstadt,  nicht  zur  Akropolis,  so  gu 
wie  das  Eleusinion,  Thukyd.  a.  a.  0.  tpKrjoav  Kai  ta  ieqd 
Kai  xa  fjQfjia  Ttavxa  ttX^v  Ttjg  dxQ07t6Xecog  Kai  tov  ^EXevoiviov 
to  tb  TlskaoyiKOv  —  o  Kai  eTcdqaTOv  rjv  (ätj  oIkbiv  bfjcog 
iTto  Ttjg  Ttaqaxqyjfxa  dvayKiqg  s^iokyi&yj,  wie  ferner  das  Olym- 
pieion,  Pythion  und  die  andern  Heiligthümer,  welche  Thuky- 
dides  2,  15  als  vit*  avTrjV  (ttjv  dxQOJtohv)  Ttqog  votov  gelegen 
bezeichnet  und  von  der  Akropolis  ebenfalls  ausdrücklich 
unterscheidet.  Im  lucianischen  Piscator  47  sitzt  Parrhesiades 
am  Rand  der  Akropolis  und  lässt  die  Angel  in  die  Unter- 
stadt hinab :  deledaag  ro  ayxioTqov  io%ddi  Kai  Ka&eü/xevog 
frei  ro  axQov  xov  Tuylov  Ka&rKev  elg  ttjv  tioXlv\  der  Theil 
derselben  aber,  zu  welchem  die  Angel  hinabreicht,  ist  das 
Pelasgikon:  tl  xavra  10  üagorjoiadr] ,  itvov  Tovg  Xldovg 
akiEvouv  öieyvcoKag  sk  tov  TleXaoyiKOv.  Während  die  Pe- 
lasgermauer  zum  Schutze  der  Höhe  des  Akropolisfelsens 
diente,  konnte  der  Pelasgerhof  gleich  anderen  Plätzen  des 
Asty  als  ein  Punkt  bezeichnet  werden,  von  welchem  aus 
sich  ein  Sturm  auf  jene  bewerkstelligen  lasse,  Lucian  Piscat.  42 
Ttaqd  to  JJeXaoyiKdv  aXkot  Kai  Kazd  to  ^AaKhf\7tiüov  cheqot 
Kai  Ttaqd  tov  Z4qewv  rcdyov  Wi  TiXelovg,  evwi  öi  Kai  KaTa 
tov  tov  TaXto  Tagjov,  ol  ös  Kai  Tiqog  to  ^AvaKUOv  ttqo- 
&8fX£voi  27)  Kki^iaKag  dvsQTtovoi,  [asottj  de  fj  aKQOTtoXig 
iv  ßqaxet 

Seinen  Namen  hatte  der  Platz  davon,  dass  die  tyrrheni- 


27)  Durch  ein  seltsames  Missverständniss  findet  Bötticher  Philol. 
Suppl.  3,  339  hierin  eine  Angabe  von  Treppenstiegen,  welche  vom 
Anakeion  wahrscheinlich  zur  Terrasse  des  Agraulion  hinaufgeführt 
hätten. 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  305 

sehen  Pelasger  zur  Zeit,  als  sie  die  Akropolismauer  auf- 
führten, dort  Wohnung  genommen  hatten,  Pausan.  1,  28,  3 
ftEQißalelv  to  Xoitcov  Xeyezai  tov  Tziypvg  TJeXaayovg  o\%l- 
oavTag  710TB  VTto  TTjv  äxQOTtoXiv ;  Schol.  Thukyd.  2,  17 
TleXaoyiycdv)  ol  yccQ  HeXaoyol  avzo  oi/,rtGavTEg  ErceßovXevoav 
To~ig  l4&t]vaiotg;  Schol.  Lucian.  Bis  accus.  9  IleXaoyixdv) 
TOTtog  ^4&rjvrjGiv  mto  neXaoywv  hv  avTcp  olxrjGavTtov ;  Sträb. 
9,  2,  3  (BoiüJToi)  il-eßccXov  Tovg  IleXaoyovg  eig  si&rjvag,  aep* 
tov  ixXrjxh]  fxsQog  ti  riyg  TCoXewg  IleXaöymdv  28). 

Das  Pelasgikon  wird  gewöhnlich  an  den  Nordwestfuss 
der  Akropolis  gesetzt:  1)  weil  Lucian  Bis  accus.  9  die 
Grotte  des  Pan,  welche  am  Nordwestabhang  liegt,  Itceq  tov 
IleXaoyixov  setzt.  Es  ist  aber  zu  erinnern,  dass  dies  vtcfq, 
abgesehen  davon,  dass  die  Lesart  unsicher  ist  (früher  wurde 
vfto  geschrieben)  auch  eine  andere  Auslegung  als  die  hier 
vorausgesetzte  (oberhalb)  zulässt.  2)  Weil  die  Pelasger- 
m'auer,  wie  aus  Vergleichung  von  Plutarch  v.  Cimon.  13 
mit  Pausan.  1,  28,  3  hervorzugehen  scheint,  den  nördlichen 
Theil  der  Burgbefestigung  gebildet  hat.  Unten  wird  jedoch 
gezeigt  werden,  dass  diese  Mauer  den  höchsten  Theil  der 
Akropolis  vollständig  umgeben ,  im  Westen  aber  nicht  bis 
zu  der  Gegend  der  Pansgrotte  gereicht  hat.  Auch  abgesehen 
davon  kann  die  Lage  der  Pelasgermauer  für  die  des  Pelasger- 
hofes  nichts  entscheiden :  weil  die  verschiedene  Bestimm- 
ung beider  nicht  nothwendig  auf  gegenseitige  Nachbarschaft 
schliessen  lässt. 

Dieser  Ansatz  des  Pelasgikon  ist  eine  Hauptursache  des 
Misserfolges  gewesen,  welchen  die  Erklärungen  der  philo- 
stratischen   Stelle  über   die  Peplostriere   des   Herodes  (vgl. 


28)  Die  nächsten  Worte  cpxrjaup  6  s  vno  tw  effitjfttms  welche  da- 
mit in  Widerspruch  stehen,  halte  ich  für  eines  der  vielen  Glosseme, 
welche  den  Text  Strabons  entstellen;  sie  sind  eine  Reminiscenz  aus 
Herodot  6,  137. 


306        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

p.  293)  gehabt  haben.  Diese  fuhr,  nachdem  sie  den  Peplos 
vor  dem  Eleusinion,  d.  i.  am  Beginn  des  Aufgangs  zur  Burg, 
abgesetzt  hatte,  am  Pelasgikon  und  dann  am  Pythion  vor- 
bei, um  endlich  an  ihren  Ruheort  gebracht  zu  werden.  Dar- 
aus folgt  mit  Notwendigkeit,  dass  der  Pelasgerhof  am  süd- 
lichen, genauer  südwestlichen  Fusse  der  Burg  gelegen  war, 
östlich  vom  Eleusinion :  denn  das  Pythion,  dessen  Lage  nun- 
mehr der  Erklärung  jener  Stelle  keinerlei  Schwierigkeiten 
mehr  entgegensetzt,  war  in  der  südlich  von  der  Burg  sich 
ausbreitenden  Gegend  (Thukyd.  2,  15),  aber  von  dieser  weiter 
nach  Südosten  zu  entfernt,  hart  an  der  Stadtmauer  neben 
dem  Olympieion,  Strab.  9,  2,  11  I'oti  <f  avTrj  (t)  eo%aQa 
tov  aoTQa7talov  Jidg)  ev  %($  xuyju  i-iera^v  tov  Ilv&iov  xal 
tov  ^OXv{.i7iiov.  Da  nun  das  Pelasgikon,  wie  wir  oben  ge- 
sehen haben,  hart  an  der  Burg  lag,  so  muss  es  östlich  von 
dem  Odeion  des  Herodes,  über  welchem  sich  das  Eleusinion 
erhob,  gleich  dem  Odeion  bereits  in  der  Ebene,  nicht  am 
Abhang  angesetzt  werden,  weil  das  Schiff  des  Herodes  am 
Pelasgikon  ebenso  wie  am  Pythion  vorbeifuhr,  während  beim 
Eleusinion  es  einen  Bogen  unterhalb  desselben  beschrieben 
hatte. 

Da  auch  aus  den  Mittheilungen  über  den  Aufenthalt 
der  Pelasger  in  Athen,  von  welchen  unten  zu  sprechen  sein 
wird,  hervorgeht,  dass  dieselben  in  der  von  Philostratos  an- 
gedeuteten Gegend  gewohnt  haben,  so  müssen  wir  uns  für 
Lucian  Bis  accus.  9  nach  einer  andern  Erklärung  der  Praep. 
v7t£Q  umsehen.  Diese  bezeichnet  nicht  nothwendig  einen 
angrenzenden  höheren  Punkt,  sondern  auch  die  höhere  Lage 
an  sich,  selbst  wenn  der  verglichene  Platz  sich  nur  seit- 
wärts nahe  befindet.  Der  Scholiast  des  Clemens  Alex. 
Protrept.  3,  3,  44  KL  setzt  die  Pansgrotte  yia&VTteQ&ev  tov 
Idqdov  Ttayov,  obgleich  sie  an  der  Akropolis  und  nicht  am 
Areopag  liegt.  Lucian  will  darlegen,  dass  die  Athener  den 
Pan,  als  sie  nach  der  Schlacht  bei  Marathon  zum  Dank  für 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  30? 

seine  Hülfe  ihn  unter  die  Götter  ihrer  Stadt  aufnahmen, 
dabei  mehr  herabgesetzt  als  geehrt  haben.  Vorher  wohnte 
er  auf  der  Höhe  des  Parthenionberges  bei  Tegea:  $Kei  [tsv 
to  TTQOo&ev  ävcc  to  Tlaq^lviov ;  jetzt  bekam  er  nicht  wie 
andere  um  das  Wohl  der  Stadt  verdiente  Götter  und  Men- 
schen eine  Ehrenstätte  auf  der  Akropolis  und  so  zu  sagen 
das  Bürgerrecht  auf  dem  heiligen  Berge,  sondern  musste 
einem  Hintersassen  ähnlich  sich  mit  einer  Höhle  unten  an 
der  Burg  begnügen,  wenig  höher  wohnend  als  einst 
die  Pelasger  in  ihrem  mit  dem  Fluch  belegten  Gehöfte: 
Tr\v  V7t6  zfj  ccKQOTtolei  GTtrfoyya  xavxrp  aTtolaßoixevog  oIkbI 
(.UY.QOV  v7t€Q  tov  IleXaoyMov  ig  to  [UETOiKinov  Tsliov.  Bei 
unserem  Ansätze  kommt  aber  das  Pelasgikon  genau  südlich 
von  der  Pansgrotte  zu  liegen;  beide  unterhalb  der  Propy- 
laiengegend  befindlich  waren  sie  nur  durch  die  Erhebung 
des  Burgaufgangs  von  einander  getrennt.  Nach  den  Mess- 
ungen, welche  Curtius  Sieben  Karten  p.  2  sq.  mittheilt,  hat 
der  Platz  südlich  vor  dem  Herodesodeion  301,  der  Areopag 
355,  die  Pansgrotte  westlich  378  und  östlich  399  Par.  Fuss 
Seehöhe. 

Für  die  Ansetzung  des  Pelasgikon  zu  Füssen  des  süd- 
westlichen Abhangs  der  Akropolis  ist  die  ganze  Gegend 
vom  Herodesodeion  an  bis  mindestens  in  die  Gegend  unter 
dem  Denkmal  des  Hippolytos  frei :  letzteres  befand  sich,  wie 
die  Alten  melden,  an  der  Stelle,  wo  ein  Blick  nach  Troizen 
verstattet  ist.  Dies  ist  der  Fall  auf  einer  kleinen  Strecke 
des  Abhangs,  auf  halber  Höhe  desselben,  etwas  näher  dem 
Dionysostheater  als  dem  Herodesodeion,  vgl.  Ross  das  The- 
seion und  der  Tempel  des  Ares  p.  9,  Bötticher  Philol.  Suppl. 
3,  418.  Von  da  bis  zu  dem  Heiligthum  der  Ge  Kurotrophos 
und  Demeter  Chloe  unterhalb  des  Niketempels  nennt  Pau- 
sanias  nur  den  Tempel  der  Aphrodite  Pandemos,  welcher 
also  noch  höher  als  das  Hippolyteion  gelegen  war.  Das 
Pelasgikon  möglichst  westlich  und  der  Enneakrunosgruppe 
[1874,  3.  Phil.  hist.  Cl.]  21 


308  Sitzung  der  phüos.-philöl.  Olasse  vom  2.  Mai  1874. 


nahe  zu  denken ,  empfiehlt  sowohl  die  Rücksicht  auf  das 
von  Lucian  angedeutete  örtliche  Verhältniss  zur  Pansgrotte 
als  die  Erwägung,  dass  zum  Wohnsitz  der  Pelasger,  während 
sie  auf  der  Burg  arbeiteten,  ein  dem  Aufgang  zu  dieser 
recht  nahe  liegender  Platz  der  passendste  war.  Durch  die 
folgende  Auseinandersetzung  soll  wahrscheinlich  gemacht 
werden,  dass  die  Pelasger  hart  an  der  Enneakrunos  ge- 
wohnt haben. 

Die  Pelasger  an  der  Enneakrunos. 

Zum  Lohn  für  den  Bau  der  Burgbefestigung  bekamen 
die  Pelasger  die  Gegend  am  Fuss  des  Hymettos  als  Wohn- 
sitz ;  als  sie  aber  das  wüste  Land  auf  das  Beste  zu  bebauen 
wussten,  da  regte  sich  in  den  Athenern  der  Neid  und  sie  ver- 
jagten das  fremde  Volk.  So  Hekataios  bei  Herodot  6,  137; 
dagegen  von  den  Athenern  selbst  hörte  dieser  als  Grund  der 
Vertreibung,  dass  die  am  Hymettos  angesiedelten  Pelasger 
den  Töchtern  und  Knaben  der  Athener,  so  oft  diese  zur 
Enneakrunos  nach  Wasser  gingen,  Gewalt  angethan  hätten 
und  zuletzt  gar  über  einen  Anschlag  gegen  sie  selbst  be- 
troffen worden  seien.  Da  habe  man,  obgleich  berechtigt 
den  Tod  über  sie  zu  verhängen,  ihnen  nur  die  Räumung  des 
Landes  auferlegt,  und  so  seien  sie  denn  nach  Lemnos  und 
anderen  Orten  ausgewandert. 

Die  Tendenz  dieser  attischen  Darstellung  ist  klar:  sie 
will  einen  Flecken  von  Athens  Ehre  wegwaschen,  stellt  sich 
aber  ziemlich  ungeschickt  dazu  an.  Die  Pelasger  sollen  ins 
Unrecht  gesetzt  werden,  das  Verfahren  der  Athener  dagegen 
als  gerecht,  ja  grossmüthig  erscheinen  (ecovrotg  yeviö&ai 
tooovtip  enelvcov  ccvögag  ä/xelvovag).  Die  Pelasger  stehen 
als  Barbaren  der  schlimmsten  Art  da:  so  sinnlich  roh,  dass 
sie  Jungfrauen  und  Knaben  Gewalt  anthun,  so  undankbar 
und  gewissenlos,  dass  sie  auch  den  Angehörigen  ihrer  gütigen 
Gastfreunde,   bei   denen  sie  nach   weiten  Irrfahrten   endlich 


ünger:  Ennedkrunos  und  Pelasgikon.  309 

Unterkunft  gefunden,  gegenüber  dieser  Sittenlosigkeit  nicht 
entsagen  konnten  und  zuletzt  jenen  selbst  nach  Besitz  und 
Leben  trachteten  ;  so  dummdreist  endlich  solche  Anschläge 
zu  schmieden,  ohne  die  eigne  Schwäche  in  Erwägung  zu 
ziehen ,  welche  sie  nöthigte ,  auf  ein  blosses  Machtwort  hin 
den  mühevoll  erworbenen  uud  cultivirten  Besitz  am  Hymettos 
preiszugeben.  Wie  mild  und  edel  zeigen  sich  dagegen  die 
Athener:  obgleich  von  jenen  in  ihrer  Familienehre  aufs 
Tiefste  gekränkt  und  in  der  eigenen  Existenz  bedroht,  be- 
gnügen sie  sich  damit,  die  Unholde  einfach  des  Landes  zu  ver- 
weisen. Jene  aber  wissen  für  solche  Langmuth  schlechten 
Dank:  sie  sinnen  auf  Rache  und  üben  dieselbe,  indem  sie 
in  Brauron  die  Frauen  der  Athener  rauben. 

Nicht  die  Athener  und  Pelasger  jener  alten  Zeit  sind 
es,  deren  Eigenschaften  dieser  Parallele  zu  Grunde  liegen, 
sondern  die  Zeitgenossen  des  Berichterstatters,  den  Herodot 
hörte.  Auf  der  einen  Seite  Athen,  der  Hochsitz  aller 
Humanität  des  Hellenenvolkes,  das  auf  die  andern  Nationen 
mit  Verachtung  herabsah;  auf  der  andern  die  Tyrrhener 
der  nördlichen  Inseln ,  welche  auf  der  vor  Jahrhunderten 
eingenommenen  Culturstufe  stehen  geblieben  waren  und  für 
Barbaren  galten ,  vgl.  Thukyd.  4,  109  über  die  Orte  am 
Athos:  olnovvtai  ovfi^iKTOig  e&veöi  ßaqßaqcov  SiyXwaocov 
Kai  tl  y.ccl  XaXxidixov  evi  ßQct%vy  to  Ss  Ttleiotov  nslccGyixöv, 
twv  xal  ^irJLivov  Ttoxe  y.al  ^A&rjvas  Tvqotjvcov  olxrjodvTCüv. 
Dieser  Anschauung  entspricht  auch  die  Bedeutung  der  Namen 
Agrolas  und  Hyperbios,  welche  bei  Pausanias  1,  28,  3  den 
Erbauern  der  Akropolismauer  gegeben  werden.  Noch  greller 
wird  der  Contrast  durch  Steigerung  und  Uebertreibung  dieser 
einander  entgegengesetzten  Eigenschaften  in  Herodots  Er- 
zählung, welche  die  Athener  geradezu  idealisirt,  von  ihren 
Gegnern  aber  ein  Zerrbild  entwirft:  diese  benehmen  sich 
als  täppische  und  jedes  Begriffes  von  Sitte,  Recht  und 
Gottesfurcht   baare  Barbaren,  jene  handeln  so  edel,  wie  es 

21* 


310         Sitzung  der  philos-philol.  Classe  vom  2.  Mai  187 i. 

von  den  Athenern  der  Geschichte  niemals  erhört  ist.  In 
Wirklichkeit  aber  war  das  Culturverhältniss  zwischen  beiden 
Völkern  in  der  Zeit,  von  welcher  Herodot  spricht,  ein  ganz 
anderes:  die  Kunstfertigkeit  der  Pelasger  war  es,  welche 
den  noch  unkundigen  Athenern  die  hohen,  starken  und  un- 
verwüstlichen Mauern  ihrer  Akropolis  schuf29);  und  die 
Gegend,  welche  im  Besitze  der  Athener  eine  Wüstenei  ge- 
wesen war,  verwandelte  sich  unter  ihren  Händen  in  üppiges 
Fruchtland. 

Auch  das  beiderseitige  Zahl-  und  Machtverhältniss  ist 
nicht  ganz  richtig  dargestellt.  Wenn  Herodots  Athener  an- 
geben :  Ttaqedv  ccvtoiq  d%o%reivai  rovg  IJeXaoyovg,  eitel  ocpeccg 
eXaßov  eTtißovXevovTccg,  ovx  e&elrjaai,  aXha  öcpi  7iqoei7te"iv  ex 
vjjg  yjjg  i^ievai,  zovg  de  ovtoj  exxcoQ^oavxag  etc.,  so  scheinen 
sie  sich  jene  als  eine  Handvoll  Werkleute  vorzustellen, 
welchen  von  der  athenischen  Behörde  ohne  viele  Umstände 
der  Process  gemacht  werden  konnte,  die  Athener  aber  als 
die  mächtige  und  volkreiche  Stadtgemeinde,  welche  bereits 
ganz  Attika  von  Eieusis  bis  zur  Tetrapolis  besass.  In  Be- 
ziehung auf  letztere  gab  die  Theseusmythe  ein  gewisses  Recht 
zu  hohen  Vorstellungen ;  die  Pelasger  aber ,  welche ,  wie 
Philochoros  meldet,  nach  starken  Verlusten  von  Attika  aus 
die  zum  Theil  nicht  unbedeutenden  Inseln  Lemnos,  Imbros, 
Samothrake  und  Skyros  einnehmen  und  bevölkern  konnten, 
waren  gewiss  in  Athen  in  nicht  unbeträchtlicher  Zahl  ein- 
gewandert. Dort  musste  ihnen  allerdings  ein  geringer  Theil 
der  Stadt,  die  Gegend  zwischen  dem  Platz,  den  nachmals 
das  Herodesodeion  einnahm,  und  dem  Hippolyteion ,  zur 
Wohnung  ausreichen;  aber  der  brauronische  Frauenraub 
beweist,  dass  sie,   als  Auswanderer,  zu  grossem  Theil  ohne 


29)  Vgl.  auch  Plinius  hist.  nat.  7,  56,  194  laterarias  ac  domos 
constituerunt  primi  Euryalua  et  Hyperbius  fratres  Athenis.  antea 
specus  erant  pro  domibus. 


Unger:  Ennealcrunos  und  Pelasgikon.  311 

Familie  gewesen  waren,  und  das  Pelasgikon  sollte  ihnen 
auch  nur  einen  vorläufigen  Aufenthalt,  ein  Unterkommen 
am  Feierabend  bieten,  dessen  Beschränktheit  ihre  Arbeit  zu 
beschleunigen  geeignet  war  und  im  Hinblick  auf  den  aus- 
bedungenen eigenen  Grundbesitz  am  Hymettos  leichter  ertragen 
wurde.  Die  Auswanderung  der  Tyrrhener  aus  Attika  ist 
demnach  sicher  nicht  in  so  harmloser  Weise  vor  sich  ge- 
gangen, wie  Herodots  Gewährsmann  glauben  machen  will; 
vielmehr  sagt  der  Athener  Philochoros  fr.  5  bei  Schol.  Lucian. 
Katapi.  1  ausdrücklich :  nollol  ^ev  äjitolovro  vtio  twv  Id^iq- 
valtov  aXkoi  de  ixcpvyovreg  uirt(xvov  xcci  ^l^ßqov  qmrjoav. 

Auch  in  andern  Punkten  zeigt  sich  die  in  der  Atthis 
des  Philochoros  gegebene  Darstellung  des  Pelasgerhandels, 
obgleich  auch  sie  parteiisch  genug  ist,  weniger  mit  inneren 
Widersprüchen  behaftet  als  die  von  Herodots  Athenern  aus- 
gegangene. Wie  soll  man  letzteren  glauben,  dass  Leute, 
welche  weit  von  der  Stadt  entfernt  am  Hymettos  wohnten, 
es  ermöglichten,  alltäglich  am  Fuss  der  Akropolis30)  sich 
herumzutreiben  oder  zu  verstecken ,  ohne  dass  es  den  dort 
wohnenden  Athenern  aufgefallen  wäre ;  wie  konnten  sie  längere 
Zeit  hindurch  jedes  dort  wasserholende  Mädchen  anfallen31), 
da  doch  ein  Schrei  Rächer  herbeiführen  und  nach  einer 
oder  zwei  solchen  Thaten  Abhülfe  geschafft  sein  musste. 
Ebenso  undenkbar  ist,  dass  sie  den  Anschlag  gegen  die 
Bürgerschaft  selbst  in  der  Zeit  gemacht  haben,  als  sie  bereits 
die  neuen  Wohnsitze  am  Hymettos  inne  hatten.  Von  dort 
aus  hätten  6ie  den  Athenern  nur  mit  Anwendung  offener 
Gewalt  beikommen  können ,  wozu  sie  aber  nach  Herodots 
Schilderung  viel  zu  schwach  waren.  Anders  Philochoros 
a.  a.  0. :    TvQQrjvoi    okiyov    zivd   %qovov    OM^occvteg   ev   zeug 

30)  Die  Entfernung   würde  nicht  viel   geringer  werden ,    wenn 
wir  die  Enneakrunos  mit  der  Kallirrhoi  identificiren  wollten. 

31)  Herodot:    oxtog  Eld-oav  uvxca,  rovg  neXaayotg  vno  vßoiog  te 
xai  ofoycoQiris  ßiao&cd  a<ptag. 


312         Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

idd-^vatg  toyd-rjoav  egaviGTa/AEvoi  ti  7tölei  xal  noXkol  (xev 
ccTtwlovTo  etc.;  er  verlegt  den  Anschlag  in  die  Stadt,  wo 
sie  durch  Trug  und  List  ersetzen  konnten,  was  ihnen  an 
Zahl  abging,  indem  sie  entweder  von  ihrer  Wohnung  am 
Fuss  der  Burg  aus  die  arglosen  Bürger  Nachts  in  ihren 
Häusern  überfielen  oder,  was  noch  wahrscheinlicher,  die  Ge- 
legenheit, welche  ihre  Arbeit  an  der  Burgbefestigung  bot, 
benützten,  um  die  Akropolis  an  sich  zu  bringen.  Da  die 
Befestigung  von  ihnen  vollendet  wurde  und  auch  nach  Philo- 
choros  Darstellung  dem  verrätherischen  Unternehmen  ihre 
Vertreibung  auf  dem  Fusse  folgte,  so  muss  es  von  ihm  in 
die  Zeit  verlegt  worden  sein ,  als  die  Arbeit  auf  der  Burg 
zu  Ende  ging:  sie  konnten  daher  die  nunmehr  befestigte 
Akropolis  ähnlich  als  ein  Bollwerk  gegen  die  Stadt  benützen 
wie  später  Kylon  und  dann  Kleomenes  mit  Isagoras,  oder 
wie  in  Rom  Herdonius  das  Capitol. 

Wenn  Philochoros  auch  den  Frevel  der  Tyrrhener  gegen 
die  Angehörigen  der  Athener  erzählt  hat,  so  Hess  er  ihn, 
ebenso  wie  der  Gewährsmann  des  Herodot,  dem  Anschlag 
gegen  die  Stadt  vorausgehen;  eben  weil  unmittelbar  auf 
diesen  die  Verjagung  der  Frevler  folgte.  Daraus  ist  zu 
schliessen,  dass  er  auch  jene  Schandthaten  in  das  Innere 
der  Stadt  verlegt  hat.  Und  dies  ist  wohl  überhaupt  in  der 
älteren  attischen  Darstellung  der  Schauplatz  derselben  ge- 
wesen, welchen  erst  Herodots  Gewährsmann  aus  besonderen 
Gründen  mit  dem  Orte  ihres  späteren  Aufenthalts  in  Attika 
vertauscht  hat:  denn  erst  in  der  Stadt  gedacht  werden  sie 
begreiflich.  Ihr  dortiger  Wohnsitz,  der  Pelasgerhof,  lag 
neben  dem  Eleusinion  (p.  306),  also  in  nächster  Nähe  der 
nachmals  Enneakrunos  genannten  Quelle,  wo  die  Kinder 
der  Athener  Wasser  holten.  Wie  der  tägliche  Aufenthalt 
auf  der  Burg  die  Barbaren  zu  einem  Anschlag  auf  diese 
und  die  Stadt  verlocken  musste,  so  verführte  sie  diese  Nach- 
barschaft zu   den   schändlichen   Handlungen   gegen  die  An- 


Unger:  Ennealcrunos  und  Pelasgikon.  313 

gehörigen  der  Bürger,  welche  die  Athener  späterer  Zeit  ihnen 
nachsagten. 

Warum  hat  nun  aber  der  Urheber  der  von  Herodot 
überlieferten  Erzählung  den  Schauplatz  jener  angeblichen 
Frevelthaten  aus  der  Stadt  weg  an  den  Hymettos  verlegt? 
Offenbar  desswegen ,  weil  die  in  Folge  derselben  Ver- 
triebenen zuletzt  am  Hymettos  gewohnt  hatten.  Die  Dar- 
stellung nun,  welche  Philochoros  gibt,  weiss  von  einem  Auf- 
enthalt der  Pelasger  in  jener  Gebirgsgegend  nichts  und 
schliesst  ihn  geradezu  aus,  da  nach  ihr  dieselben  mit  dem 
Pelasgikon  auch  ganz  Attika  räumen  mussten.  Auch  die 
herodotische  Version  hat  diesen  Aufenthalt  erst  durch  Inter- 
polation ihrer  Vorlage;  dies  lehren  die  Widersprüche,  welche 
durch  seine  Anerkennung  in  dieselbe  gekommen  sind.  Der 
Interpolator  war  ein  Zeitgenosse  Herodots,  vielleicht  dessen 
Gewährsmann  selbst,  oder  ein  wenig  älterer  Athener:  denn 
seit  der  Peisistratidenherrschaft .  unter  welcher  der  Name 
Enneakrunos  aufkam,  mussten  mehrere  Generationen  ver- 
gehen, ehe  der  frühere  Name  Kallirrhoe  dem  Gedächtniss 
der  Ungelehrten  so  gänzlich  entschwinden  konnte,  wie  in 
dieser  Version  es  der  Fall  ist.  Der  Urheber  derselben  ist 
also  weit  jünger  als  Hekataios,  dessen  Zeitgenossen  Hippias 
und  Hipparchos  waren,  und  aus  diesem  Geschichtschreiber, 
vielleicht  durch  mündliche  Vermittlung  Herodots,  indem 
dieser  seine  athenischen  Bekannten  auf  die  Darstellung  des- 
selben aufmerksam  machte,  stammt  die  Hymettosepisode, 
welche  in  der  Erzählung  der  Athener  bei  Herodot  vorkommt. 

Da  die  Nachricht  von  der  pelasgischen  Ansiedlung  32) 
am  Hymettos  das  Gepräge  geschichtlicher  Wahrheit  an  sich 

32)  Dieselbe  hat  mindestens  einige  Generationen  bestanden, 
nach  dem  „einst"  des  Hekataios  a.  a.  0.  (fxiadop  tov  zeixios  xov 
nf()l  tr^v  äxQonoUv  xot6  iXrjXccftEvov)  zu  schliessen,  wogegen  Philo- 
choros, weil  er  bloss  den  Aufenthalt  in  der  Stadt  anerkennt,  oUyoy 
Xiva  xqovov  oix^awtfg  sagt, 


314        Sitzung  der  pliilos.-phüol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

trägt,  so  muss  auch  die  Erzählung  des  Philochoros,  obgleich 
sie  weniger  verfälscht  ist,  als  tendentiöse  Parteidarstellang 
angesehen  werden,  darauf  berechnet,  die  ungerechte  Ver- 
treibung der  Pelasger  zu  beschönigen.  Die  Thatsache,  dass 
der  Bau  der  Burgmauern  die  tyrrhenischen  Pelasger  Monate 
lang  den  ganzen  Tag  über  auf  der  Akropolis  beschäftigt 
hatte,  brachte  auf  den  Gedanken,  ihnen  einen  ähnlichen  An- 
schlag auf  die  athenische  Stadtfeste  zuzuschreiben,  wie  ihn 
seinerzeit  Kylon  und  dann  Isagoras  mit  Kleomenes,  noch 
dazu  unter  schwierigeren  Umständen,  wirklich  ausgeführt 
haben.  Ebenso  legte  der  Umstand,  dass  die  Tyrrhener 
während  des  Mauerbaus  an  den  einzigen  Süsswasserbrunnen 
der  Stadt  gewohnt  hatten,  in  einer  Zeit  da  das  Geschäft 
des  Wasserholens  noch  den  Kindern  oblag,  die  Vermuthung 
nahe,  dass  die  Pelasger  die  Gelegenheit  benützt  hatten,  um 
ihren  Lüsten  an  diesen  zu  fröhnen.  Auf  diese  zweite  den 
Räubern  der  athenischen  Frauen  in  Brauron  gegenüber  von 
selbst  sich  aufdrängende  Verdächtigung  war  man  vielleicht 
schon  gekommen,  ehe  die  Beschwerden  der  ungerechter 
Weise  Verjagten  es  wünschenswerth  erscheinen  Hessen,  mit 
Gegenbeschwerden  zu  antworten. 

Der  Fluch  des  Pelasgerhofs. 
Auf  dem  Pelasgikon  ruhte    ein  Fluch,  welcher  Privaten 
die  Benützung   dieses  Grundstücks   verbot:    es  war  verpönt, 
dasselbe  zu  bewohnen  oder  auszubeuten,  Thukyd.  2,  15  hta- 

QCLTOV    TS    TJV    lA-Yj    öIkELV    Kai   TL   Kai  ÜV&IKOV    IxaVTElOV    CCKQOTB- 

XevTiov  tolovöb  diexwlve,  Myov  wg  To  IleXaoyiKdv  dqyov 
afxeivov;  Pollux  8,  101  7taqeq>vlaTTov  (gewisse  Aufseher, 
deren  Titel  verloren  ist),  /trj  tiq  evrog  tov  nelaoyiKOv  xetQet 
T  xaTcc  TtXiov  OQvaoeij  Kai  T(p  dqyovTL  7iaqiöooav  to  de 
Tiixrjfia  rtv  TQeig  öqa%fxal  Kai  artXovv  to  ßXdßog.  Die  Ursache 
wird  nicht  angegeben;  jedenfalls  ist  die  Erklärung  neuerer 
Forscher   unzureichend,    man   habe   den   Platz  von  Häusern 


ünger:  Ennedkrunos  und  Pelasgihon.  315 

rein  halten  wollen,  damit  diese  nicht  von  Belagerern  der 
Burg  benützt  werden  könnten.  Das  Verbot  des  Mähens  und 
Grabens33)  findet  dabei  keine  Erklärung  und  consequenter 
Weise  hätte  man  auch  die  übrige  Umgebung  der  Burg  in 
den  Bereich  dieses  Verbotes  ziehen  müssen.  Jetzt  nachdem 
die  Lage  des  Pelasgerhofes  neben  dem  Stadtbrunnen  erkannt 
ist,  darf  vermuthet  werden ,  dass  eben  sie  den  Anlass  dazu 
gegeben  hat.  So  lange  den  Kindern  der  Athener  das  Wasser- 
holen oblag,  musste  dafür  gesorgt  werden,  dass  diese  vor 
schamlosen  Angriffen  geschützt  waren;  solchen  beugte  man 
vor,  indem  Erwachsenen  jeder  Vorwand  zu  einem  längeren 
Aufenthalt  in  der  Nähe  der  Quelle  abgeschnitten  wurde. 
Dass  solche  Vergehungen  wirklich  vorgekommen  waren,  ist 
leicht  glaublich  und  sehr  natürlich,  dass  man  sie  lieber 
Fremden  als  Einheimischen  schuld  gab;  am  nächsten  lag  es 
an  die  Frauenräuber  zu  denken ,  die  einst  hier  gehaust 
hatten  und  deren  Name  durch  jenen  Fluch  mitgetroffen 
war.  Dadurch  dass  man  auch  die  Götter  zu  Hülfe  genommen 
hatte,  blieb  dem  Platze  der  Bann,  auch  nachdem  durch  das 
Aufkommen  der  Sclavenwirthschaft  das  Verbot  überflüssig 
geworden  war. 

Durch  seine  Einsamkeit  bildete  der  Pelasgerhof  auch 
eine  passende  Nachbarschaft  für  das  Eleusinion,  welches 
sich  über  ihm  und  dem  Brunnen  erhob.  Denn  für  die  An- 
lage eines  Heiligthums  der  Demeter  pflegte  eine  abgelegene, 
stille  Gegend  ausgesucht  zu  werden,  Vitruv.  1,  7  item  Cereri 
(area  distribuatur)  extra  urbem,  loco  quo  non  semper  homines 
nisi  per  sacrificium  necesse  habeant  adire ;  cum  religione 
caste  sanctisque  moribus  is  locus  debet  tueri.  So  befand 
sich  das  andere  Eleusinion,  in  welchem  die  kleinen  Mysterien 


33)  Bloss  diese  zwei  Arbeiten  wurden  durch  Wächter  verhütet; 
Anstalten  zur  Ansiedlung  und  zum  Ackerbau  würden  zu  augenfällig 
gewesen  sein,  als  dass  man  gegen  sie  besonderer  Aufseher  bedurft 
hätte. 


316        Sitzung  der  phüos.-philol  Gasse  vom  2.  Mai  1874. 

abgehalten  wurden,  in  der  Vorstadt  Agrai  am  Uissos;  und 
in  der  Stadt  lag  oberhalb  des  Eleusinion  am  Burghügel  das 
Heiligthum  der  Ge  Kurotrophos  und  Demeter  Chloe.  An 
der  andern  Seite  des  Brunnens  stand  seit  Sullas  Zeiten  das 
Odeion,  welches  später  Herodes  erweiterte :  Pausanias  kommt 
von  den  Bildsäulen  der  Tyrannenmörder  her  zuerst  zum 
Odeion,  dann  zur  Enneakrunos  und  den  über  ihr  befindlichen 
eleusinischen  Tempeln.  Was  vorher  an  der  Stätte  des 
Odeion  gestanden  hatte,  ist  nicht  bekannt,  wahrscheinlich 
auch  ein  öffentliches  Gebäude;  Curtius  Sieben  Karten,  Text 
p.  62  bemerkt  mit  Tuckermann  Das  Odeion  des  Herodes 
Atticus  p.  2,  dass  der  ganzen  Anlage  desselben  zufolge  hier 
seit  alten  Zeiten  ein  theaterähnlicher  Versammlungsort  ge- 
wesen ist.  Wenn  er  aber  die  Heliaia  dahin  verlegt,  so  ist 
zu  erinnern,  dass  nach  Pausanias  1,  28,  8  to  de  fieyiorov 
y.cci  eg  o  TiXeiOToi  ovvlaoiv  cHXialav  xocXovgiv  zu  dessen  Zeit 
die  Heliaia  noch  bestand,  also  nicht  an  der  Stelle  abgehalten 
wurde,  wo  sich  damals  schon  ein  Odeion  befand. 

2.  Die  Pelasger feste. 
Während  das  Pelasgikon ,  welches  einst  den  Wohnsitz 
der  tyrrhenischen  Pelasger  gebildet  hatte,  der  Unterstadt, 
dem  Asty,  angehörte,  befand  sich  die  Pelasgermauer  auf  der 
Höhe  des  Burgfelsens:  Schol.  Venet.  zu  Aristoph.  Av.  832 
^^vrjoi  to  JJelaQyixdv  xelyog  ev  rfj  <xy,qotzoXei;  Photius 
Lex.  407,  10  und  Etymol.  M.  659,  12  IleXaqytyov  to  vtco 
x&v  TvQQrjvwv  xaTaGKEvao&ev  tfg  aKQ07r6Xecog  relyog;  Herodot 
5,  90  exzrjGccTo  ö  KXeof.ievr]g  e%  vrjg  ^4&rjvalcov  axqoTtoXiog 
?ovg  XQrjG(.iovgj  xovg  €kttjvto  (.tev  TtQoreQov  ol  IleiGiGTQaTidai, 
e^eXavv6(xevoi  de  eXircov  ev  ry  iQ(p,  vgl.  mit  5,  64  KXeo^er^g 
ercoXi6qy.ee  rovg  Tvqavvovg  a7teqyiAevovg  ev  reo  TleXaGyiv^ 
Tel%ei.  Durch  diese  und  andere  Stellen  wird  die  von  Wachs- 
muth  Rhein.  Mus.  24,  47  aufgestellte  Vermuthung  widerlegt, 
die   Pelasgermauer    sei    ein    um    den   Nordwestabhang   der 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  317 

Burg  geführtes  Vorwerk  gewesen,  welches  den  Aufgang  zur 
Akropolis  und  die  an  jenem  Abhang  befindliche  Quelle  Klep- 
sydra  gedeckt  habe.  Ob  dieser  Zweck  durch  ein  solches 
Fort  erreicht  worden  wäre,  lassen  wir  dahin  gestellt,  wollen 
auch  nicht  untersuchen,  ob  es  dem  Geiste  jener  Zeit  nicht 
entsprechender  war,  die  Burghöhe  selbst  mit  einer  Ring- 
mauer zu  krönen ;  sicher  ist  aber,  dass  diese  auf  eine  Ver- 
einigung der  Pelasgermauer  und  des  Pelasgerhofes  hinzielende 
Aufstellung  dem  Sinne  der  über  beide  0  ertlichkeiten  vor- 
handenen Zeugnisse  widerstrebt.  Die  den  Pelasgerhof  be- 
treffenden sind  schon  oben  mitgetheilt  und  behandelt;  von 
der  Pelasgermauer  sagen  aber  Hekataios,  Kleidemos  und 
Myrsilos  (die  Stellen  s.  u.)  übereinstimmend,  dass  dieselbe 
um  die  Akropolis  herumgezogen  war,  und  Pausanias  bemerkt 
ausdrücklich,  dass  die  Akropolismauer  seiner  Zeit  mit  Aus- 
nahme des  von  Kimon  herrührenden  Theiles  von  den  Pelas- 
gern  aufgeführt  worden  sei.  Die  Confusion,  welche  Wachs- 
muth  der  Angabe  des  Pausanias  ohne  Anführung  eines 
Beweises  vorwirft,  können  wir  in  der  Stelle  (auf  welche  wir 
unten  zu  sprechen  kommen)  nicht  entdecken  und  die  Aus- 
drücke relyog  Tteql  %rp  ay.qo7toXtv  ilavvetv,  rrjv  dnqonoXiv 
TTEQißaXkeiv,  Teiyog  Tteql  tr^v  axQOTtohv  n€QißaXlecv}  welche 
jene  Historiker  gebrauchen,  lassen  keine  andere  Deutung  zu 
als  auf  eine  Umziehung  der  ganzen  Akropolis  oder  des 
grössten  Theils  derselben,  nicht  bloss  einer  einzigen  Ecke; 
dies  lehrt  sowohl  der  Sprachgebrauch84)  als  der  Begriff  der 


34)  Wachsmuth  beruft  sich  auf  die  Bemerkung  von  Vischer,  Er- 
innerungen und  Eindrücke  aus  Griechenland  p.  112,  dass  die  Aus- 
drücke 7ifQCT£ixi£tiv,  nsQiTetxuTpcc,  xMog  bei  der  Belagerung  von 
Syrakus  durch  die  Athener  von  Plutarch  und  selbst  dem  genaueren 
Thukydides  gebraucht  werden,  obgleich  die  Mauern  nur  eine  Seite 
der  Stadt  einschlössen.  Dort  wird  aber  7teQU€ix^ety  von  einer 
Belagerung,  nicht  von  einer  Befestigung  gebraucht,  und  zwar  der 
einer  Stadt,  welche  zu  Lande  nur  auf  einer,  der  langen  Westseite, 


318         Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Partikel  7teqly   welche   dem  Umgebenden    eine  weitere  Aus- 
dehnung zuschreibt  als  dem  Umgebenen. 

Nach  einer  durch  Leake  beliebt  gewordenen  Ansicht 
wäre  von  den  Pelasgern  der  Aufgang  zur  Burg  vom  Fuss 
bis  zur  Höhe  mittelst  einer  Doppelmauer  befestigt  worden, 
welche  unten  am  Westabhang  von  Nord  nach  Süd  hinlief, 
dann  in  mehrfachen  Windungen  emporstieg  und  an  allen 
Wendestellen  mit  Thoren  versehen  war.  Dieser  Thore  seien 
im  Ganzen  neun  gewesen,  daher  das  Werk  auch  Enneapylon 
geheissen  habe.  Die  Höhe  selbst  wird  entweder  unbefestigt 
gedacht,  indem  ihr  Schutz  den  steil  abfallenden  Wänden 
überlassen  geblieben  sei,  oder  es  wird,  und  dies  ist  die  ver- 
breitetere  Auffassung,  auch  deren  Ummauerung  den  Pelasgern 


angreifbar,  bei  einer  Umschanzung  dieser  aber  durch  einen  zur  See 
mächtigen  Feind  vollständig  eingeschlossen  war.  Immerhin  wäre 
die  Absperrung  der  Landseite  durch  eine  ihr  parallel  laufende  Be- 
lagerungslinie nur  ein  anoteixtauos  gewesen;  aber  um  diesen  zu 
hindern,  hatten  die  Syrakusaner  dort  ein  die  Vorstadt  Teinenites 
einschliessendes  Werk  (ngoreixiapcc)  nach  Westen  zu  vorgeschoben 
(Thukyd.  6,  75.  100),  welches  die  Athener  nöthigte,  ihre  Linien  in 
einem  Bogen  oder  Winkel  um  dasselbe  herumzuführen,  anstatt  sie 
vom  Nordufer  am  Trogilos  bis  zum  Südende  am  grossen  Hafen  in 
gerader  Richtung  zu  ziehen.  Von  der  so  entstandenen  Umfassungs- 
linie, an  deren  westlicher  Ausbiegung  oder  Ecke  sich  ein  kreis- 
förmiges Castell,  der  xvx"kog  des  Thukydides,  flankirt  von  einem  noch 
weiter  binnenwärts  gelegenen  Aussenwerk  am  Labdalon ,  befand, 
konnten  mit  gutem  Recht  die  Ausdrücke  ntQizeixia[ict,  rtegiTei/ifffiog, 
7ieQiT€i/tatg  (Thudyd.  6,  101.7,  11.  6,  100)  gebraucht  werden  und  wenn 
Plutarch  (Nik.  17)  oXlyat  XQ°V(?  ™*(>t£T*ixt(je  -vqccxovoccs  sagt,  so  ist 
er,  wie  die  folgenden  Worte  noXtv  W^^wy  ovx  ilätrova  övaeQyozeQccv 
6h  xla^(3iv  uvtofxctkiccis  xcci  üakctaari  yfitvuacr^  xal  ncc^axei^Bvoig  eteai 
tecxos  xvxXto  negc  avtr^v  xoaovxov ayccystv beweisen,  ebenso  wenig 
von  der  Ansicht  ausgegangen,  dass  die  Einschliessung  nur  einseitig, 
also  eigentlich  gar  keine  Einschliessung  gewesen  sei,  als  Diodor, 
welcher  13,7  ausdrücklich  e£  u^icpoxkqtav  tu>v  (AfQair  Zvqaxovaas  ino- 
faoQXovv  sagt. 


Unger:  Ennedkrunos  und  Pelasgikon.  319 

zugeschrieben.     Diese  ganze  Aufstellung  ist  aus  inneren  und 
äusseren  Gründen  zu  verwerfen. 

Was  zur  Entstehung  dieser  Ansicht  Anlass  gegeben  hat, 
ist  lediglich  eine  corrupte,  von  anderen  längst  verbesserte 
Stelle,  welche  zu  bezeugen  schien,  dass  die  neun  Thore  der 
Pelasgermauer  in  die  Einsattlung  zwischen  Areopag  und 
Akropolis,  also  zum  Beginn  des  Burgaufgangs  hinabgereicht 
hätten.  Polemon  fr.  49  bei  Schol.  Soph.  Oed.  Col.  489  sagt 
von  der  Procession,  welche  den  Eumeniden  zu  Ehren  ge- 
halten wurde:  trjg  de  7to\mrfc  tavtrjg  cHövxiöcci,  o  örj  yevog 
eozl  Traget  zag  2efivdg  &eäg,  Kai  tiy  yyejuovlav  e%ei  v.ai 
TtQO&vovtai  nqo  trjg  dvoiag  xqlov  cHov%ti>y  ov  to  Uqov  eoti 
Ttaqa  to  KvXwveiov*5)  entog  twv  'Evvea  tzvXwv.  Aus  den 
Worten  itaqa  tag  Sepväg  in  Verbindung  mit  der  Nachricht, 
dass  die  Ermordung  der  Anhänger  Kylons,  nach  Herodot 
auch  des  Kylon  selbst,  in  der  Gegend  des  Eumenidenheilig- 
thums  am  Areopag  stattgefunden  hat,  ist  unter  allgemeiner 
Zustimmung86)  von  0.  Müller  Eumeniden  p.  179,  zur  Uebers. 
v.  Leakes  Topogr.  1.  Ausg.  p.  455  und  von  Leake  2.  Ausg. 
Uebers.  p.  257  der  Schluss  gezogen  worden,  dass  auch  das 
Denkmal  des  Kylon,  in  dessen  Nähe  nach  Polemon  die  Neun 
Thore  standen,  zwischen  Areopag  und  Akropolis  zu  finden 
war.  Nehmen  wir  an,  dass  die  Worte  cHov%ldai  o  dr]  yevog 
eoti  Ttaqa  tag  2e[xvag  fehlerlos  seien,  so  müssen  sie  eine 
Ortsbestimmung  enthalten;  dann  fragt  sich,  ob  sie  sich  auf 
denselben  Platz  beziehen,  wie  die  weiterhin  folgende  Be- 
merkung, dass  das  Heiligthum  des  Hesychos  neben  dem 
Kyloneion  ausserhalb  der  Neun  Thore  zu  finden  sei.  Diese 
Frage  ist  in  bejahendem  Sinne  beantwortet,  dabei  aber  un- 
erklärt  gelassen  worden,   wie  es  kommt,  dass  ein  und  die- 


35)  Verbesserung  0.  Müllers  statt  KvScSviov. 
86)  Z.  B.   von  Bursian  Geogr.  1,  284.    Wachsmuth  Rhein.  Mus. 
24,  48.  Curtius  Sieben  Karten  p.  21. 


320         Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  i?ow  2.  Mai  1874. 

selbe  Oertlichkeit  gleich  nachher  noch  einmal  topographisch 
bestimmt  wird.  Dieser  auffallende  Umstand  und  die  ver- 
schiedene Bezeichnung  sowohl  des  anscheinend  zweimal  be- 
handelten Gegenstandes  (Hov^iöai  o  yivog  und  'Hovyw  ov 
to  \eqov)  als  der  Nachbarschaft  (naqa.  rag  2e[Avag  und  Tcaqa 
to  KvXwveiov)  würden  vielmehr,  wenn  der  Text  in  Ordnung 
wäre,  darauf  hinweisen,  dass  die  zwei  Stellen  nicht  von 
einem  und  demselben  Punkt  handeln  und  würde  schon  da- 
durch die  Ansetzung  der  Neun  Thore  in  der  Nähe  des 
Eumenidenheiligthums  hinfällig  werden;  es  sind  aber  auch 
sichere  Anzeichen  vorhanden,  dass  an  der  ersten  von  beiden 
Stellen  keine  topographische  Mittheilung  beabsichtigt  ist. 
Dass  Gottheiten  oft  statt  ihres  Heiligthums  genannt  werden, 
ist  bekannt  und  insofern  an  der  örtlichen  Auffassung  von 
rtaqa.  rag  2e[iväg  nichts  auszusetzen;  aber  unerhört  und 
widersinnig  wäre  es,  wenn  Polemon  die  Lage  des  Altars 
einer  mythischen  Persönlichkeit  wie  Hesychos  durch  den 
Ausdruck:  „Die  Nachkommen  des  Hesychos  sind  neben  dem 
Eumenidenheiligthum"  bezeichnet  hätte.  Und  doch  muss 
jeder,  der  auf  Grund  dieses  Fragments  das  Kyloneion  und 
die  Neun  Thore  zwischen  Areopag  und  Akropolis  ansetzt, 
diese  Stelle  nothwendig  so  erklären.  Es  lehrt  aber  die 
bloss  persönliche,  nie  örtliche,  Bedeutung  des  Wortes  yivog 
und  die  Partikel  di,  welche  dem  Relativsatz  die  Kraft  ver- 
leiht ,  etwas  Sicheres  und  in  weiteren  Kreisen  [Bekanntes 
hervorzuheben,  dass  hier  nicht  von  dem  Platze  der  Hesy- 
chiden,  geschweige  denn  dem  des  Hesychosaltars,  sondern 
von  dem  Dienste  dieses  bekannten  Geschlechtes  die  Rede 
ist  und  kann  hienach  die  Praeposition  7tctqa  nicht  von  Po- 
lemon herrühren.  Desswegen  hat  schon  im  J.  1822  Bern- 
hardy  Eratosthenica  p.  4  Tteql  xag  2e(,iväg  &eäg  verlangt 
und  Dindorf  Schol.  Sophocl.  2,  53  erkennt  die  Richtigkeit 
seiner  Verbesserung  an.  Damit  entfällt  das  einzige  Zeug- 
niss,  welches  für  das  Hinabreichen  der  Pelasgerthore  bis  an 


Ünger:  Enneakrunos  und  PelasgiJcon.  321 

den  Areopag  und  für  die  Lage  des  Kylondenkmals37)  da- 
selbst zu  sprechen  schien  ;  was  es  in  Wirklichkeit  zur  Be- 
stimmung derselben  beiträgt,  davon  wird  unten  die  Rede  sein. 

Nicht  besser  begründet  als  die  Annahme  der  Existenz 
dieser  Thorgasse  oder  Aussenmauer  ist  die  Bezeichnung, 
welche  man  ihr  gegeben  hat.  Als  Eigenname  ist  das  Wort 
Enneapylon  gar  nicht  nachweisbar;  an  der  einzigen  Stelle, 
wo  es  mit  Bezug  auf  die  pelasgische  Befestigung  vorkommt, 
ist  es  als  Appellativ  gebraucht.  Denn  Kleidemos  fr.  22  bei 
Bekker  Anecd.  419,  28  r.ai  rjrtidiKov  Trtv  aKoortofav  Tceqit- 
ßaXXov  de  ewearcvlov  ro  Ilelaoyixöv  besagt  nur,  dass  die 
Pelasger  die  Burghöhe  geebnet  und  mit  der  nach  ihnen 
benannten  neunthorigen  Ringmauer  umgeben  haben.  Der 
Artikel  tö  deutet  auf  die  Bekanntheit  des  Namens,  den  sie 
führte;  evveartvXov  ist  Adjectiv,  und  proleptisch  construirt: 
sie  führten  die  bekannte  Pelasgermauer  herum,  so  dass  die- 
selbe neun  Thoro  bekam,  als  eine  neunthorige. 

Auch  aus  inneren  Gründen  ist  die  Anlage  eines  solchen 
Werkes  nicht  wahrscheinlich.  Der  Zweck,  welchen  sie  ver- 
meintlich haben  sollte,  die  schwache  Aufgangsseite  der  Burg 
zu  schützen  und  durch  ihre  vielen  Windungen  den  Angreifer 
zur  Biossstellung  seiner  unbeschildeten  Seite  zu  nöthigen, 
würde  schwerlich  erreicht  worden  sein,  da  der  Feind,  statt 
den  Aufgang  zu  stürmen,  es  viel  leichter  hatte,  von  der 
Höhe  des  Areopag  in  die  Mauergasse  zu  schiessen  und  diese 
dadurch  von  Vertheidigern  zu  säubern.  Gegen  die  Annahme 
einer  blossen  Befestigung  des  Aufgangs  insbesondere  spricht 


37)  Herodots  Meldung  5,  71,  dass  auch  Kylon  in  jenem  Blutbad 
den  Tod  gefunden,  wird  von  Thukydides  1,126  durch  die  Angabe, 
dass  er  und  sein  Bruder  entkommen  seien,  wohl  wie  vieles  andere, 
z.  B.  die  anachronistische  Anwendung  des  Namens  Enneakrunos,  ge- 
flissentlich corrigirt.  Ben  Irrthum,  welchen  Herodot  gewiss  mit 
Vielen  theilte,  verschuldete  der  Ausdruck  Kvhoyaov  ciyog,  den  als 
eine  an  Kylon  begangene  Blutschuld  aufzufassen  sehr  nahe  lag. 


322  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

ausserdem  noch,  was  wir  oben  p.  317  gegen  die  ähnliche 
eines  Vorwerkes  geltend  gemacht  haben :  die  Unwahrschein- 
lichkeit,  dass  man  in  jenen  alten  Zeiten  den  Schutz  eines 
wichtigen  Platzes  in  blossen  Aussenwerken  gesucLt  habe; 
auch  ist  es  undenkbar,  dass  Hippias  und  seine  Partei  mit 
Familien,  Gesinde,  Söldnern  und  Voirathen  aller  Art  die 
Belagerung,  welche  sie  nach  Herodot  5,65  lange  Zeit  hätten 
aushalten  können,  in  einer  solchen  Gasse  bestanden  haben. 
Gegen  die  andere  Meinung,  welche  die  Burg  sammt  dem 
Aufgang  von  den  Pelasgern  befestigt  werden  lässt,  zeugen 
die  Stellen,  welche  ausdrücklich  die  Pelasgermauer  auf  einen 
Theil  der  Akropolis  beschränken.  Dieser  Theil  konnte  näm- 
lich, wie  sich  bald  zeigen  wird,  nur  der  östliche  sein. 

Endlich  besitzen  wir  auch  noch  ein  schlagendes  Zeug- 
niss  dafür,  dass  in  der  Zeit,  als  die  Akropolis  noch  keine 
andere  als  die  pelasgische  Befestigung  besass,  der  Aufgang 
ausserhalb  derselben  gewesen  ist:  dies  liefert,  wie  Bötti eher 
Philolog.  Suppl.  3,  308  erkannt  hat ,  die  Geschichte  der 
Belagerung,  welche  die  Akropolis  im  Jahre  480  bestanden 
hat.  Als  gewöhnlicher  Verschluss  des  Burgeingangs  diente 
damals  ein  Heckenzaun  (qcc%6q)  ,  welcher  beim  Herannahen 
des  Xerxes  durch  eine  Barrikade  von  Brettern,  Pfählen  und 
anderem  Holzwerk  verrammelt  wurde ;  dadurch  glaubte  man 
die  vom  Orakel  genannte  hölzerne  Mauer  hergestellt  zu 
haben,  vgl.  Herodot  7,  142  rt  aKQ07tohg  ro  TiaXai  xeov  ^A^r\- 
veo)v  Qrj%cp  e7T£(pQaxT0'  ol  (xiv  örj  xara  tbv  (pgayfidv  ovve- 
ßallovTO  tovzo  zö  ^vXivov  ztl%og  elvai,  ol  (T  av  eleyov  zag 
veag  Grjfialveiv  zov  dsov  mit  8,  51  cpqa^dfxevOL  ztjv  dy.q6jtoXiv 
d-vQfjol  (mit  Dielen)  ze  x,al  ^vXolöl  rjhuvvovzo  zovg  Irtibvzag, 
öoxeovzeg  avzo  dr)  zovzo  elvcci  zo  xQr^vyszov  xazä  zö  fxav- 
ziqiov   zcci   ov  Tag  vrjag**).      Kein    Wort   davon,    dass    die 


38)  Vgl.  Pausan.   1,  18,  2    xr^v    uXQonokiv    '£vlois  xccl    aravQoTs 
änoreixiaccvTae, 


Unger:  Knneakrunos  und  Pelasgiko?i.  323 

Perser  zuerst  den  Aufgang  selbst  hätten  stürmen  oder  sonst 
wie  unschädlich  machen  müssen;  sie  besetzten  den  Areopag 
und  beschossen  von  da  aus  nicht  etwa  das  angebliche 
Enneapylon,  sondern  die  oben  befindliche  Verrammlung, 
und  als  diese  durch  ihre  Brandpfeile  zerstört  war,  rückten 
sie  hinauf  gegen  die  hinter  dem  verbrannten  Heckenzaun 
befindlichen  Thore.  Der  Aufgang  selbst  bot  also  kein 
Hinderniss;  dass  die  Angreifer  gleichwohl  lange  in  beschei- 
dener Ferne  gehalten  wurden,  bewirkten  die  Belagerten 
hauptsächlich  durch  Felsenstücke,  welche  sie  hinabrollten, 
Herod.  8,  52  rov  cpQccynarog  TCQodedwKoxog  dixvv6(xevoi  äXlcc 
%t  avTs^xccveovro  Kai  örj  Kai  tzqooiovtcqv  twv  ßaqßaquyv 
TTQog  tag  TtvXag  6Xoixq6%ovg  artieoav. 

Aus  der  ganzen  Erzählung  Herodots  von  dieser  Be- 
lagerung geht  hervor,  dass  die,  wie  wir  aus  anderen  Nach- 
richten wissen,  von  den  Pelasgern  aufgeführte  Befestigung 
der  Akropolis  sich  bloss  auf  deren  Höhe  befand  und,  wie 
auch  die  p.  316  und  322  erwähnte  Belagerung  des  J.  510 
beweist,  den  Charakter  einer  vollständigen,  abgeschlossenen 
Feste  an  sich  trug,  von  der  es  sich  nur  fragen  kann,  ob  sie 
denselben  Umfang  hatte  wie  die  der  nachpersischeu  Zeiten. 
Das  obere  Pelasgikon  war  nach  Kleidemos,  dem  Zeitgenossen 
Piatons,  eine  die  Burg  vertheidigende  Ringmauer  mit  neun 
Thoren;  in  demselben  Sinne  sagt  Hekataios  bei  Herod.  6,  137 
Trjv  xwqriv  ttjv  ocpiotv  e'dooav  olwoai  fMG&öv  tov  tel%eog 
tov  7t sql  xrtv  äxQOTtollv  kote  zhjXaixtvov  und  zur  Zeit  der 
ersten  Ptolemaier  (Müller  Fr.  hist.  gr.  4,  455)  Myrsilos  von 
Methymna  bei  Dion^s.  Hai.  ant.  Rom.  1,  29:  xolg  *Ad*r]vcdoig 
zo  Tei%og  tÖ  rtegl  rrv  ay.Q07toXiv  xovxovg  rteQißaXelv.  Die 
Art,  wie  diese  drei  Geschichtschreiber  sich  ausdrücken,  weist 
entschieden  darauf  hin,  dass  sie  sich  die  Pelasgermauer  als 
eine  vollständige  Befestigung  des  Burghügels  gedacht  haben ; 
dass  sie  in  der  That  eine  solche  gewesen  ist,  lehrt  der  Um- 
stand, dass  die  Akropolis  vor  Kimons  Zeit,  als  sie  nur  jene 
[1874,  3.  Phil.  hist.  Cl.]  22 


324        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Pelasgermauer  besass ,  nachweislich  vier  Belagerungen  aus- 
gehalten hat,  von  deren  zweiter  (510)  und  vierter  (480)  aus- 
drücklich angegeben  wird,  dass  die  Belagerten  hinter  der 
vorhandenen  Burgmauer  Schutz  fanden;  bei  jener  wird  die- 
selbe geradezu  als  die  „Pelasgermauer"  bezeichnet. 

Man  könnte  mit  Leake  Top.  p.  225  glauben,  diese  sei 
nichts  anderes  als  die  im  Wesentlichen  noch  vorhandene 
Burgmauer  der  historischen  Zeit  gewesen ,  welche  Kimon 
nur  ausgebessert  habe,  und  dem  entsprechend  fasst  Curtius 
das  Pelasgikon ,  welches  von  der  Peplostriere  des  Herodes 
Atticus  auf  ihrem  Umzüge  berührt  wurde,  als  die  Akropolis 
selbst.  Schon  oben  p.  293  ist  aber  mit  Wachsmuth  hiegegen 
bemerkt  worden,  dass  der  Sprachgebrauch  das  nicht  erlaubt. 
Nirgends  findet  sich  TleXaGyiKöv  gleich  itoXig  und  KeAQOfcla  als 
Synonym  von  dy.Q07toXig ;  ebenso  wenig  wird  von  den  Gelehrten 
des  Alterthums  das  Pelasgikon  auf  die  Akropolis  gedeutet. 
Wie  weit  man  davon  entfernt  war,  lehrt  z.  B.  Hesychios 
IlelccGyMOV'  xeiylov  omco  sv  ^A$rp>aig  xaXov/xevov  TvQQrjvcov 
xTioccvTcov.  Die  drei  Berichte  von  der  Belagerung  des  Hippias 
halten,  bei  aller  sonstigen  Unabhängigkeit  von  einander39), 
doch  gleicherweise  an  der  Bezeichnung  Pelasgermauer  fest: 
Herod.  5,  64  KXeo}.dvrjg  eTtoXioqnei  rovg  Tvqdvvovgj  drceqy- 
ixivovg  ev  toj  neXaoyixcfi  rely/i  (vgl.  5,  90) ;  Aristoteles  b. 
Schol.  Aristoph.  Lysistr.  1153  KXeoj,uvrjg  xov  Ql7t7tiav  ovve- 
y,XeiG€v  elg  rö  IleXccGyixdv  iüypg\  Parische  Chronik  ep.  45 
-A&r]vaioi  s^avsGrrjGav  rovg  neiGiGTQazldag  ex  %ov  IlsXaGyrAOv 
rel%ovg.  Diese  Uebereinstimmung  ist  ein  Anzeichen,  dass 
das  Pelasgerwerk  von  der  Burgbefestigung  späterer  Zeit 
merklich  verschieden  gewesen  sein  muss. 

Es  umfasste    nur    einen,    allerdings  sehr  grossen,  Theil 

39)  Die  Chronik  bezeichnet  das  athenische  Volk,  die  zwei  andern 
richtiger  den  Spartanerkönig  als  Belagerer  und  Sieger;  von  dem 
Anlass,  welcher  den  Tyrannen  zur  Ergebung  nöthigte,  sagtHerodot: 
vnextid-Efxfvot  e£u>  trjg  xwQtjs  oi  naiSsg  rwV  IJeiaiaTQCcTeiSiaty  ijXiüactv, 
dagegen  Aristoteles:   ot  nuld&g  xwv  xvQiivvwp  £q~i6vztg  ^"kuioav. 


Ungcr:  JEnnedkrunos  und  Pelasgikon.  325 

der  Akropolis.  Ausdrücklich  bezeugt  das,  wie  Wachsmuth 
Rhein.  Mus.  24,  50  bemerkt ,  Aristophanes  Av.  832  rig  dal 
xa&s&c  rrjg  TioXetog  zo  IleXaoyixdv ;  denn  ixoXewg  ist  hier, 
wie  der  Zusammenhang  beweist  und  von  alten  (oben  p.  316) 
und  neueren  Erklärern  anerkannt  wird,  mit  dxQOTtoXecog 
gleichbedeutend.  Wie  hier  der  ummauerte  Raum,  so  wird 
von  Pausanias  1,  28,  3  die  Mauer  als  ein  Tiieil  des  den 
späteren  Zeiten  bekannten  Ganzen  bezeichnet:  Trt  dxQOicoXei 
jiXrp  ogov  Kl/j,cov  wxoöo/xrjosv  avTrjg  6  MiXtmxöov  TtEQißaXelv 
zo  Xotnov  Xiyziai  üsXaoyovg.  Den  Antheil  Kimons  an  der 
Befestigung  auf  Ausbesserung  oder  Wiederherstellung  eines 
durch  die  Perser  beschädigten  Stückes  zu  beschränken,  ver- 
bieten die  Ausdrücke  %b  Xoucov  und  cu-nodo^irjoev  (statt  dessen 
dann  ävtaxodoiirjoev  gesagt  sein  müsste);  andrerseits  lehrt 
TtXiy,  dass  der  grössere  Theil  der  Akropolisuiauer  von  den 
Pelasgern  herrührte. 

Begrenzung  der  Pelasger feste. 
Wenn  es  richtig  wäre,  was  Plutarch  im  Leben  des 
Kimon  c.  13  zu  sagen  scheint,  dass  dieser  die  Südmauer 
der  Akropolis  gebaut  habe,  so  müsste  man  entweder  an- 
nehmen, dass  von  den  Pelasgern  die  Südseite  der  Burg  un- 
befestigt gelassen  worden  war,  oder  dass  die  südliche  Linie 
ihrer  Befestigung  in  ziemlicher  Entfernung  vom  Rande  sich 
durch  den  inneren  Raum  der  Hochfläche  hingezogen  hatte. 
Beides  ist  höchst  unwahrscheinlich,  ja  undenkbar:  jenes, 
weil  das  Pelasgikon  dann  kein  abgeschlossener  Bau  gewesen 
wäre;  dieses  aber,  weil  es  verkehrt  gewesen  sein  würde, 
zwischen  Mauer  und  Abhang  einen  breiten  Raum  zu  lassen, 
welcher  vom  Feinde  leicht  besetzt  und  gegen  die  Feste  be- 
nützt werden  konnte,  dem  Vertheidiger  aber  nichts  nützte 
und  nicht  einmal  dazu  beitrug,  den  Aufwand  an  Mühe, 
Kosten  und  Zeit,  welchen  der  Bau  erforderte,  merklich  zu 
verringern.     Es  steht  aber  die  dem  Biographen  Kimons  mit 

22* 


326        Sitzung  der  phüos.-phitol.  Ülasse  vom  2.  Mai  1874. 

Recht  oder  Unrecht  zugeschriebene  Behauptung,  welche  für 
die  Behandlung  der  vorliegenden  Frage  bisher  zum  Schaden 
derselben  massgebend  gewesen  ist,  auch  mit  andern  Zeug- 
nissen in  unlösbarem  Widerspruch  und  wird  daher  am  besten 
einstweilen  ganz  aus  dem  Spiele  gelassen. 

Wenn,  was  wir  als  erwiesen  annehmen,  das  Pelasger- 
werk  eine  vollständige  Ringmauer  war  und  von  der  späteren 
Befestigung  sich  nur  durch  geringeren  Umfang  unterschied, 
so  kann  diese  Verschiedenheit  der  beiderseitigen  Ausdehnung 
den  natürlichen  Verhältnissen  zufolge  nur  auf  der  Westseite 
gesucht  werden.  Auf  den  zwei  Langseiten  in  Nord  und  Süd 
und  auf  der  östlichen  Schmalseite  fällt  die  Hochfläche  des 
athenischen  Burghügels  so  jäh  ab,  dass  die  Ummauerungs- 
linie  hier  als  schon  von  der  Natur  vorgezeichnet  weder  für 
die  ersten  Befestiger  zweifelhaft  sein  noch  später  einer  Ver- 
änderung unterworfen  werden  konnte :  sie  musste  allenthalben 
einfach  am  oberen  Rande  der  steilen  Felswände  fortlaufen. 
Dagegen  auf  der  Westseite  steigt  der  Hügel  nur  sanft  und 
allmählich  aus  der  Ebene  empor;  daher  ist  von  jeher  hier 
auch  der  Aufgang  zur  Burg  gewesen.  Die  Frage  nun,  wo 
die  westliche,  den  Thoreingang  enthaltende  Linie  der  Be- 
festigung einzusetzen  habe,  konnte  verschieden,  im  Wesent- 
lichen zweifach,  beantwortet  werden.  Entweder  da,  wo  eine 
erhebliche  Verbreiterung  des  Aufganges  eintritt,  welche  als 
der  westliche  Rand  der  Burgobei fläche  angesehen  werden 
kann ;  dies  ist  die  Stelle ,  an  der  Perikles  die  Propylaieu 
aufgeführt  hat.  Oder  weiter  östlich,  da  wo  die  Steigung 
nachlässt  und  ein  im  Ganzen  gleichmässiges  Niveau  sich 
herstellt,  in  der  Mitte  zwischen  den  Propylaien  und  den 
Pallastempeln.  Hier  würden  wir  die  Westgrenze  des  Pelasger- 
werkes,  die  Mauer  der  Eingangsseite  ansetzen  müssen,  wenn 
wir  auf  blosse  Vermuthuug  angewiesen  wären ;  vielleicht  aber 
lassen  sich  auch  äussere  Gründe  dafür  geltend  machen. 

Von  näheren  Bestimmungen  über  die  Beschaffenheit  der 


Vnger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  327 

Pelasgerfeste  ist  weiter  nichts  vorhanden  als  folgende  trotz 
ihrer  Dürftigkeit  wichtige  Angabe  der  Schollen  zu  Aristoph. 
Av.  832 :  Jidv^og  (prjGi  ro  üe'kaQyiY.dv  Tei%og  ercl  Tterqwv 
-neiad-ai.  Da  der  ganze  Burghügel  ein  einziger  grosser 
Felsen  ist  und  die  Pelasgerfeste  nach  den  p.  325  mit- 
getheilten  Stellen  den  grössten  Theil  oder  wenigstens  die 
grössere  Hälfte  der  Akropolis  eingenommen  hat ,  so  lässt 
sich  diese  Angabe  nur  dahin  deuten,  dass  jener  Theil  sich 
durch  besondere  Höhe  und  Schroffheit  vor  dem  ausserhalb 
der  pelasgischen  Mauern  gebliebenen  ausgezeichnet  hat.  Dies 
trifft  vollständig  zu  der  so  eben  vermutungsweise  gegebenen 
Begrenzung.  Wie  unsere  Karten,  z.  B.  der  Höhendurch- 
schnitt auf  dem  Plan  von  Michaelis  zu  Jahn's  Descriptio 
arcis  Athenarum  und  die  Terrainkarte  auf  Curtius  Sieben 
Karten  Taf.  I.  lehren,  zerfällt  die  Hochfläche  der  Akropolis 
in  zwei  Theile  von  verschiedener  Höhe:  einen  niedrigeren 
im  Westen,  welcher  die  Steigung  des  Burgaufganges  noch 
bis  in  die  Mitte  zwischen  den  Propyläen  und  den  Pallas- 
tempeln fortsetzt,  und  einen  von  da  an  mehr  gleichmässig 
erhobenen,  welcher  die  höchsten  Punkte  enthält  und  fast 
drei  Viertel  des  Ganzen  ausmacht.  Dies  ist  die  Akropolis 
im  engeren  Sinne,  die  athenische  Stadtburg  der  älteren  vor 
Kimons  und  Perikles  Bauten  liegenden  Zeit. 

Nach  Herodot  war,  wie  wir  p.  322  sahen,  zur  Zeit  des 
Perserkriegs  die  Akropolis  durch  einen  Heckenzaun  ver- 
schlossen; erst  nachdem  dieser  sammt  der  beim  Herannaheu 
des  Xerxes  errichteten  Barrikade,  welche  ihn  decken  sollte, 
gefallen  war,  konnten  die  Belagerer  an  einen  Sturm  auf  die 
Thore  der  Befestigung  selbst  denken.  Da  dieser  Heckenzaun 
nicht  unterhalb  der  Stelle,  an  welcher  später  die  Propylaien 
aufgeführt  wurden,  gedacht  werden  kann  und  wahrscheinlich, 
wie  sich  auch  Herodot  die  Sache  vorgestellt  zu  haben  scheint, 
eben  an  dieser  Stelle  gestanden  hat,  so  muss  die  West- 
mauer des    Pelasgerwerkes ,    welche   die   Thore  enthielt ,   in 


328        Sitzung  der  pliilos.-phüol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

einer  ziemlichen  Entfernung  östlich  von  dem  Propylaien- 
platze  gestanden  haben :  sonst  würde  ebensowohl  die 
Anlegung  jenes  Zaunes  als  seine  Verrammlung  gegen  die 
Belagerer  unnötbig  und  zwecklos  gewesen  sein,  da  im  an- 
dern Fall  die  Dienste  beider  die  Thormauer  selbst  geleistet 
haben  würde.  Die  Bestimmung  jenes  Zaunes  war  offenbar, 
gleichwie  die  spätere  Akropolis  verschlossen  sein  musste 
(Thukyd.  2,  17),  den  Zugang  zu  den  zahlreichen  Heilig- 
thümern  und  Stiftungen  zu  wehren,  welche  sich  ausserhalb 
der  Pelasgermauer  befanden.  So  wird  durch  Herodots  Bericht 
bestätigt,  dass  die  pelasgische  Befestigung  eine  geringere 
Ausdehnung  hatte  als  die  spätere  und  dass  der  damals  nicht 
befestigte  Theil  an  der  Aufgangsseite  zu  suchen  ist. 

Andrerseits  ist  es  sicher,  dass  das  erste  Heiligthum  der 
Burg  und  Stadt,  das  sogenannte  Erechtheion,  welches  auch 
schlechtweg  das §  Heiligthum  genannt  wird,  sich  innerhalb 
der  pelasgischen  Befestigung  befunden  hat.  Dadurch,  dass 
Hippias  die  Pelasgerfeste ,  in  welcher  er  belagert  worden 
war,  an  Kleomenes  übergab,  gelangte  der  König  in  den 
Besitz  der  Orakelsammlung,  welche  die  Peisistratiden  im 
„Heiligthum"  verwahrt  hatten,  s.  Herodot  5,  90  und  64  (oben 
p.  316);  dies  war  aber  bloss  möglich,  wenn  das  Erechtheion 
von  der  Pelasgermauer  umschlossen  war.  Als  die  Perser 
die  Akropolis  einnahmen,  flohen  viele  von  den  Ueberfallenen 
in  die  Cella  der  Polias,  Herod.  8,  53  ol  de  ig  to  (.leyaqov 
xaracpevyovGi ;  das  Heiligthum  der  Athena  Polias  muss  also 
in  dem  befestigten  Theile  der  Burg  gewesen  sein.  Ueber 
ein  Jahrhundert  vorher  wurde  Kylon  und  sein  Anhang  auf 
der  Akropolis  vom  Volk  belagert;  als  ihnen  die  Lebens- 
mittel ausgingen,  entsprang  jener  und  sein  Bruder,  die  andern 
warfen  sich  schutzflehend  am  Altar  der  Polias  nieder,  Thukyd. 
1,  126  und  Plutarch  Solon  12.  Hätte  der  Tempel  sich 
ausserhalb  der  Festungsmauern  befunden ,  so  würden  sie 
ihren  Feinden  in   die  Hände   gefallen   und  getödtet  worden 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  329 

sein,  ehe  sie  das  schützende  Asyl  erreicht  hätten.  Weil 
ferner  dieser  Tempel  das  vornehmste  Gebäude  der  alten 
Akropolis  war  und  der  grösste  Theil  des  von  den  Pelasger- 
mauern  umschlossenen  Raumes  zu  seinem  Temenos  gehörte, 
wurde,  wie  unten  gezeigt  werden  soll,  die  Bezeichnung  Heilig- 
thum  auch  auf  die  Pelasgerfeste  selbst  ausgedehnt. 

Der  Eingang  zu  dieser  und  die  Westmauer,  welche  ihn 
enthielt,  war  demnach  in  ziemlicher  Entfernung  von  den 
Propylaien,  aber  westlich  von  dem  Erechtheion  und  dem 
südlich  an  dieses  stossenden  Hekatompedostempel,  welcher 
später  zum  Parthenon  erweitert  wurde.  In  dieser  Mauer 
haben  wir  die  neun  Thore  zu  suchen,  von  welchen  Kleidemos 
und  Polemon  sprechen :  denn  da  auf  den  drei  andern  Seiten 
der  Burg  keine  Thorausgänge  denkbar  sind,  so  müssen  sich 
dieselben  sämmtlich  auf  der  Westseite  befunden  haben.  Dies 
bestätigt  Polemon  ,  indem  er  die  Neun  Thore  in  die  Nähe 
des  Kyloneion  setzt  (oben  p.  319):  to  (Hgv%ov)  Ieqov  eovi 
Ttaqa  ro  Kvlcovewv  exrog  rtov  Evvia  Ttvltov ;  denn  das  Denk- 
mal des  Kylon  stand  gerade  in  der  bezeichneten  Gegend. 
Pausanias,  der  nach  seiner  eigenen,  wiederholt  (3,  11,  1. 
1,  23,  4)  abgegebenen  Erklärung  nur  die  wichtigsten  Sehens- 
würdigkeiten Athens  heraushebt  und  auch  bei  deren  Be- 
schreibung eine  leicht  missverständliche  Kürze  beobachtet,  er- 
wähnt auf  der  Akropolis  das  Hesychosheiligthum  nicht,  wohl 
aber,  wenn  auch  kurz,  das  andere  Denkmal:  1,  28,  1  Kvktova 
de  ovöiv  eyco  eitxüv  icp'  orqt  %ak%ovv  ävi&eoav,  tvqavvida 
ofxwg  ßovlevaavra.  Warum  die  Athener  dem  Kylon  diese 
Ehre  erwiesen  hatten,  konnte  Pausanias  bei  einigem  Nach- 
forschen wohl  entdecken.  Sein  Denkmal  (und  vielleicht  auch 
der  Altar  des  Hesychos)  gehörte  ohne  Zweifel  zu  den  Stift- 
ungen, welche  sammt  anderen  Anstalten  Epimenides  an- 
geordnet hatte,  um  die  Stadt  von  der  schweren,  durch  ihre 
Beamten,  welche  die  Anhänger  Kylons  trotz  des  von  ihnen 
angerufenen  Schutzes    der  Burggöttin  ermordet  hatten,  über 


330         Sitzung  der  pfiilos.-philöl.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

sie  gebrachten  Blutschuld  zu  reinigen,  Plutarch  Solon  12 
Mao^olg  tloi  %al  Y,a&cco(j,olg  xca  idovoeoi  xccTOQyiaoag  aal 
%a$ooiwoag  %ry  ttoIiv.  Pausanias ,  dem  es  zunächst  um 
die  Kunstwerke  zu  thun  war ,  nennt  nur  die  Statue  des 
Kylon;  dadurch  ist  schon  angedeutet,  dass  hier  die  Stelle 
des  Kyloneion  war.  Mit  solcher  Kürze  geht  er  auch  über 
weit  bedeutendere  Heiligthümer  hinweg  und  nennt  z.  B.  auch 
Yon  dem  berühmten  Pythion  nur  die  Bildsäule  des  Gottes : 
1,  19,  1  t-iEta.  ös  xbv  vaov  xov  Jidg  xov  *Oh)\mLov  jtlrjolov 
ayaK\xa    loxw  lÄTtoXXojvog  Ilv&Lov ,    Ion   de  xal  allo  Uqov 

Pausanias  kommt  auf  die  Bildsäule  des  Kylon  zu 
sprechen,  nachdem  er  das  Erechtheion  beschrieben  hat;  von 
ihr  weg  wendet  er  sich  dem  Riesenstandbild  der  Pallas 
Promachos  zu,  dann  dem  Viergespann,  welches  nach  Herodot 
5,  77  den  durch  die  Propylaien  Eintretenden  zur  linken  Hand 
aufgestellt  war.  Das  Kyloneion  stand  demnach  in  der  nord- 
westlichen Gegend  der  Burg,  zwischen  dem  Erechtheion,  der 
Pallas  Promachos  und  den  Propylaien,  von  letzteren  durch 
das  Viergespann  und  wohl  auch  durch  noch  manches  andere 
von  Pausanias  übergangene  Denkmal  getrennt.  Da  sich 
nun  dasselbe  nach  Polemon  sammt  dem  Hesychosaltar  „ausser- 
halb der  Neun  Thore"  befand,  so  erhellt,  dass  diese  genau 
in  der  Gegend  standen,  in  welche  wir  vorhin  die  bei 
Herodot  vorfindlichen,  von  ihm  immer  (dreimal  8,  52  fg.)  im 
Plural  erwähnten  Thore  der  pelasgischen  Feste  versetzt 
haben ,  nämlich  in  der  Mitte  zwischen  den  Propylaien  und 
den  Pallastempeln  (dem  Erechtheion  und  dem  südlich  von 
diesem  befindlichen  Hekatompedos).  Daraus  folgt  aber,  dass 
die  von  Kleidemos  und  Polemon  erwähnten  Neun  Thore 
der  Pelasgerfeste  identisch  sind  mit  den  Thoren 
der  vorkimo  nischen  d.i.  pelasgischen  Burgbe- 
festigung bei  Herodot.  Ferner  führt  die  Art  wie 
Polemon  die  „Neun  Thore"  benützt,  um  durch  Angabe  ihrer 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  331 

Nachbarschaft  die  Lage  eines  Denkmals  zu  bestimmen,  mit 
Notwendigkeit  darauf,  dass  jene  an  einer  einzigen  Linie 
der  pelasgisclien  Befestigung  und  zwar,  wie  der  Ausdruck 
„ausserhalb"  lehrt,  an  der  westlichen  und  Eingangsseite  an- 
gebracht gewesen  sind.  Dies  stimmt  zu  Herodots  Geschichte 
der  persischen  Belagerung.  Nach  dem  Fall  der  Barrikade, 
welche  den  am  nachmaligen  Propylaienplatze  stehenden  Zaun 
decken  sollte,  versuchten  es  die  Perser,  die  „Thore"  zu  be- 
rennen,  aber  vergeblich:  erst  die  Auffindung  einer  Stelle 
des  nördlichen  Burgabhangs,  wo  sie  oberhalb  der  Aglauros- 
gi  otte  die  Höhe  erkletterten,  ermöglichte  ihnen  das  Eindringen 
hinter  den  Thoren.  Die  Mauer,  in  welcher  letztere  ange- 
bracht waren,  hat  also  den  Flächenraum  der  Akropolis  seiner 
ganzen  Breite  nach  von  Nord  nach  Süd  durchzogen,  nicht 
aber  in  der  Mitte,  um  von  da  nach  Osten  laufend  die  Süd- 
seite der  ßurgfläche  freizulassen,  ihre  Richtung  geändert; 
sonst  hätten  die  Perser  von  Süden  her  leicht  einen  Sturm 
auf  die  Feste  versuchen  können.  So  besagt  auch  der  Aus- 
druck £?m  Ttov  'Evvea  nvXwvy  dass  durch  dieselben  der  hinter 
ihnen  liegende  Raum  der  Akropolis  ein-  und  abgeschlossen  war. 
Aus  Polemon  lernen  wir  aber  auch,  dass  nacli  der  Er- 
weiterung der  Burgbefestigung  durch  Kimon  und  Perikles 
die  nunmehr  überflüssige  pelasgische  Eingangsmauer  mit  den 
neun  Thoren  nicht  niedergerissen  wurde,  sondern  mindestens 
noch  bis  in  seine  Zeit,  den  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts 
vor  Christus,  stehen  geblieben  ist.  Hiedurch  fällt  Licht  auf 
eine  dunkle  Stelle  des  Herodot.  Gegen  die  Boioter  und 
Chalkidier,  welche  sich  an  dem  Einfall  des  Kleomenes  in 
Attika  betheiligt  hatten,  unternahmen,  wie  5,77  erzählt 
wird,  die  Athener  einen  Rachezug,  welcher  vielen  von  jenen 
die  Freiheit  kostete.  Die  Fesseln,  welche  dieselben  tragen 
mussten  bis  sie  losgekauft  wurden,  wurden  nachher  von  den 
Athenern  auf  der  Burg  aufgehängt,  wo  sie  viele  Jahre  später 
Herodot  selbst  noch  sah,  an  einer  inzwischen  vom  persischen. 


332  Sitzung  der  philo*. -ph  Hol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Feuer  verheerten  Mauer  gegenüber  der  westlichen  Cella  des 
Erechtheion :  rag  di  rciöag  avrwv,  iv  xffii  idedearo,  ävexQe- 
f-iaoav  ig  zi]v  v.KQOTio'kiv  airtEQ  eri  ig  iui  roav  7t£QieotGai, 
xgeiidnevai  i%  Tei%icov  7TeQL7recpXevo(ievcov  ttvqi  vtco  tov  Mrtdovf 
dvTiov  di  tov  (,ieya.QOv 40)  tov  nqdg  eOTteqrjv  TETqa\i\iivov. 
Diese  Mauern  waren ,  wie  die  letzten  der  citirten  Worte 
lehren,  westlich  vom  Erechtheion,  aber  diesem,  weil  ihre 
Lage  nach  einem  Theile  desselben  bestimmt  wird,  näher 
als  den  Propylaien ;  sie  gehörten  aber  nicht  zu  dem  Heilig- 
thum,  etwa  als  der  westliche  Theii  einer  für  dasselbe  anzu- 
nehmenden Umfassungsmauer  (TteQißoXog),  sonst  würde  Herodot 
twv  zu  xuyiiov  gesetzt  und  tov  iqov  davon  abhängig  gemacht 
haben41);  die  Anwendung  des  Wortes  ivavxiov  lehrt  viel- 
mehr,   dass   sie   dem  Erechtheion  fremd,   und  zugleich  dass 


40)  Bötticher  Philolog.  21,  57  will  hier  und  8,  53  fxsyecQov  auf 
den  Hekatoinpedostempel  beziehen,  welcher  ungewiss  seit  wann  die 
Stelle  des  nachmaligen  Parthenon  eingenommen  hat.  Aber  wie  to 
iqov  (s.  Stein  zu  Herodot  8,  51)  so  beziehen  sich  alle  andern  einen 
Burgtempel  und  seinen  Cultus  ohne  Angabe  der  Gottheit  bezeich- 
nenden Ausdrücke  nur  auf  das  Erechtheion,  als  das  vornehmste  und 
Anfangs  einzige  Heiligthum  der  Akropolis,  s.  Herod.  5,  72  cog  ecvsßrj 
fig  trjv  ccXQonokiv,  rjie  ig  to  ec'Svtov  trjg  &6ov ;  Plutarch  Solon  12  toiV 
avvujuotccg  tov  Kvkiovog  ixttfvovzctg  trjv  d-sov;  Xen.  Hellen.  2,  3,  20 
xatctxofxiaccvieg  tctvtct  ig  tr]v  ccXQoTiokiv  ^vved-rpcuv  iv  t(ovcm\  Thukyd. 
1,  126  ol  Kvkcoveioi  xa&i£ovoiv  ini  tov  ßeofxov  ixezca  tov  iv  tfj  ccxgo- 
nolei]  Herod.  5,  71  Kvkcov  xcttctkctßuv  trjv  ctxgonokiv  iitetQrjdri,  ov 
6vvectuevog  St  inuQatrjaai  ixitrjg  l'^eto  ngog  t(a'y  ecktet.  Dass  die  Ver- 
schiedenheit der  Worte  piyctQov  und  ec'Svtov,  welche  Bötticher  geltend 
macht,  der  Identität  des  Gebäudes  nicht  im  Wege  ist,  beweist  Schweig- 
häusers  Index  aus  Herod.  7, 140,  wo  sowohl  ig  to  (XEyccQov  iaek&ovteg 
als  i'tov  i£  etövtoto  sich  auf  das  Allerheiligste  in  Delphi  bezieht; 
ccdvtov  bezeichnet  den  inneren  Raum  der  Cella,  fxeyccQov  das  Ganze 
derselben,  ist  daher  am  Platz,  wo  sie  von  aussen  her  betrachtet 
wird.  In  den  Hekatompedos  konnten  sich  Schutzflehende  so  wenig 
wenden  als  später  in  den  Parthenon:  das  Gnadenbild  der  Göttin, 
befand  sich  im  Erechtheion. 

41)  Zur  Bestätigung  vgl.  p.  336, 


Unger:  Emieakrunos  und  Pelasgil'on.  333 

sie  von  diesem  durch  keinen  Hochbau  geschieden  gewesen 
sind.  Welches  die  Bestimmung  jener  Mauer  gewesen  ist, 
hat  Herodot  offenbar  selbst  nicht  gewusst:  jetzt,  nachdem 
gezeigt  ist,  dass  eben  in  dieser  Gegend  die  Quermauer  ge- 
standen hat,  durch  welche  die  neun  Thore  in  die  Pelasger- 
feste  führten,  lässt  sich  auch  leicht  erkennen,  dass  Herodot 
nichts  anderes  als  die  Mauer  der  anderwärts ,  wo  er  den 
Berichten  kundiger  Gewährsmänner  folgt,  von  ihm  selbst 
besprochenen  Thore,  die  Westmauer  des  abermals  nach  dem 
Vorgang  Anderer  von  ihm  erwähnten  Pelasgerwerkes  vor 
sich  gehabt  hat42). 

Neben  dem  Kyloneion  erwähnt  Pausanias  das  Kolossal- 
bild der  Pallas  Promachos,  von  dessen  Basis  sich  die  Spuren 
fast  genau  in  der  Mitte  zwischen  Parthenon  und  Propylaieu 
erhalten  haben.  Die  Frage,  wie  die  Benennung  7tQ6[xct%og 
zu  diesem  Standort  im  Inneren  der  Akropolis  passt ,  ist 
wenig  aufgeworfen  worden ;  man  hat  sich  meist  begnügt, 
sie  als  Vertheidigerin  zu  denken,  ohne  das  Seltsame  ihres 
Platzes  sonderlich  zu  beachten.  Eine  „vorkämpfende"  Gott- 
heit ist  aber  nicht  im  Inneren,  sondern  an  den  Thoren  und 
Mauern  zu  denken ,  da  wo  sie  den  herankommenden  Feind 
empfangen  und  abwehren  kann;  sie  wartet  nicht,  bis  dieser 
in  das  Innere  eingedrungen  und  schon  Herr  des  Platzes 
geworden  ist.  Leake  Topogr.  p.  251  sucht  das  Missver- 
hältniss ,  welches  zwischen  der  Aufgabe  der  Gottheit  und 
dem  Standort  ihres  Bildes  besteht,  durch  die  Erklärung  zu 
beseitigen,  die  Göttin  habe,  da  ihr  Bild  nach  Westen  ge- 
richtet war,  den  Eingang  durch  die  Propylaien  bewacht,  in- 
dem sie  dorthin  blickte;  aber  auch  die  Götter  kämpften 
nur  mit  den  Waffen  in  der  Hand,  nicht  mit  Blicken,  und 
mit  Waffen  war  das  Bild  auch  ausgerüstet.     Jetzt  schwindet 


42)  In   Betreff   der   Verheerung,    welche   das   Feuer  angerichtet 
Jjatte,  vgl.  p.  334. 


334         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

diese  Schwierigkeit :  der  Ort  des  Standbildes  fällt  in  die 
Linie  der  pelasgischen  Thormauer;  die  Statue  befand  sich 
also  am  Eingang  der  pelasgischen  Akropolis.  Dafür  dass 
sie  in  der  That  an  dem  Thoreingang  aufgestellt  war.  ist 
noch  ein  positives  Zeugniss  vorhanden :  die  Benennung  Thor- 
kämpferin,  rt  Ilalldg  rj  IIvlca[*d%OQ,  welche  sie  bei  Aristoph. 
Eq.  1169  führt;  diese  konnte  ihr  unmöglich  gegeben  weiden, 
wenn  sie  nicht  wirklich  bei  den  Thoren  ihren  Platz  hatte43). 
Bis  zur  persischen  Belagerung  trug  die  Thormauer  der 
Pelasgerfeste  wohl  nach  alter  griechischer  Sitte  ein  gemaltes 
Bild  der  Göttin,  vgl.  Tzetzes  zu  Lykophr.  356  IlvXatridog) 
Kai  rovxo  ovf.ißoliKOv  STtl&ezov  Trtg  ld$r]vag,  sv  Talg  rtvXaig 
ydq  amrtv  eyqaq)Ov  rcov  Ttolecov  Kai  tcjv  oIklwv,  cog  iv  tcqo- 
aoreloig  xov  ^'Aqea ;  Schol.  vet.  Lyk.  a.  a.  0.  vrtg  twyqacpov- 
lievrjg  ev  %aig  7tvXaig\  Schol.  Aeschyl.  Sept.  170  "OyKa  7tQO 
Ttolewg)  s^ioyqacpovv  zavTrjv  Ttqo  rwv  TtvXwv  zrtg  TtoXecog,  rjv 
Kai  AvKOtyQcov  Ilvlalrida  leyet  öid  to  avco&ev  Yorao&ai 
ravTrjv  ttqo  tcov  tzvXcov.  Durch  das  Feuer,  welches  die 
Perser  an  die  Akropolis  legten  und  das  seine  verheerende 
Wirkung  nach  Herodot  5,  77  (oben  p.  332)  insbesondere  an 
der  Thormauer  offenbarte,  musste  dieses  Bild  der  Vernicht- 
ung anheimfallen ;  an  seiner  Statt  wurde  nun ,  wie  uns 
scheint,  die  eherne  Riesenbildsäule  der  Thorhüterin  errichtet, 


43)  Dass  Aristoph.  Eq.  1163  sqq.  von  den  drei  auf  der  Burg 
befindlichen  Pallasbildern,  der  Polias,  Parthenos  und  Promachos, 
spricht  und  unter  der  Thorkämpferin,  deren  Grösse,  ehernen  Schild 
und  Speer  er  hervorhebt,  die  letzte  versteht,  hat  zuerst  Wordsworth, 
Athens  and  Attica  p.  128,  vgl.  Leake  a.  a.  0.,  erkannt.  Wohl  mit 
Bezug  auf  dieses  Prädicat  heisst  es  in  dem  neuerdings  gefundenen 
Marmorbruchstück:  [ij  paka  Sij  xelvoc  rukax.dQ6ioi}  oi  §cc  r\6z'>  aix^y 
Gxrioa^iiiQoG^ir  nvXdv  äy[()ov  in*  ia/aziae'  [xccQvdfxevoi  6*  EOttwoav 
yJSriPcciccg  nokvßovX\ov  aatv  ßia  Jle^acoy  ■kKivuii£vo\l  6vva^iiv\\  wenn 
Kirchhoff  Inscript.  att.  p.  178,  von  dem  auch  die  Ergänzungen  her- 
rühren, Recht  thut,  dasselbe  der  Basis  des  Promaehosbildes  zu- 
zuweisen. 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  335 

als  ein  werthvollerer  und  dauerhafterer  Ersatz  des  Zerstörten. 
Nach  Pausanias  1,  28,  2  und  Schol.  Demosth.  g.  Androt.  13 
wurde  sie  nach  der  Schlacht  bei  Marathon  zum  Dank  für 
den  Sieg  aus  dem  Zehnten  der  gewonnenen  Beute  gestiftet; 
die  Zeitverhältnisse  des  Pheidias,  der  sie  nach  dem  Zeugniss 
des  Pausanias  schuf,  erlauben  aber  nicht  die  Ausführung 
vor  480  zu  setzen;  andrerseits  ist  wohl  das  Zeitalter  des 
Perikles ,  an  den  manche  denken ,  als  Entstehungszeit  zu 
weit  von  der  Schlacht  bei  Marathon  entfernt.  Mit  Recht 
wird  sie  daher  von  Anderen  den  Schöpfungen  zugerechnet, 
welche  der  Sohn  des  Siegers  von  Marathon  nach  der  Schlacht 
am  Eurymedon  ins  Leben  rief.  Die  Promachos  ist  dem- 
nach wahrscheinlich  noch  in  der  Zeit  entstanden ,  als  die 
Akropolis  nur  die  pelasgische  Befestigung  hatte;  aber  auch 
wenn  sie  während  des  kimonischen  Mauerbaues  oder  bald 
nach  demselben  gestiftet  wurde,  musste  doch  das  Bild  seinen 
altheiligen  Standort  bekommen. 

Eine  fernere  Bestätigung  für  die  von  uns  gefundene 
Lage  der  pelasgischen  Thormauer  liefert  der  Bericht  Hero- 
dots  8,  53  von  der  Einnahme  der  Burg;  in  ihm  findet  sich 
auch,  wie  wir  glauben,  das  Wort  Akropolis  in  seinem  älteren 
engeren  Sinne  gebraucht.  Als  die  Rollsteine  der  Belagerten 
es  den  Persern  unmöglich  machten,  vom  Burgaufgang  her 
die  Thore  zu  ei  stürmen,  kletterte  ein  Theil  von  ihnen  am 
Aglaurosheiligthum  empor,  einer  Grotte  im  nördlichen  Burg- 
abhang oberhalb  der  jetzigen  Nikolaoskapelle44);  sie  erstiegen 
also  die  Akropolis  fast  in  der  Mitte  ihrer  nachmaligen 
Längenausdehnung,  wenig  westlich  vom  Erechtheion,  da  wo 
jetzt   noch    eine   Anzahl   Stufen    die   Spuren    einer   zwischen 


44)  Die  Lage  ist  festgestellt  von  Ross  Niketempel  p.  5  und 
Bötticher  Bericht  über  die  Untersuchungen  auf  der  Akropolis  p.  200; 
vgl.  Bursian  Geogr.  1,  294;  Wachsmuth  Rh.  Mus.  23,  14;  A.  Mornmsen 
Athenae  Christianae  p.  15. 


336         Sitzung  der  phüos.-phüol.  Clause  vom  2.  Mai  1874. 

diesen  zwei  auch  dem  Cultus  nach  zusammengehörigen  Heilig- 
thümern  hergestellten  Verbindung  zeigt.  Oben  angekommen 
fanden  sie  sich  hinter  den  Thoren :  e/LiTiQoo&e  jtqo  zrtg  dv.qo- 
rfoliog,  OTtiads  öe  zwv  tcvXzlov  v.al  zrg  dvodov,  zft  örj  ovze 
zig  IcfvXaooe  otz'  dv  r^TXioe  {irt  y.oze  zig  v.azd  ravra  dva- 
ßairj  dv&QQ)7Ttov ,  zavzrj  dvißrpdv  ziveg  v.azd  zo  iqov  zrtg 
Key,Q07tog  &vyazqdg  ^dyXavqov ,  '/.aineq  dTto'/.or^ivov  iovzog 
zov  xcoqqv,  vgl.  Pausau.  1,  18,  2.  Da  die  hier  genannten 
Thore  die  zur  Akropolis  vom  Burgaufgang  her  führenden 
sind,  so  müssen  die  nämlichen  auch  in  den  weiterhin  folgen- 
den Worten  Ttqtozov  fiiv  Ezqditovzo  Ttqog  zag  nvlag,  zaizag 
ös  dvoi^avzeg  zovg  r/Jzag  ecpovevov  verstanden  werden,  nicht 
etwa  (woran  auch  meines  Wissens  Niemand  gedacht  hat) 
Thore  des  Erechtheion,  in  welches  ein  Theil  der  überraschten 
Vertheidiger  sich  flüchtete:  die  Eröffnung  der  Tempelthore 
würde  auch  schwerlich  so,  wie  im  Text  geschieht,  durch 
TtqCozov  (.itv  als  ein  selbständiger  Vorgang  von  der  Nieder- 
metzlung  der  Flüchtlinge  im  Erechtheion  gesondert  sein,  zu 
welcher  sie  nur  ein  untergeordnetes  Vorbereitungsmittel  ge- 
wesen wäre.  So  bestätigt  sich,  was  p.  332  aus  Her.  5,  77 
geschlossen  worden  ist :  dass  zwischen  der  Thormauer  und 
dem  Erechtheion  keine  dieses  abschliessende  Mauer  gestan- 
den hat;  denn  in  dies  Heiligthum  einzudringen  hat  nach 
Herodots  Schweigen  zu  schliessen  die  Perser  nichts  gehindert 
und  nicht  etwa  die  Festigkeit  desselben,  sondern  die  Hoff- 
nung auf  den  Schutz  der  Göttin  und  auf  die  Achtung  des 
Asylrechts  hatte  die  Fliehenden  hineingeführt.  Die  von 
Herodot  genannten  Oertlichkeiten  ordnen  sich  demnach 
folgendermassen  :  zuerst  im  Westen  der  Burgaufgang,  welchen 
an  der  Stelle  der  späteren  Propylaien  der  Heckenzaun  mit 
der  auf  wenige  Tage  aufgeführten  Verrammlung  abschloss ; 
in  ziemlicher  Entfernung  östlich  von  dem  Zaun  eine  Thor- 
mauer, quer  über  die  Burg  vom  Nordrand  bis  an  den  Süd- 
abhang geführt,  welche  den  Eingang  zur  Pelasgerfeste  enthielt; 


Uibqer:  Enneakrunos  und  Pelaagi'kon.  337 

weiter  östlich  die  von  den  Persern  erklommene  Stelle  des 
Nordrandes45)  oberhalb  der  Aglaurosgrotte;  endlich  in  der 
Mitte  der  Nordseite  das  Erechtheion.  Diese  Anordnung 
stimmt  ganz  mit  dem  bisher  Ermittelten  überein  und  dient 
ihm  zur  Bestätigung;  auch  ist  wohl  zu  beachten,  dass  das 
Aglaurion  fast  genau  unter  demselben  Längengrad  liegt  wie 
der  Platz,  auf  dem  die  Promachos  stand. 

Eine  bei  der  bisherigen  Auffassung  unlösbare  Schwierig- 
keit bieten  die  ersten  Worte  der  Stelle:  l'fiTtQoad-e  7tqo  zrjg 
dxQOTioXwg ,  durch  welche  auffallender  Weise  die  Nordseite 
der  Akropolis  als  deren  Front  erklärt  zu  werden  scheint. 
Die  von  Stein  z.  d.  St.  adoptirte  Hinweisung  Leake's  Topogr. 
p.  193  darauf,  dass  noch  jetzt  sehr  gewöhnlich  von  Einge- 
bornen  und  Fremden,  welche  von  dieser  ganzen  Frage  nichts 
wissen,  als  Vorderseite  der  Akropolis  die  nördliche  bezeichnet 
wird,  kann  uns  nichts  helfen:  da  das  moderne  Athen  nörd- 
lich von  der  Burg  liegt,  so  haben  die  Einwohner  und  Be- 
sucher der  Stadt  die  Nordseite  derselben  im  Gesicht  und 
es  ist  daher  sehr  begreiflich,  dass  sie  diese  für  die  Front 
ansehen.  Die  alte  Stadt  dagegen  hatte  den  Burghügel  in 
ihrer  Mitte :  für  die  Orientirung  war  daher  der  Aufgang  zu 
ihm  entscheidend  und  musste  als  Front  die  Seite  gelten, 
welche  der  Besucher  beim  Hinansteigen  vor  sich  hatte,  also 
die  westliche.  Dies  erkennt  Abicht  z.  d.  St.  an,  meint  aber 
t'u7CQ0Gd-e  Ttqo  sei  mit  Beziehung  auf  die  Stellung  des  per- 
sischen Heeres  gesagt,  welches  die  Stadt  von  der  Nordseite 
erreicht  hatte.  Welches  diese  Stellung  war,  unterlässt  er 
anzugeben;  darüber  belehrt  uns  jedoch  Grote  3,  93  der 
Uebers.,  welchem  die  ganze  Erklärung  entnommen  ist.  Dieser 
vermuthet,    die  Perser    möchten  natürlich  die  westliche  und 


45)  Ohne  Grund  vermuthet  Grote  3,  92  d.  Uebers.,  sie  sei  ohne 
Befestigung  gewesen;  Herodot  würde  schwerlich  unterlassen  haben, 
dies  ebenso  zu  erwähnen  wie  das  Fehlen  einer  Wache  an  dem  Platz 
und  den  Grund  dieses  Fehlens. 


338         Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  2.  ^/Lai  1874. 

nördliche  Umgebung  der  Burg  eingenommen  haben.  Herodot 
selbst  sagt  nichts  davon:  sollen  wir  aber  über  die  Stand- 
quartiere des  ganzen  Heeres  eine  Vermuthung  äussern,  so 
können  wir  bloss  glauben,  dass  die  vielen  Hunderttausende 
sammt  dem  Tross  die  gesammte  Stadt  und  wohl  auch  die 
Umgebung  der  Stadt  erfüllt  haben ;  handelt  es  sich  aber 
bloss  um  die  belagernden  Abtheilungen,  so  wissen  wir  aus 
Herodot ,  dass  diese  auf  dem  Areopag,  also  westlich,  nicht 
nördlich,  der  Akropolis  standen.  Im  Uebrigeu  kommt  auf 
die  Stellung  des  persischen  Heeres  bei  unsrer  Frage  gar 
nicht  einmal  etwas  an :  oder  wird  die  Front  eines  Hauses 
dadurch  zur  Hinterseite,  dass  man  sich  hinter  demselben 
aufstellt? 

Herodot  selbst  sagt  8,  52:  ol  IleQOcu  l^ofievoc  87ti  tov 
xazavTiov  rrjg  äxQOTtöhog  ox&ov ,  xbv  Id&TpHxioi  xaleovoi 
!AqrtLOv  Tiayov,  STtohoQuovv ,  denkt  sich  also  den  Areopag 
im  Angesicht  (Katavilov,  eigl.  gegenüber  der  Vorderseite)  der 
Burg :  hätte  er  die  Nordseite  als  Front  angesehen,  so  würde 
er  rov  Ttaqa  xr4v  ccxqotioXiv  o%#ov  gesagt  haben.  Auch  in 
den  Worten  oma&e  Si  twv  TivXicov  xal  rrjg  avoöov  wird 
vorausgesetzt,  dass  die  Front  der  Akropolis  auf  der  West- 
oder Aufgangsseite  zu  suchen  ist.  Wörtlich  aufgefasst  würde 
der  Ausdruck:  hinter  dem  Aufgang  anzeigen,  dass  der  in. 
Rede  stehende  Punkt  am  Anfang  des  Aufgangs,  also  am  Fuss 
der  Akropolis  befindlich  gewesen  sei;  da  dieser  der  Höhe 
angehörte  und  demnach  östlich  von  dem  Aufgang  zu  suchen 
ist,  so  muss  avodog  als  stehend  gewordene  Bezeichnung  des 
zur  Burg  führenden  Weges  genommen  werden,  gleichviel  ob 
man  auf  demselben  hinauf  oder  hinabging,  gleichbedeutend 
mit  "Act&odov  für  einen  vom  Standpunkt  der  Burg  aus 
Sprechenden.  Die  Entstehung  dieser  festen  Bedeutung  des 
Wortes  avodog  findet  ihre  Erklärung  darin,  dass  der  Sprach- 
gebrauch in  der  Unterstadt,  nicht  auf  der  viel  kleineren  und 
von  Privatleuten  nicht  bewohnten  Akropolis,  seine  Ausbildung 


tlnger:  Enneahrunos  und  Pelasgilcon.  339 

gewonnen  hatte.  Daraus  folgt  aber,  dass  man  die  Orientir- 
ung  der  Burgseiten  gleichfalls  nach  dem  Gesichtspunkt  der 
unten  Wohnenden,  welche  von  Westen  her  zur  Burg  empor- 
stiegen, gerichtet,  also  die  Aufgangsseite  im  Westen  als  Front 
angesehen  hat. 

Auch  die  andern  Schriftsteller  haben  sich  das  Verhält- 
niss  nicht  anders  gedacht.  Wo  das  Haus  des  Timarchos,  das 
nach  Aischines  1,  97  ev  aGTei  und  O7tio&e  Ttg  itoXecog,  also 
hinter  der  Akropolis  stand,  zu  suchen  ist,  weiss  man  nicht; 
wenn  Curtius  Attische  Studien  2,  46  und  Bötticher  Philol. 
Suppl.  3,  360  es  südlich  der  Burg  setzen,  so  geschieht  das 
nur  auf  Grund  jener  problematischen  Erklärung  von  Herod. 
8,  52.  Wohl  aber  steht  es  fest,  dass  der  Aphroditetempel, 
welcher  beim  Grab  des  Hippolytos  stand,  am  Südfuss  der 
Burg  errichtet  war46);  nach  jener  Erklärung,  welche  die 
Front  der  Akropolis  in  Norden  sucht,  müsste  er  sich  hinter 
der  Burg  befunden  haben,  die  Alten  setzen  ihn  aber  an  die 
Seite  derselben ,  s.  Eurip.  Hippol.  30  Tterqav  7ta$  ccvtvjv 
Jlcdladog  xccTOipcov  yrtg  zijoöe  vaov  KvrfQidog  eyyia^eioaTO 
und  Diodor  4,  62  Oaiöqa  IdqvöaTO  uqov  ^cpQodlzrjg  TtaQcc 
TYtv  axQ07ioliv.  Also  ist  die  Front  nur  auf  der  Ost-  oder 
Westseite  gedacht,  nicht  nördlich.  Die  Vorderseite  selbst 
erwähnt  Antigonos  Karystios  histor.  mirab.  12  aus  Amelesa- 
goras :  äcpixoiievrjv  {Ldd-rjväv)  eg  Hekh^rjv  (peqeiv  OQOg,  cva 
eQVfia  7t qo  zrjg  äxQOTtolecog  Ttotroiß.  rfj  de  Iddrjva  cpsgovör] 
rö  OQog,  o  vvv  xakuxai  yLvy.aßrjTTog,  xoqcovtjv  cpr^olv  aitav- 
T\pai  xott  utceIv,  ort  ^Eqtyßoviog  ev  cpavegcp,  Ttv  de  äxovoaoccv 
QLipai  ro  oqog  ortov  vvv  eoxi.  Seltsamer  Weise  findet  Leake 
Topogr.  p.  193  hierin  eine  Bestätigung  seiner  Ansicht  von 
der  Nordseite  der  Burg  als  ihrer  Fronte.  Der  Lykabettos, 
in  welchem  er  unter  allgemeiner  Zustimmung  und  vielleicht 
mit   Recht   den   nordöstlich   von   der   Stadt   gelegenen   Berg 


46)  S.  oben  p.  307. 
[1874,  3.  Phil,  hist  Cl.]  23 


S4Ö         Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

erkennt,  der  eine  Kapelle  des  h.  Georg  trägt,  lag  h  rolg 
ävccroliY,ü)TeQOig  (Aeqeoi  Trfi  nohecog ,  Marinus  v.  Prodi  36, 
und  der  Demos  Pallene  ist  ebenfalls  östlich  von  Athen  zu 
suchen.  Auf  die  Lage  dieser  Punkte  kommt  es  aber  nicht 
an:  denn  das  beabsichtigte  Bollwerk  ist  nicht  an  seinen 
Bestimmungsort  gekommen,  sondern  auf  dem  Wege  als 
Lykabettosberg  liegen  geblieben,  welcher  höchstens  zu  einem 
Angriff,  niemals  aber  zur  Verteidigung  der  Akropolis  hätte 
benützt  werden  können.  Ein  schützendes  Bollwerk  vor  der 
Akropolis  aufzurichten  konnte  aber,  da  die  drei  andern 
Seiten  aus  senkrechten  Felswänden  bestehen ,  nur  auf  der 
leicht  zugänglichen  Westseite  beabsichtigt  werden:  ebenda, 
wo  von  Kimon  der  Pyrgos  und  in  der  späteren  Kaiserzeit 
das  (pQovqiov  aufgeführt  worden  ist.  Diese  erweist  sich  also 
auch  hier  als  die  Vorderseite. 

Wrie  erklärt  sich  nun  die  in  der  herodotischen  Stelle 
vorliegende  Schwierigkeit?  Nicht  anders  als  durch  die  An- 
nahme, dass  Herodot  das  Wort  Akropolis  als  Burgfeste  im 
Sinne  der  Zeit  gebraucht  hat,  in  welcher  seine  Geschichte 
spielt :  als  Pelasgerfeste,  deren  Westgrenze  unter  fast  gleichem 
Längengrad  mit  dem  Agraulion  lag.  In  demselben  Sinne 
fassen  es  Hekataios,  Kleidemos  und  Myrsilos,  wenn  sie  die 
pelasgische  Mauer  rings  um  die  Akropolis  ziehen  lassen. 
Herodot  hat  sich  hier  und  anderwärts  genau  an  die  Sprache 
seines  Gewährsmanns,  in  unserem  Fall  offenbar  eines  Zeit- 
genossen der  Perserkriege,  gehalten:  während  er  hier  und 
in  Betreff  des  Kylon  und  des  Isagoras  die  alte  Burgfeste 
Akropolis  nennt,  heisst  sie  ihm  und  den  andern  Quellen 
(oben  p.  324)  in  der  Geschichte  des  Hippias  Pelasgermauer. 
Die  Stelle,  an  welcher  die  Perser  emporstiegen,  lag  auf  der 
westlichen  Seite  derselben,  genauer  auf  der  nordwestlichen: 
ähnlich  setzt  Euripides  im  Jon  497  die  am  Nordwestabhang 
des  ganzen  Burghügels  befindliche  Pansgrotte  tvqo  Ilallaöog 


Ünger:  Enneäkrunos  und  Peläsgilcon.  341 

vatov.  Sie  gehörte  demnach  der  Vorderseite  der  Burgfestung 
an ;  dies  will  luTtQoo&e  7iqo  sagen,  d.  i.  vorn  an  (nicht :  vorn 
vor)  der  Akropolis ,  wie  Antigon.  Kar.  a.  a.  0.  eqv[xa  7iqo 
rrtg  äxQOTioXecoQ  und  oben  p.  334  die  an  das  Thor  gemalte 
Athena  Pylaitis  rtqo  rwv  rtvlaiv.  So  setzt  Pausanias  9,  35 
3  und  7  die  Chariten  des  Sokrates  Ttqo  (vorn  an)  rrg  ig 
rfv  äxqoTtofav  ioodov\  genauer  gesprochen  standen  sie  xard 
Tttv  l'aodov  avztv  t]di]  %rp  ig  dxqoTtoXiVj  wie  er  1,  22,  8  sich 
ausdrückt.  Derselben  Auffassung  der  Präpositionen  gehören 
Wendungen  wie  tcqo  böov,  TtoQQW  rov  ßlov,  V7tö  zft  ccxqo- 
Ttoleu  und  irtv  cM.Q07tokivy  pro  muro,  sub  murum  u.  a.  an. 

Die  Thormauer,  durch  welche  die  pelasgische  Akropolis 
von  der  kleineren  westlichen  Hälfte  der  Burghöhe  getrennt 
wurde ,  begann  also  an  einer  nördlich  von  dem  Standbild 
der  Promach os  und  etwas  westlich  von  dem  Aglaurion  be- 
findlichen Stelle  des  Nordrandes  und  lief  in  gerader  Richtung 
bis  zum  Südrand;  wie  sie  nördlich  der  Promachos  das  Erech- 
theion  von  dem  Kylonsdenkmal  und  dem  Hesychosaltar 
treDnte,  so  wurde  im  Süden  jenes  Standbildes  durch  sie  die 
Terrasse  der  Pallas  Ergane,  hinter  welchem  sich  östlich  die 
des  Parthenon  oder  Hekatompedos  anschliesst,  von  dem 
ausserhalb  der  Befestigung  bleibenden  Heiligthum  der  Artemis 
Brauronia  geschieden.  Es  ist  schon  oben  bemerkt  worden, 
dass  diese  Begrenzung  den  Höhenverhältnissen  entspricht. 
Während  der  Boden  der  Mittelhalle  der  Propylaien  eine 
Höhe  von  143,3  Metern  über  der  Meeresfläche  hat,  erhebt 
sich  die  Terrasse  der  Ergane  unterhalb  der  zum  Parthenon 
führenden  Felsentreppe  bis  zu  152,5  Meter,  der  Säulenlüss 
der  Nordhalle  des  Erechtheion  zu  151,6,  das  Plateau  nörd- 
lich von  ihr  zu  150,9,  die  höchsten  Punkte  des  Parthenon 
und  der  Ausbau  an  der  Nordostecke  der  Burgmauer  sogar 
zu  158  Meter.  A.  Michaelis,  dem  wir  die  Höhenangaben 
verdanken,   hebt  im  Rhein.  Mus.   16,  234  ausdrücklich  her- 

23* 


§42         Sitzung  der  phÜos.-phiiol  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

vor,  dass  die  Strecke  des  alten  Burgweges  von  den  Propy- 
laien  bis  zu  Punkt  D  seines  Plans,  welcher  sich  südlich  von 
der  Promachos  und  nördlich  von  der  vorhin  bezeichneten 
Stelle  der  Erganeterrasse  findet,  steiler  ist  als  die  Fort- 
setzung des  Weges  von  da  bis  zur  Nordwestecke  des  Par- 
thenon. 

Auch  in  Absicht  auf  die  Breitenausdehnung  der  Burg- 
oberfläche liefert  die  für  die  Thormauer  gefundene  Linie 
eine  passende  Abgrenzung.  Die  Mitte ,  der  breiteste  Theil 
der  Hochfläche,  wird  durch  jene  Quermauer  vollständig  in 
die  alte  Befestigungslinie  einbezogen  und  zwar  gerade  von 
da  an ,  wo  die  Verbreiterung  am  sichtbarsten  wird.  Von 
den  Propylaien,  dem  natürlichen  Anfang  der  Hochfläche,  wo 
der  Aufgang  eine  Breite  von  168  Fuss  gewinnt,  nach  Osten 
hin  nimmt  die  Divergenz  der  beiden  Ränder  allmählich  und 
in  regelmässig  geraden  Linien  zu,  bis  nördlich  von  der  Pro- 
machos und  etwa  35  Meter  westlich  vom  Aglaurion  plötzlich 
der  Nordrand  in  einen  scharfen  Vorsprung  nach  Norden 
übergeht :  in  den  Winkel  dieser  Biegung  setzen  wir  die 
Nordwestecke  der  Pelasgerfeste,  den  nördlichen  Anfang  der 
Thormauer. 

Diese  Linie  bildete  endlich  auch  eine  sacrale  Grenze. 
Als  Xerxes  die  untere  Stadt  einnahm ,  befanden  sich ,  wie 
Herodot  8,  51  sagt,  die  zurückgebliebenen  Athener  im  Heilig- 
thum :  aiQ&ovoi  eqi^ov  tö  aotv  xal  zivag  oliyovg  evQiöxovoi 
t(Lv  14&7]vcclü)v  iv  t$  Igcp  ovzag.  Der  Gewährsmann,  welchen 
Herodot  hier  wiedergibt,  will  damit  gewiss  nicht  sagen,  dass 
sich  dieselben,  etwa  um  die  Hülfe  der  Pallas  anzurufen,  in 
den  Poliastempel  oder  in  den  beschränkten  Innenraum  des 
Peribolos  späterer  Zeit  zurückgezogen  hatten:  sie  wollten 
ja  Widerstand  leisten  und  leisteten  ihn  in  kräftigster  Weise. 
Den  Entschluss  die  Burg  zu  vertheidigen  hatte  dieser  Theil 
der   Stadtbevölkerung    schon    beim    Eintreffen   des   Orakels 


Unger:  Enneakrunos  und  PelasgiTcon.  343 

von  der  hölzernen  Mauer  gefasst,  Her.  7,  142  vgl.  mit  8,  51 
(oben  p.  322),  und  die  Errichtung  des  Barrikadenwerks 
konnten  sie  nicht  erst  an  dem  Tage  in  Angriff  nehmen,  an 
welchem  die  Perser  in  die  Unterstadt  einzogen.  Sie  be- 
fanden sich  in  der  Feste,  des  persischen  Angriffs  gewärtig, 
und  wenn  Herodot  dafür  sagt:  in  dem  Heiligthum,  so  kann 
er  das,  weil  der  grösste  Theil  der  Burghöhe,  eben  der  von 
der  Pelasgermauer  ein-  und  abgeschlossene  ein  Temenos  der 
Burggöttin  war. 

Die  ganze  Akropoljs  war  heiliger  Boden ,  Aristoph. 
Lysistr.  482  fAeyaXoTterqov  aßarov  äxQ07toXiv,  Uqov  xe(.ievog\ 
Demosth.  f.  legat.  272  oXyg  ötGrjg  Uqag  Trtg  dy.qo7toXecog 
ravTrjai;  daher  alles  Unreine  ihr  fernbleiben  musste,  kein 
Hund  sie  betreten  (Philochoros  b.  Diouys.  Hai.  üb.  Deinarch  3), 
kein  Weib  dort  gebären  durfte  (Ar.  Lysistr.  472).  Die  Er- 
klärung Böttichers  im  Philologus  21,  49,  sie  sei  ein  Temenos 
des  Staates  gewesen,  reicht  nicht  hin ,  diese  Bezeichnung  zu 
rechtfertigen:  als  Akropolis  an  sich  wäre  sie,  wie  Pollux  an 
der  von  ihm  angezogenen  Stelle  9,  40  ta  de  örj^oota,  dnqo- 
Ttohg  sagt,  Staatsgut,  also  profan,  nicht  göttliches  Eigen- 
thum  gewesen.  Gewissermassen  die  Personification  des 
athenischen  Staates  war  aber  als  Schutzpatronin  desselben 
Pallas  Athenaia;  ihr  der  Burggöttin  (rfoXidg)  war  die  Akro- 
polis geheiligt,  welche,  wie  auch  die  Bezeichnung  TtoXiovyog 
bei  Aristoph.  Eq.  581.  827.  Nub.  592.  Lys.  345  besagt,  ihr 
Eigenthum  war.  Lysistr.  241  Trjv  ccxqottoXlv  Trtg  &eov.  Darum 
heisst  die  Burg  Hügel  der  Pallas,  Eurip.  Jon  1 1  JJaXXdöog 
vtc*  oySto  T?~g  läd"rp>aLo)v  yßovog-,  ders.  Hippol.  30  Ttfrqav 
nagt  avTrjv  üaXXdöog]  Himerios  or.  3,  12  dyovoiv  btvI  tov 
xoXcüvov  zTg  TlaXXdöog  %o  oxdqjog.  Um  diesen  ihren  Wohn- 
sitz auf  seiner  unbeschützten  Seite  zu  befestigen,  wollte  die 
Göttin  den  Lykabettos  dahin  verpflanzen,  Antigonos  Karyst.  12 
%va  eqvfxa  7tqo   rrjg  dy,Q07ToXecüg  Ttoirjorj',   ihrem    Vater   Zeus 


344  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

versprach  und  gewährte  sie  als  Lohn  für  seine  günstige 
Abstimmung  bei  ihrem  Streit  mit  Poseidon  einen  Altar  auf 
diesem  ihrem  Eigenthum,  Hesychios  Jtog  &ay,oi  x,al  Tteaool: 
si&rjvav  Jtog  der}&rtvai  vicsq  ccvrrfi  trtv  xprt<pov  eveyxelv  y,ai 
V7too%8G&aL  ävxl  rovrov  ro  tov  Ilohewg  UqeIov  tcowtov 
öveo&cci  Itci  ßcofiov^1).  Die  Stadt  der  ältesten  Zeit,  die  Akro- 
polis  (rtofog),  war  Gegenstand  jenes  Streites :  auf  ihr  standen 
die  Schöpfungen  beider  Götter,  welche  den  Streit  entscheiden 
sollten,  der  heilige  Oelbaum  und  das  „Meer",  beide  im  Erech- 
theion.  Mit  der  Erweiterung  der  Polis  und  ihres  Gebietes 
ging  die  Vergrösserung  des  Besitzes  Hand  in  Hand,  welchen 
Pallas  sich  erstritten  hatte:  darum  konnte  schon  Herodot 
8,  55  von  einem  Streit  iteql  rrtg  %wQr]g  reden;  genauer 
sprechen  Apollodor  Bibl.  3,  14,  1  h'öo^e  tdlg  $eölg  rcoleig 
KccTcclaßeo&cu  und  Schol.  Ar.  Nub.  1001  diä  ro  x^g  elaiag 
£VQe$£iGr]g  KQi$rtvai  rrjg  !A&iqvag  ttjv  icohiv.  Dort  wo  der 
Zwergölbaum  (r;  Ttaywyog)  sprosste,  war  ihr  Wohnhaus 
(vadg),  die  ganze  Hochfläche  ringsum  bildete  dessen  um- 
friedigtes Gehöfte  {xe^evog)^  beide  zusammen  ihren  heiligen 
Bezirk  (Uqov).  Darum  ist  die  heilige  Schlange,  welche  das 
Haus  der  Burggöttin  hütet48),  ebendamit  zugleich  Wächterin 
der  Akropolis,  Herod.  8,  41  og>iv  [liyav  yvhccKa  rrtg  äxqo- 
nokiog  evÖLaireeö^at  ev  r<£  Iq($\  Hesych.  OIkovqov  oq>iv: 
tovtov  de  (pvXayia  trtq  dxQOTtolewg  cpaoiv.  Darum  ist,  wo 
schlechtweg49)   von    der   Göttin,  dem   Heiligthum,  Tempel, 


47)  Worauf  Curtius  Sieben  Karten  p.  18  die  Ansicht  gründet, 
dass  Zeus  der  ursprüngliche  und  einzige  Inhaber  der  Burg  war, 
weiss  ich  nicht;  die  Sage  vom  Streit  Poseidons  und  Athenas  bei  der 
Vertheilung  der  Städte  spricht  entschieden  dagegen, 

48)  Aristoph.  Lysistr.  761  qIxovqov  ocpiv,  wozu  d.  Schol.  top 
(pvlaxa  tov  pccov  trjg  'A&rpag  und  Hesych.  a.  a.  0.  tov  rrjg  üokuiSog 
(pvXccxct  cV  tw  leQta  tov  'Epe/^Ecvs;  Plutarch  Themist.  10  tov  dyaxop^ 
tog,  og  ccpaprjg  ex  tov  orptov  Soxec  yepio&cct. 

49)  Vgl.  oben  Anm.  40. 


Unger:  Ennedkrunos  und  PelasgiJcon.  345 

Altar,  Götterbild  auf  der  Burg  gesprochen  wird,  die  Bezieh- 
ung auf  Athena  Polias  selbstverständlich. 

Dieselbe   Verschiedenheit   der   Auffassung,    welche    der 
Akiopolis   als  Burgfeste    der   alten  Zeit   im  Verhältniss   zur 
nachpersischen    Befestigung   zukommt,   besteht   nun  auch  in 
Betreff    der   Akropolis    als    göttlicher    Weihestätte.      Schon 
Thukydides  macht  hierauf  aufmerksam.     Auch  er  nennt  die 
Akropolis  ein  Heiligthum :    2,  17   ta   re  eqrt(xa  xrg  TtoXecog 
tpxrjGctv  %al  %a    isgä   y.al  xa   rßföa   itavxa    TcXrp    xrjg  äxgo- 
rtoXetog  y,al  tov    EXevoivlov  Kai    u  ti  aXXo  ßeßalcog  xXrjOTOv 
fjv ;  hätte  er  sie  nicht  als  ein  einziges  grosses  leqov  gedacht, 
so  würde  er   TtXry  rcov  Iv  xfj  äxQ07t6Xei   gesagt  haben.     In- 
dem er  aber  2,  15  xa  legd  sv  avxfj  x^  äuQOTtoXei  xal  aXXcov 
&ewv  eoxi  sagt,    setzt  er   voraus,    dass   man  eigentlich  nur 
Heiligthümer  der  Pallas  dort  zu  finden  erwartet  hätte.  Dieser 
scheinbare,   ja    für    den  Sprachgebrauch  der  nachpersischen 
Zeit  sogar  thatsächliche  Widerspruch  findet  seine  Erklärung 
darin,    dass   die  Heiligthümer  der  Pallas:   das  Erechtheion, 
der   Hekatompedos-Parthenon    und    das    Heiligthum  der  Er- 
gane,    im   Bereiche   der   pelasgischen  Feste   lagen    und   aus 
vorkinionischer   Zeit  ausserdem    nur    solche    Culte    anderer 
Gottheiten  östlich  der  Promachoslinie  nachweisbar  sind,  welche, 
wie   der   des   Zeus  Polieus,    Poseidon   Erechtheus,    Hephai- 
stos    u.  a.,    mit    dem    Pallasdienst   in    Verbindung    standen. 
Die   Heiligthümer    der   andern    Gottheiten   dagegen ,    welche 
Thukydides   im  Auge  hat,   finden  sich  ausserhalb  der  pelas- 
gischen   Befestigung    in    der     westlichen    Gegend    zwischen 
Prom.ichos   und    den    Propylaien,    welche   für    die    Zeit    vor 
Khnoiis  Mauerbau    als    Vorplatz  {TtqoTtvXawv)    anzusehen  ist 
und  wegen  .der  Menge   von    Stiftungen,    welche   sie  damals 
schon  enthielt,  noch  einen  besonderen  Verschluss  erforderte, 
den   von  Herodot    genannten   Heckenzaun.     Das  älteste  von 
den  uns  bekannten  dieser  Art  ist  das  grosse  Heiligthum  der 


346         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Artemis  Brauronia,  dessen  Errichtung  auf  die  Tochter  des 
Agamemnon50)  zurückgeführt  wurde,  in  Wirklichkeit  aber 
wohl  mit  der  Einverleibung  des  Demos  Brauron  in  den 
athenischen  Staat  zusammenhängt ;  dahin  gehören  ferner  das 
Heiligthum  der  Aphrodite  Leaina,  gestiftet  in  Folge  der 
Vertreibung  des  Hippias  (Paus.  1,  23,  2),  der  Altar  des 
Hesychos  und  das  Denkmal  des  Kylon,  welche  beide  wahr- 
scheinlich zur  Zeit  des  Solon  errichtet  worden  sind  (oben 
p.  329).  Als  ein  einheitliches  Hieron  ist  also  eigentlich  nur 
die  Akropolis  der  älteren  Zeit,  die  Pelasgerfeste,  aufzufassen; 
aber  nachdem  die  Befestigung  auf  der  Westseite  hinaus- 
gerückt worden  war ,  blieb  der  Akropolis  die  Auffassung 
als  Gesammtheiligthum  auch  in  dieser  ihrer  enweiterten 
Gestalt. 

Kimons  Mauerbau. 

Nach  dem  Zeugniss  des  Pausanias  1,  28,  3  (oben  p.  325) 
war  der  grösste  Theil  der  Akropolismauer  seiner  Zeit  ein 
Werk  der  Pelasger,  das  Uebrige  aber  von  Kimon  hinzu- 
gebaut. Wo  wir  die  Mauern  des  Kimon  zu  suchen  haben, 
kann  nach  dem  Vorausgegangenen  nicht  mehr  zweifelhaft 
sein:  derselbe  erweiterte  die  Burgbefestigung  auf  der  west- 
lichen Seite,  indem  er  die  südliche  und  die  nördliche  Linie 
bis  zu  der  Stelle,  an  welcher  später  Perikles  die  Propylaien 
aufgeführt  hat,  verlängerte  und  die  Enden  beider  durch  eine 
neue  Thormauer  verband.  Die  pelasgische  Thormauer  blieb, 
wie  das  ganze  Pelasgerwerk,  dem  sie  angehörte,  stehen  und 
überdauerte  den  Thorbau  Kimons,  welcher  bald  den  Propy- 
laien weichen  musste. 


50)  Pausan.  1,  33,  1  Byccvgaji',  evSa  yI(piyEvti<xv  xr\v  ^Jyafiefxvopog 
ix  Tccvqiov  cpevyovaav  xo  äyak^ia  ctyo^eyrjf  xyjg  yA(>xe[xi6og  anoßi^vai 
"hkyovGiV:,  xaTcä.irtovocci'  xo  tlyuk^icc  xccvttj  xcci  elg\4xhiqvag  xcu  vcxe{iov 
elg  "Aqyog  acpixka&m. 


Unger:  Enneakrunos  und  Pelasgikon.  347 

Spuren  des  kimonischen  Baues  haben  sich  noch  heute 
erhalten.  Das  unterhalb  des  Nordflügels  der  Propylaien, 
18  Fuss  vor  seiner  Südwestecke  befindliche  Piedestal,  welches 
laut  der  Inschrift  eine  Statue  des  Agrippa  getragen  hat, 
steht  nicht  parallel  mit  der  Vorderseite  der  Propylaien ; 
seine  westliche  Fläche  ist  vielmehr  ein  wenig  nach  Norden 
gekehrt.  Kinnard  zu  Stuarts  Alterthümern  von  Athen  2,  10G 
hat  aus  dieser  Thatsache  den  Schluss  gezogen,  dass  es 
wegen  eines  alten  Unterbaues  so  angelegt  worden  sei,  welcher 
der  Propylaienfront  nicht  genau  parallel  lief,  vgl.  Leake 
Topogr.  p.  238.  Das  Nämliche  gilt  aber  auch  von  dem 
Unterbau  der  Nordhalle  selbst:  seine  Richtung  ist  mehr 
westlich  als  die  der  darauf  stehenden  Mauer;  er  gehörte 
also ,  wie  derselbe  Kinnard  2,  105  erkannt  hat,  zu  einem 
dem  Propylaienbau  fremden,  älteren  System  von  Befestigungs- 
werken der  Burg.  Leake  p.  226  denkt  an  die  pelasgische 
Befestigung ;  nachdem  sich  uns  aber  ergeben  hat,  dass  diese 
nicht  so  weit  nach  Westen  reichte  und  noch  im  J.  480 
westlich  des  Standbildes  der  Pallas  Promachos  keinerlei 
Befestigung  der  Aufgangsseite  bestand ,  müssen  wir  not- 
wendig annehmen ,  dass  diese  nach  dem  Perserkrieg,  aber 
vor  der  (437  begonnenen)  Errichtung  der  Propylaien  auf- 
geführten Werke  zu  dem  Mauerbau  Kimons  gehört  haben. 

Eine  ähnliche  Erscheinung  zeigt  sich  an  der  Südhalle 
der  Propylaien.  Diese  ist  kleiner  als  der  nördliche  Flügel : 
nach  den  Ermittlungen  von  Bötticher  Piniol.  21,  63  sqq.  war 
sie  ebenso  lang,  aber  nur  halb  so  tief.  Woher  diese  Ver- 
kürzung, ist  bekannt:  der  Baumeister  musste  auf  das  Vor- 
handensein der.thurmartigen,  von  den  Alten  Pyrgos  genannten 
Bastion  Rücksicht  nehmen,  welche  den  kleinen  Niketempel 
hinter  der  Südhalle  trägt.  Dieses  Befestigungswerk  muss, 
weil  es  vor  dem  Propylaienbau  schon  existirte,  im  J.  480 
aber  noch   nicht  bestanden  hat,  gleichfalls  auf  Kimons  Bau- 


348         Sitzung  der  philos.-philol.  Clause  vom  2.  Mai  1874. 

thätigkeit  zurückgeführt  werden  und  sind  auch  darüber, 
weil  nach  Plutarch  dieselbe  der  südlichen  Burgmauer  ge- 
widmet war,  die  Forscher  längst  einig;  strittig  ist  nur,  ob 
auch  der  auf  den  Pyrgos  gesetzte  Tempel  von  Kimon  her- 
rührt. Dies  ist  die  Ansicht  von  Michaelis  Archäol.  Ztg.  1862 
p.  263  und  Rhein.  Mus.  nach  ßursian  Rhein.  Mus.  10,  511. 
Geogr.  1,  307  und  Curtius  Sieben  Karten  p.  37  ist  aber  wegen 
des  Stils  der  plastischen  Arbeiten  die  Erbauung  desselben  in 
die  Zeit  des  Perikles  zu  setzen  und  aus  der  Anlage  des 
Südflügels  der  Propylaien  nur  zu  schliessen,  dass  dabei  ein 
auf  dem  schon  vorhandenen  Pyrgos  erst  zu  errichtendes 
Heiligthum  berücksichtigt  worden  ist. 

Dadurch  dass  Perikles  an  die  Stelle  der  kimonischen 
Thormauer  die  Propylaien  setzte,  verlor  der  Anbau  Kimons 
nicht  bloss  ein  Drittel  seines  Umfangs  und  gerade  den  vor- 
nehmsten Theil,  die  Eingangsseite:  er  kam  auch  durch  die 
Herausnahme  dieses  Mittelstücks  um  seine  einheitliche  Eigen- 
schaft. Was  übrig  blieb,  waren  zwei  auseinandergerissene 
Stücke,  welche  den  Propylaienbau  mit  den  pelasgischen 
Mauern  verbanden  ohne  von  diesen  sich  wesentlich  zu  unter- 
scheiden :  denn  die  von  Kimon  zur  Verlängerung  der  Pelasger- 
mauern  angesetzten  Linien  scheinen  ihrer  Anlage  nach  den 
älteren  völlig  gleichartig  gewesen  zu  sein,  vgl.  Leake  Topogr. 
p.  22  und  Michaelis  Rhein.  Mns.  16,  214.  Da  so  dem 
kimonischen  Theil  der  Nord-  und  Südmauer  kein  eigen- 
thümlicher,  ins  Auge  fallender  Werth  zukam,  so  konnte, 
die  Ringmauer  an  sich  betrachtet,  diese  Erweiterung  neben 
der  alten  Gründung  des  grössten  Theils  der  nunmehr  vor- 
handenen Burgbefestigung  und  dem  glänzenden  Propylaien- 
bau von  ungelehrten  Beschauern  leicht  übersehen  werden 
und  in  der  Erinnerung  des  Volkes  untergehen.  Nur  die 
besondere  Ausstattung,  welche  dem  südlichen  der  beiden 
Reste   eigen   war,    bewahrte  ihn  vor  diesem  Schicksal,   das 


Unger:  Enneafcrunos  und  PelasgiTcon.  349 

dem  andern  nicht  erspart  blieb.  Hier  sah  man  den  mäch- 
tigen Pyrgos,  welcher  dem  Aufgang  und  damit  auch  dem 
Angreifer  zur  Rechten  stehend  jenen  beherrschte  und  deckte, 
auf  seiner  Höhe  den  zierlichen  Niketempel ;  unten  die  Ter- 
rasse, welche  das  Heiligthum  der  Ge  Kurotrophos  und 
Demeter  Chloe  trug.  In  dem  Felsen,  auf  welchem  der 
Pyrgos  im  Südosten  anhebt,  findet  sich  eine  erst  durch 
Bötticher  Philol.  21,  47  näher  bekannt  gewordene  Grotte 
mit  Spuren  eines  antiken  Vorbaus:  da  nach  Pausanias  1,  22,  4 
von  der  Höhe  des  Niketempels  sich  Aigeus  herabgestürzt 
hatte,  so  ist  ßöttichers  Vermuthung,  dass  dies  das  Heroon 
des  Aigeus51)  gewesen,  sehr  wahrscheinlich.  Unter  Kimon, 
welcher  die  Gebeine  des  Theseus  mit  grossem  Gepränge  von 
Skyros  zurückbrachte,  gewann  der  Cultus  dieses  Heros  er- 
neuten Glanz ;  an  jedem  achten  Monatstag  wurde  er  gleich 
dem  Poseidon  geehrt,  am  höchsten  aber  am  8.  Pyanepsion, 
an  welchem  er  einst  siegreich  von  Kreta  zurückgekommen 
war,  vgl.  Plut.  Thes.  36  und  Kim.  8.  Dies  war  aber  auch 
der  Todestag  des  Aigeus;  man  darf  daher  wohl  das  Aigeion 
unter  die  Anlagen  rechnen,  mit  welchen  Kimon  die  Süd- 
seite der  Akropolis  geziert  hat. 

Da  der  Anbau  des  Kimon  auf  der  Hauptseite  abge- 
brochen und  durch  einen  prachtvollen  Eingang  ersetzt  war, 
die  zwei  andern,  nicht  besonders  hervorstechenden  Seiten 
aber  von  den  Pelasgermauern  nicht  abstachen  und  wohl 
manchem  zu  ihnen  zu  gehören  schienen,  so  dass  nur  ein 
Theil  der  Südseite  durch  die  Anlagen,  welche  ihm  eigen 
waren,  ins  Auge  fiel :  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn 
neben  der  geschichtlichen  Ueberlieferung,  welche  in  Büchern 
fortlebte  und  in  einem  dürftigen  Auszug  uns  von  Pausanias 


51)  Bekker   Anekd.  354,3   und  Hesych.   Jcysiov,  Aiykiog  ^wov 


350        Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

erhalten  worden  ist,  sich  im  Volksmund  eine  Tradition  aus- 
bildete, die  an  das  Sichtbare  und  Augenfällige  anknüpfend 
die  in  Erinnerung  behaltene  Betheiligung  Kimons  an  dem 
Ausbau  der  Burgmauern  auf  eine  sowohl  fortificatorische  als 
künstlerische  Ausstattung  der  Südseite  bezog.  In  diesem  Sinne 
erklären  wir  die  bekannte  Stelle  des  Plutarch ,  Kim.  13 
Ttqad-evrcov  twv  aly^aXcorcov  etg  re  xaXXa  yq^iaaiv  6  Sr^og 
i7teQQCüO$T]  kccI  zfj  dxQoicoXei  to  votiov  xelyog  xccreGxevaoe. 
Gegen  die  herkömmliche  Auslegung:  von  den  Geldern,  welche 
Kimon  vom  Eurymedon  mitbrachte,  und  auf  seine  Anregung 
sei  die  ganze  südliche  Linie  der  Burgmauern  erbaut  worden, 
lässt  sich,  da  KctTccGxevaZeiv  oft  genug  im  Sinne  von  owodofielv 
gebraucht  wird,  sprachlich  nichts  einwenden;  das  Wort 
heisst  aber,  wie  das  Lexicon  lehrt  und  zahlreiche  Stellen 
beweisen,  nicht  bloss  errichten,  aedificare,  exstruere,  sondern 
auch  herrichten,  einrichten,  instruere,  ornare  und  ein  Blick 
auf  seine  Zusammensetzung  zeigt,  dass  dies  seine  eigentliche 
Bedeutung  ist.  Dass  aber  gerade  diese  dem  Schriftsteller 
oder  wenigstens  seinem  Gewährsmann  vorgeschwebt  hat,  das 
geht  —  abgesehen  von  der  oben  gezeigten  thatsächlichen 
Unstatthafiigkeit  der  andern  Erklärung  —  aus  der  Parallel- 
stelle bei  Corn.  Nepos  v.  Cim.  2,  3  hervor :  his  ex  manubiis 
arx  Athenarum  quae  ad  meridiem  vergit  est  ornata. 

Sehr  gut  verträgt  sich  mit  dieser  Auffassung  auch  die 
andere  Stelle  Plutarchs,  de  gloria  Atheniens.  7  toorcaloig 
TtavTodaTtolg  avacxtcpovrai  yial  XaqjvQOig ,  wv  dyccXf-iccTa  Kai 
ov/xßoXa  jtaodevioveg  hyiaxonTtedöL ,  voria  Tuyr],  vewooixoij 
TtQQTCvXaia-,  XeQQOvyoog,  14/j.qjiTtoXig.  Wenn  hier  die  Süd- 
mauer in  eine  Linie  mit  berühmten  Bauwerken  und  gross- 
artigen Coloniestiftungen  gestellt  wird,  so  ist  offenbar  eine 
Mauer  gemeint,  deren  glänzende  Eigenthümlichkeiten  noch 
sichtbar  waren  :  nicht  der  kimonische  Bau  in  seiner  ursprüng- 
lichen, schon  ein  Menschenalter  nach  seinem  Entstehen  zer- 
störten Gestalt,  sondern  der  westliche  Theil  der  Südmauer  mit 


Ünger:  JEnnedkrunos  und  PelasgiTcon.  35 i 

seinen  oben  bezeichneten  Anlagen.  Möglich  dass  sich  diesen 
weiter  nach  Osten  noch  andere  Ausschmückungen  ange- 
schlossen haben,  von  welchen  keine  Kunde  zu  uns  gedrungen 
ist;  es  genügt  aber  auch  der  Pyrgos  mit  seiner  Umgebung, 
um  eine  Tradition  über  die  Geschichte  der  Burgbefestigung 
zu  verstehen,  welche  im  Wesentlichen  darauf  hinauslief,  dass 
wie  den  Pelasgern  die  Ringmauer  und  dem  Perikles  der 
Thorbau ,  so  Kimon  diese  Bastion  ihre  Herstellung  ver- 
dankt habe. 


Sitzung    vom    7.  März   1874. 


Historische  Classe. 


Herr  Friedrich  legt  vor: 

„Ueber  die  Zeit  der  Abfassung  des  Tit.  I.  10 
der  Lex  Baiu warior um". 

(Vorgetragen  in  der  Classen Sitzung  vom  8.  November  1873.) 

Die  Controverse,  welche  ich  bei  einer  Fortsetzung  meiner 
Kirchen geschichte  Deutschlands  nicht  umgehen  kann  und  hier 
zur  Sprache  bringen  will,  dauert  schon  geraume  Zeit.  Ich 
will  nicht  ein  abschliessendes  Urtheil  aussprechen,  vielmehr 
nur  das  competenter  Männer  über  die  von  mir  vorzutragende 
Ansicht  vernehmen. 

Die  Einen  versetzen  Tit.  I  u.  II  in  das  8.  Jahrhundert, 
die  Anderen,  wie  Waitz1),  in  die  Zeit  Dagoberts,  indem 
ihnen  gerade  die  Zeit  dieses  Königs  für  eine  derartige  Ge- 
setzgebung als  die  geeignetste  erscheint.  Nur  Merkel  glaubte 
einen  Mittelstandpunkt  einnehmen  zu  sollen,  indem  er  be- 
hauptete :  es  sei  bis  zum  Augenblick  noch  keine  Entscheidung 
hinsichtlich  dieses  Punktes  möglich;  dieselbe  hänge  vielmehr 


1)  Waitz,  Ueber   das  Alter  der   beiden   ersten  Titel  der  Lex 
Bai.,  in  den  Götting.  „Nachrichten"  1869.  Nr.  8.  S.  134  u.  143. 


Friedrich:  Lex  Baiuwariorum.  353 

nothwendig  von  einer  genaueren  und  zuverlässigeren  Er- 
forschung der  Kirchengeschichte  Baierns  ab 2).  Da  aber 
diese  Behauptung  Merkels  auch  bei  jenen  Forschern  zum 
Theile  wenigstens  massgebend  ist,  welche  beide  Titel  ins 
8.  Jahrhundert  versetzen,  so  will  ich  zunächst  sie  besprechen, 
dann  aber  aus  dem  Titel  I  selbst  ein  positives  Merkmal  für 
seine  Abfassungszeit  zu  entwickeln  suchen. 

Mir  will  es  scheinen  —  um  dies  schon  im  Voraus  zu 
sagen,  —  als  ob  z.  B.  für  Alamannien  nicht  mehr  Beweise 
seines  christlichen  Charakters  aus  der  nämlichen  Zeit  vor- 
liegen, als  für  Baiern.  Noch  ist  uns  in  den  Briefen  des 
austrasischen  Königs  Theodebert  I  (534 — 548)  an  Kaiser 
Justinian  eine  der  wichtigsten  Maximen  der  fränkischen  Re- 
gierung gegenüber  den  heidnischen  Völkern  erhalten.  Sie 
wollte  nicht  etwa  Begünstigung  des  Heidenthums  und  Unter- 
drückung des  Christenthuins,  wie  Justinian  in  seinem  Schreiben 
an  Theodebert  (c.  535)  von  Theoderich  I  von  Austrasien 
gesagt  hatte,  sondern  Ausrottung  des  heidnischen  Götzen- 
dienstes und  Ausbreitung  und  Begünstigung  des  Christen- 
thumes.  Namentlich  aber  bezeugt  Theodebert  von  seinem 
Vater,  dass  unter  ihm  die  christlichen  Orte  geschont  worden 
seien.  Aber  auch  für  seine  eigene  Person  bekennt  sich 
Theodebert  zu  diesem  Grundsatze  seines  Vaters  und  sieht 
in  der  Ausdehnung  seines  Reiches  längs  der  Donau  bis  an 
Paunoniens  Gränzen  und  das  Meer ,  also  auch  über  Baiern, 
einen  „Fortschritt  der  Katholiken"  (profectum  Catholicorum) 
und  einen  Untergang  der  Heiden3).  Und  auch  Venantius 
Fortunatus  bezeugt  von  Theodebert,  dass  sich  stets  der 
Glaube  in   seinem  Gefolge   befand,    und  er  eine  Stütze  der 


2)  Merkel,  leges  III,  226  sq. 

3)  Bouquet  IV,  59.  n.  16.  Auch  Zeuss,  Die  Deutschen  etc. 
S.  357  fasst  die  Stelle  in  geographischer  und  politischer  Beziehung 
so  auf. 


354  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Kirche  war  (coinitante  fide  und  ecclesiae  fultor)4).  Die 
Bedeutung  dieses  Briefes  erkennt  denn  jetzt  auch  Waitz  an, 
indem  er  zugesteht,  dass  er  „wenigstens  zeigt,  dass  die 
fränkischen  Könige  in  den  unterworfenen  Landen  auch  für 
das  Christenthum  thätig  sein  wollten"5).  So  braucht  es  auch 
unsere  Verwunderung  nicht  mehr  zu  erregen ,  dass  in  den 
ältesten  Schenkungsurkunden  noch  ,, Romanen"  erscheinen6); 
Christen  im  Pongau,  welche  nach  kirchlicher  Vorschrift  die 
Reliquien  des  hl.  Maximilian  verehren7)  und  sich  unter  den 
Passauer  Urkunden  eine,  vielleicht  kirchliche,  aus  der 
Römerzeit  erhalten  konnte 8).  Ebenso  wurde  nach  dem 
Zeugnisse  der  hervorragendsten  Alterthumskenner,  wie  de 
Rossi's  in  Rom,  das  Denkmal  der  Wittwe  Valeria,  welche 
den  hl.  Florian  nach  seinen  Leidensakten  bestattet  haben 
soll,  zu  S.  Florian  nicht  etwa  erst  aufgefunden,  sondern  in 
steter  Fortdauer  aufbewahrt9). 

Noch   bedeutsamer    erscheint   mir   das  Schreiben    einer 
Synode    von    Aquileia  (59 1)10),   von  dem  auch  Waitz  sagt: 


4)  Venantii  Fortunati  Carm.  lib.  II.  12,  ed  Broweri  p.  61. 

5)  Waitz  a.  a.  0.  S.  135. 

6)  Congestum  Arnonis  bei  Kleinmayrn ,  Juvavia,  Anhang  p.  21. 
28.  Breves  notitiae,  1.  c.  p    37.  41.     Bei  Kainz  p.  16.  17.  28.  31. 

7)  Vgl.  die  Gründungsgeschichte  der  Maximilianszelle. 

8)  Mon.  boica  28.  2.  nr.  2.  p.  5.  Vgl.  Pallmann,  Gesch.  d. 
Völkerwanderung  2,  394.  Anmerkg. 

9)  Bei  AI.  Huber,  die  Ecclesia  Petena  S.  68.  Nach  de  Rossi's 
Zeugnisse  stammt  es,  durch  spätere  Zuthaten  etwas  entstellt,  aus 
dem  4.  Jahrh.  Die  Inschrift  lautet :  VI.  Non.  Mai.  Debosicio  Valerie 
vidue.  Gaisberger,  Archäol.  Nachlese  in  Beitr.  f.  Landeskd.  in 
Oesterr.  ob  der  Enns.  1864.  19.  Lief.  S.  31.  Kenner  in  Mitthlg. 
d.  k.  k.  Centralcommiss.  z.  Erforsch,  d.  Baudenkmale,  11.  p.  LXXVIII. 
Ders.  in  Beitr.  z.  einer  Chronik  archäol.  Funde  i.  d.  öst.  Monarchie 
im  Arch.  f.  öst.  Gesch.  1867.  1.  Hälfte  S.  175  ff.  Nach  ihm  ist  die 
Inschrift  zw.  340—350  verfertigt.  Auch  der  Sarkophag  der  hl.  Valeria 
ist  noch  in  St.  Florian  erhalten,  a.  a.  0. 

10)  Resch,  Annal.  Sabion.  I,  411  sq. 


Friedrich:  Lex  Baiuwariorum.  355 

es  sei  „wohl  ein  wichtiges  Zeugniss  für  die  Verbreitung  des 
Christentums  in  den  Donaugegenden,  also  auch  bei  den 
Baiern"11).  Nach  demselben  war  es  nämlich  mit  der  Politik 
der  fränkischen  Könige  unvereinbar,  dass  bischöfliche  Sitze 
des  Reiches  zu  einer  ausländischen  Metropole  eignen,  die 
norischen  also  zu  Aquileia  und  damit  zum  oströmischen 
Kaiserreiche.  Es  galt  darum,  diese  Verbindung  der  nori- 
schen Bisthümer  mit  Aquileia  zu  zerreissen  und  dafür  eine 
andere  mit  dem  fränkischen  Kirchenverbande  herzustellen, 
und  die  nämliche  Synode  berichtet  uns  auch,  wie  dieses 
Ziel  erreicht  wurde :  fränkische  Bischöfe  hätten  im  Erledigungs- 
falle durch  den  Tod  eines  norischen  Bischofs  einfach  die 
Jurisdiction  von  Aquileia  durch  Usurpation  an  sich  gerissen 
und  neue  (fränkische)  Bischöfe  eingesetzt.  Dies  war  nun 
nach  demselben  Schreiben  gerade  unter  Theodebert  I  (c.  540) 
mit  Augusta,  Tiburnia  und  Pettau  der  Fall  gewesen,  also 
gerade  zur  Zeit,  als  dieser  König  an  Kaiser  Justinian  über 
die  Ausdehnung  seines  Reiches  und  damit  den  „Fortschritt 
der  Katholiken"  geschrieben  hatte.  So  hatte  er  aber  sein 
ganzes  Reich  mit  einem  Netze  bischöflicher,  mit  Franken 
besetzter,  oder  doch  wenigstens  von  ihnen  abhängiger  Sitze 
umspannt ,  und  erkennen  wir  daraus  zugleich ,  dass  die 
Christianisirung  der  neu  unterworfenen  Völker  gleich  an- 
fänglich von  den  fränkischen  Königen  nicht  blos  ins  Auge 
gefasst,  sondern  auch  planraässig  ins  Werk  gesetzt  wurde, 
wenn  sie  auch  nur  langsamen  Schritts  vorwärts  gegangen 
sein  mag. 

Ob  und  wie  lange  sich  diese  Bischöfe  auf  den  norischen 
Bisthümern  erhielten,  welche  Veränderungen  etwa  unter  ihnen 


11)  Waitz,  a.a.O.  S.  135.  Ebenso  sagt  Watt  enb  ach,  Heidelb. 
Jahrb.  1870,  S.  24:  „Das  bairische  Volksrecht  sowohl  wie  das  Ver- 
hältniss  des  Landes  zu  den  Merovingern,  lassen  an  einer  früheren 
Einführung  des  Christenthums  kaum  einen  Zweifel  zu;  s.  darüber 
G.  Waitz  in  den  Nachr.  von  der  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  1869.  N  8". 
[1874,  3.  Phil.  hist.  CL]  24 


$56  Sitzung  der  kistor.  Classe  vom  7.  März  1874. 

vorgingen,  kann  freilich  nicht  mehr  eruirt  werden;  allein 
ich  meine  doch  nicht  zu  irren,  wenn  ich  aus  dem  Schreiben 
der  Synode  von  Aquileia  folgern  zu  dürfen  glaube,  dass  591 
diese  Kirchen  noch  bestanden  und  von  fränkischen  Bischöfen 
besetzt  gehalten  wurden;  denn  offenbar  ist  nicht  von 
einem  einmaligen,  sondern  öfter  wiederholten  Vorkommnisse 
die  Rede,  sowie  nur  davon,  dass  durch  die  Vermittlung 
des  Kaisers  Justinian  nicht  auch  alle  anderen  bischöflichen 
Kirchen  der  Metropole  von  Aquileia  von  den  fränkischen 
Bischöfen  an  sich  gerissen  wurden.  Noch  mehr  bestärkt 
mich  aber  in  meiner  Annahme,  dass  die  Synode  diese  Ge- 
fahr als  noch  immer  vorhanden  bezeichnet. 

Um  560  ist  aber  das  Christenthum  am  baierischen 
Herzogshofe  selbst  eingebürgert;  denn  das  Verhältniss  der 
longobardischen  Königin  Theodelinde  und  ihrer  Mutter 
Walrade,  der  Wittwe  des  Königs  Theodobald,  zu  dem 
baierischen  Herzog  Garibald  darf  wohl  weder  mit  Rettberg 
mehr  für  eine  „Ammengeschichte"12),  noch  mit  Blumberger 
blos  für  eine  Vermuthung  der  baierischen  Historiker  ohne 
hinreichenden  Grund  erklärt  werden13).  Büdinger  hat  auch 
die  Behauptung  widerlegt,  dass  Walrade  nicht  die  Gemahlin 
des  Garibald  von  Baiern,  sondern  eines  anderen  gleichen 
Namens  gewesen  sei;  gegen  Büdinger  selbst14)  hielt  aber 
Waitz  gewiss  mit  Recht  fest ,  dass  Theodelinde  nicht  blos 
die  Stieftochter  Garibalds,  sondern  dessen  leibliche  Tochter 
gewesen  sei15).     Ich  sehe  freilich  ein,  dass  damit  noch  kein 

12)  Rettberg,  Kirchengesch.  Deutschi.  II,  179  ff. 

13)  Blumberger,  Arch.  f.  österr.  Gesch.-Quell.  XVI,  355  ff. 
und  früher  in  den  Wiener  Jahrb.  74,  169  ff.  P.  Roth,  Ueber  die 
Entstehung  der  lex  Bai. 

14)  Büdinger,  Zur  Kritik  altbai.  Gesch.  in  d.  Sitzungsb.  der 
k.  k.  Akad.  in  Wien,  1857.  Bd.  23  und  Oest.  Geschichte  I,  78  f. 

15)  Waitz,  a.  a.  0.  S.  137  ff.  Vgl.  ders.  i.  d.  Gott.  gel.  An- 
zeigen 1850.  S.  342  f.  Hille,  Prosperi  continuator  p.  35.  Pertz, 
Archiv  X,  380  f.  Das  Edikt  des  K.Rotharis  bei  Pertz,  leges  IV,  645. 


Friedrich:  Leon  Baiuwariorum.  3&f 

direkter  Beweis  dafür  gegeben  ist,  dass  Garibald  selbst 
Christ  war16);  allein  wenn  seine  ganze  Familie  katholisch 
war,  ist  wohl  bei  ihm  das  gleiche  religiöse  Bekenntniss  vor- 
auszusetzen, sowie  ich  Waitz  beistimmen  muss,  wenn  er  sagt: 
„An  sich  schon  muss  es  wenig  glaublich  erscheinen,  dass 
die  Wittwe  eines  Fränkischen  Königs  im  6.  Jahrhundert, 
die  nach  Gregors  von  Tours  Bericht  zuerst  der  Nachfolger 
Theudebalds  Chlothachar  für  sich  genommen,  dann  nach  dem 
Willen  der  Bischöfe,  weil  sie  seine  Schwägerin,  aufgegeben, 
und  dem  Bairischen  Herzog  vermählt  hatte,  einem  Heiden 
gegeben,  dass  überhaupt  auch  nur  in  dieser  Zeit  ein  Heide 
als  Herzog  im  fränkischen  Reich  geduldet  wäre".  Immerhin 
würde  jedoch  die  Thatsache  feststehen ,  dass  Walrade  in 
Baiern  als  Christin  leben  und  Theodelinde  als  solche  er- 
zogen werden  konnte.  Und  dass  das  Geschlecht  Garibalds 
katholisch  blieb,  scheint  mir  auch  ein  gleichzeitiger  Hymnus 
auf  Theodelindens  Neffen,  den  langobardischen  König  Aripert 
(652 — 661),  in  Oltrocchi's  Ecclesiae  Mediolan.  historia 
ligustica  zu  verbürgen.  Nach  ihm  stammt  Aripert  nicht 
nur  aus  Baiern,  sondern  war  offenbar  dort  auch  als  Katholik 
erzogen  worden.  Gleich  seiner  Tante  rottete  er  den  Arianis- 
mus  aus  und  arbeitete  er  für  die  Ausbreitung  des  Katholi- 
cismus.  (Sublimes  ortus  in  finibus  europe  langibardorum 
regale  prosapia  rex  haribertus  pius  et  catholicus  Arrianorum 
abolevit  haeresem,  et  christianam  fidem  fecit  crescere17). 

Selbstverständlich  braucht  noch  an  keine  vollständige 
Christianisirung  Baierns  gedacht  zu  werden.  Auch  bei  den 
Franken  schritt  sie  trotz  der  unverhältnissmässig  günstigeren 
Umstände  nur  langsam  voran,  und  Gleiches  ist  auch  in  Ala- 
mannien  zu  beobachten.     Die  von  Jonas  von  Bobio  und  dem 


16)  Büdinger,  a.  a.  0. 

17)  Oltrocchi,    Ecclesiae    Mediolan.    hist.    Ligustica,     1795. 
II,  536  sq. 

24* 


358  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  7.  März  1874. 

Biographen  der  hl.  Salaberga18)  erwähnte  Missionsreise 
des  hl.  Eustasius  von  Luxeuil  nach  Baiern  kann  darum 
noch  immer  stattgefunden  haben.  Die  von  Blumberger  da- 
gegen vorgebrachte  Einwendung19)  hat  schon  Büdinger  nicht 
weiter  betont,  und  was  er  selbst  geltend  machte20),  weist 
Waitz  mit  den  Worten  ab :  „Auch  seine  (Büdingers)  Deut- 
ung der  Nachricht  des  Jonas  über  die  Thätigkeit  des  Eusta- 
sius bei  den  Boji,  qui  nunc  Bavocarii  vocantur,  auf  Bojer 
in  Gallien  kann  ich  nicht  für  berechtigt  halten21)'4.  Die 
Identificirung  der  Bavokarier  oder  Baikarier  mit  den  Bojern 
ist  überhaupt  nur  eine  von  jenen  häufigen  gelehrten,  aber 
fast  eben  so  häufig  falschen  Combinationen  der  Legendisten  : 
sie  hatten  nämlich  ohne  Zweifel  von  Baikariern  zu  sprechen, 
und  die  Bojer  sind  lediglich  ihre  eigene  Zuthat.  Anders- 
wo ein  Volk  des  Namens  Baicarii  aufzufinden  ist  aber  un- 
möglich, während  diese  Form  des  Namens  in  der  vita  s. 
Salabergae  nur  auf  die  Bajuwaren  gehen  kann:  sie  ist  eine 
identische  Form  mit  Peigira,  wie  nachZeuss  und  Weinhold12) 
gegenüber  der  „alten,  vollen,  feierlichen,  in  den  Urkun- 
den gebrauchten  Form  des  Namens"  Baiovarii  „im  Volke 
seine  Benennung  bloss  durch  die  Ableitung  — ari,  — iri  aus 
Baia  gebildet"  wurde.  Und  auch  in  Baiern  scheint  schon 
frühzeitig  diese  Auffassung  geherrscht  zu  haben ,  da  ein 
Freisinger  Kalendar  das  10.  Jahrhunderts  den  hl.  Eustasius 
am  2.  April  —  verschieden  von  anderen  Kaiendarien  — 
feiert"). 

18)  Vita  s.  Eustasii  autore  Jona  Bob.  bei  Mabill.  Acta  II, 
117  sq.     Vita  s.  Salabergae  1.  c.  p.  423.    Vita  s.  Agili  1.  c.  p.  319. 

19)  Blumberger,  Archiv  X,  357  ff. 

20)  Büdinger,  Sitzgsber.  23,  372  ff. 

21)  Waitz,  Nachrichten  1869.  S.  136.  not.  2.  Auch  Zeuss, 
a.  a.  0.  S.  379  f.  fasst  diese  Stellen  so  auf. 

22)  Zeuss,  a.  a.  0.  S.  367.  nota.  Wein  hold,  Bair.  Grammatik, 
1867.  S.  1.  not.  2.  Bei  Merkel,  lex  Bai.  (leg.  III,  183)  finden  sich 
ebenfalls  Formen,  wie  bacuarii,  paeuarii,  bagoarii,  baguarii. 

23)  Cod.  lat.  Monac.  6421  (Fris.  211). 


Friedrich:  Lex  Baiuwariorum.  359 

Diese  Missionsreise  des  Eustasius  würde  etwa  in  das 
2.  Jahrzehent  des  7.  Jahrhunderts  fallen.  Von  da  an  scheint 
aber  Baiern  nicht  mehr  als  Missionsland  betrachtet  worden 
zu  sein;  denn  c.  630,  wird  uns  berichtet,  war  solches  nur 
noch  jenseits  der  baierischen  Gränzen.  Dorthin  zog  es  da- 
mals den  hl.  Amandus  von  Mastlicht.  Wir  sehen  diesen 
Heiligen  die  grössten  Kreuz-  und  Querfahrten  machen;  wo 
er  hört,  dass  noch  ein  unbekehrtes  Volk  sitzt,  dahin  eilt 
er,  um  mindestens  einen  Versuch  der  Bekehrung  zu  machen. 
So  vernimmt  er  c.  630,  dass  die  Slaven  jenseits  der  Donau 
den  Namen  Christi  noch  nicht  kennen.  Sofort  macht  er 
sich  zu  ihnen  auf  den  Weg,  überschreitet  die  Donau  und 
durchwandert  ihre  Wohnsitze,  erntet  aber  nur  geringe  Früchte, 
so  dass  er  zu  seinen  eigenen  Schafen  zurückkehrt24).  Es 
ist  kein  Zweifel  und  auch  Büdinger25)  gesteht  es  zu,  dass 
er  ,, durch  Baiern  gegangen"  sei.  Wenn  aber  Büdinger 
hinzufügt,  dass  „dies  die  einzige  erhaltene  Notiz  über  An- 
wesenheit eines  Bekehrers  bei  den  Baiern  vor  dem  Ende 
des  (7.)  Jahrhunderts"  sei,  so  muss  ich  dagegen  doch  be- 
merken, dass  in  der  gleichzeitigen  Biographie  mit  keiner 
Silbe  gesagt  sei,  dass  sich  Amandus  in  Baiern  aufgehalten 
oder  auch  nur  Gelegenheit  und  Boden  für  eine  Missions- 
thätigkeit  gefunden  habe,  sondern  mit  aller  Bestimmtheit 
angegeben  werde,  dass  erst  jenseits  der  baierischen  Gränzen 
Missionsland  sich  gefunden  habe. 

Dazu  stimmt  auch,  dass  Titel  IX.  der  lex  Baiuwariorum 
welcher  der  ,, zweiten  Redaction"  unter  K.  Dagobert  ange- 
hören soll,  schon  die  Kirchen  als  öffentliche  Gebäude  neben 
dem  Hofe  des  Herzogs,  der  Schmiede  und  Mühle  nennt. 

Endlich  muss  ich  noch  auf  das  Bild  hinweisen,  welches 
einige  Urkunden,  die  in  den  Monumenta  Boica  unter  denen 


24)  Vita  s.  Amandi  bei  Mabill.  Acta  II,  175. 

25)  Büdinger,  Oesterr.  Gesch,  I,  82  f. 


360  Sitzung  der  histor.  Casse  vom  7.  März  1874. 

des  Bisthums  Passau  veröffentlicht  wurden16),  für  das  7. 
Jahrhundert  vor  unseren  Augen  entrollen :  Eine  vollständige 
geistliche  Hierarchie,  Kirchen  mit  Besitz  über  weite  Strecken 
des  Landes  hinweg,  ebenso  auf  dem  Lande  begüterte  Priester 
sind  die  sichersten  Zeichen  festbegründeter  kirchlicher  Zu- 
stände. Nach  den  erwähnten  Urkunden  schenken  zwei  Priester, 
Reginolf  und  Sigirich,  und  eine  Koza  an  verschiedenen  Orten 
des  Traungaues  Besitzungen  an  die  Kirche  S.  Stephan  in 
Passau.  Dabei  ist  nur  eine  Schwierigkeit  zu  überwinden. 
Während  nämlich  die  Herausgeber  der  Monumenta  boica 
die  Zeit  der  Schenkungen  zwischen  600  —  639  ansetzen  und 
selbst  Rettberg  meint,  dass  auf  Grund  der  hieher  gehörigen 
Urkunden  eine  Bischofsreihe  für  Passau,  resp.  noch  Lorch, 
höher  hinauf  bis  zu  jenem  Constantin  im  5.  Jahrhundert 
anzunehmen  sei17),  werden  diese  Urkunden  entweder  ganz 
übergangen,  oder,  wie  von  Dümmler,  erst  um  700  ange- 
setzt28). Da  die  Urkunden  kein  Datum  tragen,  die  Zeit  der 
darin  genannten  Bischöfe  Erchanfried  und  Otakar  nicht 
näher  bekannt  ist,  so  sind  diese  Schwankungen  allerdings 
erklärlich.  Mag  man  jedoch  auf  den  Umstand  kein  weiteres 
Gewicht  legen,  dass  beide  Bischöfe  in  den  Quellen  dos  8. 
Jahrhunderts,  namentlich  in  dem  Verbrüderungsbuche  von 
St.  Peter  in  Salzburg,  nicht  genannt  werden  und  deshalb 
wohl  einer  früheren  Zeit  angehören ,  so  genügt  selbst  die 
Annahme  Dümmlers,  um  eine  Bischofsreise  in  Baiern  für 
das  7.  Jahrhundert  festzustellen.  Ich  setze  Otakar  c.  700 
an,  denn  ein  späteres  Datum  kann  meines  Erachtens  in  keiner 
Weise  gerechtfertigt  werden.  Da  nun  dieser  der  Nachfolger 
Erchanfrieds  war,  letzterer  aber  ausdrücklich  „Vorgänger'* 
(anteriorum  episcoporum  temporibus),  also  mindestens  zwei 
Bischöfe  als  Vorfahren  hatte,    so  stehen  wir  nach  der  auch 

26)  Monum.  boica  28.  2.  p.  35.  40.  63. 

27)  Rettberg,  KG.  II,  246. 

28)  Dümmler,  Piligrim  v.  Passau,  S.  3. 


Friedrich:  Lex  Baiuwariorum.  361 

von  Rettberg  angenommenen  Durchschnittsrechnung  von  20 
Jahren  für  je  einen  Bischof  ungefähr  bei  dem  Jahre  620, 
also  in  der  Zeit  Chlothars  oder  spätestens  Dagoberts  I. 

Nehmen  wir  all  diese  Punkte,  welche  die  Kritik  voll- 
ständig bestanden  haben ,  zusammen ,  so  muss  man  nicht 
nur  gestehen,  dass  z.  B.  für  Alamannien,  dessen  Lex  auch 
in  ihren  kirchlichen  Bestimmungen  als  unter  K.  Chlotar  ge- 
geben nicht  bestritten  wird,  kaum  mehr  Zeugnisse  für  seinen 
christlichen  Charakter  vorhanden  sind,  sondern  auch  zu- 
geben, dass  die  Zeit  Dagoberts  I  ganz  geeignet  erscheint, 
um  an  die  Spitze  der  Lex  Bai.  Tit.  I.  u.  II  zu  setzen. 

Ich  glaube  jedoch  gerade  aus  Tit.  I.  10  einen  Grund 
ableiten  zu  können ,  dass  wenigstens  diese  Bestimmung  nur 
aus  der  Zeit  Chlotars  II.  oder  Dagoberts  I.  stammen  könne. 
Vor  Allem  ist  es  sehr  beachtenswerth,  dass  I.  10  sich  selbst 
als  ein  besonderes  „Edikt"  einführt  und  in  ihm  auffallender 
Weise  die  Worte  des  Edikts  Chlotars  II.  von  614  nach  der 
Generalsynode  von  Paris  in  demselben  Jahre,  auf  den  Bischof 
angewendet,  wiederkehren89),  worin  hier  wie  dort  das  Ver- 
fahren wegen  Kriminalvergehen  festgestellt  wird,  so  dass  sich 
der  materielle  wie  formelle  Purallelismus  gar  nicht  verkennen 
lässt:  Decret.  v.  614,  n.  4:  Ut  nullus  judicum  de  quolibet 
ordine  clericos  de  civilibus  causis,  praeter  criminalia  negotia, 
per  se  distringere  aut  damnare  praesumat,  nisi  con- 
v  i  n  c  i  t  u  r  manifestum,  excepto  presbytero  aut  diacono.  Q  u  i 
vero  convicti  fuerint  de  crimine  capitali,  juxta  ca- 
nones  distring  intur  .  .  .  Leg.  tit.  I.  10:  .  .  .  Et  si  Epis- 
copus  contra  aliquem  culpabilis  apparet,  non  praesumat 
eum  occidere,  quia  summus  pontifex  est:  sed  mallet  eum  .  .  .; 
et  si  convictus  crimine  negare  non  possit,  tuncsecun- 
dum  canones  ei  judicetur  ...  In  keinem  Concilscanon, 
welcher    über  den   gleichen    Gegenstand   handelt,    wie   der 


29)  Pertz,  leges  III,  274  u.  I,  14. 


362  Sitzung  der  histor.  Casse  vom  7.  März  1874. 

can.  7  der  I.  Synode  von  Macon  und  der  6.  der  General- 
synode von  Paris30),  ist  aber  dieser  materielle  und  formelle 
Parallelismus  vorhanden.  Es  lässt  sich  darum  eine  gewisse 
Verwandtschaft  zwischen  dem  Ghlothar'schen  Decrete  and 
der  Lex  Baiuwariorum  Tit.  I.   10  nicht  verkennen. 

Aber  auch  schon  im  Eingange  dieses  Abschnittes  des 
I.  Titels  begegnet  eine  Bestimmung,  welche  sich  meines 
Wissens  nur  noch  in  dem  angeführten  Decrete  Chlotars  II. 
findet31).  Die  lex  spricht  nämlich  dort  davon,  dass  „der 
Bischof  entweder  vom  Könige  oder  Volke  gewählt'4  werde, 
während  das  Chlotar'sche  Decret  §1.  neben  der  kanonischen 
Wahl  eines  Bischofes  auch  noch  eine  solche  durch  den 
König  festsetzt  (si  de  palatio  eligitur).  Der  Text  der  Lex 
heisst:  Si  quis  episcopum,  quem  constituit  rex  vel  populus 
elegit  sibi  pontificem  .  .  .,  und  ich  will  nur  die  Bemerkung 
machen,  dass  hier  unmöglich,  wie  sich  ja  schon  aus  dem 
Texte  selbst  ergibt,  vel  mit  et  identisch  genommen  werden 
könne,  was  Klocker  in  seinen  antiquitates  eccles.  ex  legibus 
Bajuvar.  select.  p.  46  f.  thut.  Ausserdem  spricht  auch  da- 
gegen, dass  in  dem  nämlichen  Abschnitte  wohl  vel  für  aut 
und  umgekehrt  steht,  nie  aber  statt  et.  Endlich  geht  der 
Sinn  auch  aus  der  Stelle  über  den  Herzog  Tit.  II.  1  her- 
vor: Si  quis  contra  ducem  suum,  quem  rex  ordinavit  in 
provincia  illa,  aut  populus  sibi  elegerit  ducem  .  .  . 

Nichts  wurde  von  den  Bischöfen  des  Frankenreichs 
strenger  gehütet,  als  die  kanonische  Bischofswahl.  Fast  keine 
Synode  wurde  gehalten,  ohne  dass  von  ihr  neue  Bestimm- 
ungen zu  ihrem  Schirme  getroffen  wurden;  nie  aber  ge- 
statteten sie  dem  Könige  ein  reines  Ernennungsrecht.  Was 
sie  ihm  zugestanden,  war  nur  ein  königliches  Gutachten  und 
Zustimmung  zur  canonisch  vorgenommenen  Wahl,  praeceptum 

30)  Meine  Drei  unedirte  Concilien. 

31)  vel  certe,   si   de  palatio  eligitur   per  meritum  personae  et 
doctrinae  ordinetur. 


Friedrich:  Lex  Baiuwariorum.  363 

oder  auch  praeceptio  genannt.  Um  so  überraschender  musste 
es  für  den  Episcopat  sein,  als  plötzlich  614  von  Chlothar 
ein  bisher  stets  gerügtes  Verfahren  Seitens  der  Krone  gesetz- 
lich anerkannt  werden  sollte.  Und  wenn  wir  auch  keine 
Nachrichten  über  Verhandlungen,  welche  darüber  geführt 
worden  wären,  haben,  die  Generalsynoden  von  Rheims  625 
und  Clichy  626  beweisen  hinreichend32),  dass  die  Bischöfe 
diese  Bestimmung  Chlotars  nicht  anerkannten  und  schliesslich 
auch  der  König  nachgab. 

Leider  besitzen  wir  von  den  Bestimmungen  der  Synode 
von  Rheims  625  keinen  genauen  Text.  Der  Verlust  ist 
jedoch  nicht  so  gross,  da  die  Canones  der  Synode  von 
Clichy  626  wesentlich  die  nämlichen  sind.  An  dieser  ist 
insbesondere  die  Vorrede  neu,  und  erfahren  wir  aus  der- 
selben, dass  Chlothar,  wie  schon  614  zu  Paris,  so  625  zu 
Rheims  sämmtlicbe  Bischöfe  des  Frankenreichs  in  seiner 
Gegenwart  zusammentreten  Hess,  um  eine  Kirchenconstitution 
auf  Grund  der  alten  Canones  abzufassen.  Dieselbe  wurde 
denn  auch  in  der  ihr  von  den  Bischöfen  gegebenen  Form 
auf  königlichen  Befehl  veröffentlicht.  Was  aber  die  General- 
synode am  meisten  mit  Freude  erfülle  und  zu  Dank  ver- 
pflichte ,  sei  der  Umstand,  dass  die  Constitution  auch  in 
Allem  gehalten  werde33).  Gerade  die  Generalsynode  von 
Rheims  hatte  aber  die  canonische  Bischofswahl  allein  wieder 
festgehalten  und  jede  andere  Form  der  Bischofsernennung 
verpönt,   geradeso   wie  auch  die  Synode  von  Clichy.     Wenn 


32)  Drei  unedirte  Concilien  S.  9.  66. 

33)  Ergo  quando  nobis  vestrae  bonitatis  gratia  fiduciam  con- 
tulit  suggerendi  supplices  speramus ,  ut  eam  constitutionis  regulam 
nobis  per  omnia  conservetis,  quam  Parisius  ac  Remus  vobis  praesen- 
tibus  in  universali  Galliarum  et  magna  synodo  juxta  canonum  in- 
stitutionem  constitui  praecepistis.  Est  nobis  valde  gratissimum,  ut 
ea  quae  vestro  sunt  imperio  generaliter  promulgata  atque  tantis 
öacerdotibus  sunt  edita  vel  digesta,  in  omnibus  conserventur  .  .  , 


364  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  7.  März  1874. 

aber  gleichwohl  beide  Synoden  nebenbei  in  je  2  Canones 
das  Edikt  Chlotars  von  614  aufs  nachdrücklichste  einschärfen, 
ausserdem  aber  weder  die  Bestimmungen  des  Edikts  noch 
der  Synode  von  Paris,  mit  Ausnahme  des  Canons  über  die 
Bischofswahl ,  berühren ,  so  scheint  mir  daraus  zu  folgen, 
dass  Chlotar  selbst  auf  der  Generalsynode  von  Rheims  seine 
Bestimmung,  dass  neben  der  canonischen  Bischofswahl  auch 
eine  blos  königliche  Ernennung  stattfinden  könne ,  abrogirt 
habe. 

Daraus  folgt  aber  dann  weiter,  dass  die  Bestimmung 
über  die  Bischofbestellung  in  Tit.  I.  10  der  Lex  Bai.  nur 
aus  der  Zeit  Chlotars  und  zwar  zwischen  614— 625  stammen 
könne,  sei  es  nun,  dass  er  selbst,  da  er  nur  613—22 
über  Baiern  herrschte,  ihn  für  die  Baiern  als  gesetzliche 
Bestimmung  gab,  sei  es,  dass  sein  Sohn  Dagobert  I.  den- 
selben herübernahm. 

Dies  entspricht  aber  auch  der  Sachlage  in  der  Folge- 
zeit ;  denn  nirgends  begegnen  wir  weiter  dieser  Bestimmung. 
So  z.  B.  haben  sie  nicht  die  Synode  von  Chalons  an  der 
Saone  unter  Chlodwig  II.  c.  650 34),  von  Latour  unter  Chil- 
derich  IL35).  Später  finden  wir,  wenn  auch  wie  vor  Chlotars 
Decret  eigenmächtige  Ernennungen  vorkamen,  doch  nur  die 
Anordnungen  von  Rheims  und  Clichy  als  zu  Recht  bestehend. 
Die  Könige  selbst  beanspruchen  kein  anderes  Recht,  als  die 
Bestätigung  der  vorhergehenden  canonischen  Wahl,  ja  sie 
veranlassen  dieselbe  sogar  öfter  direkt,  wie  solche  Beispiele 
Thomassin  zusammengestellt  hat86). 

Eine  andere  Gattung  von  Quellen  bilden  die  Formel- 
bücher, zunächst  die  Marculfischen  Formeln,  in  Bezug  auf 
welche  sich  Rettberg  täuschen  liess,  so  dass  er  meinte,  auch 
sie  „kennen  nur  die  Anstellung  der  Bischöfe  aus  der  Gewalt 

34)  M ans i  X,  1191.  can.  10. 

35)  Maassen,  Zwei  Synoden  unter  K.  Childerich  II.  S.  21.  c.  5. 

36)  Thomassin,  discipl,  eccl.  II.  2.  c.  14.  nr.  6.  8. 


Friedrich:  Lex  Baiuwariorum.  365 

des  Königs,  wiewohl  derselbe  sich  dabei  des  Beiraths  seiner 
Grossen  und  Bischöfe  bedient  und  auf  Wünsche  und  Bei- 
stimmung des  Klerus  und  Volks  Rücksicht  nimmt''37).  Rett- 
berg bezieht  sich  aber  dabei  nur  auf  das  praeceptum  pro 
episcopatu  und  den  Indiculus  regis  ad  Episcopum  ut  alium 
benedicat,  und  übersieht  den  beiden  vorausgehenden  von 
dem  Wahlkörper  auszufertigenden  und  einzusendenden  Con- 
sensus  (auch  decretum  genannt).  Mit  der  sonstigen,  genau 
aus  erhaltenen  Decreten,  Präceptum  und  Indiculus  nachweis- 
baren Praxis  stimmt  Rettbergs  Ansicht  nicht  überein. 

Speziell  aber  in  Baiern  ist  eine  königliche  Ernennung 
der  Bischöfe  nicht  nachzuweisen,  was  auch  Merkel  in  seiner 
Ausgabe  der  Lex  (III,  382.  note  18)  im  Gegensatze  zu  der 
Bestimmung  der  Lex  hervorhebt;  nur  ist  damit  keineswegs 
bewiesen,  dass  das  königliche  Ernennungsrecht  nicht  zu  Recht 
bestanden  hätte :  beide  Arten  der  Wahl  bestanden  ursprüng- 
lich nach  der  Lex  neben  einander.  Allein  zwei  Nachrichten 
verbürgen,  dass  auch  in  Baiern  auf  die  kgl.  Ernennung  ver- 
zichtet war.  Als  nämlich  Pipin  den  B.  Virgilius  ins  Land 
sandte,  geschah  es  nicht,  weil  dem  Könige  des  Franken  - 
reiches  ein  ausschliessliches  Ernennungsrecht  zur  Seite  ge- 
standen hätte,  sondern  nur  empfehlungsweise,  und  musste 
daher  Virgil,  wie  es  Alkuin  selbst  bezeugt,  erst  die  An- 
erkennung des  Otilo  erlangen ,  ehe  er  den  Stuhl  von  Salz- 
burg in  Besitz  nehmen  konnte38).  Nicht  lange  nachher  — 
es  war  unter  den  Söhnen  Pipins  —  finden  wir  zum  ersten 
Male  wieder  eine  auf  den  fränkischen  König  lautende  Be- 
stimmung. In  dem  Formelbuch  des  Erzbischofes  Arn  von 
Salzburg39)  ist  nämlich  auch  eine  Formel  für  das  königliche 

37)  Rettberg,  KG.  II,  605  f. 

38)  Pertz,  leg.  III,  382.  d.  16.     Rettberg,   II,  233. 

39)  Rockinger,  Drei  Formelbücher  aus  der  Zeit  der  Karo- 
linger, in  Quell,  z.  bay.  u.  deutsch.  Gesch.  VII,  102  f.  Dass  diese 
Formel  nach  Marculf  abgefasst  ist,  ergibt  sich  schon  daraus,  weil  sie 


366  Sitzung  der  histor.  Classe  vom   7.  März  1874. 

Präceptum  enthalten,  die  ausdrücklich  die  canonische  Wahl 
voraussetzt.  Da  nun  aber  Formelbücher  zumeist  aus  dem 
Urkundenvorrath  des  betreffenden  geistlichen  Instituts  und 
der  Gegend  zusammengestellt  wurden ,  so  haben  wir  hier 
eine  rein  baierische  Quelle ,  welche  uns  die  canonische  Wahl 
für  Baiern  garantirt  und  dem  Könige  nur  die  Ausfertigung 
eines  Präceptums  zuspricht,  also  auch  beweist,  dass  die  Be- 
stimmung der  Lex  über  eine  rein  königliche  Ernennung  im 
8.  Jahrhundert  nicht  mehr  in  Geltung  war.  Damit  gehen 
jedoch  auch  die  von  Merkel  zusammengestellten  historischen 
Nachrichten  Hand  in  Hand,  indem  wir  nur  Bestätigungen, 
nicht  Ernennungen  der  Bischöfe  durch  die  Könige  finden40). 


sich    bei  ihm  nicht  findet;   dass  sie  nur  unter  den  ersten  karolingi- 
schen  Königen,  und  zwar  erst  unter  Pipins   d.  Kl.  Söhnen  abgefasst 
sein  kann,  aus  dem  ihnen  charakteristischen  ,,gratia  dei  rex",  Sickel, 
Beiträge  z.  Diplomatik  III,  9  ff. 
40)  Pertz,  1.  c. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  367 


Verzeichniss  der  eingelaufenen  Büchergeschenke, 


Von  der  k.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Göttingen: 

Das  Buch   der  Jubiläen  oder   die   kleine  Genesis  herausgegeben  von 
Hermann  Rons  eh.  Leipzig  1874.  8. 

Von  der  ungarischen  Akademie  der  Wissenschaften  in  Pesth: 
Evkönyvei.  Bd.  XIV.  1873.  4. 

Vom  historischen  Verein  für  Oberfranken  zu  Bamberg: 

a)  35.  Bericht.  Jahrg.  1872.  8. 

b)  Bericht  über  das  bisherige  Bestehen  und  Wirken  des  histori- 
schen Vereins  des  Ober-Main-Kreises  in  Bamberg  vorgelesen 
am  19.  Febr.  1834.  2.  Auflage.  1873.  8. 

Von  der  Gesellschaft  für  Salzburger  Landeskunde  in  Salzburg: 
Mittheilungen.  XJII.  Vereinsjahr.  1873. 

Von  der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin: 
Monatsbericht.  1874.  8. 

Vom  historischen  Filial-Verein  in  Neuburg: 
Collektaneen-Blatt  für  die  Geschichte  Bayerns.  Jahrg.  37.  1873.  8. 


368  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Von  der  kaisert  Akademie  in  Wien: 

a)  Denkschriften.  Philosophisch-historische  Classe.  22.  Bd.  1883.  4. 

b)  Sitzungsberichte.  Philos.-histor.  Classe.  LXXIV.  Bd.  1673.  8. 

c)  Archiv  für  österreichische  Geschichte.  51.  Bd.  1873.  8. 

Von  der  schlesischen  Gesellschaft  für  die  vaterländische  Cultur 
in  Breslau: 

a)  50.  Jahresbericht  im  Jahre  1872.  8. 

b)  Abhandlungen.  Philosophisch-historische  Classe  1872/73.  8. 

Von  der  böhmischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Prag: 
Sitzungsberichte.  1874.  8. 

Von  der  Redaktion  des  Correspondenz-Blattes  für  die  gelehrten  und 
Realschulen  Württembergs  in  Stuttgart: 

Correspondenzblatt  1874.  8. 

Von  der  südslavischen  Akademie  der  Wissenschaften  in  Agram: 

a)  Rad   Bd.  25.  1873.  8. 

b)  Rad.  Bd.  26.  1874.  8. 

c)  Starine.  Bd.  V.  1873.  8. 

Von  der  Societe  des  etudes  historiques  in  Paris: 
L'Investigateur.  1874.  8. 

Von  der  neurussischen  Universität  in  Odessa: 
Sapiski.  Tom.  I— XI.  1867-73.  8. 

Von  der  Societe  protectrice  des  animaux  in  Paris: 
Bulletin.  1874.  8. 

Von  der  k.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Gothemburg: 
Göteborgs  konigl.   vetenskaps    och   vitterhets   samhälles  handlingar. 
Ny  Tidsföljd.  Haftet  12.  1873.  8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  369 

Von  der  Genootschap  van  Künsten  en  Wetenschappen  zu  Batavia: 

a)  Tijdschrift  voor  Indische    Taal-,    Land-   en  Volkenkunde.    VII 
Serie  Del.  I.  1872—73.  8. 

b)  Notulen  van  de  Algemeene  en  Bestuurs-Vergaderingen.  Del.  XI. 
1873.  8. 

c)  Alphabetische  Lijst  van  Land-,  Zee-,  Rivier-,  Wind-,  Storm-  en 
andere  Kaarten.  1873.  8. 

Vom  New  York  State  Library  in  Albany: 

a)  Catalogue  of  the  New  York  State  Library,  1872.   Subject-Index 
of  the  General  Library.  1872.  8. 

b)  54th.  and  55 th.  Annual  Report  of  the  Trustees  of  the  New  York 
State  Library.  1872—73.  8. 

Vom  Board  of  Education  in  Boston: 
36 ih.  Annual  Report  1873.  8. 

Vom  Board  of  State  Charities  of  Massachusetts  in  Boston : 
9th.  Annual  Report.  1873.  8. 

Vom  Board  of  Public  of  the  first  School  District  of  Pennsylvania  in 
Philadelphia: 

54th.  Annual  Report,  for  1872.  8. 

Vom  Peabody  Museum  of  American  Archaeology  and  Ethnology 
in  Cambridge: 

5th.  and  6th.  Annual  Report,  preaented  May  1872   and  May  1873    8. 

Vom  Harvard  College  in  Cambridge: 
47 th.  Annual  Report  1871—72.  8. 

Von  der  Reale  Accademia  delle  Scienze  in  Turin: 
Memorie.  Serie  II.  Tomo  XXVII.  1873.  4. 


370  Einsendungen  von  Druckschriften, 

Vom  Ateneo   Veneto  in   Venedig: 
Atti.  Serie  IL  Vol.  IX— XL  1872—1874.  8. 

Von  der  Academie  des  Sciences,  Belles-Lettres  et  Arts  in  Eouen: 
Precis  analytique  des  travaux.  Pendant  l'annee  1871/72.  8. 

Von  der  Academie  de  Stanislas  in  Nancy: 
Memoires  1873.  123.  annee.  4.  Serie.  Tome  V.  1873.  8. 

Vom  Geschichts-  und  Alterthumsverein  in  Leisnig: 
Mittheilungen.  1874.  8. 

Vom  historischen   Verein  von  Oberpfalz  und  Begensburg  in 
Begensburg : 
Verhandlungen.  29.  Bd.  1874.  8. 

Vom  historischen   Verein  für  Steiermark  in  Graz: 

a)  Mittheilungen.  21.  Heft.  1873.  8. 

b)  Uebersicht   aller   in  den  Schriften   des  historischen  Vereins  für 
Steiermark  bisher  veröffentlichten  Aufsätze.  1873.  8. 

c)  Beiträge  zur  Kunde  steiermärkischer  Geschichtsquellen.  10.  Jahrg. 
1873.  8. 

Vom  Verein  für  Kunst  und  Alterthum  in  Ulm  und  Oberschwaben 

in  Ulm: 

a)  Verhandlungen.  Neue  Reihe.  6.  Heft.  1874.  4. 

b)  Ulmisches    Urkundenbuch.    Von   Dr.   Friedr.  Pres  sei.   1.  Bd. 
Die  Stadtgemeinde;  von  854—1314.  Stuttgart  1873.  4. 

Von  der  Commissione  Archeologica  Municipäle  in  Born: 
Bulletino.  Novembre— Decembre  1873.  8. 

Von  der  Universität  in  Leyden: 
Annales  Academici  1868/1869.  1869/1870.  4. 

Von  der  Asiatic  Society  of  Bengal  in  Calcutta : 

a)  Proceedings  1873.  8. 

b)  Journal.  Part  I— IL  1873.  8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  371 

Von  der  Academia  das  Sciencias  in  Lissabon: 
Kevista  de  Portugal  e  Brazil.  2.  Vol.  1874.  8 

Von  der  Sociedad  Antropologica  Espanola  in  Madrid: 
Hevista.  Ouaderno  4.  1874.  8. 

Von  der  Royal  Asiatic  Society  North-China  Branch  in  Shanghai: 

a)  Journal  for  1871  und  1872    New  Series  No.  VII.  1873.  8. 

b)  Catalogue  of  the  library.  By  Henry  Cordier.  187*2.  8. 


Vom  Herrn  Alfred  von  Beumont  in  Bonn: 
Lorenzo  di   Medici.  I.  II.  Band.  Leipzig  1874.  8. 

Vom  Herrn  Gar  ein  de  Tassy  in  Paris: 
La  langue  et  la  litterature  hindoustanies  en  1873.  8. 

Vom  Herrn  Philippe  Margaritis  in  Athen: 

Catalogue    de    la    collection    de    medailles    grecques,    romaines    et 

byzantines  de  Philippe  Margaritis  d'  Athenes.  Paris  1874.  8. 

Vom  Herrn  W.   Wright  in  Cambridge: 
Fragments  of  the  Homilies  of  Cyril  of  Alexandria  in  syr.  4. 

Vom  Herrn  Carlo    Valenziani  in  Born: 
Kau-kau   wau-rai   ossia  la   via   della    pietä   filiale,   testo    giapponesc 
tradotto  in  italiano.  1873.  8- 

Vom  Herrn  J.  de  Witte  in  Paris: 
Histoire    de  la   monnaie  romaine    par  Theodore  Mommsen,  traduite 
de  l'allemand.  Tom.  3.  1873.  8. 

Vom  Herrn  Charles  Schöbel  in  Paris: 

Le  Buddhisme  ses  origines.     Le   nirvana   aecord    de  la  morale  avec 
le  nirvana.  1874.  8. 
[1874,  3.  Phil.  hist.  Cl.]  25 


372  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Vom  Herrn  J.  G.   Wetzstein  in  Berlin: 
Vier  Excurse  zu  Delitzschs  Psalm en-Commentar.  1874.  8. 

Vom  Herrn  Leopold  Beckh-Widmannstetter  in  Graz: 

Ulrichs    von  Liechtenstein    des  Minnesängers   Grabmal  der  Frauen- 
burg. 1871.  8. 

Vom  Herrn  W.  Schlötel  in  Stuttgart: 

Die  Berliner  Akademie  und   die    Wissenschaft.      Prüfung  logischer 
Untersuchungen.  Heidelberg  1874.  8. 

Vom  Herrn  John  Muir  in  Edinburg : 

Original  Sanskrit  Texts   on  the  origin   and  history  of  the  people  of 
India,   their  religion  and  institutions.  Vol.  I — V.  London.  1872. 


I.  «Innenseite. 
Zu  Fr.  OMenscklagers  ,Mkdl.  Das  K&autujyer  JKiZitxtird£Plo, 


72. 


I.iih  Ajist  v. Gebrüder  Obpacher,Müin 


Sitzungsberichte  dr.k.fr.  ikcuLdM  i8TU*.L$. 


I.Aus  senseite 


BVCjULB 


IT.  «Innenseite 


J 
•J 
^ 

«te* 

^r\    1 

4 

u 

4^ 

&*=r 

<==/ 

£M 

■ 

.    ..'".CT 

csJa 

0« 

<*> 

0  €i 

ffiH 

:' 

II.  Aussenseite 


i 


<~4 


w-. 


h- 


i  / 


w 


M         X 


M 


Sitzungsberichte 

der 

philosophisch -philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  München. 


1874.     Heft  IV. 


München. 

Akademische  Buchdruckerei  von  F.  Straub. 

1874. 

In  Commis8ion  bei  G.  Franz. 


Sitzungsberichte 


der 


königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  2.  Mai  1874. 


Herr  Jos.  Würdinger  trägt  vor: 

„Friedrich    von    Lochen,    Landeshaupt- 
mann in  der  Mark  Brandenburg." 

Der  schilt  in  planchweis  waz  getailt1) 
Von  zobel  und  von  mirgriesse  vein 
Auch  fürt  er  auf  dem  Helm  sein 
Ein  Swann  hals  von  perlein  chlar 
Ueber  den  hals  so  waz  ein  rant 
Nach  zobel  var  gestekchet 
Dez  swannen  äugen  gaben  schein 
In  rechter  röt  als  zwen  rubein, 
Die  plikchten  gen  der  veinde  schar; 
Der  snabel  was  von  golde  chlar. 
Die  wappen  fürt  der  werde 
Die  weil  er  lebt  auf  erde 
Den  hat  geletzet  nu  der  tod 
Die  wappen  sind  in  maniger  not 
Durich  hawen  und  durich  stochen 
„Her  Friedreich  von  Lochen. 
Hai  sein  chrei  und  auch  sein  nam 
Dez  lob  war  nie  an  ern  lam. 


1)  „Ein  weiss  und  schwarz  gespaltener  Schild,  als  Helmzier  ein 
Schwanenhals,  auf  dessen  Rand  drei  schwarze  Büschel  mit  Hahnen- 
federn angebracht  sind.  Des  Schwanen  Augen  sind  Eubinen,  der 
Schnabel  von  Gold,"  beschreibt  das  erneuerte  und  vermehrte  Wappen- 
buch VI  Tafel  92  das  Wappen  der  schwäbischen  Ritter  von  Lochen. 
[1874.  4.  phil.-hist.  Cl.]  26 


374  Sitzung  der  histor.  Glosse  vom  2.  Mai  1874. 

Nu  gnad  im  got  durich  sein  gut! 
Daz  er  die  sei  dort  behüt 
Daz  hat  er  hie  verschuldet  wol 
Sein  herz  war  aller  tugende  voll." 

So  singt  der  österreichische  Ehrenholt  Peter  Suchenwirt2) 
von  einem  Helden,  der  seinem  Wappen  nach  einer  adelichen 
Familie  angehört,  welche  im  Mittelalter  auf  der  am  Fusse 
des  Pfändergebirges  unweit  (Loch au)  Bregenz  gelegenen, 
von  dem  Städtevolk  am  8.  December  1452  zugleich  mit  der 
Ruggburg  zerstörten  Veste  „Altenlochen"  sass,  und  von  der 
mehrere  Mitglieder  zu  den  Lindauer3)  Geschlechtern  zählten. 
Südlich  von  dem  ehemaligen  Kloster  Höfen,  im  Amte 
Bregenz,  erheben  sich  auf  einer  Terrasse  des  Pfändergebirges, 
von  dem  Berge  selbst  durch  einen  tiefen  Graben  getrennt, 
die  Trümmer  einer  altersgrauen  Veste,  die  im  Volksmunde 
den  Namen  ,, Alten  Hofen('  trägt.  Betrachten  wir  ihre  Lage 
im  Zusammenhange  mit  der  etwas  östlicher  gelegenen  Rugg- 
burg, so  möchte  in  ältester  Zeit  der  Zweck  beider  gewesen 
sein  die  zwischen  ihnen  gegen  den  Pfänder  aufsteigende  Rugg- 
steige  zu  schützen,  und  es  wäre  keine  Unmöglichkeit,  dass 
die  bisher  vergebens  gesuchte  Verbindung  zwischen  dem  alten 
Brigantium  und  der  von  Friedrichshafen  nach  Isny  führen- 
den Römerstrasse  an  der  nördlichen  Abdachung  des  Berges 
hingeführt  habe ;  gehören  ja  selbst  manche  der  auf  der 
Höhe  liegenden  Orte  urkundlich  zu  den  ältesten  der  Gegend, 
und  die  Lage  wie  der  Bau  der  beiden  Burgen  widerspricht 
der  Hypothese  gewiss  nicht,  unterstützt  wird  sie  noch  durch 
den  Grundsatz  der  Römer,  bei  in  der  Tiefe  nassem  Grunde, 


2)  Peter  Suchenwirt  wirkte  von  der  Mitte  bis  zum  Ende  des 
14.  Jahrhunderts  und  fertigte  eine  Reihe  geschichtlich  biographischer 
Darstellungen,  sowie  Lehrgedichte  im  Gewände  der  Allegorie.  Seine 
Werke  wurden  von  Alois  Primisser  im  Jahre  1827  in  Wien  heraus- 
gegeben, und  bildet  das  Gedicht  von  Friedrich  von  Lochen  das 
VII.  Stück  der  Sammlung.  3)  Würdinger  Urkundenauszüge  der 
Stadt  Lindau  p.  31  und  Anmerkung  7  c.  1. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  375 

und  überhaupt,  wo  es  möglich  war,  mit  ihren  Strassen  auf 
der  Höhe  zu  bleiben. 

Wie  der  wahre  Name  der  Burg  verschollen  ist,  so  auch 
die  Erinnerung  an  das  Geschlecht,  das  auf  ihr  hauste,  an 
seine  Herkunft,  wie  seinen  Abgang,  sein  Wirken  und  sein 
Schaffen,  und  doch  zählt  die  Familie  einen  Namen  in  ihren 
Reihen,  der  durch  die  hohen  Stellungen,  die  er  sich  durch 
Tapferkeit  und  Thätigkeit  in  Dänemark  und  der  fernen  Mark 
Brandenburg  erworben  und  unter  den  heftigsten  Wirren  fest- 
gehalten hat,  durch  seine  grossartigen  Besitzungen,  die  ihm 
seine  Dienste  eintrugen,  durch  das  Lob,  das  ihm  des  Sän- 
gers Mund  unter  den  Besten  seiner  Zeit  ertheilte,  des  Ge- 
dächtnisses der  Nachwelt  werth  ist,  den  des  Friedrich  von 
Lochen,  des  Marschalles  in  Dänemark,  dann  obersten  Landes- 
hauptmannes unter  den  wittelsbachischen  Herrschern  in  den 
Marken.  Doch  nicht  nur  als  Geschichte  Eines  Mannes  son- 
dern auch  als  ein  Bild  seiner  Zeit,  als  ein  Beitrag  zum  Ver- 
ständnisse des  nicht  blos  auf  romantischem  Boden  sich  be- 
wegenden, sondern  auch  nach  reellem  Erwerbe  strebenden 
Kitterwesens  ist  eine  Darstellung  des  Lebens  Lochen's  von 
Bedeutung. 

Der  für  den  Kriegsdienst  bestimmte  adelige  Knabe  wurde 
in  der  Regel  im  siebenten  Jahre  dem  väterlichen  Hause  oder 
wenigstens  der  weiblichen  Erziehung  entnommen,  um  an  dem 
Hofe  eines  höheren  oder  niederen  Adeligen  Pagendienste  zu 
verrichten.  Die  Erziehung  beschränkte  sich  hier  hauptsäch- 
lich auf  körperliche  Uebungen  unter  meist  sehr  strenger 
Zucht.  Als  solche  Vorbereitungen  zu  den  Anstrengungen 
des  Krieges  nennt  Suchenwirt :  sie  müssen  lernen. 

Daz  sie  schnell  entspringen 
Schwimmen,  schiessen,  ringen 
Laufen,  stossen  wohl  den  Stein 
Beide  Arm,  Rück  und  Bein 
Zur  Ritterschaft  üben. 

26* 


376  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Zwischen  dem  14.  und  17.  Jahre  ging  der  Page  in  den 
Knappendienst  über  und  wurde  unter  Feierlichkeiten  mit 
dem  Schwerte  umgürtet.  Nun  kamen  die  Uebungen  in 
Handhabung  der  Waffen  und  im  Tragen  des  Harnisches. 
In  voller  Rüstung  auf  das  Pferd  zu  springen,  über  ein  Pferd 
zu  voltigiren,  Mauern  zu  erklettern,  dienten  dazu,  seine 
Muskeln  zu  stählen.  Die  genaue  Kenntniss  des  Pferdes, 
dessen  Behandlung,  das  Reiten  lernte  er  von  seinen  altern 
Genossen,  den  Gebrauch  der  Schutzwaffen  und  der  Kampf- 
weise von  seinem  Herrn,  den  er  auf  Turniere  und  Kriegs- 
züge begleitete;  hiezu  kam  noch,  dass  er  geübt  war  diesen, 
der  auf  dem  Marsche  nnr  den  Harnisch  trug,  schnell  zu 
wappnen.  Im  Kampfe  bildeten  die  Knappen  die  zweite 
Linie,  mussten  auf  die  Bewegungen  ihres  Gebieters  achten, 
ihn  im  Gefechte  unterstützen  und  decken,  durften  aber  feind- 
lichen Rittern  gegenüber  nur  vertheidigungsweise  verfahren, 
ausserdem  lag  ihnen  die  Bewachung  der  Gefangenen  ob. 
An  ihren  Waffen  durften  sie  wohl  den  Schmuck  des  Silbers, 
nie  aber  den  des,  dem  Ritter  allein  zustehenden,  Goldes 
tragen. 

Im  ein  und  zwanzigsten  Jahre  galt  die  Erziehung  des 
Knappen  für  vollendet,  er  galt  zum  Kampfe  berechtigt,  und 
war  im  Stande  die  Ritterwürde  zu  empfangen ;  sie  galt  als 
sein  höchstes  Ziel,  begeisterte  ihn  zu  den  ausergewöhnlich- 
sten  Anstrengungen  und  Leistungen.  Der  Ritterschlag  wurde 
entweder  in  Erwartung  besonderer  Aufopferung,  zu  welcher 
der  gefährlichste  Platz  in  der  Schlachtordnung  für  die  Neu- 
ritter Gelegenheit  bot,  vor  der  Schlacht,  oder  nach  dem 
Kampfe  für  hervorragende  Tapferkeit,  öfter  auch  auf  Heer- 
zügen, wie  bei  Römerzügen  auf  der  Tiberbrücke  ertheilt, 
solche,  die  ihn  erhielten,  wenn  ein  römischer  König  erwählt 
wurde,  nannte  man  ;,die  Ritter  ohne  Mühe",  im  Gegensatze  zu 
„den  Getreuesten",  die  ihn  in  Schlachten  und  bei  Stürmen 
erworben  hatten. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  377 

Nachdem  einmal  der  Eifer  für  die  Kreuzzüge  und  die 
Freudigkeit  für  des  Reiches  ideale  Güter  dem  Kaiser  zu 
dienen  erkaltet  war,  die  rauhe,  fehdelustige,  gewaltsame  Na- 
tur des  niedern  deutschen  Adels  sich  aber  dennoch  nach 
Kämpfen  sehnte,  in  denen  dem  Einzelnen,  der  zu  Hause 
wenig  oder  nichts  zu  suchen  hatte,  die  Möglichkeit  geboten 
war  mit  dem  Schwerte  Ehre  und  Besitz  zu  erringen,  so 
wendeten  sich  die  Augen  des  jungen  Reiters,  der  sich  die 
goldenen  Sporen  und  den  Rittergürtel  verdienen  wollte,  nach 
dem  Auslande,  und  wir  finden  den  deutschen  Kämpfer,  viel 
gesucht  ob  seiner  Tapferkeit,  fast  auf  allen  Schlachtfeldern 
Europas.  Besonderen  Reiz  boten  die  Kämpfe  gegen  die 
heidnischen  Preussen,  und  im  engern  Preussenlande  sind  es 
überwiegend  ober-  und  mitteldeutsche  Geschlechter,  welche 
dort  mannhaft  sich  tummelten,  Thüringer,  Franken,  Schwa- 
ben und  Bayern ;  nordöstlich  vom  Niemen,  an  der  Düna  bis 
zur  Narwa  dagegen  haben  vorwaltend  niedersächsiche,  west- 
phälische  niederdeutsche  Rittersleute  sich  eingefunden. 

Zu  der  Zeit,  in  der  Friedrich  von  Lochen  seine  Heran- 
bildung zum  Krieger  vollendet  hatte,  war  der  lockendste  der 
Tummelplätze  für  einen  kampfbegierigen  Mann  die  Mark 
Brandenburg,  in  welcher  mit  Ludwig,  dem  Sohne  Kaiser 
Ludwig  des  Bayern,  ein  neues  Herrschergeschlecht  seinen 
Einzug  gehalten  hatte,  das  gezwungen  war  Stück  für  Stück 
das  durch  Verpfändung  und  auf  andere  Weise  entfremdete 
Land  mit  den  Waffen  in  der  Hand  den  mächtigen  Grenz- 
nachbarn wieder  abzuringen.  Im  Lande  selbst  hatte  jeder 
der  Prätendenten  seine  eigene  Partei,  die  sich  im  Allgemei- 
nen wieder  unter  die  beiden  Parteien  des  Kaiser  Ludwig, 
oder  des  Gegenkaisers  Friedrich  vertheilten,  und  der  Einfluss 
der  sehr  mächtigen  Geistlichkeit  hetzte  die  Unterthanen  gegen 
den  gebannten  Kaiser  und  dessen  Söhne  auf.  Alle  diese 
Umstände  zwangen  den  jungen  Markgrafen  Ludwig,  dem  die 
Aufgebotenen    im  Lande  nur    säumig    und    widerwillig   die 


378  Sitzung  der  Mstor.  Olasse  vom  2.  Mai  1874. 

Lehenspflicht  leisteten,  um  fremde  Streitkräfte  sich  zu  be- 
werben, und  in  den  vielen  Kriegen,  die  er  auszufechten  hatte, 
war  ausser  den  Bündnissen  mit  den  Fürsten  es  vorzüglich 
der  bayerische  und  schwäbische  Adel,  der  mit  den  wenigen 
märkischen  Rittern  für  ihn  das  Meiste  zu  Stande  gebracht 
hat.  Diese  Hilfe  musste  aber  theuer  erkauft  werden.  Nicht 
nur  der  Brautschatz  seiner  ersten  Gemahlin,  König  Chri- 
stophs von  Dänemark  Tochter,  und  die  aus  den  verkauften 
Gütern  in  der  Mark  gelösten  Summen  wurden  dazu  ver- 
wendet, sondern  auch  Kaiser  Ludwig,  obgleich  selbst  hart 
bedrängt,  gab  grosse  Summen  dazu  her.  War  das  baare 
Geld  für  Dienstleistung  und  Schadloshaltung  zu  Ende,  so 
wurden  an  die  Gläubiger  Zölle  verpfändet,  Burgen,  Pflegen, 
Gerichte  verschrieben,  oder  von  Andern  einzulösen  erlaubt, 
oder  auch  ein  Theil  der  Einnahmen  von  Städten  auf  Jahre 
hinaus  denselben  überwiesen.  Damit  übernahmen  aber  auch 
die  so  Gelohnten  die  Verpflichtung,  die  Burgen  im  Stande 
zu  halten,  sie  dem  Landesherrn  zu  öffnen,  bei  neuen  Krie- 
gen ihm  Leute,  Pferde,  Waffen  und  Kost  zu  liefern,  oft 
auch  noch  auserdem  das  zur  Kriegsführung  nöthige  Geld 
vorzustrecken.  So  hing  die  Art  der  Kriegsführung  innig  mit 
der  Landesverwaltung  und  Rechtspflege  zusammen.  —  Um 
sich  die  grosse  Last,  welche  aus  dem  Unterhalte  der  adeli- 
gen Söldner  erwuchs,  einigermassen  zu  erleichtern,  ergriffen 
die  Fürsten  jede  Gelegenheit,  sich  gegen  Schadloshaltung, 
Uebernahme  der  Verpflegung  und  des  Soldes  an  auswärtigen 
Kriegen  als  Bundesgenossen  zu  betheiligen,  und  bei  einem 
solchen  Unternehmen  des  Markgrafen  Ludwig  von  Branden- 
burg stossen  wir  zum  ersten  male  auf  den  Namen  des  Fried- 
rich von  Lochen. 

In  dem  Kriege,  welchen  Eduard  III.  von  England  zur 
Durchführung  seiner  Ansprüche  auf  die  Krone  Frankreichs 
zu  beginnen  im  Begriffe  war,  suchte  er  sich  möglichst  viele 
Kampfgenossen  zu  erwerben.  Der  thatenlustige  niederrheinische 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  379 

Adel   mit   seinen  Lehensherrn,    den    Grafen   von  Jülich   und 
Geldern,  strömte  den  englischen  Fahnen  zu,  gegen  beträcht- 
liche Summen  gewann  er  den  Pfalzgrafen  Ruprecht,  und  im 
südlichen  Deutschland  die  Grafen  Eberhard  von  Neuenbürg, 
sowie  den  Herzog  von  Teck   zu  Bundesgenossen.4)     Endlich 
gelang    es    auch    das  Haupt   des   deutschen  Reiches,    Kaiser 
Ludwig  den  Bayern,   für  England  zn  gewinnen.     Sein  lang- 
jähriger Kronstreit  zuerst  mit  Oesterreich  und  dann  mit  den 
Luxemburgern,  sein  Hader  mit  dem  Papste,  der,  vom  Könige 
von  Frankreich  geschützt,  ihm  die  Anerkennung  versagte,  und 
endlich    die  Verzweigung    seines    Hauses  nach    dem  niedern 
Deutschland  machten   auch   diesen  Fürsten   zum  natürlichen 
Theilnehmer    an  einem   von  England    aus  gegen  Frankreich 
gerichteten  Unternehmen.    Im  Juli  1337  begannen  zu  Frank- 
furt die  Unterhandlungen  und  sie  fanden  durch  den  Vertrag 
vom  26.  August  ihren  Abschluss  darin,  dass  der  Kaiser  gegen 
eine   Summe   von    300,000    Goldgulden    2000    Helme    dem 
Könige  zur  Verfügung  zu  stellen  versprach,    und  ihn  ausser- 
dem zum  Reichsvicar  in  den  Niederlanden  ernannte.5)    Das 
Bündniss   mit    der   bayerischen    Partei   wurde    vollkommen, 
als  auch   der    älteste  Sohn   des   Kaisers,    Markgraf  Ludwig 
von  Brandenburg,  sich  verpflichtete,  mit  200  Helmen  in  das 
Feld  zu  ziehen.6)     Die  Vorbereitungen    und  Rüstungen  zum 
Feldzuge,  wie  auch  Verhandlungen  mit  Frankreich  verzöger- 
ten   den    Beginn    des  Krieges    bis   zum  Jahre  1339.     Mitte 
September  überschritt  König  Eduard  bei  Marcoing  die  fran- 
zösische Grenze,  während  die  Franzosen  von  Peronne  aus  zur 
Abwehr  anrückten.     Am  3.    October    stiess   Markgraf   Lud- 
wig, dessen  Truppen,  auf  Abenteuer   und  Beute   ausgehend, 
sich  viele  Reiter  aus  Schwaben    und  Franken   angeschlossen 
hatten7),  zum  englischen  Heere,  und  seine  Schaar  bildete  von 


4)  Pauli  Geschichte  von  England  IV,  348.*  5)  Böhmer  reg.  imperii 
1314—47  S.  115—263.  6)  Alb.  Argentinensis  bei  ürstisius  S.  128. 
7)  Trithemius  II 184.  Villani  XI  gibt  Ludwigs  Macht  mit  2000  Reitern  an. 


380  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

da  an  die  Vorhut  desselben.  Vermanois  und  alle  Ländschaft 
zwischen  Tournay  und  Laon  wurde  unter  täglichen  Kämpfen 
kleiner  Reiterschaaren  hart  mitgenommen  bis  man  am  16.  Oct 
die  Oise  überschritt  und  wenige  Meilen  von  Set.  Quentin 
entfernt  unweit  des  feindlichen  Heeres,  das  bei  Buironfosse. 
lagerte,  Halt  machte.  Umsonst  erwarteten  die  Engländer 
einen  Angriff  König  Philipps,  der  auf  den  Rath  des  Böhmen- 
königs Johann  von  Tag  zu  Tag  die  Entscheidung  hinaus 
schob,  und  die  Besiegung  seines  Gegners  dem  Eintritte  der 
schlechten  Witterung  und  dem  Mangel  an  Lebensmitteln 
überliess.  Auf  die  Nachricht,  der  Feind  sei  im  Anzüge, 
stellte  sich  das  englische  Heer ,  dessen  Mitteltreffen  die 
Deutschen  bildeten,  des  Angriffes  gewärtig  auf,  und  unter 
den  Edeln,  die  nun  den  Ritterschlag  erhielten  war  Fried- 
rich von  Lochen.8)  Auch  diessmal  erfolgte  der  Angriff 
nicht,  Philipp  wollte  weder  seine  Krone  an  den  Ausgang 
Eines  Tages  wagen,  noch  sich  mit  den  verwegenen  und 
schonungslosen  Brabantern,  Flamländern  und  Deutschen  in 
einen  Kampf  einlassen.9)  Als  nun  das  englische  Heer  nach 
Avesnes  vorrückte,  machten  sich  die  Franzosen  in  der  Nacht 
schleunigst  davon.  Der  Eintritt  des  Winterfrostes,  der  Man- 
gel an  Lebensmitteln  in  dem  verwüsteten  Lande,  wie  auch 
die  Vorstellungen  seiner  Verbündeten  zwangen  den  König 
Eduard  zur  Umkehr  nach  Brüssel.  Die  Deutschen  zogen  in 
ihre  Heimath  zurück,  Lochen  mit  dem  Markgrafen  Ludwig 
in  die  Mark. 

Am  Hofe  des  Brandenburgers  weilte  der  junge  Prinz 
Waldemar  von  Dänemark,  welcher  nach  Vertreibung  seines 
Vaters  des  Königs  Christoph  (1331)  an  dem  Hofe  Kaiser 
Ludwigs   eine   Zufluchtsstätte  gefunden   und   eine    treffliche 


8)  Dez  ersten  für  der  ern  fruet  —  Zu  hilfe  dem  von  Engel- 
lant.  —  Mit  Markgraf  Ludweig  genant.  —  Von  Pranburch,  der  ern 
zart  —  der  macht  in  ritter  auf  der  vart.  Suchenwirt  c.  1.  Zeile  24 
flg.        9)  Villani  XI  c.  86.        10)   Da    her    gen   her   mit  swindem 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  381 

Erziehung  genossen  hatte.  Hier  wollte  er  den  Zeitpunkt  er- 
warten, an  dem  er  seine  Ansprüche  auf  den  Thron  seiner 
Väter  am  besten  zur  Geltung  bringen  könnte,  die  Kriege 
seines  Schwagers  Ludwig  boten  ihm  nebenbei  Gelegenheit 
sich  in  den  Kämpfen  gegen  Pommern  und  die  heidnischen 
Nachbarvölker  zum  Führer  seines  Heeres  auszubilden.  Die 
Härte,  mit  welcher  Graf  Gerhard  von  Holstein,  der  Vor- 
mund des  Herzog  Waldemar  von  Schleswig,  das  Regiment 
führte,  hatte  die  Gemüther  in  Dänemark  erbittert,  und  Bi- 
schof Swend  von  Aarhus  mit  andern  Vaterlandsfreunden 
kamen  in  die  Marken,  um  den  Sohn  ihres  vertriebenen 
Königs,  dessen  älterer  Bruder  Otto  in  Reinoltsburg  von  den 
Grafen  von  Holstein  gefangen  gehalten  wurde,  aufzufordern, 
dem  bedrängten  Vaterlande  beizustehen,  selbst  der  Herzog 
Waldemar  von  Schleswig  schloss  sich  ihren  Wünschen  an.11) 
Der  Tod  des  Grafen  Gerhard,  welcher  in  einer  Fehde  mit 
dem  Herrn  auf  Norevics  Niels  Ebleson  von  diesem  in  Ran- 
ders überfallen  und  getödtet  worden  war  (1.  April  1340), 
bot  für  den  Prinzen  die  beste  Gelegenheit  zur  Erreichung 
seiner  und  seiner  Freunde  Hoffnungen.  Der  Vermittlung 
des  verschwägerten  Kaiserhauses,  dem  die  Wünsche  der 
Stände  Dänemarks,  einen  König  zu  erhalten,  der  das  Reich 
wieder  herstelle  und  beruhige,  entgegenkamen,  gelang  es 
bald  nach  Ostern  zu  Spandau  eine  Zusammenkunft  der  bei- 
den Waldemare,  und  des  Grafen  Johann,  des  Milden,  zu 
Stande  zu  bringen,  welche  sich  mit  der  Thronfolge  des 
Prinzen  beschäftigte.  Ihr  folgte  eine  weitere,  bei  der  auch 
die  Söhne  Gerhards  erschienen,  im  Mai  zu  Lübek.  Mit 
Ausschliessung  des  älteren  Bruders  Otto  von  der  Thronfolge 
wurde  Waldemar   als  König   von   Dänemark  anerkannt,   die 


schach  —  Sich  paidenthalb  streitz  versach  —  der  ward  mit  frid 
wendich.  Suchenwirt  Z.  29—31.  11)  Dahlmann  Geschichte  von 
Dänemark  I  485. 


382  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Verlobung  mit  der  Schwester  des  Herzogs  von  Schleswig 
sicherte  ihm  den  Besitz  von  400  Helmen,  ein  weiterer  Ver- 
trag mit  den  Erben  Gerhards  die  Freilassung  seines  Bruders 
Otto,  und  das  Zugeständniss  der  Einlösung  Jütlands.  Schloss 
Aalborg  mit  Wendesyssel,  Himmersyssel,  Thytäsyssel  und 
Haneharde  sollten  dem  Könige  sogleich  übergeben  werden.12) 
Mit  einem  zahlreichen  aus  Bayern  und  Brandenburgern13) 
gebildeten  Heere,  zu  deren  Führer  Friedrich  von  Lochen 
vom  Könige  ernannt  wurde14)  kam  Waldemar  im  Juli  nach 
Sonderburg,  und  empfing  hier  die  Huldigung  des  Reichs- 
tages. Sein  Hauptaugenmerk  war  nun  auf  die  Erwerbung 
der  an  die  Holsteiner  verpfändeten  Insel  Seeland  gerichtet. 
Der  Bischof  vonRoeskilde  räumte  ihm  auf  zwei  Jahre  Stadt  und 
Schloss  Kopenhagen  ein,  und  die  Seeländische  Geistlichkeit 
bot  ihm  die  Mittel  die  Baierischen  und  Brandenburgischen 
Söldner  abzulohnen.  Jetzt  warf  er  seine  Augen  auf  Kallund- 
borg,  ob  diese  Veste  sich  nicht  durch  einen  Gewaltstreich 
der  Herzogin  Ingeborg,  Wittwe  des  Herzog  Knut  Porse,  ab- 
gewinnen Hesse.  Kaum  hatte  aber  Waldemar  mit  seinem 
Marschall15)  (August  1341)  die  Belagerung  eröffnet,  als 
Graf  Heinrich  von  Holstein  erschien,  die  königliche  Flotte 
eroberte,  darnach  landete,  und  von  dem  Ausfalle  der  Besatz- 
ung unterstützt,  durch  eine  völlige  Niederlage  der  Feinde 
sich  den  Ehrennamen  des  Eisernen  gewann.  Schnell  ver- 
glich sich  der  König  und  stand  von  dem  Unternehmen  ab. 
Ungeachtet  des  unter  den  Fürsten  bestehenden  Stillstan- 
des  kam   es   zwischen    den    dänischen    Hauptleuten    in   den 


12)  Suhm  XIII  775.  13)  Continuatio  incerti  autoris  bei  West- 
phalen  I  395.  14)  Und  ward  Marschällen  in  Tennemark  —  des 
edeln  chuniges  Woldmar.  Suchen wirt  34  flg.  15)  Lochen  wird 
als  Marschall  des  Königs  bereits  in  einer  am  21.  Mai  1341  zu  Roes- 
kild  ausgestellten  Urkunde  genannt.  (Riedel  cod.  diplom.  brandenburg. 
B.  II  154),  während  er  in  einer  am  20.  März  in  Brandenburg  ausge- 
stellten noch  ohne  diesen  Titel  vorkömmt. 


Würdin ger:  Friedrich  von  Lochen.  383 

Schlössern,  und  den  Holsteinern,  die  das  Land  mit  Raub 
und  Brand  wüsteten, 16)  zu  häufigen  Fehden.  Die  bedeutendste 
derselben  war  die  von  Fritz  von  Lochen  mit  dem  Haupt- 
mann zu  Wordingburg  Marquard  Schonen,  dem  Jüngern,  ge- 
führte. Lochen  hatte  zu  derselben  auf  eigene  Faust  und 
Kosten  150  Helme  in  Dienst  genommen,  während  sein  Geg- 
ner von  den  Holsteinern,  dann  Genossen  aus  Schweden  und 
Deutschland  unterstützt  wurde.  In  der  Nähe  von  Kopen- 
hagen kam  es  am  29.  Juni  1342  zum  entscheidenden  Schlage. 
Lochens  persönlicher  Tapferkeit  und  dem  Ungestüme  seiner 
Reiter,  die  des  Feindes  Reihen  durchbrachen,  unterlagen  die 
Holsteiner,  Schonen  selbst  konnte  sich  nur  durch  die  Flucht 
der  Gefangennehmung  entziehen.17)  Bald  darauf  wurde  von 
dem  Marschall  die  Stadt  Kiöpe  genommen  und  verbrannt. 
Neue  Gelegenheit  zu  kriegerischen  Thaten  bot  ihm  der  Kampf 
der  Städte  Lübek  und  Hamburg  mit  den  Grafen  von  Hol- 
stein, die  sich  gegen  das  Städtegut  vielfache  Plackereien 
erlaubt  hatten.  Die  Grafen  begaben  sich  in  den  Schutz  des 
Königs  von  Schweden,  die  Städte  aber  in  den  des  Kaisers, 
der  den  Marschall  von  Lochen  beauftragte  sie  mit  200  Hel- 
men zu  unterstützen.  Dieser  fasste  den  Plan  sich  in  Rostock 
einzuschiffen,  um  dann  im  Vereine  mit  dem  Könige  von 
Dänemark  den  gemeinschaftlichen  Feind  zu  bekämpfen.  Die 
Holsteiner  erfuhren  die  Absicht  des  Marschalls,  und  zogen 
vor  Lübek.  Lochen  eilte  mit  seiner  Schaar  nach  Lübek  zu- 
rück, vertrieb  den  Feind,  und  drang  mit  dem  Volke  der 
Lübeker,  Hamburger  und  deren  Bundesgenossen  vereint 
durch  ganz  Holstein   bis   an  den   dänischen  Wald  vor.     Die 


16)  Darnach  die  Holtzen  furn.  — In  das  lant  mit  grozzer  Macht 
—  und  wüsten  baidew  Tag  und  Nacht.  —  Lant  und  Leut  in  Tänne- 
markch.  Suchenwirt  40  flg.  17)  Die  Beschreibung  der  Werbung 
und  des  Treffens  c.  1.  45—71.  „Da  waz  der  chunigk  nicht  selber 
pey  —  Der  Muetz  frech  mit  wernder  hant  —  Wehub  dem  chunig 
zwir  das  Lant."    Heinze,  Geschichte  König  Waldemar  III  61. 


384  Sitzung  der  histor.  Gasse  vom  2.  Mai  1874. 

Burgen  des  räuberischen  holsteinischen  Adels  wurden  ge- 
brochen, das  Land  verwüstet.  Im  Norden  angelangt  vereinte 
er  sich  mit  dem  dänischen  Heere.18) 

Als  Wiedervergeltung  für  diesen  Zug  Hess  der  Schwe- 
denkönig den  Lübekern  alle  Güter  in  seinen  Landen  weg- 
nehmen, und  nahm  die  Bürger,  wo  er  ihrer  habhaft  werden 
konnte,  gefangen.  Ein  noch  härterer  Schlag  für  die  Städte 
war,  dass  sie  bei  dem  um  diese  Zeit  beginnenden  Härings- 
fange  die  Insel  Schonen  nicht  besuchen  konnten,  sie  folgten 
der  Einladung  des  Dänenkönigs  und  kamen  nach  Kopenhagen. 
Doch  auch  hier  konnten  sie  nicht  ungestört  dem  Fischfange 
obliegen,  denn  die  Holsteiner,  welche  auf  Seelands  Küste 
einen  steinernen  Wehrthurm  besetzt  hielten,  beunruhigten  jede 
Ausfahrt.  Waldemar  belagerte  den  Thurm,  zu  dessen  Unter- 
stützung der  Schwedenkönig  Truppen  abschickte.  Lochen 
-zog  diesen  mit  den  Seinen  entgegen,  besiegte  sie  in  einem 
blutigen  Treffen,  und  schickte  die  Gefangenen  in  schweren 
Banden  nach  Lübeck.19) 

Die  Abwesenheit  der  städtischen  Wehrmannschaft  benütz- 
ten die  Holsteiner  zu  einem  neuen  Anfall  auf  Lübek,  dem 
nun  ihr  Schirmvogt,  der  Markgraf  von  Brandenburg,  Mitte 
August  weitere  200  Helme  unter  Führung  des  Grafen  Gün- 
ther von  Schwarzburg,  des  bayerischen  Ritters  Heinrich  von 
Reischach  und  des  Hauptmanns  Henning  von  Buch  zur  Unter- 
stützung sandte.20)  Während  diese  in  der  Nähe  der  Stadt 
im  September  zweimal  mit  dem  Feinde  in  das  Gefecht 
kamen,  dauerte  auch  der  Krieg  auf  Seeland  fort.  Am 
13.  October  kam  es  zwischen  den  Holsteinern  und  den  Städ- 


18)  Origines  Lubecenses  bei  Westphal  1331.  Für  ein  Pferd,  das 
Lochen  bei  diesem  Zuge  verlor,  wurden  ihm  durch  den  Vogt  Mar- 
quard  Lotterpeckh  6  Mark  vergütet.  19)  Klöden,  diplomatische  Ge- 
schichte des  Markgrafen  Waldemar  III  18.  20)  Riedel  c.  1.  B.  II 
158  giebt  die  Ankunft  der  brandenburgischen  Hilfe  auf  Mitte  Au- 
gust an. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  385 

ten  zum  Waffenstillstand,81)  dem  am  6.  Jänner  1343  der 
Friede  folgte. 

Die  letzte  kriegerische  Unternehmung,  der  Lochen  als 
Marschall  in  Dänemark  anwohnte,  mag  der  im  December 
unternommene  Versuch,  sich  des  Schlosses  Korsöer  zu  be- 
mächtigen, gewesen  sein,  denn  im  nächsten  Jahre  findet  sich 
Claus  von  Limbek  als  Marschall  des  Königs  Waldemar,  der 
ehrbare  Ritter  Lochen  aber  in  der  unmittelbaren  Umgebung 
des  Markgrafen  von  Brandenburg,22)  der  ihn  noch  vor  Ende 
des  Jahres  in  die  Zahl  seiner  Räthe  aufnahm83)  und  dem 
er  bei  Eroberung  der  Alten  Mark  Beistand  leistete. 

Nach  dem  Tode  Waidemars,  des  letzten  Markgrafen 
aus  dem  anhaltischen  Hause,  brachte  dessen  Wittwe  Agnes 
ihrem  zweiten  Gemahle  dem  Herzoge  Otto  von  Braunschweig  als 
Mitgabe  die  Alt-  und  Mittelmark  für  die  Dauer  ihres  Lebens 
zu.  Nach  ihrem  am  27.  November  1342  erfolgten  Tode 
verweigerte  Herzog  Otto  die  Herausgabe  dieser  Provinzen, 
und  Markgraf  Ludwig  sah  sich  genöthigt  sein  Recht  mit 
dem  Schwerte  zu  suchen.  Die  mächtigsten  des  altmärkischen 
Adels,  die  Alvensleben,  Schulenburg,  Knesebeck  waren  ihm 
bereits  geneigt,  andere  bewog  er  durch  Versprechungen  und 
Verpfändungen  zur  Oeffnung  ihrer  Schlösser,  die  Ritter  von 
Oberg  versprachen  sogar  einen  Versuch  zumachen,  dass  die 
Stadt  Braunschweig  ihm  ihre  Thore  öffne.  Die  von  der 
Stadt  Stendal  an  den  Kaiser  gerichtete  Anfrage,  ob  sie  dem 
Markgrafen  Ludwig  oder  dem  Herzoge  Otto  beizustehen 
hätte,24)  wurde  von  Ludwig  zu  Gunsten  seines  Sohnes  ent- 
schieden, und  nun  traten  auch  die   meisten  Städte  der  Alt- 


21)  Riedel  c.  1.  B.  VI  69.  Ausser  Hamburg  und  Lübek  erscheinen 
noch  die  Städte  Wismar,  Rostock,  Stralsund  und  Greifswalde  als 
Theilnehmer  am  Kriege.  22)  Zum  erstenmal  erscheint  Lochen  als 
Zeuge  in  einer  zu  Spandau  ausgestellten  Urkunde  vom  23.  Juli  1343. 
Riedel  A  IX  370.  23)  Consiliarius  noster.  Urkunde  vom  22.  Dec. 
dat.  Stendal.  Riedel  c.  1.  A  XIV  84.      24)  30.  Mai.  Riedel  B.  II  264, 


386  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

mark  auf  Seite  desselben.  Ueber  den  Gang  des  Krieges 
fehlen  bestimmte  Nachrichten,  doch  währte  derselbe,  nach 
den  Urkunden  des  Markgrafen  zu  schliessen,  den  ganzen 
Sommer  und  Spätherbst.25)  Die  Kämpfe  begannen  bei  Oster- 
berg und  zogen  sich  auf  Salzwedel.  Entscheidend  war  die 
Niederlage  der  Braunschweiger  auf  der  Gardeleger  Haide. 
Der  Herzog  von  Braunschweig  verzichtete  gegen  eine  Ent- 
schädigungssumme von  3450  Mark  Silbers  auf  die  Alte  Mark.26) 
Lochens  persönliche  Theilnahme  an  den  Kämpfen  beweist 
die  ihm  für  den  Verlust  von  vier  Pferden  gewährte  Schad- 
loshaltung. 

Die  Verheirathung  des  Markgrafen  Ludwig  mit  der  Ge- 
rn alin  Johanns  von  Böhmen,  Margaretha  von  Tirol  (1342), 
hatte  die  Luxemburgischen  Fürsten  gegen  den  Kaiser  und 
dessen  in  Brandenburg  regirenden  Sohn  erbittert,  und  sie 
bemühten  sich  gegen  beide  und  zur  Absetzung  des  gebann- 
ten Reichsoberhauptes  möglichst  viele  Fürsten  auf  ihre  Seite 
zu  bringen.  Misslang  ihnen  diess  auch  bei  manchen,  so  er- 
reichten sie  es  doch  bei  vielen,  besonders  bei  den  Grenz- 
nachbarn Brandenburgs,  den  Fürsten  von  Sachsen,  Anhalt 
und  Mecklenburg,  und  trotz  des  am  13.  September  1343 
gegebenen  urkundlichen  Versprechens  „mit  Ludwig,  der  sich 
Kaiser  nennt,  und  dem  Markgrafen  von  Brandenburg,  sowie 
deren  Helfern  Friede  zu  halten",  zögerte  des  Böhmenkönigs 
ältester  Sohn  Carl  nicht,  im  Vereine  mit  Papst  Clemens  VI. 
alles  zum  Sturze  der  Witteisbacher  vorzubereiten.  Kaiser 
Ludwig  sah  sich  sogar  genöthigt  zu  seinem  Schutze  gegen 
einen  Angriff  der  Luxemburger  und  zur  Aufrechthaltung  des 
Friedens    während   des  Reichstages   bei    Frankfurt   eine  an- 


25)  Am  3.  October  verspricht  Markgraf  Ludwig  für  den  Fall, 
dass  er  der  ganzen  Altmark  sich  bemächtigt  habe,  den  in  diesem 
Kriege  beschädigten  Bürgern  Stendals  Schadloshaltung,  den  getödteten 
aber  ein  ewiges  Licht.  Riedel  c.  1.  A  XV  109.  26)  Freiberg  Be- 
urkundete Geschichte  Herzog  Ludwig  des  Brandenburgers.    S.  50. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  387 

sehnliche  Zahl  mainzischen  und  brandenburgischen  Volkes 
zu  sammeln,  und  als  Führer  des  letztern  wird  (Oct.  1344) 
der  Ritter  von  Lochen  genannt. 

Im  Frühjahr  1345  kam  der  Krieg  mit  Böhmen  zum 
Ausbruche,  und  als  Rath  ,,der  stets  im  Geleite  seines  Herrn 
zu  sein  hat"  nahm  der  Ritter  an  den  Anordnungen  zum 
Feldzuge,  wie  an  diesem  selbst  überall  Antheil,  wo  der 
Markgraf  selbst  anwesend  war.  Markgraf  Carl  von  Mähren 
drang,  sobald  es  die  Jahreszeit  erlaubte  gegen  die  Mark 
Brandenburg  vor,  fand  aber  schon  in  der  Lausitz  kräftigen 
Widerstand.  Markgraf  Ludwig  begab  sich  im  April  in  die 
Lausitz,  Hess  Mittenwalde  durch  die  bayerischen  Ritter  Stein- 
linger  und  Lentsidler  stark  besetzen,  bot  die  brandenburgi- 
schen Mannen  auf,  und  stellte  sich  den  Böhmen,  die  in  der 
Lausitz  arg  hausten,  entgegen.  Um  deren  Eindringen  in 
die  Mark  Brandenburg  zu  verhindern  nahmen  Anfangs  Mai 
das  brandenburgische  Aufgebot  bei  Schönerlinde,  Marschall 
Otto  von  Helbe  bei  Buchholz,  eine  andere  Abtheilung  bei 
Spandau,  Schenk  Wonbrechts  bei  Straussberg,  Alvenslcben 
mit  den  altmärkischen  Mannen  bei  Reinickendorf  Stellung, 
der  Markgraf  ist  am  18.  Mai  zu  Mittenwalde.  Der  Versuch 
der  Böhmen,  auf  Kölln  und  Berlin  vorzudringen,  misslang. 
Zum  zweitenmale  drohte  eine  ähnliche  Gefahr  Mitte  Juni. 
Otto  von  Helbe  versammelte  das  Heer  bei  Spandau  und 
rückte  von  da  nach  Mittenwalde,  wo  er  zum  Markgrafen 
stiess.  Die  Brandenburger  konnten  der  Uebermacht  nicht 
widerstehen  und  besetzten  am  29.  Juni  die  Gegend  um 
Spandau.27)  Am  4.  Juli  kam  der  Herzog  von  Braunschweig 
mit  seinem  Hilfsvolke  nach  Berlin,  und  nahm  an  dem  Vor- 
rücken nach  Frankfurt  an  der  Oder,  wo  der  Markgraf  Lud- 
wig am  15.  Juli  urkundet,  Antheil.    Drei  Tage  später  wurde 


27)  Freiberg  c.  1.  in  den  Auszügen  aus  einem  Registraturbuche 
des  Markgrafen  Ludwig  S.  210  flg. 


388  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

das  Heer  entlassen.  Ludwig  begibt  sich  nun  mit  seinem 
Bruder  Ludwig  dem  Römer  an  den  Hof  seines  königlichen 
Bundesgenossen  nach  Polen,  und  nach  seiner  Rückkunft  von 
dort  kommt  am  11.  August  zu  Spremberg  zwischen  Böhmen 
und  Brandenburg  ein  Frieden  zu  Stande,  in  welchem  der 
Markgraf  Ludwig  seine  nunmehrige  Gemalin  nebst  Tirol  be- 
halten durfte,  dagegen  die  Lande  Görlitz  und  Bautzen  an 
Böhmen  abtreten,  und  dem  Könige  20,000  Mark  Silbers 
zahlen  musste.  Lochen  treffen  wir  im  Laufe  des  Augusts 
im  Gefolge  des  Markgrafen  als  Zeugen  einer  dem  Palatin 
von  Posen  ausgestellten  Urkunde  zu  Kopenitz,  im  September 
bei  Verschreibung  der  Tempelburg  an  die  Johanniter  zu  Ber- 
lin, und  im  November  zu  Tankow.29) 

Die  bisherigen  Kriege,  besonders  der  letzte,  hatteu 
grosse  Summen  in  Anspruch  genommen,  die  Stände  des  Lan- 
des aber  waren  weder  auf  den  Wunsch  des  Markgrafen,  die 
Münze  an  die  Städte  zu  veräussern,  noch  auf  den,  im  Lande 
eine  Umlage  zu  erheben,  eingegangen,  da  bot  die  Absicht 
des  Dänenkönigs,  das  Herzogthum  Esthland,  auf  welches 
die  Mitgift  der  Markgräfin  Margaretha  versichert  war,  an 
den  deutschen  Orden  zu  verkaufen,  die  Aussicht  auf  neue 
Geldmittel.  Zur  Vertretung  seiner  Interessen  schickte  der 
Markgraf  den  Lochen  zum  Dänenkönige  nach  Hafeins  (Au- 
gust 1346) 30).  Am  29.  August  kam  der  Verkauf  um  den 
Preis  von  19,000  Mark  Silber  zu  Stande,  und  wohnten  dem- 
selben als  Zeugen  der  Vertreter  des  Markgrafen  und  der 
Hauptmann  des  Landes  Reval  Stigot  Anderson  bei.31)  Bei 
dieser  Gelegenheit  erhielt  Lochen  vom  Könige  Waldemar  für 
die  als  Marschall  in  Dänemark  geleisteten  Dienste  die  Summe 
von  900  Mark  Silber32).  Markgraf  Ludwig  lohnte  ihm,  was 
er   bisher   als   sein    „geliebter  Rath"    gewirkt    zu    Spandau 


28)  Riedel  A  VII  415.        29)  Riedel  c.  1.  A  XV  222,   XXIV  37, 
XIX  74.        30)  Riedel  B  II  182.        31)  c.  1.  183.        32)  c.  1.  184. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  389 

(24.  October)  mit  der  Anweisung  auf  die  im  nächsten  Jahre 
fällige  Reichssteuer  der  Stadt  Lübek.33)  Kurze  Zeit  darauf 
erfolgte  die  Ernennung  Lochens  zum  Hauptmann  der 
Alten  Mark. 

Der  in  jeder  Provinz  befindliche  Hauptmann,  auch  Vogt 
genannt,  hatte  eine  sehr  wichtige  Stellung,  er  erhielt  ein 
landesherrliches  Schloss  zu  seiner  Wohnung,  die  dazu  ge- 
hörigen Dörfer  ganz  oder  theilweise  zu  seiner  Benützung, 
und  war  auch  Befehlshaber  desselben.  Im  Falle  eines  Krie- 
ges hatte  er  die  dienstpflichtigen  Mannen  seines  Bezirkes  auf- 
zubieten und  zu  sammeln,  die  gestellten  Lehenspferde  in 
Empfang  zu  nehmen  und  zu  ordnen,  für  den  Kriegsbedarf 
zu  sorgen,  Menschen  und  Thiere  zu  verpflegen,  Waffen  und 
Pferde  anzukaufen,  was  zwar  Alles  auf  landesherrliche  Kosten 
geschah,  wobei  aber  der  Hauptmann  meist  grosse  Vorschüsse 
machen  musste.  Gewöhnlich  war  er  auch  Anführer  des 
Heeres.  Sein  Amt  führte  er  auf  Kündigung,  doch  wurde 
jedesmal  bei  der  Uebernahme  festgestellt,  dass  er  nicht  eher 
entsetzt  werden  dürfe,  bis  der  Markgraf  ihm  oder  seinen 
Erben  alle  seine  Auslagen  ersetzt  habe.  Eigentlichen  Gehalt 
bezog  er  keinen,  dafür  aber  hatte  er  Nutz  und  Frucht  seiner 
Vogtei  zu  erheben,  die  Pflege  in  den  Städten,  von  den  Ge- 
richten in  den  Städten  und  auf  dem  Lande,  die  Zölle  und 
andere  Steuern,  den  Wagendienst  und  alle  Einkünfte  von 
ledig  gewordenen  und  dem  Fürsten  anheimgefallenen  Gütern. 

In  den  zwischen  dem  Markgrafen  Ludwig  und  dem  Her- 
zoge Magnus  von  Braunschweig  gewechselten  Bundesbriefen 
(24.  November)  findet  sich  Lochen  zum  erstenmal  als  Amt- 
mann aufgeführt,  da  erhält  er  den  Auftrag,  in  Abwesenheit 
des  Markgrafen  dem  Herzoge  von  Braunschweig,  wenn  er 
der  bundesmässigen  Hilfe  bedürfe,  beizustehen,34)  und  einen 
Monat  später  (12.  December)    die   Weisung,    die  ausserhalb 


33)  „Sincere  dilecto  consiliario."  Riedel  C  I  26.    34)  Riedel  B  II  187. 
[1874,  4.  Phil.  hist.  Cl.J  27 


390  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

der  Stadt  sich  aufhaltenden  Bürger  Stendals  in  seinen  Schirm 
zu  nehmen,  und  ihnen  das  Verfügungsrecht  über  ihre  in  der 
Stadt  gelegenen  Besitzungen  zu  sichern.35) 

Obwohl  der  Markgraf  die  ihn  von  der  für  Esthland 
erlösten  Kaufsumme  treffenden  6000  Mark36)  bereits  im 
Jänner  1347  hatte  erheben  lassen,  so  sendete  er  doch  im 
Februar  seinen  Hauptmann  zum  Abschlüsse  des  Geschäftes 
nach  Marienburg37),  von  wo  dieser  dann  im  März  nach  Riga 
ging,  um  im  Vereine  mit  Ritter  Stigot  die  Ansprüche  des 
Hochmeisters  in  Liefland  zu  beseitigen  und  Abrede  über  die 
Münzsorte  zu  treffen,  in  welcher  der  Kaufpreis  für  Esthland 
an  König  Waldemar  zu  entrichten  sei.38)  — Nach  der  Rück- 
kehr in  die  Mark  vereinbarte  Lochen  als  Hauptmann,  ,,der 
volle  Gewalt  hat  von  unsertwegen  in  den  Marken",89)  mit  den 
Landständen  eine  Münzordnung40),  entschied  (12.  Juni),  dass 
das  Domstift  zu  Stendal  dem  Günther  von  Bartensieben  die 
von  diesem  ihm  entrissenen  Besitzungen  in  Scherneck  recht- 
lich abgenommen  habe,41)  und  erklärte  (25.  Juni)  im  Namen 
seines  abwesenden  Herrn,  als  Bundesgenosse  des  Herzogs 
Magnus  von  Braunschweig,  dem  luxemburgisch  gesinnten 
Erzbischofe  von  Magdeburg  den  Krieg.42)  Von  den  Thaten 
der  altmärkischen  Reiter  und  ihres  Hauptmanns  in  diesem 
Kriege  haben  sich  keine  Nachrichten  erhalten,  dagegen  treffen 
wir  Lochen  bei  allen  wichtigeren  Regierungshandlungen  des 
Markgrafen,  der  ihn  bei  seinem  Vergleiche  mit  Graf  Otto 
von  Schwerin  (24.  August)  zu  seinem  Schiedsmanne  er- 
nannte,43) auf  Rath  seines  getreuen  Hauptmannes  dem  Jo- 
hanniter Orden  erlaubte  (9.  December)  das  Haus  Lagow  von 


35)  c  1.  A  XV  132.  36)  Der  Werth  einer  Mark  betrug  un- 
gefähr 14  Thaler,  8500  Mark  entsprachen  51,000  Gulden  Nürnberger 
Währung.  37)  Riedel  B  II  192.  38)  c.  1.  194  dat.  Riga  11.  März. 
39)  Riedel  A  XXI  160.  40)  Diese  Münzordnung  wurde  zu  Berlin 
am  12.  Juli  durch  Markgraf  Ludwig  genehmigt.  c.  1.  A  XIX  209, 
C  I  27.         41)  c.  1.  A  V  98.        42)  B  II  199.         43)  c.  1.  S.  B.  22. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  391 

der  Familie  Wesenberg  einzulösen,44)  und  am  18.  December 
dem  Marquard  von  Schar  ffenberg  das  Dorf  Helpe  verlieh.45) 

Der  Tod  Kaiser  Ludwigs  (11.  Oct.  1347),  der  in  der 
That  als  ein  Märtyrer  für  die  Hoheit  der  kaiserlichen  und 
fürstlichen  Würde  Deutschlands  lebte  und  starb,  war  für 
den  Markgrafen  von  Brandenburg,  dessen  mächtigste  Stütze 
mit  ihm  dahin  sank,  ein  unersetzlicher  Verlust.  In  dem 
Maasse  wie  er  verlor,  wuchs  die  Macht  seines  schlimmsten 
Gegners,  des  luxemburgischen  Carl,  der  unmittelbar  nach 
des  Kaisers  Tod,  seine  Stellung  als  deutscher  König  sich 
durch  Vergebungen  zu  sichern  suchte.  Der  erste  Schlag 
gegen  Ludwig  wurde  am  7.  November  zu  Nürnberg  dadurch 
geführt,  dass  Carl  den  Herzog  Rudolf  von  Sachsen  mit  der 
Alten  Mark  belehnte  ,,ob  er  die  furbaz  gewinne."  Damit 
begann  das  Drama  des  Verlustes  von  Brandenburg  für  die 
Witteisbacher,  die  ausserdem  noch  mit  den  in  den  Marken 
vorhandenen  vielfachen  Partheiungen  zu  kämpfen  hatten. 
Den  Papst  und  deutschen  König,  wie  deren  Anhänger,  hatte 
Ludwig  als  Feinde,  unter  den  Bischöfen  seines  Landes  war 
nur  der  von  Brandenburg  für  ihn,  der  von  Havelberg  war 
unsicher,  und  der  von  Lebus  von  entschieden  feindlicher 
Gesinnung;  unter  dem  Adel  waren  dem  Witteisbacher  und 
dessen  bayerischer  Umgebung  wenige  geneigt,  und  auch  auf 
die  Städte  konnte  er  nicht  sicher  zählen.  Die  meisten  An- 
hänger konnte  der  Markgraf  im  Lande  über  der  Oder  sein 
nennen,  und  hier  weilte  er  auch  am  liebsten.46) 

Noch  grösser  wurde  die  Erbitterung  der  Luxemburger 
dadurch,  dass  die  Anhänger  des  verstorbenen  Kaisers  in  der 
Person  Eduards  von  England  einen  .Gegenkönig  wählten. 
Die  Gefahr  für  Brandenburg  wuchs  auch  noch  dadurch,  dass 
dessen  Regent,  der  ja  auch  Tirol  und  einen  Theil  Bayerns 
inne   hatte,    oft   gezwungen  war,    die  Marken    zu   verlassen, 


44)  c.  1.  A  XIX,  131.    45)  c.  1.  A  XXIV  43.     46)  Klöden  III  166. 

27* 


392  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

und  in  seinen  andern  Besitzungen  sich  aufzuhalten.  Um  die 
Leitung  aller  brandenburgischen  Angelegenheiten  in  einer 
ihm  ganz  ergebenen,  sicheren  Hand  zu  vereinen,  ernannte 
nun  Markgraf  Ludwig  den  bisherigen  Hauptmann  der  Alten 
Mark,  Friedrich  von  Lochen,  zum  Landeshauptmann  über 
die  Marken,  in  welcher  Eigenschaft  dieser  die  Obliegenhei- 
ten des  ersten  Beamten  des  Landes,  mit  denen  des  Oberbe- 
fehlhabers vereinte,  und  im  Namen  des  Markgrafen  Ur- 
kunden ausfertigte.47) 

In  Ausübung  seines  neuen  Amtes  finden  wir  Lochen  zum 
erstenmale  in  einer  am  19.  Februar  zu  Tangermünde  ausge- 
stellten Urkunde.48)  Zehn  Tage  später  vergleicht  Wilhelm  von 
Wombrecht,  des  Markgrafen  Mundschenk,  die  Stadt  Prenzlau 
mit  dem  Hauptmann  von  Lochen  wegen  der  Mühlen  zu 
Prenzlau,  und  machte  diese  der  Stadt  gegen  Erlegung  einer 
Summe  von  200  Marken  zu  eigen. 4y)  Der  im  Lande  herr- 
schende Mangel  an  Einkünften  zur  Bestreitung  der  nöthigen 
Ausgaben  der  Regierung  wurde  durch  die  Verpfändung  der 


47)  Nach  den  Urkundenregesten  bei  Freiberg  c.  1.  weilte  Ludwig 
vom  28.  Dez.  1347  bis  3.  Febr.  1348  in  Bayern,  und  manche  der  dort 
ausgestellten  Urkunden  können  nur  in  Anwesenheit  des  Fürsten  ge- 
geben worden  sein;  da  er  aber  zur  nämlichen  Zeit  auch  in  Branden- 
burg urkundet,  liegt  die  Vermuthung  nahe,  dass  diese  Erlasse  in 
seinem  Namen  von  dem  Landeshauptmann  und  seiner  Kanzlei  ausge- 
fertigt wurden.  Verhehle  ich  mir  auch  nicht,  wie  viele,  nur  auf 
Datirung  der  Urkunden  und  die  auf  diese  basirten  Itinerarien  be- 
ruhende historische  Angaben  durch  eine  solche  Annahme  nicht 
allein  für  Markgraf  Ludwig,  sondern  auch  für  andere  Persönlichkeiten 
schwankend  werden,  so  möchte  doch  der  hier  evident  vorliegende 
Widerspruch  bei  den  weit  auseinander  liegenden  Ausstellungsorten 
zur  Untersuchung  der  Unterscheidungszeichen  der  von  den  Fürsten 
selbst,  oder  deren  Kanzleien  ausgefertigten  Urkunden,  anregen. 
48)  Riedel  c.  1.  A  XIX  15.  49)  Riedel  XXI  162.  Eine  andere  Ein- 
kommensquelle des  Hauptmanns  ergibt  sich  aus  einer  Urkunde 
vom  13.  December  1347,  in  welcher  Lochen  den  Städten  Berlin  und 
Colin  die  an  ihn  gezahlte  Orbede  von  150  Mark  quittirt. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  393 

Hebungen  aus  der  Alt-  und  Neumark,  dem  Lande  über  der 
Oder  und  der  Lausitz  an  den  Markgrafen  Friedrich  von 
Meissen50)  noch  grösser,  und  doch  bedurfte  der  Markgraf 
gerade  in  diesem  Augenblicke,  wo  eine  neue,  seine  Existenz 
bedrohende  Gewitterwolke  über  ihm  aufzog,  der  Geldmittel 
als  des  ersten  Bedürfnisses  zur  Kriegsführung  so  sehr. 

Schon  im  Frühjahre  während  der  Abwesenheit  des 
Markgrafen  in  Bayern  verbreitete  sich  in  den  Marken  das 
Gerücht,  der  seit  28  Jahren  todtgeglaubte  Markgraf  Walde- 
mar  sei  noch  am  Leben,  und  fand  bei  einem  grossen  Theile 
der  Bevölkerung  williges  Gehör.51)  Als  nun  die  neuernann- 
ten Fürsten  von  Mecklenburg,  Herzog  Barnim  von  Stettin, 
der  Graf  Gerlach  von  Nassau  und  andere  Herren  Carl  von 
Luxemburg  als  König  anerkannten,  und  dadurch  für  Branden- 
burg eine  Lage  geschaffen  wurde,  dass  es  vom  Süden,  Nor- 
den und  Westen  von  Feinden  umgeben  war,  ausserdem  auch 
verlautete,  der  wieder  erstandene  Waldemar,  der  auf  dem 
Schlosse  Wolmirstädt  weile,  sei  von  dem  Bischöfe  von 
Magdeburg,  den  Herzogen  von  Sachsen  und  den  Grafen  von 
Anhalt  als  acht  anerkannt  worden,  begann  in  den  Gesinn- 
ungen der  Märker  eine  bedeutende  Schwankung  zu  Gunsten 
ihres  vom  Tode  erstandenen  Herrschers.  Gelang  es  auch 
dem  Landeshauptmanne  Lochen,  zu  dem  sich  aus  Schwaben 
sein  Onkel  Heinrich  und  sein  gleichnamiger  Neffe  begeben 
hatten,52)  mit  Hilfe  dieser  die  Stadt  Bärwalde  zu  dem  Ver- 
sprechen zu  vermögen,  jeder  Zeit  dem  Markgrafen  Ludwig 
die  Thore  zu  öffnen,53)  dann  die  Stadt  Müncheberg,  welche 
am  15.  Juli  bereits  dem  Prätendenten  gehuldigt  hatte,  zu 
ihrer  Pflicht  zurückzuführen,54)  und  die  von  Schulenburg 
in  der  Treue  für  seinen  Herrn  zu  erhalten,55)  so  zeigen  doch 


50)  3.  Juni  Riedel  B  II  209.  51)  „Darnach  kam  Markgraf  Wold- 
mar.  —  Ein  mulner  nie  von  Art  geporn  —  da  wart  daz  lant  zumal 
verlorn."  Suchenwirt  80  flg.  52)  Riedel  A  XIII  134.  53)  15.  Juli 
c.  1.  XIX  15.     54)  16.  Juli  c.  1.  XX  137.     55)  7.  Aug.  c.  1.  A  V  325. 


394  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

die  von  Waldemar  den  Städten  Alt-Brandenburg,  Pritzwalk, 
Osterburg,  Tangermünde  und  den  Städten  in  der  Priegnitz56) 
im  Laufe  des  August  ausgefertigten  Bestätigungen  und  Neu- 
verleihungen von  bisher  in  diesem  Maasse  nie  besessenen  Rech- 
ten, wie  schnell-  der  Abfall  um  sich  griff.  Die  Städte  der 
Alt-Mark,  in  der  Lochen  am  7.  August  noch  zu  Tangermünde 
urkundet,57)  ergaben  sich  dem  eindringenden  Heere  derAs- 
canier  meist  ohne  Widerstand,  doch  mussten  die  Schlösser 
Sandow,  Kameren,  Jerichow,  Klitz,  Scholene,  Ploth  und 
Plauen  theils  durch  List,  theils  mit  Gewalt  genommen  werden. 
Am  29.  August  befindet  sich  Waldemar  bereits  in 
Brandenburg,  und  schliesst  am  1.  September  zu  Gremmen 
mit  den  Herzogen  Albrecht  und  Johann  von  Mecklenburg 
ein  Bündniss,58)  dem  sich  auch  Schweden,  der  Herzog  Ru- 
dolf von  Sachsen,  der  Herzog  Barnim  von  Stettin  und  die 
Grafen  von  Holstein  anschliessen.  In  diese  Zeit  mag  das 
Gefecht  fallen,  in  welchem  Lochen  unterstützt  von  50  Lüne- 
burgischen Helmen  dem  Herzoge  von  Anhalt  bei  Nauen  eine 
Niederlage  beibrachte59).  Nunmehr  suchte  Waldemar  sich 
des  Unterlandes  zu  bemächtigen,  er  war  am  5.  September 
mit  seinem  Heere  in  Prenzlau,60)  am  8.  in  Anger  münde,  am 
11.  in  Bernau,  und  zog,  nachdem  in  Spandan  die  Mecklen- 
burger sich  mit  ihm  vereint  hatten,,  vor  Berlin.  Wie  er  in 
den  Besitz  dieser  Stadt  gelangte  ist  nicht  bekannt,  doch 
möchte  die  Anwesenheit  Lochens  in  Köpenicke  (16.  Sept.)61) 
und  der  in  der  Stadt  entstandene  Brand  auf  eine,  wenn  auch 
erfolglose,    Verteidigung  schliessen  lassen.     Am  20.    stellte 


56)  c.  1.  A  IX  42,  43,  III  378,  379,  XVI  12,  Klöden  III  198  flg. 
57)  c.  1.  A  V  325.  Diese  Urkunde  beweist,  dass  Klödens  Ansicht, 
Lochen,  den  der  Markgraf  als  seinen  Stellvertreter  zurückliess,  sei 
mit  Ludwig  nach  Bayern  gezogen,  irrig  ist.  Ludwig  urkundet  am 
27.  Juli  in  Passau,  am  21.  Aug.  zu  Hertenberg,  6.,  12.,  13.  Sept.  zu 
Nürnberg.  58)  Riedel  B  II  214.  59)  Suchenwirt  c.  1.  90  flg. 
60)  Riedel  A  XXI  162.        61)  c.  1.  XXIII  38. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  395 

Waldeinar  in  Berlin  Urkunden  aus.62)  Straussberg,  das 
bisher  die  pommerischen  Truppen  cernirt  hatten,  wurde  mit 
Sturm  genommen.  So  hatte  Waldemar,  oder  vielmehr  die- 
jenigen, denen  seine  Person  als  Mittel  zur  Erreichung  ihres 
Begehrens  nach  der  Mark  Brandenburg  dienen  musste,  und 
die  ihn  so  ängstlich  in  allen  Handlungen  bevormundeten,  den 
grössten  Theil  der  Mark  in  kurzer  Zeit  und  mit  geringer 
Mühe  sich  unterworfen,  nur  das  Land  Lebus  und  die  Neu- 
mark waren  noch  im  Besitze  des  Markgrafen  Ludwig,  der 
sich  nach  seiner  Rückkunft  aus  Bayern  zu  Tankow  (22 — 24), 
Neu-Berlin  und  Arnswalde  (25.,  26.  Sept.)  aufhielt,  und  am 
30.  nach  dem  bedrohten  Frankfurt  a./O.  begab.63)  Mark- 
graf Ludwig  war  in  Bayern  nicht  unthätig  gewesen  sich  die 
Mittel  zu  schaffen,  um  seinen  Feinden  mit  Erfolg  entgegen- 
treten zu  können.  Verträge  mit  Dänemark,  Sachsen-Lauen- 
burg und  den  Hansestädten  sicherten  ihm  Hilfstruppen, 
König  Casimir  von  Polen  schützte  seine  Anhänger  in  der 
Neumark,  und  Pfalzgraf  Ruprecht,  der  jüngere,  sammelte  am 
Rhein  ein  Heer,  um  dem  bedrohtem  Stammesgenossen  zu 
Hilfe  zu  kommen.  Auf  die  Kunde  von  diesen  Rüstungen 
wendeten  sich  die  Ascanier  um  Beistand  an  den  Böhmen- 
könig, und  dieser  bot  nicht  nur  des  Herzog  Rudolf  von 
Sachsen  ganze  Macht,  sondern  selbst  die  schwäbischen  und 
elsässischen  Herrn  und  Städte  zum  Zuzüge  gegen  den  Witteis- 
bacher auf.64) 

Nach  der  Besitzergreifung  von  Berlin  hatte  sich  Walde- 
mar der  Veste  Straussberg  bemächtigt,  und  rückte  nun  süd- 
östlich, Barnim  mit  seinen  Pommern  legte  sich  vor  Münche- 
berg,  ein  anderer  Heerestheil  vor  Fürstenwalde,  ein  dritter 
Theil  endlich  beobachtete  die  Westseite  von  Frankfurt  und 
den  dortigen  Oderübergang.  Am  30.  September  kam  König 
Carl  mit  einem  zahlreichen  Heere  in  das  Lager  von  Münche- 


62)  c.  1.  XI  36.        63)  c.  1.  XXIII  3J;.        64)  c.  1.  B  II  216. 


396  Sitzung  der  hist.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

berg,  belehnte  am  2.  October  auf  Grund  beschworner  Aus- 
sage den  als  acht  geltenden  Waldemar  mit  den  Marken 
Brandenburg  und  Landsberg,  und  verschrieb  den  Herzogen 
Rudolf  und  Otto  von  Sachsen,  sowie  den  Fürsten  von  An- 
halt für  den  Fall,  dass  Waldemar  ohne  Erben  sterbe,  die 
Nachfolge  in  diesen  Ländern.65)  Nachdem  Fürstenwalde 
und  Müncheberg  gefallen,  vereinten  sich  die  Truppentheile, 
und  zogen  mit  dem  Könige  zur  Belagerung  von  Frankfurt 
(7.  October).  Mit  dem  Falle  dieser  Stadt,  mit  dem  die  Ge- 
fangennehmuDg  des  Markgrafen  Ludwig  und  seines  ganzen 
Heeres  verbunden  sein  würde,  hoffte  Carl  den  Krieg  beendi- 
gen zu  können. 

Wie  bereits  oben  bemerkt  war  der  Witteisbacher  Mitte 
September  mit  einer  Reiterschaar  in  der  Neumark  ange- 
kommen, und  hatte  dort  die  vom  Norden  kommenden  Zu- 
züge erwartet,  die  meiste  Hoffnung  setzte  er  auf  das  Heer, 
welches  vom  Süden  unter  Pfalzgraf  Rupprecht  anrückte. 
In  der  Lausitz  hatte  dieser  sich  mit  den  schlesischen  Mann- 
schaften des  Grafen  Günther  von  Schwarzburg  vereint,  und 
setzte  den  Marsch  zur  Vereinigung  fort,  da  stiess  er,  an 
welchem  Tage  und  Orte  ist  unbekannt,  auf  die  Schaaren  mit 
denen  Herzog  Rudolf  von  Sachsen  gegen  Fürsten walde  her- 
anzog. Trotz  des  Abm ahnen s  des  kriegserfahrnen  Grafen  von 
Schwarzburg  griff  der  junge,  feurige  Pfalzgraf  mit  mehr 
ritterlichem  Sinne,  als  Besonnenheit  die  Sachsen  an,  zwei- 
mal warf  er  sie  zurück,  beim  dritten  Anfalle  wurde  er  um- 
zingelt und  mit  80  Helmen,  darunter  14  aus  dem  Geschlechte 
Zedlitz,  gefangen.66)  Günther  schlug  sich  mit  dem  Reste 
des  Heeres  durch  und  vereinigte  sich  mit  dem  an  der  Oder 
ihn  erwartenden    Markgrafen    Ludwig,   und   zog   mit  diesem 


65)  Riedel  B  II  217,  219.  66)  Klöden  III  221  setzt  die  Zeit 
des  Treffens  zwischen  24.  und  27.  September,  und  die  Wallstatt  in 
die  Nähe  von  Luckau.  Ueber  das  Treffen  berichten  auch  chron. 
Schwarzburg  343  und  Adlzreiter. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  397 

nach  Frankfurt.  In  diese  Stadt  hatte  der  Markgraf  auch 
seine  noch  im  Felde  dem  Feinde  gegenüberstehenden  Haupt- 
leute mit  ihren  Mannschaften  berufen,  unter  ihnen  den  ober- 
sten Hauptmann  Friedrich  von  Lochen.67) 

Die  Belagerung  Frankfurts,  das  diessmal  von  der  Süd- 
seite aus  angegriffen  wurde,  hatte  bereits  eine  Woche  ge- 
dauert, als  König  Carl,  in  dessen  Heere  die  Pest  ausgebrochen 
war,  plötzlich  sein  Lager  abbrach,  und  mit  seinen  Böhmen 
und  Mähren  zuerst  nach  Fürstenberg,  dann  (20.  October)  in 
die  Heimath  abzog.  Bald  folgten  seinem  Beispiele  auch  die 
übrigen  Fürsten,  die  Sachsen  gingen  in  ihr  Land  zurück, 
die  Märker,  Pommern,  und  Mecklenburger  aber  nach  Straus- 
berg, wo  sie  noch  längere  Zeit  blieben.68) 

Markgraf  Ludwig,  der  bis  zum  21.  October  in  Frank- 
furt sich  aufhielt,  suchte  mit  den  bis  jetzt  verlornen  Städ- 
ten der  Mark  wieder  in  Verbindung  zu  treten,  und  beauf- 
tragte Lochen  und  andere  Hauptleute  mit  den  Rittern  und 
Städten  zu  unterhandeln.  Der  Versuch  gelang  wenigstens 
insoferne,  dass  von  Seite  Ludwigs  die  Städte  Arnswalde, 
Friedeberg,  Neulandsberg  und  Morin,  mit  den  dem  Walde- 
mar  ergebenen  Königsberg,  Soldin,  Schönfliess  und  Lippene 
auf  fünf  Wochen  einen  Waffenstillstand  eingingen,  und  da- 
mit die  gegenseitig  mit  grösster  Erbitterung  und  Zerstörungs- 
lust geführten  Fehden  beendet  wurden. 

Den  Abmarsch  der  Feinde  benützte  Markgraf  Ludwig 
zur  Wiedergewinnung  der  in  der  Neumark  verlornen  Städte. 
Am  27.  October  hatte  er  Müncheberg  bereits  wieder  in 
seinem  Besitze,69)  und  Fürstenwalde  ergab  sich  nach  ein- 
tägiger Belagerung  am  29. 70)  Wahrscheinlich  um  das  be- 
lagerte Brietzen  zu  entsetzen  stand  der  Markgraf  mit  Lochen 

67)  Lochen  erscheint  in  den  vom  Markgrafen  Ludwig  in  der 
Neumark  ausgestellten  Urkunden  nicht  als  Zeuge,  dagegen  mit  Mar- 
schall Heele  von  Sundheim  und  andern  bayerischen  Führern  in  den 
zu  Frankfurt  gefertigten.  68)  Riedel  c.  1.  XX  214.  69)  c.  1. 
XVIII  120.        70)  c.  1.  XX  138. 


398  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

am  5.  November  im  Lager  bei  Bardenitz.  Da  des  Mark- 
grafen Hoffnung,  es  würden  sich  viele  seiner  Mannen  wieder 
an  ihn  anschliesen,  nicht  in  Erfüllung  ging,  ausserdem  auch 
der  nahende  Winter  Belagerungen  unmöglich  machte,  ging 
er  nach  Frankfurt  (23.  Nov.)  zurück,  von  wo  aus  er  zuerst 
zu  dem  Herzoge  Friedrich  von  Sachsen,  und  als  dieser  die 
angebotene  Königskrone  zurückwies,  zu  dem  Grafen  Günther 
von  Schwarzburg  sich  begab.  Während  dieser  Bemühungen 
einen  Gegenkönig  zu  schaffen,  berieth  König  Carl  mit  den 
Ascanischen  Fürsten  zu  Wittenberg  den  Feldzugsplan  für  das 
nächste  Jahr  (29  Nov. — 4.  Dec),  und  entfremdete  (21.  Dec.) 
den  Herzog  Friedrich  von  Sachsen  und  dessen  Söhne  der 
wittelsbachischen  Partei. 

Während  zu  Frankfurt  die  Vorbereitungen  zur  Wahl 
Günthers  getroffen  wurden,  weilte  Markgraf  Ludwig  in  der 
Neumark  zu  Neu-Berlin  undNeu-Landsberg  (3.  Jänner  1359), 
und  beauftragte  vor  der  Abreise  nach  Frankfurt  und  Bayern 
seinen  Hauptmann  von  Lochen  zum  Könige  Waldemar  nach 
Dänemark  zu  gehen,  und  von  diesem  Unterstützung  mit 
Truppen  nachzusuchen.  Anfänglich  konnte  Lochen  von  dem 
Könige  nur  die  Zusage  von  300  Helmen  erhalten,  doch  ge- 
lang es  im  Laufe  der  weitern  Verhandlungen,  in  denen  der 
ehemalige  Marschall  seine  zur  Eroberung  des  Königreiches 
geleisteten  Dienste  besonders  betonte,  Waldemar  zu  ver- 
mögen, dass  er  versprach,  selbst  mit  einem  Heere  von 
500  Helmen  gegen  die  Feinde  Ludwigs  zu  ziehen.71) 

Die  am  Rhein  erfolgte  Wahl  Günthers  zum  Könige 
(16.  Jänner),  sowie  die  Furcht  vor  dem  Ausbruche  eines 
zwischen  den  beiden  Königen  drohenden  Krieges,  verhinderte 
den  Wiederanfang  der  Feindseligkeiten  in  den  Marken,  und 
der  Hader  beschränkte  sich  auf  den  Zusammenstoss  ein- 
zelner  Hauptleute.     Die    ohnehin   nicht   günstige    Lage    des 


71)  Suchenwirt  c.  1.  103—123. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  399 

Markgrafen  Ludwig  wurde  durch  den  Uebertritt  des  Pfalz- 
grafen Rudolf,  der  im  März  seine  Tochter  Anna  dem  Böhmen- 
könige verlobte,  zur  luxemburgischen  Partei  sehr  verschlim- 
mert, und  es  erübrigte  ihm,  da  Günther  am  26.  Mai  auf 
die  deutsche  Königskrone  verzichtete,  nichts  anderes,  als 
Carl  als  rechtmässigen  König  anzuerkennen,  und  zu  erklären, 
dass  alle  Streitigkeiten  und  Kriege  mit  diesem  und  dessen 
Brüdern  versöhnt  und  vergessen  sein  sollen.  Der  König 
dagegen  versprach  Ludwig  als  den  rechtmässigen  Herrn  von 
Tirol  und  Brandenburg  anzuerkennen,  und  dessen  Lossprech- 
ung vom  Banne  bei  dem  Papste  zu  erwirken.72) 

Markgraf  Ludwig  der  Römer,  der  während  der  Ab- 
wesenheit seines  Bruders  sich  in  dessen  Lande  aufhielt, 
erwartete  seit  Februar  vergebens  die  Ankunft  des  dänischen 
Heeres,  und  beschloss  nun  allein  den  Feind  anzugreifen. 
Zuerst  ging  er  in  das  Land  Lebus,  und  rückte  dann  von 
da,  während  ein  andrer  Theil  seiner  Truppen  von  der  Neu- 
mark aus  Oderberg  und  Altbarnim  angriff,  gegen  Alten- 
landsberg vor.  Bei  der  Eroberung  dieser  Stadt  erwarb  sich 
der  Herzog  die  Ritterwürde.73)  Am  14.  Juli  machte  Lud- 
wig den  Städten  und  Landen  in  der  Mark  den  Vorschlag, 
sie  möchten  Gesandte  zu  König  Carl  schicken,  um  sich  zu 
überzeugen,  dass  zwischen  diesem  uüd  den  Witteisbachern 
eine  Aussöhnung  zu  Stande  gekommen  sei,  und  der  König 
die  Rechtmässigkeit  ihrer  Ansprüche  auf  Brandenburg  an- 
erkannt habe.  Bis  zur  Rückkehr  der  Abgesandten  wurde 
ein  Waffenstillstand  geschlossen ,  als  Obmann  der  beider- 
seitigen Schiedsleute,  die  über  Loslassung  der  Gefangenen 
und  andere  Streitigkeiten  zu  urtheilen  hatten,  wurde  Fried- 
rich von  Lochen  ernannt. 74)  Im  Laufe  des  Juli  unterwarfen 
sich  auch  die  Städte  Königsberg,    Soldin,    Schievelbein   und 


72)  Riedel  c.  1.  B  11251  flg.     73)  Albert.  Argent  152.     74)  Riedel 
c.  1.  B  II  258. 


400  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Lippene  den  Witteisbachern,  so  dass  die  Neumark  fast  voll- 
ständig wieder  in  ihrem  Besitze  war. 

Trotz  der  Sühne  und  der  Erklärung  der  Mehrzahl  der 
Kurfürsten,  dass  sie  nur  Ludwig,  den  Aelteren,  als  recht- 
mässigen Besitzer  der  Marken  anerkennen  wollten,  erliess 
der  ränkevolle  König  am  15.  August  an  die  märkischen 
Städte  ein  Ausschreiben,  worin  er  wiederum  Waldemar  als 
Markgrafen  von  Brandenburg  und  Landsberg  anerkannte.75) 
Alle  bisherigen  Erfolge  Ludwigs,  der  den  eroberten  Städten 
zugestanden  hatte,  dass  sie  keine  fremde  Besatzung  in  ihren 
Mauern  aufnehmen  mussten,  waren  durch  diesen  Erlass  in 
Frage  gestellt,  er  sah  dem  Wiederausbruch  der  Feindselig- 
keiten besonders  in  der  Neumark  entgegen,  und  war  daher 
hocherfreut  als  ihm  Kunde  wurde,  der  Dänenkönig  sei  auf 
der  Insel  Poel  gelandet,  wolle  im  Vereine  mit  den  Pommern 
zuerst  die  Herzoge  von  Mecklenburg  zum  Frieden  zwingen, 
und  dann  in  die  Marken  kommen.  Von  den  Kämpfen  in 
Mecklenburg  ist  nur  bekannt,  dass  der  König  zuerst  Maien- 
burg eroberte,76)  und  dann  durch  Pommern  vor  Strassberg 
(26.  Juli)  zog;  das  er  nach  mehr  wöchentlicher  Belagerung 
einnahm.  Als  er  in  die  Uckermark  eindringen  wollte,  drängte 
ihn  Herzog  Albrecht  von  Mecklenburg,  der  kurz  zuvor  Fürsten- 
berg erobert  hatte,  nach  Strassberg  zurück,  und  belagerte 
diese  Stadt.  (September).  Auf  die  Nachricht,  Ludwig  der 
Römer  rücke  zum  Entsätze  an,  ging  Albrecht  diesem  ent- 
gegen, und  brachte  ihm  in  den  Engnissen  vor  Oderberg  eine 
so  empfindliche  Niederlage  bei,  dass  Ludwig  selbst  nur  mit 
Noth  der  Gefangennehmung  entging.  Der  Dänenkönig  be- 
nützte den  Abzug  der  Mecklenburger,  verliess  Strassberg, 
zog  die  Pommern  an  sich,  und  eroberte  auf  seinem  Vor- 
marsch gegen  Berlin  mehrere  der  abgefallenen  Städte. 
Seinem  Vorgehen  mag  es  zuzuschreiben  sein,  dass  die  Stadt 


75)  c.  1,  B  II  261.        76)  Suchenwirt  c.  1.  130. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  401 

Spandau  am  12.  October  sich  für  die  Witteisbacher  er- 
klärte.77) Unter  den  Zeugen  des  mit  dieser  Stadt  abge- 
schlossenen Vertrages  treffen  wir  auch  Lochen,  der  am 
24.  August  der  Abschliessung  des  zwischen  Markgraf  Lud- 
wig und  den  Herzogen  von  Braunschweig  zu  Stande  ge- 
kommenen Vertrages  zu  Frankfurt  angewohnt,  und  am 
9.  October  als  Bürge  Ludwigs  dem  Nicolaus  von  Werle  die 
Ansprüche  auf  Friedrichsdorf  und  Maienburg  bestätigt  hatte.78) 
Von  Seite  der  Dänen  wurden  grosse  Anstrengungen  ge- 
macht Berlin  zu  erobern,  bei  einem  Ausfalle,  den  die  Be- 
lagerten machten,  wurden  sie  mit  einem  Verluste  von  80  Mann 
zurückgeschlagen.79)  Alles  war  zum  Sturm  auf  die  Stadt 
bereit,  als  der  Herzog  von  Mecklenburg  zu  deren  Entsätze 
anrückte,  und  die  Dänen  zwang,  sich  gegen  ihn  zu  ver- 
schanzen und  zu  vertheidigen.  Eine  Schlacht  schien  unver- 
meidlich, und  schon  rüsteten  sich  beide  Heere  dazu,  als 
durch  Vermittlung  benachbarter  Mächte  ein  Vertrag  zu  Stande 
kam,  in  welchem  zwischen  Dänemark,  Pommern  und  Mecklen- 
burg ein  Waffenstillstand  geschlossen,  und  die  Entscheidung 
ihrer  Streitigkeiten  in  die  Hände  des  König  Magnus  von 
Schweden  gelegt  wurde.  Nach  dem  Abzüge  der  Mecklen- 
burger fiel  Berlin80),  und  bald  darauf  auch  Neustadt.  Hie- 
mit  scheint  der  Krieg  sein  Ende  gefunden  zu  haben,  und 
König  Waldemar  begab  sich  nach  Spandau,  wo  auch  Lud- 
wig, der  Brandenburger,  nach  seiner  Rückkunft  aus  Bayern 
sich  aufhielt.  Er  und  Lochen  bezeugten  die  am  10.  Nov. 
erfolgte  Verleihung  der  Städte  Wusterhausen  und  Gransee 
an  den  zu  den    Witteisbachern   übergetretenen    Graf   Ulrich 


77)  Riedel  A  XI  138.  78)  c.  1.  A  II  238.  79)  Suchenwirt  51. 
80)  Die  von  Klöden  III  354  in  Abrede  gestellte  Angabe  Kmtzows 
I  375,  dass  Berlin  eingenommen  worden  sei,  bestätigt  Suchenwirt  in 
dem  Liede  von  Graf  Ulrich  von  Cilly  XII  59.  „Er  wagt  die  Flust 
und  auch  gewinn  —  mit  wernden  handen  vor  Berlin." 


402  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

von  Lindau,81)  und  begleiteten  dann  die  Markgrafen  nach 
Königsberg,  Soldin,  im  December  nach  Gartz  und  Stettin. 
Dass  mit  diesen  Zügen  auch  kriegerische  Zwecke  verfolgt 
wurden,  möchte  die  im  Felde  (in  campis)  bei  Berholz  aus- 
gestellte Urkunde  vom  4.  December  beweisen.  Am  Schlüsse 
dieses  Jahres  gewann  Markgraf  Ludwig  durch  die  Abtret- 
ung der  Vogteien  Jagow  und  Stolpe  für  sich  einen  Bundes- 
genossen an  Herzog  Barnim  von  Stettin. 

Mit  rastloser  Tbätigkeit  benützte  Markgraf  Ludwig,  der 
Aeltere,  die  Winterruhe,  um  die  wieder  gewonnenen  Städte 
und  Mannen,  wie  auch  die  ihm  treugebliebenen,  an  sein  In- 
teresse zu  fesseln,  und  auch  die  Stimmung  König  Carls,  an 
den  sich  unmittelbar  nach  der  Belagerung  von  Berlin  der 
Dänenkönig  und  mehrere  Fürsten  mit  der  Bitte  gewendet 
hatten,  ihnen  einen  Ort  und  Tag  zu  bestimmen,  wo  sie  in 
seiner  Gegenwart  ihrer  Gegenpartei  entledigt  werden  könnten, 
fing  an  den  Witteisbachern  günstiger  zu  werden,  und  das 
um  so  mehr,  als  er  sich  in  seiner  Würde  als  deutscher  König 
durch  das  Benehmen  der  Anhänger  Waidemars,  die  nicht 
ihn,  sondern  den  König  Magnus  von  Schweden  zum  Schieds- 
mann angenommen  hatten,  verletzt  fühlte.  Carl  befahl  den 
beiden  um  die  Herrschaft  in  Brandenburg  kämpfenden  Par- 
teien Anfangs  Februar  vor  ihm  in  Bautzen  zu  erscheinen. 
Zu  Spremberg  fand  am  1.  Februar  1350  eine  Vorberathung 
der  Parteien  statt,  bei  welcher  die  beiden  Markgrafen  Lud- 
wig mit  ihrem  Hauptmanne  Lochen,  von  der  Gegenpartei 
alle  Fürsten  mit  Ausnahme  des  Prätendenten  Wäldern ar  er- 
schienen. Ausser  einem  Compromiss  auf  den  König  von 
Schweden  wurde  auch  ein  Waffenstillstand  für  die  Marken 
bis  Pfingsten  vereinbart,82)  und  durch  gegenseitig  auszu- 
liefernde Vesten  und  dreissig  Ritter  und  Edelknechte  ver- 
bürgt.    Von    Spremberg    begab   sich   die   Versammlung   am 


81)  Riedel  c.  1.  A  IV  56.        82)  Riedel  B  II  265. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  403 

6.  Februar  nach  Bautzen,  wo  der  König  umgeben  vcu  den 
Fürsten  von  Sachsen  und  Schlesien  und  andern  Herrn  sie 
erwartete.  Am  folgenden  Tage  wählte  Markgraf  Ludwig 
den  Pfalzgrafen  Ruprecht  als  Schiedsmann  in  seinen  Streitig- 
keiten mit  dem  Könige  Carl.83)  Auf  Grund  der  Aussage 
von  vierzehn  Zeugen,  unter  denen  auch  Lochen,  ,,dass,  wenn 
es  auf  einen  Eid  ankomme,  sie  eher  schwören  wollten,  dass 
Waldemar  des  Markgrafen  Conrad  von  Brandenburg  seliger 
Sohn  nicht  wäre,  als  dass  er  es  sei",  stellte  der  Pfalzgraf 
Ruprecht  an  den  König  den  Antrag,  den  Witteisbachern 
Ludwig  dem  altern  und  Jüngern,  sowie  Otto  und  deren  Erben 
die  Mark  Brandenburg  wieder  zu  verleihen,  und  Waldemar 
zur  Beibringung  des  Beweises,  dass  er  der  ächte  Sohn  des 
Markgrafen  Conrad  sei,  vor  sein  Gericht  nach  Nürnberg 
vorzuladen.84)  Schon  am  nächsten  Tage  (15.  Febr.)  be- 
stätigte der  König  diesen  Urtheilsspruch  und  verlieh  den 
genannten  Fürsten  die  Mark  Brandenburg.85) 

Die  Markgrafen  ertheilten  nun  ihren  Helfern  reiche  Be- 
lohnung und  Ersatz  für  die  geleisteten  Dienste.  Zu  Gunsten 
des  Königs  von  Dänemark  verzichtete  Ludwig  auf  die  Reichs- 
steuer in  Lübeck,  dem  Grafen  Ulrich  von  Lindow  verlieh  er 
das  Städtchen  und  die  Burg  Bützow;  Friedrich  von  Lochen 
erhielt  die  im  vergangenen  Jahre  von  ihm  eroberte  Stadt 
und  Burg  Luckau86)  um  2000  Mark  verpfändet.87) 

Nach  Beendigung  der  Verhandlungen  begab  sich  (An- 
fangs März)  Markgraf  Ludwig  der  Aeltere  nach  Bayern, 
sein  Bruder  aber  nach  Spandau.  In  den  Verträgen,  welche 
hier  der  Markgraf  mit  dem  Herzoge  Erich  von  Sachsen 
Lauenburg    über    eine    Schuld   und  Dienstleistung  abschloss 


83)  c.  1.  267.  84)  Sommersberg  Script,  rer.  Siles.  I  982  -  984. 
85)  Riedel  c.  1.  B  II  277.  86)  „Und  legte  sich  für  Lukau  —  die 
Stat  wolt  man  erberet  han  —  doch  gwan  er  sey  den  veihden  an." 
Suchenwirt  134   flg.         87)  dat.  21.   Februar.     Riedel  c.  1.  B  II  289, 


404  Sitzung  der  histor.  Gasse  vom  2.  Mai  1874. 

(3.  und  4.  März  88)5  wurde  Lochen  ,,und  war,  was  Gott  nicht 
gebe,  dieser  todt,  oder  siech,  oder  nicht  im  Lande"  Benedict 
von  Anefeld  zum  Obmann  ernannt.  —  Am  29.  März  gab 
König  Carl  den  Städten  Brandenburg,  Berlin,  Colin,  Prenz- 
lau,  Pasewalk,  Angermünde,  Templin,  Perleberg,  Pritzwalk, 
Kyritz,  Havelberg,  Nauen,  Rathenow,  Görtzke,  Straussberg, 
Eberswalde,  Bernau  und  Köpernik  die  Ergebnisse  des  Tages 
zu  Bautzen  bekannt,  und  am  6.  April  folgte,  da  der  Reichs- 
tag zu  Nürnberg  Waldemar  als  einen  Betrüger,  die  Witteis- 
bacher aber  als  rechte  Herren  der  Mark  erkannt  hatte,  die 
Aufforderung  an  sie,  sich  letzteren  zu  unterwerfen.89)  Die 
Fürsten  Otto  und  Wilhelm  von  Lüneburg  und  die  Mark- 
grafen Friedrich  und  Balthasar  von  Meissen  erhielten  vom 
Könige  den  Auftrag,  den  Witteisbachern  bei  der  Wiederer- 
oberung des  verlornen  Landes  beizustehen. 

Waldemar  und  die  Ascanier  erkannten  das  Urtheil  des 
deutschen  Königs  nicht  an,  und  trotz  der  im  Lande  wüthen- 
den  Pest  rüsteten  beide  Parteien  sich  zum  Kampfe,  der  im 
Juli  mit  einem  Einfalle  der  Pommern  in  der  Uckermark 
begann,  während  Markgraf  Ludwig  gleichzeitig  über  Alten- 
landsberg und  Spandau  vordrang.  Lochen,  der  sich  am 
27.  Juli  zu  Frankfurt  befand,90)  zog  vor  Kyritz  und  nahm 
das  Städtchen  nach  kurzer  Belagerung  ein  (8.  August).  Kurze 
Zeit  darnach  brachte  er  dem  Fürsten  von  Anhalt,  der  gegen 
Spandau  heranzog,  und  den  Markgrafen  Ludwig  in  dieser 
Stadt  einschliessen  wollte,91)  eine  Niederlage  bei,  in  welcher 
der  junge  Waldemar  von  Anhalt  in  Gefangenschaft  gerieth. 
Die  Hilfstruppen,  welche  um  diese  Zeit  Ludwig,  der  Branden- 
burger, und  Pfalzgraf  Ruprecht  aus  Bayern  in  die  Mark  ge- 


88)  Riedel  c.  1.  B  II,  292,  293.  89)  Riedel  c.  1.  XII  497,  XXI 
166.  90)  c.  1.  XVIII  464.  91)  „Da  tzogte  der  von  Anhalt.  —  Für 
Spandaw  mit  gewalt  —  da  der  Markgraf  inne  lag."  Suchenwirt  c.  1. 
145  flg.    Ludwig  urkundet  am  9.  Aug.  zu  Spandau.   Riedel  A  I  376. 


Würdinger:  Friedrieh  von  Lochen.  405 

bracht  hatten,  erlaubten  den  Krieg  nun  im  grösseren  Mass- 
stabe zu  betreiben  und  wir  finden  Lochen  als  obersten 
Hauptmann  mit  dem  Markgrafen  im  Lager  bei  Wittstock 
(22.  Aug.),  bei  den  Belagerungen  von  Saarmund  (1.  Sept.), 
Bernau  (19. — 26.  Sept.),  Straussberg  (10.  Oct.),  Euerswalde 
(1.  und  2.  Nov.),  und,  ohne  Näheres  darüber  angeben  zu 
können,  am  7.  und  21.  November  bei  oder  in  Stendal,  das 
der  König  am  13.  September  mit  anderen  Städten  geächtet 
hatte.  Den  Schluss  der  Urkunden,  die  die  persönliche  Theil- 
nahme  Lochens  an  den  Ereignissen  dieses  Jahres  nachweisen, 
bildet  die  am  24.  December  zu  Luckau  ausgestellte,  in 
welcher  Markgraf  Ludwig  der  Stadt  Müncheberg  bekannt 
gibt,  dass  er  die  Marken  Brandenburg  und  Lausitz  auf 
sechs  Jahre  an  seine  Brüder  Ludwig,  den  Römer,  und  Otto 
abgetreten  habe.92) 

Dem  nächsten  Jahre  (1351)  war  noch  viel  zur  Aus- 
gleichung aufbehalten,  was  das  vergangene  unentschieden  ge- 
lassen hatte.  Das  erste  für  Markgraf  Ludwig  günstige  Er- 
eigniss  war  die  Aussöhnung  mit  dem  Bischöfe  von  Havel- 
berg (6.  Jänner),  und  die  damit  verbundene  Benützung  der 
an  der  Grenze  der  Altmark  gelegenen  bischöflichen  Vesten. 
Ihr  folgte  die  Unterwerfung  der  Vogtei  Salzwedel  (4.  Febr.) 
In  dem  Streite  mit  dem  Johanniterorden,  wegen  des  Patro- 
nates  über  die  Pfarrkirche  zu  Königsberg,  compromittirte 
Markgraf  Ludwig,  der  Römer,  (19.  Febr.)  auf  Lochen  und 
den  Grafen  Günther  von  Schwarzburg.93)  Für  die  Dauer 
der  Abwesenheit  des  Jüngern  Ludwig,  der  zu  seiner  Mutter 
Margarethe  nach  Holland  reiste,  übernahm  Ludwig,  der 
Brandenburger,  die  Regierung,  und  begann  von  Havelberg 
aus  mit  der  Belagerung  von  Sandow  den  Krieg  gegen  die 
Anhänger  Waidemars.  Die  Stadt  unterwarf  sich,  und  bald 
folgte  ihrem  Beispiele  Rathenow.    Noch  ehe  der  Kampf  sich 


92)  Riedel  c.  1.  XX  140.        93)  Riedel  XIX  222. 
[1874,  4.  Phil.  hist.  Cl.]  28 


406  Sitzung  der  Mstw.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

in  die  Priegnitz  zog,  unternahm  Lochen  die  Belagerung  des 
an  der  Elbe  gelegenen  Wittenberg94)  und  lag  dort,  ohne 
dass  der  Erfolg  bekannt  ist,  drei  Tage.  —  Von  den  Ereig- 
nissen in  der  Priegnitz  ist  nur  die  Unterwerfung  der  Stadt 
Pritzwalk  (26.  März)  bekannt.95)  Lochen,  der  am  18.  April 
der  Belehnung  des  Betekin  Valkener  in  Spandau  beiwohnt, 
begleitet  den  Markgrafen  in  die  Altmark,  und  nach  Be- 
endigung der  dortigen  Geschäfte  zur  Belagerung  der  Städte 
Colin  und  Berlin.  Als  der  Versuch  sie  mit  den  Waffen  zu 
nehmen  misslang,  schloss  der  Markgraf  mit  beiden  auf  drei 
Wochen  einen  Waffenstillstand,  nach  dessen  Beendigung  am 
22.  Juli  im  Lager  zu  Tempelhof  eine  Uebereinkunft  zu 
Stande  kam,  in  deren  Folge  Colin  und  Berlin  die  beiden  wittels- 
bachischen  Brüder  zu  Herren  wieder  annahmen.96)  Wie 
gross  die  von  Lochen  an  Vorschüssen  und  sonstigen  Aus- 
gaben dem  Markgrafen  gegebenen  Summen  gewesen  sein 
müssen,  zeigt  eine  Urkunde  vom  4.  Juli,  in  der  Pfalzgraf 
Ruprecht  es  übernimmt,  für  Ludwig  an  dessen  lieben  und 
getreuen  Friedrich  von  Lochen,  die  Summe  von  3400  Gulden 
zu  bezahlen.97)  In  einem  am  3.  August  zu  Spandau  aus- 
gestellten Briefe  erscheint  Lochen  als  Küchenmeister  des 
Markgrafen.98)  Während  des  Aufenthaltes  Ludwigs  in  Pirna 
befindet  sich  Lochen  in  der  Nähe  seiner  alten  Hauptmann- 
schaft zu  Havelberg  (2.  Sept.),  dann  mit  dem  Markgrafen 
in  Berlin,  Frankfurt  und  Lippene;  als  „Hauptmann  in  der 
Mark"  urkundet  er  im  October  zu  Königsberg  und  Neu- 
berlin, und  war  im  November  bei  Versöhnung  des  eroberten 
Stendal,99)  (12.),  und  bei  der  mit  dem  Erzstifte  Magdeburg 
(23.)100)  anwesend.     Lochen   leitete   auch  die  Unterwerfung 


94)  Suchenwirt.  „Darnach  zog  der  auserbelt.  —  Für  Wittenberch 
mit  grosser  macht  —  Er  lag  untz  an  den  dritten  Tag  —  Vor  der 
Stadt  mit  Heldes  mut"  153  flg.  95)  Riedel  A  IX  28.  96)  c.  1. 
B  n  333.  97)  Freiberg  c.  I.  I  223.  98)  Riedel  XVIII  127. 
99)  c.  1.  XVI  139.        100)  c.  1.  B  II  336. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  407 

der  Städte  Seehausen,  Gardelegen,  Tangermünde  und  Oster- 
berg. Bei  Eintritt  der  rauhen  Witterung  wurde  das  Heer 
entlassen.  Markgraf  Ludwig  konnte  mit  den  Erfolgen  des 
Krieges  zufrieden  sein,  denn  seine  Gegner  hatten  jetzt  'nur 
noch  die  Uckermark,  und  ausserdem  einen  Theil  des  Havel- 
landes und  der  Zauche  inne.  Mitte  December  ging  er  nach 
Berlin,  nnd  dann  mit  Lochen  nach  Luchau,  wo  er  seinen 
aus  Holland  heimkehrenden  Bruder  Ludwig,  den  Römer, 
traf.  Erst  jetzt  wurde  die  im  vorigen  Jahre  zu  Frankfurt 
beschlossene  Mutschirung  des  Landes  in  Vollzug  gesetzt.  Lud- 
wig, der  Aeltere,  erhielt  Oberbayern,  dagegen  Ludwig  der 
Römer,  der  zugleich  Vormund  seines  Bruders  Otto  wurde, 
die  Mark  Brandenburg  mit  allen  dazu  gehörigen  Rechten, 
ausserdem  gelobten  die  Brüder  beim  Ausbruche  eines  Krieges 
sich  gegenseitig  mit  100  Helmen  beizustehen  (24.  Dec). 101) 
Am  27.  December  verliess  Ludwig,  der  Brandenburger,  ge- 
folgt von  vielen  bayrischen  Rittern  die  Lausitz  für  immer, 
um  nach  dem  von  ihm  mehr  als  die  Marken  geliebten  Bayern 
zurückzukehren. 

Lochen  blieb  im  Dienste  des  neuen  Landesherrn,  den 
er  zur  Einnahme  der  Huldigung  nach  Berlin  (4.  Jänner  1352), 
und  Stendal  (15.  Jänner)  begleitete.  Da  ihm  wie  dem  Grafen 
Heinrich  von  Schwarzburg  als  Hauptleuten  der  Truppen, 
welche  den  jungen  Grafen  Wäldern ar  von  Anhalt  gefangen 
genommen  hatten,  ein  Anspruch  auf  das  von  diesem  zu  er- 
legende Lösegeld  zustand,  so  wurden  beide  auch  den  Rath- 
mannen  von  Berlin  und  Colin,  welchen  nun  der  junge  Fürst 
übergeben  wurde,  beigeordnet  (15.  Febr.).102)  Bald  nach 
dem  Ausbruche  des  Krieges  mit  den  Anhaltinern  steht  Lochen 
im  Lager  bei  dem  Dorfe  Groben,  wahrscheinlich  um  die 
Veste  Saarmund  zu  belagern.  Ob  er  an  dem  Kriege  in  der 
Uckermark,    deren  Städte  Prenzlau,   Pasewalk  und  Templin 


101)  Riedel  c.  1.  B  II  338,  340.        102)  c.  1.  B  II  344. 

28* 


408  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

den  Fürsten  von  Anhalt  die  Mittel  zur  Werbung  von  100  Hel- 
men geboten  hatten,  th eilnahm,  ist,  wenn  auch  wahrscheinlich, 
doch  nicht  mit  Urkunden  nachzuweisen.  In  kriegerischer 
Thätigkeit  findet  sich  Lochen  im  Lager  zu  Nauen  (10.  Juli), 103) 
fünf  Tage  später  zwischen  Nauen  und  Brandenburg,  und, 
als  sich  der  Krieg  in  die  Altmark  zog,  am  1.  August  mit 
dem  Markgrafen  im  Felde  zu  Osterhof,  südlich  von  Sandow.10*) 
Kunde  von  den  mit  diesen  Zügen  verbundenen  Erfolgen  ist 
nicht  auf  uns  gekommen.  Für  die  geleisteten  Dienste  über- 
liess  Markgraf  Ludwig  „dem  tapfern  Held  und  Kriegsmann105) 
Friedrich  von  Lochen"  am  3.  September  die  Lehenschaft 
über  Mühlen-,  Gericht-,  Zoll-  und  Hufenzins  in  der  Stadt 
Fürstenwalde.106)  Bei  Gelegenheit  der  Verpfändung  des 
Wächteramts  auf  der  Rathenowschen  Haide,  muss  Tylo  von 
Wedingen  die  Verbindlichkeit  eingehen,  jährlich  50  Pfund 
Pfennige  an  den  Hauptmann  von  Lochen  zu  entrichten. 

Die  ersten  Monate  des  Jahres  1353  scheint  Lochen  in 
Fürstenwalde  zugebracht  zu  haben,  um  dort  den  Bau  einer 
Burg  zu  betreiben,  aus  der  man,  selbst  wenn  die  Stadt 
schon  gewonnen  wäre,  sich  noch  vertheidigen  könne.  Zu 
diesem  Unternehmen  ertheilte  Markgraf  Ludwig  am  24.  April, 
„damit  die  Stadt  desto  besser  vertheidigt  werden  könne", 
seine  Genehmigung,107)  und  fügte  der  bei  Bestätigung  der 
Freiheiten  der  Stadt  ausgestellten  Urkunde,  noch  besonders 
die  Clausel  bei:  „Aber  das  Gebäude  soll  unzerbrochen 
bleiben,  das  an  -der  neuen  Veste  in  der  Stadt  gebaut  ist, 
und  was  noch  dazu  gebaut  wird,  auch  soll  dieser  Brief  dem 
Friedrich  von  Lochen  und  dessen  Erben  in  allen  ihren 
Rechten,  die  sie  in  Fürstenwalde  haben,  keinen  Schaden 
bringen.     (5.  Juli).108) 

Von  Fürstenwalde  aus  begleitete  Lochen  den  Markgrafen 


103)  c.   1.  A  VII  314.        104)  Klöden  IV  130.        105)  Riedel 
XI  44.      106)  c.  1.  XX  216.        107)  c.  1.  XX  217.      108)  c.  1.  XX  218. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen,  4G9 

nach  Spandau,  und  lag  mit  ihm  (16.  Juli)  vor  Straussberg.109) 
Im  August  weilte  er  zu  Nurenberg  (1.)  und  Müncheberg  (14.). 
Nach  der  Ankunft^  des  Herzog  Friedrich  von  Bayern,  der 
eine  Reiterschaar  mit  sich  führte,  und  der  Hilfstruppen  des 
Herzoges  Erich  von  Sachsen-Lauenburg  versuchte  Markgraf 
Ludwig  den  Ascaniern  die  Vogtei  Liebenwalde  abzunehmen. 
Anfangs    September    wurde    Liebenwalde    belagert,110)    am 

25.  September  stand  der  Markgraf  vor  Brandenburg,111)  im 
October  unterwirft  sich  ihm  Perleberg,112)  und  vom  11.  bis 

26.  November  urkundet  er  vor  Straussberg.113)  Ob  die 
Gewalt  der  feindlichen  Waffen,  ob  der  Eintritt  des  Winters 
seinen  Rückzug  nach  Straussberg  nöthig  machte,  ist  un- 
entschieden. 

Schon  am  19.  Februar  1354  steht  der  Markgraf  wieder 
vor  Liebenwalde,  und  genehmigt  bei  seiner  Rückkunft 
nach  Berlin  (26.  Febr.),  dass  Lochen  eine  Hebung  aus  dem 
Hufenzinse  zu  Fürstenwalde  verkaufe.114)  In  der  Umgeb- 
ung Ludwigs  wohnt  Lochen  der  Versöhnung  desselben  mit 
dem  Stifte  Lebus  (14.  März)  und  der  Schliessung  des  Bünd- 
nisses mit  Herzog  Heinrich  von  Schlesien  (15.  März)  bei. 

Herzog  Barnim  von  Pommern  hatte  in  seinem  Kriege 
mit  Mecklenburg  einen  grossen  Theil  der  Uckermark  erobert. 
Markgraf  Ludwig  begann  nun  mit  Barnim  zu  unterhandeln, 
und  erbot  sich  einen  Theil  der  Uckermark  für  immer  an 
Pommern  abzutreten,  wenn  ihm  dagegen  der  Rest  des  Landes 
übergeben  würde.  Zum  Abschlüsse  dieser  Verhandlungen 
kamen  die  beiden  Fürsten  am  5.  April  zu  Oderberg  zusam- 
men, Ludwig  trat  den  grössten  Theil  der  Vogtei  Stolze  und 
Besitzungen  in  der  Vogtei  Prenzlau  an  Pommern  ab,  erhielt 
aber  dagegen  den  Rest  der  beiden  Vogteien  und  die  Vogtei 


109)  c.  1.  XXIV  60.  110)  c.  1.  A  III  383.  111)  c.  1.  B  VI 
88.  112)  o.  1.  A  I  152.  113)  c.  1.  XX  219,  XXIII  61.  114)  c.  1, 
XX  219. 


410  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Jagow,  das  Haus  zu  Greiffenberg,  das  Haus  zu  Boitzenburg, 
Neuensund,  Haus  und  Stadt  Jagow  und  Verkwitz.115) 

Boitzenburg,116)  Stadt  und  Veste,  vejsjieh  der  Markgraf 
seinem  treuen  Diener  Lochen,  und  dieser  gab  (4.  Mai)  zu 
Stettin  dem  Herzoge  Barnim  das  Versprechen,  ihn  aus  der 
Burg  nie  zu  befehden,  ausser  es  läge  der  Markgraf  mit  dem 
Herzoge  in  Fehde.117)  Ob  Lochen  schon  jetzt  von  der 
ihm  verliehenen  Burg  Besitz  ergreifen  konnte,  könnte  be- 
zweifelt werden,  da  die  Herzoge  von  Pommern  Wolgast  am 
22.  Mai  mit  den  Fürsten  von  Anhalt  ein  Bündniss  schlössen, 
und  für  ihre  Dienstleistung  die  Vogtei  Jagow,  die  Stadt 
Pasewalk  und  das  Land  Brüssow  als  Pfand  erhielten.118) 
Am  12.  Juni  ist  Lochen  zu  Frankfurt,  und  nimmt  an  den 
Unterhandlungen  Theil,  welche  in  Vorsorge  für  den  Krieg 
mit  Pommern  mit  dem  Johanniter-Orden  wegen  Oeffnung 
der  Veste  Tempelburg  geführt  wurden.119)  Die  ihm  in 
Fürstenwalde  angewiesenen  Hebungen  scheint  er  durch  die 
Verpfändung  dieser  Stadt  an  den  Bischof  von  Lebus  (17.  Juni) 
verloren  zu  haben,  ausserdem  verzichtete  er  auch  (24.  Juni) 
zu  Gunsten  der  Stadt  Frankfurt  auf  die  ihm  zustehende 
Urbede  von  Straussberg.1*0)  Am  12.  Juli  war  Lochen  Zeuge 
der  zwischen  dem  Bischöfe  von  Magdeburg  und  dem  Mark- 
grafen Ludwig  stattfindenden  Sühne,  sowie  der  Belehnung 
des  letztern  mit  den  magdeburgischen  Gütern,  den  Städten 
Arneburg  und  Tangermünde.181)  Um  diese  Zeit  löste  sich 
auch  das  Bündniss  der  Herzoge  von  Pommern  mit  den 
Fürsten  von  Anhalt  wieder,  und  letztere  scheinen,  da  auch 
Herzog  Rudolf  von  Sachsen  ihre  Partei  verliess,  mit  dem 
Markgrafen  Ludwig   in   Unterhandlung  wegen   des   Friedens 


115)  Riedel  c  1.  B  II  350,  351.  116)  Boitzenburg  liegt  zwischen 
Lychen  undPrenzlau.  Die  Burg  ist  der  Geburtsort  des  im  Jahre  1639 
gestorbenen    Feldmarschalls    Georg    von    Arnim.  117)    Riedel 

B  II  356.        118)  c.  1.   B  II  352.        119)  c.  1.  XXIV  61.        120)  c. 
1.  XXIII  68.        121)  Riedel  c.  1.  II  357, 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  411 

getreten  zu  sein.  Lochen  begleitete  den  Markgrafen  nach 
Salzwedel  und  Nauen  (August),  dann  nach  Kyritz  (Oct.)  und 
Pritzwalk  (November). 

Der  Beginn  des  Jahres  1355  eröffnete  dem  Markgrafen 
Ludwig  die  Aussicht  jene  grossen  Wirren,  die  seinem  Lande 
seit  sieben  Jahren  so  verderblich  geworden,  zu  lösen.  Mit 
Lochen  belagerte  er  im  Februar  die  in  der  Altmark  gelegene 
Raubveste  Apenburg,  ging  nach  deren  Eroberung  nach 
Stendal,  und  belehnte  dort  (7.  Februar)  den  Ritter  Marquard 
Lotterpeck  mit  den  Schlössern  Tangermünde  und  Arne- 
burg.128) Ende  Februar  waren  die  Verhandlungen  mit  den 
Anhängern  Waidemars  soweit  gediehen,  dass  zu  ihrem  Ab- 
schlüsse die  Fürsten  in  Prenzlau  zusammen  kommen  konn- 
ten. Mit  grossen  Summen  musste  der  Witteisbacher  die 
Ansprüche  seiner  Gegner  ablösen,  und  ihnen  bis  zur  Erleg- 
ung des  Geldes  Landestheile  verpfänden.123)  Die  Städte 
Templin,  Brandenburg  und  Görtzke,  welche  der  in  Dessau 
weilende  Waldemar  am  10.  März  aus  seiner  Pflicht  ent- 
lassen hatte,  huldigten  nun  dem  Markgrafen  Ludwig. 

Der  19.  Mai  dieses  Jahres  scheint  eine  bedeutende 
Aenderung  in  der  Stellung  Lochens,  der  in  den  Urkunden  wohl 
seit  einiger  Zeit  nicht  mehr  Hauptmann  genannt  wird,  aber 
doch  in  ihnen  als  Zeuge  nach  den  Edeln  immer  die  erste 
Stelle  unter  den  Räthen  einnimmt,  hervorgebracht  zu  haben. 
Schon  im  vergangenen  Jahre  (7.  Oct.)  hatte  Markgraf  Lud- 
wig zu  Königsberg  den  Hasso  von  Wedel  von  Falkenburg 
zum  Hauptmann  und  Vogt  seiner  Lande  und  Städte  auf 
dem  rechten  Ufer  der  Oder  ernannt,  und  demselben  so  aus- 


122)  c.  1.  A  VI  191.  123)  Klöden  IV  237.  Klöden  c.  1.  246 
gibt  die  Summe,  worin  auch  die  Schätzung  für  die  abzutretenden 
Landestheile  inbegriffen  ist,  auf  46000  Mark  an,  was  dem  Betrage 
von  595,819  Tbalern  entsprechen  würde,  während  Burggraf  Friedrich 
von  Nürnberg  die  Mark  Brandenburg  von  Kaiser  Sigismund  um 
99G,6G6  Thaler  Silberwerths  kaufte. 


412  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  18? '4. 

gedehnte  Rechte  ertheilt,  dass  dem  Fürsten  fast  nur  noch 
die  Bestätigung  der  Beschlüsse  seines  Hauptmannes,  dem 
mehrere  Räthe  beigegeben  waren,  übrig  blieb.  Ein  gleiches 
trat  nun  auch  diessseits  der  Oder  ein,  indem  der  Markgraf, 
„mit  Rath  seines  ganzen  Rathes"  bei  Ernennung  des  Hasso 
von  Wedel124)  zum  Hofmeister,  diesem  die  Landesregierung  in 
allen  Theilen  der  Mark  und  der  Lausitz  übergab,  mit  dem 
Beisatze,  „dass  er  Niemand  über  sich  haben  soll  als  den 
Markgrafen".  Unter  den  dem  Hofmeister  für  das  Land  diess- 
seits der  Oder  beigegebenen  Räthen  ist  als  der  einzige  Aus- 
länder Friedrich  von  Lochen.125)  Dass  dieser  erst  jetzt 
seiner  Stellung  als  Landeshauptmann  enthoben  wurde,  scheint 
die  am  7.  Juli  zu  Kyritz  ausgestellte  Urkunde136)  des  Mark- 
grafen zu  belegen.  In  ihr  erklärt  Ludwig,  „dass  der  ehrbare 
Ritter  Friedrich  von  Lochen  während  der  Zeit,  wo  er  in 
diesem  Kriege  sein  Hauptmann  gewesen,  sich  gar  sehr  ver- 
than  und  verzehrt  hat  an  Kosten  und  Schaden,  die  der 
Markgraf  ihm  zu  entrichten  und  zu  ersetzen  schuldig  ist, 
darum  will  er  über  ihn  und  sein  Gut  nicht  richten,  noch 
Jemand  gestatten  zu  richten,  so  lang  er  dem  Lochen  die 
Schuld  nicht  zurückbezahlt  hat.  Er  gebietet  darum  allen 
seinen  Hauptleuten  und  Richtern  in  der  Mark,  dass  sie  sich 
darnach  achten  und  über  ihn,  seine  Leute  und  Güter  nicht 
richten". 

Von  nun  an  kommt  Lochen  nur  noch  in  Urkunden,  die 
der  Markgraf,  den  immer  nur  einige  Räthe  begleiteten,  diess- 
seits der  Oder  ausstellte,  vor,  so  am  21.  September  zu 
Straussberg  bei  Bestätigung  der  Privilegien  der  Stadt  Alten- 
Landsberg.  127)  Seinen  ständigen  Aufenthalt  nahm  der  Ritter 
in  Boitzenburg,  wo  er  am  3.  Juni  1356  dem  Kloster  Marien- 
pforten Besitzungen  zu  Khutz  verkaufte. 128)    Als  „edler  Mann" 


124)  Riedel  XVIII   135.  125)   c.  1.  C  I  35.  126)   c.  I, 

XIII  330.  127)  Riedel  XIII  130.  128)  c.  1.  XXI  38. 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  413 

(vir  nobilis)  und  Herr  zu  Boitzenburg  urkundet  Lochen  zum 
erstenmale  am  20.  August  1357. 129)  Zeugen  seiner  fortge- 
setzten amtlichen  Thätigkeit  sind  die  Urkunden  vom  21.  Fe- 
bruar 1358  und  27.  September  1360,  die  letzten  von  ihm 
gezeichneten  fallen  in  die  erste  Hälfte  des  Jahres  1364. 
In  letztgenanntem  Jahre  befindet  er  sich  am  24.  Februar 
mit  den  Markgrafen  Ludwig  und  Otto  zu  Tangermünde, 
wohnt  am  12.  und  14.  April  zu  Pirna  der  Th eilung  der 
märkischen  Lande  unter  den  beiden  Brüdern,  und  dem 
Eheversprechen  des  Markgrafen  Otto  bei,  und  erscheint  zum 
letztenmale  in  amtlicher  Eigenschaft  am  21.  Juni  zu  Königs- 
berg in  der  Urkunde,  in  welcher  Markgraf  Otto  seine  Zu- 
stimmung gibt,  dass  die  Städte  Seehausen,  Perleberg,  Arne- 
burg, und  Werben  der  Markgräfin  Ingeburg  als  Leibgeding 
angewiesen  werden.130) 

Der  Darstellung  Lochens  in  seinem  Wirken  als  Staats- 
mann und  Krieger  mögen  noch  einige  Nachrichten  über  dessen 
letzten  Lebenstage  und  Familie  folgen.  —  Als  Hauptstück 
des  Gottesdienstes  wurde  in  jener  Zeit  die  Messe  betrachtet, 
und  ihre  Notwendigkeit  für  Lebende  und  Todte  so  nach- 
drücklich angepriesen,  dass  viele  aus  dem  Volke  sich  be- 
wogen fanden,  wenn  nicht  Kirchen  und  Kapellen,  so  doch 
in  den  vorhandenen  Kirchen  neue  Altäre  zu  stiften,  und  an 
denselben  durch  fleissiges  Messelesen  für  ihr  Seelenheil  und 
das  ihrer  Vorfahren  und  Nachfolger  gründlich  zu  sorgen. 
Selbst  mildthätige  Vereine  wandten  viel  mehr  auf  Seelen- 
messen, als  auf  Almosen,  denn  durch  das  letztere  konnte 
nur  das  kurze  menschliche  Elend,  durch  jenes  das  ewige 
jenseitige  gemildert  werden.  Diesem  Zuge  seiner  Zeit  folgend 
stiftete  Lochen  am  21.  Juni  1364  vier  Hufen  in  Baumgarten 
zu  einem  in  der  Johanneskirche  zu  Prenzlau  neuerrichteten 
Altare.131)    In  seinem,  am  7.  Februar  1365  zu  Boitzenburg 


129)  c.  1.  A  1 154.     130)  c.  1.  A  VI  194.     131)  Riedel  c.  1.  XXI 21. 


414  Siiäung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

gemachtem  Testamente132)  bedachte  er  zu  seinem  Seelen- 
heile das  Kloster  Marienpforten  mit  allen  Gütern  und  Rech- 
ten, die  er  im  Dorfe  Kuhz  noch  besass;  zum  Bau  einer 
Kirche  auf  dem  Frauenberge  schenkte  er  50  Mark  Silber, 
ausserdem  stattete  er  den  Klosterfrauen  in  Boitzenburg 
31  Mark,  die  er  ihnen  schuldete,  zurück.  Zehn  Klöster  der 
Umgegend  erhielten  20,  die  Kirche  in  Hannstal  11,  die  in 
Heddingen  10  Gulden.  Seiner  Frau  Guthe  vermachte  er 
210,  seinem  Sohne  dem  Ritter  Ulrich  von  Lochen  100  Mark 
Silber.  Für  geleistete  Dienste  und  rückständigen  Sold  er- 
hielten sein  Onkel  Fricko  50,  seine  reisigen  Knechte  100  Mark 
Silber.  Alle  diese  Summen  wies  er  auf  890  Mark  Silber 
an,  die  ihm  Pfalzgraf  Ruprecht  von  Bayern  schuldig  war, 
und  in  die  Hände  der  Frau  Guthe  und  ihrer  Töchter  Agnes 
und  Margaretha  abzuliefern  versprochen,  hatte.  Für  Bezah- 
lung kleinerer  Schulden  und  noth wendiger  Ausgaben  setzte 
er  100  Mark,  ebensoviel  für  die  Kosten  des  Begräbnisses, 
und  eine  gleiche  Summe  für  die  notwendigsten  Bedürf- 
nisse aus. 

Kurze  Zeit  nach  Abfassung  dieser  Verfügungen  starb 
Lochen,  und  in  der  Urkunde,  in  welcher  Katharina  (sie)  die 
Bestimmungen  ihres  Mannes  am  13.  März  1365  anerkennt, 
nennt  sie  sich  bereits  die  Wittwe  Friedrichs  von  Lochen,133) 
begraben  wurde  er  zu  Marienpforten.134) 

Am  30.  Juli  1365  verkaufte  Ulrich  von  Lochen  dem  Mark- 
grafen Otto  Haus,  Städtchen  und  Land  Boitzenburg,  sowie  alle 
seine  andern  Güter  in  der  Mark  um  37 10  Mark  löthigen  Silbers. 
Der  Markgraf  verpflichtete  sich  diese  Summe  bis  Weihnach- 
ten zu  Nürnberg  oder  Frankfurt  am  Main  zu  erlegen.  Sollte 
die  Zahlung  nicht  erfolgen,  könne  Ulrich  die  genannten 
Güter  an  einen  Andern  verkaufen  und  der  Markgraf  würde 
diesem  die  Belehnung  damit  nicht  verweigern.    Zeugen  dieses 


132)  c.  1.  39.        133)  c.  1.  40.        134)  c.  1.  40, 


Würdinger:  Friedrich  von  Lochen.  415 

Vertrages  sind  ausser  dem  Bischöfe  von  Lebus  —  Martin 
von  Cuntzendorf,  Ulrichs  Hofmeister,  sein  Hofrichter  Gum- 
precht  von  Adelnhausen  und  sein  Vogt  Richter  Nickel  von 
Erdmannsdorf.  Bis  zum  14.  Dezember  1367  waren  von  der 
Kaufsumme  nur  137  V2  Schock  Groschen  erlegt,  wesswegen 
Ulrich  dem  Markgrafen  neue  Termine  setzte,  und  zwar  den 
ersten  zur  Erlegung  von  8000  kleinen  Gulden,  „wie  sie  in 
Nördlingen  giltig  sind"  auf  den  2.  Februar  1368,  einen 
weitern  auf  Ostern,  als  letzten  aber  die  Weihnachten  des- 
selben Jahres.  Weitere  Bedingungen  waren,  dass  wenn  das 
Geld  bis  Ostern  nicht  erlegt  wäre,  die  bereits  geschehene 
Anzahlung  verloren  sei,  geschähe  aber  die  Zahlung  zu  Nörd- 
lingen an  keinem  der  festgesetzten  Termine,  so  wäre  Boitzen- 
burg wieder  an  Ulrich  von  Lochen  auszuhändigen,  und  der 
Markgraf  hätte  ausserdem  noch  an  Reimbold  von  Greifen- 
berg, der  mit  der  Schwester  Ulrichs  Lucie  verheirathet  war, 
das  Dorf  Claushagen  mit  allen  Rechten  als  Leibgeding  zu 
verleihen.135)  —  Diessmal  muss  die  Zahlung  erfolgt  sein, 
da  Markgraf  Otto  im  Jahre  1369  Boitzenburg  und  andere 
Orte  den  Städten  Frankfurt,  Kölln  und  Berlin  um  3000  Mark 
Silber  verpfänden  konnte. 

Ulrich  von  Lochen  verliess  nun  die  Mark  Brandenburg 
und  kehrte  in  seine  Heimath  an  den  Bodensee  zurück.  Mit 
Genehmigung  des  Kaisers  erwarb  er  im  Mai  1370  von  Con- 
rad Vogt  von  Summerau  den  Zoll  von  Lindau,136)  und  findet 
sich  im  Jahre  1385  im  Bürgerbuche  dieser  Stadt.  Eine 
seiner  Schwestern  heirathete  Wernherr  von  Raitenau.  Der 
Wittwe  Friedrichs  begegnen  wir  als  Frau  Gute  von  Lochen, 
Herrin  von  Wrietzen,137)  am  18.  Mai  1366  als  Ausstellerin 
einer  Urkunde,  in  der  sie  in  der  Lorenzkapelle  zu  Wrietzen 
zur  Gedächtnissfeier    für  ihren   Gemahl,    für   sich  und  ihre 


135)  Riedel  VIII  332.  136)  Würdinger  Urkunden-Auszüge 
zur  Geschichte  der  Stadt  Lindau  31.  137)  Stadt  an  der  Oder  in 
der  Mittelmark. 


416  Sitzung  der  Jiistor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Töchter  Agnes  und  Margaretha  einen  Jahitag  stiftet.138) 
Zum  letztenmal  erscheint  der  Name  der  Familie  in  branden- 
burgischen Urkunden  im  Jahre  1373  in  einer  Beschreibung 
der  Neumark,  und  zwar  noch  im  Besitze  von  Wrietzen. 139) 
Zum  Schlüsse  mag  noch  der  Namen  einiger  Männer  Er- 
wähnung geschehen,  welche  zu  gleicher  Zeit  mit  Lochen  in 
der  Mark  Brandenburg  den  Witteisbachern  hervorragende 
Dienste  leisteten,  und  zwar  aus  Bayern:  Altmann  von 
Degenberg,  Küchenmeister  (1334 — 1348),  Berthold  von 
Ebenhausen,  Küchenmeister  (1343 — 1353),  Johann  von 
Hausen,  Kammermeister  (1336  —  1361),  Heinrich  von  Reisch- 
ach  (1338—1344),  Friedrich  Mautner,  Hauptmann,  (1344 
bis  1348),  Wolfgang  von  Satzenhofen,  Hofmeister  (1344-1350), 
Marquard  Lotterpeckh,  Vogt  zu  Spandau  (1339  —  1363);  aus 
Schwaben:  Beringer  Heele  von  Suntheim,  Marschall  (1335 
bis  1350),  Diepold  Heele  (1350—1355),  Herzog  Conrad  von 
Teck  (1339—1348).  Sweiker  von  Gundelfingen  (1344  bis 
1348), 140)  endlich  Wilhelm  von  Wonbrecht,  der  Schenk, 
(1336 — 1355).  141)  Die  meisten  der  Genannten  verliessen 
mit  Ludwig  dem  Brandenburger  (1353)  die  Mark,  und  wirk- 
ten als  dessen  Diener  in  Bayern  und  Tyrol. 


138)  Riedel  XXI  450.  139)  c.  1.  B  III  4.  140)  Sweiker 
von  Gundelfingen,  bayrischer  Hofmeister,  ermordete  am  4.  Sept.  1352 
den  Hauptmann  von  Oberbayern,  Conrad  von  Teck.  141)  Die  ein- 
geklammerten Jahreszahlen  bezeichnen  nicht  die  Dauer  der  öfter 
wechselnden  Dienstesstellung,  sondern  die  des  Vorkommens  der  Per- 
sönlichkeiten in  den  brandenburgischen  Urkunden. 


Rockinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      417 


Herr  Rockinger  legt  vor: 

„Gelegenheitliche  Bemerkungen  zu  den  Hand- 
schriften des  kleinen  Kaiserrechtes,  insbe- 
sondere über  eine  Rechtsbücherhandschrift 
zu  Münster   vermeintlich   vom  Jahre  1449. 

Von  dem  kleinen  Kaiserrechte,  seitdem  es  um  die 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  durch  den  Reichsfreiherrn 
Christian  v.  Senckenberg  genauer  bekannt  beziehungsweise 
allgemein  zugänglich  geworden ,  mehr  oder  minder  ver- 
schiedenartig!)  beurtheilt,  bald  überschätzt  und  bald  auch 
unterschätzt,  vor  nahezu  einem  Menschenalter  durch  den 
noch  vor  der  Vollendung  des  Druckes  aus  dem  Leben  ab- 
berufenen Professor  Endemann  mehr  oder  weniger  auf 
der  Grundlage  einer  Fuldaer  Handschrift  vom  Jahre  1372 
neu  herausgegeben,  liegen  etwa  drei  Dutzende  von 
Handschriften  zum  Theile  des  14.  Jahrhunderts  und 
namentlich  des  folgenden  vor. 

Der  zuletzt  genannte  Bearbeiter  unseres  Rechtsbuches 
zählt  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  desselben 
S.  XVIII-LXVIII  nicht  weniger  als  37  Handschriften  auf. 
Die  Einsichtnahme  von  einigen  derselben ,  womit  ich  für 
andere  Zwecke  mich  befasste,  hat  mich  auf  Wahrnehmungen 
geführt,  welche  ich  in  Kürze  zur  allenfallsigen  Berück- 
sichtigung von  Forschern  auf  dem  Gebiete  des  berührten 
Rechtsbuches  hier  mittheilen  will. 

Zwei  von  jenen  Handschriften  sind  mehr  oder  weniger 
überhaupt  auszuscheiden. 


1)  Vergl.  in  dieser  Beziehung  v.  Gosen  das  Privatrecht  nach 
dem  kleinen  Kaiserrechte  S.  2  und  3. 


418  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Zunächst  die  unter  Ziff.  20  aufgeführte  des  Stadt- 
archives zu  Danzig,  indem  in  ihr  gar  kein  Exemplar 
des  kleinen  Kaiserrechtes  enthalten  ist,  wie  sich  aus  meinem 
dritten  an  die  kaiserliche  Akademie  der  Wissenschaften 
zu  Wien  erstatteten  Berichte  über  die  Untersuchung  von 
Handschriften  des  sogenannten  Schwabenspiegels  des  näheren 
ergibt,  in  den  Sitzungsberichten  der  philosophisch-historischen 
Classe  Band  LXXV  S.  63—132  veröffentlicht,  insbesondere 
S.  92—98. 

Was  sodann  die  unter  Num.  14  erwähnte  Handschrift 
der  Stadtrathsbibliothek  zu  Leipzig  betrifft,  findet  sich 
in  ihr  keineswegs  das  Rechtsbuch,  welches  man  jetzt  unter 
dem  Namen  des  kleinen  Kaiserrechtes  begreift,  sondern  ein 
lediglich  aus  dessen  erstem  Theile  in  Verbindung  mit  Be- 
stimmungen des  sogenannten  Schwabenspiegels  gebildetes 
kurzgefasstes  Gerichtshandbuch,  welches  auch  eine  nunmehr 
auf  der  Universitätsbibliothek  zu  Würzburg  aufbewahrte 
Handschrift  v.  Uffenbach's  enthält,  worüber  ich  seinerzeit  mich 
in  einem  Vortrage  in  unserer  Classe  vom  6.  Februar  1869 
einlässlicher  verbreitet  habe,  abgedruckt  in  den  Sitzungs- 
berichten des  bezeichneten  Jahres  I  S.  191 — 225,  wozu 
jetzt  auch  noch  mein  erster  Bericht  über  die  Untersuchung 
von  Handschriften  des  sogenannten  Schwabenspiegels  in  den 
Sitzungsberichten  der  philosophisch-historischen  Classe  der 
kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien  Band 
LXXII1  S.  396—398  verglichen  werden  mag. 

Hienach  erleidet  nunmehr  das  örtliche  Gebiet  der 
Handschriften  des  kl  einen  Kaiserrechtes  eine  Einschränk- 
ung nach  Norden.  Endemann  bemerkt  in  dieser  Hinsicht  a.  a.  0. 
S.  LI  unter  Ziff.  1,  dass  es,  vom  mittleren  Deutschlande  aus- 
gehend, auf  der  einen  Seite  über  Eschwege,Mühlhausen,Göttingen, 
Goslar,  Lüneburg  bis  Lübeck  und  Rostok,  beziehungsweise 
Erfurt,  Leipzig  bis  Danzig;  auf  der  andern  über  Ansbach, 
Ulm,  Augsburg  bis  München  und  Innsbruck,  und  endlich  über 


Rockinger:  Handschriften  des  Beinen  Kaisetrechtes  etc.      419 

Frankfurt,  Cöln  und  Düsseldorf  nach  Cleve,  Münster,  Nord- 
kirchen und  Osnabrück,  beziehungsweise  Brüssel,  Nymwegen 
und  dem  Haag  zieht.  In  dem  fränkischen  Theile  von  Mittel- 
deutschland begegnen  uns  zahlreiche  und  hervorragende 
Handschriften.  Von  hier  aus  —  äussert  denn  v.  Gosen  in 
seinem  Privatrechte  nach  unserem  Rechtsbuche  S.  11  — 
ist  auch  dessen  Verbreitung  am  leichtesten  zu  erklären, 
denn  strahlenförmig  geht  dieselbe  nordwärts  nach  Mühl- 
hausen, Göttingen,  Goslar,  Lüneburg,  Lübeck  und  Rostock; 
ostwärts  über  Erfurt  und  Leipzig  bis  Danzig;  südlich  über 
Ansbach,  Ulm,  Augsburg  nach  München;  und  westlich  rhein- 
abwärts  von  Frankfurt  nach  Cöln,  Düsseldorf  bis  Brüssel, 
Haag  und  Nymwegen,  ferner  nach  Cleve,  Münster  bis  nach 
Osnabrück.  Leipzig  und  Danzig  fallen  nunmehr  weg.  Da 
wir  indessen  jetzt  gerade  doch  einmal  bei  dieser  Frage 
stehen,  möchte  auch  ein  Blick  nach  dem  Süden  wohl  ge- 
stattet sein.  Dessen  fernsten  Punkt,  Innsbruck,  hat  bereits 
v.  Gosen  entfernt,  indem  die  Handschrift  des  Ferdinandeums 
daselbst  nach  einer  MittheiluDg  Ficker's2)  ursprünglich  nach 
Frankfurt  oder  Mainz  oder  vielleicht  auch  Ingelheim  ge- 
hörte. Ohne  weitere  derartige  Untersuchungen  hinsichtlich 
dieser  oder  jener  der  übrigen  Handschriften  anzustellen, 
bemerke  ich  hier  noch,  dass  auch  München  in  dieser  Be- 
ziehung zu  fallen  hat,  indem  die  auf  der  Staatsbibliothek 
befindliche  schöne  Handschrift  des  kleinen  Kaiserrechtes 
früher  der  oberpfälzischen  Familie  v.  Präckendorf  und  im 
17.  Jahrhunderte  der  Stadtbibliothek  zu  Regensburg 3)  ge- 
hörte, aus  welcher  sie  erst  in  unserem  Jahrhunderte  an  ihren 
jetzigen  Aufenthaltsort    gelangte.      Es   ist   demnach   anstatt 


2)  v.  Gosen  a.  a.  0.  S.  11  Note  22. 

3)  Vgl.  meine  „Aufzeichnungen  über  die  oberpfälzische  Familie 
v.  Präckendorf  im  Berichte  der  Sitzung  der  historischen  Classe  vom 
4.  Jänner  1868  I.  S.  196  und  197. 


420  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

München  jedenfalls  zunächst  Regensburg  an  den  betreffenden 
Orten  einzusetzen. 

Dass  übrigens  nicht  doch  gerade  in  Altbaiern  noch 
irgendwo  eine  Handschrift  des  kleinen  Kaiserrechtes  vorhan- 
den gewesen  sein  mag,  soll  hiemit  keineswegs  in  Abrede 
gestellt  werden.  Habe  ich  ja  selbst  früher  einmal  bei  einer 
anderen  Gelegenheit4)  bemerkt,  dass  einem  Formelbuche, 
welches  der  spätere  ingolstädter  Gerichtsschreiber  Johann 
Genzinger  angelegt,  9  gleichfalls  von  ihm  geschriebene 
Blätter  vorgebunden  sind,  welche  eine  wohl  im  Jahre  1439 
gemachte  Aufzeichnung  einer  Reihe  von  Artikeln  über  recht- 
liche Gegenstände  enthalten ,  unter  Anderem  auch  die 
Kapitel  11  und  12  wie  15  bis  17  einschliesslich  des  kleinen 
Kaiserrechtes. 

Abgesehen  hievon  möchte  ich  mir  über  die  beiden  von 
Endemann  a.  a.  0.  unter  den  Num.  18  und  32  aufgezählten 
Handschriften,  welche  mir  zum  Behufe  meiner  Forschungen 
über  den  sogenannten  Schwabenspiegel  mit  entgegenkommend- 
ster Bereitwilligkeit  hieher  zur  eingehenden  Benützung  mit- 
getheilt  worden   sind,    nachstehende  Bemerkungen  erlauben. 

Die  erste,  eine  Prachthandschrift  der  Stadt- 
bibliothek zu  Lüneburg,  in  Grossfolioformat  auf 
Pergament  —  nicht,  wie  Endemann  a.  a.  0.  S.  XXXVIII 
angibt,  auf  Papier  —  zweispaltig  gefertigt ,  wird  von  ihm 
daselbst  dem  Ende  des  14.  oder  dem  Anfange  des  15.  Jahr- 
hunderts zugeschrieben.  Zu  der  letzteren  Altersbestimmung 
hat  vielleicht  eine  Beschreibung  des  Codex,  welche  von  der 
Hand  des  Bibliothekars  Selig  vom  9.  November  1800  auf 
einem  besonderen  Bogen  in  demselben  liegt,  Veranlassung 
gegeben,  indem  er  darin  dem  Anfange  des  15.  Jahrhunderts 

4)  Vergl.  deu  Vortrag  über  die  Folgen  der  Theilungen  Baierns 
für  seine  Landesgesetzgebung  im  Mittelalter  in  den  Abhandlungen 
der  historischen  Classe  XI  Abth.  2  S.  160—162  sammt  dem  Anhange 
S.  173—175. 


Bochinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      421 

zugewiesen  ist.  Es  dürfte  indessen  bei  genauerer  Prüfung 
wohl  keinem  irgendwie  begründeten  Anstände  unterliegen, 
<lass  man  die  letztere  Annahme  fallen  lässt,  und  sich  für 
das  14.  Jahrhundert  entscheidet.  Als  diesem  angehörig  ist 
sie  denn  auch  bereits  von  Kraut  in  seiner  Commentatio 
„de  codicibus  luneburgensibus  quibus  libri  juris  germanici 
medio  aevo  scripti  continentur"  S.  9  — 18,  und  von  Homeyer 
in  seinen  deutschen  Rechtsbüchern  des  Mittelalters  und 
ihren  Handschriften  unter  Num.  423  aufgeführt.  Insoferne 
übrigens  weiter  die  Bemerkungen,  welche  sich  bei  Endemann 
am  berührten  Orte  bezüglich  des  Verhältnisses  zu  der 
seinem  Texte  mehr  oder  weniger  zu  Grunde  gelegten  Fuldaer 
Handschrift  finden,  mehrfach  nicht  richtig  sind,  habe  ich 
für  passend  erachtet,  unten  eine  genaue  Zusammen- 
stellung der  Folge  ihrer  Artikel  mit  denen  der  Aus- 
gabe Endemann's  zu  geben. 

Was  gerade  diese  anlangt,  möchte  man  nach  ihrem 
Titelblatte  ,, das  Keyserrecht  nach  der  Handschrift  von  1372" 
zu  der  Annahme  veranlasst  sein,  dass  sie  auf  dem  berührten 
Fuldaer  Codex  sowohl  im  Texte  als  auch  in  der  Reihen- 
folge der  Kapitel  fusse.  Dem  ist  indessen  nicht  so.  Was 
das  erstere  betrifft,  überzeugt  schon  ein  Blick  nur  auf  den 
Druck  der  Vorrede  und  das  Facsimile  des  Fuldaer  Codex 
auf  der  Handschriftentafel  zur  Genüge  hievon.  Was  das 
andere  anlangt,  bemerkt  Endemann  selbst  am  Schlüsse  der 
Beschreibung  der  in  Rede  stehenden  Handschrift  auf  S.  XX 
der  Einleitung,  dass  die  Artikel  50,  53,  76,  95  des  zweiten, 
und  die  Artikel  2,  21  bis  23,  26,  27  des  vierten  Buches 
in  ihr  fehlten,  während  andere  darin  stünden,  die  sich 
anderwärts  nicht  finden.  Uebrigens  sind  hiebei  einmal  die 
Zahlen  der  Kapitel  21—23,  wie  26  und  27  des  vierten 
Buches  nicht  richtig,  indem  zunächst  dessen  Kapitel  15  bis  17 
einschliesslich  fehlen,  während  ausserdem  dieses  Buch  in  der 
Ausgabe  Endemanns  gar  nicht  26  oder  27  Kapitel  zählt, 
[1874,  4.  Phil.  hist.   Cl.]  29 


422  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

sondern  selbst  mit  Einrechnung  des  Judeneides  und  der 
Bestimmungen  über  den  Diebstahl  und  Todschlag  der  Hunde 
nur  25.  Auf  der  anderen  Seite  trifft  auch  die  Bemerkung, 
welche  er  weiter  dahin  macht,  dass  der  Artikel  187  aus 
Versehen  mit  geringer  Abweichung  nochmal  als  188  stehe, 
insoferne  nicht  ganz  und  gar  zu ,  als  das  bei  den  Artikeln 
186  und  187  oder  Artikel  29  des  dritten  Buches  der  Fall 
ist.  Wenn  er  endlich  die  Gesammtzahl  der  Artikel  der 
Fuldaer  Handschrift  auf  206  angibt,  ist  hiegegen  zu  be- 
richtigen, dass  sie  deren  210  zählt,  wovon  allerdings,  wie 
eben  bemerkt  worden,  186  nochmal  als  187  geschrieben  ist. 
Diese  Ungenauigkeiten  dürften  es  wohl  bei  der  Bedeutung, 
welche  der  in  Rede  stehenden  Handschrift  zukommt,  recht- 
fertigen, wenn  ich  nachher  der  Reihenfolge  der  Artikel  der 
Ausgabe  Endemanns  unter  I  die  der  Artikel  des  Fuldaer 
Codex  beigeselle. 

Nach  mehreren  Seiten  wichtig  ist  endlich  insbesondere 
die  schöne  Pergamenthandschrift  der  akademischen 
Paulinerbibliothek  zu  Münster  No.  29,  in  Folio  auf 
Pergament  von  einer  und  derselben  Hand  gleichfalls  in 
zwei  Spalten  gefertigt,  welche  am  Schlüsse  als  Zeit  ihrer 
Vollendung  den  18.  Oktober  des  Jahres  1449  bezeichnet. 

Insoferne  bei  der  Beschreibung,  welche  Endernanira.  a.  0. 
S.  XLVI  unter  Num.  32  gibt,  mehrfache  Verstösse  mitunter- 
gelaufen sind,  welche  eine  Berichtigung  nicht  minder  er- 
fordern als  auch  verdienen,  theile  ich  für  die  bequemere 
Beurtheilung  der  folgenden  Auseinandersetzung  seine  Ver- 
zeichnung hier  mit: 

Der  Münster'sche  Codex  No.  I  auf  der  Paulinischen 
Bibliothek  No.  330g  in  einem  Foliobande  von  Membran, 
welcher  die  Aufschrift  „Land-  und  Kaiserrecht"  trägt,  und 
das  Landrecht  (Schwabenspiegel) ,  das  Kaiserrecht ,  die 
Schödeclöt  und  den  Spiegel  der  Sachsen  nebst  der  Glosse 
enthält,    welches  Ganze   mit  den  Worten  schliesst:  Explicit 


Bockinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      423 

über  jurium.  Anno  domini  1449  in  die  sancti  Luce  evan- 
geliste  p(raese)ns  liber  complebatur.  Dieser  Angabe  ist 
auch  umsoweniger  zu  misstrauen ,  als  Schrift  und  sonstige 
Anzeigen  damit  übereinstimmen.  Das  Kaiserrecht ,  welches 
wie  die  übrigen  Stücke  mit  grosser  sauberer  Schrift  und 
kostbar  ausgemalten  Anfangsbuchstaben  auf  gespaltenen' 
Columnen  geschrieben  ist,  und  jedenfalls  der  ersten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  angehört,  folgt  dem  Schwabenspiegel 
mit  der  überleitenden  Bemerkung:  Hie  endet  dat  lantrecht 
vnd  hir  beginnt  dat  Preludium  van  den  Keyserrechte.  Die 
Mundart  ist  die  niederländische,  und  die  Vorrede,  welche 
unmittelbar  auf  die  obige  Bemerkung  folgt,  lautet:  Seyt  van 
tyt  to  tyden  dey  werlt  wert  ie  boter  und  dey  lüde  an  den 
werken  krank  vnd  levet  vnrechtelike.  dar  wart  d.  k.  etc. 
Hierauf  folgt  das  erste  Kapitel  unter  der  Ueberschrift :  her 
beginnt  das  kaiserboek,  mit  den  Worten:  Ayn  etlich  mynsche 
sal  weten  dat  got  is  recht  etc.  als  weiterer  Prolog,  was 
dieser  Handschrift  eigentümlich  ist,  und  Cap.  1  handelt  nun: 
von  gebede  des  gerichts.  Die  Kapitel  laufen  dann  in  un- 
unterbrochener Reihe  bis  Cap.  206  (IV  23):  Von  der  raitlude 
köre,  bis  zu  den  Worten:  Dey  to  deme  rade  sullent  hören 
dy  sullent  wys  syn,  worauf  der  Schluss  folgt:  Hyr  ys  ende 
dusses  boiks;  Bemerkenswerth  ist  noch,  dass  bei  Cap.  30 
ein  grösserer  Abschnitt  mit  der  Ueberschrift:  ,,Incipit  liber 
de  sententiis  per  quem  omnes  causae  finiuntur"  gemacht 
ist,  und  ebenso  Cap.  190,  wo  aber  die  Ueberschrift  fehlt, 
während  im  Register  steht:  Van  gesette  des  keisers  tigin 
untruwe  der  werlt. 

Was  zunächst  den  Gesammtinhalt  der  Handschrift 
anlangt,  ist  er  im  grossen  Ganzen  richtig  angegeben. 
Genauer  verhält  es  sich  folgendermassen  damit.  Auf  dem 
ersten  leeren  Blatte  ist  von  einer  Hand  des  15.  oder  viel- 
leicht auch  16.  Jahrhunderts  oben  „Wessell  van  den  Loe" 
bemerkt,  wahrscheinlicher  Weise  der  Name  eines  ehemaligen 

29* 


424  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

Besitzers  des  Codex,  und  etwas  weiter  unten:  Dit  boeck  is 
vanden  rechten.  Auf  dem  nunmehr  folgenden  ersten 
Quaterne  der  durchaus  in  zwei  Spalten  gefertigten  Hand- 
schrift beginnt  nach  einem  drei  Blätter  füllenden  Ver- 
zeichnisse der  Kapitel  des  Landrechtes  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  am  folgenden  unter  rings  herumlaufenden 
farbigen  —  wohl  erst  später  angebrachten  —  Randver- 
zierungen mit  der  gleichfalls  bunten  Initiale  H  eben  das 
Landrecht  des  berührten  Rechtsbuches  bis  auf  die  Rück- 
seite des  ersten  Blattes  des  9  Quaterns  (m)  Sp.  1  Zeile  8. 
Hieran  schliesst  sich  ohne  alle  und  jede  Unterbrechung  bis 
auf  die  Vorderseite  der  13  nur  aus  sechs  Blättern  bestehen- 
den Lage  (q)  Sp.  1  Z.  5  unter  der  rothen  noch  in  der  End- 
zeile des  erwähnten  Landrechtes  beginnenden  Uebergangs- 
bezeichnung  ,,Hir  endet  dat  lautrecht,  vnd  hir  beginnet  dat 
perludium  van  dem  keiser  rechte"  das  kleine  Kaiserrecht, 
an  welches  unmittelbar  nach  seinem  Ende  auf  dem  Schluss- 
blatte und  einem  weiter  angehefteten  von  einer  anderen 
Hand  wohl  des  15.  Jahrhunderts  wieder  in  zwei  Spalten 
ein  Kapitelverzeichniss  zu  demselben  angeknüpft  ist.  Mit 
einem  neuen  Blatte  beginnt  nunmehr  das  Verzeichniss  der 
„Capittel  des  schedecloetes"  bis  in  die  sechste  Zeile  der 
ersten  Spalte  der  Rückseite,  woran  sich  ohne  Unterbrechung 
bis  auf  die  Rückseite  des  16  Quaterns  Sp.  *1  mit  dem 
grossen  farbigen  Anfangsbuchstaben  S  der  Text  selbst  reiht. 
Wieder  ohne  Zwischenraum  folgt  sodann  nach  der  roth  ge- 
schriebenen Uebergangsbemerkung  ,,Hyr  endet  dey  schedecloit, 
vnd  hir  begint  dey  capittel  des  speigels  der  Sassen"  das 
Verzeichniss  der  Kapitel  der  sechs  Bücher  des  von  Homeyer 
in  seiner  Genealogie  der  Handschriften  des  Sachsenspiegels5) 
wie   in   der  dritten  Ausgabe  des  Landrechtes  dieses  Rechts- 


5)  In  den  Abhandlungen   der  philosophisch-historischen  Classe 
der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  1859  Nr.  2  S.  99. 


Roclcinger:  Handschriften  des  kleinen  Kaiserrechtes  etc.      425 

buches6)  in  der  zweiten  Ordnung  der  ersten  Classe  einge- 
reihten Sachsenspiegels,  welcher  sich  unmittelbar  daran  unter 
der  rothen  Ueberschrift  „Hyr  geit  an  dat  perludium  des 
speigels  der  Sassen"  mit  der  farbigen  Initiale  G  bis  an  das 
Ende  des  20  Quaterns  (u)  anschliesst,  aber  nicht  mehr 
vollständig  erhalten  ist,  indem  die  beiden  Kapitel  „offt  eyn 
man  gemordet  wert"  und  „van  des  veys  losinge"  gar  nicht 
mehr  vorhanden  sind ,  und  der  Text  mit  den  Worten  des 
Kapitels  ,,van  der  bure  gemeyne"  VI  44  ==  Homeyer  III  86 
abbricht:  vnd  werdet  sey  to  dem  anderen  richte  beclaget, 
er  burmeister  moit  vor  sey  alle  wedden.  Ebenso  ist  auch 
der  Anfang  der  darauffolgenden  Glosse  zum  Sachsenspiegel 
in  seiner  regelmässigen  Gestalt  in  drei  Büchern  —  von 
Homeyer  in  der  berührten  Genealogie  S.  117  wie  in  der 
dritten  Ausgabe  des  sächsischen  Landrechtes  S.  34  in  die  erste 
Familie  der  ersten  Ordnung  der  zweiten  Classe  eingereiht  — 
verloren,  indem  der  21  Quatern  (aa)  mit  den  Worten  im 
Abschnitte  18  des  ersten  Buches  beginnt:  alse  eruede  hey 
syn  erue  eynen  wech;  so  vele  heddeu  dey  rechten  eruen  des 
u.  s.  w.  Eine  genauere  Untersuchung  dieses  Werkes ,  die 
ich  den  Forschern  auf  dem  Gebiete  der  sächsischen  Rechts- 
bücher zu  überlassen  habe,  müsste  auch  ergeben,  ob  nicht 
in  demselben  etwa  noch  ein  Verbinden  einzelner  Bogen  mit 
untergelaufen ,  und  insbesondere  ob  ferner  nicht  zwischen 
dem  vorletzten  und  dem  Schlussblatte  dieses  Stückes  wie 
der  ganzen  Handschrift,  zwischen  dem  29  Quaterne  (ii)  und 
dem  —  mit  nn  vlt(imum)  bezeichneten  —  Schlussblatte,  ein 
weiterer   nicht  unbedeutender  Ausfall7)  vorliegt,    indem  von 


6)  Berlin  1361  S.  29. 

7)  Ich  kann  in  dieser  Beziehung  hier  wohl  in  Kürze  auch  darauf 
hinweisen,  was  die  Rücksichtnahme  auf  die  Verzweigung  der 
aus  dem  früheren  Einbände  herstammenden  Wurm- 
stiche ergibt.  Sie  reichen  vorne  bis  an  das  Ende  des  ersten 
Quaterns,   hinten   nur  auf  das  letzte  Blatt,    so  dass  der  Schluss  der 


426  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

dem   Abschnitte   38    des   dritten   Buches    auf   Abschnitt   70 
übergesprungen  wird. 

Vielleicht  darf  ich  hier  auch  noch  auf  eine  eigenthüm- 
liche  Besonderheit  aufmerksam  machen.  Mit  Ausnahme  des 
14,  15,  16  Quaterns  haben  alle  Lagen  der  Handschrift  je 
41  Zeilen  auf  der  Spalte,  in  der  Weise,  dass  die  ursprüng- 
lichen Zirkelstiche  für  die  Züge  der  Linien  immer  in 
Zwischenräumen  für  4  Zeilen  an  den  Rand  gemacht  wurden, 
also  10  für  die  Seite,  indem  die  beiden  untern  über  die 
Spaltenbreite  hinaus  gehenden  und  über  den  ganzen  Rand 
hinlaufenden  Linien  je  besonders  gestochen  sind.  Die  be- 
rührten Lagen  14,  15,  16  dagegen  haben  je  43  Zeilen  auf 
der  Spalte,  und  zwar  in  der  Weise,  dass  die  ursprünglichen 
Zirkelstiche  wieder  immer  in  Zwischenräumen  für  4  Zeilen 
begegnen,  also  11  für  die  Seite,  wovon  der  unterste  um 
eine  Linie  unter  der  letzten  Zeile  zu  stehen  kommt,  wozu 
möglicherweise  noch  weiter  bemerkt  werden  darf,  dass  hier 
die  Schlusslinie  nicht  über  die  Spaltenbreite  hinausgezogen 
ist,  also  der  Rand  da  frei  erscheint. 

Soweit  es  sich  nun  um  das  kleine  Kaiserrecht 
handelt,  theile  ich  vor  Allem  eine  Zusammenstellung 
seiner  Artikel  nach  der  in  Rede  stehenden  Handschrift  von 
Münster  =  II  mit  der  Ausgabe  Endemanns  =  E  und  der 
ihr  mehr  oder  weniger  zu  Grunde  liegenden  Handschrift 
von  Fulda  D  31  vom  Jahre  1372  =  I  mit,  und  reihe 
unter  III  jene  der  Artikel  der  Handschrift  der  Stadt- 
bibliothek von  Lüneburg  an,  wie  bereits  oben  S.  421  be- 
merkt worden  ist. 


verloren  gegangenen  Lagen  offenbar  die  Fortsetzung  davon  hatte, 
während  der  jetzt  dem  berührten  letzten  Blatte  vorangehende 
Quatern  keine  Spur  mehr  davon  zeigt,  bis  auf  welchen  sie  sich  eben 
nicht  ausgedehnt  haben. 


Roclcinger:  Handschriften  des  'kleinen  Kaiserrechtes  etc.       427 


E 

I 

II 

III 

E 

I 

II 

III 

Vorw. 
I  1 

Vorw. 

1 

Vorw. 

1 

1 

2 

16 
17 

16 
17 

16l2j 
17 12), 

i" 

2 

2 

2 

38) 

18 

18 

1812) 

18 

3 

3 

39) 

4  io) 

19 

19 

19 

19 

4 

4 

49) 

5 

20 

%20 

20 

20 

5 

5 

5«) 

6 

— 

21 13) 

211S) 

6 

6 

69) 

7 

21 

21 

22 

22 

7 

7 

V) 

8 

22 

22 

2314) 

23 

8 

8 

89) 

9 

23 

23 

24  u) 

24 

9 

9 

99) 

10 

24 

24 

25 

25 

10 

10 

10 9) 

11 

25 

25 

26 

26 15) 

11 

11 

11 

12 

26 

26 

27 

27 

12 

12 

12 

13 

27 

27 

28 

28 

13 

13 

13 

14 

28 

28 

29 

29 

14 

14 

14 

15 

29 

29 

30 

30 

15 

15 

15 

1611) 

30 

30 

31 

31 

8)  Dieses  Kapitel   hat  die  lateinische  Ueberschrift :  de  rebellis. 

9)  Dieses  Kapitel  hat  keine  Ueberschrift. 

10)  Auch    hier    ist    noch    eine   lateinische   Ueberschrift:    quod 
nemo  incepta  coram  iudicio  preter  consensum. 

11)  Dieses  Kapitel  hat  keine  Ueberschrift. 

12)  Kapitel  16  hat  die  Ueberschrift:  van  terminen  des  gerichtes. 
Kapitel  17  und  18  sodann  nur:  jtem. 

-  13)  Dieser  Artikel  ist  nichts  als  die  —  wie  es  den  Anschein 
hat ,  zeitig  genug  bemerkte  —  Wiederholung  des  Anfanges  des 
Artikels  18,  in  II  unter  der  Ueberschrift  „van  getuchnisse  der  tuge" 
und  in  III  unter  der  Ueberschrift  „We  an  gerichte  tugen  schal"  in 
folgender  Fassung:  Wey  (III De)  an  gerichte  wil  eyn  dinck  betugen 
dey  sal  gewarnet  syn  dat  hey  syne  getuge  (II  dat  he  sinen  tuch)  by 
eme  hebbe.  heuet  hey  er  (III  hefft  hes)  euer  by  eme  nicht,  etc 
ut  supra. 

14)  Kapitel  23   hat   die   Ueberschrift:   Wey  antwer(d)en  sullen 
in  gerichte.    Kapitel  24  sodann  nur:  jtem. 

15)  Dieses  Kapitel  hat  keine  Ueberschri-ft. 


428 


Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 


E 

I 

II 

III 

E 

I 

II 

III 

31 

31 

32 

32 

16 

57 

58 

58 

32 

32 

33 

33 

17 

58 

59 

59 

33 

33 

34 

34 

18 

59 

60 

60 

34 

34 

35 

35 

19 

60 

61 

61 

35 

35 

36  +  36 

20 

61 

62 

62 

36 

36 

37 

37 

21 

62 

63 

63 

37 

37 

38 

38 

22 

63 

64 

6420) 

38 

38 

39 

39 

23 

64 

65 

65 

39 

39 

40 

40 

24 

65  - 

66 

66 

40 

40 

41 

41 16) 

25 

66 

67 

67 

41 

41 

42 

42 16) 

26 

67 

68 

68 

III 

42 

4317) 

43 

27 

68 

69 

69 

2 

43 

44 

44  is) 

28 

69 

70 

70 

3 

44 

45 

45 

29 

70 

71 

71 

4 

45 

46 

46 

30 

71 

72 

72 

5 

46 

47 

47 

31 

72 

73 

73 

6 

47 

48 

4819) 

32 

73 

74 

74 

7 

48 

49 

49 

33 

74 

75 

— 

8 

49 

50 

50 

34 

75 

76 

— 

9 

50 

51 

51 

35 

76 

77 

75 

10 

51 

52 

52 

36 

77 

78 

76 

11 

52 

53 

53 

37 

78 

79 

77 

12 

53 

54 

54 

38 

79 

80 

78 

13 

54 

55 

55 

39 

80 

81 

79 

14 

55 

56 

56 

40 

81 

82 

80 

15 

56 

57 

57 

41 

82 

83 

81 

16)  Dieses  Kapitel  hat  keine  Ueberschrift. 

17)  Dieses  Kapitel  hat  eine  grössere  Initiale  als  die  übrigen, 
und  die  lateinische  Ueberschrift:  Incipit  liber  de  sentencijs  per 
quem  omnes  cause  finiuntur. 

18)  Dieses  Kapitel  hat  keine  Ueberschrift. 

19)  Ebenso. 

20)  Ebenso. 


Hockinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      429 


E 

I 

II 

III 

E 

I 

II 

III 

42 

83 

84 

82 

62 

101 

108 

103 

43 

84 

85 

83 

63 

102 

109 

104 

44 

85 

86 

84 

64 

103 

110 

105 

45 

86 

87 

85 

65 

104 

111 

106 

46 

87 

88 

86 

66 

105 

112 

107 

47 

88 

89 

87 

67 

106 

113 

108 

48 

89 

90 

88  * 

68 

107 

114 

109 

49 

90 

91* 

89 

69 

108 

115 

110 

50 

— 

92 

90 

70 

109 

116 

111 

51 

91 

93 

91 

71 

110 

117 

112 

52 

92 

94 

92 

72 

111 

118 

113 

53 

— 

95 

93 

73 

112 

119 

114 

54 

93 

96 

94 

74 

113 

120 

115 

55 

94 

97 

— 

75 

114 

217 

197 

56 

95 

98 

95 

76 

— 

121 

116 

21) 

22) 

99 

96 

77 

115 

122 

117 

2  3\ 

24) 

100 

— 

78 

116 

123 

118 

25) 

26) 

101 

— 

79 

117 

124 

119 

■  1) 

28) 

102 

97 

80 

118 

125 

120 

57 

96 

103 

98 

81 

119 

126 

121 

58 

97 

104 

99 

82 

120 

127 

— 

59 

98 

105 

100 

83 

121 

-  128 

122 

60 

99 

106 

101 

84 

122 

129 

123 

61 

100 

107 

102*9) 

85 

123 

130 

124 

21)  Vgl.  IV  Art,  20. 

22)  Vgl.  unten  Art.  207. 

23)  Vgl.  IV  Art.  21. 

24)  Vgl.  unten  Art.  208. 

25)  Vgl.  IV  Art.  22. 

26)  Vgl.  unten  Art.  209. 

27)  Vgl.  IV  Art.  23. 

28)  Vgl.  unten  Art.  210. 

29)  Dieses  Kapitel  hat  keine  Ueberschrift. 


430 

Sit 

zung  der 

•  histor.  Ci 

lasse  vom 

2.  Mai 

1874. 

E 

I 

II 

III 

E 

I 

II 

III 

86 

124 

131 

125 

103 

140 

148 

138 

87 

125 

132 

126 

104 

141 

149 

139 

88 

126 

133 

— 

105 

142 

150 

140 

89 

127 

134 

127 

106 

143 

151 

141 

90 

128 

1353ü 

)  ~ 

107 

144 

152 

— 

91 

129 

136 

128 

108 

145 

153 

142 

92 

130 

137 

129 

109 

146 

154 

143 

93 

131 

138 

130 

110 

147 

155 

144 

94 

132 

139 

131 

111 

148 

156 

145 

95 

— 

140 

132 

lila 

149 

157 

— 

96 

133 

141 

133 

— 

— 

15831) 

— 

97 

134 

142 

134 

— 

— 

15931) 

— 

98 

135 

143 

— 

— 

— 

16031) 

— 

99 

136 

144 

— 

— 

— 

16131) 

— 

100 

137 

145 

135 

— 

— 

16232; 

— . 

101 

138 

146 

136 

112 

150 

163 

146 

102 

139 

147 

137 

113 

151 

164 

147 

30)  Dieser  Artikel  hat  am  Schlüsse  die  —  auch  in  der  Hand- 
schrift der  Bibliothek  der  kaiserl.  ieopold.  Akademie  der  Natur- 
forscher, früher  zu  Erfurt  und  Bonn,  jetzt  zu  Dresden  (vergleiche 
Endemann  a.  a.  O.  Nr.  13)  erscheinende  —  lateinische  Stelle: 

Nota.  Quicumque  wult  sibi  conparare  bona  propria,  debet 
prouidere,  si  ille  qui  possedit  bona  possidet  ea  in  ciuitatibus  uel  in 
uillis  ubi  bona  sita  sunt  secundum  legem  cesaris,  et  quod  bona 
predicta  a  censibus  —  in  der  Handschrift  steht:  bona  prede  ex- 
ceptis  —  cesaris  sint  soluta,  et  quod  homines  bona  habentes  con- 
fiteantur  bona  esse  propria  de  quibus  mentio  est  facta,  et  postea 
recipiat  ea  eoram  hominibus  fidedignis,  et  intromittat  se  statim  de 
possessione.  et  hoc  per  annum.  et  si  ita  pacifice  permanebit  in  pos- 
sessione  antedicta,  fructus  recipiens,  proprietatem  firmam  secundum 
legem  cesaris  perpetue  possidebit. 

31)  Diese  lateinischen  Kapitel,  welche  auch  in  der  eben  be- 
rührten Handschrift  zu  Dresden  (vgl.  Endemann  a.  a.  O.  Nr.  13) 
begegnen,  theile  ich  unten  S.  433—435  vollständig  mit. 

32)  Dieses  lateinische  Kapitel  findet  unten  S.  435  seine  Stelle. 


Rochinger:  Handschriften  des  kleinen  Kaiserrechtes  etc.      431 


E 

I 

II 

III 

E 

I 

II 

III 

114 

152 

165 

148 

16 

173 

186 

166 

115 

153 

166 

149 

17 

174 

187 

167 

116 

154 

167 

150 

18 

175 

188 

168 

117 

155 

168 

151 

19 

176 

189 

16933) 

118 

156 

169 

— 

20 

177 

190 

170 

119 

157 

170 

— 

21 

178 

191 

171 

III 1 

158 

171 

152 

22 

179 

192 

172 

2 
3 

159 
160 

172) 
173/ 

153 

23 
24 

180 
181 

193 
194 

17384) 
174 

4 

161 

174 

154 

25 

182 

195 

175 

5 

162 

175 

155 

26 

183 

196 

176 

6 

163 

176 

156 

27 

184 

197 

177 

7 

164 

177 

157 

28 

185 

198 

178 

8 

165 

178 

158 

29 

186  187 

199 

179 

9 

166 

179 

159 

30 

18835; 

1  200 

180 

10 

167 

180 

160 

31 

189 

201 

181 

11 

168 

181 

161 

32 

190 

202 

182 

12 

169 

182 

162 

33 

191 

203 

183 

13 

170 

183 

163 

IV  1 

192 

20436j 

i  184 

14 

171 

184 

164 

2 

— 

205 

185 

15 

172 

185 

165 

3 

193 

206 

186 

33)  Dieses  Kapitel  hat  die  lateinische  Ueberschrift:  de  terminis 
iudicij. 

34)  Von  diesem  Kapitel  angefangen  finden  sich  lateinische 
Ueberschriften  bis  zu  Kapitel  177  einschliesslich,  dann  wieder  von 
Kapitel  179  bis  181  einschliesslich,  weiter  von  183  bis  186  ein- 
schliesslich. 

35)  Von  hier  an  haben  die  Randzahlen  in  der  Ausgabe  Ende- 
mann's  je  um  eine  Einheit  weniger,  indem  er  den  ArtiÄl  186  der 
Handschrift  „Von  der  enphahunge  der  lehen"  und  den  fast  ganz 
gleichlautenden  187  „Von  der  zit  der  enphahunge  der  lehen"  nur  als 
186  zählt. 

36)  Dieses  Kapitel  hat  wieder  —  wie  oben  43  —  eine  grössere 
blaue    Initiale,    und    zwischen   dem   vorhergehenden    und    ihm    sind 


432  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 


E 

I 

II 

III 

E 

I 

II 

III 

4 

194 

207 

187 

15 

— 

218 

198 

5 

195 

208 

188 

16 

— 

219 

199 

6 

196 

209 

189 

17 

— 

220 

200 

7 

197 

210 

190 

18 

205 

216 

196 

8 

198 

211 

191 

19 

206 

— 

— 

9 

199 

— 

— 

20 

207 

(99) 

(96) 

10 

200 

— 

— 

21 

208 

(100) 

— 

11 

201 

212 

192 

22 

209 

(101) 

— 

12 

202 

213 

193 

23 

210 

(102) 

(97) 

13 

203 

214 

194 

24 

— 

— 

— 

14 

204 

215 

195 

25 

— 

— 

— 

3  7\ 

38) 

217 

197 

Hieraus  ergibt  sich,  dass  die  Angaben  Endemann's,  wie 
ich  selbe  oben  S.  422  und  423  mitgetheilt  habe,  nicht  ganz 
und  gar  verlässig  sind. 

Einmal  ist  nicht  recht  verständlich  was  er  mit  der 
Bemerkung  will,  dass  das  auf  die  Vorrede  des  kleinen 
Kaiserrechtes  folgende  erste  Kapitel  ein  weiterer  Prolog 
sein  solle,  was  unserer  Handschrift  eigenthümlich 
sei,  während  hierauf  erst  Kapitel  1  „van  gebede  des 
gerichtes"  handle.  Zu  dieser  Auffassung  der  Sache  be- 
rechtigt ganz  und  gar  nichts.  Der  Text  des  Rechtsbuches 
selbst  beginnt  unter  der  grossen  Initiale  S  wie  in  der  von 
ihm  seiner  Ausgabe  zu  Grunde  gelegten ,  Fuldaer  Hand- 
schrift mit  dem  bekannten  Vorworte ,  welches  hier  noch 
dazu  scharf  genug  als  Praeludium  oder  wie  es  da  heisst 
Perludium  des  Rechtsbuches  gekennzeichnet  ist.  Die  nun 
folgenden'  Kapitel   sodann  haben   das  ganze  erste  Buch  hin- 


9  Zeilen  leergelassen,    ohne   dass  sie   durch  eine  Ueberschrift   aus- 
gefüllt worden  sind. 

37)  Vgl.  II  75. 

38)  Vgl.  oben  114. 


Bockinger:  Handschriften  des  kleinen  Kaiserrechtes  etc.      433 

durch  die  abwechselnd  blauen  und  rothen  Anfangsbuchstaben 
von  derselben  Grösse,  und  gleich  das  erste  derselben  er- 
weist sich  durch  seine  Ueberschrift  ,.Hir  begint  dat  keiser 
boick"  doch  wohl  deutlich  genug  nicht  als  eine  weitere 
Vorrede,  sondern  eben  wie  in  der  Fuldaer  Handschrift  und 
in  anderen  als  wirklich  und  eigentlich  erstes  Kapitel.  Ihm 
folgt  als  nächstes,  das  heisst  als  zweites,  jenes  van  gebede 
des  gerichtes,  und  so  die  übrigen  fort,  wovon  nur  3 — 10 
einschliesslich  nicht  wie  sonst  rothe  Ueberschriften  haben, 
aber  durch  ihre  Anfangsbuchstaben  in  rother  und  blauer 
Farbe  sich  sattsam  als  solche  kund  geben.  Eine  Eigen- 
thümlichkeit  also,  welche  in  der  Beziehung  die  Handschrift 
von  Münster  bieten  soll,  liegt  nicht  vor. 

Was  sodann  die  Zahl  und  namentlich  die  Reihen- 
folge der  Artikel  des  ganzen  Werkes  anlangt,  ist  der 
Einblick  darein  durch  die  vorhin  gegebene  Zusammen- 
stellung mit  der  Ausgabe  Endemann's  ermöglicht. 

Es  ist  hiebei  schon  darauf  aufmerksam  gemacht  worden, 
dass  der  Artikel  135  =  II  90  am  Schlüsse  noch  eine  auch 
ausserdem  in  der  Handschrift  der  Bibliothek  der  kaiserl. 
leopold.  Akademie  der  Naturforscher,  früher  zu  Erfurt  und 
Bonn,  jetzt  zu  Dresden,  erscheinende  lateinische  Stelle 
hat.  Insbesondere  aber  darf  weiter  nicht  übersehen  wer- 
den, dass  sich  zwischen  den  Artikeln  der  Ausgabe  Ende- 
mann's II  lllaund  112  fünf  lateinische  Kapitel  finden, 
wovon  die  vier  ersten  gleichfalls  in  der  berührten  Hand- 
schrift zu  Dresden  begegnen ,  wie  der  Mittheilung  zu  ent- 
nehmen ist,  welche  Endemann  S.  XXXIV— XXXVI  über  sie 
gibt.  Ich  theile  diese  Kapitel  hier  ihrem  vollen  Wortlaute 
nach  mit. 

De  alienacione  bonorum. 

Quicunque  debet  resignare  bona  cesaris  de  manu  sua 
ad    manum    alterius   ita   quod   ille    sit   firmus   qui   recipere 


434  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

debet,  intret  curiam  cesaris,  et  ponet  ea  in  manus  officialis 
cesaris,  ut  Uli  concedat  eadem  iure  sicut  et  ipse  possidebat. 
et  hoc  in  facie  illorum  qui  bona  cesaris  iure  hereditario 
possident.  et  postea  officialis  cesaris  coram  omnibus  possi- 
dentibus  hereditatem  cesaris  (concedat  illi),  et  sie  firmus  erit. 

De  reeepeione  hereditatis. 

Quicunque  debet  reeipere  hereditatem  cesaris  firmo 
modo,  intret  curiam  cesaris,  et  querat  in  facie  officialis  et 
omnium  possidencium  proprietatem  cesaris,  si  ille  qui  ven- 
didit  bona  hereditaria  iuste  et  racionabiliter  expediuisset 
legem  cesaris  censibus  et  alijs  iurisdictionibus ,  sicut  de 
proprietatibus  consuetura  est  per  curias  vniuersas. 

Et  sicut  officialis  et  homines  possidentes  proprietatem 
confitentur  venditorem  impleuisse  legem  cesaris,  extunc39) 
per  omnia  reeepeio  emptoris  uel  reeeptoris  erit  stabilis  ac 
(in)conuulsa. 

De  perseeucione  censuum  cesaris. 

Jtem  sciendum  est,  quod  quicunque  officialis  cesaris 
uult  legem  cesaris  exercere  pro  censibus  non  datis.  et  hoc 
fieri  debet  horis  signatis,  et  non  alienis.  et  hoc  ad  tres 
quindenas. 

Dimissa  autem  vna  hora  in  illis  tribus  quindenis,  de- 
struetus  est  omnis  labor  illarum  trium  quindenarum :  et 
officialis  cesaris  amplius  non  potest  uexare  de  iure  cen- 
satorem  de  censu  neglecto. 

De  electione  munda  burganorum. 

Sciendum,  quod  imperator  sibi  ipsi  confirmauit  et  suis 
successoribus,  quod  quandoeunque  ipse  uel  sui  successores 
essent   rebelles   et   contrarij    communi  lingue  hominum  pos- 


39)  In  der  Handschrift  steht:  et  tunc. 


Roch'nger:  Handschriften  des.  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      435 

sidencium  proprietatem  cesaris,  quod  amplius  cesari  in 
nullo  tenentur  obedire,  nee  poirigere  tributum ,  donec 
humiliet  se  reeipere  ius  lingue  non  discordantis,  hoc  est 
omnium  hominum  uerbum.  possidentes  proprietatem  cesaris 
iure  hereditai  io  debent 40)  prosequi  legem  cesaris  sicut  in 
curijs  cesaris  per  vniuersum  mundum  a  cesare  est  constitutum, 
et  si  remissus  aut  negligens  aliquis  fuerit,  cesar  cum  iure 
persone  negligenti  aufert  suam  proprietatem ,  et  cum  iure 
potest  sibi  ipsi  seruare  uel  alteri  conferre. 

Jtem  sciendum  est,  quod  iinperator  omnibus  personis 
dedit  liberam  potestatem,  possidere  proprietatem  iure  here- 
ditario,  hoc  autem  adiecto  quod  sint  annexe  humilitati41) 
conplendi  legem  bonorum  cesaris,  sicut  docet  regula  curiarum 
imperatoris  per  vniuersum  mundum. 

Jtem  quod  vna  lex  curiarum  debet  esse  per  vniuersum 
mundum. 

Sciendum  est,  quod  imperator  instituit  vnam  legem 
curiarum  per  vniuersum  mundum  de  bonis  hereditariis  que 
curijs  sunt  obligata  censibus  frugibus  et  alijs  redditibus.  et 
notum  sit  omnibus,  quod  si  aliquis  excedit  legem  cesaris 
predietam,  sicut  curijs  et  bonis  attinentibus  est  confirmatum 
ab  imperatore,  quod  imperator  de  iure  aufert  suam  pro- 
prietatem a  persona  discordante. 

Jtem  imperator  inhibuit,  ne  noue  constituciones  fierent 
per  vniuersum  mundum  de  hereditate  possidenda.  sed  fir- 
miter  preeepit  obsueruari  legem  curiarum,  sicut  ab  ipso  est 
constitutum,  ne  seduetiones  multimode  generent  viam  dis- 
cordie  per  quam  multi  homines  multociens  sunt  preuenti.48) 


40)  In  der  Handschrift  steht:  debet. 

41)  „     „  „  ,,     :  hunriliari. 

42)  „     „  ,,  „     :  sunt  per  vnita. 


436  Sitzung  der  histor.  Ölasse  vom  2.  Mai  1874. 

Was  bisher  berichtigt  worden,  ist  übrigens  noch  nicht 
die  Hauptsache.  Bedeutender  fällt  —  und  zwar  für  den 
Gesammtinhalt  unserer  Handschrift  —  die  Frage  nach 
ihrem  Alter  in  die  Wagschale. 

In  der  Regel  ist  man  bei  Handschriften,  welche  eine 
bestimmte  Zeitangabe  ihrer  Anfertigung  enthalten ,  wenn 
nicht  besondere  Gründe  hiezu  veranlassen ,  weniger  miss- 
trauisch,  um  so  weniger  wenn  in  Werken  von  anerkanntem 
Werthe  keine  Bedenken  in  dieser  Beziehung  erhoben  worden 
sind.  Eine  genauere  Prüfung  führt  indessen  auch  öfter  bei 
ihnen  -auf  andere  Ergebnisse.  Ich  habe  bereits  in  einem 
Aufsatze  in  der  Zeitschrift  für  Geschichte  des  Oberrheins 
XXIV  S.  224—249  über  eine  rheingauer  Handschrift  des 
sogenannten  Schwabenspiegels  auf  der  Hofbibliothek  zu 
Asch  äffen  b  u  rg ,  welche  bis  dahin  als  in  das  Jahr  1341 
fallend  gegolten  hat,  den  Nachweis  geliefert,  dass  sie  dem 
Jahre  1401  angehört.  Wie  sie  in  eine  spätere  Zeit  versetzt 
werden  musste,  so  dürfte  in  umgekehrter  Weise  bei  der 
Handschrift,  um  welche  es  sich  hier  handelt,  der  Nachweis 
zu  liefern  sein,  dass  sie  anstatt  des  Jahres  1449,  welchem 
sie  bis  jetzt  zugeschrieben  wird,  einer  früheren  Zeit  zuzu- 
weisen ist. 

Am  Schlüsse  des  Ganzen  steht  von  derselben  Hand 
welche  den  Text  des  Codex  gefertigt,  nicht  mit  einer  neuen 
Zeile  beginnend,  sondern  unmittelbar  an  die  Endworte  der 
berührten  Glosse  des  Sachsenspiegels  angereiht,  mit  blauer 
Farbe :  Explicit  über  jurium.  Anno  d(omi)ni  M°  CCCC 
quadragesimo  nono  jn  die  sancti  Luce  evangeliste  p(rese)ns 
über  complebatur.  Betrachtet  man  die  Zahl  CCCC  näher, 
so  fällt  hiebei  folgendes  auf.  Einmal  ist  an  dieser  Stelle 
radirt,  und  zwar  so  dass  daselbst  das  Pergament  noch  die 
hineingewischte  blaue  Farbe  über  und  unter  der  jetzigen 
Zahl  CCCC  sattsam  erkennen  lässt.  Ausserdem  ist  die 
Farbe    eben   dieser  Zahl   bedeutend    dicker   aufgetragen  als 


BocTcinger :  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      437 

die  beiden  bemerkten  Sätze.  Abgesehen  hievon  aber  ist 
wohl  auch  zu  verinuthen,  dass  —  wie  bei  der  Zahl  M  das 
Abkürzungszeichen  für  den  Ablativ  der  Ordnungszahl  ange- 
geben ist  —  das  auch  bei  der  Zahl  CCCC  der  Fall  sein 
sollte,  so  dass  M°  CCCC0  oder  M°  C0C°C0C°  erforderlich  sein 
möchte.  Wer  sich  einlässlicher  mit  Handschriften  des  14. 
und  15.  Jahrhunderts  beschäftigt  hat,  dem  wird 'nun  schon 
bei  dem  ersten  Blicke  in  unseren  Codex  der  entschiedenste 
Zweifel  auftauchen,  ob  bei  ihm  überhaupt  vom  15.  Jahr- 
hunderte die  Rede  sein  kann,  weiter  gar  ob  erst  vom 
Ja"hre  1449.  Die  Schrift  des  gesammten  Textes  desselben 
gehört  ganz  sicher  nicht  dieser  Zeit  an,  sondern  fällt  in 
da3  14.  Jahrhundert:  und  zwar  dürfte  sie,  da  die  genauere 
Jahresangabe  quadragesimo  nono  nicht  in  Zahlen  ausgedrückt, 
sondern  mit  Buchstaben  vollständig  ausgeschrieben  ist,  in 
das  Jahr  1349  zu  setzen  sein.  Es  stand  eben  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  ursprünglich:  M°  CCC°  quadra- 
gesimo nono,  was  aus  irgend  welchen  Gründen  später 
vermittelst  der  angeführten  Rasur  von  CCC°  in  CCCC  um- 
geändert worden  ist.  Unterliegt  nun  auch  die  Rasur  wie 
die  dickere  Auftragung  der  blauen  Farbe  bei  der  auf  sie 
gesetzten  Zahl  CCCC  keinem  Zweifel,  wird  auch  bei  ge- 
nauerer Betrachtung  der  Handschrift  selbst  zugegeben  wer- 
den müssen,  dass  sie  nur  der  von  mir  aufgestellten  Zeit 
angehören  könne,  so  fragt  es  sich  natürlich  doch  noch  immer 
um  einen  Grund  für  die  nun  eben  einmal  vorhandene 
Aenderung  der  Zahl  CCC°  in  CCCC.  Ein  solcher  liegt  auch 
meines  Erachtens  vielleicht  nicht  all  zu  ferne.  Besieht  man 
sich  die  ganze  Handschrift  näher,  deren  Text  wie  bemerkt 
von  einer  und  derselben  Hand  gefertigt  ist,  und  bei  welcher 
höchstens  zweifelhaft  erscheinen  mag,  ob  sie  von  Anfang  an 
bereits  als  ein  Ganzes  zu  gelten  haben  sollte,  oder  ob  in 
ihr  eigentlich  Bestandteile  zweier  besonderer  nur  jetzt  in 
einem  Bande  vereinigter  Codices  vorliegen ,  etwa  einerseits 
[1874.  4.  phil.-hist.  Cl.]  30 


438  Sitzung  der  histor.  Gasse  vom  2.  Mai  1874. 

das  Landrecht  des  sogenannten  Schwabenspiegels  und  das 
kleine  Kaiserrecht,  anderntheils  die  übrigen  dem  Kreise  des 
sächsischen  Rechtes  angehörigen  Stücke,  so  lässt  sich  bei 
ihr43)   ohne   alle    Schwierigkeit   eine   doppelte  nachhelfende 


43)  Soll  ich  ein  Urtheil  bezüglich  der  eben  geäusserten  Fragen 
abgeben,  so  nehme  ich  keinen  Anstand,  mich  für  die  Ansicht  aus- 
zusprechen, dass  von  Anfang  an  der  Gesammtinhalt  der 
Handschrift  als  ein  Ganzes  aufgefasst  worden. 

Zur  Stütze  hiefür  möchte  ich  mich  allerdings  auf  die  vorhin 
S.  436  bereits  berührte  Schlussbemerkung  „Explicit  liber  jurium" 
nicht  berufen,  indem  diese  ja  auch  ihre  volle  Berechtigung  hat, 
wenn  nur  von  den  Stücken  des  sächsischen  Rechtes,  dem  Schedeclöt, 
dem  Sachsenspiegel  in  6  Büchern,  der  Glosse  zu  der  regelmässigen 
Gestalt  dieses  Rechtsbuches,  die  Rede  ist. 

Abgesehen  hievon  aber  fällt  eine  andere  Wahrnehmung  mehr 
oder  weniger  ins  Gewicht.  Ich  meine  die  auf  den  einzelnen 
Lagen  der  Handschrift  ganz  unten  am  äusseren  Rande 
der  Vorderseite  der  betreffenden  Blätter  angebrachten 
und  zum  grossen  Theile  noch  erhaltenen  Bezeichnungen  der- 
selben, die  in  der  Weise  begegnen,  dass  jedesmal  die  erste  Hälfte 
der  Lage  mit  dem  laufenden  Buchstaben  des  Alphabetes  unter  An- 
fügung der  einschlagenden  arabischen  Zahlen  versehen  ist,  also 
beispielsweise  der  oben  S.  424  erwähnte  9  Quatern  mit  ml,  m2,  m3, 
m4,  oder  die  dortselbst  berührte  nur  aus  sechs  Blättern  bestehende 
13  Lage  mit  ql,  q2,  q3,  oder  der  S.  425  angeführte  21  Quatern 
mit  aal,  aa2,  aa3,  aa4,  während  die  zweite  Hälfte  keine  besondere 
Bezeichnung  mehr  aufweist,  wie  ja  für  sie  hienach  auch  kein  Be- 
dürfniss  mehr  vorliegt. 

Schon  aus  dem  was  ich  oben  S.  424—426  bei  der  Aufzählung 
der  einzelnen  Bestandtheile  der  Handschrift  bemerkt  habe  ergibt  sich, 
dass  diese  Lagenbezeichnung  über  das  einfache  Alphabet  hinaus  bis 
nn  läuft.  Nicht  mehr  mit  einiger  Sicherheit  zu  erkennen  ist  gleich 
die  des  1  Quaterns,  wofür  möglicherweise  d  angenommen  werden 
darf.  Weiter  entsprechen  sich  genauer:  Quatern  2  =  e,  3  ==  f , 
4  =  g,  5  =  h,  6  =  i,  7  ==  k,  8  =  1,  9  =  m,  10  =  n,  11  =  o, 
12  =  p,  die  nur  aus  sechs  Blättern  bestehende  Lage  13  =  q, 
Quatern  14  =  a,  15  =  b,  16  =  c,  17  =  r,  18  =  s,  19  =  t,  20  =  u, 
21  =  aa,  22  =  bb,  23  =  cc,  24  =  dd,  25  =  ee,  26  =  ff,  27  =  gg, 
28  a=s  hh,  29  =s  ii,  der  nur  aus  einem  Blatte  bestehende  Schluss  =  nn. 


Rockinger:  Handschriften  des  kleinen  Kaiserrechtes  etc.      439 

Hand  hier  und  dort  erkennen.  Jedenfalls  die  eine  derselben 
gehört  dem  15.  Jahrhunderte  an.     Von   der  einen  stammen 


Welcher  Zeit  diese  Lagenbezeicbnungen  angehören,  ist  natürlich 
<lie  nächste  und  zugleich  die  wesentliche  Frage.  Eine  einlässlichere 
Vergleichung  führt  dahin ,  dass  sie  von  der  Hand  stammen, 
welche  in  Cu r siv schrift  beim  Sachsenspiegel  am  oberen 
Bande  jeder  Seite  die  nachher  in  der  Mitte  roth  einge- 
setzten Seitenüberschriften  anmerkte,  und  in  der  dar- 
auffolgenden Glosse  zu  diesem  Rechtsbuche  am  Rande 
bei  den  einzelnen  Abschnitten  die  seinerzeit  wieder 
roth  eingetragenen  Kapitelüberschriften  sammt  den 
betreffenden  laufenden  Zahlen  derselben  andeutete. 

Hienach  unterliegt  es  wohl  keinem  Zweifel,  dass  bei  der  That- 
sache  der  Durchzählung  der  einzelnen  Lagen  der  Handschrift  über 
das  einfache  Alphabet  hinüber  bis  zu  nn  die  sämmtlichen  Be- 
standteile derselben  anfänglich  schon  als  ein  Ganzes 
aufgefasst  wurden,  gleichviel  ob  die  Hand,  von  welcher  die  Cur- 
sive  stammt  dieselbe  sein  mag,  welche  auch  den  Text  selbst  in  sehr 
schöner  Buchschrift  fertigte  oder  nicht. 

Eine  eigenthümliche  Erscheinung  bleibt  allerdings  hiebei  folgen- 
der Umstand.  Betrachtet  man  sich  die  Reihenfolge  der  Lagen  wie 
sie  vorhin  näher  angegeben  worden  mit  ihrer  Buchstabenbezeichnung, 
und  nimmt  man  für  die  erste  Lage ,  bei  welcher  die  Bezeichnung 
nicht  mehr  mit  Sicherheit  zu  bestimmen  ist,  d  an,  insoferne  un- 
mittelbar darauf  sich  e  —  q  ganz  dem  Texte  entsprechend  ununter- 
brochen anreihen,  worauf  a  b  c  folgt,  und  dann  wieder  regelmässig 
von  r  weg  die  übrigen  bis  an  das  Ende  der  Handschrift  fortlaufen, 
wovon  nur  jetzt  x  y  z  und  weiter  kk  11  mm  verloren  sind,  so  fällt 
es  im  ersten  Augenblicke  auf,  dass  die  Handschrift  mit  d  beginnt, 
und  dass  a  b  c  mitten  in  dieselbe  hinein  zwischen  q  und  r  gerathen. 
An  ein  Versehen  des  Buchbinders  hiebei,  worauf  man  zunächst  ver- 
fallen möchte,  kann  nicht  gedacht  werden,  weil  bei  der  Aneinander- 
reihung der  Stücke  wie  sie  gegenwärtig  vorliegt  alles  in  Ordnung 
ist,  während  bei  der  Versetzung  von  a  b  c  vor  d,  wodurch  aller- 
dings im  übrigen  die  regelmässige  alpabetische  Reihenfolge  der 
Lagen  erzielt  würde,  eine  höchst  bedeutende  Unordnung  des  Ganzen 
entstünde.  Es  schliesst  nämlich  c  nach  dem  mit  a2  begonnenen 
Richtsteige  Landrechts  mitten  im  Kapitelverzeichnisse  des  fünften 
Buches    des  Sachsenspiegels   mit   dem   Kapitel  „van  lande  to  erue" 

30* 


440  Sitzung  der  liistor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

verschiedene  Correcturen  vorzugsweise  zum  Texte  des  kleinen 
Kaiserrechtes,    die    demselben  fast  bei  sämmtlichen  anfangs 


unter  der  Zahl  21 ,  während  mit  d  in  durchaus  regelmässigem  Ver-. 
laufe  fort  das  Landrecht  des  sogenannten  Schwahenspiegels  beginnt, 
und  nach  dem  Schlüsse  des  kleinen  Kaiserrechtes  auf  q  der  An- 
fang von  r  das  22.  Kapitel  ,,van  verleendem  gude''  im  berührten 
Inhaltsverzeichnisse  des  fünften  Buches  des  Sachsenspiegels  ist. 
Eine  Trennung  von  a  b  c  und  r,  und  die  Verbindung  der  ersten 
drei  mit  d  ist  also,  so  nahe  sie  auch  beim  ersten  Blicke  zu  liegen 
scheint,  ganz  und  gar  unstatthaft. 

Möglicherweise  liegt  aber  bei  der  ganzen  Lagenbezeichnung 
wovon  die  Rede  gewesen  ein  Irrthum  vor,  welcher  gerade  anfanglich 
sich  einschlich,  aber  rechtzeitig  bemerkt  wurde,  so  dass  er  beim  Binden 
des  Ganzen  ohne  Nachtheil  für  dieses  berichtigt  werden  konnte. 
Von  a  nämlich,  dessen  erstes  Blatt  ausgeschnitten,  und  an  dessen 
noch  vorhandenen  Rest  das  den  Schluss  des  kleinen  Kaiserrechtes 
bildende  spätere  Endblatt  des  Kapitelverzeichnisses  zu  demselben 
angenäht  ist,  beginnt  das  zweite  Blatt,  a  2,  mit  dem  Inhaltsverzeichnisse 
des  Schedecloetes ,  und  zwar  unter  der  rothen  Ueberschrift:  Hyr 
begynnen  dey  capittel  des  irsten  boeckes  van  den  rechten.  Diese 
Bezeichnung  als  erstes  Buch  von  den  Rechten  konnte  gewiss  leicht 
bei  der  Zählung  der  Lagen  eben  des  „Liber  jurium"  wie  er  am 
Schlüsse  ja  ausdrücklich  benannt  ist,  die  Veranlassung  zur  Be- 
zeichnung mit  a  geben,  und  b  wie  c  gehören  ja  nicht  allein  ihrem 
Inhalte  nach,  sondern  auch  —  was  schon  oben  S.  426  bemerkt 
worden  ist  —  durch  den  eigenthümlichen  Umstand  ganz  genau  hie- 
zu,  dass  diese  Lagen  gegenüber  allen  übrigen  der  Handschrift  an- 
statt 41  je  43  Zeilen  auf  der  Spalte  haben.  Ob  die  nun  folgenden 
Lagen  ursprünglich  bereits  vor  ihrer  Bezeichnung  nicht  richtig  ge- 
legt gewesen,  oder  am  Ende  auch  richtig  gelegt  gewesen  und  nur 
durch  irgend  welchen  Zufall  in  eine  falsche  Verbindung  gerathen, 
muss  dahingestellt  bleiben.  Aber  die  Thatsache  steht  fest,  dass  die 
Bezeichnung  nach  der  unrichtigen  Verbindung  erfolgte.  Diese  selbst 
muss  sodann  seinerzeit  erkannt  worden  sein,  so  dass  man  sie  mit 
Glück  beseitigte,  ohne  dass  im  übrigen  eine  Aenderung  an  der 
falschen  Bezeichnung  der  Lagen  von  a  angefangen  bis  nn  ersichtlich 
ist,  hinsichtlich  welcher  vielleicht  angenommen  wurde,  dass  sie 
ohnehin  einmal  wegfallen  werde,  was  ja  auch  mehr  oder  minder 
wirklich  erfolgt  ist. 


EocTcinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiser  rechtes  etc.      441 

nicht  numerirten  Kapiteln  beigefügten  schwarzen  römischen 
Zahlen,  das  an  seinen  Schluss  geknüpfte  Verzeiclmiss  seiner 
Kapitel,  wie  weiter  auch  Spuren  von  ihr  zum  kleineren 
Theile  noch  im  Richtsteige  Landrechts  begegnen.  Der  an- 
deren zierlicheren  und  gewandteren  Hand  sodann  gehören  am 
Rande  des  Sachsenspiegels  zahlreiche  Verweisungen  auf 
andere  Stellen  dieses  Rechtsbuches  und  insbesondere  Nach- 
weise auf  die  (blosse  desselben  an.  Es  möchte  biebei  die 
Annahme  nicht  gar  zu  weit  entfernt  erscheinen ,  dass  der 
eine  oder  andere  dieser  Verbesserer  oder  wie  man  sonst 
sich  hier  ausdrücken  soll  seine  Thätigkeit  gerne  am  Schlüsse 
bei  der  berührten  Jahrzahl  verewigte,  und  daher  die  Ver- 
änderung von  CCC°  in  CCCC  vornahm.  Ob  nun  dieses 
gerade  auch  am  18.  Oktober  des  Jahres  1449  geschehen, 
so  dass  die  einfache  Abänderung  wie  sie  angedeutet  wurde, 
schon  vollkommen  genügte,  wird  sich  wohl  kaum  irgend 
mehr  mit  Sicherheit  entscheiden  lassen.  Uebrigens  ändert 
es  auch  an  der  Sache  selbst  nichts,  wenn  man  annimmt, 
dass  die  anfänglich  etwa  auch  beabsichtigte  Correktur  der 
nicht  mit  Zahlen  gegebenen,  sondern  ganz  ausgeschriebenen 
Jahresbezeichnung  49  nach  dem  ersten  Versuche  mit  der 
Zahl  CCC°  derartige  Schwierigkeiten  verursachte ,  dass  der 
gute  Mann  für  rathsam  fand  hievon  abzustehen,  und  sich 
mit  der  Aenderung  der  Zahl  CCC°  in  CCCC  begnügte.  War 
ja  doch  wenigstens  das  Jahrhundert  seines  Schaffens  hiemit 
auch  bezeichnet! 

Verhält  sich  nun  die  Sache  in  Wirklichkeit  auf  solche 
Weise,  dass  der  Text  der  in  der  Handschrift  von  Münster 
enthaltenen  Rechtsbücher  nicht  dem  Jahre  1449  angehört, 
sondern   in    das  Jahr  1349  zu  setzen  ist,    so   ergeben    sich 


Auf  diese  Weise,  bedünkt  mich,  lösen  die  betreffenden  Fragen 
sich  ohne  übergrosse  Schwierigkeit,  jedenfalls  einfacher  als  bei  der 
Erwägung  anderer  Auswege,  an  welche  man  etwa  noch  denken, 
könnte. 


442  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2,  Mai  1874. 

naturgemäss  nicht  unwesentliche  Folgerungen  für 
die  Bedeutung  dieser  Handschrift. 

Was  hiebei  das  hier  in  sechs  Büchern  erscheinende 
Landrecht  des  Sachsenspiegels  wie  die  darauffolgende 
leider  am  Anfange  wie  am  Schlüsse  mangelhafte  Glosse 
zu  dem  berührten  Rechtsbuche  in  seiner  regelmäs- 
sigen Gestalt  in  drei  Büchern  anlangt,  hat  ihnen 
Homeyer  an  den  oben  S.  424  und  425  bemerkten  Orten  ihre  Stelle 
unter  den  betreffenden  Handschriftenfamilien  angewiesen, 
woselbst  nunmehr  die  Jahrzahl  1449  in  1349  abzuändern 
ist.  Ob  und  welche  anderweitige  Folgerungen  sich  etwa 
für  diese  oder  jene  Einzelfrage  hieraus  ergeben  mögenr 
überlasse  ich  billig  vor  allen  anderen  der  Prüfung  des  ge- 
nannten Altmeisters  auf  diesem  Gebiete  wie  weiter  der  Er- 
wägung auch  der  übrigen  Forscher  auf  diesem  Felde. 

Gerade  bezüglich  der  berührten  Glosse  zum  Sachsen- 
spiegel dürfte  es  wohl  für  die  Bedeutung  der  in  Frage 
stehenden  Handschrift  von  Gewicht  sein,  dass  sie  nach  den 
bemerkten  Ergebnissen  nunmehr  noch  demselben  Viertel- 
jahrhunderte angehört ,  in  welches  die  so  segensreiche 
Thätigkeit   des  Johann  von  Buch   für  diese  Schöpfung  fällt. 

Was  weiter  von  den  Stücken  des  sächsischen  Rechtes  den 
Richtsteig  Landrechtes  betrifft,  hat  Homeyer  in  der  Ein- 
leitung zu  seiner  Ausgabe  desselben  S.  18  unter  Num.  59  unserer 
Handschrift  gedacht,  und  uns  hiedurch  einer  näheren  Be- 
schreibung überhoben.  Es  ist  daselbst  nunmehr  eben  auch 
wieder  anstatt  1449  das  Jahr  1349  zu  setzen.  Sie  fällt 
bei  der  Gruppirung  der  Handschriften  dieses  Rechtsbuches 
a.  a.  0.  S.  54  in  deren  erste  Klasse.  Unter  deren  datirten 
Codices  aus  dem  14.  Jahrhunderte  ist  sie  hienach,  da  die 
beiden  Berliner  in  die  Jahre  1369  und  1382  fallen,  der 
älteste.  Geht  man  über  diese  erste  Klasse  hinaus  auf  die 
Gesammtzahl  der  mit  bestimmten  Jahresangaben  versehenen 
Handschriften    ein ,   wie   sie   ebendort   S.  22/23    zusammen- 


Bockinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      443 

gestellt  sind,  so  ist  überhaupt  die  älteste  unter  ihnen  die 
kopenhagener  aus  dem  Jahre  1359,  über  welche  insbesondere 
a.  a.  0.  S.  62  unter  E  gesprochen  wird.  Ihr  wird  fortan 
dieser  Rang  durch  die  münsterer  abgewonnen,  indem  diese 
jener  gegenüber  um  ein  Jahrzehnt  älter  ist.  Und  insoferne 
die  Abfassung  des  Werkes,  von  welchem  die  Rede  ist,  nach 
Homeyer's  Auseinandersetzung  ebendort  S.  28 — 42  um  das 
Jahr  1335  fällt,  ist  unsere  Handschrift  selbst  nur  wenig 
über  ein  Jahrzehnt  jünger. 

Weiter  kömmt  auch  das  Verhältniss  zu  den  Codices 
des  kleinen  Kaiserrechtes  in  Betracht.  Endemann  führt 
in  seiner  Einleitung  zu  demselben  S.  LI  unter  Ziff.  3  bei  der 
Besprechung  des  Alters  der  Handschriften  ausser  jener  von 
Lüneburg,  bezüglich  welcher  er  bei  der  Beschreibung  a.  a.  0. 
S.  XXXVIII  Num.  18  unentschieden  lässt,  ob  sie  dem  Ende 
des  14.  oder  dem  Anfange  des  15.  Jahrhunderts  angehören 
möge,  nur  noch  die  fuldaer  als  im  14.  Jahrhunderte  ge- 
fertigt44) an.  Und  zwar  fällt  sie  genauer  in  das  Jahr  1372. 
Die  in.  Rede  stehende  von  Münster  ist  demnach  um  nahezu 
ein  Vierteljahrhundert  älter,  und  somit  unter  allen  bisher 
bekannten  die  älteste. 

Was  endlich  noch  —  nachdem  ich  auf  diesem  Wege 
von  rückwärts  herein  nach  vorwärts  gegangen  bin  —  das 
ihren  Anfang  bildende  Landrecht  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  anlangt,  tritt  sie  hiefür  aus  der  Reihe 
der  Handschriften  dieses  Rechtsbuches  vom  15.  Jahrhunderte 


44)  Was  die  auf  S.  XXIX  unter  Num.  10  angeführte  im  Ferdi- 
nandeum  zu  Innsbruck  befindliche  anlangt,  welche  zufolge  einer 
Versicherung,  welche  Weiske  einmal  erhalten  hatte,  nach  dessen 
Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  des  deutschen  Rechts  S.  60  älter  sein 
sollte  als  die  sonst  bekannten,  gehört  sie  gemäss  einer  Mittheilung 
Fioker's  welche  v.  Gosen  in  seinem  Privatrechte  nach  dem 
kleinen  Kaiserrechte  S.  11  in  der  Note  22  gibt,  nach  Schrift  und 
Papier  dem  15.  Jahrhunderte  an. 


444  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

nunmehr  in  das  vorhergehende  ein.  Der  Text  des  Werkes 
selbst  um  das  es  sich  handelt  fällt  unter  dessen  Vulgata, 
und  zwar  genauer  in  eine  Gruppe  derselben,  welche  an 
einer  —  wohl  durch  falsche  Lage  der  Bogen  der  Stamm- 
handschrift hervorgerufenen  —  theilweisen  Störung  der 
Reihenfolge  der  Artikel  von  L  174  an  leidet,  wie  sie  sich 
auch  abgesehen   von    anderen 45)  mehr  oder  weniger  gleich- 


45)  Ich  erwähne  hier  folgende  drei  auf  Papier  aus  dem  15.  Jahr- 
hunderte. 

Der  Cod.  germ.  3944  der  Staatsbibliotkek  zu  München, 
zweispaltig  in  den  Jahren  1424  und  1425  geschrieben,  später  nach 
einer  Einzeichnung  auf  der  inneren  Seite  des  Rückdeckels  im  Be- 
sitze der  „Magdalena  grauin  tzu  Montfort  gebornen  Grauin  zu 
Ottingen"  gewesen,  enthält  nach  vorangehendem  Inhaltsverzeichnisse 
des  Ganzen  auf  den  ersten  sechs  Blättern  des  ersten  Sexterns  von 
dessen  siebentem  Blatte  an  unter  besonderer  oben  je  in  der  Mitte 
der  ersten  Seite  eines  Blattes  schwarz  angebrachter  Zählung  von 
Fol.  1 — 55'  Sp.  2  das  Buch  der  Könige  alter  und  neuer  E,  woran 
sich  unmittelbar  von  Fol.  56 — 149'  Sp.  1  das  Landrecht  schliesst, 
während  von  Fol.  149'  Sp.  2  —  181'  Sp.  1  das  Lehenrecht  folgt, 
an  dessen  Schluss  sodann  in  der  Sp.  2  die  Jahrzahl  „tusent  vier- 
hundert zweinzig  vnd  vier"  steht,  wovon  das  Wort  vier  roth  durch- 
strichen und  die  Zahl  v  darüber  gesetzt  ist. 

Die  gleichfalls  in  zwei  Spalten  gefertigte  der  Universitäts- 
bibliothek zu  Basel,  C  IV  15  bezeichnet,  nach  einem  dem  Vor- 
derdeckel von  innen  aufgeklebten  Blatte  Papier  seinerzeit  „Simonis 
Gerfalck  et  amicorum  ex  dono  Johanni  Conrado  Wolleb  —  wozu 
vielleicht  noch  etwas  gehörte,  worüber  jetzt  ein  Streifen  Papier  ge- 
zogen ist  —  ciuis  basiliensis  im  Jahre  1566,  enthält  von  Fol.  1—43 
Sp.  1  das  berührte  Buch  der  Könige,  von  Fol.  44—127  Sp.  2  das 
Landrecht  wieder  mit  der  Abtheilung  zwischen  Artikel  L  219  und 
220  unter  dem  Uebergange  „Hie  is  das  lantrecht  vsz.  Hie  vaht  an 
das  lehen  reht  buoch"  gleichfalls  mit  dem  Kapitel  L  377  II  als 
vorletztem,  von  Fol.  127'  Sp.  2  —  155  Sp.  1  als  „das  edell  lehen 
buoch,  vnd  ist  das  dritt  stuocke  disses  buoches"  das  Lehenrecht. 
Diesen  drei  Bestandtheilen  geht  ein  Inhaltsverzeichniss  über  sie  auf 
sechs  Blättern  voran,  deren  letztes  aber  nur  mehr  mit  zwei  Zeilen 
beschrieben  ist.     Am   Schlussblatte  155   Sp.  1   findet  sich  folgende 


Bockinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      445 

falls    hieher   einschlagenden  Handschriften    des    sogenannten 
Schwabenspiegels,    namentlich  in  der  von  Wilhelm  Wacker- 


Bemerkung:  Djs  buoch  is  dor  vmb  gemacht  vnd  geschriben:  wer 
sich  nuot  woll  verrihten  kan  von  maniger  sach,  das  der  dis  buoch 
gern  horre  lesen  ,  wand  es  bewert  alle  sache  der  man  bedarff  ze 
weltlichem  geriht.  vnd  wart  es  gemäht  vnd  vollenbracht  ze  Nuorem- 
berg  in  eym  beruoffnem  hofe  do  man  zalt  von  gottes  gebuort  tuosent 
zweihuondert  vnd  aht  vnd  ahzig  jor. 

Die  Handschrift  der  Stadtbibliothek  zuWinterthur 
endlich,  Mscr.  A  18  bezeichnet,  ebenfalls  in  zwei  Spalten  im  Jahre 
1469  gefertigt,  nach  einem  Vormerke  oben  auf  Fol.  2  später  dem 
Goldschmiede  Jakob  Sulzer  gehörig,  der  sie  „von  der  basz  Susanna 
Sultzerj  von  Leuckeirch"  im  Jahre  1681  erhalten,  beginnt  abermals 
mit  dem  Königebuche,  auf  welches  ,,das  wirdige  lantrecht  buoche 
vnd  das  edel  recht"  wieder  mit  der  Abtheilung  zwischen  Art.  L  219 
und  220  unter  der  genaueren  Bezeichnung  „Hie  hett  das  lantrecht- 
buoch  eyn  ende,  das  do  ist  dz  erste  teil  desselben  buoches.  vnd 
volget  dz  anderteil  Hie  uohet  an  das  edele  buoch  das  do  seit  von 
lechnunge  das  erste,  vnd  ist  das  anderteil  dis  buoches"  mit  dem 
langen  Art.  L  377  II  „von  der  heiligen  e  was  man  dor  jnne  ge- 
halten oder  gelossen  mag"  folgt,  endlich  das  Lehenrecht.  Auch  das 
Kegister  des  Land-  und  Lehenrechtes  ist  nach  den  drei  so  gestalteten 
Theilen  besonders  gerichtet.  Am  Schlüsse  des  Lehnrechtes  ist  be- 
merkt: Hie  endent  sich  die  gesecze  des  grossen  keysers  Karlens. 

Die  Störung  nun,  um  welche  es  sich  in  diesen  drei  Hand- 
schriften von  Artikel  L  174  an  handelt,  ist  folgende: 


L 

L 

L 

(177)}  182 

178 

183 

182  l  187 
(174)}  187 

175   188 

179 

184 

176   189 

180 

185 

183   191 

Ä190 

181 

186 

Im  einzelnen  entspricht  hier  der  Artikel  182  der  drei  Hand- 
schriften L  174  bis  zu  den  Worten  S.  83  Sp.  2  mehr  gegen  den 
Schluss :  oder  nemet  dz  drier  pfennig  wert  ist.  Daran  knüpfen  sich 
ohne  Unterscheidungszeichen  oder  sonstiges  Merkmal  der  Nichtzu- 
gehörigkeit die  Worte :  wider  nicht  tuon ,  won  ein  kint  dz  vnder 
zehen  iaren  ist  u.  s.  w.  aus  L  177  bis  zu  dessen  Schluss. 


446  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 

nagel  der  Universitätsbibliothek  zu  Basel  zum  Geschenke 
gemachten ,  nunmehr  mit  C  III  2  bezeichneten , 46)  wie 
weiter  in  einer  auf  der  öffentlichen  Bibliothek  zu  Stuttgart 
verwahrten  Handschrift  gleichfalls  auf  Papier  in  Folio  aus 
dem     15.    Jahrhunderte,    Mscr.  jurid.    70,47)   findet.     Diese 


Der  Artikel  187  unserer  Handschriften  entspricht  L  182  bis 
an  den  Schluss:  da  sol  nieman  nit  werffen  oder  schiessen.  Unmittel- 
bar hieran  knüpft  sich  der  vorhin  abgebrochene  Artikel  L  174  von 
den  Worten  an:  wer  vf  mülinen  icht  stilt  dz  fünf  Schilling  u.  s.  w» 
bis  an  den  Schluss  S.  84  Sp.  2 :  die  wile  er  gerichtes  geweigert  hat. 

Der  Artikel  190  unserer  Handschriften  entspricht  L  177  bi& 
zu  den  Worten:  hat  dz  kint  man  schlacht  geton,  oder  wunden 
geton,  man  sol  im  da,  ohne  dass  nun  der  (im  Artikel  182  bereits 
da  gewesene)  Schluss  folgt,  anstatt  dessen  die  Endworte  von 
L  182  stehen:  varen  mit  weffenne  noch  mit  schiessende. 

46)  Sie  stammt  „ex  libris  Joannis  ä  Schennis"  und  hat  nun- 
mehr vorne  folgendes  besonderes  Titelblatt  mit  einem  Register  über 
das  Land-  wie  Lehenrecht  von  einer  Hand  des  16.  oder  gar  erst 
17.  Jahrhunderts,  möglicherweise  ihres  eben  genannten  ehemaligen 
Besitzers: 

Landtrechtbouch  von  weltlichem  Gericht  vnd  Recht. 

Darin  alle  Landtrecht,  auch  die  beschribnen  Recht,  vnd  was 
etwo  nach  Gewonnheit  bewert  vnd  angenomen  worden ,  begriffen 
wirt,  sambt  angehencktem  Lehenbuoch. 

Allen  die  Gerichts  pflegen  vnd  ein  jede  sach  zu  Recht  richten 
sollend  sehr  nuczlich  vnd  dienstlich. 

Die  beiden  Kapitel  L  219  und  220  sind  hier  unter  der  Ueber- 
schrift  „Das  ccxxix  von  pauleutten"  vereinigt,  und  haben  folgende 
Fassung:  Gelt  von  mülen  vnd  von  czolen,  vnd  ob  ein  kint  sein  jar 
czal  beheltet,  das  man  das  guet  verdiennen  sol,  so  sol  man  im  sein 
gelt  geben,  jaret  es  sich  u.  s.  w. 

Im  Artikel  318  =  L  311  findet  sich  mitten  im  Texte  eine  leere 
Zeile,  indem  die  vorhergehende  mit  den  Worten  L  S.  135  Sp.  2  Z.  27 
„vnd  ist  si  ein'1  schliesst,  die  folgende  mit  den  Worten  Z.  28/29 
„wie  man  das  beweren  solle'    fortfährt. 

47)  Es  ist  wie  die  eben  berührte  Handschrift  in  zwei  Spalten 
gefertigt,  mit  rothen  Ueberschriften  der  Artikel  und  rothen  An- 
fangsbuchstaben derselben  unter  gleichzeitiger  Anfügung  der  laufen- 
den Numern  je  am  Rande  der  einzelnen  bis  zum  fünften  des  Lehen- 


Bockinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      447 

Reihenfolge  gestaltet  sich  hienach  gegenüber  L  in  der 
Handschrift  von  Münster  wie  in  den  beiden  anderen  eben 
berührten  folgendermassen: 

L  L  L 

174  1  183^      176  \   18749^      178  1  !Rn50\ 
(176)J  löd  }  (178))  lbT  )  (174)/  lö°  > 

175  186        177   184        179   188 


rechtes,  woselbst  die  Zählung  sowohl  im  Texte  als  auch  im  Artikelver- 
zeichnisse aufhört,  und  stammt  nicht,  wie  v.  Lassberg  unter  Num.  145 
annimmt  —  aus  dem  14.  Jahrhunderte,  sondern  gehört  dem  Aus- 
gange des  zweiten  oder  dem  Anfange  des  dritten  Viertels  des 
folgenden  an. 

Das  Landrecht  beginnt  mit  der  roth'en  Ueberschrift,  Dit  ist 
daz  lantrecht  buech  alz  guet  von  eime  kapitel  uff  daz  ander  alz  iz 
ie  wart  geschriben.  Dann  bildet  die  ersten  drei  Viertheile  der 
ersten  Spalte:  0  altitudo  diuiciarum  sapiencie  et  seiende,  quam  in- 
prehensibilia  sunt  iudicia  eius  et  inuestigabiles  eius  etc.  igitur  omnis 
sapiencia  a  domino  deo  est,  quia  ipse  alpha  et  o,  prineipium  et 
finis.  et  ideo  sine  fine  terminat. 

Am  Schlüsse  des  nun  folgenden  Landrechtes  steht  roth: 
Hie  nymet  das  lantrechtbuch  ein  ende. 
Got  behude  vns  ane  missewende. 
Amen. 
Hie  hebet  das  lehenrecht  buch  sich  ane. 
An  dessen  Schlüsse  begegnet  uns  wieder  roth: 

Hie   endet   sich   das   lehen  buch  von  eyme  capitel  uf  daz 
ander  geschreben  mit  der  zal. 
Got  der  behude  vns  vor  deme  ewigen  fal. 
Amen. 
Ich  wolde  daz  eyde  nit  also  lychtlichen  wurden  geschworen: 
so  hofte  ich  zu  gode,   is  wurde  nit  also  manche  sele  verdampte 

vnd  verloren. 
Vnd  wer  dut  vnd  richtet  nach  disem  buch, 
der  wirt  behut  vor  dem  ewigen  fluch. 
Hienach   folgt  noch   auf  neuer  Seite  durchlaufend  geschrieben 
ein  Inhaltsverzeichniss  über  das  Land-  und  Lehenrecht,  welches  aber 
andere  Rubra  hat  als  der  Text. 

48)  Dieser  Artikel  reicht  bis  L  174  S.  84  Sp.  1 :  So  wey  in  kirken  off 
in  kirchouen   icht   stelt  dat    drier  penninghe  wert  ist,  den  sal  men 


448  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Mai  1874. 


180 

181 

189 
190 

Si965i> 

192  1  205 
(187)/ 

182 

191 

188   201 

193   197 

183 

192 

189   202 

194   198 

184 

193 

190   203 

195   199 

185 

194 

191   204 

196   200 

186 

195 

197   206 

Hinsichtlich  dieser  Störung  ist  demnach  durch  die 
Handschrift  von  Münster  nunmehr  der  Nachweis  geliefert, 
dass  sie  bereits  aus  einer  Handschrift  vom  Jahre  1349  oder 
aus  einer  noch  vor  dieses  Jahr  fallenden  stammt. 

Ist  hienach  die  Bedeutung  der  Handschrift  der 
akademischen    Paulinerbibliothek   zu   Münster,    von 


radebreken.     Hieran  reiht  sich  ohne  Unterbrechung  L  176:    So  wey 
den  anderen  lernet  an  henden  off  an  voeten  S.  85  Sp.  1  Z.  21. 

49)  Dieser  Artikel  reicht  in  L  176  a  bis  S.  85  Sp.  1  Z  21 : 
deme  sal  men  dat  selue  doyn.  Daran  reiht  sieb  ohne  Unterbrechung 
L  178a  S.  86  Sp.  1  Z.  26:  Dey  cleger  behaldent  er  recht  myt  twen 
dinemannen.  sey  leident  tem  tode  alzo  veil  getuge  u.  s.  w.  bis  zur 
vorletzten  Zeile  von  S.  86  Sp.  1 :  dey  beterent  nicht  vor  en. 

50)  Dieser  Artikel  reicht  von  L  178  bis  S.  86  Sp.  1  Z.  25 : 
off  dey  man  steruet  er  dusse  dach  komet,  dat  ons  dat  icht  schade 
an  onsseme  rechte.  Hieran  schliesst  sich  unmittelbar  L  174  S.  84 
Sp.  1  Z.  3:  Men  sal  eme  huyt  vnd  hayr  af  slayn  by  deme  hoysten. 
vnd  is  doch  dat  hey  dar  to  is  to  banne  u.  s.  w.  bis  an  das  Ende. 

51)  Dieses  Kapitel  reicht  in  L  187  bis  zu  den  Worten:  heuet 
syme  wyue  to  morgengaue  gegeuen.  Hieran  schliesst  sich  unmittelbar 
L  192  a:  Nymant  en  sal  ghenen  pennink  slayn  dey  u.  s.  w.  S.  90 
Sp.  1  Z.  11  bis  an  den  Schluss  von  L  192  c. 

52)  Natürlich  nur  mehr  bis  dahin  wo  es  sodann  nach  Note  51 
mit  L  187  bereits  verbunden  ist:  vnd  deit  hey  des  nicht,  men  sal 
ouer  en  richten  in  der  mate  als  hyr  vor  geschreuen  is. 


Bocleinger:  Handschriften  des  Meinen  Kaiserrechtes  etc.      449 

welcher  hier  ganz  vorzugsweise  gehandelt  werden  wollte, 
für  das  Landrecht  des  sogenannten  Schwabenspiegels  oder 
überhaupt  für  dieses  Rechtsbuch  nicht  von  irgend  welchem 
höheren  Gewichte,  so  dürften  immerhin  die  Bemerkungen, 
welche  bezüglich  ihres  übrigen  Inhaltes  gemacht  worden 
sind,  geeignet  sein ,  die  Aufmerksamkeit  dieses  oder  jenes 
Forschers  mehr  als  bisher  auf  sie  lenkeD. 


Sitzung    vom    6.   Juni   1874. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 


Herr  Plath  legt  vor: 

„Die   fremden    barbarischen    Stämme   im 
alten  China. 

Im  Allgemeinen.  Neben  den  Chinesen  finden  wir 
im  alten  China  diese  unter  der  ersten,  zweiten  und  dritten 
Dynastie,  namentlich  deren  ersten  Hälfte,  von  einer  Menge 
fremder  barbarischer  Stämme  umgeben.  Urbewohner  mögen 
wir  sie  nicht  nennen,  da  wir  nicht  sagen  können,  dass  sie 
vor  den  Chinesen  das  Land  einnahmen.  Einige,  im  Nordeu 
und  Westen  zumal  fielen  auch  wohl  nur  in  das  Land  ein, 
wie  später  die  Tataren,  ohne  dem  Lande  ursprünglich  an- 
zugehören. Den  Süden  Chinas  dagegen  nahmen  lange  bloss 
fremde  Stämme  ein,  die  später  chinesiche  Einrichtungen  an- 
nahmen und  beim  Eindringen  der  Chinesen  mit  ihnen  ver- 
schmolzen. Leider  erfahren  wir  über  ihre  Sitten,  Einrich- 
tungen, Sprache,  Nationalität  und  Verhältnisse  zu  den  Chi- 
nesen nur  sehr  wenig;  doch  lohnt  es  der  Mühe,  auch  diese 
wenigen  Notizen  zusammenzustellen,  was  noch  nicht  ge- 
schehen ist.1) 


1)  Legge  Proleg.  zu  Vol.  V,  1,  p.  122-139  stellt  nur  die  Notizen 
über  diese  Wilden  aus  Confucius  Chronik  und  dem  Tso-tschuen  zur 
Zeit  der  Tschhün-tshieü  (721—479  v.  Chr.)  zusammen  und  Chalmers 
giebt  dazu  eine  Karte  mit  Angabe  der  Lage  und  der  Namen  der 
einzelnen  Stämme  in  chinesischen  Charactern. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        451 

Gewöhnlich  spricht  man  von  den  vier  Barbaren; 
wir  erhalten  aber  nicht  einmal  ihre  Volksnamen,  sondern 
nur  chinesische  Bezeichnungen,  zum  Theil  Oekelnamen 
derselben. 

Das  Zeichen  für  die  Ostbarbaren  J  ist  zusammen- 
gesetzt aus  Clef  37,  jetzt  gross,  ursprünglich  ein  grosser 
Mann,  der  einen  Bogen  (Cl.  57)  umhat,  der  Charakter  für 
die  WestbarbarenJung,  aus  Cl.  62  Lanze  und  (?)  Hand; 
jenes  bezeichnet  die  ersteren  also  als  Bogenmänner,  diese  als 
Lanzenträger.  Der  Character  für  die  Nordbarbaren  Ti 
besteht  aus  Cl.  94  Hund  und  Cl.  86  Feuer,  also  etwa  Hunde, 
die  sich  am  Feuer  wärmen.  Der  Character  für  die  Süd- 
barbaren Man  zeigt  unten  deutlich  CK  142  Insekten 
oder  Würmer,  oben  mit  der  Gruppe  Liuen  verwirrt,  verbun- 
den, also  wohl  ein  verwirrter  Haufe  von  Würmern. 

Sie  zerfielen  dann  in  mehrere  Stämme.  So  spricht  der 
Ta-hio  10  f.  15  von  den  vier  Ostbarbaren  (sse-I,  zu  welchen 
einer  aus  dem  Reiche  der  Mitte  (Tschung-kue,  d.  i.  China) 
vertrieben  wird.  Nach  Lün-iü  9  ,  13  will  Confucius  zu  den 
9  Ostbarbaren  (Kieu  I)  gehen  und  unter  ihnen  wohnen,  ab- 
wohl  sie  roh  seien  und  3,  5  heisst  es:  die  rohen  Stämme 
des  Ostens  und  Nordens  (die  I  und  Ti)  haben  Fürsten  und 
diese  sind  noch  nicht  verkommen  (wang),  wie  bei  den  Hia 
(den  Chinesen).  I  und  Ti  stehen  dann  für  die  rohen  Stämme 
überhaupt  im  Lün-iü  13,  19  und  Tschung-yung  14,  2. 

Neben  diesen  kommen  im  Süden  aber  auch  noch  andere 
Namen  vor,  besonders  die  Miao.  Der  Character  ist  zu- 
sammengesetzt aus  Cl.  140  Gras  über  Cl.  102  Feld.  Miao- 
tseu  heisst  noch  ein  Stamm  der  Urbewohner  in  Kuang-si; 
man  deutet  den  Namen :  Söhne  des  Feldes.  Dann  kommen 
hier  vor  die  Min  und  Me  im  Nord-Osten.  Der  Character 
Min  ist  zusammengesetzt  aus  Cl.  142  Insekt  oder  Gewürm 
im  Thore  (Cl.  169)  und  bezeichnet  eine  Art  Schlange  im 
Süd-Osten    und   dann   die  Urbewohner  von  Fo-kien;  Me  ist 


452  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

eine  Art  Fuchs  und  bezeichnet  die  Nord-ost  Barbaren. 
Min,  sonst  Ho,  beide  aus  Cl.  153  Tschhi  ein  Reptil,  Ge- 
würm, mit  Zusatz  von  einer  Gruppe;  es  sind  also  auch 
dieses  nur  Oekelnamen.  Thi}  aus  Cl.  124  der  Flügel,  unten 
mit  Cl.  172  ein  kurzgeschwänzter  Vogel,  ist  mit  Jung  der 
Name .  einer  tatarischen  Horde.  Diese  kommen  aber  alle 
erst  später  vor,  als  die  Chinesen  mit  dem  Süden  und  Nor- 
den bekannter  wurden. 

Die  Südreiche  Thsu,  U,  und  Yuei,  die  ursprünglich 
von  Barbaren  bewohnt  wurden,  sind  auch  zu  erwähnen. 
Tshu  hiess  ursprünglich  King  und  dieses  war  der  Name 
einer  der  9  Provinzen  des  alten  China  im  Schu-king  Cap. 
Yü-kuDg.  King  heisst  eindorniger  Busch,  später  Tshu-king 
Brombeerstrauch ,  ein  buschiger  Wald  in  Hu-kuang.  U 
heisst  laut  reden,  auch  gross;  Yue  ist  von  Cl.  156  über- 
schreiten, übertreffen. 

Die  älteste  allgemeine  Schilderung  der  vier 
fremden  Barbaren,  wohl  aus  dem  Anfange  der  dritten 
Dynastie  (1122  v.  Ch.),  gibt  der  Li-ki  im  Cap.  Wang-tschi 
5  f.  211):  Die  Ostbarbaren  I  hatten  geflochtene,  über 
die  Schultern  herabhängende  Haare,  bemalten  den  Leib  und 
assen  ungekochte  Speisen.  Die  Südbarbaren  (Man)  be- 
zeichneten die  Stirne,  hatten  einwärtsgebogene  Fusszehen 
(Kiao-tschi)  —  wie  die  Cochinchinesen  noch  —  und  assen 
auch  nur  ungekochte  Speise.  Die  der  Westgegend  (Jung) 
hatten  geflochtene  Haare,  kleideten  sich  in  rohe  Felle  und 
hatten  kein  Korn  zur  Nahrung.  Die  Nordbarbaren  (Ti) 
hatten  Kleider  aus  Fellen,  Federn  und  Haaren,  wohnten  in 
Höhlen  und  hatten  keinen  Reis  (li)  zur  Nahrung.  Die  J, 
die  Man,  die  Jung  und  di  Ti  des  Reiches  der  Mitte  (China's) 
wohnten  alle  ruhig  (ngan  kiü),  übereinstimmend  war  ihr 
Geschmack  (ho  wei),   geeignet   die  Tracht,    (I  fu).     Sie  be- 


1)  Callery  hat  sie  ausgelassen. 


Flath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         453 

dienten  sich  nützlicher  Sachen  und  bereiteten  Gefässe  (Pi-ki). 
Die  Rede  und  Sprache  des  Volkes  der  5  Gegenden  war 
nicht  durchgehends  dieselbe,  ihre  Verlangen  und  Wünsche 
nicht  gleich.  Wenn  sie  ihre  Absicht  zu  verstehen  gaben, 
sagte  die  Ostgegend  ki  überliefern ,  die  Südgegend  siang 
ähneln,  die  Westgegend  ti-ti,  die  Nordgegend  I  oder  Yih 
mittheilen'1. 

Diese  Fremden  hatten  also  unter  sich  und  von  der 
chinesischen  verschiedene  Sprachen.  Es  gab  daher  unter 
der  dritten  Dynastie  Tscheu  ein  eigenes  Amt  der  Dolmet- 
scher (Siang-siü).  Es  bestand  nach  Tscheu-li  34  f.  26  (11) 
für  jedes  der  vier  fremden  Völker  aus  einem  Graduirten 
I  Classe,  2  IL  Cl.  und  8  III.  Gl.  mit  20  Dienern.  Nach 
einer  Anmerkung  zum  Bambubuche  bei  Legge,  Proleg.  III, 
1,  p,  128  kamen  nach  der  Gefangensetzung  von  Kie,  dem 
letzten  Kaiser  der  1.  Dynastie  Hia,  1800  Fürsten  mit  8  Dol- 
metschern (pa-yih)  zu  Tsching-thang  —  8  wohl,  weil  auch 
Fremde  ausser  China  huldigten.  Nach  Tscheu-li  39  f.  27 
(38,  f.  40)  beschäftigten  sich  die  Dolmetscher  (Siang-siü) 
mit  den  Gesandten  der  fremden  Reiche  des  Südens,  Ostens, 
Südostens,  Nordens  und  Westens.  Sie  hatten  ihnen  die 
Worte  des  Kaisers  zu  überliefern  und  zu  erklären,  sie  in 
Uebereinstimmung  zu  bringen  (I-ho)  und  sie  zu  gewinnen 
(thsin  tschi) ;  wenn  zu  bestimmten  Epochen  gelegentlich  aus 
diesen  Reichen  ein  Besucher  1.  Classe  ankam,  brachten  sie 
das  Ceremoniell  in  Uebereinstimmung  (hie)  und  überlieferten 
seine  Worte,  sowie  das  ganze  Ceremoniell  bei  seiner  Ankunft 
und  Abreise,  wenn  man  ihm  entgegenging  und  ihn  zurück- 
führte, die  Passtafel  und  Ehrentafel,  das  Seidenzeug,  das 
er  geschenkt  bekam,  die  Anreden  die  er  hielt  und  den 
höheren  Rang  (den  ihm  der  Kaiser  ertheilte). 

Nach  dem  Li-ki  Cap.  14.  Ming-tang-wei  f.  33  v.  kamen 
die  4  Barbaren  auch  zur  Huldigung ;  dabei  standen  die  Reiche 
der  9  I  ausserhalb  des  Ostthores  nach  Westen,  das  Gesicht 
[1874,  4.  Phil.  hist.  Cl.]  31 


454  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

nach  Norden  gekehrt ;  die  8  Reiche  der  Man  ausserhalb  des 
Siidthores  nach  Norden,  das  Gesicht  nach  Osten;  die  der 
6  Jung  ausserhalb  des  Westthores  nach  Osten,  das  Gesicht 
nach  Süden ;  die  Reiche  der  5  Ti  ausserhalb  des  Nordthores 
nach  Norden,  das  Gesicht  nach  Osten.  Der  Scholiast  be- 
merkt: Sie  folgten  dem  Thore  ihrer  Gegend.  Es  versteht 
sich  von  selbst,  dass  dies  die  Theorie  war,  wie  die  Praxis 
jedesmal,  wissen  wir  nicht  und  beim  Verfalle  der  Kaiser- 
macht fiel  dies  natürlich  weg. 

Bei  einer  grossen  Leiche  (der  des  Kaisers)  assistiren 
sie  selbst,  bei  der  der  Kaiserin  und  des  Erbprinzen  senden 
sie  Beamte  zu  dem  Ende  nach  Schol.  B.  Sie  zeigen  ihnen 
dabei  die  Gebräuche  für  die  Besucher  2.  Classe  und  regeln 
ihre  Stellung  während  der  Ceremonie.  Nach  Tscheu-li  38, 
f.  26  vereinigte  man  jedes  7te  Jahr  die  Dolmetscher,  sie 
verglichen  die  Sprachen  und  brachten  die  Formeln  des  Ver- 
kehrs in  Uebereinstimmung. 

Auch  die  Tänze  und  Musik  der  4  fremden  Völker 
kamen  am  Kaiserhofe  vor.  Ti-kiü,  ein  Schuhwerk  ohne 
Riemen  nach  Li-kiCap.Kio-li-hiaf.50v.,  hfessdas,  welches  deren 
Tänzer  trugen.  Dafür  bestand  ein  eigener  Dienst  Ti-kiü-sse 
aus  4  Graduirten  4.  Classe,  einem  Magazinaufseher,  einem 
Schreiber,  2  Gehülfen  und  20  Dienern  nach  Tscheu-li  17 
f.  21.  Nach  23  f.  54  hatten  die  4  fremden  Völker  auch  ihre 
besonderu  Weisen  und  Gesänge,  Biot  II  p.  67  sagt  nach 
,dem  Hiao-king  hiess  die  Musik  des  Ostens  Mei,  die 
desSüdensJin,  die  des  Westens  T  seh  u-li,  die  des  Nordens 
Ein;  man  spielte  sie  alle  am  Hofe,  zu  zeigen,  dass  alles 
emter  dem  Himmel  nur  ein  Reich  bilde!  Im  Hiao-king  im 
I-sse  95,  1  f.  20  bis  24  finde  ich  dies  nicht,  abweichend 
im  Pe-hu-thung  bei  Ma-tuanlin  148  f.   I.2)     Die  Musik  Mei 

2)  Ma-tuan-lin  B.  148  hat  einen  eigenen  Abschnitt  J-pu-yo 
über  die  Musik  der  Ostbarbaren.  Er  begreift  aber  meist  nur  die 
Musik  in  Corea,  Japan,  und  die  der  Uiguren  etc.  (s.  meine  Abh.  über 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  455 

der  Ostbarbaren  (I)  erwähnt  der  Li-ki  im  Cap.  14  Ming- 
tang-wei  f.  36  v. ;  der  Mei-sse  lehrt  die  Musik  der  Fremden  des 
Ostens.  Bei  einem  Opfer  und  grossen  Banket  tritt  er  an 
die  Spitze  seiner  Untergebenen  und  lässt  sie  tanzen.  Dann 
hat  der  Tscheu-li  einen  Abschnitt  vom  Mao- j in  17,  20  und 
23,  49.  Mao  ist  eine  Fahne  aus  dem  Schweife  des  wilden 
Ochsen,  den  die  Tänzer  als  Signale  in  der  Hand  hielten. 
Der  Mao-jin  lehrte  nun  die  Tänze  zu  der  fremden  Musik. 
Alle  aus  den  4  Gegenden,  welche  Dienste  am  Hofe  als 
Tänzer  nahmen,  standen  unter  seinem  Befehle  und  beim 
Opfer  und  Fremdenbesuche  führte  man  die  Tänze  zu  den 
Weisen  der  Musik  aus.  Ti-kiü-sse  hiess  nach  17,  21  und 
nach  23,  54  der  Vorstand  der  Tänzer  der  4  frem- 
den Länder,  wie  schon  erwähnt,  von  dem  Fusszeuge  ohne 
Riemen,  welches  sie  trugen.  Er  hatte  unter  sich  die  Musik 
der  4  fremden  Völker,  ihre  Weisen  und  Gesänge.  Bei  einem 
Opfer  spielten  sie  die  Flöte  und  sangen  die  dazu  gehören- 
den Gesänge;  ebenso  bei  einem  Banket  (Jen). 

Noch  kommen  mehrere  Barbaren  vor,  die  als  Kriegs- 
gefangene etc.  verschiedene  Dienste  thun  mussten.  Nach 
Tscheu-li  34  f.  13  waren  es  ausser  den  Tsui-li  (verurteil- 
ten Dieben)  120  Mann,  die  Man-li  verurtheilte  fremde 
Kriegsgefangene  aus  dem  Süden  120  Mann,  die  Min-li 
desgleichen  aus  dem  Süd-Osten  120,  die  I-li  aus  dem 
Osten  120  und  die  Me-li  aus  dem  Nordosten,  auch  120  Mann; 
andere  werden  nicht  genannt.  Nach  37  f.  12  (36  f.  15) 
gehören  die  Man-li  zum  Dienste  des  Vorstandes  der  Stutereien 
und  ziehen  Pferde  auf;  die  im  kaiserlichen  Palaste  führten 
die  Waffen  ihres  Reiches,  den  kaiserlichen  Palast  zu  be- 
wachen ;  im  Felde  hatten  sie  die  Polizeiaufsicht  und  bewach- 
ten   sein    Zelt.     Die  Min-li    waren    im    Dienste    des  Auf- 


Ma-tuan-lin  aus  den  Sitzungber.   d.  Akad.  München  1871)   und  zieht 
sonst  nur  die  Stellen  aus  dem  Tscheu-li  17,  19  und  23,  48.  aus. 

31* 


456        Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  6.  Juni  1874. 

ziehers  und  Futterers  der  Vögel  (Tschang-hio)  nach  30  f.  47r 
sorgten  für  deren  Vermehrung,  zogen  sie  auf  (Gänse,  Eli- 
ten etc.),  zähmten  die  wilden,  die  von  Aussen  kamen  und 
die  delicateren  (Fasanen,  Wachteln,  Rebhühner);  der  Vor- 
stand des  Hauses  des  Sohnes  des  Kaisers  hatte  sie  in  seinem 
Dienste.  Die  I-li  dienten  bei  den  Hirten,  zogen  Rinder 
und  Pferde  auf  und  mussten  mit  den  Vögeln  reden  (die  I 
und  die  Ti  im  Osten  und  Norden  verstehen  nemlich  was 
die  Thiere  und  Vögel  sagen;  ein  Beispiel  im  Tso-tschuen 
Hi-kung  a.  29).  —  Sie,  wie  auch  die  folgenden,  bewachten 
auch  den  kaiserlichen  Palast  und  hielten  auf  die  Polizei- 
reglements. Die  Me-li  endlich  dienten  beim  Zähmen  der 
wilden  Thiere,  futterten  und  zogen  sie  auf  und  hatten  mit  den 
Vierfüssern  zu  sprechen.  Nach  f.  11  standen  die  Sse-li  an 
der  Spitze  der  Verurtheilten  der  4  fremden  Nationen,  hiessen 
jeden  das  Costüm  seines  Reiches  tragen  und  seine  Waffen 
führen.  Die  des  0.  und  S.  trugen  Kleider  aus  Zeug  und 
Seide,  in  der  Hand  hatten  sie  den  Degen;  die  des  W.  und 
N.  hatten  Kleider  aus  Wolle  und  Pelzwerk  und  führten  Bo- 
gen und  Pfeile.  Sie  hiessen  alle  Polizeireglements  im  kaiser- 
lichen Palaste  und  wenn  der  Kaiser  im  Felde  steht  an  den 
Stationen  aufrecht  erhalten  nach  Scholiast  C. 

Nach  der  Beschreibung  China's  unter  der 
3.  Dynastie  Tscheu  im  Tscheu-li  33  f.  1  (9)  hatte  der  Tschi- 
fang-tschi  unter  sich  die  Karten  des  Reiches  und  der 
Länder,  und  unterschied  die  Arrondissements  und  Cantone 
seiner  Königreiche  und  Fürstenthümer  und  die  Bevölke- 
rungen der  4  I,  der  8  Man,  der  7  Min,  der  9  Me,  der  5  Jung 
und  der  6  Ti,  so  wie  die  Menge  und  Wichtigkeit  der  Werth- 
gegenstände,  (Münzen-,  Korn-,  Waarenpreise),  der  9  Korn- 
arten, der  6  Arten  von  Hausthieren  in  den  verschiedenen 
Provinzen.  Er  weiss  genau  was  nutzt  (li,  Metalle,  Bambu) 
oder  schadet  (hai).  Dies  möchte  das  Allgemeine  sein,  was 
wir  über  diese  Fremden  haben.    Die  ältere  Geographie  Chi- 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  457 

na's  im  Schu-king  Cap.  Yü-kung,  III,  1  erwähnt  nur  die 
I  in  den  Provinzen  Ki-,  Tsching-,  Siü-,  Yang-  und  Leang- 
tscheu  und  die  Jung  in  der  9.  Prov.  Yung-tscheu.  S.  unten  bei 
■den  einzelnen.  Iin  Capitel  Schün-tien  des  Schu-king  II,  1,  16 
ieisst  es  schon:  „Ehre  die  Tugend,  vertraue  den  Guten, 
missbillige  die  Listigen,  so  werden  die  Man  und  I  einander 
anleiten,  sich  zu  unterwerfen."  (Die  Man  und  I  (?)  heisst 
liier  nach  Legge:  Alle  Barbaren.)  Unter  kräftigen  chinesischen 
Herrschern  huldigten  die  4  Barbaren,  unter  schwachen  fielen 
sie  ab.  Die  Geschichte  der  späteren  Han  (Heu  Han  schu) 
im  I-sse  B.  13  f.  2  sagt:   Als  Thai-khang,  der  3.  Kaiser  der 

1.  D.  Hia  (1957  —  1955),  das  Reich  verliess,  fielen  die  vier 
Barbaren  alle  ab;  nachdem  Heu-Siang  (der  5.  Kaiser)  den 
Thron  bestiegen  (seit  1942  v.  Chr.)  und  die  Kiuen-I  besiegt 
hatte,  kamen  sie  im  7.  Jahre  zur  Huldigung  (lai  pin).  Im 
Schu-king  Cap.  Liü-ngao  V,  5  heisst  es:  Nach  Besiegung  der 

2.  Dynastie  Schang,  da  der  Weg  zu  den  9  I  und  8  Man 
offen  war,  brachten  die  Liü  als  Tribut  ihre  Hunde  Ngao. 
Di-e  Angabe  der  Zahl  der  Völkerschaften  ist  verschieden,  so 
hat  der  Li-ki  im  C.  Ming-tang-wei  14  f.  3,  wie  hier,  9  I, 
S  Man,  aber  auch  noch  6  Jung  und  5  Ti,  der  Tscheu-li  33  f. 
1—4  1,  8  Man  ,  7  Min,  9  Me,  5  Jung  und  6  Ti.  Der  Kue-iü 
Lu-iü  hia  9  I  und  9  Man. 

Wir    kommen    nun    zu    den     einzelnen    fremden 
Stämmen. 

1)  Die  Ti  oder  Nordbarbaren 
sagt  Legge  Prol.  p.  126  sassen  alle  0.  vom  Hoang-ho  im  Norden 
der  dortigen  Staaten  bis  Schan-tung  nach  Confucius  und  Tso- 
schi,  während  Sse-ma-tsien  einige  auch  W.  vom  Ho  setze.  Die 
allgemeine  Schilderung  s.  schon  oben  S.  452.  Nach  Schu- 
king  V,  22,  14  stellten  sie  nach  Tsching-wang's  Tode  bei 
der  Thronbesteigung  von  Tschao-wang  Schirme  mit  Ver- 
zierungen auf.  Dies  waren  vielleicht  Gefangene.  Als  Tscheu 
Thai-wang  (Tan-fu)  (1327  v.  Chr.)  in  Pin  wohnte,  machten 


458  Sitzung  der  phüos.-philol.  Glosse  vom  6.  Juni  1874. 

nach  Meng-tseu  I,  2,  15,  1  die  Ti-jin  (Männer)  beständig 
Einfälle.  Er  bediente  sie  mit  Fellen  und  Seidenzeugen  und 
konnte  dem  doch  nicht  entgehen.  Er  diente  ihnen  mit  Hunden 
und  Pferden  und  konnte  ihnen  doch  nicht  entgehen,  ebenso- 
wenig als  er  sie  mit  Perlen  und  Yü-Steinen  bediente.  Er  ver- 
sammelte nun  seine  Alten,  verkündete  ihnen  und  sagte :  Was 
die  Ti-Männer  wünschen  ist  unser  Land  (Tu-ti).  Ich  habe- 
gehört mit  dem,  womit  der  Weise  die  Menschen  ernährt,, 
schadet  er  nicht  den  Menschen.  Meine  2—3  Kinder,  was- 
seid  ihr  betrübt,  dass  Ihr  ohne  Fürsten  sein  werdet.  Ich 
verlasse  diesen  Ort.  Er  verHess  Pin,  setzte  über  den  Berg 
Liang,  baute  eine  Stadt  am  Fusse  des  Berges  Khi  uud 
wohnte  da.  Das  Volk  von  Pin  aber  sagte:  Es  ist  ein  hu- 
maner (jin)  Mann,  wir  dürfen  ihn  nicht  verlassen  und  sie 
folgten  ihm,  wie  man  dem  Markte  zuströmmt.  Dieselbe  Ge- 
schichte hat  Meng-tsen  I,  2,  14,  2  nur  kürzer  und  daraus 
wohl  der  Sse-ki  4  f.  2  v.  Tschuang-tseu  im  I-sse  18  f.  $ 
hat  auch  dieselbe  Geschichte  vorne  ganz  gleich,  später  ab- 
weichend. Auch  der  U,  Yuei  Tschhün-thsieu  ib.  f.  3  v.  folg. 
spricht  davon.  Er  heisst  da :  der  alte  Graf  (Ku-kung).  Der 
Sse-ki  Tscheu  pen-ki  B.  4  f.  4  v.  flg.  lässt  die  Jung  und 
Ti  den  alten  Grafen  (Tan-fu)  angreifen.  Nach  f.  2  und  15 
gab  Pu-kho,  der  Nachkomme  Heu-tsi's  (des  Ahn's  der 
Dynastie  Tscheu),  dessen  Amt  auf  und  entfloh  zwischen  den 
Jung  und  Ti.  Der  2.  Nachkomme  Kung-lieu  nahm ,  ob- 
wohl er  mitten  zwischen  den  Jung  und  Ti  war,  Heu-tsi's 
Amt  indess  wieder  auf,  beackerte  das  Feld  etc.  Lange  nach 
dieser  Zeit  hören  wir  erst  wieder  von  den  Ti  im  Bambu- 
Buche3)  (Tschu-schu)  und  sonst.  Wir  stellen  die  kurzen  An- 
gaben chronologisch  zusammen: 

3)  Von  Tscheu  Phing-wang  seit  769  v.  Chr.  stimmt  die  Chrono- 
logie des  Bambubuches  mit  der  gewöhnlichen,  vorher  seit  dem  An- 
fange oder  von  Yao  an  bis  dahin  ist  sie  211  Jahr  kürzer,  s.  Legge 
T.  III,  Prol.  p.  179  Die  Zeitangaben  vor  Phing-wang  im  Te.vte 
sind  die  des  Bambubuches. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  459 

728  v.  Chr.  unter  Kaiser  Phing-wang  42  griffen  die  Ti 
Y  an  und  kamen  bis  an  den  Rand  (Kiao)  von  Tsin.  (Y  war 
seit  Hiao-kung  die  Hauptstadt  von  Tsin  und  lag  in  Yih- 
scbing  in  Phing-yang). 

Unter  Tschoang  a.  32  661  griffen  die  Ti  Hing  an. 
Der  Minister  von  Thsi  sagte:  die  Ti  sind  unersättliche  Wölfe. 
Alle  Chinesen  (Hia)  sind  befreundet  und  dürfen  einander  nicht 
verlassen.  Thsi  half  ihm  dann  660  nach  Tso-schi  Min-kung 
a.   1  f.   1,  Wiener  Sitzungsberichte   13  p.  469. 

Unter  Hi  a.  1  (658)  verlegte  Huan  von  Thsi  die 
Hauptstadt  von  Hing  noch  J-i ,  wo  es  den  Ti  weniger  aus- 
gesetzt war  und  Thsi,  Sung  und  Tschao  befestigten  die  neue 
Hauptstadt  nach  Legge.  Das  Volk  von  Hing  begab  sich  in 
seinen  neuen  Sitz,  als  kehrte  es  heim  nach  Tso-schi  p.  131, 

Andere  Expeditionen  folgten  nach  Legge  p.  128.  Im 
7ten  Jahre  von  Hi  (650)  brachte  ein  General  von  Thsi  einem 
Theile  der  Ti  eine  Niederlage  bei ,  aber  gedrängt ,  seinen 
Sieg  zu  verfolgen  sagte  er :  Er  habe  die  bloss  in  Furcht 
jagen  wollen ,  aber  keine  Erhebung  aller  ihrer  Stämme  be- 
schleunigen wollen.  Die  Folge  war  ein  Einfall  der  Ti  in 
Tsin  650. 

Im  lOten  Jahre  (648)  fielen  die  Ti  in  das  Kaiseigebiet 
ein  und  vernichteten  nach  Tso-schi  p.  156  Wen,  dessen 
Fürst  nach  Wei  floh.  Dieser  Su  ein  Mann  ohne  Treue, 
rebellirte  gegen  den  Kaiser  und  ging  dann  zu  den  Ti.  Als 
er  da  nichts  machen  konnte,  die  ihn  angriffen  und  der 
Kaiser  ihm  nicht  beistand ,  wurde  sein  Staat  vernichtet. 
Mehrere  Jahre  litten  Wei,  Tschhing  und  Tsin  nach  ein- 
ander unter  ihren  Einfällen. 

In  Hi's  18  Jahre  (640)  war  Thsi  in  Folge  des  Todes 
Huan's  in  Verwirrung  und  die  Ti  unterstützten  einen  seiner 
jüngeren  Söhne.  638  schloss  Thsi  mit  ihnen  einen  Vertrag 
in  der  Hauptstadt  von  Hing  in  dessen  Interesse,  welches 
Wei  bedrohte. 


460         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Derselbe  Tso-schi  a.  2  f.  5  erwähnt  660  ihren  Angriff 
auf  das  bedeutendere  Wei.  658  greifen  die  Ti  Wen-kung 
von  Wei  an.  Er  ruft  Huan-kung  von  Thsi  zu  Hülfe.  An 
der  Spitze  der  Lehnfürsten  vertrieb  er  sie,  baute  in  Wei  die 
feste  Stadt  Tsu-khieu  und  setzte  Wen-kung  wieder  ein  nach 
Sse-ki  B.  32  f.  10,  W.    S.  B.  40  p.  6624)  und  nach  Sse-ki 


4)  Tso-schi  Min  anno  2  bei  Legge  V,  1  129  fg.  hat  über  den 
Angriff  der  Ti  auf  Wei  noch  folgendes  Detail.  Ihr  Einfall  fand 
im  12.  Monate  statt.  Der  Fürst  von  Wei  war  bekannt  wegen  seiner 
Liebe  zu  den  Störchen,  die  er  in  eines  Gross-Beamten  Wagen  mit 
sich  führte.  Als  nun  die  Zeit  zum  Fechten  kam  und  das  Volk  seine 
Panzer  aus  Büffelleder  erhielt,  sagten  alle:  , »brauche  die  Störche, 
die  Störche  haben  ihre  Einkünfte  und  Würden,  wie  sollten  wir  fähig 
sein  zu  fechten"?  Der  Fürst  gab  seinen  Halbring  aus  Yüstein  an 
Schi-khi  und  einen  Pfeil  an  Ning  Tschoang,  trug  ihnen  auf,  die 
Stadt  zu  bewachen  und  sprach:  ,,mit  diesem  Abzeichen  der  Autorität 
helft  dem  Staate  und  thut  was  euch  vortheilhaft  erscheint."  Seiner 
Frau  gab  er  sein  gesticktes  Kleid  und  sagte  ihr :  „höre  auf  diese 
beiden  Offiziere  (Beamten)".  Kr  bestieg  dann  seinen  Kriegswagen. 
Khiu  Khung  war  sein  Kutscher,  Tseu-pe  war  der  Lanzen  träger  der 
Rechten.  Den  Ti  wurde  eine  Schlacht  geliefert  in  der  Nähe  des 
Sumpfes  von  Yang.  Die  Armee  von  Wei  erlitt  eine  schmähliche  Nieder- 
lage und  der  Staat  konnte  als  vernichtet  betrachtet  werden.  Der 
Fürst  wollte  seine  Fahne  nicht  verlassen  und  machte  die  Niederlage 
so  nur  noch  grösser.  Die  Ti  nahmen  die  Geschichtsschreiber  Hoa  Lung 
und  Li  Khung  gefangen  und  führten  sie  mit  sich  bei  der  Verfolgung 
der  Flüchtlinge.  (Auf  den  Aberglauben  der  Ti  bauend)  sagten  die: 
„wir  sind  die  obersten  Geschichtsschreiber,  die  Staats-Opfer  haben 
wir  zu  verwalten  und  wenn  wir  euch  nicht  vorangehen ,  kann  die 
Stadt  nicht  genommen  weuden."  Man  Hess  sie  nun  vorausgehen 
als  sie  aber  die  Stadtmauer  erreicht  hatten,  sagten  sie  zu  den  Offi- 
zieren, welche  die  Stadt  zu  bewachen  hatten  :  ,,ihr  dürft  hier  nicht 
bleiben."  Dieselbe  Nacht  noch  verliessen  Schi  und  Ning  mit  dem 
Volke  die  Stadt,  die  Ti-  drangen  ein  und  setzten  dann  die  Verfolgung 
fort,  den  Flüchtlingen  am  Ho  eine  neue  Niederlage  beibringend. 

Vor  dieser  Zeit  als  Hoei  (Soh)  in  Wei  nachfolgte  (698)  war 
er  noch  jung  und  das  Volk  von  Thsi  verlangte  dass  Tschhao-pe,  ein 
Halb-Bruder    eine  Verbindung   mit   Siuen  Kiang,    Soh's  Mutter,    ein- 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         461 

f.   12,  S.  ß.  p.  666,    beschäftigten    die   I    und  Ti  651    sich 
selbst  Einrichtungen  zu  geben. 


eingehe  und  als  der  sich  weigerte,  nöthigte  es  ihn  dazu.  Aus  dieser 
Verbindung  entsprangen  Thse-tseu  (Schin),  der  spätere  Fürst  Tai  (659), 
Hoei,  der  spätere  Fürst  Wen  von  Wei  (658  ff.),  die  Frau  Huan's  von 
Sung  und  die  Frau  Mo's  von  Heu.  Wegen  der  vielen  Wirren  in  Wei 
war  Hoei  (vor  dem  Einfalle  der  Ti)  nach  Thsi  gegangen.  Nach  den 
-zwei  Niederlagen  der  Wei  traf  Huan  von  Sung  die  Flüchtlinge  von 
Wei  am  Ho  und  schaffte  sie  Nachts  über  diesen  Fluss.  Nur  730 
Männer  und  Frauen  waren  vom  Volke  Wei's  da  übrig,  mit  dem  Volke 
von  Kung  und  Theng  (der  2  andern  Städte)  nur  5000.  Schin  oder 
<ler  Fürst  Tai  war  an  Fürst  J's  Stelle  erhoben  und  lebte  in  einer 
Hütte  in  Thsao's  (einer  andern  Stadt  Wei's).  Bei  der  Gelegenheit  ver- 
fasste  die  Frau  Mo's  von  Heu  das  Lied  Tsai  Tschhi  (im  Schi-king 
I,  4,  10).  Der  Fürst  von  Thsi  sandte  seinen  ältesten  Sohn  Wu 
khuei  mit  300  Wagen  und  3000  Bewaffneten,  Thsao  zu  bewachen, 
dem  Fürsten  (Tai)  ein  Gespann  von  4  Pferden ,  5  Anzüge  von 
Opfer-Kleidern,  300  Ochsen,  Schafe,  Schweine,  Geflügel,  Hunde  und 
Materialien  zu  Thüren ,  seiner  Frau  noch  einen  Gross -Beamten 
Wagen  mit  Seehundsfellen  verziert  und  30  Stück  schön  gestickte 
•Seidenzeuge. 

(Der  Staat  Wei  war  durch  das  Eindringen  der  Ti  in  die  Haupt- 
stadt nicht  vernichtet;  sie  nahmen  das  Gebiet  nicht  in  Besitz). 
Unter  Min  a.  2  (658)  schlug  der  Fürst  von  Tsin  vor,  seinen  ältesten 
Sohn  Schin-seng  einen  Einfall  in  das  Gebiet  der  Kao-lo  der  Ostberge 
{in  Schan-si)  machen  zu  lassen,  aber  Li-Ke  remonstrirte  und  sagte: 
„es  ist  das  Geschäft  des  ältesten  Sohnes  die  Gefässe  mit  Hirse  für 
die  grossen  Opfer  und  für  die  auf  den  Altären  von  Land  und  Korn 
■zu  tragen  und  die  Lebensmittel,  die  für  den  Gebieten  jeden  Morgen 
und  Abend  gekocht  werden,  zu  beaufsichtigen,  desshalb  heisst  er 
„der  grosse  Sohn."  Geht  der  Herrscher  auswärts  hin,  so  bewacht  er 
die  Hauptstadt  und  wenn  ein  anderer  dazu  angestellt  wird,  so  wartet 
er  seinem  Vater  auf.  Als  solcher  heisst  er:  „der  Beschwichtiger  des 
Heeres"  (Fu-kiün).  Bleibt  er  zurück  als  Wächter  der  Hauptstadt  so 
heisst  er  „Inspektor  des  Staates."  Dies  ist  altes  Gesetz ,  aber  das 
Heer  anzuführen ,  dessen  Bewegungen  und  Entwürfe  zu  leiten ,  alle 
Commando's  an  die  Truppen  zu  erlassen,  dafür  haben  der  Herrcher 
und  Premier-Minister  zu  sorgen ,  das  ist  nicht  das  Geschäft  des 
ältesten  Sohnes.   Die  Leitung  der  Armee  hängt  von  den  endgültigen 


462         Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

650  unter  dem  17.  Kaiser  Hoei  (seit  675)  a.  25  führte 
ein  Heer  der  Nord  bai  baren,    Tsching  anzugreifen  nach  dem 


Commando's  ab.  Erhält  der  Sohn  die  Befehle  von  einem  andernr 
so  ist  dies  beleidigend  für  seine  Majestät,  gibt  er  selbst  die  Com- 
mando's, so  ist  das  unkindlich.  Daher  darf  des  Gebieters  eigener 
Sohn  und  Erbe  nicht  den  Oberbefehl  des  Heeres  führen,  der  Ge- 
bieter verfehlt  da  den  rechten  Mann  zu  wählen,  wenn  er  ihm  den 
Oberbefehl  überträgt  und  wenn  er  als  Befehlshaber  die  Majestät 
verliert,  die  ihm  zukommt,  wie  kann  er  dann  später  verwandt 
werden?  Euer  Diener  hört  die  Kao-lo's  wollen  kämpfen,  ich  bitte 
daher,  lasst  euren  Sohn  alleine  (und  sendet  ihn  nicht  hin).  Der 
Fürst  sagte:  „ich  habe  viele  Söhne  und  weiss  noch  nicht,  wen  ich 
zu  meinem  Nachfolger  bestimme."  Auf  dieses  hin  zog  sich  Khe 
ohne  eine  Erwiderung  zurück.  Als  er  des  Fürsten  ältesten  Sohn 
sah,  fragte  der  Prinz  ihn,  ob  sein  Vorschlag  missbilligt  sei?  Khe 
antwortete:  lass  das  Volk  wissen,  wie  du  ihm  vorstehen  kannst 
und  lehre  es  seine  Pflichten  in  der  Armee;  sei  bloss  besorgt  nicht 
ehrerbietig  genug  auf  diese  beiden  Sachen  zu  achten,  wie  wirst  du 
da  Missbilligung  finden?  Als  ein  Sohn  besorge  nur,  dass  du  nicht 
kindlich  seiest,  fürchte  nicht,  dass  du  nicht  zum  Nachfolger  ernannt 
werdest.  Bilde  dich  selbst  aus  und  suche  nicht  die  Fehler  Anderer 
auf,  so  wirst  du  der  Calamität  entgehen." 

Als  der  älteste  Sohn  den  Oberbefehl  des  Heeres  übernahm,  gab 
der  Fürst  ihm  ein  Gewand  von  2  Farben  und  seinen  goldenen  Halb- 
ring, ihn  an  seinen  Gürtel  zu  hängen.  Hu-tu  war  sein  Wagenlenker, 
Sien-yen  der  Lanzentäger  zu  seiner  Rechten.  Leang-yü-tseu  Yang 
war  der  Wagenlenker  Han  I's,  des  Anführers  der  2.  Schaar  und 
Sien-Pan-mo  der  Lanzenträger  zu  seiner  Rechten;  der  Oberoffizier 
Yang  Schi  diente  als  Adjutant.  (Diese  5  sprachen  nun  ihre  Ge- 
danken über  das  nur  theilweise  farbige  Kleid  und  dessen  so  wie 
des  Halbringes  Bedeutung  für  den  Prinzen  weitläufig  aus.  Diess 
liegt  uns  aber  zu  ferne).  Als  der  Prinz  kämpfen  wollte,  machte 
Hu-tu  dagegen  Vorstellungen  und  bezog  sich  angeblich  auf  den 
Rath  Sin-Pe's  an  Huan  von  Tscheu;  s.  Tso-schi  bei  Legge  p.  71  und  die 
dortigen  Intriguen.  Kann  deine  Nachfolge  im  Reiche  gesichert 
werden?  Sei  kindlich,  suche  die  Ruhe  des  Volkes,  dazu  mache 
Pläne.  Diess  ist  besser  als  deine  Person  zu  gefährden  und  die  Be- 
schuldigung der  Missethat  zu  beschleunigen. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         463 

Kue-iü,  Tscheu-iü  2,    vgl.    mit  Tso-schi    uuter  Hi-kung  von 
Lu  a.  24  (636)  K.   14  f.  21  v.,  W.  S.  B.   14  p.  55. 

Unter  Hi  a.  16  (642)  im  Herbste  machten  die  Ti  nach. 
Tso-schi  p.   171  einen  Einfall  in  Tsin. 

629  griffen  die  Ti  Wei  wieder  an  nach  Tso-schi  Hi- 
kung  a.  31. 

Nach  Schi-king  IV,  2,  4,5  p.  211  wurden  unter  Hi-kung 
von  Lu  (659 — 626)  zahlreiche  Heere  gegen  die  Jung  und 
Ti,  auch  gegen  King  Schu  gesandt. 

620  griffen  die  Ti  unsere  Weststadt  (Pi)  an  nach  Tso- 
schi  Wen-kung  a.  7  f.  14  v. 

605  griff  unter  Kaiser  Ting-wang  (seit  605)  a.  6  Tsching« 
kung  von  Tsin  mit  den  Ti  Thsin  an ,  fing  Thsin-mie 
(einen  Spion  von  Thsin)  und  tödtete  ihn  auf  dem  Markte 
von  Kiang  (in  Schan-si)  nach  Tso-schi  Siuen-kung  a.  8;  nach 
dem  Bambu -Buche  lebte  er  am  6.  Tage  wieder  auf. 

575  waren  die  früher  mächtigen  Ti  von  Tsin  schon 
gedemüthigt,  W.  S.  B.  17  p.  307. 

Bis  LuSiuen  (607—589)  spricht  nach  Legge  Prol.  p.  126 
der  Text  nur  von  den  Ti  überhaupt,  später  von  den  2  grossen  Ab- 
theilungen derselben  den  rothen  und  weissen  Ti.  Dierothen 
Ti  werden  nach  Tsching  a.  3  586  nicht  weiter  erwähnt  und 
die  Vernichtung  mehrerer  ihrer  Stamme  wird  berichtet.  Die 
weissen  Ti  erhielten  sich  bis  über  die  Periode  des  Tschhün- 
tshieu  (479)  hinaus  und  einer  ihrer  Stämme  nahm  zur  Zeit 
der  streitenden  Reiche  den  Königs-Titel  an  und  kämpfte 
mit  den  andern  Prätendenten  um  den  Besitz  der  ganzen 
Herrschaft  der  Tscheu. 

Die  weissen  Ti  zerfielen  nach  Legge  in  3  Stämme  die 
Sien-yü  oder  Tschhung-schan  im  Distrikte  Tsching-ting, 
2,  die  Fei  im  Distrikte  Kao-sching  und  3,  die  Ku  in  Tsin- 
tscheu,  alle  3  im  Departement  Tsching-ting  in  Tschi-li. 


464        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Von  den  rothen  Ti  werden  nach  Legge  6  Stämme 
specificirt;  1)  die  Kao-lo-schi  in  den  Ostbergen  (Tung- 
schan) ,  im  jetzigen  Distrikte  Yuen-khio  in  Kiang-tscheu  in 
Sehan-si ;  2)  die  Tsiang-kan-yu,  der  Sitz  unbekannt*  3)  die 
Lu,  deren  Name  noch  erhalten  ist  im  Distrikte  Lu-sching 
im  Departement  Lu-nganin  Schan-si;  4)  die  Khia,  im  Distrikte 
Ke-tsi  Departement  Kuang-phing  in  Tschi-li;  5)  die  Lieu-yu, 
im  Distrikte  Thun-lien,  Departement  Lu-ngan  und  6)  die 
Tho-schin,  irgeudwo  in  demselben  Departement  in  Schan-si. 

Die  Ti  zerfielen,  wie  schon  erwähnt,  in  mehrere  Stämme 
oder  Herrschaften.  Die  Zahl  derselben  wird  verschieden  an- 
gegeben, wohl  in  verschiedenen  Zeiten.  Wir  stellen  nun  zu- 
sammen was  über  die  einzelnen  vorkommt;  vgl.  Ma-tuan- 
linK.  264  f.  22— 31  undl-sseB.  98,  1.  Die  weissen  (pe)  Ti. 
Tso-tschhuen  unter  Siang-kung  a.  8  (564  v.  Chr.)  sagt:  Im 
Frühlinge  fingen  die  Pe-Ti  an  nach  Lu  zu  kommen.  Sie 
wohnten  in  Tschin,  in  der  Provinz  Jung,  VV.  S.  B.  17  S.  299. 
Unter  'Ssching-kung  a.  12  (579)  waren  sie  Feinde  von  Tshin, 
aber  mit  Tsin  durch  Verheirathung  verbunden.  Tshin  hetzte 
sie  gegen  Tsin  auf,  als  wollte  das  sie  angreifen;  sie  melde- 
ten es  aber  diesem. 

2.  Die  rothen  (Tschi)-Ti,  von  ihrer  Kleidung  benannt. 
660  schickt  Hien-kung  von  Tsin  seinen  Erbprinzen,  Tung- 
schan  anzugreifen  nach  Sse-ki  39  f.  7,  S.  B.  43  S.  85. 

659  unter  Hoei-wang,  (seit  675),  a.  17  schlägt  I-kung  von 
Wei  in  Wei-hoai-fu  die  rothen  Ti  am  See  Tung  oder  nach 
Andern  Khiung  nach  dem  Bambu-Buche,  (d.  i.  nach  Biot 
im  Jour.  Asiat.   13  p.  409  Yung  bei  Yung-yang  in  Ho-nan). 

Zu  diesen  gehörten  die  Kao-lo-schi ,  die  der  Erb- 
prinz von  Tsin  658  angreifen  soll  nach  Tso-schi  Min-kung 
a.  2  f.  6,  S.  B.   13,  S.  472  f. 

Ein  anderes  Reich  der  rothen  Ti  war  Lu,5)  im  heutigen 


5)  Von  Cl.  85  Wasser  und  der  Gruppe  Lu  Weg,  verschieden  von  dem 
Lu  in  Schan-tung  von  Cl.  195  Fisch  (iüj  und  Cl.  73  Mund,  Sprache. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  465 

Lu-ngan  in  Schan-si.  Es  wurde  594  von  Tsin  vernichtet 
nach  Tso-schi  Siuen-kung  a.  15  (auch  im  I-sse  B.  58  f.  2), 
S.  ß.  17  S.  53,  vgl.  297  f-  und  Sse-ki  110  f.  4.  Tsching- 
kuug  a.  13  f.  20  v.  Die  Gemahlin  Ying-ni's,  des  Fürsten 
dieser  Lu,  war  die  ältere  Schwester  des  Fürsten  von  Tsin. 
Fung-shu  führte  die  Regierung  und  tödtete  sie,  verletzte 
auch  das  Auge  des  Fürsten  von  Lu.  Der  Fürst  von  Tsin 
wollte  ihn  angreifen.  Alle  Grossen  (Ta-fu)jj  des  Reiches 
sprachen:  „Es  darf  nicht  sein;  Fung-shu  hat  3  vorzügliche 
Gaben;  wir  müssen  warten  auf  den  nachfolgenden  (talent- 
losen) Menschen."  Pe-thsung  aber  sprach:  Man  muss  ihn 
angreifen,  er  hat  eine  fünffache  Schuld.  Sind  seiner  Gaben 
auch  viele,  was  könnten  sie  wohl  wieder  gut  machen? 
1.  Opfert  er  nicht  (den  Göttern) ;  2.  hat  er  Freude  am  Wein; 
3.  verstiess  er  den  Minister  Tschung-tschang  und  entriss  das 
Land  der  Familie  Li;  4.  handelte  er  grausam  gegen  unsere 
Pe-ki,  die  Schwester  des  Fürsten  von  Tsin  und  -5.  verletzte 
er  das  Auge  des  Landesherrn.  Der  Fürst  von  Tsin  folgte 
ihm.  Im  6.  Monate  am  Tage  Kuei-mao  schlug  Tsin  die 
rothen  Ti  in  Kio-liang;  am  Tage  Siu-hai  vernichtete  er 
Lu.  Fung-shu  floh  nach  Wei,  er  wurde  aber  ausgeliefert 
und  von  Tsin's  Leuten  getödtet;  s.  Siuen-kung  a.  16  f.  23. 
I-sse  B.  58  nach  Tso-schi  Wen-kung  a.  11  mit  den  Com- 
mentaren. 

Ein  anderer  Stamm  der  rothen  Ti  waren  die  Tsiang 
Kao-yu  nach  Tso-schi  Tschirg-kung  a.  3,  auch  im  I-sse  58 
f.  3,  die  637  von  den  Thi  (anders  geschrieben  s.  S.  452)  be- 
kämpft wurden.  Ihre  Herrscher  gehörten  zur  Familie  Ui.  Sie 
fingen  die  2  Töchter  Scho-ui  und  Ki-ui.  Die  ältere  heirathete 
Tschung-eul  (von  Tsin)  und  er  erhielt  von  ihr  2  Söhne,  den 
Pe-yeu  und  Scho-lieu.    Die  jüngere  gab  er  Tschao-tschuei.6) 

G)  Nach  Tso-schi  Hi-kung  a.  23,  S.  B.  14  p.  462  und  Sse-ki  43 
f.  23,  39,  f.  17,  v.,  S.  B.  43  S.  104  und  Pfizmaiers  Geschichte  von  Tschao 
S.  5. 


466        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Von  dem  bekam  sie  einen  Sohn  Tun.  Als  der  Prinz  Tschung- 
eul  nach  Thsi  reiste,  sagte  er  zu  Ki-ui:  Warte  auf  mich 
25  Jahre,  wenn  ich  dann  nicht  zurück  bin,  magst  du  dich 
anderweitig  vermählen.  Sie  lachte  und  sagte:  Ich  bin  schon 
25  Jahre  alt  und  da  käme  ich  zum  Holze.  Ich  bitte  auf 
dich  warten  zu  dürfen.  Tschung-eul  blieb  bei  den  Nordbar- 
baren 12  Jahre  und  zog  darauf  weiter.  Als  er  dann  später 
zur  Regierung  gelangte,  schickten  die  Barbaren  ihm  die 
Scho-ui,  behielten  aber  seine  2  Söhne. 

Unter  Hi  a.  24  (634)  im  Monate,  im  Sommer  fielen 
die  Ti  in  Tschhing  ein,  und  nahmen  Li  nach  Tso-schi 
p.  192.  Der  Kaiser,  in  Streit  mit  Tsching,  betrachtete  das 
als  einen  ihm  geleisteten  Dienst  und  dankbar  dafür  zu 
sein,  dachte  er  die  Tochter  ihres  Häuptling's  zu  seiner 
Kaiserin  zu  machen.  Fu-schin  rieth  das  nicht  zu  thun. 
„Dein  Diener  hörte,  der  Belohner  wird  ihrer  überdrüssig  und 
der  Empfänger  ist  nicht  befriedigt.  Die  Ti  sind  meist  be- 
gehrlich und  Eure  Majestät  muss  nach  ihrem  Willen  dann 
ihnen  dienen.  Es  ist  die  Natur  der  Frauen  in  ihren  Be- 
gehren gränzenlos  zu  sein  und  ihre  Rache  hat  kein  Ende. 
Die  Ti  werden  sicher  Eur.  Majestät  Sorge  sein;"  aber  der 
Kaiser  hörte  nicht  auf  ihn. 

Vor  der  Zeit  war  Fürst  Tslihao  von  Kan  (des  Kaisers 
Bruder  Tai)  der  Favorit  der  Kaiserin  Hoei  gewesen ,  und 
die  wünschte,  dass  er  den  Thron  besteige.  Sie  starb  aber 
ehe  sie  des  sicher  war  und  Tschhao  floh  nach  Thsi.  Kaiser 
Siang  restaurirte  ihn  (im  22.  Jahre)  und  jetzt  hatte  er  Um- 
gang mit  der  Wei  (des  Kaisers  Frau  aus  den  Ti),  die  der 
Kaiser  darauf  degradirte.  Thui-scho  und  der  Beamte  Thao 
sagten :  wir  veranlassten  die  Verwendung  der  Ti  und  ihre 
Rache  wird  uns  treffen.  Zufolge  dessen  erhoben  sie  Thai* 
scho  (Tschhao)  und  griffen  den  Kaiser  mit  einem  Heere 
der  Ti  an.  Seine  Garden  wünschten,  dass  er  ihnen  Wider- 
stand leiste :  aber  der  Kaiser  sagte :  was  wird  meines  Vater's 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  467 

Kaiserin  von  mir  sagen?  besser  dass  die  Staaten  Mass- 
regeln für  diesen  Fall  treffen.  Er  verliess  darauf  die 
Hauptstadt  und  ging  nach  Khan-than  von  wo  das  Volk 
ihn  zurückbrachte.  Im  Herbste  unterstützten  Thui  Scho 
und  Thao-tseu,  Thai  Scho,  drangen  mit  einem  Heere  der 
Ti  in  Ts>cheu  ein,  brachten  dem  kaiserlichen  Heere  eine 
grosse  Niederlage  bei,  nahmen  Ki-fu,  den  Herzog  von 
Tscheu  und  die  Earls  von  Yuan  und  Mao  und  Fu-schin  ge- 
gefangen. Der  Kaiser  begab  sich  nach  Tschhing  und  re- 
sidirte  in  Fan,  während  Thai-scho  und  die  Frau  Wei  in 
Wen  residirten. 

A.  627  in  Hi's  31.  Jahre  griffen  die  Ti  Wei  wieder  an 
und  nöthigten  es,  seine  Hauptstadt  nochmals  zu  wechseln. 
Sie  belagerten  nach  dem  Tschhün-Thsieu  p.  218  im  8ten 
Monate  die  Hauptstadt  von  Wei  Tshu-khieu,  das  im  12ten 
Monate  seine  Hauptstadt  nach  Te-khieu  in  Khai-tscheu  im 
Departmente  Ta-ming  verlegte.  Nach  Tso-schi  p.  219  be- 
fragte der  Fürst  von  Wei  wegen  Te-khieu  die  Schildkröten- 
Schale  und  die  besagte:  sein  Haus  solle  300  Jahre  da 
wohnen. 

626  machte  Wei  einen  Einfall  in  das  Gebiet  der  Ti; 
sie  baten  um  Frieden,  und  schlössen  mit  ihm  einen  Vertrag 
nach  Tso-schi  p.  220  und  Hessen  es  unbelästigt  bis  Wen 
a.  13  (612),  wo  sie  einen  Einfall  in  Wei  nach  dem  Tschhün- 
thsieu  p.   263  machten. 

Auch  ihre  Einfälle  in  Thsi  setzten  die  Ti  fort  und 
griffen  Lu  und  Sung  an  trotz  einer  Niederlage,  welche  Tsin 
im  letzten  Jahre  von  Hi  626  ihnen  beibrachte.  Sie  hatten 
nach  Tso-schi  die  Trauer  in  Tsin  benutzt.  Meu-tseu  schlug 
sie  im  8.  Monate  und  Kio-Kiue  nahm  den  Fürsten  der 
weissen  Ti  gefangen.  Sien-tschin  sagte  zu  sich  selbst: 
,,als  ein  gewöhnlicher  Mann  liess  ich  meine  Gefühle  vor 
meinem  Fürsten  aus.  (Er  hatte  vor  ihm  ausgespuckt),  ich 
wurde  nicht  bestraft,    aber   muss   ich   mich  nicht  selbst  be- 


468  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 


' 


strafen?  nahm  seinen  Helm  ab,  drang  in  das  Heer  der  Ti 
ein  und  starb.  Die  Ti  drehten  seinen  Kopf  um  und  er  sah 
aus  als  ob  er  noch  lebte.  (Wir  übergehen  die  Belohnungen, 
welche  der  Fürst  von  Wei  an  seine  verschiedenen  Heer- 
führer ertheilte).  Der  Sse-ki  B.  110  f.  3  v.  weicht  ab. 
Die  Jung  und  Ti  kamen  nach  ihm  bis  zur  Stadt  Loy 
griffen  Siang-wang  an  und  der  floh  in  Tschhing's  Stadt 
Sse.  Er  wollte  Tschhing  angreifen,  heirathete  daher  eine 
Frau  der  Jung  und  Ti  uud  machte  sie  zur  Fürstin.  Mit 
ihren  Waffen  griff  er  Tschhing  an,  verliess  und  verstiess  dann 
aber  die  Ti-heu.  Diese  zürnte  und  Siang-wang's  Stiefmutter 
sagte:  Die  Kaiserin  Hoei  hat  einen  Sohn  Tseu-ti,  den 
wünsche  ich  einzusetzen.  Auf  dieses  hin  verband  sie  sich 
mit  der  Ti  heu  Sohn  Tai.  Sie  öffneten  den  Jung  und  Ti 
das  Thor,  dass  sie  eindringen  konnten,  schlugen  den  Kaiser 
und  setzten  Tseu-ti  als  Kaiser  ein.  Auf  dieses  hin  wohnteu 
einige  Jung  und  Ti  in  Lo-huen,  zwischen  Tshin  und  Tsin. 
Im  Osten  kamen  sie  bis  Wei,  drangen  plündernd  ein  und 
beraubten  grausam  das  Reich  der  Mitte,  das  sehr  elend 
war.  Daher  sangen  die  Liedermänner:  die  Jung  und  Ti 
griffen  die  Hien-yü  an  und  kamen  bis  Thai-yuen  auf  Wagen 
und  befestigten  So-fang.  Der  Kaiser  Siang-wang  wohnte 
draussen  4  Jahre. 

527  bekriegte  Tsin  ein  anderes  Reich  der  Nordbarbaren 
—  nach  Legge  p.  121  der  weissen  Ti  —  Tschung-schanoder 
Sien-yü  nach  Tso-schi  Tschao-kung  a.  15,  f.  3,  S.  B.  25 
S.  65  und  belagerte  Ku,  eine  ihrer  Städte.  Wie  Siün-wu 
durch  Verrath  nicht  in  den  Besitz  der  Stadt  kommen  wollte, 
habe  ich  in  meiner  Abh. :  Das  Kriegswesen  der  alten  Chinesen 
München  a.  d.  S.  ß.  1873  No.  3  S.  328  f.  schon  erzählt. 

Tschung-schan  (der  mittlere  Berg),  ein  barbarisches 
Reich  der  Sien-yü,  war  505  noch  nicht  unterworfen  nach 
Tso-schi  Ting-kung  a.  4  f.  6,  W.  S.  B.  27  S.  116.  Unter 
Tschao-lie-heu   a.    1    schlug    Wen-heu    Tschung-schan    nach 


Flath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        469 

Sse-ki  B.  43  f.  16.  Es  hatte  500  Li  im  Umfange.  Tschhao 
verschlang  es  nach  Sse-ki  B.  79  f.  8,  W.  S.  B.  30  S.  240 
unter  Lu  Tschhao-kung  a.  15. 

Nach  Tso-tschuen  Wen-kunga.  11  (615),  auch  im  I-sse  58 
f.  1,  fielen  die  Seu-men,  (eine  Tatarenhorde  im  Norden),  in 
Thsi  ein  und  drangen  gegen  uns  vor.  Kung-Po  sandte  Scho- 
sün.  Im  Herbste,  im  10.  Monate  am  Tage  Kia-wu  schlug 
er  die  Ti  in  Han-hien  (in  Wei),  fing  und  schlug  einen 
langen  Ti  (Tschang  Ti),  traf  seinen  Schlund  mit  einer 
Lanze,  tödtete  ihn  und  begrub  seinen  Kopf  an  Tseu-keu's 
Thor  nach  Befehl. 

Siuen-pe  begann  zur  Zeit  von  Sung  Wu-kung ;  die  Seu- 
men  griffen  Sung  an;  der  Sse-tu  Hoang-fu  führte  ein  Heer 
gegen  sie,  schlug  sie  in  Tschang-khieu  und  verfolgte  die 
langen  Ti ;  Hoang-fu's  2  Söhne  blieben  (starben.) 

Die  Seu-men  griff  unter  Tshi  Siang-kung  Thsi's  Königs- 
sohn Tsching-fu  an  und  verfolgte  sie.  Yung-iü,  sein  jüngerer 
Bruder,  begrub  seinen  Kopf  am  Nordthore  von  Tscheu's 
Hauptstadt.  Im  Herbste  griffen  nach  Tso-tschuen  p.  299  unter 
Siuen-kung  a.  6  (601)  die  rothen  Ti  Tsin  an  und  belagerten 
es  in  Hing-khieu  ein.  Tsin-heu  wünschte  sie  mitten  auf 
dem  Wege  anzugreifen. 

A.  7  (600)  fielen  die  rothen  Ti  wieder  in  Tsin  ein  und 
nahmen  Korn  weg. 

Im  11.  Jahre  unterwarfen  die  rothen  Ti  sich  Tsin. 

Im  Herbste  versammelte  Tsuan-han  die  Menge  der 
unterworfenen  Ti.  Als  dies  ging,  wollten  alle  Ta-fu  die  Ti 
berufen.  Ki-tsching-tseu  aber  sagte:  Ich  habe  gehört :  „Ohne 
Tugend  ist  nichts  so  wie  Fleiss,  wozu  Menschen  suchen  ohne 
Fleiss?  Kann  man  Fleiss  haben,  so  folgen  die  Verbun- 
denen ihm." 

Der  Heu  von  Tsin  belohnte  Huang-tseu,  den  Beamten 
der  Ti,  mit  tausend  Häusern  und  auch  den  Sse-pe  mit  dem 
[1874,  4.  Phil.  bist.  Cl.]  32 


470        Sitzung  der  philos.-phildl.  Classe  vom  6.  Juni  1874, 

Hien  Kua-yen  und  sagte:  dass  ich  das  Land  der  Ti  eroberte, 
ist  das  Verdienst  des  Tseu. 

Im  16.  Jahre,  im  Frühlinge,  führte  Tsin's  Sse  Hoei 
ein  Heer  und  vernichtete  die  rothen  Ti.  —  Nach  Mitthei- 
lung der  Stellen  aus  Tscho-schi,  Lie-tseu  etc.  schliesst  der 
I-sse:  Die  Ti  waren  seit  der  Zeit  des  Tschhün-thsieu  (der  Chronik 
des  Confucius)  und  die  folgenden  Generationen  über  die 
Qual  aller  Reiche.  Im  Osten  stiessen  sie  an  Thsi,  im  Süden 
an  Tschhing,  im  Süd-Osten  unterdrückten  sie  Wei,  im  Süd- 
Westen  gränzten  sie  an  Tsin.  Wir  übergehen  das  Folgende, 
das  nur  ein  Resume  der  Geschichte  ist. 

Die  Thi;  anders  geschrieben,  mit  Clef  124  Flügel  und 
darunter  Cl.  172,  ein  kurzgeschwänzter  Vogel,  sollen  ein 
Stamm  der  obigen  Nordbarbaren  Ti  gewesen  sein. 

Unter  dem  letzten  Kaiser  der  2.  Dynastie  Schang  Ti-sin 
(seit  1101)  a.  17  griff  der  Si-pe  (Wen-wang)  die  Ti  nach 
dem  Bambu-Buche  an  in  Yen-ngan  (fu  in  Schan-si,  nach 
Biot  Journal  Asiat.  12  p.  575  im  Norden,  Legge  sagt, 
westlich  vom  Ho). 

Unter  dem  5.  Kaiser  der  3.  Dynastie  Mu-wang  (seit  961) 
a.  14,  im  9.  Monate  fielen  die  Ti-Männer  in  Pi  ein. 

Unter  Y-wang,  (seit  894)  a.  13  ebenso  in  Khi  (Fung- 
thsien-fu  in  Schen-si  nach  Biot),  beides  nach  dem  Bambu- 
Buche. 

Als  Tsching  Huan-kung  (806 — 770)  Sse-tu  des  Kaisers 
war,  hatte  er  im  Norden  das  Reich  der  Ti. 

661  greifen  diese  Ti  Wei  an  nach  Sse-ki  37  f.  5  v. 

655  flüchtete  Tschung-eul  vor  seinem  Vater  zu  diesen  Ti 
nach  Sse-ki  B.  39  f.  9  v.,  W.  S.  B.  2.  43  S.  90.  Im  Norden 
gränzte  Tsin  an  die  Ti.  Tsin  bekriegte  die  Ti  652.  Diese 
schlugen  es  aber  bei  Nie-sang  nach  f.  11,  p.  92.  Unter  Tsin 
Hien-kung  a.  23  (653)  war  I-u  zu  den  Ti  geflohen;  Tsin 
schlug  sie  und  sie  fürchteten  Tsin  nach  Sse-ki  B.  39 
f.  10  v. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  471 

648  griffen  die  Jung  und  Ti  mit  Tai,  dem  Jüngern  Bruder, 
Tscheu  Siang-wang's  diesen  an;  Huan-kung  von  Thsi  schickte 
Kuang-tschung,  Tscheu  zu  beruhigen  nach  Sse-ki  B.  32  f.  12  v., 
S.  B.  40,  S.  667.    Der  Sse-ki  5  f.  12  v.  nennt  nur  die  Ti. 

627  unter  Tschao-kung  von  Lu  fallen  die  Ti  in  Thsi 
ein  nach  Sse-ki  B.  32  f.  15,  S.  B.  40  S.  641. 

616  unter  \Ven-kung  von  Lu,  schlägt  er  die  Ti,  die  in 
Lu  eingedrungen;  ein  langer  (Tschang,  Riese)  wird  erlegt 
nach  Sse-ki  ß.  33,  f.  14  v.  vgl.  Pfizmeier's  Lu  Tschhao-kung 
S.  33. 

606  unter  Hoei-kung  von  Thsi,  kamen  solche  lange  Ti 
nach  Thsi.  Der  Königssohn  Tsching-fu  tödtete  sie  und  be- 
grub ihre  Leichen  vor  dem  Nordthore  der  Hauptstadt  nach 
Sse-ki  32  f.  15  v.,  'S.  B.  40  S.  673.  Der  Ko-leang  Tschuen 
übertreibt  offenbar.  Ihr  Körper  war  nach  ihm  9  Meu  gross ; 
schlug  man  einem  den  Kopf  ab  und  lud  ihn  auf  einen  Wagen, 
so  waren  die  Augenbraunen  auf  dem  Vorderlehn  (schi) 
sichtbar. 

596  wurde  Sien-ho,  der  General  der  Tsin,  geschlagen, 
fürchtete  hingerichtet  zu  werden,  flüchtete  zu  den  Ti  und 
berieth  mit  ihnen  einen  Angriff  auf  Tsin,  aber  entdeckt 
wurde  sein  Clan  ausgerottet  nach  Sse-ki  B.  39  f.  34  v., 
S.  B.  43  S.  135. 

580*  verabredete  Thsin  mit  den  Ti,  Tsin  anzugreifen, 
nach  Sse-ki  f.  36,  S.  B.  139.  Im  Sse-ki  B.  44  f.  17  v. 
sagt  Wu  zu  Wei-Wang:  „Thsin  hat  mit  dem  Jung  und  Ti 
gleiche  Sitten  (So),  es  hat  das  Herz  eines  Tigers  und  Wolfes.'* 

2.     Die  Ostbarbaren  I. 

Auch  sie  zerfielen  in  mehrere  Abtheilungen.  Der 
Tscheu-li  33  f.  1  hat  4  1,  der  Eul-ya  8,  am  häufigsten 
sind  9  I;  so  auch  im  Lün-iü  9,  13;  vgl.  Ma-tuan-lin  B.  324  f.  4. 

Unter  dem  8.  Kaiser  der  Hia  Fen  (seit  1832  v,  Chr.) 
im  3.  Jahre  kamen  die  9  I,  Dienste  zu  thun. 

32* 


472  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Unter  dem  9.  Kaiser  der  2.  Dynastie  Thai-meu  (seit  1474) 
A.  61  kamen  die  9  I  des  Ostens  zu  huldigen.  Im  Schu- 
king  im  Cap  Lu  -  ngao  551  heisst  es:  Nachdem  die 
2.  Dynastie  Schang  besiegt  und  der  Weg  für  die  9  I  und 
8  Man  offen  war,  brachten  die  westlichen  Liü  ihm  einen  Hund 
Ngao  dar.  Die  9  I  erwähnt  auch  der  Li-ki;  der  Kue-iü 
2,  15.  sagt:  Wu-wang  unterwarf  die  9  I  und  100  Po;  auch 
der  Sse-ki  B.  87  f.  3  v.,  S.  B.  31  S.  318  erwähnt  noch 
der  9  I  unter  Tsin  Hoei-Wang. 

Doch  finden  wir  nach  Legge  p.  130  im  Tschhün- 
thsieu  und  Tso-schi  nirgends  die  9  I  einzeln  genannt;  ihre 
Macht  war  damals  wohl  schon  gebrochen.  Einzeln  werden 
da  nur  4  genannt  1)  die  vom  Hoai-Flusse,  2)  die  Khiai, 
3)  die  Lai  und  4)  die  Kin-meu,  früher  noch  andere. 

Man  unterscheidet  die  Ost-  und  West-  I,  doch  wird  I 
auch  allgemeiner  für  Barbaren  überhaupt  gebraucht,  so 
Man-I  für  alle  Barbaren  im  Schu-king  Schün-tien  II,  1,  16, 
wie  I-Ti  im  Tschung-yung  Cap.  14.  Eigen  sagt  Meng-tseu 
IV  2,  1,  1.  (II,  8,  2,  1),  vgl.  III,  2,  IV,  9,  11:  Schün  ge- 
boren in  Tschu-fuug,  entfernt  nach  Fu-hia,  starb  in  Ming- 
thiao,  ein  Mann  der  Ostbarbaren  (Tung  I  tschi-jin-ye, 
Legge  gibt  es:  A  man  near  the  wild  tribes  of  the  east); 
Wen-wang  geboren  in  Tscheu  am  Berge  Khi-schan,  starb  in 
Pi-yng,  ein  Mann  der  Westbarbaren.  Meng-tseu  I,  2, 
11,  2  nach  Schu-king  IV,  2,  6  heisst  es:  Wandte  Thang 
das  Gesicht  nach  Osten,  ihn  in  Ordnung  zu  bringen,  so  zürn- 
ten die  WTest-I;  was  setzt  er  uns  nach.  Li-pu-wei  nennt 
den  Stifter  von  Thsi  in  Schan-tung  den  Vorsteher  der  öst- 
lichen I  (Tung-I-sse)  und  die  Tsin-iü  erwähnen  das  Reich 
Siang-meu,  der  Scholiast  sagt:  Ein  Reich  der  Ost-Ti. 
Nach  dem  Bambu-Buche  führt  Wu-wang  a.  12  am  Tage 
Sin-mao  (1049  v.  Chr.)  die  Vasallenfürsten  der  West-I,  Yn 
anzugreifen.  Sicherer  ist  die  Unterscheidung  nach 
geographischen  und  anderen  Namen. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  473 

Die  Thao-I,  auf  den  Inseln,  erwähnt  schon  der  Schu- 
king  im  Cap.  Yü-kung  III,  1,  43.  Sie  brachten  Kleider 
aus  Graszeug  dar.  Ihre  Körbe  enthielten  gewebte  und  ver- 
zierte Seidenzeuge,  ihre  Bündel  kleine  Orangen  und  Pume- 
loes,  die  begehrt  wurden  (dies  setzt  schon  eine  gewisse  Cul- 
tur  voraus).     letzt  über  die   einzelnen  Reiche  der  I: 

1.  Die  Ostbarbaren  am  Hoai-flusse  (Hoai-I). 
Nach  dem  Schu-king  Cap.  Yü-kung  III,  1,  5,  35  bringen  die 
Hoai-I  in  der  Provinz  Siü-tscheu  Austern  mit  Perlen  und  Fische 
dar.  Ihre  Körbe  haben  dunkelazurne  und  andere  Seidenstoffe. 
Sie  schifften  sich  ein  auf  dem  Hoai-  und  Sse-Flusse  und 
gelangten  so  in  den  (Hoang-)  ho  (dies  zeigt  schon  eine  ge- 
wisse Cultur.) 

Nach  dem  Bambu-Buche  bekriegt  der  5.  Kaiser  der 
Dynastie  Hia  Siang  (seit  1942  v.  Chr.)  a.   1  die  Hoai. 

Der  Schu-king  im  Cap.  Pe-tschi  V,  29,  1  (daraus  im 
Sse-ki  33  f.  7  v.)  enthält  einen  Erlass  von  Pe-khin  (dem 
Sohne  von  Tscheu-kung  von  Lu  f  1062):  „Hört  meinen  Be- 
fehl: Wir  gehen  zu  bestrafen  die  Hoai  und  die  Siü-Iung, 
die  zusammen  sich  erhoben  haben.  Seine  Leute  sollen  ihre 
Waffen  in  gutem  Stande  halten,  Panzer  und  Schilde,  Bo- 
gen und  Pfeile,  spitzen  ihre  Lanzen  und  Speere,  schärfen 
ihre  Schwerter;  Ochsen  und  Pferde  aus  den  Ställen  heraus 
lassen,  geröstetes  Korn  bereit  halten  und  bei  Strafe  für 
Fourage  sorgen." 

Nach  dem  Bambu-Buche  drangen  unter  Kaiser  Tsching- 
wang  (seit  1043)  a.  2  die  Männer  von  Yen  (in  Schan-tung 
nach  Biot)  und  von  Siü  (in  Siü-tscheu  in  Nord-Kiang-nan 
34°  30',  d.  Br.)  mit  den  Hoai  in  Pi  ein  und  fielen  ab.  Im 
4.  Jahre  griff  des  Kaisers  Heer  die  Hoai  an  und  drang  in 
Jen  ein,  vgl.  Sse-ki  4  f.  13  v.  Nach  der  Vorrede  zum 
Schu-king  §  51  p.  11  hatte  nachdem  Tsching-wang  im 
Osten    die   Hoai    geschlagen    und  Yen    vernichtet    hatte,  er 


474        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

das  verlorne  Cap.  des  Schu-king  Tsching-wang  tsching 
verfasst. 

Unter  Li-wang  (seit  852)  a.  3  fallen  die  Hoai-I  in 
Ho-nan  ein.  Der  Kaiser  hiess  Tschhang-fu ,  Kung  von  Ke 
(Kwoh),  sie  angreifen,  siegte  aber  nach  dem  Bambu-Buche  nicht. 

Unter  dem  11.  Kaiser  Siuen-wang  (seit  826)  im  6.  Jahre 
führte  Mo-kung  von  Schao  sein  Heer  gegen  die  Hoai-I, 
Hoang-fu  und  Heu-fu  folgten.  Der  Kaiser  griff  die  Siü-Jung 
an  und  lagerte  am  Hoai-flusse.  Zurückgekehrt  vom  Angriffe 
auf  die  Siü,  gab  er  Mo-kung  von  Schao  das  Mandat.  Die 
Hoai-I  wohnten  nach  den  Scholiasten  in  Hoai-ngan-fu  in 
Kiang-nan.  Der  Schi-king  III,  3,  8  feiert  den  Feldzug  gegen 
die  Hoai.  IV,  2,  3  feiert  auch  einen  Sieg  Lu's  über  die  Hoai-I. 
Sie  unterwarfen  sich  nach  Vers  5.  V.  7  heisst  es:  ,,Er  hat 
unterworfen  die  Hoai-I.  Entwerfet  nur  sicher  eure  Pläne 
und  alle  Hoai-I  werden  endlich  gefangen.  Die  Hoai-I 
werden  kommen,  darzubringen  ihre  Kostbarkeiten,  grosse 
Schildkröten,  Elephantenzähne,  viel  (?)  Geld  und  Metalle 
des  Südens." 

Nach  515  schlössen  die  Hoai-I  sich  Ki-sün  gegen 
Tschhao-kung  von  Lu  an  nach  Tso-schi  Tchhao-kung  A.  27 
f.  43,  S.  B.  25  S.   106  und  bei  Legge  V,  2  p.  723. 

In  der  Periode  des  Tschhün-thsieu  waren  die  Hoai-I  nach 
Legge  Prol.  p.  130  die  einzigen  zahlreichen  und  mächtigen  I. 
Nach  Tso-schi  bedrängten  sie  der  Zeit  Khi :  sie  müssen 
also  weit  nach  Norden  vom  Hoai,  ihrem  eigentlichen  Sitze, 
vorgedrungen  sein.  Nach  mehr  als  100  Jahren  begegnen 
wir  ihnen  dann  erst  wieder;  unter  Tschhao  a.  4  (536) 
waren  ihre  Häuptlinge  mit  auf  der  1.  Versammlung  der 
Staaten,  die  Thsu  nach  Schin  berief,  unter  dessen  Leitung 
sie  in  U  einfielen,  s.  den  Tschhün-thsieu  bei  Legge  p.  595 
und  598;  zuletzt  fielen  alle  diese  Stämme  in  die  Gewalt  von  Tshu. 

2.  Die  Lai-I  in  Tsing-tscheu  in  Lai-tscheu  in  Schan- 
tung,  das  von  ihnen  noch  den  Namen  hat.     Nach  Schu-king 


Plath:  Fremde  barbarisch*  Stämme  im  alten  China.  475 

Cap.  Yü-kung  III,  1,  26  wohnten  sie  in  der  3.  Provinz  Tshing- 
tscheu.  Sie  zogen  Vieh;  ihre  Körbe  enthielten  Seide  vom 
Bergmaulbeerbaume.  Unter  Tscheu  Wu-wang  griff  der  Lai- 
heu Thai-kung  von  Thsi  an  nach  Sse-ki  B.  32  f.  4,  S. 
B.  40  S.  650. 

490  v.  Chr.  wurden  die  Lai-I  Thsi  unterworfen  nach 
Sse-ki  32  f.  23,  S.  B.  40  S.  488. 

3.  Die  Yü-I  in  derselben  Provinz  Thsing-tscheu  (im 
heutigen  Teng-tscheu-fu  in  Schan-tung.)  Im  Schu-king  III, 
1,  22  heisst  es:  Die  Grenzen  der  Yü-I  wurden  bestimmt. 
Die  Flüsse  Wei  und  Tse  erhielten  ihren  Lauf  (der  erste  floss 
westlich  von  Lai-tscheu-fu).  Nach  Schu-king  I,  1,  4  im 
Cap.  Yao-tien  schickt  Yao  die  Astronomen  Hi  und  Ho  in 
das  glänzende  Thal  der  Yü-I,  den  Aufgang  der  Sonne  im 
äusersten  Osten  zu  beobachten. 

Legge Prol.  p.  130  hat  4)  die  Kiai  I  in  Kiao-tscheu  im 
Departement  von  Lai-tscheu.  Unter  Hi  a.  29  kam  Ko-lu  von 
Kiai  im  1.  und  5.  Monate  2  mal  an  den  Hof  von  Lu.  Im 
folgenden  Jahre  im  6.  Monate  machten  sie  einen  Einfall  in 
Siao,  das  von  Sung  abhing.  Sie  wurden  wohl  von  Thsi  oder 
Lu  verschlungen  nach  Legge  Prol.  p.  131.  Siao  war  ein  Fu- 
yung  von  Sung.  Der  Name  hat  sich  erhalten  im  Distrikte 
von  Siao  in  Siü-tscheu  in  Kiang-su  p.  217.  5)  Kin-meu 
war  die  Hauptstadt  eines  kleinen  Stammes  von  I  im  Distr. 
I-schui  Depart.  I-tscheu.  Seine  Einnahme  durch  Lu  unter 
Siuen  a.  9  im  5.  Monate  erwähnt  der  Tschhün-thsieu  p.  304. 
Es  war  dann  die  östlichste  Stadt  von  Lu  nach  Legge  p.  131. 

6)  Die  Lan-I,  in  Lan-tscheu  im  Schen-si,  (der  Lan 
ist  ein  kleiner  Zufluss  des  Lo  nach  Biot  Journ.  Asiat.  12 
p.  567). 

Der  10.  Kaiser  der  2.  Dynastie  Yn  Tschung-ting 
(seit  1399)  bekriegte  A.  6  die  Lan-I  nach  dem  Bambu-Buche. 
Der  Heu  Han-schu  im  I-sse  B.  16  f.  1  v.  sagt:  Zu  Tschung- 


476         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

ting's  Zeit  waren  die  Lan-I  feindlich  gesinnt;   einige  unter- 
warfen sich,  einige  fielen  ab  über  300  Jahre. 

Unter  dem  12.  Kaiser  der  2  D.  Yn  Ho-tan-kia  (seit  1380) 
im  4.  Jahre  bekriegte  er  die  Lan-I. 

7)  Die  Khiuen-I.  Unter  dem  letzten  Kaiser  der 
Hia  Kie  A  3  drangen  die  Khiuen-I  bis  zum  Berge  Khi  vor 
und  fielen  ab.  (Nach  Biot  ist  der  Khi  in  Fung-tsiang-fu  in 
Schen-si).  Der  Si-pe  Tschang  schlug  sie  nach  Sse-ki  B.  110 
f.  2  v. 

Der  10.  Kaiser  der  Dynastie  Hia  Sie  (seit  1729)  a.  21 
ertheilte  im  21.  Jahre  ein  Mandat  (Ming,  Würde)  den  Kiuen-I, 
den  weissen  (Pe-I) ,  den  dunkeln  (Hiuen-I) ,  den  Wind  I 
(Fung-I),  den  rothen  I  (Tschi-I)  und  den  gelben  I  (Hoang*I). 
Der  5  Kaiser  der  Hia  Siang  (seit  1942)  unternahm  a.  2 
eine  Strafexpedition  gegen  die  Fung-I  und  Hoang-I  (nach  Biot 
an  der  Ostgrenze  an  Ho-nan  und  Kiang-nan,  dem  Thale  des 
Hoai  zu). 

8)  Die  Kuen-I.  Unter  dem  29.  Kaiser  der  2.  Dynastie 
Ti-I  (seit  1110)  a.  3  befahl  er  dem  Nan-tschung  im  Westen, 
den  Kuen  zu  widerstehen  und  So-fang^  (in  Ning-hia  in 
Schen-si  nach  Biot)  mit  Mauern  zu  umgeben. 

Unter  dem  30.  Kaiser  der  D.  Yn  Ti-sin  (seit  1101)  a.  34 
im  Winter  im  12  Monat  überfielen  die  Kuen-I  Tscheu  nach 
dem  Bambu-Buche.  Im  36.  Jahre  im  Frühlinge  im  ersten 
Monate  kürten  die  Vasalienfürsten  bei  Tscheu  und  griffen 
dann  die  Kuen-I  an.  Meng-tseu  I,  2,  3,  1  sagt:  „Nur  der 
Humane  kann  mit  einem  grossen  Reiche  dienen  einem  kleinen; 
daher  diente  Wen-wang  den  Kuen-I." 

Unter  Mu-wang  A  15  kam  Lieu  Kuen-schi  und  machte 
seine  Aufwartung. 

Noch  kommen  früher  verschiedene  Stäm me  einzeln 
vor.  Unter  dem  5.  Hia  Siang  (seit  1942)  kamen  nach  dem 
Bambu-Buche  a.  7  die  Jü-I  sich  zu  unterwerfen;  ebenso 
unter  dem  6.  Schao-Khang  (seit  1874)  A.  2  die  Fang-I. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  477 

Unter  den  8.  Fen  (seit  1832)  A.  16  focht  Yung,  der 
Pe  von  Lo  mit  dem  Pe  von  Ho  gegen  die  Fung-I.7) 

Unter  dem  16.  Hia  Fa  (seit  1595)  kamen  a.  1  alle  I 
an  des  Königs  Thor  zu  huldigen.  Es  war  dann  eine  Zu- 
sammenkunft am  oberen  Sumpfe.  Alle  I  traten  ein  und 
tanzten. 

Unter  den  Ostbarbaren  lag  das  kleine  Reich  Khiü  mit 
3  schlecht  befestigten  Städten,  das  von  Thsu  580  v.  Chr. 
erobert  wurde  nach  Tso-schi  Tsching-kung  A.  8  f.  15  y.y 
S.  B.  17  P.  282  Legge  p.  367. 

3)    Die  Westbarbaren,  Jung, 

zu  Anfange  des  Tschhün-thsieu  im  Distrikte  Tshao,  Depart, 

Tshao-tscheu  in  der  Nachbarschaft  von  Lu. 

Die  allgemeine  Charakteristik  der  Jung  nach  Li-ki 
Wang-tschi  5  f.  21  ist  schon  zu  Anfange  angegeben,  Sie 
flochten  ihre  Haare,  kleideten  sich  in  rohe  Felle  und  hatten 
kein  Korn  zur  Speise,  waren  also  wohl  Nomaden.  Vgl. 
Wu-tschung  bei  Tso-schi  Siang-kung  a.  4  f.  6,  S.  B.  18, 
S.  125.  Tschhao-kung  a.  9  f.  49,  S.  B.  21,  S.  185.  In 
Thsin  lebten  nach  Art  der  Jung  Männer  und  Frauen  unge- 
trennt bis  Hiao-kung  (350)  nach  Sse-ki  B.  68  f.  7  v., 
S.  B.  S.  105  und  108.  Es  herrschten  da  vor  dem  Fürsten 
von  Schang  340  v.  Chr.  die  Lehren  der  Jung  und  Ti; 
zwischen  Vater  und  Sohn  war  kein  Unterschied ;  sie  bewohn- 
ten gemeinsam  das  innere  Haus.  Ich  habe  da,  sagte  er, 
die  Einrichtung  verändert;  Tempel  und  Paläste  gebaut,  wie 
in  Lu  und  Wei. 

Die  civilisirten  Jung  zerfielen  auch  in  mehrere  Herr- 
schaften. Der  Tscheu-li  33,  1  erwähnt  5  im  Westen  ,  der 
Li-ki  Cap.  Ming-tang-wei  c.  14  :  6  ;  Thsin  Mo-kung  hatte  624 
8  Jung  unterworfen   nach  Sse-ki  58  f.  8,  S.  B.  29  S.   110. 

7)  Anders  geschrieben  als  obige  Fung-I  mit  Cl.  182  die  Wind-I, 
dieses  mit  Cl.  15  Eiszapfen  und  Cl.  181  Pferd. 


478         Sitzung  der  philos-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874, 

Man  unterscheidet  mehrere  Arten;  vielfach  werden  sie 
auch  nach  Oertlichkeiten  bezeichnet;  öfters  aber  auch  ohne 
besondere  Angabe  nur  als  Jung. 

Nach  dem  Bambu-Buche  schlägt  unter  Yao  a.  76  der 
Sse-kung  Yü  die  Thsao-  und  Wei-Jung.  (Wei  ist  im  Schi- 
king I,  9  in  Ping-yang-fu  in  Schan-si,  später  unter  Tsin  nach 
Biot  in  Schan-tung  34°  56',  Thsao  36°,  25'). 

Unter  Kaiser  Kie  der  1.  Dynastie  Hia  a.  6  (1583) 
huldigen  nach  dem  Bambu-Buche  die  Jung  am  Berge  Khi. 

Unter  Ping-wang  a.  18  schlug  Wen-kung  von  Tshin 
diese  Jung  in  die  Flucht  und  gab  dem  Kaiser  das  Land 
östlich  vom  Berge  Khi  zurück.  Wu-ting  a.  32  (1241)  greift 
das  Land  der  Kuei-Jung  an. 

Unter  YnWu-i  a.  35  (1123)  schlug  der  Kung  von  Tscheu 
Ki-li  die Ku ei- Jung,  d.i. Dämonen-Jung,  (westlich  vom  Lo- 
Flussein  Schen-si)  zu  Schao-i  (wo  der  Lo  in  den  Hoang-ho  fällt). 

Unter  Wen-ting  a.  2  (1122)  griff  der  Kung  von  Tscheu 
Ki-li  die  Jung  von  Yen-king,  nach  Legge  in  Tsing- 
lo  in  Yn,  in  Schan-si  an,  wurde  aber  geschlagen  in  Fu-fung  in 
Schen-si  34°  20'  (n.  Br.),  ebenso  a.  4  (1120)  griff  derselbe 
die  Yü-wu-Jung  (in  Nord-Schen-si)  an  und  besiegte  sie  wie 
a.  7  (1117),  die  Tschhi-hu  Jung  und  a.  11  die  Y-thu-Jung, 
besiegte  sie,  fing  ihre  Ta-fu  und  kam  mit  ihnen  an  den 
Hof,  sie  darzubringen.  Unter  Tscheu  Tsching-wang  a.  30 
huldigen  ihm  die  Li-Jung.     Die   Deutung   ist  verschieden. 

Zur  Zeit  Pe-kin's  von  Lu  erregten  die  Hoai-I  und  Siü- 
Jung  Unruhen.  Er  schlägt  sie  nach  Schu-king  C.  Mi-schi 
V,  29  und  Sse-ki  33  f  7  v.  Nach  dem  Bambu-Buche  fallen 
unter  Tscheu  Tsching-wang  a.  2  (1042)  Leute  aus  Yen  (in  Ost- 
Schan-tung),  Leute  aus  Siü  und  die  Fremden  vom  Hoaiflusse 
in  Pei  (in  Nord-Kiang-nan  34°,  30',  1)  ein.  Siuen-wang  a.  6 
(821)  griff  in  Person  die  Siü- Jung  an.  Hoang-fu  und 
Heu-fu  folgten  dem  Kaiser  beim  Angriffe.  Man  lagerte  am 
Hoai-Flusse. 


Plaih:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  479 

a.  33  griff  der  kaiserliche  General  die  Jung  ohne  Er- 
folg an. 

a.  38  (789)  griff  der  Kaiser  mit  dem  Heu  von  Tsin 
die  Tiao-Jung  und  Pen- Jung  an,  wird  aber  geschlagen. 

Unter  Kaiser  Yeu-wang  a.  5  (775)  hiess  er  Pe-schi  die 
Jung"  von  Lo-thsi  angreifen;  dieser  wurde  aber  in  die 
Flucht  geschlagen. 

648  griff  Kaiser  Siang-wang's  jüngerer  Bruder  Tai  mit 
<ien  Jung  und  Ti  Tscheu  an.  Thsi  kam  dem  Kaiser  zu 
Hülfe  nach  Sse-ki  4  f.  24,  32  f.  12  v.  und  Tso-schi  Tschuang 
a.  18  f.  vgl.  im  I-sse  B.  49;  Wang-tseu  Tai  tschi  loen, 
•d.  i.  die  Unruhen  des  Kaisersohnes  Tai. 

644  musste  wieder  mit  den  Jung  gekämpft  werden 
nach  Tso-schi  Tschhao-kung  a.  9  f.  49,  S.  B.  21  S.  185. 
Der  Fürst  Hoei  kehrte  zurück  aus  Thsin  und  verleitete  sie 
zum  Abzüge.  Er  liess  sie  die  Mitglieder  unserer  Familie  Ki 
bedrängen  und  in  unsere  Feldmarken  eindringen.  Wenn 
die  Westbarbaren  sich  im  Reiche  der  Mitte  festgesetzt  ha- 
ben, wessen  Schuld  ist  das?  sagt  der  Kaiser.  Heu-tsi  bepflanzte 
das  Reich,  jetzt  aber  herrschen  in  ihm  die  Westbarbaren  (die 

nur  Viehzucht  treiben). Liang-ping  und  Tschang-thi 

(zwei  Grosse  von  Tsin)  stellten  sich  an  die  Spitze  der  Yn- 
Jung  von  Lu-hoen  und  griffen  Yng,  (die  Stadt  der 
Tscheu)  an.  Yen-kia  von  Tsin  kam  ihr  zu  Hülfe.  Der 
Schi-king  IV,  2,  4,  5  lässt  Hi-kung  von  Lu  die  Jung  und 
Ti,  die  King  und  Schu  bekämpfen,  die  Hoai,  die  Man-  und 
Me  aber  sein  Bündniss  suchen. 

Legge  p.  293  nennt  die  Lo-huen  einen  Stamm  der 
kleinen  (siao)  Jung.  Ihr  Sitz  war  ursprünglich  in  Kan-su; 
unter  Lu  Hi-kung  a.  22  (636)  versetzten  Tsin  und  Tshin,  nach 
Tso-schi  p.  182  sie  nach  I-tschhuen,  nördlich  von  der  Distrikts- 
stadt Sung  im  Departement  Ho-nan;  diess  brachte  sie  in  den  Be- 
reich von  Tshu.  Sie  hiessen  auch  Yn-Jung.  Sie  cokettirten  nach 


480         Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Legge  Prol.  p.  124  mit  Tshu  und  Tsin.  Diess  führte  zu  ihrer 
endlichen  Vernichtung  unter  Lu  Tschhao  a.  17  (523). 
Der  Tschhün-thsieu  sagt  da  p.  667.  Im  achten  Monate 
führte  Siun-wu  von  Tsin  ein  Heer  und  vernichtete  die  Jung 
von  Lo-huen.  Tscho-schi  p.  668  erzählt:  Der  Fürst  von 
Tsin  sandte  Thu-khuai  nach  Tscheu ,  um  Erlaubniss  zu 
bitten ,  dem  Lo-Flusse  und  dem  San-thu-Hügel  opfern  zu 
dürfen.  Tschhang-Hoeng  sagte  zum  Viscount  vonLieu:  ,,die 
Haltung  unseres  Besuchers  zeigt  Wildheit;  es  handelt  sich 
nicht  um  das  Opfer,  sondern  wahrscheinlich  um  einen  An- 
griff auf  die  Jung.  Der  Häuptling  von  Lo-huen  ist  sehr 
befreundet  mit  Thsu ,  das  wird  der  Grund  sein;  Du  musst 
Vorbereitungen  dazu  treffen."  Demgemäss  ergingen  Befehle 
zu  Rüstungen  gegen  die  Jung. 

Im  9.  Monate  am  Tage  Ting-meu  führte  Siün-Wu  von 
Tsin  ein  Heer,  setzte  über  den  Ho  bei  der  Fürth  von  Ki 
und  liess  einen  Opferbeamten  erst  dem  Lo-Flusse  Opferthiere 
darbringen.  Das  Volk  von  Lo-huen  wusste  von  nichts  bis 
das  Heer  es  überfiel  und  am  Tage  Keng-wu  nahm  er  die 
Gelegenheit  wahr,  Lo-huen  auszurotten,  angeblich  wegen 
seiner  Abneigung  und  Anhänglichkeit  an  Tshu.  Ihr  Häupt- 
ling entfloh  nach  Tshu ,  die  Menge  nach  Kan-lo ,  wo  die 
Truppen  von  Tscheu  viele  fingen.  Siun-tseu  hatte  geträumt, 
dass  der  Fürst  Wen  Siün-wu  leite  und  ihm  Lo-huen  über- 
gäbe; in  Folge  dessen  machte  er  Mo-tseu  zum  Oberbefehls- 
haber und  brachte  seine  Gefangenen  im  Tempel  Wen-kung's  dar. 

Legge  p.  124  sagt:  Unter  Tschhao  a.  7  (533)  erschienen 
die  Yn-Jung  unter  dem  Befehle  eines  Officiers  von  Tsin  und 
es  wird  erwähnt,  wie  sie  das  Kaisergebiet  und  die  Ki- 
Staaten  seit  der  Entfernung  aus  ihren  ursprünglichen  Sitzen 
beunruhigt  hatten  (ich  finde  das  nicht). 

Unter  Tschhao  a.  22  (518),  im  Winter  im  10.  Monate, 
am  Tage  Ting-sse  führten  Tsi-Than  und  Siuen-Li  nach  Tso- 
schi  p.  694  die  Jung  von  Kieu-tscheu  mit  den  Truppen  von 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        481 

Tsiao ,  Hia ,  Wen  und  Yuen ,  den  Kaiser  in  seine  West- 
Hauptstadt  Kia-jo  wieder  einzusetzen.  Am  Tage  Keng-schin 
wurden  die  Viscount's  von  Sehen  und  Fen  von  Lieu  mit  dem 
^kaiserlichen  Heere  schmählich  geschlagen  und  die  Männer 
von  Tshien-sching  schlugen  die  Jung  von  Lo-huen  zu  Sehe. 
Noch  erwähnt  Tso-schi  p.  805  die  Jung  von  Kieu-tscheu 
unter  Ngai  a.  4  (489);  s.  unten  bei  den  Man- Jung. 

Nach  Tso-schi  Siang  a.  14  p.  463  versetzte  Thsin  Wu-li 
einen  Chef  der  Kiang-Jung  nach  Kua-tscheu.  Er  kam  be- 
kleidet mit  Binsen,  seinen  Weg  nehmend  durch  Sträucher 
und  Dornen.  Tsin  musste  ihnen  einiges  ärmliche  Land  ein- 
räumen. Schakale  bewohnten  es  und  Wölfe  heulten  da.  Die 
Jung  rotteten  die  Sträucher  und  Dornen  aus,  vertrieben  die 
Schakale  und  Wölfe  nnd  hielten  immer  zu  Tshin. 

606  bekriegte  Tschuang-kung  von  Tshu  die  Jung  von 
.Lo-huen  nach  dem  Tschhün-tshieu  p.  243  und  kam  bis  zum 
Lo-flusse  nach  Tso-schi  Siuen-kung  a.  3  f.  9,  S.  B.  17 
S.  21  und  Sse-ki  B.  40  f.  9,  S.  B.  44  S.  84. 

Unter  Lu  Tsching  a.  11  (578)  im  3.  Monate  machten 
nach  Tso-schi  p.  360  Pe-tsung  von  Hia-yang,  Yue  von  Tsin,  Sün 
;Leang  Fu  und  Ning-siang  von  Wei,  ein  Officier  von  Tschhing, 
die  Jung  vom  I  u.  Lo  und  die  von  Lo-huen  und  die  Man- 
schi  (die  Man -Jung  nach  Legge  Prol.  p.  125)  einen  Einfall  in 
Sung,  weil  dessen  Fürst  sich  geweigert  hatte  die  Ver- 
sammlung von  Tschhung-lao  zu  besuchen.  Als  ihr  Heer 
zu  Khien  war,  hielt  das  Volk  von  Wei  keine  Wache  und 
Tue  wollte  einen  Schlag  auf  dessen  Hauptstadt  thun  und 
sagte:  „Obwohl  wir  da  nicht  einzudringen  vermögen, 
werden  wir  doch  viele  Gefangene  mit  zurückbringen  und 
unser  Angriff  wird  nicht  für  tödtlich  gelten."  Pe-tsung 
aber  sagte:  ,,Nein,  Wei  vertraut  Tsin  und  hat,  obwohl 
unsere  Armee  in  der  äussern  Umgebung  der  Stadt  steht, 
keine  Vorbereitungen  gegen  einen  Angriff  getroffen.  Thun 
/wir  einen  Schlag  auf  dasselbe ,    so    verletzen  wir  Treu  und 


482        Sitzung  der  phäos.-philöl.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Glauben.  Wenn  wir  auch  viele  Gefangene  machen,  aber 
Treu  und  Glauben  eingebüsst  haben ,  wie  kann  Tsin  dann 
suchen ,  der  Führer  der  Staaten  zu  sein."  Yue  gab  dann 
seinen  Vorschlag  auf.  Als  das  Heer  zurückkam,  bemannte 
Wei  seine  Brustwehr.  Legge  p.  125  meint,  dass  diese  Jung 
derzeit  wahrscheinlich  sich  als  Unterthanen  der  Tscheu  in 
deren  Gebiete  niedergelassen  hatten. 

Die  Man  oder  Man- Jung,  so  genannt,  um  sie  von 
den  Südbarbaren  Man    zu    unterscheiden  und  die  Mao-Jung. 

Die  Mao- Jung  hatten  nach  Legge  Prol.  p.  125  ihren 
Sitz  in  Jü-tscheu  in  Ho-nan.  Unter  Wen  a.  17  im  Herbste 
überfiel  nach  Tso-schi  p.  278  Kan-Tscho  von  Tscheu  die 
Jung  in  Schin-schuy ,  als  sie  Spirituosen  tranken ;  sie  ge- 
hörten nach  Legge  zu  den  Man-Jung. 

Unter  Tschhing  a.  1  (589)  erlitt  die  kaiserliche  Armee 
eine  schwere  Niederlage  von  diesen  Mao-Jung  nach  dem 
Tschhün-thsieu.  Sie  wohnten  nach  Legge  p.  337  im  Süd- 
Osten  von  Phing-lo  in  Kiai-tscheu  in  Schan-si.  Tso-schi 
sagt  da:  Im  Frühlinge  hatte  der  Fürst  von  Tsin  Kia  von 
Hia  abgesandt,  Frieden  zwischen  den  Jung  und  dem  Kaiser 
zu  schliessen  und  Siang  von  Sehen  kam  nach  Tsin,  des 
Kaisers  Anerkennung  dieses  Dienstes  auszudrücken.  Der  Fürst 
Khang  von  Lieu  wollte  Vortheil  daraus  ziehen ,  dass 
die  Jung  ihre  Wachen  eingezogen  hatten  und  sie  angreifen, 
Scho-fo  aber  sagte  zu  ihm :  „Du  willst  den  Vertrag  ver- 
letzen und  den  grossen  Staat  beleidigen ;  du  wirst  gewiss 
geschlagen  werden.  Einen  Vertrag  verletzen,  ist  unglücklich, 
einen  grossen  Staat  beleidigen ,  ist  ungerecht.  Weder  die 
Geister  noch  die  Menschen  werden  zu  einem  solchen  Unter- 
nehmen Beistand  leisten,  wie  kannst  du  erwarten,  Er- 
oberungen zu  machen."  Der  Fürst  hörte  nicht  auf  diese 
Warnung,  fiel  in  das  Gebiet  der  Mao-Jung  ein,  erlitt  aber 
im  3.  Monate  am  Tage  Kuei-We  eine  grosse  Niederlage 
vom  Stamme  Siü-wu. 


Flath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         483 

Die  Theilnahine  der  Man  an  der  Expedition  gegen 
Sung  unter  Lu  Tschhing  a.   11  (578)  ist  oben  erwähnt. 

Unter  Siang  a.  5  (566)  sandte  nach  Tso-schi  p.  426 
der  Kaiser  Wang-schoTschhin  seng  über  die  Jung  sich  bei  Tsin 
zu  beklagen.  Das  Volk  von  Tsin  nahm  ihn  aber  gefangen, 
während  Sse  Fang  nach  der  Hauptstadt  kam,  zu  erzählen, 
wie  Wang-scho  ein  doppeltes  Spiel  mit  den  Jung  spielte. 

Im  16.  Jahre  von  Tschhao  (524)  wiegelte  nach  dem 
Tschhün-thsieu  p.  663  der  Fürst  von  Thsu  den  Häuptlingder  Man- 
Jung  auf  und  tödtete  ihn  dann.  (Der  Hauptort  der  Man-schi 
war  südwestlich  von  Jü- tscheu  und  Ho-nan).  Nach  Tso-schi  ib. 
hörte  der  Fürst  von  Tshu,  dass  die  Man-schi  alle  in  Un- 
ordnung seien  und  ihr  Fürst  Kia  ohne  Treu  und  Glauben, 
liess  Jen-Tan  ihn  verführen  und  tödtete  ihn,  als  er  ihn 
in  seiner  Gewalt  hatte,  nahm  dann  das  Gebiet  der  Man-schi, 
setzte  aber  Kia's  Sohn  passend  ein.  Unter  Ngai  a.  4  (490) 
rebellirten  sie;  ihr  Fürst  Tsche  musste  nach  Tsin  fliehen, 
nach  dem  Tschhün-thsieu  p.  804  lieferte  es  ihn  aber,  das 
Asylrecht  nicht  achtend,  an  Tshu  aus.  Tso-schi  p.  805  er- 
zählt: Nachdem  im  Sommer  490  ein  Corps  Leute  aus  Tshu 
die  I-hu  unterworfen  hatte,  wandte  es  seinen  Blick  weiter 
nach  Norden. 

Phan ,  der  Marschall  der  Linken ,  Schen-yü ,  der  Be- 
fehlshaber von  Schin  und  Tschu-leang  von  Schi  sammelten 
das  übrige  Volk  von  Tshai  und  versetzten  es  nach  Hu-hien 
und  ebenso  das  Volk  ausserhalb  der  Barrieren  nach  Tseng- 
kuan.  Wu,  sagten  sie,  käme  auf  den  Kiang  einzudringen 
in  Ying  und  sie  müssten  eilig ,  wie  befohlen ,  fortgehen. 
Den  nächsten  Tag  schon  nahmen  sie  durch  Ueberfall  Leang 
und  Ho.  (Die  Städte  der  Man-Jung).  Schen-Fen-Yü  be- 
lagerte den  Hauptort  der  Man,  dessen  Volk  sich  zerstreute, 
während  der  Fürst  Tschi  nach  Yin-te  in  Tsin  entfloh.  Der 
Marschall  hob  das  Volk  von  Fung  und  Si  mit  einigen 
Stämmen  der  Ti  und  Jung  aus  und  ging  vor  nach  Schang-lo. 


484        Sitzung  der  philos.-philol.  Qasse  vom  6.  Juni  1874. 

Der  Meister  der  Linken  lagerte  beim  (Hügel  von)  Thu-ho, 
der  der  Rechten  bei  Thsang-ye.  Der  Marschall  sandte 
dann  eine  Botschaft  an  Sse-Mieh,  den  Grossbeamten  über 
den  Distrikt  Yin-te,  die  besagte:  ,,Tsin  und  Tshu  haben 
einen  Vertrag,  der  sie  verpflichtet  nach  ihrem  Belieben  oder 
Nichtbelieben  Theil  zu  nehmen.  Wenn  sie  nicht  versäumten, 
das  zu  beobachten,  so  entspreche  das  dem  Wunsche  seines 
Gebieters.  Entscheide  er  sich  anders,  so  werde  ich  mit 
euch  durch  Schao-si  in  Verbindung  treten ,  eure  Befehle  zu  ' 
vernehmen."  Sse-Mieh  verlangte  Instruktionen  von  Schao-meng 
der  sagte:  „Tsin  erfreut  sich  jetzt  nicht  der  Ruhe,  wir 
wagen  nicht  mit  Thsu  zu  brechen,  Ihr  müsst  schnell  die 
Flüchtlinge  an  Tshu  ausliefern.  Darauf  hin  berief  Sse-Mieh 
die  Jung  von  Kieu-tscheu  zusammen  und  schlug  vor,  dass 
sie  einiges  Land  für  den  Fürsten  der  Man  aussetzten  und 
ihn  da  in  einer  Stadt  ansiedelten.  Er  schlug  auch  vor  wegen 
der  Stadt  die  Schildkrötenschale  zu  befragen,  und  während 
der  Fürst  das  Resultat  erwartete,  bemächtigte  sich  Mieh 
seiner  und  seiner  5  Oberoffiziere  und  lieferte  sie  an  die 
Armee  in  San-hu  aus.  Der  Marschall  gab  auch  vor ,  er 
werde  ihm  eine  Stadt  anweisen  und  seinen  Ahnentempel  da 
aufrichten,  um  den  Rest  seines  Volkes  zu  täuschen,  und 
führte  sie  dann  alle  als  Gefangene  mit  sich  nach  Tshu. 

Wir  stellen  nun  die  Angaben  zusammen,  welche  wir 
über  die  einzelnen  Abtheilungen  der  Jung  noch 
haben.  Zur  Zeit  des  Tschhün-thsieu  kommen  nach  Legge 
Prol.  p.   123:  7  Abtheilungen  vor. 

Am  häufigsten  kommen  vor  die  West-Jung  (Si-Jung). 
Nach  Sse-ki  1  f.  12  v.  bat  Schün  Yao  die  3  Miao  nach 
San-wei  zu  versetzen,  um  die  West-Jung  umzuwandeln !  Nach 
Schu-king  C.  Yü-kung  III,  1,  10,  83  kamen  Zeuge  und  Felle 
vom  Khuen-lün,  Si-tschi  und  Keu-seu;  die  West-Jung  unter- 
werfen sich  Yü's  Anordnung. 

Unter  Thai-Meu,  dem   9.   Kaiser   der  2.  Dynastie   Yn 


JPlath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.  485 

seit  1474   a.  26   kamen   die   West-Jung   zu   huldigen.     Der 
Kaiser  sandte  Wang-wang  zu  ihnen  mit  Geschenken. 

Unter  dem  24.  Kaiser  Tsu-Kia  (seit  1203)  a.  12  war 
eine  Expedition  gegen  die  West-Jung.  Im  Winter  kam  sie 
zurück  u.  a.  13  unterwarfen  sie  sich.  Sie  erwähnt  schon 
der  Schu-king  C.  Yü-kung  II,  1,  50. 

Unter  dem  27.  Kaiser  Yn  Wu-i  (seit  1158)  a.  35 
schlug  Ki-li,  der  Kung  von  Tscheu,  die  Si-  (Wcst-)Jung  von 
Lo  und  Kuei  (in  Schen-si)  zu  Tschao-i,  (wo  der  Lo  in  den 
Hoang-ho  fällt). 

Unter  dem  7.  Kaiser  der  Tscheu  I-wang  (seit  894)  fielen 
die  West-Jung  in  Hao  (Si-ngan-fu  in  Schen-si)  ein. 

Unter  dem  8.  Kaiser  Hiao-wang  (seit  869)  ,a.  1  im 
Frühlinge  im  1.  Monate  befahl  der  Heu  von  Schin  (Nan-yang 
in  Ho-nan)  die  West-Jung  anzugreifen.  Siuen-wang  a.  3 
(824)  befahl  dem  Ta-fu  Tschung  die  Si-Jung  anzugreifen. 

Unter  Mu-wang  a.  13  huldigten  sie.  Nach  Lie-tseu  im 
I-sse  26  f.  18  hatte  er  sie  besiegt  und  sie  brachten  ihm 
Schwerter  aus  Kuen-wu  dar. 

Im  5.  Monate  kamen  sie  und  brachten  Pferde  dar. 
Unter  dem  10.  Kaiser  Li- wang  a.  11  fielen  die  West-Jung 
in  Khuen-khieu  (Hin-ping  30°  im  Schen-si  nach  Biot)  ein. 
Unter  dem  12,  Kaiser  Yeu-wang  (seit  780)  griffen  Tshin's 
Leute  die  West-Jung  an. 

Im  6.  Jahre  befahl  der  Kaiser  Pe-sse  mit  dem  Heere 
die  Jung  von  Lo-thsie  anzugreifen.  Des  Kaisers  Heer 
wurde  aber  geschlagen  und  die  West-Jung  vernichteten 
Khai  (Kao-ping  in  Schan-si  nach  Biot)  a.  9  trat  der 
Heu  von  Schin  mit  den  West-Jung  von  Tseng  in  Verbindung; 
s.  unten  bei  den  Kiuen-Jung. 

Yin  von  Lu  a.  2  (720)  schloss  zweimal  einen  Vertrag  mit 

ihnen   im    ersten  Monate   zu   Tshien,    im  vierten   zu  Theng 

(12  Li   von  der  jetzigen  Distriktsstadt  Yii-thai,  siehe  Legge 

p.  9.)     Im  7.  Jahre,    im    7.  Monate  (711)    griffen   sie   den 

[1874,  4.  Phil.  hist.  Cl.]  33 


486  Sitzung  der  phüos.-pfiilöl.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Pe  (Earl)  von  Fan  zu  Tshu-khieu  an ,  den  der  Kaiser 
im  6.  Monate  nach  Lu  zur  Aufwartung  gesandt  hatte,  und 
führten  ihn  zurück.  Fan  war  ein  hoher  Beamter  am 
Kaiserhofe.  Nach  Tso-schi  waren  die  Jung  mit  Huldigungs- 
geschenken an  den  Kaiser  gekommen  und  Fan  hatte  sie 
nicht  artig  empfangen. 

Huan  von  Lu  schloss  im  2.  Jahre  (708)  einen  Vertrag 
mit  den  Jung  nach  dem  Tschhün-thsieu  p.  33  zu  Thang 
und  erneuerte  die  guten  Beziehungen  zwischen  Lu  und  den 
Jung.  Tschuang  von  Lu  a.  18  (674)  verfolgte  sie  bis 
westlich  über  den  Tsi-Fluss  hinaus  p.  97;  a.  20  (672)  im 
Winter  schlug  ein  Corps  von  Tshi  die  Jung  ib.  p.   100. 

A.  24  (668)  im  Winter  fielen  die  Jung  in  Tshao  ein; 
Ki  von  Tshao  floh  nach  Tschin  nach  p.  108.  Tschi  kehrte 
nach  Tshao  zurück  p.  107.  Die  chinesischen  Verhältnisse 
sind  aber  nicht  klar  p.   108. 

A.  26  (666)  im  Frühlinge  fiel  der  Fürst  in  das  Gebiet 
der  Jung  ein  und  kam  im  Sommer  zurück  ib.  p.  110. 
Später  hören  wir  nichts  von  den  Jung  hier;  sie  verloren 
sich  wohl  unter  dem  Volke  von  Lu. 

Tso-schi  unter  Hi  a.  11  (647)  p.  158  sagt:  es  kamen 
die  Jung  von  Yang-khieu,  Tshiuen-kao  und  am  I  und  Lo- 
Flusse ,  griffen  vereint  die  kaiserliche  Hauptstadt  an  und 
verbrannten  das  Ostthor ;  des  Kaisers  Hoei  Sohn  hatte  sie 
herbeigerufen.  Tshin  und  Tsin  fielen  in  das  Gebiet  der 
Jung  ein,  dem  Kaiser  zu  helfen.  Im  Herbste  veranlasste 
der  Fürst  von  Tsin,  dass  die  Jung  mit  dem  Kaiser  Frieden 
schlössen.  (Diese  Jung  sassen  um  die  beiden  Flüsse  I  und 
Lo  im  jetzigen  Distrikte  Lo-yang  und  vielleicht  noch  andern 
Theilen  des  Departements  Ho-nan;  die  beiden  erstgenannten 
gelten  für  ihre  Hauptörter  nach  Legge  p.  124).  Nach  Tso- 
schi  p.  159  wollte  er  seinen  Bruder  Tai  wegen  des  An- 
griffes der  Jung  auf  den  Kaiser  züchtigen.  Er  floh  unter 
Hi  a.   12  (646)    nach    Thsi.     Im    Winter   sandte   der   Fürst 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         487 

von  Thsi  Kuan  und  I-wu,  Frieden  zu  schliessen  zwischen 
den  Jung  und  dem  Kaiser  und  Si-Phang  Frieden  zu 
schliessen  zwischen  den  Jung  und  Tsin. 

Unter  Hi  a.  16  (642)  berichtete  der  Kaiser  an  Tshi 
über  die  Wirren,  welche  die  Jung  erhoben  hatten  und  Thsi 
berief  Truppen  verschiedener  Staaten,  Tscheu  zu  beschützen, 
nach  Tso-schi  p.   171. 

Im  8.  Jahre  von  Wen  (617)  hatte  Tschuang's  Sohn 
Suy  nach  dem  Tschhün-thsieu  p.  251  eine  Zusammenkunft 
mit  den  Lo-Jung  und  machte  einen  Vertrag  mit  ihnen 
zu  Pao  in  Tschhing,  wohl  in  der  Absicht  Lu  anzugreifen. 

Tso-schi  p.  182  erzählt:  Nachdem  Phing-Wang  die  alte 
Hauptstadt  der  Tscheu  nach  Osten  verlegt  hatte,  kam  Sin- 
yen  nach  I-tschhuen  und  sah  da  einen  Mann,  der  hier  mit 
aufgelöstem  Haare  in  der  Wildniss  opferte.  Keine'  hundert 
Jahre,  sagte  er,  und  der  Platz  wird  von  den  Jung  einge- 
nommen werden.  Mehr  als  100  Jahre  waren  aber  seit  der 
Verlegung  der  östlichen  Hauptstadt  verflossen. 

A.  624  übt  Mo-kung  von  Thsin  die  Gewaltherrschaft  (Pa) 
über  die  Si-Jung  nach  Tso-schi  Wen-kung  a.  3  f.  7,  S.  B.  15, 
S.  542  Legge  p.  236  vgl.  Sse-ki  5  f.  14.  Mo-kung  unterwarf 
die  8  Reiche  der  West-Jung  nach  Sse-ki  B.  68  f.  8, 
S.  B.  29  S.  110  und  Sse-ki  B.  110  f.  4.  Im  Sse-ki  B.  87 
f.  3,  S.  B.  31,  317  sagt  Li-Sse:  Mo-kung  unterwarf  20  Reiche 
und  wurde  Oberherr  (Pa)  der  West-Jung. 

Wu-tschung  war  nach  Pfizmaier  S.  B.  18  S.  125 
ein  Reich  der  West-Jung  (nach  dem  Scholiasten  und  Legge 
p.  424  aber  der  Berg-Jung).  Ihr  Fürst  Kia-fu  ein  Tseu,  sein 
Minister  Meng-lo.  Nach  Tso-schi  Siang-kung  (Legge  p.  424) 
a.  4  (567)  sandte  Kia-fu  der  Fürst  von  Wu-tschung ,  den 
Meng-lo  nach  Tsin ,  überreichte  durch  Wei-tschuang  tseu 
(oder  Kiang)  Felle  von  Tigern  und  Leoparden  und  bat  um 
ein  Bündniss  mit  den  Jung.  Der  Fürst  von  Tsin  sagte  aber: 
„Die  Jung  und  Nordbarbaren  (Ti)   sind    ohne  Freundschaft, 

33* 


488         Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

nur  begierig  auf  ihren  Vortheil;  man  kauu  sie  nur  angreifen." 
Wei-Kiang  erwiderte:  „Die  Staaten  haben  erst  jüngst  ihre 
Unterwerfung  unter  Tsin  erklärt  und  Tschhin  neuerdings 
unsere  Freundschaft  gesucht.  Sie  beobachten  unser  Ver- 
halten. Ist  das  sauft  und  gut,  so  erhalten  sie  die  Freund- 
schaft mit  uns,  wo  nicht,  so  fallen  sie  ab  und  trennen  sich 
von  uns.  Unternehmen  wir  eine  mühsame  Expedition  gegen 
die  Jung  und  Tshu  fällt  dann  gleichzeitig  in  Tsching  ein, 
so  können  wir  ihm  nicht  beistehen  und  wir  müssen  Tsching 
hingeben  u.  s.  w.  Die  Barbaren  sind  nichts  als  Thiere;  wir 
gewinnen  die  Barbaren  und  verlieren  die  Blume  der  Mitte 
(China)."  Der  Fürst  sprach:  Müssen  wir  uns  mit  den  West- 
barbaren verbünden,  in  ein  gutes  Benehmen  setzen?  Jener 
sagte:  ,,Das  Bündniss  mit  ihnen  hat  fünferlei  Nutzen.  Die 
Jung  und  Ti  wechseln  beständig  ihren  Aufenthalt,  sind 
geneigt  ihr  Land  für  Waaren  wegzugeben.  Ihr  Land 
kann  gekauft  werden.  Das  ist  der  erste  Vortheil.  Die 
Grenzstädte  werden  nicht  beunruhigt,  das  Volk  bebaut  seine 
Felder,  die  Landleute  thun  ihre  Arbeit,  das  ist  der  zweite 
Nutzen.  Wenn  die  Barbaren  Jung  und  Ti  Tsin  dienen, 
zittern  die  Nachbarn  der  4  Gegenden  und  suchen  unsere 
Freundschaft.  Wenn  der  Fürst,  voll  Ehrfurcht,  die  Barbaren 
durch  Tugend  (Güte)  beruhigen  wird ,  brauchen  die  Heere 
sich  nicht  zu  bemühen;  dies  ist  der  dritte  Nutzen.  Spiegeln 
wir  uns  an  dem  königlichen  I,  Fürsten  von  Kiang,  dessen 
Geschichte  Tso-schi  nach  Schu-king  III,  3,2  erzählt,  und 
nehmen  zum  Muster  seine  Tugend ,  dann  werden  unsere 
Waffen  nicht  abgenutzt,  der  vierte  Vortheil.  Es  kommen 
zu  uns  die  Fernen  und  die  Nahen  und  sind  beruhigt,  dies  ist 
der  fünfte  Vortheil."  Der  Fürst  billigte  das  und  Hess  Wei- 
kiang  den  Vertrag  mit  den  Si-Jung  abschliessen. 

Zuletzt  werden  die  Wu-tschung-Jung  unter  Lu-Tschhao 
a.  1  (540)  erwähnt,  wo  ein  Officier  der  Tsin  ihnen  und 
verschiedenen  Stämmen  der  Ti    eine  grosse  Niederlage  bei- 


Plath  :  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         489 

brachte.  Sie,  wie  die  Nord-  und  Berg-Jung  verloren  sich 
unter  dem  Volke  der  Tsin,  wie  Legge  Prol.  p.  124  meint. 
Tso-schip.  579  erzählt:  Tschung-hang  Mo-tseu  schlug  die  Wu- 
tschang  und  andere  Stämme  der  Ti  in  Thai-yuen,  indem  er 
die  Mannschaft  bei  den  Kriegswagen  sammelte  und  zu  Fuss- 
soldaten  machte.  Als  es  nun  zum  Gefechte  kam ,  sagte 
Wei-schu :  „Die  Barbaren  sind  alle  Fusssoldaten ,  während 
unsere  Stärke  in  den  Kriegswagen  besteht.  Wir  müssen 
überdiess  mit  ihnen  in  einem  Engpass  zusammentreffen. 
Lasst  uns  10  Mann  für  jeden  Kriegswagen  aufstellen  und 
wir  bewältigen  sie;  wenn  auch  eingeengt  in  den  Pass, 
müssen  wir  so  thun.  Lasst  uns  Alle  in  Fusssoldaten  um- 
wandeln; ich  will  damit  beginnen.  Demgemäss  beseitigte 
er  seine  Kriegswagen  und  formirte  die  Leute  in  Reihen : 
5  Wagen  lieferten  3  Reihen ,  jede  von  5  Mann.  Ein 
Lieblingsofficier  von  Siün-wu  (Tschung-hang  Mo-tseu)  wollte 
seinen  Platz  unter  den  Fusssoldaten  nicht  einnehmen.  Schu 
schlug  ihm  den  Kopf  ab  und  machte  die  Execution  im 
Heere  bekannt.  5  Ordnungen  wurden  dann  in  einiger 
Distanz  eine  von  der  andern  gebildet;  eine  Liang  vorne, 
dann  die  hintere  Wu,  an  der  rechten  Ecke  die  Tschuen, 
die  linke  Tshan  und  Phin  im  Vordertreffen.  Dies  geschah, 
die  Ti  zu  täuschen ,  welche  über  das  Arrangement  lachten. 
Die  Truppen  von  Tsin  fielen  dann  über  den  Feind  her,  ehe 
er  sich  geordnet  aufstellen  konnte,  und  brachten  ihm  eine 
grosse  Niederlage  bei. 

Seltener  werden  2)  die  Nord- Jung  (Pe-Jung)  ei- 
wähnt.  Unter  Siuen-wang  a.  40  schlug  Tsin  sie  in  Fen-si 
(Khio-yo,  Depart.  Phing-yang). 

Die  Nord-Jung  (Pe-Jung) ,  die  Berg-Jung  (Schan-Jung) 
und  die  Wu-tschung  wohnten  nach  Legge  Prol.  p.  123  im 
jetzigen  Tsün-Hoa-tscheu  in  Tschi-li. 

Unter  Lu  Yin  a.  9  (712)  im  12.  Monate  am  Tage 
Kia-yin    machten    nach    Tso-schi    p.   28    die  Nord-Jung    im 


490         Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874 

Departement  Yung-phing  in  Tschi-li  einen  Einfall  in  Tschhing. 
Der  Fürst  leistete  Widerstand,  aber  die  Beschaffenheit  ihrer 
Truppen  beunruhigte  ihn:  „Sie  sind  zu  Fuss,  während  wir 
zu  Wagen:  ich  fürchte,  dass  sie  uns  plötzlich  überfallen. 
Sein  Sohn  Fu  sagte:  „Lass  ein  Corps  kühner  Männer  doch 
nicht  beharrlich  einen  Angriff  auf  die  Diebe  machen,  aber 
dann  schnell  sich  zurückziehen  und  lege  zugleich  drei  Corps 
in  einen  Hinterhalt,  für  sie  bereit  zu  sein.  Die  Jung  sind 
leicht  und  flüchtig,  aber  halten  keine  Ordnung;  sie  sind 
gierig  und  haben  keine  Liebe  zu  einander.  Dringen  sie 
vor,  so  will  keiner  dem  Nachfolgenden  den  Platz  räumen, 
und  werden  sie  geschlagen,  so  sucht  keiner  den  andern  zu 
retten;  sieht  ihr  Vordermann  ihren  Erfolg,  so  denken  sie 
au  nichts  als  vorzudringen.  Rücken  sie  aber  so  vor  uud 
fallen  in  einen  Hinterhalt,  so  eilen  sie  sicher  weg  zur  Flucht. 
Die  Hintern  kommen  nicht  herbei,  sie  zu  retten,  so  finden 
sie  keine  Unterstützung  bei  ihnen.  So  magst  du  von  deiner 
Besorgniss  befreit  werden."  Der  Fürst  befolgte  diesen  Plan. 
Wie  die  vordersten  Jung  auf  die  Chinesen  im  Hinterhalte 
stiessen,  flohen  sie  verfolgt  von  Tscho-tan.  Ihr  Detachement 
wurde  umringt,  sie  von  vorne  und  von  hinten  angegriffen, 
bis  alle  zusammengehauen  waren.  Die  übrigen  Jung  flohen 
wild  davon. 

Unter  Lu  Huan  a.  6  (704)  fielen  nach  Tso-schi  p.  48 
die  Nord-Jung  in  Thsi  ein,  welches  Tschhing  um  eine  Streit- 
macht zu  seiner  Hülfe  bat.  Hwo,  der  älteste  Sohn  des 
Fürsten  von  Tschhing ,  kam  mit  einer  Truppenmacht  und 
brachte  den  Jung  eine  grosse  Niederlage  bei.  Ihre  beiden 
Anführer  Tai-liang  und  Schao-liang  wurden  gefangen;  er 
brachte  sie  dem  Fürsten  mit  300  Köpfen  ihrer  Krieger  in 
Büffelleder  dar. 

Derzeit  waren  die  Oberoffiziere  vieler  Fürsten  zum 
Schutze  in  Thsi.  Der  Fürst  von  Thsi  versah  sie  mit  Vieh, 
welches  die  von  Lu  zu  vertheilen  hatten.     Sie  stellten  nach 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         491 

den  Regeln  über  den  Vortritt  am  Kaiserhofe  die  Truppen 
von  Tschhing  in  die  letzte  Reihe;  das  verdross  Hwo,  da 
diese  den  Sieg  erfochten  hatten,  und  veranlasste  im  10.  Jahre 
die  Schlacht  von  Lang,  s.  Tso-schi  p.  55. 

3)  Die  Berg- Jung  (Schan-Jung)  fallen  664  in  Yen 
ein.  Thsi  hilft  ihm  und  schlägt  sie  nach  Sse-ki  32  f.  12, 
S.  B.  40  p.  666  und  Sse-ki  S.  B.  94  f.  3. 

Der  Tschhün  -  thsieu  f.  17  hat  noch:  Unter  Lu 
Tschuang  a.  30  (662)  machte  ein  Officier  von  Thsi  einen 
Einfall  in  das  Gebiet  der  Berg-Yung  im  Departement  Yung- 
phing  in  Nord-Ost  Tschi-li.  Der  Lin-Kue-tschi  Cap.  21  hat 
nach  Legge  p  118  einen  sehr  lebendigen  Bericht  über  diese 
Expedition;  er  besorgt  aber,  dass  es  meist  fabelhaft  sei, 
und  theilt  ihn  daher  nicht  mit. 

Im  10.  Jahre  von  Hi  von  Lu  (648)  im  Sommer 
machten  der  Fürst  von  Thsi  und  der  Baron  von  Heu  einen 
Einfall  in  das  Gebiet  der  Nord-Jung  nach  dem  Tschhün- 
thsieu  p.   156. 

Der  18.  Kaiser  der  2.  D.  Yang-kia  A.  3  (1316)  hatte 
nach  dem  Bambu-Buche  schon  die  rothen  Berg-Jung 
(Tan-Schan-Jung)  bekriegt.  Unter  Siang-kung  von  Thsin 
712  zogen  die  Schan-Jung  (bei  Y-tscheu  in  Schen-si  36°  Br.) 
über  Yen  hinaus  und  schlugen  Thsi  nach  Sse-ki  110  f.  3.  Nach 
dem  Scholiasten  waren  dies  Siän-pi.  Thsi  Li-kung  kämpfte 
mit  ihnen  an  Thsi's  Grenze.  44  Jahre  später  griffen  die 
Berg-Jung  Yen  an.  Dieses  rief  eilig  Thsi  zu  Hülfe.  Huan- 
kung  von  Thsi  (685 — 43)  griff  im  Norden  die  Berg-Jung  an 
und  sie  flohen. 

Nach  20  und  mehr  Jahren  kamen  die  Jung  und  Ti  bis 
zur  Stadt  Lo  und  schlugen  Tscheu  Siang-wang  (651 — 18). 
Der  floh  nach  der  Stadt  Sse  in  Tsching. 

4)  Die  Hunde -Jung(Ki  uen- Jung)  schlägt  Wu-wang 
1122  v.  Chr.  nach  dem  Sse-ki  4  f.  5.  Sie  kommen  auch 
im  Schan-hai-king    vor.    Unter    Mu-wang    a.  12    (seit  961) 


492  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

zieht  Puan-kung  von  Mao  gegen  sie  und  züchtigt  sie,  vgl.  den 
Kue-iü  im  I-sse  2G  f.  17,  Li-kung  von  Kung  und  Ku  von 
Fung  mit  allen  ihren  Truppen  dem  Kaiser  folgend.  Der 
Kaiser  züchtigte  sie  im  10.  Monate.    Vgl.  Sse-ki  4  f.  14   v. 

Im  13.  Jahre  im  Herbste  folgt  das  Heer  von  Tse-kung 
dann  dem  Kaiser  auf  einer  Strafexpedition  im  Westen  und 
lagert  in  Yang. 

Unter  dem  7.  Kaiser  Y-wang  a.  21  (874)  greift  der 
Kung  von  Kue  sie  an,  wird  aber  nach  dem  Bambu-Buche 
geschlagen. 

Unter  Yeu-wang  (seit  780)  im  11.  Jahre  drangen  die 
Leute  von  Schin  und  von  Tseng  mit  den  Hunde -Jung 
unter  Lu  Hiao-kung  a.  25  (771)  nach  Sse-ki  B.  33  f.  10, 
32  f.  5  v.  und  40  f.  4  v.,  S.  B.  44  S.  75  in  Tsung-tscheu 
ein,  tödteten  den  Kaiser  und  Huan-kung  von  Tschhing  nach 
Kue-iü  C.  5  TschhiDg-iü  f.  1.  Die  Hunde -Jung  tödteten 
des  Kaisers  Sohn  Pe-fu  und  führten  die  Pa-sse  gefangen 
mit  in  ihr  Land  nach  Sse-ki  B.  110  f.  3  und  dem  Bambubuche. 

Nach  dem  Scholiasten  zum  Sse-ki  4  f.  5  im  I-sse  19 
f.  23  haben  die  Hunde -Jung  nach  dem  Schan-hai-king 
Menschen-Gesichter  mit  Thierleibern. 

Tso-schi  unterscheidet  noch  5)  die  kleinen  und  6)  die 
grossen  Jung.  Die  kleinen  (Siao-Jung)  gehörten  zur 
Familie  Yün,  die  grossen  Jung  zur  Familie  Ki  und  waren 
Nachkommen  Thang-scho's.  Zu  dieser  Familie  Ki  gehörten 
nun  auch  die  Li-Jung  in  Lin-thung  in  Ti-ngan  nach  Legge 
p.  126. 

Nach  Tso-schi  Tschuang  a.  28  p.  114  und  Sse-ki  39 
f.  5  hatten  die  Li-Jung  den  Namen  vom  Berge  Li-schan. 
Als  Tsin  Hien-kung  die  Li-Jung  schlug,  fing  er  die  Li-ki, 
verliebte  sich  in  sie,  er  heirathete  sie  und  die  brachte  Tsin 
in  Verwirrung,  nach  Sse-ki  39  f.  12,  S.  B.  43  S.  94. 
Hien-kung  von  Tsin  heirathete  die  Ku-ki  von  den  grossen 
Jung;    ihr    Sohn    war    Tschung-eul    (Wen-kung)    und    eine 


Flath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        493 

Tochter  der  kleinen  Jung;  ihr  Sohn  war  I-ngu  (Hoei-kung 
von  Tsin).  Hien-kung  von  Tsin  672  griff  dann  die  Li-Jung 
an,  deren  Häuptling  gab  ihm  seine  Tochter  Li-ki,  ihr  Sohn 
war  Hi-tsi,  der  Sohn  ihrer  älteren  Schwester,  die  sie  begleitete 
Tscho-tseu,  nach  Kue-iü  5  f.  1. 

7)  Ein  Theil  der  Jung  gehörte  ursprünglich  zur  Familie 
Kiang  p.   124  und  war  627  Tsin  unterworfen. 

Unter  Lu  Hi-kung  a.  33  f.  50,  S.  B.  14  S.  513  (625) 
rüstete  Tsin  in  Eile  die  Kiang-Jung  gegen  Thsin.  Der  Tschhün- 
thsieu  sagt:  Im  4.  Monate  am  Tage  Sin-sse  schlugen  die  Tsin 
und  die  Kiang-Jung  Tshin  zu  Hiao  (einem  gefährlichen  Eng- 
passe, in  Jung-ning  im  Depart.  Ho-nan).  Jung  dienen  620 
noch  im  Heere  der  Tsin  nach  Tso-schi  a.  7  f.  13. 

Unter  Siuen-wang  a.  39  (788)  greift  die  kaiserl.  Armee 
die  Kiang-Jung  in  West-  und  Nordwest-China  an.  Man 
kämpfte  bei  Tsien-meu  in  Ngo-yaug,  wird  aber  in  die  Flucht 
geschlagen.  Tso-schi  Giang  a.  14  p.  463  sagt  ihr  Häuptling: 
Ihr  Trank,  ihre  Speise,  ihre  Kleidung  sind  verschieden  von  den 
chinesischen.  Sie  tauschten  keine  Seidenzeuge  und  andere  Artikel 
mit  deren  Höfen  aus;  ihre  Sprache  und  unsere  erlauben 
keinen  Verkehr  mit  ihnen.  Im  40.  Jahre  zerstörten  die 
JuDg  die  Stadt  Kiang  (in  Pao-ki  in  Fung-tshiang). 

Unter  Tsching- wang  a.  13  griff  des  Kaisers  Heer  mit 
den  Heu  von  Tshi  und  von  Lu  die  Jung  an. 

a.  30  kamen  die  Li-Jung  zu  huldigen.  Sie  sassen 
im  Distrikte  Lin-thung  im  Department  Si-ngan  nach  Legge 
Prol.  p.   126. 

Zur  Zeit  von  Lu  Pe-kin  (Tscheu-kung's  Sohne)  erregten, 
wie  schon  erwähnt,  die  Siü-Jung  in  Siü-tscheu  in  Kiang-nan 
Unordnung  nach  Schu-king  V,  29  und  Sse-ki  B.  33  f.  7  v.; 
er  schlug  sie. 

Nach  Tso-schi  Tschuang  a.  28  p.  114  hatte  Hien  von 
Tsin  eine  Tochter  aus  dem  Hause  Kia  geheirathet,  von  der 
er  kein    Kind    hatte.       Später  beging   er   Blutschande   mit 


494        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

seines  Vaters  Concubine  Tshe-kiang;  von  der  erhielt  er 
eine  Tochter,  welche  die  Frau  Mo's  von  Tsin  wurde  und 
einen  Sohn  Schin-seng,  den  er  nach  seines  Vaters  Tode  als 
dessen  Erben  anerkannte.  In  der  Folge  heirathete  er  zwei 
Mädchen  aus  den  Jung,  die  eine  Hu-ki  von  den  grossen 
Jung  gebar  den  Tschung-eul,  die  andere  aus  den  kleinen 
Jung  gebar  I-wu.  Als  Tsin  in  das  Gebiet  der  Li-Jung  ein- 
fiel, gab  deren  Häuptling  ein  Baron  ihm  seine  Tochter 
Li-ki  zur  Frau;  die  gebar  ihm  einen  Sohn  Hi-tschi,  ihre 
jüngere  Schwester  gebar  ihm  den  Tschho-tseu.  Die  Li-ki 
wurde  die  Favoritin  des  Fürsten  und  wünschte  ihren  Sohn 
zum  Nachfolger  ernannt  zn  sehen.  Sie  bestach  zwei  seiner 
Lieblingsbeamten  Liang-wu  vom  äusseren  Hofe  und  Wu  von 
Tung-kuan  und  veranlasste  diese  zum  Fürsten  so  zu  sprechen. 
,,Kio-yu  enthalte  seinen  Ahnentempel,  thu  und  Eul-khiu 
seien  seine  Grenzstädte;  sie  dürften  nicht  ohne  Herren  ge- 
lassen werden.  Seien  die  Städte  seiner  Ahnen  ohne  ihre 
Herren ,  so  werde  das  Volk  keine  Ehrfurcht  empfinden, 
seien  die  andern  ohne  ihre  Herren,  so  würden  die  Jung 
darauf  kommen,  anmassliche  Projekte  zu  entwerfen;  dann 
werde  das  Volk  die  Regierung  gering  achten,  als  zu  schlaff 
zum  Schaden  des  Staates.  Würde  der  anscheinende  Erb- 
prinz aber  auf  Khio-yu,  Tschung-eul  und  I-wu  auf  Phu  und 
Eul-khiu  angewiesen,  dann  würde  beides  das  Volk  zur  Ehr- 
furcht stimmen ,  die  Jung  in  Furcht  erhalten  und  überdies 
seiner  Herrlichkeit  wirksame  Herrschaft  zeigen."  Sie  liess 
beide  auch  noch  ferner  sagen :  „das  weite  Gebiet  der  Ti 
werde  so  eine  Art  Hauptstadt  von  Thsi.  Ist  es  nicht  recht, 
das  Gebiet  des  Staates  so  auszudehnen."  Dem  Fürsten  ge- 
fiel diese  Eingebung  und  im  Sommer  sandte  er  seinen 
ältesten  Sohn ,  in  Khio-yu  zu  residiren ,  Tschung-eul  in 
Phu  und  I-wu  in  Khio.  So  wurden  auch  alle  andern 
Söhne  an  die  Grenze  gesandt  und  bloss  die  Söhne  von  Li-ki 
und  ihre  Schwester  blieben  in  Kiang.    Das  Ende  war,  dass 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        495 

die  beiden  Wu  und  Li-ki  die  Andern  verleumdeten  und 
Hi-tsche  zum  Erben  des  Staates  ernannt  wurde.  Das  Volk 
nannte  die  beiden  Wu  das  Paar  Ackerleute. 

Ueberblicken  wir  alle  diese,  sehr  vereinzelten  Angaben, 
so  finden  wir  die  Jung  vornemlich  in  den  Provinzen  Schen- 
si  und  Schan-si ,  mitunter  dringen  sie  aber  auch  südlicher 
vor.  Ihrem  Charakter  nach  waren  sie  ursprünglich  roh 
und  meist  Hirten.  Einige  Stämme  aber  hatten  sich  civilisirt 
und  waren  den  Thsin  ziemlich  ähnlich;  Töchter  ihrer  Häupt- 
linge heiratheten  chinesische  Fürsten,  namentlich  auch  von  Tsin. 
Sie  bildeten  ebensowenig  eine  Einheit,  als  die  damaligen 
Chinesen  unter  den  spätem  schwachen  Kaisern  der  3.  Dynastie. 

Es  waren  wohl  Tataren,  die  in  China  einfielen  und 
nicht  eine  Urbevölkerung  desselben. 

Neben  ihnen  erscheinen  seit  dem  9.  Jahrhunderte  v.  Chr. 
nun  noch 

Die  Hien-Yün,    die   späteren  Hiung-nu   und  die  Hu, 

während  der  Name  Jung  später  verschwindet.  Der  Sse-ki 
B.  110  und  Ma-tuan-lin  K.  340—341  geben  eine  Geschichte 
der  Hiung-nu,  in  die  wir  hier  aber  nicht  eingehen  können. 
Nach  Sse-ki  B.  81  f.  11  fg.  S.  B.  28  p.  84  f.,  hält 
der  Feldherr  Li-mo  von  Tschhao  250  v.  Chr.  die  Hiung-nu 
ab,  in  Yen-men  im  Reiche  Tai  (jetzt  Tai-tscheu  in  Schan- 
si).  Er  führte  gegen  sie  1300  ausgewählte  Kriegs  wagen, 
13,000  Reiter,  50,000  Krieger,  die  100  Pfund  (Kin)  Sold 
erhielten  und  100,000  Armbrustschützen ,  tödtete  über 
100,000  Reiter  der  Hiung-nu,  vernichtete  Tan-lan  (nördlich 
von  Tai),  zertrümmerte  Ost-Hu,  und  unterwarf  die  Lin- 
(Wald)-Hu.  Der  Tan-iü  entfloh  und  die  Hiung-nu  wagten 
10  Jahre  Tschhao  nicht  zu  beunruhigen.  Wir  beschränken 
uns  auf  den  Zusammenhang  derselben  mit  den  Jung  und 
die  Hervorhebung  einiger  Hauptmomente  ihrer  Geschichte, 
im  Gegensatz  der  früheren  Zeit. 


496        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Nach  dem  Sse-ki  B.  110  f.  1  gehörten  die  Hien- 
yün  und  späteren  Hiung-nu  zu  den  Berg-Jung.  Der  Ahn 
der  Fürsten  war  wenig  wahrscheinlich  aus  der  Familie  der 
Fürsten  von  Hia  und  hiess  Tschin-wei.  Nach  den  Schotten 
floh  er  zur  Zeit  der  2.  Dynastie  Yu.     , 

Unter  Kaiser  Li-wang  a.  14  (839)  fallen  die  Hien-yün 
in  die  Westgrenze  von  Thsung-tscheu  ein,  s.  Jour.  As.  13  S.  396. 
Unter  Siuen-wang  a.  5  (822)  inarschirt  Yn  ki-fu  gegen  sie- 
und  kommt  nach  Thai-yuen.  Nach  Schi-king  II,  3,3  falle» 
sie  ein  in  Tsiao-hu,  verwüsten  Hao-fang  bis  King-yang  (un- 
bekannte Oerter ,  man  meint  bei  Ning-hia  in  Schen-si). 
Sie  werden  bezwungen.  Die  Kaiserlichen  kommen  bis  Thai- 
yuen  in  Schan-si.  Der  chinesische  Anführer  ist  Ki-fu. 
Fang-schu  besiegt  sie  nach  Schi-king  II,  3,  4.  Der  Sse-ki 
wiederholt  in  der  Geschichte  der  Hiung-nu  mehrere  An- 
gaben ,  die  er  früher  von  den  Jung  und  Hunde-Jung  be- 
richtet hat;  seine  chronologischen  Angaben  sind  aber  sehr 
unbestimmt,  nach  ein  oder  mehreren  hundert  Jahren  heisst 
es  immer  nur. 

Die  Hu  kommen  auch  erst  später  vor.  Nördlich  von  Tsin. 
waren  die  Lin-(Wald-)Hu  und  die  Lieu-fen  Jung;  nördlich 
von  Yen  die  Ost-Hu  (Tung-hu),  auch  Berg-Jung,  diese  waren 
nach  den  Scholien  die  Vorfahren  derU-huen  und  späteren  Siän- 
pi  und  wohnten  östlich  von  den  Hiung-nu,  getrennt  und  zerstreut 
an  Bächen  in  Thälern.  Sie  hatten  Fürsten  und  Aelteste  (Tschang). 
Ihrer  waren  viele,  es  gab  über  100  Jung,  aber  zu  schwach 
konnten  sie  einander  nicht  beistehen.  Tschao-Siang-tseu 
überschritt  den  Berg  Keu,  schlug  die  vereinten  Geschlechter 
und  beaufsichtigte  Hu-me. 

Tschao  Wu-ling-wang  325 — 298  veränderte  in  seinem 
Reiche  auch  die  Sitten,  legte  die  Tracht  der  Hu  an,  übte  seine 
Leute  im  Reiten  und  Schiessen ,  schlug  im  Norden  die 
Wald-(Lin-)Hu  und  Lieu-fen  und  baute  den  Tiieil  der 
grossen    Mauer    von   Tai-ping,    am    Fusse    des  Yn-scham 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         497 

(Berges)  bis  Kao-kiue,  zu  sichern  Yun-tschung  (Tai-tung-fu) 
YeD-men  (Tai-tscheu  in  Tai-yuen-fu  in  Schan-si)  und  Thai-kiien 
(Departement  von  Tai-yuen  fu). 

Später  hatte  Yen  einen  weisen  Feldherrn  Thsin,  gab 
die  Geiseln  an  Hu  zurück,  griff  dann  aber  sie  an,  und 
schlug  die  Ost-Hu  die  über  1000  Li  verloren;  Yen  baute 
dann  auch  eine  grosse  Mauer  von  Tsho-pang  bis  Siang-ping 
{Leao-yang,  Tscheu  in  Leao-tung),  um  zu  sichern  Schang-ko 
(Pao-ngan-tscheu)  in  Siuen-hoa  in  Pe-tschi-li,  Yn-yang  (Ping- 
ku  hien  in  Pe-tschi-li),  Yeu-pe-ping  (Yung-ping-fu)  ebenda 
Leao-si  und  Leao-tung  Kiün,  um  abzuhalten  die  Hu. 

Später  vernichtete  Thsin  die  6  Reiche.  Thsin-schi 
lioang-ti  sandte  seinen  Feldherrn  Mung-tien  mit  100,000  Mann 
aus.  Der  schlug  im  Norden  die  Hu  südlich  vom  Ho  (nord- 
östlich von  Tschung-li-hien  in  Yung-ping-fu  in  Pe-tschi-li) 
und    auf   den  Ho    sich    stützend   verschluss  er  den  Zugang. 

Zu  dieser  Zeit  waren  die  Ost-Hu  stark  und  die  Yue- 
schi  mächtig  (schlug' voll).  Später  breiteten  die  Hiung-nu 
«ich  wieder  aus.  Wir  übergehen  ihren  späteren  Verkehr 
mit  den  Hiung-nu,  die  sie  schlugen,  ihren  König  ver- 
nichteten, ihr  Volk  und  .ihr  Vieh  wegnahmen.  Nach  de 
Guignes:  Histoire  generale  des  Huns  I,  2  p.  24  flohen  die 
Ost-Hu  nach  Kartschin  und  theilten  sich  die  in  Siän-pi  und 
U-Luan,  welche  dieselbe  Sprache  und  ähnliche  Gewohn- 
heiten hatten. 

Allem  nach  scheinen  die  Jung  aus  verschiedenen  Völker- 
■stämmen  Siän-pi,  auch  Thibetanern  (Kiang),  wie  wir  früher 
sahen,  und  Hiung-nu  bestanden  zu  haben.  De  Guignes  fand 
in  den  Hiung-nu  bekanntlich  die  Hunnen,  der  P.  Hyakinth 
hielt  sie  dagegen  für  Mongolen,  die  noch  da  wohnen. 

IV.    Die  barbarischen  Südstämme 

"kommen     in      verschiedenen     Zeiten     unter     verschiedenen 
tarnen  vor. 


498         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

I.  Die  Miao.  Im  Schu-king  heisst  es  im  C.  Schün-tien 
II,  1,  3,  12:  Schün  schloss  die  San  (drei)  Miao  in  Sau  (drei-) 
Wei8)  ein.  San-Miao  soll  der  Name  eines  Landes  sein  nach 
Tso-tschuen  Tschao  a.  1  und  besonders  dem  Tscheu-kue-tse 
K.  14.  U-khi  (390  v.  Chr.)  erzählt:  San  Miao  habe  zur 
Linken  den  Phang-li  Sumpf  (an  der  Grenze  von  Yang-tscheu 
und  Kiang-nan),  die  Wasser  des  Tung-thing,  den  Berg  Wen 
im  Süden  und  den  Berg  Heng  im  Norden  gehabt ,  womit 
andere  Nachrichten  stimmen ,  vergl.  Sse-ki  B.  65  f.  6r 
S.  B.  33  p.  269.  Es  begriff  also  die  jetzigen  Departements 
Wu-tschhang  in  Hu-pe,  Yo 'tscheu  in  Hu-nan  und  Kieu-kiang 
in  Kiang-si.  Die  drei  (san)  Miao  deuten  wohl  auf  drei 
Häuptlinge  oder  Abtheilungen.  Der  Distrikt  San- Wei  hatte 
nach  der  Geographie  der  jetzigen  Dynastie  seinen  Namen 
von  einem  Hügel  gleichen  Namens  im  Süd-Osten  des  Depar- 
tements Ngan-si  in  Kan-su  mit  jähen  Gipfeln,  die  den  Ein- 
sturz drohten  (daher  der  Name).  Nach  dem  Kue-iü,  Thsu- 
iü  hia,  nahm  man  unter  der  Dynastie  Tscheu  an,  dass  Yao 
mit  Miao  in  Streit  war  und  Schün  ihre  Chefs  mit  einem 
Theile  des  Volkes  entfernte.  Der  Schu-king  sagt  aber  bloss; 
Nachdem  gegen  die  vier  Schuldigen  verfahren  war,  war  das 
ganze  Reich  unterworfen.  §  27  heisst  es:  Er  theilte  und 
trennte  die  San-Miao;  Wang-so  meint:  Die  Zurückgebliebenen 
und  wieder  aufsässig  gewordenen  Miao.  Im  C.  Ta-yü-mo 
II,  2,3  heisst  es:  Der  Kaiser  (Schün)  sprach:  „OhYü!  Da 
ist  zur  Zeit  nur  Yeu-Miao  (der  Besitzer  von  Miao),  der 
nicht  gehorcht:  Gehe  Du,  ihn  zurecht  zu  setzen."  Yü  ver- 
sammelte alle  Fürsten ,  hielt  eine  Ansprache  an  das  Heer 
und  sagte:  „Ihr  zahlreiche  Menge  hört  alle  meine  Befehle; 
stupide  ist  Yeu-Miao,  blind,  unwissend,  ohne  Ehrerbietung, 
andere  verachtend  und  insolent,  hält  er  nur  sich  für  weise; 
entgegen  der  Vernunft  vernichtet  er  die  Tugend;  Weise  sind 


8)  Abweichend  der  Sse-ki  1  f.  12  v.  S.  1. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        499 

in  der  Wildniss,  ferne  vom  Hofe,  unweise  Menschen  in 
Aemtern.  Das  Volk  verwirft  ihn  und  hält  ihn  nicht  auf- 
recht, der  Himmel  lässt  Ungemach  auf  ihn  herabkommen, 
so  habe  ich  Eure  Menge  von  Kriegern  versammelt  und  führe 
die  kaiserlichen  Befehle,  seine  Verbrecher  zu  bestrafen  aus- 
Geht  ihr  vorwärts  mit  einem  Herzen  und  einer  Kraft  und 
Euer  Sieg  wird  erfolgreich  sein." 

§  21  heisst  es  aber:  nach  3  Decaden  widersetzte  das 
Volk  der  Miao  sich  noch  den  kaiserlichen  Befehlen;  da  kam 
Y  dem  Yü  zu  Hilfe  und  sagte:  „Nur  die  Tugend  bewegt  den 
Himmel;  keine  (noch  so  grosse)  Ferne  erreicht  er  nicht. 
Selbstüberhebung  bringt  Verlust  (Minderung),  Demuth  em- 
pfängt Mehrung;  dies  ist  des  Himmels  Weg.  Der  Kaiser  (Schün) 
lebte  Anfangs  auf  dem  Li  Berge,  täglich  ging  er  auf's  Feld,, 
rief  weinend  den  mitleidigen  Himmel  an  und  Vater  und 
Mutter  (die  ihn  verfolgten),  nahm  auf  sich  alle  Schuld  und 
Schlechtigkeit;  ehrfurchtsvoll  diente  er  und  erschien  vor 
seinem  Vater  (Ku-seu)  ehrerbietig  und  furchtsam,  bis  der 
mit  ihm  übereinstimmte.  Die  höchste  Aufrichtigkeit  bewegt 
die  Geister,  um  wie  viel  mehr  Yeu-Miao."  Yü  verneigte 
sich  vor  den  trefflichen  Worten  und  sagte:  Ja!  und  führte 
das  Heer  zurück.  Der  Kaiser  breitete  aus  seine  glänzende- 
Tugend,  man  tanzte  mit  Federn  und  Schildern  an  beiden 
Treppen  des  Hofes  und  nach  7  Decaden  unterwarfen  sich- 
die  Yeu-Miao,  vgl.  das  Bambubuch  Schün  a.  35  p.   116. 

Im  Schu-king  C.  Liü-hing  V,  27,  3  sagt  der  Kaiser 
Tscheu  Mu-wang:  Das  Volk  der  Miao  bediente  sich  nicht 
der  Macht  des  Guten  (ling) ,  sondern  der  Anwendung  von 
Strafen,  wandte  die  5  grausamen  Strafen  an  und  nannten 
das  Gesetz,  tödtete  die  Unschuldigen  und  begann  mit  den 
Excessen,  Nasen  und  Ohren  abzuschneiden  und  zu  brand- 
marken. Die  dieser  Strafe  verfielen,  unterlagen  ihr  ohne- 
Unterschied,  auch  wo  eine  Entschuldigung  war.  Das  Volk, 
mehr    und    mehr    davon    betroffen,     wuide     verwirrt     und 


500         Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

verdunkelt ,  ohne  Treu  und  Glauben  verletzte  es  die 
Eide  und  Verträge :  der  grausame  Schrecken  und  die 
Tödtung  Hess  sie  ihre  Unschuld  nach  oben  erklären. 
Der  Schang-ti  sah  auf  das  Volk ,  keine  duftende  Tugend 
ging  von  ihm  aus,  nur  Strafen  und  deren  Gestank  (übler 
Geruch).  Der  erhabene  Kaiser  hatte  Mitleid  und  Erbarmen 
mit  dem  Volke  das  mit  dem  Tode  bedroht  war  und  liess 
die  Unterdrücker  seine  Majestät  empfinden ,  beschränkte 
und  schnitt  ab  das  Miao  Volk,  dass  es  keine  Generation 
weiter  bestand.  Der  erhabene  Kaiser,  nicht  eingenommen, 
befragte  unten  das  Volk,  die  Verlassenen  und  Verwitt- 
weten  beklagten  sich  über  die  Miao;  seine  (des  Kaisers) 
Tugend ,  erweckte  dagegen  Ehrfurcht.  Von  wem  wollt 
Ihr  jetzt  eine  Warnung  empfangen?  Ist  es  nicht  von 
dem  Miao  Volke,  das  die  Umstände  der  Gefangenen  nicht 
untersuchte,  nicht  gute  Männer  auswählte,  sondern  gewalt- 
thätige  und  die  Geld  nahmen  wählte,  auf  die  i  echte  Mitte 
bei  den  5  Strafen  zu  sehen,  und  die  5  Strafen  abzu- 
schneiden und  zu  verwirren  die  Unschuldigen.  Der  Schang- 
ti  hielt  sie  nicht  für  schuldlos  und  sandte  Ungemach  auf 
die  Miao  herab.  Sie  hatten  keine  Entschuldigung  der  Be- 
strafung und  ihr  Geschlecht  wurde  Vertilgt. 

Diese  Deklamationen  enthalten  leider  wenig  historisches. 
Später  ist  von  den  Miao  weiter  nicht  die  Rede.  In  Südwest- 
China  giebt  es  noch  Miao-tseu,  ob  das  aber  ihre  Nachkommen 
wieKlaproth:  Tableaux  S.  130  annimmt,  und  sie  Thibetaner 
sind,  die  3000  v.  Christo  ganz  West-China  bis  zur  Südkette 
(Nan-ling)  eingenommen ,  wie  Andere  bis  zum  Siangflusse 
(in  Hu-kuang),  der  in  den  Tung-thing  sich  ergiesst,  einige 
selbst  in  den  Bergen  Ho-nan's  so  namentlich  die  San-Miao, 
ist  wohl  sehr  die  Frage.  Nach  Klaproth  hätten  sie  sich  in 
die  Berge  westlich  von  Schen-si,  Sse-tschuen  und  um  den 
Koko-noor  See  zurückgezogen  und  lange  West-Schen-si  ein- 
genommen ,    das   die  Chinesen   erst  im  2.  Jahrhunderte  vor 


Plathi  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         501 

Christo  unterworfen.  Ihre  Nachkommen  erhielten  den 
Namen  Kiang  (Tibetaner).9)  Es  waren  dies  Nomaden  mit 
zahlreichen  Heerden,  die  aber  auch  einige  Felder  bebauten 
und  die  Sitten  und  Gebräuche  der  Barbaren  des  Nordens, 
hatten.  Ihr  Land  hiess  auch  das  der  West-Jung  und  das 
Land  der  Teufel  (Kuei-fang).  Aber  das  Alles  ist  ohne  Be- 
leg und  ohne  geschichtliche  Begründung. 

Ueber  die  jetzigen  Miao-tseu  s.  Bridgman:  Sketch 
of  the  Miau-tsze  im  Journ.  of  the  North  branch  of  the 
Asiat.  Society.  Shang-hae  1859  I.  No.  5;  Thom.  Blakinstone: 
Five  months  on  the  Yang-tse  1862  p.  271  mit  Abbildung 
eines  Miao-tseu  p.  284  und  Neumann's  Asiat.  Studien 
Leipzig  1837,  S.  B.  1  S.  35—120.  Fr.  Müller  allgemeine 
Ethnographie  S.  361  rechnet  sie  zur  Thai-gruppe. 

Die  Kuei-fang  erwähnt  das  Bambu-Buch  einigemal. 
Der  22.  Kaiser  der  2.  Dynastie  Wu-ting  (seit  1273)  a.  32 
griff  Kuei-fang,  das  Land  der  Dämonen,  an  und  lagerte  in 
King  (um  Siang-yang,  am  Zusammenflusse  des  Han  und 
Kiang  nach  Biot  Journ.  Asiat,  p.  570).  a.  34  unterwarfen 
die  Heere  des  Kaisers  die  Kuei-fang  und  auch  die  Ti-kiang 
kamen  und  unterwarfen  sich.  Nach  dem  Y-king  C.  63  Ki- 
tsi  T.  2  p.  366  widersetzte  Kao-tsung  (d.  i.  Wu-ting)  sich 
den  Kuei-fang;  nach  3  Jahren  besiegte  er  sie  und  hatte 
zum  Lohne  ein  grosses  Reich  nach  64,  4  p.  374;  P.  Regis 
nimmt  sie  da  für  Ostbarbaren. 

2.  Die  Me  kommen  schon  im  Schu-king  C.  Wu-tsching 
V,  3  f.  7  vor.  Wu-wang  (1122  v.  Chr.)  sagt  da:  Die  Hoa 
und  Hia  (Chinesen),  die  Man  und  die  Me  sind  mir  anhänglich. 
Die  beiden  letzten  begreifen  hier  alle  Barbaren;  Man  sind 
eigentlich  die  des  Südens,  Me  die  des  Nord-Osten,  wie  im 
Lün-iü  15,  2,  2,    und   Tschung-yung   31,4.     Nach  Schi-king 


9)  So  indess  schon  der  Schol.  zu  Sse-ki  B.  110  Hiung-nu-tschuen, 
auch  bei  Kang-hi  s.  v    Kiang. 

[1874,  4.  Phil.  hist.   CL]  34 


502  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

III,  3,  7,  6  gab  'der  Kaiser  dem  Heu  von  Han  T^chuy 
und  Me ,  die  Nordreiche  zu  behaupten  und  als  ihr  Chef 
ihnen  vorzustehen.  Der  Scholiast  versteht  hier  die  Reiche 
der  I  und  Ti  im  Norden.  IV,  2  und  IV,  7  stehen  ebenfalls 
Man  und  Me  in  Verbindung  für  die  wilden  Stämme  im 
Süden,  wie  die  Lehnreiche  (Pang)  bis  zum  Meere  Hoai-I. 
Keiner  will  ihm  nicht  folgen;  Keiuer  wagt  auf  seinen  Ruf 
nicht    zu    antworten;    so  folgen    sie    dem   Fürsten    von  Lu. 

In  Meng-steu  VI,  2,  10,  2,  4,  7  will  Pe-kuei  statt  ^10 
nur  1!%o  als  Abgabe  vom  Lande  erheben  und  fragt  was 
Meng-tseu  dazu  sage:  Dieser  erwidert:  ,,Dein  Weg  (Princip) 
ist  das  der  Me;  bei  den  Me  wachsen  die  5  Getreidearten 
(U-ko)  nicht,  nur  Hirse  (schu)  erzeugt  es;  da  gibt  es 
aber  auch  keine  mit  Mauern  befestigte  Städte  (Tsching-ko), 
keine  Paläste  (Kung-schi),  keine  Ahnentempel  (Miao),  keine 
Opfergebräuche  (Tsi-Sse-tschi-li),  keine  Fürsten  (Tschu-heu), 
die  Seidenzeuge  (Pi-pe),  Morgen-  und  Abendmahlzeiten 
(Yung-sun)  haben  wollen,  keine  100  Beamten  mit  ihren 
Untergebenen  (Sse),  daher  genügt  es  dort,  wenn  man  nur 
lho  nimmt  (das  geht  aber  nicht  im  Reiche  der  Mitte); 
wünschen  wir  die  Abgaben  zu  verringen  gegen  '(die  unter) 
Yao  und  Schü,  so  haben  wir  ein  grosses  und  kleines  Me, 
vergrössern  wir  sie,  so  haben  wir  einen  grossen  und  kleinen 
Kie.  Legge  bemerkt:  Die  Me  waren  Hirten,  die  nur  wenig 
Land  bauten. 

Kung-yang  Tschuen  Siuen  a.  15  erwähnt  die  grossen 
und  kleiuen  Me. 

Im  Sse-ki  B.  43  f.  15  vgl.  Pfizmaier  Geschichte  von 
Tschao  S.  17  heisst  es:  Er  kam  bis  zu  den  Tschu-me 
von  Hien-huen. 

Der  Sse-ki  B.  79  f.  17,  S.  B.  30  S.  247  erwähnt  das 
Land  der  Hu-me;  da  bittet  Siü-Ku ,  sie  einschliessen  zu 
dürfen.  Die  Hu  haben  wir  schon  oben  bei  den  Hiung-nu 
erwähnt.     Im  Sse-ki  87  f.  21  v.,  S.  B.  31  S.  347  heisst  es: 


Tlath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         50 ^ 

Eul-Schi  vertrieb  im  Norden  die  Hu-me,  im  Süden  befestigt© 
er  die  100  Stämme  der  Yue. 

Nach  Sse-ki  116  f.  4,  S.  B.  45  S.  301  baute  man 
{unter  den  Han)  eine  Mauer  um  So-fang,  nahm  eine  feste 
Stellung  am  Hoang-ho  und  vertrieb  die  Hu.  Hoang-Yn  und 
andere  sagten:  Die  Südwest-I  seien  schädlich,  Man  könne 
aber  einstweilen  von  ihnen  ablassen  und  sich  ausschliesslich 
mit  den  Hiung-nu  beschäftigen. 

3.  Die  Man  erwähnt  schon  der  Schu-king  C.  Yü-kung 
III,  1,  2,  22  sagt:  Die  500  (fernsten)  Li  bildete  der  Lieu- 
fu,  die  wilde  Domäne;  300  Li  von  diesen  hatten  die  Man 
und  200  Li  die  Verbannten  (Lieu)  inne. 

Nach  Liü-schi's  Tschhüu-thsieu  im  I-sse  9  f.  3  kämpfte 
Yao  am  Ufer  des  Tan-Flusses,  die  Süd-Man  (Nan-Man)  zu 
unterwerfen.  Der  Ti-Wang  Schi-ki  ebenda  sagt :  Die  Yeu- 
Miao  wohnten  mit  den  Nan-Man  und  unterwarfen  sich  nicht, 
Yao  zog  gegen  sie  und  besiegte  sie  am  Ufer  des  Tan- 
(rothen  Zinnober)  Flusses.  Nach  C.  Schün-tien  II,  1,  16 
bringen  die  Man  und  I  einander  zur  Unterwerfung.  Nach 
§  20  stören  die  Man  und  I  das  grosse  Land  (China); 
ebenso  der  Sse-ki  B.  115  f.  1  v.  und   116,  f.  2. 

Im  Capitel  Liü-ngao  V,  5  heisst  es:  Nach  Besiegung 
<ler  Dynastie  Schang  war  der  Weg  zu  den  9  I  und  8  Man 
offen.  Der  Kue-iü  C.  2  f.  15  spricht  unter  Wu-wang  von 
D  I,  aber  100  (pe)  Man;  8  Man  im  Süden  hat  auch  der 
Tscheu-li  33  f.  1.  Im  C.  Wu-tsching  V,  3,  6  —  die  Hoa 
und  Hia,  die  Man  und  Me  folgen  mir,  —  bezeichnen  beide 
letztere  schon  die  Barbaren  überhaupt,  wie  im  Lün-iü  15, 
5,  2.  Im  Schi-king  IV,  2,  4,  7  reicht  La's  Macht  bis  zu 
den  Lehnreichen  am  Meere,  die  Hoai-I,  die  Man  und  Me 
und  die  I  weiter  im  Süden,  jeder  folgt  ihm.  III,  3,  2,  4 
heisst  es:  Streitwagen  und  Rosse,  Bogen  und  Pfeile  und 
andere  Kriegswaffen  werden  zubereitet  für  kriegerische 
Thaten,    um  ferne  zu  halten  die  Gegend  (Horden)  der  Man. 

34* 


504         Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Das  Lied  soll  von  Wu-kung  von  Wei  (seit  811  v.  Chr.)  sein; 
s.  Legge  IV,  2,  p.  510.  Nach  Schi-king  III,  3,  7,  6  sollte 
der  Fürst  von  Han  Vorstand  der  100  Man  sein.  Der  Kaiser 
gab  ihm  Tschui  und  Me.  Nach  der  Vorrede  geht  die  Stelle 
auf  Siuen-wang. 

575  v.  Chr.  stellten  die  Südbarbaren  Thsu  Hülfstruppen 
gegen  Tsin ,  aber  sie  hatten  keine  Schlacht-Ordnung  nach 
Tso-schi  Tsching-kung  a.  16  f.  25  v.,  S.  B.   17  S.  305. 

Meng-tsu  III,  14,  14  sagt:  „Da  sind  jetzt  die  Männer 
der  Süd-Man  mit  der  Zunge  des  Neuntödters  (Ki),  die  nicht 
den  Weg  der  früheren  Kaiser  wandeln.  Du  kehrst  deinem 
Lehrer  den  Rücken  zu  und  studirst  diese,  verschieden  von 
Tseng-tseu."  Meng-tseu  III,  2,  6,  1  sagt  zu  Pu-sching: 
Gesetzt  es  wäre  ein  Ta-fu  von  Thsu  hier,  der  wünschte,  dass 
sein  Sohn  die  Sprache  von  Thsi  lernte,  wird  er  da  einen  Mann 
aus  Thsi  oder  einen  aus  Thsu  verwenden?  Er  sagte:  Einen 
Mann  aus  Thsi,  Meng-tseu:  Aber  wenn  nur  1  Mann  aus 
Thsi  sie  ihm  überliefert,  eine  Menge  Leute  aus  Thsu  ihn 
aber  beständig  anschreien,  so  kann  er,  obwohl  sein  Vater 
ihn  täglich  schlägt  und  sucht,  dass  er  die  Sprache  von  Thsi 
lerne,  das  nicht  erlangen ;  ebensowenig  als  die  Sprache  von 
Thsu,  wenn  er  einen  zwischen  Tschoang  und  Yo  —  einem 
Nachbarorte  der  Hauptstadt  von  Thsi  —  versetzt.  Die  Ur- 
bevölkerung von  Thsu  waren  wohl  Man. 

Die  Man  in  King  (Thsu)  und  in  U  a.  1111  v.  Chr. 
Unter  Tsching-wang  waren  die  King-Man  dem  Fürsten  Tschu- 
pe Sian-Meu  nur  so  weit  sie  wollten  unterworfen,  nach  de 
Maiila  T.  I  p.  310;  1002  v.  Chr.  schien  das  Volk  der 
King-man  (südlich  vom  Kiang)  s;ch  empören  zu  wollen. 
Tschhao-wang  zog  gegen  sie,  auf  einem  Jagd-Zuge  das  Land 
verheerend,  kam  aber  dabei  um  ib.  p.  343  fg.  Nach  dem 
Bambu-Buche  folgten  a.  19  der  Kung  von  Thsi  und  Pe  von 
Siü  dem  Kaiser  und  fielen  in  Thsu  ein.  Der  Himmel  war 
dunkel  und  stürmisch,  Fasane  und  Hasen  wurden  erschreckt. 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        505 

Es  kamen  um  die  6  Heere  im  Hanflusse;  der  Kaiser  starb. 
Schon  im  16.  Jahre  hatte  Tschhao-kung  Thso  angegriffen. 
Unter  Mu-wang  (seit  961)  a.  35  fielen  die  King-Männer  in 
Siü  ein.  Thie  und  derPe  von  Mao  führten  ein  Heer  gegen 
sie  und  schlugen  sie  am  Tseflusse. 

Im  37.  Jahre  hob  der  Kaiser  9  Heere  aus,  kam  im 
Osten  bis  zu  dem  Kieu(9)-kiang,  setzte  über  ihn  auf  einer 
Brücke  aus  Schildkröten  und  Iguanadons,  schlug  dann  die 
Yuei.  Die  King-Männer  kamen  mit  Tribut  nach  dem  Bambu- 
Buche  unter  Li-wang  (seit  852)  a.  14,  überfielen  die  Yen- 
yün  (die  späteren  Hiung-nu).  Die  W.-Grenzstadt  von  Tsung- 
tscheu  des  Kung  Mo  von  Tschhao  führte  ein  Heer  gegen 
die  King-man  und  kam  bis  zum  Lo  Flusse  nach  dem  Bambu- 
Buche.  Unter  Siuen-wang  (seit  826)  a.  5  im  Sommer  im 
6.  Monate  führte  Yn  Ki-fu  ein  Heer,  griff  die  Yen-yün  an 
und  kam  bis  Thai-yuen.  Im  Herbste  im  8.  Monate  führte 
Fang-scho  ein  Heer  und  griff  die  King-Man  an,  nach  dem 
Bambu-Buche,  vgl.  de  Maiila  T.  2  pag.  29.  Der  Schi-king 
II,  3,  4  feiert  ihn.  Man  erntete  da  die  weisse  Hirse  in 
diesen  neuern  Feldern  und  in  den  Meu  (Aeckern),  die  erst 
1  Jahr  angebaut  waren,  als  Fang-scho  das  Commando  über- 
nahm. Seiner  Streitwagen  waren  30,000 ,  sein  Heer  wohl- 
geschulte Krieger;  seine  Wagen  hatten  4  scheckige  Rosse 
und  bewegten  sich  ordentlich;  sein  grosser  Wagen  (Lu-kiü) 
war  roth  mit  einem  Schirme  aus  feiner  Bambu-Matte 
(Tien-ti),  einem  Kleide  (Köcher)  aus  Fischhaut  und  Hacken 
für  den  Pferdeschmuck  an  den  Brustbändern  und  Zügeln. 
Die  Flaggen  mit  Drachen  und  Ochsenschweifen  glänzten. 
Die  Naben  seiner  Räder  waren  mit  Leder  umwunden, 
das  Joch  verziert,  die  8  Glöckchen  am  Pferdegebisse  (Luan) 
machten  ein  Geklingel.  Er  trug  die  befohlene  Tracht.  Die 
rothen  Kniedecken  waren  glänzend.  Er  hatte  klingende 
Gemmen  am  Gürtel.  Dass  das  Heer  anhalte,  schlug  man 
die  Trommeln.     Er   ordnete  sein  Heer   und   hielt   eine  An- 


506  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

spräche  an  dasselbe.  Einsichtsvoll  und  treu  war  Fang-scho; 
zurück  führte  er  das  Heer  bei  leisem  Tone.  (Wir  erfahren 
hier  freilich  mehr  über  den  Anzug  des  chinesischen  Feld- 
herrn als  über  die  King-Man,  nur  Vers  4  sagt:  Thöricht 
waren  die  Man-King).  Gegen  die  grossen  Lehn-Reiche  (Ta- 
pang)  wollten  sie  auftreten.  Fang-scho  ist  schon  alt,  aber 
kräftig  sind  seine  Pläne.  Er  verfolgte  sie,  ergriff  die  Chefs- 
für  die  Tortur  und  nahm  den  Haufen  gefangen.  Seine 
Kriegswagen  waren  zahlreich,  die  grosse  Schlacht-Ordnung 
wie  Blitz  wie  Donner.  Er  zog  dann  gegen  die  Yen-Yün 
und  griff  sie  an.  Die  Man-king  kamen  erschreckt  (voll 
Ehrfurcht). 

Als  Huan-kung  von  Tsching  (806—777)  Sse-tu  des 
Kaisers  war,  hatte  Tscheu  im  Süden  unter  Andern  die 
King-Man  nach  Kue-iü  C.  5  Tsching-iü  f.   1. 

651  v.  Chr.  begann  Thsu  Tsching- wang  sich  der  King* 
Man  zu  bemächtigen  (scheu)  nach  Sse-ki  B.  32  f.  12, 
S.  B.  40  S.  666. 

Lu  Hi-kung  (659-626)  greift  die  Jung,  Ti  und  King- 
Tschu  an;  keiner  wagte  ihm  zu  widerstehen.  Nach  la 
Charme  p.  318  sassen  die  in  Hu-kuang  und  Ho-nan.  Die 
Geschichte  erwähne  dieser  Expedition  aber  nicht. 

4.  Die  Min  kommen  im  Schu-king  noch  nicht  vor,  da 
China  damals  noch  nicht  so  weit  nach  Süden  reichte,  aber 
die  kurze  Geographie  im  Tscheu-li  33  f.  1  hat  die  4  I,  die 
8  Man,  die  7  Min,  die  9  Me,  die  5  Jung  und  die  6  Ti. 
Nach  den  Scholien  wohnten  die  I  im  Osten,  im  Süden  die 
Man,  im  Westen  die  Jung,  im  Norden  die  Me  und  Ti. 
Einige  unterschieden  die  Min  im  Südosten  als  eine  Fraktion 
der  Man.  Die  Zahlen  bezeichnen,  wie  viele  Reiche  von 
diesen  den  Tscheu  unterworfen  waren.  Auch  in  Tscheu-li 
37,  13  kommen  die  Min-li  als  Kriegsgefangene  vor.  Min 
ist  später  noch  der  Name  der  Provinz  Fo-kian,  wie  ein 
Theil  von  Yuei  der  von  Kuang-tung,  nach  Sse-ki  41  f.  11 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         507 

v.,  S.  B.  44  S.  212.  Nach  dem  Scholiasten  zu  Sse-ki  114 
f.  1  ist  Min  der  besondere  Name  von  Ost-Yuei;  dieses  hatte 
Schlangen,  daher  der  Charakter  für  Min  aus  Cl.  169  Thor 
und  142  Wurm  oder  Insekt.  Der  Schan-hai-king  bei 
Kang-hi  setzt  die  Min  noch  mitten  ins  Meer.  Nach  den 
Scholiasten  da  ist  Min-Yuei  West  (Si-)  Ngeu ,  (jetzt  Kien 
Ngan,  Kiün  in  Fo-kien). 

Die  ursprünglich  barbarischen  Reiche  Thsu,  U 
und  Yue. 

Thsu  in  Hu-kuang  und  der  früheren  Provinz  Kingy 
also  China  zunächst,  war  auch  am  meisten  chinesisch,  unter- 
warf dann  aber  allmählich  die  Barbaren  King  Man,  wie 
schon  erwähnt  ist.  Wir  können  in  die  Geschichte  im  Ein- 
zelnen nicht  eingehen.  Der  Sse-ki  B.  40  gibt  die  Geschichte 
von  Thsu.  Wir  bemerken  daher  nur,  dass  die  Fürsten 
von  Thsu  von  Kaiser  Tschuen-hio  oder  Kao-yang,  Hoang- 
ti's  Enkel,  abstammen  wollten.  Tscheu  Tschiug-wang 
belehnte  Hiung-ye  mit  Thsu.  Sein  Wohnsitz  war  Tan- 
yang  (jetzt  Tschhi  Khiang  in  Hu-kuang).  Er  machte 
seinen  ältesten  Sohn  zum  Könige  von  Keu-tan  (Kiang-ling 
in  King-tscheu  in  Hu-kuang);  seinen  zweiten  Sohn  Hung 
zum  Könige  von  Ngo  (Wu-tschang  in  Hu-kuang),  seinen 
dritten  Sohn  Tschhe-tscbe  zum  Könige  von  Yuei-tschang, 
entfernte  sie  aber  später  wieder.  Der  Sse-ki  gibt  erst  die 
blossen  Namen  seiner  Nachfolger. 

Hiung-khiü  im  Sse-ki  40  f.  3  v.  sagt :  Wir  sind 
Man-I  und  haben  nicht  die  Sprache  des  Reiches  der  Mitte 
(Ngo  Man-I,  pu  iü  Tschung-kue  tschi  hao-i). 
#  Die  Geschichte  von  U  enthält  der  Sse-ki  B.  31,  die 
von  Yuei  derselbe  B.  41.  Wir  haben  aber  auch  noch  U-iü 
im  Kue-iü  K.  19  und  Yuei-iü  ib.  20  und  21;  dann  den 
U-Yuei  Tschhün-thsieu   und    Yue    thsiue-schu   in    der   schon 


508        Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  6.  Juni  1874. 

öfter  erwähnten  Sammlung  10)  II,  4  und  3.  .  Pfizmeier's  Ge- 
schichte von  U  (Wien  1857  in  4°)  gibt  nur  die Uebersetzung  der 
Geschichte  von  U  nach  dem  Sse-ki.  Die  Fürstenfamilie  von  U 
leitete  ihr  Geschlecht  von  der  Kaiserfamilie  der  Tscheu  ab. 
Thai-pe  war  ein  Sohn  von  Tscheu-Thai-wang  und  der  ältere 
Bruder  von  Ki-li.  Sein  Vater  wollte  diesem  die  Nachfolge 
in  Tscheu  zuwenden,  da  floh  Thai-pe  mit  seinem  Bruder 
Tschung-yung  zu  den  King -Mau,  täto  vierte l  J)  seinen  Leib 
(Wen-tschin,  nach  den  Scholiasten  mit  Drachenfiguren), 
schnitt  das  Kopfhaar  ab  (tuan-fa,  nach  den  Scholien,  weil 
sie  immer  im  Wasser  waren).  Als  er  zu  den  King-Man 
floh,  nannte  er  sich  Keu-U.  Die  Südbarbaren  anerkannten 
seine  Gerechtigkeit,  folgten  ihm,  kamen  zu  ihm  über 
1000  Familien  und  erhoben  ihn  zum  Fürsten  U  Thai-pe. 
Als  er  ohne  einen  Sohn  zu  hinterlassen  gestorben  war, 
folgte  ihm  sein  Bruder  Tschung-yung.  Der  Sse-ki  nennt 
3  Nachfolger  desselben ,  unter  dem  3.  Tscheu-tschang  be- 
siegte Tscheu  Wu-wang  die  2.  Dynastie  Yn,  forschte  nach 
Thai-pe's  und  Tschung-yung's  Nachkommen,  fand  Tscheu- 
tschang  und  belehnte  ihn  wie  dessen  Jüngern  Bruder  Yü- 
tschung,  (nach  den  Scholien  diesen  in  Ho-tung,  östlich  vom 
Ho,  in  Thai-yang-hien).  Als  Tscheu-tschung  gestorben  war, 
folgte  ihm  sein  Sohn,  Hiung-suy;  Hiung,  der  Bär,  war  der 
Name  der  Fürsten  von  Tshu.  Von  dessen  Nachfolgern  gibt 
der  Sse-ki  die  blossen  Namen,  ohne  Angabe  ihrer  Regierungs- 
dauer. Zur  Zeit  von  Keu-pi  vernichtete  Tsin  Hien-kung  im 
Norden  Yü-kung. 

Eine  eigentliche  Geschichte  U's  beginnt  erst  mit  Scheu- 
mung  in  der  19.  Generation  seit  Thai-pe;  da  begann  U 
sich  zu  mehren  und  ein  grosses  Königreich  zu  werden. 
Von   da   an    hat   der  Sse-ki    auch  erst  die  Angabe   der  Re- 


10)  Han  Wei  thsung  schu  s.  über   diese  meine  Abh.  a.  d.  S.  B. 
1868  I,  2  S.  285  ff. 

11)  Nach  Tso-schi  p.  813  erst  Tschung-yung.?? 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         509 

gierungsjahre  des  Fürsten.  Ein  Ta-fu  (Grosser)  von  Thsu 
zürnte  Thsu,  floh  nach  Tsin,  sandte  von  da  nach  U  und 
lehrte  ihm  den  Gebrauch  der  Waffen  und  Wagen  und  U 
£ng  an  in  das  Reich  der  Mitte  einzudringen.  Scheu-mung 
hinterliess  vier  Söhne,  die  schon  ganz  Chinesen  waren  und 
nichts  barbarisches  an  sich  hatten.  Von  Ki-tscha  (544) 
haben  wir  namentlich  eine  Diatribe  über  den  Schi-king  bei 
•  Tso-schi  Siang-Kung  a.  29  f.  30—32,  S.  B.  492-498  und 
Legge  p.  549  fgg.  siehe  mein  Leben  des  Gonfucius  II,  2  S.  62  fgg. 

Unter  dem  26.  Kaiser  Yuan  (seit  474)  a.  4  vernichtete  Yü- 
juei  U;  beide  waren  in  Kiang-su  und  Tsche-kiang,  U  mehr  im 
Norden. 

Die  Yuei  kommen  im  Schu-king  und  in  Tschcu-li  noch 
flicht  vor. 

Unter  Tsching-wang  von  Tscheu  a.  10  huldigte  Yuei- 
ischang  (nach  dem  Scholiasten  des  Bambu-Buches  in  Tsche- 
kiang)  und  unterwarf  sich;  im  24.  Jahre  unter  Mu-wang 
a.  37  fiel  man  in  Yuei  ein  und  kam  bis  Yü.  A.  307 
schildert  der  König  von  Tschao  die  Ngeu-Yuei's  in  Fo-kien. 
Sie  schoren  das  Haar,  bemalten  den  Leib,  ätzten  die  Arme 
und  trugen  den  Mantel  auf  der  linken  Seite  nach  Sse-ki 
B.  43    f.  24;    s.  Pfizmeier's   Geschichte   von  Tschao   S.  31. 

Die  Geschichte  von  Yuei  im  Sse-ki  B.  31  beginnt  erst 
mit  Scheu-mung.  Dieser  sollte  ein  Nachkomme  von  Yü's 
Miao-Isein.  Das  Yü  zu  Anfange  ist  nicht  klar;  o.LeggeV,  2  p.  759. 

Unter  dem  27.  Kaiser  Tsching-ting  a.  1  verlegte  Yü- 
vuei  seine  Hauptstadt  nach  Lang-ya  (in  Tschu-tsching ,  im 
Departement  Thsing-tscheu  in  Schan-tung).  Im  4.  Jahre 
im  11.  Monate  starb  der  Tseu  von  Yü-yuei  Keu-tsien.  Die 
Fürsten  hatten  doppelten  Namen,  einen  chinesischen  und 
einen  in  der  Landessprache,  wie  später  die  Kitan  und  Kin 
Apaoki  und  Agutha.  Keu-tsien  hiess  in  der  Landessprache 
Tantschi  nach  Kin-li-tsiang  bei  Legge  III,  1,  p.  167  ist 
dieses  als  ein  Wort  zu  lesen,  nach  dem  syllabarischen 


510         Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Systeme  des  Westens.  Diese  Notiz  über  die  Sprache 
der  Yuei  ist  bemerkenswerth.  Sie  war  danach  ganz  ver- 
schieden von  der  chinesischen.  Wir  führen  daher  beide 
Namen  der  Fürsten,  wo  sie  vorkommen,  an,  obwohl  wir 
nicht  sagen  können,  zu  welchem  Sprachstamme  die  der  Yuei 
gehörte.  Auf  Keu-tsien  folgte  sein  Sohn  Lo-tsching,  auf  diesen- 
Pu-scheu  oder  Mang-ku,  der  im  20.  Jahre  getödtet 
wurde;  auf  ihn  Tschu-keu  oder  Than.  Unter  Wei-lie-wang^ 
(seit  424)  a.  12  vernichtete  Yu-yuei  Theng,  a.  11  griff  der 
Tsu  vor  Yü-yuei  Tschu-keu  Than  (Than-sching  in  I-tscheu 
in  Schan-tung)  an.  Er  starb  im  14.  Jahre  und  es  folgte 
sein  Sohn  I.  Unter  dem  30.  Kaiser  Ngan  (seit  400)  a.  23- 
verlegte  Yü-yuei  seine  Hauptstadt  nach  U.  Im  26.  Jahre 
im  7.  Monate  ermordete  Tschu-keu,  der  älteste  Sohn  von 
Yu-yuei,  seinen  Fürsten  I;  im  10.  Monate  tödteten  die- 
Männer  von  Yuei  ihn;  er  hiess  Yue-Hoa  und  machten  zum 
Fürsten  den  Fu-tso-tschi.  Unter  dem  31.  Kaiser  Li-wang: 
(seit  374)  a.  1  legte  ein  Ta-fu  von  Yü-yuei  Sse-keu  die 
Unordnung  im  Staate  bei  und  setzte  Tsu-wu-iu,  genannt 
Mang-ngan,  ein.  Unter  dem  32.  Kaiser  Hien  (seit  367) 
tödtete  Sse,  ein  jüngerer  Bruder  Sse-Keu's,  seinen 
Fürsten  Mang-ngan  und  es  folgte  Wu-tschuen,  Than-tscho- 
mao  genannt;  er  starb  im  12.  Jahre  und  es  folgte  Wu-kiang^ 
Dieser  griff  im  36.  Jahre  Thsu  an;  dieses  aber  belagerte 
Thsi  in  Siu-tscheu  und  schlug  ihn.  Unter  dem  34.  Kaiser 
Yin  oder  Nan  im  3.  Jahre  im  4.  Monate  sandte  der  König: 
von  Yuei  Kung  Sse-iüe  an  Wei  nach  dem  Bambu-Bucher 
p.  176  (?)  300  Schiffe,  5  Millionen  Pfeile,  Rhinoceroshörner 
und  Elephantenzähne. 

Alle  Yuei  waren  in  der  späteren  Zeit  nicht  dem  Könige 
unterworfen. 

Das  südliche  (Nan-)  Yuei  erhielt  unter  Thsin  Schi 
Hoang-ti  den  Namen  Nan-hai  siang  kiün  nach  Sse-ki  B.  115 
f.  1,  de  Maiila  T.  II  p.  510  und  543,  Gouverneur  war  erst 


Plath :  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         51t 

Jin-ngao  und  nach  seinem  Tode  Tschao-to  (beides  Chinesen). 
Es  ist  durch  die  Berge  unzugänglich  und  hielt  von  Osten 
nach  Westen  mehrere  1000  Li.  Er  bemächtigte  sich  Kuei- 
lin's  und  Siang-Kiün's  und  machte  sich  zum  Könige  von 
Nan-yuei  nach  2  f.  Der  Kaiser  Kao  der  Dynastie  Han 
schickte  Lu-kia  an  ihn  und  er  erkannte  den  Kaiser  (nominell) 
an;  vorher  heisst  es  im  Sse-ki  87  f.  21  v.,  S.  B.  31  S.  347 
im  Süden  brachte  der  Minister  von  Thsin  Li-sse  die  lOOYuei 
zur  Ordnung;  dies  hatte  also  bleibend  nicht  viel  auf  sich 
oder  wenn  unter  einer  starken  chinesischen  Regierung  die 
Yuei  sich  unterwarfen,  fielen  sie  unter  einer  schwächeren  ab 
oder  erkannten  China's  Oberhoheit  nur  nominell  an.  Nach 
Sse-ki  41  f.  1,  S.  B.  44  p.  198  bemalten  die  Einwohner 
von  Yuei  damals  (zum  Theil)  noch  den  Leib,  schnitten  das 
Haar  ab,  bahnten  Wege  durch  Kraut  und  Jungein.  hatten 
aber  doch  schon  Städte.  Nachdem  Wu-khiang  im  Kampfe 
gegen  Tshu  gefallen  und  U  333  v.  Chr.  von  Thsu  erobert 
war,  wurde  Yuei  zersplittert,  die  Söhne  der  Seitengeschlechter 
stritten  mit  einander.  Einige  nannten  sich  Könige  (Wang), 
andere  Fürsten  (Kiün).  Sie  wohnten  südlich  vom  Kiang 
am  Meere  und  huldigten  Tshu.  Nach  7  Generationen  stand 
Yao,  der  Fürst  von  Min,  den  Fürsten,  die  sich  gegen  Thsin 
erhoben ,  zur  Seite.  Han  Kao-ti  machte  ihn  zum  Könige 
von  Yuei.  Später  war  der  Fürst  von  Ost-Yuei  und  von 
Min  sein  Nachkomme,  nach  Sse-ki  41  f.  11  v.  S.  B.  44 
S.  212.     Min  heisst  hier  also  ein  Theil  von  Yuei. 

Einige  andere  barbarische  Reiche 

kommen  noch  gelegentlich  vor,  die  aber  zum  Theil  ausser 
dem  derzeitigen  alten  China  gelegen  waren.  So  redet  im 
Schu-king  Cap.  Mu-schi  V,  2 ,  4  Wu-wang  sein  Heer  an: 
„Weit  her  seid  ihr  gekommen,  Ihr  Männer  des  Westlandes, 
(Si-tu)  von  Jung,  Schu ,  Kiang,  Mao,  Wei,  Pheng  und  Po, 
(8  Stämme   in   Tse-schuen   und  Hu-pe).     Auch  das  Bambu- 


512  Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Buch  erwähnt  sie  unter  Schang  Ti-sin  a.  52,  vgl.  Sse-ki  4, 
f.  8.  Yung  ist  der  jetzige  Distrikt  Tschu-schan  in  Yüu-yang 
in  Hu-pe,  S.  B.  44  S.  73  A°  611  v.  Chr.  war  in  Thsu 
eine  grosse  Hungersnoth. 

Die  Jung  fielen  in  S.  W.  ein,  drangen  bis  zum  Hügel 
von  Feu  vor  und  ihr  Heer  fasste  Posto  zu  Ta-lin;  ein 
anderes  Corps  drang  im  S.  0.  ein  und  bis  Jung-Khieu  vor 
und  fiel  dann  in  Tse-tschi  ein. 

Die  Leute  von  Yung  stellten  sich  gleichzeitig  an  die 
Spitze  der  Südbarbaren  und  empörten  sich  gegen  Thsu 
nach  Tso-schi  Wen-kung  a.  16,  S.  B.  15  S.  466  bei  Legge 
V,  1  p.  275  und  Ma-tuan-lin  K.  263  f.  29  v.  Die  von 
Kiün  führten  die  vielen  Stämme  der  Po  an  und  sammelten 
sich  zu  Siuen,  da  einzudringen.  Die  Thore  von  Schin  und 
Si  im  Norden  wurden  geschlossen  und  einige  riethen  die 
Hauptstadt  nach  Fan-kao  zu  verlegen.  Wei-kia  rieth  aber 
davon  ab.  „Gehen  wir  dahin,  so  können  die  Räuber  auch 
dorthin  kommen,  besser  ist  es  in  Yung  einzufallen.  Kiün 
und  alle  Po  meinen,  der  Hungersnoth  wegen  könnten  wir 
das  Feld  nicht  behaupten,  und  fallen  deshalb  ein.  Schicken 
wir  ein  Heer  gegen  sie,  so  weiden  sie  sicher  erschrecken 
und  heimkehren.  Die  Po  wohnen  von  einander  getrennt, 
und  wenn  sie  aufrührerisch  ausziehen,  geschieht  es  von 
jeder  Stadt,  von  jedem  Stamme  aus  seiner  Stadt,  wer  hat 
Müsse  an  ein  Corps  als  an  sein  eigenes  zu  denken?"  Dem- 
gemäss  wurde  ein  Heer  gegen  sie  ausgesandt  und  in  14  Tagen 
war  ihr  Angriff  zu  Ende.  Das  Heer  kam  von  Liu,  öffnete 
die  Kornmagazine  und  Offiziere  und  Gemeine  erhielten  da- 
raus bis  zum  Haltplatze.  Tschi-li  sagte :  „Die  Truppen  von 
Yung  sind  zahlreich  und  alle  Man  versammelt,  besser  wir 
kehren  zur  Armee  nach  Keu-schi  zurück,  und  rücken  erst 
vor  nachdem  wir  die  Truppen  des  Königs  ausgehoben  und 
uns  mit  ihnen  vereinigt  haben."  Aber  Sse-schu  sagte: 
„Nein,   lasst  uns   eine  Zeitlang   dem  Feinde  begegnen   und 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         513 

ihn  verwegen  machen.  Ist  er  das  und  wir  werden  böse,  so 
besiegen  wir  ihn .  wie  einst  Fen-Mao  (der  Vater  von  Wu. 
von  Tshu)  Hing-Si  unterwarf." 

Von  da  hiess  man  Tsi-li  von  Liu  (einen  Grossen,  der 
von  Thsu  abhing) ,  in  Yung  bis  Fung-sching  einzufallen. 
Die  Leute  von  Yung  vertrieben  ihn  und  seine  Truppen  und 
machten  Tseu-yang  gefangen,  der  aber  die  3  te  Nacht  entkam. 
7  mal  traf  er  mit  den  Yung  zusammen  und  floh ,  es  war 
aber  nur  eine  Kriegslist.  Die  Yung  sagten:  Thsu  ist  des- 
Kampfes  nicht  werth  und  machten  in  Folge  dessen 
keine  Vorbereitungen  zu  einem  Angriff.  Der  Fürst  von 
Thsu  eilte  dann  mit  untergelegten  Pferden  herbei  und  ver- 
einigte sich  mit  dem  Heere  in  Liu-phin.  Er  bildete  2  Heere;, 
mit  einem  drang  Tse-yue  von  Schi-khi  aus,  mit  dem  andern 
Tse-hai  in  Yung  ein.  Die  Leute  von  Thsin  und  Pa  folgten 
dem  Heere  von  Thsu  (als  Hülfstruppen).  Die  Südbarbaren 
nahmen  den  Vertrag  des  Fürsten  von  Thsu  an;  hierauf  ver- 
nichtete er  Yung. 

Der  Tschhün-thsieu  Wen-kung  a.  16  bei  Legge  p.  274 
hat  bloss:  Thsu's  Leute  (Heer),  Tshin's  Leute  und  Pa's 
Leute  vernichteten  Yung." 

Das  2te  Land  Schu  war  Sching-tu  in  Sse-tschuen,  das 
3te  Kiang,  westlich  und  nördlich  davon.  So  heissen  später 
die  Thibetaner.  Das  4te  und  5te  Mao  und  Wei  liegen 
im  Distrikte  Pa-Hien  in  Tschung-khing;  das  6te  Lu  in  Nan- 
tschang  in  Siang-yang  in  Hu-pe;  das  7te  Pheng  in  Mei, 
in  Sse-tschhuen,  wo  noch  der  Berg  Pheng-tscheng.  —  Nach 
dem  Bambu-Buche  vernichtete  der  Kaiser  Wu-ting  (seit 
1273)  a.  43  Gross  (ta-)  Pheng.  —  Das  8te  Po  in  King-tscheu 
in  Schi-tscheu,  in  Hu-pe.  (So  Legge  III,  2,  p.  302.  Biot 
im  Journ.  Asiat.  12  p.  578  sagt  die  vier  ersten  in  Sse- 
tschhuen,  die  andern  in  Süd-Ho-nan  und  Schan-tung).  Im 
Schu-king  Cap.  Li-tsching  V,  19,  llheisstes:  Die  Barbaren 
(I)  Wei,  Lu  und  Tsching  und  die  3  Po  hatten  an  unsichem 


514         Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Stellen  Aufseher.  Die  3  Po  Mung  oder  die  Nord-Po 
im  jetzigen  Schang-khieu  in  Kuei-te  in  Ho-nan ,  die  West- 
Po  in  Jeu-sse  in  Ho-nan,  und  die  Süd -Po,  wenige  Li  von 
den  nördlichen  nach  Legge  p.  516.  Die  Po  sind  schon  bei 
den  Jung  erwähnt. 

Nach  Tso-schi  p.  674  wollte  unter  Tschhao  a.  19  (524) 
Thsu  eine  Expedition  zu  Schiffe  gegen  Po  ausrüsten,  da 
einzufallen.  Fei-wu-ki  aber  sagte:  ,,Tsin's  leitende  Stellung 
rührt  daher,  dass  es  nahe  den  grossen  Staaten  ist,  während 
Thsu  ferne  und  dunkel  mit  ihm  nicht  wettringen  kann; 
besser  er  umgebe  Sching-fu  mit  bedeutenden  Festungswerken 
und  setzte  seinen  ältesten  Sohn  dahin,  mit  der  Nordgegend 
in  Verbindung  zu  kommen,  während  er  den  Süden  zu- 
sammenhalte; so  besitze  er  das  ganze  Reich."  Er  befolgte 
seinen  Rath. 

Die  Barbaren  des  Süd-Westen  (Si-nan  I) 

begreifen  die  inYün-nan  und  West  Sse-tschhuen,  die  lange  und 
zum  Theil  noch  jetzt,  mehr  oder  minder  unabhängig 
von  den  Chinesen  waren.  Von  diesen  handelt  der  Sse-ki 
B.  116,  S.  B.  45  S.  294—314.  Hier  zunächst  die 
geographische  Uebersicht:  Der  Südwest-Barbaren 
Si-nan  (1)  Fürsten  oder  Aelteste  (Tschang)  waren  10,  Ye- 
lang  darunter  der  grösste.  Ye-lang  ist  ein  Kreis  in  Khio- 
tsing  in  Yün-nan,  Siü-tscheu  und  Kua-ting  in  Sse-tschuen. 

Westlich  davon  lag  Mi-mo  mit  Zubehör,  auch  unter 
10  Aeltesten,  darunter  der  grösste  Tien  (vom  See  gleiches 
Namens  genannt)  in  Yi-tscheu,  im  Kreise  Yüu-nan. 

Nördlich  von  Tien  waren  wieder  10  Fürsten,  darunter  der 
grösste  Kh  i  un  g-tu ,  Hauptstadtin  Khiung-tscheu in  Sse-tschuen. 
Diese  alle  banden  ihr  Haar  in  Knoten,  wie  eine  Mörser- 
keule (Tschui),  bebauten  die  Felder  und  hatten  viele  Städte. 

Westlich  von  diesen  war  Thung-sse,  östlich  und 
nördlich    bis  Ye-yü    (beide   in  Yi-tscheu,   jetzt  Thai-ho    bei 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        515 

Ta-li  in  Yun-nan) ;  sie  heissen  Sui  und  Kuen-ming  (in 
Ti-tscheu  und  Ning-tscheu  in  Lin-ngan.  Diese  flochten  ihr 
Haar,  zogen  ihren  Heerden  nach,  wechselten  ihre  Wohn- 
sitze, hatten  daher  keine  feste  Wohnung,  keine  Fürsten 
oder  Aeltesten.  Ihr  Land  konnte  man  auf  1000  Li  rechnen. 
Von  Lui  im  Nord-Osten  waren  wieder  10  Fürsten ,  die 
:grössten  darunter  Si  (in  Kia-tsing  in  Sse-tschuen)  in  Tso-tu. 

Nordöstlich  von  Tso  waren  wieder  10  Fürsten,  wovon 
Jen  und  Mang  (beide  in  Meu-tscheu  in  Tsching-tu  in  Sse- 
tschuen)  die  grössten  waren.  Von  ihnen  waren  einige  ge- 
meiniglich im  Lande  angesessen ,  andere  wechselten  die 
"Wohnung.  Westlich  von  Scho  und  nordöstlich  von  Mang 
^aren  10  Fürsten,  wovon  Pe-ma  der  grösste  war.  Alle 
gehörten  zu  den  Ti. 

Alle  diese  im  Süd-Westen  ausserhalb  Pa  und  Schu 
waren  Südbarbaren,  Man-I. 

Pa's  Name  hat  sich  erhalten  im  Distrikte  Pa  im  De- 
partement Tschung-king  in  Sse-tschuen.  Die  Fürsten  waren 
-aus  der  Familie  Ki,  nach  Legge  Prol.  p.  133  stand  es  unter 
Huan  von  Lu  a.  9  (701)  in  guter  Beziehung  mit  Thsu, 
jnit  welchem  es  die  Stadt  Yeu  im  Departement  Yün-yang 
in  Hu-pe  belagerte.  Nach  Tso-schi  p.  53  sandte  der  Fürst 
(Tseu)  von  Pa  Han-fo  an  Tshu,  es  um  seine  guten  Dienste 
zu  bitten,  dass  es  in  gute  Beziehungen  mit  Theng  komme. 
Thsu  sandte  ihn  mit  Tao-so  in  freundlicher  Botschaft  nach 
Theng,  aber  die  Leute  von  Yeu  an  der  Südgrenze  von  Theng 
griffen  sie  an,  nahmen  ihnen  die  Geschenke  ab,  die  sie  mit- 
brachten, und  erschlugen  beide. 

Thsu  sandte  nun  Wei-tschang,  beim  Herrn  von  Theng 
sich  darüber  zu  beklagen,  der  wollte  aber  nicht  dabei  be- 
theiligt sein.  Im  Sommer  sandte  Tshu  Ten-lien  mit  einem 
Heere  und  einem  von  Pa,  Yeu  zu  belagern.  Der  Gebieter 
Ton  Theng  sandte  seinen  Neffen  Yang  und  Tan.  Sie  machten 
drei  erfolgreiche  Angriffe  auf  Pa's  Truppen,  auch  Thsu  und 


516         Sitzung  der  philol.-philos.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Pa  waren  ohne  Erfolg.  Tsu-lien  warf  seine  Kriegsmacht 
zwischen  die  Truppen  von  Pa.  Sie  griffen  den  Feind  an 
und  warfen  ihn  in  die  Flucht,  die  von  Theng  verfolgten  sie 
bis  ihre  Rücken  den  Truppen  von  Pa  zustanden  und  sie 
von  2  Seiten  angegriffen  wurden.  Das  Heer  von  Theng  er- 
litt eine  grosse  Niederlage  und  während  der  Nacht  zer- 
streuten sich  die  Männer  von  Yeu. 

Unter  Tschuang  a.  18  (674)  fielen  die  Pa  in  Tshu  ein 
und  griffen  dessen  Hauptstadt  an.  Nach  Tso-schi  p.  97 
fiel  Wen  von  Thsu  in  Schin  längs  Pa  ein.  Er  erschreckte 
das  Heer  von  Pa  so,  dass  das  Volk  gegen  Thsu  aufstand, 
Na-tschhu  angriff,  einnahm  und  bis  an  das  Thor  der  Haupt- 
stadt zum  Angriffe  vordrang.  Der  Statthalter  von  Na- 
tschhu  entkam  nur  durch  Schwimmen  über  den  Yung-Fluss. 
Der  Fürst  von  Thsu  tödtete  ihn;  seine  Verwandten  empörten 
sich  aber ,  und  im  Winter  benutzten  die  Pa  das  zum  Ein- 
falle in  Thsu. 

Unter  Wen  a.  16  (609)  vernichtete  nach  dem  Tschhün- 
thsieu  ein  Heer  von  Thsu  eins  von  Schin  und  eins  von  Pa 
Yung  s.  oben  S.  513.  Zur  Zeit  der  streitenden  Reiche  kam 
Pa  unter  Tshin. 

Eindringen  Tshu's  da  339—329. 

Zur  Zeit  da  in  Thsu  Wei-wang  begann,  sandte  er  dera 
Heer-Führer  Tschuang -kiao  mit  einer  Kriegsmacht  aus, 
dem  Kiang  aufwärts  zu  folgen  und  die  westlich  von  Pa 
(Schu)  und  Kien-tschung  gelegenen  Länder  zu  durchstreifen.. 
Er  war  ein  Nachkomme»  von  Thsu  Tschuang-wang.  Er 
erreichte  den  See  Tien ,  der  dreihundert  Li  im  Umfange 
hatte,  und  zur  Seite  ebenes  Land,  fett  und  reich  an  1000  Li. 
Mit  Waffengewalt  unterwarf  er  es  und  ergriff  Besitz  für 
Thsu.  Er  wünschte  dann  zurückzukehren  und  Bericht  ab- 
zustatten, aber  da  hatte  Tshin  Tshu  die  Provinz  Pa  und 
Kien-tschung    entrissen.     Der    Weg    war    verschlossen.     Er 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         517 

konnte  nicht  durchdringen  zurückzukommen.  Mit  seinem 
Heere  machte  er  sich  daher  zum  Könige  von  Tien,  ver- 
änderte die  Kleidung  und  folgte  ihrer  Gewohnheit,  ihr 
Aeltester  zu  sein. 

Eindringen  der  Chinesen  im  Süden  unter  Thsin. 

Zur  Zeit  der  4ten  Dynastie  Thsin  drangen  die  Chinesen 
nach  Ngan  auf  Wegen  von  5  Fuss  Breite  vor  und  setzten 
überall  Gerichtsbeamte  (Li)  ein;  aber  nach  10  Jahren  etwa 
war  die  Dynastie  Thsin  vernichtet  und  es  erhob  sich  die 
5te  Dynastie  Hau.  Da  gab  man  diese  Reiche  auf  und  es 
blieb  nach  Schu  nur  der  alte  schmale  Durchweg.  Aus  Pa 
und  Schu  zogen  einige  verstohlen  als  Kaufleute  aus  und 
nahmen  Pferde  von  Tso,  Knechte  von  Pi  und  Fahnen  mit 
Kuhschweifen  mit,  sich  damit  bereichernd. 

Thang-mung's  Zug  nach  Pa  und  Schu. 

Im  Zeiträume  Kien-yuen  a.  6  (135  v.  Chr.)  schlug  der 
Vorsteher  des  Verkehrs  (Ta-hing)  Wang-khuai  Ost-Yuei,  das 
seinen  König  Yng  getödtet  und  sich  unterworfen  hatte. 
Khuai,  sich  stützend  auf  seine  Kriegsmacht,  hiess  den  Be- 
fehlshaber von  Po-yang  Thang-mung  sich  mit  Süd-Yuei 
durch  Auseinandersetzung  seiner  Lage  zu  verständigen. 

Süd-Yuei  nährte  Mung  mit  saueren  Mispeln  (khiü)  aus 
Schu.  Mung  fragte:  Woher  die  Früchte  kämen?  Man  sagte: 
Der  Weg  gehe  im  Nord- Westen  auf  dem  Tsang-ko;  dieser 
(jetzt  der  Ta-Si-kiang)  sei  mehrere  Li  breit  und  komme 
unterhalb  der  Mauern  von  Pan-yü  (Kuang-tscheu  in  Kuang- 
tung)  heraus.  Als  Mung  nach  Tschang-ngan  zurückgekehrt 
war,  fragte  er  da  die  Kaufleute  aus  Schu  und  erfuhr,  dass 
die  Mispeln  wirklich  aus  Schu  kämen  und  in  Menge  heim- 
lich nach  dem  Markte  von  Ye-lang  ausgeführt  würden. 
Dieses  lag  nahe  dem  Tsang-ko-kiang,  der  da  schon  über 
100  Schritte  breit  sei ,  genügend  ihn  zu  beschiffen.  Süd- 
[1874.  4.  phil-hist.  Cl.]  35 


518         Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Yuei  versah  dagegen  Ye-lang  mit  kostbaren  Sachen  und 
Dienern,  im  Westen  drang  es  bis  Thung-sse  vor,  konnte  es 
sich  aber  noch  nicht  dienstbar  machen. 

Mung  sandte  nun  an  den  Kaiser  das  folgende  Schreiben: 
Der  König  von  Süd-Yuei  hat  gelbe  Häuser  (Dächer)  und 
zur  Linken  Wagen fahnen  (wie  der  Kaiser) ,  sein  Land  er- 
streckt sich  von  Osten  nach  Westen  über  10,000  Li;  dem 
Namen  nach  ein  auswärtiger  Beamter  (Tschiu)  des  Kaisers, 
ist  er  in  Wirklichheit  Herr  eines  Tscheu.  Wenn  man  jetzt 
durch  Tschang-tscha  und  Yü-tschang  zu  Wasser  gehe ,  sei 
der  Weg  oft  abgeschnitten  und  schwer  zu  passiren.  Ich 
hörte ,  dass  man  von  ausgewählten  Kriegern ,  die  Ye-lang 
hat,  über  10  mal  10  Tausend  bekommen  könne.  Wenn  nun 
die  Schiffe  auf  dem  Tsang-ko  schwimmen  und  ohne  dass  man 
es  vermuthet  hervorkommen,  so  ist  das  ein  wundervolles 
Mittel  Yuei  zur  Ordnung  zu  bringen  und  in  Wahrheit  mit 
Han's  Macht  und  Pa's  und  Schu's  Ueberfluss  durchzudringen 
und  auf  den  Wegen  von  Ye-lang  Richter  einzusetzen,  ist 
sehr  leicht. 

Oben  billigte  man  dies  uud  ernannte  Mung  zum  An- 
führer der  Leibwächter  (Lang-tschung-tsiang).  Er  führte 
1000  Mann  mit  Lebensmitteln  und  Doppelgewänder  für 
mehr  als  10,000  Mann.  Er  folgte  Pa  und  Schu,  drang 
durch  den  Pass  von  Tso,  besuchte  den  Fürsten  von  Ye-lang 
To-tung,  beschenkte  ihn  reichlich,  sprach  mit  ihm  von  der 
Majestät  und  Wohlthat  des  Kaisers,  kam  mit  ihm  überein, 
dass  Richter  eingesetzt  würden  und  ertheilte  seinem  Sohne 
den  Oberbefehl.  Die  kleinen  Städte  waren  begierig  nach 
den  Seidenstoffen  der  Han,  und  meinten,  die  Wege  von  Han 
aus  seien  so  schwierig,  dass  sie  nie  vermocht  hätten,  das 
Land  in  Besitz  zu  nehmen.  Sie  hörten  daher  auf  seinen 
Vorschlag.  Nachdem  Mung  das  Uebereinkommen  getroffen, 
kehrte  er  zurück.  Er  machte  daraus  die  Provinz  Kien-wei 
und  sandte  das  Kriegsvolk   von  Pa   und  Schu  die  Wege  zu 


Plath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.        519 

bahnen.       Man    begann    den    Weg    von    Pi    aus    und    be- 
absichtigte ihn  bis  zum  Tsang-ko  zu  führen.    Ssema-siang-iü 
sagt  nur,    dass  er  aus  Khiung  und  Tso  eine  Provinz  bilden 
könne.     10  Kiün  wurden    anhängig   von  Schu;    4  Provinzen 
desselben  hatten  Verkehr  mit  den  Gebieten  der  Süd-West  I, 
indem    sie   ihnen    auf  Wagen   Lebensmittel    zuführten.     Als 
aber  mehrere  Jahre    auf  den  Wegen  nicht  verkehrt  werden 
konnte,    verkümmerten    die  Krieger.     Durch  Hunger,    Hitze 
und  Feuchtigkeit   starb    eine  grosse  Menge.     Da  zudem  die 
Südwest  I   mehrmals    sich    empörten ,    sandte   man  Krieger 
aus;  die  ßeweglichmachung  der  Heere   und   rasche  Angriffe 
brachten  Verluste  und  machten  Kosten,    ohne    etwas  auszu- 
richten.    Den    Kaiser  (Oben)   bekümmerte   das.     Er    sandte 
den    Kung-sun-hung   hinzugehen ,    nachzusehen    und   nachzu- 
fragen.    Nach    der  Rückkehr   antwortete  der  und  sagte  was 
ihm  zweckwidrig  schien.     Die  Einfälle  der  Hu  liessen   dann 
von  den  Süd-West  I   ablassen   und   sich    ausschliesslich  mit 
der  Hiung-nu  beschäftigen.   Der  Kaiser  Hess  von  den  West-I 
ab  und  setzte  nur  über  die  zwei  Hien  der  Süd-I  einen  Be- 
ruhiger   der  Hauptstadt  (Tu-Wei),   liess   dann   aber  zuletzt 
Kien-wei  sich  selbst  vertheidigen  und  einrichten.   Der  Sse-ki 
erzählt    dann    die  Versuche   der  Chinesen   zur  Auf- 
suchung Indien's  (Schin-to) ,  die  erst  vergeblich  waren. 
Dies  liegt  aber  ausser    dem  Bereiche  unserer  gegenwärtigen 
Abhandlung,   obwohl  die  Ausgesandten  auch  nach  Tien  und 
Ye-lang    kamen.     Später    (112  v.  Chr.)    empörte   sich  Süd- 
Yuei.     Der    Kaiser    befahl    dem    Fürsten    von    Tschi-I    mit 
Kien-Wei's  Macht  die  Süd-I  (Nan-I)    zum  Aufbruche  zu  be- 
wegen;  aber  der  Fürst  von  Tsiü-lan  fürchtete,    dass,  wenn 
er    weit    wegzöge,    die    benachbarten    Reiche    seine    Greise 
und  Wehrlosen    wegführen  möchten.     Er    stand    daher    mit 
seinem   Volke  auf,    tödtete  die  Gesandten  der  Han  und  den 
Statthalter   von  Kien-Wei.     Han  sandte  nun  die  Verbrecher 
aus  Pa  und  Schu;  während  die  8  Yao-wei  die  Nan-Yuei  an- 

35* 


520        Sitzung  der  phiJos.-philol.  Gasse  vom  6.  Juni  1874. 

griffen,  sollten  sie  Tsiü-lan  angreifen.  Als  Yuei  bereits  ge- 
schlagen war,  waren  die  8  Hiao-Wei  immer  noch  nicht 
unterworfen.  Ko-tschang  und  Wei-Kiang  aus  Yuei  zurück- 
kehrend, züchtigten  indess  Tsiü-lan,  welches  den  Weg  nach 
Tien  absperrte,  beruhigte  die  Nan-Yuei  und  bildete  daraus 
die  Provinz  Tsang-ko. 

Der  Fürst  von  Ye-lang  stützte  sich  erst  auf  Nan-Yuei, 
als  dieses  aber  vertilgt  war,  das  Heer  zurückkehrte  und 
Tsiü-lan  bestrafte,  erschien  Ye-lang  am  chinesischen  Hofe 
und  der  Kaiser  machte  ihn  zum  Könige  von  Ye-laDg  .  .  .  , 
.  .  .  Die  Fürsten  von  Tso ,  Jen  und  Mang  geriethen  dann 
auch  in  Furcht  und  baten  Diener  und  Gerichtsbeamte  der 
Han  zu  werden.  Man  bildete  dann  aus  dem  Lande  Khiung- 
tu  und  andern  mehrere  Provinzen.  Dem  Könige  von  Thien 
wurde  die  Eroberung  Yuei's  und  die  Züchtigung  der  Nan-I 
angezeigt  und  er  aufgefordert  am  Hofe  der  Han  zu  er- 
scheinen; da  sein  Volk  aber  mehrere  10,000  zählte  und  er 
auf  seiner  Seite  im  Osten  und  Norden  Lao-tan  und  Mi-mo 
hatte,  alle  aus  derselben  Familie,  die  sich  gegenseitig  unter- 
stützten, hörte  er  nicht  darauf.  Im  2ten  Jahre  der  Periode 
Yuen-fung  (109  v.  Chr.)  entsandte  der  Himmelssohn  die 
Kriegsmacht  von  Pa  und  Schu  und  vertilgte  Lao-tan  und 
Mi-mo,  die  mehrere  Angriffe  gemacht  hatten.  Jetzt  begann 
auch  der  König  von  Thien  sich  gut  zu  bezeigen  und  wurde 
daher  nicht  gezüchtigt.  Er  sagte  sich  los  von  den  Südwest  I. 
Das  ganze  Reich  unterwarf  sich  und  bat,  dass  Gerichts- 
beamte eingesetzt  würden  und  die  Fürsten  am  Hofe  er- 
scheinen dürften.  Aus  Kien  wurde  die  Provinz  I-tscheu  ge- 
bildet. Der  König  mit  dem  Königssiegel  begnadigt,  stand 
wieder  seinem  Volke  vor.  Unter  den  100  Fürsten  der 
West-I  erhielt  er  und  Ye-lang  allein  ein  Königssiegel. 

Dies  sind  die  Fremden  in  China.  Wir  übergingen 
einige,  die  zur  Zeit  der  Blüthe  des  Reiches  aus  fernen  Ge- 
genden  zur  Huldigung    kamen,   wie   unter  Schün  a.  25  die 


Flath:  Fremde  barbarische  Stämme  im  alten  China.         521 

Si-schin,  unter  Wu-wang  a.  15  die  Su-schin1*)  nachdem 
Bainbu-Buche,  oder  fabelhafte,  wie  unter  Hoang-ti  a.  25 
die  mit  durchbohrter  Brust  (Kuan-hiung) ,  die  Langbeine 
.(Tschang- Wu),  im  Schan-hai-king  die  Pygmäen  und  andere. 
Unter  Wu-ting  (seit  1273)  a.  50  war  eine  Expedition  gegen 
die  Schhi-wei,  die  er  unterwarf.  Nach  den  Scholien  ging 
das  Reich  damals  im  Osten  nicht  über  den  Kiang  und 
Hoang-ho,  im  Westen  nicht  über  die  Ti-kiang  (Tübetaner), 
im  Süden  nicht  über  die  King  und  Man,  im  Norden  nicht 
über  So-fang  hinaus. 

So  abgerissen  auch  die  Nachrichten  über  die  einzelnen 
Stämme  sind,  so  gewähren  sie  doch  manche  Einsicht  in 
•die  Verhältnisse  des  alten  China  und  der  dortigen  Einwohner. 

Das  China  der  Dynastie  Tscheu  war  noch  sehr  klein 
und  das  der  Dynastie  Schang  und  Hia  wohl  noch  kleiner 
und  ging  im  Osten  nicht  bis  an  das  Meer  und  nur  wenig 
nördlich  und  südlich  vom  Hoang-ho. 

Das  alte  China  war  von  fremdartigen  Stämmen  um- 
geben und  davon  durchsetzt.  Alle  diese  wurden  mit  der 
Zeit  zerbröckelt,  ihrer  Individualität  beraubt  und  dann  zu 
einer  homogenen  Nation  zusammengeschweisst.  Ihre  höhere 
Cultur  und  Fähigkeiten  eigneten  die  Chinesen  dazu  dies  aus- 
zuführen. Von  ihrem  ersten  Sitze  längs  dem  Hoang-ho  in  Süd- 
west Schan-si  und  vielleicht  auf  der  andern  Seite  des  Stromes 
sandten  sie  nach  Osten,  Westen,  Norden  und  Süden  ebenso 
viele  Zweige  aus  und  sammelten  die  rohe,  sparsame  Be- 
völkerung stufenweise  um  sich,  bis  sie  ihre  ursprünglichen 
Besonderheiten  verloren  und  sie  zu  grösseren  Gemeinden 
und  Staaten  wurden.  Sie  waren  ursprünglich  roh ;  ihr  Ver- 
hältniss  zu  China  war  im  Allgemeinen,  dass  sie  bei  kräftigen 


12)  Sie  sollen  angeblich  Vorfahren  der  Jü-tschi  oder  Mandschu 
sein,  nach  S.  B.  21  S.  185;  siehe  meine  Geschichte  des  östl.  Asiens, 
Göttingen  1830,  B.  I  S.  75. 


522        Sitzung  der  philos,-philol.  Gasse  vom  6.  Juni  1874. 

Regierungen  diesen  nominell  huldigten,  bei  schwachen  aber 
abfielen  und  auch  China  angriffen,  das  sie  dann  wieder 
bekriegte  und  wenn  siegreich  einige  vernichtete;  beim  Ver- 
falle der  Kaisermacht  schlössen  sie  den  grösseren  Staaten 
China's  sich  an  oder  kriegten  mit  diesen.  China  war  aber 
vor  der  Zeit  der  Thsin  und  Han  eigentlich  nie  ein  erobern- 
der Staat,  der  die  Nachbarstaaten  mit  Heeresmacht  unter- 
jochte, oder  die  Einwohner  gar  zu  Sklaven  machte.  Obwohl 
seiner  höheren  Stellung  sich  bewusst,  betrachtete  China 
sie  auch  nicht  als  eine  durchaus  geringere  Race,  sondern  seine 
Fürsten  heiratheten  wenigstens  später,  als  sie  schon  chinesische- 
Sitten  und  Einrichtungen  angenommen  hatten,  selbst  Töchter 
ihrer  Häuptlinge,  deren  Söhne  in  den  Fürstenthümern 
Nachfolger  wurden.  Ohne  festen  Zusammenhang  unter  sichr 
mussten  sie  aber  nach  und  nach  unterliegen  und  mit  den 
Chinesen  verschmelzen,  obwohl,  wo  die  fremden  Stämme 
wie  im  Süden  und  Westen  die  Masse  des  Volkes  bildeten, 
dieses  lange  dauerte  und  das  Land  da  eine  fremdartige 
Gestalt  zeigte.  Auch  die  Verschiedenheit  der  Sprache, 
z.  B.  der  Kiang-Jung,  auf  der  Zusammenkunft  zu  Hiang 
unter  Siang  a.  14,  bemerkt  Tso-schi  p.  464;  die  der  Yuei 
sahen  wir  S.  509,  die  der  Tshu's  und  Thsi's  ist  auch  bemerkt; 
leider  fehlen  uns  Sprachproben.  Ich  finde  nur  eine.  Nach 
Tso-schi  Siuan-kung  a.  5  p.  297  hiess  in  Thsu  ein  Säugling 
Neu,  ein  Tiger  Wu-tu. 

Die  Häupter  der  bedeutenderen  wilden  Stämme  führten 
Titel,  wie  die  unter  den  Tscheu.  Sie  massten  sie  sich  zum 
Theil  wohl  selbst  an,  die  von  den  Tscheu  um  so  leichter 
anerkannt  wurden,  wenn  sie  Nachkommen  eines  grossen  Namens 
aus  der  früheren  Zeit  der  chinesischen  Geschichte  sein  wollten* 
oder  wenn  bei  Heirathen  mit  dem  Kaiserhause  oder  mit 
Reichsfürsten  die  Väter  der  Bräute  geadelt  wurden. 


523 


Oeffentliche  Sitzung 

zur  Vorfeier  des  Geburts-  und  Namensfestes 
Seiner    Majestät    des    Königs    Ludwig  IL 

am  25.  Juli  1874. 

Wahlen. 

Die  in  der  allgemeinen  Sitzung  vom  27.  Juni  vorge- 
nommene Wahl  neuer  Mitglieder  erhielt  die  Allerhöchste 
Bestätigung  und  zwar: 

A.  Als  Ehrenmitglied: 
Seine  Hoheit  der  Vicekönig  von  Aegypten  Ismail  Pascha. 

B.Ais  auswärtige  Mitglieder: 

Der  philosophisch-philologischen  Classe: 

Dr.  Gaston  Paris,  ordentl.  Professor  der  älteren  romani- 
schen Sprachen  und  Literaturen  am  College  de  France 
in  Paris. 

Der  historischen  Classe: 

1)  Dr.  Wilhelm  Adolph  Seh m  i dt ,  ordentl.  Professor  der 
Geschichte  an  der  Universität  Jena. 

2)  Dr.  Georg  Daniel  Teutsch,  Superintendent  der  evan- 
gelischen Landeskirche  in  Siebenbürgen  zu  Hermannstadt. 


524  Oeffentliche  Sitzung  vom  25.  Juli  1874. 

B.  Als  correspondirende  Mitglieder: 
Der  philosophisch-philologischen  Classe: 

1)  Dr.  J.  Gottfried  Wetzstein  in  Berlin,  früher  preuss. 
Consul  in  Damaskus. 

2)  Professor  Dr.  H.  Kern  in  Leyden. 

3)  Dr.    Franz   Kielhorn,    Superintendent    der   Sanskrit- 
studien am  Deccan  College  zu  Poona  in  Ostindien. 

4)  Francesco  Fiorentino,  Professor  der  Philosophie  in 
Neapel. 

Der  historischen  Classe: 

Dr.  Karl  von  Noorden,  Professor  der  Geschichte  an  der 
Universität  in  Tübingen. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  525 


Terzeichniss  der  eingelaufenen  Büchergeschenke. 


Vom  statistisch-topographischen  Bureau  in  Stuttgart: 

&)  Württembergische  Jahrbücher  für  Statistik  und  Landeskunde. 
Jahrg.  1872.  kl.  Fol. 

b)  Jahresbericht  der  Handels-  und  Gewerbkammern  in  Württem- 
berg für  das  Jahr  1872  mit  einem  statistischen  Anhange.  1873.  8. 

Von  dem  Verein  für  Geschichte  und  Alterthumskunde  in  Frankfurt  a.  M.: 

a)  Mittheilungen.  4.  Bd.  1874.  8. 

b)  Neujahrs-Blatt  für  das  Jahr  1873  u.  1874   4. 

Von  dem    Verein  für  Siebenbürg ische  Landeskunde  in  Hermannstadt : 

*)  Archiv.  Neue  Folge.  11.  Bd.  1873.  8. 

b)  Jahresbericht  für  das  Vereinsjahr  1872/73.  8. 

■c)  Die  Mediascher  Kirche  von  Karl  Weber.  Festgabe  der  Media- 
scher Kommune  zur  Erinnerung  an  die  im  J.  1872  in  Mediasch 
tagenden  Vereine.  1872.  8. 

d)  Martin  von  Hochmeister.  Lebensbild  und  Zeit-Skizzen  aus  der 
zweiten  Hälfte  des  XVIII.  und  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahr- 
hunderts.    Von  Adolph  von  Hochmeister.  1873.  8. 

e)  Kurzer  Bericht  über  die  von  den  Herrn  Pfarrern  A.  B.  in  Sieben- 
bürgen über  kirchliche  Alterthümer  gemachten  Mittheilungen. 
Von  Ludwig  Reissenberger.  1873.  4. 

f)  Programm  des  Gymnasiums  A.  C.  zu  Hermannstadt  und  der 
mit  demselben  verbundenen  Lehranstalten  für  das  Schul- 
jahr 1872/73.  4. 

Von  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich: 
Mittheilungen.  Bd.  XVIII.  1872-74.  4. 


526  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Von  der  rügisch-pommerischen  Abtheilung  der  Gesellschaft  für 
pommerische  Geschichte  in  Greifswald: 

Pommerische  Geschichtsdenkmäler  und  XXXVII.  Jahresbericht  1874.  8^ 

Von  dem    Verein  für  hamburgische  Geschichte  in  Hamburg: 
Zeitschrift.     Neue  Folge.  3.  Bd.  1874.  8. 

Von  der  Academie  imperiale  des  sciences  in  St.  Petersburg: 

a)  Memoires.  Tom.  20.  21.    1873.  1874.    4. 

b)  Bulletin.  Tora.  19.  1873.  4. 

Von   der  bataviaasch  Gcnootschap  van  Künsten   en  Wetenschapen  in 

Batavia : 

Tijdschrift   voor   Indische  Taal-   Land-    en  Volkenkunde   Deel  XXL 
1873.  8. 

Von  der  R.  Scuola  normale  superiore  in  Pisa: 
Annali.  Filosofia  e  Filologia.  Vol.  II.  1873.  8. 

Von  der  Commissione  Archeologica  Municipale  in  Rom: 
Bulletino.  Anno  II.  1874.  8. 

Vom  Herrn  Johan  Er.  Rydquist  in  Stockholm: 
Svenska  Spräkets  Lagar.  Kritisk  Afhandling.  1871.  8. 

Von  den  Herren  R.  Friedrich  und  L.  W.  C.  van  den  Berg  in  Batavia  r 

Codicum  Arabicorum  in  bibliotheca  societatis   artium  et  scientiarum. 
quae  Bataviae  floret  asservatorum  Catalogus.   1873.  8. 


Sach-Kegister. 


Altnordisches  Recht  1. 
Amantius,  Inschriftensammlung  133. 
Antikensammlung  Raimund  Fuggers  133. 
Apianus,  Inschriftensammlung  133. 
Athen,  Topographie  des  alten  263. 

Baiuwariorum  Lex  352. 

Barbaren  im  alten  China  450. 

Bildwerke   antike,    in   der   Inschriftensammlung    von  Apianus    und 

Amantius  133. 
Brandenburgischer  Landeshauptmann  Friedrich  von  Lochen  373. 

China  altes,  barbarische  Stämme  450. 

Eleusinion  282. 
Enneakrunos  263. 

Fugger  Raimund,  dessen  Antikensammlung  133. 

Kaiserrecht  kleines  417. 

Keller  Jesuit,   Verfasser  einer  unter  dem  Namen  Herwart's  1618  in 
München  erschienenen  Schrift  48. 

Lex  Baiuwariorum  352. 

Lochen  Friedrich  von,  brandenburgischer  Landeshauptmann  373. 

„Ludovicus  IV  Imperator  defensus",  eine  Schrift  des  Jesuiten  Keller  48. 


528  Sach-Register. 

Meinung,  Gegenstände  der  öffentlichen,  im  16.  Jahrh.  55. 
Militärdiplom,  römisches,  von  Regensburg  193. 


Parakataloge,  die,  in  den  griechischen  und  römischen  Dramen  262. 

Pelasgikon  263. 

Persiens  vergleichende  Geographie  231. 

Recht  altnordisches  1. 

Rechtsbücher  deutsche,  Handschrift  in  Münster  130.  417. 

Regensburg,  römisches  Militärdiplom  193. 

Schalttage  des  Ptolomäus  Euergetes  I  und  des  Augustus  56. 
Schuldknechtschaft  nach  altnordischem  Rechte  1. 
Schulwesen  bayerisches  130. 


Namen-Kegister. 


Allioli  Jos.  F.  v.  (Nekrolog)  162. 

Bursian  133. 

Christ  262.  * 

Cooper  Ch.  Purton  (Nekrolog)  188. 


Fiorentino  Franc.  (Wahl)  524. 
Friedrich  Joh.  48.  352. 


v.  Giesebrecht  179. 

Haupt  Moriz  (Nekrolog)  164. 
Held  Joh.  Chr.  v.  (Nekrolog)  177. 

Ismail  Pascha,  Vicekönig  von  Aegypten  (Wahl)  523. 

Karajan  G.  Th.  v.  (Nekrolog)  170. 
Kausler  Ed.  v.  (Nekrolog)  174. 
Kern  H.  (Wahl)  524. 
Kielhorn  Franz  (Wahl)  524. 
Kluckhohn  130. 

Lauth  56. 

v-  Liliencron  55. 


530  Namen-Begister. 

Maurer  1. 
Mordtmann  231. 


Noorden  Karl  v.  (Wahl)  524. 

Ohlenschlager  193. 

Paris  Gaston  (Wahl)  523. 
Plath  450. 
v.  Prantl  161. 

Raumer  Friedr.  v.  (Nekrolog)  179. 
Kemling  F.  Xav.  (Nekrolog)  191. 
Kockinger  130.  417. 

Schmidt  Wilh.  Ad.  (Wahl)  523. 

Stalin  Christ.  Friedr.  v.  (Nekrolog)  188. 

Teutsch  G.  Daniel  (Wahl)  523. 

ünger  263. 

Wetzstein  Gottfr.  (Wahl)  524. 
Würdinger  373. 


I     Sitzungsberichte 

der 

philosophisch -philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaffen 

zu  ]NdMinchen. 


1874.   Bd.  II.   Heft  I. 


München. 

Akademische  Buchdruckeroi  von  F.  Straub. 

1874. 

In  Commitsion  bei  Q.  Franz. 


Sitzungsberichte 


der 


königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 

Sitzung  vom  4.  Juli  1874. 


Herr  v.  Halm  macht  folgende  Mittheilung: 

Im  Verfolg  der  Bearbeitung  des  lateinischen  Hand- 
schriften-Katalogs der  k.  Staatsbibliothek  war  ich  so  glück- 
lich vor  wenigen  Tagen  einen  schönen  Fund  zu  machen. 
In  den  Repertorien  über  die  Handschriften  findet  sich  wohl 
der  Codex  der  Stadtbibliothek  zu  Regensburg  Nro.  55 
(=  cod.  lat.  Monac.  13255)  richtig  verzeichnet  mit  dem 
kurzen  Titel:  Casparis  Bruschii  poematum  libri  IV,  aber 
niemand  scheint  bemerkt  zu  haben,  dass  die  ganze  Hand- 
schrift ein  Autographon  des  Dichters  ist.  Was  ich  auf 
den  ersten  Wink  erkannte,  wurde  vollends  durch  eine  Ver- 
gleichung  der  Handschrift  mit  den  Originalbriefen  von 
Bruschius,  die  sich  in  der  collectio  Camerariana  befinden, 
bestätigt.  Die  Entstehung  der  Handschrift  fällt  in  den 
Lindauer  Aufenthalt  des  Bruschius,  s.  Horawitz,  Casp.  Bruschius 
S.  110  ff.     Der  Titel  lautet: 

Gasparis    Bruschii    Slaccenwaldensis ,    poetae    anno 
aetatis  suae  XXIII  Ratisbonae  in  comitiis  a  Carolo  V  imp. 
Aug.   Anno    Christi    1541,    Mense  Maio   in   die  S.  Coronae, 
[1874,  II.  Phil.  bist,  d.i.]  1 


2  Sitzung  der  phÜos.-philol  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

lauro  Apollinea  coronati,  Poematum  omnis  generis,  Idyl- 
liorum  videlicet,  Elegiarum,  Eglogarum,  himnilorum,  pre- 
cationum,  Schediasmatuin  et  Epigrammatum  post coronationem 
ad  annum  usque  48  Domini  scriptorum  Opus  Universum  in 
duodecim  libros  digestum.     Lindauii  anno  Christi  1547. 

Von  den  angekündigten  zwölf  Büchern  enthält  die 
Handschrift  nur  die  ersten  vier;  am  Schlüsse  jedes  Buches 
ist  die  Zahl  der  Verszeilen  bemerkt,  deren  Gesammtzahl 
sich  auf  die  Summe  von  7428  beläuft.  Aus  dem  Umstände, 
dass  vor  dem  Titel  zwei  Gedichte  ,,de  Bruschii  poematibus 
ad  Bruschium  poetam"  von  Joannes  Stigelinus  und  Leon- 
hardus  Heyderus  Burghusianus,  die  auch  von  Bruschius  ge- 
schrieben sind,  vorangehen,  ergibt  sich,  dass  ein  zum  Druck 
bestimmtes  Manuscript  vorliegt,  wie  sich  auch  aus  der 
sauberen,  fast  keine  Correcturen  aufweisenden  Abschrift 
schliessen  lässt.  Ob  der  Dichter  seine  unterbrochene 
Sammlung  je  fortgesetzt  und  zu  Ende  geführt  habe,  ist 
völlig  unbekannt,  aber  wenig  wahrscheinlich.  Wiewohl  die 
im  Druck  erschienenen  Gedichte  von  Bruschius  sehr  zer- 
streut sind  und  die  Kürze  der  Zeit  nicht  erlaubt  hat  eine 
eingehende  Untersuchung  anzustellen,  glaube  ich  doch  schon 
jetzt  behaupten  zu  dürfen ,  dass  die  Mehrzahl  der  in  der 
Sammlung  enthaltenen  Gedichte  ungedruckt  ist. 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon. 


Herr  Brunn  trägt  vor: 

„Die  Bildwerke  des  Parthenon." 

Wer  die  Tabellen  überblickt,  in  denen  Michaelis  die 
verschiedenen  Versuche  zur  Erklärung  der  Sculpturen  des 
Parthenon  übersichtlich  zusammengestellt  hat,  wird  sich  da- 
durch mehr  abgeschreckt ,  als  aufgefordert  fühlen ,  seine 
Kräfte  auf  einem  so  bestrittenen  Felde  der  Forschung  von 
neuem  zu  versuchen.  Ich  gestehe  es  offen,  dass  nur  die 
Notwendigkeit,  diese  Bildwerke  im  Zusammenhange  der 
Kunstgeschichte  zu  behandeln,  mich  die  Scheu  hat  über- 
winden lassen,  an  das  schwierige  Problem  ihrer  Deutung 
näher  heranzutreten.  Als  einen  Vortheil  dieser  langen 
Zurückhaltung  erachte  ich  es,  dass  ich,  ohne  für  eine  der 
bisherigen  Ansichten  irgendwie  im  voraus  eingenommen  zu 
sein,  jetzt  meine  Studien  auf  Grundlage  der  Arbeit  von 
Michaelis  beginnen  konnte,  die  (wie  er  selbst  sie  wohl 
am  liebsten  charakterisirt  hört)  uns  zuerst  eine  „kritische 
Textausgabe4'  der  Sculpturen  des  Parthenon  geliefert  hat. 
Gefährlicher  drohte  mir  E.  Petersen's  Buch  über  Phidias 
zu  werden.  Frisch,  lebendig  und  mit  scharfem  Urtheil  ge- 
schrieben, reich  an  feinen  und  treffenden  Beobachtungen 
blendete  es  mich  anfangs,  dass  ich  fast  in  Begriff  war, 
meine  eben  skizzirten  eigenen  Gedanken  wieder  bei  Seite 
zu  legen.  Indessen  bei  wiederholter  Ueberlegung  durfte  ich 
allerdings  anerkennen,  dass  durch  Michaelis  und  Petersen 
für  die  Deutung  geleistet  war,  was  auf  den  bisherigen 
Wegen  zu  leisten  möglich  war;  aber  die  Zweifel  überwogen, 
ob  diese  Wege  überhaupt  zum  Ziele  zu  führen  geeignet 
seien.  Wenn  ich  es  daher  wage,  von  durchweg  veränderten 
Grundanschauungen   aus   eine   völlig   neue  Erklärung  aufzu- 


4  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

stellen,  so  muss  es  natürlich  meine  erste  Aufgabe  sein,  die 
Notwendigkeit  dieses  Versuches  durch  den  Nachweis  der 
Haltlosigkeit  aller  bisherigen  Ansichten  zu  begründen.  Doch 
darf  ich  mich  dabei  auf  die  Widerlegung  meiner  beiden 
nächsten  Vorgänger  beschränken,  indem  ältere  unbegründete 
Meinungen  bereits  durch  ihre  eingehenden  Erörterungen 
als  beseitigt  zu  erachten  sind.  Eben  so  genügt  es ,  hin- 
sichtlich des  Thatbestandes  der  uns  erhaltenen  Reste,  sowie 
des  gesammten  literarischen  Materials  auf  ihre  Schriften 
zu  verweisen. 

Der  Ostgiebel. 

Nur  mit  wenigen  Worten  giebt  Pausanias  (1,24,5)  den 
Gegenstand  der  Darstellung  an,  welche  das  östliche  oder 
vordere  Giebelfeld  schmückte:  Ttavxa  ig  tr\v  Zd&rjväg  %%u 
ysveoiv.  Von  der  Gruppe  selbst  sind  nur  die  beiden  Seiten- 
flügel erhalten.  Die  Mitte,  wenigstens  die  Hälfte  des 
Ganzen,  fehlte  schon  zur  Zeit  Carrey's,  dessen  Zeichnung 
vielmehr  durch  einige  später  wiedergefundene  Stücke  er- 
gänzt wird.  Die  vollständige  Uebersicht  alles  Erhaltenen 
giebt  Taf.  6  bei  Michaelis. 

Unbestritten  ist  die  Deutung  der  äussersten  Ecken: 
links  taucht  Helios  mit  seinen  Rossen  aus  den  Wogen  des 
Okeanos  auf;  rechts  sinkt  Selene  mit  den  ihrigen  in  das 
Dunkel  hinab. 

In  der  nackten  unbärtigen  Gestalt,  die  dem  aufgehenden 
Helios  zunächst  am  Boden  sitzt,  glauben  M.  und  P»  den 
Dionysos  zu  erkennen.  „Sein  Sitz,  sagt  M.  173,  ist,  wie 
so  oft  bei  Homer,  zunächst  mit  dem  Felle  eines  Thieres 
bedeckt,  das  nach  der  Tatze  zu  schliessen,  dem  Katzen- 
geschlecht angehört;  darüber  liegt  der  Mantel."  Wir  finden 
solche  Felle  z.  B.  auf  den  Sesseln  der  Götter  an  der 
Sosiasschale  und  öfter.  Für  sich  allein  vermag  daher  das 
Fell  zu  Gunsten  des  Dionysos   nichts  zu   beweisen,  um   so 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  5 

weniger,  als  es,  durchaus  verschieden  von  der  gewöhnlichen 
Nebris,  dem  Felle  eines  Rehes,  weit  mehr  einem  Löwen-, 
als  dem  sonst  noch  für  Dionysos  gebräuchlichen  Panther- 
felle ähnlich  sieht.  Gerade  dass  der  Künstler  den  Kopf 
nicht  hat  sichtbar  werden  lassen,  deutet  darauf  hin,  dass 
er  dem  Thiere  keine  eigentlich  attributive  Bedeutung  hat 
beilegen  wollen:  es  scheint  nur  den  Zweck  zu  haben,  auf 
dem  rauhen  Felsgrunde  eine  weiche  Unterlage  zu  bilden. 
Wichtiger  ist  die  Gestalt  selbst.  Wenn  Alkamenes,  des 
Phidias  Schüler,  wie  wir  aus  Münzbildern  schliessen  dürfen, 
seinen  Dionysos  bärtig  und  gleich  dem  Zeus  thronend 
bildete,  so  ist  dadurch  allerdings  keineswegs  ausgeschlossen, 
dass  Phidias  den  Gott  jugendlich  darstellen  durfte.  Aber 
seine  Bildung  hätte  doch  eine  Mittelstellung  zwischen  der 
älteren  und  der  späteren  Auffassung  einnehmen  müssen  und 
wir  dürfen  nicht  annehmen,  dass  Phidias  diejenigen  Charakter- 
züge aufgegeben,  welche  die  spätere  Darstellungs weise  noch 
mit  der  früheren  gemein  hat.  Die  „mächtige  Körperbildung 
des  bärtigen  Dionysos'*  trägt  durchaus  den  Charakter  einer 
weichen,  üppigen  Fülle,  welche  später  in  ,, jugendzarte,  ja 
weichliche  Formen"  (M.  168)  übergeht.  Wie  passt  nun 
für  den  Uebergang  von  der  einen  zur  andern  Bildung  dieser 
von  Kräftigkeit  strotzende,  feste  Körper,  fest  in  den  einzelnen 
Formen,  wie  in  der  ganzen  Fügung  der  Glieder?  wie  be- 
sonders die  feste  energische  Haltung  des  Nackens?  Lange 
weiche  Locken  dürfen  wir  freilich  in  der  Zeit  des  Phidias 
nicht  erwarten;  aber  ebenso  würde  das  auffallend  schlichte 
und  kurzgeschnittene  Haar,  welches  den  Nacken  ganz  frei 
lässt ,  eine  durch  nichts  gerechtfertigte  Anomalie  sein.  So 
bleibt  der  Hinweis  auf  die  Götterversammlung  am  Ostfries 
des  Parthenon,  wo  M.  und  P.  den  Dionysos  in  dem  der 
Demeter  gegenübersitzenden  Jünglinge  erkennen  wollen. 
Aber  ist  wirklich  dieser  der  Gott  und  nicht  vielmehr  der 
der  Göttin  gegenüber  Sitzende?   Für  den  erstem  sollen  von 


6  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

äusseren  Kennzeichen  sprechen:  die  Sandalen,  welche  diese 
Figur  von  dem  Jüngling  neben  der  Demeter  unterscheiden; 
das  Kissen  auf  dem  Sessel,  welches  er  allein  als  Weichling 
unter  den  Göttern  habe,  endlich  die  Form  des  Sessels  selbst, 
welcher  dem  der  Demeter  gleich  sei  und  daher  auf  eine 
nähere  Verbindung  dieser  beiden  Gottheiten  hinweise.  In 
diesem  Falle  müssten  jedoch  die  beiden  Sessel  in  ihrer 
Form  völlig  übereinstimmen,  was  thatsächlich  nicht  der 
Fall  ist.  Das  Kissen  ferner  müsste,  um  einen  Weichling 
zu  charakterisiren ,  doch  etwas  mehr  sein  als  eine  dünne 
Unterlage,  die  nur  dazu  bestimmt  scheint,  die  parallelen 
geraden  Linien  des  Stuhles  zu  unterbrechen.  Hinsichtlich 
der  Sandalen  endlich  herrscht  in  dem  Fries  keine  strenge 
Consequenz.  In  der  Götterversammlung  scheinen  sie  im 
Allgemeinen  zur  Bekleidung  zu  gehören,  und  so  hat  sie 
Poseidon,  dem  sie  in  der  Regel  so  wenig  zukommen,  wie 
dem  Ares.  Hephaestos  hat  sie  nicht ,  wie  es  scheint ,  um 
durch  die  besondere  Art,  wie  er  die  Füsse  setzt,  auf  seine 
Lahmheit  hinzudeuten ,  und  aus  ähnlichem  Grunde  mochte 
sie  der  Künstler  bei  dem  Jünglinge  neben  der  Demeter 
weggelassen  haben,  indem  sie  das  feine  Spiel  der  Füsse 
beeinträchtigt  haben  würden.  —  Alles  kömmt  hier  darauf 
an,  das  eigenthümliche  künstlerische  Motiv  dieser  zusammen- 
geschlossenen Gestalt  richtig  zu  erkennen.  Gewiss  dürfen 
wir  P.  (S.  256)  zugeben,  dass  dieses  Schema  zum  Ausdrucke 
einer  unruhigen,  auf  wechselnden  und  einander  entgegen- 
gesetzten Gefühlen  beruhenden  inneren  Spannung  verwendet 
werden  kann,  wie  es  z.  B.  in  der  Statue  des  ludovisischen 
Ares  der  Fall  ist.  Aber  P.  selbst  citirt  auch  den  neben 
Dionysos  sitzenden  Satyr  am  Monument  des  Lysikrates,  bei 
dem  von  einem  solchen  Motive  gewiss  nicht  die  Rede  ist. 
Sehen  wir  nun  ,  wie  in  der  Figur  des  Parthenonfrieses  der 
Körper  durch  das  über  den  Stab  gelegte  Bein  ,,so  ohne 
feste  Stütze  balancirt,"  so  wird  dadurch  der  halb  genrehafte 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  7 

Charakter  des  Motivs  hier  noch  stärker  hervorgehoben. 
Die  Gestalt  ist  es  müde  geworden ,  auf  die  Länge  in 
solenner  Haltung  auf  einem  Sessel  ohne  Lehne  auszuharren, 
und  eben  jenes  Schaukeln  bietet  die  Gelegenheit,  manche 
im  ruhigen  Sitzen  zu  sehr  in  Anspruch  genommene  Theile 
des  Körpers  zu  entlasten  und  zeitweilig  die  Anstrengung 
auf  andere  Theile  zu  übertragen:  sie  sucht  es  sich  so  viel 
wie  möglich  bequem  zu  machen.  Dagegen  spricht  sich  in 
der  gegenüber  sitzenden  Gestalt  eine  ganz  andere  Art  von 
Unruhe,  nemlich  innere,  geistige  Unruhe  aus.  Hermes  und 
Demeter  bieten  so  recht  ein  Bild  ruhiger  aufmerksamer  Be- 
trachtung dar.  Der  zwischen  ihnen  sitzende  Gott  hätte 
vollkommen  Platz  finden  können ,  um  sich  ihnen  darin  bei- 
zugesellen; aber  er  hat  sich  nach  der  entgegengesetzten 
Seite  umgedreht  und  indem  er  dadurch  die  solenne  Ordnung 
unterbricht,  bewirkt  er  Verwirrung  und  findet  kaum  einen 
passenden  Platz  für  seine  Beine;  trotzdem  wendet  er  sich 
in  demselben  Augenblick  mit  dem  Körper  schon  wieder 
rückwärts  und  muss  sich  mit  dem  Arm  hinter  dem  Rücken 
des  Hermes  durchdrängen,  um  auf  ihm  eine  momentane 
Stütze  zu  suchen.  Nehmen  wir  dazu  die  Kräftigkeit  des 
Körperbaues,  durch  die  er  seine  Umgebung  bestimmt  über- 
ragt, so  werden  wir  nicht  in  Abrede  stellen  können,  dass 
in  dieser  Gestalt  das  Wesen  des  Ares ,  dem  sich  ohne  Be- 
denken die  Lanze  in  die  erhobene  Linke  geben  lässt,  vor- 
trefflich zum  Ausdruck  gelangt.  Ganz  ebenso  entspricht 
aber  der  gegenübersitzende  schlanke  und  feiner  gebildete 
Jüngling  dem  Wesen  des  Dionysos,  der  noch  dazu  neben 
Demeter  seine  passendste  Stellung  findet.  Wie  überall,  so 
sucht  er  auch  hier  zuerst  sein  körperliches  Behagen ,  ohne 
welches  das  blosse  Schauen  festlichen  Gepränges  ihm  keinen 
Genuss  gewähren  würde.  Der  Thyrsus,  sonst  ein  Zeichen 
seiner  Würde,  muss  ihm  dabei  als  momentane  Stütze  dienen. 
In   seinem   ganzen  Wesen    aber   spricht  sich  die  für  ihn  so 


8  Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

charakteristische  Weichheit,  Lässigkeit  und  der  Mangel 
ernster  Energie  aus.  Sein  Kopf  mochte  mit  einer  Tänie 
über  dem  leise  gelockten  Haar  geschmückt  sein.  Erkennen 
wir  also  hier  mit  hinlänglichem  Recht  den  Dionysos ,  so 
werden  wir  um  so  bestimmter  behaupten  können ,  dass  die 
Jünglingsgestalt  des  Ostgiebels  nicht  mit  demselben  Namen 
bezeichnet  werden  darf. 

Es  folgen  zwei  nebeneinander  sitzende  Frauengestalten, 
von  M.  und  P.  Demeter  und  Persephone  genannt.  Zuzu- 
geben ist,  dass  sie  in  ihrer  Körperbildung  nicht  vollkommen 
übereinstimmen,  dass  die  eine  etwas  zartere  Formen  zeigt, 
die  andere  ausserdem  um  ein  Geringes  grösser  erscheint, 
obwohl  dabei  in  Anschlag  zu  bringen  ist,  dass  dieser  Ein- 
druck zum  Theil  durch  ihren  etwas  erhöhten  Sitz  und  durch 
ihre  energischere  Haltung  bedingt  ist.  Genügen  aber  diese 
Unterschiede,  um  uns  ein  Verhältniss  wie  zwischen  Mutter 
und  Tochter  mit  Sicherheit  erkennen  zu  lassen?  Wo  etwas 
ähnliches  beabsichtigt  wird,  pflegt  die  Kunst  diese  ihre  Ab- 
sicht noch  durch  andere  Mittel,  namentlich  durch  die  Ge- 
wandung zum  Ausdruck  zu  bringen.  So  unterscheiden  sich 
eben  dadurch  die  beiden  Göttinen  sehr  wesentlich  in  dem 
bekannten  grossen  Relief  von  Eleusis  (Mon.  d.  I.  VI,  45), 
so  in  dem  kleineren  ebenfalls  eleusinischen  bei  Müller  D.  a. 
K.  II,  8,  96  (vgl.  ausserdem  das  Fragment:  Rev.  arch.  1867, 
pl.  IV),  so  in  den  schönsten  Vasenbildern  malerischen  Stils 
(Müller  ebd.  10,  112;  C.  R.  1859,  1  — 2  =  Gerhard  ges. 
Abh.  T.  76—77;  in  der  cum anischen  Reliefvase  ebd.  T.  78). 
Schon  diese  wenigen  Beispiele,  welche  den  besten  Zeiten 
der  Kunst  angehören  oder  auf  gefeierte  Typen  derselben 
zurückweisen,  zeigen  deutlich,  wie  man  das  ßedürfniss  einer 
schärferen  Charakteristik  empfand;  und  Phidias  sollte  sich 
mit  Unterschieden  begnügt  haben,  die  jedenfalls  die  Mög- 
lichkeit des  Irrthums  für  den  Beschauer  nicht  ausschlössen? 

Die    grösste    Consequenz    hat    merkwürdiger    Weise    in 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  9 

der  Benennung  der  nächstfolgenden  lebhaft  voranstürmenden 
Mädchengestalt  als  Iris,  sowie  der  ihr  (angeblich)  auf  der 
andern  Seite  entsprechenden  einst  beflügelten  Figur  als 
Nike  geherrscht.  Nike  auf  der  Hand  der  Parthenos,  wie 
auf  der  Hand  des  Zeus  in  Olympia  war  lang  bekleidet; 
lang  bekleidet  sind  auch  die  zahlreichen  Niken  an  der 
Balustrade  des  Tempels  der  Apteros.  Wie  verträgt  sich 
damit  das  kurze,  florartige  Gewand  der  Statue?  Und  Iris 
wiederum,  das  vorzugsweise  leicht  beschwingte  Wesen,  soll 
ohne  Flügel  und  mit  einem  Gewände,  das  nur  schwer  und 
mühsam  der  Bewegung  folgt,  gebildet  sein?  Sollen  wir  da 
zweifeln,  dass  die  bisher  für  Nike  gehaltene  Figur  nicht 
vielmehr  Iris  ist? 

Schwankender  sind  die  Benennungen  der  drei  Frauen 
in  der  Nähe  der  Selene.  Der  Gedanke  an  die  drei  Parzen 
ist  wohl  allgemein  aufgegeben.  Die  Beziehung  auf  die  drei 
attischen  Thauschwestern  ,  Aglauros,  Pandrosos  und  Herse, 
von  Welcker  poetisch  entwickelt,  fällt  mit  seiner  zu  engen 
Auffassung  der  Gesammtidee  der  Giebelgruppe  als  einer 
ausschliesslich  attischen.  M.  setzt  zu  den  Namen  Pandroscs, 
Thallo  und  Auxo  selbst  ein  Fragezeichen.  Zuletzt  hat  sich 
P.  für  Hestia  und  Aphrodite  im  Schoose  der  Peitho  ausge- 
sprochen. Zunächst  ist  ihm  dabei  das  Versehen  begegnet, 
dass  er  in  der  Rechten  seiner  Hestia  ein  Scepter  voraus- 
setzt, während  sich  nach  Carrey's  Zeichnung  diese  Hand 
nicht  zur  Seite,  sondern  über  dem  Schoose  befand.  Durfte 
aber  ferner  der  Künstler  Hestia,  die  Gründerin  des  Herdes 
und  der  häuslichen  Ordnung,  auf  einen  Felsstein  setzen? 
Entspricht  die  unruhige  Stellung  der  Füsse  der  durchaus 
ruhigen  Würde  ihres  Wesens?  Und  endlich  durfte  er  der 
keuschen  züchtigen  Göttin ,  die  wir  am  liebsten  tief  ver- 
schleiert sehen,  ein  Untergewand  geben,  das  von  der  Schulter 
herabgleiten  zu  wollen  scheint,  um  die  Reize  des  Busens  zu 
enthüllen?     Auch    bei    der  angeblichen  Aphrodite  lässt  sich 


10  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

wiederum  die  Frage  aufwerfen,  wodurch  der  Künstler  be- 
rechtigt war,  in  einer  feierlichen  Versammlung  olympischer 
Götter  diese  Göttin  auf  ein  unebenes  felsiges  Terrain  ge- 
lagert darzustellen?  Denn  durch  die  Annahme,  dass  die 
Enge  des  Raumes  ihn  dazu  zwang,  wird  doch  niemand 
einen  Phidias  entschuldigen  wollen.  Ueber  die  Verbindung 
mit  Peitho  aber  ist  ähnlich  zu  urth eilen,  wie  oben  über  die 
Verbindung  zwischen  Demeter  und  Persephone.  Wie  wir 
dort  verlangten ,  dass  das  Verhältniss  von  Mutter  und 
Tochter  schärfer  betont  sein  müsse,  so  können  wir  hier  die 
Forderung  nicht  aufgeben,  dass  Peitho  in  dem  untergeord- 
neten Verhältniss  der  Dienerin  oder  Zofe  erscheine.  Dass 
die  Sitzende  der  Liegenden  gestattet,  an  sie  gelehnt  auszu- 
ruhen, ist  aber  kein  Zeichen  der  Unterordnung,  sondern  der 
Intimität;  in  ihrem  übrigen  Erscheinen  ist  sie  der  andern 
durchaus  gleichberechtigt.  —  Auch  hier  verweist  man  wieder 
auf  den  Ostfries,  wo  nach  der  jetzigen  Annahme  Peitho 
neben,  ja  streng  genommen  vor  der  Aphrodite  als  eine 
dieser  an  Bedeutung  gleiche  Göttin  sitzen  soll.  Ich  will 
keinen  Nachdruck  darauf  legen ,  dass  Aphrodite  äusserlich 
durch  den  Schleier  vor  ihrer  Nachbarin  bestimmt  hervorge- 
hoben ist.  Aber  ist  denn  Peitho  sicher  nachgewiesen?  Hat 
Peitho  das  Recht,  in  einer  Götterversammlung,  wie  die  des 
Frieses,  als  ein  den  oberen  Göttern  gleichberechtigtes  Glied 
aufzutreten?  Man  sagt:  sie  besitze  in  Athen  einen  geson- 
derten Cultus.  Aber  auch  andere  Wesen  verwandter  Art, 
wie  Nike,  Hebe,  wurden  an  verschiedenen  Orten  besonders 
verehrt,  wodurch  jedoch  ihr  allgemeines  Verhältniss  zu  den 
oberen  Göttern  in  keiner  Weise  aufgehoben  wird.  Wollte 
der  Künstler  Peitho  im  Friese  darstellen ,  so  durfte  er  sie 
nur  in  einem  der  Nike  in  der  Zeusgruppe  durchaus  analogen 
Verhältniss  auffassen.  Vielleicht  wird  man  die  Richtigkeit 
dieses  Satzes  eher  zugeben ,  sofern  es  gelingt,  für  die  an- 
gebliche Peitho  des  Frieses  einen  passenderen  Namen  nach- 


Brunn:  Büdwerlce  des  Parthenon.  11 

zuweisen.  Streng  vereinigte  Paare  sind  im  Friese  nur  Zeus 
und  Hera,  Athene  und  Hephaestos;  sie  sondern  sich  auch 
künstlerisch  von  der  übrigen  Versammlung,  die  nicht  auf 
jeder  der  beiden  Seiten  je  zwei  Gruppen  zu  zwei ,  sondern 
nur  je  eine  Gruppe  zu  vier  Figuren  bildet.  Wie  innerhalb 
dieser  Einheit  die  Fügung  eine  losere  war,  habeu  wir 
bereits  bei  der  Erörterung  über  Ares  und  Dionysos  erkannt, 
und  dieselbe  Freiheit  werden  wir  auch  für  die  gegenüber- 
stehende Seite  in  Anspruch  nehmen  dürfen.  Hier  konnte 
der  Künstler  nicht  wohl  den  Apollo  neben  Aphrodite  setzen, 
aber  des  Rangverhältnisses  wegen  auch  nicht  Apollo  seinen 
Platz  mit  dem  des  Poseidon  vertauschen  lassen.  Dadurch 
erklärt  es  sich,  dass  er  der  Gattin  des  Poseidon,  der 
Amphitrite,  die  gewiss  ein  volles  Recht  zur  Theilnahme  an 
dieser  Versammlung  hat,  ihren  Platz  nicht  unmittelbar  neben 
dem  Gatten,  aber  doch  in  seiner  Nähe  neben  der  Aphrodite 
anwies,  mit  der  sie  ja  ihrer  Natur  nach  aufs  passendste  sich 
vereinigt,  so  dass  es  auch  durchaus  gerechtfertigt  ist,  wenn 
Aphrodite  ihren  Arm  vertraulich  auf  ihren  Knieen  ruhen  lässt. 
Kehren  wir  zur  Giebelgruppe  zurück,  so  wird  es  uns 
zwar  nie  möglich  werden,  die  fehlende  Mitte,  die  volle  und 
wichtigste  Hälfte  des  Ganzen,  in  allen  Einzelnheiten  zu  er- 
gänzen; aber,  um  auch  nur  über  das  Erhaltene  zu  urtheilen, 
ist  es  nöthig,  uns  von  dem  Ganzen  wenigstens  eine  allge- 
meine Vorstellung  zu  bilden.  Das  hat  zuletzt  P.  mit  vielem 
Scharfsinn  versucht:  in  der  Mitte  steht  oder  thront  Zeus; 
Athene  ist  bereits  seinem  Haupte  entsprungen  und  tritt 
eben  in  voller  Rüstung  dem  Hephaestos  gegenüber,  der  mit 
noch  erhobener  Axt  zurückweicht.  Nike  eilt  ihrer  neuen 
Gebieterin  jubelnd  entgegen  ;  ruhiger  folgt  Ares,  dann  Hermes 
wegeilend,  um  der  Welt  die  Botschaft  der  Geburt  zu  über- 
bringen. Auf  der  andern  Seite  des  Zeus  finden  wir  zu- 
nächst seine  Gattin  Hera,  dann  Poseidon,  den  Nebenbuhler 
der  Athene   in  der  Bewerbung  um  den  Besitz  des  attischen 


12  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Landes.  Die  jungfräuliche  Artemis  erscheint  als  das  Gegen- 
bild der  Nike,  Apollo  als  das  des  Ares,  Iris  endlich  bringt 
wie  Hermes  die  Botschaft,  nur  in  entgegengesetzter  Richtung. 
Die  übrigen  früher  besprochenen  Gottheiten  stehen  der 
Haupthandlung  ferner;  sie  widmen  ihr  daher  geringere 
Aufmerksamkeit ;  ja  Dionysos  und  Aphrodite  erscheinen  nur 
mit  sich  selbst  beschäftigt.  Helios  und  Selene  stellen  den 
Olymp   als  Scene   der  Athenegeburt  nach   dem  Mythos  dar. 

Bei  unbefangener  Betrachtung  kann  uns  nicht  entgehen, 
dass  die  eigentliche  Mitte  dieser  Composition  an  starker 
Ueberladung  leidet.  Zeus,  Athene,  Hephaestos,  Hera  und 
Poseidon,  alles  Hauptpersonen,  jede  von  bedeutendem  Ge- 
wicht —  das  ist  offenbar  zu  viel.  Wo  findet  da  der  Be- 
schauer einen  Augenblick  zu  ruhiger  Ueberlegung?  Soll  der 
Blick  zuerst  von  Zeus  auf  Athene  und  Hephaestos  gelenkt 
werden,  so  kann  es  nur  geschehen,  indem  Hera  und  Poseidon 
als  weniger  bedeutend  hingestellt  werden ,  wodurch  aber 
wiederum  das  künstlerische  und  geistige  Gleichgewicht  ge- 
stört wird.  Nike  und  Artemis  könnte  man  sich  als  leichterer 
Art  und  wie  zu  notwendiger  Abwechselung  und  Erholung 
eher  gefallen  lassen.  Ares  und  Apollo  aber  scheinen  fast 
nur  bestimmt,  den  Gegensatz  der  Bewegung  des  Hermes 
und  der  Iris  zur  Richtung  der  Nike  und  Artemis  gewisser- 
massen  zu  neutralisiren ,  ohne  eigentlich  ein  selbständiges 
Interesse  zu  erwecken.  Und  wie  sollen  wir  uns  für  die 
noch  folgenden  Figuren  erwärmen,  wenn  diese  selbst  bei 
einer  so  ausserordentlichen  Begebenheit  völlig  kalt  bleiben? 
Die  Gestirne  des  Tages  und  der  Nacht  endlich  erscheinen 
bei  solcher  Auffassung  des  Ganzen  als  dem  Künstler  durch 
die  Enge  des  Raumes  aufgezwungene  Abbreviaturen. 

Genug,  dieses  Ganze  ist  unbefriedigend.  Wir  sind  be- 
rechtigt, eine  lebensvolle,  künstlerisch  und  poetisch  einheit- 
lich abgeschlossene  Composition  zu  erwarten,  und  sollen 
uns    mit    einer  Reihe    von  Gestalten    begnügen,    die    durch 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon,  13 

dogmatische  Fäden  und  Beziehungen  des  Cultus  lose  ver- 
knüpft sind,  ohne  dass  dieselben  mit  der  Handlung  irgend 
einen  directen  Zusammenhang  haben.  Nach  den  bisherigen 
Erfahrungen  aber  dürfen  wir  wohl  behaupten,  dass  jeder 
weitere  Versuch,  so  lange  er  sich  in  der  bisher  befolgten 
Richtung  bewegt,  zu  keinem  besseren  Resultate  führen  würde. 

Es  ist  nöthig,  einen  neuen  Ausgangspunkt  zu  suchen, 
und  diesen  bietet  uns  der  28.  homerische  Hymnus  auf 
Athene.  Nur  dürfen  wir  uns  nicht  begnügen,  wie  es 
Petersen  (S.  115)  thut,  ihn  wie  eine  Art  von  dichterischem 
Motto  voranzustellen,  sondern  müssen  uns  ganz  dem  leben- 
digen Eindrucke  der  Schilderung  hingeben.  Da  hören  wir, 
wie  bei  der  Geburt  der  Athene  nicht  nur  die  Unsterb- 
lichen Staunen  ergriff,  sondern  es  erbebt  der  grosse  Olymp 
unter  der  Gewalt  der  Göttin  mit  funkelndem  Blicke;  es 
kracht  die  Erde,  es  tost  und  brandet  das  Meer,  Helios 
hemmt  seinen  Lauf,  bis  die  Göttin  ihren  Waffenschmuck 
ablegt.  In  dieser  Schilderung  klingt  offenbar  die  ursprüng- 
liche Naturbedeutung  der  Göttin  des  reinen  Aethers  nach, 
die  unter  Sturm  und  Gewitter  geboren  wird.  Wir  brauchen 
nicht  anzunehmen,  dass  die  zu  Phidias  Zeit  schon  in  leben- 
diger Entwicklung  begriffene  Naturphilosophie  die  physische 
Bedeutung  der  Göttin  bereits  wieder  zu  lebendigem  Be- 
wusstsein  gebracht  habe.  Immerhin  aber  mochte  sie  soviel 
bewirken,  dass  ein  Künstler  wie  Phidias  eine  solche  Schilderung 
nicht  als  blos  schmückendes  Beiwerk,  sondern  als  einen 
positiven  Bestandtheil  der  Substanz  des  Mythus  betrachten 
lernte,  der  auch  in  der  künstlerischen  Darstellung  nicht  un- 
berücksichtigt bleiben  durfte. 

Der  Künstler  weist  uns  aber  sofort  darauf  hin:  am 
Anfange  und  am  Ende  seiner  Composition  durch  Helios 
und  Selene.  Sie  bezeichnen  die  Unendlichkeit  im  Räume 
und  in  der  Zeit,  im  Räume  das  All  ausgedehnt  zwischen 
Aufgang  und  Niedergang,   in    der  Zeit  die  Ewigkeit  im  un- 


14  Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  4.  Juli  187 L 

veränderlichen  Wechsel  des  Kreisens  der  Gestirne:  ein  Ge- 
danke, der  noch  in  Monumenten  der  späteren  Roemer- 
zeit  seine  typische  Geltung  bewahrt.  So  werden  wir  sofort 
weit  über  die  Grenzen  des  attischen  Landes  hinausgeführt, 
auf  das  man  in  früheren  Erklärungen  die  Bedeutung  der 
Geburt  Athenes  beschränken  wollte.  Der  Künstler  führt 
uns  in  den  weiten  allgemeinen  Welt-  oder  Himmelsraum, 
in  dem  die  Götter  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit  wohnen  und 
in  dem  daher  auch  die  Geburt  nicht  als  ein  einmaliges  und 
einzelnes  Factum  aufzufassen  ist,  sondern  als  eine  himm- 
lische und  göttliche  Erscheinung,  die  unter  bestimmten  Be- 
dingungen, so  zu  sagen,  ewig  wiederkehrt. 

Helios  taucht  soeben  aus  den  Wogen  des  Meeres  auf, 
Selene  sinkt  hinab.  Mit  Recht  bewundern  wir  die  Kühnheit 
der  Phantasie  des  Phidias  in  der  künstlerischen  Gestaltung 
der  beiden  Gestirne.  Frei  von  allen  Fesseln  conventioneller 
Auffassung  lenkt  er  seinen  Blick  auf  die  Wirklichkeit  der 
Erscheinung,  und  vor  seinen  Geist  tritt  dieselbe  in  persön- 
lichster ,  sprechendster  Gestaltung.  Soll  sich  nun  diese 
grossartige,  lebensvolle  Anschauung  der  Natur  auf  die  bei- 
den äussersten  Ecken  beschränken  und  sofort  einem  starren 
Dogmatismus  weichen?  Soll  der  Künstler  etwa  nur  dem 
Zwange  des  Raumes  nachgebend  den  Moment  des  Aufganges 
und  Unterganges  gewählt  haben?  Ein  Geist  wie  Phidias 
musste  hier  vermitteln,  musste  allmählich  von  dem  Bilde 
der  Natur  zu  dem  geistigen  Mittelpunkte  überleiten,  musste 
eben  so  den  zeitlichen  Moment  als  einen  nicht  willkürlichen, 
sondern  nothwendig  bedingten  motiviren. 

Die  ersten  Strahlen  des  aufgehenden  Helios  erleuchten 
den  Sitz  der  Götter,  die  Höhen  des  Olympos.  Diesen,  den 
Gott  des  Berges  ,  erkennen  wir  in  der  Gestalt  des  vor  den 
Rossen  gelagerten  Jünglings.  Die  bei  Berg-,  wie  bei  Fluss- 
göttern weniger  häufige,  aber  keineswegs  aussergewöhnliche 
unbärtige  Bildung  kann  am  wenigsten  beim  Olympos  auffallen: 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  15 

o&l  gxxol  d-ewv  edog  aoya'keg  alei 
E/Aftevar  dvx*  dvefxoiai  Twaooerai,  övts  tcot?  of^ßqco 
ösveTcci.  ovte  %iü)v  eTtiTclXvarar  dlld  nctV  al&Qr] 
TtiiXTaxcti  dvicpelog,  levurj  <T  ETtidedoo^iev  a.iyhq. 
t$  h'vi  TeQ7tovTai  (j.dxaQeg  -9-eol  rj^tara  TtavTct, 
(Od.  VI,  43  ff.)     Nicht    zufällig    und    für    den    Augenblick 
ruht  er  hier,    sondern    auf  bereitetem  Lager,  einem  Thier- 
felle,    hat   er  seinen  ständigen  festen  Sitz;    und  diese  Ruhe 
und  Festigkeit   spricht  sich  auch  in  der  ganzen  Gestalt,   in 
ihrer   sicheren  Haltung,    wie    in   den    kräftigen    unverwüst- 
lichen Formen  aus ,    einem  Felsengebilde  im  Gegensatz  zu 
den  fliessenden  Formen  des  Flussgottes  im  Westgiebel. 

Wir  befinden  uns  jetzt  an  den  Pforten,  den  Thoren 
des  Himmels: 

ag  e%ov   ilQcti, 
Trg    ETtixeTQaTtTat  fisyag  ovqavog  Ovlvjxrtog  re, 
rjixsv  dvaMvai  tcvy.ivov  viqiogj  rjd''  ItciSüvcli, 
(II.  V,  749;  VIII,  393).    In  der  Zweizahl,  wie  sie  in  Athen 
verehrt  wurden  (ohne  dass  deshalb  hier  an  speciell  attische 
Hören  zu  denken  wäre)  sitzen  sie  eng  vereint  und  nur  etwa 
so    weit    in    ihrer    Bildung    unterschieden,    wie    es    in    den 
Namen  Thallo   und  Karpo  angedeutet   ist:    die    eine   etwas 
nach  aussen,  die  andere  mehr  nach  der  Mitte  gewandt  und 
durch    die  Bewegung    der  Arme,    in   der   sie   eine   Taenie 
oder  ein  Blumengewinde  halten  mochte,    den  Blick  des  Be- 
schauers nach  dieser  Seite  lenkend. 

Wir  blicken  zunächst  nach  dem  entgegengesetzten  Ende 
des  Giebels,  wo  dem  aufgehenden  Helios  die  hinabsteigende 
Selene,  die  schwindende  Nacht  entspricht.  Sie  entspricht 
ihm,  oder  richtiger:  sie  steht  zu  ihm  in  einem  diametralen 
oder  polaren  Gegensatze  nicht  nur  dem  Räume,  sondern 
auch  der  Bedeutung  nach.  Gegenüber  der  heiteren  Klarheit» 
die  Helios  verbreitet,  steht  düsteres  Dunkel.  Dort  im  fernen 
Westen    wohnen    die   dem   Stamme    des   Okeanos   und   des 


16  Sitzung  der  phüos.-phüöl.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Atlas  entsprossenen  Hyaden,  das  im  Westen  sich  sammelnde 
und  lagernde  Gewölk,  welches  zwar  Sturm ,  aber  auch  be- 
fruchtenden Regen  bringt.  Ihre  Gegenwart  mag  uns  freilich 
im  ersten  Augenblick  überraschend  erscheinen ,  da  sie  auf 
dem  Gebiete  der  Religion  und  des  Cultus  weniger,  und 
hier  zunächst  als  Pflegerinnen  des  Dionysos  hervortreten. 
Um  so  mehr  werden  wir  uns  der  hohen  Bedeutung  erinnern 
müssen,  welche  ihnen  neben  den  Pleiaden  in  den  Anschau- 
ungen des  Volkes,  der  Ackerbauer  und  Schiffer  beigemessen 
wurde.  Ihre  Zahl  wechselt  in  den  verschiedenen  Angaben; 
aber  die  für  ähnliche  Vereine  so  häufige  Dreizahl  ist  durch 
genügende  Zeugen  verbürgt.  Hesiod  (fr.  67  aus  Schol.  Arat. 
phaen.  172)  nennt  sie  den  Chariten  verwandte  Nymphen, 
und  unter  den  fünf,  die  er  anführt,  bezeichnet  er  die  eine 
als  schönbekränzt,  die  zweite  als  liebreizend,  die  dritte  als 
mit  weitem  Gewände  bekleidet.  Der  poetische  Reiz,  der 
Welckers  Deutung  auf  die  drei  attischen  Thauschwestern  so 
anziehend  machte,  bleibt  jetzt  unverloren ,  nur  dass  an  die 
Stelle  des  Morgennebels  und  Thaues,  der  sich  breit  über 
die  Flächen  lagert  oder  emporstrebt ,  die  verwandten ,  nur 
substantielleren  und  massigeren  Wolken  treten.  Selbst 
Petersen  unterstützt  diese  Deutung,  indem  er  die  gelagerte 
Gestalt  vortrefflich  in  folgender  Weise  charakterisirt  (S.  131): 
,,Der  Körper  ist  so  voll  blühendsten  Lebens,  so  frisch  und 
warm,  wie  Marmor  sein  kann,  und  die  Falten,  die  kräftigen 
des  Mantels,  wie  die  feinen  des  Untergewandes  umspielen 
die  Formen  mit  tausendfacher  Bewegung,  besonders  über 
Schooss  und  Busen,  gleich  wie  leise  zitternde  Wellen  durch- 
sichtigen Wassers  über  hell  leuchtendem  Grunde." 

Entspricht  aber  eine  Auffassung  der  Naturerscheinungen 
des  Himmels,  wie  wir  sie  in  den  Figuren  des  Giebels  zu 
erkennen  glaubten,  dem  Geiste  des  Phidias  und  seiner  Zeit? 
Zwei  nur  wenig  jüngere  Zeitgenossen  mögen  antworten.  Bei 
Euripides  begrüsst  Ion  (v.  82  ff.)   den  Anbruch  des  Tages: 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  17 

aQfictTa  fxev  tade  XafiTtQa  Ted-QirtTtcov, 

rjfaog  rjdrj  Xa(j.7tei  kcctcc  yfjv, 

(xgtqcc  de  cpsvyeL  tivqI  lyd'  al&€QOg 

ig  vvyty  leoav, 

TLaQvrjOLadeg  <T  aßaxoi  KOQvcpccl 

7iaTaXafj,7to(X€vai  xrtv  yfxeQav 

aiplda  ßqotölai  de%oviat. 

Und  Aristophanes  lässt  den  Chor  der  Wolken  mit  den 
prächtigen  Versen  auftreten  (v.  275  ff.): 

äevaoi  NeyeXcu, 

ccQ&cjfiev  gjaveoal  ögooegav  cpvaiv  evccyrjtov, 

7taxq6g  clti*  'Qxeavov  ßaqva%eog 

viprjlwv  OQecov  Koqycpag  Itci 

devdqoxo/AOvgj  iva 

TrjXecpavelg  oxoniäg  ccg)0QCüfA8&a, 

Kaqjtovg  t'  ccQÖOfisvav  leqav  %d-ova, 

Kai  norafA-iov  ^aS-ecov  y.e%aöijiara, 

*ai  tcqvxov  xeXaöovra  ßaQvßQOfiov. 

ofifxa  yaq  ald-iqog  axa^arov  oekayetcai 

fiaQ/xccQECcig  iv  avyaig. 

aXV  (XTioGeiGaixevai  veqjog  o^ßqiov 

a&avaTag  löeccg  eTtidtofte&a 

Trjheoxorcti)  6\i\iaxi  ycuav. 

Möchte  man  nicht  beinahe  glauben,  dass  die  klare, 
plastische  Schilderung  der  beiden  Dichter  angeregt  sei  durch 
die  vor  ihnen  stehenden  Werke  der  Plastik?  Bei  Euripides, 
der  unmittelbar  nach  der  Rede  Ion's  in  der  Schilderung 
des  bildnerischen  Schmuckes  am  Tempel  zu  Delphi  der 
gleichen  Herrlichkeiten  Athens  gedenkt;  bei  Aristophanes, 
der  die  Wolken  nach  Athen  ziehen  lässt,  um  die  Opfer 
und  Festfeiern,  die  Weihgeschenke,  die  hohen  Tempel  und 
Bilder  der  Götter  zu  schauen.  Noch  mehr:  ein  gewebter 
Teppich,  den  Euripides  gleichfalls  im  Ion  (v.  1146  ff.)  be- 
[1874. IL  Phil.  hist.  d.i.]  3 


18  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

schreibt,   bietet  auch   ein  künstlerisches  Seitenstück  zu  den 
Compositionen  des  Giebels: 

svrtv  (T  vqjccvral  yqa\i\iaGiv  TOiaLd'  vcpal' 

OvQctvog  a&QOlCwv  aox$  Iv  ald-eqog  kvkXoj' 

CTtTtovg  fi£v  yXccw'  ig  reXevraiav  cpXoya 

c'Hfoog,  iqjiXyiwv  Xa(XTtq6v  cEö7teqov  yaog. 

lx£ka\iTtzitXog  ös  Nvt;  ccgeiqcütov  £vydlg 

o%rjiJ?  efCaXXev  aotQct  <T  co/xagreL  &£(x. 

üXeiccg  per  rpi  fieG07t0Q0v  öi   ccl&eQog, 

o  re  ^icprßqg  'Qqlcov  VTteqd-e  de 

Z^QKTOg    GTQecpOVG''    OVQCtta   XQVGtßEl   7t6X(x). 

KvxXog  öi  TiavGeXrjvog  r^ovxO^  avw 

lirjvog  ÖL%iqqrig,  cYaösg  re  vavrlXoig 

GaqjeGTccrov  Grjfxelov,  i[  re  (pcüGqjoqog 
7'Ecog  öicokovg''  ccGrqa. 

Ist  nun  das  Naturgemälde  des  Giebels  nur  ein  Land- 
schaftsbild ,  eine  Umrahmung  für  die  in  der  Mitte  voraus- 
zusetzende Versammlung  der  Olympier?  Schon  der  home- 
rische Vers  (II.  XV,  192;  vgl.  20),  dass  Zeus  zur  Herrschaft 
den  Himmel  erhielt  „in  Aetherglanz  und  Wolken",  würde 
der  Schilderung  des  Künstlers  eine  tiefere  Bedeutung  ver- 
leihen. Doch  muss  sich  dieselbe  noch  wesentlich  erhöhen 
beim  Hinblick  auf  den  homerischen  Hymnus  von  der  Geburt 
der  Athene.  Jene  gewaltige  Macht  elementarer  Ereig- 
nisse,  welche  dort  die  Geburt  begleiten,  sie  spiegeln  sich 
oder  sie  klingen  nach  in  dem  Werke  des  Phidias:  warum 
nicht  in  lebendigerer,  erregterer  Weise,  das  wird  sich  erst 
erklären,  wenn  wir  uns  von  der  fehlenden  Mitte  eine  an- 
nähernde Vorstellung  gemacht  haben  werden. 

Freilich  bieten  sich  hier  nur  geringe  äussere  Hülfs- 
noittel  dar.  Die  sogenannte  Nike  gehört,  wie  später  nach- 
gewiesen werden  soll,  nicht  dem  Ost-,  sondern  dem  West- 
giebel an.  So  bleibt  ausser  einem  mit  Wahrscheinlichkeit 
auf  Hephaestos   bezogenen    Torso    nur  die   angebliche   Iris 


Ißrunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  19 

neben  den  Hören  übrig.  Ihre  lebhafte  Bewegung  be- 
zeichnet einen  bestimmten  Abschnitt  in  der  Composition. 
Wir  treten  gewissermassen  aus  dem  Vorhofe  in  den  inneren 
Raum  des  Olyinpos.  Mit  Recht  hebt  Petersen  den  jugend- 
lich mädchenhaften  Charakter  der  Gestalt  hervor,  der  den 
Kreis  der  Möglichkeiten  einer  Erklärung  wesentlich  verengt 
und  zugleich  für  dieselbe  ein  bestimmtes  Kriterium  abgiebt. 
Sollen  wir  es  für  Zufall  halten,  dass  an  einem  nur  wenig 
jüngeren  Werke  der  athenischen  Burg  dieselbe  Figur  bis 
auf  die  Haltung  des  linken  Armes  fast  unverändert  wieder- 
kehrt? Sie  erscheint  am  vorderen  Friese  des  Niketempels 
neben  einer  sitzenden  Göttin,  in  welcher  man  kaum  umhin 
kann  Hera  zu  erkennen.  Halten  wir  uns  für  die  ihr  zu- 
getheilte  Dienerin  an  den  von  Gerhard  vorgeschlagenen 
Namen  Hebe,  so  werden  wir  zugeben  dürfen,  dass  auch  die 
Bildung  der  Statue  des  Ostgiebels  dieser  Benennung  nicht 
widerspricht,  wenn  auch  das  Motiv  der  Bewegung  dabei 
vorläufig  noch  unerklärt  bleibt.  Zunächst  ist  es  fast  noch 
wichtiger,  dass  uns  die  Vergleichung  jener  Friescomposition 
unwillkürlich  darauf  hinleitet,  neben  Hebe  auch  in  dem 
Giebel  die  thronende  Hera  vorauszusetzen:  in  der  Nähe 
der  Hören,  die  ja  nächst  Zeus  auch  ihr  als  Herrin  ihre  be- 
sonderen Dienste  weihen.  Ihr  gebührt  eine  in  die  Augen 
fallende  Stelle  bei  der  Geburt  der  Athene.  Mögen  immer- 
hin die  Züge  von  Eifersucht,  von  der  sie  sich  auch  bei 
diesem  Anlass  nicht  frei  gehalten  haben  soll,  nicht  dem 
ursprünglichen  Kern  der  Sage  angehören,  so  ist  es  doch  in 
ihrer  eigenen  Stellung  als  Gemahlin  des  Zeus,  sowie  in  der 
Stellung,  welche  Athene  als  Tochter  des  Zeus  neben  ihr 
im  Olymp  einnimmt,  hinlänglich  begründet,  dass  sie  bei 
deren  Geburt  nicht  unbetheiligt  bleiben  darf,  allerdings 
nicht  als  selbsthandelnd,  sondern  in  der  Rolle  der  ersten 
und  hervorragendsten  Beobachterin.  Diesem  Verhältniss 
entspricht   es   vortrefflich,    dass   sie   nicht  in  unmittelbarer 


20         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  187 L 

Nähe  der  Mitte  erscheint,  sondern  in  einiger  Entfernung, 
wo  sie  eine  gewisse  Selbständigkeit  zu  bewahren,  selbst 
wieder  der  Mittelpunkt  einer  kleineren  Gruppe  zu  werden 
vermag.  Zur  Abrundung  einer  solchen  bietet  sich  ungesucht 
Ares  dar,  der  Sohn  der  Hera,  der  ja  zur  bevorzugten 
Tochter  des  Zeus  in  einem  oft  genug  hervortretenden  Gegen- 
satze steht.  Nicht  minder  zuversichtlich  möchte  man  be- 
haupten, dass  der  Hera  an  der  gegenüberstehenden  Stelle 
der  Composition  neben  den  Hyaden  niemand  anders  ent- 
sprochen haben  kann  als  Poseidon,  der  Nebenbuhler  der 
Athene  im  Streit  um  Attika,  aber  später  im  Cultus  mit  ihr 
verbunden.  Der  Uebergang  von  den  Hyaden  zu  ihm  er- 
scheint nicht  minder  passend,  wie  der  von  den  Hören  zu 
Hera.  Der  Hebe  entsprechend  mochte  ihm  eine  Nereide 
(oder  etwa  Iris?  vgl.  Paus.  III,  19,3)  beigegeben  sein,  während 
die  Stelle  des  Ares  etwa  Apollo  einnehmen  mochte ,  der  ja 
auch  im  Ostfries  mit  Poseidon  verbunden  ist.  So  lösen 
sich  von  den  beiden  äussersten  Flügeln  der  Composition, 
welche  den  lokalen  oder  physischen  Hintergrund  bilden, 
die  beiden  Gruppen  der  Hera  und  des  Poseidon  in  dem 
bestimmten  Sinne  ab,  dass  sich  in  ihnen  das  Interesse  an 
der  Handlung  steigert;  aber  eben  so  lösen  sie  sich  von  der 
eigentlichen  Mitte  ab,  indem  sich  in  ihnen  die  beobachtende 
Theilnahme  von  der  Handlung  selbst  scheidet. 

Für  die  letztere  ist  jetzt  im  Centrum  ein  Raum  ge- 
wonnen ,  in  dem  sie  sich  frei  und  unbehindert  entfalten 
kann,  so  dass  sie  das  Auge  vorzugsweise  auf  sich  lenkt, 
ohne  es  zu  verwirren.  Man  hat,  und  wohl  mit  Recht,  den 
Vasen-  und  Spiegeldarstellungen  keinen  besonderen  Werth 
für  die  Reconstruction  der  Giebelgruppe  im  Einzelnen  bei- 
legen zu  dürfen  geglaubt.  Doch  möchte  es  Beachtung  ver- 
dienen, dass  dieselben  bei  sonstigem  Wechsel  des  Personals 
in  der  Umgebung  des  Zeus  einem  hülfreichen  Wesen  con- 
sequent   seine  Stellung  gewahrt   haben:    der  Eileithyia,  sei 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  21 

es  dass  sie  dieselbe  einzeln,  oder  was  dem  Begriffe  nach 
nicht  verschieden  ist,  in  der  Zweizahl  einführen.  Aus  künstle- 
rischen Gründen  empfiehlt  es  sich  durchaus,  sie  auch  in 
der  Composition  der  Giebelgruppe  wieder  in  ihre  Rechte 
einzusetzen  und  zwar  in  der  schon  von  Homer  (IL  XV,  270) 
bezeugten  Doppelzahl.  Die  Gestalt  des  Zeus  musste  natür- 
lich aus  ihrer  Umgebung  besonders  hervorgehoben  werden; 
die  unmittelbare  Nähe  wichtiger  Hauptpersonen  konnte  aber 
diesem  Eindrucke  nur  schaden.  Dagegen  verstärken  zwei 
Eileithyien  zu  einer  Gruppe  mit  ihm  verbunden  das  Gewicht 
seiner  Persönlichkeit,  ohne  bei  ihrer  untergeordneten  durchaus 
dienenden  Stellung  sie  zu  unterdrücken.  Zeus  erscheint 
metrisch  wie  eine  Arsis  oder  Länge  zwischen  zwei  Thesen 
oder  Kürzen.  Nach  diesen  Kürzen  gewinnen  die  nächst- 
folgenden Figuren  wieder  erhöhte  Bedeutung,  vor  allem 
Hephaestos  (oder  möglicher  Weise  Prometheus),  der  immer 
noch  nahe  genug  bleibt,  um  seines  Amtes  zu  warten,  und 
dem  vielleicht  Hermes  in  bewegter  Gestalt  entsprach,  der 
stets  bereite  Diener  des  Zeus,  der  hier  den  Hephaestos  zur 
Stelle  geschafft  hat.  Ob  und  welche  Figuren  zur  Verstär- 
kung, sei  es  der  Mittel-,  sei  es  der  Seitengruppen  noch  hin- 
zugefügt sein  mochten,  mag  hier  unerörtert  bleiben. 

Und  Athene?  Die  durch  Vasenbilder  hervorgerufene 
Vorstellung,  dass  Athene  in  kleiner  Gestalt  aus  dem  Haupte 
des  Zeus  hervorspringe,  wird  als  unplastisch  und  für  die 
Darstellung  in  einer  Giebelgruppe  zu  kleinlich,  jetzt  wohl 
von  niemand  gebilligt.  Soll  also  Athene  in  voller  majestä- 
tischer Gestalt  die  Mitte  einnehmen ,  Zeus  sich  neben  ihr 
befinden?  Dadurch  würde  Zeus  in  eine  untergeordnete 
Stellung  versetzt,  was  für  den  König  der  Götter  und  hier 
noch  besonders  für  den  Vater,  der  eben  erst  der  Tochter 
das  Leben  giebt,  unmöglich  ist.  Oder  soll  Zeus  die  Mitte 
einnehmen  und  die  Tochter  ihm  zur  Seite  stehen?  So  würde 
der  Ehrenplatz,   der   der  Göttin  an  ihrem  Tempel  gebührt, 


22  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

ihr  entzogen.  Oder  sollen  Vater  und  Tochter  zu  beiden 
Seiten  der  Mittellinie  des  Giebels  aufgestellt  sein?  Dadurch 
würden  sie  in  einen  Gegensatz  treten,  wie  Athene  und 
Poseidon  im  Westgiebel,  der  jedoch  weder  im  Mythus  be- 
gründet, noch  im  Vordergiebel  künstlerisch  gerechtfertigt  ist. 
Genug:  bei  der  Anwesenheit  beider  Gottheiten  haben  wir 
zwei  Mittelpunkte  und  bedürfen  nur  eines  einzigen.  Eine 
von  beiden  muss  also  weichen,  und  zwar  Athene.  Mit  andern 
Worten:  nicht  ihre  Geburt  ist  dargestellt,  sondern  der 
Moment  vor  der  Geburt. 

Im  vorderen  Giebel  des  Zeustempels  zu  Olympia  sah 
man  das  Wettrennen  des  Pelops  und  Oenomaos  in  der 
Vorbereitung.  Der  Beschauer  sollte,  ehe  er  den  Tempel 
betrat,  nicht  durch  die  bewegten  Scenen  des  Rennens  selbst 
aufgeregt,  sondern  durch  die  Vorbereitungen  nur  angeregt, 
in  eine  gewisse  Spannung  versetzt  werden.  Sollte  nicht 
beim  Parthenon  eine  ähnliche  Absicht  gewaltet  haben? 
Pausanias,  der  vom  Westgiebel  sagt:  der  Streit  über  das 
Land  ist  dargestellt,  gebraucht  beim  Ostgiebel  nicht  die 
gleiche  Wendung,  sondern:  alles  bezieht  sich  hier  auf  die 
Geburt  der  Athene.  Helios  taucht  eben  aus  den  Wellen 
empor ,  der  Tag  beginnt  erst ,  der  so  Ausserordentliches 
schauen  soll.  Die  Nacht  schwindet;  zwar  lagert  dort  in 
der  Nähe  noch  feuchtes  Gewölk,  aber  ruhig  und  unbewegt. 
Doch  bereits  erscheinen  die  Vorboten,  die  uns  auf  das  Be- 
vorstehende vorbereiten  sollen :  Hebe  *)  und  ihr  Gegenbild 
auf  der  andern  Seite  bringen  die  Botschaft  und  flüchten  in 
Ahnung  des  Zukünftigen  hinter  ihre  Gebieter.  In  diesen 
selbst  aber  und  ihrer  weiteren  Begleitung   musste    sich   der 


1)  Oder  sollen  wir  diese  Gestalt  Eos  nennen?  Sollte  etwa  der 
Künstler  den  Gedanken  des  homerischen  Hymnus,  dass  Helios  seinen 
Lauf  hemmt,  dadurch  ausgedrückt  haben,  dass  Eos,  die  ihm  voran- 
geeilt, jetzt  plötzlich  zurückweicht?  Zu  der  auf  der  anderen  Seite 
vermutheten  Iris  würde  sie  das  passendste  Gegenbild  sein, 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  23 

Ausdruck  staunender  Erwartung  in  lebensvollen  Abstufungen 
steigern.  Denn  schon  ist  die  Axt  erhoben,  die  auf  das 
Haupt  des  schwerbedrückten,  von  hülfreichen  Frauen  unter- 
stützten Zeus  niederfallen  soll.  So  steht  das  Werk  vor 
dem  Beschauer;  dieser  aber  ergänzt  aus  seiner  Phantasie, 
was  noch  folgt:  die  Göttin  springt  in  voller  Rüstung  aus 
dem  Haupte  des  Vaters;  alle,  die  es  sehen,  staunen;  der 
Olymp  erbebt,  die  Erde  kracht,  es  brandet  und  tost  das 
Meer;  die  ganze  Natur  ist  in  wildem  Aufruhr;  Helios  hemmt 
den  Lauf,  bis  die  Göttin  den  glänzenden  Waffenschmuck 
von  den  unsterblichen  Schultern  nimmt.  Unter  solchen  Ge-' 
danken  naht  er  dem  Tempel  und  nach  wenigen  Schritten 
tritt  ihm  dort  im  Innern  das  Bild  der  Göttin  entgegen,  wie 
in  ruhigem  lichtem  Aetherglanz,  in  einer  Pracht  und  Herr- 
lichkeit, wie  sie  mit  irdischen  Mitteln  nur  der  Genius  eines 
Phidias  dem  Auge  der  Sterblichen  zu  zeigen  vermochte. 

Der  Westgiebel. 

Von  dem  Westgiebel  sind  jetzt  nur  noch  sehr  geringe 
Reste  erhalten.  Dagegen  lernen  wir  aus  den  Zeichnungen 
Carrey's  und  des  Nointel'schen  Anonymus ,  der  trotz  un- 
geschickter Steifheit  doch  zu  selbständig  erscheint,  als  dass 
er  für  einen  blossen  Copisten  Carrey's  gelten  könnte,  die 
Composition  in  ihren  Grundzügen  mit  nicht  sehr  wesent- 
lichen Lücken  kennen;  vgl.  Michaelis  Taf.  7  und  8.  Vom 
Centrum,  das  wahrscheinlich  vom  Oelbaum  eingenommen 
war,  eilen  nach  entgegengesetzten  Richtungen  Athene  und 
Poseidon  ihren  Gespannen  zu.  Der  Wagen  der  Athene 
wird  von  zwei  muthigen  Rossen  gezogen  und  von  einer 
weiblichen  Gestalt,  wie  man  annimmt,  von  Nike  gelenkt. 
In  einem  Jüngling,  der  mit  leichter  Chlamys  nebenher- 
schreitet, erkennt  man  wohl  mit  Recht  Hermes.  Auch  den 
Wagen  des  Poseidon  haben  wir  uns  wahrscheinlicher  mit 
gewöhnlichen    Pferden,    nicht    mit    Seerossen    bespannt    zu 


24  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

denken.  Neben  der  Lenkerin,  vermuthlich  Amphitrite,  eilt 
auch  hier,  dem  Hermes  entsprechend,  eine  weibliche  Gestalt 
der  Mitte  zu.  Erst  in  neuerer  Zeit  ist  darauf  hingewiesen 
worden,  dass  der  Torso  dieser  Figur  uns  wahrscheinlich  in  der 
bisher  dem  Ostgiebel  zugetheilten  sogenannten  Nike  erhalten 
ist  (Matz:  Gott.  G.  A.  1871,  S.  1948:  Michaelis:  A.  Z.  1872, 
S.  115;  dagegen  Petersen  S.  144).  Er  soll  am  Boden  des 
Giebelfeldes  gefunden  sein.  Wäre  dies  der  Ostgiebel ,  so 
müsste  sich  von  ihm  in  Carrey's  Zeichnung  wenigstens  eine 
Andeutung  finden.  Die  Unsicherheit  in  den  Angaben  Vis- 
conti's  aber  lässt  sich  sehr  wohl  daraus  erklären,  dass  bis 
auf  ihn  der  Westgiebel  für  den  vorderen  gehalten  wurde 
und  dadurch  bei  mündlicher  Ueberlieferung  leicht  eine  Ver- 
wechslung stattfinden  konnte.  Die  Zeichnung  der  Figur 
im  Westgiebel  bei  Carrey,  dem  Anonymus  und  Dalton  ent- 
spricht aber  dem  Torso  in  der  Hauptsache ,  soweit  es  sich 
bei  dem  Charakter  dieser  Skizzen  erwarten  lässt.  Der  auf- 
rechten Haltung  des  Oberkörpers  in  seiner  jetzigen  Auf- 
stellung lässt  sich  ohne  Schwierigkeit  eine  den  Zeichnungen 
entsprechende  grössere  Neigung  nach  vorne  geben.  Die  bei 
weiblichen  Figuren  ungewöhnliche  kurze  Gewandung  mochte 
wegen  des  vorgebauten  mittelalterlichen  Mauerwerks  für 
die  Zeichner  von  unten  nicht  deutlich  erkennbar  sein.  Für 
die  Flügel  zeigt  sich  wenigstens  nach  Carrey's  Zeichnung 
noch  hinlänglicher  Raum,  und  ein  leichtes  Gewandstück  um 
den  linken  Arm  steht  mit  ihnen  keineswegs  im  Widerspruch, 
zumal  die  Zeichnungen  keine  Andeutungen  geben,  dass  es 
sich  hinter  dem  Rücken  fortsetzte.  Eine  durchaus  passende 
Deutung  der  Gestalt  endlich  wird  sich  bald  ohne  Schwierig- 
keit ergeben;  ja  die  künstlerisch  abgerundete  Mittelgruppe 
erhält  erst  durch  diese  Figur  ihren  vollen  geistigen  Abschluss. 
Es  wird  allgemein  angenommen,  dass  der  Streit  zwischen 
Athene  und  Poseidon  als  bereits  entschieden  dargestellt  sei, 
und  insofern    mit  Recht,    als  keine  Götterversammlung  vor- 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  25 

handen  ist,  vor  welcher  der  Process  geführt  wird.  Aber 
ist  er  darum  ohne  Richter  entschieden  worden?  Ist  es 
ferner  ein  passender  Gedanke,  dass  die  Gespanne  schon 
länger  anwesend  sein  sollen  und  dabei  doch  in  lebendiger 
Bewegung?  Weit  schöner  gliedert  sich  das  Ganze,  wenn 
wir  annehmen,  dass  die  Gespanne  eben  ankommen  und  nun 
angehalten  werden  sollen,  und  dass  Hermes,  indem  er  den 
Wagen  der  Athene  zur  Stelle  geleitet,  ihr  entgegeneilt,  um 
ihr  im  Auftrage  der  Götter  den  Sieg  zu  verkünden,  während 
Iris  dem  Poseidon  die  Botschaft  bringt,  dass  er  sich  aus 
dem  Lande  zurückzuziehen  habe,  dessen  Besitz  ihm  soeben 
abgesprochen  worden  ist.  Mir  scheint,  die  Sache  ist  so 
einfach,  dass  sie  eines  weiteren  Beweises  nicht  bedarf. 

Von  dieser  Mittelgruppe  sondern  sich  die  Seitenflügel 
sehr  bestimmt  ab.  Aus  verschiedenen  Versuchen  zu  ihrer 
Deutung  hat  sich  für  die  auf  der  Seite  des  Poseidon  be- 
findlichen Gestalten  eine  ziemlich  übereinstimmende  Ansicht 
ausgebildet.  Die  zunächst  hinter  Ainphitrite  in  der  Vorder- 
ansicht sitzende  Frau  nennt  man  Leukothea,  an  deren  rechte 
Seite  sich  Palaemon  anschmiege.  Sodann  soll  Aphrodite 
von  Eros  begleitet  auf  dem  Schoosse  der  am  Boden  sitzen- 
den Thalassa  oder  Dione  ruhen  und  hinter  ihr  noch  eine 
Nereide  oder  ähnliche  Meergöttin  sitzen.  In  einer  knienden 
Jünglings-  und  einer  liegenden  weiblichen  Gestalt  erkennt 
man  den  Ilissos  und  die  Quelle  Kallirrhoe.  Auch  auf  der 
entgegengesetzten  Seite  sieht  man  übereinstimmend  in  der 
Eckfigur  den  Kephisos,  zu  dem  sich  eine  schon  zur  Carrey's 
Zeit  verlorene  Quellnymphe  geselle.  Dagegen  stehen  sich 
hinsichtlich  der  übrigen  Figuren  zwei  Hauplansichten  gegen- 
über: die  eine  fasst  sie  einheitlich  zusammen  als  die  ältesten 
Bewohner  Attika's,  d.  h.  als  Kekrops  mit  seinen  drei  Töchtern 
und  seinem  Sohn  Erysichthon;  die  andere  scheidet  die  der 
Mitte  zunächst  befindliche  Gruppe  von  zwei  Frauen  und 
einem  Knaben   oder  Jüngling   als  Demeter,  Persephone  und 


26  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Iakchos  ab,  während  die  knieende  Männer-  und  die  an  diese 
sich  lehnende  Frauengestalt  theils  Herakles  und  Hebe,  theils 
Asklepios  und  Hygieia,  oder  selbst  Marathon  und  Salamis 
genannt  werden. 

Gemeinsam  ist  allen  diesen  Erklärungen,  ausser  der 
Deutung  der  Eckfiguren  als  Localdämonen,  nur  der  Gedanke, 
dass  die  eine  Seite  eine  nähere  Beziehung  zu  Poseidon,  die 
andere  zu  Athene  habe.  Im  Uebrigen  haben  wir  das  Ge- 
fühl, dass  die  einzelnen  Namen  mühsam  zusammengesucht 
sind,  dass  die  mythologische  Verbindung  zwischen  den  ein- 
zelnen Figuren  äusserst  locker  und  in  keiner  Weise  zwingend 
ist  und  ein  engerer  poetischer  Zusammenhang  durchaus 
fehlt.  Was  bedeutet,  fragen  wir  wohl,  die  Anwesenheit  des 
eleusinischen  Dreivereins ,  der  doch  zu  dem  Streite  des 
Poseidon  in  keiner  Weise  eine  directe  Beziehung  hat? 
Was  Asklepios,  der  spät,  man  möchte  sagen,  aus  praktischem 
Bedürfniss  zum  Gott  erhoben,  sich  nirgends  recht  in  die 
alten  mythologischen  Göttersysteme  einfügt  und  in  Athen 
mit  der  ursprünglich  der  Athene  eng  verwandten  Hygieia 
gewiss  nur  nachträglich  in  Verbindung  gesetzt  wurde?  Eben 
so  lässt  sich  fragen,  welche  irgendwie  nähere  Beziehung  zur 
Haupthandlung  Leukothea  und  Palaemon,  Aphrodite  und 
Dione  haben?  Ihrem  Begriffe  nach  gehören  sie  allerdings 
zum  Kreise  des  Poseidon.  Allein  als  Gefolge  des  Gottes 
vermögen  wir  sie  nach  ihrer  künstlerischen  Auffassung  nicht 
anzuerkennen,  wo  sie  ruhig  am  Platze  sitzen,  wo  nichts  auf 
ein  Gehen  und  Kommen,  nichts  auf  eine  directe  Theilnahme 
an  der  Haupthandlung  hindeutet.  Welche  Rollen  aber  sollen 
Götter  hier  überhaupt  spielen  ?  Niemand  wird  daran  denken, 
dass  sie  etwa  als  Richter  gegenwärtig  seien.  Also  etwa, 
wenigstens  die  auf  der  Seite  der  Athene,  als  alt-attische 
Landesgottheiten?  Aber  Athene  soll  ja  eben  als  erste 
Herrscherin  das  Land  in  Besitz  nehmen.  Sollen  sie  etwa 
als   ihr  untergeordnet   ihre  Herrschaft  verherrlichen?     Die 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  27 

Familie  des  Kekrops  endlich  wird  allerdings  in  einigen 
Versionen  mit  dem  Streite  der  Götter  in  bestimmte  Be- 
ziehung gebracht.  Die  Auffassung  der  Hauptscene  wider- 
spricht aber  gerade  hier  der  Voraussetzung,  dass  sie  mit 
Rücksicht  auf  ihren  Antheil  an  dem  Richterspruche  an- 
wesend sein  könnte.  Hätte  sie  aber  der  Künstler  aus  einem 
andern  Grunde  einführen  wollen,  so  durfte  er  doch  wahrlich 
nicht  das  Haupt  der  Familie,  den  Kekrops,  an  die  letzte 
Stelle  setzen  und  am  Boden  kauern  lassen;  er  musste  ihn 
als  Haupt,  als  König  characterisiren  und  die  Familie  um 
ihn  herum  gruppiren,  während  jetzt  die  grössere  Hälfte 
derselben  in  einer  durch  nichts  motivirten  Zusammenstellung 
erscheint.  Wohin  wir  uns  wenden,  überall  finden  wir 
Schwierigkeiten,  die  auf  den  bisher  betretenen  Wegen  zu 
lösen  wir  billig  verzweifeln  müssen.  Also  auch  hier,  wie 
beim  Ostgiebel  bleibt  nichts  übrig,  als  nach  einem  neuen 
Ausgangspunkte  zu  suchen,  einem  einheitlichen  Gedanken, 
dem  sich  das  Einzelne  unterordnen  lässt. 

Wie  schon  bemerkt,  sondert  sich  künstlerisch  die  breite 
Mittelgruppe  scharf  von  den  Flügeln  ab.  Nike  und  Amphi- 
trite  erscheinen  in  der  Profilansicht,  mit  dem  Rücken  gegen 
die  Seiten  gestellt,  wo  wiederum  keine  einzige  Figur  sich 
entschieden  nach  der  Mitte  wendet.  In  der  Mitte  allein 
herrscht  Leben  und  Bewegung.  Auf  den  Seiten  verharrt 
alles  an  seiner  Stelle,  scheint  alles  an  diese  Stelle  gebunden, 
und  die  geringe  dabei  vorhandene  Bewegung  bleibt  auf  die 
einzelne  Figur  oder  kleinere  Gruppe  beschränkt.  Niemand 
bezweifelt,  dass  in  den  Ecken  Localdämonen  zu  erkennen 
sind,  für  welche  es  charakteristisch  ist,  dass  sie  ruhig,  an 
ihre  Stelle  gebunden  dargestellt  werden.  Aber  wo  sind  die 
Grenzen  des  Locals?  Auf  die  liegenden  Figuren  folgen 
knieende,  auf  die  knieenden  sitzende;  nur  der  angebliche 
Iakchos  und  Persephone  erheben  sich  etwas  mehr:  er  sich 
emporreckend,  sie  nach  vorn  sich  neigend  ,    aber  ohne  dass 


: 


28  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

sie  dadurch   aus   dem  sonstigen  Charakter  der  Compositio 
herausträten. 

Nach  Pausanias  stellte  die  ganze  Gruppe  den  Streit 
des  Poseidon  gegen  Athene  über  das  Land  dar.  Wie  nun, 
wenn  die  Umgebung,  d.  h.  die  beiden  Flügel  sich  auf  eben 
dieses  Object  des  Streites,  das  Land  Attika  in  seinen  her- 
vortretendsten  äusseren  Gestaltungen  bezöge?  Ob  es  gelingen 
wird,  alles  Einzelne  richtig  zu  erkennen,  mag  füglich  be- 
zweifelt werden.  Versuchen  wir  es ,  wenigstens  die  Grund 
auffassung  zu  rechtfertigen. 

Die  auffallendste  Gruppirung  ist  offenbar  die  der 
Aphrodite  auf  dem  Schoosse  der  angeblichen  Dione  oder 
Thalassa.  „Wunderbar  ist  die  Art ,  wie  Aphrodite  mit 
ihrer  Mutter  zusammen  gruppirt  ist,  als  ob  der  Künstler 
auf  die  Weite  und  Tiefe  der  Urgründe,  die  Potenzen  und 
Unförmlichkeiten  der  Theologie  hätte  anspielen  wollen," 
sagt  Welcker  A.  D.  I,  106.  Gegen  den  Gedanken  an  sich 
wäre  nichts  zu  sagen:  aber  ist  er  hier  an  seiner  Stelle? 
Einer  verwandten  Gruppirung  begegnen  wir  in  einem  Ge- 
mälde bei  Philostratus  II,  14:  der  Flussgott  Titaresios  ist 
auf  dem  Peneios  liegend  dargestellt  als  der  leichtere,  dessen 
Wasser  in  Wirklichkeit  nach  seiner  Ausmündung  über  dem 
des  Peneios  hinwegfliesst,  ohne  sich  mit  ihm  zu  mischen. 
Dem  natürlichen  Verhältniss  entspricht  also  in  einfach  an- 
schaulicher Weise  die  künstlerische  Darstellung.  An  der 
attischen,  Aegina  zugewandten  Küste  liegt  ein  niedriges 
Vorgebirge,  die  Akra  Kolias,  auf  welcher  Aphrodite  einen 
bekannten  Sitz  hatte:  eine  Localität,  die  gerade  seit  der 
Jugendzeit  des  Phidias  mit  neuem  Glänze  historischer  Er- 
innerungen umgeben  war:  dorthin  waren  nach  der  Schlacht 
bei  Salamis  die  Schiffstrümmer  der  persischen  Flotte  an 
den  Strand  getrieben  worden  und  es  erfüllte  sich  dadurch 
ein  altes  Orakel,  dass  „die  Weiber  von  Kolias  mit  Rudern 
feuern  werden"  (Herod.  VIII,  96;  StraboIX,  398;  Paus.  I,  1,  5). 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  29 

Man  wird  nicht  einwenden  wollen,  dass  bei  dieser  Deutung 
nun  doch  wieder  eine  Göttin  in  die  Composition  eingeführt 
wird:  jede  besondere  Beziehung  auf  Cultus  ist  hier  in  den 
Hintergrund  gedrängt  und  nur  auf  die  Repräsentation  des 
Locals  richtet  sich  die  Aufmerksamkeit. 

Wiederum  bei  Philostratus  II,  16  finden  wir  in  einem 
Gemälde  den  Isthmus  von  Korinth  auf  die  Erde  gelagert 
und  neben  ihm  auf  der  einen  Seite  einen  Knaben,  auf  der 
andern  (zwei?)  Mädchen:  die  Häfen  von  Lechaeon  und  von 
Kenchreae.  In  einem  schönen  griechischen  Relief  von  ge- 
triebener Bronze  sehen  wir  die  Büste  eines  Meergottes  und 
auf  dessen  Brust  zwei  gegen  einander  gewendete  Seethiere. 
Auf  dem  einen  sitzt  eine  weibliche  Figur ,  auf  dem  andern 
deren  zwei  und  auf  dem  Schoosse  der  einen  von  diesen 
wiederum  eine  nackte  weibliche  Gestalt  (Brit.  Mus.  bronze 
room  p.  38,  n.  14).  Gewiss  haben  wir  auch  hier  an  Per- 
sonificationen  bestimmter  Localitäten  zu  denken.  In  der 
Nähe  von  Kolias  springt  eine  andere  felsige  Akra  halbinsel- 
förmig  in  das  Meer  vor:  Munichia,  hinter  welcher  sich  der 
durch  Themistokles  zu  überwiegender  Bedeutung  erhobene 
Hafen  des  Peiraeeus  versteckte:  das  wäre  die  bisherige  Leu- 
kothea  mit  dem  halb  hinter  ihr  verborgenen  Knaben 
Palaemon. 

Ist  durch  diese  beiden  Gruppen  eine  bestimmte  Richtung 
gegeben,  so  lassen  sich  daraus  bereits  weitere  Schlüsse 
ziehen.  Der  Theil  Attika's,  der  sich  bis  zum  Cap  Sunion 
ins  Meer  erstreckte,  hiess  Paralia.  Paralos  als  Personen- 
name, den  z.  B.  ein  Sohn  des  Perikles  trug,  rechtfertigt 
eine  Localpersonification  männlichen  Geschlechts.  Wir  er- 
kennen ihn  in  dem  angeblichen  Ilissos,  der  gewissermassen 
im  Wasser  kniet,  wie  die  Landspitze,  die  sich  in  das  Meer, 
das  myrtoische  Meer  erstreckt.  Nach  der  Angabe  euböischer 
Alterthumsforscher  (Paus.  VIII,  14,2)  sollte  dasselbe  seinen 
Namen  von   einem    Weibe   Myrto   erhalten    haben:    das   ist 


30  Sitzung  der  philos.-philoL  Ciasse  vom  4.  Juli  187 '4. 

die  Frauengestalt,  die  in  der  Ecke  lagerte,  auf  unebenem 
Grunde,  der  aber  ganz  von  den  Falten  des  Gewandes  be- 
deckt wird  (Mich.  T.  8,  W) ,  wie  felsiger  Grund  von  den 
Wellen  des  Meeres  überspült.  —  Zwischen  Paralos  und 
Kolias  findet  sich  noch  eine  sitzende  Frauengettalt.  An  der 
Küste  Attika's  aber  tritt  zwischen  diesen  Orten  ein  Punkt 
besonders  hervor,  das  Vorgebirge  Zoster,  der  „Gürtel." 
Dort  soll  Leto ,  ehe  sie  Delos  erreichte ,  schon  in  Kindes- 
nöthen  ihren  Gürtel  gelöst  haben,  weshalb  auch  später  noch 
ihr  und  ihren  Kindern  dort  geopfert  wurde  (Paus.  I,  31,1; 
vgl.  Steph.  Byz.  v.  ZwGTrjQ). 

Den  Flussgott  in  der  NW.  Ecke  nannte  man  Kephisos, 
indem  man  an  den  bekannten  Bach  in  der  Nähe  Athens 
dachte.  Der  Zufall  will  es,  dass  es  gegen  die  Grenze 
von  Megaris  hin  einen  zweiten  Kephisos  gab  „mit  einer 
heftigeren  Strömung  als  der  andere"  (Paus.  I,  38,5).  In 
zwei  Hauptarmen  (Bursian  Geogr.  I,  257),  deren  zweiter 
durch  die  jetzt  fehlende  Figur  etwa  einer  Quellnymphe  sym- 
bolisirt  sein  mochte,  kommt  er  aus  der  nordwestlichsten 
Ecke  Attikas  von  den  Höhen  des  Kithaeron  herab,  welcher 
hier  die  Grenze  gegen  Böotien  bildet.  Für  den  Gott  eines 
mächtigen  Waldgebirges  ist  gewiss  die  kräftige,  auf  ihrem 
Sitz  sich  steil  erhebende  bärtige  Gestalt  neben  dem  Fluss- 
gotte  besonders  geeignet;  und  auch  die  in  letzter  Zeit  viel- 
besprochene Schlange,  auf  der  er  sitzen  soll,  bedarf  bei 
einem  solchen  Dämon  keiner  weiteren  Begründung  (vgl.  z.  B. 
den  früher  auf  Philoktet  gedeuteten  Berggott  bei  Zoega 
bass.  t.  52).  An  den  Kithäron  aber  lehnt  sich  als  die 
östliche  Fortsetzung  desselben  ein  anderes  bedeutendes  Ge- 
birge: die  Parnes,  wie  es  von  den  Alten  häufiger  als  im 
männlichen  Geschlecht  bezeichnet  wird.  Kann  dieses  Ver- 
hältniss  sprechender  bezeichnet  werden,  als  in  der  Gruppe 
des  Giebels? 

Noch  bleiben  drei  Figuren  übrig,  in  denen  wir,   nach- 


Brunn  *  Bildwerke  des  Parthenon.  31 

dem  die  Meeresküste  und  die  Landesgränze  bereits  hinläng- 
lich charakterisirt  sind,  wohl  eine  Hinweisung  auf  das  innere 
Land  und  die  Umgebung  von  Athen  erwarten  dürfen. 
Landschaftlich  wird  Attika  von  zwei  Hauptgebirgen  be- 
herrscht, dem  Pentelikon  und  dem  Hymettos.  Ist  auch  der 
erstere  bei  den  Alten  bekannter  unter  dem  Namen  Briessos, 
so  knüpfte  sich  doch  der  Name  seines  berühmtesten  Pro- 
ductes,  des  Marmors,  an  den  Flecken  Pentele,  was  genügen- 
den Anlass  bieten  mochte,  den  Berg  mit  seinen  der  Ebene 
zugewandten  weissen  Marmorbrüchen  durch  eine  weibliche 
Gestalt  zu  charakterisiren.  Ihr  Sitzen  in  voller  Vorder- 
ansicht, während  das  Vorbeugen  der  rechten  Seite  des 
Kithaeron  und  das  Zurückweichen  des  linken  Schenkels  der 
Parnes  uns  diese  Gruppe  wie  in  einer  Art  perspectivischer 
Verkürzung  zeigen,  entspricht  den  Verhältnissen  der  örtlichen 
Lage.  Schwieriger  erscheint  es ,  in  der  andern  weiblichen 
Gestalt  den  Hymettos  nachzuweisen,  nicht  sowohl,  weil  er 
sich  auf  der  Ostseite  von  Athen  nach  Süden  hin  erstreckt. 
Denn  nehmen  wir  für  die  Betrachtung  des  Gesamnitbildes 
einen  idealen  Standpunkt  an  gerade  im  Westen  von  Athen 
etwa  am  Cap  Amphiale  oder  der  diesem  gegenüberliegenden 
Küste  von  Salamis,  so  müsste  ein  Theil  des  Hymettos  noch 
links  von  Athen  oder  der  Akropolis  sichtbar  sein.  Damit 
stimmt  recht  wohl,  dass  die  weibliche  Gestalt  gewissermassen 
hinter  der  Nike ,  welche  ideell  die  Grenze  der  Stadt  oder 
Akropolis  bezeichnet,  hervorkommt  und  sich  nach  links 
hinneigt,  nach  welcher  Richtung  der  Berg  auch  in  Wirk- 
lichkeit abfällt.  Auffällig  ist  vielmehr  das  weibliche  Ge- 
schlecht. Sollen  wir  etwa  im  Hinblick  auf  die  Berühmtheit 
des  hymettischen  Honigs  annehmen,  dass  die  Personification 
der  Bienen  als  Nymphen,  Melissae,  für  die  es  in  verschie- 
denen Sagen  nicht  an  Belegen  fehlt,  den  Anlass  zur  Wahl 
weiblicher  Bildung  geboten  habe?  Lassen  wir  diese  Frage 
unentschieden,    so   möchte  ausserdem   noch  die  Gruppirung 


32  Sitzung  der  phüos.-phitol.  Classe  vom  L  Juli  18? '4. 

mit  den  zunächst  benachbarten  Figuren  in  Betracht 
ziehen  sein.  Gerade  vor  dem  Thal,  welches  den  Pentelikon 
vom  Hymettos  scheidet,  springt  ganz  nahe  bei  Athen  aus 
der  Ebene  ein  nicht  sehr  hoher  1  aber  durch  seine  Gestalt 
auffallender,  steiler  und  nackter  Felskegel  empor,  der 
Lykabettos,  der  eben  desshalb  in  einem  Bilde  des  attischen 
Landes  und  besonders ,  weil  er  zum  Bilde  der  Stadt  ge- 
hörte, nicht  wohl  fehlen  durfte.  Im  Giebel  nimmt  den 
Platz  zwischen  oder  richtiger  vor  den  beiden  weiblichen 
Figuren  die  Jünglingsgestalt  ein,  für  deren  eigentümlich 
bewegtes  Motiv  bisher  eine  Deutung  kaum  versucht  worden 
ist,  während  Jugend,  Nacktheit,  kühnes  Emporstreben  sich 
jetzt  aus  der  eigenthümlichen  Gestaltung  des  Berges  wie 
von  selbst  erklären. 

Es  mag,  wie  gesagt,  zweifelhaft  bleiben,  ob  die  einzelnen 
Namen  überall  richtig  gewählt  sind.  Wenigstens  wird  man 
zugeben  müssen,  dass  bei  der  vorgeschlagenen  Deutung  die 
Grundidee,  die  Darstellung  des  Landes  in  seinen  hervor- 
ragendsten Erscheinungen,  in  erschöpfender  Weise  zur  An- 
schauung gelangt.  Auch  das  Centrum,  die  Mittelgruppe 
die  wir  uns  natürlich  auf  der  Akropolis  zu  denken  haben, 
fügt  sich  jetzt  in  das  Ganze  vortrefflich  ein :  Poseidon  weicht 
zurück;  sein  Gespann  wird  sich  wenden  und  angesichts  der 
attischen  Küste  vom  Peiraeeus  bis  Sunion  wieder  in  sein 
Element,  das  weite,  seiner  Herrschaft  unterworfene  Meer 
zurückkehren.  Athene  aber  wendet  sich  nach  der  entgegen- 
gesetzten Seite,  nach  dem  Lande,  das  sie  in  dauernden  Be- 
sitz nimmt. 

Das  Naturgemälde ,  welches  Phidias  in  der  vorderen 
Giebelgruppe  vor  unsern  Augen  entrollt,  zeigt  ihn  uns  als 
einen  Künstler,  der  mit  gewaltiger  Schöpfungskraft  die 
sichtbare  Welt  in  vergeistigte  Menschengestalt  zu  übersetzen 
verstand.  Dort  war  es  der  weite  Himmelsraum,  der  Olymp 
als  Sitz  der  Götter ,   den  er  durch  seine  Gestalten  lebendig 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  33 

machte.  Das  Gegenbild  zeigt  uns  der  Westgiebel,  die  Ge- 
staltung der  Erde ,  speciell  des  attischen  Landes.  Athene 
wird  im  Olymp  für  die  ganze  Welt  geboren;  ihr  bevor- 
zugter Sitz  auf  Erden  ist  Attika.  Die  vordere  Gruppe  ist 
die  Ouvertüre,  die  hintere  das  Finale:  wir  wissen  jetzt 
unter  welchem  Rechtstitel  Athene  das  Land  erworben  hat, 
und  aus  welchem  Grunde  ihr  auf  der  Höhe  der  Akropolis 
eine  glänzende  Behausung  errichtet  ist,  von  welcher  aus  sie 
ihr  Besitzthum  beherrscht. 

So  wohl  sich  hier  alles  zum  Ganzen  fügt,  so  soll  doch 
nicht  in  Abrede  gestellt  werden ,  dass  unsere  modernen 
Anschauungen  sich  durch  die  vorgeschlagene  Deutung  des 
Westgiebels  einigermassen  fremdartig  berührt  fühlen  werden. 
Es  wird  daher  keineswegs  überflüssig  sein,  auf  die  Erörterung 
einiger  allgemeinen  Gesichtspunkte  etwas  ausführlicher  ein- 
zugehen, um  die  Grundauffassung  von  künstlerischer  und 
poetischer  Seite  fester,  als  es  bisher  möglich  war,  zu 
begründen. 

Der  Gedanke,  den  Streit  der  Götter  im  Angesicht  des 
Landes  darzustellen ,  um  das  gestritten  wird ,  ist  an  und 
für  sich  betrachtet  gewiss  poetisch.  In  der  Ausführung 
gliedert  er  sich  klar  und  deutlich:  die  eigentliche  Handlung 
tritt  uns  bestimmt  abgeschlossen  entgegen;  das  Land  aber 
bildet  gegenüber  der  Bewegung  der  Mitte  einen  durchaus 
ruhigen,  fast  zu  ruhigen  Hintergrund,  und  mancher  dürfte 
vielleicht  daran  Anstoss  nehmen,  hier  eine  Reihe  einzelner, 
von  einander  unabhängiger  Gestalten  und  Gruppen  ohne 
engere  poetische  oder  künstlerische  Verbindung  nebenein- 
ander gestellt  zu  sehen.  Hier  dürfen  wir  jedoch  nicht  ver- 
gessen, dass  das  Werk,  abgesehen  von  den  zahlreichen 
Verstümmelungen  im  Einzelnen ,  uns  fast  allein  und  nur  in 
dürftigster  Weise  durch  die  Zeichnungen  Carrey's  und  des 
Anonymus  bekannt  geworden  ist,  durch  Skizzen,  die  uns 
kaum  den  Hauptgedanken  errathen  lassen,  aber  alle  feineren 
[1874,  IL  Phil.  hist.  CLL]  3 


34  Sitzung  der  philos.-philol.  Glosse  vom  4.  Juli  1874. 

Motivirungen  verwischen,  in  denen  für  die  sinnliche  An- 
schauung der  Hauptreiz  der  künstlerischen  Composition 
liegen  musste.  Selbst  jetzt  aber  müssen  wir  anerkennen, 
dass  der  Künstler  sprechend  und  anschaulich  schildert,  wie 
die  niedrige  Kolias,  der  Sitz  der  Aphrodite,  am  Ufer  ge- 
lagert ist,  wie  die  Höhe  von  Munychia  gerade  hervortritt, 
wie  durch  die  Wendung  des  Paralos  die  Ecke  des  Landes 
bei  Sunion  angedeutet,  wie  endlich  in  den  Gebirgen  der 
andern  Seite  die  geographische  Lage  anschaulich  gemacht 
wird.  Wie  viele  feinere,  aber  darum  nicht  weniger  be- 
deutende und  charakteristische  Motive  mögen  uns  in  der 
flüchtigen  Zeichnung  und  bei  der  schon  damals  weit  fort- 
geschrittenen Verstümmelung  der  Köpfe  und  Extremitäten 
verloren  gegangen  sein.  Betrachten  wir  nur  die  erhaltenen 
Figuren:  da  hat  der  gebogene  Lauf  des  Kephisos  in  der 
Wendung  seiner  Statue  vollendeten  künstlerischen  Ausdruck 
gefunden;  da  ist  der  natürliche  Zusammenhang  zwischen 
Kithaeron  und  Parnes  in  der  Gruppe  des  Giebels  in  einem 
rein  menschlichen  Verhältniss,  wie  zwischen  Vater  und  Tochter 
zur  Anschauung  gebracht.  Nach  diesem  Maassstab  müssen 
wir  versuchen,  uns  die  dürftigen  Linien  der  Zeichnung  in 
vollendete  plastische  Gestalten  zu  übersetzen,  und  wir  dürfen 
wohl  überzeugt  sein,  dass,  was  in  der  Zeichnung  unruhig 
und  zerrissen  erscheint,  durch  künstlerische  Mittel  zu  voller 
Harmonie  verschmolzen  gewesen  sein  und,  zunächst  abge- 
sehen vom  Inhalt,  durch  den  vollen  Zauber  künstlerischer 
Gestaltung  gewirkt  haben  wird. 

Aber  auch  nach  ihrer  Bedeutung  als  Localpersoni- 
ficationen  werden  uns  die  einzelnen  Gestalten  und  Gruppen 
jetzt  bereits  in  einem  andern  Lichte  erscheinen.  Wir  sind 
nur  zu  leicht  geneigt,  unser  Urtheil  über  derartige  Gestalten 
durch  die  Arbeiten  einer  späteren  Kunst,  z.  B.  die  römi- 
schen Sarcophage  beeinflussen  zu  lassen.  Dort  haben  sie 
meist  einen  kalten  schematischen  Charakter,  der  sie  oft  als 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  35 

ein  bloss  äusserliches  Füllwerk  erscheinen  lägst.  Schon 
etwas  anders  verhält  es  sich  mit  den  Aktae,  Skopiae  und 
ähnlichen  Figuren  auf  pompeianischen  und  andern  Wand- 
gemälden. Stehen  sie  auch  mit  dem  Inhalte  der  Darstel- 
lungen meist  in  sehr  losem  Zusammenhange,  so  spricht  sich 
doch  in  ihnen  ein  lebendigeres  Naturgefühl  von  der  Art  aus, 
wie  es  den  idyllischen  Anschauungen  der  alexandrinischen 
Zeit  eigen  war.  Wesentlich  verschieden  davon  ist  der  Cha- 
racter  so  mancher  Gestalten  in  den  philostratischen  Ge- 
mälden, die  in  ihrer  Erfindung  vielfach  auf  die  besseren 
Zeiten  der  griechischen  Kunst  zurückgehen.  Es  wurde 
bereits  des  Isthmos  von  Korinth  mit  seinen  Häfen ,  so  wie 
des  Peneios  und  Titaresios  gedacht,  denen  sich  in  demselben 
Bilde  eine  wohl  charakterisirte  Thessalia  anschliesst.  Der 
Oropos  war  zwischen  Meerweibern  dargestellt:  I,  27.  Der 
Flussgott  von  Andros  liegt  auf  einem  Lager  von  Trauben 
und  neben  ihm  wachsen  Thyrsen:  I,  25.  In  jugendlicher 
Schönheit  und  poetischer  Verklärung  zeigt  sich  der  Meles: 
II,  8.  Der  Phasis  liegt  in  tiefem  Rohr  und  von  seinem 
ganzen  Körper  strömt  Wasser  aus :  iun.  8.  Die  Insel  Skyros 
in  bläulichem  Gewände,  mit  Binsen  gekrönt,  hält  Reb-  und 
Oelzweig:  iun.  1.  Der  Olymp  freut  sich  über  die  Diebereien 
des  Hermes:  I,  26.  Der  Alpheios  springt  aus  seinem  Ufer, 
um  Pelops  einen  Kranz  zu  reichen:  I,  17.  Lydia  sammelt 
das  Blut  der  Panthia  in  einer  Urne:  II,  9;  der  Kithaeron 
wehklagt  und  Megara  pflanzt  eine  Tanne,  die  später  ver- 
hängnissvoll werden  soll:  I,  14.  Am  ausführlichsten  ist 
die  Schilderung  der  gesammten  Natur  im  Bilde  des  Phaethon 
(I,  11),  das  auch  für  den  Ostgiebel  des  Parthenon  manche 
Vergleichungen  bietet.  Sollten  auch  etwa  Nyx  und  Hemera 
nicht  wirklich  dargestellt  sein,  so  fliehen  doch  die  Hören  von 
ihren  Thoren  nach  dem  Dunkel,  Ge  hebt  verzweiflungsvoll 
die  Hände  empor,  es  klagt  der  Eridanos ,  indem  er  sich 
aus    dem  Ufer    erhebt    und    den  Phaethon  in  seinen  Schoss 

3* 


36  Sitzung  der  philos.-philöl.  Gasse  vom  4.  Juli  1874. 

aufzunehmen  sich  bereitet.  Ueberall  zeigt  sich  hier  das 
Streben  nach  persönlicher,  individueller  Gestaltung  und  nach 
einer  engeren  Verknüpfung  dieser  Gestalten  mit  der  Handlung 
selbst.  Nirgends  haben  wir  es  mit  kalten  Abstractionen  zu 
thun,  sondern  die  Gestalten  wachsen  aus  dem  poetischen 
Gefühl  heraus,  welches  in  den  besten  Zeiten  die  Natur 
überall  als  mit  Leben  und  Geist  erfüllt,  überall  das  Leben 
in  der  Natur  in  lebendiger  menschlicher  Persönlichkeit  an- 
schaut. —  Nähern  wir  uns  der  Zeit  des  Phidias ,  so  finden 
wir  als  statuarische  Gruppe  Battos  von  Libya  gekrönt  und 
seinen  Wagen  von  Kyrene  gelenkt  (Paus.  X,  15,  6);  in  Ge- 
mälden Alkibiades  von  Olympias  und  Pythias  gekrönt  oder 
auf  den  Knien  der  Nemea  ruhend  (Athen.  XII,  534  D); 
wir  finden  im  vorderen  Giebel  des  Zeustempels  zu  Olympia 
den  Alpheios  und  Kladeos  und  unter  den  Gemälden  am 
Throne  Hellas  und  Salamis  (Paus.  V,  10,  7;  11,  5).  Ja 
schon  bei  Aeschylos  in  den  Persern  186  erscheinen  Europa 
und  Asia  in  voller  poetisch-künstlericher  Gestaltung.  Niemand 
endlich  hat  bezweifelt,  dass  am  Parthenon  selbst  die  Eck- 
figur des  Westgiebels  einen  Flussgott  darstelle. 

Nicht  also  die  einzelne  Localpersonification  an  sich 
kann  in  einem  Werke  des  Phidias  Anstoss  erregen,  sondern 
nur  ihre  Häufung,  ihre  Vereinigung  zum  Ausdruck  eines 
wesentlichen,  für  sich  selbständigen,  nicht  nebensächlichen 
Gedankens  der  Composition.  Es  fragt  sich  daher  nur,  ob 
eine  Auffassung  der  Natur,  wie  wir  sie  bei  der  Erklärung 
des  Westgiebels  vorausgesetzt  haben:  die  Uebersetzung  einer 
Landschaft  in  eine  Reihe  von  plastischen  Persönlichkeiten, 
sich  mit  dem  Geiste  der  Zeit  des  Phidias  verträgt.  Diese 
Präge  aus  dem  spärlichen  Material  der  erhaltenen  Denk- 
mäler zu  beantworten,  dürfen  wir  freilich  nicht  erwarten. 
Aber  die  bildende  Kunst  stand  in  engster  Wechselbeziehung 
zu  demjenigen  Zweige  der  Poesie,  der  damals  in  glänzendster 
Entwickelung  begriffen  sich  der  Herrschaft  bemächtigt  hatte, 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  37 

zum  Drama.  Wir  haben  oben  zur  Erläuterung  des  Ost- 
giebels auf  die  jüngeren  Zeitgenossen  des  Phidias ,  auf 
Euripides  und  Aristophanes  verwiesen;  für  den  Westgiebel 
wenden  wir  uns  an  den  älteren,  an  Aeschylos.  Seit  dem 
Aufschwünge  der  Tragödie  durch  Aeschylos  zeigt  sich  in 
dem  Verhältnisse  des  Menschen  gegenüber  der  Natur  ein 
bestimmter  Wechsel  der  Anschauung  oder  vielleicht  richtiger 
eine  grossartige  Erweiterung  (vgl.  Wörmann  über  den  land- 
schaftl.  Natursinn  S.  33  ff.).  Die  lebendigen,  vor  den  Augen 
des  Zuschauers  auftretenden  Gestalten  der  Bühne  verlangen 
einen  localen,  landschaftlichen  Hintergrund,  und  die  Handlung 
selbst  verlangt  ferner,  dass  sich  dieser  Hintergrund  in  der 
Phantasie  auch  über  die  Grenzen  der  Bühne  hinaus  er- 
weitere. Zu  dem  Bilde  des  Prometheus  gehört  als  untrenn- 
barer Bestandteil  die  grossartige  Scenerie,  wie  sie  Aeschylos 
zuerst  in  einzelnen  meisterhaften  Zügen  malt ,  um  sie  uns 
dann  am  Schlüsse  nochmals  im  gewaltigen  Sturme  der 
Elemente  vor  Augen  zu  führen.  Noch  wichtiger  ist  es, 
dass  bei  Aeschylos  nicht  bloss  ein  offener  Sinn  für  die  Er- 
scheinungen der  Natur  hervortritt,  sondern  dass  sich  gerade 
bei  ihm  eine  Vorliebe  für  weite  geographische  Bilder  be- 
merkbar macht.  So  werden  uns  im  Anfange  der  Perser  die 
Streitkräfte  Asiens  vorgeführt  nicht  etwa  nur  nach  der 
Ordnung  ihrer  Führer,  sondern  nach  den  Städten  und 
Ländern ,  die  sie  gesendet :  Susa  und  Ekbatana,  Aegypten 
aus  Memphis  und  Theben,  Lydien  und  Sardes,  der  Tmolos 
und  Babylon;  so  v.  864  ff.  die  griechischen  Länder,  die  des 
Dareios  Macht  sich  unterworfen:  Thracien,  der  Bosporus, 
die  Propontis  und  die  lange  Reihe  der  Inseln,  die  namentlich 
aufgezählt  werden.  Nicht  vergessen  dürfen  wir  die  anschau- 
liche Schilderung  der  Schlacht  bei  Salamis  nebst  dem  Rück- 
züge des  flüchtigen  Landheeres  durch  Boeotien,  Phocis, 
Thessalien,  Macedonien,  Thracien.  In  den  Supplices  (540  ff.) 
lässt   sodann   der  Dichter   die   lange  Reihe  der  Länder  vor 


38  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1871. 

unsern  Augen  vorüberziehen,  welche  Io  auf  ihrer  Flucht 
durcheilt.  Vor  allem  aber  muss  hier  auf  die  Schilderung 
der  Feuerzeichen  im  Agamemnon  (281  ff.)  hingewiesen  wer- 
den, durch  welche  der  König  die  Einnahme  Troias  nach 
Mykenae  meldet:  sie  leuchten  vom  Ida  nach  dem  Vor- 
gebirge Hermaeon  auf  Lemnos,  von  dort  nach  der  Höhe 
des  Athos,  der  Warte  des  Makistos,  nach  dem  Berge 
Messapion  am  euböischen  Euripos,  über  die  Ebene  des 
Asopos  nach  dem  felsigen  Kithäron,  über  den  See  Gorgopis 
nach  dem  Berge  Aegiplancton,  über  den  saronischen  Meer- 
busen nach  der  letzten  Warte,  der  Höhe  Arachnaeon. 

Es  zeigt  sich  in  solchen  Schilderungen  offenbar  der 
Einfluss  der  Perserkriege,  die  den  Blick  plötzlich  erweitert, 
nach  aussen  und  in  weite  Fernen  gelenkt  hatten.  Aeschylos 
spricht  also  gewiss  nur  aus,  was  seine  ganze  Zeit  bewegte; 
um  so  grösser  aber  müssen  wir  uns  die  Wirkung  vorstellen, 
die  seine  Worte  auf  seine  Zeitgenossen  ausübten.  Welche 
Wirkung  aber  musste  nicht  eine  Schilderung  wie  die  letzte 
auf  den  Geist  eines  Phidias  äussern,  einen  Geist,  der  auch 
das  Unbelebte  nur  in  plastischen  Bildern  zu  denken  ver- 
mochte? Musste  ihn  nicht  die  Aufgabe  locken,  Athen,  das 
attische  Land,  das  so  oft  von  den  Dichtern  gefeierte,  nun 
auch  durch  die  Mittel  seiner  Kunst  zu  verherrlichen?  Und 
in  aeschyleischem  Geist  entfaltet  er  ein  Bild  der  Landschaft 
in  ihren  am  meisten  charakteristischen  und  hervorragenden 
Punkten  und  Erscheinungen,  denen  seine  Phantasie  nicht 
blos  menschliche ,    sondern   individuelle  Gestaltung  verleiht. 

Uns  freilich  mag  die  Idee  der  Gruppe  des  Ostgiebels 
poetischer  erscheinen.  Allein  dort  befinden  wir  uns  im 
Himmel,  hier  auf  der  Erde.  Die  stetig,  ja  ewig  wieder- 
kehrenden Erscheinungen  am  Firmament  gewinnen  in  der 
Phantasie  eine  feste  und  typische,  durchaus  allgemein  gültige 
Gestalt,   die  unabhängig   von    einem    besonderen  Ort,    einer 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon,  39 

besonderen  Zeit  sich  in  jeder  Phantasie  wieder  erzeugen 
und  daher  von  jedem  mit  Phantasie  begabten  Beschauer 
verstanden  werden  kann.  Die  Darstellung  einer  bestimmten 
Landschaft  verhält  sich  dazu  wie  das  Portrait  zum  Ideal; 
und  so  sehr  auch  das  Portrait  idealisirt  sein  mag,  es  bleibt 
doch  immer  Portrait,  welches  seinen  Reiz  im  vollsten  Um- 
fange stets  nur  auf  den  ausüben  wird ,  welcher  der  darge- 
gestellten  Persönlichkeit  entweder  im  Leben  nahe  gestanden 
oder  wenigtens,  wie  bei  historischen  Personen,  sich  von  ihr 
im  Geiste  eine  lebendige  Vorstellung  gebildet  hat.  Der 
Fremde  wird  nur  das  Kunstwerk  bewundern,  der  Freund 
sich  zugleich  an  der  Person  des  Freundes  erfreuen.  Phidias 
aber  entfaltete  sein  Landschaftsbild  vor  den  Augen  der 
Athener,  und  mit  den  Augen  der  Athener  müssen  auch  wir 
uns  bestreben  es  zu  betrachten.  Gewiss  werden  wir  dann 
nicht  mehr  die  Wärme  vermissen;  unsere  Phantasie  wird 
es  mit  Empfindungen  beleben,  denen  verwandt,  mit  denen 
bei  Sophokles  Aias  in  Erinnerung  an  den  heimathlichen 
Strand  von  Salamis  und  Athen  vom  Leben  Abschied  nimmt. 
Mancher  Greis  aber  mochte  damals,  als  das  Werk  zuerst 
den  Blicken  der  Athener  enthüllt  wurde,  der  Zeiten  ge- 
denken, wo  er  bei  Salamis  die  Schiffe  der  Perser  vernichten 
half,  deren  Trümmer  der  Wind  nach  Cap  Kolias  trieb,  wo 
der  Rest  der  persischen  Flotte  sich  unerwartet  von  Phaleron 
zurückzog,  wo  die  erschreckte  Phantasie  ihrer  Mann- 
schaft in  den  niedrigen  Klippen  am  Cap  Zoster  die  Schiffe 
der  Hellenen  zu  erkennen  vermeinte  (Herod.  VIII,  107)  und 
in  verwirrter  Flucht  um  Cap  Sunion  herum  das  Weite 
suchte,  wo  Athene  und  die  Athener  von  neuem  das  Land 
in  Besitz  nahmen,  um  die  Stadt  und  die  Akropolis  aus  dem 
Schutte  der  Zerstörung  zu  neuem  Glänze  und  neuer  Herr- 
lichkeit wieder  auferstehen  zu  lassen. 


40  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Der  Fries. 

Durch  die  neuesten  Untersuchungen  über  den  Fries 
hat  sich  nach  Abweisung  verschiedener  unhaltbarer  Er- 
klärungsversuche im  Allgemeinen  die  Ansicht  herausgebildet, 
dass  den  Inhalt  der  Darstellung  der  Panathenäenzug  bilde, 
allerdings  nicht  in  realistischer  Durchführung,  sondern,  wie 
schon  die  Gegenwart  der  als  unsichtbare  Zuschauer  zu 
denkenden  Götter  andeutet ,  in  künstlerisch  idealer  Auf- 
fassung. Um  die  Berechtigung  dieser  Ansicht  zu  prüfen, 
überblicken  wir  die  Composition  in  ihren  Hauptgliede- 
rungen ,  wobei  wir  nicht  von  der  Mitte  ausgehen ,  sondern 
bei  der  Spitze  des  Zuges  beginnen.  Zunächst  dem  Eros 
rechts  vom  Beschauer  finden  wir  Gruppen  von  Männern  in 
ruhigem  Gespräche.  Ihnen  nahen  in  feierlicher  Procession 
Frauen  und  Mädchen.  Die  ersten  Paare  scheinen  flache 
Gefässe  oder  Körbe  auf  den  Köpfen  getragen  zu  haben, 
welche  die  vordersten  der  Männer  ihnen  abzunehmen  im 
Begriff  sind.  Es  folgen  andere,  zwei  die  ein  Thymiaterion 
tragen,  die  übrigen  mit  Schalen  und  Kannen.  Hieran 
schliessen  sich  unmittelbar  auf  der  Nordseite  der  Cella  vier 
Opferrinder  und  mehrere  Schafe  von  Jünglingen  geleitet, 
drei  Träger  mit  Mulden,  drei  mit  Hydrien  auf  den  Schultern. 
Ein  vierter  ist  noch  beschäftigt,  die  seinige  vom  Boden  zu 
erheben  und  bezeichnet  dadurch ,  dass  er  sich  eben  erst  in 
Bewegung  setzen  will,  einen  bestimmten  Abschnitt  in  der 
Composition.  Nun  folgt  unter  Vorantritt  von  vier  Flöten- 
bläsern und  vier  Leierspielern  eine  dichter  gedrängte  Gruppe 
von  bärtigen  Männern,  sodann  eine  Reihe  von  wahrscheinlich 
zehn  Viergespannen  mit  ihren  Lenkern  und  jugendlichen, 
mit  Helm  und  Schild,  ausnahmsweise  auch  dem  Panzer  ge- 
rüsteten Kriegern.  Die  andere  Hälfte  der  ganzen  Seite 
nimmt  der  glänzende  Zug  der  Reiterei  ein ,  welcher  sich 
auch  auf  der  Westseite  mit  der  Modification  fortsetzt,    dass 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  41 

hier  die  Vorbereitungen  zum  Abmarsch  noch  nicht  überall 
vollendet  sind.  Zugordner  sind  je  nach  Bedürfniss  in  der 
ganzen  Ausdehnung  der  Composition  vertheilt.  Die  zweite 
Hälfte,  welche  auf  der  Ostseite  vor  Hermes  beginnt,  ent- 
spricht im  Wesentlichen  der  ersten;  die  Abweichungen  im 
Einzelnen,  sowie  die  feineren  künstlerischen  Motivirungen 
in  der  Ausführung  kommen  hier  nicht  in  Betracht. 

Gewiss  ist  es  richtig,  dass  wir  von  Phidias  nicht  eine 
realistische  Darstellung  des  Festzuges  erwarten  dürfen,  die 
in  allen  Einzelnheiten  der  Wirklichkeit  entspräche,  und  das 
Fehlen  so  mancher  uns  durch  schriftliche  Nachrichten  über- 
lieferten Züge  würde  demnach  noch  keinen  Beweis  gegen 
die  Richtigkeit  der  vorgeschlagenen  Deutung  abgeben.  Da- 
gegen dürfen  wir  verlangen,  dass  der  Künstler,  sofern  er 
den  Panathenäenzug  darstellen  wollte,  ihn  auch  wirklich 
durch  bestimmte  Kennzeichen  als  solchen  charakterisirte. 
Ist  dies  geschehen  ?  Körbe ,  Schalen ,  Kannen ,  Leuchter, 
Opferthiere,  Mulden  und  Hydrien  gehören  zu  jedem  grossen 
Opfer,  nicht  bloss  zum  panathenäischen.  Männer  zu  Fuss, 
zu  Wagen ,  zu  Ross  repräsentiren  das  Volk ,  aber  eben  so 
wenig  ausschliesslich  das  Volk  im  Panathenäenzuge.  Genug, 
in  der  ganzen  Darstellung,  so  weit  wir  sie  bis  jetzt  be- 
trachtet ,  findet  sich  nicht  eine  einzige  speciell  und  aus- 
schliesslich für  den  letztern  charakteristische  Gestalt. 

Es  bleibt  noch  die  Mittelgruppe  zwischen  den  Göttern 
übrig,  die  wir  uns  im  Innern  des  Heiligthums  zu  denken 
haben,  über  dessen  Thür  sie  dargestellt  ist.  Zwei  Mädchen 
tragen  jede  einen  Stuhl  ohne  Lehne  auf  ihrem  Kopfe.  Eine 
Frau  ist  noch  mit  der  einen  beschäftigt,  während  die  andere 
wartet.  Was  diese  Gruppe  an  dieser  Stelle  mit  den  Pana" 
thenäen  zu  thun  habe,  hat  noch  niemand  mit  einiger  Zu- 
versicht zu  bestimmen  gewagt.  Hinter  der  Frau  steht  ein 
Mann,  der  von  einem  halberwachsenen  Knaben  ein  grosses, 
mehrfach  zusammengefaltetes  Stück  Zeug  in  Empfang  nimmt. 


42  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Das  soll  der  berühmte  Peplos  sein,  der  als  das  am  meisten 
charakteristische  Stück  im  Festzuge  an  dem  Mäste  eines 
Schiffes  aufgeführt  und  dann  der  Athene  geweiht  wurde. 
Diese  Weihung  bildete  offenbar  einen  der  wesentlichsten 
Theile  der  Festfeier;  und  einen  solchen  solennen  Act  sollte 
der  Künstler  darstellen ,  indem  er  den  Peplos  durch  einen 
Knaben  (wären  es  doch  wenigstens  die  beiden  bei  seiner 
Anfertigung  betheiligten  Arrephoren !)  gewissermassen  heim- 
lich und  hinter  dem  Rücken  der  Götter  in  das  Innere  des 
Tempels  bringen  und  dort  dem  Priester  übergeben  Hesse? 
dem  Priester ,  welcher  im  einfachen  Chiton ,  yvpvdg  nach 
griechischer  Ausdrucksweise,   ihn  in  Empfang  nehmen  soll  ? 

Es  ist  erklärlich,  dass  man  angesichts  eines  glänzenden 
Festzuges  am  Tempel  der  Göttin  diesen  zunächst  auf  das 
berühmteste  Fest  derselben  bezog.  Auch  ist  es  begreiflich, 
dass  die  neueren  Theorien,  denen  zufolge  der  Tempel  selbst 
ein  Schatzhaus  und  ausserdem  fast  ausschliesslich  ein  zur 
Feier  dieses  Festes  errichteter  Tempel  sein  sollte,  auch  bei 
denen  noch  nachwirkte,  welche  diese  Theorien  als  gänzlich 
oder  theilweise  unbegründet  verwarfen.  Dazu  kam ,  dass, 
wie  man  sich  bei  der  Deutung  der  übrigen  Bildwerke  von 
religiös  dogmatischen  Rücksichten  leiten  liess,  man  nun 
auch  in  den  Darstellungen  des  Frieses  ein  Vorwiegen  der 
ritualen  Elemente  des  Cultus  fast  mit  Notwendigkeit 
voraussetzen  musste.  Wenn  es  uns  indessen  gelungen  ist, 
in  den  Giebeln  dieser  Grundanschauung  gegenüber  die 
poetisch-künstlerische  Idee ,  allerdings  auf  der  Basis  reli- 
giöser, aber  mythologischer  Anschauungen  wieder  in 
ihr  Recht  einzusetzen,  so  werden  wir  fast  genöthigt,  auch 
in  der  Deutung  des  Frieses  uns  auf  denselben  Boden  zu 
stellen  und  fauch  hier  den  einfach  poetischen  Gedanken 
ohne  Rücksicht  auf  die  besonderen  und  einzelnen  Gestaltungen 
bestimmter,'|Culte  aufzusuchen. 

Kehren   wir    also    nochmals   zu    den  Bildwerken    selbst 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  43 

zurück.  Die  Männer  zunächst  den  Göttern  sind  nicht,  wie 
man  gemeint  hat ,  Theilnehmer  des  Zuges ,  die  bereits  am 
Ziele  angelangt  sind.  Als  solche  würden  sie  nicht  nur  einen 
Stillstand  in  die  äussere  Handlung  bringen ,  sondern  auch 
einen  Stillstand  in  der  Phantasie  des  Beschauers  bewirken. 
Denn  was  soll  geschehen,  wenn  die  andern  Theile  des  Zuges 
herankommen?  Alles  stände  erwartungsvoll  vor  der  Ver- 
sammlung der  Götter  ohne  Führung  und  Leitung.  Mag 
jedes  besondere  Zeichen  fehlen ,  um  in  diesen  Männern 
Archonten,  Priester,  Schatzmeister  oder  sonst  welche  Magi- 
strate zu  erkennen,  ihre  allgemeine  Bedeutung  kann  nicht 
zweifelhaft  sein.  Die  einfache  Thatsache,  dass  die  vordersten 
von  ihnen  die  ersten  Jungfrauen  des  Zuges  empfangen  und 
diesen,  was  sie  bringen ,  abnehmen,  genügt  zum  deutlichen 
Ausdrucke  des  Gedankens,  dass  sie  bereits  vor  Ankunft  des 
Zuges  an  Ort  und  Stelle  versammelt  waren,  dort  das  Nöthige 
für  den  Empfang  desselben  vorbereitet  haben  und  die  weitere 
Leitung  der  folgenden  feierlichen  Handlungen  übernehmen 
werden.  In  dem  ihnen  gegenüberstehenden  ersten  Theile 
des  Zuges  übersehen  wir  nun  die  ganze  Zurüstung  von 
Opferthieren  und  Geräthen  und  gewinnen  dadurch  einen 
Begriff  von  dem  Reichthum  der  Gaben,  von  der  Solennität 
der  Feier,  welche  vor  sich  gehen  soll.  Aber  bringt  hier 
jeder,  was  er  bringt,  als  seine  persönliche  Gabe?  Der 
einzelne  ist  nur  ein  Vertreter,  ein  Beauftragter  einer  grös- 
seren Gesammtheit :  des  Volkes.  Für  dieses  soll  das  Opfer 
verrichtet  werden,  in  Gegenwart  und  unter  Betheiligung  des 
Volkes,  welches  in  geordnetem  Zuge  folgt,  geordnet  freilich 
mehr  nach  künstlerischen,  als  nach  streng  politischen  und 
religiösen  Rücksichten  in  Abtheilungen  zu  Fuss,  zu  Wagen 
und  zu  Boss.  Diese  Gliederung  erinnert  an  militärische 
Ordnungen  ;  aber  nirgends  zeigt  sich  eine  Scheidung  zwischen 
Heer  und  Volk.  Unter  den  Reitern  tragen  einzelne  Helm 
und   Panzer   und   die   Jünglinge   zu  Wagen   sind   alle  mehr 


44  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

oder  weniger  gerüstet;  aber  niemand  im  ganzen  Zuge  führt 
eine  Angriffswaffe.  Jeder  Gedanke  an  eine  etwa  bevor- 
stehende kriegerische  Unternehmung  soll  ferngehalten  werden  : 
wir  sollen  ein  Volk  erkennen ,  das  sich  zu  friedlicher  Fest- 
feier vereinigt,  und  uns  nur  daran  erinnern,  dass  dieses 
selbe  Volk  auch  im  Stande  ist,  zu  Fuss,  zu  Wagen  und  zu 
Ross  die  Heiligthümer  des  Landes  zu  vertheidigen  und 
zu  schützen. 

Dennoch  könnte  es  scheinen,  als  ob  an  der  Spitze  des 
Zuges  ein  Stillstand  eingetreten  wäre.  Stehen  nicht  dort 
die  Männer  zum  Theil  unthätig  in  sorglosem  Gespräch 
untereinander  begriffen?  Allein  wo  eben  erst  die  Spitze 
des  Zuges  am  Ziel  anlangt,  ist  für  sie  der  Moment  zu  einer 
näheren  Betheiligung  an  der  Handlung  noch  nicht  gekommen. 
Blicken  wir  jetzt  nach  der  Mitte  auf  die  Gruppe  im  inneren 
Räume  des  Heiligthums.  Dort  empfängt  ein  würdiger  Mann 
aus  den  Händen  eines  dienenden  Knaben  ein  zusammen- 
gelegtes Stück  Zeug,  den  angeblichen  Peplos  der  Göttin: 
zu  welchem  Zwecke  ?  Die  Antwort  ist  die  einfachste,  welche 
sich  denken  lässt,  sobald  wir,  unbeirrt  durch  alle  bisherigen 
gelehrten  Erörterungen,  uns  einfach  an  das  halten,  was  der 
Künstler  in  klarer  und  sprechender  Motivirung  wirklich 
dargestellt  hat.  Wir  bemerkten,  dass  der  Mann  nur  mit 
einem  langen  Chiton,  also  nur  halb  bekleidet  ist.  Was 
der  Knabe  bringt,  kann  also  füglich  nichts  anderes  sein, 
als  der  weite  Mantel,  das  Festgewand,  welches  der  Mann 
zur  Vervollständigung  seines  Anzuges  jetzt  anlegen  soll. 
Bedürfte  diese  Deutung  noch  einer  Bestätigung,  so  würde 
sie  in  der  augenfälligsten  Weise  dadurch  gegeben^  dass  die 
letzte  Figur  des  gesammten  Frieses,  der  Jüngling  an  der 
Südecke  der  Westseite,  in  derselben  Handlung  begriffen  ist, 
nemlich  wie  er  die  Chlamys  über  die  Schulter  wirft:  un- 
verkennbar ist  hier  die  Absicht,  durch  Wiederholung  des- 
selben Gedankens  das  äusserste  Ende  und  das  Centrum  der 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  45 

Composition  in  eine  feste,  unauflösliche  Verbindung  zu 
setzen.  Unterdessen  wird  die  neben  ihm  stehende  Frau 
die  beiden  Mädchen  mit  den  Stühlen  besorgt  haben ,  und 
auch  die  Bedeutung  dieser  letzteren  ergibt  sich  jetzt  als 
selbstverständlich,  wie  sie  bereits  von  Friederichs  (Bausteine 
S.  173)  vermuthet  worden  war:  die  Stühle  sollen  vor  den 
Tempel  getragen  werden  und  der  Mann  und  die  Frau 
auf  ihnen  Platz  nehmen,  als  die  mit  dem  Vorsitz  ge- 
ehrten. Beachten  wir  jetzt,  dass,  von  der  scheinbaren 
Ausnahme  der  Kitharöden  abgesehen,  niemand  im  ganzen 
Zuge  ein  ähnliches  langes  Untergewand  trägt,  wie  der  Mann 
der  Mittelgruppe ,  dass  aber  dieses  Gewand  in  Verbindung 
mit  dem  Mantel  im  antiken  Kunstgebrauch  zur  Bezeichnung 
der  Königswürde  dient,  so  liegt  es  nahe,  in  dieser  Gestalt 
den  Archon  Basileus  zu  vermuthen,  auf  welchen  die  priester- 
lichen Functionen  des  älteren  Königthums  übergegangen 
waren,  und  welcher  gemeinschaftlich  mit  seiner  Gemahlin, 
der  Basilinna,  die  öffentlichen  Opfer  vollzog  (Demosth.  c. 
Neaer.  74.)  —  Während  dieser  Vorbereitungen  im  Innern 
wird  der  gesammte  Zug  sich  seinem  Ziele  nähern,  und  dort 
unter  der  Leitung  der  ihn  erwartenden  Männer  jeder  seinen 
bestimmten  Platz  einnehmen  und  die  ihm  angewiesenen 
Functionen  antreten.  Ehe  aber  noch  die  letzten  Festgenosssen, 
deren  einer  sich  eben  erst  die  Sandalen  anlegt,  der  andere 
die  Chlamys  umwirft,  zur  Stelle  sein  können,  werden  auch 
Priester  und  Priesterin  mit  ihrem  Festornat  sich  vollständig 
ausgerüstet  haben,  so  dass  bei  ihrem  Erscheinen  vor  dem 
Tempel  und  unter  ihrem  Vorsitz  die  eigentliche  Solennität 
des  Opfers  beginnen  kann.  So  schliesst  sich  sachlich  und 
künstlerisch  das  Ganze  zur  schönsten  Einheit  zusammen. 
Wir  sehen  noch  alles  in  Bewegung  und  Vorbereitung:  aber 
in  der  Vorbereitung  erkennen  wir  deutlich  das  Ziel  und 
das  Ende. 

Wenn  sonach  jede   directe  Verbindung  des  Frieses  mit 


46  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  4.  Juli  1874, 

dem  Panathenäenzuge  und  dem  Peplos  abgewiesen  werden 
muss,  so  lässt  sich  doch  vielleicht  in  den  Bildwerken  des 
Parthenon  überhaupt  eine  anderweitige,  wenn  auch  durchaus 
ideale  Beziehung  auf  diese  Festfeier  nachweisen.  Der  Peplos 
war  mit  bildlichen  Darstellungen  geschmückt.  Neben  einem 
Viergespanne,  das  entweder  für  die  Göttin  selbst  bestimmt 
war  oder  sich  auf  die  bei  der  ersten  Feier  der  Panathenäen 
durch  Erichthonios  eingeführten  Wagenrennen  beziehen 
mochte,  bildete  das  typische  Hauptthema  dieser  Darstel- 
lungen die  Gigantomachie  (Michaelis  Anhang  II,  n.  4; 
140;  149;  154  ff.).  Diese  Idee  des  Peplos  scheint  Phidias 
von  dem  Gewände  auf  die  Wohnung  der  Göttin,  den 
schmuckreichen  Saum  ihres  Tempels,  d.  h.  auf  den  Fries 
der  Metopen  übertragen  zu  haben.  Es  darf  nemlich  als 
das  Hauptresultat  der  neueren  Forschungen  über  diesen 
Theil  der  Parthenonsculpturen  betrachtet  werden,  dass  in 
ihnen  gerade  an  der  Vorderseite  des  Tempels  die  Giganto- 
machie in  einer  Reihe  von  einzelnen  Scenen  dargestellt  war. 
An  sie  schliessen  sich  auf  den  übrigen  Seiten  noch  andere 
Scenen ,  in  denen  allerdings  Athene  nicht  selbst  handelnd 
auftritt:  die  Kämpfe  der  Lapithen  gegen  die  Kentauren, 
vielleicht  troische  Scenen  u.  a. ;  auf  der  Rückseite  endlich 
entweder  Amazonen-  oder  Perserkämpfe,  aber  sofern  letztere, 
jedenfalls  fern  von  realistischer  Auffassung ,  sondern  über- 
tragen in  die  Anschauungsweise  der  Heroenzeit  als  allge- 
meine Darstellungen  eines  Kampfes,  gegen  Barbaren,  in  dem- 
selben Sinne  wie  die  Kentaurenkämpfe,  in  denen  nicht  ein- 
mal der  attische  Hauptheld  Theseus  individuell  charakterisirt 
war,  den  Kampf  gegen  halbthierische  Rohheit  repräsentiren. 
Wir  dürfen  wohl  annehmen ,  dass  in  diesen  Scenen  die 
Göttin  indirect  gefeiert  wurde  als  die  Beschützerin  der 
Helden  und  Geschlechter,  die  gleich  ihr  den  Kampf  gegen 
wilde ,  den  gesetzlichen  Ordnungen  feindliche  Mächte 
gewagt  hatten ;    und    täuschen    nicht   einige,    freilich    nicht 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  47 

völlig  deutliche  Angaben,  so  werden  auch  die  Darstellungen 
der  Gigantomachie  am  Peplos  eine  Erweiterung  und  Er- 
gänzung in  verwandter  Richtung  gefunden  haben. 

Trifft  die  hier  vermuthete  Analogie  in  der  Idee  des 
Peplos  und  des  Metopenfrieses  das  Richtige,  so  haben  wir 
dadurch  ein  Mittelglied  gewonnen,  um  dem  Zusammenhange 
der  verschiedenen  Bildwerke  am  Tempel  weiter  nachzu- 
forschen und  wo  möglich  auch  die  Bedeutung  der  Götter- 
versammlung am  Fries  der  Cella  genau  zu  bestimmen. 

Es  ist  auffällig ,  dass  in  den  Nachrichten  über  die 
Panathenäen  eigentlich  nirgends  eine  Andeutung  über  die 
besondere  religiöse  Absicht,  den  Zweck  der  Feier  gegeben 
wird.  Bei  andern  Festen  der  Göttin,  wie  den  Plynterien, 
den  Skirophorien ,  pflegt  eine  einzelne  Seite  ihres  Wesens 
oder  ihres  Cultus  hervorzutreten  und  in  bestimmten  Ge- 
bräuchen Ausdruck  zu  finden.  Es  soll  nicht  geleugnet  wer- 
den, dass  ursprünglich,  d.  h.  etwa  bei  der  auf  Ericbthonios 
zurückgeführten  ersten  Gründung  der  Athenäen  solche  engere 
Beziehungen  zum  Cultus  obgewaltet  haben  mögen.  Aber 
schon  in  den  Erzählungen  von  der  Erweiterung  des  Festes 
zu  den  Panathenäen  durch  Theseus  tritt  ein  anderer  Ge- 
danke hervor:  es  wird  ein  Fest  der  zu  einem  Staate  ver- 
einigten attischen  Landschaften.  Verwandte  politische  Ge- 
sichtspunkte wirkten  gewiss  auch  bei  ihrer  reicheren  Aus- 
stattung durch  Peisistratos ,  auf  den  ja  auch  mit  Wahr- 
scheinlichkeit die  Gründung  des  bei  der  persischen  Erobe- 
rung noch  nicht  vollendeten  älteren  Parthenon  zurückgeführt 
wird.  Nicht  um  ein  neues  Heiligthum  handelte  es  sich  da- 
bei, sondern  nur  um  eine  Erweiterung  innerhalb  des  alten 
Uqov,  indem  der  alte  Poliastempel  den  erweiterten  Zwecken 
des  Cultus  nicht  mehr  genügte.  Was  Peisistratos  beab- 
sichtigt haben  mochte,  erfüllte  sich  in  noch  wesentlich  er- 
höhtem Maasse  unter  Perikles.  Athen  hatte  sich  schnell  zu 
ungeahnter    Macht   und   zu   entscheidendem    Ansehen    unter 


48  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

den  hellenischen  Bundesgenossen  erhoben.  Wie  aber  Athen 
sich  zur  Schutzmacht  von  ganz  Hellas  emporschwang,  so 
musste  auch  die  attische  Landesgottheit  sich  zur  Idee  einer 
Nationalgottheit  erweitern:  ein  Verhältniss,  welches  seinen 
äusserlichen  Ausdruck  darin  fand,  dass  der  nach  Athen 
übertragene  Bundesschatz  dem  Schutze  der  Göttin  in  ihrem 
neuen  Tempel  anvertraut  wurde.  Im  Wesen  einer  solchen 
Nationalgottheit  aber  konnten  die  gewissermassen  particu- 
laristischen  Seiten  und  Züge  ihres  Cultus  keinen  Platz  mehr 
finden,  sondern  nur  die  allgemeinste  und  höchste  Idee  ihrer 
Göttlichkeit.  Diese  Idee  aber  findet  ihren  Ausdruck  im  Be- 
griffe der  Athene  Nike.  NImj  t1  ^A^ävct  Hokia<;,  q  oco^ei 
jtt'  del,  lässt  Sophokles  (Phil.  134)  den  Odysseus,  aber  offen- 
bar aus  athenischer  Anschauung  heraus  sagen.  Bei  Euripides 
im  Ion  (457)  ruft  der  Chor  die  Athene  als  die  aus  dem 
Haupte  des  Zeus  geborene  und  zugleich  als  Ttoxvia  Nlxa  an. 
Und  bei  Aristophanes  beten  die  Ritter  (581):  w  itokiov%B 
Tlallag  . . .  Xaßovoa  .  .  .  ^vveqyov  NUrjv.  Zu  vergleichen  ist 
auch  der  letzte  Theil  der  Eumeniden  des  Aeschylos,  in  dem  uns 
besonders  deutlich  der  Wandel  vor  Augen  tritt,  durch  den  die 
Göttin  jungen  Stammes  über  die  alten  Urmächte  sich  ein  sieg- 
reiches Uebergewicht  erkämpft.  Das  sind  vollwichtige  Zeugen 
für  die  Anschauungen  der  perikleischen  Zeit.  Der  mit  Athene 
aufs  engste  verbundenen,  aber  doch  von  ihr  auch  wieder  ab- 
gelösten Nike  wird  bei  den  Panathenäen  ihr  gesondertes  Opfer 
zu  Theil.  Das  Tempelbild  der  Parthenos  aber  trug  gleich  Zeus 
das  Bild  der  Nike  auf  der  Hand.  Diese  siegreiche  Macht  der 
Göttin  hatte  sich  zuerst  offenbart  in  dem  Kampfe  der  Götter  gegen 
die  Giganten,  in  dem  sie  den  Preis  der  Tapferkeit  davon 
getragen  haben  soll.  In  der  Gigantomachie  gewinnt  die 
Herrschaft  der  Olympier  den  dunklen  Mächten  gegenüber 
ihre  Begründung,  und  wie  hier  Athene  die  hervorragendste 
Mitwirkerin  ist,  so  bleibt  sie  es  auch  bei  der  Erhaltung 
der  damals  gegründeten  göttlichen  Ordnungen,   sei   es   dass 


Brunn:  Bildwerke  des  Parthenon.  49 

sie  selbst  als  Streiterin,  sei  es  dass  sie  als  Schützerin  der- 
jenigen Helden  auftritt,  die  für  das  gleiche  Ziel  auf  Erden 
kämpfen.  So  entwickelt  sich  an  dem  Begriffe  der  Nike 
immer  mehr  das  ethische  Element  der  Göttin,  durch  das 
sie  ihre  hervorragende  Stellung  neben  Zeus  begründet  und 
mehr  als  die  andern  Götter  sich  zu  nationaler  Bedeutung 
zu  erheben  vermochte. 

Dieser  Erweiterung  ihres  Wesens  aus  der  perikleischen 
Staatsidee  heraus  war  eben  die  ganze  Anlage  des  Parthenon 
gewidmet.  Dabei  durfte  aber  der  Ausdruck  des  Gedankens 
nicht  fehlen,  dass  Athene  nächst  Zeus  die  übrigen  Götter 
eben  so  überrage,  wie  Athen  die  übrigen  Staaten  von 
Hellas.  Wie  aber  liess  sich  dieser  Gedanke  im  Bilde  deut- 
lich und  fassbar  darstellen?  Auch  die  glänzendste  Ent- 
wicklung der  panathenäischen  Feier  hätte  zwar  die  Göttin 
als  eine  hochgeehrte,  aber  nicht  als  die  höchstgeehrte  er- 
kennen lassen.  Letzteres  war  nur  möglich  durch  Ver- 
gleichung,  indem  wir  die  Göttin  im  Kreise  der  andern 
Götter  und  unter  diesen  als  die  höchstgeehrte  erblicken. 
So  finden  wir  sie  in  der  Götterversammlung  des  Frieses. 
Neben  Zeus,  dem  nie  und  nirgends  die  erste  Stelle  versagt 
werden  kann,  erscheint  sie  so  gut  wie  gleichberechtigt; 
denn  wir  haben  hier  nicht  wie  im  vorderen  Giebel  nur  einen, 
sondern  zwei  Ehrenplätze  an  den  Spitzen  der  beiden  Hälften, 
deren  einen  sie,  wie  Zeus  den  andern  einnimmt.  Wir  haben 
jetzt  nicht  mehr  nöthig  an  den  Panathenäenzug,  überhaupt 
nicht  mehr  an  dogmatische  und  sacrale  Beziehungen  zu 
denken.  Um  die  Verehrung  der  Göttin  nach  ihrem  all- 
gemeinsten, aber  zugleich  höchsten  geistigen  Wesen  handelt 
es  sich  hier ;  und  wie  ihre  Ehren  dadurch  nicht  geschmälert 
werden,  dass  rings  um  ihren  Wohnsitz,  den  athenischen 
Burgfelsen  herum,  andere  Götter  ihre  Tempel  haben,  so  er- 
leidet auch  hier  ihre  Würde  keine  Einbusse :  die  Bedeutung 
ihrer  Festfeier  wird  vielmehr  erhöht,  indem  die  übrigen 
[1874,  II.  Phil. hist.  d.i.]  4 


50  Sitzung  der  philos.-phüol.  Gasse  vom  4.  Juli  1874. 

Götter  zu  derselben  geladen  sind,  um  Zeuge  der  Verehrung 
zu  sein,  die  ein  ganzes  Volk  ihr  darbringt. 

Blicken  wir  jetzt  auf  die  Gesammtheit  der  Bildwerke 
des  Parthenon  zurück,  so  ist  in  der  vorderen  Giebelgruppe 
die  erste  Erscheinung  der  Göttin  im  Kreise  der  Olympier 
zwar  nicht  wirklich  dargestellt ,  aber  so  vorbereitet ,  dass 
sie  durch  die  Statue  im  Tempel  selbst  zu  vollständigster 
Wirkung  gelangt.  In  der  Gruppe  des  hinteren  Giebels  er- 
greift sie  vom  attischen  Lande  Besitz.  In  den  Metopen 
bethätigt  sie  ihre  Göttlichkeit  im  Kampfe  gegen  die  Giganten 
oder  im  Schutze  der  Kämpfer  für  sittliche  Weltordnung 
zum  Wohle  der  Menschheit.  Im  Friese  bringt  die  Mensch- 
heit, vertreten  durch  das  auserwählteste  der  Völker,  die 
Athener,  der  Göttin  den  Dank  für  diese  ihre  Wohlthaten 
durch  Opfer  und  Festversammlung.  Diese  Grundgedanken 
sind  so  einfach,  dass  sie  gewiss  von  jedem  Athener  ohne 
Mühe  verstanden  wurden.  Sie  sind  in  ihrer  Einfach- 
heit so  grossartig  und  zugleich  so  umfassend,  dass  sie  die 
mannigfachsten  Einblicke  in  das  geistige  Wesen  der  Göttin, 
in  ihre  Beziehungen  zum  attischen  Lande  und  zum  athe- 
nischen Volke  gestatten.  Sie  sind  aber  endlich  so  fruchtbar 
an  künstlerischen  Motiven,  dass  sie  dem  Künstler  Gelegen- 
heit zur  Schaffung  von  Werken  darboten ,  die  in  allen 
Zeiten  unübertroffen  dastehen. 


Brunn:  Bildwerke  des  Theseion.  51 


Herr  Brunn  trägt  ferner  vor: 
„Die  Bildwerke  des  Theseion." 

Von  den  bisherigen  Erklärungen  des  Ostfrieses  am 
Theseion  hat  sich  keine  des  Beifalls  weiterer  Kreise  zu  er- 
freuen gehabt.  Auch  der  letzten,  -die  erst  kürzlich  Lolling 
in  den  Nachrichten  von  der  Göttinger  Ges.  d.  Wiss.  1874, 
S.  17  ff.  veröffentlicht  hat,  steht  wohl  kaum  ein  besseres 
Schicksal  bevor.1)  Jeder  neue  Versuch  aber  begegnet  der 
alten  Schwierigkeit,  dass  die  Benennung  des  Tempels  noch 
immer  nicht  sichergestellt  ist.  Indessen  lässt  sich  die 
Thatsache  nicht  ableugnen ,  dass  neben  den  Thaten  des 
Herakles  in  den  Metopen  der  Vorderseite  auch  die  des 
Theseus  an  den  Nebenseiten  dargestellt  sind.  Der  West- 
fries ferner  enthält  den  durch  Theseus'  Betheiligung  be- 
rühmten Kampf  der  Lapithen  und  Kentauren.  Im  Ostfries 
endlich  finden  wir  eine  Schlacht  aus  mythischer  Zeit.  Dass 
sie  der  attischen  Sage  angehöre,  wird  niemand  bezweifeln. 
Wen  aber  werden  wir  in  der  Heldengestalt,  die  gegen  eine 
Gruppe  steinschleudernder  Männer  gewaltig  kämpfend  an- 
geht ,  lieber  erkennen ,  als  den  attischen  Nationalhelden 
Theseus?  Für  ihn  genügt  das  allgemeine  Jünglingsideal; 
jeden  andern  attischen  Herrscher  oder  Führer  würden  wir 
durch  besondere  äussere  Zeichen  charakterisirt  wünschen. 
Wenn  aber  auch  die  Wahrscheinlichkeit  für  Theseus  spricht, 
so   sind    wir    dadurch  doch  nicht  wesentlich  gefördert.     Die 


x)  Aug.  Schultz  aus  Breslau,  dessen  Dissertation  de  Theseo  ich 
"während  des  Druckes  erhielt ,  kehrt  zur  Erklärung  0.  Müller's  zu- 
rück, ohne  sie  durch  neue  entscheidende  Gründe  zu  stützen. 

4* 


52  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Theseussage  hat  sich  in  vielen  Theilen  offenbar  erst  nach 
der  Zeit  des  Homer  und  der  kyklischen  Dichter  gebildet 
und  daher  nicht  von  Anfang  an  diejenige  Festigkeit  und  Ab- 
geschlossenheit erlangt,  die  andern  Sagenkreisen  durch  die 
epische  Poesie  zu  Theil  geworden  ist.  Es  machten  sich 
ferner  die  verschiedensten  Einflüsse  dahin  geltend,  dass  sie 
in  der  uns  verbliebenen  stückweisen  Ueberlieferung  nicht  nur 
lückenhaft,  sondern,  was  schlimmer,  voll  von  Widersprüchen 
ist.  Nur  durch  vorsichtige  Combination  lassen  sich  die 
einzelnen  Legenden  zu  Bildern,  zu  Schattenbildern  in  all- 
gemeinen Umrissen  ergänzen.  Selbst  also,  wenn  wir  eine 
Deutung  des  Frieses  finden,  werden  wir  doch  kaum  je  im 
Stande  sein,  von  allen  Einzelnheiten  uns  volle  Rechenschaft 
zu  geben.  Wir  werden  zufrieden  sein  müssen,  wenn  Bild- 
werk und  Sage  in  den  Hauptzügen  unter  einander  überein- 
stimmen und  wenn  weniger  wesentliche  Züge  dem  allgemeinen 
Zusammenhange  wenigstens  nicht  direct  widersprechen. 

Wenden  wir  uns  jetzt  zu  den  Reliefs  selbst,  so  wollen 
wir  uns  nicht  so  sehr  über  die  zahlreichen  Verstümmelungen 
beklagen ,  die  ja  natürlich  das  Verständniss  des  Einzelnen 
wesentlich  erschweren.  Wir  würden  sie  weniger  empfinden, 
sofern  nur  gewisse  Hauptmotive  theils  an  sich,  theils.  durch 
die  Vergleichung  anderer  Kunstwerke  deutlich  und  un- 
zweifelhaft uns  entgegenträten.  Allem  Anschein  nach  aber 
steht  die  Darstellung  vereinzelt  da  und  muss  daher  ganz 
aus  sich  selbst  erklärt  werden. 

Unsere  Aufmerksamkeit  wird  zunächst  durch  die  Gegen- 
wart der  beiden  Göttergruppen  angeregt.  Nicht  jeder 
Kampf  ist  bedeutend  genug,  dass  er  einer  solchen  Zuschauer- 
schaft würdig  wäre,  sondern  nur  wichtige,  entscheidende 
Katastrophen,  an  denen  die  Götter,  so  zu  sagen,  ein  persön- 
liches Interesse  haben.  In  dieser  Ansicht  muss  uns  hier 
auch  die  Ausdehnung  des  Kampfes  selbst  bestärken,  der 
sich  inmitten  der  beiden  Gruppen  entsponnen  hat,  und  keine 


Brunn:  Bildiverke  des  Theseion.  53 

Deutung  wird  daher  befriedigen  können ,  sofern  nicht  die 
Gegenwart  der  Götter  in  ihr  eine  genügende  Erklärung 
findet:  sie  handeln  zwar  nicht  selbst  mit;  aber  wie  sie 
räumlich  die  Composition  gewissermassen  einrahmen ,  so 
müssen  sie  geistig  den  religiös-politischen  Hintergrund  für 
die  ganze  Handlung  bilden. 

In  der  Schlachtscene  tritt  am  schärfsten  der  Kampf 
der  Steinschleuderer  hervor.  Man  hat  ihretwegen  an 
Gigantenkämpfe  gedacht;  aber  sie  bilden  nur  eine  Gruppe 
unter  andern  von  verschiedenartig  gewaffneten  Kriegern. 
Oder  es  sollten  barbarische  Thracier  sein,,  die  den  Eieusiniern 
im  Kampfe  gegen  die  Athener  zu  Hülfe  gekommen.  Es 
liesse  sich  hören ,  wenn  sie  in  ihrem  eigenen  Lande  ange- 
griffen sich  mit  Steinen  vertheidigten.  Aber  ist  es  glaublich, 
dass  sie  als  Hülfsvölker  aus  fernen  Landen  gekommen  sein 
sollen  —  ohne  Waffen?  Man  hat  ferner  gesagt,  dass  auch 
die  Helden  des  troischen  Krieges  sich  zuweilen  noch  ge- 
waltiger Felsstücke  im  Kampfe  bedienen.  Allein  das  ist 
Ausnahme :  der  Stein  ist  eine  in  der  Hitze  des  Gefechts  zu- 
fällig ergriffene  Waffe.  Hier  sind  es,  von  einem  schon  Ge- 
fallenen abgesehen,  drei  Männer,  welche  sich  mit  Felsblöcken 
dem  Andringen  eines  muthigen  Kämpfers  widersetzen.  Ihre 
Kampfweise  muss  also  einen  besondern  Grund  haben.  Zu- 
nächst ist  es  wohl  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass  es  sich 
für  sie  nicht  um  einen  Angriff,  sondern  um  die  Ver- 
theidigung  gegen  einen  Angriff  handelt.  Nach  ihrer  Seite 
hin  bewegt  sich  der  ganze  übrige  Kampf  und  noch 
hinter  ihnen  sehen  wir  die  Folgen  desselben  in  der  Flucht 
zweier  Krieger.  Hier  also  liegt  die  eigentliche  Entscheidung; 
eine  Entscheidung ,  welche  durch  bestimmte  locale  Verhält- 
nisse bedingt  sein  muss.  Um  es  kurz  zu  sagen :  wenn  ein 
Künstler  die  Aufgabe  erhält,  in  einem  Relief  die  Forcirung 
eines  felsigen  Engpasses  darzustellen,  so  wird  er  sie  wohl 
kaum  besser  lösen  können,  als  es  hier  geschehen  ist.    In  der 


54  Sitzung  der  philos.-pJiilol.  Classe  vom  4.  Juli  1874, 

Erklärung  des  Frieses  muss  also  diesem  Umstände  vor 
allen  Rechnung  getragen  werden;  denn  in  ihm  liegt  das 
unterscheidende  Merkmal,  welches  diesen  Kampf  im  Gegen- 
satz zu  jedem  andern  kennzeichnet. 

Hören  wir  jetzt,  was  Plutarch  im  Leben  des  Theseus 
(c.  25)  erzählt.  Nachdem  Theseus  Megaris  für  Attika  in 
festen  Besitz  genommen,  stellte  er  auf  dem  Isthmus  die  be- 
kannte Grenzsäule  mit  Doppelinschrift  auf,  nach  Osten: 

Taö1  ov%i  IleloTtovvrjGogj  aXV  °Icovta 

nach  Westen: 

Tad'  earl  TIeXo7t6vvTqaogy  ovx  ^Icovla 
und  hielt  zuerst  dem  Poseidon  zu  Ehren  die  isthmischen 
Spiele  ab,  bei  denen  nach  einem  Vertrage  mit  den  Korinthern 
den  Athenern  ein  Ehrenplatz  vorbehalten  wurde,  so  gross 
wie  das  ausgespannte  Segel  des  Festschiffes.  Plutarch  er- 
wähnt dabei,  dass  von  einigen  Autoren  die  Einsetzung  der 
Spiele  auf  die  Entsühnung  des  Theseus  von  der  Tödtung 
des  Skiron,  nach  andern  des  Sinis  zurückgeführt  werde. 
An  einer  andern  Stelle  (c.  10)  theilt  er  die  von  der  ge- 
wöhnlichen abweichende  Sage  der  Megarenser  mit,  dass 
Skiron  kein  Räuber ,  sondern  ein  Ehrenmann  gewesen  sei ; 
Theseus  aber  habe ,  nicht  als  er  zuerst  nach  Athen  ging, 
sondern  später  Eleusis  genommen,  das  die  Megarenser 
inne  gehabt,  indem  er  den  Herrscher  (ctQ%ovTa)  Diokles 
stürzte  und  den  Skiron  tödtete.  Auch  Pausanias  (I,  44,  6; 
vgl.  39,6)  nennt  Skiron  als  Feldherrn  der  Megarenser, 
der  den  Weg  an  den  skironischen  Felsen  zuerst  gangbar 
gemacht  habe,  was  ihn  nicht  hindert,  in  demselben  Kapitel 
auch  vom  Räuber  Skiron  zu  erzählen.  Eben  so  gab  es 
über  den  von  Plutarch  erwähnten  Diokles  verschiedene 
Sagen:  als  Eumolpos  nach  Eleusis  in  Attika  zog,  sei  er 
nach  Megara  geflohen  und  in  einem  Kriege  selbst  gefallen, 
während    er    einen   geliebten    Jüngling   mit    seinem    Schilde 


Brunn:  Bildwerke  des  Theseion.  55 

deckte,  weshalb  ihn  die  Megarenser  als  Heros  verehrten 
und  ihm  Spiele  feierten :  Schol.  Theoer.  XII,  30.  Im  home- 
rischen Hymnus  auf  Demeter  (v.  474;  vgl.  Paus.  II,  14,3) 
dagegen  wird  er  neben  Triptolemos ,  Eumolpos  und  Keleos 
als  einer  derjenigen  genannt ,  die  von  Demeter  in  den 
Weihen  unterwiesen  wurden.  Die  Widersprüche  liegen  hier 
klar  zu  Tage.  Der  eleusinische  Krieg,  der  sonst  in  die 
Zeit  des  Erechtheus  gesetzt  wird,  ist  in  andern  Sagen  mit 
den  Kämpfen  der  Megarenser  und  Athener  in  Verbindung 
gebracht.  Uebereinstimmung  ist  hier  nicht  zu  erzielen.  Es 
fragt  sich  nur,  ob  sich  gewisse  mythisch-historische  That- 
sachen  feststellen  lassen,  an  welche  sich  die  verschiedenen 
Wendungen  in  der  Erzählung  der  Sage  anzulehnen  ver- 
mochten. 

Eine  solche  Thatsache,  offenbar  der  Kern  dieser  Sagen, 
ist  die  Erwerbung  von  Megaris  für  Attika  durch  Theseus. 
Sie  kann  keine  friedliche  gewesen  sein,  und  den  Athenern 
gegenüber  standen  gewiss  nicht  die  Megarenser  allein.  Denn 
es  handelte  sich  um  die  Feststellung  der  Grenzen  zwischen 
Peloponnes  und  Ionien,  die  über  Megara  hinaus  nach 
Korinth  zu  lagen  und  nicht  in  Megara,  sondern  in  Korinth 
vereinbart  wurden ,  indem  dort  wie  zur  Bekräftigung  der 
hergestellten  Eintracht  die  Einsetzung  der  isthmischen  Spiele 
erfolgte.  Das  strategische  Object,  um  welches  es  sich  bei 
diesen  Kämpfen  handelte,  konnte  kein  anderes  sein,  als  der 
Pass  bei  den  skironischen  Felsen,  der  von  Korinth  aus  den 
Zugang  nach  Attika ,  von  Megara  aus  den  Zugang  zum 
Peloponnes  öffnete.  Erst  sein  Besitz  sicherte  Attika  gegen 
unvermuthete  Einfälle  von  peloponnesischer  Seite.  Dass  er 
in  dem  von  Plutarch  erwähnten  Kriege  gegen  Megara  er- 
worben wurde,  lehrt  die  jenseits  des  Passes  aufgestellte 
Grenzsäule;  vgl.  Strabo  IX,  392.  Wenn  nun  dort  die 
Entscheidungsschlacht  geschlagen  wurde,  so  mochte  darin 
für  die  Megarenser  der  Anlass  liegen,  die  gewöhnliche  Sage 


56  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

von  dem  Räuber  Skiron  in  dem  Sinne  umzubilden,  dass  sie 
behaupteten,  Skiron,  einer  ihrer  Landesheroen,  sei  im  Kriege 
von  Theseus  überwunden  und  getödtet  worden,  während  es 
sich  in  Wirklichkeit  um  die  Eroberung  des  skironischen 
Passes  handelte. 

Somit  haben  wir  für  die  Hauptgruppe  des  Frieses  eine 
den  künstlerischen  Motiven  durchaus  entsprechende  Deutung 
gefunden.  Zur  weiteren  Unterstützung  derselben  wenden 
wir  uns  zu  der  rechts  hinter  den  Göttern  befindlichen 
Gruppe.  In  ihr  fällt  die  eigenthümliche  Haltung  der  letzten  Figur 
besonders  auf,  die  mit  dem  Körper  etwas  'nach  rückwärts, 
mit  Kopf  und  Schultern  aber  wieder  nach  vorwärts  geneigt 
ist.  Die  Annahme ,  dass  sie  beschäftigt  sei ,  ein  Grab  zu 
graben,  wird  keiner  Widerlegung  bedürfen.  Ebenso  wider- 
spricht es  dem  Augenschein,  dass  es  sich  um  die  Errichtung 
eines  Tropäon  handle,  indem  dazu  zwischen  dieser  und  der 
nächsten  Figur  nicht  hinlänglicher  Raum  übrig  bleibt. 
Wohl  aber  lässt  sich  denken,  dass  die  erstere  sich  in  einer 
Stellung  befand ,  ähnlich  der  des  Satyrs  in  der  Schmiede 
des  Hephästos,  welcher  dem  Gotte  einen  Schild  hinhält 
(Overbeck  G.  h.  B.  18,5;  die  Frage  der  Echtheit  dieses 
Reliefs  kommt  hier  nicht  in  Betracht):  sie  konnte  recht 
wohl  eine  Tafel  oder  einen  ähnlichen  Gegenstand  zwischen 
den  Knieen  oder  auf  das  linke  Knie  gestützt  mit  beiden 
Armen  vor  sich  hin  halten.  Die  nächste  Figur  hätten  wir 
uns  dann  so  vorzustellen,  dass  sie  mit  der  Rechten  auf  die 
Tafel  deutete,  während  sie  nach  der  hinter  ihr  stehenden 
Gruppe  umblickt,  um  diese  auf  die  Tafel  aufmerksam  zu 
machen.  Ermangelt  dieser  Restaurationsvorschlag  nicht  der 
Wahrscheinlichkeit  (und  es  wird  wenigstens  von  künstlerischer 
Seite  seine  Möglichkeit  nicht  geleugnet  werden  können) ,  so 
liegt  die  Deutung  auf  der  Hand,  dass  es  sich  dabei  um  die 
berühmte  Stele  handle,  durch  welche  die  Grenze  zwischen 
dem  Peloponnes  und  Ionien  oder  Attika  festgestellt  wird. 


Brunn:  Bildwerke  des  Theseion.  57 

Auch  für  die  Gegenwart  der  Götter  findet  sich] jetzt 
ohne  Schwierigkeit  eine  passende  Erklärung.  Handelt  es 
sich  doch  um  ein  grosses  historisch  politisches  Ereigniss? 
das  seinen  Abschluss  nach  dem  Sinne  der  alten  Zeit  in 
einer  religiösen  Feier,  in  der  Einsetzung  der  isthmischen 
Spiele  findet,  einem  Feste  der  VereiniguDg  hellenischer 
Stämme  unter  dem  Schutze  des  Gottesfriedens.  Ist  es  uns 
auch  nicht  gegeben,  die  Bedeutung  der  einzelnen  Göttergestalten 
und  deren  besondere  Beziehung  zur  Haupthandlung  sicher 
nachzuweisen,  so  spricht  es  doch  für  den  allgemeinen  Ge- 
danken unserer  Auffassung,  dass  man  schon  bisher  in  den 
beiden  Spitzen  der  Versammlung  Zeus  als  obersten  Herrscher 
und  ihm  gegenüber  Poseidon,  den  Herrscher  des  Isthmus, 
übereinstimmend  anerkannt  hat. 

Die  Ueberlieferung ,  so  weit  wir  sie  bisher  betrachtet 
haben,  würde  kaum  genügen,  in  der  Deutung  der  noch 
übrigen  Theile  des  Frieses  einen  weiteren  Schritt  zu  wagen. 
Vielmehr  könnte  die  Fassung  des  Berichtes  bei  Plutarch, 
von  dem  wir  ausgegangen  sind,  sogar  zu  einem  Zweifel  an 
der  Haltbarkeit  der  ganzen  Erklärung  berechtigen.  Wenn  jene 
von  Plutarch  nur  mit  wenigen  Worten  bezeugte  Erwerbung 
von  Megara  in  ihren  Folgen  von  so  grosser  Bedeutung  war, 
wie  kommt  es,  dass  wir  von  ihr  anderwärts  nur  so  schwache 
Kunde  finden?  Die  Beantwortung  dieser  Frage  liegt  darin, 
dass  Plutarch  nicht  die  ganze  historische  Sage  mittheilt, 
indem  er  wahrscheinlich  einen  andern  zu  ihr  gehörigen 
Theil  in  seinen  Quellen  nicht  auf  den  Namen  des  Theseus, 
sondern  seines  Sohnes  Demophon  lautend  fand.  Um  es 
kurz  zu  sagen:  jene  Erwerbung  von  Megara  ist  nichts  als 
ein  Theil  der  berühmten  Kämpfe  Athens  gegen  Eurystheus 
und  die  Peloponnesier.  Sie  gehören  zu  den  stolzesten  Er- 
innerungen der  Athener;  aber  um  so  mehr  hat  sich  auch 
die  Sage  und  Poesie  an  ihnen  versucht  und  die  wohl  sicher 


58  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

zu  Grunde  liegenden  Thatsachen  in  mannigfachen  Formen 
und  Wendungen  ausgeschmückt.  So  erklärt  es  sich,  dass, 
wenn  bereits  Ulrichs  (Ann.  d.  Inst.  1841,  p.  74)  im  Fries 
des  Theseion  die  Darstellung  dieser  Kämpfe  zu  erkennen 
glaubte,  seine  Deutung  nichts  destoweniger  unhaltbar  ist, 
weil  er  sie  aus  der  poetischen  Gestaltung  in  den  Herakliden 
des  Euripides  durchaus  falsch  zu  begründen  unternahm. 
Wir  werden  vielmehr  versuchen  müssen,  durch  die  poetische 
Umhüllung  in  den  historischen  Kern  der  Sage  einzudringen. 
Die  Herakliden,  von  Eurystheus  verfolgt,  dessen  Macht 
in  ganz  Griechenland  gefürchtet  ist,  suchen  endlich  Schutz 
bei  den  Athenern ,  die  ihn  gewähren.  Das  geschieht  nach 
Pherekydes  (bei  Antonin.  Liberal.  33),  nach  Euripides  und, 
wie  wir  aus  dem  Schweigen  im  Leben  des  Theseus  folgern 
dürfen,  wohl  auch  nach  der  Ansicht  Plutarchs  unter  der 
Herrschaft  des  Demophon.  Für  die  Zeit  des  Theseus  er- 
klären sich  dagegen  Tsokrates  Helen.  31,  Diodor  IV,  57 
und  Pausanias  I,  32,5,  der  nach  der  Bemerkung  von  Ulrichs 
hier  wie  in  der  Regel  wohl  die  herrschende  Volksansicht 
ausspricht,  welche  allen  Ruhm  auf  Theseus  zu  häufen  liebte, 
während  die  entgegengesetzte  Meinung  auf  chronologischen 
Gründen  beruhen  mochte.  Wie  hohen  Werth  die  Athener 
auf  den  Ruhm  dieser  Kämpfe  legten,  spricht  sich  bereits  bei 
Herodot  in  der  Erzählung  über  die  Vorbereitungen  zur 
Schlacht  bei  Plataeae  aus  (IX,  27).  Die  Tegeaten  verlangen 
den  Ehrenplatz  auf  dem  linken  Flügel,  weil  ihr  König 
Echemos  bei  dem  Versuche  der  Herakliden ,  in  den  Pelo- 
ponnes  einzudringen,  den  Hyllos  getödtet  habe.  Die  Athener 
behaupten  dagegen ,  dass  sie  schon  vor  dieser  Zeit  allein 
gegen  den  Uebermuth  des  Eurystheus  den  Herakliden  Schutz 
gewährt  und  mit  ihnen  in  der  Schlacht  die  damaligen 
Herrscher  der  Peloponnesier  besiegt.  Als  Kampf  gegen  den 
Peloponnes    oder   richtiger   als   einen    Kampf   zur  Befreiung 


Brunn:  Bildwerke  des  Theseion.  59 

des  Peloponnes  von  der  Tyrannei  des  Eurystheus,  wodurch 
erst  der  späteren  Herrschaft  der  Herakliden  namentlich 
auch  in  Sparta  der  Weg  gebahnt  worden  sei ,  feiern  auch 
später  besonders  die  Rhetoren  diesen  Krieg  und  begründen 
darauf  sogar  Ansprüche  der  Dankbarkeit  von  Seiten  Sparta' s 
gegen  Athen.  So  besonders  Isokrates  Paneg.  §  58;  59;  65; 
Phil.  34;  Archid.  42;  Helen.  31;  Panathen.  194;  Lysias 
Epitaph.  15;  Ps.  Demosth.  Epitaph.  8;  (de  coron.  186). 
Auch  Thukydides  I,  9  erwähnt,  dass  Eurystheus  in  Attika 
gefallen  sei,  und  bei  Xenophon  Hell.  VI,  5,47  macht  Prokies 
von  Phlius  geradezu  geltend,  dass,  so  gut  wie  die  Athener 
die  Ahnherrn  der  Spartaner  vor  der  Wuth  des  Eurystheus 
gerettet  hätten ,  sie  nun  auch  ganz  Sparta  vor  dem  Unter- 
gange bewahren  möchten.  Vgl.  Schäfer  Rede  z.  Winckel- 
mannsfeste;  Greifsw.   1861. 

Wo  aber  fand  die  entscheidende  Schlacht  statt?  Die 
Herakliden  wohnten  zu  Trikorythos  oder  Marathon  in  der 
Tetrapolis ,  die  deshalb'  noch  im  peloponnesischen  Kriege 
von  den  Plünderungen  der  Spartaner  verschont  blieb  (Diod. 
IV,  57;  XII,  45;  Schol.  Oed.  Col.  689).  Bei  Marathon 
hatte  sich  Makaria,  die  Tochter  des  Herakles,  zur  Gewinnung 
des  Sieges  dem  Tode  geweiht;  bei  Trikorythos  war  nach 
einer  Sage  das  Haupt  des  Eurystheus,  sein  Körper  bei 
Gargettos  begraben  (Strabo  VIII,  377).  Dort  bei  Gargettos 
in  der  Nähe  des  Tempels  der  Athene  Pallenis  soll  nach 
Euripides  die  Hauptschlacht  stattgefunden  haben ,  jedoch 
nach  andern  Nachrichten ,  ja  nach  Euripides  selbst  nicht 
der  einzige  Kampf.  Denn  Pausanias  (I,  44,  10)  sah  un- 
mittelbar hinter  den  skironischen  Felsen  nach  der  korin- 
thischen Seite  das  Grab  des  Eurystheus  an  der  Stelle,  wo  er 
auf  der  Flucht  von  Iolaos  getödtet  sein  sollte,  während 
Euripides  ihn  ebendaselbst  von  Iolaos  gefangen,  später  aber 
auf  Anstiften  der  Alkin ene    getödtet    und    vor    dem  Tempel 


60  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

der  Athene  Pallenis  begraben  werden  lässt.  Auch  bei 
Apollodor  II,  8,1  wird  er  bei  den  skironischen  Felsen  von 
Hyllos  getödtet,  welcher  das  Haupt  der  Alkmene  überliefert. 
So  gelangen  wir  also  wieder  zu  den  skironischen  Felsen, 
und  wenn  auch  Sage  und  Poesie  den  Krieg  in  eine  einzelne 
Schlacht  und  die  Verfolgung  zusammenziehen,  so  steht  doch 
nichts  im  Wege,  die  Schlacht  auf  eigentlich  attischem  Ge- 
biete anzuerkennen,  den  letzten  Entscheidungskampf  aber 
an  die  skironischen  Felsen  zu  verlegen.  Mit  dem  dortigen 
Kampfe  wird  namentlich  das  Ende  des  Eurystheus  in  Zu- 
sammenhang gebracht,  und  wenn  auch  in  einem  Theile 
unserer  Nachrichten  nur  von  seinem  Tode  die  Rede  ist,  so 
tritt  doch  in  einem  andern  sehr  bestimmt  ein  weiterer  Zug 
hinzu ,  nemlich  dass  er  nicht  einfach  fiel ,  sondern  vorher 
noch    die  Schmach    der  Gefangennehmung    erdulden  musste. 

Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  der  Fries  des  The- 
seion vor  die  Zeit  fällt,  in  welcher  die  ganze  Sage  von  der 
Tragödie  mehrfach  behandelt  und  natürlich  je  nach  den 
Bedürfnissen  der  Dichtung  im  Einzelnen  vielfach  modificirt 
wurde.  In  der  Tragödie  mussten  natürlich  die  Herakliden 
selbst  in  den  Vordergrund  treten  und  die  historisch  politische 
Seite  der  Sage  bildete  mehr  den  Hintergrund,  von  dem  sich 
die  Gestalten  der  Dichtung  abhoben.  Für  das  athenische 
Volksbewusstsein  und  für  die  Darstellung  an  einem  öffent- 
lichen Monumente  musste  gerade  auf  das  politische  Moment 
das  Hauptgewicht  gelegt  werden.  Die  Redner  sprechen  von 
dem  Ruhme  Athens.  Plutarch  aber,  durch  dessen  Nachricht 
über  Theseus  die  übrigen  Erzählungen  ergänzt  werden, 
lehrt  uns  die  praktischen  Folgen  des  Krieges  kennen ,  die 
neue  Regelung  des  Verhältnisses  Athens  zum  Peloponnes. 

Fassen  wir  jetzt  das  gesammte  Resultat  noch  einmal 
kurz  zusammen.  Der  Schutz  der  Herakliden  veranlasst  einen 
Krieg  zwischen  den  Athenern  und  den  Peloponnesiern  unter 


Brunn:  Bildwerke  des  Theseion.  61 

der  Führung  des  Eurystheus.  Zu  Athen  gehörte  damals  Megara 
noch  nicht;  folglich  ist  es  zum  Peloponnes  zu  rechnen.  Der 
Kampf  beginnt  auf  athenischem  Boden,  setzt  sich  aber  nach 
der  Zurückdrängung  der  Peloponnesier  bis  zu  den  skironischen 
Felsen  fort  und  findet  durch  die  Gefangennehmung  und  darauf 
folgende  Tödtung  des  Eurystheus  sein  Ende.  Die  feste  Erwerbung 
Megara's  und  des  skironischen  Passes  sichert  den  Besitz- 
stand Athens  gegen  den  Peloponnes  und  findet  in  der 
Grenzsäule  seine  staatsrechtliche  Anerkennung.  Darüber  hinaus 
erlangen  die  Athener  noch  das  Gastrecht  bei  den  Isthmien,  indem 
der  Sturz  des  Eurystheus  als  eine  Befreiung  vom  Tyrannenjoche 
den  Athenern  Anspruch  auf  den  Dank  der  Peloponnesier  erwirbt. 

Betrachten  wir  auf  Grundlage  dieser  vereinfachten 
Thatsachen  die  Reliefs  des  Frieses ,  so  gliedert  sich  die 
Composition  in  einfacher  Weise.  Zwischen  den  Götter- 
gruppen bewegt  sich  der  Kampf:  in  der  ersten  Hälfte 
sehen  wir  die  Schlacht  und  die  Flucht  der  Peloponnesier, 
in  der  zweiten  die  Erstürmung  des  skironischen  Passes, 
welche  die  Entscheidung  herbeiführt.  Die  Folgen  derselben 
erkennen  wir  in  den  Seitengruppen  ausserhalb  der  centralen 
Composition,  die  auch  räumlich  nicht  mehr  über  der  Cella, 
sondern  über  den  Seitenhallen  des  Tempels  ihre  Stelle 
haben:  links  die  Fesselung  des  gefangenen  Eurystheus, 
rechts  die  Bestimmung  der  Grenze  des  Peloponnes. 

Einem  Einwurfe  soll  hier  sofort  begegnet  werden, 
nemlich  ob  es  gestattet  ist,  in  dem  gefesselten  unbärtigen 
Manne  den  mit  Herakles  gleichalterigen  Eurystheus  zu  er- 
kennen. Handelte  es  sich  um  ein  Vasenbild  oder  etwa  ein 
römisches  Relief,  so  würde  diese  Frage  wohl  ohne  Bedenken 
verneint  werden  müssen.  Wir  haben  indessen  den  Fries 
zunächst  aus  sich  und  aus  den  ihm  der  Zeit  nach  nahe 
stehenden  Sculpturen  zu  beurtheilen.  Nun  sind  öder  waren 
schon  zu  Stuarts  Zeit  nur  noch  sehr  wenige  Köpfe  am  Fries 


62  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

erhalten  und  diese  sind  sämmtlich  unbärtig;  aber  auch  von 
allen  übrigen  Figuren ,  mit  Ausnahme  des  Zeus  und  des 
Poseidon,  lässt  sich  nach  der  sonstigen  Bildung  der  Körper 
schliessen ,  dass  sie  bartlos  dargestellt  waren.  Am  West- 
fries kämpfen  gegen  die  wilden  bärtigen  Kentauren  nur  un- 
bärtige Krieger.  Dasselbe  finden  wir  an  den  Metopen  des 
Parthenon.  Im  Friese  desselben  kommen  unter  den  Reitern 
der  Westseite  ausnahmsweise  zwei  bärtige  Männer  vor, 
sonst  ist  alle  kriegstüchtige  Mannschaft  unbärtig  und  nur 
unter  den  Bürgern  im  Mantel  ist  das  vorgerücktere  Alter 
überwiegend  vertreten.  Auch  im  Fries  von  Phigalia  findet 
sich  den  Kentauren  und  Amazonen  gegenüber  nur  ein  ein- 
ziger bärtiger  Krieger;  und  erst  am  Mausoleum  tritt  wieder 
ein  häufigerer  Wechsel  ein.  Demnach  scheint  die  Kunst, 
als  sie  sich  eben  erst  von  den  Fesseln  des  Archaismus  be- 
freit hatte,  mit  einer  gewissen,  durch  den  Gegensatz  be- 
greiflichen Einseitigkeit  die  unbärtige  Bildung  bevorzugt  zu 
haben,  bis  erst  später  sich  ein  Streben  nach  Vermittelung 
der  Extreme  geltend  machte.  Leider  ist  der  Kopf  des 
Eurystheus,  der  bei  Stuart  noch  als  erhalten  gezeichnet  ist, 
etzt  nicht  mehr  vorhanden;  und  wenn  auch  die  der  Publi- 
jcation  zu  Grunde  liegenden  Zeichnungen  von  Pars  im  All- 
gemeinen als  zuverlässig  zu  betrachten  sind,  so  diarf  doch 
auf  den  Ausdruck  der  einzelnen,  gewiss  auch  damals  schon 
nicht  völlig  intacten  Köpfe  kein  entscheidendes  Gewicht  ge- 
legt werden.  Die  gesammte  Anlage  des  Körpers  und  seine 
breiten  Formen  sprechen  ausserdem  nicht  sowohl  für  einen 
Mann  in  jugendlichem,  als  in  reif  entwickeltem  Alter,  und 
gewisse  pathetische,  der  Kunst  dieser  Zeit  noch  fremde  Züge 
des  Gesichts  könnten  daher  von  dem  Zeichner  leicht  miss- 
verständlich an  die  Stelle  des  markirteren  Ausdruckes  eben 
dieses  Alters  gesetzt  sein. 

Auf  eine  weitere  Deutung  der  einzelnen  Figuren  müssen 


Brunn:  Bildwerke  des  Theseion.  63 

wir  bei  dem  Schwanken  und  den  Widersprüchen  der  Ueber- 
lieferung  verzichten,  und  es  fragt  sich  sogar,  ob  und  wie 
weit  der  Künstler  überhaupt,  von  Theseus  und  Eurystheus 
abgesehen,  einzelne  Figuren  individuell  charakterisiren  wollte. 
Namentlich  scheint  er  völlig  davon  abgesehen  zu  haben,  die 
Herakliden  in  der  Darstellung  irgendwie  selbständig  hervor- 
treten zu  lassen.  Ja  wir  dürfen  vielleicht  behaupten,  dass 
er  daran  durch  die  Grundidee  der  gesammten  Sculpturen 
des  Tempels  geradezu  verhindert  war.  Zur  Begründung 
dieser  Ansicht  ist  es  nöthig,  zunächst  einen  Blick  auf  die 
Darstellungen  des  Westfrieses  zu  werfen. 

Der  Gegenstand  derselben  bedarf-  keiner  langen  Er- 
örterung: es  ist  der  Kampf  der  Lapithen  und  Kentauren, 
wie  wir  aus  der  Gruppe  des  Kaineus ,  •  der  von  zwei  Ken- 
tauren unter  einem  Felsen  begraben  wird,  zu  schliessen  be- 
rechtigt sind.  Dass  bei  dem  Jüngling  der  nächsten  Gruppe 
rechts,  welcher  einen  Kentauren  angreift,  der  Künstler  an 
Theseus  gedacht  habe,  ist  möglich,  lässt  sich  aber  nicht  be- 
weisen. Im  Uebrigen  löst  sich  die  Composition  in  einzelne 
Gruppen  auf,  in  denen  keine  Figur  so  cliarakterisirt  ist, 
dass  es  gestattet  wäre,  ihr  einen  besonderen  Namen  beizu- 
legen. Gewiss  hätte  es  dem  Künstler  nicht  schwer  fallen  können, 
an  die  Stelle  dieser  lockeren  Fügung  eine  dem  Inhalt  und 
der  Form  nach  einheitlich  mehr  geschlossene  Composition 
zu  setzen ,  namentlich  wenn  er  den  im  Mythus  gegebenen 
Anlass  des  Kampfes,  die  Vergewaltigung  der  Frauen  durch 
die  Kentauren  und  ihre  Beschützung  durch  die  Lapithen, 
als  das  die  Mitte  beherrschende  Motiv  hätte  verwerthen 
wollen.  Dass  er  es  nicht  that,  hat  (abgesehen  von  künstle- 
rischen Rücksichten  allgemeiner  Art)  seinen  Grund  offenbar 
in  dem  Charakter  der  ihm  gestellten  Aufgabe.  Wie  es  sich 
im  Ostfries  nicht  um  den  Anlass  des  Streites,  den  Schutz 
der  Herakliden    handelte,    sondern    um    die    politische  Be- 


64  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

deutung  des  Kampfes',  so  sollte  auch  hier  nicht  der  im 
Mythus  poetisch  entwickelte  Anlass  der  Kentaurenkämpfe 
dargestellt,  sondern  diese  selbst  sollten  wiederum  nur  als 
der  Ausdruck  eines  politischen  Gedankens  verwerthet  wer- 
den, den  wir  nicht  erst  zu  formuliren,  sondern  nur  dem 
Isokrates  (Helen.  §  25 — 26)  zu  entlehnen  brauchen:  Theseus 
hat  sich  als  Wohlthäter  Athens  und  der  Hellenen  bewährt, 
indem  er  als  Bundesgenosse  der  Lapithen  die  Kentauren 
züchtigte,  die  durch  ihre  Schnelligkeit  und  Stärke  hellenische 
Städte  theils  verwüstet  hatten,  theils  mit  Verwüstung  be- 
drohten. So  ordnen  sich  beide  Friese  leicht  einer  gemein- 
samen Idee  unter : '  Theseus  und  die  Athener  als  Schützer 
der  Unterdrückten  und  Rächer  der  Unterdrücker. 

Nur  eine  Erweiterung  dieses  Ideenkreises  ist  es,  der 
auch  die  Metopen  zu  dienen  bestimmt  sind.  Schon  früher 
hat  man  mit  guten  Gründen  die  Thatsache  gerechtfertigt, 
dass  in  den  Metopen  Herakles  neben  Theseus,  ja  durch  die 
Stelle,  welche  die  Darstellung  seiner  Thaten  an  der  Vorder- 
seite des  Tempels  einnimmt,  fast  noch  mehr  als  Theseus 
verherrlicht  scheint.  Die  Athener  rechneten  es  sich  zum 
Verdienst  an,  dem  Herakles  zuerst  göttliche  Ehren  erwiesen 
zu  haben,  und  gerade  Theseus  ist  es,  der  in  der  Anerkennung 
dieses  seines  Vorbildes  voranging,  man  möchte  sagen,  um 
für  die  Anerkennung  seiner  eigenen  Thaten  eine  desto 
sicherere  Gewähr  zu  finden,  ja  sogar  um  sich  über  sein  Vor- 
bild zu  erheben.  °!,4XIoq  ovrog  cHqaylrg  und  ovy.  avev 
QrjGetjg  (Plut.  Thes.  c.  29):  das  sind  die  beiden  Sätze,  die 
sich  durch  den  ganzen  Mythus  des  Theseus  hindurchziehen 
und  die  eben  so  im  Bewusstsein  des  athenischen  Volkes 
leben.  Herakles  verrichtete  seine  Thaten  nur  gezwungen 
auf  Befehl  des  Eurystheus  und  manche  derselben  brachten 
der  Welt  nicht  einmal  Nutzen,  sondern  nur  ihm  Gefahr; 
Theseus   dagegen   unterzog   sich  den  Gefahren  aus  eigenem 


Brunn:  Bildwerke  des  Theseion.  65 

Antrieb,  um  ein  Wohlthäter  der  Hellenen  und  seines  Vater- 
landes zu  werden:  so  belehrt  uns  Isokrates  (a.  a.  0.)-  Wir 
brauchen  aber  nur  ihm  (Paneg.  60;  Panathen.  194)  und 
dem  Lysias  (Epitaph.  12  —  16)  noch  weiter  zu  folgen,  um 
erst  völlig  zu  verstehen,  weshalb  am  Ostfries  der  Kampf 
gegen  Eurystheus  dargestellt  war:  Herakles,  der  gewaltige, 
die  menschliche  Natur  überragende  Held,  der  von  Zeus  er- 
zeugt schon  als  Sterblicher  göttliche  Kraft  hatte,  musste 
sich  der  Botmässigkeit  und  schmählichen  Behandlung  eines 
Eurystheus  unterwerfen.  Als  aber  Eurystheus  es  wagte,  in 
frevelhaftem  Uebermuthe  die  Athener  anzugreifen,  da  wandte 
sich  das  Schicksal  dermassen ,  dass  er  wegen  der  Kinder 
des  Helden   sein    Leben    mit  Schmach   und  Schimpf  endete. 


(1874.  II.  Phil.  hist.  Cl.  1.] 


66  Sitzung  der  philos.-phüol  Classe  vom  4.  Juli  1874, 


Herr  Lauth  trägt  vor: 

„Die  Sothis  oder  Siriusperiode  der  alten 
Aegypter". 

„Suche  den  ruhenden  Pol  in  der  Erschein- 
ungen Flucht". 
(Schiller,  Spaziergang.)1 

Jeder,  der  sich,  wenn  auch  nur  oberflächlich,  mit  der 
Geschichte  und  Zeitrechnung  des  Alterthums  befasst,  muss 
nothgedrungen  gleich  an  der  Schwelle  die  Frage  aufwerfen: 
wie  ist  die  Bestimmung  der  Zeit,  dieses  scheinbar  unfass- 
baren  Elementes,  durch  das  uralte  Culturvolk  der  Aegypter 
getroffen  worden?  Nachdem  ich  vor  fünf  Jahren  in  der 
öffentlichen  Sitzung  der  königlichen  Academie  der  Wissen- 
schaften über  die  „geschichtlichen  Ergebnisse  der 
Aegyptologie"  mit  möglichster  Kürze  gehandelt,  scheint  es 
die  Vollständigkeit  zu  fordern,  auch  der  Chronologie,  als 
des  unentbehrlichen  Complementes  der  Historie,  zusammen- 
fassend zu  gedenken.  Zwar  ist  die  Chronologie,  wie  unser 
Altmeister  Göthe  *)  weiss  und  richtig  bemerkt,  eine  der 
schwersten  Wissenschaften,  weil  ihr  Gelingen  eine  Vereinigung 
auseinander  liegender  Kenntnisse  und  eine  Anwendung  ver- 
schiedenartiger Geisteskräfte  und  Bestrebungen  voraussetzt. 
Allein  diese  Schwierigkeit  des  Problems  soll  uns  nicht  ab- 
schrecken, auf  eine  Lösung  der  Frage  hinzuarbeiten,  da  uns, 
Dank  Champollion's  Entdeckung  des  Hieroglyphenschlüssels, 
gegenwärtig  ungleich  bessere  Quellen  in  den  Originalurkunden 
vorliegen,    als   sie   den   Scaliger,    Petavius   und  selbst  noch 


1)  Bimsen:  Aegyptens  Stelle  in  der  Weltgeschichte  I,  278. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  67 

Ideler  zugänglich  waren.  Und  sowie  alles  Aegyptische  wegen 
seiner  für  die  früheren  Jahrtausende  der  Geschichte  grund- 
legenden Bedeutung  die  Aufmerksamkeit  aller  Forscher,  die 
Betheiligung  aller  Zweige  der  Wissenschaften  beansprucht, 
so  dürfte  insbesondere  die  vorliegende  Frage  über  die 
Sothis  oder  Siriusperiode '  der  alten  Aegypter  das 
Interesse  ebensowohl  der  Archaeologen  und  Historiker,  als 
der  Mathematiker  und  Naturkundigen,  ja  aller  Gebildeten  in 
hohem  Grade  zu  erregen  geeignet  erscheinen,  da  von  der 
Beantwortung  derselben  Sein  oder  Nichtsein  der  alten  Chro- 
nologie überhaupt  abhängt. 

Bevor  ich  jedoch  darangehe,  die  classischen,  urkund- 
lichen und  monumentalen  Zeugnisse  für  den  wenigstens 
wissenschaftlichen  Gebrauch  dieser  Zeitperiode  vorzulegen, 
ist  es  unerlässlich,  von  derjenigen  Jahresform  zu  sprechen, 
welche  im  bürgerlichen  Leben  der  alten  Aegypter  und  bei 
den  Datirungen  der  Denkmäler  die  übliche  war:  ich  meine 
das  sogenannte  Wandeljahr. 

Seit  den  ältesten  Zeiten  z.  B.  der  grossen  Pyramiden 
(mehr  als  3400  Jahre  vor  Jul.  Cäsar's  gallischem  Feldzuge) 
gebrauchten  die  Bewohner  des  Nilthaies  ein  Jahr  von  365 
Tagen  d.  h.  zwölf  dreissigtägigen  Monaten  nebst  fünf  Zu- 
satztagen oder  Epagomenen  —  eine  Einrichtung,  welche 
bekanntlich  im  Kalender  der  ersten  französischen  Republik 
adoptirt  wurde,  wo  auch  die  cinq  jours  complementaires 
nicht  fehlen.  Dieses  Jahr  zerfiel  in  drei  Tetramenien  oder 
Abtheilungen  von  je  vier  Monaten,  welche  ursprünglich  den 
Bedürfnissen  der  Agricultur  angepasst  und  demgemäss  sehe, 
pert,  schom  „Fluth,  Aussaat,  Ernte"  benannt  waren.  Die 
einzelnen  Monate  jeder  Tetramenie  wurden  von  1 — 4  be- 
ziffert und  gezählt,  während  die  im  Koptischen  bis  heute 
erhaltenen  Monatsnamen  von  dem  Hauptfeste  der  betreffen- 
den Gottheit  herrühren,  wie  ich  in  meinem  Buche  „Les 
zodiaques  de  Denderah"  ausführlich  dargethan  habe.     Selbst 

5* 


68  Sitzung  der  philos.-phäol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

der   Laie  wird    aus  den  Benennungen  der  zwölf  ägyptischen 
Monate:  Thot,  Phaophi,  Athyr,  Choiahk  — 

Tybi,  Mechir,  Phamenoth,  Pharmuti  — 

Pachons,  Payni,  Epiphi,  Mesori  — 
unschwer  Anklänge  an  die  Götter  Thot,  Hathor,  Rennut 
{auch  Remut),  Chons,  Ape,  Horus  vernehmen  und  sich  leicht 
überreden  lassen,  dass  die  Vorsylbe  Pa  (Pron.  poss.)  „der 
(Monat)  von"  und  mes  ,, Geburt1'  bedeutet.  Im  koptischen 
Kalender,  der  bis  heute  in  Aegypten  üblich  ist,  werden  diese 
zwölf  Namen  ausschliesslich  gebraucht. 

Es  leuchtet  aber  sofort  ein,  dass  ein  solches  Jahr  von 
365  Tagen,  welches  den  überschüssigen  Vierteltag  nicht  be- 
rücksichtigt und  demgemass  ohne  alle  Einschaltung  fortschreitet 
—  wesshalb  man  es  eben  „Wandeljahr"  betitelt  hat  —  mit 
jedem  vierten  Jahre  um  einen  ganzen  Tag  von  dem  grösseren 
natürlichen  Jahre  zu  365 1U  Tagen  zurückweicht,  so  dass  1461 
ägyptische  Wandeljahre  genau  =  1460  Sonnenjahren  sind. 
Erscheint  diese  Differenz  von  einem  Jahre  für  eine  fast 
anderthalbtausendjährige  Periode  auch  quantitativ  sehr  ge- 
ring ,  so  bedingt  sie  andererseits  doch  zwei  wesentlich  ver- 
schiedene Jahresformen :  annus  vagus  neben  annus  fixus  und 
hiemit  die  Möglichkeit  einer  Berechnung  der  Verschiebung. 
Es  muss  theoretisch  zugegeben  werden,  da^s  die  Sonder- 
stellung der  fünf  Zusatztage  oder  Epagomenen  am  Schlüsse 
des  Jahres  so  wie  ihre  authentische  Benennung :  „Das  Jahr 

und  die  fünf  Ueber(tage)   |  m  ®  \\  —  so  auf  einer  Stele  der 

XII.  Dyn.  (2500  v.  Chr.)  in  der  Münchner  Glyptothek  — 
den  Schluss  auf  ein  früheres  Jahr  von  nur  360  Tagen  nicht 
nur  erlaubt,  sondern  sogar  aufnöthigt,  um  so  mehr,  als  in 
den  Verzeichnissen  von  Sternaufgängen  z.  B.  im  Grabe 
Ramses  IV  die  fünf  Epagomenen  übergangen  sind,  wozu  es 
stimmt,  dass  die  nämliche  Tafel  nur  36  Decane  oder  Ge- 
stirnungen    sei    es  im  Aequator  oder  in  der  Ekliptik  kennt, 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  69 

welche  mit  den  36  Decaden  des  ägyptischen  für  die  Urzeit 
vorauszusetzenden  Jahres  von  360  Tagen,  vollkommen  har- 
monieren.    Die  Gruppe   j    O       „das  Jahr  (u.)  die  5  Tage", 

im  Kalender  Ramse's  III  zu  Medinet  Habu  beweist  dies 
ebenfalls  direct. 

Auch  das  Mondjahr  zu  354  Tagen  (12  synodische 
Monate  zu  je  29  Vs  Tagen)  kann  für  eine  gewisse  Stufe 
der  Urzeit  postulirt  werden ,  nicht  nur  wegen  der  Analogie 
mit  der  griechischen  Oktaeteris ,  dem  jüdischen  und  muha- 
medanischen  Kalender,  sondern  auch  desshalb  weil  uns  die 
Monumente,  welche  Brugsch  neulich  vor  drei  Jahren  in 
der  Zeitschrift  für  ägyptische  Sprache  und  Alterthums- 
künde  erschlossen  hat,  in  der  That  einen  25  jährigen  Cyclus 
(z.  B.  von  Sexta  zu  Sexta)  aufweisen ,  der  an  den  synodi- 
schen Monat  geknüpft  erscheint.  Hiebei  erinnere  man  sich, 
dass  der  Astronom  Ptolemäus 2)  seine  7tQO%eiqovg  ytavovag 
nach  25  jährigen  Perioden  geordnet  und  berechnet  hat,  weil 
nach  Ablauf  dieses  Zeitraums  die  nämlichen  Mondphasen  auf 
die  entsprechenden  Tage  des  Wandeljahres  fielen,  dessen  er 
sich  auch  bei  Bestimmung  der  Finsternisse  und  Aequinoctien 
—  vermuthlich  der  leichteren  Rechnung  halber  —  fortwährend 
bediente.  Wem  fällt  hiebei  nicht  die  Apisperiode  ein> 
jener  Cyclus  von  25  ägyptischen  Wandeljahren,  nach  dessen 
Ablauf  der  betreffende  Stier  getödtet  werden  musste  ?  Hierin 
liegt  keineswegs  ein  roher  Thiercultus,  wie  die  Griechen  und 
Römer  vermeinten,  sondern  es  war  der  heilige  Apis  die 
Incarnation  des  uralten  Nationalgottes  Osiris  und  die  25 
Wandeljahre  ergeben,  wie  schon  Ideler,  gezeigt  hat,  309 
mittlere  synodische  Monate  bis  auf  die  verschwindende 
Differenz  von  1  Stunde  33  Minuten.  Der  enge  Zusammen- 
hang des  Wandeljahres  mit  der  Apisperiode  ergibt  sich 
auch  aus  Folgendem. 

2)  Syncellus:  Chronographia  (Dindorf)  p.  97. 


70  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

In  griechischen  Inschriften  wird  das  ägyptische  Wandel- 
jahr mit  xar*  aQxcdovQj  manchmal  kurzweg  mit  xo^  u4lyv7t- 
rlovg  bezeichnet.  Aus  dem  Commentare  zu  den  Phänomm. 
des  Aratus  entnehmen  wir  die  Notiz,  dass  der  König  im 
Tempel  des  Apis  zu  Memphis  von  dem  Priester  der  Isis  in 
das  Adytum  geführt  und  darauf  beeidigt  wurde,  weder  einen 
Monat  noch  einen  Tag  einschalten  zu  wollen,  den  sie  in 
einen  Festtag  zu  verwandeln  hätten,  sondern  das  Jahr  zu 
365  Tagen  zuhalten,  sicut  institutum  est  ab  antiquis3). 
Wir  haben  zwar  bereits  gesehen4),  dass  weder  Ptolemäus 
Euergetes  I  noch  Augustus  durch  solche  religiöse  Bedenken 
sich  abhalten  Hessen,  einen  sechsten  Epagomen,  oder,  was 
dasselbe  ist,  das  fiae  Jahr  von  365 V*  Tagen  auch  in  den 
bürgerlichen  Kalender  einzuführen.  Aber  immerhin  bildet 
der  Bestand  des  Wandeljahres  die  Regel,  da  man  dieser  an 
und  für  sich  bedenklichen  Beweglichkeit  aller  Feste  eine 
religiöse  Seite  abzugewinnen  wusste,  dass  nämlich  dadurch 
successive  alle  Jahreszeiten  und  Tage  geheiligt  würden5). 

Man  darf  aus  dem  Vorhandensein  des  Mondjahres  zu 
354,  des  ursprünglichen  Sonnenjahres  zu  360  und  des  Wandel- 
jahres zu  365  Tagen  nicht  die  Schlussfolgerung  ableiten, 
dass  es  den  alten  Aegyptern  überhaupt  an  der  Kenntniss 
der  wahren  Länge  des  Jahres  zu  365  V*  Tagen  gefehlt  habe. 
Abgesehen  einstweilen  von  den  vielen  weiterhin  anzuführen- 
den Gründen,  welche  das  Gegentheil  beweisen,  dürfte  schon 
die  einfache  und  allgemein  bekannte  Thatsache  genügen, 
dass  unser  fixes  Jahr,  wie  es  durch  Jul.  Cäsar  nach  Europa 
gebracht  und  durch  Veranstaltung  des  Pabstes  Gregor  XIII 
rectificirt  worden  ist,  auf  ägyptischen  Ursprung  zurück- 
weist.     Der  alexandi  inische  Gelehrte  Sosigenes  leistete  hie- 


3)  Brugsch:  Materiaux  etc.  p.  21. 

4)  Vergl.  meine  vorige  Abhandlung :  „Die  Schalttage  des  Euer- 
getes I  und  des  Augustus". 

5)  Ideler's  Handbuch  der  Chronologie  p.  95  nach  Geminus. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  71 

bei   dem    römischen  Eroberer  dieselben  Dienste,   wie  später 
der  Astronome  Lilius  dem  römischen  Pontifex. 

Nun  könnte  man  einwenden,  dass  Sosigenes  ein  Grieche 
war,  wie  Dionysius,  der  unter  Philadelphus  ebenfalls  schon 
-das  fixe  Jahr  kannte  und  in  seinem  Kalender  durchführte. 
Allein  wie  begreift  sich  bei  der  notorischen  Mangelhaftigkeit 
•des  griechischen  Kalenderwesens,  welches  trotz  der  Anstreng- 
ungen eines  Meton,  Kalippus  etc.  im  Argen  liegen  blieb,  dass 
Herodot,  der  treue  Beobachter,  II  4  die  Einrichtung  des 
ägyptischen  Jahres  zu  12  dreisigtägigen  Monaten  nebst  fünf 
Zusatztagen,  wegen  ihrer  Uebereinstimmung  mit  den  Jahres- 
zeiten, der  griechischen  Oktaeteris,  welche  im  3.,  5.,  8.  J. 
did  tqltov  erovg  je  einen  ganzen  Monat  zu  30  Tagen  ein- 
schaltete, entschieden  vorzieht?  Dem  Wortlaute  nach  wären 
zwei  ägyptische  Tetraeteriden  zu  je  1460  =  2920  Tagen 
um  ganze  2  Tage  hinter  einer  griechischen  Oktaeteris  zu 
6x354-f  90  =  2922  Tagen  zurück.  Wenn  Herodot  dennoch 
.die  ägyptische  Jahresform  auf  Kosten  der  griechischen,  die 
doch  den  lU  Tag  berücksichtigte,  belobt,  so  muss  er  auch  in 
Aegypten  von  einem  Jahre  gehört  haben,  das  mit  den  Jahres- 
zeiten in  Uebereinstimmung  blieb,  also  dem  fixen  Jahre  zu 
365  lU  Tagen,  nur  dass  es  solche  Sprünge  um  ganze  Monate, 
wie  der  griechische  Kalender,  nicht  kannte.  Brugsch  („Ma- 
teriaux")  hat  mit  Recht  betont,  dass  man  die  Nichterwähnung 
«des  Vierteltages  bei  Herodot  gerade  so  beurtheilen  müsse, 
wie  bei  uns,  wo  man  im  gewöhnlichen  Leben  nur  von  365 
Tagen  spricht,  ohne  des  Ueberschusses  zu  erwähnen.  In 
der  Hauptsache:  Uebereinstimmung  mit  den  natürlichen 
Jahreszeiten,  konnte  Herodot  sich  nicht  irren.  Daraus  folgt 
mit  Notwendigkeit,  dass  seine  Bemerkung  sich  auf  ein  fixes 
ägyptisches  Jahr  bezieht,  nicht  auf  das  Wandeljahr;  denn 
dieses  stimmt  meistens  gar  nicht  mit  den  Jahreszeiten  über- 
ein. Auffallend  bleibt  es  immerhin,  dass  der  Altvater  der 
Geschichte   so   ganz    und  gar  das  Wandeljahr  der  Aegypter 


72  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

unerwähnt  lässt ;  allein  es  begreift  sich  dies  sofort,  wenn 
man  bedenkt,  dass  Herodot  nur  mit  Priestern  oder  Herme- 
neuten,  die  zum  Tempelvolke  als  Küster  gehörten,  verkehrte. 
Diese  Klasse  der  Bevölkerung  hatte,  wie  uns  jetzt  die  Denk- 
mäler auf  Schritt  und  Tritt  belehren,  Kenntniss  vom  fixen 
Jahre  eben  so  gut,  als  sie  z.  B.  die  Sextae  der  Mondmonate 
auf  den  Wänden  des  Tempels  von  Edfu  notirte,  die  doch 
zu  dem  bürgerlichen  Jahre  von  365  Tagen  in  keiner  Be- 
ziehung standen. 

Was  bewog  nun  aber  die  ägyptische  Priesterschaft,  un- 
geachtet ihrer  Kenntniss  der  wahren  Jahreslänge,  die  Könige 
auf  Beibehaltung  des  unvollkommneren  Wandeljahres  zu  be- 
eidigen ?  Ich  glaube ,  sie  wurden  zu  diesem  sonderbar 
scheinenden  Verhalten  durch  Rücksichten  auf  die  Chrono- 
logie bewogen:  das  Nebeneinanderbestehen  des  Wandel- 
und  des  fixen  Jahres  ersetzte  ihnen  die  Aera.  Darauf 
deutet  vielleicht  die  vielgeplagte  Stelle  Herodots  II  142,  wo 
er  sagt,  dass  während  11,340  Jahren  die  Sonne  viermal  ig 
fj&ewv  ,,aus  ihrem  gewohnten  Sitze  aufgegangen6)".  Mehrere 
Forscher ,  besonders  Lepsius 7) ,  haben  darauf  hingewiesen, 
dass  die  Zahl  11,340,  die  ohnehin  einen  Rechnungsfehler 
enthält  (statt  11.366)  und  mit  Zugrundelegung  der  345  Ge- 
schlechter (II  143)  statt  der  341,  auf  11,500  gebracht  wer- 
den könnte,  sehr  nahe  an  die  Zahl  11,680  oder  11,688  = 
2X4  (8)  Siriusperioden  zu  je  1460  oder  1461  Jahren  an- 
streift. Jedenfalls  ereignete  sich  während  dieses  Zeitraums 
der  Frühaufgang  des  Sirius  (ägyptisch  Sothis)  viermal,  und 
ich  halte  dafür,  dass  dem  Herodot  eigentlich  von  den  Her- 
meneuten    der   Ausdruck   £x    Sföecov    statt    et;  rj&iwv  über- 

6)  Der  Zusatz  ev&a  rs  vvv  xcczaSvizat,  iv&evzsv  Sig  inavzti2.atr 
xccl  ev&sv  vvv  avazillei,  ivdavza  Scg  xazaSvvcci  ist  eine  miss ver- 
ständliche Epexegese  Herodots,  wie  die  Berechnung  3  yivea  =  ixazdv 
hea  seine  Zuthat  ist. 

7)  Chronologie  der  alten  Aegypter  p.  191  fgg. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  7ä 

liefert  ward.  Denn  Vettius  Valens8)  hat  die  Stelle:  ovx 
aoaoxei  de  tioiv  to  avro  artd  rrjg  xov  2i\&  avarolrig 
Ttenoiijo^at  rrjv  dq%i]v  „Einigen  gefällt  es  gerade  nicht,  dass 
man  den  Anfang  (des  Jahres)  vom  Aufgange  des  Seth(-sternes) 
angesetzt  hatu.  Man  beachte  hier  die  Zusammenstellung 
(cc7to  rrjg  tov)  2r}&  ävccToXrjg  wie  «|  y&scov  avatukai.  So 
gut  man  sagen  konnte:  der  Seth  (Sothis-Stern)  geht  helia- 
kalisch  auf,  ebensowohl  mochte  Jemand  das  Verhältniss 
umkehren  und  behaupten,  die  Sonne  gehe  sothisch  auf,  um 
eben  jenen  Punkt  der  Tetraeteris  zu  bezeichnen,  wo  beide 
zugleich  am  Osthorizonte  erscheinen. 

Hiemit  sind  wir  bei  dem  Cardinalpuncte  meiner  jetzigen 
Untersuchung  angelangt,  nämlich  bei  der  Frage :  Besassen  die 
alten  Aegypter  einen  feststehenden  Massstab  des  fixen  Jahres, 
um  daran  das  bewegliche  Wandeljahr  auf  jedem  Schritte 
seiner  Zurückweichung  sicher  zu  messen?  Mochten  und 
konnten  sie ,  um  mit  Schiller  zu  reden  : 

„Suchen  den  ruhenden  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht?" 
Gelang  es  ihnen,  diesen  Haltpunkt  wirklich  zu  finden? 

Auf  diese  Fragen  ertheilt  das  umfangreichste  Inschrifcen- 
Material  diese  bestimmteste  und  vollständigste  Antwort :  Seit 
den  ältesten  Zeiten,  wenigstens  seit  der  VI.  Dynastie,  beob- 
achteten und  kannten,  die  ägyptischen  Priester  den  Früh- 
aufgang des  hellsten  aller  Fixsterne:  des  Sirius.  Dieser  ist 
so  zum  wahren  Leitsterne  für  die  ägyptische  Chronologie 
und  Historie  geworden.  Der  gelehrte  Jesuite  Petavius  hat8) 
mit  Scharfsinn  und  Glück  durch  astronomische  Rechnung 
dargethan ,  dass  der  Sirius  dreitausend  Jahre ,  also  den 
grössten  Theil  der  altägyptischen  Geschichte  hindurch,  zu 
Aegypten  eine  solche  Stellung  inne  hatte,  dass  sein  Frühauf- 
gang (oder  die  heliakalische  Anatole)  genau  nach  je  4  Jahren 


8)  Salmasius  de  ann.  climact.  p.  113. 

9)  In  seinem  Uranologium  p.  33  sqq. 


74  Sitzung  der  pJiilos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

zu  1461  Tagen  erfolgte,  so  dass  schon  hieraus  die  wahre 
Jahreslänge  zu  365^4  Tagen  geschlossen  werden  musste. 
Hiemit  hat  der  gelehrte  Mann  reichlich  wieder  gut  gemacht, 
was  er  durch  sein  abschätziges  Urtheil  über  Manetho's  Be- 
deutung verschuldet  hat.  Denn  diese  seine  Ermittlung  der 
Position  des  Sirius  ermöglicht  uns  sofort,  die  ägyptische 
Tetraeteris  und  zwar  als  eine  astrale  zu  behaupten.  Zu- 
gleich ergibt  sich  aber  daraus,  dass  diese  astrale  Tetraeteris 
mit  Bezug  auf  das  Wandeljahr  zur  Periode  werden  musste, 
indem  die  1461  Tage  des  vierjährigen  Cyclus  hinsichtlich 
der  Verschiebung  des  Wandeljahres  ebenso  vielen  Jahren 
1461,  entsprechen,  nach  deren  Ablauf  der  erste  Thot  des 
Wandeljahres  wieder  mit  dem  Frühaufgange  des  Sirius  kalen- 
darisch zusammenfiel.  Hiedurch  erhielt  man  eine  Art  astro- 
nomischer Aera,  deren  fester  Punkt  eben  diese  heliakalische 
Anatole  der  Sothis  (Sirius)  war.  Wie  innig  Tetraeteris  und 
Siriusperiode  verbunden  sind,  lehren  ausser  obiger  Theorie 
die  Nachrichten  römischer  und  griechischer  Schriftsteller10), 
welche  ich  der  Reihe  nach,  wenn  auch  nicht  vollständig,  mit 
der  jüngsten  beginnend,  vorführen  muss. 

Theon. 

Dieser  Mathematiker  aus  Alexandria,  welcher  des  Pto- 
lemäus  Almagest  erklärt  und  eine  Mondsfinsterniss  im  Jahre 
1112  der  nabonassarischen  Aera  (seit  747  v.  Chr.  26.  Februar 
=  364  nach  Chr.)  beobachtet  hat,  berichtet  bei  dieser  Ge- 
legenheit, dass  zur  Zeit  des  Menophres n)  die  Epoche 
der  Sothis periode  eintrat,  indem  in  einem  commentirten 
Fragmente  des  Theon  (zum  Almagest)  folgende  ausführlichere 
Notiz  erscheint i  2) : 

10)  Die  ausführlichste  Auskunft  hierüber  bietet  Lepsius':  „Chrono- 
logie der  Aegypter". 

11)  Lepsius :  Chronologie  d.  alten  Aeg.  I  p.  169,  Königsbuch  p.  122. 

12)  IIsqI   Trjg  rov  Kvvog   emroXrje  vnoSeiyjacc.     1Enl   tov  P  exovg 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  75 

„Beispiel  über  den  (heliakalischen)  Aufgang  des  Hundes". 
Im  Jahre  100  des  Diocletianos  nehmen  wir  Beispiels  halber 
in  Betreff  des  Aufganges  des  Hundes,  die  Jahre  vom  (An- 
fange der  Aera  des)  Menophres  bis  zum  Aufhören  (der  Aera) 
des  Augustus:  zusammen  1605  Jahre".  Er  findet  schlüsslich 
den  29.  Epiphi  des  seit  August  fix  gewordenen  alexandri- 
nischen  Jahres  als  den  Tag  des  Siriusfrühaufgangs  für  den 
Parallel  von  Alexandria,  entsprechend  dem  26  Epiphi  für 
den  Normal  -  Parallel  der  Sothis,  nämlich  Heliopolis. 
Diese  Stelle  ist  von  äusserster  Wichtigkeit,  denn  sie  belehrt 
uns  in  authentischer  Weise,  dass  in  Aegypten  vor  der  Aera 
des  Diocletian  284  nach  Christus  (Epoche:  der  29.  August 
des  julianischen  Jahres),  welche  bei  den  Kopten  wegen  der 
Christenverfolgung  allgemein  „Die  Aera  der  Märtyrer"  heisst, 
eine  Aera  des  Augustus  (25  v.  Christus,  Epoche  ebenfalls  der 
29.  August)  bestand,  seit  deren  Einführung  keine  Verschiebung 
mehr  stattfand,  weil  eben  das  alexandrinische  Jahr  durch 
Hinzufügung  eines  sechsten  Epagomen  fixirt  worden  war. 
Aus  der  Analogie  mit  den  Namen  Diocletianus  und  Augustus 
müssen  wir  schliessen,  dass  auch  unter  Menophres  die 
Aera  eines  ägyptischen  Herrschers  mit  diesem  Namen  ge- 
meint sei,  nicht  die  Stadt  Memphis,  wie  der  ausgezeich- 
nete und  um  die  Chronologie  Aegyptens  hochverdiente 
französische  Astronom  Biot  behauptete,  obgleich  die  Form 
Menophres  aus  Mennofer,  wie  Mstupig  inschriftlich  genannt 
wird  (cf.  Unnofer  ==  D'Qvvto(pQig  und  "Opcpig)  sich  ziemlich 
gut  erklären  würde,  wenn  es  auch  auffallen  müsste,  dass 
Theon  nicht  die  jüngste  und  gangbarste  Form  Mepcpig  ge- 
braucht haben  sollte.  —  Die  Varianten  Mevoq)Q7]g  und 
MevwqjQrjg  hindern  aber  auch  (nach  kritischem  Grundsatze), 
hier  mit  Lepsius   eine   Verschreibung  statt  Mevocp&rjg  anzu- 

dioxkr\xiuvov  71€qc  xrjg  xov  Kvvog  emxo'krjg  vno6tiy[iaxog  evexev  bccpßcc- 
vojxey  xd  dno  Mev (o(fQsu)g  eujg  xr^g  "k^evog  Avy ovax ov.  ofxov  zd 
iniovvccyofxsvct  exr\  AXE. 


76  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

nehmen  und  hierin  Meneptah,  den  Sohn  des  Ramses  II 
Sesostris,  den  Pharao  des  Exodus,  zu  erblicken.  Abgesehen 
davon,  dass  wir  in  diesem  Falle  die  Gräcisirung  Mevocp&ag 
haben  würden ,  ist  Mevocpqrjg  eine  acht  ägyptische  Namens- 
form ,  wie  ich  weiterhin  bei  Gelegenheit  des  herodotischen 
Möris  —  MdiQig  zeigen  werde.  —  Rechnet  man  nun  1605 
Jahre  von  284  (nach  Christus)  zurück,  so  erhält  man  das 
Jahr  1322  vor  Christus  als  Epoche  der  Aera  des  Menophres. 
Lepsius ,  der  mit  Andern  1322  ansetzt,  ist  gleichwohl  zu 
gewissenhaft  um  zu  verschweigen,  dass  1322  ein  ägyptisches 
Schaltjahr,  nämlich  das  vierte  Jahr  einer  Tetraeteris  gewesen, 
womit  eine  Aera  füglich  nicht  beginnen  kann.  Es  haben 
daher  Des-Vignoles,  v.  Gumpach  und  P.  J.  Junker  auch  aus 
rechnerischen  Gründen  das  Jahr  1325  v.  Christus  als  die 
Epoche  der  Aera  des  Menophres  aufgestellt,  und  mit  vollem 
Rechte,  obgleich  die  Stelle  des  Censorinus  ähnlich  das  Jahr 
139  (statt  136)  nach  Chr.  als  Beginn  einer  neuen  Sirius- 
periode bezeichnet.  Es  scheint  sonach  System  gewesen  zu 
sein,  dass  man  erst  im  4.  Jahre  der  Tetraeteris,  wo  durch 
Ansammlung  der  vier  Viertel  zu  einem  Tage  die  Verschiebung 
der  beiden  Jahresformen  sich  bemerklich  machte,  den  wahren 
Anfang  der  Aera,  statt  im  ersten,  angesetzt  hat. 

Chalcidius.  * 
Dieser  Philosoph  (315  nach  Chr.)  gedenkt  des  annus 
canicularis  oder  xvvixog  (eviavrog)  ganz  kurz  mit  der  Be- 
merkung 13) ,  dass  der  Sirius  oder  Hundsstern  bei  den 
Aegyptern  Sothis  hiess  und  eine  1460jährige  Periode 
bildete.  Unter  diesem  Ausdrucke  ist  kein  einzelnes  fixes 
Jahr  der  Sothis  zu  verstehen,  sondern  das  grosse  Jahr,  näm- 
lich die  Sothisperiode  zu  1461  Wandeljahren  gemeint. 

13)  Hanc  eandem  stellam  doTQoxvvov  quidam ,  Aegyptii  vero 
coXs%t}v  vocant.  Cujus  completur  annus,  qui  xvvixog  vocatur,  annis 
MCCCCLX. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  77 

Derselbe  Chalcidius  hat  eine  Bemerkung  14),  die  bisher 
keiue  weitere  Beachtung  gefunden  hat,  sich  aber  unzweifel- 
haft auf  die  Sothis  (Sirius,  Hundsstern)  bezieht.  Er  schreibt 
nämlich,  dass  „\he  Propheten  der  Aegypter  ebenfalls  einen 
Stern  verehren ,  den  man  einige  Jahre  nicht  gesehen ,  und 
denselben  Ahc  nennen".  Die  Variante  Ihc  beim  Rigaltius 
legt  die  Vermuthung  nahe,  dass  in  der  griechichen  Quelle 
*!dy.  oder  cYx  gestanden ,  wie  in  der  oft  citirten  Stelle  des 
Manetho  bei  Josephus  über  die  cYx(jc3g,  wo  der  ägyptische 
Geschichtschreiber  dieses  Wort  mit  ßaoäeig  (hyq)  7toijX€veg 
(ujcüc  pastores)  übersetzt ,  aber  zugleich  erklärt  dass  das- 
selbe 'Yx-otog  auch  alx^iaXcoTOvg  Ttoi^evag  bedeute ;  to  yaq 
vy.  TtaXtv  ^lyv7tTiaarl  xal  xb  ax  6aow6(xevov  (,,mit  Spi- 
ritus asper")  alxftafatiTOvg  qrjTtug  (Arjvvei.  So  wie  die  Lateiner 
rhetor  und  nicht  hretor  (qrjtwQ)  umschrieben,  so  setzt  Chal- 
cidius Ahc  oder  Ihc  (Yhc)  statt  Hac  und  Hie  (Hyc).  Die 
monumentalen  Legenden  bringen  uns  beide  Bedeutungen  vor 

Augen:  j^  ]^v'^r5f  haq  »der  Gefangene"  und  j  hyq 
„der  König";  ersteres  ist  m  dem  Kopt.  ohkc  pauper  men- 
dicus  cf.  cattivo  (captivus)  chetif;  hyq  dagegen,  welches 
nach  Manetho  dem  heiligen  Dialekte  angehörte,  ist  im  kopt. 
Lexicon  nicht  mehr  vorhanden.  Beide  Stämme  scheinen  ur- 
sprünglich identisch  zu  sein,  wie  aus  ihrer  gegenseitigen 
Vertretung  erhellt15),  auch  stellen  sie  die  active  und  passive 
Bedeutung  des  nämlichen  Begriffes  dar,  wie  analog  hon  der 
Beherrscher  und  hen  der  Sclave. 

Welcher  Stern  ist  nun  aber  mit  haq  oder  hyq  ge- 
meint? Kein  anderer  als  die  Sothis  (Sirius),  welche  auf 
den  Denkmälern  unzählige  Male  den  Titel  führt  haq't  chabesu 


14)  In  Tim.  ed.  Meurs.  p.  218:  Aegyptiorum  quoque  prophetae 
stellam  quandam  aliquot  annis  non  visam  verentur,  quam  vocant 
Ahc  (Ihc)". 

15)  Brugsch  lex.  p.  924  und  998. 


78  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

tavllj  in  »Führerin  der  Lampensterne"  (der  Decane  in 
der  ägypt.  Sphäre)  oder  kurzweg  haq't  ,,die  Führerin,  Re- 
gentin", wie  so  häufig  im  Tempel  von  Denderah.  Für  ihre 
Verehrung  spricht  nicht  nur  das  beständige  Epitheton 
„göttlich"  oder  Namen  wie  Pe-ti-supd  2co&ldcoQog  (Wien), 
sondern  ausser  andern  16)  die  Stelle  des  Rhindpapyrus  (pl.  XI): 
„Die  Gepriesenen  lassen  deine  Seele  kommen  mit  dem  Orion 
(sahu),  welcher  Osiris  ist,  und  mit  den  Sternen,  welche  folgen 
der  Sothis  (Isis-Hathor)",  sowie  pl.  XIX:  „0  ihr  Planeten, 
o  ihr  Fixsterne,  o  Orion  am  südlichen  Himmel,  o  Stier- 
schenkel (grosser  Bär)  am  nördlichen  Himmel,  o  Sothis, 
Regentin  der  Decane  (a  Sutp,  haq't  n  na  chabesu)".  Also 
war  auch  dieser  Titel  Haq  dem  Gewährsmanne  des  Chal- 
cidius  bekannt  geworden,  offenbar  aus  ägyptischer  Quelle. 

Censorinus. 
Dieser  um  238  n.  Ch.  lebende  römische  Grammatiker 
bringt  uns  über  die  ägypt.  Siriusperiode  einen  Aufschluss 
von  aller  Bestimmtheit,  indem  er  sagt17):  „Der  Anfang 
desjenigen  (grossen)  Jahres  der  Aegypter,  welchen  die  Griechen 
xvvixdg  eviavzog,  die  Lateiner  annus  canicularis  nennen, 
wird  angesetzt,  wann  am  ersten  Tage  des  ägyptischen  Monats 
Thoth  der  Hundsstern  aufgeht;  denn  ihr  Civiljahr  hat  nur 
365  Tage,  ohne  irgend  einen  Schalttag.  Daher  ist  ihr 
Quadriennium  ungefähr  um  einen  Tag  kürzer  als  das  natür- 
liche Quadriennium  und  daher  kommt  es,  dass  es  (erst)  mit 
dem  1461.  Jahre  zu  dem  nämlichen  Anfange  zurückkehrt. 
Dieses  (grosse)  Jahr  wird  von  Einigen  rjliaxög,  von  Andern 
o  &eov  hvictvrog  genannt."  —  „Vom  Beginne  der  Aera  des 
Nabonassar  (747  v.  Chr.)  läuft  jetzt  das  986. ;  vom  Beginne 


16)  Pap.  Leyd.  I,  384;  IX,  6;  XVI,  7. 

17)  Cf.    der    lat.   Text    in  meiner   vorigen  Abhandlung:    „Die 
Schalttage  des  Euergetes  I  und  des  Augustus". 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  79 

der  Aera  des  Philippus  sind  es  562  Jahre  bis  zum  Consulate 
des  Ulpius  und  Pontianus.  Hiebei  wird  immer  vom  1.  Thoth 
an  gerechnet,  welcher  in  diesem  Jahre  mit  dem  25.  Juni  zu- 
sammenfiel, während  er  100  Jahre  früher  unter  dem  (2.) 
Consulate  des  Kaisers  Antoninus  Pius  und  des  Bruttius 
Präsens,  mit  dem  20. 18)  Juli  identisch  war,  zu  welcher 
Zeit  der  Hundsstern  in  Aegypten  aufzugehen  pflegt. 
Daher  kann  man  auch  wissen,  dass  von  jenem  obengenannten 
Grossen  (Sonnen-Sirius-Gottes-)  Jahre  (-scyclus)  gegenwärtig 
das  100.  laufende  begangen  werde".  Dieser  Bericht  lässt 
an  Deutlichkeit  und  Ausführlichkeit  Nichts  zu  wünschen  übrig. 
Wir  erfahren  daraus,  was  schon  die  Theorie  lehrt,  dass  der 
conventionell  für  ganz'  Aegypten  angenommene  Frühaufgang 
der  Sothis  oder  des  Sirius  dem  20.  Juli  des  julianischen 
Kalenders  entspricht  und  dass  99  Jahre  vor  238  also  139 
(n.  Chr.)  diese  heliakalische  Anatole  zugleich  mit  dem  1.  Thoth 
des  ägyptischen  Wandeljahres  zusammenfiel,  dass  folglich 
im  zweiten  Theile  des  Jahres  139  n.  Chr.  eine  neue  Sothis- 
Periode  begonnen  hatte.  Censorinus  sagt  nicht,  zum  wie 
vielten  Male  in  diesem  Jahre  139  der  1.  Thoth  mit  dem 
20.  Juli  coincidirte;  dies  geschah  ja  vier  Jahre  hinterein- 
ander. Aber  die  Theorie  belehrt  uns,  dass  Censorinus,  wie 
Theon ,  das  vierte  Jahr  des  Quadrienniums  annahm,  weil 
erst  in  diesem  oder  am  Schlüsse  desselben  durch  den  Schalt- 
tag die  Differenz  in  der  Länge  und  dem  Anfange  der  beiden 
Jahresformen  sich  bemerklich  machte.  Noch  eine  andere 
Erwägung  führt  zu  demselben  Schlüsse.  Die  Kopten  schal- 
teten, wie  Böckh  (,,Manetho  und  die  Hundssternperiode")  be- 
zeugt, um  ein  Jahr  früher  ein,  als  der  jul.  Kalender;  da 
nun  dieser  das  Jahr  140  unserer  Aera  als  Schaltjahr  auf- 
weist, so  muss  139  ein  Schaltjahr  im  ägyptischen  Kalender 


18)  Es  steht  XII.  Cal.  August,   statt  XIII,  wahrscheinlich  durch 
Veränderung  des  Cal.  in  ifal. 


80  Sitzung  der  pJiilos.-philol  Gasse  vom  4.  Juli  1874. 

gewesen  sein,  also  die  neue  Sothisperiode  136  n.  Chr.  be- 
gonnen haben.  Dass  die  Zeitgenossen  des  Antoninus  Pius, 
welcher  nach  dem  astronomischen  Canon  des  Ptolemäus  im 
J.  885  der  nabonassarischen  Aera,  also  im  J.  138  n.  Chr. 
und  zwar  am  10.  Juli  zur  Regierung  gelangte,  den  Beginn 
der  neuen  Siriusperiode,  die  mit  dem  20.  Juli  136,  also 
noch  unter  Hadrian  factisch  begonnen  hatte,  dennoch  jenen 
mit  diesem  chronologischen  Ereignisse  ausschliesslich  in  Be- 
ziehung setzten,  kann  nach  der  oben  aufgezeigten  zum  Sy- 
steme gewordenen  Methode  nicht  Wunder  nehmen.  Und 
zwar  ist  es  wieder,  wie  zu  erwarten  stand,  das  Jahr  139 
n.  Chr.  Ideler19)  citirt  eine  Stelle  des  Abu  '1  hassan  — 
etc.,  eines  persisch-arabischen  Schriftstellers,  welcher  in  seinen 
tabulae  universales  sagt:  „Die  Aera  des  Bochtenasr.  Es 
ist  dies  Bochtenasr  (Nabonassar)  der  Erste,  einer  der  Könige 
Babylons.  Die  Epoche  der  Aera  ist  ein  Mittwoch.  An  diese 
knüpft  Ptolemäus  die  mittleren  Oerter  der  Planeten,  so- 
wie er  die  Oerter  derFixsterne  auf  den  Anfang 
des  Jahres  886  dieser  Aera,  den  erstenTag  der 
Regierung  des  Abtinus  (Antoninus  Pius)  setzt".  Das 
Jahr  886  der  nabonassar.  Aera  entspricht  aber  unserm 
J.  139  nach  Chr.  wo  Antoninus  die  Regierung  nicht  antrat, 
wo  aber,  wie  wir  schon  wissen  und  hiemit  aufs  Neue  be- 
stätigt sehen ,  von  den  Astronomen  und  Chronologen  jener 
und  der  späteren  Zeit  conventioneil  der  Anfang  der  Sothis- 
periode angesetzt  wurde,  obschon  sie  schon  136  am  20.  Juli 
begonnen  hatte. 

Auch  die  Münzen  des  Antoninus  Pius,  welche  einen 
Stern20)  zeigen,  sind  wohl  auf  diese  Epoche  zu  deuten. 

Hiezu  stimmt  auch  das  Horoscop21)  welches  nach  Er- 
wähnung der  alten  Weisen,  der  Chaldäer,  des  Petosiris  und 

19)  Handbuch  der  Chronologie  II  627. 

20)  Zoega:  Nummi  Mus.  Borg. 

21)  Young:  Hieroglyphics  pl.  52. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  81 

des  Königs  Nexevg  (d.  h.  Nexeipwg,  da  Nexevg  wg  steht), 
des  Hermes,  Asklepios  =  Ipw&rjg  vlog  HecprjOTOv  (sie!)  so 
fortfahrt:  /.ata  tov  do&tvTct  {.wi  xqovov  etzi  La22)  L4vtiü- 
veivov  Kaloaqog  tov  kvqiov  ,  fnqvog  'Adouxvov  tj  y.ard  tov 
'Eklrvcov  (sie),  zara  de  Tovg  AXyvTtTiovg  Tvßl  it]  woag  et 
Trjg  r^eqctg.  Es  verdient  bemerkt  zu  werden,  dass  hier  in 
der  alexandrinischen  Benennung  eines  Monats  mit  dem  Namen 
des  Hadrian  keine  Reminiscenz  an  seinen  Besuch  Aegyptens, 
sondern  eine  Andeutung  liegt,  dass  auch  Hadrian,  so  gut 
als  Antonin,  mit  dem  Beginne  der  neuen  Sothisperiode  wäh- 
rend ihrer  ersten  Tetraeteris  zusammenh«änge. 

Clemens. 
Dieser  gelehrte  Alexandriner  macht  uns  zuerst  mit  der 
Bezeichnung  ,,Sothische Periode"  bekannt,  indem  er  schreibt23): 
„Es  ereignete  sich  der  Exodus  (des  Volkes  Israel)  zur  Zeit 
des  Inachus,  vor  der  Sothischen  Periode,  da  Moses 
dreihundert  fünf  und  vierzig  Jahre  früher  aus  Aegypten  aus- 
gezogen ist."  Der  Ausdruck  „Periode11  ist  etwas  ungenau, 
da  man  vielmehr  „Epoche  der  Periode"  erwartet.  Denn  es 
ist  augenscheinlich,  dass  Clemens,  wie  schon  Flavius  Josephus 
vor  ihm,  den  Exodus  der  Kinder  Israels  mit  der  Vertreib- 
ung der  Hykschös  oder  Hirtenkönige  unter  Amosis,  dem 
Zeitgenossen  des  Inachus  von  Argos,  verwechselt  hat.  Ver- 
liert des  Clemens  Nachricht  hiedurch  auch  allen  Werth  für 
die  praktische  Chronologie  —  Sylburg  bietet  die  lateinische 
Uebersetzung :  Fuit  Hebraeorum  exitus  tempore  Inachi  ante 
Sothiacam  revelationem  (revolutionem)  egresso  ex  Aegypto 
Mose,    anuis    prius    quadringentis  quadraginta  quinque,  also 

22)  Das  erste  Jahr,  nicht  t  das  zehnte,  wie  Brugsch  Materiaux 
p.  17  hat. 

23)  rivhxcu  r\  e'goöog  ■Kaxä^lva/ov;  ngo  trjg  2 (o&iccxrje  txbqio- 
dov,  i€t7>&6vTos  uny  Alyvnxov  MioaEivg  sxeai  ngoxegov  t Qiaxoaiotg 
x €(T aaQuxoyxu  nivxe. 

[1874,  II.  Phil.  bist,  cl.ld  6 


82  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

also  um  100  J.  mehr  —  so  gewährleistet  sie  uns  doch  die 
Thatsache ,  dass  die  Epochen  der  letzten  Siriusperiode 
1322  v.  Chr.  —  139  n.  Chr.  dem  Gewährsmanne  des  Clemens 
und  ihm  selber  festbestimmte  waren,  da  er  sie  zum  Aus- 
gangspunkte einer  chronologischen  Aera  gebraucht.  Fiele, 
wie  Lepsius  annimmt,  der  Exodus  1314  v.  Chr.,  so  würde 
es  höchst  befremdlich  erscheinen,  dass  der  gelehrte  Clemens 
dieses  nahen  Zusammentreffens  mit  der  ihm  wohlbekannten 
Epoche  der  Sothis  1325—1322  v.  Chr.  keinerlei,  wenn  auch 
nur  beiläufige,  Erwähnung  als  Variante  gethan  haben  sollte. 

Tacitus. 

In  der  oft  besprochenen  Stelle24),  wo  der  römische 
Historiker  aus  Anlass  eines  (falschen)  Phönix  unter  Tiberius 
die  Nachrichten  der  Alten  über  diesen  Vogel  und  die  durch 
ihn  symbolisirte  Zeitperiode  summarisch  behandelt,  sagt  er 
unter  Anderem:  „Ueber  die  Zahl  der  Jahre  wird  Verschie- 
denes berichtet;  am  allgemeinsten  ist  die  Zutheilung  eines 
Zeitraumes  von  (3x)  fünfhundert  Jahren.  Einige  behaupten, 
dass  eintausend  vierhundert  ein  und  sechzig  Jahre  (zwischen 
zwei  Erscheinungen  desselben)  verfliessen."  Offenbar  ist 
mit  letzterer  Zahl  die  Sothis  oder  Siriusperiode  gemeint, 
obgleich   die    unmittelbar    darauf    folgenden    Epochenkönige 

Sesostris    Amasis   Ptolemäus  III   sich    nur   auf    die  Phönix- 

i 

periode  beziehen  können. 

In  meiner  vorigen  Abhandlung25)  habe  ich  nachgewiesen, 
dass  die  Verschmelzung  oder  Verwechslung  beider  Perioden 
zunächst  von  der  unter  Augustus  eingeführten  Fixirung  des 
ägyptischen  Jahres   herrührt.     Die    sogleich  zu  behandelnde 


24)  De  numero  annorum  varia  traduntur.  Maxime  vulgatum 
quingentorum  spatium.  Sunt  qui  adseverent,  mille  quadrin- 
gentos  sexaginta  unum  interjici. 

25)  „Die  Schalttage  des  Euergetes  I  und  des  Augustus/' 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  83 

Stelle  des  Manilius  beweist,  dass  die  Kalender-Reform  des 
Ptolemäus  Euergetes  I  schon  früher  eine  adäquate  Amal- 
gamirung  veranlasst  hatte. 

Manilius. 
Von  ihm  erwähnt  Plinius  (H.  N.  X.  2)  die  Stelle26):  Es 
sei  das  Jahr  des  Wendepunktes  (der  grossen  Umwälzung) 
das  (i)  225.  vor  seiner  Zeit  d.  h.  dem  Consulate  des 
P.  Licinius  und  des  Cn.  Cornelius  gewesen.  Da  die  beiden 
in  dieser  Stelle  genannten  Consuln  das  Jahr  97  vor  Chr. 
bezeichnen,  so  ist  des  verstorbenen  Hincks  Vermuthung,  dass 
wie  öfter,  vorher  ein  M  (mille)  ausgefallen  sei,  sehr  an- 
sprechend, da  1225+97  auf  das  Jahr  1322,  das  vierte  der 
ersten  Tetraeteris  des  Sothiskreises  führen,  wie  die  1605 
des  Theon.  Aus  dem  Zusammenhange  ergibt  sich ,  dass 
Manilius  ähnlich,  wie  Tacitus,  die  Sothis  mit  dem  Phönix 
verwechselt  odjr  beide  vielmehr  zusammengeworfen  hat. 

Geminus. 
Dieser  Astronom  aus  Rhodus  (um  64  v.  Chr.)  bringt 
die  beiläufige  Bemerkung27),  dass  das  Fest  der  Isis  in 
Aegypten  in  1460  Jahren  den  ganzen  Kreislauf  der  Jahres- 
zeiten durchwandere.  Die  Aegypter  hätten  ein  Jahr  von 
365  Tagen  oder  von  12  dreissigtägigen  Monaten  nebst  fünf 
überzähligen  Tagen;  den  Vierteltag  oder  den  daraus  in 
Quadriennien  erwachsenden  ganzen  Tag  schalteten  sie  aus 
dem  Grunde  nicht  ein,  damit  die  den  Göttern  darzubringen- 
den Opfer  alle  Jahreszeiten  durchwanderten. 


26)  Fuisse  ejus  conversionis  annum  prodente  se,  P.  Licinio  Cn. 
Cornelio  Coss.  (M)CCXV. 

27)  Isagog.  in  phaen.  Arati:  iv  i'xsai  yccQ  /iXioig  xexqa- 
xoaioig  egijxo  vxa  ccnarray  iogxrjy  SieXd-dv  dei  diu  itaaiöv  xcÜv  xov 
Syiavrov  üüqüöv ,  xcci  ndXiv  dnoxaxaaxa^vai  irzi  xov  avxov  xcclqov 
xov  i'zovg. 

6* 


84  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Man  sieht,  dass  er  von  dem  Wandeljahre  spricht ;  allein 
der  Massstab  oder  Rahmen,  indem  er  die  Bewegung  dieses 
vagen  Civiljahres  sich  vollziehen  lässt,  ist  die  Periode  von 
1460  Sonnenjahren  d.  h.  die  Sothis  oder  Hundssternperiode, 

Dikaearch. 
In  den  Scholien  zu  des  Apollonius  Rhodius  Argonautica 
lesen  wir28),  Dikaearch  (ein  Schüler  des  Aristoteles)  habe 
in  seinem  ersten  Buche  geschrieben,  dass  nach  Horus,  dem 
Sohne  der  Isis  und  des  Osiris,  Sesonchosis  König  gewesen 
sei,  so  dass  (sie!)  von  der  Regierung  des  Sesonchosis  (Se- 
sostris)  bis  auf  die  des  Neilos  2500  Jahre,  von  der 
Regierung  des  Neilos  bis  auf  die  erste  Olympiade  436,  im 
Ganzen  also  2936  Jahre  verflossen  seien".  Hier  interessirt 
uns  nur  der  vorletzte  Posten:  Zählt  man  436  zu  der  ersten 
Olympiade  des  Iphitus,  die  Dikaearch  als  Schüler  des  Ari- 
stoteles, 28  Stellen  vor  der  des  Koroebus  angesetzt  zu 
haben  scheint29),  so  erhält  man  das  Jahr  1322,  wenn  man 
Boyle30)  folgt,  der  778  v.  Chr.  als  Anfang  der  28.  =  1.  Olym- 
piade begründet  hat.  Augenscheinlich  ist  der  ägyptische 
König  Nellog  ein  Epochenkönig.  Dies  beweist  auch  der 
zunächstfolgende  Gewährsmann. 

Eratosthenes. 

Dieser  Chronologe  von  Beruf  war  der  Nachfolger  Ma- 
netho's  an  der  alexandrinischen  Bibliothek.     In  seinem  Later- 


28)  JixaluQxog  6s  iv  ngcorw  fxetu  tov  'OoigiSog  xctl  vIai6og  'Qqov 
ßaailea  epriai  yeyopepai  Ikaoiaxqiv.  ai<JT£  yiyyea&ai  dno  [tev  trjg 
Z€0(o<TZ()i&os  ßaaiXeiag  (A&XQ1  z°v  NfiXov  ettj  ,ß<p\  und  trjg  NsiXov 
ßaailsiag  ^X9l   r*Jf   a'  olv/umadog  i'tij  vk$\    c5g  tiveu  tu  Ttdvta  oftov 

29)  Syncellus  hat  p.  370  die  28.  p.  374  die  H. 

30)  Transactions  of  the  Society  of  Bibl.  Archaeology  vol.  II. 
Part  2  pag.  300. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  85 

-culus  steht  als  vorletzter  der  38  Könige  &qovoqw  rytoi  Nellog. 
Ich  habe  in  meinem  ,.  Manetho"  wahrscheinlich  gefunden, 
dass  dieser  Nellog  ursprünglich  am  Schlüsse  der  Reihe  als 
Epochenkönig  gestanden,  geleitet  durch  die  Wahrnehmung, 
dass  auch  Manetho  am  Schlüsse  seines  zweiten  Bandes  einen 
König  QovwQig  (wohl  (Dovtogig)  und  zwar  als  Epochenkönig 
aufweist.  Auch  Diodor  kennt  an  zwei  Stellen  einen  ägyp- 
tischen König  Nedevg  oder  NelXog  und  erklärt  diesen  Namen 
als  Ehrentitel  wegen  Flusscorrection  und  Canalisirung.  End- 
lich soll  nicht  unerwähnt  bleiben ,  dass  des  Eratosthenes 
berühmter  öiayoctynög  ano  Tqolag  akcoostog*1)  sich  am 
•besten  aus  ägypt.  Wandeljahren  erklärt. 

Manetho. 

Dieser  nationale  ägyptische  Geschichtschreiber,  von  dem 
leider  nur  das  Verzeichniss  der  alten  Dynastien  Aegyptens 
nebst  einigen  Fragmenten  beim  Josephus  erhalten  ist, 
musste  zugleich1  Chronolog  sein.  Spuren  cyclischer  Rechnung 
des  Manetho  fand  schon  Böckh  in  der  Stelle  seines  treuesten 
Auszüglers  Africanus,  wo  dieser  von  „Perioden  und  My- 
riaden von  Jahren  xara  d-eoiv  tlvcc  rdv  Ttag^  avxolg  (xgtqo- 
Xoyovfisvcov  spricht;  hiemit  muss  die  Sothis  oder  Sirius- 
periode angedeutet  sein.  —  Der  falsche  Manetho,  den 
Syncellus  als  Kanon  befolgt,  schrieb  ein  Buch  Ttegi  2(6d-eog 
{sie!)  an  Ptolemäus  Philadelphus  stylisirt,  unter  dem  der 
wahre  Manetho  gelebt,  gewirkt  und  seine  ^4lyv7tTictY,d  v7to- 
livriixaTa  verfasst  hatte  —  offenbar  nur  desshalb,  weil  ein 
achtes  Manethonisches  Buch  mit  diesem  Titel  „über  die 
Sothis"  vorlag,  das  verdrängt  werden  sollte.  Ich  habe  in 
meinem  „Manetho"  nachgewiesen,  dass  in  der  That  alle 
aus  diesem  Originalwerke  abgeleiteten  Quellen  Spuren  cycli- 


31)  A.  Mommsen   in   den  Jahrbüchern   für  classische  Philologie 
1859  p.  376. 


86  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

scher  Berechnung  aufweisen ,  wenn  auch  alle  diese  Sirius- 
perioden falsch  und  folglich  für  die  Geschichte  unbrauchbar 
sind.  —  Die  vielbesprochene  Stelle  des  Syncellus ,  welche 
den  Bruder  Champollions  zur  Aufstellung  einer  irrigen 
ägyptischen  Chronologie  verleitet  hat,  wonach  nämlich  das 
fünfte  Jahr  des  Koy%aqig  (No.  25  der  Sothisliste)  mit  dem 
700.  Jahre  des  bei  Manetho  genannten  Hundsstern  -  Cyclus 
(Kvvwdg  kvkXoq)  zusammenfalle ,  gehört  als  Summe  zu  der 
von  Mrjvqg  =  MeorQätfi  auslaufenden  Reihe  von  25  überall- 
her zusammengestoppelten  Königen  und  kann  durchaus  keinen 
geschichtlichen  Werth  beanspruchen ,  wenn  auch  so  eine 
annähernd  richtige  Zeitrechnung  gewonnen  werden  sollte. 

Her  od  ot. 
Ausser  der  oben  besprochenen  Stelle  II  4,  wo  er  das 
ägypt.  Jahr  wegen  seiner  Uebereinstimmung  mit  den  Jahres- 
zeiten belobt,  berichtet  er  II  13  die  Thatsache,  dass  unter 
dem  Könige  MoIqiq  eine  Ueberschwemmung  des  Nil  von 
wenigstens  8  Ellen  für  Aegypten  unterhalb  Memphis  genügte 
und  knüpft  daran  die  Bemerkung:  yial  Molqi  ovkü)  rv  stea 
elvccKOOia  rereXevrrjKOti,  otb  tcov  iqhov  ravza  iyto  rjxovov. 
Herodot  bereiste  Aegypten  um  450;  er  rechnet  nach  Ge- 
schlechtern zu  33V3  Jahren.  Nimmt  man  nun  450  +  900=  1350 
und  berücksicht  das  ovxaf,  so  kommt  man  ungezwungen  auf 
die  Epoche  der  Siriusperiode  1325  vor  Chr.  und  erinnert 
sich  zugleich,  dass  Molkig ,  ohnehin  gleich  31ev6q>Qr]g,  hier 
als  Epoche  machender  König,  wie  oben  Augustus,  Diocletian 
und  MevccpQtjg  steht ,  so  dass  retelevTrjKoti  das  Ende  der 
Periode  im  Jahre  1325  v.  Chr.  andeutet. 

Die  Aera  des  Augustus. 
Bevor  ich  die  monumentalen  Zeugnisse  für  die  Existenz 
der  Sothisperiode  vorführe,    ist  es  zweckdienlich,  derjenigen 
Einrichtung   des    ägyptischen   Jahres   zu    erwähnen,    die    in 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  87 

Bezug  auf  die  oben  angeführten  Zeugnisse  der  Classiker 
eine  centrale  Stellung  einnimmt:  ich  meine  die  Kalender- 
reform des  Augustus  in  Aegypten,  worüber  die  Ansichten 
noch  nicht  genug  consolidirt  erscheinen.  Denn  einem  her- 
vorragenden Forscher  zufolge  eroberte  dieser  römische  Im- 
perator Alexandria  am  3.  August  des  Jahres  30  v.  Chr.  „Die 
römischen  Pontifices  setzten  aber  dafür  fälschlich  den 
1.  August"  (wohl  aus  Accommodation,  um  dieses  Ereigniss 
mit  dem  Anfange  des  nach  ihm  benannten  Monats  Augustus 
gleichzeitig  erscheinen  zu  lassen).  Dieser  Rechenfehler  um 
2  Tage  hatte  zur  Folge ,  dass  auch  die  dem  Augustus  zu 
Ehren  in  Aegypten  eingeführte  Aera  um  2  Tage  verrückt 
wurde.  Während  nämlich  im  Jahre  der  Eroberung  der 
1.  Thoth  des  ägyptischen  Wandeljahres  auf  den  31.  August 
fiel ,  setzte  man  statt  dessen  den  29.  August" ,  anticipirte 
also  1  —  2  Tetraeteriden32).  Der  29.  August  =  1  Thoth 
entspricht  aber  dem  Jahre  25  vor  Christus,  wie  man 
sich  leicht  überzeugt,  wenn  man  die  vom  .29.  August  bis 
zum  20.  Juli,  dem  Epochentage,  rückläufig  durchwanderten 
40  Tage  des  Wandeljahres  mit  4  multiplicirt  =  160  Jahre 
und  davon  das  Epochenjahr  der  Siriusperiode:  135  n.Chr. 
abzieht  —  es  bleibt  25  v.  Christus33).  Es  ist  sonach  der 
Kalender  des  Augustus,  der  das  Wandeljahr  durch  Hinzu- 
fügung eines  sechsten  Epagomen  zu  einem  fixen  Jahre  von 
365 1/4  Tagen  gestaltete  und  der  von  da  an  auch  bei  den 
christlichen  Kopten  der  übliche  bis  auf  den  heutigen  Tag 
geblieben  ist,  selbst  ein  starker  Zeuge  für  den  ursprünglichen 
Bestand  des  Wandeljahres  neben  der  Siriusperiode  in  Aegypten. 
—  Von  Jul.  Cäsar's  Entlehnung  des  ägyptischen  Jahres 
vermittelst  des  Alexandriners  Sosigenes  habe  ich  bereits 
oben  gehandelt ;  es  braucht  keiner  weiteren  Ausführung,  dass 
der  julianische  Kalender ,    wie  ihn  die  Griechen  und  Russen 

32)  Lepsius:  Königsbuch,  synopt.  Tafeln  p.  10. 

33)  Vergl.  Junker  p.  32.     Lepsius  Königsbuch  p.  124.' 

- 


88  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli   1874. 

noch  fortwährend  beibehalten,  im  Wesentlichen  der  alexan- 
drisch-koptische  ist,  mit  denselben  Vorzügen  und  Unvoll- 
kommenheiten,  welch  letztere  die  Reform  Gregor's  XIII  nöthig 
machten,  weil  die  Ausgleichung  mit  dem  natürlichen  Sonnen- 
jahre alle  400  Jahre  drei  Ausschaltungen  erheischte.  Das 
fixe  ägyptische  Jahr  von  365 1U  Tagen  war  eben  von  An- 
beginn kein  solares,  sondern  ein  astrales  d.  h.  nach  dem 
Siriussterne  (Sothis)  bemessenes,  der  alle  1461  Tage  (1  Te- 
traeteris)  genau  heliakalisch  in  Aegypten  aufging  und  inso- 
ferne  für  dieses  Land  ein  richtiges  Jahr  von  365*/4  Tagen 
ohne  Ausschaltung  bedingte. 

Monumentale  Beweise. 

Das  massenhafte  Inschriften-Material  der  ägyptischen 
Denkmäler  birgt  an  mancher  Stelle  Notizen  über  die  Sothis 
und  ihre  Bedeutung  für  das  Kalenderwesen:  wir  befinden 
uns  jetzt  schon  in  einem  wirklichen  embarras  de  richesses, 
so  dass  es  bloss  darauf  ankommt,  die  geeignete  Auswahl 
zu  treffen.  Hiebei  enthebt  uns  die  im  J.  1866  von  Lepsius 
Reinisch  und  Rösler  entdeckte  Stele  von  Tanis  mit  dem 
Decrete  von  Kanopus,  aller  Verlegenheit,  indem  die  drei- 
sprachige Inschrift  dieses  Monumentes  in  Bezug  auf  die 
Sothis  und  das  Wandeljahr  so  ausführliche,  bestimmte  und 
mit  der  Theorie  übereinstimmende  Angaben  enthält,  dass 
beim  ersten  Bekanntwerden  des  Fundes  der  Gedanke  an 
Fälschung  zu  Gunsten  der  Hypothese  auftauchen  konnte, 
aber  sofort  auch  wieder  schwinden  musste,  als  das  Denkmal 
selbst  publicirt  war.  Hören  wir,  wie  die  ägyptische  Priester- 
schaft (238  v.  Chr.)  sich  ausdrückt: 

Decret  von  Kanopus  (lin.  33  —  47  des  griech.  Textes34). 

„  . . .  Und  sintemalen  allmonatlich  in  den  Tempeln  der 
Götter  Euergeteu  (Ptolemäus  III  und  Berenike  II)  nach  dem 


S4)  Vergl.  meine  Abhandlung:    Die  Schalttage   des  Euergetes  I 
Sitzungsberichte  1874,  2  p.  59. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  89 

früher  abgefassten  Decrete  der  5.,  9.  und  25.  (Tag)  gefeiert, 
den  übrigen  höchsten  Göttern  aber  alljährlich  (auch)  öffent- 
liche Feste  und  Panegyrien  abgehalten  werden,  so  soll  all- 
jährlich eine  öffentliche  Panegyrie  sowohl  in  den  Tempeln 
als  im  ganzen  Lande  gefeiert  werden  zu  Ehren  des  Königes 
Ptolemäus  und  der  Königin  Berenike,  der  Götter  Euergeten, 
(und  zwar)  an  dem  Tage,  an  welchem  der  Stern  der 
Isis  (-Sothis  heliakalisch),  aufgeht,  welcher  (Tag)  in 
allen  heiligen  Schriften  als  Neujahr(stag)  gilt, 
gegenwärtig  aber,  im  9.  Jahre  (der  Regierung  des 
Königs)  am  1.  des  Monats  Payni  festlich  began- 
gen wird,  in  welchem  (Monate)  auch  die  kleinen  Bubastien 
und  die  grossen  Bubastien  gefeiert  werden  und  die  Ein- 
bringung der  Früchte  so  wie  das  Steigen  des  Flusses 
geschieht.  Es  soll  nun,  auch  wenn  der  Aufgang  des  (Sothis-) 
Sternes  alle  vier  Jahre  auf  einen  andern  (Kalender-)  Tag 
übergehen  würde,  (dennoch)  die  Panegyrie  nicht  verlegt 
sondern  (fort  und  fort)  am  1.  Payni  gefeiert  werden,  an 
welchem  sie  auch  ursprünglich  im  9.  Jahre  begangen  wurde. 
Sie  soll  fünf  Tage  hindurch  mit  Tragen  von  Kränzen, 
Opfern  und  Spenden  und  was  sonst  dazu  gehört,  gefeiert 
werden." 

„Damit  aber  auch  die  Jahreszeiten  fortwährend  nach 
der  jetzigen  Ordnung  des  Kosmos  ihren  Dienst  verrichten 
und  es  nicht  vorkomme,  dass  man  einige  der  öffentlichen  Feste 
welche  im  Winter  gefeiert  werden,  einstmals  im  Sommer  begehe, 
indem  der  Stern  (der  Isis:  Sothis)  alle  vier  Jahre  um  einen 
Tag  weiterschreitet,  —  dass  man  dagegen  andere  Feste, 
die  im  Sommer  gefeiert  werden,  in  späteren  Zeiten  im  Winter 
celebrire,  wie  diess  sowohl  früher  geschah,  als  auch  jetzt 
(im  9.  Jahre)  wieder  geschehen  würde,  wenn  die 
Zusammensetzung  des  Jahres  aus  den  360  Tagen  und  den 
später  üblich  gewordenen  fünf  Zusatztagen  (Epagomenen) 
bleiben   sollte  — :    so    soll   von   nun    an   ein  Tag  als 


90  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Gasse  vom  4.  Juli  1874. 

Fest  der  Götter  Euergeten  alle  vier  Jahre  hin- 
ter den  fünf  (Epagomenen-)  Tagen  und  vor  dem 
Neujahrs(tage)  hinzugefügt  werden,  damit  Jeder- 
mann wisse,  dass  das,  was  früher  in  Bezug  auf  die  Ein- 
richtung der  Jahreszeiten  und  des  Jahres,  sowie  das  hin- 
sichtlich der  gesammten  Himmels-(Pols-)Ordnung  Uebliche 
mangelte,  (jetzt)  glücklich  berichtigt  und  ergänzt  worden 
ist  durch  die  Götter  Euergeten." 

Man  glaubt  nicht  den  sprüchwörtlichen  Lapidarstyl, 
sondern  die  Exegese  von  Gelehrten  zu  hören,  so  ausführlich 
und  bestimmt  haben  sich  die  Priester  in  ihrem  Decrete  von 
Kanopus  ausgesprochen.  Lepsius,  der  diesen  Text  mit  be- 
kannter Umsicht  und  Klarheit  in  seiner  Ausgabe  eingeleitet 
hat,  findet  nur  den  einzigen  Punkt  anstössig,  dass  der 
1.  Payni  als  Datum  steht,  während  die  Theorie  den  2.  Payni 
fordert.  Die  Rechnung  ist  leicht  gemacht:  der  Sirius  ging 
heliakalisch  auf  am  1.  Payni  während  des  Quadrienniums 
245  —  242  vor  Christus;  das  9.  Jahr  (und  zwar  der  1.  Payni) 
des  Euergetes  fiel  aber  nach  dem  astronomischen  Kanon  in 
das  J.  288  v.  Christus:  folglich  muss  das  Quadriennium 
241  —  238  und  der  ihm  entsprechende  2.  Payni  als  das  be- 
absichtigte Datum  des  Denkmals  angesetzt  werden.  Dieser 
Sinn  liegt  auch  wirklich  in  der  Stelle  (KaSaneq)  xal  vvv 
av  iylveto  ,,wie  es  auch  jetzt  wieder  geschehen  würde", 
wenn  man  aus  dem  Vorausgehenden  den  allgemeinen  Ge- 
danken des  nETaßaiveiv  als  massgebend  ansieht.  Alsdann 
will  das  Decret  besagen: 

„Jetzt,  im  9.  Jahre  des  Euergetes  würde,  ohne  die 
Einschaltung  des  sechsten  Epagomens,  der  Siriusaufgang  und 
das  daran  geknüpfte  Neujahrsfest  auf  den  2.  Payni  über- 
gehen ([.lezccßatveiv) ;  es  soll  aber  auf  den  1.  Payni  fixirt 
bleiben!"  Warum  man  gerade  den  ersten  Tag  des  Monats 
Payni  zur  Epoche  haben  wollte,  ist  ziemlich  durchsichtig; 
es   ist   eben    der   Anfang   eines    neuen    Monats.      Dass    man 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  9.1, 

auch  sonst  solche  Epochen  oder  Coincidenzen  des  Sothis- 
frühaufgangs  mit  Monats-Ersten  des  Wandeljahres  besonders 
hervorhob,  gedenke  ich  anderwärts  nachzuweisen.  Das  Decret 
selbst  ist  vom  17.  Tybi  =  7.  März  datirt,  während  der  sechste 
zu  Ehren  der  Euergeten  eingeführte  Epagomen  dieses  Jahres 
dem  22.  Oktober  entspricht.  —  Das  Decret  von  Kanopus 
bietet  das  erste  unanfechtbare  Beispiel,  mittelst  des  Sothis- 
aufgangs  an  einem  bestimmten  Tage  des  Wandeljahres  ein 
Datum  in  absoluter  Weise  unmittelbar  zu  bestimmen. 

Ptolemäus  Euergetes  sowenig  als  nach  ihm  Augustus 
leisteten  oder  achteten  den  Eid  auf  die  Beibehaltung  des 
Wandeljahres  im  bürgerlichen  Kalender.  Während  aber 
des  Augustus  Reform  einen  bis  heute  dauernden  Bestand 
haben  sollte,  verschwand  —  wir  wissen  jetzt  aus  den  Wiener 
Grabstelen  des  Anemho,  Teho,  Harmachu,  dass  es  mit 
Philopator's  Thronbesteigung  geschah  —  des  Euergetes 
Werk  mit  seinem  Urheber  nach  kurzer  Zeit  und  nur 
6  maliger  Anwendung  des  sechsten  Epagomens.  Um  so  merk- 
würdiger muss  uns  diese  Verdrängung  der  Reform  und  die 
Wiedereinführung  des  Wandeljahres  erscheinen  — -  die  übrigens 
in  neuester  Zeit  an  der  zwangsweisen  Einführung  des  russi- 
schen unvollkommenen  Kalenders  in  Polen  statt  des  besseren 
gregorianischen  ihr  Analogon  hat  —  als  der  Text  des  De- 
cretes  von  Kanopus  (lin.  36)  ausdrücklich  besagt,  dass  der 
heliakalische  Frühaufgang  des  Sirius  (2tod-ig,  %o  aoxqov  %d 
%\g  'lowg)  in  den  heiligen  Schriften  (Sia  tcov  leotov  yqafx- 
fiarojv)  als  Neujahi(stag)  üblich  war  (vo^erai  veov  ezog 
Eivat)  und  als  solcher  wirklich  gefeiert  wurde  (ayerai  de). 
Es  war  schou  lange  die  Ueberzeugung  vieler  Chronologen, 
dass  das  Siriusjahr  von  Alters  her  gebräuchlich,  d.  h.  wenig- 
stens zu  wissenschaftlichen  Zwecken  verwendet  war.  Jetzt 
haben    die    Aegyptologeu    durch    die    termini    technici     der 

Tanitica:   <i=>  |A    *  per  nuter   Supd    ,,  Aufgang    der    gött- 


92  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

liehen  Sothis"  (deinot.  /\*~  J)  |  supd  nuter  und  pe  siu  Ise 
=  to  aozQOv  to  rrjg  0'laLog  iTtw&Jkzi)  den  authentischen  Be- 
weis in  Händen,  dass  dieser  Frühaufgang  schon  in  viel 
früherer  Zeit  auf  weit  älteren  Denkmälern  notirt,  also  das 
Siriusjahr  so  früh  bekannt  gewesen  ist. 

Der  Hathor-Tempel  von  Denderah. 

In  meinem  Buche  ,,les  zodiaques  de  Denderah"  habe 
ich  den  Nachweis  geliefert,  dass  der  reetanguläre  Thierkreis 
ein  Gedenkkalender  für  den  17.  November,  Geburtstag  des 
Kaisers  Tiberius  und  zwar  vom  Jahre  34  n.  Chr.  ist,  wäh- 
rend das  Rundbild  auf  den  1.  September  des  Jahres  36  vor 
Chr.  geht,  wo  Kleopatra  VI  sich  als  &ea  vewz£Qa  *Ioig  ver- 
göttern Hess,  woher  es  kommt,  was  auch  die  Schriftsteller 
erwähnen  und  mehrere  Münzen  mit  Doppeldaten  darthun, 
dass  sie  dieses  ihr  16.  Regierungsjahr  (ihr  Vorgänger  starb 
51)  zugleich  als  ihr  1.  zählte. 

Auf  den  beiden  Thierkreisen  von  Denderah  figurirt  die 
Isis-Sothis  als  eine  Kuh  mit  Stern  zwischen  den  Hörnern, 
unmittelbar  nach  Osiris- Orion,  dem  Repräsentanten  der 
5  Epagomenen  und  dicht  am  Symbole  des  1.  Thoth  oder 
Jahresanfangs.  Diese  Kuh ,  welche  gleich  allen  andern 
Sternsyinbolen  in  einem  Kahne  den  Himmel  befahrend  dar- 
gestellt ist,  erinnert  sofort  an  die  ägyptische  Venus:  Hathor, 
die  Hauptgöttin  von  Denderah  und  beweist  mit  einem 
Schlage,  dass  beide  Göttinen  identifizirt  wurden.  Es  liegen 
uns  jetzt  zwei  grosse  Publicationen  vor,  aus  deren  zahlreichen 
Blättern  wir  auf  Schritt  und  Tritt  die  Gleichheit  von  Isis- 
(Sothis)-Hathor  ohne  irgend  welche  gewagte  Schlüsse,  un- 
mittelbar und  unwidersprechlich  erweisen  könen:  Mariette's 
„Denderah"  und  Dümichen's  „Kalender-Inschriften".  Der 
zuletzt  genannte  Gelehrte  hat  zugleich  in  seiner  „Bauurkunde 
von  Denderah",  durch  Entdeckung  eines  geheimen  Corridor's 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  93 

die  werthvolle  Legende  gefunden ,  wonach  die  Urgründung 
des  Hathortempels  von  Denderah  nicht  in  die  verhältniss- 
mässig  junge  Zeit  der  Römer  (XXXIII.)  und  Ptolemäer 
(XXXII.) ,  sondern  weit  höher  hinauf  in  die  Zeiten  des 
Thutmosis  III  (XVII),  Amenemha  I  (XII.),  Phiops  (VI.), 
Cheops  (IV.),  ja  sogar  in  die  Urzeit  der  vorhistorischen 
„Horus-Verehrer"  zu  setzen  ist.  Hiemit  erhalten  wir  eine 
mehr  als  ausreichende  Entschädigung  für  die  Enttäuschung 
über  das  Alter  der  beiden  Thierkieise,  denen  man  übrigens 
bis  auf  Champollion  nur  auf  der  unsoliden  Basis  der  Ver- 
muthung  genaht  war.  Ich  hoffe,  wenn  hier  auch  nur  kurz 
und  andeutungsweise,  den  Beweis  zu  führen  für  die  jetzt 
noch  nirgends  aufgestellte  Behauptung,  dass  der  Tempel 
von  Denderah  in  erster  Linie  ein  astronomisch- 
chronologisches Denkmal  ist;  dass  dieMmmer 
und  immer  bis  zur  Ermüdung  wiederholten  Le- 
genden der  Isis-S  othis-Hath  or  hauptsächlich 
dem  Siriusjahre  und  der  Soth  isp  eriode  gelten, 
und  dass  daraus  die  innige  Beziehung  zwischen  Denderah 
und  Edfu  sich  endgültig  erklärt.  Denn  in  Edfu  (Apollino- 
polis  magna)  wurde,  wie  schon  die  griechische  Ortsbenenuung 
darthut,  der  ägyptische  Sonnengott :  H  o  r  u  s  verehrt.  Daher 
die  inschriftlieh  so  oft  erwähnten  Processionen  von  Edfu 
nach  Denderah  und  umgekehrt;  denn  die  gleichzeitige  Er- 
scheinung des  Hör us  und  der  Sothis  am  Osthorizonte 
verkündigte  das  neue  Jahr.  Und  nicht  nur  dieses.  Die 
Fruchtbarkeit  Aegyptens,  das  Wohl  (und  Wehe)  seiner  Ein- 
wohner ist  vom  Steigen  und  Ueberfluthen  des  Nils  ab- 
hängig. Da  nun  der  heliakalische  Frühaufgang  des  Sirius 
mit  dem  Uebertreten  des  Flusses  aus  seinen  Ufern  (nicht 
mit  seiner  Schwellung,  die  vom  Sommersolstitium  abhängt) 
gleichzeitig  erfolgte,  so  mussten  die  ägyptischen  Gelehrten 
schon  aus  Rücksieht  für  die  Bedürfnisse  des  Landbaues  einen 
Sothis-Kalender  herstellen.     Es  ist  daher  nicht  zufällig,   dass 


94  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

in  unzähligen  Legenden  zu  Denderah  der  vielnamige  Nil  j 
mit  seinen  Abzweigungen  und  Canälen  in  steter  und  engster  | 
Verbindung  mit  dem  Sirius  erscheint  und  dass  die  ägyp-  1 
tischen  Schreiber  in  ihrer  wortspielenden  ^Veise^  den  Ursprung-  I 
liehen  Namen  Supd  allmählig  in  suti  abschwächten  (wie  I 
seb  „Stern4'  in  siu)    um    mit  seh  ~^\  o°°0^ au sgi essen  c^ 

projici    (coiTq  effundere)  ein  Wortspiel   zu    bilden    z.  B.  i| 
dem  Satze : 

,<_!,    (ca^-,  coTe  sagitta)  |^  ^ 


i 


seil  Hapi  m  ran  t  pui  n  nuter  Soti 

:   I    .  ■  .  '  M     i  '.  II        ■-■(':       Jim-       U 

nGiesse  du  den  Nil  aus  in  diesem  deinem  Namen  als  göttliche 
Sothis".  Daher  trifft  man  statt  der  Hieroglyphe  k  supd 
so  häufig  '  die  schräg  stehende  Spitze  \>,  weil  diese1  an'  ^ 
sat  cm,  cht  cauda  erinnert.  Auf  diese  Art  erklären  sich 
die  Gräcisirungen  2to&ig  und  2^-9-  (Vettius  Valens) ;  das 
(Kircher'sche?)  coo5C  cicoe-  cko^  ^iccrt  canis,   canicula 

l     ^i     i  v  ■   i     .   ■■  * 

scheint  eine,  aus  2co&ig  nachträglich  gebildete  Form  zu  sein. 
Dagegen  hat  cpXeR^  canicula  den  Anstrich,  eine  acht 
ägyptische  Benennung  des  Hundssternes  zu  sein ,  da  bei 
Chalcidius  (in  Jim.)  sich  die  Stelle  findet:, cum  hanc  eandera 
stellam  aorQOxyva  quidam  ,  ,  Aegyptii  vero  aoleyiqv  (  ypeent. 
Vergleicht  man  damit  cqtüot  Stella  Veneris,  cirXeiujoii 
Stella  terrae,  die  offenbar /mit  cov  Stella,, componirt  sind, 
so  lässt  sich  auch  oo— Xe%rj  zerlegen  und  auf  die  in  Den- 
derah  häufige   Legende    der    tentyritischen  ,  Sothis    (Hathor- 

Isis :   <='°I?)   Var.  <j?g3~    recht    oder  lechzt  ..die  wissen- 

schaft liehe"  deuten,  so  dass  2olexrj  eine  Art  „Stern  der 
Weisen"  wäre. 

Nach    Vorausschickung  dieser  Bemerkungen    wird    man 

leichter  verstehen,  was  mit  folgenden  Legenden  in  Denderah 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  95 

ausgedrückt  werden  sollte.     Die  überall  daselbst  gefeierte  Isis 

heisst:  „Die  am  Osthimmel  aufgehende  „/$\F=a    W        " 

die  Grosse  (hauptsächliche)  in  An't  (Denderah),  die  Regentin 
(haq't)    beider   Welten;     die    horizontige    des    Firmaments 

cQd^\ 4,  die   östliche;    Hathor   die  grosse,    die   Herrin 


von  Ant,  Gebieterin  des  Himmels,  Tochter  des  Sonnengottes, 
die  goldene  (xqvotJ  IdtcpQodkr])  unveränderlich  in  ihrer  Jugend- 
lichkeit  ,^=^        jS)  I;    die    weibliche    Sonne,    die    schwarz- 

f      I    a    «<2>- 

haarige,    rothäugige,      V  3§<<H>.i    die  Herrin    der  Liebe 

(Ueberschwemmung  ?)  t=t,  welche  dem  Sonnengotte  Freude 
erregt".    Unter  ihren  Priestern  befinden  sich  „Stundenmänner 

in  ihren  Monaten"  lo^il^m  O^ö  III*  Es  ist  verboten 
„die  Satzungen  Ihrer  Majestät  zu  übertreten,  die  Einricht- 
ungen der  Vorfahren  zu  brechen".  „Tretet  ein  gereinigt, 
tretet  aus  gesäubert,  nicht  sprechet  laut."  Ein  ander  Mal 
werden  die  Priester  aller  Rangordnungen  aufgefordert : 
„Richtet  euer  Angesicht  gen  Himmel,  zur  Herrin  des  Him- 
mels; verehret  Ihre  Majestät:  die  Sothis,  an  demselben, 
eure  Umfaugerin,  das  (reiche)  Leben  eures  Sohnes  und  eurer 
Tochter  nach  euch;  übet  euch  in  den  Vorschriften  der 
Tempelrollen,  betrachtet  die  alten  Schriften;  nicht  irret  in 
ihrem  Tage,  nicht  übertretet  ihre  Summe" : 

Atk  6k  „Jl  ®  i  <=>^^_Jp^  önn^A    ^^r^AC  /^>^  oo 


96  Sitzung  der  phüos.-philol.  Glasse  vom  4.  Juli  1874. 

Diese  Texte,  welche  sich  leicht  in's  Unendliche  ver- 
mehren Hessen,  lehren  unwidersprechlich,  dass  die  Aegypter 
unter  Isis-Hathor-Sothis  einen  Stern  des  Himmels  bezeich- 
neten, dessen  Aufgang  am  östlichen  Horizonte  für  sie  ganz 
besonders  wichtig  war.  Diesen  fleissig  zu  beobachten  ge- % 
hörte  unter  die  Obliegenheiten  einer  Priesterciasse  und  zwar 
von  Alters  her.  Wenn  dieser  Stern  zugleich  „reiches  Leben 
der  Nachkommen"  genannt  wird,  so  bezieht  sich  dieser  Aus- 
druck auf  die  seit  Urbeginn  wahrgenommene  und  darum  auch 
für  die  Zukunft  erschlossene  Nilüberschwemmung ,  welche 
stets  an  den  Frühaufgang  der  Sothis  geknüpft  erschien. 
Aeusserlich  wurde  dieses  Verhältniss  z.  B.  in  Denderah  da- 
durch angedeutet,  dass  die  astronomischen  Darstellungen  die 
sich  um  die  Sothis  gruppiren,  an  dem  Plafond  angebracht 
wurden,  während  die  geographischen  Abtheilungen  mit  den 
unzähligen  Nillegenden  die  unteren  Partieen  der  Seitenwände 
einnahmen.  Aus  dem  unerschöpflichen  Materiale  will  ich 
nur  einige  bedeutsamere  Texte  auswählen: 

Diese  Göttin  ,, verursacht,  dass  austritt  der  Hoch-Nil  zu 
seiner  Zeit  alljährlich  on0p  Y-Pl<=:^>n  q  i»r?>>"  s*e  ^rt 
den  Nil  herbei  aus  den  beiden  Quelllöchern  (von  Elephan- 
tine)  bis  zum  Mittelmeere  1 1  .-^  ^  ^~°-=-  ^f\  X 


„Der  Himmel  ist  in  Festfeier,  die  Erde  ergrünt,  Menschen 
und  Götter,  jubeln,  sobald  sie  die  Goldene  aufgehen  sehen, 
die  prächtige,  schöne,  welche  leuchtet  am  Himmel  in  der  Nacht". 


Dazu  gehört  ein  Paralleltext,  der  sich  auf  den  Horus 
von  Edfu  bezieht  „den  Erzeuger  des  Lichtes,  welcher  an 
ihrer    Seite    erglänzt   und    sich    niemals    von    ihr    entfernt." 


<=>  © 


|ßjfäz===l^ju.  T^V°^V  Sie heisst„Gehülfin  ihres 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  97 

Vaters  Ra  (des  Sonnengottes),  hervorgegangen  aus  seinem 
Wesen,  welche  früh  entstand  mit  ihrem  Vater :  dem  Abyssus 
(Nil-Oceanus) ,  als  noch  die  Welt  im  Dunkeln  lag  —  die 
uranfängliche,  mit  deren  Existenz  die  Welt  begann.  Sie  er- 
scheint am  östlichen  Horizonte  zugleich  mit  ihrem  Vater  Ra." 

■TC5=:sOTS>tK-*-:2Sft59 
PSKSÄS  -  *ıTS8S*-- »-  » J»  '•"■• 

lische  Aufgang  der  Sothis. 

Weil  der  Aufgang  der  Sothis  und  die  damit  zusammen- 
hängende Nilüberschwein mung  die  Fruchtbarkeit  des  Landes 
bedingt,  so  heisst  sie  ,,Bepflanzerin  des  Bodens,  erfüllend 
die  Tempel  mit  ihren  Gütern;  sie  ist  die  Herrin  der  Fluth, 
die  Herrin  des  Brodes  und  Bereiterin  des  Bieres,  bei  deren 
Erblickung  alle  Menschen  sich  sättigen;  alle  Wesen  leben 
bei  ihrem  Aufgange,  der  göttlichen  Sothis,  der  Grossen." 
„Sie    versorgt    das    ausgedürrte  Land  mit  frischem  (jungem, 


^l'^lk^  ^  1^^-    Diese  Texte  beziehen  sich 

zwar  auf  den  alljährlichen  Frühaufgang  der  Sothis.  Aber 
wie  oft  erscheint  diese  Göttin  als  „Sothis,  die  grosse,  die 
Herrin   des  Jahresanfanges,    die    den    Nil    ausgiesst 

um   zu   beleben    (zu   sättigen)   die  Blumen :  ~     -j  .    | 

~^~  f^   I^Pij^^11'     Auch  die  SeDauere  Angabe    der 
[1874,11.  Phil.hist.  CLL]  7 


98  j        ^Sitzung  der  philos^philol  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Zeit  in  welcher  die  Sothis  mit  ihrem  Vater  Ra  (heliakalisch) 
erscheint,  fehlt  nicht;  denn  es  heisst  von  ihr  „sie  ist  ge- 
boren  („zur  Erde  gethan")   an   dem  Tage   der  Nacht  „das 

*   #  S)     ^^.  Da  nun  letzteres 

die  Benennung  des  5.  Epagomens  ist  (Pap.  Leydens.  I  346 
III  2  u.  8),  so  liegt  hierin  eine  Andeutung,  dass  ihr  Regiment 
unmitelbar  an  die  Nacht  des  fünften  Zusatztages  sich  an- 
schloss,  wie  ja  auch  einige  Klassiker35)  von  einem  Jahresan- 
fänge um  die  11.  Stunde  der  Nacht,  also  5  Uhr  Morgens, 
zu  berichten  wissen.  Die  Epoche  ward  festlich  begangen 
„an   dem  Tage  des    Neujahrsfestes,    wo  sie  sich   gesellt  zu 

den  Strahlen  ihres  Vaters  (Ra)  am  Horizonte     j  \f  ^=^  "T 

IP1/^II-X:^Ä],'C    An  diesem  Tage  wurde  das  Bild 

der  Göttin  Sothis  durch  die  Seitentreppe  auf  das  Dach  des 
Tempels  (früh  Morgens)  durch  die  Priester  in  Procession 
getragen,  um  die  himmlische  Conjunction  der  beiden  „Lichter" 
(Sonne  und  Sothis)  nachzuahmen.  Denn  auf  dem  Plane  des 
Tempels  selbst  lautet  die  Treppeninschrift:  „es  ist  ihr  Haus 
in  Freude  an  ihrem  schönen  Neujahrsfeste,  sowie  an  den 
periodischen  Feiern  (aoipHTe).  Niedergesetzt  wird  sie  (ihr 
Bild)  in  ihren  Naos  an  ihrem  schönen  Feste,  wo  sie  ihren 
Vater  sieht.  Es  vereinigt  sich  der  Himmel  mit  der  Erde, 
es  verbindet  sich  der  Westen  mit  dem  Osten  im  Anfange 
des  Jahres,  im  ersten  Monat  der  Ueberschwemmungsjahres- 

zeit  (Thoth)  p^{^|LH.u  Im  Festkalender  selbst  figurirt  der 

erste  Thoth  |J^M  als  Tag  des  Sonnen-Sothisfestes.  Aus 
dieser   Stellung   der   Sothis   im  Anfange   der    beiden  Jahre, 


35)  Yergl.  Lepsius  Chronologie  p.  154  fg.  Phaenn.  y  rov  Kvvos 
inirokri  xcctcc  iv& Exdrriv  wqccv  (paivtxca  xccl  xavtrp  ccqx^v  etovs 
tl&evxca,  xccl  trjg  "Iaidos  teQov  elrcu  top  Kvpcc  Xeyovai. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  99 

des  fixen  und  des  vagen,  zur  Zeit  der"  Periodenerneuerung, 
erklärt  sich  auch,  wie  sie  ,,die  Herrin  der  730  (2x365  Tage)'4 

genannt  werden  kann;  das  Doppeljahr  selbst  wird  durch   j  |  ^ 

renpe-renpe  oder  den  zweimaligen  Geier  mit  Sonnenscheibe 
bezeichnet,  das  einzelne  Jahr  durch  einen  Geier,  wie  ich 
nach  Anleitung  von  Horapollons  yvxp  =  eviavrdg  schon  in 
meinen  Zodiaques  de  Denderah  vermuthet  hatte. 

Fügt  man  zu  obigen  Legenden,  die  passim  vorkommen, 
den  so  häufigen  Titel  haq't  chabesu  ,, Führerin  der  Decane: 

I  c\IJ  in"  ^en  *c^  °^en  ^  Gelegenheit  der  Nachricht 
des  Chalcidius  über  den  bei  den  Aegyptern  hochverehrten 
Stern  Ahc  besprochen  habe,  so  gewinnt  man  hieraus  schon 
die  Ueberzeugung,  dass  die  Sothis  durch  ihren  Frühaufgang 
wirklich  das  für  Aegypten  natürliche  Jahr  von  365  */*  Tagen, 
die  Tetraeteris,  die  Periode  von  1461  Wandeljahren,  sowie 
eine  Art  himmlischer  Aera  begründet,  an  welcher  das  be- 
wegliche Jahr  jeden  Augenblick  gemessen  werden  konnte. 
In  dieser  Beziehung  ist  eine  Stelle86)  besonders  wichtig: 

tfUe^ml^örlP  hesehut  renpetu  m  nun  s 
,,es  werden  berechnet  die  Jahre  nach  ihrem  Frühaufgange", 
wobei  noch  zu  bemerken  ist,   dass     jft  auch  der  Name  der 
ersten  Tagesstunde  war. 

Sind  hienach  die  monumentalen  Angaben  im  schönsten 
Einklänge  mit  den  Forderungen  der  Theorie,  so  wird  auch 
die  weitere  Notiz  (Plinius)  dass  der  Beginn  der  Siriusperiode 
mit  dem  Neumonde  zusammentreffen  musste  —  lunis 
coeptantibus ,  was  H.  v.  Gumpach  auch  astronomisch  be- 
gründet hat  —  durch  mehrere  Stellen  erhärtet.  I  24  des 
eben  citirten  Werkes  von  Mariette  steht :  „Hathor  die  grosse, 


36)  Mariette  Denderah  I  19  g. 

7* 


100  Sitzung  der  phüos.-philol.  Otasse  vom  4.  Juli  1874. 

die  Herrin   von  Denderah,    das   Auge    (der    Augapfel)   des 


c=>  /wvw\ 


Sonnengottes,  die  Grosse  der  Neomenie    -^^  e    ^    ", 
wozu     I  25,   12     die     Variante    „Herrin     der    Neomenie" 


-^370' 


\-3Ji Iiefert- 


Bekanntlich  entsteht  durch  Combination  der  Apis- 
periode, die  stets  mit  dem  Neumonde  beginnen  musste, 
und  der  Siriusperiode,  für  welche  diese  Förderung  ebenfalls 
feststeht,  die  grosse  Periode  von  25x1461  oder  36,525  Jahren. 
Der  Syncellus  (196/97  Dindorf)  gedenkt  dieser  grossen  Periode 
und  bemerkt,  dass  Claudius  Ptolemäus  seine  TtQO^eiqovg  xavovag 
in  25  jährigen  Cyclen  durchführte;  da  aber  25  in  1461  nicht 
ohne  Rest  aufgehe  (1461  :  25  Quotient  58,  Rest  11)  so  habe 
er  zu  1461  noch  15  (statt  14)  hinzugesetzt,  also  1476  mit 
einer  überschüssigen  Monade  gerechnet,  weil  dem  ersten 
Jahre  (des  neuen  oder  zweiten  Cyclus)  mehrere  Bewegungen 
innewohnten. 

Die  Inschriften  des  Tempels  von  Denderah  sind  für  die 
ägyptische  Zeitrechnung  überhaupt  und  für  die  Siriusperiode 
insbesondere,  wie  man  sich  aus  meinen  kurzgedrängten  Aus- 
zügen schon  überzeugt  haben  wird,  von  der  grössten  Wich- 
tigkeit. Trotz  dieser  für  unsere  Frage  centralen  Bedeutung 
Denderahs  passt  jedoch  der  Frühaufgang  des  Sirius  am 
20.  Juli  nicht  zum  Parallelkreise  dieser  Stadt,  noch  weniger 
zu  dem  Parallel  von  Elephantine  oder  Syene,  zu  denen  Supd 
(2cod-ig)  wegen  der  am  Katarakt  zuerst  bemerkbaren  Nil- 
schwelle in  specielle  Beziehung  gesetzt  wird,  daher  sie  öfter 

„die   göttliche  Sothis   von  Abu"     |       1\  TÖJk^   heisst. 

In  Syene  erfolgt  der  Frühaufgang  des  Sirius  nach  den 
Neueren  am  16.  Juli;  am  20.  Juli  ungefähr  unter  dem  30° 
nördlicher  Breite  d.  h.  auf  dem  Parallelkreise  von  H  e  1  i  o  - 
polis.     Auch   für   diesen   grund wesentlichen   Haltpunkt  der 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  101 

Siriusperiode    gewähren    uns   die   Inschriften   von  Denderah 
an  zwei  Stellen  erwünschte  Auskunft.     Die  eine  lautet37): 


111    ©    iw  I  111    ©     I   Ä  J  w  w  111 


£,   ^     /WWW    ^S^. 

}Qs  I   o 


iri-Ba  dient  Ant,  iriutnes  Ant  m  debui  en  Ann 

(Isis-Sothis-Hathor)  ,,das  Auge  des  Sonnengottes  in  Ant, 
der  die  Stadt  Ant  gegeben  ist  als  Ersatz  für  Anuu.  Es 
ist  hier  nicht  ein  blosses  Wortspiel  zwischen  Anu  (On  der 
Bibel  =  cHfaov7iofag)  und  Ant,  einem  der  vielen  Namen  Den- 
derah's;  sondern  der  Name  Ant  wurde  gewählt,  weil  eine 
ursprünglich  in  Anu  festgesetzte  chronologisch-astronomische 
Thatsache :  die  Einführung  der  Sothisperiode,  auf  (Denderah-) 
Ant  im  Laufe  der  Zeit,  als  Heliopolis  verfiel,  übergangen  war. 
In  der  andern  I25(3)c  heisst  Hathor  ,,die  Grosse  am  Himmel, 

die  haq't  (Regentin)  auf  Erden,  e~^§38)/\  j|39)^3^j^^ 

udes  n  Tum  neb  Anu  merit-s,  gehoben  von  Tum,  dem  Herrn 
von  Anu,  der  sie  liebt."  Mit  udes  könnte  allerdings  ein 
Stab  oder  Scepter  gemeint  sein ;  dies  würde  aber  an  dem 
Sinne  nichts  ändern,  da  die  Zusammengehörigkeit  der  Hathor 
(-Isis-Sothis)  und  des  Sonnengottes  Tum  von  Heliopolis  jeden- 
falls dadurch  bezeugt  ist.  Das  liegt  auch  in  der  Benennung 
Denderah's:  ,,Land  des  Tum". 

In  dem  von  H.  Dümichen  entdeckten  geheimen  Corridore 
wird  die  Uranlage  von  Denderah  auf  die  Urzeit  der  vor- 
historischen „Horus-Verehrer"  zurückgeführt.  Ich  darf  hier 
vorwegnehmen,  was  ich  anderwärts  ausführlich  beweisen 
werde,  dass  die  ältesten  geschichtlichen  Könige:  Menes  und 
seine   17  Nachfolger,    die   bekannten   Theeiniten    (Theniten, 


37)  Mariette  II,  17  c. 

38)  Im  Originale  v    und    /\    als  Ligatur. 

39)  Im  Originale  die  Figur  des  Tum  mit  ipxBVZ 


102        Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  4.  Juli  1874, 

Thynitae)  nicht  aus  der  oberägyptischen  Stadt  This  (Thinis) 
sondern  von  Heliopolis  (Anu,  häufig  Ta-Anu  und  Taui-Anut 
geheissen)  herstammten.  Dazu  stimmt,  dass  die  Phönix- 
periode von  1500  (3x500)  Jahren  unbestritten  auf  Helio- 
polis zurückgeht  —  mag  sie  nun  eine  Correctur  der  Sirius- 
periode oder  etwas  Anderes  sein  -—  wie  denn  das  Todten- 
buch  allein  schon  beweist,  dass  die  ältesten  Religionssatz- 
ungen in  Anu  entstanden. 

Der  Stein  von  Elephantine. 

Auf  einem  in  den  Damm  der  Insel  Elephantine  ver- 
baut gewesenen  Steine  (der  durch  den  Prinzen  Jerome 
Napoleon  ins  Louvre  verbracht  worden  ist)  steht  in  deutlichen 
Schriftzeichen :  „Monat  Epiphi,  Tag  28,  Aufgang  der  Sothis, 
Festtag,  Gebühr  an"  (die  Götter  etc.).  Die  Rechnung  er- 
gibt das  Jahr  1477  vor  Christus,  da  der  Styl  der  Arbeit 
die  Zeit  der  XVIII.  oder  XIX.  Dyn.  anzeigt.  Da  aber  kein 
Königsname  dabei  steht,  und  Thutmosis  III,  wenn  sein  Schild 
dazu  gehören  sollte,  wie  in  vielen  Inschriften,  bloss  historisch 
erwähnt  sein  kann40),  so  lässt  sich  diese  Angabe  nicht  weiter 
verwerthen,  denn  als  Beweis  für  die  Existenz  der  Sothis- 
periode. 

In  seinem  Werke  über  den  ägyptischen  Kalender  hat 
Brugsch41)  sowohl  dieses  Datum  als  das  Beispiel  des  Theon 
über  den  29.  Epiphi,  nebst  mehreren  anderen  von  proble- 
matischer Deutung  als  Stützpunkt  für  seine  Behauptung  an- 
geführt, dass  die  alten  Aegypter  von  jeher  zwei  fixe  Jahre 
gebrauchten,  von  denen  das  eine  am  20.  Juli,  das  andere 
am  29.  August,  wie  der  alexandrinische  Kalender,  begann, 
deren   Anfänge   also    um  etwa  40  Tage  auseinander  lagen. 


40)  Vergl.  den  geheimen  Corridor  von  Denderah  und  den  jungen 
Kalender  von  Esne  col.  5d. 

41)  Materiaux  pour  servir  eto. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  103 

Ich  habe  schon  anderwärts42)  bemerklich  gemacht,  dass 
diese  wenn  auch  geistreiche  Hypothese  durch  den  Wortlaut 
der  Tanitica  (siehe  oben  p.  89)  definitiv  zu  Falle  gebracht 
ist  und  daher  einer  weiteren  Widerlegung  nicht  bedarf. 
Denn  wir  wissen  jetzt  aus  dieser  authentischen  Quelle,  dass 
nur  ein  fixes  Sothis- Jahr  neben  dem  Wandeljahre  in  Ge- 
brauch war.  —  Nachdem  der  Stein  von  Elephantine  lange 
Zeit  hindurch  das  einzige  Denkmal  in  der  ägyptologischen 
Litteratur  geblieben  war,  auf  welchem  der  Frühaufgang  des 
Sothissternes  an  einem  Tage  des  Wandeljahres  notirt  ist, 
hat  uns  die  Tanitica  oder  das  Decret  von  Kanopus  ein  zweites 
unwidersprechliches  Beispiel  für  diese  Thatsache  geliefert. 
Ein  diittes  findet  sich  auf  dem  Verso  eines  medicinischen 
Papyrus,  den  man  früher  nach  dem  Americaner  Smith  in 
Luxor  benannte,  der  aber  seit  1872  in  den  Besitz  des  H- 
Dr.  Ebers  und  der  Leipziger  Universität  übergegangen  ist. 
Ueber  dieses  wichtige  Aktenstück  muss  ich  etwas  ausführ- 
licher handeln. 


Das  Doppeldatum  auf  dem  Verso  des  Papyrus 

Ebers. 

Der  Schwerpunkt  desselben  liegt  in  der  richtigen  Lesung 
des  betreffenden  Königsnamens.  Wie  schwierig  die  Beant- 
wortung dieser  Frage  im  vorliegenden  Falle  ist,  beweist  die 
Verschiedenheit  der  Versuche,  die  bisher  damit  angestellt 
worden   sind.     Während  H.  Eisenlohr 43)  das  Namensschild 

mit  (o«i_a|vÄ  1  umschreibt  und  darin  einen  Titel  der  Kleo- 
patra  III  erblickt,  die  117  v.  Chr.  Regentin  geworden,  glaubte 


42)  Die  Schalttage  des  Euergetes  I  etc. 

43)  Zeitschrift  f.  ägypt.  Spr.  1870,  p.  66, 


104         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

H.  Haigh44)    darin  (®%]^J    zu   erkennen.     EL  Ebers45) 

seinerseits  umschreibt  (ov*^U  I  d.  h.  den  Vornamen  Amen- 

hoteps's  I.     H.  Goodwin 46)   endlich   liest  das  Namensschild 

( o^— ä  fe^  J  Bemen-ba-ra   oder   Nen-ba-ra    und   bezieht 

diesen  Namen  auf  den  König  Bicheris  der  IV.  Dynastie 
Manetho's.  H.  Dümichen47)  adoptirt  diese  Auffassung,  ver- 
verbessert jedoch  die  Lesung  remen  oder  nen  in  gerh,  indem 
er  nachweist,  dass  die  Vogelklaue  häufig  diese  Lautung  be- 
sitzt. Er  erhält  somit  den  Namen  Ba-gerh-ra,  welcher 
allerdings  dem  Bicheris  entsprechen  könnte.  Fragt  man 
nach  der  Bedeutung  desselben,  so  würde  sich  ,, ruhende  Seele 
des  Ra"  ergeben,  ein  Sinn,  der  schwerlich  Jemand  befrie- 
digen dürfte.  Auch  wäre  das  Vorkommen  der  Vogelklaue 
in  einem  so  alten  Königsnamen  sehr  befremdlich,  da  man 
dieses  Glied  sonst  erst  in  der  jüngsten  Zeit  als  phonetisches 
Zeichen  verwendet  antrifft. 

Die  Unwahrscheinlichkeit  dieser  Lesung  steigert  sich  in's 
Unendliche,  wenn  man  die  Frage  stellt,  in  welcher  Beziehung 
der  alte  König  Bicheris  zu  dem  medicinischen  Inhalte  des 
Papyrus  gedacht  werden  könne.  Wäre  es  Athothis  (I,  2) 
oder  Tosorthrus  lAGvlrptios  (III,  2),  denen  Manetho  Werke 

über  Medicin   zuschreibt,  oder  (SQ]    Teta   (VI,  2),    der  in 

der  Urkunde  selbst  erwähnt  ist,  so  Hesse  sich  eine  an  einen 
solchen  Königsnamen  angeknüpfte  Berechnung  mittels  des 
Doppelkalenders  begreifen.  Auch  handelt  es  sich  nicht  um 
einen  Epochenkönig  wie  MevocpQrjg;  denn  das  Datum  ergibt 

44)  Ibid.  1871,  p.  73. 

45)  Ibid.  1873,  p.  41. 

46)  Ibid.  1873,  p.  107. 

47)  Die  erste  etc.  Angabe  p.  7  fg. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode»  105 

einen  Tag   des  Epiphi   (9.  oder  30.)   nicht  den  1.  Thot  als 
Correspondenz  des  Neujahrsfestes  und  Sothisaufganges. 

Es  war  mir  von  Anfang  an  wahrscheinlich,  dass  unser 
Datum  nur  auf  die  Zeit  der  Abfassung  oder  der  Copie  des 
Papyrus  Bezug  haben  könne.  H.  Dümichen's  Ansicht  „die 
auf  der  Rückseite  des  ersten  Blattes  flüchtig  hingeworfene 
Kalenderuotiz,  durch  die  der  gelehrte  Herr  (der  Schreiber 
des  Papyrus)  eben  wohl  nur  zeigen  wollte,  dass  er  auch  in 
der  Chronologie  bewandert  sei,  hat  für  die  ägyptische  Forsch- 
ung vielleicht  einen  noch  höheren  Werth,  als  der  Inhalt  des 
ganzen  Papyrus",  —  kann  ich  nur  in  ihrem  Schlusssatze 
beipflichten.  Dass  der  Schreiber  des  Papyrus  gerade  den 
König  Bicheris  um  das  Jahr  3000  v.  Chr.  erwähnt  haben 
sollte,  weil  er  um  eine  ganze  Sothisperiode  vor  seiner  Zeit 
gelebt,  scheint  mir  eine  gezwungene  Erklärung,  da  es  doch 
natürlicher  ist  anzunehmen,  dass  der  Verfasser  oder  Copist 
auf  seine  eigene  Zeit  Bedacht  genommen  haben  wird.  Ver- 
suchen wir  nun,  auf  Grund  der  hieratischen  Legende  unserer 
Urkunde  und  sonstiger  Denkmäler  den  betreffenden  Königs- 
namen zu  ermitteln.  Was  zuvörderst  das  zweite  Zeichen 
betrifft,  so  lese  ich  dasselbe  als  *>  -/i  mit  der  Lautung 
chu,  gestützt  auf  den  ganz  ähnlichen  Zug  im  Turiner  Königs- 
papyrus fr.  72,  1. 

Für  diejenigen,  welche  am  Bicheris  festhalten,  wäre  hie- 
durch  eine  viel  ansprechendere  Legende  gewonnen,  da  Ba- 
chu-ra  sowohl  phonetisch  sich  leicht  mit  BL-%e-qls  vermittelt, 
als  auch  einen  ungezwungenen  Sinn  ,, schützende  Seele  des 
Rau    ergeben    würde.      Auch   kommt  /*— a  als  Variante   von 

©  \\  im  Namen  des  Cheops  (Chufu)  bereits  vor.     Allein  ich 

bin   weit   entfernt,    in  dem  dritten  und  vierten  Zeichen  den 

Vogel  ba    <fe^    zu  erkennen.     Vergleiche  ich  das  Schild  des 


106         Sitzung  der  philos-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Hykschos  Apupi,  welches  mit  «äÜ    schliesst 48),    ohne   dass 

dieser  Zusatz  lautirt  wird,  so  empfiehlt  sich  für  unsern  Fall 
diese  Umschrift  um  so  mehr,  als  die  Lautung  chu  (cf.  i£ 
daemon)  häufig  von  dem  sitzenden  und  das  flagellum  halten- 
den   Manne    als  Deutbild49)    begleitet   ist.      knch   beweisen 

viele  Varianten50)    die    Gleichheit  von  /» — o   und  ^^    oder 

dessen  Abkürzung,  wo  bloss  der  Kopf  des  Vogels  als  pars 
pro  toto  erscheint. 

Der  König  nun ,  zu  dessen  Legende  der  so  gewonnene 
Name  als  Thronschild  sich  fügt,  ist  kein  anderer  als  Sip- 
tah51)  2iq)&ag.  Zwar  findet  sich  unter  den  bisher  bekannten 
Varianten  der  Thronschildlegende    weder    das    Zeichen  /*_ o 

noch  das  Determinativ  4ön   ;    allein    dies  ist  kein  ernstliches 

Hinderniss,  da  ich  sofort  einen  Text  anführen  werde  worin 
derselbe  Thronname  in  rein  phonetischer  Schreibung  er- 
scheint, was  bisher  nirgends  aufgezeigt  war,  mit  dem  Zu- 
sätze des  Pronomens  k<^_,  das  ich  auch  in  der  Variante 
Chufuf  „er  schützt  sein  Landu  für  das  gewöhnliche  Chufu 
(Xeoxp)  aus  der  Tafel  von  Saqqarah  aufgezeigt  habe.  Der 
betreffende  hieratische  Text  steht  in  Beni-Hassan52)  ange- 
schrieben und  lässt  sich  ohne  Schwierigkeit  folgendermassen 
in  Hieroglyphen  transscribiren  und  übersetzen: 

„Nachdem  er  gekommen  von  der  Cella  des  Amenmesu,  ging 

er  hernach  zu  schauen  in  die  Cella  des  Führers    Ra  c  h  u  f 


48)  Vergl.  Lepsius  Königsbuch  No.  225. 

49)  Cf.  Brugsch  lex.  p.   113. 

50)  Id.  p.  1061.      . 

51)  Cf.  Lepsius  Königsbuch  No.  484. 

52)  Lepsius  Denkmäler  IV  und  Königsbuch  No.  39. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  107 

des  SeeligeD,  erglänzend  wie  der  Himmel  im    Chennu;    die 


fcJTQkP  JnJkll 


Sonne  ist  im  Leuchten  darin,  versehen  ist  sie  mit  Weihrauch, 


T-ä=t   7    IMl  7SK-*-] 

der   sich   erstreckt   auf  das  Grab  des  Führers     Rachuf, 

^\\&   ■BP.k.I   r^NI  —  Ü>IN 

des   Seeligen.      Man  ging  nachdem  man    3    Monate   3  Tage 

-   ^*  k  1 D  A  7  *  K-*-J 

verwendet  um  zu  schauen  die  Cella  des  Führers       Rachuf 


des  Seeligen ;  sie  erglänzt  wie  der  Himmel 


&T/kä*ksk,  -kil 

Möge    ich    wiederholen   diesen    Gang    in    (das   Heiligthum) 


voll  von  schöner  Gabe!" 

Der  Opfernde  ist  nicht  genannt.  Dagegen  erhellt  aus 
dem  Texte  mit  Sicherheit  die  Thatsache,  dass  ein  Anhänger 
der  beiden  Gegen-  oder  Nebenkönige  Amenmesu  und 
Chuenra  (Rachuf)  Siptah  ihre  Grabkapellen  in  gutem 
Zustande  getroffen  und  mit  Opfern  versehen  hat.  Trotz 
einzelner  Lücken  und  Unsicherheiten  des  Textes  erkennt  man 

das  Wortspiel  zwischen  dem  #^  diu  des  Namens  Ra-chu-f 


108        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

und  dem  'S^J  chu  mit  der  Bedeutung  ,, Glänzen".  Ebenso 
sicher  ist,  dass  Amenmesu,  wenn  auch  ohne  Schildein- 
rahmung, dem  bekannten  Nebenkönig  der  XIX.  Dyn.  gleich- 
zusetzen ist;  denn  auf  einem  hölzernen  Denkmale  des  Museums 
von  Miramar  58)  steht  deutlich ,  wenn  auch  bisher  nicht  be- 

achtet,  folgende  Legende:  ^    ^   BT  M  1  ^  Ü  ^ 

U       /www 

„Rede  des  Osirianers  des  Königs  Amen m es".  Um  so 
weniger   ist  jetzt   die   Identität   von    f  0©y\k^_J   mit  der 

sonstigen  Legende  f  °^^  J  irgend  zu  bezweifeln.  Wenn 
ich  nun  weiter  folgere,  dass  bei  so  weit  auseiuanderliegenden 
Varianten    auch    meine   Auffassung    des   Schildes    auf   dem 

Verso  des  Papyrus  Ebers  als:  (Oa-jÄ  I  Nichts  befremd- 
liches bietet,  so  wird  man  hierin  keinen  übereilten  Schluss 
erkennen. 

Dazu  kommt  noch  ein  Umstand,  der  gewiss  alle  Be- 
achtung verdient.  Bis  jetzt  fehlt  uns  jede  directe  Beziehung 
des  fraglichen  Königsnamens  auf  den  medicinischen  Papyrus 
selbst.  Nimmt  man  mit  mir  die  Lesung  (Chu-(en)-ra)  an, 
so  ergibt  sich  eine  solche  in  höchst  willkommener  Weise: 

Der  Papyrus  medical  von  Berlin,  über  den  Brugsch59) 
und  Chabas60)  gehandelt  haben,  hat  nicht,  wie  Ersterer 
meinte,  einen  gewissen  Neterhotep  zum  Verfasser  —  denn 
hinter  dieser  Gruppe  fehlt  sowohl  p.  15,  3;  16,  5;  21,  9 
das  Deutbild  der  männlichen  Person,  als  auch  liefert  uns 
die  Schlusszeile  von  p.  21  den  Namen  des  Schreibers  in  der 

wohlbekannten  Formel:  J^%fa%  (Rubrik)  I^t^J^ 
i 

58)  Vgl.  Reinisch :  Die  äg.  Denkmäler  in  Miramar  Taf.  VIII  c.  3. 

59)  Notice  raisonnee  d'un  Traite  medical. 

60)  Melanges  egypt.  Ire  serie. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  109 

!    1    Ul  Ii(ö)=flipv8>   „Es  ist  aus,   glücklich,   zur  Zu- 

I /www /www 8Z W  \   |//wwwllll    £_1 

iiiedenheit  der  Persönlichkeit  des  ....  Amenmes".  Wer 
bezweifeln  wollte,  dass  die  verstümmelte  Gruppe  wirklich 
men  J£ä-  sei,  der  vergleiche  p.  5,  5  Mitte,  wo  dieselbe  so 
in  dem  Worte  hasmew  wiederkehrt.  Es  ist  also  ausgemacht, 
dass  das  letzte  Wort  des  Papyrus  medical  von  Berlin: 
Arnenmes,  den  Namen  des  Schreibers  darstellt. 

Wie  es  in  dieser  Beziehung  mit  dem  Papyrus  Ebers 
sich  verhält,  ist  mir  zur  Zeit  unmöglich  zu  bestimmen,  da 
dieses  Aktenstück  noch  nicht  veröffentlicht  ist.  Allein  das 
öfter  publicirte  Doppeldatum  von  Verso  der  p.  1,  um  welches 
es  sich  hier  handelt,  würde,  auch  wenn  ein  anderer  Schreiber 
als  Amenmes  dessen  Verfasser  sein  sollte,  in  denselben  Zeit- 
horizont fallen,  falls  meine  Deutung  des  Königsnamens  auf 
Chuenra  Siptah  sich  als  richtig  erweist.  Denn  es  ist  be- 
kannt und  anerkannt,  dass  die  dynastischen  Namen  mit  Vor- 
liebe auch  von  Privatpersonen  adoptirt  wurden. 

Von  den  13  Zeilen  der  Rückeninschrjft  des  Papyrus 
Ebers  sind  übrigens  nur  die  beiden  ersten  von  Wichtigkeit. 
Das  Datum  selbst  ist  nicht  in  der  gewöhnlichen  Form  ge- 
geben ,  wonach  der  Monat  unmittelbar  auf  die  Angabe  des 
Jahres  folgt,  sondern  dieses  steht  in  der  ersten  Zeile  gleich- 
sam als  Ueberschrift  und  jener  in  der  zweiten : 

/wwv\       /j  ^  LI 

,,Jahr,  letztes,  der  Majestät  des  Königs  Chu(en)ra  des  ewig 
lebenden,  Neujahrsfest,  dritter  Monat  der  schom-Jahreszeit : 
.  .  .  .  Erscheinung  des  Sothissternes." 

Aus  der  Tanitica  lin.  18  kennen  wir  die  Bedeutung  der 
Schlussgruppen:    ^^  ]ß   *Jj^)  XJ \  ^   griechisch    lin.  36 


110         Sitzung  der  philos.-phihl.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

übersetzt  mit  (tjJ  fasoa  ev  r)  ItzvcBIu  to  aotqov  ro  ttj$ 
"Iowg,  rj  von'iQzTai  veov  etog  ehai.  .  Nach  der  Anordnung 
des  Textes  scheint  die  dem  „Neujahr"  entsprechende  Gruppe 

\/  j  ö^=^   nachträglich   hinzugefügt    worden   zu  sein.     Auf 

spätere  Zuthat  weist  sicherlich  die  fast  demotisch  zu  nennende 
Gruppe,  womit  in  Zeile  12  die  dritte  oder  s  c  h  o  m  -  Jahres- 
zeit bezeichnet  ist.     Nachlässig  ist  es  ferner  zu  nennen,  dass 

die  Gruppe        X    ohne    den    unterscheidenden   Beisatz    von 

v — 'iA 

^^  und  ^=f  „gross"  und  „klein",  für  den  6.  und  7.  Monat 
zugleich   verwendet   wird.     Endlich   dürfte    die    Schreibung 

Y>^  statt  *       O  \\^  (Pha-rmuti61)   ebenfalls  ungenau 

und  ungewöhnlich  erscheinen ;  wenigstens  ist  sie  erst  im 
Demotischen  gebräuchlich. 

Lepsius  hat  in  der  Zeitschrift  für  äg.  Sp.  1870  p.  160 
die  Ansicht  geäussert,  dass  die  Anfangsgruppen  der  11  letzten 
Zeilen  die  betreffenden  Monatsgötter  als  Protectoren  dar- 
stellen. Allein  sieht  man  etwas  näher  zu,  so  vermag  man 
nirgends  das  wohlbekannte  und  sonst  regelmässig  angewandte 

Determinativ  der  Götter:      |,  «Jj     oder     jVÄ,  zu  entdecken. 

Selbst  in   der   letzten   Zeile,   wo   man   es  noch  am  ehesten 

vermuthen   könnte,    steht    (JüV  Apt-i  (Epiphi,    aus  Apap 

entstanden)  mit  dem  Thierzeichen,  da  Apt  häufig  in  der  Gestalt 
eines  weiblichen  Nilpferdes  dargestellt  wird.  Es  scheint 
mir  also  natürlicher  anzunehmen,  dass  die  betreffenden 
Gruppen  Techi,  Mencht,  Hathor,  Kahika,  Schafbet,  Rokh-(ur), 
Rokh(-netes) ,    Renuti,    Chensu,   Chentchet,    Apti  —  Nichts 

61)  Die  nicht  seltene  Var.  *SEü!^  Bemut  statt  Bennut  beweist, 
dass  ich  Recht  hätte,  in  meinen  Zodiaques  de  Denderah  den  Namen 
des  Monats  Pha-rmuti  mit  dem  Feste  der  Erntegöttin  Rennuti  zu 
identificiren. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  111 

anderes  besagen  sollen  als  die  Namen  der  fixen  Monate 
des  Jahres,  wie  sie  im  Koptischen  überliefert  sind  als: 
e-coT,  ndt&jii,  j^ecop,  ^oi^gK,  Toßi,  Aie^ip,  «i^Me- 
ttcoe,  4>ewpMOTT,  n&.ujccmc,  naoam,   eriHn,  MeccopH. 

Es  wäre  auffallend  und  kaum  zu  begreifen,  wenn  der 
letztgenannte  Monat  Mesori  im  Doppelkalender  des  Pa- 
pyrus Ebers  fehlen  sollte.     H.  Brugsch61)    hat  desshalb  die 

Gruppe  \f  j  ^^  Zeile  2  des  Verso  als  Repräsentanten 
des  Monats  Mesori  aufgefasst  und  aus  einer  Inschrift  vom 
28.  Jahre  Ptolemäus  IX  Euergetes  II   (also  142  v.  Chr.)  die 

Gleichung  \jf  j  ^r^  =     ö   *=c  aufgezeigt,  womit  unserem 

'  /wwv\      Cl) 

Zwecke  vorderhand  genügt  wäre.  Allein  die  Bezeichnung 
des  Monats  Mesori  durch  „Neujahrsfest',  erhält  erst  dann 
ihre  volle  Berechtigung,  wenn  man  mit  mir  annimmt,  dass 
die  fünf  Epago  ra  enen,  wie  sonst  öfter  geschieht,  zum 
Mesori  gerechnet  sind  und  die  letzte  Stunde  des  5.  Epa- 
gomens,  der  urkundlich  „das  Junge  in  seinem  Neste"  heisst, 
zugleich  als  der  Abschluss  des  alten  wie  als  Anfang  des 
neuen  Jahres  gefasst  wird.  In  dieser  Beziehung  bietet  der  kleine 
Papyrus  von  Leyden  62)  p.  II  lin.  5  die  bedeutsamere  Legende: 

sprechen  durch  Jemand  vom 63)  Schlussfeste  Neujahrsfeste 
und  dem  Feste  Uga  (17.  Thot)  an  bis  zum  Morgen  des  Festes 
der  Rannut."  Hier  ist  offenbar  das  „Neujahrsfest"  als 
gleichbedeutend  mit  dem  „Jahresschlussfeste"  zusammen- 
gestellt. 

62)  Leemans  Monn.  eg.  Papyr.  I  346. 

63)  Chabas:  Le  Calendrier  des  jours  fastes  et  nefastes  p.  104 
übersetzt:  ä  la  fete  de  la  fin  de  Pannee  etc.  wobei  die  Präposition 
schaa  m  =  iiide  ab  nicht  berücksichtigt  ist. 


112         Sitzung  der  philos-phihl.  Classe  vom  L  Juli  1874. 

Wenn  sich  dieses  so  verhält,  so  muss  die  Verschiebung 
der  beiden -Kalender  des  Papyrus  Ebers  gerade  einen  ganzen 
Monat  betragen,  so  dass  also  in  der  zweiten  Zeile  der  Mo- 
ment des  Jahresschlusses  am  5.  Epagomen  (der  zum  Monat 
Mesori  gerechnet  ist)  dem  letzten  Tage  des  Epiphi  im 
Wandeljahre  entspricht  Dies  ist  für  mich  der  Hauptgrund, 
das  zwölfmal  hinter  den  Monaten  des  Wandeljahres  wieder- 


kehrende Zeichen  als   ^  hru  arq  „letzter  Tag"  aufzufassen. 

Dass  die  hieratischen  Züge  diess  gestatten  hat  Lepsius  dar- 
gethan  und  ich  könnte  manche  Belegstelle  dafür  beibringen, 
wenn  es  nöthig  wäre.  Wenn  H.  Goodwin  in  seinem  Artikel 
und  H.  Ebers64)  bestätigend  eine  deutliche  hieratische  9 
darin  zu  erkennen  glauben,  so  gebe  ich  doch  zu  bedenken, 
dass  die  aus  _^£  entstandene  hieratische  Form  stets  noch 
eine  abwärts  führende  Tendenz  hat,  abgesehen  davon,  dass 
unter  der  Annahme  der  Ziffer  9  die  fünf  Epagomenen  spur- 
los verschwinden  und  damit  der  Werth  des  Doppelkalenders 
auf  Null  reducirt  wird.  Ich  verhehle  mir  allerdings  nicht, 
dass  die  durch  meine  Auffassung  bedingte  Notwendigkeit, 
auch  in  der  ersten  Zeile  demgemäss  „letztes  Jahr"  zu  lesen, 
ihr  Missliches  hat.  Allein  das  Doppeldatum  des  Papyrus 
Ebers    ist   eben    ein    ungewöhnliches    und    die    Schriftzüge 

gestatten  eher    /^  als £  zu   lesen.    —    Sobald 

&  /wwv\  <^> 

der  ganze  Papyrus  vorliegt,  lässt  sich  über  den  Verfasser 
und  das  Doppeldatum  vielleicht  etwas  Bestimmteres  be- 
haupten. Vorläufig  halte  ich  als  Resultat  fest,  dass  es  sich 
höchstens  um  8  Jahre  von  dem  Doppeldatum  des  Steines 
von  Elephantine  entfernt  und  dem  Quadriennium  von  1469 
bis  1465  v.  Chr.  angehört. 


64)  Zeitschrift  1874  p.  4. 


Lautfi:  t)ie  Sothis  oder  Siriusperiode.  US 

Die  Epochenkönige  der  Sothisperiode. 
Nachdem  im  Vorstehenden  der  wirkliche  Gebrauch  des 
fixen  Sothisjahres  neben  dem  Wandeljahre  auf  Denkmälern 
und  in  einer  Urkunde  dargethan  worden,  übrigt  noch,  die- 
jenigen Herrscher  zu  ermitteln,  unter  denen  die  Epochen 
der  Sothisperiode  stattgefunden  haben. 

1.  Antoninus-Hadrianus  136—139  n.  Chr. 

Zu  dem  in  der  Einleitung  p.  79  bezüglich  des  Antoninus 
als  Epochenherrschers  Beigebrachten  ist  hier  ein  monumen- 
taler Beweis  für  dieselbe  Eigenschaft  des  Kaisers  Hadrianus  zu 
erbringen.  Da  derselbe  am  10.  Juli  138  n.  Chr.  starb,  so 
wurde  nach  ägyptischer  Rechnung  seinem  Nachfolger  Anto- 
ninus das  volle  Jahr  vom  20.  Juli  137  bis  ebendahin  138 
zugeschrieben,  dessen  wirklicher  Regierungsantritt  also  um 
355  Tage  anticipirt.  Da  nun  während  des  Quadrienniums 
136,  137,  138,  139  nach  Chr.  der  Frühaufgang  des  Sirius 
oder  der  Sothis  auf  den  1.  Thot  des  Wandeljahres  fiel,  so 
mochte  jeder  der  beiden  Kaiser  mit  der  Epoche  der  Sothis- 
periode identificirt  werden,  je  nachdem  man  die  erste  oder 
die  zweite  Hälfte  der  Tetraeteris  berücksichtigte. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  erklärt  sich  in  einfacher 
Weise  das  Doppeldatum  zweier  griechischer  Papyrus65), 
welches  sich  so  darstellt:  L  ^4  Li v t cd v i v o v  Kaloagog  rov 
kvqiov,  prjvdg  tdÖQLavov  H,  Karex  de  rovg  aQ%aiovg  Tvßl 
IH.  Die  Variante  lurjvog  lAdqiavov  H  xard  tcov  cEXXrjvcov 
(siel)  gewährleistet  uns  die  schon  bekannte  Thatsache,  dass 
der  Monat  ^4dqiav6g  dem  fixen  alexandrinischen  Kalender 
angehört,  während  der  Ausdruck  xara  Tovg  aQ%alovg  auf 
das  Wandeljahr  hinweist.  Die  Frage  lässt  sich  somit  so 
stellen:  In  welchem  Quadriennium  entspricht  der  18.  Tybi 
des    Wandeljahres    dem    8.  Tage    eines    fixen    Monates    im 

65)  Young:  Hieroglyphics  pl.  52. 
[1874,  II.  Phil.  bist.  CLL]  8 


114         Sitzung  der  philos.-fhilol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

alexandrinischen  Kalender  ?  Die  Rechnung  ist  leicht  gemacht : 
das  1.  Jahr  des  Antoninus  ist  137  m  Chr.,  somit  vom 
Epochenjahre  der  Einführung  des  fixen  alexandrinischen 
Kalenders  25  v.  Chr.  um  162  Jahre  entfernt,  denen  162/4  = 
40!/2  Tage  Verschiebung  entsprechen.  Da  nun  das  Wandel- 
jahr vermöge  seiner  geringeren  Länge  vorauseilt,  so  haben 
wir  jene  40  V*  Tage  rückwärts  zurechnen:  die  18  Tage  des 
Tybi  -f-  22  Tage  des  unmittelbar  vorangehenden  Choiakh 
ergeben  diese  Zahl.  Es  bleibt  also  der  8.  Choiakh  =  18.  Tybi 
und  damit  ist  der  Beweis  vollendet,  dass  während  des 
Quadrienniums  136  — 139,  also  wegen  der  Epoche,  der 
Name  ^iögtavog  an  die  Stelle  des  Xoiay.  getreten  ist,  und 
unter  Antoninus  Pius  ,,dem  Anhänglichen''*  aus  Pietät  so 
gelassen  wurde. 

Brugsch66)  war  der  Wahrheit  sehr  nahe  gekommen,  als 
er  schrieb :  ,,il  en  resulte  de  toute  necessite  que  le  1er  Ha- 
drianos  est  egal  au  25.  Novembre  ==  29  Athyr  alexandrin, 
date  qui  est  anterieure  de  deux  jours  au  commencement  du 
mois  suivant  Choiak."  Ohne  seine  falsche  Lesart  L  /  (statt 
L  ^),  die  von  Hincks67)  bald  berichtigt  wurde,  hätte  sich 
ihm ,  wie  mir ,  die  vollkommenste  Congruenz  der  Monate 
IdöqiavoQ  und  Xoidx  ergeben.  —  Letronne68),  der  dieses 
Doppeldatum  mit  der  Anwesenheit  Hadrian's  in  Aegypten 
(132  n.  Chr.)  zusammenbrachte,  konnte  schon  desswegen  und 
weil  er  Li  (statt  L  j£)  zu  Grunde  legte,  zu  keinem  be- 
friedigenden Resultate  gelangen. 

Allein  eine  von  ihm  citirte  Inschrift  vom  Colosse  des 
Memnon  enthält  ein  wichtiges  Element  und  vermuthlich  das 
früheste  Beispiel  des  Monats  tddqiavoq.     Sie  lautet: 

XaiQT[iA(x)v  6  xa[t .  .  .  .]  GTQctTrjydg  cEq[^o)v^eiTOv  xai] 
udavoTtoXeilrov,    Mepvovog]    tov  &eioza[Tov  rjxovoa]  otv  Trj 


66)  Materiaux  p.  17. 

67)  On  the  various  years  and  months. 

68)  Recueil  des  inscript.  grecq.  II  378  sqq. 


Lauth;  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  115 

ddeXcp[ij  wqcc  a\  L  IQ  Udoiavov  tov  kvqiov,  firjvog  tddqt- 
av[ov  . .  . .  ].  Das  19.  Jahr  Hadrian's  seit  117  n.  Chr.  ist 
136  n.  Chr.,  mithin  das  erste  des  Quadrienniums  136 — 139, 
während  dessen  der  8.  ^AÖQLavog  =  8.  Xoidx  des  fixen 
Jahres  dem  18.  Tybi  des  Wandeljahres  entsprach:  Das  ist 
die  Epoche  der  jüngsten  Sothisperiode. 

2.  Ramses  III  $qovoq<5  =  Netkog  1325— 1322  y.  Chr. 
Durch  die  Ausgrabungen  des  Herrn  Greene  wurde  1854 
die  Südwand  des  Tempels  von  Medinet-Habu  blossgelegt, 
und  darauf  mit  dem  Datum  „Jahr  8( — 11)  Ramses  III"  ein 
Festcalender  entdeckt,  in  welchem,  nach  Erwähnung  des 
26.  Pachons  als  der  Krönungrsfeier69)  dieses  Königs,  in  col.  12 

fügender  Passus  erscheint:  IM^KPZ^^ 
„Erster  (Monat)  der  Ueberschwemmung,  Erscheinung  der 
Sothis,  Fest  (Panegyrie),  Tag  der  Opferung  (an  Amonra- 
sonther  etc.  am  Feste  dieses  Tages)' '.  Champollion  und 
De  Rouge  übersetzen :  „le  1er  Thoth,  fete  de  Tapparition  de 
Sothis"  und  Biot  begründete  seine  dessfalsige  Berechnung 
auf  den  1.  Thot.  Nach  Brugsch71)  ist  wohl  auch  der  erste 
Monatstag  gemeint,  allein  durch  die  eponyme  Bezeichnung 
„Erscheinung  der  Sothis,  Fest"  ausgedrückt,  womit  dem 
Datum  jede  chronologische  Bedeutung  genommen  wird. 

Dagegen  ist  zu  erinnern,  dass  in  der  Treppeninschrift 
von  Denderah  das  Fest  der  Sothis  ebenfalls  allgemein  be- 
zeichnet   wird    mit         ^  \    |r^-LU   „im  Anfange    des  Jahres, 

eisten  (Monat)  der  Ueberschwemmung"  ohne  dass  der  erste 
Tag  des  Monats  Thot  speziell  genannt  wird,  während  im 
Festkalender    selbst     der    erste   Thot    ausdrücklich    steht. 


69)  Taf.  XXXII  ist  sie  auf  den  1.  Tybi  festgesetzt. 

70)  In  der  Lücke  ist  T__pr//  zu  vermuthen. 

71)  Materiaux  pour  servir  etc. 

8.* 


Üö        Sitzung  der  phüos.-phüol  Ctasse  vom  L  Juli  1874:. 

Ebenso  sagt  Theon  in  der  oben  erwähnten  Berechnung  des 
Sothisaufgangs  für  den  29.  Epiphi:  tavrag  (rag  faeqctg) 
ärcokvGov  cc7td  0cü#,  wo  doch  offenbar  kein  andrer  Tag  als 
der  erste  Thot  gemeint  sein  kann.  Es  spricht  somit  die 
Wahrscheinlichkeit  dafür,  dass  obige  Inschrift  von  Medinet- 
Habu  auf  einen  wirklichen  Sothisaufgang  am  1.  Thot  des 
Wandeljahres  sich  bezieht  und  demgeraäss  Ramses  III,  der 
bekannte  cPa(x\pivixog  Herodot's,  während  der  Tetraeteris 
1325  —  1322  v.  Chr.,  d.  h.  eine  ganze  Sothisperiode  von 
1460  Jahren  vor  der  jüngsten  Epoche  136 — 139  n.  Chr. 
geherrscht  hat. 

Man  erinnert  sich  hiebei  unwillkürlich  der  vom  Vater 
der  Geschichte  II  122  gemeldeten  Kataßaoig  des  Königs 
cPctfj,iplviTog,  nach  dessen  Rückkehr  (a$g  rcaXiv  a.7tw.vto),  die 
Aegypter  ein  Fest  (oqttjv)  begingen.  Was  that  nun  der  König 
im  Hades?  Er  würfelte  daselbst  mit  der  Demeter  (Isis) 
unter  wechselndem  Glücke  und  kam  mit  dem  Geschenke 
eines  xeiQOfiaxTQOv  %qvgeov  zurück.  Bei  dem  noch  zu 
Herodots  Zeit  gefeierten  Gedenkfeste  verbanden  die  Priester 
einem  aus  ihnen,  den  sie  mit  einem  frisch  gewebten  Mantel 
versehen  hatten,  die  Augen  und  geleiteten  ihn  auf  einen  zum 
Tempel  der  Demeter  führenden  Weg.  Sie  werden  abgelöst 
von  zwei  Schakalen  (Itxoi)  die  ihn  20  Stadien  weit  zum 
Tempel  und  wieder  zurück  geleiten.  Daran  schliesst  Herodot 
die  Nachricht  über  Demeter  und  Dionysos  (Isis  und  Osiris)  als 
Gebietern  rtov  xcctco,  so  wie  über  die  ursprünglich  ägyptische 
Lehre  von  der  Unsterblichkeit  der  Seele,  die  in  3000  jähriger 
Wanderung  (7T€QirlvGig)  sich  vollziehe.  Diese  Zusammen- 
stellung legt  den  Gedanken  nahe,  class  das  Fest  der  koctcc- 
ßccGtg  des  Rhampsinit  sich  ebenfalls  auf  eine  Zeitperiode 
bezog.  Darauf  deutet  noch  ein  anderer  Umstand.  Herodot 
erzählt  II  121,  dass  die  von  Rhampsinit  an  den  westlichen 
Propyläen  des  Ptah-Tempels  aufgestellten,  25  Ellen  hohen 
Bildsäulen   bei   den  Aegyptern  xei^wv   und   -d-eQog  ,, Sommer 


Lauth:  Die  Sotliis  oder  Siriusperiode.  117 

und  Winter"  genannt  wurden.  Es  sind  solche  Personifica- 
tionen  von  ^^°  und  £££0   auch   auf  den  geographischen 

—     O  /www 

Denkmälern72)  nachweisbar.  War  etwa  die  hier  durch  Ab- 
wesenheit glänzende  erste  Jahreszeit  M^-U  zwischen  beiden 
als  Hauptsache  angebracht? 

Am  ausführlichsten  behandelt  Herodot  den  Reichthum 
{rcXovxog)  des  Rhampsinit  und  die  Bestehlung  seines  Schatz- 
hauses durch  die  schlauen  Diebe.  Die  Existenz  eines  solchen 
Vorraths  an  Gold,  Silber  und  Edelsteinen  wird  jetzt  noch 
durch  die  Wandinschriften  des  Palastes  von  Medinet-Habu 
bezeugt.  Herodot  fusst  hier  zum  Theile  auf  Homer  Odyss. 
IV  126,  der  den  Gemahl  der  Alkandra  üolvßog  (Var.  ITo- 
Xvßovg)  nennt.  Ich  habe  schon  anderwärts  darauf  hinge- 
wiesen, dass  hiemit  Ramses  III  der  Reiche,  der  cPaf,iipiviTog 
bezeichnet  werde ,  sei  es  dass  man  diesen  Namen  auf  den 
Reichthum  an  Rindern  oder  die  mit  dem  Stierkopie73)  ver- 
sehenen Münzen  deutet  —  ßovg  eiti  yXcooorjg  ßeßrjxev  sagt 
der  griech.  Tragiker  von  dem  Wächter,  dessen  Zunge  durch 
Bestechung  mit  Geld  gebunden  ist.  —  Nun  wird  in  Manetho's 
Liste,  am  Schlüsse  der  XIX.  Dynastie  und  des  II.  Bandes, 
dieser  üoXvßog  dem  QovwQig  gleichgesetzt.  Bunsen  und 
Andere  haben  dabei  an  des  Eratosthenes  (Dqovoqco  r'zoi 
NtiXog  gedacht  und  in  der  That  lässt  sich  mit  Rücksicht 
auf  Dikäarch's  Epochenkönig  NeiXevg,  der  auf  1322  v.  Chr. 
(cf.  supra)  steht,  die  leichte  Veränderung  in  (DovtoQig  nicht 
beanstanden,  falls  ein  monumentaler  Beweis  dafür  geltend 
gemacht  werden  kann.  Ich  schätze  mich  glücklich,  denselben 
beibringen  zu  können. 


72)  Brugsch:  (Dümichen)  Recueil  III  pl.  XC  23,  24,  25;  Geo- 
graph. Inschr.  III   pl.  IV   17,  18. 

73)  Lepsius:  Die  Metalle  in  den  ägypt.  Inschriften  p.  40  zeigt, 
dass  die  ägypt.  Gewichte  für  Goldringe  (Münzen)  namentlich  die 
Gestalt  von  Stieren  oder  Stierhäuptern  haben. 


118        Sitzung  der  philo  s.-phüol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

In  der  Nähe  von  Medinet-Habu  befindet  sich  ein  Denk- 
mal74), worauf  ein  Beamter  Ul  ^  i  J\    lazen  Q^p)   der 

/wwv\l(  _ 

n§»&/ — 
grossen  Domäne  des  Königs  Ramses  III  Namens        jy  _W  ***— 


AA/WV\ 


Baherunamif  erwähnt  wird.     Hinter  der  Gruppe   3fc$    "im 

ftMWA 

Chennu  des"  folgt  d.  leicht  herzustellende  Name  f  O  |  jfj|  J 
Ramses   hyq  An,    das   heisst   Ramses  III    mit  dem  Beisatze 

\£^^ o  P-ur-ao15)  „der  sehr  Grosse".     Hieraus  erklärt 

sich  die  Gräcisirung  0-ovtoQ-ig  und  auch  (Dqovoqio,  wenn 
man  annimmt,  dass  gleich  Herodots  (Degcog  (Menophtah, 
Sohn  des  Sesostris)  auch  Ramses  III  den  Titel  Pharao  ge- 
führt und  mit  dem  Beisatze  ur-ao  ,,der  sehr  Grosse"  zu 
0(e)Q-ovoQ-a)  geworden  sein  mag.  Bei  dieser  Gelegenheit 
ist  auch  Herodots  Form  des  Namens  'Pctfiiplvirog  zu  er- 
läutern.    Da  dieser  König  sich  durch  den  beständigen  Titel 

f  |  byq-Anu   „Fürst  von  On  (Heliopolis)"  von  den  übrigen 

Ramessiden  unterscheidet ,  so  leidet  es  für  mich  keinen 
Zweifel,  dass  cPa^ip-lvLt-og  aus  Ramss-Anut  —  auch  diese 
Form  kommt  vor  —  sich  gerade  so  gebildet  hat,  wie  Oeei- 
vvzai,  der  Titel  der  beiden  ersten  Dynastieen,  aus  Taui-Anut, 
der  fast  constanten  Legende  der  Urhauptstadt  Aegyptens. 
Auf  den  Parallel  dieser  ältesten  Metropolis  des  Landes  weist 
die  Epoche  der  Sothisperiode  —  sollte  Ramses  III  seinen 
Titel  „der  Onische",  vielleicht  mit  Rücksicht  auf  die  bevor- 
stehende Epoche  derselben  gewählt  haben  ? 

Die  Uebersetzung  des  Eratosthenes  :  Oqovoqw  tjtol  Nellog 
hätte,  da  er  auch  sonst  nicht  immer  das  Richtige  trifft 
z.  B.  in  Betreff  des  'Id&cod'ig  =  'EQfioyevrjg  —  für  uns  nichts 

74)  Brugsch:  Recueil  II  pl.  LXIV,  3. 

75)  Der  Arm  hat  oft  allein  die  Geltung  von  <^r   welches   in 
demselben  Texte  vorkommt. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  119 

Bindendes,  wenn  nicht  der  Netlevg  schon  bei  dem  älteren 
Dikäarch  vorkäme.  Die  Sache  lässt  sich  übrigens  leicht 
begreifen.  Da  der  heliakalische  Aufgang  der  Sothis  die 
Nilüberschwein mung  bedingt,  so  musste  mit  der  Epoche  der 
Periode  um  so  mehr  der  Begriff  des  Voll-Nils  —  der  dann 
auch  ur-ao  „der  sehr  grosse''  heisst  —  verbunden  gedacht 
werden.  In  dieser  Beziehung  ist  besonders  ein  Text76)  be- 
merkenswerth,  worin  der  Reichthum  und  Ruhm  Rainses  III 
gepriesen  und    der    König  geradezu  mit  dem  Nil  identificirt 

wird:    8         £££      $1\  ^3^*  ,, der  Nil  ist  mit  dir  vereinigt 

(col.  14/15)."  Eine  so  lange  Parallele  wie  vorliegende,  worin 
der  Pharao  mit  dem  segenspendenden  Nil  verglichen  wird, 
ist  mir  sonst  nicht  begegnet.  Ein  Nachklang  dazu  liegt 
darin,  dass  Diodor  I  63  unmittelbar  hinter  dem  reichen 
cPapcpig  (lies  cPifiipig)  den  König  Nedevg71)  sich  Verdienste 
um  Canalisirung  des  Landes  und  Nutzbarmachung  des  Nellog 
erwerben  lässt,  wenn  er  auch  das  Sachveihältniss  dabei 
umkehrt. 

Die  vielgeplagte  Stelle  Herodot's  II  15:  Moiqi  ovxco  yjv 
I'tecc  elvaxooia  TeTelevtrf/,OTi}  oze  zwv  cigecov  zavza  syco 
rfAovov  beziehe  ich  auf  die  nicht  volle  900  Jahre  vor  Herodot's 
ägyptischer  Reise  (450  .v.  Chr.)  also  1325  v.  Chr.  zu  Ende 
gegangene  Sothisperiode  des  Moloig-Mevocporjg  (Pepi-Phiops- 
Meira).  Es  ist  sicher  nicht  zufällig,  dass  dieser  Molqig  und 
Sein  See  mit  dem  Nil  zusammen  genannt  wird,  weil  eben 
der  König  Nellog  ebenfalls  ein  Epochenkönig  war.  Wie 
der  urkundliche  Beiname  von  RamsesIII:  P-ur-ao  oder 
0{q)ovoqco    „der  sehr  Grosse  (Pharao)"'   aus  mehr  als  einem 

Grunde   mit  p-aur-ur-ao  v?_(l       /wwsat=t  -^^-^-n  „der  hoch 

76)  Dümichen:  Hist.  Inschr.  VIII  col.  1—40. 

77)  Auch  bei  Malabas  steht  der  Pharao  ^cc/üjq  (inj  Fluss)  am 
Schlüsse  und  Diodors  Ov/cqsvs  scheint  damit  identisch. 


120         Sitzung  der  phüos.-phüol.  Glasse  vom  4.  Juli  1874, 

angeschwollene  Fluss"  amalgamirt  wurde,  so  mochte  MoIqlq, 
der  Name  des  Königs  (Meira),  mit  mhüc  inundatio  exae- 
stuatio   jtlrjfxfxvqa   (und   nicht   erst   in  neuerer  Zeit)   identi- 


ficirt  werden,    um    so  mehr  als  (1(1   und  (1(1      be- 

kanntlich Aequivalente  sind.  Dass  der  letzte  König  von 
Manetho's  XIX.  Dyn.  und  seinem  zweiten  Bande  eine  Epoche 
darstellt,  ergibt  sich  auch  aus  der  Summe  1050  J.,  des  dritten 
Bandes,  die  sowohl  beim  treuen  Auszügler  Africanus:  Sfiov 
etrj  /  (tqItov)  xo\iov  av\  als  beim  Syncellus  p.  486  tqirov 
xo^iov  errj  qv  vorkommt.  Erinnert  man  sich  nun,  dass 
(Pseudo-)  Manetho  nach  den  Gewährsmännern  des  Syncellus 
p.  73  ev  rf  ßlßloj  rfg  2w$eog  (sie)  eine  eigene  STUGrolr} 
an  den  Ptol.  Philadelphus  richtete  und  dass  im  Jahre  275 
v.  Chr.78),  also  im  zehnten  Jahre  der  Regierung  des  Phila- 
delphus, eine  Phase  der  Phönixperiode  eintrat,  so  erhält  die 
Summe  des  dritten  manethonischen  Bandes  zu  1050  Jahren 
den  Sinn,  dass  Manetho  als  Chronologe  den  zeitlichen  Ab- 
stand der  Sothisepoche  unter  Phuoris  von  der  Phönixphase 
unter  Philadelphus  bemerklich  machen  wollte:  1325  bis 
275  =  1050  Jahre. 

Hiemit  wäre  also  ein  neuer  Beweis  dafür  geliefert,  dass 
Phuoris  auf  1325  v.  Chr.  anzusetzen  ist.  Das  Datum  ,,Jahr  8" 
zu  Medinet- Habu,  worin  der  Frühaufgang  des  Sirius  am 
1.  Thot  gemeldet  wird,  spricht  nun  auch  zugleich  für  die 
Identität  von  Phuoris  und  Ramses  III,  da  Oovwqig  —  IV^  £ 
in  allen  Auszügen  steht.  Wenn  man  einwerfen  sollte,  dass 
der  Zusatz  6  Ttaq'  c0^rjQO)  xalov^ievog  üolvßog  Lily.a.vöqag 
ävrjQ,  egf  ov  to  °'lhov  kala)  sich  ebenso  constant  finde,  so 
bemerkeich,  dass  allerdings  die  trojische  Gleichzeitigkeit, 
die  erst  seit  Eratosthenes,  vermuthlich  durch  Apollodor,  in 
den   Manetho  hinein  gebracht   worden  ist,    die  Verkürzung 


78)  Vergl.  Lepsius  Chrono!,  p.  189, 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode,  121 

der  Dynastiensummen  des  III.  Bandes  verschuldet  hat.  Es 
ist  begreiflich,  dass  die  Griechen  das  Hauptfactum  ihrer 
Vorgeschichte  an  den  ägyptischen  Epochenkönig  anlehnten. 
Dass  aber  EratostheDes  den  Oovioqiq  (Oqovoqw  =  Nellog) 
an  einer  früheren  Stelle  als  1183  v.  Chr.  kannte,  wird  durch 
das  zweimalige  Vorkommen  des  Oovcoqlq  in  der  Sothisliste 
des  Syncellus  angedeutet.  Einmal  steht  er  (No.  58)  mit 
der  Bemerkung  perä  zrjv  alcooiv  Tqoiag  unter  dem  Welt- 
jahr 4319  (von  5500  ab,  bleibt  1181  v.  Chr.),  das  andere 
Mal  (No.  49)  unter  dem  Wj.  4134 — 4151,  mit  Berücksich- 
tigung des  Ueberschusses  der  durch  Panodor  noch  nicht 
überarbeiteten  Sothisliste  nämlich  von  25  Jahren,  also 
4151  -f-  25  =  4176,  gerade  um  eine  ganze  Siriusperiode  von 
dem  Anfangstermin  Wj.  2715  entfernt79). 

Der  Laterculus  des  Eratosthenes ,  wie  er  uns  gegen- 
wärtig vorliegt,  ist,  wie  schon  die  beigesetzten  Weltjahre 
darthun ,  ein  ziemlich  spätes  und  eklektisches  Machwerk. 
Wenn  aber  schon  Aristoteles  Polit.  VII,  9  die  Zeit  Ramses  II 
Sesostris  im  Allgemeinen  richtig  bestimmt:  Ttokv  yag  vrteq- 
reivu  rölg  xqovoig  rrjv  Mivct)  ßaoiXelav  rj  SeGcooTQiog  — 
wenn  ferner  beim  Syncellus  p.  76  derselbe  Ramses  (Aegyptus) 
mit  68  Regierungsjahren,  der  Bruder  des  Danaus,  als  siebenter 
König  der  XIX.  Dyn.  (statt  als  erster)  dargestellt  wird, 
so  sieht  man  sofort,  dass  von  der  Epoche  der  Sothisperiode 
1325,  als  dem  Ausgangspunkte,  rückwärts  gerechnet  wird, 
um  eben  die  beiden  Epochen:  der  Sothisperiode  von  1325  und 
der  Phönixperiode  von  1525  v.  Chr.  zugleich  zur  Anschauung 
zu  bringen.  Jetzt  begreift  man  vielleicht  die  Juxtaposition 
von  (Vqovoqü)  tjtol  Nellog  und  ^4fj.ov^iaQzaiog  im  Laterculus 
des  Eratosthenes.  Sein  L4^iov(j.aqraiog  (Ramses  Mia/xovv) 
steht  mit  63  Regierungsjahren  unter  Wj.  3913  —  3975  inclusive. 
Zieht    man   nun    letzteres   von    der  Normalsumme  5500  ab, 


79)  Vergl.  meiner*  „Manetho"  p.  25  u.  p.  14- 


122  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

so  bleibt  1525  v.  Chr.  d.  h.  die  Epoche  des  Phönix,  der  nach 
Tacit.  Anna).  VI  28  Sesostride  regnante  zum  ersten  Male 
erschienen  war.  Der  Pap.  Leydens.  I  350  hatte  mir  bei 
einer  früheren  Gelegenheit80)  durch  die  Notiz  beim  letzten 
Mechir  des  52.  Regierungsjahres  von  Ramses-Sesostris  : 
,. Anfang  des  Jahres  der  Zurückweichung"  unter  Zugrunde- 
legung des  traditionellen  Exodusjahres  1490  v.  Chr.  dasselbe 
Jahr  1525  v.  Chr.  ergeben.  Ich  denke,  jetzt  hiemit  mein 
kürzlich  gemachtes  Versprechen  erfüllt  zu  haben,  da  die  An- 
gabe eines  Chronologen  von  Fach,  wie  Eratosthenes ,  der 
die  Epoche  des  Sesostris  kennen  musste,  jedenfalls  Berück- 
sichtigung fordert.  —  Wenn  eingeworfen  werden  sollte,  dass 
im  Laterculus  das  63.  Jahr  des  Sesostris  und  nicht  sein 
52.  als  Epoche  erscheint,  so  halte  ich  entgegen,  dass  die 
Zahlen  der  drei  letzten  Nummern  einen  Ausfall  von  13  Jahren 
aufweisen,  die  Goar  einem  anonymen  Könige  zuschreiben  zu 
müssen  glaubte,  während  Bunsen81)  dem  Wqovoqco  19  statt 
5  Jahre  zutheilt.  Die  Lesart  der  Handschriften  nach  Din- 
dorfs  Ausgabe  des  Syncellus  ist  folgende : 

No.  36   Sicp&ag   6  Kai  cEg^rjg  (Armais)  =  vlog  cHcpaiotov 

exrj  s    —    ya)7i$ . 

No.  37  0qovoqco  rjTOt  Neilog     .     .     Irr]  e    —  ycorcd- . 

No.  38  lAiiovSaQTcäog  ....  ety  f /  —  yaiy  . 
Die  Summe  der  Regierungsjahre  dieses  Kleeblattes: 
5  +  5~j-63-73  Jahre,  reicht  vom  Wj.  3889  bis  Wj.  3962, 
nicht  3975,  wie  die  Schlussrechnung  erheischt.  Die  fehlen- 
den 13  Jahre  können  nun  allerdings  wegen  des  bf.iOLOxelevTov 
(von  No.  36  und  37)  dem  Oqovoqw  beigelegt  werden.  Allein 
es  fragt  sich,  ob  nicht  der  ganzen  Berechnung  und  Ver- 
wirrung die  Regierungszahl  65  zu  Grunde  liegt,  welche  in 
der    Sothisliste    des  Syncellus    unter  No.  25/26  als  Mia^iovg 

80)  Moses  der  Ebräer  p.  55  —  64. 

81)  Die  Schalttage  des  Euergetes  I  etc.  p.  14  infra. 

82)  Aeg.  Stelle  III  Urkunden  p,  67. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  123 

%xr\  18  !Afxeoriotg  (Papeoofjg)  str)  %e  zweigetheilt  vorliegt. 
Zieht  man  14  Jahre  von  66  (der  richtigen  Zahl)  ab,  so 
bleiben  52;  dasselbe  geschieht,  wenn  man  13  von  65  sub- 
trahirt.  Jedenfalls  steckt  hier  eine  Spur  davon,  dass  das 
Jahr  52  des  Ramses-Miamun  Sesostris  als  Epoche  galt.  In 
meiner  vorigen  Abhandlung83)  habe  ich  aus  Pap.  Leydens. 
1351,  den  ich  als  Annex  zu  1350  betrachte,  von  einem 
Geschenke  gesprochen,  das  im  Ramesseum  verabreicht  wurde, 
„am  30.  Mechir  des  Jahres  52)  dem  Ordner  der  Kreis- 
bewegung des  Himmels,  des  Uzat- Auges  (Phönix)  und  der 
Sterne".     Die  Stelle  lautet  vollständig  so: 

„Monat  Mochir  letzter  Tag  .  .  Reichniss    an   den   Ordner 

der  Bewegung  des  Himmels  des  Uza  u.  der  Sterne :    1  Gabe." 
Hiezu  stimmt  lin.  10  mit  der  Legende: 

,, Monat  Phamenot  Tag  3:    Reichniss  für  die  Bedienung   der 

IMMII----  im 

Haqt  chasebu**)  3". 

Es  ist  unzweifelhaft,  dass  ,,die  Fürstin  (haq't)  der 
Decane"  (chabesu)  eben  nur  die  Sothis  ist,  deren  die 
astronomische  Darstellung  am  Plafond  des  Ramesseums  eben- 
falls gedenkt  mit  den  Worten:  „ Die  Götter  und  Göttinen  des 
Südhimmels  gewähren  dir,  König  Ramses  Meri-Amun.  dass  du 


83)  Die  Schalttage  des  Euergetes  I  etc.  p.  115. 

84)  Man  sieht,   dass    der   Schreiber   durch  obiges  sebu  „Sterne" 
verleitet,  eine  Metatheis  statt  Chabesu  beliebt  hat. 


124        Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

VTJH^ElloÄ*^^  JLHIoVf  aufleuchtest 
wie  Isis-Sothis  am  Himmel  den  Morgen  des  Jahresanfangs". 


„Sie  bestimmt  dir  Millionen  von  Panegyrien,  X" 

__  AD   I      I    I        I        l/WW\A 

^^WT"!    Nilüberschwemmungen,    nicht    ablassende    (aus- 

[=rI=]'WWVA*XXO    n  ,..j  ,.  '■.  ,. 

setzende)  —  <=>  und  dass  dir  erscheinen  die 

(Decan-)  Sterne  jede  Decade". 

Wenn  die  bisherigen  Deductionen  für  das  52.  Jahr  des 
Sesostris  die  Phönixepoche  1525  und  für  das  8.  Jahr  Ram- 
ses  III  die  Sothisepoche  1325  v.  Chr.  ergeben  haben,  so  fragt 
es  sich  jetzt,  wie  das  oben  erörterte  Datum  des  Papyrus 
Ebers  dazu  stimmt.  Ich  bemerke  nur  kurz,  dass  2icp&äg 
den  Monumenten  zufolge  unmittelbar  hinter  dem  Exodus- 
Pharao  Menoptah  (l^^evo^ad-)  zu  wenn  auch  bestrittener 
Herrschaft  gelangte,  und  dass  ich.  bis  jetzt  keinen  Grund 
gefunden  habe,  von  dem  traditionellen  Datum  des  Exodus: 
1490  v.  Chr.  abzugehen85).  —  Es  übrigt  nun  noch  eine  Art 
Gegenprobe  zu  machen  dadurch,  dass  die  astronomischen 
Denkmäler  der  Nachfolger  des  Rhampsinit  zu  Rathe  gezogen 
werden.  ' 

Es  ist  durch  Lepsius,  De  Rouge,  Biot  und  Andere  längst 
dargethan,  dass  der  Sothisaufgang  in  der  11.  Stunde  der 
Nacht  im  Grabe  Ramses  VI  sowohl  als  Ramses  IX  unter 
dem  gleichen  Datum  :  1.  Phaophi,  angeschrieben  ist.  Diese 
Uebereinstimmung   darf   nicht    befremden    oder    gegen    das 


85)  Wenn  ich  bisher  nur  gelegentlich  auf  die  abweichende  An- 
sicht von  Lepsius  zu  sprechen  kam,  der  den  Exodus  wohl  auch  unter 
Menoptah  setzt  (1314)  aber  ihn  zugleich  zum  Epochenkönig  dieser 
Periode  macht,  so  geschah  dies  nicht  aus  Geringschätzung,  sondern 
wegen  Mangels  an  Raum.  Sollte  ich  später  ausführlich  hierüber 
handeln,  so  werde  ich  stets  bekennen,  dass  ich  aus  seiner  „Chrono- 
logie" vielfache  Belehrung  und  Anregung  geschöpft  habe. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  125 

Zeugniss  dieser  Denkmäler  misstrauisch  machen,  da  der 
Begleittext  selber  sagt,  dass  die  Aufgänge  für  je  15  Tage 
notirt  sind.  Diess  gibt  einen  Spielraum  von  60  Jahren, 
der  für  die  Distanz  beider  Herrscher  genügend  erscheint. 
Das  Doppeldatum  im  Papyrus  Abbott,  wo  dem  19.  Re- 
gierungsjahre Ramses  IX  als  Correspondenz  „Jahr  1"  gegen- 
über gestellt  ist,  hängt  vielleicht  damit  zusammen.  Analog 
ist  im  prachtvollen  Grabe  Ramses  IV  der  Sothisaufgang 
unter  dem  15.  Thot,  also  um  15  Tage  oder  15X4  =  60  Jahre 
früher  angesetzt.  Wem  jedoch  dieselbe  Distanz:  1.  Thot 
—  15  Thot  von  Ramses  III  bis  zu  seinem  unmittelbaren 
Nachfolger  zu  gross  erscheint,  den  verweise  ich  auf  den 
„Grossen  Papyrus  Harris"86).  Er  ist  vom  32.  Jahre  Ram- 
ses III  datirt  und  nichts  beweist,  dass  dieses  den  Schluss 
der  Regierung  dieses  denkmalreichen  Königs  bildet.  Bei 
einem  feierlichen  Anlasse  —  allenfalls  der  Epoche  des 
25  jährigen  Apiscyclus  seit  seinem  8.  d.h.  Epochenjahre?  — 
ergreift  der  Pharao  selbst  das  Wort,  um  sich  seinen  Grossen 
gegenüber  seiner  Thaten  zu  rühmen.  Die  für  meinen  jetzigen 
Zweck  wichtigste  Stelle  gebe  ich  nach  meiner  vor  mehr  als 
vier  Jahren  gefertigten  Uebersetzung87)  :  ,.Es  war  das  Land 
von  Kemi  (Aegypten)  auseinander  gefallen:  Jedermann  bildete 
für  sich  ein  Centrum;  nicht  war  ihnen  ein  (gemeinsames) 
Oberhaupt  an  der  Spitze  wider  die  Einfälle  der  Fremden. 
Es  war  das  Land  von  Kemi  in  der  Gewalt  von  Fürsten 
der  leitenden  Städte:  einer  tödtete  den  andern;  so  gelangte 
zur  Macht  die  Verwerflichkeit  (ujooTre  vilis ,  inanis)  fremder 
Angreifer.  Es  geschah  (desshalb)  hernach  in  den  Jahren 
des    Unglücks    dass    sich    machte    zum    Fürsten    (haq)    ein 


86)  Eisenlobr:  D.  Gr.  P.  H.  p.  9;    von  einer  religiösen  Neuer- 
ung, die  er  darin  erwähnt  wissen  will,  ist  keine  Spur  zu  entdecken. 

87)  Eisenlohr:   On   the    political   condition  of  Egypt  before  the 
reign  of  Ramses  III  p.  7  sqq. 


126        Sitzung  der  philos.-philol.  Ctasse  vom  4.  Juli  1874. 

Syrer,  im  Verhältniss  zu  ihnen  als  ein  König  (ur) ;  er 
brachte  das  Land  als  tributspendendes  vor  seine  Alleinherr- 
schaft, da  er  seine  Genossen  sammelte,  welche  ihre  (der 
Aegypter)  Schätze  plünderten.  Sie  thaten  den  Göttern  das- 
selbe an,  wie  den  Menschen:  nicht  wurden  (mehr)  Opfer 
dargebracht  im  Innern  der  Tempel"  etc.  Weiterhin  erzählt 
Ramses  III,  dass  sein  Vater  und  Vorgänger  Necht-Set 
die  Eindringlinge  vertrieben,  die  Ordnung  im  Lande  wieder- 
hergestellt und  ihn  selbst  zum  Thronfolger  erhoben  habe, 
worauf  er  gestorben  sei.  H.  Birch,  der  ausgezeichnete 
Aegyptologe,    wollte    in    der   Gruppe,    die    ich    einfach  mit 

„machte  sich"  übersetze,  nämlich  II QA        1  ^X  den  Namen 

des  Syrers  erkennen,  der  sich  zum  Alleinherrscher  aufwarf. 
Allein  diese  Annahme  scheitert,  von  vielem  Andern  abgesehen, 

schon  an  der  Parallelstelle  (IgA        ^\  i  „sie  machten,  thaten 

an,  behandelten"  die  Götter  geradeso  wie  die  Menschen,  in- 
dem sie  beide  des  Gehörigen  beraubten. 

Eher  lässt  sich  hieher  Diodor's  (I  62)  Khrjg  und  der 
KiIqtcüq  der  Sothisliste  ziehen ,  da  dieser  ebenfalls  nach 
einer  Anarchie  (enl  rcavxe  yevedg  yevo^evrjg)  und  zwar  durch 
Wahl  (^QB^-rj)  aus  unberühmtem  Geschlechte  (twv  döo^wv 
zig)  auf  den  ägyptischen  Thron  gelangte.  Man  glaubt  Ma- 
netho  zu  hören,  wenn  er  die  c Y%ovaowg  oder  Hykschos 
{ßaoikeig  7toi\ihzg)  als  ard-gcortoi  to  yevog  aoytioi  ebenfalls 
von  Asien  her  in  Aegypten  einfallen  und  den  Salatis  als 
König  wählen  lässt  {fteqag  de  y.al  ßaoiXea  eva  e§  avzcov 
ertolrjüav),  dem  das  Land  zinspflichtig  wurde.  Die  Analogie 
beider  Fälle  ist  gewiss  nicht  zu  verkennen. 

Was  die  Erklärung  des  Namens  Khyg  betrifft,  so  liegt 
das  koptische  rst  alius  KdtOTi  alienus,  Ke^woTin  alii, 
alieni,  um  so  näher,  als  obiger  Text  selbst  die  Bezeichnung 


■^  <*     ^w_ '  Kechetu  statt  Ke(t)chetu  oder  Ketechu 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  127 

für    die    Fremden    gebraucht,    die    sonst    auch  ix        Kaui 

heissen.  An  u  -$  Keti**)  , »Genosse"  wird  kaum  zu  denken 
sein.  Verdient  die  Form  K^qtwg  den  Vorzug,  so  Hesse 
sich  sein  Titel  T^""  i&t  ■^iar  ~  Syrus,  vielleicht  mit 
Hinzufügung  von  E=^><l  tos  («xoce  praestare)  beiziehen. 

Auf  jeden  Fall  leistet  uns  dieser  Text  durch  die  Con- 
statirung  einer  langen  Anarchie  und  einer  Fremdherrschaft 
vor  Necht-Set,  dem  Vater  Ramses  III,  den  Dienst,  dass  wir 
mit  Hinzuuahme  von  Amenmesu,  2iq>&äg  und  Sethos  II, 
mit  dessen  Namen  die  Sothisliste  den  KrJQTcog  gruppirt,  den 
Zeitraum  zwischen  dem  Exodus-Pharao  Menoptah  und  Ram- 
ses III  genügend  ausfüllen  können. 

3.  Pepi-Merira  *fa»v  MoTqls  (Mevoyws)  2785  -  2782  v.  Chr. 

Einen  letzten  Dienst  erweist  uns  der  Tempil  von  Den- 

derah    durch    die    Darstellung  II  67.      „Hathor   die   grosse, 

die   Herrin   der    Göttinen,    hellstrahlend    wie  ihr  Vater,    die 

Herrin  des  Hauses"  sitzt  in  einem  goldenen  Naos  von  4  Ellen 

Höhe;  ihr  bietet  der  König,  das  Schild  (§1)1)  J  über  sich 
haltend  (ebenfalls  golden),  ein  1  Elle  hohes  goldenes  Bild  des 
Ahi-uer,  des  Hathorsohnes  dar,  der  in  der  Rechten  das  bekannte 
Hathor-Sistrum ,  in  der  Linken  das  Amulet  &^>  hält.  Die 
Göttin  spricht  zum  Könige:  „Ich  gebe,  dass  dein  Schrecken 
sei  in  dem  Herzen  der  Menschen,  und  dass  die  Götter  sich 
freuen  bei  deinem  Anblicke".  Aus  der  Darstellung  erhellt, 
dass  der  so  angeredete  König  einer  der  Imperatoren  ist 
(wahrscheinlich  Nero).      Warum    nun   hat   dieser  jenes  ihm 


88)  In  dem  Papyrus  von  Bologna  (Chabas  Melanges  III,  I  p.  242) 
heisst  der  flüchtige  Syrer  Naqati,  sein  Vater  Salraz,  seine  Mutter 
Qeti.  Er  flüchtet  zu  einem  Landsmanne  Kenur  "if-)3  KtvvQug\  seine 
Vaterstadt  war  Aratu  in  Syrien. 


128  Sitzung  der  phitos.-philol.  Ctasse  vom  4.  Juli  1874. 

nicht  gehörige  Namensschild  über  sich  ?  Die  Inschriften  des 
geheimen  Corridors  beweisen ,  dass  der  Plan  des  Tempels 
von  Denderah  ursprünglich  in  den  Tagen  der  „Horus- Ver- 
ehrer"   auf  die   Haut    einer    Ziege    geschrieben    war;     dass 

dieser  zur  Zeit  des   f   üqH   J    im  Innern  einer  Ziegelmauer 

des  Südhauses  aufgefunden  wurde,  während  die  Restauration 
des  Monuments  durch  Thutmosis  III89)  auf  Grund  einer 
zur  Zeit  des  Cheops  in  alter  Schrift  aufgefundenen  Ur- 
gründung  (Plan)  erfolgte. 

Die   Schreibung  f  ifjfj  J  anstatt  (üH  1)1)1    (in  beiden 

Stellen  1)  erklärt  sich  aus  einer  Grille  der  Schreiber,  die  das 
Zeichen  g  wegen  seines  Theilungsstriches  als  fj  auffassten. 
Allen  Zweifel,  dass  Pepi  ®ia)ip  gemeint  sei,  beseitigt  das  im 
Corridor  beigefügte  Thronschild  f  0A^==r.[j()  J  Meri-Ra  , Lieb- 
ling der  Sonne."  Erinnern  wir  uns  des  herodotischen  Mo7oig 
und  des  theonischen  Mev6<pQ7]Q,  der  als  Epochenkönig  con- 
statirt  ist,  so  werden  wir  mit  Bunsen  geneigt  sein,  den 
Molqtg  mit  diesem  langlebigen  Könige  der  VI.  Dynastie  — 
er  soll  100  Jahre  weniger  1  Stunde  gelebt  oder  sogar  regiert 
haben  —  zu  identifiziren  und  auch  den  Namen  MevoyQrjs, 
wie  ich  schon  früher  gethan  habe,  als  Meri-n-ph-ra  „geliebt 
von  dem  Sonnengotte"  auf  diesen  König  zu  beziehen.  Dass 
die  Hinzufügung  der  Präposition  /wvw  facultativ  war,  wissen 
wir  längst,  sogar  aus  der  Legende  des  unmittelbaren  Nach- 
folgers vonPhiops:  f  o^-/wwv*  J  Mer-en-Ra.  Die  Hinzu- 
fügung des  Artikels  cp  (p,  ph,  CP)  in  einer  späteren  Quelle 
wie  Theon,  war  gar  nicht  anders  zu  erwarten.  (Vergl.  das 
relativ  junge  Ile-Te-cpQrjg  mit  dem  altertümlichen  JDEPÜID 
Putiphra). 

89)  Sein  Thronschild  (oöj|M  steht  II  55c  auf  einem  Hathor- 
capitäl  „von  Mafka,  4  Palmen  hoch". 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  129 

Dazu  aber  kommen  noch  andere  Thatsachen,  welche 
den  Schluss  nahe  legen,  dass  Phiops-Meri-Ra  der  Epochen- 
könig ßlevocpQyg  gewesen,  dass  also  zu  seiner  Zeit:  2785 
vor  Chr.  die  Sothisperiode  sich  erneuerte.  Auf  einem  Altar 
der  VI.  Dynastie  zu  Turin,  aus  der  Regierungszeit  dieses 
Phiops  datirt,  erscheint  neben  anderen  Gottheiten  auch  zum 
ersten  Male  „die  göttliche  Sothis".  —  In  der  syro- 
arabischen  Liste90)  erscheint  ein  König  Ap intus,  der  die 
chaldäische  Schrift  nach  Aegypten  bringt,  worauf  Urun- 
chus  folgt,  das  wohl  nichts  anderes  als  sein  Beiname:  ur- 
anch  „der  langlebige"  ist  und  zu  Apintus  gehört.  In  der 
verzwickten  arabischen  Schrift  sind  die  Zeichen  für  n,  t, 
und  b  (=  p)  nur  durch  diakritische  Punkte  unterschieden, 
so  dass  ursprünglich  der  eratosthenische  LiTtaitTvovg  (=  Olcoip) 
überliefert  war.  Dass  er  die  chaldäische  Schrift  nach 
Aegypten  gebracht  haben  sollte,  ist  natürlich  falsch;  allein 
es  steckt  in  dieser  Erwähnung  der  Chaldäer,  die  im  Alter  - 
thum  allgemein  als  die  ersten  Astronomen  galten,  die  An- 
deutung, dass  unter  Phiops  eine  astronomisch-chronologische 
Epoche:  eben  die  Erneuerung  der  Sothisperiode,  stattfand. 
—  Endlich  sei  nicht  unerwähnt,  dass  auch  nach  Lepsius91) 
früherer  Auflassung,  auf  Grund  der  man ethonischen  Summen, 
die  Festsetzung  der  Sothisperiode  in  die  VI.  Dynastie  fiel, 
von  der  fast  die  Hälfte  durch  die  100  Jahre  des  Phiops  ein- 
genommen wird  —  ein  allerdings  sehr  grosser  Spielraum 
für  eine  Epoche.  Auch  mit  meiner  Festsetzung  der  Epoche 
des  Menes  (4157  v.  Chr.)  stimmt  die  Sothisepoche  unter 
Phiops,  da  nach  Manetho's  etwas  zu  hoch  gerathenen  Summen 
von  Menes   bis   zum  Schlüsse   der   VI.  {)yn.  1497  J.  liegen. 

Der  Turiner  Königspapyrus,  den  ich  in  meinem  „Manetho" 
behandelt  habe,  zählt  gerade  so  wie  Manetho  die  Regierungs- 


90)  Vergl.  meinen  ,, Manetho'*  p.  40. 

91)  Chronologie J  p.215;  Königsbuch  p    120. 
[1874,  IL  Phil.  hist.Cl.1.]  9 


1 30  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

zahlen  am  Ende  der  Dynastien  zusammen  und  bezieht  sie 
auf  Menes,  so  dass  dieser  wenigstens  eine  geschicht- 
liche Aera  darstellen  könnte,  wenn  diese  Urkunde  nicht 
so  fragmentarisch ,  oder  Manetho's  Zahlen  nicht  allerhand 
Systemen  zu  lieb  hie  und  da  gefälscht  wären.  —  Die  von 
Mariette  in  Tanis  aufgefundene  Stele  mit  dem  Jahre  400 
von  dem  Könige  (Set-aa-pehuti)  Nubti  (vermuthlich  dem 
vorletzten  Hyqschos,  dem  Vorgänger  des  A  p  o  p  h  i  s)  bis  auf 
Ramses  II  Sesostris  stimmt  zu  Manetho  und  der  Bibel,  kann 
aber  als  Aera  für  Aegypten  nicht  gelten.  —  Nachdem  nun 
die  Anstrengungen  der  Aegyptologen  Hincks  und  De  Rouge, 
aus  den  Daten  der  pharaonischen  Feldzüge,  oder  aus  den 
monumentalen  Notizen  über  Naturereignisse,  etwas  Sicheres 
für  die  Chronologie  zu  ermitteln,  bisher  sich  fruchtlos  er- 
wiesen haben,  bleibt  uns  vorderhand  keine  andere  Aussicht 
auf  Erfolg,  als  in  der  Aufzeigung  von  Sothisdaten,  die  an  ein 
bestimmtes  Regierungsjahr  (Tag,  Monat)  eines  schon  be- 
kannten Königs  geknüpft  sind. 

4.  Ein  „Horus- Verehrer"  4246—4242  v.  Chr. 

In  meinem  ,, Manetho"  p.  66  hatte  ich  zuerst  auf  fragm.  1 
des  Turiner  Königspapyrus  lin.  9/10  aufmerksam  gemacht, 
wo  die  Legende  „Horus- Verehrer"  sich  zweimal  wiederholt. 
Da  diese  Gruppe  dem  lin.  11/12  aufgeführten  Protomonarchen 
Mena  unmittelbar  vorangeht  und  ich  das  dahinter  befind- 
liche Pluralzeichen  vernachlässigte,  so  musste  ich  an  eine 
Form  des  Gottes  Horus  um  so  mehr  denken,  als  dieser  nach 
allen  Ueberlieferungen  die  göttlichen  Dynastien  beschliesst. 
Allein   De  Rouge9*)    berichtigte    mein  Versehen,    indem   er 

zeigte  dass  >$^Q  '  V^^J1  ^ar  sc^esu'u  (°der  vielmehr 
schesu-u  Har)  ,,les  adorateurs  d'  Horus'4  steht,  die  er  richtig 
als  predecesseurs  (humains)  de  Menes"  bezeichnet.  Goodwin 

92)  Recherches  sur  les  monuments  etc.  six  premieres  dynasties  p.  12. 


Lauth:  Die  Sothis  oder  Siriusperiode.  131 

vervollständigte  diese  Berichtigung  durch  Hinweis  auf  die 
Benennung  Nsuveg,  welche  Manetho  den  unmittelbaren  Vor- 
gängern des  Menes  beilegt,  und  man  ist  jetzt  allgemein  der 
Ansicht,  dass  die  „Horus- Verehrer"  vorgeschichtliche  mensch- 
liche Dynasten  sind. 

Wenn  nun  aber  dieser  ausgezeichnete  englische  Forscher 
in  einem  späteren  Artikel93)  sogar  einen  dieser  prähistorischen 
Könige  im  Todtenbuch  cap.  115  aufgefunden  haben  will,  so 
muss  ich  zu  meinem  Bedauern  diese  augebliche  Entdeckung 
in  ein  Nichts  auflösen.     Der  erste  Passus,  wo  dieser  König 

vorkommen  soll,  lautet^|  |  |  (  —  klj^e^jw 

,,Ra  spoke  to  King  Am-hau-f".  Allein  es  ist  offenbar  zu 
übersetzen :  „Der  Sonnengott  war  im  Kriege  mit  Suten  (Set, 
Typhon)   und    seinen   Sippen   (Verwandten)".     Die  Variante 

IJLüÜ  für  *ma  UDd  WZ  ist  gerade  im  Todtenbuche 
öfter  z.  B.  c.  135,  4  anzutreffen.  Dieser  Suten  (man  kann 
mnemoneutisch  Satan  setzen)  war  nach  der  Tradition  ein 
Verwandter  des  Sonnengottes,  wie  ja  Plutarch  den  mit  ihm 

identischen  ^7tcog)ig  m  i|W&   ädelyog  cHliov  nennt.     Iuso- 

ferne  und  weil  das  Pluralzeichen  häufig  missbräuchlich  steht, 
könnte  man  übertragen  .  .  .  „mit  Suten,  seinem  Sippen". 
Allein  es  handelt  sich  offenbar  um  einen  wirklichen  Kampf 
der  kosmogonischen  Mächte  des  Lichtes  und  der  Finsterniss, 
nicht  um  ein  blosses  Wortgefecht.  In  diesem  Kampfe  hatte 
Set  (Suten,  Typhon)  seine  oft  genug  erwähnten  Gesellen, 
hier  Sippen ,  bei  sich ,  während  auf  Seite  des  Sonnengottes 
nur  ein  Gehülfe  genannt  wird,  derselbe  von  dem  es  vorher 
heisst:  „ich  weiss  den  Grund,  warum  beigelegt  wird  (als 
Attribut)  eine  Locke  dem  Männlichen".  Wahrscheinlich 
bezieht  sich  diese  Stelle  auf  den  Gott  Schu  (mit  der  Strauss- 


93)  Zeitschrift  f.  äeg.  Spr.  1873  106/107. 


132         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

feder  auf  dem  Haupte)  der  mit  seiner  Zwillingsschwester 
Tafnut  in  der  oberhalb  angebrachten  Vignette  unmittelbar 
hinter    dem    Sonnengotte    steht.      Mit   diesem    hält    Ra    ein 

Zwiegespräch : '^    4        |/WVWVT^^'^  ^Wi*"^-  "es  sPracn 


C=I>   \  A/WW\    I  I    . 

der  Sonnengott  zu  seinem  Sippen  (ergreife  den  Dreizack!)". 
Dass  dieses  auch  geschah,  meldet  der  Text  sofort :  CT 

eJLtl^^sfl^   "es   ward   der  Dreizack  8einem 

Sippen".  Hienach  sind  also  Goodwin's  Sätze:  ,,Said  Ra  to 
Amhauf:  take  brass"  und  „Amhauf  took  brass"  zu  ver- 
bessern. Dass  nicht  von  einem  Könige  Namens  Amhauf  die 
Rede  sein  kann,  beweist  schon  die  Stellung  des  Possessiv- 
pronomens 2e=^_    hinter  dem    Deutbilde  Jn.      Damit   ändert 

sich  natürlich  die  ganze  Auffassung  des  Cap.  115,  was  übrigens 
hier  nicht  weiter  ausgeführt  werden  kann. 

Jedenfalls    aber   bezieht   sich  auch  dieser  Text,  wie  so 

viele    des  Todtenbuches.  auf  die  Stadt  Anu  [1      (On,  Helio- 

polis),  die  Urmetropole  Aegyptens,  und  liefert  einen  Beitrag 
—  wenn  auch  nur  legendarischer  Natur  —  für  die  Zeit  der 
theokratischen  „Horus-Verehrer".  Da  nun  der  für  die  Epoche 
des  Sothisaufganges  erforderliche  Parallel  auf  Anu  hinweist, 
wo  alle  ursprünglichen  Satzungen  entstanden,  so  werden  wir 
auch  einen  der  ,, Horus-Verehrer"  als  Epochenkönig  für 
4245 — 4242  in  proleptischer  Weise  vermuthen  dürfen,  bis 
neue  Quellen ,  vielleicht  ein  Glücksfund  astronomischer  Be- 
obachtungen, Sonnen-  und  Mondsfinsternisse  —  warum  nicht 
auch  eines  Verzeichnisses  aller  Epochenkönige?  —  sowohl 
über  die  jüngeren  als  die  älteren  Sothisperioden  authen- 
tischen Aufschluss  ertheilen. 


Ethe:  Die  Lieder  des  Kisai.  133 


Herr  Haug  legt  vor  eine  Abhandlung  des  Herrn 
Ethe  in  Oxford: 

„Die  Lieder  des  Kisä'i". 

Einer  der  berühmtesten  vorfirdüsischen  Dichter  Persiens 
neben  dem  grossen  Meister  Rüdagi  l)  war  dessen  jüngerer 
Zeitgenosse  und  Nachfolger  Kisä'i,  dessen  bisher  vollständig 
unbekannte  Lieder  ich  in  Folgendem  gesammelt  und  mit 
einer  Uebersetzung,  sowie  biographischen  Notizen  begleitet 
habe.  Die  hierzu  benutzten  Quellen  sind:  1)  Muh.  cAufi's 
Tazkirah,  die  älteste  einheimische  Literaturgeschichte,  ver- 
fasst    um's  Jahr  617,    Sprenger'sche  Samml.  Nr.  318  f.  85. 

2)  Haft  Iqlim,  vergl.  die  vorjähr.  Sitzungsberichte  p.  626, 
Elliot  Coli.  158  f.  207b,  —  160  f.  3,  Ouseley  Coli.  377  f.  198. 

3)  Lutf  cAlis  Atashkädah,  vergl.  Sitzungsberichte  v.  1872 
p.  297,  Elliot  Coli.  17  f.  80,  —  387  f.  83b.  4)  Wälih's 
Riädh-ushshuarä,  vergl.  Sitzungsber.  v  1873  p.  621,  Elliot 
Coli.  402  f.  282b,  Sprenger'sche  Samml.  Nr.  332  f.  414. 
5)  Khulägat-ulafkär,  vergl.  ebend,  p.  627,  Elliot  Coli.  181 
f.  245.  6)  Makhzan-ulgharäib,  vergl.  ebend.  p.  627,  Elliot 
Coli.  395  f.  354.  7)  Khushgü's  Safinah,  verf.  1137,  Spren- 
ger'sche Samml.  Nr.  330  f.  12b.  8)  Nadrat's  Tazkirah, 
vergl.  Sitzungsber.  v.  1872  p.  300,  An  merk.  63,  India  Office 
2578  f.  33b.  Ich  citire  für  den  biographischen  Theil  nur 
den  Originaltext  cAufi's  und  füge  in  der  Uebersetzung  die 
Erweiterungen  der  übrigen  Tazkiras  hinzu. 


1)  Vergl.  meine  A.bhandl.;  „Rüdagi,  der  Sämänidendichter"  in  den 
Nachrichten  der  k.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttinnen,  Jahr- 
gang 1873  pp.  663-742, 


134        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Haktm  Kisä'i  aus  Marw. 
*\.»*£  x£  i>yj   ^jgL&i    ^-jL^^   ^5\**-Jt  ^Lwi'  *-aXs>I 

ILGyS.     \l     \\      sLk£.         www      O     Jli      &X>      •     Ouälj      jJ      \4>     lX#\ 

•    Jüß\    *0    .1    nIa^!     J&\    .    »JuLäo    t>\c>    s'juO    *ö    üb 

Haktm  Majd-uddin  Abu  Ishäq  (Khuläc. ,  Wälih  und 
Atashk.)  Kisä'i  aus  Marw  war  ein  Dichter,  der  das  Gewand 
der  Askese  um  die  Brust  trug  und  den  Turban  der  Armuth 
und  Gottesbedürftigkeit  auf  dem  Haupt2)  Die  Erdschicht 
der  Begierde  hatte  er  von  der  Herzensfläche  mit  dem  Aermel 
der  willenlosen  Gottergebenheit  fortgefegt  und  den  auf- 
wirbelnden Staub  der  Lüsternheit  von  dem  Busenplan  mit 
dem  Nass  der  beiden  Gramesaugen  gelöscht.  Man  sagt,  er 
habe  stets  sein  Gewand  (Kisä)  sich  über  das  Gesicht  ge- 
zogen, daher  sei  er  unter  dem  Namen  Kisä'i  bekannt  ge- 
worden (Makhz.).  Nach  anderen  führte  er  seinen  Dichter- 
namen einfach  desshalb,  weil  er  sich  das  Gewand  der  Askese 
um  die  Schulter  geschlagen  (Khuläg.).  Die  meisten  seiner 
Gedichte  beziehen  sich  auf  Askese,  enthalten  warnende 
Mahnungen  oder  feiern  die  trefflichen  Eigenschaften  der 
Prophetenfamilie,  besonders  der  Fätimah  und  des  cAli  (Wälih, 
H.  Iql.  und  Makhz.).  Daneben  ist  er  besonders  reich  an  origi- 
nellen Bildern  und  Vergleichen.  Er  hat  auch  die  cAbbäsiden 
durch  Lobgedichte  verherrlicht  (Wälih),  und  ebenso  vieles 
zum  Preise  der  Sämäniden,  ja  selbst  noch  des  Sultans  Mah- 
mud von   Ghaznah  gedichtet  (Khuläg.,  Wäüh,  Atashk.  etc.). 


2)  Atashk.  nennt  ihn  geradezu  einen  Bekenner  des  (JJüfismus,   der 


Ethe:  Die  Lieder  des  Kisai.  135 

Er  war  geboren  am  Mittwoch  den  26.  Shawwäl  A.  H.  34 18) 
und  muss,  falls  die  Angabe  cAuf!s  und  anderer  Biographen 
richtig  ist,  dass  er  die  gleich  unter  1  folgende  berühmte 
Elegie  am  Ende  seines  Lebens  zur  Zeit  des  Abschiedes  von 
der    Welt    und   in   dem    Moment   des   Uebergehens    in  eine 

andere  (Ju^s  o^L,  ^  ^taj  p&^  **x.  yh>\  so)  gedichtet, 
schon  im  ersten  oder  zweiten  Regierungsjahre  Sultan  Mah- 
muds, 391  oder  392  (nur  etwas  über  50  Jahre  alt)  gestorben 
sein.  Freilich  stimmt  damit  die  Bemerkung  in  Wälih  sehr 
wenig,  dass  sein  Leben  über  die  natürliche  Grenze  hinaus- 
gegangen sei.  —  Von  seinen  vielen  Liedern  sind  uns  (mit 
Weglassung  der  in  cAufi  durch  Wurmfrass  absolut  unleser- 
lich gewordenen)  folgende  erhalten : 

1)  cAufi  Makhz.  H.  Iql.  Saftn.  (in  letztem  nur  V.  1,  2, 
10  und  12).     Metrum  0JC3? 

JLwu     OJy     <X£^     ^bj     d^*    }        )  <X*AA*aO  l 

Ju«£   vi   /f^v   ;5)   &""3   k>JJm   )L^ä» 

y+s.   &*fl>   «%ÄÄf<X5     Lojo      5)   J^yu« 

I*Lj>    8t>-.4-w    &^ü    i»H)l    p;^    *£*    <-&& 
J1..5    iöyf  J«JD    Jlo    L    iuLä.sU^' 


3)  Nicht  den  27.,  wie  einige  Biographen  angehen,  denn  der  Shaw- 
wäl hat  nur  29  Tage  und  schloss  im  Jahre  341  am  Sonnabend.  — 

4)  So  Aufi,   H.  Jql.  und  Safm.  zweifellos  richtig ;   nur  Makhz.  hat 
aus  Versehen  <^«j  statt  J-f  "^  ,    also  391 ;  das  wäre  eher  das  Todesjahr 

5)  H.  Jql.:   jjLwJüo  . 


136        Sitzung  der  philos.-philol  Gasse  vom  4.  Juli  1874. 
jwL5    J^ai    &3^£=>.   jÄo    >U-«i   ^jot   ^juo 

6)  JL^>     y^L^JoL     v^w*£-*><>     jiltXJü!     i£f 

JLä.  «♦#  ^t  <X&  Li  ^^jo  &♦#  ,j!  1U  Li 

)  Ju     KJjXj     ^O     •    C^*wJ*XJ     2U«Xj     *£>-* 

^•jj   v_**£   &♦$>   |*JolpvJo   <ö*jo   v«y^i 

.fr 

«^lAS"  &sL?  y>  -  o  »Ls\j  ^Lwi'  LI 


10 


6)  Dieser  Vers  fehlt  in  H.  Jql. 

7)  H.  Jql.  in  Ell.  Coli.  158 :   öju;^  • 

8)  Dieser  Vers  findet  sich  nur  in  Makhz. 

9)  In  H.  Jql.  und  Safin  ist  aus  den  heiden  letzten  Versen  ein  ein- 
ziger gebildet ,  der  das  erste  Hemistich  von  V.  12  und  das  zweite  von 
V,  13  umfasst, 


Ethe:  Die  Lieder  des  Kisai.  137 

Uebersetzung. 
1  „Dreimalhunderteinundvierzig  just  betrug  der  Jahre  Zahl, 

Mittwoch  war  es,  und  drei  Tage  übrig  noch  vom  Mond 

Shawwäl, 

Da  betrat   mit  dieser  Frage   ich  die  Welt:  „was  thun? 

was  reden?" 

Singen,  ei,  und  froh  geniessen  Geld  und  Gut  und  üpp'ges 

Mahl! 

Ach!    gefesselt    an   Familie,    in   der  Kinder  Bann    ver- 
bracht' ich 

Gleich   dem    Lastthier   all  mein    Leben    hier  in    diesem 

Jammerthal. 

Zähl'  ich  heut  die   fünfzig  Jahre  nach  —  was  hab  ich? 

nur  ein  Zahlbuch, 

Drin    verzeichnet     stehn    der     Sünde    Posten     hundert- 
tausendmal, 
5  Und  wie  lös'  ich  nun  zum  Schlüsse  diese  Rechnung,  die 

am  Ende 

So  verkehrt,    in    die   sich   anfangs   gleich  ein  schlimmer 

Fehler  stahl? 

Lüsten  fiel  mein  Gold  zum  Opfer  —  übel  aus  schlug  die 

Begierde, 

Mir,    dem    Schwätzerstichblatt,   prägte  Klatschsucht  auf 

der  Schande  Maal! 

0    du   holder  Glanz  der  Jugend,    o  du  Leben,  süss  und 

lieblich, 

Du  Gestalt  von  Reiz  umflossen,  leuchtend  in  der  Schön- 
heit Strahl! 

Wohin  schwand    denn   all    die  Anmuth?  wohin  schwand 

denn  all  die  Liebe? 

All   die   Stärke   und   Begeistrung 10)    —    wohin  schwand 

das  allzumal? 


10)   Ich  habe  JLä.  hier  in  seiner  mystischen  Bedeutung :  „Ekstase, 
ekstatischer  Moment"  gefasst. 


138  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874, 

Milchweiss  ist  mein  Haupt  geworden,  schwarz  wie  Pech 

das  Herz  mir,  bläulich 
Meine   Wange,    und    mein    Körper    gleich   dem  Rohr  so 

dünn  und  schmal. 
10  Wie     die    Furcht    vor    Schlägen    Kinder     schreckt,    die 

schlechtem    Wandel  fröhnen, 
Lässt   mich   Todesfurcht   erzittern    Tag   und   Nacht  in 

banger  Qual. 
Abgelebt  und  fertig  bin  ich  —  alles  ward,  wie's  werden 

musste, 
Und  mein  Lied    ist  wie  ich  selber  Kindermähr  nun,  alt 

und  schaal! 
Ja,    mit  allen  Fünfen  packte  dich  die  Fünfzig,  o  Kisai, 
Und    mit   ihren   Krallen   kratzte    sie    von    Federn    ganz 

dich  kahl! 
13  Hoffnung  lass  bei  Seit,  doch  müh'  dich  jetzt  noch  rasch 

um  wahren  Reich thum, 
Galt  auch  Reichthum  sonst  und  Hoffnung  niemals  deines 

Herzens  Wahl!"  — 

2)  cAufi.  H.  Iql.    (nur    die  beiden  Schlussverse).  Safin. 
(nur  der  letzte  Vers).       Metrum    c;Ldx>- 

t\A-LjLCw     +£>    ^yJ     XX3    Osj>     (*■&£>•    (^ÜLCj       1 

tXj^Ä-   ^U*   >tXit  j&yt  ,jL*.j   (jM-* 
Jojoo    ,j*vJof    lXx-co    J    (ja^Xx    zS*  jloIä. 


Bthe:  Die  Lieder  des  Kisai.  139 

^j     ^3     CM«)     <JlSL>     ^y£*     »f    &Lo    12)     Jiy  6 

Uebersetzung. 

1  „Dein    scharfes   Auge    öffne    wohl   und  schau,   wie   dort 

juwelenlicht 
Der  Shambalid  13)    in   hellem   Glanz  hervor  aus   grünen 

.   Halmen  sticht! 
Ist's  nicht  wie  ein  Verliebter  ganz,  der,  weil  ihm  Schaam 

gefärbt  die  Wangen, 
Sich  rings   den    grünen  Seidenflor  gezogen  um  sein  An- 
gesicht ? 
Und  dort   der  Wein,   wie   lieblich  süss  ist  er  im  hellen 

Strahl  der  Sonne, 
Zumal    wenn    langen  Streifen    gleich   sich   ihr  Reflex  im 

Weine  bricht. 
Das  blaue  Glas,  der  rothe  Wein,  die  gelben  Strahlen  — 

ganz  doch  wahrlich, 
Als    ob    sich    um    der   Tulpe    Roth    so    Shambalid    wie 

Veilchen  flicht! 
5  So    ächten  Glanz    hat    dieser    Wein,    dass,   vom  Pokale 

niederträufelnd, 
Er   ganz    dem    rothen    Carneol,    wenn    der    aus    Perlen 

träuft,  entspricht. 


11)  H.  Jql:    Ju^s*.    wie  im  zweiten  Hemist. 

12)  Safin*:  ^o   ^Lo  . 

13)  Shambalid  ist  eine  Pflanze  mit  gelber  Blüthe,  ähnlich  der  der 
Orange,  focnum  graecum. 


140        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874, 

6  So  rein  ist  er  —  wenn  in    die  Hand  du  ihn  gelegt,  du 

unterscheidest 
Vom  Becher  deine  Hand  nicht  mehr  und  auch  vom  Wein 

den  Becher  nicht!"  — 

3)  cAufi.  Makhz.  Khuläg.  Wälih.  H.  Iql.  (nur  die  4 
ersten  Verse).  Nadrat  (nur  die  3  ersten  Verse).  Safin.  (nur 
V.  2  und  3).     Metrum 


51 


^*»xfy~±    xx>b  y    ^x»   ^  ^ 

&J      15)   &>y$     P&")     (JL^     Om*0  5 

5,J>y  u>^  ^;  r*"  >rf  <5' 

Uebersetzung. 

1  „Ein  Abglanz  deiner  Wange  ist  des  Mondes  Spiegel  ganz 

und  gar, 

Es  reiht   um  dich ,   o  Schönheitsfürst,  als  Heer  sich  "der 

Verehrer  Schaarl 


14)    In  Safin.,  H.  Jql.  und  Nadrat  steht  V.  3  vor  V.  2,  in  Khuläc. 
steht  er  hinter  V.  4. 


15)   Wälih:  ^    statt    xj 


Ethe:  Die  Lieder  des  Kisai.  141 

Wohin   du    deinen    Blick    nur   kehrst,    da  sprossen  rings 

Narcissen  auf, 
Wohin  du  deinen  Schritt  nur  lenkst,  da  stellt  ein  holder 

Mond  sich  dar. 
Ein   schönes   Buch   zusammen   ist   dein  Lockenhaar    und 

Angesicht, 
Denn  stets  aus  Schwarz  und    Weiss  besteht  ein  Buch  ja 

nur  —   das  ist  doch  klar? 
Es  wohnt  in  Lipp'  und  Auge  dir  so  Labekost  wie'  bittre 

Pein, 
Und  Sund'  und  Busse  wohnt  zugleich  in  Wange  dir  und 

Lockenhaar! 
5  Wenn  sich  die  Hand  des  Frevlers  fern  vom  Silber  hält, 

so  frommts  ihr  wohl, 
Da  halte  deiner  Wange  fern  der  Locken  Silber  immerdar 1" 

4)  Lob'Alis.  cAufi.  Makhz.  H.  Iql.  Wälih.  Metrum      jd, 
wM-xj   x$"  K    ^»S   ^Uu*^    .    o^ä-Juo    S1Q)       1 

ß  zl*&  t>b  jju  y  öS  Lds  ^  17)  4>yu*o 

wM^O    4>ft>    Jju    jJLc    &+#    j^Lr        4 

;I/L£  J*~  18)  j^o  &T  ^L^j  y»  uy> 


16)  Makhz.  und  Wälih:   ^  oc^Juo  . 

17)  Makhz.:    Lj;  . 

18)  Wälih:     of. 


142  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Uebersetzung. 

1  Lob   und  Preis   lass   dem  erschallen,    den  gepriesen  der 

Prophet  selbst, 

Dem   er  durch   Vorherbestimmung   selbst  die  Herrschaft 

zuerkannt ! 

Und    wer   ist's,   der   so   geartet,    der    so   war    und  sein 

wird  ?     Keiner 

Als  der   Gottesleu,    der  rastlos    stets   dem  Kampf  sich 

zugewandt. 

Sieh,  ein  Bild  des  ächten  Glaubens  ist  der  Kreis  —  das 

inn're  Centrum 

Ist  Muhammad  selbst,   und  cAli  ist  des  Girkels  äuss'rer 

Rand. 
4  Und    wie    Lenzgewölk    des     Wassers    Ströme     schenkt 

dem  Rosenhaine, 

Schenkte   ihm  des   ganzen    Weltalls    Weisheit   des    Pro- 
pheten Hand!  — 

5)  Aus  einer  Qagide  zum  Lobe  des  Sultans  Yamin- 
uddaulah  Mahmud  von  Ghaznah.  cAufi.  H.  Iql.  Makhz. 
Wälih.     Metrum  _y&. 

^Ui  j*/  ^  j^b  rf 
d^y.  *f  \s*\)  )  *?=■»  )• 19)  ^^  y%    2 

Uebersetzung. 

1  „Ein  wahrer  Perlenfundort  ist,  so  scheint  es,  deine  Hand, 
Denn  Perlen  sieht  man  stets  dich  ja  in  reicher  Fülle  geben ; 


19)     \|   fehlt  in  der  Sprenger'schen  Handschrift  des  Wälih. 


Ethe:  Die  Lieder  des  Kisäi.  143 

2  Da  Gott  dir  nun  an  Seelenstatt  nur  Edelmuth  verliehn, 
Wie  kannst  du  ohne  Seele  so  denn  überhaupt  noch  leben?" 

6)  Trauerlied  auf  einen  der  Grossen  ()5tX,o)  von  Marw. 
(nach  Salin,  auf  den  Emir  Nüh-i-Sämäiii,  d.  h.  wohl  Nüh 
bin  Mancür  bin  Nüh,  der  von  366  —  387  regierte).  cAuii. 
Makhz.  Salin.  Nadrat.     Metrum  oJC^?- 

-)j*S    ±y    21)    y    ö^  Jyua/>  20)    ft«jü    Ist^O    tS 

jjA    *+#    <X£    _jj    ljL»^k    -0»    5cXjO    v^f    \\       2 
'^y   ^S  ^Jß   VT  Ji  jö  22)  y   ^Le^ 

Uebersetzung. 

1  „Noch  weiss  ich's  nicht,  wie  seltsam  sich's  begeben,  dass 

den  Augen  all 
Dein  Leichnam  feuchten  Glanz  geliehn  und  alle  Wangen 

wund  geschlagen! 
Gleich    Noah's    Sündfluth    hat   ganz    Marw    der    Augen 

Thränenstrom  ertränkt, 
Und  gleich  der  Arche  Noah's  wird  dein  Leib  von  dieser 

Fluth  getragen."  — 

7)  cAufi.     Metrum  cnLojo. 


20)  Safin. :   JyJüo  . 

21)  Safin.:   Jj  . 

22)  Safin.:    vjf  ..Jju  . 


144  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Uebersetzung. 

1  „Sieh  in  des  Wassers  Mitte    dort  die  blaue  Lotosblume, 

Der  hellgeschliff'nen  Klinge  gleicht,  dem  Sapphir  sie  genau. 

An  Farbe  ist  sie  Himmel  ganz,  und  gleich  dem  Himmel 

trägt  sie 
In  ihrem  gelben  Mittelkelch  den  vollen  Mond  zur  Schau ; 
3  Dem  Mönche  ähnlich,  dem  sich  längst  schon  gelb  gefärbt 

die  Wangen, 
Und  der    sich   ganz   und   gar  gehüllt   von  Kopf  zu  Fuss 

in  Blau23).  — 

8)  cAufi.  Atashk.  Safin.  (nur  der  letzte  Vers).  Metr.  ojc^p. 

Uebersetzung. 
1  „Neu    verjüngt   hat  sich   im   Lenze   nun   die  Welt   und 

fröhlich  ward  sie, 
Grünes  Banner  ziert  die  Büsche  und  den  Boden  bunte  Pracht; 


23)   Wörtlich:   „der  sich  sein  Ober-  und  Untergewand  aus  blauem 
Stoff  gemacht." 

24,  25  u.  27)  Atashk.  $at  alle  drei  Male    Jui  statt  \&*&S . 
26)  Hier  hat  Atashk.  ou&S'',    Safin.  aber :   0*j . 


JEthe:  Die  Lieder  des  Kisai.  145 

2  Dürrer  Bäume  Blatt   und   Wurzel    ward  zur  thränenden 

Maria, 
Darum     steigt    auch     wohl     als    Zephyr    Gabriel    herab 

zur  Nacht!4'  — 

9)  cAufi.      H.    Iql.     Atashk.    (nur    der    zweite    Vers). 
Metrum  c5Lojo. 

o-^-zj   v!   5J>L;.wwi   xjtXfß   o^w!   ^x+jü   Jo       l 

Ji^    jVXJÜ     nJo!     Öyk     T*4*]^   f^T* 

Uebersetzung. 

1  „Es  ist  ein  köstliches  Geschenk  aus  Edens  Flur  die  Rose, 
Und   edler   wird   des  Menschen  Sinn  im  Rosenlustgefild! 

2  Wesshalb  verkaufst  die  Rose  du  für  Silber,  Rosenhändler, 
Und  wie  erkaufst  du  je  dafür,  was  mehr  als  Rosen  gilt?"28) 

10)  Lob  des  Weins.     Haft  Iql.     Safin.  (nur  der  zweite 
Vers).     Metrum  ^Uä*. 


28)  Einen  ähnlichen  Gedanken  hat  'Umar  Khayyäm,  der  berühmte 
Freidenker  und  Dichter  (gestorben  517  d.  H.)  in  Bezug  auf  den  Wein 
in  folgendem  Rubä'i  verwerthet  (Ouseley  Coli.   140  Nr.  62): 

Joo    S^L    \!    j?!^    ^|j    ^L*    b* 
[1874.  II.  Phil.  hisU  Cl.  1.]  10 


146  Sitzung  der  philos.-pJiilol.  Clause  vom  4.  Juli  1874. 


Uebersetzung. 

1  „Er  ist's,  von  dem  der  Kampfer  stets,  der  Ambra  seinen 

Duft  sich  stiehlt, 
Er  ist's,  durch  den  Achate  selbst  von  Jemen  Farbe  erst 

gewinnen. 

2  Und    frisch    und    unverwelkbar    bleibt    die    rothe    Rose 

immerdar, 
Entnimmst   du   ihm    ein  Tröpfchen   nur   und  lässt  es  in 

die  Rose  rinnen!"   — 

11)  Auf  einen  jungen  Walker  und  Wäscher  (njjjjxlj) 
gedichtet  dem  Wunsch  eines  hohen  Gönners  gemäss 29). 
cAuii.     Safin.     H.  Iql.     Metrum  v^ixü». 


ur>V  >  f/y3  }j  tfj*  j  &£    x 


„Hat  des  guten  Rufes  Schleier  längst  der  Wein  mir  auch  zerrissen, 
Nimmer  doch,  so  lang  ich  athme,  will  den  Rebensaft  ich  missen. 
Ob  der  Weinverkäufer  staun'  ich  —  wie  für  das,  was  sie  verkauft, 
Bess'res  je  sie  kaufen  wollen,  das  bei  Gott  nurmöcht1  ich  wissen  !*'  — 

29)   Nach  Safin. :   „Auf  einen  jungen  Walker ,  in  den  der  Dichter 

ganz  verliebt   (ääax*j)  war. 


Ethe:  Die  Lieder  des  Kisai.  147 

Uebersetzung. 

1  „Zum  Kauthar  ward   durch  dich  der  Strom,  durch  dich 

der  Gau  zum  Paradiese, 
Die  Herzen  machst  du  gramesschwarz,  die  Kleider  machst 

du  weiss  und  rein. 

2  Es  gilt  den  andren  Wäschern  stets  als  Haupterforderniss 

die  Sonne, 
Doch   du    bedarfst  zu   dem  Geschäft  nur  deiner  Wange 

ganz  allein."  — 

12)  Als  den  Dichter  einige  tadelten,  dass  er  sich  im 
Alter  noch  schminke.  cAufi.  Atashkad.  H.  Iql.  Salin, 
(nur  der  letzte  Vers).     Metrum  Joe». 

Uebersetzung. 

1  „Zehrst    am  Groll    du,    weil   geschminkt  ich,    weil    ich 

schwarz  gefärbt  das  Haar  mir? 
Zehre  doch  am  Imbiss    lieber  und  den  Groll  lass  ruhig 

schwinden ! 

2  Nicht,    um  wieder  jung   zu  werden,  that  ich's  —  nein! 

aus  Furcht,  man  möchte 
Sonst  bei  mir  der  Greise  Weisheit  suchen  und  vielleicht 

nicht  finden  !" 30) 

30)  Auf  ganz  denselben  Vorwurf  hat  auch  Rüdagi  durch  ein  Rubä'i 
geantwortet,  vergl.  meine  oben  genannte  Abhandlung  p.  739  Nr.  45.  Es 
scheint,  als  ob  Rüdagi  dazu  durch  das  in  den  vorjährigen  Sitzungs- 
berichten p.  658  von  mir  veröffentlichte  Lied  Khusrawänls  (Nr.  4)  ver- 

10* 


148  Sitzung  der  philos.-philoh  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

13)  cAufi.     Metrum  viJC^?. 

^IwW     ^JY""*'     ^^V^     ^'        <X">        {£*!$*  jMJ  1 

pULo     (X&Ö      L>y±     Ji  &  Jf  J      &5      .JLilfc      •-&. 

Uebersetzung. 

1   „Es    ward   zum    Liedersänger   ganz    im    Liedersaal    das 

kleine  Vöglein, 
Und  ganz   so    wie   ein  Liebender,    der's   Liebchen    lädt 

zum  Stelldichein. 
Und  was  denn  singt  es?  Hör,  es  singt:  ,,wenn's  Zwielicht 

dämmert,  holdes  Liebchen, 
Dann  fasse  deines  Liebsten  Hand  und  eil*  mit  ihm  hinaus 

zum  Hain!'*  — 

Anhang. 

Wahrscheinlich  um  dieselbe  Zeit  wie  Kisai,  nämlich 
391,  starb  noch  ein  anderer  Poet  aus  der  frühesten  Epoche 
persischer  Dichtkunst,  der  124  Jahre  alte  Sheikh  Abu 
cAbdallah  Muhammad  bin  Hanif,  der,  wie  die  ein- 
zige Quelle,    Makhzan  f.  14,  berichtet,  zu  den     *juub   *ju& 

gehörte.  Von  ihm  ist  nur  der  folgende,  nicht  eben  sehr 
originelle  Sinnspruch  erhalten  (Metrum  JuoA 

anlasst,  und  viele  Jahre  später  ebendasselbe  Gedicht  Khusrawänis  dem 
Kisä'i  zur  Warnung  und  Mahnung  von  seinen  Freunden  vorgehalten 
worden  sei.  — 


Ethe:  Die  Lieder  des  Kisai.  149 

Uebe  rsetzung. 

,, Jeder  hat  sein  Amt  hienieden,  jeder  ist  mit  Last  be- 
schwert, 

Und    der  Wechsler   kennt  am  besten  seines  Golddenares 

Werth !" 

Ebenfalls  um  dieselbe  Zeit,  nämlich  im  Jahre  395,  er- 
folgte der  Tod  des  letzten  Sämänidendichters,  der  zugleich 
der  letzte  Prinz  und  Sprosse  der  Säinäniden  selbst  war, 
Abu  Ibrahim  bin  Nüh,  bekannt  unter  dem  Namen 
Muntagir.  Ueber  ihn  berichten  die  Quellen:  cAuii  f.  7b, 
H.  Iql.  in  der  Einleitung  zu  Rüdagi,  Elliot  Coli.  158  f.  259b, 
159  f.  166b  und  Ouseley  Coli.  377,  f.  518b  Folgendes: 

i>yj     sLo    &w  «    JLu/    ^yJl&  •    J»UCXOJ£     ^jböof     oükl^     •     C_)^Lof 

JCwO  J<\c  )*jJ  jjlß  vJj-Lö  ^jUCol  ^  4>*J  {j^U  .J^ bw. 
&j      jj!      ^X>bJ.       tXJ4>v5^     ^.sltX-JvÄ.      In       dLo        -»b      •      tXJ4>%J 

v^)w^ds5  oJiis  5t>\b  5v>  d^Lsl  *->  Si>\!^4>  ^  sl&^b 
b'  Jut  8t>*.^  ^)^  <&*"  •)  ^  Ü"^)^  (^oJcXCyo  jjLxot 
J*-«iO   c^i!t>   ob.    0*j    *JCjLu/l   ^j!   JaAÄ   !s     ^jJj'     *->bJ 

(  ^W;  )  do.1-** 

N^JOO     ,jLobu     J!     \l     JoOjJ     ^O     XJ 


150  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

OJji)  Lei  £*-?  (jlk>  &£>*J  1  tX-Cw  |W^»>  ,-iLcLwwJI  syj^aJuQ  ^> 
^jLoLw     ^jLoLaw     J!     «iLLo     s^/ol     %C>    ^    I»      yyOJJ*     ÖyZ     Xju&S     JU 

slojj  ^L+^örv  o».AWfc>  ^j  L^;V  &y*  £++3?  xJ.tXJI  ^^»J 
o^Jo  *  Jo  oLLo  Li'  <Xy£j3  )V^**^  ^^Lj  (jo^Vä  vL>  •  Jc«£ 
j-iLwol     ,jiL*w^    ic^Y:5.    r£<Xßi'   }    (5^^***'   ^Lai*   L>    Lx>!    t>x! 

yXAM  JAfcXggVJP  \l  joLäLa*;        Jl        W&AjO        Vi       •  OL*wJO  tX^A* 

•      s^ww^m-JiX1       »I        \UUul       •       ^59V        V^        ^'        SO«Xj        ojL 

o>*wwu£o  viLLo  o^  vJ  KLsi  s£  öS  v^o.  ^1  >t>  •  ÄiUßLi^U 
J  oJ«£  (J^;'  )  tVii>*->  aüLwLi*.  *j  ,jUxa~>  oLiol  vi 
^Lö  y   (jwLaJ  2   \S^f?    vw».«**''    v^  Vj\j    v_**w   <X&   )j-^   f*     ' 

»Li^L  ^1  ä5^  JoUa5^  K.l  J  (^LpJo  vi  .-JCcUä.  (^v*; 
vi    ^SCi    xT  (5^^-°    v'-^W   y   i5)L^J    i*W    (j^^  31)    ly^ 

^Ojjo  %üf  w    ^jJ  •   ^vIj^j  &i    o^wl    .-jßLäoU    cjInLoI 
i^f)  of  Uil  ^51  )  yoüb  ^Ui  l; 

^5vL**i    *^^    «>    Ä=>V    i>*i*    Iwc    tX-ü«i^      1 


31)   So  nach  H.  Jql.  wohl  richtiger  als  die  Lesart  cAufis: 

^JöyS    &i    ^Jß^L*    ^La*J^    /5)L^J    V*^    0"^^° 


Ethe:  Die  Lieder  des  Kisai.  151 

^uJS  \jM-i^  p**~?  ^L**^  *?.yü    . 

Uebersetzung. 

„Die  Familie  der  Sämäniden  zählte  9  Fürsten,  und  die 
Dauer  ihres  Emirats  und  Sultanats  betrug  87  Jahre  und 
3  Monate82).  Das  Gebiet  von  Khuräsän  und  Transoxanien 
ward  unter  ihrer  gerechten  Herrschaft  gross  und  ruhig  und 
sicher,  und  sie  waren  weltschinnende,  gerechtigkeitausbrei- 
tende Fürsten  und  erkauften  sich  so  einen  trefflichen  Ruf. 
Die  Namen  jener  9Pä]ishähs,  an  welche  die  12  himmlischen 
Thierkreise  10 — 11  (ihrer  eigenen)  Würdegrade  fortwährend 
abtraten,  sind  in  diesem  Rubä'i  (von  cUnguri,  dem  berühmten 
Dichterkönig  am  Hofe  Mahmuds,  nach  H.  Iql.)  zusainmen- 
gefasst  worden,  damit  es  den  Chronisten  leichter  werde,  sie 
zu  memoriren,  und  es  ihnen  nicht  schwer  falle,  sie  im  Ge- 
dächtniss  zu  behalten: 

„Hochberühmte    Herrscher    waren    einst   im   khuräsän' 

sehen  Land 

Neun  vom  Haus  der  Sämäniden,  noch  als  Fürsten  wohl- 
bekannt: 

Ahmad,  Ismail  je  einer,  und  ein  einzger  gleichfalls  Nac,r, 

'Abdulmalik  zwei  und  zwei  auch  Nüh  und  zwei   Mancür 

genannt." 


32)  H.  Iql.   gibt  richtiger    102  Jahre  und  6  Monate  an;    das  wäre 
der  Zeitraum  von  fAmr  bin  Laith's  Tode  287  bis  389.  wo  'Abdulmalik 


152         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  4.  Juli  1874. 

Den  Abschluss  dieser  Dynastie  bildete  nun  Amir  Man- 
cür  Ismail  bin  Nüh  bin  Mancür  (nach  H.  Iql.  richtiger:  Abu 
Ibrahim  Ismäcil  bin  Nüh  mit  dem  Beinamen  Muntagir).  Aber 
wenn  er  selbst  auch  noch  ein  Jüngling  war,  das  Reich  war 
doch  zu  alt  für  ihn  geworden,  und  in  den  Reichsgeschäften 
der  Sämäniden  war  keine  Ordnung  mehr  geblieben,  und  die 
Seele  des  Reiches  war  bis  zu  ihrem  letzten  Athemzuge  ge- 
kommen. Er  lebte  in  den  ersten  Zeiten  der  Regierung 
Sultan  Yamin-uddaula  Mahmüd's  und  fiel  mehrere  Male  den 
Feinden  in  die  Hände ,  kam  aber  immer  wieder  frei.  Er 
gab  sich  viele  Mühe,  das  väterliche  Reich  in  seine  Gewalt 
zu  bringen ,  aber  gegen  himmlisches  Verhängniss  und  gött- 
liche Vorherbestimmung  nützt  menschliche  Anstrengung  nichts. 
Als  Ilekkhäii  aus  Käshgar  kam  und  über  cAbdulmalik  die  Herr- 
schaft gewann  (389) ,  da  Jiess  er  dessen  Bruder  Muntagir 
greifen  und  gefangen  setzen.  Der  aber  floh  aus  dem  Ge- 
fängniss,  durchirrte  einige  Jahre  laug  Transoxanien  und 
Khuiäsän  und  nachdem  er  drei  Mal  mit  Ilekkhän  Krieg 
begonnen,  wurde  er  ein  Mal  wenigstens  Sieger.  Später  aber 
fand  er  durch  die  Hand  des  Ibn  Bahij,  des  Beduinen,  der 
von  Seiten  Sultan  Mahmuds  kam,  den  Tod  395  (dieser  ganze 
Passus  ist  aus  dem  H.  Iql.  herübergenommen,  da  cAufi  ihn 
nicht  hat)33).  Unter  den  Säwänidenfürsten  sind  von  keinem 
als  von  ihm  Verse  überliefert,  und  seine  Gedichte  sind  vor- 
trefflich und  eines  Fürsten  würdig.  Gerade  in  jener  Zeit, 
als  er  in  Bukhärä  den  Königsthron  bestiegen,  hatten  sich 
Feinde  von  allen  Seiten  erhoben,  und  seines  Reiches  Stützen 
waren  alle  geflohen.  Tag  und  Nacht  brachte  er  zu  Pferde 
zu,  sein  Gewand  war  ein  abgerissener  Mantel,  und  beständig 


bin  Nüh  starb.     cAufi's   Rechnung   würde  nur  etwa  die   Zeit  von  301 
(Nacr  bin  Ahmad's  Regierungsantritt)  bis  389  umfassen.  — 

33)  Nach  Mirkhond  (vergl.  histoire  des  Saraanides  par  Defremery 
p.  209)  ward  er  nur  im  Zelt  des  Tbn  Bahij,  nicht  aber  durch  ihn  selbst, 
getödtet,  auf  Anstiften  des  Mährüi,  der  im  Namen  Mahmüd's  dort  gebot. 


JEthe:  Die  Lieder  des  Kisai,  153 

schlief  er  mit  dem  Panzer  (H.  Iql.).  Die  meiste  Zeit  seines 
Lebens  ging  so  in  wechselnden  Kriegsfällen  (wörtl.  im  Fliehen 
und  Packen)  hin.  Eines  Tages  sagte  eine  Schaar  seiner 
Tafelgenossen 34)  zu  ihm  :  „o  Pädishäh,  wesshalb  veranstaltest 
du  keine  fröhlichen  Schmausgesellschaften  und  beschäftigst 
dich  nicht  mit  musikalischen  Instrumenten,  die  do.ch  eines 
der  Wahrzeichen  königlicher  Würde  sind?"  Da  dichtete 
er  dieses  Lied,  das  ein  offenes  und  deutliches  Lob  wahren 
Mannesthums  enthält: 

1  „Alles  fragt  mich :  „wesshalb  lässt  du  heiter  nicht  dein 

Antlitz  strahlen, 

Nicht    in   Schmuck    die    Wohnstatt   prangen ,     bunt  mit 

Teppichen  bezogen?" 

Wie    denn   soll  ich    Kämpferschlachtruf   mit   dem   Lied 

des  Sängers  einen, 

Rossestrab  mit  Hainbanketten,  rosenblüthenduftumflogen  ? 

Was  denn  nützt  des  Weines  Schäumen,  was  des  Schenken 

süsser  Mund  mir? 

Auf  die  Panzerringe   nieder   muss  hier    Blut  nur  schäu- 
mend wogen  1 
4  Mir  gilt   Ross   und  Waffenrüstung   statt   des  Hains  und 

Festschm  aussaales, 

Mir  ersetzt   der  Pfeil   die  Lilie   und   die  Tulpe   mir  der 

Bogen  1"  — 


34)  Einer  seiner  Vertrauten  nach  H.  Iql. 


154 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 

Sitzung    vom    6.   Juni   1874. 


Herr  Haug  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber  die  Interpretation  der  Vedas". 
(Wird  in  den  Denkschriften  veröffentlicht  werden.) 


Sitzung  vom  4.  Juli  1874. 

Herr  Hofmann  trug  vor: 

„Zur    Text-Kritik    der    altfranzösischen 
Tristan-  Fragmente ". 

(Wird  später  in  den  Sitzungsberichten  veröffentlicht  werden.) 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  4.  Juli  1874. 


Herr  von  Giesebrecht  trug  vor: 

;,Der   Bericht   Radowin's  über    den  Ron- 
calischen  Reichstag  von  1158". 

(Wird  später  in  den  Sitzungsberichten  veröffentlicht  werden.) 


Sitzungsberichte 

der 

philosophisch -philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  München. 


Band  IL     Jahrgang  1874. 


München. 

Akademische  Buchdruckeroi  von  F.  Straub. 

1874. 

In  Commission  bei  Q.  Frans. 


Uebersicht  des  Inhaltes. 



Die  mit  *  bezeichneten  Vorträge  sind  ohne  Auszug. 

Philosophis  eh -philologische  Classe. 
Sitzung  vom  6.  Juni. 

Seit« 

*Haug:    Ueber  die  Interpretation  der  Vedas 154 


Sitzung  vom  4.  Juli. 

v.  Halm:    Mittheilung  über  ein  Autographon  des  C.  Bruschius  1 

Brunn:    Die  Bildwerke  des  Parthenon 3 

Die  Bildwerke  des  Theseion 51 

Lauth:     Die  Sothis-  oder  Sirius-Periode 66 

♦Hofmann:    Zur  Text-Kritik   der  altfranzösischen  Tristan- 
Fragmente      154 

Christ:    Die  Topographie  der  trojanischen  Ebene  und  die 

homerische  Frage 185 


Sitzung  vom  5.  Desember. 

Andr.  Spengel:    Deutsche  Unarten  in  der  Aussprache  des 

Lateinischen 234 


II 

Historische    Classe. 
Sitzung  vom  6.  Juni. 

Seite 

v.  Löher:    Ueber  handschriftliche  Annalen  und  Berichte  der 

Jesuiten 155 


Sitzung  vom  4.  Juli. 

*v.  Giesebrecht:     Der  Bericht  Radowin's   über  den   Ron- 

calischen  Reichstag 154 


Sitzung  vom  7.  November. 

Häser:  Nachträgliche  Bemerkung  zu  den  Untersuchungen 
des  Herrn  Muffat  in  Betreff  der  „Bündt-Ertzney 
Heinrich's  von  Pfolspeundt" 228 

Sitzung  vom  5.  Dezember. 
*v,  Liliencron:    Ueber  die  Liederdichtung  der  Widertäufer      233 

Einsendungen  von  Druckschriften 254 


Sitzungsberichte 

der 

philosophisch  -  philologischen  und 
historischen  Classe 

der 

k.  b.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  ]VEünchen. 


1874.    Bd.  II.    Heft  II 


München. 

Akademische  Buchdruckerei  von  F.  Straub. 

1874. 

In  Co;iiraission  bei  G.  Franz. 


Sitzungsberichte 


der 

königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  6.  Juni  1874. 


Herr  v.  L  ö  h  e  r  hielt  einen  Vortrag : 

„Ueber  handschriftliche  Annalen  und  Be- 
richte der  Jesuiten". 

Der  Feldzugsplan  dieses  Ordens  war  von  vorn  herein 
darauf  gegründet,  dass  die  Untern  regelmässig  an  die  Obern 
über  alles  berichteten  was  vorging.  Man  hat  berechnet, 
dass  der  General  in  Rom  in  jedem  Jahre  7000  regelmässige 
Berichte  empfing.  Er  sollte  vom  ganzen  Ordensgebiet  und 
die  Provinzobern  sollten  von  ihrer  Provinz  beständig  wissen, 
was  in  jeder  Stadt  und  Gegend  Thatsache  war  oder  sich 
vorbereitete,  und  welche  Kräfte  dem  Orden  zur  Verfügung 
standen ,  damit  im  geeigneten  Zeitpunkte  rasch  bestimmt 
werden  konnte,  mit  welchen  Massregeln  man  hier  vorgehen, 
dort  nachlassen  müsse. 

Als  die  zwei  ersten  Jesuiten  in  Paderborn  einzogen,  der 
Superior  Leonhart  Rüben  und  sein  Socius  Stephan  Lohn,  um 
dort  für's  Erste,  beide  noch  in  weltlicher  Kleidung,  eine 
Mission  zu  begründen,  erhielten  sie  sofort  im  Jahre  1581 
eine  Instruktion  von  17  Artikeln,  von  welchen  drei  sich  auf 
geschichtliche  Berichte  beziehen: 
[1874.  II.  Phil.  bist.  Cl.  2.]  11 


156  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Art.  3:  Decimo  quarto  die  P.  Leonardus,  socius  vero 
ejus  primo  die  mensis  cujuslibet,  scribet  de  spirituali  pro- 
fectu  laborura  suorum  et  occupationibus  secundum  formulam 
scribendi.  —  Art.  11:  Historiam  missionis  (superior)  ex 
menstruis  literis  in  librum  scribi  curet.  —  Art.  15:  Saepius 
rectori  Fuldensi  scribendum  quidem ,  per  quem  me  (Pro- 
vincialem,  tum  Fuldae  residentem)  certiorem  de  omnibus 
reddere  poterit:  tarnen  menstruas  mihi  semper  mittet1). 

Als  der  Orden  bereits  wohl  eingerichtet  war,  mussten 
die  Superioren  der  Collegien  noch  jede  Woche  an  den  Pro- 
vinzial  schreiben ,  und  ausserhalb  Europas  je  nach  seinem 
Belieben.  Aus  Indien  erhielt  der  General  jährlich  einmal,  aus 
Brasilien  und  Neuspanien  zweimal  Berichte,  und  zwar  aus 
jedem  Missionsbezirk.  Aus  Europa  aber  gingen  Briefe 
nach  Rom  von  jedem  Provinzial  jeden  Monat,  von  jedem 
Superior  jeden  dritten  Monat,  von  den  Räthen  der  Provinzialen 
zweimal  im  Jahr,  von  den  Räthen  der  Superioren  einmal, 
von  den  Universitätsvorständen  einmal  im  Jahr.  Die  Gegen- 
stände, worüber  die  Berichte  sich  zu  verbreiten  hatten, 
waren  Punkt  für  Punkt  vorgeschrieben.  So  liefen  sie  von 
allen  Orten  bei  dem  General  in  Rom  zusammen.  Er  hatte 
nicht  allein  stets  bei  sich  die  vier  Kataloge  über  alle  Per- 
sonen des  Ordens  je  nach  ihren  Graden,  über  ihr  Alter, 
ihre  Aemter  und  Eigenschaften ,  ferner  über  die  besonders 
zum  Regieren  sich  Eignenden,  endlich  über  den  Zustand 
jedes  Jesuitenhauses,  sondern,  so  heisst  es,  necessaria  eidem 
est  cognitio  rerum,  quae  in  singulos  prope  dies  incidunt. 
Laudatur  igitur  literarum  frequens  commercium  inter  inferiores 
et  Generalem  ...  Et  Provinciales  quidem  curent,  ut  provin- 
ciarum  ac  personarum  status  Generali  perspectus  sit.  Supe- 
riores  vero  locales  et  magistri  novitiorum  scribunt,  quae 
alicujus   momenti   fuerint,     etiamsi    approbante    Provinciali 


1)  Hist.  coli.  S.  J.  Paderborn.  MS.,  worüber  unten  mehr. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Annalen  der  Jesuiten.  157 

fiant,  multo  magis  ea,  in  quibus  ille  aut  nequit  aut  recusat 
providere  2). 

Ausser  diesen  regelmässigen  Berichten  gab  es  nun  grössere 
historische,  „quae  continent  virtutes  et  gesta  Nostrorum". 
Anfangs  wurden  sie  in  jedem  Collegium  dreimal  im  Jahre, 
später  nur  einmal  verfasst,  und  zwar  überall  in  so  vielen 
Exemplaren,  als  der  General  vorschrieb.  Ein  Jesuit,  der 
sich  besonders  darauf  verstand,  musste  in  jedem  Wohnsitz 
das  Jahr  über  alles  das  aufschreiben  und  sammeln ,  was 
sich  zur  Aufnahme  eignete.  Zuletzt  wurden  diese  literae 
annuae  von  jedem  Provinzial  nach  Rom  geschickt,  wo  sie  zu- 
sammengezogen und  gedruckt  wurden 3).  In  den  Consue- 
tudines  der  oberdeutschen  Provinz,  wie  sie  im  Jahr  1693 
von  Neuem  festgestellt  wurden,  heisst  es  im  cap.  9  von  den 
consuetudines  spectantes  ad  literas  et  scripturas  alias4)  im 
Artikel  1 :  Initio  mensis  januarii  mittuntur  literae  annuae, 
primo  cum  Consultoribus  communicatae,  ad  P.  Provincialem 
a  quovis  domicilio,  expresso  numero  personarum  seu  in- 
colarum,  qui  fuerit  ultimo  anni  die.  Post  renovationem 
studiorum  mittitur  ad  eundem  catalogus  personarum  et  offici- 
orum  omnium ,  prout  tunc  recens  constituta  sunt.  In  den 
consuetudines  der  böhmischen  Provinz5)  lautet  dieser  Artikel 
wie  folgt:  Post  instaurationem  studiorum  innovembri  mittitur 
ad  P.  Provincialem  ex  quovis  domicilio  catalogus  personarum 
et  officiorum  omnium,  juxta  dispositionem  tunc  recens  factam. 
In  januario  autem  triplex  in  forma  roraana  exemplar  lite- 
rarum  annuarum  .  quae  prius  cum  Consultoribus  communi- 
cantur,  et  pro  ratione  rerum  ac  loci  quam  brevissime  con- 
scribendae  sunt. 


2)  Epitome   instituti  Societatis   Jesu.    Pragae    1726.    423  — 42G. 
15—516.  Cfr.  Institutum  S.  J.  Pragae  1705.  I  636.  132.  194—196. 

3)  Institutum  I  448.  643.  Epitome  236—247.  516. 

4)  Reichsarchiv,  Jesuitica  in  gen.  fasc.  9  no.  104. 

5)  Daselbst,  fasc.  40  no.  727c. 

11* 


158  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Diese  Jahresberichte  aber  blieben  kein  Geheimniss  der 
Provinzial-  und  General-Obersten.  Die  annuae  waren  viel- 
mehr ,,ad  aedificationem"  des  ganzen  Ordens  verfasst:  „spargi 
per  societatem  debentU6).  Auch  andere  Berichte  aus  be- 
deutenderen Jesuitensitzen  und  die  Nachrichten  von  den 
Leiden  und  Kämpfen  und  glorreichen  Errungenschaften  der 
fernen  Missionäre  waren  beständig  im  ganzen  weiten  Orden 
im  Umlauf.  Schilderungen  von  Wundern,  die  an  Jesuiten 
oder  durch  ihre  Fürbitte  geschahen ,  von  Märtyrerkronen, 
mit  denen  Ordensmitglieder  geschmückt  wurden,  von  grossen 
Bekehrungen,  die  durch  sie  erfolgten,  kamen  hinzu  mit  be- 
redten Ansprachen  der  Generale  und  Visitatoren.  Durch 
nichts  konnte  in  der  grossen  päbstlichen  Streitschaar  der 
Gemeingeist  und  die  stolze  Zuversicht  so  belebt,  der  Wett- 
und  Nacheifer  so  angefeuert  werden ,  als  durch  die  unab- 
lässige Erregung  der  Gefühle  und  Phantasie,  wie  das  unauf- 
hörliche Circuliren  jener  Berichte  sie  mit  sich  brachte. 
Immer  und  immer  wieder  erschien  darin  der  Orden  als  eine 
heilige  Legion ,  dessen  Krieger  auf  allen  Punkten  des  Erd- 
kreises für  die  Kirche  Christi,  für  das  Seelenheil  der  Menschen 
kämpften. 

Musste  aber  nicht  auch  die  Geschichtschreibung  davon 
Gewinn  ziehen? 

Da  soviel  Berichte  aus  allen  Ländern  in  den  Jesuiten- 
klöstern zusammenflössen,  da  sich  in  ihnen  ein  wohlgeregeltes, 
stets  fortschreitendes  Zusammenwirken  der  grössten  Genossen- 
schaft, die  jemals  die  Erde  umfasst  hatte,  abspiegelte,  da 
mit  jedem  Jahrzehnt  und  Jahrhundert  sich  diese  historischen 
Zeugnisse  vermehrten,  so  konnte  es  nicht  anders  kommen, 
als  dass  sie  einen  gewissen  historischen  Sinn,  der  Grund 
und  Zusammenhang  der  Dinge  überschauete,  hervorriefen 
und  die  Neigung  zu  einer  Geschichtschreibung  zeitigten,  die 


6)  Epitome  246. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Annetten  der  Jesuiten.  159 

zunächst  des  Ordens  Anfänge  Mühe  und  Fortschritte,  dann 
auch  die  Vorgänge  in  der  kirchlichen  politischen  sozialen 
Umgebung  der  Jesuitenansiedlungen  verzeichnete,  und  zuletzt 
sich  angeregt  fand,  in  grossen  Zügen  des  Zeitalters  wirkliche 
Geschichte  nieder  zu  schreiben.  Denn  diejenigen,  welche 
diese  Berichte  verfassten,  waren  nicht  selten  in  die  Ursachen 
der  Ereignisse  und  in  deren  verborgene  Verwicklung  mehr 
eingeweiht,  als  die  klügsten  Staatsmänner  und  Diplomaten 
an  den  Fürstenhöfen. 

Diese  Schlüsse,  so  natürlich  sie  sind,  werden  durch 
die  Bücher  der  Jesuiten  im  Umkreis  ihrer  Ordensgeschichte 
wenig  bestätigt.  Ihre  Aufzeichnungen  sind  immer  nur  streng 
annalistisch  auf  das  Einzelne,  auf  das  gerade  Gegenwärtige, 
das  Nächstnothwendige  gerichtet.  Das  Interesse  des  Ordens 
und  was  zu  allernächst  mit  ihm  in  Verbindung  steht,  seine 
Macht  und  Ausbreitung ,  die  Ktttholisirung  der  Länder  und 
Völker,  die  Mittel  zum  unablässigen  Kampf  mit  den  Gegnern, 
die  Verherrlichung  der  Kirche  —  das  bleibt  immer  das 
Hauptaugenmerk. 

Dies  wenigstens  ist  der  Charakter  der  Werke,  welche 
die  Jesuiten  selbst  über  die  Geschichte  ihres  Ordens  in 
seiner  Gesammtheit  oder  über  die  Geschichte  einzelner  Ordens- 
provinzen veröffentlicht  haben.  Um  so  gespannter  wird  man 
auf  die  historischen  Arbeiten ,  die  aus  ihren  ehemaligen 
Archiven  uns  überliefert  worden. 

Studien  darin  wird  man  wohl  an  wenigen  Orten  so 
reichlich  anstellen  können ,  als  in  München.  Hier  bewahrt 
das  k.  allgemeine  Reichsarchiv  noch  den  grössten  Theil  des 
ehemaligen  Centralarchivs  der  oberdeutschen  Jesuitenprovinz. 

Diese  provincia  S.  J.  Germaniae  superioris  bestand  1556 
erst  aus  den  drei  Collegien  zu  Wien  Prag  und  Ingolstadt. 
Nachdem  ein  paar  Jahre  später  München  und  in  Ungarn 
Tyrnau  gegründet  waren,  schied  letzteres  mit  der  östreichi- 
schen    und   böhmischen    Hauptstadt    aus?    und  kamen  dafür 


160  Sitzimg  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Dillingen  und  Innsbruck  hinzu.  Noch  im  Lauf  des  sechs- 
zehnten Jahrhunderts  wurden  in  Bayern  die  Jesuitensitze 
Landsberg  Regensburg  Biburg  Altötting  und  Ebersberg 
gestiftet,  im  folgenden  Jahrhundert  Mindelheim  Burghausen 
Landshut  Amberg  Straubing.  In  Tyrol  und  Vorderöstreich 
geholten  zur  oberdeutschen  Jesuitenprovinz  die  Collegien  in 
Constanz  Frei  bürg  im  Breisgau  Hall  Innsbruck  Trient  und 
Feldkirch,  —  in  der  Schweiz  Brieg  Bruntrut  Freiburg  im 
Uechtland  Luzern  Sitten  und  Solothurn,  —  im  übrigen 
Süddeutschland  Augsburg  Bamberg  Dillingen  Ellwang 
Eichstädt  Kaufbeuren  Neuburg  an  der  Donau  Rottenburg 
an  der  Tauber  und  Rottweil. 

All  diese  Collegien  sind  in  der  Jesuitenabtheilung  des 
Münchner  Reichsarchivs  vertreten,  bloss  Biburg  ausgenommen. 
Dazu  kommen  zahlreiche  Correspondenzen  und  Berichte  in 
Bezug  auf  andere  Wohnsitze  der  Jesuiten  und  ihre  Arbeiten 
in  fernen  Welttheilen. 

Das  Erste,  was  bei  Durchsicht  dieser  Jesuitenakten  auf- 
fällt, ist  die  ausserordentliche  äussere  Aehnlichkeit.  Das 
Meiste  ist  wie  nach  einem  Schema  gearbeitet,  die  Form 
des  Papiers  und  der  Schriftsätze,  insbesondere  aber  die 
Handschrift  bleibt  überall  sich  ähnlich.  Die  Benediktiner 
des  eilften  Jahrhunderts  erfreuen  noch  jetzt  durch  ihre 
überall  gleich  schöne  und  rundklare  Minuskel.  Absolutismus 
und  Aufklärung  verbunden  zeitigen  im  achtzehnten  Jahr- 
hunderte durch  ganz  Deutschland  hin  eine  hervorstechende 
Gleichheit  der  Handschrift  der  Gerichte  Beamten  und  Notare. 
Und  bemerken  wir  nicht  in  unserer  Zeit  etwas  Aehnliches 
in  den  kaufmännischen  Geschäftsbriefen?  Noch  viel  stärker 
ist  der  gleiche  Zug  und  Charakter,  die  Form  und  Grösse 
der  Buchstaben  bei  den  Jesuiten.  Wer  nur  einiger masseu 
darin  geübt  ist,  erkennt  die  Jesuitenhand  auf  den  ersten 
Blick,  möge  sie  aus  Rom  Ingolstadt  Goa  oder  aus  der 
Allerheiligenbai  in  Brasilien  herstammen. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Annälcn  der  Jesuiten.  161 

Merkwürdiger  noch  ist  die  Aehnlichkeit  nicht  bloss, 
sondern  geradezu  die  Gleichheit  im  Stil  und  Gedankengang. 
Welche  wunderbare  Macht  übte  doch  dieser  Orden  aus,  dass 
seine  Mitglieder,  soviel  tausend  der  gescheidtesten  Köpfe 
aus  allen  Ständen  und  Völkern,  dachten  und  schrieben  wie 
ein  einziger  Mann!  Kommt  es  wirklich  nur  auf  die  Zucht 
und  Schule  an,  um  Herz  und  Geist  und  Willen  der  Menschen 
zu  formen  und  zu  modeln  wie  weiches  Wachs?  Der  eine 
Jesuit  schreibt  bilderreicher,  der  andere  farbloser,  hier  ist 
der  Ausdruck  wärmer,  dort  ruhiger,  —  aber  überall  die- 
selben Wendungen,  dieselbe  Anschauung,  dieselbe  klare  un- 
beirrte  Schlussfolge,  dieselbe  Missachtung,  ja  Misshandlung 
der  Thatsachen,  das  hochmüthige  Abfertigen  der  Gegner, 
der  wilde  Hass  aller  Ketzerei,  der  glühende  Kampfeseifer 
für  den  Orden. 

Und  nun  der  Inhalt?  Er  ist  noch  viel  dürftiger,  als 
in  den  gedruckten  Werken  der  Jesuiten.  Ueberall  eine  ge- 
wisse Trockenheit  der  Gedanken,  selten  eine  feine  originelle 
Bemerkung,  noch  seltener  ein  Einblick  in  die  tiefere  Natur 
der  verschiedenen  Völker  und  Staaten,  in  die  eigenthümliche 
Entwickelung  ihrer  politischen  und  Kulturgeschichte,  oder 
auch  nur  der  katholischen  W'eltkirche.  Man  fühlt  sich  bei  dem 
Lesen  dieser  Schriften  beständig  angeweht  von  acht  mönchi- 
schem Geiste,  der  aus  seiner  stählernen  Enge  nicht  herauskann. 
Um  so  lieber  verlieren  sich  die  Verfasser  in's  Schildern  und 
Ausmalen  örtlicher  Zustände  und  kleiner  Ereignisse,  ins- 
besondere wenn  sie,  wie  plötzliche  Bekehrungen,  göttliche 
Strafen  übermüthiger  Ketzer,  Geistererscheinungen,  Prophe- 
tien,  den  Anstrich  des  Wunderbaren  darbieten.  Dergleichen 
und  die  Befolgung  der  Ordensregeln  und  der  Vorschriften 
der  Obern,  Ruhmbiographien  gottselig  verstorbener  Jesuiten, 
der  Gewinn  von  Gönnern,  das  Herbeiziehen  und  die  Zucht 
der  Schüler,  das  Angreifen  Ueberlisten  und  Verdrängen 
protestantischer  Lehrer  und  Prediger,    die  Widerlegung  von 


162  Sitzung  der  liistor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Verleumdungen,  ein  ganzer  dunkler  Wald  von  Hexen-  und 
Zaubergeschichten  und  Teufelsaustreibungen,  vor  allem  aber 
das  Erwerben  und  Festhalten  von  Häusern  und  Einkünften, 
Schulen  und  Kapellen ,  Gütern  und  Besitzungen ,  der  Bau 
und  die  Erweiterung  der  Residenzen  und  Collegien,  und  die 
vielen  Prozesse  um  die  Behauptung  der  festen  irdischen 
Grundlage  des  Ordens  —  dergleichen  bildet  den  Haupt- 
inhalt der  Jesuiten-Manuscripte,  die  man  etwa  als  Geschichts- 
quellen betrachten  kann.  Die  Verfasser  bewegen  sich  immer 
streng  im  Gesichtskreis  ihrer  nächsten  Ordenszwecke.  Ueber 
diesen  Horizont  riss  kein  Fremder  sie  hinaus ;  denn  die 
Berichte  waren  von  Jesuiten  und  für  Jesuiten  geschrieben. 
Kein  Anderer  durfte  sie  lesen,  unter  keiner  Bedingung:  dies 
wurde  wiederholt  eingeschärft7).  Hat  man  eine  Menge 
solcher  Schriftstücke  durchgegangen,  ist  man  verwundert, 
wie  wenig  historisches  Mark  sich  daraus  schöpfen  lässt.  Ein 
Werk  wie  die  Historia  prov.  S.  J.  Germaniae  superioris8) 
von  1541  bis  1640  Hesse  sich  aus  dem  Centralarchive  dieser 
Provinz,  soweit  es  in's  k.  allg.  Reichsarchiv  gekommen,  nicht 
mehr  herstellen. 

Am  meisten  wären  diejenigen  getäuscht,  die  in  diesen 
handschriftlichen  Aufzeichnungen  nach  historischen  Geheim- 
nissen suchen  wollten. 

Allerdings  begegnen  darin  dann  und  wann  Notizen,  wie 
folgende ,  die  ein  Rezensent  der  Annalen  der  oberdeutschen 
Provinz9)  bald  nach  dem  westfälischen  Friedensschlüsse  nach 
Rom  schreibt: 

P.  Georgius  Eberard,  ut  olim  mihi  recensuit  P.  Forer, 
omnium  primus  suasit  episcopo  Dilingano,  cui  fuit  a  sacris 
confessionibus,    ut,   quandoquidem  contra  compactata  Passa- 


7)  Epitome  516.  291.  247. 

8)  Augsburg  1727  bis  1754  in  5  Foliobänden  von  verschiedenen 
Verfassern. 

9)  Reichsarchiv,  Jesuitica  in  gen.  Fase.  9  no.  84a. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Annalen  der  Jesuiten.  163 

viensia  jam  plurima  bona  ecclesiastica  haeretici  sibi  vendi- 
cassent,  et  reliquis  onmibus  cum  interitu  catholicae  religionis 
inhiarent,  et  a  Caesare  nulluni  sperari  posset  auxilium  aut 
defensio,  ratio  aliqua  foederis  iniretur  a  magnatibus  catho- 
licis,  quo  caveretur  in  posterum  reliquiis  bonorum  ecclesiasti- 
corum ,  et  hinc  gloriosae  illius  ligae  catholicae  origo  ex- 
stitit.  Res  est  ad  omnem  posteritatem  memorabilis  :  an  vero 
id  per  nos  fieri  oporteat,  sit  Romanae  liberationis.  Possent 
plura  talia  commemorari. 

Allein  das  ist  doch  nur  ein  Rath ,  den  ein  Beichtvater 
gab,  und  es  handelt  sich  auch  nur  um  den  ersten  Gedanken 
der  Liga,  der  nahe  genug  lag.  Die  ersten  Keime  und  Pläne 
politischer  Handlungen  mögen  oft  genug  Jesuiten  den  Fürsten 
eingeflösst  haben :  ob  sie  jedoch  es  räthlich  hielten,  Auf- 
schlüsse darüber  dem  Papier  anzuvertrauen  oder  gar  in 
ihren  Archiven  niederzulegen,  ist  eine  andere  Frage.  Hat 
doch  unser  Rezensent  Bedenken,  ob  es  gerade  durch  Jesuiten 
in  die  Welt  kommen  müsse ,  dass  von  ihnen  die  Idee  zur 
Liga  herrühre? 

Auffallend  ist  auch  die  Seltenheit  von  amtlichen  ver- 
trauten Briefen,  deren  doch  eine  ungeheure  Menge  sich  er- 
geben musste  in  einem  Orden,  in  welchem  nicht  bloss  eine 
beständige  Correspondenz  aller  kleinen  und  grossen  Obern 
Regel,  sondern  auch  Jeder  des  Andern  Aufpasser  und  nach 
Umständen  sein  brieflicher  Ankläger  war.  Allein  es  finden 
sich  in  den  Münchener  Jesuitenakten  weder  von  eingelaufenen, 
noch  von  den  Concepten  abgesandter  Briefe  irgendwo  Samm- 
lungen. 

Wohl  aber  geben  diese  Jesuitenakten  Zeugniss,  wie  es 
„nicht  so  schwer  ist  für  festverbundene,  gescheidte  und  muthige 
Männer,  in  der  Welt  grosse  Dinge  auszurichten.  Wo  ihrer 
Zehn  in  einer  Stadt  feurig  nach  einem  Plan  arbeiten,  em- 
pfinden Hunderttausend  die  Wirkung  davon ,  vorausgesetzt 
dass  die  Sache  nicht  schlecht  und  der  Glaube  unerschütterlich. 


164  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

Das  ganze  Geheimniss  besteht  darin,  dass  die  grosse  Masse 
wenig  nachdenkt,  dass  sie  nur  Erwerb  und  Vergnügen  oder 
Liebe  und  Eitelkeit  im  Kopfe  hat,  während  jene  Zehn  immer 
wieder  zusammen  sitzen  und  überlegen,  wie  und  auf  wen 
sie  ihre  Netze  stellen  müssen,  welche  Massregel  hilft,  und 
wann  der  richtige  Zeitpunkt  dafür  gekommen10)".  Erst 
tasten  und  suchen  die  Jesuiten  vorsichtig  nach  hohen  Gönnern, 
um  sich  in  einem  Lande  festzusetzen,  —  dann  erziehen  sie 
geduldig  sich  ein  neues  Geschlecht  und  bringen  ihre  Jünger 
allmählig  an  den  Fürstenhof  und  in  die  Aemter,  —  und 
haben  sie  lange  Zeit  die  Gegner  unterminirt,  so  erfassen  sie 
plötzlich  den  rechten  Zeitpunkt  und  die  stärkste  Waffe,  um 
sie  niederzuschlagen  und  zu  vertreiben  und  zu  verderben. 

Die  Schlangenklugheit  und  sichere  Methode,  mit  welcher 
dies  vor  sich  geht,  die  unsägliche  Geduld  und  Ausdauer 
ein  langes  Jahrzehnt  nach  dem  andern,  die  feurige  Kühn- 
heit im  entscheidenden  Augenblick,  vor  allem  das  planvolle 
grossartige  Zusammenwirken  des  ganzen  Ordens,  endlich 
seine  ungeheuren  Erfolge  in  kurzer  Zeit  —  dies  Weltereig- 
niss  Schritt  für  Schritt  in  den  Briefen  und  Berichten  der 
Jesuiten  zu  studiren,  hat  allerdings  nicht  geringen  Reiz. 
Für  die  Kulturgeschichte  aber,  besonders  im  siebzehnten 
Jahrhundert,  liefern  sie  eine  Fülle  noch  unverbrauchten 
Stoffes.  Auch  zur  Kenntniss  der  damaligen  Zustände  in 
beiden  Indien  und  bei  den  wilden  Völkern  fliessen  hier  noch 
immer  unschätzbare  Quellen. 

Es  mögen  nun  einige  Arten  von  historischen  Aufzeich- 
nungen ,  wie  sie  in  der  Jesuitenabtheiluug  des  Münchener 
Reichsarchivs  bewahrt  werden,  kurze  Erwähnung  finden.  Es 
sind  das  Urkunden  und  Correspondenzen  über  die  Gründung 
der  einzelnen  Collegien,  —  ältere  Berichte  aus  nahen  und  fernen 


10)  v.  Löher    Geschichte    des    Kampfes    um    Paderborn    1597 
bis  1604.    Berlin,  1874.  49. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Annalen  der  Jesuiten.  1G5 

Ländern,  —  Jahresberichte  der  Jesuitenklöster  der  oberdeut- 
schen Provinz,  —  endlich  deren  zusamniengefasste  Geschichten. 

Aecht  historischer  Sinn  bekundet  sich  im  sorgfältigen 
Sammeln  und  Aufbewahren  des  Briefwechsels  über  die  ersten 
Anfänge  der  Niederlassungen  und  ihrer  Stiftungsbriefe. 
Wiederholt  kehrt  in  den  Vorschriften  der  Obern  die  Mahnung 
wieder,  die  Willensäusserungen  der  fundatores  und  bene- 
factores  wohl  in  Acht  zu  nehmen  und  aufzuzeichnen.  Jedes 
Colleg  hat  seine  Gründungsbriefe  und  -Urkunden ,  und 
manchmal  sie  alle  wohl  beisammen.  Insbesondere  war  man 
bedacht,  die  urkundlichen  Besitztitel  und  alle  Schriftstücke 
in  Vermögenssachen  auf  das  Gewissenhafteste  zu  ordnen  und 
festzuhalten.  Denn  die  Jesuiten  waren  ganz  vortreffliche 
Haushälter. 

Im  vorigen  Jahre  wurde  der  Jesuitensaal  im  Reichs- 
archiv durch  zwei  werthvolle  Folianten  bereichert.  Bei  der 
Konstatirung  oder  Neurepertorisirung,  die  seit  neun  Jahren 
nach  und  nach  durch  sämmtliche  Gruppen  dieser  kolossalen 
Menge  von  Akten  Codices  und  Urkunden  geführt  wird,  fan- 
den sich  im  Landschaftssaal  zwei  Bände,  die  äusserlich  den 
dort  aufgestellten  ganz  ähnlich  waren.  Die  ältesten  Schrift- 
stücke darin  sind  Berichte  des  Jahres  1559  aus  den  Missionen 
in  Aegypten  und  Ostindien,  das  folgende  Jahr  ist  nur  durch 
zwei  Bridfe  aus  Indien,  die  nächsten  zwölf  Jahre  sind  gar 
nicht  vertreten.  Mit  1573  beginnen  eigentliche  Jahresberichte, 
zunächst  nur  aus  Oestreich  und  Polen ,  und  der  aus  Rom 
weiset  auf  des  Ordens  rasche  und  weite  Verbreitung  hin. 
Das  Jahr  1574  bringt  noch  zahlreichere  Jahresberichte  aus 
Indien  Japan  Mexico  Peru  und  Brasilien,  aus  der,  römi- 
schen neapolitanischen  toledanischen  aragonischen  östreichi- 
schen  oberdeutschen  (Dillingen)  und  rheinischen  (Mainz) 
Kirchenprovinz  und  den  zwei  Klöstern  auf  Sardinien;  ein- 
gestreuet  sind  Briefe  über  eine  Missionsieise  und  politische 
und   kirchliche  Zustände   in   Ungarn,    über  einen  Seeräuber- 


166  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

angriff  auf  dem  Mittelmeer,  über  den  Tod  von  drei  Jesuiten 
in  Köln.  Für  jedes  der  sechs  folgenden  Jahre  finden  sich 
Berichte  aus  den  fernen  Missionen,  wie  insbesondere  aus 
den  meisten  europäischen  Provinzen  des  Ordens,  und  man 
kann  überblicken,  wie  rasch  sich  die  Provinzen  mehren  und 
ihre  Hauptorte  wechseln.  Dazwischen  erscheinen  ein  Trost- 
brief des  Pabstes  an  Herzog  Wilhelm  von  Cleve  wegen 
seines  1575  in  Rom  gestorbenen  Sohnes  und  des  Fürsten 
Antwort,  Missionsreisen  in  Schwaben  Franken  Bayern  und 
Tyrol,  Notizen  über  die  Zeitverhältnisse  1579.  Mit  dein 
Jahr  1581  wird  die  Sammlung  spärlicher,  gibt  aber  noch 
den  ausführlichen  Brief  des  Ordensgenerals  Aquaviva  vom 
28.  Juni  an  die  Provinzialen  und  andern  Obern  über  ihre 
Verhaltungsmassregeln.  Ausser  russischen  Missionsreisen, 
Erzählungen  über  den  Martyrertod  von  Ordensmitgliedern, 
den  Regeln  im  germanischen  Colleg  liefern  die  folgenden 
Jahre  keine  Schriftstücke  mehr.  Den  Schluss  bildet  das  Jahr 
1586  mit  einem  Schreiben  des  Visitators  der  rheinischen 
Provinz.  Offenbar  sind  all  diese  Berichte  und  Briefe  in 
einer  späteren  Zeit  zusammengerafft,  und  man  Hess,  soviel 
sich  davon  noch  vorfand,  in  den  zwei  Folianten  zusammen- 
binden. 

Es  ist  im  höchsten  Grade  zu  bedauern,  dass  der  ganze 
übrige  archivalische  Stoff  dieser  Art  verloren  gegangen ;  denn 
er  enthält  für  den  angegebenen  Zeitraum  nicht  wenig  des 
Werthvollsten.  Wie.  sehr  lernt  man  bei  der  Beschäftigung 
damit  diesen  Orden  bewundern,  der  über  den  ganzen  Erd- 
kreis verbreitet  doch  ein  innig  und  lebendig  zusammen- 
hängendes Ganzes  bildete,  in  welchem  jeder  Zugehörige  Leid 
und  Freude  mit  den  fernen  Brüdern  theilte !  —  Selbst  für  die 
Jesuitenklöster  der  oberdeutschen  Provinz  fehlen  von  1582 
bis  1614  die  Jahresberichte.  Jedoch  sind  gerade  aus  den 
achtziger  und  neunziger  Jahren  des  siebzehnten  Jahrhunderts 
mehrere    solcher   Berichte   aus   verschiedenen    Weltgegenden 


v.  Löher:  Handschriftliche  Anmalen  der  Jesuiten.  167 

im  Drucke  veröffentlicht.  Ein  Ausschreiben11)  an  die  Pro- 
vinzialobern  auf  Befehl  des  Generals  Aquaviva,  des  rastlosen 
Organisators,  zeigt,  wie  es  damals  mit  dieser  Art  von  Ge- 
schichtschreibung stand : 

Reverende  in  Christo  Pater !  Pax  Christi  etc.  Magnae 
consolationis  et  vero  minoris  laboris  videbatur  fore  toti 
societati,  si  annuae  provinciarum  omnium  literae  uno  veluti 
conceptu  editae  quotannis  darentur.  Ex  quo  tarnen  id  fieri 
coeptum  est,  experimur  non  parvas  difficultates,  eaque  iin- 
primis  adversatur,  quod,  si  forte  alicujus  provinciae  literae 
serius  ut  fit  reddantur,  aut  is,  cui  cura  incumbit  annalium, 
valetudine  aliove  casu  parumper  impediatur,  non  solum  abit 
tfnnus  ille  sine  annalibus,  sed  annos  etiam  consequentes, 
sicut  hisce  ultimis  magno  nostro  cum  dolore  communisque 
consolationis  detrimento  accidit,  removetur.  Nos  igitur 
curabimus  nunc  Deo  volente  quam  primum  annuas  praeteri- 
torum  annorum  uno  simul  volumine  comprehendi  omnes  et 
ad  provincias  mitti.  Ut  autem,  si  quid  in  hac  re  commodi 
erat,  vitato  incommodo  retineatur,  nova  ratio  in  posterum 
videtur  ineunda,  ut  scilicet  ex  singulis  provinciis  literae 
annuae  latino  sermone  mittantur,  diligenter  confectae,  non 
indigestae  et  confusae,  non  sola  capita  rerum  tradentes,  non 
in  supervacaneam  diffusae  longitudinem ,  sed  ordine  omnia 
narrantes  ad  eam  formam,  quae  in  impressis  hactenus  cerni 
potest.  Sic  enim  fiet,  ut  aut  nulla  aut  perexigua  mutatione 
statim  ac  venerint  recognitaeque  fuerint,  simul  omnes  im- 
primi  et  transmitti  possint.  Quare  Reverentiae  Vestrae  erit, 
literas  hujus  anni  1598  et  deinceps  aliorum  alicui,  qui  id 
bene  et  eleganter  praestare  possit,  committere,  solitoque 
accuratius  recognoscere,  ne  quid  redundans  sit  aut  diminutum. 
Quem  modum  non  dubitamus  commodiorem  multo  et  pro- 
vinciis etiam  gratiorem  futurum  ad  communem  consolationem 

11)  Reichsarchiv,  fasc.  19  no.  322. 


168  Sitzung  der  histor.  (Jlasse  vom  6.  Juni  1874. 

et  Dei  gloriam,  a  quo  magnam  Reverentiae  Vestrae  coeles- 
tium  gratiarum  copiam  precor ,  omniumque  precibus  ac 
sacrosanctis  sacrificiis  me  commendo.  Gratia  D.  N.  Jesu 
Christi  cum  omnibus  vobis.  Romae  4.  Decembris  1598. 
Mandato  R.  P.  N.  Generalis  Jacobus  Dominicus.  Reverentiae 
Vestrae  Servus  in  Christo. 

Vom  Jahre  1614  an,  wo  der  Jesuitenorden  bereits  in 
weiten  Erdstrichen  fest  gegründet  stand,  sind  für  jene  ober- 
deutsche Provinz  die  Jahresberichte  all  ihrer  Collegien  und 
Missionshäupter  im  Reichsarchiv  vollständig  beisammen.  Sie 
gehen  mit  der  einzigen  Lücke  von  1756  bis  1760,  bis  zur 
Aufhebung  des  Ordens,  und  bilden  für  mehr  als  anderthalb 
hundert  Jahre  eine  fortlaufende  Quelle  zur  innern  Geschichte 
des  Ordens  wie  zur  Kenntniss  all  der  Länder,  die  zur  Ger- 
mania superior  der  Jesuiten  gehörten.  Ueber  ihre  Abfassung 
heisst  es  im  Officium  socii  provincialis16)  unter  No.  7  :  Annuas 
literas  colliget  a  collegiis  et  reliquis  domiciliis,  emendatas- 
que  atque  in  formam  meliorem  redactas  curabit  describi 
ac  per  provinciam  distribui  super  mensam  legendas.  Es 
sind  noch  von  mehreren  Jahrgängen  die  Originale  vorhanden, 
die  von  den  Rektoren  und  anderen  Vorstehern  der  Jesuite11- 
klöster  eingesendet  und  von  dem  Provinzial  öfter  nicht  wenig 
corrigirt  und  verkürzt  wurden.  Die  Reinschriften  circulirten 
in  zwei  Exemplaren,  und  trugen  auf  dem  ersten  Blatt  die 
Mahnung:  Monentur  Superiores,  ut  diligenter  annotent,  unde, 
per  quem,  et  quo  die  acceperint  annuas,  et  quonam  ipsi,  per 
quem ,  et  quo  die  miserint,  significentque  ipsum  R.  P.  Pro- 
vinciali per  literas  prima  scribendi  occasione.  Qui  subjectas 
sibi  residentias  et  missiones  habent,  dabunt  opem,  ut  ad 
has  quoque  annuae  perferantur,  extra  etiam  mensae  tempora 
ibi  legendae,  quo  citius  absolvantur.  Ultimus  qui  acceperit, 
remittat  eas  ad  archivium  provinciae  Monachium. 


12)  Reichsarchiv,  fasc.  1  no.  10. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Annetten  der  Jesuiten.  169 

Der  Jahrgang  1634  trägt  folgende  traurige  Aufschrift: 
Temporum  iniquitas  inhibuit  consuetum  annales  scribendi 
legendique  morem.  Lacerata  provincia  dum  vulneribus 
üeeeptis  medetur,  dum  collegia  suis  convulsa  sedibus  repo- 
nuntur  et  suos  quaeque  inquirunt  manes,  annus  est.  Ut 
prima  cura  fuerit  tradendarum  rerum,  quae  gesta  sunt, 
injeeere  tarnen  moram  illi  ipsi,  quos  attinebant,  vel  annuis 
mittendis  nondum  expediti  vel  omnino  exstineti.  Bellis,  fami, 
malisque  prioribus  pestis  supervenit,  ubique  grassata  ingenti 
provinciae  nostrae  damno,  deploranda  tot  sociorum  strage. 
Multo  maxima  scriptionis  pars  parentalibus  similior,  quam 
annalibus  videtur.  —  Mehr  Leichenrede,  als  Jahresbericht  — 
das  ist  die  Aufschrift  der  Geschichte  für  die  Jahre  des  grossen 
deutschen  Kriegs  auch  in  Bezug  auf  diejenigen,  die  am 
meisten  gethan,  Deutschland  in  zwei  mit  einander  kämpfende 
Hälften  zu  zerspalten. 

Von  den  literis  annuis  gilt  besonders,  was  vorher  über 
den  Inhalt  der  Jesuitenberichte  gesagt  worden.  Leicht  er- 
kennbar folgen  sie  alle  einer  vorgeschriebenen  Formel.  Es 
wird  über  die  Thätigkeit  der  Mitglieder  des  Ordens,  ihr 
Schulwesen,  die  Seelsorge  berichtet,  über  Gunst  und  Ge- 
schenke von  Mächtigen,  über  Erlebnisse,  Leiden  und  Triumphe, 
besonders  gern  über  himmlische  Gnaden,  die  auf  Anrufen 
der  Ordensheiligen  Ignatius  Xaverius  und  Aloysius  erfolgten. 
Treffliche  Sprüche  und  Antworten  von  Jesuiten  und  ihren 
Schülern,  und  Anekdoten  von  Freund  und  Feind  sind  be- 
sonders willkommen.  Denn  diese  Jahresberichte  dienten 
zur  Erhebung  wie  zur  Erbauung,  wurden  desshalb  auch  bei 
Tische  vorgelesen13).  Desshalb  wuchern  hier  recht  die  Ge- 
schichten von  Hexen,  Wärwölfen  und  Geisterbannern.  Haupt- 
zweck aber  bleibt  eine  Art  Rechenschaft  über  den  Stand 
der    Mitglieder   eines  Collegs,  einer  Residenz,  einer  Mission, 


13)  Epitome  516.  246. 


170  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

« 
und  der  Seelenärnte  im  Jahr.  Desshalb  wird  auch  jedem 
Jahrgang  eine  Tabelle  zur  Uebersicht  vorangestellt.  Es  zeigt 
z.  B.  die  Tabelle  von  1766,  also  kurze  Zeit  vor  der  Auf- 
hebung, noch  33  Jesuitenklöster  mit  1084  Ordensangehörigen, 
darunter  630  Priester  und  Magister.  Neu  aufgenommen  sind 
in  dem  Jahr  30,  gestorben  21,  entlassen  13.  Zur  katho- 
schen  Religion  wurden  übergeführt  172,  an  den  achttägigen 
Exercitien  im  Jesuitenhaus  nahmen  Theil  41,  am  Abendmal 
bei  den  Jesuiten  2,067,166,  von  denen  10,408  vorher  Ge- 
neralbeichte ablegten. 

Eine  gute  Kritik  über  die  Jahresberichte  aus  den 
oberdeutschen  Jesuitenklöstern  übte  Pater  Georg  Finder- 
mann14). "Wie  es  scheint,  wohnte  er  zu  Dillingen  und  ver- 
arbeitete die  Annalen  der  Provinz  für  die  Jahre  von  1615 
bis  1650  zu  einem  Auszug,  der  für  die  Fortsetzung  der  Ordens- 
geschichte bestimmt  war,  welche  man  in  Rom  vorbereitete. 
Seine  advertenda  sollten  vertraulicher  Weise  aufmerksam 
machen  auf  die  grossen  Schwächen  und  andeuten,  was  man 
im  Generalat  zu  Rom  ändern  müsse.  Darunter  finden  sich 
folgende  Artikel : 

1,  Videntur  multa  laborare  fide,  quae  recensentur  de  soda- 
litatibus  Marianis ,  et  saltem  ad  earundem  ,  non  ipsius 
societatis  proprie,  annales  et  historiam  spectare,  quae- 
dam  etiam  obstruere  luminibus  societatis :  hinc  judicet 
Roma,  quid  in  historia  societatis  de  iis  afferre  congruum 
sit.     Ego  de  industria  multa  indicta  praeterii. 

2.  Recensentur  passim  conversi  ad  fidem  catholicam  prae- 
dicantes,  quorum  tarnen  numerosa  pars,  hypocrisi 
nefaria,  aut  haeresin  non  exuit  unquam  aut  paulo  post 
resorbuit,  praesertim  Dilingani  et  Palatini :  videat  Roma, 
quid  de  ejuscemodi  scribi  conveniat.  Idem  puto  de 
aliis  subinde  convertitis. 


14)  Reichsarchiv,  fasc.  9  no.  84a. 


d.  Loher:  Handschriftliche  Annalen  der  Jesuiten.  1?1 

3.  Habetur  in  annali  quodam  Weidensi,  plane  falso,  exter- 
minatos  in  Weida  omnes  haereticos,  urbem  totam  esse 
catholicam ;  idque  primis  statim  annis  scriptum  est, 
quibus  excolere  eam  civitatem  coepit  societas:  quare 
omittatur  necessario. 

4.  Diligenter  advertendum,  in  compilatione  annalium  nihil 
Romam  missum,  quod  non  iisdem  contineretur,  et  plane 
ut  plurimum  non  videntur  cum  dignitate  posse  sustinere 
multa  majestatem  societatis:  hinc,  nisi  aliunde  alia 
habeantur  et  addantur,  videntur  recensenda  non  multum 
vigoris  ac  caloris  habitura. 

5.  Cupii  quidem  ex  archivis  augere  et  exornare  spartam 
meam,  sed  id  dissimulatum  est.  Memini,  ingruente  peste 
a  plurimis  e  diversis  provinciae  locis  ac  personis  ejus- 
modi  epistolas  petitorias  datas  esse  ad  R.  P.  Provin- 
cialem  inserviendi  pestiferis,  ut,  salvo  meliore  judicio, 
putem,  citra  injuriam  dissimulari  in  historia  societatis 
non  posse.  Et  quod  de  hoc  argumento  dico,  idem  cen- 
seri  de  multis  aliis  potest. 

6.  Videntur  mihi  Lucernenses  acrius,  quam  expediat,  scrip- 
sisse  de  suis  ut  appellant  Entlibuchensibus  rebellibus: 
verendum ,  ne  hoc  non  aliquando  pariat  difficultatem, 
neque  enim  talia  lego  in  aliarum  provinciarum  anna- 
libus,  licet  belli  tempore. 

7.  Equidem  nolui  res  bellicas  omnium  collegiorum  et 
locorum  singulis  annis  persequi ,  claritatis  ergo  etc., 
sed  a  revisore  ea  incubuere  in  spongiam,  quod  eae  jam 
omnes  ac  singulae  Romam  sint  denuntiatae;  actum 
igitur  non  reagendum;  curandum  igitur  Romae  est,  ut 
Überaus  sit  in  describenda  gloria  nostrae  provinciae 
patientia. 

8.  In  tot  annorum  annalibus,  quod  nemo  satis  demiretur, 
ne  una  quidem  fit  recensitio  aut  mentio  ullius  illustris 
alicujus  facti  cujusquam  superioris,  provincialis,  rectoris, 

[1874,11.  Phil.hist.  Cl.  2.]  12 


172  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

professoris,  confessarii  principum  etc.,  cum  longe  secus 
fiat  in  editis  tomis  historiae  societatis,  quo  quidem  non 
paucos  etiam  e  nostris  scio  non  mediocriter  offensos: 
confido,  buuc  defectum  suppletum  iri  per  Romanam 
notitiam  et  industriam. 

11.  In  nullo  horum  annaliuin  fit  mentio  fere  illustris  alicujus 
facinoris,  quod  perpetrarint  viri  principes  etc.  seculares, 
ecclesiastici,  senatores,  urbes,  nobiles  etc.  instigatione, 
consilio  etc.  nostri  alicujus:  quod,  num  non  sit  con- 
junctum  cum  offendiculo,  dijudicet  Roma. 

12.  Audimus  hinc  inde  passim  non  optime  apud  plerosque 
de  suggestis  consiliis  in  rebus  bellicis,  in  exigendis  con- 
tributionibus  probandis  etc.  et  plurimis  similibus:  ni 
fallor,  occurri  Romae  oportebit  et  informari  ii  lectores, 
quibus  de  talibus  veritas  non  constat. 

13.  Advei ti  in  encomiis  mortuorum  quosdam  aut  de  frivolis 
aut  enormiter  in  genere  laudari,  in  peculiari  afferri 
notatu  omnino  nihil . . .  Nolui  ego  laudum  obtrectatorem 
agere,  quare,  ut  verba  sese  habebant,  excerpta  in 
exemplar  Romanum  retuli.  Dein  et  sodalium  quorundam 
mortes  ita 'picturate  recensitautur,  ac  si  pro  eorum 
canonisatione  ageretur.  Oinisi  ego  quidem  multa  similia, 
sed  non  omnia. 

19.  Mala  inanus  alicubi  unum  alterumve  annalem  invasit  et 
quae  libuit  excidit.  Defectum  eum  studui  resarcire  ex 
historiis  privatis  collegiorum,  ut  Monacensis,  Dilin- 
gani  etc. 

41.  Videri  possint  annales  nostrae  provinciae  nee  non  inde 
exstruenda  historia  panegyricus  potius,  quam  historia. 
Neque  (contra  quam  legere  sit  in  tomis  historiarum  socie- 
tatis) in  omnibus  fit  ulla  mentio  ullius  erroris  a  quoquam 
in  societate  commisso  tot  annis,    exceptis  apostatis  etc. 

42.  In  librorum  dedicationibus  extreme  aliquando  palpones 
et  falsidici  fuimus  etc. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Anndien  der  Jesuiten.  173 

Wir  wenden  uns  nun  zu  den  „histoiiae"  der  Jesuiten- 
klöster. Diese  wurden  von  Anfang  an  von  den  menstruae 
und  annuae  literae  wohl  unterschieden,  und  ihre  Abfassung 
den  Obern  der  Missionen  wie  der  Residenzen  und  Collegien 
zur  Pflicht  gemacht.  Hisloriam  missionis  superior  ex  men- 
struis  literis  in  librum  scribi  curet,  hiess  es  in  der  Instruk- 
tion der  ersten  Jesuiten  zu  Paderborn 15).  Indessen  nur 
aus  einigen  Ansiedlungen  langten  solche  historiae  in  Rom 
an,  von  andern  nicht.  General  Aquaviva  brachte  auch  diese 
Aufgabe  in  Schwung.  Er  erliess  ein  Ausschreiben  an  die 
Provinzialobern16),  welches  lautet: 

Reverende  in  Christo  Pater !  Pax  Christi  etc.  In  scriptis 
alicujus  momenti,  quae  in  archivio  Romano  societatis  con- 
servari  debent,  primo  fere  loco  numeranda  erit  historia  seu 
succincta  narratio  de  origine  ac  fundatione  cujusque  collegii 
aut  domus  societatis,  qua  breviter  explicetur:  quo  tempore, 
qua  occasione,  quibus  modis  collegium  illud  aut  domus 
exordium  sumpserit,  —  quos  item  redditus  ac  bona  ab 
initio  ac  quae  deinde  incrementa,  quibusque  ab  hominibus 
ad  hodiernum  usque  diem  acceperint  ac  retinuerint.  In  eadem 
narratione  dicendum  erit,  quot  et  quas  lectiones  unusquisque 
locus  habeat,  earumque  quas  ex  obligatione,  quasque  ex 
libera  voluntate  sustineat,  —  quae  praeterea  onera  et  obli- 
gationes,  quem  personarum  numerum  teneat  vel  tenere 
possit,  caeteraque  ejusmodi.  Quae  quidem  etsi  visitatores 
aliquot  praeteritis  temporibus  fieri  et  huc  in  urbem  mitti 
curaverunt,  quia  tarnen  ex  pluribus  provinciis  hoc  factum 
non  est,  nee  ab  iis,  quae  hoc  praestiterunt ,  ea  qua  con- 
veniebat  forma  praestiturn  fuit ,  ut  ex  omnibus  über  unus 
conficeretur,  necesse  erit,  semel  hunc  laborem  serio  et  ex 
instituto  suseipere,  eo  ordine  quo  explieavimus  ac  nunc  etiam 


15)  Oben  Seite  156. 

16)  Reichsarchiv,  fasc.  19  no.  322.  Vgl.  Institutum  II  122. 

12* 


174  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

dicemus,  nimirum  ,  ut  narrationes  jam  dictae  perscribantur 
papyro  ejusdem  plane  magnitudinis  qua  haec  nostra  est, 
quae  hanc  instructionem  continet,  aut  si  forte  major  sit,  ad 
hanc  eandem  formam  redigatur;  margines  item  habeat 
aequales  his  nostris,  ut  eo  facilius,  quae  istinc  mittent'T, 
separata  in  unum  corpus  hie  compingantur.  Haec  autem 
omnia  cum  erunt  rite  confeeta,  transmitti  ad  nos  poterunt 
occasione  aliqua,  vel  nostrorum  hominum  vel  externorum 
etiam  amicorum,  quoium  erit  speetata  ac  probata  fides,  huc 
in  urbem  proficiscentium ,  vel  certe  procuratorum ,  qui  ex 
provineiis  ad  proxime  futuram  congregationem  venient.  Illud 
etiam  curari  debet,  ut  exemplar  seu  transscriptum  hujus 
summariae  narrationis  ad  nos  transmittendae  servetur  ubique 
integrum  in  collegiis  domibusque,  e  quibus  fuerit  exhibitum, 
etiamsi  earundem  prorsus  reruin  historiae  copiosiores  in 
eorum  monumentis  seu  registris  exstent,  ut  si  quando  dein- 
ceps  necesse  erit,  inform ationes  alias  de  futuris  incrementis 
eorundem  locorum  reddituum  censuum  aut  onerum  petere, 
id  fieri  possit  ad  hanc  ipsam  papyri  formam,  et  ineipiendo 
a  fine  praeced entmin  informationum  datarum.  —  In  eadem 
etiam  papyri  forma  conveniet  vota  solennia  professorum 
eorumque  simplicia,  coaeijutorum  item  formatorum  Romam 
mittere,  ut  suo  in  libro  cohaereant  et  non  in  mediis  foliis, 
aut  forma  quarti,  ut  subiude  multi  solent:  eaque  disparitas 
connexionem  impedit  ordinemque  perturbat.  Dominus  sit 
vobiscum.  Romae  30.  Decemb.  1586.  R.  V.  servus  in  Christo 
Jacobus  Ximenez  mandato  R.  P.  N.  Generalis  Praepositi. 

Der  Vorstand  der  oberdeutschen  Kirchenprovinz  setzte 
darunter:  Quae  mandato  R.  P.  N.  Generalis  P.  Secretarius 
praesentibus  literis  exigit,  Superiores  omnes  ea  qua  par  est 
diligentia  primo  quoque  tempore  exequentur  et  spatio  duorum 
mensium,  postquam  has  aeeeperint,  ea  omnia  sie  perficere 
conabuntur,  ut  tarn  historiam  quam  vota,  ut  in  literis  exi- 
gitur,  summa  diligentia  scripta  et  perfecta  post  elapsos  duos 


v.  Löher:  Handschriftliche  Annalen  der  Jesuiten.  175 

menses  ad  Provincialem,  quando  ipse  petiverit,  mittant,  qui 
in  urbein  ea  perferri  curabit. 

Diesem  Befehle  gemäss  ist  nun  auch  in  den  Jesuiten- 
häusern der  oberdeutschen  Provinz  eine  brevis  et  succincta 
historia  oder  eine  kurze  narratio  de  origine  et  progressu 
collegii  ausgearbeitet,  nach  München  geschickt,  hier  corrigirt 
und  die  Reinschrift  nach  Rom  befördert,  während  der  erste 
Entwurf  oder  eine  Abschrift  hier  blieb.  Allein  die  Fort- 
setzung lässt  sich  sehr  häufig  vermissen.  Für  die  Collegien 
zu  München  und  zu  Luzern17)  —  an  letzterem  Orte  wurden 
die  Jesuiten  anfänglich  ,,die  gelehrten  Leut"  genannt  —  wurde 
ein  Band  in  Grossquart,  ganz  in  der  Form  wie  des  Generals 
Ausschreiben  es  verlangte,  angefertigt:  die  ersten  Blätter 
bringen  den  origo  et  progressus  ab  anno  1558  resp.  1574 
usque  ad  annum  1587,  und  alle  folgenden  Blätter  sind  leer 
geblieben.  Jedoch  findet  sich  für  beide  Häuser  auf  losen 
Blättern  die  Fortsetzung  bis  1632  resp.  1635.  München 
hat  ausserdem  eine  brevissima  historia  von  1586  bis  1638. 
In  ähnlicher  Weise  zeigen  sich  für  einige  andere  Ansiedlungen 
kurze  annalistische  Aufzeichnungen  bis  in  die  dreissiger  Jahre 
des  siebzehnten  Jahrhunderts. 

Insbesondere  ausführlich  sind  die  relationes  de  illatis 
damnis  et  periculis  in  der  letztgenannten  Zeit  des  dreißig- 
jährigen Kriegs,  wahrscheinlich  in  Folge  eines  Auftrags  vom 
Provinzial.  In  den  folgenden  vierziger  Jahren,  scheint  es, 
war  an  den  meisten  Orten  die  Lust,  ja  selbst  die  Möglich- 
keit verloren,  noch  Begebenheiten  der  entsetzensvollen  Gegen- 
wart zu  notiren. 

Ausser  diesen  kurzen  Aufzeichnungen  finden  sich  für 
einzelne  Zeiträume,  hier  für  diesen  dort  für  jenen,  ausführ- 
lichere Berichte.  Amberg  z.  B.  hat  eine  solche  Arbeit  für 
die    Jahre    1621    bis    1633:     Puncta    pro    historia    collegii 


17)  Reichsarchiv  faac.  90  und  85  no.  1787  und  1717. 


176  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  2.  Juni  18? 4. 

Ainbergensis  et  missionis  Palatinarum ,  jedoch  mit  einer 
Note  von  anderer  Hand  auf  dem  ersten  Blatt,  welche  lautet: 
Haec  scripta,  quod  attinet  ad  chronologiam  seu  temporis 
rationem,  non  satis  ubique  censentiunt  cum  annalibus  nostris 
et  cum  historiis  collegii  Ambergensis  et  Ratisbonensis,  quibus 
major  est  fides  habenda.  Die  Historia  coli.  Soc.  J.  Am- 
bergae  von  1621  bis  1708,  welche  erhalten  worden,  ist 
offenbar  nur  Auszug  aus  einem  grösseren  Werke.  Auch 
diese  Amberger  Schriften,  noch  mehr  die  über  die  missio 
Kemnatensis ,  tragen  wie  alle  solche  Arbeiten  der  Jesuiten, 
die  Spuren  ausgiebiger  und  oft  unbarmherziger  Correkturen 
durch  die  Obern  18). 

Wiederholt  aber  wurden  historische  Aufgaben  gestellt, 
um  die  Geschichte  der  Ordensprovinz  fortzusetzen.  Ein 
solches  Ausschreiben  des  Provinzials  19),  etwa  um  das  Jahr 
1640,  ist  folgendes: 

Quoniam  videtur  haud  improbatum  iri,  si  continuetur 
historia  nostrae  provinciae ,  rogantur  inprimis  Reverendi 
Patres  Rectores,  ut  qua  hactenus  benevolentia  continuationem 
hanc  dignentur  promovere,  ad  quod  fere  idonea  erunt,  quae 
adnoto : 

1.  Ut  qui  necdum  miseruut  catalogum  omnium  Superi- 
orum  et  Rectorum  ab  initio  residentiae  vel  collegii  usque 
ad  praesens  tempus,  submittant  commodo  tempore. 

2.  Item ,  catalogus  omnium  defunctoruin  collegii  vel 
residentiae  usque  ad  annum  1614.  Reliquum  supplebitur 
ex  annuis,  quas  ab  illo  anno  habemus  manuscriptas. 

3.  Qui  synopses  conficiunt,  eam  partiantur  in  annos 
singulos  ab  uno  decennio  ad  alterum ,  ita  ut  ad  quemvis 
annum  referant,  quae  quovis  anno  intra  quodvis  decennium 
gesta  sunt. 


18)  Daselbst,  fasc.  43  No.  769. 

19)  Daselbst,  fasc.  9  no.  84a. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Annälen  der  Jesuiten.  177 

4.  Rogantur  porro .  ut  in  conficienda  synopsi  et  ad- 
notandis  gestis  liberales  sint  potius,  quam  parci,  ut  delectus 
sit  historico  facilior. 

5.  Observetur  accurate  elenchus  singulorum  punctorum, 
de  quibus  petitur  inforniatio :  quodsi  alia  adhuc  occurrant 
meinoratu  digua,  illa  etiam  adnotare  placeat. 

6.  AdiuDgere  placeat,  quod  flagito  enixe,  quautum  fieri 
potest  ad  puncta  singula  circumstautias  loci,  teinporis, 
familiae,  ac  praecipue  nominis ;  factum  id  diligentissime  ab 
historicis  societatis  Orlandino,  Sacchino,  Juvencio.  Plurimum 
in  his  memorari  est  ad  venustatem ,  gratiam ,  et  maxime 
authoritatem  historiae« 

7.  Cum  vero  huiusmodi  circumstantiae  perquam  saepe 
in  annuis  exprimi  multas  ob  causas  non  soleant,  inveniri 
poterunt  aliis  in  libris,  v.  g.  rationum  etc.,  in  archivio 
maxime,  et  in  variis  diariis,  et  historia  separata  collegii,  si 
tarnen,  ut  oporteret,  seorsim  habeantur  ab  annuis,  et  accu- 
rate sciibatur  iuxta  elenchum  punctorum,  quae  ante  centum 
ac  plures  annos  iam  fuerunt  praescripta,  ut  annotentur. 

8.  Sunt  collegia,  in  quorum  scriniis  latent  varia  manu- 
scripta,  vel  acta  relicta  a  defunctis,  quae  servient  ad  histo- 
riam,  quorum  memoria  forsan  apud  superstites  haberi 
potest.     Rogo,  ut  vel  mittantur  vel  memoranda  excerpantur. 

9.  Cum  porro  soleat  in  diariis  plerumque,  praesertim 
antiquioribus,  taceri  cognomen,  sufficiet  tarnen  magnorum 
viiorum,  si  quid  egerunt  memorabile.  vel  solum  memorare. 
Poterit  enim  cognomen  ex  aliis  manuscriptis  deprehendi,  ut 
e.  g.  Monacense  diarium  habet:  hodie  advenit  P.  Carolus.  etc., 
s.  Aenipontanum  habet:  hodie  abiit  P.  Carolus  Leopold 
Monachium ,  concionator  aulicus,  —  patet  ergo  nomen  et 
cognomen. 

10.  Porro  hae  circumstantiae  nominis  etc.  non  tantum 
de  nostris  hominibus,  verum  etiam  de  externis,  si  qua  dignum 


178  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

videtur,  ut  fiat  mentio,  v.  g.  si  fuerint   dignitate  aut  officiis 
magni,  cancellarii,  dynastae  etc. 

11.  Praesertim  exoptatur,  ut  memoria  conservetur  tum 
eoruni ,  qui  fuerunt  fautores  aut  benefici  in  Societatem, 
tempus,  locus,  nomen,  elogium  de  illorum  vita  et  morte, 
uti  et  elogia  eorum,  qui  sub  nostra  directione,  sodalitiis  etc. 
magnam  famam  virtutis  sunt  consecuti,  aut  generosos  actus 
exercuerunt. 

12.  Juvabit,  si  aliuude  haberi  non  potuerint  circumstantiae, 
ioquirere  apud  exteros,  qui  sciverint. 

Es  scheint  indessen  nicht,  dass  dieses  Ausschreiben 
überall  so  ergiebigen  Erfolg  hatte,  wie  zu  Eichstädt20),  von 
welchem  sich  ein  ortus  et  progressus  collegii  S.  J.  Eustadii 
ex  historia  domus,  literis  annuis,  variis  diariis  et  aliis  docu- 
mentis  descriptus  erhalten  hat  bis  zur  Mitte,  oder  zu  Hall21), 
das  reichliche  Notizen  bis  zum  Ende  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts sammelte.  Insbesondere  ist  die  Zeit  nach  1708 
schlecht  vertreten,  wahrscheinlich  weil  die  Ordensgeschichte 
nicht  mehr  in  alter  Weise  fortgesetzt  und  keine  Beiträge 
dazu  mehr  von  den  Obern  verlangt  wurden.  Es  lag  einmal 
im  ganzen  Wesen  des  Ordens,  dass  die  Marianas  in  ihm 
selten  blieben.  Eine  rechte  Freude  an  Geschichtsschreibung 
konnte  nicht  aufblühen ,  wo  man  sich  beständig  durch  das 
Berichts-  und  Tabellenwesen,  durch  die  Censur  der  Oberen, 
durch  tausend  ängstliche  Rücksichten  gehemmt  fühlte.  Man 
begnügte  sich,  das  Geschichtliche  auf  den  unverfänglichsten 
Ausdruck  zu  bringen  und  alles  Bedenkliche,  auch  wohl  das 
Bedeutendere,  auszulassen. 

Es  gab  indessen  zweifellos  zusammenhängende  Geschichten 
vieler  Jesuitencollegien ,  die  von  der  Stiftung  bis  tief  in's 
siebzehnte   Jahrhundert   fortgeführt  waren.      So  finden  sich 


20)  Daselbst,  fasc.  68  no.  1238. 

21)  Daselbst,  fasc.  71  no.  1344. 


v.  Löher:  Handschriftliche  Anndien  der  Jesuiten.  179 

—  ausser  den  im  Vorigen  schon  gegebenen  Andeutungen 
unter  Amberg  Eichstädt  Regensburg  —  im  Reichsarchiv22) 
Auszüge  ex  tomo  I.  und  II.  historiae  coli.  Augustani,  quae 
contigere  meinorabiliora  de  sodalibus  congregationis  civicae 
eorumque  antecessoribus  civibus  catholicis  von  1559  bis  1669, 
und  eine  Aufzählung  der  beneficia  a  S.  P.  Ignatio  clientibus 
exhibita  ebenfalls  aus  der  historia  coli.  August,  bis  1724. 

Wo  sind  die  interessanten  Bände  selbst  geblieben  ? 

Eine  besondere  Erwähnung  verdient  hier  die  historia 
collegii  Paderbornensis  von  1580  bis  1620,  die  vielleicht 
in  Deutschland  einzig  in  ihrer  Art  ist  und  im  Original 
(P.  165)  sich  auf  der  Gymnasialbibliothek  zu  Paderborn,  in 
einer  beglaubigten  Abschrift  im  Reichsarchiv  befindet. 

Es  gab  in  Paderborn,  wo  von  jeher  ein  gewisser  histori- 
scher Sinn  eingebürgert  schien ,  fortlaufende  und  sehr  aus- 
führliche Jesuitenannalen.  Aus  ihnen  arbeiteten  Strunck 
und  die  andern  Fortsetzer  der  Schaten'schen  Aunalen,  ferner  der 
Jesuit  Horrion  in  seinem  Panegyrikus  auf  Bischof  Dietrich 
1616,  sowie  die  beiden  andern  Jesuiten  Türck  und  Massen, 
die  handschriftliche  historische  Werke  hinterliessen,  endlich 
der  Verfasser  jener  historia.  Den  Jahrbüchern  fehlte  nur 
das  Stück  von  1615  bis  1635,  welches  im  dreissigjährigen 
Krieg  in  Mainz,  wohin  man  die  Jahrbücher  geflüchtet 
hatte,  unterging.  Jetzt  sind  all  diese  Aunalen  verschwunden: 
für  die  Zeit  der  Rekatholisiruug  des  Landes  ist  aber  jenes 
Werk  des  Jesuiten  Joh.  Sander  da,  der  darin  zum  Jahre  1615 
berichtet:  Cum  ab  hoc  anno  1615  ad  annum  1635  annuae 
nee  in  collegii,  nee  in  provinciae  archivo  Coloniae  reperiantur, 
videntur  Moguntiae  periisse,  quando  rex  Sueciae  eam  oecu- 
pavit.  Itaque  sciibo  passira  notata,  a  me  Jo.  Sandero 
collecta  et  observata,  quando  illis  annis  collegium  inhabitavi. 
Was    Sander   aber   über  das   Jahr    1620    hinaus    arbeitete, 


22)  Daselbst,  fasc.  45  no.  829. 


180  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

ist  untergegangen,  und  wird  dafür  durch  mehrere  kleine 
annalistische  Werke,  die  sich  von  Paderborner  Jesuiten  noch 
vorfinden,  nicht  entfernt  Ersatz  geboten. 

Sander  schreibt  ganz  in  der  Anschauungsweise  der  da- 
maligen Jesuiten,  mit  glühender  Begeisterung  für  den  Orden, 
mit  fanatischem  Hasse  erfüllt  wider  seine  Gegner.  Bis  ins 
Einzelnste  erzählt  er,  wie  die  Jesuiten  in  Paderborn  Fuss 
fassten ,  wie  sie  Gut  und  Geld  erwarben,  —  wie  sie  sich 
Partei  machten,  erst  am  Hofe,  dann  im  Lande,  dann  in  der 
Stadt,  —  mit  welchen  Mitteln  sie  den  Protestantismus  an- 
griffen, —  und  was  ihnen  endlich  zum  Siege  verhalf.  Er 
ist  ungemein  reich  an  kulturhistorischen  Einzelnheiten,  flicht 
häufig  "Anekdoten  ein,  und  scheuet  sich  gar  nicht,  auch  zu 
berichten,  welche  unlautere  Wege  der  Orden  einschlug,  um 
seine  Zwecke  zu  erreichen.  Denn  die  Hauptsache  ist  ihm 
zu  zeigen,  dass  die  Jesuiten  immerfort  klüger  waren,  als  alle 
anderen  Leute,  und  dass  sie  durchaus  siegen  mussten. 

Mir  waren  diese  Sanderschen  Annalen  vom  grössten 
Werth  für  die  Geschichte  der  Antireformation  des  pader- 
bornischen Landes23).  Auf  jener  Zeit  von  1580  bis  1620, 
in  welcher  die  Hälfte  des  deutschen  Volkes  wieder  katholisch 
wurde,  lagert  noch  dichtes  Dunkel.  Ich  wollte  nun  versuchen, 
auf  einem  Boden,  auf  welchem  ich  jedes  Dorf  und  jedes 
Schloss  kannte.  Schritt  für  Schritt  zu  enträthseln ,  wie  die 
Gegenreformation  eigentlich  vor  sich  ging.  Paderborn  war 
ein  geistliches  Fürstenthum ,  und  nur  durch  die  geistlichen 
Fürstengebiete,  die  sich  breit  durch  ganz  Deutschland  zogen, 
gewannen  die  Jesuiten  in  raschem  Vordringen  Stellung  von 
den  Alpen  bis  zur  Nordsee.  Durch  ein  wahres  Glück  sind 
gerade  über  jene  Vorgänge  in  Paderborn  auch  andere  hand- 
schriftliche Nachrichten  dortselbst  wie  in  Kassel  und  Münster 


23)  Geschichte  des  Kampfes  um  Paderborn.  Berlin  1874. 


v.  Loher:  Handschriftliche  Anndien  der  Jesuiten.  181 

erhalten,  welche  Sander's  Berichte  wesentlich  ergänzen  und 
corrigiren. 

Nur  ganz  kurz  sei  der  Gang  der  antireformatorischen 
Unternehmungen  hier  skizzirt. 

Das  Domkapitel  war  fast  durchaus  protestantisch  und 
hielt  es  mit  seinem  Fürstbischof  Herzog  Heinrich  von  Lauen- 
burg, dem  erklärtesten  Freund  und  Helfer  des  Kölner  Kur- 
fürsten Gebhart  Truchsess.  Da  wurden  vier  westfälische 
Edelleute,  die  in  Rom  im  Collegium  germanicum  ihre  Studien 
gemacht  und  auf  welche  Niemand  besonders  Acht  hatte, 
Domherren  in  Paderborn.  Sie  wussten,  dass  Dietrich  von 
Fürstenberg  Bischof  werden  solle,  und  zogen  daher  bei 
Gelegenheiten  Verwandte  von  ihm  ins  Kapitel.  Als  während 
der  Pest  1580  Alles  aus  der  Stadt  flüchtete ,  die  jungen 
lebenslustigen  Domherren  zuerst,  wurde  ein  Kapitularstatut 
zu  Stande  gebracht:  Keiner  solle  mehr  ins  Kapitel  kommen, 
der  nicht  für  jetzt  und  für  immer  sich  als  guten  Katholiken 
einschwöre.  Jetzt  war  die  Partei  im  Domkapitel  geschaffen, 
Dietrich  wurde  Domprobst,  und  bei  des  Lauenburgers  plötz- 
lichem Tode  durch  rasche  Wahl  Bischof  und  Landesherr. 

Das  Domkapitel  zog  nun  Jesuiten  herbei.  Diese  ver- 
mehrten sich  ohne  Aufsehen,  legten  aber  lange  Jahre  hin- 
durch alles  Gewicht  bloss  darauf,  die  Jugend  anzuziehen  und 
in  ihrem  Geiste  zu  bilden.  Allmählich  schafften  sie  sich  auch 
eine  feste  Partei  im  Lande ,  erst  bei  einigen  Edelleuten, 
dann  bei  Hofe,  dann  in  den  beiden  Hauptstädten  Paderborn 
und  Warburg,  die  wie  das  ganze  Land  erzprotestantisch  waren. 
Zu  dem  Ende  zog  man  katholische  Juristen  von  aussen  herein, 
und  zwar  besonders  solche,  die  Pfaffenkinder  waren  und 
desshalb  nicht  Rathsherren  werden  konnten.  Ein  Jesuit 
wurde  Benediktiner,  dann  Abt  im  Kloster  dieses  Ordens  zu 
Paderborn,  und  damit  das  Haupt  der  katholischen  Bürgerpartei. 

Die  ganze  Bürgerschaft  wird  gründlich  gespalten,  indem 
der  Bischof  sich  der  Gemeinde  gegen  die  Rathsgeschlechter 


182  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

annimmt,  welche  in  Trotz  und  Uebermuth  der  Stadt  Gut 
und  Einkünfte  verprassen.  Die  Gemeinde  belagert  den  Rath 
drei  Tage  lang  auf  dem  eigenen  Rathhause.  Zuletzt  lässt 
sie  sich  den  Bischof  als  Richter  gefallen,  und  er  hält  Bürger- 
meister und  Rath  so  lange  gefangen ,  bis  sie  das  Gleiche 
thun.  Ein  grosser  Prozess  wird  gegen  sie  angestrengt,  aber 
gespielt  und  verschleppt  als  eine  wahre  Justizposse. 

Die  Bürger  werden  ungeduldig.  Sie  errichten  eine 
geheime  Eidgenossenschaft  und  erwählen  den  Rathsherrn 
Wichart  zu  ihrem  Hauptmann,  um  das  Evangelium  und  die 
Bürgerfreiheit  zu  retten.  Die  Verschwörung  breitet  sich 
auf  die  übrigen  Städte  und  die  Ritterschaft  aus.  Als  der 
Bischof  eine  katholische  Kirchenagende  einführen  will,  er- 
hebt sich  das  ganze  Land  im  bewaffneten  Aufstand. 

Wichart  wird  Bürgermeister,  bewaffnet  die  ganze  Bürger- 
schaft, lässt  Kanonen  giessen  und  die  Stadt  neu  befestigen. 
Der  Bischof,  welcher  die  Spanier  in  den  Niederlanden  unter- 
stützte, nimmt  ein  paar  tausend  Spanier  in  Sold.  Während 
sie  schon  in  der  Nähe  sind,  erhebt  die  katholische  und  alte 
Rathspartei  einen  Aufstand.  Wichart  beschwichtigt  ihn.  In 
der  folgenden  Nacht  bestürmen  die  Spanier  die  Mauern, 
werden  aber  blutig  zurückgeschlagen.  Die  Bürgerschaft 
nimmt  den  Landgrafen  von  Hessen  zum  Schutzherrn  an. 
Verrätherei  im  Schooss  der  Bürgerschaft  und  eine  schmäh- 
liche Täuschung  von  Seiten  des  Bischofs  bringt  die  Stadt 
in  seine  Hände. 

Der  Bürgermeister  wird  ergriffen,  Tagelang  am  Pranger 
ausgestellt,  gefoltert.  In  öffentlicher  Gerichtssitzung  auf  dem 
Markte  vertheidigt  er  sich,  wird  verurtheilt,  lebendig  ge- 
viertelt, mit  den  blutigen  Körperstücken  fährt  der  Henker 
um  sein  Haus.  Seine  Anhänger  flüchten  oder  werden  von 
Haus  und  Hof  vertrieben.  Die  Stadt  verliert  all  ihre  Frei- 
heiten ,  und  der  Bischof  fängt  an ,  in  ihren  Mauern  eine 
Citadelle  zu  bauen. 


D.  höher:   Handschriftliche  Ann  ahn  der  Jesuiten.  183 

Die  Bürgerschaft  bleibt  aber  trotzdem  protestantisch. 
Nun  werden  ihre  Schullehrer  und  Prediger  verfolgt  und 
immer  auf  das  Neue  verbannt.  Nur  katholische  Ehen  werden 
gestattet,  den  Evangelischen  die  Kirchhöfe  verschlossen. 
Endlich  wird  1G12  Alles  ausgetrieben,  was  nicht  katholisch 
werden  will. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  eine  Geschichte  erwähnt,  die 
auf  die  jesuitische  Anekdotenjagd  ein  Licht  wirft.  Zum 
Jahre  1612  erzählt  Sander  wie  folgt:  Accidit  aliud  divinae, 
ut  ipsimet  Lutherani  sumebant,  vindietae  prodigium.  Erat 
foemina  Luthero  addieta,  in  platea,  quae  Fovea  dicitur, 
habens  domicilium ,  qua  nostri  frequentes  cum  studiosis  ad 
concionem  summae  aedis  commeabant,  quam  egomet,  tum 
huroanitatis  studiosus,  bene  novi,  quae  nostros  cum  qua- 
dratis  pileis  euntes  redeuntesque  familiari  Paderbornensibus 
scommate  (Wockenklaen  id  est  pes  seu  sustentaculum  coli, 
ad  verbum  diceres  coli  angues  in  modum  crucis,  forma  qua- 
drati  pilei  colum  fuleientes)  nostros  impetebat  et  irridebat, 
dum  uterum  ferret.  Ea  enixa  est  infantem  monstrosum, 
depilem,  quadratum  pileum  ex  carne  conformatum  in  capite 
secum  in  lucem  proferentem,  atque  ita  gaudium  natalitium  in 
luctum  versum  est.  Id  hospes  mea  ipso  die  puerperii,  cui 
interfuerat,  mihi  admirabunda  retulit.  Infans  vero  paucis 
diebus ,  ut  saltem  speetaculum  foret,  supervixit.  —  Da  nun 
Sander  berichtet,  er  habe  das  Paderborner  Collegium  von 
1615  bis  1635  bewohnt  und  im  Jahr  1617  zuerst  unter  dessen 
Jesuiten  und  zwar  als  Lehrer  in  der  Logikklasse  erscheint, 
so  stimmt  das  Alles,  wenn  man  annimmt,  er  sei  1612,  als 
die  Frau  das  Unglück  hatte,  noch  Student  und  dann  etwa 
zwei  Jahre  lang  Noviz  gewesen.  Nun  aber  wird  ganz  die- 
selbe Geschichte  in  des  „Christ.  Rosenbusch  Replica  auf 
des  Calumnianten  Lucae  Osiandri  Verantwortung  wider  die 
die  Jesuiter",  welches  Buch  schon  1586  zu  Ingolstadt  ge- 
druckt   erschien,    erzählt  und  zwar  mit  vielen  anderen  Um- 


184  Sitzung  der  Jiistor.  Classe  vom  6.  Juni  1874. 

ständen.  Sechs  Jesuiten  wären  in  einer  öffentlichen  Pro- 
zession daher  gekommen  und  das  Weib  habe  gerufen:  ,, Schau, 
da  gehen  sechs  Teufel  im  viereggeten  Paretlein;  wann  der 
siebent  auch  da  war,  so  war  eben  die  Zahl  der  Dieb  recht 
ganz ,  man  sollts  all  an  den  lichten  Galgen  hinaus  henken ; 
ja  sie  hat  vielmalen  den  Unsern  viel  tausend  Teufel  ge- 
wünscht ....  Und  was  bat's  ausgebrüet?  Ein  abscheuliches 
erschröckliches  Kind,  das  todt  aus  der  Mutter  Leib  kommen. 
Dies  hätt  weder  Nasen  noch  Zungen  noch  Hand  noch  Füss 
eines  Menschens,  hätt  nur  das  link  Aug,  seine  Ohren  sein 
gekrümbts  Maul  sahen  einer  Katzen  gleich.  Der  ander  Leib 
und  ausgewachsen  Fleisch  war  gleichförmig  einem  viereggeten 
jesuiterischen  Paretlein.  Und  was  soll  ich  viel  davon  schreiben  ? 
Es  ist  diese  Zeitung  zu  Paderborn  hell  und  klar.  Die  Weiber, 
so  zugegen  waren,  haben  sich  entsetzet  und  mit  grossem 
Schrecken  zum  Kind  gesagt:  ,,Sieh,  hast  du  Timpen  als  ein 
Jesuwiter."  Der  Vater,  da  er  das  Kind  angesehen,  ist  er 
dermassen  ertattert,  dass  er  zur  Erden  niedergesunken".  — 
Entweder  hat  nun  Sander  sich  in  den  Jahren  geirrt  und  war 
schon  1586  Student  in  Paderborn,  was  aber  zu  seinen 
übrigen  Angaben  durchaus  nicht  stimmt,  oder  er  hatte  die 
ganze  Geschichte  selbst  nur  vom  blossem  Hörensagen,  während 
er  sie  erzählt,  als  wäre  er  fast  dabei  gewesen. 


Sitzung    vom    7.   November  1874. 


Philosophisch-philologische  Classe. 


Herr  Christ  trug  vor: 

„  Di  e  Topographie  der  troian  ischen  Ebene 
und  die  homerische  Frage". 
(Mit  einem  Kärtchen.) 

Zum  Gegenstand  meines  Vortrages  habe  ich  ein  Thema 
gewählt,  das  in  den  letzten  Jahren  vielfach  besprochen  wurde 
und  den  Beweis  lieferte,  dass  trotz  entgegengesetzter  Tages- 
strömungen das  wahrhaft  Schöne  ewig  jung  bleibt  und  die 
Herzen  der  Menschen  mit  immer  neuer  Zauberkraft  anzieht. 
Es  war  der  Name  Homer,  der  einst  Petrarca  mjt  schwär- 
merischem Sehnen  erfüllte,  so  dass  er  das  von  einem  Freunde 
in  Constantinopel  ihm  übersandte  Exemplar  der  Ilias  und 
Odyssee  in  frohem  Entzücken  umarmte  und  küsste,  und  es 
war  die  Erinnerung  an  die  Jugendlectüre  und  an  die  hehren 
Gestalten  der  homerischen  Poesie,  welche  in  unseren  Tagen 
die  Seele  eines  Kaufmanns  mit  glühendem  Enthusiasmus 
schwellte,  so  dass  er  Jahre  lang  mit  unsäglicher  Mühe  und 
mit  enormen  Kosten  den  Boden  von  Hissarlik  durchwühlte, 
um  die  Stätte  der  heiligen  Ilios  und  den  Kampfplatz  der 
homerischen  Helden   wieder    aufzudecken.      Und    nicht   vor 


186    Sitzung  der  philos-~phitol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

einer  theilnamslosen  Welt  machte  Schlieinann,  der  mecklen- 
burgische Kaufmann,  seine  riesigen  Ausgrabungen;  mit  neu- 
gierigem Eifer  wurden  die  Berichte  Schliemanns  in  der  All- 
gemeinen Zeitung  gelesen,  und  gleich  als  ob  es  einer  grossen 
Staatsaction  gelte,  trug  der  elektrische  Draht  nach  allen 
Himmelsgegenden  die  Kunde  von  dem  entdeckten  Schatze 
des  Priamus.  Aber  so  gewalfig  auch  das  Aufsehen  war, 
welches  die  Berichte  Schliemanns  hervorriefen ,  so  theilte 
doch  keineswegs  das  lesende  Publikum  die  gleiche  Glaubens- 
seligkeit wie  der  enthusiastische  Entdecker.  Gleich  von  vorn- 
herein schüttelten  viele,  welche  sich  aus  Homer  selbst  und 
der  einschlägigen  gelehrten  Literatur1)  eine  bestimmte  Mein- 
ung über  die  Lage  Ilions  gebildet  hatten,  ungläubig  den 
Kopf,  bemitleideten  wohl  auch  den  unglücklichen  Schwärmer, 
der  seine  Kräfte  und  sein  Geld  an  ein  im  Voraus  verurtheiltes 
Unternehmen  setze.  Anfangs  schien  auch  die  unbedeutende 
Ausbeute,  welche  die  ersten  Einschnitte  in  den  Jahren  1870 
bis  72  ergaben,  das  gehegte  Misstrauen  zu  rechtfertigen; 
später  aber,  als  im  Jahre  1873  der  Glücksstern  des  Ent- 
deckers wuchs  und  etwa  10  Meter  unter  der  Erdoberfläche 
die  Mauern  einer  grossen  Stadt  und  ein  reicher  Schatz  von 
goldenen  und  silbernen  Geräthen  zu  Tage  kam,  da  begann 
das  Misstrauen  zu  weichen,  freilich  nur,  um  bei  dem  Er- 
scheinen Aes  grossen  Werkes,  welches  Schliemann  über  seine 
Ausgrabungen  veröffentlichte*),  von  neuem  aufzuleben.  Man 
vermisste  in  dem  Atlas  planmässige  Anordnung  und  zweck- 
mässige Auswahl,  in  dem  Texte  Umsicht  und  Sicherheit  der 
Beweisführung ;  am  meisten  Anstoss  aber  erregte  der  mytho- 
logische Mysticismus,  durch  den  sich  Schliemann  den  Blick 
für  nüchterne,  unbefangene  Beobachtung  trüben  Hess.  Die 
einfachsten  Produkte  der  ersten  Anfänge  der  handwerks- 
mässigen  Kunst  wurden  so  in  den  Nimbus  religiöser  Vor- 
stellungen gehüllt,  so  dass  die  rohen  Umrisse  der  mensch- 
lichen Figur  für  Bilde]-  der  eulenäugigen  Athene,  die  zahlreichen 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  187 

Wirtel  für  Votivstücke,  die  darauf  eingeritzten  Hackenkreuze 
für  die  Reibhölzer  des  Agnis  ausgegeben  wurden,  und  dass 
nicht  blos  Indien  und  der  Veda,  sondern  selbst  China  her- 
halten musste,  um  die  auf  einige  Scherben  eingeritzten, 
hochinteressanten  Buchstaben  einer  bis  jetzt  unentzifferten 
Schriftgattung  zu  erklären.  Ob  dieser  Albernheiten  ist 
die  Kritik  mit  dem  ganzen  Werke  streng  ins  Gericht  ge- 
gangen, vielleicht  strenger  als  sich  geziemte.  Denn  immerhin 
hat  Schliemann  der  Wissenschaft,  der  classischen  Philologie 3) 
sowohl  als  der  Völkerkunde,  einen  ausserordentlichen  Dienst 
erwiesen,  um  dessentwillen  man  über  die  Schwächen  seiner 
dilettantischen  Deutungsversuche  billiger  Massen  ein  Auge, 
nur  nicht  alle  zwei ,  zudrücken  sollte.  Ein  geschulter 
Archäologe  und  ein  Mann  der  wissenschaftlichen  Kritik  ist 
allerdings  Schliemann  nicht,  aber  er  ist  ein  begeisterter 
Verehrer  des  Hellenenthums,  ein  aufopferungsfähiger  Enthu- 
siast, und  es  stünde  nicht  gut  um  unsere  Sache,  wenn  die 
Alten  nur  in  dem  Kopfe  geschulter  Gelehrten,  nicht  auch 
iu  dem  Herzen  schwärmerischer  Enthusiasten  fortlebten. 
Mich  selbst  hat  vor  allem  die  Cardinalfrage,  von  der  Schlie- 
mann ausgegangen  war,  interessirt,  die  Frage  nach  der  Lage 
der  Priamusstadt.  Meine  frühere  Ueberzeugung  stund  zwar 
zu  fest,  als  dass  sie  durch  die  neuen  Entdeckungen  in  der 
Hauptsache  erschüttert  worden  wäre,  aber  immerhin  musste 
ich  mir  gestehen,  dass  durch  Schliemanns  glänzenden  Nach- 
weis einer  alten  Niederlassung  auf  dem  Plateau  von  Hissarlik 
ein  neues  Moment  zur  Entscheidung  der  Streitfrage  hinzu- 
gekommen sei  und  eine  Revision  der  alten  Untersuchungen 
erheische.  Ich  nahm  also  meine  früheren  Aufzeichnungen 
wieder  zur  Hand,  las  meinen  Homer  aber-  und  abermals 
mit  Rücksicht  auf  die  Topographie  der  ilischen  Ebene  durch, 
und  will  nun  versuchen  die  Resultate  meiner  Forschungen 
dem  prüfenden  Urtheil  der  Fachgenossen  darzulegen. 

Der  Schauplatz  der  Iliade   ist    von    dem  Dichter  selbst 
[1874,  II.  Phil.hist.  C1.2.]  13 


188     Sitzung  der  phiios.-phitol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

im  Allgemeinen  deutlich  genug  bezeichnet.  Die  Erwähnung 
des  Hellespont  und  des  quellenreichen  Ida,  von  dessen 
höchstem  Gipfel  Zeus  auf  die  Stadt  und  die  Ebene  Ilios 
hinschaut,  führt  uns  auf  die  Niederung,  die  sich  am  äusser- 
sten  Ende  des  Hellespont  zwischen  dem  sigeischen  und 
rhöteischen  Vorgebirg  vier  Stunden  nach  dem  Binnenlande 
zu  ausdehnt.  Die  Ebene  wird  auf  beiden  Seiten  von  den 
niedrigen  Ausläufern  des  Idagebirges  umsäumt,  welche  in 
den  genannten  Vorgebirgon  auslaufen.  Mitten  durch  die 
Ebene  zieht  sich  vom  gebirgigen  Hintergrund  bis  ungefähr 
1  Stunde  zum  Meeresstrand  hin  ein  Höhenzug,  durch  den 
der  kleinere  nordöstliche  und  der  grössere  südöstliche  Theil 
der  Ebene  von  einander  getrennt  wird.  Der  bedeutendste, 
einzig  nennenswerthe  Fluss  der  Ebene  ist  der  Mendere 
der  auf  dem  wasserreichen  Ida  entspringt,  in  der  Nähe  des 
Dorfes  Bunarbaschi  in  seine  untere  Ebene  eintritt  und  schliess- 
lich, gegen  den  westlichen  Höhenzug  gewandt,  unweit  des 
sigeischen  Vorgebirges  in  den  Hellespont  sich  ergiesst. 
Strabo  identificirt  ihn  mit  dem  Skamandros  oder  Xanthos 
des  Homer  und  wir  müssen  an  dieser  Gleichstellung  um  so 
mehr  festhalten,  als  der  Fluss  noch  in  der  Zeit  des  Strabo, 
also  im  Beginne  unserer  Aera,  den  homerischen  Namen 
Skamandros  führte  und  selbst  der  heutige  Name  Mendere 
allem  Anschein  nach  aus  dem  alten  2xaf.iavÖQog  verstümmelt 
ist.  Auch  passen  auf  ihn,  den  Hauptstrom  der  Ebene,  ein- 
zig die  homerischen  Epitheta  des  tiefwirbelnden  (divyeig), 
breitströmenden  (evQVQecov),  zeusgeborenen  (duTceryg,  ov  ä&a- 
vazog  reKSTO  Zeig)  Flusses,  welche  auf  kein  anderes  Ge- 
wässer der  Ebene  in  gleich  passender  Weise  gedeutet  werden 
können.  Der  nächst  bedeutendste  Fluss  der  Tiefebene  ist 
der  Dumbrek,  welcher  die  nördliche  kleinere  Ebene  durch- 
fliesst,  sich  nordwestlich  von  Hissarlik  mit  dem  Kalifatli- 
Asmak  vereinigt  und  nahe  dem  Meeresstrand  mit  dem 
Skamander  ein  Deltaland   (oTOjuaXl/xvrj)  bildet.     Dieser  jetzt 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  189 

Duinbrek  genannte  Fluss  heisst  bei  Strabo  Sifxoug,  und  wir 
haben  keinen  ausreichenden  Grund  zur  Annahme,  dass  Homer 
mit  dem  Namen  Simois  einen  andern  Fluss  bezeichnet  habe  4). 
Auch  der  Stelle,  wo  die  beiden  Flüsse,  Skamander  und 
Simois  sich  vereinigen,  gedenkt  einmal  Homer  (E  774). 
Dorthin  stellt  Here,  vom  Olympos  kommend,  die  schnauben- 
den Rosse,  bevor  sie  selbst  mit  Athene  ins  Kampfesgewühl 
eilt,  um  ihren  Lieblingen,  den  Achäern,  beizustehen.  Der 
Ort  muss  daher  im  Rücken  der  kämpfenden  Heere,  und 
zwar  nahe  am  Meeresstrande  in  den  genannten  Lagunen, 
nicht  beim  Zusammenfluss  der  Dumbrek  und  Kalifatli-Asmak 
gesucht  werden,  wiewohl  Strabo,  wenn  er  ganz  nahe  vor 
Neu-Ilion  oder  Hissarlik  die  Flüsse  sich  vereinigen  lässt  5), 
den  letztern  Punkt  im  Auge  gehabt  zu  haben  scheint.  Die 
beiden  andern  Gewässer  der  Ebene,  der  Kalifatli-Asmak  und 
der  Bunarbaschi-Tschai,  die  in  der  Ebene  ihren  Ursprung 
nehmen  und  sich  zu  beiden  Seiten  des  Skamander  dicht  an 
den  ansteigenden  Höhen  hinschlengeln,  werden  weder  von 
Homer  noch  von  dem  Geographen  Strabo  erwähnt.  Zu 
verwundern  ist  dieses  nicht,  da  die  beiden  Bäche  nur  kleine 
Kinnsale  bilden  und  gewissermassen  mit  zu  dem  Flussgebiet 
des  Skamander  gehören.  Ueberdiess  lag  der  eine,  der  Bunar- 
i>:ischi-Bach,  wenigstens  nach  unserer  Auffassung,  abseits  von 
dem  Schauplatze  der  homerischen  Kämpfe,  und  konnte  der 
andere,  der  Kalifatli-Asmak  6),  dessen  Bett  im  Sommer  fast 
vollständig  austrocknet ,  dem  Vordrängen  der  Heere  kein 
erhebliches  Hinderniss  in  den  Weg  legen.  Wohl  aber  ge- 
denkt Homer  indirekt  noch  eines  fünften  Gewässers  der 
Ebene,  des  Thymbrios,  indem  er  in  der  Doloneia  (K  430) 
bei  der  Beschreibung  des  trojanischen  Lagers  der  Richtung 
nach  dem  Meere  die  nach  Thymbre  7)  entgegensetzt.  Danach 
ist  der  Thymbrios  mit  dem  heutigen  Kimar-Su,  einem  Neben- 
fluss  des  Mendere,  zu  identiüciren,  eine  Meinung,  die  schon 
früher    aufgestellt   war,    neuerdings   aber    auch   in    den    von 

13* 


190     Sitzung  der  pliüos.-pliüol.  Ölasse  vom  7.  November  1874. 

Calvert  an  der  Mündung  des  Kimar  aufgefundenen  Tempel- 
inschriften8) des  thymbrischen  Apollo  die  gewünschte  Be- 
stätigung gefunden  hat. 

Diese  Grundrisse  der  trojanischen  Ebene  müssen  uns 
zum  Ausgangspunkt  jeder  weiteren  Untersuchung  dienen; 
sie  sind  fest  begründet  in  den  natürlichen  Verhältnissen  der 
Landschaft  und  in  der  übereinstimmenden  Ueberlieferung  des 
Alterthums,  sie  sind  gleichsam  das  Netz,  in  welches  die 
einzelnen  Orte  erst  eingezeichnet  werden  müssen.  Es  ist 
mir  natürlich  nicht  unbekannt,  dass  schon  im  vorigen  Jahr- 
hundert der  französische  Reisende  Lechevalier 9,  und  nach 
ihm  viele  und  namhafte  Gelehrte10)  die  Sache  auf  den  Kopf 
gestellt,  und  den  Mendere  Simois,  den  Bunarbaschi-Bach 
Skamander  oder  Xanthos,  und  den  Dumbrek  Thymbrios 
genannt  haben  1J).  Aber  diese  Benennungen  Verstössen  gegen 
die  einstimmige  Tradition  des  Alterthums  12)  und  entbehren 
jeder  Wahrscheinlichkeit.  Denn  die  Bewohner  von  Neu-Ilion 
konnten  wohl,  um  den  Ruhm  ihrer  Stadt  zu  erhöhen,  diese 
oder  jene  Eiche  in  der  Umgebung  der  Stadt  für  die  homerische 
Eiche  ausgeben,  konnten  wohl  auch  den  alten,  sagenum- 
rauschten  Heldengräbern  der  Ebene  verschiedene  Namen 
beilegen,  aber  grosse  Flüsse,  die  an  vieler  Städte  Fluren 
vorbeiflossen,  konnten  sie  unmöglich  umtaufen.  Dazu  kommt, 
dass  der  heutige  Name  Mendere  zu  deutlich  auf  den  alten 
Flussnamen  Skamandros  zurückweist  und  das  Andenken  an 
den  homerischen  Skamandros  bewahrt  hat.  Es  wagte  dess- 
halb  auch  Welcker 13)  nicht  die  Identität  von  Mendere- 
Skamandros  anzuzweifeln,  stürzte  sich  aber  dadurch,  dass 
er  den  Bunarbaschi-Bach  dem  Simois  gleichstellte,  in  neue 
unentwirrbare  Schwierigkeiten,  die  am  besten  sein  eigener 
Anhänger,  Dr.  Hasper 14),  aufgedeckt  hat.  Unter  solchen 
Umständen  halten  wir  mit  Eckenbrecher  15),  dem  vorurteils- 
losen scharfsinnigen  Anwalt  der  Ansprüche  der  Neu-Ilienser, 
um  so  entschiedener  an    den   bezeichneten  Grundrissen    fest 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  191 

und  suchen  nun   in  das    oro-hydrographische  Netz    die  Orte 
und  vor  allem  die  Stadt  Troja  einzuzeichnen. 

Da  muss  ich  nun  vor  allem  und  gleich  von  vornherein 
darauf  hinweisen,  dass  das  gesammte  Alterthum  Troja  auf 
dem  mittleren  Höhenzug  rechts  vom  Skamander  suchte.  Dort 
lagen  die  jüngeren  Ansiedelungen  des  äolischen  Ilion  und  der 
KtofArj  ^Iliecov,  welche  sich  nach  Strabo  die  Ehre,  auf  dem 
Boden  des  alten  Troja  zu  stehen,  gegenseitig  streitig  machten, 
dort  auch  in  der  Skamanderebene  zeigte  man  das  Grabmal 
des  Ilos,  das  Grab  des  Aisyetes ,  den  Feigenbaum  und  die 
andern  durch  die  Iliade  denkwürdig  gewordenen  Punkte, 
dorthin  endlich  verlegten  auch  die  alten  Erklärer  des  Homer 
die  heilige  Ilios  16).  Diesen  übereinstimmenden  Ueberliefer- 
ungen  entgegen  verlegte  gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts 
der  französische  Reisende  Lechevalier  Troja  an  das  linke 
Ufer  des  Skamander,  in  die  Gegend  oberhalb  des  heutigen 
Dorfes  Bunarbaschi.  Bewogen  wurde  Lechevalier  zu  dieser 
kühnen  Neuerung  fast  einzig  durch  die  zahlreichen  Quellen, 
welche  bei  jenem  Dorfe  aus  dem  Boden  sprudeln  und  dem 
Dorfe  selbst  den  Namen  Bunarbaschi  d.  i.  Quellenhaupt 
gegeben  haben.  In  diesen  Quellen  erkannte  er  das  alte 
Wahrzeichen  der  Stadt,  die  beiden  schonfliessenden  Brunnen, 
die  Quellen  des  Skamander,  an  denen  dereinst  die  schönen 
Trojanerinnen  ihre  prangenden  Kleider  wuschen.  Den  Worten 
des  Reisenden  lauschten  um  so  vertrauensvoller  die  Ge- 
lehrten Europa's,  als  er  noch  hinzufügte,  dass  sich  die  alten 
Waschgruben  noch  erhalten  hätten,  und  dass  die  eine  der 
Quellen  ihn  mit  kühlendem  Wasser  gelabt  habe,  während 
die  andere  im  Winter  heiss  sei  und  einen  dichten  Rauch 
entsende,  ganz  wie  Homer  (X  149  ff.)  die  beiden  Quellen 
schildere.  Mit  den  Quellen  brachte  sodann  schon  Lechevalier 
die  Ruinen  in  Verbindung,  welche  sich  eine  halbe  Stunde 
oberhalb  des  Dorfes  auf  dem  Balidag,  einer  felsigen,  jäh 
gegen  das  Skamanderthal  abfallenden  Höhe,  befinden  und  in 


192     Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

neuester  Zeit  von  dem  inzwischen  verstorbenen  Consul  G. 
v.  Hahn 17)  auf  das  genaueste  gemessen  und  verzeichnet 
wurden.  Diese  Ruinen  sollten  die  Stätte  des  zerstörten  Troja 
bezeichnen  und  der  oberste  472  Par.  Fuss  hohe  Hügel 
Pergamus  oder  die  Akropolis  der  Stadt  gewesen  sein. 

Die  Combinationen  Lechevaliers,  da  sie  an  die  denk- 
würdigste Scene  der  Ilias  anknüpften  und  der  poetischen 
Phantasie  eine  glänzende  Perspective  eröffneten,  wurden  mit 
fast  allgemeinem  Beifall  aufgenommen  und  haben  bis  in  die 
neueste  Zeit  an  hervorragenden  ortskundigen  Männern,  wie 
Welcker,  Forchhammer,  Hahn,  E.  Curtius,  B.  Stark  warme 
Vertheidiger  gefunden ;  für  uns  haben  sie  von  vornherein 
nichts  Ueberzeugendes,  es  widerstreiten  ihnen  die  hydro- 
graphischen Grundlagen  unserer  Karte,  wesshalb  auch  alle 
Anhänger  derselben  sich  zur  radikalen  Umtaufe  der  Flüsse 
der  Ebene  verstehen  mussten.  Die  Schwierigkeiten,  welche 
damit  für  die  Erklärungen  der  einzelnen  Scenen  der  Iliade 
erwachsen,  sind  auch  durch  den  strategischen  Plan  im  Werke 
des  Kreters  Nikolaides,  Topographie  et  plan  strategique  de 
l'Iliade,  nicht  gehoben  worden  18),  fallen  aber  weniger  ins 
Gewicht  gegenüber  der  Thatsache,  dass  auch  die  lokale 
Natur  der  beiden  Punkte,  von  denen  Lechevalier  ausge- 
gangen ist,  zur  Schilderung  Homers  nicht  stimmen  will. 
Was  zuerst  die  kalte  und  warme  Quelle  bei  Bunarbaschi 
anbelangt,  so  hat  schon  Lechevalier  selbst  in  der  im  Jahre 
1802  erschienenen  Ausgabe  seiner  Reise  durch  Troas  19) 
bemerken  müssen,  dass  seine  Angaben  über  den  Wärme- 
unterschied der  Quellen  gegenüber  den  genauen  Messungen 
mit  dem  Thermometer  sich  nicht  aufrecht  erhalten  lassen. 
Es  haben  alle  Quellen  bei  Bunarbaschi  die  gleiche  Tem- 
peratur und  die  Mähre,  dass  die  eine  der  Quellen  im  Winter 
dampfe,  ist  noch  von  keinem  Reisenden  bestätigt  worden. 
Liegt  der  Aussage  der  Bewohner  des  Dorfes  überhaupt  etwas 
Wahres    zu  Grunde,   so   kann   man   nur   mit    Forchhammer 


Christ:  Tomographie  der  troianischen  Ebene,  193 

annehmen,  dass  der  Unterschied  des  wärmern  Wassers  und 
der  kälteren  Luft  sich  im  Winter  bei  der  grösseren  Quelle, 
welche  einen  bedeutenderen  FJächenraum  der  Luft  darbietet, 
in  höherem  Grade  bemerklich  macht.  Gab  aber  dieser 
Umstand  allein,  wie  es  wirklich  der  Fall  gewesen  zu  sein 
scheint 20),  dem  Dichter  zu  jener  wunderbaren  Schilderung 
der  beiden  Brunnen  vor  Troja  Anlass,  dann  brauchen  wir 
die  warme  Quelle  nicht  bei  Bunarbaschi  zu  suchen,  sondern 
können  sie  in  jeder  grösseren  Quelle  der  Ebene  wiederfinden. 
Also  der  aus  der  Beschaffenheit  der  Quellen  bei  Bunarbaschi 
entnommene  Beweis  Lechevaliers  zerfällt  in  Nichts.  Noch 
schlimmer  steht  es  mit  den  Ruinen  auf  dem  Bali-dag  ober- 
halb des  Dorfes  Bunarbaschi.  Homer  lässt  den  Zeus  von 
dem  Gipfel  des  Ida  hinschauen  auf  Trojas  Stadt  und  die 
Schiffe  der  Achäer  21).  Vom  Bali-dag  aber  ist  die  Spitze 
des  Ida  nicht  sichtbar,  da  sie  durch  die  dazwischenliegen- 
den Vorberge  verdeckt  wird.  Diese  einfache  Thatsache  lässt 
sich  durch  kein  Raisonnement  wegdisputiren,  auch  nicht  durch 
die  Annahme,  dass  Homer  mit  der  Stadt  der  Troer  nicht 
die  Stadt,  sondern  das  Gebiet  der  Troer  gemeint  habe. 
Sodann  lässt  Homer  dreimal  den  Achilles,  den  Hektor  ver- 
folgend, die  Stadt  umkreisen 22),  die  Höhe  von  Bali-dag 
aber  mit  ihren  schroffen  Abhängen  gegen  das  Skamanderthal 
ist  absolut  unumlaufbar,  und  geradezu  lächerlich  ist  die  Weise, 
mit  der  Hahn  S.  29  seines  Werkes  das  Unmögliche  nun  doch 
noch  halbwegs  möglich  machen  will.  Somit  spricht  die 
ganze  antike  Ueberlieferung  entschieden  gegen  Bunarbaschi, 
und  lösen  die  beiden  einzigen,  aus  der  lokalen  Beschaffen- 
heit entnommenen  Gründe,  wenn  näher  beim  Licht  besehen, 
sich  in  eitlen  Dunst  auf.  Wir  werden  daher  diese  Combi- 
nation,  die  schon  Eckenbrecher  und  Ulrichs  sattsam  wider- 
legt haben,  ganz  entschieden  aufgeben,  und  das  alte  Troja 
nur  diesseits  oder  rechts  vom  Mendere  suchen. 

An    welcher  Stelle   nun   auf  dem  rechts   vom  Mendere 


194     Sitzung  der  philos.-philol.  (Hasse  vom  7.  November  1874. 

zwischen  Skamander  und  Sirnois  liegenden  Höhenzug  haben 
wir  die  Veste  des  Priamus  anzusetzen?  Befragen  wir  auch 
hier  zuerst  die  Tradition,  so  verweist  sie  uns,  insoweit  sie 
überhaupt  aus  nebelhafter  Unbestimmtheit  heraustritt 23), 
auf  zwei,  l1/«  Stunden  von  einander  entfernte  Punkte,  auf 
Hissarlik  oder  den  äussersten  westlichen  Ausläufer  des  mitt- 
leren Höhenzuges,  auf  dem  die  äolische  Stadt  Ilion  gelegen 
war,  und  auf  das  Dorf  der  Hier  (Kwfzrj  'Ikiewv),  das  weiter 
landeinwärts  in  der  Nähe  des  heutigen  Bauernhofes  Juruk 
gestanden  zu  haben  scheint24).  An  die  Namen  der  beiden 
Orte  knüpfte  sich  nämlich  naturgemäss  die  Erinnerung  an 
die  alte  homerische  Ilios,  worüber  wir  nicht  im  Ungewissen 
sein  könnten,  auch  wenn  uns  nicht  Strabo  im  13.  Buche 
seiner  Geographie  auf  Grund  der  Untersuchungen  des  Gram- 
matikers Demetrios  von  Skepsis  und  der  Alexandrinerin 
Hestiaia  von  den  Ansprüchen  der  beiden  Orte  berichtete. 
Es  war  aber  das  äolische  Ilion,  von  den  Neueren  auch  Neu- 
Ilion  genannt,  ungefähr  zur  selben  Zeit,  in  der  Pisistratus 
in  Athen  die  homerischen  Lieder  redigirte,  unter  der  Herr- 
schaft der  Lydier  25)  gegründet  worden.  Ob  auch  das  Dorf 
der  Hier  ein  gleich  hohes,  oder  gar  ein  noch  höheres  Alter 
hatte,  wissen  wir  nicht;  wir  ersehen  nur  aus  Strabo,  dass 
dasselbe  zur  Zeit  des  Demetrios  von  Skepsis,  also  im  An- 
fange des  2.  Jahrhunderts  vor  Christus,  als  eine  alte  Nieder- 
lassung bekannt  war.  Mit  der  an  Neu-Ilion  geknüpften 
Tradition  harmonirte  im  Wesentlichen  die  Lage,  welche  nach 
der  von  Strabo  und  Plinius  aufgezeichneten  Ueberlieferung 
den  Grabhügeln  des  Aisyetes  und  Ilos  zugewiesen  wurde. 
Denn  nach  Strabo26)  lag  der  erstere  5  Stadien  von  Neu- 
Ilion  entfernt  bei  der  Strasse  nach  Alexandria  Troas,  und 
nach  Plinius27)  zeigte  man  den  mit  Eichen  bepflanzten 
Grabhügel  des  Ilos  gleichfalls  in  der  Nähe  des  äolischen 
Ilion.  Mehr  für  das  Dorf  der  Hier  sprach  die  Lage  des 
Erineos    oder    Feigenwaldes,    der    sich   nach    Strabo 28)   auf 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  195 

rauhem  Erdreich  unterhalb  des  besagten  Dorfes  befand. 
Ich  erwähne  alle  diese  Traditionen  nicht  als  ob  ich  ihnen 
eine  uns  bindende  Kraft  beimesse,  wohl  aber  in  dem  Ge- 
danken, dass,  wenn  uns  die  Schilderungen  Homers  auf  einen 
jener  Punkte  oder  doch  einen  benachbarten  Ort  hinweisen, 
dann  unsere  Schlüsse  eine  grössere  Wahrscheinlichkeit,  fast 
möchte  ich  sagen,  eine  höhere  Weihe  erhalten. 

Mehr  Bedeutung  aber  als  die  im  Munde  des  Volkes 
fortgepflanzte,  vielleicht  nur  aus  der  Namensgleichheit  ent- 
standene Tradition  hat  die  durch  die  Ausgrabungen  Schlie- 
manns  festgestellte  Thatsache,  dass  auf  dem  Plateau  von 
Hissarlik  eine  alte  mit  Mauern  und  Thoren  versehene 
Stadt  stund,  von  deren  Reichthum  der  grossartige  Gold- 
und  Silberschatz  ein  beredtes  Zeugniss  gibt.  Nicht  blos 
eine  alte,  ehrwürdige  Stadt  stund  demnach  auf  der  vorge- 
schobenen Höhe  des  mittleren  Bergrückens,  die  Stadt  war 
auch  so  reich  und  mächtig,  dass  es  nicht  leicht  eine  zweite 
gleich  bedeutende  Stadt  in  der  troischen  Ebene  geben  konnte, 
dass  sie  also  die  Hauptstadt  im  Gebiete  der  Troer  war. 

In  Anbetracht  dieser  Thatsache  wird  man  daher  die 
Stellen  des  Homer,  welche  von  der  Veste  des  Priamus 
handeln,  wenn  irgend  möglich  so  erklären  müssen,  dass  sie 
auf  die  Trümmerstadt  von  Hissarlik  bezogen  werden  können. 
Nun  passen  auch  in  der  That  viele  Stellen  der  Iliade  vor- 
trefflich auf  jene  Stätte,  und  sind  einige  so  beschaffen,  dass 
sie  nicht  leicht  auf  einen  andern  Punkt  der  Ebene  gedeutet 
werden  können.  Zur  ersten  Kategorie  zählen  diejenigen 
Stellen,  wo  Troja  die  steile  (alrteivq),  die  hügelige  (oqjqv öWffa), 
die  windige  (ave^iOEOoa)  Stadt  genannt  wird.  Denn  steil 
fallen  namentlich  gegen  Norden  die  Ränder  des  100  Fuss 
hohen  Hügels  gegen  die  Ebene  ab,  und  wie  dort  oben  im 
Frühjahr  eisigkalt  der  Wind  von  Thrakien  her  bläst,  hat 
uns  Schliemann  drastisch  aus  eigener  Erfahrung  geschildert. 
Auch   wenn   Zeus  von   dem    Gipfel   des   Ida    auf  die   Stadt 


196     Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

der  Troer  hinschaut,  so  passt  dieses  gut  auf  Hissarlik,  wo 
der  Beschauer  gegen  Süden  das  vielzackige  Idagebirg  in 
seiner  ganzen  Ausdehnung  vor  sich  liegen  sieht.  Aber  diese 
Epitheta  und  Beschreibungen  passen  wohl  vortrefflich  auf 
Hissarlik,  können  aber  auch  auf  andere  Punkte  des  mittleren 
Höhenzuges  gedeutet  werden.  Bestimmter  schon  möchte 
man  auf  Hissarlik,  von  dessen  Höhe  man  den  schönsten 
Ueberblick  auf  die  in  der  Ebene  zwischen  dem  Skamander 
und  Simois  sich  entfaltenden  Heere  haben  konnte,  die  ge- 
feierte Episode  der  Teichoskopie  verlegen.  Denn  weiter 
nach  dem  inneren  Theile  der  skamandrischen  Ebene  konnte 
ja  das  eben  erst  vom  Schiffslager  aufgebrochene  Heer  der 
Achäer  noch  nicht  vorgedrungen  sein ,  und  von  keinem 
Punkte  konnte  Helena  besser  als  von  Hissarlik  oder  vom 
Thurme  am  skäischen  Thore  dem  greisen  Priamus  die 
Heldengestalten  der  vor  der  Höhe  gelagerten  Achäer  zeigen 29). 
Kaum  auch  gibt  es  eine  passendere  Stelle  als  die  Burg  auf 
Hissarlik,  von  der  aus  Apollo  dem  Kampfesgewühl  zwischen 
Skamander  und  Simois  zuschauen  konnte 30.  Mit  den  be- 
zeichneten Scenen  steht  dann  weiter  die  geringe  Entfernung 
im  Einklang,  welche  Homer  an  mehreren  Stellen  zwischen 
der  Stadt  und  dem  Schiffslager  statuirt.  Gering  dachte  sich 
der  Dichter  die  Entfernung  in  dem  3.  Gesang  oder  der 
Teichoskopie,  wie  ich  eben  angedeutet  habe;  auf  eine  ge- 
ringe Entfernung  scheint  auch  das  häufige  Hin-  und  Her- 
schwanken der  Schlacht,  namentlich  am  Nachmittag  des 
3.  Schlachttages  hinzuweisen,  wo  vier  Mal  die  Achäer  bis 
zu  den  Mauern  der  Stadt  vordringen  und  vier  Mal  zu  den 
Schiffen  wieder  zurückgeworfen  werden.  Und  geben  wir  auch 
gerne  zu,  dass  erst  durch  eine  spätere  Redaction  der  alten 
homerischen  Gesänge  die  in  der  11.  bis  17.  Rhapsodie  er- 
zählten Ereignisse  gewisser  Massen  auf  einander  geschoben 
wurden,  so  finden  wir  doch  auch  in  dem  einen  8.  Gesang 
eben  erst  die    Troer   in  Gefahr  wie  Lämmer    in    die   Stadt 


Christ:  Topographie  der  troianischcn  Ebene.  197 

eingepfercht  zu  werden  (0  131),  und  gleich  darauf  wieder 
(ß  213)  so  nahe  bei  den  Schiffen,  dass  sie  den  Raum 
zwischen  Graben  und  Thurm  des  achäischen  Schiffslagers 
ausfüllen31),  etwas,  was  doch  jedenfalls  die  Vorstellung  einer 
äusserst  kleinen  Entfernung  zwischen  der  Stadt  und  den  Schiffen 
voraussetzt.  Am  meisten  aber  wird,  wie  man  oft  hervorgehoben 
hat,  in  der  Erzählung  am  Schlüsse  des  7.  Gesanges  die 
Stadt  Troja  ganz  nahe  bei  den  Schiffen  gelegen  gedacht. 
Dort  geht  am  frühen  Morgen  (rjwöev  H  381)  der  Herold 
Idäos  von  der  Stadt  in's  Schiffslager  und  verkündet  dort 
den  versammelten  Achäern  seinen  Auftrag;  die  weigern  sich 
auf  die  trotzige  Rede  des  Diomedes  hin  das  Anerbieten  der 
Troer  anzunehmen ,  stimmen  aber  dem  Vorschlage  eines 
Waffenstillstandes  zur  Bestattung  der  Todten  bei;  der  Herold 
geht  zur  Stadt  zurück  und  meldet  den  noch  versammelten 
Troern  und  Dardanern  die  Antwort  der  Achäer;  da  brechen 
Troer  und  Achäer  auf,  um  die  Leichen  der  gefallenen 
Brüder  vom  Schlachtfeld  zu  holen  und  begegnen  sich  auf 
der  Walstatt,  als  gerade  Helios  die  ersten  Strahlen  auf  die 
Fluren  wirft.  Das  zeigt  doch  sonnenklar,  dass  sich  der 
Dichter  Troja  höchstens  V*  bis  3/*  Stunde  von  den  Schiffen 
entfernt  dachte,  womit  wir  auf  Hissarlik  als  Stätte  der 
Priamusstadt  hingewiesen  werden. 

Und  doch  begegnen  uns  andere  Stellenin  der  Ilias,  wo  sich 
der  Dichter  ganz  unmöglich  sein  Troja  auf  Hissarlik  gelegen 
denken  konnte.  Ich  habe  dabei  weniger  den  dreimaligen  Umlauf 
der  Stadt  durch  Hektor  und  Achilles,  oder  die  warme  und  kalte 
Skamanderqueile  vor  den  Thoren  der  Stadt  im  Auge;  denn 
dem  erster en  Einwände  könnte  man  durch  Annahme  einer 
grösseren,  den  Umlauf  ermöglichenden  Ausdehnung  der  Stadt 
begegnen  32),  und  die  heisse  Quelle  neben  der  kalten  kann 
man  mit  Sicherheit  auch  in  keinem  andern  Punkte  der  Ebene 
nachweisen  33),  so  dass  vorerst  wenigstens  aus  dem  Fehlen 
derselben    bei  Hissarlik   kein   entscheidendes  Moment   gegen 


198     Sitzung  der  philo  s-ph  Hol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

Schliemanns  Annahme  abgeleitet  werden  kann.  Aber  es 
gibt  andere  Stellen  im  Homer,  die  ganz  offenbar  gegen  die 
Gleichstellung  von  Alt-  und  Neu-Uion  sprechen.  Im  zweiten 
Buch  (B  790  ff.)  lässt  der  Dichter  den  Sohn  des  Priamus, 
Polites,  auf  dem  Grabhügel  des  Aisyetes  sitzen,  um  die 
Bewegungen  im  Lager  der  Achäer  zu  beobachten  und  auf 
die  Schnelligkeit  der  Füsse  vertrauend  den  Aufbruch  der 
Feinde  dem  Priamus  zu  melden.  Nun  gibt  es  aber,  wie 
bereits  Strabo  hervorhob,  in  der  ganzen  Ebene  kaum  einen 
Punkt,  von  dem  aus  man  besser  das  Schiffslager  der  Achäer 
und  die  davor  sich  ausdehnende  Fläche  überblicken  konnte, 
als  gerade  Hissarlik;  was  bedurfte  es  also  eines  Spähers  auf 
irgend  einem  andern  Hügel,  wenn  die  Burg  auf  der  Stätte  von 
Hissarlik  lag?  Geradezu  lächerlich  aber  ist  es,  wenn  Schliemann 
dagegen  einwendet,  dass  man  von  Hissarlik  in  einer  Ent- 
fernung von  3/4  Stunden  die  einzelnen  Leute  nicht  habe 
unterscheiden  können,  und  dass  desshalb  die  Troer  weiter 
nach  den  Schiffen  zu,  in  dem  heutigen  Dorfe  Kum-koi  einen 
Späher  hätten  auslugen  lassen.  Denn  Priamus  wollte  ja 
keine  Physiognomien  studieren,  er  wollte  nur  rechtzeitig  den 
Aufbruch  der  feindlichen  Heersäulen  erfahren,  und  dazu 
bedurfte  es  keines  schnellfüssigen  Spähers,  wenn  Troja  an 
der  Stelle  des  heutigen  Hissarlik  lag.  Der  Dichter  jener 
ohne  allen  inneren  Grund  verdächtigten  Verse  des  zweiten 
Gesangs  muss  sich  also  Troja  auf  einem  weiter  nach  innen 
gelegenen  Hügel  gedacht  haben,  von  dem  der  Ausblick  nach 
den  Schiffen  durch  die  vorliegenden  Höhen  abgeschnitten  war. 
Eine  zweite  Angabe  Homers,  die  uns  Troja  auf  Hissarlik 
zu  verlegen  hindert,  betrifft  die  im  Eingange  des  21.  Ge- 
sanges geschilderten  Kämpfe  an  der  Furt  des  Skamander. 
Achilles  jagt  erst  mit  unwiderstehlicher  Kraft  die  Troer 
durch  die  weite  Ebene  von  den  Schiffen  bis  zur  Furt  des 
Skamander;  als  sie  dann  zur  Furt  gekommen  waren,  trennt 
Achilles  die  fliehenden  Feinde,    und   scheucht  die  einen  zur 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  199 

Ebene  nach  der  Stadt  bin,  während  er  die  anderen  in  die 
Strudel  des  Flusses  drängt.  Nun  nehme  man  die  Karte  zur 
Hand,  und  man  wird  sehen,  dass  Sinn  und  Verstand  in  die 
Schilderung  nur  kommt,  wenn  wir  uns  die  Stadt  nicht  auf 
Hissarlik,  sondern  an  einem  inneren  Punkte  der  von  dem 
vorgeschobensten  Theile  des  mittleren  Höhenzuges  nach 
Südost  sich  erstreckenden  Ebene  gelegen  denken. 

Zu  den  beiden  besprochenen  Stellen  gesellt  sich  nun 
noch  ein  anderer  bedeutsamer  Umstand.  Gegenüber  nämlich 
den  oben  betrachteten  Scenen  der  Iliade,  in  denen  Troja  in 
nächster  Nähe  vom  Hellespont  und  dem  Schiffslager  gedacht 
ist,  heisst  es  an  anderen  Stelleu,  dass  die  Stadt  fern  von 
den  Schiffen  liege.  So  redet  Poseidon  in  dem  Schiffskampf 
N  105  ff.  vorwurfsvoll  die  Achäer  also  an: 

wg  Tocoeg  rö  tvqlv  ye  (.livog  Kai  xelqag  ?A%aiu)v 
(.d^ivuv  ovx  e&eXeoxov  Ivavriov,  ovo'  rjßaiov 
vvv  de  sxäg  ftolwg  xolfojg  erti  vrpai  ua%ovtai, 
und  sagt  am  Vorabend  des  4.  Schlachttages,  2  256,  Polydamas 
zu  den  Trojanern 

exäg  (T  cltco  Tei%eog  el^v, 
wiewohl  sich  dieselben  damals  bereits  von  dem  Graben  und 
der  Schiffsmauer  auf  die  ansteigende  Ebene  zurückgezogen 
hatten 34).  Mit  dieser  Anschauung  von  einer  bedeutenden 
Entfernung  der  Stadt  stimmt  auch  die  Odyssee,  indem  da- 
selbst J  496  Odysseus,  als  er  mit  andern  Gefährten  in  dem 
Röhricht  vor  Troja  im  Hinterhalte  lag,  zu  seinen  Genossen 
sagt: 

Xlrjv  yäo  vrjwv  exäg  r^X&ofxev 

und  mehr  als  V3  der  Nacht  vergehen  lässt,  ehe  Thoas  den 
Weg  von  der  Stadt  zu  den  Schiffen  und  von  dort  zurück 
zur  Stadt  zurücklegt.  Diese  letztere  Bestimmung  ist  besonders 
wichtig,  da  sie  uns  nicht  mehr  erlaubt,  den  Zwiespalt  in 
den  Entfernungsangaben  damit   auszugleichen,    dass   wir  die 


200    Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  7.  November  1874. 

Bedeutung   des    Adverbiums    mag    durch    Gegenüberstellung 
ganz  geringer  Distanzen  abschwächen. 

Unwillkürlich  werden  wir  aber  auch  zur  Annahme  einer 
grössern  Entfernung  geführt,  wenn  wir  uns  dem  Eindruck 
hingeben,  welchen  die  Schilderung  der  Kämpfe  im  20.  bis 
22.  Buche  in  uns  hervorbringt.  Am  Morgen  erhebt  sich 
Achilles  mit  ungestümer,  ungeschwächter  Krafc,  die  jeden 
Widerstand  wie  einen  Strohhalm  niederwirft,  und  trotzdem 
vergeht  der  Tag,  während  er  die  Troer  erst  durch  die  untere 
Ebene  zwischen  den  beiden  Flüssen  Skamander  und  Simois, 
und  dann  durch  die  obere  Ebene  des  Skamander  zu  den 
Mauern  Ilions  hintreibt.  Wie  ist  dieses  anders  im  8.  und 
11.  Gesang,  wo  in  kurzer  Tageszeit  der  Kampf  zu  wieder- 
holten Malen  von  der  Stadt  zu  den  Schiffen  und  von  den 
Schiffen  zur  Stadt  hin  und  her  wogt?35)  Auch  beim  Lesen 
des  letzten  Gesangs  der  Iliade  empfangen  wir  unwillkürlich 
den  Eindruck  einer  erheblichen  Entfernung.  Denn  wenn  es 
heisst,  dass  den  Priamus  auf  der  Hinfahrt  bei  der  Furt  des 
Skamander  das  Dunkel  der  Nacht  ereilte,  und  dass  die 
Morgensonne  ihre  Strahlen  über  die  Fluren  warf,  als  der 
König  bei  der  Heimfahrt  wieder  zur  Furt  des  Flusses  ge- 
langte, so  denkt  dabei  jedermann  an  einen  längeren  Weg 
von  mindestens  2  bis  3  Stunden,  nicht  an  eine  Strecke  von 
40  Minuten.  Doch  hängt  das  Urtheil  über  diesen  letzten 
Gesang  noch  von  der  Klarstellung  eines  anderen  Punktes 
ab,  der  mit  der  Lage  der  Stadt   in   naher  Beziehung  steht. 

Der  Geograph  Strabo  nennt  p.  595,  von  der  Propontis 
kommend,  zuerst  die  beiden  Vorgebirge  Pofaeiov  und  Siyeiov, 
und  erwähnt  dann,  wohl  als  zwischenliegende  Punkte,  das 
Schiffslager  (vavGta&pov),  den  Hafen  der  Achäer  (6  !A%aiwv 
Xifi'qv),  das  Heerlager  der  Achäer  (to  liyavAOv  GTQaxoTtsdov), 
die  sogenannte  Stomalimne  und  die  Mündung  des  Skamander. 
An  einer  andern  Stelle,  p.  598,  unterscheidet  er  noch  be- 
stimmter zwischen  dem  Hafen  der  Achäer,  den  er  12  Stadien 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  201 

von  Neu-IIion  entfernt  sein  lässt,  und  dem  Schiffslager,  das 
er  bei  Sigeion  in  der  Nähe  der  Mündung  des  Skamander 
20  Stadien  von  der  Stadt  ansetzt.  Auch  Plinius,  V,  33, 
lässt  den  Hafen  der  Achäer  östlich  von  Sigeuin  und  der 
Mündung  des  Skamander  gelegen  sein,  an  der  Stelle,  wo  der 
vereinigte  Xanthus-Simois  sich  in  das  Meer  ergiesst.  Da- 
nach dachten  sich  die  Alten  den  Hafen  der  Achäer  bei  der 
Mündung  des  heutigen  In-Tepe-Asmak,  und  westlich  davon, 
aber  doch  noch,  wie  es  scheint,  auf  dem  rechten  Ufer  des 
Skamander36),  das  Schiffslager.  Homer  selbst  bringt  an 
5  Stellen  (M  30.  0  233.  2  150.  P  432.  *F  2  vgl.  H  86. 
/  360)  die  Schiffe  derart  mit  dem  Hellespont  (vrjag  xe  xal 
cEXlt]O7t6vT0v)  in  Verbindung,  dass  man  das  Standlager  der 
Schiffe  am  Hellespont  und  demnach  nicht  links  sondern 
rechts,  oder  doch  rechts  und  links  von  der  Skamander- 
mündung  suchen  niuss.  An  einer  andern  Stelle,  3  36,  lässt 
er  die  Schiffe  den  ganzen  weiten  Küstenstrand  zwischen  den 
beiden  Vorgebirgen  ausfüllen  cywvog  oxo^ia  /.laxQov ,  ogov 
t-vveeqya&ov  axQai.3  Aber  mit  diesen  grandiosen  Vorstellungen 
lassen  sich  die  übrigen  Stellen  der  Iliade  schwer  zusammen- 
reimen37). Denn  da  die  Entfernung  der  beiden  Vorgebirge 
über  1  Stunde  beträgt 38),  und  die  Schiffe  nach  3  35  in 
mehreren  Reihen  hintereinander  aufgestellt  waren,  so  be- 
durfte es,  um  den  ganzen  Raum  zu  füllen,  noch  mehr  als 
der  1186  Schiffe  des  Schiffskataloges,  der  ohnehin  die  Grösse 
des  achäischen  wie  troischen  Heeres  in  glänzenderem  Lichte 
wie  die  anderen  Gesänge  der  Ilias  erscheinen  lässt.  Und 
wie  hätte  die  Stimme  des  Agamemnon,  dev  in  O  226  von 
der  Mitte  des  Lagers  aus  den  Achäern  zurief,  nach  den 
beiden  Enden  dringen  können,  wenn  dieselben  über  eine 
Stunde  weit  entfernt  gewesen  wären.  Aber  damit  man 
mir  nicht  hier  die  Freiheit  des  Dichters,  die  Kraft  der 
Heroen  ins  Wunderbare  auszumalen,  entgegenhalte,  so  mache 
ich  auf  zwei  andere  Stellen,  O  489  f.  (vgl.  M  118) 


202    Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

Tqwcov  ccvt'  ayoQrjv  7tonqoaxo  g)aldi^og  "Ekvwq 
voag>c  vewv  dyaywv  TCo%a^  £7tl  divrfevTi 
und  0  560 

roooa  [AeGrjyv  vewv  ijde  Bavd-oto  qocccov 
aufmerksam,    welche   doch   offenbar   voraussetzen,    dass   das 
Schiffslager  nicht  bis  zu  den  Ufern  des  Xanthos-Skamander 
gereicht  habe. 

Aber  auf  welcher  der  beiden  Seiten  des  Flusses 
dachte  sich  alsdann  der  Dichter  das  Schiffslager  der 
Achäer?  Sicher  in  allen  Kampfesscenen  auf  der  rechten 
Seite;  denn  in  der  Ebene  zwischen  Simois  und  Skamander 
lässt  der  Dichter  die  Troer  und  Achäer  zusammenstossen 
und  sich  abwechselnd  bis  zu  den  Schiffen  und  bis  zur  Stadt 
verfolgen39),  ohne  je  auch  nur  mit  einem  Worte  des  Fluss- 
übergangs über  den  strudelnden  Skamander  zu  gedenken  40). 
Freilich  ist  auch  des  Uebergangs  über  den  Simois  oder  den 
heutigen  Kalifatli-Asmak  nicht  gedacht,  wiewohl  die  Troer 
denselben  überschreiten  mussten,  bevor  sie  zu  der  Schiffs- 
mauer gelangen  konnten.  Aber  den  kleinen,  fast  wasser- 
losen Bach  durfte  der  Dichter  unberücksichtigt  lassen,  nicht 
so  den  breiten  strudelnden  Skamander,  der  den  andrängen- 
den Feinden  einen  starken  Damm  entgegensetzen  konnte. 
Hingegen  lässt  uns  nun  aber  die  Schilderung  im  24.  Gesang 
das  Lager  der  Achäer  auf  der  linken  Seite  des  Skamander 
vermuthen.  Priamus  kommt  dort,  nachdem  er  von  der 
Stadt  in  die  Ebene  hinabgestiegen  war,  an  dem  Grabhügel 
des  Ilos  vorbei  zum  Fluss  (Q  359),  und  gelangt  ebenso 
wieder  bei  seiner  Rückkehr  vom  Lager  zur  Furt  des  Xanthus 
(ß  692).  Diese  Situation  ist  schlechterdings  sinnlos,  wenn 
wir  uns  Troja  auf  Hissarlik  und  das  Schiffslager  auf  der 
rechten  Seite  des  Skamander  denken.  Aber  auch  wenn  wir 
Troja  weiter  nach  innen  in  den  östlichen  Winkel  der 
Skamanderebene  verlegen,  müssen  wir  immer  noch  den 
Priamus  einen  Umweg   machen  lassen,    damit   er   den  Fluss 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  203 

nur  berühren  konnte.  Dann  aber  legt  der  Dichter,  wenn 
er  jemand  zur  Furt  eines  Flusses  gelangen  lässt,  jedem  den 
Gedanken  nahe,  dass  jener  auch  den  Fluss  überschritten 
habe.  Homer  sagt  dieses  zwar,  worauf  sich  Eckenbrecher 
steift,  nirgends  mit  ausdrücklichen  Worten,  aber  jedermann 
denkt  daran,  auch  wenn  er  es  nicht  ausgesprochen  liest. 
Aus  all  diesen  Verlegenheiten  kommen  wir  heraus,  wenn 
wir  annehmen,  der  Dichter  habe  das  Lager  der  Achäer  und 
speciell  das  Zelt  des  Achilles  sich  auf  der  linken  Seite  des 
Skamander  gedacht.  Dann  musste  Priamus  auf  dem  Hin- 
und  Herweg  zu  dem  Flusse  gelangen  und  denselben  auch 
überschreiten. 

Noch  an  zwei  andern  Stellen  vereinfacht  sich  scheinbar 
die  Situation,  wenn  wir  das  Schiffslager  bei  Sigeon  auf  dem 
linken  Skamanderufer  ansetzen.  Wenn  es  nämlich  5*433ff.  von 
den  Pferden  des  Hektor,  die  den  an  den  Schiffen  verwun- 
deten Helden  zur  Stadt  zurückbringen,  heisst 

08  tov  ye  tcqotI  clgtv  opegov  ßccgea  Gxevayovxa' 
akV  dte  ör]  jtoqov  l^ov  ivQQelog  7toxa\ioio 
Buv&ov  divyevTog,  ov  ädavctTog  tzketo  Zevg, 
ev&cc  fxiv  et;  %7i7ttov  rtelaoav  yfiovi 

so  muss  man  auch  hier  glauben ,  dass  Hektor  auf  dem 
Weg  von  den  Schiffen  zur  Stadt  den  Xanthos  passiren 
musste;  denn  der  Wagenlenker  wird  doch  kaum  vom 
direkten  und  kürzeren  Weg  zum  Flusse  abgebogen  haben, 
um  dort  den  in  Ohnmacht  gesunkenen  Helden  mit  Wasser 
zu  netzen.  Auffällig  bleibt  dann  nur,  dass  beim  Vormarsch 
der  Troer  gegen  das  Lager  der  Schwierigkeiten  des  Fluss- 
übergangs gar  nicht  gedacht  ist;  wesshalb  man  es  vorziehen 
möchte,  unter  dem  Fluss  den  leichter  passirbaren  Simois  zu 
verstehen  und  entweder  den  Vers  £av&ov  divrjevvogj  ov  a&avarog 
rhiBTO  Zeig  für  eine  späte  ungeschickte  Interpolation  zu 
erklären 40)  oder  eine  Identificirung  des  Xanthos  mit  dem 
[1874,  II.  Phil.  hist.  Cl.  2.]  14 


204    Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

Simois  oder  dem  Kalifatli-Asmak  anzunehmen.     Auch  in  der 
HctXQQYlda  lassen    sich  die  Verse  II  394—8 

ndTQOxXog  d' eitel  ovv  Ttqwtag  ErfexegGe  (fdXayyag, 
a\p  67il  vrjag  eeqye  Tcakiiircexeg  ovöe  7ioh]og 
ila  Ufxevovg  S7tißalv£(.i£v,  alXd  (xeorjyvg 
vrjtov  xal  TtOTajxov  xal  rei%eog  viprjlolo 
KTelve  iiBTaCööcov,  nolecov  (T  ajtexLvvTO  tvolviqv 
am  leichtesten  erklären,  wenn  man  den  Fluss  zwischen  den 
Schiffen  und  der  Stadt  fliessen  lässt ;  das  erreicht  man  aber, 
wenn  man  entweder  unter  dem  Fluss  nicht  den  Skamander, 
sondern  den  Simois   versteht41),   oder   das  Schiffslager  auf 
der  linken  Seite   des  Skamander   ansetzt.     Aber   der   ganze 
Gedanke,    dass  Patroklus   die  Troer  zu  den  Schiffen  wieder 
zurücktreibt,  um  sie  zwischen  den  Schiffen,    dem  Fluss   und 
der  Stadt  zu  morden,  zeugt  von  einer  so  unklaren  Vorstell- 
ung, dass  es  gerathener  ist,    dem  Dichter  jener  Verse  eine 
genaue  Kenntniss  der  Localität  abzusprechen,  wenn  man  nicht 
den  ganzen  Vers  vrjwv  xal  7toxa\iov  %al  Tei%eog  vxprjXoto  mit 
Köchly    streichen    und   \ieoY\yv    im    absoluten  Sinn,    wie    in 
^/573,  fassen  will.    Endlich  könnte  man  sich  leicht  verleiten 
lassen,  auch  die  Worte  des  Achilles  in  Ö>  130  f. 

ovo1  vfiiv  TCOTafAog  rteq  evqqoog  dqyvqodlvrjg 
dqxEGei,  ([)  örl  dy&ä  Ttoleag  Uqevsra  zavqovg 
auf  einen  Fluss  zu  deuten,  der  zwischen  dem  Schiffslager 
und  der  Stadt  fliesst.  Aber  diese  Deutung  wäre  schlechter- 
dings zu  verwerfen,  da  dort  unter  dem  Fluss  nur  der 
Skamander  gemeint  sein  kann,  und  Achilles  nach  unserer 
Auseinandersetzung  in  Anm.  39  von  dem  Schiffslager  auf 
der  rechten  Seite  des  Skamander  zu  der  Furt  des  Flusses 
gekommen  war42). 

Wenn  so  also  auch  die  drei  letzten  Stellen  nicht  für  die 
Lage  der  Schiffe  bei  dem  sigeischen  Vorgebirg  verwerthet 
werden  können,  so  bleiben  doch  noch  Widersprüche  und 
Unklarheiten   genug  bezüglich  der  Ausdehnung  und  der  Stätte 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  205 

des  Schiffslagers  bestehen.  So  kommen  wir  denn  von  allen 
Seiten  ins  Gedränge  :  ein  Mal  soll  Troja  so  nahe  den  Schiffen 
liegen,  dass  der  Herold  zwischen  Tagesdämmerung  und  Sonnen- 
aufgang seine  Botschaft  hin-  und  zurücktragen  kann;  ein 
ander  Mal  ist  die  Entfernung  so  weit  gedacht,  dass  der 
Wagenlenker  auf  dem  Wege  zu  den  Schiffen  von  dem  ein- 
brechenden Dunkel  ereilt  wird;  ein  Mal  gelangen  die  Achäer 
in  einem  Sturmlauf  ohne  zwischenliegende  Hindernisse  zu 
den  skäischen  Thoren,  ein  ander  Mal  kommen  sie  erst  an  dem 
Grabhügel  des  Ilos  und  der  Furt  des  Skam ander  vorbei; 
ein  Mal  dehnt  sich  das  Schiffslager  über  den  ganzen  Meeres- 
strand zwischen  den  beiden  Vorgebirgen  aus,  ein  ander  Mal 
bleibt  Sigeon  und  das  Flussufer  des  Skamander  weit  zur 
Seite  liegen.  Wie  uns  aus  diesen  Widersprüchen  und  Schwierig- 
keiten heraushelfen? 

Ein  Weg  bestünde  darin,  anzunehmen,  dass  der  Dichter 
der  Iliade  selbst  keine  klare  Vorstellung  von  der  troischen 
Ebene  gehabt  habe  und  sein  Troja  das  Kind  einer  frei 
schaffenden  Phantasie,  ein  halbes  Wolkenkukuksheim  gewesen 
sei 43).  Zur  Stütze  dieser  Auffassung  könnte  man  anführen, 
dass  auch  andere  Seiten  in  der  Schilderung  der  Kämpfe  vor 
Ilion  mit  der  Wirklichkeit  wenig  harmoniren,  dass  insbe- 
sondere der  Uebergang  über  den  Simois  beim  Vorrücken 
gegen  die  Schiffsmauer  unerwähnt  geblieben  und  ausser  den 
beiden  Hauptflüssen  der  Ebene  die  kleineren  Bäche  gar  nicht 
berücksichtigt  seien.  Aber  das  sind  nur  untergeordnete 
Dinge,  welche  sich  mit  einer  nebelhaft  verschwommenen 
Zeichnung  des  lokalen  Mittelpunktes  der  ganzen  Erzählung 
nicht  auf  eine  Linie  stellen  lassen.  Auf  der  anderen  Seite 
erwäge  man,  mit  welcher  Naturwahrheit  Homer  andere 
Landschaften  Griechenlands  geschildert  hat,  und  wie  seit  dem 
vorigen  Jahrhundert  die  Berichte  der  gelehrten  Reisenden 
in  Griechenland  und  im  Orient  immer  mehr  die  Erzählung 
vom  blinden  Homer  in  das  Bereich   der  grundlosen  Fabeln 

14* 


206    Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

verwiesen  haben.  Hat  es  da  irgend  eine  Wahrscheinlichkeit, 
dass  derselbe  Dichter  bei  der  troischen  Ebene,  in  deren 
Nähe  er  seine  Lieder  sang,  die  gewiss  viele  seiner  Zuhörer 
aus  eigener  Anschauung  kannten,  die  er  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  selbst  durchwandert  hatte 44) ,  so  ganz  den 
Pfad  der  Naturtreue  verlassen  habe?  Sollte  der  Dichter 
namentlich  über  die  Lage  der  Stadt,  um  die  sich  der  ganze 
Kampf  drehte,  so  im  Unklaren  gewesen  sein,  dass  er  sie 
bald  nahe  am  Meeresstrand,  bald  weit  nach  innen  gelegen 
dachte?  Nein,  nimmermehr.  Der  Mangel  an  Naturwahr- 
heit und  die  Menge  der  Widersprüche  in  der  Schilderung 
von  Ithaka,  auf  die  unlängst  Bursian  (Zarnke's  Centralblatt 
1874  no.  10  vgl.  Hercher  im  Hermes  I,  263  ff.)  verwies,  darf 
kaum  damit  in  Vergleich  gebracht  werden.  Denn  einmal 
spielt  die  Lokalität  von  Ithaka  durchaus  nicht  eine  gleich 
wichtige  Rolle  in  der  Odyssee  wie  die  Lage  von  Troja  in 
der  Ilias,  sodann  lag  Ithaka  im  äussersten  Westen,  wohin 
damals  kaum  ein  und  der  andere  der  jonischen  Seefahrer 
gekommen  war,  Troja  in  unmittelbarer  Nähe,  so  dass  von 
vielen  Zuhörern  die  Richtigkeit  der  Schilderung  controlirt 
werden  konnte.  Auch  darf  man  nicht  übersehen,  dass,  wenn 
wir  die  Lage  Trojas  bei  Seite  lassen,  die  übrigen  auf  die 
trojanischen  Ebene  bezüglichen  Schilderungen,  wie  von  der 
Rundschau  auf  dem  Gipfel  des  Ida,  von  dem  Quellenreich- 
thum  des  Idagebirges,  von  der  Ueberschwemmung  der  Ebene 
durch  ihre  beiden  Hauptflüsse,  bis  aufs  Haar  mit  der  Wirk- 
lichkeit übereinstimmen,  und  dass  namentlich  in  der  Achilleis 
die  Anführung  benachbarter  Punkte,  wie  KaXlixoXwvt]  (F53. 
151),  Tel%ogcHQccxlrjog  (IT  145),  JaQÖavlrj  (F216),  Tlrjdaoog 
(Y  92.  191),  den  ortskundigen  Sänger  sattsam  verrathen. 
Insbesondere  aber  kann  uns  die  Erzählung  von  der  Zerstör- 
ung des  Schiffslagers  zeigen,  wie  sorgfältig,  ja  ängstlich  der 
Dichter  den  Vorwurf  naturwidriger  Schilderung  bei  der 
trojanischen   Ebene   vermieden     hat.     Die    Vernichtung    der 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  207 

zum  Schutz  der  Schiffe  erbauten  Mauer  sollte  erst  geraume 
Zeit  später  nach  dem  Abzug  der  Achäer  durch  Apollo  und 
Poseidon  erfolgen ;  nichtsdestoweniger  wird  sie  zwei  Mal 
(H  459—63  und  M  1-34)  bei  der  Erzählung  der  Kämpfe 
vor  Troja  ausführlich  berührt.  Warum  dieses?  offenbar, 
um  dem  ungläubigen  Kopfschütteln  derer  zu  begegnen,  welche 
zu  ihrer  Zeit  nichts  mehr  von  dem  Schiffslager  und  der 
Mauer  am  Hellespont  bemerkten  45).  Wenn  also  Homer  so 
peinlich  genau  in  einem  untergeordneten  Punkte  war,  so 
dürfen  wir  gewiss  annehmen,  dass  er  sich  in  einer  Haupt- 
sache, in  der  Lage  Ilions,  von  seinen  Zuhörern  genauestens 
controlirt  dachte.  Eine  gewisse  Freiheit  hatte  sich  freilich 
Homer  immerhin  dadurch  gewahrt,  dass  er  auch  die  StadtTroja 
von  Grund  aus  zerstört  werden  Hess,  aber  trotzdem  musste 
er  doch  stets  einen  ganz  bestimmten  Punkt  der  Ebene  im 
Auge  haben,  wo  er  sein  Troja  gedacht  wissen  wollte. 

Mit  der  Annahme  eines  nebelhaften,  in  verschwommenen 
Conturen  gezeichneten  Phantasiebildes  der  troischen  Ebene 
und  der  Stadt  Troja  kommen  wir  also  nicht  aus.  Ein 
ungenügender  Nothbehelf  auch  ist  es,  wenn  Eckenbrecher, 
um  die  Gegensätze  auszugleichen ,  der  Stadt  einen  unge- 
heueren, den  vorderen  (Hissarlik)  und  hinteren  (Pascha-Tepe) 
Ausläufer  des  mittleren  Höhenzuges  umfassenden  Umfang 
gibt.  Wir  müssen  uns  daher  nach  einem  radikaleren  Hilfs- 
mittel, nach  einem  andern  Weg  der  Erklärung  umsehen. 
Dieser  Weg  liegt  aber  gebahnt  und  geebnet  vor  uns,  seitdem 
das  Genie  F.  A.  Wolfs  uns  die  Fackel  zu  einem  richtigeren 
Verständniss  der  Ilias  vorangetragen  und  an  die  Stelle  des 
einen  Homer  mehrere  homerische  Sänger  gesetzt  hat. 
Denn  was  unerklärlich  war,  wenn  wir  von  einem  Dichter 
der  Ilias  ausgingen,  das  löst  sich  auf  einfachste  Weise,  wenn 
wir  die  verschiedene  Schilderung  der  Lage  Ilions  auf  ver- 
schiedene Sänger  zurückfuhren.  Die  alte  Sage  im  Munde 
des  Volkes   erzählte    wohl  nur   im  Unbestimmten  von  einer 


208    Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7,  November  1874. 

grossen  reichen  Stadt  dort  üben  auf  dem  mittleren  Höhen- 
zug, die  in  grauer  Vorzeit  von  einem  Volke,  das  von  der 
See  aus  in  jene  Gegenden  vordrang,  vernichtet  worden  sei; 
grossartige,  den  Platz  genau  bezeichnende  Ruinen  scheint  es 
zur  Blüthezeit  der  epischen  Poesie  nicht  mehr  gegeben  zu 
haben,  oder  der  Ruinen  waren  in  der  fruchtbaren,  von  mehr 
als  einem  Völkersturm  durchbrausten  Gegend  so  viele,  dass 
die  Sage  unstet  von  einem  Platz  zum  andern  wandern  musste. 
In  der  Hauptsache  war  es  daher  erst  des  Dichters  Phantasie, 
welche  die  Veste  des  Priamus  schuf,  sie  an  eine  bestimmte 
Stelle  bannte,  sie  mit  Thürmen  und  Thoren 46)  ausrüstete. 
Da  aber  mehrere  Sänger  zugleich  oder  bald  nacheinander 
sich  des  beliebten  Sagenkreises  bemächtigten,  was  war  da 
natürlicher,  als  dass  der  eine  Sänger  hier  bei  verwitterten 
Mauerresten,  der  andere  dort  oben  auf  weitumschauendem 
Hügel,  ein  dritter  dort  unten  am  quellenreichen  Abhang  sich 
sein  Troja  dachte?  Noch  manche  andere  Umstände,  wie 
die  verschiedene  Vorstellung  von  der  Grösse  der  sich  be- 
kämpfenden Heere  und  den  Erfordernissen  einer  langjährigen 
Belagerung  mochten  in  der  Phantasie  der  Dichter  verschiedene 
Bilder  von  der  Lage  und  Grösse  der  Stadt  wie  des  SchirTs- 
lagers  hervorrufen.  Leicht  möglich  ist  es  auch,  dass  die 
öftere  Zerstörung  der  Hauptstadt  des  troischen  Gebietes  zu 
einer  Verwirrung  in  den  Anschauungen  über  die  Lage  der 
Stadt  beitrug;  zweimal,  erzählte  die  Sage,  war  Troja  zer- 
stört worden ;  schon  vor  den  achäischen  Ansiedlern  scheinen 
die  Phönizier  um  den  Besitz  jener  Gegend  gerungen  zu 
haben47);  wie  leicht  war  es  da  möglich,  dass  sich  bei 
wiederholter  Invasion  der  Kampf  um  verschiedene  Punkte 
concentrirte,  dass  die  ältere  Sage  den  Streitpunkt  näher  der 
Küste,  die  jüngere  weiter  nach  innen  verlegte?  Welche 
bestimmende  Momente  man  aber  auch  aufstellen  wolle,  das 
eine  bleibt  unter  allen  Umständen  bestehen,  dass  sich  die 
abweichenden  Angaben    über    die  Lage  Tiojas   in   den   ver- 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  209 

schiedenen  Theilen  der  Ilias  am  einfachsten  durch  die  An- 
nahme verschiedener  Sänger  erklären  lassen.  Wohl  ist  der 
Glaube  an  die  glänzende  Hypothese  Wolfs  in  neuester  Zeit 
wieder  ins  Wanken  gekommen,  da  hochgeachtete  Männer, 
wie  Madvig,  Lehrs  und  Bergk  als  Vertheidiger  der  Einheit 
Homers  aufgetreten  sind,  vielleicht  aber  darf  ich  hoffen, 
dass  diese  von  Wolf  und  seinen  nächsten  Anhängern  bei 
Seite  geschobene  Untersuchung  über  die  Lage  der  Stadt 
wieder  ein  merkliches  Gewicht  in  die  entgegengesetzte  Wag- 
schale werfen  wird. 

Schliesslich  wäre  es  nun  noch  meine  Aufgabe,  im  Ein- 
zelnen darzuthun,  welche  Vorstellungen  von  der  Lage  Ilions 
in  den  einzelnen  Theilen  der  Iliade  herrschen.  Ich  habe 
diese  Untersuchung  sorgfältig  geführt  und  zu  diesem  beson- 
deren Zweck  wiederholt  die  Ilias  durchgelesen ;  aber  es  ist 
schwer,  eine  scharfe  Scheidung  bis  ins  Einzelnste  durchzu- 
führen, zumal  in  vielen  Gesängen,  wie  in  der  Mrjvig,  der  lAyoqa, 
der  Tlgsoßela,  der  c0^illa  c'ExTOQog  xal  l4vÖQ0f.iaxrjg1  die  Lage 
der  Stadt  ganz  ausser  Betracht  blieb,  und  in  andern  durch 
Zudichtungen  und  Interpolationen  das  ursprüngliche  Bild 
getrübt  wurde.  Die  Hauptunterschiede  jedoch,  die  sich  mit 
einiger  Sicherheit  verfolgen  lassen,  will  ich  in  Kürze  hier 
zusammenzustellen  versuchen. 

Die  Sänger  der  Achilleis,  des  ersten  grösseren,  mehrere 
Rhapsodien  umfassenden  Epos,  dehnten  dem  grossen  Umfang 
ihres  Heldengesanges  entsprechend  auch  den  Schauplatz  der 
Kämpfe  weiter  aus;  sie  verlegten  demgemäss  Troja  weiter 
nach  innen  auf  einen  nordwestlich  der  Quellen  des  heutigen 
Kalifatli-Asmak  gelegenen  Hügel  48),  so  dass  der  Kampf  sich 
aus  der  nördlichen,  zwischen  Simois  und  Skamander  ausge- 
breiteten Ebene  in  die  engere  südöstliche,  von  dem  Skamander 
und  dem  mittleren  Höhenzug  begränzte  Ebene  hinziehen  und 
zu  mannigfachen  Schilderungen  Raum  geben  konnte.  Auch 
die  Dichter  mehrerer  anderer  Gesänge,  welche  nicht  blos  in 


210    Sitzung  der  phüos.-philol.  Gasse  vom  7.  November  1874. 

einem  geistigen  Zusammenhang  mit  der  Achilleis  stunden,  son- 
dern auch  geradezu  zu  dem  Zwecke,  um  mit  einer  Achilleis 
zu  einem  Cyclus  von  Liedern  verbunden  zu  werden,  gedichtet 
wurden,  folgten  im  Wesentlichen  der  gleichen  Anschauung;  ih 
beziehe  mich  dabei  namentlich  auf  die  Hervorhebung  der  weiten 
Entfernung  der  Stadt  in  N  107  und  2  256,  sowie  auf  die 
grosse  Ausdehnung  des  Lagers  in  der  JoXcovelct.  Nur  der 
Dichter  der  Bouovlcc,  der  dem  Kampfe  noch  grössere,  ge- 
waltigere Dimensionen  geben  wollte,  scheint  Troja  noch 
weiter  nach  Osten,  etwa  auf  die  Stelle  der  späteren  'ihttov 
ytcofir]  zurückgeschoben  zu  haben.  Denn  sein  rings  umlauf- 
barer Hügel  der  Batieia,  wo  er  die  Troer  sich  aufstellen 
lässt  (JB  811  ff.)  ,  ist  wahrscheinlich  identisch  mit  dem 
heutigen  Chanai-Tepe  im  innersten  Winkel  der  Skamander- 
ebene.  Dem  entgegen  finden  sich  nun  in  den  Liedern 
von  kleinerem  Umfang,  die  ursprünglich  eine  selbständigere 
Stellung  hatten  und  erst  später  mit  den  um  die  Achilleis 
gruppirten  Gesängen  zu  einem  grösseren  Ganzen,  der  Ilias, 
vereinigt  wurden,  noch  Spuren  einer  andern  Anschauung 
von  der  L?ge  Ilions,  welche  uns  auf  einen  vorderen  Punkt 
des  mittleren  Höhenzuges  und  speciell  auf  Hissarlik  hinführten. 
Ich  denke  dabei  hauptsächlich  an  die  Mauerschau  und  den 
Zweikampf  des  Paris  und  Menelaos  im  3.  Gesang,  sowie 
an  die  Schilderungen  des  ersten  Schlachttages  im  5.  Gesang. 
Auch  der  8.  Gesang49),  die  !Aya(,ie{xvovog  ägiozela  und  die 
IlaTQOxlelcc  setzen  einen  kleinen  Kampfplatz  und  damit 
eine  geringe  Entfernung  der  Stadt  vom  Schiflslager'  vor- 
aus50), was  insofern  auffällig  ist,  als  die  drei  genannten 
Rhapsodien  in  engster  Beziehung  zur  Achilleis  stehen  und 
von  dem  Dichter  gewisser  Massen  dazu  bestimmt  waren, 
die  Vorhalle  der  Lieder  von  Achilles  und  Hektor  zu  bilden 
Endlich  scheint  man  auch  in  der  jüngsten  Zeit  des  epischen 
Gesanges,  welche  vielleicht  der  Gründung  von  Neu-Ilion 
nicht   ferne    stund,   zur  Annahme    geneigt   zu    haben,    dass 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  211 

Ilion  auf  Hissarlik  gelegen  gewesen  sei.  Ich  schliesse 
dieses  aus  der  Darstellung  am  Schlüsse  des  7.  Gesanges; 
denn  in  diesem  Gesang,  der  nach  der  übereinstimmenden 
Meinung  aller  Kenner  zu  den  jüngsten  und  schwächsten 
SchössÜDgen  am  Baume  der  epischen  Muse  der  Griechen 
gehört,  und  nur  gedichtet  ist,  um  die  Fugen  zwischen  den 
Theilen  der  Ilias  nothdürftig  zu  verkitten,  geht  der  Aöde, 
wenn  der  talentlose  Versificator  noch  diesen  ruhmvollen 
Namen  verdient,  von  der  Ansicht  aus,  dass  das  Schiffslager 
ganz  nahe  bei  der  Stadt  gelegen  gewesen  sei. 

Noch  leichter  konnten  sich  die  epischen  Dichter  bezüg- 
lich der  Lage  und  Ausdehnung  des  Schiffslagers  verschiedene 
Anschauungen  bilden.  Im  Allgemeinen  lebte  im  Volksmunde 
die  Sage,  dass  das  Schiffslager  sich  am  Hellespont  zwischen 
den  grossen  Grabhügeln  am  sigeischen  und  rhöteischen  Vor- 
gebirge befand.  Mauern  und  Gräben,  welche  dem  Lager 
innerhalb  jener  weiten  Grenzen  einen  bestimmten  Platz  an- 
gewiesen hätten,  waren  nicht  da,  und  so  hatte  die  Phantasie 
der  Dichter  einen  grossen  Spielraum.  Die  meisten  Sänger 
dachten  sich  die  Schiffe  in  der  Nähe  des  Hafens  der  Achäer 
beim  rhöteischen  Vorgebirge,  andere  gefielen  sich  in  der 
Anschauung  eines  weiten,  über  das  ganze  Gestade  ausge- 
dehnten Raumes,  andere  endlich,  und  darunter  namentlich 
der  Verfasser  der  Avtqo.  aE"/.Toqog  verlegten  das  Lager  an 
das    sandige  Meeresufer   bei  Sigeum  links    vom  Skamander. 

Auch  bezüglich  der  Flüsse  der  Ebene  und  ihres  Ver- 
hältnisses zu  den  Kampfesscenen  finden  wir  nicht  in  allen 
Theilen  vder  Ilias  die  gleiche  Vorstellung.  Am  meisten  der 
Wirklichkeit  entspricht  die  Schilderung  in  dem  21.  Gesang 
der  Ilias;  wenn  dort  Achilles  einen  Theil  der  fliehenden 
Troer  in  den  Skamander  drängt  und  dieser  dann  gewaltig 
anschwillt  und  seinen  Bruder  Simois  zu  Hilfe  ruft,  um  durch 
Ueberschwemmung  der  Ebene  dem  grausen  Wiithen  des 
Peliden  Einhalt  zu  thun,  so  passt   dieses   alles   gut  zu  dem 


212    Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  7.  November  1874. 

Verlaufe  des  Kampfes  und  zu  den  Naturerscheinungen  der 
Ebene.  Mit  der  lokalen  Beschaffenheit  lässt  es  sich  auch 
gut  vereinbaren,  wenn  es  in  dem  6.  Gesang  (Z  4)  heisst, 
dass  der  Kampf  in  der  Ebene  zwischen  dem  Simois  und  den 
Fluthen  desXanthos  gewüthet  habe,  und  wenn  in  dem  5.  (£36) 
und  11.  {A  499)  Gesang  der  Dichter  den  Skamander  im 
Westen  des  Schlachtfeldes  fliessen  lässt.  Hingegen  wider- 
sprechen sich  die  Dichter,  wenn  sie  ein  Mal  (ff  329)  um 
den  schönfliessenden  Skamander  die  Leichen  der  Achäer, 
und  ein  ander  Mal  (M  22,  vgl.  dazu  die  Scholien)  um  den 
Simois  die  Schilde  und  Helme  der  Gefallenen  liegen  lassen. 
In  noch  nebelhafteren  Umrissen  schwebte  den  Sängern  an- 
derer Lieder  der  Ilias  das  hydrographische  Netz  der  Ebene 
vor,  indem  sie  nur  von  der  nicht  auf  Autopsie,  sondern  auf 
blossem  Hörensagen  beruhenden  Anschauung  ausgingen,  dass 
zwischen  dem  Lager  der  Achäer  und  der  Veste  des  Priamus 
irgend  ein  Fluss  geflossen  sei  (s.  S.  203  f.). 

Nachdem  nun  aber  gegen  Ende  der  Blüthezeit  des 
epischen  Gesangs  die  verschiedenen  Gesänge,  welche  zum 
grössten  Theil  schon  mit  Bezug  auf  einander  gedichtet  waren, 
zu  einem  grossen  geschlossenen  Ganzen  zusammengefasst 
wurden,  da  gab  man  sich  nicht  mehr  die  Mühe,  die  einzelnen 
Unebenheiten  durch  weitgehende  Umdichtung auszugleichen51). 
Man  vertraute  zu  sehr  der  poetischen  Kraft  der  unver- 
gleichlichen Dichtungen,  als  dass  man  befürchtet  hä!te,  es 
könnten  jene  Verstösse  und  Unebenheiten  kritische  Bedenken 
hervorrufen  und  den  reinen  Genuss  des  Hörens  oder  Lesens 
der  Gesänge  stören.  Erst  unserem  grübelnden  Zeitalter 
war  es  vorbehalten,  den  ganzen  Umfang  jener  disharmoni- 
renden  Züge  aufzudecken,  ihm  aber  auch  der  Ruhm  be" 
schieden,  den  Grund  der  Unebenheiten  zu  erkennen  und 
dadurch  zum  Verständniss  der  Entstehung  dieser  unsterb- 
lichen Schöpfungen  des  hellenischen  Genius  zu  gelangen. 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.,  213 


Anmerkungen. 

1)  Genaue  Nachriebt  von  den  bis  zum  Jahr  1844  erschienenen 
Schriften  über  die  Lage  Ilions  gibt  Welcker  in  dem  2.  Band  seiner 
kleineren  Schriften  p.  XXIX — XXXIII.  Die  bedeutendsten  neueren 
Werke  sind  gelegentlich  iu  diesem  Aufsatze  angeführt;  man  vergleiche 
überdiess  Schliemann,  Trojan.  Alterth.  XLI  sqq.  und  Hasper,  über 
die  Lage  des  alten  Ilion,  in  den  Verhandlungen  der  28.  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner.     1873,  S.  46 — 52. 

2)  Trojanische  Alterthümer,  Bericht  über  die  Ausgrabungen  in 
Troja  von  Dr.  H.  Schliemann,  Leipzig  1874,  zugleich  mit  einem 
218  photographische  Tafeln  umfassenden  Atlas  trojanischer  Alter- 
thümer. 

3)  Jedenfalls  wird  die  homerische  Archäologie  von  den  auf 
troischem  Boden  ausgegrabenen  Alterthümern  sorgfältig  Notiz  nehmen 
müssen.  Denn  sind  wir  auch  zu  ungläubig,  um  an  einen  Schatz 
des  Priamus  zu  glauben,  so  stehen  doch  die  von  Schliemann  gefun- 
denen Geräthe  von  Thon  und  Metall  der  Zeit  und  der  Heimath  des 
Homer  näher  als  alle  ähnlichen  Funde  anf  dem  Boden  Griechenlands 
und  Etruriens.  Ich  bekenne  mich  daher  unbedenklich  zu  der  Mein- 
ung, dass  das  Vertag  ccfxcpixvni'kloy  und  die  xakavxa,  des  Homer  in 
dem  Schatze  des  Priamus  entdeckt  wurden,  und  dass  die  nC&oi  die 
ovoctcc  Sinceog,  die  orj/ucaa  ByyeyQtcfXfxsva  (II.  Z  168,  H  175)  durch  die 
Ausgrabungen  Schliemann's  eine  neue  Beleuchtung  gefunden  haben. 
Bei  dem  Streit  über  die  Gestalt  und  die  Theile  des  homerischen 
Helmes  ist  es  sehr  zu  bedauern,  dass  die  auf  dem  Thurm  bei  mensch- 
lichen Gerippen  gefundenen  Helme  (n.  2682  u.  2791)  nur  in  zer- 
trümmertem Zustand  erhalten  sind. 

4)  Man  hat  in  dem  Namen  Dumbrek  einen  Anklang  an  den 
alten  ®v(xß(Jiog  erkennen  wollen,  aber  der  Thymbrios  floss,  wie  wir 
gleich  zeigen  werden,  weiter  oberhalb  in  den  Skamander,  und  die 
Darstellung  des  Strabo  lässt  keinen  Zweifel  darüber  zu,  dass  zu  seiner 
Zeit  der  heutige  Dumbrek  Simois  hiess;  auch  findet  der  Name  Dum- 
brek creissender  Fluss'  aus  dem  Türkiseben  seine  genügende  Erklär- 
ung. Ganz  und  gar  ohne  Belang  sind  die  vagen  Gründe,  welche 
neuerdings  Nikolaides  in  dem  oberflächlichen  Buche,  Topographie 
de  l'Iliade,  p.  72  fF.,  für  die  Gleichstellung  Iipoug  —  Kamera  geltend 
gemacht  hat. 

5)  Die  betreffende  Stelle  bei  Strabo  (XIII  p.  597)  lautet:  o"  ts 
norccfiol  o  te  IxctfiavdQog  xcci  6  Zipotig,   6  piv  rw  Ziyeito  nXrjaiaoccg, 


2 14    Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

6  6k  t(ü  cPoitei(o,  (xuqop  £(A7Zqog$£v  rov  vvv  ^Vkiov  avfJ-ßäXXovaty, 
Wahrscheinlich  rührt  diese  Notiz  von  einem  Beobachter  her,  der  die 
zur  Zeit  der  Ueberschwemmung  gefüllten  Winterbette  des  Skamander 
im  Auge  hatte;  denn  in  jener  Zeit  vereinigt  sich  in  der  That  nahe 
vor  Hissarlik  ein  Theil  der  Wasser  des  Skamander  mit  dem  Siraois. 
Ein  förmliches  Zusammenfliessen  des  Mendere  und  Dumbrek  findet 
heut  zu  Tage  nicht  mehr  statt;  ob  es  zur  Zeit  des  Homer  stattge- 
funden habe,  lässt  sich  nicht  mit  Zuversicht  behaupten,  aber  immer- 
hin konnten  die  Lagunen  der  axoiiaki^vri  als  die  gemeinsame  Münd- 
ung der  beiden  Flüsse  betrachtet  werden. 

6)  Bei  Homer  werden  dem  einen  Hauptfluss  zwei  Namen,  Ska- 
mandros  und  Xanthos,  beigelegt,  und  man  könnte  nun  leicht  auf 
den  Einfall  kommen,  dass  die  Doppelbenennung  auf  die  Confundirung 
zweier  Gewässer,  des  eigentlichen  Skamander  und  seines  Nebenbaches 
Kalifatli-Asmak,  zurückzuführen  sei.  In  der  That  unterscheidet  in 
diesem  Sinne  Plinius  V,  33  cScamander  amnis  navigabilis  et 
in  promontorio  quondam  Sigeum  oppidum,  deinde 
portus  Achaeorum,  in  quem  influit  Xanthus  Simoenti 
iunctus  stagnumque  prius  faciens  Pala  escaman  der* 
zwischen  dem  Skamander  und  Paläskamander  und  dachte  sich  viel- 
leicht auch  Philostratos  (Imagg.  I,  10)  bei  der  Erklärung  eines  Bildes, 
in  dem  der  Xanthos  zwischen  dem  Heere  der  Myrmidonen  und 
Myeier  floss,  unter  dem  Xanthos  nicht  den  Mendere,  sondern  den 
Kalifatli-Asmak  bei  dem  heutigen  Dorfe  Kum-kioi  (siehe  indess  unten 
Anm.  -IG).  Im  Homer  selbst  würde  sich  für  die  berühmte  Stelle  von 
den  beiden  Quellen  des  Skamander  vor  den  Thoren  Trojas  (X148f.) 
eine  sehr  hübsche  Erklärung  aufstellen  lassen,  wenn  wir  daselbst  den 
Namen  Skamandros  als  die  specielle  Benennung  des  Kalifatli-Asmak 
deuten  dürften.  Aber  ich  wage  nicht  eine  solche  Hypothese  auf- 
zustellen, da  es  nicht  blos  Y  74  "ausdrücklich  heisst 

E&v&ov  xcchiovGi  &toit  ävögeg  &s  ZxäfiavÖQov 
sondern  auch  der  Skamandros  so  gut  wie  der  Xanthos  der  strudel- 
reiche genannt  wird,  was  nur  auf  den  einen  Hauptfluss,  den  Mendere, 
zu  passen  scheint.  Noch  weniger  eigne  ich  mir  die  Hypothese  Schlie- 
manns  an,  dass  in  der  Zeit  des  Homer  der  Skamander  ein  anderes 
Flussbett  gehabt  habe  und  näher  an  den  östlichen  Hügeln  der  troja- 
nischen Ebene  vorbeigeflossen  sei.  Seit  der  Einnahme  Trojas  sind 
allerdings  drei  Jahrtausende  verflossen,  aber  selbst  drei  Jahrtausende 
bedeuten  wenig  in  der  Geologie,  welche  nach  Aeonen  rechnet.  Sicher 
wissen  wir  aus  Strabo,  dass  schon  um  die  Zeit  Christi  Geburt  sich 
der  Skamander  beim   sigeischen  Vorgebirg  ins  Meer   ergossen  hat. 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  215 

Das  Programm  Büchners,  worin  nach  Hasper  (Philologenvers,  in 
Leipzig  1873,  S.  47)  drei  Flüsse  des  Namens  Skamander  angenommen 
sind,  ist  mir  nicht  zu  Gesicht  gekommen. 

7)  Es  heisst  bei  Homer  K  430  nur 

tzqos  Ovfiß^rjg  <5'  ekctyrov  Avxioi  x.  t.  2. 
was   ich    ausdrücklich    hervorhebe,    weil  Lechevalier,    Voyage    de  la 
Troade  II,  65  und,  wie  es  scheint,  schon  Demetrius  von  Skepsis  bei 
Strabo  XIII  p.  598  C   die  Sache  so    auffassten,   als  ob  die  Lykier  in 
der  Ebene  von  Thymbre  selbst  ihr  Lager  aufgeschlagen  hätten. 

8)  Ich  entnehme  die  Notiz  Schliemann,  Trojanische  Alterthümer 
S.  15;  eine  genaue  Mittheilung  der  Inschriften  habe  ich  leider  nicht 
aufstöbern  können. 

9)  Lechevalier  besuchte  Troja  im  Jahre  1787;  ich  benutze  die 
Originalausgabe  Voyage  de  la  Troade  1802,  in  3  Bänden,  und  die 
Uebersetzung  von  Dalzel-Heyne,  1792,  letztere  namentlich  wegen  der 
Anmerkungen  von  Heyne. 

10)  Unter  ihnen  nenne  ich  besonders  Forchhammers  Beschreib- 
ung der  Ebene  von  Troja,  1850.  Der  Abhandlung  ist  bekanntlich 
eine  vorzügliche  Karte  der  Ebene  von  Troja  beigegeben,  welche  ich 
durchgängig  meinen  geographischen  Angaben  zu  Grunde  lege. 

11)  Nikolaides,  Topographie  de  l'Iliade,  1867,  weicht  insofern 
von  Lechevalier  ab,  als  er  zwar  den  Mendere  mit  dem  Skamander 
den  Kamara  aber  mit  dem  Simois  identificirt. 

12)  Nur  das  eine  Zeugniss  des  Plinius  V,  33  Troadis  primus 
locus  Hamaxitus,  dein  Cebrenia  ipsaque  Troas  Anti- 
gonia  dicta,  nunc  Alexandria,  colonia  Romana.  oppi- 
dum  Nee,  Scamander  navigabilis  et  in  promontorio 
quondam  Sigeum  oppidum.  dein  portus  Achaeorum,  in 
quem  influit  Xanthus  Simoenti  iunctus*  scheint  der  Gleich- 
stellung Bunarbaschi-Bach  ==  Skamander  günstig  zu  sein,  da  in  dem- 
selben das  sigeische  Vorgebirg  nach  dem  Skamander  genannt  ist. 
Aber  auch  das  ist  nur  Schein.  Schiffbar  konnte  doch  offenbar  nur 
der  Hauptfluss  der  Landschaft,  der  heutige  Mendere,  genannt  werden. 

13)  Welcker,  Ueber  die  Lage  des  homerischen  Ilion,  im  2.  Bande 
seiner  Kleinen  Schriften. 

14)  Hasper,  Beiträge  zur  Topographie  der  homerischen  Ilias 
1867,  Programm  der  Ritterakademie  zu  Brandenburg  a.  H. 

15)  G.  v.  Eckenbrecher,  Ueber  die  Lage  des  homerischen  Ilion, 
im  Rhein.  Mus.  N.  F.  Bd.  II,  1843.  Diese  Abhandlung  ist  während 
des  Druckes  vorliegender  Abhandlung  in  revidirter  Auflage  als  eigenes 
Buch  bei  Buddeus  in  Düsseldorf  erschienen.    Aufgefallen  ist  mir  von 


216     Sitzung  der  pMos-philöl.  Classe  vom  7.  November  1874. 

vornherein,  dass  der  geehrte  Verfasser  auch  jetzt  noch  davon  aus- 
geht, dass  Strabo  den  Höhenzug  der  troischen  Ebene  mit  der  Gestalt 
eines  Ypsilon  statt  eines  Sigma  verglichen  habe. 

16)  Das  Hauptzeugniss  über  die  Meinung  der  alexandrinischen 
Kritiker  ist  in  dem  Scholion  zu  II.  B  467  enthalten:  6  ZxdpccvSgog 
xaTcccpeQO{J,£vog  ano  zrjg  "iSyg  fiFGov  TFftv&i  ro  vnoxtipsvov  xr\  'IXiw 
izeSlov  xai  etil  rcc  kqktzeqcc  ixdidüHuv  eis  dälaaaav.  Troja  lag  dem- 
nach nach  der  Ansicht  der  Alexandriner  auf  dem  rechten  Ufer  des 
Skamander. 

17)  J.  G.  v.  Hahn,  die  "Ausgrabungen  auf  der  homerischen  Per- 
gamos,  mit  4  lithographirten  Tafeln.  Leipzig  1865.  Ich  bemerke 
dabei  gelegentlich,  dass  Schliemann  und  Eckenbrecher  Unrecht  thun, 
wenn  sie  so  sprechen,  als  habe  jemand  in  Bunarbaschi  selbst,  und 
nicht  auf  der  Höhe  oberhalb  jenes  Dorfes  die  Stadt  Troja   gesucht. 

18)  Ich  gehe  auf  diesen  Punkt,  der  eine  weitläufige  Auseinander- 
setzung nöthig  machte,  gar  nicht  ein,  da  die  Bali-Uion  Theorie 
genugsam  durch  andere,  am  besten  von  Eckenbrecher  hervorgehobene 
Gründe  verurtheilt  wird.  Für  Bali-dag  als  Stätte  des  alten  Troja 
spricht  eigentlich  nur  die  eine  Stelle  in  der  Odyssee  #  508,  wo  es 
heisst,  die  Troer  hätten  geschwankt,  ob  sie  das  hölzerne  Pferd  auf 
die  Felsen  hinabwerfen  sollten,  rj  xarä  nexQuwv  ßaKeeiu  EQvaavteg 
in''  axgrjg.  Denn  solche  Felsen,  wie  sie  im  zerklüfteten  Skamander- 
thal  am  Fusse  des  Bali-dag  sich  finden,  kann  man  nicht  leicht 
sonst  wo  in  der  troischen  Ebene  nachweisen.  Aber  gewaltige  Fels- 
massen setzen  die  Worte  des  Dichters  gar  nicht  voraus,  und  bis  zu 
dem  Grad  dürfen  wir  auch  die  Freiheit  des  Dichters  nicht  einengen, 
dass  wir  ihn  selbst  in  einer  so  untergeordneten  Aeusserlichkeit  streng 
an  die  lokale  Natur  des  Ortes  gebunden  erachten.  Ausserdem  darf 
aber  auch  noch  bezweifelt  werden,  ob  der  Dichter  der  Odyssee  eine 
so  genaue  Kenntniss  der  troischen  Ebene  wie  die  Sänger  der  Ilias 
hatte. 

19)  Lechevalier  Voyage  de  la  Troade  IT,  196  gibt  die  Unter- 
suchungen der  Herrn  Clarke  und  Crips  an,  welche  am  4  März  1801 
durch  genaue  Messungen  constatirten,  dass  alle  Quellen  die  gleiche 
Wärme  von  161/*  Grad  Celsius  hatten,  während  die  umgebende  Luft 
87a  Grad  Wärme  zeigte.  Im  Wesentlichen  das  gleiche  Resultat  haben 
die  Untersuchungen  jüngerer  Reisender  ergeben.  Vergleiche  Ulrichs 
Reisen  II,  272. 

20)  Schon  Strabo  XIII  p.  602  C  gönnte  keine  'warmen  Quellen 
in  der  Landschaft  finden,  meinte  aber,  um  die  Glaubwürdigkeit  des 
Dichters  zu  retten,  dieselben  seien  inzwischen  ausgegangen.    B.  Stark 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  217 

in  seinen  Reisestudien,  Nach  dem  griechischen  Orient,  S.  147,  be- 
richtet, dass  weiter  südlich  im  Gebirg  noch  heute  ein  heisser  Strahl 
Wasser  dem  Felsen  entsteigt.  Ueber  eine  angebliche  warme  Quelle, 
welche  Calvert  bei  seiner  Baustelle  Trojas  am  Fusse  der  Höhe  ober- 
halb des  Djudan  gefunden  haben  will,  siehe  unten  Anm.  33.  An 
und  für  sich  hat  es  für  mich  nichts  befremdendes,  wenn  Homer  ein 
einfaches  Naturphänomen  ins  Wunderbare  ausgemalt  hat.  Denn  das 
Gebiet  des  Wunderbaren  und  selbst  des  Märchenhaften  dürfen  wir 
nun  einmal  selbst  aus  der  griechischen  Poesie  nicht  auschliessen. 

21)  Die  Hauptstelle  steht  ©  51  f.: 

ccvrog  (sc.  Zfv?)  <$'  &  xoQvcprjffc  zaS-s^ero  Xv6si  ycciiov, 

siöoQoiüv  Tq(6(ov  re  noXiv  Xttl  yrjccg    ^A/a«av 
und,  damit  man   darin   nicht  etwa   eine   besondere  Anschauung  des 
Sängers  des  8.  Gesanges  erblicke,   so  mache  ich  darauf  aufmerksam, 
dass  derselbe  Gedanke  auch  noch  A  183  ff.  und  Si,  291  wiederkehrt. 

22)  Der  Vers 

äs  t(o  zqIs  JlqidfJLoio  noliv  mQidwti&rjtrjv  (X  165) 
kann  bei  einfacher  Deutung   nur  auf  ein  vollständiges  Herumlaufen 
um  die  Stadt  bezogen  werden ;  gegen  diese  einfach  natürliche  Erklär- 
ung muss  namentlich  bei  einem  Dichter,  wie  Homer,  jede  künstliche 
Deutelei  zurücktreten.     Der  römische  Dichter  Virgil  mag  immerhin, 
wie  man  aus  der  Nachahmung  der  homerischen  Stelle  in  derAeneide 
XII,  746  ff.  schliesst,   nur  an  ein  Hin-  und  Herlaufen  vor  der  Stadt 
gedacht   haben;   aber   diese   Auffassung   des  Virgil  ist  für   uns  von 
keiner  entscheidenden  Bedeutung;  und  wenn  man  nach  der  Auffass- 
ung von  Nachahmern  fragt,   so    verweise   ich  auf  eine   ältere  Nach- 
ahmung des  fraglichen  Verses  im  letzten  Gesang  der  Ilias  &  16 
tglg  <T  SQvaas  nsQi  a^ua  MevoiriuScco  d-uvoviog 
ccvtcg  ivl  xXioiy  rtccvEOXfto, 

wo  doch  gewiss  nur  an  eine  förmliche  Umkreisung  des  Grabhügels 
gedacht  ist. 

23)  Ganz  unbestimmt  lassen  die  Lage  Trojas  der  Tragiker 
Aeschylus  (Agam.  525)  und  der  Redner  Lykurg  (or.  in  Leocratem 
§  62,  angeführt  von  Strabo  XIII  p.  601),  wenn  sie  die  alte  Stadt 
gänzlich  zerstört  und  nicht  wieder  aufgebaut  sein  lassen.  Im  gleichen 
Sinne  sagt  auch  Lucan  IX,  967  von  Cäsar 

circuit  exustae  nomen  memorabile  Troiae 
magnaque  Phoebei  quaerit  vestigia  muri, 
iam  silvae  steriles  et  putres  robore  trunci, 


218    Sitzung  der  pJiüos.-philol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

Assaraci  pressere  domos  et  templa  deorum, 
iam  lassa  radice  tenent  ac  tota  teguntur 
Pergama  dumetis,  etiam  periere  ruinae. 

24)  Zur  Bestimmung  der  Lage  des  Ilierdorfes  muss  man 
von  der  Angabe  Strabos  p.  597  C  ausgehen,  wonach  jenes  Dorf 
30  Stadien  von  Neu-Ilion,  10  von  KallcKoKiavri  entfernt  war  und  die 
Entfernung  von  Neu-Ilion  und  KccXfaxolwvr)  40  Stadien  betrug;  ausser- 
dem muss  man  noch  in  Betracht  ziehen,  dass  nach  Strabo  das  Dorf 
der  Hier  fern  vom  Thale  des  Simois  nahe  den  Flüssen  Skamander 
und  Thymbrios  lag.  Danach  kann  weder  Forchhammer  noch  Ulrich 
gebilligt  werden,  von  denen  der  erstere  das  Dorf  der  Hier  genau  auf 
der  von  Hissarlik  nach  Kallikolone  oder  Kara-Jur-Tepe  gezogenen 
Linie  und  damit  zu  nahe  dem  Thale  des  Simois  gelegen  sein  lässt, 
der  andere  aber  das  Dorf  bei  Atsche-kioi  mehr  als  40  Stadien  von 
Kara-Jur-Tepe  entfernt  ansetzt.  Ganz  und  gar  verfehlt  ist  die  An- 
sicht Starks  (Nach  dem  griechischen  Orient  S.  166),  der  ohne  jede 
Beachtung  der  alten  Zeugnisse  das  Dorf  und  den  Gau  der  Hier  in 
der  Nähe  von  Bunarbaschi  liegen  lässt.  Halten  wir  uns  an  Strabo, 
der  uns  hier  allein  zum  Ausgangspunkt  dienen  muss,  so  lag  das 
fragliche  Dorf  auf  einem  der  drei  umlaufbaren  Hügel  in  der  Nähe 
des  heutigen  Juruk  oder  Ali-Bey-Konaki.  Genau  den  Ort  zu  be- 
stimmen, wird  ohnehin  schwer  sein ;  am  wenigsten  kann  ich  ohne 
erneute  Durchforschung  des  Terrains  eine  Entscheidung  zu  treffen 
wagen. 

25)  Strabo  p.  601  C  sagt  von  dem  äolischen  Ilion  nur:  ini  xcor 
AvStov  rj  vvv  sxtCg&t]  xarouict  xai  xo  Uqov.  Da  man  dabei  zunächst 
an  Gyges  dachte  (s.  Strabo  p.  590  C),  so  setzte  man  gewöhnlich  die 
Gründung  von  Neu-Ilion  auf  das  Jahr  700  an.  Bursian  aber  hat  in 
seiner  Recension  des  Schliemannischen  Werkes  (Lit.  Centralbl  1874 
n.  10)  durch  den  Hinweis  auf  eine  andere  Stelle  des  Strabo  p.  593  C 
cxal  ciXkoi  6s  lotoQovai  nXeiovg  n&xaßtß'krpiEvai  xonovg  rrjv  noXiv, 
vaxctxa  (5'  ivxccvdu  avfifxelvat  xaxd  KQotaov  [xccliaxa  es  wahrscheinlich 
gemacht,  dass  die  neue  Stadt  mehr  wie  100  Jahre  später  unter  Krösus 
gegründet  worden  sei. 

26)  Nach  Strabo  XI  I  p.  599  lag  das  Grab  des  Aisyetes  5  Sta- 
dien von  Neu-Ilion  bei  dem  Wege  nach  Alexandrien  und  war  unge- 
fähr gleich  weit  vom  Meere  entfernt  wie  Neu-Ilion.  Mithin  kann 
dasselbe  nicht  mit  dem  südlich  von  Hissarlik  gelegenen  Pascha-Tepe 
identificirt  werden,  sondern  muss  sich  in  der  Nähe  des  heutigen 
Dorfes  Kalifatli  befunden  haben.  Ob  diese  Meinung  des  Strabo  und 
seiner  Gewährsleute  richtig  war,    ist  eine  andere  Frage.     Nach    der 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  219 

von  uns  weiter  unten  gegebenen  Darlegung  des  Sachverhaltes  scheint 
das  homerische  Grab  des  Aisyetes  eher  in  der  Nähe  von  Hissarlik 
gestanden  zu  haben.  Denn  von  dort  konnte  man  am  besten  den 
Aufbruch  der  Achäer  beobachten  und  nach  der  rückwärts  gelegenen 
Stadt  melden.  Zu  beachten  ist  auch,  dass  bei  den  Kämpfen  in  der 
Ebene  nie  des  Grabes  des  Aisyetes  gedacht  wird. 

27)  Der  Grabhügel  des  Ilos  mit  der  Säule  lag  nach  Homer 
mitten  in  der  Ebene  (A  166)  auf  dem  Weg  von  Ilion  zur  Furt  des 
Skamander  (£i  341) ;  seine  geringe  Entfernung  von  Neu-llion  bezeugt 
Plinius  XVI,  238:  iuxta  urbem  Iliensium  quere us  in  Ili 
tumulo  tunc  satae  dieuntur,  cum  coepit  Ilium  vocari. 
Heutzutage  ist  derselbe  verschwunden,  vielleicht  befand  er  sich 
ehemals  an  der  Stelle  des  heutigen  Dorfes  Kalifatli. 

Ueber  den  Grabhügel  der  Batieia  oder  Myrine,  der  nach  Homer 
B  811  vor  der  Stadt  in  der  Ebene  lag  und  bei  dem  sich  die  Schaaren 
der  Troer  bei  ihrem  ersten  Auszuge  aufstellten,  gibt  leider  Strabo 
gar  keine  nähere  Bestimmungen ;  gern  möchte  ich  denselben  mit  dem 
Pascha-Tepe  identificiren,  wenn  mich  nicht  die  Worte  cV  ns6iio 
e&KcvctS®  (Z?  812)  abhielten;  eher  kann  man  desshalb  an  den  umlauf- 
baren Hügel  Chanai-Tepe  denken,  der  mir  nur  etwas  zu  weit  nach 
innen  zu  liegen  scheint.  Dabei  will  ich  auch  gelegentlich  noch 
darauf  hinweisen,  wie  wenig  die  angezogenen  Worte  des  zweiten 
Gesanges  zur  Darstellung  in  dem  20.  Buche  (Y  216)  stimmen,  wo  es 
heisst :  xrivae  6s  JccQ&avitiv,  inii  ov  nio  "lfoog  lyrj  eV  rteSia)  nsno'kioxo. 

28)  Strabo  p.  598  C.  6  EQivsog,  TQ«xvg  ng  tonog  xccl  eQivecoörjg 
tat  [Jikv  ciQxuiip  xxiafiaxi  vnoninxoyxsv.  Das  stimmt  freilich  nicht 
gut  mit  einer  andern  Stelle  p.  597  C,  wonach  der  Erineos  so  gut 
wie  die  Grabhügel  des  Aisyetes  und  Ilos  in  der  Ebene  gezeigt  wurden. 
Mit  der  ersten  Angabe  des  Strabo  aber  lässt  sich  am  besten  die 
Schilderung  des  Homer  selbst  in  $  37  ff.  vereinigen. 

29)  Verschweigen  darf  ich  jedoch  nicht,  dass  diesem  und  theil- 
weise  auch  dem  folgenden  Beweis  die  Spitze  abgebrochen  wird,  wenn 
man  sich  zu  den  Extremen  der  Liedertheorie  bekennt.  Denn  bildete 
die  Teichoskopie  ursprünglich  ein  ganz  für  sich  bestehendes  Lied, 
so  konnte  eben  der  Dichter  einfach  voraussetzen,  dass  die  Heere  vor 
der  Stadt  gelagert  waren,  ohne  sich  um  die  Lage  der  Stadt  und 
die  Grösse  des  zuvor  zurückgelegten  Weges  irgendwie  zu  kümmern. 

30)  Ich  denke  dabei  an  die  Stelle  A  507 

ps{ii(TT](i£  <$'  AnoXkuv 
JIeQyd/j.ov  exxcaiSajy,  Tgtoeaat  6h  x,cxteTy  ävactg 
[1874,  II.  Phil.  hist.  Cl.  2.]  15 


220    Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  7.  November  1874. 

und  vergleiche  damit  E  460  und  H  21.  Zu  beachten  ist  aber  noch, 
dass  die  Pergamos  in  der  Achilleis  und  den  zunächst  um  dieselbe 
gruppirten  Gesängen  gar  nicht  erwähnt  ist,  sondern  nur  in  dem 
jungen  letzten  Gesang  (i2  700)  und  in  den  alten  Liedern  der  spe- 
cialen Iliade  {ä  508,  £446,  460,  Z  512,  H  21)  vorkommt.  Dachte  sich 
Homer  die  Burg  Pergamos  auf  Hissarlik,  dann  musste  er  die  Wohn- 
ungen der  Stadt  sich  über  den  Hügel  hinaus  nach  Südosten  aus- 
dehnen lassen.  Auch  dem  Herodot,  der  VII,  43  den  Xerxes  auf  das 
Pergamon  des  Priamus,  nicht  auf  Ilion  hinaufsteigen  lässt,  scheint 
man  Pergamon  als  einen  gesonderten  Punkt  in  der  Nähe  der  äolischen 
Colonie  Ilion  und  des  Athenatempels  gezeigt  zu  haben. 

31)  Ganz  ähnlich  bewegt  sich  die  Schlacht  zwischen  der  Stadt 
und  den  Schiffsmauern  in  A  170—311  hin  und  her;  nur  tritt  dort 
das  Auffällige  noch  hinzu,  dass  kurz  danach  in  V.  371  der  Kampf 
wieder  nahe  bei  Troja  um  den  Grabhügel  des  Ilos  wüthet.  Neben 
dem  8.  und  11.  Gesang  geht  auch  die  HaxQoxleiec  von  ganz  gleicher 
Anschauung  aus. 

32)  Der  Nordrand  von  Hissarlik  fällt  allerdings  so  steil  ab,  dass 
auf  denselben  Hektor  und  Achilles  unmöglich  hinauflaufen  konnten, 
wesshalb  auch  Demetrius  bei  Strabo  XIII  p.  599  geradezu  sagt:  ovo1 
rf  xov  "ExroQog  nsQtö^o^  tj  ti&qi  xr\v  noXiv  e%fi  xi  evhoyof  ov  yag 
iaxi  ne()id()0{iog  y  vvv  diä  xrjy  ovv£%ij  ^dc/iv.  Aber  denkt  man  sich 
die  Stelle,  wo  die  Helden  hinaufliefen,  weiter  nach  Osten  gerückt, 
so  bietet  die  Oertlichkeit  keine  unübersteiglichen  Hindernisse  mehr, 
wenigstens  behauptet  Eckenbrecher  (Rh.  Mus.  II,  41),  dass  er  den 
ganzen  Theil  der  Hügelkette,  welcher  von  dem  Meridian  Tschiblak's 
westlich  liegt,  ohne  die  geringste  Schwierigkeit  auf  verschiedenen 
Wegen  umritten  habe.  Freilich  macht  Eckenbrecher  von  der  An- 
nahme einer  grösseren  Ausdehnung  der  Stadt  einen  viel  zu  grossen 
Gebrauch,  namentlich  wenn  er  die  aus  der  Stellung  des  Spähers 
Polites  sich  ergebenden  Bedenken  damit  zu  beseitigen  sucht,  dass  er 
nicht  blos  das  homerische,  sondern  auch  das  äolische  Ilion  fast 
10  Stadien  von  Hissarlik  weiter  landeinwärts  auf  die  Höhe  süd-süd- 
westlich  von  dem  türkischen  Dorfe  Tschiblak  rückt. 

33)  Bereits  oben  in  Anm.  20  habe  ich  angedeutet,  dass  auch 
die  heisse  Quelle,  die  Calvert  an  dem  Fusse  des  Hügels  oberhalb 
des  Djudan  entdeckt  haben  wollte,  keine  Bestätigung  gefunden  hat. 
Nichtsdestoweniger  hat  es  grosse  Wahrscheinlichkeit,  dass  in  jener 
Gegend  und  vielleicht  geradezu  in  den  Quellen  der  beiden  Asmaks 
des  Kalifatli-Asmak  und  des  Pascha-Tepe-Asmak,  die  zwei  Brunnen 
zu  suchen  sind,  von  denen  Homer  in  den  Versen 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  221 

XQovvdj  <$'  'ixavov  xaXkiQQOü),  evS-ct  te  rtrjycci 
6occti  ttvcctaoovGt  Ixcc^ccvSqov  6ivfcvxog  (X  148  f.) 
redet.     Denn    wenn    auch   zur    Noth    der  Genetiv    Sxa(xuv6(jov   von 
(tpaiaaovat  abhängig  gemacht  werden  kann  in    dem  Sinne,    dass  die 
Quellen  aus  dem  Skamander  unterirdisch  abfliessen,  so  liegt  es  doch 
näher  IxufxcipÖQov  mit  nr\yid  zu  verbinden.     In  diesem  Falle  möchte 
man  aber  am  ehesten  an  bedeutende  bächefüllende  Quellen,  wie  die 
jener  beiden    Asraaks,    denken.     Nur  muss  ich    dagegen   bemerken, 
dass   die  ganze  Darstellung   des   22.  Gesanges  uns  auf  einen   nörd- 
licheren, näher  bei  Hissarlik  gelegenen  Punkt,  etwa  auf  die  zwischen 
dem    Pascha-Tepe    und    dem   Djudan    gelegene   Höhe    hinweist,    an 
deren  Fuss  ich  auf  der  Karte  von  Forchhammer   zwei  Brunnen  ein- 
getragen   sehe.      Jedenfalls    wird    man   in   dem   Djudan   selbst   den 
Sumpf  wiedererkennen  müssen,  in  welchem  nach  der  Odyssee  £  474 
Odysseus  sich  versteckte,    als  er   einen  Hinterhalt  gegen  Troja  aus- 
führte, und  auf  welchen   auch  Euripides  im  Rhesus  v.  507  anspielt: 
äti  <$'  iu  l6%oig  evyioxtTcu  (sc.  'OSvaae i<g) 
OvfxßQcdoy  uficpl  ßu)[idp  aatecog  nelccg       duaotov. 
Denn  der  Djudan  liegt  ja  ganz  nahe  bei  der  Mündung  des  Kamara- 
Su,  des  alten  Thymbrios,  in  den  Mendere. 

34)  Zuerst  heisst  es  nämlich  2  243  f. 

Tguieg  <5'  ai?#'  frt-pio&ep  cmd  Xfjocreyrjg  vo^iivrig 
/(ü()ij(Tc<t>T£g  k'lvaccv  vcp^  «Qfxctaip  toxiag  tmiovg 
und  dann  rüsten  sich  am  Anbruch  des  folgenden  Tages  Y  3  die  Troer 

int  &g(0(jjuä  ne&ioio. 
Jener  &Q(oafj.6g  neöiow  wird  ausserdem  noch  K  1G0  und  A  56  als 
Sammelplatz  der  Trojaner  erwähnt;  an  erster  Stelle  setzt  der  Dichter 
noch  erläuternd  hinzu  «//<  veuiv.  Einen  Grabhügel,  wie  man  wohl 
gethan,  darf  man  sich  unter  jener  Erhebung  der  Ebene  sicher  nicht 
vorstellen;  hätte  einen  solchen  der  Dichter  andeuten  wollen,  so  hätte 
er  nothwendig  noch  eine  nähere  Bestimmung  hinzufügen  müssen, 
da  es  gewiss  mehr  wie  einen  Grabhügel  in  der  Ebene  gab;  am 
passendsten  werden  wir  daher  bei  dem  &(f<ti<rp6s  nedioio  an  das  Auf- 
steigen der  Ebene  jenseits  des  Dumbrek-Su  und  Kalifatli-Asmak 
denken. 

Zur  Stelle  in  N  107,  wo  es  von  den  Troern  heisst,  dass  sie  fern 
von  der  Stadt  bei  den  Schiffen  streiten,  muss  ich  hier  berichtigend 
nachtragen,  dass  sich  vielleicht  trotzdem  der  Dichter  jenes  Gesangs 
sein  Troja  auf  Hissarlik  dachte.  Wenigstens  passen  auf  diese  Lage 
zumeist  die  Verse  N  12  ff.,  wo  Poseidon  von  dem  höchsten  Gipfel 

15* 


222    Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  7.  November  1874. 

Samothrakiens  auf  die  Schiffe  der  Achäer  und  die  Stadt  desPriamus 
hinschaut. 

35)  Unter  solchen  Umständen  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn 
sich  die  Meinungen  der  Forscher  über  den  für  die  Kämpfe  derllias 
nöthigen  Raum  schnurstracks  gegenüberstehen.  Während  z.  B.  Ecken- 
brecher einen  Kampfplatz  von  2  deutschen  Meilen  Länge  für  viel  zu 
gross  hält,  behauptet  Welcker  p.  XXV  das  gerade  Gegentheil  davon, 
fügt  aber  wohlweislich  hinzu:  cdoch  hierüber  müsste  man  ein  Buch 
schreiben  und  würde  dadurch  Manche  doch  nicht  überzeugen.' 

36)  Zuversichtlich  lässt  sich  über  diesen  Punkt  nicht  urth eilen; 
an  der  ersten  Stelle  nennt  freilich  Strabo  das  Schiffslager  und  den 
Hafen  der  Achäer  vor  der  Mündung  des  Skamander,  aber  aus  dem 
Wortlaut  der  zweiten  Stelle  c  i'ati  yuq  to  vav'aTcc&fiov  tzqos  Ziytiu), 
nlridiov  6e  xcci  o  Ixa^iav^gog  ixSidcoai,  Sd^coy  rov  'IXtov  atadiovg 
etxoaiv  möchte  man  eher  auf  das  umgekehrte  Sachverhältniss  schliessen. 
Dazu  kommt,  dass,  wie  Ulrich,  Reisen  II,  303,  sachkundig  bemerkt, 
der  sandige  Strand  von  Kum-kale  bei  Sigeum  besser  als  die  sumpfige 
Niederung  der  Stomalimne  zu  einem  längeren  Aufenthalt  geeignet 
war.  Auch  zeigte  man  nach  alter  Ueberlieferung  das  Grab  des 
Achilles  auf  dem  linken  Ufer  des  Skamander  nahe  bei  dem  sigeischen 
Vorgebirg;  siehe  Plinius  V,  33  und  Quintus  Smyrnaeus  VII,  402. 
Endlich  lassen  sich  auch  die  Worte  des  Homer  {I  67)  von  den 
Nereiden,  welche  sich  in  das  Zelt  des  Achilles  begeben 

tat  6J  ore  de  Tgoirjv  igißwlov  ixovxo 

ay,xr\v  slaav  h  ßctiv  ov  enca^eQüj 
viel  besser   auf  das    steiler   ansteigende  Ufer  bei   dem  Grabmal  des 
Achilles  als  auf  das  Dünenland  östlich  vom  Skamander   deuten. 

37)  Höchstens  lassen  sich  die  Worte 

rctJV  vvv  cclfzcc  xeXcciPoy  ivQQoov  ccfMfl  Ixd^ictv^Qov 

iaxeöaJ  o£v\  "J^g  (H  329) 
auf  eine  gleichgrosse  Ausdehnung  des  Lagers  der  Achäer  deuten. 
Damit  steht  jedoch  im  Widerspruch,  dass  die  Schlacht  sich  nicht  zu 
beiden  Seiten  des  Skamander,  sondern  in  der  Ebene  zwischen  Simois 
und  Skamander  entwickelt  hatte  (s.  Z  4),  wesshalb  wir,  die  Einheit 
des  Dichters  der  Gesänge  E  Z  H  vorausgesetzt,  a^icpl  Zx.c<(j,civöqoi> 
richtiger  in  dem  Sinne  cin  der  Nähe  beim  Skamander   fassen. 

38)  Strabo  XIII  p.  595  gibt  die  Entfernung  der  beiden  Vor- 
gebirge sogar  auf  60  Stadien  an;  wahrscheinlich  aber  ist  diese  Zahl 
verderbt;  richtiger  spricht  Plinius  V,  33  nur  von  30  Stadien. 

39)  Dass  sämmtliche  Kämpfe  der  Ilias  auf  dem  rechten  Ufer 
des  Skamander  stattfanden,  ist  unbestreitbar.   Ausdrücklich  bezeichnet 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  223 

der  Dichter  in  Z  4  die  gemeinsame  Ebene    des  Simois  und  Xanthos 
als  die  Walstätte: 

äXXrjXwv  1&vvo[ä£v<x)v  /aXxtjQEcc  Sovqci 
{leaoriyvg  ZifxoEvxog  idk  Edr&oio  §oau)v. 
In  E  36  führt  die  Athene  den  anstürmenden  Ares  aus  dem  Schlacht- 
getümmel zum  strudelnden  Skamander  (vgl.  E355),  dehnt  sich  aber 
die  Schlacht  selbst  nicht  in  dem  schmalen  Räume  zwischen  dem 
Fluss  und  der  Höhe  von  Sigeum,  sondern  in  der  weiten  Ebene 
zwischen  Skamander  und  Simois  aus.  Auch  die  berühmte  Scene  in 
der  Achilleis,  wo  der  Flussgott  Xanthos  seinen  Bruder  Simois  zu 
Hilfe  ruft  (<J>  307  ff),  um  gemeinsam  den  Achilles  zu  bedrängen, 
weist  deutlich  auf  das  rechte  Ufer  des  Skamander  hin.  Ausdrücklich 
endlich  ist  in  A  498 

ovSe  7Tio  "Exzioq 

■nev&ex'',  etxel  §a  iid^g  &n>  (igtoxegd  {iccqvuto  ndaijg 

o/Sag  neig  noxufxov  2xoc[tctyd(jov 
die  Ebene  östlich  vom  Skamander  als  das  Schlachtfeld  bezeichnet. 
Denn  bei  e'tz1  clgtoxegd  fi<x/tjg  wird  man  um  so  eher  an  die  westliche, 
oder  links  vom  Hektor  sich  ausdehnende  Seite  der  Schlacht  denken 
müssen,  als  die  Griechen,  welche  bei  der  Vogelschau  nach  Norden 
blickten,  schlechthin  unter  der  linken  Seite  die  westliche  verstunden; 
vgl.  Eckenbrecher,  Rhein.  Mus.  II,  17.  Bei  Homer  selbst  heisst  so 
dieselbe  Seite  des  Lagers  in  AT  326  vom  Standpunkte  der  Achäer, 
und  in  M  118,  N  675  und  765  vom  Standpunkt  der  Troer  aus  die 
linke,  d.  i.  westliche  Seite. 

40)  Nicht  ohne  Bedeutung  für  diese  Auffassung  ist  ein  Bild, 
das  der  jüngere  Philostratus  Imag.  I  10  also  beschreibt:  noXig  [ihr 
avtt]  *'IXcog  ocpqvoiaocc  xa,^c'0^ir\QOVy  negid-ii  de  ccixrjy  xel/og  oiov  xai 
&Eovg  /Lirj  ctTiocg'iixiocci  xifg  kavxcljv  /etpog,  vttvoxa&fxov  xe  inl  &kZ£q<x} 
xui  öitvog  lEXXr\an6vxov  didgpovg  'Aaiccv  EvgcSntjg  dieioytof,  xovv  [aeow 
6k  nediov  notccfiio  öiaigeirccc  Bccvd-w,  yiyganxac  6i  ov  (Aoq[Ivqu)v  d(pQW 
ov6'  oiog  £ni  xov  xov  n^XEwg  E7ilt]{xfA,vQ€v.  Der  Rhetor  hielt  demnach 
zwar  den  Fluss  für  den  Xanthos-Skamander;  der  Maler  aber  scheint 
vielmehr  an  den  Simois  gedacht  zu  haben,  von  dem  der  Scholiast 
zu  Homer  M  22  sagt  6id  fiEaov  xov  nediov  cpEqtxcci.  Indess  komme 
ich  hier  nochmals  auf  die  bereits  oben  S.  214  geäusserte  Vermuth- 
ung  zurück,  ob  nicht  zuweilen  der  Name  Xanthos  nicht  dem  Haupt- 
fluss,  dem  heutigen  Mendere,  sondern  seinem  kleinen  Nebenfluss, 
dem  heutigen  Kalifatli-Asmak,  gegeben  worden  sei. 

41)  Es  liegt  zwar  nahe  unter  dem  Fluss  xaz'  E'ioxnv  den  Haupt- 
fluss  der  Ebene,  den  Skamander,  zu  verstehen,  und  derselbe  ist  auch 


224    Sitzung  der  phüos.-philol  Classe  vom  7.  November  1874. 

sicherlich  in  B  861,  875,  JT  669,  679,  wahrscheinlich  auch  in  0  490 
und  42  351  gemeint.  Aber  an  unserer  Stelle  spricht  der  Zusammen- 
hang mehr  für  den  Simois  oder  den  zum  Flussgebiet  des  Skamander 
gehörigen  Bach  Kalifatli-Asmak. 

42)  Man  wird  fragen,  wie  man  alsdann  den  Sinn  des  Verses  zu 
fassen  habe.  Darauf  ist  nicht  leicht  eine  sichere  Antwort  zu  geben. 
Will  man  nicht,  was  bedenklich  ist,  an  eine  weitgehende  Interpolation 
eines  jüngeren  Sängers  denken,  so  wird  man  sich  wohl  mit  der  An- 
nahme begnügen  müssen,  dass  der  Fluss  immerhin  ein  Schutz  der 
Stadt  war,  wenn  auch  damals  gerade  der  Angriff  nicht  von  dem 
jenseitigen  Ufer  des  Flusses  erfolgte,  und  dass  die  fliehenden  Troer 
sich  durch  den  Sturz  in  den  Skamander  von  der  Verfolgung  des 
Achilles  hatten  retten  wollen. 

43)  Diese  Ansicht  wurde  schon  im  vorigen  Jahrhundert  aufge- 
stellt von  Bryant,  a  dissertation  concerning  the  war  of  Troja  and 
the  expedition  of  the  Grecians  as  described  by  Homer  schewing, 
that  no  such  expedition  was  ever  undertaken  and  that  no  such  city 
of  Phrygia  existed.  1796.  Auch  Strabo  XIII  p.  581  spricht  bereits 
von  den  geographischen  Widersprüchen  bei  Homer,  und  schon  vor 
Strabo  machten  die  alexandrinischen  Grammatiker  gelegentlich,  wie 
zu  Z  433,  0  560,  A  166,  auf  topographische  Schwierigkeiten  auf- 
merksam. 

44)  Suidas  im  Leben  des  Homer  und  der  Geograph  Stephanos 
von  Byzanz  s.  v.  Keyxpsac  nennen  sogar  eine  Stadt  im  troischen 
Gebiete,  Kenchreä,  wo  Homer  der  Sage  nach  geboren  oder  längere 
Zeit  gelebt  habensoll,  etwas  was  Sengebusch,  Homerica  dissert.  post. 
p.  71,  mit  Recht  auf  das  Bestehen  einer  Homeridenschule  in  jener 
Gegend  gedeutet  hat. 

45)  Das  hat  bereits  Heyne  in  den  Anmerkungen  zur  Ueber- 
setzung  von  Lechevalier's  Beschreibung  der  Ebene  von  Troja.  Leipz. 
1792.  S.  177  richtig  hervorgehoben.  Im  übrigen  scheint  es  auch 
nicht  ohne  Bedeutung  zu  sein,  dass  Homer  an  der  berühmten  Stelle 
in  X  147  ff.,  wo  er  von  den  Quellen  des  Skamander  und  den  dabei 
befindlichen  Waschtrögen  der  Trojanerinnen  spricht,  das  Präsens 
gebraucht :  y  fxl v  yag  &  vdari  Xcccqm  qssi  . . .  evfrcc  <$'  iii*  avtctouv 
nXvvoi  evpieg  iyyig  eaaiv.  Das  lässt  wohl  abnehmen,  dass  er  noch 
selbst  jene  Waschtröge  angetroffen  und  mit  eigenen  Augen  ge- 
schaut hat. 

46)  Bei  der  Stadt  und  ihren  Theilen  lasse  ich  mir  daher  auch 
eine  etymologische  Deutung  der  Namen  gefallen,  und  erkläre  mit 
andern  das  skäische  Thor  für  das  linke,  nach  Westen  gehende  Thor, 


Christ:  Topographie  der  troianischen  Ebene.  22 5 

Aber  für  eine  trügerische  Spielerei  halte  ich  es,  Flussnamen  der 
Ebene  etymologisch  zu  deuten,  und  aus  der  Herleitung  des  Namens 
Ixü fiavÖQog  von  axafi/ua  avSgog  Schlüsse  auf  die  Beschaffenheit  des 
Flusses  und  die  Richtung  seines  Laufes  zu  ziehen. 

47)  Diesen  Gedanken  hat  in  neuerer  Zeit  besonders  Müllenhoff 
in  seiner  deutschen  Alterthumskunde  S.  19  auszuführen  gesucht,  in- 
dem er  in  dem  Herkules,  der  nach  der  Sage  vor  Agamemnon  Troja 
zerstörte,  den  Repräsentanten  der  Phönizier  erblickte.  Es  ist  hier 
nicht  der  Ort,  zu  untersuchen,  ob  wirklich  die  Sage  von  der  Erober- 
ung Trojas  durch  Herkules  die  ältere,  oder  vielmehr  die  später 
nachgebildete  ist;  jedenfalls  erzählte  die  Sage  von  wiederholter 
Einnahme  der  Stadt,  und  bleibt  es  beachtenswerth,  dass  Schliemann 
auf  Hissarlik  5  Schuttschichten  von  verschiedenem  Charakter  vor- 
gefunden hat. 

48)  Damit  stimmen  auch  gut  die  Verse  Y  51 — 3 

a€f  <$'  ™AQt]s  EzeQiü&tv,  egefiffl   XcciXum  laog 
6'£v  xar  dxQOTatrjg  noliog  TqcS&ggl  xfteviov, 
ä'XXoze  ti<k(j  ItfjiotPTi  &iu>v  inl  Kak'kix.okitivß. 
Denn    da    hier    die  Lage    von    Kallikolone    beim  Flusse   Simois    der 
Lage  von  Troja  entgegengestellt  wird,  so  werden  wir  von  vornherein 
darauf  hingewiesen,    Troja  auf  einem  der  südlichen  gegen  den  Ska- 
mander  abfallenden  Hügel  zu  suchen.   Nur  machen  es  die  Schilderungen 
des  22.  Gesanges,  worauf  bereits  oben  Anm.  33  hingewiesen  wurde, 
räthlich,    nicht   unmittelbar  über  den  Quellen  der  Asmaks,    sondern 
weiter  nach  Nordwesten  zu  die  Stätte  Trojas  zu  suchen. 

49)  Die  Kürze  der  Distanz  zwischen  Troja  und  dem  Schiffslager 
erhellt  hier  namentlich  aus  v.  505  ff.,  wo  die  Troer,  wiewohl  sie 
nahe  bei  den  Schiffen  beim  Einbruch  der  Nacht  ihr  Lager  aufge- 
schlagen hatten,  Wein  zum  Abendessen  aus  der  Stadt  holen;  vgl. 
auch  v.  131. 

50)  In  der  Patrokleia  setzt  die  Raschheit,  mit  der  Patroklos  zu 
den  skäischen  Thoren  gelangt  (s.  77  395  und  698,  vgl.  665),  eine 
kurze  Distanz  voraus,  aber  auffällig  ist  es,  dass  es  dann  P  403 
wieder  heisst 

noXkou  yuQ  (5'  annvEv&e  vzwv  [xciQvuvro  dodwv. 
Indess  lässt  sich  doch  hier  jenes  noKkdv  ccTtctvsv&e  mit  Bezug  auf  die 
Sehkraft  des  Menschen  auch  auf  eine  massige  Entfernung  von  3/4  Stun- 
den deuten.  Etwas  anders  steht  die  Sache  in  der  Jtofirjdeia,  wo 
durchweg  sonst  eine  kleine  Entfernung  der  Stadt  angenommen  ist 
in  E  791  aber  Here  den  Achäern  zuruft 


226    Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  November  1874. 

al6(6g,   'Agystoi,  xdx1  £%£y%ecc,  st6og  dyrjtoC' 
o<pqcc  fxkv  ig  noXefiov  tkoXeoxsto  6iog   'A/iM-tiig, 
ovÖE  Tiors  Todieg  71qo  nvkdixiv  JügSecvidiov 
oi%v£axov  xzivov  ydg  iSeiöiaccv  ofxßQi[xop  ky%og' 
vvp  6  k  £xdg  ndXiog  xoiXyg  iizi  vr\vGt  {id%ovtcu. 

Hier  werden  wir  uns  wohl  zur  Annahme  bequemen  müssen,  dass  die 
Episode  vom  Eingreifen  der  Götter  in  den  Kampf  der  Menschen 
E  711 — 90  ehemals  ein  eigenes  Lied  bildete,  oder  in  einem  anderen 
Zusammenhang  stund,  wozu  auch  sehr  gut  die  Ausführlichkeit  in  der 
Schilderung  vom  Anschirren  des  Götterwagens  stimmt. 

51)  Höchstens  haben  die  Vereiniger  der  Lieder  der  Iliade  und 
die  Redaktoren  des  Pisistratus  oder  auch  jüngere  Kritiker  durch 
Zufügung  oder  Aenderung  einzelner  Verse  die  lokalen  Verhältnisse 
deutlicher  zu  machen  gesucht.  Mehrere  Verse  der  Art,  wie  n  397 
und  3  434,  habe  ich  bereits  oben  besprochen,  ich  füge  hier  noch  die 
Besprechung  einiger  weiterer  Verse  an.     Zu  dem  Verse  Z  4 

fxeaariyvg  Zipdtvtog  16k  Edvd-oio  §od(x)v 
sind  uns  in  den  Scholien  zwei  Varianten  überliefert: 

fieaariyvg  nozccfioto  IxccpdvdQov  xcd  atoficcXifiyrjg 

und 

(xeaariyvg  notct/uoto  2xcc{j,dv6Qov  xcct  Ii^totvtog, 

In  0  224—6  sind  die  drei   das  Ende  des  Lagers  nach   beiden 

Seiten  bezeichnenden  Verse 

r^ikv  iti*  AiUvxog  xXiatag   TeXa/Moviddcco 

yd'  in"*  'A/ttärjog,  tot  q'  ea/ata  vtjag  Haag 

eiQvaav  ijvoQifl  ntavpoi  xat  xdQts'i  xsigujv 

in  den  jüngeren  Quellen  aus  A  7 — 9  hinzugefügt.  In  Z  433—9  sind 
die  sieben  Verse  AaoV  6k  atijaov  nctQ1  igtveov  x,  t.  X.,  welche  vielleicht 
von  einem  jüngeren  ortskundigen  Rhapsoden  herrühren,  von  den 
alexandrinischen  Grammatikern  mit  Recht  angefochten  worden,  woil 
es  unpassend  ist,  dass  der  Mund  einer  besorgten  Mutter  dem  kriegs- 
erfahrenen Hektor  einen  strategischen  Rath  ertheilt.     Der  Vers  £1  692 

Bdv&ov  dtpyevtog,  ov  dd-dvatog  tixezo  Zevg 
der  eine  nähere  Bestimmung  der  Furt  enthält,   fehlt  in  guten  alten 
Quellen  und  ist  vielleicht   aus  0  434  herübergenommen,   da  es  auch 
weiter  oben  ^2  351  einfach  heisst  cV  nota^wi  ohne  bestimmte  Angabe 
des  Flussnamens. 


iru,  Utrists  Ab  ndl.  über  lroianismjz  Lbene, 


.jitTxZ  ä.7c&jk. c?nr /{%:/<? zu/  7, 


Christ:  Topographie  der  troianisehen  Ebene.  227 


Schlusshemerkung. 

Der  Gedanke,  die  Schwierigkeiten  in  der  Bestimmung  der  Lage 
des  alten  Ilion  durch  Zurückgehen  auf  Wolfs  Hypothese  und  die 
Annahme  von  verschiedenen  Vorstellungen  in  den  Köpfen  verschie- 
dener Sänger  zu  lösen,  ist  meines  Wissens  neu  und  bisher  noch  von 
keinem  Gelehrten  aufgestellt  worden.  Die  Priorität  könnte  mir  aber 
zur  Zeit  der  Ausgabe  des  vorliegenden  Heftes  unserer  Sitzungsberichte 
bestritten  werden,  nachdem  Professor  Otto  Keller  in  einem  in  der 
Beilage  der  Allg.  Zeitung  no.  344  und  345  veröffentlichten  Vortrag 
vom  4.  December  den  im  Wesentlichen  gleichen  Gedanken ,  nur 
mit  geringerem  Eingehen  auf  das  Detail,  ausgesprochen  hat.  Dem 
gegenüber  muss  ich  aber  darauf  hinweisen,  (Lab  >  der  vorliegende 
Aufsatz  schon  4  Wochen  vor  dem  4.  Dec.  in  die  akademische  Buch- 
druckerei abgeliefert  wurde  und  dass  derselbe  u;  sprünglich  zu  einem 
Vortrag  in  der  diesjährigen  Philologenvers?  .nlung  zu  Innsbruck 
bestimmt  war.  Ich  habe  dort  den  Vortrag  selbst  nicht  gehalten, 
weil  ich  gern  weiter  hergereisten  Männern  d--..i  Vortritt  lassen  wollte, 
aber  im  Verkehr  mit  befreundeten  Collegen.  und  darunter  auch  mit 
Herrn  Prof.  Keller,  aus  meinen  Grundanscbauungen  in  der  Frage 
der  ilischen  Topographie  kein  Hehl  gemacht.  Im  Uebrigen  kann  ich 
Prof.  Keller  nicht  beistimmen,  wenn  er  gerade  von  dem  Dichter  der 
22.  Rhapsodie,  die  von  der  Schlacht  im  Flusse  oder  dem  ersten 
Theile  des  21.  Gesanges  nicht  getrennt  werden  kann,  annimmt,  dass 
er  den  troischen  Boden  nicht  studirt  habe.  Umgekehrt  zeigt  derselbe, 
wie  ich  oben  dargethan  habe,  eine  sehr  gute  Kenntniss  der  ilischen 
Ebene  und  hat  nur  seine  Schilderungen  fast  märchenhaft  ausge- 
schmückt. Noch  weniger  kann  ich  mich  damit  einverstanden  er- 
klären, wenn  Keller  in  den  Fabeleien  des  Grammatikers  Apollodor 
von  der  Kuh  des  Ilos,  welche  sich  am  Hügel  der  phrygischen  Ate 
niedergelassen  habe,  eine  alte  Tradition  und  in  der  phrygischen  Ate 
das  Prototypon  der  ilischen  Athene  wiederfinden  will. 


Sitzung  vom  7.  November  1874. 


Historische  Classe. 


Herr  Muffat  legt  vor:  eine  Mittheilung  des  Herrn 
Geh.  Medicinalrathes  Haeser  in  Breslau: 

,, Nachträgliche  Bemerkung  zu  den  Unter- 
suchungen des  Herrn  Muffat  in  Betreff  der 
„Bündt-Ertzney  Heinrich's  von  Pfolspeundt." 

Die  Berichtigungen  und  Aufschlüsse,  welche  Herr  Reichs- 
Archivrath  Muffat  zu  der  von  Middeldorpf  und  mir  heraus- 
gegebenen Schrift  Heinrich 's  von  Pfolspeundt  gegeben 
hat*)  und  welche  durch  ein  den  noch  vorhandenen  Exem- 
plaren der  Ausgabe  beigelegtes  Blatt  zu  allgemeiner  Kenntniss 
gebracht  worden  sind,  habe  ich  die  Freude,  durch  eine 
fernere  Nachricht  ergänzen  zu  können. 

Im  October  1873  entdeckte  ich  auf  der  königl.  öffent- 
lichen Bibliothek  zu  Stuttgart  eine  Handschrift,  welche  durch 
ihre  sofort  erkennbare  nahe  Beziehung  zu  der  „Bündt- 
Ertzney"  Pfolspeundt's  mein  Interesse  in  Anspruch  nahm. 
Durch  die  Liberalität  des  Bibliothek- Vorstandes  hatte  ich 
Gelegenheit,  die  Handschrift  einer  genaueren  Untersuchung 
zu  unterziehen,  deren  Haupt-Ergebniss  darin  besteht,  dass 
in    der   Stuttgarter   Handschrift  die    Gopie    eines    mit    dem 


Sitzungsberichte  1S69  Bd,  I  S.  564. 


Häser:  Bündt-Ertzney  Heinrich' s  von  Pfolspeimdt.         229 

Originale  Pfolspeundt's  fast  gleichzeitigen  Auszugs  aus  der 
Schrift  desselben  vorliegt. 

Die  Stuttgarter  Handschrift  ist  in  Hochquart  sehr  gut 
auf  Papier  geschrieben  und  zählt  36  Blätter.  Durch  Versehen 
des  Schreibers,  welcher  nach  Blatt  8  ein  Blatt  ungezählt 
liess,  sind  nur  35  Blätter  bezeichnet. 

Die  Handschrift  trägt  nach  der  Angabe  des  Hrn.  Archiv- 
Sccretärs  Dr.  Grotefend  hierselbst,  welcher  dieselbe  in 
dieser  Hinsicht  zu  untersuchen  die  Güte  hatte,  die  Kenn- 
zeichen der  Jahre  1520  —  1530. 

Auf  dem  Pergament-Umschläge   finden  sich  die  Worte: 
,,Das    neu    angefangen    wundartznei    buch,    so    mein 
gnädigster   Fürst    und   herr  Ihr    Fürstlichen   gnaden 
Gemahl  geben  hat. 
Das  erste  Blatt  der  Handschrift  enthält  den  Titel: 
,,Ira  namen  des  Herrn  Amen. 
Dis   buch  *)   geschrieben  buch  ist  angehoben  von  der 
Wundertzney,   als  man  zeit  nach    der  Geburt  Christi 
1460  Jahr  an  dem  mitwoch   nach  Maria  Magdalena, 
die    hab    ich    Heinrich    von    Baldenstetten    deutsches 
ordens  aus  den  besten  und  nutzten  Stücken  der  aller 
treflenlichsten  Stücke  für   alle  Scheden   alt    und    neu 
damit   zu  heilen,    so    der  Herr  Heinrich  von  Phlatz- 
pingen  gebraucht.'* 
Auf  Blatt   2a  wiederholt    sich   dieser  Titel   unverändert 
mit  Ausnahme  des  letzten  Wortes  (,, gebraucht"),  vor  welchem 
hier  noch  „gentzlich"  steht.     Der  folgende  Satz  heisst  hier : 
,,Und  er  wil  Keinem  auch  raten"  u.  s  w.    Am  Schlüsse  des 
Satzes  werden  die  Worte  Pfolspeundt's:  „Und  habbe  solche 
Kunst  niemand  so  gruntlichen  gelerth,  wann  zcwenn  brodern 


1)  Der  Strich  unter  „Buch"  ist  späteren  Ursprungs  und  soll 
wohl  eine  Streichung  andeuten.  Pfolspeundt  hat:  „Dis  nachgeschrieben 
Buch." 


230  Sitzung  der  lüstor.  Classe  vom  7.  November  1874. 

meynes  ordens"  in  der  Stuttgarter  Handschrift  ergänzt,  wie 
folgt:  „Hansen  von  Tiffen  und  mich,  und  hatt  uns  gebetten, 
ob  wir  solche  Kunst  fürbas  andere  leude  lernen  wurden, 
solche  von  uns  zu  geben,  als  er  uns  gelernt  hatte  —  jeder- 
man  auch  zu  lernen  in  mass  wie  er  uns  gelernt  hatt." 

Im  folgenden  Satze  sind  die  Worte,  in  welchen  Pfols- 
peundt  dem  Wundarzt  befiehlt,  vor  Beginn  seines  Tagewerks 
Messe  zu  hören,  oder  doch  fünf  Paternoster,  fünf  Ave  Maria 
und  einen  ,,Glaubenu  zu  beten,  in  die  Stuttgarter  Handschrit 
zwar  auch  aufgenommen,  aber  von  einer  späteren  [prote- 
stantischen] Hand  gestrichen.  Statt  dessen  steht  am  Rande 
„und  sein  Christiichs  gebet  verricht." 

Schon  hieraus  ergiebt  sich  als  Urheber  der  Stuttgarter 
Handschrift  ein  Ordensgenosse  und  Zögling  Pfolspeundt's : 
Heinrich  von  Baldenstetten.  Dass  demselben  das 
Buch  seines  Lehrers  vorlag,  geht  nicht  blos  aus  der  der  Regel 
nach  wörtlichen  Benutzung  desselben,  sondern  auch  daraus 
hervor,  dass  einzelne  Stellen,  in  welchen  Pfolspeundt  in  der 
ersten  Person  redend  auftritt,  buchstäblich  dem  Buche  des 
Letzteren  entnommen  sind.  So  heisst  es  z.  B.  Blatt  6b : 
„Item  so  hab  ich  mir  zwei  Stück  behalten,  die  ich  in  diesem 
Buch  nicht  schreiben  will,  und  die  ich  niemand  geleert  hab 
dau  zwen  brudern  meines  ordens,  Hansen  von  Tiffen  und 
Heinrich  von  Baldenstetten." 

Diese  Stelle  spricht  zugleich  für  die  Annahme,  dass  es 
ausser  der  einzigen  bis  jetzt  bekannten  Handschrift  des 
Pfolspeundt'schen  Buches  (gefertigt  im  Jahre  1519  von  dem 
Kaplan  Henzen  in  Schönstedt  bei  Greussen,  gegenwärtig  im 
Besitz  der  Universitäts  -  Bibliothek  Breslau)  noch  andere 
Handschriften  desselben  gab,  weil  in  der  Henzen'schen  Ab- 
schrift jene  beiden  Ordensbrüder  nicht  genannt  wurden. 

Unter  den  Argumenten,  welche  dafür  sprechen,  dass 
der  Stuttgarter  Handschrift  eine  andere  und  zwar  bessere 
Handschrift  als  die  von  Henzen  zu  Gruude  liegt,  gehört  auch 


Häser:  Bündt-Ertzney  Heinrichs  von  Pfölspeunät.         231 


die    offenbar    richtigere    Aufzählung    von    den    Namen    der 
Wundärzte,  welche  Pfolspeundt  als  seine  Lehrer  bezeichnet : 

Namen  der  Stuttgarter 
Handschrift  (Blatt  8ft  und 


Namen  der  Abschrift  von 
Henzen  (S.  8  der  gedruckten 

Ausgabe). 
Johann  von  Birris. 
Meister  Christoffel  von  Münster 

und  Mönchen. 
Meyster  Hans  von  Berrewth. 
Meyster  Linhardt  von  Bassell. 
Meyster  Otte  von  Heideck. 


öfter). 
Mayster  Hans  von  Pariss. 
Meyster  Christoff  von  Minster 

zu  München  gesessen  (Bl.  8C). 
Meister  Hans  von  Beyern. 
Meister  Linhardt  vonSchopeQ 

bei  Basel  gesessen. 
Meister  Otho   von  Hedelberg 

zu   Weissenburg    gesessen. 

Bemerkenswerth  ist  hauptsächlich,  dass  sich  der  räthsel- 
hafte  ,5Johann  von  Birris  (Bires)"  durch  die  Stuttgarter 
Handschrift  nunmehr  in  einen  Johann  von  Paris  verwandelt. 

In  Betreff  des  ferneren  Inhalts  stellt  die  Vergleichung 
beider  Texte  heraus,  dass  zwei  der  interessantesten  Kapitel: 
1)  die  Anwendung  narkotischer  Inhalationen  (Pfolspeundt 
S.  21,  Stuttgarter  Handschr.  Blatt  16b),  2)  die  Anweisung 
zur  Rhinoplastik  (Pfolspeundt  S.  29,  Stuttg.  Handschr.  Blatt  21) 
in  beiden  Redactionen  übereinstimmen.  Nur  dass  bei  Pfols- 
peundt der,  welchen  er  als  seinen  Lehrer  in  dieser  Kunst 
nennt,  ein  „Wal",  in  der  Stuttgarter  Handschrift  ein  ,, Wal- 
lach" heisst.  Im  Uebrigen  zeigt  schon  der  bei  Weitem 
geringere  Umfang  der  Stuttgarter  Handschrift  (36  Blätter 
gegenüber  163  Seiten  der  gedruckten  Ausgabe),  dass  die 
erstere  nur  ein  Auszug  der  Schrift  Pfolspeundt's  ist.  Der 
Verfasser  dieses  Auszuges,  Heinrich  von  Baldenstetten,  be- 
schränkt sich,  mit  Ausnahme  der  Rhinoplastik,  lediglich  auf 
die  Mittheilung  von  Wundmitteln  in  der  engsten  Be- 
deutung :  Tränke,  Salben,  Pflaster  und  Oele.  Die  wichtigsten 
eigentlichen  chirurgischen  Abschnitte  Pfolspeundt's:  die  Lehre 


232  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  7.  November  1874. 

von  der  Ausziehung  der  Pfeile,  die  Fracturen,  Luxationen, 
Hernien  und  vieles  Andere  übergeht  er.  Sein  Auszug  war 
also  für  eine  noch  tiefer  stehende  Kategorie  der  Hülfe- 
leistenden bestimmt,  als  die  Schrift  Pfolspeundt's,  welche 
ihrerseits,  wie  ich  in  der  der  gedruckten  Ausgabe  voraus- 
gehenden Einleitung  zu  zeigen  versuchte,  doch  auch  keines- 
wegs für  wissenschaftliche  gebildete  Wundärzte,  sondern  nur 
für  handwerksmässig  geschulte  Empiriker  bestimmt  war. 

Am  deutlichsten  geht  der  bezeichnete  Charakter  des 
Baldenstetten'schen  Auszugs  aus  dem  am  Schlüsse  von  der 
Hand  des  Umschlags-Titels  (um  1550)  geschriebenen,  nach 
dem  Inhalt  geordneten  Register  hervor. 

„Arztneyen  und  Kunst  Wunden  zu  heften.    Wunden 
zu   binden.     Ain   Bad   zu    allen   Krankheiten.     Wem 

die  Nasen  zerha ist.    Ain  neue  Nasen  zu  machen. 

Für  das  Bluet.    Zu  rothen im  Angesicht.    Wan 

ain  ain  Arm  schwindet.     Heft  an  (ohne)  Nadeln.  — 
Bulver.     Für  das  gerunnen  Bluet.     Für  die  Wurm. 

Für  das   Bluet.      Von .     Für    die    rot    rhuer. 

Für   die  Spilwürm.     Zu   den   Wunden.     Für   Hiener 
äugen.      Zu    den   Zänen.    —  Dränncke.      Wund 
Thranckh.     Dranckh  zu   stinketem   athem.     Dranckh 
zu   den  Wunden.     Drankh    für    die    rot  rhuer.     Ain 
Dranck    für    die    Spil    würm.    —    Pflaster.      Zur 
zerbrochenen     Hirnschale.      Zu    bainen.      Zu    alten 
Schäden.     Zu   dieflen  Wunden.     Zu  vil  Krankheiten. 
—  Salben.    Rote  hail  salben.    Zugsalben.    Ain  Salb 
zu  allen  schaden.     Ain  Salb  für  Huener  Augen.    Ain 
Schlaf  trunckh.    —    Oel.     Oel   von   allen  Kreutern. 
Terpentin  machen. 
Die  Stuttgarter  Handschrift  zeigt,  wie  namentlich  zahl- 
reiche unterstrichene  Stellen  und  häufige  von  einer  späteren 
Hand  herrührende,  den  Inhalt  betreffende  Marginal-Angaben 
darthun,  die  Spuren  eines  fleissigen  Gebrauchs. 


Häser :  Bi'inät-'Ertzney  Heinrichs  von  Pfolspeundt.         233 

Schliesslich  ist  zu  erwähnen,  dass  der  neben  Heinrich 
von  Baldenstetten  als  Schüler  Pfolspeundt's  erwähnte  Hans 
von  Tiffen  höchst  wahrscheinlich  identisch  ist  mit  dem  den- 
selben Namen  führenden  Mitgliede  des  deutschen  Ordens, 
welcher  1474  —  77  Comthur  zu  Memel ,  1477  —  80  Gross- 
Comthur,  1480-89  Oberst-Spittler  und  1489—97  Hoch- 
meister des  Ordens  war.  Vergl.  Joh.  Vogt,  Namens  Codex 
der  deutschen  Ordensbtamten.     Königsberg  1843. 

Ueber  den  Ursprung  und  die  Berechtigung  des  Namens 
Phlatz-Pingen  (statt  Pfolspeundt)  werden  Berufenere  urtheilen. 


Sitzung  vom  5.  December  1874. 


Herr  von  Liliencron  legt  vor: 

„Ueber  die  Liederdichtung  der  Widertäufer". 

(Wird  später  in  den  Denkschriften  veröffentlicht  werden.) 


Sitzung  vom  5.  December  1874. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 


Herr  A.  Spengel  trägt  vor: 

„ Deutsche  Unarten  in  der  Aussprache  des 
Lateinischen." 

Wer  jemals  Gelegenheit  hatte,  Gelehrte  verschiedener 
Nationen  neben  einander  Latein  sprechen  und  über  die 
Gründe  ihrer  Aussprache  sich  ereifern  zu  hören,  der  hat 
eine  heitere  Stunde  erlebt.  Unwillkürlich  denkt  man  dabei 
an  Lessing's  Fabel  von  den  Ringen :  Der  echte  Ring  ging 
verloren,  falsche  wurden  nachgemacht  und  nun  freut  sich 
jeder  im  Besitze  des  echten  zu  sein  und  lacht  über  die 
anderen.  Der  Franzose  lacht  über  den  Engländer,  wenn 
dieser  seine  Knaben  mätschister ,  mätscMstri ,  mätschistro 
(magister)  dekliniren  lehrt  oder  mit  ihnen  Sisers  (Caesars) 
gallischen  Krieg  liest,  der  Italiener  lacht  über  den  Franzosen, 
wenn  er  von  den  Dichtern  Piaute  und  Terence  oder  von 
dem  römischen  Kaiser  Auguste  spricht,  und  so  fort  einer 
über  den  anderen  und  alle  über  einen.  Auch  wir  Deutsche 
stehen  bei  den  anderen  Nationen  in  dem  Rufe,  das  Latei- 
nische in  barbarischer  Weise  auszusprechen.  Ein  solches, 
leider   zum    Theil    gerechtes   Uitheil    sollten    wir   uns   nicht 


A.  Spengel:  Aussprache  des  Lateinischen.  235 

gefallen  lassen.  Wir  sollten  uns  dadurch  an  unseren  Tadlern 
rächen ,  dass  wir  den  Grund  des  Tadels  entfernen.  Wirft 
doch  heutzutage  in  Deutschland  die  Geschichtswissenschaft, 
die  Naturwissenschafc  und  unsere  eigene  Disciplin  unbarm- 
herzig über  Bord ,  was  aus  früherer  Zeit  überliefert ,  nicht 
die  Probe  der  Echtheit  besteht.  Wollen  wir  nicht  auch  in 
dieser  Beziehung  endlich  einmal  anfangen,  augenscheinliche 
Irrthümer  abzustreifen  und  aufhören,  unsere  Unarten  darum 
für  heilig  zu  halten,  weil  sie  sich  bisher  bei  uns  fort- 
schleppten von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert? 

Von  diesen  Unarten  ist  die  Aussprache  des  c  vor  e 
und  i  als  z  eine  der  grössten.  Wir  sprechen  diesen  Con- 
sonanten  fast  allgemein  vor  e  und  i  dem  letzten  Buchstaben 
unseres  Alphabetes  gleich,  während  wir  vor  a,  o  und  u  den 
#-Laut  beibehalten.  Auch  in  griechischen  und  anderen  nicht- 
lateiuischen  Wörtern,  die  sich  bei  lateinischen  Schriftstellern 
finden ,  ist  in  diesem  Falle  die  Aussprache  als  z  die  herr- 
schende, z.  B.  Cyrus  =  Zürus  trotz  des  griechischen  Kvqoq 
und  des  persischen  Kurush.  Bei  den  Dichtern  behalten  wir 
meistens  den  £-Laut  auch  dann  bei,  wenn  in  der  Endsilbe 
ce  oder  ci  der  Vokal  durch  ein  darauffolgendes  mit  a,  o 
oder  u  beginnendes  Wort  elidirt  wird,  z.  B.  arce  hac  = 
arz'hac.  Andere  geben  sogar  den  Endsilben  ca,  co  und  cw, 
wenn  ihre  Voeale  durch  ein  folgendes  e  oder  i  Elision 
erleiden,-  den  Laut  des  z  und  sprechen  also  in  der  Poesie 
vacca  et  leo  —  vdkz'  et  leo  und,  was  gar  lieblich  klingt, 
cum  est  —  z'  est.  Ja  in  der  Pluralendung  ci  der  Volk- 
und  Städtenamen  hört  man  zuweilen  sogar  in  dem  Falle, 
dass  die  deutsche  Endung  er  oder  en  an  Stelle  der  latei- 
nischen gesetzt  wird,  noch  den  £-Laut  beibehalten.    So  figu- 


1)  Von  der  einschlägigen  Literatur  vergl.  besonders  Corssen's 
Epoche  machendes  Werk  ,, Aussprache,  Vokalismus  und  Betonung 
des  Lateinischen",  Schuchardt's  „Vokalismus  des  Vulgärlateins"  und 
Brambach's  lat.  Orthographie. 

[1874,  IL  Phil.  hist.  CI.  2.]  16 


236      Sitzung  der  phüos.-philol  Classe  vom  5.  December  1874. 

rirt  der  Name  des  gallischen  Volkslammes  der  Bellovaci  in 
einer  gedruckten  Uebersetzung  des  gallischen  Krieges  als 
23ettot)a§en. 

Wir  Deutsche  sind  nicht  die  einzigen ,  welche  diesen 
Ton  erweichen.  Der  Italiener  spricht  tsche  und  tschi  ganz 
wie  in  seiner  eigenen  Sprache,  der  Spanier  verwendet  seinen 
dem  englischen  th  ähnlichen  Laut  sse  und  ssi,  der  Franzose 
sein  säuselndes  se  und  si  und  selbst  der  Engländer  macht 
den  Ton  dem  s-Laute  gleich.  Etwa  im  siebenten  Jahrhundert 
nach  Christus  begann  in  Italien  die  Assibilation  des  c  und 
noch  heutzutage  ist  im  sicilischen  Dialekt  und  in  einigen 
Theilen  des  italischen  Festlandes  die  mittelalterliche  Aus- 
sprache ze  und  zi  statt  tsche  und  tschi  üblich.  Nichts  aber 
kann  uns  berechtigen,  aus  der  Zeit,  wo  die  lateinische  Sprache 
in  den  letzten  Zügen  liegt,'diese  Verzerrung  in  das  Jugend-  und 
Mannesalter  der  klassischen  Zeit  hinüberzunehmen  und  den 
Vortrag  der  Werke  des  Plautus,  Vergilius,  Ovidius,  Seneca 
u.  s.  w.  durch  die  Aussprache  späterer  Jahrhunderte  zu 
verunstalten.  Wir  wissen ,  welche  Sorgfalt  die  römischen 
Redner  auf  die  Wahl  der  einzelnen  Wörter  und  Silben  ver- 
wendeten, und  wie  wenig  tragen  wir  dieser  Sorgfalt  Rech- 
nung, wie  sehr  müssen  wir  die  ursprüngliche  Klangfarbe 
verwischen,  wenn  wir  die  oft  in  einer  einzigen  Satzperiode 
dutzendmal  vorkommenden  Silben  ce  und  ci  consequent  ver- 
fälschen. Durch  die  fortwährende  Gewohnheit  haben  wir  es 
nun  allerdings  dahin  gebracht,  dass  unser  Ohr  nicht  mehr 
fühlt,  welch  unschöne  Wortformen  ihm  geboten  werden,  ja 
unserem  Zizero  zu  Liebe  nehmen  wir  sogar  die  griechische 
Form  Ktxeotov  mit  mitleidigem  Lächeln  auf,  während  wir 
doch  die  Stammsilbe  des  Wortes  Cicero,  das  lateinische 
cicer  unserer  eigenen  Sprache  mit  dem  &-Laute  als  $idjer= 
erbfe  einverleibt  haben.  Wie  befremdend  diese  ze-  und  zi- 
Laute  sind,  zeigen  uns  selbst  die  Knaben,  wenn  sie  anfangen 
Latein  zu  lernen.  Ich  habe  mir  in  dieser  Beziehung  manche 


A.  Spengcl:  Aussprache  des  Lateinischen.  237 

Vorkommnisse  notirt,  die,  so  unbedeutend  sie  an  sich  sein 
mögen,  für  mich  doch  ihren  Werth  besassen.  Als  ich  noch 
in  der  untersten  Klasse  der  lateinischen  Schule  Unterricht 
ertheilte,  wurde  ich  einmal  durch  die  Frage  eines  Schülers 
überrascht,  warum  man  denn  eigentlich  im  Genetiv  von 
lucus  luzi  sprechen  müsse,  da  man  doch  lukus  und  luJco  und 
luJcum  sage.  Die  Frage  war  klüger  als  die  Antwort,  die 
mich  die  Grammatik  ihm  zu  geben  zwang.  Es  lag  dieser 
Frage  das  richtige  Gefühl ,  der  Instinkt  möchte  ich  sagen, 
zu  Grunde,  dass  der  Stamm  eines  Wortes  durch  die  Endung 
nicht  alterirt  werden  solle.  Fügen  doch  die  romanischen 
Sprachen  trotz  mancher  Inconsequenz  meistentheils  für  das 
Auge  ein  eigenes  Zeichen  ein ,  damit  der  Endungsvokal  auf 
den  Stammvokal  keine  Wirkung  äussere.  Ein  anderer  Schüler 
conjugirte  trotz  der  auswendig  gelernten  Regel,  dass  c  vor 
e  und  i  wie  z  zu  sprechen  sei,  das  Verbum  cado  hartnäckig 
hado,  Jcelcidi,  Jcasum  und  es  bedurfte  längerer  Zeit,  bis  ich 
ihm  sein  richtiges  Jcehidi  aus  dem  Kopfe  gebracht  und  unser 
falsches  zezidi  an  die  Stelle  gesetzt  hatte. 

Dass  c  in  der  klassischen  Zeit  vor  e  und  i  den  näm- 
lichen Ä-Laut  hatte,  wie  vor  a}  o  und  u,  ist  durch  innere 
und  äussere  Gründe  über  jeden  Zweifel  erhaben.  Betrachten 
wir  die  Wortstämme  und  ihre  Ableitungen,  so  könnte  von 
Caput  nur  sinhiput,  von  cano  nur  tibiken  kommen,  von  porcus 
nur  porlcinus  und  porkellus,  von  lux  lukina,  von  castus  in- 
kestus,  von  avis  und  capio  avikeps,  auJceps,  zu  capto  und 
captum  gehört  als  Perfektum  Jcepi,  wie  umgekehrt  perJcello 
zu  perculi,  dokeo  zu  docui;  fac  und  die  sind  abgekürzte 
Formen  von  faJce  und  dike;  neben  einander  haben  bestanden 
und  konnten  bestehen  dieundum  und  diJcendum,  aber  nicht 
dizendum,  maneupium  und  manJcipium,  portieubus  und  porti- 
Icibus,  recupero  und  relcipero,  macresco  und  marlcesco ;  Gen- 
nabum  und  Cennabum  verhalten  sich  wie  Gaius  und  Caius, 
unterschieden    nur    durch    den    mehr   oder   minder  starken 

16* 


238      Sitzung  der  philos.-z>hüol.  Classe  vom  5.  Deceniber  1874. 

Gaumenlaut,  ein  Unterschied,  der  sogar  lange  Zeit  in  der 
Schrift  gar  nicht  ausgedrückt  wurde,  da  der  Buchstabe  c 
für  beides  gebraucht  wurde  und  erst  Sp.  Carvilius  im  sechsten 
Jahrhundert  der  Stadt  durch  Hinzufügung  eines  kleinen  Striches 
am  unteren  Ende  des  C  den  Buchstaben  G  einführte.  Und 
so  bestehen  neben  einander  ducenti,  sexcenti  und  quadrin- 
genti,  quingenti,  ja  in  demselben  Worte  vigesimus  und 
vicesimus.  In  der  älteren  Zeit,  als  die  Aspiration  der  Con- 
sonanten  noch  nicht  durchgedrungen,  schrieb  man  bracium, 
arcitectus  statt  brachium,  architectus,  und  wie  sollte  man 
jemals  brazium^  arcitectus  gesprochen  haben?  Als  die  Aspi- 
ration sich  in  vielen  Wörtern  zeitweise  festsetzte,  und  Corona, 
praeco  u.  a.  mit  aspirirtem  c  geschrieben  und  gesprochen 
wurden,  da  schrieb  und  sprach  man,  wie  wir  durch  Quinti- 
lianus  und  die  Inschriften  wissen,  auch  chenturio:  wäre  der 
Laut  zenturio  gewesen,  was  in  aller  Welt  soll  ein  aspirirtes 
z?  Viele  der  lateinischen  Wörter  mit  den  Silben  ce  und  ci 
sind  aus  dem  Griechischen  genommen,  wo  sie  xe  (oder  y.rj) 
und  y.1  lauteten,  und  wenn  die  Griechen  lateinische  Wörter 
in  ihrer  Sprache  geben,  drücken  sie  ce  und  ci  gleichfalls 
durch  x£  oder  xrj  und  xi  aus ,  z.  B.  censor  durch  ktjvocoq. 
Ferner  finden  wir  manchmal  auf  Inschriften  que  und  qui 
für  ce  und  ci  geschrieben,  vereinzelt  sogar  die  Schreibung 
mit  hj  wie  dehembres  uud  durch  den  Grammatiker  Scaurus 
(p.  2252,  43  P.)  erfahren  wir,  dass  noch  in  seiner  Zeit, 
der  Zeit  des  Kaisers  Hadrianus,  in  dem  Eigennamen  Caeso 
die  Schreibung  mit  K  üblich  war.  Nirgends  bei  den  latei- 
nischen Grammatikern  ist  die  geringste  Andeutung,  dass  c 
vor  e  und  i  einen  anderen  Laut  habe,  als  vor  a,  o  und  u, 
und  zahlreich  sind  die  Stellen,  an  denen,  wenn  dieser  Unter- 
schied bestanden  hätte,  eine  Erwähnung  desselben  nicht 
hätte  umgangen  werden  können.  Wenn  z.  B.  Velius  Longus 
(p.  2229,  28  P.)  erörtert,  ob  arcubus  oder  arcibus  für  die 
Aussprache   vorzuziehen   sei,    so  musste   er  doch,   wenn  in 


A.  Spengel:  Aussprache  des  Lateinischen.  239 

letzterem  Falle  der  Consonant  c  einen  anderen  Laut  erhielt, 
nothwendig  davon  sprechen  und  konnte  sich  nicht,  wie  er 
es  thut,  auf  die  Unterscheidung  von  u  und  i  beschränken. 
Die  von  den  lateinischen  Grammatikern  mehrfach  erörterte 
Frage,  ob  nicht  Je  aus  dem  lateinischen  Alphabet  ganz  aus- 
zuscheiden sei,  dem  andere  entgegenstellten,  man  solle  viel- 
mehr c  entfernen  und  überall  Je  schreiben,  ist  ein  deutlicher 
Beweis,  dass  Je  und  c  durchgängig  als  identisch  betrachtet 
wurde.  Ja  Quiutilianus  I,  7,  10  sagt  bei  einer  ähnlichen 
Gelegenheit  ausdrücklich :  cum  sit  c  littera  quae  ad  omnis 
uoealis  uim  suam  perferat,  ,,da  der  Buchstabe  c  auf  alle 
Vokale  seine  Kraft  übt,"  d.  h.  vor  allen  Vokalen  gleich 
gesprochen  wird.  Ein  evidenter  Beweis  ist  auch  aus  dem 
lateinischen  Drama  zu  entnehmen,  um  so  evidenter,  als  wir 
hier  nicht  todte  Schriftsprache,  sondern  lebendig  gesprochenes 
und  gehörtes  Wort  vor  uns  haben.  Was  uns  der  Reim,  war 
den  Dramatikern  die  Alliteration.  Nun  alliterirt  aber  c  ohne 
Unterschied,  ob  es  vor  e  und  i  oder  vor  a,  o  und  u  steht, 
z.  B.  Plaut.  Rud.  IV,  4,  38: 

Iubebo  uobis  eaenam  continuo  coqui 
und  V,  2,  32 : 

Praeter ea  sinus  epiehysis  cantJiarius  caulus  eyathus. 
Capt.  III,  4,   115: 

.  .  .  crispus  eincinnatus  conuenit. 
Mil.  226: 

JReperi  conminiscere  eedo  aalidum  Konsilium  cito. 
Trin.   1021: 

Trochus  Juit  Creconicus  Crinnus  Cerdobulus  Collabus. 

Auch  aus  der  Prosa  ist  ein  sehr  interessantes  Beispiel 
der  Alliteration  die  bei  Livius  X,  28,  16  erhaltene  Gebet- 
formel, mit  welcher  sich  P.  Decius  den  unterirdischen 
Göttern  weiht;  er  nehme,  sagt  Decius,  mit  sich  in  das  Grab 
formidinem  ac  iugam  eaedemque  ac  cruorem  eaelestium 
inferorum  iras. 


240       Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  5.  Deceniber  1874. 

Fragen  wir  uns  nun,  wie  sich  diese  Aussprache  des  c 
in  Deutschland  einbürgern  konnte,  so  dürfen  wir  sie  wohl, 
da  sie  in  Italien  Jahrhunderte  lang  nachweislich  existirte, 
auf  unmittelbaren  italienischen  Einfluss  zurückführen.  Wurde 
auch  das  Evangelium  und  mit  ihm  die  Kenntniss  der  lateini- 
schen Sprache  nicht  durch  Italiener  nach  Deutschland  gebracht, 
so  wissen  wir  doch,  dass  Karl  der  Grosse,  Otto  I.  u.  a.  italie- 
nische Gelehrte  nach  Deutschland  beriefen,  damit  durch  sie 
die  Kenntniss  des  Lateinischen  in  Deutschland  gefördert 
würde  2).  Diese  sprachen  und  lehrten  das  Latein  jedenfalls 
nach  ihrer  italienischen  Aussprache  ,  da  sich  in  Italien  die 
Aussprache  des  Lateinischen  immer  nach  der  jeweiligen  Aus- 
sprache des  Italienischen  zu  richten  pflegt ,  bei  der  nahen 
Verwandtschaft  der  beiden  Sprachen  eine  leicht  erklärliche 
Uebertragung.  Diese  sprachen  ohne  Zweifel  auch  g  vor  e 
und  i  nach  der  assibilirten  mittelalterlichen  und  neuitalie- 
nischen Art;  aber  wenn  diese  Aussprache  auch  in  Deutsch- 
land gebräuchlich  wurde,  musste  sie  bald  wieder  verschwin- 
den,  da  #,  ein  einheimischer  Consonant  der  deutschen 
Sprache,  von  selbst  seinen  deutschen  Klang  wieder  eroberte, 
während  das  todte,  undeutsche  c  den  verunstalteten  Laut 
beibehielt. 

Eine  weitere  Unsitte  ist  die  Aussprache  der  Silbe  ti  als 
zi  vor  Vokalen  im  Inlaute.  Aus  dem  Volksdialekte  entsprungen, 
wurde  dieselbe  im  fünften  Jahrhundert  nach  Christus  von 
den  lateinischen  Grammatikern  in  den  Schulen  Italiens 
gelehrt 3).  Eine  grosse  Zahl  von  Verwechselungen  der  Silbe 
ti  mit  zi  (und  ci)  auf  Inschriften  und  in  Handschriften  der 
späteren  Zeit  führen  uns  diese  Aussprache  vor  Augen,  z.  B. 
Terenzi  comoediae.     Heutzutage   hat  der  Italiener  in  seiner 


2)  s.    z.    B.    Wattenbach,     Deutschlands    Geschichtsquellen 
p.  204,  Du  ml  er,  gesta  Berengarii  p.  8. 

3)  s.  Brambach,  lat.  Orthographie,  p.  215  ff. 


A.  Spengel:  Aussprache  des  Lateinischen.  241 

Sprache  Terenzio,  Tizio  u.  a.  Während  aber  diese  spät- 
lateinischen  Grammatiker  ausdrücklich  dieselbe  Aussprache 
auch  für  di  vor  Vokalen  vorschreiben  und  die  Inschriften 
damit  stimmen,  wonach  wir  also,  wenn  wir  consequent  wären, 
auch  medüis  als  mezius,  sedia  als  sezia  sprechen  müssten, 
wahren  wir  der  Silbe  di  in  allen  Fällen  ihren  Ton  und 
sprechen  nur  ti  als  ei.  Die  Grammatiker  der  klassischen 
Zeit  und  der  ersten  Jahrhunderte  nach  Christus  wissen  von 
dieser  Fälschung  noch  nichts  und  für  uns  entsteht  die 
Pflicht,  die  Silbe  ti  in  allen  Fällen  so  zu  sprechen,  wie  sie 
geschrieben  wird. 

Die  Aussprache  des  lateinischen  seh  als  fdj,  z.  B.  schola, 
verräth  sofort  ihren  deutschen  Ursprung.  Mit  Hülfe  der 
modernen  Schulgrammatik  ist  dieser  Fehler  in  neuester  Zeit 
so  ziemlich  wieder  ausgetrieben ;  er  liegt  schon  durch  die 
Beiziehung  des  Griechischen  (z.  B.  a%oXrj)  zu  offen  zu  Tage, 
als  dass  es  sich  lohnen  würde  weiteres  darüber  zu  sprechen. 
Einer  Untersuchung  aber  bedarf  die  Aussprache  der  Aspirata 
ch)  ob  wir  derselben  mit  Recht  unseren  d)-Laut  substituiren. 
Zunächst  können  wir  nicht  leugnen ,  dass  wir  uns.  einer 
Inconsequenz  schuldig  machen ,  wenn  wir  von  den  drei 
Aspiraten  eh,  ph  und  th  in  den  beiden  ersten  den  Conso- 
nanteu  so  eng  mit  dem  h  verschmelzen ,  dass  ein  eigener, 
selbstständiger  Laut  (d)  und  pf))  daraus  entsteht,  dagegen 
bei  th  das  t  ungeändert  bestehen  lassen  und  demselben 
nur  entweder  den  Hauchton  nachsetzen  oder  letzteren  auch 
ganz  abwerfen,  z.  B.  Ghremes  und  trium^hus,  aber  Carthago. 
Bekanntlich  nahmen  die  Lateiner  die  griechischen  Aspiraten 
ursprünglich  nicht  iu  ihre  Sprache  auf,  sondern  schrieben 
c  für  %,  p  für  cp,  und  t  für  &,  z.  B.  Cremes,  triumjius, 
Kartago,  wie  uns  die  Inschriften  aus  der  Zeit  der  Republik 
und  zahlreiche  Zeugnisse  der  lateinischen  Grammatiker  dar- 
legen. Dass  sie  so  nicht  nur  schrieben ,  sondern  auch 
sprachen,   lehrt   am   besten   wieder  die  Alliteration,   indem 


242      Sitzung  der  pliilos.-phüol.  Gasse  vom  5.  December  1874. 

Wörter  wie  Chremes  ohne  Unterschied    mit  dem  nicht  aspi- 
rirten  c  alliteriren.     So  bei  Plautus  Asinaria  V,  2,  15: 

Chaeream,  Chaerestratuni, 

Cliniam,  Chremem,  Cratinum,  Diniam,  Demosthenem. 

Es  ist  dies  eine  der  Stellen,  in  denen  Alliteration  nicht 
nur  eintreten  kann,  sondern  eintreten  muss,  da  Plautus 
das  Gesetz  beobachtet,  wenn  bei  asynartetischer  Aufzählung 
einzelner  Nomina  zwischen  zweien  Alliteration  eingetreten 
ist,  dieselbe  bis  zum  Schluss  der  Aufzählung  beizubehalten, 
wenn  nicht  (wie  hier  bei  Diniam,  Demosthenem)  in  eine 
neue  Alliteration  übergegangen  wird.  Das  Wortspiel  in  den 
Bacchides  V.  362  zwischen  Criicisalus  und  Chrysalus  (Cru- 
sdlas)  beruht  auf  demselben  Grunde.  Ebenso  wird  Trinum- 
mus  915,  um  den  Namen  Charmides  zu  finden,  zuerst  auf 
Cdllias,  Callippus,  Callidemides  u.  a.  gerathen,  was  nur 
möglich  ist ,  wenn  auch  in  Charmides  die  erste  Silbe  rein 
ca  lautete.  Noch  Cicero  sprach  anfänglich,  wie  er  selbst 
im  Orator  48,  §  160  mittheilt,  die  nicht  aspirirten  Conso- 
nanten :  cloquebar  sie  ut  pulcros  Cetegos  triumyos  Karia- 
ginem  dicerem',  erst  später  bequemte  er  sich  der  neu  auf- 
kommenden Sitte  der  Aspiration.  Diese  verbreitete  sich 
rasch  und  Catullus  verspottet  einen  zu  enthusiastischen  Ver- 
ehrer der  neuen  Mode  in  seinem  vierundachtzigsten  Gedichte. 
Nach  und  nach  stellten  sich  bestimmte  Regeln  fest,  wiewohl 
in  manchen  Wörtern  aspirirte  und  nicht  aspiriite  Form  fast 
fortwährend  neben  einander  herlaufen  oder  die  lateinischen 
Grammatiker  über  das  nämliche  Wort  entgegengesetzte  Be- 
stimmungen treffen.  Aehnlich  ist  es  noch  heute  im  Italie- 
nischen. Das  Volk  setzt  nicht  selten  cä,  wo  die  Schrift- 
sprache c  verlangt.  Man  braucht  nur  die  Schildaufschriften 
an  den  Häusern  in  der  Umgegend  Roms  zu  lesen,  um  sich 
davon  zu  überzeugen,  z.  ß.  osteria  delV  chapanacce  (so)  an 
der  Strasse  von  Rom  nach  Tivoli.  Unser  deutscher  cÄ-Laut, 
(Jen  wir  übrigens  mit  Recht  von  Gf)riftu3  und  einigen  anderen 


A.  Spengel:  Aussprache  des  Lateinischen.  243 

Wörtern  fern  halten,  kann  au  und  für  sich  kein  Präjudiz 
für  die  Aussprache  des  lateinischen  ch  bilden,  zumal  der- 
selbe dem  Italiener  fremd  ist  und  gerade  in  den  Kehllauten 
die  grösste  Verschiedenheit  zwischen  den  einzelnen  Nationen 
herrscht.  Selbst  innerhalb  der  nämlichen  Sprache  weichen 
die  Dialekte  oft  bedeutend  von  einander  ab.  Man  denke 
z.  B.  in  Deutschland  den  Tiroler  oder  den  Schweizer  neben 
dem  Nordländer,  im  Italienischen  den  Florentiner  neben 
seinen  südlichen  und  nördlichen  Nachbaren,  im  Spanischen 
den  Castilier  neben  dem  Andalusier.  Wenn  also  in  der 
älteren  Zeit  bis  in's  letzte  Jahrhundert  v.  Chr.  überhaupt 
nur  c  geschrieben  und  gesprochen  wurde ,  dann  in  der 
Schrift  h  hinzugefügt  wird,  die  Grammatiker  aber  nirgends 
von  einem  dadurch  entstehenden ,  besonderen  Kehllaute, 
sondern  nur  von  c  und  A  sprechen ,  so  bleibt  uns  als  ein- 
ziger Anhaltspunkt,  ch  so  zu  sprechen,  wie  es  geschrieben 
ist,  zuerst  den  ß-Laut,  dann  das  h,  ganz  wie  wir  bei  th 
zuerst  das  t  sprechen  und  dann  das  h.  Interessant  ist  in 
dieser  Beziehung  das  bereits  erwähnte  Gedicht  des  Catullus; 
es  lautet : 

Chommoda  dicehat  si  quando  commoda  vellet 

Dicere  et  hinsidias  Arrius  insidias, 
Et  tum  7nirifice  sperabat  se  esse  locutum, 

Cum  quantum  poterat  dixerat  hinsidias. 

Wenn  wir  es  deutsch  geben  wollen  : 

Arrius    redet    gar    fein  ,     statt     commoda    chommoda 

spricht  er, 

Oder  statt  insidias  sagt  er  dir  hinsidias, 
Und  er  dünkt  sich  dabei  gar  wunderlieblich  zu  sprechen, 

Wenn  er,   soviel  er  nur  kann,  hinsidias  hat  gesagt. 

Catullus  stellt  also  hier  das  h  vor  vokalisch  anlautenden 
Wörtern  (hinsidias)  auf  gleiche  Linie  mit  dem  h  der  aspi- 
rjrtcn  Consonanten  (chommoda);  ebenso  verfahren  alle  latei- 


244      Sitzung  der  philos.-plitlöl.  Classe  vom  5.  December  1874. 

nischen  Grammatiker  und  mussten  so  verfahren ,  wenn  in 
beiden  Fällen  das  h  gleichmässig  gehört  wurde.  Die  Worte, 
welche  Priscianus  I  p.  11,  26  K.,  dort  in  Bezug  auf  conso- 
nantes  und  semivocales  sagt,  dürfen  wir  als  allgemeinen 
Grundsatz  der  Aspiration  im  Lateinischen  aufstellen :  Spiritus 
potestatem  literae  non  mutat. 

Als  praktische  Anleitung  für  die  richtige  Aussprache 
des  ch  brauchen  wir  nur  die  allgemeine  Benennung  der 
lateinischen  Grammatiker  zu  benutzen,  welche  diese  aspirirten 
Consonanten  mit  aspere  pronuntiare,  die  nicht  aspirirten  als 
levis  oder  siibtilis  pronuntiatio  bezeichnet.  Sprechen  wir 
das  c  möglichst  scharf  aus,  so  verbindet  sich  damit  das  h 
fast  von  selbst,  also  pulcher  =  pulk-her. 

Wie  in  ch  muss  auch  in  th  das  h  nach  dem  £-Laute 
deutlich  hörbar  gemacht  werden.  Noch  der  Grammatiker 
Consentius  (gramm.  lat.  V,  p.  392,  19  K.) ,  der  ungefähr 
im  fünften  Jahrhundert  nach  Chr.  lebte,  nennt  es  einen 
Barbarismus  :  siquis  Traciam  dicens  primain  subtiliter 
ecferat. 

Dasselbe  gilt  von  der  Aspirata  ph.  Denn  trotz  ihrer 
Verwandtschaft  mit  dem  lateinischen  /*,  welche  schon  von 
den  Alten  bemerkt  wird  und  die  auch  im  Spätlateinischen 
und  im  Italienischen  den  Uebergang  in  diesen  Buchstaben 
veranlasste,  sind  beide  Laute  doch  auch  wieder  verschieden. 
Während  /*,  wie  Quintilianus  XII,  10,  29  sagt,  inter  discri- 
mina  dentium  efflanda  est,  wird  ph  nach  der  ausdrücklichen 
Bemerkung  des  Priscianus  I,  p.  11,  12  K.  fixis  labris  ge- 
sprochen und  gerade  durch  dieses  fixis  labris  pronuntiatur 
der  Unterschied  des  ph  von  f  bestimmt.  Es  ist  dies  die 
einzige  Stelle,  in  welcher  uns  ein  Grammatiker  den  Laut 
des  ph  genau  beschreibt.  Unmöglich  kann  nun  hiemit  das 
Anlehnen  der  Unterlippe  an  die  obere  Reihe  der  Zähne 
gemeint  sein ,  wie  wir  heutzutage  f  sprechen ,  da  dies  ja 
gerade  das  Aufziehen  der  Oberlippe  und  schon  vor  der  Aus- 


A.  Spengel:  Aussprache  des  Lateinischen.  245 

spräche  des  Buchstaben  die  getrennte  Stellung  der  beiden 
Lippen  bedingt,  sondern  die  Mundstellung  fixis  labris  gehört, 
wie  sich  jedermann  leicht  überzeugen  kann,  nur  zur  Aus- 
sprache des  p  oder  b.  Wie  also  in  der  älteren  Zeit  bis 
Cicero  nur  triumpus  u.  dergl.  gesprochen  wurde,  so  bildete 
auch  später  und  noch  in  der  Zeit  des  Priscianus  der  jp-Laut 
die  Grundlage  und  den  Anfang  des  Tones.  Dem  scharf 
gesprochenen  p-Lsrnte  folgte,  sich  enge  anschliessend,  der 
Hauch  des  ä,  also  triump-hus. 

Theoretisch  sich  selbst  verurtheilend,  aber  in  der  Praxis 
immer  noch  nicht  ganz  ausgetrieben  ist  der  Germanismus, 
das  lateinische  v  wie  deutsches  f}  vinutn  wie  finum,  venio 
wie  fenio  zu  sprechen.  Hiedurch  benehmen  wir  uns  selbst 
die  Möglichkeit,  vinxi  von  finxi,  victus  von  fictus,  vicus  von 
ficus,  voveo  von  foveo  u.  a.  zu  unterscheiden.  Der  Lateiner 
hatte  für  u  und  v  nur  ein  Zeichen,  die  Grammatiker  unter- 
scheiden vokalisches  und  consonantisches  u.  Letzteres  war 
ähnlich  wie  in  der  englischen  Sprache  dem  Laute  des  voka- 
lischen u  sehr  nahe  und  deshalb  konnten  sich  die  Dichter 
erlauben,  gelegentlich  eines  für  das  andere  zu  gebrauchen, 
z.  B.  silva  in  das  dreisilbige  süua  aufzulösen.  Für  die 
Praxis  genügt  es  vollkommen,  unseren  deutschen  n)=Laut  zu 
verwenden ,  zumal  da  das  m  der  deutschen  Wörter  im 
Lateinischen  als  v  erscheint,  z.  B.   Vahalis  r=  SSktctt. 

Für  die  Aussprache  der  übrigen  Consonanten  dürfte 
nur  noch  das  schliessende  t  und  m  zu  beachten  sein.  Da  5 
in  kurzen  Schlusssilben  bei  Dramatikern  und  Epikern  oft 
ganz  abgeworfen  wird,  so  dass  z.  B.  dignu(s)  sit  am  Ende 
eines  iambischen  oder  trochäischen  Verses  einen  reinen 
Crcticus  bildet,  muss  es  in  diesem  Falle  sehr  schwach 
gelautet  haben  und  wir  müssen  uns  hüten,  in  kurzen  Schluss- 
silben ein  geschärftes  s  zu  sprechen.  Noch  schwächer  lau- 
tete m  am  Schlüsse  eines  Wortes,  indem  die  Poesie  der 
klassischen  Zeit   durchgehends   das   Gesetz    befolgt,    auf  m 


246     Sitzung  der  pliilos.-philol  Classe  vom  5.  December  1874. 

ausgehende  Schlusssilben  durch  ein  folgendes  vokalisch  an- 
lautendes Wort  ebenso  elidiren  zu  lassen,  wie  wenn  m  nicht 
vorhanden  wäre.  Beide  Eigentümlichkeiten  der  Aussprache 
hat  der  sicilische  Dialekt  erhalten,  welcher  unter  Abwertung 
dieser  schwach  lautenden  Schlussconsonanten  aus  vinum 
vinu,  aus  largus  largu,  aus  tempus  tempu  u.  dergl.  bildete. 

In  der  Aussprache  von  Doppelconsonanten  ist  es  deutsche 
Art,  mehr  den  vorhergehenden  Vokal  zu  schärfen,  als  dem 
Consonanten  selbst  an  Zeitdauer  zuzulegen  (z.  B.  innig), 
eine  Art,  welche  dem  Lateiner  ebenso  fremd  war,  als  sie 
es  dem  heutigen  Italiener  ist.  Wo  zwei  Consonanten  ge- 
schrieben sind,  werden  auch  zwei  gesprochen.  Der  Italiener 
sagt  an-no,  sum-mo,  bel-lo  u„  s.  w.  und  lässt  deutlich  den- 
selben Consonanten  zweimal  hören.  Aus  demselben  Grunde 
gibt  der  Lateiner  an  sich  kurzen  Vokalen  in  solchem  Falle 
wegen  der  doppelten  Zeitdauer  des  Consonanten  im  Vers- 
masse  die  Geltung  einer  Länge.  Wir  müssen  daher  nicht 
nur  in  Zusammensetzungen  wie  in-natus  den  Consonanten 
doppelt  sprechen,  sondern  auch  in  an-nns,  sum-mus,  fal-lo, 
vac-ca,  cur-rus,  pas-sus,  red-do  u.  s.  w. 

Von  den  deutschen  Vokalen  sind  zwei ,  welche  der 
Römer  mit  Entsetzen  in  seiner  Sprache  hören  würde,  die 
Diphtonge  ei  und  eu.  Der  Laut  ei  (z.  B.  in  bei)  ist  der 
deutschen  und  der  englischen  Sprache  eigentümlich,  auch 
in  diesen  nicht  ursprünglich ;  denn  erst  im  Neuhochdeutschen 
entstand  fein,  tetb  u.  dergl.  aus  sin,  lip  und  im  Englischen 
wurde  tvine,  fine  u.  dergl.  früher  mit  reinem  i  gesprochen. 
Von  den  meisten  lateinischen  Wörtern  haben  wir  nun  zwar 
ohnehin  den  Laut  ei  ausgeschlossen  und  sprechen  richtig 
eius,  rei  u.  a.,  aber  in  den  Interjektionen  ei  (z.  B.  ei  mihi), 
hei,  heia  und  auch  wohl  in  den  altertümlichen  Formen, 
wie  heic  =  hie,  sei  —  si,  in  der  Poesie  bei  zweisilbigem 
deinde  u.  a.  hört   man   vielfach  den  deutschen  Laut  ei  ver- 


A.  Spengel:  Aussprache  des  Lateinischen.  247 

wenden.  Die  Interjektionen  entstellen  wir  hiedurch  bis  zur 
Unkenntlichkeit,  während  es  gerade  bei  diesen  am  meisten 
auf  den  richtigen  Laut  des  Vokales  ankommt.  Eh,  die 
Interjektion  des  heutigen  Italieners,  der  nämliche  Laut  der 
Spanier  und  Portugiesen,  der  in  allen  möglichen  Situationen, 
auch  als  fragende  Interjektion  Verwendung  findet,  ist  nichts 
anderes  als  der  Vokal  der  lateinischen  Interjektionen  em, 
ehern,  eia,  das  italienische  eime  „wehe  mir"  (neben  oime) 
nichts  anderes  als  das  lateinische  ei  mihi.  Wir  müssen 
also  in  allen  Fällen  ei  wie  im  schwäbischen  Dialekt  als  e=i 
sprechen. 

Noch  abenteuerlicher  klingt  dem  Romanen  unser  deut- 
sches eu  (z.  B.  §eu),  sowohl  in  den  Interjektionen  heu,  eheu, 
als  in  den  aus  dem  Griechischen  stammenden  Wörtern  wie 
Eugraphius.  Dass  die  Interjektion  der  Klage  he-u,  ehe-u 
zu  sprechen  ist  und  dass  das  Klagende  gerade  in  dem 
w-Laute  liegt,  zeigt  die  Interjektion  der  Klage  in  der  italie- 
nischen Sprache,  uh.  Sämmtliche  romanische  Sprachen  — 
mit  Ausnahme  der  französischen,  die  natürlich  ausser  Be- 
rechnung bleiben  muss  —  haben  den  Diphtong  e-u,  ebenso 
klingend  wie  er  geschrieben  wird ,  e  und  u.  Wie  wir  reus 
sagen,  müssen  wir  auch  Eugraphius  sprechen.  So  werden 
die  nebeneinander  bestehenden  Formen  verständlich :  Theo- 
dosius  und  Theudosius,  Eugraphius  und  Eographius,  letz- 
teres z.  B.  im  codex  Basilicanus  des  Terentius.  Hieher 
gehören  auch  die  lateinischen  Wörter  neuter,  neutiquam, 
nentrubi  u.  a.,  in  welchen  das  Bewusstsein  ihrer  Zusammen- 
setzung aus  ne-uter  so  sehr  erhalten  blieb,  dass  die  Komiker 
wie  bei  zwei  selbstständigen  Wörtern  in  der  ersten  Silbe  ne 
Elision  des  Vokales  e  durch  das  folgende  uter  eintreten  lassen, 
so  dass  z.  B.  neutiquam  einen  Anapäst  bildet.  Ferner  die 
Conjunktion  neu,  also  ne-u  zu  sprechen,  welche  aus  neve  mit 
Uebergang  des  consonantischen  u  in  das  vokalische  ebenso 
entstand,  wie  aus  aviceps  auceps.     Von  allen  Germanismen, 


248     Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  5.  Decemoer  1874, 

mit  welchen  wir  die  Aussprache  des  Lateinischen  entstellen, 
ist  dieser  deutsche  Laut  eu  der  gröbste  und  hässlichste. 

Das  Gesetz  der  lateinischen  Betonung  gibt  uns 
Quintilianus  i.  o.  XK,  10  mit  den  Worten:  ultima  syllaba 
nee  acuta  umquam  excitatur  nee  flexa  circumducitur  sed  in 
gravem  vel  duas  graves  cadit  semper  (gravis  =  unbetont). 
Spätere  Grammatiker,  namentlich  Priscianus,  geben  von 
diesem  Gesetze  mehrere  Ausnahmsfälle  au.  Nach  ihnen 
betonen  die  Wörter  nostras,  Arpinas  u.  a.,  deren  Endsilbe 
aus  aus  zusammengezogen  ist,  die  Endsilbe,  ebenso  die 
Adverbia  Muc>  istuc,  Mac,  Mine  u.  a.  zum  Unterschied  von 
den  gleichlautenden  Casus  dieser  Pronomina;  pone  chintenJ 
und  ergo  cwegen'  sollen  sich  gleichfalls  durch  die  Betonung 
der  Endsilbe  von  dem  Imperativ  pone  und  ergo  cdaherJ 
unterscheiden  ;  nach  des  Priscianus  wiederholter  Versicherung 
hätten  quoeuni,  quacum,  quibuscum  den  Ton  auf  der  Endung 
gehabt.  Mehrfach  wird  uns  ferner  vorgeschrieben,  das  Ad- 
verbium docte  auf  der  zweiten  Silbe  zu  betonen  cdifferentiae 
causa',  damit  man  es  nicht  mit  dem  Vokativ  von  doctus 
verwechsele  und  solum  zum  Unterschiede  von  dem  Accusativ 
von  solits  und  raro  im  Gegensatz  zum  Dativ  von  rarus 
u.  a.  m.  Quintilianus  erzählt  uns  (I,  5,  25),  dass  es  schon 
zu  seiner  Zeit  Grammatiker  gab ,  welche  die  Präposition 
circum  durch  Accentuation  der  Endsilbe  von  dem  Accusativ 
von  circus  zu  unterscheiden  befahlen  und  das  fragende  quäle 
auf  der  ersten,  das  relative  auf  der  zweiten  Silbe  betonten. 
Werden  wir  nun  derartige  Vorschriften  in  unsere  Aussprache 
des  Lateinischen  aufnehmen?  Gewiss  nicht.  Denn  was  hat 
die  Phantasie  der  Grammatiker,  namentlich  der  späteren, 
innerhalb  ihrer  vier  Wände  nicht  alles  ausgeheckt  unter  dem 
Schutze  der  Zauberformel  differentiae  causa  ?  Gehen  sie  doch 
so  weit,  noch  einen  Unterschied  der  Bedeutung  auszuklügeln 
zwischen  arbor  und  arbos,  zwischen  vortex  und  vertex,  zwischen 


A.  Spengel:  Aussprache  des  Lateinischen.  249 

robur  und  robor ,   zwischen  exspecto  und  expecto,    zwischen 
adpareo  und  appareo. 

In  neuerer  Zeit  ist  die  Regel  des  Priscianus  u.  a.  über 
die  Betonung  bei  Zusammensetzung  mit  den  enklitischen 
Silben  que,  ve,  ne,  ce  vielfach  in  die  Aussprache  des  Latei- 
nischen übergegangen,  wenn  sie  auch  nicht  allgemeine  Billig- 
ung fand.  Hienach  werfen  diese  Enkliticä  den  Ton  auf  die 
ihnen  vorausgehende  Silbe,  belldque,  egöne,  Hieve,  illäce. 
Ferner  nehmen  Viele  die  Betonung  derselben  Grammatiker 
uträque,  plerdque  (als  Nominativ  des  Femininum  Sing.)  und 
ihre  Unterscheidung  zwischen  itaque  'daher*  und  itaque 
cund  so'  an,  wiewohl  man  in  der  praktischen  Durch- 
führung diese  Feinheit  oft  genug  mit  dem  groben  Fehler 
verbunden  hört,  dass  die  so  betonte  kurze  Silbe  zugleich 
als  Länge  gesprochen  wird.  Aber  die  Dramatiker,  von  denen 
man  doch  zunächst  Beachtung  einer  solchen  Regel  erwarten 
sollte ,  wissen  davon  nichts.  Wo  immer  itaque  in  der  Be- 
deutung cund  so5  vorkommt,  wird  es  ebenso  betont,  wie 
in  der  Bedeutung  c daher5,  z.  B.  Plaut.  Rud.  II,  3,  39: 
itaque  nos,  Gapt.  IV,  2,  98:  ita  me  amabit .  .  itaque  suo  me 
semper  condecoret  cognomine,  während  in  einem  der  plauti- 
nischen  argumenta,  die  aus  nachklassischer  Zeit  stammen 
(arg.  Cist.  10),  Itaque  lege  et  rite  civem  cognilam  mit  be- 
tonter und  zugleich  langer  Pränultima  steht ,  und  spätere 
Dichter,  wie  Ausonius,  Prudentius,  utraque  im  Nora.  sing. 
fem.  und  Piur.  neutr.  mit  langem  a  messen.  So  steht  auch 
immer  iibique(=  etubi)  Bacch.  69  übique  imponat,  Cas.  II,  3,38 
übique  educat,  Merc.  840  übique  id  eripiatur,  ferner  qudsique 
Amph.  II,  2,  52,  immer  egone  u.  dergl.  Wollten  wir  aber 
jener  Vorschrift  der  Grammatiker  folgen  mit  welchem  Rechte 
würden  wir  dann  andere  Bestimmungen  derselben  Gramma- 
tiker zurückweisen,  welche  z.  B.  auch  vorschreiben,  exinde, 
perinde,  siquando,  nequando,  aliquando  zu  betonen,  sie  bei 
Schwurformeln    tieftonig   zu  sprechen,    das   fragende  ut  zu 


250     Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  5.  Deceniber  1874. 

circumflektiren,  utinam  ganz  tieftonig  an  das  da  nebenstehen  de 
Wort  sich  anlehnen  zu  lassen  u.  a.  m.?  Ueber  manche 
Betonungen  sind  die  Grammatiker  mit  einander  selbst  im 
Widerspruch,  wie  nach  der  Notiz  des  Gellius  13,  15  über 
die  Genetive  Virgili,  Valeri  u.  a.  (ob  Virgili,  Vdlcri  oder 
Virgili,  Valeri).  So  lange  wir  nun  nicht  wissen,  wieviel 
von  diesen  Bestimmungen  der  Grammatiker  auf  alte  Zeit 
zurückgeht,  wieviel  nachklassischen  Ursprungs  ist  und  wieviel 
der  blossen  Phantasie  und  Unterscheidungssucht  der  Gram- 
matiker seine  Entstehung  verdankt ,  wird  es  sehr  gewagt 
bleiben ,  aus  dem  vielen  Vorhandenen  nur  diese  Regel  über 
die  Betonung  der  enklitischen  Wörter  und  zwei  oder  drei 
andere,  die  uns  gerade  zu  passen  scheinen,  auszuwählen  und 
in  Anwendung  zu  bringen.  Können  wir  doch  selbst  bei 
vielem ,  was  sicher  überliefert  ist ,  mit  unserem  Wortlaut 
nicht  nachkommen;  denn  wie  sollten  wir  je  hoffen  können, 
den  Unterschied,  dass  z.  B.  maiora  auf  der  vorletzten  Silbe 
circumflektirt,  maiores  dagegen  acuirt  wird,  in  unserer  Aus- 
sprache wiederzugeben  ?  Es  wird  sich  daher  empfehlen,  wie 
es  früher  in  Deutschland  allgemein  üblich  war,  zunächst 
die  Regel  des  Quintiliauus  in  ihrem  ganzen  Umfange  durch- 
zuführen,  dann  bei  den  mit  Encliticis  zusammengesetzten 
Wörtern  der  vorletzten  Silbe  nur  dann  den  Accent  zu  geben, 
wenn  dieselbe  entweder  von  Natur  lang  ist  wie  belloque  oder 
durch  Position  lang  wird  wie  magnusqae,  in  allen  übrigen 
Fällen  aber  den  ursprünglichen  Accent  des  Wortes  beizu- 
behalten, also  bellaque  uud  ebenso  äliaque,  nöminaque,  wie 
auch  im  Griechischen  durch  enklitische  Wörter,  wenn  die- 
selben gleich  unter  gewissen  Bedingungen  ihren  Ton  auf  die 
vorhergehende  Silbe  werfen ,  doch  die  Betonung  der  zweit- 
und  drittvorhergehenden  Silbe  in  keiner  Weise  verän- 
dert wird. 

Dagegen  fordert  ein  anderes  Gesetz,  das  wir  in  Deutsch- 
land nur  allzusehr  zu  vernachlässigen  pflegen,  die  genaueste 


A.  Stengel:  Aussprache  des  Lateinischen.  251 

Beachtung,  das  Gesetz  der  Quantität  der  Silben.  In 
der  lateinischen  Sprache  ist  in  der  klassischen  Zeit  der 
gebietende  Herrscher  die  Quantität,  dem  gegenüber  der 
Accent  nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielt.  Erst  bei  dem 
Verfall  des  Lateinischen  und  seinem  Uebergang  in  das  Ita- 
lienische wird  der  Accent,  wie  im  Deutschen,  allein  mass- 
gebend und  nun  entstehen  jene  lateinischen ,  gereimten  und 
ungereimten,  kirchlichen  und  weltlichen  Lieder,  welche  mit 
gänzlicher  Nichtachtung  der  Quantität  nur  nach  dem  Accente 
gebildet  sind  und  jede  Silbe,  die  den  Ton  trägt,  als  lang 
gebrauchen  —  gräulich  anzuhören  für  Jeden,  der  sein  Ohr 
in  der  Prosodie  der  klassischen  Zeit  geschult  hat.  Die  ganze 
klassische  Poesie  ist  auf  dem  Fundamente  der  Quantität 
aufgebaut,  die  epische  Poesie,  die  lyrische  und  vor  allem 
die  dramatische.  Thorheit  wäre  es  ja,  zu  behaupten,  die 
Dichter  hätten  sich  diese  Gesetze  der  Quantität  bloss  für  die 
Poesie  erfunden  und  nicht  aus  der  Aussprache  der  Prosa 
herübergenommen.  Ein  Volk,  das  einer  solchen  Künstelei 
fähig  wäre,  wäre  uufähig,  eine  Poesie  zu  schaffen  und  auch 
nicht  werth,  sie  zu  besitzen.  Namentlich  aber  auf  der 
Bühne,  hier,  wo  der  Dichter  in  lebendigen  Wechselverkehr 
mit  dem  Publikum  tritt,  kann  die  Aussprache,  wenn  sie  auch 
durch  den  Rhythmus  veredelt  wird ,  doch  im  Ganzen  und 
Grossen  nur  so  lauten,  wie  sie  in  Wirklichkeit  lautete. 
Denken  wir  uns  den  Fall,  die  Kenntniss  der  Aussprache  des 
Deutschen  ginge  gänzlich  verloren  und  man  wüsste  nur  den 
Klang  der  einzelnen  Buchstaben,  so  würde  man  die  Aus- 
sprache der  Wörter  am  sichersten  durch  die  gebundene  Rede 
der  dramatischen  Poesie  wiederfinden.  Nun  ist  aber  der 
grosse  Unterschied  der  lateinischen  und  der  deutschen  Aus- 
sprache der,  dass  im  Deutschen  Accent  und  Länge  der  Silben 
zusammenfällt  und  in  der  Regel  nur  eine  Silbe  eines 
Wortes  lang  gesprochen  wird,  im  Lateinischen  die  Quan- 
tität von  dem  Accent  völlig  unabhängig  bleibt.  So  gut  wir 
[1874,  II.Phil.hist.C1.2.]  17 


252      Sitzung  der  philos--philol.  Classe  vom  5.  December  1874. 

daher  Länge  oder  Kürze  der  vorletzten  Silbe  in  lateinischen 
Wörtern  genau  hören  lassen,  niuss  auch  jede  andere  Silbe 
deutlich  nach  Länge  oder  Kürze  ausgesprochen  werden  und 
langen  Vokalen  die  doppelte  Zeitdauer  der  kurzen  gegeben 
werden.  Aus  diesem  Grunde  schrieb  Accius  die  langen 
Vokale  nach  dem  Vorbilde  der  oscischen  Schrift  mit  dop- 
pelten Buchstaben.  Eine  grosse  Anzahl  lateinischer  Wörter 
unterscheidet  sich  durch  die  Quantität  der  Vokale,  die  in 
der  Prosa  ebenso  vernehmlich  sein  musste,  wie  in  der  Poesie, 
z.  B.  quoque  (auch)  und  quöque  (von  quisque)-,  mälo  (von 
malle)  und  mälo  (von  malus),  mänet  (von  manere)  und  mänet 
(Conj.  von  manare),  populus  (Volk)  und  pöpulus  (Pappel) 
u.  s.  f.  Die  Quantitätslehre  sollte  mit  dem  ersten  Unter- 
richt des  Lateinischen  verbunden  werden,  in  Schulgram  ma- 
tiken  und  Uebungsbüchern  jedes  neu  vorkommende  Wort 
nach  Länge  oder  Kürze  der  Silben  bezeichnet  sein,  sie  sollte 
in  der  ganzen  Lektüre  der  Prosa  die  strengste  Beachtung 
finden,  nicht  erst,  nachdem  die  Knaben  drei  oder  vier  Jahre 
Latein  gelernt  und  alle  lateinischen  Wörter  deutsch  aus- 
gesprochen haben,  vor  den  erstaunten  Gesichtern  der  Schüler 
docirt  werden.  Dann  würde  jeder  Abiturient  des  Gymnasiums 
eine  feste,  weil  praktisch  geübte  Kenntniss  der  Prosodie  mit- 
bringen ,  und  kühn  darf  man  behaupten ,  er  würde  die  Er- 
zeugnisse der  lateinischen  Poesie  mit  doppeltem  Genüsse  lesen, 
weil  er  erst  dann  die  formale  Schönheit  dieser  Werke  ganz 
zu  würdigen  verstände.  Die  Lösung  dieses  Problems  ist 
leicht.  Man  gewöhne  sich  nur  in  jeder  von  Natur  langen 
Silbe  den  Vokal  durch  ein  deutsches  h  gedehnt  zu  denken, 
also  z.  B.  os,  oris  ==  ohs,  ohris,  in  Silben,  die  durch  Position 
lang  werden,  die  beiden  Consonanten  nach  dem  Vorbilde  der 
italienischen  Sprache  getrennt  zu  sprechen,  z.  B.  il-le,  und 
jedem  kurzen  Vokale,  auch  wenn  er  den  Accent  hat,  nur 
die  halbe  Zeitdauer  des  langen  zu  geben,  sodass  sich  die 
Vokale  in  mälo  und  mälo  ähnlich  zu  einander  verhalten,  wie 


A.  SpengeJ:  Aussprache  des  Lateinischen.  253 

in  fallen  und  fahren.  Unsere  gegenwärtige  weitverbreitete 
Unsitte,  nach  welcher  wir  z.  B.  in  Bomanus  die  erste  Silbe 
kurz  sprechen,  weil  die  zweite  lang  ist  und  den  Ton  hat, 
oder  in  cado  die  erste  Silbe  dehnen ,  weil  sie  den  Accent 
besitzt,  steht  auf  dem  barbarischen  Standpunkte  der  Afrikaner. 
Der  Grammatiker  Consentius  brandmarkt  diese  Unsitte  mit 
den  Worten  *(gr.  lat.  V,  p.  392,  3  K.) :  barbarismus  fit  .  .  ut 
quidam  dicunt  plp er  producta  prior e  syllaba,  cum  sit  brems, 
quod  vitium  Afrorum  familiäre  est  und  weiter  unten  p.  392, 
11:  ut  siquis  dicat  brätor  correpta  priore  syllaba,  quod 
ipsum  vitium  Afrorum  speciale  est.  Erst  wenn  wir  in  der 
Aussprache  den  Gesetzen  der  Prosodie  im  vollsten  Umfange 
Rechnung  tragen,  können  wir  uns  das  Zeugniss  geben,  dass 
wir  den  Standpunkt  der  Barbaren  verlassen  haben  und  das 
Lateinische  auch  wirklich  lateinisch  sprechen. 


254  Einsendungen  von  Druckschriften. 


Yerzeiclmiss  der  eingelaufenen  Büchergeschenke. 


Vom  legi,  sächsischen  Alterthumsverein  in  Dresden: 
Mitteilungen.  Heft  24.  1874.  8. 

Von  der  oberlausitzischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Görlitz: 
Neues  Lausitzisches  Magazin.  Bd.  50.  1873.  8. 

Von  der  Je.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin: 

a)  Abhandlungen  aus  dem  Jahre  1873.  4. 

b)  Verzeichniss  der  Bibliothek  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Berlin.  1874.  8. 

Von  der  deutschen  morgenländischen  Gesellschaft  in  Leipzig: 
Zeitschrift.  Bd.  28    1874.  8. 

Von  der  Universität  in  Kid: 
Schriften.  Bd.  XX.  Jahrg.  1873.  4. 

Von  der  legi  ungarischen  Akademie  der  Wissenschaften  in  Pest: 

a)  Archaeologiai  Közlemenyek.  Bd.  IX.  1873.  gr.  4. 

b)  A.  M.  T.  Akademia  Evkönyvei.  Bd.  XIV.  1872-73.  4. 

c)  Magyarorszägi  regeszeti  emlekek.  Bd.  II    1873.  4. 

d)  Monumenta  Hungariae  historica.  Scriptores  XXIV.  1873.  8. 

e)  Török-Magyarkori  Förtenelmi  Emlekek.  Diplomataria  Vol.  VIII. 
1872.  8. 

f)  Archivum  Räkoczianum.  I  Osztäly.  I.  Kötet.  1873.  8, 

g)  Almanach  1872.  8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  255 

Von  der  Ferd.  Dümmler's  Verlagsbuchhandlung  in  Berlin: 

Inhaltsverzeichniss  der  Abhandlungen   der  k.  Akademie  der  Wissen- 
schaften zu  Berlin  1822—1872.  8. 

Vom  k.  k.  StaatS'Gymnasium  in  Salzburg: 
24.  Programm.  1874.  8. 

Von  der  Stadtbibliothek  in  Triest: 

Catalogo    delle   opere   di  Francesco   Petrarca  esistenti  nella  Petrar- 
chesca  Rossettiana  di  Trieste,  per  opera  di  Attilio  Hortis.  1874.  4. 

Vom  historischen    Verein  von  und  für  Oberbayern  zu  München: 
Oberbayerisches  Archiv.  Bd.  XXXIII.  1873.  8. 

Von  der  kgl.  böhmischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Prag: 
Ptegesta  diplomatica  Bohemiae  et  Moraviae.  Pars  II.  1872—74.  4. 

Vom  Harzverein  für  Geschichte  und  Alterthumskunde  in  Wernigerode : 

a)  Zeitschrift.  Jahrg.  VII.  1874.  8. 

b)  Die  Urkunden   des   Klosters  Stötterlingenburg ,   bearbeitet  von 
C.  v.  Schmidt-Phiseldeck.  Halle  1874.  8. 

Von  der  Philomathie  in  Neisse: 
18.  Bericht  vom  April  1872  bis  Mai  1874.  8. 

Vom  akademischen  Leseverein  in  Zürich: 
5.  Jahresbericht  1873/74.  8. 

Vom  historischen  Verein  der  Pfalz  in  Speier: 
Mittheilungen  IV.  1874.  8. 

Vom  Museum  Francisco-Carolinum  in  Linz: 
32.  Bericht.  1874.  8. 

Von  der  schlesischen  Gesellschaft  für  vaterländische  Cultur  zu  Breslau: 

a)  51.  Jahresbericht.  (1873.)  1874.  8. 

b)  Abhandlungen.  Philosophisch-historische  Abtheilung  1873/74.  8, 


256  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Von  der  allgemeinen  geschichtforschenden  Gesellschaft  zu  Bern: 
Archiv  für  schweizerische  Geschichte.  Bd.  XIX.  Zürich  1874.  8. 

Vom  Instituto  di  corrispondenza  archeölogica  in  Born: 

a)  Annali.  Vol.  45.  1873.  8. 

b)  Bulletino.  Anno  1873.  8. 

c)  Monumenti.  Tom  IX.  1873.  Fol. 

Von  der  Boyal  Society  in  Edinburgh: 

a)  Transactions.  Vol.  XXVII.  1872-73.  4. 

b)  Proceedings.  Session  1872—73.  8. 

Vom  Peabody  Institute  in  Baltimore: 
VIItb   annual  Report,  read  June  1874.  8. 

Von  der  American  Academy  of  Arts  and  Sciences  in  Boston: 
The  complete  Works  of  Count  Rumford.  Vol.  II.  III.  1873—74.  8. 

Vom  Harvard  College  in  Cambridge,  Mass: 

a)  37th  annual  Report  of  the  Board  of  Education  1872—73.  Boston  8. 

b)  10th  annual  Report  of  the  Board    of  State  Charities   of  Massa- 
chusetts. Eoston  1874.  8. 

c)  The  Harvard  University  Catalogue  1873—74.  8. 

d)  Annual  Reports    of    the  President    and   Treasurer    of  Harvard 
College  1872-73.  8. 

e)  Report  of  the  Committee  of  the  Board  of  Overseers  to  visit  the 
College  for  the  year  1872—73. 

Von  der  Haagschen  Genootschap  tot  verdediging  van  den  christelijJcen 
godsdienst  in  Leiden: 

Werken.  V.  Reeks.  1874.  8. 

Von  der  südslawischen  Akademie  der  Wissenschaften  in  Agram: 

a)  Rad.  Bd.  27.  3874.  8. 

b)  Rad.  Bd.  28.  1874.  8. 

c)  Monumenta  spectantia  historiam  Slavorum  meridionalium.  Vol. 
IV.  1874.  8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  2£7 

Von  der  Universität  in  Lund: 

a)  Acta  Universitatis  Lundensis.  1871  und  1872.  4. 

b)  UniversitetS'Biblioteks  Accessionskatalog.  1872.  1873.  8. 

Von  der  Societe  d' Emulation  du  Doubs  in  Besancon: 
Memoires.  IVe-  Serie.  Vol.  VII.  1872.  8. 

Von  der  kaiserh  Universität  zu  Kasan: 
Iswestija.  1874.  8. 

Von  der  kgl.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Kopenhagen: 
Oversigt.  1874.  8. 

Von  der  Commission  Imperiale  Archeologique  in  St.  Petersburg: 
Compte-rendu  pour  les  annees  1870  et  1871.  4. 

Von  der  Universität  in  Upsala: 

Arsskrift  1873.  8. 

Von  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Turin: 
Atti.  Vol.  IX.  1873-74.  8. 

Von  der  Literary  and  philosophical  Society  in  Manchester: 

a)  Memoirs.  III.  Serie.  Vol.  4.  London  1871.  8. 

b)  Proceedings.  Vol.  8—12.  Session  1868—73.  8. 

Vom  k.  Instituut  voor  de  Taal-,  Land-  en  Volkenkundc  van  Ned. 
Indie  zu  Gravenhage: 

a)  Bijdragen  tot  de  Taal-,  Land-  en  Volkenkunde  van  Nederlandsch 
Indie.  Deel  IX.  1874.  8. 

b)  Babad  tanah   djawi,  in  Proza,  Javaansche  Geschiedenis,   uitg. 
door  J.  J.  Meinsma.  I.  Stuk:  Tekst.  1874.  8. 

Vom  historischen   Verein  der  fünf  Orte  Luzern,  Uri,  Schwyz,  Unter- 
walden  und  Zug  in  Luzern: 

Der  Gesebichtsfreund    Mittbeilur.gen.  XX!X.  Band.  Einsicdeln  1&74, 8 


258  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Von  der  Accademia  delle  scienze  delV  Istituto  in  Bologna : 

a)  Memorie.  Serie  III.  Tom.  IV.  1873—74.  4. 

b)  Rendiconto  1873—1874.  8. 

Von  der  B.  Accademia  di  scienze,  lettere  ed  arti  in  Modena: 
Memorie.  Tom.  XII-XIV.  1871—1874.  4. 

Von  der  Societe  provincüde  des  arts  et  sciences  in  Utrecht: 

a)  Verslag.  Gehouden  24.  Juni  1873.  8. 

b)  Aanteekeningen.    Ter   gelegenheid   van  de  honderste  algemeene 
Vergadering  gehouden  in  het  jaar  1873.  8. 

c)  Geschiedenis  der  Noordsche  Compaguie  door  Mr.  S.  Müller.  1874  8- 

d)  De  vita  et  scriptis  Petri  Wesselingii.  Scripsit  J.  C.  G.  Boot.  1874.  8 

Von  der  Accademia  delle  scienze  in  Modena-, 
Della  istituzione  del  giuri  in  Italia,  per  Andrea  Galassi.  1873.  8. 


Vom  Herrn  Matthias  Lexer  in  Würzburg: 
Mittelhochdeutsches  Wörterbuch.  Lief.  10.  Leipzig  1874.  8. 

Vom  Herrn  Eduard  Löwenthal  in  Berlin: 
Grundzüge  zur  Reform  und  Codification  des  Völkerrechts.  1874.  8. 

Vom  Herrn  A.  Luber  in  Salzburg: 
Neugriechische  Volkslieder.  1874.  8. 

Vom  Herrn  Attilio  Hortis  in  Triest: 
Scritti  inediti  di  Francesco  Petrarca.  1874.  8. 

Vom  Herrn  Karl  von  Weber  in  Leipzig: 
Archiv  für  die  sächsische  Geschichte.  Neue  Folge.  Bd.  I.  1874.  8. 

Vom  Herrn  H.  Köchly  in  Heidelberg: 
Gottfried  Hermann.  1874.  8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  259 

Vom  Herrn  Eduard  Winkelmann  in  Heidelberg: 

Des  Magisters  Petrus   de  Ebulo  über  ad  honorem  Augusti.  Leipzig 

1874.  8.. 

Vom  Herrn  F.  Bohde  in  Dresden: 
Zwei  Bücher  Oden.  1874.  8. 

Vom  Herrn  N.   Wecklein  in  Bamberg: 
Studien  zu  Euripides.  Leipzig  1874.  8. 

Vom  Herrn  Manuel  Bodriguez  de  Berlanga  in  Malaga: 

a)  Los  Bronces  de  Osuna.  1873.  4. 
bj     ,,  „         „         „       1874.  8. 

Vom  Herrn  Salvatore  Casa  in  Palermo: 
I  Diplomi  greci  ed  arabi  di  Sicilia.  Vol.  I.  1868.  4. 

Vom  Herrn  Konrad  Maurer  in  München: 

Island  von  seiner  ersten  Entdeckung  bis  zum  Untergange  des  Frei- 
staates. 1874.  8. 

Von  den  Herren  M.  Haug  und  E.   W.  West  in  München: 

Glossary  and  Index  of  thePahlavi  text  of  the  bock  ofArdaViraf  etc. 
revised  by  M.  Haug.  London  und  Bombay  1874.  8. 

Vom  Herrn  W.  Christ  in  München: 
Metrik  der  Griechen  und  Römer.  Leipzig  1874.  8. 

Vom  Herrn  G.  D.  Teutsch  in  Hermannstadt: 

Geschichte  der  Siebenbürger  Sachsen  für  das  sächsische  Volk.  I.  Bd. 
Leipzig  1874.  S. 

Vom  Herrn  Constantin  Edler  von  Böhm  in  Wien: 

Die  Handschriften   des  kaiserl,   und  königl.  Haus-,  Hof-  und  Staats- 
Archives.  1873.  Mit  Supplement  1874.  8. 

Vom  Herrn  Moriz  Heyne  in  Basel: 
Ueber  die  mittelalterliche  Sammlung  zu  Basel.  1874.  4. 


260  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Vom  Herrn  Stephan  Buszezynski  in  KraMu: 

Statistisch   ethnographische    Tafel    der   europäischen  Länder.    Posen 
1874.  gr.  Fol. 

Vom  Herrn  Anton  Schönbach  in  Graz: 

Ueber  die  Marienklagen.  Ein  Beitrag   zur  Geschichte  der  geistlichen 
Dichtung  in  Deutschland.  1874.  4. 

Vom  Herrn  Wilhelm  Preger  in  München: 

a)  Geschichte  der  deutschen  Mystik  im  Mittelalter.  I.  Tbl.  Ge- 
schichte der  deutschen  Mystik  bis  zum  Tode  Meister  Eckhart's. 
Leipzig  1874.  8. 

b)  Lehrbuch  der  bairischen  Geschichte.  Erlangen  1875.  8. 

Vom  Herrn  Alfred  von  Beumont  in  Bonn: 

Dei    tre   prelati    Ungheresi  menzionati  da   Vespasiano   da    Bisticci. 
Firenze  1874.  8. 

Vom  Herrn  M.  J.  Boulez  in  Brüssel: 

Sur  la  carriere  administrative,  et  militaire  d'  un  legat,  propreteur  de 
la  Germanie  inferieure.  1874.  8. 

Vom  Herrn  Girolamo  Calassini  in  Modena: 
La  Libertä  Politica.  1872.  8. 


Sach-Kegister. 


Annalen  handschriftliche  der  Jesuiten  155. 
Aussprache  des  Lateinischen  234. 

Bruschius  Casp.,  ein  Autographon  des  1. 
Bündt-Ertzney  Heinrich's  von  Pfolspeundt  228. 

Homerische  Frage  die  185. 
Jesuiten,  Annalen  der  155. 
Kisä'i  Lieder  des  133. 

Lateinisch,  Aussprache  desselben  234. 
Liederdichtung  der  Widertäufer  233 

Parthenon  die  Bildwerke  des  3. 
Pfolspeundt  Heinrich  von  228. 

Radowin  über  den  Roncalischen  Reichstag  154. 
Roncalischer  Reichstag  154. 

Sothisperiode  die  66. 

Theseion  die  Bildwerke  des  51. 
Tristan-Fragmente  altfranzösische  154. 
Trojanische  Ebene  Topographie  der  185. 

Vedas  Interpretation  der  154. 

Widertäufer  Liederdichtung  der  233. 


Namen-Kegister, 


Brunn  3. 


Christ  185. 


Ethe  133. 


v.  Giesebrecht  154. 


Häser  228. 
v.  Halm  1. 
Haug  154. 
Hof  mann  154. 


Lauth  66. 

v.  Liliencron  233. 

v.  Löher  155. 


Muffat  228. 


Spengel  Andr.  234. 


CIRCULATE  AS  MONOGRAPH 


AS  Akademie  der  Wissenschaften, 

182  Munich.  Philo sophisch- 

MB23  Historische  Abteilung 
1874.       Sitzungsberichte 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 
CIRCULATE  AS