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Sitzungsberichte
der
philosophisch -philologischen und
historischen Classe
der
k. b. Akademie der Wissenschaften
zu ]\£ünchen.
IV. Band I. Jahrgang 1874.
München.
Akademische Buchdruckeroi von F. Straub.
1874.
In Commission bei G. Frans.
As
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Sitzungsberichte
der
philosophisch -philologischen und
historischen Classe
der
k. b. Akademie der Wissenschaften
zu jNJlünchen.
1874. Heft I.
München.
Akademische Buehdruckerei von F. Straub.
1874.
In ComiT:ission bei G Franz.
Uebersicht des Inhaltes.
Die mit * bezeichneten Vorträge sind ohne Auszug.
ßeffentliche Sitzung zur Feier des 115. Stiftungstages der
Akademie am 28. März.
Seite
y. Döllinger 161
v. Prantl: Nekrologe 161
▼. Giesebrecht: Nekrologe 179
Oeffentliche Sitzung zur Vorfeier des Geburts- und Namens-
festes Seiner Majestät des Königs Ludwig IL am 25. Juli.
Neuwahlen . . . . 523
Philosophisch-philologische Classe.
Sitzung vom 3. Januar.
IMaurer: Die Schuldknechtschaft nach altnordischem Rechte 1
Sitzung vom 7. Februar.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I und des
Augustus 56
Sitzung vom 7. März.
Bursian: Die Antikensammlung Raimund Fuggers nebst
einem Excurs über einige andere in der Inschriften-
sammlung von Apianus und Amantius abgebil-
dete antike Bildwerke . 133
Ohlenschlager: Das römische Militärdiplom von Regensburg 193
Mordtmann: Zur vergleichenden Geographie Persiens . . 231
"♦Christ: Die Parakataloge in den griechischen und römi-
schen Dramen 262
IV
Sitzung vom 2. Mai.
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon, ein Beitrag zur Topo-
graphie des alten Athen 26£-
Sitzung vom 6. Juni.
Plath: Die fremden barbarischen Stämme im alten China . 450'
Historische Classe.
Sitzung vom 3 Januar.
Friedrich: Der Jesuit P. Keller als der wahre Verfasser der _
unter dem Namen Herwart 1618 in München
erschienenen Schrift: Ludovicus IV Imperator
defensus 48>
*v. Lilieucron: Ueber die Gegenstände der öffentlichen Mein-
ung in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts 55-
Sitzung vom 7. Februar.
*Kluckhohn: Beiträge zur Geschichte des bayerischen
Schulwesens 130
*Rockinger: Ueber eine Handschrift deutscher Rechtsbriefe
in Münster 130
Sitzung vom 7. März
Friedrich: Ueber die Zeit der Abfassung des Tit. I. 10 der
Lex Baiuwariorum 352:
Sitzung vom 2. Mai.
Würdinger: Friedrich von Lochen, Landeshauptmann in
der Mark Brandenburg 373
Rockinger: Gelegentliche Bemerkungen zu den Hand-
schriften des kleinen Kaiserrechtes, insbeson-
dere über eine Rechtsbücherhandschrift in
Münster vermeintlich v. J. 1449 417
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch - philologische Classe.
Sitzung vom 3. Januar 1874.
Herr Maurer trägt vor:
„Die Schuldknechtschaft nach altnordischem
Rechte".
Was ich über die nordische Schuldknechtschaft gelegentlich
gesammelt und gearbeitet hatte eben jetzt nochmals durch-
zusehen und abzuschliessen , bestimmte mich der Zuspruch
eines werthen Freundes, des Professors Aloys von Brinz an
unserer Universität. Studien über das römische nexum hatten
diesem die Frage nahe gelegt, was etwa andere Rechte an
änlichen Erscheinungen enthalten möchten, und meine Mit-
theilungen über die einschlägigen Satzungen der nordgerma-
nischen Rechtsbücher schienen ihm hinreichend bedeutsame
Vergleichungspunkte zu ergeben, um ihm eine einlässliche
Darstellung der altnordischen Schuldknechtschaft wünschens-
werth erscheinen zu lassen. Je seltener nun unter unseren
Juristen jener freiere wissenschaftliche Blick ist, welcher dazu
gehört, um unbehindert durch die bisherigen Schulgewohn-
heiten aus neuen Methoden der Forschung und soeben erst
erschlossenen Gebieten derselben Nutzen ziehen zu können,
um so weniger glaubte ich mich der Aufforderung unseres
[1874,1. Phil. bist. CL] 1
2 Sitzung der philos.-philol Classe vom 3. Januar 1874,
Pandektisten entziehen zu dürfen, und ich gebe demnach hier
eine Zusammenstellung der massgebenden Vorschriften der
altnordischen Rechte über den Gegenstand, sammt einer
möglichst knappen Erörterung der ihnen zu Grunde liegenden
Gesichtspunkte. Jeder Vergleichung mit dem römischen nexum
habe ich mich absichtlich enthalten, um den nordischen
Rechtsstoff durch jede Nebenrücksicht unbehindert in mög-
lichster Reinheit vorzuführen. Aber auch das ältere schwe-
dische und dänische Recht habe ich von meiner Betrachtung
ausschliessen zu sollen geglaubt, weil beide meines Erachtens
nur sehr schwache und unsichere Spuren der Schuldknecht-
schaft zeigen, und ich beschränke diese somit auf diejenigen
Rechte, in welchen allein das Institut als ein vollkommen
geschlossenes auftritt, also auf die altnordischen Rechte im
engeren Sinne des Wortes, d. h. die norwegischen Provincial-
rechte und das isländische Recht.
I. Die norwegischen Rechte1).
Für die Person , welche der Schuldknechtschaft unter-
liegt, brauchen die norwegischen Rechte je nach der Ver-
schiedenheit ihres Geschlechts als technische Bezeichnung die
Ausdrücke skuldarmaSr oder skuldarkona, d. h. Schuld-
mann, Schuld weib; man sagt auch wohl von dem Schuld-
knechte, er sei fastr fyrir aura, d* h. fest für eine Geld-
1) Vgl. A. Gj es sing, Trseldom i Norge, S. 251—55, in den
Annaler for nordisk Oldkyndighed, 1862; R. Keys er, Norges Stats-
og Retsforfatning i Middelalderen, S. 356—59; Fr. Brandt, Trsel-
lenes retsstilling efter Norges gamle Love, S. 199 — 201, in der Historisk
Tidsskrift, I; K. von Amira, das altnorwegische Vollstreckungs-
verfahren, S. 228—29, und 262—66. Auf ältere Verfasser, welche
auf die Schuldknechtschaft nur ganz gelegentlich bei Besprechung
der Sklaverei einen Blick werfen, ohne sie von dieser gehörig zu
scheiden, wie z.B. Matth. Calonius, de prisco in patria servorum
jure (1780—93, dann 1819, und in dessen Opera omnia, I, S. 129 —
344, 1829), oder Estrup, Om Trseldom i Norden (1823), glaube ich
nicht weiter eingehen zu sollen.
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Hechte» 3
summe8); den Gegensatz aber zum Schuldknechte bildet
derjenige, welcher skuldlauss, d. h. frei von Schulden
ist3). Für die Ergebung in die Schuldknechtschaft gilt der
Ausdruck gefask i skuld, d. h. sich in Schuld geben, und
für die, unter Umständen erlaubte, Hingabe eines Andern in
dieselbe der Ausdruck gefa mann i skuld, d. h. Einen
in Schuld geben; umgekehrt sagt man von dem Gläubiger
taka i skuld oder taka skuldarmann, d. h. Einen in
Schuld nemen oder Einen als Schuldknecht annemen. Ueber
die rechtliche Gestaltung des Institutes aber giebt haupt-
sächlich ein ihm eigens gewidmeter §. der Gulafcingslög Auf-
schluss4), von welchem ebendarum hier auszugehen ist.
Hinsichtlich der Begründung der Schuldknecht-
schaft bestimmt diese Stelle5), dass solche stets am Ding
erfolgen müsse, oder, wenn es sich um die Kinder eines
Freigelassenen handle, doch wenigstens in einer beliebigen
anderen Versammlung. Dabei musste derjenige, welcher sich
in die Schuldknechtschaft begeben wollte, sich stets vorerst
seinen eigenen Verwandten anbieten, unter welchen dann
wider der Nächstgeborene das Vorzugsrecht hatte, und nur
für den Fall, dass kein Verwandter zugreifen wollte, durfte
Jener selbst den Mann wählen, dessen Schuldknecht er werden
wollte; wenigstens sehe ich keinen Grund ab, der mich be-
2) Gl>L. §. 71: fä J>ä aura, er hann er fastr; — ■ at aurum eigi
meirum, en hann var fastr.
3) ebenda, §.61: nü ef hann gefr (frelsi) skattalaust okskulda;
— foeddr upp sidfan skuldlaus; §. 66: ganga skuldlaust i braut;
§. 71 : en jamndyrr skal hann J»a at rette sem hann vaere skuldlaus.
4) ebenda, §.71; das in Norges gamle Love, I, S. 115 — 17 ge-
druckte Fragment einer weiteren Hs. bietet keinerlei beachtenswerthe
Varianten.
5) A Jingi skal skuldarmann taka, at bjoäask fraandum fyrst; sä
er nsestr er nanastr er, ef hann vill hafa, ed*a sä ellar, er hann vill
heizt selja. Engi ma kono svä taka i skuld, nema hafe frsenda rad"
vid". Leysings börn mä taka i fjölda hverjum er vill.
1*
4 Sitximg der phüos.-phüöl. Gasse vom 3. Januar 1874.
stimmen könnte, mit R. Keys er, welcher im Uebrigen die
Stelle ebenso versteht wie ich, das Wahlrecht des Mannes
auf den Kreis seiner Verwandten zu beschränken, und diesen
eventuell seinem Gläubiger als Schuldknecht zufallen zu lassen.
Doch sollte man Weiber nicht ohne die Zustimmung ihrer
Verwandten in Schuld nemen dürfen, und Dasselbe wird
wohl analog auch von den Minderjährigen gegolten haben,
obwohl ihrer und der Zustimmung ihrer Vormünder keine
Erwähnung gethan wird. Durch ein paar später nachge-
tragene Sätze werden diese Bestimmungen noch vervollständigt.
Einerseits nämlich wird gestattet6) , dass der ächtgeborene
Mann auch berechtigt sei sein eigenes Kind in Schuld zu
geben, und dass ein derartiges Geschäft weder von dem
Kinde selbst noch von irgend einer anderen Person ange-
fochten werden dürfe, falls dasselbe nur am Ding, in der
Gildestube oder vor der versammelten Kirchgemeinde abge-
schlossen worden sei; nur sollte der Vater sein Kind unter
keiner Voraussetzung um einen höheren Betrag als um den
von 3 Mark in Schuld geben, d. h» nicht um einen höheren
Betrag als den Durchschnittspreis eines gewöhnlichen Unfreien7).
Andererseits wird aber auch ausgesprochen8), dass der freie,
ächtgeborene und volljährige Mann, welcher sich selbst in
Schuld geben will, an die gleiche Werthgrenze nicht gebunden,
vielmehr befugt sein soll, diess um jeden beliebigen Betrag
zu thun. — Nach allem Dem scheint mir nicht bezweifelt werden
zu können, dass die ganze Stelle lediglich auf eine vertrags-
weise Begründung der Schuldknechtschaft bezogen werden
müsse. Sie verstattet diese freigeborenen und mündigen
6) -3Sttborenn mad'r ma gefa barn sitt i skuld, ef hann gefr a
Jingi, eda at öldrhüsi, eäfa at kirkjusokn, ]>a ma hann gefa i triggja
marka skuld ok eigi meiri ; J>a skal J>at halda, skal eigi barnet rjüfa
ok engi madr annarra.
7) vgl. Gj es sing, S. 123—25.
8) Nu gefsk madr i skuld frjals ok fulltida ok settborenn, $ä ma
hann gefask i svä nrikla skuld sem hann vill.
Maurer: SchiddTcnechtschaft nach altnordischem "Rechte. 5
Männern ohne Weiters, nur dass* dabei änlich wie bei der
Veraüsserung von Stamm gut (öSal) ein Einstandsrecht der
geborenen Erben, und eine Verpflichtung des Anerbietens zu
dessen Ausübung bestand; Weiber dagegen konnten nur mit
Zustimmung ihrer Verwandtschaft in gleicher Weise über
sich verfügen. Selbstverständlich ist diese letztere Beschränkung
auf die Geschlechtsvormundschaft zurückzuführen, welche die
norwegischen Provincialrechte zwar nicht mehr als ein ge-
schlossenes und rundum ausgebildetes Institut kennen, von
welcher dieselben indessen immerhin noch eine ganze Reihe
einzelner Consequenzen festhalten. Weiterhin wird aber dem
Vater auch noch verstattet, sein Kind in Schuld zu geben,
nur dass hier für den Betrag der Schuld eine Werthgrenze
gezogen ist, welche für die Verfügung über die eigene Person
nicht besteht. Ganz allgemein endlich wird ein gewisses
Mass von Publicitset beim Vertragsabschlüsse gefordert, wenn
auch in verschiedenem Grade abgestuft je nach der Ver-
schiedenheit .des Standes der Personen, welche in die Schuld-
knechtschaft treten oder gegeben werden wollen; auch diese
Vorschrift steht aber ganz und gar nicht isolirt, da das Erfor-
derniss der Oeffentlichkeit auch sonst in Fällen widerzukehren
pflegt, in welchen die gesammte rechtliche Stellung einer
Person, und damit auch deren Beziehungen zu dritten Per-
sonen in Frage standen 9). So verstanden, unterliegt dem-
nach unsere Stelle keinem sachlichen Bedenken; aber freilich
scheint dieselbe einer kleinen Verbesserung des Textes zu
bedürfen, um die bisher vorgetragene Auslegung unangreifbar
zu machen10). Man könnte freilich, um der letzteren Schwie-
rigkeit auszuweichen, allenfalls zu dem Auswege greifen wollen,
dass man die Stelle statt auf die vertragsweise Begründung
9) vgl. Fr. Brandt, Brudstykker af Forelse sninger over den
norske Retshistorie, I, S. 65.
10) In den oben, S. 3, Anm. 5, angeführten Worten: „eda sä
ellar, er hann vill heizt selja" dürfte nämlich zu lesen sein „seljask",
6 Sitzung der philos.-pliüol. Glasse vom 3. Januar 1874.
der Schuldhaft vielmehr * auf deren einseitige Verhängung
durch den Gläubiger über seinen insolventen Schuldner be-
zöge, und liesse sich hiefür geltend machen, dass an deren
Eingang nur von einem ,,taka skuldarmann" die Rede ist.
Indessen wird doch in deren weiterem Verlaufe auch von
einem „gefa" und „gefask i skuld" gesprochen, und die so-
fort folgenden Worte : ,,halda skal slikt allt sem menn veroa
asättir, ok vättar vituu, deuten gleichfalls so deutlich als
möglich auf die vertragsweise Begründung des Verhältnisses
zurück; nur unter dieser Voraussetzung hat es überdiess einen
Sinn, wenn von der Mitwirkung der Verwandten beim Ein-
tritte eines Weibes in die Schüldhaft gesprochen wird, da
denn doch das Recht des Gläubigers, seinen insolventen
Schuldner in Haft zu nemen, an eine solche Mitwirkung
nicht gebunden sein konnte, wenn und soweit es überhaupt
bestand. Weiterhin wäre auch nickt abzusehen, warum dem
Gläubiger, wie diess jene andere Auslegung unserer Stelle
mit sich bringen würde, das Recht eingeräumt sein sollte,
wenn der nächste Verwandte des Schuldners sein Einstands-
recht unbenutzt lassen wollte, seinerseits unter dessen ent-
fernteren Verwandten denjenigen zu wählen, dem er ihn
überlassen wollte; überdiess aber wäre uns eine Verbesserung
des Textes durch das gewählte Auskunftsmittel dennoch nicht
erspart, indem solchenfalls für bjöSask „bjooa" gelesen werden
müsste, soferne jene erstere Form doch nur in reflexivem,
nicht passivem Sinne verstanden werden könnte J1). Aber
wenn hiernach zwar allerdings anzunemen ist, dass unsere
Stelle nur von einer Schuldhaft spricht, welche auf einen
zwischen Gläubiger und Schuldner abgeschlossenen Vertrag
sich gründet, so ist doch damit selbstverständlich noch
keineswegs entschieden, ob dieselbe nicht vielleicht unter
Umständen auch noch auf ganz anderem Wege entstehen
11) vgl. Guffbrandr Vigfüsson, Dictionary, I, S. XXVI.
Maurer: Schuldlcnechtschaft nach altnordischem Rechte. 7
konnte, und in der That fehlt es nicht an Spuren, welche
auf solche anderweitige Begründungsarten derselben hinweisen.
Gelegentlich der Freilassung bespricht unser Rechtsbuch
den Fall, da ein Herr seinem Unfreien die Freiheit schenkt,
ohne ihm dabei eine Schuld oder Abgaben aufzuerlegen 12),
und gedenkt dasselbe insbesondere auch noch des Falles, da
ein noch nicht dreijähriges Kind freigelassen, und sodann
frei von jeder Schuld aufgezogen wird13). Beides setzt denn
doch nothwendig auch die umgekehrte Möglichkeit voraus,
dass der bisherige Herr seinem Manne bei dessen Freilassung
eine Schuld auflege, und auf dasselbe Ergebniss führt auch
ein weiterer Ausspruch derselben Stelle hinaus, nach welchem
der Freilasser, welcher die Freilassung gegen Entgeld vor-
genommen, aber dabei mindestens die Hälfte des Lösegeldes
creditirt hatte, berechtigt sein sollte den noch ausständigen
Betrag unter Anwendung von Schlägen einzutreiben, ohne
dadurch ein Gewette an den König zu verwirken14); dem
Zusammenhange nach wird nämlich diese Bestimmung doch
wohl nur dahin verstanden werden können, dass für den
Fall, da ein so erheblicher Theil des Kaufpreises unbezahlt
bleibe, die Behandlung des Freigelassenen als eines Schuld-
knechtes von Rechtswegen zulässig sei, während sie abge-
sehen von diesem Falle nur auf Grund eines bei der Frei-
lassung gemachten ausdrücklichen Vorbehaltes Platz greifen
dürfte. Wir haben demnach hier eine Schuldhaft vor uns,
12) Gl>L. §.61: Nu leiÖTir madr Jrsel sinn til kirkju, edaäkistu
setr, ok gefr frelsi, nü ef hann gefr skattalaust ok skulda, 5ä ]>arf
sä eigi at gera frelsisöl sitt.
13) ok sa annarr, er fyrr er frelsi gefit en hann hafe 3. nsetr
hinar helgu, ok foeddr upp sröan skuldlaus.
14) Nu reitfir Irsell eda ambott verdaura sina, ]>ä skal J>au til
kirkju fcera, ok leggja bok ä höfud* J>eim, ok gefa frelsi. Nü skal
hann ]>ar vinna 12 manadr fyri skapdrottne sinum. En ef hanom
er svä frelsi gefit, at efter stendr halft verö" hans eda meira, Ja 56
at hann sceke tat meo" hoggum er efter stendr, Jar ä ekki konongr a#
8 Sitzung der philos.-phüöl. Classe vom 3. Januar 1874.
welche auf einem einseitigen Vorbehalte bei einer einseitigen
Verfügung, und unter Umständen sogar unmittelbar auf einer
Rechtsvorschrift beruhte. Auch den Satz wird man noch
unter denselben Gesichtspunkt stellen dürfen16), dass die
Kinder eines Freigelassenen, welchen ihre Aeltern ihr Erb-
recht erkauft haben, für den verarmenden Freilasser zwar
bis an seinen Tod arbeiten, aber sodann unbelastet durch
irgendwelche Schuld weggehen sollen, wenn sie nicht etwa
vorziehen, durch Bezahlung von Alimentationskosten sich
von dem Dienste und der damit verbundenen Freiheits-
beschränkung loszukaufen. Man wird nämlich doch wohl
annemen dürfen, dass der Freilasser berechtigt war, auf
solche Kinder von Freigelassenen, denen ihre Aeltern ihr
Erbrecht nicht erkauft hatten, im Verarmungsfall eine Schuld
zu legen. — Eine andere Bewandtnis dürfte es dagegen mit
folgendem Falle haben16). Hat ein Freigelassener eine Frei-
gelassene geheirathet, und sind beide Theile durch die Ab-
haltung ihres Freilassungsbieres von ihrem früheren Dienst-
herrn völlig frei geworden, so erwerben die aus ihrer Ehe
hervorgehenden Kinder zwar das volle Recht auf den Nach-
lass ihrer Aeltern, aber sie haben dafür auch im Verarmungs-
falle keinen Anspruch auf Alimentation gegenüber den beiden
Freilassern; sie werden solchenfalls grafgangsmenn, d. h.
sie werden in ein offenes Grab gesetzt, und mögen in diesem
verkommen, nur dass der Freilasser verpflichtet ist, das längst
15) GJL. §. 66: Kaupa ma leysingi arf bornom sinom, ef teir
verda satter ä ; Ja er tat jamfullt sem hann hafde skirt far sitt. En
ef ]>rot sceker tau, ok er keypt, tä skolo born J»eirra vinna fyri Jeim
medan tau lifa, ok gänga skuldlaust i braut. En ef tau vilja eigi
tat, gjalde fostrlaun tat teirra, er i braut vill fara.
16) GtL. §. 63: Nu fser leysingi leysingju, ok er gort frelsisöl
beggja teirra, tä gegna born beggja arfe. En ef tau veräa at l>rotom,
tä ero tat grafgangsmenn; skal grafa grof i kirkjugarde, ok setja
lau ]>ar i, ok lata tar deyja; take skapdröttenn tat 6r, er lengst
lifir, ok fcete tat sifran.
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Rechte. 9
lebende unter den Kindern herauszunemen und zu ernähren.
Dabei war nun aber der Freilasser, oder auch derjenige,
der etwa aus blosem Mitleid eines dieser Kinder aufziehen
mochte, berechtigt dieselben um den Betrag der auf ihre
Verpflegung verwendeten Kosten in Schuld zu nemen 17),
obwohl diess nicht gerade üblich gewesen zu sein scheint,
oder die Schuldhaft doch wenigstens nicht schon von Rechts-
wegen eintrat; ob die Absicht, dieselben für die Pflegekosten
in Schuld zu nemen gleich bei der ersten Aufname der graf-
gangsmenn erklärt werden musste, oder ob die gleiche Er-
klärung auch noch hinterher rechtsgültig abgegeben werden
konnte, bleibt dabei zweifelhaft. Auch in diesem Falle liegt
aber ein einseitiges Recht des Gläubigers vor, die Schuldhaft
zu verhängen; jedoch ist dasselbe nicht wie im vorigen Falle
auf einen Vorbehalt begründet, welcher bei der Entlassung
aus der Unfreiheit gemacht wurde, sondern auf eine Auslage,
welche für die Erhaltung des Lebens des anderen Theils ge-
macht worden war, also auf eine Art von negotiorum gestio.
Ganz denselben Charakter zeigt aber auch noch ein weiterer
Fall, welchen das Recht der Landschaft Drontheim an die
Hand giebt 18). Stirbt dem Kinde einer Bettlerinn seine
Mutter weg, so soll der Bauer, in dessen Haus diese ge-
storben ist, dasselbe Jedermann anbieten, der es „um Gottes
willen" aufziehen und vermögensrechtlich ausnützen (fenyta)
will; erst wenn sich hiezu Niemand bereit erklärt, soll das-
selbe der reihenweisen Verpflegung aller Volklandsgenossen
17) GEL. §. 298: Nu skal eigi leidangr gera fyri Ja menn, er
Erot rekr aptr i kyn, ok eigi fyri grafgängsmenn, ef maäfr leggr eigi
skuld ä J>ä.
18) Fr]>L. II, §.2: En ef kona dceyr frä barne sinu sü er medial
hüsa gengr, Ja skal bönde foera barn 5at til kirkju, ok lata skira,
ok bjoda hverjum manni er foeda vill til gu#s J>akka. En ef engi
vill vidr taka, ok ser at fe nyta, l>ä hafe bonde heim med" ser, ok
fcede mänad" hin nsesta, en sidan take fylkismenn aller, ok foed*e til
gu$s lakka.
10 Sitzung der philos.-phüol Classe vom 3. Januar 1874.
verfallen. Die Verpflegung um Gottes willen und die ver-
mögensrechtliche Ausnutzung stimmen offenbar nicht recht
zusammen, da erstere auf uneigennützige, letztere auf eigen-
nützige Motive bei der Aufname des Kindes hinweist, und
man möchte darum vermuthen, dass hier wie öfter in dem
Rechtsbuche ältere und neuere Rechtsvorschriften ungeschickt
combinirt seien; die Vermuthung wird bestätigt, wenn man
bemerkt, dass die Worte ,,ok ser at fe nyta" im Cod. Resen.
feien, und auch in dem Texte ausgelassen sind, welcher für
das sog. Christenrecht Sverrirs benützt wurde19), dass ferner
das Christenrecht Erzbischof Jons ausdrücklich hervorhebt,
dass solche Kinder um Gottes willen aufgezogen werden
sollen, und nicht zu sklavischem Dienste20). Die letztere
Bemerkung zeigt deutlich, dass ein älteres, dem Aufnemenden
vermögensrechtliche Vortheile bietendes Recht unter dem
bewussten Einflüsse kirchlich-mildthätiger Gesichtspunkte um-
gestaltet werden wollte; dieses ältere Recht kann aber kaum
anders als dahin verstanden werden, dass dasselbe dem
Pfleger des Kindes gestattete, den Betrag der aufgewandten
Verpflegungskosten als Schuld auf dieses zu legen. In ge-
wissem Sinne gehört endlich auch noch eine weitere Bestim-
mung des drönter Rechtes hieher, welche von den hülflosen
Personen handelt, deren bisheriger Ernährer sein ganzes
Vermögen strafweise verwirkt hat21). Zum Behufe der Liqui-
dation des verwirkten Vermögens hat des Königs Amtmann
einen Termin anzusetzen, an welchem neben allen anderen
Masseglaübigern auch die von dem Schuldigen bisher alimen-
tirten Personen zu erscheinen haben. Sind nun Liegenschaften
vorhanden, welche an die Erben des letzteren fallen, und
bleibt nach vollständiger Befriedigung der sämmtlichen übrigen
19) KrR. Sverris, §. 26.
20) KrR. Jons, §. 5: sc siäfan allir fylkismenn skyldugir at
fceda til guds J»akka, en eigi ser til änaudarmaims.
21) FrJ»L., V, §. 13.
Maurer: SchuldJcnechtschaft nach altnordischem Hechte. 11
Gläubiger noch ein Rest von Fahrhabe für den König, be-
ziehungsweise dessen Amtmann übrig, so werden diese beiden
Vermögensmassen abgeschätzt, und die Alimentationsberech-
tigten nach Verhältniss ihres Werthes unter die Erben und
den Amtmann vertheilt; ist kein Land da, während doch
Fahrhabe an den Amtmann fällt, so hat dieser die Alimen-
tationsberechtigten allein zu übernemen, wogegen die Ali-
mentationspflicht umgekehrt ihrem vollen Umfange nach die
Erben trifft, wenn zwar Land da ist, aber dem Amtmanne
keine Fahrhabe verbleibt: in keinem Falle aber, heisst es,
sollen freigeborene Personen an des Königs Kammer fallen,
vielmehr sollen sie mit ihren Alimentationsansprüchen stets
dem verwirkten Vermögen folgen 22). Offenbar will damit
gesagt sein, dass solche Personen nicht für den Betrag der
auf sie verwandten Alimentationskosten in Schuld genommen,
sondern als eine auf dem confiscirten Gute ruhende Last be-
trachtet werden sollten, was auch ganz in der Ordnung war,
weil die ihnen gereichte Verpflegung , anders als in den oben
besprochenen Fällen, nicht als eine aus gutem Willen ge-
gebene, und darum nur vorgeschossene gelten konnte; dass
man aber eine ausdrückliche Erklärung über diesen Punkt
nöthig fand, zeigt immerhin, dass man mit dem Gedanken
sehr vertraut war, dass der Verpfleger den Verpflegten für
die Pflegekosten in Schuldhaft nemen möge. — Widerum
lassen sich mehrfache Fälle einer strafweisen Begründung
der Schuldknechtschaft nachweisen. Eine geschichtliche Quelle
berichtet uns23), dass K. Haraldr harfagri ein Gesetz erlassen
habe, nach welchem Weiber, welche sich ausserehelich ver-
gangen hatten, dem Könige anheimfallen und ihre Freiheit
22) Eigi skulo settborner menn i konüngs garä* gänga; setla
skal Jeim fe ok atvinnu af ütlögum eyre.
23) Fagrskinna, §.17: f>ä gerifr. ok Haraldr ny log um kvenna-
rett, — — En sü kona er hon leggsk a laun, Ja skal hon ganga
i konüngs gard", ok tyna frelsi si'nu 5ar til hon er leyst JaÖan med"
J>rem mörkum sex alna eyris.
12 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 3. Januar 1874.
verlieren sollten, bis sie durch eine Zahlung von 3 Mark
ausgelöst werden würden. In unseren Rechtsbüchern kehrt
eine analoge Vorschrift wider, aber allerdings im Einzelnen
in sehr verschiedener Gestalt. Das ältere Stadtrecht lässt
noch ganz die ältere Strenge walten24). Machen sich ächt-
geborene Weiber eines ausserehelichen Beischlafes schuldig,
so verwirken sie nämlich nach ihm dadurch ein Gewette an
den König, und der Schultheiss hat ihre Verwandten und
Freunde aufzufordern, durch dessen Entrichtung sie auszu-
lösen ; geschieht diess nicht, so soll er das schuldige Weib
um den Betrag dieser Schuld im Inlande verkaufen. Ist
aber das schuldige Weib eine Freigelassene, so kommen
wesentlich dieselben Bestimmungen zum Zuge, nur dass das
Gewette an den König durch eine an den Freilasser zu ent-
richtende Busse ersetzt wird. Das Recht des Guladinges
bedroht dagegen nur noch den ausserehelichen Verkehr des
freien Weibes mit einem Unfreien mit dergleichen Strafe*5);
ist das Weib freigeboren, so verfällt sie in des Königs Kam-
mer, ist sie eine Freigelassene, in das Recht ihres Freilassers,
und im ersteren Falle ist sie mit 3 Mark, im letzteren Falle
mit einer nicht angegebenen Zahlung auszulösen. Aenlich
steht die Sache nach dem Rechte der Landschaft Vikin 26),
24) Bjark. R., III, §. 127: En ef settborin kona fyrirliggr ser
ok verdr sek vid" konüng, Ja skal gjaldkyri bjoda frsendum ok vinum
at J>eir leysi hana undan, en ef engi vill undan leysa, }ä skal gjald-
kyri selja hana til Jeirrar skuldar innan lands, en eigi ütan. En ef
leysingja manns fyrirliggr ser eda frjälsgefa, Ja er hon sek vid* skap-
drottin sinn 3 mörkum, jafnt hinn fjoräfa sem hinn fyrsta, en sa er
lä med* er sekr 6 aurum vid* hann; ekki ä konüngr a J>vi.
25) GJL. §. 198: Aettboren kona legsk med- Jraele, J>ä skal hon
ganga i konongs gar#, ok leysa sik J>e#an 3 mörkom; ok hverr maJr
a at taka a leysingju sinni 6 aura. Ef leysingja legsk med*
Jrsele, }>ä skal hon gänga i gardr skapdrottens si'ns.
26) Blh.f II, §. 14: En ef hon segir eigi til (fadernis) innan
manadr, Ja heitir J>rsell fader at Jvi barne; hon hefir leget seekt (sek)
i gard" konongs til 3 marka.
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Rechte. 13
jedoch mit einer erheblichen Modification. Für den Fall
nämlich, da die Kindsmutter gleich bei der Geburt einen
freien Mann als Kindsvater angiebt, ist von keiner Strafe
für sie die Rede; nur für den anderen Fall, da sie den
Kindsvater zu nennen verweigert, und da in Folge dessen
angenommen wird, dass sie das Kind mit einem unfreien
Manne gewonnen habe, wird sowohl des Gewettes von 3 Mark
als auch des Verfallens in des Königs Kammer Erwähnung
gethan. Ganz denselben Weg scheint nun auch das Recht
von Drontheim zu gehen27); auch hier verwirkt das frei-
geborene Weib ihre 3 Mark an den König nur dadurch, dass
sie den Kindsvater anzugeben verweigert, und dass in Folge
dessen ein Unfreier als der Vater gilt. Allerdings ist dabei
von einem Verfallen in des Königs Kammer nicht die Rede;
aber da hinterher von der Freigelassenen gesagt wird28),
dass sie für das aussereheliche ßeilager ihrem Freilasser
3 Mark schulde, und wenn sie nicht um diesen Betrag aus-
gelöst werde, und dennoch seiner Gewalt sich zu entziehen
suche, wie eine Sklavinn eingebracht werden solle, so ist
damit denn doch auch der persönliche Anfall an denselben
ausgesprochen, und liegt der Schluss nahe, dass bezüglich
des freigeborenen Weibes dieselbe Eventualität eben nur als
selbstverständlich unerwähnt geblieben sein möge. Ganz
analog verfährt denn auch dasselbe Rechtsbuch in dem an-
deren Falle, da eine Nonne sich eines änlichen Vergehens
27) Fr]>L. II, §. 1: En ef kona vill eigi segja til fadfernis, I>ä
stefni ärmadr konungs henne l>ing, ok kalle svä fcrsell eigi barn med*
henne, nema hon segi til fafrernis. En settboren kona sekizt 3 morkum
silfrs vidr kondng um I>at mal, en barn skal modor fylgja. Ebenso
K. R. Sverris, §. 31.
28) Fr)>L. IX, §. 16: En ef leysingja manns fyrirliggr ser, H
skal hon gjalda skapdrottni sfnum 3 merkr, ok reifri sä madr fe tat
er vill. En ef hon vill brigfra sik sidan, I>ä skal hon fara atleidzlu
sem mansmaäfr til skapdrottins.
14 Sitzung der phüos.'phüol Classe vom 3. Januar 1874.
schuldig macht29); sie verfällt der Gewalt des Bischofs,
welcher hier gewissermassen die Stelle eines Privatherrn
einnimmt, nur wird freilich bei ihr nicht unterschieden, ob
der Mann frei oder unfrei ist, mit dem sie sich eingelassen
hat. Mag sein, dass die Wortfassung unserer Quellen nicht
überall eine völlig correcte war, und dass die ßusszahlung
sowohl wie der Freiheitsverlust dem Weibe von Anfang an
nur für den Fall drohte, da dasselbe sich mit einem Un-
freien eingelassen hatte, welcher Fall aber freilich sofort als
gegeben galt, sowie ein freier Mann als Kindsvater nicht
nachgewiesen werden konnte oder wollte; für unseren Zweck
ist jedenfalls die Erledigung dieser Frage völlig gleichgültig,
und gleichgültig auch, ob im einzelnen Falle die Rechtsfolge
zu Gunsten des Königs, des Bischofs oder des Freilassers
verwirklicht werden sollte; um so erheblicher ist aber für
diesen Ort die Beantwortung der anderen Frage, ob es sich
bei den besprochenen Rechtsvorschriften um eine strafweise
eintretende Unfreiheit, oder um eine strafweise Begründung
der Schuldknechtschaft handle. Die letztere Anname scheint
mir die richtigere, ohne dass ich einen Grund fände, mit
einem neueren Schriftsteller30) dieserhalb zwischen der älteren
und neueren Zeit zu unterscheiden. Die Möglichkeit, sich
um einen gesetzlich bestimmt bezeichneten Geldbetrag aus
der Haft zu lösen, scheint mir von Vornherein auf diese
Auslegung hinzudeuten, und wenn das Stadtrecht von einem
„selja til skuldar({, das Borgardingsrecht von einem „liggja
sik i konÜQgsgarS til 3 marka" spricht, oder das drönter
Recht die straffällige Freigelassene erst durch den wider-
rechtlichen Versuch, der nächsten Straffolge sich durch die
29) FrI>L. III, §. 14: Nu ef kona vill lata vigja sik til nunnu,
En ef hon misferr siäan med" ser, J>a skal hon gänga i gartf
biskups, en sä er glsepr hana, Ja er sa ütlsegr, en biskup hafe fe
hans. Ebenso KrR. Sverris, §. 68.
30) von Amira, S. 264.
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Beeilte. 15
Flucht zu entziehen, in die Unfreiheit gerathen lässt, so
dürfte auch hierinn eine Bestätigung derselben Auffassung
liegen. Dass das isländische Recht, wie sich unten zeigen
wird, in analogen Fällen ganz unzweideutig die Schuld-
knechtschaft eintreten lässt, dürfte die Richtigkeit der obigen
Annaine vollends ausser Zweifel setzen, und jedenfalls wird
man nicht gegen dieselbe geltend machen dürfen, dass Adam
von Bremen wissen will, man habe in Dänemark die Weiber,
die sich eines Fleischesverbrechens schuldig gemacht hätten,
ohne Weiters verkauft31), und dass Saxo Grammaticus32) seinen
Frotho III. bestimmen lässt, dass Weiber, welche sich mit
Unfreien einliessen, zu deren Stand herabsinken sollten ; ganz
abgesehen nämlich davon, dass beide Satzungen den dänischen
Rechtsbüchern fremd33), und somit zweifelhafter Verlässigkeit
sind, müssten dieselben schon darum auf einen völlig anderen
Gesichtspunkt zurückgeführt werden, weil bei ihnen von einer
Auslösung um bestimmten Preis nicht die Rede ist. — Aber
noch ein paar andere Fälle scheinen unter den zuletzt be-
sprochenen Gesichtspunkt zu gehören. Das drönter Land-
recht, und ihm folgend auch das ältere Stadtrecht, stellt den
Satz auf34), dass gesunde und arbeitsfähige Leute, welche,
31) Adam. Bremens., IV, cap. 6, S. 370: mulieres, si constu-
pratse fuerint, statim venduntur.
32) Saxo Grammaticus, V, S. 227: At si libera consensisset
in servum, ejus conditionem sequaret, libertatisque beneficio spoliata
servilis fortunae statum indueret.
33) Valdemars Ssell. Lov. cap. 86, S. 57—9, und Eriks
Saell. Lov, II, cap. 95, S. 91— 2, besprechen den Fall, da eine Freie
mit einem Unfreien sich einlässt, ohne von obiger Rechtsfolge etwas
zu wissen.
34) FrJ>L., X, §.39: Allir menn, er gänga hüsa ämed'al, ok ero
eigi Jyrmslamenn, ok ero heilir, ok vilja eigi vinna, Ja er sä sekr
mörkum 3, sva karl sem kona, en armaä"r eda annarr madr taki
Jann mann med* vattom, ok hafi til Kngs. En frsendr hans leysi
hann Ja 3 mörkum, eäa hinn feny'ti ser, er Jängat haföi, sem hann
vill. Ebenso Bjark. R., III, §. 163.
16 Sitzung der phüos.'philöl. Classe vom 3. Januar 1874.
ohne einem Freilasser unterthänig zu sein, betteln gehen
und nicht arbeiten wollen, um 3 Mark gebüsst werden sollen ;
des Königs Amtmann, oder auch ein beliebiger Anderer, soll
derartige Menschen aufgreifen und zum Ding bringen, und
wenn sie hier nicht von ihren Verwandten ausgelöst werden,
soll derjenige, welcher sie vorführte, sie beliebig vermögens-
rechtlich ausnützen dürfen. Eine änliche Bestimmung findet
sich in dem Rechte der Hochlande, jedoch nur in dessen
älterer Recension, während sie aus der jüngeren verschwunden
ist35). Weiber, welche sich mit Zauberei oder Besprechen
abgeben, sollen nach ihr um 3 Mark gebüsst werden; ver-
mögen sie diese Busse aber nicht zu bezahlen, so soll jeder
Beliebige sie an sich nemen und vermögensrechtlich ausnützen
dürfen, und sollen sie der Acht verfallen, wenn diess Nie-
mand thun mag. Beide Vorschriften sind kaum anders zu
verstehen als dahin, dass derjenige, welcher die von dem
unvermögenden Schuldigen verwirkte Busse für ihn entrichten*
wollte, ihn selbst dafür auf deren Betrag in Schuld nemen
durfte; darinn dass dieses Recht sei es nun für den Fall,
dass des Königs Amtmann nicht zugreifen wollte, oder auch
gleich in erster Linie jedem beliebigen Privaten eingeräumt
wurde, ist dabei nur einer der zahlreichen Anwendungsfälle
einer Pönalklage zur kräftigeren Sicherung des Vollzuges von
Strafbestimmungen zu erkennen, von welchen die nordischen
Rechte wissen. Im Rechte des Guladings wird ferner der
Satz ausgesprochen, dass der Freigelassene, welcher sich
groben Undanks gegen seinen Freilasser schuldig macht,
dafür in seinen früheren Stand zurückversetzt werden soll36);
35) EJL., I, §. 45: Kona hver er ferr med- lif, ok lsez kunna
bceta mannum, of hon er sonn at Jvf, 5a er hon sek 3 morkum, ef
hon hefer fe til. En ef eigi er fe til, }a take hverr er vill, ok fe-
nyti ser; en ef engi vill ser fenyta, Ja fare hon ütlseg.
36) GJL. §. 66: En ef hann gerer einhvern lut J»eirra, J>a skal
hann fara aftr i sess hinn sama er hann var fyrr, ok leysask J>ed*an
Maurer: SchuldJcnechtschaft nach altnordischem Rechte. 17
der Umstand, dass dabei die Widerauslösung des Undank-
baren aus der Unfreiheit, in welche er zurückverfällt, sofort
ins Auge gefasst wird, scheint darauf hinzuweisen, dass damit
nicht eine blose Revocation der Freilassung wegen Undanks
gemeint sein möge. Das drönter Recht bestätigt diese Ver-
muthung, soferne es den Freigelassenen, welcher sich für
freigeboren ausgiebt, ohne den Beweis seiner freien Geburt
erbringen zu können, mit dem Verluste seines ganzen Ver-
mögens an den Freilasser, und überdiess noch mit einer
Busse von 3 Mark bedroht, „falls er sie nicht abverdient"37).
Augenscheinlich ist hier an eine blose Schuldknechtschaft
gedacht, bei welcher der Schuldknecht die Schuld durch
seine Arbeit abbezahlen kann; mag wohl sein, dass das ,,fe-
nyta", von welchem in mehreren der oben angeführten Stellen
in geradezu technischer Weise gesprochen wird, ganz in dem-
selben Sinne verstanden werden muss.
Dass in bestimmten, einzelnen Fällen derjenige, welcher
eine Busse verwirkt hatte und nicht zu erlegen vermochte,
oder für welchen ein Anderer eine Auslage gemacht hatte,
die er nun widererstattet wissen wollte, einseitig in Schuld-
haft genommen werden konnte, dürfte nach dem Bisherigen
keinem begründeten Zweifel unterliegen; keineswegs ist aber
damit auch sofort gesagt, dass auch bei allen anderen Schuld-
verhältnissen der Gläubiger einfach zur Schuldhaft greifen
durfte, wenn er auf anderem Wege keine Zahlung erlangen
konnte. Es wäre ja recht wohl denkbar, dass diese Be-
rechtigung nur auf die Fälle sich erstreckt hätte, in welchen
veräaurum; fe sinu hefir hann ok fyrirgjört; ebenda, §. 67: En ef
hann vill eigi aptr fara, ta leidl hann vitni ä hönd hänom, at hann
er leysingi hans, ok fcere hann aptr hvärt sem hann vill lausan eda
bundinn, ok setja hann i sess hinn sama, Ear sem hann var fyrr.
37) FrjL., IV, §. 10: En ef hann fser sik eigi skirt, J>ä hefir
hann fyrirgjört fe sinu öllu vid* skapdrottinn , ok liggja ä 3 merkr
silfrmetnar, nema hann launi af ser. Ueber den letzteren Ausdruck
vgl. Fritzner, s. v. launa.
[1874. 1. Phil. bist. Cl.] 2
18 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 3. Janmr 1874.
sie entweder vom Rechte ausdrücklich vorgesehen, oder aber
vom Schuldner vertragsweise zugestanden war, oder dass sie
doch wenigstens nur für liquide Schulden gegolten hätte.
Unsere Quellen sprechen sich über diesen Punkt ebensowenig
aus wie über die andere Frage, ob die Schuldhaft in den
Fällen, in welchen sie einseitig verhängt werden durfte, so-
gleich primär, oder erst dann verwirklicht werden durfte,
wenn vorerst die Execution in das Vermögen des Schuldners
vergeblich versucht worden war. Allerdings hat sowohl
Gjessing, S. 254, als Fr. Brandt, S. 199, und von Amira,
S. 262 — 3, ein Anderes annemen, und eine Stelle des drönter
Rechtes hieher beziehen wollen, welche von der gerichtlichen
Verfolgung eines einschichtigen Mannes handelt88); indessen,
wie mir scheint, mit Unrecht. Die Stelle bespricht den Fall,
da Jemand einen einschichtigen Menschen, an den er etwas
zu fordern hat, innerhalb des Volklandes betrifft. Giebt
solchenfalls der angebliche Schuldner auf Befragen sein Do-
micil richtig an, so soll nur gefordert werden können, dass
er durch ein „tak", d. h. Realsicherheit oder Bürgschaft,
dafür eine Gewähr biete, dass er sich dem gerichtlichen
Verfahren nicht entziehen werde89); giebt er dagegen sein
Domicil nicht gehörig an, oder giebt er zwar dieses an, je-
doch ohne die gesetzlich zu beanspruchende Sicherheit be-
stellen zu können, soll sofort ein schärferes Verfahren ein-
treten. Der Kläger soll nämlich solchenfalls seinen Gegner
in Haft nemen dürfen, jedoch so, dass er ihm durch die an-
zulegenden Fesseln keinen bleibenden Schaden thue; er soll
sodann mit Rücksicht auf das von Jenem benannte, oder
eventuell von ihm selber innerhalb des Volklandes gewählte
38) FrjL., X, §. 26—27; vgl. Fragment II, in Norges gamle
Love, II, S. 512-13.
39) Vgl. über das tak Fr. Brandt, Om forelöbige Retsmidier
i den gamle norske Reettergang, in dessen Pröveforeleesninger, S. 86
und fgg., sowie von Amira, S. 329—45.
Maurer: Schiiläknechtschaft nach altnordischem Hechte. 19
Domicil ein Ding berufen, an diesem den Gegner gefangen
vorführen, und sodann durch Zeugen seine Forderung be-
weisen. Zahlt nun der Schuldner nicht, so soll ihn der
Gläubiger seinen Verwandten zur Auslösung um den Betrag
anbieten, auf welchen die Zeugen ausgesagt haben; wollen
ihn aber diese nicht auslösen, so soll man seine Glieder auf
den Betrag der Schuld anschlagen, und zwar so, dass mit
den minder werthvollen Gliedmassen der Anfang gemacht
werden soll, und soll den Verwandten dadurch keine Busse
fällig werden, wenn er ihnen nur vorher gehörig zur Aus-
lösung angeboten worden war40). Ich verstehe diese Worte
dahin, dass der Gläubiger dem Schuldner soviele Gliedmassen
abhauen sollte, bis deren Werth unter Zugrundelegung ihrer
strafrechtlichen Tariflrung dem Betrage der Schuld gleichkam,
und dass den Verwandten kein Wergeid zu entrichten kom-
men sollte, wenn dem Manne auch diese Verstümmelung das
Leben kosten würde; nur musste insoweit schonend verfahren
werden, als man nicht minder entbehrliche Glieder angreifen
durfte, solange noch entbehrlichere vorhanden waren. Gjes-
sing hat dagegen, wiewohl an der Richtigkeit solcher Er-
klärung zweifelnd, diese Stelle dahin deuten wollen, als ob
der Schuldner, zur Schuldhaft verurtheilt, mit seiner Person
das Entgeld für die Schuld bilden solle, weil er denn doch
seinen Verwandten zu wenig werth scheine, als dass sie für
ihn bezahlen möchten, und von Amira ist ihm ohne irgend
welches Bedenken zu äussern gefolgt; mir scheint indessen
nicht nur der W7 ortlaut der Stelle ausschliesslich die erstere
Auslegung zuzulassen, sondern überdiess auch noch die Ver-
gleichung einer weiteren Stelle dieselbe zu bestätigen. Das
ältere Stadtrecht nämlich lässt denjenigen, welcher, wegen
40) Die Worte lauten in Fr. II: En ef 5eir vilja eigi leysa hann
undan, J>a skal meta limi hans til skuldar, I>adan fyrri sem hann er
üdy'rri, ok ügildr fraendum, ef hann er bodmn äd*r. Im Cod. Resen.
sind einzelne Buchstaben ausgefallen oder mit unrichtigen vertauscht.
2*
20 Sitzung der philos.'phüol. Classe vom 3. Januar 1874.
gewisser strafrechtlicher Handlungen verfolgt, nur seine eigene
Person als Sicherheit zu bieten vermag, über Nacht in Eisen
halten und den folgenden Morgend vor Gericht stellen ; wird
er hier überführt, und kann er nicht selber zahlen, so soll
er seinen Freunden und Verwandten zur Auslösung ange-
boten werden, für den Fall aber dass diese solche verweigern,
soll der Gläubiger berechtigt sein von ihm herunter zu hauen
wie er will, von oben oder von unten41). Ich vermag diese
letzteren Worte, welche uns in ganz gleichlautender Weise
noch an einer zweiten Stelle begegnen werden, nur auf ein
dem Gläubiger eingeräumtes Verstümmelungsrecht zu be-
ziehen, wie diess seinerzeit J. Grimm bereits gethan hat42),
und demnach in denselben nur mit etwas anderen Ausdrücken
Dasselbe gesagt zu sehen, was jene andere Stelle wo mög-
lich noch rauher und drastischer bezeichnet hatte. Da das
Verfahren mit tak, und insbesondere auch das Gefangensetzen
des Beklagten, welcher solches nicht zu stellen im Stande
war, auch dem Rechte des Guladinges bekannt war43), liegt
kaum ein Grund vor zu bezweifeln, dass dieses auch eben-
sogut wie das drönter Recht dem Gläubiger für den aüs-
sersten Fall diese Verstümmelungsbefugniss eingeräumt haben
werde; um so zweifelhafter will mir aber erscheinen, ob in
unserem Falle überhaupt von einer Schuldknechtschaft ge-
sprochen werden dürfe. Freilich gestatten die hiehergehörigen
Stellen dem Gläubiger, seinen Schuldner in Haft zu nemen;
aber diese Haft ist keine Schuldhaft, sondern nur bestimmt,
die Stellung des Gegners vor Gericht zu sichern, wie sich
diess am Deutlichsten aus dem Stadtrechte ergiebt, welches
sie nur eine einzige Nacht währen lässt. Weiterhin aber
41) Bjark. R., II, §. 50: |>a skal bjoä'a hann frsendum ok vinum
undan at leysa. Nu ef J>eir bjoda eigi log fyrir hann, ]>ä skal sakarä-
beri höggva af honum hvärt sem hann vill, ofan e£a nedan.
42) Rechtsalterthümer, S. 617.
43) GJL., §. 102.
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem "Rechte. 21
wird dem Gläubiger, nachdem seine Forderung bewiesen,
und damit das gerichtliche Verfahren zu Ende ist, für den
Fall der Nichtauslösung des Schuldners durch seine Ver-
wandten nicht etwa das Recht, denselben auch fernerhin in
Haft zu behalten, sondern nur jenes Verstümmelungsrecht
eingeräumt, welches, wie sich unten noch zeigen wird, dem
Gläubiger einem aufs Aeusserste widerspenstigen Schuldknechte
gegenüber zustand. Es wurde demnach in diesem zweiten
Stadium gleich mit dem aüssersten Ende angefangen, zu
welchem die Schuldknechtschaft unter Umständen führen
konnte, und war somit für sie selbst auch hier wider kein
Platz. Nur soviel wird sich also meines Erachtens mit
Sicherheit behaupten lassen, dass das dem Gläubiger zuge-
standene Verstümmelungsrecht dazu benützt werden konnte,
den insolventen Schuldner zur vertragsweisen Ergebung in
die Schuldknechtschaft zu zwingen, und hierinn mag in der
That dessen praktische Bedeutung gelegen haben.
Minder schwierig ist es, die Wirkungen der Schuld-
haft festzustellen, und haben wir in dieser Beziehung wider
von der oben besprochenen Hauptstelle in den Gulafringslög
auszugehen44). Bei der durch Vertrag begründeten Schuld-
knechtschaft bemessen sich aber diese Wirkungen in erster
Linie nach den beim Vertragsabschlüsse beliebten Bedingungen,
soferne dieselben anders durch Zeugen bewiesen werden
konnten 46); die Bestimmungen also, welche das Rechtsbuch
selbst dieserhalb enthält, konnten im Vertragswege modificirt
werden, und kamen nur für den Fall unverändert zur An-
wendung, dass eine vertragsweise Beseitigung nicht erfolgt,
und allenfalls sogar die Schuldhaft überhaupt nicht auf einen
Vertrag begründet war. Man scheint aber dem Schuldknechte
zunächst noch eine Frist verstattet zu haben, binnen deren
44) G*L., §. 71.
45) Halda skal slikt allt sem menn verda ä satter, ok vattar vitu,
22 Sitzung der pTiilos.-philol Classe vom 3. Januar 1874.
er sich bemühen mochte die Zahlung seiner Schuld aufzu-
treiben, und durfte derselbe, solange diese währte, und so-
lange also nicht feststand, dass die Zahlung auf solchem
Wege nicht zu erlangen war, nicht wie ein Unfreier mit
Schlägen zur Arbeit angehalten werden46); war dagegen erst
dieser Versuch mislungen, so trat für den Schuldner auch
sofort die Schuldhaft in ihrer vollen Härte ein. Von jetzt
ab ist der Schuldner seinem Gläubiger, dessen Frau und
dessen Sklaven gegenüber ,, rechtlos", d. h. er hat diesen
gegenüber für Verletzungen seiner Person, welche sonst mit
einfachen Busszahlungen gesühnt werden müssten, solche nicht
mehr zu beanspruchen, wogegen er auch seinerseits keine
Busse mehr zu entrichten hat, wenn er jenen Personen solche
geringere Verletzungen zufügt47); von jetzt ab also unterliegt
er der häuslichen Zucht seines Gläubigers, und kann von
diesem beliebig körperlich abgestraft werden. Fremden ge*
genüber gilt diese Rechtlosigkeit nicht, vielmehr haben diese
für jede dem Schuldknechte zugefügte Verletzung die volle
Busse zu entrichten, wie sie diesem mit Rücksicht auf seinen
Geburtsstand zukommt; indessen soll von diesem Betrage
der Gläubiger soviel vorwegnemen, als er für seinen öber-
knecht zu beziehen hätte, wenn diesem die gleiche Verletzung
zugefügt worden wäre, und nur der Ueberrest soll an den
Schuldknecht selbst fallen 48). Vollkommen folgerichtig spricht
eine andere Stelle für den Fall, da eine der Schuldhaft
unterliegende Frauensperson fleischlich verletzt wird, den
46) So verstehe ich wenigstens die Worte: Eigi skal hann meäf
höggum rä#a hanom til verka, nema hann megi eigi fa af hanom
skuld sina.
47) En sröan er hann rettlauss vi# hann, ok hans kono, ok man
hans allt, ok svä hvert J>eirra vid* annat.
48) En ef atoer menn ljösta hann, J>ä a hann slikan rett a han-
om, sem a brytja sinum; sjalfr a hann tat er auk er sliks rettar,
sem hann a burd" til. En jamndyrr skal bann J>ä at rette, sem hann
vsere skuldlauss,
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Rechte, 23
Satz aus, dass der Schuldige zwar die volle Busse zu ent-
richten habe, wie sie sich nach dem Geburtsstand berechne,
dass aber der Gläubiger von diesem Betrage soviel wegnemen
möge als er für die gleiche Kränkung seiner besten Sklavinn
zu bekommen hätte, wogegen der geborene Erbe des Weibes,
welcher an und für sich die volle Busse zu empfangen hätte,
nur den sich hienach ergebenden Mehrbetrag erhält49). Eine
eigenthümliche Schwierigkeit ergiebt sich dabei für den Fall,
da ein in der Schuldknechtschaft begriffenes Weib sich mit
einem unfreien Manne vergeht. Oben war bereits zu be-
merken Gelegenheit50), dass freigeborene Weiber, welche sich
eines solchen Fehltrittes schuldig machten, der Schuldknecht-
schaft des Königs verfielen, aus welcher sie sich durch eine
Zahlung im Betrage von 3 Mark zu lösen hatten; auf die
skuldarkona angewandt, musste diese Regel aber zu einem
Conflicte der Rechte des Königs mit denen des Schuldglaü-
bigers führen. Da entscheidet nun unsere Stelle, dass des
Königs Amtmann Nichts an das Weib zu fordern haben solle,
solange dieses nicht seine Schuld abbezahlt habe51), und sie
lässt demnach das Recht des Königs dem Rechte des Privat-
glaübigers nachstehen, ganz wie derselbe Grundsatz auch in
einer Reihe von anderen Fällen zur Anwendung kommt52).
Eine weitere Besonderheit, welche die Busssachen der Schuld-
knechte zeigen, ist ferner die, dass der König für die Ver-
letzung eines solchen nur unter der Voraussetzung ein Ge-
wette erhalten sollte, dass der Verletzte selbst einen Theil
49) G5L., §. 198: Madr a at taka a skuldarkono sinni sh'kan
rett sem a ambott sinni bezto, erfingi $at er auk er, sliks rettar sem
hon ä burfr til.
50) oben, S. 12, Anm. 25.
51) GJ>L., §. 71: En ef skuldarkona legsk med- fcrsele, J»a ä är-
madr ecki a henne fyrr en hon hafe goldet hina skuld.
.52) vgl. z. B. GJL. §. 162; 189; FrjL., IV, §. 22; Bjark. R,
II, §. 33, und III, §. 91.
24 Sitzung der pliilos.-philol Classe vom 3. Januar 1874.
der Busse bezog53); für Verletzungen also, welche dem
Schuldknechte von seinem Gläubiger oder dessen Hausgenossen
zugefügt wurden, wurde kein Gewette bezahlt. Im Uebrigen
soll der Gläubiger seinen Schuldknecht wesentlich ebenso
behandeln, wie er seine unfreien Leute behandelt. Auf der
einen Seite darf er ihn also zur Arbeit anhalten ganz wie
diese, und zwar nötigenfalls sogar unter Anwendung von
Schlägen; auf der anderen Seite aber soll er ihm auch ein
Peculium (orka) verstatten, wie den Sklaven ein solches ver-
stattet zu werden pflegte54). Der Ausdruck „neyta", ge-
messen, gebrauchen, wird in der ersteren Beziehung gebraucht,
ganz wie wir an einer Reihe anderer hieher gehöriger Stellen
die Bezeichnung „fenjta" in gleichem Sinne gebraucht fanden55).
Das letztere Wort wird anderwärts auch für die vermögens-
rechtliche Ausnützung von Unfreien verwendet56), und sogar
für den Gebrauch lebloser Güter, wie etwa von Strandholz57)
oder Strandwalen58), oder auch anderer Fahrhabe59); es be-
zeichnet sehr charakteristisch die sachenrechtliche Behandlung
des Schuldknechtes, lässt uns aber allerdings darüber im
Unklaren, ob der Ertrag seiner Arbeit ihm auf seine Schuld
angerechnet worden sei oder nicht. Wird der Schuldner
während der Dauer seiner Schuldknechtschaft arbeitsunfähig,
53) Engan ä konongr rett a skuldarmamie, J>ar sem själfr liann
ä engan rett a ser.
54) Nu skal hann neyta skuldarmann sinn sem J>rsel sinn, ok sva
foera hann til verka; Ja skal orko gefa hänom sem Jraelom sinum.
55) vgl. Frl. L., II, §.2; X, §.39; Bjark. R., III, §.163; E*L.,
I, §. 45; oben, S. 9, Anm. 18 und 15, Anm. 34, dann 16, Anm. 35.
56) Kgsbk, §. 111, S. 191; Vigsl., cap. 108, S. 155; so wohl
auch Gl>L., §. 20, wo jedoch ein „eigi" zu feien scheint.
57) Landab rb., cap. 52, S. 357.
58) Arna bps s., cap. 58, S. 760.
59) Flateyjarbok, II, S. 274; die geschichtl. Olafs s.
helga, cap. 131, S. 154, Heimskr., cap. 151, S. 408, und FMS,
IV, cap. 137, S. 340, brauchen das Adjectiv fenytr oder feneytr.
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Hechte. 25
so hat ihn der Gläubiger zu alimentären ; doch kann derselbe
von der ihm drohenden Verpflichtung sich dadurch frei
machen, dass er demselben seine Schuld bereits zu einer Zeit
erlässt, in welcher er noch arbeitstüchtig ist, und in welcher
ihm die Schuldknechtschaft somit noch Vortheil, und nicht
blos Nachtheil bringt. Die Alimentationspflicht trifft solchen-
falls die Verwandten des bisherigen Schuldknechtes, wie wenn
dieser niemals in Schuld genommen worden wäre60). Erzeugt
ein Schuldknecht während der Dauer seiner Schuldknechtschaft
Kinder, so liegt deren Unterhalt zunächst ihm selber ob,
ganz wie auch der Unfreie für den Unterhalt seiner Kinder
in erster Linie mit seinem Peculium aufzukommen hat61);
eventuell aber hat hier der Gläubiger wie dort der Eigen-
tümer die Alimentationslast zu übernemen. Doch soll beim
Schuldknechte letzterenfalls der Betrag der Schuld, für welche
er verhaftet ist, um den vollen Betrag der ausgelegten Ali-
mentationskosten sich vermehren, und von dem Augenblicke
an, da die Schuld zufolge dieser Vermehrung den vollen
Werth des Schuldknechtes zu übersteigen beginnt, die Ali-
mentation etwaiger weiterer Kinder desselben seine Ver-
wandten und nicht mehr seinen Gläubiger treffen62). Wie
dabei hinsichtlich der Abschätzung des Werthes verfahren
wurde, wird uns nicht gesagt; indessen kommt auch sonst
60) Nu faer hann eigi goldit skuld, ok eldisk hann ä hendr J>eini
manne er ä at honum skuld, ok verdr hann at ümaga, J>ä er hann
hans ümage. Hann a ok kost at gefa hanom skuld meäan hann er
verkfcerr; )>a hverfr hann ä hendr frsendom, Jo at hann verär at
ümaga.
61) vgl. GJ>L., §. 57.
62) Nu ef skuldarmao"r getr börn, ])ä er vel ef hann ä själfr fe
til at fela börn sin af hendr ser; en ef hann a eigi sjalfr fe til, ]>ä
skal sä fela, er skuld ä at hanom ; 5ä eyksk hänom skuld sva miklu
sem hann felr börn hans af hendr ser , sy sli J>eir bäfrer um sta^ barne-
Nu skal skuld aukast hänom til hann fcykkir fulldyrr at veröe. En
ef hann gerir börn sva mörg, H skolo frsendr hans taka vi# börnom
stöan, hvegi mörg sem eru.
26 Sitzung der philos.-philol Classe vom 3. Januar 1874.
die Taxirung des Werthes von Menschen im Rechtsbuche
vor63), sodass dieselbe an und für sich nichts Auffälliges hat.
In einem Punkte unterscheidet sich übrigens die Behandlung
des Schuldknechtes sehr wesentlich von der des Unfreien.
Der Gläubiger durfte nämlich seinen Schuldner nicht als
Sklaven verkaufen, wenn er nicht ganz denselben Strafen
verfallen wollte, mit denen der Verkauf jedes anderen Freien
bedroht war, es sei denn dass dieser sich seinem Dienste
durch die Flucht zu entziehen suchte; aber in diesem letzteren
Falle verfiel der Schuldner, wie sich unten noch zeigen wird,
ohnehin der Unfreiheit, sodass auch solchenfalls unsere Regel
keine Ausname erleidet 64). Den Verkäufer sowohl als den
Käufer, wenn anders auch dieser letztere um den wahren
Sachverhalt wusste, soll eine Strafzahlung von je 40 Mark
treffen, und wenn dabei gesagt wird, dass der Landherr
(lendr maSr), der eines solchen Vergehens sich schuldig macht,
diese Zahlung halb an den König und halb an die Angehörigen
des Volklandes entrichten solle, der Amtmann (arma8r) des
Königs dagegen ganz an diese letzteren, so ist diess nur der
Ausfluss einer Regel, welche auch in anderen Fällen beobachtet
wurde 65) , und welche mit der verschiedenen Würde und
dienstlichen Stellung beider Classen königlicher Bediensteter
zusammenhängt.
63) vgl. GJ>L., §. 57.
64) Nu ef madr selr skuldarmann mansale, nema hann laupi or
8kuld, t>ä er hann sekr 40 marka, ok svä hverr er frjälsan mann selr.
En ef lendrmadr selr, J>ä skal hann halft kononge gjalda, en hälft
fylkismönnum. En ef ärmaö"r konongs selr, M skal hann gjalda
40 marka fylkismönnum. — — Engl madr skal selja frjälsan mann
mansale, en ef hann verehr at I>vi kunnr ok sannr, )>a skal hann gjalda
40 marka, ok svä hinn er kaupir, ef hann veit, at hann var frjäls.
Ef mad*r selr mann frjälsan ä heidi t land, l»ä skal hann gjalda
40 marka, ok koma hänom aptr, ellar gjalda hann gjöldum aptr
fraendum häns.
65) vgl. z. B. GJ>L. §. 152 und 253.
Maurer: SchuldTcnechtschaft nach altnordischem Hechte. 27
Es kann nun aber vorkommen, dass der eine oder an-
dere Theil die Beendigung der Schuldknechtschaft
durch Zahlung der Schuld herbeizuführen wünscht, für welche
der Schuldknecht verhaftet ist, und auch für diesen Fall ist
in unserer Stelle Fürsorge getroffen. Ist es der Schuldner,
welcher dem Verhältnisse ein Ende machen möchte, so gilt
es für ihn eben einfach die Mittel zur Zahlung aufzutreiben.
Er kann aber von seinem Gläubiger auf einen halben Monat
Urlaub verlangen, um sich innerhalb des Volklandes um diese
umzuthun; überschreitet er jedoch diese Grenzen, oder ver-
lässt er heimlich seinen Dienst, so wird diess als widerrecht-
liche Flucht angesehen, und zieht ihm die Strafe der Sklaverei
zu66). Ist es umgekehrt der Gläubiger, welcher sein Geld
heraus verlangt, so hat widerum zunächst der Schuldknecht
selbst dafür zu sorgen, wie er es auftreibe; thut er diess
nicht, so mag ihn der Gläubiger vorab seinen Verwandten
anbieten, sodann aber, wenn ihn diese nicht kaufen wollen
oder können, ihn im Inlande verkaufen an wen er will, je-
doch nicht um einen höheren Preis als den Betrag der Schuld,
für welche er verhaftet ist67). Während demnach eine Ver-
aüsserung des Schuldknechts als Sklaven bei strenger Strafe
verboten war, wurde ein Verkauf desselben als Schuldknecht,
oder anders ausgedrückt: eine Veraüsserung der Schuld, welche
auf ihm ruhte, mit dem diese Schuld sichernden Rechte an
seiner Person, allerdings als zulässig betrachtet, wenn auch
66) Nu skal hann I>ar vera, ok fä $a aura er hann er fastr; ef
hann vill eigi 5ar hafa verit, J>a skal hann eiga uinhvarf hälfan
manad4 innan fylkis at sysla um skuld l>a er hann a at gjalda. En ef
hann ferr huldu hoffte, eda 6r fylki, I»ä er hann J>r»ll, ef hinn tekr
hann, er skuld a at hänom.
67) Nu vill sa aura hafa af skuldarmanne sinom, $ä er vel ef
hann sy'slar själfr um. En ef hann vill eigi själfr um sysla, M skal
hann bjofta frsendom ; l>ä er vel ef ]>eir vilja hafa keypt, ellar skal
hann selja hann hvert er hann vill innan lauds, ok selja at aurum
eigi meirum en hann var fastr.
28 Sitzung der philos.-pMlöl. Glasse vom 3. Januar 1874.
nur unter gewissen beschränkenden Voraussetzungen. Auch
der Fall wird ferner speciell vorgesehen, da sich der Schuld-
knecht gegen seinen Gläubiger widerspenstig erweist und nicht
für ihn arbeiten will; die härtesten Massregeln werden für
diesen Fall in Aussicht genommen. Der Gläubiger soll
nämlich seinen trotzigen Schuldner zum Ding führen, und
hier seinen Verwandten zur Auslösung anbieten; wollen oder
können ihn diese aber nicht auslösen, so darf der Gläubiger
von ihm beliebig welche Stücke herunterhauen, sei es nun
von oben oder von unten, d. h. er darf ihn beliebig ver-
stümmeln68). Die letzteren Worte auf ein bloses Züchtigungs-
recht zu beziehen, wie neuerdings versucht wurde69), scheint
mir nicht zulässig; der Wortlaut der Stelle sowohl als die
Vergleichung zweier anderer, oben bereits besprochener
Stellen scheint mir für die obige Deutung zu sprechen, und
das nochmalige Anbieten an die Verwandtschaft, an welchem
man Anstoss genommen hat, dürfte sich vollkommen befrie-
digend aus dem neuen und ungleich härteren Prsejudice er-
klären, welches in diesem Falle an die Verweigerung der
Auslösung sich knüpfte. — Endlich berücksichtigt unsere
Stelle auch noch die Möglichkeit, dass ein freier Mann als
Schuldknecht behandelt wird, ohne doch in rechtsgültiger
Weise in Schuldhaft genommen worden zu sein70). Ein solcher,
heisst es, soll zum Ding gehen, und sich hier aus der Schuld
ziehen, ohne dass er zu solchem Behufe Jemanden eine Ladung
zugehen zu lassen brauchte; aller Wahrscheinlichkeit nach
68) Nu bydr maJr Erjot Jeim er skuld a at hanom, ok vill eigi
vinna fyrir hanom, foere haim a I>ing ok bjofre fraendom at leysa hann
6r skuld Jeirri. Nu vi! ja freendr eigi leysa hann, li skal sa er skuld
ä at hanom, eiga kost at höggva af hanom hvärt sem hann vill, ofan
eda nefran.
69) von Amira, S. 265.
70) Nu kemr frjäls madr i skuld, ok er eigi rett tekinn i, Ja
skal hann fara a 5ing, ok brigda sik 6r skuld; J»arf hann engum
manne at stefna til.
Maurer: SchuldJcnechtschaft nach altnordischem Hechte. 29
will demnach ohne Rücksicht darauf, ob der angebliche
Gläubiger am Dinge anwesend oder nicht anwesend war, der
blosen am Dinge vorgebrachten Erklärung des angeblichen
Schuldknechtes die Wirkung beigelegt werden, dass derselbe
einstweilen als von der Schuldhaft frei zu gelten hat, bis
der Gegner den Beweis ihrer rechtmässigen Begründung er-
bringt. Ein derartiger Satz wird aber dadurch begreiflich,
dass die vertragsmässige Begründung der Schuldhaft volle
Publicitset voraussetzte, und dass doch wohl auch bei deren
einseitiger Verhängung, soweit solche überhaupt zulässig war,
eine nachträgliche öffentliche Bekanntmachung nothwendig
gewesen sein wird, obwohl allerdings unsere Quellen dieses
Erfordernisses keine Erwähnung thun.
Man sieht, das Bisherige lässt die Stellung sehr genau
erkennen, welche der Schuldknechtschaft im altnorwegischen
Rechte eingeräumt war. Auf der einen Seite war dieselbe der
Unfreiheit sehr änlich gestaltet, wie denn zumal die Ver-
pflichtung des Schuldners, für den Gläubiger zu arbeiten,
die Beschränkung seiner Freizügigkeit, seine Rechtlosigkeit
dem Gläubiger und seinen Hausgenossen gegenüber, dann
der dem Gläubiger eingeräumte ßussbezug für seine Verletz-
ung den Schuldknecht dem Sklaven sehr nahe rückt. Auf
der anderen Seite werden aber beide Dienstverhältnisse doch
wider scharf geschieden, wie sich diess zumal darinn zeigt,
dass unter Umständen der Schuldknecht zur Strafe für sein
widerrechtliches Verhalten zum Unfreien gemacht wird, und
dass dessen Verkauf als Schuldknecht unter Umständen er-
laubt ist, während sein Verkauf als Unfreier der strengsten
Strafe unterliegt. Es kann nicht schwer halten den Punkt
ausfindig zu machen, auf welchem sich beide Institute zweien.
Die Unfreiheit ist auf die Dauer berechnet; sie drückt den
ihr Unterworfenen Zeitlebens, und geht selbst für alle Zukunft
auf dessen Nachkommen über, bis ihr etwa eine rechtsförm-
liche Freilassung ein Ende macht, deren Eintritt doch rein
30 Sitzung der phüos.-pliilol. Classe vom 3. Januar 1874.
aüsserlich in den Bestand des Verhältnisses eingreift, ohne
irgendwie in dessen Natur begründet zu sein. Die Schuld-
knechtschaft dagegen ist ihrer innersten Natur nach nur zu
vorübergehendem Dasein berufen; sie steht und fällt mit der
Schuldforderung, zu deren Gunsten sie entstanden ist, und
wie bei der Eingehung eines Schuldverhältnisses bereits dessen
Untergang durch Zahlung der Schuld ins Auge gefasst ist,
so trägt demnach auch die Schuldhaft von Anfang an den
Keim ihrer Auflösung in sich. Mit anderen Worten: die
Freiheitsrechte, welche dem Unfreien fehlen, sind bei dem
Schuldknechte nur suspendirt, und selbst während der Zeit,
in welcher sie suspendirt sind, muss doch immerhin die stets
vorhandene Möglichkeit ihres sofortigen Widerauflebens im
Auge behalten, und die Thatsache anerkannt bleiben, dass
der verhaftete Mann im letzten Grunde seines Wesens eben
doch frei, nicht unfrei sei. Ein gewisser Zwiespalt kommt
von hier aus ganz unvermeidlich in das letztere Institut herein,
und wenn sich zwar alle Seiten seiner rechtlichen Ausprägung
vollkommen folgerichtig aus dessen doppelter Natur ableiten
lassen, so lässt sich doch nicht verkennen, dass die Grenze,
bis zu welcher man den einen und den andern der beiden
streitenden Gesichtspunkte durchführen wollte, im Einzelnen
eine willkürlich gezogene war, und dass das Institut somit
auch recht wohl eine mehrfach andere Gestalt hätte annemen
können, ohne darum minder consequent ausgebildet zu er-
scheinen. — Praktisch genommen verfolgt die Schuldknecht-
schaft ferner den Zweck der Sicherstellung einer Forderung,
und sie tritt ebendarum dem Pfandrechte an die Seite; wenn
wir aber im altnorwegischen Rechte eine doppelte Art der
Verpfändung unterschieden sehen, so ist es die malajörS
oder forsölujörS, nicht das veS, deren Analogie sie folgt71).
71) vgl. L. M. B. Aubert, Kontraktspantets historiske Udvikling
isser i dansk og norsk Ret (1872), und meine Bemerkungen über
diese Schrift in der Krit. Vierteljahresschrift, Bd. XV, S. 237 u. fgg.
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Rechte. 31
Von einem Verfallen des Pfandes im Falle nicht rechtzeitiger
Tilgung der Schuld, wie solches beim veS eintrat, war bei
der Schuldknechtschaft nicht die Rede; die Sicherung des
Gläubigers beruhte bei ihr vielmehr ganz wie bei jener
ersteren Art der Verpfändung lediglich auf dem Besitze und
Genüsse des Pfandobjectes, auf dem Einflüsse welchen die
Entbehrung dieses Besitzes auf den Willen des Schuldners
ausüben musste, endlich auch auf jenem bedingten und be-
schränkten Distractionsrechte, welches dem Gläubiger einge-
räumt war. Interessant wäre zu wissen, ob die Arbeit, welche
der Schuldknecht während der Dauer seiner Schuldhaft ver-
richtete, ihm auf seine Schuld angerechnet wurde oder nicht.
Der an einer der obigen Stellen gebrauchte Ausdruck „launa
af ser"72) möchte für die bejahende, der Umstand dass unsere
Rechtsbücher nirgends Vorschriften über die Feststellung des
Werthes der Arbeit u. dgl. enthalten, umgekehrt für die ver-
neinende Antwort sprechen; mag sein, dass es auch in dieser
Beziehung änlich stand wie bei der mälajörS, bei welcher
die aus dem verpfändeten Lande gezogenen Früchte ur-
sprünglich nicht auf die Schuld verrechnet worden waren,
wahrend später in dieser Beziehung der Gebrauch schwankte.
Jedenfalls erinnert aber die für die Eingehung der Schuld-
knechtschaft vorgeschriebene Publicitaet, sowie die Notwen-
digkeit, den Erben des Schuldners dabei den Einstand an-
zubieten, wider an die Vorschriften über die Begründung
jenes' Immobiliarp fandrechtes ; wenn ferner Weiber nur mit
Zustimmung ihrer Verwandtschaft sich in Schuld geben dürfen,
so wird man nicht umhin können sich zu erinnern, dass zwar
unsere norwegischen Rechtsbücher die Weiber bei der Ver-
aüsserung von Liegenschaften nicht ausdrücklich an die Mit-
wirkung eines Geschlechtsvormundes binden, aber doch das
72) vgl. oben, S. 17, Anm. 37.
32 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 3. Januar 1874.
isländische diese zu solchem Behufe fordert73), worinn denn
doch nur ein Ueberrest der älteren norwegischen Rechts-
anschauung erkannt werden kann. Vollkommen consequent
liess sich freilich die Analogie des Immobiliarpfandrechtes
bei der Schuldknechtschaft nicht durchführen, da die Eigen-
schaft des Pfandobjectes als einer Person, nicht Sache, bei
dieser eben doch gar manche Eigentümlichkeit bedingte.
Zum Schlüsse mag noch bemerkt werden, dass die
Schuldknechtschaft in der späteren norwegischen Ge-
setzgebung nur noch in sehr abgeschwächter Gestalt auf-
tritt. Nach dem gemeinen Landrechte, und ebenso nach der
Jönsbök74), soll nämlich der Gläubiger von einem Schuldner,
welcher unbescholtenen Rufs und erweislichermassen durch
Schiffbruch, Feuer oder einen anderen derartigen Unglücks-
fall um sein Vermögen gekommen ist, nicht mehr fordern
dürfen als das eidliche Versprechen, dass er seine Schuld
sofort berichtigen werde, sowie ihm Gott zu den nöthigen
Mitteln verhelfe. Kann sich dagegen der Schuldner auf keine
derartige Unglücksfälle berufen, so mag ihn der Gläubiger
in Haft nemen und zum Ding führen; hier hat er ihn sodann,
seiner Fesseln entledigt, seinen Verwandten zur Auslösung
um den Betrag der Schuld anzubieten, und wenn diese ihn
auszulösen ablehnen, wird ihm, wenn er anders arbeitsfähig
ist, durch Urtheil und Recht die Verpflichtung auferlegt,
seine Schuld durch Arbeit abzuverdienen, jedoch so, dass er
seinen Verdienst da suchen mag wo er ihn findet, und nur
für den Fall, dass er sich dieser Verpflichtung durch die
Flucht zu entziehen sucht, einer im Processwege zu reali-
sir enden Strafe verfällt. Im gemeinen Stadtrechte kehrt im
73) Kgsbk, §. 152, S. 45; Festa>., cap.21, S. 334, undLanda-
brb., cap. 2, S. 214—16.
74) Landslög, Kaupab., §. 5; Jonsbok, Kaupab., §. 7.
Die Jarnsifra enthält überhaupt keine hieher bezüglichen Bestim-
mungen.
Maurer: Schiddknechtschaft nach altnordischem Rechte. 33
Wesentlichen dieselbe Bestimmung wider75); nur wird sie,
von einigen prozessualischen Besonderheiten abgesehen, dahin
modificirt, dass dem flüchtigen Schuldner statt einer unbe-
stimmten Strafe die Rechtlosigkeit angedroht wird. Von
einer Schuldhaft ist demnach hier im Grunde überhaupt nicht
mehr die Rede, und ebendarum wird man diese späteren
Rechtsvorschriften auch nicht dazu benützen dürfen, um auf
die allgemeine Verwendung der Schuldknechtschaft als Voll-
streckungsmittel bei beliebig welchen Schuldforderungen im
älteren Rechte Schlüsse zu ziehen.
IL Das isländische Recht.
Die Terminologie des isländischen Rechts ist in Bezug
auf unser Institut ziemlich dieselbe wie die des norwegischen;
doch fehlt es nicht an einzelnen geringen Verschiedenheiten
des Sprachgebrauches. So wird z. B. für die Schuldknechte
vergleichsweise selten die einfache Bezeichnung skuldar-
menn gebraucht76), während regelmässig die in solenner
Weise verstärkte Form lögskuldarmaSr, lögskuldar-
kona verwendet steht; als skuldfastr oder skyldfastr
wird derjenige bezeichnet, der der Schuldhaft unterliegt77),
und als skuldfesta das Versetzen eines Menschen in die
Schuldhaft78), sowie als skuldfestr der Act dieses Ver-
setzens79). Eine Reihe anderer Ausdrücke, welche theils die
Begründung der Schuldknechtschaft, theils das Verharren in
derselben, oder wider die Lösung aus derselben zu bezeich-
nen pflegen, wird unten noch gelegentlich anzuführen sein.
75) Bjark. R., Kaupab., §. 13.
76) z. B. Kgsbk. §. 9, S. 26; §. 14, S. 31; §. 44, S. 78; §. 110,
S. 189; KrR. hinn gamli, cap. 18, S. 94; cap. 23, S« 110—12;
Vigslofri, cap. 111, S. 162.
77) Kgsbk, §. 128, S. 4; §. 96, S. 171; dmagab., cap. 1,
S. 233; Vigslotfi, cap. 36, S. 70.
78) Kgsbk, §. 128, S. 4; Omagab., cap. 1, S. 233; Festal».,
cap. 47, S. 362—3.
79) Kgsbk, §. 44, S. 78; dann FestaJ., cap. 48, S. 363,
[1874,1. Phil. bist. Cl.] 3
34 Sitzung der yhüos.-philöl. Classe vom 3. Januar- 1874,
Auch die rechtliche Ausprägung der Schuldknechtschaft
war auf Island eine ziemlich änliche wie in Norwegen; da
dieselbe aber in den isländischen Rechtsbüchern immer nur
gelegentlich erwähnt, dagegen nirgends zusammenhängend
besprochen wird, ist es nicht leicht, über dieselbe völlig ins
Klare zu kommen, und zwar macht auch hier wider vor
Allem die Frage nach der Begründung der Schuldhaft
Schwierigkeiten. Die einzelnen Fälle, in welchen diese in
den Rechtsbüchern besprochen wird, sind folgende. Wo im-
mer Jemand verpflichtet ist die Alimentation eines Anderen
zu übernemen, da soll er berechtigt sein diesen für die
hierauf erlaufenden Auslagen in Schuld zu nemen80); nur
darf diess nicht für einen höheren Betrag geschehen, als
welchen der Werth des Belasteten erreicht, und muss über-
diess die nöthige Publicity dem Acte gegeben werden. Es
ist nur eine specielle Anwendung dieser Regel, wenn ander-
wärts ausgesprochen wird81), dass derjenige, welchem ein
Dieb gerichtlich als Sklave zugesprochen worden ist, und
welcher demgemäss die bisher von diesem verpflegten Per-
sonen nun seinerseits alimentiren muss, diese letzteren be-
züglich der Verpflegungskosten in Schuld zu nemen befugt
sein solle. Wenn ferner ein Mann, dessen Aeltern alimen-
tationsbedürftig werden, nicht im Stande ist diese selbst zu
alimentiren, so muss zwar der nächststehende Verwandte,
dessen Vermögen hiezu hinreicht, deren Verpflegung über-
nemen; aber derselbe hat das Recht, den Sohn für deren
Betrag in Schuld zu nemen 82). Dabei soll zunächst der
80) Oma gab., cap. 30, S. 292: f>ä er omagar koma ä hönd manni,
Ja a hann kost at leggja lögskuld ä omaga, ok segja til büum sinum
5, ok a Jingi, ok banna innihafnir hans, ok leggja eigi meiri skuld
ä enn hinn er verd*r.
81) Kgsbk, §.229, S. 165: sä a kost at leggja lögskuld a
omaga trselsens.
82) Kgsbk, §. 128, S. 3—4: Ef hann hefir eigi fe til, H skal
hann ganga i skuld fyrir mofror sina. Nu Jarf fafrir hans heldr
Maurer: SchulcTknechtschaft nach altnordischem Hechte. 35
Sohn diesen Verwandten aufsuchen, und ihm anbieten, bei
ihm in Schuld zu gehen, wobei jedoch auch wider seine
Verpflichtung nicht über den Werth hinausreichen soll, welchen
er hätte, wenn er ein Unfreier wäre; wenn er sich aber
diesem Schritte entzieht, soll der Verwandte berechtigt sein
ihn seinerseits in Schuldhaft zu nemen, indem er ihn nöthigen-
falls auch ohne seine Anwesenheit an seinem Domicile förm-
lich auffordert, sich bei ihm einzufinden, und wenn diess
Nichts hilft, ihm die Schuld ohne Weiters auflegt, wovon
sodann vor 5 Nachbarn, und weiterhin am Alldinge Anzeige
zu machen ist. Hinter der Alimentationspflicht gegen die
Aeltern steht sodann die gleiche Verpflichtung gegen die
eigenen Kinder; auch für diese muss man nöthigenfalls in
Schuld gehen, soferne man nicht etwa vorzieht, die Kinder
selbst in Schuld zu geben, und haben die Aeltern zwischen
beiden Auswegen freie Wahl83). Es ist im Grunde nur eine
framförslo, Ja skal ganga i skuld fyrir hann. Ef hann hefir gengit
1 skuld fyrir foäor sinn, enda Jurfe möfrir hans framförslo sfdan, Ja
a fafrir hans at hverfa til freenda sinna at framförslonne, enn hann
skal ganga i skuld fyrir modor sina. Ef hann hefir eigi fe til at
füra lau fram Ja skal hann fara Jangat er enn nänaste nidr er Jeim
Jeirra manna er fe ä til at föra Jau fram; Ja skal hann bjöäa J>eim
manne at ganga i skuld fyrir tau Jar ; skalat hann meire skuld eiga
enn hann veere verdr ef hann vseri Jreell. Ef hann vill eigi
ganga i skuldena, Ja ä hinn Jö at skuldfesta hann at hväro. Enn
ef hann vill firrazk hann e£a flöja, Ja skal hann fara til heimilis
hans, ok beida hann tilfarar; enn ef hann vill eigi til fara, Ja skal
hann leggja lögskuld ä hann at hvaro, ef hann vill; ly§a skal hann
fyrir heimilis buom sinom 5. Hann skal ly'sa at lögbergi, at hann
hefir lögskuld läget a hann, enda ä hann kost alengr at verja lyriti
innehöfn hans, ok svä at Jiggja verk at hanom. Ebenso 0 mag ab.,
cap. 1, S. 232 — 4, wo aber vor den Worten „skalat hann meire skuld
eiga", eingeschoben ist: „Skalat hann meiri skuld eigä, enn hann
leggr fyrir Jau avaxtalaust, Jott sä leggi meira fe fyrir Jau, oku;
ferner nach den Worten: „ef hann vill eigi ganga i skuldina", „vnt
Jann mann er framförir födor hans ok modor ok börn".
83) Kgsbk, §. 128, S. 4—5: Mafa a kost hvärt sem hann vill
3*
36 Sitzung der philos.-pMol Classe vom 3. Januar 1874,
eigentümliche Anwendung jenes ersteren Satzes, wenn an-
derwärts ausgesprochen wird, dass der Patron eines ver-
armten Freigelassenen, welcher wegen Unvermögendheit der
Kinder dieses letzteren dessen Verpflegung zu übernemen
hat, berechtigt sein solle, diese Kinder für den zu machenden
Aufwand in Schuld zu nemen84), natürlich auch wider mit
der Einschränkung, dass die Kinder in keinem Falle für
einen höheren Betrag verhaftet werden dürfen als welchen
ihr Werth erreichen würde, wenn sie unfreien Standes wären.85)
Da nämlich nach der oben ausgesprochenen Regel der nächste
Verwandte, der wegen Armut der Kinder ihre Aeltern ali-
mentiren muss, berechtigt erscheint, für den Betrag der Ver-
pflegungskosten die Kinder in Schuld zu nemen, so ist es
nur consequent, wenn das gleiche Recht für den analogen
Fall auch dem Freilasser eingeräumt wird. Ich kann übrigens
die von Vilhjalmr Finsen aufgestellte Behauptung86), dass die
den Aeltern auferlegte Verpflichtung, für ihre bedürftigen
Kinder in Schuld zugehen, falls sie nicht vorziehen diese ihrer-
seits in Schuld zu geben, erst späteren Rechtens sei, keineswegs
begründet finden. Dass eine oben bereits mitgetheilte Stelle nur
at gänga i skuld fyrir born sfn, eäa selja Jau i skuld ella; sit barn
skal hverr madr fram fcera a lande her; Oma gab., cap. 1, S. 234
und nochmals cap. 27, S. 283, ganz gleichlautend.
84) Kgsbk, §.134, S. 17: fess a hann kost ef leysi'ngrinn kömr
a hendr honom, at taka bornen i skuld, hvart sem hann vill fleire
eda fsere, ef til ero, ä 5eim 12 manoä'om er leysinginn kömr a hendr
honom; Omj,gab., cap. 11, S. 265—66: |>ess a hann kost ef leysfnginn
kömr a hendr hanom, at taka börnin i jammikla skuld, sem hann
leggr fyrir omagan hvärt sem hann vill fleiri edr feerri, ef til ero,
A ]?eim 12 mänadum skal I>at göra, er leysinginn kömr ä hendr hänom.
85) Omagab., cap. 30, S. 292: A J>eim 12 manafrom skal hann
gera, er leysinginn kömr a hendr hänom, jammikla skuld, sem hann
leggr fyrir omagan. Eigi skolo I>au meiri skuld eiga, enn $au veri
verd", ef l>au veri nauftig (leg. änauftig), £6tt hann leggi meira fe
fyrir omagan.
86) Annaler for nordisk Oldkyndighed, 1850, S. 132—33.
Maurer: Schuläknechtschaft nach altnordischem "Rechte. 37
nach dem Texte der StaSarholsbök, nicht auch der Konüngsbok
jener Verpflichtung der Aeltern Erwähnung thut,87) ist völlig
irrelevant, da jene Stelle ihrem ganzen Zusammenhange nach
eben nur von der Verpflichtung der Kinder zur Alimentation
der Aeltern zu handeln hatte, sodass jene Einschaltung in
der StaSarholsbök geradezu störend wirkt, und wenn ein
paar andere Stellen die den Aeltern obliegende Alimentations-
pflicht erörtern, ohne dabei der Schuldknechtschaft zu er-
wähnen88), so ist auch daraus kein Schluss zu ziehen, da
dieselben eben nur die Vertheilung der Last zwischen Vaters-
seite und Muttersseite besprechen, wobei die andere Frage
denn doch ganz wohl unberührt bleiben konnte, wieweit die
Aeltern den hinter ihnen berufenen Verwandten für die um
ihrer eigenen Vermögenslosigkeit willen ihnen erwachsenen
Verpflegungskosten persönlich verhaftet seien oder nicht.
Endlich ist zwar allerdings richtig, dass das Heidenthum die
Aussetzung der Kinder gestattete ; aber richtig auch, dass es
dieselbe nur unmittelbar nach der Geburt gestattete, ehe das
Kind noch die Wasserweihe erhalten hatte89), und dass so-
mit auch vor der Zeit, da zufolge kirchlicher Einflüsse die
Kindsaussetzung gänzlich verboten wurde, bereits recht wohl
eine Alimentationspflicht der Aeltern ihren Kindern gegen-
über in Frage kommen konnte. — Widerum kann ein Weib,
welches sich eines ausserehelichen Beilagers schuldig gemacht
hat, und von welchem der Klagsberechtigte in Folge dessen
eine Busse zu erheben hat, von diesem für deren Betrag in
Schuld genommen werden, falls es nicht im Stande ist den-
87) vgl. Omagab., cap. 1, S. 233, mit Kgsbk, §. 128, S. 4;
siehe oben, S. 35, Anm. 82.
88) dmagab., cap. 3, S. 236—41; Festal>., cap. 23, S. 336—7;
vgl. Kgsbk, §. 128, S. 5-6, und §. 154, S. 46.
89) Holmverja s., cap. 8, S. 22: J>viat ]>at var morö" kallat, at
drepa börn frä J>vi er $au vom vatni ausin.
38 Sitzung der pliilos.-phildl. Classe vom 3. Januar 1874.-
selben sofort zu erlegen90); nur muss diess gleich bei der
Klage, dem Vergleiche, oder dem Executionsgerichte geschehen.
Auch soll derjenige, welcher für einen Anderen die Busse
zu zahlen übernimmt, welche dieser auf Grund eines Ver-
gleiches wegen eines Fleischesverbrechens zu entrichten hat,
den Bussfälligen für deren Betrag in Schuld nemen, voraus-
gesetzt nur, dass dieser Betrag nicht höher sich belaufe als
der Werth, welchen der Schuldige hätte, wenn er ein Un-
freier wäre91); ja es ist sogar Pflicht des Uebcrnemers der
Zahlung, gegen den Schuldigen in dieser Weise vorzugehen,
und ihm den Ersatz der Busse nicht zu erlassen, ehe er
mindestens die Hälfte derselben abverdient hat, und wird
nur zu Gunsten der Aeltern und Geschwister des Schuldigen
von dieser Regel insoweit eine Ausname gemacht, als diesen
90) Kgsbk, §. 158, S. 53: Ef kona legz med* manne, Ja a afrile
sakar at taka af henne, ef hann vill, 8 aura ens finita tigar, ef hon
a fe til. Nu ä hon eigi fe til, ta skal hann leggja ä hana skuld,
ok segja til at satt, eäa at feränsdomi; Festa $., cap. 36, S. 351;
ferner cap. 48, S. 363—4: )>ess a mao*r ok kost, sa er a&ili er
legortfssakar, ]>ar er kona hefir barn alit laungetit, at heimta at
henni 6 merkor, ef hon ä fe til, ed*a skuldfesta hana ella J>eim
6 mörkom, J>at skal hann msela at heimili kononnar. An der ersteren
Stelle liest die St. statt: at satt, „at sokn".
91) Festa J>., cap. 47, S. 362—3: Ef annarr madr handsalar
satt fyrir mann um legorfrssök, ok skal hann skuldfesta hinn l>vi fe,
ok gefa hanom eigi tat fe, ädr hann hefir unnit halft af ser e&r
meira, nema faä'ir edr moäfir edr bröän* edr systkin hans nokkot
leysi hann undan; J>au eigo at gefa hanom tat fe, er tau vilja. En
ef annarr maör leysir hinn undan, ok skal sa skuldfesta hinn öllo
Jvi fe er hann geldr fyrir hinn, nema hann gjaldi meira enn sä veri
verd'r, ef hann veri Jraell, ok skal hann eigi meira fe skuldfesta, enn
hans ver# veri, ef hann veri i anaud-. Ferner cap. 48, S. 363: J>ar
er madr tekr mann i skuld, 5ä skal hann segja til heimilis büom
5 metf vatta, teim er hanom büa nsestir, til skuldfesti hans, ok svä
at lögbergi et nsesta sumar eptir, enda mä hann 5ä verja lyriti
innihöfn hans ef hann vill. {>ä vardar skoggäng öllom ödrom mönnom,
ef hann hafa inni ok Idggja verk at hanom, ok er tat fimtardoms sök.
Maurer: SchuWcnechtschaft nach altnordischem Bechte. 39
verstattet wird, ihm den Betrag seinem vollen Umfange nach
zu schenken. Auch in diesem Falle ist übrigens der Ver-
hängung der Schuldhaft volle Publicitset zu geben.
Man sieht, in allen diesen Fällen wird dem Gläubiger
das Recht zugesprochen, seinen Schuldner einseitig in die
Schuldhaft zu nemen, sei es nun ohne Weiters, oder doch
wenigstens für den Fall, da sich derselbe nicht von freien
Stücken zum Eintritte in dieselbe erbietet; in einem Falle
wird überdiess den Aeltern gestattet, ihre Kinder einem
Andern anstatt ihrer in Schuldhaft zu geben. Ob aber das
Letztere den Aeltern in allen Fällen erlaubt war, in welchen
sie sich nur durch die Hingabe ihrer Kinder von der eigenen
Schuldhaft befreien konnten, oder nicht, — ob man ferner
jeden Schuldner, dessen Zahlpflicht gehörig feststand, in allen
und jeden Fällen als Schuldknecht in Anspruch nemen konnte,
wenn dieselbe von ihm nicht erfüllt werden wollte oder konnte,
oder ob nicht etwa abgesehen von jenen ausdrücklich vor-
gesehenen Fällen ein besonderer Vertrag nothwendig war,
um die Schuldknechtschaft zu begründen, das ist ein Punkt,
über welchen uns die Quellen ohne Aufschluss lassen. Die
häufige Erwähnung der Schuldknechte in denselben lässt
darauf schliessen, dass wenigstens eine vertragsweise Ergebung
in die Haft oft genug vorkommen musste, wenn dieselbe auch
in den Rechtsbüchern nicht erwähnt wird; das Schweigen
dieser Rechtsbücher über deren Verwendung als regelmässiges
Executionsmittel, während sie doch das Verfahren bei der
Execution so sorgfältig und detaillirt besprechen, scheint
andererseits darauf schliessen zu lassen, dass ein derartiger
Gebrauch des Institutes nicht vorgesehen war. Aber freilich,
wie im norwegischen Rechte das dem Gläubiger für den
aüssersten Fall eingeräumte Recht, den insolventen Schuldner
an seinem Leibe zu verstümmeln, indirect dahin wirken
musste, dass dieser gutwillig der Schuldknechtschaft sich
unterwarf, so musste auch auf Island die Acht ebendieselbe
40 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 3. Januar 1874.
Wirkung äussern, welche hier den Schlussstein des ganzen
Executionsverfahrens bildete, und thatsächlich wird hiernach
hier wie dort die Sache allerdings so gestanden haben, dass
der Gläubiger, dessen Schuldner nicht zahlen konnte, und
für welchen auch seine Verwandten die Zahlung nicht auf-
bringen wollten oder konnten, sich an dessen Person halten
mochte.
In den sämmtlichen oben aufgezählten, und wohl auch
in allen anderen Fällen, in welchen eine Schuldknechtschaft
rechtmässig begründet werden wollte, war aber das ein-
zuhaltende Verfahren folgendes. Gleichviel, ob der
Schuldner verpflichtet war, sich von freien Stücken zum
Eintritte in die Schuldknechtschaft zu erbieten (bjöSa at
ganga i skuld; kürzer: ganga i skuld) oder nicht, so ist es
der Gläubiger, welcher denselben in Schuld zu nemen hat
(taka i skuld; leggja skuld, lögskuld, a mann; skuldfesta)
und nicht anders wird es auch in dem Falle gehalten worden
sein, da Aeltern ihre Kinder in Schuld zu geben (selja i
skuld) hatten. Mag sein, dass dabei eine gewisse symbolische
Handlung vorgenommen wurde, eine Ergreifung etwa mit
der Hand; schlechthin nothwendig kann diese inzwischen
nicht gewesen sein, da der Gläubiger über den Schuldner,
der sich ihm durch die Flucht zu entziehen suchte, die
Schuldhaft auch in seiner Abwesenheit verhängen konnte,
falls diess nur an seinem, des Schuldners, legalem Domicile
geschah. Unerlässlich war dagegen eine öffentliche Bekannt-
machung der Verhängung der Schuldhaft (segja til skuldfestis),
und zwar hatte diese zunächst vor den 5 nächsten Nachbarn
des Gläubigers zu geschehen, und sodann am nächstfolgenden
Alldinge vom Lögberge aus widerholt zu werden; mit dieser
Bekanntmachung pflegte, wie es scheint, zugleich ein förm-
liches Verbot gegen jede Aufname oder dienstliche Verwendung
des Schuldknechtes durch andere Personen verbunden zu
werden (verja lyriti innihöfn hans), welches zur Folge hatte,
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Hechte. 41
dass jeder Zuwiderhandelnde der strengen Acht verfiel, und
vor das fünfte Gericht gestellt werden konnte92). In ein-
zelnen Fällen ist eine bestimmte Zeitgrenze gesetzt, innerhalb
deren die Schuldhaft verhängt werden muss, wenn der
Gläubiger sein Recht, sie zu verhängen, nicht einbüssen will93),
oder es muss, wo die Schuld auf einem Vergleiche oder
Urtheilsspruche beruht, die Absicht wegen ihrer zur Schuld-
haft zu greifen gleich bei der Klage, bei dem Vergleiche,
oder längstens beim Executionsgerichte ausgesprochen wer-
den94); generalisiren darf man aber derartige Bestimmungen
ebensowenig als die andere, für einen ganz vereinzelten Fall
gegebene Vorschrift, dass die Verhängung der Schuldhaft
nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht des Gläubigers
sei, von deren Erfüllung derselbe nur unter ganz bestimmten
Voraussetzungen Umgang nemen dürfe95). Dagegen wird
als allgemeine Regel der Satz gelten müssen, dass Niemand
für einen höheren Betrag in Schuldhaft genommen werden
dürfe, als welchen er wirklich schuldig geworden war98),
und dass überdiess Niemand für einen höheren Betrag ver-
haftet werden dürfe, als welcher dem Werthe entspricht,
den er haben würde, wenn er statt frei unfrei wäre; letzteres
ein Satz, welcher um so mehr als allgemein gültig und
wurzelhaft betrachtet werden darf, als auch das norwegische
Recht, wie es uns vorliegt, noch Anklänge an denselben er-
halten zeigt. Als allgemein gültig scheint endlich auch noch
92) Kgsbk, §. 44, S. 78; Njala, cap. 98, S. 150, Anm. d. Vgl.
Festa l., cap. 48, S. 363, oben S. 38, Anm. 91. Im Uebrigen sei
ein für allemal auf die oben schon mitgetheilten Stellen verwiesen.
93) Kgsbk, §. 134, S. 17; oben S. 36, Anm. 84.
94) ebenda, §. 158, S. 53; oben S. 38, Anm. 90.
95) Festa *., cap. 47, S. 362; oben S. 38, Anm. 91.
96) In Omagab, cap. 1, S. 233, wird überdiess ausgesprochen,
dass nur der Capitalwerth der Schuld, nicht auch irgendwelche Ver-
zinsung, dabei in Betracht komme, — ein Ausspruch dessen allge-
meine Anwendbarkeit wohl bezweifelt werden darf.
42 Sitzung der philos.'philol. Classe vom 3. Januar 1874.
die Bestimmung angesehen werden zu dürfen , dass ein
Gläubiger, welcher an den Schuldknecht eines Andern eine
Forderung hat, wegen deren er an und für sich befugt wäre
seinen Schuldner in Schuldhaft zu nemen, berechtigt sein
soll hinsichtlich seiner das Einstandsrecht zu üben, d. h.
ihn aus seiner bisherigen Schuldhaft auszulösen, und dafür
zu seinem eigenen Schuldknechte zu machen97).
Was nun denZustand des Schuldknechtes während
der Zeit betrifft, während deren er in der Schuldhaft begriffen
ist (meSan hann er i skuldinni), so ist einerseits klar, dass
derselbe nicht mit dem des Unfreien zusammenfällt, da ja
widerholt von dem Werthe gesprochen wird, den er hätte,
wenn er ein Unfreier wäre, und da ihm überdiess die Ver-
setzung in die Sklaverei unter Umständen ausdrücklich als
Strafe angedroht werden kann98); andererseits ist aber auch
nicht minder klar, dass sein Verhältniss zu demjenigen, der
ihn in der Schuld hält (er hann hefir i skuldinni), ziemlich
dem des Unfreien zu seinem Herrn änlich ist. Was ein
Schuldknecht an jagdbaren Thieren erbeutet, das gehört
seinem Herrn ganz in derselben Weise wie die Jagdbeute,
welche der Unfreie macht99). Für die Arbeit an Tagen, an
97) Kgsbk, §.128, S. 4: Ef hann er i skuld tekinn äfrr, ok
Jykke J>eim manne betra at hafa hann enn eigi i skuldinne, er hefir
fram at föra annat tveggja fodor hans eda modor, Ja skal hann fara
at bjoda fyrir hann jafn mikit fe sem hann er skyldfastr, ok skal
hann Ja ör leysask Jadan ör skuldinne, en hann gänga hinnveg i
skuldena fyrir fodor sinn efra mödor sina; Omagab., cap. 1, S. 233.
98) Festa J>., cap. 48, S. 363: Nu getr hann launbarn annat
inedan hann er i skuldinni, ok verdr hann Ja Jraell hins, er feit ätt1
at hänom, sva sem hann veri ambattar sonr. En sa er feit galt
fyrir hann, skal vardveita barn hans, ok ala upp i anaud*. En ef
handsalsmadr görir eigi sva, l>ä verdr hann sekr um Jat 6 merkor,
ok ä sä sök er vill, ok skal stefna heiman, ok kvedja til 5 heimilis-
büa a Jingi Jess er sottr er.
• 99) Kgsbk, §. 14, S. 31: a sa bjorn er fyrstr kemr a banasari,
Maurer: SchuläJcnechtschaft nach altnordischem "Rechte. 48
welchen als an Feiertagen das Arbeiten strafbar ist, werden
Schuldknechte ebensowohl wie Unfreie nur unter der Voraus-
setzung in Strafe genommen, dass sie ,,at sinu raSi", d. h.
nicht auf Geheiss ihres Herrn arbeiten100); sind aber freie
Dienstboten zugleich mit den Unfreien oder Schuldknechten
an der Arbeit, so sollen zunächst nur jene ersteren für diese
haftbar gemacht werden, und sie allein werden als frelsingjar, d.h.
freie Leute bezeichnet101). Tödtet ein Schuldknecht seinen
Gläubiger oder dessen Frau, so wird er auf dieselbe grau-
same Weise ums Leben gebracht, wie ein Unfreier, welcher
seinen Herrn umgebracht hat102). Endlich ist auch das Ver-
fahren gegen Schuldknechte, welche sich ihrem Dienste durch
die Flucht zu entziehen suchen, vollkommen in derselben
Weise geordnet, wie das Verfahren, welches flüchtigen Sklaven
gegenüber eingeschlagen wird103). Dieser eigentümlichen
hvergi er land a, nema Jraelar vei^i eda skuldarmenn; Ja ä sä er
fe ätti at Jeim mönnum; KrR. hinn gamli, cap. 23, S. 110 — 12.
100) KrR. hinn gamli, cap. 17, S. 90: Ef ]>reelar manns eifrr
skuldarmenn vinna ä eykäf at sino rafti, ok verda I>eir utlagir um
lat fjorum aurom, ef Jeir eigo ser orkosto. Vgl. auch die in der
nächsten Anmerkung angeführte Stelle.
101) Kgsbk, §.9, S. 26: Ef griö"menn hafa i verki verit, ok
skuldarmenn e#a Jraelar, ok a frelsinga fyrst at saekja. Ef Jeir hafa
unnit a eykt, ok veräa J>eir söttir um, ok verjaz teir mali, ef J»eir
geta l»ann kvifr, at eigi ssei söl, ok Jeir myndi skemr vinna, ef söl
ssei; ]>at er ok bjargkvntr, ef J^at berr, at atfeersla Jeirra veri svä
"litil, at l>eir terdi eigi heim at gänga fyrir ofriki büandans, ok verö*r
büandi l>ar ütlagr, enn eigi J>eir; KrR., cap. 18, S. 92—4.
102) Kgsbk, §. 110, S. 189: Svä et sama skal fara um skuld-
armenn J>ä er at lögom ero i skuld teknir ok er sagt til at lögbergi ;
Vigslofri, cap. 111, S. 162.
103) vgl. Kgsbk, §. 44, S. 78: um innihafnir skuldarmanna ok
um Jrsela ]>eirra er til skuldfestis er sagt her ä aljingi, ok svä I>atf
er menn Jiggja verk at 5eim monnom. Die Worte: Jeirra a
alKngi, sind entweder als eine Randglosse zu: skuldarmanna aufzu-
fassen, oder doch jedenfalls als versetzt zu betrachten Ferner Njäla,
ang. 0.: ok innihafnir Jrsela eö"a skyldarmanna.
44 Sitzung der phüos.-philol Classe vom 3. Januar 1874.
Mittelstellung, welche die Schuldknechte zwischen den freien
und unfreien Leuten einnemen, entspricht denn auch, dass
dieselben auch ihrer sonstigen Freiheitsrechte nicht vollständig
beraubt sind, anderenteils aber auch nicht in deren völlig
ungeschmälertem Besitze sich befinden. So ist der Schuld-
knecht des Erbrechtes fähig, und er wird gelegentlich auch
wohl ausdrücklich als Erbe bezeichnet104); aber er erbt, so-
lange er sich in der Schuldhaft befindet, nur die Fahrhabe,
nicht aber liegende Güter105), doch wohl, weil das von ihm
Geerbte seinem Herren zu Gute kommt, und Liegenschaften
soweit möglich der Familie nicht abhanden kommen sollen.
Ist ein Schuldknecht zur Blutklage um einen erschlagenen
Verwandten berufen, so kann er diese zwar nicht selber an-
stellen, aber er erhält doch von der Todtschlagsbusse soviel
als die Schuld beträgt, für welche er verhaftet ist106), voraus-
gesetzt natürlich, dass der an und für sich ihm gebührende
Betrag diese Summe überhaupt erreicht. Wird umgekehrt
ein Schuldknecht erschlagen, so steht die Blutklage zwar
seinen Verwandten zu wie gewöhnlich, jedoch nur unter der
Voraussetzung, dass sie zuvor dem Gläubiger den Betrag
seiner Schuld ausbezahlen; thun sie diess nicht, so geht die
Berechtigung zur Anstellung der Blutklage auf den Gläubiger
selbst über 107). In änlicher Weise soll die Klage wegen
104) vgl. unten, Anm. 106.
105) Kgsbk, §. 118, S. 225: {>at er, at lögskuldarmadr sä er i
lögskuld er tekinn, er arfi ens frida, enn eigi ens ofrida. Nu er hann
6r skuldinne, ok er hann Ja hvärstveggja arfi; Arfa ]>. , cap. 17,
S. 221.
106) Kgsbk, §. 96, S. 171: |>at er rnaelt, at hvär 5ess er lög-
skuldarmadr er arftökomadr ens vegna, ok skalat hann med" sök fara ;
enn hann a sva mikit fe af botom, sem hann er skuldfastr; Vig-
slod"i, cap. 36, S. 69—70.
107) Kgsbk, §.96, S. 171—2: Ef lögskuldarmadr verdr veginn,
I>a eigo fröndr sök J>a. J>eir skolo bjöda J>eim manne, er fe haföe
att at honom, jafn mikit fe sem hann vseri skuldfastr; enn ef peir
Maurer: SchuldknechUchaft nach altnordischem Rechte. 45
ausserehelichen Beischlafes, welche sonst dem Geschlechts-
vormunde des verletzten Weibes zusteht, von ihrem Gläubiger
erhoben werden, wenn dieselbe in Schuldknechtschaft begriffen
ist; dabei ist aber auch noch der weitere Umstand bemer-
kenswerth, dass die Klage bei der skuldarkona nicht wie bei
dem vollfreien, unbescholtenen Weibe auf die strenge Acht
und eine Busse um 6 Mark, und andererseits auch nicht wie
bei der Sklavinn nur auf die halbe Busse mit 3 Mark geht,
sondern wie bei der Freigelassenen auf Landesverweisung
und die halbe Busse, und nur dann auf die strenge Acht,
wenn diese oder jene einen Sohn freien Standes hat108).
So darf man denn den Schuldknecht als einen in seinen
Freiheitsrechten theils suspendirten , theils aber auch redu-
cirten Menschen betrachten. Für einen Theil der Beschränk-
ungen, welche ihm auferlegt wurden, war wie es scheint ein
Gedanke massgebend, dessen Durchführung ebensogut im
Interesse seiner selbst als im Interesse seines Gläubigers ge-
legen war, der Gedanke nämlich, dass alle Vermögensbeträge,
welche ihm kraft Erbrechts oder kraft eines anderen ver-
wandtschaftlichen Titels zufallen würden, am Zweckmässigsten
bjofra eigi, Ja a sökna sä er feet ätte at enom vegna; Vigslotfi»
cap. 36, S. 70, mit einigen, hier irrelevanten, Zusätzen.
108) Kgsbk, §. 156, S. 48: Ef legit er med* lögskuldarkono,
Ja ä sa sökina, er feit a at henne, enn fjorbaugsgard* vardar. Ef
legit er med* ambatt, Ja sekz mafrr 3 morkom um Jat, ok skal
kvedja til 5 heimilisbüa a Jingi Jess er sottr er. Ef niadr liggr meä*
leysfngs kono, Ja varfrar fjorbaugsgard*, nema barnino vaeri frelsi gefit,
eda sva ef hon a son frjälsan; Ja vard*ar skoggäng, ok skal Ja kvedja
büa heiman til 9, enda ero slik mal um lögskuldar konona, ef hon
ä sonin; Festa J., cap. 25, S. 339—40, wo nach den Worten: „enn
fjorbaugsgard* vaitfar", eingeschaltet wird: „ok hälfr rettr, skalkvedja
ä lingi 9 büa Jadan sem um önnor legord*, nema sä eigi vigt um;
Ja varäar skoggäng. Wegen des vollfreien Weibes vgl. Kgsbk,
§. 155, S. 47-8, und Festa J., cap. 24, S. 338—9, sowie die Klags-
formel in cap. 49, S. 369—70, und öfter. Vgl. übrigens auch die
Belgsdalsbok, §. 50, S. 241-2, und §. 51, S. 242.
46 Sitzung der philo$.~plälöl. Classe vom 5. Januar 1874.
statt seiner an seinen Gläubiger giengen, um die Schuld,
für welche er diesem verhaftet war, zu tilgen oder doch zu
vermindern; denn an eine Abrechnung auf den Schuldbetrag
wird in derartigen Fällen denn doch wohl gedacht werden
müssen, obwohl in den Quellen dieser Gesichtspunkt aller-
dings nicht ausdrücklich hervorgehoben wird. Ausserdem
wird an einer Stelle von einem Abverdienen der Schuld durch
die Arbeit des Schuldknechtes gesprochen109), und auch eine
geschichtliche Quelle erzählt, wie Björn Köreksson von As-
björn Veghamar, seinem früheren Dienstmanne, nachdem
derselbe sich selbstständig nidergelassen, aber sofort eine
Menge von Schulden sich zugezogen hatte, verlangt dass er wider
zu ihm zurückkehre, und seine Schulden abverdiene110); da
auch anderwärts in unseren Rechtsbüchern von einer Abschätzung
des Werthes der von Dienstleuten geleisteten oder zu leistenden
Arbeit die Rede ist, und überdiess die gesetzlichen Bestim-
mungen über den Betrag des Lohnes, welchen freie Dienst-
boten sich ausbedingen durften, in dieser Hinsicht einen
festen Anhaltspunkt gewährten, konnte eine derartige Ab-
rechnung der Arbeit des Schuldknechtes auf seine Schuld
keine besondere Schwierigkeit bieten. Ausserdem war selbst-
verständlich auch die Möglichkeit vorhanden, dass ein Dritter
sich bewogen fühlte durch Berichtigung des Schuldbetrages
den Schuldknecht aus der Schuldhaft auszulösen (leysa ör.
skuldinni; leysa undan)111); war diess freilich ein Gläubiger,
welcher nur von seinem Einstandsrechte Gebrauch machen
wollte, so wurde der Schuldknecht durch die Auslösung
109) Festa J>., cap. 47, S. 362: ädr hann hefir unnit halft af
ser e#a meira; siehe oben, S. 38, Anm. 91.
110) Gunnars J>. Jutfrandabana, S. 366: ok vil ek Jü farir
aptr til vor, ok vinnir af ]>er skuldina.
111) Kgsbk, §. 128, S. 4; dmagab., cap. 1, S. 233; dann
Festa J>., cap. 47, S. 362; siehe oben, S. 42, Anm. 97, und S. 38,
Anm. 91.
Maurer: Schuldknechtschaft nach altnordischem Rechte. 47
nicht frei, sondern nur in die Schuldhaft eines anderen
Herrn gebracht, wogegen ihm die Auslösung in dem anderen
Falle sofortige Freiheit bringen musste, da sie aus Wohl-
wollen für seine Person erfolgte. Eine Beschränkung dieses
Auslösungsrechtes, wie solche demjenigen gegenüber vor-
kommt, welcher wegen einer von ihm verwirkten Unzuchts-
busse der Schuldknechtschaft verfallen war, darf natürlich
ebensowenig generalisirt werden wie der mit ihr aufs Ge-
naueste zusammenhängende Satz, dass solche Leute von
demjenigen in Schuldhaft genommen werden mussten,
welcher für sie die Busse erlegte112). Dasselbe gilt endlich
auch von einer anderen Vorschrift, nach welcher der Schuld-
knecht, welcher einer Unzuchtsbusse wegen in die Schuldhaft
gekommen ist } und nun während ihrer Dauer ein weiteres
uneheliches Kind erzeugt, sammt diesem Kinde der Sklaverei
verfällt, wie wenn er als Sklave geboren wäre, wobei eben-
falls wider dem Gläubiger bei strenger Strafe untersagt ist,
von der Härte des Gesetzes irgend Etwas nachzulassen113).
Allen diesen Bestimmungen liegt augenscheinlich eine ganz
besondere Strenge gegen die Unzuchtsvergehen zu Grunde,
keineswegs aber die allgemeine Beschaffenheit der Schuld-
knechtschaft als solcher; sie alle sind überdiess nur in un-
serem jüngeren Rechtsbuche zu finden, und mögen somit
erst späterer Entstehung sein, obwohl sie allerdings als
nymseli nicht bezeichnet werden.
112) vgl. oben, S. 38, Anm. 91.
113) Festa *., cap. 48, S. 363; oben, S. 42, Anm. 98.
Sitzung vom 3. Januar 1874.
Historische Classe.
Herr Friedrich trägt vor:
„Der Jesuit P. Keller als der wahre Ver-
fasser der unter dem Namen Herwärts
1618 in München erschienenen Schrift:
Ludovicus IV. Imperator defensus."
In meinem Vortrage: Ueber die Geschichtschreibung
unter Kurfürst Maximilian I. *) schrieb ich , da ich keine
positiven Anhaltspunkte für eine gegenteilige Ansicht finden
konnte, die Schrift Ludovicus defensus dem baierischen
Kanzler Herwart von Hohenburg zu, wie es ein Decret des
Kurfürsten, der Titel und die Vorrede besagten, obwohl mir
selbst schon einige Bedenken gegen dessen Autorschaft vor-
schwebten. Jüngst gelang es mir nun, in P. Keller, Rector
des Münchener Jesuitencolleges, den wahren Verfasser des
Buches nachzuweisen , und ich will es nicht versäumen,
meinen früheren Vortrag in diesem Punkte nachträglich zu
verbessern.
Bei einem Kaufgeschäfte kam auch ein Exemplar der
angeblichen Herwart'schen Schrift aus der in der kgl. Hof-
1) Vortrag in der öffentl. Sitzung der k. Akad. der Wiss. am
27. März 1872.
Friedrich: Der Jesuit P. Keller. 49
bibliothek befindlichen Bibliothek des Historikers von Oefele
in die Hände des verehrten Mitgliedes unserer Classe, des
Herrn Oberbibliothekars Föringer. Beim Durchblättern des-
selben entdeckte dieser von der Hand Oefele's selbst eine
Bemerkung, worin dieser angibt, dass am 18. März 1758
der damalige Rector des hiesigen Jesuitencollegs, P. Leder-
hueber, zu ihm auf die kurf. Bibliothek gekommen sei und
ihm mitgetheilt habe, dass er unanfechtbare Beweise habe,
dass der wahre Verfasser des unter Herwärts Namen be-
kannten Buches P. Jacob Keller, der damalige Rector des
Collegs in München, sei 2). Die Bemerkung erschien wichtig
genug, um das Exemplar nicht zu veräussern, und der Herr
Oberbibliothekar hatte die Güte, mir nicht blos darüber
Mittheilung zu machen, sondern auch das Exemplar zur Ein-
sicht zu überlassen, nachdem ich noch andere Randbemerk-
ungen Oefele's gefunden hatte.
Nähere Anhaltspunkte scheint P. Lederhueber nicht an-
gegeben zu haben , weil Oefele nicht nur nichts bemerkt,
sondern, wenn seine Randbemerkungen jünger sind, nur aus
einzelnen Stellen nachzuweisen sucht, dass dieselben nur von
einem Jesuiten , nicht von Herwart stammen können. Der
vollständige Aufschluss wurde ihm auch erst später und
durch Lori. Nach der Vorrede des 1. Theils des Buches
fand ich nämlich einen anderen Eintrag von der Hand Oefele's,
worin er angibt: Am 20. April 1759 sei seine frühere Ver-
muthung, dass Herwart nicht der Verfasser des Ludovicus
defensus sei , zur Gewissheit geworden. An diesem Tage
2) Auf der leeren Seite des letzten Blattes des I. Theils des
Buches: A. 1758. 18. Martii P. Lederhueber S. J. Coli. Monacensis
Praefectus non indiligens mihi A. F. Oefelio in Bibliotheca aulica a
me exceptus coram narravit atque asseveravit, sibi argumenta suppe-
tere indubitata, quibus conficeret Huius Herwarti nomine Notae
Apologiae Ludovicianae verum autorem esse Jacobum Kellerum
Ptectorem Coli, monacensis.
[1874, 1. Phil. hist. Cl.] 4
50 Sitzung der histor. Classe vom 3. Januar 1874.
habe ihm nämlich Lori im Maximilianischen Archive das
Autograph eines Briefes von General P. Goswin Nickel an
P. Georg Spaiser, Rector des Münchener Collegs, gezeigt,
worin er ihm aufträgt, die Kurfürstin-Wittwe Marianne zu
überreden , der baierischen Geschichte des P. Vervaux den
Namen eines ihrer Staatsbeamten vorsetzen zu lassen,
damit um so sicherer der wahre Verfasser verborgen bleibe,
wie es auch geschehen sei, als dem Georg Herwart befohlen
wurde, seinen Namen für den Ludovicus defensus des P.
Jacob Keller herzugeben3).
Damit steht allerdings die Thatsache fest, dass P. Keller
der wahre Verfasser des Ludovicus defensus ist. Ob aber
über die Titelfrage ebenfalls wie hinsichtlich der baierischen
Geschichte der PP. Brunner und Vervaux lange Unterhand-
lungen mit dem Jesuitengeneral gepflogen wurden und auf
dessen Andringen Herwart als Verfasser figuriren musste, ist
nicht klar. Ich glaube aber , dass dieses wirklich nur auf
Befehl Maximilians und wahrscheinlich auf den Rath Kellers
geschehen sei. Aus den Briefen Kellers und Rescripten
Maximilians 4) scheint mir hervorzugehen , dass P. Keller
erst im Jahre 1618 den Befehl zur Arbeit erhielt, und das
fertige Manuscript für einen Druckbogen sofort in die Presse
ging, so dass also zu langen Verhandlungen mit Rom keine
3) Quod pridem suspicatus fueram, Herwartum huius libri Auc-
torem non esse, hac XX. April. MDCCLXIX, certo didici. Exhibuit
enim mihi 111. Lorius in Archivo Maximilianeo Epistolam Autograpbam
P. Gosuini Nickel Praepositi Generalis Soc. Jesu ad P. Georgium
Spaiser Rectorem collegii Monacensis, in qua eidem imponit clittellam,
ut Mariae Annae Electrici viduae persuaderet, sineret P. Joannis
Verveaux Historiae Boicae, nomen alicuius ex Administris Status sui
in fronte praefigere, quo tutius lateret verus auctor, quemad-
modum factum esset, quum D. Georgius H er war tu s jussus
fuisset nomen suum praebere P. Jacobi KelleriLudo-
vico defenso. And. Felix Oefelius.
4) Cod. bav. 2210.
Friedrich: Der Jesuit P. Keller. 51
Zeit war. Offenbar sollte durch die grösstmögliche Sorgfalt
der Verdacht unmöglich gemacht werden, dass die Arbeit
von einem Jesuiten stamme.
Das Geheimniss, dass P. Keller an einer Widerlegung
des Bzovius arbeite, wurde aufs strengste gewahrt: weder
Maximilian in seinen vielen Rescripten an Gewold , noch
Keller in seinen Briefen an denselben, der nicht blos selbst
an einer Verteidigung Ludwigs arbeitete, sondern dieselbe
Bogen für Bogen an den Jesuiten zur Censur oder richtiger
zur Correctur, einsenden musste, verrathen davon eine Silbe.
Gewold ist überhaupt von Keller nur als brauchbarer Hand-
langer für Beschaffung des archivalischen und historischen
Materials benützt worden. Das ging doch so weit, dass
der Jesuit, um wahrscheinlich nicht als Verfasser entdeckt
zu werden, nicht einmal das herzogliche Archiv benützte,
sondern Gewold auf herzoglichen Befehl umgehend eine Ab-
schrift von seiner in seinem Werke benützten Abschrift eines
Dokuments an Keller schicken musste. Dieser lässt Gewold
beständig in dem Glauben, dass neben ihm kein anderer
den nämlichen Gegenstand bearbeite und seine Arbeit schliess-
lich veröffentlicht werden solle; er überhäuft ihn mit Lob,
schickt ihm Censuren, welche er nur aus Liebe zu Gewold
mache, lässt sich gelegentlich auch auf eine den Gegenstand
betreffende Controverse mit ihm ein und bewegt ihn sogar,
sein Buch nicht anonym , sondern mit seinem Namen er-
scheinen zu lassen. Der schlaue Jesuit hatte inzwischen das
grosse Interesse, das Maximilian an dem Gegenstand hatte,
kennen gelernt und machte sich mit Hülfe des Gewoldischen
Werkes — ich werde dies später zeigen — selbst an die Arbeit:
einen solchen Dienst dem erzürnten Fürsten zu leisten, durfte
sich die Gesellschaft Jesu die Gelegenheit nicht entgehen
lassen. Nebenbei und allmälig wird Gewolds Arbeit bei
Maximilian, wie aus den fortlaufenden Briefen Kellers und
den parallel damit gehenden Rescripten Maximilians an Gewold
52 Sitzung der histor. Classe vom 3. Januar 1874.
nicht undeutlich zu erkennen ist, in Misscredit gebracht. Im
März ist Gewolds Buch druckfertig und hat es die Censur
Kellers passirt; dieser empfiehlt es dem Fürsten, spricht
aber schon von einem Kriege, welchen er zu Gunsten Gewolds
mit Maximilian zu führen hatte und verspricht, auch in Zu-
kunft gern für ihn einen neuen Krieg zu führen5). Gleich-
zeitig ergeht der Befehl Maximilians an den Verfasser, das
Werk in den Druck gehen zu lassen , aber nur mit der
Censur Kellers. Habe er erhebliche Bedenken gegen die
Censur, so habe er vor Beginn des Druckes umständlich
darüber an den Fürsten zu berichten6). Am 13. Juni ver-
spricht Maximilian dem Gewold eine Unterstützung für die
Drucklegung , wiederholt aber seinen früheren Befehl, das
Werk nach Kellers Censur einzurichten 7). Am 2. Juli
spricht Keller in einem Brief an Gewold seine Sorge aus,
Bzovius möchte in der Gewold'schen Schrift eine Blosse
entdecken 8) , und schon am 9. Juli findet sich in einem
Rescripte Maximilians die nämliche Bemerkung 9). Darauf
folgen noch einige Briefe des Jesuiten, an dessen Buche
inzwischen ebenfalls gedruckt wurde; er überhäuft Gewold
mit Lob, namentlich auch weil er seine Arbeit unter seinem
Namen erscheinen lassen wolle; allein plötzlich befiehlt
Maximilian am 2. August die Einstellung des Drucks der
Gewold'schen Schrift. „Dieweilen wir aber ander orthen
auch ein refutation wieder besagten Bzovium , damit man
nun mehr an endt, verfassen, vnd dir solche mit negsten
vmb dein Bedenckhen zuekhommen lassen wollen, allso ist
hiemit vnnser bevelch, dass du mit deiner refutation Inn-
standt haltest, vnnd weiter darin nichts mehr druckhen lassest;
5) Cod. bav. 2210. fol. 159.
6) L. c. fol. 161.
7) L. c. fol. 183.
8) L. c. fol. 185.
9) L. c. fol. 189.
Friedrich: Der Jesuit P. Keller. 53
Sintemal wir noch nit resolviert, ob wir beede refutationes
zugleich, oder aine, vnd welche auss dennselben wollen
ediern, vnd auskommen lassen10)." Da aber Gewold an-
zeigt, dass der Druck seines Buches bereits vollendet sei,
erhält er den strengen Befehl, dass er durchaus kein Exem-
plar in andere Hände kommen lasse u).
So genau ist jedoch das Rescript Maximilians nicht
zu nehmen ; denn Keller war weder mit seiner ganzen Arbeit
am Ende, noch hatte er das gesammte Material des I. Theiles
beisammen. In dem nämlichen Rescript vom 2. August
wird Gewold befohlen: ,, Nachdem auch ein sonderbare
Notturfft, dass wir der jenigen Schreiben, so von wegen
Kaysers Ludwigs Whal von Frankhfort aus an die von Ach
abgangen, abschrifft haben, Alss ist hiemit vnnser gnädigister
Bevelch, das du Vnns bey Zaiger diss alss baldt solcher
schreiben Copias ailher ordnest18)." Derjenige, welcher
aber die Abschrift wirklich bedurfte , war P. Keller 13),
welcher bereits den Druck seines Ludovicus defensus hatte
beginnen und aus Gewoids Buch das erwähnte Schreiben
abdrucken lassen ; denn gegen seine Gewohnheit citirt er den
Ort, wo er es her habe, nicht, erst später bei einer gelegent-
lichen Erwähnung desselben heisst es: in archivo Serenissimi
(pag. 33. 67). Auch hatte Keller um diese Zeit erst das
Wahldecret Ludwigs, welches die Kurfürsten ausgestellt
hatten, die ihn gewählt hatten, aus Augsburg zurückerhalten,
wo der Bischof die Abschrift mit dem Original verglichen
und die Aechtheit am 19. Juli 1618 bestätigt hatte. Auch
10) L. c. fol. 199.
11) L. c. fol. 201.
12) Cod. bav. 2210. fol. 199.
13) L. c. fol. 187: Deinde oro, uti mihi perscribat e quo Ar-
chivo, seu alio scrinio petitae sint litterae Francofurtensium , in
quibus dinumerantur Principes pro Ludovico suffragantes : interest.
u. scire.
54 Sitzung der histor. Classe vom 3. Januar 1874.
dieses Decret ist aus Gewold herübergenommen, da er das
gleiche Datum der drei Notare gibt, welche dem Gewold
die Aechtheit bestätigt hatten.
Keller hatte seinen Zweck vollkommen erreicht: er er-
wies dem Kurfürsten einen grossen Dienst, und auf der anderen
Seite hatte er durch den Namen Herwärts die Beschuldigung'
von seinem Orden ferngehalten , dass er gegen Roms An-
sprüche sich erhoben hätte. Dass Herwart der eigentliche
Verfasser sei, glaubten alle Nichteingeweihte, wenn sie auch
vermutheten , dass Gewold gewiss seinen Theil daran habe.
So schreibt Jobst aus Regensburg vom 21. Juni 1619: „Im
fahl der Herr Landschafft Canzler (darzu der Herr Schwager
zweiffelsohne threulich wirt geholffen haben) dem Bzovio die
Britschen nit recht geschlagen, so weise ich nit, was britschen
ist, der Teuffei schreibe mer etwas wider euch Bayrische
Scribenten, oder Euern Herrn 14)." Auch Johannes Nieber,
der die herbe Weise, mit der man gegen Bzovius vorging,
beklagt, zweifelt nicht an der Autorschaft Herwärts15). Nur
die Jesuiten scheinen den wahren Autor gekannt zu haben,
wie aus einer Anfrage des P. Gallus Zeidlhuber aus Passau
bei Rader hervorzugehen scheint 16). Die Billigung des
Ordens scheint Keller jedoch nicht gefunden zu haben, wenn
eine Stelle in der Censura circa annales provinciae Germa-
niae superioiis 1615—1650, worin namentlich auch Keller
wegen Herausgabe anonymer und pseudonymer Schriften
von „gefährlichen oder undankbaren Thematen" getadelt
wird n), sich auch auf seinen Ludovicus bezieht.
Auch scheint Keller gefürchtet zu haben, dass er doch noch
entdeckt werden dürfte, und aus dem Grunde scheint nach-
14) Cod bav. 2212. fol. 163.
15) Cod. lat. Mon. 1616. fol. 324.
16) Cod. lat. Mon. 1611. Ep. 89.
17) Allgem. Reichsarchiv; Jesuitica in genere fasc. 9. No,84\
Friedrich: Der Jesuit P. Keller. 55
träglich im Jahre 1619 ein neues Titelblatt gedruckt wor-
den zu sein, das sich von dem der ursprünglichen Ausgabe18)
nur dadurch unterscheidet, dass statt Monaci Monachii steht,
auf der zweiten Seite ein fingirtes Deeret an Herwart vom
16. März 1618 sich findet, worin ihm der Befehl zugeht,
den Ludovicus defensus zu schreiben, und nach der ursprüng-
lichen Vorrede ein Briefwechsel zwischen Bzovius und Her-
wart vom Jahre 1619 eingeschoben ist. Sonst blieb das
Buch unverändert.
18) Das Exemplar Oefele's repräsentirt die ursprüngliche Ausgabe.
Herr v. Liliencron hielt einen Vortrag:
„Ueber die Gegenstände der öffentlichen
Meinung in der 2. Hälfte des 16. Jahr-
hunderts".
(Wird in den Denkschriften veröffentlicht werden.)
Sitzung vom 7. Februar 1874.
Philosophisch - philologische Classe.
Herr Lauth trägt vor:
„Die Schalttage des Ptolemäus Euer-
getes I. und des Augustus".
(Mit einer Tafel.)
Seit der Auffindung der bilinguen und trigraphischen
Inschrift von Rosette am Schlüsse des vorigen Jahrhunderts
hat nicht leicht eine Entdeckung archäologischer Art in der
gelehrten Welt ein ebenso lebhaftes Interesse erregt, als die
Entdeckung des gleicher Weise zweisprachig und dreischriftig
abgefassten Decretes von Kanopus in den Trümmern der
alten Stadt Tanis (San). Indem ich die zum Theile uner-
quicklichen Prioritäts-Streitigkeiten hier bei Seite lasse und
nur auf die betreffenden Ausgaben1) der glücklichen Finder
hinweise , bleibt vorläufig noch zweierlei hervorzuheben.
H. Rösler macht auf der letzten Seite bemerklich, dass
Burton 2) ein Fragment von identischem Inhalte längst init-
getheilt hatte und dass dieses jetzt zu einer gewissen Be-
1) Lepsius: ,,Das bilingue Decret von Kanopus" 1866 (Berlin) —
Reinisch und Rösler: „Die zweisprachige Inschrift von Tanis" 1866
(Wien).
2) Excerpta hieroglyphica pl. 54 u. 55,
Lauth: Die Schalttage des Ftolemäus Euergetes L 57
deutung gelangende Bruchstück von De Rouge, als der
Sammlung des Louvre angehörig, in seiner Beschreibung
erwähnt werde. In der That äussert sich der leider zu
früh (31. Dec. 1872) verstorbene Aegyptologe Vicomte Em-
manuel de Rouge in seiner „Notice des monuments egyp-
tiens du musee du Louvre" p. 69 unter Nro. 122 hierüber
folgendermassen : Fragment de stele en basalte vert fonce.
Haut 1,95m. — - larg. 0,40 m. Cette stele, rompue verti-
calement, contenait un decret analogue ä celui de Rosette
et trilingue comme ce dernier. La surface en est pres-
que entierement usee. II servait de seuil a la mosquee
Djema emir Kour, au Caire. Quelques mots grecs dechiffres
par M. Letronne, et qui ne se trouvent pas dans l'inscrip-
tion de Rosette, montrerent ä ce savant, que' ce n'etait
pas le meme decret; en effet, on y distingue le cartouche
d'une reine (Arsinoe). Quelques mots peuvent etre reconnus
dans les trois versions, malgre l'extreme usure de la pierre".
Ich selbst hatte 1864 bei meiner Anwesenheit in Paris
weitere Stellen zu lesen vermocht, Was aber nicht hinreichte,
den Inhalt genauer zu präcisiren. Dagegen habe ich in
meiner Uebersetzung des liieroglyphischen Textes dieser neben
der Rosettaua als Tanitica zu bezeichnenden Inschrift 3),
sowie in meiner Kritik namentlich des griechischen
Textes4), gegen das Schweigen der Herausgeber, ja gegen
die bestimmte Abläugnung eines derselben in Betreff der
dem o tischen Redaction, sofort die Behauptung gewagt,
class auch diese sich auf dem Steine finden müsse. Ich
hatte die Genugthuung, nach Verlauf kurzer Zeit durch
meinen Freund II . v. Horrack in Paris, die erfreuliche Nach-
richt zu erhalten, dass der demotische Text sich wirklich
auf dem Steine befindet, nämlich am äussern Rande, der
3) Allgemeine Zeitung 1866.
4) Litterar. Centralblatt 1866.
58 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 7. Februar 1874.
wegen des umliegenden Schuttes zuerst unbemerkt bleiben
musste. H. Mariette hatte unterdessen einen Abklatsch des-
selben an H. de Rouge nach Paris gesendet5).
Hat nun auch durch die Auffindung der ganzen und
gänzlich wohlbehaltenen Tanitica das Fragment des Louvre
in demselben Augenblicke scheinbar seinen Werth verloren,
wo es ihn erhielt, so leistet es uns doch den erklecklichen
Dienst, dass wir die Bestimmung des Decretes, wornach der
Beschluss der in Kanopus versammelten Priesterschaft in
allen Tempeln erster zweiter und dritter Ordnung als Stele
aufgestellt werden sollte, hiemit an einem zweiten Beispiele
verwirklicht sehen. Ja, wenn der Nil dem neu projectirten
Museum auf der (ehemaligen) Insel Geziret bei Cairo einst
einen ähnlichen Besuch abstatten sollte , wie unlängst dem
von Bulaq, so könnte das Pariser Fragment als alleinige
Originalquelle dastehen und in so ferne würde es sich gewiss
der Mühe verlohnen, wenn nach der zweiten und voraus-
sichtlich besser erhaltenen Hälfte desselben in der Nähe der
Moschee Djema-Emir-Kur'Nachforschungen angestellt würden.
Obwohl die Tanitica in mehrfacher Hinsicht eines der
bedeutendsten bilinguen Denkmäler des Alterthums ist — auch
die griechische Epigraphik dürfte kein grösseres aufzuweisen
haben — und, weniger für die vorgeschrittenen Aegyptologen
selbst, als für die Adepten der Wissenschaft und ihre Be-
mängler, ein mächtiges Hülfsmittelzum Verständnisse altägypti-
scher Texte darbietet , so liegt doch der Schwerpunkt ihrer
Bedeutungin der ausführlich erörterten Kalender-Neuerung,
welche unter Euergetes I Jahr 9 eingeführt wurde. Da der be-
treffende Passus für mein Thema von entscheidender Wichtig-
keit ist, so will ich ihn nach dem griechischen Originaltexte
lin. 33 — 46 in deutscher Uebersetzung vorführen. Nachdem die
5) Es dürfte nicht mehr zu früh erachtet werden, wenn auch
dieser Text der Oeffentlichkeit übergeben würde.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 59
Wohlthaten und Feldzüge des Euergetes, sowie die Schaffung
einer neuen Phyle von Priestern weitläufig erwähnt worden
ist, heisst es: 1. 33 . . . „Und sintemal allmonatlich in den
Tempeln als Feste der Götter Euergeten (d.h. des Königs
und seiner Frau) nach dem früheren Beschlüsse
1. 34 der 5. und 9. und 25. (Tag) begangen werden und
man den übrigen grössten Göttern alljährlich öffent-
liche Feste und Panegyrien veranstaltet: 1. 35 so soll all-
jährlich begangen werden eine öffentliche Panegyrie,
sowohl in den Tempeln als im ganzen Lande, zu Ehren des
Königs Ptolemäus und der Königin Berenike, 1. 36 der
Götter Euergeten, an dem Tage, an welchem aufgeht
(heliakalisch) das Gestirn der Isis, welcher (Tag)
in der heiligen Litteratur als Neujahr gilt —
es wird diese aber jetzo im 9. Jahre begangen,
1.37 an derNumenie des Monats Payni, in welchem
auch die kleinen Bubastien und die grossen Bubastien ge-
feiert werden, so wie in ihm auch die Einheimsung
der Feldfrüchte und 1. 38 das Steigen des Flusses
erfolgt.
Wenn es aber auch zutrifft, dass der Auf-
gang des Gestirnes auf einen andern Tag (des
Wandeljahres) übergeht alle vier Jahre, so soll
die Panegyrie nicht (mit) verlegt, 1. 39 sondern
(fort und fort) begangen werden an der Numenie
des Payni, an welcher sie anfänglich (und) im neun-
ten Jahre begangen ward; und zwar soll man 1. 40
sie auf fünf Tage hinaus veranstalten unter Tragung von
Kränzen, unter Darbringung von Thier-Opfern und Libationen,
sowie den sonstigen Gebräuchen. Damit aber auch die
Jahreszeiten ihre Regel einhalten immerdar ge-
mäss.der jetzigen 1. 41 Anordnung des Kosmos,
und damit es sich nicht ereigne, dasseinige der
öffentlichen Feste, die jetzt in den Winter fallen,
60 Sitzung der philos.'phüol. Classe vom 7. Februar 1874.
einst im Sommer begangen werden, indem das
Gestirn 1. 42 alle vier Jahre um einen Tag vor-
rückt; dass dagegen andere derjetzt indenSom-
mer fallenden (Feste) in der Folgezeit im Winter
begangen werden , wie es sich 1.43 sowohl früher
ereignet hat, als auch jetzt (wieder) geschehen
würde, wenn die Zusammensetzung des Jahres
aus den (bekannten) 360Tagen und den später 1.44
üblich gewordenen 5 Zusatztagen (Epagomenen) fort-
bestehen bliebe: so soll von jetzt an ein Tag als
Fest der Götter Euergeten hinzugesetzt werden
alle vier Jahre zu den fünf 1. 45 Epagomenen
(unmittelbar) vor dem Neujahr, damit alle wissen,
(wie) dass, was früher mangelhaft gewesen in
Betreff der Eintheilung der Jahreszeiten und
des Jahres und der bezüglich der 1. 46 Gesamint-
anordnung des Himmels (jcolog) geltenden Heb-
ung, verbessert und ergänzt word en ist durch
die Götter Euergeten."
So weit unser Text, der nicht den sprüchwörtlichen
Lapidarstil, sondern eher eine gelehrte Breite darbietet, wie
man sie nur in Schriften anzutreffen erwartet. Trotz dieser
Ausführlichkeit erheben sich grosse Schwierigkeiten, sobald
man die Angaben des Textes rechnerisch verwerthen will.
Die erste Schwierigkeit habe ich durch richtige Trennung
der Wörter (von lin. 43) xävvv av eylvero und meine Ueber-
setzung „und wie) es auch jetzt (wieder) geschehen würde"
zum Theile beseitigt und zwar schon in meinem kritischen
Artikel ad xävvv dveylvero „und (wie es) auch jetzt geschah"
der Wiener Ausgabe. Lepsius trennt und übersetzt wie ich,
ohne indess daraus dieselbe Schlussfolgerung zu ziehen, wie
wir weiterhin sehen werden.
Die zweite Schwierigkeit, im engsten logischen Zusammen-
hange mit der ebengenannten stehend, liegt in den Worten
Latith: Die Schalttage des Ptölemäus Euergetes I. 61
1. 39 : ev f xal e§ dQ%rjs ijx&rj £v v<p hart}) Irei. Reinisch
übersetzt: „an welchem (Neumond des Payni d. h. dem 1.
dieses Monats) sie schon von Anfang gefeiert worden ist
in dem Jahre". Man sieht dass er evccTtt) ausgelassen hat.
Lepsius überträgt diese Stelle : „an welchem sie von Anfang
an im 9. Jahre gefeiert wurde", wobei das xai unberück-
sichtigt geblieben ist. Vergleicht man die dem Sinne nach
identische Stelle von 1. 36/37: ayszai de vvv , ev tio evdvco
I'tei, (rrj) vovurjvla tov Ilavvl [tyvog „(das Neujahrfest) wird
aber jetzt, im 9. Jahre, am 1. Payni begangen", so muss
die Verschiedenheit des Tempus (rj^rj—ayeTai) befremden.
Nun könnte man dieses Bedenken durch die Erwägung heben,
dass in der Stelle mit rjydr] Bestimmungen für die Zukunft
getroffen werden , in welcher natürlich die Gegenwart als
Vergangenheit erscheinen muss. Allein der hieroglyphische
Text lin. 18 leitet die dem ayerai entsprechende Stelle durch
1\ ^^^v\ m-tu-tu „man soll (begehen)" ein, so dass
der Grieche, seiner sonstigen Uebung entsprechend, einen
Infinitivus ayeodai hätte setzen sollen. Bedenkt man ferner,
dass in dem Vergleichungssatze 1. 42/43 ^a^diteq kqotsqov
TS ovfißeßi]K£v yeveödat y.avvv av eylvezo, ausser der all-
gemeinen Verschiebung der Winter- und Sommerfeste auch
die spezielle Vorrückung des Sothis-Sternes um einen Tag
alle vier Jahre: tov ccotqov fieTaßalvovTog \iiav r^ieqav öid
Teaodqiov hwv gern eint ist, so kommt man mit mir zu dem
Schlüsse, dass die Fixiruug des Siriusaufgangs auf den 1. Payni
gerade desshalb so hervorgehoben und darum getroffen wurde,
weil die Vorrückung auf den 2. Payni des Wandeljahres,
ohne diese Anordnung, sofort erfolgt wäre. Jetzt gewinnt
das oben besprochene wd ein anderes Gesicht. Obwohl
man es mit „auch" oder „schon" übersetzen könnte, so
dürfte sich doch, im Hinblicke auf das bisher Gesagte und
die weiterhin folgenden Rechnungen, allenfalls die Umsetzung
62 Sitzung der philos.-philol Classe vom 7: Februar 1874.
empfehlen: ev ft (vovf,irjvia xov TIavvl) e£ ccoyjtg ry&r] v.al
Iv tvj evario ezet also mit Transposition des xcci, oder : h
f Kai ei; aoyrjg rj'/Orj tv re T(p evdrq) ETei, was die Einsetz-
ung des Wörtchens ts vor ry erheischen würde.
Es muss ferner berücksichtigt werden, dass unser Text
1. 33/34 anlässlich der drei monatlichen Feste zu Ehren der
Euergeten (5. als Geburtstag, 9. vermuthlich als Datum seiner
Verheirathung und der 25. als Tag der Thronbesteigung)
auf ein früheres Decret verweist: xcctcc tö ttqotsqov
ipfyiotia. In diesem handelte es sich wahrscheinlich um
die Huldigung und sicher um die Festsetzung der drei ge-
nannten Monatsfeste. Aehnlich bezieht sich das Decret von
Philae6), das vom 21. Jahre des Epiphanes datirt ist, auf
den Beschluss vom Jahre 9 (d. h. die Inschrift von Rosette)
anlässlich der beiden Monatsfeste (30. u. 17.), fügt aber ein
drittes zu den von der Rosettana her bekannten zwei:
30. Mesori und 17. Mechir, nämlich den 30. Mechir, welcher
mit dem Namen der Königin Kleopatra in Verbindung steht,
so dass also jeder 30. ein Doppelfest war, weil die Verhei-
rathung des Königs wie seine Geburt, auf einen 30. gefallen
war. Aus diesem Grunde habe ich oben vermuthet, dass
in der Tanitica der 9. als Monatsfest sich auf das gleiche
Ereigniss: die Hochzeit der beiden Euergeten, bezieht. Lep-
sius p. 10 denkt an das Geburtsfest derBerenike. Dieses
frühere jp^cpiof.ia — leider ist das Jahr seiner Abfassung
nicht angegeben ! — steht aber in engster Verbindung, weil
Vordersatz (sv tdlg ugolg), mit dem Nachsatze, in welchem
das Euergeten-Fest des Siriusaufgangs auf dem 1. Payni fest-
gehalten wird, mit dem Unterschiede, dass die betreffende
Panegyrie jetzt eine di^ioTeti.g ,, ö f f e n 1 1 i c h e u wird, wäh-
rend sie dem früheren ipr'tfiGfAa zufolge nur in den Tem-
peln begangen und mit der weiteren Differenz, dass sie
nach Analogie der Feste der grossen Götter nur einmal
6) Brugsch: Demotische Urkunden pl. III 1. 13.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 63
im Jahre (nicht jeden Monat, wie die drei andern
Feste), gefeiert werden sollte. Noch ist zu erwägen, dass
der griech. Passus v.ara to 7fQÖxeqov ^r^iöf-ia, dem hierogl.
Ifck/ I VQÖl £* " „in Ausführung des früher ver-
fassten Beschlusses" entspricht. Aus alle dem müssen wir
schliessen, dass in den Tempeln schon vor dem Jahre 9
des Euergetes eine Panegyrie dieses Betreffes gehalten wurde,
und da bietet sich von selbst die Annahme dar, dass dieses
damals stattfand, als der Siriusaufgang mit dem 1. Payni
ohne besondere Fixirung von selbst zusammenfiel, d. h. durch
das natürliche Zurückbleiben des kürzeren Wandeljahres hinter
dem festen Siriusjahre herbeigeführt wurde.
Um dieses bestimmte Jahr, oder auch nur das betreffende
Quadrienniura, zu ermitteln, ist ein Blick auf die Sothisperiode
und diejenige ihrer Epochen geboten, welche der fraglichen
Zeit zunächst vorangeht oder nachfolgt. Hier kommt nur
letztere in Betracht, auch desswegen, weil wir über dieselbe
die classische Angabe des Censorinus de die natali c. 18 u. 21
besitzen. Unmittelbar nach der Besprechung der griechischen
Mondcyclen fährt er fort : Ad Aegyptiorum vero annum
luna non pertinet; quem graece kvvmov latine vero cani-
cularem vocamus, propterea quod initium illius sumitur,
quum primo die ejus mensis, quem vocant Aegyptii Thoth,
canictdae sidus exoritur. Nam eorum annus civilis solos
habet dies CCCLXV, sine uno intercalari. Itaque quadrien-
nium apud eos uno circiter die minus est quam naturale
quadriennium, eoque fit, ut anno MCCCCLXI ad idem revol-
vatur principium. Hie annus etiam rfiiaxog a quibusdam
dicitur, et ab aliis 6 deov eviavzog.
Soviel über die Dauer des Jahres und der Periode.
Die Epoche anlangend, schreibt er c. 21:
Ut a nostris, ita ab Aegyptiis, quidam anni in
litteras relati sunt, ut quos Nabonnazaru( — qov) nominant,
64 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
quod a primo imperii ejus anno consurgunt; quorum hie
DCCCCLXXXVI. Dies sind 986 Jahre des Canons auf
Grund der Aera Nabonnazar's , Epoche: 26. Februar 747
v. Christus, wie ein persisch-arabischer Schriftsteller 7) 886
Jahre des Bochtenasr mit der Epoche : erstes Jahr des Kaisers
Abtinus (Antoninus) zusammenbringt. In der That steht nach
Aegyptischer Rechnung der Anfang des Antoninus jiuf 138,
10. Juli nach Christus, also 10 Tage vor dem Siriusaufgang
(am 20. Juli). Aber sowohl 136, 137, 138 als auch 139
nach Christus haben dieselbe Signatur. Man sieht, dass des
Censorinus Summe gerade um runde 100 Jahre grösser ist:
986 der nabonass. Aera. Wirklich sagt er bei Anführung
der — (item Philippi (Arrhidaei) qui ab excessu Alexandri
Magni numerantur et huc usque perducti , annos DLXI1
Consultant) — und es ergibt auch hier die Rechnung
323 v. Christus + 562 == 238/239 nach Christus wie die
Nennung der Consuln beweist — Folgendes : Hie annus, cujus
velut index et titulus quidam est Ulpii et Pontiani consu-
latus. Dieser scheinbar unvollendete Satz ist als emphatische
Wiederholung des vorausgehenden und nur durch die Paren-
these (item Philippi etc.) getrennten quorum hie 986 tu* zu
fassen. Alsdann heisst es : Sed horum initia semper a primo
die mensis ejus sumuntur, cui apud Aegyptios nomen est
Thoth, quique hoc anno fuit ante diem VII Cal. Jul., quum
abhinc annos centum, Imperatore Antonino Pio II (iterum)
et Bruttio Praesente Coss. idem dies fuerit ante diem XII
Cal. August., quo tempore solet canicula in Aegypto facere
exortum. Quare scire etiam licet, anni illius magni, qui, ut
supra dictum est, et solaris et canicularis et Dei annus vocatur,
nunc agi vertentem annum centesimum.
Hier haben die Bearbeiter alle die Correctur XIII Cal.
als noth wendig erkannt, weil -j- oder 25 Tage vom 25. Juni
7) Tdeler: Handbuch der Chronologie II G27.
Lauth: Die Schälttage des Ptolcmäus Energetes I. 65
weiter gerechnet, auf den 20. Juli: XIII Cal. Aug. führen,
nicht aber auf den 21.: XUCal. Aug. Weniger gewaltsam
wird die Aenderung erscheinen, wenn wir die Schreibung
XHICal. als ursprünglich ansehen und sie archaisirend als
XIIKal. auffassen lassen, woraus dann missverständlich die
falsche Lesart XII Cal. entstanden ist.
Auf jeden Fall bezeichnet der Frühaufgang des Sirius
am 20. Juli die Tetraeteris 136, 137, 138, 139. Dazu
stimmt es vortrefflich, dass die Kopten auf Grund des fixen
sogenannten alexandrinischen Kalenders jedesmal ein Jahr
früher einen Tag einschalteten, als der julianische Kalender.
Da nun in letzterem das Jahr 140 nach Chr. ein Schaltjahr
ist, so mussten die Aegypter anno 139 ihr Schaltjahr haben,
folglich der vorhergehende Schalttag in das Jahr 135 nach
Chr. gefallen sein, mit dem die Siriusperiode abschloss.
Rechnet man nun nach diesem Prinzipe zurück, so
findet man, dass der heliakalische Aufgang des Sirius (Sothis,
Gestirn der Isis) auf den 1. Payni gefallen war in den Jahren
245, 244, 243, 242 vor Christus8) und da der Schalttag
sich allmählig aus den vier Vierteltagen summirt, so mochten
die Aegypter während der Regierung des Euergetes I, der
247 v. Christus auf den Thron gelangte und bis 222 herrschte,
in den Jahren 242, 238, 234, 230, 226, 222 einschalten,
wenn diese neue Einrichtung schon im fünften Jahre dieses
Königs praktisch wurde. Statt dieser sechs Schalttage (oder
Schaltjahre) vermuthet Lepsius (p. 14 seiner Einleitung) nur
die fünf zuletzt genannten als möglich. Ich werde die An-
sicht des bewährten Nestors der Aegyptologie gewissenhaft
prüfen, aber nur zum Theile monumental bestätigen, übrigens
seine scharfsinnige Bemerkung über die mit Philopator ein-
getretene Reaction auf Grund eines Denkmals rechtfertigen.
8) Vergl. P. J. Junker: Untersuchungen über die ägyptischen
Sothisperioden p. 30.
[1874, 1. Phil. bist. Cl.] 5
66 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
Aber in Betreff der Siriusperiode-Epoche , die er mit 139
n. Christus statt mit 136 beginnen lässt, sowie in Bezug
auf die nothwendig vor 238 v. Christus anzusetzende Pro-
jectirung der Fixation des Siriusaufgangs auf den 1. Payni,
so sehr wir in der Grundannahme übereinstimmen, bin ich
wegen der weiterhin zu besprechenden Denkmäler genöthigt,
eine andere Ansicht aufzustellen. Da man aber von einem
solchen Forscher immer lernen kann, auch wo man von ihm
abweicht, und seine Hypothese an und für sich die grösste
Beachtung verdient, so will ich dieselbe hier zwar in mög-
lichster Kürze, aber ohne wesentliche Auslassung vorführen.
Er sagt p. 13:
„Von Wichtigkeit ist nun aber die Angabe in unserer
Inschrift, dass im 9. Jahre Euergetes I der Aufgang d.h.
der heliakalische, des Isisgestirnes auf den ersten Payni
fiel (richtiger ayercu und noch besser ayeo&ai begangen
werden sollte). Da der 1. Thoth dieses 9. Jahres auf den
22. Oktober 239 vor Chr. fiel (zum 4. Male, nach Lepsius
zum ersten Male) und das folgende Julianische (proleptische)
Jahr "kein Schaltjahr war, so fiel der 1. Payni 9 Monate
oder 270 Tage später auf den 19. Julianischen Juli und in
den drei folgenden Jahren auf den 18. Juli. Hierin liegt
eine grosse Schwierigkeit'1: Lepsius erwartet mit Andern
statt des 19. Juli den 20. Juli und sieht desshalb „für jetzt
keine befriedigende Lösung dieses Widerspruchs". Da ihm
nun ,,das dem 1. Payni (des Wandeljahres) entsprechende
Julianische Datum immer nur zwischen dem 19. u. 18. Juli,
nicht zwischen dem 20. u. 19. Juli schwanken konnte, wenn
man nämlich die Schwierigkeit durch eine andere Lage des
Schaltjahres beseitigen wollte, so stellt er provisorisch „bis
sich vielleicht eine andere Erklärung darbietet", folgende
Vermuthung auf: „Wenn die ägyptischen Priester den Plan
der Kalenderreform vier Jahre früher im Jahre 242 v. Chr.,
in welchem vielleicht das frühere Decret abgefasst wurde,
Lauth: Die Schalttage des Ptolemüas Euergetes I. 67
in Ausführung gebracht hätten, so würde, da der 1. Thoth
damals auf den 23. Oktober fiel, der Sothisaufgang in der
That auf den 1. Payni gefallen sein, während er im Jahre
238 vielmehr, (nach Censorinus) auf den 2. Payni fallen
musste. Vielleicht war schon damals (242) das Project ge-
fasst, kam aber aus irgend einer Ursache nicht zu Stande.
Die Zweckmässigkeit, den Anfang des Sothis-
j ah res in dem laufenden, hinfort aber zu fix ir en-
den Kalender auf den 1. statt auf den zweiten
Tag eines Monats zu legen, ist nicht zu ver-
kennen". Ich habe diese Stelle gesperrt gegeben, weil
sie wirklich das Räthsel zum Theile löst. Wir wissen aus
den Denkmälern — wenigstens hoffe ich es in meinem nächsten
grösseren Werke „Sothis" nachweisen zu können — dass
die Coincidenz des heliakal. Sothisaufgangs mit
je einem ersten Monatstage des Wandeljahres^be-
sonders gefeiert, ja eine neue Zählung der Re-
gierungsjahre darauf begründet wurde. „Es
würde dann, fahrt Lepsius fort, der 1. Sothische Thoth genau
um 9 Monate später als der 1. Thoth des Euergetischen Jahres
gefallen sein. Diese gute Gelegenheit war vorüber und kam
erst nach 120 (4x30) Jahren wieder". Er neigt alsdann
eher zur Annahme eines südlicheren Breitegrades für den
Sothisaufgang, als zu einer Rückdatirung, die allerdings auch
ihr Missliches hat. Den Kern seiner Ansicht entnimmt man
unschwer seiner übersichtlichen Tafel p. 18, deren Schluss
sich so darstellt:
MonatX = Payni 1. = 19. Juli. Feier des heliakalischen
Siriusaufgangs. Erster
Tag des 5 tägigen den Euer-
geten geweihten Volksfestes.
MonatX = Payni 2. =20. Juli. Der heliakalische Si-
riusaufgang nach der
Tradition.
5*
68 Sitzung der philos.-philol Classe vom 7. Februar 1874.
Monat X = Payni 5. = 23. Juli. Letzter Tag des Volks-
festes.
Epagomene 6. =21.0ctob. Schalttag. Fest der
Euergeten.
L Thoth 1. = 22. Octob. Neujahrstag des 10. Re-
gierungsjahres des Euer-
getes.
Die von v. Gutschmid 9) nur angekündigte Erklärung
aus dem macedonischen Datum ist noch nicht erschienen.
Die von A. J. H. Vincent auf Grund des nämlichen ägyptisch-
macedonischen Datums 7. Apelläus = 17. Tybi sowie der
Mondtafeln von Pingre angestellte Berechnung führt vor den
7. März 238 v. Chr. als Abfassungsdatum der Tanitica, näm-
lich in das Jahr 243 v. Chr. So ansprechend dieses Aus-
kunftsmittel auch erscheint, so muss ich es doch mit Lepsius
zurückweisen, weil der Ptolemäische Canon, für dessen Rich-
tigkeit ich weiterhin zwei schlagende Beispiele anführen
werde , den Anfang der Regierung des Euergetes auf 247
v. Chr. somit dessen 9. Jahr = 238 setzt, und wir eine Mit-
regentschaft des Euergetes mit Philadelphus nirgends er-
wähnt, ja durch genau datirte Inschriften geradezu aus-
geschlossen finden.
Indess auch die zweimalige Feier des Siriusaufgangs
unmittelbar hintereinander: am 1. und 2. Payni, wie sie Lep-
sius supponirt, wird schwerlich als genügendes Auskunfts-
mittel erachtet werden können.
Bei dieser Sachlage wird es keiner Entschuldigung be-
dürfen , wenn ich eine andere Lösung versuche. Ich muss
zu diesem Behufe etwas weiter ausholen , um den Ort der
Einschaltung d. h. die Stelle des Jahres zu ermitteln, wo
der aus den vier Vierteln erwachsende Schalttag alle 4 Jahre
als Festtag der Euergeten eingesetzt wurde.
9) Zeitschrift für aeg. Spr. 1868 p. 36.
Lauth: Die Schalttage des Ptokmäus Euergetes I. 69
Wie man aus obiger Tafel entnimmt, betrachtet ihn
Lepsius als 6. Epagomen und gibt ihm daher seinen Platz
unmittelbar hinter den 5 hergebrachten Epagomenen. Allein
wenn wirklich ein 6. Epagomen beabsichtigt gewesen wäre,
so hätte der Text der Tanitica, der doch sonst so aus-
führlich ist, sicherlich eine Stelle enthalten, die allenfalls so
lauten mochte aixl tcov tcIvxb rj^ieQwv ei; rjj^eqag eTcdyeod-at
öid veTTctQüJv hcov. Statt dessen bietet der Text: arco %ov
vvv (.liav fifxeqav £Oqti]v twv Eveqyettov &etov ejtdyeo^at
ötd tegoccqcov extov evtl xaig nevre Talg licayo[ihaig 7t q 6
tov vsov evövg. Dass die 5 Epagomenen von jeher den
Jahresschluss bildeten und also unmittelbar vor das Neu-
jahr fielen, unterliegt keinem Zweifel. Das Gleiche für den
alle 4 Jahre erwachsenden Schalttag — quem in f es tum
diem immutarent 10), scheint mit Bezug auf diese r^iega
eoQxr] der Euergeten gesagt zu sein — anzunehmen, liegt im
Texte wenigstens kein Zwang vor, da das iftdyeödai zur
Geltung kommt, unabhängig von der Stelle der Einschaltung.
Auch zeigt unser eigner Kalender die analoge Erscheinung,
dass der eigentliche dies intercalaris nicht hinter dem 31. Dec.
hinzugefügt, sondern dem Februar einverleibt und auch hier
nicht ans Ende , sondern als bissextilis d. h. 24. Februar
(fuga regum !) eingesetzt wird.
Ich habe anderwärts n) auf die jedenfalls frappante
Thatsache aufmerksam gemacht, dass dieser bissextile 24.
Februar genau die Mitte des Jahres vorstellt, wenn man
vom 29. August = 1 Thoth des alexandrinischen Jahres
6 Monate, zu 30 Tagen, also 180 Tage weiter zählt: der
181. Tag ist alsdann der 24. Februar bissextus und Hincks 12)
10) Schwur der Könige nach dem Phänomm. Arat. dies nicht
thun zu wollen.
11) Les zodiaques de Denderah p. 82.
12) On the various years and months.
70 Sitzung der phüos.-phM. Classe vom 7. Februar 187 i.
war der Ansicht, dass die dahinter folgenden Tage 25 26 27
28 29 des Februar den 5 Epagomenen entsprechen.
Das mag nun dahin gestellt bleiben. Wichtiger, weil
auch auf die älteren astronomischen Denkmäler Aegyptens
begründet, scheint mir die Wahrnehmung, dass die Scene
der Intercalation , die ich in den (4) Vierteln des Stieres,
von der Menat, der Repräsentantin des Monats Pha-menat,
annexirt, erkannt habe, also die Einschaltung im festen
Siriusjahre schon frühzeitig immer der Mitte des
Jahres d. h. dem 19. Decane 2(icit („Theiler") entspricht.
Wenden wir dieses auf unsern Fall an. Im Jahre 239
v. Christus war der 22. Oct. — 1 Thoth. Rechnet man
6 Monate ä 30 Tage weiter, so kommt man auf den 20. April
238 = 1. Phamenoth als vorausgesetzten Schalttag zu Ehren
der Euergeten. Hiemit gewinnen wir scheinbar Nichts, was
zur Lösung der Schwierigkeiten verhilft. Aber es würde diese
Hypothese uns doch wenigstens erklären, warum das Decret
nicht von 2 (noth wendig anzunehmenden) Zusatzschalttagen
am Ende des Jahres spricht, sondern nur von einer f^ega
hoQtr) w Evegyertov &ewv , weil eben der nach der alten
Uebung in die Jahresmitte fallende Schalttag schon durch
das itQOTSQOv iprtfioiict bestimmt worden war, also hier nicht
mehr eigens erwähnt zu werden brauchte. Die Neuerung
bestand also darin, dass cc7to xov vvv der früher für die
Tempel allein bestimmte Schalttag jetzt öi^orelr^ und
öffentlich begangen wurde.
Das Haar der Berenike.
Es fragt sich nun, ob die Priesterschaft schon vor dem
Decrete von Kanopus — unserer Tanitica — einen plausiblen
Anlass gehabt habe, dem Herrscherpaare der Euergeten zu
Ehren eine Kalender-Neuerung zu beschliessen. Als inneren
Grund habe ich bereits die Coi'ncidenz des Siriusaufganges
mit dem 1. Payni während des Quadrienniums 245—242 v. Chr,
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes 1, 71
angeführt. Aeussere Veranlassungen deutet unsre Inschrift
selbst an, indem in lin. 10 — 12 die siegreichen Feldzüge
des Euergetes nach Asien, die Zurückbringung der von den
Persern entführten Götterbilder und die Herstellung des
Landfriedens geschildert werden. Droysen13) lässt die Sieges-
jahre mit 243 v. Chr. abgeschlossen sein; allein Lepsius p. 6
vermuthet mit gutem Grunde, dass dieser Termin weiter
zurückverlegt werden müsse. Hatte schon Droysen p. 345
die Wichtigkeit des kleinen Denkmals in Esneh erkannt,
worauf zu Champollion's u) Zeiten (1829) noch 11 mehreren-
theils asiatische Völker wie z. B. Persu, Zaha, Arma, Sosch,
Karsu, Schaben, Orschi neben den europäischen Traiksu und
Makaden15) zu lesen waren, während der ganze Tempel von
90 zu 60 Fuss zur Zeit der französischen Expedition fast
unversehrt war, so liess sich von Lepsius erwarten, class er
dieses Monument zur Illustration unserer Inschrift (der Ta-
nitica) verwerthen würde. Er gelangt in der That zu dem,
wie mir scheint, unanfechtbaren Schlüsse, dass der besagte
Tempel in Esneh von Euergetes zum Andenken jener asiat-
ischen Siege eigens gegründet wurde. Um so mehr ist dessen
Zerstörung zu bedauern. Denn Champollion fand daselbst
noch die ,,Safech, die Göttin (Muse)16) der Geschichte und
Begleiterin des Thoth (Hermes) als Herrin der Schrift im
Saale der Bücheru dargestellt. Vielleicht war daselbst auch
in acht ägyptischer Weise das Wort mench = EveQyerrjQ A
erläutert, das in unsrer Inschrift, lin. 8 in -0-eol EveqytTai
öiarelovoiv rtollä nal ^eydla eveQy exovvx sg (= lin. 4/5
13) Gesch. d. Bildung d. hellenistischen Staatensystems II 337, 347.
14) Notices descriptives p. 284.
15) Man vergleiche die grosse Inschrift von Adulis, sowie das
Datum J. 10 Epiphi 7 des Euergetes I (242) im Tempel zu Edfu, dessen
Bau durch die Tanitica veranlasst zu sein scheint. Zeitschrift für
ägypt. Spr. 1872. Ebendaseihst steht: „18. Mesori = 23. Epiphi (Euer-
getes II J. 28 = 1 42 v. Chr.).1' In der That 25 Tage = 25x4 od. 100 J.
16) Vergl. meine vorige Abhandlung über Altäg. Musik p. 519,
72 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
deshierogl. Textes f^fj^^fff) und weiierh^ *• 18 «*«-
M'lll t) <-~> Cf
vatov eveqyeolav = 1. 10 hierogl. *aaa™^ <^> | ^^
W /WWW .. - fl1— ■•■ 'V
ebenfalls wiederkehrt und durch die wirklichen Wohlthaten
anlässlich der Hungersnoth etc. einen historischen Hinter-
grund bekömmt. Es verdient desshalb die Angabe des
Hieronymus 17): simulacra deorum 2500, in quibus erant
quae Cambyses capta Aegypto in Persas asportaverat . . .
Denique gens Aegyptiorum, quia post multos annos deos
eorum retulerat, Euergetem eum appellavit, allen Glauben.
Es gab aber auch zu Kanopus, der Tanitica zufolge, ein
Heiligthum der Euergeten, wie der Arsinoe Chloris, der
Mutter des Ptolemäus Euergetes I.
In einem dieser zwei Tempel von Kanopos wird wohl
auch der Thatsache gedacht worden sein, dass Berenike (II,
die Tochter des Magas), die Gemahlin des Euergetes I, welche
während der Abwesenheit ihres Gemahls in Asien, ihr schönes
Haupthaar im Tempel der Venus Zephyritis ex voto auf-
zuhängen gelobt gehabt, es den Göttern wirklich gewidmet
habe, als ihr Gemahl als Sieger heimgekehrt war. Als
es am andern Tage vermisst wurde, erklärte ein Stern-
kundiger Namens Konon, dasselbe sei unter die Götter auf-
genommen d. h. an den Himmel versetzt worden. Wirklich
zeigte er auch im Schweife des Löwen sieben Sterne,
die er dafür ausgab. Diese xo^ BeqerUrjg besang Kalli-
machos in einem von Catullus ,,De coma Berenices (LXVI)
nachgeahmten Gedichte, das Warton „epigramma cultissimum"
nennt, der Herausgeber des T h e o k r i t : D a h 1 (und schon Hygin.
poet. astron. II p. 4 aber mit Unrecht) auf Berenike I bezieht,
und mit Theokrit's 18) Idyllion XV SvQaxouoica V liöcovia-
17) In Daniel.
18) Ausgabe von Dahl, Rostock 1804,
Lauth: Die Schalttage des Ptölemäus Euergetes I. 73
'Qovoai gleichzeitig setzt. Die betreffenden Verse des letzteren
lauten: 106—111
KvTtQL Jaovala, TV (.iev ä&avaxav oltco SvctTag,
l4v&QC07itöv cog /nv&og, £7toirj0ag BeQevr/.av,
^Af.ißqoaiav eg ovrftog ccTtoozd^aoa yvvaiyiog.
Tlv öe %aqtoöof.dva, tcolvcovvpe tloi TtoXvvae,
14 BsQSVLxeta d-vy aTrj q , cEXha slxvla,
L4qGLv6a jxavTeöOi xaXolg axixakXu ^dcoviv.
Die das Adonisfest veranstaltende Königin ist Arsinoe19)
Philadelphos, folglich die hier genannte Bereuika ihre Mutter,
die Gattin Ptölemäus I Lagi. Der Dichter sagt kein Wort
von ihrem Haare, was man doch erwarten durfte, wenn
Berenike I, die Gemahlin des ersten Ptolemäers, der aller-
dings auch Feldzüge nach Asien unternahm, wie die Classiker
nebst der Stele von Cairo beweisen, das betreffende Gelöbniss
gethan und ausgeführt hätte. Dass der Dichter diese Bere-
nike I „aus einer Sterblichen zu einer Unsterblichen" durch
die Aphrodite werden lässt, darf nicht befremden, da er ja
in dem nämlichen Gedichte v. 46 — 48 singt:
7toXkd toi, co ntoXs/.iäle, 7te7tolr]Tcu xalä egya,
i£ co iv ädavaToig 6 tsacov, ovdelg xccY.osQyog
daleirai top Iowa, naqtqjtcov yüyvTCTLOTL.
Daraus hat meines Wissens noch niemand gefolgert,
dass der Vater (tskcov) des Ptol. Philadelphus, nämlich Ptol.
19) Wie verwirrend die Ptolemäergeschichte ist, zeigt gerade
dieser Name. Sie war die Schwester des Philadelphos; dieser hei-
rathete aber zuerst ihre mit Lysimachos erzeugte Tochter Arsinoe
Chloris die Jüngere, verstiess diese nach vierjähriger Ehe und hei-,
rathete dann ihre Mutter, die Wittwe des Lysimachos, seine Schwester
Arsinoe die Aeltere, die desshalb auf den Münzen vom VIII. Jahre
des Philadelphos an erscheint. Cf. Champollion — Figeac: Notice
de deux papyrus egyptiens.
74 Sitzung der pJiilos.-pJiilolClasse vom 7. Februar 1874.
Lagi als Sternbild an den Himmel versetzt worden, sondern
nur, dass er (der $edg 2torrfQ) gestorben sei 20).
Die wirkliche Schwester des Euergetes hiess aller-
dings ebenfalls Berenike, aber sie war noch von ihrem Vater
Phüadelphos an König Antiochos II von Syrien verheirathet
worden , der desshalb seine erste Gemahlin Laodike mit
ihren jungen Söhnen verstiess , aber zur Zeit der Thron-
besteigung des Euergetes wieder zurückrief. Laodike rächte
sich nun, indem sie sowohl den Antiochos als die Berenike
mit ihrem Söhnchen ermordete. Diese Gräuelthat erzeugte
den Krieg zunächst in Syrien und veranlasste den Euergetes
zu noch weitern Unternehmungen in Asien.
Dass Catull in zwei Distichen (10 u. 11) der Königin
Berenice von ihrem personificirten weil vergötterten Haare
sagen lässt :
Id mea me multis docuit regina querelis,
Invisente novo proelia torva viro.
At tu non orbum luxti deserta cubiie
Et fratris cari flebile discidium —
ist ganz in der Ordnung, da die Königinen der Ptolemäer-
zeit, auch wenn sie nicht — wie oft genug! — die wirk-
lichen Schwestern der Könige waren, dennoch diesen Titel
führten. So also auch unsere Berenike II Euergetis, die
Tochter des Magas.
Sie that das Gelübde, ihr Haar abzuschneiden und den
Göttern zu weihen
qua rex tempestate, novo auctus hymenaeo,
Vastatum fines iverat Assyrios —
20) Aus der Verwirrung, die durch die Wiederkehr derselben dynasti-
schen Namen verursacht wird, mögen sich Sätze wie folgende, er-
klären : „Berenice, des zweiten derPtolemäer, Lagi, und der Arsinoe,
Tochter. Sie vermählte sich, nach Art der Ptolemäerinen, mit ihrem
Bruder Evergetos. Da ihr Gemahl in den Krieg zog, gelobte
sie etc." Neues Conversationslexicon oder encyclopädisches' Hand-
wörterbuch etc. Köln und Bonn 1824
Latith: Die Schalttage des Ftolemäus Euergeles I. 75
was doch zum Feldzuge des Euergetes vortrefflich passt.
Weiterhin v. 51 sqq. lässt der Dichter das Haar sagen:
Abjunctae paullo ante comae mea fata sorores
Lugebant, quum se Memnonis Aethiopis
Unigena, iinpellens nutantibus aera pennis,
Obtulit Arsinoes Chloridos ales equus.
Isque per aetherias nie tollens advolat umbras,
Et Veneris casto conlocat in gremio.
Ipsa suum Zephyritis eo famulum legärat,
Grata C an opaeis incola littoribus.
Der Sinn dieser Stelle ist wohl der, dass die Venus
Zephyritis (von einem Vorgebirge bei Kanopus so genannt)
den eingebornen (Pegasos) des Aethiopen Memnon (Sohnes
der Eos) zu einer nach der Arsinoe21) Chloris benannten
Üertlichkeit gesendet habe, um von da das Haar der Berenike
wegzunehmen und dann an den Himmel und zwar in den
keuschen Schooss der Venus niederzulegen.
Die Tanitica nennt in der That 1. 6/7 als Versammlungs-
ort der Priester, die das Decret von Kanopus verfassten,
„den Tempel der Götter Euergeten in Kanopos": awsdqsv-
oavTeg tccvti] xf i][*€Q% & T<p & KavtOTUo lEQcjy %Cjv Evsq-
yerwv decov, ei/tav. Die lauge Erörterung 1. 46 — 73 über
die Apotheose der .jungfräulichen Berenike", einer Tochter
der Euergeten, und ihre Beisetzung im Tempel des Osiris
von Kanopos braucht hier nicht weiter besprochen zu werden.
Nur so viel sei erwähnt, dass die dort in den Fundamenten
aufgefundene Goldplatte mit der Inschrift yOaiqei etc. und den
Namen der Ptolemäer Euergeten hinlänglich für die Existenz
21) Die weiterhin zu besprechende Stele des Anemko enthält
den Namen dieser 'Aovivori (XXwqis) $ikci6t'k(pos zweimal, einmal
lin. 4/5 in Verbindung mit der Legende || ^0 ü
„Tempel, welcher in Ropen" vermuthlich das Vorgebirge ZecpvQtiDv
meinend.
76 Sitzung der phüos.-phüöl. Classe vom 7. Februar 1874.
des Osiris oder Serapis-Tempels in Kanopos beweist22). Ebeu
daher stammt auch der trilingue Opferstein der Berliner Samm-
lung23) mit der Inschrift: ^agaiCLÖt deo) f.ieya?uo navlaxog
2aQCL7tiu)vog. Der demot. Text ist ausführlicher, indem er
bietet „der koptitische Osiris in Han üb schenke Leben dem
Pa-hmin {TIav-Uog) , dem Sohne des P-se-n-Osiris
(2aQ(X7tiü)v)". Der hierogl. Text ist noch ausgedehnter; ich
führe hier nur den Titel des Osiris an: <gi — gpw^ chent
Han üb. Dieses erklärte der Rhetor Aristides als == xqvoovv
l'öacpog; die Griechen aber adaptirten diesen Namen dem
des Steuermannes Kavcoßog (bei Menelaos).
Aus alle dem geht wenigstens soviel hervor, dass auch
das Heiligthum der L4qolv6tj (Diladelyog Xlwqig 24) in
Kanopus sich befand. Dass die in der Tanitica 1. 55/56
erwähnte cHltov dvyavrjQ, mit deren Versetzung an den
Himmel der Hintritt der jungfräulich verstorbenen Prinzessin
BeqevUt] so ausführlich verglichen wird, nicht so fast die
Tafnut ° öIjO ist, wie Lepsius p. 16/17 annimmt, sondern
eher Hathor, die ägyptische Venus, welcher als Menhet, die
Kosenamen ßaoilela und oqaoig eher gebühren, als der Tafnut,
ist klar. Denn das Fest der ö ^— menhet = ßaoäela ist
im Kalender von Esneh unter dem 17. Tybi angemerkt, wie
die Tanitica 1. 55 sagt: iv reo Tvßl (.irjvl und dabei ist zu
bemerken, dass eben dieser 17. Tybi der Tag der Ab-
fassung des Decretes ist. Uebrigens zeigt die ganze
22) Letronne : Recueil des inscriptions grecques etc. I.
23) Brugsch: Demot. Urkunden Taf. IV B. p. 19/20.
24) Chloris bedeutet „die Blassgrüne" und wird als „Göttin
der Blumen" (Flora) aufgefasst. Es kann nur die jüngere Arsinoe
(erste Gemahlin des Philadelphos) sein, der die Euergeten huldigen,
da die ältere 'JQGivot}, die Mutter, aber zugleich Nachfolgerin er-
sterer in der Ehe mit Philadelphos, kinderlos blieb. Euergetes war
also Sohn der Chloris.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 77
weitläufige Apotheose der jungfräulichen BsQsvUr] avaoocc Ttaq-
devtov, wie weit die Wohldienerei des ägyptischen Priester-
collegiums schon gediehen war. Lässt sich unter sothanen
Umständen bezweifeln, dass man von der Abschneidung und
Aufhängung des blonden Lockenhaares der BegevUrj Eveq-
yhig im Heiligthume der 'Aqoivotj XIcoqiq — was ich für
geschichtlich halte — weniger Aufhebens gemacht haben
wird ? Alles deutet vielmehr darauf hin, dass man aus An-
lass dieses Ereignisses und der siegreichen Heimkehr des
Euergetes die Euergeten-Tempel in Esneh und in Kanopos
eigens gegründet hat.
Leider haben wir die untere chronologische Gränze
dieser Begebenheiten hiemit noch immer nicht gewonnen.
Aber jedenfalls können sie nicht über 243 v. Chr. herabge-
rückt werden, so dass von da bis zum Schlüsse des Jahres
242 v. Chr. , wo die Verschiebung des Siriusaufgangs vom
1. Payni des Wandeljahres weg sich erst fühlbar zu machen
begann, Zeit genug geblieben ist, um jenes ttqotzqov ipfyiof-ia
zu Stande zu bringen, das sowohl die Einführung der drei
Monatsfeste — • des am 9. besonders wegen bewiesener Treue
und Anhänglichkeit der BegevUrj — als die Fixirung der
Coincidenz des Doppelkalenders auf den 1. Payni ent-
hielt, zunächst für die Tempel (sv xoig UqoIq). Die
weitere Ausdehnung auf den bürgerlichen Kalender und die
Bestimmung eines öffentlichen Volksfestes für diesen
Schalttag als Fest der .,Euergeten" folgte einige Jahre
später am 2. Payni des Wandeljahres 238: es ist der In-
halt der Tanitica.
Die Grab-Stele des Teho.
Bisher haben wir uns zwar immer auf monumentalem
und classischem Boden bewegt; aber ein eigentlicher Beweis
für die wirklich erfolgte Einschaltung im bürgerlichen Kalen-
der, kurz, der Gebrauch der Intercalation während der
78 Sitzung der pMlos.-philöl. Classe vom 7. Februar 1874.
Regierung des Euergetes I ist aus gleichzeitigen Denkmälern
bisher noch von Niemand geliefert worden.
Diesen empfindlichen Mangel — da man ja immerhin
denken könnte, der ßeschluss von Kanopus sei ein todter
Buchstabe oder auf die Tempel beschränkt geblieben —
scheint mir ein Denkmal der Wiener Sammlung endgültig
zu beseitigen. Es ist eine Grab-Stele der gewöhnlichen Art,
nur von etwas grösserem Umfange, was durch die Menge
der Titel des Verstorbenen erklärlich wird. Als ich im
Jahre 1865 (Juli) Wien besuchte, musste sie mir schon wegen
des kürzeren unterhalb angebrachten Textes in demotischer
Schriftart auffallen 25). Der betreffende „Inhaber dieser Stele"
fiiiHP ne^ ^ ßu flirte den Namen CU=^) ^ Te-ho =
Te(Ag oder Taywg, wie der gleichnamige König der XXX.
Dyn. gräcisirt wurde. Seine Eltern waren der Grosswürden-
träger ~H $? An-em-ho, dessen Namen der Wunsch nrjfl
anch-uza-sneb „möge er leben heil und gesund!" nicht um-
sonst oder als Redensart angefügt wird. Denn ich werde
bei der Besprechung seiner Grabstele nachweisen, dass er
seinen Sohn Tecog um 6 J. 2 M. 9 T. überlebt hat. Den
Schluss der hieroglyphischen Legende bildet die Angabe:
?^ . ¥^ •Y-a/wwxy ^ i ™ O i 0 i i „Dauer auf Er-
den vom Leben des Inhabers dieser Grabstele: Jahre 44,
Monate 6, Tage 29".
Der demotische Text unterhalb26) bestätigt zunächst
diese Angabe der Lebensdauer vollständig in allen ihren
25) Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, Hrn. Dr. Rei-
nisch nieinen öffentlichen Dank auszusprechen für die freundliche
Bereitwilligkeit, womit er mir seine Copieen zur Vergleichung mit
meinen Abschriften zur Verfügung stellte.
26) Siehe die Tafel, 1.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 79
Theilen; ausserdem gibt er aber den Geburtstag, Sterbetag
und die 70 tägige Einbalsamirungsperiode an, wie folgt :
„Die Grabstele (pe uait) des Verwalters (Uer) der shepa-t
(Geschenke?) Teho, Sohnes von Anemho dem Setem-
priester, geboren von der Her-anch. Sein Geburtstag:
Jahrl727), Monat Epiphi, Tag 29. Der Tag des Eintretens
zu seiner Stätte der Mumifizirung (airu) : Jahr 24, Monat
Mechir, Tag 22. Der Tag seiner Beisetzung (im Grabe) er-
eignete sich Jahr 24, Monat Pachons, Tag 2. Seine Lebens-
dauer betrug: Jahre 44, Monate 6, Tage 29. Dieses (Denk-
mal sammt Inschrift) bleibe ewig und beständig!"
Ich will aus dieser wichtigen Inschrift zuerst die 70 tägige
Procedur der Mumificirung hervorheben. Wir wissen dieselbe
bereits aus Herodot II 88 xaQLyßvovoL Tag eßdoprjxovTct
i^dqag vxu tJXEixa an" cov edcmar mrocpeQeadat. Die Denk-
mäler sind ebenfalls sehr explicit über diesen Punkt und
sehr zahlreich. Ich will der Kürze wegen nur noch eines
namhaft machen. Dieses Beispiel bietet die Stele des Pe-
scherenptah, der im 11. Jahre derJKleopatra VI starb, „and
received the usual Egyptian embalraent of seventy days,
from the 15th of Epiphi to the 20th28) of Thoth of the next
(12.) regnal year". Unsere Stele des Teho liefert einen weiteren
Beleg, indem zwischen dem Sterbetag: Mechir 22 und der
Beisetzung im Grabe: Pachons 2, genau 70 Tage (8+30+
30+2) verfliessen. Herr Birch hat aus den Monumenten
die Ueberzeugung gewonnen , dass diese 70 tägige Periode
„was in some instances divided into two, the one half or
thirty five days being employed in the ® j^ api rut or „cere-
monies", and the other 29) in the f I v\ Ö sut (lies se-tuch)
27) Das Zeichen für 7 gleicht mehr dem hieratischen, als dem
sonstigen demotischen Siebener.
28) Birch: On two egyptian tablets of the Ptolemaic period
p. 8. Aus Versehen ist 30th of Thoth gesetzt.
29) Thatsächlich lässt der Rhind-Papyrus I p. III mit dem 36.
Tage die „Caerimonien am grossen Teiche des Chons" beginnen.
80 Sitzung der phüos.-pJiilol. Classe vom 7. Februar 1874.
or „preparations". Letzteres Wort bedeutet eigentlich im-
praegnare und wird im Rhindpapyrus 12,7 demotisch durch
lelan = \äw\o) ungere übersetzt. Es ist offenbar, dass diese
70 tägige Frist ein Multiplicat zwischen der Siebenzahl und der
decadischen Woche darstellt, somit als die ursprünglichere
Einrichtung erscheint. Eine Ausnahme von der Regel bildet
folgender Fall: Tcupr) TcpovTog 'HqarAkeiov ^loir^og^ nrjTQog
2aQa7TovTog30). Eyevvrürj %(# s exet Idöoiavov tou xvqiov,
IdSvq ß, y.al heXevzrjG€V T(p ta tTBi, (xiqvl Tvßl sc, €Ttuv g
fi-fjvwv ovo, rjf.ieQiov ir\ %ai Ira^rj toj iß Ire«, firjvl 'A&vq iß 3 1).
Die junge T-hfwt „die Schlange" blieb also nach dem Sterbe-
tag noch 299 statt 70 Tage unbeigesetzt.
Es ist auf unserer Stele leider keine Regierung angegeben.
Allein die Vergleichung mit der Stele des Anemho (vergl.
den nächsten Abschnitt) des Vaters von Teho, beweist, dass
hier nur Ptolemäus II Philadelphus und Ptol. III Euergetes I
in Betracht kommen können. Setzen wir nun nach dem
astronomischen Canon für beide die Regierungssummen 38
und 25 Jahre an, so wurde Teho geboren unter Philadelphus
Jahr 17, Epiphi 29. Er lebte also unter diesem Könige,
da Epiphi der vorletzte Monat des Jahres ist und die 5 Epa-
gomenen am Schlüsse zum Mesori zählen, noch 38 J. minus
16 J. 10 M. 29 T. = 21 J. 1 M. 1 Tag. Er starb unter der
Regierung des Euergetes I Jahr 24, Mechir 22, lebte folglich
unter ihm 23 J. 5 M. 22 Tage. Zählen wir dazu den vorigen
Posten: 21 „ 1 „ 1 „ so erhalten wir als
Summe 44 J. 6 M. 23 Tage, während beide Texte oben
30) Den Streit zwischen Birch und De Rouge wegen Lautirung
det t in den Namen 4>t"kovt~og} Tcpovrog und Zagcmovrog schlichtet
endgültig zu Gunsten des Letzteren der Leydner Pap. gnost., der
CdJpnOT als Transscription liefert.
31) Revue archeol. 1858 Februar liefert auch die hierogl. Legende,
die das Jahreszeichen \ mit sieben Strichen (das 7.) und als Summe
„6 Jahre 3 Monate" rund bietet.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 81
die Summe 44 J. 6 M. 29 Tage, dargeboten haben. Es be-
steht also eine Differenz von sechs Tagen und da bei der
Uebereinstimmung beider Texte in der grösseren Summe,
sowie des demotischen Zwischenpostens der 70 Tage, an
einen Irrthum des Schreibers so wenig gedacht werden kann,
als bei den ebenfalls stimmenden Posten nebst Summe des
väterlichen Grabsteins, wovon im nächsten Abschnitte mehr,
so bleibt nur die Schlussfolgerung übrig, dass die sechs
überschüssigen Tage der Summe 44 J. 6 M. 29 T.
von den durch das Decret von Kanopus be-
schlossenen vierjährigen Einschaltungen her-
rühren, kurz, dass es die Schalttage der Regier-
ungszeit des Königs Ptol. Euergetes I sind.
Da dieser nach dem Canon 25 Jahre regiert hat, so
unterliegt diese meine Thesis vorläufig keiner Beanstandung.
Anders aber gestaltet sich die Sache, sobald man die ein-
zelnen Schaltjahre namhaft machen soll. Ich bleibe vorder-
hand bei meinem oben nur hypothetisch aufgestellten An-
sätze, wonach wegen der siegreichen Rückkehr des Euer-
getes, die nicht wohl vor 244 angenommen werden kann,
der Schalttag für die Tetraeteris 235—242 um 2 Jahre
anticipirt82) also auf 244 verlegt wurde. Dann hätten wir
als weitere fünf Schaltjahre: 240, 236, 232, 228, 224
v. Chr. In der That sagt die Tanitica nirgends, dass das
Jahr der Abfassung des Decretes: 238 v. Chr. ein Schalt-
jahr sei, wie man scheinbar mit Recht erwarten sollte. Was
ferner das letzte meiner Schaltjahre: 224 v. Chr. betrifft,
so fällt es jedenfalls in den Rahmen des letzten Lebens-
jahres von Teho, da dieser 8 Tage vor der Mitte des 24.
Regierungsjahres von Euergetes33), also im Laufe des Jahres
32) Lepsius setzt ähnlich den Schalttag in je das erste Jahr
seiner Quadriennien z. B. 238. Auch unser Kalender anticipirt den
Schalttag um 222 Tage.
33) Nach dem Canon regierte er vom 24. October 247 bis zum
18. October 222, also 25 Jahre.
[1874, 1. Phil. bist. Cl.J 6
82 Sitzung der philzs-philöl. Classe vom 7. Februar 1874.
223 v. Chr. gestorben ist. Im Betreff der Wahl gerade
der Mitte des Quadrienniums ist es mir oben wahr-
scheinlich vorgekommen , dass man auch als Einschaltungs-
stelle des aus den vier Vierteln erwachsenden und hienach
also zur Hälfte anticipirten Schalttages unter Euergetes die
Jahresmitte nach altpharaonischem Vorgange gewählt
haben wird. Dass überhaupt nicht mehr als sechs Schalt-
tage unter Euergetes zur Anwendung kommen konnten, liegt
einerseits in seiner Regierungssumme von 25 Jahren be-
gründet, andererseits werde ich sofort einen monumentalen
Beweis beibringen, dass mit der Thronbesteigung des Philo-
pator die dessfalsige Kalender-Neuerung seines Vaters und
unmittelbaren Vorgängers Euergetes I wieder aufgehoben
wurde, aus welchen Gründen, mag hier unerörtert bleiben
— und folglich der Siriusaufgang auf den 7. Payni des
rehabilitirten Wandeljahres gesetzt wurde, wie es die Natur
der Sache erheischte. Sonderbarer Weise muss ich diesen
Beweis aus der Grabstele des Vaters unseres Teho schöpfen.
Die Grabstele des Anemho.
Dieselbe Wiener Sammlung besitzt ein zweites Denk-
mal , das Brugsch 84) bereits veröffentlicht und mit sach-
gemässen Bemerkungen bedacht hat. Nachdem der Text in
10 Zeilen die zahlreichen und interessanten Titel des
betreffenden Beamten, sowie die Namen seiner Eltern:
Nes-seti und Nefersebek 35) (so auch im demotischen
Theile, nicht Ta nefersebek (Brugsch) aufgeführt hat, fährt
er fort:
34) Recueil I pl. IX pag. 16-18.
35) Birch hat in der Zeitschrift für ägypt. Spr. eine Variante
des Namens der Königin IxeftlocpQis (ZßexvoyQvg) Sebaknofru mit-
getheilt, wo unter dem Krokodil Sebek ebenfalls ein nicht zu lautir-
endes |_J als Untersatz erscheint.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes f. 83
i i i
PWM^fe!?!
Q> j 1 -ö^ 1 -ZI III ' Ulli s~"^
„Anemho der Se(te)m war geboren im Jahre 16, Monat
Pharmuti, Tag 3, des Königs Ptolemaios86). Sein Todestag :
fö| | | ^^g P,^ TV^/^Sprössling deT^^» ©/IptoiT^ZÖ fl (fl)
'Oll^^^ Qlh gff^uergeten eto^Jj ^ ^«^ ^Z
J. 5 M. Pharmuti Tg. 26, des Königs Ptol. Philopator. Seine
I o w 1 §™Ff ' i n i i i <=>© 1 1 1
Lebensdauer auf Erden: J. 72, M. 1, T. 23."
Der dazu gehörige und unmittelbar darunter stehende
Text in demotischer Schriftart37) sagt das Nämliche so:
„Der Setem Anemho, geboren von Nefersebek. Sein
Geburtstag: Phamenot Tag 3. Man brachte ihn in sein
Grab im Pharmuti Tag 26. Seine Lebensdauer: Jahre 72,
Monat 1, Tage 23." Die Computation lasse ich durch Brugsch
sagen: „Le roi premierement designe est celui que les Grecs
nomment Ptolemee (I) Soter (I); le deuxieme roi cite:
Ptolemee (IV) surnomme Philopator (I). Si donc notre
personnage naquit Tan 26 le 3. Phamenoth de Ptolemee I,
qui regna 20 ans selon les listes royales, il vecut encore
4 ans 5 mois 27 jours sous ce roi. Ajoutez-y les 38 et
25 ans de ses successeurs Ptolemee II (Philadel phus) et III
(Euergetes) et les 4 ans 7 mois 26 jours jusqu' ä sa mort
sous le quatrieme Ptolemee, et vous verrez que le total de
sa duree de vie c. a d. 72 ans, 1 mois et 27 (lies 23)
jours est justifie d'une maniere bien precise".
36) Brugsch's Lesung: Poudouloumoujous dürfte jetzt wohl
aufzugeben sein.
37) Vergl. Tafel, 2.
6*
84 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
In der That, es kann keine Addition besser stimmen und
da die demotische Summe auch hier aufs genaueste mit der
hieroglyphischen harmonirt, so ist an eine Irrung nicht zu
denken. Für unsern vorliegenden Zweck leistet uns aber
die Grabstele des Anemho noch weitere Dienste. Zuvörderst
werden wir dadurch gesichert, dass die Regierungsjahre auf
der oben besprochenen Stele des Teho wirklich dem Phila-
delphus und Euergetes I angehören, da letzterer (Teho) der
Sohn des ersteren (Anemho) ist. Sodann weist der Um-
stand , dass die Summe 72 J. 1 M. 23 T. genau zu den
Posten stimmt, mit gebieterischer Notwendigkeit darauf hin,
dass hier keine Schalttage anzusetzen waren, weil
eben mit Philopator die Kalender-Neuerung des
Euergetes sofort wieder aufgehoben wurde. Denn
Anemho, der Vater, überlebte seinen Sohn Teho um 6 J.
2 M. 9 T. Es lässt sich also auch leicht berechnen , in
welchem Lebensjahre Anemho stand, als ihm sein Sohn Teho
geboren ward und ebenso, wenigstens approximativ, die Zeit
seiner Verheirathung mit der grossen Erheitrerin (dhi-t) des
Ptah: Heranch. Um dieses mit ziemlicher Sicherheit thun
zu können und um einen weiteren illustrirenden Beleg zur
Tanitica zu liefern, will ich noch ein drittes Denkmal der
nämlichen Familie vorführen, das ebenfalls der Wiener
Sammlung angehört.
Die Grabstele des Harmachu.
So wie die zwei vorhergehenden Wiener Grabstelen (des
Teho und Anemho) ursprünglich aus dem Serapeum von Saqqa-
rah (Memphis) stammen, so auch eine dritte, auf den Namen
Har-m-achu lautend, der * bekanntlich auf der Stele des
grossen Andro-Sphinx bei Gizeh griechisch durch ^Qfiaxigi-vg)
transscribirt ist. Da mit Rücksicht auf die Erklärung oder
Illustration der Tanitica (lin. 23—33) die Titel des Betreffen-
den hier wichtig sind, so gebe ich mein ganzes Excerpt:
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes 1. 85
.1 f\ 41» ft V *=
„Der göttl. Vater, gottliebe , wa-Prophet des Ptah ur-baiu,
[ p ö -s ' ; ».'.'st
der Sem des Wohlgeruchs des Cliär; Schreiber des Ptah
o « ' ^ sr * — n ' ' ' 9 ' ' ^
Ä I ! I ^ ^^- I O I I A I I J ^
der 5. Phyle, Herr vom Anho des Tages 15 der 5. Phyle,
Herr der Emast des Tages 15 der ersten Phyle, Herr und
swks li ä «
Prophet des Scheschachähauses , Prophet des Horus
m m \ 2 1 i 111 5-wW
vom Scheschachähause, Prophet d. Götter d. Scheschachähauses,
Sescht (Secretär) des göttlichen Heiligthums in Memphis,
der anblicken darf den geweihten Ort der Nekropolis, der
Grossfürst und Meister der Kunst: Har-m-achu, der selige.
I 0 0
Sohn des Grossfürfürsten, Meisters der Kunst, des Setem
ft ?<*»> f ÄP
39) Im Originale mehr entenartig.
86 Sitzung der philos.-philol. Classc vom 7. Februar 1874.
skü^r ä ,l um iL
Anemho selig; der Name seiner Mutter, der grossen
Erheitrerin des Ptah : Heranch (her) selig."
Es kann natürlich nicht meine Absicht sein, hier eine
detaillirte Erklärung der Titel vorzunehmen ; dies würde eine
spezielle Arbeit erfordern. Nur über einige derselben sind
Nachweisungen, resp. Vergleichungen beizuziehen.
Was zunächst den Titel JL betrifft, dessen Varianten
z. B. auf der Stele des Anemho lin. 2 mehr der Hieroglyphe
J*) gleichen, die auf einer andern Wiener Stele (59 des
Raneferhet) wirklich vorkommt, und, wie stets, mit dem Gotte
Ptah in Verbindung steht, I^Qy^ö nuter wa hon Ptah
„göttlicher Wa und Priester des Ptah1' (oder Wa-Prophet
des Ptah), so bietet die dazu gehörige demot. Inschrift40)
die Uebersetzung nuter sem n pa-Ptah res n Mennufi
„Göttlicher Sem des Ptahhauses, des südlichen von Memphis"
während der dem hierogl. Texte der Harmachustele bei-
gegebene demot. Text41) dafür dreimal die Uebersetzung
uer-schepau't aufweist (vergl. auch das Demotische des Teho).
Jenes demot. M Xg sonst auch [lt\ geschrieben, wird
seit urältester Zeit gerade so vor Ptah gesetzt, wie S)\ beide
decken sich also dem Begriffe nach, ohne lautlich zusammen
®i
40) Siehe Tafel, 4. Im hierogl. Texte erscheint auch die Gruppe
o
Ba-Tcot (Alexandria).
rnnn
41) Siehe Tafel, 3.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 87
zu fallen. Ich habe in einem Artikel42) gezeigt, dass diesem
Stamm sem die Bedeutung „gross" zukommt, und desshalb
den Namen 2eftsfxxprjg der I. Dyn. wegen der vielfach be-
legten Reduplication semsem — auch sems — - mit der Ueber-
setzung des Eratosthenes : TteQiOGOftehrjg „der mit überschwäng-
lichen Gliedmassen" zusammengebracht. Dazu stimmt jO
wa, oT€i magnitudo, ottct praestare, besonders aber das
Compositum J%^(1^ l^43) »der grosse Mann". Es
ist also der W a oder Sem (mit dem Pantherfell) jedenfalls
der Hohepriester in Memphis, wie der „Erste Prophet des
Ammon" die höchste priesterliche Würde in Theben44) be-
kleidete. Da nun ferner die Schreibung setem statt sem
sowohl demot. als hierogl. unendlich oft vorkommt — so
auch auf unsrer demot. Version der Inschrift des Harmachu
— so fragt es sich, ob auch der ±$ setem unseres Textes
den auditor (ccotcm) oder als Variante wieder den se(te)m
(ujom excellens, eminens) bedeutet. Da sem den höchsten
priesterlichen Titel darstellt, so begreift es sich, dass der
Vater Anemho unmittelbar vor seinem Namen und da wo
er kurz titulirt werden soll, auf allen drei Familienstelen
nur mit sem (setem) eingeführt wird.
Jetzt können wir die demotische Inschrift am Sockel
der Harmachu-Stele etwas besser verstehen; sie bietet die
synonymen Titel:
42) Zeitschrift für ägypt. Spr. unter lefAEfupr}?. Ich erinnerte
dabei an den Wechsel des Q^ sem mit ^3 gadol gross. Beinisch
(Miramar p. 234, 3) erwähnt auch Zapog = vtpog.
43) Cf. Prisse : Monumm. pl. XXX col. 3. Leemans Monn. Pap.
Leyd. I 356, d. 1. wo ^ jfcfejft neben ^^fft als Parallelismus.
44) Vgl. meine Abhandlung über den Hohepriester Bokenchons.
88 Sitzung der philos.-phrtol Classe vom 6. Februar 1874.
„Der Uer-schepau't, Prophet des Ptab pe Aer45)-
baiu, des obersten der Geister46), Prophet des Ptah, Setem
und Uer-schepairt des Osiris, Prophet des Ptah, Uer-
shepau't der göttlichen Rechnung (heseb), der wieder (nem)
auflebende."
Hierin fehlt also sogar der Name des Harmachu. Dess-
Q —
halb darf es nicht befremden, dass auch der Titel m a char
unübersetzt geblieben ist. Ich hatte anfänglich geglaubt, weil
|ßj unmittelbar darauf folgt, es müsse cha er an „erhoben
zum Schreiber (des Ptah)a gelesen werden. Allein die Pa-
rallelstelle in der Inschrift des Anemho lin. 2 bietet {m{H
wo man doch nicht übersetzen durf: „erhoben zu den beiden
Göttern Euergeten". Weil nun auch an dieser Stelle wie
auf der Stele des Harmachu, dieses chär sich unmittelbar
an die Gruppe netem-sti (noTe.u-cToi) „Wohlgeruch" an-
schliesst, so ist die ganze Stelle so aufzufassen, dass Harma-
chu wie sein Vater Anemho als „Sem (setem)- Priester des
Wohlgeruches oder Weihrauches der c/mr-Pfanne (mujid?
acerra) bezeichnet werden sollte. In der That sieht man
die mit dem Pantherfell bekleideten Sem - Priester häufig
Weihrauchkörner in die an einem Metallarme angebrachte
Pfanne (char) werfen.
Bei den Varr. der Schescha-chä-Lokalität unserer In-
schrift will ich mich nicht aufhalten ; nur so viel sei bemerkt,
dass die Stele des Anemho lin. 8 zweimal dafür die constante
/www
Schreibung p"^ Q sescht-en-cha bietet. Die Abweichung
° »Tl fl
erklärt sich daraus, dass man auf der Stele des Harmachu
45) In der Rosettaua lin. 23 Mitte entspricht dem demot.
pe nuter her das griech. o 'kvqiwtcctos &e6c.
46) Darnach ist auf der Stele des Anemho lin. 2 Mitte \7m
zu £i n baiu und das nächste Zeichen zu ^ so(te)m zu corrigiren.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 89
die volkstümlichere47), dem kopt. «jovujt-iil-uj&j = orjKÖQy
(loculus in quo idola collocabantur) entsprechende Schreibung
anwendete. „Der Prophet der Festgarderobe" wird die
richtige Uebersetzung sein, da dem sescht häufig das
Determinativ ^^ der Binde beigegeben ist und ujujot auch
cervical bedeutet. Zwei weitere Titel des Harraachu ver-
dienen noch Erläuterung. Der erstere lautet An-ho ,, Schön-
gesicht des Tages 15." Da über die Phonetik des Auges48)
mit oder ohne Ellipse = an wegen der kopt. Transscription
des Pap. gnost. zu Leyden : ^h kein Zweifel obwalten kann
und im Kopt. p-aoi videri, p-aoi gratus placitus, p-^naj
pulchrum facere, placere, bonum esse, erhalten sind, so sind
wir wenigstens über die ursprüngliche Bedeutung des Titels
AnhOj der bedeutsam an den Namen des Vaters Anemho
anklingt, vergewissert. Bedenkt man jedoch, dass der damit
parallelgehende Titel 1\ r| Var. 4- n ^ em-ast, am-
ast-ä „der am Platze, der Grosse am Platze" besagt, und
ebenfalls mit „Tag 15" verbunden erscheint, so dürfte sich
der Begriff „Jour-habender" oder dergleichen empfehlen und
jenes ~än-ho als graphische Anspielung auf den Namen des
Vaters, der dieselbe (astronomische?) Charge am 15. des
Mondmonats bekleidete , statt des älteren und gewöhnlichen
^f^ un-ho = ü)it£ patefacere, oTtotio adparere zu fassen
sein, so dass wir auch in diesem Titel nur den Begriff
apparitor hätten.
47) Die Inschrift des Harmachu ist überhaupt nachlässiger ge-
schrieben; sie bietet z.B. dreimal das Zeichen A za dar, wo die
des Anemho richtiger y hon „Prophet" setzt. Ist aber Ä za
richtig, so dürfte ebensowohl an #2iO€ murus, als an *xoi navis
gedacht werden, weil za ohne Determinativ ist.
48) Cf. /wwvN^g^ — «y jjm, ain oculus.
90 Sitzung der philos.-philol. (lasse vom 7. Februar 1874.
Wichtiger aber für unsern Zweck ist die Gruppe V
I I ^=7
I I I ö
wobei unentschieden bleiben darf, ob nebt als Adj. zu diesem
sa-u 5 „aller 5 Phylen" oder als hh& dominus zum Folgen-
den zu ziehen sei. Ersteres ist indessen unwahrscheinlich,
weil wir sonst y][ * analog „jeder ersten Phyle" über-
setzen müssten. Vor allem gebe ich zu bedenken, dass die
Striche der Ziffer 5 nicht wie sonst ' . U , sondern beide
Male II geschrieben werden, um eben anzudeuten, dass
der fünfte Strich und somit die fünfte Phyle als Neu-
erung hinzugekommen war. Gerade über diesen Punkt
gewährt uns die Tanitica die befriedigendsten Aufschlüsse;
hören wir den unsren Titel illustrirenden Text ausführlich:
Lin. 23 — 33 (nach Aufzählung der auf das Priesterthum
der Euergeten bezüglichen Vorschriften) : „Es soll aber zu
den jetzt bestehenden vier Phylen v des Collegiums
der Priester in jedem Tempel noch eine andre hinzu-
geschaffen werden mit der Benennung „fünfte Phyle V
der Götter Euergeten, da es ja durch glückliche Fügung sich
ereignet hat, dass auch die Geburt des Königs Ptolemäus,
des Sohnes der Götter Adel phen, erfolgt ist am fünften49)
Dios, die ja vieler Güter Ursprung geworden ist bei allen
Menschen. Es sollen aber zu dieser Phyle gezählt werden
die seit dem ersten Jahre (247) Priester Gewesenen und
jene welche bis zum Monat Mesori im 9. Jahre werden hin-
zugeordnet werden, sowie ihre Nachkommen für immer. Die-
jenigen aber die schon früher Priester waren bis zum ersten
Jahre, sollen gleicher Weise in den nämlichen Phylen ver-
bleiben, in denen sie sich früher befanden, ebenso ihre
Nachkommen von jetzt an in dieselben Phylen eingereiht
49) Eine ähnliche wohldienerische Spielerei liegt weiterhin in
dem öios {tviios) statt &etos.
Lauth: Die Schalttage des Ftolemäus Euergetes I. 91
werden, in denen ihre Väter sind. Statt der zwanzig Priester-
räthe (ßovfovrtov IsQeiov) welche jetzt gewählt werden jährlich
aus den hergebrachten vier Phylen, aus denen man fünf
von jeder Phyle nimmt, soll es fortan fünf und zwanzig
Priesterräthe geben, indem aus der fünften Phyle der Götter
Euergeten weitere fünf hinzugenommen werden. Es sollen
ferner Theil haben auch die aus der fünften Phyle der
Götter Euergeten an den Reinigungs- und allen sonstigen
Tempelgebühren. Auch soll ein Phylarch über dieselbe ge-
setzt sein in der nämlichen Weise , wie es auch bei den
andern vier Phylen der Fall ist".
Ich denke, dieser ausführliche ja weitschweifige Text
bedarf keiner Erläuterung. Wir schliessen sofort daraus,
dass unser Harmachu wie sein Bruder Teho, unter Euer-
getes I, priesterliche Funktionen bekleidet haben muss, weil
auf seinem Grabsteine, dessen Setzung in die Regierung des
Philopator fällt, da er seinen Vater Anemho als verstorben
erwähnt, ihm der hohe Rang eines „Ptahschreibers der
fünften Phyle", eines „Herrn der Präsenz für den Tag 15
der 5. Phyle", sowie eines „Herrn des Jour-habens am
Tag 15 der 1. Phyle1' zugeschrieben wird.
Auch geht aus dieser Thatsache hervor, dass die
„5. Phyle, derGötterEuergeten" mitderThron-
besteigung des Philopator nicht abgeschafft
wurde, wie der Schalttag im bürgerlichen Ka-
lender. In der That hat die Creirung der 5. Phyle mit
der Kalender-Neuerung des Euergetes nichts zu schaffen und
wir treffen daher auf manchem Denkmale der späteren Zeit
die fünfte Phyle fort und fort in Function. Aber vor
dem 9. Jahre des Euergetes wird dieselbe nir-
gends erscheinen.
Die drei werthvollen Denkmäler der Wiener Sammlung,
die ich bisher besprochen habe, gestatten uns jetzt, folgende
Corollare zu ziehen:
92 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
1. Der Ptolemäische Canon, der auf astronomische
Beobachtungen gegründet ist, erhält für die ersten
drei Ptolemäer bezüglich der angegebenen Regierungs-
dauer von 20, 38, 25 Jahren eine starke Bestätigung.
2. Das Decret von Kanopus (Tanitica) empfängt da-
durch eine erwünschte praktische Illustration in seinen
wichtigsten Th eilen.
3. Die sechsmal erfolgte Einschaltung eines Tages unter
Euergetes ist bewiesen; die Schaltjahre 244, 240,
236, 232, 228, 224 wahrscheinlich gemacht.
4. Die mit des Philopator Thronbesteigung eingetretene
Reaction und Wiederaufhebung der kalendarischen
Neuerung des Euergetes ist erhärtet.
5. Die siebzigtägige Einbalsamirungsperiode an einem
soliden Beispiele gezeigt.
6. Der Fortbestand der 5. durch die Euergeten ein-
geführten Phyle genügend begründet.
Die Kalender-Neuerung unter Augustus.
Ueber einstimmend mit der vonLepsius51) ausgesprochenen
Vermuthung „es trat wahrscheinlich schon mit der Thron-
besteigung des Philopator die Reaction gegen dieselbe ein"
nämlich gegen des Euergetes Kalender -„Reform", habe ich
schon früher52) die bestimmte Behauptung ausgesprochen:
„That sächlich ist die im 9. Jahre des Euergetes ge-
troffene Einrichtung bald wieder beseitigt worden". Ich
denke jetzt den Beweis geliefert zu haben, dass wirklich mit
der Thronbesteigung des Philopator I die Neuerung seines
Vorgängers wieder aufgehoben wurde. Wenn ich mich bis-
her mit Vorliebe des Ausdruckes Kalender- „Neuerung" statt
„Reform" bedient habe, so wird dies kaum die Billigung
50) Decret v. Kanopus p. 14.
51) Zeitschrift f. ägypt. Sp. 1868 Aprilheft p. 44.
Lauth: Die Schalttage des Ptölemäus Euergetes I. 93
meines Freundes Rösler 52) finden, der unter andern das
ä'gpyptische Wandeljahr „eine der schlechtesten Jahresformen4'
nennt. Allerdings ist eine Fixirung des vagen alle Jahres-
zeiten Monate und Tage des natürlichen Jahres successive
durchwandelnden altägyptischen Jahres zu 365 Tagen (ohne
Einschaltung) als ein Fortschritt, eine Reform, ja als eine
wirkliche Verbesserung anzusehen — wenn nur nicht für
Aegypten die bedeutsame Ausnahme geltend gemacht werden
müsste, dass hier das Wandel jähr unzertrennlich mit der
Sothisperiode verbunden war, so dass die Aegypter
hierin eine untrügliche astronomische Aera besassen.
Ich bleibe daher bei meiner Bezeichnung ,, Kalender-
Neuerung", sowohl für die Einrichtung des Euergetes I,
als auch die des Augustus, weil beide in ihrem Wesen iden-
tisch sind. Es springt jetzt auch sofort in die Augen, warum
nun von Augustus an als Ersatz der astronomischen die
historische Aera (des Augustus) geltend wurde, wie nicht
minder, dass die Thatsache der Kalender-Neuerung unter
Augustus die vorangängige Aufhebung der Schalttage des Euer-
getes gebieterisch voraussetzt. Die Epoche jedoch d. h. das
bestimmte Jahr und den genauen Tag der Kalender-Neuerung
des Augustus betreffend , herrscht noch immer die grösste
Unsicherheit. Statt weitläufiger Citate will ich die dessfalsige
Ansicht des so bündig und klar darstellenden Lepsius53)
hersetzen: „Einnahme von Alexandrien am 3. August 30
(nach der falschen Rechnung der Pontifices am 1. August)-
Das feste Alexandrische Jahr, von Augustus eingeführt,
beginnt am 29. August, weil die Pontifices im Jahre 30 am
l.Thot in Rom irrig den 29. statt des 31. August zählten,
was später berichtigt wurde."
52) „Der julianische Kalender und die Inschrift von Tanis"
Zeitschr. f. österr. Gymn. 1869, 1. Vergl. Lepsius in der Zeitschr. f.
ägypt. Spr. 1869 p. 77.
53) Chronologie d. Aeg. p. 10 der synoptischen Tafeln.
94 Sitzung der phüos.-philol. Ciasse vom 7. Februar 1874.
Es ist übrigens nicht recht ersichtlich, wie die Kalender-
Neuerung unter Augustus nothwendig mit der Einnahme
Alexandria's zusammenhängen müsse. Allerdings, so viel
ist klar, dass die ägyptische Priesterschaft dem Augustus sich
analog gefällig oder wohldienerisch zeigen wollte, wie früher
dem Euergetes aus Anlass seiner siegreichen Heimkehr vom
asiatischen Kriegszuge, wie denn überhaupt die Idee zur
Aenderung des bisherigen Wandel-Kalenders unter Augustus
offenbar durch den geschichtlichen Präcedenzfall des Euer-
getes I hervorgerufen worden ist. Verhält sich dieses so,
dann müssen wir noch eine weitere Analogie der beiden
Fälle vermuthen : so wiefürdasDecret vonKanopos
(Tanitica) die Coincidenz des Siriusaufgangs mit
dem ersten Tage eines Monats im Wandeljahre
(Payni) massgebend war, somusste der Verlegung
des als Schmeichelei gemeinten Kalender-No-
vums unter Augustus auf ein späteres Jahr als
das der factischen Eroberung, irgend eine kalen-
darische oder astronomische Coincidenz zu
Grunde liegen. Ich werde diese Hypothese zur That-
sache erheben und hiedurch zur Chronologie einen wesent-
lichen Beitrag liefern.
Zuvörderst handelt es sich darum, das Jahr zu er-
mitteln , in welchem die Kalender-Neuerung des Augustus
getroffen wurde. Da im koptischen Kalender fort und
fort bis auf unsre Tage in Aegypten der 1. Thoth immer
dem 29. August entspricht — mit selbstverständlicher Aus-
nahme desjenigen Jahres jeder Teträteris, das unmittelbar
auf das Schaltjahr folgt — so muss auch die ursprüngliche
Einführung der durch Nichts unterbrochenen Aera des Augustus
als Epochentag den 29. August aufweisen und dieser dem
1. Thoth entsprechen.
Nach meinem von mehreren Gelehrten54) vertretenen
54) Vergl. Gumpach und Junker und schon Des Vignoles.
Lauth: Die Schalttage des Ptölemäus Euergetes I. 95
Ansätze der nächsten Epoche des sothischen Cyclus : 136 bis
139 nach Christus, entspricht der 1. Thoth des Wandeljahres
dem 29. August während des Quadrienniums 25, 24, 23, 22
vor Christus. Dasselbe Resultat erhält man, wenn man auf
Grund der Tanitica den zwischen dem 23. October (Epoche
des Decretes von Kanopus) und dem 29. August verstrichenen
Zeitraum = 23 + 30 (Sept.) + 2 Tage = 55 Tage mit 4 multi-
plicirt, da sie ebenso vielen Quadriennien, also 4x55 = 220
Jahren congruent sind. Zieht man diese 220 Jahre von
245 v. Christus ab, so bleibt 2 5 vor Christus als
das Epochen jähr derKalender-Neuerung unter
Augustus. Da wir ferner wissen, dass die Aegypter seit
Einführung des fixen Kalenders je ein Jahr vor dem Julian.
Schaltjahr ihre Einschaltung vornahmen, so müssen wir rück-
wärts von dem Jahre der Geburt Christi (=1) aufsteigend,
die Jahre 2, 6, 10, 14, 18, 22 als Schaltjahre ansetzen, so
dass also, genau nach der Theorie, die erstmalige Einschaltung
eines 366. Tages in Aegypten unter Augustus auf das vierte
Jahr des betreffenden Quadrienniums fiel: (25, 24, 23) 22.
Ob als 6. Epagomen oder an einer andern Stelle des Jahres
z. B. als Fest des Augustus iiÄw-n-*.UÄ.oTe = potentissimus,
soll vorderhand nicht untersucht werden.
Man könnte meine Gleichung: „29. Aug. = 1 Thoth
25 — 22 v. Chr." eine petitio principii nennen, obschon sie
ein rechnerisches Ergebniss ist, eruirt auf Grund einer mehr-
fach beglaubigten Gleichsetzung des heliakalischen Sothis-
aufgangs mit dem 20. Juli. Allein die Bestätigung durch
einen classischen Astronomen von Fach wird doch noch
schwerer in's Gewicht fallen. Zu diesem Behufe entnehme
ich der berühmten Angabe des Mathematikers und Astro-
nomen Theon55) von Alexandria dasjenige, was sich auf die
Aera Augusti bezieht. Theon findet als Tag des Siriusauf-
gangs im 100. Jahre seit Diocletian (— 284, also 384 nach
55) Lepsius: Königsbuch p. 123; Chronologie d. Aeg. I 169.
96 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
Christus) den 29. Epiphi = 23 Juli für Alexandrien. Dies
gibt für den Normalparallel, der ungefähr 3 Grade südlicher
lag, den 2 6. Epiphi = 20. Juli. Die damals (384 nach
Christus) seit Augustus verflossenen Tetraeteriden (tccq tots
TeTQcceTrjQidag) gibt er zu 102 an (ovoag qß — 102). In
der That ergibt die Summirung 384 n. Chr. + 25 v. Chr.
409 Jahre, welche Zahl mit 4 dividirt, die 102 Quadriennien
oder Tetraeteriden erklärt, und bestätigt so indirect den
Ansatz der Aeren-Epoche auf das 6. Jahr des Augustus
(25 v. Chr.) (aQxi ^.vyovöiov würde Theon gesagt haben,
da er für 284 n. Chr. den Ausdruck Ir^ig Avyovaxov setzt).
Die Sache hat indess einen kleinen Haken. Neben ovoag
qß bietet der Text noch Xoiitbv x«. Diesen „Rest 21" bezog
Biot56) scharfsinnig auf die Differenz der Jahre zwischen
Julius Cäsar's und des Augustus Kalender-Reform. Allein
Lepsius (Königsbuch 1. 1.) machte mit Recht dagegen geltend,
dass diese Notiz, auch wenn sie ganz richtig wäre, doch
hieher nicht gehört und auf jeden Fall den Zusammenhang
des Satzes widersinnig unterbricht, Er selbst erklärt Ioltcov
%a als Randbemerkung, die später irrig in den Text ge-
kommen und fasst sie als = y.al d (exog = -f- 1 Jahr) oder
als %al d' „und x/4 nämlich Tag" oder endlich als Ioltcov a
„Rest 1 Jahr". Letztere Conjectur kommt der Wahrheit
am nächsten. Ich nehme die Sache, wie sie liegt, folglich
XoiTtöv na als integrirenden Theil des Textes und übersetze
„Rest + (auch y,al) 1 Jahr". Nämlich mit Hinzurechnung
des terminus ad quem d. h. des Jahres 384 n. Chr. zu 25
v. Chr. erhält man als Quotient der Division mit 4 die 102
TerqaeTrjqidag -f- Rest 1 Jahr57).
56) Sur divers points p. 131 note. In der That citirt Letronne
(Recueil d. Inscript. grecq. II 129) eine Inschrift aus Philae, wo
evovg k (20) tov xal e in Bezug auf Augustus gesetzt ist.
57) Vielleicht gehört dies xcc zu dem nächstfolgenden rci "keinoviu
und ist als xatuXeinovxa bei solcher Gräcität nicht auffallend.
Lauth: Die Schalttage des Ptölemäus Euergetes I. 97
Die Bedeutung + (plus) bei Additionen für x,al (hier als
Abbreviatur bloss x) erscheint auch sonst, und ich kann im
Aegyptischen den analogen Gebrauch des *=* ka aufzeigen.
Jetzt schliesst sich auch das Folgende ungezwungen an XoiTtov
kcc' tcc helftovTa, r^eqag %-*.$, xavxag ärtolvGOv and @w^58)
(sie !), SidovTsg sxccotco firjvl r^eqag X, cog evQLOKeG&ai wy
snvzoXrjv enl tÖ69) Jiovlrftiavov ^Eitupi %&'. Wirklich
führen die 329 Tage des Restjahres 384 n. Chr. auf den
29. (des 11. Monats) Epiphi. Dass diese für Alexandrien
richtige Ansetzung des heliakalischen Siriusaufgangs um
3 Tage hinaufzurücken ist, um für den Normal-Parallel der
Sothis gültig zu sein, ist oben schon bemerkt.
Der Ansatz 1. Thoth = 29. August im Jahre 25 v. Chr.,
wo am 26. Epiphi der heliakal. (Früh-)aufgang des Sirius statt-
gefunden 60), könnte trotz aller bisher vorgeführten Zeugnisse
doch vielleicht nur die conventionelle Annahme der alexan-
drinischen Astronomen sein. Es fehlt also zur vollen Evidenz
noch ein urkundlicher Beweis aus der Regierungszeit des
Augustus selbst. Ich schätze mich glücklich, denselben
liefern zu können.
Der Sothisaufgang am 26. Epiphi im Rhind-
Papyrus61) II.
Die Grundlage meiner Berechnung, nämlich das Lebens-
alter des hier in Betracht kommenden Ehepaars, gebe ich,
um allen Verdacht einer Zustutzung der Quelle zu Gunsten
58) Man bemerke dass „der erste" wohl gemeint aber nicht
ausdrücklich genannt ist. In ägyptischen Quellen werden wir dieser
Bezeichnungsweise öfter begegnen.
59) Vielleicht q oder J (wiederholt) als J—SeTva zu ergänzen.
60) Siehe Junker: Die ägypt. Sothisperioden p. 32.
61) Cf. Brugsch: A. Henry Rhind's Zwei bilingue Papyri. Hiera-
tisch und demotisch. Leipzig 1865 bei Hinrichs.
[1874, 1. Phil. hist. CL] 7
98 Sitzung der 'philos.-phüol. Classe vom 7. Februar 1874.
meiner Hypothese vorweg abzuschneiden, mit den Worten
Brugsch's (Zur Einleitung p. V):
„Die beiden Papyri (zu Abd-el-Qurnah aufgefunden) be-
ziehen sich auf zwei verschiedene Personen, Mann und Frau,
deren Name, Abstammung, Rang und Lebensepoche genau
und meistens sogar zu wiederholten Malen angegeben sind.
Der Mann, Gouverneur von Hermonthis und Commandant
der dort stationirten Truppen, hiess Sauf . . . die Frau
Tanua. Er ward geboren unter Neos-Dionysos und lebte
unter dessen Regierung 16 Jahre, 9 Monate und 4 Tage;
unter Cleopatra 22 Jahre; unter des Kaisers Augustus Re-
gierung bis zu seinem Todestage 20 Jahre, 10 Monate
10 Tage. Die Rechnung ergibt richtig, wie der Papyrus es
meldet, für seine Lebensdauer 59 Jahre 7 Monate 14 Tage."
„Seine Frau Tanua war gleichfalls geboren unter Neos-
Dionysos' Herrschaft. 10 Jahre 3 Monate 10 Tage lebte sie
unter derselben, 22 unter Cleopatra. Bis zu ihrem Todes-
tage hin unter Augustus 20 Jahre 11 Monate 28 Tage.
Ihre Lebensdauer betrug demnach 53 Jahre 3 Monate und
8 Tage. Die beiden letzten Zahlen sind durch eine Lücke
im Papyrus ausgefallen. Sie starb demnach 48 Tage nach
dem Tode ihres Mannes, wie es wiederum richtig der Papyrus
angibt". So weit Brugsch. Prüfen wir diese Ansätze an
den beiden Originalen selbst.
Um mit der letzten Angabe zu beginnen, so sagt der
Text des zweiten bilinguen Papyrus pl. XXVI zur Tanua : „Du
gingst ein in die Unterwelt, als du warst 48 Tage die Wittwe
deines Ehemannes". Da nun dieser nach dem ersten Papyrus
pl. II u. III am 10. Epiphi, und die Tanua nach dem zweiten
Papyrus pl. XXV am 28. Mesori desselben 21. Regierungs-
jahres von Augustus gestorben ist, so sieht man sofort, dass
die Differenz vom 10. Epiphi bis zum 28. des nächsten
Monats Mesori, also 20 + 28 = 48 Tage aufs Genaueste zu
den 48 Tagen der Wittwenschaft stimmt.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 99
In Bezug auf die Lebensdauer der Tanua kann ich mit
Brugsch's Ansatz: 53 J. 3 M. 8 Tage (letztere beide ergänzt)
nicht ganz übereinstimmen , da beide Schriftarten deutlich
54 J bieten, die auch Brugsch in seiner Uebersetzung
richtig wiedergibt.
Um die Lücke des Textes hinter der Angabe von Ta-
nua's Lebensjahren auszufüllen, haben wir einfach die Diffe-
renz ihrer Geburtszeit heranzuziehen. Da der Mann im
Jahre 13 am 27. Athyr, die Frau im J. 19 am 26. Pachons
geboren war, so beträgt der Unterschied ihres Geburtstages
6 J. 5 Monate (3 + 26 =) 29 Tage. Diese Partialsumme
von der Gesammtlebensdauer des Mannes
59 J. 7 M. 14 Tage abgezogen
6 „ 5 „ 29 „ bleiben für die Lebens-
dauer der Tanua 53 J. 1 M. 15 Tage, und wenn wir die
48 Tage der Wittwenschaft dazu addiren, 53 J. 3 M. 3 T.,
so dass die Lücke mit ,,3 Monate 3 Tage" auszufüllen ist.
Machen wir die Gegenprobe in absoluter Weise: der
Mann, geboren im J. 13 des Neos-Dionysos, am 27. Athyr,
lebte folglich, da der Kanon diesem Könige 29 Regierungs-
jahre zugetheilt hat, unter ihm noch
16 J. 9 M. 4 Tage,
unter Cleopatra 22 „ — „ — „
unter Augustus 20 ,, 10 „ 10 „
Summa 59 J. 7 M. 14 Tage
wie es der Papyrus richtig angibt.
So wie nun bei dem Manne das 60. Lebensjahr er-
wähnt und mit 7 Monaten 14 Tagen vertreten ist, ebenso
ist bei der Frau das 54. genannt, weil mit 3 Monat 3 Tag
betheiligt. Denn seit ihrer Geburt am 26. Pachons des
19. Regierungsjahres verflossen ihr unter Neos-Dionysos noch
10 J. 3 M. 5 Tage; dazu die
22 „ — „ — „ der Cleopatra und
von Augustus 20 „ 11 „ 28 „ also
im Ganzen 53~T 3~M. 3 Tage,
100 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. Februar 1874.
nicht 53 J. 3 M. 8 Tage, wie Brugsch (vielleicht in Folge
eines lapsus calami) ergänzt hat. Die Differenz von 5 Tagen
ist aber hier von Belang, weil unmittelbar hinter der zer-
störten Stelle ein Fragment auftritt mit Angabe eines
wichtigen Festes, das auch, scheinbar ebenso zusammen-
hangslos, pl. XXI hors de ligne 6 im Papyrus des Mannes
erscheint. Ich werde diese beiden höchst interessanten Bruch-
stücke im nächsten Abschnitte über die Sothis eingehender
behandeln.
Nachdem wir so eine sichere Basis gewonnen haben,
schreite ich zur Beantwortung der Frage : Ist in den Rhind-
papyri eine Spur des fixen Jahres zu 365 V* Tagen zu ent-
decken? Die obige Rechnung hat eine solche nicht auf-
gezeigt. Aber offenbar ist sie in folgender zum Glücke
wiederholten Legende zu sehen. Nach Anführung der In-
gredienzien die zur Mumificirung gehören z. B. auch des
Prachtgewandes (mench scheps) lässt der Verfasser des Textes
den Archon Sauif so anreden (pl. III l. X) : ,,Du kommst hervor
„zu schauen den kleinen Sonnengott im Innern seiner
öi 4JJ. J^o i m^A im ^ onui
Udhesnefru-Barke im Ocean am 26. Choiahk."
Brugsch 62) hat mit gewohntem Scharfblicke die Wich-
tigkeit dieser Stelle erkannt und die noth wendige Correctur
im hieratischen63) Texte durch Beiziehung der einstimmigen
Legenden des zweiten Rhind-Papyrus (pl. XXVII lin. 11)
genügend motivirt, auch die classischen Stellen angezogen,
welche beweisen, dass die Sonne des Wintersolstitiums bei
62) Materiaux etc. p. 43.
63) Aehnlich bietet der hierogl. Text der Rosettana 1. 5 von
unten anstatt des demot. richtigen 17. Mechir den 17. Phaophi!
Lauth: Die Schälttage des Ptolemäus Euergetes I. 101
den Aegyptern (die des alexandrischen Kalenders sich be-
dienten) unter dem Symbole eines kleinen Kindes dar-
gestellt wurde. Ich füge den von ihm citirten Quellen hinzu,
da8S auch Plutarch de Is. et Osir. an zwei Stellen c. 52 u.
65 b. der Wintersonnenwende gedenkt und zwar an ersterer
mit Andeutung der 7 Trauertage um Osiris64) (sTtTccxig),
indem die durch die Kuh symbolisirte Isis durch das sieben-
malige Herumtragen um den Tempel : ZrjTrjoig des Osiris
genannt, die sieben Tage vom 24— 30 Choiahk andeutet. Nun
ist allerdings schon in altpharaonischen Kalendern das Fest
des Ptah-Sokar-Osiris auf den 26. Choiahk angemerkt und
insofern könnte es scheinen, als ob Brugsch Recht habe
wenn er das alexandrische Jahr von Alters her im Gebrauche
sein lässt. An der zweiten Stelle c. 65 b. setzt Plutarch
die Geburt des s^QUOKQccrrjg (äteh]g xcci vscxqoq) in die Zeit
usqI rag xqoTtag xei^eqivag. Dies ist der ,, kleine Sonnen-
gott" unserer vorliegenden Legende, dessen Anknüpfung an
den alten Ptah-Sokar-Osiri am 26. Choiahk für ägypt. Priester
und ihre bunte Mythologie keinerlei Schwierigkeit darbot.
— In der That entspricht der 26. Choiahk des alexandrini-
schen Kalenders dem 23. December des julianischen Kalen-
ders und dass Jul. Cäsar seine bruma oder sein solstitium
hibernale gerade auf diesen Tag ansetzte, beweist ausser
vielen andern Quellen die Bemerkung des Servius zu VII
Aeneid. v» 720, dass Sol novus proprio 8 Tage vor dem
1. Januar falle, wo in Rom natalis Solis invicti gefeiert
werde, sowie der runde Thierkreis von Denderah65), der die
Epoche des römischen Jahres d. h. den 1. Januar acht Tage
nach dem Symbole des Wintersolstitiums d. h. dem 23. De-
cember aufstellt.
In so ferne also bin ich mit Brugsch völlig einver-
standen, nämlich den 26. Choiahk der beiden Rhind-Papyri
64) Vergl. meinen dessfalsigen Aufsatz in der Zeitschrift 1866.
65) Vergl. meine Zodiaques de Penderah p. 13.
102 Sitzung der phüos.'philöl. Classe vom 7. Februar 1874.
als Wintersolstitium des alexandrinischen Kalenders zu fassen.
Wenn er aber weiter geht und auch für die frühere, ja so-
gar die altpharaonische Zeit den Gebrauch eines dem alexan-
drinischen identischen fixen Jahres mit der Epoche 29. Aug.
= 1 Thoth, neben dem vom 20. Juli an laufenden ebenfalls
fixen Sothisjahre behauptet, so kann ich ihm dahin nicht
folgen, weil die Tanitica dieses absolut unmöglich macht.
Haben uns somit die beiden Rhind-Papyri, unverwerf-
liche weil gleichzeitige Zeugen, die Existenz des fixen alexan-
drinischen Jahres zu 365 V* Tagen im 21. Jahre des Augustus
erhärtet, so liefert der letztere von beiden uns auch die
wichtige Angabe über das Fest derSothis-Erschein-
ung am 26. Epiphi und zwar im innigsten An-
schlüsse an den volksthümlichen Namen des
Augustus, wie ihn die Aegypter aus Anlass die-
ser Neuerung bildeten.
Es wird nämlich der Todestag der Frau Tanua pl. XXV
1, 2 folgen dermassen angegeben und zwar unmittelbar hinter
der bald zu besprechenden wichtigen Stelle über das Fest
der Sothis-Erscheinung :
nn /^nnn 1 1 1 1
A/WW\
io iiiio nun
QMI~]J
,Jahr 21 am 28. Mesori Cäsär's, in der
M
ErgänzuDg, die er machte".
Da beim Todestage des Mannes Sauif derselbe Titel
des Cäsar Augustus wiederkehrt, so haben wir es offenbar
mit einem volksthümlichen Namen desselben zu thun, der
zunächst zu der kalendarischen Ergänzung resp. Fixirung
des Jahres in Beziehung steht. Aber auch in Betreff der
Sothis-Erscheinung gibt uns derselbe Papyrus wiederholt
eine bestimmte Hinweisung, die keinenfalls geeignet scheint
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 103
Kopfschütteln im verneinenden Sinne zu erregen, da m&>£
in dem von mir adoptirten Sinne die allein berechtigte Auf-
fassung ist. Ich bin glücklicherweise im Stande, aus der-
selben Urkunde zwei fragmentarische Legenden mit Angaben
von Festen hieher zu ziehen. Die eine findet sich pl. XXI
unter der Mitte von lin. 6 und ist deutlich J . o oder
0
heb = Ttavi-yvQig. Der darüber stehende Text handelt schon
auf pl. XIX/XX von den chemurd- und chenisek-Stemen ;
vom Sahu (Orion, Repräsentant der 5 Epagomenen) am
südlichen Himmel ; von der Sothis (Supd = Sirius, Repräs.
des fixen Jahres) mit dem Titel „haq't chebesu" „Leiterin
der (36/37) Decane"; ferner von den Talismanen und andern
Gaben der Götter an den Verstorbenen . . . endlich pl. XXI
lin. 5/6 „es ist seine Speise aufgestellt auf dem Tische des
Osiris alle Tage jeder Sonne; man hört seinen Namen in
den Wohnungen der Götter". Nun kann zwar auf die alten
Aegypter der Göthe'sche Spruch angewendet werden:
„Dem Völklein da ist ein jeder Tag ein Fest"
und insoferne lässt sich aus der Anbringung der Gruppe
„Fest" oder „Panegyrie" unter lin. 6 (ohne allen grammati-
schen Zusammenhang) nichts für die Kalenderfrage folgern.
Allein bedenkt man die offenbar kalendarische Gruppirung
der (Fixsterne, Planeten) der 5 Epagomenen, des Viertel-
tages und endlich der Sothis mit ihren Decanen als Ver-
tretern der Decaden (10 tägigen Wochen), so gewinnt das
heb-Fest unter lin. 6 schon mehr und mehr ein astronomi-
sches oder kalendarisches Aussehen.
Wir werden gewiss in dieser Anschauung bestärkt, wenn
wir einen Blick auf die zweite fragmentarische, wenigstens
erratisch scheinende Gruppe werfen, die pl. XXIV lin. 11
hinter der Lebensdauer der Tanua: „Jahr 54. (mit 3 Mo-
naten und 3 Tagen) in drei Etagen so sich darstellt:
104 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
n ■ xi
ta cha't Supd nuter't
„Die Erscheinung ... der göttlichen Sothis . . .
J\ oder
mah chost) hebai
mah (oder choft) des Festtages".
Es war offenbar gemeint, dass der Todestag der Tanua,
nämlich der 28. Mesori, der unmittelbar darauf genannt
wird, als der so und so vielte (mah) Tag seit dem Feste der
Sothis-Erscheinung gedacht werden sollte. Da mich nun
meine bisherigen Resultate ermächtigen, in dem unter Cäsar
Augustus fixirten Jahre hiefür den 26. Epiphi anzusetzen,
so Hesse sich die Lücke hinter mah-hebai durch hru 33
,,drei und dreisigster Tag" seit der Panegyrie der „Sothis-
Erscheinung" ausfüllen. Denn es ist wohl zu beachten, dass
hier ein den Aegyptern wohl zuzutrauendes Zifferspiel
zwischen 33 (Tagen) und 3 M. 3 T. vorliegt, um welche
Tanua in das 54. Lebensjahr hinüberragte. Wir werden
die nämlichen 33 Tage auch weiterhin bei der Angabe in
Betreff des Lebensendes von Sauif wieder antreffen : Dieser
starb den 10. Epiphi, d. h. den 16. Tag seit dem heseb-tep-
Feste oder Sommersolstitium und 16. Tage vor der Sothis-
Erscheinung am 26. Epiphi des fixirten Jahres.
Das Sommersolstitium am 26. Payni = 17. Juni
nach dem Rhind- Papyrus I.
Wir könnten uns mit dieser Ausbeute der beiden Rhind-
Papyri einstweilen begnügen, da sie uns den Sothisaufgang
am 26. Epiphi gewährleistet. Aber es wartet unser noch
ein weiteres wichtiges Ergebniss. Die eben erwähnte Stelle
in Bezug auf den Todestag des Mannes (Sauif) findet sich
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 105
im Rhind-Papyrus I und ist zu wichtig als dass ich sie nicht
genau analysiren müsste. Nachdem die datirte Geburt und
die Gesammtlebensdauer erwähnt sind, folgt lin. 10/11 die
Angabe seines Todestages in folgender Fassung:
f, , — (41^]
„Du tratest ein in die Tiefe Jahr 21 Cäsar's
in der Ergänzung, die er machte, Epiphi Tag 10, den 16.
LIP » 8 ffl T
Tag seit dem Hebes-tep-Feste".
Brugsch übersetzt diese Stelle so : (jour de deces de Sauf)
,,1'an 21 du regne d' August (appele Kaisaros) selon
Paccomplissement , qui fait le mois d5 Epiphi le jour 10e
remplissant le jour 16e a la panegyrie hebs-tep". Der-
selbe bemerkt übrigens gewissenhaft p. 67/68 ,,Le texte
demotique öftre les memes paroles, seulement, il est a ob-
server que la date du 10 (Epiphi) y est exprimee par le
chiffre employe pour la notation des jour du mois,
tandisque le 16ejour estdesigne par les chiffres
ordinaires." Der zweite Theil des letzten Satzes ist
von mir unterstrichen, um bemerklich zu machen, dass es
nach Brugsch's eigener Angabe unstatthaft ist, den 16. Tag
unserer Stelle zu einem Monatsdatum zu stempeln. Er
ist eben kein quantieme du mois. Damit fallen auch
alle Consequenzen, die Brugsch daraus ziehen will, besonders
das p. 92 geschlossene Corollar : La correspondance indiquee,
selon laquelle le 10. Epiphi, Tan 21 du regne d' Auguste,
tombe sur le 16e jour d'un mois, dont on a sup-
prime le nom, s'expliquera aisement, par notre tableau
synoptique. II nous fait voir que le 10. Epiphi civil coincide
106 Sitzung der phüos.-pJrilol. Gasse vom 7. Februar 1874.
avec le 16. Mesori, si le 1er Thoth sacre correspond au
30. Epiphi civil."
Ferner hat Brugsch gewissenhaft hinter dem letzten
Zeichen ^ der Gruppe meh-t ein ? angebracht, um den
Zweifel in die Richtigkeit dieser Lesung anzudeuten. Dazu
war kein Grund vorhanden, da das diesem entsprechen
sollende Zeichen ein deutliches hieratisches <=* ist. Da nun
die Kopten noch den Ausdruck „n^-n-&.Aidw§Te66) poten-
tissimus, titulus Augusti" bewahrt haben, so ist kaum zu
bezweifeln, dass dieser Titel sich ursprünglich auf die Er-
gänzung des Wandeljahres zum fixen durch die Einschalt-
ung (oder die Erfüllung des Phönixcyclus ?) bezogen hat,
und erst in späterer Zeit mit der Eroberung ^au^otc
occupatio possessio potentia zusammengeworfen wurde.
Aehnlich wird in der Tanitica 1. 45—46 gesagt, das Fest
der Euergeten solle an dem Schalttage gefeiert wer-
den, damit alle erfahren (elöwoiv) öton ro eXketftov tvqoteqov
. . . . dicoQ&cjo&aL nal avaTtETc'krjQtoo&ai ovftßeßijxev
dia tcov EvEQysrcov öeiov. Der hieroglyphische Text bietet
aber für ava7t£7tXrjQwo&cu genau dieselbe Gruppe meh (1. 23)
°5^, die in beiden Rhind-Papyri hinter dem Schilde des
Kaisaros (Augustus) als dessen kalendarischer und wohl
auch volkstümlicher Beiname erscheint. In der oben citirten
Stelle, wo dieser Titel pe-mahte neben Kaisaros vorkommt
(pl. XXV) lin. 2, ist Brugsch's Auffassung als einer „correspon-
dance" schon desshalb unzulässig, weil dort keine Zahl
darauf folgt, mit der correspondirt werden könnte.
Mit Beseitigung der zwar höchst genialen, aber fortan un-
haltbaren Auffassung unsrer Stelle wie Brugsch sie gethan, sind
wir indessen der Schwierigkeiten noch nicht positiv Meister
geworden. Verführt duzch Birch's67) irrige Uebersetzung
66) Vergl. Zeitschr. 1867, 81 (Goodwin).
67) Facsimiles of two papyri.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 107
derselben: he went to the Place of Enwrapping in the 21st
year of Caesar. The funeral was made from the tenth to
the 15th Epiphi — war ich früher in meiner Berechnung,
obschon ich nach 15th das Wort Epiphi als entschieden un-
statthaftunterdrückte, auf Grund des Kalenders von Esneh68)
vom 26. Payni ausgegangen, weil dort ein „Fest des Be-
kleidens mench der Krokodile" und zwar als „Neujahrs-
fest" notirt ist. Von hier an 15 Tage weiter zählend,
gelangte ich ungezwungen auf den 10. Epiphi unsres Textes,
der recht wohl als der fünfzehnte vom oder seit dem „Be-
kleidungsfeste" gelten mochte, um so mehr, als ja auch der
Rhind-Papyrus I unmittelbar nach der fraglichen Zahl (15)
ein Fest hebs-tep „Bekleidung des Hauptes" darbietet. Allein
mit der richtigen Lesung meh hru 16 „der 16. Tag" zerfiel
dieser trügerische Schein in Nichts. Uebrigens bleibt als
reeller Gewinn auch hievon (dem Kai. v. Esneh) der 26.
Payni als Neujahrsfest bestehen und zwar ist damit der
Beginn des tropischen Jahres gemeint: 17/18 Juni,
wie ich dies schon 1866 (Zeitschrift für ägypt. Spr. Dec.)
ausgesprochen und durch Romieu (ibid. 1867 p. 104) nicht
widerlegt gefunden habe.
Die beiden Rhind-Papyri haben uns also folgende Re-
sultate mit aller Bestimmtheit geliefert:
1. Das fixe Jahr zu 365 */± Tagen. In diesem
entspricht der 1. Thoth dem 29. August des julia-
nischen Kalenders, folglich der 26. Epiphi dem
20. Juli = Sothis-Aufgang. In der That, zählt man
vom 29. August 40 Tage (29+11) zurück, so ge-
langt man ebenso zum 20. Juli, wie man 40 Tage
nach dem 26. Epiphi vorwärts zum 1. Thoth gelangt.
2. Das Jahr 21 des Augustus hat sich als Schalt-
jahr erwiesen und somit die Einschaltung in je-
68) Brugsch: Materiaux pl. XIII col. 15a.
108 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
dem 4. Jahre des Quadrienniunis, also 22, 18, 14,
10, 6, 2 v. Chr. dargethan. Diese Folgerung beruht
auf dem Datum : 25 Payni = hebes-tep-Fest" oder
Sommersolstitium, welches in den drei andern Jahren
der Tetraeteris wie z. B. im Kalender von Esneh,
auf den 26. Payni trifft.
3. Der Sothisaufgang am 26. Epiphi = 20. Juli, in
Beziehung gesetzt zu dem 33 Tage später erfolgten
Tode der Frau Tanua, gewährleistet die Richtigkeit
des dessfalsigen theoretischen Ansatzes.
4. Das Wintersolstitium am 26. Choiahk zufolge den
beiden Papyri entspricht dem 23. December des
Julian. Kalenders.
5. Das Sommersolstitium am 25. (26.) Payni liegt um
sechs volle Monate später, wie es die Theorie er-
heischt und entspricht dem 17./18. Juni, wo nach
dem Julian. Kalender die Sonne in das Zeichen des
Krebses übertritt.
Im Jahre 21 des Augustus (10 v. Chr.) war also der
Tod des Sauif am 10. Epiphi zufällig gerade so viele Tage
(33) vor, als der Tod seiner Frau Tanua nach dem Sirius-
aufgange erfolgt. Diesem Zusammentreffen sonderbarer Um-
stände verdanken wir die wichtigen Notizen, die der Verfasser
gleichsam als Parenthesen , scheinbar ohne Zusammenhang,
dem Texte der beiden Rhind-Papyri einverleibt hat. Es
übrigt noch ein weiteres Corollar von höchster Wichtigkeit
daraus abzuleiten.
Die Epochen der Phönixperiode.
Das wichtigste Ergebniss unserer Untersuchungen liefert
mir das hebes-tep-Fest des Rhind-Papyrus, das wir so-
eben als dem Sommersolstitium entsprechend erhärtet haben,
nämlich die Sc hluss- Epoche der Phönixperiode.
Der Text der beiden Rhind-Papyri zeigt allenthalben
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 109
poetisches Gepräge. Es darf uns daher nicht Wunder
nehmen, häufig Parallelismen Antithesen und Wortspiele
darin anzutreffen. Um mich auf letztere Klasse zu be-
schränken, mache ich vorderhand zwei Beispiele bemerklich.
Das eine ist uns schon in dem Ehrentitel des Augustus:
pe-mahte ,,der der Ergänzung" im Zusammenhalte mit mah
MdwO multiplicare, praefix. numerorum ordinalium, begegnet.
Das zweite Beispiel, das ich für meinen Zweck heranziehe,
liegt in der Bezeichnung hebes-begaau (demotisch ta usech
en ta tiawt „der Saal der Tiefe") einerseits und dem
Feste hebes-tep(au) andererseits. Wir wissen aus dem
Todtenbuche, namentlich den capp. 145 u. 146, dass mit
hebes-begau die sebech'tu oder Pylone der Unterwelt be-
zeichnet werden, welche der Verstorbene passiren muss.
Brugsch lex. p. 437 übersetzt : „Verhüller des Elends", „Ver-
hüller dessen der sich ausruht", vergisst aber nicht zu be-
merken p. 949, dass dieses |J0o I JIP^^ ^6S »nicht
selten geschrieben wird an Stelle von |l|ö heseb69)"
welch letzteres = DDH heseb computus. Beherzigt man, dass
manche Stelle wie S70) par-heseb „Haus der Rechenschaft"
(„der Könige des Ober- und des Unterlandes") als Parallelis-
69) In dem Kalender von Esneh ist unter dem 26. Payni —
18. Juni unter der Gruppe „Neujahrsfest" und „Ersch einungs-
fest" im Hause des Atum" auch noch 0 ^^zs^menchet en
/wwv\ ^ /v/v/ww"1^??^.
msuhu „Bekleidung der Krokodile" notirt. Später unter dem 1. Epi-
phi, welches Datum, soferne es dem Wandel jähre angehört, ich
schon in (p. 91) meinen Zodiaques de Denderah = Sommersolstitium und
Phönixerscheinung angesetzt habe, erscheint eine zweite Bekleidung,
diesmal des göttl. Kindes (Hekapechrud) : | fl] ^\ . So darf es
es uns auch nicht befremden, dass unser Rhind-Papyrus den Aus-
druck hebes-tep scheinbar „Bekleidung des Hauptes" anwendet,
wo ursprünglich heseb-tep gemeint war.
70) Cf. Reinisch: Die äg. Denkmäler in Miramar Taf. XLIII 1. 1.
110 Sitzung der phüos.-phüol.Classe vom 7. Februar 1874.
mus zu vielen andern euphemistischen Bezeichnungen der
Amenti oder Unterwelt auftritt; bedenkt man ferner, dass
an den citirten Stellen häufig das Verbum eher ^,-w-, „haben,
halten" und das Substantiv (IQ ^ sap „Untersuchung"
damit in engster Verbindung steht, dessen juridische
Bedeutung ich anderwärts71) dargethan habe, so werden wir
kaum fehlgreifen, wenn wir annehmen, dass die personificirten
Pylone mit der Legende eher heseb begaau als „die trau-
riges72) Gericht abhaltenden oder enthaltenden" ge-
meint sind.
Eine ähnliche Bewandtniss hat es mit dem wohl durch die
Namensähnlichkeit und wegen der Zeitangabe als
Wortspiel eingeführten Feste? 1 0^5 hebes-tepau schein-
bar „die Panegyrie der Verhüllung des Hauptes"73). Nimmt
man, nachdem durch meine obigen Deductionen dieses Fest
als dem 25/26. Payni = Sommersolstitium am 17/18. Juni ent-
sprechend dargethan ist, die nämliche Metathesis an, wie
vorher bei heseb begaau „die traurige Rechenschaft, das
peinliche Gericht", so erhalten wir für heseb-tep(au) eine
viel besser^ passende Bedeutung, nämlich : dies festus com-
puti primi. Dass dies der wahre Sinn unsrer Stelle ist,
will ich sofort beweisen.
Wenn die Aegypter bloss beabsichtigt hätten, dem
Augustus zu Ehren eine Kalender-Neuerung in der Art der
unter Euergetes eingeführten zu beschliessen , so wäre dies
sofort nach vollbrachter Eroberung Alexandria's möglich
71) Papyrus Abbott, Sitzungsberichte 1870.
72) Im Kopt. entspricht dem begau $il><(3> privare, ßl«2Sl tortura;
daher so gar häufig dahinter nebst dem Bilde des schwachen oder
leidenden Mannes (fo das weitere Determ. des weinenden Auges yPff"
73) Todtenbuch c. 108, 6 scheint hebes-tep diese Bedeutung-
wirklich zu haben.
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 111
gewesen. Denn es lag keine solche Coincidenz des fixen
Siriusaufgangs mit einem Monats-Ersten in der Nähe, wie
zur Zeit des Euergetes , wo die Priesterschaft zwar wohl-
dienerisch, aber doch auf Grund der ägyptischen Jahres-
formen den concreten Zeitpunkt : 1. Payni des Wandeljahres
= Sothisaufgang (20. Juli) mit wohl berechneter Absicht
klug abwartete. Da nun zur Zeit, wo Augustus Aegypten
eroberte, die gleiche Coincidenz nicht gegeben war, weil seit
245 v. Chr. mehr als einmal 120 (4x30) und weniger als
zweimal 120 oder 240 (2X30x4) Jahre verflossen waren,
so fragt es sich, ob nicht eine andere Coincidenz im Jahre
25 v. Chr. sich von selbst ungezwungen dargeboten habe.
Dies scheint mir wirklich der Fall gewesen zu sein und
zwar mit der erhöhten Wichtigkeit , dass es sich hier um
ein Epochen jähr d.h. den Abschluss eines früheren und
den Beginn eines neuen Cyclus handelte: die Apokata-
stasis der Phönixperiode. Diese Ansicht spreche
ich hier nicht zum ersten Male aus ; in einem meiner früheren
Werke74) habe ich ausführlich erörtert, wie die Nachrichten
der Classiker besonders des Tacitus (Annal. VI 28) über die
Epochen der Phönixperiode zu verstehen sind. Dabei hatte ich
unter andern p. 58 folgender Ausdrücke mich bedient :,,... Da
ferner Tacitus eine 500 jährige Dauer der Phönixperiode
meldet, was richtig ist, wenn man nur eine der drei Jahres-
zeiten berücksichtigt, und diese wieder in zwei Hälften zu
je 250 Jahren zerlegt, so erkennt man leicht, dass der
Theil derselben, welcher bei der Katastrophe des Amasis II,
525 v. Chr., also 250 Jahre vor 275 (Ptolemäus Phila-
delphus „ex Macedonibus tertius") begonnen hatte, im J. 25
d.i. unter Augustus zu Ende ging. Daher schreibt sich
auch die (übrigens nur scheinbare) ,, Verwirrung" der römi-
schen Pontifices 75) ... Da die kalendarische Bewegung des
74) Moses der Ebräer p. 57—64 (1868).
75) Lepsius: Königsbuch, letzte Textseite rechts; vgl. oben p. 93.
112 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
1. Thoth des Wandeljahres in Bezug auf das fixe Jahr eine
rückwärtsschreitende ist, so wird die Wahl des 29. statt
des 31. August zur Epoche ihren guten Grund,
warum nicht allenfalls in der (25 v. Chr.) zu Ende
gehenden Phönixperiode? — gehabt haben".
Was ich damals nur vermuthete und d esshalb nur mit
einem Fragesatze wiedergab, ist mir jetzt zur festen Ueber-
zeugung, ja zu völliger Gewissheit geworden. Wenn meine
Mitforscher auf dem Gebiete der Aegyptologie und Chrono-
logie dieser meiner Ansicht bisher keine Beachtung geschenkt
haben, so mag das von mir selbst angebrachte ? signum
dubitationis diese Enthaltung erklären und rechfertigen.
Bedenklicher aber erscheint das beharrliche Schweigen selbst
der Kritik, gegenüber meiner aus dem Papyrus Leydens.
I 350, IV 4 geschöpften Legende. Hier mag die Verstummung
(oder Verstimmung?) sich aus dem Umstände begreifen
lassen, dass man autographirte Bücher als solche miss-
achtet. Die Stelle lautet im Zusammenhange:
„Der Mur-par (Haus-Intendant) Königssohn (Prinz) C ha-
rn-oas zog aus als Oberer der göttlichen Diener? (Lücke
durch Verwischung) Priester guter des Königs Ramessu76)
Haq-Anu. Anfang des Jahres der Zurückweichung".
Die letzt genannte Angabe stellt sich hieroglyphisch also dar :
j O _^ .a ape't en ronpe't n pahut
und ist vollkommen deutlich erhalten. Da sie sich zu dem
überstehenden und weiterhin 1,351,1 wiederholten Datum:
^^n „Jahr 52, Monat Mechir, letzter
d. h. 30. Tag" als integrirender Theil gesellt, so sollte,
76) Young Hieroglyph. II 86/87 bat für diesen König die etwas
seltene Legende ^zzz? X ] M \l t) xvqioq TQiaxovTcaTrKjiöw
xcMtisq 6"H"kios (sonst bekanntlich "Hyouarog).
Lanth : Die Schälttage des Ptolemäus Euergetes I. 113
dächt' ich, wenigstens jeder Aegyptologe mit mir sofort an
die Stelle des Tacitus sich erinnern : Sesostride dominante
primum (alitem phoenicem) in civitatem, cuiHelio-
polis nomen, advolavisse. Auch für dieses primum hatte
■^\ n /www — m— —fifa
ich das Aequivalent in der Gruppe v\ J g « üben
sop tap „aufleuchtend das erste Mal*' aus cap. 140, col. 5
des Todtenbuches erwähnt. Die Stadt Heliopolis (On-
Anu) anlangend, so bietet schon das Todtenbuch allein eine
Fülle von Belegen dafür, dass der Bennu (Phönix) mit dieser
Stadt aut's Innigste zusammenhing. Ferner wissen wir aus
der Uebersetzung des Hermapion, die sich an den Obelisken
Flaminius und Sallustianus noch jetzt controliren lässt, dass
der König c PafAeGtrjs1 7) ov °'AiJ.^tov dyarca — d. i. M.ia[iovv\
ov c'Hliog TtQoiy.Qivev j\ — s sotep-en-Ra — den Tempel des
A/W
Phönix in Anu mit Gütern angefüllt hat: rtlrjQwaag tov vswv
tov ®olvizoQ äya&wv, wobei TtlrjQcooag zugleich an die
Erfüllung der Phönixperiode wortspielend erinnert. Fassen
wir diese hier nur auszugsweise mitgetheilten Thatsachen
zusammen, so kann kein Zweifel bestehen, dass die Nach-
richt des Tacitus über den Beginn der Phönix-
periode unter RamsesII Sesostris auf guter
Grundlage ruht.
Eine höchst einfache Rückrechnung von dem Schluss-
punkte aus, den die ursprüngliche Quelle des Tacitus enthielt,
nämlich der vom Macedo tertius bis zum Imperator Augustus
d. h. vom J. 275 (Philadelphus) bis 25 v. Chr. verstrichenen
*/e Periode zu 250 Jahren, führt mit 3x500 oder 6x250
— 1500 auf das Jahr 1525 vor Christus als das
nächst frühere Epochenjahr der vollen Phönix-
77) Diese Gräcisirung des Namens Ramessu, sonst cPa^ieaa^g,
nähert sich am meisten dem durch Umstellung der Theile gebildeten
Spitznamen Ra-sest-su = Sestsu = Zsgomjtqis, Zeaowoig.
[1874, 1. Phil. hist. CL] 8
1 14 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
periode zu 1500 Jahren. Da dieses Phänomen unter
dem Datum : „J. 52 letzter Mechir" des Sesostris ange-
schrieben steht und dieser berühmteste aller Pharaonen sich
auch durch eine ungewöhnlich lange, indess wohlbeglaubigte
Regierung von 66 Jahren 2 Monaten auszeichnete, so kom-
men wir für das Todesjahr des Sesostris auf die Grenz-
scheide von 1511/1510 v. Chr. Sein Sohn Menoptah, unter
dem nach Manetho der Exodus der Aussätzigen stattfand,
regierte 19 Jahre 6 Monate. Wenn nun sein Lebensende
mit dem Exodus gleichzeitig sich ereignete, wie Manetho
andeutet und die Bibel ausdrücklich behauptet, so kommen
wir auf das Jahr 1491 v. Chr. als Epoche dieses auch für
Aegypten so wichtigen Ereignisses, dass der nationale Ge-
schichtschreiber und Chrono log Manetho eigens darüber
schrieb und in seinen ^ilyvTttia v{io[ivri\xaxa mit Mevocpfrag
die XVIII. Dynastie abschliesst, obgleich der nächstfolgende
König Ss&wg bestimmt ein legitimer Sohn Menoptah's ge-
wesen ist. Die 480 Jahre vom Tempelbau Salomons rück-
wärts gerechnet ergeben ebenfalls 1491 v. Chr. als das Jahr
des Exodus. Diese Harmonie von Resultaten, die aus gegen-
seitig unabhängigen Quellen geflossen sind, hätte doch sicher-
lich schon längst d. h. seit 5 Jahren, einige Beachtung ver-
dient, wenigstens einen oder den andern der Mitforscher
zur Prüfung der betreffenden Ansätze auffordern sollen. Da
dies bisher nicht geschehen ist, so werde ich in meinem
nächsten grössern Werke „Sothis" die Frage von Neuem
aufnehmen müssen. So viel kann ich jetzt schon in Aus-
sicht stellen, dass die beiden Data: 1525 und 1491 v. Chr.
durch zwei ebenfalls gegenseitig unabhängige Zeugnisse : eines
Sothisaufgangs und einer bisher übersehenen directen
Angabe eines classischen Chronologen glänzend bestätigt
werden. Einstweilen diene den Freunden der Chronologie
zur Beruhigung, den Bemänglern aber zur Warnung, dass
der Leydener Papyrus, der uns ,,das Jahr der Zurückweichung"
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 115
ergeben hat, an einer andern Stelle wieder unter dem
30. Mechir, von einem Geschenke spricht, das im
Ramesseum (!) gegeben wurde
„ordinatori (ujimc) motus cyclici coeli, Phoenicis, et
stellarum". Ausserdem habe ich in einem Turiner hierat.
Pap. dieselbe Gruppe „Bewegung des Himmels" in Verbind-
ung mit dem Autornamen eines Pharao entdeckt, der über
Astronomie geschrieben hat.
Es fragt sich nun, ob der unter dem Datum des letzten
Mechir gebotene „Anfang des Jahres der Zurückweichung'',
der sofort an die Vorrückung der Solstitien und Aequinoc-
lien gemahnt78), auch anderweitig belegt werden könne. Dies
ist in mehr als ausreichendem Maasse der Fall, da wieder
das Todtenbuch davon öfters Meldung thut, z. B. c. 125
col. 11/12, besonders ausgiebig aber cap. 140. Ich kann
natürlich hier nicht wieder ausführlich darüber handeln.
Nur soviel sei bemerkt, dass das Vorkommen dieses nach
dem Phönix benannten Cyclus im Todtenbuche uns von vorn
herein nicht befremden darf, da dieses ja die Geschichte der
Seele oder ihre Wanderungen und Wandlungen enthält und
die von Herodot II 123 erwähnte 3000 jährige TteQirjhvGig
(rrjg ipvyfis yiveö&cu sv tqio%l%Loigi ereot) d. h. Seelen-
wanderung in 3000 Jahren vor sich geht : das ist gerade
eine doppelte Phönixperiode. Ferner will ich die nöthigsten
Gruppen der Legende hersetzen: cap. 125 col. 11 spricht
der Verstorbene : „Ich bin rein (quater). Meine Reinheit
ist die Reinheit des B e n n u - (Phönix-) Vogels, jenes (be-
kannten) grossen (wichtigen), welcher in Chennsu (Chanes
oiihc = 'HQaxleoTtofog) col. 12. Denn ich bin die Nase
des Herrn der Athmungen, belebend alle reinen Menschen
"8) Vergl. Lepsius: Chronolog. p. 190 fg.
116 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
" (rochiu) an jenem Tage der Berechnung ö|l 1 £3 des Uzat-
Auges in Anu (On-cHXiovrtolig) ^^ ^^ am letzten
Tage des Monates Mechir, vor (coram) dem Herrn dieser
Welt. Ich habe geschaut ' ^^§f\[l die Erfüllung
(Ergänzung) des Uzat Auges in Anu: nicht geschieht etwas
(bu) Böses (du) wider mich in diesem Lande der Wahrheit".
Aus Vignette und Text des cap. 140 ergibt sich mit
vollkommener Sicherheit, dass j,das Uzat-Auge" weder die
Sonne, noch der Mond sein kann — woran Jemand
wegen des mah „Erfüllung" denken könnte — sondern die
Phönixperiode selbst. Es erscheint wieder die bedeutsame
Gruppe °<3*N mah, der wir in der Tanitica und im Rhind-
Papyrus I begegnet sind und zwar gerade wieder an der
Stelle, wo es sich um eine Ergänzung, Ausgleichung handelt.
Wir erfahren ferner, dass eine computatio heseb 2DH) dabei
stattfand, dass auf ,,das erste Mal" sop-tep Rücksicht ge-
nommen wird und dass nach col. 11 aus dieser Coincidenz
und Ausgleichung zwischen den beiden Uza't (Sonne und
Bennu) eine Panegyrie jj J(^ gefeiert wurde: Elemente
genug, um das Fest hebes-tep (= heseb-tep) des Rhind-Papyrus
(am 10. Epiphi minus 16 Tage = Sommersolstitium) 9 1 1^5
oder vielmehr jj I 1 £3 ^^ begreiflich erscheinen zulassen.
Der in der Vignette zu cap. 140 auf einem Gestelle
ruhende schwarze Schakal mit dem ö sechem- Scepter ist der
aus den astronomisch-kalendarischen Darstellungen wohlbe-
kannte Repräsentant des Monats Mechir, an dessen letztem
Tage jene Ausgleichung oder Ergänzung (mah) vor sich geht.
Ueberhaupt sind die Vetreter der beiden die Jahresmitte
vorstellenden Monate Mechir (6.) und Phamenot (7.) immer
Lauth: Die ■Schalttage des Ftoiemäm Euergctes 1. 117
symmetrisch augebracht, sei es in Gestalt von Schakalen,
Schweinen oder mit der gemeinschaftlichen Benennung rolch
(pouo fomes, titio). Es begreift sich diese vis-a-vis-Ord-
nuug, wenn man mit mir die Einschaltung oder
Ausgleichung des Schalttages in die Mitte des
Jahres verlegt. Ohne mich jetzt darauf weiter einzu-
lassen, gebe ich zu bedenken, dass sowohl 1525 als 25 vor
Christus auch im hl. Kalender keine Schaltjahre waren,
also der Repräsentant des Phamenot: das grosse weibliche
Nilpferd, bei der (oben geschilderten) Scene des cap. 140
und im Rhind-Papyrus I ebenso wenig erscheint , als das
Stierviertel oder der ganze Stier, das Symbol des einzu-
schaltenden Tages. Nach Biot's Berechnung fiel zwischen
1500 u. 1600 v. Chr. das Sommersolstitium auf den 7. Juli.
Rechnet man nun auf je ein Jahrhundert 1 Tag Differenz
wegen der Präcession, so würden die 15 sich so seit Seso-
stris79) ergebenden Tage auf den 23. Juni für die Zeit des
Jul. Cäsar und Augustus führen. Wirklich ist im julianischen
Kalender unter VIII Kai. und VI Kai. Jul. d. h. 24. u. 22.
Juni „Solstitium" angemerkt, so dass die eigentliche Mitte
der Sommersonnenwende auf den den 23. Juni fällt. Dieses
Resultat involvirt übrigens keinen Widerspruch mit dem
analog doppelt unter XV Kai. und XIII Kai. Jul. d.h. 17.
u. 19. also 18. Juni notirten Sol in Cancrum. Denn auch
altägyptische Darstellungen z, B. im Grabe Ramses VI, wo die
5 Epagomenen nicht gezählt sind und das Fragment des
Louvre, wo die Decaden von 1 — 10, 10—20, 20—30 laufen,
während im Grabe Ramses IV die Decaden von 6. — 16.,
16.— 26., 26.-6 gerechnet, also beide Male die Epagomenen
berücksichtigt sind, trifft man die adäquate Differenz von
79) Das Nilfest am lö.Epiphi (=7. Juli) unter Ramses II Seso-
stris bezieht auch Brugsch Mater, p. 37/38 auf das solstice d'ete.
Man sieht, wie die Differenz von 15 Tagen zu 15. bis 1. Epiphi stimmt.
118 Sitzung der •philus.-philol. Clause vom 7. Februar 1874.
5 Tagen. Die eigentliche Neuerung des Kalenders unter
Augustus bestand also, ausser der Fixirung des Wandeljahres,
in der Anfügung des 6, Epagornens hinter den 5,
und wirklich erscheint dieser erst von da an.
Wenn man Plinius liest80) so erfährt man allerdings von
manchem so genannten oder falschen Phönix. Tacitus
sagt VI 28, der unter dem Cousulate des Paulus Fabius und
L. Vitellius (im 21. Jahre des Tiberius = 34 nach Christus)
nach Aegypten gekommene Phönix sei der Ansicht mehrerer
zufolge falsum (nunc phoenicem) neque Arabum e terris
gewesen. Ich habe nachgewiesen, dass der reetanguläre
Thierkreis von Denderah mit dem Horoskope des
Kaisers Tiberius, auf den 17. Nov. — 21. Athyr lautend, die
wahre Veranlassung zu diesem ,, falschen" Phönix gewesen.
Ferner hat die irrige Auslegung des „e Macedonibus tertius"
wegen Verwechslung mit Ilroleixaioq 6 EveQyht]g rgkog ißaol-
levoev etc. die Epoche der letzten Sechstelphönixperiode
unter Ptolemäus Philadelphus (275 v. Chr.) verwischt und
dadurch ist auch Tiberius an die Stelle des Augustus ge-
treten. So kommt es, dass die jedenfalls in Aegypten all-
gemein bekannte Thatsache der Erneuerung desPhönix-
Cyclus hinter der Kalender-Neuerung bei den Römern
fast ganz in Vergessenheit gerieth. Und doch hatte
Augustus81) den Hermapion beauftragt, für ihn
80) Vergl. meine Zodiaques de Denderah p. 91 note: „La
reforme du cal. egyptien attribuee ä Auguste l'an 25 avant notre
ere, peut se rapporter a un veritable phenix c'est-a-dire a la co-
ineidence du 1er Epiphi avec le solstice d'ete". Der 1. Epiphi
zeigt denselben Abstand vom 26. (25). Payni d. h. 5 oder 6 Tage,
wie der 23. Juni vom 18.
81) Ammianus Marcellin. XVII. 4: quum Octavianus Augustus
obeliscos duos ab Heliopolitana civitate transtulisset Aegyptia, quorum
unus in Circo maximo . . . Qui autem notarum textus obelisco incisus
est veteri, quemvidemus in Circo, Hermapionis librum sequuti inter-
pretatum litteris subjeeimus graecis Sharpe (Egypt. Ilieroglyphics
Lcmth : Die Schalttage des Ptolemäus Eueryetes 1. 119
die von Sesostris herrührende Inschrift des
Obelisken von Heliopolis (Flaminius) in's Grie-
chische zu übersetzen. Wahrlich dieses einzige Symptom
spricht deutlicher als viele directen Zeugnisse und wir dürften
schon hieraus schliessen, dass die zwei grössten Herr-
scher des Alterthums: RamsesII Sesostris und
Cäsar Augustus mit dem Anfange und Ende der
1500jährigen Phönixperiode und zwar den Epo-
chenjahren 1525 und 25 v. Chr. zusammenhangen.
Die Nachricht des Plinius H. N. 36, 8—13 über die Obelisken
schreibt den heliopolitanischen bestimmt dem Sesothis
zu (in der That ist er unter Sethosis I und Sesostris er-
richtet) und meldet: Divus Augustus eam (scilicet navem)
quae priorem advexerat, miraculi gratia Puteolis navalibus
dicaverat . . . is autem obeliscus, quem D. Augustus . . .
statuit, excisus est a Sesothide. Es ist der Flaminius, wie
die lateinische Inschrift am Sockel mit der Widmung des
Augustus beweist. Ich habe ferner in meinem Werke
über dieThierkreise vonDenderah p. 86 darauf hin-
gewiesen, dass nach Tacitus Annal. 19 idem dies accepti
quondam imperii princeps et vitae supremus (fuit). Der
Geburts- sowohl als der Todestag des Augustus war aber
der 1. Sextilis = 1. Augusti, ihm zu Ehren so umbenannt
und nach der „falschen" Rechnung der Pontifices sollte auch
die Eroberung Alexandria's auf den 1. August gefallen sein.
Dazu kommt, dass der Kaiser Augustus im J. 14 nach Chr.
am 19. August, gerade 1 Tag vor dem 1. Thoth (des
Wandeljahres) das Zeitliche segnete.
Diese mannigfachen Coincidenzen nebst dem falschen
Phönix des Tiberius, machen es uns begreiflich, warum die
römischen Autoren uns nicht eben so Jahr und Tag der
p. 19) verlegt irrig die Uebersetzung des Hermapion unter Con-
stantin, weil er den recens advectum obel. mit dem veteri
obelisco verwechselt.
120 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. Februar 187-1.
Augusteischen Kalender - Neuerung und Phönix-
Periode-Erneuerung (in Aegypten) aufgezeichnet haben,
wie sie die im Jahre der Stadt 726 = 18 v. Chr. erfolgte
Säcularfeier82) notirten. Es trat eben aus den genannten
Gründen die Epoche des ächten ägyptischen Phönix im
Bewusstsein der Späteren in den Hintergrund. Es zeugen
aber die falsi Phoenices, die sich nach Augustus förmlich
häufen, indirect für die Existenz eines ächten Phönix,
der während des Augustus Regierung in Aegypten erschienen
war. Die Rhind-Papyrus I u. II haben uns durch die Bewahrung
des betreffenden Festtages am 26. Payni, sowie des
Siriusaufgangs am 26. Epiphi nicht nur des Augustus Kalender-
Fixation , sondern auch die Epoche der ächten und
wahren Phönixperiode am (20. Juli und am 18. Juui)
des Jahres 25 v. Chr. überliefert. Wir besitzen übrigens ein
ziemlich directes Zeugniss für diese Doppelbedeutung des
Augustus in kalendarisch-astronomischer Beziehung. Im Ein-
gange habe ich die Stelle des Censorinus d. d. n. angeführt,
wo er sagt, dass der grosse Cyclus von 1460 julianischen =
1461 Wandeljahren bald fjliaxog, bald 6 deov sviccvTog
genannt werde. Der Ausdruck r^haxog bezieht sich nicht
auf den"Hliog (Sol, Sonnengott), sondern auf den helia-
kali sehen Frühaufgang des Sirius (Sothis). Was aber
den d-eog betrifft, so kann wieder nicht c'Hhog gemeint
sein, auch nicht 2to$ig, da diese ja eine Göttin (Isis-Hathor).
Aber Augustus, er hatte in Aegypten den officiellen Titel
6 $e6g g | jj pe nuter und darum hiesss Tiberius &eov
viog 83).
82) Vergl. Horatius: Carmen saeculare und Tacit. Annal XI 1
„64 Jahr vor 800 der Stadt, wo Claudius die Censura bekleidete cf.
Plinius h. n. X, 2 wo wieder ein actenmässig bezeugter, aber nichts
desto weniger falscher Phönix in coraitio propositus est.
83) Vergl. meine Zodiaques de Denderah p. 73—75.
Lauth: Die Schalttage des l^olemäus Euer getan I. 121
Auf einem kleinen bilinguen und darum doppelt interes-
santen Denkmale des Museums in Bulaq 84) bringt ein ge-
wisser Ammonios Claudianos (noy^oyqa^axevg) der Triade
von Abydos : Osiris-Isis-Horus sein Gebet und Opfer dar.
Er gedeukt dabei einer ausgeführten ohodo^rj unter LIZ
Tißeqiov KaloccQog 2eßaöTOv Tvßrt IH. Der dazu gehörige
demotische Text ist ausführlicher und setzt z. B. das Doppel-
datum: „Jahr 17 des Tiberius Kaisaros ^s=> -yj „Sohnes
des Gottes" (nicht ent her, enter „des obigen, zur Zeit"
Brugsch) Tybi 18 des Joniers = Mechir 1 des Aegypters".
Die Rechnung stimmt: der 18. Tybi des fixen griechisch-
alexandrinischen Jahres, vom 29. August 30 n. Chr. = 1. Thoth
an gerechnet, trifft mit dem 13. Januar des J. 31 n. Ghr.
zusammen. Eben dahin führt das Datum 1. Mechir des
ägyptischen Wandeljahres, das also im J. 31 n. Chr. noch
immer gebraucht wurde. Denn im Vorjahre war der
1. Wandelthoth auf den 16. August (14 Tage vor dem 29.)
gefallen. Zählt man von da 5><30H-1 = 151 Tage weiter
d. h. gerade wieder um die 14 Tage mehr, als um welche der
1. Mechir dem 18. Tybi überlegen ist, so gelangt man zu
dem nämlichen 13. Januar als Datum des Denkmals. Hierin
liegt zugleich ein starker Beweis, dass die fixen Tetraeteriden
von 25 v. Chr. beginnen, da 25 + 31 = -f- — 14.
Jetz begreifen wir auch, warum in der Stelle des
Tacitus (Annal. VI, 28) und sonst die Sirius- und die
Phönixperiode amalgamirt erscheinen : es ist eben die
Doppel-Coincidenz unter Augustus (6 d-eog) Schuld daran,
in dessen 6. Jahre: 25. v. Chr. sowohl der 1. Thoth
auf den *29. August fixirt wurde, als auch die
Epoche der Phönixperiode sich ereignete. — Sollten
die Aegypter diese doppelte Thatsache nicht nach ihrer
84) Cf. Brugsch: Zeitschrift für aeg. Spr. 1872 p. 27-29.
122 Sitzung der phüos.'philöl. Glosse com 7. Februar 1874.
Weise in einem Tempelbaue zum Ausdrucke gebracht und
verewigt haben? Ich glaube diese Frage bestimmtest be-
jahen zu können: es ist der Zodiacus nebst Kalen-
der von Esneh, wohl nicht absichtslos neben den kleinen
Tempel und Zodiacus des Euergetes I (Letronne Recueil
d'inscript. grecq. I 201) hingestellt, den Augustus ebenfalls
completirte. Diese Stadt führt nicht umsonst einen von
Anu [I Ann (On, Heliopolis) abgeleiteten Namen [fl(|(]
Anit „die Onischet;. Ich werde hierüber, sowie über die
andern On- Städte (Anu-menth = Hermonthis, Ant = Den-
derah) in meinem Werke „Sothis" ein Mehr eres beibringen.
Der runde Thierkreis von Denderah.
Die bisher erzielten Resultate nöthigen mich, in meinem
öfter citirten Werke: Les zodiaques de Denderah p. {15
folgende Stelle zu streichen : il faut y voir le representant
de l'annee alexandrine fixe, laquelle commence le
29 Aoüt Julien, c'est-a-dire, le 11. Phaophi de l'annee
sothiaque.
Da der Zodiaque circulaire, wie ich daselbst gründlichst
nachgewiesen habe, aus Anlass der neuen Aera der
Kleopatra als &eä vewreQa 'Ioig gegründet wurde,
die desshalb ihr 16. Jahr = 1. ihr 19 = 4. und ihr 21 = 6.
auf den Münzen und sonst bezeichnen Hess, so lässt sich
jetzt für das so constatirte Jahr 36 v. Chr. als Epoche des
Rundbildes von Denderah das fixe alexandrinische Jahr nicht
mehr festhalten, nachdem wir die Gewissheit besitzen, dass
die Fixirung des Wandeljahres erst im Jahre 25 v. Chr.
durch oder unter Augustus getroffen worden ist.
Was beginnen wir aber mit dem damals hiefür ange-
sehenen Symbole? ,,la figure assise du dieu solaire
au-dessus du Hon zodiacal, precisement au milieu du dos.
Comme cette figure repond a (vielmehr tombe sous la meine
Lauth: Die Schalttage des Ftulemäus Euer gutes I. 123
ligne avec) l'embleine du mois Phaophi et que sa position
est diametralement opposee ä celle des autres figures — eile
regarde le quart de boeuf, Symbole de l'intercalation et par
consequent de l'annee fixe — il faut y voir etc.".
Bedenkt man — was ich öfter (z. B. p. 11 und 86) her-
vorgehoben hatte — dass entsprechend dieser exceptio -
n eilen Stellung und Richtung des betreffenden Sonnen-
gottes-Symbols , ebenso exceptio n el 1, wieder unter dem
Repräsentanten des Monats Phaophi eine Decanin auf-
tritt, die den Kopfschmuck der Doppelfeder trägt, wie Isis-
Sothis im astronomischen Deckengemälde des Ramesseums,
so leuchtet sofort ein, dass an diesem Punkte die
neue Aera der KleoTtarga &eä vecoTtqa 'lotg
symbolisch verkörpert werden sollte. Der De-
Gan, dessen Stelle hier ausnahmsweise durch eine
Decanin85) vertreten wird , führt den Namen ot=^ 1 °
ha-t'a't = cHttjt und dieser Name, da er wörtlich „Anfang
des Schiffes" oder „der Fahrt" besagt, mochte mit Absicht
für die Begründerin einer neuen Aera um so eher
und passender gewählt werden, als er der einzige unter den
Namen der 36/37 Decane war der mit ~=^ ha oh initium
begann. Die auf einem Throne sitzende Figur des solaren
Gottes, mit Sperberkopf, Discus und dem Scepter 1, erklärt
sich jetzt als Symbol dieser neueingeführten
Aera und soll uns vermuthlich die Epoche der-
selben versinnbildlichen.
DaKleopatra nach dem Canon im Jahre 52, am 5. Sep-
tember zur Regierung gelangt war und folglich, in ihrem
16. Jahre ihr Anniversarium nach dem Wandelkalender auf
den 1. September fiel, wie es auch die computitische Tafel
85) Weiterhin werden wir nur noch IcoSig und Zu als solche
treffen, mit denen aber Kleopatra intentionell identificirt worden ist.
124 Sitzung der philos.-phUol. Classc vom 7. Februar 1874.
ausweist , so besteht für mich kein Zweifel , d a s s der
1. September des Jahres 36 v. Chr. als Regierungs-
AiiDiversarium und zugleich als Epoche der
neuen Aera, wie nicht minder als beabsichtigtes
Epochen datum des Zodiaque circulaire zu be-
trachten ist. Dabei erwäge man noch folgendes: Die Decanin,
durch welche Kleopatra selbst vertreten wird, ist die vierte
in der Reihe der Decane , die mit der Sw&ig als f
A I o
Führerin (hyq't = ßaolhoaa) beginnen. Man sieht wie gut
ausgeklügelt die Accommodation des Namens „ Anfang der
Fahrt" ~CH-Trfc für Kleopatra war, da sie hiemit auf
gleiche Linie mit ihrem Vorbilde: der Isis-Sothis „Führerin
der Decane" erhoben wurde, was der Fall sein muss, wenn
ihr von da an auf den Münzen offiziell geführter Beiname $ea
vecoTega 'loig einen Sinn haben sollte. Darauf deutet auch
noch der weitere Umstand, dass die Göttin Sati mit Bogen und
Pfeil (cfc^ sagitta), deren Namen zunächst die Gräcisirung
Saftig (statt 2ioq)&ig = Supd) veranlasst hat, so gar absichtlich
und deutlich mit der Decanin 'Httjt (Kleopatra) unter der
nämlichen Centrallinie steht. Auch zeigt -die Seiten-Inschrift
(pl. III e 2. Verticalcol. meiner Zodiaques) die Legende
[i * T I Sati m haq't chabesu ,,Sati als Führerin der
Supd = 2toÜig. Ferner
ist auffallend, dass die beiden Gruppen cH-xy^ „Anfang- und
(Dov-rr'jT (=z pehu-tät) „Ende der Fahrt" oder „Hintertheil
des Fahrzeuges", die sich auf allen sonstigen Darstellungen
astronomischer Natur unmittelbar folgen, auf dem Rundbilde
von Denderah durch einen Zwischen-Decan mit der halb-
zerstörten Legende || jSß • • • ni(ut?) eher ,, unteren Theil
von x" getrennt sind. Da nun ferner die beregte Pfeilgöttin
Sati mit der Sothiskuh ausserhalb der übrigen Decane
Lauth: Die Schalttage de* Ptolemäus Energetes I. 125
gerückt ist und unmittelbar an ihre Barke sich anschliesst,
so kommt hier offenbar die Liste des Hephästion zur Gelt-
ung, der als erste Decane folgende anführt: 2td&ig} 2ky
KvovfXTjQj Xaqxvov^g, cHty]T, (Oovttjt etc.) Jedenfalls wurde
die cHxrtT , in unserem Falle die Decanin Kleopatra, hier
als die Zwischenzeit der 4. und 5. Decade des ägyptischen
Jahres darstellend gedacht. Rechnen wir nun vom 20. Juli
als dem Normaltage des heliakalischen Sothisaufgangs bis
zum 1. September weiter, so haben wir 12 + 31=43 Tage,
also näher der 4. als der 5. Decade.
Ich denke, hiemit ist ebenfalls, wenigstens annähernd,
die Epoche des Rundbildes, nämlich der 1. Sep-
tember 36 vor Chr. bewiesen, wie ich sie oben auf
Grund des astronomischen Kanons der Ptolemäer-Könige
schon erschlossen habe. Wenn ich früher den Monat „Juli"
(Zodiaques p. 10), wegen Identität der Kleopatra mit der
Zio&ig, angenommen hatte, so habe ich doch ebendaselbst
p. 16 ausdrücklich bemerkt: ,,En effet, lepremierThoth
vague comcidait, Tan 36 av. J. Chr., avec le premier
Septembre du calendrier fixe (rom.)".
Während ich also den zeitlichen Abstand der Epochen
der beiden Thierkreise von Denderah damals (1864) auf
runde ,,70 Jahre" (36 v. Chr. + 34 n. Chr.) angesetzt habe,
so kann ich jetzt genauer die Differenz mit 70 Jahren und
77 Tagen bezeichnen.
Eine zweite Correctur , die uns eben so günstige Re-
sultate verspricht, wie die Streichung des alexandrinischen
Jahres, betrifft die grande figure. Nachdem ich an Ort und
Stelle diese allein in Denderah verbliebene Figur betrachtet
und ihre Umgebung , sowie ihre Orientation erwogen habe,
ist sie weder als Pet p ^ hh't = coela (nicht coelum
und nicht Coelus), noch, wie ich selbst86) vermuthete, als
86) Zodiaques p. 9.
126 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. Februar 1874.
rrjz=~lGtg, sondern p ^ hott aufzufassen, wie sie im
Seitentexte (unter e meiner Tafel III col. 1 ult.) mit der
Variante ö®_®^ Nut bezeichnet ist. Dieser Name ist offen -
bar identisch mit hott receptaculum und stellt die Feminin-
form zu itOTm Horapollo's vovv = äßvooog dar, um die
Raumgöttin zu bezeichnen. Wenn es nun einerseits ge-
wiss ist, dass, wie Plutarch in Antonio sagt : Kleofcarga =
'loig (&eä vewzeQa) , ihre Kinder als c'Hhog Kai 2eh'vrj,
LivTwviog = ^'OoiQig dargestellt wurden , so bot die bunte
ägyptische Mythologie, wenn man unter dem Bilde der Nut
wieder die Kleopatra denken sollte, für den Antonius die
Figur des Seb — Kqovogj wie Nut = cPea. In Herrn onthis,
wo Kleopatra ihre Niederkunft mit dem Cäsarion darstellen
Hess87), figurirt Julius Cäsar als Menthu •= Mwv& —^Qqg.
Er könnte also hier, weil seit 8 Jahren gestorben (resp.
ermordet) SiWOoiQig mitgemeint sein. Dass Antonius als Seb
(Erdgott), der die Nut seine Gemahlin kniend betrachtet, während
er die Hand auf den Boden stützt und als personificirtes
Erdreich (passim und speciell auf astronomischen Denk-
mälern) erhärtet ist, in den Darstellungen des Rundbildes,
sowie in den Begleittexten nicht in den Vordergrund tritt,
hatte seinen Grund in politischen Rücksichten, die Antonius
auf den Senat in Rom zu nehmen hatte. Indess wird es
der ägyptischen Priesterschaft nicht schwer gefallen sein,
den Antonius, der es selbst liebte, seinen Namen auf den
Heros '!Avxog zurückzuführen und der sein eigenes Söhnchen
""Avr-vXkog benannte, in der ägypto-griechischen Gestalt des
livxaiog wiederzufinden, der ein Vertreter88) des Osiris (J.
Cäsar!) war und als Riese ylyag zu den yqyevelg oder
Sprösslingen der Taia {Tr) gehören musste. Daher rührt
es auch, dass die Kaiser Aurelius Antoninus und Verus
87) Vergl. meine ägypt. Reisebriefe No. IX. Allg. Zeitung 1873.
88) Diodor I 17 rwV 6k xarcc zrjv Al&ioniocv xcü Atßvtiv yAv-
Lauth: Die Schalttage des Ptolemäus Euergetes I. 127
die dem l4vra1og zu Antäopolis gewidmete Inschrift avevsw-
oavro (Letronne Recueil I 30, 222). Erst sehr spät wagte
es Antonius auf einem Denkmale zu erscheinen und nur als
Object, nicht als Subject. Weseher, der Begleiter de Rouge's
in Aegypten 1 8 63/64 89) ,,a trouve une inscription grecque,
datee de Tan 19 = 4 de Cl eopätr e sur un monument
dedie ä Antoine". Dasselbe XIX. Jahr der Kleopatra
mit ihrem Sohne Cäsarion steht auf einer demot. Apisstele
(Young Hierogl. II 74) mit 19 Sternen und dabei eine
andere mit 6 Sternen, denen zu Anfang des Textes \
'©in
entspricht, während weiterhin das Jahr 21 j erwähnt
wird. Hier haben wir also einen dritten Beweis für die
neue Aera, wornach 1. 16 = 1, J. 19=4, J. 21=6. Es ist
bedeutsam genug, dass mit „Sternen" bezeichnete Jahre
bis jetzt nur unter der Regierung der Kleopatra und auch
da nur von ihrem 16. Jahre an vorkommen (* = &ea
veiOTeQct 'Ig ig Said- ig).
Es bleibt mir noch eine dritte Rectification resp. Weg-
streichung zu machen in dem Sclilusssatze meiner Zodiaques
p. 98: ,,Plüt a Dieu que le cercle des connaisseurs de Pegypto-
logie s'elargisse davantage, et que cette science ait toujours
d'aussi bons critiques que M. Chabas (Melanges I et II)
pour etre sur ses gardes contre les systemes arbitraires".
Dieser Satz wurde geschrieben unter dem noch frischen Ein-
drucke der Kritik, welche Chabas an einer Behauptung
Brugsch's geübt hatte, dass eine Mondsf insterniss unter
Takelut II (XXII. Dyn.) auf einem Denkmale erscheine. In
der Zeitschrift für ägypt. Spr. 1868 p. 29, wo der Streit
fortgesetzt wurde, erklärte endlich Lepsius, auf dessen Text
Chabas sich gestützt hatte: „Bei der Anfertigung der Tafel
89) Cf. Revue arch. 1864 p. 421. Sept. p. 220. Siehe meine
Zodiaques p. 11 note2. — Eine Stele im Louvre (C, 121) zeigt 20 >i<.
128 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 7. Februar 1874.
256a der III. Abth. der Denkmäler war, wie den HH. Brugsch
und Chabas, so auch mir die Copie eines Theiles der In-
schrift von (durch) Wilkinson in den Hieroglyphics pl. 43
entgangen, sonst hätte der Irrthum in den ,, Denk-
mälern" (der preuss. Expedition) nicht vorkommen
können". Schöpfen wir hieraus den authentischen Beweis,
dass Prachtwerke, wie sie wegen des Foliantenformates schon
an und für sich unhandsam sind, so auch keinerlei Gewähr
gegen falsche Anordnung der Texte bieten, so musste auch
mein Vertrauen in die Kritik des H. Chabas einen starken
Stoss erhalten; denn ein Kritiker hat vor Allem die Aechtheit
seines Textmateriales zu prüfen und über allen Zweifel zu
erheben. H. Chabas seinerseits, dessen sonstige Verdienste
um die Aegyptologie allseitig anerkannt sind, ist seitdem in
Bezug auf astronomische und chronologische Fragen sehr
kopfscheu geworden und nahe daran, Alles über Bord zu
werfen. So erklärt er z. B. in seinem neueren Werke90)
mit Manetho „table rase" zu machen d.h. er sägt den
Ast ab, auf welchem er als Aegyptologe in historischer Be-
ziehung sitzt. Anderwärts91) legt er die kritische Axt so-
gar an die Pfahlwurzel des Baumes, von dem allein uns
chronologische Früchte in Aussicht stehen, indem er
schreibt: „Ainsi donc, au lieu de confirmer les theories des
Dupuis, des Volney etc., les progres de la science les ont
reduits ä neant (er meint die 7000 und mehr Jahre Alter,
die man den Zodiaques zugeschrieben hatte). Les Dupuis
du present et ceux de l'avenir peuvent s'attendre ä quelque
chose de semblable". Wenn unter den „Dupuis du present"
ich selbst mit meinem Werke „Zodiaques de Denderah"
gemeint bin, wie es der Zusammenhang (cf. p. 544) wahr-
scheinlich macht : „II est certains livres, tels que le Papyrus
90) Etudes sur l'antiquite historique p. 546.
91) Recherches pour servir ä l'histoire de la XIXme Dyn.
Lauth: Die Schalttage des Ptölemäus Euergetes I. 129
Prisse, qu'ils (les egyptologues) ne reussissent pas a de-
chiffrer92)" — so muss ich und Jeder Ehrliche mit mir ihm
erwiedern, dass die Daten Jahr 36 vor Chr. und 34 nach
Chr. die sich auf griechische und hieroglyphische Inschriften
stützen, weder an sich extravagant, noch eine Ausgeburt
meiner Phantasie sind. Trotz der bloss negirenden
Hyperkritik des H. Chabas werden die beiden
„Zodiaques de Den der ah" die bilingues für die
altpharaonische Astronomie bleiben, wie die
beiden bilinguen Wiener Stelen uns im Vereine
mit den beiden bilinguen Rhindpapyri unsere
hier entwickelten chronologischen Resultate,
und die beiden bilingues: Rosettana und Tani-
tica die Aegyptologie zur Folge gehabt haben.
Ausführlicheres über die astronomischen Denkmäler in mei-
ner „ Sothisa.
92) So eben erhalte ich die zwei ersten Bogen einer von H.
Chabas redigirten Zeitschrift: l'Egyptologie. Auf p. 10 lin. 15 (cf.
p. 12, 15) steht zu lesen: J'aborderai quelque jour l'analyse de tous
ces documens (worunter auch der Papyrus Prisse und Pap. Sallierll,
die ich seit mehreren Jahren übersetzt habe). Es ist dieser Ent-
schluss, von der unfruchtbaren Verneinung zu positiver Leistung
überzugehen, mit Beifall zu begrüssen und der Wissenschaft kann
nur Förderliches daraus erwachsen.
Corrigenda : S. 81 lin. 21 lies 245 statt 235 ; ebendaselbst
Anmerk. 32 lin. 3 lies 311 statt 222.
[1574. 1. Phil. hist. Cl.
130
Historische Classe.
Sitzung vom 7. Februar 1874.
Herr Kluckhohn trug vor:
„Beiträge zur Geschichte des bayerischen
Schulwesens".
(Wird in den Denkschriften veröffentlicht werden.)
Herr Rockinge r hielt einen Vortrag
,,Ueber eine Handschrift deutscher Rechts«
b riefe in Münster".
(Wird später in den Sitzungsberichten veröffentlicht.)
Einsendungen von Druckschriften. 131
Verzeicliuiss der eingelaufenen Büchergesehenke.
Vom Verein für Hansische Geschichte in Lübeck:
Hansische Geschichts-Blätter. Jahrgang 1872. 8.
Vom historischen Verein für Schwaben und Neuburg in Augsburg:
36. Jahresbericht für die Jahre 1871. 1872. 8.
Vom Verein für meklenburgische Geschichte und AlterthumsTcunde
in Schwerin:
Jahrbücher und Jahresbericht. Jahrg. 38. 1873. 8.
Von der 1c. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag:
Sitzungsberichte. Jahrg. 1873. 8.
Vom historischen Verein für das Grosslierzogthum Hessen in
Barmstadt :
a) Register zu den 12 ersten Bänden des Archivs für Hessische
Geschichte und Alterthumskunde. 1873. 8.
b) Archiv für Hessische Geschichte und Alterthumskunde. Bd. 13.
1873. 8.
c) Die vormaligen geistlichen Stifte im Grossherzogthum Hessen
von G. W. J. Wagner. 1. Band. 1873. 8.
Von der Gesellschaft für bildende Kunst und unterländische Alter-
thümer in Emden:
Jahrbuch. Heft II. 1873. 8.
Von der Tz. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften in Leipzig:
1) Berichte: Philos.-philolog. Classe 1872.
2) Abhandlungen: Philos.-philolog. Classe. Bd. VII. 1873. 4.
Vom Essex Institute in Salem, Mass:
Bulletin. Vol. 4. 1872. 8.
132 Einsendungen von Druckschriften.
Von der Gommissione archeologica municipale in Born:
Bulletin. 1874. S.
Von der Smithsonian Institution in Washington:
a) Miscellaneous Collections. Vol. 10. 1873. 8.
b) Annual Report of the Board of Regents, for the year 1871. 8.
Von der k. Akademie der Wissenschaften zu Amsterdam:
a) Verhandelingen. Deel XIII. 1873. 4.
b) Jaarboek voor 1872. 8.
c) Gaudia domestica. Elegia Petri Esseiva. 1873. 8.
Von der American Association for the advancement of science in
Cambridge :
Proceedings. 21. Meeting, held at Dubuque, Jowa, August 1872. 8.
ZurAbhandlu/ia. <v07i DT Lautfi
x.
cUiyx^^x3?fo<-x.'2_^)'-4-R ^D»<trf
Sitzungsltr. d. k b Aliad. dW. /ifo los. philo l. CC. 1874, Z .
Sitzungsberichte
der
philosophisch - philologischen und
historischen Classe
der
k. b. Akademie der Wissenschaften
zu Müinchen.
1874. Heft II.
\,
M ü 11 c h e n.
Akademische Buchdruckeroi von F. Straub.
1874.
[» Coraniissfon bei fi Franz.
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch - philologische Classe.
Sitzung vom 7. März 1874.
Herr v. Halm legt vor:
„Die Antikensammlung Raimund Fuggers.
Nebst einem Excurs über einige andere
in derlnschriftensammlung vonApianus
und Amantius abgebildete antike Bild-
werke" von K. Bursian.
Die Brüder Raimund und Anton Fugger, die jüngeren Söhne
des am 14. März 1506 verstorbenen Georg Fugger, Begründer
der beiden noch jetzt blühenden Linien des Fuggerschen
Hauses, hatten beide ihre stattlichen Wohnhäuser in Augs-
burg mit Kunstwerken verschiedener Art ausgeschmückt.
Insbesondere hatte Raimund Fugger (geboren am 14. October
1489, gestorben am 3. December 1535) seine geschäftlichen
Verbindungen mit Griechenland und Sicilien benutzt, um in
diesen Ländern eine Anzahl Antiken anzukaufen, welche in
mehreren Gemächern des oberen Stockwerkes seines Hauses
aufgestellt waren. Diese Sammlung, welche sowohl an
Reichhaltigkeit als an künstlerischem Werth die nur römische
Bildwerke und Münzen enthaltenden Sammlungen Wilibald
[1874, 2. Phil. hist. Cl.] 10
134 Sitzung der philos.-phäol. Classe vom 7. März 1874.
Pirckheimer's und Conrad Peutinger's weit übertraf und über-
haupt als die erste bedeutendere Antikensammlung auf
deutschem Boden bezeichnet werden muss, ist uns von dem
trefflichen Schlettstadter Philologen Beatus Rhenanus (Bild von
Rheinau) in der hinter seinen cRerum Germanicarum libri III'
(Basel 1531) abgedruckten cEpistola ad D. Philippum Puchai-
merum de locis Plinii per St. Aquaeum attactis* in etwas
rhetorisch gefärbter aber anschaulicher Weise mit folgenden
Worten beschrieben worden (p. 193 s.):
„Sed magis nos mouerunt in superius coenaculum de-
ductos tot ac tanta monumenta antiquitatis , ut uix ullo
Italiae loco plura crediderim apud unum hominem reperiri.
Primum aerea contemplati sumus et fusilia. Quis illic ueterum
deorum non saepe nobis occurrebat? Juppiter cum suo
fulmine , Neptunus cum tridente , cum sacculo petasoque
Mercurius, Pallas cum aegide. et erant quos uix prae uetu-
state licebat agnoscere. Nomismata deinde suo loco iacebant.
Aderat tantum unum illic simulachrum lapideum. Circe
fuit. ea ruda recumbebat innixa plextro brachio, circum se
in margine tabulae marmoreae uarias bestias habens, et ad-
huc illa magica uirga sua quendam in brutum conuertebat
supereratque pars hominis non amplius quam dimidiata. In
altero secretario quod saxeas tantum statuas continebat uidi-
mus Dianam cum luna ac pharetra, uidimus Apollinem,
Mineruam, Venerem cum Cupidine, Taurum qui uehebat
nudam puellam tensis brachiis auxilium implorantem , et
obscoenum illum deum pudenda sui parte prorsus impu-
dentem cui astabant effigies mulierum plenos phallis calathos
gestantium. Apparebat hortorum limites iüisse. Mirum uero
potuisse ista tot seculis uspiam integra conseruari. Frag-
menta statuarum uix numerare erat. Placebat nobis Somui
dei caput clausos habens oculos et papauere reuinctum.
Bacchi capita multa arguebant serta ex racemis et pampinis.
quaedam colosseam ferme corporum niaguhudinein prae se
Bursian: Die Antikensammlung Baimund Fuggers. 135
ferebant. Narrabatur uero nobis ex toto propemodum orbe
conuecta fuisse ea uetustatis monumenta, praecipue tarnen
ex Graecia atque Sicilia. Adeo nullius sumptus Raimundum
poenitet ob amorem quem literarum minime expers erga
antiquitatem gerit, modo possit talibus rebus potiri. id quod
uere nobilem et generosum hominis animum ostendit."
Aus dieser Beschreibung können wir über die Anordnung
und den Bestand der aus den verschiedensten Gegenden,
hauptsächlich aber aus Griechenland und Sicilien, zusammen-
gebrachten Sammlung Folgendes entnehmen.
Im ersten Zimmer war zunächst eine grössere Anzahl
von Bronzestatuetten aufgestellt , welche , soweit sich ihre
Bedeutung erkennen Hess — manche waren durch das Alter,
d. h. jedenfalls durch die starke Oxydirung der Oberfläche,
unkenntlich geworden — alle oder doch zum grössten Theile
Götter darstellten; und zwar waren die meisten Götter-
gestalten in mehreren Exemplaren vertreten. Da fanden
sich Statuetten des Zeus mit dem Blitz, des Poseidon mit
dem Dreizack, des Hermes mit Beutel und Hut, der Pallas-
Athene mit der Aegis. Ausserdem befand sich in demselben
Zimmer eine Sammlung antiker Münzen und ein Marmor-
relief, welches die Verwandlung der Gefährten des Odysseus
durch Circe darstellte. Circe liegt, völlig unbekleidet, aul
den rechten Arm gestützt, auf einem Ruhelager ; in der einen
Hand hält sie die Zaubergerte, mit welcher sie soeben einen
der Gefährten des Odysseus, der in halb menschlicher, halb
thierischer Gestalt dargestellt ist, verwandelt; verschiedene
Thiergestalten umgeben das Lager der Zauberin. Dieses Relief,
welches ebenso wie die übrigen Bildwerke der Fuggerschen
Sammlung von den Archäologen bisher ganz unbeachtet
geblieben ist, weicht von fast allen uns sonst bekannten
Darstellungen des Circemythus, die auf griechischen Vasen,
pompejanischen Wandgemälden , einem griechischen Relief
(Fragment einer tabula Homerica), einer römischen Thon-
10*
136 Sitzung der philos. -philo!, (Hasse vom 7. März 1874.
lampe, einem Contorniaten , etruskischen Sarkophagreliefs
und Spiegeln uns erhalten sind1), wesentlich ab. Während
auf allen diesen , mit Ausnahme des von 0. Jahn in der
Archäologischen Zeitung 1865 auf Taf. 194 publicirten nola-
nischen Vasenbildes der Sammlung des Prinzen von Wittgen«
stein in Wiesbaden*) und eines nur aus einer kurzen Erwähnung
Raoul-Rochette's (Monuments inedits p. 361 ; von mir citirt
nach 0. Jahn Archäologische Beiträge S. 407) bekannten
Vasenbildes, Odysseus selbst anwesend ist, fehlt derselbe
auf dem Fuggerschen Relief. Man könnte diese Differenz
durch die Annahme, dass das Relief an der einen Seite
nicht vollständig erhalten gewesen sei, beseitigen wollen;
allein eine solche Annahme wäre mit der Beschreibung des
Beatus Rhenanus, besonders mit dessen Worten ccircum se
in margine tabulae marmoreae uarias bestias habens' nicht
wohl zu vereinigen; wir müssen also vielmehr annehmen, dass
der Künstler einen dem Erscheinen des Odysseus voraus-
liegenden Moment der Sage darstellen wollte. Eine zweite
Eigenthümlichkeit des Fugger'schen Reliefs bildet die Dar-
stellung der verwandelten Gefährten des Odysseus in voller
Thiergestalt, dessen der eben verwandelt wird in halb-thieri-
scher, halb-menschlicher Bildung — Rhenanus' Worte csupe-
reratque pars hominis non amplius quam dimidiata' können
nicht wohl auf einen mit einem Thierkopfe versehenen
Menschenkörper, sondern nur auf eine Gestalt bezogen werden,
welche nach Analogie der in Delphine verwandelten Tyr-
1) Vergl. über diese 0. Jahn Archäologische Beiträge S. 401 ff.;
0 verbeck Gallerie heroischer Bildwerke S. 778 ff.; dazu 0. Jahn
Archäologische Zeitung 1865, N. 194. 195 S. 17 ff.: F. Schlie Die
Darstellungen des Troischen Sagenkreises auf etruskischen Aschen-
kisten S. 182 ff. ; E. Brunn I rilievi delle urne etrusche Vol.I, p. 116 ss.
tv. LXXXVIII u. LXXXIX; Gerhard Etruskische Spiegel 403,1 =
W. Fröhner Les musees de France pl. 24.
*) Diese Sammlung ist vor Kurzem durch Prof. H. Hettner für
die königliche Antikensammlung zu Dresden angekauft worden.
Bursian: Die Antikensammlung Baimund Fuggers. 137
rhener auf dem Friese des choragischen Denkmals des Lysi-
krates aus einem thierischen Oberkörper und menschlichem
Unterkörper zusammengesetzt ist — während auf den übrigen
Bildwerken die verwandelten Gefährten in der Regel nur
einen Thierkopf auf dem menschlichen Körper tragen. Aus-
nahmen von dieser Regel bilden jedoch auch das Wittgen-
steinische Vasenbild, auf welchem der von Kirke verzauberte
Gefährte des Odysseus zwar im Uebrigen menschliche Ge-
stalt, aber einen Schweinskopf, Schweinsschwanz und Klauen
anstatt der Füsse hat, sowie der von Gerhard (Etrusk. Spiegel
403, 1) und von Fröhner (Les musees de France pl. 24) publi-
cirte, aus Corneto stammende etruskische Spiegel der Samm-
lung des Louvre, auf welchem vor dem Sessel, auf welchem
Cerca sitzt, ein Schwein dargestellt ist, dessen Hinterbeine
die Form menschlicher Beine vom Knie abwärts haben2).
Ein zweites Zimmer enthielt eine Anzahl vollständig er-
haltener, beziehungsweise ergänzter Statuen aus Marmor
oder anderen Steinarten und eine grosse Menge von Bruch-
stücken solcher, darunter manche von colossalen Dimensionen.
Von statuarischen Werken lernen wir durch B. Rhenanus
folgende kennen: eine Statue der Artemis mit dem Köcher
auf dem Rücken, den Halbmond auf dem Haupte (letzterer
war vielleicht, wie öfter an Artemisstatuen, die Zuthät eines
Ergänzers) ; Statuen des Apolion und der Athene ; eine
Gruppe der Aphrodite und des Eros; eine Gruppe, welche
offenbar Europa darstellte, unbekleidet auf dem Rücken
des Stieres sitzend, beide Arme ängstlich ausstreckend; ein
2) Bei der schon von Brunn (Bulletino 1864, p. 23 s.) bemerkten
Uebereinstimmung dieses Spiegels mit einer im Codex Pighianus
erhaltenen Spiegelzeichnung (Annali t. XXIV tav. d'agg. H =± Over-
beck Gallerie her. Bildwerke T. 32, 15; vgl. 0. Jahn Berichte der
sächs. Ges. d. Wiss. 1868, S. 182), ist es höchst wahrscheinlich, dass
auch das Original dieser Zeichnung dieselbe Eigenthümlichkeit der
Bildung des Schweines enthielt.
138 Sitzung der philos.-philöl. Glasse vom 7. März 1874.
Werk welches zu den wenigen bisher bekannten Beispielen
plastischer Behandlung dieser mythischen Scene3) hinzuzufügen
ist. Das nächst diesem von B. Rhenanus beschriebene Werk
— eine Statue oder Herme des Priapos oder des ithyphalli-
schen Dionysos, daneben Frauen, welche mit Phallen gefüllte
Körbe, d. h. jedenfalls Liknen, wie sie im bakchischen Culte
gebräuchlich sind, tragen — sollte man nach dem Wortlaute
der Schilderung ebenfalls für eine Statuengruppe halten;
allein die Darstellung einer solchen Scene, wie sie namentlich
auf Terracottareliefs öfter vorkommt, in einer Statuengruppe
wäre doch mindestens sehr auffallend, um nicht zu sagen
unerhört, und wir sind daher berechtigt, auch das Fuggersche
Bildwerk für ein Relief zu halten.
Unter den Fragmenten hebt B. Rhenanus speciell einen
mit Mohn bekränzten Kopf des Schlafgottes mit geschlossenen
Augen und mehrere durch die Bekränzung mit Weinlaub und
Trauben kenntliche Bakchosköpfe hervor. Was den ersteren
anbetrifft, so fällt bei Vergleichung desselben mit den sonst
bekannten, neuerdings mehrfach behandelten Darstellungen
des Hypnos4) die Nichterwähnung der Beflügelung auf; doch
kann man wohl annehmen, dass die Flügel an dem Kopfe
abgestossen waren und die Ansätze derselben von Rhenanus
nicht bemerkt worden sind. Auch die Bekränzung mit Mohn
ist ungewöhnlich, während die ganzen Figuren des Schlaf-
gottes gewöhnlich einen Mohnstengel in der Hand tragen;
3) Dieselben sind zuletzt, nach dem Vorgange L. Stephani's u.
0. Jahn's, zusammengestellt von J. Overbeck, Griechische Kunst-
mythologie II, S. 457 ff.
4) Vgl. 0. Jahn Archäologische Beiträge S. 53 ff.; E. Gerhard
Archäologische Zeitung 1862, No. 157. 158. 159A. S. 217 ff., dazu
Tafel 157—159; G.Krüger Jahrbücher für Philologie 1863, S. 289 ff.;
H. Brunn Annali 1868, p. 351 ss. (Monumenti Vol. VIII, tv. 59);
dazu kommt noch die von mir in meiner Schrift cAventicum Helve-
tioruin Heft IV (Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in
Zürich Bd. XVI, Abtheilung I) S. 46, Tafel XVII, 3 publicirte Bronze-
jBtatuette aus Avenches.
Bursian: Die Antikensammlung Raimund Fuggers. 139
doch zeigt auch die in der Archäologischen Zeitung abge-
bildete Florentinische Erzfigur des Hypnos eine Mohnblume
im Haar.
Ausser der Beschreibung des B. Rhenanus besitzen wir
aber noch ein weiteres Hilfsmittel zur Kenntniss der Antiken-
sammlung Raimund Fuggers in der von zwei Professoren
der Universität Ingolstadt, dem Professor der Mathematik
Petrus Apianus und dem Professor der Poesie und Beredt-
samkeit Bartholomäus Amantius, auf Kosten R. Fuggers
veranstalteten und veröffentlichten Sammlung lateinischer
und griechischer Inschriften (Inscriptiones sacrosanctae vetu-
statis non illae quidem romanae, sed totius fere orbis summo
studio ac maximis impensis Terra Marique conquisitae feli-
citer incipiunt. Magnifico viro domino Ray mundo Fuggero
invictissimorum Caesaris Caroli Quinti ac Ferdinandi Roma-
norum Regis a Consiliis, bonarum literarum Mecaenati in-
comparabili Petrus Apianus Mathernaticus Ingolstadtiensis et
Barptholomeus Amantius Poeta DED. Ingolstadii in aedibus
P. Apiani. Anno M. D. XXXIIII.) 5), einem der stattlichsten
Denkmäler deutscher Gelehrsamkeit und deutscher Buch-
druckerkunst des 16. Jahrhunderts. In diesem Werke finden
5) Das theils mit schwarzen, theils mit rothen Lettern gedruckte
Titelblatt ziert ein grosser Holzschnitt nach der von 0. Jahn in
seinem Aufsatze cCyriacus von Ancona und Albrecht Dürer (Aus der
Alterthumswissenschaft Populäre Aufsätze von Otto Jahn S. 349 f.
Tafel VII) veröffentlichten Zeichnung Albrecht Dürers. Die Stelle
der in der Zeichnung links oben stehenden griechischen Inschrift
nimmt im Holzschnitt dichtes Gewölk ein. Auch die zweite von
0. Jahn a. a. 0. (Tafel VIII, 4) publicirte Dürer'sche Zeichnung
findet sich, allerdings wesentlich modificirt, aber mit Wiederholung
der (jedenfalls von Cyriacus herrührenden) Beischrift cPisce super
curuo uectus cantabat Arion in unserer Inschriftensammlung wieder
unter den Inscriptiones Thraciae, aber ohne nähere Ortsangabe
(p. CCCCLXXXXVI) ; Arion, nach rechts gewandt, sitzt, mit beiden
Händen Guitarre spielend, auf dem Rücken des nach links gewandten
Delphins,
140 Sitzung der phüos.-philol Classe vom 7. März 1874.
wir zunächst, abgesehen von den Abbildungen anderer antiker
Bildwerke, auf welche ich später zurückkommen werde, auf
p. CLXX u. CLXXI eine Statuette (jedenfalls Bronzestatuette)
des Herakles aus R. Fuggers Sammlung in Vorder- und
Rückansicht abgebildet. Der Heros ist bartlos, nur mit dem
vorn auf der Brust zusammengeknüpften Löwenfell, dessen
Rachen helmartig den Kopf bedeckt und welches über den
Arm geworfen ist, bekleidet, in weitem Ausschritt vorwärts-
stürmend (das rechte Bein dient als Standbein, das zurück-
gestreckte linke als Spielbein) dargestellt: in der erhobenen
Rechten schwingt er die Keule, deren oberes Ende er mit
der nach rückwärts gewandten linken Hand erfasst. Dieser
letztere durchaus unverständliche Zug beruht jedenfalls auf
einer falschen Ergänzung des abgebrochenen linken Unter-
arms, welcher wohl ursprünglich nur die Löwenhaut zur
Abwehr eines seitlichen Angriffes — wir haben uns den
Heros im Kampfe gegen den dreileibigen Geryones oder
auch gegen die Stymphalischeu Vögel begriffen zu denken —
emporhielt6). Ferner sind drei Bronzestatuetten der Athene
aus Fuggers Sammlung abgebildet p. CCCLXIV u. CCCLXV.
Die erste, welche in doppelter (Vorder- und Rücken-) An-
sicht abgebildet ist, wiederholt im wesentlichen, abgesehen
von der Haltung des rechten Armes, mit welchem die Göttin
6) Das unter der Abbildung der Vorderseite der Statuette
stehende Epigramm
Transiui intrepidus per mille pericula uictor;
Non acies ferri, non clausis moenia portis
Conatus tenuere meos : domat omnia uirtus
welches Mommsen Corpus Inscriptionum latinarum III, p. 29* unter
den 'Inseriptiones falsae1 aufführt, war wohl gar nicht an dem Bild-
werke angebracht, sondern ist von Amantius verfasst und natürlich
ohne jede Absicht die Leser zu täuschen, als iniyQapfia, €7ii6etxnxoy
der Abbildung beigegeben worden. Jedenfalls bietet die Unächtheit
des Epigramms nicht die geringste Veranlassung zu einem Zweifel
an der Aechtheit des Bildwerks,
Bursian: Die Antikensammlung Baimund Fuggers. 141
die Lanze aufstützt, den Typus der Parthenos : der gesenkte
linke Arm berührt den oberen Rand des neben dem linken
Beine der Göttin stehenden Schildes, dessen äussere Seite
mit einem Löwenkopfe verziert ist. Die zweite Statuette
zeigt dieselbe Stellung und Haltung wie die erste — der
Buckel des Schildes läuft in eine starke Spitze aus — aber
die Göttin trägt ausser dem langen gegürteten Doppelchiton
und dem mit dem Medusenkopf geschmückten Brustpanzer noch
einen auf der linken Schulter aufliegenden Mantel, welcher
die linke Seite der Brust und des Rückens und den grössten
Theil das Unterkörpers umhüllt. Dieselbe Bekleidung zeigt
die dritte Statuette, bei welcher aber der Schild fehlt; die
an den Leib gelegte linke Hand scheint eine Falte des
Mantels zu fassen.
Ferner enthält ein unpaginirter Anhang der Inschrift-
sammlung (nach p. CCCCCXII) Abbildungen in Holzschnitt
von 8 Statuetten (wohl durchgängig Bronzewerke) der Samm-
lung R. Fugger's, mit kurzen, freilich meist verfehlten Er-
klärungen, die jedenfalls von Bartholomeus Amantius, der
auch die an R. Fugger gerichtete Vorrede des ganzen Werkes
verfasst hat, herrühren. Dass diese Statuetten nur einen
kleinen Theil der Fuggerschen Sammlung von Alterthümern
ausmachten, bezeugen die Herausgeber ausdrücklich in dem
Schlussworte der Inschriftsammlung, das zugleich das Vor-
wort zu dieser Publication der Bildwerke bildet; für die
Publication der übrigen verweisen sie die Leser auf ein
demnächst zu veröffentlichendes Werk cde Numismatis veterum
Imperatorum3, das aber, meines Wissens, niemals erschie-
nen ist7).
7) P. CCCCCXII : 'Porro et hoc te latere nolui preter has veteres
imagines quas subiunximus fini libri antiquitatum, et quas D. Ray-
mundu8 liberalster communicauit alias quamplurimas superesse apud
eum , Sed quia verebamur, ne in nimis magnum modum liber excres-
ceret, Praeterea ne praecii magnitudine emptorem oneraremus, si
omnes adiicereraus visum est in presentia omittere et differe in
142 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
Auf der ersten Seite des Anhangs (ßl. tt recto) sind
zwei Figuren abgebildet, von denen die links, von Araantius
als Bacchantin erklärt, den jugendlichen Dionysos oder einen
römischen Lar darstellt, der mit vorgesetztem linken Fusse
tanzartig vorwärts schreitet. Bekleidet ist er mit einem bis
an die Kniee reichenden Aermelchiton, einer von der linken
Schulter aus um den Leib geschlungenen Nebris und Stiefeln;
der mit einem Kranze aus Weinlaub oder Epheu bekränzte
Kopf, von welchem zwei lange Locken auf die Schultern herab-
fallen, ist nach links gewandt; in der erhobenen Rechten hält
er ein Rhyton, dessen unteres Ende der Vorderkörper eines
Panthers bildet, in der gesenkten Linken eine Schale, deren
Inneres mit einem Löwenkopf verziert ist8). Die Haltung der
Figur erinnert stark an bekannte Darstellungen der römischen
Laren9), während die Nebris, falls dieselbe nicht etwa einem
Versehen des Zeichners ihren Ursprung verdankt, für die
Deutung auf Dionysos spricht. Die Figur rechts, welche
Amantius als cimago Laocoontis3 deutet — eine nackte Knaben-
gestalt, welche mit jeder Hand eine um den Arm sich ringelnde
Schlange am Halse gepackt hat — stellt offenbar den die
von Hera gegen ihn ausgesandten Schlangen erwürgenden
Herakles dar10). Schwierigkeit macht nur die Kopfbedeckung,
librum quem instituimus de Numismatis veterum Imperatorum mox
fortuna aspirante conatibus nostris in publicum edere, opera et studio
Maguificorum virorum Raymundi Fuggeri, Ioannis Choleri Praepositi
Curiensis Chunradi Peutingeri Augustani, et aliorum apud quos huius-
modi sunt, interim hoc opus nostrum accipito hilariter, et ut decet
grato animo\
8) In der Zeichnung erscheint sie wie ein kleines rundes Schild,
dessen Aussenseite einen Löwenkopf zeigt: doch unterliegt die wirk-
liche Bedeutung wohl keinem Zweifel.
9) Man vergleiche namentlich die bei v. Sacken Die antiken
Bronzen des k. k. Münz- und Antiken cabinets Tfl. XIII, 2 abgebil-
dete Bronzestatuette der Wiener Sammlung.
10) Die sonstigen statuarischen Darstellungen dieser Scene zeigen
in der Regel den Heraklesknaben am Boden sitzend oder knieend.
Stehend erscheint er auch in einer Vaticanischen Marmorstatue bei
Bursian: Die Antikensammlung Raimund Fuggers. 143
welche in der Zeichnung als hohe Crista und Nackenstück
eines Helmes erscheint; da man nicht wohl annehmen kann,
dass ein Zeichner die über den Kopf gezogene Löwenhaut
in solcher Weise versehen habe, muss man wohl den ganzen
Kopf für die Zuthat eines Ergänzers halten.
Die auf der folgenden Seite (Bl. tt verso) abgebildete
Statuette der Athene (cImaguncula Mineruae deae3) ist iden-
tisch mit der auf p. CCCLXV rechts abgebildeten, von der
wir oben (S. 141) gesprochen haben.
Auf der dritten Seite (Bl. tt ii recto) sind wieder zwei
Statuetten abgebildet. Die links ist die eines jugendlichen
unbärtigen Mannes, der mit einem kurzen gegürteten Chiton
und einer längeren auf der rechten Schulter befestigten
Chlamys bekleidet ist; die abwärts gestreckten Arme zeigen
kein Attribut; auf dem Kopfe hat er nach der Zeichnung
vier Hörner, welche Amantius zu der verkehrten Deutung
der Figur auf Pan veranlasst haben. Man darf wohl ver-
muthen, dass die angeblichen Hörner11) vielmehr Zacken
sind, welche Strahlen bezeichnen , wie solche gleichfalls in
der Vierzahl deutlich sichtbar sind an der auf der folgenden
Seite (Bl. tt ii verso) in Vorder- und Rückansicht abgebildeten
Figur, welche in Tracht und Haltung durchaus mit der
unsrigen übereinstimmt (die Füsse von den Knöcheln ab und
die linke Hand fehlen), und demnach beide Statuetten als
Darstellungen des Helios auffassen : ob die Zahl der Strahlen
ursprünglich nur vier betragen hat oder ob an jeder der
beiden Figuren einige (etwa 3) abgebrochen sind, wage ich
nicht zu entscheiden. Eine wirkliche Darstellung des Pan
Clarac Musee de sculpture pl. 781, N. 1959; doch ist die Deutung
dieser Statue, da die Schlangen durchaus auf Ergänzung beruhen,
sehr unsicher.
11) An einen deus Lunus oder Men mit vier statt mit zwei
Mondhörnern (vgl. den Kopf an einem in Bayeux gefundenen spät-
römischen Säulencapitäl Revue archeologique n. s. XIX [Januar 1869]
pl. 1) wird doch wohl Niemand denken.
144 Sitzung der phüos.'philol. Classe vom 7. März 1874.
gibt dagegen die Abbildung rechts auf S. 3 : sie zeigt ihn
bocksfüssig , ithyphallisch , in der erhobenen Rechten einen
Schilfstengel, in der gesenkten Linken ein grosses Hörn
(wahrscheinlich ein Rhyton, wenn man nicht an ein falsch
ergänztes Lagobolon denken will) haltend. Der bartlose
Kopf zeigt ausser den gewöhnlichen zwei kurzen Hörnern
über der Stirn noch ein drittes grösseres nach vorn gebogenes
auf dem Scheitel. Obgleich nun Darstellungen von Satyrn und
Panen mit drei Hörnern nicht gerade unerhört sind (man
vgl. das Marmorrelief bei Müller- Wieseler Denkmäler der
alten Kunst/ II, Tafel 43, N» 544 und dazu die Bemerkungen
Wieselers im Text S. 48), so wäre doch die verschiedene
Bildung der Hörner sehr auffallend und ich vermuthe daher,
dass das grosse nach vorn gebogene Hörn nur einem Irr-
thum des Zeichners seinen Ursprung verdankt, der eine mit
der Spitze nach vorn gebogene Mütze12) fälschlich für ein
Hörn gehalten hat.
S. 5 (Bl. tt iii recto) stellt in Vorder- und Rückansicht
eine jugendliche Figur mit wild gesträubtem Haar , welche
von den Hüften abwärts in zwei grosse Schlangen endigt,
dar; zwei kleinere Schlangen sind um ihre Arme (von
denen der linke ausgestreckt, der rechte gebogen ist) ge-
wunden. Die Zeichnung der Vorderseite der Figur, welche
ihr deutlich weibliche Brüste giebt, steht mit Amantius Text,
der sie als cImago filii Laocoontis3 bezeichnet, im Wider-
spruch, und es wird kaum möglich sein, diesen Widerspruch
ohne Prüfung des, wie es scheint, verlornen Originals zu
lösen. Ist die Zeichnung richtig, so müssen wir in der
Figur eine Darstellung der Echidna, wie sie am amykläischen
Thron neben Typhon gebildet war13), erkennen. Sind da-
12) Eine spitze, allerdings nicht umgebogene Mütze trägt Pan
auf einer Münze von Nikäa in Bithynien: Müller -Wieseler Denk-
mäler II, Tafel 43, N. 534.
13) Paus. III, 18, 10. Ein anschauliches Bild davon, wie die Griechen
Bursian: Die Antikensammlung Baimund Fuggers. 145
gegen die weiblichen Brüste eine Zuthat des Zeichners, so
stellt die Figur ohne Zweifel einen schlangenfüssigen Giganten
dar, wie sie auf Bildwerken der römischen Zeit häufig, und
zwar nicht selten bartlos und jugendlich erscheinen14).
Die 6. und letzte Seite des Anhanges (Bl. tt iii verso)
gibt wiederum in Vorder- und Rückansicht die Abbildung der
Statue oder Statuette eines bärtigen Mannes, welcher am
ganzen Körper mit einem die Arme bis an die Handwurzeln,
die Beine bis über die Knöchel herab bedeckenden eng an-
liegenden tricotartigen Gewände, das sternförmige Ornamente
zeigt, und einem kurzen auf der rechten Schulter befestigten,
neben der rechten Seite des Körpers bis fast zum Kniee
herabhängenden Mantel, sowie mit Sandalen an den Füssen
bekleidet ist. Unter der Brust und über den Lenden scheinen
zwei schmale Bänder als Gürtel über dem Untergewande
angebracht zu sein. Der rechte Unterarm ist mit geschlossener
Hand vorgestreckt, der linke ebenso erhoben, so dass beide
Hände ursprünglich etwas gehalten zu haben scheinen. Das
rechte Bein dient als Standbein, das linke als Spielbein.
Der Kopf ist mit dem Ausdruck tiefen Schmerzes im Gesicht
leise nach der rechten Seite geneigt. Dieser Umstand sowie
>die barbarische Tracht machen es wahrscheinlich, dass die
Figur einen besiegten und gefangenen Barbaren darstellt;
doch darf ich nicht verhehlen, dass es mir nicht gelungen
ist, eine völlig entsprechende Darstellung auf römischen Bild-
werken zu finden, wie z. B. die Daker in den Reliefs der
sich dieEchidna dachten, gibt der Bericht des Herodot (IV, 9) über
die bei den Pontischen Hellenen verbreitete Sage vom Zuge des
Herakles nach Skythien : ip&avtci de uvtov evgeiv iv «Vr^w (xc^oTtaQ-
&£v6v xivu e%i6vav 6i(pvEa, trjs tcc ^ikv cc'vio arid toÜv ylovtiov eivui
yvpur/.og, tu de eveQ&e öcpiog. Vgl. Hesiod. Theog. v. 297 ff.;
Fröhner Melanges d'epigraphie et d'archeologie I — X (Paris 1873)
p. 20 s.
14) Vgl. Wieseler in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissen-
schaften und Künste Sect. I, Bd. 67, S. 159 ff.
146 Sitzung der phüos.-philöl. Ciasse vom 7. März 1874.
Trajanssäule nicht tricotartige Gewänder, wie unsere Figur
(deren Costüm noch am meisten an das der Amazonen auf
einigen griechischen Bildwerken erinnert), sondern bis zum
Gürtel emporreichende Beinkleider , darüber ein bis über
die Kniee hinabreichendes Aermelgewand und einen Mantel
tragen.
Das ist alles was wir über den Bestand der Antiken-
sammlung Raymund Fuggers ermitteln können. Ueber die
Schicksale derselben vermag ich nichts anzugeben ; da meines
Wissens kein späterer Antiquar oder Archäolog ihrer gedenkt,
so scheint sie nach dem Tode ihres Besitzers zerstreut wor-
den oder völlig unbeachtet geblieben und dadurch zu Grunde
gegangen zu sein.
Das von Apianus und Amantius herausgegebene In-
schriftenwerk enthält, wie schon oben bemerkt, ausser den
R. Fugger gehörigen Bildwerken auch Abbildungen zahlreicher
anderer bildlicher Denkmäler, von denen wenigstens das eine
und andere eine etwas eingehendere Besprechung zu ver-
dienen scheinen.
Beginnen wir mit den statuarischen Werken, so finden
wir auf S. CXXXVI ohne Angabe des Fund- oder Aufbe-
wahrungsorts neben auf den Cult der Isis bezüglichen In-
schriften15) und Notizen eine weibliche Figur abgebildet, welche
mit einem unter der Brust gegürteten Aermelchiton, dessen
oberer Theil als fyidiTthotdiov (vgl. Poll. VII, 49) nochmals
Brust und Rücken bis zu den Hüften bedeckt, bekleidet, mit
einer Mondsichel übsr der Stirn, beide Arme nach unten
ausstreckt. Der Mangel jeder weiteren Angabe in Betreff
der Figur lässt vermuthen , dass dieselbe gar nicht nach
einem antiken Original gezeichnet, sondern von Apianus oder
15) Die von Apianus mit der Ortsangabe cCapuae ad S. Bene-
dictum in pauimento' mitgetheilte Inschrift befindet sich jetzt im
Museo nazionale zu Neapel und ist nach dem Original publicirt bei
Mommsen Inscriptiones regni Neapolitani n. 3580.
Bursian: Die Antikensammlung Raimund Fuggers. 147
seinem Gewährsmann erfunden ist, nicht etwa in betrügeri-
scher Absicht, sondern um seinen Lesern ein deutliches
Bild von der Gestalt der Isis, wie er sich dieselbe vorstellte,
zu geben.
Unzweifelhaft nach einem antiken Original, einer im
Besitz Wilibald Pirkheimers befindlichen Bronzestatuette,
welche jetzt verschwunden zu sein scheint 16) , ist die Figur
eines bartlosen älteren Mannes auf p. CLVI gezeichnet,
welche von den Herausgebern , offenbar wegen der beiden
Hähne, welche sie in der abwärts gestreckten rechten Hand
hält, als Bildniss des Aesculapius erklärt wird, eine Er-
klärung welche sowohl durch die Tracht des Mannes, als
durch den Fruchtschurz, welchen er mit dem linken Arme
hält, widerlegt wird. Nach diesen Kennzeichen scheint es
mir vielmehr zweifellos, dass die Statuette den Lampsakeni-
schen Gott Priapos darstellt. Dafür sprechen, ausser dem
schon erwähnten Fruchtschurz, das weibische Kopftuch welches
den ziemlich kahlen Kopf umhüllt, die die ganzen Füsse
bedeckenden ungriechischen Schuhe und die eigenthümliche
Schürzung des Gewandes um den Leib, dessen Faltenwurf
wohl die ithyphallische Natur des Gottes verhüllend andeuten
soll. Während nämlich die Mehrzahl der uns erhaltenen
langbekleideten Priaposbilder den Gott vorn das Gewand
aufhebend darstellt, finden wir auch Beispiele, bei welchen
diese Entblössung nicht stattfindet. Man vergleiche die reich-
haltige Zusammenstellung von 0. Jahn in den Berichten der
sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, philol.-histor.
Classe, 1855, S. 236 ff. und in den Jahrbüchern des Vereins
16) Wie B. Stark in seinen 'Archäologischen Studien zu einer
Revision von Müllers Handbuch der Archäologie1 (Wetzlar 1852)
S. 51 bemerkt, ist die Pirkheimersche Sammlung als Imhofsche 1G36
grossen Theils an den Graf Arundel und somit nach Oxford ge-
kommen, aber in der englischen Revolution theilweise vernichtet
worden.
148 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. März 1874.
von Alterthuinsfreunden im Rheinlande Heft XXVII, S. 45 ff.
Auffallend ist allerdings an unserer Statuette der Mangel
des Bartes, während in der Regel der Gott mit einem zwar
dünnen, aber langen Barte dargestellt wird; doch ist auch
die Bartlosigkeit nicht ohne Beispiel (vgl. 0. Jahn Jahr-
bücher S. 60) und soll jedenfalls den weibisch-weichlichen
Character der Gestalt noch mehr hervorheben. Die beiden
Hähne, welche die Statuette in der Rechten hält, sind, die
Richtigkeit der Zeichnung vorausgesetzt, wohl aus der brün-
stigen Natur dieser Thiere (vgl. Aelian. de animal. IV, 16)
zu erklären ; auch könnte man vielleicht darin eine Anspiel-
ung finden auf den Beinamen 'OgvedTrjg mit welchem Eupho-
riou von Chersonesos, der Verfasser von ügiaTteia, den Gott
bezeichnet hatte17).
P. CCXXX gibt die Abbildung einer in Rom befindlichen
Statue oder Statuette des Mercurius, welche denselben in
bekannter Weise bartlos, unbekleidet bis auf die von der
linken Schulter über den linken Arm herabfallende Chlamys,
auf dem Haupte den geflügelten Petasos, mit Flügeln an
den Knöcheln , in der vorgestreckten Rechten den Beutel
haltend darstellt. Ob die von dem Herausgeber damit ver-
bundene Inschrift MER. SACR. sowie das Distichon
Sum deus alatis qui cruribus aethera carpo
Quem peperit summo lucida Maia Ioui
wirklich zu dem Bildwerke gehören, ist sehr fraglich. Das
Distichon dürfte wohl, wie das oben S. 140, Anm. 6 erwähnte
Epigramm auf Hercules, von Amantius oder auch von einem
italiänischen Humanisten verfasst sein. Eine andere statua-
rische Darstellung des Mercurius mit einer grössern Anzahl
von Attributen, welche sich in Conrad Peutinger's Hause in
17) Vgl. Strabon. VIII, p. 382, wo Meineke das von den Hand-
schriften überlieferte EixpQovios nach Hephästion enchir. c. 16 (p. 57
ed. Westphal) richtig in Erpopitov geändert hat.
Bursian: Die AntiJcensammlung Baimund Fuggers. 149
Augsburg befand, ist abgebildet auf S. CCCCXXII. Der
Gott mit Flügeln am Haupt, mit einer über die linke Schulter
geworfenen Chlamys bekleidet, hält in der erhobenen Linken
den Heroldstab, mit der gesenkten Rechten den Beutel, dessen
Ende den Kopf eines neben dem Gotte liegenden Ziegenbocks
berührt; neben dem linken Fusse des Gottes steht ein Hahn.
Das Bildwerk ist noch jetzt erhalten und im Maximilians-
Museum zu Augsburg aufgestellt; s. M. Mezger Die römi-
schen Steindenkmäler, Inschriften und Gefässstempel im
Maximilians-Museum zu Augsburg (Augsburg 1862) S. 18,
n. IX. Bock und Hahn als Attribute des Mercurius sind aus
zahlreichen Bildwerken der römischen Zeit, besonders solchen,
welche auf germanischem Boden gefunden worden sind, be-
kannt ; ausser den schon von Mezger verglichenen in Gerst-
hofen ausgegrabenen Mercurbildern, welche sich jetzt ebenfalls
im Augsburger Museum befinden (vgl. Mezger a. a. 0. S.20ff),
ist besonders die bei Müller-Wieseler Denkmäler der alten
Kunst II, Tafel 29, N. 325 abgebildete Silberplatte aus Neu-
wied zu vergleichen; dessgleichen ein jetzt im Stuttgarter
Museum befindliches Relief aus Marbach : s. Verzeichniss der
in Würtemberg gefundenen römischen Steindenkmale des
k. Museums der bildenden Künste, Stuttgart 1846, S. 17, n. 63.
Auf p. CCCCXII finden wir die erste, allerdings in
stylistischer Hinsicht, wie alle Abbildungen des Apianischen
Buches, sehr ungenügende Abbildung der lebensgrossen
schönen Bronzestatue eines bartlosen jugendlichen Mannes,
welche im Jahre 1502 auf dem Helena- oder Magdalens-
berge am östlichen Rande des Zollfeldes zwischen Klagen-
furt und St. Veit in Kärnthen gefunden, seit dem Jahre
1806 eine der schönsten Zierden des k. k. Münz- und An-
tikencabinets zu Wien bildet18) und neuerdings durch Gips-
18) S. cDie Sammlungen dea k. k. Münz- und Antiken-Cabinets,
beschrieben von Dr. E. Freih. von Sacken und Dr. F. Kenner , Wien
[1874, 2. Phil. hist. GL] 11
150 Sitzung der phüos.-phüol Olasse vom 7. März 1874.
abgüsse genauer bekannt geworden ist. Die Abbildung ist
desshalb von Werth, weil sie die beiden zugleich mit der
Statue gefundenen aber längst von ihr getrennten und wie
es scheint verloren gegangenen Attribute enthält : eine mit
dem Stiel auf der Basis neben dem linken Fusse stehende
Streitaxt (bipennis), auf welcher die linke Hand des Jüng-
lings ruht , sowie einen länglich-runden , in der Mitte ver-
tieften Gegenstand, welcher von einigen für einen Hut, von
anderen für ein Diadem, von anderen für ein Schild ange-
sehen worden ist19). Die Bedeutung dieses Gegenstandes
ist desshalb kaum zu bestimmen, weil sich an der Statue
selbst keine Spur einer Anfügung desselben findet; wenigstens
habe ich bei der genauesten Prüfung eines von mir für das
archäologische Museum der Universität Jena erworbenen
Gipsabgusses derselben keine derartige Spur entdecken können :
eine runde Vertiefung auf dem Rücken zwischen den beiden
Schultern, etwas näher an der linken, kann, wenn sie nicht
einer zufälligen Verletzung etwa bei der Auffindung der
Statue ihren Ursprung verdankt, nur von einem Krampen
oder Haspen herrühren, mit welchem die Statue an einer
Rückwand befestigt gewesen sein mag. Eine zweite viel
kleinere Vertiefung auf der Brust des Gipsabgusses in
der Nähe der linken Brustwarze kann nur durch Zufall
entstanden sein. Allerdings giebt v. Sacken a. a. 0. S. 53
an, die Statue scheine von einem geschickten Künstler der
Renaissanceperiode an der Oberfläche überarbeitet wor-
1866, S. 39, N. 155; v. Sacken Die antiken Bronzen des k. k. Münz-
und Antikencabinets in Wien, Wien 1871, Tfl. XXI, S. 52Jff.
19) Vgl. Mommsen Corpus inscriptionum latinarum Vol, III, S. II,
p. 602 n. 4815, wo sowohl die auf dem rechten Schenkel der Statue
eingravirte Inschrift als auch die welche sich auf dem Rande des
oben erwähnten Gegenstandes befindet, nebst Notizen über die Auf-
findung und die späteren Schicksale der Statue und ihrer Beiwerke
mitgetheilt sind.
Bursian: Die Antihensammlung Baimund Fuggers. 151
den zu sein ; aber so stark kann diese Ueberarbeitung doch
kaum gewesen sein, dass dadurch die Spuren der Anfügung
eines Hutes oder Diadems oder Schildes gänzlich verwischt
worden wären. Also muss die Notiz, welche Apian an einer
früheren Stelle seines Buches, wo er die Inschriften allein
ohne Abbildung der Statue mittheilt (p. CCCXCVII), giebt:
cimago aenea uirilis — habens in capite pileum instar lancis
aeneum auro oblitum cum inscriptione5 nur auf einer falschen
Vermuthung seines Gewährsmannes beruhen und wir müssen
vielmehr annehmen dass der fragliche Gegenstand, in welchem
auch ich , wie Mommsen , am ehesten ein Schild erkennen
möchte, gar nicht in unmittelbarer Beziehung zu der Statue
gestanden hat, eine Annahme die sich auch desshalb empfiehlt,
weil derselbe laut der Inschrift von anderen Persönlichkeiten
geweiht worden ist als die Statue selbst. Die genaue Prüfung
des Gipsabgusses hat mir ferner gezeigt, dass auch die
Haltung der linken Hand, wie sie in Apians Zeichnung er-
scheint, unmöglich richtig sein kann. Diese Hand ist an
der Statue halb geschlossen und zwar so, dass der vierte
und fünfte Finger weiter nach dem Innern der Hand zu
gebogen sind als der dritte und zweite Finger; am Ballen
bemerkt man in der Nähe der Wurzel des Daumens eine
Abplattung, welche nur von der Anfügung eines stabartigen
Gegenstandes, welchen die Figur in der Linken hielt, her-
rühren kann. Daraus ergibt sich, dass die ohne Zweifel zu-
gleich mit der Figur entdeckte Streitaxt nicht ursprünglich
mit dem Stiel auf dem Boden gestanden haben und von der
Hand der Figur am andern Ende berührt worden sein kann,
sondern dass sie, wenn sie, wie es doch mindestens höchst wahr-
scheinlich ist, ein unmittelbares Attribut der Statue bildete,
von dieser am Stiel, so dass die Axt nach unten gekehrt
war, gehalten worden ist. Was endlich die Deutung der
Statue anbetrifft, so würde die gewöhnliche Auffassung der-
11*
152 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 7. Märe 1874.
selben als Mercurius20) unbedenklich sein, wenn man an-
nehmen dürfte, dass dieselbe einen Heroldstab in der Linken
gehalten habe. Da aber nach den obigen Erörterungen das
Attribut, welches sie mit dieser Hand hielt, vielmehr eine
Streitaxt gewesen sein muss, so können wir darin nur das
Bild einer kriegerischen Gottheit, für welche auch das Schild
als Weihgeschenk passt, erkennen ; schwerlich des römischen
Mars, da für diesen, abgesehen von dem Mangel seines ge-
wöhnlichen Attributes, des Helmes, die Streitaxt statt des
Schwertes oder der Lanze unpassend ist, sondern einer ein-
heimischen Gottheit der Noriker (Taurisker), welche von
den römischen Ansiedlern zwar im Allgemeinen mit ihrem
Mars identificirt, aber durch einen einheimischen Beinamen,
wie wir deren für Mars so viele durch Inschriften aus von
keltischen Völkerschaften bewohnten Gegenden kennen, näher
characterisirt worden ist. Für einen solchen passt ganz die
cAmazonia securis', welche in einer bekannten Stelle des
Horatius (c. IV, 4, 18 ss.) als die stehende Waffe der Vin-
delici, der nördlichen Nachbarn der Norici, bezeichnet wird.
Aus Noricum speciell ist uns als eine solche mit dem römi-
schen Mars identificirte Gottheit der Latobius bekannt,
dessen Cult durch die Inschriften C. I. L. vol. III, p. II, n. 5097
u. 5098 (cLatobio Augusto sacruu/), n. 5320 (\Marti Latobio
Harmogio' etc.) und n. 5321 (cLatobio Q. MorsW etc.) be-
zeugt wird.
P. CCCCCVII des Apianischen Werkes gibt die Ab-
bildung der Statue eines mit einem langen, faltenreichen,
unter der Brust gegürteten Gewände bekleideten Mannes,
welcher die Rechte an den Gürtel legt, mit der Linken ein
mächtiges Schwert aufstützt. Der Kopf und der obere Theil
20) Arneths Deutung auf Germanicus wird schwerlich Jemand
vertreten wollen. Auch die Ansicht E Hübners (Die antiken Bild-
werke in Madrid S. 9), dass die Statue ein Porträt sei, scheint mir
durchaus unhaltbar.
Bursian: Die Antikensammlung Baimund Fuggers. 153
der Brust der Statue, als deren Standort Pergamos an-
gegeben ist, fehlen ; die mit Sandalen bekleideten Füsse stehen
auf einer kugelförmigen Basis, welche zunächst auf einem
viereckigen Pfeiler ruht; dieser wird von einem sehr hohen
architektonisch reich gegliederten Piedestal, welches eine
ionische Basis und eine viereckige Plinthe darunter zeigt,
getragen. An dem Piedestal befindet sich in Capitälbuch-
staben die Inschrift: 'Opus Nicerati; fertur autem imaginem
fuisse Eumenestis regis*. Dass wir es hier nicht mit einer
antiken Inschrift zu thun haben, ist aus der Fassung der-
selben ohne Weiteres klar; doch berechtigt uns dies durch-
aus nicht, das Bildwerk selbst oder auch nur den Inhalt
der Inschrift als eine Fiction zu betrachten, sondern wir
dürfen vermuthen, dass der Gewährsmann des Apianus (wahr-
scheinlich Cyriacus von Ancona) seiner Zeichnung der Statue
und des Piedestals die von Apianus wiederholte Bemerkung
theils auf Grund einer Inschrift (NiKtgcccog ittoirjoev), theils
nach einer an Ort und Stelle erhaltenen mündlichen Tradition
über die in der Statue dargestellte Persönlichkeit beigefügt
hatte. Ist dies richtig — und ich sehe nicht ein was uns
berechtigen könnte, an der Existenz der bei Apian abgebil-
deten Statue und einer Inschrift welche sie als ein Werk
des Nikeratos bezeichnete zu zweifeln — so gewinnen wir
für die griechische Kunstgeschichte die interessante That-
sache, dass der aus Plinius und Tatian bekannte Bildner
Nikeratos aus Athen (vgl. Brunn Geschichte der griechischen
Künstler I, S. 272) für Pergamos die Porträtstatue eines
der pergamenischen Herrscher (ob des Eumenes I oder eines
andern Mitgliedes des Herrscherhauses der Attaliden, muss
bei der Unsicherheit der Tradition unentschieden bleiben)
gearbeitet hat, wornach wir die Thätigkeit des Künstlers
etwa in die 2. Hälfte des dritten Jahrhunderts vor Christo
zu setzen haben. Dass Plinius (n. h. XXXIV, 8, 88) von ihm
eine Gruppe, welche den Alkibiades mit seiner Mutter De-
154 Sitzung der pkilos.-philol. Gasse vom 7. März 1874.
inarate darstellte, anführt steht mit dieser Ansetzung durch-
aus nicht im Widerspruch, da eine Persönlichkeit wie
Alkibiades gewiss auch für Künstler späterer Jahrhunderte
einen dankbaren Stoff für ihre Thätigkeit auf dem Gebiete
der historischen Sculptur darbot; erwähnt doch derselbe
Plinius (a. a. 0. § 80) eine statuarische Darstellung des
Alkibiades als Lenkers eines Viergespanns von der Hand
des Pyromachos, in welchem wir meiner Ueberzeugung
nach keinen andern als den für die pergamenischen Fürsten
thätigen Künstler dieses Namens (s. Brunn Geschichte der
griechischen Künstler I, S. 442) erkennen dürfen. Als ein
Werk des Nikeratos nennt uns Plinius (a. a. 0. § 80) ferner
eine Gruppe des Asklepios und der Hygieia, welche zu seiner
Zeit in Rom im Tempel der Concordia aufgestellt war.
Liegt nun nicht die Vermuthung sehr nahe, dass Nikeratos,
den wir oben als in Pergamos thätig kennen gelernt haben,
diese Gruppe für das dortige Asklepieion gearbeitet hat und
dass dieselbe erst nach der Annexion des Reiches der
Attaliden durch die Römer nach Rom geschafft worden ist?
Unter den bei Apian abgebildeten Reliefs sind zunächst
zwei zu erwähnen, welche sich durch Bild und Inschrift als
Weihgeschenke an Gottheiten zu erkennen geben : p. CCLXXII
mit der Ortsangabe cRomae iuxta aedem diui Benedicti
trans Tyberim* ein Weihgeschenk für Jupiter Optimus Maxi-
mus Dolichenus (DOLOCHEVO was Apian gibt ist offenbar
verlesen für DOLICHENO), über dessen Inschrift und Bildwerk
kürzlich eingehender von Fröhner gehandelt worden ist cLes
Musees de France' (Paris 1873) p. 27 ss., und p. CCCCLVI mit
der Notiz capud Etlingen inuentum sed iussu Maximiliani
Caesaris translatum ad Wyssenburgum5 ein Weihgeschenk für
Neptunus, welches diesen Gott völlig unbekleidet, einen
Delphin in der Rechten, den Dreizack in der Linken haltend,
neben seinem linken Fusse ein geflügeltes Seeungeheuer mit
einem Vogelkopf darstellt : der letztere Stein befindet sich, wie
Bursian: Die Antikensammlung Baimund Fuggers. 155
ich aus Brambach's Corpus inscriptionum Rhenanarum p. 310,
n. 1678 entnehme, heut zu Tage nach mannigfachen Wander-
ungen wieder in Ettlingen in Baden ; ein in Hinsicht sowohl
der bildlichen Darstellung als auch der Inschrift genau über-
einstimmender Stein ist im Jahre 1748 am Fusse des Schloss-
berges in Baden-Baden gefunden worden : s. Brambach a. a. 0.
p. 309, n. 1668.
Unter den zahlreichen von Apian abgebildeten Grab-
reliefs verdienen nur wenige wegen ihrer bildlichen Dar-
stellungen eine eingehendere Betrachtung. So zunächst das
p. CC1X abgebildete Grabdenkmal des Q. Virius Severinus
aus Rom cin claustro d. Simpliciani Columnacii3, welches einen
mit einer bis zu den Knieen reichenden Tunica und Schuhen
bekleideten Mann darstellt, der in beiden Händen einen Strick
hält ; neben ihm steht, den Kopf ihm zuwendend, ein Esel oder
vielmehr eine Eselin. Es scheint mir unzweifelhalt, dass die
von Apian gegebene Abbildung insofern ungenau ist, als auf
dem Relief die Eselin nicht einfach neben dem das Seil
haltenden Manne stehend, sondern an dem Seile fressend
dargestellt war, dass das Relief also die schon von Poly-
gnotos in seinem Gemälde der Unterwelt in der Lesche der
Knidier zu Delphi angebrachte (s. Paus. X, 29, 2) , seitdem
in zahlreichen Unterweltsdarstellungen wiederholte Gruppe
des Oknos, welcher ein Seil dreht, das von einer Eselin
fortwährend aufgefressen wird, darstellt21).
21) Die Darstellungen des Oknos sind zusammengestellt und
erläutert worden von 0. Jahn in den Archäologischen Beiträgen
S. 125, Anm. 10, in der Abhandlung über die Wandgemälde des
Columbariums in der Villa Pamfili (Abhandlungen d. k. bayer. Akad.
d. W. I. Cl. VIII. Bd. II. Abth. S. 245 ff.) und in dem Aufsatz über
Darstellungen der Unterwelt auf römischen Sarkophagen (Berichte
der k. sächs. Gesellschaft d. W., philol.-histor. Cl., 1856, S. 267 ff.).
Das bei Apian abgebildete Relief hat er an keiner dieser Stellen
berücksichtigt. Neuerdings (1865) ist noch eine Darstellung des
Oknos auf einem Wandgemälde eines Ostiensischen Grabes zum
156 Sitzung der phüos.'phüoLClasse vom 7. März 1874.
Zwei der bei Apian abgebildeten Grabreliefs (p. CCCCXXXV
und p. CCCCLVIII) enthalten Darstellungen des sogenannten
Todten- oder richtiger Familien m ahls , wie sie sowohl auf
griechischen als auf römischen Grabdenkmälern so häufig
vorkommen22). Das erstere, nach Apian in dem der Familie
Fugger gehörigen Schloss Smiechen gefunden, war früher in
der Kirchhofmauer zu Stadtbergen bei Augsburg eingemauert,
von wo es im Jahre 1821 in das Museum zu Augsburg ver-
setzt worden ist : s. M. Mezger Die römischen Steindenk-
mäler u. s. w. S. 53 f. n. XXIX, aus dessen genauer Beschreib-
ung wir entnehmen, dass das Relief in der Abbildung bei
Apian umgekehrt — der auf dem Ruhebette liegende Mann,
offenbar der Verstorbene, dem das Grabdenkmal gilt, nach
rechts anstatt nach links gewendet — erscheint; dass die
zu Häupten und zu Füssen des Ruhebettes stehenden Figuren
weiblich sind, und nicht, wie es die Abbildung darstellt, die
Lehnen des Ruhebettes anfassen, sondern die am Kopfende
(jedenfalls die Gattin des auf dem Ruhebett Liegenden) das
Kinn mit dem rechten Arme und diesen mit der linken Hand
stützt, die am Fussende (offenbar eine Dienerin) einen Präs entir-
teller mit Speisen herbeibringt, um sie auf den vor dem
Lager stehenden dreifüssigen Tisch, auf welchen der Liegende
mit der linken Hand deutet, zu setzen. Das hinter der
Dienerin stehende grosse Wassergefäss, auf dessen Rande
zwei Tauben sitzen, deren eine eben im Begriff ist zu trinken,
erinnert an die bekannte Capitolinische Mosaik aus der Villa
Hadrians zu Tivoli (Müller- Wieseler Denkmäler I, Tfl. 55,
n. 274) und ähnliche Darstellungen23), welche sämmtlich
Vorschein gekommen: s. Monumenti dell inst. VIII, t. 28; C. L.
Visconti in den Annali 1866, p. 304 ss.
22) Die griechischen Grabdenkmäler dieser Art sind am voll-
ständigsten zusammengestellt von P. Pervanoglu cDas Familienmahl
auf altgriechischen Grabsteinen Leipzig 1872.
23) Zu diesen gehört auch ein in meiner Schrift tAventicum
Sursian: Die Antikensammlung Baimund Fuggers. 157
ein von Sosos in seinem Oikos asarotos zu Pergamos an-
gebrachtes Motiv (s. Plin. n. h. XXXVI, 25, 184) wiederholen.
Das zweite Relief mit der Darstellung eines Familien-
mahles, welches nach Apian in dem Thurme des Klosters
Murrhardt bei Backnang aufgestellt war, ist heut zu Tage
verschwunden: s. Brambach Corpus inscriptionum Rhena-
narum p. 293, n. 1570. Die Darstellung ist sehr einfach:
ein bärtiger Mann in halb sitzender, halb liegender Stellung
auf einem Ruhelager, vor welchem ein runder dreifüssiger
Tisch mit drei Broden steht; ein am Fussende des Lagers
stehender Diener, der in der gesenkten Linken wahrscheinlich
eine Serviette (mappa) hält, die in der Abbildung wie eine
lange Wurst erscheint, reicht ihm mit der Rechten einen
Becher, den der Mann mit der Rechten ergreift, während
seine Linke auf dem Rande des Lagers ruht. Bemerkens-
werth sind die beiden auf den Schmalseiten des Grabsteins
dargestellten Figuren : links ein dem Beschauer den Rücken
zuwendender unbekleideter Mann, der mit beiden Händen
! ein langes, shawlartig zusammengelegtes Gewandstück hält,
rechts eine unbekleidete Frau die das rechte Bein über das
linke geschlagen, die rechte Hand auf das mit einem Kopf-
tuch umwundene Haupt gelegt hat (also in der Stellung
behaglicher, lässiger Ruhe), in der gesenkten Linken ein Tuch
oder ein kurzes Gewandstück hält.
Auch eine griechische Grabstele mit Bild und Inschrift
giebt Apian (p. CCCCCIII), jedenfalls nach Cyriacus von
Ancona, mit der Notiz: cInter Cycladum monumenta est'.
Die Inschrift, welche sich wegen der Unsicherheit der Ueber-
lieferung nicht mit Sicherheit herstellen lässt, ist wiederholt
im Corpus Inscriptionum graecarum n. 2326; das Relief zeigt
Helvetiorum' (Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich
Band XVI, Abth I) Heft V, Tfl. 26, S. 67 publicirtes Mosaik aus
Avenches, welches eine auf dem Rande eines Wassergefässes sitzende
trinkende Gans (oder Schwan) darstellt.
158 Sitzung der pliilos.- philo! . Glasse vom 7. März 187 4.
eine nach rechts auf einem Sessel ohne Lehne, mit Fuss-
bank, sitzende langbekleidete Frau mit einem den Kopf und
Rücken bedeckenden Schleier (offenbar die Verstorbene,
Syntyche Tochter des Karpos) ; sie reicht zum Abschied die
Rechte einer vor ihr stehenden gleichfalls langbekleideten
Frau (Dienerin oder Amme), welche mit dem linken Unter-
arme einen Theil ihres Gewandes eraporhält ; jedenfalls trug
sie auf dem Original ein Wickelkind. Hinter dem Sessel
der Frau, denselben mit der Linken berührend , steht ein
völlig bekleidetes kleines Mädchen mit einem Tuche um den
Kopf; jedenfalls ein Töchterchen der Syntyche.
Zum Schluss mögen noch kurz zwei kleine Denkmäler er-
wähnt werden, deren Kenntniss die Herausgeber der Sammlung
aus den hinterlassenen Papieren des Conrad Celtis (gestorben
am 4. Febr. 1508) geschöpft haben. Das erste p. CCCLXXXV
abgebildete trägt die Ueberschrift : cNuper a Con. Cel. inuentum
in plumbea lamina in Stiria in colle, in quo est Ecclesia circa
Sanctum Andream. Anno M. D.D Die Zeichnung der runden
Platte zeigt rechts einen auf einem Felsblock sitzenden nackten
Mann, der beide Hände vor das Gesicht hält; über seinem
Kopfe steht CLOTO. Ihm gegenüber sitzt am Boden ein
nackter geflügelter Knabe , der die rechte Hand auf das
rechte Knie legt, den linken Arm auf einen Todtenschädel,
der einen Knochen zwischen den Zähnen hat, stützt; über
dem Kopfe des Knaben steht LACHESIS, auf der Stirn des
Schädels ATROPOS. Im Hintergrunde sieht man zwischen
den beiden Figuren eine blühende Pflanze, am linken Rande
des Bildwerkes ein brennendes Feuer. Dass die beigeschriebenen
Namen zu der Darstellung durchaus nicht passen, ist auf den
ersten Blick klar; aber auch die Darstellung selbst ist so
ganz und gar unantik, dass wir ihre Erfindung unmöglich
einem antiken Künstler oder Handwerker zuschreiben können.
Meiner Ansicht nach haben wir es indess hier nicht mit
einer absichtlichen Fälschung, sondern mit einer durchaus
Bursian: Die Antikensammlung Baimund Fuggers. 159
willkürlichen Restauration eines unkenntlich gewordenen antiken
Bildwerkes zu thun. Ich vermuthe nämlich, dass das von Celtis
als cplumbea lamina* bezeichnete Stück ein stark oxydirter
etruskischer Spiegel oder Deckel einer Spiegelkapsel gewesen
ist, auf welchem von der eingravirten Zeichnung nur noch
einige undeutliche Umrisse erkennbar waren ; daraus hat ein
Zeichner mit Hülfe einer lebhaften, durch kein Verständniss
für die Antike gezügelten Phantasie das uns durch Apian
aufbewahrte seltsame Bild gemacht; die Inschriften hat wahr-
scheinlich Celtis, weil er auf dem Original Spuren von Buch-
staben bemerkte, von sich aus beigefügt.
Die zweite aus Celtis' Papieren stammende Abbildung
(p. CCCCLI) mit der Notiz: cEpigramma repertum a Con-
rado Celte in gemma signatoria aureo cruci insitum in mona-
sterio Ritisch iuxta Olmuntz. Mense lulio anno Domini
*M. D. IUI/ zeigt uns in runder Einfassung links eine am
Boden sitzende geflügelte nackte jugendliche Figur, deren
Geschlecht nicht sicher zu erkennen ist, mit einem Kranze
ums Haupt, mit der Rechten die Harfe (das Trigonon)
spielend ; ihr gegenüber steht ein nackter geflügelter Knabe,
welcher eine mit Kopftuch und zwei langen steifen Zöpfen
versehene Maske an dem einen Zopfe in die Höhe hält. Ueber
der sitzenden Figur steht VENVS, über der Maske IOCVS,
über dem sie haltenden Knaben CVPIDO. Die ungehörigen
Inschriften (wer hat je eine geflügelte harfenspielende Venus
gesehn?) sind jedenfalls auch hier eine Beigabe des Celtis,
der sie aus seinem Lieblingsdichter Horaz (c. I, 2, 33 s. :
csiue tu mauis, Erycina ridens, quam locus circumuolat et
Cupido* entlehnt hat; das Bild selbst aber ist gewiss antik,
d. h. von einem antiken geschnittenen Steine entnommen,
aber durch einen wenig geschickten Zeichner vergrössert und
dabei in mehrfacher Beziehung verballhornt werden. Der
antike Steinschneider hatte jedenfalls zwei Eroten dargestellt :
den einen auf dem Boden sitzend, die Leier oder allenfalls das
160 Sitzung der philos.-phüöl. Classe vom 7. März 1874.
Trigonon spielend 24), den anderen eine mit dem Onkos und
langen Haarflechten versehene Maske, die er vielleicht auf
einem Stabe emporhebt, neckisch ihm entgegenhaltend 25).
24) Ueber Darstellungen leierspielender Eroten vgl. Stephani
Compte rendu de la commission imperiale archeologique pour l'annee
1869, p. 184 s.; dazu die Mosaik ausAvenches bei Bursian Aventicum
Helvetiorum Heft V, Tafel 28.
25) Vergleiche über ähnliche Motive in der alten Kunst den
Aufsatz von 0. Jahn cUeber ein antikes Gemälde im Besitze des
Malers Ch. Ross in München (Separatabdruck aus der Kieler Monats-
schrift 1853, S. 7 ff.).
Oeffentliche Sitzung der k. Akademie der Wissen-
schaften
zur Feier des 115. Stiftungstages
am 28. März 1874.
Der Präsident der k. Akademie Herr von Döllinger
eröffnete die Sitzung mit einer Gedächtnissrede auf König
Johann von Sachsen, welche im Verlage der k. Aka-
demie im Drucke erschienen ist.
Hierauf sprach der Classensecretär von Prantl:
Die philosophisch-philologische Classe verlor im abge-
laufenen Jahre durch den Tod vier ordentliche auswärtige
Mitglieder, nemlich Joseph Franz von Allioli in Augs-
burg, Moriz Haupt in Berlin, Theodor von Karajan
in Wien, Eduard von Kau s ler in Stuttgart, und ein
correspondirendes Mitglied Johann Christoph von Held
in Baireuth.
Die der heutigen Fest-Sitzung zugemessene Zeit gestattet
nicht, die wissenschaftlichen Verdienste der Genannten in
ausführlicherem Vortrage zu würdigen ; es werden jedoch
diese Nekrologe in Bälde in den Sitzungsberichten der Aka-
demie gedruckt erscheinen.
Dieselben sind (nach der Zeitfolge des Eintrittes in
unsere Akademie) :
162 OeffentUche Sitzung vom 28, Mars 1874.
Joseph Franz töh Allioli
geboren in Sulzbach am 10. August 1793 studirte an den
Lyceen zu München und Amberg, dann an der Universität
Landshut, wo er in Folge der gekrönten Bearbeitung einer
Preisaufgabe am 21. Dec. 1816 promovirte; im gleichen
Jahre zum Priester geweiht begab er sich i. J. 1818, um
die orientalischen Sprachen zu studiren, unterstützt durch
ein reichliches Reisestipendium zunächst nach Wien und, da
die staatliche Beihilfe in liberalster Weise noch zweimal
wiederholt wurde, auch nach Rom und Paris. Im J. 1821
habilitirte er in Landshut als Docent für arabische und
aramäische Sprache und wurde i. J. 1823 zum ausserordent-
lichen und i. J. 1824 zum ordentlichen Professor der bibli-
schen Alterthümer und der orientalischen Sprachen befördert,
zu welchen Fächern er in München, wohin er i. J. 1826 mit
der Universität übersiedelte, auch noch die neutestamentiiche
Exegese übernahm. Im J. 1830 nahm ihn unsere Akademie
unter ihre Mitglieder auf. Er trat i. J. 1835 von der
Professur zurück und ging als Domcapitular nach Regens-
burg und von dort i. J. 1838 als Domprobst nach Augs-
burg; in den Jahren 1850, 1852 und 1853 finden wir ihn
als Mitglied der Kammer der Abgeordneten. Er starb in.
Augsburg am 22. Mai 1873. Seine literarische Thätigkeit
begann er mit der Veröffentlichung der genannten Preis-
schrift, nemlich „Aphorismen über den Zusammenhang der
hl. Schriften des alten und neuen Testamentes" (1818);
dann folgten: Lob der hebräischen Sprache (1821), Ein
hebräisches Sonett und eine arabische Kasside (1825), Unter-
dessen hatte er sich auch mit einem Gebiete, welches gegen
Ende des 18. Jahrhunderts hauptsächlich durch den Wiener
Professor Joh. Jahn in die Literatur der katholischen Theologie
eingeführt worden war, nemlich mit der biblischen Archäologie
näher beschäftigt, und nachdem Jahn's hierauf bezügliche
v. Prantl: Nekrolog auf Joseph Frans von Allioli. 163
Schriften, theilweise auch nach dessen Tode (1816) in mehreren
Bänden erschienen waren (1797 u. 1805 — 25), veröffentlichte
auch Allioli: Biblische Alterthümer zu Vorlesungen (1. Band:
Häusliche Alterthümer der Hebräer nebst biblischer Geo-
graphie. 1825); den gleichen Gegenstand nahm er noch
später wieder auf in seinem Handbuch der biblischen Alter-
thumskunde unter Mitwirkung von Gratz und Haneberg
(1844). Seine Vorlesungen über Einleitung in die Bücher
des alten Testamentes erschienen durch einen seiner Schüler
(Haarlander) in lithographischer Vervielfältigung (1831 f.)
und aus seiner Thätigkeit als Universitäts - Lehrer gingen
seine akademischen Reden an angehende Theologen (1830)
hervor. In den Jahren 1830—35 erschien die erste Auf-
lage seiner Uebersetzung des alten und neuen Testamentes
mit kurzen Anmerkungen (in 6 Bänden, eigentlich als 3. Auf-
lage des Braun-Feder'schen Bibelwerkes), für welche auf
Betreiben des Nuntius D'Argenteau von Papst Pius VIII die
Druckerlaubniss ertheilt worden war; da diese damals die
einzige deutsche Bibelübersetzung war, welche sich einer
päpstlichen Approbation rühmen konnte, ist es erklärlich,
dass sie von den meisten Ordinariaten empfohlen wurde
und in ihren vielen späteren Auflagen die recipirte Grund-
lage fast aller katholischen Schul- und Religions-Bücher
blieb. Im Zusammenhange mit dem Bibelwerke steht Allioli's
Karte des biblischen Schauplatzes (1842), sowie desselben
Ausführliche Anmerkungen zur hl. Schrift (1855) und Bibli-
sches Wörterbuch (1856). Ferner schrieb er: Ueber die
Risalet des Koschairi (1837 in den Denkschriften unserer
Akademie), Ueber die inneren Motive der canonischen Hören
(1847 u. 1848), Die Bronze-Thüre des Domes zu Augsburg
(1853 im Jahresbericht des hist. Vereines f. Schwaben), Die
juristische Persönlichkeit des Domcapitels (1868). Auch in
dem von der Wissenschaft etwas abgelegenen Gebiete des
Erbaulichen bethätigte er sich; dahin gehören: Leben Jesu,
164 Oeff entliche Sitzung vom 28. März 1874.
eine Evangelien-Harmonie (1840), Bild einer wahren Kloster-
frau (1861), Glückseligkeitslehre (1866 u. 1868), Nicht und
Nichts (1867), Die Klöster auch Heilanstalten für die Welt
(1868); seine Predigten erschienen 1847 und eine Neue
Folge derselben 1869.
Moriz Haupt
geboren am 27. Juli 1808 in Zittau, wo sein literarisch
gebildeter und auch schriftstellerisch thätiger Vater das Amt
eines Bürgermeisters führte (s. Gust. Freitag, Bilder aus d.
deutsch. Vergangenheit, Bd. IV, S. 325 ff.), studirte in Leipzig
von 1826 — 30 hauptsächlich unter Gotfr. Hermann's Leitung
und habilitirte dort 1837 als Privatdocent; i. J. 1838 wurde
er ausserordentlicher Professor und 1843 übertrug ihm die
Regierung den neu errichteten ordentlichen Lehrstuhl für
deutsche Sprache und Literatur. Um jene Zeit vermählte
er sich mit der Tochter Gotfr. Hermann's. Im J. 1848
wurde er Mitglied der k. sächsischen Gesellschaft der Wissen-
schaften, in welcher er nach Hermann's Tod (1850) das
Secretariat der histor.-philolog. Classe übernahm. Das Jahr
1848 aber zog ihn auch in die politische Bewegung, und
als Mitglied des deutschen Vereines nahm er in den be-
treffenden Fragen mit Entschiedenheit Stellung, wobei er auch
gegen den von der Linken bisweilen ausgeübten Terrorismus
sich aussprach. Journalistische Angriffe auf Hr. v. Beust,
welche von Haupt und Th. Mommsen ausgegangen waren,
gaben die äussere Veranlassung zur Einleitung einer Unter-
suchung, welche allerdings mit Freisprechung endigte; den-
noch wurde i. J. 1850 Haupt zusammen mit Mommsen und
Otto Jahn von der Professur entlassen, sowie schon 1849 Karl
Biedermann das gleiche Schicksal hatte erfahren müssen.
v. Prantl: Nekrolog auf Moriz Haupt. 165
Als 1853 in Berlin K. Lachmann gestorben war, musste
zweifellos Haupt als sein geeignetster Nachfolger erscheinen,
und derselbe folgte dem an ihn ergangenen Rufe. Er ver-
trat dort zunächst sowohl die classische als auch die ger-
manische Philologie; nachdem es ihm aber gelungen war,
die Berufung MüllenhofFs zu veranlassen , zog er sich von
den germanistischen Vorlesungen zurück. In der Berliner
Akademie, welcher er seit 1854 angehörte, wählte ihn (1861)
die philos. histor. Classe an Stelle Böckh's als ihren Secretär;
unsere Akademie nahm ihn i. J. 1854 in die Reihe ihrer
auswärtigen Mitglieder auf. Haupt starb unerwartet schnell
am 5. Febr. 1874, nachdem er erst am vorhergehenden
Tage seine Vorlesung wegen Unwohlseins hatte verlassen
müssen.
Haupt war, wie er selbst erzählt (Antrittsrede in der
Berliner Akademie 1854), in seiner Jugend zunächst durch
die damals emporwachsende germanistische Wissenschaft
mächtigst angeregt worden und wendete sich hernach zum
classischen Alterthume im Sinne der „kritischen Philologie"
Gottfr. Hermann's. Diesen beiderseitigen Gebieten, welche
er in seinen Entwicklungs- Jahren gepflegt hatte, blieb er
auch Zeit seines Lebens in seiner literarischen Thätigkeit
treu. Sowie er die Wechselbeziehungen zwischen deutscher
und classischer Philologie in einer Festrede der sächsischen
Gesellschaft der Wissenschaften (1848) von den Gesichts-
puncten der Grammatik, der epischen Poesie und der Mytho-
logie aus näher darlegte, so hatte er in früheren Jahren
selbst Parallel-Vorlesungen über die homerischen Gesänge und
das Nibelungenlied gehalten. Auch die spätesten Ausläufe
des Alterthumes sowie die patristische Literatur und die
Renaissance-Periode zog er in den Kreis seiner Studien, und
nicht minder wendete er dem Gebiete des Romanischen sein
Interesse zu (der Plan, die altfranzösischen Lieder des
16. Jahrh. herauszugeben, blieb allerdings unausgeführt);
[1874, 2 Phil. bist. Cl.J 12
166 OcffentUche Sitzung vom 28. März 1874.
dessgleichen war er Kenner der modernen Sprachen, selbst
der böhmischen, so dass er z. B. bei Aufdeckung der be-
kannten tschechischen Literatur-Fälschungen ein Mit-Verdienst
beanspruchen konnte. Von seinen literarischen Leistungen
gehören dem Gebiete der classischen Philologie an: Quae-
stiones Catullianae (1837, Habilitationsschrift), eine Ausgabe
der Halieutica des Ovidius zusammen mit den Cynegetica
des Gratius Faliscus und des Nemesianus (1838), Obser-
vationes criticae (1841), über das sog. Epicedion Drusi,
d. h. eine dem Ovidius oder dem Albinovanus zugeschriebene
Consolatio ad Liviam (1850 Leipziger Rectorats-Programm,
in welchem er das genannte Schriftwerk als ein Erzeugniss
der Renaissance-Zeit nachzuweisen suchte), eine Ausgabe des
Horatius (1851), sowie der Metamorphosen des Ovidius (1853,
letztere war das einzige , was er selbst zu der von ihm
und Sauppe gegründeten Weidmann'schen Classiker-Samm-
lung beitrug), De carminibus bucolicis Calpurnii et Nemesiani
(1854, Berliner Antritts-Prograinm), eine Ausgabe der Ger-
mania des Tacitus (1855), der Werke des Vergilius (1858),
sowie des Catullus zusammen mit Tibullus und Propertius
(1861). Der germanischen Philologie, betreffs deren Ge-
bietes nicht unerwähnt bleiben möge, dass Haupt auch bei
Entstehung des Planes des Grimm'schen Wörterbuches mit-
betheiligt war, gehören an: Altdeutsche Blätter (2 Bände
1835—40, zusammen mit Heinr. Hoffmann herausgegeben),
Zeitschrift f. deutsches Alterthum (seit 1841, in derselben
sind von ihm selbst veröffentlicht: Meier Helmbrecht, die
Marter der hl. Margaretha, die Warnung, Bonus, Servatius,
Pantaleon , Oswalt) , ferner die Ausgaben : Hartmann von
Aue, Erec (1839). Rudolph von Ems, der gute Gerhard
(1840), Hartmann von Aue, Lieder und Büchlein und der
arme Heinrich (1842), Konrad von Würzburg, Engelhart
(1844), der Winsbecke und die Winsbeckin (1845), Gott-
fried von Neifen (1851), Walther von der Vogelweide (1853),
v. Prantl: Nekrolog auf Moriz Haupt. 167
Des Minnesangs Frühling (1857, begonnen von Lachmann,
vollendet von Haupt), Neidhart von Reuenthal (1858), Moriz
von Craon (1871, zur Festfeier Homeyer 's), Von dem übelen
Weibe (1871); hiezu noch: Bericht über das germanische
Museum (in der „Süddeutschen Presse" 1868, 19. Aug.).
Als Mitglied der Berliner Akademie hielt er — abgesehen
von offiziellen Festreden — häufig in den Classensitzungen
Vorträge, deren Mehrzahl jedoch ungedruckt blieb1). Ausser-
dem hatte er die Aufgabe, in jedem Semester dem Lections-
Kataloge der Universität ein Programm beizugeben , bei
welcher Gelegenheit er sowohl verschiedene literärgeschicht-
liche Funde veröffentlichte als auch insbesondere zahlreiche
Einzeln-Steilen antiker Autoren kritisch besprach und hiebei
den Beweis lieferte, dass er nicht bloss, — wie es im Hin-
blicke auf seine Glassiker- Ausgaben den Anschein haben
könnte, — mit der römischen Literatur innigst vertraut
war, sondern in gleichem Umfange sich auch mit den griechi-
schen Autoren beschäftigte2). Diese den Umkreis der antiken
1) Gedruckt sind : Ueber Hugo von Trimberg's Kegistrum mul-
torum auctorum und über den althochdeutschen Leich des hl. Georg
(1854), Ueber Huschke's Erklärung einer Inschrift zu Arolsen (1855),
Ueber ein althochdeutsches Gedicht (1856), Ueber die Gedichte Culex
und Ciris (1858), Ueber die Historia Albani Martyris (1860), Sechs
Briefe Bentley's (1860), Zu Statius (1861), Ueber die Erzählungen
des Honorius (1862), Ueber eine christliche Inschrift (1865), Ueber
die Handschriften von Arborea (1870). Ungedruckt blieb auch die
Gedächtnissrede auf Jac. Grimm.
2) In diesen Programmen sind besprochen einzelne Stellen aus :
Aeschylus, Aristophanes, Athenäus, Euripides, Herodot, Homer, Kalli-
machus, Longinus, Sophokles; Ammianus Marcellinus, Catullus, Cicero,
Ennius, Fronto, Gellius, Lucilius' Aetna, Manilius, Ovidius, Plautus,
Propertius, Seneca, Vergilius ; ferner aus dem späten Alterthume der
Grammatiker Irenäus, Helladius, Anonymus de fluminibus paradisi,
Carmen de viribus herbarum, Liber monstrorum de diversis generibus,
Grunnii Corocottae porcelli testamentum, ein griechisch-lateinisches
Gesprächbuch aus dem 9. Jahrh .; sodann: Brief des Coluzzi an Pas-
12*
168 Oeffentliche Sitzung vom 28. März 1874.
Literatur umspannende Allseitigkeit tritt noch mehr in jenen
Centurien kritischer Bemerkungen und zahlreicher Conjecturen
hervor, welche er in der Zeitschrift „Hermes" veröffentlichte3).
Endlich hat er Einiges aus G. Hermann's Nachlass publicirt
und neue Auflagen Lachmann'scher Arbeiten besorgt4).
Haupt hat — mit Ausnahme der Einleitung zu Ovid's
Metamorphosen — in keinem der von ihm betretenen Einzeln-
Gebiete irgend eine zusammenfassende Darstellung versucht,
noch auch durch weittragende Forschungs-Ergebnisse für die
Mit- oder Nach- Welt Belehrung gegeben, sondern sich stets
quino, desgleichen des Grynaeus an Melanchthon, ein Brixener Frag-
ment einer Vorrede zu Ulfilas, eine Stelle aus Walther v. d. Vogel-
weide, die lyrischen Gedichte Kaiser Heinrich's VI.
3) Stellen aus: Achilles Tatius, Aelianus, Aeneas Taktikus,
Aeschylus, Aesop, Anakreon, Anthologia graeca, Apollonius Rhodius,
Archilochus, Aristides, Aristophanes, Arrianus, Athenäus, Chariton,
Comici graeci, Dinarchus, Dionysius Halikarn., Etymologicum Magnum,
Euripides, Galenus, Herodot, Hesiod, Hesychius, Hippiatrici, Homer,
Longinus, Lykurgus g. Leokr., Photius, Plato, Plutarch, Pollux, Poly-
bius, Sextus Empir., Sophokles, Stephanus Byzant., Stobäus, Theognis,
Theophrast, Thukydides, Tzetzes, Xenophon ; Anthologia latina, Apu-
lejus, Ausonius, Avianus, Boethius, Calpurnius, Capitolinus, Catullus,
Charisius, Cicero, Claudianus, Claudius Mamert., Columella, Curtius,
Ennodius, Exuperantius, Eutropius, Firmius Maternus, Florus, Gellius,
Germanicus Phän., Grammatici lat., Gromatici, Horatius, Isidorus,
Justinus, Juvenalis, Lucanus, Lucretius, Martialis, Mela, Minucius
Felix, Nonius, Ovidius, Persius, Petronius, Plautus, Plinius, Propertius,
Quintilianus, Rutilius Lupus, Seneca, Sidonius Apoll., Spartianus,
Statius, Symmachus, Tacitus, Terentius, Valerius Flaccus, Varro,
Vaticana fragm., Vellejus, Vergilius; Acta Sanctorum Combef., Ambro-
sius, Arnobius, Dio Chrysost., Gregorius Naz., Hieronymus, Tatianus,
Tertullianus ; Ermenrich vita S. Galli; Florentiner Digesten; Lob-
reden auf König Theodhad.
4) Aus Hermann's Nachlass: Ausgabe des Aeschylus (1852) und
des Bion u. Moschus (1849); Lachmann's Betrachtungen über Homers
Ilias mit Zusätzen von Haupt (3. Aufl. 1874); neue Auflagen von
Lachmann's Ausgaben des Nibelungenliedes, des Wolfram v. Eschenb.
und des Walther v. d. Vogelw.
v. Prantl: Nekrolog auf Moriz Haupt. 169
nur in Text- Ausgaben und Text-Kritik bewegt. Aber inner-
halb dieser Beschränkung auf eine Verfahrungsweise der
kritischen Philologie war er, was den Stoff betrifft, durch
eine ausgedehnteste bis in das Einzelne der Handschriften-
kunde sich erstreckende Literatur-Kenntniss und durch eine
seltene Gedächtnissgabe unterstützt, und bezüglich der for-
mellen Behandlung durch Feinheit des Gefühles, Schärfe
der Beobachtung und Umsicht der Erwägung geleitet, so
dass er sowohl die charakteristischen Eigentümlichkeiten
der Schriftsteller in Stil und Metrik als auch das Verhält-
niss des Wortschatzes, über welchen dieselben verfügen, zum
Gesammt-Reichthume der Sprache und nicht minder alle
möglichen Beziehungen auf das Sachliche eindringlich zu
erfassen verstand. Hiedurch durfte er ein berechtigtes Ge-
fühl einer gewissen Ueberlegenheit in sich tragen und es
versuchen, gleichsam als Virtuose der Kritik an den ver-
schiedenartigsten Autoren seine Kunst zu erproben, wenn
auch zuweilen die herbe Schärfe der Beurtheilung der Mei-
nungen Anderer mit einer kühnen Verwegenheit der selbst-
eigenen Text-Aenderungen gleichen Schritt hielt. Als ein
kaum zu übertreffendes Vorbild im Gebiete der lateinischen
und germanischen Literatur galt ihm Lachmann, und was
dieser irgend geäussert oder behauptet hatte, fand an Haupt
den wärmsten, ja zuweilen leidenschaftlichen Vertheidiger
( — Veranlassung zur Entstehung der Zeitschrift „Ger-
mania" — ). Eine entschiedenste Festigkeit des Auftretens
und ein gewisses aristokratisches Selbstgefühl verliehen allen
Leistungen Haupt's das Gepräge einer wuchtigen Persön-
lichkeit , und Respect oder selbst Furcht vor ihm hegten
sicher auch diejenigen, welche nicht in Allem seiner Meinung
waren. (Ueber Haupt äusserten sich : Gust. Freytag in ,,Im
neuen Reiche", 1874, S. 347 ff. und Scherer in „Wiener
deutsche Zeitung", 1874, Nr. 765 u. 768.)
170 Oeff entliehe Sitzung vom 28. März 1874.
Georg Theodor Ritter von Karajan.
Die Familie Karajan stammt aus Karajanis bei Koschani
in Macedonien, von wo der Vater unseres Gelehrten vor den
Verfolgungen, welche die Türken verübten, nach Triest floh;
eine Stelle bei einem Wiener Kaufmanne, welcher die Leip-
ziger Messen beschickte, gab ihm Gelegenheit, in Chemnitz
eine grosse Spinnerei einzurichten, und i. J, 1792 in den
Reichsadel erhoben kehrte er nach Wien zurück. Dort wurde
Georg Theodor am 22. Januar 1810 geboren. Dieser studirte
am Gymnasium und an der philosophischen Fakultät zu
Wien und fand hierauf (1829) eine Verwendung im Hof-
kriegsrathe sowie (1832) im Archive des Finanzministeriums.
Seit d. J. 1832 aber nahm er durch Privatstudium den
unterbrochenen Faden wissenschaftlicher Fortbildung wieder
auf, wobei er sich hauptsächlich mit dem Altdeutschen be-
schäftigte, in welches er durch Carl August Hahn eingefühlt
wurde. Nachdem er hierauf die schriftstellerisch gelehrte
Laufbahn, welcher er Zeit seines Lebens treu blieb, bereits
betreten hatte, wurde er (1841) als Scriptor an der Hof-
bibliothek angestellt. Im J. 1848 sendete ihn das Vertrauen
seiner Mitbürger in das Parlament, wo er sich an das rechte
Centrum, d. h. die sog. Partei Gagern anschloss. Als ihm
in Wien die Professur der deutschen Sprache angetragen
wurde, lehnte er zunächst ab und empfahl für diesen Lehr-
stuhl Wackernagel, und erst als die Verhandlungen mit diesem
im letzten Augenblicke scheiterten, nahm Karajan (Jan. 1850)
die Stelle an, wobei er zugleich von der Hofbibliothek zurück-
trat; jedoch bald musste er erfahren, dass confessionelle
Engherzigkeit ihm wegen seines griechisch-nichtunirten Be-
kenntnisses den Zutritt zu den akademischen Ehrenämtern
verwehrte, und er liess sich daher (Sept. 1850) von der
Professur entheben. Dafür trat er wieder an die Hof-
bibliothek ein, wo er (1852) erster Scriptor und später (1857)
v. Prantl: Nekrolog auf Gg. Th. Bitter von Karajan. 171
erster Custos wurde, in welcher Stellung er durch seine
Zuvorkommenheit sich die fremden Gelehrten zu wärmsten
Danke verpflichtete. Die historisch-philosophische Classe
der i. J. 1847 gegründeten Akademie zu Wien zählte ihn
seit 1848 zu ihren hervorragendsten Mitgliedern und über-
trug ihm bald den Vorsitz; i. J. 1851 wurde er Vicepräsident
der Akademie und von 1866 bis Aug. 1869 führte er das
Präsidium derselben. Sowie ihn schon früher die philo-
sophische Facultät zu Kiel (auf Müllenhofi's Antrag) zum
Ehren-Doctor creirt hatte, so nahm ihn auch die Berliner
Akademie (auf J. Grimm's Antrag) unter ihre correspon-
direnden Mitglieder auf, und unsere Akademie wählte ihn
(1859) als auswärtiges Mitglied. Im April 1867 trat er in
das Herrenhaus ein, wo er sich der Verfassungs-Partei an-
schloss. Er starb in Wien am 28. April 1873.
Karajan , ein Mann von schlichtem Wesen, tadellosem
unabhängigen Charakter und liebenswürdiger Bescheidenheit,
war eine Zierde der österreichischen Gelehrtenwelt, welche
mit Verehrung sich um ihn schaarte. Seine äusserst gün-
stigen Vermögens-Verhältnisse gestatteten ihm die Befriedig-
ung der edlen Leidenschaft, eine reiche Bibliothek und son-
stige historische Sammlungen anzulegen (er liess z. B. zur
Zeit der baulichen Veränderungen Wien's noch Zeichnungen
der zum Abbruche bestimmten Gebäude anfertigen), sowie
im geselligen Verkehre wissenschaftliches Streben zu befördern.
Dass er im Wiener Alterthums-Vereine den Vorsitz führte,
war selbstverständlich ; eine „historische Dienstags-Gesellschaft"
verbreitete unter seiner Leitung den Sinn für Detail-Studien
der österreichischen Geschichte, regelmässiger Wochen-Ver-
kehr führte ihn mit Ferd. Wolf, Münch-Bellinghausen und
Lenau zusammen. Sowie er bereits vor der Gründung der
kaiserlichen Akademie in einer gedrückteren Zeit das Band
der Wissenschaft, welches alle deutschen Männer umschlingt,
in seinen heimathlichen Kreisen festgehalten und gekräftigt
172 Oeff entliche Sitzung vom 28. März 1874.
hatte, so blieb er stets auch ausserhalb Oesterreichs durch
literarische Beziehungen oder freundschaftliche Bande mit
hervorragendsten Männern verknüpft, z. B. mit Böhmer,
Lachmann, Otto Jahn, Uhland, Jac. Grimm, Schindler, Haupt,
Wattenbach, Dümmler u. A.
Seine literarischen Leistungen sind nach ihrer Zeit-
folge: Beiträge zur Geschichte der landesfürstlichen Münzen
im Mittelalter (1838). Von den siben Slafären (1839).
Frühlingsgabe für Freunde älterer Literatur (1839, 2. Aufl.
unter d. Titel „D. Schatzgräber" 1842). Kritische u. histor.
Anmerkungen zur Lachmann'schen Ausgabe von Ulr. v. Lichten-
stein's Frauenlob (1841). Michael Behaim's Buch von den
Wienern (1843). Seifried Helbling (in Haupt's Zeitschrift
1844). Deutsche Sprachdenkmale des 12. Jahrh. (1846).
Zehn Gedichte zur Geschichte Oesterreichs u. Ungarns (1849).
Wolfgang Schmölzl's Lobspruch der Stadt Wien (1849).
Mittelhochdeutsche Grammatik. 1. Theil (1850). Zur Ge-
schichte des Concils von Lyon (1850). Heyrenbach's An-
merkungen über die Tabula Peutingeriana (1852). Ver-
brüderungsbuch des Stiftes St. Peter in Salzburg (1852).
Ueber zwei Bruchstücke eines deutschen Gedichtes aus d.
13. Jahrh. (1854). üeber Heinrich den Teichner (1854 f.).
Joh. Tichtel's Tagebuch v. 1477—95 (neben anderem der-
gleichen im 1. Baude der Fontes rerum austriacarum. 1855.).
Festrede bei d. feierl. Uebernahme des Univ.-Gebäudes durch
die Akademie (1857). Zwei bisher unbekannte deutsche
Sprachdenkmale aus heidnischer Zeit (ein althochdeutscher
Hundesegen. 1858). Kaiser Maximilians I. geheimes Jagd-
buch (1858). Maria Theresia u. Graf Sylva Tarouca (Fest-
rede 1859). Kleinere Quellen z. Gesch. Oesterreichs (1859).
Bericht über die Thätigkeit d. histor. Commission (1860 u.
1862, nemlich über zwei Gedichte Walther's v. d. Vogelweide
und über eine Handschrift der Reimchronik Ottacker's, die
beabsichtigte Herausgabe der letzteren blieb unausgeführt).
v. Prantl: Nekrolog auf Gg. Th. Bitter von Karajan. 173
Haydn in London (1861). Aus Metastasio's Hofleben (1861).
Die alte Kaiserburg in Wien vor d. J. 1500 (1863). Ueber
den Leumund der Oesterreicher, Böhmen und Ungarn in d.
heimischen Quellen d. Mittelalters (Festrede 1863). Maria
Theresia u. Joseph II. während d. Mitregentschaft (Festrede
1865). Abraham a Sancta Clara (1867). Kaiser Leopold I.
u. Peter Lambeck (1868). Endlich auch war Karajan thätig
bei der Herstellung des Handschriften-Kataloges der Wiener
Bibliothek (seit 1864 bis zum 6. Bande).
In dieser reichen schriftstellerischen Thätigkeit macht
sich vor Allem der Grundzug bemerklich, dass Karajan nach
innerster Neigung vom Dufte des heimathlichen Alterthumes
sich angezogen fühlte, und in der Veröffentlichung zahlreicher
unbekannter Quellen liegt ein bleibendes Verdienst, welches
er sich um die historische Wissenschaft erwarb. Hierin
ragen die Schrift über den Leumund der Oesterreicher
und die Herausgabe des Salzburger Verbrüderungsbuches
als köstliche Fundgruben weithvollster linguistischer und
geschichtlicher Schätze ganz besonders hervor. Aber auch
die Methode, in welcher er solchen Stoff publicirte und
bearbeitete, verdient hohe Anerkennung. Mit der liebevollsten
Hingabe an den Gegenstand verband sich die strengste philo-
logische Genauigkeit; Sauberkeit und Ordnung sind eine
wohlthuende Zierde all seiner Arbeiten. Handschriftenkunde
und alle Forderungen, welche sich an dieselbe anschliessen,
büßten eine Grundlage bei Herausgabe der Inedita, und
in der Vorrede zu Heinrich dem Teichner sprach er sich
auch theoretisch über die Art und Weise aus, in welcher
ältere Sprachschätze verwerthet werden sollen. Die den
Ausgaben beigefügten Erklärungen beruhen auf einer Fülle
topographischer und genealogischer Kenntnisse, und in den
trefflichen Einleitungen hat Karajan fürsorglich einer jeden
weiteren Benützung der neu erschlossenen Schätze nach allen
möglichen Seiten vorgearbeitet. Sein Heinrich der Teichner
174 Oeff entliehe Sitzung vom 28. März 1874.
und grösstentheils auch sein Abraham a St. Clara sind
wahrhaft Vorbilder für die exegetische und literar-geschicht-
liche Behandlung derartiger Literatur-Erscheinungen. (Ueber
Knrajan äusserten sich: Heinzel in Wiener Abendpost, 1873,
Nr. 128; Dümmler in Berliner National-Zeitung, 1873, Nr.
211; A. Mayer in Blätter d. Vereins f. Landeskunde v.
Niederösterreich, 1873, S. 88 ff.)
Eduard yoü Kausler
geboren am 20. August 1801 in Winnenden besuchte als
Studirender der Rechtswissenschaft die Universitäten Tübingen,
Berlin und Göttingen; in Berlin aber wurde er zugleich
durch Valentin Schmidt in das Studium der mittelalterlichen
Poesie eingeführt. Im J. 1826 fand er eine Anstellung am
k. württembergischen Haus- und Staats-Archive in Stuttgart
zunächst als Assistent und rückte dort zum Archivare, (1840)
zum Archivrathe und (1866) zum Vicedirector vor. Bei
Gründung des rühmlichst bekannten literarischen Vereines
zu Stuttgart (1839) übte er eine hervorragende Mitwirkung
aus. Schon i. J. 1829 hatte Kausler zu wissenschaftlichen
Zwecken Paris besucht und mit einem zweiten dortigen Auf-
enthalte (1864) verband er eine Reise nach London; übrigens
pflegte er in jedem Herbste durch ausgedehnte Gebirgsreisen
Erholung zu suchen (er gehörte z. B. zu den damals noch
wenigen Besteigern des Monte Rosa). Seine literarischen
Verdienste fanden äussere Anerkennung, indem ihn die Ge-
sellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, das archäo-
logische Institut zu Lüttich und die Maatschapij der neder-
landsche Letterkunde in Leyden zu ihren Mitgliedern er-
nannten; unsere Akademie wählte ihn i. J. 1867 als aus-
wärtiges Mitglied; auch wurden ihm der württembergische
Kronorden, der bayerische Michaelsorden und der preussische
v. I'rantl: Nekrolog auf Eduard von Kausler. 175
rothe Adlerorden III. Cl. verliehen. Er starb nach längerem
Siechthume in Stuttgart am 27. Aug. 1873.
Kausler veröffentlichte : Les livres des assises et des
usages du reaume de Jerusalem. 1. und einziger Band 1839
(die Vollendung unterblieb, da gleichzeitig zwei französische
Concurrenz-Unternehmen — von Foucher und von Beugnot
— erschienen). Geschichte der Kreuzzüge und des König-
reiches Jerusalem , aus dem Lateinischen des Erzbischofes
Wilhelm v. Tyrus. 1840 (gemeinsam mit seinem Bruder be-
arbeitet, mit kurzer biographischer Einleitung, geographisch-
historischen Anmerkungen und 2 Karten). Denkmäler alt-
niederländischer Sprache und Literatur. 1. Bd. 1840, 2. Bd.
1844, 3 Bd. 1866. Cancioneiro geral, altportugiesische Lieder-
sammlung des Edlen Garcia de Resende (in der ,, Bibliothek
d. lit. Vereines in Stuttgart" 1. Bd. 1846, 2. Bd. 1848, 3. Bd.
1852, eine im Auftrage des Königs von Portugal veranstaltete
neue Ausgabe des fast gänzlich verschwundenen alten Druck-
Exemplares, mit literär-geschichtlicher Einleitung und den
nöthigen Text- Verbesserungen). Wirtem bergisches Urkunden-
buch. 1. Bd. 1849, 2. Bd. 1858, 3. Bd. 1871. Burkhart
Stickeis Tagebuch von 1566 — 98 (1868).
Durch Herausgabe des genannten Urkundenbuches, durch
welches ein kaum zu bemessender Reich thum geschichtlichen
und juristischen Materiales erschlossen wurde, erprobte
Kausler nach allen Seiten seine bereits bekannte Gründlich-
keit und Solidität wissenschaftlichen Arbeitens; die sorg-
fältigste und besonnenste Kritik in Wiedergabe der Texte
verbindet sich mit staunenswerthem Umfange der Forschung
betreffs der Ortsnamen, der Sigille u. dgl., und sowie hie-
durch die in reizender Kürze gefassten Anmerkungen eine
Fülle des kostbarsten Inhaltes erhielten, so sind die Indices
mit mustergiltiger Vortrefflichkeit gearbeitet, so dass keine
Anforderung, welche an ein Urkunden-Werk gestellt werden
kann, unerfüllt geblieben ist. Während aber aus solchen
176 Ueffentliche Sitzung vom 28. März 1874.
Gründen die historische Classe es als beneidenswerthe Be-
vorzugung unserer Classe betrachten könnte, dass Kausler
zu unseren Mitgliedern zählte, hatte derselbe auch in philo-
logischer Forschung die erheblichsten Leistungen aufzuweisen.
Dieselben erhalten nicht etwa bloss durch den äusseren Um-
stand einen höheren Werth, dass die niederländische und
die portugiesische Literatur überhaupt in Deutschland zu
den wenig vertretenen Gebieten gehören, sondern auch hier
ist es das umfassende Wissen, welches in Verbindung mit
der gründlichsten Methode den Arbeiten Kausler's den Stempel
des bleibendsten Werthes aufprägt. Sowie die Einleitung
zu Resende's Cancioneiro hie von Zeugniss gibt, so ist die
Herausgabe und Erklärung der niederländischen Denkmäler
welche aus der in Stuttgart befindlichen Komburger Hand-
schrift geschöpft sind, ein rühm würdiges Erzeugniss deutscher
Gelehrsamkeit. In grammatischer, lexicalischer, kritischer,
exegetischer und literar-geschichtlicher Beziehung sind so-
wohl die Reimchronik von Flandern als auch die übrigen
interessanten Stücke (z. B. der Roman von der Rose, die
niederländische Bearbeitung der pseudo-aristotelischen Secreta
Secretorum und des weisen Cata u. dgl.) in erschöpfender
Weise behandelt, indem von den haarspaltenden Fragen an,
welche in eine entlegene Handschriften-Literatur sich er-
strecken, hindurch durch die Untersuchungen über die
Autoren und über die zur steten Vergleich ung beigezogenen
Quellen jener Denkmäler bis hinein in die schätzenswerthe
Fassung der Register sich überall gleichmässig die Tüchtig-
keit des gediegenen und kenntnissreichen Forschers bewährt.
Mögen die Erzeugnisse dieser geräuschlosen gründlichen
Arbeitskraft Vielen zur erfrischenden Belehrung und zum
anregenden Muster dienen.
v. Prantl: Nekrolog auf Johann Christoph von Held. 177
Johann Christoph von Held
geboren am 21. Deceniber 1791 in Nürnberg als Sohn eines
reichsstädtischen Beamten studirte am Gymnasium seiner
Vaterstadt, dann 1809—13 an den Universitäten Heidelberg,
Erlangen und Leipzig, hielt sich hierauf einige Zeit in München
auf, um die Staatsbibliothek zu benützen, promovirte in
Erlangen, und wurde 1815 am Progymnasium zu Bayreuth
angestellt; einen an ihn ergangenen Ruf nach Frankfurt
a. M. schlug er aus und rückte in Bayreuth allmählig zum
Professor der Oberclasse vor, wobei er 1835 auch mit Führ-
ung des Rectorates betraut wurde. Mitglied des Kreis-
scholarchates war er schon 1832 geworden, und 1860 er-
hielt er den Titel eines Schulrathes, sowie 1864 (bei der
200jährigen Jubelfeier des Gymnasiums) den Civil- Verdienst-
Orden der bayerischen Krone. Unsere Akademie wählte ihn
i. J. 1854 als correspondirendes Mitglied. Im J. 1867 trat
er in den erbetenen Ruhestand und starb in Bayreuth am
21. März 1873. Er veröffentlichte : Annotationum criticarum
in Plutarchi vitas parallelas specimen und Annotationes in
Plutarchi vitam Alexandri Magni (in den Actis philologorum
Monacens. Bd. II, Fase. 1. u. 2). Caesaris Comment. de
bello civili mit Anmerkungen. (1822, 2. Aufl. 1827, 3. Aufl.
1836). Caesaris Comment. de bello gallico (1825, spätere
Auflagen 1832, 1839, 1851). Observationes in Plinii Pane-
gyricum (1824). Briefe aus Paris (1831). Prolegomena in
Plutarchi vitam Timoleontis (3 Theile 1832—18^7). Plu-
tarchi vitae Aemilii Pauli et Timoleontis (1831). Piatonis
Ciito, Apologia, Alcib. I, Laches (1838 — 1846). Lexicalische
Uebungen zu Cicero d. offic. (1858). Ueber den Chor in
der Elektra des Sophokles (1861). Sowie er durch seine
weit verbreiteten Ausgaben Cäsars und durch die Bearbeitung
Plutarch's sich als Philologe einen geachteten Namen er-
warb, so hat er als langjähriger Lehrer und trefflicher
178 Oeffentliche Sitzung vom 28. März 1874.
Rector in Verbreitung gründlicher Bildung die gedeihlichste
Wirksamkeit ausgeübt, worüber ihm Nägelsbach in der
Widmung seiner Stilistik ein ebenso schönes als ehrendes
Denkmal setzte. Zwei Gymnasial-Programme Held's (Brief-
wechsel zwischen dem Vater eines Schülers und dem Rector.
1851 u. 1855) geben Zeugniss von hoher pädagogischer Ein-
sicht und liebenswürdiger Milde; auch die von ihm ver-
öffentlichten Schulreden (1852 u. 1866), in deren zweiter
Sammlung er gelegentlich dem Freundschafts- Verhältnisse,
in welchem er mit Jean Paul stand, einen warmen Aus-
druck gab, reihen sich dem Besten an, was in diesem Zweige
geleistet wurde.
v. Giesebrecht : Nekrolog auf Friedrich von Räumer. 179
Der Classensecretär von Giesebrecht sprach:
Die historische Classe verlor im verflosseneu Jahre durch
den Tod drei ihrer auswärtigen Mitglieder, nämlich Friedr.
v. Räumer in Berlin , Charles Purton Cooper in
London, Christoph Friedrich v. Stalin in Stuttgart
(unter diesen die beiden Senioren der Classe, da Raumer
ihr seitdem Jahre 1830 und Cooper seit 1834 angehörte) und
ein correspondirendes Mitglied Franz Xaver Remling in
Speier. Die Nekrologe werden in den Sitzungsberichten ge-
druckt erscheinen.
Dieselben sind:
Der Name Friedrichs von Raumer ist unter denen
der deutschen Geschichtsschreiber unfraglich einer der popu-
lärsten, und ihm ist dauernd eine Stelle in den Annalen der
deutschen Wissenschaft gesichert, wenn auch die Zeitström-
ungen, auf denen seine Popularität beruhte, vorübergegangen
sein werden. Denn kein Forscher ersten Ranges, aber ein
Mann der vielseitigsten Interessen und der mannigfachsten
Kenntnisse, kein Gelehrter nach der Regel, aber ein Mann
politischer Bildung und weltläufiger Art hat er durch seine
ungemein reiche literarische Thätigkeit, die zwei Menschen-
alter umfasst , viel dazu beigetragen , dass die deutsche
Geschichtsschreibung die steifen schulmeisterlichen Formen
früherer Zeiten abstreifte und sich jene literarischen Vor-
züge aneignete, durch welche die französischen und englischen
Geschichtswerke einen tiefgreifenden Einfluss auf die all-
gemeine Bildung längst gewonnen hatten.
180 Oeff entliche Sitzung vom 28. März 1874.
Selten ist ein Gelehrter bei seinen Lebzeiten von Hoch
und Niedrig so sehr erhoben und zugleich so tief herab-
gesetzt worden, und noch seltener hat ein Gelehrter sich
durch Lob und Tadel so wenig aus seinem Gleichmuth
bringen lassen , wie es bei Räumer der Fall war. Wie
berechtigt die Kritik gegen ihn sein mochte — sie hatte
leichte Arbeit, da er seine Schwächen wenig verhehlte, —
er war dennoch ein ausserordentlicher Mann; nicht allein
wegen seiner ungewöhnlichen Lebensdauer, seiner grossen
literarischen Fruchtbarkeit, wegen seiner Vielseitigkeit als
Schriftsteller — denn es gibt wenige Gebiete menschlichen
Wissens, auf denen er sich nicht versucht hätte, und auch
als verschämter Novellendichter ist er zu nennen — auch
nicht allein desshalb, weil er selbst noch seine nachgelassenen
Werke herausgab, sondern vielmehr noch wegen seiner bei-
spiellosen Empfänglichkeit für alle geistigen Eindrücke, der
Leichtigkeit sie zu verarbeiten und der unerschöpflichen Lust
an der Mittheilung der gewonnenen Resultate. Es war ihm
das erste Bedürfniss immer zu lernen und immer zu lehren ;
bis in das höchste Alter hinein bewahrte er eine Leichtigkeit
alles Neue aufzunehmen , die sonst nur der Jugend eigen
ist, und, was bei einer solchen Natur besonders hoch zu
schätzen, er Hess sich nie durch die Neuheit der Erschein-
ungen zur Ueberschätzuug derselben fortreissen; er wusste
das Bedeutende vom Unbedeutenden, das Bleibende vom
Nichtigen mit sicherem Tact zu unterscheiden. Auch für
den persönlichen Werth von Zeitgenossen, selbst wenn sie
ihm hindernd in den Weg traten , behielt er immer den
richtigen Massstab.
Am 14. Mai 1781 zu Wörlitz bei Dessau geboren, kam
Raumer als ein zwölfjähriger Knabe nach Berlin, und seit-
dem wurde die preussische Königstadt seine eigentliche Hei-
math. Ob er nachher zu Universitätsstudien Halle und
Göttingen besucht, ob er als Staatsbeamter an verschiedenen
v. Giesebrecht: Nekrolog auf Friedrich von Räumer. 181
Orten der Monarchie sich aufgehalten, ob er auf seinen Reisen
fast ganz Europa durchwandert, den Boden Asiens berührt
und selbst den Ocean durchmessen hat, er ist stets wieder
nach Berlin zurückgekehrt ; hier empfing seine so eindrucks-
fähige Natur ihre stärksten Impulse, und hier fand sein
geschäftiger Geist den Boden zu der manigfachsten Wirk-
samkeit. Raumers ganzes Leben hängt mit dem Leben
Berlins in diesem Jahrhunderte und zugleich mit allen Ent-
wicklungen des preussischen Staatslebens, die von hier aus-
gingen, auf das Innigste zusammen.
Friedrich von Raumer erhielt seine erste gelehrte Bildung
auf dem Joachimsthalischen Gymnasium in Berlin, welches
damals unter dem trefflichen Meierotto eines grossen und
wohlverdienten Rufs sich erfreute. Ich habe viele Schüler
Meierottos gekannt — zu ihnen zählte mein eigener Vater,
der wenig später unter ihm seine Studien machte und in
inniger Freundschaft mit Friedrichs jüngerem Bruder Karl
verbunden war, — und immer ist mir auffallend gewesen,
wie sie für die Lebenszeit bei der Beschäftigung mit den
klassischen Autoren verharrten, zugleich aber sich in stete
Berührung mit der allgemeinen Literatur der Gegenwart zu
setzen wussten. So war es auch bei Friedrich von Raumer;
bis an sein Ende las er mit immer neuer Lust die griechi-
schen und lateinischen Schriftsteller , und nächst Johannes
von Müller und Schiller haben die Historiker des Alterthums
vorzugsweise auf seine Darstellungsweise eingewirkt.
Der junge Raumer stand zu mehreren hochgestellten
Beamten in Berlin in verwandtschaftlichen Beziehungen : dies
veranlasste wohl seinen Entschluss sich dem juristischen
Studium zuzuwenden, um dann in den preussischen Staats-
dienst zu treten. Ohne Mühe eignete er sich die erforder-
lichen Kenntnisse an und zeigte sich in verschiedenen Stell-
ungen als einen so gewandten und einsichtigen Beamten,
dass ihn Hardenberg als er im Jahre 1810 die Leitung der
[1874, 2. Phil. hist. CL] 13
182 Oeff entliehe Sitzung vom 28. März 1874.
preussischen Geschäfte wieder übernahm, in seine unmittel-
bare Nahe zog und selbst in sein Haus aufnahm. Kaum
dreissig Jahre alt, war Raumer in die Mitte der Staats-
regierung versetzt; an den grossen Reorganisationsarbeiten
jener Zeit nahm er lebhaften Antheil; sein Einfluss auf
Hardenberg schien so gross, dass man ihn wohl den kleinen
Staatskanzler nannte. Eine beneidenswerthe Stellung für
einen jungen Staatsbeamten, und sie wurde ihm hinreichend
beneidet. Dennoch wurde sie nur zu bald ihm selbst lästig,
da sie ihn hinderte frei seinem Genius zu folgen, der ihn
bereits zu den historischen Studien und besonders zu der
Geschichte der Hohenstaufen gezogen hatte. Er erbat sich
schon nach Jahresfrist die Professur der Staatswissenschaft
in Breslau und erhielt sie , da er allen Vorstellungen , in
seinen bisherigen Verhältnissen zu verharren, hartnäckigen
Widerstand entgegensetzte.
Noch einmal ist Raumer später, und dann nicht durch
königliche Ernennung, sondern durch die Volksgunst zu einer
unmittelbar politischen Thätigkeit berufen worden. Er war
bekanntlich Mitglied der deutschen Nationalversammlung im
Jahre 1848 und übernahm als solcher eine diplomatische
Mission nach Paris ; auch Mitglied der ersten, damals auf
Wahl beruhenden preussischen Kammer ist er in der nächst-
folgenden Zeit gewesen. Von dieser seiner späteren poli-
tischen Thätigkeit sagt er selbst: ,,Ich habe durch sie viel
gelernt, aber Keinen bekehrt und Nichts erwirkt"; und nicht
viel anders, als eine Lehrzeit, hat er später auch die Jahre
seiner Jugend betrachtet, welche er als Verwaltungsbeamter
zugebracht hatte. Unfraglich sind es für ihn sehr wichtige
Lehrjahre gewesen.
Seit Raum er die Professur erlangt hatte, fühlte er sich
in seinem eigentlichen Lebensberuf. Er lebte, lernend und
lehrend, in den weiten Gebieten der Kunst und Wissenschaft
und weilte am liebsten mit seinen Studien, in seinen literarischen
v. Giesebrecht: Nekrolog auf Friedrich von Baumer. 183
Arbeiten, in seinen Vorlesungen bei den grossen Gestalten
der Vergangenheit, ohne sich dabei irgend eine beachtens-
werthe Erscheinung der Gegenwart entgehen zu lassen.
Schon im Jahre 1819 wurde er an die Berliner Universität
versetzt, und besonders war es ihm erwünscht, dass er sich
hier vorzugsweise historischen Vorlesungen zuwenden konnte.
Hier kam auch seine Geschichte der Hohenstaufen zum Ab-
schluss; sie erschien in den Jahren 1823 — 1825, nachdem
sie ihn fast zwei Decennien beschäftigt hatte.
Dieses Werk hat Raumers Namen gemacht und wird ihn
auch dauernd erhalten. Das überschwängliche Lob und der
bissige Tadel, die zuerst laut wurden, sind verstummt ; der Reiz
der Neuheit, den es Anfangs sowohl durch den Stoff wie durch
die Behandlung hatte, ist längst geschwunden; aber das Buch
wird noch heute als eine der würdigsten Darstellungen
deutscher Geschichte mit Recht genannt und wirkt belehrend
und erwärmend auf einen weiten Leserkreis. Es ist durch
die fortgeschrittene Forschung Vieles berichtigt worden, die
einzelnen Theile der staufenschen Geschichte sind genauer
und meines Erachtens auch mit grösserer Anschaulichkeit
und Wärme dargestellt worden, doch hat jene Epoche, wo
die grössten welthistorischen Entscheidungen mit den Ge-
schicken eines edlen deutschen Geschlechts in der eigen-
thümlichsten Weise verbunden waren, noch keine Gesammt-
darstellung gefunden, welche der Raumers zur Seite gestellt
werden könnte. Man wird viel vermissen : Sicherheit in der
Quellenkritik, Genauigkeit der Details, Schärfe der Characte-
ristik; aber es ist ein Reichthum der Composition, eine Klar-
heit und Harmonie der Darstellung, ein Masshalten des Ur-
theils in dem Werke, welches ihm einen Anspruch auf
Classicität verleiht.
Der Stoff der Hohenstaufen war Raumer, wie er selbst
sagte, gleichsam durch Inspiration zugekommen, und dieser
Stoff hat ihn dann wie mit magischer Gewalt gefesselt. So
13*
184 Oeffentliche Sitzung vom 28. März 1874.
viel später Raumer noch geschrieben hat, von keinem andern
Gegenstande, den er behandelt. Hesse sich Gleiches sagen.
Reichlich hat er dafür gesorgt, dass sein Name dem Publicum
nie aus dem Gedächtniss schwand, und er hat, so lange er
schrieb, viele und dankbare Leser gefunden, aber er hat
kein Werk mehr geschaffen, welches den Hohenstaufen ver-
glichen werden könnte und seinen Nachruhm zu steigern
vermochte. Zu gleich andauernden Studien konnte er sich
nie wieder entschliessen. Es begann sich in ihm, trotz der
vorgerückteren Jahre die Reiselust mächtig zu regen und
längere Zeit hindurch stehen seine Bücher und seine Reisen
in gegenseitiger Verbindung: er reiste entweder, weil er
dies oder jenes Buch schrieb, oder er schrieb ein Buch,
weil er diese oder jene Reise gemacht hatte.
Schon in den Hohenstaufen war eine gewisse Scheu
vor Detailforschung hervorgetreten und dem Verfasser vor-
gehalten worden ; sie zeigt sich noch deutlicher in den
späteren Arbeiten, und Raumer selbst hat den Mangel nicht
abgeläugnet, aber mit seiner Natur entschuldigt. „Diese Art
der Geschichte existirt für mich nicht", sagt er einmal,
„also bleibe ich davon und überlasse Andern Tadel, so wie
Verdienst", und dann an einer andern Stelle: „Es bewährt
sich auch bei mir das alte Sprüchwort: man kann seine
Natur nicht austreiben. Ja, ich habe dies nicht einmal ver-
sucht, weil ich mich in der Mannigfaltigkeit des Beobachteten,
Erlernten, Erlebten sehr wohl befand." „Warum treibe ich
Geschichte?" ruft er aus. „Weil ich mich an den Helden
erheben , durch sie begeistern , an Gefühl und Gedanken
reicher, vielseitiger, tiefsinniger werden und dann, wenn ich
sie erst recht erkannt habe, mit höchster Theilnahme des
Geistes und Herzens darstellen will." Gewiss eine sehr an-
ziehende Art Geschichte zu treiben ; aber fraglich bleibt nur,
ob es mehr darauf ankomme, dass die Wissenschaft gefördert
werde, oder dass der Gelehrte sich angeregt fühle. Und
v. Giesebrecht: Nekrolog auf Friedrich von Baumer. 185
eine zweite Frage ist die, ob nicht die Durchsichtigkeit und
Wärme jeder historischen Darstellung in einem bestimmten
Verhältniss zu der Gründlichkeit der Specialstudien stehe.
Man könnte geneigt sein zu glauben, dass Raumer, der durch
eine seltene Vereinigung von Talent und Arbeitskraft, Welt-
erfahrung und Gelehrsamkeit, Verstandesschärfe und Ge-
schmackbildung zu einem der ersten Geschichtsschreiber
unserer Nation gleichsam geschaffen schien, nur desshalb so oft
unter dem Maasse blieb, was an ihn zu legen war, weil er
die Geschichte mehr um seinetwillen als um ihrer selbst
willen trieb.
Wohl selten hat ein Gelehrter eine längere Wirksamkeit
auf dem Katheder gehabt, als Raumer. Obwohl er 1859
von der Verpflichtung zu Vorlesungen an der Universität
entbunden wurde, bestieg er dennoch in längeren oder kürzeren
Zwischenräumen noch öfters den Lehrstuhl bis z. J. 1869,
bis zu seinem achtundachtigsten Jahre. Die Wirkung auf
die Studirenden seines Fachs war zu der Zeit, als ich in
Berlin studirte, nur gering und ist auch wohl nie eine be-
deutende gewesen; man hat nie von einer Raumer'schen
Schule gehört. Raumer war ein Gegner einer scharfein-
schneidenden Kritik, jedes abgeschlossenen Systems, eine
durchaus eclectische Natur, wie sie Studirenden, die in einer
bestimmten Wissenschaft eine feste Richtung zu gewinnen
suchen, wenig zu entsprechen pflegt. Dagegen musste ein
Mann seiner Celebrität, seiner Kenntnisse und vielseitigen
Bildung eine nicht geringe Anziehungskraft haben für Hörer,
die in historischen Vorträgen vornehmlich eine Förderung
ihrer allgemeinen Bildung suchten; er würde solche ohne
Zweifel noch mehr gefesselt haben, wenn seine Rednergabe
seiner Mittheilsamkeit gleich gekommen wäre.
Der berühmte Geschichtsschreiber hat auch erlauchten
Fürsten Vorträge gehalten. Schon in Breslau hatte er den
damaligen Kronprinzen, den späteren König Friedrich Wil*
186 Oeff entliche Sitzung vom 28. März 1874.
heim IV., unterrichtet; als die Regierung desselben dann eine
nach Raumers Meinung verderbliche Richtung nahm, hielt
er es nicht für unpassend, dieser seiner Meinung im Angesicht
des Königs öffentlichen Ausdruck zu geben. So trübte sich
das Verhältniss zwischen Beiden. Dagegen scheint Raumer
stets in freundlichen Beziehungen zu unserm hochseligen König
Maximilian IL geblieben zu sein. Im Winter 1830 auf 1831
hatte er dem Kronprinzen Bayerns in Berlin besondere Vor-
lesungen über die neue Geschichte gehalten ; er schreibt über
den Sohn an den königlichen Vater: „Der strengsten Wahr-
heit gemäss muss ich bezeugen, dass seine Theilnahme,
Aufmerksamkeit und Gesinnung mir des höchsten Lobes
werth erscheinen und er sich in dieser Beziehung nicht blos
vor manchen Prinzen, sondern selbst vor sehr vielen Jüng-
lingen geringeren Standes auszeichnet." Noch sechszehn
Jahre später verlangte der Kronprinz von seinem alten Lehrer
Erläuterungen über einige Aeusserungen desselben, welche
die Jesuiten betrafen. Raum er gab die Erläuterungen in
einem längeren Schreiben an den Kronprinzen und sagt am
Schluss : „Die künftigen Schicksale des edelsten Volkes sind
wesentlich den Händen Ihres königlichen Vaters und dereinst
den Ihrigen anvertraut. Wirken Sie für Mässigung in
christlicher Liebe. Die christliche Sittenlehre , über welche
unter allen Christen kein Streit ist, möge zum Bande des
Friedens und der Einigung werden, und der Vorwand, den
rechten Glauben zu begründen , nicht Teufeleien aller Art
Thor und Thür öffnen." Als König Maximilian II. den
Orden seines Namens für Wissenschaft und Kunst gründete,
nahm er Friedrich von Raumer unter die ersten Ritter des-
selben auf.
Raumers ganze Natur neigte sich zu einer mehr popu-
lären Behandlung seiner Wissenschaft , und gerade diese
selbst bietet ja manche Seiten, welche sie vorzugsweise
zur Popularisirung eignen. Eine lange Reihe von Jahren
v Giesebrecht: Nekrolog auf Friedrich von Baumer. 187
hielt Raumer in Berlin historische Vorträge für Damen und
fand an ihnen ein sehr dankbares Publicum ; nicht ohne
Befriedigung verzeichnet er, dass die Zahl seiner Schülerinen
mehr als dreitausend betragen habe. Aus derselben Richtung
gingen die Vorlesungen hervor, welche er seit 1841 mit befreun-
deten Gelehrten vor einem grossen Kreis von Herren und Damen
über die verschiedensten wissenschaftlichen Gegenstände im
Saale der Singakademie hielt. Das Unternehmen fand An-
fangs grossen Widerspruch; man sah in demselben eine
Entweihung der Wissenschaft. Aber der Widerspruch ist
längst verstummt, und noch alljährlich werden jene Vor-
lesungen und neben ihnen andere verwandter Art in Berlin
und in allen grösseren deutschen Städten gehalten. Den
Ertrag jener Vorlesungen bestimmte Raumer zur Gründung
von Volksbibliotheken für Berlin, und auch dieser Gedanke
hat sich fruchtbar gezeigt. Wie er aus dem Quell der
Wissenschaft immer neue Lebenskraft geschöpft hatte, wollte
er zu diesem Quell den Zugang möglichst Allen eröffnen,
und wer mag sagen, wie Vielen er so geistige Nahrung ge-
boten hat?
Keiner der grossen Motoren in der grossen Entwicklung
unsres Jahrhunderts, aber von jedem Anstoss erregt und
dann rastlos thätig, ist er ein sehr wirksames Triebrad
derselben gewesen. Von nicht starker Körperconstitution,
erhielt er sich, aus Wissenschaft und Kunst Herzensstärkung
nehmend, nicht nur geistig, sondern auch körperlich bis
zum höchsten Greisenalter frisch. Von kleiner Gestalt, un-
scheinbar in seinem Auftreten, ohne die Prätensionen eines
Edelmanns und eines Professors, wurde er doch bald von
Jedem als ein Mann erkannt, der nicht mit Unrecht einen
der berühmtesten Namen führte. Friedrich von Raumer
starb zu Berlin am 13. Juni 1873.
188 Oeff entliche Sitzung vom 28. März 1874.
Charles Purton Cooper war Jurist, er betrat früh
die Laufbahn eines Advokaten und machte sich durch einige
rechtsgeschichtliche Arbeiten bekannt. Als die im Jahre
1800 vom englischen Parlament eingesetzte Report-Commission,
über deren Arbeiten und Publicationen vielfacher Tadel ver-
lautete, unter Lord Brougham im Jahre 1830 neu organisirt
wurde, erhielt Cooper in derselben das Amt eines Schrift-
führers. Im Jahre 1832 veröffentlichte er in zwei Bänden
einen ausführlichen Bericht über die Arbeiten der Commis-
sion, welcher die besten Hoffnungen erweckte. Sie sollten
sich leider nicht erfüllen. Die Mängel der Commission
waren unheilbar, und dieselbe wurde i. J. 1837 aufgelöst.
In den Jahren 1838 — 1840 hat Cooper die diplomatische
Correspondenz des Bertrand de Salignac de la Mothe Fenelon,
französischen Gesandten am englischen Hofe in den Jahren
1568 — 1575 in sieben Bänden herausgegeben. Später scheint
er mit historischen Arbeiten sich nicht mehr beschäftigt zu
haben.
Wenn die beiden genannten Gelehrten unsrer Akademie
nie persönlich näher getreten sind, so war dies um so mehr
der Fall bei dem dritten auswärtigen Mitglied, welches uns
der Tod entrissen hat, und wird uns deshalb dieser Verlust
um so fühlbarer. Am 12. August 1873 starb zu Stuttgart
der Director und Oberbibliothekar Christoph Friedrich
von Stalin, welcher der historischen Commission bei unsrer
Akademie seit ihrer Begründung durch König Maximilian II.
und der Akademie selbst seit 1859 als ordentliches Mitglied
angehörte.
Stalin wurde am 4. August 1805 zu Calw geboren.
Einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie entsprossen, entschied
er sich doch früh für die Studien und zeigte bereits auf
v. Giesebrecht: Nekrolog auf Chr. Friedr. von Stalin. 189
dem Gymnasium zu Stuttgart eine nicht gewöhnliche Bean-
lagung für eine wissenschaftliche Laufbahn. Auf den Uni-
versitäten Tübingen und Heidelberg hörte er theologische,
philosophische und philologische Vorlesungen und wurde
dann, ehe er noch sein zwanzigstes Jahr vollendet hatte,
zu Dienstleistungen an der k. Bibliothek zu Stuttgart an-
gestellt. Diese Anstellung ist für sein ganzes Leben ent-
scheidend gewesen ; beinahe ein halbes Jahrhundert hat er
der Stuttgarter Bibliothek angehört, zu deren Vorstand er
im Jahre 1846 ernannt wurde. Seine Verwaltung der
Bibliothek war eine musterhafte, nicht allein wegen der
werthvollen Erwerbungen, die man ihm dankte, und der
durchgeführten genauen Katalogisirung, sondern besonders
auch wegen der liberalen Art, wie die Schätze der Bibliothek
dem Publicum zugänglich und nutzbar gemacht wurden.
Auf seinen Wunsch wurde Stalin bald nach seinem
Eintritt in die Bibliothek ein längerer Urlaub zu seiner
weiteren Ausbildung gewährt. Er benützte ihn zu ausge-
dehnten Reisen in den Jahren 1826 bis 1828, auf denen
er die Mittelpunkte des wissenschaftlichen Verkehrs in
Deutschland, der Schweiz, Frankreich und England kennen
lernte ; einige Jahre später hat er dann auch einen längeren
Aufenthalt in den Hauptstädten Italiens genommen. Diese
Reisen wurden ihm nicht nur für seine bibliothekarische
Stellung wichtig, sondern führten ihn immer bestimmter zu
historischen Studien, welche sich bald durch seine persön-
lichen Verhältnisse auf die Württembergische Geschichte
concentrirten und endlich zu einer zusammenhängenden
Darstellung derselben auf Grund des vollständigsten Materials
führten. Der erste Band der Würtembergischen Geschichte
erschien 1841, und das einstimmige Urtheil der gelehrten
Welt ging sogleich dahin, dass hier eine wahrhaft muster-
gültige Leistung vorliege, die alle verwandten Arbeiten in
unsrer Literatur übertreffe; Stalin gewann sofort einen
13**
190 Oeff entliche Sitzung vom 28. März 1874.
Namen neben den ersten Männern der deutschen Geschichts-
wissenschaft. Diese Anerkennung ist dann mit dem Fort-
schreiten der Werke immer gestiegen. Leider ist dasselbe
nicht zum Abschluss gekommen; Stalins letzte Arbeiten
gehören dem vierten Bande an, welcher bis zum Ende des
16. Jahrhunderts reicht.
Als König Maximilian IL im Jahre 1858 mehrere
deutsche Gelehrte versammelte, um seinen so fruchtbaren
Gedanken, eine besondere Commission für deutsche Geschichts-
und' Quellenforschung an unserer Akademie zu errichten, in
Ausführung zu bringen, war es für die sachgemässe Be-
gründung dieser Commission überaus wichtig, dass auch
Stalin zu jenen Gelehrten zählte. Gleich damals regte er
mit Pertz die Herausgabe der deutschen Städtechroniken
an, die dann in Hegels kundige Hand gelegt wurde. Es
giebt kaum ein Unternehmen der Commission, auf welches
er in der Folge nicht rathend und helfend eingewirkt hätte ;
an der Redaction der Forschungen zur deutschen Geschichte
hat er ein Jahrzehnt hindurch unmittelbaren Antheil ge-
nommen. Seit dem Jahre 1864 zugleich Mitglied der
Centraldirection der Gesellschaft für ältere deutsche Ge-
schichte und seit Decennien mit der lebhaftesten Theilnahme
die Arbeiten Pertzs und Böhmers für die Monumenta Ger-
maniae historica unterstützend, war es sein Wunsch, auch
die Fortführung der Monumenta in nähere Beziehung mit
den Arbeiten der historischen Commission zu setzen. Er hat
in diesem Sinne noch im vorigen Jahre zu wirken gesucht;
als über die Fortführung der Monumenta im Herbst zu
Berlin berathen wurde, war er nicht mehr unter den Lebenden.
Bis zum Jahre 1871 hat Stalin nie in den Plenar-
versammlungen der historischen Commission gefehlt. Wir
wissen von seinen Angehörigen, dass ihm diese Versamm-
lungen ein Lichtblick des ganzen Jahres waren, aber wir
wissen zugleich, mit welcher FVeude er von Allen erwartet.
v. Giesebrecht: Nekrolog auf Franz Xaver Remling. 191
von Allen begrüsst wurde. Er stand Allen herzlich gleich
nahe; sein Rath, sein Urtheil, so wenig er es aufdrängte,
war meist entscheidend.
Es hat Stalin an Auszeichnungen nicht gefehlt — auch
er gehörte zu den Rittern des Maximiliansordens — aber
Niemand war weiter davon entfernt, sich in der Vorder-
grund zu stellen. Er war der Mann stiller, aber unendlich
fruchtbarer Arbeit in der Bibliothek und unbefangenen
Lebensgenusses in seinem Hause, treuherzig, schlicht, das
Getümmel und den Streit der Welt meidend, aber dem
Gang der Weltereignisse mit klugem Blick folgend und voll
des lebhaftesten Interesses für jede hervorragende Persön-
lichkeit. Um ihn ganz verstehen und lieben zu lernen,
musste man ihn in seiner schwäbischen Heimath, in seinem
Hause und in seiner Bibliothek aufsuchen. Niemand wird
da ohne den wärmsten Dank für vielfache Belehrung und
herzliche Gastlichkeit von ihm wieder geschieden sein.
Stalin war von stattlicher Figur und einer starken, jeder
Anstrengung gewachsenen Körperconstitution. Er erfreute
sich bis zu den letzten Jahren, wo ihn ein schweres Magen-
leiden befiel, einer dauerhaften Gesundheit.
Am 28. Juni 1873 starb zu Speyer der Domcapitular
Franz Xaver Remling , einer der verdientesten Ge-
schichtsschreiber der Pfalz, seit 1853 Correspondent der
Akademie.
Remling, geboren am 10. Juli 1803 zu Edenkoben,
machte seine theologischen Studien erst zu Mainz, dann im
Jahre 1825 auf dem Lyceum in Äschaffenburg, wo damals
der jetzige Vorstand unsrer Akademie sein Lehrer war. Im
Jahre 1827 zum Priester geweiht und bald darauf als Doin-
vicar in Speyer angestellt , wandte sich Remling eifrigst
192 Oeff entliche Sitzung vom 28. März 1874.
archivalischen Forschungen zu und wurde dann als bischöf-
licher Registrator verwendet. 1832 erschien seine erste
literarische Arbeit, eine urkundliche Geschichte des Klosters
Heilsbruck; schon mit ihr schlug er die Richtung ein, die
er dann durch fast ein halbes Jahrhundert eingehalten hat.
Obwohl Remling 1833 auf die Pfarrei Hambach versetzt
wurde , welche er dann beinahe zwanzig Jahre unter sehr
schwierigen Verhältnissen bekleidete, blieb er doch seinen
historischen Studien stets getreu und legte die Resultate
derselben in einer Reihe von Monographieen nieder. Seine
bedeutendste Schrift ist die Geschichte der Bischöfe von
Speyer, welche in den Jahren 1852 — 1854 publicirt wurde.
Dieses Werk umfasst mit Einschluss der beiden Urkunden-
bände vier Theile, in denen die Geschichte des Bisthumes
von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1802 dargestellt
wird. Als Fortsetzungen sind anzusehen die bis 1836
reichende Neuere Geschichte der Bischöfe von Speyer, dann
die Biographien des Bischofs Nicolaus von Weiss und des
Cardinais und Erzbischofs Johannes von Geissei; das letztere
Werk hat Remling bis an sein Ende beschäftigt.
Remling hatte inzwischen seine Pfarre verlassen und
war im Anfange des Jahres 1852 als Domcapitular nach
Speyer zurückgekehrt ; er war hier vom Bischof zum Historio-
graphen des Bisthums ernannt und hat diesem Namen die
grösste Ehre gemacht. Von seinen ausgedehnten Studien
zeugen ausser den angeführten noch viele andere nützliche
Werke. Sie ruhen alle auf urkundlicher Grundlage und
behalten dadurch einen bleibenden Werth.
Sitzungsberichte
der
philosophisch - philologischen und
historischen Classe
der
k. b. Akademie der Wissenschaften
zu Mlünchen.
1874. Heft III.
München.
Akademische Buchdruckeroi von F. Straub.
1874.
In Commission bei 6. Franz.
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch -philologische Classe.
Sitzung vom 7. März 1874.
Herr Christ legt vor:
„Das römische Militärdiplom von Regens-
burg." Von Ohlenschlager.
Jedem, der die bis jetzt aus den reichen Fundstätten
Regensburgs und seiner nächsten Umgebung hervorgegangenen
zahlreichen Inschriften kennt, musste es auffallend erscheinen,
dass Denkmäler zu Ehren der Beherrscher Roms darunter
gar nicht (wenn man nicht das Weintinger Monument zu
Ehren des Alexander Severus hierher rechnet), Denkmäler zu
Ehren der Götter nur in verschwindend kleiner Anzahl vor-
handen oder überliefert sind ]). Unwillkürlich drängt sich
hier die Frage auf, woher es kam, dass in einem der be-
deutendsten rätischen Besatzungsplätze, dessen Grabinschriften
1) Es sind nur drei Altäre bekannt: IOM. jetzt verloren (Hefner
das Römische Baiern 3. Aufl. n. XXI); das Bruchstück eines Altars:
MERCVRIO CENSVALI (Hefner n. LX.); und das Bruchstück eines
Altars vom J. 296, von dessen Inschrift nur die Weiheformel und
Zeitangabe vorhanden ist (Hefner n. CCCXI.).
[1874. 3. Phil. Inst. Cl.] 14
194 Sitzung der phüos.-philol Classe vom 7. März 1874.
und Begräbnissstätten ausser den Militärabtheilungen eine
stattliche Civilbevölkerung voraussetzen, keine öffentlichen
Denkmäler zum Vorschein kamen, während andere nach-
gewiesene Standlagerplätze, selbst viel kleinere z. B. Pfünz,
Pföriug, Kösching, regelmässig einige dergleichen aufweisen.
Mehrere Erklärungen sind hier zulässig. Die öffentlichen
Denkmäler waren jedenfalls zum grossen Theil im Umfang
des Lagers selbst aufgestellt und fielen bei den fortwähren-
den Angriffen der Germanen und der Notwendigkeit zer-
störte Befestigungen rasch wieder herzustellen dem Selbst-
erhaltungstrieb oder der Baulust späterer Bürger zum Opfer,
die Altäre wurden durch den frommen Sinn der Christen
zerstört und nur die Ruhestätte der Todten bewahrte der
Nachwelt eine Anzahl steinerner Denkmäler auf. Auch sind
bis jetzt im Innern der Stadt verhältnissmässig wenige Fund-
stätten aufgedeckt worden, während der Eisenbahnbau einen
grossen Theil des Leichenfeldes biossiegte.
Erst in der neuesten Zeit wurden mehrere Funde öffent-
licher Urkunden gemacht, die uns in die Blüthezeit des
römischen Lebens an der Donau versetzen, und hier kurz
besprochen werden sollen.
Das erste und wichtigste ist ein Militärdiplom, das
vierte bis jetzt auf bairischem Boden gefundene Denkmal
dieser Art2), welches seine Auffindung und Erhaltung dem
2) 1. Fragment eines Diploms, gefunden zwischen Pappenheim
und Rothenstein, dessen Jahr bis jetzt nicht genau bestimmbar ist,
das aber aus den Zeugennamen zu schliessen in die Zeit Hadrians
gehört. (Hefner, das röm. Baiern. 3. Aufl. n. CLXIII. C. J. L. III.
Diploma XXXVII).
2. Vollständige zweite Platte eines Diploms vom J. 64 n. Ch.
gef. 1842 zu Geiselbrechting. Föringer im Oberb. Archiv. B. 4.
S. 433 ff.; (Hefner. R. B. n. CLXII; C. J. L. III. Dipl. III.
3. Das vollständig erhaltene Militärdiplom v. J. 107, gefunden
1867 bei Weissenburg, herausgegeben von W. Christ, das römische
Militärdiplom von Weissenburg, in den Sitzungsberichten der k. b.
Akad. d. W. Jahrg. 1868. Bd. II.
Olüenschiager : Das Begenshufger römische Militärdiplom. 195
um Regensburgs römische Denkmäler hochverdienten Herrn
Pfarrer Dahlem verdankt, der mir auch das Diplom selbst,
sowie die Angaben über Fundort und Fundweise aufs bereit-
willigste und freundlichste überliess.
Bei Anlage eines neuen Strässchens zum Keller des
Herrn Behner an der Strasse von Regensburg nach dem
nahen Kumpfmühl, welches an der alten römischen Strasse
gelegen , schon öfter Spuren verschwundenen römischen
Lebens zu Tage treten Hess, zeigten sich im November 1873
zwei kleine römische Häuser, wovon eines mit hypocaustum
versehen war, dieselben wurden jedoch nicht untersucht,
sondern durch das neue Strässchen überbaut ; rechts ab vom
Wege vor und auf der Anhöhe, auf welcher der Behner-
keller liegt, sah man neun kleine römische Wohnungen,
und in der ersten derselben, gleich am Anfange des von
Herrn Behner angelegten Strässchens, fand sich das Militär-
diplom. Die Wohnung des Veteranen (wir können wohl an-
nehmen, dass sie mit dem Diplom gleichen Besitzer hatte)
war ca. 3 m. breit, und 7 m. lang, bildete einen einzigen
Zimmerraum und hatte vor derThüre einen 2 m. langen und
1,5 m. breiten Vorbau zu ihrem Schutze. Die Mauern der
Wohnung waren aus Kalk- Bruchsteinen erbaut und mit
Mommsen im C. J. L. vol. III. Dipl. XXIV versetzt dasselbe in
das Jahr 108. Da mir aber die Gründe unbekannt sind, wonach der
treffliche Forscher diese Jahresbestimmung getroffen hat, welche mit
Clinton's fasti Romani übereinstimmt, die Untersuchung über die
Zeitbestimmung aber von Christ mit Benutzung aller einschlägigen
Quellen aufs gründlichste geführt ist, und nicht bloss mit den neueren
Forschungen über den Anfang der tribunitia potestas des Kaisers
M. Aurelius in der Dezemberwoche jeden Jahres übereinstimmt,
welche von H. F. Stobbe im Philologus vol. XXXII, p. 40 ff. ver-
öffentlicht wurden, sondern auch durch Mommsens eigene frühere
Ansicht über das Datum der Erneuerung der tribunitia potestas
dieses Kaisers am 1. Januar (Abhandl. zur Lebensgeschichte des
jüngeren Plinius) nicht umgestossen wird, so nehme ich bis zu
besserer Belehrung das Jahr 107 als das richtige an.
H*
196 Sitzung der phitos.-philot. Ctasse vom 7. Mars 1874.
Mörtel verbunden, der sich durch seine ungewöhnlich weisse
Farbe als römisch erweist und aus reichlichem Kalk und
grobem Kies bestand. Er war im Laufe der 1700 Jahre
so hart geworden , dass beim Zerschlagen die Steine zer-
sprangen, der Mörtel aber nicht. Den Fussboden bildete
ein Estrich hergestellt aus zertrümmerten gelandeten Dach-
platten und Hohlziegeln mit darübergeschüttetem Mörtelguss.
Er kleidete noch wie zur Zeit des Veteranen die ganze
Bodenfläche aus und nur die Feuerstelle, die auf der Erde
war, und Herd und Ofen zugleich vertretend, wahrscheinlich
wie die heutigen italiänischen oder französischen Kamine an-
gelegt war, fand sich abgenützt. Die Wände, ringsum innen
mit feinem Mörtel beworfen und geglättet, waren kalkweiss
getüncht und durch rothe Streifen und Flächen in recht-
eckigen Feldern verschönert. Die Fensterlücken mussten
bereits mit Glas geschlossen sein, denn es fand sich ein
Stückchen grünes schwer durchsichtiges Fensterglas neben
unbedeutenden Geschirr- und Metalltrümmern. Da das Haus
aus Steinen erbaut war und von Gebälk nur Decke und
Dach hatte, so fand sich sehr wenig Asche ; die einstürzende
Decke und das schwere Ziegeldach zertrümmerten im Nieder-
fallen, was sie trafen, und so wurde das Diplom zertrümmert
und die Stückchen lagen theils im Brand-, theils im Kalk-
schutt. Von den beiden Piatten , woraus dasselbe bestand
sind 11 kleine Stücke der einen Tafel und ein grösseres
Bruchstück der zweiten erhalten. Sorgfältig aneinander ge-
legt zeigt das Gesammtdiplom eine Länge von 149 mm.,
während die Breite 109 mm. beträgt. Das Material ist Bronce
und es war schon vor seiner jetzigen Auffindung zertrümmert,
da die Stücke, welche aneinander passen, ganz verschiedene
Oxydation zeigen und auch die Bruchflächen oxydirt sind,
was nur durch verschiedene Lage oder verschiedene Nach-
barschaft im Boden , während des Vergrabenseins sich er-
klären lässt.
Ohlenschlager: Das Begensburger römische Militärdiplom. 197
Die Platten zeigen nur je eine glatte Fläche an der
früheren Aussenseite; die Innenseite ist mittelst einer groben
Feile nur oberflächlich geebnet und trägt eine weit flüchtigere
Schrift, als die sorgfältiger gravirte äussere Fläche. Die
Schrift ist mit dem Grabstichel ausgeführt.
Die Platte, zu welcher die 11 kleinen Bruchstücke ge-
hörten, enthielt auf der Aussenseite die ganze Urkunde mit
Ausnahme der Zeugennamen, auf der Innenseite den Anfang
der Urkunde.
Das grössere Bruchstück der zweiten Platte enthält die
praenomina und Gentilnameu der Zeugen und einen Theil
des Schlusses der Urkunde. Die beiliegende Abbildung zeigt
die Reste der Schrift auf beiden Platten.
Ergänzt man die Aussenseite der ersten Tafel durch
die Schrift auf der Rückseite, so ergibt sich nebenstehendes
Bild, worin der erhaltene Text der Aussenseite schwarz,
das nach dem Innern Ergänzte roth, die durch Vermuthung
auszufüllenden Stellen blau eingezeichnet sind und dessen
Lücken bis auf wenige Buchstaben mit Sicherheit ausgefüllt
werden können.
Bedeutend wird diese Arbeit erleichtert durch das im J.
1867 bei Weissenburg gefundene Militärdiplom des Traian
vom 30. Juni d. J. 107 , welches von Prof. Christ in den
Sitzungsberichten Jahrg. 1868 Bd. II veröffentlicht wurde,
und worin ein grosser Theil der hier erscheinenden Truppen-
theile bereits genannt ist.
Das Diplom mit seinen Ergänzungen lautet folgender-
massen :
198 Sitzung der philo s-philol. Classe vom 7. März 1874.
Imp. Gaes(ar) M. Aurelius Antoninus Aug(ustus)
Armeniacus pont(ifex) max(imus) trib(unicia) pot(estate) XX,
imp(erator) III, co(n)s(ul) III, et
imp. Caes(ar) L. Aurelius Verus Aug(ustus) Arme-
niacus Parthicus max(imus) trib(unicia) pot(estate) VI,
imp(erator)
III, co(n)s(ul) II, proco(n)s(ul) divi Antonini f(ilii), divi Ha-
driani nepotes, divi Traiani Parthici
pronepotes, divi Nervae abnepotes
equitib(us) et peditib(us) qui militaver(unt) in
dl(is) III quae apell(antur) I Aur(iana) et 1 Fl(avia)
Gemell(iana)
et IFl(avia) Sing(ularium) et cohortib(us) XIII; I Fl(avia) Ca
nath(enorum miliaria) et 1 Breuc(orum et I et II Baet
(orum) et II
Aquitan(orum) et III Bracar(augustanorum) et III Thrac
(um) Vet(eranorum)
et III Thrac(um) C(ivium) B(omanorum) et III Brit
(annorum) et IV. Gall(orum)
et V. Braca(raugustanorum) et VII Lusitanor(um) et X.
Batav(orum)
miliaria et sunt in Baetia sub (T?) Dest(i)cio
Severe- p(rocuratore) p(rovinciae) quinq(ue) et vigint(i) sti-
pend(iis) emerit(is) dimi(ssis honesta miss-
sion(e) qiior(um) nomin(a) s(ubscripta sunt)
civitat(em) Boman(am) qui (eorum non haberent)
deder(unt) et conub(ium) cu(m uxoribus quas)
tunc habuiss(ent) cum e(st civitas eis data)
aut cum is quas poste(a duxissent dum-)
tax(at) singulis a. d
M. Vibio Liberale P. Martio Vero Co(nsulibus)
Cohort(i) II Aquitan(orum cui praeest)
Julius
exequiite)
Sicconi. Juli
Bescript(um) et recog(nitum ex tabula aenea)
quae fixa est Bom(ae) in muro post templum
divi. Aug{usti) ad. (Minervam)
OhlenscMager: Das JRegensburger römische Militärdiplom. 199*
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3. Phil. bist. Cl.] 14*"
200
Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
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Ohlenschlager : Das Regensburger römische Militärdiplom. 201
Das Jahr der Ausstellung der Originalurkunde wird
durch die trib. potestas XX. des M. Aurelius und die trib.
pot. VI. des Verus auf 166 p. Ch. bestimmt, der Ausfertig-
ungstag stand auf einem fehlenden Stück. Das imp. III, das
M. Aurel seit dem J. 165 führte, und das Fehlen der Namen
Parthicus Maximus Medicus deuten auf die Zeit vor dem
gemeinsamen Triumph desselben mit L. Aurelius Verus, wobei
der Kaiser diese von Verus unterdessen erworbenen Titel und
das imp. IUI annahm. Jul. Capitolin. Verus. c. 7: partum-
que ipsi ( Vero) nomen est Armeniaci, Parthici, Medici, quoä
etiam Marco Bomae agenti delatum est. M. Antonin. cap. 9 :
delatumque Armeniacum nomen utrique principum, quod
Marcus per verecundiam primo recusavit , postea tarnen
recepit. Verus c. 8 : habuit hanc reverentiam Marci Verus, ut
nomina, quae sibi delata fuerant cum fratre communicaret
die triumphi, quem pariter celebrarunt.
Wir besitzen von M. Aurelius bereits drei Militärdiplome,
doch ist leider von zweien der Anfang zerstört ; allein ich
habe hier um so weniger Anstand genommen PONT. MAX
zu ergänzen, weil das Diplom vom 5. Mai d. J. 167 gef. zu
Altofen3) denselben Titel aufweist und eine andere Ergänzung
schwer aufzufinden wäre. Auch ist während des Lebens
des L. Verus von M. Aurelius dieser Titel zwar nicht regel-
mässig geführt, doch auch nicht so ängstlich vermieden
worden, als hie und da angenommen wird.
Abgesehen von den Münzen, auf welchen M. Aurel zur
Zeit des L. Verus. als pontifex Max. erscheint z. B. Cohen,
description des monnaies tome VII. n. 26. 27. 28. 29. 73.
tome II. n. 4. 156. 158. 159. 160 etc. findet sich dieser
Titel nicht nur auf einer Anzahl von Inschriften, in denen
3) Weszpremi succincta medicorum Hungariae et Transsylvaniae
biographia. Viennae 1781 Centuria altera, p. post. p. 442. C. J. L.
vol. III. Dipl. XLVI. Die beiden andern Diplome ebenda Dipl. XLV.
und XLVII,
202 Sitzung der pliilos.-philol. Gasse vom 7. März 1874.
M. Aurelius allein genannt ist, z. B. Mommsen J. R. N. 1099.
4840. Corp. Insc. Lat. vol. II. 3234, sondern auch auf
solchen, in denen M. Aurelius mit L. Verus zusammen vor-
kommt, bei Renier, inscript. Romaines de l'Algerie n. 1417
(v. J. 166), Orelli n. 5472 u. 876, ja in einigen Inschriften
wird auch dem L. Verus der Titel pont. max., sei es aus
Unkenntniss oder Schmeichelei beigelegt, Corp. Insc. Lat.
vol. II. n. 158 (v. J. 161) und n. 3399 (v. J. 167) vgl. Orelli
5483. Die Annahme des ihm angebotenen Titels pater
patriae hatte M. Aurelius bis auf die Rückkehr seines Mit-
regenten verschoben, auch bei dessen Lebzeiten nicht ge-
führt, wesshalb er weder hier noch im Diplom von 167 sich
findet4). Der Titel proconsul des L. Verus deutet auf
dessen Abwesenheit von Rom. (Dio. Cass. LIII. 17 u. 32 5).
Den Kaisertiteln folgt die Aufzählung der begünstigten
Militärabtheilungen, drei alae und dreizehn Cohorten, deren
Namen leider nicht vollständig erhalten sind.
Von den alae fehlt gleich die erste, deren Name durch
höchstens drei Buchstaben ausgedrückt sein konnte, indem
die ganze Lücke etwa 5 Buchstaben umfasste und auch ET
noch Platz finden musste. Nehmen wir zur Ergänzung als
nächstliegend die hier nicht genannten Namen des Weissen-
burger Diploms, so sind wir durch die Zahl I auf die ala 1
Hispanorum Auriana oder die ala I Aug. Thracum an-
gewiesen. Letztere konnte aber sicher nicht mit dem ehren-
den Beinamen I AVG. allein bezeichnet werden, den sie mit
einer ganzen Anzahl von Abtheilungen gemeinschaftlich führte;
4) Dio Cass. LIII. 17 . . . vnatoi te yaQ 7i"Keiari'<xcg yiyvovxat,
xal ccv&vncitot, del, oaäxcg ccp c£w tov Ttm fxriQ iov (Jat3
ov o fXa £ ovt cci,
5) Juli Capitolini M. Antoninus philos. c. 9 : patris patriae nomen
delatum fratre äbsente in eiusdem praesentiam distulit. Vgl. Eckhel
doctrina nummorum vol. VII. p. 96.
OHenschlager : Das Begensburger römische Militärdiplom. 203
und die ala I Thracum stand zwischen 145 bis 160 in Panno-
nien. C. J. L. III. Dipl. XLII. Anders verhält es sich mit der
ala I Hispan. Auriana. Hier stehen uns mehrere Belege
zu Gebot, welche bezeugen, dass der gebräuchliche Name
dieser Abtheilung ala Auriana war (Not. Orient, c. 35. Tac.
hist. III. 5). Die Abkürzung dieses Namens zu AVR ist
ausserdem durch zwei Inschriften (Hefner a. a. 0. n. L und
LIX) bezeugt und würde durch ihre Buchstabenzahl die
Lücke entsprechend ausfüllen.
Dann folgt die ala l FL. GEMELL.
Wenn auch der Beiname gemella gleichbedeutend mit
gemina bei Cäsar b. g. III. 4 und in einer Inschrift der leg. VI.
(Mommsen. J. R. N. 5025 = Orelli Henzen 6677) vorliegt
und ausserdem eine ala I und II Fl. Gemina in einein
Diplom Vespasians v. J. 74 „in Germania" vorkommt,
(Aschbach, rhein. Jahrb. XX. p. 33 f. C. J. L. III. D. IX)
so möchte doch die hier genannte ala eher ALA I FL.
GEMELLIANA zu lesen sein, die ohne den Zusatz Flavia auf
dem Diplome Neros v. J. 64, gefunden bei Geiselbrechting
uns entgegen tritt. (Föringer, Oberbair. Archiv. IV. (1843)
p. 433 sq. C. J. L. III. D. III.)
Jenes Diplom ist zwar auf noiischem Boden gefunden,
konnte aber bei der Nähe Rätiens leicht mit seinem Besitzer
dorthin ausgewandert sein, da ja der Erfahrungssatz, dass
die Diplome in denjenigen Provinzen gefunden werden, für
deren Besatzung sie ausgestellt sind, (Arneth , zwölf röm.
Militärdipl. S. 63 A. 2) bereits einzelne Ausnahmen erlitten
hat, so ist z. B. das Diplom C. J. L. III. D. IX. ausgestellt für
Truppen in Germania, aber gefunden zu Sikator, C. J. L. III.
D. XIV. für Truppen in Judäa gefunden zu Klosterneuburg.
Von dem ersten der Cohortennamen ist nur das Ende
NATH. oo erhalten. Von allen bis jetzt aufgefundenen Militär-
abtheilungsnamen lässt sich nur coli. I FL. CANATHENORVM
204 Sitzung der philos.-phüol Classe vom 7. März 1874.
hier ergänzen, die bei Renier, inscriptions Romaines de
l'Algerie n. 1534 und 1535 unter dem Tribun M. Plotius
Faustus erscheint und deren Heimat in der Stadt Canatha
in Coelesyrien gesucht werden mag. 6).
Würde diese Vermuthung durch Auffindung eines der
fehlenden Bruchstücke unseres Diploms bestätigt, so gewännen
wir eine erfreuliche Lösung des bis jetzt nicht genügend
entzifferten Ziegelstempels CIFC, welcher auf der Biburg bei
Pföring häufig gefunden wird und der sich leicht durch
COH.I.F. CANATHENORÜM erklären liesse7).
Auch steht ein Ziegelstempel, der beim Umbau eines
altadelichen Gebäudes am Römling in Regensburg im J. 1873
gefunden wurde, mit den Buchstaben :
COHICN
vielleicht mit dieser Cohorte in Verbindung.
Alle übrigen Abtheilungen mit Ausnahme der COH II
AQVITAN, die hier zum zweitenmale erscheint (vgl. Die neuen
Funde römischer Alterthümer in Regensburg. Sitzgsb. 1872
Bd. II S. 337) und der COH. X. BATAVOR. <x> , sind aus dem
Weissenburger Diplom bekannt und nach diesem zum Theil
in die Lücken eingesetzt worden.
Die Ergänzung des Provinzialnamens RAETIA ist be-
rechtigt durch die Lücke für drei Buchstaben, in welche
6) Die Auffindung dieses seltenen Namens wurde mir erleichtert
durch Dr. W. Harster's treffliche und fleissig gearbeitete Schrift:
Die Nationen des Römerreiches in den Heeren der Kaiser. Speier 1873. 8.
7) Mommsen hatte C(ohors) I F(lavia) C(ommagenorum?) vor-
geschlagen, (C. J. L. III. 6001) weil diese Ahtheilung, für deren An-
wesenheit in Rätien übrigens kein weiterer Anhaltspunkt gewonnen
werden konnte, bis jetzt die einzige war, deren Anfangsbuchstaben
sich dem Ziegelstempel anpassten; anno 157 stand dieselbe in Dacia
(C. J. L. III. Dipl. XL).
Ohlenschlager : Das Regensburger römische Militär diploni. 205
sich mit TIA kein anderer Provinzialnamen einfügen lässt,
und durch die Beobachtung, dass die Militärdiplome meist
den Namen der Provinz enthalten, in welcher sie gefunden
werden; durch die vielen mit dem Weissenburger Diplom
gleichlautenden Abtheilungsnamen, deren einzelne auch durch
anderweitige Funde für Rätien in Anspruch genommen
werden müssen, wird dieser Name mit Notwendigkeit ge-
fordert. Die Singularendung dieses Namens bildet einen neuen
Beleg dafür, dass Rätien um diese Zeit noch ungetheilt war.
Die deutlichen Reste des Statthalternamens TCIO mit den
davorstehenden Theilen eines Buchstabens, welche einem S
anzugehören scheinen , also STCIO wollten sich durchaus
nicht zu einem lateinischen Namen ergänzen lassen , und
alles Suchen nach einem solchen wäre vergeblich gewesen,
hätte nicht ein glückliches Zusammentreffen in diesen Tagen
eine Inschrift zum Vorschein kommen lassen, welche einem
T.DESTICIVS SEVERVS als procurator provinciae Baetiae
gewidmet ist und die, da sie auch sonstige Angaben über rätische
Abtheilungen enthält, hier unverkürzt Aufnahme finden soll:
T . DESTICIO . T . F
CLA . SEVERO .P.P. LEG
X . GEM . SVBPRAEF . VIGIL
PROC . AVG . PROV . DACIAE
SVPERIOR . PROC . PROVINC
CAPPADOC . ITEM . ////ONTI . MEDI
TERRAN . ET . A . . . AE . MINOR . ET . LY
CAON . Ah AN . PROC . PROV . RAE
TIAE .FLA DRIANI P 0 N T I F I C I
COLONIAE
ALA TIMANVS . MARTIAL . TITIANVS
FRG . . . . N . ALAE . I . FL . IVL . MEMORINVS
IVLI .... S.FL.SPERATVS.ALAE.I.SING.AELIVS
SEVE .... FRON . IVLIANVS . DECVRION . EXERC
RAETICI
PRAESIDI . OPTIMO . ET . SANGTISSIMO
L . D . D . D
206 Sitzung der phüos.-phüol Classc vom 7. März 1874.
Dieselbe ist im J. 1873 bei Concordia im Venetianischen
gefunden und im Bulletino dell' instituto di Corrispondenza
archeologica für 1874 S. 34 und eine Berichtigung der-
selben ebendaselbst S. 80 abgedruckt. Die Kenntniss der-
selben verdanke ich der Güte des Herrn Prof. Brunn, der
mir die betreffenden Bogen freundlichst mittheilte.
Fehlt auch in der vorhandenen Endung TCIO zwischen
T und C das I, das auch durch keine Ligatur angedeutet
ist, so wird man doch den Namen DESTICIVS nicht von
der Hund weisen können, weil auch das cognomen SEVERVS
übereinstimmt und die vorhandene Lücke auf zwei, höchstens
drei Buchstaben hinweist. Der Name DESTICIVS findet
sich nur noch auf Denkmälern von Concordia G. J. L. vol. V.
1875. 1876. 1877 und auf einem Denkmal aus Caerleon
(C. J. L. VII. n. 107. Britannia) worauf ein Desticius Juba als
leg. Aug. pr. pr. zwischen den Jahren 253 — 259 p. Ch. ge-
nannt wird, der wahrscheinlich mit dem im C. J. L. vol. V.
n. 1875 u. 1876 vorkommenden T. Desticius Juba identisch ist.
Die Formel civitatem Bomanam, qui eorum non haberent
wird erfordert durch das nach Romanam vorhandene qui,
und findet sich in den Diplomen des Antonin Pius v. J. 145
(C. J. L. III. D. XXXVIII), v. J. 154 (Dipl. XXXIX), v. J. 157
(Dipl. XL), zwischen d. J. 145 u. 160 (Dipl. XLII. XLIII.),
zwischen 146 u. 161 (Dipl. XLIV); des M. Antonius v.J. 167
(Dipl. XLVI), und des Severus Alexander v. J. 230 (D. LI).
Wörtlich aber findet sich die ganze Formel von quorum
nomina subscripta sunt bis singulis in sämmtlichen Diplomen
vom J. 145 — 167 wie diess auch in der trefflichen alles
umfassenden Zusammenstellung der Einzelnheiten aus den
Militärdiplomen, in dem von Theodor Mommsen mit be-
kannter Meisterschaft redigirten dritten Bande des Corpus
Inscriptionum Latinarum p. 907 ersichtlich ist.
Als Mitconsul des M. Vibius Liberalis nennt uns eine
vom 23. März datirte Inschrift von Perugia den P. Martins
Ohlensehlager: Das Begensburger römische Militär diplom. 207
Verus, für welche Orelli n. 4038 irrthümlich das Jahr 179
angibt, während Borghesi oeuvres V. S. 258 dieselbe In-
schrift ohne Beweisführung in das Jahr 162 (915 a. u. c.)
versetzt8). Im J. 179 war nach einer wohl mit Unrecht
verdächtigten Inschrift von Aosta (Orelli n. 881) P. Martius
Verus zum zweiten Male Consul mit IMP. COMMOD. II.
und ist wahrscheinlich derselbe , welcher in diesem Jahre
mit Statius Priscus und Avidius Cassius den parthischen
Krieg für den unthätigen imperator L. Verus vollendete9).
Nehmen wir als Amtszeit dieser Consules suffecti nach
dem Stein von Perugia die zwei Monate März und April
an, so muss das Diplom während dieser Monate ausgestellt
sein, jedenfalls aber vor dem 23. August 1G6, weil an diesem
Tage nach einer Inschrift bei Giuter 1009, 12 M. Aurelius
schon die Titel Parthic. Max. Medicus führte, die auf un-
serm Diplom noch nicht erscheinen, und die er erst bei oder
nach dem inzwischen erfolgten gemeinschaftlichen Triumph
mit L. Verus annahm. Die Zeit dieses Triumphes fällt
demnach jedenfalls zwischen den 23. März und 23. August
166 p. Ch.
Der Ablativ auf e des Namens Liberale stimmt über-
ein mit dem Namen auf der oben angefühlten Inschrift und
in den Militärdiplomen haben Adjektive auf is regelmässig
diese Endung statt i, vgl. C. J. L. vol. III, 2 p. 919. Natale
schon im Dipl. n. V. v. J. 68. p. Ch. Ueber die analoge
8) Borghesi 1. c. : un cippo esistente nel Museo dell' Universitä,
che porta la data
M . VIBIO LIBERALE . P . MARTIO . VERO . COS
X KAPRILES AVGVSTAE PERVSIAE
corrispondente all' anno Varroniano 915, siccome potrei dimostrare,
se qui importasse di farlo.
9) Jul Capitolini Yerus c. 7 : Antiochiam posteaquam venit (Verus),
ipse quidem se luxuriae dediditt duces autem confecerunt Parthicum
bellum, Statins Priscus et Avidius Cassius et Marcius Verus,
208 Sitzung der philos.'philol. Classe vom 7. März 1874.
Bildung des Ablativs auf e von substantivisch gebrauchte
Adjectiven auf is hat Friedr. Neue, Formenlehre der lateini
sehen Sprache I. S. 227 ff. ausreichende Belege aus Inschriftei
und Schriftstellern beigebracht.
Empfänger des Diploms war ein gewesener Reiter der II.
aquitanischen Cohorte, welcher nach der Aussenseite der erstei
Platte den Namen Sicco, Juli (jilius) trug, während auf dei
Innenseite der zweiten Platte deutlich Seccone zu lesen ist,
eine orthographische Verschiedenheit, die auch in andere]
Namen nicht selten ist, wie die doppelte Schreibweise Virgi-
lius und Vergilius bezeugt, die aber bei jenem offenbar un«
römischen Namen, dessen Laute wahrscheinlich durch die
römischen Buchstaben nicht vollständig gedeckt wurden, ui
so weniger auffallendes hat.
Der Name Secco findet sich mehrfach auf rätischen und
norischen, namentlich aber auf pannonischen Inschriften (C. J.
L. III. Raetia 5786 etc.) ist wahrscheinlich zu Scccio und
Seccius latinisirt worden, da diese Namensformen mit Secco
in denselben Gegenden vorkommen und hiess im Feminiuum
Secu (C. J. L. III. n. 962) oder Sicu (C. J. L. III n. 707),
welches ebenfalls latinisirt als Seccia erscheint. Durch diesen
Frauennamen wird das Schwanken zwischen E und I in der
ersten Silbe bestätigt.
Die Berechtigung zur Zusammenstellung des Femininums
Sicu mit dem Masculinum Secco liegt in mehreren analogen
Namen auf w, die einem Männernamen auf o entsprechen;
neben Matto steht Maüu (C. J. L. III. 3375) neben Mosso,
Mottu (C. J. L. III. 5624) neben Feto, Pettu (C. J. L. III.
5370). Auch findet sich aus derselben Gegend eine grosse
Masse von zweisilbigen Namen, welche mit Secco im sprach-
lichen Bau fast oder gänzlich übereinstimmen. Es sollen
hier nur einige Platz finden, die zweisilbig sind, auf o endigen
und vor deren Endvokal zwei gleiche Consonanten stehen.
Die Anzahl derselben könnte leicht aus dem Register zum
Ohlenschlager : Das Regensburger römische Militärdiplom. 209
C. J. L. vol. III. stark vermehrt werden, dem auch die folgenden
entnommen sind: Abbo, Ammo, Anno, Atto, JBricco, Butto,
Gallo, Cenno, Citto, Cosso, Dallo, Ecco, Enno, Eppo, Fauvo,
Hanno, Itto, Lallo, Licco, Otto etc.10) Die Untersuchung,
ob und wie weit diese mit deutschen Kosenamen vielfach
gleichlautenden Namen auf o mit Sicherheit auf germanische
Sprachstämme zurückzufuhren sind, und ob aus diesen und
andern Andeutungen auf das frühe Vorhandensein germani-
scher Stämme südlich der Donau geschlossen werden kann,
liegt ausserhalb des Bereiches vorliegender Arbeit.
Die Namen der Zeugen, deren Cognomina fehlen, lassen
sich aus dem halb erhaltenen Diplom desselben Kaisers vom
18. Febr. 165 (C. J. L. III. Dipl. XLV) vollständig ergänzen,
weil dort ihre vollen Namen angeführt sind. Auch das Diplom
vom 5. Mai 167 (C. J. L. III. Dipl. XLVI) enthält dieselben
Zeugen bis auf den ersten, der durch Ocilius Priscus ersetzt ist.
Es erübrigt noch einiges zur Geschichte der genannten
Militärabtheilungen nachzutragen.
Die Geschichte der ala I Hispanorum Auriana ist be-
handelt bei Christ, das römische Militärdiplom von Weissen-
burg S. 430 ff.11). Einige Schwierigkeit machen die alae I mit
10) Vgl. Dr. Ludwig Steub, Die oberdeutschen Familiennamen.
Anno S. 91. Abbo S. 90. Atto S. 89. Butto S. 98. Callo S. 112.
Dallo S. 116. Ecco S. 91. Hanno S. 110 etc.
1 1) In der Anzeige von F. C. Planta's „das alte Rätien" (Jahn's
Jahrbücher 1873 S. 278) zweifelte ich ob das Pappenheimer Diplom
(C. J. L. III. Dipl. XXXVII.) einem Reiter der ala Auriana angehört
habe, weil derselbe dort mit dem Beiwort ex gregale bezeichnet ist.
Seitdem aber habe ich mich überzeugt, dass in den Militärdiplomen
nur bei gewesenen Soldaten der Cohorten ausdrücklich bemerkt wird,
ob sie zu Pferd {ex equite) oder zu Fuss (ex pedite) gedient haben,
während die classici und die Reiter der alae kurzweg mit ex gregale
bezeichnet werden; bei gemeinen Soldaten der Cohortes praetoriae
und urbanae sowie der Legionen steht der Name des Mannes ohne
jede Bezeichnung. Unteroffiziere führen das ihrem Rang entsprechende
Prädikat. Vgl. Mommsen im C. J. L. III. p. 913. IX. und Henzen.
Rhein, Jahrb. XIII. S. 57.
21Ö Sitzung der philos.-philol.Classe vom 7. März 1874.
dem Beinamen Flavia, welche auf rätischen Inschriften gefunden
werden und die der Uebersichtlichkeit wegen hier zusammen-
gestellt sein sollen. Es fand sich die ala I.FL auf einem
Grabstein eines Veteranen derselben zu Kösching (C. J. L. III.
n. 5907), ein Stein von Pfünz nennt einen T. Fl. Romanus
dec. al. I Flaviae, das S. 205 abgedruckte Desticiusdenkmal
enthält ebenfalls einige Namen von Decurionen dieser ala
ex exercitu Baetico, und der zu Kösching gefundene Stein,
den eine ala I. Fl. C. r. dem Kaiser Hadrian zu Ehren im
J. 141 p. Ch. setzte (C. J. L. III 5906) lässt kaum einen
Zweifel übrig, dass die hier auf einem öffentlichen Denkmal
mit ihrem ehrenden Beinamen erscheinende ala mit der auf
dem Köscliinger Grabstein genannten gleich sei und auch die
übrigen Denkmäler für sie in Anspruch genommen werden
müssen, sowie, dass dieselbe eine Zeit lang zu Kösching ihre
Lagerstelle hatte.
Keine der in unserm Diplom genannten beiden Abtheil-
ungen stimmt im Namen mit der Benennung der ala I Fl.
C. r. des Köschinger Denkmals überein , wenn man nicht
annehmen will, der auf diesem Stein zuletzt noch erscheinende
Buchstabe sei ein G, der Anfangsbuchstabe von Gemelliana
und kein C gewesen. Das Vorkommen der ala I Flavia auf
dem Desticiusdenkmal, worin Abtheilungen genannt sind,
die mit den in unserm Diplom vorkommenden gleichzeitig
in Rätien standen, lässt uns nur die Wahl, entweder die
daselbst genannte ala I Fl. mit einer der beiden alae I Fl.
des Diploms zu identificiren oder anzunehmen, dass im
Diplom nicht alle damals in Rätien liegenden Auxiliai truppen
aufgezählt sind.
Da wir für die letzte Möglichkeit keinen Anhaltspunkt
haben, so sind wir genöthigt die im Desticiusdenkmal ge-
nannte ala I Fl. der ala I Fl. Gemell., die dort befindliche
ala I sing, aber der ala I Fl. sing, des Diploms zuzuweisen.
Ohlenschtager: Das Begensburger römische Militärdiplom. 211
Befremdend bleibt es immer, dass in öffentlichen
Urkunden diese Abtheilung, sowohl im Jahre 107 im Militär-
diplom von Weissenburg, als auf einem Denkmal zu Ehren
des Kaisers Hadrian , welches von diesen Reitern im Jahre
141 auf der Biburg bei Pförring errichtet wurde, (C. J. L.
III., 5912.) den Namen Ala I. singularium C. B. führt,
während in unserem Diplome ala L Fl. Sing, steht, ohne
dass man annehmen kann, der Zusatz Flavia sei in der
Zwischenzeit entstanden. Welche Gründe die Weglassung
eines solchen Beinamens veranlassten, und ob sie überhaupt
einen andern Grund als den der Raumersparniss hatte, wird
wohl ohne ganz reichliche Funde immer dunkel bleiben.
Dass im Laufe der Zeit neben dem ursprünglichen
Namen viele Abtheilungen einen oder mehrere ehrende oder
historische Beinamen erhielten, ist erwiesen, und manch-
mal lässt sich sogar der Anlass annähernd bestimmen, bei
welchem die Namens Verleihung stattfand. Ebenso sicher
dürfen wir annehmen, dass, beim Vorhandensein mehrerer
Namen, im gewöhnlichen Leben vorzugsweise nur einer und
nicht immer der ursprüngliche Namen gebraucht wurde und,
wenn ich mich so ausdrücken darf, populär geworden war,
und diese Namen erscheinen dann auf den Grabsteinen mit
oder ohne Zusatz des oder der andern Namen. Ein Gesetz,
wonach die Wahl solcher populären Namen aus dem Gesammt-
namen stattgefunden hat, wird sich unmöglich finden lassen,
weil die Gründe zur Wahl unberechenbar sind und sich
jeder Untersuchung entziehen.
Dass auch in öffentlichen Urkunden manche Abtheilungen
nicht mit ihrem vollen Namen erscheinen ist bekannt, doch
sind dann in diesen höchst wahrscheinlich die offiziellen
Stammnamen der Abtheilungen ohne die Beinamen zu finden,
und über den etwaigen Zusatz von Beinamen entschied der
vorwiegende Gebrauch derselben oder das Bedürfniss gleich-
[1874, 3. Phil. hist. C1J . 15
212 Sitzung der phüos.'phüöl. Classe vom 7. März 1874.
namige und gleichnuinerirte Militärabtheilungen deutlich zu
unterscheiden.
Alles, was über coh. I Fl. Canathenorum gesagt werden
kann, ist oben erwähnt, für coh. I Breuc sind bei Christ,
das römische Militärdiplom von Weissenburg Seite 438 die
nöthigen Angaben zu finden, wohin ich auch wegen coh. 1
et II Baetorum verweise. Doch darf hier nicht unerwähnt
bleiben, dass die coh. II. Raetorura im Wiesbadener Diplom
vom Jahre 116 in Germanien und zwar nach den Funden
zu urtheilen bei Wiesbaden und auf der Saalburg stand,
was die Ergänzug II Raet. zum wenigsten zweifelhaft macht,
die sich nur auf das Weissenburger Diplom und die ganz
gleiche Aufzählung I et II, sowie die richtige Ausfüllung der
Lücke stützt. Dass keine sonstigen Denkmäler dieser Ab-
theilungen in Rätien vorhanden sind, kann nicht als Ein-
wand geltend gemacht werden, da uns Steindenkmale auch
für andere sonst verbürgte Abtheilungen fehlen. Die wenigen
Ueberbleibsel der coh. II Aqiiitanorum sind schon früher
berücksichtigt.
Die folgende coh. III Bracaraugustanorum liefert einen
interessanten Beleg für häufigen Garnisonswechsel.
Im Jahre 103 oder 104 war dieselbe in Britannia
(C. J. L. VII. n. 1193), im Jahre 107 in Baetia (C J. L.
III. dipl. XXIV.), im Jahre 124 wieder in Britannia (C. J.
L. VII. n. 1195) und im Jahre 166 wieder in Baetia in
unserm Diplom. Die Geschichte der Cohorten der Bracar-
augustani ist zusammengestellt von Henzen in den Jahr-
büchern d. Ver. f. Alterth. im Rheinlande XIII. S. 95. Den
dort aufgezählten Inschriften, welche die cohors III. Bracar.
nennen, reiht sich noch an Orelli 6565, Q Papirius Maximus
praef. coh. III Bracaraugust. q. e. in Raetia und Renier
inscript. Rom. de l'Algerie n. 315, der die auf einem fragmen-
tarischen Steine erhaltenen Worte coh. III Bra. dieser Cohorte
Ohlenschlager: Das Megensburger romische Militärdiplom. 213
zugeschrieben hat. Dieses Beispiel dürfte auch die Bedenken
zerstreuen, welche man etwa gegen das Einsetzen der coh.
II Raetorum fassen konnte, die im Jahre 107 in Baetia
(Weissenburger Diplom), im Jahre 116 in Germania stand,
und nach unserer Ergänzung im J. 166 wieder in Baetia
gewesen sein soll.
Auch die später genannte coh. V Bracaraugustanorum
stand nicht immer in Raetia, Orelli 5017 = 6852 über-
liefert eine Inschrift des M . Stlaceius Coranus — praef. coh. V.
Bracar. Augustanorum in Germania — praef. equitum
alae Hispanorum in Britannia. Da nun eine ala L His-
panorum Asturum im J. 124 in Britannia genannt wird,
(C. J. L. III. dipl. XXX) so hindert nichts diese Inschrift
in jene Zeit zwischen dem Jahre 107 des Weissenburger-
Diploms und dem J. 166 des unsern zu versetzen.
Es liesse sich sogar vermuthen, die coh. V. Bracar-
augustanorum sei mit coh. II. Raetorum zusammen nach
Germanien und mit dieser wieder nach Rätien zurückversetzt
worden. Sie müsste dann im Wiesbadener Diplom (C. J. L.
III. dipl. XXVII.) die 15. Stelle vor der coh. V. Delmatorum
eingenommen haben.
Die beiden Abtheilungen der Thraker sind zweifellos
dieselben, welche auch das Weissenburger Diplom aufzu-
zuweisen hat, doch ist die eine coh. III. Thracum mit dem
sonst bei dieser Cohorte nicht bekannten Zusätze veteran-
orum versehen , wahrscheinlich dieselbe , welche noch im
J. 107 ohne Beinamen erscheint. Ihre Geschichte ist bei
Böcking not. occid. p. 687* zu finden, während Christ, das röm.
Militär-Diplom von Weissenburg p. 443 eingehend und trefflich
die Bildung der beiden gleichnamigen Abtheilungen behandelt.
Die brittischen alae und Cohorten sind zuletzt zusammen-
gestellt von Carlo Promis12) l'iscrizione Cuneese p. 41 ff.
12) L'iscrizione Cuneese di Catavignua. Ivomagi. Filius illu-
8trata da Carlo Promis. Torino 1870. 4.
15*
2l4 Sitzung der philos.-philol Classe vom 7. März 1874.
Neben coh. I. IL III. VI. und VII. JBrittonum steht die
cohors III, Britannorum bis jetzt einzig da. Dieser Name
war vor Auffindung des Weissenburger Diploms im J. 1867
gar nicht bekannt, hat aber seitdem durch einen bei Cuneo
gefundenen Stein einen bedeutenden Beleg gefunden. Der-
selbe trägt die Inschrift:
D. M.
CATAVIGNI
IVOMAGI . F
MILIT . COH
Hl . BRITAN
NORVM 5 GESÄT
VIX . ANN . XXV
STI . VI . EXERCI
TVS . RAETICI
PATERNVS
H . F . C
COMMILITONI
CARISSIMO
und gibt uns die Gewissheit, dass der Name Britanni nicht
blos eine zufällige mit Brittones völlig gleiche bedeutende
Bildung des Völkernamens ist. Der Name Britanni wird
durchweg auf Inschriften mit einfachem T geschrieben, die
einzige mir bekannte Ausnahme bildet die ohnehin fehler-
hafte Form Brittaninorum der Innenseite des Weissenburger
Diploms, während Brittones mit wenigen Ausnahmen mit
doppeltem T geschrieben ist. Dass in verschiedenen Schrift-
stellern auch Britones geschrieben wird, ist mir nicht un-
bekannt, auch sind zunächst hier nur diejenigen Inschriften
berücksichtigt, in denen sich beide Namen mit Sicherheit
unterscheiden lassen. Auch Britanniens findet sich nur
selten mit doppeltem T (z. B. C. J. L. vol. III dipl. XLII.
XLIII, wo aber der Name nicht ausgeschrieben ist) und
OJüenschlager : Das Begensburger römische MiUtärdiplom. 215
neben dem regelmässigen JBritannia erscheint Brittannia
verschwindend selten (C. J. L. III Dipl. XXIII. XXX. vol. II
n. 1262. 2078).
Darf man aus dieser Orthographie einen Schluss ziehen,
so wären in der Regel die mit BRITT. abgekürzten Namen
nur den Brittones, die Namen mit BRIT. aber den Britanni
zuzuweisen. Die Abkürzung BR. aber schwankt zwischen
beiden oder gehört gar den Breuci oder Bracaraugustani
an und ihre Deutung verlangt andere benachbarte Funde,
wenn sie als gesichert gelten soll , während BRE wohl nur
Breuci, BRA nur Bracaraugustani bedeuten kann. Mit
Recht hat demnach Mommsen im C. J. L. III. n. 5935 in
der Steininschrift von Eining coh. III. Britannorum ergänzt,
während man früher, solange diese Cohorte noch nicht be-
kannt war, auf die Notitia gestützt , (welche einen tribunus
cohortis tertiae Brittonum Abusina erwähnt, not. occid. cap.
XXXIV.) dort coh. III Brittonum zu lesen pflegte.
Keinenfalls aber dürfen die Inschriften von Pfünz mit
coh. 1 Brec. (C. J. L. III. n. 5918 a) und coh. 1 Bre (C. J.
L. III. n. 5918) den Brittones zugeschrieben werden, wie
diess noch von Promis a. a. 0. p. 42 aus Mangel an guten
Abschriften geschah. Ist bei diesen Inschriften die auch
von Mommsen 1. c. beibehaltene Erklärung richtig, so wäre
auch der Ziegelstempel coh. IUI Bre. (C. J. L. VII. 1231
Britannia) einer cohors IV. Breucorum zuzuweisen , sofern
der Stempel richtig gelesen und überliefert ist.
Die Geschichte der cohors IV. Oallorum ist von BÖcking
not. Orient p. 915* und von Hübner, die römischen Heeres-
abtheilungen in Britannien im rhein. Museum Bd. XI p. 32
besprochen und es genügt hier, die wenigen seither bekannt
gewordenen Zeugnisse für dieselbe dort anzureihen. Es ist
dies ein Stein aus Waltonhouse mit 1. 0. M. coh. IUI
Gallorum (C. J. L. VII. 878. Britannia) und eine Inschrift
aus Caesarea in Afrika, (Renier, inscr. Rom. de l'Algerie n.
216 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 7. März 1874.
3903.), die einen L. Arnims Fabianus als praef. coli. Uli
Gallor in Baetia nennt. Ein gleichnamiger L. Annius
Fabianus war vor M. Aurelius leg. Aug. pr. pr. pr. Daciae,
(C. J. L. III. 1455) der vielleicht mit unserm Praefecten
eine und dieselbe Person ist. (Borghesi. ann. 1855. p. 32.)
Im Jahre 105 stand sie in Moesia inferior (C. J. L.
III. Dipl. XXII = Orelli 6857), im Jahre 107 in Baetia
(C. J. L. III. Dipl. XXIV), ebenso nach unserm Diplom im
Jahre 166. Eine auffallende Erscheinung bleibt es, dass in
der notitia occidentis (cap. XXXVIII) diese Cohorte als
Besatzung von Britannia zu Vindolana erscheint und nach
der not. orientis (cap. XXXII) in provincia Rodopa zu
Ulucitra als Garnison angesetzt wird, wenn wir nicht an
verschiedene Cohorten der Gallier, oder eine ungleichzeitige
Abfassung der notitiae denken wollen.
Von der Cohors VII Lusitanorum sind nur wenige
Nachrichten vorhanden ; im J. 107 stand sje nach dem
Weissenburger Diplom in Baetia; zwischen d. J. 145 und
160 in Pannonia (C. J. L. III. Dipl. XLII. XLIII) und
ausser einem Präfecten C. Calpurnius Fabatus (Grut. 382,6)
ist mir nur noch ein G. Julius Fidus eques coh. VII
Lusitanorum bekannt geworden (Renier J. de l'Algerie n. 752.)
Die Cohors X. Batavorum oo aber ist hier zum ersten-
mal erwähnt. Wohl wusste man aus Tacitus, Hist. I. 59,
dass acht Cohorten der Bataver im J. 70 n. Ch. zu den
Hilfstruppen der XIV. Legion gehörten, aus anderen Quellen
aber waren nur die coh. I. IL und III. Batavorum bekannt,
alle drei wie die X. miliariae.
Stellt man schliesslich die Militärabtheilungen des Weissen-
burger Diploms neben die des Regensburger, so findet sich
in Anbetracht des Zeitunterschiedes von 59 Jahren und an-
genommen, dass in den Diplomen alle rätische Abtheilungen
genannt sind, nur eine geringe Garnisonsveränderung. Ge*
nannt werden nämlich;
Ohlenschlager : Das ßegensburger römische Milüärdiplom. 217
im Weissenburger Diplom
vom Jahre 107.
IV alae
f HISPANORVM AVRIANA
T SINGVLARIVM C. R
^AVGVSTA THRACVM
II FLAYIA P . F . oo
XI cohortes.
T BREVCORVM
I^RAETORVM
II RAETOKVM
• /
III BRACARAVGVSTANORVM
III THRACVM
III THRACVM C . R.
III BRITANNORVM
IIl^BATAVORVMoo
IIII GALLORVM.
V_BRACARAVGVSTANORVM
VII LVSITANORVM
im Regensburger Diplom
vom Jahre 166.
III alae
I (Hispanor. Aur?)
I FL . GEMELL
I FL . SING.
XIII cohortes.
T(/fcmaCa)NATHoo?
I BREVC '
I (Baetorum?)
II (Baetorum?)
n^AQVITAN
III BRACAR
III THRAC VET
III TRRAC (c. r.P)
III BRIT.
TV GALL.
V_BRACA.
VII. LVSITAN.
X BATAV.oo
Aq andere Standorte gingen demnach ab die
ALA T.AVG. THRAC. und
ALA II FLA VIA P . F. oo
an deren Stelle trat die
ALA I FL . GEMELL.
Von den Cohorten gingen ab die
COH III BATAVORVM oo
218 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
Dagegen traten ein die
COH T (Flavia Ca) NATH. oo
COH H AQVITAN.
COH X B ATA VOR oo,
wobei angenommen wird, dass die coh. III. Thrac. vet. des
Regensburger und die coh. III Thracum des Weissenburger
Diploms die gleichen sind. Die cohors II Baetorum stand
in der Zwischenzeit im J. 116 in Germania, die cohors III
Bracaraugustanorum im J. 124 in Britannia, wie schon
oben bemerkt worden ist.
Einige Zeit vor der Auffindung des Diploms waren
beim Graben eines Kellers des Brauereibesitzers Bergmüller
am Karmelitenbräuhause in Regensburg in den ersten Tagen
des Mai 1873 die Fundamente der porta principalis dextra
des römischen Lagerwalles zum Vorschein gekommen. Schon
lange hatte man an dieser Stelle das römische Thor ver-
muthet13). Beim Abräumen der Steine, die zu dem Neubau
verwendet werden sollten, fand sich am 8. Mai 1873, nahe
dem östlichen Ende des Thorausganges auch ein Stein 2 m.
lang, 0,90 m. breit und 0,42 m. dick, welcher durch einen sehr
feinen aus Ziegelbröckchen und Kalk bereiteten Mörtel in den
Sockel des Vorbaues eingefügt war, und der auf der unteren
Seite eine Inschrift aufwies. Zugleich fand sich ein Kapital
dorischer Ordnung und Stücke von Säulenschäften, sowie
ein Stück des Thorgesimses. Am 5. Juli fand sich dann
ein weiteres ebenfalls im Fundament vermauertes Stück der-
selben Inschrift c« l1/* m. lang, ebenso breit, aber dicker
als das vorige. Leider Hess sich die Stadt Regensburg die
Gelegenheit entgehen, ein so werthvolles Alterthum, wie die
13) Vgl. Regensburg in seiner Vergangenheit und Gegenwart
herausgegeben von dem histor, Verein für Oberpfalz und Regens-
burg 1869. 8. S, 26.
IMP.CAES.M.AVR.ANTONINVS.AVG.DIVI.PILF.DIVI.VERI. FRATER.DIVI . HADRIp I.N EP O S.DIVITRAIANIP ARTH ICI
PRO N E POS . D I V IN ERVAE . A B NEPOS . GERMAN I C VS.SARMA TICVS . PONTIFEX . MAX I1MVS.TRIB . POTESTATIS. XXXVI. I M P . VUll
C O S.fflPi>.ET.IMR CAES.LAVR.COMMODVS.AVG.SARMATI CVS.G E R M A N I C V S .MAXI M V S. ANTONINLLVP.F.DIVI.PII
N.DIVLHADRIANLPRON.DIVI.TRAIANI.ABN.TRIB.POT.inLI MPfi.COS.ffVALLVM CVMPORTISET. TVRRIBVS.EFCINS TANTE
M HELVIO.CLE MENTE . DEXTRI A NO . LEG . A VG.PR. PR.
[1874. 3. Phil. hist. Cl.] rrj 01ft,
J [Zu pag. 219.]
Ohlenschlager : Das Regensburger römische Müitärdiplom. 219
Fragmente des Thores waren, zugleich die älteste Urkunde
über ihre Stadt, an einer passenden Stelle wieder aufrichten
zu lassen, was bei dem Vorhandensein fast aller Profilstücke
keine allzu grossen Schwierigkeiten gemacht hätte, und so
fielen die Stücke theilweise in die Hände der Steinmetzen,
welche sie ohne Kenntniss ihres Werthes für den Neubau
zurichteten. Die Inschrift zierte offenbar den oberen Theil
eines unter M. Aurel errichteten Thores, das bei einem Ein-
fall der Germanen , wie die Spuren zeigen , durch Brand
zerstört wurde , und dessen Bruchstücke bei der rasch
nöthigen Wiederherstellung desselben im Fundamente der
erneuten Befestigung ihren Platz fanden. Aehnlich, wie bei
Errichtung der Mauern von Athen (Thuc. I. 93) allerlei zu
andern Zwecken bestimmte Steine, selbst Grabmäler als
Baumaterial dienen mussten; wie die Umfassungsmauer des
Lorenzhügels zu Epfach bis zum Jahre 1830 die römischen
Denkmäler für den Forscher aufbewahrte, so musste auch
hier das ehrende Andenken des M. Aurelius die späteren
Geschlechter beschützen helfen und die Erde gab auch hier
das ihr Anvertraute gerade zu einer Zeit zurück , wo die
schützende Hand des H. Pfarrer Dahlem dieses unersetzliche
Denkmal vor gänzlicher Vernichtung rettete.
Das Schicksal dieses Steines lässt uns auf die Art des
Verschwindens der übrigen öffentlichen Denkmäler schliessen,
die Wiederauffindung desselben aber lässt uns hoffen, dass
gelegentlich noch manche wieder ans Tageslicht kommen
werden, um uns über die Geschichte ihrer Zeit zu belehren.
Beide Steine passen unmittelbar an einander und tragen
folgende Inschrift:
RATER. DIVI .HADRIANI . NE POS . DI VI . TRAlANIPi
CVS.PONTIFEX.MA IMVS. TRI B.PO TEST ATIS. XXXVI. I
VS.GERMANIC /S . MAXIMVS.AN TONINI. BP
MI.COS.II VALLV CVMPORTISET . TVRRI BVS.EFCI
«.HELVIO, C MENTE , DE XT Rl A N 0 .LEG, AV
220 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 7. März 1874.
Eine Ergänzung der Inschrift konnte erst versucht
werden , nachdem für die ursprüngliche Grösse derselben
die nöthigen Anhaltspunkte gewonnen waren, und darüber
musste die Gestalt der Steine selbst, sowie die aufgedeckten
Fundamente Aufschluss geben.
Nach den Grundmauern zu schliessen hatte das ganze
Thor eine Breite von 10 — 11 m.; die Durchfahrt war etwas
über 3V2 m. weit. Die jetzt noch vorhandenen beiden Steine
haben nun folgenden Grundriss:
o o
Der dickere von beiden hat an
2 Löcher, in welchen eine das Ganze
Verzierung befestigt war und bildete
scheinung nach die Mitte des Ganzen
schrift fehlt, nach der letzten Zeile zu
welches etwa dem Mittelstück, d. h.
beiden erhaltenen Steinen gleichkam ,
welche die ganze Inschrift enthielten,
folgende Gestalt hatten.
der oberen Fläche
krönende Figur oder
seiner ganzen Er-
. Am Ende der In-
schliessen, ein Stück,
dem dickeren von
so dass die Steine,
im Grundriss etwa
Die erhaltenen Stücke messen zusammen bei 3,25 m.,
was einer Gesammtlänge von etwa 7,75 — 8 m. entsprechen
würde. Der so am Anfange der Inschrift zur Ergänzung
gebotene Raum entspricht etwa 40 Buchstaben von der in
der Inschrift angewendeten Grösse. Sind die vorstehenden
Voraussetzungen richtig, so mag die Gesammtinschrift un-
gefähr wie die Beilage gelautet haben.
Ohlenschlager : Das Begensburger römische Militärdiplom. 221
Wäre in dieser Inschrift nur die tribunitia potestas
XXXVI. des M. Aurelius enthalten, so erschiene alles Be-
mühen das Jahr ihrer Abfassung zu bestimmen vergebens,
da weder in Inschriften, noch auf Münzen eine trib. pot.
XXXV oder gar XXXVI dieses Kaisers vorkommt, während
alle oben gegebenen Buchstaben auf dem Stein in voller,
unverkennbarer Deutlichkeit vorhanden sind. Die trib. pot.
XXXVI würde uns nach der gewöhnlichen Berechnung in
das Jahr 182 n. Ch. versetzen, in welchem M. Aurelius,
der hier als divi Hadriani nepos unzweifelhaft angegeben
ist, schon todt war.
Glücklicherweise fanden sich noch einige andere Zeit-
bestimmungen, welche die Auffindung des Jahres möglich
machten. Das Wort; Frater lehrt, uns dass das Jahr 169,
das Todesjahr des Verus vorüber ist, und dass bei der
zweiten in der Inschrift angedeuteten Person nur an Coin-
modus gedacht werden kann.
L. Aurelius Commodus aber war Imperator II vom
J. 177 bis gegen das Ende des J. 179, wo er als imp. III
erscheint u). Das zweite Consulat desselben fiel in das Jahr
179 ,5), sein drittes in das Jahr 181, so dass für die Ab-
fassung der Inschrift das Jahr 179 gesichert ist, in welchem
M. Aurelius die trib. potestas XXXIII bekleidete. Warum
zeigt aber der Stein die Zahl XXXVI? Darüber lassen sich
nur Vermuthungen aufstellen. Nehmen wir an, dem Stein-
metzen, welcher die Schrift auszuführen hatte, sei dieselbe
in Currentschrift vorgelegt worden, so konnte eine undeut-
lich geschriebene lll leicht als 11 1 gelesen und von dem Hand-
werker, der sicher die Regierungsjahre des Kaisers nicht im
Kopfe hatte, auch falsch eingemeiselt werden.
14) Eckhel. doct. num. vol. VII. p. 107 f.
15) Clinton fasti Romani A, D. 179,
222 Sitzung der philos.-philol Classe vom 7. März 1874.
Auffallender ist, dass der Fehler nicht verbessert wurde,
entweder weil er Niemand auffiel, oder damit der Stein nicht
verunstaltet werde. Nach Feststellung des Jahres 179 er-
geben sich die übrigen Titel wie folgt: Schon im J. 178
führte M. Aurelius das imp. Villi, cos. III. und nahm am
Ende des Jahres 179 das imperium X., Commodus das
imp. III an16). Da nun Commodus noch als imp. II erscheint,
so ist für M. Aurelius imp. Villi anzusetzen. Das dritte
Consulat hatte M. Aurelius schon im J. 161 angetreten.
Die übrigen Titel wurden von M. Aurelius zu verschie-
denen Zeiten angenommen, er hiess Pater patriae seit
176 p. Ob. (Eckhel doct. num. vol. VII. p. 71), Germa-
nicus seit 172 (925 a. u. c.)17), Sarmaticus seit 175
(928 a. u. c).
Die letzten beiden Namen führte Commodus ebenfalls
seit d. J. 176 in Folge seiner um diese Zeit erfolgten Er-
nennung zum Mitregenten.
Der Beiname Augustus wurde aber dem Commodus
wahrscheinlich bei Gelegenheit seiner Vermählung mit Cris-
pina im J. 177 verliehen18).
Die tribunitia potestas IUI des Commodus fällt mit der
tribunitia potestas XXXIII des M. Aurelius zusammen. Die
Buchstaben EFCI glaube ich durch e fundamentis construxe-
runt instante deuten zu dürfen. (C. J. L. III. n. 5817.)
Anlass zur Verstärkung des römischen Lagers der Castra
Regina durch steinerne Mauern, Thürme und befestigte
16) Dio LXXI, 33. 6 MaQXog — zw IlazEgvia Sovg %EtQcc ^leyakriv
enejxxpeu avzov eig zou zrjg (td%r]g äywvcc' zccl ol ßctQßuQot uvzEZEivctv
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xcu 6 MctQXog td Sekkzop avzo xqccz(oq 7ZQoat]yogev&t],
17) Dio LXXI, 3. XQazijaag 6e avzaiv V eq [Accvixo g Mvofxdad-ri.
rEQficcvovg yccQ zovg cV tolg civw %(0()ioig olxovvzccg ofOftcifo/UEv.
18) H. F. Stobbe, Die Tribunenjahre der römischen Kaiser im
Philologus Bd. XXXII, S, 48,
Öhlenschlager : t)as Regensburger römische Militär diplom. 223
Thore war hinreichend durch die Markomannenkriege geboten,
welche M. Aurelius im J. 178 wieder begonnen hatte 19).
Wenn sich des Kaisers Fürsorge auf alle Städte seines Reiches
ausdehnte, so war20) dies um so mehr bei Regensburg not-
wendig, welches als Hauptwaffenplatz des limes Raeticus am
weitesten nördlich vorgeschoben, einen der gefährlichsten An-
griffspunkte gegen die Germanen zu decken hatte. Eine
Reihe mächtiger , bis jetzt in ihrem Zusammenhang noch
nicht genügend erforschter Befestigungswerke verband Regens-
burg mit dem Endpunkte der Teufelsmauer, des künstlichen
limes Raeticus oder vielmehr mit dem diesem Endpunkte
gegenüberliegenden Ufer und bildete mit trefflicher Benützung
der Anhöhen, durch Abschluss der Defileen, Verschanzung
leicht zugänglicher Uferstellen eine Schutzmauer, hinter der
sich die Bewohner, bewacht durch ein trefflich geleitetes
Heer, den Beschäftigungen des Friedens in aller Ruhe über-
liessen, wie diess zahlreiche Funde und Gebäudereste be-
zeugen.
Dass bei dem Verfall der römischen Kriegszucht auch
so wohldurchdachte Massregeln den Mangel an Manneskraft
und Heldenmuth nicht ersetzen konnten, zeigt uns die Ge-
schichte dieses Thores, welches von M. Aurelius errichtet,
von eindringenden Germanen durch Brand zerstört, von den
Römern wieder aufgebaut wurde. Die Stürme. der Völker-
wanderung verwischten aufs Neue dessen Spuren von der
Erdoberfläche und erst in der neuesten Zeit traten die an-
sehnlichen Trümmer desselben zu unserer Belehrung auf
kurze Zeit ans Tageslicht.
19) Capitolini M. Anton, philos. c. 27: triennio bellum postea cum
Marcomannis Hermunduris Sarmatis Quadis etiam egit et, si anno uno
superfuisset provincias ex his fecisset. ^
20) Capitolini M. Antonin. c. 23: ipse in largitionibus pecuniae
publicae parcissimus fuit, sed tarnen et bonis viris pecunias dedit et
oppidis labentibus auxilium tulit et tributa vel vectigalia — remisit.
^24 Sitzung der ptiüos.-phüot. Classe vom 7. Mar£ 1874.
Den Schluss der Inschrift bildet der Name des Legatus
Augusti propraetore unter dessen Leitung damals die rätische
Militärmacht stand und unter dessen Leitung dergleichen
Bauten wie die Lagerbefestigung ausgeführt wurden. Früher
war Rätien von procuratores verwaltet, dies war wenigstens
schon im J. 69 und zu Tacitus Zeit der Fall (Tacit. hist. I. 11.
III. 5.) und Desticius Severus der Befehlshaber der römischen
Auxiliartruppen in Rätien im J. 166 wird auf der Inschrift
von Concordia noch procurator provinciae Raetiae genannt
(vgl. S. 205). Unter den mit bestimmten Zeitangaben ver-
sehenen Nachrichten von Legaten ist M. Helvius Clemens
Dextrianus im J. 179 derjenige, welcher dem letzten, dein
Jahr nach bekannten, procurator T. Desticius Severus v. 106
am nächsten steht. Die Umwandlung des höchsten Provinzial-
beamten in einen legatus Augusti propraetore muss demnach
in der Zwischenzeit stattgefunden haben und wird gewöhn-
lich mit der Errichtung der legio III. Italica in Verbindung
gebracht, welche von F. Kenner mit grosser Wahrschein-
lichkeit in die Zeit zwischen 166 und 170 verlegt wird21).
Gegen Ende des dritten Jahrhunderts endlich (im J. 291)
und später sehen wir einen Präses an der Spitze der
Provinz.
Eine Reihe von Denkmälern und Schriftstellen berichtet
uns von rätischen Statthaltern und wurden dieselben zuletzt
von P. C. Planta in seinem Buche ,,das alte Rätien" S. 159 ff.
jedoch nicht vollständig zusammengestellt, so dass eine neue
wo möglich chronologische Aufzählung hier nicht ungerecht-
fertigt ist. Doch müssen auch solche Nachrichten aufge-
nommen werden, welche uns Männer nennen, die eine hohe
21) Kemier: Die Römerwerke in Niederöstreich, im Jahrbuch
für Landeskunde von Niederöstreich II (1869); weil 166 der Marko-
mannenkrieg begann und aus dem Jahre 170 die älteste bekannte
Inschrift der (mit der III. italischen gleichzeitig errichteten Dio
Cassius 55, 24) II italischen Legion stammt. (Gruter 260, 5 Spoleto).
Ohtenschlager : Das Regensburger römische Militär diplom. 225
militärische Stellung in Rätien einnahmen, wenn ihnen auch
der Titel procurator, legatus, oder praeses nicht ausdrück-
lich beigelegt ist.
1. Die früheste Erwähnung eines Oberbefehlshabers in
einem Gebiet an der Donau, welches durch die Nachbar-
schaft der Hermunduren als Rätien angesehen werden kann
findet sich bei Cassius Dio 55, 10a. 6 yaq Jopiriog (L.
Domitius Aenobarbus) tcqotbqov (asv, ecog sri tcov 7tqog T(p
^Iotqo) xcoquov 7]QX£> fovg re cEQ^iovvöovQOvg ix rrjg oweiag
ovk oid' ortcog l^avaoxavvag v.ai xarcc tyjTrjaiv exeqag yrtg
Ttlavco^ivovg VTtoXaßcov sv (.isqei Ttg MaQxofAccvvldog xaTupxioe.
Die Thätigkeit des Domitius an der Donau fällt in das letzte
oder die letzten Jahre vor der christlichen Zeitrechnung,
2. Sex. PediusLusianus aus den ersten Jahrzehnten
nach Chr. Geburt. Mommsen J. R. N. n. 5330. SEX.PEDIO.
S . F . LVSIANO HIRRVTO — PRAEF . RAETis VINDOLICIs.
VALLis pOENINAE- PRAEF. GERMANICi CAESARis. -
Germanicus, für welchen Sex. Pedius die praefectur
versah (s. Mommsen J. R. N. im Index p. 480 s. v.praefecti)
starb bereits im J. 19 n. Ch.
3. Im J. 69. Porcius Septiminus, procurator
Tac. tyst. III. 5. infesta Baetia cui Porcius Septiminus pro-
curator erat.
4. Im J. 107 war Ti. Julius Aquilinus der Be-
fehlshaber der römischen Truppen in Baetia s. W. Christ,
Das Weissenburger Diplom.
5. Zwischen 161 und 169. Q. Caecilius Cisiacus
Septicius Pica Caecilianus procurator et pro-
legatus. C. J. L. vol. V. n. 3936. Q .CAICILIO jj CISIACO.
SEPTICIO || PICAI.CAICILIANO |] PltOCVR . AVGVSTOR.
ET PRO.LEG.PROVINCIAI; RAITIAI . ET . VINDELIC ||
ET. VALLIS. POENIN. etc.
226 Sitzung der philos.-philoi. Classe vom 7. März 1874.
6. Im J. 162 wurde Aufidius Victorinus gegen
die Chatten geschickt, welche in Rätien eingefallen waren.
Capitolini Antoninus philosophus c. 8. imminebat etiam
Britannicum bellum et Chatti in Germaniam ac Baetiam
irruperant. et adversus Brittannos quidem Calpurnius Agri-
cola missus est, contra Chattos Aufidius Victorinus.
7. Vor 170 war auch P. Helvius Pertinax als
legatus Augusti propraetore in Rätien. Capitolini Pertinax
c. 2 : Marcus imperator . . . praetorium eum (Pertinacem)
fecit et primae legioni regendae imposuit statimque Baetias
et Noricum ab Jiostibus vindicavit. ex quo eminente industria
studio Marci imperatoris consul est designatus und später:
Cassiano motu composito e Syria ad Banuvii tutelam pro-
fectus est. Das erste Consulatsjahr des Pertinax soll 179
gewesen sein (Baiter, fasti consulares). Zum zweiten Mal
war er Consul im J. 192 (Clinton, fasti Romani) mit imp.
Commodo VII. Nach Capitolinus zu schliessen war er legatus
Augusti propraetore legionis I und diess lässt uns annehmen,
dass die Thätigkeit des Pertinax in der Zeit vor der Er-
richtung der legio III Italica, demnach vor 170 n. Ch. statt-
gefunden habe. In die Zeit unter oder vor M. Aurelius
gehören auch noch
8. T. Varius Clemens procurator der au8 einer
Anzahl von Inschriften bekannt ist. C. J. L. III. 5211 — 5216,
z. B. 5215 T . VARIO . CLEMENTI AB EPISTVLIS . AVGV-
STORVM PROC . PROVINCIAR — RAETIAE etc. Der von
ihm zuletzt erlangte Titel (s. Mommsen zu den oben genannten
Inschriften) ab epistulis Augustorum führt uns in die Zeit
zwischen 161 und 169.
9. Cl. Paternus Clementianus procurator.
Er wird erwähnt in drei Denkmälern aus Epfacli (C. J. L.
III. 5775. 5776. 5777.). Da er auf dem letzten Steine kurz-
weg PROC . AVG ohne Beifügung der Provinz genannt wird,
Ohtenschtager : Das Regensburger römische Militärdiplom, 227
so ist es mindestens erlaubt ihn unter die Procuratoren
derjenigen Provinz einzureihen, in welcher der Stein gefun-
den wurde.
10. Im J. 166 T. Desticius Severus procurator.
bekannt durch die S. 205 angeführte Inschrift und das
Regensburger Militärdiplom.
11. Im J. 179 M. Helvius Clemens Dextrianus
leg. Aug.
12. Im J. 196. Appius. Cl. Lateranus cos. design.
leg. aug. pr. pr. leg. DI Ital. C. J. L. III. n. 5793.
Der Zusatz cos. designatus weist auf das Jahr 196 hin, da
Lateranus im J. 197 Consul war (Clinton, fasti Romani).
13. Dionysius legatus Augusti pro pr., der in
einer sehr fragmentarischen Inschrift von Lauingen genannt
wird, (C. J. L. III. n. 5874) und dessen Amtsführung wahr-
scheinlich in die Zeit des Kaisers M. Aurelius Antoninus
(d.h. Caracalla) 211—217 fällt.
14. Petronius Pollianus leg. aug. pr. pr. Raetiae,
welcher zu Karlsbuig ein Denkmal hinterliess. C. J. L. III
n. 1017 GENIO || IMP . GORDIANI || P . f . INVICT || AVG.
PFTRONIVS || POLLIANVS || v.c. - LEG. AVG || pr.pR.
RAET . It || eM . BELGICAE. Zwischen den Jahren 238—244.
15. Eine leider ganz fragmentarische Inschrift aus
Renier: inscriptions de l'Algerie, Cirta n. 1828: PR PRO-
VINCIAE RLII || VSDEM PORCIOPTATI G legato Augusti
pr. pr{aetore) provinciae Reti(a.e) (ei)usdem Porci Optati
g(enero ?)
16. Im J. 253 führte Licinius Valerianus in Rätien
den Oberbefehl, als er zum Kaiser ausgerufen wurde. Eutro-
pius IX. 7. hinc Licinius Valerianus in Raetia et Norico
agens ab exercitu imperator et mox Augustus est factus.
Aurelius Victor de Caesaribus c. 31 f. at milites qui contracti
[1874, 3. Phil. hist. CL] IG
228 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
undique apud Baetias ob instans bellum morabantur, Licinio
Valeriano Imperium deferunt.
17. Unter Gallienus (259—268) stand Aureolus an
der Spitze der Militärmacht in Rätien: Aurelius Victor de
Caesaribus c. 33: namque Aureolus cum per Baetias legio-
nibus praeesset, excitus, uti mos est, socordia tarn ignavi
ducis sumpto imperio Bomano Bomam contendebat, eine
Angabe, welche durch die Stelle in den vitac XXX tyr.
c. 11. Aureolus quoque Illyricianos exercitus regens ....
coactus a militibus sumpsit imperium durchaus nicht auf-
gehoben wird.
18. Um 261 erscheint Fulvius Boius als dux Bae~
tici limitis (Vopisci Aurelianus c. 13) und
19. unter Aurelianus im J. 270—273. Bonosus als
dux Raetici limitis (Vopisci Bonosus).
Welche Stellung dieser dux Baetici limitis zu den bis-
herigen legati Augusti pro praetor e einnahm, ist uns aus
Mangel an Quellen nicht bekannt, ebensowenig, ob überhaupt
beide Würden gleichzeitig nebeneinander bestanden haben.
Es lässt sich nicht behaupten , dass der bei Vopiscus
erwähnte dux Baetici limitis mit dem in der notitia occi-
dentis (c. XXXIV) genannten dux Baetiae primae et secundae
identisch sei, denn die uns bekannten duces Raetici limitis
gehören der Zeit an , in welcher Rätien noch eine unge-
teilte Provinz war, und ihr Name lässt es wohl zu, dass
in dem inneren Theile Rätiens, welcher nicht zum limes
gerechnet wurde, der legatus legionis III. Italicae, noch seine
Thätigkeit ausübte, auch wäre es möglich, dass Vopiscus
die zu seiner Zeit geläufige Benennung auf die frühere Zeit
übertragen hätte.
20) Olus Terentius Pudens Uttedianus leg.
Augg. propraet. provinciae Retiae (C. J. L. III
n. 993) genannt in einer Inschrift von Knrlsburg und ebenso,
Ohlenschlager: Das Begensburger römische Militärdiplom. 229
wie der vorher (n. 13) erwähnte Petronius Pollianus zuvor
legatus Augustoruin legionis XIII. geminae. Planta , das
alte Rätien S. 161 Anm. 3 glaubt, dass unter diesen Augusti
Diokletian und dessen im J. 286 angenommener Mitregent
Maximianus zu verstehen seien.
21. Sept(imius Vale)ntio v(ir) p(erfectissimus) p(raeses)
p(rovinciae) R(aetiae) welcher dem Diokletianus zu Ehren
im J. 290 zu Augsburg ein Denkmal errichtete (C. J. L. III.
n. 5810). Die Auflösung der Buchstaben VPPRR zu den
oben stehenden Worten vir perfectissimus praeses provinciae
Raetiae bietet zwar grosse Wahrscheinlichkeit, kann je-
doch mit völliger Sicherheit nicht aufgestellt werden. Der
Name ist ergänzt nach einer erhaltenen Inschrift desselben
Septimius Valentio bei Orelli 1049.
22. Valerius Venustus v(ir) p(erfectissimus) p(raeses)
p(rovinciae) R(aetiae) , der zu Zwifalten dem Sonnengotte
wegen Wiedererlangung geiner Gesundheit einen Tempel
von Grund aus wieder herstellte. (C. J. L. III. n. 5862.)
23. Aurelius Mucianus v. p. p(raeses) p(rovinciae)
R(aetiae), welcher zu Augsburg dem Herkules eine Statue
errichtete. (C. J. L. III. n. 5785.)
24. Den Schluss der Reihe bildet Generidus, welcher
unter dem Kaiser Honorius (395—409) die Streitkräfte des
oberen Pannoniens, von Norikum und Rätien bis an die
Alpen unter seinem Oberbefehl vereinigte. Zosimus V, 46 :
J'Era^e reviqidov %&v ev JaK^iaxia itavTiov fyelo&ai, ovtcc
22) Ob der in der Legende der heiligen Äfra erwähnte judex
Gaius zugleich der höchste Beamte der Provinz gewesen sei, lässt
sich beim Mangel sonstiger Nachrichten nicht entscheiden, vgl.
Passio Sanctae Afrae bei Welser und dessen Anmerkung 6 und 12
zu dieser Legende. Die Zeit dieses judex Gaius ist angegeben in
der ebenfalls bei Welser abgedruckten conversio Sanctae Afrae et
puellarum eius: tempore quo persecutio Diocletiani fervebat im Jahre
303 -304.
16*
230 Sitzung der phüos.-philol Gasse vom 7. März 1874.
OTQctrtjydv xai twv alktov , ooot üaioviav te xi\v avw xai
NcoQixotg y.al cPaivovg l(pvXa%xov v.ai ooa ccvtwv iiiygi tcuv
AXtzewv.
Obwohl diese stattliche Reihe von hohen Provinzial-
beamten bis jetzt unter sich nur in lockerem Verbände steht,
so lässt sich doch hoffen und erwarten, dass die vielen noch
unerhobenen Schätze römischer Alterthümer auf rätischem
Boden nach und nach manche Lücke verringern oder aus-
füllen werden, namentlich, wenn einmal damit begonnen
wird an allen Fundorten den Nachgrabungen eine solche
Sorgfalt zuzuwenden, wie dies zuletzt in Regensburg geschehen
ist. Besondere Verdienste darum erwarb sich Herr Pfarrer
Dahlem und ich fühle mich verpflichtet demselben für die
Aufmerksamkeit, mit welcher er alle Erscheinungen auf dem
reichen Fundgebiete Regensburgs verfolgt, für die Bereit-
willigkeit, mit der er mir aufs uneigennützigste seine reich-
haltigen Fundberichte mittheilte, sowie Herrn Prof. Christ
für die rege Theilnahme, welche er dieser Arbeit durch Auf-
schlüsse aller Art und persönliche Anregung zuwendete,
meinen herzlichsten Dank auszusprechen.
Für mich aber bitte ich um Nachsicht, wenn diese
Arbeit, die neben vielen Berufsgeschäften rasch zu Ende
gebracht werden musste, nicht in allen Theilen so eingehend
erscheint, als sie bei hinreichender Müsse hätte werden können,
und als mir selbst wünschenswerth gewesen wäre.
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 231
Der Classensecretär von Prantl legt vor:
„Zur vergleichenden Geographie Persiensu
von Herrn A. D. Mordtmann.
Die vergleichende Geographie Persiens hat, mit Aus-
nahme der Küsten, über welche wir sehr schätzbare Nach-
richten aus dem Alterthum und sehr belehrende Arbeiten
aus der neueren Zeit besitzen, im ganzen noch geringe Fort-
schritte gemacht. Im Pars (Fars, Ilaqoig) z. ß. ist wohl
eigentlich nur ein einziger Punkt mit völliger Sicherheit
festgestellt, Persepolis, dessen grossartige Denkmäler jeden
Zweifel beseitigen. Die Identität von Pasargadae mit dem
Monument Mesdschid-i Mader-i Süleiman in der Nähe des
heutigen Murghäb ist ebenfalls wohl als gesichert anzusehen,
obgleich hier noch einzelne Bedenken obwalten. Alles übrige
aber ist noch dunkel und ungewiss; Ptolemäus (L. VI, c. 4)
gibt eine Liste von 34 Städten in Persis; für die grosse
Mehrzahl derselben ist meines Wissens noch gar nicht ein-
mal ein Versuch gemacht, in dieses lange Register Licht
und Ordnung hineinzubringen.
Die alten Geographen , mit Ausnahme des Ptolemäus,
so wie die Geschichtschreiber Alexanders nennen uns nur
sehr wenige Ortschaften in Persis; Ptolemäus wird also sein
Verzeichniss aus den Mittheilungen des Titianos, eines make-
donischen Kaufmanns entnommen haben (cf. L. I c. 11). In
232 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
den Keilinschriften , sowie in den armenischen Historikern
werden uns ebenfalls einige Ortschaften- in Persis namhaft
gemacht: das ist alles, was wir an geographischen Daten
über diese Landschaft aus dem Alterthum besitzen. Seit
Marco Polo fingen europäische Reisende an, Persien zu durch-
forschen ; wenn wir aber die nach ihren Angaben construirten
Karten der neuesten Zeit mit einander vergleichen, so ergibt
sich daraus die Ueberzeugung , dass dieses Land noch bei
weitem nicht hinlänglich erforscht ist, um Studien über ver-
gleichende Geographie mit Erfolg anzustellen. Wenn ich
nichts desto weniger in diesen Blättern einen solchen Versuch
mache, so geschieht dies nicht in der Ueberzeugung, dass
ich sichere Resultate erzielt habe, sondern vielmehr um
durch Discussion verschiedener Punkte Anregung zu weiteren
Forschungen zu geben und namentlich solche Punkte hervor-
zuheben, welche künftigen wissenschaftlichen Reisenden einen
Fingerzeig geben könnten, in welcher Richtung sie ihre
Untersuchungen anzustellen haben.
Für die Zeiten nach dem Islam gewähren die arabischen
und persischen Geographen und Geschichtschreiber eine
reiche Ausbeute; ihre Notizen über vor-islamitische Verhält-
nisse aber haben nur einen geringen Werth ; die bis jetzt
veröffentlichten Werke aus der Sassanidenzeit liefern nur
sehr dürftige Notizen, die jedoch keineswegs zu verschmähen
sind. Desto mehr Beiträge aber finden wir in der gleich-
zeitigen syrischen und armenischen Litteratur, sowie in der
Numismatik der Sassaniden, wodurch der Anschluss an die
parthische Periode und endlich an die Achämenidenzeit er-
möglicht wird.
Ich will versuchen, mit Benützung der mir zu Gebote
stehenden Hülfsmittei einige Punkte, zunächst im eigentlichen
Pars festzustellen, um damit eine sichere Grundlage für
weitere Forschungen zu gewinnen.
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 233
Da hinsichtlich der Identität von Pasargadae mit dem
heutigen Murghäb noch einige Bedenken obwalten, so werde
ich zunächst diesen Punkt discutiren.
Die Orthographie des Namens ist mehrfachen Schwank-
ungen unterworfen; wir lesen TlaoaQ^a da (oder TIaodqqa%a)
bei Ptol. VI, 4, 7.
naoaqyadai bei Strabo pg. 717, 728, 730. Arr. Exp.
Alex. VI, 29. Plut. in Artox. c. 3. Appian. Bell. Mithr. c. 66.
Polyaen. VII, 6. Dionys. Perieg. 1069. Nicol. Damasc. (in
Müller, Fragm. Hist. Gr. Vol. III p. 405).
naooaqydöai bei Steph. Byz.
Pasargadae bei Plin. H. N. VI, 26. Solin. Polyh. c. 69.
naoayaqöau bei Arr. Exp. Alex. III, 18.
Passagardae bei Plin. H. N. VI, 29.
Persagadae bei Curt. V, 6. X, 1.
Parsagadae bei Geogr. Ravenn. II, 5.
Nach Steph. Byz. bedeutet der Name „IleQOwv cvqa-
TOTtedov" „das Heerlager der Perser"; demnach wäre bloss
die bei Curtius und bei dem Geographen von Ravenna vor-
kommende Form richtig; da aber bei weitem die Mehrzahl
der Schriftsteller die Form Pasargadae haben, so darf man
wohl letztere für die richtige halten und die Uebersetzung
„Heerlager der Perser" ist nicht weiter zu beachten. Die
zweite Hälfte des Wortes erklärt sich leicht; im Neupers. ist
j^ „Haus" s&f 1) „Haus" 2) „Dorf". Diesem Worte
entspricht das oberdeutsche Gaden (Berchtesgaden) und das
niederdeutsche Kath „Bauernhaus", welches letztere Wort
in der Schriftsprache in Norddeutschland bald „die Käthe",
bald >5der Käthen" wiedergegeben wird. Die altpersische
Form ist vith, Zend vig, woraus hervorgeht, dass die neu-
persische Form sich schon sehr früh entwickelt hat. Die
Form Raoayaqdat ist offenbar gleichbedeutend, und entspricht
234 Sitzung der philos.-philol. Olasse vom 7. März 1874.
in ihrer zweiten Hälfte dem deutschen Gart (Stuttgart).
Was den Hauptnamen betrifft, so ist er sicher von den
Pasargaden entnommen, demjenigen persischen Stamme,
welchem Kyros und seine Familie, die Achämeniden, ange-
hören (Herod. I, 125). Es wird uns berichtet, dass Kyros
an der Stelle, wo er seinen entscheidenden Sieg über die
Meder erfocht, die Stadt Pasargadae angelegt habe; die
Ebene, in welcher diese Stadt liegt, sei vom Kyrosflusse
durchströmt ; später habe er sich hier auch sein Grabmal
errichten lassen. Alexander der Grosse besuchte dieses
Grabmal, und Arrian und Strabo geben uns ausführliche
Beschreibungen der Lokalität, des Mausoleums und der In-
schrift auf demselben. (Arr. Exp. Alex. VI, 29. Strabo
Lib. XV, p. 730). Diese Beschreibung stimmt in allen ihren
Einzelheiten zu dem Ruinen-Complex in der Nähe des heu-
tigen Murghäb, nordöstlich von Persepolis, bekannt unter
dem Namen Mesdschid-i Mader-i Suleiman (Moschee der
Mutter Salomon's), indem die muhammedanische Sage das
Mausoleum zum Grabmal der Bathseba macht. In dem
persischen Wörterbuche des Mohammed Kerim ibn Mehdi-
kuliTebrizi, lithographirt in Tebriz im J. 1260(1844) heisst
es fol. 9, recto :
und im Burhan-i Kati p. 142 der Ausgabe von Kahiia
1251 (1835)
La x£ nc>xcjn;.x> xsJaS Jjt sjuiv^ »wwb &>-wL
Mordtmann: Vergleichende Geographie Pirsiens. 235
Pas er e bedeutet also ein Stück Land, dessen Ertrag
der Staatskasse überwiesen ist, und demgemäss Pasargadae
d. h. Pasere gade aJ^s^L (nach der Analogie von sJjCwCof)
ein Ort, dessen Einkünfte dem Staat gehören, eine Staats-
Domäne.
Der älteste Reisende, welcher diese Ruinenstätte be-
suchte, ist der venezianische Gesandte Giosafatte Barbaro im
J. 1472 ; ihm folgte der Mecklenburger Albrecht von Mandeslo,
welcher 1638 Murghäb besuchte und eine, allerdings nicht
sehr sorgfältige Abbildung des Grabes lieferte. Von allen
späteren Reisenden des 17. und 18. Jahrhunderts ist kein
einziger nach Murghäb gekommen, obgleich die Entfernung von
Persepolis nicht sehr gross ist, während in demselben Zeitraum
Garcias de Silva Figueroa (1618), Pietro dellaValle (1622),
Thomas Herbert (1628), de la Boullaye le Gouz (1648),
Fryer(1673), Chardin (1674), Kämpfer (1686), C. Le Bruyn
(1704), C. Niebuhr (1765) Persepolis besuchten und Ab-
bildungen und Beschreibungen der Ruinen und Copien der
Inschriften gaben. Im J. 1808 kam Adrien Dupie nach Murghäb,
erwähnt aber nichts von den dort befindlichen Ruinen. Im
folgenden Jahre 1809 kam James Morier dahin und lieferte
genaue Abbildungen des Grabmals und Copien der Inschriften,
und sprach sich schon damals für die Identität dieser Oert-
lichkeit mit dem alten Pasargadae aus; im J. 1811 kam er
zum zweitenmal nach Persien in Begleitung des englischen
Gesandten Sir Gore Ouseley und dessen Bruders Sir William
Ouseley; er wiederholte damals seinen Besuch in Murghäb
und sprach sich auf's neue für diese Ansicht aus, obgleich
Sir William Ouseley das alte Pasargadae in dem heutigen
Fassa suchte. Ouseley lieferte indessen neue Copien der
Inschriften von Murghäb, in denen schon Grotefend den
Namen Kyros entzifferte.
Im J. 1818 kam Sir Robert Ker Porter nach Murghäb,
236 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. März 1874,
machte neue Copien der Inschriften , und erwähnte auch
Grotefend's Auslegung. Westergaard nahm eine Revision
sämmtlicher Copien der Keilinschriften vor, und überliess
die Inschriften der ersten Gattung dem Prof. C. Lassen,
welcher ebenfalls den Namen Kyros las, aber das Grabmal
des jüngeren Kyros in dem Mausoleum suchte.
Indessen stimmt die Beschreibung Arrian's und Strabo's
zu genau mit der Lokalität überein , als dass noch ein
Zweifel zulässig wäre. Selbst die griechische Uebersetzung
der Inschrift, welche Strabo nach Onesikritos gab, der
Hexameter
'Ev&dd'' eyw xeificu Kvqoq ßaadevg ßccodrjcov
stimmt fast wörtlich mit dem Original überein :
Adam Kurusch khschäyathiya Hakhämanischiya
(Ego Cyrus rex Achaemenius)
und gerade ihre majestätische Einfachheit ist das beredteste
Zeugniss für Kyros den älteren, Stifter der persischen
Monarchie.
Gegen dieses Argument verschwinden alle Zweifel, und
es kann sich also nur noch darum handeln, die etwaigen
auf topographischen Angaben beruhenden Zweifel zu ent-
kräften. Es ergibt sich übrigens , dass die topographischen
Bedenken in der Wirklichkeit viel geringfügiger sind, als
einige neuere Geographen vorgegeben haben. Diese Bedenken
sind folgende:
Aus Arrian (L. III, c. 18) hat man geschlossen, dass
Alexander auf seinem Marsche von den Engpässen Susiana's
zuerst nach Pasargadae und alsdann nach Persepolis ge-
kommen sei, so dass also Pasargadae im Westen von Perse-
polis liegen müsse; indessen steht davon nichts in der erwähnten
Stelle, und dieses Bedenken ist daher ganz ungegründet. Im
Gegentheil wissen wir aus den Berichten der Historiker,
dass Alexander auf seinem Rückmarsche von Karmanien
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 237
zuerst nach Pasargadae und dann nach Persepolis kam, und
dies stimmt ganz genau mit der gegenseitigen Lage von
Murghäb und Istachr.
Ferner wird behauptet, nach Strabo (p. 728) liege
Pasargadae im Südosten von Persepolis (s. Forbiger in Pauly's
Real-Eneyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft
Bd. 5, S. 1214); davon steht jedoch kein Wort im Strabo,
und somit fällt auch dieses Bedenken weg.
Nur im Ptolemäus wird Pasargadae südöstlich von
Persepolis angesetzt und Plinius (H. N, VI. 26) sagt, dass
man mittelst des Flusses Sitiogagus in sieben Tagen
nach Pasargadae gelange. Der Sitiogagus des Plinius ist
wahrscheinlich derselbe Fluss, welchen Arrian in seiner
Hist. Indica c. 38 Sitccxog nennt, und der in der türkischen
Geographie des Kiatib Tschelebi p. 274 ^zXzm, Sitarekan
heisst ; Kiatib Tschelebi sagt, der Fluss von Firuzabad, den
er sJo Berare nennt, ergiesse sich in den Sitarekan. —
Firuzabad hiess früher .<f Kur, arabisirt .***> Dschur, und
es ist möglich, dass dieser Name Kur und der Name des
Flusses Kvqog, der die Ebene von Pasargadae durchströmt,
eine Verwechslung bei Plinius veranlasst habe; denn sicher
ist es, dass man weder von Murghäb noch von Fassa,
welches P. della Valle und Sir W. Ouseley für Pasargadae
hielten, zu Wasser nach dem persischen Meerbusen gelangen
kann; da nun überdies die Stadt Fassa, deren hohes Alter
sicher beglaubigt ist, in der Nähe von Firuzabad liegt, so
erklärt sich diese Verwechslung um so leichter.
Herr Haug vermuthet, dass das Fort von Pasargadae
den Namen Schaspigan itftfDDW führte; vgl. An Old Zand-
Pahlavi Glossary, p. XXXVI.
Herr H. Vambery beschreibt in seinen „Wanderungen
und Erlebnissen in Persien" S. 198 — 201 die Ruinenstätte
und berichtet, dass dieselbe mit dem Namen Guzin bezeichnet
238 Sitzung der phüos.-phüol Glosse vom 7. März 1874.
werde. Ich habe diesen Namen bis jetzt in keinem andern
Reisewerke gefunden, und vermuthe daher, dass es ein Irr-
thum sei.
Sir VV. Ouseley, überzeugt, dass Fassa das alte Pasar-
gadae sei, unternahm von Schiraz aus eine Reise dahin, um
das Grab des Kyros aufzusuchen ; er fand sich aber in seiner
Hoffnung vollständig getäuscht, und konnte nur bestätigen, was
schon P. della Valle ausgesagt hatte, dass es in Fassa keinerlei
Alterthümer gebe. Nichtsdestoweniger lässt sich beweisen,
dass Fassa, auchBassa und Passa genannt, schon vor dem Islam
existirte ; zunächst haben wir dafür das direkte Zeugniss Bela-
dori's, welcher ausdrücklich erwähnt (p. 388, ed. Goeje), dass
Osman ibn Abül Aassi diese Stadt im J. 24 der Hidschret
(645) eroberte. Ferner erscheint ihr Name auf den Münzen
der Sassaniden (allerdings nicht sehr häufig) nämlich im
J. 29 Chusrav's I (559 n. Ch. G.), im J. 10 des Hormuz IV
(588) und im ersten Jahre Chusrav's II (591) in der Form
-UU| NDI1 Baga und im J. 28 Chusrav's II (618) in der
Form „LILLO KDS Faga oder Paga. Desto häufiger aber
kommt sie auf den ältesten Chalifeninünzen mit Pehlevi-
legenden vor, vom J. 35 der Hidschret an bis zum J. 83,
so wie auf den Münzen der Ommiaden und Abbasiden in
der Form L*i. — Hamze Ispahani (p. 37 ed. Gottwaldt)
sagt, die Stadt sei von Kei Güschtasp in Form eines Drei-
ecks unter dem Namen Ram Vaschnaskan ^UuwLuä. *K
erbaut. Die Glaubwürdigkeit dieser letzteren Nachricht lassen
wir billigerweise auf sich beruhen; es wäre jedoch immer-
hin möglich, dass das BaxSiva des Ptolemäus (L. VI, 4, 6)
das alte Ram Vaschnaskan des Hamze und das heutige Fassa
(Bassa) repräsentire und uns zugleich den Uebergang der
älteren Namensform zu der neueren zeige. Ich lege indessen
wenig Werth auf diese Vermuthung, da das Batthina des
Ptolemäus südwestlich und nicht südöstlich von Persepolis
angesetzt ist.
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 239
Die heutige Provinz Laristan (ehemals zu Fars gehörig)
liefert noch weitere interessante Vergleichungen.
Darius berichtet in der Keilinschrift von Bihistun, Col. I,
Abschn. XI, der Magier Gomäta habe sich in dem Gebirge
Arakadriscli in der Provinz Pisiyäuvädä empört und sich für
den ermordeten Bruder des Kambyses ausgegeben.
Ferner heisst es, Col. III, Abschn. V bis VIII, dass ein
gewisser Vahyazdäta sich in Täravä in der Provinz Yutiyä
in Pars gegen Darius empörte, und sich ebenfalls für den
ermordeten Bartiya (Smerdis) ausgab. Nach der ersten
Schlacht, die ihm Artavardiya, der General des Darius, bei
Rakha in Pars lieferte, zog er sich nach Pisiyäuvädä zurück,
und bei dem Berge Parga wurde er zum zweitenmale besiegt
und gefangen genommen, und in der Stadt Uvädaidaya
gekreuzigt.
In dem Namen Yutiyä hat schon Oppert den Namen
der ÖvTioi des Herodot vermuthet. Letzterer berichtet
(L. III, c. 93), dass die Sagarten , Sarangen , Thamanäer,
Utier, Myken und die Inseln im erythräischen Meere die
vierzehnte Satrapie bildeten. Von diesen Namen sind nur
die Sarangen (Drangianer) und die Inseln des erythräischen
Meeres mit Sicherheit lokalisirt; die Sagarten sind laut
Herodot I c. 125 eine nomadische Völkerschaft in Persis,
deren Wohnsitze also nicht genauer zu bestimmen sind;
nehmen wir aber die beiden festen Punkte an, so ergibt
sich mit ziemlicher Sicherheit die Strecke von Drangiane an
bis zur Mündung des persischen Meerbusens als die vier-
zehnte Satrapie, welche demnach das heutige Laristan, Mo-
gistan, den südlichen Theil von Karmanien und Drangiane
umfasst und wir erkennen in dem Namen Mogistan die
Minoi des Herodot wieder. Moghistan soll nach Kämpfer
(Amoenit. Exot. p. 665) und den persischen Wörterbüchern
L ist der Name der Dattel-
„Dattelland" bedeuten ; kx> und .^
240 Sitzung der philos.-phüöl. Classe vom 7. März 1874.
palme in Hormuz und der Umgegend von Bender Abbas;
es wäre aber auch möglich, dass in dem Namen die alten
Magier noch fortleben, die hier ihren Hauptssitz gehabt zu
haben scheinen, wie aus den Worten des Plinius VI, 29
hervorgeht.
In Laristan finden wir die Stadt Forg am südlichen
Abhänge des Gebirgszuges, welcher Laristan von Pars trennt;
sie wird nur selten von Reisenden besucht; ich kenne nur
zwei Reisewerke, in denen sie erwähnt wird ; P. della Valle,
der sie im Anfang des 17. Jahrhunderts besuchte, aber wenig
oder nichts darüber zu sagen weiss; er erwähnt jedoch
einige zerstörte Befestigungswerke in dem Engpasse, der von
Pars nach Laristan führt; und Adrien Dupre, der hier im
Januar 1808 war; es war damals die Hauptstadt eines
Distriktes, der sich auf der Seite von Lar bis Kaie Pendumi,
3 Parasangen von Forg, und auf der Seite von Kinn an bis
Beschagjerd, 8 Parasangen von Forg, erstreckte. Die Be-
völkerung schätzte er auf 2000 Seelen; in der Entfernung
einer Parasange auf einem niedrigen Berge sieht man ein
theilweise zerstörtes und mit Thürmen versehenes Kastell,
welches vom König Behram erbaut wurde, und welches auf
der Karte d'Anville's unter dem Namen Chäteau du roi
Bahmen eingetragen ist. (Voyage en Perse. Paris 1819.
Vol. I p. 363. 369.) In diesem Forg erkennen wir ohne
Mühe den Namen des Berges Parga oder Paraga, und somit
wäre das heutige Forg in der alten Provinz Pisiyäuvadiyä.
Letzterer Name hat sich fast unverändert in dem so eben
erwähnten Beschagjerd erhalten ; beide Namen sind zusammen-
gesetzt; das gjerd des heutigen Namens ist gleichbedeutend
mit dem uvadiyä des alten Namens und entspricht den End-
ungen „hausen", ,,gadenu, ,,gart" in deutschen Ortsnamen.
Nach einer von Sir W. Ouseley (Travels, Vol. II, p. 134)
mitgetheilten Stelle des Mudschmel ul Tevarich hiess die
Stadt Darabgird in älterer Zeit, ehe Darius ihr seinen Namen
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 241
gab, Aspan Fargan ^ri mU^' dagegen sagfc Hamze
Ispahani p. 39, dass nicht die Stadt, sondern die ganze
Landschaft früher Asitan Fargan • jfe'wi <obuJ (nicnfc kjL^O
hiess; es ergibt sich jedenfalls aus diesen Notizen, dass der
ganze Gebirgszug zwischen Darabgird und Forg wahrschein-
lich derselbe ist, welcher in der Bihistun-Inschrift Parga
oder Paraga genannt wird. Wahrscheinlich ist auch das
ndqva des Ptolemäus VI, 4, 7 derselbe Name , FTAPTA
statt TTAPrA, im Südwesten von Pasagarda.
Die Stadt Täravä würde durch das heutige Tarom
repräsentirt sein, oder was mir noch viel wahrscheinlicher
ist, durch das heutige Darab in Pars; wir sind gewohnt,
nach den Angaben der arabischen Geographen, diese Stadt
Darabgird (Darabdschird) zu nennen; Sir W. Ouseley belehrt
uns jedoch (Travels, Vol. II p. 130) dass die Eingebornen
sie einfach Darab nennen, und Jakuti in seinem geographischen
Wörterbuche Bd. II p. 561 berichtet, dass die Stadt ehe-
mals Daraverd ösJxö genannt wurde. Der Name soll, den-
selben arabischen Geographen zufolge „Werk des Darius"
bedeuten, was indessen eine unzulässige etymologische Grille
der arabischen Grammatiker ist. Das Burhan-i Kati sagt
(p. 520, ed. Constant.):;o*^L*x> sjJo; ^ (gircl) öS
)iX£+j>ö „Gird ^bedeutet Stadt, Ortschaft, z.B.
Darabgird, Siaveschgird, d. h. Stadt des Darab, Stadt des
Siavesch".
Der Name Darius lautet bekanntlich altpersich Dära-
yavus, und „Stadt" vardanam ; letzteres Wort ist das eben
besprochene neupersische c>S gird (wie Vistäcpa = Gusch-
tasp = Hystaspes); es hat sich in seiner archaistischen Ge-
stalt noch in einigen Namen erhalten, z. B. Abiverd; auch
das b in Darab ist eine neuere Form. Jakuti hat also ganz
242 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
recht, wenn er sagt, dass die Stadt ehemals Daraverd (er
schreibt i>^!u> und oJoK^, nicht ^l.b, £JoUo)
hiess, und dass ein Bewohner der Stadt ^^..L^ heisse
(ib. p. 560). Indem nun also diese Bemerkungen die Ver-
gleichung von Tarava mit Darab (Darabgird) rechtfertigen,
füge ich noch hinzu, dass unter den Sassaniden der Ort
sehr bedeutend gewesen sein muss. In der Nähe von Darab
fand Ouseley ein Basrelief, welches Schapur II zu Pferde
vorstellt; unter den Füssen seines Pferdes liegt der er-
schlagene Leichnam des Kaisers Julian, während der König
dem bittenden Jovian den Frieden bewilligt; eine andere
Figur, welche dem Pferde in die Zügel greift, ist mit einem
langen Gewände bekleidet, und soll wohl den armenischen
König Tiridates, Julian's Bundesgenossen, vorstellen. Hinter
beiden sieht man noch eine Gruppe von 23 Figuren mit
entblössten Häuptern und ein Pferd ohne Reiter, und hinter
dem Könige Schapur eine Gruppe von 16 persischen Kriegern.
Das Basrelief ist in Sir W. Ouseley's Reisewerke Vol. II
PL XXXV abgebildet. - Nach Beladori (p. 388 ed. Goeje)
war Darabdschird „eine Hochburg ^L^Lw der Wissen-
schaft und des Glaubens" und war zur Zeit der Eroberung
durch die Araber die Residenz eines Hirbed, d. h. eines
Hohenpriesters.
Ferner ist auf den Sassaniden -Münzen die Signatur
-1 1-3 (Da) ungemein häufig; sie kommt von Bahrain V an
vor und erhält sich bis zu Ende der Regierung Ardeschirs III.
Man kann diese Abkürzung Darab (Darabgird) und Dämegän
lesen; letztere Auslegung aber ist unzulässig, denn 1) Dä-
megän war während der Jahre 4, 5, 6, 7 Chusrav's II (593
bis 596) in den Händen des Usurpators Bestam, während
Münzen Chusrav's II aus jm ^ aus denselben Jahren vor-
kommen ; 2) Däräbschird kommt noch unter den Ommiaden
als Prägestätte vor, während in Dämegän weder unter den
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 243
Ommiaden noch unter den Abbasiden Münzen geprägt wur-
den. Unter den Statthaltern, welche unmittelbar nach der
Eroberung von Persien Münzen nach dem Typus Chusrav's II
prägen Hessen, entwickelte die Münzstätte in Darabgird eine
grosse Thätigkeit; die in jener Epoche dort ausgeprägten
Münzen sind nach der Jezdegirdischen Aera ausgeprägt
(Vgl. meine Abhandlung „Chronologie der ältesten muham-
medanischen Münzen" in den Sitzungsberichten dieser k.
Akademie, 1871).
Die Stadt Rakha, wo das erste Treffen gegen Vahyaz-
däta stattfand, würde demnach in dem heutigen Derakan
.jb'kc)) oder, wie Hamdullah Mestofi es nennt, Rudkan ^Jföms
zu suchen sein (s. Ouseley Travels V. II p. 134. 159), was
mit den Angaben der ßihistun-Inschrift über den Gang der
militärischen Operationen gegen Vahyazdäta sehr schön über-
einstimmen würde.
Der Ort Uvädaidaya, wo Darius den Vahyazdäta tödten
Hess, ist in der Inschrift nicht näher bestimmt worden; am
meisten würde sich Kale-i Chuadan ^t^t^. tjiXs nähern,
ein Ort im Distrikt von Fassa; vgl. Dschihannuma p. 272.
Ausser dem schon erwähnten Forg finde ich im Dschi-
hannumma p. 269 noch einen andern Ort desselben Namens
zwischen Niriz und Darabgird, 9 Parasangen vom letzteren
Orte entfernt , und ein drittes Foreg oder Pureg auf der
Karte zu Alex. Burnes' Reisen an dem Südabhange des Ge-
birges, welches Kirman von Beludschistan trennt ; von beiden
Orten aber habe ich in keiner mir zugänglichen Reisebe-
schreibung eine Spur gefunden, und es ist mir also unmög-
lich nachzuweisen, auf welche Angaben sich diese Eintrag-
ungen beziehen.
Unter den Sassaniden-Münzen findet sich eine ziemliche
Anzahl , welche auf der Rückseite die Buchstaben ^£ Q^
Pr oder Fr als ihre Prägestätte bezeichnen; ich habe sie bisher
[1874, 3. Phil. hist. Cl.J 17
244 Sitzung der phüos.-philol Classe vom 7. März 1874.
der Stadt Farra in Segistan zugeschrieben; indessen kommen
sie zu häufig vor, als dass sie aus einem so entfernten Orte
herstammen sollten, und ich bin daher geneigt sie eher dem
besprochenen Forg oder Porg zuzuschreiben, und wir würden
auf diese Weise ein Mittelglied zwischen dem achämenidischen
Paraga oder Parga, dem ptolemäischen üagya und dem
muhammedanischen <J^ gewinnen. Als Münzstätte kommt
es vom 25. Jahre Kobad's I (513) bis zum letzten Jahre
Chusrav's II (628) vor. Muhammedanische Münzen aus Forg
sind mir bis jetzt nicht vorgekommen ; auch Farra war kein
muhammedanischer Münzhof.
Die Namen Parga, Fork, Bork, Pork u. s. w. erinnern
als Gebirgsnamen an das deutsche „Berg" (plattdeutsch
„Barg") und als Name eines Schlosses an das armenische
bürg (schon in den Keilinschriften von Van), an das deutsche
„Burg" und an das griechische rtvqyog.
Die ÖvTioi Herodots sind mit den Ovvtioi Strabo's durch-
aus nicht identisch. Letztere wohnten an der Südküste des
kaspischen Meeres, wo sie, nach der Angabe Strabo's p. 508
zwischen den !A[i(x^dol und IdvccQiaxcu wohnten; die Aenianen
hatten in der Landschaft Uitia Ovtria eine Festung Aeniana
AhicLva erbaut. S. 514 gibt Strabo eine etwas veränderte
Reihenfolge an, indem er, von Osten nach Westen gehend,
sie wie folgt aufzählt: cYQx,avol} l^^agöol, lAvaqla^a^ Ka-
dovoioi, lAXßavoi, Kaoraoi, Ovtrwi. So viel ist also sicher,
dass sie mit Herodot's Utiern, so wie mit dem Yutiya der
Bihistun-Inschrift nichts gemein haben.
Auf den Sassanidenmünzen kommt ein Prägeort |o 2JJ
oder D fc±j seit der Regierung des Piruz ungemein häufig
vor; wir finden ihn bis zum Ende der Sassanidenherrschaft
und alsdann noch auf den Chalifenmünzen bis auf Had-
schadsch bin Jussuf. Die letzte Münze, auf welcher dieser
Name mir vorgekommen ist, ist vom Jahre 78 der Hid-
schret (697).
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 245
Für die Deutung des Namens ist eine Gemme des k.
Cabinets von Kopenhagen von der grössten Wichtigkeit;
diese Gemme wurde von C, Niebuhr vor mehr als hundert
Jahren aus dem Orient gebracht; sie ist in seiner Reise-
beschreibung Th. II Taf. XX. a. und c. abgebildet; auf mein
Ersuchen erhielt ich durch die freundliche Vermittlung des
Hrn. Etatsraths Thomsen einen Abdruck dieser Gemme,
welche ich in meinen ,, Studien über geschnittene Steine mit
Pehlevi-Legenden" No. 73 beschrieben habe. Die sehr deut-
liche Legende lautet in hebräischer Transscription ]KE013?K
Ü1K WDT ÜHD IkIk „Azbutan, ein freier Mann (oder Edel-
mann) aus dem Lande Ut". Es ergibt sich daraus, dass
das Münzzeichen p 2JLß Dicht ein abgekürzter, sondern ein
ganz ausgeschriebener Name eines Landes, nicht einer Stadt,
ist, und es erübrigt nur noch zu ermitteln, ob es das Yutiya
der ßihistun-Inschrift, der Wohnsitz der herodotischen Övtlol,
oder die Landschaft Oviticc, Wohnsitz der OvCxioi Strabo's
ist. Folgende Münzen sind entscheidend für diese Frage.
1) Von Jezdegird IV kenne ich zwei Münzen aus Ut,
vom 12. und vom 16. Regierungsjahre, d. h. aus den Jahren
642 und 646. Im J. 642 war Jezdegird noch Herr in Pars;
im folgenden Jahre 643 aber verliess er seine Residenz Istachr
und flüchtete nach Kirman; im Oktober desselben Jahres
besetzten die Araber Schiraz, Istachr, Darabgird, und die
Provinz Pars blieb in ihrem Besitz; zwar empörte sich Istachr
im J. 648 und Jezdegird erschien wieder in Pars, aber er
musste sich sehr bald vor den aus Arabien angekommenen
Verstärkungen zurückziehen. Jedenfalls war er also 646
nicht Herr in Pars.
2) Unter den Münzen der arabischen Statthalter in
Persien existirt eine von dem Gegen-Chalifen Katra vom
J. 75 der Hidschret aus Ut; wir wissen aus der Geschichte
dass er in Pars nirgends anerkannt war, wohl aber, dass er
in Parthien, Hyrkanien und Taberistan sich mehrere Jahre
17*
246 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
gegen die Streitkräfte der Ommiaden vertheidigte. Ferner
gibt es Münzen von Selem bin Zijad, der mehrere Jahre
Statthalter in Chorasan war; die meisten seiner Münzen sind
in Merv, Mervrud und Herat geprägt und stammen aus den
Jahren 56 bis 69 der Hidschret. Eine seiner Münzen aber
ist aus Ut und gibt als Prägejahr 26 an, offenbar nach der
tabaristanischen Aera, welches dem J. 677 unserer Zeit-
rechnung und den Jahren 57 und 58 der Hidschret ent-
spricht, also chronologisch zu den übrigen Münzen ganz
genau passt. (Vgl. meine Abhandlung „Chronologie der
ältesten muhammedanischen Münzen" in den Sitzungsberichten
dieser k. Akademie, phil.-hist. Cl. J. 1871, p. 697). Die
taberistanische Aera aus Ut gibt aber hinlänglich zu er-
kennen, wo wir die Landschaft Ut zu suchen haben, nämlich
auf der Südseite des kaspischen Meeres, da, wo die Ov'Ctioi
Strabo's gewohnt haben.
Es ergibt sich also aus dieser Discussion, dass das in
der Bihistun-Inschrift genannte Pisiyäuvädiyä das heutige
Laristan, und Yutiya, so wie die Övxwi Herodots in dem
nordöstlichen Theil Laristan's, gegen Kirman, war; dass da-
gegen die Landschaft Ovvtta des Strabo, das Land Ut der
Sassaniden, auf der Südseite des kaspischen Meeres im
heutigen Mazanderän zu suchen ist.
Die Tabula Peutingeriana hat einige Namen, welche
trotz ihrer gräulichen Verunstaltungen die vorstehenden
Identifikationen zu bestätigen scheinen. Auf dem Wege von
Persepolis nach dem Lande der Ichthyophagen gibt sie
folgende Stationen:
Persepolis Mercium Persarum
Pantyene . . LXX mill.
Arciotis . . XXX „
Caumatis . . XX „
Aradarum . . X „
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 247
Tazarene . . . XX mill.
ßestia deselutta . XX ,,
Rhana .... XX ,,
Der Name Persepolis steht bei dem Zeichen einer Stadt
und der Verfasser der Karte bezeichnet damit offenbar die
Hauptstadt von Persien; die beigefügte Glosse „Mercium
Persarum" könnte sich aber vielleicht auf das nahegelegene
Pasargadae beziehen, als eine Verwechslung des persischen
Wortes A-Aj bazar ,, Marktplatz" mit den Sylben Pasar.
Sonderbar ist aber jedenfalls der Name Caumatis (vgl. Gau-
mata, Gomata der Bihistun-Inschrift, Cometes bei Justin.
Histor. I, 9, Name des Pseudo-Smerdis) zwischen den beiden
Namen Arciotis und Aradarum, welche an das Gebirge Ara-
kadris erinnern. In Bestia deselutta steckt vielleicht der
Name Pisiyäuvädiyä, und in der Schrift der Peutingeriana
sieht der Name Rhana dem Namen Rhaha (Rakha der Inschrift)
ungemein ähnlich, ÜHätyä <*att HHAHd-
Wenn diese Zusammenstellungen an und für sich auch wenig
Werth haben, so bestätigen sie doch jedenfalls, dass Gomata
und Vohyazdata im südöstlichen Persien , d. h. in Laristan
ihre Rollen spielten.
Die Hauptstadt von Pars war seit der arabischen Er-
oberung bis auf den heutigen Tag Schiraz. Die morgen-
ländischen Geographen sind aber in Betreff des Alters dieser
Stadt in einem auffallenden Widerspruch mit den Geschicht-
schreibern.
Istachri (p. 97 u. 124 ed. Goeje) und Ibn Haukai (p. 179
u. 195 ed. Goeje) berichten, Schiraz sei eine moderne Stadt;
zur Zeit der Eroberung hätten sich hier die Araber gelagert,
als sie Persepolis angriffen ; später, im J. 76 der Hidschret
(695 n. Chr.) hätte Mohammed bin Kassim (ein Vetter des
248 Sitzung der philos.-philol Gasse vom 7. März 1874.
Hadschadsch bin Jussuf) hier eine Stadt angelegt; dieselbe
sei Schiraz genannt, d. h. Löwenmagen, weil sie alle Er-
zeugnisse der Umgegend verschlinge, und dagegen kein ein-
ziges Erzeugniss wieder ausführe.
Abulfeda wiederholt in seiner Geographie (p. 183 der
Dresdner Ausgabe) diese Notiz.
Das von Sir W. Ouseley (Vol. II p. 23) citirte Sur ul
Boldan, so wie der ebendaselbst p. 24 citirte Hafiz Abru
und die türkische Geographie Dschihannuma p. 262 sagen
alle ungefähr dasselbe.
Hamdullah Kazvini (bei Sir W. Ouseley, Vol. II p. 22
berichtet noch, Schiraz sei von Tahmurath Divebend erbaut
und habe ehemals Fars ^Xi geheissen, sei aber später
zerstört worden.
In Jakuti's Wörterbuch befindet sich noch die Notiz,
dass die ursprüngliche Orthographie des Namens vjf'J& und
\sj-co sei, dass man aber später nach der Analogie von «jLjJ
statt jmLj u. s. w. auch vlyjcco eingeführt habe.
Dagegen berichten die Geschichtschreiber z. B. Beladori
(p. 388 ed. Goeje), das Raudhet ül Ebrar (p. 134 der Con-
stantinopler Ausgabe), das Raudhet ül Ahbab (Vol. II p. 121),
Ibn Chaldun (Supplementband p. 122 der Ausgabe von Bu-
lak) u. s. w., dass Osman ibn Abul Aassi im J. 23 der Hid-
schret (644) Schiraz und Istachr erobert habe. Der zuletzt
erwähnte Ibn Chaldun berichtet überdies (Bd. II p. 175), dass
Schiraz schon zur Zeit des Firuz, also schon im fünften
Jahrhundert unserer Zeitrechnung existirt habe.
Zwischen diesen beiden widersprechenden Angaben ist
es übrigens unschwer eine Entscheidung zu treffen. Schon
an sich ist es gar nicht wahrscheinlich, dass Araber für
eine von ihnen angelegte Stadt einen persischen Namen
wählen; das war nie ihre Sache; albern ist jedenfalls die
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 249
etymologische Erklärung des Namens und wohl weiter nichts
als der Einfall irgend eines Spassvogels. Wenn aber Istachri
(p. 119) und Ibn Haukai (p. 190) berichten, dass in der
Stadt Schiraz zwei Feuertempel .Lüfooo vorhanden sind,
und noch ein dritter in einem der nächsten Dörfer, so ge-
rathen sie augenscheinlich mit sich selbst in Widerspruch,
da es gar nicht denkbar ist, dass die siegreichen Araber in
einer von ihnen erst am Ende des siebenten Jahrhunderts
unserer Zeitrechnung angelegten Stadt sollten Feueraltäre
und Ausübung der Religion Zoroasters geduldet haben.
Diese Cultusstätten werden wohl schon längst vor der Er-
oberung vorhanden gewesen sein.
Soviel ist aber wohl sicher, dass Schiraz in der vor-
islamitischen Zeit nicht diejenige Bedeutung hatte, die es
später erlangte. Pasargadae und Persepolis, die Hauptstädte
der Achämeniden, und Istachr, die Hauptstadt der Sassa-
niden, lagen zu nahe; es wird also wohl nicht mehr und
nicht weniger als eine Provinzialstadt gewesen sein, die
aber doch bedeutend genug war, um ihre Eroberung durch
Osman sowie die den Einwohnern auferlegten Capitulations-
bedingungen besonders zu erwähnen. Indem aber Mohammed
bin Kassim dahin den Regierungssitz verlegte, war es natür-
lich, dass der Ort eine erhebliche Vergrösserung erfuhr; es
wurden Regierungsgebäude, Moscheen, Schulen u. s. w. an-
gelegt, und somit rechtfertigt sich auch die Angabe der
morgenländischen Geographen, ohne mit den Historikern in
einen unlösbaren Widerspruch zu gerathen.
Zu diesen Erwägungen kommt noch, dass in Schiraz
schon zu den Zeiten der Sassaniden eine grosse Anzahl
Münzen geprägt worden sind ; sie führen das Zeichen LLL_
Schi(raz), und in Uebereinstimmung mit Ibn Chaldun kommt
es schon auf den älteren Münzen des Piruz vor; es dauert
250 Sitzung der philos.-phüol Classe vom 7. März 1874.
als Prägort bis auf das letzte Jahr Chusrav's II fort. Auch
die Statthalter der Chalifen Hessen dort noch Münzen prägen ;
unter den Ommiaden jedoch ging die Münzstätte ein.
Wie Persepolis zur Zeit der Achämeniden hiess, ist bis
jetzt noch nicht ermittelt worden; F. Spiegel's Vermuthung
(Eranische Alterthuniskunde Bd. I p. 93) dass es Parca
hiess, hat viel Wahrscheinlichkeit für sich. Zur Zeit der
Sassaniden aber hiess es ohne Zweifel Stahr \*a u Q02J'
Das Zendwort stakhrö i j £^uj Co 2? , Pehlevi A . *q jß , neu-
persisch dJcL bedeutet „gross", „kräftig", „stark", „hart"
u. s. w. Auf den Münzen wird Istachr mit tzu (st) be-
zeichnet; sie kommen in grosser Anzahl seit dem fünften
Regierungsjahre des Piruz (461) bis zum letzten Regierungs-
jahre Hormuz V (632) vor. Dagegen sind mir bis jetzt
keine Münzen von Jezdegird IV aus Istachr zu Gesicht ge-
kommen. Zijad bin Abu Sofiau und sein Enkel Omer bin
Ubeidullah haben ebenfalls in Istachr Münzen prägen lassen,
und unter den Ommiaden und Abbassiden wurde hier noch
fortwährend geprägt.
Auch ist es sehr wahrscheinlich, dass sämmtliche Münzen,
welche die Bezeichnung p..<«.. Iran tragen, und welche von
Kobad I an beginnen und bis auf Hormuz V fortdauern,
aus Istachr herstammen. Von Jezdegird IV kenne ich keine
Münzen n*it dieser Bezeichnung, so wenig wie mit der Be-
zeichnung Üü St(achr); wahrscheinlich hat er mit dem
heiligen Feuer und mit dem Kronschatze auch den Münz-
apparat aus Istachr nach Jezd bringen lassen. Ueberhaupt
aber verschwindet die Bezeichnung Iran gänzlich von den
Münzen; nur noch eine einzige Münze von Ubeidullah bin
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 251
Zijad vom J. 64 zeigt den Namen Iran (s. Stickel, Das
Grossh. Orientalische Münzcabinet zu Jena, Heft 2, p. 90 u.
Fig. 47). Auf den Münzen der Ommiaden und Abbassiden
fällt der Name Iran ebenfalls ganz weg. Persien hiess fortan
^ Adschem; erst in Firdevsi's Schahname kommt der
Name Iran wieder zu Ehren.
Strabo (p. 728) nennt noch zwei andere königliche
Residenzen in Persis, Gabae rdßat im obern Persis, und
Oke *'Oxrj an der Küste. Statt "Oxrj ist, wie schon längst
nachgewiesen, Taoxr] zu lesen ; Dionys. Perieg. 1069 erwähnt
ihrer gleichfalls; nach des Ptolemäus Angaben VI, 4, 7,
müsste Gabae südöstlich von Pasargadae aufzusuchen sein,
und da er schon Pasargadae südöstlich von Persepolis an-
setzt, so ist es augenscheinlich, dass des Ptolemäus Angabe
mit Strabo im Widerspruch ist. Rawlinson bespricht dieses
Gabae im Journal of the R. Asiat. Soc. Vol. XV, p. 258 ; in
seinen Combinationen geht er wohl zu weit, wenn er den
Namen Gabiene (in Elymais) damit in Verbindung setzt, da
jedenfalls Gabae von Gabiene viel zu weit entfernt ist;
übrigens sind seine Conjecturen in Betreff des Derefsch-i
Kavian gewiss nicht ohne Grund. Leider geben uns die
kurzen und selbst widersprechenden Angaben des Strabo und
Ptolemäus zu wenig Anhaltspunkte zu einer sicheren Bestimm-
ung dieser Oertlichkeit.
Aus Strabo's Angaben dürfen wir schliessen, dass Gabae
in Osten und Nordosten von Persepolis zu suchen sei, und
da wir ausser dieser Angabe lediglich auf den Namen des
Ortes selbst beschränkt sind, so bleibt uns nichts weiter
übrig, als auf der Karte nachzusehen, welcher Ort sich etwa
zu einer Identification eignen könnte.
In der bezeichneten Gegend finden wir zunächst Aberkuh,
32 Parasangen von Istachr entfernt. Der Name bedeutet
252 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
„auf dem Berge". Die erste Hälfte ist die Präposition o!
oder o, Pehlevi "ISK, altpers. upariy, Zend upairi, Sskrit.
^TfK, upari, Pazend var, armen, ver, griech. vrcsq, deutsch
über (welches sich ebenfalls im Plattdeutschen zu äwer und
im Holland, und Engl, zu over erweicht hat). Die zweite
Hälfte des Wortes ist *S, altpers. kaufa, Pehlevi P)D „der
Berg" und bietet eine entfernte Aehnlichkeit mit dem Namen
rdßcu dar, besonders wenn man letzteren so liest, wie ihn
die Griechen lesen. Auch ist Aberkuh kein moderner Ort,
denn er kommt in der Abkürzung ^qjj (afar) auf Sassa-
niden-Münzen vor vom J. 36 Kobad's I an bis zum Ende
der Regierung Horm uz IV, obgleich nicht sehr häufig. Später
ist er mir nur noch zweimal vorgekommen, im 4. Jahre
Chusrav's II und im zweiten Jahre Ardeschir's III (593 u. 629).
Es erhebt sich aber ein sehr gewichtiges Bedenken
gegen die Identification von Aberkuh mit dem alten Gabae
aus dem Umstände, dass die ganze Umgegend kahl und
ohne allen Pflanzenwuchs ist. Jedenfalls war das im obern
Persis gelegene Gabae eine Sommerresidenz, und zu einer
solchen eignet sich doch nur ein Ort mit reicher Vegetation.
Vgl. Istachri p. 125, Ibn Haukai p. 196, Dschihannuma
p. 266. Letzteres Werk erwähnt noch, dass der Ort ur-
sprünglich auf einem Berge erbaut sei und davon seinen
Namen erhalten habe; später aber sei der Ort in die Ebene
verlegt, ohne seinen Namen zu ändern.
Noch 30 Parasangen weiter gegen' Nordosten treffen
wir die Stadt Jezd in einer fruchtbaren Oase, die eigentlich
zu Kirman (Carmania) gehört, aber administrativ von jeher
zu Pars gerechnet wurde. Jrzd ow ist eigentlich der Name
des ganzen Distriktes, der Name der Stadt aber Kethe &xf:
auch Homa Jezd jyj &o.ä>; der Name Kethe scheint aber
schon in älterer Zeit dem Namen Jezd Platz gemacht zu
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 253
haben, denn schon auf den Sassaniden-Münzen kommt nur
3 »■> (&S) vor ; er zeigt sich schon in der ersten Regierungs-
zeit des Piruz; von Kobad I sind mir keine Münzen aus
Jezd vorgekommen, dagegen ziemlich häufig von Chusrav I,
Hormuz IV, Chusrav II und besonders von Jezdegird IV,
der hier seine Residenz aufschlug, als er vor den Arabern
aus Madain und Istachr flüchten musste ; ich kenne von ihm
Münzen aus Jezd aus den Regierungsjahren 7, 9, 10, 15 u. 16.
Bis dahin also, d. h. bis zum J. 646 n. Ch. war Jezd in
den Händen der Perser, und über die eigentliche Eroberung
der Stadt habe ich bei keinem einzigen arabischen Geschicht-
schreiber eine Angabe gefunden. In seinem zwanzigsten
Regierungsjahre aber, im Sommer 651 wurde Jezdegird IV
bei Merv ermordet, und nunmehr fiel ganz Persien unter die
Herrschaft der Araber, welche dieser Thatsache einen be-
deutungsvollen Ausdruck gaben, indem sie die erste muham-
medanische Münze genau nach dem Typus und mit dem
Namen Jezdegird in der Stadt Jezd im J. 20 (651) prägen
Hessen und bloss am Rande ein arabisches aJUt *^o hinzu-
fügten. Später erscheinen noch Münzen aus Jezd nach dem
Typus und mit dem Namen Chusrav II aus den Jahrgängen
26, 28, 37, 48 d. h. 657, 659, 668 u. 679 unserer Zeit-
rechnung, und von Ubeidullah bin Zijad, Statthalter von
Pars, aus den Jahren 56 u. 58 der Hidschret (676 u. 678).
Von da ab verschwindet der Name Jezd aus der Numismatik
der Chalifen.
Beide Namen aber, Jezd und Kethe lesen wir im Ptole-
mäus VI, 6, wo es heisst : Kaxavefxovxat de xrtg 'Eqt^ov (xrtg
KaQfxavlag) xd fxev (xeor^xßqiva, ^laax i%ai Kai Xov&o i,
xd de fieoa radavwtvdqeg.
Die arabische Form tff erinnert an das schon vorhin
erwähnte plattdeutsche Wort kath (es ist weiblichen Ge-
schlechts). Die griechische Form Xov&oi aber veranlasst
uns zu einer weiteren Digression. Wir lesen 2 Kön. XVII, 24 :
254 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. März 1874.
und in demselben Capitel Vers 30. 31.
„Der König von Assyrien liess (Bewohner) von Babylon,
Kutha, Avva. Hamath und Sefarvaim kommen und siedelte
sie in den Städten von Samaria an zwischen den Kindern
Israel, und sie nahmen Samaria in Besitz und wohnten in
den Städten dieses Landes".
„Die Babylonier bauten Hütten für die Töchter; die
Kuthier errichteten den Nergal ; die aus Hamath den Aschima,
die Avväer den Nibchaz und den Tharthak, und die von
Sefarvaim verbrannten ihre Kinder im Feuer zu Ehren ihrer
Götter Adramelek und Anamelek."
Die LXX und die armenische Uebersetzung weichen in
der Nomenklatur mehr oder weniger von dem Original ab;
die Vulgata schliesst sich dem Originaltext genauer an;
ist in der LXX bei dem Armenier
nnis • • .
• Xov&ä, . . .
. Chutha,
KW • • • •
• Id'ia ....
. Aja,
non . . .
. u4i^dd- . .
. . Ematha,
D'TIBD • •
• 2e7tq)(XQ0vcu(,i .
. Sefaruima,
rniQ nDD ■
• 2(ox%(od- Bevld"
. Sukkoth und JBanoth,
bm • - •
• ^EoyeX . . .
. Angel,
NDWK • •
• Idomad-
. Asimath,
iraz und pn"
in ^Eßlateq xal Qcc(,
d-ax Ablader, Nebas und
Tharthak,
"iböTIK • •
. 3^4doaixel£x
. . Adramelek,
iW . . .
. yu4vt]nele% . .
. Amelek.
Morätmann: Vergleichende Geographie Persiens. 255
Von den genannten fünf Völkerschaften, welche Salma-
nassar in die Wohnsitze der zehn Stämme Israel führte,
interessiren uns zunächst die Chutha oder Kuthäer, denn
Joseph. Ant. L. IX, c. 14 § 1 sagt: ILolwci ibv Xaov (xeT(p-
xioev elg trjv Mrjölav y.ai TLeqoida .... xal tierctOTrpag Iy.
zavTrjg aXXcc e&vrj and Xov&ov rortov xtvbg — eozi yäo h
zft IleQoldi jtOTafj,ög tovxo eyiov zo ovo/xa — xaTymoev elg
trv ^afxaqeiav x.ai rrjv rtov 'loQarjXirtov yjwqav.
Und in demselben Capitel § 3: Ol de fxeToiyuo$evzeg
elg ttjv ^a^iageiav XovSaioi — Tavxrj ydq exQwvTO pexQ1
devoo rr TTQorjyoQLCc, 6id to ix. tr^g Xov&ag xaXovfiivrjg %toQccg
Hercc%9rtvai , avzrj fteoriv ev vfj TleoGidi, xai 7toxa\ibg %ovt?
e%o)v ovofia — Wclotoi xara eSvog Xdtov d-eov elg xrtv 2afxd-
Qeiav xofiloavTeg — itevte d'flaav — x,al Tovtovg xa&wg rp
itazoiov avTölg Geßofxevoi, Ttaqo^vvovoi xbv fxeyiOTOv &eov elg
6qyrtv Kai %6Xov.
Und L. X, c. 9 § 7 wiederholt er diese Angaben : 2aX-
^.avaoaqrjg {lev ovv avaaTTjöag Tovg IOQarjXlrag Karqmioev
avT1 avzwv ro Xov&alcov e&vog, cß Ttqoxeqov evöoteQco Trjg
Tleqaiöog xat rrjg Mrjötag iqoav.
Und L. XI, c. 2, § 1 wiederholt er noch einmal, dass
die Chuthäer aus Persien und Medien nach Samaria geführt
wurden. Bemerkenswerth ist in diesen vier Stellen , dass
Josephus immer nur die Chuthäer nennt und die andern
vier Völkerschaften unter jener gemeinsamen Benennung be-
greift und sie alle als Perser und Meder ansieht, was doch
in Betreff der Babylonier gewiss nicht der Fall war.
Seit Th. Hyde und Adr. Reland sind jedoch dieExegeten
der Meinung, dass das erwähnte Kutha nicht in Persien zu
suchen sei, sondern im babylonischen Irak, wo die arabischen
Geographen zwei Orte des Namens LS$*f beschreiben, und
diese Ansicht gründet sich vornehmlich auf den Umstand,
dass die Kuthäer in Samaria ihre Gottheit Nergal verehrten,
256 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
dessen Cultus bekanntlich in Babylon herrschend war; dazu
kommt, dass Kutha unmittelbar nach Babylon genannt wird.
Diese Bedenken fallen so schwer ins Gewicht, dass ich mich
nicht entschliessen kann, der Angabe des Josephus beizu-
stimmen. So viel aber geht doch immer aus diesen Angaben
hervor, dass die Xovdoi des Ptolemäus auch zur Zeit des
Josephus bekannt waren, d. h. beide Autoren verlegen sie
in das östliche Persien, da ungefähr, wo die arabischen
Geographen den Ort *££ d. h. das heutige Jezd ansetzen,
mögen es mn diese oder die Kuthäer des babylonischen
Irak gewesen sein, welche Salmanassar nach Samaria ver-
pflanzte. Es ist übrigens immerhin denkbar, dass beide
Kutha, sowohl das karmanische als das babylonische, gleichen
Ursprung hatten, da die Verschleppungen der Völkerschaften
in der altorientalischen Geschichte häufig genug vorkommen.
Jedenfalls aber befanden sich unter diesen unfreiwilligen
Colonisten Samariens Perser ; denn der Bericht des Chronisten
lässt in dieser Beziehung wenig Zweifel, rny kann recht
gut das raßai des Strabo sein ; das hebräische V repräsentirt
bekanntlich zwei Laute, das c und a der Araber; da aber
keine einzige alte Uebersetzung diesen Namen mit einem g
wiedergibt, so ist diese Hypothese unstatthaft, und es dürfte
eher an das &Ä oder »J des Abulfeda (p. 229) zwischen
Hamadan und Kazvin zu denken sein. Die Namen ihrer
Gottheiten lassen sich leicht aus dem Persischen erklären;
\Lgj bedeutet „Furcht" (von «jJu\L$3) Tar Thak bedeutet
im Pehlevi „der stolze Held".
Auf Avva folgt Hamath , deren Auswanderer sich den
Cultus des Asima einrichteten. Hamath halten fast alle
Ausleger des A. T. für das heutige Hama im nördlichen
Syrien; aber schon den Namen ihrer Gottheit erklären sie
aus dem pers. .jl^J „Himmel", altpers. acman, Augen-
Mordtmann' Vergleichende Geographie Persiens. 257
scheinlich aber werden im A. T. unter dem Namen n?jn drei
ganz verschiedene Lokalitäten bezeichnet, nämlich 1) ein Ort
im nordöstlichen Palästina Num. XIII, 21, XXXIV, 8; 2 Paral.
VIII, 3 ; 2) das heutige Hama im nördlichen Syrien, Epi-
phania der Griechen und Römer; 2 Sam. VIII, 9 ; 2 Reg.
XVIII, 34 etc. ; 3) die Stadt Hamadan in Medien, Ekbatana der
Griechen ; Arnos VI, 2 und in unserer Stelle 2 Reg. XVII, 24 ;
einmal (Ezra VI, 2) kommt dafür auch NTOOK vor.
Die Sefarvaim endlich charakterisiren sich durch ihre
Gottheiten Adramelek und Anamelek hinlänglich als eine
Völkerschaft aus dem nördlichen Persien, wo schon turanische
Elemente ihren Einfluss ausüben. Adramelek ist „Feuer-
könig", ätarsh im Zend ist „Feuer"; Anamelek ist „Gott-
König" ; an in den Keilinschriften zweiter Gattung ist „Gott".
Ueberdies weist der Vokal a, der diese beiden Namen mit
dem semitischen Worte melek verbindet, auf eine Form hin,
die im Armenischen Regel ist. Zur Lokalisirung dieser
Sefarvaim (im Dual) bieten sich ungezwungen die beiden
Orte Saferajin und Saphri (bei Isid. Characen.) in Chorasan
dar, ersteres westlich, letzteres östlich von Merv.
Ohne auf alle diese Vermuthungen einen grossen Werth
zu legen, glaube ich doch so viel erwiesen zu haben, dass
Gabae die Xov&oi des Ptolemäus , das &Zf der arabischen
Geographen, das Jezd der Sassaniden repräsentirt. Jezd
war von jeher und ist noch heutzutage für die Anhänger
der Lehre Zoroasters ein heiliger Ort, worüber wir zahl-
reiche Zeugnisse besitzen.
Ueber Taoke finden wir ausführliche Angaben in Ar-
rian's Indischer Geschichte, c. 39, wo es heisst: 3Bt {ieocc^-
ßqirjg öi OQftrj&evTEQ , Kai diexTrlcooccvzeg ovadlovg ^.akioxa
ig öirjytooiovg, ig Tao%r\v bqixltfivxai irti tioxcl^ rqaviör
258 Sitzung der philos.-phüöl. Classe vom 7. März 1874.
xal cL7to tovtov ig zo avw IIsqgswv ßaolXeia rjVj CLTciyovxa
tov TCO%a\iov twv exßolewv oradlovg ig dirjY.oolovg.
Nach Ptolemäus VI, 4, 3 heisst die ganze Landschaft
Taoxrvq, und nach vorstehender Angabe des Arrian lag
die Residenz Taoke ungefähr 200 Stadien von der Mündung
des Granis entfernt. Dieser Fluss ist nach den Beschreib-
ungen von Arrian und Plinius derselbe, welcher zwischen
den beiden Häfen Buschir und Benderrig mündet, und dessen
alter Name sich noch in dem Orte Grä erhalten hat, welcher
an demselben liegt (vgl. C. Niebuhr, Reisebeschr. Th. II
S. 110; A. Dupre, Voyage Vol. II p. 59). Bei den arabischen
Geographen heisst er Ratin ^jo\ (vgl. Istachri p. 120; Ibn
Haukai p. 191).
Bei den älteren morgenländischen Geographen und Hi-
storikern finden wir fast an derselben Stelle einen Ort er-
wähnt, der beinahe denselben Namen führt, jedoch ist die
Orthographie und die Aussprache schwankend. Abulfeda
führt in seiner Geographie (p. 181, ed. Dresd.) drei ver-
schiedene Schreibarten auf, so Tuh, o* Tuhh und ;j
Tuz. Dagegen heisst er in den von Goeje besorgten Ausgaben
des Beladori, Istachri und Ibn Haukai _,J Tevvedsch auf
die Autorität des Jakuti und des Mirassid ül Ittila. Im
Burhan-i Kati heisst er v J> Tuz und *.$ Tuzh. In der
Nähe befindet sich das Scha'ab Buan ^L> ^jjlä eins der
vier Paradiese der arabischen Geographen, und dieser Um-
stand hat wahrscheinlich die Wahl der persischen Könige
bestimmt; sie benutzten es vielleicht als Winterresidenz, da
im Sommer der Ort wegen seiner niedrigen Lage sehr heiss
ist. Tudsch, oder richtiger wohl Taudsch oder Tauz wurde
schon im J. 19 der Hidschret (640) von Osman bin Abul
Aassi oder dessen Bruder Hekem bin Abul Aassi erobert,
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 259
und ist überhaupt die erste Stadt im eigentlichen Persien,
welche die Araber eroberten ; s. Beladori p. 386, 387. Ueber
die genauere Lage des Ortes gibt uns ein Itinerar in Ibn
Haukai p. 200 die beste Auskunft:
Von Schiraz nach dem
Chan Essed am Flusse Sekkan . 6 Parasangen,
Chan Descht-i Arzen 4 „
Dorf Tire 4 „
Stadt Kazerun 6 „
Dorf Deriz 4 „
Chan Ras ül Okba 4 „
Stadt Tevvedsch 4 „
Stadt Dschannabe 12 „
Demnach lag Taudsch genau in der Mitte zwischen
Kazerun und Dschannabe, welche beide Orte noch auf unsern
heutigen Karten vorhanden sind; es würde dies ungefähr
mit dem heutigen Khischt ouki^ zusammen fallen, und in
der That berichtet Sir W. Ouseley auf die Aussage eines
Freundes, dass im J. 1787 in dem Garten eines dortigen
Bewohners Basreliefs vorhanden waren. Von den zahllosen
Reisenden, welche die Strecke von Buschir nach Schiraz
zurückgelegt haben , ist meines Wissens nur J. S. Bucking-
liam im J. 1816 in Khischt gewesen; s. dessen Travels in
Assyria, Media and Persia, Vol. II p. 98 (London 1830,
2 Edition); er sagt jedoch nur, dass es „a small village of
huts with some ruined houses" sei.
Jedenfalls verdient diese Gegend noch eine sehr genaue
Durchforschung, die vielleicht zu interessanten Ergebnissen
führen würde. Was Taudsch selbst betrifft, so sagt schon
der Verfasser des Burhan-i Kati, dass der Ort zerstört ist;
in der türkischen Geographie (Dschihannuma) des Kiatib
Tschelebi wird er nicht mehr erwähnt.
[1874, 3. Phil. bist. C1J 18
260 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. März 1874.
Zu den Ortschaften in Persis, welche, wenn auch nicht
im hohen Alterthum, doch jedenfalls zur Zeit der Sassanideu
einen hervorragenden Platz einnahmen , gehört die Stadt
Schapur ^Lä (arab. »oL Sabur), zwischen Buschir und
Schiraz. Die merkwürdigen Bildwerke (Statuen, Basreliefs)
und eine Inschrift aus der Zeit des Königs Nersi, sind von
Kämpfer, Dupre, Morier, Ouseley, Buckingham, J. Johnson
und Flaudin abgebildet und beschrieben; sie stimmen alle
darin überein, dass die Basreliefs sich auf Schapur's I Sieg
über den römischen Kaiser Valerian beziehen, eine Ansicht,
die mir jedoch irrig erscheint. Die Figur des Perserkönigs,
wie sie in der colossalen Statue, bo wie auf diesen Basreliefs
erscheint, hat vielmehr die grösste Aehnlichkeit mit dem
Bilde Schapur's II, wie wir es auf dessen Münzen sehen,
und ebenso passen die übrigen Darstellungen viel besser aut
den Feldzug Schapur's II gegen Julian. Der Leichnam
unter dem Pferde Schapur's ist offenbar nicht der Leichnam
Valerian's, der bekanntlich ledendig gefangen genommen
wurde, sondern Julian's, der in der Schlacht bei Tummara
fiel; der Römer, der sich dem Perserkönige in der Haltung
eines Bittenden nähert, ist Jovianus, während nach Valerian's
Grefangennehmung kein Römer um Frieden bat. Ebenso
unterscheidet man neben den römischen und persischen
Soldaten auch die armenischen Krieger, welche in dem Feld-
zug von 363 Julian's Verbündete waren.
Hamze Ispahani, Istachri, Ibn Haukai, Jakuti u. s. w.
stimmen alle darin überein, dass die Stadt Schapur ursprüng-
lich von Tahmurath erbaut sei und Dindila geheissen habe;
Alexander habe sie zerstört und Schapur I habe sie wieder
aufbauen lassen; sie sei desshalb ^Li *Lu Bina-i Schapur
(Schapur's Bau) genannt, woraus allmählich ßischapur,
Bischaver und schliesslich Schapur geworden sei.
Abgesehen von dem mythischen Tahmurath und dei
Mordtmann: Vergleichende Geographie Persiens. 261
von ihm erbauten Stadt Dindila, deren Name sich nicht ein-
mal mit altpersischen Buchstaben schreiben lässt, ist auch
die weitere Nachricht unglaublich , dass sie von Schapur I
den Namen Bina-i Schapur erhalten habe, da Schapur I be-
kanntlich nicht arabisch, sondern persich sprach. Es ist
vielmehr wahrscheinlich, dass alles dieses nur spätere
Träumereien der arabischen Grammatiker sind, welche den
persischen Namen Bischaver „Waldig" nicht erklären konnten.
Auf den Münzen der Sassaniden wird sie mit den Buchstaben
_>X^)J (Bisch) bezeichnet, und zwar von den Zeiten Scha-
pur's II an bis auf Ardeschir III in grosser Anzahl. Von
dem letzten Jezdegird aber sind mir keine Münzen aus Bi-
schaver oder Bischapur vorgekommen, wahrscheinlich aus
sehr triftigen Gründen; Bischaver lag in nächster Nähe der
altpersischen Residenz Taoke (Tudsch, Tevvedsch) und war
schon frühzeitig den Arabern in die Hände gefallen. ' Letztere
aber benutzten die vorhandenen Prägewerkzeuge, und Hessen
dort Münzen mit dem Namen Chusrav's prägen (aus den
Jahren 35, 42, 47, 49 d. h. 666, 673, 678, 680) ; ferner
der Statthalter von Persien, Zijad bin Abu Sofian in den
Jahren der Hidschret 53, 54 u. 56 (673, 674 u. 676) und
sein Sohn Ubeidullah im J. 58 (678). Auch später liessen
die Ommiaden noch Münzen in Sabur (Schapur) prägen;
Münzen der Abassiden aus dieser Stadt sind mir aber nicht
bekannt.
Ob Bischaver, das heutige Schapur, schon den Alten
bekannt war, vermag ich nicht zu sagen; zwar kennt Ptole-
mäus VI, 4, 5, eine Stadt noTUccQcc, deren Lage mit dem
heutigen Schapur ziemlich übereinstimmen würde ; der Name
Potikara bedeutet augenscheinlich „Bild", „Bildniss", im
Altpers. patikara, Pehlevi patkari, armen. <y «* yi y &-/*
(patker), neupers. JCkj. Dieser Name würde ausgezeichnet
18*
262 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. März 1874.
passen , aber Ptolemäus lebte lange vor Schapur II, Nersi
und selbst vor Schapur I, und konnte daher nichts von den
Basreliefs und Statuen wissen, welche die Sassaniden zwei-
hundert Jahre später dort ausführen Hessen; Denkmäler aus
der Achämenidenzeit aber sind bis jetzt nicht in Schapur
gefunden worden. Eben so stehen mir hier keine Codices
von Ptolemäus zur Verfügung, auf deren Autorität ich allen-
falls IIoTUaQct für eine spätere Interpolation erklären könnte.
Herr Christ trug vor:
„Die Parakataloge in den griechischen
und römischen Dramen*1.
(Wird in den Denkschriften veröffentlicht werden.)
Sitzung vom 2. Mai 1874.
Philosophisch - philologische Classe.
Der Herr Classensecretär von Prantl legt vor:
„Enneakrunos und Pelasgikon. Ein Bei-
trag zur Topographie des alten Athen",
von Herrn Unger in Hof.
Mitten in der Beschreibung, welche Pausanias von den
Sehenswürdigkeiten Athens gibt, nachdem er 1,8,4 von den
Standbildern des Harmodios und Aristogeiton auf dem Markt-
platz gesprochen und bevor er 1, 14, 6 auf den Hephaistos-
teinpel oberhalb des Marktes übergeht, lesen wir 1, 8, 5 bis
1, 14, 6 die Schilderung einer um den Brunnen Enneakrunos
gruppirten Reihe von Bauwerken, deren Ortsbestimmung in
Ermanglung anderer Hülfsmittel lediglich von der Fixirung
der auch sonst oft genannten Quelle abhängt. Diese, welche
auch den Namen Kallirrhoe geführt hat, wird von allen Be-
arbeitern der attischen Topographie in einer jetzt noch
Kallirrhöi genannten Quelle am Ilissos wieder erkannt und
werden daher auch die von Pausanias erwähnten Baulich-
keiten — ein Odeion, ein Tempel der Demeter und Köre,
ein zweiter, von dem er anstatt die Gottheit zu nennen
bloss angibt dass ein Bild des Triptolemos darin war, end-
lich ein Tempel der Eukleia — ausserhalb der Stadt im
Gebiete von Agrai angesetzt. Dies verträgt sich aber nicht
mit der Darstellung des Pausanias, welche mit keinem Worte
andeutet, dass 1, 8, 4 die Stadt verlassen oder 1, 14, 6 in
dieselbe zurückgekehrt wird, und die Merkwürdigkeiten von
Agrai 1, 19, 7 in einer ganz andern Umgebung behandelt;
derselbe hat vielmehr, wenn der Text in Ordnung ist, die
264 Sitzung der phüos.-philol. Gasse vom 2. Mai 1874.
Enneakrunosgruppe im Innern der Stadt und zwar in der
Nähe des Kerameikosmarktes gesehen.
Die zur Lösung der Schwierigkeit, welche die sogenannte
Enneakrunos-Episode macht, unternommenen Versuche haben
den gewünschten Erfolg nicht gehabt. Wenn Bursian De foro
Athen, p. 9 vermuthet, Pausanias habe bei einem Gastfreund
in der Nähe des Ilissos gewohnt und sei, da am ersten
Tage nach Durchwanderung der einen Hälfte des Marktes
die Zeit zur Erledigung des Restes nicht gereicht habe,
gegen Abend zu seinem Gastfreund zurückgekehrt, bei welcher
Gelegenheit er den Ausflug zum Enneakrunosbrunnen gemacht
habe; oder wenn E. Curtius Attische Studien 2, 15 meinte,
Pausanias sei zuerst bei dem itonischen Thore, das dem
Brunnen am nächsten lag, eingetreten, habe aber dann,
eines Besseren belehrt, den rechten Anfang der Periegese
an der Westseite gemacht, und in seinem Tagebuch hätten
in Folge dessen jene zuerst besuchten Punkte eine besondere
Gruppe gebildet: so wendet C. Wachsmuth im Rhein. Mus.
23, 34 mit Recht ein, dass beide Erklärungen das unerklärt
lassen, was einer Aufhellung am meisten bedarf, nämlich
die Art und Weise, in welcher die ganze Episode bei Pau-
sanias auftritt. Auch die spätere Aufstellung von Curtius
(Sieben Karten z. Topogr. v. Athen. Erläuternder Text p. 49),
Pausanias habe sich ganz den Ortsführern angeschlossen und
die Anordnung seiner Periegese richte sich nach der vom
Zufall abhängigen Vornahme der einzelnen Wanderungen,
ist, wie Wachsmuth Rhein. Mus. 24, 37 und Schubart in
Fleckeisens N. Jahrb. 97,825 gezeigt haben, nicht besser
geeignet, die Frage zu lösen.
Wachsmuth a. a. 0. 23, 35 will den Knoten mit dem
Schwert zerhauen: er versetzt die ganze Episode hinter
1, 19, 7, so dass sie an die dort gegebene Beschreibung
von Agrai angeschlossen und die bisher durch dieselbe ge-
trennten Schilderungen des Marktes und der Gegend über
Unger: Ennedkrunos und Pelasgikon. 265
dem Markte zusammengeschoben werden. Im Text findet
sich aber keine Spur einer früher anders gearteten Ordnung,
auch kein Anzeichen in einem Homoioteleuton u. dgl., welches
erlaubte, die Unordnung auf ein Versehen der Abschreiber
zurückzuführen; Wachsmuth hat sich daher genöthigt ge-
sehen, eine absichtliche Transposition anzunehmen : ein Leser,
welcher unsern Schriftsteller zu historischen Zwecken studirte,
habe die Umstellung vorgenommen, um die beiden Haupt-
massen der bei verschiedenen Oertlichkeiten gegebenen Ex-
curse über die Diadochengeschichte beisammen zu haben;
ein ähnliches Schicksal hätten aristotelische Schriften unter
den Händen späterer Diorthoten gehabt. Dem entgegnet
Schubart a. a. 0. 97, 824 treffend, dass solche Diorthosen,
die bei Aristoteles begreiflich sind, bei einem so untergeord-
neten, lange Zeit fast vergessenen Schriftsteller wie Pausanias
keine Wahrscheinlichkeit haben; auch sei ein solches Ver-
fahren nur ausführbar gewesen, wenn der Diorthot zugleich
Abschreiber war; eine Vereinigung beider Thätigkeiten lasse
sich aber für die Schreiber des Pausaniastextes nicht gut
annehmen. Schubarts eigne Ansicht, Pausanias habe nicht die
Absicht gehabt, eine regelrechte topographische Beschreibung
Athens zu liefern, wird durch die Thatsache, dass überall,
wo wir ihn controliren können, sich die planmässige Ord-
nung einer solchen herausstellt1), und durch die Aeusserung,
welche er 3, 11, 1 selbst hierüber thut, genugsam widerlegt;
mit Recht haben daher auch alle Bearbeiter der Topographie
Athens die entgegengesetzte Voraussetzung zu Grunde gelegt.
Unter diesen Umständen, Angesichts der Unzulänglich-
keit aller von namhaften Forschern angestellten Versuche,
die Darstellung des Pausanias mit dem Ansatz der Ennea-
krunos ausserhalb der Stadt in Einklang zu bringen, ist es
wohl an der Zeit die Frage aufzuwerfen: ob denn die An-
1) Vgl. Wachsmuth Rh. M. 23, 5 sq.
266 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 2. Mai 1874.
nahuie, dass der Enneakrunosbrunnen mit der jetzt noch
Kallirrhöi genannten Quelle am Ilissos eins sei, wirklich so
unumstösslich festgestellt ist, wie allgemein vorausgesetzt
wird? Eine Revision der einschlägigen Zeugnisse, wie sie
jetzt angestellt werden soll, dürfte diese Identification sehr
zweifelhaft machen, ja zu dem positiven Ergebniss führen,
dass zwei Quellen des Namens Kallirrhoe zu unterscheiden
sind: eine, welche diesen Namen von jeher geführt, und
eine zweite, welche ihn schon im sechsten Jahrhundert vor
Christus mit der Benennung Enneakrunos vertauscht hat.
Letztere innerhalb der Stadt und in der von Pausanias an-
gedeuteten Gegend zu suchen , kann uns dann nichts mehr
abhalten; ja es steht zu erweisen, dass zwei von den
Tempeln der Enneakrunosgruppe dem anerkannt in der Stadt
gelegenen Eleusinion angehört haben und dass dieses Heilig-
thum sich gerade in der Gegend befunden hat, in welche
wir nach Pausanias die ganze Gruppe zu setzen haben. Im
Zusammenhang damit wird weiter auch die Frage über das
athenische Pelasgikon sich einer neuen Behandlung unter-
ziehen lassen.
I. Enneakrunos.
Leake2), dessen Behandlung der Frage für die Nach-
folgenden massgebend geworden ist, citirt für die Lage der
Enneakrunos am Ilissos vier Stellen, von denen aber drei
(Thukyd. 2, 15. Herod. 6, 137 und Tarantinos bei Hierokles
Hippiatr. praef.) ebenso gut, ja, wie sich zeigen wird, viel-
leicht mit besserem Recht für eine Ansetzung derselben im
Innern der Stadt verwendet werden können; das Etymolo-
gicum magnum p. 343, 22 freilich hat offenbar die Quelle
Kallirrhöi im Auge ; aber seine wie andere dahin zielende
2) Topographie Athens. Zweite Ausg., übers, v. Baiter u. Sauppe.
1844 p. 128 sq.
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 267
Angaben stammen erst aus byzantinischer Zeit und sind im
Widerspruch mit den älteren Zeugnissen.
Der locus classicus über die Enneakrunos findet sich
bei Thukydides 2, 15. Um seine Behauptung, dass bis auf
Theseus die Stadt Athen nur aus der Akropolis und der an
ihrem Südfuss sich ausbreitenden Gegend bestanden habe,
zu erweisen , erinnert derselbe daran , dass die ältesten
Heiligthümer der Stadt auf diesen zwei Plätzen zu finden
waren, und in gleicher Absicht beruft er sich auf die alt-
hergebrachte Wichtigkeit und Heiligkeit des Enneakrunos-
wassers : xal tf KQrjVJ] vf, vvv fiev, ztov rvqavvcov ovtco ayteva-
aavrcovy 'EvveaxQOvvci) xaXovf.ievrj ro de itaXcti (paveqwv twv
Ttrjytov ovowv KccXXiQQOfl (x>vo{iaoi.dviß exslvol te syyvg ovörj
xcl TtXeiöTOv a%ia exqcovto xal vvv Mtl arto rov aq%alov tcqo
xe yaf.iiY,wv xai ig aXXa xwv Uqiov vo^iiCßtai %($ vdati
xqrod-ai. Offenbar lässt diese Stelle die Beziehung auf eine
südlich der Burg in der Stadt befindliche Quelle ebensogut
zu wie die auf die Kallirrhöi am Ilissos ; erstere Erklärung
darf sogar ein Näherrecht beanspruchen, weil Thukydides
von Theilen der Stadt spricht. Allerdings ist der Ausdruck
syyvg övoj] so dehnbar, dass wenn es keine andere Quelle
in solcher Nähe jener Gegend gegeben hätte als die Kallirrhöi,
man immerhin an diese denken müsste; obwohl dann auf-
fallend wäre, dass Thukydides von der Lage des Brunnens
ausserhalb der Stadt nichts andeutet. Aber in dieser Ent-
fernung war, wie unten gezeigt werden soll, die Kallirrhöi
mit nichten die einzige Süsswasserquelle; die besondere Aus-
zeichnung der Enneakrunos wird daher erst dann begreiflich,
wenn dieselbe der athenischen Altstadt selbst angehörte und,
wie Pausanias 1, 14, 1 ausdrücklich angibt, die einzige Quelle
trinkbaren Wassers innerhalb der Stadt gewesen ist. Als
solche ist sie auf Grund der thukydideischen Stelle in der
Gegend am Südfuss der Burg zu suchen : was sehr gut zu
Pausanias stimmt, insofern derselbe auf die Enneakrunos-
2G8 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
gruppe zu sprechen kommt, nachdem er von Westen her
am Aufgang zur Burg, also an deren westlichem Abhang
angelangt ist.
Der durch den Brunnenbau des Peisistratos (Pausan.
1, 14, 1) an die Stelle von Kallirrhoe getretene Name Ennea-
krunos verblieb der Quelle fortan als ihre einzige Benennung,
soweit wir Erwähnungen derselben in der hellenischen, make-
donischen und römischen Zeit verfolgen können, nachweislich
sieben Jahrhunderte hindurch bis in die Zeit der Antonine;
wo der frühere Name daneben erwähnt wird, tritt er auch
als solcher auf. Ersteren finden wir zunächst bei zwei Zeit-
genossen des Thukydides, dem Komiker Po lyzelos im Demo-
tyndareos, Etymolog. M. 343, 45 delgei 'Evveaxoovvov evvöqov
zotcovj und Herodot 6, 137 ccvroi li^vaiot liyovGi — (poizäv
Tag ocpersoag SvyaTeqag re ymi tovq 7taldag Ire" vdwo hii
t))v 'Evveaxoovvov. Die Zeit des pelasgischen Mauerbaues in
Athen, von welcher Herodot8) hier spricht, liegt viele Jahr-
hunderte vor Peisistratos; die Quelle hatte damals noch
Kallirrhoe geheissen. Wenn Herodot und seine athenischen
Berichterstatter dieselbe gleichwohl dem Sprachgebrauch
ihrer Zeit folgend Enneakrunos nennen, so lässt sich daraus
schliessen, dass im Volksbewusstsein der ältere Name des
Brunnens bereits erloschen und nur gelehrten Localforschern
wie Thukydides bekannt geblieben war. — Im Jahr 353
schreibt Isokrates de permutatione § 296 ol ixev avTwv snl
tijg 'EvveaytQOvvov xpvxovoiv olvov , ol <T ev TÖlg xa7irjl€iotg
7Vivovoiv, £T£qol (T sv Tolg oy.^voQQacpEioig "/.vßevovoiy 7to?J^ol
<T ev xöig rtov avXrjTQiöcov dtdccOKCcleloig diaTqißovoi. Die
Schamlosigkeit des hier geschilderten Treibens der modernen
Stadtjugend , desgleichen früher nicht einmal ein ordent-
licher Sclave sich gestattet haben würde {itQOTEqov ovo' av
or/.ezr]g 87tieixrjg ovdsig foolprjoev) , gipfelt darin, dass es
3) Wir werden auf diese Stelle gelegentlich des Pelasgikon
zurückkommen.
Unger: Ennealcrunos und PelasgiJcon. 269
mitten in der Stadt, vor aller Augen vor sich gieng; dort
ist gleich den andern von Isokrates aufgeführten Lokalitäten
auch die Enneakrunos gedacht, während bei Beziehung dieses
Namens auf die abgelegene Gegend draussen am Ilissos
der Vorwurf seine Spitze verlieren würde. — Wahrscheinlich
einem alexandrinischen Paradoxographen entnommen ist die
Stelle des Plinius hist. nat. 31, 3, 28 Athenis Enneacrunos
nimbosa aestate frigidior est quam puteus in Jovis horto.
Hier und an anderen (unten angeführten) Stellen weisen die
Ausdrücke Athenis, l4xhrtvrjoi, ev l4&rjvccig auf Lage in der
Stadt hin; ausnahmsweise kommen wohl dieselben auch von
Oertlichkeiten in der Nähe der Stadt vor: es wäre aber
doch auflallend, wenn in all diesen Fällen nur die Ausnahme
statt der Regel Geltung hätte; bei Plinius kommt aber hinzu,
dass auch die andere Oertlichkeit innerhalb der Stadt zu
suchen ist.
Noch unter Antoninus Pius erkennt Pasanias 1, 14, 1
mittelst der Worte ymXovgi 6i ctvrrjp 'Eweccxqovvov nur diesen
einzigen Namen an ; dass sein Text an eine Quelle im Innern
der Stadt zn denken nöthigt, haben wir oben gesehen; hie-
zu kommt aber noch seine ausdrückliche Erklärung a. a. 0. :
cpgectTct f.iev Aal öia Ttaöiqg rrjg 7iolewg sotl, fcrjyr] de cacrj
lidvif]. Zwar scheint er, wie Wachsmuth Rhein. Mus. 23, 18
erinnert, über die Ausdehnung der Stadt auf der Ostseite,
in Folge ihrer Erweiterung durch Hadrians Bauten daselbst,
nicht ganz im Klaren gewesen zu sein: denn er bringt
1, 19, 3—6 (vgl. mit c. 29, 2) auch Kynosarges, Lykeion und
Agrai sammt dem Ilissos und Kephissos in der Stadtbe-
schreibung unter ; aber diese Bemerkung über die Beschaffen-
heit sämmtlicher Wasser Athens verdankt er höchst wahr-
scheinlich nicht eigener Beobachtung, zu welcher er sich
schwerlich Zeit genommen hätte, sondern der Mittheilung
Einheimischer, welche über die Ausdehnung ihrer Stadt
sicherlich gut Bescheid wussten, und jedenfalls ist bei dieser
270 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 187 i,
Wahrnehmung, welche so gut zu der von Thukydides und
anderen gemeldeten Auszeichnung der Enneakrunos passt,
an jene vorstädtischen Oertlichkeiten nicht mitgedacht. Denn
dort gab es noch andere Süsswasserquellen ausser der
Kallirrhöi: zunächst die Eridanosquellen und den Brunnen
vor dem Thore des Diochares, Strab. 9, 1, 19 elol fxev vvv
al Ttrjyal (Hqiöavov) kcc&ccqov y,al 7tOTi(xov vöarog, wg cpaGiv,
extdg twv dioyaqovg xaXov(.i£vtov TtvXwv 7tXrjalov tov ylvueiov,
Ttqoreqov de Kai "/.qr^rj xareGxevaoro rtg 7tXrjOtov 7toXXov
Aal nalov vdazog ; ferner die von Piaton erwähnte anmuthige
Quelle am Ilissos in der Gegend von Agrai, Phaidr. 230, b
(vgl. 227, a) rj ye av itrjyrj %aqieorarri vtco Trjg 7tXaiavov
qel f.iaXa xpvxgov vdarog, tog ye ti7 Ttodl TeKixrßaö&ai, vgl.
Strab. 9, 1, 24 'lliooög qecovi ex rtov VTteq rrg ^Idyqag xal
rov yLv^eiov f,ieqcov xal rr^g Tfrrjyrjg, rjv viivr\<5ev ev Oalöq^j
Tllarwv. Da Sokrates und Phaidros zu ihr gelangen, indem
sie von einer dem Olympieion östlich benachbarten Stelle
an im Bett des Ilissos abwärts waten (227, b. 229, a. 230, b.),
so könnte recht wohl die Kallirrhöi selbst gemeint sein;
doch gibt es nördlich von dieser und näher am Olympieion
noch einen anderen Brunnen guten Wassers, auf welchen
Stark (s. u.) aufmerksam gemacht hat. An all diesen Punkten
ist Pausanias vorbeigekommen, konnte also, wenn es ihm
selbst um eine Kenntnissnahme von der Beschaffenheit der
athenischen Wasser zu thun war, mit dem Vorhandensein
und den Eigenschaften dieser Quellen nicht unbekannt bleiben;
im andern Fall, wenn er seine Kenntniss anderen verdankt,
sind dies jedenfalls Ortsansässige gewesen, also Leute, welche
wissen konnten und mussten , wie weit sich die Stadt er-
streckte. In beiden Fällen konnte die Enneakrunos nur unter
der Voraussetzung der einzige4) Süsswasserbrunnen der Stadt
4) Natürlich mit Ausnahme der Klepsydra, welche nicht dem
Asty sondern der Burg angehörte und der in der alten Zeit unbe-
wohnten Seite der Unterstadt zugewendet war.
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 271
genannt werden , dass er sich innerhalb der Stadtmauern
befand. Ebenso konnte sie die ihr beigelegte hervorragende
Geltung seit ältester Zeit nur dann gewinnen, wenn sie die
eiuzige in nächster Nähe der Stadtbewohner befindliche
Quelle trinkbaren Wassers war; dies lässt sich aber von
der Kallirrhöi am Uissos nicht sagen.
Nach der Zeit des Pausanias spricht (um von Gramma-
tikern und andein Compilatoren abzusehen) auch noch Alki-
phron 3, 49 von der Quelle Enneakrunos; das Fortbestehen
dieses Namens kann also bis gegen Ende des zweiten Jahr-
hunderts n. Chr. nachgewiesen werden. Die frühere Benenn-
ung dagegen ist bis dahin nicht wieder in Gebrauch ge-
kommen; wenn Statius Trieb. 12,629 Calliroe novies erran-
tibus undis sie anwendet, so ist zu bedenken, dass er die
Heroenzeit im Auge hat. Sonst wird Kallirrhoe nur als
ein veralteter, durch die Bezeichnung Enneakrunos verdrängter
Name der altehrwürdigen Quelle angeführt, so von Harpo-
kration lex. rhetor. 73, 14 'EvveaKQOvvov yivöiagb) sv tu
7teqi dvTidooewg. xQ^vt] zig ev }4&rjvaig7 tcqotsqov <T exa-
Xeiro KaXXiQorj und Hesychios *EvveaxQOvvog' Korpy ^t^vrjoiVj
fp> TCQOveQOv KaXhQorjv eXeyov twv de tvqccvvcov ovrwg avrrjv
xaTaoxevaoavTwv sxXrj&rj 'EvvectKQOvvog, tog q>r\Gi zal Qovxv-
ölörjg. Der Zusatz xai bei Hesych. zeigt an, dass Thuky-
dides nicht die Hauptquelle dieser Erklärung ist; die Ver-
fasser der in diesen Compilationen excerpirten Glossare zu
den Classikern, ein Aelius Dionysius , Pausanias Atticista,
Diogenianus schrieben zur Zeit, als Hadrian eine Nachblüthe
der hellenischen Literatur hervorgerufen und Athen erneute
Bedeutung gewonnen hatte, und waren sicher im Stande,
über den Namen der berühmtesten attischen Quelle sich
Gewissheit zu verschaffen. Zur Erklärung des von einem
alten Redner gebrauchten Ausdrucks lovTQOcpoqog sagt Harpokr.
5) Verwechslung mit Isokrates a. a. 0.
272 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 2. Mai 1874.
122, 5 bxi di xd Iovtqcl Iy.6ia.iQov ex xrjg vvv pev 'Evveay.QOuvou
Y.alov{ievi]Q x,Qt']vrjg 71q6xeqov de KaXliQQOtjQ, OiXooxsopavog6)
sv xw Tzeoi xqtjvwv qrqoi. Der hier citirte Philostephanos
von Kyrene, ein Schüler des Kallimachos, blühte um 200
v. Chr., s. G. Müller Fragm. hist. gr. 3, 28. Auch Julius
Pollux, unter Com modus öffentlicher Lehrer in Athen, schreibt
onomast. 3, 43 xal Xovxqd xig '/.Of.u'Qovaa XovxQO(f6qogy !ddir
vijoi fisv h& xttg KcdXiQoqg elx' al&ig 'EvveaxQOivov'1) xfoj&EiorjQ.
K a 1 1 i r r h o e.
Ist durch die bisherige Auseinandersetzung erwiesen,
dass der heilige Brunnen der Athener von den Peisistratiden
ab bis in die Zeit des K. Commodus bloss Enneakrunos
geheissen hat, so muss die Kallirrhoe, welche im Laufe der-
selben Zeiten als eine athenische Quelle genannt wird, von
jenem verschieden gewesen sein.
Die erste Erwähnung derselben findet sich in dem
pseudoplatonischen Dialog Axiochos (s. u.), geschrieben in
makedonischer Zeit, s. K. Fr. Hermann System der plato-
nischen Philosophie 1, 413 sqq. Ungefähr zu gleicher Zeit
meldet, wie wir eben sahen, Philostephanos dass der Name
Kallirrhoe für Enneakrunos veraltet sei, also muss es noch
eine zweite Kallirrhoe gegeben haben.
In Alkiphrons Briefen kommen beide Namen vor: 3, 51
fA-exä xov Eiowxav '/.ai xd Aeqvalov vöcoq y,al xa £IeiQitvi]Q
vctfiaxa eQtoxi KaXXiQorjg ex Koqiv$ov naXw Id&rpaQE xaxe-
Ttelyopai ; 3, 49 ävdyxr] fie oxavdixag so&leiv *al yrftva r
7c6ag dvaXeysiv Aal xr{g yEvveaxQOvvov nivovxa TtiimlaoÜai
xrv yaoxega. Die Gedanken aber, welche er an sie knüplt,
sind sehr verschiedener Natur: nach der Kallirrhoe hegt er
6) Emendation von C. Müller statt Tlolvaiscpcivos.
7) So Bekker; die Hdss. dittographisch «v$is ex rtjg 'Rvveu-
X(JQVVOV.m
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 273
Sehnsucht, an ihr wie an den andern 3, 51 genannten Quellen
und dem „schönfliessenden" Strom Lakonines, lässt sich die
Zeit in ländlicher Einsamkeit verträumen; Enneakrunos ist
der Stadtbrunnen , an dem in Ermanglung des Weines er
sich alltäglich zu dem dürftigen Mahl den Durst stillen muss.
Von entscheidendem Gewicht ist, dass Plinius hist. nat.
4,7,28 beide Quellen geradezu neben einander aufführt:
in Attica fontes Cephisia, Larine, Callirroe, Enneacrunos,
montes Brilessus, Aegiaieus, Icarius, Hymettus, Lycabettus.
Um die vermeintliche Identität beider Namen zu retten,
schreiben die Herausgeber seit Harduin mit veränderter
Interpunction Cephisia, Larine, Callirroe Enneacrunos, montes
Brilessus; es kommt aber weder dieser noch ein ähnlicher
Doppelname bei den Alten vor. Die modernen Sprachen
mit ihren in der Endung abgestumpften Wörtern können
zwei Namen in solcher Weise aneinanderkoppeln; ein Callir-
roe-Enneacrunos aber wäre so wenig antik als z. B. Ister-
Danubius, Epidamnus-Dyrrachium. Wie Plinius Doppelnamen
gibt, zeigen zahlreiche Fälle, z. B. 4, 8, 29 oppidum Almon
ab aliis Halmon; 4, 11, 47 Pidaras sive Athidas; 4, 8, 30
oppidum Pagasae idem postea Demetrias dictum; 4, 12, 70
Sicinus quae antea Oenoe, Heraclea quae Onus; 3, 23, 145
Epidamnus a Romanis Dyrrachium, flumen Aous a quibus-
dam Aeas apellatus. An unserer Stelle aber konnte schon
die Uebereinstimmung im Asyndeton zeigen, dass Kallirrhoe
und Enneakrunos ebenso wie die andern ohne Conjunction
an einander gereihten Namen zu behandeln, mithin als Namen
verschiedener Quellen anzusehen sind.
Hiezu kommt noch die Parallelstelle eines Scribenten,
welcher für den Epitomator des Plinius gilt, aber auch aus
gemeinsamer Quelle geschöpft haben kann, des Solinus 7, 18:
Callirrhoen stupent fontem nee ideo Cruneson fontem alterum
nullae rei nominant. Von einer Krunesos, die wir dem
Solinus zufolge recht oft genannt finden sollten, ist sonst
274 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 2. Mai 1874.
nirgends etwas zu lesen; das Wort ist daher der Verderb-
niss verdächtig und da Solinus auch die von Plinius ange-
gebenen Berge in gleicher Zahl und Benennung aufführt, so
haben die Herausgeber mit gutem Grund vermuthet, dass
Solinus einen der bei Plinius vorfindlichen Quellennamen und
zwar, weil dieser den Buchstaben nach am ähnlichsten ist,
Enneakrunos gesetzt hatte; wenn demnach Solinus wahr-
scheinlich Callirrhoen stupent fontem nee Enneacrunon fontem
alterum nullae rei nominant geschrieben hat, so ist für die
sachliche Verschiedenheit beider Namen ein neues Zeugniss
gewonnen.
Der Auszeichnung, welche nach Solinus diesen beiden
Quellen zukam, entspricht es, dass sie ursprünglich beide
denselben , ihren Werth ausdrückenden Namen Kallirrhoe
geführt haben ; da aber innerhalb der Stadt nur eine Quelle
sich befand, deren Wasser durch seine Güte diese Bezeich-
nung rechtfertigte, und die Enneakrunos der innern Stadt
angehörte, so müssen wir die Kallirrhoe ausserhalb der
Stadtmauern suchen. In der That befand sie sich dort am
rechten Ufer des Ilissos, Axiochos 364, a e^iqvxi poi ig
KvvoGccQyeg x,ai yEvof^svat (xot yiaxa. zov 'lliooov Sif^e
(flOVl) ßotOVTOQ TOV, SlüKQaTEg 2(OXQCCTEQ' ibg ÖE 7CEQlGTQaq)Eig
7tEQLEGK07rOVV 07V0&EV Eil], KkElVlCLV OQÜ) TOV !d^l6%OV &EOVTCC
etil Kalhqorjv. Nimmt man hinzu, dass weiter abwärts das
itonische Thor und die Bildsäule der Amazone (364, d)
Antiope war, welche in der Nähe des Heiligthums der Ge
Olympia (Plut. Thes. 27), also auch des Olympieion stand, so
erhellt, dass die Kallirrhoe der historischen Periode des Alter-
thums sich genau in derselben Gegend befunden hat wie
die jetzt noch mit einem altgriechischen Worte bezeichnete
Kallirrhöi. Dadurch ist die Identität der letzteren mit der
alten Kallirrhoe gesichert, aber auch ihre Identification mit
dem Enneakrunosbrunnen widerlegt.
Gegen letztere spricht auch noch eine andere Erwägung,
dieselbe, welche einen gelehrten Reisenden an Ort und Stelle
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 275
zu der Ansicht bestimmt hat, die nun einmal am Ilissos
geglaubte Enneakrunos sei gleichwohl von der Kallirhöi zu
unterscheiden. B. Stark schreibt in der Augsburger. All-
gemeinen Zeitung, 28. Dec. 1871, Beil. p. 5398 Folgendes:
,,Ich gestehe offen, dass die Berichte der Alten von dem
Brunnen nah am Ilissos mit diesen jetzigen Quellen nicht
recht stimmen ; dass es mir schwer ist zu denken, wie hier
mitten in dem Ilissosbett, das so von der Natur unver-
äusserlich gezeichnet ist, vor jener gewaltigen Aushöhlung
ein künstlicher Brunnenhausbau, wie ihn Peisistratos glänzend
hergestellt hat, mit neun oder zwölf8) gefassten Mündungen
jemals sich befunden habe. Und ich kann nicht umhin auf-
merksam zu machen, dass ganz in der Nähe der Stätte,
nördlich unter Bäumen, ein paar Waschhäuser an einer
breiten künstlichen Spalte sich befinden, mit altem schönem
Mauerwerk im Boden und reichem trefflichem Wasser. Hier
wäre für ein Brunnenhaus die rechte Stätte und noch näher
an das Olympieion9) gerückt, zu dem der Brunnen aus-
drücklich in Beziehung gesetzt wird." Möglich, dass mit
diesem Brunnen der tiefe, mit Quadern aufgemauerte Kanal
in einem Garten zwischen Ilissos und Olympieion zusammen-
hängt, welchen Curtius Sieben Karten. Text p. 28 erwähnt;
gewiss aber haben, da die Kallirrhoi nicht erst in neueren
Zeiten diesen ihren Namen erhalten haben kann, nicht zwei,
wenige Schritte von einander entfernte Quellen denselben
Namen Kallirrhoe geführt.
Ortsbestimmung der Enneakrunos.
Pausanias kommt zur Enneakrunosgruppe, nachdem er
den Kerameikosmarkt von Nordwesten her durchschritten
hat, und wendet sich dann von ihr dem Hephaistostempel
8) Die Dodekakrunos des Kratinos ist nur eine poetische Fiction.
9) In dem Fragment des Tarantinos nach der Auslegung Leake's,
worüber unten.
[1874. 3. Phil. hist. CK] 19
276 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
über dem Markte zu. Er fand sie also am südöstlichen
Ende des Marktplatzes. Die letzte Merkwürdigkeit des Kera-
meikos, welche er beschreibt, ehe er zum Odeion und Ennea-
krunosbrunnen gelangt, bilden die Standbilder des Harmo-
dios und Aristogeiton, von welchen aus Arrian Exp. Alex.
3, 16, 8 bekannt ist, dass sie am Fuss des Aufgangs zur
Akropolis standen. Diesen einander bestätigenden und er-
gänzenden Angaben zufolge haben wir die Enneakrunos-
gruppe am Fusse des westlichen Abhangs der Burg zu
suchen ; und zwar am Südwestfuss : denn Thukydides rechnet
die Enneakrunos zu den Oertlichkeiten des ältesten, unter-
halb der Südseite der Burg ausgedehnten Theiles der Unter-
stadt und Pausanias kommt in südöstlicher Richtung gehend
von den Statuen der Tyrann enm Order , welche westlich der
Burg standen, zur Enneakrunosgruppe, welche demnach am
Anfang des zur Burg hinaufführenden Pfades, in der Gegend
des herodeischen Odeion zu finden war. Zu keinem Platze
besser als zu diesem passt die Bemerkung des Thukydides,
die Athener jener Zeit hätten darum die Enneakrunos so
hoch gehalten, weil dieselbe ihnen nahe gewesen sei: denn
hier, am Anfang des Burgaufganges, befand sie sich gerade
in der Mitte zwischen den zwei damals bewohnten Theilen
der Stadt, dem Burghügel und der Gegend südlich desselben.
Zu voller Bestätigung dieser Ansetzung wird sich unten
zeigen lassen, dass, mit Ausnahme des sonst nicht genannten
Eukleiatempels, auch die von Pausanias um den Enneakrunos-
brunnen gruppirten Bauwerke theils auf Grund bestimmter
Zeugnisse in die Gegend des herodeischen Odeion zu setzen
sind theils durch einen solchen Ausatz ihre beste Erklärung
finden.
In Betreff der Frage, ob in dieser Gegend sich noch
Spuren eines Brunnens nachweisen lassen, welcher sich auf
die Enneakrunos beziehen Hesse, darf erinnert werden, dass
im Odeion des Herodes ein Brunnenschacht aufgedeckt
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 277
worden ist, dem zwei zu demselben Wasserzug gehörende
in der Nähe des Theaters entsprechen, ßötticher im Philo-
logus 22, 76, Philol. Suppl. 3, 291 und Curtius Erl. Text
der Sieben Karten p. 28. Bötticher erkennt darin die süd-
liche Abzweigung einer am westlichen Hang des Burgfelsens
sich hinziehenden Wasserader, deren nördlichen Zweig die
Süsswasserquelle Klepsydra am Nordwestabhang bildet. Jener
Schacht im Odeion dürfte um so mehr für ein Ueberbleibsel
der Enneakrunos anzusehen sein , als auch eine Chrie des
Aphthonios dieselbe an den Burgfelsen zu verweisen scheint.
In dem Enkomion der Akropolis von Alexandreia hebt er
Progymnasm. 12 unter andern auch hervor, dass die Quelle
derselben besser als die Enneakrunos sei, xQTJvrj rit$ %(av
neioiOTQccTidwv a^ieivov l'%ovca: ein Lob, welches doch wohl
voraussetzt, dass die Quellen zweier Akropolen mit einander
verglichen werden sollen.
Verfall der Enneakrunos.
Thukydides a. a. 0. spielt mit den Worten itgo ya^ixtav
auf die griechische Sitte an, dass am Hochzeitstage früh
sowohl die Braut als der Bräutigam ein Bad nahmen, zu
welchem das Wasser aus einer für solche Zwecke besonders
bestimmten Quelle geschöpft werden musste10). Zu Athen
genoss nach ihm und andern Schriftstellern diese Bevor-
zugung der Enneakruuosbiunnen. Merkwürdig ist aber, dass
mit der Zeit in Athen der Brunnen dieses Vorrecht verloren
hat, Photius Lex. 231, 5 Xovtqcl h'9og iorl "*.Q\iituv btil to
Cevyog Talg ya\iov^iivaig xai xolg ya^iovoiv eq>eQOv de to
fxh rtccXaiov arco Titg 'Evveaxoovvov Xeyofxevrjg y.qr^g vöiuq.
vvv TtavTO&ev XovTQO(poqovg elg Tovg ya/xovg wtefArtOv xca
lovTQoyoQOv €7i€Ti&£<jav zolg aya^ioig eici twv Tacpwv. Die
Imperfecta zeigen, dass vvv auf die Zeit des von Photios
10) Schömann Gr. Alterth. 2, 531.
19'
278 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
ausgeschriebenen Schriftstellers zu beziehen ist; Photios
selbst, der in Byzantion gross wurde, vor seiner Erhebung
zum Patriarchen Gesandter in Bagdad gewesen war und in
Armenien als Verbannter starb, hatte schwerlich persönliche
Kenntniss von den Sitten, die zu seiner Zeit, im neunten
Jahrhundert, in Athen herrschten. Bei dem Conservatismus,
welchen in solchen Einrichtungen die Pietät und der Aber-
glaube mit sich bringt, ist die richtige Erklärung dieser
Veränderung wohl darin zu suchen, dass der heilige Brunnen
nicht mehr benutzbar gewesen ist. Sein Verfall datirt wahr-
scheinlich schon aus der Zeit vor Kaiser Commodus (180
bis 192): denn Pollux, ein Bewohner Athens, schreibt bereits
in Ausdrücken über diese Sache, welche auf die Vergangen-
heit hinweisen : 3, 43 lowqa tiq xopi£ovoa lovxqocpoqog,
Zi&qvqai f,iev ex zrß KaXkiQQorjg eW av&ig 'Evvecty.QOvvov
xXrj&eiorjg , all<x%6$i de od-ev xal xv%oi% inaXeivo de tccvtcc
y.ai wiMpwa Xovtqcc. Er sagt nicht vvv sondern elta, nicht
naXovfiivrjg oder xextypivTjg sondern , eine vorübergehende
Benennung anzeigend, KXr]&elor]g, erkennt also für seine Zeit
diese Benützung des Brunnens nicht an.
Wodurch der Verfall des Brunnens herbeigeführt worden
sei , ist unschwer zu errathen. Durch die von Herodes
Attikos zwischen 160 und 170 in grossen Dimensionen aus-
geführte Anlage des Odeion inusste, wie Bötticher a. a. 0.
bemerkt, das Terrain bedeutende Umgestaltungen erfahren,
welche auch auf die Wasserleitung nicht ohne Einfluss bleiben
konnten. Nicht bloss dass der Brunnen, weil vom Odeion
umgeben , den Blicken entzogen und seine Benützung er-
schwert wurde; schon durch den Bau ist vermuthlich eine
Verschüttung herbeigeführt worden. Fortan konnte es sich
nur noch um die Erhaltung seines Andenkens handeln,
welche gesichert war, so lange die Universität in Athen
bestand. Diese erlitt schon eine starke Erschütterung, als
unter Theodosius das Christenthum herrschend wurde; da-
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 279
durch aber, dass 529 Justinianus sie ganz schloss und ihre
Fonds einzog, wurde der Kunde hellenischer Vorzeit in
Athen der Lebensnerv abgeschnitten. In der Zeit byzan-
tinischer Halbbarbarei, welche jetzt herrschte, darf es nicht
wundern , wenn , wie über viele andere Merkwürdigkeiten
der Stadt, so auch über diese Vergessenheit oder Irrthum
hereinbrach. Bei der mangelhaften wissenschaftlichen Bild-
ung der Verehrer des Alterthunis, welche jetzt Athen be-
wohnten oder besuchten, lag es, da die Enneakrunos selbst
nicht mehr sprudelte, sehr nahe, in der noch vorhandenen
Kallirrhöi die dermal einst auch Kallirrhoe genannte Ennea-
krunos wiederzufinden, indem sich die in den Wörterbüchern
hierüber vorfindliche Notiz unwillkürlich in den Satz um-
gestaltete, die Enneakrunos habe überhaupt auch Kallirrhoe
geheissen. In diesem Sinn hat zu Photius Lex. 231, 25 iz
rrg vvv fiev 'Ewecckqovvov xaXov[*€vr]g KQfjvrjg TtQÖreqov de
KaXXiqotjg in dem 1199 geschriebenen Codex Galeanus eine
jüngere Hand hinzugefügt : äXXä %al vvv avrr] KaXXiqotj
xaXettcci, und die ganze Stelle findet sich unter den Zusätzen
der Veneta von 1549 zum Etymologicum Magnum p. 509, 3
Sylb. in folgender Gestalt wiedergegeben: XovTQoepOQog* xa
Xovrgd (peqwv rölg ya^iovoivy otg e&og rjv xarä ttjv tov
yccpov fj/.i€Q<xv %a Xovrqd \iExa7teiinia^(xi 1% zrjg 'EvveayiQOvvov
KaXovfxevrjg HQrtvr]g, rj y.al KccXXigor] KaXetrai. Eben-
so sagt Joannes Doxopatros Sikeliota, Mönch und später
Patriarch von Byzantion * *) , in seinen Homilien zu Aph-
thonios a. a. 0., nachdem er die Stelle des Thukydides citirt
hat : xai rct vvv öe KaXXiqqorj ovo^iaQetai.
Hienach lässt sich ermessen, wie viel Werth der Angabe
des Etymologicum p. 343, 42 beizumessen ist, der einzigen
unter den von Lcake citirten Stellen, welche wirklich für
11) Nach Walz Rhet. gr. 4, IX sq. identisch mit dem Patriarchen
Joannes Kamateros, welcher 1204 von den Lateinern verjagt wurde,
280 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
die gegenwärtig herrschende Ansicht Zeugniss ablegt:
'EvveaxQOvvog -/.Qrjvrj naqd 'iXiooov, rtrig 7tqoreqov KaXXiqor]
l'oxev' agp1 ftg zd Xovtqcc zeug yctuoviievatg fxeriaaiv. Gerade
die Worte 7taqd 'iXiooov, auf welche es dieser Ansicht hier
ankommen muss, sind ein (noch dazu recht thörichtes) Ein-
schiebsel, sei es der Abschreiber oder des Compilators
selbst12): wer die Quelle am Ilissos suchte, der musste
wissen , dass diese jhren Namen Kallirrhoe niemals ver-
loren hat.
Leake beruft sich auch auf eine Stelle der Vorrede zu
den Hippiatrika des Hierokles: Taqavrlvog de latoqel xov
tov dibg vewv xataOKeva^ovtag l4$r]valovg 'Evveaxqovvov
rtXtjoiov eloeXa&TjVCU xprjiploao&cti rd ex t^g *AT%w.rkg eig ro
aarv £evyr] aitavta : denn es habe in Athen keinen irgendwie
berühmten Tempel des Zeus gegeben als das Olympieion,
dessen Trümmer sich nahe der Kallirrhöi finden. Ausser
im Etymol. M. 330, 40 eXivvecv dqyelv , oxoXcc^eiv, 6 de
Taqavxlvog ro f}Ov%d£eiv , wo Sylburg Taqqcuog corrigirt,
kommen Fragmente dieses Schriftstellers nur iu den Geo-
ponika vor. Aus ihnen geht hervor, dass er Paxamos, den
jüngeren Manetho und vielleicht Oppianos gelesen hat; er
selbst ist von Anatolius Vindanius, welcher ihn nach Africanus
aufführt, und Palladius benützt worden. S. Niclas Geopon.
Praef. p. LXXI1L Da Tarantinos hienach am Ende des dritten
oder zu Anfang des vierten Jahrhunderts nach Christi Geburt
geschrieben haben dürfte, so wäre er, da das Etymologicum
aus dem zehnten oder eilften Jahrhundert stammt, als der
älteste literarische Vertreter dieses Irrthums anzusehen: wenn
er nämlich, was wir bezweifeln, das Olympieion im Sinne
gehabt "hat. Dagegen spricht aber seine Angabe von einem
Psephisma des athenischen Volkes , welches wegen jenes
Baues erlassen worden sei. Denn dos Olympieion ist vom
12) Im Etymologicum Gudianum fehlt die ganze Glosse.
Unger: Enneakrunos and Pelasgilcon. 281
Demos weder begonnen noch fortgesetzt oder vollendet
worden; der Anfang zu dein Bau wurde von Peisistratos
und seinen Söhnen gemacht, fortgesetzt wurde er von dem
Syrerkönig Antiochos Epiphanes und K. Hadrian führte ihn
zum Abschluss. Auch ist der von Leake geltend gemachte
Grund nicht hinreichend , um die Deutung des Zeustempels
auf das Olympieion zu erweisen. Es gab im alten Athen
noch einen andern liochgefeierten Zeuscultus, welcher, wie
die Auslassungen der Redner13) und die Inschriften14) lehren,
im öffentlichen Leben der athenischen Demokratie eine be-
deutendere Rolle spielte als der des unvollendeten Olym-
pieion : dies ist der Cultus des Zeus Eleutherios oder Soter
im Disotcrion auf dem Kerameikosmarkt. Gegründet wurde
dieser in der Blüthezeit des athenischen Freistaats und zu-
gleich seiner Bau thätigkeit, vgl. Didymos bei Harpokr. 70, 14
&tfoftd"¥] 'Ehev&SQiog did zo rtov Mrjöixcov ccftakXetyfyai rovg
Id&rjvaiovQ, und auf diese Unternehmung dürfte sich die
Notiz des Tarantinos beziehen. Von der Enneakrunos frei-
lich war das Disoterion durch den Marktplatz getrennt; es
hindert uns aber nichts, die Erwähnung des Brunnens auf
den Gestellungsplatz zu beziehen, wo die vielen Fahrzeuge
sich einzufinden hatten. Zu dem Bau dieses Tempels allein
war eine so grosse Austrengung sicherlich nicht nöthig ;
vielleicht ist aber das Psephisma nur bei dieser Gelegen-
heit erlassen worden. Zu gleicher Zeit waren noch viele
andere Bauten an verschiedenen Stellen, besonders auf der
Akropolis und auf dem Markte, im Gang, vgl. Curtius Sieben
Karten p. 35 über die Bauthätigkeit des Kimon. Da galt
es einen grösseren freien Platz im Mittelpunkt dieser Ar-
beiten aufzufinden, an welchem nicht, wie das auf dem
13) Isokrates Euag. 57. Lykurgos g. Leokr. 57; 136. Hypereides
bei Harpokr. 70, 11. Deinarchos g. Demosth. 36.
H) Stark ?u Hermann Rel. Alt. § 61, 15.
282 Sitzung der philos.-philol. Glosse vom 2. Mai 1874.
Marktplatz der Fall gewesen sein würde, die Masse und
das Getümmel der Wagen den Besuchern und den Nachbarn
lästig wurde. In der Nähe des Enneakrunosbrunnens stand
aber ausser dem weiten Eleusinion besonders auch der be-
deutende und vollständig benutzbare Raum des Pelasgikon
in dieser Hinsicht zur Verfügung. Eine Vorstellung von
dem Gewimmel und Getümmel, welches solche Bauten bei
der grossen Menge von Menschen und Thieren, Fahrzeugen
und Zurüstungen aller Art hervorriefen, gibt Plutarch Perikl. 13
und Cato maj. 6 bei Gelegenheit der Bauthätigkeit des
Perikles ,5).
In der ältesten Beschreibung Athens aus der Zeit der
Türkenherrschaft, geschrieben um 1460 und erhalten in
einer Wiener Handschrift, wird südöstlich von der Stadt in
der Uissosgegend fj NedxQOvvog Ttrjyr) r KalliQQorj erwähnt,
s. Laborde Athenes aux XVe, XVIe et XVIP siecles 1, 19;
die unter den byzantinischen Kaisern aufgekommene Identi-
fication der Kallirrhöi mit dem altheiligen Stadtbrunnen
war also bei den Ortsgelehrten bereits zum feststehenden
Glaubenssatz geworden. Von ihnen haben die fränkischen
Reisenden dieses topographische Vorurtheil ungeprüft über-
nommen und von Hand zu Hand weitergegeben.
II. Eleusinion.
Indem Pausanias 1, 14, 3 die an der Enneakrunos ge-
legenen Tempel beschreibt, erwähnt er auch, ohne eine
Verschiedenheit der örtlichen Lage anzudeuten, das Eleusinion,
ein Heiligthum, welches unzweifelhaft und anerkannt inner-
halb der Stadtmauern gelegen war, vgl. Corp. inscript.
Nr. 71 (Kirchhoff Inscr. att. 1), Z. 37 ev aaret ev tu 'Elev-
15) Da Didyraos a. a 0. wörtlich genommen nur von dem Stand-
bild des Zeus zu sprechen scheint, so könnte der Bau des Disoterion
auch in die Zeit des Perikles gesetzt werden.
Unger: Knneakrunos und Pelasgikon. 283
aivup] Thukyd. 2, 17 ertet agjtxovTO ig uo aorv, (j[mr>oav
y.clI ta hoä xai rä ftoq>a navxa 7thv vrjg azQOTtolecog /al
rov 'EXevoivlov ; Xenoph. de re equest. 1, 1 rov Karo) 16
^EXevolviov IdfripTfiiv %TC7tov äovqiov ; Lysias g. Andok. 4
tu. i-iev ev T<p ev&ade ^Elevoivlto, rä de ev %$ 'Ehevolvi. In
der sicheren Voraussetzung, dass die Enneakrunos ausser-
halb der Stadt, jenes städtische Heiligthum also nicht an
ihr zu suchen sei, haben die meisten Forscher, ohne die in
der Darstellung des Pausanias begründete entgegengesetzte
Auffassung eines ernstlichen WiderlegUDgsversuches zu wür-
digen , angenommen , das Eleusinion werde von ihm nur
nebenbei wegen der Verwandtschaft, welche zwischen seinem
und dem Cultus der an dem Brunnen befindlichen Tempel
bestanden habe, erwähnt, und nachdem Leake in der zweiten
Ausgabe (Uebers. p. 214) seine Meinung geändert hat, halten
nur noch BÖtticher im Philologus Suppl. 3, 284 und Forch-
hammer Philologus 33, 118 an der natürlichen, dem unbe-
fangenen Leser sich von selbst aufdrängenden Erklärung
fest, dass Pausanias das Eleusinion desswegen an jener
Stelle erwähnt, weil es in der Gegend der Enneakrunos
gelegen war. Aber entscheidende Beweise für die Not-
wendigkeit dieser Auffassung haben sie nicht beigebracht
und da beide das über die Lage des Brunnens bestehende
Vorurtheil theilen, so konnten sie auch zu keiner über-
zeugenden Fixirung des Eleusinion gelangen. Bötticher setzt
die Bauwerke der Enneakrunosgruppe ohne allen positiven
Anhalt in den Osten der Stadt an eine von der Kallirrhöi
nach Norden laufende Linie; Forchhammer in die Gegend
von Agrai, was hinsichtlich des Eleusinion durch die eben
citirten Stellen widerlegt wird: denn Agrai lag ausserhalb
der Stadt, vgl. Bötticher Philol. Suppl. 3, 297.
Schon der Umstand, dass Pausanias das Eleusinion
ohne eine topographische Anmerkung in die Beschreibung
der Enneakrunosgruppe verflochten hat, ist ein Anzeichen,
284 Sitzung der philos.-philol. Olasse vom 2. Mai 1874.
dass es derselben Gegend angehört wie diese. Die Perie-
gese des Pausanias ist so streng nach dem Princip örtlicher
Aufeinanderfolge geordnet, dass jeder neue Punkt, auf den
sie ohne Beigabe einer ortsbestimmenden Erinnerung über-
geht, als Nachbarort des zunächst vorher beschriebenen
anzusehen ist. Gar oft wird ohne Hinzufügung und mit nur
stillschweigender Ergänzung örtlicher Hinweise wie evtavöcc,
ftXyoiov, ov 7toQQü) , £<pe!;rjg, perä tovto, in Ausdrücken,
welche nur das Vorhandensein :(in Athen) überhaupt anzu-
zeigen scheinen, ein Punkt von ihm erwähnt, welcher sich
in Wirklichkeit an den zuletzt genannten örtlich anschliesst.
So im ersten Buch c. 3, 5 o^yiodofxriTai de xal MrjTQog &eiov
Uqov; 19, 5 deUvvzai de kccI ev&a IleXoTtovv^aiot Koöqov
xreivovoi; 22, 4 xbItcu de xccl 0ql^og ; 25, 2 eoryxe de xal
3OlvfX7ti6öwQog ; 23, 7 xai l4qtefiidog Uqov eari, vgl. 25, 2.
So besonders fem de oder eöTt de xcci, s. 19, 1; 22,3;
23, 5 ; 26, 5 ; 27, 6 u. a. Oft wird bloss mit de eine Bemerk-
ung angefügt, deren grammatisches oder logisches Subject
als die örtlich nächste Merkwürdigkeit angesehen weiden
soll, wie 1, 18, 1 rö de Uqov tiov Jiookovqcov earlv ccqxcuov;
19, 2 ig de rrjg IdyQodhrig tov vaov ovdelg Xeyofievog ö(piaiv
eaxl loyog; 8, 6; 18, 4; 18, 6; 22, 3; 23, 8; 24, 5; 28, 7.
Diese Scheu vor häufiger Wiederholung nackter Ortsbe-
stimmungen, welche durch ihre Trockenheit der Periegese
den Stempel eines tabellarischen Schematismus aufdrücken
könnten, geht so weit, dass, anstatt das eigentliche An-
knüpfungsmotiv, die topographische Reihenfolge, zu erwähnen,
lieber irgend ein zufällig vorhandenes Prädicat, welches den
zwei einander benachbarten* Sehenswürdigkeiten gemeinsam
ist, hervorgehoben (Beispiele hievon gleich nachher) oder,
um zugleich Abwechslung hervorzubringen, der Beschreibung
des an die Reihe kommenden Gegenstandes eine historische
Notiz oder irgend eine allgemeine Bemerkung vorausgeschickt
wird, vgl. 23, 1 ; 23, 7; 24. 3 (zweimal); 26, 4; 26, 6; 28, 8,
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 285
Wo dagegen die bisher befolgte Route verlassen und eine
neue an anderem Orte begonnen wird, da fehlt es auch an
dem nöthigen topographischen Wink für den Leser nicht,
vgl. 14, 6; 20, 1 ; ebenso wenn zur Erklärung eines Punktes
die Erwähnung eines entfernten anderen nöthig ist (25, 7;
27, 3), es müsste denn letzterer an seinem Orte derPeriegese
einverleibt sein (vgl. 26, 3 mit 18, 3; 5, 5 mit 8, 9).
Demnach müsste, da Pausanias das Eleusinion sonst
nirgends erwähnt, die Nennung dieses Heiligthums neben
dem der Demeter und Köre und dem Triptolemostempel
auch dann als ein Beweis gleicher Lage gelten, wenn es
richtig wäre, dass zwischen den Culten dieser heiligen Orte
bloss gegenseitige Verwandtschaft bestanden hätte: denn als
das wahre Motiv der Erwähnung des Eleusinion an dieser
Stelle müssen wir nicht diese Verwandtschaft, sondern die
Ortseinheit ansehen. So heisst es 18, 9 nach Erwähnung
des von Hadrian vollendeten Olyinpieion : !Aöqiavog de xare-
OKevdoocTo xai aXka l4&rjvaloig, vadv "Hqccq etc. ; oder 8,3
xry de ld$r\vav uioxqog (e7tolr}0€v), nachdem to tov ZJqewq
ayakfxa. e7toh]Oev ^lyia/^evrjg vorausgegangen ist: gleich als
ob es sich bloss um die Kunde von dem geineinsamen
Schöpfer der beiderorts erwähnten Kunstwerke und nicht
auch um die Andeutung ihrer Ortsnähe handelte. Das Ver-
hältniss indessen, in dem die erwähnten zwei Tempel am
Enueakrunosbrunnen zum Eleusinion standen, war mehr als
Verwandtschaft: der Tempel der zwei chthonischeu
Göttinneu und der nach Triptolemos benannte
gehörten dem Eleusinion selbst an, sie bildeten
die zwei vornehmsten Gebäude dieses grossen Heiligthums.
Dem eleusinischen Cultus eigenthümlich ist die gemein-
same Verehrung der Demeter und Köre in einem und dem-
selben Tempel, durch eine Priesterin und dieselben Opfer,
die eleusinischen Mysterien gehören beiden zusammen an.
Diese Zweieinheit drückt sich in der Bezeichnung rw $ew,
286 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
duovvfxoi &ecti aus, Welcker Griech. Götterlehre 2, 532 ; ihnen
zusammen gehört der Tempel in Eleusis, Bursian Geogr, 1, 330;
ebenso das Opfer, Corp. inscr. Nr. 523 ßorjögof-itcovi i£i
Jrtixrjxgi ActlKogy 6eXcpay.a, und der ganze Dienst : Paus. 1, 38, 3
xet de leget xoiv &eolv J?v(.io%7tog xal al Svyaxegeg ögwotv
al Keheov, Andokid. 1,31 iiepvrjo&e xai ewgdy,axe xoiv &eolv
xet leget, ebend. 1, 29 ; 32, Xen. Hell. 6, 3, 6 xd Jrjprjxgog
-Kai Kogrjg aggrjxa leget, Dio Cass. 51, 4 xoiv xoiv deolv
{.woxrjgiwv (xere'kaßov, Arrian Alex. 3, 16, 8 hörig \.ie\ivrjxai
xeCw &ealv ev 'Ekevoivi; daher auch die Priester Andokid.
1, 124 legevg cov xrtg fxrjxgdg xai xrkg -frvyaxgog, Phot. Lex.
748, 7 fj legetet xrtg //rj(xrjxgog r.al Kogrjg i i^vovoa xovg
fivoxctg ev 'Elevolvt. Wie es hie und da vorkam, dass ein
Heiligthum mehrere Tempel hatte16), so gehörte auch der
andere Tempel, in welchem sich das Bild des Triptolemos
befand, zum Eleusinion. Triptolemos, der Sohn des Keleos
von Eleusis, war als Gründer, König und Gesetzgeber dieser
Stadt ihr eigentlicher Heros, zugleich aber auch der vor-
nehmste Diener der eleusinischen Göttinnen, Pflegsohn und
erster Priester der Demeter in Eleusis, dort und von dort
aus allenthalben Stifter des Ackerbaus. Darum hatte er
auch in Eleusis einen Tempel, Paus. 1, 38, 6.
Wenn Pausanias das Eleusinion erst nach Erwähnung
der zwei Tempel nennt und das zwischen diesen und dem
Heiligthum bestehende Verhältniss nicht anzeigt, so erklärt
sich die abgerissene Kürze seiner Darstellung daraus, dass
er bei seinen griechischen Lesern die Kenntniss dieses Ver-
hältnisses voraussetzen durfte. Auch in Beziehung auf Eleusis
selbst begnügt er sich 1, 38, 6, wie Forchhammer Philol.
24, 118 erinnert, mit der Erwähnung des Triptolemostempels
und des heiligen Brunnens Kallichoros, um dann im All-
gemeinen von dem „Heiligthum" zu sprechen. Aehnlich
16) Z. B. das Hieron des Dionysos in Limnai, Paus. 1, 20, 3,
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 287
wird 1, 2, 4 mit den Worten (.isra de to xov Jtovvoov
T£^t£v6g eotiv OMtif-ia die Benennung des heiligen Bezirks nach-
geholt, von welchem er vorher schon einen Theil hes prochen
hatte) llovXvviwvog olxia> Irf e^iov de avüxo Jtovvoov), und
1, 26, 6 wird erst das Bild der Polias beschrieben, bevor
1, 27, 1 des Heiligthums selbst gedacht wird. Auch diese
Brachylogien gehören zu den Mitteln, durch welche er von
seiner Periegese den Schein einer trockenen Statistik fern-
zuhalten sucht.
Von dem Triptolemostempel insbesondere lässt sich noch
viel bestimmter nachweisen, dass er ein Theil des athenischen
Eleusinion gewesen ist. Pausanias sagt 1, 14, 3: ttdooco de
ievai f.ie wq^iievov xovde tov Xoyov xal otzoöcl eg efyyrjGiv
e%EL to '^i&rjvrjGiv legov y.aXov\ievov de ^EXevoivtov hteö%ev
oxpig SveiQocTog' a de eg necvzag oglov yqaqjeiv, eg xavxa
a7toxQexpofxaL. Indem er ankündigt, dass „in dieser Be-
sprechung'1, also in dem begonnenen Thema, fortzufahren
und alles, was das eleusinische Heiligthum in Athen Merk-
würdiges biete, aufzuzeichnen ein Traum ihn abhalte, gibt
er deutlich genug zu verstehen , dass schon die voraus-
gegangene Auseinandersetzung den Merkwürdigkeiten dieses
Eleusinion gegolten hat. Worin besteht nun das Voraus-
gegangene? In einem Excurs über Triptolemos , welcher
sich an die Erwähnung des Triptolemostempels anschliesst
und durch die Worte tcc de eg ccvtov brcoia Xeyerat yQaipco
7taqelg ooov. eg zfrjiortrjv e%ei xov Xoyov eingeleitet wird.
Auf diesen Xoyog beziehen sich also die Worte xovde rov
Xoyov und der Excurs über die argivische und die attische
Sage von Triptolemos nebst den beigefügten eleusinischen
Genealogien desselben ist der Anfang dessen, was er von
den an das Eleusinion geknüpften Legenden für mittheilbar
hält; was der Traum zu verschweigen nöthigt', ist offenbar
nichts anders als die bei Ankündigung der Mittheilungen
über Triptolemos als Geheimniss bezeichnete Sage von Deiope.
288 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 2. Mai 1874.
Diese, die Mutter des Triptolemos und Priesterin der De-
meter in Eleusis (Pseudo-Aristot. mirab. ausc. 131) gehört
gleichfalls in den Legendenkreis des Eleusinion ; ihrem
Namen nach und als mythische Priesterin ist sie, wie Iphi-
geneia, Upis u. a., ursprünglich mit ihrer Göttin Demeter
oder Deo, deren Pflegsohn Triptolemos genannt wird, iden-
tisch ; wie auch Daeira bald Tochter der Demeter , bald
Mutter des Eleusis oder Gattin des Eumolpos genannt wird.
Aber nicht bloss das Vorhergehende, sondern auch
das auf die Erwähnung des Eleusinion Folgende bestätigt
die Zusammengehörigkeit des Triptolemostempels mit diesem
Heiligthum. Weiterzugehen in diesem Thema, sagt Pausa-
nias, und alles, was das Eleusinion Merkwürdiges bietet,
zu verzeichnen, hält mich ein Traum gesicht ab; aber was
alle wissen dürfen, dem will ich mich zuwenden. Was theilt
er nun Wissenswürdiges vom Eleusinion mit? Wiederum
etwas wenigstens örtlich mit dem Triptolemostempel sich
Berührendes: tvqo tov vaov tovöb, Iv&a y,al tov Tqitzto-
Xifxov tÖ ayccXfia, k'oTi ßovg ola ig Svoiav dyofievog' TCErCQvr\xai
de xcc&ijUEvog 'Erciiieviörjg Kvcooiog; woran er dann einen
Excurs über den kretischen Priester Epimenides schliesst.
Das Sitzbild des Epimenides befand sich also im eleusinischen
Bezirk und da es am Eingang des Triptolemostempels war,
so muss auch dieser im Eleusinion gestanden haben.
Was Epimenides mit dem eleusinischen Cultus zu schaffen
hat, ist aus den Mittheilungen des Pausanias über den langen
Schlaf, die epischen Gedichte und die Thätigkeit desselben als
Sühnpriester nicht zu ersehen ; im Gegentheil steht es fest,
dass der Kreter Epimenides ein Priester des Apollon gewesen
ist. Der Epimenides des Eleusinion ist von diesem verschieden
und, wie Bötticher Philol. Suppl. 3, 320 erkannt hat, kein
andrer als Buzyges, der mythische Repräsentant und Ahn-
herr des eleusinischen Priestergeschlechts der Buzygen, vgl.
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 289
Hesychios Bovtvyiqg' f]Qtog * Azzw.bg 6 rtQiozog ßovg v/t 6
(xqotqov £ev§ag. exaXelzo de E7tinevldr]g' Y.a§Lozazo de itaq
avzolg y.al 6 zovg leQOvg aQOZOvg eruzeXcov Bov^vyrjg ; Schol.
Hom. II. 2, 483 über Eleusis: Kai ccqozqov de 'E7titievidr]g
(so Lobeck Aglaoph. p. 206 statt exet Malvidog) 6 Kai Bov-
'Qvyrjg l%ev%e. ZQirco'kov de zijv aqovqav qtrjoiv, ercel Tqmvzo-
Xefiog TtqwTog eoTieiQe olzov ; Ausonius epist. 22, 46 hoc si
impetratum munus abs te accepero, prior colere quam Ceres;
Triptolemon olim sive Epimeniden vocant aut Bulianum
Buzygein tuo locabo postferendos nomini. Seinen Namen
verdankt er ohne Zweifel wie auch Triptolemos, Dysaules,
Trisaules, Buzyges einer Eigenthümlichkeit des eleusinischen
Cultes: er bezeichnet die durch Demeter an Stelle der
früheren nomadischen Lebensweise eingeführte Sesshaftigkeit
(irtifieveiv) des Ackerbaus. Die heiligen Ackerstiere, welche
von den Buzygen gewartet wurden (Schol. Aristid. 3, 473, 16
Dind.), fanden ihre Verwendung bei den heiligen Pflügungen,
deren eine, die buzygische, am Fuss der Burg vollzogen
wurde, Plutarch praecept. coniug. 42 *A$r\vaioi zgelg dgo-
zovg ieQOvg fjyov, 7tQtozov eitl 2kiqw zov Ttalaizazov zwv
otcoqvjv vTto^Lvr^ia, devzeqov ev zf ^PccQia, zqizov vitb rtofav
zov xaXovpevov BovQvyiov. Die Stätte derselben, wie nach
dem Vorgang von 0. Müller Kl. Schrift. 2, 156 gewöhnlich
geschieht, nördlich oder nordöstlich von der Burg in der
Nähe des Prytaneion zu suchen, weil dort nach Pollux 8, 111
und Anekd. Bekk. 449, 20 das Bukoleion sich befand, ist
kein Grund vorhanden; ja der Name dieses Platzes könnte
bei dem feindlichen Gegensatz zum Hirtenleben, welcher den
eleusinischen Cultus durchzieht, eher auf eine von ihm ent-
fernte Lage führen. Die naturgemässe Stelle des heiligen
Feldes ist im Eleusinion und dessen Lage wird auch in
derselben Weise bestimmt, Clemens Alex, protrept. p. 13
Sylb. ^IiAfxaqaöog 6 EvfioXrcov Kai Jaeiqag ovyl (KEKrtdevzai)
290 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
sv T<p rtEQißolq) tov 'Elevoivlov vtco rfj TtoXst11); die von
Kumanudis im Philistor 2, 238 veröffentlichte athenische In-
schrift Z. 11 tov 'ElevGivlov tov vtco Trt tcoIsi und Z. 28
sv 'Elsvoeivlxo toj vtco Ty tcoKsi.
Die pana thenaische Procession.
Die von den Meisten angenommene Satzung des Eleu-
sinion östlich oder nordöstlich der Burg ist aufs Gerathe-
wohl erdacht: denn der einzige Grund, welcher für sie
geltend gemacht wird, dass die übrigen Seiten der Burg-
umgebung bereits zu dicht mit Heiligthümern und andern
Anlagen besetzt seien, als dass das Eleusinion dort unter-
gebracht werden könnte, darf, so lange wir über die Aus-
dehnung der einzelnen Plätze nicht unterrichtet sind, auf
Stichhaltigkeit keinen Anspruch machen. Besser begründet,
nur zu wenig bestimmt und bloss auf zwei Zeugnisse (des
Xenophon und Philostratos) gestützt, ist die von Rangabe
Bullettino d. Inst. 1850 p. 36 18) und Bursian Geogr. 1, 296
aufgestellte Ansicht, dass es nord- oder südwestlich von der
Burg zu suchen sei.
Wir müssen, da sich uns die Tempel der chthonischen
Göttinnen und des Triptolemos als Bestandtheile des Eleu-
sinion erwiesen haben, dieses natürlich da suchen, wo wir
den jenen Tempeln benachbarten Enneakrunosbrunnen ge-
funden haben, also südwestlich der Burg, am Beginn des
Aufgangs, in der Gegend wo später Herodes das neue Odeion
anlegte, und es gilt jetzt die Probe zu machen, ob diese
Ansetzung des Eleusinion geeignet ist, die vielbesprochene
17) So emendirt Wachsmuth Rhein. Mus. 23, 58 das überlieferte
vn 6 xji ctxQono'ket auf Grund der (missrathenen) Uebersetzung dieser
Stelle bei Arnobius adv. gent. 6, 6 Dairas et Immarus fratres in
Eleusino consepto quod civitati subiectum est.
18) Später hat er seine Meinung geändert, Memoires de l'Acad.
des Inscr. 1864. p. 2G5.
Unger: Ennedkrunos und Pelasgikon. 291
Frage Dach dein Gang des panathenaischen Festzugs, bei
welcher es sich hauptsächlich um die Lage jenes Heiligthums
handelt , mit besserem Erfolg zu lösen , als es bisher ge-
schehen ist.
Am Haupttag der grossen Panathenaien, dem 28. Heka-
tombaion jedes dritten Olympiadenjahres, wurde der Peplos
der Pallas in feierlichem Aufzug auf einem schiffähnlichen
Gestell, an welchem er in Art eines Segels (aqixevov) befestigt
war, aus dem äusseren, v or städtischen . Kerameikos durch
das Dipylon in den inneren (Thukyd. 6, 57 sq. Plut. Demetr. 12.
Himerios or. 3, 12) und hier über den Markt bis an den
Aufgang zur Burg gefahren, Himerios a. a. 0. ayovotv litt xov
koXcovov xrg TIakXdöog xo oxacpog ; Schol. Aristid. 3, 342
Dind. vavg tp vitbxQoyog Y.axaoxevao&£iGa , rpig iv xoig
Ilava&rjvcdoig oltco xivog xqtcov ayo^ihr] Itci xrp dyiQOTCoXtv
eixsv ccQfievov und 3, 343 litoiovv xotxov xov nenXov toxlov
x^g vrjog, f]Xig V7t6xqo%og xaxeoxevccGxo Kai ex. xivog xotiov
TTQog xrjv äxQOTtohv rtyexo. Hier wurde der Peplos herab-
genommen und hinauf in das Heiligthum der Polias getragen
(Plat. Euthyphr. 6, c. Inschrift aus der Zeit zwischen 301
und 287, Ephemeris archaiol. 1862, Nr. 2257). Vergleichen
wir mit den ausgeschriebenen Stellen das Scholion zu
Aristoph. Eq. 566 iölcc Ttaqd xolg *u4&rjvaioig rceTtXog xo
aQixevov ivjg üava-d'rivaiiirjg vuog, rjv ol ^t&rjvcaOL xaxaoxev-
atovoi xft &eto öid xsxQaexrjQidog , rtg xai xrjv 7t0[i7trjv
OLTto xov Kegatiewov TtoiovGi fiexgc xov 'ElevGivlov, so er-
hellt, dass hier mit pexQ1 T°v 'EXevoiviov dasselbe bezeichnet
wird wie dort mit zrci oder TC^og xrjv axQOTtoliv, nämlich
das Ziel der Fahrt des Rollwagens durch die Unterstadt.
Das Eleusinion lag also am Beginn des Burgaufgangs.
Andere topographische Notizen fügt Philostratos in der
Schilderung der von Herodes Atticus mit besonderem Glänze
veranstalteten Procession hinzu, bei welcher das Schiff statt
von Thieren durch eine verborgene Maschinerie fortbewegt
[1874, 3. Phil. hist. Cl.] 20
292 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
wurde und nach der Abnahme des Peplos noch einen längeren
Weg durch die Stadt machte, vit. sophist. 2, 1, 5 Ttäxelva
tzeqi tcov Ilava&rjvaicüv tovtcov r^ovov, Ttinlov tiev ävrqj&ai
Ttfi vecoq fjdlco yoaoprjg, ovv ovolto Ttp x6X7tü), docc^eiv Öf:
TTjv vavv ov% VTioQvyiQiv dyovrcov dXV STtiyeioig ^yavaig
VTtokiG&aivQ&Gav . 87. KeQa^ieixov aqaoav yikia kiotzt} äcpelvai
f7tl to ^EXevöiviov Kai rtegißecXomav avTo 7TctQccfieiipcci to
TLtkaQytKOv KOfii^oftevrjv re tragä to IIv&iov eX&üv oh
vvv wQiiiGTcu. Nach Wachsmuth , der im Rhein. Museum
23, 53 sqq. den Gang der Procession eingehend und mit
vollständigster Beiziehung des Materials behandelt hat, wäre
durch dieses und die andern Zeugnisse festgestellt, dass der
Festzug sich vom Markt nach dem Eleusinion bewegte, dies
umkreiste, dann längs des Pelasgikon hinging und zuletzt,
während das Schiff an seinen Ruheplatz gebracht wurde,
den Peplos in den Burgtempel hinaufbrachte. Wachsmuth
kommt, wie andere vor ihm, durch die Ansetzung des Eleu-
sinion nordöstlich vom Burghügel zu einer doppelten, den
Nordabhang der Burg entlang nach Osten zum Eleusinion
hin und von da nach Westen zurück laufenden Bewegung.
Diese Setzung ruht aber, wie wir sahen, auf schwachen
Füssen; auch ist nicht abzusehen, wie das Heiligthum der
chthonischen Göttinnen zu der Auszeichnung kommt, der
Procession eines ihm fremden Cultus als Wendeziel zu
dienen. Noch schlimmer ist es, dass Wachsmuth, da das
Pythion südöstlich von der Burg lag, für seinen panathenaischen
Zug ein anderes Heiligthum dieses Namens im Nordwesten
statuiren muss; er findet es in dem Grottenheiligthum des
Apollon am Nordwestabhang des Burghügels. Später, im
Rhein. Museum 24, 46 sq., hat er die hiebei dem Pelasgikon
gegebene Ansetzung nördlich von diesem zurückgenommen
und auch über das Pythion sich so zweifelnd ausgesprochen,
dass seine ganze Anstellung fraglich geworden ist. — Curtius,
Sieben Karten z. Topogr. v. Athen. Erläut. Text p. 23 lässt
Unger: Enneäkrimos und Pelasgikon. 293
die Procession vom Markt her zur Nordwestseite der Burg,
von da auf das auch von ihm nordöstlich derselben gedachte
Eleusinion zu und um die ganze Akropolis, als deren Be-
zeichnung er den Namen Pelasgikon nimmt, herumgehen,
bis er am Pythion vorbei wieder am Bergaufgang anlangte.
Hiegegen hat aber schon Wachsmuth Rh. M. 24, 47 mit
Recht geltend gemacht, dass diese Auffassung des Pelasgikon
nicht mit dem Sprachgebrauch übereinstimmt.
Diese neueren Erklärungen der philostratischen Stelle
ebenso wie die früheren , deren Unhaltbarkeit aufzuzeigen
wir im Interesse des Raumes unterlassen, leiden sämmtlich
an einem exegetischen Fehler: indem sie voraussetzen, dass
der Peplos auf dem Schiff geblieben ist, bis dieses alle von
Philostratos aufgezählten Heiligthümer (Bötticher, Philol.
Suppl. 3, 300, und Wachsmuth nehmen nur das Pythion aus)
passirt hatte, übersehen sie die ausdrückliche Angabe, des-
selben, dass und wo der Peplos von dem noch eine Strecke
weiter fahrenden Schiffe herabgenommen worden ist. Philo-
stratos sagt: aus dem Kerameikos mit tausendfachem Ruder-
werk abgefahren habe es (ihn, den Peplos) zum Eleusinion
entlassen (äcpelvcu) und nachdem es um dieses herumge-
kommen das Pelasgikon passirt und sei am Pythion vorbei
an den Platz geschafft worden, wo es jetzt ankert. Die
Fahrt vom Eleusinion bis zum Ruheplatz des Schiffes hatte
also mit der Procession nichts mehr zu schaffen; die wichtige
neue Aufklärung, welche wir hiebei über die Lage des Pelas-
gikon gewinnen, wird unten zur Verwerthung kommen. An
der Procession hatte die Fahrt des Schiffes nur so lang
Theil, als es den Peplos trug; dieser wurde am Eleusinion
abgenommen. Philostratos stimmt also vollständig mit dem
Scholiasten des Aristophanes überein , nach welchem die
Processionsfahrt des Schiffes gleichfalls am Eleusinion ihr
Ziel fand; von dort wurde der Peplos zur Burg hinauf
getragen.
20*
294 Sitzung der philos.-philöl. Ctasse vom 2. Mai 1874,
Altar der Eudanemen.
Die Statuen des Aristogeiton und Harmodios auf dem
Kerameikosmarkt , von welchen Pausanias zu dem Odeion
und den zwei Tempeln des Eleusinion kam , standen auch
nach Aristoteles rhetor. 1, 9, 38 und Schol. Aristoph. Ekkles.
682 ev ayoqa, und zwar auf der Seite, wo man zur Burg
emporstieg, nicht weit vom Altar der Eudanemen, Arrian
Alex. 3, 16, 8 iv KeQcc^ueixcj) y avifxev eg nokiv KaTctvTMQv
liakioxa tov Mtjtqüjov , ov naxoäv twv Evöavefxojv tov
ßio^ov. Dieser Altar gehörte, wie Arrian, selbst ein Priester
der Demeter und Köre (Photios biblioth. cod. 93), hinzu-
fügt, dem eleusinischen Cultus an: ooTig de peftvrjTai tcuv
&eaiv ev 'EXevolvi, olöe tov Evöave^ov ßcopöv etzI tov öa-
ttsöov ovtcc. Als Nachkommen eines mythischen Heroen
Eudanemos waren die Eudanemen, gleich den Eumolpiden,
Keryken, Buzygen, Krokoniden, erbliche Beamte dieses Cultus.
Aus Hesychios Evöave^or ayyeloi tzcl$ Id&iqvaloig ersieht
man, dass ihre Function mit der des Kerykengeschlechts
sich nahe berührte; eine dem Deinarchos zugeschriebene
Rede betraf einen Process beider über das Recht, den mysti-
schen Korb zu besorgen, Dionys. Halic de Din. 11 öiadt-
Kaola Evöavsficov Tcqog KrjQvv,ag tteql tov xavcog. Mehr ist
von ihnen nicht bekannt; was Bötticher Philol. Suppl. 3, 365
über sie vorträgt , ist bodenlose Speculation. So viel aber
ist wahrscheinlich, dass auch in Athen, nicht bloss in Eleusis,
der Altar in dem Heiligthum gestanden hat, welchem die
Verrichtungen der Eudanemen gegolten haben, nicht, wie
bisher angenommen werden musste, durch die ganze Länge
des Burghügels von ihm getrennt war. Wie in Eleusis der
Altar des Eudanemos ausserhalb des Tempels in dem Vor-
hof (ßTti tov öaTteöov) stand, so bildete der Eudanemenaltar ,9)
19) Die Verschiedenheit der Bezeichnung beider Altäre erklärt
sich vielleicht daraus, dass bei dem in Eleusis ein Standbild des
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 295
im athenischen Eleusinion den äussersten Punkt gegen den
Markt hin. Vielleicht befand er sich gerade am Eingang
und jedenfalls hängt diese Aufstellung mit dem Botendienste
des Geschlechtes zusammen.
Ortsbestimmung des Eleusinion.
Die Lage des Eleusinion ist durch die gegebenen Aus-
einandersetzungen in der Hauptsache bereits festgestellt.
Die panathenaische Procession bewegte sich mit dem heiligen
Schiffe vom Markte weg zum Burgaufgang am Eleusinion,
wo der Peplos herabgenommen wurde, um hinauf in den
Poliastempel getragen zu werden; vom Kerameikosmarkte
her, wo er zuletzt die Bildsäulen des Harmodios und Aristo-
geiton sah, kommt Pausanias zu den Bauwerken am Ennea-
krunosbrunnen, unter welchen die zwei Tempel des eleusini-
schen Heiligthums waren; nach Arrian waren diese Statuen
am Anfang des Aufgangs zur Burg, nicht weit von einem
Altar, der zum Eleusinion gehört haben muss. Bei Pro-
cessionen empfiehlt Xenophon hipparch. 3, 2 der athenischen
Ritterschaft eine Umkreisung des Marktes, an welche sich
ein Eilritt von den dortigen Hermen bis zum Eleusinion
schliessen soll : sireidäv de rcaliv rcqog Talg cEq(xalg yivwv-
toli 7t€QieXr]lcniOTig , ivrev&ev kccXov f.ioi Sonel uvai zata
cpvldg elg tdyog änevcu xovg %7t7tovg (xI^ql tov ^Elevoiviov.
Warum gerade bis dahin? Sicher aus demselben Grunde,
aus welchem das Festschiff des Herodes, nachdem es vor
dem Eleusinion den Peplos zur Weiterbeförderung die Burg
hinauf abgegeben hatte, im Bogen um dieses Heiligthum
herumfuhr, um dann das Pelasgikon und Pythion zu passiren :
desswegen nämlich, weil der Boden dort anstieg und bereits
Eudanemos angebracht war; dass im Uebrigen die Bestimmung der-
selben die gleiche war (zu Opfern der Eudanemen zu dienen), darf
aus dem Hinweis von dem einen auf den andern geschlossen werden.
296 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
dem unteren Abhang des Burghügels angehörte. Dies be-
stätigt Pausanias 1, 14, 1 vaol de vjteq rrtv xQrjvrjv 6 piv
JrjurjTQOg TtETCoLrjTai xai Koqtjq, ev de xq TqiTCXokk\iov xe/-
ixevov Igt w ayak\ia. Denn dass vtveq m. Accus, bei Pausa-
nias oberhalb bedeutet, hat Forchhammer Philol. 33, 116
aus den Parallelstellen erwiesen, s. 1, 41, 2 vöwq £x xcov oqtov
vfceq xry xQtvrjv qv\vai\ 8, 18, 7 VTteq xrtv NtovaxQiv oqtj
xalovpeva ^Qoavia; 2, 17, 3 OTtooa vrf£Q xovg xlovdg eoxiv
elgyao^eva ; 1,14,6 vjteq xov Ksga^emov vaog ioxw cHcpai-
Oxov, womit zu vergl. Harpokr. 114, 7 7taqa xy xolwv<p
og l(5xi 7vlr]olov xrtg dyoqag ev&ct xo cHgjalaxewv.
Das Eleusinion lag an der rechten, östlichen Seite des
Burgaufgangs: sonst würde die von Philostratos erwähnte
Umseglung desselben vor und nicht nach der Abnahme des
Peplos stattgefunden haben, mit welchem es von West oder
Nordwest her zum Burgaufgang heranfuhr. Dieser Pfad
führte am Südwestabhang des Burgfelsens empor : also haben
wir das Eleusinion oberhalb des herodeischen Odeion zu
suchen. In dem Brunnenschacht, der sich im Innern dieses
Odeion vorfindet, haben wir p. 277 den letzten Rest der
Enneakrunos vermuthet: womit es gut übereinkommt, dass
nach Pausanias die zwei Tempel des Eleusinion oberhalb
dieses Brunnens standen. Hiezu tritt noch ein anderer
Umstand. In der römischen Kaiserzeit wurde zum Schutz
des Burgaufgangs ein Castell (cpqovqwv), wahrscheinlich am
Fuss des Abhangs, und dann ein Festungsthor etwa zwischen
diesem Castell und der itvqyog genannten Bastion, welche
den Niketempel trägt, errichtet; beides nach dem Zeugniss
von Inschriften, s. Bursian Geogr. 1, 306. Die das Thor
betreffende Inschrift, Corp. inscr. nr. 521 Q>L 2e7txl[xiog
MctQxelXtvog &Xccfi(riv) v.al aito aywvo&exwv £x xwv lölcov
xovg TivXiovag vf Ttolei, wurde an dem zweiten oder Haupt-
thor einer über dem Odeion des Herodes befindlichen Linie
von späteren Vertheidigungswerken des Aufgangs gefunden,
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 297
neben ihr eine zweite ältere Inschrift, Corp. inscr. nr. 471
MvrjOiyilrg *E7tLKQ(XTOV Olvcuog — ld[iq)WQ07trftw Jr^tqL
yictl Koqrj äve&rjxav. Auch diese Inschrift muss einem in
nächster Nähe befindlich gewesenen Denkmal entstammen ;
wenn Leake Topogr. 221 an das Heiligthum der Ge Kuro-
trophos und Demeter Chloe (Paus. 1, 22, 3) dachte, dessen
Terrasse von Köhler Archäol. Zeitg. 1866 p. 167 an der
senkrechten Felswand unter dem Niketempel nachgewiesen
worden ist, geschah es nur, weil er, das Eleusinion auf der
Ostseite der Akropolis suchend, kein andres Demeterheilig-
thum in der Nähe wusste. Aus unsrer Auseinandersetzung
ist klar und dient wiederum ihr zur Bestätigung, dass diese
Weihinschrift von dem Tempel der Demeter und Köre im
Eleusinion herrührt, welcher eben in dieser Gegend, unter
jener Terrasse und über dem Odeion des Herodes, zu
suchen ist.
III. Odeion,
Das Odeion, welches Pausanias am Enneakrunosbrunnen
sah, müssen wir natürlich in derselben Gegend am Südwest-
fuss der Akropolis suchen, in welcher wir den Brunnen und
zwei der von Pausanias dort gesehenen Tempel nachgewiesen
haben, und dies um so mehr, als die Versuche, ein Odeion
am Ilissos anzusetzen , schon an sich wenig Empfehlens-
wertes haben. Gewöhnlich wird es dem rechten, der Stadt
näheren Ufer zugewiesen, an dem die Kallirrhöi sich be-
findet. Hiegegen erhebt aber Wachsmuth Rhein. Museum
23, 29 den gegründeten Einwand, dass in dieser Gegend
kein zur Anlage eines solchen Gebäudes, das sich an eine
natürliche Felswand anlehnen musste, geeigneter Platz zu
finden sei. Er selbst entscheidet sich, mit Zustimmung von
Curtius, Sieben Karten p. 34, für das linke Ufer unterhalb
der Stelle, an welcher die Kallirrhöi einmündet. Dagegen
spricht jedoch der Ausdruck vtczq %rp xQivqv Paus. 1, 14, 1:
298 Sitzung der philos.'plrilol. Classe vom 2. Mai 1874.
denn wenn Pausanias die Präposition auch im Sinne von
über — hinaus anwenden konnte, so hat er das doch schwer-
lich in einer Verbindung gethan, in welcher sie das Gegen-
theil der bei ihm gewöhnlichen Bedeutung oberhalb (s. oben
p. 296) bezeichnet haben würde.
Freilich scheinen auch dem Ansatz dieses Odeion am
Südwestfuss der Akropolis sich bedeutende Schwierigkeiten
entgegenzusetzen. Denn dort stand zwar ein Odeion, näm-
lich das grossartige von Herodes Atticus zum Ehrengedäeht-
niss seiner 160 verstorbenen Gemahlin Regula aufgeführte,
dessen längst bekannte Ruinen jetzt vollständig ausgegraben
sind; dies hat aber Pausanias nicht gemeint. Von dem
Odeion in Patrai sagt er 7, 20, 3, es sei das prächtigste in
Hellas nächst dem von Herodes in Athen aufgeführten,
welches an Umfang und Pracht seines gleichen nicht habe
und in der Periegese Athens desswegen von ihm nicht er-
wähnt sei, weil sein Bau zur Zeit der Abfassung des ersten
Buchs noch nicht in Angriff genommen war.
Hiezu kommt noch ein anderer auffallender Umstand.
Das Odeion, welches Pausanias in der Periegese Athens
nennt, ist ausserdem nicht mit Sicherheit nachweisbar; das-
jenige aber, welches die anderen Quellen kennen, war ihm,
wenigstens unter diesem Namen, nicht bekannt. Das be-
rühmte Odeion, welches Perikles erbauen Hess, lag nach
sicheren Nachrichten neben dem Theater am Südabhang der
Akropolis, wo noch Spuren eines solchen Baues gefunden
worden sind, s. Bötticher Philol. Suppl. 3, 210, Wachsmuth
Rh. Mus. 23, 24, Curtius Sieben Karten p. 36. Genau in
dieser Gegend sah Pausanias einen Bau (ytaTaOTievaojLia),
dessen Form an das Zelt des Xerxes erinnern sollte (1, 20, 4) ;
eben diese Bestimmung hatte aber das perikleische Odeion
nach Plutarch Per. 13 und es besteht auch nirgends ein
Unger: Enneakrunos imd Pelasgikon. 299
Zweifel, dass dieses der Bau war, den Pausanias gesehen
hat, ohne seine Benennung zu erfahren20).
Einen Beweis der Existenz eines älteren, von dem
perikleischen verschiedenen Odeion hat man bei Hesychios
'Qidetov T07T0Q ev co Ttqlv to d-laxqov xaTaGKevao&rjvai oi
qaipcoöol xal oi KLÜaQipdoi ftfcovl^ovro finden wollen, wo ein
vor der 500 v. Ch. begonnenen Anlage des Theaters bestehen-
des Odeion, etwa von Solon oder Peisistratos herrührend,
erwähnt zu sein scheint. Wachsmuth Rh. Mus. 24, 31 lässt
es dem Apoliocult geweiht sein und fügt noch mancherlei
gewagte Vermuthungen über die ethnographischen und sa-
cralen Eigenthümlichkeiten des Gebietes von Agrai hinzu,
welche wir auf sich beruhen lassen können. Neuerdiugs
hat aber E. Hiller Hermes 7, 393 sqq. gezeigt, dass jener
Artikel des Hesychios weiter nichts enthält als eine entstellte
und verworrene Parallelmittheilung zu Schol. Aristoph.
Vesp. 1109 und Schol. Aeschin. Ktesiph. 67, wo in ganz
sachgemässer Weise von den Probevorträgen der Dichtungen
im Odeion vor ihrer Aufführung gesprochen wird und, da
die gleichzeitige Existenz des Theaters, in welchem dieselben
nachher aufgeführt wurden, und gegenseitige Beziehungen
beider Gebäude zu einander vorausgesetzt sind , offenbar
von dem zum Theater gehörigen perikleischen Odeion die
Rede ist. Derselbe Gelehrte beweist weiter, dass sowohl
das als Gerichtsstätte bezeichnete als das von dem Redner
Lykurgos wiederhergestellte Odeion kein anderes als das
perikleische gewesen ist, ja dass überhaupt alle ein Odeion
der classischen Zeit betreffenden Stellen auf dieses bezogen
werden müssen oder wenigstens können. Da somit für die
Annahme eines zweiten Odeion in der hellenischen Periode
kein auch nur einigen Halt gewährendes Zeugniss aufzufinden
20) Leake Topogr. p. 100. Bursian Geogr. 1, 298. Wachsmuth
Rhein. Mus. 23, 24 u. a.
300 Sitzung der phüos.-phüol Classe vom 2. Mai 1874.
ist, so schliesst Hiller, dass das von Pausanias an der Ennea-
krunos gesehene frühestens aus der makedonischen Zeit
stammt.
Auch die Art, in welcher das Odeion des Perikles neben
anderen in ihrer Art einzigen Localitäten erwähnt wird,
insbesondere die Beigabe des bestimmten Artikels beweist,
dass es in und bei Athen lange Zeit nur dieses einzige be-
deckte Theater gegeben hat, Xenoph. Hellen. 2, 4, 9 elg to
yQidewv Ttaoey.a'keoav Tovg OTtHtag, vgl. § 10 und 24; Demosth.
g. Phorm. 37 vftiuv ol fiev ev T<p ccgtsc owovvreg 6ie(.ie-
tqovvto to) alqtiTa ev %<$ 'Qidelqj ol cT ev T(fi IleiQateT',
Hypereides fr. 121 Bl. (pyioöofxrjoe (uivKOVQyog) to &eaToov,
zo y£2ideiovj to) vecogia. Selbst Strabon 9, 1, 17 kennt noch
kein zweites: Kai eTt to ylecoytooiov Kai to Qrjoeiov (xv^ovg
e%et Kai tj l4.Kaör\\ila Kai ol kttzol twv qpiXooocpojv Kai to
'Qiöeiov Kai rj HoiKiXrj otocc Kai to) leqa Ta ev t^ tcoXu
rtleioTa e%ovTa tz%vit(ov eqya ; doch ist daraus kein Schluss
für seine Zeit zu ziehen, sondern nur für die seiner geo-
graphischen Quellen, des Artemidoros von Ephesos (um 200
v. Ch.) und Apollodoros von Athen (um 100); seine späteste
geschichtliche Notiz über Athen betrifft die Belagerung durch
Sulla. Dagegen vor Hadrian muss das Odeion an der
Enneakrunos schon bestanden haben; sonst würde es unter
den athenischen Bauten dieses Kaisers bei Pausanias 1, 18, 9
wohl mit aufgeführt sein.
Da dieses in derselben Gegend gestanden hat, in welcher
sich die Ruinen des von Herodes Atticus errichteten finden,
so vermuthen wir, dass dieser nicht einen völlig neuen Bau
aufgeführt, sondern den schon vorhandenen vergrössert und
verschönert hat. Das vor Herodes dort befindliche Odeion,
dessen Entstehung wir in die Zeit zwischen Apollodor und
Hadrian setzen müssen, ist wohl nach der Einäscherung des
perikleischen gebaut worden; wenigstens war vorher kein
Anlass zu dem Bau gegeben und der Brand des alten
Ungeri Enneakrunos und Pelasgikon. 301
Gebäudes fand nach der Zeit Apollodors statt. Man darf
vielleicht noch weiter gehen und Ptolemaios X für den
Gründer des an der Enneakrunos gelegenen Odeion halten.
Schon 0. Müller21) war durch den Umstand, dass sich
am Eingang dieses Theaters die Statuen vieler Ptolemaier
befanden (Paus. 1, 8, 6), auf die Vermuthung geführt wor-
den, es sei von einem derselben aufgeführt worden, hatte
aber nicht viel Anklang mit diesem Gedanken gefunden, da
Pausanias selbst dasselbe für weit älter hält. Derselbe er-
klärt 1, 9, 4 die Aufstellung der Bildsäulen des Philipp,
Alexander und Lysimachos an jenem Platze für einen Act
der Schmeichelei von Seiten des Demos gegen diese mäch-
tigen Könige, glaubt also, das Odeion an der Enneakrunos
habe im vierten Jahrhundert v. Ch. schon bestanden. Da-
mals existirte aber, wie wir gesehen haben, nur ein einziges
Odeion, das des Perikles, und da Pausanias noch einen
zweiten Irrthum in Sachen des Odeion begangen hat, indem
er dessen wahren Platz nicht kennend da, wo es stand, nur
von einem namenlosen Bau, der das Zelt des Xerxes nach-
ahmen solle, spricht, so ist man zu der Annahme berechtigt,
dass er das altberühmte Odeion in dem Gebäude zu er-
kennen glaubte, von welchem allein ihm die Benennung
Odeion bekannt war. Seine Ansicht über das Alter des
Odeion an der Enneakrunos kann uns daher ziemlich gleich-
gültig sein; die Thatsache dagegen, dass vor demselben so
viele Ptolemaier und ausser ihnen nur gerade jene drei so
eben genannten Makedonerkönige aufgestellt waren , weist
auf eine enge Beziehung dieses Gebäudes zu den Ptolemaiern
hin, welche wohl ihre passendste Erklärung in der Vermuth-
ung findet , dass einer von ihnen , natürlich der späteste,
den Bau gestiftet hat. So standen auch vor dem Zeustempel
im Olympieion zahlreiche Bildsäulen Hadrians, des letzten
21) In Ersch und Gruber's Encyclopädie VI, 236.
302 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
Erbauers (Paus. 1, 18, 6). Philipp und Alexander, der in
Alexandreia bestattet lag, waren die Begründer des make-
donischen Weltreichs, aus dem die Herrschaft der Ptole-
maier hervorging, und letztere leiteteten sich in weiblicher
Linie sogar von dem makedonischen Königsgeschlecht ab,
vgl. Satyros bei Theophilos an Autolykos 2, 7 ; Lysimachos
aber , der Schwager und Schwiegervater des Ptolemaios II,
war in seiner letzteren Eigenschaft Ahnherr aller folgenden
Ptolemaier. Die spätesten unter diesen, welche Pausanias
a. a. 0. namhaft macht , sind Ptolemaios X Soter II und
seine Tochter Berenike; sie sind es auch über welche er
sich an diesem Orte am weitläufigsten auslässt (1,9, 1 — 3).
Gerade aber zur Zeit des Ptolemaios X, der 117 — 107 und
88 — 81 über Aegypten herrschte, geschah es, dass das
perikleische Odeion von dem Tyrannen Aristion, als er von
Sulla in der Burg belagert wurde, angezündet ward, damit
das Holzwerk nicht von den Römern zu Belagerungsarbeiten
gegen dieselbe benutzt werden konnte, nicht lange nach dem
1 . März 86, an welchem die Einnahme der Unterstadt vor
sich gegangen war22). Bis es wieder aus den Ruinen er-
stand, vergingen mehrere Jahrzehnte : denn Ariobarzanes II
Philopator, der durch die Architekten G. und M. Stallius
und Menalippos dasselbe wieder herstellen liess23), kam
nicht vor 65 zur Regierung34). Die vielen Verdienste, welche
Ptolemaios X sich nach Pausanias25) um Athen erwarb,
bestanden gewiss hauptsächlich in Unterstützungen, welche
er nach den Greueln der Belagerung und Einnahme Athens
22) Plutarch Sulla 14. Appian Mithrid. 38 sq.
23) Corp. inscr. graec. nr. 357. Vitruv 5, 9.
24) S. die Citate in Pauly's Realencyklopädie B. I u. Ariobar-
zanes und Hertzberg Gesch. Griechenl. 1, 436.
25) 1, 9, 3 * A&rpcäoi vn* avtov nadovzeg sv noKXa, te xal ovx
ä£ia s£r)yiJG€(x)s %afatovv xal avtov xal BeQtvixriv e&rpcav, ij [tovt] oi
yvr\ala twv naidtov jfr, Hertzberg af a. 0. hat beide übergangen.
Unger: Ennedkrunos und PelasgiJcon. 303
den unglücklichen Bewohnern zukommen Hess; vielleicht
gehörte aber auch der Bau eines neuen Odeion dazu. Da
er wenige Jahre nach der Einnahme Athens starb und seine
gegen diese Stadt gleich freundlich gesinnte Nachfolgerin
nur sechs Monate regierte , so ist der Bau wohl nicht so
glänzend ausgefallen , wie es , unter anderen Umständen zu
erwarten gewesen wäre; jedenfalls aber war dadurch, dass
er ihn an einem andern Platze aufführte, dem König von
Kappadokien Gelegenheit gegeben, seine Freundschaft gegen
Athen durch den Wiederaufbau des alten Odeion zu be-
thätigen *6).
IV. Pelasgikon.
Durch die Beziehung, in welche Herodot 6, 137 den
vorübergehenden Aufenthalt der tyrrhenischen Pelasger in
Attika zu dem Enneakrunosbrunnen setzt, wird es nöthig
auch die Frage über die Bedeutung und Lage des sogenannten
Pelasgikon in Behandlung zu nehmen ; ein wichtiger Beitrag
zu ihrer Lösung ist bereits durch die Erklärung der von
Philostratos geschilderten Procession gewonnen worden. Die
Vorfrage, ob dasselbe eine örtliche Einheit gebildet hat oder
zwei getrennte Localitäten dieses Namens zu unterscheiden
sind, lässt sich auf Grund der zur Sprache kommenden
Zeugnisse mit Entschiedenheit in letzterem Sinne beant-
worten : es gab eine Pelasgerfeste, JJelaGyiytov velxog, auch
kurzweg Ilehaoyixöv genannt, auf der Höhe des Burghügels,
und einen Pelasgerhof, Ilelccoyiytöv (näml. xtoQiov)^ am Fuss
des Burgabhangs.
26) In Betreff der Frage, was vor dem Bau des an der Ennea-
krunos gelegenen Odeion an jener Stelle sich befunden hatte, vgl.
den folgenden Abschnitt.
304 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
1. Der Pelasge#rhof.
Dieser lag am Fuss der Akropolis, Thukyd. 2, 17 to
IleXaoyixdv KaXovfxevov ro vtto Ttv aKQOTtoliv, vgl. die untei
citirte Stelle aus Pausan. 1, 28, 3. Vermöge dieser seine]
Lage gehörte er zur Unterstadt, nicht zur Akropolis, so gu
wie das Eleusinion, Thukyd. a. a. 0. tpKrjoav Kai ta ieqd
Kai xa fjQfjia Ttavxa ttX^v Ttjg dxQ07t6Xecog Kai tov ^EXevoiviov
to tb TlskaoyiKOv — o Kai eTcdqaTOv rjv (ätj oIkbiv bfjcog
iTto Ttjg Ttaqaxqyjfxa dvayKiqg s^iokyi&yj, wie ferner das Olym-
pieion, Pythion und die andern Heiligthümer, welche Thuky-
dides 2, 15 als vit* avTrjV (ttjv dxQOJtohv) Ttqog votov gelegen
bezeichnet und von der Akropolis ebenfalls ausdrücklich
unterscheidet. Im lucianischen Piscator 47 sitzt Parrhesiades
am Rand der Akropolis und lässt die Angel in die Unter-
stadt hinab : deledaag ro ayxioTqov io%ddi Kai Ka&eü/xevog
frei ro axQov xov Tuylov Ka&rKev elg ttjv tioXlv\ der Theil
derselben aber, zu welchem die Angel hinabreicht, ist das
Pelasgikon: tl xavra 10 üagorjoiadr] , itvov Tovg Xldovg
akiEvouv öieyvcoKag sk tov TleXaoyiKOv. Während die Pe-
lasgermauer zum Schutze der Höhe des Akropolisfelsens
diente, konnte der Pelasgerhof gleich anderen Plätzen des
Asty als ein Punkt bezeichnet werden, von welchem aus
sich ein Sturm auf jene bewerkstelligen lasse, Lucian Piscat. 42
Ttaqd to JJeXaoyiKdv aXkot Kai Kazd to ^AaKhf\7tiüov cheqot
Kai Ttaqd tov Z4qewv rcdyov Wi TiXelovg, evwi öi Kai KaTa
tov tov TaXto Tagjov, ol ös Kai Tiqog to ^AvaKUOv ttqo-
&8fX£voi 27) Kki^iaKag dvsQTtovoi, [asottj de fj aKQOTtoXig
iv ßqaxet
Seinen Namen hatte der Platz davon, dass die tyrrheni-
27) Durch ein seltsames Missverständniss findet Bötticher Philol.
Suppl. 3, 339 hierin eine Angabe von Treppenstiegen, welche vom
Anakeion wahrscheinlich zur Terrasse des Agraulion hinaufgeführt
hätten.
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 305
sehen Pelasger zur Zeit, als sie die Akropolismauer auf-
führten, dort Wohnung genommen hatten, Pausan. 1, 28, 3
ftEQißalelv to Xoitcov Xeyezai tov Tziypvg TJeXaayovg o\%l-
oavTag 710TB VTto TTjv äxQOTtoXiv ; Schol. Thukyd. 2, 17
TleXaoyiycdv) ol yccQ HeXaoyol avzo oi/,rtGavTEg ErceßovXevoav
To~ig l4&t]vaiotg; Schol. Lucian. Bis accus. 9 IleXaoyixdv)
TOTtog ^4&rjvrjGiv mto neXaoywv hv avTcp olxrjGavTtov ; Sträb.
9, 2, 3 (BoiüJToi) il-eßccXov Tovg IleXaoyovg eig si&rjvag, aep*
tov ixXrjxh] fxsQog ti riyg TCoXewg IleXaöymdv 28).
Das Pelasgikon wird gewöhnlich an den Nordwestfuss
der Akropolis gesetzt: 1) weil Lucian Bis accus. 9 die
Grotte des Pan, welche am Nordwestabhang liegt, Itceq tov
IleXaoyixov setzt. Es ist aber zu erinnern, dass dies vtcfq,
abgesehen davon, dass die Lesart unsicher ist (früher wurde
vfto geschrieben) auch eine andere Auslegung als die hier
vorausgesetzte (oberhalb) zulässt. 2) Weil die Pelasger-
m'auer, wie aus Vergleichung von Plutarch v. Cimon. 13
mit Pausan. 1, 28, 3 hervorzugehen scheint, den nördlichen
Theil der Burgbefestigung gebildet hat. Unten wird jedoch
gezeigt werden, dass diese Mauer den höchsten Theil der
Akropolis vollständig umgeben , im Westen aber nicht bis
zu der Gegend der Pansgrotte gereicht hat. Auch abgesehen
davon kann die Lage der Pelasgermauer für die des Pelasger-
hofes nichts entscheiden : weil die verschiedene Bestimm-
ung beider nicht nothwendig auf gegenseitige Nachbarschaft
schliessen lässt.
Dieser Ansatz des Pelasgikon ist eine Hauptursache des
Misserfolges gewesen, welchen die Erklärungen der philo-
stratischen Stelle über die Peplostriere des Herodes (vgl.
28) Die nächsten Worte cpxrjaup 6 s vno tw effitjfttms welche da-
mit in Widerspruch stehen, halte ich für eines der vielen Glosseme,
welche den Text Strabons entstellen; sie sind eine Reminiscenz aus
Herodot 6, 137.
306 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
p. 293) gehabt haben. Diese fuhr, nachdem sie den Peplos
vor dem Eleusinion, d. i. am Beginn des Aufgangs zur Burg,
abgesetzt hatte, am Pelasgikon und dann am Pythion vor-
bei, um endlich an ihren Ruheort gebracht zu werden. Dar-
aus folgt mit Notwendigkeit, dass der Pelasgerhof am süd-
lichen, genauer südwestlichen Fusse der Burg gelegen war,
östlich vom Eleusinion : denn das Pythion, dessen Lage nun-
mehr der Erklärung jener Stelle keinerlei Schwierigkeiten
mehr entgegensetzt, war in der südlich von der Burg sich
ausbreitenden Gegend (Thukyd. 2, 15), aber von dieser weiter
nach Südosten zu entfernt, hart an der Stadtmauer neben
dem Olympieion, Strab. 9, 2, 11 I'oti <f avTrj (t) eo%aQa
tov aoTQa7talov Jidg) ev %($ xuyju i-iera^v tov Ilv&iov xal
tov ^OXv{.i7iiov. Da nun das Pelasgikon, wie wir oben ge-
sehen haben, hart an der Burg lag, so muss es östlich von
dem Odeion des Herodes, über welchem sich das Eleusinion
erhob, gleich dem Odeion bereits in der Ebene, nicht am
Abhang angesetzt werden, weil das Schiff des Herodes am
Pelasgikon ebenso wie am Pythion vorbeifuhr, während beim
Eleusinion es einen Bogen unterhalb desselben beschrieben
hatte.
Da auch aus den Mittheilungen über den Aufenthalt
der Pelasger in Athen, von welchen unten zu sprechen sein
wird, hervorgeht, dass dieselben in der von Philostratos an-
gedeuteten Gegend gewohnt haben, so müssen wir uns für
Lucian Bis accus. 9 nach einer andern Erklärung der Praep.
v7t£Q umsehen. Diese bezeichnet nicht nothwendig einen
angrenzenden höheren Punkt, sondern auch die höhere Lage
an sich, selbst wenn der verglichene Platz sich nur seit-
wärts nahe befindet. Der Scholiast des Clemens Alex.
Protrept. 3, 3, 44 KL setzt die Pansgrotte yia&VTteQ&ev tov
Idqdov Ttayov, obgleich sie an der Akropolis und nicht am
Areopag liegt. Lucian will darlegen, dass die Athener den
Pan, als sie nach der Schlacht bei Marathon zum Dank für
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 30?
seine Hülfe ihn unter die Götter ihrer Stadt aufnahmen,
dabei mehr herabgesetzt als geehrt haben. Vorher wohnte
er auf der Höhe des Parthenionberges bei Tegea: $Kei [tsv
to TTQOo&ev ävcc to Tlaq^lviov ; jetzt bekam er nicht wie
andere um das Wohl der Stadt verdiente Götter und Men-
schen eine Ehrenstätte auf der Akropolis und so zu sagen
das Bürgerrecht auf dem heiligen Berge, sondern musste
einem Hintersassen ähnlich sich mit einer Höhle unten an
der Burg begnügen, wenig höher wohnend als einst
die Pelasger in ihrem mit dem Fluch belegten Gehöfte:
Tr\v V7t6 zfj ccKQOTtolei GTtrfoyya xavxrp aTtolaßoixevog oIkbI
(.UY.QOV v7t€Q tov IleXaoyMov ig to [UETOiKinov Tsliov. Bei
unserem Ansätze kommt aber das Pelasgikon genau südlich
von der Pansgrotte zu liegen; beide unterhalb der Propy-
laiengegend befindlich waren sie nur durch die Erhebung
des Burgaufgangs von einander getrennt. Nach den Mess-
ungen, welche Curtius Sieben Karten p. 2 sq. mittheilt, hat
der Platz südlich vor dem Herodesodeion 301, der Areopag
355, die Pansgrotte westlich 378 und östlich 399 Par. Fuss
Seehöhe.
Für die Ansetzung des Pelasgikon zu Füssen des süd-
westlichen Abhangs der Akropolis ist die ganze Gegend
vom Herodesodeion an bis mindestens in die Gegend unter
dem Denkmal des Hippolytos frei : letzteres befand sich, wie
die Alten melden, an der Stelle, wo ein Blick nach Troizen
verstattet ist. Dies ist der Fall auf einer kleinen Strecke
des Abhangs, auf halber Höhe desselben, etwas näher dem
Dionysostheater als dem Herodesodeion, vgl. Ross das The-
seion und der Tempel des Ares p. 9, Bötticher Philol. Suppl.
3, 418. Von da bis zu dem Heiligthum der Ge Kurotrophos
und Demeter Chloe unterhalb des Niketempels nennt Pau-
sanias nur den Tempel der Aphrodite Pandemos, welcher
also noch höher als das Hippolyteion gelegen war. Das
Pelasgikon möglichst westlich und der Enneakrunosgruppe
[1874, 3. Phil. hist. Cl.] 21
308 Sitzung der phüos.-philöl. Olasse vom 2. Mai 1874.
nahe zu denken , empfiehlt sowohl die Rücksicht auf das
von Lucian angedeutete örtliche Verhältniss zur Pansgrotte
als die Erwägung, dass zum Wohnsitz der Pelasger, während
sie auf der Burg arbeiteten, ein dem Aufgang zu dieser
recht nahe liegender Platz der passendste war. Durch die
folgende Auseinandersetzung soll wahrscheinlich gemacht
werden, dass die Pelasger hart an der Enneakrunos ge-
wohnt haben.
Die Pelasger an der Enneakrunos.
Zum Lohn für den Bau der Burgbefestigung bekamen
die Pelasger die Gegend am Fuss des Hymettos als Wohn-
sitz ; als sie aber das wüste Land auf das Beste zu bebauen
wussten, da regte sich in den Athenern der Neid und sie ver-
jagten das fremde Volk. So Hekataios bei Herodot 6, 137;
dagegen von den Athenern selbst hörte dieser als Grund der
Vertreibung, dass die am Hymettos angesiedelten Pelasger
den Töchtern und Knaben der Athener, so oft diese zur
Enneakrunos nach Wasser gingen, Gewalt angethan hätten
und zuletzt gar über einen Anschlag gegen sie selbst be-
troffen worden seien. Da habe man, obgleich berechtigt
den Tod über sie zu verhängen, ihnen nur die Räumung des
Landes auferlegt, und so seien sie denn nach Lemnos und
anderen Orten ausgewandert.
Die Tendenz dieser attischen Darstellung ist klar: sie
will einen Flecken von Athens Ehre wegwaschen, stellt sich
aber ziemlich ungeschickt dazu an. Die Pelasger sollen ins
Unrecht gesetzt werden, das Verfahren der Athener dagegen
als gerecht, ja grossmüthig erscheinen (ecovrotg yeviö&ai
tooovtip enelvcov ccvögag ä/xelvovag). Die Pelasger stehen
als Barbaren der schlimmsten Art da: so sinnlich roh, dass
sie Jungfrauen und Knaben Gewalt anthun, so undankbar
und gewissenlos, dass sie auch den Angehörigen ihrer gütigen
Gastfreunde, bei denen sie nach weiten Irrfahrten endlich
ünger: Ennedkrunos und Pelasgikon. 309
Unterkunft gefunden, gegenüber dieser Sittenlosigkeit nicht
entsagen konnten und zuletzt jenen selbst nach Besitz und
Leben trachteten ; so dummdreist endlich solche Anschläge
zu schmieden, ohne die eigne Schwäche in Erwägung zu
ziehen , welche sie nöthigte , auf ein blosses Machtwort hin
den mühevoll erworbenen uud cultivirten Besitz am Hymettos
preiszugeben. Wie mild und edel zeigen sich dagegen die
Athener: obgleich von jenen in ihrer Familienehre aufs
Tiefste gekränkt und in der eigenen Existenz bedroht, be-
gnügen sie sich damit, die Unholde einfach des Landes zu ver-
weisen. Jene aber wissen für solche Langmuth schlechten
Dank: sie sinnen auf Rache und üben dieselbe, indem sie
in Brauron die Frauen der Athener rauben.
Nicht die Athener und Pelasger jener alten Zeit sind
es, deren Eigenschaften dieser Parallele zu Grunde liegen,
sondern die Zeitgenossen des Berichterstatters, den Herodot
hörte. Auf der einen Seite Athen, der Hochsitz aller
Humanität des Hellenenvolkes, das auf die andern Nationen
mit Verachtung herabsah; auf der andern die Tyrrhener
der nördlichen Inseln , welche auf der vor Jahrhunderten
eingenommenen Culturstufe stehen geblieben waren und für
Barbaren galten , vgl. Thukyd. 4, 109 über die Orte am
Athos: olnovvtai ovfi^iKTOig e&veöi ßaqßaqcov SiyXwaocov
Kai tl y.ccl XaXxidixov evi ßQct%vy to Ss Ttleiotov nslccGyixöv,
twv xal ^irJLivov Ttoxe y.al ^A&rjvas Tvqotjvcov olxrjodvTCüv.
Dieser Anschauung entspricht auch die Bedeutung der Namen
Agrolas und Hyperbios, welche bei Pausanias 1, 28, 3 den
Erbauern der Akropolismauer gegeben werden. Noch greller
wird der Contrast durch Steigerung und Uebertreibung dieser
einander entgegengesetzten Eigenschaften in Herodots Er-
zählung, welche die Athener geradezu idealisirt, von ihren
Gegnern aber ein Zerrbild entwirft: diese benehmen sich
als täppische und jedes Begriffes von Sitte, Recht und
Gottesfurcht baare Barbaren, jene handeln so edel, wie es
21*
310 Sitzung der philos-philol. Classe vom 2. Mai 187 i.
von den Athenern der Geschichte niemals erhört ist. In
Wirklichkeit aber war das Culturverhältniss zwischen beiden
Völkern in der Zeit, von welcher Herodot spricht, ein ganz
anderes: die Kunstfertigkeit der Pelasger war es, welche
den noch unkundigen Athenern die hohen, starken und un-
verwüstlichen Mauern ihrer Akropolis schuf29); und die
Gegend, welche im Besitze der Athener eine Wüstenei ge-
wesen war, verwandelte sich unter ihren Händen in üppiges
Fruchtland.
Auch das beiderseitige Zahl- und Machtverhältniss ist
nicht ganz richtig dargestellt. Wenn Herodots Athener an-
geben : Ttaqedv ccvtoiq d%o%reivai rovg IJeXaoyovg, eitel ocpeccg
eXaßov eTtißovXevovTccg, ovx e&elrjaai, aXha öcpi 7iqoei7te"iv ex
vjjg yjjg i^ievai, zovg de ovtoj exxcoQ^oavxag etc., so scheinen
sie sich jene als eine Handvoll Werkleute vorzustellen,
welchen von der athenischen Behörde ohne viele Umstände
der Process gemacht werden konnte, die Athener aber als
die mächtige und volkreiche Stadtgemeinde, welche bereits
ganz Attika von Eieusis bis zur Tetrapolis besass. In Be-
ziehung auf letztere gab die Theseusmythe ein gewisses Recht
zu hohen Vorstellungen ; die Pelasger aber , welche , wie
Philochoros meldet, nach starken Verlusten von Attika aus
die zum Theil nicht unbedeutenden Inseln Lemnos, Imbros,
Samothrake und Skyros einnehmen und bevölkern konnten,
waren gewiss in Athen in nicht unbeträchtlicher Zahl ein-
gewandert. Dort musste ihnen allerdings ein geringer Theil
der Stadt, die Gegend zwischen dem Platz, den nachmals
das Herodesodeion einnahm, und dem Hippolyteion , zur
Wohnung ausreichen; aber der brauronische Frauenraub
beweist, dass sie, als Auswanderer, zu grossem Theil ohne
29) Vgl. auch Plinius hist. nat. 7, 56, 194 laterarias ac domos
constituerunt primi Euryalua et Hyperbius fratres Athenis. antea
specus erant pro domibus.
Unger: Ennealcrunos und Pelasgikon. 311
Familie gewesen waren, und das Pelasgikon sollte ihnen
auch nur einen vorläufigen Aufenthalt, ein Unterkommen
am Feierabend bieten, dessen Beschränktheit ihre Arbeit zu
beschleunigen geeignet war und im Hinblick auf den aus-
bedungenen eigenen Grundbesitz am Hymettos leichter ertragen
wurde. Die Auswanderung der Tyrrhener aus Attika ist
demnach sicher nicht in so harmloser Weise vor sich ge-
gangen, wie Herodots Gewährsmann glauben machen will;
vielmehr sagt der Athener Philochoros fr. 5 bei Schol. Lucian.
Katapi. 1 ausdrücklich : nollol ^ev äjitolovro vtio twv Id^iq-
valtov aXkoi de ixcpvyovreg uirt(xvov xcci ^l^ßqov qmrjoav.
Auch in andern Punkten zeigt sich die in der Atthis
des Philochoros gegebene Darstellung des Pelasgerhandels,
obgleich auch sie parteiisch genug ist, weniger mit inneren
Widersprüchen behaftet als die von Herodots Athenern aus-
gegangene. Wie soll man letzteren glauben, dass Leute,
welche weit von der Stadt entfernt am Hymettos wohnten,
es ermöglichten, alltäglich am Fuss der Akropolis30) sich
herumzutreiben oder zu verstecken , ohne dass es den dort
wohnenden Athenern aufgefallen wäre ; wie konnten sie längere
Zeit hindurch jedes dort wasserholende Mädchen anfallen31),
da doch ein Schrei Rächer herbeiführen und nach einer
oder zwei solchen Thaten Abhülfe geschafft sein musste.
Ebenso undenkbar ist, dass sie den Anschlag gegen die
Bürgerschaft selbst in der Zeit gemacht haben, als sie bereits
die neuen Wohnsitze am Hymettos inne hatten. Von dort
aus hätten 6ie den Athenern nur mit Anwendung offener
Gewalt beikommen können , wozu sie aber nach Herodots
Schilderung viel zu schwach waren. Anders Philochoros
a. a. 0. : TvQQrjvoi okiyov zivd %qovov OM^occvteg ev zeug
30) Die Entfernung würde nicht viel geringer werden , wenn
wir die Enneakrunos mit der Kallirrhoi identificiren wollten.
31) Herodot: oxtog Eld-oav uvxca, rovg neXaayotg vno vßoiog te
xai ofoycoQiris ßiao&cd a<ptag.
312 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 2. Mai 1874.
idd-^vatg toyd-rjoav egaviGTa/AEvoi ti 7tölei xal noXkol (xev
ccTtwlovTo etc.; er verlegt den Anschlag in die Stadt, wo
sie durch Trug und List ersetzen konnten, was ihnen an
Zahl abging, indem sie entweder von ihrer Wohnung am
Fuss der Burg aus die arglosen Bürger Nachts in ihren
Häusern überfielen oder, was noch wahrscheinlicher, die Ge-
legenheit, welche ihre Arbeit an der Burgbefestigung bot,
benützten, um die Akropolis an sich zu bringen. Da die
Befestigung von ihnen vollendet wurde und auch nach Philo-
choros Darstellung dem verrätherischen Unternehmen ihre
Vertreibung auf dem Fusse folgte, so muss es von ihm in
die Zeit verlegt worden sein , als die Arbeit auf der Burg
zu Ende ging: sie konnten daher die nunmehr befestigte
Akropolis ähnlich als ein Bollwerk gegen die Stadt benützen
wie später Kylon und dann Kleomenes mit Isagoras, oder
wie in Rom Herdonius das Capitol.
Wenn Philochoros auch den Frevel der Tyrrhener gegen
die Angehörigen der Athener erzählt hat, so Hess er ihn,
ebenso wie der Gewährsmann des Herodot, dem Anschlag
gegen die Stadt vorausgehen; eben weil unmittelbar auf
diesen die Verjagung der Frevler folgte. Daraus ist zu
schliessen, dass er auch jene Schandthaten in das Innere
der Stadt verlegt hat. Und dies ist wohl überhaupt in der
älteren attischen Darstellung der Schauplatz derselben ge-
wesen, welchen erst Herodots Gewährsmann aus besonderen
Gründen mit dem Orte ihres späteren Aufenthalts in Attika
vertauscht hat: denn erst in der Stadt gedacht werden sie
begreiflich. Ihr dortiger Wohnsitz, der Pelasgerhof, lag
neben dem Eleusinion (p. 306), also in nächster Nähe der
nachmals Enneakrunos genannten Quelle, wo die Kinder
der Athener Wasser holten. Wie der tägliche Aufenthalt
auf der Burg die Barbaren zu einem Anschlag auf diese
und die Stadt verlocken musste, so verführte sie diese Nach-
barschaft zu den schändlichen Handlungen gegen die An-
Unger: Ennealcrunos und Pelasgikon. 313
gehörigen der Bürger, welche die Athener späterer Zeit ihnen
nachsagten.
Warum hat nun aber der Urheber der von Herodot
überlieferten Erzählung den Schauplatz jener angeblichen
Frevelthaten aus der Stadt weg an den Hymettos verlegt?
Offenbar desswegen , weil die in Folge derselben Ver-
triebenen zuletzt am Hymettos gewohnt hatten. Die Dar-
stellung nun, welche Philochoros gibt, weiss von einem Auf-
enthalt der Pelasger in jener Gebirgsgegend nichts und
schliesst ihn geradezu aus, da nach ihr dieselben mit dem
Pelasgikon auch ganz Attika räumen mussten. Auch die
herodotische Version hat diesen Aufenthalt erst durch Inter-
polation ihrer Vorlage; dies lehren die Widersprüche, welche
durch seine Anerkennung in dieselbe gekommen sind. Der
Interpolator war ein Zeitgenosse Herodots, vielleicht dessen
Gewährsmann selbst, oder ein wenig älterer Athener: denn
seit der Peisistratidenherrschaft . unter welcher der Name
Enneakrunos aufkam, mussten mehrere Generationen ver-
gehen, ehe der frühere Name Kallirrhoe dem Gedächtniss
der Ungelehrten so gänzlich entschwinden konnte, wie in
dieser Version es der Fall ist. Der Urheber derselben ist
also weit jünger als Hekataios, dessen Zeitgenossen Hippias
und Hipparchos waren, und aus diesem Geschichtschreiber,
vielleicht durch mündliche Vermittlung Herodots, indem
dieser seine athenischen Bekannten auf die Darstellung des-
selben aufmerksam machte, stammt die Hymettosepisode,
welche in der Erzählung der Athener bei Herodot vorkommt.
Da die Nachricht von der pelasgischen Ansiedlung 32)
am Hymettos das Gepräge geschichtlicher Wahrheit an sich
32) Dieselbe hat mindestens einige Generationen bestanden,
nach dem „einst" des Hekataios a. a. 0. (fxiadop tov zeixios xov
nf()l tr^v äxQonoUv xot6 iXrjXccftEvov) zu schliessen, wogegen Philo-
choros, weil er bloss den Aufenthalt in der Stadt anerkennt, oUyoy
Xiva xqovov oix^awtfg sagt,
314 Sitzung der pliilos.-phüol. Classe vom 2. Mai 1874.
trägt, so muss auch die Erzählung des Philochoros, obgleich
sie weniger verfälscht ist, als tendentiöse Parteidarstellang
angesehen werden, darauf berechnet, die ungerechte Ver-
treibung der Pelasger zu beschönigen. Die Thatsache, dass
der Bau der Burgmauern die tyrrhenischen Pelasger Monate
lang den ganzen Tag über auf der Akropolis beschäftigt
hatte, brachte auf den Gedanken, ihnen einen ähnlichen An-
schlag auf die athenische Stadtfeste zuzuschreiben, wie ihn
seinerzeit Kylon und dann Isagoras mit Kleomenes, noch
dazu unter schwierigeren Umständen, wirklich ausgeführt
haben. Ebenso legte der Umstand, dass die Tyrrhener
während des Mauerbaus an den einzigen Süsswasserbrunnen
der Stadt gewohnt hatten, in einer Zeit da das Geschäft
des Wasserholens noch den Kindern oblag, die Vermuthung
nahe, dass die Pelasger die Gelegenheit benützt hatten, um
ihren Lüsten an diesen zu fröhnen. Auf diese zweite den
Räubern der athenischen Frauen in Brauron gegenüber von
selbst sich aufdrängende Verdächtigung war man vielleicht
schon gekommen, ehe die Beschwerden der ungerechter
Weise Verjagten es wünschenswerth erscheinen Hessen, mit
Gegenbeschwerden zu antworten.
Der Fluch des Pelasgerhofs.
Auf dem Pelasgikon ruhte ein Fluch, welcher Privaten
die Benützung dieses Grundstücks verbot: es war verpönt,
dasselbe zu bewohnen oder auszubeuten, Thukyd. 2, 15 hta-
QCLTOV TS TJV lA-Yj öIkELV Kai TL Kai ÜV&IKOV IxaVTElOV CCKQOTB-
XevTiov tolovöb diexwlve, Myov wg To IleXaoyiKdv dqyov
afxeivov; Pollux 8, 101 7taqeq>vlaTTov (gewisse Aufseher,
deren Titel verloren ist), /trj tiq evrog tov nelaoyiKOv xetQet
T xaTcc TtXiov OQvaoeij Kai T(p dqyovTL 7iaqiöooav to de
Tiixrjfia rtv TQeig öqa%fxal Kai artXovv to ßXdßog. Die Ursache
wird nicht angegeben; jedenfalls ist die Erklärung neuerer
Forscher unzureichend, man habe den Platz von Häusern
ünger: Ennedkrunos und Pelasgihon. 315
rein halten wollen, damit diese nicht von Belagerern der
Burg benützt werden könnten. Das Verbot des Mähens und
Grabens33) findet dabei keine Erklärung und consequenter
Weise hätte man auch die übrige Umgebung der Burg in
den Bereich dieses Verbotes ziehen müssen. Jetzt nachdem
die Lage des Pelasgerhofes neben dem Stadtbrunnen erkannt
ist, darf vermuthet werden , dass eben sie den Anlass dazu
gegeben hat. So lange den Kindern der Athener das Wasser-
holen oblag, musste dafür gesorgt werden, dass diese vor
schamlosen Angriffen geschützt waren; solchen beugte man
vor, indem Erwachsenen jeder Vorwand zu einem längeren
Aufenthalt in der Nähe der Quelle abgeschnitten wurde.
Dass solche Vergehungen wirklich vorgekommen waren, ist
leicht glaublich und sehr natürlich, dass man sie lieber
Fremden als Einheimischen schuld gab; am nächsten lag es
an die Frauenräuber zu denken , die einst hier gehaust
hatten und deren Name durch jenen Fluch mitgetroffen
war. Dadurch dass man auch die Götter zu Hülfe genommen
hatte, blieb dem Platze der Bann, auch nachdem durch das
Aufkommen der Sclavenwirthschaft das Verbot überflüssig
geworden war.
Durch seine Einsamkeit bildete der Pelasgerhof auch
eine passende Nachbarschaft für das Eleusinion, welches
sich über ihm und dem Brunnen erhob. Denn für die An-
lage eines Heiligthums der Demeter pflegte eine abgelegene,
stille Gegend ausgesucht zu werden, Vitruv. 1, 7 item Cereri
(area distribuatur) extra urbem, loco quo non semper homines
nisi per sacrificium necesse habeant adire ; cum religione
caste sanctisque moribus is locus debet tueri. So befand
sich das andere Eleusinion, in welchem die kleinen Mysterien
33) Bloss diese zwei Arbeiten wurden durch Wächter verhütet;
Anstalten zur Ansiedlung und zum Ackerbau würden zu augenfällig
gewesen sein, als dass man gegen sie besonderer Aufseher bedurft
hätte.
316 Sitzung der phüos.-philol Gasse vom 2. Mai 1874.
abgehalten wurden, in der Vorstadt Agrai am Uissos; und
in der Stadt lag oberhalb des Eleusinion am Burghügel das
Heiligthum der Ge Kurotrophos und Demeter Chloe. An
der andern Seite des Brunnens stand seit Sullas Zeiten das
Odeion, welches später Herodes erweiterte : Pausanias kommt
von den Bildsäulen der Tyrannenmörder her zuerst zum
Odeion, dann zur Enneakrunos und den über ihr befindlichen
eleusinischen Tempeln. Was vorher an der Stätte des
Odeion gestanden hatte, ist nicht bekannt, wahrscheinlich
auch ein öffentliches Gebäude; Curtius Sieben Karten, Text
p. 62 bemerkt mit Tuckermann Das Odeion des Herodes
Atticus p. 2, dass der ganzen Anlage desselben zufolge hier
seit alten Zeiten ein theaterähnlicher Versammlungsort ge-
wesen ist. Wenn er aber die Heliaia dahin verlegt, so ist
zu erinnern, dass nach Pausanias 1, 28, 8 to de fieyiorov
y.cci eg o TiXeiOToi ovvlaoiv cHXialav xocXovgiv zu dessen Zeit
die Heliaia noch bestand, also nicht an der Stelle abgehalten
wurde, wo sich damals schon ein Odeion befand.
2. Die Pelasger feste.
Während das Pelasgikon , welches einst den Wohnsitz
der tyrrhenischen Pelasger gebildet hatte, der Unterstadt,
dem Asty, angehörte, befand sich die Pelasgermauer auf der
Höhe des Burgfelsens: Schol. Venet. zu Aristoph. Av. 832
^^vrjoi to JJelaQyixdv xelyog ev rfj <xy,qotzoXei; Photius
Lex. 407, 10 und Etymol. M. 659, 12 IleXaqytyov to vtco
x&v TvQQrjvwv xaTaGKEvao&ev tfg aKQ07r6Xecog relyog; Herodot
5, 90 exzrjGccTo ö KXeof.ievr]g e% vrjg ^4&rjvalcov axqoTtoXiog
?ovg XQrjG(.iovgj xovg €kttjvto (.tev TtQoreQov ol IleiGiGTQaTidai,
e^eXavv6(xevoi de eXircov ev ry iQ(p, vgl. mit 5, 64 KXeo^er^g
ercoXi6qy.ee rovg Tvqavvovg a7teqyiAevovg ev reo TleXaGyiv^
Tel%ei. Durch diese und andere Stellen wird die von Wachs-
muth Rhein. Mus. 24, 47 aufgestellte Vermuthung widerlegt,
die Pelasgermauer sei ein um den Nordwestabhang der
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 317
Burg geführtes Vorwerk gewesen, welches den Aufgang zur
Akropolis und die an jenem Abhang befindliche Quelle Klep-
sydra gedeckt habe. Ob dieser Zweck durch ein solches
Fort erreicht worden wäre, lassen wir dahin gestellt, wollen
auch nicht untersuchen, ob es dem Geiste jener Zeit nicht
entsprechender war, die Burghöhe selbst mit einer Ring-
mauer zu krönen ; sicher ist aber, dass diese auf eine Ver-
einigung der Pelasgermauer und des Pelasgerhofes hinzielende
Aufstellung dem Sinne der über beide 0 ertlichkeiten vor-
handenen Zeugnisse widerstrebt. Die den Pelasgerhof be-
treffenden sind schon oben mitgetheilt und behandelt; von
der Pelasgermauer sagen aber Hekataios, Kleidemos und
Myrsilos (die Stellen s. u.) übereinstimmend, dass dieselbe
um die Akropolis herumgezogen war, und Pausanias bemerkt
ausdrücklich, dass die Akropolismauer seiner Zeit mit Aus-
nahme des von Kimon herrührenden Theiles von den Pelas-
gern aufgeführt worden sei. Die Confusion, welche Wachs-
muth der Angabe des Pausanias ohne Anführung eines
Beweises vorwirft, können wir in der Stelle (auf welche wir
unten zu sprechen kommen) nicht entdecken und die Aus-
drücke relyog Tteql %rp ay.qo7toXtv ilavvetv, rrjv dnqonoXiv
TTEQißaXkeiv, Teiyog Tteql tr^v axQOTtohv n€QißaXlecv} welche
jene Historiker gebrauchen, lassen keine andere Deutung zu
als auf eine Umziehung der ganzen Akropolis oder des
grössten Theils derselben, nicht bloss einer einzigen Ecke;
dies lehrt sowohl der Sprachgebrauch84) als der Begriff der
34) Wachsmuth beruft sich auf die Bemerkung von Vischer, Er-
innerungen und Eindrücke aus Griechenland p. 112, dass die Aus-
drücke 7ifQCT£ixi£tiv, nsQiTetxuTpcc, xMog bei der Belagerung von
Syrakus durch die Athener von Plutarch und selbst dem genaueren
Thukydides gebraucht werden, obgleich die Mauern nur eine Seite
der Stadt einschlössen. Dort wird aber 7teQU€ix^ety von einer
Belagerung, nicht von einer Befestigung gebraucht, und zwar der
einer Stadt, welche zu Lande nur auf einer, der langen Westseite,
318 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 2. Mai 1874.
Partikel 7teqly welche dem Umgebenden eine weitere Aus-
dehnung zuschreibt als dem Umgebenen.
Nach einer durch Leake beliebt gewordenen Ansicht
wäre von den Pelasgern der Aufgang zur Burg vom Fuss
bis zur Höhe mittelst einer Doppelmauer befestigt worden,
welche unten am Westabhang von Nord nach Süd hinlief,
dann in mehrfachen Windungen emporstieg und an allen
Wendestellen mit Thoren versehen war. Dieser Thore seien
im Ganzen neun gewesen, daher das Werk auch Enneapylon
geheissen habe. Die Höhe selbst wird entweder unbefestigt
gedacht, indem ihr Schutz den steil abfallenden Wänden
überlassen geblieben sei, oder es wird, und dies ist die ver-
breitetere Auffassung, auch deren Ummauerung den Pelasgern
angreifbar, bei einer Umschanzung dieser aber durch einen zur See
mächtigen Feind vollständig eingeschlossen war. Immerhin wäre
die Absperrung der Landseite durch eine ihr parallel laufende Be-
lagerungslinie nur ein anoteixtauos gewesen; aber um diesen zu
hindern, hatten die Syrakusaner dort ein die Vorstadt Teinenites
einschliessendes Werk (ngoreixiapcc) nach Westen zu vorgeschoben
(Thukyd. 6, 75. 100), welches die Athener nöthigte, ihre Linien in
einem Bogen oder Winkel um dasselbe herumzuführen, anstatt sie
vom Nordufer am Trogilos bis zum Südende am grossen Hafen in
gerader Richtung zu ziehen. Von der so entstandenen Umfassungs-
linie, an deren westlicher Ausbiegung oder Ecke sich ein kreis-
förmiges Castell, der xvx"kog des Thukydides, flankirt von einem noch
weiter binnenwärts gelegenen Aussenwerk am Labdalon , befand,
konnten mit gutem Recht die Ausdrücke ntQizeixia[ict, rtegiTei/ifffiog,
7ieQiT€i/tatg (Thudyd. 6, 101.7, 11. 6, 100) gebraucht werden und wenn
Plutarch (Nik. 17) oXlyat XQ°V(? ™*(>t£T*ixt(je -vqccxovoccs sagt, so ist
er, wie die folgenden Worte noXtv W^^wy ovx ilätrova övaeQyozeQccv
6h xla^(3iv uvtofxctkiccis xcci üakctaari yfitvuacr^ xal ncc^axei^Bvoig eteai
tecxos xvxXto negc avtr^v xoaovxov ayccystv beweisen, ebenso wenig
von der Ansicht ausgegangen, dass die Einschliessung nur einseitig,
also eigentlich gar keine Einschliessung gewesen sei, als Diodor,
welcher 13,7 ausdrücklich e£ u^icpoxkqtav tu>v (AfQair Zvqaxovaas ino-
faoQXovv sagt.
Unger: Ennedkrunos und Pelasgikon. 319
zugeschrieben. Diese ganze Aufstellung ist aus inneren und
äusseren Gründen zu verwerfen.
Was zur Entstehung dieser Ansicht Anlass gegeben hat,
ist lediglich eine corrupte, von anderen längst verbesserte
Stelle, welche zu bezeugen schien, dass die neun Thore der
Pelasgermauer in die Einsattlung zwischen Areopag und
Akropolis, also zum Beginn des Burgaufgangs hinabgereicht
hätten. Polemon fr. 49 bei Schol. Soph. Oed. Col. 489 sagt
von der Procession, welche den Eumeniden zu Ehren ge-
halten wurde: trjg de 7to\mrfc tavtrjg cHövxiöcci, o örj yevog
eozl Traget zag 2efivdg &eäg, Kai tiy yyejuovlav e%ei v.ai
TtQO&vovtai nqo trjg dvoiag xqlov cHov%ti>y ov to Uqov eoti
Ttaqa to KvXwveiov*5) entog twv 'Evvea tzvXwv. Aus den
Worten itaqa tag Sepväg in Verbindung mit der Nachricht,
dass die Ermordung der Anhänger Kylons, nach Herodot
auch des Kylon selbst, in der Gegend des Eumenidenheilig-
thums am Areopag stattgefunden hat, ist unter allgemeiner
Zustimmung86) von 0. Müller Eumeniden p. 179, zur Uebers.
v. Leakes Topogr. 1. Ausg. p. 455 und von Leake 2. Ausg.
Uebers. p. 257 der Schluss gezogen worden, dass auch das
Denkmal des Kylon, in dessen Nähe nach Polemon die Neun
Thore standen, zwischen Areopag und Akropolis zu finden
war. Nehmen wir an, dass die Worte cHov%ldai o dr] yevog
eoti Ttaqa tag 2e[xvag fehlerlos seien, so müssen sie eine
Ortsbestimmung enthalten; dann fragt sich, ob sie sich auf
denselben Platz beziehen, wie die weiterhin folgende Be-
merkung, dass das Heiligthum des Hesychos neben dem
Kyloneion ausserhalb der Neun Thore zu finden sei. Diese
Frage ist in bejahendem Sinne beantwortet, dabei aber un-
erklärt gelassen worden, wie es kommt, dass ein und die-
35) Verbesserung 0. Müllers statt KvScSviov.
86) Z. B. von Bursian Geogr. 1, 284. Wachsmuth Rhein. Mus.
24, 48. Curtius Sieben Karten p. 21.
320 Sitzung der philos.-phüöl. Classe i?ow 2. Mai 1874.
selbe Oertlichkeit gleich nachher noch einmal topographisch
bestimmt wird. Dieser auffallende Umstand und die ver-
schiedene Bezeichnung sowohl des anscheinend zweimal be-
handelten Gegenstandes (Hov^iöai o yivog und 'Hovyw ov
to \eqov) als der Nachbarschaft (naqa. rag 2e[Avag und Tcaqa
to KvXwveiov) würden vielmehr, wenn der Text in Ordnung
wäre, darauf hinweisen, dass die zwei Stellen nicht von
einem und demselben Punkt handeln und würde schon da-
durch die Ansetzung der Neun Thore in der Nähe des
Eumenidenheiligthums hinfällig werden; es sind aber auch
sichere Anzeichen vorhanden, dass an der ersten von beiden
Stellen keine topographische Mittheilung beabsichtigt ist.
Dass Gottheiten oft statt ihres Heiligthums genannt werden,
ist bekannt und insofern an der örtlichen Auffassung von
rtaqa. rag 2e[iväg nichts auszusetzen; aber unerhört und
widersinnig wäre es, wenn Polemon die Lage des Altars
einer mythischen Persönlichkeit wie Hesychos durch den
Ausdruck: „Die Nachkommen des Hesychos sind neben dem
Eumenidenheiligthum" bezeichnet hätte. Und doch muss
jeder, der auf Grund dieses Fragments das Kyloneion und
die Neun Thore zwischen Areopag und Akropolis ansetzt,
diese Stelle nothwendig so erklären. Es lehrt aber die
bloss persönliche, nie örtliche, Bedeutung des Wortes yivog
und die Partikel di, welche dem Relativsatz die Kraft ver-
leiht , etwas Sicheres und in weiteren Kreisen [Bekanntes
hervorzuheben, dass hier nicht von dem Platze der Hesy-
chiden, geschweige denn dem des Hesychosaltars, sondern
von dem Dienste dieses bekannten Geschlechtes die Rede
ist und kann hienach die Praeposition 7tctqa nicht von Po-
lemon herrühren. Desswegen hat schon im J. 1822 Bern-
hardy Eratosthenica p. 4 Tteql xag 2e(,iväg &eäg verlangt
und Dindorf Schol. Sophocl. 2, 53 erkennt die Richtigkeit
seiner Verbesserung an. Damit entfällt das einzige Zeug-
niss, welches für das Hinabreichen der Pelasgerthore bis an
Ünger: Enneakrunos und PelasgiJcon. 321
den Areopag und für die Lage des Kylondenkmals37) da-
selbst zu sprechen schien ; was es in Wirklichkeit zur Be-
stimmung derselben beiträgt, davon wird unten die Rede sein.
Nicht besser begründet als die Annahme der Existenz
dieser Thorgasse oder Aussenmauer ist die Bezeichnung,
welche man ihr gegeben hat. Als Eigenname ist das Wort
Enneapylon gar nicht nachweisbar; an der einzigen Stelle,
wo es mit Bezug auf die pelasgische Befestigung vorkommt,
ist es als Appellativ gebraucht. Denn Kleidemos fr. 22 bei
Bekker Anecd. 419, 28 r.ai rjrtidiKov Trtv aKoortofav Tceqit-
ßaXXov de ewearcvlov ro Ilelaoyixöv besagt nur, dass die
Pelasger die Burghöhe geebnet und mit der nach ihnen
benannten neunthorigen Ringmauer umgeben haben. Der
Artikel tö deutet auf die Bekanntheit des Namens, den sie
führte; evveartvXov ist Adjectiv, und proleptisch construirt:
sie führten die bekannte Pelasgermauer herum, so dass die-
selbe neun Thoro bekam, als eine neunthorige.
Auch aus inneren Gründen ist die Anlage eines solchen
Werkes nicht wahrscheinlich. Der Zweck, welchen sie ver-
meintlich haben sollte, die schwache Aufgangsseite der Burg
zu schützen und durch ihre vielen Windungen den Angreifer
zur Biossstellung seiner unbeschildeten Seite zu nöthigen,
würde schwerlich erreicht worden sein, da der Feind, statt
den Aufgang zu stürmen, es viel leichter hatte, von der
Höhe des Areopag in die Mauergasse zu schiessen und diese
dadurch von Vertheidigern zu säubern. Gegen die Annahme
einer blossen Befestigung des Aufgangs insbesondere spricht
37) Herodots Meldung 5, 71, dass auch Kylon in jenem Blutbad
den Tod gefunden, wird von Thukydides 1,126 durch die Angabe,
dass er und sein Bruder entkommen seien, wohl wie vieles andere,
z. B. die anachronistische Anwendung des Namens Enneakrunos, ge-
flissentlich corrigirt. Ben Irrthum, welchen Herodot gewiss mit
Vielen theilte, verschuldete der Ausdruck Kvhoyaov ciyog, den als
eine an Kylon begangene Blutschuld aufzufassen sehr nahe lag.
322 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
ausserdem noch, was wir oben p. 317 gegen die ähnliche
eines Vorwerkes geltend gemacht haben : die Unwahrschein-
lichkeit, dass man in jenen alten Zeiten den Schutz eines
wichtigen Platzes in blossen Aussenwerken gesucLt habe;
auch ist es undenkbar, dass Hippias und seine Partei mit
Familien, Gesinde, Söldnern und Voirathen aller Art die
Belagerung, welche sie nach Herodot 5,65 lange Zeit hätten
aushalten können, in einer solchen Gasse bestanden haben.
Gegen die andere Meinung, welche die Burg sammt dem
Aufgang von den Pelasgern befestigt werden lässt, zeugen
die Stellen, welche ausdrücklich die Pelasgermauer auf einen
Theil der Akropolis beschränken. Dieser Theil konnte näm-
lich, wie sich bald zeigen wird, nur der östliche sein.
Endlich besitzen wir auch noch ein schlagendes Zeug-
niss dafür, dass in der Zeit, als die Akropolis noch keine
andere als die pelasgische Befestigung besass, der Aufgang
ausserhalb derselben gewesen ist: dies liefert, wie Bötti eher
Philolog. Suppl. 3, 308 erkannt hat , die Geschichte der
Belagerung, welche die Akropolis im Jahre 480 bestanden
hat. Als gewöhnlicher Verschluss des Burgeingangs diente
damals ein Heckenzaun (qcc%6q) , welcher beim Herannahen
des Xerxes durch eine Barrikade von Brettern, Pfählen und
anderem Holzwerk verrammelt wurde ; dadurch glaubte man
die vom Orakel genannte hölzerne Mauer hergestellt zu
haben, vgl. Herodot 7, 142 rt aKQ07tohg ro TiaXai xeov ^A^r\-
veo)v Qrj%cp e7T£(pQaxT0' ol (xiv örj xara tbv (pgayfidv ovve-
ßallovTO tovzo zö ^vXivov ztl%og elvai, ol (T av eleyov zag
veag Grjfialveiv zov dsov mit 8, 51 cpqa^dfxevOL ztjv dy.q6jtoXiv
d-vQfjol (mit Dielen) ze x,al ^vXolöl rjhuvvovzo zovg Irtibvzag,
öoxeovzeg avzo dr) zovzo elvcci zo xQr^vyszov xazä zö fxav-
ziqiov zcci ov Tag vrjag**). Kein Wort davon, dass die
38) Vgl. Pausan. 1, 18, 2 xr^v uXQonokiv '£vlois xccl aravQoTs
änoreixiaccvTae,
Unger: Knneakrunos und Pelasgiko?i. 323
Perser zuerst den Aufgang selbst hätten stürmen oder sonst
wie unschädlich machen müssen; sie besetzten den Areopag
und beschossen von da aus nicht etwa das angebliche
Enneapylon, sondern die oben befindliche Verrammlung,
und als diese durch ihre Brandpfeile zerstört war, rückten
sie hinauf gegen die hinter dem verbrannten Heckenzaun
befindlichen Thore. Der Aufgang selbst bot also kein
Hinderniss; dass die Angreifer gleichwohl lange in beschei-
dener Ferne gehalten wurden, bewirkten die Belagerten
hauptsächlich durch Felsenstücke, welche sie hinabrollten,
Herod. 8, 52 rov cpQccynarog TCQodedwKoxog dixvv6(xevoi äXlcc
%t avTs^xccveovro Kai örj Kai tzqooiovtcqv twv ßaqßaquyv
TTQog tag TtvXag 6Xoixq6%ovg artieoav.
Aus der ganzen Erzählung Herodots von dieser Be-
lagerung geht hervor, dass die, wie wir aus anderen Nach-
richten wissen, von den Pelasgern aufgeführte Befestigung
der Akropolis sich bloss auf deren Höhe befand und, wie
auch die p. 316 und 322 erwähnte Belagerung des J. 510
beweist, den Charakter einer vollständigen, abgeschlossenen
Feste an sich trug, von der es sich nur fragen kann, ob sie
denselben Umfang hatte wie die der nachpersischeu Zeiten.
Das obere Pelasgikon war nach Kleidemos, dem Zeitgenossen
Piatons, eine die Burg vertheidigende Ringmauer mit neun
Thoren; in demselben Sinne sagt Hekataios bei Herod. 6, 137
Trjv xwqriv ttjv ocpiotv e'dooav olwoai fMG&öv tov tel%eog
tov 7t sql xrtv äxQOTtollv kote zhjXaixtvov und zur Zeit der
ersten Ptolemaier (Müller Fr. hist. gr. 4, 455) Myrsilos von
Methymna bei Dion^s. Hai. ant. Rom. 1, 29: xolg *Ad*r]vcdoig
zo Tei%og tÖ rtegl rrv ay.Q07toXiv xovxovg rteQißaXelv. Die
Art, wie diese drei Geschichtschreiber sich ausdrücken, weist
entschieden darauf hin, dass sie sich die Pelasgermauer als
eine vollständige Befestigung des Burghügels gedacht haben ;
dass sie in der That eine solche gewesen ist, lehrt der Um-
stand, dass die Akropolis vor Kimons Zeit, als sie nur jene
[1874, 3. Phil. hist. Cl.] 22
324 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 2. Mai 1874.
Pelasgermauer besass , nachweislich vier Belagerungen aus-
gehalten hat, von deren zweiter (510) und vierter (480) aus-
drücklich angegeben wird, dass die Belagerten hinter der
vorhandenen Burgmauer Schutz fanden; bei jener wird die-
selbe geradezu als die „Pelasgermauer" bezeichnet.
Man könnte mit Leake Top. p. 225 glauben, diese sei
nichts anderes als die im Wesentlichen noch vorhandene
Burgmauer der historischen Zeit gewesen , welche Kimon
nur ausgebessert habe, und dem entsprechend fasst Curtius
das Pelasgikon , welches von der Peplostriere des Herodes
Atticus auf ihrem Umzüge berührt wurde, als die Akropolis
selbst. Schon oben p. 293 ist aber mit Wachsmuth hiegegen
bemerkt worden, dass der Sprachgebrauch das nicht erlaubt.
Nirgends findet sich TleXaGyiKöv gleich itoXig und KeAQOfcla als
Synonym von dy.Q07toXig ; ebenso wenig wird von den Gelehrten
des Alterthums das Pelasgikon auf die Akropolis gedeutet.
Wie weit man davon entfernt war, lehrt z. B. Hesychios
IlelccGyMOV' xeiylov omco sv ^A$rp>aig xaXov/xevov TvQQrjvcov
xTioccvTcov. Die drei Berichte von der Belagerung des Hippias
halten, bei aller sonstigen Unabhängigkeit von einander39),
doch gleicherweise an der Bezeichnung Pelasgermauer fest:
Herod. 5, 64 KXeo}.dvrjg eTtoXioqnei rovg Tvqdvvovgj drceqy-
ixivovg ev toj neXaoyixcfi rely/i (vgl. 5, 90) ; Aristoteles b.
Schol. Aristoph. Lysistr. 1153 KXeoj,uvrjg xov Ql7t7tiav ovve-
y,XeiG€v elg rö IleXccGyixdv iüypg\ Parische Chronik ep. 45
-A&r]vaioi s^avsGrrjGav rovg neiGiGTQazldag ex %ov IlsXaGyrAOv
rel%ovg. Diese Uebereinstimmung ist ein Anzeichen, dass
das Pelasgerwerk von der Burgbefestigung späterer Zeit
merklich verschieden gewesen sein muss.
Es umfasste nur einen, allerdings sehr grossen, Theil
39) Die Chronik bezeichnet das athenische Volk, die zwei andern
richtiger den Spartanerkönig als Belagerer und Sieger; von dem
Anlass, welcher den Tyrannen zur Ergebung nöthigte, sagtHerodot:
vnextid-Efxfvot e£u> trjg xwQtjs oi naiSsg rwV IJeiaiaTQCcTeiSiaty ijXiüactv,
dagegen Aristoteles: ot nuld&g xwv xvQiivvwp £q~i6vztg ^"kuioav.
Ungcr: JEnnedkrunos und Pelasgikon. 325
der Akropolis. Ausdrücklich bezeugt das, wie Wachsmuth
Rhein. Mus. 24, 50 bemerkt , Aristophanes Av. 832 rig dal
xa&s&c rrjg TioXetog zo IleXaoyixdv ; denn ixoXewg ist hier,
wie der Zusammenhang beweist und von alten (oben p. 316)
und neueren Erklärern anerkannt wird, mit dxQOTtoXecog
gleichbedeutend. Wie hier der ummauerte Raum, so wird
von Pausanias 1, 28, 3 die Mauer als ein Tiieil des den
späteren Zeiten bekannten Ganzen bezeichnet: Trt dxQOicoXei
jiXrp ogov Kl/j,cov wxoöo/xrjosv avTrjg 6 MiXtmxöov TtEQißaXelv
zo Xotnov Xiyziai üsXaoyovg. Den Antheil Kimons an der
Befestigung auf Ausbesserung oder Wiederherstellung eines
durch die Perser beschädigten Stückes zu beschränken, ver-
bieten die Ausdrücke %b Xoucov und cu-nodo^irjoev (statt dessen
dann ävtaxodoiirjoev gesagt sein müsste); andrerseits lehrt
TtXiy, dass der grössere Theil der Akropolisuiauer von den
Pelasgern herrührte.
Begrenzung der Pelasger feste.
Wenn es richtig wäre, was Plutarch im Leben des
Kimon c. 13 zu sagen scheint, dass dieser die Südmauer
der Akropolis gebaut habe, so müsste man entweder an-
nehmen, dass von den Pelasgern die Südseite der Burg un-
befestigt gelassen worden war, oder dass die südliche Linie
ihrer Befestigung in ziemlicher Entfernung vom Rande sich
durch den inneren Raum der Hochfläche hingezogen hatte.
Beides ist höchst unwahrscheinlich, ja undenkbar: jenes,
weil das Pelasgikon dann kein abgeschlossener Bau gewesen
wäre; dieses aber, weil es verkehrt gewesen sein würde,
zwischen Mauer und Abhang einen breiten Raum zu lassen,
welcher vom Feinde leicht besetzt und gegen die Feste be-
nützt werden konnte, dem Vertheidiger aber nichts nützte
und nicht einmal dazu beitrug, den Aufwand an Mühe,
Kosten und Zeit, welchen der Bau erforderte, merklich zu
verringern. Es steht aber die dem Biographen Kimons mit
22*
326 Sitzung der phüos.-phitol. Ülasse vom 2. Mai 1874.
Recht oder Unrecht zugeschriebene Behauptung, welche für
die Behandlung der vorliegenden Frage bisher zum Schaden
derselben massgebend gewesen ist, auch mit andern Zeug-
nissen in unlösbarem Widerspruch und wird daher am besten
einstweilen ganz aus dem Spiele gelassen.
Wenn, was wir als erwiesen annehmen, das Pelasger-
werk eine vollständige Ringmauer war und von der späteren
Befestigung sich nur durch geringeren Umfang unterschied,
so kann diese Verschiedenheit der beiderseitigen Ausdehnung
den natürlichen Verhältnissen zufolge nur auf der Westseite
gesucht werden. Auf den zwei Langseiten in Nord und Süd
und auf der östlichen Schmalseite fällt die Hochfläche des
athenischen Burghügels so jäh ab, dass die Ummauerungs-
linie hier als schon von der Natur vorgezeichnet weder für
die ersten Befestiger zweifelhaft sein noch später einer Ver-
änderung unterworfen werden konnte : sie musste allenthalben
einfach am oberen Rande der steilen Felswände fortlaufen.
Dagegen auf der Westseite steigt der Hügel nur sanft und
allmählich aus der Ebene empor; daher ist von jeher hier
auch der Aufgang zur Burg gewesen. Die Frage nun, wo
die westliche, den Thoreingang enthaltende Linie der Be-
festigung einzusetzen habe, konnte verschieden, im Wesent-
lichen zweifach, beantwortet werden. Entweder da, wo eine
erhebliche Verbreiterung des Aufganges eintritt, welche als
der westliche Rand der Burgobei fläche angesehen werden
kann ; dies ist die Stelle , an der Perikles die Propylaieu
aufgeführt hat. Oder weiter östlich, da wo die Steigung
nachlässt und ein im Ganzen gleichmässiges Niveau sich
herstellt, in der Mitte zwischen den Propylaien und den
Pallastempeln. Hier würden wir die Westgrenze des Pelasger-
werkes, die Mauer der Eingangsseite ansetzen müssen, wenn
wir auf blosse Vermuthuug angewiesen wären ; vielleicht aber
lassen sich auch äussere Gründe dafür geltend machen.
Von näheren Bestimmungen über die Beschaffenheit der
Vnger: Enneakrunos und Pelasgikon. 327
Pelasgerfeste ist weiter nichts vorhanden als folgende trotz
ihrer Dürftigkeit wichtige Angabe der Schollen zu Aristoph.
Av. 832 : Jidv^og (prjGi ro üe'kaQyiY.dv Tei%og ercl Tterqwv
-neiad-ai. Da der ganze Burghügel ein einziger grosser
Felsen ist und die Pelasgerfeste nach den p. 325 mit-
getheilten Stellen den grössten Theil oder wenigstens die
grössere Hälfte der Akropolis eingenommen hat , so lässt
sich diese Angabe nur dahin deuten, dass jener Theil sich
durch besondere Höhe und Schroffheit vor dem ausserhalb
der pelasgischen Mauern gebliebenen ausgezeichnet hat. Dies
trifft vollständig zu der so eben vermutungsweise gegebenen
Begrenzung. Wie unsere Karten, z. B. der Höhendurch-
schnitt auf dem Plan von Michaelis zu Jahn's Descriptio
arcis Athenarum und die Terrainkarte auf Curtius Sieben
Karten Taf. I. lehren, zerfällt die Hochfläche der Akropolis
in zwei Theile von verschiedener Höhe: einen niedrigeren
im Westen, welcher die Steigung des Burgaufganges noch
bis in die Mitte zwischen den Propyläen und den Pallas-
tempeln fortsetzt, und einen von da an mehr gleichmässig
erhobenen, welcher die höchsten Punkte enthält und fast
drei Viertel des Ganzen ausmacht. Dies ist die Akropolis
im engeren Sinne, die athenische Stadtburg der älteren vor
Kimons und Perikles Bauten liegenden Zeit.
Nach Herodot war, wie wir p. 322 sahen, zur Zeit des
Perserkriegs die Akropolis durch einen Heckenzaun ver-
schlossen; erst nachdem dieser sammt der beim Herannaheu
des Xerxes errichteten Barrikade, welche ihn decken sollte,
gefallen war, konnten die Belagerer an einen Sturm auf die
Thore der Befestigung selbst denken. Da dieser Heckenzaun
nicht unterhalb der Stelle, an welcher später die Propylaien
aufgeführt wurden, gedacht werden kann und wahrscheinlich,
wie sich auch Herodot die Sache vorgestellt zu haben scheint,
eben an dieser Stelle gestanden hat, so muss die West-
mauer des Pelasgerwerkes , welche die Thore enthielt , in
328 Sitzung der pliilos.-phüol. Classe vom 2. Mai 1874.
einer ziemlichen Entfernung östlich von dem Propylaien-
platze gestanden haben : sonst würde ebensowohl die
Anlegung jenes Zaunes als seine Verrammlung gegen die
Belagerer unnötbig und zwecklos gewesen sein, da im an-
dern Fall die Dienste beider die Thormauer selbst geleistet
haben würde. Die Bestimmung jenes Zaunes war offenbar,
gleichwie die spätere Akropolis verschlossen sein musste
(Thukyd. 2, 17), den Zugang zu den zahlreichen Heilig-
thümern und Stiftungen zu wehren, welche sich ausserhalb
der Pelasgermauer befanden. So wird durch Herodots Bericht
bestätigt, dass die pelasgische Befestigung eine geringere
Ausdehnung hatte als die spätere und dass der damals nicht
befestigte Theil an der Aufgangsseite zu suchen ist.
Andrerseits ist es sicher, dass das erste Heiligthum der
Burg und Stadt, das sogenannte Erechtheion, welches auch
schlechtweg das § Heiligthum genannt wird, sich innerhalb
der pelasgischen Befestigung befunden hat. Dadurch, dass
Hippias die Pelasgerfeste , in welcher er belagert worden
war, an Kleomenes übergab, gelangte der König in den
Besitz der Orakelsammlung, welche die Peisistratiden im
„Heiligthum" verwahrt hatten, s. Herodot 5, 90 und 64 (oben
p. 316); dies war aber bloss möglich, wenn das Erechtheion
von der Pelasgermauer umschlossen war. Als die Perser
die Akropolis einnahmen, flohen viele von den Ueberfallenen
in die Cella der Polias, Herod. 8, 53 ol de ig to (.leyaqov
xaracpevyovGi ; das Heiligthum der Athena Polias muss also
in dem befestigten Theile der Burg gewesen sein. Ueber
ein Jahrhundert vorher wurde Kylon und sein Anhang auf
der Akropolis vom Volk belagert; als ihnen die Lebens-
mittel ausgingen, entsprang jener und sein Bruder, die andern
warfen sich schutzflehend am Altar der Polias nieder, Thukyd.
1, 126 und Plutarch Solon 12. Hätte der Tempel sich
ausserhalb der Festungsmauern befunden , so würden sie
ihren Feinden in die Hände gefallen und getödtet worden
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 329
sein, ehe sie das schützende Asyl erreicht hätten. Weil
ferner dieser Tempel das vornehmste Gebäude der alten
Akropolis war und der grösste Theil des von den Pelasger-
mauern umschlossenen Raumes zu seinem Temenos gehörte,
wurde, wie unten gezeigt werden soll, die Bezeichnung Heilig-
thum auch auf die Pelasgerfeste selbst ausgedehnt.
Der Eingang zu dieser und die Westmauer, welche ihn
enthielt, war demnach in ziemlicher Entfernung von den
Propylaien, aber westlich von dem Erechtheion und dem
südlich an dieses stossenden Hekatompedostempel, welcher
später zum Parthenon erweitert wurde. In dieser Mauer
haben wir die neun Thore zu suchen, von welchen Kleidemos
und Polemon sprechen : denn da auf den drei andern Seiten
der Burg keine Thorausgänge denkbar sind, so müssen sich
dieselben sämmtlich auf der Westseite befunden haben. Dies
bestätigt Polemon , indem er die Neun Thore in die Nähe
des Kyloneion setzt (oben p. 319): to (Hgv%ov) Ieqov eovi
Ttaqa ro Kvlcovewv exrog rtov Evvia Ttvltov ; denn das Denk-
mal des Kylon stand gerade in der bezeichneten Gegend.
Pausanias, der nach seiner eigenen, wiederholt (3, 11, 1.
1, 23, 4) abgegebenen Erklärung nur die wichtigsten Sehens-
würdigkeiten Athens heraushebt und auch bei deren Be-
schreibung eine leicht missverständliche Kürze beobachtet, er-
wähnt auf der Akropolis das Hesychosheiligthum nicht, wohl
aber, wenn auch kurz, das andere Denkmal: 1, 28, 1 Kvktova
de ovöiv eyco eitxüv icp' orqt %ak%ovv ävi&eoav, tvqavvida
ofxwg ßovlevaavra. Warum die Athener dem Kylon diese
Ehre erwiesen hatten, konnte Pausanias bei einigem Nach-
forschen wohl entdecken. Sein Denkmal (und vielleicht auch
der Altar des Hesychos) gehörte ohne Zweifel zu den Stift-
ungen, welche sammt anderen Anstalten Epimenides an-
geordnet hatte, um die Stadt von der schweren, durch ihre
Beamten, welche die Anhänger Kylons trotz des von ihnen
angerufenen Schutzes der Burggöttin ermordet hatten, über
330 Sitzung der pfiilos.-philöl. Classe vom 2. Mai 1874.
sie gebrachten Blutschuld zu reinigen, Plutarch Solon 12
Mao^olg tloi %al Y,a&cco(j,olg xca idovoeoi xccTOQyiaoag aal
%a$ooiwoag %ry ttoIiv. Pausanias , dem es zunächst um
die Kunstwerke zu thun war , nennt nur die Statue des
Kylon; dadurch ist schon angedeutet, dass hier die Stelle
des Kyloneion war. Mit solcher Kürze geht er auch über
weit bedeutendere Heiligthümer hinweg und nennt z. B. auch
Yon dem berühmten Pythion nur die Bildsäule des Gottes :
1, 19, 1 t-iEta. ös xbv vaov xov Jidg xov *Oh)\mLov jtlrjolov
ayaK\xa loxw lÄTtoXXojvog Ilv&Lov , Ion de xal allo Uqov
Pausanias kommt auf die Bildsäule des Kylon zu
sprechen, nachdem er das Erechtheion beschrieben hat; von
ihr weg wendet er sich dem Riesenstandbild der Pallas
Promachos zu, dann dem Viergespann, welches nach Herodot
5, 77 den durch die Propylaien Eintretenden zur linken Hand
aufgestellt war. Das Kyloneion stand demnach in der nord-
westlichen Gegend der Burg, zwischen dem Erechtheion, der
Pallas Promachos und den Propylaien, von letzteren durch
das Viergespann und wohl auch durch noch manches andere
von Pausanias übergangene Denkmal getrennt. Da sich
nun dasselbe nach Polemon sammt dem Hesychosaltar „ausser-
halb der Neun Thore" befand, so erhellt, dass diese genau
in der Gegend standen, in welche wir vorhin die bei
Herodot vorfindlichen, von ihm immer (dreimal 8, 52 fg.) im
Plural erwähnten Thore der pelasgischen Feste versetzt
haben , nämlich in der Mitte zwischen den Propylaien und
den Pallastempeln (dem Erechtheion und dem südlich von
diesem befindlichen Hekatompedos). Daraus folgt aber, dass
die von Kleidemos und Polemon erwähnten Neun Thore
der Pelasgerfeste identisch sind mit den Thoren
der vorkimo nischen d.i. pelasgischen Burgbe-
festigung bei Herodot. Ferner führt die Art wie
Polemon die „Neun Thore" benützt, um durch Angabe ihrer
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 331
Nachbarschaft die Lage eines Denkmals zu bestimmen, mit
Notwendigkeit darauf, dass jene an einer einzigen Linie
der pelasgisclien Befestigung und zwar, wie der Ausdruck
„ausserhalb" lehrt, an der westlichen und Eingangsseite an-
gebracht gewesen sind. Dies stimmt zu Herodots Geschichte
der persischen Belagerung. Nach dem Fall der Barrikade,
welche den am nachmaligen Propylaienplatze stehenden Zaun
decken sollte, versuchten es die Perser, die „Thore" zu be-
rennen, aber vergeblich: erst die Auffindung einer Stelle
des nördlichen Burgabhangs, wo sie oberhalb der Aglauros-
gi otte die Höhe erkletterten, ermöglichte ihnen das Eindringen
hinter den Thoren. Die Mauer, in welcher letztere ange-
bracht waren, hat also den Flächenraum der Akropolis seiner
ganzen Breite nach von Nord nach Süd durchzogen, nicht
aber in der Mitte, um von da nach Osten laufend die Süd-
seite der ßurgfläche freizulassen, ihre Richtung geändert;
sonst hätten die Perser von Süden her leicht einen Sturm
auf die Feste versuchen können. So besagt auch der Aus-
druck £?m Ttov 'Evvea nvXwvy dass durch dieselben der hinter
ihnen liegende Raum der Akropolis ein- und abgeschlossen war.
Aus Polemon lernen wir aber auch, dass nacli der Er-
weiterung der Burgbefestigung durch Kimon und Perikles
die nunmehr überflüssige pelasgische Eingangsmauer mit den
neun Thoren nicht niedergerissen wurde, sondern mindestens
noch bis in seine Zeit, den Anfang des zweiten Jahrhunderts
vor Christus, stehen geblieben ist. Hiedurch fällt Licht auf
eine dunkle Stelle des Herodot. Gegen die Boioter und
Chalkidier, welche sich an dem Einfall des Kleomenes in
Attika betheiligt hatten, unternahmen, wie 5,77 erzählt
wird, die Athener einen Rachezug, welcher vielen von jenen
die Freiheit kostete. Die Fesseln, welche dieselben tragen
mussten bis sie losgekauft wurden, wurden nachher von den
Athenern auf der Burg aufgehängt, wo sie viele Jahre später
Herodot selbst noch sah, an einer inzwischen vom persischen.
332 Sitzung der philo*. -ph Hol. Classe vom 2. Mai 1874.
Feuer verheerten Mauer gegenüber der westlichen Cella des
Erechtheion : rag di rciöag avrwv, iv xffii idedearo, ävexQe-
f-iaoav ig zi]v v.KQOTio'kiv airtEQ eri ig iui roav 7t£QieotGai,
xgeiidnevai i% Tei%icov 7TeQL7recpXevo(ievcov ttvqi vtco tov Mrtdovf
dvTiov di tov (,ieya.QOv 40) tov nqdg eOTteqrjv TETqa\i\iivov.
Diese Mauern waren , wie die letzten der citirten Worte
lehren, westlich vom Erechtheion, aber diesem, weil ihre
Lage nach einem Theile desselben bestimmt wird, näher
als den Propylaien ; sie gehörten aber nicht zu dem Heilig-
thum, etwa als der westliche Theii einer für dasselbe anzu-
nehmenden Umfassungsmauer (TteQißoXog), sonst würde Herodot
twv zu xuyiiov gesetzt und tov iqov davon abhängig gemacht
haben41); die Anwendung des Wortes ivavxiov lehrt viel-
mehr, dass sie dem Erechtheion fremd, und zugleich dass
40) Bötticher Philolog. 21, 57 will hier und 8, 53 fxsyecQov auf
den Hekatoinpedostempel beziehen, welcher ungewiss seit wann die
Stelle des nachmaligen Parthenon eingenommen hat. Aber wie to
iqov (s. Stein zu Herodot 8, 51) so beziehen sich alle andern einen
Burgtempel und seinen Cultus ohne Angabe der Gottheit bezeich-
nenden Ausdrücke nur auf das Erechtheion, als das vornehmste und
Anfangs einzige Heiligthum der Akropolis, s. Herod. 5, 72 cog ecvsßrj
fig trjv ccXQonokiv, rjie ig to ec'Svtov trjg &6ov ; Plutarch Solon 12 toiV
avvujuotccg tov Kvkiovog ixttfvovzctg trjv d-sov; Xen. Hellen. 2, 3, 20
xatctxofxiaccvieg tctvtct ig tr]v ccXQoTiokiv ^vved-rpcuv iv t(ovcm\ Thukyd.
1, 126 ol Kvkcoveioi xa&i£ovoiv ini tov ßeofxov ixezca tov iv tfj ccxgo-
nolei] Herod. 5, 71 Kvkcov xcttctkctßuv trjv ctxgonokiv iitetQrjdri, ov
6vvectuevog St inuQatrjaai ixitrjg l'^eto ngog t(a'y ecktet. Dass die Ver-
schiedenheit der Worte piyctQov und ec'Svtov, welche Bötticher geltend
macht, der Identität des Gebäudes nicht im Wege ist, beweist Schweig-
häusers Index aus Herod. 7, 140, wo sowohl ig to (XEyccQov iaek&ovteg
als i'tov i£ etövtoto sich auf das Allerheiligste in Delphi bezieht;
ccdvtov bezeichnet den inneren Raum der Cella, fxeyccQov das Ganze
derselben, ist daher am Platz, wo sie von aussen her betrachtet
wird. In den Hekatompedos konnten sich Schutzflehende so wenig
wenden als später in den Parthenon: das Gnadenbild der Göttin,
befand sich im Erechtheion.
41) Zur Bestätigung vgl. p. 336,
Unger: Emieakrunos und Pelasgil'on. 333
sie von diesem durch keinen Hochbau geschieden gewesen
sind. Welches die Bestimmung jener Mauer gewesen ist,
hat Herodot offenbar selbst nicht gewusst: jetzt, nachdem
gezeigt ist, dass eben in dieser Gegend die Quermauer ge-
standen hat, durch welche die neun Thore in die Pelasger-
feste führten, lässt sich auch leicht erkennen, dass Herodot
nichts anderes als die Mauer der anderwärts , wo er den
Berichten kundiger Gewährsmänner folgt, von ihm selbst
besprochenen Thore, die Westmauer des abermals nach dem
Vorgang Anderer von ihm erwähnten Pelasgerwerkes vor
sich gehabt hat42).
Neben dem Kyloneion erwähnt Pausanias das Kolossal-
bild der Pallas Promachos, von dessen Basis sich die Spuren
fast genau in der Mitte zwischen Parthenon und Propylaieu
erhalten haben. Die Frage, wie die Benennung 7tQ6[xct%og
zu diesem Standort im Inneren der Akropolis passt , ist
wenig aufgeworfen worden ; man hat sich meist begnügt,
sie als Vertheidigerin zu denken, ohne das Seltsame ihres
Platzes sonderlich zu beachten. Eine „vorkämpfende" Gott-
heit ist aber nicht im Inneren, sondern an den Thoren und
Mauern zu denken , da wo sie den herankommenden Feind
empfangen und abwehren kann; sie wartet nicht, bis dieser
in das Innere eingedrungen und schon Herr des Platzes
geworden ist. Leake Topogr. p. 251 sucht das Missver-
hältniss , welches zwischen der Aufgabe der Gottheit und
dem Standort ihres Bildes besteht, durch die Erklärung zu
beseitigen, die Göttin habe, da ihr Bild nach Westen ge-
richtet war, den Eingang durch die Propylaien bewacht, in-
dem sie dorthin blickte; aber auch die Götter kämpften
nur mit den Waffen in der Hand, nicht mit Blicken, und
mit Waffen war das Bild auch ausgerüstet. Jetzt schwindet
42) In Betreff der Verheerung, welche das Feuer angerichtet
Jjatte, vgl. p. 334.
334 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
diese Schwierigkeit : der Ort des Standbildes fällt in die
Linie der pelasgischen Thormauer; die Statue befand sich
also am Eingang der pelasgischen Akropolis. Dafür dass
sie in der That an dem Thoreingang aufgestellt war. ist
noch ein positives Zeugniss vorhanden : die Benennung Thor-
kämpferin, rt Ilalldg rj IIvlca[*d%OQ, welche sie bei Aristoph.
Eq. 1169 führt; diese konnte ihr unmöglich gegeben weiden,
wenn sie nicht wirklich bei den Thoren ihren Platz hatte43).
Bis zur persischen Belagerung trug die Thormauer der
Pelasgerfeste wohl nach alter griechischer Sitte ein gemaltes
Bild der Göttin, vgl. Tzetzes zu Lykophr. 356 IlvXatridog)
Kai rovxo ovf.ißoliKOv STtl&ezov Trtg ld$r]vag, sv Talg rtvXaig
ydq amrtv eyqaq)Ov rcov Ttolecov Kai tcjv oIklwv, cog iv tcqo-
aoreloig xov ^'Aqea ; Schol. vet. Lyk. a. a. 0. vrtg twyqacpov-
lievrjg ev %aig 7tvXaig\ Schol. Aeschyl. Sept. 170 "OyKa 7tQO
Ttolewg) s^ioyqacpovv zavTrjv Ttqo rwv TtvXwv zrtg TtoXecog, rjv
Kai AvKOtyQcov Ilvlalrida leyet öid to avco&ev Yorao&ai
ravTrjv ttqo tcov tzvXcov. Durch das Feuer, welches die
Perser an die Akropolis legten und das seine verheerende
Wirkung nach Herodot 5, 77 (oben p. 332) insbesondere an
der Thormauer offenbarte, musste dieses Bild der Vernicht-
ung anheimfallen ; an seiner Statt wurde nun , wie uns
scheint, die eherne Riesenbildsäule der Thorhüterin errichtet,
43) Dass Aristoph. Eq. 1163 sqq. von den drei auf der Burg
befindlichen Pallasbildern, der Polias, Parthenos und Promachos,
spricht und unter der Thorkämpferin, deren Grösse, ehernen Schild
und Speer er hervorhebt, die letzte versteht, hat zuerst Wordsworth,
Athens and Attica p. 128, vgl. Leake a. a. 0., erkannt. Wohl mit
Bezug auf dieses Prädicat heisst es in dem neuerdings gefundenen
Marmorbruchstück: [ij paka Sij xelvoc rukax.dQ6ioi} oi §cc r\6z'> aix^y
Gxrioa^iiiQoG^ir nvXdv äy[()ov in* ia/aziae' [xccQvdfxevoi 6* EOttwoav
yJSriPcciccg nokvßovX\ov aatv ßia Jle^acoy ■kKivuii£vo\l 6vva^iiv\\ wenn
Kirchhoff Inscript. att. p. 178, von dem auch die Ergänzungen her-
rühren, Recht thut, dasselbe der Basis des Promaehosbildes zu-
zuweisen.
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 335
als ein werthvollerer und dauerhafterer Ersatz des Zerstörten.
Nach Pausanias 1, 28, 2 und Schol. Demosth. g. Androt. 13
wurde sie nach der Schlacht bei Marathon zum Dank für
den Sieg aus dem Zehnten der gewonnenen Beute gestiftet;
die Zeitverhältnisse des Pheidias, der sie nach dem Zeugniss
des Pausanias schuf, erlauben aber nicht die Ausführung
vor 480 zu setzen; andrerseits ist wohl das Zeitalter des
Perikles , an den manche denken , als Entstehungszeit zu
weit von der Schlacht bei Marathon entfernt. Mit Recht
wird sie daher von Anderen den Schöpfungen zugerechnet,
welche der Sohn des Siegers von Marathon nach der Schlacht
am Eurymedon ins Leben rief. Die Promachos ist dem-
nach wahrscheinlich noch in der Zeit entstanden , als die
Akropolis nur die pelasgische Befestigung hatte; aber auch
wenn sie während des kimonischen Mauerbaues oder bald
nach demselben gestiftet wurde, musste doch das Bild seinen
altheiligen Standort bekommen.
Eine fernere Bestätigung für die von uns gefundene
Lage der pelasgischen Thormauer liefert der Bericht Hero-
dots 8, 53 von der Einnahme der Burg; in ihm findet sich
auch, wie wir glauben, das Wort Akropolis in seinem älteren
engeren Sinne gebraucht. Als die Rollsteine der Belagerten
es den Persern unmöglich machten, vom Burgaufgang her
die Thore zu ei stürmen, kletterte ein Theil von ihnen am
Aglaurosheiligthum empor, einer Grotte im nördlichen Burg-
abhang oberhalb der jetzigen Nikolaoskapelle44); sie erstiegen
also die Akropolis fast in der Mitte ihrer nachmaligen
Längenausdehnung, wenig westlich vom Erechtheion, da wo
jetzt noch eine Anzahl Stufen die Spuren einer zwischen
44) Die Lage ist festgestellt von Ross Niketempel p. 5 und
Bötticher Bericht über die Untersuchungen auf der Akropolis p. 200;
vgl. Bursian Geogr. 1, 294; Wachsmuth Rh. Mus. 23, 14; A. Mornmsen
Athenae Christianae p. 15.
336 Sitzung der phüos.-phüol. Clause vom 2. Mai 1874.
diesen zwei auch dem Cultus nach zusammengehörigen Heilig-
thümern hergestellten Verbindung zeigt. Oben angekommen
fanden sie sich hinter den Thoren : e/LiTiQoo&e jtqo zrtg dv.qo-
rfoliog, OTtiads öe zwv tcvXzlov v.al zrg dvodov, zft örj ovze
zig IcfvXaooe otz' dv r^TXioe {irt y.oze zig v.azd ravra dva-
ßairj dv&QQ)7Ttov , zavzrj dvißrpdv ziveg v.azd zo iqov zrtg
Key,Q07tog &vyazqdg ^dyXavqov , '/.aineq dTto'/.or^ivov iovzog
zov xcoqqv, vgl. Pausau. 1, 18, 2. Da die hier genannten
Thore die zur Akropolis vom Burgaufgang her führenden
sind, so müssen die nämlichen auch in den weiterhin folgen-
den Worten Ttqtozov fiiv Ezqditovzo Ttqog zag nvlag, zaizag
ös dvoi^avzeg zovg r/Jzag ecpovevov verstanden werden, nicht
etwa (woran auch meines Wissens Niemand gedacht hat)
Thore des Erechtheion, in welches ein Theil der überraschten
Vertheidiger sich flüchtete: die Eröffnung der Tempelthore
würde auch schwerlich so, wie im Text geschieht, durch
TtqCozov (.itv als ein selbständiger Vorgang von der Nieder-
metzlung der Flüchtlinge im Erechtheion gesondert sein, zu
welcher sie nur ein untergeordnetes Vorbereitungsmittel ge-
wesen wäre. So bestätigt sich, was p. 332 aus Her. 5, 77
geschlossen worden ist : dass zwischen der Thormauer und
dem Erechtheion keine dieses abschliessende Mauer gestan-
den hat; denn in dies Heiligthum einzudringen hat nach
Herodots Schweigen zu schliessen die Perser nichts gehindert
und nicht etwa die Festigkeit desselben, sondern die Hoff-
nung auf den Schutz der Göttin und auf die Achtung des
Asylrechts hatte die Fliehenden hineingeführt. Die von
Herodot genannten Oertlichkeiten ordnen sich demnach
folgendermassen : zuerst im Westen der Burgaufgang, welchen
an der Stelle der späteren Propylaien der Heckenzaun mit
der auf wenige Tage aufgeführten Verrammlung abschloss ;
in ziemlicher Entfernung östlich von dem Zaun eine Thor-
mauer, quer über die Burg vom Nordrand bis an den Süd-
abhang geführt, welche den Eingang zur Pelasgerfeste enthielt;
Uibqer: Enneakrunos und Pelaagi'kon. 337
weiter östlich die von den Persern erklommene Stelle des
Nordrandes45) oberhalb der Aglaurosgrotte; endlich in der
Mitte der Nordseite das Erechtheion. Diese Anordnung
stimmt ganz mit dem bisher Ermittelten überein und dient
ihm zur Bestätigung; auch ist wohl zu beachten, dass das
Aglaurion fast genau unter demselben Längengrad liegt wie
der Platz, auf dem die Promachos stand.
Eine bei der bisherigen Auffassung unlösbare Schwierig-
keit bieten die ersten Worte der Stelle: l'fiTtQoad-e 7tqo zrjg
dxQOTioXwg , durch welche auffallender Weise die Nordseite
der Akropolis als deren Front erklärt zu werden scheint.
Die von Stein z. d. St. adoptirte Hinweisung Leake's Topogr.
p. 193 darauf, dass noch jetzt sehr gewöhnlich von Einge-
bornen und Fremden, welche von dieser ganzen Frage nichts
wissen, als Vorderseite der Akropolis die nördliche bezeichnet
wird, kann uns nichts helfen: da das moderne Athen nörd-
lich von der Burg liegt, so haben die Einwohner und Be-
sucher der Stadt die Nordseite derselben im Gesicht und
es ist daher sehr begreiflich, dass sie diese für die Front
ansehen. Die alte Stadt dagegen hatte den Burghügel in
ihrer Mitte : für die Orientirung war daher der Aufgang zu
ihm entscheidend und musste als Front die Seite gelten,
welche der Besucher beim Hinansteigen vor sich hatte, also
die westliche. Dies erkennt Abicht z. d. St. an, meint aber
t'u7CQ0Gd-e Ttqo sei mit Beziehung auf die Stellung des per-
sischen Heeres gesagt, welches die Stadt von der Nordseite
erreicht hatte. Welches diese Stellung war, unterlässt er
anzugeben; darüber belehrt uns jedoch Grote 3, 93 der
Uebers., welchem die ganze Erklärung entnommen ist. Dieser
vermuthet, die Perser möchten natürlich die westliche und
45) Ohne Grund vermuthet Grote 3, 92 d. Uebers., sie sei ohne
Befestigung gewesen; Herodot würde schwerlich unterlassen haben,
dies ebenso zu erwähnen wie das Fehlen einer Wache an dem Platz
und den Grund dieses Fehlens.
338 Sitzung der philos.-phüöl. Classe vom 2. ^/Lai 1874.
nördliche Umgebung der Burg eingenommen haben. Herodot
selbst sagt nichts davon: sollen wir aber über die Stand-
quartiere des ganzen Heeres eine Vermuthung äussern, so
können wir bloss glauben, dass die vielen Hunderttausende
sammt dem Tross die gesammte Stadt und wohl auch die
Umgebung der Stadt erfüllt haben ; handelt es sich aber
bloss um die belagernden Abtheilungen, so wissen wir aus
Herodot , dass diese auf dem Areopag, also westlich, nicht
nördlich, der Akropolis standen. Im Uebrigeu kommt auf
die Stellung des persischen Heeres bei unsrer Frage gar
nicht einmal etwas an : oder wird die Front eines Hauses
dadurch zur Hinterseite, dass man sich hinter demselben
aufstellt?
Herodot selbst sagt 8, 52: ol IleQOcu l^ofievoc 87ti tov
xazavTiov rrjg äxQOTtöhog ox&ov , xbv Id&TpHxioi xaleovoi
!AqrtLOv Tiayov, STtohoQuovv , denkt sich also den Areopag
im Angesicht (Katavilov, eigl. gegenüber der Vorderseite) der
Burg : hätte er die Nordseite als Front angesehen, so würde
er rov Ttaqa xr4v ccxqotioXiv o%#ov gesagt haben. Auch in
den Worten oma&e Si twv TivXicov xal rrjg avoöov wird
vorausgesetzt, dass die Front der Akropolis auf der West-
oder Aufgangsseite zu suchen ist. Wörtlich aufgefasst würde
der Ausdruck: hinter dem Aufgang anzeigen, dass der in.
Rede stehende Punkt am Anfang des Aufgangs, also am Fuss
der Akropolis befindlich gewesen sei; da dieser der Höhe
angehörte und demnach östlich von dem Aufgang zu suchen
ist, so muss avodog als stehend gewordene Bezeichnung des
zur Burg führenden Weges genommen werden, gleichviel ob
man auf demselben hinauf oder hinabging, gleichbedeutend
mit "Act&odov für einen vom Standpunkt der Burg aus
Sprechenden. Die Entstehung dieser festen Bedeutung des
Wortes avodog findet ihre Erklärung darin, dass der Sprach-
gebrauch in der Unterstadt, nicht auf der viel kleineren und
von Privatleuten nicht bewohnten Akropolis, seine Ausbildung
tlnger: Enneahrunos und Pelasgilcon. 339
gewonnen hatte. Daraus folgt aber, dass man die Orientir-
ung der Burgseiten gleichfalls nach dem Gesichtspunkt der
unten Wohnenden, welche von Westen her zur Burg empor-
stiegen, gerichtet, also die Aufgangsseite im Westen als Front
angesehen hat.
Auch die andern Schriftsteller haben sich das Verhält-
niss nicht anders gedacht. Wo das Haus des Timarchos, das
nach Aischines 1, 97 ev aGTei und O7tio&e Ttg itoXecog, also
hinter der Akropolis stand, zu suchen ist, weiss man nicht;
wenn Curtius Attische Studien 2, 46 und Bötticher Philol.
Suppl. 3, 360 es südlich der Burg setzen, so geschieht das
nur auf Grund jener problematischen Erklärung von Herod.
8, 52. Wohl aber steht es fest, dass der Aphroditetempel,
welcher beim Grab des Hippolytos stand, am Südfuss der
Burg errichtet war46); nach jener Erklärung, welche die
Front der Akropolis in Norden sucht, müsste er sich hinter
der Burg befunden haben, die Alten setzen ihn aber an die
Seite derselben , s. Eurip. Hippol. 30 Tterqav 7ta$ ccvtvjv
Jlcdladog xccTOipcov yrtg zijoöe vaov KvrfQidog eyyia^eioaTO
und Diodor 4, 62 Oaiöqa IdqvöaTO uqov ^cpQodlzrjg TtaQcc
TYtv axQ07ioliv. Also ist die Front nur auf der Ost- oder
Westseite gedacht, nicht nördlich. Die Vorderseite selbst
erwähnt Antigonos Karystios histor. mirab. 12 aus Amelesa-
goras : äcpixoiievrjv {Ldd-rjväv) eg Hekh^rjv (peqeiv OQOg, cva
eQVfia 7t qo zrjg äxQOTtolecog Ttotroiß. rfj de Iddrjva cpsgovör]
rö OQog, o vvv xakuxai yLvy.aßrjTTog, xoqcovtjv cpr^olv aitav-
T\pai xott utceIv, ort ^Eqtyßoviog ev cpavegcp, Ttv de äxovoaoccv
QLipai ro oqog ortov vvv eoxi. Seltsamer Weise findet Leake
Topogr. p. 193 hierin eine Bestätigung seiner Ansicht von
der Nordseite der Burg als ihrer Fronte. Der Lykabettos,
in welchem er unter allgemeiner Zustimmung und vielleicht
mit Recht den nordöstlich von der Stadt gelegenen Berg
46) S. oben p. 307.
[1874, 3. Phil, hist Cl.] 23
S4Ö Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 2. Mai 1874.
erkennt, der eine Kapelle des h. Georg trägt, lag h rolg
ävccroliY,ü)TeQOig (Aeqeoi Trfi nohecog , Marinus v. Prodi 36,
und der Demos Pallene ist ebenfalls östlich von Athen zu
suchen. Auf die Lage dieser Punkte kommt es aber nicht
an: denn das beabsichtigte Bollwerk ist nicht an seinen
Bestimmungsort gekommen, sondern auf dem Wege als
Lykabettosberg liegen geblieben, welcher höchstens zu einem
Angriff, niemals aber zur Verteidigung der Akropolis hätte
benützt werden können. Ein schützendes Bollwerk vor der
Akropolis aufzurichten konnte aber, da die drei andern
Seiten aus senkrechten Felswänden bestehen , nur auf der
leicht zugänglichen Westseite beabsichtigt werden: ebenda,
wo von Kimon der Pyrgos und in der späteren Kaiserzeit
das (pQovqiov aufgeführt worden ist. Diese erweist sich also
auch hier als die Vorderseite.
Wrie erklärt sich nun die in der herodotischen Stelle
vorliegende Schwierigkeit? Nicht anders als durch die An-
nahme, dass Herodot das Wort Akropolis als Burgfeste im
Sinne der Zeit gebraucht hat, in welcher seine Geschichte
spielt : als Pelasgerfeste, deren Westgrenze unter fast gleichem
Längengrad mit dem Agraulion lag. In demselben Sinne
fassen es Hekataios, Kleidemos und Myrsilos, wenn sie die
pelasgische Mauer rings um die Akropolis ziehen lassen.
Herodot hat sich hier und anderwärts genau an die Sprache
seines Gewährsmanns, in unserem Fall offenbar eines Zeit-
genossen der Perserkriege, gehalten: während er hier und
in Betreff des Kylon und des Isagoras die alte Burgfeste
Akropolis nennt, heisst sie ihm und den andern Quellen
(oben p. 324) in der Geschichte des Hippias Pelasgermauer.
Die Stelle, an welcher die Perser emporstiegen, lag auf der
westlichen Seite derselben, genauer auf der nordwestlichen:
ähnlich setzt Euripides im Jon 497 die am Nordwestabhang
des ganzen Burghügels befindliche Pansgrotte tvqo Ilallaöog
Ünger: Enneäkrunos und Peläsgilcon. 341
vatov. Sie gehörte demnach der Vorderseite der Burgfestung
an ; dies will luTtQoo&e 7iqo sagen, d. i. vorn an (nicht : vorn
vor) der Akropolis , wie Antigon. Kar. a. a. 0. eqv[xa 7iqo
rrtg äxQOTioXecoQ und oben p. 334 die an das Thor gemalte
Athena Pylaitis rtqo rwv rtvlaiv. So setzt Pausanias 9, 35
3 und 7 die Chariten des Sokrates Ttqo (vorn an) rrg ig
rfv äxqoTtofav ioodov\ genauer gesprochen standen sie xard
Tttv l'aodov avztv t]di] %rp ig dxqoTtoXiVj wie er 1, 22, 8 sich
ausdrückt. Derselben Auffassung der Präpositionen gehören
Wendungen wie tcqo böov, TtoQQW rov ßlov, V7tö zft ccxqo-
Ttoleu und irtv cM.Q07tokivy pro muro, sub murum u. a. an.
Die Thormauer, durch welche die pelasgische Akropolis
von der kleineren westlichen Hälfte der Burghöhe getrennt
wurde , begann also an einer nördlich von dem Standbild
der Promach os und etwas westlich von dem Aglaurion be-
findlichen Stelle des Nordrandes und lief in gerader Richtung
bis zum Südrand; wie sie nördlich der Promachos das Erech-
theion von dem Kylonsdenkmal und dem Hesychosaltar
treDnte, so wurde im Süden jenes Standbildes durch sie die
Terrasse der Pallas Ergane, hinter welchem sich östlich die
des Parthenon oder Hekatompedos anschliesst, von dem
ausserhalb der Befestigung bleibenden Heiligthum der Artemis
Brauronia geschieden. Es ist schon oben bemerkt worden,
dass diese Begrenzung den Höhenverhältnissen entspricht.
Während der Boden der Mittelhalle der Propylaien eine
Höhe von 143,3 Metern über der Meeresfläche hat, erhebt
sich die Terrasse der Ergane unterhalb der zum Parthenon
führenden Felsentreppe bis zu 152,5 Meter, der Säulenlüss
der Nordhalle des Erechtheion zu 151,6, das Plateau nörd-
lich von ihr zu 150,9, die höchsten Punkte des Parthenon
und der Ausbau an der Nordostecke der Burgmauer sogar
zu 158 Meter. A. Michaelis, dem wir die Höhenangaben
verdanken, hebt im Rhein. Mus. 16, 234 ausdrücklich her-
23*
§42 Sitzung der phÜos.-phiiol Classe vom 2. Mai 1874.
vor, dass die Strecke des alten Burgweges von den Propy-
laien bis zu Punkt D seines Plans, welcher sich südlich von
der Promachos und nördlich von der vorhin bezeichneten
Stelle der Erganeterrasse findet, steiler ist als die Fort-
setzung des Weges von da bis zur Nordwestecke des Par-
thenon.
Auch in Absicht auf die Breitenausdehnung der Burg-
oberfläche liefert die für die Thormauer gefundene Linie
eine passende Abgrenzung. Die Mitte , der breiteste Theil
der Hochfläche, wird durch jene Quermauer vollständig in
die alte Befestigungslinie einbezogen und zwar gerade von
da an , wo die Verbreiterung am sichtbarsten wird. Von
den Propylaien, dem natürlichen Anfang der Hochfläche, wo
der Aufgang eine Breite von 168 Fuss gewinnt, nach Osten
hin nimmt die Divergenz der beiden Ränder allmählich und
in regelmässig geraden Linien zu, bis nördlich von der Pro-
machos und etwa 35 Meter westlich vom Aglaurion plötzlich
der Nordrand in einen scharfen Vorsprung nach Norden
übergeht : in den Winkel dieser Biegung setzen wir die
Nordwestecke der Pelasgerfeste, den nördlichen Anfang der
Thormauer.
Diese Linie bildete endlich auch eine sacrale Grenze.
Als Xerxes die untere Stadt einnahm , befanden sich , wie
Herodot 8, 51 sagt, die zurückgebliebenen Athener im Heilig-
thum : aiQ&ovoi eqi^ov tö aotv xal zivag oliyovg evQiöxovoi
t(Lv 14&7]vcclü)v iv t$ Igcp ovzag. Der Gewährsmann, welchen
Herodot hier wiedergibt, will damit gewiss nicht sagen, dass
sich dieselben, etwa um die Hülfe der Pallas anzurufen, in
den Poliastempel oder in den beschränkten Innenraum des
Peribolos späterer Zeit zurückgezogen hatten: sie wollten
ja Widerstand leisten und leisteten ihn in kräftigster Weise.
Den Entschluss die Burg zu vertheidigen hatte dieser Theil
der Stadtbevölkerung schon beim Eintreffen des Orakels
Unger: Enneakrunos und PelasgiTcon. 343
von der hölzernen Mauer gefasst, Her. 7, 142 vgl. mit 8, 51
(oben p. 322), und die Errichtung des Barrikadenwerks
konnten sie nicht erst an dem Tage in Angriff nehmen, an
welchem die Perser in die Unterstadt einzogen. Sie be-
fanden sich in der Feste, des persischen Angriffs gewärtig,
und wenn Herodot dafür sagt: in dem Heiligthum, so kann
er das, weil der grösste Theil der Burghöhe, eben der von
der Pelasgermauer ein- und abgeschlossene ein Temenos der
Burggöttin war.
Die ganze Akropoljs war heiliger Boden , Aristoph.
Lysistr. 482 fAeyaXoTterqov aßarov äxQ07toXiv, Uqov xe(.ievog\
Demosth. f. legat. 272 oXyg ötGrjg Uqag Trtg dy.qo7toXecog
ravTrjai; daher alles Unreine ihr fernbleiben musste, kein
Hund sie betreten (Philochoros b. Diouys. Hai. üb. Deinarch 3),
kein Weib dort gebären durfte (Ar. Lysistr. 472). Die Er-
klärung Böttichers im Philologus 21, 49, sie sei ein Temenos
des Staates gewesen, reicht nicht hin , diese Bezeichnung zu
rechtfertigen: als Akropolis an sich wäre sie, wie Pollux an
der von ihm angezogenen Stelle 9, 40 ta de örj^oota, dnqo-
Ttohg sagt, Staatsgut, also profan, nicht göttliches Eigen-
thum gewesen. Gewissermassen die Personification des
athenischen Staates war aber als Schutzpatronin desselben
Pallas Athenaia; ihr der Burggöttin (rfoXidg) war die Akro-
polis geheiligt, welche, wie auch die Bezeichnung TtoXiovyog
bei Aristoph. Eq. 581. 827. Nub. 592. Lys. 345 besagt, ihr
Eigenthum war. Lysistr. 241 Trjv ccxqottoXlv Trtg &eov. Darum
heisst die Burg Hügel der Pallas, Eurip. Jon 1 1 JJaXXdöog
vtc* oySto T?~g läd"rp>aLo)v yßovog-, ders. Hippol. 30 Ttfrqav
nagt avTrjv üaXXdöog] Himerios or. 3, 12 dyovoiv btvI tov
xoXcüvov zTg TlaXXdöog %o oxdqjog. Um diesen ihren Wohn-
sitz auf seiner unbeschützten Seite zu befestigen, wollte die
Göttin den Lykabettos dahin verpflanzen, Antigonos Karyst. 12
%va eqvfxa 7tqo rrjg dy,Q07ToXecüg Ttoirjorj', ihrem Vater Zeus
344 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
versprach und gewährte sie als Lohn für seine günstige
Abstimmung bei ihrem Streit mit Poseidon einen Altar auf
diesem ihrem Eigenthum, Hesychios Jtog &ay,oi x,al Tteaool:
si&rjvav Jtog der}&rtvai vicsq ccvrrfi trtv xprt<pov eveyxelv y,ai
V7too%8G&aL ävxl rovrov ro tov Ilohewg UqeIov tcowtov
öveo&cci Itci ßcofiov^1). Die Stadt der ältesten Zeit, die Akro-
polis (rtofog), war Gegenstand jenes Streites : auf ihr standen
die Schöpfungen beider Götter, welche den Streit entscheiden
sollten, der heilige Oelbaum und das „Meer", beide im Erech-
theion. Mit der Erweiterung der Polis und ihres Gebietes
ging die Vergrösserung des Besitzes Hand in Hand, welchen
Pallas sich erstritten hatte: darum konnte schon Herodot
8, 55 von einem Streit iteql rrtg %wQr]g reden; genauer
sprechen Apollodor Bibl. 3, 14, 1 h'öo^e tdlg $eölg rcoleig
KccTcclaßeo&cu und Schol. Ar. Nub. 1001 diä ro x^g elaiag
£VQe$£iGr]g KQi$rtvai rrjg !A&iqvag ttjv icohiv. Dort wo der
Zwergölbaum (r; Ttaywyog) sprosste, war ihr Wohnhaus
(vadg), die ganze Hochfläche ringsum bildete dessen um-
friedigtes Gehöfte {xe^evog)^ beide zusammen ihren heiligen
Bezirk (Uqov). Darum ist die heilige Schlange, welche das
Haus der Burggöttin hütet48), ebendamit zugleich Wächterin
der Akropolis, Herod. 8, 41 og>iv [liyav yvhccKa rrtg äxqo-
nokiog evÖLaireeö^at ev r<£ Iq($\ Hesych. OIkovqov oq>iv:
tovtov de (pvXayia trtq dxQOTtolewg cpaoiv. Darum ist, wo
schlechtweg49) von der Göttin, dem Heiligthum, Tempel,
47) Worauf Curtius Sieben Karten p. 18 die Ansicht gründet,
dass Zeus der ursprüngliche und einzige Inhaber der Burg war,
weiss ich nicht; die Sage vom Streit Poseidons und Athenas bei der
Vertheilung der Städte spricht entschieden dagegen,
48) Aristoph. Lysistr. 761 qIxovqov ocpiv, wozu d. Schol. top
(pvlaxa tov pccov trjg 'A&rpag und Hesych. a. a. 0. tov rrjg üokuiSog
(pvXccxct cV tw leQta tov 'Epe/^Ecvs; Plutarch Themist. 10 tov dyaxop^
tog, og ccpaprjg ex tov orptov Soxec yepio&cct.
49) Vgl. oben Anm. 40.
Unger: Ennedkrunos und PelasgiJcon. 345
Altar, Götterbild auf der Burg gesprochen wird, die Bezieh-
ung auf Athena Polias selbstverständlich.
Dieselbe Verschiedenheit der Auffassung, welche der
Akiopolis als Burgfeste der alten Zeit im Verhältniss zur
nachpersischen Befestigung zukommt, besteht nun auch in
Betreff der Akropolis als göttlicher Weihestätte. Schon
Thukydides macht hierauf aufmerksam. Auch er nennt die
Akropolis ein Heiligthum : 2, 17 ta re eqrt(xa xrg TtoXecog
tpxrjGctv %al %a isgä y.al xa rßföa itavxa TcXrp xrjg äxgo-
rtoXetog y,al tov EXevoivlov Kai u ti aXXo ßeßalcog xXrjOTOv
fjv ; hätte er sie nicht als ein einziges grosses leqov gedacht,
so würde er TtXry rcov Iv xfj äxQ07t6Xei gesagt haben. In-
dem er aber 2, 15 xa legd sv avxfj x^ äuQOTtoXei xal aXXcov
&ewv eoxi sagt, setzt er voraus, dass man eigentlich nur
Heiligthümer der Pallas dort zu finden erwartet hätte. Dieser
scheinbare, ja für den Sprachgebrauch der nachpersischen
Zeit sogar thatsächliche Widerspruch findet seine Erklärung
darin, dass die Heiligthümer der Pallas: das Erechtheion,
der Hekatompedos-Parthenon und das Heiligthum der Er-
gane, im Bereiche der pelasgischen Feste lagen und aus
vorkinionischer Zeit ausserdem nur solche Culte anderer
Gottheiten östlich der Promachoslinie nachweisbar sind, welche,
wie der des Zeus Polieus, Poseidon Erechtheus, Hephai-
stos u. a., mit dem Pallasdienst in Verbindung standen.
Die Heiligthümer der andern Gottheiten dagegen , welche
Thukydides im Auge hat, finden sich ausserhalb der pelas-
gischen Befestigung in der westlichen Gegend zwischen
Prom.ichos und den Propylaien, welche für die Zeit vor
Khnoiis Mauerbau als Vorplatz {TtqoTtvXawv) anzusehen ist
und wegen .der Menge von Stiftungen, welche sie damals
schon enthielt, noch einen besonderen Verschluss erforderte,
den von Herodot genannten Heckenzaun. Das älteste von
den uns bekannten dieser Art ist das grosse Heiligthum der
346 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 2. Mai 1874.
Artemis Brauronia, dessen Errichtung auf die Tochter des
Agamemnon50) zurückgeführt wurde, in Wirklichkeit aber
wohl mit der Einverleibung des Demos Brauron in den
athenischen Staat zusammenhängt ; dahin gehören ferner das
Heiligthum der Aphrodite Leaina, gestiftet in Folge der
Vertreibung des Hippias (Paus. 1, 23, 2), der Altar des
Hesychos und das Denkmal des Kylon, welche beide wahr-
scheinlich zur Zeit des Solon errichtet worden sind (oben
p. 329). Als ein einheitliches Hieron ist also eigentlich nur
die Akropolis der älteren Zeit, die Pelasgerfeste, aufzufassen;
aber nachdem die Befestigung auf der Westseite hinaus-
gerückt worden war , blieb der Akropolis die Auffassung
als Gesammtheiligthum auch in dieser ihrer enweiterten
Gestalt.
Kimons Mauerbau.
Nach dem Zeugniss des Pausanias 1, 28, 3 (oben p. 325)
war der grösste Theil der Akropolismauer seiner Zeit ein
Werk der Pelasger, das Uebrige aber von Kimon hinzu-
gebaut. Wo wir die Mauern des Kimon zu suchen haben,
kann nach dem Vorausgegangenen nicht mehr zweifelhaft
sein: derselbe erweiterte die Burgbefestigung auf der west-
lichen Seite, indem er die südliche und die nördliche Linie
bis zu der Stelle, an welcher später Perikles die Propylaien
aufgeführt hat, verlängerte und die Enden beider durch eine
neue Thormauer verband. Die pelasgische Thormauer blieb,
wie das ganze Pelasgerwerk, dem sie angehörte, stehen und
überdauerte den Thorbau Kimons, welcher bald den Propy-
laien weichen musste.
50) Pausan. 1, 33, 1 Byccvgaji', evSa yI(piyEvti<xv xr\v ^Jyafiefxvopog
ix Tccvqiov cpevyovaav xo äyak^ia ctyo^eyrjf xyjg yA(>xe[xi6og anoßi^vai
"hkyovGiV:, xaTcä.irtovocci' xo tlyuk^icc xccvttj xcci elg\4xhiqvag xcu vcxe{iov
elg "Aqyog acpixka&m.
Unger: Enneakrunos und Pelasgikon. 347
Spuren des kimonischen Baues haben sich noch heute
erhalten. Das unterhalb des Nordflügels der Propylaien,
18 Fuss vor seiner Südwestecke befindliche Piedestal, welches
laut der Inschrift eine Statue des Agrippa getragen hat,
steht nicht parallel mit der Vorderseite der Propylaien ;
seine westliche Fläche ist vielmehr ein wenig nach Norden
gekehrt. Kinnard zu Stuarts Alterthümern von Athen 2, 10G
hat aus dieser Thatsache den Schluss gezogen, dass es
wegen eines alten Unterbaues so angelegt worden sei, welcher
der Propylaienfront nicht genau parallel lief, vgl. Leake
Topogr. p. 238. Das Nämliche gilt aber auch von dem
Unterbau der Nordhalle selbst: seine Richtung ist mehr
westlich als die der darauf stehenden Mauer; er gehörte
also , wie derselbe Kinnard 2, 105 erkannt hat, zu einem
dem Propylaienbau fremden, älteren System von Befestigungs-
werken der Burg. Leake p. 226 denkt an die pelasgische
Befestigung ; nachdem sich uns aber ergeben hat, dass diese
nicht so weit nach Westen reichte und noch im J. 480
westlich des Standbildes der Pallas Promachos keinerlei
Befestigung der Aufgangsseite bestand , müssen wir not-
wendig annehmen , dass diese nach dem Perserkrieg, aber
vor der (437 begonnenen) Errichtung der Propylaien auf-
geführten Werke zu dem Mauerbau Kimons gehört haben.
Eine ähnliche Erscheinung zeigt sich an der Südhalle
der Propylaien. Diese ist kleiner als der nördliche Flügel :
nach den Ermittlungen von Bötticher Piniol. 21, 63 sqq. war
sie ebenso lang, aber nur halb so tief. Woher diese Ver-
kürzung, ist bekannt: der Baumeister musste auf das Vor-
handensein der.thurmartigen, von den Alten Pyrgos genannten
Bastion Rücksicht nehmen, welche den kleinen Niketempel
hinter der Südhalle trägt. Dieses Befestigungswerk muss,
weil es vor dem Propylaienbau schon existirte, im J. 480
aber noch nicht bestanden hat, gleichfalls auf Kimons Bau-
348 Sitzung der philos.-philol. Clause vom 2. Mai 1874.
thätigkeit zurückgeführt werden und sind auch darüber,
weil nach Plutarch dieselbe der südlichen Burgmauer ge-
widmet war, die Forscher längst einig; strittig ist nur, ob
auch der auf den Pyrgos gesetzte Tempel von Kimon her-
rührt. Dies ist die Ansicht von Michaelis Archäol. Ztg. 1862
p. 263 und Rhein. Mus. nach ßursian Rhein. Mus. 10, 511.
Geogr. 1, 307 und Curtius Sieben Karten p. 37 ist aber wegen
des Stils der plastischen Arbeiten die Erbauung desselben in
die Zeit des Perikles zu setzen und aus der Anlage des
Südflügels der Propylaien nur zu schliessen, dass dabei ein
auf dem schon vorhandenen Pyrgos erst zu errichtendes
Heiligthum berücksichtigt worden ist.
Dadurch dass Perikles an die Stelle der kimonischen
Thormauer die Propylaien setzte, verlor der Anbau Kimons
nicht bloss ein Drittel seines Umfangs und gerade den vor-
nehmsten Theil, die Eingangsseite: er kam auch durch die
Herausnahme dieses Mittelstücks um seine einheitliche Eigen-
schaft. Was übrig blieb, waren zwei auseinandergerissene
Stücke, welche den Propylaienbau mit den pelasgischen
Mauern verbanden ohne von diesen sich wesentlich zu unter-
scheiden : denn die von Kimon zur Verlängerung der Pelasger-
mauern angesetzten Linien scheinen ihrer Anlage nach den
älteren völlig gleichartig gewesen zu sein, vgl. Leake Topogr.
p. 22 und Michaelis Rhein. Mns. 16, 214. Da so dem
kimonischen Theil der Nord- und Südmauer kein eigen-
thümlicher, ins Auge fallender Werth zukam, so konnte,
die Ringmauer an sich betrachtet, diese Erweiterung neben
der alten Gründung des grössten Theils der nunmehr vor-
handenen Burgbefestigung und dem glänzenden Propylaien-
bau von ungelehrten Beschauern leicht übersehen werden
und in der Erinnerung des Volkes untergehen. Nur die
besondere Ausstattung, welche dem südlichen der beiden
Reste eigen war, bewahrte ihn vor diesem Schicksal, das
Unger: Enneafcrunos und PelasgiTcon. 349
dem andern nicht erspart blieb. Hier sah man den mäch-
tigen Pyrgos, welcher dem Aufgang und damit auch dem
Angreifer zur Rechten stehend jenen beherrschte und deckte,
auf seiner Höhe den zierlichen Niketempel ; unten die Ter-
rasse, welche das Heiligthum der Ge Kurotrophos und
Demeter Chloe trug. In dem Felsen, auf welchem der
Pyrgos im Südosten anhebt, findet sich eine erst durch
Bötticher Philol. 21, 47 näher bekannt gewordene Grotte
mit Spuren eines antiken Vorbaus: da nach Pausanias 1, 22, 4
von der Höhe des Niketempels sich Aigeus herabgestürzt
hatte, so ist ßöttichers Vermuthung, dass dies das Heroon
des Aigeus51) gewesen, sehr wahrscheinlich. Unter Kimon,
welcher die Gebeine des Theseus mit grossem Gepränge von
Skyros zurückbrachte, gewann der Cultus dieses Heros er-
neuten Glanz ; an jedem achten Monatstag wurde er gleich
dem Poseidon geehrt, am höchsten aber am 8. Pyanepsion,
an welchem er einst siegreich von Kreta zurückgekommen
war, vgl. Plut. Thes. 36 und Kim. 8. Dies war aber auch
der Todestag des Aigeus; man darf daher wohl das Aigeion
unter die Anlagen rechnen, mit welchen Kimon die Süd-
seite der Akropolis geziert hat.
Da der Anbau des Kimon auf der Hauptseite abge-
brochen und durch einen prachtvollen Eingang ersetzt war,
die zwei andern, nicht besonders hervorstechenden Seiten
aber von den Pelasgermauern nicht abstachen und wohl
manchem zu ihnen zu gehören schienen, so dass nur ein
Theil der Südseite durch die Anlagen, welche ihm eigen
waren, ins Auge fiel : so ist es nicht zu verwundern, wenn
neben der geschichtlichen Ueberlieferung, welche in Büchern
fortlebte und in einem dürftigen Auszug uns von Pausanias
51) Bekker Anekd. 354,3 und Hesych. Jcysiov, Aiykiog ^wov
350 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 2. Mai 1874.
erhalten worden ist, sich im Volksmund eine Tradition aus-
bildete, die an das Sichtbare und Augenfällige anknüpfend
die in Erinnerung behaltene Betheiligung Kimons an dem
Ausbau der Burgmauern auf eine sowohl fortificatorische als
künstlerische Ausstattung der Südseite bezog. In diesem Sinne
erklären wir die bekannte Stelle des Plutarch , Kim. 13
Ttqad-evrcov twv aly^aXcorcov etg re xaXXa yq^iaaiv 6 Sr^og
i7teQQCüO$T] kccI zfj dxQoicoXei to votiov xelyog xccreGxevaoe.
Gegen die herkömmliche Auslegung: von den Geldern, welche
Kimon vom Eurymedon mitbrachte, und auf seine Anregung
sei die ganze südliche Linie der Burgmauern erbaut worden,
lässt sich, da KctTccGxevaZeiv oft genug im Sinne von owodofielv
gebraucht wird, sprachlich nichts einwenden; das Wort
heisst aber, wie das Lexicon lehrt und zahlreiche Stellen
beweisen, nicht bloss errichten, aedificare, exstruere, sondern
auch herrichten, einrichten, instruere, ornare und ein Blick
auf seine Zusammensetzung zeigt, dass dies seine eigentliche
Bedeutung ist. Dass aber gerade diese dem Schriftsteller
oder wenigstens seinem Gewährsmann vorgeschwebt hat, das
geht — abgesehen von der oben gezeigten thatsächlichen
Unstatthafiigkeit der andern Erklärung — aus der Parallel-
stelle bei Corn. Nepos v. Cim. 2, 3 hervor : his ex manubiis
arx Athenarum quae ad meridiem vergit est ornata.
Sehr gut verträgt sich mit dieser Auffassung auch die
andere Stelle Plutarchs, de gloria Atheniens. 7 toorcaloig
TtavTodaTtolg avacxtcpovrai yial XaqjvQOig , wv dyccXf-iccTa Kai
ov/xßoXa jtaodevioveg hyiaxonTtedöL , voria Tuyr], vewooixoij
TtQQTCvXaia-, XeQQOvyoog, 14/j.qjiTtoXig. Wenn hier die Süd-
mauer in eine Linie mit berühmten Bauwerken und gross-
artigen Coloniestiftungen gestellt wird, so ist offenbar eine
Mauer gemeint, deren glänzende Eigenthümlichkeiten noch
sichtbar waren : nicht der kimonische Bau in seiner ursprüng-
lichen, schon ein Menschenalter nach seinem Entstehen zer-
störten Gestalt, sondern der westliche Theil der Südmauer mit
Ünger: JEnnedkrunos und PelasgiTcon. 35 i
seinen oben bezeichneten Anlagen. Möglich dass sich diesen
weiter nach Osten noch andere Ausschmückungen ange-
schlossen haben, von welchen keine Kunde zu uns gedrungen
ist; es genügt aber auch der Pyrgos mit seiner Umgebung,
um eine Tradition über die Geschichte der Burgbefestigung
zu verstehen, welche im Wesentlichen darauf hinauslief, dass
wie den Pelasgern die Ringmauer und dem Perikles der
Thorbau , so Kimon diese Bastion ihre Herstellung ver-
dankt habe.
Sitzung vom 7. März 1874.
Historische Classe.
Herr Friedrich legt vor:
„Ueber die Zeit der Abfassung des Tit. I. 10
der Lex Baiu warior um".
(Vorgetragen in der Classen Sitzung vom 8. November 1873.)
Die Controverse, welche ich bei einer Fortsetzung meiner
Kirchen geschichte Deutschlands nicht umgehen kann und hier
zur Sprache bringen will, dauert schon geraume Zeit. Ich
will nicht ein abschliessendes Urtheil aussprechen, vielmehr
nur das competenter Männer über die von mir vorzutragende
Ansicht vernehmen.
Die Einen versetzen Tit. I u. II in das 8. Jahrhundert,
die Anderen, wie Waitz1), in die Zeit Dagoberts, indem
ihnen gerade die Zeit dieses Königs für eine derartige Ge-
setzgebung als die geeignetste erscheint. Nur Merkel glaubte
einen Mittelstandpunkt einnehmen zu sollen, indem er be-
hauptete : es sei bis zum Augenblick noch keine Entscheidung
hinsichtlich dieses Punktes möglich; dieselbe hänge vielmehr
1) Waitz, Ueber das Alter der beiden ersten Titel der Lex
Bai., in den Götting. „Nachrichten" 1869. Nr. 8. S. 134 u. 143.
Friedrich: Lex Baiuwariorum. 353
nothwendig von einer genaueren und zuverlässigeren Er-
forschung der Kirchengeschichte Baierns ab 2). Da aber
diese Behauptung Merkels auch bei jenen Forschern zum
Theile wenigstens massgebend ist, welche beide Titel ins
8. Jahrhundert versetzen, so will ich zunächst sie besprechen,
dann aber aus dem Titel I selbst ein positives Merkmal für
seine Abfassungszeit zu entwickeln suchen.
Mir will es scheinen — um dies schon im Voraus zu
sagen, — als ob z. B. für Alamannien nicht mehr Beweise
seines christlichen Charakters aus der nämlichen Zeit vor-
liegen, als für Baiern. Noch ist uns in den Briefen des
austrasischen Königs Theodebert I (534 — 548) an Kaiser
Justinian eine der wichtigsten Maximen der fränkischen Re-
gierung gegenüber den heidnischen Völkern erhalten. Sie
wollte nicht etwa Begünstigung des Heidenthums und Unter-
drückung des Christenthuins, wie Justinian in seinem Schreiben
an Theodebert (c. 535) von Theoderich I von Austrasien
gesagt hatte, sondern Ausrottung des heidnischen Götzen-
dienstes und Ausbreitung und Begünstigung des Christen-
thumes. Namentlich aber bezeugt Theodebert von seinem
Vater, dass unter ihm die christlichen Orte geschont worden
seien. Aber auch für seine eigene Person bekennt sich
Theodebert zu diesem Grundsatze seines Vaters und sieht
in der Ausdehnung seines Reiches längs der Donau bis an
Paunoniens Gränzen und das Meer , also auch über Baiern,
einen „Fortschritt der Katholiken" (profectum Catholicorum)
und einen Untergang der Heiden3). Und auch Venantius
Fortunatus bezeugt von Theodebert, dass sich stets der
Glaube in seinem Gefolge befand, und er eine Stütze der
2) Merkel, leges III, 226 sq.
3) Bouquet IV, 59. n. 16. Auch Zeuss, Die Deutschen etc.
S. 357 fasst die Stelle in geographischer und politischer Beziehung
so auf.
354 Sitzung der histor. Classe vom 7. März 1874.
Kirche war (coinitante fide und ecclesiae fultor)4). Die
Bedeutung dieses Briefes erkennt denn jetzt auch Waitz an,
indem er zugesteht, dass er „wenigstens zeigt, dass die
fränkischen Könige in den unterworfenen Landen auch für
das Christenthum thätig sein wollten"5). So braucht es auch
unsere Verwunderung nicht mehr zu erregen , dass in den
ältesten Schenkungsurkunden noch ,, Romanen" erscheinen6);
Christen im Pongau, welche nach kirchlicher Vorschrift die
Reliquien des hl. Maximilian verehren7) und sich unter den
Passauer Urkunden eine, vielleicht kirchliche, aus der
Römerzeit erhalten konnte 8). Ebenso wurde nach dem
Zeugnisse der hervorragendsten Alterthumskenner, wie de
Rossi's in Rom, das Denkmal der Wittwe Valeria, welche
den hl. Florian nach seinen Leidensakten bestattet haben
soll, zu S. Florian nicht etwa erst aufgefunden, sondern in
steter Fortdauer aufbewahrt9).
Noch bedeutsamer erscheint mir das Schreiben einer
Synode von Aquileia (59 1)10), von dem auch Waitz sagt:
4) Venantii Fortunati Carm. lib. II. 12, ed Broweri p. 61.
5) Waitz a. a. 0. S. 135.
6) Congestum Arnonis bei Kleinmayrn , Juvavia, Anhang p. 21.
28. Breves notitiae, 1. c. p 37. 41. Bei Kainz p. 16. 17. 28. 31.
7) Vgl. die Gründungsgeschichte der Maximilianszelle.
8) Mon. boica 28. 2. nr. 2. p. 5. Vgl. Pallmann, Gesch. d.
Völkerwanderung 2, 394. Anmerkg.
9) Bei AI. Huber, die Ecclesia Petena S. 68. Nach de Rossi's
Zeugnisse stammt es, durch spätere Zuthaten etwas entstellt, aus
dem 4. Jahrh. Die Inschrift lautet : VI. Non. Mai. Debosicio Valerie
vidue. Gaisberger, Archäol. Nachlese in Beitr. f. Landeskd. in
Oesterr. ob der Enns. 1864. 19. Lief. S. 31. Kenner in Mitthlg.
d. k. k. Centralcommiss. z. Erforsch, d. Baudenkmale, 11. p. LXXVIII.
Ders. in Beitr. z. einer Chronik archäol. Funde i. d. öst. Monarchie
im Arch. f. öst. Gesch. 1867. 1. Hälfte S. 175 ff. Nach ihm ist die
Inschrift zw. 340—350 verfertigt. Auch der Sarkophag der hl. Valeria
ist noch in St. Florian erhalten, a. a. 0.
10) Resch, Annal. Sabion. I, 411 sq.
Friedrich: Lex Baiuwariorum. 355
es sei „wohl ein wichtiges Zeugniss für die Verbreitung des
Christentums in den Donaugegenden, also auch bei den
Baiern"11). Nach demselben war es nämlich mit der Politik
der fränkischen Könige unvereinbar, dass bischöfliche Sitze
des Reiches zu einer ausländischen Metropole eignen, die
norischen also zu Aquileia und damit zum oströmischen
Kaiserreiche. Es galt darum, diese Verbindung der nori-
schen Bisthümer mit Aquileia zu zerreissen und dafür eine
andere mit dem fränkischen Kirchenverbande herzustellen,
und die nämliche Synode berichtet uns auch, wie dieses
Ziel erreicht wurde : fränkische Bischöfe hätten im Erledigungs-
falle durch den Tod eines norischen Bischofs einfach die
Jurisdiction von Aquileia durch Usurpation an sich gerissen
und neue (fränkische) Bischöfe eingesetzt. Dies war nun
nach demselben Schreiben gerade unter Theodebert I (c. 540)
mit Augusta, Tiburnia und Pettau der Fall gewesen, also
gerade zur Zeit, als dieser König an Kaiser Justinian über
die Ausdehnung seines Reiches und damit den „Fortschritt
der Katholiken" geschrieben hatte. So hatte er aber sein
ganzes Reich mit einem Netze bischöflicher, mit Franken
besetzter, oder doch wenigstens von ihnen abhängiger Sitze
umspannt , und erkennen wir daraus zugleich , dass die
Christianisirung der neu unterworfenen Völker gleich an-
fänglich von den fränkischen Königen nicht blos ins Auge
gefasst, sondern auch planraässig ins Werk gesetzt wurde,
wenn sie auch nur langsamen Schritts vorwärts gegangen
sein mag.
Ob und wie lange sich diese Bischöfe auf den norischen
Bisthümern erhielten, welche Veränderungen etwa unter ihnen
11) Waitz, a.a.O. S. 135. Ebenso sagt Watt enb ach, Heidelb.
Jahrb. 1870, S. 24: „Das bairische Volksrecht sowohl wie das Ver-
hältniss des Landes zu den Merovingern, lassen an einer früheren
Einführung des Christenthums kaum einen Zweifel zu; s. darüber
G. Waitz in den Nachr. von der Gott. Ges. d. Wiss. 1869. N 8".
[1874, 3. Phil. hist. CL] 24
$56 Sitzung der kistor. Classe vom 7. März 1874.
vorgingen, kann freilich nicht mehr eruirt werden; allein
ich meine doch nicht zu irren, wenn ich aus dem Schreiben
der Synode von Aquileia folgern zu dürfen glaube, dass 591
diese Kirchen noch bestanden und von fränkischen Bischöfen
besetzt gehalten wurden; denn offenbar ist nicht von
einem einmaligen, sondern öfter wiederholten Vorkommnisse
die Rede, sowie nur davon, dass durch die Vermittlung
des Kaisers Justinian nicht auch alle anderen bischöflichen
Kirchen der Metropole von Aquileia von den fränkischen
Bischöfen an sich gerissen wurden. Noch mehr bestärkt
mich aber in meiner Annahme, dass die Synode diese Ge-
fahr als noch immer vorhanden bezeichnet.
Um 560 ist aber das Christenthum am baierischen
Herzogshofe selbst eingebürgert; denn das Verhältniss der
longobardischen Königin Theodelinde und ihrer Mutter
Walrade, der Wittwe des Königs Theodobald, zu dem
baierischen Herzog Garibald darf wohl weder mit Rettberg
mehr für eine „Ammengeschichte"12), noch mit Blumberger
blos für eine Vermuthung der baierischen Historiker ohne
hinreichenden Grund erklärt werden13). Büdinger hat auch
die Behauptung widerlegt, dass Walrade nicht die Gemahlin
des Garibald von Baiern, sondern eines anderen gleichen
Namens gewesen sei; gegen Büdinger selbst14) hielt aber
Waitz gewiss mit Recht fest , dass Theodelinde nicht blos
die Stieftochter Garibalds, sondern dessen leibliche Tochter
gewesen sei15). Ich sehe freilich ein, dass damit noch kein
12) Rettberg, Kirchengesch. Deutschi. II, 179 ff.
13) Blumberger, Arch. f. österr. Gesch.-Quell. XVI, 355 ff.
und früher in den Wiener Jahrb. 74, 169 ff. P. Roth, Ueber die
Entstehung der lex Bai.
14) Büdinger, Zur Kritik altbai. Gesch. in d. Sitzungsb. der
k. k. Akad. in Wien, 1857. Bd. 23 und Oest. Geschichte I, 78 f.
15) Waitz, a. a. 0. S. 137 ff. Vgl. ders. i. d. Gott. gel. An-
zeigen 1850. S. 342 f. Hille, Prosperi continuator p. 35. Pertz,
Archiv X, 380 f. Das Edikt des K.Rotharis bei Pertz, leges IV, 645.
Friedrich: Leon Baiuwariorum. 3&f
direkter Beweis dafür gegeben ist, dass Garibald selbst
Christ war16); allein wenn seine ganze Familie katholisch
war, ist wohl bei ihm das gleiche religiöse Bekenntniss vor-
auszusetzen, sowie ich Waitz beistimmen muss, wenn er sagt:
„An sich schon muss es wenig glaublich erscheinen, dass
die Wittwe eines Fränkischen Königs im 6. Jahrhundert,
die nach Gregors von Tours Bericht zuerst der Nachfolger
Theudebalds Chlothachar für sich genommen, dann nach dem
Willen der Bischöfe, weil sie seine Schwägerin, aufgegeben,
und dem Bairischen Herzog vermählt hatte, einem Heiden
gegeben, dass überhaupt auch nur in dieser Zeit ein Heide
als Herzog im fränkischen Reich geduldet wäre". Immerhin
würde jedoch die Thatsache feststehen , dass Walrade in
Baiern als Christin leben und Theodelinde als solche er-
zogen werden konnte. Und dass das Geschlecht Garibalds
katholisch blieb, scheint mir auch ein gleichzeitiger Hymnus
auf Theodelindens Neffen, den langobardischen König Aripert
(652 — 661), in Oltrocchi's Ecclesiae Mediolan. historia
ligustica zu verbürgen. Nach ihm stammt Aripert nicht
nur aus Baiern, sondern war offenbar dort auch als Katholik
erzogen worden. Gleich seiner Tante rottete er den Arianis-
mus aus und arbeitete er für die Ausbreitung des Katholi-
cismus. (Sublimes ortus in finibus europe langibardorum
regale prosapia rex haribertus pius et catholicus Arrianorum
abolevit haeresem, et christianam fidem fecit crescere17).
Selbstverständlich braucht noch an keine vollständige
Christianisirung Baierns gedacht zu werden. Auch bei den
Franken schritt sie trotz der unverhältnissmässig günstigeren
Umstände nur langsam voran, und Gleiches ist auch in Ala-
mannien zu beobachten. Die von Jonas von Bobio und dem
16) Büdinger, a. a. 0.
17) Oltrocchi, Ecclesiae Mediolan. hist. Ligustica, 1795.
II, 536 sq.
24*
358 Sitzung der histor. Classe vom 7. März 1874.
Biographen der hl. Salaberga18) erwähnte Missionsreise
des hl. Eustasius von Luxeuil nach Baiern kann darum
noch immer stattgefunden haben. Die von Blumberger da-
gegen vorgebrachte Einwendung19) hat schon Büdinger nicht
weiter betont, und was er selbst geltend machte20), weist
Waitz mit den Worten ab : „Auch seine (Büdingers) Deut-
ung der Nachricht des Jonas über die Thätigkeit des Eusta-
sius bei den Boji, qui nunc Bavocarii vocantur, auf Bojer
in Gallien kann ich nicht für berechtigt halten21)'4. Die
Identificirung der Bavokarier oder Baikarier mit den Bojern
ist überhaupt nur eine von jenen häufigen gelehrten, aber
fast eben so häufig falschen Combinationen der Legendisten :
sie hatten nämlich ohne Zweifel von Baikariern zu sprechen,
und die Bojer sind lediglich ihre eigene Zuthat. Anders-
wo ein Volk des Namens Baicarii aufzufinden ist aber un-
möglich, während diese Form des Namens in der vita s.
Salabergae nur auf die Bajuwaren gehen kann: sie ist eine
identische Form mit Peigira, wie nachZeuss und Weinhold12)
gegenüber der „alten, vollen, feierlichen, in den Urkun-
den gebrauchten Form des Namens" Baiovarii „im Volke
seine Benennung bloss durch die Ableitung — ari, — iri aus
Baia gebildet" wurde. Und auch in Baiern scheint schon
frühzeitig diese Auffassung geherrscht zu haben , da ein
Freisinger Kalendar das 10. Jahrhunderts den hl. Eustasius
am 2. April — verschieden von anderen Kaiendarien —
feiert").
18) Vita s. Eustasii autore Jona Bob. bei Mabill. Acta II,
117 sq. Vita s. Salabergae 1. c. p. 423. Vita s. Agili 1. c. p. 319.
19) Blumberger, Archiv X, 357 ff.
20) Büdinger, Sitzgsber. 23, 372 ff.
21) Waitz, Nachrichten 1869. S. 136. not. 2. Auch Zeuss,
a. a. 0. S. 379 f. fasst diese Stellen so auf.
22) Zeuss, a. a. 0. S. 367. nota. Wein hold, Bair. Grammatik,
1867. S. 1. not. 2. Bei Merkel, lex Bai. (leg. III, 183) finden sich
ebenfalls Formen, wie bacuarii, paeuarii, bagoarii, baguarii.
23) Cod. lat. Monac. 6421 (Fris. 211).
Friedrich: Lex Baiuwariorum. 359
Diese Missionsreise des Eustasius würde etwa in das
2. Jahrzehent des 7. Jahrhunderts fallen. Von da an scheint
aber Baiern nicht mehr als Missionsland betrachtet worden
zu sein; denn c. 630, wird uns berichtet, war solches nur
noch jenseits der baierischen Gränzen. Dorthin zog es da-
mals den hl. Amandus von Mastlicht. Wir sehen diesen
Heiligen die grössten Kreuz- und Querfahrten machen; wo
er hört, dass noch ein unbekehrtes Volk sitzt, dahin eilt
er, um mindestens einen Versuch der Bekehrung zu machen.
So vernimmt er c. 630, dass die Slaven jenseits der Donau
den Namen Christi noch nicht kennen. Sofort macht er
sich zu ihnen auf den Weg, überschreitet die Donau und
durchwandert ihre Wohnsitze, erntet aber nur geringe Früchte,
so dass er zu seinen eigenen Schafen zurückkehrt24). Es
ist kein Zweifel und auch Büdinger25) gesteht es zu, dass
er ,, durch Baiern gegangen" sei. Wenn aber Büdinger
hinzufügt, dass „dies die einzige erhaltene Notiz über An-
wesenheit eines Bekehrers bei den Baiern vor dem Ende
des (7.) Jahrhunderts" sei, so muss ich dagegen doch be-
merken, dass in der gleichzeitigen Biographie mit keiner
Silbe gesagt sei, dass sich Amandus in Baiern aufgehalten
oder auch nur Gelegenheit und Boden für eine Missions-
thätigkeit gefunden habe, sondern mit aller Bestimmtheit
angegeben werde, dass erst jenseits der baierischen Gränzen
Missionsland sich gefunden habe.
Dazu stimmt auch, dass Titel IX. der lex Baiuwariorum
welcher der ,, zweiten Redaction" unter K. Dagobert ange-
hören soll, schon die Kirchen als öffentliche Gebäude neben
dem Hofe des Herzogs, der Schmiede und Mühle nennt.
Endlich muss ich noch auf das Bild hinweisen, welches
einige Urkunden, die in den Monumenta Boica unter denen
24) Vita s. Amandi bei Mabill. Acta II, 175.
25) Büdinger, Oesterr. Gesch, I, 82 f.
360 Sitzung der histor. Casse vom 7. März 1874.
des Bisthums Passau veröffentlicht wurden16), für das 7.
Jahrhundert vor unseren Augen entrollen : Eine vollständige
geistliche Hierarchie, Kirchen mit Besitz über weite Strecken
des Landes hinweg, ebenso auf dem Lande begüterte Priester
sind die sichersten Zeichen festbegründeter kirchlicher Zu-
stände. Nach den erwähnten Urkunden schenken zwei Priester,
Reginolf und Sigirich, und eine Koza an verschiedenen Orten
des Traungaues Besitzungen an die Kirche S. Stephan in
Passau. Dabei ist nur eine Schwierigkeit zu überwinden.
Während nämlich die Herausgeber der Monumenta boica
die Zeit der Schenkungen zwischen 600 — 639 ansetzen und
selbst Rettberg meint, dass auf Grund der hieher gehörigen
Urkunden eine Bischofsreihe für Passau, resp. noch Lorch,
höher hinauf bis zu jenem Constantin im 5. Jahrhundert
anzunehmen sei17), werden diese Urkunden entweder ganz
übergangen, oder, wie von Dümmler, erst um 700 ange-
setzt28). Da die Urkunden kein Datum tragen, die Zeit der
darin genannten Bischöfe Erchanfried und Otakar nicht
näher bekannt ist, so sind diese Schwankungen allerdings
erklärlich. Mag man jedoch auf den Umstand kein weiteres
Gewicht legen, dass beide Bischöfe in den Quellen dos 8.
Jahrhunderts, namentlich in dem Verbrüderungsbuche von
St. Peter in Salzburg, nicht genannt werden und deshalb
wohl einer früheren Zeit angehören , so genügt selbst die
Annahme Dümmlers, um eine Bischofsreise in Baiern für
das 7. Jahrhundert festzustellen. Ich setze Otakar c. 700
an, denn ein späteres Datum kann meines Erachtens in keiner
Weise gerechtfertigt werden. Da nun dieser der Nachfolger
Erchanfrieds war, letzterer aber ausdrücklich „Vorgänger'*
(anteriorum episcoporum temporibus), also mindestens zwei
Bischöfe als Vorfahren hatte, so stehen wir nach der auch
26) Monum. boica 28. 2. p. 35. 40. 63.
27) Rettberg, KG. II, 246.
28) Dümmler, Piligrim v. Passau, S. 3.
Friedrich: Lex Baiuwariorum. 361
von Rettberg angenommenen Durchschnittsrechnung von 20
Jahren für je einen Bischof ungefähr bei dem Jahre 620,
also in der Zeit Chlothars oder spätestens Dagoberts I.
Nehmen wir all diese Punkte, welche die Kritik voll-
ständig bestanden haben , zusammen , so muss man nicht
nur gestehen, dass z. B. für Alamannien, dessen Lex auch
in ihren kirchlichen Bestimmungen als unter K. Chlotar ge-
geben nicht bestritten wird, kaum mehr Zeugnisse für seinen
christlichen Charakter vorhanden sind, sondern auch zu-
geben, dass die Zeit Dagoberts I ganz geeignet erscheint,
um an die Spitze der Lex Bai. Tit. I. u. II zu setzen.
Ich glaube jedoch gerade aus Tit. I. 10 einen Grund
ableiten zu können , dass wenigstens diese Bestimmung nur
aus der Zeit Chlotars II. oder Dagoberts I. stammen könne.
Vor Allem ist es sehr beachtenswerth, dass I. 10 sich selbst
als ein besonderes „Edikt" einführt und in ihm auffallender
Weise die Worte des Edikts Chlotars II. von 614 nach der
Generalsynode von Paris in demselben Jahre, auf den Bischof
angewendet, wiederkehren89), worin hier wie dort das Ver-
fahren wegen Kriminalvergehen festgestellt wird, so dass sich
der materielle wie formelle Purallelismus gar nicht verkennen
lässt: Decret. v. 614, n. 4: Ut nullus judicum de quolibet
ordine clericos de civilibus causis, praeter criminalia negotia,
per se distringere aut damnare praesumat, nisi con-
v i n c i t u r manifestum, excepto presbytero aut diacono. Q u i
vero convicti fuerint de crimine capitali, juxta ca-
nones distring intur . . . Leg. tit. I. 10: . . . Et si Epis-
copus contra aliquem culpabilis apparet, non praesumat
eum occidere, quia summus pontifex est: sed mallet eum . . .;
et si convictus crimine negare non possit, tuncsecun-
dum canones ei judicetur ... In keinem Concilscanon,
welcher über den gleichen Gegenstand handelt, wie der
29) Pertz, leges III, 274 u. I, 14.
362 Sitzung der histor. Casse vom 7. März 1874.
can. 7 der I. Synode von Macon und der 6. der General-
synode von Paris30), ist aber dieser materielle und formelle
Parallelismus vorhanden. Es lässt sich darum eine gewisse
Verwandtschaft zwischen dem Ghlothar'schen Decrete and
der Lex Baiuwariorum Tit. I. 10 nicht verkennen.
Aber auch schon im Eingange dieses Abschnittes des
I. Titels begegnet eine Bestimmung, welche sich meines
Wissens nur noch in dem angeführten Decrete Chlotars II.
findet31). Die lex spricht nämlich dort davon, dass „der
Bischof entweder vom Könige oder Volke gewählt'4 werde,
während das Chlotar'sche Decret §1. neben der kanonischen
Wahl eines Bischofes auch noch eine solche durch den
König festsetzt (si de palatio eligitur). Der Text der Lex
heisst: Si quis episcopum, quem constituit rex vel populus
elegit sibi pontificem . . ., und ich will nur die Bemerkung
machen, dass hier unmöglich, wie sich ja schon aus dem
Texte selbst ergibt, vel mit et identisch genommen werden
könne, was Klocker in seinen antiquitates eccles. ex legibus
Bajuvar. select. p. 46 f. thut. Ausserdem spricht auch da-
gegen, dass in dem nämlichen Abschnitte wohl vel für aut
und umgekehrt steht, nie aber statt et. Endlich geht der
Sinn auch aus der Stelle über den Herzog Tit. II. 1 her-
vor: Si quis contra ducem suum, quem rex ordinavit in
provincia illa, aut populus sibi elegerit ducem . . .
Nichts wurde von den Bischöfen des Frankenreichs
strenger gehütet, als die kanonische Bischofswahl. Fast keine
Synode wurde gehalten, ohne dass von ihr neue Bestimm-
ungen zu ihrem Schirme getroffen wurden; nie aber ge-
statteten sie dem Könige ein reines Ernennungsrecht. Was
sie ihm zugestanden, war nur ein königliches Gutachten und
Zustimmung zur canonisch vorgenommenen Wahl, praeceptum
30) Meine Drei unedirte Concilien.
31) vel certe, si de palatio eligitur per meritum personae et
doctrinae ordinetur.
Friedrich: Lex Baiuwariorum. 363
oder auch praeceptio genannt. Um so überraschender musste
es für den Episcopat sein, als plötzlich 614 von Chlothar
ein bisher stets gerügtes Verfahren Seitens der Krone gesetz-
lich anerkannt werden sollte. Und wenn wir auch keine
Nachrichten über Verhandlungen, welche darüber geführt
worden wären, haben, die Generalsynoden von Rheims 625
und Clichy 626 beweisen hinreichend32), dass die Bischöfe
diese Bestimmung Chlotars nicht anerkannten und schliesslich
auch der König nachgab.
Leider besitzen wir von den Bestimmungen der Synode
von Rheims 625 keinen genauen Text. Der Verlust ist
jedoch nicht so gross, da die Canones der Synode von
Clichy 626 wesentlich die nämlichen sind. An dieser ist
insbesondere die Vorrede neu, und erfahren wir aus der-
selben, dass Chlothar, wie schon 614 zu Paris, so 625 zu
Rheims sämmtlicbe Bischöfe des Frankenreichs in seiner
Gegenwart zusammentreten Hess, um eine Kirchenconstitution
auf Grund der alten Canones abzufassen. Dieselbe wurde
denn auch in der ihr von den Bischöfen gegebenen Form
auf königlichen Befehl veröffentlicht. Was aber die General-
synode am meisten mit Freude erfülle und zu Dank ver-
pflichte , sei der Umstand, dass die Constitution auch in
Allem gehalten werde33). Gerade die Generalsynode von
Rheims hatte aber die canonische Bischofswahl allein wieder
festgehalten und jede andere Form der Bischofsernennung
verpönt, geradeso wie auch die Synode von Clichy. Wenn
32) Drei unedirte Concilien S. 9. 66.
33) Ergo quando nobis vestrae bonitatis gratia fiduciam con-
tulit suggerendi supplices speramus , ut eam constitutionis regulam
nobis per omnia conservetis, quam Parisius ac Remus vobis praesen-
tibus in universali Galliarum et magna synodo juxta canonum in-
stitutionem constitui praecepistis. Est nobis valde gratissimum, ut
ea quae vestro sunt imperio generaliter promulgata atque tantis
öacerdotibus sunt edita vel digesta, in omnibus conserventur . . ,
364 Sitzung der histor. Classe vom 7. März 1874.
aber gleichwohl beide Synoden nebenbei in je 2 Canones
das Edikt Chlotars von 614 aufs nachdrücklichste einschärfen,
ausserdem aber weder die Bestimmungen des Edikts noch
der Synode von Paris, mit Ausnahme des Canons über die
Bischofswahl , berühren , so scheint mir daraus zu folgen,
dass Chlotar selbst auf der Generalsynode von Rheims seine
Bestimmung, dass neben der canonischen Bischofswahl auch
eine blos königliche Ernennung stattfinden könne , abrogirt
habe.
Daraus folgt aber dann weiter, dass die Bestimmung
über die Bischofbestellung in Tit. I. 10 der Lex Bai. nur
aus der Zeit Chlotars und zwar zwischen 614— 625 stammen
könne, sei es nun, dass er selbst, da er nur 613—22
über Baiern herrschte, ihn für die Baiern als gesetzliche
Bestimmung gab, sei es, dass sein Sohn Dagobert I. den-
selben herübernahm.
Dies entspricht aber auch der Sachlage in der Folge-
zeit ; denn nirgends begegnen wir weiter dieser Bestimmung.
So z. B. haben sie nicht die Synode von Chalons an der
Saone unter Chlodwig II. c. 650 34), von Latour unter Chil-
derich IL35). Später finden wir, wenn auch wie vor Chlotars
Decret eigenmächtige Ernennungen vorkamen, doch nur die
Anordnungen von Rheims und Clichy als zu Recht bestehend.
Die Könige selbst beanspruchen kein anderes Recht, als die
Bestätigung der vorhergehenden canonischen Wahl, ja sie
veranlassen dieselbe sogar öfter direkt, wie solche Beispiele
Thomassin zusammengestellt hat86).
Eine andere Gattung von Quellen bilden die Formel-
bücher, zunächst die Marculfischen Formeln, in Bezug auf
welche sich Rettberg täuschen liess, so dass er meinte, auch
sie „kennen nur die Anstellung der Bischöfe aus der Gewalt
34) M ans i X, 1191. can. 10.
35) Maassen, Zwei Synoden unter K. Childerich II. S. 21. c. 5.
36) Thomassin, discipl, eccl. II. 2. c. 14. nr. 6. 8.
Friedrich: Lex Baiuwariorum. 365
des Königs, wiewohl derselbe sich dabei des Beiraths seiner
Grossen und Bischöfe bedient und auf Wünsche und Bei-
stimmung des Klerus und Volks Rücksicht nimmt''37). Rett-
berg bezieht sich aber dabei nur auf das praeceptum pro
episcopatu und den Indiculus regis ad Episcopum ut alium
benedicat, und übersieht den beiden vorausgehenden von
dem Wahlkörper auszufertigenden und einzusendenden Con-
sensus (auch decretum genannt). Mit der sonstigen, genau
aus erhaltenen Decreten, Präceptum und Indiculus nachweis-
baren Praxis stimmt Rettbergs Ansicht nicht überein.
Speziell aber in Baiern ist eine königliche Ernennung
der Bischöfe nicht nachzuweisen, was auch Merkel in seiner
Ausgabe der Lex (III, 382. note 18) im Gegensatze zu der
Bestimmung der Lex hervorhebt; nur ist damit keineswegs
bewiesen, dass das königliche Ernennungsrecht nicht zu Recht
bestanden hätte : beide Arten der Wahl bestanden ursprüng-
lich nach der Lex neben einander. Allein zwei Nachrichten
verbürgen, dass auch in Baiern auf die kgl. Ernennung ver-
zichtet war. Als nämlich Pipin den B. Virgilius ins Land
sandte, geschah es nicht, weil dem Könige des Franken -
reiches ein ausschliessliches Ernennungsrecht zur Seite ge-
standen hätte, sondern nur empfehlungsweise, und musste
daher Virgil, wie es Alkuin selbst bezeugt, erst die An-
erkennung des Otilo erlangen , ehe er den Stuhl von Salz-
burg in Besitz nehmen konnte38). Nicht lange nachher —
es war unter den Söhnen Pipins — finden wir zum ersten
Male wieder eine auf den fränkischen König lautende Be-
stimmung. In dem Formelbuch des Erzbischofes Arn von
Salzburg39) ist nämlich auch eine Formel für das königliche
37) Rettberg, KG. II, 605 f.
38) Pertz, leg. III, 382. d. 16. Rettberg, II, 233.
39) Rockinger, Drei Formelbücher aus der Zeit der Karo-
linger, in Quell, z. bay. u. deutsch. Gesch. VII, 102 f. Dass diese
Formel nach Marculf abgefasst ist, ergibt sich schon daraus, weil sie
366 Sitzung der histor. Classe vom 7. März 1874.
Präceptum enthalten, die ausdrücklich die canonische Wahl
voraussetzt. Da nun aber Formelbücher zumeist aus dem
Urkundenvorrath des betreffenden geistlichen Instituts und
der Gegend zusammengestellt wurden , so haben wir hier
eine rein baierische Quelle , welche uns die canonische Wahl
für Baiern garantirt und dem Könige nur die Ausfertigung
eines Präceptums zuspricht, also auch beweist, dass die Be-
stimmung der Lex über eine rein königliche Ernennung im
8. Jahrhundert nicht mehr in Geltung war. Damit gehen
jedoch auch die von Merkel zusammengestellten historischen
Nachrichten Hand in Hand, indem wir nur Bestätigungen,
nicht Ernennungen der Bischöfe durch die Könige finden40).
sich bei ihm nicht findet; dass sie nur unter den ersten karolingi-
schen Königen, und zwar erst unter Pipins d. Kl. Söhnen abgefasst
sein kann, aus dem ihnen charakteristischen ,,gratia dei rex", Sickel,
Beiträge z. Diplomatik III, 9 ff.
40) Pertz, 1. c.
Einsendungen von Druckschriften. 367
Verzeichniss der eingelaufenen Büchergeschenke,
Von der k. Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen:
Das Buch der Jubiläen oder die kleine Genesis herausgegeben von
Hermann Rons eh. Leipzig 1874. 8.
Von der ungarischen Akademie der Wissenschaften in Pesth:
Evkönyvei. Bd. XIV. 1873. 4.
Vom historischen Verein für Oberfranken zu Bamberg:
a) 35. Bericht. Jahrg. 1872. 8.
b) Bericht über das bisherige Bestehen und Wirken des histori-
schen Vereins des Ober-Main-Kreises in Bamberg vorgelesen
am 19. Febr. 1834. 2. Auflage. 1873. 8.
Von der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde in Salzburg:
Mittheilungen. XJII. Vereinsjahr. 1873.
Von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin:
Monatsbericht. 1874. 8.
Vom historischen Filial-Verein in Neuburg:
Collektaneen-Blatt für die Geschichte Bayerns. Jahrg. 37. 1873. 8.
368 Einsendungen von Druckschriften.
Von der kaisert Akademie in Wien:
a) Denkschriften. Philosophisch-historische Classe. 22. Bd. 1883. 4.
b) Sitzungsberichte. Philos.-histor. Classe. LXXIV. Bd. 1673. 8.
c) Archiv für österreichische Geschichte. 51. Bd. 1873. 8.
Von der schlesischen Gesellschaft für die vaterländische Cultur
in Breslau:
a) 50. Jahresbericht im Jahre 1872. 8.
b) Abhandlungen. Philosophisch-historische Classe 1872/73. 8.
Von der böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag:
Sitzungsberichte. 1874. 8.
Von der Redaktion des Correspondenz-Blattes für die gelehrten und
Realschulen Württembergs in Stuttgart:
Correspondenzblatt 1874. 8.
Von der südslavischen Akademie der Wissenschaften in Agram:
a) Rad Bd. 25. 1873. 8.
b) Rad. Bd. 26. 1874. 8.
c) Starine. Bd. V. 1873. 8.
Von der Societe des etudes historiques in Paris:
L'Investigateur. 1874. 8.
Von der neurussischen Universität in Odessa:
Sapiski. Tom. I— XI. 1867-73. 8.
Von der Societe protectrice des animaux in Paris:
Bulletin. 1874. 8.
Von der k. Gesellschaft der Wissenschaften zu Gothemburg:
Göteborgs konigl. vetenskaps och vitterhets samhälles handlingar.
Ny Tidsföljd. Haftet 12. 1873. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 369
Von der Genootschap van Künsten en Wetenschappen zu Batavia:
a) Tijdschrift voor Indische Taal-, Land- en Volkenkunde. VII
Serie Del. I. 1872—73. 8.
b) Notulen van de Algemeene en Bestuurs-Vergaderingen. Del. XI.
1873. 8.
c) Alphabetische Lijst van Land-, Zee-, Rivier-, Wind-, Storm- en
andere Kaarten. 1873. 8.
Vom New York State Library in Albany:
a) Catalogue of the New York State Library, 1872. Subject-Index
of the General Library. 1872. 8.
b) 54th. and 55 th. Annual Report of the Trustees of the New York
State Library. 1872—73. 8.
Vom Board of Education in Boston:
36 ih. Annual Report 1873. 8.
Vom Board of State Charities of Massachusetts in Boston :
9th. Annual Report. 1873. 8.
Vom Board of Public of the first School District of Pennsylvania in
Philadelphia:
54th. Annual Report, for 1872. 8.
Vom Peabody Museum of American Archaeology and Ethnology
in Cambridge:
5th. and 6th. Annual Report, preaented May 1872 and May 1873 8.
Vom Harvard College in Cambridge:
47 th. Annual Report 1871—72. 8.
Von der Reale Accademia delle Scienze in Turin:
Memorie. Serie II. Tomo XXVII. 1873. 4.
370 Einsendungen von Druckschriften,
Vom Ateneo Veneto in Venedig:
Atti. Serie IL Vol. IX— XL 1872—1874. 8.
Von der Academie des Sciences, Belles-Lettres et Arts in Eouen:
Precis analytique des travaux. Pendant l'annee 1871/72. 8.
Von der Academie de Stanislas in Nancy:
Memoires 1873. 123. annee. 4. Serie. Tome V. 1873. 8.
Vom Geschichts- und Alterthumsverein in Leisnig:
Mittheilungen. 1874. 8.
Vom historischen Verein von Oberpfalz und Begensburg in
Begensburg :
Verhandlungen. 29. Bd. 1874. 8.
Vom historischen Verein für Steiermark in Graz:
a) Mittheilungen. 21. Heft. 1873. 8.
b) Uebersicht aller in den Schriften des historischen Vereins für
Steiermark bisher veröffentlichten Aufsätze. 1873. 8.
c) Beiträge zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen. 10. Jahrg.
1873. 8.
Vom Verein für Kunst und Alterthum in Ulm und Oberschwaben
in Ulm:
a) Verhandlungen. Neue Reihe. 6. Heft. 1874. 4.
b) Ulmisches Urkundenbuch. Von Dr. Friedr. Pres sei. 1. Bd.
Die Stadtgemeinde; von 854—1314. Stuttgart 1873. 4.
Von der Commissione Archeologica Municipäle in Born:
Bulletino. Novembre— Decembre 1873. 8.
Von der Universität in Leyden:
Annales Academici 1868/1869. 1869/1870. 4.
Von der Asiatic Society of Bengal in Calcutta :
a) Proceedings 1873. 8.
b) Journal. Part I— IL 1873. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 371
Von der Academia das Sciencias in Lissabon:
Kevista de Portugal e Brazil. 2. Vol. 1874. 8
Von der Sociedad Antropologica Espanola in Madrid:
Hevista. Ouaderno 4. 1874. 8.
Von der Royal Asiatic Society North-China Branch in Shanghai:
a) Journal for 1871 und 1872 New Series No. VII. 1873. 8.
b) Catalogue of the library. By Henry Cordier. 187*2. 8.
Vom Herrn Alfred von Beumont in Bonn:
Lorenzo di Medici. I. II. Band. Leipzig 1874. 8.
Vom Herrn Gar ein de Tassy in Paris:
La langue et la litterature hindoustanies en 1873. 8.
Vom Herrn Philippe Margaritis in Athen:
Catalogue de la collection de medailles grecques, romaines et
byzantines de Philippe Margaritis d' Athenes. Paris 1874. 8.
Vom Herrn W. Wright in Cambridge:
Fragments of the Homilies of Cyril of Alexandria in syr. 4.
Vom Herrn Carlo Valenziani in Born:
Kau-kau wau-rai ossia la via della pietä filiale, testo giapponesc
tradotto in italiano. 1873. 8-
Vom Herrn J. de Witte in Paris:
Histoire de la monnaie romaine par Theodore Mommsen, traduite
de l'allemand. Tom. 3. 1873. 8.
Vom Herrn Charles Schöbel in Paris:
Le Buddhisme ses origines. Le nirvana aecord de la morale avec
le nirvana. 1874. 8.
[1874, 3. Phil. hist. Cl.] 25
372 Einsendungen von Druckschriften.
Vom Herrn J. G. Wetzstein in Berlin:
Vier Excurse zu Delitzschs Psalm en-Commentar. 1874. 8.
Vom Herrn Leopold Beckh-Widmannstetter in Graz:
Ulrichs von Liechtenstein des Minnesängers Grabmal der Frauen-
burg. 1871. 8.
Vom Herrn W. Schlötel in Stuttgart:
Die Berliner Akademie und die Wissenschaft. Prüfung logischer
Untersuchungen. Heidelberg 1874. 8.
Vom Herrn John Muir in Edinburg :
Original Sanskrit Texts on the origin and history of the people of
India, their religion and institutions. Vol. I — V. London. 1872.
I. «Innenseite.
Zu Fr. OMenscklagers ,Mkdl. Das K&autujyer JKiZitxtird£Plo,
72.
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Sitzungsberichte dr.k.fr. ikcuLdM i8TU*.L$.
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Sitzungsberichte
der
philosophisch -philologischen und
historischen Classe
der
k. b. Akademie der Wissenschaften
zu München.
1874. Heft IV.
München.
Akademische Buchdruckerei von F. Straub.
1874.
In Commis8ion bei G. Franz.
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Historische Classe.
Sitzung vom 2. Mai 1874.
Herr Jos. Würdinger trägt vor:
„Friedrich von Lochen, Landeshaupt-
mann in der Mark Brandenburg."
Der schilt in planchweis waz getailt1)
Von zobel und von mirgriesse vein
Auch fürt er auf dem Helm sein
Ein Swann hals von perlein chlar
Ueber den hals so waz ein rant
Nach zobel var gestekchet
Dez swannen äugen gaben schein
In rechter röt als zwen rubein,
Die plikchten gen der veinde schar;
Der snabel was von golde chlar.
Die wappen fürt der werde
Die weil er lebt auf erde
Den hat geletzet nu der tod
Die wappen sind in maniger not
Durich hawen und durich stochen
„Her Friedreich von Lochen.
Hai sein chrei und auch sein nam
Dez lob war nie an ern lam.
1) „Ein weiss und schwarz gespaltener Schild, als Helmzier ein
Schwanenhals, auf dessen Rand drei schwarze Büschel mit Hahnen-
federn angebracht sind. Des Schwanen Augen sind Eubinen, der
Schnabel von Gold," beschreibt das erneuerte und vermehrte Wappen-
buch VI Tafel 92 das Wappen der schwäbischen Ritter von Lochen.
[1874. 4. phil.-hist. Cl.] 26
374 Sitzung der histor. Glosse vom 2. Mai 1874.
Nu gnad im got durich sein gut!
Daz er die sei dort behüt
Daz hat er hie verschuldet wol
Sein herz war aller tugende voll."
So singt der österreichische Ehrenholt Peter Suchenwirt2)
von einem Helden, der seinem Wappen nach einer adelichen
Familie angehört, welche im Mittelalter auf der am Fusse
des Pfändergebirges unweit (Loch au) Bregenz gelegenen,
von dem Städtevolk am 8. December 1452 zugleich mit der
Ruggburg zerstörten Veste „Altenlochen" sass, und von der
mehrere Mitglieder zu den Lindauer3) Geschlechtern zählten.
Südlich von dem ehemaligen Kloster Höfen, im Amte
Bregenz, erheben sich auf einer Terrasse des Pfändergebirges,
von dem Berge selbst durch einen tiefen Graben getrennt,
die Trümmer einer altersgrauen Veste, die im Volksmunde
den Namen ,, Alten Hofen(' trägt. Betrachten wir ihre Lage
im Zusammenhange mit der etwas östlicher gelegenen Rugg-
burg, so möchte in ältester Zeit der Zweck beider gewesen
sein die zwischen ihnen gegen den Pfänder aufsteigende Rugg-
steige zu schützen, und es wäre keine Unmöglichkeit, dass
die bisher vergebens gesuchte Verbindung zwischen dem alten
Brigantium und der von Friedrichshafen nach Isny führen-
den Römerstrasse an der nördlichen Abdachung des Berges
hingeführt habe ; gehören ja selbst manche der auf der
Höhe liegenden Orte urkundlich zu den ältesten der Gegend,
und die Lage wie der Bau der beiden Burgen widerspricht
der Hypothese gewiss nicht, unterstützt wird sie noch durch
den Grundsatz der Römer, bei in der Tiefe nassem Grunde,
2) Peter Suchenwirt wirkte von der Mitte bis zum Ende des
14. Jahrhunderts und fertigte eine Reihe geschichtlich biographischer
Darstellungen, sowie Lehrgedichte im Gewände der Allegorie. Seine
Werke wurden von Alois Primisser im Jahre 1827 in Wien heraus-
gegeben, und bildet das Gedicht von Friedrich von Lochen das
VII. Stück der Sammlung. 3) Würdinger Urkundenauszüge der
Stadt Lindau p. 31 und Anmerkung 7 c. 1.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 375
und überhaupt, wo es möglich war, mit ihren Strassen auf
der Höhe zu bleiben.
Wie der wahre Name der Burg verschollen ist, so auch
die Erinnerung an das Geschlecht, das auf ihr hauste, an
seine Herkunft, wie seinen Abgang, sein Wirken und sein
Schaffen, und doch zählt die Familie einen Namen in ihren
Reihen, der durch die hohen Stellungen, die er sich durch
Tapferkeit und Thätigkeit in Dänemark und der fernen Mark
Brandenburg erworben und unter den heftigsten Wirren fest-
gehalten hat, durch seine grossartigen Besitzungen, die ihm
seine Dienste eintrugen, durch das Lob, das ihm des Sän-
gers Mund unter den Besten seiner Zeit ertheilte, des Ge-
dächtnisses der Nachwelt werth ist, den des Friedrich von
Lochen, des Marschalles in Dänemark, dann obersten Landes-
hauptmannes unter den wittelsbachischen Herrschern in den
Marken. Doch nicht nur als Geschichte Eines Mannes son-
dern auch als ein Bild seiner Zeit, als ein Beitrag zum Ver-
ständnisse des nicht blos auf romantischem Boden sich be-
wegenden, sondern auch nach reellem Erwerbe strebenden
Kitterwesens ist eine Darstellung des Lebens Lochen's von
Bedeutung.
Der für den Kriegsdienst bestimmte adelige Knabe wurde
in der Regel im siebenten Jahre dem väterlichen Hause oder
wenigstens der weiblichen Erziehung entnommen, um an dem
Hofe eines höheren oder niederen Adeligen Pagendienste zu
verrichten. Die Erziehung beschränkte sich hier hauptsäch-
lich auf körperliche Uebungen unter meist sehr strenger
Zucht. Als solche Vorbereitungen zu den Anstrengungen
des Krieges nennt Suchenwirt : sie müssen lernen.
Daz sie schnell entspringen
Schwimmen, schiessen, ringen
Laufen, stossen wohl den Stein
Beide Arm, Rück und Bein
Zur Ritterschaft üben.
26*
376 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
Zwischen dem 14. und 17. Jahre ging der Page in den
Knappendienst über und wurde unter Feierlichkeiten mit
dem Schwerte umgürtet. Nun kamen die Uebungen in
Handhabung der Waffen und im Tragen des Harnisches.
In voller Rüstung auf das Pferd zu springen, über ein Pferd
zu voltigiren, Mauern zu erklettern, dienten dazu, seine
Muskeln zu stählen. Die genaue Kenntniss des Pferdes,
dessen Behandlung, das Reiten lernte er von seinen altern
Genossen, den Gebrauch der Schutzwaffen und der Kampf-
weise von seinem Herrn, den er auf Turniere und Kriegs-
züge begleitete; hiezu kam noch, dass er geübt war diesen,
der auf dem Marsche nnr den Harnisch trug, schnell zu
wappnen. Im Kampfe bildeten die Knappen die zweite
Linie, mussten auf die Bewegungen ihres Gebieters achten,
ihn im Gefechte unterstützen und decken, durften aber feind-
lichen Rittern gegenüber nur vertheidigungsweise verfahren,
ausserdem lag ihnen die Bewachung der Gefangenen ob.
An ihren Waffen durften sie wohl den Schmuck des Silbers,
nie aber den des, dem Ritter allein zustehenden, Goldes
tragen.
Im ein und zwanzigsten Jahre galt die Erziehung des
Knappen für vollendet, er galt zum Kampfe berechtigt, und
war im Stande die Ritterwürde zu empfangen ; sie galt als
sein höchstes Ziel, begeisterte ihn zu den ausergewöhnlich-
sten Anstrengungen und Leistungen. Der Ritterschlag wurde
entweder in Erwartung besonderer Aufopferung, zu welcher
der gefährlichste Platz in der Schlachtordnung für die Neu-
ritter Gelegenheit bot, vor der Schlacht, oder nach dem
Kampfe für hervorragende Tapferkeit, öfter auch auf Heer-
zügen, wie bei Römerzügen auf der Tiberbrücke ertheilt,
solche, die ihn erhielten, wenn ein römischer König erwählt
wurde, nannte man ;,die Ritter ohne Mühe", im Gegensatze zu
„den Getreuesten", die ihn in Schlachten und bei Stürmen
erworben hatten.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 377
Nachdem einmal der Eifer für die Kreuzzüge und die
Freudigkeit für des Reiches ideale Güter dem Kaiser zu
dienen erkaltet war, die rauhe, fehdelustige, gewaltsame Na-
tur des niedern deutschen Adels sich aber dennoch nach
Kämpfen sehnte, in denen dem Einzelnen, der zu Hause
wenig oder nichts zu suchen hatte, die Möglichkeit geboten
war mit dem Schwerte Ehre und Besitz zu erringen, so
wendeten sich die Augen des jungen Reiters, der sich die
goldenen Sporen und den Rittergürtel verdienen wollte, nach
dem Auslande, und wir finden den deutschen Kämpfer, viel
gesucht ob seiner Tapferkeit, fast auf allen Schlachtfeldern
Europas. Besonderen Reiz boten die Kämpfe gegen die
heidnischen Preussen, und im engern Preussenlande sind es
überwiegend ober- und mitteldeutsche Geschlechter, welche
dort mannhaft sich tummelten, Thüringer, Franken, Schwa-
ben und Bayern ; nordöstlich vom Niemen, an der Düna bis
zur Narwa dagegen haben vorwaltend niedersächsiche, west-
phälische niederdeutsche Rittersleute sich eingefunden.
Zu der Zeit, in der Friedrich von Lochen seine Heran-
bildung zum Krieger vollendet hatte, war der lockendste der
Tummelplätze für einen kampfbegierigen Mann die Mark
Brandenburg, in welcher mit Ludwig, dem Sohne Kaiser
Ludwig des Bayern, ein neues Herrschergeschlecht seinen
Einzug gehalten hatte, das gezwungen war Stück für Stück
das durch Verpfändung und auf andere Weise entfremdete
Land mit den Waffen in der Hand den mächtigen Grenz-
nachbarn wieder abzuringen. Im Lande selbst hatte jeder
der Prätendenten seine eigene Partei, die sich im Allgemei-
nen wieder unter die beiden Parteien des Kaiser Ludwig,
oder des Gegenkaisers Friedrich vertheilten, und der Einfluss
der sehr mächtigen Geistlichkeit hetzte die Unterthanen gegen
den gebannten Kaiser und dessen Söhne auf. Alle diese
Umstände zwangen den jungen Markgrafen Ludwig, dem die
Aufgebotenen im Lande nur säumig und widerwillig die
378 Sitzung der Mstor. Olasse vom 2. Mai 1874.
Lehenspflicht leisteten, um fremde Streitkräfte sich zu be-
werben, und in den vielen Kriegen, die er auszufechten hatte,
war ausser den Bündnissen mit den Fürsten es vorzüglich
der bayerische und schwäbische Adel, der mit den wenigen
märkischen Rittern für ihn das Meiste zu Stande gebracht
hat. Diese Hilfe musste aber theuer erkauft werden. Nicht
nur der Brautschatz seiner ersten Gemahlin, König Chri-
stophs von Dänemark Tochter, und die aus den verkauften
Gütern in der Mark gelösten Summen wurden dazu ver-
wendet, sondern auch Kaiser Ludwig, obgleich selbst hart
bedrängt, gab grosse Summen dazu her. War das baare
Geld für Dienstleistung und Schadloshaltung zu Ende, so
wurden an die Gläubiger Zölle verpfändet, Burgen, Pflegen,
Gerichte verschrieben, oder von Andern einzulösen erlaubt,
oder auch ein Theil der Einnahmen von Städten auf Jahre
hinaus denselben überwiesen. Damit übernahmen aber auch
die so Gelohnten die Verpflichtung, die Burgen im Stande
zu halten, sie dem Landesherrn zu öffnen, bei neuen Krie-
gen ihm Leute, Pferde, Waffen und Kost zu liefern, oft
auch noch auserdem das zur Kriegsführung nöthige Geld
vorzustrecken. So hing die Art der Kriegsführung innig mit
der Landesverwaltung und Rechtspflege zusammen. — Um
sich die grosse Last, welche aus dem Unterhalte der adeli-
gen Söldner erwuchs, einigermassen zu erleichtern, ergriffen
die Fürsten jede Gelegenheit, sich gegen Schadloshaltung,
Uebernahme der Verpflegung und des Soldes an auswärtigen
Kriegen als Bundesgenossen zu betheiligen, und bei einem
solchen Unternehmen des Markgrafen Ludwig von Branden-
burg stossen wir zum ersten male auf den Namen des Fried-
rich von Lochen.
In dem Kriege, welchen Eduard III. von England zur
Durchführung seiner Ansprüche auf die Krone Frankreichs
zu beginnen im Begriffe war, suchte er sich möglichst viele
Kampfgenossen zu erwerben. Der thatenlustige niederrheinische
Würdinger: Friedrich von Lochen. 379
Adel mit seinen Lehensherrn, den Grafen von Jülich und
Geldern, strömte den englischen Fahnen zu, gegen beträcht-
liche Summen gewann er den Pfalzgrafen Ruprecht, und im
südlichen Deutschland die Grafen Eberhard von Neuenbürg,
sowie den Herzog von Teck zu Bundesgenossen.4) Endlich
gelang es auch das Haupt des deutschen Reiches, Kaiser
Ludwig den Bayern, für England zn gewinnen. Sein lang-
jähriger Kronstreit zuerst mit Oesterreich und dann mit den
Luxemburgern, sein Hader mit dem Papste, der, vom Könige
von Frankreich geschützt, ihm die Anerkennung versagte, und
endlich die Verzweigung seines Hauses nach dem niedern
Deutschland machten auch diesen Fürsten zum natürlichen
Theilnehmer an einem von England aus gegen Frankreich
gerichteten Unternehmen. Im Juli 1337 begannen zu Frank-
furt die Unterhandlungen und sie fanden durch den Vertrag
vom 26. August ihren Abschluss darin, dass der Kaiser gegen
eine Summe von 300,000 Goldgulden 2000 Helme dem
Könige zur Verfügung zu stellen versprach, und ihn ausser-
dem zum Reichsvicar in den Niederlanden ernannte.5) Das
Bündniss mit der bayerischen Partei wurde vollkommen,
als auch der älteste Sohn des Kaisers, Markgraf Ludwig
von Brandenburg, sich verpflichtete, mit 200 Helmen in das
Feld zu ziehen.6) Die Vorbereitungen und Rüstungen zum
Feldzuge, wie auch Verhandlungen mit Frankreich verzöger-
ten den Beginn des Krieges bis zum Jahre 1339. Mitte
September überschritt König Eduard bei Marcoing die fran-
zösische Grenze, während die Franzosen von Peronne aus zur
Abwehr anrückten. Am 3. October stiess Markgraf Lud-
wig, dessen Truppen, auf Abenteuer und Beute ausgehend,
sich viele Reiter aus Schwaben und Franken angeschlossen
hatten7), zum englischen Heere, und seine Schaar bildete von
4) Pauli Geschichte von England IV, 348.* 5) Böhmer reg. imperii
1314—47 S. 115—263. 6) Alb. Argentinensis bei ürstisius S. 128.
7) Trithemius II 184. Villani XI gibt Ludwigs Macht mit 2000 Reitern an.
380 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
da an die Vorhut desselben. Vermanois und alle Ländschaft
zwischen Tournay und Laon wurde unter täglichen Kämpfen
kleiner Reiterschaaren hart mitgenommen bis man am 16. Oct
die Oise überschritt und wenige Meilen von Set. Quentin
entfernt unweit des feindlichen Heeres, das bei Buironfosse.
lagerte, Halt machte. Umsonst erwarteten die Engländer
einen Angriff König Philipps, der auf den Rath des Böhmen-
königs Johann von Tag zu Tag die Entscheidung hinaus
schob, und die Besiegung seines Gegners dem Eintritte der
schlechten Witterung und dem Mangel an Lebensmitteln
überliess. Auf die Nachricht, der Feind sei im Anzüge,
stellte sich das englische Heer , dessen Mitteltreffen die
Deutschen bildeten, des Angriffes gewärtig auf, und unter
den Edeln, die nun den Ritterschlag erhielten war Fried-
rich von Lochen.8) Auch diessmal erfolgte der Angriff
nicht, Philipp wollte weder seine Krone an den Ausgang
Eines Tages wagen, noch sich mit den verwegenen und
schonungslosen Brabantern, Flamländern und Deutschen in
einen Kampf einlassen.9) Als nun das englische Heer nach
Avesnes vorrückte, machten sich die Franzosen in der Nacht
schleunigst davon. Der Eintritt des Winterfrostes, der Man-
gel an Lebensmitteln in dem verwüsteten Lande, wie auch
die Vorstellungen seiner Verbündeten zwangen den König
Eduard zur Umkehr nach Brüssel. Die Deutschen zogen in
ihre Heimath zurück, Lochen mit dem Markgrafen Ludwig
in die Mark.
Am Hofe des Brandenburgers weilte der junge Prinz
Waldemar von Dänemark, welcher nach Vertreibung seines
Vaters des Königs Christoph (1331) an dem Hofe Kaiser
Ludwigs eine Zufluchtsstätte gefunden und eine treffliche
8) Dez ersten für der ern fruet — Zu hilfe dem von Engel-
lant. — Mit Markgraf Ludweig genant. — Von Pranburch, der ern
zart — der macht in ritter auf der vart. Suchenwirt c. 1. Zeile 24
flg. 9) Villani XI c. 86. 10) Da her gen her mit swindem
Würdinger: Friedrich von Lochen. 381
Erziehung genossen hatte. Hier wollte er den Zeitpunkt er-
warten, an dem er seine Ansprüche auf den Thron seiner
Väter am besten zur Geltung bringen könnte, die Kriege
seines Schwagers Ludwig boten ihm nebenbei Gelegenheit
sich in den Kämpfen gegen Pommern und die heidnischen
Nachbarvölker zum Führer seines Heeres auszubilden. Die
Härte, mit welcher Graf Gerhard von Holstein, der Vor-
mund des Herzog Waldemar von Schleswig, das Regiment
führte, hatte die Gemüther in Dänemark erbittert, und Bi-
schof Swend von Aarhus mit andern Vaterlandsfreunden
kamen in die Marken, um den Sohn ihres vertriebenen
Königs, dessen älterer Bruder Otto in Reinoltsburg von den
Grafen von Holstein gefangen gehalten wurde, aufzufordern,
dem bedrängten Vaterlande beizustehen, selbst der Herzog
Waldemar von Schleswig schloss sich ihren Wünschen an.11)
Der Tod des Grafen Gerhard, welcher in einer Fehde mit
dem Herrn auf Norevics Niels Ebleson von diesem in Ran-
ders überfallen und getödtet worden war (1. April 1340),
bot für den Prinzen die beste Gelegenheit zur Erreichung
seiner und seiner Freunde Hoffnungen. Der Vermittlung
des verschwägerten Kaiserhauses, dem die Wünsche der
Stände Dänemarks, einen König zu erhalten, der das Reich
wieder herstelle und beruhige, entgegenkamen, gelang es
bald nach Ostern zu Spandau eine Zusammenkunft der bei-
den Waldemare, und des Grafen Johann, des Milden, zu
Stande zu bringen, welche sich mit der Thronfolge des
Prinzen beschäftigte. Ihr folgte eine weitere, bei der auch
die Söhne Gerhards erschienen, im Mai zu Lübek. Mit
Ausschliessung des älteren Bruders Otto von der Thronfolge
wurde Waldemar als König von Dänemark anerkannt, die
schach — Sich paidenthalb streitz versach — der ward mit frid
wendich. Suchenwirt Z. 29—31. 11) Dahlmann Geschichte von
Dänemark I 485.
382 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
Verlobung mit der Schwester des Herzogs von Schleswig
sicherte ihm den Besitz von 400 Helmen, ein weiterer Ver-
trag mit den Erben Gerhards die Freilassung seines Bruders
Otto, und das Zugeständniss der Einlösung Jütlands. Schloss
Aalborg mit Wendesyssel, Himmersyssel, Thytäsyssel und
Haneharde sollten dem Könige sogleich übergeben werden.12)
Mit einem zahlreichen aus Bayern und Brandenburgern13)
gebildeten Heere, zu deren Führer Friedrich von Lochen
vom Könige ernannt wurde14) kam Waldemar im Juli nach
Sonderburg, und empfing hier die Huldigung des Reichs-
tages. Sein Hauptaugenmerk war nun auf die Erwerbung
der an die Holsteiner verpfändeten Insel Seeland gerichtet.
Der Bischof vonRoeskilde räumte ihm auf zwei Jahre Stadt und
Schloss Kopenhagen ein, und die Seeländische Geistlichkeit
bot ihm die Mittel die Baierischen und Brandenburgischen
Söldner abzulohnen. Jetzt warf er seine Augen auf Kallund-
borg, ob diese Veste sich nicht durch einen Gewaltstreich
der Herzogin Ingeborg, Wittwe des Herzog Knut Porse, ab-
gewinnen Hesse. Kaum hatte aber Waldemar mit seinem
Marschall15) (August 1341) die Belagerung eröffnet, als
Graf Heinrich von Holstein erschien, die königliche Flotte
eroberte, darnach landete, und von dem Ausfalle der Besatz-
ung unterstützt, durch eine völlige Niederlage der Feinde
sich den Ehrennamen des Eisernen gewann. Schnell ver-
glich sich der König und stand von dem Unternehmen ab.
Ungeachtet des unter den Fürsten bestehenden Stillstan-
des kam es zwischen den dänischen Hauptleuten in den
12) Suhm XIII 775. 13) Continuatio incerti autoris bei West-
phalen I 395. 14) Und ward Marschällen in Tennemark — des
edeln chuniges Woldmar. Suchen wirt 34 flg. 15) Lochen wird
als Marschall des Königs bereits in einer am 21. Mai 1341 zu Roes-
kild ausgestellten Urkunde genannt. (Riedel cod. diplom. brandenburg.
B. II 154), während er in einer am 20. März in Brandenburg ausge-
stellten noch ohne diesen Titel vorkömmt.
Würdin ger: Friedrich von Lochen. 383
Schlössern, und den Holsteinern, die das Land mit Raub
und Brand wüsteten, 16) zu häufigen Fehden. Die bedeutendste
derselben war die von Fritz von Lochen mit dem Haupt-
mann zu Wordingburg Marquard Schonen, dem Jüngern, ge-
führte. Lochen hatte zu derselben auf eigene Faust und
Kosten 150 Helme in Dienst genommen, während sein Geg-
ner von den Holsteinern, dann Genossen aus Schweden und
Deutschland unterstützt wurde. In der Nähe von Kopen-
hagen kam es am 29. Juni 1342 zum entscheidenden Schlage.
Lochens persönlicher Tapferkeit und dem Ungestüme seiner
Reiter, die des Feindes Reihen durchbrachen, unterlagen die
Holsteiner, Schonen selbst konnte sich nur durch die Flucht
der Gefangennehmung entziehen.17) Bald darauf wurde von
dem Marschall die Stadt Kiöpe genommen und verbrannt.
Neue Gelegenheit zu kriegerischen Thaten bot ihm der Kampf
der Städte Lübek und Hamburg mit den Grafen von Hol-
stein, die sich gegen das Städtegut vielfache Plackereien
erlaubt hatten. Die Grafen begaben sich in den Schutz des
Königs von Schweden, die Städte aber in den des Kaisers,
der den Marschall von Lochen beauftragte sie mit 200 Hel-
men zu unterstützen. Dieser fasste den Plan sich in Rostock
einzuschiffen, um dann im Vereine mit dem Könige von
Dänemark den gemeinschaftlichen Feind zu bekämpfen. Die
Holsteiner erfuhren die Absicht des Marschalls, und zogen
vor Lübek. Lochen eilte mit seiner Schaar nach Lübek zu-
rück, vertrieb den Feind, und drang mit dem Volke der
Lübeker, Hamburger und deren Bundesgenossen vereint
durch ganz Holstein bis an den dänischen Wald vor. Die
16) Darnach die Holtzen furn. — In das lant mit grozzer Macht
— und wüsten baidew Tag und Nacht. — Lant und Leut in Tänne-
markch. Suchenwirt 40 flg. 17) Die Beschreibung der Werbung
und des Treffens c. 1. 45—71. „Da waz der chunigk nicht selber
pey — Der Muetz frech mit wernder hant — Wehub dem chunig
zwir das Lant." Heinze, Geschichte König Waldemar III 61.
384 Sitzung der histor. Gasse vom 2. Mai 1874.
Burgen des räuberischen holsteinischen Adels wurden ge-
brochen, das Land verwüstet. Im Norden angelangt vereinte
er sich mit dem dänischen Heere.18)
Als Wiedervergeltung für diesen Zug Hess der Schwe-
denkönig den Lübekern alle Güter in seinen Landen weg-
nehmen, und nahm die Bürger, wo er ihrer habhaft werden
konnte, gefangen. Ein noch härterer Schlag für die Städte
war, dass sie bei dem um diese Zeit beginnenden Härings-
fange die Insel Schonen nicht besuchen konnten, sie folgten
der Einladung des Dänenkönigs und kamen nach Kopenhagen.
Doch auch hier konnten sie nicht ungestört dem Fischfange
obliegen, denn die Holsteiner, welche auf Seelands Küste
einen steinernen Wehrthurm besetzt hielten, beunruhigten jede
Ausfahrt. Waldemar belagerte den Thurm, zu dessen Unter-
stützung der Schwedenkönig Truppen abschickte. Lochen
-zog diesen mit den Seinen entgegen, besiegte sie in einem
blutigen Treffen, und schickte die Gefangenen in schweren
Banden nach Lübeck.19)
Die Abwesenheit der städtischen Wehrmannschaft benütz-
ten die Holsteiner zu einem neuen Anfall auf Lübek, dem
nun ihr Schirmvogt, der Markgraf von Brandenburg, Mitte
August weitere 200 Helme unter Führung des Grafen Gün-
ther von Schwarzburg, des bayerischen Ritters Heinrich von
Reischach und des Hauptmanns Henning von Buch zur Unter-
stützung sandte.20) Während diese in der Nähe der Stadt
im September zweimal mit dem Feinde in das Gefecht
kamen, dauerte auch der Krieg auf Seeland fort. Am
13. October kam es zwischen den Holsteinern und den Städ-
18) Origines Lubecenses bei Westphal 1331. Für ein Pferd, das
Lochen bei diesem Zuge verlor, wurden ihm durch den Vogt Mar-
quard Lotterpeckh 6 Mark vergütet. 19) Klöden, diplomatische Ge-
schichte des Markgrafen Waldemar III 18. 20) Riedel c. 1. B. II
158 giebt die Ankunft der brandenburgischen Hilfe auf Mitte Au-
gust an.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 385
ten zum Waffenstillstand,81) dem am 6. Jänner 1343 der
Friede folgte.
Die letzte kriegerische Unternehmung, der Lochen als
Marschall in Dänemark anwohnte, mag der im December
unternommene Versuch, sich des Schlosses Korsöer zu be-
mächtigen, gewesen sein, denn im nächsten Jahre findet sich
Claus von Limbek als Marschall des Königs Waldemar, der
ehrbare Ritter Lochen aber in der unmittelbaren Umgebung
des Markgrafen von Brandenburg,22) der ihn noch vor Ende
des Jahres in die Zahl seiner Räthe aufnahm83) und dem
er bei Eroberung der Alten Mark Beistand leistete.
Nach dem Tode Waidemars, des letzten Markgrafen
aus dem anhaltischen Hause, brachte dessen Wittwe Agnes
ihrem zweiten Gemahle dem Herzoge Otto von Braunschweig als
Mitgabe die Alt- und Mittelmark für die Dauer ihres Lebens
zu. Nach ihrem am 27. November 1342 erfolgten Tode
verweigerte Herzog Otto die Herausgabe dieser Provinzen,
und Markgraf Ludwig sah sich genöthigt sein Recht mit
dem Schwerte zu suchen. Die mächtigsten des altmärkischen
Adels, die Alvensleben, Schulenburg, Knesebeck waren ihm
bereits geneigt, andere bewog er durch Versprechungen und
Verpfändungen zur Oeffnung ihrer Schlösser, die Ritter von
Oberg versprachen sogar einen Versuch zumachen, dass die
Stadt Braunschweig ihm ihre Thore öffne. Die von der
Stadt Stendal an den Kaiser gerichtete Anfrage, ob sie dem
Markgrafen Ludwig oder dem Herzoge Otto beizustehen
hätte,24) wurde von Ludwig zu Gunsten seines Sohnes ent-
schieden, und nun traten auch die meisten Städte der Alt-
21) Riedel c. 1. B. VI 69. Ausser Hamburg und Lübek erscheinen
noch die Städte Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswalde als
Theilnehmer am Kriege. 22) Zum erstenmal erscheint Lochen als
Zeuge in einer zu Spandau ausgestellten Urkunde vom 23. Juli 1343.
Riedel A IX 370. 23) Consiliarius noster. Urkunde vom 22. Dec.
dat. Stendal. Riedel c. 1. A XIV 84. 24) 30. Mai. Riedel B. II 264,
386 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
mark auf Seite desselben. Ueber den Gang des Krieges
fehlen bestimmte Nachrichten, doch währte derselbe, nach
den Urkunden des Markgrafen zu schliessen, den ganzen
Sommer und Spätherbst.25) Die Kämpfe begannen bei Oster-
berg und zogen sich auf Salzwedel. Entscheidend war die
Niederlage der Braunschweiger auf der Gardeleger Haide.
Der Herzog von Braunschweig verzichtete gegen eine Ent-
schädigungssumme von 3450 Mark Silbers auf die Alte Mark.26)
Lochens persönliche Theilnahme an den Kämpfen beweist
die ihm für den Verlust von vier Pferden gewährte Schad-
loshaltung.
Die Verheirathung des Markgrafen Ludwig mit der Ge-
rn alin Johanns von Böhmen, Margaretha von Tirol (1342),
hatte die Luxemburgischen Fürsten gegen den Kaiser und
dessen in Brandenburg regirenden Sohn erbittert, und sie
bemühten sich gegen beide und zur Absetzung des gebann-
ten Reichsoberhauptes möglichst viele Fürsten auf ihre Seite
zu bringen. Misslang ihnen diess auch bei manchen, so er-
reichten sie es doch bei vielen, besonders bei den Grenz-
nachbarn Brandenburgs, den Fürsten von Sachsen, Anhalt
und Mecklenburg, und trotz des am 13. September 1343
gegebenen urkundlichen Versprechens „mit Ludwig, der sich
Kaiser nennt, und dem Markgrafen von Brandenburg, sowie
deren Helfern Friede zu halten", zögerte des Böhmenkönigs
ältester Sohn Carl nicht, im Vereine mit Papst Clemens VI.
alles zum Sturze der Witteisbacher vorzubereiten. Kaiser
Ludwig sah sich sogar genöthigt zu seinem Schutze gegen
einen Angriff der Luxemburger und zur Aufrechthaltung des
Friedens während des Reichstages bei Frankfurt eine an-
25) Am 3. October verspricht Markgraf Ludwig für den Fall,
dass er der ganzen Altmark sich bemächtigt habe, den in diesem
Kriege beschädigten Bürgern Stendals Schadloshaltung, den getödteten
aber ein ewiges Licht. Riedel c. 1. A XV 109. 26) Freiberg Be-
urkundete Geschichte Herzog Ludwig des Brandenburgers. S. 50.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 387
sehnliche Zahl mainzischen und brandenburgischen Volkes
zu sammeln, und als Führer des letztern wird (Oct. 1344)
der Ritter von Lochen genannt.
Im Frühjahr 1345 kam der Krieg mit Böhmen zum
Ausbruche, und als Rath ,,der stets im Geleite seines Herrn
zu sein hat" nahm der Ritter an den Anordnungen zum
Feldzuge, wie an diesem selbst überall Antheil, wo der
Markgraf selbst anwesend war. Markgraf Carl von Mähren
drang, sobald es die Jahreszeit erlaubte gegen die Mark
Brandenburg vor, fand aber schon in der Lausitz kräftigen
Widerstand. Markgraf Ludwig begab sich im April in die
Lausitz, Hess Mittenwalde durch die bayerischen Ritter Stein-
linger und Lentsidler stark besetzen, bot die brandenburgi-
schen Mannen auf, und stellte sich den Böhmen, die in der
Lausitz arg hausten, entgegen. Um deren Eindringen in
die Mark Brandenburg zu verhindern nahmen Anfangs Mai
das brandenburgische Aufgebot bei Schönerlinde, Marschall
Otto von Helbe bei Buchholz, eine andere Abtheilung bei
Spandau, Schenk Wonbrechts bei Straussberg, Alvenslcben
mit den altmärkischen Mannen bei Reinickendorf Stellung,
der Markgraf ist am 18. Mai zu Mittenwalde. Der Versuch
der Böhmen, auf Kölln und Berlin vorzudringen, misslang.
Zum zweitenmale drohte eine ähnliche Gefahr Mitte Juni.
Otto von Helbe versammelte das Heer bei Spandau und
rückte von da nach Mittenwalde, wo er zum Markgrafen
stiess. Die Brandenburger konnten der Uebermacht nicht
widerstehen und besetzten am 29. Juni die Gegend um
Spandau.27) Am 4. Juli kam der Herzog von Braunschweig
mit seinem Hilfsvolke nach Berlin, und nahm an dem Vor-
rücken nach Frankfurt an der Oder, wo der Markgraf Lud-
wig am 15. Juli urkundet, Antheil. Drei Tage später wurde
27) Freiberg c. 1. in den Auszügen aus einem Registraturbuche
des Markgrafen Ludwig S. 210 flg.
388 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
das Heer entlassen. Ludwig begibt sich nun mit seinem
Bruder Ludwig dem Römer an den Hof seines königlichen
Bundesgenossen nach Polen, und nach seiner Rückkunft von
dort kommt am 11. August zu Spremberg zwischen Böhmen
und Brandenburg ein Frieden zu Stande, in welchem der
Markgraf Ludwig seine nunmehrige Gemalin nebst Tirol be-
halten durfte, dagegen die Lande Görlitz und Bautzen an
Böhmen abtreten, und dem Könige 20,000 Mark Silbers
zahlen musste. Lochen treffen wir im Laufe des Augusts
im Gefolge des Markgrafen als Zeugen einer dem Palatin
von Posen ausgestellten Urkunde zu Kopenitz, im September
bei Verschreibung der Tempelburg an die Johanniter zu Ber-
lin, und im November zu Tankow.29)
Die bisherigen Kriege, besonders der letzte, hatteu
grosse Summen in Anspruch genommen, die Stände des Lan-
des aber waren weder auf den Wunsch des Markgrafen, die
Münze an die Städte zu veräussern, noch auf den, im Lande
eine Umlage zu erheben, eingegangen, da bot die Absicht
des Dänenkönigs, das Herzogthum Esthland, auf welches
die Mitgift der Markgräfin Margaretha versichert war, an
den deutschen Orden zu verkaufen, die Aussicht auf neue
Geldmittel. Zur Vertretung seiner Interessen schickte der
Markgraf den Lochen zum Dänenkönige nach Hafeins (Au-
gust 1346) 30). Am 29. August kam der Verkauf um den
Preis von 19,000 Mark Silber zu Stande, und wohnten dem-
selben als Zeugen der Vertreter des Markgrafen und der
Hauptmann des Landes Reval Stigot Anderson bei.31) Bei
dieser Gelegenheit erhielt Lochen vom Könige Waldemar für
die als Marschall in Dänemark geleisteten Dienste die Summe
von 900 Mark Silber32). Markgraf Ludwig lohnte ihm, was
er bisher als sein „geliebter Rath" gewirkt zu Spandau
28) Riedel A VII 415. 29) Riedel c. 1. A XV 222, XXIV 37,
XIX 74. 30) Riedel B II 182. 31) c. 1. 183. 32) c. 1. 184.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 389
(24. October) mit der Anweisung auf die im nächsten Jahre
fällige Reichssteuer der Stadt Lübek.33) Kurze Zeit darauf
erfolgte die Ernennung Lochens zum Hauptmann der
Alten Mark.
Der in jeder Provinz befindliche Hauptmann, auch Vogt
genannt, hatte eine sehr wichtige Stellung, er erhielt ein
landesherrliches Schloss zu seiner Wohnung, die dazu ge-
hörigen Dörfer ganz oder theilweise zu seiner Benützung,
und war auch Befehlshaber desselben. Im Falle eines Krie-
ges hatte er die dienstpflichtigen Mannen seines Bezirkes auf-
zubieten und zu sammeln, die gestellten Lehenspferde in
Empfang zu nehmen und zu ordnen, für den Kriegsbedarf
zu sorgen, Menschen und Thiere zu verpflegen, Waffen und
Pferde anzukaufen, was zwar Alles auf landesherrliche Kosten
geschah, wobei aber der Hauptmann meist grosse Vorschüsse
machen musste. Gewöhnlich war er auch Anführer des
Heeres. Sein Amt führte er auf Kündigung, doch wurde
jedesmal bei der Uebernahme festgestellt, dass er nicht eher
entsetzt werden dürfe, bis der Markgraf ihm oder seinen
Erben alle seine Auslagen ersetzt habe. Eigentlichen Gehalt
bezog er keinen, dafür aber hatte er Nutz und Frucht seiner
Vogtei zu erheben, die Pflege in den Städten, von den Ge-
richten in den Städten und auf dem Lande, die Zölle und
andere Steuern, den Wagendienst und alle Einkünfte von
ledig gewordenen und dem Fürsten anheimgefallenen Gütern.
In den zwischen dem Markgrafen Ludwig und dem Her-
zoge Magnus von Braunschweig gewechselten Bundesbriefen
(24. November) findet sich Lochen zum erstenmal als Amt-
mann aufgeführt, da erhält er den Auftrag, in Abwesenheit
des Markgrafen dem Herzoge von Braunschweig, wenn er
der bundesmässigen Hilfe bedürfe, beizustehen,34) und einen
Monat später (12. December) die Weisung, die ausserhalb
33) „Sincere dilecto consiliario." Riedel C I 26. 34) Riedel B II 187.
[1874, 4. Phil. hist. Cl.J 27
390 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
der Stadt sich aufhaltenden Bürger Stendals in seinen Schirm
zu nehmen, und ihnen das Verfügungsrecht über ihre in der
Stadt gelegenen Besitzungen zu sichern.35)
Obwohl der Markgraf die ihn von der für Esthland
erlösten Kaufsumme treffenden 6000 Mark36) bereits im
Jänner 1347 hatte erheben lassen, so sendete er doch im
Februar seinen Hauptmann zum Abschlüsse des Geschäftes
nach Marienburg37), von wo dieser dann im März nach Riga
ging, um im Vereine mit Ritter Stigot die Ansprüche des
Hochmeisters in Liefland zu beseitigen und Abrede über die
Münzsorte zu treffen, in welcher der Kaufpreis für Esthland
an König Waldemar zu entrichten sei.38) — Nach der Rück-
kehr in die Mark vereinbarte Lochen als Hauptmann, ,,der
volle Gewalt hat von unsertwegen in den Marken",89) mit den
Landständen eine Münzordnung40), entschied (12. Juni), dass
das Domstift zu Stendal dem Günther von Bartensieben die
von diesem ihm entrissenen Besitzungen in Scherneck recht-
lich abgenommen habe,41) und erklärte (25. Juni) im Namen
seines abwesenden Herrn, als Bundesgenosse des Herzogs
Magnus von Braunschweig, dem luxemburgisch gesinnten
Erzbischofe von Magdeburg den Krieg.42) Von den Thaten
der altmärkischen Reiter und ihres Hauptmanns in diesem
Kriege haben sich keine Nachrichten erhalten, dagegen treffen
wir Lochen bei allen wichtigeren Regierungshandlungen des
Markgrafen, der ihn bei seinem Vergleiche mit Graf Otto
von Schwerin (24. August) zu seinem Schiedsmanne er-
nannte,43) auf Rath seines getreuen Hauptmannes dem Jo-
hanniter Orden erlaubte (9. December) das Haus Lagow von
35) c 1. A XV 132. 36) Der Werth einer Mark betrug un-
gefähr 14 Thaler, 8500 Mark entsprachen 51,000 Gulden Nürnberger
Währung. 37) Riedel B II 192. 38) c. 1. 194 dat. Riga 11. März.
39) Riedel A XXI 160. 40) Diese Münzordnung wurde zu Berlin
am 12. Juli durch Markgraf Ludwig genehmigt. c. 1. A XIX 209,
C I 27. 41) c. 1. A V 98. 42) B II 199. 43) c. 1. S. B. 22.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 391
der Familie Wesenberg einzulösen,44) und am 18. December
dem Marquard von Schar ffenberg das Dorf Helpe verlieh.45)
Der Tod Kaiser Ludwigs (11. Oct. 1347), der in der
That als ein Märtyrer für die Hoheit der kaiserlichen und
fürstlichen Würde Deutschlands lebte und starb, war für
den Markgrafen von Brandenburg, dessen mächtigste Stütze
mit ihm dahin sank, ein unersetzlicher Verlust. In dem
Maasse wie er verlor, wuchs die Macht seines schlimmsten
Gegners, des luxemburgischen Carl, der unmittelbar nach
des Kaisers Tod, seine Stellung als deutscher König sich
durch Vergebungen zu sichern suchte. Der erste Schlag
gegen Ludwig wurde am 7. November zu Nürnberg dadurch
geführt, dass Carl den Herzog Rudolf von Sachsen mit der
Alten Mark belehnte ,,ob er die furbaz gewinne." Damit
begann das Drama des Verlustes von Brandenburg für die
Witteisbacher, die ausserdem noch mit den in den Marken
vorhandenen vielfachen Partheiungen zu kämpfen hatten.
Den Papst und deutschen König, wie deren Anhänger, hatte
Ludwig als Feinde, unter den Bischöfen seines Landes war
nur der von Brandenburg für ihn, der von Havelberg war
unsicher, und der von Lebus von entschieden feindlicher
Gesinnung; unter dem Adel waren dem Witteisbacher und
dessen bayerischer Umgebung wenige geneigt, und auch auf
die Städte konnte er nicht sicher zählen. Die meisten An-
hänger konnte der Markgraf im Lande über der Oder sein
nennen, und hier weilte er auch am liebsten.46)
Noch grösser wurde die Erbitterung der Luxemburger
dadurch, dass die Anhänger des verstorbenen Kaisers in der
Person Eduards von England einen .Gegenkönig wählten.
Die Gefahr für Brandenburg wuchs auch noch dadurch, dass
dessen Regent, der ja auch Tirol und einen Theil Bayerns
inne hatte, oft gezwungen war, die Marken zu verlassen,
44) c. 1. A XIX, 131. 45) c. 1. A XXIV 43. 46) Klöden III 166.
27*
392 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
und in seinen andern Besitzungen sich aufzuhalten. Um die
Leitung aller brandenburgischen Angelegenheiten in einer
ihm ganz ergebenen, sicheren Hand zu vereinen, ernannte
nun Markgraf Ludwig den bisherigen Hauptmann der Alten
Mark, Friedrich von Lochen, zum Landeshauptmann über
die Marken, in welcher Eigenschaft dieser die Obliegenhei-
ten des ersten Beamten des Landes, mit denen des Oberbe-
fehlhabers vereinte, und im Namen des Markgrafen Ur-
kunden ausfertigte.47)
In Ausübung seines neuen Amtes finden wir Lochen zum
erstenmale in einer am 19. Februar zu Tangermünde ausge-
stellten Urkunde.48) Zehn Tage später vergleicht Wilhelm von
Wombrecht, des Markgrafen Mundschenk, die Stadt Prenzlau
mit dem Hauptmann von Lochen wegen der Mühlen zu
Prenzlau, und machte diese der Stadt gegen Erlegung einer
Summe von 200 Marken zu eigen. 4y) Der im Lande herr-
schende Mangel an Einkünften zur Bestreitung der nöthigen
Ausgaben der Regierung wurde durch die Verpfändung der
47) Nach den Urkundenregesten bei Freiberg c. 1. weilte Ludwig
vom 28. Dez. 1347 bis 3. Febr. 1348 in Bayern, und manche der dort
ausgestellten Urkunden können nur in Anwesenheit des Fürsten ge-
geben worden sein; da er aber zur nämlichen Zeit auch in Branden-
burg urkundet, liegt die Vermuthung nahe, dass diese Erlasse in
seinem Namen von dem Landeshauptmann und seiner Kanzlei ausge-
fertigt wurden. Verhehle ich mir auch nicht, wie viele, nur auf
Datirung der Urkunden und die auf diese basirten Itinerarien be-
ruhende historische Angaben durch eine solche Annahme nicht
allein für Markgraf Ludwig, sondern auch für andere Persönlichkeiten
schwankend werden, so möchte doch der hier evident vorliegende
Widerspruch bei den weit auseinander liegenden Ausstellungsorten
zur Untersuchung der Unterscheidungszeichen der von den Fürsten
selbst, oder deren Kanzleien ausgefertigten Urkunden, anregen.
48) Riedel c. 1. A XIX 15. 49) Riedel XXI 162. Eine andere Ein-
kommensquelle des Hauptmanns ergibt sich aus einer Urkunde
vom 13. December 1347, in welcher Lochen den Städten Berlin und
Colin die an ihn gezahlte Orbede von 150 Mark quittirt.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 393
Hebungen aus der Alt- und Neumark, dem Lande über der
Oder und der Lausitz an den Markgrafen Friedrich von
Meissen50) noch grösser, und doch bedurfte der Markgraf
gerade in diesem Augenblicke, wo eine neue, seine Existenz
bedrohende Gewitterwolke über ihm aufzog, der Geldmittel
als des ersten Bedürfnisses zur Kriegsführung so sehr.
Schon im Frühjahre während der Abwesenheit des
Markgrafen in Bayern verbreitete sich in den Marken das
Gerücht, der seit 28 Jahren todtgeglaubte Markgraf Walde-
mar sei noch am Leben, und fand bei einem grossen Theile
der Bevölkerung williges Gehör.51) Als nun die neuernann-
ten Fürsten von Mecklenburg, Herzog Barnim von Stettin,
der Graf Gerlach von Nassau und andere Herren Carl von
Luxemburg als König anerkannten, und dadurch für Branden-
burg eine Lage geschaffen wurde, dass es vom Süden, Nor-
den und Westen von Feinden umgeben war, ausserdem auch
verlautete, der wieder erstandene Waldemar, der auf dem
Schlosse Wolmirstädt weile, sei von dem Bischöfe von
Magdeburg, den Herzogen von Sachsen und den Grafen von
Anhalt als acht anerkannt worden, begann in den Gesinn-
ungen der Märker eine bedeutende Schwankung zu Gunsten
ihres vom Tode erstandenen Herrschers. Gelang es auch
dem Landeshauptmanne Lochen, zu dem sich aus Schwaben
sein Onkel Heinrich und sein gleichnamiger Neffe begeben
hatten,52) mit Hilfe dieser die Stadt Bärwalde zu dem Ver-
sprechen zu vermögen, jeder Zeit dem Markgrafen Ludwig
die Thore zu öffnen,53) dann die Stadt Müncheberg, welche
am 15. Juli bereits dem Prätendenten gehuldigt hatte, zu
ihrer Pflicht zurückzuführen,54) und die von Schulenburg
in der Treue für seinen Herrn zu erhalten,55) so zeigen doch
50) 3. Juni Riedel B II 209. 51) „Darnach kam Markgraf Wold-
mar. — Ein mulner nie von Art geporn — da wart daz lant zumal
verlorn." Suchenwirt 80 flg. 52) Riedel A XIII 134. 53) 15. Juli
c. 1. XIX 15. 54) 16. Juli c. 1. XX 137. 55) 7. Aug. c. 1. A V 325.
394 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
die von Waldemar den Städten Alt-Brandenburg, Pritzwalk,
Osterburg, Tangermünde und den Städten in der Priegnitz56)
im Laufe des August ausgefertigten Bestätigungen und Neu-
verleihungen von bisher in diesem Maasse nie besessenen Rech-
ten, wie schnell- der Abfall um sich griff. Die Städte der
Alt-Mark, in der Lochen am 7. August noch zu Tangermünde
urkundet,57) ergaben sich dem eindringenden Heere derAs-
canier meist ohne Widerstand, doch mussten die Schlösser
Sandow, Kameren, Jerichow, Klitz, Scholene, Ploth und
Plauen theils durch List, theils mit Gewalt genommen werden.
Am 29. August befindet sich Waldemar bereits in
Brandenburg, und schliesst am 1. September zu Gremmen
mit den Herzogen Albrecht und Johann von Mecklenburg
ein Bündniss,58) dem sich auch Schweden, der Herzog Ru-
dolf von Sachsen, der Herzog Barnim von Stettin und die
Grafen von Holstein anschliessen. In diese Zeit mag das
Gefecht fallen, in welchem Lochen unterstützt von 50 Lüne-
burgischen Helmen dem Herzoge von Anhalt bei Nauen eine
Niederlage beibrachte59). Nunmehr suchte Waldemar sich
des Unterlandes zu bemächtigen, er war am 5. September
mit seinem Heere in Prenzlau,60) am 8. in Anger münde, am
11. in Bernau, und zog, nachdem in Spandan die Mecklen-
burger sich mit ihm vereint hatten,, vor Berlin. Wie er in
den Besitz dieser Stadt gelangte ist nicht bekannt, doch
möchte die Anwesenheit Lochens in Köpenicke (16. Sept.)61)
und der in der Stadt entstandene Brand auf eine, wenn auch
erfolglose, Verteidigung schliessen lassen. Am 20. stellte
56) c. 1. A IX 42, 43, III 378, 379, XVI 12, Klöden III 198 flg.
57) c. 1. A V 325. Diese Urkunde beweist, dass Klödens Ansicht,
Lochen, den der Markgraf als seinen Stellvertreter zurückliess, sei
mit Ludwig nach Bayern gezogen, irrig ist. Ludwig urkundet am
27. Juli in Passau, am 21. Aug. zu Hertenberg, 6., 12., 13. Sept. zu
Nürnberg. 58) Riedel B II 214. 59) Suchenwirt c. 1. 90 flg.
60) Riedel A XXI 162. 61) c. 1. XXIII 38.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 395
Waldeinar in Berlin Urkunden aus.62) Straussberg, das
bisher die pommerischen Truppen cernirt hatten, wurde mit
Sturm genommen. So hatte Waldemar, oder vielmehr die-
jenigen, denen seine Person als Mittel zur Erreichung ihres
Begehrens nach der Mark Brandenburg dienen musste, und
die ihn so ängstlich in allen Handlungen bevormundeten, den
grössten Theil der Mark in kurzer Zeit und mit geringer
Mühe sich unterworfen, nur das Land Lebus und die Neu-
mark waren noch im Besitze des Markgrafen Ludwig, der
sich nach seiner Rückkunft aus Bayern zu Tankow (22 — 24),
Neu-Berlin und Arnswalde (25., 26. Sept.) aufhielt, und am
30. nach dem bedrohten Frankfurt a./O. begab.63) Mark-
graf Ludwig war in Bayern nicht unthätig gewesen sich die
Mittel zu schaffen, um seinen Feinden mit Erfolg entgegen-
treten zu können. Verträge mit Dänemark, Sachsen-Lauen-
burg und den Hansestädten sicherten ihm Hilfstruppen,
König Casimir von Polen schützte seine Anhänger in der
Neumark, und Pfalzgraf Ruprecht, der jüngere, sammelte am
Rhein ein Heer, um dem bedrohtem Stammesgenossen zu
Hilfe zu kommen. Auf die Kunde von diesen Rüstungen
wendeten sich die Ascanier um Beistand an den Böhmen-
könig, und dieser bot nicht nur des Herzog Rudolf von
Sachsen ganze Macht, sondern selbst die schwäbischen und
elsässischen Herrn und Städte zum Zuzüge gegen den Witteis-
bacher auf.64)
Nach der Besitzergreifung von Berlin hatte sich Walde-
mar der Veste Straussberg bemächtigt, und rückte nun süd-
östlich, Barnim mit seinen Pommern legte sich vor Münche-
berg, ein anderer Heerestheil vor Fürstenwalde, ein dritter
Theil endlich beobachtete die Westseite von Frankfurt und
den dortigen Oderübergang. Am 30. September kam König
Carl mit einem zahlreichen Heere in das Lager von Münche-
62) c. 1. XI 36. 63) c. 1. XXIII 3J;. 64) c. 1. B II 216.
396 Sitzung der hist. Classe vom 2. Mai 1874.
berg, belehnte am 2. October auf Grund beschworner Aus-
sage den als acht geltenden Waldemar mit den Marken
Brandenburg und Landsberg, und verschrieb den Herzogen
Rudolf und Otto von Sachsen, sowie den Fürsten von An-
halt für den Fall, dass Waldemar ohne Erben sterbe, die
Nachfolge in diesen Ländern.65) Nachdem Fürstenwalde
und Müncheberg gefallen, vereinten sich die Truppentheile,
und zogen mit dem Könige zur Belagerung von Frankfurt
(7. October). Mit dem Falle dieser Stadt, mit dem die Ge-
fangennehmuDg des Markgrafen Ludwig und seines ganzen
Heeres verbunden sein würde, hoffte Carl den Krieg beendi-
gen zu können.
Wie bereits oben bemerkt war der Witteisbacher Mitte
September mit einer Reiterschaar in der Neumark ange-
kommen, und hatte dort die vom Norden kommenden Zu-
züge erwartet, die meiste Hoffnung setzte er auf das Heer,
welches vom Süden unter Pfalzgraf Rupprecht anrückte.
In der Lausitz hatte dieser sich mit den schlesischen Mann-
schaften des Grafen Günther von Schwarzburg vereint, und
setzte den Marsch zur Vereinigung fort, da stiess er, an
welchem Tage und Orte ist unbekannt, auf die Schaaren mit
denen Herzog Rudolf von Sachsen gegen Fürsten walde her-
anzog. Trotz des Abm ahnen s des kriegserfahrnen Grafen von
Schwarzburg griff der junge, feurige Pfalzgraf mit mehr
ritterlichem Sinne, als Besonnenheit die Sachsen an, zwei-
mal warf er sie zurück, beim dritten Anfalle wurde er um-
zingelt und mit 80 Helmen, darunter 14 aus dem Geschlechte
Zedlitz, gefangen.66) Günther schlug sich mit dem Reste
des Heeres durch und vereinigte sich mit dem an der Oder
ihn erwartenden Markgrafen Ludwig, und zog mit diesem
65) Riedel B II 217, 219. 66) Klöden III 221 setzt die Zeit
des Treffens zwischen 24. und 27. September, und die Wallstatt in
die Nähe von Luckau. Ueber das Treffen berichten auch chron.
Schwarzburg 343 und Adlzreiter.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 397
nach Frankfurt. In diese Stadt hatte der Markgraf auch
seine noch im Felde dem Feinde gegenüberstehenden Haupt-
leute mit ihren Mannschaften berufen, unter ihnen den ober-
sten Hauptmann Friedrich von Lochen.67)
Die Belagerung Frankfurts, das diessmal von der Süd-
seite aus angegriffen wurde, hatte bereits eine Woche ge-
dauert, als König Carl, in dessen Heere die Pest ausgebrochen
war, plötzlich sein Lager abbrach, und mit seinen Böhmen
und Mähren zuerst nach Fürstenberg, dann (20. October) in
die Heimath abzog. Bald folgten seinem Beispiele auch die
übrigen Fürsten, die Sachsen gingen in ihr Land zurück,
die Märker, Pommern, und Mecklenburger aber nach Straus-
berg, wo sie noch längere Zeit blieben.68)
Markgraf Ludwig, der bis zum 21. October in Frank-
furt sich aufhielt, suchte mit den bis jetzt verlornen Städ-
ten der Mark wieder in Verbindung zu treten, und beauf-
tragte Lochen und andere Hauptleute mit den Rittern und
Städten zu unterhandeln. Der Versuch gelang wenigstens
insoferne, dass von Seite Ludwigs die Städte Arnswalde,
Friedeberg, Neulandsberg und Morin, mit den dem Walde-
mar ergebenen Königsberg, Soldin, Schönfliess und Lippene
auf fünf Wochen einen Waffenstillstand eingingen, und da-
mit die gegenseitig mit grösster Erbitterung und Zerstörungs-
lust geführten Fehden beendet wurden.
Den Abmarsch der Feinde benützte Markgraf Ludwig
zur Wiedergewinnung der in der Neumark verlornen Städte.
Am 27. October hatte er Müncheberg bereits wieder in
seinem Besitze,69) und Fürstenwalde ergab sich nach ein-
tägiger Belagerung am 29. 70) Wahrscheinlich um das be-
lagerte Brietzen zu entsetzen stand der Markgraf mit Lochen
67) Lochen erscheint in den vom Markgrafen Ludwig in der
Neumark ausgestellten Urkunden nicht als Zeuge, dagegen mit Mar-
schall Heele von Sundheim und andern bayerischen Führern in den
zu Frankfurt gefertigten. 68) Riedel c. 1. XX 214. 69) c. 1.
XVIII 120. 70) c. 1. XX 138.
398 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
am 5. November im Lager bei Bardenitz. Da des Mark-
grafen Hoffnung, es würden sich viele seiner Mannen wieder
an ihn anschliesen, nicht in Erfüllung ging, ausserdem auch
der nahende Winter Belagerungen unmöglich machte, ging
er nach Frankfurt (23. Nov.) zurück, von wo aus er zuerst
zu dem Herzoge Friedrich von Sachsen, und als dieser die
angebotene Königskrone zurückwies, zu dem Grafen Günther
von Schwarzburg sich begab. Während dieser Bemühungen
einen Gegenkönig zu schaffen, berieth König Carl mit den
Ascanischen Fürsten zu Wittenberg den Feldzugsplan für das
nächste Jahr (29 Nov. — 4. Dec), und entfremdete (21. Dec.)
den Herzog Friedrich von Sachsen und dessen Söhne der
wittelsbachischen Partei.
Während zu Frankfurt die Vorbereitungen zur Wahl
Günthers getroffen wurden, weilte Markgraf Ludwig in der
Neumark zu Neu-Berlin undNeu-Landsberg (3. Jänner 1359),
und beauftragte vor der Abreise nach Frankfurt und Bayern
seinen Hauptmann von Lochen zum Könige Waldemar nach
Dänemark zu gehen, und von diesem Unterstützung mit
Truppen nachzusuchen. Anfänglich konnte Lochen von dem
Könige nur die Zusage von 300 Helmen erhalten, doch ge-
lang es im Laufe der weitern Verhandlungen, in denen der
ehemalige Marschall seine zur Eroberung des Königreiches
geleisteten Dienste besonders betonte, Waldemar zu ver-
mögen, dass er versprach, selbst mit einem Heere von
500 Helmen gegen die Feinde Ludwigs zu ziehen.71)
Die am Rhein erfolgte Wahl Günthers zum Könige
(16. Jänner), sowie die Furcht vor dem Ausbruche eines
zwischen den beiden Königen drohenden Krieges, verhinderte
den Wiederanfang der Feindseligkeiten in den Marken, und
der Hader beschränkte sich auf den Zusammenstoss ein-
zelner Hauptleute. Die ohnehin nicht günstige Lage des
71) Suchenwirt c. 1. 103—123.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 399
Markgrafen Ludwig wurde durch den Uebertritt des Pfalz-
grafen Rudolf, der im März seine Tochter Anna dem Böhmen-
könige verlobte, zur luxemburgischen Partei sehr verschlim-
mert, und es erübrigte ihm, da Günther am 26. Mai auf
die deutsche Königskrone verzichtete, nichts anderes, als
Carl als rechtmässigen König anzuerkennen, und zu erklären,
dass alle Streitigkeiten und Kriege mit diesem und dessen
Brüdern versöhnt und vergessen sein sollen. Der König
dagegen versprach Ludwig als den rechtmässigen Herrn von
Tirol und Brandenburg anzuerkennen, und dessen Lossprech-
ung vom Banne bei dem Papste zu erwirken.72)
Markgraf Ludwig der Römer, der während der Ab-
wesenheit seines Bruders sich in dessen Lande aufhielt,
erwartete seit Februar vergebens die Ankunft des dänischen
Heeres, und beschloss nun allein den Feind anzugreifen.
Zuerst ging er in das Land Lebus, und rückte dann von
da, während ein andrer Theil seiner Truppen von der Neu-
mark aus Oderberg und Altbarnim angriff, gegen Alten-
landsberg vor. Bei der Eroberung dieser Stadt erwarb sich
der Herzog die Ritterwürde.73) Am 14. Juli machte Lud-
wig den Städten und Landen in der Mark den Vorschlag,
sie möchten Gesandte zu König Carl schicken, um sich zu
überzeugen, dass zwischen diesem uüd den Witteisbachern
eine Aussöhnung zu Stande gekommen sei, und der König
die Rechtmässigkeit ihrer Ansprüche auf Brandenburg an-
erkannt habe. Bis zur Rückkehr der Abgesandten wurde
ein Waffenstillstand geschlossen , als Obmann der beider-
seitigen Schiedsleute, die über Loslassung der Gefangenen
und andere Streitigkeiten zu urtheilen hatten, wurde Fried-
rich von Lochen ernannt. 74) Im Laufe des Juli unterwarfen
sich auch die Städte Königsberg, Soldin, Schievelbein und
72) Riedel c. 1. B 11251 flg. 73) Albert. Argent 152. 74) Riedel
c. 1. B II 258.
400 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
Lippene den Witteisbachern, so dass die Neumark fast voll-
ständig wieder in ihrem Besitze war.
Trotz der Sühne und der Erklärung der Mehrzahl der
Kurfürsten, dass sie nur Ludwig, den Aelteren, als recht-
mässigen Besitzer der Marken anerkennen wollten, erliess
der ränkevolle König am 15. August an die märkischen
Städte ein Ausschreiben, worin er wiederum Waldemar als
Markgrafen von Brandenburg und Landsberg anerkannte.75)
Alle bisherigen Erfolge Ludwigs, der den eroberten Städten
zugestanden hatte, dass sie keine fremde Besatzung in ihren
Mauern aufnehmen mussten, waren durch diesen Erlass in
Frage gestellt, er sah dem Wiederausbruch der Feindselig-
keiten besonders in der Neumark entgegen, und war daher
hocherfreut als ihm Kunde wurde, der Dänenkönig sei auf
der Insel Poel gelandet, wolle im Vereine mit den Pommern
zuerst die Herzoge von Mecklenburg zum Frieden zwingen,
und dann in die Marken kommen. Von den Kämpfen in
Mecklenburg ist nur bekannt, dass der König zuerst Maien-
burg eroberte,76) und dann durch Pommern vor Strassberg
(26. Juli) zog; das er nach mehr wöchentlicher Belagerung
einnahm. Als er in die Uckermark eindringen wollte, drängte
ihn Herzog Albrecht von Mecklenburg, der kurz zuvor Fürsten-
berg erobert hatte, nach Strassberg zurück, und belagerte
diese Stadt. (September). Auf die Nachricht, Ludwig der
Römer rücke zum Entsätze an, ging Albrecht diesem ent-
gegen, und brachte ihm in den Engnissen vor Oderberg eine
so empfindliche Niederlage bei, dass Ludwig selbst nur mit
Noth der Gefangennehmung entging. Der Dänenkönig be-
nützte den Abzug der Mecklenburger, verliess Strassberg,
zog die Pommern an sich, und eroberte auf seinem Vor-
marsch gegen Berlin mehrere der abgefallenen Städte.
Seinem Vorgehen mag es zuzuschreiben sein, dass die Stadt
75) c. 1, B II 261. 76) Suchenwirt c. 1. 130.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 401
Spandau am 12. October sich für die Witteisbacher er-
klärte.77) Unter den Zeugen des mit dieser Stadt abge-
schlossenen Vertrages treffen wir auch Lochen, der am
24. August der Abschliessung des zwischen Markgraf Lud-
wig und den Herzogen von Braunschweig zu Stande ge-
kommenen Vertrages zu Frankfurt angewohnt, und am
9. October als Bürge Ludwigs dem Nicolaus von Werle die
Ansprüche auf Friedrichsdorf und Maienburg bestätigt hatte.78)
Von Seite der Dänen wurden grosse Anstrengungen ge-
macht Berlin zu erobern, bei einem Ausfalle, den die Be-
lagerten machten, wurden sie mit einem Verluste von 80 Mann
zurückgeschlagen.79) Alles war zum Sturm auf die Stadt
bereit, als der Herzog von Mecklenburg zu deren Entsätze
anrückte, und die Dänen zwang, sich gegen ihn zu ver-
schanzen und zu vertheidigen. Eine Schlacht schien unver-
meidlich, und schon rüsteten sich beide Heere dazu, als
durch Vermittlung benachbarter Mächte ein Vertrag zu Stande
kam, in welchem zwischen Dänemark, Pommern und Mecklen-
burg ein Waffenstillstand geschlossen, und die Entscheidung
ihrer Streitigkeiten in die Hände des König Magnus von
Schweden gelegt wurde. Nach dem Abzüge der Mecklen-
burger fiel Berlin80), und bald darauf auch Neustadt. Hie-
mit scheint der Krieg sein Ende gefunden zu haben, und
König Waldemar begab sich nach Spandau, wo auch Lud-
wig, der Brandenburger, nach seiner Rückkunft aus Bayern
sich aufhielt. Er und Lochen bezeugten die am 10. Nov.
erfolgte Verleihung der Städte Wusterhausen und Gransee
an den zu den Witteisbachern übergetretenen Graf Ulrich
77) Riedel A XI 138. 78) c. 1. A II 238. 79) Suchenwirt 51.
80) Die von Klöden III 354 in Abrede gestellte Angabe Kmtzows
I 375, dass Berlin eingenommen worden sei, bestätigt Suchenwirt in
dem Liede von Graf Ulrich von Cilly XII 59. „Er wagt die Flust
und auch gewinn — mit wernden handen vor Berlin."
402 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
von Lindau,81) und begleiteten dann die Markgrafen nach
Königsberg, Soldin, im December nach Gartz und Stettin.
Dass mit diesen Zügen auch kriegerische Zwecke verfolgt
wurden, möchte die im Felde (in campis) bei Berholz aus-
gestellte Urkunde vom 4. December beweisen. Am Schlüsse
dieses Jahres gewann Markgraf Ludwig durch die Abtret-
ung der Vogteien Jagow und Stolpe für sich einen Bundes-
genossen an Herzog Barnim von Stettin.
Mit rastloser Tbätigkeit benützte Markgraf Ludwig, der
Aeltere, die Winterruhe, um die wieder gewonnenen Städte
und Mannen, wie auch die ihm treugebliebenen, an sein In-
teresse zu fesseln, und auch die Stimmung König Carls, an
den sich unmittelbar nach der Belagerung von Berlin der
Dänenkönig und mehrere Fürsten mit der Bitte gewendet
hatten, ihnen einen Ort und Tag zu bestimmen, wo sie in
seiner Gegenwart ihrer Gegenpartei entledigt werden könnten,
fing an den Witteisbachern günstiger zu werden, und das
um so mehr, als er sich in seiner Würde als deutscher König
durch das Benehmen der Anhänger Waidemars, die nicht
ihn, sondern den König Magnus von Schweden zum Schieds-
mann angenommen hatten, verletzt fühlte. Carl befahl den
beiden um die Herrschaft in Brandenburg kämpfenden Par-
teien Anfangs Februar vor ihm in Bautzen zu erscheinen.
Zu Spremberg fand am 1. Februar 1350 eine Vorberathung
der Parteien statt, bei welcher die beiden Markgrafen Lud-
wig mit ihrem Hauptmanne Lochen, von der Gegenpartei
alle Fürsten mit Ausnahme des Prätendenten Wäldern ar er-
schienen. Ausser einem Compromiss auf den König von
Schweden wurde auch ein Waffenstillstand für die Marken
bis Pfingsten vereinbart,82) und durch gegenseitig auszu-
liefernde Vesten und dreissig Ritter und Edelknechte ver-
bürgt. Von Spremberg begab sich die Versammlung am
81) Riedel c. 1. A IV 56. 82) Riedel B II 265.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 403
6. Februar nach Bautzen, wo der König umgeben vcu den
Fürsten von Sachsen und Schlesien und andern Herrn sie
erwartete. Am folgenden Tage wählte Markgraf Ludwig
den Pfalzgrafen Ruprecht als Schiedsmann in seinen Streitig-
keiten mit dem Könige Carl.83) Auf Grund der Aussage
von vierzehn Zeugen, unter denen auch Lochen, ,,dass, wenn
es auf einen Eid ankomme, sie eher schwören wollten, dass
Waldemar des Markgrafen Conrad von Brandenburg seliger
Sohn nicht wäre, als dass er es sei", stellte der Pfalzgraf
Ruprecht an den König den Antrag, den Witteisbachern
Ludwig dem altern und Jüngern, sowie Otto und deren Erben
die Mark Brandenburg wieder zu verleihen, und Waldemar
zur Beibringung des Beweises, dass er der ächte Sohn des
Markgrafen Conrad sei, vor sein Gericht nach Nürnberg
vorzuladen.84) Schon am nächsten Tage (15. Febr.) be-
stätigte der König diesen Urtheilsspruch und verlieh den
genannten Fürsten die Mark Brandenburg.85)
Die Markgrafen ertheilten nun ihren Helfern reiche Be-
lohnung und Ersatz für die geleisteten Dienste. Zu Gunsten
des Königs von Dänemark verzichtete Ludwig auf die Reichs-
steuer in Lübeck, dem Grafen Ulrich von Lindow verlieh er
das Städtchen und die Burg Bützow; Friedrich von Lochen
erhielt die im vergangenen Jahre von ihm eroberte Stadt
und Burg Luckau86) um 2000 Mark verpfändet.87)
Nach Beendigung der Verhandlungen begab sich (An-
fangs März) Markgraf Ludwig der Aeltere nach Bayern,
sein Bruder aber nach Spandau. In den Verträgen, welche
hier der Markgraf mit dem Herzoge Erich von Sachsen
Lauenburg über eine Schuld und Dienstleistung abschloss
83) c. 1. 267. 84) Sommersberg Script, rer. Siles. I 982 - 984.
85) Riedel c. 1. B II 277. 86) „Und legte sich für Lukau — die
Stat wolt man erberet han — doch gwan er sey den veihden an."
Suchenwirt 134 flg. 87) dat. 21. Februar. Riedel c. 1. B II 289,
404 Sitzung der histor. Gasse vom 2. Mai 1874.
(3. und 4. März 88)5 wurde Lochen ,,und war, was Gott nicht
gebe, dieser todt, oder siech, oder nicht im Lande" Benedict
von Anefeld zum Obmann ernannt. — Am 29. März gab
König Carl den Städten Brandenburg, Berlin, Colin, Prenz-
lau, Pasewalk, Angermünde, Templin, Perleberg, Pritzwalk,
Kyritz, Havelberg, Nauen, Rathenow, Görtzke, Straussberg,
Eberswalde, Bernau und Köpernik die Ergebnisse des Tages
zu Bautzen bekannt, und am 6. April folgte, da der Reichs-
tag zu Nürnberg Waldemar als einen Betrüger, die Witteis-
bacher aber als rechte Herren der Mark erkannt hatte, die
Aufforderung an sie, sich letzteren zu unterwerfen.89) Die
Fürsten Otto und Wilhelm von Lüneburg und die Mark-
grafen Friedrich und Balthasar von Meissen erhielten vom
Könige den Auftrag, den Witteisbachern bei der Wiederer-
oberung des verlornen Landes beizustehen.
Waldemar und die Ascanier erkannten das Urtheil des
deutschen Königs nicht an, und trotz der im Lande wüthen-
den Pest rüsteten beide Parteien sich zum Kampfe, der im
Juli mit einem Einfalle der Pommern in der Uckermark
begann, während Markgraf Ludwig gleichzeitig über Alten-
landsberg und Spandau vordrang. Lochen, der sich am
27. Juli zu Frankfurt befand,90) zog vor Kyritz und nahm
das Städtchen nach kurzer Belagerung ein (8. August). Kurze
Zeit darnach brachte er dem Fürsten von Anhalt, der gegen
Spandau heranzog, und den Markgrafen Ludwig in dieser
Stadt einschliessen wollte,91) eine Niederlage bei, in welcher
der junge Waldemar von Anhalt in Gefangenschaft gerieth.
Die Hilfstruppen, welche um diese Zeit Ludwig, der Branden-
burger, und Pfalzgraf Ruprecht aus Bayern in die Mark ge-
88) Riedel c. 1. B II, 292, 293. 89) Riedel c. 1. XII 497, XXI
166. 90) c. 1. XVIII 464. 91) „Da tzogte der von Anhalt. — Für
Spandaw mit gewalt — da der Markgraf inne lag." Suchenwirt c. 1.
145 flg. Ludwig urkundet am 9. Aug. zu Spandau. Riedel A I 376.
Würdinger: Friedrieh von Lochen. 405
bracht hatten, erlaubten den Krieg nun im grösseren Mass-
stabe zu betreiben und wir finden Lochen als obersten
Hauptmann mit dem Markgrafen im Lager bei Wittstock
(22. Aug.), bei den Belagerungen von Saarmund (1. Sept.),
Bernau (19. — 26. Sept.), Straussberg (10. Oct.), Euerswalde
(1. und 2. Nov.), und, ohne Näheres darüber angeben zu
können, am 7. und 21. November bei oder in Stendal, das
der König am 13. September mit anderen Städten geächtet
hatte. Den Schluss der Urkunden, die die persönliche Theil-
nahme Lochens an den Ereignissen dieses Jahres nachweisen,
bildet die am 24. December zu Luckau ausgestellte, in
welcher Markgraf Ludwig der Stadt Müncheberg bekannt
gibt, dass er die Marken Brandenburg und Lausitz auf
sechs Jahre an seine Brüder Ludwig, den Römer, und Otto
abgetreten habe.92)
Dem nächsten Jahre (1351) war noch viel zur Aus-
gleichung aufbehalten, was das vergangene unentschieden ge-
lassen hatte. Das erste für Markgraf Ludwig günstige Er-
eigniss war die Aussöhnung mit dem Bischöfe von Havel-
berg (6. Jänner), und die damit verbundene Benützung der
an der Grenze der Altmark gelegenen bischöflichen Vesten.
Ihr folgte die Unterwerfung der Vogtei Salzwedel (4. Febr.)
In dem Streite mit dem Johanniterorden, wegen des Patro-
nates über die Pfarrkirche zu Königsberg, compromittirte
Markgraf Ludwig, der Römer, (19. Febr.) auf Lochen und
den Grafen Günther von Schwarzburg.93) Für die Dauer
der Abwesenheit des Jüngern Ludwig, der zu seiner Mutter
Margarethe nach Holland reiste, übernahm Ludwig, der
Brandenburger, die Regierung, und begann von Havelberg
aus mit der Belagerung von Sandow den Krieg gegen die
Anhänger Waidemars. Die Stadt unterwarf sich, und bald
folgte ihrem Beispiele Rathenow. Noch ehe der Kampf sich
92) Riedel c. 1. XX 140. 93) Riedel XIX 222.
[1874, 4. Phil. hist. Cl.] 28
406 Sitzung der Mstw. Classe vom 2. Mai 1874.
in die Priegnitz zog, unternahm Lochen die Belagerung des
an der Elbe gelegenen Wittenberg94) und lag dort, ohne
dass der Erfolg bekannt ist, drei Tage. — Von den Ereig-
nissen in der Priegnitz ist nur die Unterwerfung der Stadt
Pritzwalk (26. März) bekannt.95) Lochen, der am 18. April
der Belehnung des Betekin Valkener in Spandau beiwohnt,
begleitet den Markgrafen in die Altmark, und nach Be-
endigung der dortigen Geschäfte zur Belagerung der Städte
Colin und Berlin. Als der Versuch sie mit den Waffen zu
nehmen misslang, schloss der Markgraf mit beiden auf drei
Wochen einen Waffenstillstand, nach dessen Beendigung am
22. Juli im Lager zu Tempelhof eine Uebereinkunft zu
Stande kam, in deren Folge Colin und Berlin die beiden wittels-
bachischen Brüder zu Herren wieder annahmen.96) Wie
gross die von Lochen an Vorschüssen und sonstigen Aus-
gaben dem Markgrafen gegebenen Summen gewesen sein
müssen, zeigt eine Urkunde vom 4. Juli, in der Pfalzgraf
Ruprecht es übernimmt, für Ludwig an dessen lieben und
getreuen Friedrich von Lochen, die Summe von 3400 Gulden
zu bezahlen.97) In einem am 3. August zu Spandau aus-
gestellten Briefe erscheint Lochen als Küchenmeister des
Markgrafen.98) Während des Aufenthaltes Ludwigs in Pirna
befindet sich Lochen in der Nähe seiner alten Hauptmann-
schaft zu Havelberg (2. Sept.), dann mit dem Markgrafen
in Berlin, Frankfurt und Lippene; als „Hauptmann in der
Mark" urkundet er im October zu Königsberg und Neu-
berlin, und war im November bei Versöhnung des eroberten
Stendal,99) (12.), und bei der mit dem Erzstifte Magdeburg
(23.)100) anwesend. Lochen leitete auch die Unterwerfung
94) Suchenwirt. „Darnach zog der auserbelt. — Für Wittenberch
mit grosser macht — Er lag untz an den dritten Tag — Vor der
Stadt mit Heldes mut" 153 flg. 95) Riedel A IX 28. 96) c. 1.
B n 333. 97) Freiberg c. I. I 223. 98) Riedel XVIII 127.
99) c. 1. XVI 139. 100) c. 1. B II 336.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 407
der Städte Seehausen, Gardelegen, Tangermünde und Oster-
berg. Bei Eintritt der rauhen Witterung wurde das Heer
entlassen. Markgraf Ludwig konnte mit den Erfolgen des
Krieges zufrieden sein, denn seine Gegner hatten jetzt 'nur
noch die Uckermark, und ausserdem einen Theil des Havel-
landes und der Zauche inne. Mitte December ging er nach
Berlin, nnd dann mit Lochen nach Luchau, wo er seinen
aus Holland heimkehrenden Bruder Ludwig, den Römer,
traf. Erst jetzt wurde die im vorigen Jahre zu Frankfurt
beschlossene Mutschirung des Landes in Vollzug gesetzt. Lud-
wig, der Aeltere, erhielt Oberbayern, dagegen Ludwig der
Römer, der zugleich Vormund seines Bruders Otto wurde,
die Mark Brandenburg mit allen dazu gehörigen Rechten,
ausserdem gelobten die Brüder beim Ausbruche eines Krieges
sich gegenseitig mit 100 Helmen beizustehen (24. Dec). 101)
Am 27. December verliess Ludwig, der Brandenburger, ge-
folgt von vielen bayrischen Rittern die Lausitz für immer,
um nach dem von ihm mehr als die Marken geliebten Bayern
zurückzukehren.
Lochen blieb im Dienste des neuen Landesherrn, den
er zur Einnahme der Huldigung nach Berlin (4. Jänner 1352),
und Stendal (15. Jänner) begleitete. Da ihm wie dem Grafen
Heinrich von Schwarzburg als Hauptleuten der Truppen,
welche den jungen Grafen Wäldern ar von Anhalt gefangen
genommen hatten, ein Anspruch auf das von diesem zu er-
legende Lösegeld zustand, so wurden beide auch den Rath-
mannen von Berlin und Colin, welchen nun der junge Fürst
übergeben wurde, beigeordnet (15. Febr.).102) Bald nach
dem Ausbruche des Krieges mit den Anhaltinern steht Lochen
im Lager bei dem Dorfe Groben, wahrscheinlich um die
Veste Saarmund zu belagern. Ob er an dem Kriege in der
Uckermark, deren Städte Prenzlau, Pasewalk und Templin
101) Riedel c. 1. B II 338, 340. 102) c. 1. B II 344.
28*
408 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
den Fürsten von Anhalt die Mittel zur Werbung von 100 Hel-
men geboten hatten, th eilnahm, ist, wenn auch wahrscheinlich,
doch nicht mit Urkunden nachzuweisen. In kriegerischer
Thätigkeit findet sich Lochen im Lager zu Nauen (10. Juli), 103)
fünf Tage später zwischen Nauen und Brandenburg, und,
als sich der Krieg in die Altmark zog, am 1. August mit
dem Markgrafen im Felde zu Osterhof, südlich von Sandow.10*)
Kunde von den mit diesen Zügen verbundenen Erfolgen ist
nicht auf uns gekommen. Für die geleisteten Dienste über-
liess Markgraf Ludwig „dem tapfern Held und Kriegsmann105)
Friedrich von Lochen" am 3. September die Lehenschaft
über Mühlen-, Gericht-, Zoll- und Hufenzins in der Stadt
Fürstenwalde.106) Bei Gelegenheit der Verpfändung des
Wächteramts auf der Rathenowschen Haide, muss Tylo von
Wedingen die Verbindlichkeit eingehen, jährlich 50 Pfund
Pfennige an den Hauptmann von Lochen zu entrichten.
Die ersten Monate des Jahres 1353 scheint Lochen in
Fürstenwalde zugebracht zu haben, um dort den Bau einer
Burg zu betreiben, aus der man, selbst wenn die Stadt
schon gewonnen wäre, sich noch vertheidigen könne. Zu
diesem Unternehmen ertheilte Markgraf Ludwig am 24. April,
„damit die Stadt desto besser vertheidigt werden könne",
seine Genehmigung,107) und fügte der bei Bestätigung der
Freiheiten der Stadt ausgestellten Urkunde, noch besonders
die Clausel bei: „Aber das Gebäude soll unzerbrochen
bleiben, das an -der neuen Veste in der Stadt gebaut ist,
und was noch dazu gebaut wird, auch soll dieser Brief dem
Friedrich von Lochen und dessen Erben in allen ihren
Rechten, die sie in Fürstenwalde haben, keinen Schaden
bringen. (5. Juli).108)
Von Fürstenwalde aus begleitete Lochen den Markgrafen
103) c. 1. A VII 314. 104) Klöden IV 130. 105) Riedel
XI 44. 106) c. 1. XX 216. 107) c. 1. XX 217. 108) c. 1. XX 218.
Würdinger: Friedrich von Lochen, 4G9
nach Spandau, und lag mit ihm (16. Juli) vor Straussberg.109)
Im August weilte er zu Nurenberg (1.) und Müncheberg (14.).
Nach der Ankunft^ des Herzog Friedrich von Bayern, der
eine Reiterschaar mit sich führte, und der Hilfstruppen des
Herzoges Erich von Sachsen-Lauenburg versuchte Markgraf
Ludwig den Ascaniern die Vogtei Liebenwalde abzunehmen.
Anfangs September wurde Liebenwalde belagert,110) am
25. September stand der Markgraf vor Brandenburg,111) im
October unterwirft sich ihm Perleberg,112) und vom 11. bis
26. November urkundet er vor Straussberg.113) Ob die
Gewalt der feindlichen Waffen, ob der Eintritt des Winters
seinen Rückzug nach Straussberg nöthig machte, ist un-
entschieden.
Schon am 19. Februar 1354 steht der Markgraf wieder
vor Liebenwalde, und genehmigt bei seiner Rückkunft
nach Berlin (26. Febr.), dass Lochen eine Hebung aus dem
Hufenzinse zu Fürstenwalde verkaufe.114) In der Umgeb-
ung Ludwigs wohnt Lochen der Versöhnung desselben mit
dem Stifte Lebus (14. März) und der Schliessung des Bünd-
nisses mit Herzog Heinrich von Schlesien (15. März) bei.
Herzog Barnim von Pommern hatte in seinem Kriege
mit Mecklenburg einen grossen Theil der Uckermark erobert.
Markgraf Ludwig begann nun mit Barnim zu unterhandeln,
und erbot sich einen Theil der Uckermark für immer an
Pommern abzutreten, wenn ihm dagegen der Rest des Landes
übergeben würde. Zum Abschlüsse dieser Verhandlungen
kamen die beiden Fürsten am 5. April zu Oderberg zusam-
men, Ludwig trat den grössten Theil der Vogtei Stolze und
Besitzungen in der Vogtei Prenzlau an Pommern ab, erhielt
aber dagegen den Rest der beiden Vogteien und die Vogtei
109) c. 1. XXIV 60. 110) c. 1. A III 383. 111) c. 1. B VI
88. 112) o. 1. A I 152. 113) c. 1. XX 219, XXIII 61. 114) c. 1,
XX 219.
410 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
Jagow, das Haus zu Greiffenberg, das Haus zu Boitzenburg,
Neuensund, Haus und Stadt Jagow und Verkwitz.115)
Boitzenburg,116) Stadt und Veste, vejsjieh der Markgraf
seinem treuen Diener Lochen, und dieser gab (4. Mai) zu
Stettin dem Herzoge Barnim das Versprechen, ihn aus der
Burg nie zu befehden, ausser es läge der Markgraf mit dem
Herzoge in Fehde.117) Ob Lochen schon jetzt von der
ihm verliehenen Burg Besitz ergreifen konnte, könnte be-
zweifelt werden, da die Herzoge von Pommern Wolgast am
22. Mai mit den Fürsten von Anhalt ein Bündniss schlössen,
und für ihre Dienstleistung die Vogtei Jagow, die Stadt
Pasewalk und das Land Brüssow als Pfand erhielten.118)
Am 12. Juni ist Lochen zu Frankfurt, und nimmt an den
Unterhandlungen Theil, welche in Vorsorge für den Krieg
mit Pommern mit dem Johanniter-Orden wegen Oeffnung
der Veste Tempelburg geführt wurden.119) Die ihm in
Fürstenwalde angewiesenen Hebungen scheint er durch die
Verpfändung dieser Stadt an den Bischof von Lebus (17. Juni)
verloren zu haben, ausserdem verzichtete er auch (24. Juni)
zu Gunsten der Stadt Frankfurt auf die ihm zustehende
Urbede von Straussberg.1*0) Am 12. Juli war Lochen Zeuge
der zwischen dem Bischöfe von Magdeburg und dem Mark-
grafen Ludwig stattfindenden Sühne, sowie der Belehnung
des letztern mit den magdeburgischen Gütern, den Städten
Arneburg und Tangermünde.181) Um diese Zeit löste sich
auch das Bündniss der Herzoge von Pommern mit den
Fürsten von Anhalt wieder, und letztere scheinen, da auch
Herzog Rudolf von Sachsen ihre Partei verliess, mit dem
Markgrafen Ludwig in Unterhandlung wegen des Friedens
115) Riedel c 1. B II 350, 351. 116) Boitzenburg liegt zwischen
Lychen undPrenzlau. Die Burg ist der Geburtsort des im Jahre 1639
gestorbenen Feldmarschalls Georg von Arnim. 117) Riedel
B II 356. 118) c. 1. B II 352. 119) c. 1. XXIV 61. 120) c.
1. XXIII 68. 121) Riedel c. 1. II 357,
Würdinger: Friedrich von Lochen. 411
getreten zu sein. Lochen begleitete den Markgrafen nach
Salzwedel und Nauen (August), dann nach Kyritz (Oct.) und
Pritzwalk (November).
Der Beginn des Jahres 1355 eröffnete dem Markgrafen
Ludwig die Aussicht jene grossen Wirren, die seinem Lande
seit sieben Jahren so verderblich geworden, zu lösen. Mit
Lochen belagerte er im Februar die in der Altmark gelegene
Raubveste Apenburg, ging nach deren Eroberung nach
Stendal, und belehnte dort (7. Februar) den Ritter Marquard
Lotterpeck mit den Schlössern Tangermünde und Arne-
burg.128) Ende Februar waren die Verhandlungen mit den
Anhängern Waidemars soweit gediehen, dass zu ihrem Ab-
schlüsse die Fürsten in Prenzlau zusammen kommen konn-
ten. Mit grossen Summen musste der Witteisbacher die
Ansprüche seiner Gegner ablösen, und ihnen bis zur Erleg-
ung des Geldes Landestheile verpfänden.123) Die Städte
Templin, Brandenburg und Görtzke, welche der in Dessau
weilende Waldemar am 10. März aus seiner Pflicht ent-
lassen hatte, huldigten nun dem Markgrafen Ludwig.
Der 19. Mai dieses Jahres scheint eine bedeutende
Aenderung in der Stellung Lochens, der in den Urkunden wohl
seit einiger Zeit nicht mehr Hauptmann genannt wird, aber
doch in ihnen als Zeuge nach den Edeln immer die erste
Stelle unter den Räthen einnimmt, hervorgebracht zu haben.
Schon im vergangenen Jahre (7. Oct.) hatte Markgraf Lud-
wig zu Königsberg den Hasso von Wedel von Falkenburg
zum Hauptmann und Vogt seiner Lande und Städte auf
dem rechten Ufer der Oder ernannt, und demselben so aus-
122) c. 1. A VI 191. 123) Klöden IV 237. Klöden c. 1. 246
gibt die Summe, worin auch die Schätzung für die abzutretenden
Landestheile inbegriffen ist, auf 46000 Mark an, was dem Betrage
von 595,819 Tbalern entsprechen würde, während Burggraf Friedrich
von Nürnberg die Mark Brandenburg von Kaiser Sigismund um
99G,6G6 Thaler Silberwerths kaufte.
412 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 18? '4.
gedehnte Rechte ertheilt, dass dem Fürsten fast nur noch
die Bestätigung der Beschlüsse seines Hauptmannes, dem
mehrere Räthe beigegeben waren, übrig blieb. Ein gleiches
trat nun auch diessseits der Oder ein, indem der Markgraf,
„mit Rath seines ganzen Rathes" bei Ernennung des Hasso
von Wedel124) zum Hofmeister, diesem die Landesregierung in
allen Theilen der Mark und der Lausitz übergab, mit dem
Beisatze, „dass er Niemand über sich haben soll als den
Markgrafen". Unter den dem Hofmeister für das Land diess-
seits der Oder beigegebenen Räthen ist als der einzige Aus-
länder Friedrich von Lochen.125) Dass dieser erst jetzt
seiner Stellung als Landeshauptmann enthoben wurde, scheint
die am 7. Juli zu Kyritz ausgestellte Urkunde136) des Mark-
grafen zu belegen. In ihr erklärt Ludwig, „dass der ehrbare
Ritter Friedrich von Lochen während der Zeit, wo er in
diesem Kriege sein Hauptmann gewesen, sich gar sehr ver-
than und verzehrt hat an Kosten und Schaden, die der
Markgraf ihm zu entrichten und zu ersetzen schuldig ist,
darum will er über ihn und sein Gut nicht richten, noch
Jemand gestatten zu richten, so lang er dem Lochen die
Schuld nicht zurückbezahlt hat. Er gebietet darum allen
seinen Hauptleuten und Richtern in der Mark, dass sie sich
darnach achten und über ihn, seine Leute und Güter nicht
richten".
Von nun an kommt Lochen nur noch in Urkunden, die
der Markgraf, den immer nur einige Räthe begleiteten, diess-
seits der Oder ausstellte, vor, so am 21. September zu
Straussberg bei Bestätigung der Privilegien der Stadt Alten-
Landsberg. 127) Seinen ständigen Aufenthalt nahm der Ritter
in Boitzenburg, wo er am 3. Juni 1356 dem Kloster Marien-
pforten Besitzungen zu Khutz verkaufte. 128) Als „edler Mann"
124) Riedel XVIII 135. 125) c. 1. C I 35. 126) c. I,
XIII 330. 127) Riedel XIII 130. 128) c. 1. XXI 38.
Würdinger: Friedrich von Lochen. 413
(vir nobilis) und Herr zu Boitzenburg urkundet Lochen zum
erstenmale am 20. August 1357. 129) Zeugen seiner fortge-
setzten amtlichen Thätigkeit sind die Urkunden vom 21. Fe-
bruar 1358 und 27. September 1360, die letzten von ihm
gezeichneten fallen in die erste Hälfte des Jahres 1364.
In letztgenanntem Jahre befindet er sich am 24. Februar
mit den Markgrafen Ludwig und Otto zu Tangermünde,
wohnt am 12. und 14. April zu Pirna der Th eilung der
märkischen Lande unter den beiden Brüdern, und dem
Eheversprechen des Markgrafen Otto bei, und erscheint zum
letztenmale in amtlicher Eigenschaft am 21. Juni zu Königs-
berg in der Urkunde, in welcher Markgraf Otto seine Zu-
stimmung gibt, dass die Städte Seehausen, Perleberg, Arne-
burg, und Werben der Markgräfin Ingeburg als Leibgeding
angewiesen werden.130)
Der Darstellung Lochens in seinem Wirken als Staats-
mann und Krieger mögen noch einige Nachrichten über dessen
letzten Lebenstage und Familie folgen. — Als Hauptstück
des Gottesdienstes wurde in jener Zeit die Messe betrachtet,
und ihre Notwendigkeit für Lebende und Todte so nach-
drücklich angepriesen, dass viele aus dem Volke sich be-
wogen fanden, wenn nicht Kirchen und Kapellen, so doch
in den vorhandenen Kirchen neue Altäre zu stiften, und an
denselben durch fleissiges Messelesen für ihr Seelenheil und
das ihrer Vorfahren und Nachfolger gründlich zu sorgen.
Selbst mildthätige Vereine wandten viel mehr auf Seelen-
messen, als auf Almosen, denn durch das letztere konnte
nur das kurze menschliche Elend, durch jenes das ewige
jenseitige gemildert werden. Diesem Zuge seiner Zeit folgend
stiftete Lochen am 21. Juni 1364 vier Hufen in Baumgarten
zu einem in der Johanneskirche zu Prenzlau neuerrichteten
Altare.131) In seinem, am 7. Februar 1365 zu Boitzenburg
129) c. 1. A 1 154. 130) c. 1. A VI 194. 131) Riedel c. 1. XXI 21.
414 Siiäung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
gemachtem Testamente132) bedachte er zu seinem Seelen-
heile das Kloster Marienpforten mit allen Gütern und Rech-
ten, die er im Dorfe Kuhz noch besass; zum Bau einer
Kirche auf dem Frauenberge schenkte er 50 Mark Silber,
ausserdem stattete er den Klosterfrauen in Boitzenburg
31 Mark, die er ihnen schuldete, zurück. Zehn Klöster der
Umgegend erhielten 20, die Kirche in Hannstal 11, die in
Heddingen 10 Gulden. Seiner Frau Guthe vermachte er
210, seinem Sohne dem Ritter Ulrich von Lochen 100 Mark
Silber. Für geleistete Dienste und rückständigen Sold er-
hielten sein Onkel Fricko 50, seine reisigen Knechte 100 Mark
Silber. Alle diese Summen wies er auf 890 Mark Silber
an, die ihm Pfalzgraf Ruprecht von Bayern schuldig war,
und in die Hände der Frau Guthe und ihrer Töchter Agnes
und Margaretha abzuliefern versprochen, hatte. Für Bezah-
lung kleinerer Schulden und noth wendiger Ausgaben setzte
er 100 Mark, ebensoviel für die Kosten des Begräbnisses,
und eine gleiche Summe für die notwendigsten Bedürf-
nisse aus.
Kurze Zeit nach Abfassung dieser Verfügungen starb
Lochen, und in der Urkunde, in welcher Katharina (sie) die
Bestimmungen ihres Mannes am 13. März 1365 anerkennt,
nennt sie sich bereits die Wittwe Friedrichs von Lochen,133)
begraben wurde er zu Marienpforten.134)
Am 30. Juli 1365 verkaufte Ulrich von Lochen dem Mark-
grafen Otto Haus, Städtchen und Land Boitzenburg, sowie alle
seine andern Güter in der Mark um 37 10 Mark löthigen Silbers.
Der Markgraf verpflichtete sich diese Summe bis Weihnach-
ten zu Nürnberg oder Frankfurt am Main zu erlegen. Sollte
die Zahlung nicht erfolgen, könne Ulrich die genannten
Güter an einen Andern verkaufen und der Markgraf würde
diesem die Belehnung damit nicht verweigern. Zeugen dieses
132) c. 1. 39. 133) c. 1. 40. 134) c. 1. 40,
Würdinger: Friedrich von Lochen. 415
Vertrages sind ausser dem Bischöfe von Lebus — Martin
von Cuntzendorf, Ulrichs Hofmeister, sein Hofrichter Gum-
precht von Adelnhausen und sein Vogt Richter Nickel von
Erdmannsdorf. Bis zum 14. Dezember 1367 waren von der
Kaufsumme nur 137 V2 Schock Groschen erlegt, wesswegen
Ulrich dem Markgrafen neue Termine setzte, und zwar den
ersten zur Erlegung von 8000 kleinen Gulden, „wie sie in
Nördlingen giltig sind" auf den 2. Februar 1368, einen
weitern auf Ostern, als letzten aber die Weihnachten des-
selben Jahres. Weitere Bedingungen waren, dass wenn das
Geld bis Ostern nicht erlegt wäre, die bereits geschehene
Anzahlung verloren sei, geschähe aber die Zahlung zu Nörd-
lingen an keinem der festgesetzten Termine, so wäre Boitzen-
burg wieder an Ulrich von Lochen auszuhändigen, und der
Markgraf hätte ausserdem noch an Reimbold von Greifen-
berg, der mit der Schwester Ulrichs Lucie verheirathet war,
das Dorf Claushagen mit allen Rechten als Leibgeding zu
verleihen.135) — Diessmal muss die Zahlung erfolgt sein,
da Markgraf Otto im Jahre 1369 Boitzenburg und andere
Orte den Städten Frankfurt, Kölln und Berlin um 3000 Mark
Silber verpfänden konnte.
Ulrich von Lochen verliess nun die Mark Brandenburg
und kehrte in seine Heimath an den Bodensee zurück. Mit
Genehmigung des Kaisers erwarb er im Mai 1370 von Con-
rad Vogt von Summerau den Zoll von Lindau,136) und findet
sich im Jahre 1385 im Bürgerbuche dieser Stadt. Eine
seiner Schwestern heirathete Wernherr von Raitenau. Der
Wittwe Friedrichs begegnen wir als Frau Gute von Lochen,
Herrin von Wrietzen,137) am 18. Mai 1366 als Ausstellerin
einer Urkunde, in der sie in der Lorenzkapelle zu Wrietzen
zur Gedächtnissfeier für ihren Gemahl, für sich und ihre
135) Riedel VIII 332. 136) Würdinger Urkunden-Auszüge
zur Geschichte der Stadt Lindau 31. 137) Stadt an der Oder in
der Mittelmark.
416 Sitzung der Jiistor. Classe vom 2. Mai 1874.
Töchter Agnes und Margaretha einen Jahitag stiftet.138)
Zum letztenmal erscheint der Name der Familie in branden-
burgischen Urkunden im Jahre 1373 in einer Beschreibung
der Neumark, und zwar noch im Besitze von Wrietzen. 139)
Zum Schlüsse mag noch der Namen einiger Männer Er-
wähnung geschehen, welche zu gleicher Zeit mit Lochen in
der Mark Brandenburg den Witteisbachern hervorragende
Dienste leisteten, und zwar aus Bayern: Altmann von
Degenberg, Küchenmeister (1334 — 1348), Berthold von
Ebenhausen, Küchenmeister (1343 — 1353), Johann von
Hausen, Kammermeister (1336 — 1361), Heinrich von Reisch-
ach (1338—1344), Friedrich Mautner, Hauptmann, (1344
bis 1348), Wolfgang von Satzenhofen, Hofmeister (1344-1350),
Marquard Lotterpeckh, Vogt zu Spandau (1339 — 1363); aus
Schwaben: Beringer Heele von Suntheim, Marschall (1335
bis 1350), Diepold Heele (1350—1355), Herzog Conrad von
Teck (1339—1348). Sweiker von Gundelfingen (1344 bis
1348), 140) endlich Wilhelm von Wonbrecht, der Schenk,
(1336 — 1355). 141) Die meisten der Genannten verliessen
mit Ludwig dem Brandenburger (1353) die Mark, und wirk-
ten als dessen Diener in Bayern und Tyrol.
138) Riedel XXI 450. 139) c. 1. B III 4. 140) Sweiker
von Gundelfingen, bayrischer Hofmeister, ermordete am 4. Sept. 1352
den Hauptmann von Oberbayern, Conrad von Teck. 141) Die ein-
geklammerten Jahreszahlen bezeichnen nicht die Dauer der öfter
wechselnden Dienstesstellung, sondern die des Vorkommens der Per-
sönlichkeiten in den brandenburgischen Urkunden.
Rockinger: Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 417
Herr Rockinger legt vor:
„Gelegenheitliche Bemerkungen zu den Hand-
schriften des kleinen Kaiserrechtes, insbe-
sondere über eine Rechtsbücherhandschrift
zu Münster vermeintlich vom Jahre 1449.
Von dem kleinen Kaiserrechte, seitdem es um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts durch den Reichsfreiherrn
Christian v. Senckenberg genauer bekannt beziehungsweise
allgemein zugänglich geworden , mehr oder minder ver-
schiedenartig!) beurtheilt, bald überschätzt und bald auch
unterschätzt, vor nahezu einem Menschenalter durch den
noch vor der Vollendung des Druckes aus dem Leben ab-
berufenen Professor Endemann mehr oder weniger auf
der Grundlage einer Fuldaer Handschrift vom Jahre 1372
neu herausgegeben, liegen etwa drei Dutzende von
Handschriften zum Theile des 14. Jahrhunderts und
namentlich des folgenden vor.
Der zuletzt genannte Bearbeiter unseres Rechtsbuches
zählt in der Einleitung zu seiner Ausgabe desselben
S. XVIII-LXVIII nicht weniger als 37 Handschriften auf.
Die Einsichtnahme von einigen derselben , womit ich für
andere Zwecke mich befasste, hat mich auf Wahrnehmungen
geführt, welche ich in Kürze zur allenfallsigen Berück-
sichtigung von Forschern auf dem Gebiete des berührten
Rechtsbuches hier mittheilen will.
Zwei von jenen Handschriften sind mehr oder weniger
überhaupt auszuscheiden.
1) Vergl. in dieser Beziehung v. Gosen das Privatrecht nach
dem kleinen Kaiserrechte S. 2 und 3.
418 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
Zunächst die unter Ziff. 20 aufgeführte des Stadt-
archives zu Danzig, indem in ihr gar kein Exemplar
des kleinen Kaiserrechtes enthalten ist, wie sich aus meinem
dritten an die kaiserliche Akademie der Wissenschaften
zu Wien erstatteten Berichte über die Untersuchung von
Handschriften des sogenannten Schwabenspiegels des näheren
ergibt, in den Sitzungsberichten der philosophisch-historischen
Classe Band LXXV S. 63—132 veröffentlicht, insbesondere
S. 92—98.
Was sodann die unter Num. 14 erwähnte Handschrift
der Stadtrathsbibliothek zu Leipzig betrifft, findet sich
in ihr keineswegs das Rechtsbuch, welches man jetzt unter
dem Namen des kleinen Kaiserrechtes begreift, sondern ein
lediglich aus dessen erstem Theile in Verbindung mit Be-
stimmungen des sogenannten Schwabenspiegels gebildetes
kurzgefasstes Gerichtshandbuch, welches auch eine nunmehr
auf der Universitätsbibliothek zu Würzburg aufbewahrte
Handschrift v. Uffenbach's enthält, worüber ich seinerzeit mich
in einem Vortrage in unserer Classe vom 6. Februar 1869
einlässlicher verbreitet habe, abgedruckt in den Sitzungs-
berichten des bezeichneten Jahres I S. 191 — 225, wozu
jetzt auch noch mein erster Bericht über die Untersuchung
von Handschriften des sogenannten Schwabenspiegels in den
Sitzungsberichten der philosophisch-historischen Classe der
kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien Band
LXXII1 S. 396—398 verglichen werden mag.
Hienach erleidet nunmehr das örtliche Gebiet der
Handschriften des kl einen Kaiserrechtes eine Einschränk-
ung nach Norden. Endemann bemerkt in dieser Hinsicht a. a. 0.
S. LI unter Ziff. 1, dass es, vom mittleren Deutschlande aus-
gehend, auf der einen Seite über Eschwege,Mühlhausen,Göttingen,
Goslar, Lüneburg bis Lübeck und Rostok, beziehungsweise
Erfurt, Leipzig bis Danzig; auf der andern über Ansbach,
Ulm, Augsburg bis München und Innsbruck, und endlich über
Rockinger: Handschriften des Beinen Kaisetrechtes etc. 419
Frankfurt, Cöln und Düsseldorf nach Cleve, Münster, Nord-
kirchen und Osnabrück, beziehungsweise Brüssel, Nymwegen
und dem Haag zieht. In dem fränkischen Theile von Mittel-
deutschland begegnen uns zahlreiche und hervorragende
Handschriften. Von hier aus — äussert denn v. Gosen in
seinem Privatrechte nach unserem Rechtsbuche S. 11 —
ist auch dessen Verbreitung am leichtesten zu erklären,
denn strahlenförmig geht dieselbe nordwärts nach Mühl-
hausen, Göttingen, Goslar, Lüneburg, Lübeck und Rostock;
ostwärts über Erfurt und Leipzig bis Danzig; südlich über
Ansbach, Ulm, Augsburg nach München; und westlich rhein-
abwärts von Frankfurt nach Cöln, Düsseldorf bis Brüssel,
Haag und Nymwegen, ferner nach Cleve, Münster bis nach
Osnabrück. Leipzig und Danzig fallen nunmehr weg. Da
wir indessen jetzt gerade doch einmal bei dieser Frage
stehen, möchte auch ein Blick nach dem Süden wohl ge-
stattet sein. Dessen fernsten Punkt, Innsbruck, hat bereits
v. Gosen entfernt, indem die Handschrift des Ferdinandeums
daselbst nach einer MittheiluDg Ficker's2) ursprünglich nach
Frankfurt oder Mainz oder vielleicht auch Ingelheim ge-
hörte. Ohne weitere derartige Untersuchungen hinsichtlich
dieser oder jener der übrigen Handschriften anzustellen,
bemerke ich hier noch, dass auch München in dieser Be-
ziehung zu fallen hat, indem die auf der Staatsbibliothek
befindliche schöne Handschrift des kleinen Kaiserrechtes
früher der oberpfälzischen Familie v. Präckendorf und im
17. Jahrhunderte der Stadtbibliothek zu Regensburg 3) ge-
hörte, aus welcher sie erst in unserem Jahrhunderte an ihren
jetzigen Aufenthaltsort gelangte. Es ist demnach anstatt
2) v. Gosen a. a. 0. S. 11 Note 22.
3) Vgl. meine „Aufzeichnungen über die oberpfälzische Familie
v. Präckendorf im Berichte der Sitzung der historischen Classe vom
4. Jänner 1868 I. S. 196 und 197.
420 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
München jedenfalls zunächst Regensburg an den betreffenden
Orten einzusetzen.
Dass übrigens nicht doch gerade in Altbaiern noch
irgendwo eine Handschrift des kleinen Kaiserrechtes vorhan-
den gewesen sein mag, soll hiemit keineswegs in Abrede
gestellt werden. Habe ich ja selbst früher einmal bei einer
anderen Gelegenheit4) bemerkt, dass einem Formelbuche,
welches der spätere ingolstädter Gerichtsschreiber Johann
Genzinger angelegt, 9 gleichfalls von ihm geschriebene
Blätter vorgebunden sind, welche eine wohl im Jahre 1439
gemachte Aufzeichnung einer Reihe von Artikeln über recht-
liche Gegenstände enthalten , unter Anderem auch die
Kapitel 11 und 12 wie 15 bis 17 einschliesslich des kleinen
Kaiserrechtes.
Abgesehen hievon möchte ich mir über die beiden von
Endemann a. a. 0. unter den Num. 18 und 32 aufgezählten
Handschriften, welche mir zum Behufe meiner Forschungen
über den sogenannten Schwabenspiegel mit entgegenkommend-
ster Bereitwilligkeit hieher zur eingehenden Benützung mit-
getheilt worden sind, nachstehende Bemerkungen erlauben.
Die erste, eine Prachthandschrift der Stadt-
bibliothek zu Lüneburg, in Grossfolioformat auf
Pergament — nicht, wie Endemann a. a. 0. S. XXXVIII
angibt, auf Papier — zweispaltig gefertigt , wird von ihm
daselbst dem Ende des 14. oder dem Anfange des 15. Jahr-
hunderts zugeschrieben. Zu der letzteren Altersbestimmung
hat vielleicht eine Beschreibung des Codex, welche von der
Hand des Bibliothekars Selig vom 9. November 1800 auf
einem besonderen Bogen in demselben liegt, Veranlassung
gegeben, indem er darin dem Anfange des 15. Jahrhunderts
4) Vergl. deu Vortrag über die Folgen der Theilungen Baierns
für seine Landesgesetzgebung im Mittelalter in den Abhandlungen
der historischen Classe XI Abth. 2 S. 160—162 sammt dem Anhange
S. 173—175.
Bochinger: Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 421
zugewiesen ist. Es dürfte indessen bei genauerer Prüfung
wohl keinem irgendwie begründeten Anstände unterliegen,
<lass man die letztere Annahme fallen lässt, und sich für
das 14. Jahrhundert entscheidet. Als diesem angehörig ist
sie denn auch bereits von Kraut in seiner Commentatio
„de codicibus luneburgensibus quibus libri juris germanici
medio aevo scripti continentur" S. 9 — 18, und von Homeyer
in seinen deutschen Rechtsbüchern des Mittelalters und
ihren Handschriften unter Num. 423 aufgeführt. Insoferne
übrigens weiter die Bemerkungen, welche sich bei Endemann
am berührten Orte bezüglich des Verhältnisses zu der
seinem Texte mehr oder weniger zu Grunde gelegten Fuldaer
Handschrift finden, mehrfach nicht richtig sind, habe ich
für passend erachtet, unten eine genaue Zusammen-
stellung der Folge ihrer Artikel mit denen der Aus-
gabe Endemann's zu geben.
Was gerade diese anlangt, möchte man nach ihrem
Titelblatte ,, das Keyserrecht nach der Handschrift von 1372"
zu der Annahme veranlasst sein, dass sie auf dem berührten
Fuldaer Codex sowohl im Texte als auch in der Reihen-
folge der Kapitel fusse. Dem ist indessen nicht so. Was
das erstere betrifft, überzeugt schon ein Blick nur auf den
Druck der Vorrede und das Facsimile des Fuldaer Codex
auf der Handschriftentafel zur Genüge hievon. Was das
andere anlangt, bemerkt Endemann selbst am Schlüsse der
Beschreibung der in Rede stehenden Handschrift auf S. XX
der Einleitung, dass die Artikel 50, 53, 76, 95 des zweiten,
und die Artikel 2, 21 bis 23, 26, 27 des vierten Buches
in ihr fehlten, während andere darin stünden, die sich
anderwärts nicht finden. Uebrigens sind hiebei einmal die
Zahlen der Kapitel 21—23, wie 26 und 27 des vierten
Buches nicht richtig, indem zunächst dessen Kapitel 15 bis 17
einschliesslich fehlen, während ausserdem dieses Buch in der
Ausgabe Endemanns gar nicht 26 oder 27 Kapitel zählt,
[1874, 4. Phil. hist. Cl.] 29
422 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
sondern selbst mit Einrechnung des Judeneides und der
Bestimmungen über den Diebstahl und Todschlag der Hunde
nur 25. Auf der anderen Seite trifft auch die Bemerkung,
welche er weiter dahin macht, dass der Artikel 187 aus
Versehen mit geringer Abweichung nochmal als 188 stehe,
insoferne nicht ganz und gar zu , als das bei den Artikeln
186 und 187 oder Artikel 29 des dritten Buches der Fall
ist. Wenn er endlich die Gesammtzahl der Artikel der
Fuldaer Handschrift auf 206 angibt, ist hiegegen zu be-
richtigen, dass sie deren 210 zählt, wovon allerdings, wie
eben bemerkt worden, 186 nochmal als 187 geschrieben ist.
Diese Ungenauigkeiten dürften es wohl bei der Bedeutung,
welche der in Rede stehenden Handschrift zukommt, recht-
fertigen, wenn ich nachher der Reihenfolge der Artikel der
Ausgabe Endemanns unter I die der Artikel des Fuldaer
Codex beigeselle.
Nach mehreren Seiten wichtig ist endlich insbesondere
die schöne Pergamenthandschrift der akademischen
Paulinerbibliothek zu Münster No. 29, in Folio auf
Pergament von einer und derselben Hand gleichfalls in
zwei Spalten gefertigt, welche am Schlüsse als Zeit ihrer
Vollendung den 18. Oktober des Jahres 1449 bezeichnet.
Insoferne bei der Beschreibung, welche Endernanira. a. 0.
S. XLVI unter Num. 32 gibt, mehrfache Verstösse mitunter-
gelaufen sind, welche eine Berichtigung nicht minder er-
fordern als auch verdienen, theile ich für die bequemere
Beurtheilung der folgenden Auseinandersetzung seine Ver-
zeichnung hier mit:
Der Münster'sche Codex No. I auf der Paulinischen
Bibliothek No. 330g in einem Foliobande von Membran,
welcher die Aufschrift „Land- und Kaiserrecht" trägt, und
das Landrecht (Schwabenspiegel) , das Kaiserrecht , die
Schödeclöt und den Spiegel der Sachsen nebst der Glosse
enthält, welches Ganze mit den Worten schliesst: Explicit
Bockinger: Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 423
über jurium. Anno domini 1449 in die sancti Luce evan-
geliste p(raese)ns liber complebatur. Dieser Angabe ist
auch umsoweniger zu misstrauen , als Schrift und sonstige
Anzeigen damit übereinstimmen. Das Kaiserrecht , welches
wie die übrigen Stücke mit grosser sauberer Schrift und
kostbar ausgemalten Anfangsbuchstaben auf gespaltenen'
Columnen geschrieben ist, und jedenfalls der ersten Hälfte
des 15. Jahrhunderts angehört, folgt dem Schwabenspiegel
mit der überleitenden Bemerkung: Hie endet dat lantrecht
vnd hir beginnt dat Preludium van den Keyserrechte. Die
Mundart ist die niederländische, und die Vorrede, welche
unmittelbar auf die obige Bemerkung folgt, lautet: Seyt van
tyt to tyden dey werlt wert ie boter und dey lüde an den
werken krank vnd levet vnrechtelike. dar wart d. k. etc.
Hierauf folgt das erste Kapitel unter der Ueberschrift : her
beginnt das kaiserboek, mit den Worten: Ayn etlich mynsche
sal weten dat got is recht etc. als weiterer Prolog, was
dieser Handschrift eigentümlich ist, und Cap. 1 handelt nun:
von gebede des gerichts. Die Kapitel laufen dann in un-
unterbrochener Reihe bis Cap. 206 (IV 23): Von der raitlude
köre, bis zu den Worten: Dey to deme rade sullent hören
dy sullent wys syn, worauf der Schluss folgt: Hyr ys ende
dusses boiks; Bemerkenswerth ist noch, dass bei Cap. 30
ein grösserer Abschnitt mit der Ueberschrift: ,,Incipit liber
de sententiis per quem omnes causae finiuntur" gemacht
ist, und ebenso Cap. 190, wo aber die Ueberschrift fehlt,
während im Register steht: Van gesette des keisers tigin
untruwe der werlt.
Was zunächst den Gesammtinhalt der Handschrift
anlangt, ist er im grossen Ganzen richtig angegeben.
Genauer verhält es sich folgendermassen damit. Auf dem
ersten leeren Blatte ist von einer Hand des 15. oder viel-
leicht auch 16. Jahrhunderts oben „Wessell van den Loe"
bemerkt, wahrscheinlicher Weise der Name eines ehemaligen
29*
424 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
Besitzers des Codex, und etwas weiter unten: Dit boeck is
vanden rechten. Auf dem nunmehr folgenden ersten
Quaterne der durchaus in zwei Spalten gefertigten Hand-
schrift beginnt nach einem drei Blätter füllenden Ver-
zeichnisse der Kapitel des Landrechtes des sogenannten
Schwabenspiegels am folgenden unter rings herumlaufenden
farbigen — wohl erst später angebrachten — Randver-
zierungen mit der gleichfalls bunten Initiale H eben das
Landrecht des berührten Rechtsbuches bis auf die Rück-
seite des ersten Blattes des 9 Quaterns (m) Sp. 1 Zeile 8.
Hieran schliesst sich ohne alle und jede Unterbrechung bis
auf die Vorderseite der 13 nur aus sechs Blättern bestehen-
den Lage (q) Sp. 1 Z. 5 unter der rothen noch in der End-
zeile des erwähnten Landrechtes beginnenden Uebergangs-
bezeichnung ,,Hir endet dat lautrecht, vnd hir beginnet dat
perludium van dem keiser rechte" das kleine Kaiserrecht,
an welches unmittelbar nach seinem Ende auf dem Schluss-
blatte und einem weiter angehefteten von einer anderen
Hand wohl des 15. Jahrhunderts wieder in zwei Spalten
ein Kapitelverzeichniss zu demselben angeknüpft ist. Mit
einem neuen Blatte beginnt nunmehr das Verzeichniss der
„Capittel des schedecloetes" bis in die sechste Zeile der
ersten Spalte der Rückseite, woran sich ohne Unterbrechung
bis auf die Rückseite des 16 Quaterns Sp. *1 mit dem
grossen farbigen Anfangsbuchstaben S der Text selbst reiht.
Wieder ohne Zwischenraum folgt sodann nach der roth ge-
schriebenen Uebergangsbemerkung ,,Hyr endet dey schedecloit,
vnd hir begint dey capittel des speigels der Sassen" das
Verzeichniss der Kapitel der sechs Bücher des von Homeyer
in seiner Genealogie der Handschriften des Sachsenspiegels5)
wie in der dritten Ausgabe des Landrechtes dieses Rechts-
5) In den Abhandlungen der philosophisch-historischen Classe
der Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1859 Nr. 2 S. 99.
Roclcinger: Handschriften des kleinen Kaiserrechtes etc. 425
buches6) in der zweiten Ordnung der ersten Classe einge-
reihten Sachsenspiegels, welcher sich unmittelbar daran unter
der rothen Ueberschrift „Hyr geit an dat perludium des
speigels der Sassen" mit der farbigen Initiale G bis an das
Ende des 20 Quaterns (u) anschliesst, aber nicht mehr
vollständig erhalten ist, indem die beiden Kapitel „offt eyn
man gemordet wert" und „van des veys losinge" gar nicht
mehr vorhanden sind , und der Text mit den Worten des
Kapitels ,,van der bure gemeyne" VI 44 == Homeyer III 86
abbricht: vnd werdet sey to dem anderen richte beclaget,
er burmeister moit vor sey alle wedden. Ebenso ist auch
der Anfang der darauffolgenden Glosse zum Sachsenspiegel
in seiner regelmässigen Gestalt in drei Büchern — von
Homeyer in der berührten Genealogie S. 117 wie in der
dritten Ausgabe des sächsischen Landrechtes S. 34 in die erste
Familie der ersten Ordnung der zweiten Classe eingereiht —
verloren, indem der 21 Quatern (aa) mit den Worten im
Abschnitte 18 des ersten Buches beginnt: alse eruede hey
syn erue eynen wech; so vele heddeu dey rechten eruen des
u. s. w. Eine genauere Untersuchung dieses Werkes , die
ich den Forschern auf dem Gebiete der sächsischen Rechts-
bücher zu überlassen habe, müsste auch ergeben, ob nicht
in demselben etwa noch ein Verbinden einzelner Bogen mit
untergelaufen , und insbesondere ob ferner nicht zwischen
dem vorletzten und dem Schlussblatte dieses Stückes wie
der ganzen Handschrift, zwischen dem 29 Quaterne (ii) und
dem — mit nn vlt(imum) bezeichneten — Schlussblatte, ein
weiterer nicht unbedeutender Ausfall7) vorliegt, indem von
6) Berlin 1361 S. 29.
7) Ich kann in dieser Beziehung hier wohl in Kürze auch darauf
hinweisen, was die Rücksichtnahme auf die Verzweigung der
aus dem früheren Einbände herstammenden Wurm-
stiche ergibt. Sie reichen vorne bis an das Ende des ersten
Quaterns, hinten nur auf das letzte Blatt, so dass der Schluss der
426 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
dem Abschnitte 38 des dritten Buches auf Abschnitt 70
übergesprungen wird.
Vielleicht darf ich hier auch noch auf eine eigenthüm-
liche Besonderheit aufmerksam machen. Mit Ausnahme des
14, 15, 16 Quaterns haben alle Lagen der Handschrift je
41 Zeilen auf der Spalte, in der Weise, dass die ursprüng-
lichen Zirkelstiche für die Züge der Linien immer in
Zwischenräumen für 4 Zeilen an den Rand gemacht wurden,
also 10 für die Seite, indem die beiden untern über die
Spaltenbreite hinaus gehenden und über den ganzen Rand
hinlaufenden Linien je besonders gestochen sind. Die be-
rührten Lagen 14, 15, 16 dagegen haben je 43 Zeilen auf
der Spalte, und zwar in der Weise, dass die ursprünglichen
Zirkelstiche wieder immer in Zwischenräumen für 4 Zeilen
begegnen, also 11 für die Seite, wovon der unterste um
eine Linie unter der letzten Zeile zu stehen kommt, wozu
möglicherweise noch weiter bemerkt werden darf, dass hier
die Schlusslinie nicht über die Spaltenbreite hinausgezogen
ist, also der Rand da frei erscheint.
Soweit es sich nun um das kleine Kaiserrecht
handelt, theile ich vor Allem eine Zusammenstellung
seiner Artikel nach der in Rede stehenden Handschrift von
Münster = II mit der Ausgabe Endemanns = E und der
ihr mehr oder weniger zu Grunde liegenden Handschrift
von Fulda D 31 vom Jahre 1372 = I mit, und reihe
unter III jene der Artikel der Handschrift der Stadt-
bibliothek von Lüneburg an, wie bereits oben S. 421 be-
merkt worden ist.
verloren gegangenen Lagen offenbar die Fortsetzung davon hatte,
während der jetzt dem berührten letzten Blatte vorangehende
Quatern keine Spur mehr davon zeigt, bis auf welchen sie sich eben
nicht ausgedehnt haben.
Roclcinger: Handschriften des 'kleinen Kaiserrechtes etc. 427
E
I
II
III
E
I
II
III
Vorw.
I 1
Vorw.
1
Vorw.
1
1
2
16
17
16
17
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18
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22
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8
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23
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24
9
9
99)
10
24
24
25
25
10
10
10 9)
11
25
25
26
26 15)
11
11
11
12
26
26
27
27
12
12
12
13
27
27
28
28
13
13
13
14
28
28
29
29
14
14
14
15
29
29
30
30
15
15
15
1611)
30
30
31
31
8) Dieses Kapitel hat die lateinische Ueberschrift : de rebellis.
9) Dieses Kapitel hat keine Ueberschrift.
10) Auch hier ist noch eine lateinische Ueberschrift: quod
nemo incepta coram iudicio preter consensum.
11) Dieses Kapitel hat keine Ueberschrift.
12) Kapitel 16 hat die Ueberschrift: van terminen des gerichtes.
Kapitel 17 und 18 sodann nur: jtem.
- 13) Dieser Artikel ist nichts als die — wie es den Anschein
hat , zeitig genug bemerkte — Wiederholung des Anfanges des
Artikels 18, in II unter der Ueberschrift „van getuchnisse der tuge"
und in III unter der Ueberschrift „We an gerichte tugen schal" in
folgender Fassung: Wey (III De) an gerichte wil eyn dinck betugen
dey sal gewarnet syn dat hey syne getuge (II dat he sinen tuch) by
eme hebbe. heuet hey er (III hefft hes) euer by eme nicht, etc
ut supra.
14) Kapitel 23 hat die Ueberschrift: Wey antwer(d)en sullen
in gerichte. Kapitel 24 sodann nur: jtem.
15) Dieses Kapitel hat keine Ueberschri-ft.
428
Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
E
I
II
III
E
I
II
III
31
31
32
32
16
57
58
58
32
32
33
33
17
58
59
59
33
33
34
34
18
59
60
60
34
34
35
35
19
60
61
61
35
35
36 + 36
20
61
62
62
36
36
37
37
21
62
63
63
37
37
38
38
22
63
64
6420)
38
38
39
39
23
64
65
65
39
39
40
40
24
65 -
66
66
40
40
41
41 16)
25
66
67
67
41
41
42
42 16)
26
67
68
68
III
42
4317)
43
27
68
69
69
2
43
44
44 is)
28
69
70
70
3
44
45
45
29
70
71
71
4
45
46
46
30
71
72
72
5
46
47
47
31
72
73
73
6
47
48
4819)
32
73
74
74
7
48
49
49
33
74
75
—
8
49
50
50
34
75
76
—
9
50
51
51
35
76
77
75
10
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52
52
36
77
78
76
11
52
53
53
37
78
79
77
12
53
54
54
38
79
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78
13
54
55
55
39
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79
14
55
56
56
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81
82
80
15
56
57
57
41
82
83
81
16) Dieses Kapitel hat keine Ueberschrift.
17) Dieses Kapitel hat eine grössere Initiale als die übrigen,
und die lateinische Ueberschrift: Incipit liber de sentencijs per
quem omnes cause finiuntur.
18) Dieses Kapitel hat keine Ueberschrift.
19) Ebenso.
20) Ebenso.
Hockinger: Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 429
E
I
II
III
E
I
II
III
42
83
84
82
62
101
108
103
43
84
85
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63
102
109
104
44
85
86
84
64
103
110
105
45
86
87
85
65
104
111
106
46
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88
86
66
105
112
107
47
88
89
87
67
106
113
108
48
89
90
88 *
68
107
114
109
49
90
91*
89
69
108
115
110
50
—
92
90
70
109
116
111
51
91
93
91
71
110
117
112
52
92
94
92
72
111
118
113
53
—
95
93
73
112
119
114
54
93
96
94
74
113
120
115
55
94
97
—
75
114
217
197
56
95
98
95
76
—
121
116
21)
22)
99
96
77
115
122
117
2 3\
24)
100
—
78
116
123
118
25)
26)
101
—
79
117
124
119
■ 1)
28)
102
97
80
118
125
120
57
96
103
98
81
119
126
121
58
97
104
99
82
120
127
—
59
98
105
100
83
121
- 128
122
60
99
106
101
84
122
129
123
61
100
107
102*9)
85
123
130
124
21) Vgl. IV Art, 20.
22) Vgl. unten Art. 207.
23) Vgl. IV Art. 21.
24) Vgl. unten Art. 208.
25) Vgl. IV Art. 22.
26) Vgl. unten Art. 209.
27) Vgl. IV Art. 23.
28) Vgl. unten Art. 210.
29) Dieses Kapitel hat keine Ueberschrift.
430
Sit
zung der
• histor. Ci
lasse vom
2. Mai
1874.
E
I
II
III
E
I
II
III
86
124
131
125
103
140
148
138
87
125
132
126
104
141
149
139
88
126
133
—
105
142
150
140
89
127
134
127
106
143
151
141
90
128
1353ü
) ~
107
144
152
—
91
129
136
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145
153
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92
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129
109
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130
110
147
155
144
94
132
139
131
111
148
156
145
95
—
140
132
lila
149
157
—
96
133
141
133
—
—
15831)
—
97
134
142
134
—
—
15931)
—
98
135
143
—
—
—
16031)
—
99
136
144
—
—
—
16131)
—
100
137
145
135
—
—
16232;
— .
101
138
146
136
112
150
163
146
102
139
147
137
113
151
164
147
30) Dieser Artikel hat am Schlüsse die — auch in der Hand-
schrift der Bibliothek der kaiserl. ieopold. Akademie der Natur-
forscher, früher zu Erfurt und Bonn, jetzt zu Dresden (vergleiche
Endemann a. a. O. Nr. 13) erscheinende — lateinische Stelle:
Nota. Quicumque wult sibi conparare bona propria, debet
prouidere, si ille qui possedit bona possidet ea in ciuitatibus uel in
uillis ubi bona sita sunt secundum legem cesaris, et quod bona
predicta a censibus — in der Handschrift steht: bona prede ex-
ceptis — cesaris sint soluta, et quod homines bona habentes con-
fiteantur bona esse propria de quibus mentio est facta, et postea
recipiat ea eoram hominibus fidedignis, et intromittat se statim de
possessione. et hoc per annum. et si ita pacifice permanebit in pos-
sessione antedicta, fructus recipiens, proprietatem firmam secundum
legem cesaris perpetue possidebit.
31) Diese lateinischen Kapitel, welche auch in der eben be-
rührten Handschrift zu Dresden (vgl. Endemann a. a. O. Nr. 13)
begegnen, theile ich unten S. 433—435 vollständig mit.
32) Dieses lateinische Kapitel findet unten S. 435 seine Stelle.
Rochinger: Handschriften des kleinen Kaiserrechtes etc. 431
E
I
II
III
E
I
II
III
114
152
165
148
16
173
186
166
115
153
166
149
17
174
187
167
116
154
167
150
18
175
188
168
117
155
168
151
19
176
189
16933)
118
156
169
—
20
177
190
170
119
157
170
—
21
178
191
171
III 1
158
171
152
22
179
192
172
2
3
159
160
172)
173/
153
23
24
180
181
193
194
17384)
174
4
161
174
154
25
182
195
175
5
162
175
155
26
183
196
176
6
163
176
156
27
184
197
177
7
164
177
157
28
185
198
178
8
165
178
158
29
186 187
199
179
9
166
179
159
30
18835;
1 200
180
10
167
180
160
31
189
201
181
11
168
181
161
32
190
202
182
12
169
182
162
33
191
203
183
13
170
183
163
IV 1
192
20436j
i 184
14
171
184
164
2
—
205
185
15
172
185
165
3
193
206
186
33) Dieses Kapitel hat die lateinische Ueberschrift: de terminis
iudicij.
34) Von diesem Kapitel angefangen finden sich lateinische
Ueberschriften bis zu Kapitel 177 einschliesslich, dann wieder von
Kapitel 179 bis 181 einschliesslich, weiter von 183 bis 186 ein-
schliesslich.
35) Von hier an haben die Randzahlen in der Ausgabe Ende-
mann's je um eine Einheit weniger, indem er den ArtiÄl 186 der
Handschrift „Von der enphahunge der lehen" und den fast ganz
gleichlautenden 187 „Von der zit der enphahunge der lehen" nur als
186 zählt.
36) Dieses Kapitel hat wieder — wie oben 43 — eine grössere
blaue Initiale, und zwischen dem vorhergehenden und ihm sind
432 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
E
I
II
III
E
I
II
III
4
194
207
187
15
—
218
198
5
195
208
188
16
—
219
199
6
196
209
189
17
—
220
200
7
197
210
190
18
205
216
196
8
198
211
191
19
206
—
—
9
199
—
—
20
207
(99)
(96)
10
200
—
—
21
208
(100)
—
11
201
212
192
22
209
(101)
—
12
202
213
193
23
210
(102)
(97)
13
203
214
194
24
—
—
—
14
204
215
195
25
—
—
—
3 7\
38)
217
197
Hieraus ergibt sich, dass die Angaben Endemann's, wie
ich selbe oben S. 422 und 423 mitgetheilt habe, nicht ganz
und gar verlässig sind.
Einmal ist nicht recht verständlich was er mit der
Bemerkung will, dass das auf die Vorrede des kleinen
Kaiserrechtes folgende erste Kapitel ein weiterer Prolog
sein solle, was unserer Handschrift eigenthümlich
sei, während hierauf erst Kapitel 1 „van gebede des
gerichtes" handle. Zu dieser Auffassung der Sache be-
rechtigt ganz und gar nichts. Der Text des Rechtsbuches
selbst beginnt unter der grossen Initiale S wie in der von
ihm seiner Ausgabe zu Grunde gelegten , Fuldaer Hand-
schrift mit dem bekannten Vorworte , welches hier noch
dazu scharf genug als Praeludium oder wie es da heisst
Perludium des Rechtsbuches gekennzeichnet ist. Die nun
folgenden' Kapitel sodann haben das ganze erste Buch hin-
9 Zeilen leergelassen, ohne dass sie durch eine Ueberschrift aus-
gefüllt worden sind.
37) Vgl. II 75.
38) Vgl. oben 114.
Bockinger: Handschriften des kleinen Kaiserrechtes etc. 433
durch die abwechselnd blauen und rothen Anfangsbuchstaben
von derselben Grösse, und gleich das erste derselben er-
weist sich durch seine Ueberschrift ,.Hir begint dat keiser
boick" doch wohl deutlich genug nicht als eine weitere
Vorrede, sondern eben wie in der Fuldaer Handschrift und
in anderen als wirklich und eigentlich erstes Kapitel. Ihm
folgt als nächstes, das heisst als zweites, jenes van gebede
des gerichtes, und so die übrigen fort, wovon nur 3 — 10
einschliesslich nicht wie sonst rothe Ueberschriften haben,
aber durch ihre Anfangsbuchstaben in rother und blauer
Farbe sich sattsam als solche kund geben. Eine Eigen-
thümlichkeit also, welche in der Beziehung die Handschrift
von Münster bieten soll, liegt nicht vor.
Was sodann die Zahl und namentlich die Reihen-
folge der Artikel des ganzen Werkes anlangt, ist der
Einblick darein durch die vorhin gegebene Zusammen-
stellung mit der Ausgabe Endemann's ermöglicht.
Es ist hiebei schon darauf aufmerksam gemacht worden,
dass der Artikel 135 = II 90 am Schlüsse noch eine auch
ausserdem in der Handschrift der Bibliothek der kaiserl.
leopold. Akademie der Naturforscher, früher zu Erfurt und
Bonn, jetzt zu Dresden, erscheinende lateinische Stelle
hat. Insbesondere aber darf weiter nicht übersehen wer-
den, dass sich zwischen den Artikeln der Ausgabe Ende-
mann's II lllaund 112 fünf lateinische Kapitel finden,
wovon die vier ersten gleichfalls in der berührten Hand-
schrift zu Dresden begegnen , wie der Mittheilung zu ent-
nehmen ist, welche Endemann S. XXXIV— XXXVI über sie
gibt. Ich theile diese Kapitel hier ihrem vollen Wortlaute
nach mit.
De alienacione bonorum.
Quicunque debet resignare bona cesaris de manu sua
ad manum alterius ita quod ille sit firmus qui recipere
434 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
debet, intret curiam cesaris, et ponet ea in manus officialis
cesaris, ut Uli concedat eadem iure sicut et ipse possidebat.
et hoc in facie illorum qui bona cesaris iure hereditario
possident. et postea officialis cesaris coram omnibus possi-
dentibus hereditatem cesaris (concedat illi), et sie firmus erit.
De reeepeione hereditatis.
Quicunque debet reeipere hereditatem cesaris firmo
modo, intret curiam cesaris, et querat in facie officialis et
omnium possidencium proprietatem cesaris, si ille qui ven-
didit bona hereditaria iuste et racionabiliter expediuisset
legem cesaris censibus et alijs iurisdictionibus , sicut de
proprietatibus consuetura est per curias vniuersas.
Et sicut officialis et homines possidentes proprietatem
confitentur venditorem impleuisse legem cesaris, extunc39)
per omnia reeepeio emptoris uel reeeptoris erit stabilis ac
(in)conuulsa.
De perseeucione censuum cesaris.
Jtem sciendum est, quod quicunque officialis cesaris
uult legem cesaris exercere pro censibus non datis. et hoc
fieri debet horis signatis, et non alienis. et hoc ad tres
quindenas.
Dimissa autem vna hora in illis tribus quindenis, de-
struetus est omnis labor illarum trium quindenarum : et
officialis cesaris amplius non potest uexare de iure cen-
satorem de censu neglecto.
De electione munda burganorum.
Sciendum, quod imperator sibi ipsi confirmauit et suis
successoribus, quod quandoeunque ipse uel sui successores
essent rebelles et contrarij communi lingue hominum pos-
39) In der Handschrift steht: et tunc.
Roch'nger: Handschriften des. Meinen Kaiserrechtes etc. 435
sidencium proprietatem cesaris, quod amplius cesari in
nullo tenentur obedire, nee poirigere tributum , donec
humiliet se reeipere ius lingue non discordantis, hoc est
omnium hominum uerbum. possidentes proprietatem cesaris
iure hereditai io debent 40) prosequi legem cesaris sicut in
curijs cesaris per vniuersum mundum a cesare est constitutum,
et si remissus aut negligens aliquis fuerit, cesar cum iure
persone negligenti aufert suam proprietatem , et cum iure
potest sibi ipsi seruare uel alteri conferre.
Jtem sciendum est, quod iinperator omnibus personis
dedit liberam potestatem, possidere proprietatem iure here-
ditario, hoc autem adiecto quod sint annexe humilitati41)
conplendi legem bonorum cesaris, sicut docet regula curiarum
imperatoris per vniuersum mundum.
Jtem quod vna lex curiarum debet esse per vniuersum
mundum.
Sciendum est, quod imperator instituit vnam legem
curiarum per vniuersum mundum de bonis hereditariis que
curijs sunt obligata censibus frugibus et alijs redditibus. et
notum sit omnibus, quod si aliquis excedit legem cesaris
predietam, sicut curijs et bonis attinentibus est confirmatum
ab imperatore, quod imperator de iure aufert suam pro-
prietatem a persona discordante.
Jtem imperator inhibuit, ne noue constituciones fierent
per vniuersum mundum de hereditate possidenda. sed fir-
miter preeepit obsueruari legem curiarum, sicut ab ipso est
constitutum, ne seduetiones multimode generent viam dis-
cordie per quam multi homines multociens sunt preuenti.48)
40) In der Handschrift steht: debet.
41) „ „ „ ,, : hunriliari.
42) „ „ ,, „ : sunt per vnita.
436 Sitzung der histor. Ölasse vom 2. Mai 1874.
Was bisher berichtigt worden, ist übrigens noch nicht
die Hauptsache. Bedeutender fällt — und zwar für den
Gesammtinhalt unserer Handschrift — die Frage nach
ihrem Alter in die Wagschale.
In der Regel ist man bei Handschriften, welche eine
bestimmte Zeitangabe ihrer Anfertigung enthalten , wenn
nicht besondere Gründe hiezu veranlassen , weniger miss-
trauisch, um so weniger wenn in Werken von anerkanntem
Werthe keine Bedenken in dieser Beziehung erhoben worden
sind. Eine genauere Prüfung führt indessen auch öfter bei
ihnen -auf andere Ergebnisse. Ich habe bereits in einem
Aufsatze in der Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins
XXIV S. 224—249 über eine rheingauer Handschrift des
sogenannten Schwabenspiegels auf der Hofbibliothek zu
Asch äffen b u rg , welche bis dahin als in das Jahr 1341
fallend gegolten hat, den Nachweis geliefert, dass sie dem
Jahre 1401 angehört. Wie sie in eine spätere Zeit versetzt
werden musste, so dürfte in umgekehrter Weise bei der
Handschrift, um welche es sich hier handelt, der Nachweis
zu liefern sein, dass sie anstatt des Jahres 1449, welchem
sie bis jetzt zugeschrieben wird, einer früheren Zeit zuzu-
weisen ist.
Am Schlüsse des Ganzen steht von derselben Hand
welche den Text des Codex gefertigt, nicht mit einer neuen
Zeile beginnend, sondern unmittelbar an die Endworte der
berührten Glosse des Sachsenspiegels angereiht, mit blauer
Farbe : Explicit über jurium. Anno d(omi)ni M° CCCC
quadragesimo nono jn die sancti Luce evangeliste p(rese)ns
über complebatur. Betrachtet man die Zahl CCCC näher,
so fällt hiebei folgendes auf. Einmal ist an dieser Stelle
radirt, und zwar so dass daselbst das Pergament noch die
hineingewischte blaue Farbe über und unter der jetzigen
Zahl CCCC sattsam erkennen lässt. Ausserdem ist die
Farbe eben dieser Zahl bedeutend dicker aufgetragen als
BocTcinger : Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 437
die beiden bemerkten Sätze. Abgesehen hievon aber ist
wohl auch zu verinuthen, dass — wie bei der Zahl M das
Abkürzungszeichen für den Ablativ der Ordnungszahl ange-
geben ist — das auch bei der Zahl CCCC der Fall sein
sollte, so dass M° CCCC0 oder M° C0C°C0C° erforderlich sein
möchte. Wer sich einlässlicher mit Handschriften des 14.
und 15. Jahrhunderts beschäftigt hat, dem wird 'nun schon
bei dem ersten Blicke in unseren Codex der entschiedenste
Zweifel auftauchen, ob bei ihm überhaupt vom 15. Jahr-
hunderte die Rede sein kann, weiter gar ob erst vom
Ja"hre 1449. Die Schrift des gesammten Textes desselben
gehört ganz sicher nicht dieser Zeit an, sondern fällt in
da3 14. Jahrhundert: und zwar dürfte sie, da die genauere
Jahresangabe quadragesimo nono nicht in Zahlen ausgedrückt,
sondern mit Buchstaben vollständig ausgeschrieben ist, in
das Jahr 1349 zu setzen sein. Es stand eben aller
Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich: M° CCC° quadra-
gesimo nono, was aus irgend welchen Gründen später
vermittelst der angeführten Rasur von CCC° in CCCC um-
geändert worden ist. Unterliegt nun auch die Rasur wie
die dickere Auftragung der blauen Farbe bei der auf sie
gesetzten Zahl CCCC keinem Zweifel, wird auch bei ge-
nauerer Betrachtung der Handschrift selbst zugegeben wer-
den müssen, dass sie nur der von mir aufgestellten Zeit
angehören könne, so fragt es sich natürlich doch noch immer
um einen Grund für die nun eben einmal vorhandene
Aenderung der Zahl CCC° in CCCC. Ein solcher liegt auch
meines Erachtens vielleicht nicht all zu ferne. Besieht man
sich die ganze Handschrift näher, deren Text wie bemerkt
von einer und derselben Hand gefertigt ist, und bei welcher
höchstens zweifelhaft erscheinen mag, ob sie von Anfang an
bereits als ein Ganzes zu gelten haben sollte, oder ob in
ihr eigentlich Bestandteile zweier besonderer nur jetzt in
einem Bande vereinigter Codices vorliegen , etwa einerseits
[1874. 4. phil.-hist. Cl.] 30
438 Sitzung der histor. Gasse vom 2. Mai 1874.
das Landrecht des sogenannten Schwabenspiegels und das
kleine Kaiserrecht, anderntheils die übrigen dem Kreise des
sächsischen Rechtes angehörigen Stücke, so lässt sich bei
ihr43) ohne alle Schwierigkeit eine doppelte nachhelfende
43) Soll ich ein Urtheil bezüglich der eben geäusserten Fragen
abgeben, so nehme ich keinen Anstand, mich für die Ansicht aus-
zusprechen, dass von Anfang an der Gesammtinhalt der
Handschrift als ein Ganzes aufgefasst worden.
Zur Stütze hiefür möchte ich mich allerdings auf die vorhin
S. 436 bereits berührte Schlussbemerkung „Explicit liber jurium"
nicht berufen, indem diese ja auch ihre volle Berechtigung hat,
wenn nur von den Stücken des sächsischen Rechtes, dem Schedeclöt,
dem Sachsenspiegel in 6 Büchern, der Glosse zu der regelmässigen
Gestalt dieses Rechtsbuches, die Rede ist.
Abgesehen hievon aber fällt eine andere Wahrnehmung mehr
oder weniger ins Gewicht. Ich meine die auf den einzelnen
Lagen der Handschrift ganz unten am äusseren Rande
der Vorderseite der betreffenden Blätter angebrachten
und zum grossen Theile noch erhaltenen Bezeichnungen der-
selben, die in der Weise begegnen, dass jedesmal die erste Hälfte
der Lage mit dem laufenden Buchstaben des Alphabetes unter An-
fügung der einschlagenden arabischen Zahlen versehen ist, also
beispielsweise der oben S. 424 erwähnte 9 Quatern mit ml, m2, m3,
m4, oder die dortselbst berührte nur aus sechs Blättern bestehende
13 Lage mit ql, q2, q3, oder der S. 425 angeführte 21 Quatern
mit aal, aa2, aa3, aa4, während die zweite Hälfte keine besondere
Bezeichnung mehr aufweist, wie ja für sie hienach auch kein Be-
dürfniss mehr vorliegt.
Schon aus dem was ich oben S. 424—426 bei der Aufzählung
der einzelnen Bestandtheile der Handschrift bemerkt habe ergibt sich,
dass diese Lagenbezeichnung über das einfache Alphabet hinaus bis
nn läuft. Nicht mehr mit einiger Sicherheit zu erkennen ist gleich
die des 1 Quaterns, wofür möglicherweise d angenommen werden
darf. Weiter entsprechen sich genauer: Quatern 2 = e, 3 == f ,
4 = g, 5 = h, 6 = i, 7 == k, 8 = 1, 9 = m, 10 = n, 11 = o,
12 = p, die nur aus sechs Blättern bestehende Lage 13 = q,
Quatern 14 = a, 15 = b, 16 = c, 17 = r, 18 = s, 19 = t, 20 = u,
21 = aa, 22 = bb, 23 = cc, 24 = dd, 25 = ee, 26 = ff, 27 = gg,
28 a=s hh, 29 =s ii, der nur aus einem Blatte bestehende Schluss = nn.
Rockinger: Handschriften des kleinen Kaiserrechtes etc. 439
Hand hier und dort erkennen. Jedenfalls die eine derselben
gehört dem 15. Jahrhunderte an. Von der einen stammen
Welcher Zeit diese Lagenbezeicbnungen angehören, ist natürlich
<lie nächste und zugleich die wesentliche Frage. Eine einlässlichere
Vergleichung führt dahin , dass sie von der Hand stammen,
welche in Cu r siv schrift beim Sachsenspiegel am oberen
Bande jeder Seite die nachher in der Mitte roth einge-
setzten Seitenüberschriften anmerkte, und in der dar-
auffolgenden Glosse zu diesem Rechtsbuche am Rande
bei den einzelnen Abschnitten die seinerzeit wieder
roth eingetragenen Kapitelüberschriften sammt den
betreffenden laufenden Zahlen derselben andeutete.
Hienach unterliegt es wohl keinem Zweifel, dass bei der That-
sache der Durchzählung der einzelnen Lagen der Handschrift über
das einfache Alphabet hinüber bis zu nn die sämmtlichen Be-
standteile derselben anfänglich schon als ein Ganzes
aufgefasst wurden, gleichviel ob die Hand, von welcher die Cur-
sive stammt dieselbe sein mag, welche auch den Text selbst in sehr
schöner Buchschrift fertigte oder nicht.
Eine eigenthümliche Erscheinung bleibt allerdings hiebei folgen-
der Umstand. Betrachtet man sich die Reihenfolge der Lagen wie
sie vorhin näher angegeben worden mit ihrer Buchstabenbezeichnung,
und nimmt man für die erste Lage , bei welcher die Bezeichnung
nicht mehr mit Sicherheit zu bestimmen ist, d an, insoferne un-
mittelbar darauf sich e — q ganz dem Texte entsprechend ununter-
brochen anreihen, worauf a b c folgt, und dann wieder regelmässig
von r weg die übrigen bis an das Ende der Handschrift fortlaufen,
wovon nur jetzt x y z und weiter kk 11 mm verloren sind, so fällt
es im ersten Augenblicke auf, dass die Handschrift mit d beginnt,
und dass a b c mitten in dieselbe hinein zwischen q und r gerathen.
An ein Versehen des Buchbinders hiebei, worauf man zunächst ver-
fallen möchte, kann nicht gedacht werden, weil bei der Aneinander-
reihung der Stücke wie sie gegenwärtig vorliegt alles in Ordnung
ist, während bei der Versetzung von a b c vor d, wodurch aller-
dings im übrigen die regelmässige alpabetische Reihenfolge der
Lagen erzielt würde, eine höchst bedeutende Unordnung des Ganzen
entstünde. Es schliesst nämlich c nach dem mit a2 begonnenen
Richtsteige Landrechts mitten im Kapitelverzeichnisse des fünften
Buches des Sachsenspiegels mit dem Kapitel „van lande to erue"
30*
440 Sitzung der liistor. Classe vom 2. Mai 1874.
verschiedene Correcturen vorzugsweise zum Texte des kleinen
Kaiserrechtes, die demselben fast bei sämmtlichen anfangs
unter der Zahl 21 , während mit d in durchaus regelmässigem Ver-.
laufe fort das Landrecht des sogenannten Schwahenspiegels beginnt,
und nach dem Schlüsse des kleinen Kaiserrechtes auf q der An-
fang von r das 22. Kapitel ,,van verleendem gude'' im berührten
Inhaltsverzeichnisse des fünften Buches des Sachsenspiegels ist.
Eine Trennung von a b c und r, und die Verbindung der ersten
drei mit d ist also, so nahe sie auch beim ersten Blicke zu liegen
scheint, ganz und gar unstatthaft.
Möglicherweise liegt aber bei der ganzen Lagenbezeichnung
wovon die Rede gewesen ein Irrthum vor, welcher gerade anfanglich
sich einschlich, aber rechtzeitig bemerkt wurde, so dass er beim Binden
des Ganzen ohne Nachtheil für dieses berichtigt werden konnte.
Von a nämlich, dessen erstes Blatt ausgeschnitten, und an dessen
noch vorhandenen Rest das den Schluss des kleinen Kaiserrechtes
bildende spätere Endblatt des Kapitelverzeichnisses zu demselben
angenäht ist, beginnt das zweite Blatt, a 2, mit dem Inhaltsverzeichnisse
des Schedecloetes , und zwar unter der rothen Ueberschrift: Hyr
begynnen dey capittel des irsten boeckes van den rechten. Diese
Bezeichnung als erstes Buch von den Rechten konnte gewiss leicht
bei der Zählung der Lagen eben des „Liber jurium" wie er am
Schlüsse ja ausdrücklich benannt ist, die Veranlassung zur Be-
zeichnung mit a geben, und b wie c gehören ja nicht allein ihrem
Inhalte nach, sondern auch — was schon oben S. 426 bemerkt
worden ist — durch den eigenthümlichen Umstand ganz genau hie-
zu, dass diese Lagen gegenüber allen übrigen der Handschrift an-
statt 41 je 43 Zeilen auf der Spalte haben. Ob die nun folgenden
Lagen ursprünglich bereits vor ihrer Bezeichnung nicht richtig ge-
legt gewesen, oder am Ende auch richtig gelegt gewesen und nur
durch irgend welchen Zufall in eine falsche Verbindung gerathen,
muss dahingestellt bleiben. Aber die Thatsache steht fest, dass die
Bezeichnung nach der unrichtigen Verbindung erfolgte. Diese selbst
muss sodann seinerzeit erkannt worden sein, so dass man sie mit
Glück beseitigte, ohne dass im übrigen eine Aenderung an der
falschen Bezeichnung der Lagen von a angefangen bis nn ersichtlich
ist, hinsichtlich welcher vielleicht angenommen wurde, dass sie
ohnehin einmal wegfallen werde, was ja auch mehr oder minder
wirklich erfolgt ist.
EocTcinger: Handschriften des Meinen Kaiser rechtes etc. 441
nicht numerirten Kapiteln beigefügten schwarzen römischen
Zahlen, das an seinen Schluss geknüpfte Verzeiclmiss seiner
Kapitel, wie weiter auch Spuren von ihr zum kleineren
Theile noch im Richtsteige Landrechts begegnen. Der an-
deren zierlicheren und gewandteren Hand sodann gehören am
Rande des Sachsenspiegels zahlreiche Verweisungen auf
andere Stellen dieses Rechtsbuches und insbesondere Nach-
weise auf die (blosse desselben an. Es möchte biebei die
Annahme nicht gar zu weit entfernt erscheinen , dass der
eine oder andere dieser Verbesserer oder wie man sonst
sich hier ausdrücken soll seine Thätigkeit gerne am Schlüsse
bei der berührten Jahrzahl verewigte, und daher die Ver-
änderung von CCC° in CCCC vornahm. Ob nun dieses
gerade auch am 18. Oktober des Jahres 1449 geschehen,
so dass die einfache Abänderung wie sie angedeutet wurde,
schon vollkommen genügte, wird sich wohl kaum irgend
mehr mit Sicherheit entscheiden lassen. Uebrigens ändert
es auch an der Sache selbst nichts, wenn man annimmt,
dass die anfänglich etwa auch beabsichtigte Correktur der
nicht mit Zahlen gegebenen, sondern ganz ausgeschriebenen
Jahresbezeichnung 49 nach dem ersten Versuche mit der
Zahl CCC° derartige Schwierigkeiten verursachte , dass der
gute Mann für rathsam fand hievon abzustehen, und sich
mit der Aenderung der Zahl CCC° in CCCC begnügte. War
ja doch wenigstens das Jahrhundert seines Schaffens hiemit
auch bezeichnet!
Verhält sich nun die Sache in Wirklichkeit auf solche
Weise, dass der Text der in der Handschrift von Münster
enthaltenen Rechtsbücher nicht dem Jahre 1449 angehört,
sondern in das Jahr 1349 zu setzen ist, so ergeben sich
Auf diese Weise, bedünkt mich, lösen die betreffenden Fragen
sich ohne übergrosse Schwierigkeit, jedenfalls einfacher als bei der
Erwägung anderer Auswege, an welche man etwa noch denken,
könnte.
442 Sitzung der histor. Classe vom 2, Mai 1874.
naturgemäss nicht unwesentliche Folgerungen für
die Bedeutung dieser Handschrift.
Was hiebei das hier in sechs Büchern erscheinende
Landrecht des Sachsenspiegels wie die darauffolgende
leider am Anfange wie am Schlüsse mangelhafte Glosse
zu dem berührten Rechtsbuche in seiner regelmäs-
sigen Gestalt in drei Büchern anlangt, hat ihnen
Homeyer an den oben S. 424 und 425 bemerkten Orten ihre Stelle
unter den betreffenden Handschriftenfamilien angewiesen,
woselbst nunmehr die Jahrzahl 1449 in 1349 abzuändern
ist. Ob und welche anderweitige Folgerungen sich etwa
für diese oder jene Einzelfrage hieraus ergeben mögenr
überlasse ich billig vor allen anderen der Prüfung des ge-
nannten Altmeisters auf diesem Gebiete wie weiter der Er-
wägung auch der übrigen Forscher auf diesem Felde.
Gerade bezüglich der berührten Glosse zum Sachsen-
spiegel dürfte es wohl für die Bedeutung der in Frage
stehenden Handschrift von Gewicht sein, dass sie nach den
bemerkten Ergebnissen nunmehr noch demselben Viertel-
jahrhunderte angehört , in welches die so segensreiche
Thätigkeit des Johann von Buch für diese Schöpfung fällt.
Was weiter von den Stücken des sächsischen Rechtes den
Richtsteig Landrechtes betrifft, hat Homeyer in der Ein-
leitung zu seiner Ausgabe desselben S. 18 unter Num. 59 unserer
Handschrift gedacht, und uns hiedurch einer näheren Be-
schreibung überhoben. Es ist daselbst nunmehr eben auch
wieder anstatt 1449 das Jahr 1349 zu setzen. Sie fällt
bei der Gruppirung der Handschriften dieses Rechtsbuches
a. a. 0. S. 54 in deren erste Klasse. Unter deren datirten
Codices aus dem 14. Jahrhunderte ist sie hienach, da die
beiden Berliner in die Jahre 1369 und 1382 fallen, der
älteste. Geht man über diese erste Klasse hinaus auf die
Gesammtzahl der mit bestimmten Jahresangaben versehenen
Handschriften ein , wie sie ebendort S. 22/23 zusammen-
Bockinger: Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 443
gestellt sind, so ist überhaupt die älteste unter ihnen die
kopenhagener aus dem Jahre 1359, über welche insbesondere
a. a. 0. S. 62 unter E gesprochen wird. Ihr wird fortan
dieser Rang durch die münsterer abgewonnen, indem diese
jener gegenüber um ein Jahrzehnt älter ist. Und insoferne
die Abfassung des Werkes, von welchem die Rede ist, nach
Homeyer's Auseinandersetzung ebendort S. 28 — 42 um das
Jahr 1335 fällt, ist unsere Handschrift selbst nur wenig
über ein Jahrzehnt jünger.
Weiter kömmt auch das Verhältniss zu den Codices
des kleinen Kaiserrechtes in Betracht. Endemann führt
in seiner Einleitung zu demselben S. LI unter Ziff. 3 bei der
Besprechung des Alters der Handschriften ausser jener von
Lüneburg, bezüglich welcher er bei der Beschreibung a. a. 0.
S. XXXVIII Num. 18 unentschieden lässt, ob sie dem Ende
des 14. oder dem Anfange des 15. Jahrhunderts angehören
möge, nur noch die fuldaer als im 14. Jahrhunderte ge-
fertigt44) an. Und zwar fällt sie genauer in das Jahr 1372.
Die in. Rede stehende von Münster ist demnach um nahezu
ein Vierteljahrhundert älter, und somit unter allen bisher
bekannten die älteste.
Was endlich noch — nachdem ich auf diesem Wege
von rückwärts herein nach vorwärts gegangen bin — das
ihren Anfang bildende Landrecht des sogenannten
Schwabenspiegels anlangt, tritt sie hiefür aus der Reihe
der Handschriften dieses Rechtsbuches vom 15. Jahrhunderte
44) Was die auf S. XXIX unter Num. 10 angeführte im Ferdi-
nandeum zu Innsbruck befindliche anlangt, welche zufolge einer
Versicherung, welche Weiske einmal erhalten hatte, nach dessen
Abhandlungen aus dem Gebiete des deutschen Rechts S. 60 älter sein
sollte als die sonst bekannten, gehört sie gemäss einer Mittheilung
Fioker's welche v. Gosen in seinem Privatrechte nach dem
kleinen Kaiserrechte S. 11 in der Note 22 gibt, nach Schrift und
Papier dem 15. Jahrhunderte an.
444 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
nunmehr in das vorhergehende ein. Der Text des Werkes
selbst um das es sich handelt fällt unter dessen Vulgata,
und zwar genauer in eine Gruppe derselben, welche an
einer — wohl durch falsche Lage der Bogen der Stamm-
handschrift hervorgerufenen — theilweisen Störung der
Reihenfolge der Artikel von L 174 an leidet, wie sie sich
auch abgesehen von anderen 45) mehr oder weniger gleich-
45) Ich erwähne hier folgende drei auf Papier aus dem 15. Jahr-
hunderte.
Der Cod. germ. 3944 der Staatsbibliotkek zu München,
zweispaltig in den Jahren 1424 und 1425 geschrieben, später nach
einer Einzeichnung auf der inneren Seite des Rückdeckels im Be-
sitze der „Magdalena grauin tzu Montfort gebornen Grauin zu
Ottingen" gewesen, enthält nach vorangehendem Inhaltsverzeichnisse
des Ganzen auf den ersten sechs Blättern des ersten Sexterns von
dessen siebentem Blatte an unter besonderer oben je in der Mitte
der ersten Seite eines Blattes schwarz angebrachter Zählung von
Fol. 1 — 55' Sp. 2 das Buch der Könige alter und neuer E, woran
sich unmittelbar von Fol. 56 — 149' Sp. 1 das Landrecht schliesst,
während von Fol. 149' Sp. 2 — 181' Sp. 1 das Lehenrecht folgt,
an dessen Schluss sodann in der Sp. 2 die Jahrzahl „tusent vier-
hundert zweinzig vnd vier" steht, wovon das Wort vier roth durch-
strichen und die Zahl v darüber gesetzt ist.
Die gleichfalls in zwei Spalten gefertigte der Universitäts-
bibliothek zu Basel, C IV 15 bezeichnet, nach einem dem Vor-
derdeckel von innen aufgeklebten Blatte Papier seinerzeit „Simonis
Gerfalck et amicorum ex dono Johanni Conrado Wolleb — wozu
vielleicht noch etwas gehörte, worüber jetzt ein Streifen Papier ge-
zogen ist — ciuis basiliensis im Jahre 1566, enthält von Fol. 1—43
Sp. 1 das berührte Buch der Könige, von Fol. 44—127 Sp. 2 das
Landrecht wieder mit der Abtheilung zwischen Artikel L 219 und
220 unter dem Uebergange „Hie is das lantrecht vsz. Hie vaht an
das lehen reht buoch" gleichfalls mit dem Kapitel L 377 II als
vorletztem, von Fol. 127' Sp. 2 — 155 Sp. 1 als „das edell lehen
buoch, vnd ist das dritt stuocke disses buoches" das Lehenrecht.
Diesen drei Bestandtheilen geht ein Inhaltsverzeichniss über sie auf
sechs Blättern voran, deren letztes aber nur mehr mit zwei Zeilen
beschrieben ist. Am Schlussblatte 155 Sp. 1 findet sich folgende
Bockinger: Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 445
falls hieher einschlagenden Handschriften des sogenannten
Schwabenspiegels, namentlich in der von Wilhelm Wacker-
Bemerkung: Djs buoch is dor vmb gemacht vnd geschriben: wer
sich nuot woll verrihten kan von maniger sach, das der dis buoch
gern horre lesen , wand es bewert alle sache der man bedarff ze
weltlichem geriht. vnd wart es gemäht vnd vollenbracht ze Nuorem-
berg in eym beruoffnem hofe do man zalt von gottes gebuort tuosent
zweihuondert vnd aht vnd ahzig jor.
Die Handschrift der Stadtbibliothek zuWinterthur
endlich, Mscr. A 18 bezeichnet, ebenfalls in zwei Spalten im Jahre
1469 gefertigt, nach einem Vormerke oben auf Fol. 2 später dem
Goldschmiede Jakob Sulzer gehörig, der sie „von der basz Susanna
Sultzerj von Leuckeirch" im Jahre 1681 erhalten, beginnt abermals
mit dem Königebuche, auf welches ,,das wirdige lantrecht buoche
vnd das edel recht" wieder mit der Abtheilung zwischen Art. L 219
und 220 unter der genaueren Bezeichnung „Hie hett das lantrecht-
buoch eyn ende, das do ist dz erste teil desselben buoches. vnd
volget dz anderteil Hie uohet an das edele buoch das do seit von
lechnunge das erste, vnd ist das anderteil dis buoches" mit dem
langen Art. L 377 II „von der heiligen e was man dor jnne ge-
halten oder gelossen mag" folgt, endlich das Lehenrecht. Auch das
Kegister des Land- und Lehenrechtes ist nach den drei so gestalteten
Theilen besonders gerichtet. Am Schlüsse des Lehnrechtes ist be-
merkt: Hie endent sich die gesecze des grossen keysers Karlens.
Die Störung nun, um welche es sich in diesen drei Hand-
schriften von Artikel L 174 an handelt, ist folgende:
L
L
L
(177)} 182
178
183
182 l 187
(174)} 187
175 188
179
184
176 189
180
185
183 191
Ä190
181
186
Im einzelnen entspricht hier der Artikel 182 der drei Hand-
schriften L 174 bis zu den Worten S. 83 Sp. 2 mehr gegen den
Schluss : oder nemet dz drier pfennig wert ist. Daran knüpfen sich
ohne Unterscheidungszeichen oder sonstiges Merkmal der Nichtzu-
gehörigkeit die Worte : wider nicht tuon , won ein kint dz vnder
zehen iaren ist u. s. w. aus L 177 bis zu dessen Schluss.
446 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
nagel der Universitätsbibliothek zu Basel zum Geschenke
gemachten , nunmehr mit C III 2 bezeichneten , 46) wie
weiter in einer auf der öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart
verwahrten Handschrift gleichfalls auf Papier in Folio aus
dem 15. Jahrhunderte, Mscr. jurid. 70,47) findet. Diese
Der Artikel 187 unserer Handschriften entspricht L 182 bis
an den Schluss: da sol nieman nit werffen oder schiessen. Unmittel-
bar hieran knüpft sich der vorhin abgebrochene Artikel L 174 von
den Worten an: wer vf mülinen icht stilt dz fünf Schilling u. s. w»
bis an den Schluss S. 84 Sp. 2 : die wile er gerichtes geweigert hat.
Der Artikel 190 unserer Handschriften entspricht L 177 bi&
zu den Worten: hat dz kint man schlacht geton, oder wunden
geton, man sol im da, ohne dass nun der (im Artikel 182 bereits
da gewesene) Schluss folgt, anstatt dessen die Endworte von
L 182 stehen: varen mit weffenne noch mit schiessende.
46) Sie stammt „ex libris Joannis ä Schennis" und hat nun-
mehr vorne folgendes besonderes Titelblatt mit einem Register über
das Land- wie Lehenrecht von einer Hand des 16. oder gar erst
17. Jahrhunderts, möglicherweise ihres eben genannten ehemaligen
Besitzers:
Landtrechtbouch von weltlichem Gericht vnd Recht.
Darin alle Landtrecht, auch die beschribnen Recht, vnd was
etwo nach Gewonnheit bewert vnd angenomen worden , begriffen
wirt, sambt angehencktem Lehenbuoch.
Allen die Gerichts pflegen vnd ein jede sach zu Recht richten
sollend sehr nuczlich vnd dienstlich.
Die beiden Kapitel L 219 und 220 sind hier unter der Ueber-
schrift „Das ccxxix von pauleutten" vereinigt, und haben folgende
Fassung: Gelt von mülen vnd von czolen, vnd ob ein kint sein jar
czal beheltet, das man das guet verdiennen sol, so sol man im sein
gelt geben, jaret es sich u. s. w.
Im Artikel 318 = L 311 findet sich mitten im Texte eine leere
Zeile, indem die vorhergehende mit den Worten L S. 135 Sp. 2 Z. 27
„vnd ist si ein'1 schliesst, die folgende mit den Worten Z. 28/29
„wie man das beweren solle' fortfährt.
47) Es ist wie die eben berührte Handschrift in zwei Spalten
gefertigt, mit rothen Ueberschriften der Artikel und rothen An-
fangsbuchstaben derselben unter gleichzeitiger Anfügung der laufen-
den Numern je am Rande der einzelnen bis zum fünften des Lehen-
Bockinger: Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 447
Reihenfolge gestaltet sich hienach gegenüber L in der
Handschrift von Münster wie in den beiden anderen eben
berührten folgendermassen:
L L L
174 1 183^ 176 \ 18749^ 178 1 !Rn50\
(176)J löd } (178)) lbT ) (174)/ lö° >
175 186 177 184 179 188
rechtes, woselbst die Zählung sowohl im Texte als auch im Artikelver-
zeichnisse aufhört, und stammt nicht, wie v. Lassberg unter Num. 145
annimmt — aus dem 14. Jahrhunderte, sondern gehört dem Aus-
gange des zweiten oder dem Anfange des dritten Viertels des
folgenden an.
Das Landrecht beginnt mit der roth'en Ueberschrift, Dit ist
daz lantrecht buech alz guet von eime kapitel uff daz ander alz iz
ie wart geschriben. Dann bildet die ersten drei Viertheile der
ersten Spalte: 0 altitudo diuiciarum sapiencie et seiende, quam in-
prehensibilia sunt iudicia eius et inuestigabiles eius etc. igitur omnis
sapiencia a domino deo est, quia ipse alpha et o, prineipium et
finis. et ideo sine fine terminat.
Am Schlüsse des nun folgenden Landrechtes steht roth:
Hie nymet das lantrechtbuch ein ende.
Got behude vns ane missewende.
Amen.
Hie hebet das lehenrecht buch sich ane.
An dessen Schlüsse begegnet uns wieder roth:
Hie endet sich das lehen buch von eyme capitel uf daz
ander geschreben mit der zal.
Got der behude vns vor deme ewigen fal.
Amen.
Ich wolde daz eyde nit also lychtlichen wurden geschworen:
so hofte ich zu gode, is wurde nit also manche sele verdampte
vnd verloren.
Vnd wer dut vnd richtet nach disem buch,
der wirt behut vor dem ewigen fluch.
Hienach folgt noch auf neuer Seite durchlaufend geschrieben
ein Inhaltsverzeichniss über das Land- und Lehenrecht, welches aber
andere Rubra hat als der Text.
48) Dieser Artikel reicht bis L 174 S. 84 Sp. 1 : So wey in kirken off
in kirchouen icht stelt dat drier penninghe wert ist, den sal men
448 Sitzung der histor. Classe vom 2. Mai 1874.
180
181
189
190
Si965i>
192 1 205
(187)/
182
191
188 201
193 197
183
192
189 202
194 198
184
193
190 203
195 199
185
194
191 204
196 200
186
195
197 206
Hinsichtlich dieser Störung ist demnach durch die
Handschrift von Münster nunmehr der Nachweis geliefert,
dass sie bereits aus einer Handschrift vom Jahre 1349 oder
aus einer noch vor dieses Jahr fallenden stammt.
Ist hienach die Bedeutung der Handschrift der
akademischen Paulinerbibliothek zu Münster, von
radebreken. Hieran reiht sich ohne Unterbrechung L 176: So wey
den anderen lernet an henden off an voeten S. 85 Sp. 1 Z. 21.
49) Dieser Artikel reicht in L 176 a bis S. 85 Sp. 1 Z 21 :
deme sal men dat selue doyn. Daran reiht sieb ohne Unterbrechung
L 178a S. 86 Sp. 1 Z. 26: Dey cleger behaldent er recht myt twen
dinemannen. sey leident tem tode alzo veil getuge u. s. w. bis zur
vorletzten Zeile von S. 86 Sp. 1 : dey beterent nicht vor en.
50) Dieser Artikel reicht von L 178 bis S. 86 Sp. 1 Z. 25 :
off dey man steruet er dusse dach komet, dat ons dat icht schade
an onsseme rechte. Hieran schliesst sich unmittelbar L 174 S. 84
Sp. 1 Z. 3: Men sal eme huyt vnd hayr af slayn by deme hoysten.
vnd is doch dat hey dar to is to banne u. s. w. bis an das Ende.
51) Dieses Kapitel reicht in L 187 bis zu den Worten: heuet
syme wyue to morgengaue gegeuen. Hieran schliesst sich unmittelbar
L 192 a: Nymant en sal ghenen pennink slayn dey u. s. w. S. 90
Sp. 1 Z. 11 bis an den Schluss von L 192 c.
52) Natürlich nur mehr bis dahin wo es sodann nach Note 51
mit L 187 bereits verbunden ist: vnd deit hey des nicht, men sal
ouer en richten in der mate als hyr vor geschreuen is.
Bocleinger: Handschriften des Meinen Kaiserrechtes etc. 449
welcher hier ganz vorzugsweise gehandelt werden wollte,
für das Landrecht des sogenannten Schwabenspiegels oder
überhaupt für dieses Rechtsbuch nicht von irgend welchem
höheren Gewichte, so dürften immerhin die Bemerkungen,
welche bezüglich ihres übrigen Inhaltes gemacht worden
sind, geeignet sein , die Aufmerksamkeit dieses oder jenes
Forschers mehr als bisher auf sie lenkeD.
Sitzung vom 6. Juni 1874.
Philosophisch - philologische Classe.
Herr Plath legt vor:
„Die fremden barbarischen Stämme im
alten China.
Im Allgemeinen. Neben den Chinesen finden wir
im alten China diese unter der ersten, zweiten und dritten
Dynastie, namentlich deren ersten Hälfte, von einer Menge
fremder barbarischer Stämme umgeben. Urbewohner mögen
wir sie nicht nennen, da wir nicht sagen können, dass sie
vor den Chinesen das Land einnahmen. Einige, im Nordeu
und Westen zumal fielen auch wohl nur in das Land ein,
wie später die Tataren, ohne dem Lande ursprünglich an-
zugehören. Den Süden Chinas dagegen nahmen lange bloss
fremde Stämme ein, die später chinesiche Einrichtungen an-
nahmen und beim Eindringen der Chinesen mit ihnen ver-
schmolzen. Leider erfahren wir über ihre Sitten, Einrich-
tungen, Sprache, Nationalität und Verhältnisse zu den Chi-
nesen nur sehr wenig; doch lohnt es der Mühe, auch diese
wenigen Notizen zusammenzustellen, was noch nicht ge-
schehen ist.1)
1) Legge Proleg. zu Vol. V, 1, p. 122-139 stellt nur die Notizen
über diese Wilden aus Confucius Chronik und dem Tso-tschuen zur
Zeit der Tschhün-tshieü (721—479 v. Chr.) zusammen und Chalmers
giebt dazu eine Karte mit Angabe der Lage und der Namen der
einzelnen Stämme in chinesischen Charactern.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 451
Gewöhnlich spricht man von den vier Barbaren;
wir erhalten aber nicht einmal ihre Volksnamen, sondern
nur chinesische Bezeichnungen, zum Theil Oekelnamen
derselben.
Das Zeichen für die Ostbarbaren J ist zusammen-
gesetzt aus Clef 37, jetzt gross, ursprünglich ein grosser
Mann, der einen Bogen (Cl. 57) umhat, der Charakter für
die WestbarbarenJung, aus Cl. 62 Lanze und (?) Hand;
jenes bezeichnet die ersteren also als Bogenmänner, diese als
Lanzenträger. Der Character für die Nordbarbaren Ti
besteht aus Cl. 94 Hund und Cl. 86 Feuer, also etwa Hunde,
die sich am Feuer wärmen. Der Character für die Süd-
barbaren Man zeigt unten deutlich CK 142 Insekten
oder Würmer, oben mit der Gruppe Liuen verwirrt, verbun-
den, also wohl ein verwirrter Haufe von Würmern.
Sie zerfielen dann in mehrere Stämme. So spricht der
Ta-hio 10 f. 15 von den vier Ostbarbaren (sse-I, zu welchen
einer aus dem Reiche der Mitte (Tschung-kue, d. i. China)
vertrieben wird. Nach Lün-iü 9 , 13 will Confucius zu den
9 Ostbarbaren (Kieu I) gehen und unter ihnen wohnen, ab-
wohl sie roh seien und 3, 5 heisst es: die rohen Stämme
des Ostens und Nordens (die I und Ti) haben Fürsten und
diese sind noch nicht verkommen (wang), wie bei den Hia
(den Chinesen). I und Ti stehen dann für die rohen Stämme
überhaupt im Lün-iü 13, 19 und Tschung-yung 14, 2.
Neben diesen kommen im Süden aber auch noch andere
Namen vor, besonders die Miao. Der Character ist zu-
sammengesetzt aus Cl. 140 Gras über Cl. 102 Feld. Miao-
tseu heisst noch ein Stamm der Urbewohner in Kuang-si;
man deutet den Namen : Söhne des Feldes. Dann kommen
hier vor die Min und Me im Nord-Osten. Der Character
Min ist zusammengesetzt aus Cl. 142 Insekt oder Gewürm
im Thore (Cl. 169) und bezeichnet eine Art Schlange im
Süd-Osten und dann die Urbewohner von Fo-kien; Me ist
452 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
eine Art Fuchs und bezeichnet die Nord-ost Barbaren.
Min, sonst Ho, beide aus Cl. 153 Tschhi ein Reptil, Ge-
würm, mit Zusatz von einer Gruppe; es sind also auch
dieses nur Oekelnamen. Thi} aus Cl. 124 der Flügel, unten
mit Cl. 172 ein kurzgeschwänzter Vogel, ist mit Jung der
Name . einer tatarischen Horde. Diese kommen aber alle
erst später vor, als die Chinesen mit dem Süden und Nor-
den bekannter wurden.
Die Südreiche Thsu, U, und Yuei, die ursprünglich
von Barbaren bewohnt wurden, sind auch zu erwähnen.
Tshu hiess ursprünglich King und dieses war der Name
einer der 9 Provinzen des alten China im Schu-king Cap.
Yü-kuDg. King heisst eindorniger Busch, später Tshu-king
Brombeerstrauch , ein buschiger Wald in Hu-kuang. U
heisst laut reden, auch gross; Yue ist von Cl. 156 über-
schreiten, übertreffen.
Die älteste allgemeine Schilderung der vier
fremden Barbaren, wohl aus dem Anfange der dritten
Dynastie (1122 v. Ch.), gibt der Li-ki im Cap. Wang-tschi
5 f. 211): Die Ostbarbaren I hatten geflochtene, über
die Schultern herabhängende Haare, bemalten den Leib und
assen ungekochte Speisen. Die Südbarbaren (Man) be-
zeichneten die Stirne, hatten einwärtsgebogene Fusszehen
(Kiao-tschi) — wie die Cochinchinesen noch — und assen
auch nur ungekochte Speise. Die der Westgegend (Jung)
hatten geflochtene Haare, kleideten sich in rohe Felle und
hatten kein Korn zur Nahrung. Die Nordbarbaren (Ti)
hatten Kleider aus Fellen, Federn und Haaren, wohnten in
Höhlen und hatten keinen Reis (li) zur Nahrung. Die J,
die Man, die Jung und di Ti des Reiches der Mitte (China's)
wohnten alle ruhig (ngan kiü), übereinstimmend war ihr
Geschmack (ho wei), geeignet die Tracht, (I fu). Sie be-
1) Callery hat sie ausgelassen.
Flath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 453
dienten sich nützlicher Sachen und bereiteten Gefässe (Pi-ki).
Die Rede und Sprache des Volkes der 5 Gegenden war
nicht durchgehends dieselbe, ihre Verlangen und Wünsche
nicht gleich. Wenn sie ihre Absicht zu verstehen gaben,
sagte die Ostgegend ki überliefern , die Südgegend siang
ähneln, die Westgegend ti-ti, die Nordgegend I oder Yih
mittheilen'1.
Diese Fremden hatten also unter sich und von der
chinesischen verschiedene Sprachen. Es gab daher unter
der dritten Dynastie Tscheu ein eigenes Amt der Dolmet-
scher (Siang-siü). Es bestand nach Tscheu-li 34 f. 26 (11)
für jedes der vier fremden Völker aus einem Graduirten
I Classe, 2 IL Cl. und 8 III. Gl. mit 20 Dienern. Nach
einer Anmerkung zum Bambubuche bei Legge, Proleg. III,
1, p, 128 kamen nach der Gefangensetzung von Kie, dem
letzten Kaiser der 1. Dynastie Hia, 1800 Fürsten mit 8 Dol-
metschern (pa-yih) zu Tsching-thang — 8 wohl, weil auch
Fremde ausser China huldigten. Nach Tscheu-li 39 f. 27
(38, f. 40) beschäftigten sich die Dolmetscher (Siang-siü)
mit den Gesandten der fremden Reiche des Südens, Ostens,
Südostens, Nordens und Westens. Sie hatten ihnen die
Worte des Kaisers zu überliefern und zu erklären, sie in
Uebereinstimmung zu bringen (I-ho) und sie zu gewinnen
(thsin tschi) ; wenn zu bestimmten Epochen gelegentlich aus
diesen Reichen ein Besucher 1. Classe ankam, brachten sie
das Ceremoniell in Uebereinstimmung (hie) und überlieferten
seine Worte, sowie das ganze Ceremoniell bei seiner Ankunft
und Abreise, wenn man ihm entgegenging und ihn zurück-
führte, die Passtafel und Ehrentafel, das Seidenzeug, das
er geschenkt bekam, die Anreden die er hielt und den
höheren Rang (den ihm der Kaiser ertheilte).
Nach dem Li-ki Cap. 14. Ming-tang-wei f. 33 v. kamen
die 4 Barbaren auch zur Huldigung ; dabei standen die Reiche
der 9 I ausserhalb des Ostthores nach Westen, das Gesicht
[1874, 4. Phil. hist. Cl.] 31
454 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
nach Norden gekehrt ; die 8 Reiche der Man ausserhalb des
Siidthores nach Norden, das Gesicht nach Osten; die der
6 Jung ausserhalb des Westthores nach Osten, das Gesicht
nach Süden ; die Reiche der 5 Ti ausserhalb des Nordthores
nach Norden, das Gesicht nach Osten. Der Scholiast be-
merkt: Sie folgten dem Thore ihrer Gegend. Es versteht
sich von selbst, dass dies die Theorie war, wie die Praxis
jedesmal, wissen wir nicht und beim Verfalle der Kaiser-
macht fiel dies natürlich weg.
Bei einer grossen Leiche (der des Kaisers) assistiren
sie selbst, bei der der Kaiserin und des Erbprinzen senden
sie Beamte zu dem Ende nach Schol. B. Sie zeigen ihnen
dabei die Gebräuche für die Besucher 2. Classe und regeln
ihre Stellung während der Ceremonie. Nach Tscheu-li 38,
f. 26 vereinigte man jedes 7te Jahr die Dolmetscher, sie
verglichen die Sprachen und brachten die Formeln des Ver-
kehrs in Uebereinstimmung.
Auch die Tänze und Musik der 4 fremden Völker
kamen am Kaiserhofe vor. Ti-kiü, ein Schuhwerk ohne
Riemen nach Li-kiCap.Kio-li-hiaf.50v., hfessdas, welches deren
Tänzer trugen. Dafür bestand ein eigener Dienst Ti-kiü-sse
aus 4 Graduirten 4. Classe, einem Magazinaufseher, einem
Schreiber, 2 Gehülfen und 20 Dienern nach Tscheu-li 17
f. 21. Nach 23 f. 54 hatten die 4 fremden Völker auch ihre
besonderu Weisen und Gesänge, Biot II p. 67 sagt nach
,dem Hiao-king hiess die Musik des Ostens Mei, die
desSüdensJin, die des Westens T seh u-li, die des Nordens
Ein; man spielte sie alle am Hofe, zu zeigen, dass alles
emter dem Himmel nur ein Reich bilde! Im Hiao-king im
I-sse 95, 1 f. 20 bis 24 finde ich dies nicht, abweichend
im Pe-hu-thung bei Ma-tuanlin 148 f. I.2) Die Musik Mei
2) Ma-tuan-lin B. 148 hat einen eigenen Abschnitt J-pu-yo
über die Musik der Ostbarbaren. Er begreift aber meist nur die
Musik in Corea, Japan, und die der Uiguren etc. (s. meine Abh. über
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 455
der Ostbarbaren (I) erwähnt der Li-ki im Cap. 14 Ming-
tang-wei f. 36 v. ; der Mei-sse lehrt die Musik der Fremden des
Ostens. Bei einem Opfer und grossen Banket tritt er an
die Spitze seiner Untergebenen und lässt sie tanzen. Dann
hat der Tscheu-li einen Abschnitt vom Mao- j in 17, 20 und
23, 49. Mao ist eine Fahne aus dem Schweife des wilden
Ochsen, den die Tänzer als Signale in der Hand hielten.
Der Mao-jin lehrte nun die Tänze zu der fremden Musik.
Alle aus den 4 Gegenden, welche Dienste am Hofe als
Tänzer nahmen, standen unter seinem Befehle und beim
Opfer und Fremdenbesuche führte man die Tänze zu den
Weisen der Musik aus. Ti-kiü-sse hiess nach 17, 21 und
nach 23, 54 der Vorstand der Tänzer der 4 frem-
den Länder, wie schon erwähnt, von dem Fusszeuge ohne
Riemen, welches sie trugen. Er hatte unter sich die Musik
der 4 fremden Völker, ihre Weisen und Gesänge. Bei einem
Opfer spielten sie die Flöte und sangen die dazu gehören-
den Gesänge; ebenso bei einem Banket (Jen).
Noch kommen mehrere Barbaren vor, die als Kriegs-
gefangene etc. verschiedene Dienste thun mussten. Nach
Tscheu-li 34 f. 13 waren es ausser den Tsui-li (verurteil-
ten Dieben) 120 Mann, die Man-li verurtheilte fremde
Kriegsgefangene aus dem Süden 120 Mann, die Min-li
desgleichen aus dem Süd-Osten 120, die I-li aus dem
Osten 120 und die Me-li aus dem Nordosten, auch 120 Mann;
andere werden nicht genannt. Nach 37 f. 12 (36 f. 15)
gehören die Man-li zum Dienste des Vorstandes der Stutereien
und ziehen Pferde auf; die im kaiserlichen Palaste führten
die Waffen ihres Reiches, den kaiserlichen Palast zu be-
wachen ; im Felde hatten sie die Polizeiaufsicht und bewach-
ten sein Zelt. Die Min-li waren im Dienste des Auf-
Ma-tuan-lin aus den Sitzungber. d. Akad. München 1871) und zieht
sonst nur die Stellen aus dem Tscheu-li 17, 19 und 23, 48. aus.
31*
456 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 6. Juni 1874.
ziehers und Futterers der Vögel (Tschang-hio) nach 30 f. 47r
sorgten für deren Vermehrung, zogen sie auf (Gänse, Eli-
ten etc.), zähmten die wilden, die von Aussen kamen und
die delicateren (Fasanen, Wachteln, Rebhühner); der Vor-
stand des Hauses des Sohnes des Kaisers hatte sie in seinem
Dienste. Die I-li dienten bei den Hirten, zogen Rinder
und Pferde auf und mussten mit den Vögeln reden (die I
und die Ti im Osten und Norden verstehen nemlich was
die Thiere und Vögel sagen; ein Beispiel im Tso-tschuen
Hi-kung a. 29). — Sie, wie auch die folgenden, bewachten
auch den kaiserlichen Palast und hielten auf die Polizei-
reglements. Die Me-li endlich dienten beim Zähmen der
wilden Thiere, futterten und zogen sie auf und hatten mit den
Vierfüssern zu sprechen. Nach f. 11 standen die Sse-li an
der Spitze der Verurtheilten der 4 fremden Nationen, hiessen
jeden das Costüm seines Reiches tragen und seine Waffen
führen. Die des 0. und S. trugen Kleider aus Zeug und
Seide, in der Hand hatten sie den Degen; die des W. und
N. hatten Kleider aus Wolle und Pelzwerk und führten Bo-
gen und Pfeile. Sie hiessen alle Polizeireglements im kaiser-
lichen Palaste und wenn der Kaiser im Felde steht an den
Stationen aufrecht erhalten nach Scholiast C.
Nach der Beschreibung China's unter der
3. Dynastie Tscheu im Tscheu-li 33 f. 1 (9) hatte der Tschi-
fang-tschi unter sich die Karten des Reiches und der
Länder, und unterschied die Arrondissements und Cantone
seiner Königreiche und Fürstenthümer und die Bevölke-
rungen der 4 I, der 8 Man, der 7 Min, der 9 Me, der 5 Jung
und der 6 Ti, so wie die Menge und Wichtigkeit der Werth-
gegenstände, (Münzen-, Korn-, Waarenpreise), der 9 Korn-
arten, der 6 Arten von Hausthieren in den verschiedenen
Provinzen. Er weiss genau was nutzt (li, Metalle, Bambu)
oder schadet (hai). Dies möchte das Allgemeine sein, was
wir über diese Fremden haben. Die ältere Geographie Chi-
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 457
na's im Schu-king Cap. Yü-kung, III, 1 erwähnt nur die
I in den Provinzen Ki-, Tsching-, Siü-, Yang- und Leang-
tscheu und die Jung in der 9. Prov. Yung-tscheu. S. unten bei
■den einzelnen. Iin Capitel Schün-tien des Schu-king II, 1, 16
ieisst es schon: „Ehre die Tugend, vertraue den Guten,
missbillige die Listigen, so werden die Man und I einander
anleiten, sich zu unterwerfen." (Die Man und I (?) heisst
liier nach Legge: Alle Barbaren.) Unter kräftigen chinesischen
Herrschern huldigten die 4 Barbaren, unter schwachen fielen
sie ab. Die Geschichte der späteren Han (Heu Han schu)
im I-sse B. 13 f. 2 sagt: Als Thai-khang, der 3. Kaiser der
1. D. Hia (1957 — 1955), das Reich verliess, fielen die vier
Barbaren alle ab; nachdem Heu-Siang (der 5. Kaiser) den
Thron bestiegen (seit 1942 v. Chr.) und die Kiuen-I besiegt
hatte, kamen sie im 7. Jahre zur Huldigung (lai pin). Im
Schu-king Cap. Liü-ngao V, 5 heisst es: Nach Besiegung der
2. Dynastie Schang, da der Weg zu den 9 I und 8 Man
offen war, brachten die Liü als Tribut ihre Hunde Ngao.
Di-e Angabe der Zahl der Völkerschaften ist verschieden, so
hat der Li-ki im C. Ming-tang-wei 14 f. 3, wie hier, 9 I,
S Man, aber auch noch 6 Jung und 5 Ti, der Tscheu-li 33 f.
1—4 1, 8 Man , 7 Min, 9 Me, 5 Jung und 6 Ti. Der Kue-iü
Lu-iü hia 9 I und 9 Man.
Wir kommen nun zu den einzelnen fremden
Stämmen.
1) Die Ti oder Nordbarbaren
sagt Legge Prol. p. 126 sassen alle 0. vom Hoang-ho im Norden
der dortigen Staaten bis Schan-tung nach Confucius und Tso-
schi, während Sse-ma-tsien einige auch W. vom Ho setze. Die
allgemeine Schilderung s. schon oben S. 452. Nach Schu-
king V, 22, 14 stellten sie nach Tsching-wang's Tode bei
der Thronbesteigung von Tschao-wang Schirme mit Ver-
zierungen auf. Dies waren vielleicht Gefangene. Als Tscheu
Thai-wang (Tan-fu) (1327 v. Chr.) in Pin wohnte, machten
458 Sitzung der phüos.-philol. Glosse vom 6. Juni 1874.
nach Meng-tseu I, 2, 15, 1 die Ti-jin (Männer) beständig
Einfälle. Er bediente sie mit Fellen und Seidenzeugen und
konnte dem doch nicht entgehen. Er diente ihnen mit Hunden
und Pferden und konnte ihnen doch nicht entgehen, ebenso-
wenig als er sie mit Perlen und Yü-Steinen bediente. Er ver-
sammelte nun seine Alten, verkündete ihnen und sagte : Was
die Ti-Männer wünschen ist unser Land (Tu-ti). Ich habe-
gehört mit dem, womit der Weise die Menschen ernährt,,
schadet er nicht den Menschen. Meine 2—3 Kinder, was-
seid ihr betrübt, dass Ihr ohne Fürsten sein werdet. Ich
verlasse diesen Ort. Er verHess Pin, setzte über den Berg
Liang, baute eine Stadt am Fusse des Berges Khi uud
wohnte da. Das Volk von Pin aber sagte: Es ist ein hu-
maner (jin) Mann, wir dürfen ihn nicht verlassen und sie
folgten ihm, wie man dem Markte zuströmmt. Dieselbe Ge-
schichte hat Meng-tsen I, 2, 14, 2 nur kürzer und daraus
wohl der Sse-ki 4 f. 2 v. Tschuang-tseu im I-sse 18 f. $
hat auch dieselbe Geschichte vorne ganz gleich, später ab-
weichend. Auch der U, Yuei Tschhün-thsieu ib. f. 3 v. folg.
spricht davon. Er heisst da : der alte Graf (Ku-kung). Der
Sse-ki Tscheu pen-ki B. 4 f. 4 v. flg. lässt die Jung und
Ti den alten Grafen (Tan-fu) angreifen. Nach f. 2 und 15
gab Pu-kho, der Nachkomme Heu-tsi's (des Ahn's der
Dynastie Tscheu), dessen Amt auf und entfloh zwischen den
Jung und Ti. Der 2. Nachkomme Kung-lieu nahm , ob-
wohl er mitten zwischen den Jung und Ti war, Heu-tsi's
Amt indess wieder auf, beackerte das Feld etc. Lange nach
dieser Zeit hören wir erst wieder von den Ti im Bambu-
Buche3) (Tschu-schu) und sonst. Wir stellen die kurzen An-
gaben chronologisch zusammen:
3) Von Tscheu Phing-wang seit 769 v. Chr. stimmt die Chrono-
logie des Bambubuches mit der gewöhnlichen, vorher seit dem An-
fange oder von Yao an bis dahin ist sie 211 Jahr kürzer, s. Legge
T. III, Prol. p. 179 Die Zeitangaben vor Phing-wang im Te.vte
sind die des Bambubuches.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 459
728 v. Chr. unter Kaiser Phing-wang 42 griffen die Ti
Y an und kamen bis an den Rand (Kiao) von Tsin. (Y war
seit Hiao-kung die Hauptstadt von Tsin und lag in Yih-
scbing in Phing-yang).
Unter Tschoang a. 32 661 griffen die Ti Hing an.
Der Minister von Thsi sagte: die Ti sind unersättliche Wölfe.
Alle Chinesen (Hia) sind befreundet und dürfen einander nicht
verlassen. Thsi half ihm dann 660 nach Tso-schi Min-kung
a. 1 f. 1, Wiener Sitzungsberichte 13 p. 469.
Unter Hi a. 1 (658) verlegte Huan von Thsi die
Hauptstadt von Hing noch J-i , wo es den Ti weniger aus-
gesetzt war und Thsi, Sung und Tschao befestigten die neue
Hauptstadt nach Legge. Das Volk von Hing begab sich in
seinen neuen Sitz, als kehrte es heim nach Tso-schi p. 131,
Andere Expeditionen folgten nach Legge p. 128. Im
7ten Jahre von Hi (650) brachte ein General von Thsi einem
Theile der Ti eine Niederlage bei , aber gedrängt , seinen
Sieg zu verfolgen sagte er : Er habe die bloss in Furcht
jagen wollen , aber keine Erhebung aller ihrer Stämme be-
schleunigen wollen. Die Folge war ein Einfall der Ti in
Tsin 650.
Im lOten Jahre (648) fielen die Ti in das Kaiseigebiet
ein und vernichteten nach Tso-schi p. 156 Wen, dessen
Fürst nach Wei floh. Dieser Su ein Mann ohne Treue,
rebellirte gegen den Kaiser und ging dann zu den Ti. Als
er da nichts machen konnte, die ihn angriffen und der
Kaiser ihm nicht beistand , wurde sein Staat vernichtet.
Mehrere Jahre litten Wei, Tschhing und Tsin nach ein-
ander unter ihren Einfällen.
In Hi's 18 Jahre (640) war Thsi in Folge des Todes
Huan's in Verwirrung und die Ti unterstützten einen seiner
jüngeren Söhne. 638 schloss Thsi mit ihnen einen Vertrag
in der Hauptstadt von Hing in dessen Interesse, welches
Wei bedrohte.
460 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
Derselbe Tso-schi a. 2 f. 5 erwähnt 660 ihren Angriff
auf das bedeutendere Wei. 658 greifen die Ti Wen-kung
von Wei an. Er ruft Huan-kung von Thsi zu Hülfe. An
der Spitze der Lehnfürsten vertrieb er sie, baute in Wei die
feste Stadt Tsu-khieu und setzte Wen-kung wieder ein nach
Sse-ki B. 32 f. 10, W. S. B. 40 p. 6624) und nach Sse-ki
4) Tso-schi Min anno 2 bei Legge V, 1 129 fg. hat über den
Angriff der Ti auf Wei noch folgendes Detail. Ihr Einfall fand
im 12. Monate statt. Der Fürst von Wei war bekannt wegen seiner
Liebe zu den Störchen, die er in eines Gross-Beamten Wagen mit
sich führte. Als nun die Zeit zum Fechten kam und das Volk seine
Panzer aus Büffelleder erhielt, sagten alle: , »brauche die Störche,
die Störche haben ihre Einkünfte und Würden, wie sollten wir fähig
sein zu fechten"? Der Fürst gab seinen Halbring aus Yüstein an
Schi-khi und einen Pfeil an Ning Tschoang, trug ihnen auf, die
Stadt zu bewachen und sprach: ,,mit diesem Abzeichen der Autorität
helft dem Staate und thut was euch vortheilhaft erscheint." Seiner
Frau gab er sein gesticktes Kleid und sagte ihr : „höre auf diese
beiden Offiziere (Beamten)". Kr bestieg dann seinen Kriegswagen.
Khiu Khung war sein Kutscher, Tseu-pe war der Lanzen träger der
Rechten. Den Ti wurde eine Schlacht geliefert in der Nähe des
Sumpfes von Yang. Die Armee von Wei erlitt eine schmähliche Nieder-
lage und der Staat konnte als vernichtet betrachtet werden. Der
Fürst wollte seine Fahne nicht verlassen und machte die Niederlage
so nur noch grösser. Die Ti nahmen die Geschichtsschreiber Hoa Lung
und Li Khung gefangen und führten sie mit sich bei der Verfolgung
der Flüchtlinge. (Auf den Aberglauben der Ti bauend) sagten die:
„wir sind die obersten Geschichtsschreiber, die Staats-Opfer haben
wir zu verwalten und wenn wir euch nicht vorangehen , kann die
Stadt nicht genommen weuden." Man Hess sie nun vorausgehen
als sie aber die Stadtmauer erreicht hatten, sagten sie zu den Offi-
zieren, welche die Stadt zu bewachen hatten : ,,ihr dürft hier nicht
bleiben." Dieselbe Nacht noch verliessen Schi und Ning mit dem
Volke die Stadt, die Ti- drangen ein und setzten dann die Verfolgung
fort, den Flüchtlingen am Ho eine neue Niederlage beibringend.
Vor dieser Zeit als Hoei (Soh) in Wei nachfolgte (698) war
er noch jung und das Volk von Thsi verlangte dass Tschhao-pe, ein
Halb-Bruder eine Verbindung mit Siuen Kiang, Soh's Mutter, ein-
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 461
f. 12, S. ß. p. 666, beschäftigten die I und Ti 651 sich
selbst Einrichtungen zu geben.
eingehe und als der sich weigerte, nöthigte es ihn dazu. Aus dieser
Verbindung entsprangen Thse-tseu (Schin), der spätere Fürst Tai (659),
Hoei, der spätere Fürst Wen von Wei (658 ff.), die Frau Huan's von
Sung und die Frau Mo's von Heu. Wegen der vielen Wirren in Wei
war Hoei (vor dem Einfalle der Ti) nach Thsi gegangen. Nach den
-zwei Niederlagen der Wei traf Huan von Sung die Flüchtlinge von
Wei am Ho und schaffte sie Nachts über diesen Fluss. Nur 730
Männer und Frauen waren vom Volke Wei's da übrig, mit dem Volke
von Kung und Theng (der 2 andern Städte) nur 5000. Schin oder
<ler Fürst Tai war an Fürst J's Stelle erhoben und lebte in einer
Hütte in Thsao's (einer andern Stadt Wei's). Bei der Gelegenheit ver-
fasste die Frau Mo's von Heu das Lied Tsai Tschhi (im Schi-king
I, 4, 10). Der Fürst von Thsi sandte seinen ältesten Sohn Wu
khuei mit 300 Wagen und 3000 Bewaffneten, Thsao zu bewachen,
dem Fürsten (Tai) ein Gespann von 4 Pferden , 5 Anzüge von
Opfer-Kleidern, 300 Ochsen, Schafe, Schweine, Geflügel, Hunde und
Materialien zu Thüren , seiner Frau noch einen Gross -Beamten
Wagen mit Seehundsfellen verziert und 30 Stück schön gestickte
•Seidenzeuge.
(Der Staat Wei war durch das Eindringen der Ti in die Haupt-
stadt nicht vernichtet; sie nahmen das Gebiet nicht in Besitz).
Unter Min a. 2 (658) schlug der Fürst von Tsin vor, seinen ältesten
Sohn Schin-seng einen Einfall in das Gebiet der Kao-lo der Ostberge
{in Schan-si) machen zu lassen, aber Li-Ke remonstrirte und sagte:
„es ist das Geschäft des ältesten Sohnes die Gefässe mit Hirse für
die grossen Opfer und für die auf den Altären von Land und Korn
■zu tragen und die Lebensmittel, die für den Gebieten jeden Morgen
und Abend gekocht werden, zu beaufsichtigen, desshalb heisst er
„der grosse Sohn." Geht der Herrscher auswärts hin, so bewacht er
die Hauptstadt und wenn ein anderer dazu angestellt wird, so wartet
er seinem Vater auf. Als solcher heisst er: „der Beschwichtiger des
Heeres" (Fu-kiün). Bleibt er zurück als Wächter der Hauptstadt so
heisst er „Inspektor des Staates." Dies ist altes Gesetz , aber das
Heer anzuführen , dessen Bewegungen und Entwürfe zu leiten , alle
Commando's an die Truppen zu erlassen, dafür haben der Herrcher
und Premier-Minister zu sorgen , das ist nicht das Geschäft des
ältesten Sohnes. Die Leitung der Armee hängt von den endgültigen
462 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
650 unter dem 17. Kaiser Hoei (seit 675) a. 25 führte
ein Heer der Nord bai baren, Tsching anzugreifen nach dem
Commando's ab. Erhält der Sohn die Befehle von einem andernr
so ist dies beleidigend für seine Majestät, gibt er selbst die Com-
mando's, so ist das unkindlich. Daher darf des Gebieters eigener
Sohn und Erbe nicht den Oberbefehl des Heeres führen, der Ge-
bieter verfehlt da den rechten Mann zu wählen, wenn er ihm den
Oberbefehl überträgt und wenn er als Befehlshaber die Majestät
verliert, die ihm zukommt, wie kann er dann später verwandt
werden? Euer Diener hört die Kao-lo's wollen kämpfen, ich bitte
daher, lasst euren Sohn alleine (und sendet ihn nicht hin). Der
Fürst sagte: „ich habe viele Söhne und weiss noch nicht, wen ich
zu meinem Nachfolger bestimme." Auf dieses hin zog sich Khe
ohne eine Erwiderung zurück. Als er des Fürsten ältesten Sohn
sah, fragte der Prinz ihn, ob sein Vorschlag missbilligt sei? Khe
antwortete: lass das Volk wissen, wie du ihm vorstehen kannst
und lehre es seine Pflichten in der Armee; sei bloss besorgt nicht
ehrerbietig genug auf diese beiden Sachen zu achten, wie wirst du
da Missbilligung finden? Als ein Sohn besorge nur, dass du nicht
kindlich seiest, fürchte nicht, dass du nicht zum Nachfolger ernannt
werdest. Bilde dich selbst aus und suche nicht die Fehler Anderer
auf, so wirst du der Calamität entgehen."
Als der älteste Sohn den Oberbefehl des Heeres übernahm, gab
der Fürst ihm ein Gewand von 2 Farben und seinen goldenen Halb-
ring, ihn an seinen Gürtel zu hängen. Hu-tu war sein Wagenlenker,
Sien-yen der Lanzentäger zu seiner Rechten. Leang-yü-tseu Yang
war der Wagenlenker Han I's, des Anführers der 2. Schaar und
Sien-Pan-mo der Lanzenträger zu seiner Rechten; der Oberoffizier
Yang Schi diente als Adjutant. (Diese 5 sprachen nun ihre Ge-
danken über das nur theilweise farbige Kleid und dessen so wie
des Halbringes Bedeutung für den Prinzen weitläufig aus. Diess
liegt uns aber zu ferne). Als der Prinz kämpfen wollte, machte
Hu-tu dagegen Vorstellungen und bezog sich angeblich auf den
Rath Sin-Pe's an Huan von Tscheu; s. Tso-schi bei Legge p. 71 und die
dortigen Intriguen. Kann deine Nachfolge im Reiche gesichert
werden? Sei kindlich, suche die Ruhe des Volkes, dazu mache
Pläne. Diess ist besser als deine Person zu gefährden und die Be-
schuldigung der Missethat zu beschleunigen.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 463
Kue-iü, Tscheu-iü 2, vgl. mit Tso-schi uuter Hi-kung von
Lu a. 24 (636) K. 14 f. 21 v., W. S. B. 14 p. 55.
Unter Hi a. 16 (642) im Herbste machten die Ti nach.
Tso-schi p. 171 einen Einfall in Tsin.
629 griffen die Ti Wei wieder an nach Tso-schi Hi-
kung a. 31.
Nach Schi-king IV, 2, 4,5 p. 211 wurden unter Hi-kung
von Lu (659 — 626) zahlreiche Heere gegen die Jung und
Ti, auch gegen King Schu gesandt.
620 griffen die Ti unsere Weststadt (Pi) an nach Tso-
schi Wen-kung a. 7 f. 14 v.
605 griff unter Kaiser Ting-wang (seit 605) a. 6 Tsching«
kung von Tsin mit den Ti Thsin an , fing Thsin-mie
(einen Spion von Thsin) und tödtete ihn auf dem Markte
von Kiang (in Schan-si) nach Tso-schi Siuen-kung a. 8; nach
dem Bambu -Buche lebte er am 6. Tage wieder auf.
575 waren die früher mächtigen Ti von Tsin schon
gedemüthigt, W. S. B. 17 p. 307.
Bis LuSiuen (607—589) spricht nach Legge Prol. p. 126
der Text nur von den Ti überhaupt, später von den 2 grossen Ab-
theilungen derselben den rothen und weissen Ti. Dierothen
Ti werden nach Tsching a. 3 586 nicht weiter erwähnt und
die Vernichtung mehrerer ihrer Stamme wird berichtet. Die
weissen Ti erhielten sich bis über die Periode des Tschhün-
tshieu (479) hinaus und einer ihrer Stämme nahm zur Zeit
der streitenden Reiche den Königs-Titel an und kämpfte
mit den andern Prätendenten um den Besitz der ganzen
Herrschaft der Tscheu.
Die weissen Ti zerfielen nach Legge in 3 Stämme die
Sien-yü oder Tschhung-schan im Distrikte Tsching-ting,
2, die Fei im Distrikte Kao-sching und 3, die Ku in Tsin-
tscheu, alle 3 im Departement Tsching-ting in Tschi-li.
464 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
Von den rothen Ti werden nach Legge 6 Stämme
specificirt; 1) die Kao-lo-schi in den Ostbergen (Tung-
schan) , im jetzigen Distrikte Yuen-khio in Kiang-tscheu in
Sehan-si ; 2) die Tsiang-kan-yu, der Sitz unbekannt* 3) die
Lu, deren Name noch erhalten ist im Distrikte Lu-sching
im Departement Lu-nganin Schan-si; 4) die Khia, im Distrikte
Ke-tsi Departement Kuang-phing in Tschi-li; 5) die Lieu-yu,
im Distrikte Thun-lien, Departement Lu-ngan und 6) die
Tho-schin, irgeudwo in demselben Departement in Schan-si.
Die Ti zerfielen, wie schon erwähnt, in mehrere Stämme
oder Herrschaften. Die Zahl derselben wird verschieden an-
gegeben, wohl in verschiedenen Zeiten. Wir stellen nun zu-
sammen was über die einzelnen vorkommt; vgl. Ma-tuan-
linK. 264 f. 22— 31 undl-sseB. 98, 1. Die weissen (pe) Ti.
Tso-tschhuen unter Siang-kung a. 8 (564 v. Chr.) sagt: Im
Frühlinge fingen die Pe-Ti an nach Lu zu kommen. Sie
wohnten in Tschin, in der Provinz Jung, VV. S. B. 17 S. 299.
Unter 'Ssching-kung a. 12 (579) waren sie Feinde von Tshin,
aber mit Tsin durch Verheirathung verbunden. Tshin hetzte
sie gegen Tsin auf, als wollte das sie angreifen; sie melde-
ten es aber diesem.
2. Die rothen (Tschi)-Ti, von ihrer Kleidung benannt.
660 schickt Hien-kung von Tsin seinen Erbprinzen, Tung-
schan anzugreifen nach Sse-ki 39 f. 7, S. B. 43 S. 85.
659 unter Hoei-wang, (seit 675), a. 17 schlägt I-kung von
Wei in Wei-hoai-fu die rothen Ti am See Tung oder nach
Andern Khiung nach dem Bambu-Buche, (d. i. nach Biot
im Jour. Asiat. 13 p. 409 Yung bei Yung-yang in Ho-nan).
Zu diesen gehörten die Kao-lo-schi , die der Erb-
prinz von Tsin 658 angreifen soll nach Tso-schi Min-kung
a. 2 f. 6, S. B. 13, S. 472 f.
Ein anderes Reich der rothen Ti war Lu,5) im heutigen
5) Von Cl. 85 Wasser und der Gruppe Lu Weg, verschieden von dem
Lu in Schan-tung von Cl. 195 Fisch (iüj und Cl. 73 Mund, Sprache.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 465
Lu-ngan in Schan-si. Es wurde 594 von Tsin vernichtet
nach Tso-schi Siuen-kung a. 15 (auch im I-sse B. 58 f. 2),
S. ß. 17 S. 53, vgl. 297 f- und Sse-ki 110 f. 4. Tsching-
kuug a. 13 f. 20 v. Die Gemahlin Ying-ni's, des Fürsten
dieser Lu, war die ältere Schwester des Fürsten von Tsin.
Fung-shu führte die Regierung und tödtete sie, verletzte
auch das Auge des Fürsten von Lu. Der Fürst von Tsin
wollte ihn angreifen. Alle Grossen (Ta-fu)jj des Reiches
sprachen: „Es darf nicht sein; Fung-shu hat 3 vorzügliche
Gaben; wir müssen warten auf den nachfolgenden (talent-
losen) Menschen." Pe-thsung aber sprach: Man muss ihn
angreifen, er hat eine fünffache Schuld. Sind seiner Gaben
auch viele, was könnten sie wohl wieder gut machen?
1. Opfert er nicht (den Göttern) ; 2. hat er Freude am Wein;
3. verstiess er den Minister Tschung-tschang und entriss das
Land der Familie Li; 4. handelte er grausam gegen unsere
Pe-ki, die Schwester des Fürsten von Tsin und -5. verletzte
er das Auge des Landesherrn. Der Fürst von Tsin folgte
ihm. Im 6. Monate am Tage Kuei-mao schlug Tsin die
rothen Ti in Kio-liang; am Tage Siu-hai vernichtete er
Lu. Fung-shu floh nach Wei, er wurde aber ausgeliefert
und von Tsin's Leuten getödtet; s. Siuen-kung a. 16 f. 23.
I-sse B. 58 nach Tso-schi Wen-kung a. 11 mit den Com-
mentaren.
Ein anderer Stamm der rothen Ti waren die Tsiang
Kao-yu nach Tso-schi Tschirg-kung a. 3, auch im I-sse 58
f. 3, die 637 von den Thi (anders geschrieben s. S. 452) be-
kämpft wurden. Ihre Herrscher gehörten zur Familie Ui. Sie
fingen die 2 Töchter Scho-ui und Ki-ui. Die ältere heirathete
Tschung-eul (von Tsin) und er erhielt von ihr 2 Söhne, den
Pe-yeu und Scho-lieu. Die jüngere gab er Tschao-tschuei.6)
G) Nach Tso-schi Hi-kung a. 23, S. B. 14 p. 462 und Sse-ki 43
f. 23, 39, f. 17, v., S. B. 43 S. 104 und Pfizmaiers Geschichte von Tschao
S. 5.
466 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
Von dem bekam sie einen Sohn Tun. Als der Prinz Tschung-
eul nach Thsi reiste, sagte er zu Ki-ui: Warte auf mich
25 Jahre, wenn ich dann nicht zurück bin, magst du dich
anderweitig vermählen. Sie lachte und sagte: Ich bin schon
25 Jahre alt und da käme ich zum Holze. Ich bitte auf
dich warten zu dürfen. Tschung-eul blieb bei den Nordbar-
baren 12 Jahre und zog darauf weiter. Als er dann später
zur Regierung gelangte, schickten die Barbaren ihm die
Scho-ui, behielten aber seine 2 Söhne.
Unter Hi a. 24 (634) im Monate, im Sommer fielen
die Ti in Tschhing ein, und nahmen Li nach Tso-schi
p. 192. Der Kaiser, in Streit mit Tsching, betrachtete das
als einen ihm geleisteten Dienst und dankbar dafür zu
sein, dachte er die Tochter ihres Häuptling's zu seiner
Kaiserin zu machen. Fu-schin rieth das nicht zu thun.
„Dein Diener hörte, der Belohner wird ihrer überdrüssig und
der Empfänger ist nicht befriedigt. Die Ti sind meist be-
gehrlich und Eure Majestät muss nach ihrem Willen dann
ihnen dienen. Es ist die Natur der Frauen in ihren Be-
gehren gränzenlos zu sein und ihre Rache hat kein Ende.
Die Ti werden sicher Eur. Majestät Sorge sein;" aber der
Kaiser hörte nicht auf ihn.
Vor der Zeit war Fürst Tslihao von Kan (des Kaisers
Bruder Tai) der Favorit der Kaiserin Hoei gewesen , und
die wünschte, dass er den Thron besteige. Sie starb aber
ehe sie des sicher war und Tschhao floh nach Thsi. Kaiser
Siang restaurirte ihn (im 22. Jahre) und jetzt hatte er Um-
gang mit der Wei (des Kaisers Frau aus den Ti), die der
Kaiser darauf degradirte. Thui-scho und der Beamte Thao
sagten : wir veranlassten die Verwendung der Ti und ihre
Rache wird uns treffen. Zufolge dessen erhoben sie Thai*
scho (Tschhao) und griffen den Kaiser mit einem Heere
der Ti an. Seine Garden wünschten, dass er ihnen Wider-
stand leiste : aber der Kaiser sagte : was wird meines Vater's
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 467
Kaiserin von mir sagen? besser dass die Staaten Mass-
regeln für diesen Fall treffen. Er verliess darauf die
Hauptstadt und ging nach Khan-than von wo das Volk
ihn zurückbrachte. Im Herbste unterstützten Thui Scho
und Thao-tseu, Thai Scho, drangen mit einem Heere der
Ti in Ts>cheu ein, brachten dem kaiserlichen Heere eine
grosse Niederlage bei, nahmen Ki-fu, den Herzog von
Tscheu und die Earls von Yuan und Mao und Fu-schin ge-
gefangen. Der Kaiser begab sich nach Tschhing und re-
sidirte in Fan, während Thai-scho und die Frau Wei in
Wen residirten.
A. 627 in Hi's 31. Jahre griffen die Ti Wei wieder an
und nöthigten es, seine Hauptstadt nochmals zu wechseln.
Sie belagerten nach dem Tschhün-Thsieu p. 218 im 8ten
Monate die Hauptstadt von Wei Tshu-khieu, das im 12ten
Monate seine Hauptstadt nach Te-khieu in Khai-tscheu im
Departmente Ta-ming verlegte. Nach Tso-schi p. 219 be-
fragte der Fürst von Wei wegen Te-khieu die Schildkröten-
Schale und die besagte: sein Haus solle 300 Jahre da
wohnen.
626 machte Wei einen Einfall in das Gebiet der Ti;
sie baten um Frieden, und schlössen mit ihm einen Vertrag
nach Tso-schi p. 220 und Hessen es unbelästigt bis Wen
a. 13 (612), wo sie einen Einfall in Wei nach dem Tschhün-
thsieu p. 263 machten.
Auch ihre Einfälle in Thsi setzten die Ti fort und
griffen Lu und Sung an trotz einer Niederlage, welche Tsin
im letzten Jahre von Hi 626 ihnen beibrachte. Sie hatten
nach Tso-schi die Trauer in Tsin benutzt. Meu-tseu schlug
sie im 8. Monate und Kio-Kiue nahm den Fürsten der
weissen Ti gefangen. Sien-tschin sagte zu sich selbst:
,,als ein gewöhnlicher Mann liess ich meine Gefühle vor
meinem Fürsten aus. (Er hatte vor ihm ausgespuckt), ich
wurde nicht bestraft, aber muss ich mich nicht selbst be-
468 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
'
strafen? nahm seinen Helm ab, drang in das Heer der Ti
ein und starb. Die Ti drehten seinen Kopf um und er sah
aus als ob er noch lebte. (Wir übergehen die Belohnungen,
welche der Fürst von Wei an seine verschiedenen Heer-
führer ertheilte). Der Sse-ki B. 110 f. 3 v. weicht ab.
Die Jung und Ti kamen nach ihm bis zur Stadt Loy
griffen Siang-wang an und der floh in Tschhing's Stadt
Sse. Er wollte Tschhing angreifen, heirathete daher eine
Frau der Jung und Ti uud machte sie zur Fürstin. Mit
ihren Waffen griff er Tschhing an, verliess und verstiess dann
aber die Ti-heu. Diese zürnte und Siang-wang's Stiefmutter
sagte: Die Kaiserin Hoei hat einen Sohn Tseu-ti, den
wünsche ich einzusetzen. Auf dieses hin verband sie sich
mit der Ti heu Sohn Tai. Sie öffneten den Jung und Ti
das Thor, dass sie eindringen konnten, schlugen den Kaiser
und setzten Tseu-ti als Kaiser ein. Auf dieses hin wohnteu
einige Jung und Ti in Lo-huen, zwischen Tshin und Tsin.
Im Osten kamen sie bis Wei, drangen plündernd ein und
beraubten grausam das Reich der Mitte, das sehr elend
war. Daher sangen die Liedermänner: die Jung und Ti
griffen die Hien-yü an und kamen bis Thai-yuen auf Wagen
und befestigten So-fang. Der Kaiser Siang-wang wohnte
draussen 4 Jahre.
527 bekriegte Tsin ein anderes Reich der Nordbarbaren
— nach Legge p. 121 der weissen Ti — Tschung-schanoder
Sien-yü nach Tso-schi Tschao-kung a. 15, f. 3, S. B. 25
S. 65 und belagerte Ku, eine ihrer Städte. Wie Siün-wu
durch Verrath nicht in den Besitz der Stadt kommen wollte,
habe ich in meiner Abh. : Das Kriegswesen der alten Chinesen
München a. d. S. ß. 1873 No. 3 S. 328 f. schon erzählt.
Tschung-schan (der mittlere Berg), ein barbarisches
Reich der Sien-yü, war 505 noch nicht unterworfen nach
Tso-schi Ting-kung a. 4 f. 6, W. S. B. 27 S. 116. Unter
Tschao-lie-heu a. 1 schlug Wen-heu Tschung-schan nach
Flath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 469
Sse-ki B. 43 f. 16. Es hatte 500 Li im Umfange. Tschhao
verschlang es nach Sse-ki B. 79 f. 8, W. S. B. 30 S. 240
unter Lu Tschhao-kung a. 15.
Nach Tso-tschuen Wen-kunga. 11 (615), auch im I-sse 58
f. 1, fielen die Seu-men, (eine Tatarenhorde im Norden), in
Thsi ein und drangen gegen uns vor. Kung-Po sandte Scho-
sün. Im Herbste, im 10. Monate am Tage Kia-wu schlug
er die Ti in Han-hien (in Wei), fing und schlug einen
langen Ti (Tschang Ti), traf seinen Schlund mit einer
Lanze, tödtete ihn und begrub seinen Kopf an Tseu-keu's
Thor nach Befehl.
Siuen-pe begann zur Zeit von Sung Wu-kung ; die Seu-
men griffen Sung an; der Sse-tu Hoang-fu führte ein Heer
gegen sie, schlug sie in Tschang-khieu und verfolgte die
langen Ti ; Hoang-fu's 2 Söhne blieben (starben.)
Die Seu-men griff unter Tshi Siang-kung Thsi's Königs-
sohn Tsching-fu an und verfolgte sie. Yung-iü, sein jüngerer
Bruder, begrub seinen Kopf am Nordthore von Tscheu's
Hauptstadt. Im Herbste griffen nach Tso-tschuen p. 299 unter
Siuen-kung a. 6 (601) die rothen Ti Tsin an und belagerten
es in Hing-khieu ein. Tsin-heu wünschte sie mitten auf
dem Wege anzugreifen.
A. 7 (600) fielen die rothen Ti wieder in Tsin ein und
nahmen Korn weg.
Im 11. Jahre unterwarfen die rothen Ti sich Tsin.
Im Herbste versammelte Tsuan-han die Menge der
unterworfenen Ti. Als dies ging, wollten alle Ta-fu die Ti
berufen. Ki-tsching-tseu aber sagte: Ich habe gehört : „Ohne
Tugend ist nichts so wie Fleiss, wozu Menschen suchen ohne
Fleiss? Kann man Fleiss haben, so folgen die Verbun-
denen ihm."
Der Heu von Tsin belohnte Huang-tseu, den Beamten
der Ti, mit tausend Häusern und auch den Sse-pe mit dem
[1874, 4. Phil. bist. Cl.] 32
470 Sitzung der philos.-phildl. Classe vom 6. Juni 1874,
Hien Kua-yen und sagte: dass ich das Land der Ti eroberte,
ist das Verdienst des Tseu.
Im 16. Jahre, im Frühlinge, führte Tsin's Sse Hoei
ein Heer und vernichtete die rothen Ti. — Nach Mitthei-
lung der Stellen aus Tscho-schi, Lie-tseu etc. schliesst der
I-sse: Die Ti waren seit der Zeit des Tschhün-thsieu (der Chronik
des Confucius) und die folgenden Generationen über die
Qual aller Reiche. Im Osten stiessen sie an Thsi, im Süden
an Tschhing, im Süd-Osten unterdrückten sie Wei, im Süd-
Westen gränzten sie an Tsin. Wir übergehen das Folgende,
das nur ein Resume der Geschichte ist.
Die Thi; anders geschrieben, mit Clef 124 Flügel und
darunter Cl. 172, ein kurzgeschwänzter Vogel, sollen ein
Stamm der obigen Nordbarbaren Ti gewesen sein.
Unter dem letzten Kaiser der 2. Dynastie Schang Ti-sin
(seit 1101) a. 17 griff der Si-pe (Wen-wang) die Ti nach
dem Bambu-Buche an in Yen-ngan (fu in Schan-si, nach
Biot Journal Asiat. 12 p. 575 im Norden, Legge sagt,
westlich vom Ho).
Unter dem 5. Kaiser der 3. Dynastie Mu-wang (seit 961)
a. 14, im 9. Monate fielen die Ti-Männer in Pi ein.
Unter Y-wang, (seit 894) a. 13 ebenso in Khi (Fung-
thsien-fu in Schen-si nach Biot), beides nach dem Bambu-
Buche.
Als Tsching Huan-kung (806 — 770) Sse-tu des Kaisers
war, hatte er im Norden das Reich der Ti.
661 greifen diese Ti Wei an nach Sse-ki 37 f. 5 v.
655 flüchtete Tschung-eul vor seinem Vater zu diesen Ti
nach Sse-ki B. 39 f. 9 v., W. S. B. 2. 43 S. 90. Im Norden
gränzte Tsin an die Ti. Tsin bekriegte die Ti 652. Diese
schlugen es aber bei Nie-sang nach f. 11, p. 92. Unter Tsin
Hien-kung a. 23 (653) war I-u zu den Ti geflohen; Tsin
schlug sie und sie fürchteten Tsin nach Sse-ki B. 39
f. 10 v.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 471
648 griffen die Jung und Ti mit Tai, dem Jüngern Bruder,
Tscheu Siang-wang's diesen an; Huan-kung von Thsi schickte
Kuang-tschung, Tscheu zu beruhigen nach Sse-ki B. 32 f. 12 v.,
S. B. 40, S. 667. Der Sse-ki 5 f. 12 v. nennt nur die Ti.
627 unter Tschao-kung von Lu fallen die Ti in Thsi
ein nach Sse-ki B. 32 f. 15, S. B. 40 S. 641.
616 unter \Ven-kung von Lu, schlägt er die Ti, die in
Lu eingedrungen; ein langer (Tschang, Riese) wird erlegt
nach Sse-ki ß. 33, f. 14 v. vgl. Pfizmeier's Lu Tschhao-kung
S. 33.
606 unter Hoei-kung von Thsi, kamen solche lange Ti
nach Thsi. Der Königssohn Tsching-fu tödtete sie und be-
grub ihre Leichen vor dem Nordthore der Hauptstadt nach
Sse-ki 32 f. 15 v., 'S. B. 40 S. 673. Der Ko-leang Tschuen
übertreibt offenbar. Ihr Körper war nach ihm 9 Meu gross ;
schlug man einem den Kopf ab und lud ihn auf einen Wagen,
so waren die Augenbraunen auf dem Vorderlehn (schi)
sichtbar.
596 wurde Sien-ho, der General der Tsin, geschlagen,
fürchtete hingerichtet zu werden, flüchtete zu den Ti und
berieth mit ihnen einen Angriff auf Tsin, aber entdeckt
wurde sein Clan ausgerottet nach Sse-ki B. 39 f. 34 v.,
S. B. 43 S. 135.
580* verabredete Thsin mit den Ti, Tsin anzugreifen,
nach Sse-ki f. 36, S. B. 139. Im Sse-ki B. 44 f. 17 v.
sagt Wu zu Wei-Wang: „Thsin hat mit dem Jung und Ti
gleiche Sitten (So), es hat das Herz eines Tigers und Wolfes.'*
2. Die Ostbarbaren I.
Auch sie zerfielen in mehrere Abtheilungen. Der
Tscheu-li 33 f. 1 hat 4 1, der Eul-ya 8, am häufigsten
sind 9 I; so auch im Lün-iü 9, 13; vgl. Ma-tuan-lin B. 324 f. 4.
Unter dem 8. Kaiser der Hia Fen (seit 1832 v, Chr.)
im 3. Jahre kamen die 9 I, Dienste zu thun.
32*
472 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
Unter dem 9. Kaiser der 2. Dynastie Thai-meu (seit 1474)
A. 61 kamen die 9 I des Ostens zu huldigen. Im Schu-
king im Cap Lu - ngao 551 heisst es: Nachdem die
2. Dynastie Schang besiegt und der Weg für die 9 I und
8 Man offen war, brachten die westlichen Liü ihm einen Hund
Ngao dar. Die 9 I erwähnt auch der Li-ki; der Kue-iü
2, 15. sagt: Wu-wang unterwarf die 9 I und 100 Po; auch
der Sse-ki B. 87 f. 3 v., S. B. 31 S. 318 erwähnt noch
der 9 I unter Tsin Hoei-Wang.
Doch finden wir nach Legge p. 130 im Tschhün-
thsieu und Tso-schi nirgends die 9 I einzeln genannt; ihre
Macht war damals wohl schon gebrochen. Einzeln werden
da nur 4 genannt 1) die vom Hoai-Flusse, 2) die Khiai,
3) die Lai und 4) die Kin-meu, früher noch andere.
Man unterscheidet die Ost- und West- I, doch wird I
auch allgemeiner für Barbaren überhaupt gebraucht, so
Man-I für alle Barbaren im Schu-king Schün-tien II, 1, 16,
wie I-Ti im Tschung-yung Cap. 14. Eigen sagt Meng-tseu
IV 2, 1, 1. (II, 8, 2, 1), vgl. III, 2, IV, 9, 11: Schün ge-
boren in Tschu-fuug, entfernt nach Fu-hia, starb in Ming-
thiao, ein Mann der Ostbarbaren (Tung I tschi-jin-ye,
Legge gibt es: A man near the wild tribes of the east);
Wen-wang geboren in Tscheu am Berge Khi-schan, starb in
Pi-yng, ein Mann der Westbarbaren. Meng-tseu I, 2,
11, 2 nach Schu-king IV, 2, 6 heisst es: Wandte Thang
das Gesicht nach Osten, ihn in Ordnung zu bringen, so zürn-
ten die WTest-I; was setzt er uns nach. Li-pu-wei nennt
den Stifter von Thsi in Schan-tung den Vorsteher der öst-
lichen I (Tung-I-sse) und die Tsin-iü erwähnen das Reich
Siang-meu, der Scholiast sagt: Ein Reich der Ost-Ti.
Nach dem Bambu-Buche führt Wu-wang a. 12 am Tage
Sin-mao (1049 v. Chr.) die Vasallenfürsten der West-I, Yn
anzugreifen. Sicherer ist die Unterscheidung nach
geographischen und anderen Namen.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 473
Die Thao-I, auf den Inseln, erwähnt schon der Schu-
king im Cap. Yü-kung III, 1, 43. Sie brachten Kleider
aus Graszeug dar. Ihre Körbe enthielten gewebte und ver-
zierte Seidenzeuge, ihre Bündel kleine Orangen und Pume-
loes, die begehrt wurden (dies setzt schon eine gewisse Cul-
tur voraus). letzt über die einzelnen Reiche der I:
1. Die Ostbarbaren am Hoai-flusse (Hoai-I).
Nach dem Schu-king Cap. Yü-kung III, 1, 5, 35 bringen die
Hoai-I in der Provinz Siü-tscheu Austern mit Perlen und Fische
dar. Ihre Körbe haben dunkelazurne und andere Seidenstoffe.
Sie schifften sich ein auf dem Hoai- und Sse-Flusse und
gelangten so in den (Hoang-) ho (dies zeigt schon eine ge-
wisse Cultur.)
Nach dem Bambu-Buche bekriegt der 5. Kaiser der
Dynastie Hia Siang (seit 1942 v. Chr.) a. 1 die Hoai.
Der Schu-king im Cap. Pe-tschi V, 29, 1 (daraus im
Sse-ki 33 f. 7 v.) enthält einen Erlass von Pe-khin (dem
Sohne von Tscheu-kung von Lu f 1062): „Hört meinen Be-
fehl: Wir gehen zu bestrafen die Hoai und die Siü-Iung,
die zusammen sich erhoben haben. Seine Leute sollen ihre
Waffen in gutem Stande halten, Panzer und Schilde, Bo-
gen und Pfeile, spitzen ihre Lanzen und Speere, schärfen
ihre Schwerter; Ochsen und Pferde aus den Ställen heraus
lassen, geröstetes Korn bereit halten und bei Strafe für
Fourage sorgen."
Nach dem Bambu-Buche drangen unter Kaiser Tsching-
wang (seit 1043) a. 2 die Männer von Yen (in Schan-tung
nach Biot) und von Siü (in Siü-tscheu in Nord-Kiang-nan
34° 30', d. Br.) mit den Hoai in Pi ein und fielen ab. Im
4. Jahre griff des Kaisers Heer die Hoai an und drang in
Jen ein, vgl. Sse-ki 4 f. 13 v. Nach der Vorrede zum
Schu-king § 51 p. 11 hatte nachdem Tsching-wang im
Osten die Hoai geschlagen und Yen vernichtet hatte, er
474 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
das verlorne Cap. des Schu-king Tsching-wang tsching
verfasst.
Unter Li-wang (seit 852) a. 3 fallen die Hoai-I in
Ho-nan ein. Der Kaiser hiess Tschhang-fu , Kung von Ke
(Kwoh), sie angreifen, siegte aber nach dem Bambu-Buche nicht.
Unter dem 11. Kaiser Siuen-wang (seit 826) im 6. Jahre
führte Mo-kung von Schao sein Heer gegen die Hoai-I,
Hoang-fu und Heu-fu folgten. Der Kaiser griff die Siü-Jung
an und lagerte am Hoai-flusse. Zurückgekehrt vom Angriffe
auf die Siü, gab er Mo-kung von Schao das Mandat. Die
Hoai-I wohnten nach den Scholiasten in Hoai-ngan-fu in
Kiang-nan. Der Schi-king III, 3, 8 feiert den Feldzug gegen
die Hoai. IV, 2, 3 feiert auch einen Sieg Lu's über die Hoai-I.
Sie unterwarfen sich nach Vers 5. V. 7 heisst es: ,,Er hat
unterworfen die Hoai-I. Entwerfet nur sicher eure Pläne
und alle Hoai-I werden endlich gefangen. Die Hoai-I
werden kommen, darzubringen ihre Kostbarkeiten, grosse
Schildkröten, Elephantenzähne, viel (?) Geld und Metalle
des Südens."
Nach 515 schlössen die Hoai-I sich Ki-sün gegen
Tschhao-kung von Lu an nach Tso-schi Tchhao-kung A. 27
f. 43, S. B. 25 S. 106 und bei Legge V, 2 p. 723.
In der Periode des Tschhün-thsieu waren die Hoai-I nach
Legge Prol. p. 130 die einzigen zahlreichen und mächtigen I.
Nach Tso-schi bedrängten sie der Zeit Khi : sie müssen
also weit nach Norden vom Hoai, ihrem eigentlichen Sitze,
vorgedrungen sein. Nach mehr als 100 Jahren begegnen
wir ihnen dann erst wieder; unter Tschhao a. 4 (536)
waren ihre Häuptlinge mit auf der 1. Versammlung der
Staaten, die Thsu nach Schin berief, unter dessen Leitung
sie in U einfielen, s. den Tschhün-thsieu bei Legge p. 595
und 598; zuletzt fielen alle diese Stämme in die Gewalt von Tshu.
2. Die Lai-I in Tsing-tscheu in Lai-tscheu in Schan-
tung, das von ihnen noch den Namen hat. Nach Schu-king
Plath: Fremde barbarisch* Stämme im alten China. 475
Cap. Yü-kung III, 1, 26 wohnten sie in der 3. Provinz Tshing-
tscheu. Sie zogen Vieh; ihre Körbe enthielten Seide vom
Bergmaulbeerbaume. Unter Tscheu Wu-wang griff der Lai-
heu Thai-kung von Thsi an nach Sse-ki B. 32 f. 4, S.
B. 40 S. 650.
490 v. Chr. wurden die Lai-I Thsi unterworfen nach
Sse-ki 32 f. 23, S. B. 40 S. 488.
3. Die Yü-I in derselben Provinz Thsing-tscheu (im
heutigen Teng-tscheu-fu in Schan-tung.) Im Schu-king III,
1, 22 heisst es: Die Grenzen der Yü-I wurden bestimmt.
Die Flüsse Wei und Tse erhielten ihren Lauf (der erste floss
westlich von Lai-tscheu-fu). Nach Schu-king I, 1, 4 im
Cap. Yao-tien schickt Yao die Astronomen Hi und Ho in
das glänzende Thal der Yü-I, den Aufgang der Sonne im
äusersten Osten zu beobachten.
Legge Prol. p. 130 hat 4) die Kiai I in Kiao-tscheu im
Departement von Lai-tscheu. Unter Hi a. 29 kam Ko-lu von
Kiai im 1. und 5. Monate 2 mal an den Hof von Lu. Im
folgenden Jahre im 6. Monate machten sie einen Einfall in
Siao, das von Sung abhing. Sie wurden wohl von Thsi oder
Lu verschlungen nach Legge Prol. p. 131. Siao war ein Fu-
yung von Sung. Der Name hat sich erhalten im Distrikte
von Siao in Siü-tscheu in Kiang-su p. 217. 5) Kin-meu
war die Hauptstadt eines kleinen Stammes von I im Distr.
I-schui Depart. I-tscheu. Seine Einnahme durch Lu unter
Siuen a. 9 im 5. Monate erwähnt der Tschhün-thsieu p. 304.
Es war dann die östlichste Stadt von Lu nach Legge p. 131.
6) Die Lan-I, in Lan-tscheu im Schen-si, (der Lan
ist ein kleiner Zufluss des Lo nach Biot Journ. Asiat. 12
p. 567).
Der 10. Kaiser der 2. Dynastie Yn Tschung-ting
(seit 1399) bekriegte A. 6 die Lan-I nach dem Bambu-Buche.
Der Heu Han-schu im I-sse B. 16 f. 1 v. sagt: Zu Tschung-
476 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
ting's Zeit waren die Lan-I feindlich gesinnt; einige unter-
warfen sich, einige fielen ab über 300 Jahre.
Unter dem 12. Kaiser der 2 D. Yn Ho-tan-kia (seit 1380)
im 4. Jahre bekriegte er die Lan-I.
7) Die Khiuen-I. Unter dem letzten Kaiser der
Hia Kie A 3 drangen die Khiuen-I bis zum Berge Khi vor
und fielen ab. (Nach Biot ist der Khi in Fung-tsiang-fu in
Schen-si). Der Si-pe Tschang schlug sie nach Sse-ki B. 110
f. 2 v.
Der 10. Kaiser der Dynastie Hia Sie (seit 1729) a. 21
ertheilte im 21. Jahre ein Mandat (Ming, Würde) den Kiuen-I,
den weissen (Pe-I) , den dunkeln (Hiuen-I) , den Wind I
(Fung-I), den rothen I (Tschi-I) und den gelben I (Hoang*I).
Der 5 Kaiser der Hia Siang (seit 1942) unternahm a. 2
eine Strafexpedition gegen die Fung-I und Hoang-I (nach Biot
an der Ostgrenze an Ho-nan und Kiang-nan, dem Thale des
Hoai zu).
8) Die Kuen-I. Unter dem 29. Kaiser der 2. Dynastie
Ti-I (seit 1110) a. 3 befahl er dem Nan-tschung im Westen,
den Kuen zu widerstehen und So-fang^ (in Ning-hia in
Schen-si nach Biot) mit Mauern zu umgeben.
Unter dem 30. Kaiser der D. Yn Ti-sin (seit 1101) a. 34
im Winter im 12 Monat überfielen die Kuen-I Tscheu nach
dem Bambu-Buche. Im 36. Jahre im Frühlinge im ersten
Monate kürten die Vasalienfürsten bei Tscheu und griffen
dann die Kuen-I an. Meng-tseu I, 2, 3, 1 sagt: „Nur der
Humane kann mit einem grossen Reiche dienen einem kleinen;
daher diente Wen-wang den Kuen-I."
Unter Mu-wang A 15 kam Lieu Kuen-schi und machte
seine Aufwartung.
Noch kommen früher verschiedene Stäm me einzeln
vor. Unter dem 5. Hia Siang (seit 1942) kamen nach dem
Bambu-Buche a. 7 die Jü-I sich zu unterwerfen; ebenso
unter dem 6. Schao-Khang (seit 1874) A. 2 die Fang-I.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 477
Unter den 8. Fen (seit 1832) A. 16 focht Yung, der
Pe von Lo mit dem Pe von Ho gegen die Fung-I.7)
Unter dem 16. Hia Fa (seit 1595) kamen a. 1 alle I
an des Königs Thor zu huldigen. Es war dann eine Zu-
sammenkunft am oberen Sumpfe. Alle I traten ein und
tanzten.
Unter den Ostbarbaren lag das kleine Reich Khiü mit
3 schlecht befestigten Städten, das von Thsu 580 v. Chr.
erobert wurde nach Tso-schi Tsching-kung A. 8 f. 15 y.y
S. B. 17 P. 282 Legge p. 367.
3) Die Westbarbaren, Jung,
zu Anfange des Tschhün-thsieu im Distrikte Tshao, Depart,
Tshao-tscheu in der Nachbarschaft von Lu.
Die allgemeine Charakteristik der Jung nach Li-ki
Wang-tschi 5 f. 21 ist schon zu Anfange angegeben, Sie
flochten ihre Haare, kleideten sich in rohe Felle und hatten
kein Korn zur Speise, waren also wohl Nomaden. Vgl.
Wu-tschung bei Tso-schi Siang-kung a. 4 f. 6, S. B. 18,
S. 125. Tschhao-kung a. 9 f. 49, S. B. 21, S. 185. In
Thsin lebten nach Art der Jung Männer und Frauen unge-
trennt bis Hiao-kung (350) nach Sse-ki B. 68 f. 7 v.,
S. B. S. 105 und 108. Es herrschten da vor dem Fürsten
von Schang 340 v. Chr. die Lehren der Jung und Ti;
zwischen Vater und Sohn war kein Unterschied ; sie bewohn-
ten gemeinsam das innere Haus. Ich habe da, sagte er,
die Einrichtung verändert; Tempel und Paläste gebaut, wie
in Lu und Wei.
Die civilisirten Jung zerfielen auch in mehrere Herr-
schaften. Der Tscheu-li 33, 1 erwähnt 5 im Westen , der
Li-ki Cap. Ming-tang-wei c. 14 : 6 ; Thsin Mo-kung hatte 624
8 Jung unterworfen nach Sse-ki 58 f. 8, S. B. 29 S. 110.
7) Anders geschrieben als obige Fung-I mit Cl. 182 die Wind-I,
dieses mit Cl. 15 Eiszapfen und Cl. 181 Pferd.
478 Sitzung der philos-philol. Classe vom 6. Juni 1874,
Man unterscheidet mehrere Arten; vielfach werden sie
auch nach Oertlichkeiten bezeichnet; öfters aber auch ohne
besondere Angabe nur als Jung.
Nach dem Bambu-Buche schlägt unter Yao a. 76 der
Sse-kung Yü die Thsao- und Wei-Jung. (Wei ist im Schi-
king I, 9 in Ping-yang-fu in Schan-si, später unter Tsin nach
Biot in Schan-tung 34° 56', Thsao 36°, 25').
Unter Kaiser Kie der 1. Dynastie Hia a. 6 (1583)
huldigen nach dem Bambu-Buche die Jung am Berge Khi.
Unter Ping-wang a. 18 schlug Wen-kung von Tshin
diese Jung in die Flucht und gab dem Kaiser das Land
östlich vom Berge Khi zurück. Wu-ting a. 32 (1241) greift
das Land der Kuei-Jung an.
Unter YnWu-i a. 35 (1123) schlug der Kung von Tscheu
Ki-li die Ku ei- Jung, d.i. Dämonen-Jung, (westlich vom Lo-
Flussein Schen-si) zu Schao-i (wo der Lo in den Hoang-ho fällt).
Unter Wen-ting a. 2 (1122) griff der Kung von Tscheu
Ki-li die Jung von Yen-king, nach Legge in Tsing-
lo in Yn, in Schan-si an, wurde aber geschlagen in Fu-fung in
Schen-si 34° 20' (n. Br.), ebenso a. 4 (1120) griff derselbe
die Yü-wu-Jung (in Nord-Schen-si) an und besiegte sie wie
a. 7 (1117), die Tschhi-hu Jung und a. 11 die Y-thu-Jung,
besiegte sie, fing ihre Ta-fu und kam mit ihnen an den
Hof, sie darzubringen. Unter Tscheu Tsching-wang a. 30
huldigen ihm die Li-Jung. Die Deutung ist verschieden.
Zur Zeit Pe-kin's von Lu erregten die Hoai-I und Siü-
Jung Unruhen. Er schlägt sie nach Schu-king C. Mi-schi
V, 29 und Sse-ki 33 f 7 v. Nach dem Bambu-Buche fallen
unter Tscheu Tsching-wang a. 2 (1042) Leute aus Yen (in Ost-
Schan-tung), Leute aus Siü und die Fremden vom Hoaiflusse
in Pei (in Nord-Kiang-nan 34°, 30', 1) ein. Siuen-wang a. 6
(821) griff in Person die Siü- Jung an. Hoang-fu und
Heu-fu folgten dem Kaiser beim Angriffe. Man lagerte am
Hoai-Flusse.
Plaih: Fremde barbarische Stämme im alten China. 479
a. 33 griff der kaiserliche General die Jung ohne Er-
folg an.
a. 38 (789) griff der Kaiser mit dem Heu von Tsin
die Tiao-Jung und Pen- Jung an, wird aber geschlagen.
Unter Kaiser Yeu-wang a. 5 (775) hiess er Pe-schi die
Jung" von Lo-thsi angreifen; dieser wurde aber in die
Flucht geschlagen.
648 griff Kaiser Siang-wang's jüngerer Bruder Tai mit
<ien Jung und Ti Tscheu an. Thsi kam dem Kaiser zu
Hülfe nach Sse-ki 4 f. 24, 32 f. 12 v. und Tso-schi Tschuang
a. 18 f. vgl. im I-sse B. 49; Wang-tseu Tai tschi loen,
•d. i. die Unruhen des Kaisersohnes Tai.
644 musste wieder mit den Jung gekämpft werden
nach Tso-schi Tschhao-kung a. 9 f. 49, S. B. 21 S. 185.
Der Fürst Hoei kehrte zurück aus Thsin und verleitete sie
zum Abzüge. Er liess sie die Mitglieder unserer Familie Ki
bedrängen und in unsere Feldmarken eindringen. Wenn
die Westbarbaren sich im Reiche der Mitte festgesetzt ha-
ben, wessen Schuld ist das? sagt der Kaiser. Heu-tsi bepflanzte
das Reich, jetzt aber herrschen in ihm die Westbarbaren (die
nur Viehzucht treiben). Liang-ping und Tschang-thi
(zwei Grosse von Tsin) stellten sich an die Spitze der Yn-
Jung von Lu-hoen und griffen Yng, (die Stadt der
Tscheu) an. Yen-kia von Tsin kam ihr zu Hülfe. Der
Schi-king IV, 2, 4, 5 lässt Hi-kung von Lu die Jung und
Ti, die King und Schu bekämpfen, die Hoai, die Man- und
Me aber sein Bündniss suchen.
Legge p. 293 nennt die Lo-huen einen Stamm der
kleinen (siao) Jung. Ihr Sitz war ursprünglich in Kan-su;
unter Lu Hi-kung a. 22 (636) versetzten Tsin und Tshin, nach
Tso-schi p. 182 sie nach I-tschhuen, nördlich von der Distrikts-
stadt Sung im Departement Ho-nan; diess brachte sie in den Be-
reich von Tshu. Sie hiessen auch Yn-Jung. Sie cokettirten nach
480 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
Legge Prol. p. 124 mit Tshu und Tsin. Diess führte zu ihrer
endlichen Vernichtung unter Lu Tschhao a. 17 (523).
Der Tschhün-thsieu sagt da p. 667. Im achten Monate
führte Siun-wu von Tsin ein Heer und vernichtete die Jung
von Lo-huen. Tscho-schi p. 668 erzählt: Der Fürst von
Tsin sandte Thu-khuai nach Tscheu , um Erlaubniss zu
bitten , dem Lo-Flusse und dem San-thu-Hügel opfern zu
dürfen. Tschhang-Hoeng sagte zum Viscount vonLieu: ,,die
Haltung unseres Besuchers zeigt Wildheit; es handelt sich
nicht um das Opfer, sondern wahrscheinlich um einen An-
griff auf die Jung. Der Häuptling von Lo-huen ist sehr
befreundet mit Thsu , das wird der Grund sein; Du musst
Vorbereitungen dazu treffen." Demgemäss ergingen Befehle
zu Rüstungen gegen die Jung.
Im 9. Monate am Tage Ting-meu führte Siün-Wu von
Tsin ein Heer, setzte über den Ho bei der Fürth von Ki
und liess einen Opferbeamten erst dem Lo-Flusse Opferthiere
darbringen. Das Volk von Lo-huen wusste von nichts bis
das Heer es überfiel und am Tage Keng-wu nahm er die
Gelegenheit wahr, Lo-huen auszurotten, angeblich wegen
seiner Abneigung und Anhänglichkeit an Tshu. Ihr Häupt-
ling entfloh nach Tshu , die Menge nach Kan-lo , wo die
Truppen von Tscheu viele fingen. Siun-tseu hatte geträumt,
dass der Fürst Wen Siün-wu leite und ihm Lo-huen über-
gäbe; in Folge dessen machte er Mo-tseu zum Oberbefehls-
haber und brachte seine Gefangenen im Tempel Wen-kung's dar.
Legge p. 124 sagt: Unter Tschhao a. 7 (533) erschienen
die Yn-Jung unter dem Befehle eines Officiers von Tsin und
es wird erwähnt, wie sie das Kaisergebiet und die Ki-
Staaten seit der Entfernung aus ihren ursprünglichen Sitzen
beunruhigt hatten (ich finde das nicht).
Unter Tschhao a. 22 (518), im Winter im 10. Monate,
am Tage Ting-sse führten Tsi-Than und Siuen-Li nach Tso-
schi p. 694 die Jung von Kieu-tscheu mit den Truppen von
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 481
Tsiao , Hia , Wen und Yuen , den Kaiser in seine West-
Hauptstadt Kia-jo wieder einzusetzen. Am Tage Keng-schin
wurden die Viscount's von Sehen und Fen von Lieu mit dem
^kaiserlichen Heere schmählich geschlagen und die Männer
von Tshien-sching schlugen die Jung von Lo-huen zu Sehe.
Noch erwähnt Tso-schi p. 805 die Jung von Kieu-tscheu
unter Ngai a. 4 (489); s. unten bei den Man- Jung.
Nach Tso-schi Siang a. 14 p. 463 versetzte Thsin Wu-li
einen Chef der Kiang-Jung nach Kua-tscheu. Er kam be-
kleidet mit Binsen, seinen Weg nehmend durch Sträucher
und Dornen. Tsin musste ihnen einiges ärmliche Land ein-
räumen. Schakale bewohnten es und Wölfe heulten da. Die
Jung rotteten die Sträucher und Dornen aus, vertrieben die
Schakale und Wölfe nnd hielten immer zu Tshin.
606 bekriegte Tschuang-kung von Tshu die Jung von
.Lo-huen nach dem Tschhün-tshieu p. 243 und kam bis zum
Lo-flusse nach Tso-schi Siuen-kung a. 3 f. 9, S. B. 17
S. 21 und Sse-ki B. 40 f. 9, S. B. 44 S. 84.
Unter Lu Tsching a. 11 (578) im 3. Monate machten
nach Tso-schi p. 360 Pe-tsung von Hia-yang, Yue von Tsin, Sün
;Leang Fu und Ning-siang von Wei, ein Officier von Tschhing,
die Jung vom I u. Lo und die von Lo-huen und die Man-
schi (die Man -Jung nach Legge Prol. p. 125) einen Einfall in
Sung, weil dessen Fürst sich geweigert hatte die Ver-
sammlung von Tschhung-lao zu besuchen. Als ihr Heer
zu Khien war, hielt das Volk von Wei keine Wache und
Tue wollte einen Schlag auf dessen Hauptstadt thun und
sagte: „Obwohl wir da nicht einzudringen vermögen,
werden wir doch viele Gefangene mit zurückbringen und
unser Angriff wird nicht für tödtlich gelten." Pe-tsung
aber sagte: ,,Nein, Wei vertraut Tsin und hat, obwohl
unsere Armee in der äussern Umgebung der Stadt steht,
keine Vorbereitungen gegen einen Angriff getroffen. Thun
/wir einen Schlag auf dasselbe , so verletzen wir Treu und
482 Sitzung der phäos.-philöl. Classe vom 6. Juni 1874.
Glauben. Wenn wir auch viele Gefangene machen, aber
Treu und Glauben eingebüsst haben , wie kann Tsin dann
suchen , der Führer der Staaten zu sein." Yue gab dann
seinen Vorschlag auf. Als das Heer zurückkam, bemannte
Wei seine Brustwehr. Legge p. 125 meint, dass diese Jung
derzeit wahrscheinlich sich als Unterthanen der Tscheu in
deren Gebiete niedergelassen hatten.
Die Man oder Man- Jung, so genannt, um sie von
den Südbarbaren Man zu unterscheiden und die Mao-Jung.
Die Mao- Jung hatten nach Legge Prol. p. 125 ihren
Sitz in Jü-tscheu in Ho-nan. Unter Wen a. 17 im Herbste
überfiel nach Tso-schi p. 278 Kan-Tscho von Tscheu die
Jung in Schin-schuy , als sie Spirituosen tranken ; sie ge-
hörten nach Legge zu den Man-Jung.
Unter Tschhing a. 1 (589) erlitt die kaiserliche Armee
eine schwere Niederlage von diesen Mao-Jung nach dem
Tschhün-thsieu. Sie wohnten nach Legge p. 337 im Süd-
Osten von Phing-lo in Kiai-tscheu in Schan-si. Tso-schi
sagt da: Im Frühlinge hatte der Fürst von Tsin Kia von
Hia abgesandt, Frieden zwischen den Jung und dem Kaiser
zu schliessen und Siang von Sehen kam nach Tsin, des
Kaisers Anerkennung dieses Dienstes auszudrücken. Der Fürst
Khang von Lieu wollte Vortheil daraus ziehen , dass
die Jung ihre Wachen eingezogen hatten und sie angreifen,
Scho-fo aber sagte zu ihm : „Du willst den Vertrag ver-
letzen und den grossen Staat beleidigen ; du wirst gewiss
geschlagen werden. Einen Vertrag verletzen, ist unglücklich,
einen grossen Staat beleidigen , ist ungerecht. Weder die
Geister noch die Menschen werden zu einem solchen Unter-
nehmen Beistand leisten, wie kannst du erwarten, Er-
oberungen zu machen." Der Fürst hörte nicht auf diese
Warnung, fiel in das Gebiet der Mao-Jung ein, erlitt aber
im 3. Monate am Tage Kuei-We eine grosse Niederlage
vom Stamme Siü-wu.
Flath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 483
Die Theilnahine der Man an der Expedition gegen
Sung unter Lu Tschhing a. 11 (578) ist oben erwähnt.
Unter Siang a. 5 (566) sandte nach Tso-schi p. 426
der Kaiser Wang-schoTschhin seng über die Jung sich bei Tsin
zu beklagen. Das Volk von Tsin nahm ihn aber gefangen,
während Sse Fang nach der Hauptstadt kam, zu erzählen,
wie Wang-scho ein doppeltes Spiel mit den Jung spielte.
Im 16. Jahre von Tschhao (524) wiegelte nach dem
Tschhün-thsieu p. 663 der Fürst von Thsu den Häuptlingder Man-
Jung auf und tödtete ihn dann. (Der Hauptort der Man-schi
war südwestlich von Jü- tscheu und Ho-nan). Nach Tso-schi ib.
hörte der Fürst von Tshu, dass die Man-schi alle in Un-
ordnung seien und ihr Fürst Kia ohne Treu und Glauben,
liess Jen-Tan ihn verführen und tödtete ihn, als er ihn
in seiner Gewalt hatte, nahm dann das Gebiet der Man-schi,
setzte aber Kia's Sohn passend ein. Unter Ngai a. 4 (490)
rebellirten sie; ihr Fürst Tsche musste nach Tsin fliehen,
nach dem Tschhün-thsieu p. 804 lieferte es ihn aber, das
Asylrecht nicht achtend, an Tshu aus. Tso-schi p. 805 er-
zählt: Nachdem im Sommer 490 ein Corps Leute aus Tshu
die I-hu unterworfen hatte, wandte es seinen Blick weiter
nach Norden.
Phan , der Marschall der Linken , Schen-yü , der Be-
fehlshaber von Schin und Tschu-leang von Schi sammelten
das übrige Volk von Tshai und versetzten es nach Hu-hien
und ebenso das Volk ausserhalb der Barrieren nach Tseng-
kuan. Wu, sagten sie, käme auf den Kiang einzudringen
in Ying und sie müssten eilig , wie befohlen , fortgehen.
Den nächsten Tag schon nahmen sie durch Ueberfall Leang
und Ho. (Die Städte der Man-Jung). Schen-Fen-Yü be-
lagerte den Hauptort der Man, dessen Volk sich zerstreute,
während der Fürst Tschi nach Yin-te in Tsin entfloh. Der
Marschall hob das Volk von Fung und Si mit einigen
Stämmen der Ti und Jung aus und ging vor nach Schang-lo.
484 Sitzung der philos.-philol. Qasse vom 6. Juni 1874.
Der Meister der Linken lagerte beim (Hügel von) Thu-ho,
der der Rechten bei Thsang-ye. Der Marschall sandte
dann eine Botschaft an Sse-Mieh, den Grossbeamten über
den Distrikt Yin-te, die besagte: ,,Tsin und Tshu haben
einen Vertrag, der sie verpflichtet nach ihrem Belieben oder
Nichtbelieben Theil zu nehmen. Wenn sie nicht versäumten,
das zu beobachten, so entspreche das dem Wunsche seines
Gebieters. Entscheide er sich anders, so werde ich mit
euch durch Schao-si in Verbindung treten , eure Befehle zu '
vernehmen." Sse-Mieh verlangte Instruktionen von Schao-meng
der sagte: „Tsin erfreut sich jetzt nicht der Ruhe, wir
wagen nicht mit Thsu zu brechen, Ihr müsst schnell die
Flüchtlinge an Tshu ausliefern. Darauf hin berief Sse-Mieh
die Jung von Kieu-tscheu zusammen und schlug vor, dass
sie einiges Land für den Fürsten der Man aussetzten und
ihn da in einer Stadt ansiedelten. Er schlug auch vor wegen
der Stadt die Schildkrötenschale zu befragen, und während
der Fürst das Resultat erwartete, bemächtigte sich Mieh
seiner und seiner 5 Oberoffiziere und lieferte sie an die
Armee in San-hu aus. Der Marschall gab auch vor , er
werde ihm eine Stadt anweisen und seinen Ahnentempel da
aufrichten, um den Rest seines Volkes zu täuschen, und
führte sie dann alle als Gefangene mit sich nach Tshu.
Wir stellen nun die Angaben zusammen, welche wir
über die einzelnen Abtheilungen der Jung noch
haben. Zur Zeit des Tschhün-thsieu kommen nach Legge
Prol. p. 123: 7 Abtheilungen vor.
Am häufigsten kommen vor die West-Jung (Si-Jung).
Nach Sse-ki 1 f. 12 v. bat Schün Yao die 3 Miao nach
San-wei zu versetzen, um die West-Jung umzuwandeln ! Nach
Schu-king C. Yü-kung III, 1, 10, 83 kamen Zeuge und Felle
vom Khuen-lün, Si-tschi und Keu-seu; die West-Jung unter-
werfen sich Yü's Anordnung.
Unter Thai-Meu, dem 9. Kaiser der 2. Dynastie Yn
JPlath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 485
seit 1474 a. 26 kamen die West-Jung zu huldigen. Der
Kaiser sandte Wang-wang zu ihnen mit Geschenken.
Unter dem 24. Kaiser Tsu-Kia (seit 1203) a. 12 war
eine Expedition gegen die West-Jung. Im Winter kam sie
zurück u. a. 13 unterwarfen sie sich. Sie erwähnt schon
der Schu-king C. Yü-kung II, 1, 50.
Unter dem 27. Kaiser Yn Wu-i (seit 1158) a. 35
schlug Ki-li, der Kung von Tscheu, die Si- (Wcst-)Jung von
Lo und Kuei (in Schen-si) zu Tschao-i, (wo der Lo in den
Hoang-ho fällt).
Unter dem 7. Kaiser der Tscheu I-wang (seit 894) fielen
die West-Jung in Hao (Si-ngan-fu in Schen-si) ein.
Unter dem 8. Kaiser Hiao-wang (seit 869) ,a. 1 im
Frühlinge im 1. Monate befahl der Heu von Schin (Nan-yang
in Ho-nan) die West-Jung anzugreifen. Siuen-wang a. 3
(824) befahl dem Ta-fu Tschung die Si-Jung anzugreifen.
Unter Mu-wang a. 13 huldigten sie. Nach Lie-tseu im
I-sse 26 f. 18 hatte er sie besiegt und sie brachten ihm
Schwerter aus Kuen-wu dar.
Im 5. Monate kamen sie und brachten Pferde dar.
Unter dem 10. Kaiser Li- wang a. 11 fielen die West-Jung
in Khuen-khieu (Hin-ping 30° im Schen-si nach Biot) ein.
Unter dem 12, Kaiser Yeu-wang (seit 780) griffen Tshin's
Leute die West-Jung an.
Im 6. Jahre befahl der Kaiser Pe-sse mit dem Heere
die Jung von Lo-thsie anzugreifen. Des Kaisers Heer
wurde aber geschlagen und die West-Jung vernichteten
Khai (Kao-ping in Schan-si nach Biot) a. 9 trat der
Heu von Schin mit den West-Jung von Tseng in Verbindung;
s. unten bei den Kiuen-Jung.
Yin von Lu a. 2 (720) schloss zweimal einen Vertrag mit
ihnen im ersten Monate zu Tshien, im vierten zu Theng
(12 Li von der jetzigen Distriktsstadt Yii-thai, siehe Legge
p. 9.) Im 7. Jahre, im 7. Monate (711) griffen sie den
[1874, 4. Phil. hist. Cl.] 33
486 Sitzung der phüos.-pfiilöl. Classe vom 6. Juni 1874.
Pe (Earl) von Fan zu Tshu-khieu an , den der Kaiser
im 6. Monate nach Lu zur Aufwartung gesandt hatte, und
führten ihn zurück. Fan war ein hoher Beamter am
Kaiserhofe. Nach Tso-schi waren die Jung mit Huldigungs-
geschenken an den Kaiser gekommen und Fan hatte sie
nicht artig empfangen.
Huan von Lu schloss im 2. Jahre (708) einen Vertrag
mit den Jung nach dem Tschhün-thsieu p. 33 zu Thang
und erneuerte die guten Beziehungen zwischen Lu und den
Jung. Tschuang von Lu a. 18 (674) verfolgte sie bis
westlich über den Tsi-Fluss hinaus p. 97; a. 20 (672) im
Winter schlug ein Corps von Tshi die Jung ib. p. 100.
A. 24 (668) im Winter fielen die Jung in Tshao ein;
Ki von Tshao floh nach Tschin nach p. 108. Tschi kehrte
nach Tshao zurück p. 107. Die chinesischen Verhältnisse
sind aber nicht klar p. 108.
A. 26 (666) im Frühlinge fiel der Fürst in das Gebiet
der Jung ein und kam im Sommer zurück ib. p. 110.
Später hören wir nichts von den Jung hier; sie verloren
sich wohl unter dem Volke von Lu.
Tso-schi unter Hi a. 11 (647) p. 158 sagt: es kamen
die Jung von Yang-khieu, Tshiuen-kao und am I und Lo-
Flusse , griffen vereint die kaiserliche Hauptstadt an und
verbrannten das Ostthor ; des Kaisers Hoei Sohn hatte sie
herbeigerufen. Tshin und Tsin fielen in das Gebiet der
Jung ein, dem Kaiser zu helfen. Im Herbste veranlasste
der Fürst von Tsin, dass die Jung mit dem Kaiser Frieden
schlössen. (Diese Jung sassen um die beiden Flüsse I und
Lo im jetzigen Distrikte Lo-yang und vielleicht noch andern
Theilen des Departements Ho-nan; die beiden erstgenannten
gelten für ihre Hauptörter nach Legge p. 124). Nach Tso-
schi p. 159 wollte er seinen Bruder Tai wegen des An-
griffes der Jung auf den Kaiser züchtigen. Er floh unter
Hi a. 12 (646) nach Thsi. Im Winter sandte der Fürst
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 487
von Thsi Kuan und I-wu, Frieden zu schliessen zwischen
den Jung und dem Kaiser und Si-Phang Frieden zu
schliessen zwischen den Jung und Tsin.
Unter Hi a. 16 (642) berichtete der Kaiser an Tshi
über die Wirren, welche die Jung erhoben hatten und Thsi
berief Truppen verschiedener Staaten, Tscheu zu beschützen,
nach Tso-schi p. 171.
Im 8. Jahre von Wen (617) hatte Tschuang's Sohn
Suy nach dem Tschhün-thsieu p. 251 eine Zusammenkunft
mit den Lo-Jung und machte einen Vertrag mit ihnen
zu Pao in Tschhing, wohl in der Absicht Lu anzugreifen.
Tso-schi p. 182 erzählt: Nachdem Phing-Wang die alte
Hauptstadt der Tscheu nach Osten verlegt hatte, kam Sin-
yen nach I-tschhuen und sah da einen Mann, der hier mit
aufgelöstem Haare in der Wildniss opferte. Keine' hundert
Jahre, sagte er, und der Platz wird von den Jung einge-
nommen werden. Mehr als 100 Jahre waren aber seit der
Verlegung der östlichen Hauptstadt verflossen.
A. 624 übt Mo-kung von Thsin die Gewaltherrschaft (Pa)
über die Si-Jung nach Tso-schi Wen-kung a. 3 f. 7, S. B. 15,
S. 542 Legge p. 236 vgl. Sse-ki 5 f. 14. Mo-kung unterwarf
die 8 Reiche der West-Jung nach Sse-ki B. 68 f. 8,
S. B. 29 S. 110 und Sse-ki B. 110 f. 4. Im Sse-ki B. 87
f. 3, S. B. 31, 317 sagt Li-Sse: Mo-kung unterwarf 20 Reiche
und wurde Oberherr (Pa) der West-Jung.
Wu-tschung war nach Pfizmaier S. B. 18 S. 125
ein Reich der West-Jung (nach dem Scholiasten und Legge
p. 424 aber der Berg-Jung). Ihr Fürst Kia-fu ein Tseu, sein
Minister Meng-lo. Nach Tso-schi Siang-kung (Legge p. 424)
a. 4 (567) sandte Kia-fu der Fürst von Wu-tschung , den
Meng-lo nach Tsin , überreichte durch Wei-tschuang tseu
(oder Kiang) Felle von Tigern und Leoparden und bat um
ein Bündniss mit den Jung. Der Fürst von Tsin sagte aber:
„Die Jung und Nordbarbaren (Ti) sind ohne Freundschaft,
33*
488 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
nur begierig auf ihren Vortheil; man kauu sie nur angreifen."
Wei-Kiang erwiderte: „Die Staaten haben erst jüngst ihre
Unterwerfung unter Tsin erklärt und Tschhin neuerdings
unsere Freundschaft gesucht. Sie beobachten unser Ver-
halten. Ist das sauft und gut, so erhalten sie die Freund-
schaft mit uns, wo nicht, so fallen sie ab und trennen sich
von uns. Unternehmen wir eine mühsame Expedition gegen
die Jung und Tshu fällt dann gleichzeitig in Tsching ein,
so können wir ihm nicht beistehen und wir müssen Tsching
hingeben u. s. w. Die Barbaren sind nichts als Thiere; wir
gewinnen die Barbaren und verlieren die Blume der Mitte
(China)." Der Fürst sprach: Müssen wir uns mit den West-
barbaren verbünden, in ein gutes Benehmen setzen? Jener
sagte: ,,Das Bündniss mit ihnen hat fünferlei Nutzen. Die
Jung und Ti wechseln beständig ihren Aufenthalt, sind
geneigt ihr Land für Waaren wegzugeben. Ihr Land
kann gekauft werden. Das ist der erste Vortheil. Die
Grenzstädte werden nicht beunruhigt, das Volk bebaut seine
Felder, die Landleute thun ihre Arbeit, das ist der zweite
Nutzen. Wenn die Barbaren Jung und Ti Tsin dienen,
zittern die Nachbarn der 4 Gegenden und suchen unsere
Freundschaft. Wenn der Fürst, voll Ehrfurcht, die Barbaren
durch Tugend (Güte) beruhigen wird , brauchen die Heere
sich nicht zu bemühen; dies ist der dritte Nutzen. Spiegeln
wir uns an dem königlichen I, Fürsten von Kiang, dessen
Geschichte Tso-schi nach Schu-king III, 3,2 erzählt, und
nehmen zum Muster seine Tugend , dann werden unsere
Waffen nicht abgenutzt, der vierte Vortheil. Es kommen
zu uns die Fernen und die Nahen und sind beruhigt, dies ist
der fünfte Vortheil." Der Fürst billigte das und Hess Wei-
kiang den Vertrag mit den Si-Jung abschliessen.
Zuletzt werden die Wu-tschung-Jung unter Lu-Tschhao
a. 1 (540) erwähnt, wo ein Officier der Tsin ihnen und
verschiedenen Stämmen der Ti eine grosse Niederlage bei-
Plath : Fremde barbarische Stämme im alten China. 489
brachte. Sie, wie die Nord- und Berg-Jung verloren sich
unter dem Volke der Tsin, wie Legge Prol. p. 124 meint.
Tso-schip. 579 erzählt: Tschung-hang Mo-tseu schlug die Wu-
tschang und andere Stämme der Ti in Thai-yuen, indem er
die Mannschaft bei den Kriegswagen sammelte und zu Fuss-
soldaten machte. Als es nun zum Gefechte kam , sagte
Wei-schu : „Die Barbaren sind alle Fusssoldaten , während
unsere Stärke in den Kriegswagen besteht. Wir müssen
überdiess mit ihnen in einem Engpass zusammentreffen.
Lasst uns 10 Mann für jeden Kriegswagen aufstellen und
wir bewältigen sie; wenn auch eingeengt in den Pass,
müssen wir so thun. Lasst uns Alle in Fusssoldaten um-
wandeln; ich will damit beginnen. Demgemäss beseitigte
er seine Kriegswagen und formirte die Leute in Reihen :
5 Wagen lieferten 3 Reihen , jede von 5 Mann. Ein
Lieblingsofficier von Siün-wu (Tschung-hang Mo-tseu) wollte
seinen Platz unter den Fusssoldaten nicht einnehmen. Schu
schlug ihm den Kopf ab und machte die Execution im
Heere bekannt. 5 Ordnungen wurden dann in einiger
Distanz eine von der andern gebildet; eine Liang vorne,
dann die hintere Wu, an der rechten Ecke die Tschuen,
die linke Tshan und Phin im Vordertreffen. Dies geschah,
die Ti zu täuschen , welche über das Arrangement lachten.
Die Truppen von Tsin fielen dann über den Feind her, ehe
er sich geordnet aufstellen konnte, und brachten ihm eine
grosse Niederlage bei.
Seltener werden 2) die Nord- Jung (Pe-Jung) ei-
wähnt. Unter Siuen-wang a. 40 schlug Tsin sie in Fen-si
(Khio-yo, Depart. Phing-yang).
Die Nord-Jung (Pe-Jung) , die Berg-Jung (Schan-Jung)
und die Wu-tschung wohnten nach Legge Prol. p. 123 im
jetzigen Tsün-Hoa-tscheu in Tschi-li.
Unter Lu Yin a. 9 (712) im 12. Monate am Tage
Kia-yin machten nach Tso-schi p. 28 die Nord-Jung im
490 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874
Departement Yung-phing in Tschi-li einen Einfall in Tschhing.
Der Fürst leistete Widerstand, aber die Beschaffenheit ihrer
Truppen beunruhigte ihn: „Sie sind zu Fuss, während wir
zu Wagen: ich fürchte, dass sie uns plötzlich überfallen.
Sein Sohn Fu sagte: „Lass ein Corps kühner Männer doch
nicht beharrlich einen Angriff auf die Diebe machen, aber
dann schnell sich zurückziehen und lege zugleich drei Corps
in einen Hinterhalt, für sie bereit zu sein. Die Jung sind
leicht und flüchtig, aber halten keine Ordnung; sie sind
gierig und haben keine Liebe zu einander. Dringen sie
vor, so will keiner dem Nachfolgenden den Platz räumen,
und werden sie geschlagen, so sucht keiner den andern zu
retten; sieht ihr Vordermann ihren Erfolg, so denken sie
au nichts als vorzudringen. Rücken sie aber so vor uud
fallen in einen Hinterhalt, so eilen sie sicher weg zur Flucht.
Die Hintern kommen nicht herbei, sie zu retten, so finden
sie keine Unterstützung bei ihnen. So magst du von deiner
Besorgniss befreit werden." Der Fürst befolgte diesen Plan.
Wie die vordersten Jung auf die Chinesen im Hinterhalte
stiessen, flohen sie verfolgt von Tscho-tan. Ihr Detachement
wurde umringt, sie von vorne und von hinten angegriffen,
bis alle zusammengehauen waren. Die übrigen Jung flohen
wild davon.
Unter Lu Huan a. 6 (704) fielen nach Tso-schi p. 48
die Nord-Jung in Thsi ein, welches Tschhing um eine Streit-
macht zu seiner Hülfe bat. Hwo, der älteste Sohn des
Fürsten von Tschhing , kam mit einer Truppenmacht und
brachte den Jung eine grosse Niederlage bei. Ihre beiden
Anführer Tai-liang und Schao-liang wurden gefangen; er
brachte sie dem Fürsten mit 300 Köpfen ihrer Krieger in
Büffelleder dar.
Derzeit waren die Oberoffiziere vieler Fürsten zum
Schutze in Thsi. Der Fürst von Thsi versah sie mit Vieh,
welches die von Lu zu vertheilen hatten. Sie stellten nach
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 491
den Regeln über den Vortritt am Kaiserhofe die Truppen
von Tschhing in die letzte Reihe; das verdross Hwo, da
diese den Sieg erfochten hatten, und veranlasste im 10. Jahre
die Schlacht von Lang, s. Tso-schi p. 55.
3) Die Berg- Jung (Schan-Jung) fallen 664 in Yen
ein. Thsi hilft ihm und schlägt sie nach Sse-ki 32 f. 12,
S. B. 40 p. 666 und Sse-ki S. B. 94 f. 3.
Der Tschhün - thsieu f. 17 hat noch: Unter Lu
Tschuang a. 30 (662) machte ein Officier von Thsi einen
Einfall in das Gebiet der Berg-Yung im Departement Yung-
phing in Nord-Ost Tschi-li. Der Lin-Kue-tschi Cap. 21 hat
nach Legge p 118 einen sehr lebendigen Bericht über diese
Expedition; er besorgt aber, dass es meist fabelhaft sei,
und theilt ihn daher nicht mit.
Im 10. Jahre von Hi von Lu (648) im Sommer
machten der Fürst von Thsi und der Baron von Heu einen
Einfall in das Gebiet der Nord-Jung nach dem Tschhün-
thsieu p. 156.
Der 18. Kaiser der 2. D. Yang-kia A. 3 (1316) hatte
nach dem Bambu-Buche schon die rothen Berg-Jung
(Tan-Schan-Jung) bekriegt. Unter Siang-kung von Thsin
712 zogen die Schan-Jung (bei Y-tscheu in Schen-si 36° Br.)
über Yen hinaus und schlugen Thsi nach Sse-ki 110 f. 3. Nach
dem Scholiasten waren dies Siän-pi. Thsi Li-kung kämpfte
mit ihnen an Thsi's Grenze. 44 Jahre später griffen die
Berg-Jung Yen an. Dieses rief eilig Thsi zu Hülfe. Huan-
kung von Thsi (685 — 43) griff im Norden die Berg-Jung an
und sie flohen.
Nach 20 und mehr Jahren kamen die Jung und Ti bis
zur Stadt Lo und schlugen Tscheu Siang-wang (651 — 18).
Der floh nach der Stadt Sse in Tsching.
4) Die Hunde -Jung(Ki uen- Jung) schlägt Wu-wang
1122 v. Chr. nach dem Sse-ki 4 f. 5. Sie kommen auch
im Schan-hai-king vor. Unter Mu-wang a. 12 (seit 961)
492 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
zieht Puan-kung von Mao gegen sie und züchtigt sie, vgl. den
Kue-iü im I-sse 2G f. 17, Li-kung von Kung und Ku von
Fung mit allen ihren Truppen dem Kaiser folgend. Der
Kaiser züchtigte sie im 10. Monate. Vgl. Sse-ki 4 f. 14 v.
Im 13. Jahre im Herbste folgt das Heer von Tse-kung
dann dem Kaiser auf einer Strafexpedition im Westen und
lagert in Yang.
Unter dem 7. Kaiser Y-wang a. 21 (874) greift der
Kung von Kue sie an, wird aber nach dem Bambu-Buche
geschlagen.
Unter Yeu-wang (seit 780) im 11. Jahre drangen die
Leute von Schin und von Tseng mit den Hunde -Jung
unter Lu Hiao-kung a. 25 (771) nach Sse-ki B. 33 f. 10,
32 f. 5 v. und 40 f. 4 v., S. B. 44 S. 75 in Tsung-tscheu
ein, tödteten den Kaiser und Huan-kung von Tschhing nach
Kue-iü C. 5 TschhiDg-iü f. 1. Die Hunde -Jung tödteten
des Kaisers Sohn Pe-fu und führten die Pa-sse gefangen
mit in ihr Land nach Sse-ki B. 110 f. 3 und dem Bambubuche.
Nach dem Scholiasten zum Sse-ki 4 f. 5 im I-sse 19
f. 23 haben die Hunde -Jung nach dem Schan-hai-king
Menschen-Gesichter mit Thierleibern.
Tso-schi unterscheidet noch 5) die kleinen und 6) die
grossen Jung. Die kleinen (Siao-Jung) gehörten zur
Familie Yün, die grossen Jung zur Familie Ki und waren
Nachkommen Thang-scho's. Zu dieser Familie Ki gehörten
nun auch die Li-Jung in Lin-thung in Ti-ngan nach Legge
p. 126.
Nach Tso-schi Tschuang a. 28 p. 114 und Sse-ki 39
f. 5 hatten die Li-Jung den Namen vom Berge Li-schan.
Als Tsin Hien-kung die Li-Jung schlug, fing er die Li-ki,
verliebte sich in sie, er heirathete sie und die brachte Tsin
in Verwirrung, nach Sse-ki 39 f. 12, S. B. 43 S. 94.
Hien-kung von Tsin heirathete die Ku-ki von den grossen
Jung; ihr Sohn war Tschung-eul (Wen-kung) und eine
Flath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 493
Tochter der kleinen Jung; ihr Sohn war I-ngu (Hoei-kung
von Tsin). Hien-kung von Tsin 672 griff dann die Li-Jung
an, deren Häuptling gab ihm seine Tochter Li-ki, ihr Sohn
war Hi-tsi, der Sohn ihrer älteren Schwester, die sie begleitete
Tscho-tseu, nach Kue-iü 5 f. 1.
7) Ein Theil der Jung gehörte ursprünglich zur Familie
Kiang p. 124 und war 627 Tsin unterworfen.
Unter Lu Hi-kung a. 33 f. 50, S. B. 14 S. 513 (625)
rüstete Tsin in Eile die Kiang-Jung gegen Thsin. Der Tschhün-
thsieu sagt: Im 4. Monate am Tage Sin-sse schlugen die Tsin
und die Kiang-Jung Tshin zu Hiao (einem gefährlichen Eng-
passe, in Jung-ning im Depart. Ho-nan). Jung dienen 620
noch im Heere der Tsin nach Tso-schi a. 7 f. 13.
Unter Siuen-wang a. 39 (788) greift die kaiserl. Armee
die Kiang-Jung in West- und Nordwest-China an. Man
kämpfte bei Tsien-meu in Ngo-yaug, wird aber in die Flucht
geschlagen. Tso-schi Giang a. 14 p. 463 sagt ihr Häuptling:
Ihr Trank, ihre Speise, ihre Kleidung sind verschieden von den
chinesischen. Sie tauschten keine Seidenzeuge und andere Artikel
mit deren Höfen aus; ihre Sprache und unsere erlauben
keinen Verkehr mit ihnen. Im 40. Jahre zerstörten die
JuDg die Stadt Kiang (in Pao-ki in Fung-tshiang).
Unter Tsching- wang a. 13 griff des Kaisers Heer mit
den Heu von Tshi und von Lu die Jung an.
a. 30 kamen die Li-Jung zu huldigen. Sie sassen
im Distrikte Lin-thung im Department Si-ngan nach Legge
Prol. p. 126.
Zur Zeit von Lu Pe-kin (Tscheu-kung's Sohne) erregten,
wie schon erwähnt, die Siü-Jung in Siü-tscheu in Kiang-nan
Unordnung nach Schu-king V, 29 und Sse-ki B. 33 f. 7 v.;
er schlug sie.
Nach Tso-schi Tschuang a. 28 p. 114 hatte Hien von
Tsin eine Tochter aus dem Hause Kia geheirathet, von der
er kein Kind hatte. Später beging er Blutschande mit
494 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
seines Vaters Concubine Tshe-kiang; von der erhielt er
eine Tochter, welche die Frau Mo's von Tsin wurde und
einen Sohn Schin-seng, den er nach seines Vaters Tode als
dessen Erben anerkannte. In der Folge heirathete er zwei
Mädchen aus den Jung, die eine Hu-ki von den grossen
Jung gebar den Tschung-eul, die andere aus den kleinen
Jung gebar I-wu. Als Tsin in das Gebiet der Li-Jung ein-
fiel, gab deren Häuptling ein Baron ihm seine Tochter
Li-ki zur Frau; die gebar ihm einen Sohn Hi-tschi, ihre
jüngere Schwester gebar ihm den Tschho-tseu. Die Li-ki
wurde die Favoritin des Fürsten und wünschte ihren Sohn
zum Nachfolger ernannt zn sehen. Sie bestach zwei seiner
Lieblingsbeamten Liang-wu vom äusseren Hofe und Wu von
Tung-kuan und veranlasste diese zum Fürsten so zu sprechen.
,,Kio-yu enthalte seinen Ahnentempel, thu und Eul-khiu
seien seine Grenzstädte; sie dürften nicht ohne Herren ge-
lassen werden. Seien die Städte seiner Ahnen ohne ihre
Herren , so werde das Volk keine Ehrfurcht empfinden,
seien die andern ohne ihre Herren, so würden die Jung
darauf kommen, anmassliche Projekte zu entwerfen; dann
werde das Volk die Regierung gering achten, als zu schlaff
zum Schaden des Staates. Würde der anscheinende Erb-
prinz aber auf Khio-yu, Tschung-eul und I-wu auf Phu und
Eul-khiu angewiesen, dann würde beides das Volk zur Ehr-
furcht stimmen , die Jung in Furcht erhalten und überdies
seiner Herrlichkeit wirksame Herrschaft zeigen." Sie liess
beide auch noch ferner sagen : „das weite Gebiet der Ti
werde so eine Art Hauptstadt von Thsi. Ist es nicht recht,
das Gebiet des Staates so auszudehnen." Dem Fürsten ge-
fiel diese Eingebung und im Sommer sandte er seinen
ältesten Sohn , in Khio-yu zu residiren , Tschung-eul in
Phu und I-wu in Khio. So wurden auch alle andern
Söhne an die Grenze gesandt und bloss die Söhne von Li-ki
und ihre Schwester blieben in Kiang. Das Ende war, dass
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 495
die beiden Wu und Li-ki die Andern verleumdeten und
Hi-tsche zum Erben des Staates ernannt wurde. Das Volk
nannte die beiden Wu das Paar Ackerleute.
Ueberblicken wir alle diese, sehr vereinzelten Angaben,
so finden wir die Jung vornemlich in den Provinzen Schen-
si und Schan-si , mitunter dringen sie aber auch südlicher
vor. Ihrem Charakter nach waren sie ursprünglich roh
und meist Hirten. Einige Stämme aber hatten sich civilisirt
und waren den Thsin ziemlich ähnlich; Töchter ihrer Häupt-
linge heiratheten chinesische Fürsten, namentlich auch von Tsin.
Sie bildeten ebensowenig eine Einheit, als die damaligen
Chinesen unter den spätem schwachen Kaisern der 3. Dynastie.
Es waren wohl Tataren, die in China einfielen und
nicht eine Urbevölkerung desselben.
Neben ihnen erscheinen seit dem 9. Jahrhunderte v. Chr.
nun noch
Die Hien-Yün, die späteren Hiung-nu und die Hu,
während der Name Jung später verschwindet. Der Sse-ki
B. 110 und Ma-tuan-lin K. 340—341 geben eine Geschichte
der Hiung-nu, in die wir hier aber nicht eingehen können.
Nach Sse-ki B. 81 f. 11 fg. S. B. 28 p. 84 f., hält
der Feldherr Li-mo von Tschhao 250 v. Chr. die Hiung-nu
ab, in Yen-men im Reiche Tai (jetzt Tai-tscheu in Schan-
si). Er führte gegen sie 1300 ausgewählte Kriegs wagen,
13,000 Reiter, 50,000 Krieger, die 100 Pfund (Kin) Sold
erhielten und 100,000 Armbrustschützen , tödtete über
100,000 Reiter der Hiung-nu, vernichtete Tan-lan (nördlich
von Tai), zertrümmerte Ost-Hu, und unterwarf die Lin-
(Wald)-Hu. Der Tan-iü entfloh und die Hiung-nu wagten
10 Jahre Tschhao nicht zu beunruhigen. Wir beschränken
uns auf den Zusammenhang derselben mit den Jung und
die Hervorhebung einiger Hauptmomente ihrer Geschichte,
im Gegensatz der früheren Zeit.
496 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
Nach dem Sse-ki B. 110 f. 1 gehörten die Hien-
yün und späteren Hiung-nu zu den Berg-Jung. Der Ahn
der Fürsten war wenig wahrscheinlich aus der Familie der
Fürsten von Hia und hiess Tschin-wei. Nach den Schotten
floh er zur Zeit der 2. Dynastie Yu. ,
Unter Kaiser Li-wang a. 14 (839) fallen die Hien-yün
in die Westgrenze von Thsung-tscheu ein, s. Jour. As. 13 S. 396.
Unter Siuen-wang a. 5 (822) inarschirt Yn ki-fu gegen sie-
und kommt nach Thai-yuen. Nach Schi-king II, 3,3 falle»
sie ein in Tsiao-hu, verwüsten Hao-fang bis King-yang (un-
bekannte Oerter , man meint bei Ning-hia in Schen-si).
Sie werden bezwungen. Die Kaiserlichen kommen bis Thai-
yuen in Schan-si. Der chinesische Anführer ist Ki-fu.
Fang-schu besiegt sie nach Schi-king II, 3, 4. Der Sse-ki
wiederholt in der Geschichte der Hiung-nu mehrere An-
gaben , die er früher von den Jung und Hunde-Jung be-
richtet hat; seine chronologischen Angaben sind aber sehr
unbestimmt, nach ein oder mehreren hundert Jahren heisst
es immer nur.
Die Hu kommen auch erst später vor. Nördlich von Tsin.
waren die Lin-(Wald-)Hu und die Lieu-fen Jung; nördlich
von Yen die Ost-Hu (Tung-hu), auch Berg-Jung, diese waren
nach den Scholien die Vorfahren derU-huen und späteren Siän-
pi und wohnten östlich von den Hiung-nu, getrennt und zerstreut
an Bächen in Thälern. Sie hatten Fürsten und Aelteste (Tschang).
Ihrer waren viele, es gab über 100 Jung, aber zu schwach
konnten sie einander nicht beistehen. Tschao-Siang-tseu
überschritt den Berg Keu, schlug die vereinten Geschlechter
und beaufsichtigte Hu-me.
Tschao Wu-ling-wang 325 — 298 veränderte in seinem
Reiche auch die Sitten, legte die Tracht der Hu an, übte seine
Leute im Reiten und Schiessen , schlug im Norden die
Wald-(Lin-)Hu und Lieu-fen und baute den Tiieil der
grossen Mauer von Tai-ping, am Fusse des Yn-scham
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 497
(Berges) bis Kao-kiue, zu sichern Yun-tschung (Tai-tung-fu)
YeD-men (Tai-tscheu in Tai-yuen-fu in Schan-si) und Thai-kiien
(Departement von Tai-yuen fu).
Später hatte Yen einen weisen Feldherrn Thsin, gab
die Geiseln an Hu zurück, griff dann aber sie an, und
schlug die Ost-Hu die über 1000 Li verloren; Yen baute
dann auch eine grosse Mauer von Tsho-pang bis Siang-ping
{Leao-yang, Tscheu in Leao-tung), um zu sichern Schang-ko
(Pao-ngan-tscheu) in Siuen-hoa in Pe-tschi-li, Yn-yang (Ping-
ku hien in Pe-tschi-li), Yeu-pe-ping (Yung-ping-fu) ebenda
Leao-si und Leao-tung Kiün, um abzuhalten die Hu.
Später vernichtete Thsin die 6 Reiche. Thsin-schi
lioang-ti sandte seinen Feldherrn Mung-tien mit 100,000 Mann
aus. Der schlug im Norden die Hu südlich vom Ho (nord-
östlich von Tschung-li-hien in Yung-ping-fu in Pe-tschi-li)
und auf den Ho sich stützend verschluss er den Zugang.
Zu dieser Zeit waren die Ost-Hu stark und die Yue-
schi mächtig (schlug' voll). Später breiteten die Hiung-nu
«ich wieder aus. Wir übergehen ihren späteren Verkehr
mit den Hiung-nu, die sie schlugen, ihren König ver-
nichteten, ihr Volk und .ihr Vieh wegnahmen. Nach de
Guignes: Histoire generale des Huns I, 2 p. 24 flohen die
Ost-Hu nach Kartschin und theilten sich die in Siän-pi und
U-Luan, welche dieselbe Sprache und ähnliche Gewohn-
heiten hatten.
Allem nach scheinen die Jung aus verschiedenen Völker-
■stämmen Siän-pi, auch Thibetanern (Kiang), wie wir früher
sahen, und Hiung-nu bestanden zu haben. De Guignes fand
in den Hiung-nu bekanntlich die Hunnen, der P. Hyakinth
hielt sie dagegen für Mongolen, die noch da wohnen.
IV. Die barbarischen Südstämme
"kommen in verschiedenen Zeiten unter verschiedenen
tarnen vor.
498 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
I. Die Miao. Im Schu-king heisst es im C. Schün-tien
II, 1, 3, 12: Schün schloss die San (drei) Miao in Sau (drei-)
Wei8) ein. San-Miao soll der Name eines Landes sein nach
Tso-tschuen Tschao a. 1 und besonders dem Tscheu-kue-tse
K. 14. U-khi (390 v. Chr.) erzählt: San Miao habe zur
Linken den Phang-li Sumpf (an der Grenze von Yang-tscheu
und Kiang-nan), die Wasser des Tung-thing, den Berg Wen
im Süden und den Berg Heng im Norden gehabt , womit
andere Nachrichten stimmen , vergl. Sse-ki B. 65 f. 6r
S. B. 33 p. 269. Es begriff also die jetzigen Departements
Wu-tschhang in Hu-pe, Yo 'tscheu in Hu-nan und Kieu-kiang
in Kiang-si. Die drei (san) Miao deuten wohl auf drei
Häuptlinge oder Abtheilungen. Der Distrikt San- Wei hatte
nach der Geographie der jetzigen Dynastie seinen Namen
von einem Hügel gleichen Namens im Süd-Osten des Depar-
tements Ngan-si in Kan-su mit jähen Gipfeln, die den Ein-
sturz drohten (daher der Name). Nach dem Kue-iü, Thsu-
iü hia, nahm man unter der Dynastie Tscheu an, dass Yao
mit Miao in Streit war und Schün ihre Chefs mit einem
Theile des Volkes entfernte. Der Schu-king sagt aber bloss;
Nachdem gegen die vier Schuldigen verfahren war, war das
ganze Reich unterworfen. § 27 heisst es: Er theilte und
trennte die San-Miao; Wang-so meint: Die Zurückgebliebenen
und wieder aufsässig gewordenen Miao. Im C. Ta-yü-mo
II, 2,3 heisst es: Der Kaiser (Schün) sprach: „OhYü! Da
ist zur Zeit nur Yeu-Miao (der Besitzer von Miao), der
nicht gehorcht: Gehe Du, ihn zurecht zu setzen." Yü ver-
sammelte alle Fürsten , hielt eine Ansprache an das Heer
und sagte: „Ihr zahlreiche Menge hört alle meine Befehle;
stupide ist Yeu-Miao, blind, unwissend, ohne Ehrerbietung,
andere verachtend und insolent, hält er nur sich für weise;
entgegen der Vernunft vernichtet er die Tugend; Weise sind
8) Abweichend der Sse-ki 1 f. 12 v. S. 1.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 499
in der Wildniss, ferne vom Hofe, unweise Menschen in
Aemtern. Das Volk verwirft ihn und hält ihn nicht auf-
recht, der Himmel lässt Ungemach auf ihn herabkommen,
so habe ich Eure Menge von Kriegern versammelt und führe
die kaiserlichen Befehle, seine Verbrecher zu bestrafen aus-
Geht ihr vorwärts mit einem Herzen und einer Kraft und
Euer Sieg wird erfolgreich sein."
§ 21 heisst es aber: nach 3 Decaden widersetzte das
Volk der Miao sich noch den kaiserlichen Befehlen; da kam
Y dem Yü zu Hilfe und sagte: „Nur die Tugend bewegt den
Himmel; keine (noch so grosse) Ferne erreicht er nicht.
Selbstüberhebung bringt Verlust (Minderung), Demuth em-
pfängt Mehrung; dies ist des Himmels Weg. Der Kaiser (Schün)
lebte Anfangs auf dem Li Berge, täglich ging er auf's Feld,,
rief weinend den mitleidigen Himmel an und Vater und
Mutter (die ihn verfolgten), nahm auf sich alle Schuld und
Schlechtigkeit; ehrfurchtsvoll diente er und erschien vor
seinem Vater (Ku-seu) ehrerbietig und furchtsam, bis der
mit ihm übereinstimmte. Die höchste Aufrichtigkeit bewegt
die Geister, um wie viel mehr Yeu-Miao." Yü verneigte
sich vor den trefflichen Worten und sagte: Ja! und führte
das Heer zurück. Der Kaiser breitete aus seine glänzende-
Tugend, man tanzte mit Federn und Schildern an beiden
Treppen des Hofes und nach 7 Decaden unterwarfen sich-
die Yeu-Miao, vgl. das Bambubuch Schün a. 35 p. 116.
Im Schu-king C. Liü-hing V, 27, 3 sagt der Kaiser
Tscheu Mu-wang: Das Volk der Miao bediente sich nicht
der Macht des Guten (ling) , sondern der Anwendung von
Strafen, wandte die 5 grausamen Strafen an und nannten
das Gesetz, tödtete die Unschuldigen und begann mit den
Excessen, Nasen und Ohren abzuschneiden und zu brand-
marken. Die dieser Strafe verfielen, unterlagen ihr ohne-
Unterschied, auch wo eine Entschuldigung war. Das Volk,
mehr und mehr davon betroffen, wuide verwirrt und
500 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
verdunkelt , ohne Treu und Glauben verletzte es die
Eide und Verträge : der grausame Schrecken und die
Tödtung Hess sie ihre Unschuld nach oben erklären.
Der Schang-ti sah auf das Volk , keine duftende Tugend
ging von ihm aus, nur Strafen und deren Gestank (übler
Geruch). Der erhabene Kaiser hatte Mitleid und Erbarmen
mit dem Volke das mit dem Tode bedroht war und liess
die Unterdrücker seine Majestät empfinden , beschränkte
und schnitt ab das Miao Volk, dass es keine Generation
weiter bestand. Der erhabene Kaiser, nicht eingenommen,
befragte unten das Volk, die Verlassenen und Verwitt-
weten beklagten sich über die Miao; seine (des Kaisers)
Tugend , erweckte dagegen Ehrfurcht. Von wem wollt
Ihr jetzt eine Warnung empfangen? Ist es nicht von
dem Miao Volke, das die Umstände der Gefangenen nicht
untersuchte, nicht gute Männer auswählte, sondern gewalt-
thätige und die Geld nahmen wählte, auf die i echte Mitte
bei den 5 Strafen zu sehen, und die 5 Strafen abzu-
schneiden und zu verwirren die Unschuldigen. Der Schang-
ti hielt sie nicht für schuldlos und sandte Ungemach auf
die Miao herab. Sie hatten keine Entschuldigung der Be-
strafung und ihr Geschlecht wurde Vertilgt.
Diese Deklamationen enthalten leider wenig historisches.
Später ist von den Miao weiter nicht die Rede. In Südwest-
China giebt es noch Miao-tseu, ob das aber ihre Nachkommen
wieKlaproth: Tableaux S. 130 annimmt, und sie Thibetaner
sind, die 3000 v. Christo ganz West-China bis zur Südkette
(Nan-ling) eingenommen , wie Andere bis zum Siangflusse
(in Hu-kuang), der in den Tung-thing sich ergiesst, einige
selbst in den Bergen Ho-nan's so namentlich die San-Miao,
ist wohl sehr die Frage. Nach Klaproth hätten sie sich in
die Berge westlich von Schen-si, Sse-tschuen und um den
Koko-noor See zurückgezogen und lange West-Schen-si ein-
genommen , das die Chinesen erst im 2. Jahrhunderte vor
Plathi Fremde barbarische Stämme im alten China. 501
Christo unterworfen. Ihre Nachkommen erhielten den
Namen Kiang (Tibetaner).9) Es waren dies Nomaden mit
zahlreichen Heerden, die aber auch einige Felder bebauten
und die Sitten und Gebräuche der Barbaren des Nordens,
hatten. Ihr Land hiess auch das der West-Jung und das
Land der Teufel (Kuei-fang). Aber das Alles ist ohne Be-
leg und ohne geschichtliche Begründung.
Ueber die jetzigen Miao-tseu s. Bridgman: Sketch
of the Miau-tsze im Journ. of the North branch of the
Asiat. Society. Shang-hae 1859 I. No. 5; Thom. Blakinstone:
Five months on the Yang-tse 1862 p. 271 mit Abbildung
eines Miao-tseu p. 284 und Neumann's Asiat. Studien
Leipzig 1837, S. B. 1 S. 35—120. Fr. Müller allgemeine
Ethnographie S. 361 rechnet sie zur Thai-gruppe.
Die Kuei-fang erwähnt das Bambu-Buch einigemal.
Der 22. Kaiser der 2. Dynastie Wu-ting (seit 1273) a. 32
griff Kuei-fang, das Land der Dämonen, an und lagerte in
King (um Siang-yang, am Zusammenflusse des Han und
Kiang nach Biot Journ. Asiat, p. 570). a. 34 unterwarfen
die Heere des Kaisers die Kuei-fang und auch die Ti-kiang
kamen und unterwarfen sich. Nach dem Y-king C. 63 Ki-
tsi T. 2 p. 366 widersetzte Kao-tsung (d. i. Wu-ting) sich
den Kuei-fang; nach 3 Jahren besiegte er sie und hatte
zum Lohne ein grosses Reich nach 64, 4 p. 374; P. Regis
nimmt sie da für Ostbarbaren.
2. Die Me kommen schon im Schu-king C. Wu-tsching
V, 3 f. 7 vor. Wu-wang (1122 v. Chr.) sagt da: Die Hoa
und Hia (Chinesen), die Man und die Me sind mir anhänglich.
Die beiden letzten begreifen hier alle Barbaren; Man sind
eigentlich die des Südens, Me die des Nord-Osten, wie im
Lün-iü 15, 2, 2, und Tschung-yung 31,4. Nach Schi-king
9) So indess schon der Schol. zu Sse-ki B. 110 Hiung-nu-tschuen,
auch bei Kang-hi s. v Kiang.
[1874, 4. Phil. hist. CL] 34
502 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
III, 3, 7, 6 gab 'der Kaiser dem Heu von Han T^chuy
und Me , die Nordreiche zu behaupten und als ihr Chef
ihnen vorzustehen. Der Scholiast versteht hier die Reiche
der I und Ti im Norden. IV, 2 und IV, 7 stehen ebenfalls
Man und Me in Verbindung für die wilden Stämme im
Süden, wie die Lehnreiche (Pang) bis zum Meere Hoai-I.
Keiner will ihm nicht folgen; Keiuer wagt auf seinen Ruf
nicht zu antworten; so folgen sie dem Fürsten von Lu.
In Meng-steu VI, 2, 10, 2, 4, 7 will Pe-kuei statt ^10
nur 1!%o als Abgabe vom Lande erheben und fragt was
Meng-tseu dazu sage: Dieser erwidert: ,,Dein Weg (Princip)
ist das der Me; bei den Me wachsen die 5 Getreidearten
(U-ko) nicht, nur Hirse (schu) erzeugt es; da gibt es
aber auch keine mit Mauern befestigte Städte (Tsching-ko),
keine Paläste (Kung-schi), keine Ahnentempel (Miao), keine
Opfergebräuche (Tsi-Sse-tschi-li), keine Fürsten (Tschu-heu),
die Seidenzeuge (Pi-pe), Morgen- und Abendmahlzeiten
(Yung-sun) haben wollen, keine 100 Beamten mit ihren
Untergebenen (Sse), daher genügt es dort, wenn man nur
lho nimmt (das geht aber nicht im Reiche der Mitte);
wünschen wir die Abgaben zu verringen gegen '(die unter)
Yao und Schü, so haben wir ein grosses und kleines Me,
vergrössern wir sie, so haben wir einen grossen und kleinen
Kie. Legge bemerkt: Die Me waren Hirten, die nur wenig
Land bauten.
Kung-yang Tschuen Siuen a. 15 erwähnt die grossen
und kleiuen Me.
Im Sse-ki B. 43 f. 15 vgl. Pfizmaier Geschichte von
Tschao S. 17 heisst es: Er kam bis zu den Tschu-me
von Hien-huen.
Der Sse-ki B. 79 f. 17, S. B. 30 S. 247 erwähnt das
Land der Hu-me; da bittet Siü-Ku , sie einschliessen zu
dürfen. Die Hu haben wir schon oben bei den Hiung-nu
erwähnt. Im Sse-ki 87 f. 21 v., S. B. 31 S. 347 heisst es:
Tlath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 50 ^
Eul-Schi vertrieb im Norden die Hu-me, im Süden befestigt©
er die 100 Stämme der Yue.
Nach Sse-ki 116 f. 4, S. B. 45 S. 301 baute man
{unter den Han) eine Mauer um So-fang, nahm eine feste
Stellung am Hoang-ho und vertrieb die Hu. Hoang-Yn und
andere sagten: Die Südwest-I seien schädlich, Man könne
aber einstweilen von ihnen ablassen und sich ausschliesslich
mit den Hiung-nu beschäftigen.
3. Die Man erwähnt schon der Schu-king C. Yü-kung
III, 1, 2, 22 sagt: Die 500 (fernsten) Li bildete der Lieu-
fu, die wilde Domäne; 300 Li von diesen hatten die Man
und 200 Li die Verbannten (Lieu) inne.
Nach Liü-schi's Tschhüu-thsieu im I-sse 9 f. 3 kämpfte
Yao am Ufer des Tan-Flusses, die Süd-Man (Nan-Man) zu
unterwerfen. Der Ti-Wang Schi-ki ebenda sagt : Die Yeu-
Miao wohnten mit den Nan-Man und unterwarfen sich nicht,
Yao zog gegen sie und besiegte sie am Ufer des Tan-
(rothen Zinnober) Flusses. Nach C. Schün-tien II, 1, 16
bringen die Man und I einander zur Unterwerfung. Nach
§ 20 stören die Man und I das grosse Land (China);
ebenso der Sse-ki B. 115 f. 1 v. und 116, f. 2.
Im Capitel Liü-ngao V, 5 heisst es: Nach Besiegung
<ler Dynastie Schang war der Weg zu den 9 I und 8 Man
offen. Der Kue-iü C. 2 f. 15 spricht unter Wu-wang von
D I, aber 100 (pe) Man; 8 Man im Süden hat auch der
Tscheu-li 33 f. 1. Im C. Wu-tsching V, 3, 6 — die Hoa
und Hia, die Man und Me folgen mir, — bezeichnen beide
letztere schon die Barbaren überhaupt, wie im Lün-iü 15,
5, 2. Im Schi-king IV, 2, 4, 7 reicht La's Macht bis zu
den Lehnreichen am Meere, die Hoai-I, die Man und Me
und die I weiter im Süden, jeder folgt ihm. III, 3, 2, 4
heisst es: Streitwagen und Rosse, Bogen und Pfeile und
andere Kriegswaffen werden zubereitet für kriegerische
Thaten, um ferne zu halten die Gegend (Horden) der Man.
34*
504 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
Das Lied soll von Wu-kung von Wei (seit 811 v. Chr.) sein;
s. Legge IV, 2, p. 510. Nach Schi-king III, 3, 7, 6 sollte
der Fürst von Han Vorstand der 100 Man sein. Der Kaiser
gab ihm Tschui und Me. Nach der Vorrede geht die Stelle
auf Siuen-wang.
575 v. Chr. stellten die Südbarbaren Thsu Hülfstruppen
gegen Tsin , aber sie hatten keine Schlacht-Ordnung nach
Tso-schi Tsching-kung a. 16 f. 25 v., S. B. 17 S. 305.
Meng-tsu III, 14, 14 sagt: „Da sind jetzt die Männer
der Süd-Man mit der Zunge des Neuntödters (Ki), die nicht
den Weg der früheren Kaiser wandeln. Du kehrst deinem
Lehrer den Rücken zu und studirst diese, verschieden von
Tseng-tseu." Meng-tseu III, 2, 6, 1 sagt zu Pu-sching:
Gesetzt es wäre ein Ta-fu von Thsu hier, der wünschte, dass
sein Sohn die Sprache von Thsi lernte, wird er da einen Mann
aus Thsi oder einen aus Thsu verwenden? Er sagte: Einen
Mann aus Thsi, Meng-tseu: Aber wenn nur 1 Mann aus
Thsi sie ihm überliefert, eine Menge Leute aus Thsu ihn
aber beständig anschreien, so kann er, obwohl sein Vater
ihn täglich schlägt und sucht, dass er die Sprache von Thsi
lerne, das nicht erlangen ; ebensowenig als die Sprache von
Thsu, wenn er einen zwischen Tschoang und Yo — einem
Nachbarorte der Hauptstadt von Thsi — versetzt. Die Ur-
bevölkerung von Thsu waren wohl Man.
Die Man in King (Thsu) und in U a. 1111 v. Chr.
Unter Tsching-wang waren die King-Man dem Fürsten Tschu-
pe Sian-Meu nur so weit sie wollten unterworfen, nach de
Maiila T. I p. 310; 1002 v. Chr. schien das Volk der
King-man (südlich vom Kiang) s;ch empören zu wollen.
Tschhao-wang zog gegen sie, auf einem Jagd-Zuge das Land
verheerend, kam aber dabei um ib. p. 343 fg. Nach dem
Bambu-Buche folgten a. 19 der Kung von Thsi und Pe von
Siü dem Kaiser und fielen in Thsu ein. Der Himmel war
dunkel und stürmisch, Fasane und Hasen wurden erschreckt.
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 505
Es kamen um die 6 Heere im Hanflusse; der Kaiser starb.
Schon im 16. Jahre hatte Tschhao-kung Thso angegriffen.
Unter Mu-wang (seit 961) a. 35 fielen die King-Männer in
Siü ein. Thie und derPe von Mao führten ein Heer gegen
sie und schlugen sie am Tseflusse.
Im 37. Jahre hob der Kaiser 9 Heere aus, kam im
Osten bis zu dem Kieu(9)-kiang, setzte über ihn auf einer
Brücke aus Schildkröten und Iguanadons, schlug dann die
Yuei. Die King-Männer kamen mit Tribut nach dem Bambu-
Buche unter Li-wang (seit 852) a. 14, überfielen die Yen-
yün (die späteren Hiung-nu). Die W.-Grenzstadt von Tsung-
tscheu des Kung Mo von Tschhao führte ein Heer gegen
die King-man und kam bis zum Lo Flusse nach dem Bambu-
Buche. Unter Siuen-wang (seit 826) a. 5 im Sommer im
6. Monate führte Yn Ki-fu ein Heer, griff die Yen-yün an
und kam bis Thai-yuen. Im Herbste im 8. Monate führte
Fang-scho ein Heer und griff die King-Man an, nach dem
Bambu-Buche, vgl. de Maiila T. 2 pag. 29. Der Schi-king
II, 3, 4 feiert ihn. Man erntete da die weisse Hirse in
diesen neuern Feldern und in den Meu (Aeckern), die erst
1 Jahr angebaut waren, als Fang-scho das Commando über-
nahm. Seiner Streitwagen waren 30,000 , sein Heer wohl-
geschulte Krieger; seine Wagen hatten 4 scheckige Rosse
und bewegten sich ordentlich; sein grosser Wagen (Lu-kiü)
war roth mit einem Schirme aus feiner Bambu-Matte
(Tien-ti), einem Kleide (Köcher) aus Fischhaut und Hacken
für den Pferdeschmuck an den Brustbändern und Zügeln.
Die Flaggen mit Drachen und Ochsenschweifen glänzten.
Die Naben seiner Räder waren mit Leder umwunden,
das Joch verziert, die 8 Glöckchen am Pferdegebisse (Luan)
machten ein Geklingel. Er trug die befohlene Tracht. Die
rothen Kniedecken waren glänzend. Er hatte klingende
Gemmen am Gürtel. Dass das Heer anhalte, schlug man
die Trommeln. Er ordnete sein Heer und hielt eine An-
506 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juni 1874.
spräche an dasselbe. Einsichtsvoll und treu war Fang-scho;
zurück führte er das Heer bei leisem Tone. (Wir erfahren
hier freilich mehr über den Anzug des chinesischen Feld-
herrn als über die King-Man, nur Vers 4 sagt: Thöricht
waren die Man-King). Gegen die grossen Lehn-Reiche (Ta-
pang) wollten sie auftreten. Fang-scho ist schon alt, aber
kräftig sind seine Pläne. Er verfolgte sie, ergriff die Chefs-
für die Tortur und nahm den Haufen gefangen. Seine
Kriegswagen waren zahlreich, die grosse Schlacht-Ordnung
wie Blitz wie Donner. Er zog dann gegen die Yen-Yün
und griff sie an. Die Man-king kamen erschreckt (voll
Ehrfurcht).
Als Huan-kung von Tsching (806—777) Sse-tu des
Kaisers war, hatte Tscheu im Süden unter Andern die
King-Man nach Kue-iü C. 5 Tsching-iü f. 1.
651 v. Chr. begann Thsu Tsching- wang sich der King*
Man zu bemächtigen (scheu) nach Sse-ki B. 32 f. 12,
S. B. 40 S. 666.
Lu Hi-kung (659-626) greift die Jung, Ti und King-
Tschu an; keiner wagte ihm zu widerstehen. Nach la
Charme p. 318 sassen die in Hu-kuang und Ho-nan. Die
Geschichte erwähne dieser Expedition aber nicht.
4. Die Min kommen im Schu-king noch nicht vor, da
China damals noch nicht so weit nach Süden reichte, aber
die kurze Geographie im Tscheu-li 33 f. 1 hat die 4 I, die
8 Man, die 7 Min, die 9 Me, die 5 Jung und die 6 Ti.
Nach den Scholien wohnten die I im Osten, im Süden die
Man, im Westen die Jung, im Norden die Me und Ti.
Einige unterschieden die Min im Südosten als eine Fraktion
der Man. Die Zahlen bezeichnen, wie viele Reiche von
diesen den Tscheu unterworfen waren. Auch in Tscheu-li
37, 13 kommen die Min-li als Kriegsgefangene vor. Min
ist später noch der Name der Provinz Fo-kian, wie ein
Theil von Yuei der von Kuang-tung, nach Sse-ki 41 f. 11
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 507
v., S. B. 44 S. 212. Nach dem Scholiasten zu Sse-ki 114
f. 1 ist Min der besondere Name von Ost-Yuei; dieses hatte
Schlangen, daher der Charakter für Min aus Cl. 169 Thor
und 142 Wurm oder Insekt. Der Schan-hai-king bei
Kang-hi setzt die Min noch mitten ins Meer. Nach den
Scholiasten da ist Min-Yuei West (Si-) Ngeu , (jetzt Kien
Ngan, Kiün in Fo-kien).
Die ursprünglich barbarischen Reiche Thsu, U
und Yue.
Thsu in Hu-kuang und der früheren Provinz Kingy
also China zunächst, war auch am meisten chinesisch, unter-
warf dann aber allmählich die Barbaren King Man, wie
schon erwähnt ist. Wir können in die Geschichte im Ein-
zelnen nicht eingehen. Der Sse-ki B. 40 gibt die Geschichte
von Thsu. Wir bemerken daher nur, dass die Fürsten
von Thsu von Kaiser Tschuen-hio oder Kao-yang, Hoang-
ti's Enkel, abstammen wollten. Tscheu Tschiug-wang
belehnte Hiung-ye mit Thsu. Sein Wohnsitz war Tan-
yang (jetzt Tschhi Khiang in Hu-kuang). Er machte
seinen ältesten Sohn zum Könige von Keu-tan (Kiang-ling
in King-tscheu in Hu-kuang); seinen zweiten Sohn Hung
zum Könige von Ngo (Wu-tschang in Hu-kuang), seinen
dritten Sohn Tschhe-tscbe zum Könige von Yuei-tschang,
entfernte sie aber später wieder. Der Sse-ki gibt erst die
blossen Namen seiner Nachfolger.
Hiung-khiü im Sse-ki 40 f. 3 v. sagt : Wir sind
Man-I und haben nicht die Sprache des Reiches der Mitte
(Ngo Man-I, pu iü Tschung-kue tschi hao-i).
# Die Geschichte von U enthält der Sse-ki B. 31, die
von Yuei derselbe B. 41. Wir haben aber auch noch U-iü
im Kue-iü K. 19 und Yuei-iü ib. 20 und 21; dann den
U-Yuei Tschhün-thsieu und Yue thsiue-schu in der schon
508 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 6. Juni 1874.
öfter erwähnten Sammlung 10) II, 4 und 3. . Pfizmeier's Ge-
schichte von U (Wien 1857 in 4°) gibt nur die Uebersetzung der
Geschichte von U nach dem Sse-ki. Die Fürstenfamilie von U
leitete ihr Geschlecht von der Kaiserfamilie der Tscheu ab.
Thai-pe war ein Sohn von Tscheu-Thai-wang und der ältere
Bruder von Ki-li. Sein Vater wollte diesem die Nachfolge
in Tscheu zuwenden, da floh Thai-pe mit seinem Bruder
Tschung-yung zu den King -Mau, täto vierte l J) seinen Leib
(Wen-tschin, nach den Scholiasten mit Drachenfiguren),
schnitt das Kopfhaar ab (tuan-fa, nach den Scholien, weil
sie immer im Wasser waren). Als er zu den King-Man
floh, nannte er sich Keu-U. Die Südbarbaren anerkannten
seine Gerechtigkeit, folgten ihm, kamen zu ihm über
1000 Familien und erhoben ihn zum Fürsten U Thai-pe.
Als er ohne einen Sohn zu hinterlassen gestorben war,
folgte ihm sein Bruder Tschung-yung. Der Sse-ki nennt
3 Nachfolger desselben , unter dem 3. Tscheu-tschang be-
siegte Tscheu Wu-wang die 2. Dynastie Yn, forschte nach
Thai-pe's und Tschung-yung's Nachkommen, fand Tscheu-
tschang und belehnte ihn wie dessen Jüngern Bruder Yü-
tschung, (nach den Scholien diesen in Ho-tung, östlich vom
Ho, in Thai-yang-hien). Als Tscheu-tschung gestorben war,
folgte ihm sein Sohn, Hiung-suy; Hiung, der Bär, war der
Name der Fürsten von Tshu. Von dessen Nachfolgern gibt
der Sse-ki die blossen Namen, ohne Angabe ihrer Regierungs-
dauer. Zur Zeit von Keu-pi vernichtete Tsin Hien-kung im
Norden Yü-kung.
Eine eigentliche Geschichte U's beginnt erst mit Scheu-
mung in der 19. Generation seit Thai-pe; da begann U
sich zu mehren und ein grosses Königreich zu werden.
Von da an hat der Sse-ki auch erst die Angabe der Re-
10) Han Wei thsung schu s. über diese meine Abh. a. d. S. B.
1868 I, 2 S. 285 ff.
11) Nach Tso-schi p. 813 erst Tschung-yung.??
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 509
gierungsjahre des Fürsten. Ein Ta-fu (Grosser) von Thsu
zürnte Thsu, floh nach Tsin, sandte von da nach U und
lehrte ihm den Gebrauch der Waffen und Wagen und U
£ng an in das Reich der Mitte einzudringen. Scheu-mung
hinterliess vier Söhne, die schon ganz Chinesen waren und
nichts barbarisches an sich hatten. Von Ki-tscha (544)
haben wir namentlich eine Diatribe über den Schi-king bei
• Tso-schi Siang-Kung a. 29 f. 30—32, S. B. 492-498 und
Legge p. 549 fgg. siehe mein Leben des Gonfucius II, 2 S. 62 fgg.
Unter dem 26. Kaiser Yuan (seit 474) a. 4 vernichtete Yü-
juei U; beide waren in Kiang-su und Tsche-kiang, U mehr im
Norden.
Die Yuei kommen im Schu-king und in Tschcu-li noch
flicht vor.
Unter Tsching-wang von Tscheu a. 10 huldigte Yuei-
ischang (nach dem Scholiasten des Bambu-Buches in Tsche-
kiang) und unterwarf sich; im 24. Jahre unter Mu-wang
a. 37 fiel man in Yuei ein und kam bis Yü. A. 307
schildert der König von Tschao die Ngeu-Yuei's in Fo-kien.
Sie schoren das Haar, bemalten den Leib, ätzten die Arme
und trugen den Mantel auf der linken Seite nach Sse-ki
B. 43 f. 24; s. Pfizmeier's Geschichte von Tschao S. 31.
Die Geschichte von Yuei im Sse-ki B. 31 beginnt erst
mit Scheu-mung. Dieser sollte ein Nachkomme von Yü's
Miao-Isein. Das Yü zu Anfange ist nicht klar; o.LeggeV, 2 p. 759.
Unter dem 27. Kaiser Tsching-ting a. 1 verlegte Yü-
vuei seine Hauptstadt nach Lang-ya (in Tschu-tsching , im
Departement Thsing-tscheu in Schan-tung). Im 4. Jahre
im 11. Monate starb der Tseu von Yü-yuei Keu-tsien. Die
Fürsten hatten doppelten Namen, einen chinesischen und
einen in der Landessprache, wie später die Kitan und Kin
Apaoki und Agutha. Keu-tsien hiess in der Landessprache
Tantschi nach Kin-li-tsiang bei Legge III, 1, p. 167 ist
dieses als ein Wort zu lesen, nach dem syllabarischen
510 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 6. Juni 1874.
Systeme des Westens. Diese Notiz über die Sprache
der Yuei ist bemerkenswerth. Sie war danach ganz ver-
schieden von der chinesischen. Wir führen daher beide
Namen der Fürsten, wo sie vorkommen, an, obwohl wir
nicht sagen können, zu welchem Sprachstamme die der Yuei
gehörte. Auf Keu-tsien folgte sein Sohn Lo-tsching, auf diesen-
Pu-scheu oder Mang-ku, der im 20. Jahre getödtet
wurde; auf ihn Tschu-keu oder Than. Unter Wei-lie-wang^
(seit 424) a. 12 vernichtete Yu-yuei Theng, a. 11 griff der
Tsu vor Yü-yuei Tschu-keu Than (Than-sching in I-tscheu
in Schan-tung) an. Er starb im 14. Jahre und es folgte
sein Sohn I. Unter dem 30. Kaiser Ngan (seit 400) a. 23-
verlegte Yü-yuei seine Hauptstadt nach U. Im 26. Jahre
im 7. Monate ermordete Tschu-keu, der älteste Sohn von
Yu-yuei, seinen Fürsten I; im 10. Monate tödteten die-
Männer von Yuei ihn; er hiess Yue-Hoa und machten zum
Fürsten den Fu-tso-tschi. Unter dem 31. Kaiser Li-wang:
(seit 374) a. 1 legte ein Ta-fu von Yü-yuei Sse-keu die
Unordnung im Staate bei und setzte Tsu-wu-iu, genannt
Mang-ngan, ein. Unter dem 32. Kaiser Hien (seit 367)
tödtete Sse, ein jüngerer Bruder Sse-Keu's, seinen
Fürsten Mang-ngan und es folgte Wu-tschuen, Than-tscho-
mao genannt; er starb im 12. Jahre und es folgte Wu-kiang^
Dieser griff im 36. Jahre Thsu an; dieses aber belagerte
Thsi in Siu-tscheu und schlug ihn. Unter dem 34. Kaiser
Yin oder Nan im 3. Jahre im 4. Monate sandte der König:
von Yuei Kung Sse-iüe an Wei nach dem Bambu-Bucher
p. 176 (?) 300 Schiffe, 5 Millionen Pfeile, Rhinoceroshörner
und Elephantenzähne.
Alle Yuei waren in der späteren Zeit nicht dem Könige
unterworfen.
Das südliche (Nan-) Yuei erhielt unter Thsin Schi
Hoang-ti den Namen Nan-hai siang kiün nach Sse-ki B. 115
f. 1, de Maiila T. II p. 510 und 543, Gouverneur war erst
Plath : Fremde barbarische Stämme im alten China. 51t
Jin-ngao und nach seinem Tode Tschao-to (beides Chinesen).
Es ist durch die Berge unzugänglich und hielt von Osten
nach Westen mehrere 1000 Li. Er bemächtigte sich Kuei-
lin's und Siang-Kiün's und machte sich zum Könige von
Nan-yuei nach 2 f. Der Kaiser Kao der Dynastie Han
schickte Lu-kia an ihn und er erkannte den Kaiser (nominell)
an; vorher heisst es im Sse-ki 87 f. 21 v., S. B. 31 S. 347
im Süden brachte der Minister von Thsin Li-sse die lOOYuei
zur Ordnung; dies hatte also bleibend nicht viel auf sich
oder wenn unter einer starken chinesischen Regierung die
Yuei sich unterwarfen, fielen sie unter einer schwächeren ab
oder erkannten China's Oberhoheit nur nominell an. Nach
Sse-ki 41 f. 1, S. B. 44 p. 198 bemalten die Einwohner
von Yuei damals (zum Theil) noch den Leib, schnitten das
Haar ab, bahnten Wege durch Kraut und Jungein. hatten
aber doch schon Städte. Nachdem Wu-khiang im Kampfe
gegen Tshu gefallen und U 333 v. Chr. von Thsu erobert
war, wurde Yuei zersplittert, die Söhne der Seitengeschlechter
stritten mit einander. Einige nannten sich Könige (Wang),
andere Fürsten (Kiün). Sie wohnten südlich vom Kiang
am Meere und huldigten Tshu. Nach 7 Generationen stand
Yao, der Fürst von Min, den Fürsten, die sich gegen Thsin
erhoben , zur Seite. Han Kao-ti machte ihn zum Könige
von Yuei. Später war der Fürst von Ost-Yuei und von
Min sein Nachkomme, nach Sse-ki 41 f. 11 v. S. B. 44
S. 212. Min heisst hier also ein Theil von Yuei.
Einige andere barbarische Reiche
kommen noch gelegentlich vor, die aber zum Theil ausser
dem derzeitigen alten China gelegen waren. So redet im
Schu-king Cap. Mu-schi V, 2 , 4 Wu-wang sein Heer an:
„Weit her seid ihr gekommen, Ihr Männer des Westlandes,
(Si-tu) von Jung, Schu , Kiang, Mao, Wei, Pheng und Po,
(8 Stämme in Tse-schuen und Hu-pe). Auch das Bambu-
512 Sitzung der philos.-phüöl. Classe vom 6. Juni 1874.
Buch erwähnt sie unter Schang Ti-sin a. 52, vgl. Sse-ki 4,
f. 8. Yung ist der jetzige Distrikt Tschu-schan in Yüu-yang
in Hu-pe, S. B. 44 S. 73 A° 611 v. Chr. war in Thsu
eine grosse Hungersnoth.
Die Jung fielen in S. W. ein, drangen bis zum Hügel
von Feu vor und ihr Heer fasste Posto zu Ta-lin; ein
anderes Corps drang im S. 0. ein und bis Jung-Khieu vor
und fiel dann in Tse-tschi ein.
Die Leute von Yung stellten sich gleichzeitig an die
Spitze der Südbarbaren und empörten sich gegen Thsu
nach Tso-schi Wen-kung a. 16, S. B. 15 S. 466 bei Legge
V, 1 p. 275 und Ma-tuan-lin K. 263 f. 29 v. Die von
Kiün führten die vielen Stämme der Po an und sammelten
sich zu Siuen, da einzudringen. Die Thore von Schin und
Si im Norden wurden geschlossen und einige riethen die
Hauptstadt nach Fan-kao zu verlegen. Wei-kia rieth aber
davon ab. „Gehen wir dahin, so können die Räuber auch
dorthin kommen, besser ist es in Yung einzufallen. Kiün
und alle Po meinen, der Hungersnoth wegen könnten wir
das Feld nicht behaupten, und fallen deshalb ein. Schicken
wir ein Heer gegen sie, so weiden sie sicher erschrecken
und heimkehren. Die Po wohnen von einander getrennt,
und wenn sie aufrührerisch ausziehen, geschieht es von
jeder Stadt, von jedem Stamme aus seiner Stadt, wer hat
Müsse an ein Corps als an sein eigenes zu denken?" Dem-
gemäss wurde ein Heer gegen sie ausgesandt und in 14 Tagen
war ihr Angriff zu Ende. Das Heer kam von Liu, öffnete
die Kornmagazine und Offiziere und Gemeine erhielten da-
raus bis zum Haltplatze. Tschi-li sagte : „Die Truppen von
Yung sind zahlreich und alle Man versammelt, besser wir
kehren zur Armee nach Keu-schi zurück, und rücken erst
vor nachdem wir die Truppen des Königs ausgehoben und
uns mit ihnen vereinigt haben." Aber Sse-schu sagte:
„Nein, lasst uns eine Zeitlang dem Feinde begegnen und
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 513
ihn verwegen machen. Ist er das und wir werden böse, so
besiegen wir ihn . wie einst Fen-Mao (der Vater von Wu.
von Tshu) Hing-Si unterwarf."
Von da hiess man Tsi-li von Liu (einen Grossen, der
von Thsu abhing) , in Yung bis Fung-sching einzufallen.
Die Leute von Yung vertrieben ihn und seine Truppen und
machten Tseu-yang gefangen, der aber die 3 te Nacht entkam.
7 mal traf er mit den Yung zusammen und floh , es war
aber nur eine Kriegslist. Die Yung sagten: Thsu ist des-
Kampfes nicht werth und machten in Folge dessen
keine Vorbereitungen zu einem Angriff. Der Fürst von
Thsu eilte dann mit untergelegten Pferden herbei und ver-
einigte sich mit dem Heere in Liu-phin. Er bildete 2 Heere;,
mit einem drang Tse-yue von Schi-khi aus, mit dem andern
Tse-hai in Yung ein. Die Leute von Thsin und Pa folgten
dem Heere von Thsu (als Hülfstruppen). Die Südbarbaren
nahmen den Vertrag des Fürsten von Thsu an; hierauf ver-
nichtete er Yung.
Der Tschhün-thsieu Wen-kung a. 16 bei Legge p. 274
hat bloss: Thsu's Leute (Heer), Tshin's Leute und Pa's
Leute vernichteten Yung."
Das 2te Land Schu war Sching-tu in Sse-tschuen, das
3te Kiang, westlich und nördlich davon. So heissen später
die Thibetaner. Das 4te und 5te Mao und Wei liegen
im Distrikte Pa-Hien in Tschung-khing; das 6te Lu in Nan-
tschang in Siang-yang in Hu-pe; das 7te Pheng in Mei,
in Sse-tschhuen, wo noch der Berg Pheng-tscheng. — Nach
dem Bambu-Buche vernichtete der Kaiser Wu-ting (seit
1273) a. 43 Gross (ta-) Pheng. — Das 8te Po in King-tscheu
in Schi-tscheu, in Hu-pe. (So Legge III, 2, p. 302. Biot
im Journ. Asiat. 12 p. 578 sagt die vier ersten in Sse-
tschhuen, die andern in Süd-Ho-nan und Schan-tung). Im
Schu-king Cap. Li-tsching V, 19, llheisstes: Die Barbaren
(I) Wei, Lu und Tsching und die 3 Po hatten an unsichem
514 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juni 1874.
Stellen Aufseher. Die 3 Po Mung oder die Nord-Po
im jetzigen Schang-khieu in Kuei-te in Ho-nan , die West-
Po in Jeu-sse in Ho-nan, und die Süd -Po, wenige Li von
den nördlichen nach Legge p. 516. Die Po sind schon bei
den Jung erwähnt.
Nach Tso-schi p. 674 wollte unter Tschhao a. 19 (524)
Thsu eine Expedition zu Schiffe gegen Po ausrüsten, da
einzufallen. Fei-wu-ki aber sagte: ,,Tsin's leitende Stellung
rührt daher, dass es nahe den grossen Staaten ist, während
Thsu ferne und dunkel mit ihm nicht wettringen kann;
besser er umgebe Sching-fu mit bedeutenden Festungswerken
und setzte seinen ältesten Sohn dahin, mit der Nordgegend
in Verbindung zu kommen, während er den Süden zu-
sammenhalte; so besitze er das ganze Reich." Er befolgte
seinen Rath.
Die Barbaren des Süd-Westen (Si-nan I)
begreifen die inYün-nan und West Sse-tschhuen, die lange und
zum Theil noch jetzt, mehr oder minder unabhängig
von den Chinesen waren. Von diesen handelt der Sse-ki
B. 116, S. B. 45 S. 294—314. Hier zunächst die
geographische Uebersicht: Der Südwest-Barbaren
Si-nan (1) Fürsten oder Aelteste (Tschang) waren 10, Ye-
lang darunter der grösste. Ye-lang ist ein Kreis in Khio-
tsing in Yün-nan, Siü-tscheu und Kua-ting in Sse-tschuen.
Westlich davon lag Mi-mo mit Zubehör, auch unter
10 Aeltesten, darunter der grösste Tien (vom See gleiches
Namens genannt) in Yi-tscheu, im Kreise Yüu-nan.
Nördlich von Tien waren wieder 10 Fürsten, darunter der
grösste Kh i un g-tu , Hauptstadtin Khiung-tscheu in Sse-tschuen.
Diese alle banden ihr Haar in Knoten, wie eine Mörser-
keule (Tschui), bebauten die Felder und hatten viele Städte.
Westlich von diesen war Thung-sse, östlich und
nördlich bis Ye-yü (beide in Yi-tscheu, jetzt Thai-ho bei
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 515
Ta-li in Yun-nan) ; sie heissen Sui und Kuen-ming (in
Ti-tscheu und Ning-tscheu in Lin-ngan. Diese flochten ihr
Haar, zogen ihren Heerden nach, wechselten ihre Wohn-
sitze, hatten daher keine feste Wohnung, keine Fürsten
oder Aeltesten. Ihr Land konnte man auf 1000 Li rechnen.
Von Lui im Nord-Osten waren wieder 10 Fürsten , die
:grössten darunter Si (in Kia-tsing in Sse-tschuen) in Tso-tu.
Nordöstlich von Tso waren wieder 10 Fürsten, wovon
Jen und Mang (beide in Meu-tscheu in Tsching-tu in Sse-
tschuen) die grössten waren. Von ihnen waren einige ge-
meiniglich im Lande angesessen , andere wechselten die
"Wohnung. Westlich von Scho und nordöstlich von Mang
^aren 10 Fürsten, wovon Pe-ma der grösste war. Alle
gehörten zu den Ti.
Alle diese im Süd-Westen ausserhalb Pa und Schu
waren Südbarbaren, Man-I.
Pa's Name hat sich erhalten im Distrikte Pa im De-
partement Tschung-king in Sse-tschuen. Die Fürsten waren
-aus der Familie Ki, nach Legge Prol. p. 133 stand es unter
Huan von Lu a. 9 (701) in guter Beziehung mit Thsu,
jnit welchem es die Stadt Yeu im Departement Yün-yang
in Hu-pe belagerte. Nach Tso-schi p. 53 sandte der Fürst
(Tseu) von Pa Han-fo an Tshu, es um seine guten Dienste
zu bitten, dass es in gute Beziehungen mit Theng komme.
Thsu sandte ihn mit Tao-so in freundlicher Botschaft nach
Theng, aber die Leute von Yeu an der Südgrenze von Theng
griffen sie an, nahmen ihnen die Geschenke ab, die sie mit-
brachten, und erschlugen beide.
Thsu sandte nun Wei-tschang, beim Herrn von Theng
sich darüber zu beklagen, der wollte aber nicht dabei be-
theiligt sein. Im Sommer sandte Tshu Ten-lien mit einem
Heere und einem von Pa, Yeu zu belagern. Der Gebieter
Ton Theng sandte seinen Neffen Yang und Tan. Sie machten
drei erfolgreiche Angriffe auf Pa's Truppen, auch Thsu und
516 Sitzung der philol.-philos. Classe vom 6. Juni 1874.
Pa waren ohne Erfolg. Tsu-lien warf seine Kriegsmacht
zwischen die Truppen von Pa. Sie griffen den Feind an
und warfen ihn in die Flucht, die von Theng verfolgten sie
bis ihre Rücken den Truppen von Pa zustanden und sie
von 2 Seiten angegriffen wurden. Das Heer von Theng er-
litt eine grosse Niederlage und während der Nacht zer-
streuten sich die Männer von Yeu.
Unter Tschuang a. 18 (674) fielen die Pa in Tshu ein
und griffen dessen Hauptstadt an. Nach Tso-schi p. 97
fiel Wen von Thsu in Schin längs Pa ein. Er erschreckte
das Heer von Pa so, dass das Volk gegen Thsu aufstand,
Na-tschhu angriff, einnahm und bis an das Thor der Haupt-
stadt zum Angriffe vordrang. Der Statthalter von Na-
tschhu entkam nur durch Schwimmen über den Yung-Fluss.
Der Fürst von Thsu tödtete ihn; seine Verwandten empörten
sich aber , und im Winter benutzten die Pa das zum Ein-
falle in Thsu.
Unter Wen a. 16 (609) vernichtete nach dem Tschhün-
thsieu ein Heer von Thsu eins von Schin und eins von Pa
Yung s. oben S. 513. Zur Zeit der streitenden Reiche kam
Pa unter Tshin.
Eindringen Tshu's da 339—329.
Zur Zeit da in Thsu Wei-wang begann, sandte er dera
Heer-Führer Tschuang -kiao mit einer Kriegsmacht aus,
dem Kiang aufwärts zu folgen und die westlich von Pa
(Schu) und Kien-tschung gelegenen Länder zu durchstreifen..
Er war ein Nachkomme» von Thsu Tschuang-wang. Er
erreichte den See Tien , der dreihundert Li im Umfange
hatte, und zur Seite ebenes Land, fett und reich an 1000 Li.
Mit Waffengewalt unterwarf er es und ergriff Besitz für
Thsu. Er wünschte dann zurückzukehren und Bericht ab-
zustatten, aber da hatte Tshin Tshu die Provinz Pa und
Kien-tschung entrissen. Der Weg war verschlossen. Er
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 517
konnte nicht durchdringen zurückzukommen. Mit seinem
Heere machte er sich daher zum Könige von Tien, ver-
änderte die Kleidung und folgte ihrer Gewohnheit, ihr
Aeltester zu sein.
Eindringen der Chinesen im Süden unter Thsin.
Zur Zeit der 4ten Dynastie Thsin drangen die Chinesen
nach Ngan auf Wegen von 5 Fuss Breite vor und setzten
überall Gerichtsbeamte (Li) ein; aber nach 10 Jahren etwa
war die Dynastie Thsin vernichtet und es erhob sich die
5te Dynastie Hau. Da gab man diese Reiche auf und es
blieb nach Schu nur der alte schmale Durchweg. Aus Pa
und Schu zogen einige verstohlen als Kaufleute aus und
nahmen Pferde von Tso, Knechte von Pi und Fahnen mit
Kuhschweifen mit, sich damit bereichernd.
Thang-mung's Zug nach Pa und Schu.
Im Zeiträume Kien-yuen a. 6 (135 v. Chr.) schlug der
Vorsteher des Verkehrs (Ta-hing) Wang-khuai Ost-Yuei, das
seinen König Yng getödtet und sich unterworfen hatte.
Khuai, sich stützend auf seine Kriegsmacht, hiess den Be-
fehlshaber von Po-yang Thang-mung sich mit Süd-Yuei
durch Auseinandersetzung seiner Lage zu verständigen.
Süd-Yuei nährte Mung mit saueren Mispeln (khiü) aus
Schu. Mung fragte: Woher die Früchte kämen? Man sagte:
Der Weg gehe im Nord- Westen auf dem Tsang-ko; dieser
(jetzt der Ta-Si-kiang) sei mehrere Li breit und komme
unterhalb der Mauern von Pan-yü (Kuang-tscheu in Kuang-
tung) heraus. Als Mung nach Tschang-ngan zurückgekehrt
war, fragte er da die Kaufleute aus Schu und erfuhr, dass
die Mispeln wirklich aus Schu kämen und in Menge heim-
lich nach dem Markte von Ye-lang ausgeführt würden.
Dieses lag nahe dem Tsang-ko-kiang, der da schon über
100 Schritte breit sei , genügend ihn zu beschiffen. Süd-
[1874. 4. phil-hist. Cl.] 35
518 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 6. Juni 1874.
Yuei versah dagegen Ye-lang mit kostbaren Sachen und
Dienern, im Westen drang es bis Thung-sse vor, konnte es
sich aber noch nicht dienstbar machen.
Mung sandte nun an den Kaiser das folgende Schreiben:
Der König von Süd-Yuei hat gelbe Häuser (Dächer) und
zur Linken Wagen fahnen (wie der Kaiser) , sein Land er-
streckt sich von Osten nach Westen über 10,000 Li; dem
Namen nach ein auswärtiger Beamter (Tschiu) des Kaisers,
ist er in Wirklichheit Herr eines Tscheu. Wenn man jetzt
durch Tschang-tscha und Yü-tschang zu Wasser gehe , sei
der Weg oft abgeschnitten und schwer zu passiren. Ich
hörte , dass man von ausgewählten Kriegern , die Ye-lang
hat, über 10 mal 10 Tausend bekommen könne. Wenn nun
die Schiffe auf dem Tsang-ko schwimmen und ohne dass man
es vermuthet hervorkommen, so ist das ein wundervolles
Mittel Yuei zur Ordnung zu bringen und in Wahrheit mit
Han's Macht und Pa's und Schu's Ueberfluss durchzudringen
und auf den Wegen von Ye-lang Richter einzusetzen, ist
sehr leicht.
Oben billigte man dies uud ernannte Mung zum An-
führer der Leibwächter (Lang-tschung-tsiang). Er führte
1000 Mann mit Lebensmitteln und Doppelgewänder für
mehr als 10,000 Mann. Er folgte Pa und Schu, drang
durch den Pass von Tso, besuchte den Fürsten von Ye-lang
To-tung, beschenkte ihn reichlich, sprach mit ihm von der
Majestät und Wohlthat des Kaisers, kam mit ihm überein,
dass Richter eingesetzt würden und ertheilte seinem Sohne
den Oberbefehl. Die kleinen Städte waren begierig nach
den Seidenstoffen der Han, und meinten, die Wege von Han
aus seien so schwierig, dass sie nie vermocht hätten, das
Land in Besitz zu nehmen. Sie hörten daher auf seinen
Vorschlag. Nachdem Mung das Uebereinkommen getroffen,
kehrte er zurück. Er machte daraus die Provinz Kien-wei
und sandte das Kriegsvolk von Pa und Schu die Wege zu
Plath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 519
bahnen. Man begann den Weg von Pi aus und be-
absichtigte ihn bis zum Tsang-ko zu führen. Ssema-siang-iü
sagt nur, dass er aus Khiung und Tso eine Provinz bilden
könne. 10 Kiün wurden anhängig von Schu; 4 Provinzen
desselben hatten Verkehr mit den Gebieten der Süd-West I,
indem sie ihnen auf Wagen Lebensmittel zuführten. Als
aber mehrere Jahre auf den Wegen nicht verkehrt werden
konnte, verkümmerten die Krieger. Durch Hunger, Hitze
und Feuchtigkeit starb eine grosse Menge. Da zudem die
Südwest I mehrmals sich empörten , sandte man Krieger
aus; die ßeweglichmachung der Heere und rasche Angriffe
brachten Verluste und machten Kosten, ohne etwas auszu-
richten. Den Kaiser (Oben) bekümmerte das. Er sandte
den Kung-sun-hung hinzugehen , nachzusehen und nachzu-
fragen. Nach der Rückkehr antwortete der und sagte was
ihm zweckwidrig schien. Die Einfälle der Hu liessen dann
von den Süd-West I ablassen und sich ausschliesslich mit
der Hiung-nu beschäftigen. Der Kaiser Hess von den West-I
ab und setzte nur über die zwei Hien der Süd-I einen Be-
ruhiger der Hauptstadt (Tu-Wei), liess dann aber zuletzt
Kien-wei sich selbst vertheidigen und einrichten. Der Sse-ki
erzählt dann die Versuche der Chinesen zur Auf-
suchung Indien's (Schin-to) , die erst vergeblich waren.
Dies liegt aber ausser dem Bereiche unserer gegenwärtigen
Abhandlung, obwohl die Ausgesandten auch nach Tien und
Ye-lang kamen. Später (112 v. Chr.) empörte sich Süd-
Yuei. Der Kaiser befahl dem Fürsten von Tschi-I mit
Kien-Wei's Macht die Süd-I (Nan-I) zum Aufbruche zu be-
wegen; aber der Fürst von Tsiü-lan fürchtete, dass, wenn
er weit wegzöge, die benachbarten Reiche seine Greise
und Wehrlosen wegführen möchten. Er stand daher mit
seinem Volke auf, tödtete die Gesandten der Han und den
Statthalter von Kien-Wei. Han sandte nun die Verbrecher
aus Pa und Schu; während die 8 Yao-wei die Nan-Yuei an-
35*
520 Sitzung der phiJos.-philol. Gasse vom 6. Juni 1874.
griffen, sollten sie Tsiü-lan angreifen. Als Yuei bereits ge-
schlagen war, waren die 8 Hiao-Wei immer noch nicht
unterworfen. Ko-tschang und Wei-Kiang aus Yuei zurück-
kehrend, züchtigten indess Tsiü-lan, welches den Weg nach
Tien absperrte, beruhigte die Nan-Yuei und bildete daraus
die Provinz Tsang-ko.
Der Fürst von Ye-lang stützte sich erst auf Nan-Yuei,
als dieses aber vertilgt war, das Heer zurückkehrte und
Tsiü-lan bestrafte, erschien Ye-lang am chinesischen Hofe
und der Kaiser machte ihn zum Könige von Ye-laDg . . . ,
. . . Die Fürsten von Tso , Jen und Mang geriethen dann
auch in Furcht und baten Diener und Gerichtsbeamte der
Han zu werden. Man bildete dann aus dem Lande Khiung-
tu und andern mehrere Provinzen. Dem Könige von Thien
wurde die Eroberung Yuei's und die Züchtigung der Nan-I
angezeigt und er aufgefordert am Hofe der Han zu er-
scheinen; da sein Volk aber mehrere 10,000 zählte und er
auf seiner Seite im Osten und Norden Lao-tan und Mi-mo
hatte, alle aus derselben Familie, die sich gegenseitig unter-
stützten, hörte er nicht darauf. Im 2ten Jahre der Periode
Yuen-fung (109 v. Chr.) entsandte der Himmelssohn die
Kriegsmacht von Pa und Schu und vertilgte Lao-tan und
Mi-mo, die mehrere Angriffe gemacht hatten. Jetzt begann
auch der König von Thien sich gut zu bezeigen und wurde
daher nicht gezüchtigt. Er sagte sich los von den Südwest I.
Das ganze Reich unterwarf sich und bat, dass Gerichts-
beamte eingesetzt würden und die Fürsten am Hofe er-
scheinen dürften. Aus Kien wurde die Provinz I-tscheu ge-
bildet. Der König mit dem Königssiegel begnadigt, stand
wieder seinem Volke vor. Unter den 100 Fürsten der
West-I erhielt er und Ye-lang allein ein Königssiegel.
Dies sind die Fremden in China. Wir übergingen
einige, die zur Zeit der Blüthe des Reiches aus fernen Ge-
genden zur Huldigung kamen, wie unter Schün a. 25 die
Flath: Fremde barbarische Stämme im alten China. 521
Si-schin, unter Wu-wang a. 15 die Su-schin1*) nachdem
Bainbu-Buche, oder fabelhafte, wie unter Hoang-ti a. 25
die mit durchbohrter Brust (Kuan-hiung) , die Langbeine
.(Tschang- Wu), im Schan-hai-king die Pygmäen und andere.
Unter Wu-ting (seit 1273) a. 50 war eine Expedition gegen
die Schhi-wei, die er unterwarf. Nach den Scholien ging
das Reich damals im Osten nicht über den Kiang und
Hoang-ho, im Westen nicht über die Ti-kiang (Tübetaner),
im Süden nicht über die King und Man, im Norden nicht
über So-fang hinaus.
So abgerissen auch die Nachrichten über die einzelnen
Stämme sind, so gewähren sie doch manche Einsicht in
•die Verhältnisse des alten China und der dortigen Einwohner.
Das China der Dynastie Tscheu war noch sehr klein
und das der Dynastie Schang und Hia wohl noch kleiner
und ging im Osten nicht bis an das Meer und nur wenig
nördlich und südlich vom Hoang-ho.
Das alte China war von fremdartigen Stämmen um-
geben und davon durchsetzt. Alle diese wurden mit der
Zeit zerbröckelt, ihrer Individualität beraubt und dann zu
einer homogenen Nation zusammengeschweisst. Ihre höhere
Cultur und Fähigkeiten eigneten die Chinesen dazu dies aus-
zuführen. Von ihrem ersten Sitze längs dem Hoang-ho in Süd-
west Schan-si und vielleicht auf der andern Seite des Stromes
sandten sie nach Osten, Westen, Norden und Süden ebenso
viele Zweige aus und sammelten die rohe, sparsame Be-
völkerung stufenweise um sich, bis sie ihre ursprünglichen
Besonderheiten verloren und sie zu grösseren Gemeinden
und Staaten wurden. Sie waren ursprünglich roh ; ihr Ver-
hältniss zu China war im Allgemeinen, dass sie bei kräftigen
12) Sie sollen angeblich Vorfahren der Jü-tschi oder Mandschu
sein, nach S. B. 21 S. 185; siehe meine Geschichte des östl. Asiens,
Göttingen 1830, B. I S. 75.
522 Sitzung der philos,-philol. Gasse vom 6. Juni 1874.
Regierungen diesen nominell huldigten, bei schwachen aber
abfielen und auch China angriffen, das sie dann wieder
bekriegte und wenn siegreich einige vernichtete; beim Ver-
falle der Kaisermacht schlössen sie den grösseren Staaten
China's sich an oder kriegten mit diesen. China war aber
vor der Zeit der Thsin und Han eigentlich nie ein erobern-
der Staat, der die Nachbarstaaten mit Heeresmacht unter-
jochte, oder die Einwohner gar zu Sklaven machte. Obwohl
seiner höheren Stellung sich bewusst, betrachtete China
sie auch nicht als eine durchaus geringere Race, sondern seine
Fürsten heiratheten wenigstens später, als sie schon chinesische-
Sitten und Einrichtungen angenommen hatten, selbst Töchter
ihrer Häuptlinge, deren Söhne in den Fürstenthümern
Nachfolger wurden. Ohne festen Zusammenhang unter sichr
mussten sie aber nach und nach unterliegen und mit den
Chinesen verschmelzen, obwohl, wo die fremden Stämme
wie im Süden und Westen die Masse des Volkes bildeten,
dieses lange dauerte und das Land da eine fremdartige
Gestalt zeigte. Auch die Verschiedenheit der Sprache,
z. B. der Kiang-Jung, auf der Zusammenkunft zu Hiang
unter Siang a. 14, bemerkt Tso-schi p. 464; die der Yuei
sahen wir S. 509, die der Tshu's und Thsi's ist auch bemerkt;
leider fehlen uns Sprachproben. Ich finde nur eine. Nach
Tso-schi Siuan-kung a. 5 p. 297 hiess in Thsu ein Säugling
Neu, ein Tiger Wu-tu.
Die Häupter der bedeutenderen wilden Stämme führten
Titel, wie die unter den Tscheu. Sie massten sie sich zum
Theil wohl selbst an, die von den Tscheu um so leichter
anerkannt wurden, wenn sie Nachkommen eines grossen Namens
aus der früheren Zeit der chinesischen Geschichte sein wollten*
oder wenn bei Heirathen mit dem Kaiserhause oder mit
Reichsfürsten die Väter der Bräute geadelt wurden.
523
Oeffentliche Sitzung
zur Vorfeier des Geburts- und Namensfestes
Seiner Majestät des Königs Ludwig IL
am 25. Juli 1874.
Wahlen.
Die in der allgemeinen Sitzung vom 27. Juni vorge-
nommene Wahl neuer Mitglieder erhielt die Allerhöchste
Bestätigung und zwar:
A. Als Ehrenmitglied:
Seine Hoheit der Vicekönig von Aegypten Ismail Pascha.
B.Ais auswärtige Mitglieder:
Der philosophisch-philologischen Classe:
Dr. Gaston Paris, ordentl. Professor der älteren romani-
schen Sprachen und Literaturen am College de France
in Paris.
Der historischen Classe:
1) Dr. Wilhelm Adolph Seh m i dt , ordentl. Professor der
Geschichte an der Universität Jena.
2) Dr. Georg Daniel Teutsch, Superintendent der evan-
gelischen Landeskirche in Siebenbürgen zu Hermannstadt.
524 Oeffentliche Sitzung vom 25. Juli 1874.
B. Als correspondirende Mitglieder:
Der philosophisch-philologischen Classe:
1) Dr. J. Gottfried Wetzstein in Berlin, früher preuss.
Consul in Damaskus.
2) Professor Dr. H. Kern in Leyden.
3) Dr. Franz Kielhorn, Superintendent der Sanskrit-
studien am Deccan College zu Poona in Ostindien.
4) Francesco Fiorentino, Professor der Philosophie in
Neapel.
Der historischen Classe:
Dr. Karl von Noorden, Professor der Geschichte an der
Universität in Tübingen.
Einsendungen von Druckschriften. 525
Terzeichniss der eingelaufenen Büchergeschenke.
Vom statistisch-topographischen Bureau in Stuttgart:
&) Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde.
Jahrg. 1872. kl. Fol.
b) Jahresbericht der Handels- und Gewerbkammern in Württem-
berg für das Jahr 1872 mit einem statistischen Anhange. 1873. 8.
Von dem Verein für Geschichte und Alterthumskunde in Frankfurt a. M.:
a) Mittheilungen. 4. Bd. 1874. 8.
b) Neujahrs-Blatt für das Jahr 1873 u. 1874 4.
Von dem Verein für Siebenbürg ische Landeskunde in Hermannstadt :
*) Archiv. Neue Folge. 11. Bd. 1873. 8.
b) Jahresbericht für das Vereinsjahr 1872/73. 8.
■c) Die Mediascher Kirche von Karl Weber. Festgabe der Media-
scher Kommune zur Erinnerung an die im J. 1872 in Mediasch
tagenden Vereine. 1872. 8.
d) Martin von Hochmeister. Lebensbild und Zeit-Skizzen aus der
zweiten Hälfte des XVIII. und der ersten Hälfte des XIX. Jahr-
hunderts. Von Adolph von Hochmeister. 1873. 8.
e) Kurzer Bericht über die von den Herrn Pfarrern A. B. in Sieben-
bürgen über kirchliche Alterthümer gemachten Mittheilungen.
Von Ludwig Reissenberger. 1873. 4.
f) Programm des Gymnasiums A. C. zu Hermannstadt und der
mit demselben verbundenen Lehranstalten für das Schul-
jahr 1872/73. 4.
Von der antiquarischen Gesellschaft in Zürich:
Mittheilungen. Bd. XVIII. 1872-74. 4.
526 Einsendungen von Druckschriften.
Von der rügisch-pommerischen Abtheilung der Gesellschaft für
pommerische Geschichte in Greifswald:
Pommerische Geschichtsdenkmäler und XXXVII. Jahresbericht 1874. 8^
Von dem Verein für hamburgische Geschichte in Hamburg:
Zeitschrift. Neue Folge. 3. Bd. 1874. 8.
Von der Academie imperiale des sciences in St. Petersburg:
a) Memoires. Tom. 20. 21. 1873. 1874. 4.
b) Bulletin. Tora. 19. 1873. 4.
Von der bataviaasch Gcnootschap van Künsten en Wetenschapen in
Batavia :
Tijdschrift voor Indische Taal- Land- en Volkenkunde Deel XXL
1873. 8.
Von der R. Scuola normale superiore in Pisa:
Annali. Filosofia e Filologia. Vol. II. 1873. 8.
Von der Commissione Archeologica Municipale in Rom:
Bulletino. Anno II. 1874. 8.
Vom Herrn Johan Er. Rydquist in Stockholm:
Svenska Spräkets Lagar. Kritisk Afhandling. 1871. 8.
Von den Herren R. Friedrich und L. W. C. van den Berg in Batavia r
Codicum Arabicorum in bibliotheca societatis artium et scientiarum.
quae Bataviae floret asservatorum Catalogus. 1873. 8.
Sach-Kegister.
Altnordisches Recht 1.
Amantius, Inschriftensammlung 133.
Antikensammlung Raimund Fuggers 133.
Apianus, Inschriftensammlung 133.
Athen, Topographie des alten 263.
Baiuwariorum Lex 352.
Barbaren im alten China 450.
Bildwerke antike, in der Inschriftensammlung von Apianus und
Amantius 133.
Brandenburgischer Landeshauptmann Friedrich von Lochen 373.
China altes, barbarische Stämme 450.
Eleusinion 282.
Enneakrunos 263.
Fugger Raimund, dessen Antikensammlung 133.
Kaiserrecht kleines 417.
Keller Jesuit, Verfasser einer unter dem Namen Herwart's 1618 in
München erschienenen Schrift 48.
Lex Baiuwariorum 352.
Lochen Friedrich von, brandenburgischer Landeshauptmann 373.
„Ludovicus IV Imperator defensus", eine Schrift des Jesuiten Keller 48.
528 Sach-Register.
Meinung, Gegenstände der öffentlichen, im 16. Jahrh. 55.
Militärdiplom, römisches, von Regensburg 193.
Parakataloge, die, in den griechischen und römischen Dramen 262.
Pelasgikon 263.
Persiens vergleichende Geographie 231.
Recht altnordisches 1.
Rechtsbücher deutsche, Handschrift in Münster 130. 417.
Regensburg, römisches Militärdiplom 193.
Schalttage des Ptolomäus Euergetes I und des Augustus 56.
Schuldknechtschaft nach altnordischem Rechte 1.
Schulwesen bayerisches 130.
Namen-Kegister.
Allioli Jos. F. v. (Nekrolog) 162.
Bursian 133.
Christ 262. *
Cooper Ch. Purton (Nekrolog) 188.
Fiorentino Franc. (Wahl) 524.
Friedrich Joh. 48. 352.
v. Giesebrecht 179.
Haupt Moriz (Nekrolog) 164.
Held Joh. Chr. v. (Nekrolog) 177.
Ismail Pascha, Vicekönig von Aegypten (Wahl) 523.
Karajan G. Th. v. (Nekrolog) 170.
Kausler Ed. v. (Nekrolog) 174.
Kern H. (Wahl) 524.
Kielhorn Franz (Wahl) 524.
Kluckhohn 130.
Lauth 56.
v- Liliencron 55.
530 Namen-Begister.
Maurer 1.
Mordtmann 231.
Noorden Karl v. (Wahl) 524.
Ohlenschlager 193.
Paris Gaston (Wahl) 523.
Plath 450.
v. Prantl 161.
Raumer Friedr. v. (Nekrolog) 179.
Kemling F. Xav. (Nekrolog) 191.
Kockinger 130. 417.
Schmidt Wilh. Ad. (Wahl) 523.
Stalin Christ. Friedr. v. (Nekrolog) 188.
Teutsch G. Daniel (Wahl) 523.
ünger 263.
Wetzstein Gottfr. (Wahl) 524.
Würdinger 373.
I Sitzungsberichte
der
philosophisch -philologischen und
historischen Classe
der
k. b. Akademie der Wissenschaffen
zu ]NdMinchen.
1874. Bd. II. Heft I.
München.
Akademische Buchdruckeroi von F. Straub.
1874.
In Commitsion bei Q. Franz.
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch - philologische Classe.
Sitzung vom 4. Juli 1874.
Herr v. Halm macht folgende Mittheilung:
Im Verfolg der Bearbeitung des lateinischen Hand-
schriften-Katalogs der k. Staatsbibliothek war ich so glück-
lich vor wenigen Tagen einen schönen Fund zu machen.
In den Repertorien über die Handschriften findet sich wohl
der Codex der Stadtbibliothek zu Regensburg Nro. 55
(= cod. lat. Monac. 13255) richtig verzeichnet mit dem
kurzen Titel: Casparis Bruschii poematum libri IV, aber
niemand scheint bemerkt zu haben, dass die ganze Hand-
schrift ein Autographon des Dichters ist. Was ich auf
den ersten Wink erkannte, wurde vollends durch eine Ver-
gleichung der Handschrift mit den Originalbriefen von
Bruschius, die sich in der collectio Camerariana befinden,
bestätigt. Die Entstehung der Handschrift fällt in den
Lindauer Aufenthalt des Bruschius, s. Horawitz, Casp. Bruschius
S. 110 ff. Der Titel lautet:
Gasparis Bruschii Slaccenwaldensis , poetae anno
aetatis suae XXIII Ratisbonae in comitiis a Carolo V imp.
Aug. Anno Christi 1541, Mense Maio in die S. Coronae,
[1874, II. Phil. bist, d.i.] 1
2 Sitzung der phÜos.-philol Classe vom 4. Juli 1874.
lauro Apollinea coronati, Poematum omnis generis, Idyl-
liorum videlicet, Elegiarum, Eglogarum, himnilorum, pre-
cationum, Schediasmatuin et Epigrammatum post coronationem
ad annum usque 48 Domini scriptorum Opus Universum in
duodecim libros digestum. Lindauii anno Christi 1547.
Von den angekündigten zwölf Büchern enthält die
Handschrift nur die ersten vier; am Schlüsse jedes Buches
ist die Zahl der Verszeilen bemerkt, deren Gesammtzahl
sich auf die Summe von 7428 beläuft. Aus dem Umstände,
dass vor dem Titel zwei Gedichte ,,de Bruschii poematibus
ad Bruschium poetam" von Joannes Stigelinus und Leon-
hardus Heyderus Burghusianus, die auch von Bruschius ge-
schrieben sind, vorangehen, ergibt sich, dass ein zum Druck
bestimmtes Manuscript vorliegt, wie sich auch aus der
sauberen, fast keine Correcturen aufweisenden Abschrift
schliessen lässt. Ob der Dichter seine unterbrochene
Sammlung je fortgesetzt und zu Ende geführt habe, ist
völlig unbekannt, aber wenig wahrscheinlich. Wiewohl die
im Druck erschienenen Gedichte von Bruschius sehr zer-
streut sind und die Kürze der Zeit nicht erlaubt hat eine
eingehende Untersuchung anzustellen, glaube ich doch schon
jetzt behaupten zu dürfen , dass die Mehrzahl der in der
Sammlung enthaltenen Gedichte ungedruckt ist.
Brunn: Bildwerke des Parthenon.
Herr Brunn trägt vor:
„Die Bildwerke des Parthenon."
Wer die Tabellen überblickt, in denen Michaelis die
verschiedenen Versuche zur Erklärung der Sculpturen des
Parthenon übersichtlich zusammengestellt hat, wird sich da-
durch mehr abgeschreckt , als aufgefordert fühlen , seine
Kräfte auf einem so bestrittenen Felde der Forschung von
neuem zu versuchen. Ich gestehe es offen, dass nur die
Notwendigkeit, diese Bildwerke im Zusammenhange der
Kunstgeschichte zu behandeln, mich die Scheu hat über-
winden lassen, an das schwierige Problem ihrer Deutung
näher heranzutreten. Als einen Vortheil dieser langen
Zurückhaltung erachte ich es, dass ich, ohne für eine der
bisherigen Ansichten irgendwie im voraus eingenommen zu
sein, jetzt meine Studien auf Grundlage der Arbeit von
Michaelis beginnen konnte, die (wie er selbst sie wohl
am liebsten charakterisirt hört) uns zuerst eine „kritische
Textausgabe4' der Sculpturen des Parthenon geliefert hat.
Gefährlicher drohte mir E. Petersen's Buch über Phidias
zu werden. Frisch, lebendig und mit scharfem Urtheil ge-
schrieben, reich an feinen und treffenden Beobachtungen
blendete es mich anfangs, dass ich fast in Begriff war,
meine eben skizzirten eigenen Gedanken wieder bei Seite
zu legen. Indessen bei wiederholter Ueberlegung durfte ich
allerdings anerkennen, dass durch Michaelis und Petersen
für die Deutung geleistet war, was auf den bisherigen
Wegen zu leisten möglich war; aber die Zweifel überwogen,
ob diese Wege überhaupt zum Ziele zu führen geeignet
seien. Wenn ich es daher wage, von durchweg veränderten
Grundanschauungen aus eine völlig neue Erklärung aufzu-
4 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
stellen, so muss es natürlich meine erste Aufgabe sein, die
Notwendigkeit dieses Versuches durch den Nachweis der
Haltlosigkeit aller bisherigen Ansichten zu begründen. Doch
darf ich mich dabei auf die Widerlegung meiner beiden
nächsten Vorgänger beschränken, indem ältere unbegründete
Meinungen bereits durch ihre eingehenden Erörterungen
als beseitigt zu erachten sind. Eben so genügt es , hin-
sichtlich des Thatbestandes der uns erhaltenen Reste, sowie
des gesammten literarischen Materials auf ihre Schriften
zu verweisen.
Der Ostgiebel.
Nur mit wenigen Worten giebt Pausanias (1,24,5) den
Gegenstand der Darstellung an, welche das östliche oder
vordere Giebelfeld schmückte: Ttavxa ig tr\v Zd&rjväg %%u
ysveoiv. Von der Gruppe selbst sind nur die beiden Seiten-
flügel erhalten. Die Mitte, wenigstens die Hälfte des
Ganzen, fehlte schon zur Zeit Carrey's, dessen Zeichnung
vielmehr durch einige später wiedergefundene Stücke er-
gänzt wird. Die vollständige Uebersicht alles Erhaltenen
giebt Taf. 6 bei Michaelis.
Unbestritten ist die Deutung der äussersten Ecken:
links taucht Helios mit seinen Rossen aus den Wogen des
Okeanos auf; rechts sinkt Selene mit den ihrigen in das
Dunkel hinab.
In der nackten unbärtigen Gestalt, die dem aufgehenden
Helios zunächst am Boden sitzt, glauben M. und P» den
Dionysos zu erkennen. „Sein Sitz, sagt M. 173, ist, wie
so oft bei Homer, zunächst mit dem Felle eines Thieres
bedeckt, das nach der Tatze zu schliessen, dem Katzen-
geschlecht angehört; darüber liegt der Mantel." Wir finden
solche Felle z. B. auf den Sesseln der Götter an der
Sosiasschale und öfter. Für sich allein vermag daher das
Fell zu Gunsten des Dionysos nichts zu beweisen, um so
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 5
weniger, als es, durchaus verschieden von der gewöhnlichen
Nebris, dem Felle eines Rehes, weit mehr einem Löwen-,
als dem sonst noch für Dionysos gebräuchlichen Panther-
felle ähnlich sieht. Gerade dass der Künstler den Kopf
nicht hat sichtbar werden lassen, deutet darauf hin, dass
er dem Thiere keine eigentlich attributive Bedeutung hat
beilegen wollen: es scheint nur den Zweck zu haben, auf
dem rauhen Felsgrunde eine weiche Unterlage zu bilden.
Wichtiger ist die Gestalt selbst. Wenn Alkamenes, des
Phidias Schüler, wie wir aus Münzbildern schliessen dürfen,
seinen Dionysos bärtig und gleich dem Zeus thronend
bildete, so ist dadurch allerdings keineswegs ausgeschlossen,
dass Phidias den Gott jugendlich darstellen durfte. Aber
seine Bildung hätte doch eine Mittelstellung zwischen der
älteren und der späteren Auffassung einnehmen müssen und
wir dürfen nicht annehmen, dass Phidias diejenigen Charakter-
züge aufgegeben, welche die spätere Darstellungs weise noch
mit der früheren gemein hat. Die „mächtige Körperbildung
des bärtigen Dionysos'* trägt durchaus den Charakter einer
weichen, üppigen Fülle, welche später in ,, jugendzarte, ja
weichliche Formen" (M. 168) übergeht. Wie passt nun
für den Uebergang von der einen zur andern Bildung dieser
von Kräftigkeit strotzende, feste Körper, fest in den einzelnen
Formen, wie in der ganzen Fügung der Glieder? wie be-
sonders die feste energische Haltung des Nackens? Lange
weiche Locken dürfen wir freilich in der Zeit des Phidias
nicht erwarten; aber ebenso würde das auffallend schlichte
und kurzgeschnittene Haar, welches den Nacken ganz frei
lässt , eine durch nichts gerechtfertigte Anomalie sein. So
bleibt der Hinweis auf die Götterversammlung am Ostfries
des Parthenon, wo M. und P. den Dionysos in dem der
Demeter gegenübersitzenden Jünglinge erkennen wollen.
Aber ist wirklich dieser der Gott und nicht vielmehr der
der Göttin gegenüber Sitzende? Für den erstem sollen von
6 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
äusseren Kennzeichen sprechen: die Sandalen, welche diese
Figur von dem Jüngling neben der Demeter unterscheiden;
das Kissen auf dem Sessel, welches er allein als Weichling
unter den Göttern habe, endlich die Form des Sessels selbst,
welcher dem der Demeter gleich sei und daher auf eine
nähere Verbindung dieser beiden Gottheiten hinweise. In
diesem Falle müssten jedoch die beiden Sessel in ihrer
Form völlig übereinstimmen, was thatsächlich nicht der
Fall ist. Das Kissen ferner müsste, um einen Weichling
zu charakterisiren , doch etwas mehr sein als eine dünne
Unterlage, die nur dazu bestimmt scheint, die parallelen
geraden Linien des Stuhles zu unterbrechen. Hinsichtlich
der Sandalen endlich herrscht in dem Fries keine strenge
Consequenz. In der Götterversammlung scheinen sie im
Allgemeinen zur Bekleidung zu gehören, und so hat sie
Poseidon, dem sie in der Regel so wenig zukommen, wie
dem Ares. Hephaestos hat sie nicht , wie es scheint , um
durch die besondere Art, wie er die Füsse setzt, auf seine
Lahmheit hinzudeuten , und aus ähnlichem Grunde mochte
sie der Künstler bei dem Jünglinge neben der Demeter
weggelassen haben, indem sie das feine Spiel der Füsse
beeinträchtigt haben würden. — Alles kömmt hier darauf
an, das eigenthümliche künstlerische Motiv dieser zusammen-
geschlossenen Gestalt richtig zu erkennen. Gewiss dürfen
wir P. (S. 256) zugeben, dass dieses Schema zum Ausdrucke
einer unruhigen, auf wechselnden und einander entgegen-
gesetzten Gefühlen beruhenden inneren Spannung verwendet
werden kann, wie es z. B. in der Statue des ludovisischen
Ares der Fall ist. Aber P. selbst citirt auch den neben
Dionysos sitzenden Satyr am Monument des Lysikrates, bei
dem von einem solchen Motive gewiss nicht die Rede ist.
Sehen wir nun , wie in der Figur des Parthenonfrieses der
Körper durch das über den Stab gelegte Bein ,,so ohne
feste Stütze balancirt," so wird dadurch der halb genrehafte
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 7
Charakter des Motivs hier noch stärker hervorgehoben.
Die Gestalt ist es müde geworden , auf die Länge in
solenner Haltung auf einem Sessel ohne Lehne auszuharren,
und eben jenes Schaukeln bietet die Gelegenheit, manche
im ruhigen Sitzen zu sehr in Anspruch genommene Theile
des Körpers zu entlasten und zeitweilig die Anstrengung
auf andere Theile zu übertragen: sie sucht es sich so viel
wie möglich bequem zu machen. Dagegen spricht sich in
der gegenüber sitzenden Gestalt eine ganz andere Art von
Unruhe, nemlich innere, geistige Unruhe aus. Hermes und
Demeter bieten so recht ein Bild ruhiger aufmerksamer Be-
trachtung dar. Der zwischen ihnen sitzende Gott hätte
vollkommen Platz finden können , um sich ihnen darin bei-
zugesellen; aber er hat sich nach der entgegengesetzten
Seite umgedreht und indem er dadurch die solenne Ordnung
unterbricht, bewirkt er Verwirrung und findet kaum einen
passenden Platz für seine Beine; trotzdem wendet er sich
in demselben Augenblick mit dem Körper schon wieder
rückwärts und muss sich mit dem Arm hinter dem Rücken
des Hermes durchdrängen, um auf ihm eine momentane
Stütze zu suchen. Nehmen wir dazu die Kräftigkeit des
Körperbaues, durch die er seine Umgebung bestimmt über-
ragt, so werden wir nicht in Abrede stellen können, dass
in dieser Gestalt das Wesen des Ares , dem sich ohne Be-
denken die Lanze in die erhobene Linke geben lässt, vor-
trefflich zum Ausdruck gelangt. Ganz ebenso entspricht
aber der gegenübersitzende schlanke und feiner gebildete
Jüngling dem Wesen des Dionysos, der noch dazu neben
Demeter seine passendste Stellung findet. Wie überall, so
sucht er auch hier zuerst sein körperliches Behagen , ohne
welches das blosse Schauen festlichen Gepränges ihm keinen
Genuss gewähren würde. Der Thyrsus, sonst ein Zeichen
seiner Würde, muss ihm dabei als momentane Stütze dienen.
In seinem ganzen Wesen aber spricht sich die für ihn so
8 Sitzung der philos.-philol Classe vom 4. Juli 1874.
charakteristische Weichheit, Lässigkeit und der Mangel
ernster Energie aus. Sein Kopf mochte mit einer Tänie
über dem leise gelockten Haar geschmückt sein. Erkennen
wir also hier mit hinlänglichem Recht den Dionysos , so
werden wir um so bestimmter behaupten können , dass die
Jünglingsgestalt des Ostgiebels nicht mit demselben Namen
bezeichnet werden darf.
Es folgen zwei nebeneinander sitzende Frauengestalten,
von M. und P. Demeter und Persephone genannt. Zuzu-
geben ist, dass sie in ihrer Körperbildung nicht vollkommen
übereinstimmen, dass die eine etwas zartere Formen zeigt,
die andere ausserdem um ein Geringes grösser erscheint,
obwohl dabei in Anschlag zu bringen ist, dass dieser Ein-
druck zum Theil durch ihren etwas erhöhten Sitz und durch
ihre energischere Haltung bedingt ist. Genügen aber diese
Unterschiede, um uns ein Verhältniss wie zwischen Mutter
und Tochter mit Sicherheit erkennen zu lassen? Wo etwas
ähnliches beabsichtigt wird, pflegt die Kunst diese ihre Ab-
sicht noch durch andere Mittel, namentlich durch die Ge-
wandung zum Ausdruck zu bringen. So unterscheiden sich
eben dadurch die beiden Göttinen sehr wesentlich in dem
bekannten grossen Relief von Eleusis (Mon. d. I. VI, 45),
so in dem kleineren ebenfalls eleusinischen bei Müller D. a.
K. II, 8, 96 (vgl. ausserdem das Fragment: Rev. arch. 1867,
pl. IV), so in den schönsten Vasenbildern malerischen Stils
(Müller ebd. 10, 112; C. R. 1859, 1 — 2 = Gerhard ges.
Abh. T. 76—77; in der cum anischen Reliefvase ebd. T. 78).
Schon diese wenigen Beispiele, welche den besten Zeiten
der Kunst angehören oder auf gefeierte Typen derselben
zurückweisen, zeigen deutlich, wie man das ßedürfniss einer
schärferen Charakteristik empfand; und Phidias sollte sich
mit Unterschieden begnügt haben, die jedenfalls die Mög-
lichkeit des Irrthums für den Beschauer nicht ausschlössen?
Die grösste Consequenz hat merkwürdiger Weise in
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 9
der Benennung der nächstfolgenden lebhaft voranstürmenden
Mädchengestalt als Iris, sowie der ihr (angeblich) auf der
andern Seite entsprechenden einst beflügelten Figur als
Nike geherrscht. Nike auf der Hand der Parthenos, wie
auf der Hand des Zeus in Olympia war lang bekleidet;
lang bekleidet sind auch die zahlreichen Niken an der
Balustrade des Tempels der Apteros. Wie verträgt sich
damit das kurze, florartige Gewand der Statue? Und Iris
wiederum, das vorzugsweise leicht beschwingte Wesen, soll
ohne Flügel und mit einem Gewände, das nur schwer und
mühsam der Bewegung folgt, gebildet sein? Sollen wir da
zweifeln, dass die bisher für Nike gehaltene Figur nicht
vielmehr Iris ist?
Schwankender sind die Benennungen der drei Frauen
in der Nähe der Selene. Der Gedanke an die drei Parzen
ist wohl allgemein aufgegeben. Die Beziehung auf die drei
attischen Thauschwestern , Aglauros, Pandrosos und Herse,
von Welcker poetisch entwickelt, fällt mit seiner zu engen
Auffassung der Gesammtidee der Giebelgruppe als einer
ausschliesslich attischen. M. setzt zu den Namen Pandroscs,
Thallo und Auxo selbst ein Fragezeichen. Zuletzt hat sich
P. für Hestia und Aphrodite im Schoose der Peitho ausge-
sprochen. Zunächst ist ihm dabei das Versehen begegnet,
dass er in der Rechten seiner Hestia ein Scepter voraus-
setzt, während sich nach Carrey's Zeichnung diese Hand
nicht zur Seite, sondern über dem Schoose befand. Durfte
aber ferner der Künstler Hestia, die Gründerin des Herdes
und der häuslichen Ordnung, auf einen Felsstein setzen?
Entspricht die unruhige Stellung der Füsse der durchaus
ruhigen Würde ihres Wesens? Und endlich durfte er der
keuschen züchtigen Göttin , die wir am liebsten tief ver-
schleiert sehen, ein Untergewand geben, das von der Schulter
herabgleiten zu wollen scheint, um die Reize des Busens zu
enthüllen? Auch bei der angeblichen Aphrodite lässt sich
10 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
wiederum die Frage aufwerfen, wodurch der Künstler be-
rechtigt war, in einer feierlichen Versammlung olympischer
Götter diese Göttin auf ein unebenes felsiges Terrain ge-
lagert darzustellen? Denn durch die Annahme, dass die
Enge des Raumes ihn dazu zwang, wird doch niemand
einen Phidias entschuldigen wollen. Ueber die Verbindung
mit Peitho aber ist ähnlich zu urth eilen, wie oben über die
Verbindung zwischen Demeter und Persephone. Wie wir
dort verlangten , dass das Verhältniss von Mutter und
Tochter schärfer betont sein müsse, so können wir hier die
Forderung nicht aufgeben, dass Peitho in dem untergeord-
neten Verhältniss der Dienerin oder Zofe erscheine. Dass
die Sitzende der Liegenden gestattet, an sie gelehnt auszu-
ruhen, ist aber kein Zeichen der Unterordnung, sondern der
Intimität; in ihrem übrigen Erscheinen ist sie der andern
durchaus gleichberechtigt. — Auch hier verweist man wieder
auf den Ostfries, wo nach der jetzigen Annahme Peitho
neben, ja streng genommen vor der Aphrodite als eine
dieser an Bedeutung gleiche Göttin sitzen soll. Ich will
keinen Nachdruck darauf legen , dass Aphrodite äusserlich
durch den Schleier vor ihrer Nachbarin bestimmt hervorge-
hoben ist. Aber ist denn Peitho sicher nachgewiesen? Hat
Peitho das Recht, in einer Götterversammlung, wie die des
Frieses, als ein den oberen Göttern gleichberechtigtes Glied
aufzutreten? Man sagt: sie besitze in Athen einen geson-
derten Cultus. Aber auch andere Wesen verwandter Art,
wie Nike, Hebe, wurden an verschiedenen Orten besonders
verehrt, wodurch jedoch ihr allgemeines Verhältniss zu den
oberen Göttern in keiner Weise aufgehoben wird. Wollte
der Künstler Peitho im Friese darstellen , so durfte er sie
nur in einem der Nike in der Zeusgruppe durchaus analogen
Verhältniss auffassen. Vielleicht wird man die Richtigkeit
dieses Satzes eher zugeben , sofern es gelingt, für die an-
gebliche Peitho des Frieses einen passenderen Namen nach-
Brunn: Büdwerlce des Parthenon. 11
zuweisen. Streng vereinigte Paare sind im Friese nur Zeus
und Hera, Athene und Hephaestos; sie sondern sich auch
künstlerisch von der übrigen Versammlung, die nicht auf
jeder der beiden Seiten je zwei Gruppen zu zwei , sondern
nur je eine Gruppe zu vier Figuren bildet. Wie innerhalb
dieser Einheit die Fügung eine losere war, habeu wir
bereits bei der Erörterung über Ares und Dionysos erkannt,
und dieselbe Freiheit werden wir auch für die gegenüber-
stehende Seite in Anspruch nehmen dürfen. Hier konnte
der Künstler nicht wohl den Apollo neben Aphrodite setzen,
aber des Rangverhältnisses wegen auch nicht Apollo seinen
Platz mit dem des Poseidon vertauschen lassen. Dadurch
erklärt es sich, dass er der Gattin des Poseidon, der
Amphitrite, die gewiss ein volles Recht zur Theilnahme an
dieser Versammlung hat, ihren Platz nicht unmittelbar neben
dem Gatten, aber doch in seiner Nähe neben der Aphrodite
anwies, mit der sie ja ihrer Natur nach aufs passendste sich
vereinigt, so dass es auch durchaus gerechtfertigt ist, wenn
Aphrodite ihren Arm vertraulich auf ihren Knieen ruhen lässt.
Kehren wir zur Giebelgruppe zurück, so wird es uns
zwar nie möglich werden, die fehlende Mitte, die volle und
wichtigste Hälfte des Ganzen, in allen Einzelnheiten zu er-
gänzen; aber, um auch nur über das Erhaltene zu urtheilen,
ist es nöthig, uns von dem Ganzen wenigstens eine allge-
meine Vorstellung zu bilden. Das hat zuletzt P. mit vielem
Scharfsinn versucht: in der Mitte steht oder thront Zeus;
Athene ist bereits seinem Haupte entsprungen und tritt
eben in voller Rüstung dem Hephaestos gegenüber, der mit
noch erhobener Axt zurückweicht. Nike eilt ihrer neuen
Gebieterin jubelnd entgegen ; ruhiger folgt Ares, dann Hermes
wegeilend, um der Welt die Botschaft der Geburt zu über-
bringen. Auf der andern Seite des Zeus finden wir zu-
nächst seine Gattin Hera, dann Poseidon, den Nebenbuhler
der Athene in der Bewerbung um den Besitz des attischen
12 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
Landes. Die jungfräuliche Artemis erscheint als das Gegen-
bild der Nike, Apollo als das des Ares, Iris endlich bringt
wie Hermes die Botschaft, nur in entgegengesetzter Richtung.
Die übrigen früher besprochenen Gottheiten stehen der
Haupthandlung ferner; sie widmen ihr daher geringere
Aufmerksamkeit ; ja Dionysos und Aphrodite erscheinen nur
mit sich selbst beschäftigt. Helios und Selene stellen den
Olymp als Scene der Athenegeburt nach dem Mythos dar.
Bei unbefangener Betrachtung kann uns nicht entgehen,
dass die eigentliche Mitte dieser Composition an starker
Ueberladung leidet. Zeus, Athene, Hephaestos, Hera und
Poseidon, alles Hauptpersonen, jede von bedeutendem Ge-
wicht — das ist offenbar zu viel. Wo findet da der Be-
schauer einen Augenblick zu ruhiger Ueberlegung? Soll der
Blick zuerst von Zeus auf Athene und Hephaestos gelenkt
werden, so kann es nur geschehen, indem Hera und Poseidon
als weniger bedeutend hingestellt werden , wodurch aber
wiederum das künstlerische und geistige Gleichgewicht ge-
stört wird. Nike und Artemis könnte man sich als leichterer
Art und wie zu notwendiger Abwechselung und Erholung
eher gefallen lassen. Ares und Apollo aber scheinen fast
nur bestimmt, den Gegensatz der Bewegung des Hermes
und der Iris zur Richtung der Nike und Artemis gewisser-
massen zu neutralisiren , ohne eigentlich ein selbständiges
Interesse zu erwecken. Und wie sollen wir uns für die
noch folgenden Figuren erwärmen, wenn diese selbst bei
einer so ausserordentlichen Begebenheit völlig kalt bleiben?
Die Gestirne des Tages und der Nacht endlich erscheinen
bei solcher Auffassung des Ganzen als dem Künstler durch
die Enge des Raumes aufgezwungene Abbreviaturen.
Genug, dieses Ganze ist unbefriedigend. Wir sind be-
rechtigt, eine lebensvolle, künstlerisch und poetisch einheit-
lich abgeschlossene Composition zu erwarten, und sollen
uns mit einer Reihe von Gestalten begnügen, die durch
Brunn: Bildwerke des Parthenon, 13
dogmatische Fäden und Beziehungen des Cultus lose ver-
knüpft sind, ohne dass dieselben mit der Handlung irgend
einen directen Zusammenhang haben. Nach den bisherigen
Erfahrungen aber dürfen wir wohl behaupten, dass jeder
weitere Versuch, so lange er sich in der bisher befolgten
Richtung bewegt, zu keinem besseren Resultate führen würde.
Es ist nöthig, einen neuen Ausgangspunkt zu suchen,
und diesen bietet uns der 28. homerische Hymnus auf
Athene. Nur dürfen wir uns nicht begnügen, wie es
Petersen (S. 115) thut, ihn wie eine Art von dichterischem
Motto voranzustellen, sondern müssen uns ganz dem leben-
digen Eindrucke der Schilderung hingeben. Da hören wir,
wie bei der Geburt der Athene nicht nur die Unsterb-
lichen Staunen ergriff, sondern es erbebt der grosse Olymp
unter der Gewalt der Göttin mit funkelndem Blicke; es
kracht die Erde, es tost und brandet das Meer, Helios
hemmt seinen Lauf, bis die Göttin ihren Waffenschmuck
ablegt. In dieser Schilderung klingt offenbar die ursprüng-
liche Naturbedeutung der Göttin des reinen Aethers nach,
die unter Sturm und Gewitter geboren wird. Wir brauchen
nicht anzunehmen, dass die zu Phidias Zeit schon in leben-
diger Entwicklung begriffene Naturphilosophie die physische
Bedeutung der Göttin bereits wieder zu lebendigem Be-
wusstsein gebracht habe. Immerhin aber mochte sie soviel
bewirken, dass ein Künstler wie Phidias eine solche Schilderung
nicht als blos schmückendes Beiwerk, sondern als einen
positiven Bestandtheil der Substanz des Mythus betrachten
lernte, der auch in der künstlerischen Darstellung nicht un-
berücksichtigt bleiben durfte.
Der Künstler weist uns aber sofort darauf hin: am
Anfange und am Ende seiner Composition durch Helios
und Selene. Sie bezeichnen die Unendlichkeit im Räume
und in der Zeit, im Räume das All ausgedehnt zwischen
Aufgang und Niedergang, in der Zeit die Ewigkeit im un-
14 Sitzung der philos.-philol Classe vom 4. Juli 187 L
veränderlichen Wechsel des Kreisens der Gestirne: ein Ge-
danke, der noch in Monumenten der späteren Roemer-
zeit seine typische Geltung bewahrt. So werden wir sofort
weit über die Grenzen des attischen Landes hinausgeführt,
auf das man in früheren Erklärungen die Bedeutung der
Geburt Athenes beschränken wollte. Der Künstler führt
uns in den weiten allgemeinen Welt- oder Himmelsraum,
in dem die Götter von Ewigkeit zu Ewigkeit wohnen und
in dem daher auch die Geburt nicht als ein einmaliges und
einzelnes Factum aufzufassen ist, sondern als eine himm-
lische und göttliche Erscheinung, die unter bestimmten Be-
dingungen, so zu sagen, ewig wiederkehrt.
Helios taucht soeben aus den Wogen des Meeres auf,
Selene sinkt hinab. Mit Recht bewundern wir die Kühnheit
der Phantasie des Phidias in der künstlerischen Gestaltung
der beiden Gestirne. Frei von allen Fesseln conventioneller
Auffassung lenkt er seinen Blick auf die Wirklichkeit der
Erscheinung, und vor seinen Geist tritt dieselbe in persön-
lichster , sprechendster Gestaltung. Soll sich nun diese
grossartige, lebensvolle Anschauung der Natur auf die bei-
den äussersten Ecken beschränken und sofort einem starren
Dogmatismus weichen? Soll der Künstler etwa nur dem
Zwange des Raumes nachgebend den Moment des Aufganges
und Unterganges gewählt haben? Ein Geist wie Phidias
musste hier vermitteln, musste allmählich von dem Bilde
der Natur zu dem geistigen Mittelpunkte überleiten, musste
eben so den zeitlichen Moment als einen nicht willkürlichen,
sondern nothwendig bedingten motiviren.
Die ersten Strahlen des aufgehenden Helios erleuchten
den Sitz der Götter, die Höhen des Olympos. Diesen, den
Gott des Berges , erkennen wir in der Gestalt des vor den
Rossen gelagerten Jünglings. Die bei Berg-, wie bei Fluss-
göttern weniger häufige, aber keineswegs aussergewöhnliche
unbärtige Bildung kann am wenigsten beim Olympos auffallen:
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 15
o&l gxxol d-ewv edog aoya'keg alei
E/Aftevar dvx* dvefxoiai Twaooerai, övts tcot? of^ßqco
ösveTcci. ovte %iü)v eTtiTclXvarar dlld nctV al&Qr]
TtiiXTaxcti dvicpelog, levurj <T ETtidedoo^iev a.iyhq.
t$ h'vi TeQ7tovTai (j.dxaQeg -9-eol rj^tara TtavTct,
(Od. VI, 43 ff.) Nicht zufällig und für den Augenblick
ruht er hier, sondern auf bereitetem Lager, einem Thier-
felle, hat er seinen ständigen festen Sitz; und diese Ruhe
und Festigkeit spricht sich auch in der ganzen Gestalt, in
ihrer sicheren Haltung, wie in den kräftigen unverwüst-
lichen Formen aus , einem Felsengebilde im Gegensatz zu
den fliessenden Formen des Flussgottes im Westgiebel.
Wir befinden uns jetzt an den Pforten, den Thoren
des Himmels:
ag e%ov ilQcti,
Trg ETtixeTQaTtTat fisyag ovqavog Ovlvjxrtog re,
rjixsv dvaMvai tcvy.ivov viqiogj rjd'' ItciSüvcli,
(II. V, 749; VIII, 393). In der Zweizahl, wie sie in Athen
verehrt wurden (ohne dass deshalb hier an speciell attische
Hören zu denken wäre) sitzen sie eng vereint und nur etwa
so weit in ihrer Bildung unterschieden, wie es in den
Namen Thallo und Karpo angedeutet ist: die eine etwas
nach aussen, die andere mehr nach der Mitte gewandt und
durch die Bewegung der Arme, in der sie eine Taenie
oder ein Blumengewinde halten mochte, den Blick des Be-
schauers nach dieser Seite lenkend.
Wir blicken zunächst nach dem entgegengesetzten Ende
des Giebels, wo dem aufgehenden Helios die hinabsteigende
Selene, die schwindende Nacht entspricht. Sie entspricht
ihm, oder richtiger: sie steht zu ihm in einem diametralen
oder polaren Gegensatze nicht nur dem Räume, sondern
auch der Bedeutung nach. Gegenüber der heiteren Klarheit»
die Helios verbreitet, steht düsteres Dunkel. Dort im fernen
Westen wohnen die dem Stamme des Okeanos und des
16 Sitzung der phüos.-phüöl. Classe vom 4. Juli 1874.
Atlas entsprossenen Hyaden, das im Westen sich sammelnde
und lagernde Gewölk, welches zwar Sturm , aber auch be-
fruchtenden Regen bringt. Ihre Gegenwart mag uns freilich
im ersten Augenblick überraschend erscheinen , da sie auf
dem Gebiete der Religion und des Cultus weniger, und
hier zunächst als Pflegerinnen des Dionysos hervortreten.
Um so mehr werden wir uns der hohen Bedeutung erinnern
müssen, welche ihnen neben den Pleiaden in den Anschau-
ungen des Volkes, der Ackerbauer und Schiffer beigemessen
wurde. Ihre Zahl wechselt in den verschiedenen Angaben;
aber die für ähnliche Vereine so häufige Dreizahl ist durch
genügende Zeugen verbürgt. Hesiod (fr. 67 aus Schol. Arat.
phaen. 172) nennt sie den Chariten verwandte Nymphen,
und unter den fünf, die er anführt, bezeichnet er die eine
als schönbekränzt, die zweite als liebreizend, die dritte als
mit weitem Gewände bekleidet. Der poetische Reiz, der
Welckers Deutung auf die drei attischen Thauschwestern so
anziehend machte, bleibt jetzt unverloren , nur dass an die
Stelle des Morgennebels und Thaues, der sich breit über
die Flächen lagert oder emporstrebt , die verwandten , nur
substantielleren und massigeren Wolken treten. Selbst
Petersen unterstützt diese Deutung, indem er die gelagerte
Gestalt vortrefflich in folgender Weise charakterisirt (S. 131):
,,Der Körper ist so voll blühendsten Lebens, so frisch und
warm, wie Marmor sein kann, und die Falten, die kräftigen
des Mantels, wie die feinen des Untergewandes umspielen
die Formen mit tausendfacher Bewegung, besonders über
Schooss und Busen, gleich wie leise zitternde Wellen durch-
sichtigen Wassers über hell leuchtendem Grunde."
Entspricht aber eine Auffassung der Naturerscheinungen
des Himmels, wie wir sie in den Figuren des Giebels zu
erkennen glaubten, dem Geiste des Phidias und seiner Zeit?
Zwei nur wenig jüngere Zeitgenossen mögen antworten. Bei
Euripides begrüsst Ion (v. 82 ff.) den Anbruch des Tages:
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 17
aQfictTa fxev tade XafiTtQa Ted-QirtTtcov,
rjfaog rjdrj Xa(j.7tei kcctcc yfjv,
(xgtqcc de cpsvyeL tivqI lyd' al&€QOg
ig vvyty leoav,
TLaQvrjOLadeg <T aßaxoi KOQvcpccl
7iaTaXafj,7to(X€vai xrtv yfxeQav
aiplda ßqotölai de%oviat.
Und Aristophanes lässt den Chor der Wolken mit den
prächtigen Versen auftreten (v. 275 ff.):
äevaoi NeyeXcu,
ccQ&cjfiev gjaveoal ögooegav cpvaiv evccyrjtov,
7taxq6g clti* 'Qxeavov ßaqva%eog
viprjlwv OQecov Koqycpag Itci
devdqoxo/AOvgj iva
TrjXecpavelg oxoniäg ccg)0QCüfA8&a,
Kaqjtovg t' ccQÖOfisvav leqav %d-ova,
Kai norafA-iov ^aS-ecov y.e%aöijiara,
*ai tcqvxov xeXaöovra ßaQvßQOfiov.
ofifxa yaq ald-iqog axa^arov oekayetcai
fiaQ/xccQECcig iv avyaig.
aXV (XTioGeiGaixevai veqjog o^ßqiov
a&avaTag löeccg eTtidtofte&a
Trjheoxorcti) 6\i\iaxi ycuav.
Möchte man nicht beinahe glauben, dass die klare,
plastische Schilderung der beiden Dichter angeregt sei durch
die vor ihnen stehenden Werke der Plastik? Bei Euripides,
der unmittelbar nach der Rede Ion's in der Schilderung
des bildnerischen Schmuckes am Tempel zu Delphi der
gleichen Herrlichkeiten Athens gedenkt; bei Aristophanes,
der die Wolken nach Athen ziehen lässt, um die Opfer
und Festfeiern, die Weihgeschenke, die hohen Tempel und
Bilder der Götter zu schauen. Noch mehr: ein gewebter
Teppich, den Euripides gleichfalls im Ion (v. 1146 ff.) be-
[1874. IL Phil. hist. d.i.] 3
18 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 4. Juli 1874.
schreibt, bietet auch ein künstlerisches Seitenstück zu den
Compositionen des Giebels:
svrtv (T vqjccvral yqa\i\iaGiv TOiaLd' vcpal'
OvQctvog a&QOlCwv aox$ Iv ald-eqog kvkXoj'
CTtTtovg fi£v yXccw' ig reXevraiav cpXoya
c'Hfoog, iqjiXyiwv Xa(XTtq6v cEö7teqov yaog.
lx£ka\iTtzitXog ös Nvt; ccgeiqcütov £vydlg
o%rjiJ? efCaXXev aotQct <T co/xagreL &£(x.
üXeiccg per rpi fieG07t0Q0v öi ccl&eQog,
o re ^icprßqg 'Qqlcov VTteqd-e de
Z^QKTOg GTQecpOVG'' OVQCtta XQVGtßEl 7t6X(x).
KvxXog öi TiavGeXrjvog r^ovxO^ avw
lirjvog ÖL%iqqrig, cYaösg re vavrlXoig
GaqjeGTccrov Grjfxelov, i[ re (pcüGqjoqog
7'Ecog öicokovg'' ccGrqa.
Ist nun das Naturgemälde des Giebels nur ein Land-
schaftsbild , eine Umrahmung für die in der Mitte voraus-
zusetzende Versammlung der Olympier? Schon der home-
rische Vers (II. XV, 192; vgl. 20), dass Zeus zur Herrschaft
den Himmel erhielt „in Aetherglanz und Wolken", würde
der Schilderung des Künstlers eine tiefere Bedeutung ver-
leihen. Doch muss sich dieselbe noch wesentlich erhöhen
beim Hinblick auf den homerischen Hymnus von der Geburt
der Athene. Jene gewaltige Macht elementarer Ereig-
nisse, welche dort die Geburt begleiten, sie spiegeln sich
oder sie klingen nach in dem Werke des Phidias: warum
nicht in lebendigerer, erregterer Weise, das wird sich erst
erklären, wenn wir uns von der fehlenden Mitte eine an-
nähernde Vorstellung gemacht haben werden.
Freilich bieten sich hier nur geringe äussere Hülfs-
noittel dar. Die sogenannte Nike gehört, wie später nach-
gewiesen werden soll, nicht dem Ost-, sondern dem West-
giebel an. So bleibt ausser einem mit Wahrscheinlichkeit
auf Hephaestos bezogenen Torso nur die angebliche Iris
Ißrunn: Bildwerke des Parthenon. 19
neben den Hören übrig. Ihre lebhafte Bewegung be-
zeichnet einen bestimmten Abschnitt in der Composition.
Wir treten gewissermassen aus dem Vorhofe in den inneren
Raum des Olyinpos. Mit Recht hebt Petersen den jugend-
lich mädchenhaften Charakter der Gestalt hervor, der den
Kreis der Möglichkeiten einer Erklärung wesentlich verengt
und zugleich für dieselbe ein bestimmtes Kriterium abgiebt.
Sollen wir es für Zufall halten, dass an einem nur wenig
jüngeren Werke der athenischen Burg dieselbe Figur bis
auf die Haltung des linken Armes fast unverändert wieder-
kehrt? Sie erscheint am vorderen Friese des Niketempels
neben einer sitzenden Göttin, in welcher man kaum umhin
kann Hera zu erkennen. Halten wir uns für die ihr zu-
getheilte Dienerin an den von Gerhard vorgeschlagenen
Namen Hebe, so werden wir zugeben dürfen, dass auch die
Bildung der Statue des Ostgiebels dieser Benennung nicht
widerspricht, wenn auch das Motiv der Bewegung dabei
vorläufig noch unerklärt bleibt. Zunächst ist es fast noch
wichtiger, dass uns die Vergleichung jener Friescomposition
unwillkürlich darauf hinleitet, neben Hebe auch in dem
Giebel die thronende Hera vorauszusetzen: in der Nähe
der Hören, die ja nächst Zeus auch ihr als Herrin ihre be-
sonderen Dienste weihen. Ihr gebührt eine in die Augen
fallende Stelle bei der Geburt der Athene. Mögen immer-
hin die Züge von Eifersucht, von der sie sich auch bei
diesem Anlass nicht frei gehalten haben soll, nicht dem
ursprünglichen Kern der Sage angehören, so ist es doch in
ihrer eigenen Stellung als Gemahlin des Zeus, sowie in der
Stellung, welche Athene als Tochter des Zeus neben ihr
im Olymp einnimmt, hinlänglich begründet, dass sie bei
deren Geburt nicht unbetheiligt bleiben darf, allerdings
nicht als selbsthandelnd, sondern in der Rolle der ersten
und hervorragendsten Beobachterin. Diesem Verhältniss
entspricht es vortrefflich, dass sie nicht in unmittelbarer
20 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 187 L
Nähe der Mitte erscheint, sondern in einiger Entfernung,
wo sie eine gewisse Selbständigkeit zu bewahren, selbst
wieder der Mittelpunkt einer kleineren Gruppe zu werden
vermag. Zur Abrundung einer solchen bietet sich ungesucht
Ares dar, der Sohn der Hera, der ja zur bevorzugten
Tochter des Zeus in einem oft genug hervortretenden Gegen-
satze steht. Nicht minder zuversichtlich möchte man be-
haupten, dass der Hera an der gegenüberstehenden Stelle
der Composition neben den Hyaden niemand anders ent-
sprochen haben kann als Poseidon, der Nebenbuhler der
Athene im Streit um Attika, aber später im Cultus mit ihr
verbunden. Der Uebergang von den Hyaden zu ihm er-
scheint nicht minder passend, wie der von den Hören zu
Hera. Der Hebe entsprechend mochte ihm eine Nereide
(oder etwa Iris? vgl. Paus. III, 19,3) beigegeben sein, während
die Stelle des Ares etwa Apollo einnehmen mochte , der ja
auch im Ostfries mit Poseidon verbunden ist. So lösen
sich von den beiden äussersten Flügeln der Composition,
welche den lokalen oder physischen Hintergrund bilden,
die beiden Gruppen der Hera und des Poseidon in dem
bestimmten Sinne ab, dass sich in ihnen das Interesse an
der Handlung steigert; aber eben so lösen sie sich von der
eigentlichen Mitte ab, indem sich in ihnen die beobachtende
Theilnahme von der Handlung selbst scheidet.
Für die letztere ist jetzt im Centrum ein Raum ge-
wonnen , in dem sie sich frei und unbehindert entfalten
kann, so dass sie das Auge vorzugsweise auf sich lenkt,
ohne es zu verwirren. Man hat, und wohl mit Recht, den
Vasen- und Spiegeldarstellungen keinen besonderen Werth
für die Reconstruction der Giebelgruppe im Einzelnen bei-
legen zu dürfen geglaubt. Doch möchte es Beachtung ver-
dienen, dass dieselben bei sonstigem Wechsel des Personals
in der Umgebung des Zeus einem hülfreichen Wesen con-
sequent seine Stellung gewahrt haben: der Eileithyia, sei
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 21
es dass sie dieselbe einzeln, oder was dem Begriffe nach
nicht verschieden ist, in der Zweizahl einführen. Aus künstle-
rischen Gründen empfiehlt es sich durchaus, sie auch in
der Composition der Giebelgruppe wieder in ihre Rechte
einzusetzen und zwar in der schon von Homer (IL XV, 270)
bezeugten Doppelzahl. Die Gestalt des Zeus musste natür-
lich aus ihrer Umgebung besonders hervorgehoben werden;
die unmittelbare Nähe wichtiger Hauptpersonen konnte aber
diesem Eindrucke nur schaden. Dagegen verstärken zwei
Eileithyien zu einer Gruppe mit ihm verbunden das Gewicht
seiner Persönlichkeit, ohne bei ihrer untergeordneten durchaus
dienenden Stellung sie zu unterdrücken. Zeus erscheint
metrisch wie eine Arsis oder Länge zwischen zwei Thesen
oder Kürzen. Nach diesen Kürzen gewinnen die nächst-
folgenden Figuren wieder erhöhte Bedeutung, vor allem
Hephaestos (oder möglicher Weise Prometheus), der immer
noch nahe genug bleibt, um seines Amtes zu warten, und
dem vielleicht Hermes in bewegter Gestalt entsprach, der
stets bereite Diener des Zeus, der hier den Hephaestos zur
Stelle geschafft hat. Ob und welche Figuren zur Verstär-
kung, sei es der Mittel-, sei es der Seitengruppen noch hin-
zugefügt sein mochten, mag hier unerörtert bleiben.
Und Athene? Die durch Vasenbilder hervorgerufene
Vorstellung, dass Athene in kleiner Gestalt aus dem Haupte
des Zeus hervorspringe, wird als unplastisch und für die
Darstellung in einer Giebelgruppe zu kleinlich, jetzt wohl
von niemand gebilligt. Soll also Athene in voller majestä-
tischer Gestalt die Mitte einnehmen , Zeus sich neben ihr
befinden? Dadurch würde Zeus in eine untergeordnete
Stellung versetzt, was für den König der Götter und hier
noch besonders für den Vater, der eben erst der Tochter
das Leben giebt, unmöglich ist. Oder soll Zeus die Mitte
einnehmen und die Tochter ihm zur Seite stehen? So würde
der Ehrenplatz, der der Göttin an ihrem Tempel gebührt,
22 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 4. Juli 1874.
ihr entzogen. Oder sollen Vater und Tochter zu beiden
Seiten der Mittellinie des Giebels aufgestellt sein? Dadurch
würden sie in einen Gegensatz treten, wie Athene und
Poseidon im Westgiebel, der jedoch weder im Mythus be-
gründet, noch im Vordergiebel künstlerisch gerechtfertigt ist.
Genug: bei der Anwesenheit beider Gottheiten haben wir
zwei Mittelpunkte und bedürfen nur eines einzigen. Eine
von beiden muss also weichen, und zwar Athene. Mit andern
Worten: nicht ihre Geburt ist dargestellt, sondern der
Moment vor der Geburt.
Im vorderen Giebel des Zeustempels zu Olympia sah
man das Wettrennen des Pelops und Oenomaos in der
Vorbereitung. Der Beschauer sollte, ehe er den Tempel
betrat, nicht durch die bewegten Scenen des Rennens selbst
aufgeregt, sondern durch die Vorbereitungen nur angeregt,
in eine gewisse Spannung versetzt werden. Sollte nicht
beim Parthenon eine ähnliche Absicht gewaltet haben?
Pausanias, der vom Westgiebel sagt: der Streit über das
Land ist dargestellt, gebraucht beim Ostgiebel nicht die
gleiche Wendung, sondern: alles bezieht sich hier auf die
Geburt der Athene. Helios taucht eben aus den Wellen
empor , der Tag beginnt erst , der so Ausserordentliches
schauen soll. Die Nacht schwindet; zwar lagert dort in
der Nähe noch feuchtes Gewölk, aber ruhig und unbewegt.
Doch bereits erscheinen die Vorboten, die uns auf das Be-
vorstehende vorbereiten sollen : Hebe *) und ihr Gegenbild
auf der andern Seite bringen die Botschaft und flüchten in
Ahnung des Zukünftigen hinter ihre Gebieter. In diesen
selbst aber und ihrer weiteren Begleitung musste sich der
1) Oder sollen wir diese Gestalt Eos nennen? Sollte etwa der
Künstler den Gedanken des homerischen Hymnus, dass Helios seinen
Lauf hemmt, dadurch ausgedrückt haben, dass Eos, die ihm voran-
geeilt, jetzt plötzlich zurückweicht? Zu der auf der anderen Seite
vermutheten Iris würde sie das passendste Gegenbild sein,
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 23
Ausdruck staunender Erwartung in lebensvollen Abstufungen
steigern. Denn schon ist die Axt erhoben, die auf das
Haupt des schwerbedrückten, von hülfreichen Frauen unter-
stützten Zeus niederfallen soll. So steht das Werk vor
dem Beschauer; dieser aber ergänzt aus seiner Phantasie,
was noch folgt: die Göttin springt in voller Rüstung aus
dem Haupte des Vaters; alle, die es sehen, staunen; der
Olymp erbebt, die Erde kracht, es brandet und tost das
Meer; die ganze Natur ist in wildem Aufruhr; Helios hemmt
den Lauf, bis die Göttin den glänzenden Waffenschmuck
von den unsterblichen Schultern nimmt. Unter solchen Ge-'
danken naht er dem Tempel und nach wenigen Schritten
tritt ihm dort im Innern das Bild der Göttin entgegen, wie
in ruhigem lichtem Aetherglanz, in einer Pracht und Herr-
lichkeit, wie sie mit irdischen Mitteln nur der Genius eines
Phidias dem Auge der Sterblichen zu zeigen vermochte.
Der Westgiebel.
Von dem Westgiebel sind jetzt nur noch sehr geringe
Reste erhalten. Dagegen lernen wir aus den Zeichnungen
Carrey's und des Nointel'schen Anonymus , der trotz un-
geschickter Steifheit doch zu selbständig erscheint, als dass
er für einen blossen Copisten Carrey's gelten könnte, die
Composition in ihren Grundzügen mit nicht sehr wesent-
lichen Lücken kennen; vgl. Michaelis Taf. 7 und 8. Vom
Centrum, das wahrscheinlich vom Oelbaum eingenommen
war, eilen nach entgegengesetzten Richtungen Athene und
Poseidon ihren Gespannen zu. Der Wagen der Athene
wird von zwei muthigen Rossen gezogen und von einer
weiblichen Gestalt, wie man annimmt, von Nike gelenkt.
In einem Jüngling, der mit leichter Chlamys nebenher-
schreitet, erkennt man wohl mit Recht Hermes. Auch den
Wagen des Poseidon haben wir uns wahrscheinlicher mit
gewöhnlichen Pferden, nicht mit Seerossen bespannt zu
24 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
denken. Neben der Lenkerin, vermuthlich Amphitrite, eilt
auch hier, dem Hermes entsprechend, eine weibliche Gestalt
der Mitte zu. Erst in neuerer Zeit ist darauf hingewiesen
worden, dass der Torso dieser Figur uns wahrscheinlich in der
bisher dem Ostgiebel zugetheilten sogenannten Nike erhalten
ist (Matz: Gott. G. A. 1871, S. 1948: Michaelis: A. Z. 1872,
S. 115; dagegen Petersen S. 144). Er soll am Boden des
Giebelfeldes gefunden sein. Wäre dies der Ostgiebel , so
müsste sich von ihm in Carrey's Zeichnung wenigstens eine
Andeutung finden. Die Unsicherheit in den Angaben Vis-
conti's aber lässt sich sehr wohl daraus erklären, dass bis
auf ihn der Westgiebel für den vorderen gehalten wurde
und dadurch bei mündlicher Ueberlieferung leicht eine Ver-
wechslung stattfinden konnte. Die Zeichnung der Figur
im Westgiebel bei Carrey, dem Anonymus und Dalton ent-
spricht aber dem Torso in der Hauptsache , soweit es sich
bei dem Charakter dieser Skizzen erwarten lässt. Der auf-
rechten Haltung des Oberkörpers in seiner jetzigen Auf-
stellung lässt sich ohne Schwierigkeit eine den Zeichnungen
entsprechende grössere Neigung nach vorne geben. Die bei
weiblichen Figuren ungewöhnliche kurze Gewandung mochte
wegen des vorgebauten mittelalterlichen Mauerwerks für
die Zeichner von unten nicht deutlich erkennbar sein. Für
die Flügel zeigt sich wenigstens nach Carrey's Zeichnung
noch hinlänglicher Raum, und ein leichtes Gewandstück um
den linken Arm steht mit ihnen keineswegs im Widerspruch,
zumal die Zeichnungen keine Andeutungen geben, dass es
sich hinter dem Rücken fortsetzte. Eine durchaus passende
Deutung der Gestalt endlich wird sich bald ohne Schwierig-
keit ergeben; ja die künstlerisch abgerundete Mittelgruppe
erhält erst durch diese Figur ihren vollen geistigen Abschluss.
Es wird allgemein angenommen, dass der Streit zwischen
Athene und Poseidon als bereits entschieden dargestellt sei,
und insofern mit Recht, als keine Götterversammlung vor-
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 25
handen ist, vor welcher der Process geführt wird. Aber
ist er darum ohne Richter entschieden worden? Ist es
ferner ein passender Gedanke, dass die Gespanne schon
länger anwesend sein sollen und dabei doch in lebendiger
Bewegung? Weit schöner gliedert sich das Ganze, wenn
wir annehmen, dass die Gespanne eben ankommen und nun
angehalten werden sollen, und dass Hermes, indem er den
Wagen der Athene zur Stelle geleitet, ihr entgegeneilt, um
ihr im Auftrage der Götter den Sieg zu verkünden, während
Iris dem Poseidon die Botschaft bringt, dass er sich aus
dem Lande zurückzuziehen habe, dessen Besitz ihm soeben
abgesprochen worden ist. Mir scheint, die Sache ist so
einfach, dass sie eines weiteren Beweises nicht bedarf.
Von dieser Mittelgruppe sondern sich die Seitenflügel
sehr bestimmt ab. Aus verschiedenen Versuchen zu ihrer
Deutung hat sich für die auf der Seite des Poseidon be-
findlichen Gestalten eine ziemlich übereinstimmende Ansicht
ausgebildet. Die zunächst hinter Ainphitrite in der Vorder-
ansicht sitzende Frau nennt man Leukothea, an deren rechte
Seite sich Palaemon anschmiege. Sodann soll Aphrodite
von Eros begleitet auf dem Schoosse der am Boden sitzen-
den Thalassa oder Dione ruhen und hinter ihr noch eine
Nereide oder ähnliche Meergöttin sitzen. In einer knienden
Jünglings- und einer liegenden weiblichen Gestalt erkennt
man den Ilissos und die Quelle Kallirrhoe. Auch auf der
entgegengesetzten Seite sieht man übereinstimmend in der
Eckfigur den Kephisos, zu dem sich eine schon zur Carrey's
Zeit verlorene Quellnymphe geselle. Dagegen stehen sich
hinsichtlich der übrigen Figuren zwei Hauplansichten gegen-
über: die eine fasst sie einheitlich zusammen als die ältesten
Bewohner Attika's, d. h. als Kekrops mit seinen drei Töchtern
und seinem Sohn Erysichthon; die andere scheidet die der
Mitte zunächst befindliche Gruppe von zwei Frauen und
einem Knaben oder Jüngling als Demeter, Persephone und
26 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 4. Juli 1874.
Iakchos ab, während die knieende Männer- und die an diese
sich lehnende Frauengestalt theils Herakles und Hebe, theils
Asklepios und Hygieia, oder selbst Marathon und Salamis
genannt werden.
Gemeinsam ist allen diesen Erklärungen, ausser der
Deutung der Eckfiguren als Localdämonen, nur der Gedanke,
dass die eine Seite eine nähere Beziehung zu Poseidon, die
andere zu Athene habe. Im Uebrigen haben wir das Ge-
fühl, dass die einzelnen Namen mühsam zusammengesucht
sind, dass die mythologische Verbindung zwischen den ein-
zelnen Figuren äusserst locker und in keiner Weise zwingend
ist und ein engerer poetischer Zusammenhang durchaus
fehlt. Was bedeutet, fragen wir wohl, die Anwesenheit des
eleusinischen Dreivereins , der doch zu dem Streite des
Poseidon in keiner Weise eine directe Beziehung hat?
Was Asklepios, der spät, man möchte sagen, aus praktischem
Bedürfniss zum Gott erhoben, sich nirgends recht in die
alten mythologischen Göttersysteme einfügt und in Athen
mit der ursprünglich der Athene eng verwandten Hygieia
gewiss nur nachträglich in Verbindung gesetzt wurde? Eben
so lässt sich fragen, welche irgendwie nähere Beziehung zur
Haupthandlung Leukothea und Palaemon, Aphrodite und
Dione haben? Ihrem Begriffe nach gehören sie allerdings
zum Kreise des Poseidon. Allein als Gefolge des Gottes
vermögen wir sie nach ihrer künstlerischen Auffassung nicht
anzuerkennen, wo sie ruhig am Platze sitzen, wo nichts auf
ein Gehen und Kommen, nichts auf eine directe Theilnahme
an der Haupthandlung hindeutet. Welche Rollen aber sollen
Götter hier überhaupt spielen ? Niemand wird daran denken,
dass sie etwa als Richter gegenwärtig seien. Also etwa,
wenigstens die auf der Seite der Athene, als alt-attische
Landesgottheiten? Aber Athene soll ja eben als erste
Herrscherin das Land in Besitz nehmen. Sollen sie etwa
als ihr untergeordnet ihre Herrschaft verherrlichen? Die
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 27
Familie des Kekrops endlich wird allerdings in einigen
Versionen mit dem Streite der Götter in bestimmte Be-
ziehung gebracht. Die Auffassung der Hauptscene wider-
spricht aber gerade hier der Voraussetzung, dass sie mit
Rücksicht auf ihren Antheil an dem Richterspruche an-
wesend sein könnte. Hätte sie aber der Künstler aus einem
andern Grunde einführen wollen, so durfte er doch wahrlich
nicht das Haupt der Familie, den Kekrops, an die letzte
Stelle setzen und am Boden kauern lassen; er musste ihn
als Haupt, als König characterisiren und die Familie um
ihn herum gruppiren, während jetzt die grössere Hälfte
derselben in einer durch nichts motivirten Zusammenstellung
erscheint. Wohin wir uns wenden, überall finden wir
Schwierigkeiten, die auf den bisher betretenen Wegen zu
lösen wir billig verzweifeln müssen. Also auch hier, wie
beim Ostgiebel bleibt nichts übrig, als nach einem neuen
Ausgangspunkte zu suchen, einem einheitlichen Gedanken,
dem sich das Einzelne unterordnen lässt.
Wie schon bemerkt, sondert sich künstlerisch die breite
Mittelgruppe scharf von den Flügeln ab. Nike und Amphi-
trite erscheinen in der Profilansicht, mit dem Rücken gegen
die Seiten gestellt, wo wiederum keine einzige Figur sich
entschieden nach der Mitte wendet. In der Mitte allein
herrscht Leben und Bewegung. Auf den Seiten verharrt
alles an seiner Stelle, scheint alles an diese Stelle gebunden,
und die geringe dabei vorhandene Bewegung bleibt auf die
einzelne Figur oder kleinere Gruppe beschränkt. Niemand
bezweifelt, dass in den Ecken Localdämonen zu erkennen
sind, für welche es charakteristisch ist, dass sie ruhig, an
ihre Stelle gebunden dargestellt werden. Aber wo sind die
Grenzen des Locals? Auf die liegenden Figuren folgen
knieende, auf die knieenden sitzende; nur der angebliche
Iakchos und Persephone erheben sich etwas mehr: er sich
emporreckend, sie nach vorn sich neigend , aber ohne dass
:
28 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
sie dadurch aus dem sonstigen Charakter der Compositio
herausträten.
Nach Pausanias stellte die ganze Gruppe den Streit
des Poseidon gegen Athene über das Land dar. Wie nun,
wenn die Umgebung, d. h. die beiden Flügel sich auf eben
dieses Object des Streites, das Land Attika in seinen her-
vortretendsten äusseren Gestaltungen bezöge? Ob es gelingen
wird, alles Einzelne richtig zu erkennen, mag füglich be-
zweifelt werden. Versuchen wir es , wenigstens die Grund
auffassung zu rechtfertigen.
Die auffallendste Gruppirung ist offenbar die der
Aphrodite auf dem Schoosse der angeblichen Dione oder
Thalassa. „Wunderbar ist die Art , wie Aphrodite mit
ihrer Mutter zusammen gruppirt ist, als ob der Künstler
auf die Weite und Tiefe der Urgründe, die Potenzen und
Unförmlichkeiten der Theologie hätte anspielen wollen,"
sagt Welcker A. D. I, 106. Gegen den Gedanken an sich
wäre nichts zu sagen: aber ist er hier an seiner Stelle?
Einer verwandten Gruppirung begegnen wir in einem Ge-
mälde bei Philostratus II, 14: der Flussgott Titaresios ist
auf dem Peneios liegend dargestellt als der leichtere, dessen
Wasser in Wirklichkeit nach seiner Ausmündung über dem
des Peneios hinwegfliesst, ohne sich mit ihm zu mischen.
Dem natürlichen Verhältniss entspricht also in einfach an-
schaulicher Weise die künstlerische Darstellung. An der
attischen, Aegina zugewandten Küste liegt ein niedriges
Vorgebirge, die Akra Kolias, auf welcher Aphrodite einen
bekannten Sitz hatte: eine Localität, die gerade seit der
Jugendzeit des Phidias mit neuem Glänze historischer Er-
innerungen umgeben war: dorthin waren nach der Schlacht
bei Salamis die Schiffstrümmer der persischen Flotte an
den Strand getrieben worden und es erfüllte sich dadurch
ein altes Orakel, dass „die Weiber von Kolias mit Rudern
feuern werden" (Herod. VIII, 96; StraboIX, 398; Paus. I, 1, 5).
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 29
Man wird nicht einwenden wollen, dass bei dieser Deutung
nun doch wieder eine Göttin in die Composition eingeführt
wird: jede besondere Beziehung auf Cultus ist hier in den
Hintergrund gedrängt und nur auf die Repräsentation des
Locals richtet sich die Aufmerksamkeit.
Wiederum bei Philostratus II, 16 finden wir in einem
Gemälde den Isthmus von Korinth auf die Erde gelagert
und neben ihm auf der einen Seite einen Knaben, auf der
andern (zwei?) Mädchen: die Häfen von Lechaeon und von
Kenchreae. In einem schönen griechischen Relief von ge-
triebener Bronze sehen wir die Büste eines Meergottes und
auf dessen Brust zwei gegen einander gewendete Seethiere.
Auf dem einen sitzt eine weibliche Figur , auf dem andern
deren zwei und auf dem Schoosse der einen von diesen
wiederum eine nackte weibliche Gestalt (Brit. Mus. bronze
room p. 38, n. 14). Gewiss haben wir auch hier an Per-
sonificationen bestimmter Localitäten zu denken. In der
Nähe von Kolias springt eine andere felsige Akra halbinsel-
förmig in das Meer vor: Munichia, hinter welcher sich der
durch Themistokles zu überwiegender Bedeutung erhobene
Hafen des Peiraeeus versteckte: das wäre die bisherige Leu-
kothea mit dem halb hinter ihr verborgenen Knaben
Palaemon.
Ist durch diese beiden Gruppen eine bestimmte Richtung
gegeben, so lassen sich daraus bereits weitere Schlüsse
ziehen. Der Theil Attika's, der sich bis zum Cap Sunion
ins Meer erstreckte, hiess Paralia. Paralos als Personen-
name, den z. B. ein Sohn des Perikles trug, rechtfertigt
eine Localpersonification männlichen Geschlechts. Wir er-
kennen ihn in dem angeblichen Ilissos, der gewissermassen
im Wasser kniet, wie die Landspitze, die sich in das Meer,
das myrtoische Meer erstreckt. Nach der Angabe euböischer
Alterthumsforscher (Paus. VIII, 14,2) sollte dasselbe seinen
Namen von einem Weibe Myrto erhalten haben: das ist
30 Sitzung der philos.-philoL Ciasse vom 4. Juli 187 '4.
die Frauengestalt, die in der Ecke lagerte, auf unebenem
Grunde, der aber ganz von den Falten des Gewandes be-
deckt wird (Mich. T. 8, W) , wie felsiger Grund von den
Wellen des Meeres überspült. — Zwischen Paralos und
Kolias findet sich noch eine sitzende Frauengettalt. An der
Küste Attika's aber tritt zwischen diesen Orten ein Punkt
besonders hervor, das Vorgebirge Zoster, der „Gürtel."
Dort soll Leto , ehe sie Delos erreichte , schon in Kindes-
nöthen ihren Gürtel gelöst haben, weshalb auch später noch
ihr und ihren Kindern dort geopfert wurde (Paus. I, 31,1;
vgl. Steph. Byz. v. ZwGTrjQ).
Den Flussgott in der NW. Ecke nannte man Kephisos,
indem man an den bekannten Bach in der Nähe Athens
dachte. Der Zufall will es, dass es gegen die Grenze
von Megaris hin einen zweiten Kephisos gab „mit einer
heftigeren Strömung als der andere" (Paus. I, 38,5). In
zwei Hauptarmen (Bursian Geogr. I, 257), deren zweiter
durch die jetzt fehlende Figur etwa einer Quellnymphe sym-
bolisirt sein mochte, kommt er aus der nordwestlichsten
Ecke Attikas von den Höhen des Kithaeron herab, welcher
hier die Grenze gegen Böotien bildet. Für den Gott eines
mächtigen Waldgebirges ist gewiss die kräftige, auf ihrem
Sitz sich steil erhebende bärtige Gestalt neben dem Fluss-
gotte besonders geeignet; und auch die in letzter Zeit viel-
besprochene Schlange, auf der er sitzen soll, bedarf bei
einem solchen Dämon keiner weiteren Begründung (vgl. z. B.
den früher auf Philoktet gedeuteten Berggott bei Zoega
bass. t. 52). An den Kithäron aber lehnt sich als die
östliche Fortsetzung desselben ein anderes bedeutendes Ge-
birge: die Parnes, wie es von den Alten häufiger als im
männlichen Geschlecht bezeichnet wird. Kann dieses Ver-
hältniss sprechender bezeichnet werden, als in der Gruppe
des Giebels?
Noch bleiben drei Figuren übrig, in denen wir, nach-
Brunn * Bildwerke des Parthenon. 31
dem die Meeresküste und die Landesgränze bereits hinläng-
lich charakterisirt sind, wohl eine Hinweisung auf das innere
Land und die Umgebung von Athen erwarten dürfen.
Landschaftlich wird Attika von zwei Hauptgebirgen be-
herrscht, dem Pentelikon und dem Hymettos. Ist auch der
erstere bei den Alten bekannter unter dem Namen Briessos,
so knüpfte sich doch der Name seines berühmtesten Pro-
ductes, des Marmors, an den Flecken Pentele, was genügen-
den Anlass bieten mochte, den Berg mit seinen der Ebene
zugewandten weissen Marmorbrüchen durch eine weibliche
Gestalt zu charakterisiren. Ihr Sitzen in voller Vorder-
ansicht, während das Vorbeugen der rechten Seite des
Kithaeron und das Zurückweichen des linken Schenkels der
Parnes uns diese Gruppe wie in einer Art perspectivischer
Verkürzung zeigen, entspricht den Verhältnissen der örtlichen
Lage. Schwieriger erscheint es , in der andern weiblichen
Gestalt den Hymettos nachzuweisen, nicht sowohl, weil er
sich auf der Ostseite von Athen nach Süden hin erstreckt.
Denn nehmen wir für die Betrachtung des Gesamnitbildes
einen idealen Standpunkt an gerade im Westen von Athen
etwa am Cap Amphiale oder der diesem gegenüberliegenden
Küste von Salamis, so müsste ein Theil des Hymettos noch
links von Athen oder der Akropolis sichtbar sein. Damit
stimmt recht wohl, dass die weibliche Gestalt gewissermassen
hinter der Nike , welche ideell die Grenze der Stadt oder
Akropolis bezeichnet, hervorkommt und sich nach links
hinneigt, nach welcher Richtung der Berg auch in Wirk-
lichkeit abfällt. Auffällig ist vielmehr das weibliche Ge-
schlecht. Sollen wir etwa im Hinblick auf die Berühmtheit
des hymettischen Honigs annehmen, dass die Personification
der Bienen als Nymphen, Melissae, für die es in verschie-
denen Sagen nicht an Belegen fehlt, den Anlass zur Wahl
weiblicher Bildung geboten habe? Lassen wir diese Frage
unentschieden, so möchte ausserdem noch die Gruppirung
32 Sitzung der phüos.-phitol. Classe vom L Juli 18? '4.
mit den zunächst benachbarten Figuren in Betracht
ziehen sein. Gerade vor dem Thal, welches den Pentelikon
vom Hymettos scheidet, springt ganz nahe bei Athen aus
der Ebene ein nicht sehr hoher 1 aber durch seine Gestalt
auffallender, steiler und nackter Felskegel empor, der
Lykabettos, der eben desshalb in einem Bilde des attischen
Landes und besonders , weil er zum Bilde der Stadt ge-
hörte, nicht wohl fehlen durfte. Im Giebel nimmt den
Platz zwischen oder richtiger vor den beiden weiblichen
Figuren die Jünglingsgestalt ein, für deren eigentümlich
bewegtes Motiv bisher eine Deutung kaum versucht worden
ist, während Jugend, Nacktheit, kühnes Emporstreben sich
jetzt aus der eigenthümlichen Gestaltung des Berges wie
von selbst erklären.
Es mag, wie gesagt, zweifelhaft bleiben, ob die einzelnen
Namen überall richtig gewählt sind. Wenigstens wird man
zugeben müssen, dass bei der vorgeschlagenen Deutung die
Grundidee, die Darstellung des Landes in seinen hervor-
ragendsten Erscheinungen, in erschöpfender Weise zur An-
schauung gelangt. Auch das Centrum, die Mittelgruppe
die wir uns natürlich auf der Akropolis zu denken haben,
fügt sich jetzt in das Ganze vortrefflich ein : Poseidon weicht
zurück; sein Gespann wird sich wenden und angesichts der
attischen Küste vom Peiraeeus bis Sunion wieder in sein
Element, das weite, seiner Herrschaft unterworfene Meer
zurückkehren. Athene aber wendet sich nach der entgegen-
gesetzten Seite, nach dem Lande, das sie in dauernden Be-
sitz nimmt.
Das Naturgemälde , welches Phidias in der vorderen
Giebelgruppe vor unsern Augen entrollt, zeigt ihn uns als
einen Künstler, der mit gewaltiger Schöpfungskraft die
sichtbare Welt in vergeistigte Menschengestalt zu übersetzen
verstand. Dort war es der weite Himmelsraum, der Olymp
als Sitz der Götter , den er durch seine Gestalten lebendig
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 33
machte. Das Gegenbild zeigt uns der Westgiebel, die Ge-
staltung der Erde , speciell des attischen Landes. Athene
wird im Olymp für die ganze Welt geboren; ihr bevor-
zugter Sitz auf Erden ist Attika. Die vordere Gruppe ist
die Ouvertüre, die hintere das Finale: wir wissen jetzt
unter welchem Rechtstitel Athene das Land erworben hat,
und aus welchem Grunde ihr auf der Höhe der Akropolis
eine glänzende Behausung errichtet ist, von welcher aus sie
ihr Besitzthum beherrscht.
So wohl sich hier alles zum Ganzen fügt, so soll doch
nicht in Abrede gestellt werden , dass unsere modernen
Anschauungen sich durch die vorgeschlagene Deutung des
Westgiebels einigermassen fremdartig berührt fühlen werden.
Es wird daher keineswegs überflüssig sein, auf die Erörterung
einiger allgemeinen Gesichtspunkte etwas ausführlicher ein-
zugehen, um die Grundauffassung von künstlerischer und
poetischer Seite fester, als es bisher möglich war, zu
begründen.
Der Gedanke, den Streit der Götter im Angesicht des
Landes darzustellen , um das gestritten wird , ist an und
für sich betrachtet gewiss poetisch. In der Ausführung
gliedert er sich klar und deutlich: die eigentliche Handlung
tritt uns bestimmt abgeschlossen entgegen; das Land aber
bildet gegenüber der Bewegung der Mitte einen durchaus
ruhigen, fast zu ruhigen Hintergrund, und mancher dürfte
vielleicht daran Anstoss nehmen, hier eine Reihe einzelner,
von einander unabhängiger Gestalten und Gruppen ohne
engere poetische oder künstlerische Verbindung nebenein-
ander gestellt zu sehen. Hier dürfen wir jedoch nicht ver-
gessen, dass das Werk, abgesehen von den zahlreichen
Verstümmelungen im Einzelnen , uns fast allein und nur in
dürftigster Weise durch die Zeichnungen Carrey's und des
Anonymus bekannt geworden ist, durch Skizzen, die uns
kaum den Hauptgedanken errathen lassen, aber alle feineren
[1874, IL Phil. hist. CLL] 3
34 Sitzung der philos.-philol. Glosse vom 4. Juli 1874.
Motivirungen verwischen, in denen für die sinnliche An-
schauung der Hauptreiz der künstlerischen Composition
liegen musste. Selbst jetzt aber müssen wir anerkennen,
dass der Künstler sprechend und anschaulich schildert, wie
die niedrige Kolias, der Sitz der Aphrodite, am Ufer ge-
lagert ist, wie die Höhe von Munychia gerade hervortritt,
wie durch die Wendung des Paralos die Ecke des Landes
bei Sunion angedeutet, wie endlich in den Gebirgen der
andern Seite die geographische Lage anschaulich gemacht
wird. Wie viele feinere, aber darum nicht weniger be-
deutende und charakteristische Motive mögen uns in der
flüchtigen Zeichnung und bei der schon damals weit fort-
geschrittenen Verstümmelung der Köpfe und Extremitäten
verloren gegangen sein. Betrachten wir nur die erhaltenen
Figuren: da hat der gebogene Lauf des Kephisos in der
Wendung seiner Statue vollendeten künstlerischen Ausdruck
gefunden; da ist der natürliche Zusammenhang zwischen
Kithaeron und Parnes in der Gruppe des Giebels in einem
rein menschlichen Verhältniss, wie zwischen Vater und Tochter
zur Anschauung gebracht. Nach diesem Maassstab müssen
wir versuchen, uns die dürftigen Linien der Zeichnung in
vollendete plastische Gestalten zu übersetzen, und wir dürfen
wohl überzeugt sein, dass, was in der Zeichnung unruhig
und zerrissen erscheint, durch künstlerische Mittel zu voller
Harmonie verschmolzen gewesen sein und, zunächst abge-
sehen vom Inhalt, durch den vollen Zauber künstlerischer
Gestaltung gewirkt haben wird.
Aber auch nach ihrer Bedeutung als Localpersoni-
ficationen werden uns die einzelnen Gestalten und Gruppen
jetzt bereits in einem andern Lichte erscheinen. Wir sind
nur zu leicht geneigt, unser Urtheil über derartige Gestalten
durch die Arbeiten einer späteren Kunst, z. B. die römi-
schen Sarcophage beeinflussen zu lassen. Dort haben sie
meist einen kalten schematischen Charakter, der sie oft als
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 35
ein bloss äusserliches Füllwerk erscheinen lägst. Schon
etwas anders verhält es sich mit den Aktae, Skopiae und
ähnlichen Figuren auf pompeianischen und andern Wand-
gemälden. Stehen sie auch mit dem Inhalte der Darstel-
lungen meist in sehr losem Zusammenhange, so spricht sich
doch in ihnen ein lebendigeres Naturgefühl von der Art aus,
wie es den idyllischen Anschauungen der alexandrinischen
Zeit eigen war. Wesentlich verschieden davon ist der Cha-
racter so mancher Gestalten in den philostratischen Ge-
mälden, die in ihrer Erfindung vielfach auf die besseren
Zeiten der griechischen Kunst zurückgehen. Es wurde
bereits des Isthmos von Korinth mit seinen Häfen , so wie
des Peneios und Titaresios gedacht, denen sich in demselben
Bilde eine wohl charakterisirte Thessalia anschliesst. Der
Oropos war zwischen Meerweibern dargestellt: I, 27. Der
Flussgott von Andros liegt auf einem Lager von Trauben
und neben ihm wachsen Thyrsen: I, 25. In jugendlicher
Schönheit und poetischer Verklärung zeigt sich der Meles:
II, 8. Der Phasis liegt in tiefem Rohr und von seinem
ganzen Körper strömt Wasser aus : iun. 8. Die Insel Skyros
in bläulichem Gewände, mit Binsen gekrönt, hält Reb- und
Oelzweig: iun. 1. Der Olymp freut sich über die Diebereien
des Hermes: I, 26. Der Alpheios springt aus seinem Ufer,
um Pelops einen Kranz zu reichen: I, 17. Lydia sammelt
das Blut der Panthia in einer Urne: II, 9; der Kithaeron
wehklagt und Megara pflanzt eine Tanne, die später ver-
hängnissvoll werden soll: I, 14. Am ausführlichsten ist
die Schilderung der gesammten Natur im Bilde des Phaethon
(I, 11), das auch für den Ostgiebel des Parthenon manche
Vergleichungen bietet. Sollten auch etwa Nyx und Hemera
nicht wirklich dargestellt sein, so fliehen doch die Hören von
ihren Thoren nach dem Dunkel, Ge hebt verzweiflungsvoll
die Hände empor, es klagt der Eridanos , indem er sich
aus dem Ufer erhebt und den Phaethon in seinen Schoss
3*
36 Sitzung der philos.-philöl. Gasse vom 4. Juli 1874.
aufzunehmen sich bereitet. Ueberall zeigt sich hier das
Streben nach persönlicher, individueller Gestaltung und nach
einer engeren Verknüpfung dieser Gestalten mit der Handlung
selbst. Nirgends haben wir es mit kalten Abstractionen zu
thun, sondern die Gestalten wachsen aus dem poetischen
Gefühl heraus, welches in den besten Zeiten die Natur
überall als mit Leben und Geist erfüllt, überall das Leben
in der Natur in lebendiger menschlicher Persönlichkeit an-
schaut. — Nähern wir uns der Zeit des Phidias , so finden
wir als statuarische Gruppe Battos von Libya gekrönt und
seinen Wagen von Kyrene gelenkt (Paus. X, 15, 6); in Ge-
mälden Alkibiades von Olympias und Pythias gekrönt oder
auf den Knien der Nemea ruhend (Athen. XII, 534 D);
wir finden im vorderen Giebel des Zeustempels zu Olympia
den Alpheios und Kladeos und unter den Gemälden am
Throne Hellas und Salamis (Paus. V, 10, 7; 11, 5). Ja
schon bei Aeschylos in den Persern 186 erscheinen Europa
und Asia in voller poetisch-künstlericher Gestaltung. Niemand
endlich hat bezweifelt, dass am Parthenon selbst die Eck-
figur des Westgiebels einen Flussgott darstelle.
Nicht also die einzelne Localpersonification an sich
kann in einem Werke des Phidias Anstoss erregen, sondern
nur ihre Häufung, ihre Vereinigung zum Ausdruck eines
wesentlichen, für sich selbständigen, nicht nebensächlichen
Gedankens der Composition. Es fragt sich daher nur, ob
eine Auffassung der Natur, wie wir sie bei der Erklärung
des Westgiebels vorausgesetzt haben: die Uebersetzung einer
Landschaft in eine Reihe von plastischen Persönlichkeiten,
sich mit dem Geiste der Zeit des Phidias verträgt. Diese
Präge aus dem spärlichen Material der erhaltenen Denk-
mäler zu beantworten, dürfen wir freilich nicht erwarten.
Aber die bildende Kunst stand in engster Wechselbeziehung
zu demjenigen Zweige der Poesie, der damals in glänzendster
Entwickelung begriffen sich der Herrschaft bemächtigt hatte,
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 37
zum Drama. Wir haben oben zur Erläuterung des Ost-
giebels auf die jüngeren Zeitgenossen des Phidias , auf
Euripides und Aristophanes verwiesen; für den Westgiebel
wenden wir uns an den älteren, an Aeschylos. Seit dem
Aufschwünge der Tragödie durch Aeschylos zeigt sich in
dem Verhältnisse des Menschen gegenüber der Natur ein
bestimmter Wechsel der Anschauung oder vielleicht richtiger
eine grossartige Erweiterung (vgl. Wörmann über den land-
schaftl. Natursinn S. 33 ff.). Die lebendigen, vor den Augen
des Zuschauers auftretenden Gestalten der Bühne verlangen
einen localen, landschaftlichen Hintergrund, und die Handlung
selbst verlangt ferner, dass sich dieser Hintergrund in der
Phantasie auch über die Grenzen der Bühne hinaus er-
weitere. Zu dem Bilde des Prometheus gehört als untrenn-
barer Bestandteil die grossartige Scenerie, wie sie Aeschylos
zuerst in einzelnen meisterhaften Zügen malt , um sie uns
dann am Schlüsse nochmals im gewaltigen Sturme der
Elemente vor Augen zu führen. Noch wichtiger ist es,
dass bei Aeschylos nicht bloss ein offener Sinn für die Er-
scheinungen der Natur hervortritt, sondern dass sich gerade
bei ihm eine Vorliebe für weite geographische Bilder be-
merkbar macht. So werden uns im Anfange der Perser die
Streitkräfte Asiens vorgeführt nicht etwa nur nach der
Ordnung ihrer Führer, sondern nach den Städten und
Ländern , die sie gesendet : Susa und Ekbatana, Aegypten
aus Memphis und Theben, Lydien und Sardes, der Tmolos
und Babylon; so v. 864 ff. die griechischen Länder, die des
Dareios Macht sich unterworfen: Thracien, der Bosporus,
die Propontis und die lange Reihe der Inseln, die namentlich
aufgezählt werden. Nicht vergessen dürfen wir die anschau-
liche Schilderung der Schlacht bei Salamis nebst dem Rück-
züge des flüchtigen Landheeres durch Boeotien, Phocis,
Thessalien, Macedonien, Thracien. In den Supplices (540 ff.)
lässt sodann der Dichter die lange Reihe der Länder vor
38 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1871.
unsern Augen vorüberziehen, welche Io auf ihrer Flucht
durcheilt. Vor allem aber muss hier auf die Schilderung
der Feuerzeichen im Agamemnon (281 ff.) hingewiesen wer-
den, durch welche der König die Einnahme Troias nach
Mykenae meldet: sie leuchten vom Ida nach dem Vor-
gebirge Hermaeon auf Lemnos, von dort nach der Höhe
des Athos, der Warte des Makistos, nach dem Berge
Messapion am euböischen Euripos, über die Ebene des
Asopos nach dem felsigen Kithäron, über den See Gorgopis
nach dem Berge Aegiplancton, über den saronischen Meer-
busen nach der letzten Warte, der Höhe Arachnaeon.
Es zeigt sich in solchen Schilderungen offenbar der
Einfluss der Perserkriege, die den Blick plötzlich erweitert,
nach aussen und in weite Fernen gelenkt hatten. Aeschylos
spricht also gewiss nur aus, was seine ganze Zeit bewegte;
um so grösser aber müssen wir uns die Wirkung vorstellen,
die seine Worte auf seine Zeitgenossen ausübten. Welche
Wirkung aber musste nicht eine Schilderung wie die letzte
auf den Geist eines Phidias äussern, einen Geist, der auch
das Unbelebte nur in plastischen Bildern zu denken ver-
mochte? Musste ihn nicht die Aufgabe locken, Athen, das
attische Land, das so oft von den Dichtern gefeierte, nun
auch durch die Mittel seiner Kunst zu verherrlichen? Und
in aeschyleischem Geist entfaltet er ein Bild der Landschaft
in ihren am meisten charakteristischen und hervorragenden
Punkten und Erscheinungen, denen seine Phantasie nicht
blos menschliche , sondern individuelle Gestaltung verleiht.
Uns freilich mag die Idee der Gruppe des Ostgiebels
poetischer erscheinen. Allein dort befinden wir uns im
Himmel, hier auf der Erde. Die stetig, ja ewig wieder-
kehrenden Erscheinungen am Firmament gewinnen in der
Phantasie eine feste und typische, durchaus allgemein gültige
Gestalt, die unabhängig von einem besonderen Ort, einer
Brunn: Bildwerke des Parthenon, 39
besonderen Zeit sich in jeder Phantasie wieder erzeugen
und daher von jedem mit Phantasie begabten Beschauer
verstanden werden kann. Die Darstellung einer bestimmten
Landschaft verhält sich dazu wie das Portrait zum Ideal;
und so sehr auch das Portrait idealisirt sein mag, es bleibt
doch immer Portrait, welches seinen Reiz im vollsten Um-
fange stets nur auf den ausüben wird , welcher der darge-
gestellten Persönlichkeit entweder im Leben nahe gestanden
oder wenigtens, wie bei historischen Personen, sich von ihr
im Geiste eine lebendige Vorstellung gebildet hat. Der
Fremde wird nur das Kunstwerk bewundern, der Freund
sich zugleich an der Person des Freundes erfreuen. Phidias
aber entfaltete sein Landschaftsbild vor den Augen der
Athener, und mit den Augen der Athener müssen auch wir
uns bestreben es zu betrachten. Gewiss werden wir dann
nicht mehr die Wärme vermissen; unsere Phantasie wird
es mit Empfindungen beleben, denen verwandt, mit denen
bei Sophokles Aias in Erinnerung an den heimathlichen
Strand von Salamis und Athen vom Leben Abschied nimmt.
Mancher Greis aber mochte damals, als das Werk zuerst
den Blicken der Athener enthüllt wurde, der Zeiten ge-
denken, wo er bei Salamis die Schiffe der Perser vernichten
half, deren Trümmer der Wind nach Cap Kolias trieb, wo
der Rest der persischen Flotte sich unerwartet von Phaleron
zurückzog, wo die erschreckte Phantasie ihrer Mann-
schaft in den niedrigen Klippen am Cap Zoster die Schiffe
der Hellenen zu erkennen vermeinte (Herod. VIII, 107) und
in verwirrter Flucht um Cap Sunion herum das Weite
suchte, wo Athene und die Athener von neuem das Land
in Besitz nahmen, um die Stadt und die Akropolis aus dem
Schutte der Zerstörung zu neuem Glänze und neuer Herr-
lichkeit wieder auferstehen zu lassen.
40 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
Der Fries.
Durch die neuesten Untersuchungen über den Fries
hat sich nach Abweisung verschiedener unhaltbarer Er-
klärungsversuche im Allgemeinen die Ansicht herausgebildet,
dass den Inhalt der Darstellung der Panathenäenzug bilde,
allerdings nicht in realistischer Durchführung, sondern, wie
schon die Gegenwart der als unsichtbare Zuschauer zu
denkenden Götter andeutet , in künstlerisch idealer Auf-
fassung. Um die Berechtigung dieser Ansicht zu prüfen,
überblicken wir die Composition in ihren Hauptgliede-
rungen , wobei wir nicht von der Mitte ausgehen , sondern
bei der Spitze des Zuges beginnen. Zunächst dem Eros
rechts vom Beschauer finden wir Gruppen von Männern in
ruhigem Gespräche. Ihnen nahen in feierlicher Procession
Frauen und Mädchen. Die ersten Paare scheinen flache
Gefässe oder Körbe auf den Köpfen getragen zu haben,
welche die vordersten der Männer ihnen abzunehmen im
Begriff sind. Es folgen andere, zwei die ein Thymiaterion
tragen, die übrigen mit Schalen und Kannen. Hieran
schliessen sich unmittelbar auf der Nordseite der Cella vier
Opferrinder und mehrere Schafe von Jünglingen geleitet,
drei Träger mit Mulden, drei mit Hydrien auf den Schultern.
Ein vierter ist noch beschäftigt, die seinige vom Boden zu
erheben und bezeichnet dadurch , dass er sich eben erst in
Bewegung setzen will, einen bestimmten Abschnitt in der
Composition. Nun folgt unter Vorantritt von vier Flöten-
bläsern und vier Leierspielern eine dichter gedrängte Gruppe
von bärtigen Männern, sodann eine Reihe von wahrscheinlich
zehn Viergespannen mit ihren Lenkern und jugendlichen,
mit Helm und Schild, ausnahmsweise auch dem Panzer ge-
rüsteten Kriegern. Die andere Hälfte der ganzen Seite
nimmt der glänzende Zug der Reiterei ein , welcher sich
auch auf der Westseite mit der Modification fortsetzt, dass
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 41
hier die Vorbereitungen zum Abmarsch noch nicht überall
vollendet sind. Zugordner sind je nach Bedürfniss in der
ganzen Ausdehnung der Composition vertheilt. Die zweite
Hälfte, welche auf der Ostseite vor Hermes beginnt, ent-
spricht im Wesentlichen der ersten; die Abweichungen im
Einzelnen, sowie die feineren künstlerischen Motivirungen
in der Ausführung kommen hier nicht in Betracht.
Gewiss ist es richtig, dass wir von Phidias nicht eine
realistische Darstellung des Festzuges erwarten dürfen, die
in allen Einzelnheiten der Wirklichkeit entspräche, und das
Fehlen so mancher uns durch schriftliche Nachrichten über-
lieferten Züge würde demnach noch keinen Beweis gegen
die Richtigkeit der vorgeschlagenen Deutung abgeben. Da-
gegen dürfen wir verlangen, dass der Künstler, sofern er
den Panathenäenzug darstellen wollte, ihn auch wirklich
durch bestimmte Kennzeichen als solchen charakterisirte.
Ist dies geschehen ? Körbe , Schalen , Kannen , Leuchter,
Opferthiere, Mulden und Hydrien gehören zu jedem grossen
Opfer, nicht bloss zum panathenäischen. Männer zu Fuss,
zu Wagen , zu Ross repräsentiren das Volk , aber eben so
wenig ausschliesslich das Volk im Panathenäenzuge. Genug,
in der ganzen Darstellung, so weit wir sie bis jetzt be-
trachtet , findet sich nicht eine einzige speciell und aus-
schliesslich für den letztern charakteristische Gestalt.
Es bleibt noch die Mittelgruppe zwischen den Göttern
übrig, die wir uns im Innern des Heiligthums zu denken
haben, über dessen Thür sie dargestellt ist. Zwei Mädchen
tragen jede einen Stuhl ohne Lehne auf ihrem Kopfe. Eine
Frau ist noch mit der einen beschäftigt, während die andere
wartet. Was diese Gruppe an dieser Stelle mit den Pana"
thenäen zu thun habe, hat noch niemand mit einiger Zu-
versicht zu bestimmen gewagt. Hinter der Frau steht ein
Mann, der von einem halberwachsenen Knaben ein grosses,
mehrfach zusammengefaltetes Stück Zeug in Empfang nimmt.
42 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
Das soll der berühmte Peplos sein, der als das am meisten
charakteristische Stück im Festzuge an dem Mäste eines
Schiffes aufgeführt und dann der Athene geweiht wurde.
Diese Weihung bildete offenbar einen der wesentlichsten
Theile der Festfeier; und einen solchen solennen Act sollte
der Künstler darstellen , indem er den Peplos durch einen
Knaben (wären es doch wenigstens die beiden bei seiner
Anfertigung betheiligten Arrephoren !) gewissermassen heim-
lich und hinter dem Rücken der Götter in das Innere des
Tempels bringen und dort dem Priester übergeben Hesse?
dem Priester , welcher im einfachen Chiton , yvpvdg nach
griechischer Ausdrucksweise, ihn in Empfang nehmen soll ?
Es ist erklärlich, dass man angesichts eines glänzenden
Festzuges am Tempel der Göttin diesen zunächst auf das
berühmteste Fest derselben bezog. Auch ist es begreiflich,
dass die neueren Theorien, denen zufolge der Tempel selbst
ein Schatzhaus und ausserdem fast ausschliesslich ein zur
Feier dieses Festes errichteter Tempel sein sollte, auch bei
denen noch nachwirkte, welche diese Theorien als gänzlich
oder theilweise unbegründet verwarfen. Dazu kam , dass,
wie man sich bei der Deutung der übrigen Bildwerke von
religiös dogmatischen Rücksichten leiten liess, man nun
auch in den Darstellungen des Frieses ein Vorwiegen der
ritualen Elemente des Cultus fast mit Notwendigkeit
voraussetzen musste. Wenn es uns indessen gelungen ist,
in den Giebeln dieser Grundanschauung gegenüber die
poetisch-künstlerische Idee , allerdings auf der Basis reli-
giöser, aber mythologischer Anschauungen wieder in
ihr Recht einzusetzen, so werden wir fast genöthigt, auch
in der Deutung des Frieses uns auf denselben Boden zu
stellen und fauch hier den einfach poetischen Gedanken
ohne Rücksicht auf die besonderen und einzelnen Gestaltungen
bestimmter,'|Culte aufzusuchen.
Kehren wir also nochmals zu den Bildwerken selbst
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 43
zurück. Die Männer zunächst den Göttern sind nicht, wie
man gemeint hat , Theilnehmer des Zuges , die bereits am
Ziele angelangt sind. Als solche würden sie nicht nur einen
Stillstand in die äussere Handlung bringen , sondern auch
einen Stillstand in der Phantasie des Beschauers bewirken.
Denn was soll geschehen, wenn die andern Theile des Zuges
herankommen? Alles stände erwartungsvoll vor der Ver-
sammlung der Götter ohne Führung und Leitung. Mag
jedes besondere Zeichen fehlen , um in diesen Männern
Archonten, Priester, Schatzmeister oder sonst welche Magi-
strate zu erkennen, ihre allgemeine Bedeutung kann nicht
zweifelhaft sein. Die einfache Thatsache, dass die vordersten
von ihnen die ersten Jungfrauen des Zuges empfangen und
diesen, was sie bringen , abnehmen, genügt zum deutlichen
Ausdrucke des Gedankens, dass sie bereits vor Ankunft des
Zuges an Ort und Stelle versammelt waren, dort das Nöthige
für den Empfang desselben vorbereitet haben und die weitere
Leitung der folgenden feierlichen Handlungen übernehmen
werden. In dem ihnen gegenüberstehenden ersten Theile
des Zuges übersehen wir nun die ganze Zurüstung von
Opferthieren und Geräthen und gewinnen dadurch einen
Begriff von dem Reichthum der Gaben, von der Solennität
der Feier, welche vor sich gehen soll. Aber bringt hier
jeder, was er bringt, als seine persönliche Gabe? Der
einzelne ist nur ein Vertreter, ein Beauftragter einer grös-
seren Gesammtheit : des Volkes. Für dieses soll das Opfer
verrichtet werden, in Gegenwart und unter Betheiligung des
Volkes, welches in geordnetem Zuge folgt, geordnet freilich
mehr nach künstlerischen, als nach streng politischen und
religiösen Rücksichten in Abtheilungen zu Fuss, zu Wagen
und zu Boss. Diese Gliederung erinnert an militärische
Ordnungen ; aber nirgends zeigt sich eine Scheidung zwischen
Heer und Volk. Unter den Reitern tragen einzelne Helm
und Panzer und die Jünglinge zu Wagen sind alle mehr
44 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
oder weniger gerüstet; aber niemand im ganzen Zuge führt
eine Angriffswaffe. Jeder Gedanke an eine etwa bevor-
stehende kriegerische Unternehmung soll ferngehalten werden :
wir sollen ein Volk erkennen , das sich zu friedlicher Fest-
feier vereinigt, und uns nur daran erinnern, dass dieses
selbe Volk auch im Stande ist, zu Fuss, zu Wagen und zu
Ross die Heiligthümer des Landes zu vertheidigen und
zu schützen.
Dennoch könnte es scheinen, als ob an der Spitze des
Zuges ein Stillstand eingetreten wäre. Stehen nicht dort
die Männer zum Theil unthätig in sorglosem Gespräch
untereinander begriffen? Allein wo eben erst die Spitze
des Zuges am Ziel anlangt, ist für sie der Moment zu einer
näheren Betheiligung an der Handlung noch nicht gekommen.
Blicken wir jetzt nach der Mitte auf die Gruppe im inneren
Räume des Heiligthums. Dort empfängt ein würdiger Mann
aus den Händen eines dienenden Knaben ein zusammen-
gelegtes Stück Zeug, den angeblichen Peplos der Göttin:
zu welchem Zwecke ? Die Antwort ist die einfachste, welche
sich denken lässt, sobald wir, unbeirrt durch alle bisherigen
gelehrten Erörterungen, uns einfach an das halten, was der
Künstler in klarer und sprechender Motivirung wirklich
dargestellt hat. Wir bemerkten, dass der Mann nur mit
einem langen Chiton, also nur halb bekleidet ist. Was
der Knabe bringt, kann also füglich nichts anderes sein,
als der weite Mantel, das Festgewand, welches der Mann
zur Vervollständigung seines Anzuges jetzt anlegen soll.
Bedürfte diese Deutung noch einer Bestätigung, so würde
sie in der augenfälligsten Weise dadurch gegeben^ dass die
letzte Figur des gesammten Frieses, der Jüngling an der
Südecke der Westseite, in derselben Handlung begriffen ist,
nemlich wie er die Chlamys über die Schulter wirft: un-
verkennbar ist hier die Absicht, durch Wiederholung des-
selben Gedankens das äusserste Ende und das Centrum der
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 45
Composition in eine feste, unauflösliche Verbindung zu
setzen. Unterdessen wird die neben ihm stehende Frau
die beiden Mädchen mit den Stühlen besorgt haben , und
auch die Bedeutung dieser letzteren ergibt sich jetzt als
selbstverständlich, wie sie bereits von Friederichs (Bausteine
S. 173) vermuthet worden war: die Stühle sollen vor den
Tempel getragen werden und der Mann und die Frau
auf ihnen Platz nehmen, als die mit dem Vorsitz ge-
ehrten. Beachten wir jetzt, dass, von der scheinbaren
Ausnahme der Kitharöden abgesehen, niemand im ganzen
Zuge ein ähnliches langes Untergewand trägt, wie der Mann
der Mittelgruppe , dass aber dieses Gewand in Verbindung
mit dem Mantel im antiken Kunstgebrauch zur Bezeichnung
der Königswürde dient, so liegt es nahe, in dieser Gestalt
den Archon Basileus zu vermuthen, auf welchen die priester-
lichen Functionen des älteren Königthums übergegangen
waren, und welcher gemeinschaftlich mit seiner Gemahlin,
der Basilinna, die öffentlichen Opfer vollzog (Demosth. c.
Neaer. 74.) — Während dieser Vorbereitungen im Innern
wird der gesammte Zug sich seinem Ziele nähern, und dort
unter der Leitung der ihn erwartenden Männer jeder seinen
bestimmten Platz einnehmen und die ihm angewiesenen
Functionen antreten. Ehe aber noch die letzten Festgenosssen,
deren einer sich eben erst die Sandalen anlegt, der andere
die Chlamys umwirft, zur Stelle sein können, werden auch
Priester und Priesterin mit ihrem Festornat sich vollständig
ausgerüstet haben, so dass bei ihrem Erscheinen vor dem
Tempel und unter ihrem Vorsitz die eigentliche Solennität
des Opfers beginnen kann. So schliesst sich sachlich und
künstlerisch das Ganze zur schönsten Einheit zusammen.
Wir sehen noch alles in Bewegung und Vorbereitung: aber
in der Vorbereitung erkennen wir deutlich das Ziel und
das Ende.
Wenn sonach jede directe Verbindung des Frieses mit
46 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 4. Juli 1874,
dem Panathenäenzuge und dem Peplos abgewiesen werden
muss, so lässt sich doch vielleicht in den Bildwerken des
Parthenon überhaupt eine anderweitige, wenn auch durchaus
ideale Beziehung auf diese Festfeier nachweisen. Der Peplos
war mit bildlichen Darstellungen geschmückt. Neben einem
Viergespanne, das entweder für die Göttin selbst bestimmt
war oder sich auf die bei der ersten Feier der Panathenäen
durch Erichthonios eingeführten Wagenrennen beziehen
mochte, bildete das typische Hauptthema dieser Darstel-
lungen die Gigantomachie (Michaelis Anhang II, n. 4;
140; 149; 154 ff.). Diese Idee des Peplos scheint Phidias
von dem Gewände auf die Wohnung der Göttin, den
schmuckreichen Saum ihres Tempels, d. h. auf den Fries
der Metopen übertragen zu haben. Es darf nemlich als
das Hauptresultat der neueren Forschungen über diesen
Theil der Parthenonsculpturen betrachtet werden, dass in
ihnen gerade an der Vorderseite des Tempels die Giganto-
machie in einer Reihe von einzelnen Scenen dargestellt war.
An sie schliessen sich auf den übrigen Seiten noch andere
Scenen , in denen allerdings Athene nicht selbst handelnd
auftritt: die Kämpfe der Lapithen gegen die Kentauren,
vielleicht troische Scenen u. a. ; auf der Rückseite endlich
entweder Amazonen- oder Perserkämpfe, aber sofern letztere,
jedenfalls fern von realistischer Auffassung , sondern über-
tragen in die Anschauungsweise der Heroenzeit als allge-
meine Darstellungen eines Kampfes, gegen Barbaren, in dem-
selben Sinne wie die Kentaurenkämpfe, in denen nicht ein-
mal der attische Hauptheld Theseus individuell charakterisirt
war, den Kampf gegen halbthierische Rohheit repräsentiren.
Wir dürfen wohl annehmen , dass in diesen Scenen die
Göttin indirect gefeiert wurde als die Beschützerin der
Helden und Geschlechter, die gleich ihr den Kampf gegen
wilde , den gesetzlichen Ordnungen feindliche Mächte
gewagt hatten ; und täuschen nicht einige, freilich nicht
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 47
völlig deutliche Angaben, so werden auch die Darstellungen
der Gigantomachie am Peplos eine Erweiterung und Er-
gänzung in verwandter Richtung gefunden haben.
Trifft die hier vermuthete Analogie in der Idee des
Peplos und des Metopenfrieses das Richtige, so haben wir
dadurch ein Mittelglied gewonnen, um dem Zusammenhange
der verschiedenen Bildwerke am Tempel weiter nachzu-
forschen und wo möglich auch die Bedeutung der Götter-
versammlung am Fries der Cella genau zu bestimmen.
Es ist auffällig , dass in den Nachrichten über die
Panathenäen eigentlich nirgends eine Andeutung über die
besondere religiöse Absicht, den Zweck der Feier gegeben
wird. Bei andern Festen der Göttin, wie den Plynterien,
den Skirophorien , pflegt eine einzelne Seite ihres Wesens
oder ihres Cultus hervorzutreten und in bestimmten Ge-
bräuchen Ausdruck zu finden. Es soll nicht geleugnet wer-
den, dass ursprünglich, d. h. etwa bei der auf Ericbthonios
zurückgeführten ersten Gründung der Athenäen solche engere
Beziehungen zum Cultus obgewaltet haben mögen. Aber
schon in den Erzählungen von der Erweiterung des Festes
zu den Panathenäen durch Theseus tritt ein anderer Ge-
danke hervor: es wird ein Fest der zu einem Staate ver-
einigten attischen Landschaften. Verwandte politische Ge-
sichtspunkte wirkten gewiss auch bei ihrer reicheren Aus-
stattung durch Peisistratos , auf den ja auch mit Wahr-
scheinlichkeit die Gründung des bei der persischen Erobe-
rung noch nicht vollendeten älteren Parthenon zurückgeführt
wird. Nicht um ein neues Heiligthum handelte es sich da-
bei, sondern nur um eine Erweiterung innerhalb des alten
Uqov, indem der alte Poliastempel den erweiterten Zwecken
des Cultus nicht mehr genügte. Was Peisistratos beab-
sichtigt haben mochte, erfüllte sich in noch wesentlich er-
höhtem Maasse unter Perikles. Athen hatte sich schnell zu
ungeahnter Macht und zu entscheidendem Ansehen unter
48 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 4. Juli 1874.
den hellenischen Bundesgenossen erhoben. Wie aber Athen
sich zur Schutzmacht von ganz Hellas emporschwang, so
musste auch die attische Landesgottheit sich zur Idee einer
Nationalgottheit erweitern: ein Verhältniss, welches seinen
äusserlichen Ausdruck darin fand, dass der nach Athen
übertragene Bundesschatz dem Schutze der Göttin in ihrem
neuen Tempel anvertraut wurde. Im Wesen einer solchen
Nationalgottheit aber konnten die gewissermassen particu-
laristischen Seiten und Züge ihres Cultus keinen Platz mehr
finden, sondern nur die allgemeinste und höchste Idee ihrer
Göttlichkeit. Diese Idee aber findet ihren Ausdruck im Be-
griffe der Athene Nike. NImj t1 ^A^ävct Hokia<;, q oco^ei
jtt' del, lässt Sophokles (Phil. 134) den Odysseus, aber offen-
bar aus athenischer Anschauung heraus sagen. Bei Euripides
im Ion (457) ruft der Chor die Athene als die aus dem
Haupte des Zeus geborene und zugleich als Ttoxvia Nlxa an.
Und bei Aristophanes beten die Ritter (581): w itokiov%B
Tlallag . . . Xaßovoa . . . ^vveqyov NUrjv. Zu vergleichen ist
auch der letzte Theil der Eumeniden des Aeschylos, in dem uns
besonders deutlich der Wandel vor Augen tritt, durch den die
Göttin jungen Stammes über die alten Urmächte sich ein sieg-
reiches Uebergewicht erkämpft. Das sind vollwichtige Zeugen
für die Anschauungen der perikleischen Zeit. Der mit Athene
aufs engste verbundenen, aber doch von ihr auch wieder ab-
gelösten Nike wird bei den Panathenäen ihr gesondertes Opfer
zu Theil. Das Tempelbild der Parthenos aber trug gleich Zeus
das Bild der Nike auf der Hand. Diese siegreiche Macht der
Göttin hatte sich zuerst offenbart in dem Kampfe der Götter gegen
die Giganten, in dem sie den Preis der Tapferkeit davon
getragen haben soll. In der Gigantomachie gewinnt die
Herrschaft der Olympier den dunklen Mächten gegenüber
ihre Begründung, und wie hier Athene die hervorragendste
Mitwirkerin ist, so bleibt sie es auch bei der Erhaltung
der damals gegründeten göttlichen Ordnungen, sei es dass
Brunn: Bildwerke des Parthenon. 49
sie selbst als Streiterin, sei es dass sie als Schützerin der-
jenigen Helden auftritt, die für das gleiche Ziel auf Erden
kämpfen. So entwickelt sich an dem Begriffe der Nike
immer mehr das ethische Element der Göttin, durch das
sie ihre hervorragende Stellung neben Zeus begründet und
mehr als die andern Götter sich zu nationaler Bedeutung
zu erheben vermochte.
Dieser Erweiterung ihres Wesens aus der perikleischen
Staatsidee heraus war eben die ganze Anlage des Parthenon
gewidmet. Dabei durfte aber der Ausdruck des Gedankens
nicht fehlen, dass Athene nächst Zeus die übrigen Götter
eben so überrage, wie Athen die übrigen Staaten von
Hellas. Wie aber liess sich dieser Gedanke im Bilde deut-
lich und fassbar darstellen? Auch die glänzendste Ent-
wicklung der panathenäischen Feier hätte zwar die Göttin
als eine hochgeehrte, aber nicht als die höchstgeehrte er-
kennen lassen. Letzteres war nur möglich durch Ver-
gleichung, indem wir die Göttin im Kreise der andern
Götter und unter diesen als die höchstgeehrte erblicken.
So finden wir sie in der Götterversammlung des Frieses.
Neben Zeus, dem nie und nirgends die erste Stelle versagt
werden kann, erscheint sie so gut wie gleichberechtigt;
denn wir haben hier nicht wie im vorderen Giebel nur einen,
sondern zwei Ehrenplätze an den Spitzen der beiden Hälften,
deren einen sie, wie Zeus den andern einnimmt. Wir haben
jetzt nicht mehr nöthig an den Panathenäenzug, überhaupt
nicht mehr an dogmatische und sacrale Beziehungen zu
denken. Um die Verehrung der Göttin nach ihrem all-
gemeinsten, aber zugleich höchsten geistigen Wesen handelt
es sich hier ; und wie ihre Ehren dadurch nicht geschmälert
werden, dass rings um ihren Wohnsitz, den athenischen
Burgfelsen herum, andere Götter ihre Tempel haben, so er-
leidet auch hier ihre Würde keine Einbusse : die Bedeutung
ihrer Festfeier wird vielmehr erhöht, indem die übrigen
[1874, II. Phil. hist. d.i.] 4
50 Sitzung der philos.-phüol. Gasse vom 4. Juli 1874.
Götter zu derselben geladen sind, um Zeuge der Verehrung
zu sein, die ein ganzes Volk ihr darbringt.
Blicken wir jetzt auf die Gesammtheit der Bildwerke
des Parthenon zurück, so ist in der vorderen Giebelgruppe
die erste Erscheinung der Göttin im Kreise der Olympier
zwar nicht wirklich dargestellt , aber so vorbereitet , dass
sie durch die Statue im Tempel selbst zu vollständigster
Wirkung gelangt. In der Gruppe des hinteren Giebels er-
greift sie vom attischen Lande Besitz. In den Metopen
bethätigt sie ihre Göttlichkeit im Kampfe gegen die Giganten
oder im Schutze der Kämpfer für sittliche Weltordnung
zum Wohle der Menschheit. Im Friese bringt die Mensch-
heit, vertreten durch das auserwählteste der Völker, die
Athener, der Göttin den Dank für diese ihre Wohlthaten
durch Opfer und Festversammlung. Diese Grundgedanken
sind so einfach, dass sie gewiss von jedem Athener ohne
Mühe verstanden wurden. Sie sind in ihrer Einfach-
heit so grossartig und zugleich so umfassend, dass sie die
mannigfachsten Einblicke in das geistige Wesen der Göttin,
in ihre Beziehungen zum attischen Lande und zum athe-
nischen Volke gestatten. Sie sind aber endlich so fruchtbar
an künstlerischen Motiven, dass sie dem Künstler Gelegen-
heit zur Schaffung von Werken darboten , die in allen
Zeiten unübertroffen dastehen.
Brunn: Bildwerke des Theseion. 51
Herr Brunn trägt ferner vor:
„Die Bildwerke des Theseion."
Von den bisherigen Erklärungen des Ostfrieses am
Theseion hat sich keine des Beifalls weiterer Kreise zu er-
freuen gehabt. Auch der letzten, -die erst kürzlich Lolling
in den Nachrichten von der Göttinger Ges. d. Wiss. 1874,
S. 17 ff. veröffentlicht hat, steht wohl kaum ein besseres
Schicksal bevor.1) Jeder neue Versuch aber begegnet der
alten Schwierigkeit, dass die Benennung des Tempels noch
immer nicht sichergestellt ist. Indessen lässt sich die
Thatsache nicht ableugnen , dass neben den Thaten des
Herakles in den Metopen der Vorderseite auch die des
Theseus an den Nebenseiten dargestellt sind. Der West-
fries ferner enthält den durch Theseus' Betheiligung be-
rühmten Kampf der Lapithen und Kentauren. Im Ostfries
endlich finden wir eine Schlacht aus mythischer Zeit. Dass
sie der attischen Sage angehöre, wird niemand bezweifeln.
Wen aber werden wir in der Heldengestalt, die gegen eine
Gruppe steinschleudernder Männer gewaltig kämpfend an-
geht , lieber erkennen , als den attischen Nationalhelden
Theseus? Für ihn genügt das allgemeine Jünglingsideal;
jeden andern attischen Herrscher oder Führer würden wir
durch besondere äussere Zeichen charakterisirt wünschen.
Wenn aber auch die Wahrscheinlichkeit für Theseus spricht,
so sind wir dadurch doch nicht wesentlich gefördert. Die
x) Aug. Schultz aus Breslau, dessen Dissertation de Theseo ich
"während des Druckes erhielt , kehrt zur Erklärung 0. Müller's zu-
rück, ohne sie durch neue entscheidende Gründe zu stützen.
4*
52 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
Theseussage hat sich in vielen Theilen offenbar erst nach
der Zeit des Homer und der kyklischen Dichter gebildet
und daher nicht von Anfang an diejenige Festigkeit und Ab-
geschlossenheit erlangt, die andern Sagenkreisen durch die
epische Poesie zu Theil geworden ist. Es machten sich
ferner die verschiedensten Einflüsse dahin geltend, dass sie
in der uns verbliebenen stückweisen Ueberlieferung nicht nur
lückenhaft, sondern, was schlimmer, voll von Widersprüchen
ist. Nur durch vorsichtige Combination lassen sich die
einzelnen Legenden zu Bildern, zu Schattenbildern in all-
gemeinen Umrissen ergänzen. Selbst also, wenn wir eine
Deutung des Frieses finden, werden wir doch kaum je im
Stande sein, von allen Einzelnheiten uns volle Rechenschaft
zu geben. Wir werden zufrieden sein müssen, wenn Bild-
werk und Sage in den Hauptzügen unter einander überein-
stimmen und wenn weniger wesentliche Züge dem allgemeinen
Zusammenhange wenigstens nicht direct widersprechen.
Wenden wir uns jetzt zu den Reliefs selbst, so wollen
wir uns nicht so sehr über die zahlreichen Verstümmelungen
beklagen , die ja natürlich das Verständniss des Einzelnen
wesentlich erschweren. Wir würden sie weniger empfinden,
sofern nur gewisse Hauptmotive theils an sich, theils. durch
die Vergleichung anderer Kunstwerke deutlich und un-
zweifelhaft uns entgegenträten. Allem Anschein nach aber
steht die Darstellung vereinzelt da und muss daher ganz
aus sich selbst erklärt werden.
Unsere Aufmerksamkeit wird zunächst durch die Gegen-
wart der beiden Göttergruppen angeregt. Nicht jeder
Kampf ist bedeutend genug, dass er einer solchen Zuschauer-
schaft würdig wäre, sondern nur wichtige, entscheidende
Katastrophen, an denen die Götter, so zu sagen, ein persön-
liches Interesse haben. In dieser Ansicht muss uns hier
auch die Ausdehnung des Kampfes selbst bestärken, der
sich inmitten der beiden Gruppen entsponnen hat, und keine
Brunn: Bildiverke des Theseion. 53
Deutung wird daher befriedigen können , sofern nicht die
Gegenwart der Götter in ihr eine genügende Erklärung
findet: sie handeln zwar nicht selbst mit; aber wie sie
räumlich die Composition gewissermassen einrahmen , so
müssen sie geistig den religiös-politischen Hintergrund für
die ganze Handlung bilden.
In der Schlachtscene tritt am schärfsten der Kampf
der Steinschleuderer hervor. Man hat ihretwegen an
Gigantenkämpfe gedacht; aber sie bilden nur eine Gruppe
unter andern von verschiedenartig gewaffneten Kriegern.
Oder es sollten barbarische Thracier sein,, die den Eieusiniern
im Kampfe gegen die Athener zu Hülfe gekommen. Es
liesse sich hören , wenn sie in ihrem eigenen Lande ange-
griffen sich mit Steinen vertheidigten. Aber ist es glaublich,
dass sie als Hülfsvölker aus fernen Landen gekommen sein
sollen — ohne Waffen? Man hat ferner gesagt, dass auch
die Helden des troischen Krieges sich zuweilen noch ge-
waltiger Felsstücke im Kampfe bedienen. Allein das ist
Ausnahme : der Stein ist eine in der Hitze des Gefechts zu-
fällig ergriffene Waffe. Hier sind es, von einem schon Ge-
fallenen abgesehen, drei Männer, welche sich mit Felsblöcken
dem Andringen eines muthigen Kämpfers widersetzen. Ihre
Kampfweise muss also einen besondern Grund haben. Zu-
nächst ist es wohl keinem Zweifel unterworfen, dass es sich
für sie nicht um einen Angriff, sondern um die Ver-
theidigung gegen einen Angriff handelt. Nach ihrer Seite
hin bewegt sich der ganze übrige Kampf und noch
hinter ihnen sehen wir die Folgen desselben in der Flucht
zweier Krieger. Hier also liegt die eigentliche Entscheidung;
eine Entscheidung , welche durch bestimmte locale Verhält-
nisse bedingt sein muss. Um es kurz zu sagen : wenn ein
Künstler die Aufgabe erhält, in einem Relief die Forcirung
eines felsigen Engpasses darzustellen, so wird er sie wohl
kaum besser lösen können, als es hier geschehen ist. In der
54 Sitzung der philos.-pJiilol. Classe vom 4. Juli 1874,
Erklärung des Frieses muss also diesem Umstände vor
allen Rechnung getragen werden; denn in ihm liegt das
unterscheidende Merkmal, welches diesen Kampf im Gegen-
satz zu jedem andern kennzeichnet.
Hören wir jetzt, was Plutarch im Leben des Theseus
(c. 25) erzählt. Nachdem Theseus Megaris für Attika in
festen Besitz genommen, stellte er auf dem Isthmus die be-
kannte Grenzsäule mit Doppelinschrift auf, nach Osten:
Taö1 ov%i IleloTtovvrjGogj aXV °Icovta
nach Westen:
Tad' earl TIeXo7t6vvTqaogy ovx ^Icovla
und hielt zuerst dem Poseidon zu Ehren die isthmischen
Spiele ab, bei denen nach einem Vertrage mit den Korinthern
den Athenern ein Ehrenplatz vorbehalten wurde, so gross
wie das ausgespannte Segel des Festschiffes. Plutarch er-
wähnt dabei, dass von einigen Autoren die Einsetzung der
Spiele auf die Entsühnung des Theseus von der Tödtung
des Skiron, nach andern des Sinis zurückgeführt werde.
An einer andern Stelle (c. 10) theilt er die von der ge-
wöhnlichen abweichende Sage der Megarenser mit, dass
Skiron kein Räuber , sondern ein Ehrenmann gewesen sei ;
Theseus aber habe , nicht als er zuerst nach Athen ging,
sondern später Eleusis genommen, das die Megarenser
inne gehabt, indem er den Herrscher (ctQ%ovTa) Diokles
stürzte und den Skiron tödtete. Auch Pausanias (I, 44, 6;
vgl. 39,6) nennt Skiron als Feldherrn der Megarenser,
der den Weg an den skironischen Felsen zuerst gangbar
gemacht habe, was ihn nicht hindert, in demselben Kapitel
auch vom Räuber Skiron zu erzählen. Eben so gab es
über den von Plutarch erwähnten Diokles verschiedene
Sagen: als Eumolpos nach Eleusis in Attika zog, sei er
nach Megara geflohen und in einem Kriege selbst gefallen,
während er einen geliebten Jüngling mit seinem Schilde
Brunn: Bildwerke des Theseion. 55
deckte, weshalb ihn die Megarenser als Heros verehrten
und ihm Spiele feierten : Schol. Theoer. XII, 30. Im home-
rischen Hymnus auf Demeter (v. 474; vgl. Paus. II, 14,3)
dagegen wird er neben Triptolemos , Eumolpos und Keleos
als einer derjenigen genannt , die von Demeter in den
Weihen unterwiesen wurden. Die Widersprüche liegen hier
klar zu Tage. Der eleusinische Krieg, der sonst in die
Zeit des Erechtheus gesetzt wird, ist in andern Sagen mit
den Kämpfen der Megarenser und Athener in Verbindung
gebracht. Uebereinstimmung ist hier nicht zu erzielen. Es
fragt sich nur, ob sich gewisse mythisch-historische That-
sachen feststellen lassen, an welche sich die verschiedenen
Wendungen in der Erzählung der Sage anzulehnen ver-
mochten.
Eine solche Thatsache, offenbar der Kern dieser Sagen,
ist die Erwerbung von Megaris für Attika durch Theseus.
Sie kann keine friedliche gewesen sein, und den Athenern
gegenüber standen gewiss nicht die Megarenser allein. Denn
es handelte sich um die Feststellung der Grenzen zwischen
Peloponnes und Ionien, die über Megara hinaus nach
Korinth zu lagen und nicht in Megara, sondern in Korinth
vereinbart wurden , indem dort wie zur Bekräftigung der
hergestellten Eintracht die Einsetzung der isthmischen Spiele
erfolgte. Das strategische Object, um welches es sich bei
diesen Kämpfen handelte, konnte kein anderes sein, als der
Pass bei den skironischen Felsen, der von Korinth aus den
Zugang nach Attika , von Megara aus den Zugang zum
Peloponnes öffnete. Erst sein Besitz sicherte Attika gegen
unvermuthete Einfälle von peloponnesischer Seite. Dass er
in dem von Plutarch erwähnten Kriege gegen Megara er-
worben wurde, lehrt die jenseits des Passes aufgestellte
Grenzsäule; vgl. Strabo IX, 392. Wenn nun dort die
Entscheidungsschlacht geschlagen wurde, so mochte darin
für die Megarenser der Anlass liegen, die gewöhnliche Sage
56 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
von dem Räuber Skiron in dem Sinne umzubilden, dass sie
behaupteten, Skiron, einer ihrer Landesheroen, sei im Kriege
von Theseus überwunden und getödtet worden, während es
sich in Wirklichkeit um die Eroberung des skironischen
Passes handelte.
Somit haben wir für die Hauptgruppe des Frieses eine
den künstlerischen Motiven durchaus entsprechende Deutung
gefunden. Zur weiteren Unterstützung derselben wenden
wir uns zu der rechts hinter den Göttern befindlichen
Gruppe. In ihr fällt die eigenthümliche Haltung der letzten Figur
besonders auf, die mit dem Körper etwas 'nach rückwärts,
mit Kopf und Schultern aber wieder nach vorwärts geneigt
ist. Die Annahme , dass sie beschäftigt sei , ein Grab zu
graben, wird keiner Widerlegung bedürfen. Ebenso wider-
spricht es dem Augenschein, dass es sich um die Errichtung
eines Tropäon handle, indem dazu zwischen dieser und der
nächsten Figur nicht hinlänglicher Raum übrig bleibt.
Wohl aber lässt sich denken, dass die erstere sich in einer
Stellung befand , ähnlich der des Satyrs in der Schmiede
des Hephästos, welcher dem Gotte einen Schild hinhält
(Overbeck G. h. B. 18,5; die Frage der Echtheit dieses
Reliefs kommt hier nicht in Betracht): sie konnte recht
wohl eine Tafel oder einen ähnlichen Gegenstand zwischen
den Knieen oder auf das linke Knie gestützt mit beiden
Armen vor sich hin halten. Die nächste Figur hätten wir
uns dann so vorzustellen, dass sie mit der Rechten auf die
Tafel deutete, während sie nach der hinter ihr stehenden
Gruppe umblickt, um diese auf die Tafel aufmerksam zu
machen. Ermangelt dieser Restaurationsvorschlag nicht der
Wahrscheinlichkeit (und es wird wenigstens von künstlerischer
Seite seine Möglichkeit nicht geleugnet werden können) , so
liegt die Deutung auf der Hand, dass es sich dabei um die
berühmte Stele handle, durch welche die Grenze zwischen
dem Peloponnes und Ionien oder Attika festgestellt wird.
Brunn: Bildwerke des Theseion. 57
Auch für die Gegenwart der Götter findet sich] jetzt
ohne Schwierigkeit eine passende Erklärung. Handelt es
sich doch um ein grosses historisch politisches Ereigniss?
das seinen Abschluss nach dem Sinne der alten Zeit in
einer religiösen Feier, in der Einsetzung der isthmischen
Spiele findet, einem Feste der VereiniguDg hellenischer
Stämme unter dem Schutze des Gottesfriedens. Ist es uns
auch nicht gegeben, die Bedeutung der einzelnen Göttergestalten
und deren besondere Beziehung zur Haupthandlung sicher
nachzuweisen, so spricht es doch für den allgemeinen Ge-
danken unserer Auffassung, dass man schon bisher in den
beiden Spitzen der Versammlung Zeus als obersten Herrscher
und ihm gegenüber Poseidon, den Herrscher des Isthmus,
übereinstimmend anerkannt hat.
Die Ueberlieferung , so weit wir sie bisher betrachtet
haben, würde kaum genügen, in der Deutung der noch
übrigen Theile des Frieses einen weiteren Schritt zu wagen.
Vielmehr könnte die Fassung des Berichtes bei Plutarch,
von dem wir ausgegangen sind, sogar zu einem Zweifel an
der Haltbarkeit der ganzen Erklärung berechtigen. Wenn jene
von Plutarch nur mit wenigen Worten bezeugte Erwerbung
von Megara in ihren Folgen von so grosser Bedeutung war,
wie kommt es, dass wir von ihr anderwärts nur so schwache
Kunde finden? Die Beantwortung dieser Frage liegt darin,
dass Plutarch nicht die ganze historische Sage mittheilt,
indem er wahrscheinlich einen andern zu ihr gehörigen
Theil in seinen Quellen nicht auf den Namen des Theseus,
sondern seines Sohnes Demophon lautend fand. Um es
kurz zu sagen: jene Erwerbung von Megara ist nichts als
ein Theil der berühmten Kämpfe Athens gegen Eurystheus
und die Peloponnesier. Sie gehören zu den stolzesten Er-
innerungen der Athener; aber um so mehr hat sich auch
die Sage und Poesie an ihnen versucht und die wohl sicher
58 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
zu Grunde liegenden Thatsachen in mannigfachen Formen
und Wendungen ausgeschmückt. So erklärt es sich, dass,
wenn bereits Ulrichs (Ann. d. Inst. 1841, p. 74) im Fries
des Theseion die Darstellung dieser Kämpfe zu erkennen
glaubte, seine Deutung nichts destoweniger unhaltbar ist,
weil er sie aus der poetischen Gestaltung in den Herakliden
des Euripides durchaus falsch zu begründen unternahm.
Wir werden vielmehr versuchen müssen, durch die poetische
Umhüllung in den historischen Kern der Sage einzudringen.
Die Herakliden, von Eurystheus verfolgt, dessen Macht
in ganz Griechenland gefürchtet ist, suchen endlich Schutz
bei den Athenern , die ihn gewähren. Das geschieht nach
Pherekydes (bei Antonin. Liberal. 33), nach Euripides und,
wie wir aus dem Schweigen im Leben des Theseus folgern
dürfen, wohl auch nach der Ansicht Plutarchs unter der
Herrschaft des Demophon. Für die Zeit des Theseus er-
klären sich dagegen Tsokrates Helen. 31, Diodor IV, 57
und Pausanias I, 32,5, der nach der Bemerkung von Ulrichs
hier wie in der Regel wohl die herrschende Volksansicht
ausspricht, welche allen Ruhm auf Theseus zu häufen liebte,
während die entgegengesetzte Meinung auf chronologischen
Gründen beruhen mochte. Wie hohen Werth die Athener
auf den Ruhm dieser Kämpfe legten, spricht sich bereits bei
Herodot in der Erzählung über die Vorbereitungen zur
Schlacht bei Plataeae aus (IX, 27). Die Tegeaten verlangen
den Ehrenplatz auf dem linken Flügel, weil ihr König
Echemos bei dem Versuche der Herakliden , in den Pelo-
ponnes einzudringen, den Hyllos getödtet habe. Die Athener
behaupten dagegen , dass sie schon vor dieser Zeit allein
gegen den Uebermuth des Eurystheus den Herakliden Schutz
gewährt und mit ihnen in der Schlacht die damaligen
Herrscher der Peloponnesier besiegt. Als Kampf gegen den
Peloponnes oder richtiger als einen Kampf zur Befreiung
Brunn: Bildwerke des Theseion. 59
des Peloponnes von der Tyrannei des Eurystheus, wodurch
erst der späteren Herrschaft der Herakliden namentlich
auch in Sparta der Weg gebahnt worden sei , feiern auch
später besonders die Rhetoren diesen Krieg und begründen
darauf sogar Ansprüche der Dankbarkeit von Seiten Sparta' s
gegen Athen. So besonders Isokrates Paneg. § 58; 59; 65;
Phil. 34; Archid. 42; Helen. 31; Panathen. 194; Lysias
Epitaph. 15; Ps. Demosth. Epitaph. 8; (de coron. 186).
Auch Thukydides I, 9 erwähnt, dass Eurystheus in Attika
gefallen sei, und bei Xenophon Hell. VI, 5,47 macht Prokies
von Phlius geradezu geltend, dass, so gut wie die Athener
die Ahnherrn der Spartaner vor der Wuth des Eurystheus
gerettet hätten , sie nun auch ganz Sparta vor dem Unter-
gange bewahren möchten. Vgl. Schäfer Rede z. Winckel-
mannsfeste; Greifsw. 1861.
Wo aber fand die entscheidende Schlacht statt? Die
Herakliden wohnten zu Trikorythos oder Marathon in der
Tetrapolis , die deshalb' noch im peloponnesischen Kriege
von den Plünderungen der Spartaner verschont blieb (Diod.
IV, 57; XII, 45; Schol. Oed. Col. 689). Bei Marathon
hatte sich Makaria, die Tochter des Herakles, zur Gewinnung
des Sieges dem Tode geweiht; bei Trikorythos war nach
einer Sage das Haupt des Eurystheus, sein Körper bei
Gargettos begraben (Strabo VIII, 377). Dort bei Gargettos
in der Nähe des Tempels der Athene Pallenis soll nach
Euripides die Hauptschlacht stattgefunden haben , jedoch
nach andern Nachrichten , ja nach Euripides selbst nicht
der einzige Kampf. Denn Pausanias (I, 44, 10) sah un-
mittelbar hinter den skironischen Felsen nach der korin-
thischen Seite das Grab des Eurystheus an der Stelle, wo er
auf der Flucht von Iolaos getödtet sein sollte, während
Euripides ihn ebendaselbst von Iolaos gefangen, später aber
auf Anstiften der Alkin ene getödtet und vor dem Tempel
60 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
der Athene Pallenis begraben werden lässt. Auch bei
Apollodor II, 8,1 wird er bei den skironischen Felsen von
Hyllos getödtet, welcher das Haupt der Alkmene überliefert.
So gelangen wir also wieder zu den skironischen Felsen,
und wenn auch Sage und Poesie den Krieg in eine einzelne
Schlacht und die Verfolgung zusammenziehen, so steht doch
nichts im Wege, die Schlacht auf eigentlich attischem Ge-
biete anzuerkennen, den letzten Entscheidungskampf aber
an die skironischen Felsen zu verlegen. Mit dem dortigen
Kampfe wird namentlich das Ende des Eurystheus in Zu-
sammenhang gebracht, und wenn auch in einem Theile
unserer Nachrichten nur von seinem Tode die Rede ist, so
tritt doch in einem andern sehr bestimmt ein weiterer Zug
hinzu , nemlich dass er nicht einfach fiel , sondern vorher
noch die Schmach der Gefangennehmung erdulden musste.
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Fries des The-
seion vor die Zeit fällt, in welcher die ganze Sage von der
Tragödie mehrfach behandelt und natürlich je nach den
Bedürfnissen der Dichtung im Einzelnen vielfach modificirt
wurde. In der Tragödie mussten natürlich die Herakliden
selbst in den Vordergrund treten und die historisch politische
Seite der Sage bildete mehr den Hintergrund, von dem sich
die Gestalten der Dichtung abhoben. Für das athenische
Volksbewusstsein und für die Darstellung an einem öffent-
lichen Monumente musste gerade auf das politische Moment
das Hauptgewicht gelegt werden. Die Redner sprechen von
dem Ruhme Athens. Plutarch aber, durch dessen Nachricht
über Theseus die übrigen Erzählungen ergänzt werden,
lehrt uns die praktischen Folgen des Krieges kennen , die
neue Regelung des Verhältnisses Athens zum Peloponnes.
Fassen wir jetzt das gesammte Resultat noch einmal
kurz zusammen. Der Schutz der Herakliden veranlasst einen
Krieg zwischen den Athenern und den Peloponnesiern unter
Brunn: Bildwerke des Theseion. 61
der Führung des Eurystheus. Zu Athen gehörte damals Megara
noch nicht; folglich ist es zum Peloponnes zu rechnen. Der
Kampf beginnt auf athenischem Boden, setzt sich aber nach
der Zurückdrängung der Peloponnesier bis zu den skironischen
Felsen fort und findet durch die Gefangennehmung und darauf
folgende Tödtung des Eurystheus sein Ende. Die feste Erwerbung
Megara's und des skironischen Passes sichert den Besitz-
stand Athens gegen den Peloponnes und findet in der
Grenzsäule seine staatsrechtliche Anerkennung. Darüber hinaus
erlangen die Athener noch das Gastrecht bei den Isthmien, indem
der Sturz des Eurystheus als eine Befreiung vom Tyrannenjoche
den Athenern Anspruch auf den Dank der Peloponnesier erwirbt.
Betrachten wir auf Grundlage dieser vereinfachten
Thatsachen die Reliefs des Frieses , so gliedert sich die
Composition in einfacher Weise. Zwischen den Götter-
gruppen bewegt sich der Kampf: in der ersten Hälfte
sehen wir die Schlacht und die Flucht der Peloponnesier,
in der zweiten die Erstürmung des skironischen Passes,
welche die Entscheidung herbeiführt. Die Folgen derselben
erkennen wir in den Seitengruppen ausserhalb der centralen
Composition, die auch räumlich nicht mehr über der Cella,
sondern über den Seitenhallen des Tempels ihre Stelle
haben: links die Fesselung des gefangenen Eurystheus,
rechts die Bestimmung der Grenze des Peloponnes.
Einem Einwurfe soll hier sofort begegnet werden,
nemlich ob es gestattet ist, in dem gefesselten unbärtigen
Manne den mit Herakles gleichalterigen Eurystheus zu er-
kennen. Handelte es sich um ein Vasenbild oder etwa ein
römisches Relief, so würde diese Frage wohl ohne Bedenken
verneint werden müssen. Wir haben indessen den Fries
zunächst aus sich und aus den ihm der Zeit nach nahe
stehenden Sculpturen zu beurtheilen. Nun sind öder waren
schon zu Stuarts Zeit nur noch sehr wenige Köpfe am Fries
62 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
erhalten und diese sind sämmtlich unbärtig; aber auch von
allen übrigen Figuren , mit Ausnahme des Zeus und des
Poseidon, lässt sich nach der sonstigen Bildung der Körper
schliessen , dass sie bartlos dargestellt waren. Am West-
fries kämpfen gegen die wilden bärtigen Kentauren nur un-
bärtige Krieger. Dasselbe finden wir an den Metopen des
Parthenon. Im Friese desselben kommen unter den Reitern
der Westseite ausnahmsweise zwei bärtige Männer vor,
sonst ist alle kriegstüchtige Mannschaft unbärtig und nur
unter den Bürgern im Mantel ist das vorgerücktere Alter
überwiegend vertreten. Auch im Fries von Phigalia findet
sich den Kentauren und Amazonen gegenüber nur ein ein-
ziger bärtiger Krieger; und erst am Mausoleum tritt wieder
ein häufigerer Wechsel ein. Demnach scheint die Kunst,
als sie sich eben erst von den Fesseln des Archaismus be-
freit hatte, mit einer gewissen, durch den Gegensatz be-
greiflichen Einseitigkeit die unbärtige Bildung bevorzugt zu
haben, bis erst später sich ein Streben nach Vermittelung
der Extreme geltend machte. Leider ist der Kopf des
Eurystheus, der bei Stuart noch als erhalten gezeichnet ist,
etzt nicht mehr vorhanden; und wenn auch die der Publi-
jcation zu Grunde liegenden Zeichnungen von Pars im All-
gemeinen als zuverlässig zu betrachten sind, so diarf doch
auf den Ausdruck der einzelnen, gewiss auch damals schon
nicht völlig intacten Köpfe kein entscheidendes Gewicht ge-
legt werden. Die gesammte Anlage des Körpers und seine
breiten Formen sprechen ausserdem nicht sowohl für einen
Mann in jugendlichem, als in reif entwickeltem Alter, und
gewisse pathetische, der Kunst dieser Zeit noch fremde Züge
des Gesichts könnten daher von dem Zeichner leicht miss-
verständlich an die Stelle des markirteren Ausdruckes eben
dieses Alters gesetzt sein.
Auf eine weitere Deutung der einzelnen Figuren müssen
Brunn: Bildwerke des Theseion. 63
wir bei dem Schwanken und den Widersprüchen der Ueber-
lieferung verzichten, und es fragt sich sogar, ob und wie
weit der Künstler überhaupt, von Theseus und Eurystheus
abgesehen, einzelne Figuren individuell charakterisiren wollte.
Namentlich scheint er völlig davon abgesehen zu haben, die
Herakliden in der Darstellung irgendwie selbständig hervor-
treten zu lassen. Ja wir dürfen vielleicht behaupten, dass
er daran durch die Grundidee der gesammten Sculpturen
des Tempels geradezu verhindert war. Zur Begründung
dieser Ansicht ist es nöthig, zunächst einen Blick auf die
Darstellungen des Westfrieses zu werfen.
Der Gegenstand derselben bedarf- keiner langen Er-
örterung: es ist der Kampf der Lapithen und Kentauren,
wie wir aus der Gruppe des Kaineus , • der von zwei Ken-
tauren unter einem Felsen begraben wird, zu schliessen be-
rechtigt sind. Dass bei dem Jüngling der nächsten Gruppe
rechts, welcher einen Kentauren angreift, der Künstler an
Theseus gedacht habe, ist möglich, lässt sich aber nicht be-
weisen. Im Uebrigen löst sich die Composition in einzelne
Gruppen auf, in denen keine Figur so cliarakterisirt ist,
dass es gestattet wäre, ihr einen besonderen Namen beizu-
legen. Gewiss hätte es dem Künstler nicht schwer fallen können,
an die Stelle dieser lockeren Fügung eine dem Inhalt und
der Form nach einheitlich mehr geschlossene Composition
zu setzen , namentlich wenn er den im Mythus gegebenen
Anlass des Kampfes, die Vergewaltigung der Frauen durch
die Kentauren und ihre Beschützung durch die Lapithen,
als das die Mitte beherrschende Motiv hätte verwerthen
wollen. Dass er es nicht that, hat (abgesehen von künstle-
rischen Rücksichten allgemeiner Art) seinen Grund offenbar
in dem Charakter der ihm gestellten Aufgabe. Wie es sich
im Ostfries nicht um den Anlass des Streites, den Schutz
der Herakliden handelte, sondern um die politische Be-
64 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
deutung des Kampfes', so sollte auch hier nicht der im
Mythus poetisch entwickelte Anlass der Kentaurenkämpfe
dargestellt, sondern diese selbst sollten wiederum nur als
der Ausdruck eines politischen Gedankens verwerthet wer-
den, den wir nicht erst zu formuliren, sondern nur dem
Isokrates (Helen. § 25 — 26) zu entlehnen brauchen: Theseus
hat sich als Wohlthäter Athens und der Hellenen bewährt,
indem er als Bundesgenosse der Lapithen die Kentauren
züchtigte, die durch ihre Schnelligkeit und Stärke hellenische
Städte theils verwüstet hatten, theils mit Verwüstung be-
drohten. So ordnen sich beide Friese leicht einer gemein-
samen Idee unter : ' Theseus und die Athener als Schützer
der Unterdrückten und Rächer der Unterdrücker.
Nur eine Erweiterung dieses Ideenkreises ist es, der
auch die Metopen zu dienen bestimmt sind. Schon früher
hat man mit guten Gründen die Thatsache gerechtfertigt,
dass in den Metopen Herakles neben Theseus, ja durch die
Stelle, welche die Darstellung seiner Thaten an der Vorder-
seite des Tempels einnimmt, fast noch mehr als Theseus
verherrlicht scheint. Die Athener rechneten es sich zum
Verdienst an, dem Herakles zuerst göttliche Ehren erwiesen
zu haben, und gerade Theseus ist es, der in der Anerkennung
dieses seines Vorbildes voranging, man möchte sagen, um
für die Anerkennung seiner eigenen Thaten eine desto
sicherere Gewähr zu finden, ja sogar um sich über sein Vor-
bild zu erheben. °!,4XIoq ovrog cHqaylrg und ovy. avev
QrjGetjg (Plut. Thes. c. 29): das sind die beiden Sätze, die
sich durch den ganzen Mythus des Theseus hindurchziehen
und die eben so im Bewusstsein des athenischen Volkes
leben. Herakles verrichtete seine Thaten nur gezwungen
auf Befehl des Eurystheus und manche derselben brachten
der Welt nicht einmal Nutzen, sondern nur ihm Gefahr;
Theseus dagegen unterzog sich den Gefahren aus eigenem
Brunn: Bildwerke des Theseion. 65
Antrieb, um ein Wohlthäter der Hellenen und seines Vater-
landes zu werden: so belehrt uns Isokrates (a. a. 0.)- Wir
brauchen aber nur ihm (Paneg. 60; Panathen. 194) und
dem Lysias (Epitaph. 12 — 16) noch weiter zu folgen, um
erst völlig zu verstehen, weshalb am Ostfries der Kampf
gegen Eurystheus dargestellt war: Herakles, der gewaltige,
die menschliche Natur überragende Held, der von Zeus er-
zeugt schon als Sterblicher göttliche Kraft hatte, musste
sich der Botmässigkeit und schmählichen Behandlung eines
Eurystheus unterwerfen. Als aber Eurystheus es wagte, in
frevelhaftem Uebermuthe die Athener anzugreifen, da wandte
sich das Schicksal dermassen , dass er wegen der Kinder
des Helden sein Leben mit Schmach und Schimpf endete.
(1874. II. Phil. hist. Cl. 1.]
66 Sitzung der philos.-phüol Classe vom 4. Juli 1874,
Herr Lauth trägt vor:
„Die Sothis oder Siriusperiode der alten
Aegypter".
„Suche den ruhenden Pol in der Erschein-
ungen Flucht".
(Schiller, Spaziergang.)1
Jeder, der sich, wenn auch nur oberflächlich, mit der
Geschichte und Zeitrechnung des Alterthums befasst, muss
nothgedrungen gleich an der Schwelle die Frage aufwerfen:
wie ist die Bestimmung der Zeit, dieses scheinbar unfass-
baren Elementes, durch das uralte Culturvolk der Aegypter
getroffen worden? Nachdem ich vor fünf Jahren in der
öffentlichen Sitzung der königlichen Academie der Wissen-
schaften über die „geschichtlichen Ergebnisse der
Aegyptologie" mit möglichster Kürze gehandelt, scheint es
die Vollständigkeit zu fordern, auch der Chronologie, als
des unentbehrlichen Complementes der Historie, zusammen-
fassend zu gedenken. Zwar ist die Chronologie, wie unser
Altmeister Göthe *) weiss und richtig bemerkt, eine der
schwersten Wissenschaften, weil ihr Gelingen eine Vereinigung
auseinander liegender Kenntnisse und eine Anwendung ver-
schiedenartiger Geisteskräfte und Bestrebungen voraussetzt.
Allein diese Schwierigkeit des Problems soll uns nicht ab-
schrecken, auf eine Lösung der Frage hinzuarbeiten, da uns,
Dank Champollion's Entdeckung des Hieroglyphenschlüssels,
gegenwärtig ungleich bessere Quellen in den Originalurkunden
vorliegen, als sie den Scaliger, Petavius und selbst noch
1) Bimsen: Aegyptens Stelle in der Weltgeschichte I, 278.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 67
Ideler zugänglich waren. Und sowie alles Aegyptische wegen
seiner für die früheren Jahrtausende der Geschichte grund-
legenden Bedeutung die Aufmerksamkeit aller Forscher, die
Betheiligung aller Zweige der Wissenschaften beansprucht,
so dürfte insbesondere die vorliegende Frage über die
Sothis oder Siriusperiode ' der alten Aegypter das
Interesse ebensowohl der Archaeologen und Historiker, als
der Mathematiker und Naturkundigen, ja aller Gebildeten in
hohem Grade zu erregen geeignet erscheinen, da von der
Beantwortung derselben Sein oder Nichtsein der alten Chro-
nologie überhaupt abhängt.
Bevor ich jedoch darangehe, die classischen, urkund-
lichen und monumentalen Zeugnisse für den wenigstens
wissenschaftlichen Gebrauch dieser Zeitperiode vorzulegen,
ist es unerlässlich, von derjenigen Jahresform zu sprechen,
welche im bürgerlichen Leben der alten Aegypter und bei
den Datirungen der Denkmäler die übliche war: ich meine
das sogenannte Wandeljahr.
Seit den ältesten Zeiten z. B. der grossen Pyramiden
(mehr als 3400 Jahre vor Jul. Cäsar's gallischem Feldzuge)
gebrauchten die Bewohner des Nilthaies ein Jahr von 365
Tagen d. h. zwölf dreissigtägigen Monaten nebst fünf Zu-
satztagen oder Epagomenen — eine Einrichtung, welche
bekanntlich im Kalender der ersten französischen Republik
adoptirt wurde, wo auch die cinq jours complementaires
nicht fehlen. Dieses Jahr zerfiel in drei Tetramenien oder
Abtheilungen von je vier Monaten, welche ursprünglich den
Bedürfnissen der Agricultur angepasst und demgemäss sehe,
pert, schom „Fluth, Aussaat, Ernte" benannt waren. Die
einzelnen Monate jeder Tetramenie wurden von 1 — 4 be-
ziffert und gezählt, während die im Koptischen bis heute
erhaltenen Monatsnamen von dem Hauptfeste der betreffen-
den Gottheit herrühren, wie ich in meinem Buche „Les
zodiaques de Denderah" ausführlich dargethan habe. Selbst
5*
68 Sitzung der philos.-phäol. Classe vom 4. Juli 1874.
der Laie wird aus den Benennungen der zwölf ägyptischen
Monate: Thot, Phaophi, Athyr, Choiahk —
Tybi, Mechir, Phamenoth, Pharmuti —
Pachons, Payni, Epiphi, Mesori —
unschwer Anklänge an die Götter Thot, Hathor, Rennut
{auch Remut), Chons, Ape, Horus vernehmen und sich leicht
überreden lassen, dass die Vorsylbe Pa (Pron. poss.) „der
(Monat) von" und mes ,, Geburt1' bedeutet. Im koptischen
Kalender, der bis heute in Aegypten üblich ist, werden diese
zwölf Namen ausschliesslich gebraucht.
Es leuchtet aber sofort ein, dass ein solches Jahr von
365 Tagen, welches den überschüssigen Vierteltag nicht be-
rücksichtigt und demgemass ohne alle Einschaltung fortschreitet
— wesshalb man es eben „Wandeljahr" betitelt hat — mit
jedem vierten Jahre um einen ganzen Tag von dem grösseren
natürlichen Jahre zu 365 1U Tagen zurückweicht, so dass 1461
ägyptische Wandeljahre genau = 1460 Sonnenjahren sind.
Erscheint diese Differenz von einem Jahre für eine fast
anderthalbtausendjährige Periode auch quantitativ sehr ge-
ring , so bedingt sie andererseits doch zwei wesentlich ver-
schiedene Jahresformen : annus vagus neben annus fixus und
hiemit die Möglichkeit einer Berechnung der Verschiebung.
Es muss theoretisch zugegeben werden, da^s die Sonder-
stellung der fünf Zusatztage oder Epagomenen am Schlüsse
des Jahres so wie ihre authentische Benennung : „Das Jahr
und die fünf Ueber(tage) | m ® \\ — so auf einer Stele der
XII. Dyn. (2500 v. Chr.) in der Münchner Glyptothek —
den Schluss auf ein früheres Jahr von nur 360 Tagen nicht
nur erlaubt, sondern sogar aufnöthigt, um so mehr, als in
den Verzeichnissen von Sternaufgängen z. B. im Grabe
Ramses IV die fünf Epagomenen übergangen sind, wozu es
stimmt, dass die nämliche Tafel nur 36 Decane oder Ge-
stirnungen sei es im Aequator oder in der Ekliptik kennt,
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 69
welche mit den 36 Decaden des ägyptischen für die Urzeit
vorauszusetzenden Jahres von 360 Tagen, vollkommen har-
monieren. Die Gruppe j O „das Jahr (u.) die 5 Tage",
im Kalender Ramse's III zu Medinet Habu beweist dies
ebenfalls direct.
Auch das Mondjahr zu 354 Tagen (12 synodische
Monate zu je 29 Vs Tagen) kann für eine gewisse Stufe
der Urzeit postulirt werden , nicht nur wegen der Analogie
mit der griechischen Oktaeteris , dem jüdischen und muha-
medanischen Kalender, sondern auch desshalb weil uns die
Monumente, welche Brugsch neulich vor drei Jahren in
der Zeitschrift für ägyptische Sprache und Alterthums-
künde erschlossen hat, in der That einen 25 jährigen Cyclus
(z. B. von Sexta zu Sexta) aufweisen , der an den synodi-
schen Monat geknüpft erscheint. Hiebei erinnere man sich,
dass der Astronom Ptolemäus 2) seine 7tQO%eiqovg ytavovag
nach 25 jährigen Perioden geordnet und berechnet hat, weil
nach Ablauf dieses Zeitraums die nämlichen Mondphasen auf
die entsprechenden Tage des Wandeljahres fielen, dessen er
sich auch bei Bestimmung der Finsternisse und Aequinoctien
— vermuthlich der leichteren Rechnung halber — fortwährend
bediente. Wem fällt hiebei nicht die Apisperiode ein>
jener Cyclus von 25 ägyptischen Wandeljahren, nach dessen
Ablauf der betreffende Stier getödtet werden musste ? Hierin
liegt keineswegs ein roher Thiercultus, wie die Griechen und
Römer vermeinten, sondern es war der heilige Apis die
Incarnation des uralten Nationalgottes Osiris und die 25
Wandeljahre ergeben, wie schon Ideler, gezeigt hat, 309
mittlere synodische Monate bis auf die verschwindende
Differenz von 1 Stunde 33 Minuten. Der enge Zusammen-
hang des Wandeljahres mit der Apisperiode ergibt sich
auch aus Folgendem.
2) Syncellus: Chronographia (Dindorf) p. 97.
70 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
In griechischen Inschriften wird das ägyptische Wandel-
jahr mit xar* aQxcdovQj manchmal kurzweg mit xo^ u4lyv7t-
rlovg bezeichnet. Aus dem Commentare zu den Phänomm.
des Aratus entnehmen wir die Notiz, dass der König im
Tempel des Apis zu Memphis von dem Priester der Isis in
das Adytum geführt und darauf beeidigt wurde, weder einen
Monat noch einen Tag einschalten zu wollen, den sie in
einen Festtag zu verwandeln hätten, sondern das Jahr zu
365 Tagen zuhalten, sicut institutum est ab antiquis3).
Wir haben zwar bereits gesehen4), dass weder Ptolemäus
Euergetes I noch Augustus durch solche religiöse Bedenken
sich abhalten Hessen, einen sechsten Epagomen, oder, was
dasselbe ist, das fiae Jahr von 365 V* Tagen auch in den
bürgerlichen Kalender einzuführen. Aber immerhin bildet
der Bestand des Wandeljahres die Regel, da man dieser an
und für sich bedenklichen Beweglichkeit aller Feste eine
religiöse Seite abzugewinnen wusste, dass nämlich dadurch
successive alle Jahreszeiten und Tage geheiligt würden5).
Man darf aus dem Vorhandensein des Mondjahres zu
354, des ursprünglichen Sonnenjahres zu 360 und des Wandel-
jahres zu 365 Tagen nicht die Schlussfolgerung ableiten,
dass es den alten Aegyptern überhaupt an der Kenntniss
der wahren Länge des Jahres zu 365 V* Tagen gefehlt habe.
Abgesehen einstweilen von den vielen weiterhin anzuführen-
den Gründen, welche das Gegentheil beweisen, dürfte schon
die einfache und allgemein bekannte Thatsache genügen,
dass unser fixes Jahr, wie es durch Jul. Cäsar nach Europa
gebracht und durch Veranstaltung des Pabstes Gregor XIII
rectificirt worden ist, auf ägyptischen Ursprung zurück-
weist. Der alexandi inische Gelehrte Sosigenes leistete hie-
3) Brugsch: Materiaux etc. p. 21.
4) Vergl. meine vorige Abhandlung : „Die Schalttage des Euer-
getes I und des Augustus".
5) Ideler's Handbuch der Chronologie p. 95 nach Geminus.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 71
bei dem römischen Eroberer dieselben Dienste, wie später
der Astronome Lilius dem römischen Pontifex.
Nun könnte man einwenden, dass Sosigenes ein Grieche
war, wie Dionysius, der unter Philadelphus ebenfalls schon
-das fixe Jahr kannte und in seinem Kalender durchführte.
Allein wie begreift sich bei der notorischen Mangelhaftigkeit
•des griechischen Kalenderwesens, welches trotz der Anstreng-
ungen eines Meton, Kalippus etc. im Argen liegen blieb, dass
Herodot, der treue Beobachter, II 4 die Einrichtung des
ägyptischen Jahres zu 12 dreisigtägigen Monaten nebst fünf
Zusatztagen, wegen ihrer Uebereinstimmung mit den Jahres-
zeiten, der griechischen Oktaeteris, welche im 3., 5., 8. J.
did tqltov erovg je einen ganzen Monat zu 30 Tagen ein-
schaltete, entschieden vorzieht? Dem Wortlaute nach wären
zwei ägyptische Tetraeteriden zu je 1460 = 2920 Tagen
um ganze 2 Tage hinter einer griechischen Oktaeteris zu
6x354-f 90 = 2922 Tagen zurück. Wenn Herodot dennoch
.die ägyptische Jahresform auf Kosten der griechischen, die
doch den lU Tag berücksichtigte, belobt, so muss er auch in
Aegypten von einem Jahre gehört haben, das mit den Jahres-
zeiten in Uebereinstimmung blieb, also dem fixen Jahre zu
365 lU Tagen, nur dass es solche Sprünge um ganze Monate,
wie der griechische Kalender, nicht kannte. Brugsch („Ma-
teriaux") hat mit Recht betont, dass man die Nichterwähnung
«des Vierteltages bei Herodot gerade so beurtheilen müsse,
wie bei uns, wo man im gewöhnlichen Leben nur von 365
Tagen spricht, ohne des Ueberschusses zu erwähnen. In
der Hauptsache: Uebereinstimmung mit den natürlichen
Jahreszeiten, konnte Herodot sich nicht irren. Daraus folgt
mit Notwendigkeit, dass seine Bemerkung sich auf ein fixes
ägyptisches Jahr bezieht, nicht auf das Wandeljahr; denn
dieses stimmt meistens gar nicht mit den Jahreszeiten über-
ein. Auffallend bleibt es immerhin, dass der Altvater der
Geschichte so ganz und gar das Wandeljahr der Aegypter
72 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
unerwähnt lässt ; allein es begreift sich dies sofort, wenn
man bedenkt, dass Herodot nur mit Priestern oder Herme-
neuten, die zum Tempelvolke als Küster gehörten, verkehrte.
Diese Klasse der Bevölkerung hatte, wie uns jetzt die Denk-
mäler auf Schritt und Tritt belehren, Kenntniss vom fixen
Jahre eben so gut, als sie z. B. die Sextae der Mondmonate
auf den Wänden des Tempels von Edfu notirte, die doch
zu dem bürgerlichen Jahre von 365 Tagen in keiner Be-
ziehung standen.
Was bewog nun aber die ägyptische Priesterschaft, un-
geachtet ihrer Kenntniss der wahren Jahreslänge, die Könige
auf Beibehaltung des unvollkommneren Wandeljahres zu be-
eidigen ? Ich glaube , sie wurden zu diesem sonderbar
scheinenden Verhalten durch Rücksichten auf die Chrono-
logie bewogen: das Nebeneinanderbestehen des Wandel-
und des fixen Jahres ersetzte ihnen die Aera. Darauf
deutet vielleicht die vielgeplagte Stelle Herodots II 142, wo
er sagt, dass während 11,340 Jahren die Sonne viermal ig
fj&ewv ,,aus ihrem gewohnten Sitze aufgegangen6)". Mehrere
Forscher , besonders Lepsius 7) , haben darauf hingewiesen,
dass die Zahl 11,340, die ohnehin einen Rechnungsfehler
enthält (statt 11.366) und mit Zugrundelegung der 345 Ge-
schlechter (II 143) statt der 341, auf 11,500 gebracht wer-
den könnte, sehr nahe an die Zahl 11,680 oder 11,688 =
2X4 (8) Siriusperioden zu je 1460 oder 1461 Jahren an-
streift. Jedenfalls ereignete sich während dieses Zeitraums
der Frühaufgang des Sirius (ägyptisch Sothis) viermal, und
ich halte dafür, dass dem Herodot eigentlich von den Her-
meneuten der Ausdruck £x Sföecov statt et; rj&iwv über-
6) Der Zusatz ev&a rs vvv xcczaSvizat, iv&evzsv Sig inavzti2.atr
xccl ev&sv vvv avazillei, ivdavza Scg xazaSvvcci ist eine miss ver-
ständliche Epexegese Herodots, wie die Berechnung 3 yivea = ixazdv
hea seine Zuthat ist.
7) Chronologie der alten Aegypter p. 191 fgg.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 7ä
liefert ward. Denn Vettius Valens8) hat die Stelle: ovx
aoaoxei de tioiv to avro artd rrjg xov 2i\& avarolrig
Ttenoiijo^at rrjv dq%i]v „Einigen gefällt es gerade nicht, dass
man den Anfang (des Jahres) vom Aufgange des Seth(-sternes)
angesetzt hatu. Man beachte hier die Zusammenstellung
(cc7to rrjg tov) 2r}& ävccToXrjg wie «| y&scov avatukai. So
gut man sagen konnte: der Seth (Sothis-Stern) geht helia-
kalisch auf, ebensowohl mochte Jemand das Verhältniss
umkehren und behaupten, die Sonne gehe sothisch auf, um
eben jenen Punkt der Tetraeteris zu bezeichnen, wo beide
zugleich am Osthorizonte erscheinen.
Hiemit sind wir bei dem Cardinalpuncte meiner jetzigen
Untersuchung angelangt, nämlich bei der Frage : Besassen die
alten Aegypter einen feststehenden Massstab des fixen Jahres,
um daran das bewegliche Wandeljahr auf jedem Schritte
seiner Zurückweichung sicher zu messen? Mochten und
konnten sie , um mit Schiller zu reden :
„Suchen den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht?"
Gelang es ihnen, diesen Haltpunkt wirklich zu finden?
Auf diese Fragen ertheilt das umfangreichste Inschrifcen-
Material diese bestimmteste und vollständigste Antwort : Seit
den ältesten Zeiten, wenigstens seit der VI. Dynastie, beob-
achteten und kannten, die ägyptischen Priester den Früh-
aufgang des hellsten aller Fixsterne: des Sirius. Dieser ist
so zum wahren Leitsterne für die ägyptische Chronologie
und Historie geworden. Der gelehrte Jesuite Petavius hat8)
mit Scharfsinn und Glück durch astronomische Rechnung
dargethan , dass der Sirius dreitausend Jahre , also den
grössten Theil der altägyptischen Geschichte hindurch, zu
Aegypten eine solche Stellung inne hatte, dass sein Frühauf-
gang (oder die heliakalische Anatole) genau nach je 4 Jahren
8) Salmasius de ann. climact. p. 113.
9) In seinem Uranologium p. 33 sqq.
74 Sitzung der pJiilos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
zu 1461 Tagen erfolgte, so dass schon hieraus die wahre
Jahreslänge zu 365^4 Tagen geschlossen werden musste.
Hiemit hat der gelehrte Mann reichlich wieder gut gemacht,
was er durch sein abschätziges Urtheil über Manetho's Be-
deutung verschuldet hat. Denn diese seine Ermittlung der
Position des Sirius ermöglicht uns sofort, die ägyptische
Tetraeteris und zwar als eine astrale zu behaupten. Zu-
gleich ergibt sich aber daraus, dass diese astrale Tetraeteris
mit Bezug auf das Wandeljahr zur Periode werden musste,
indem die 1461 Tage des vierjährigen Cyclus hinsichtlich
der Verschiebung des Wandeljahres ebenso vielen Jahren
1461, entsprechen, nach deren Ablauf der erste Thot des
Wandeljahres wieder mit dem Frühaufgange des Sirius kalen-
darisch zusammenfiel. Hiedurch erhielt man eine Art astro-
nomischer Aera, deren fester Punkt eben diese heliakalische
Anatole der Sothis (Sirius) war. Wie innig Tetraeteris und
Siriusperiode verbunden sind, lehren ausser obiger Theorie
die Nachrichten römischer und griechischer Schriftsteller10),
welche ich der Reihe nach, wenn auch nicht vollständig, mit
der jüngsten beginnend, vorführen muss.
Theon.
Dieser Mathematiker aus Alexandria, welcher des Pto-
lemäus Almagest erklärt und eine Mondsfinsterniss im Jahre
1112 der nabonassarischen Aera (seit 747 v. Chr. 26. Februar
= 364 nach Chr.) beobachtet hat, berichtet bei dieser Ge-
legenheit, dass zur Zeit des Menophres n) die Epoche
der Sothis periode eintrat, indem in einem commentirten
Fragmente des Theon (zum Almagest) folgende ausführlichere
Notiz erscheint i 2) :
10) Die ausführlichste Auskunft hierüber bietet Lepsius': „Chrono-
logie der Aegypter".
11) Lepsius : Chronologie d. alten Aeg. I p. 169, Königsbuch p. 122.
12) IIsqI Trjg rov Kvvog emroXrje vnoSeiyjacc. 1Enl tov P exovg
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 75
„Beispiel über den (heliakalischen) Aufgang des Hundes".
Im Jahre 100 des Diocletianos nehmen wir Beispiels halber
in Betreff des Aufganges des Hundes, die Jahre vom (An-
fange der Aera des) Menophres bis zum Aufhören (der Aera)
des Augustus: zusammen 1605 Jahre". Er findet schlüsslich
den 29. Epiphi des seit August fix gewordenen alexandri-
nischen Jahres als den Tag des Siriusfrühaufgangs für den
Parallel von Alexandria, entsprechend dem 26 Epiphi für
den Normal - Parallel der Sothis, nämlich Heliopolis.
Diese Stelle ist von äusserster Wichtigkeit, denn sie belehrt
uns in authentischer Weise, dass in Aegypten vor der Aera
des Diocletian 284 nach Christus (Epoche: der 29. August
des julianischen Jahres), welche bei den Kopten wegen der
Christenverfolgung allgemein „Die Aera der Märtyrer" heisst,
eine Aera des Augustus (25 v. Christus, Epoche ebenfalls der
29. August) bestand, seit deren Einführung keine Verschiebung
mehr stattfand, weil eben das alexandrinische Jahr durch
Hinzufügung eines sechsten Epagomen fixirt worden war.
Aus der Analogie mit den Namen Diocletianus und Augustus
müssen wir schliessen, dass auch unter Menophres die
Aera eines ägyptischen Herrschers mit diesem Namen ge-
meint sei, nicht die Stadt Memphis, wie der ausgezeich-
nete und um die Chronologie Aegyptens hochverdiente
französische Astronom Biot behauptete, obgleich die Form
Menophres aus Mennofer, wie Mstupig inschriftlich genannt
wird (cf. Unnofer == D'Qvvto(pQig und "Opcpig) sich ziemlich
gut erklären würde, wenn es auch auffallen müsste, dass
Theon nicht die jüngste und gangbarste Form Mepcpig ge-
braucht haben sollte. — Die Varianten Mevoq)Q7]g und
MevwqjQrjg hindern aber auch (nach kritischem Grundsatze),
hier mit Lepsius eine Verschreibung statt Mevocp&rjg anzu-
dioxkr\xiuvov 71€qc xrjg xov Kvvog emxo'krjg vno6tiy[iaxog evexev bccpßcc-
vojxey xd dno Mev (o(fQsu)g eujg xr^g "k^evog Avy ovax ov. ofxov zd
iniovvccyofxsvct exr\ AXE.
76 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
nehmen und hierin Meneptah, den Sohn des Ramses II
Sesostris, den Pharao des Exodus, zu erblicken. Abgesehen
davon, dass wir in diesem Falle die Gräcisirung Mevocp&ag
haben würden , ist Mevocpqrjg eine acht ägyptische Namens-
form , wie ich weiterhin bei Gelegenheit des herodotischen
Möris — MdiQig zeigen werde. — Rechnet man nun 1605
Jahre von 284 (nach Christus) zurück, so erhält man das
Jahr 1322 vor Christus als Epoche der Aera des Menophres.
Lepsius , der mit Andern 1322 ansetzt, ist gleichwohl zu
gewissenhaft um zu verschweigen, dass 1322 ein ägyptisches
Schaltjahr, nämlich das vierte Jahr einer Tetraeteris gewesen,
womit eine Aera füglich nicht beginnen kann. Es haben
daher Des-Vignoles, v. Gumpach und P. J. Junker auch aus
rechnerischen Gründen das Jahr 1325 v. Christus als die
Epoche der Aera des Menophres aufgestellt, und mit vollem
Rechte, obgleich die Stelle des Censorinus ähnlich das Jahr
139 (statt 136) nach Chr. als Beginn einer neuen Sirius-
periode bezeichnet. Es scheint sonach System gewesen zu
sein, dass man erst im 4. Jahre der Tetraeteris, wo durch
Ansammlung der vier Viertel zu einem Tage die Verschiebung
der beiden Jahresformen sich bemerklich machte, den wahren
Anfang der Aera, statt im ersten, angesetzt hat.
Chalcidius. *
Dieser Philosoph (315 nach Chr.) gedenkt des annus
canicularis oder xvvixog (eviavrog) ganz kurz mit der Be-
merkung 13) , dass der Sirius oder Hundsstern bei den
Aegyptern Sothis hiess und eine 1460jährige Periode
bildete. Unter diesem Ausdrucke ist kein einzelnes fixes
Jahr der Sothis zu verstehen, sondern das grosse Jahr, näm-
lich die Sothisperiode zu 1461 Wandeljahren gemeint.
13) Hanc eandem stellam doTQoxvvov quidam , Aegyptii vero
coXs%t}v vocant. Cujus completur annus, qui xvvixog vocatur, annis
MCCCCLX.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 77
Derselbe Chalcidius hat eine Bemerkung 14), die bisher
keiue weitere Beachtung gefunden hat, sich aber unzweifel-
haft auf die Sothis (Sirius, Hundsstern) bezieht. Er schreibt
nämlich, dass „\he Propheten der Aegypter ebenfalls einen
Stern verehren , den man einige Jahre nicht gesehen , und
denselben Ahc nennen". Die Variante Ihc beim Rigaltius
legt die Vermuthung nahe, dass in der griechichen Quelle
*!dy. oder cYx gestanden , wie in der oft citirten Stelle des
Manetho bei Josephus über die cYx(jc3g, wo der ägyptische
Geschichtschreiber dieses Wort mit ßaoäeig (hyq) 7toijX€veg
(ujcüc pastores) übersetzt , aber zugleich erklärt dass das-
selbe 'Yx-otog auch alx^iaXcoTOvg Ttoi^evag bedeute ; to yaq
vy. TtaXtv ^lyv7tTiaarl xal xb ax 6aow6(xevov (,,mit Spi-
ritus asper") alxftafatiTOvg qrjTtug (Arjvvei. So wie die Lateiner
rhetor und nicht hretor (qrjtwQ) umschrieben, so setzt Chal-
cidius Ahc oder Ihc (Yhc) statt Hac und Hie (Hyc). Die
monumentalen Legenden bringen uns beide Bedeutungen vor
Augen: j^ ]^v'^r5f haq »der Gefangene" und j hyq
„der König"; ersteres ist m dem Kopt. ohkc pauper men-
dicus cf. cattivo (captivus) chetif; hyq dagegen, welches
nach Manetho dem heiligen Dialekte angehörte, ist im kopt.
Lexicon nicht mehr vorhanden. Beide Stämme scheinen ur-
sprünglich identisch zu sein, wie aus ihrer gegenseitigen
Vertretung erhellt15), auch stellen sie die active und passive
Bedeutung des nämlichen Begriffes dar, wie analog hon der
Beherrscher und hen der Sclave.
Welcher Stern ist nun aber mit haq oder hyq ge-
meint? Kein anderer als die Sothis (Sirius), welche auf
den Denkmälern unzählige Male den Titel führt haq't chabesu
14) In Tim. ed. Meurs. p. 218: Aegyptiorum quoque prophetae
stellam quandam aliquot annis non visam verentur, quam vocant
Ahc (Ihc)".
15) Brugsch lex. p. 924 und 998.
78 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
tavllj in »Führerin der Lampensterne" (der Decane in
der ägypt. Sphäre) oder kurzweg haq't ,,die Führerin, Re-
gentin", wie so häufig im Tempel von Denderah. Für ihre
Verehrung spricht nicht nur das beständige Epitheton
„göttlich" oder Namen wie Pe-ti-supd 2co&ldcoQog (Wien),
sondern ausser andern 16) die Stelle des Rhindpapyrus (pl. XI):
„Die Gepriesenen lassen deine Seele kommen mit dem Orion
(sahu), welcher Osiris ist, und mit den Sternen, welche folgen
der Sothis (Isis-Hathor)", sowie pl. XIX: „0 ihr Planeten,
o ihr Fixsterne, o Orion am südlichen Himmel, o Stier-
schenkel (grosser Bär) am nördlichen Himmel, o Sothis,
Regentin der Decane (a Sutp, haq't n na chabesu)". Also
war auch dieser Titel Haq dem Gewährsmanne des Chal-
cidius bekannt geworden, offenbar aus ägyptischer Quelle.
Censorinus.
Dieser um 238 n. Ch. lebende römische Grammatiker
bringt uns über die ägypt. Siriusperiode einen Aufschluss
von aller Bestimmtheit, indem er sagt17): „Der Anfang
desjenigen (grossen) Jahres der Aegypter, welchen die Griechen
xvvixdg eviavzog, die Lateiner annus canicularis nennen,
wird angesetzt, wann am ersten Tage des ägyptischen Monats
Thoth der Hundsstern aufgeht; denn ihr Civiljahr hat nur
365 Tage, ohne irgend einen Schalttag. Daher ist ihr
Quadriennium ungefähr um einen Tag kürzer als das natür-
liche Quadriennium und daher kommt es, dass es (erst) mit
dem 1461. Jahre zu dem nämlichen Anfange zurückkehrt.
Dieses (grosse) Jahr wird von Einigen rjliaxög, von Andern
o &eov hvictvrog genannt." — „Vom Beginne der Aera des
Nabonassar (747 v. Chr.) läuft jetzt das 986. ; vom Beginne
16) Pap. Leyd. I, 384; IX, 6; XVI, 7.
17) Cf. der lat. Text in meiner vorigen Abhandlung: „Die
Schalttage des Euergetes I und des Augustus".
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 79
der Aera des Philippus sind es 562 Jahre bis zum Consulate
des Ulpius und Pontianus. Hiebei wird immer vom 1. Thoth
an gerechnet, welcher in diesem Jahre mit dem 25. Juni zu-
sammenfiel, während er 100 Jahre früher unter dem (2.)
Consulate des Kaisers Antoninus Pius und des Bruttius
Präsens, mit dem 20. 18) Juli identisch war, zu welcher
Zeit der Hundsstern in Aegypten aufzugehen pflegt.
Daher kann man auch wissen, dass von jenem obengenannten
Grossen (Sonnen-Sirius-Gottes-) Jahre (-scyclus) gegenwärtig
das 100. laufende begangen werde". Dieser Bericht lässt
an Deutlichkeit und Ausführlichkeit Nichts zu wünschen übrig.
Wir erfahren daraus, was schon die Theorie lehrt, dass der
conventionell für ganz' Aegypten angenommene Frühaufgang
der Sothis oder des Sirius dem 20. Juli des julianischen
Kalenders entspricht und dass 99 Jahre vor 238 also 139
(n. Chr.) diese heliakalische Anatole zugleich mit dem 1. Thoth
des ägyptischen Wandeljahres zusammenfiel, dass folglich
im zweiten Theile des Jahres 139 n. Chr. eine neue Sothis-
Periode begonnen hatte. Censorinus sagt nicht, zum wie
vielten Male in diesem Jahre 139 der 1. Thoth mit dem
20. Juli coincidirte; dies geschah ja vier Jahre hinterein-
ander. Aber die Theorie belehrt uns, dass Censorinus, wie
Theon , das vierte Jahr des Quadrienniums annahm, weil
erst in diesem oder am Schlüsse desselben durch den Schalt-
tag die Differenz in der Länge und dem Anfange der beiden
Jahresformen sich bemerklich machte. Noch eine andere
Erwägung führt zu demselben Schlüsse. Die Kopten schal-
teten, wie Böckh (,,Manetho und die Hundssternperiode") be-
zeugt, um ein Jahr früher ein, als der jul. Kalender; da
nun dieser das Jahr 140 unserer Aera als Schaltjahr auf-
weist, so muss 139 ein Schaltjahr im ägyptischen Kalender
18) Es steht XII. Cal. August, statt XIII, wahrscheinlich durch
Veränderung des Cal. in ifal.
80 Sitzung der pJiilos.-philol Gasse vom 4. Juli 1874.
gewesen sein, also die neue Sothisperiode 136 n. Chr. be-
gonnen haben. Dass die Zeitgenossen des Antoninus Pius,
welcher nach dem astronomischen Canon des Ptolemäus im
J. 885 der nabonassarischen Aera, also im J. 138 n. Chr.
und zwar am 10. Juli zur Regierung gelangte, den Beginn
der neuen Siriusperiode, die mit dem 20. Juli 136, also
noch unter Hadrian factisch begonnen hatte, dennoch jenen
mit diesem chronologischen Ereignisse ausschliesslich in Be-
ziehung setzten, kann nach der oben aufgezeigten zum Sy-
steme gewordenen Methode nicht Wunder nehmen. Und
zwar ist es wieder, wie zu erwarten stand, das Jahr 139
n. Chr. Ideler19) citirt eine Stelle des Abu '1 hassan —
etc., eines persisch-arabischen Schriftstellers, welcher in seinen
tabulae universales sagt: „Die Aera des Bochtenasr. Es
ist dies Bochtenasr (Nabonassar) der Erste, einer der Könige
Babylons. Die Epoche der Aera ist ein Mittwoch. An diese
knüpft Ptolemäus die mittleren Oerter der Planeten, so-
wie er die Oerter derFixsterne auf den Anfang
des Jahres 886 dieser Aera, den erstenTag der
Regierung des Abtinus (Antoninus Pius) setzt". Das
Jahr 886 der nabonassar. Aera entspricht aber unserm
J. 139 nach Chr. wo Antoninus die Regierung nicht antrat,
wo aber, wie wir schon wissen und hiemit aufs Neue be-
stätigt sehen , von den Astronomen und Chronologen jener
und der späteren Zeit conventioneil der Anfang der Sothis-
periode angesetzt wurde, obschon sie schon 136 am 20. Juli
begonnen hatte.
Auch die Münzen des Antoninus Pius, welche einen
Stern20) zeigen, sind wohl auf diese Epoche zu deuten.
Hiezu stimmt auch das Horoscop21) welches nach Er-
wähnung der alten Weisen, der Chaldäer, des Petosiris und
19) Handbuch der Chronologie II 627.
20) Zoega: Nummi Mus. Borg.
21) Young: Hieroglyphics pl. 52.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 81
des Königs Nexevg (d. h. Nexeipwg, da Nexevg wg steht),
des Hermes, Asklepios = Ipw&rjg vlog HecprjOTOv (sie!) so
fortfahrt: /.ata tov do&tvTct {.wi xqovov etzi La22) L4vtiü-
veivov Kaloaqog tov kvqiov , fnqvog 'Adouxvov tj y.ard tov
'Eklrvcov (sie), zara de Tovg AXyvTtTiovg Tvßl it] woag et
Trjg r^eqctg. Es verdient bemerkt zu werden, dass hier in
der alexandrinischen Benennung eines Monats mit dem Namen
des Hadrian keine Reminiscenz an seinen Besuch Aegyptens,
sondern eine Andeutung liegt, dass auch Hadrian, so gut
als Antonin, mit dem Beginne der neuen Sothisperiode wäh-
rend ihrer ersten Tetraeteris zusammenh«änge.
Clemens.
Dieser gelehrte Alexandriner macht uns zuerst mit der
Bezeichnung ,,Sothische Periode" bekannt, indem er schreibt23):
„Es ereignete sich der Exodus (des Volkes Israel) zur Zeit
des Inachus, vor der Sothischen Periode, da Moses
dreihundert fünf und vierzig Jahre früher aus Aegypten aus-
gezogen ist." Der Ausdruck „Periode11 ist etwas ungenau,
da man vielmehr „Epoche der Periode" erwartet. Denn es
ist augenscheinlich, dass Clemens, wie schon Flavius Josephus
vor ihm, den Exodus der Kinder Israels mit der Vertreib-
ung der Hykschös oder Hirtenkönige unter Amosis, dem
Zeitgenossen des Inachus von Argos, verwechselt hat. Ver-
liert des Clemens Nachricht hiedurch auch allen Werth für
die praktische Chronologie — Sylburg bietet die lateinische
Uebersetzung : Fuit Hebraeorum exitus tempore Inachi ante
Sothiacam revelationem (revolutionem) egresso ex Aegypto
Mose, anuis prius quadringentis quadraginta quinque, also
22) Das erste Jahr, nicht t das zehnte, wie Brugsch Materiaux
p. 17 hat.
23) rivhxcu r\ e'goöog ■Kaxä^lva/ov; ngo trjg 2 (o&iccxrje txbqio-
dov, i€t7>&6vTos uny Alyvnxov MioaEivg sxeai ngoxegov t Qiaxoaiotg
x €(T aaQuxoyxu nivxe.
[1874, II. Phil. bist, cl.ld 6
82 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
also um 100 J. mehr — so gewährleistet sie uns doch die
Thatsache , dass die Epochen der letzten Siriusperiode
1322 v. Chr. — 139 n. Chr. dem Gewährsmanne des Clemens
und ihm selber festbestimmte waren, da er sie zum Aus-
gangspunkte einer chronologischen Aera gebraucht. Fiele,
wie Lepsius annimmt, der Exodus 1314 v. Chr., so würde
es höchst befremdlich erscheinen, dass der gelehrte Clemens
dieses nahen Zusammentreffens mit der ihm wohlbekannten
Epoche der Sothis 1325—1322 v. Chr. keinerlei, wenn auch
nur beiläufige, Erwähnung als Variante gethan haben sollte.
Tacitus.
In der oft besprochenen Stelle24), wo der römische
Historiker aus Anlass eines (falschen) Phönix unter Tiberius
die Nachrichten der Alten über diesen Vogel und die durch
ihn symbolisirte Zeitperiode summarisch behandelt, sagt er
unter Anderem: „Ueber die Zahl der Jahre wird Verschie-
denes berichtet; am allgemeinsten ist die Zutheilung eines
Zeitraumes von (3x) fünfhundert Jahren. Einige behaupten,
dass eintausend vierhundert ein und sechzig Jahre (zwischen
zwei Erscheinungen desselben) verfliessen." Offenbar ist
mit letzterer Zahl die Sothis oder Siriusperiode gemeint,
obgleich die unmittelbar darauf folgenden Epochenkönige
Sesostris Amasis Ptolemäus III sich nur auf die Phönix-
i
periode beziehen können.
In meiner vorigen Abhandlung25) habe ich nachgewiesen,
dass die Verschmelzung oder Verwechslung beider Perioden
zunächst von der unter Augustus eingeführten Fixirung des
ägyptischen Jahres herrührt. Die sogleich zu behandelnde
24) De numero annorum varia traduntur. Maxime vulgatum
quingentorum spatium. Sunt qui adseverent, mille quadrin-
gentos sexaginta unum interjici.
25) „Die Schalttage des Euergetes I und des Augustus/'
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 83
Stelle des Manilius beweist, dass die Kalender-Reform des
Ptolemäus Euergetes I schon früher eine adäquate Amal-
gamirung veranlasst hatte.
Manilius.
Von ihm erwähnt Plinius (H. N. X. 2) die Stelle26): Es
sei das Jahr des Wendepunktes (der grossen Umwälzung)
das (i) 225. vor seiner Zeit d. h. dem Consulate des
P. Licinius und des Cn. Cornelius gewesen. Da die beiden
in dieser Stelle genannten Consuln das Jahr 97 vor Chr.
bezeichnen, so ist des verstorbenen Hincks Vermuthung, dass
wie öfter, vorher ein M (mille) ausgefallen sei, sehr an-
sprechend, da 1225+97 auf das Jahr 1322, das vierte der
ersten Tetraeteris des Sothiskreises führen, wie die 1605
des Theon. Aus dem Zusammenhange ergibt sich , dass
Manilius ähnlich, wie Tacitus, die Sothis mit dem Phönix
verwechselt odjr beide vielmehr zusammengeworfen hat.
Geminus.
Dieser Astronom aus Rhodus (um 64 v. Chr.) bringt
die beiläufige Bemerkung27), dass das Fest der Isis in
Aegypten in 1460 Jahren den ganzen Kreislauf der Jahres-
zeiten durchwandere. Die Aegypter hätten ein Jahr von
365 Tagen oder von 12 dreissigtägigen Monaten nebst fünf
überzähligen Tagen; den Vierteltag oder den daraus in
Quadriennien erwachsenden ganzen Tag schalteten sie aus
dem Grunde nicht ein, damit die den Göttern darzubringen-
den Opfer alle Jahreszeiten durchwanderten.
26) Fuisse ejus conversionis annum prodente se, P. Licinio Cn.
Cornelio Coss. (M)CCXV.
27) Isagog. in phaen. Arati: iv i'xsai yccQ /iXioig xexqa-
xoaioig egijxo vxa ccnarray iogxrjy SieXd-dv dei diu itaaiöv xcÜv xov
Syiavrov üüqüöv , xcci ndXiv dnoxaxaaxa^vai irzi xov avxov xcclqov
xov i'zovg.
6*
84 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
Man sieht, dass er von dem Wandeljahre spricht ; allein
der Massstab oder Rahmen, indem er die Bewegung dieses
vagen Civiljahres sich vollziehen lässt, ist die Periode von
1460 Sonnenjahren d. h. die Sothis oder Hundssternperiode,
Dikaearch.
In den Scholien zu des Apollonius Rhodius Argonautica
lesen wir28), Dikaearch (ein Schüler des Aristoteles) habe
in seinem ersten Buche geschrieben, dass nach Horus, dem
Sohne der Isis und des Osiris, Sesonchosis König gewesen
sei, so dass (sie!) von der Regierung des Sesonchosis (Se-
sostris) bis auf die des Neilos 2500 Jahre, von der
Regierung des Neilos bis auf die erste Olympiade 436, im
Ganzen also 2936 Jahre verflossen seien". Hier interessirt
uns nur der vorletzte Posten: Zählt man 436 zu der ersten
Olympiade des Iphitus, die Dikaearch als Schüler des Ari-
stoteles, 28 Stellen vor der des Koroebus angesetzt zu
haben scheint29), so erhält man das Jahr 1322, wenn man
Boyle30) folgt, der 778 v. Chr. als Anfang der 28. = 1. Olym-
piade begründet hat. Augenscheinlich ist der ägyptische
König Nellog ein Epochenkönig. Dies beweist auch der
zunächstfolgende Gewährsmann.
Eratosthenes.
Dieser Chronologe von Beruf war der Nachfolger Ma-
netho's an der alexandrinischen Bibliothek. In seinem Later-
28) JixaluQxog 6s iv ngcorw fxetu tov 'OoigiSog xctl vIai6og 'Qqov
ßaailea epriai yeyopepai Ikaoiaxqiv. ai<JT£ yiyyea&ai dno [tev trjg
Z€0(o<TZ()i&os ßaaiXeiag (A&XQ1 z°v NfiXov ettj ,ß<p\ und trjg NsiXov
ßaailsiag ^X9l r*Jf a' olv/umadog i'tij vk$\ c5g tiveu tu Ttdvta oftov
29) Syncellus hat p. 370 die 28. p. 374 die H.
30) Transactions of the Society of Bibl. Archaeology vol. II.
Part 2 pag. 300.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 85
-culus steht als vorletzter der 38 Könige &qovoqw rytoi Nellog.
Ich habe in meinem ,. Manetho" wahrscheinlich gefunden,
dass dieser Nellog ursprünglich am Schlüsse der Reihe als
Epochenkönig gestanden, geleitet durch die Wahrnehmung,
dass auch Manetho am Schlüsse seines zweiten Bandes einen
König QovwQig (wohl (Dovtogig) und zwar als Epochenkönig
aufweist. Auch Diodor kennt an zwei Stellen einen ägyp-
tischen König Nedevg oder NelXog und erklärt diesen Namen
als Ehrentitel wegen Flusscorrection und Canalisirung. End-
lich soll nicht unerwähnt bleiben , dass des Eratosthenes
berühmter öiayoctynög ano Tqolag akcoostog*1) sich am
•besten aus ägypt. Wandeljahren erklärt.
Manetho.
Dieser nationale ägyptische Geschichtschreiber, von dem
leider nur das Verzeichniss der alten Dynastien Aegyptens
nebst einigen Fragmenten beim Josephus erhalten ist,
musste zugleich1 Chronolog sein. Spuren cyclischer Rechnung
des Manetho fand schon Böckh in der Stelle seines treuesten
Auszüglers Africanus, wo dieser von „Perioden und My-
riaden von Jahren xara d-eoiv tlvcc rdv Ttag^ avxolg (xgtqo-
Xoyovfisvcov spricht; hiemit muss die Sothis oder Sirius-
periode angedeutet sein. — Der falsche Manetho, den
Syncellus als Kanon befolgt, schrieb ein Buch Ttegi 2(6d-eog
{sie!) an Ptolemäus Philadelphus stylisirt, unter dem der
wahre Manetho gelebt, gewirkt und seine ^4lyv7tTictY,d v7to-
livriixaTa verfasst hatte — offenbar nur desshalb, weil ein
achtes Manethonisches Buch mit diesem Titel „über die
Sothis" vorlag, das verdrängt werden sollte. Ich habe in
meinem „Manetho" nachgewiesen, dass in der That alle
aus diesem Originalwerke abgeleiteten Quellen Spuren cycli-
31) A. Mommsen in den Jahrbüchern für classische Philologie
1859 p. 376.
86 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
scher Berechnung aufweisen , wenn auch alle diese Sirius-
perioden falsch und folglich für die Geschichte unbrauchbar
sind. — Die vielbesprochene Stelle des Syncellus , welche
den Bruder Champollions zur Aufstellung einer irrigen
ägyptischen Chronologie verleitet hat, wonach nämlich das
fünfte Jahr des Koy%aqig (No. 25 der Sothisliste) mit dem
700. Jahre des bei Manetho genannten Hundsstern - Cyclus
(Kvvwdg kvkXoq) zusammenfalle , gehört als Summe zu der
von Mrjvqg = MeorQätfi auslaufenden Reihe von 25 überall-
her zusammengestoppelten Königen und kann durchaus keinen
geschichtlichen Werth beanspruchen , wenn auch so eine
annähernd richtige Zeitrechnung gewonnen werden sollte.
Her od ot.
Ausser der oben besprochenen Stelle II 4, wo er das
ägypt. Jahr wegen seiner Uebereinstimmung mit den Jahres-
zeiten belobt, berichtet er II 13 die Thatsache, dass unter
dem Könige MoIqiq eine Ueberschwemmung des Nil von
wenigstens 8 Ellen für Aegypten unterhalb Memphis genügte
und knüpft daran die Bemerkung: yial Molqi ovkü) rv stea
elvccKOOia rereXevrrjKOti, otb tcov iqhov ravza iyto rjxovov.
Herodot bereiste Aegypten um 450; er rechnet nach Ge-
schlechtern zu 33V3 Jahren. Nimmt man nun 450 + 900= 1350
und berücksicht das ovxaf, so kommt man ungezwungen auf
die Epoche der Siriusperiode 1325 vor Chr. und erinnert
sich zugleich, dass Molkig , ohnehin gleich 31ev6q>Qr]g, hier
als Epoche machender König, wie oben Augustus, Diocletian
und MevccpQtjg steht , so dass retelevTrjKoti das Ende der
Periode im Jahre 1325 v. Chr. andeutet.
Die Aera des Augustus.
Bevor ich die monumentalen Zeugnisse für die Existenz
der Sothisperiode vorführe, ist es zweckdienlich, derjenigen
Einrichtung des ägyptischen Jahres zu erwähnen, die in
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 87
Bezug auf die oben angeführten Zeugnisse der Classiker
eine centrale Stellung einnimmt: ich meine die Kalender-
reform des Augustus in Aegypten, worüber die Ansichten
noch nicht genug consolidirt erscheinen. Denn einem her-
vorragenden Forscher zufolge eroberte dieser römische Im-
perator Alexandria am 3. August des Jahres 30 v. Chr. „Die
römischen Pontifices setzten aber dafür fälschlich den
1. August" (wohl aus Accommodation, um dieses Ereigniss
mit dem Anfange des nach ihm benannten Monats Augustus
gleichzeitig erscheinen zu lassen). Dieser Rechenfehler um
2 Tage hatte zur Folge , dass auch die dem Augustus zu
Ehren in Aegypten eingeführte Aera um 2 Tage verrückt
wurde. Während nämlich im Jahre der Eroberung der
1. Thoth des ägyptischen Wandeljahres auf den 31. August
fiel , setzte man statt dessen den 29. August" , anticipirte
also 1 — 2 Tetraeteriden32). Der 29. August = 1 Thoth
entspricht aber dem Jahre 25 vor Christus, wie man
sich leicht überzeugt, wenn man die vom .29. August bis
zum 20. Juli, dem Epochentage, rückläufig durchwanderten
40 Tage des Wandeljahres mit 4 multiplicirt = 160 Jahre
und davon das Epochenjahr der Siriusperiode: 135 n.Chr.
abzieht — es bleibt 25 v. Christus33). Es ist sonach der
Kalender des Augustus, der das Wandeljahr durch Hinzu-
fügung eines sechsten Epagomen zu einem fixen Jahre von
365 1/4 Tagen gestaltete und der von da an auch bei den
christlichen Kopten der übliche bis auf den heutigen Tag
geblieben ist, selbst ein starker Zeuge für den ursprünglichen
Bestand des Wandeljahres neben der Siriusperiode in Aegypten.
— Von Jul. Cäsar's Entlehnung des ägyptischen Jahres
vermittelst des Alexandriners Sosigenes habe ich bereits
oben gehandelt ; es braucht keiner weiteren Ausführung, dass
der julianische Kalender , wie ihn die Griechen und Russen
32) Lepsius: Königsbuch, synopt. Tafeln p. 10.
33) Vergl. Junker p. 32. Lepsius Königsbuch p. 124.'
-
88 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
noch fortwährend beibehalten, im Wesentlichen der alexan-
drisch-koptische ist, mit denselben Vorzügen und Unvoll-
kommenheiten, welch letztere die Reform Gregor's XIII nöthig
machten, weil die Ausgleichung mit dem natürlichen Sonnen-
jahre alle 400 Jahre drei Ausschaltungen erheischte. Das
fixe ägyptische Jahr von 365 1U Tagen war eben von An-
beginn kein solares, sondern ein astrales d. h. nach dem
Siriussterne (Sothis) bemessenes, der alle 1461 Tage (1 Te-
traeteris) genau heliakalisch in Aegypten aufging und inso-
ferne für dieses Land ein richtiges Jahr von 365*/4 Tagen
ohne Ausschaltung bedingte.
Monumentale Beweise.
Das massenhafte Inschriften-Material der ägyptischen
Denkmäler birgt an mancher Stelle Notizen über die Sothis
und ihre Bedeutung für das Kalenderwesen: wir befinden
uns jetzt schon in einem wirklichen embarras de richesses,
so dass es bloss darauf ankommt, die geeignete Auswahl
zu treffen. Hiebei enthebt uns die im J. 1866 von Lepsius
Reinisch und Rösler entdeckte Stele von Tanis mit dem
Decrete von Kanopus, aller Verlegenheit, indem die drei-
sprachige Inschrift dieses Monumentes in Bezug auf die
Sothis und das Wandeljahr so ausführliche, bestimmte und
mit der Theorie übereinstimmende Angaben enthält, dass
beim ersten Bekanntwerden des Fundes der Gedanke an
Fälschung zu Gunsten der Hypothese auftauchen konnte,
aber sofort auch wieder schwinden musste, als das Denkmal
selbst publicirt war. Hören wir, wie die ägyptische Priester-
schaft (238 v. Chr.) sich ausdrückt:
Decret von Kanopus (lin. 33 — 47 des griech. Textes34).
„ . . . Und sintemalen allmonatlich in den Tempeln der
Götter Euergeteu (Ptolemäus III und Berenike II) nach dem
S4) Vergl. meine Abhandlung: Die Schalttage des Euergetes I
Sitzungsberichte 1874, 2 p. 59.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 89
früher abgefassten Decrete der 5., 9. und 25. (Tag) gefeiert,
den übrigen höchsten Göttern aber alljährlich (auch) öffent-
liche Feste und Panegyrien abgehalten werden, so soll all-
jährlich eine öffentliche Panegyrie sowohl in den Tempeln
als im ganzen Lande gefeiert werden zu Ehren des Königes
Ptolemäus und der Königin Berenike, der Götter Euergeten,
(und zwar) an dem Tage, an welchem der Stern der
Isis (-Sothis heliakalisch), aufgeht, welcher (Tag) in
allen heiligen Schriften als Neujahr(stag) gilt,
gegenwärtig aber, im 9. Jahre (der Regierung des
Königs) am 1. des Monats Payni festlich began-
gen wird, in welchem (Monate) auch die kleinen Bubastien
und die grossen Bubastien gefeiert werden und die Ein-
bringung der Früchte so wie das Steigen des Flusses
geschieht. Es soll nun, auch wenn der Aufgang des (Sothis-)
Sternes alle vier Jahre auf einen andern (Kalender-) Tag
übergehen würde, (dennoch) die Panegyrie nicht verlegt
sondern (fort und fort) am 1. Payni gefeiert werden, an
welchem sie auch ursprünglich im 9. Jahre begangen wurde.
Sie soll fünf Tage hindurch mit Tragen von Kränzen,
Opfern und Spenden und was sonst dazu gehört, gefeiert
werden."
„Damit aber auch die Jahreszeiten fortwährend nach
der jetzigen Ordnung des Kosmos ihren Dienst verrichten
und es nicht vorkomme, dass man einige der öffentlichen Feste
welche im Winter gefeiert werden, einstmals im Sommer begehe,
indem der Stern (der Isis: Sothis) alle vier Jahre um einen
Tag weiterschreitet, — dass man dagegen andere Feste,
die im Sommer gefeiert werden, in späteren Zeiten im Winter
celebrire, wie diess sowohl früher geschah, als auch jetzt
(im 9. Jahre) wieder geschehen würde, wenn die
Zusammensetzung des Jahres aus den 360 Tagen und den
später üblich gewordenen fünf Zusatztagen (Epagomenen)
bleiben sollte — : so soll von nun an ein Tag als
90 Sitzung der phüos.-phüol. Gasse vom 4. Juli 1874.
Fest der Götter Euergeten alle vier Jahre hin-
ter den fünf (Epagomenen-) Tagen und vor dem
Neujahrs(tage) hinzugefügt werden, damit Jeder-
mann wisse, dass das, was früher in Bezug auf die Ein-
richtung der Jahreszeiten und des Jahres, sowie das hin-
sichtlich der gesammten Himmels-(Pols-)Ordnung Uebliche
mangelte, (jetzt) glücklich berichtigt und ergänzt worden
ist durch die Götter Euergeten."
Man glaubt nicht den sprüchwörtlichen Lapidarstyl,
sondern die Exegese von Gelehrten zu hören, so ausführlich
und bestimmt haben sich die Priester in ihrem Decrete von
Kanopus ausgesprochen. Lepsius, der diesen Text mit be-
kannter Umsicht und Klarheit in seiner Ausgabe eingeleitet
hat, findet nur den einzigen Punkt anstössig, dass der
1. Payni als Datum steht, während die Theorie den 2. Payni
fordert. Die Rechnung ist leicht gemacht: der Sirius ging
heliakalisch auf am 1. Payni während des Quadrienniums
245 — 242 vor Christus; das 9. Jahr (und zwar der 1. Payni)
des Euergetes fiel aber nach dem astronomischen Kanon in
das J. 288 v. Christus: folglich muss das Quadriennium
241 — 238 und der ihm entsprechende 2. Payni als das be-
absichtigte Datum des Denkmals angesetzt werden. Dieser
Sinn liegt auch wirklich in der Stelle (KaSaneq) xal vvv
av iylveto ,,wie es auch jetzt wieder geschehen würde",
wenn man aus dem Vorausgehenden den allgemeinen Ge-
danken des nETaßaiveiv als massgebend ansieht. Alsdann
will das Decret besagen:
„Jetzt, im 9. Jahre des Euergetes würde, ohne die
Einschaltung des sechsten Epagomens, der Siriusaufgang und
das daran geknüpfte Neujahrsfest auf den 2. Payni über-
gehen ([.lezccßatveiv) ; es soll aber auf den 1. Payni fixirt
bleiben!" Warum man gerade den ersten Tag des Monats
Payni zur Epoche haben wollte, ist ziemlich durchsichtig;
es ist eben der Anfang eines neuen Monats. Dass man
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 9.1,
auch sonst solche Epochen oder Coincidenzen des Sothis-
frühaufgangs mit Monats-Ersten des Wandeljahres besonders
hervorhob, gedenke ich anderwärts nachzuweisen. Das Decret
selbst ist vom 17. Tybi = 7. März datirt, während der sechste
zu Ehren der Euergeten eingeführte Epagomen dieses Jahres
dem 22. Oktober entspricht. — Das Decret von Kanopus
bietet das erste unanfechtbare Beispiel, mittelst des Sothis-
aufgangs an einem bestimmten Tage des Wandeljahres ein
Datum in absoluter Weise unmittelbar zu bestimmen.
Ptolemäus Euergetes sowenig als nach ihm Augustus
leisteten oder achteten den Eid auf die Beibehaltung des
Wandeljahres im bürgerlichen Kalender. Während aber
des Augustus Reform einen bis heute dauernden Bestand
haben sollte, verschwand — wir wissen jetzt aus den Wiener
Grabstelen des Anemho, Teho, Harmachu, dass es mit
Philopator's Thronbesteigung geschah — des Euergetes
Werk mit seinem Urheber nach kurzer Zeit und nur
6 maliger Anwendung des sechsten Epagomens. Um so merk-
würdiger muss uns diese Verdrängung der Reform und die
Wiedereinführung des Wandeljahres erscheinen — - die übrigens
in neuester Zeit an der zwangsweisen Einführung des russi-
schen unvollkommenen Kalenders in Polen statt des besseren
gregorianischen ihr Analogon hat — als der Text des De-
cretes von Kanopus (lin. 36) ausdrücklich besagt, dass der
heliakalische Frühaufgang des Sirius (2tod-ig, %o aoxqov %d
%\g 'lowg) in den heiligen Schriften (Sia tcov leotov yqafx-
fiarojv) als Neujahi(stag) üblich war (vo^erai veov ezog
Eivat) und als solcher wirklich gefeiert wurde (ayerai de).
Es war schou lange die Ueberzeugung vieler Chronologen,
dass das Siriusjahr von Alters her gebräuchlich, d. h. wenig-
stens zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet war. Jetzt
haben die Aegyptologeu durch die termini technici der
Tanitica: <i=> |A * per nuter Supd ,, Aufgang der gött-
92 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
liehen Sothis" (deinot. /\*~ J) | supd nuter und pe siu Ise
= to aozQOv to rrjg 0'laLog iTtw&Jkzi) den authentischen Be-
weis in Händen, dass dieser Frühaufgang schon in viel
früherer Zeit auf weit älteren Denkmälern notirt, also das
Siriusjahr so früh bekannt gewesen ist.
Der Hathor-Tempel von Denderah.
In meinem Buche ,,les zodiaques de Denderah" habe
ich den Nachweis geliefert, dass der reetanguläre Thierkreis
ein Gedenkkalender für den 17. November, Geburtstag des
Kaisers Tiberius und zwar vom Jahre 34 n. Chr. ist, wäh-
rend das Rundbild auf den 1. September des Jahres 36 vor
Chr. geht, wo Kleopatra VI sich als &ea vewz£Qa *Ioig ver-
göttern Hess, woher es kommt, was auch die Schriftsteller
erwähnen und mehrere Münzen mit Doppeldaten darthun,
dass sie dieses ihr 16. Regierungsjahr (ihr Vorgänger starb
51) zugleich als ihr 1. zählte.
Auf den beiden Thierkreisen von Denderah figurirt die
Isis-Sothis als eine Kuh mit Stern zwischen den Hörnern,
unmittelbar nach Osiris- Orion, dem Repräsentanten der
5 Epagomenen und dicht am Symbole des 1. Thoth oder
Jahresanfangs. Diese Kuh , welche gleich allen andern
Sternsyinbolen in einem Kahne den Himmel befahrend dar-
gestellt ist, erinnert sofort an die ägyptische Venus: Hathor,
die Hauptgöttin von Denderah und beweist mit einem
Schlage, dass beide Göttinen identifizirt wurden. Es liegen
uns jetzt zwei grosse Publicationen vor, aus deren zahlreichen
Blättern wir auf Schritt und Tritt die Gleichheit von Isis-
(Sothis)-Hathor ohne irgend welche gewagte Schlüsse, un-
mittelbar und unwidersprechlich erweisen könen: Mariette's
„Denderah" und Dümichen's „Kalender-Inschriften". Der
zuletzt genannte Gelehrte hat zugleich in seiner „Bauurkunde
von Denderah", durch Entdeckung eines geheimen Corridor's
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 93
die werthvolle Legende gefunden , wonach die Urgründung
des Hathortempels von Denderah nicht in die verhältniss-
mässig junge Zeit der Römer (XXXIII.) und Ptolemäer
(XXXII.) , sondern weit höher hinauf in die Zeiten des
Thutmosis III (XVII), Amenemha I (XII.), Phiops (VI.),
Cheops (IV.), ja sogar in die Urzeit der vorhistorischen
„Horus-Verehrer" zu setzen ist. Hiemit erhalten wir eine
mehr als ausreichende Entschädigung für die Enttäuschung
über das Alter der beiden Thierkieise, denen man übrigens
bis auf Champollion nur auf der unsoliden Basis der Ver-
muthung genaht war. Ich hoffe, wenn hier auch nur kurz
und andeutungsweise, den Beweis zu führen für die jetzt
noch nirgends aufgestellte Behauptung, dass der Tempel
von Denderah in erster Linie ein astronomisch-
chronologisches Denkmal ist; dass dieMmmer
und immer bis zur Ermüdung wiederholten Le-
genden der Isis-S othis-Hath or hauptsächlich
dem Siriusjahre und der Soth isp eriode gelten,
und dass daraus die innige Beziehung zwischen Denderah
und Edfu sich endgültig erklärt. Denn in Edfu (Apollino-
polis magna) wurde, wie schon die griechische Ortsbenenuung
darthut, der ägyptische Sonnengott : H o r u s verehrt. Daher
die inschriftlieh so oft erwähnten Processionen von Edfu
nach Denderah und umgekehrt; denn die gleichzeitige Er-
scheinung des Hör us und der Sothis am Osthorizonte
verkündigte das neue Jahr. Und nicht nur dieses. Die
Fruchtbarkeit Aegyptens, das Wohl (und Wehe) seiner Ein-
wohner ist vom Steigen und Ueberfluthen des Nils ab-
hängig. Da nun der heliakalische Frühaufgang des Sirius
mit dem Uebertreten des Flusses aus seinen Ufern (nicht
mit seiner Schwellung, die vom Sommersolstitium abhängt)
gleichzeitig erfolgte, so mussten die ägyptischen Gelehrten
schon aus Rücksieht für die Bedürfnisse des Landbaues einen
Sothis-Kalender herstellen. Es ist daher nicht zufällig, dass
94 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
in unzähligen Legenden zu Denderah der vielnamige Nil j
mit seinen Abzweigungen und Canälen in steter und engster |
Verbindung mit dem Sirius erscheint und dass die ägyp- 1
tischen Schreiber in ihrer wortspielenden ^Veise^ den Ursprung- I
liehen Namen Supd allmählig in suti abschwächten (wie I
seb „Stern4' in siu) um mit seh ~^\ o°°0^ au sgi essen c^
projici (coiTq effundere) ein Wortspiel zu bilden z. B. i|
dem Satze :
,<_!, (ca^-, coTe sagitta) |^ ^
i
seil Hapi m ran t pui n nuter Soti
: I . ■ . ' M i '. II ■-■(': Jim- U
nGiesse du den Nil aus in diesem deinem Namen als göttliche
Sothis". Daher trifft man statt der Hieroglyphe k supd
so häufig ' die schräg stehende Spitze \>, weil diese1 an' ^
sat cm, cht cauda erinnert. Auf diese Art erklären sich
die Gräcisirungen 2to&ig und 2^-9- (Vettius Valens) ; das
(Kircher'sche?) coo5C cicoe- cko^ ^iccrt canis, canicula
l ^i i v ■ i . ■■ *
scheint eine, aus 2co&ig nachträglich gebildete Form zu sein.
Dagegen hat cpXeR^ canicula den Anstrich, eine acht
ägyptische Benennung des Hundssternes zu sein , da bei
Chalcidius (in Jim.) sich die Stelle findet:, cum hanc eandera
stellam aorQOxyva quidam , , Aegyptii vero aoleyiqv ( ypeent.
Vergleicht man damit cqtüot Stella Veneris, cirXeiujoii
Stella terrae, die offenbar /mit cov Stella,, componirt sind,
so lässt sich auch oo— Xe%rj zerlegen und auf die in Den-
derah häufige Legende der tentyritischen , Sothis (Hathor-
Isis : <='°I?) Var. <j?g3~ recht oder lechzt ..die wissen-
schaft liehe" deuten, so dass 2olexrj eine Art „Stern der
Weisen" wäre.
Nach Vorausschickung dieser Bemerkungen wird man
leichter verstehen, was mit folgenden Legenden in Denderah
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 95
ausgedrückt werden sollte. Die überall daselbst gefeierte Isis
heisst: „Die am Osthimmel aufgehende „/$\F=a W "
die Grosse (hauptsächliche) in An't (Denderah), die Regentin
(haq't) beider Welten; die horizontige des Firmaments
cQd^\ 4, die östliche; Hathor die grosse, die Herrin
von Ant, Gebieterin des Himmels, Tochter des Sonnengottes,
die goldene (xqvotJ IdtcpQodkr]) unveränderlich in ihrer Jugend-
lichkeit ,^=^ jS) I; die weibliche Sonne, die schwarz-
f I a «<2>-
haarige, rothäugige, V 3§<<H>.i die Herrin der Liebe
(Ueberschwemmung ?) t=t, welche dem Sonnengotte Freude
erregt". Unter ihren Priestern befinden sich „Stundenmänner
in ihren Monaten" lo^il^m O^ö III* Es ist verboten
„die Satzungen Ihrer Majestät zu übertreten, die Einricht-
ungen der Vorfahren zu brechen". „Tretet ein gereinigt,
tretet aus gesäubert, nicht sprechet laut." Ein ander Mal
werden die Priester aller Rangordnungen aufgefordert :
„Richtet euer Angesicht gen Himmel, zur Herrin des Him-
mels; verehret Ihre Majestät: die Sothis, an demselben,
eure Umfaugerin, das (reiche) Leben eures Sohnes und eurer
Tochter nach euch; übet euch in den Vorschriften der
Tempelrollen, betrachtet die alten Schriften; nicht irret in
ihrem Tage, nicht übertretet ihre Summe" :
Atk 6k „Jl ® i <=>^^_Jp^ önn^A ^^r^AC /^>^ oo
96 Sitzung der phüos.-philol. Glasse vom 4. Juli 1874.
Diese Texte, welche sich leicht in's Unendliche ver-
mehren Hessen, lehren unwidersprechlich, dass die Aegypter
unter Isis-Hathor-Sothis einen Stern des Himmels bezeich-
neten, dessen Aufgang am östlichen Horizonte für sie ganz
besonders wichtig war. Diesen fleissig zu beobachten ge- %
hörte unter die Obliegenheiten einer Priesterciasse und zwar
von Alters her. Wenn dieser Stern zugleich „reiches Leben
der Nachkommen" genannt wird, so bezieht sich dieser Aus-
druck auf die seit Urbeginn wahrgenommene und darum auch
für die Zukunft erschlossene Nilüberschwemmung , welche
stets an den Frühaufgang der Sothis geknüpft erschien.
Aeusserlich wurde dieses Verhältniss z. B. in Denderah da-
durch angedeutet, dass die astronomischen Darstellungen die
sich um die Sothis gruppiren, an dem Plafond angebracht
wurden, während die geographischen Abtheilungen mit den
unzähligen Nillegenden die unteren Partieen der Seitenwände
einnahmen. Aus dem unerschöpflichen Materiale will ich
nur einige bedeutsamere Texte auswählen:
Diese Göttin ,, verursacht, dass austritt der Hoch-Nil zu
seiner Zeit alljährlich on0p Y-Pl<=:^>n q i»r?>>" s*e ^rt
den Nil herbei aus den beiden Quelllöchern (von Elephan-
tine) bis zum Mittelmeere 1 1 .-^ ^ ^~°-=- ^f\ X
„Der Himmel ist in Festfeier, die Erde ergrünt, Menschen
und Götter, jubeln, sobald sie die Goldene aufgehen sehen,
die prächtige, schöne, welche leuchtet am Himmel in der Nacht".
Dazu gehört ein Paralleltext, der sich auf den Horus
von Edfu bezieht „den Erzeuger des Lichtes, welcher an
ihrer Seite erglänzt und sich niemals von ihr entfernt."
<=> ©
|ßjfäz===l^ju. T^V°^V Sie heisst„Gehülfin ihres
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 97
Vaters Ra (des Sonnengottes), hervorgegangen aus seinem
Wesen, welche früh entstand mit ihrem Vater : dem Abyssus
(Nil-Oceanus) , als noch die Welt im Dunkeln lag — die
uranfängliche, mit deren Existenz die Welt begann. Sie er-
scheint am östlichen Horizonte zugleich mit ihrem Vater Ra."
■TC5=:sOTS>tK-*-:2Sft59
PSKSÄS - *ıTS8S*-- »- » J» '•"■•
lische Aufgang der Sothis.
Weil der Aufgang der Sothis und die damit zusammen-
hängende Nilüberschwein mung die Fruchtbarkeit des Landes
bedingt, so heisst sie ,,Bepflanzerin des Bodens, erfüllend
die Tempel mit ihren Gütern; sie ist die Herrin der Fluth,
die Herrin des Brodes und Bereiterin des Bieres, bei deren
Erblickung alle Menschen sich sättigen; alle Wesen leben
bei ihrem Aufgange, der göttlichen Sothis, der Grossen."
„Sie versorgt das ausgedürrte Land mit frischem (jungem,
^l'^lk^ ^ 1^^- Diese Texte beziehen sich
zwar auf den alljährlichen Frühaufgang der Sothis. Aber
wie oft erscheint diese Göttin als „Sothis, die grosse, die
Herrin des Jahresanfanges, die den Nil ausgiesst
um zu beleben (zu sättigen) die Blumen : ~ -j . |
~^~ f^ I^Pij^^11' Auch die SeDauere Angabe der
[1874,11. Phil.hist. CLL] 7
98 j ^Sitzung der philos^philol Classe vom 4. Juli 1874.
Zeit in welcher die Sothis mit ihrem Vater Ra (heliakalisch)
erscheint, fehlt nicht; denn es heisst von ihr „sie ist ge-
boren („zur Erde gethan") an dem Tage der Nacht „das
* # S) ^^. Da nun letzteres
die Benennung des 5. Epagomens ist (Pap. Leydens. I 346
III 2 u. 8), so liegt hierin eine Andeutung, dass ihr Regiment
unmitelbar an die Nacht des fünften Zusatztages sich an-
schloss, wie ja auch einige Klassiker35) von einem Jahresan-
fänge um die 11. Stunde der Nacht, also 5 Uhr Morgens,
zu berichten wissen. Die Epoche ward festlich begangen
„an dem Tage des Neujahrsfestes, wo sie sich gesellt zu
den Strahlen ihres Vaters (Ra) am Horizonte j \f ^=^ "T
IP1/^II-X:^Ä],'C An diesem Tage wurde das Bild
der Göttin Sothis durch die Seitentreppe auf das Dach des
Tempels (früh Morgens) durch die Priester in Procession
getragen, um die himmlische Conjunction der beiden „Lichter"
(Sonne und Sothis) nachzuahmen. Denn auf dem Plane des
Tempels selbst lautet die Treppeninschrift: „es ist ihr Haus
in Freude an ihrem schönen Neujahrsfeste, sowie an den
periodischen Feiern (aoipHTe). Niedergesetzt wird sie (ihr
Bild) in ihren Naos an ihrem schönen Feste, wo sie ihren
Vater sieht. Es vereinigt sich der Himmel mit der Erde,
es verbindet sich der Westen mit dem Osten im Anfange
des Jahres, im ersten Monat der Ueberschwemmungsjahres-
zeit (Thoth) p^{^|LH.u Im Festkalender selbst figurirt der
erste Thoth |J^M als Tag des Sonnen-Sothisfestes. Aus
dieser Stellung der Sothis im Anfange der beiden Jahre,
35) Yergl. Lepsius Chronologie p. 154 fg. Phaenn. y rov Kvvos
inirokri xcctcc iv& Exdrriv wqccv (paivtxca xccl xavtrp ccqx^v etovs
tl&evxca, xccl trjg "Iaidos teQov elrcu top Kvpcc Xeyovai.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 99
des fixen und des vagen, zur Zeit der" Periodenerneuerung,
erklärt sich auch, wie sie ,,die Herrin der 730 (2x365 Tage)'4
genannt werden kann; das Doppeljahr selbst wird durch j | ^
renpe-renpe oder den zweimaligen Geier mit Sonnenscheibe
bezeichnet, das einzelne Jahr durch einen Geier, wie ich
nach Anleitung von Horapollons yvxp = eviavrdg schon in
meinen Zodiaques de Denderah vermuthet hatte.
Fügt man zu obigen Legenden, die passim vorkommen,
den so häufigen Titel haq't chabesu ,, Führerin der Decane:
I c\IJ in" ^en *c^ °^en ^ Gelegenheit der Nachricht
des Chalcidius über den bei den Aegyptern hochverehrten
Stern Ahc besprochen habe, so gewinnt man hieraus schon
die Ueberzeugung, dass die Sothis durch ihren Frühaufgang
wirklich das für Aegypten natürliche Jahr von 365 */* Tagen,
die Tetraeteris, die Periode von 1461 Wandeljahren, sowie
eine Art himmlischer Aera begründet, an welcher das be-
wegliche Jahr jeden Augenblick gemessen werden konnte.
In dieser Beziehung ist eine Stelle86) besonders wichtig:
tfUe^ml^örlP hesehut renpetu m nun s
,,es werden berechnet die Jahre nach ihrem Frühaufgange",
wobei noch zu bemerken ist, dass jft auch der Name der
ersten Tagesstunde war.
Sind hienach die monumentalen Angaben im schönsten
Einklänge mit den Forderungen der Theorie, so wird auch
die weitere Notiz (Plinius) dass der Beginn der Siriusperiode
mit dem Neumonde zusammentreffen musste — lunis
coeptantibus , was H. v. Gumpach auch astronomisch be-
gründet hat — durch mehrere Stellen erhärtet. I 24 des
eben citirten Werkes von Mariette steht : „Hathor die grosse,
36) Mariette Denderah I 19 g.
7*
100 Sitzung der phüos.-philol. Otasse vom 4. Juli 1874.
die Herrin von Denderah, das Auge (der Augapfel) des
c=> /wvw\
Sonnengottes, die Grosse der Neomenie -^^ e ^ ",
wozu I 25, 12 die Variante „Herrin der Neomenie"
-^370'
\-3Ji Iiefert-
Bekanntlich entsteht durch Combination der Apis-
periode, die stets mit dem Neumonde beginnen musste,
und der Siriusperiode, für welche diese Förderung ebenfalls
feststeht, die grosse Periode von 25x1461 oder 36,525 Jahren.
Der Syncellus (196/97 Dindorf) gedenkt dieser grossen Periode
und bemerkt, dass Claudius Ptolemäus seine TtQO^eiqovg xavovag
in 25 jährigen Cyclen durchführte; da aber 25 in 1461 nicht
ohne Rest aufgehe (1461 : 25 Quotient 58, Rest 11) so habe
er zu 1461 noch 15 (statt 14) hinzugesetzt, also 1476 mit
einer überschüssigen Monade gerechnet, weil dem ersten
Jahre (des neuen oder zweiten Cyclus) mehrere Bewegungen
innewohnten.
Die Inschriften des Tempels von Denderah sind für die
ägyptische Zeitrechnung überhaupt und für die Siriusperiode
insbesondere, wie man sich aus meinen kurzgedrängten Aus-
zügen schon überzeugt haben wird, von der grössten Wich-
tigkeit. Trotz dieser für unsere Frage centralen Bedeutung
Denderahs passt jedoch der Frühaufgang des Sirius am
20. Juli nicht zum Parallelkreise dieser Stadt, noch weniger
zu dem Parallel von Elephantine oder Syene, zu denen Supd
(2cod-ig) wegen der am Katarakt zuerst bemerkbaren Nil-
schwelle in specielle Beziehung gesetzt wird, daher sie öfter
„die göttliche Sothis von Abu" | 1\ TÖJk^ heisst.
In Syene erfolgt der Frühaufgang des Sirius nach den
Neueren am 16. Juli; am 20. Juli ungefähr unter dem 30°
nördlicher Breite d. h. auf dem Parallelkreise von H e 1 i o -
polis. Auch für diesen grund wesentlichen Haltpunkt der
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 101
Siriusperiode gewähren uns die Inschriften von Denderah
an zwei Stellen erwünschte Auskunft. Die eine lautet37):
111 © iw I 111 © I Ä J w w 111
£, ^ /WWW ^S^.
}Qs I o
iri-Ba dient Ant, iriutnes Ant m debui en Ann
(Isis-Sothis-Hathor) ,,das Auge des Sonnengottes in Ant,
der die Stadt Ant gegeben ist als Ersatz für Anuu. Es
ist hier nicht ein blosses Wortspiel zwischen Anu (On der
Bibel = cHfaov7iofag) und Ant, einem der vielen Namen Den-
derah's; sondern der Name Ant wurde gewählt, weil eine
ursprünglich in Anu festgesetzte chronologisch-astronomische
Thatsache : die Einführung der Sothisperiode, auf (Denderah-)
Ant im Laufe der Zeit, als Heliopolis verfiel, übergangen war.
In der andern I25(3)c heisst Hathor ,,die Grosse am Himmel,
die haq't (Regentin) auf Erden, e~^§38)/\ j|39)^3^j^^
udes n Tum neb Anu merit-s, gehoben von Tum, dem Herrn
von Anu, der sie liebt." Mit udes könnte allerdings ein
Stab oder Scepter gemeint sein ; dies würde aber an dem
Sinne nichts ändern, da die Zusammengehörigkeit der Hathor
(-Isis-Sothis) und des Sonnengottes Tum von Heliopolis jeden-
falls dadurch bezeugt ist. Das liegt auch in der Benennung
Denderah's: ,,Land des Tum".
In dem von H. Dümichen entdeckten geheimen Corridore
wird die Uranlage von Denderah auf die Urzeit der vor-
historischen „Horus-Verehrer" zurückgeführt. Ich darf hier
vorwegnehmen, was ich anderwärts ausführlich beweisen
werde, dass die ältesten geschichtlichen Könige: Menes und
seine 17 Nachfolger, die bekannten Theeiniten (Theniten,
37) Mariette II, 17 c.
38) Im Originale v und /\ als Ligatur.
39) Im Originale die Figur des Tum mit ipxBVZ
102 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 4. Juli 1874,
Thynitae) nicht aus der oberägyptischen Stadt This (Thinis)
sondern von Heliopolis (Anu, häufig Ta-Anu und Taui-Anut
geheissen) herstammten. Dazu stimmt, dass die Phönix-
periode von 1500 (3x500) Jahren unbestritten auf Helio-
polis zurückgeht — mag sie nun eine Correctur der Sirius-
periode oder etwas Anderes sein -— wie denn das Todten-
buch allein schon beweist, dass die ältesten Religionssatz-
ungen in Anu entstanden.
Der Stein von Elephantine.
Auf einem in den Damm der Insel Elephantine ver-
baut gewesenen Steine (der durch den Prinzen Jerome
Napoleon ins Louvre verbracht worden ist) steht in deutlichen
Schriftzeichen : „Monat Epiphi, Tag 28, Aufgang der Sothis,
Festtag, Gebühr an" (die Götter etc.). Die Rechnung er-
gibt das Jahr 1477 vor Christus, da der Styl der Arbeit
die Zeit der XVIII. oder XIX. Dyn. anzeigt. Da aber kein
Königsname dabei steht, und Thutmosis III, wenn sein Schild
dazu gehören sollte, wie in vielen Inschriften, bloss historisch
erwähnt sein kann40), so lässt sich diese Angabe nicht weiter
verwerthen, denn als Beweis für die Existenz der Sothis-
periode.
In seinem Werke über den ägyptischen Kalender hat
Brugsch41) sowohl dieses Datum als das Beispiel des Theon
über den 29. Epiphi, nebst mehreren anderen von proble-
matischer Deutung als Stützpunkt für seine Behauptung an-
geführt, dass die alten Aegypter von jeher zwei fixe Jahre
gebrauchten, von denen das eine am 20. Juli, das andere
am 29. August, wie der alexandrinische Kalender, begann,
deren Anfänge also um etwa 40 Tage auseinander lagen.
40) Vergl. den geheimen Corridor von Denderah und den jungen
Kalender von Esne col. 5d.
41) Materiaux pour servir eto.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 103
Ich habe schon anderwärts42) bemerklich gemacht, dass
diese wenn auch geistreiche Hypothese durch den Wortlaut
der Tanitica (siehe oben p. 89) definitiv zu Falle gebracht
ist und daher einer weiteren Widerlegung nicht bedarf.
Denn wir wissen jetzt aus dieser authentischen Quelle, dass
nur ein fixes Sothis- Jahr neben dem Wandeljahre in Ge-
brauch war. — Nachdem der Stein von Elephantine lange
Zeit hindurch das einzige Denkmal in der ägyptologischen
Litteratur geblieben war, auf welchem der Frühaufgang des
Sothissternes an einem Tage des Wandeljahres notirt ist,
hat uns die Tanitica oder das Decret von Kanopus ein zweites
unwidersprechliches Beispiel für diese Thatsache geliefert.
Ein diittes findet sich auf dem Verso eines medicinischen
Papyrus, den man früher nach dem Americaner Smith in
Luxor benannte, der aber seit 1872 in den Besitz des H-
Dr. Ebers und der Leipziger Universität übergegangen ist.
Ueber dieses wichtige Aktenstück muss ich etwas ausführ-
licher handeln.
Das Doppeldatum auf dem Verso des Papyrus
Ebers.
Der Schwerpunkt desselben liegt in der richtigen Lesung
des betreffenden Königsnamens. Wie schwierig die Beant-
wortung dieser Frage im vorliegenden Falle ist, beweist die
Verschiedenheit der Versuche, die bisher damit angestellt
worden sind. Während H. Eisenlohr 43) das Namensschild
mit (o«i_a|vÄ 1 umschreibt und darin einen Titel der Kleo-
patra III erblickt, die 117 v. Chr. Regentin geworden, glaubte
42) Die Schalttage des Euergetes I etc.
43) Zeitschrift f. ägypt. Spr. 1870, p. 66,
104 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
H. Haigh44) darin (®%]^J zu erkennen. EL Ebers45)
seinerseits umschreibt (ov*^U I d. h. den Vornamen Amen-
hoteps's I. H. Goodwin 46) endlich liest das Namensschild
( o^— ä fe^ J Bemen-ba-ra oder Nen-ba-ra und bezieht
diesen Namen auf den König Bicheris der IV. Dynastie
Manetho's. H. Dümichen47) adoptirt diese Auffassung, ver-
verbessert jedoch die Lesung remen oder nen in gerh, indem
er nachweist, dass die Vogelklaue häufig diese Lautung be-
sitzt. Er erhält somit den Namen Ba-gerh-ra, welcher
allerdings dem Bicheris entsprechen könnte. Fragt man
nach der Bedeutung desselben, so würde sich ,, ruhende Seele
des Ra" ergeben, ein Sinn, der schwerlich Jemand befrie-
digen dürfte. Auch wäre das Vorkommen der Vogelklaue
in einem so alten Königsnamen sehr befremdlich, da man
dieses Glied sonst erst in der jüngsten Zeit als phonetisches
Zeichen verwendet antrifft.
Die Unwahrscheinlichkeit dieser Lesung steigert sich in's
Unendliche, wenn man die Frage stellt, in welcher Beziehung
der alte König Bicheris zu dem medicinischen Inhalte des
Papyrus gedacht werden könne. Wäre es Athothis (I, 2)
oder Tosorthrus lAGvlrptios (III, 2), denen Manetho Werke
über Medicin zuschreibt, oder (SQ] Teta (VI, 2), der in
der Urkunde selbst erwähnt ist, so Hesse sich eine an einen
solchen Königsnamen angeknüpfte Berechnung mittels des
Doppelkalenders begreifen. Auch handelt es sich nicht um
einen Epochenkönig wie MevocpQrjg; denn das Datum ergibt
44) Ibid. 1871, p. 73.
45) Ibid. 1873, p. 41.
46) Ibid. 1873, p. 107.
47) Die erste etc. Angabe p. 7 fg.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode» 105
einen Tag des Epiphi (9. oder 30.) nicht den 1. Thot als
Correspondenz des Neujahrsfestes und Sothisaufganges.
Es war mir von Anfang an wahrscheinlich, dass unser
Datum nur auf die Zeit der Abfassung oder der Copie des
Papyrus Bezug haben könne. H. Dümichen's Ansicht „die
auf der Rückseite des ersten Blattes flüchtig hingeworfene
Kalenderuotiz, durch die der gelehrte Herr (der Schreiber
des Papyrus) eben wohl nur zeigen wollte, dass er auch in
der Chronologie bewandert sei, hat für die ägyptische Forsch-
ung vielleicht einen noch höheren Werth, als der Inhalt des
ganzen Papyrus", — kann ich nur in ihrem Schlusssatze
beipflichten. Dass der Schreiber des Papyrus gerade den
König Bicheris um das Jahr 3000 v. Chr. erwähnt haben
sollte, weil er um eine ganze Sothisperiode vor seiner Zeit
gelebt, scheint mir eine gezwungene Erklärung, da es doch
natürlicher ist anzunehmen, dass der Verfasser oder Copist
auf seine eigene Zeit Bedacht genommen haben wird. Ver-
suchen wir nun, auf Grund der hieratischen Legende unserer
Urkunde und sonstiger Denkmäler den betreffenden Königs-
namen zu ermitteln. Was zuvörderst das zweite Zeichen
betrifft, so lese ich dasselbe als *> -/i mit der Lautung
chu, gestützt auf den ganz ähnlichen Zug im Turiner Königs-
papyrus fr. 72, 1.
Für diejenigen, welche am Bicheris festhalten, wäre hie-
durch eine viel ansprechendere Legende gewonnen, da Ba-
chu-ra sowohl phonetisch sich leicht mit BL-%e-qls vermittelt,
als auch einen ungezwungenen Sinn ,, schützende Seele des
Rau ergeben würde. Auch kommt /*— a als Variante von
© \\ im Namen des Cheops (Chufu) bereits vor. Allein ich
bin weit entfernt, in dem dritten und vierten Zeichen den
Vogel ba <fe^ zu erkennen. Vergleiche ich das Schild des
106 Sitzung der philos-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
Hykschos Apupi, welches mit «äÜ schliesst 48), ohne dass
dieser Zusatz lautirt wird, so empfiehlt sich für unsern Fall
diese Umschrift um so mehr, als die Lautung chu (cf. i£
daemon) häufig von dem sitzenden und das flagellum halten-
den Manne als Deutbild49) begleitet ist. knch beweisen
viele Varianten50) die Gleichheit von /» — o und ^^ oder
dessen Abkürzung, wo bloss der Kopf des Vogels als pars
pro toto erscheint.
Der König nun , zu dessen Legende der so gewonnene
Name als Thronschild sich fügt, ist kein anderer als Sip-
tah51) 2iq)&ag. Zwar findet sich unter den bisher bekannten
Varianten der Thronschildlegende weder das Zeichen /*_ o
noch das Determinativ 4ön ; allein dies ist kein ernstliches
Hinderniss, da ich sofort einen Text anführen werde worin
derselbe Thronname in rein phonetischer Schreibung er-
scheint, was bisher nirgends aufgezeigt war, mit dem Zu-
sätze des Pronomens k<^_, das ich auch in der Variante
Chufuf „er schützt sein Landu für das gewöhnliche Chufu
(Xeoxp) aus der Tafel von Saqqarah aufgezeigt habe. Der
betreffende hieratische Text steht in Beni-Hassan52) ange-
schrieben und lässt sich ohne Schwierigkeit folgendermassen
in Hieroglyphen transscribiren und übersetzen:
„Nachdem er gekommen von der Cella des Amenmesu, ging
er hernach zu schauen in die Cella des Führers Ra c h u f
48) Vergl. Lepsius Königsbuch No. 225.
49) Cf. Brugsch lex. p. 113.
50) Id. p. 1061. .
51) Cf. Lepsius Königsbuch No. 484.
52) Lepsius Denkmäler IV und Königsbuch No. 39.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 107
des SeeligeD, erglänzend wie der Himmel im Chennu; die
fcJTQkP JnJkll
Sonne ist im Leuchten darin, versehen ist sie mit Weihrauch,
T-ä=t 7 IMl 7SK-*-]
der sich erstreckt auf das Grab des Führers Rachuf,
^\\& ■BP.k.I r^NI — Ü>IN
des Seeligen. Man ging nachdem man 3 Monate 3 Tage
- ^* k 1 D A 7 * K-*-J
verwendet um zu schauen die Cella des Führers Rachuf
des Seeligen ; sie erglänzt wie der Himmel
&T/kä*ksk, -kil
Möge ich wiederholen diesen Gang in (das Heiligthum)
voll von schöner Gabe!"
Der Opfernde ist nicht genannt. Dagegen erhellt aus
dem Texte mit Sicherheit die Thatsache, dass ein Anhänger
der beiden Gegen- oder Nebenkönige Amenmesu und
Chuenra (Rachuf) Siptah ihre Grabkapellen in gutem
Zustande getroffen und mit Opfern versehen hat. Trotz
einzelner Lücken und Unsicherheiten des Textes erkennt man
das Wortspiel zwischen dem #^ diu des Namens Ra-chu-f
108 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
und dem 'S^J chu mit der Bedeutung ,, Glänzen". Ebenso
sicher ist, dass Amenmesu, wenn auch ohne Schildein-
rahmung, dem bekannten Nebenkönig der XIX. Dyn. gleich-
zusetzen ist; denn auf einem hölzernen Denkmale des Museums
von Miramar 58) steht deutlich , wenn auch bisher nicht be-
achtet, folgende Legende: ^ ^ BT M 1 ^ Ü ^
U /www
„Rede des Osirianers des Königs Amen m es". Um so
weniger ist jetzt die Identität von f 0©y\k^_J mit der
sonstigen Legende f °^^ J irgend zu bezweifeln. Wenn
ich nun weiter folgere, dass bei so weit auseiuanderliegenden
Varianten auch meine Auffassung des Schildes auf dem
Verso des Papyrus Ebers als: (Oa-jÄ I Nichts befremd-
liches bietet, so wird man hierin keinen übereilten Schluss
erkennen.
Dazu kommt noch ein Umstand, der gewiss alle Be-
achtung verdient. Bis jetzt fehlt uns jede directe Beziehung
des fraglichen Königsnamens auf den medicinischen Papyrus
selbst. Nimmt man mit mir die Lesung (Chu-(en)-ra) an,
so ergibt sich eine solche in höchst willkommener Weise:
Der Papyrus medical von Berlin, über den Brugsch59)
und Chabas60) gehandelt haben, hat nicht, wie Ersterer
meinte, einen gewissen Neterhotep zum Verfasser — denn
hinter dieser Gruppe fehlt sowohl p. 15, 3; 16, 5; 21, 9
das Deutbild der männlichen Person, als auch liefert uns
die Schlusszeile von p. 21 den Namen des Schreibers in der
wohlbekannten Formel: J^%fa% (Rubrik) I^t^J^
i
58) Vgl. Reinisch : Die äg. Denkmäler in Miramar Taf. VIII c. 3.
59) Notice raisonnee d'un Traite medical.
60) Melanges egypt. Ire serie.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 109
! 1 Ul Ii(ö)=flipv8> „Es ist aus, glücklich, zur Zu-
I /www /www 8Z W \ |//wwwllll £_1
iiiedenheit der Persönlichkeit des .... Amenmes". Wer
bezweifeln wollte, dass die verstümmelte Gruppe wirklich
men J£ä- sei, der vergleiche p. 5, 5 Mitte, wo dieselbe so
in dem Worte hasmew wiederkehrt. Es ist also ausgemacht,
dass das letzte Wort des Papyrus medical von Berlin:
Arnenmes, den Namen des Schreibers darstellt.
Wie es in dieser Beziehung mit dem Papyrus Ebers
sich verhält, ist mir zur Zeit unmöglich zu bestimmen, da
dieses Aktenstück noch nicht veröffentlicht ist. Allein das
öfter publicirte Doppeldatum von Verso der p. 1, um welches
es sich hier handelt, würde, auch wenn ein anderer Schreiber
als Amenmes dessen Verfasser sein sollte, in denselben Zeit-
horizont fallen, falls meine Deutung des Königsnamens auf
Chuenra Siptah sich als richtig erweist. Denn es ist be-
kannt und anerkannt, dass die dynastischen Namen mit Vor-
liebe auch von Privatpersonen adoptirt wurden.
Von den 13 Zeilen der Rückeninschrjft des Papyrus
Ebers sind übrigens nur die beiden ersten von Wichtigkeit.
Das Datum selbst ist nicht in der gewöhnlichen Form ge-
geben , wonach der Monat unmittelbar auf die Angabe des
Jahres folgt, sondern dieses steht in der ersten Zeile gleich-
sam als Ueberschrift und jener in der zweiten :
/wwv\ /j ^ LI
,,Jahr, letztes, der Majestät des Königs Chu(en)ra des ewig
lebenden, Neujahrsfest, dritter Monat der schom-Jahreszeit :
. . . . Erscheinung des Sothissternes."
Aus der Tanitica lin. 18 kennen wir die Bedeutung der
Schlussgruppen: ^^ ]ß *Jj^) XJ \ ^ griechisch lin. 36
110 Sitzung der philos.-phihl. Classe vom 4. Juli 1874.
übersetzt mit (tjJ fasoa ev r) ItzvcBIu to aotqov ro ttj$
"Iowg, rj von'iQzTai veov etog ehai. . Nach der Anordnung
des Textes scheint die dem „Neujahr" entsprechende Gruppe
\/ j ö^=^ nachträglich hinzugefügt worden zu sein. Auf
spätere Zuthat weist sicherlich die fast demotisch zu nennende
Gruppe, womit in Zeile 12 die dritte oder s c h o m - Jahres-
zeit bezeichnet ist. Nachlässig ist es ferner zu nennen, dass
die Gruppe X ohne den unterscheidenden Beisatz von
v — 'iA
^^ und ^=f „gross" und „klein", für den 6. und 7. Monat
zugleich verwendet wird. Endlich dürfte die Schreibung
Y>^ statt * O \\^ (Pha-rmuti61) ebenfalls ungenau
und ungewöhnlich erscheinen ; wenigstens ist sie erst im
Demotischen gebräuchlich.
Lepsius hat in der Zeitschrift für äg. Sp. 1870 p. 160
die Ansicht geäussert, dass die Anfangsgruppen der 11 letzten
Zeilen die betreffenden Monatsgötter als Protectoren dar-
stellen. Allein sieht man etwas näher zu, so vermag man
nirgends das wohlbekannte und sonst regelmässig angewandte
Determinativ der Götter: |, «Jj oder jVÄ, zu entdecken.
Selbst in der letzten Zeile, wo man es noch am ehesten
vermuthen könnte, steht (JüV Apt-i (Epiphi, aus Apap
entstanden) mit dem Thierzeichen, da Apt häufig in der Gestalt
eines weiblichen Nilpferdes dargestellt wird. Es scheint
mir also natürlicher anzunehmen, dass die betreffenden
Gruppen Techi, Mencht, Hathor, Kahika, Schafbet, Rokh-(ur),
Rokh(-netes) , Renuti, Chensu, Chentchet, Apti — Nichts
61) Die nicht seltene Var. *SEü!^ Bemut statt Bennut beweist,
dass ich Recht hätte, in meinen Zodiaques de Denderah den Namen
des Monats Pha-rmuti mit dem Feste der Erntegöttin Rennuti zu
identificiren.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 111
anderes besagen sollen als die Namen der fixen Monate
des Jahres, wie sie im Koptischen überliefert sind als:
e-coT, ndt&jii, j^ecop, ^oi^gK, Toßi, Aie^ip, «i^Me-
ttcoe, 4>ewpMOTT, n&.ujccmc, naoam, eriHn, MeccopH.
Es wäre auffallend und kaum zu begreifen, wenn der
letztgenannte Monat Mesori im Doppelkalender des Pa-
pyrus Ebers fehlen sollte. H. Brugsch61) hat desshalb die
Gruppe \f j ^^ Zeile 2 des Verso als Repräsentanten
des Monats Mesori aufgefasst und aus einer Inschrift vom
28. Jahre Ptolemäus IX Euergetes II (also 142 v. Chr.) die
Gleichung \jf j ^r^ = ö *=c aufgezeigt, womit unserem
' /wwv\ Cl)
Zwecke vorderhand genügt wäre. Allein die Bezeichnung
des Monats Mesori durch „Neujahrsfest', erhält erst dann
ihre volle Berechtigung, wenn man mit mir annimmt, dass
die fünf Epago ra enen, wie sonst öfter geschieht, zum
Mesori gerechnet sind und die letzte Stunde des 5. Epa-
gomens, der urkundlich „das Junge in seinem Neste" heisst,
zugleich als der Abschluss des alten wie als Anfang des
neuen Jahres gefasst wird. In dieser Beziehung bietet der kleine
Papyrus von Leyden 62) p. II lin. 5 die bedeutsamere Legende:
sprechen durch Jemand vom 63) Schlussfeste Neujahrsfeste
und dem Feste Uga (17. Thot) an bis zum Morgen des Festes
der Rannut." Hier ist offenbar das „Neujahrsfest" als
gleichbedeutend mit dem „Jahresschlussfeste" zusammen-
gestellt.
62) Leemans Monn. eg. Papyr. I 346.
63) Chabas: Le Calendrier des jours fastes et nefastes p. 104
übersetzt: ä la fete de la fin de Pannee etc. wobei die Präposition
schaa m = iiide ab nicht berücksichtigt ist.
112 Sitzung der philos-phihl. Classe vom L Juli 1874.
Wenn sich dieses so verhält, so muss die Verschiebung
der beiden -Kalender des Papyrus Ebers gerade einen ganzen
Monat betragen, so dass also in der zweiten Zeile der Mo-
ment des Jahresschlusses am 5. Epagomen (der zum Monat
Mesori gerechnet ist) dem letzten Tage des Epiphi im
Wandeljahre entspricht Dies ist für mich der Hauptgrund,
das zwölfmal hinter den Monaten des Wandeljahres wieder-
kehrende Zeichen als ^ hru arq „letzter Tag" aufzufassen.
Dass die hieratischen Züge diess gestatten hat Lepsius dar-
gethan und ich könnte manche Belegstelle dafür beibringen,
wenn es nöthig wäre. Wenn H. Goodwin in seinem Artikel
und H. Ebers64) bestätigend eine deutliche hieratische 9
darin zu erkennen glauben, so gebe ich doch zu bedenken,
dass die aus _^£ entstandene hieratische Form stets noch
eine abwärts führende Tendenz hat, abgesehen davon, dass
unter der Annahme der Ziffer 9 die fünf Epagomenen spur-
los verschwinden und damit der Werth des Doppelkalenders
auf Null reducirt wird. Ich verhehle mir allerdings nicht,
dass die durch meine Auffassung bedingte Notwendigkeit,
auch in der ersten Zeile demgemäss „letztes Jahr" zu lesen,
ihr Missliches hat. Allein das Doppeldatum des Papyrus
Ebers ist eben ein ungewöhnliches und die Schriftzüge
gestatten eher /^ als £ zu lesen. — Sobald
& /wwv\ <^>
der ganze Papyrus vorliegt, lässt sich über den Verfasser
und das Doppeldatum vielleicht etwas Bestimmteres be-
haupten. Vorläufig halte ich als Resultat fest, dass es sich
höchstens um 8 Jahre von dem Doppeldatum des Steines
von Elephantine entfernt und dem Quadriennium von 1469
bis 1465 v. Chr. angehört.
64) Zeitschrift 1874 p. 4.
Lautfi: t)ie Sothis oder Siriusperiode. US
Die Epochenkönige der Sothisperiode.
Nachdem im Vorstehenden der wirkliche Gebrauch des
fixen Sothisjahres neben dem Wandeljahre auf Denkmälern
und in einer Urkunde dargethan worden, übrigt noch, die-
jenigen Herrscher zu ermitteln, unter denen die Epochen
der Sothisperiode stattgefunden haben.
1. Antoninus-Hadrianus 136—139 n. Chr.
Zu dem in der Einleitung p. 79 bezüglich des Antoninus
als Epochenherrschers Beigebrachten ist hier ein monumen-
taler Beweis für dieselbe Eigenschaft des Kaisers Hadrianus zu
erbringen. Da derselbe am 10. Juli 138 n. Chr. starb, so
wurde nach ägyptischer Rechnung seinem Nachfolger Anto-
ninus das volle Jahr vom 20. Juli 137 bis ebendahin 138
zugeschrieben, dessen wirklicher Regierungsantritt also um
355 Tage anticipirt. Da nun während des Quadrienniums
136, 137, 138, 139 nach Chr. der Frühaufgang des Sirius
oder der Sothis auf den 1. Thot des Wandeljahres fiel, so
mochte jeder der beiden Kaiser mit der Epoche der Sothis-
periode identificirt werden, je nachdem man die erste oder
die zweite Hälfte der Tetraeteris berücksichtigte.
Unter diesem Gesichtspunkte erklärt sich in einfacher
Weise das Doppeldatum zweier griechischer Papyrus65),
welches sich so darstellt: L ^4 Li v t cd v i v o v Kaloagog rov
kvqiov, prjvdg tdÖQLavov H, Karex de rovg aQ%aiovg Tvßl
IH. Die Variante lurjvog lAdqiavov H xard tcov cEXXrjvcov
(siel) gewährleistet uns die schon bekannte Thatsache, dass
der Monat ^4dqiav6g dem fixen alexandrinischen Kalender
angehört, während der Ausdruck xara Tovg aQ%alovg auf
das Wandeljahr hinweist. Die Frage lässt sich somit so
stellen: In welchem Quadriennium entspricht der 18. Tybi
des Wandeljahres dem 8. Tage eines fixen Monates im
65) Young: Hieroglyphics pl. 52.
[1874, II. Phil. bist. CLL] 8
114 Sitzung der philos.-fhilol. Classe vom 4. Juli 1874.
alexandrinischen Kalender ? Die Rechnung ist leicht gemacht :
das 1. Jahr des Antoninus ist 137 m Chr., somit vom
Epochenjahre der Einführung des fixen alexandrinischen
Kalenders 25 v. Chr. um 162 Jahre entfernt, denen 162/4 =
40!/2 Tage Verschiebung entsprechen. Da nun das Wandel-
jahr vermöge seiner geringeren Länge vorauseilt, so haben
wir jene 40 V* Tage rückwärts zurechnen: die 18 Tage des
Tybi -f- 22 Tage des unmittelbar vorangehenden Choiakh
ergeben diese Zahl. Es bleibt also der 8. Choiakh = 18. Tybi
und damit ist der Beweis vollendet, dass während des
Quadrienniums 136 — 139, also wegen der Epoche, der
Name ^iögtavog an die Stelle des Xoiay. getreten ist, und
unter Antoninus Pius ,,dem Anhänglichen''* aus Pietät so
gelassen wurde.
Brugsch66) war der Wahrheit sehr nahe gekommen, als
er schrieb : ,,il en resulte de toute necessite que le 1er Ha-
drianos est egal au 25. Novembre == 29 Athyr alexandrin,
date qui est anterieure de deux jours au commencement du
mois suivant Choiak." Ohne seine falsche Lesart L / (statt
L ^), die von Hincks67) bald berichtigt wurde, hätte sich
ihm , wie mir , die vollkommenste Congruenz der Monate
IdöqiavoQ und Xoidx ergeben. — Letronne68), der dieses
Doppeldatum mit der Anwesenheit Hadrian's in Aegypten
(132 n. Chr.) zusammenbrachte, konnte schon desswegen und
weil er Li (statt L j£) zu Grunde legte, zu keinem be-
friedigenden Resultate gelangen.
Allein eine von ihm citirte Inschrift vom Colosse des
Memnon enthält ein wichtiges Element und vermuthlich das
früheste Beispiel des Monats tddqiavoq. Sie lautet:
XaiQT[iA(x)v 6 xa[t . . . .] GTQctTrjydg cEq[^o)v^eiTOv xai]
udavoTtoXeilrov, Mepvovog] tov &eioza[Tov rjxovoa] otv Trj
66) Materiaux p. 17.
67) On the various years and months.
68) Recueil des inscript. grecq. II 378 sqq.
Lauth; Die Sothis oder Siriusperiode. 115
ddeXcp[ij wqcc a\ L IQ Udoiavov tov kvqiov, firjvog tddqt-
av[ov . . . . ]. Das 19. Jahr Hadrian's seit 117 n. Chr. ist
136 n. Chr., mithin das erste des Quadrienniums 136 — 139,
während dessen der 8. ^AÖQLavog = 8. Xoidx des fixen
Jahres dem 18. Tybi des Wandeljahres entsprach: Das ist
die Epoche der jüngsten Sothisperiode.
2. Ramses III $qovoq<5 = Netkog 1325— 1322 y. Chr.
Durch die Ausgrabungen des Herrn Greene wurde 1854
die Südwand des Tempels von Medinet-Habu blossgelegt,
und darauf mit dem Datum „Jahr 8( — 11) Ramses III" ein
Festcalender entdeckt, in welchem, nach Erwähnung des
26. Pachons als der Krönungrsfeier69) dieses Königs, in col. 12
fügender Passus erscheint: IM^KPZ^^
„Erster (Monat) der Ueberschwemmung, Erscheinung der
Sothis, Fest (Panegyrie), Tag der Opferung (an Amonra-
sonther etc. am Feste dieses Tages)' '. Champollion und
De Rouge übersetzen : „le 1er Thoth, fete de Tapparition de
Sothis" und Biot begründete seine dessfalsige Berechnung
auf den 1. Thot. Nach Brugsch71) ist wohl auch der erste
Monatstag gemeint, allein durch die eponyme Bezeichnung
„Erscheinung der Sothis, Fest" ausgedrückt, womit dem
Datum jede chronologische Bedeutung genommen wird.
Dagegen ist zu erinnern, dass in der Treppeninschrift
von Denderah das Fest der Sothis ebenfalls allgemein be-
zeichnet wird mit ^ \ |r^-LU „im Anfange des Jahres,
eisten (Monat) der Ueberschwemmung" ohne dass der erste
Tag des Monats Thot speziell genannt wird, während im
Festkalender selbst der erste Thot ausdrücklich steht.
69) Taf. XXXII ist sie auf den 1. Tybi festgesetzt.
70) In der Lücke ist T__pr// zu vermuthen.
71) Materiaux pour servir etc.
8.*
Üö Sitzung der phüos.-phüol Ctasse vom L Juli 1874:.
Ebenso sagt Theon in der oben erwähnten Berechnung des
Sothisaufgangs für den 29. Epiphi: tavrag (rag faeqctg)
ärcokvGov cc7td 0cü#, wo doch offenbar kein andrer Tag als
der erste Thot gemeint sein kann. Es spricht somit die
Wahrscheinlichkeit dafür, dass obige Inschrift von Medinet-
Habu auf einen wirklichen Sothisaufgang am 1. Thot des
Wandeljahres sich bezieht und demgeraäss Ramses III, der
bekannte cPa(x\pivixog Herodot's, während der Tetraeteris
1325 — 1322 v. Chr., d. h. eine ganze Sothisperiode von
1460 Jahren vor der jüngsten Epoche 136 — 139 n. Chr.
geherrscht hat.
Man erinnert sich hiebei unwillkürlich der vom Vater
der Geschichte II 122 gemeldeten Kataßaoig des Königs
cPctfj,iplviTog, nach dessen Rückkehr (a$g rcaXiv a.7tw.vto), die
Aegypter ein Fest (oqttjv) begingen. Was that nun der König
im Hades? Er würfelte daselbst mit der Demeter (Isis)
unter wechselndem Glücke und kam mit dem Geschenke
eines xeiQOfiaxTQOv %qvgeov zurück. Bei dem noch zu
Herodots Zeit gefeierten Gedenkfeste verbanden die Priester
einem aus ihnen, den sie mit einem frisch gewebten Mantel
versehen hatten, die Augen und geleiteten ihn auf einen zum
Tempel der Demeter führenden Weg. Sie werden abgelöst
von zwei Schakalen (Itxoi) die ihn 20 Stadien weit zum
Tempel und wieder zurück geleiten. Daran schliesst Herodot
die Nachricht über Demeter und Dionysos (Isis und Osiris) als
Gebietern rtov xcctco, so wie über die ursprünglich ägyptische
Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, die in 3000 jähriger
Wanderung (7T€QirlvGig) sich vollziehe. Diese Zusammen-
stellung legt den Gedanken nahe, class das Fest der koctcc-
ßccGtg des Rhampsinit sich ebenfalls auf eine Zeitperiode
bezog. Darauf deutet noch ein anderer Umstand. Herodot
erzählt II 121, dass die von Rhampsinit an den westlichen
Propyläen des Ptah-Tempels aufgestellten, 25 Ellen hohen
Bildsäulen bei den Aegyptern xei^wv und -d-eQog ,, Sommer
Lauth: Die Sotliis oder Siriusperiode. 117
und Winter" genannt wurden. Es sind solche Personifica-
tionen von ^^° und £££0 auch auf den geographischen
— O /www
Denkmälern72) nachweisbar. War etwa die hier durch Ab-
wesenheit glänzende erste Jahreszeit M^-U zwischen beiden
als Hauptsache angebracht?
Am ausführlichsten behandelt Herodot den Reichthum
{rcXovxog) des Rhampsinit und die Bestehlung seines Schatz-
hauses durch die schlauen Diebe. Die Existenz eines solchen
Vorraths an Gold, Silber und Edelsteinen wird jetzt noch
durch die Wandinschriften des Palastes von Medinet-Habu
bezeugt. Herodot fusst hier zum Theile auf Homer Odyss.
IV 126, der den Gemahl der Alkandra üolvßog (Var. ITo-
Xvßovg) nennt. Ich habe schon anderwärts darauf hinge-
wiesen, dass hiemit Ramses III der Reiche, der cPaf,iipiviTog
bezeichnet werde , sei es dass man diesen Namen auf den
Reichthum an Rindern oder die mit dem Stierkopie73) ver-
sehenen Münzen deutet — ßovg eiti yXcooorjg ßeßrjxev sagt
der griech. Tragiker von dem Wächter, dessen Zunge durch
Bestechung mit Geld gebunden ist. — Nun wird in Manetho's
Liste, am Schlüsse der XIX. Dynastie und des II. Bandes,
dieser üoXvßog dem QovwQig gleichgesetzt. Bunsen und
Andere haben dabei an des Eratosthenes (Dqovoqco r'zoi
NtiXog gedacht und in der That lässt sich mit Rücksicht
auf Dikäarch's Epochenkönig NeiXevg, der auf 1322 v. Chr.
(cf. supra) steht, die leichte Veränderung in (DovtoQig nicht
beanstanden, falls ein monumentaler Beweis dafür geltend
gemacht werden kann. Ich schätze mich glücklich, denselben
beibringen zu können.
72) Brugsch: (Dümichen) Recueil III pl. XC 23, 24, 25; Geo-
graph. Inschr. III pl. IV 17, 18.
73) Lepsius: Die Metalle in den ägypt. Inschriften p. 40 zeigt,
dass die ägypt. Gewichte für Goldringe (Münzen) namentlich die
Gestalt von Stieren oder Stierhäuptern haben.
118 Sitzung der philo s.-phüol. Classe vom 4. Juli 1874.
In der Nähe von Medinet-Habu befindet sich ein Denk-
mal74), worauf ein Beamter Ul ^ i J\ lazen Q^p) der
/wwv\l( _
n§»&/ —
grossen Domäne des Königs Ramses III Namens jy _W ***—
AA/WV\
Baherunamif erwähnt wird. Hinter der Gruppe 3fc$ "im
ftMWA
Chennu des" folgt d. leicht herzustellende Name f O | jfj| J
Ramses hyq An, das heisst Ramses III mit dem Beisatze
\£^^ o P-ur-ao15) „der sehr Grosse". Hieraus erklärt
sich die Gräcisirung 0-ovtoQ-ig und auch (Dqovoqio, wenn
man annimmt, dass gleich Herodots (Degcog (Menophtah,
Sohn des Sesostris) auch Ramses III den Titel Pharao ge-
führt und mit dem Beisatze ur-ao ,,der sehr Grosse" zu
0(e)Q-ovoQ-a) geworden sein mag. Bei dieser Gelegenheit
ist auch Herodots Form des Namens 'Pctfiiplvirog zu er-
läutern. Da dieser König sich durch den beständigen Titel
f | byq-Anu „Fürst von On (Heliopolis)" von den übrigen
Ramessiden unterscheidet , so leidet es für mich keinen
Zweifel, dass cPa^ip-lvLt-og aus Ramss-Anut — auch diese
Form kommt vor — sich gerade so gebildet hat, wie Oeei-
vvzai, der Titel der beiden ersten Dynastieen, aus Taui-Anut,
der fast constanten Legende der Urhauptstadt Aegyptens.
Auf den Parallel dieser ältesten Metropolis des Landes weist
die Epoche der Sothisperiode — sollte Ramses III seinen
Titel „der Onische", vielleicht mit Rücksicht auf die bevor-
stehende Epoche derselben gewählt haben ?
Die Uebersetzung des Eratosthenes : Oqovoqw tjtol Nellog
hätte, da er auch sonst nicht immer das Richtige trifft
z. B. in Betreff des 'Id&cod'ig = 'EQfioyevrjg — für uns nichts
74) Brugsch: Recueil II pl. LXIV, 3.
75) Der Arm hat oft allein die Geltung von <^r welches in
demselben Texte vorkommt.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 119
Bindendes, wenn nicht der Netlevg schon bei dem älteren
Dikäarch vorkäme. Die Sache lässt sich übrigens leicht
begreifen. Da der heliakalische Aufgang der Sothis die
Nilüberschwein mung bedingt, so musste mit der Epoche der
Periode um so mehr der Begriff des Voll-Nils — der dann
auch ur-ao „der sehr grosse'' heisst — verbunden gedacht
werden. In dieser Beziehung ist besonders ein Text76) be-
merkenswerth, worin der Reichthum und Ruhm Rainses III
gepriesen und der König geradezu mit dem Nil identificirt
wird: 8 £££ $1\ ^3^* ,, der Nil ist mit dir vereinigt
(col. 14/15)." Eine so lange Parallele wie vorliegende, worin
der Pharao mit dem segenspendenden Nil verglichen wird,
ist mir sonst nicht begegnet. Ein Nachklang dazu liegt
darin, dass Diodor I 63 unmittelbar hinter dem reichen
cPapcpig (lies cPifiipig) den König Nedevg71) sich Verdienste
um Canalisirung des Landes und Nutzbarmachung des Nellog
erwerben lässt, wenn er auch das Sachveihältniss dabei
umkehrt.
Die vielgeplagte Stelle Herodot's II 15: Moiqi ovxco yjv
I'tecc elvaxooia TeTelevtrf/,OTi} oze zwv cigecov zavza syco
rfAovov beziehe ich auf die nicht volle 900 Jahre vor Herodot's
ägyptischer Reise (450 .v. Chr.) also 1325 v. Chr. zu Ende
gegangene Sothisperiode des Moloig-Mevocporjg (Pepi-Phiops-
Meira). Es ist sicher nicht zufällig, dass dieser Molqig und
Sein See mit dem Nil zusammen genannt wird, weil eben
der König Nellog ebenfalls ein Epochenkönig war. Wie
der urkundliche Beiname von RamsesIII: P-ur-ao oder
0{q)ovoqco „der sehr Grosse (Pharao)"' aus mehr als einem
Grunde mit p-aur-ur-ao v?_(l /wwsat=t -^^-^-n „der hoch
76) Dümichen: Hist. Inschr. VIII col. 1—40.
77) Auch bei Malabas steht der Pharao ^cc/üjq (inj Fluss) am
Schlüsse und Diodors Ov/cqsvs scheint damit identisch.
120 Sitzung der phüos.-phüol. Glasse vom 4. Juli 1874,
angeschwollene Fluss" amalgamirt wurde, so mochte MoIqlq,
der Name des Königs (Meira), mit mhüc inundatio exae-
stuatio jtlrjfxfxvqa (und nicht erst in neuerer Zeit) identi-
ficirt werden, um so mehr als (1(1 und (1(1 be-
kanntlich Aequivalente sind. Dass der letzte König von
Manetho's XIX. Dyn. und seinem zweiten Bande eine Epoche
darstellt, ergibt sich auch aus der Summe 1050 J., des dritten
Bandes, die sowohl beim treuen Auszügler Africanus: Sfiov
etrj / (tqItov) xo\iov av\ als beim Syncellus p. 486 tqirov
xo^iov errj qv vorkommt. Erinnert man sich nun, dass
(Pseudo-) Manetho nach den Gewährsmännern des Syncellus
p. 73 ev rf ßlßloj rfg 2w$eog (sie) eine eigene STUGrolr}
an den Ptol. Philadelphus richtete und dass im Jahre 275
v. Chr.78), also im zehnten Jahre der Regierung des Phila-
delphus, eine Phase der Phönixperiode eintrat, so erhält die
Summe des dritten manethonischen Bandes zu 1050 Jahren
den Sinn, dass Manetho als Chronologe den zeitlichen Ab-
stand der Sothisepoche unter Phuoris von der Phönixphase
unter Philadelphus bemerklich machen wollte: 1325 bis
275 = 1050 Jahre.
Hiemit wäre also ein neuer Beweis dafür geliefert, dass
Phuoris auf 1325 v. Chr. anzusetzen ist. Das Datum ,,Jahr 8"
zu Medinet- Habu, worin der Frühaufgang des Sirius am
1. Thot gemeldet wird, spricht nun auch zugleich für die
Identität von Phuoris und Ramses III, da Oovwqig — IV^ £
in allen Auszügen steht. Wenn man einwerfen sollte, dass
der Zusatz 6 Ttaq' c0^rjQO) xalov^ievog üolvßog Lily.a.vöqag
ävrjQ, egf ov to °'lhov kala) sich ebenso constant finde, so
bemerkeich, dass allerdings die trojische Gleichzeitigkeit,
die erst seit Eratosthenes, vermuthlich durch Apollodor, in
den Manetho hinein gebracht worden ist, die Verkürzung
78) Vergl. Lepsius Chrono!, p. 189,
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode, 121
der Dynastiensummen des III. Bandes verschuldet hat. Es
ist begreiflich, dass die Griechen das Hauptfactum ihrer
Vorgeschichte an den ägyptischen Epochenkönig anlehnten.
Dass aber EratostheDes den Oovioqiq (Oqovoqw = Nellog)
an einer früheren Stelle als 1183 v. Chr. kannte, wird durch
das zweimalige Vorkommen des Oovcoqlq in der Sothisliste
des Syncellus angedeutet. Einmal steht er (No. 58) mit
der Bemerkung perä zrjv alcooiv Tqoiag unter dem Welt-
jahr 4319 (von 5500 ab, bleibt 1181 v. Chr.), das andere
Mal (No. 49) unter dem Wj. 4134 — 4151, mit Berücksich-
tigung des Ueberschusses der durch Panodor noch nicht
überarbeiteten Sothisliste nämlich von 25 Jahren, also
4151 -f- 25 = 4176, gerade um eine ganze Siriusperiode von
dem Anfangstermin Wj. 2715 entfernt79).
Der Laterculus des Eratosthenes , wie er uns gegen-
wärtig vorliegt, ist, wie schon die beigesetzten Weltjahre
darthun , ein ziemlich spätes und eklektisches Machwerk.
Wenn aber schon Aristoteles Polit. VII, 9 die Zeit Ramses II
Sesostris im Allgemeinen richtig bestimmt: Ttokv yag vrteq-
reivu rölg xqovoig rrjv Mivct) ßaoiXelav rj SeGcooTQiog —
wenn ferner beim Syncellus p. 76 derselbe Ramses (Aegyptus)
mit 68 Regierungsjahren, der Bruder des Danaus, als siebenter
König der XIX. Dyn. (statt als erster) dargestellt wird,
so sieht man sofort, dass von der Epoche der Sothisperiode
1325, als dem Ausgangspunkte, rückwärts gerechnet wird,
um eben die beiden Epochen: der Sothisperiode von 1325 und
der Phönixperiode von 1525 v. Chr. zugleich zur Anschauung
zu bringen. Jetzt begreift man vielleicht die Juxtaposition
von (Vqovoqü) tjtol Nellog und ^4fj.ov^iaQzaiog im Laterculus
des Eratosthenes. Sein L4^iov(j.aqraiog (Ramses Mia/xovv)
steht mit 63 Regierungsjahren unter Wj. 3913 — 3975 inclusive.
Zieht man nun letzteres von der Normalsumme 5500 ab,
79) Vergl. meiner* „Manetho" p. 25 u. p. 14-
122 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
so bleibt 1525 v. Chr. d. h. die Epoche des Phönix, der nach
Tacit. Anna). VI 28 Sesostride regnante zum ersten Male
erschienen war. Der Pap. Leydens. I 350 hatte mir bei
einer früheren Gelegenheit80) durch die Notiz beim letzten
Mechir des 52. Regierungsjahres von Ramses-Sesostris :
,. Anfang des Jahres der Zurückweichung" unter Zugrunde-
legung des traditionellen Exodusjahres 1490 v. Chr. dasselbe
Jahr 1525 v. Chr. ergeben. Ich denke, jetzt hiemit mein
kürzlich gemachtes Versprechen erfüllt zu haben, da die An-
gabe eines Chronologen von Fach, wie Eratosthenes , der
die Epoche des Sesostris kennen musste, jedenfalls Berück-
sichtigung fordert. — Wenn eingeworfen werden sollte, dass
im Laterculus das 63. Jahr des Sesostris und nicht sein
52. als Epoche erscheint, so halte ich entgegen, dass die
Zahlen der drei letzten Nummern einen Ausfall von 13 Jahren
aufweisen, die Goar einem anonymen Könige zuschreiben zu
müssen glaubte, während Bunsen81) dem Wqovoqco 19 statt
5 Jahre zutheilt. Die Lesart der Handschriften nach Din-
dorfs Ausgabe des Syncellus ist folgende :
No. 36 Sicp&ag 6 Kai cEg^rjg (Armais) = vlog cHcpaiotov
exrj s — ya)7i$ .
No. 37 0qovoqco rjTOt Neilog . . Irr] e — ycorcd- .
No. 38 lAiiovSaQTcäog .... ety f / — yaiy .
Die Summe der Regierungsjahre dieses Kleeblattes:
5 + 5~j-63-73 Jahre, reicht vom Wj. 3889 bis Wj. 3962,
nicht 3975, wie die Schlussrechnung erheischt. Die fehlen-
den 13 Jahre können nun allerdings wegen des bf.iOLOxelevTov
(von No. 36 und 37) dem Oqovoqw beigelegt werden. Allein
es fragt sich, ob nicht der ganzen Berechnung und Ver-
wirrung die Regierungszahl 65 zu Grunde liegt, welche in
der Sothisliste des Syncellus unter No. 25/26 als Mia^iovg
80) Moses der Ebräer p. 55 — 64.
81) Die Schalttage des Euergetes I etc. p. 14 infra.
82) Aeg. Stelle III Urkunden p, 67.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 123
%xr\ 18 !Afxeoriotg (Papeoofjg) str) %e zweigetheilt vorliegt.
Zieht man 14 Jahre von 66 (der richtigen Zahl) ab, so
bleiben 52; dasselbe geschieht, wenn man 13 von 65 sub-
trahirt. Jedenfalls steckt hier eine Spur davon, dass das
Jahr 52 des Ramses-Miamun Sesostris als Epoche galt. In
meiner vorigen Abhandlung83) habe ich aus Pap. Leydens.
1351, den ich als Annex zu 1350 betrachte, von einem
Geschenke gesprochen, das im Ramesseum verabreicht wurde,
„am 30. Mechir des Jahres 52) dem Ordner der Kreis-
bewegung des Himmels, des Uzat- Auges (Phönix) und der
Sterne". Die Stelle lautet vollständig so:
„Monat Mochir letzter Tag . . Reichniss an den Ordner
der Bewegung des Himmels des Uza u. der Sterne : 1 Gabe."
Hiezu stimmt lin. 10 mit der Legende:
,, Monat Phamenot Tag 3: Reichniss für die Bedienung der
IMMII---- im
Haqt chasebu**) 3".
Es ist unzweifelhaft, dass ,,die Fürstin (haq't) der
Decane" (chabesu) eben nur die Sothis ist, deren die
astronomische Darstellung am Plafond des Ramesseums eben-
falls gedenkt mit den Worten: „ Die Götter und Göttinen des
Südhimmels gewähren dir, König Ramses Meri-Amun. dass du
83) Die Schalttage des Euergetes I etc. p. 115.
84) Man sieht, dass der Schreiber durch obiges sebu „Sterne"
verleitet, eine Metatheis statt Chabesu beliebt hat.
124 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 4. Juli 1874.
VTJH^ElloÄ*^^ JLHIoVf aufleuchtest
wie Isis-Sothis am Himmel den Morgen des Jahresanfangs".
„Sie bestimmt dir Millionen von Panegyrien, X"
__ AD I I I I l/WW\A
^^WT"! Nilüberschwemmungen, nicht ablassende (aus-
[=rI=]'WWVA*XXO n ,..j ,. '■. ,.
setzende) — <=> und dass dir erscheinen die
(Decan-) Sterne jede Decade".
Wenn die bisherigen Deductionen für das 52. Jahr des
Sesostris die Phönixepoche 1525 und für das 8. Jahr Ram-
ses III die Sothisepoche 1325 v. Chr. ergeben haben, so fragt
es sich jetzt, wie das oben erörterte Datum des Papyrus
Ebers dazu stimmt. Ich bemerke nur kurz, dass 2icp&äg
den Monumenten zufolge unmittelbar hinter dem Exodus-
Pharao Menoptah (l^^evo^ad-) zu wenn auch bestrittener
Herrschaft gelangte, und dass ich. bis jetzt keinen Grund
gefunden habe, von dem traditionellen Datum des Exodus:
1490 v. Chr. abzugehen85). — Es übrigt nun noch eine Art
Gegenprobe zu machen dadurch, dass die astronomischen
Denkmäler der Nachfolger des Rhampsinit zu Rathe gezogen
werden. '
Es ist durch Lepsius, De Rouge, Biot und Andere längst
dargethan, dass der Sothisaufgang in der 11. Stunde der
Nacht im Grabe Ramses VI sowohl als Ramses IX unter
dem gleichen Datum : 1. Phaophi, angeschrieben ist. Diese
Uebereinstimmung darf nicht befremden oder gegen das
85) Wenn ich bisher nur gelegentlich auf die abweichende An-
sicht von Lepsius zu sprechen kam, der den Exodus wohl auch unter
Menoptah setzt (1314) aber ihn zugleich zum Epochenkönig dieser
Periode macht, so geschah dies nicht aus Geringschätzung, sondern
wegen Mangels an Raum. Sollte ich später ausführlich hierüber
handeln, so werde ich stets bekennen, dass ich aus seiner „Chrono-
logie" vielfache Belehrung und Anregung geschöpft habe.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 125
Zeugniss dieser Denkmäler misstrauisch machen, da der
Begleittext selber sagt, dass die Aufgänge für je 15 Tage
notirt sind. Diess gibt einen Spielraum von 60 Jahren,
der für die Distanz beider Herrscher genügend erscheint.
Das Doppeldatum im Papyrus Abbott, wo dem 19. Re-
gierungsjahre Ramses IX als Correspondenz „Jahr 1" gegen-
über gestellt ist, hängt vielleicht damit zusammen. Analog
ist im prachtvollen Grabe Ramses IV der Sothisaufgang
unter dem 15. Thot, also um 15 Tage oder 15X4 = 60 Jahre
früher angesetzt. Wem jedoch dieselbe Distanz: 1. Thot
— 15 Thot von Ramses III bis zu seinem unmittelbaren
Nachfolger zu gross erscheint, den verweise ich auf den
„Grossen Papyrus Harris"86). Er ist vom 32. Jahre Ram-
ses III datirt und nichts beweist, dass dieses den Schluss
der Regierung dieses denkmalreichen Königs bildet. Bei
einem feierlichen Anlasse — allenfalls der Epoche des
25 jährigen Apiscyclus seit seinem 8. d.h. Epochenjahre? —
ergreift der Pharao selbst das Wort, um sich seinen Grossen
gegenüber seiner Thaten zu rühmen. Die für meinen jetzigen
Zweck wichtigste Stelle gebe ich nach meiner vor mehr als
vier Jahren gefertigten Uebersetzung87) : ,.Es war das Land
von Kemi (Aegypten) auseinander gefallen: Jedermann bildete
für sich ein Centrum; nicht war ihnen ein (gemeinsames)
Oberhaupt an der Spitze wider die Einfälle der Fremden.
Es war das Land von Kemi in der Gewalt von Fürsten
der leitenden Städte: einer tödtete den andern; so gelangte
zur Macht die Verwerflichkeit (ujooTre vilis , inanis) fremder
Angreifer. Es geschah (desshalb) hernach in den Jahren
des Unglücks dass sich machte zum Fürsten (haq) ein
86) Eisenlobr: D. Gr. P. H. p. 9; von einer religiösen Neuer-
ung, die er darin erwähnt wissen will, ist keine Spur zu entdecken.
87) Eisenlohr: On the political condition of Egypt before the
reign of Ramses III p. 7 sqq.
126 Sitzung der philos.-philol. Ctasse vom 4. Juli 1874.
Syrer, im Verhältniss zu ihnen als ein König (ur) ; er
brachte das Land als tributspendendes vor seine Alleinherr-
schaft, da er seine Genossen sammelte, welche ihre (der
Aegypter) Schätze plünderten. Sie thaten den Göttern das-
selbe an, wie den Menschen: nicht wurden (mehr) Opfer
dargebracht im Innern der Tempel" etc. Weiterhin erzählt
Ramses III, dass sein Vater und Vorgänger Necht-Set
die Eindringlinge vertrieben, die Ordnung im Lande wieder-
hergestellt und ihn selbst zum Thronfolger erhoben habe,
worauf er gestorben sei. H. Birch, der ausgezeichnete
Aegyptologe, wollte in der Gruppe, die ich einfach mit
„machte sich" übersetze, nämlich II QA 1 ^X den Namen
des Syrers erkennen, der sich zum Alleinherrscher aufwarf.
Allein diese Annahme scheitert, von vielem Andern abgesehen,
schon an der Parallelstelle (IgA ^\ i „sie machten, thaten
an, behandelten" die Götter geradeso wie die Menschen, in-
dem sie beide des Gehörigen beraubten.
Eher lässt sich hieher Diodor's (I 62) Khrjg und der
KiIqtcüq der Sothisliste ziehen , da dieser ebenfalls nach
einer Anarchie (enl rcavxe yevedg yevo^evrjg) und zwar durch
Wahl (^QB^-rj) aus unberühmtem Geschlechte (twv döo^wv
zig) auf den ägyptischen Thron gelangte. Man glaubt Ma-
netho zu hören, wenn er die c Y%ovaowg oder Hykschos
{ßaoikeig 7toi\ihzg) als ard-gcortoi to yevog aoytioi ebenfalls
von Asien her in Aegypten einfallen und den Salatis als
König wählen lässt {fteqag de y.al ßaoiXea eva e§ avzcov
ertolrjüav), dem das Land zinspflichtig wurde. Die Analogie
beider Fälle ist gewiss nicht zu verkennen.
Was die Erklärung des Namens Khyg betrifft, so liegt
das koptische rst alius KdtOTi alienus, Ke^woTin alii,
alieni, um so näher, als obiger Text selbst die Bezeichnung
■^ <* ^w_ ' Kechetu statt Ke(t)chetu oder Ketechu
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 127
für die Fremden gebraucht, die sonst auch ix Kaui
heissen. An u -$ Keti**) , »Genosse" wird kaum zu denken
sein. Verdient die Form K^qtwg den Vorzug, so Hesse
sich sein Titel T^"" i&t ■^iar ~ Syrus, vielleicht mit
Hinzufügung von E=^><l tos («xoce praestare) beiziehen.
Auf jeden Fall leistet uns dieser Text durch die Con-
statirung einer langen Anarchie und einer Fremdherrschaft
vor Necht-Set, dem Vater Ramses III, den Dienst, dass wir
mit Hinzuuahme von Amenmesu, 2iq>&äg und Sethos II,
mit dessen Namen die Sothisliste den KrJQTcog gruppirt, den
Zeitraum zwischen dem Exodus-Pharao Menoptah und Ram-
ses III genügend ausfüllen können.
3. Pepi-Merira *fa»v MoTqls (Mevoyws) 2785 - 2782 v. Chr.
Einen letzten Dienst erweist uns der Tempil von Den-
derah durch die Darstellung II 67. „Hathor die grosse,
die Herrin der Göttinen, hellstrahlend wie ihr Vater, die
Herrin des Hauses" sitzt in einem goldenen Naos von 4 Ellen
Höhe; ihr bietet der König, das Schild (§1)1) J über sich
haltend (ebenfalls golden), ein 1 Elle hohes goldenes Bild des
Ahi-uer, des Hathorsohnes dar, der in der Rechten das bekannte
Hathor-Sistrum , in der Linken das Amulet &^> hält. Die
Göttin spricht zum Könige: „Ich gebe, dass dein Schrecken
sei in dem Herzen der Menschen, und dass die Götter sich
freuen bei deinem Anblicke". Aus der Darstellung erhellt,
dass der so angeredete König einer der Imperatoren ist
(wahrscheinlich Nero). Warum nun hat dieser jenes ihm
88) In dem Papyrus von Bologna (Chabas Melanges III, I p. 242)
heisst der flüchtige Syrer Naqati, sein Vater Salraz, seine Mutter
Qeti. Er flüchtet zu einem Landsmanne Kenur "if-)3 KtvvQug\ seine
Vaterstadt war Aratu in Syrien.
128 Sitzung der phitos.-philol. Ctasse vom 4. Juli 1874.
nicht gehörige Namensschild über sich ? Die Inschriften des
geheimen Corridors beweisen , dass der Plan des Tempels
von Denderah ursprünglich in den Tagen der „Horus- Ver-
ehrer" auf die Haut einer Ziege geschrieben war; dass
dieser zur Zeit des f üqH J im Innern einer Ziegelmauer
des Südhauses aufgefunden wurde, während die Restauration
des Monuments durch Thutmosis III89) auf Grund einer
zur Zeit des Cheops in alter Schrift aufgefundenen Ur-
gründung (Plan) erfolgte.
Die Schreibung f ifjfj J anstatt (üH 1)1)1 (in beiden
Stellen 1) erklärt sich aus einer Grille der Schreiber, die das
Zeichen g wegen seines Theilungsstriches als fj auffassten.
Allen Zweifel, dass Pepi ®ia)ip gemeint sei, beseitigt das im
Corridor beigefügte Thronschild f 0A^==r.[j() J Meri-Ra , Lieb-
ling der Sonne." Erinnern wir uns des herodotischen Mo7oig
und des theonischen Mev6<pQ7]Q, der als Epochenkönig con-
statirt ist, so werden wir mit Bunsen geneigt sein, den
Molqtg mit diesem langlebigen Könige der VI. Dynastie —
er soll 100 Jahre weniger 1 Stunde gelebt oder sogar regiert
haben — zu identifiziren und auch den Namen MevoyQrjs,
wie ich schon früher gethan habe, als Meri-n-ph-ra „geliebt
von dem Sonnengotte" auf diesen König zu beziehen. Dass
die Hinzufügung der Präposition /wvw facultativ war, wissen
wir längst, sogar aus der Legende des unmittelbaren Nach-
folgers vonPhiops: f o^-/wwv* J Mer-en-Ra. Die Hinzu-
fügung des Artikels cp (p, ph, CP) in einer späteren Quelle
wie Theon, war gar nicht anders zu erwarten. (Vergl. das
relativ junge Ile-Te-cpQrjg mit dem altertümlichen JDEPÜID
Putiphra).
89) Sein Thronschild (oöj|M steht II 55c auf einem Hathor-
capitäl „von Mafka, 4 Palmen hoch".
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 129
Dazu aber kommen noch andere Thatsachen, welche
den Schluss nahe legen, dass Phiops-Meri-Ra der Epochen-
könig ßlevocpQyg gewesen, dass also zu seiner Zeit: 2785
vor Chr. die Sothisperiode sich erneuerte. Auf einem Altar
der VI. Dynastie zu Turin, aus der Regierungszeit dieses
Phiops datirt, erscheint neben anderen Gottheiten auch zum
ersten Male „die göttliche Sothis". — In der syro-
arabischen Liste90) erscheint ein König Ap intus, der die
chaldäische Schrift nach Aegypten bringt, worauf Urun-
chus folgt, das wohl nichts anderes als sein Beiname: ur-
anch „der langlebige" ist und zu Apintus gehört. In der
verzwickten arabischen Schrift sind die Zeichen für n, t,
und b (= p) nur durch diakritische Punkte unterschieden,
so dass ursprünglich der eratosthenische LiTtaitTvovg (= Olcoip)
überliefert war. Dass er die chaldäische Schrift nach
Aegypten gebracht haben sollte, ist natürlich falsch; allein
es steckt in dieser Erwähnung der Chaldäer, die im Alter -
thum allgemein als die ersten Astronomen galten, die An-
deutung, dass unter Phiops eine astronomisch-chronologische
Epoche: eben die Erneuerung der Sothisperiode, stattfand.
— Endlich sei nicht unerwähnt, dass auch nach Lepsius91)
früherer Auflassung, auf Grund der man ethonischen Summen,
die Festsetzung der Sothisperiode in die VI. Dynastie fiel,
von der fast die Hälfte durch die 100 Jahre des Phiops ein-
genommen wird — ein allerdings sehr grosser Spielraum
für eine Epoche. Auch mit meiner Festsetzung der Epoche
des Menes (4157 v. Chr.) stimmt die Sothisepoche unter
Phiops, da nach Manetho's etwas zu hoch gerathenen Summen
von Menes bis zum Schlüsse der VI. {)yn. 1497 J. liegen.
Der Turiner Königspapyrus, den ich in meinem „Manetho"
behandelt habe, zählt gerade so wie Manetho die Regierungs-
90) Vergl. meinen ,, Manetho'* p. 40.
91) Chronologie J p.215; Königsbuch p 120.
[1874, IL Phil. hist.Cl.1.] 9
1 30 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
zahlen am Ende der Dynastien zusammen und bezieht sie
auf Menes, so dass dieser wenigstens eine geschicht-
liche Aera darstellen könnte, wenn diese Urkunde nicht
so fragmentarisch , oder Manetho's Zahlen nicht allerhand
Systemen zu lieb hie und da gefälscht wären. — Die von
Mariette in Tanis aufgefundene Stele mit dem Jahre 400
von dem Könige (Set-aa-pehuti) Nubti (vermuthlich dem
vorletzten Hyqschos, dem Vorgänger des A p o p h i s) bis auf
Ramses II Sesostris stimmt zu Manetho und der Bibel, kann
aber als Aera für Aegypten nicht gelten. — Nachdem nun
die Anstrengungen der Aegyptologen Hincks und De Rouge,
aus den Daten der pharaonischen Feldzüge, oder aus den
monumentalen Notizen über Naturereignisse, etwas Sicheres
für die Chronologie zu ermitteln, bisher sich fruchtlos er-
wiesen haben, bleibt uns vorderhand keine andere Aussicht
auf Erfolg, als in der Aufzeigung von Sothisdaten, die an ein
bestimmtes Regierungsjahr (Tag, Monat) eines schon be-
kannten Königs geknüpft sind.
4. Ein „Horus- Verehrer" 4246—4242 v. Chr.
In meinem ,, Manetho" p. 66 hatte ich zuerst auf fragm. 1
des Turiner Königspapyrus lin. 9/10 aufmerksam gemacht,
wo die Legende „Horus- Verehrer" sich zweimal wiederholt.
Da diese Gruppe dem lin. 11/12 aufgeführten Protomonarchen
Mena unmittelbar vorangeht und ich das dahinter befind-
liche Pluralzeichen vernachlässigte, so musste ich an eine
Form des Gottes Horus um so mehr denken, als dieser nach
allen Ueberlieferungen die göttlichen Dynastien beschliesst.
Allein De Rouge9*) berichtigte mein Versehen, indem er
zeigte dass >$^Q ' V^^J1 ^ar sc^esu'u (°der vielmehr
schesu-u Har) ,,les adorateurs d' Horus'4 steht, die er richtig
als predecesseurs (humains) de Menes" bezeichnet. Goodwin
92) Recherches sur les monuments etc. six premieres dynasties p. 12.
Lauth: Die Sothis oder Siriusperiode. 131
vervollständigte diese Berichtigung durch Hinweis auf die
Benennung Nsuveg, welche Manetho den unmittelbaren Vor-
gängern des Menes beilegt, und man ist jetzt allgemein der
Ansicht, dass die „Horus- Verehrer" vorgeschichtliche mensch-
liche Dynasten sind.
Wenn nun aber dieser ausgezeichnete englische Forscher
in einem späteren Artikel93) sogar einen dieser prähistorischen
Könige im Todtenbuch cap. 115 aufgefunden haben will, so
muss ich zu meinem Bedauern diese augebliche Entdeckung
in ein Nichts auflösen. Der erste Passus, wo dieser König
vorkommen soll, lautet^| | | ( — klj^e^jw
,,Ra spoke to King Am-hau-f". Allein es ist offenbar zu
übersetzen : „Der Sonnengott war im Kriege mit Suten (Set,
Typhon) und seinen Sippen (Verwandten)". Die Variante
IJLüÜ für *ma UDd WZ ist gerade im Todtenbuche
öfter z. B. c. 135, 4 anzutreffen. Dieser Suten (man kann
mnemoneutisch Satan setzen) war nach der Tradition ein
Verwandter des Sonnengottes, wie ja Plutarch den mit ihm
identischen ^7tcog)ig m i|W& ädelyog cHliov nennt. Iuso-
ferne und weil das Pluralzeichen häufig missbräuchlich steht,
könnte man übertragen . . . „mit Suten, seinem Sippen".
Allein es handelt sich offenbar um einen wirklichen Kampf
der kosmogonischen Mächte des Lichtes und der Finsterniss,
nicht um ein blosses Wortgefecht. In diesem Kampfe hatte
Set (Suten, Typhon) seine oft genug erwähnten Gesellen,
hier Sippen , bei sich , während auf Seite des Sonnengottes
nur ein Gehülfe genannt wird, derselbe von dem es vorher
heisst: „ich weiss den Grund, warum beigelegt wird (als
Attribut) eine Locke dem Männlichen". Wahrscheinlich
bezieht sich diese Stelle auf den Gott Schu (mit der Strauss-
93) Zeitschrift f. äeg. Spr. 1873 106/107.
132 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
feder auf dem Haupte) der mit seiner Zwillingsschwester
Tafnut in der oberhalb angebrachten Vignette unmittelbar
hinter dem Sonnengotte steht. Mit diesem hält Ra ein
Zwiegespräch : '^ 4 |/WVWVT^^'^ ^Wi*"^- "es sPracn
C=I> \ A/WW\ I I .
der Sonnengott zu seinem Sippen (ergreife den Dreizack!)".
Dass dieses auch geschah, meldet der Text sofort : CT
eJLtl^^sfl^ "es ward der Dreizack 8einem
Sippen". Hienach sind also Goodwin's Sätze: ,,Said Ra to
Amhauf: take brass" und „Amhauf took brass" zu ver-
bessern. Dass nicht von einem Könige Namens Amhauf die
Rede sein kann, beweist schon die Stellung des Possessiv-
pronomens 2e=^_ hinter dem Deutbilde Jn. Damit ändert
sich natürlich die ganze Auffassung des Cap. 115, was übrigens
hier nicht weiter ausgeführt werden kann.
Jedenfalls aber bezieht sich auch dieser Text, wie so
viele des Todtenbuches. auf die Stadt Anu [1 (On, Helio-
polis), die Urmetropole Aegyptens, und liefert einen Beitrag
— wenn auch nur legendarischer Natur — für die Zeit der
theokratischen „Horus-Verehrer". Da nun der für die Epoche
des Sothisaufganges erforderliche Parallel auf Anu hinweist,
wo alle ursprünglichen Satzungen entstanden, so werden wir
auch einen der ,, Horus-Verehrer" als Epochenkönig für
4245 — 4242 in proleptischer Weise vermuthen dürfen, bis
neue Quellen , vielleicht ein Glücksfund astronomischer Be-
obachtungen, Sonnen- und Mondsfinsternisse — warum nicht
auch eines Verzeichnisses aller Epochenkönige? — sowohl
über die jüngeren als die älteren Sothisperioden authen-
tischen Aufschluss ertheilen.
Ethe: Die Lieder des Kisai. 133
Herr Haug legt vor eine Abhandlung des Herrn
Ethe in Oxford:
„Die Lieder des Kisä'i".
Einer der berühmtesten vorfirdüsischen Dichter Persiens
neben dem grossen Meister Rüdagi l) war dessen jüngerer
Zeitgenosse und Nachfolger Kisä'i, dessen bisher vollständig
unbekannte Lieder ich in Folgendem gesammelt und mit
einer Uebersetzung, sowie biographischen Notizen begleitet
habe. Die hierzu benutzten Quellen sind: 1) Muh. cAufi's
Tazkirah, die älteste einheimische Literaturgeschichte, ver-
fasst um's Jahr 617, Sprenger'sche Samml. Nr. 318 f. 85.
2) Haft Iqlim, vergl. die vorjähr. Sitzungsberichte p. 626,
Elliot Coli. 158 f. 207b, — 160 f. 3, Ouseley Coli. 377 f. 198.
3) Lutf cAlis Atashkädah, vergl. Sitzungsberichte v. 1872
p. 297, Elliot Coli. 17 f. 80, — 387 f. 83b. 4) Wälih's
Riädh-ushshuarä, vergl. Sitzungsber. v 1873 p. 621, Elliot
Coli. 402 f. 282b, Sprenger'sche Samml. Nr. 332 f. 414.
5) Khulägat-ulafkär, vergl. ebend, p. 627, Elliot Coli. 181
f. 245. 6) Makhzan-ulgharäib, vergl. ebend. p. 627, Elliot
Coli. 395 f. 354. 7) Khushgü's Safinah, verf. 1137, Spren-
ger'sche Samml. Nr. 330 f. 12b. 8) Nadrat's Tazkirah,
vergl. Sitzungsber. v. 1872 p. 300, An merk. 63, India Office
2578 f. 33b. Ich citire für den biographischen Theil nur
den Originaltext cAufi's und füge in der Uebersetzung die
Erweiterungen der übrigen Tazkiras hinzu.
1) Vergl. meine A.bhandl.; „Rüdagi, der Sämänidendichter" in den
Nachrichten der k. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttinnen, Jahr-
gang 1873 pp. 663-742,
134 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
Haktm Kisä'i aus Marw.
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• Jüß\ *0 .1 nIa^! J&\ . »JuLäo t>\c> s'juO *ö üb
Haktm Majd-uddin Abu Ishäq (Khuläc. , Wälih und
Atashk.) Kisä'i aus Marw war ein Dichter, der das Gewand
der Askese um die Brust trug und den Turban der Armuth
und Gottesbedürftigkeit auf dem Haupt2) Die Erdschicht
der Begierde hatte er von der Herzensfläche mit dem Aermel
der willenlosen Gottergebenheit fortgefegt und den auf-
wirbelnden Staub der Lüsternheit von dem Busenplan mit
dem Nass der beiden Gramesaugen gelöscht. Man sagt, er
habe stets sein Gewand (Kisä) sich über das Gesicht ge-
zogen, daher sei er unter dem Namen Kisä'i bekannt ge-
worden (Makhz.). Nach anderen führte er seinen Dichter-
namen einfach desshalb, weil er sich das Gewand der Askese
um die Schulter geschlagen (Khuläg.). Die meisten seiner
Gedichte beziehen sich auf Askese, enthalten warnende
Mahnungen oder feiern die trefflichen Eigenschaften der
Prophetenfamilie, besonders der Fätimah und des cAli (Wälih,
H. Iql. und Makhz.). Daneben ist er besonders reich an origi-
nellen Bildern und Vergleichen. Er hat auch die cAbbäsiden
durch Lobgedichte verherrlicht (Wälih), und ebenso vieles
zum Preise der Sämäniden, ja selbst noch des Sultans Mah-
mud von Ghaznah gedichtet (Khuläg., Wäüh, Atashk. etc.).
2) Atashk. nennt ihn geradezu einen Bekenner des (JJüfismus, der
Ethe: Die Lieder des Kisai. 135
Er war geboren am Mittwoch den 26. Shawwäl A. H. 34 18)
und muss, falls die Angabe cAuf!s und anderer Biographen
richtig ist, dass er die gleich unter 1 folgende berühmte
Elegie am Ende seines Lebens zur Zeit des Abschiedes von
der Welt und in dem Moment des Uebergehens in eine
andere (Ju^s o^L, ^ ^taj p&^ **x. yh>\ so) gedichtet,
schon im ersten oder zweiten Regierungsjahre Sultan Mah-
muds, 391 oder 392 (nur etwas über 50 Jahre alt) gestorben
sein. Freilich stimmt damit die Bemerkung in Wälih sehr
wenig, dass sein Leben über die natürliche Grenze hinaus-
gegangen sei. — Von seinen vielen Liedern sind uns (mit
Weglassung der in cAufi durch Wurmfrass absolut unleser-
lich gewordenen) folgende erhalten :
1) cAufi Makhz. H. Iql. Saftn. (in letztem nur V. 1, 2,
10 und 12). Metrum 0JC3?
JLwu OJy <X£^ ^bj d^* } ) <X*AA*aO l
Ju«£ vi /f^v ;5) &""3 k>JJm )L^ä»
y+s. &*fl> «%ÄÄf<X5 Lojo 5) J^yu«
I*Lj> 8t>-.4-w &^ü i»H)l p;^ *£* <-&&
J1..5 iöyf J«JD Jlo L iuLä.sU^'
3) Nicht den 27., wie einige Biographen angehen, denn der Shaw-
wäl hat nur 29 Tage und schloss im Jahre 341 am Sonnabend. —
4) So Aufi, H. Jql. und Safm. zweifellos richtig ; nur Makhz. hat
aus Versehen <^«j statt J-f "^ , also 391 ; das wäre eher das Todesjahr
5) H. Jql.: jjLwJüo .
136 Sitzung der philos.-philol Gasse vom 4. Juli 1874.
jwL5 J^ai &3^£=>. jÄo >U-«i ^jot ^juo
6) JL^> y^L^JoL v^w*£-*><> jiltXJü! i£f
JLä. «♦# ^t <X& Li ^^jo &♦# ,j! 1U Li
) Ju KJjXj ^O • C^*wJ*XJ 2U«Xj *£>-*
^•jj v_**£ &♦$> |*JolpvJo <ö*jo v«y^i
.fr
«^lAS" &sL? y> - o »Ls\j ^Lwi' LI
10
6) Dieser Vers fehlt in H. Jql.
7) H. Jql. in Ell. Coli. 158 : öju;^ •
8) Dieser Vers findet sich nur in Makhz.
9) In H. Jql. und Safin ist aus den heiden letzten Versen ein ein-
ziger gebildet , der das erste Hemistich von V. 12 und das zweite von
V, 13 umfasst,
Ethe: Die Lieder des Kisai. 137
Uebersetzung.
1 „Dreimalhunderteinundvierzig just betrug der Jahre Zahl,
Mittwoch war es, und drei Tage übrig noch vom Mond
Shawwäl,
Da betrat mit dieser Frage ich die Welt: „was thun?
was reden?"
Singen, ei, und froh geniessen Geld und Gut und üpp'ges
Mahl!
Ach! gefesselt an Familie, in der Kinder Bann ver-
bracht' ich
Gleich dem Lastthier all mein Leben hier in diesem
Jammerthal.
Zähl' ich heut die fünfzig Jahre nach — was hab ich?
nur ein Zahlbuch,
Drin verzeichnet stehn der Sünde Posten hundert-
tausendmal,
5 Und wie lös' ich nun zum Schlüsse diese Rechnung, die
am Ende
So verkehrt, in die sich anfangs gleich ein schlimmer
Fehler stahl?
Lüsten fiel mein Gold zum Opfer — übel aus schlug die
Begierde,
Mir, dem Schwätzerstichblatt, prägte Klatschsucht auf
der Schande Maal!
0 du holder Glanz der Jugend, o du Leben, süss und
lieblich,
Du Gestalt von Reiz umflossen, leuchtend in der Schön-
heit Strahl!
Wohin schwand denn all die Anmuth? wohin schwand
denn all die Liebe?
All die Stärke und Begeistrung 10) — wohin schwand
das allzumal?
10) Ich habe JLä. hier in seiner mystischen Bedeutung : „Ekstase,
ekstatischer Moment" gefasst.
138 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874,
Milchweiss ist mein Haupt geworden, schwarz wie Pech
das Herz mir, bläulich
Meine Wange, und mein Körper gleich dem Rohr so
dünn und schmal.
10 Wie die Furcht vor Schlägen Kinder schreckt, die
schlechtem Wandel fröhnen,
Lässt mich Todesfurcht erzittern Tag und Nacht in
banger Qual.
Abgelebt und fertig bin ich — alles ward, wie's werden
musste,
Und mein Lied ist wie ich selber Kindermähr nun, alt
und schaal!
Ja, mit allen Fünfen packte dich die Fünfzig, o Kisai,
Und mit ihren Krallen kratzte sie von Federn ganz
dich kahl!
13 Hoffnung lass bei Seit, doch müh' dich jetzt noch rasch
um wahren Reich thum,
Galt auch Reichthum sonst und Hoffnung niemals deines
Herzens Wahl!" —
2) cAufi. H. Iql. (nur die beiden Schlussverse). Safin.
(nur der letzte Vers). Metrum c;Ldx>-
t\A-LjLCw +£> ^yJ XX3 Osj> (*■&£>• (^ÜLCj 1
tXj^Ä- ^U* >tXit j&yt ,jL*.j (jM-*
Jojoo ,j*vJof lXx-co J (ja^Xx zS* jloIä.
Bthe: Die Lieder des Kisai. 139
^j ^3 CM«) <JlSL> ^y£* »f &Lo 12) Jiy 6
Uebersetzung.
1 „Dein scharfes Auge öffne wohl und schau, wie dort
juwelenlicht
Der Shambalid 13) in hellem Glanz hervor aus grünen
. Halmen sticht!
Ist's nicht wie ein Verliebter ganz, der, weil ihm Schaam
gefärbt die Wangen,
Sich rings den grünen Seidenflor gezogen um sein An-
gesicht ?
Und dort der Wein, wie lieblich süss ist er im hellen
Strahl der Sonne,
Zumal wenn langen Streifen gleich sich ihr Reflex im
Weine bricht.
Das blaue Glas, der rothe Wein, die gelben Strahlen —
ganz doch wahrlich,
Als ob sich um der Tulpe Roth so Shambalid wie
Veilchen flicht!
5 So ächten Glanz hat dieser Wein, dass, vom Pokale
niederträufelnd,
Er ganz dem rothen Carneol, wenn der aus Perlen
träuft, entspricht.
11) H. Jql: Ju^s*. wie im zweiten Hemist.
12) Safin*: ^o ^Lo .
13) Shambalid ist eine Pflanze mit gelber Blüthe, ähnlich der der
Orange, focnum graecum.
140 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874,
6 So rein ist er — wenn in die Hand du ihn gelegt, du
unterscheidest
Vom Becher deine Hand nicht mehr und auch vom Wein
den Becher nicht!" —
3) cAufi. Makhz. Khuläg. Wälih. H. Iql. (nur die 4
ersten Verse). Nadrat (nur die 3 ersten Verse). Safin. (nur
V. 2 und 3). Metrum
51
^*»xfy~± xx>b y ^x» ^ ^
&J 15) &>y$ P&") (JL^ Om*0 5
5,J>y u>^ ^; r*" >rf <5'
Uebersetzung.
1 „Ein Abglanz deiner Wange ist des Mondes Spiegel ganz
und gar,
Es reiht um dich , o Schönheitsfürst, als Heer sich "der
Verehrer Schaarl
14) In Safin., H. Jql. und Nadrat steht V. 3 vor V. 2, in Khuläc.
steht er hinter V. 4.
15) Wälih: ^ statt xj
Ethe: Die Lieder des Kisai. 141
Wohin du deinen Blick nur kehrst, da sprossen rings
Narcissen auf,
Wohin du deinen Schritt nur lenkst, da stellt ein holder
Mond sich dar.
Ein schönes Buch zusammen ist dein Lockenhaar und
Angesicht,
Denn stets aus Schwarz und Weiss besteht ein Buch ja
nur — das ist doch klar?
Es wohnt in Lipp' und Auge dir so Labekost wie' bittre
Pein,
Und Sund' und Busse wohnt zugleich in Wange dir und
Lockenhaar!
5 Wenn sich die Hand des Frevlers fern vom Silber hält,
so frommts ihr wohl,
Da halte deiner Wange fern der Locken Silber immerdar 1"
4) Lob'Alis. cAufi. Makhz. H. Iql. Wälih. Metrum jd,
wM-xj x$" K ^»S ^Uu*^ . o^ä-Juo S1Q) 1
ß zl*& t>b jju y öS Lds ^ 17) 4>yu*o
wM^O 4>ft> Jju jJLc &+# j^Lr 4
;I/L£ J*~ 18) j^o &T ^L^j y» uy>
16) Makhz. und Wälih: ^ oc^Juo .
17) Makhz.: Lj; .
18) Wälih: of.
142 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
Uebersetzung.
1 Lob und Preis lass dem erschallen, den gepriesen der
Prophet selbst,
Dem er durch Vorherbestimmung selbst die Herrschaft
zuerkannt !
Und wer ist's, der so geartet, der so war und sein
wird ? Keiner
Als der Gottesleu, der rastlos stets dem Kampf sich
zugewandt.
Sieh, ein Bild des ächten Glaubens ist der Kreis — das
inn're Centrum
Ist Muhammad selbst, und cAli ist des Girkels äuss'rer
Rand.
4 Und wie Lenzgewölk des Wassers Ströme schenkt
dem Rosenhaine,
Schenkte ihm des ganzen Weltalls Weisheit des Pro-
pheten Hand! —
5) Aus einer Qagide zum Lobe des Sultans Yamin-
uddaulah Mahmud von Ghaznah. cAufi. H. Iql. Makhz.
Wälih. Metrum _y&.
^Ui j*/ ^ j^b rf
d^y. *f \s*\) ) *?=■» )• 19) ^^ y% 2
Uebersetzung.
1 „Ein wahrer Perlenfundort ist, so scheint es, deine Hand,
Denn Perlen sieht man stets dich ja in reicher Fülle geben ;
19) \| fehlt in der Sprenger'schen Handschrift des Wälih.
Ethe: Die Lieder des Kisäi. 143
2 Da Gott dir nun an Seelenstatt nur Edelmuth verliehn,
Wie kannst du ohne Seele so denn überhaupt noch leben?"
6) Trauerlied auf einen der Grossen ()5tX,o) von Marw.
(nach Salin, auf den Emir Nüh-i-Sämäiii, d. h. wohl Nüh
bin Mancür bin Nüh, der von 366 — 387 regierte). cAuii.
Makhz. Salin. Nadrat. Metrum oJC^?-
-)j*S ±y 21) y ö^ Jyua/> 20) ft«jü Ist^O tS
jjA *+# <X£ _jj ljL»^k -0» 5cXjO v^f \\ 2
'^y ^S ^Jß VT Ji jö 22) y ^Le^
Uebersetzung.
1 „Noch weiss ich's nicht, wie seltsam sich's begeben, dass
den Augen all
Dein Leichnam feuchten Glanz geliehn und alle Wangen
wund geschlagen!
Gleich Noah's Sündfluth hat ganz Marw der Augen
Thränenstrom ertränkt,
Und gleich der Arche Noah's wird dein Leib von dieser
Fluth getragen." —
7) cAufi. Metrum cnLojo.
20) Safin. : JyJüo .
21) Safin.: Jj .
22) Safin.: vjf ..Jju .
144 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
Uebersetzung.
1 „Sieh in des Wassers Mitte dort die blaue Lotosblume,
Der hellgeschliff'nen Klinge gleicht, dem Sapphir sie genau.
An Farbe ist sie Himmel ganz, und gleich dem Himmel
trägt sie
In ihrem gelben Mittelkelch den vollen Mond zur Schau ;
3 Dem Mönche ähnlich, dem sich längst schon gelb gefärbt
die Wangen,
Und der sich ganz und gar gehüllt von Kopf zu Fuss
in Blau23). —
8) cAufi. Atashk. Safin. (nur der letzte Vers). Metr. ojc^p.
Uebersetzung.
1 „Neu verjüngt hat sich im Lenze nun die Welt und
fröhlich ward sie,
Grünes Banner ziert die Büsche und den Boden bunte Pracht;
23) Wörtlich: „der sich sein Ober- und Untergewand aus blauem
Stoff gemacht."
24, 25 u. 27) Atashk. $at alle drei Male Jui statt \&*&S .
26) Hier hat Atashk. ou&S'', Safin. aber : 0*j .
JEthe: Die Lieder des Kisai. 145
2 Dürrer Bäume Blatt und Wurzel ward zur thränenden
Maria,
Darum steigt auch wohl als Zephyr Gabriel herab
zur Nacht!4' —
9) cAufi. H. Iql. Atashk. (nur der zweite Vers).
Metrum c5Lojo.
o-^-zj v! 5J>L;.wwi xjtXfß o^w! ^x+jü Jo l
Ji^ jVXJÜ nJo! Öyk T*4*]^ f^T*
Uebersetzung.
1 „Es ist ein köstliches Geschenk aus Edens Flur die Rose,
Und edler wird des Menschen Sinn im Rosenlustgefild!
2 Wesshalb verkaufst die Rose du für Silber, Rosenhändler,
Und wie erkaufst du je dafür, was mehr als Rosen gilt?"28)
10) Lob des Weins. Haft Iql. Safin. (nur der zweite
Vers). Metrum ^Uä*.
28) Einen ähnlichen Gedanken hat 'Umar Khayyäm, der berühmte
Freidenker und Dichter (gestorben 517 d. H.) in Bezug auf den Wein
in folgendem Rubä'i verwerthet (Ouseley Coli. 140 Nr. 62):
Joo S^L \! j?!^ ^|j ^L* b*
[1874. II. Phil. hisU Cl. 1.] 10
146 Sitzung der philos.-pJiilol. Clause vom 4. Juli 1874.
Uebersetzung.
1 „Er ist's, von dem der Kampfer stets, der Ambra seinen
Duft sich stiehlt,
Er ist's, durch den Achate selbst von Jemen Farbe erst
gewinnen.
2 Und frisch und unverwelkbar bleibt die rothe Rose
immerdar,
Entnimmst du ihm ein Tröpfchen nur und lässt es in
die Rose rinnen!" —
11) Auf einen jungen Walker und Wäscher (njjjjxlj)
gedichtet dem Wunsch eines hohen Gönners gemäss 29).
cAuii. Safin. H. Iql. Metrum v^ixü».
ur>V > f/y3 }j tfj* j &£ x
„Hat des guten Rufes Schleier längst der Wein mir auch zerrissen,
Nimmer doch, so lang ich athme, will den Rebensaft ich missen.
Ob der Weinverkäufer staun' ich — wie für das, was sie verkauft,
Bess'res je sie kaufen wollen, das bei Gott nurmöcht1 ich wissen !*' —
29) Nach Safin. : „Auf einen jungen Walker , in den der Dichter
ganz verliebt (ääax*j) war.
Ethe: Die Lieder des Kisai. 147
Uebersetzung.
1 „Zum Kauthar ward durch dich der Strom, durch dich
der Gau zum Paradiese,
Die Herzen machst du gramesschwarz, die Kleider machst
du weiss und rein.
2 Es gilt den andren Wäschern stets als Haupterforderniss
die Sonne,
Doch du bedarfst zu dem Geschäft nur deiner Wange
ganz allein." —
12) Als den Dichter einige tadelten, dass er sich im
Alter noch schminke. cAufi. Atashkad. H. Iql. Salin,
(nur der letzte Vers). Metrum Joe».
Uebersetzung.
1 „Zehrst am Groll du, weil geschminkt ich, weil ich
schwarz gefärbt das Haar mir?
Zehre doch am Imbiss lieber und den Groll lass ruhig
schwinden !
2 Nicht, um wieder jung zu werden, that ich's — nein!
aus Furcht, man möchte
Sonst bei mir der Greise Weisheit suchen und vielleicht
nicht finden !" 30)
30) Auf ganz denselben Vorwurf hat auch Rüdagi durch ein Rubä'i
geantwortet, vergl. meine oben genannte Abhandlung p. 739 Nr. 45. Es
scheint, als ob Rüdagi dazu durch das in den vorjährigen Sitzungs-
berichten p. 658 von mir veröffentlichte Lied Khusrawänls (Nr. 4) ver-
10*
148 Sitzung der philos.-philoh Classe vom 4. Juli 1874.
13) cAufi. Metrum viJC^?.
^IwW ^JY""*' ^^V^ ^' <X"> {£*!$* jMJ 1
pULo (X&Ö L>y± Ji & Jf J &5 .JLilfc •-&.
Uebersetzung.
1 „Es ward zum Liedersänger ganz im Liedersaal das
kleine Vöglein,
Und ganz so wie ein Liebender, der's Liebchen lädt
zum Stelldichein.
Und was denn singt es? Hör, es singt: ,,wenn's Zwielicht
dämmert, holdes Liebchen,
Dann fasse deines Liebsten Hand und eil* mit ihm hinaus
zum Hain!'* —
Anhang.
Wahrscheinlich um dieselbe Zeit wie Kisai, nämlich
391, starb noch ein anderer Poet aus der frühesten Epoche
persischer Dichtkunst, der 124 Jahre alte Sheikh Abu
cAbdallah Muhammad bin Hanif, der, wie die ein-
zige Quelle, Makhzan f. 14, berichtet, zu den *juub *ju&
gehörte. Von ihm ist nur der folgende, nicht eben sehr
originelle Sinnspruch erhalten (Metrum JuoA
anlasst, und viele Jahre später ebendasselbe Gedicht Khusrawänis dem
Kisä'i zur Warnung und Mahnung von seinen Freunden vorgehalten
worden sei. —
Ethe: Die Lieder des Kisai. 149
Uebe rsetzung.
,, Jeder hat sein Amt hienieden, jeder ist mit Last be-
schwert,
Und der Wechsler kennt am besten seines Golddenares
Werth !"
Ebenfalls um dieselbe Zeit, nämlich im Jahre 395, er-
folgte der Tod des letzten Sämänidendichters, der zugleich
der letzte Prinz und Sprosse der Säinäniden selbst war,
Abu Ibrahim bin Nüh, bekannt unter dem Namen
Muntagir. Ueber ihn berichten die Quellen: cAuii f. 7b,
H. Iql. in der Einleitung zu Rüdagi, Elliot Coli. 158 f. 259b,
159 f. 166b und Ouseley Coli. 377, f. 518b Folgendes:
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b' Jut 8t>*.^ ^)^ <&*" •) ^ Ü"^)^ (^oJcXCyo jjLxot
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150 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
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slojj ^L+^örv o».AWfc> ^j L^;V &y* £++3? xJ.tXJI ^^»J
o^Jo * Jo oLLo Li' <Xy£j3 )V^**^ ^^Lj (jo^Vä vL> • Jc«£
j-iLwol ,jiL*w^ ic^Y:5. r£<Xßi' } (5^^***' ^Lai* L> Lx>! t>x!
yXAM JAfcXggVJP \l joLäLa*; Jl W&AjO Vi • OL*wJO tX^A*
• s^ww^m-JiX1 »I \UUul • ^59V V^ ^' SO«Xj ojL
o>*wwu£o viLLo o^ vJ KLsi s£ öS v^o. ^1 >t> • ÄiUßLi^U
J oJ«£ (J^;' ) tVii>*-> aüLwLi*. *j ,jUxa~> oLiol vi
^Lö y (jwLaJ 2 \S^f? vw».«**'' v^ Vj\j v_**w <X& )j-^ f* '
»Li^L ^1 ä5^ JoUa5^ K.l J (^LpJo vi .-JCcUä. (^v*;
vi ^SCi xT (5^^-° v'-^W y i5)L^J i*W (j^^ 31) ly^
^Ojjo %üf w ^jJ • ^vIj^j &i o^wl .-jßLäoU cjInLoI
i^f) of Uil ^51 ) yoüb ^Ui l;
^5vL**i *^^ «> Ä=>V i>*i* Iwc tX-ü«i^ 1
31) So nach H. Jql. wohl richtiger als die Lesart cAufis:
^JöyS &i ^Jß^L* ^La*J^ /5)L^J V*^ 0"^^°
Ethe: Die Lieder des Kisai. 151
^uJS \jM-i^ p**~? ^L**^ *?.yü .
Uebersetzung.
„Die Familie der Sämäniden zählte 9 Fürsten, und die
Dauer ihres Emirats und Sultanats betrug 87 Jahre und
3 Monate82). Das Gebiet von Khuräsän und Transoxanien
ward unter ihrer gerechten Herrschaft gross und ruhig und
sicher, und sie waren weltschinnende, gerechtigkeitausbrei-
tende Fürsten und erkauften sich so einen trefflichen Ruf.
Die Namen jener 9Pä]ishähs, an welche die 12 himmlischen
Thierkreise 10 — 11 (ihrer eigenen) Würdegrade fortwährend
abtraten, sind in diesem Rubä'i (von cUnguri, dem berühmten
Dichterkönig am Hofe Mahmuds, nach H. Iql.) zusainmen-
gefasst worden, damit es den Chronisten leichter werde, sie
zu memoriren, und es ihnen nicht schwer falle, sie im Ge-
dächtniss zu behalten:
„Hochberühmte Herrscher waren einst im khuräsän'
sehen Land
Neun vom Haus der Sämäniden, noch als Fürsten wohl-
bekannt:
Ahmad, Ismail je einer, und ein einzger gleichfalls Nac,r,
'Abdulmalik zwei und zwei auch Nüh und zwei Mancür
genannt."
32) H. Iql. gibt richtiger 102 Jahre und 6 Monate an; das wäre
der Zeitraum von fAmr bin Laith's Tode 287 bis 389. wo 'Abdulmalik
152 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 4. Juli 1874.
Den Abschluss dieser Dynastie bildete nun Amir Man-
cür Ismail bin Nüh bin Mancür (nach H. Iql. richtiger: Abu
Ibrahim Ismäcil bin Nüh mit dem Beinamen Muntagir). Aber
wenn er selbst auch noch ein Jüngling war, das Reich war
doch zu alt für ihn geworden, und in den Reichsgeschäften
der Sämäniden war keine Ordnung mehr geblieben, und die
Seele des Reiches war bis zu ihrem letzten Athemzuge ge-
kommen. Er lebte in den ersten Zeiten der Regierung
Sultan Yamin-uddaula Mahmüd's und fiel mehrere Male den
Feinden in die Hände , kam aber immer wieder frei. Er
gab sich viele Mühe, das väterliche Reich in seine Gewalt
zu bringen , aber gegen himmlisches Verhängniss und gött-
liche Vorherbestimmung nützt menschliche Anstrengung nichts.
Als Ilekkhäii aus Käshgar kam und über cAbdulmalik die Herr-
schaft gewann (389) , da Jiess er dessen Bruder Muntagir
greifen und gefangen setzen. Der aber floh aus dem Ge-
fängniss, durchirrte einige Jahre laug Transoxanien und
Khuiäsän und nachdem er drei Mal mit Ilekkhän Krieg
begonnen, wurde er ein Mal wenigstens Sieger. Später aber
fand er durch die Hand des Ibn Bahij, des Beduinen, der
von Seiten Sultan Mahmuds kam, den Tod 395 (dieser ganze
Passus ist aus dem H. Iql. herübergenommen, da cAufi ihn
nicht hat)33). Unter den Säwänidenfürsten sind von keinem
als von ihm Verse überliefert, und seine Gedichte sind vor-
trefflich und eines Fürsten würdig. Gerade in jener Zeit,
als er in Bukhärä den Königsthron bestiegen, hatten sich
Feinde von allen Seiten erhoben, und seines Reiches Stützen
waren alle geflohen. Tag und Nacht brachte er zu Pferde
zu, sein Gewand war ein abgerissener Mantel, und beständig
bin Nüh starb. cAufi's Rechnung würde nur etwa die Zeit von 301
(Nacr bin Ahmad's Regierungsantritt) bis 389 umfassen. —
33) Nach Mirkhond (vergl. histoire des Saraanides par Defremery
p. 209) ward er nur im Zelt des Tbn Bahij, nicht aber durch ihn selbst,
getödtet, auf Anstiften des Mährüi, der im Namen Mahmüd's dort gebot.
JEthe: Die Lieder des Kisai, 153
schlief er mit dem Panzer (H. Iql.). Die meiste Zeit seines
Lebens ging so in wechselnden Kriegsfällen (wörtl. im Fliehen
und Packen) hin. Eines Tages sagte eine Schaar seiner
Tafelgenossen 34) zu ihm : „o Pädishäh, wesshalb veranstaltest
du keine fröhlichen Schmausgesellschaften und beschäftigst
dich nicht mit musikalischen Instrumenten, die do.ch eines
der Wahrzeichen königlicher Würde sind?" Da dichtete
er dieses Lied, das ein offenes und deutliches Lob wahren
Mannesthums enthält:
1 „Alles fragt mich : „wesshalb lässt du heiter nicht dein
Antlitz strahlen,
Nicht in Schmuck die Wohnstatt prangen , bunt mit
Teppichen bezogen?"
Wie denn soll ich Kämpferschlachtruf mit dem Lied
des Sängers einen,
Rossestrab mit Hainbanketten, rosenblüthenduftumflogen ?
Was denn nützt des Weines Schäumen, was des Schenken
süsser Mund mir?
Auf die Panzerringe nieder muss hier Blut nur schäu-
mend wogen 1
4 Mir gilt Ross und Waffenrüstung statt des Hains und
Festschm aussaales,
Mir ersetzt der Pfeil die Lilie und die Tulpe mir der
Bogen 1" —
34) Einer seiner Vertrauten nach H. Iql.
154
Philosophisch - philologische Classe.
Sitzung vom 6. Juni 1874.
Herr Haug hielt einen Vortrag:
„Ueber die Interpretation der Vedas".
(Wird in den Denkschriften veröffentlicht werden.)
Sitzung vom 4. Juli 1874.
Herr Hofmann trug vor:
„Zur Text-Kritik der altfranzösischen
Tristan- Fragmente ".
(Wird später in den Sitzungsberichten veröffentlicht werden.)
Historische Classe.
Sitzung vom 4. Juli 1874.
Herr von Giesebrecht trug vor:
;,Der Bericht Radowin's über den Ron-
calischen Reichstag von 1158".
(Wird später in den Sitzungsberichten veröffentlicht werden.)
Sitzungsberichte
der
philosophisch -philologischen und
historischen Classe
der
k. b. Akademie der Wissenschaften
zu München.
Band IL Jahrgang 1874.
München.
Akademische Buchdruckeroi von F. Straub.
1874.
In Commission bei Q. Frans.
Uebersicht des Inhaltes.
Die mit * bezeichneten Vorträge sind ohne Auszug.
Philosophis eh -philologische Classe.
Sitzung vom 6. Juni.
Seit«
*Haug: Ueber die Interpretation der Vedas 154
Sitzung vom 4. Juli.
v. Halm: Mittheilung über ein Autographon des C. Bruschius 1
Brunn: Die Bildwerke des Parthenon 3
Die Bildwerke des Theseion 51
Lauth: Die Sothis- oder Sirius-Periode 66
♦Hofmann: Zur Text-Kritik der altfranzösischen Tristan-
Fragmente 154
Christ: Die Topographie der trojanischen Ebene und die
homerische Frage 185
Sitzung vom 5. Desember.
Andr. Spengel: Deutsche Unarten in der Aussprache des
Lateinischen 234
II
Historische Classe.
Sitzung vom 6. Juni.
Seite
v. Löher: Ueber handschriftliche Annalen und Berichte der
Jesuiten 155
Sitzung vom 4. Juli.
*v. Giesebrecht: Der Bericht Radowin's über den Ron-
calischen Reichstag 154
Sitzung vom 7. November.
Häser: Nachträgliche Bemerkung zu den Untersuchungen
des Herrn Muffat in Betreff der „Bündt-Ertzney
Heinrich's von Pfolspeundt" 228
Sitzung vom 5. Dezember.
*v, Liliencron: Ueber die Liederdichtung der Widertäufer 233
Einsendungen von Druckschriften 254
Sitzungsberichte
der
philosophisch - philologischen und
historischen Classe
der
k. b. Akademie der Wissenschaften
zu ]VEünchen.
1874. Bd. II. Heft II
München.
Akademische Buchdruckerei von F. Straub.
1874.
In Co;iiraission bei G. Franz.
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Historische Classe.
Sitzung vom 6. Juni 1874.
Herr v. L ö h e r hielt einen Vortrag :
„Ueber handschriftliche Annalen und Be-
richte der Jesuiten".
Der Feldzugsplan dieses Ordens war von vorn herein
darauf gegründet, dass die Untern regelmässig an die Obern
über alles berichteten was vorging. Man hat berechnet,
dass der General in Rom in jedem Jahre 7000 regelmässige
Berichte empfing. Er sollte vom ganzen Ordensgebiet und
die Provinzobern sollten von ihrer Provinz beständig wissen,
was in jeder Stadt und Gegend Thatsache war oder sich
vorbereitete, und welche Kräfte dem Orden zur Verfügung
standen , damit im geeigneten Zeitpunkte rasch bestimmt
werden konnte, mit welchen Massregeln man hier vorgehen,
dort nachlassen müsse.
Als die zwei ersten Jesuiten in Paderborn einzogen, der
Superior Leonhart Rüben und sein Socius Stephan Lohn, um
dort für's Erste, beide noch in weltlicher Kleidung, eine
Mission zu begründen, erhielten sie sofort im Jahre 1581
eine Instruktion von 17 Artikeln, von welchen drei sich auf
geschichtliche Berichte beziehen:
[1874. II. Phil. bist. Cl. 2.] 11
156 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
Art. 3: Decimo quarto die P. Leonardus, socius vero
ejus primo die mensis cujuslibet, scribet de spirituali pro-
fectu laborura suorum et occupationibus secundum formulam
scribendi. — Art. 11: Historiam missionis (superior) ex
menstruis literis in librum scribi curet. — Art. 15: Saepius
rectori Fuldensi scribendum quidem , per quem me (Pro-
vincialem, tum Fuldae residentem) certiorem de omnibus
reddere poterit: tarnen menstruas mihi semper mittet1).
Als der Orden bereits wohl eingerichtet war, mussten
die Superioren der Collegien noch jede Woche an den Pro-
vinzial schreiben , und ausserhalb Europas je nach seinem
Belieben. Aus Indien erhielt der General jährlich einmal, aus
Brasilien und Neuspanien zweimal Berichte, und zwar aus
jedem Missionsbezirk. Aus Europa aber gingen Briefe
nach Rom von jedem Provinzial jeden Monat, von jedem
Superior jeden dritten Monat, von den Räthen der Provinzialen
zweimal im Jahr, von den Räthen der Superioren einmal,
von den Universitätsvorständen einmal im Jahr. Die Gegen-
stände, worüber die Berichte sich zu verbreiten hatten,
waren Punkt für Punkt vorgeschrieben. So liefen sie von
allen Orten bei dem General in Rom zusammen. Er hatte
nicht allein stets bei sich die vier Kataloge über alle Per-
sonen des Ordens je nach ihren Graden, über ihr Alter,
ihre Aemter und Eigenschaften , ferner über die besonders
zum Regieren sich Eignenden, endlich über den Zustand
jedes Jesuitenhauses, sondern, so heisst es, necessaria eidem
est cognitio rerum, quae in singulos prope dies incidunt.
Laudatur igitur literarum frequens commercium inter inferiores
et Generalem ... Et Provinciales quidem curent, ut provin-
ciarum ac personarum status Generali perspectus sit. Supe-
riores vero locales et magistri novitiorum scribunt, quae
alicujus momenti fuerint, etiamsi approbante Provinciali
1) Hist. coli. S. J. Paderborn. MS., worüber unten mehr.
v. Löher: Handschriftliche Annalen der Jesuiten. 157
fiant, multo magis ea, in quibus ille aut nequit aut recusat
providere 2).
Ausser diesen regelmässigen Berichten gab es nun grössere
historische, „quae continent virtutes et gesta Nostrorum".
Anfangs wurden sie in jedem Collegium dreimal im Jahre,
später nur einmal verfasst, und zwar überall in so vielen
Exemplaren, als der General vorschrieb. Ein Jesuit, der
sich besonders darauf verstand, musste in jedem Wohnsitz
das Jahr über alles das aufschreiben und sammeln , was
sich zur Aufnahme eignete. Zuletzt wurden diese literae
annuae von jedem Provinzial nach Rom geschickt, wo sie zu-
sammengezogen und gedruckt wurden 3). In den Consue-
tudines der oberdeutschen Provinz, wie sie im Jahr 1693
von Neuem festgestellt wurden, heisst es im cap. 9 von den
consuetudines spectantes ad literas et scripturas alias4) im
Artikel 1 : Initio mensis januarii mittuntur literae annuae,
primo cum Consultoribus communicatae, ad P. Provincialem
a quovis domicilio, expresso numero personarum seu in-
colarum, qui fuerit ultimo anni die. Post renovationem
studiorum mittitur ad eundem catalogus personarum et offici-
orum omnium , prout tunc recens constituta sunt. In den
consuetudines der böhmischen Provinz5) lautet dieser Artikel
wie folgt: Post instaurationem studiorum innovembri mittitur
ad P. Provincialem ex quovis domicilio catalogus personarum
et officiorum omnium, juxta dispositionem tunc recens factam.
In januario autem triplex in forma roraana exemplar lite-
rarum annuarum . quae prius cum Consultoribus communi-
cantur, et pro ratione rerum ac loci quam brevissime con-
scribendae sunt.
2) Epitome instituti Societatis Jesu. Pragae 1726. 423 — 42G.
15—516. Cfr. Institutum S. J. Pragae 1705. I 636. 132. 194—196.
3) Institutum I 448. 643. Epitome 236—247. 516.
4) Reichsarchiv, Jesuitica in gen. fasc. 9 no. 104.
5) Daselbst, fasc. 40 no. 727c.
11*
158 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
Diese Jahresberichte aber blieben kein Geheimniss der
Provinzial- und General-Obersten. Die annuae waren viel-
mehr ,,ad aedificationem" des ganzen Ordens verfasst: „spargi
per societatem debentU6). Auch andere Berichte aus be-
deutenderen Jesuitensitzen und die Nachrichten von den
Leiden und Kämpfen und glorreichen Errungenschaften der
fernen Missionäre waren beständig im ganzen weiten Orden
im Umlauf. Schilderungen von Wundern, die an Jesuiten
oder durch ihre Fürbitte geschahen , von Märtyrerkronen,
mit denen Ordensmitglieder geschmückt wurden, von grossen
Bekehrungen, die durch sie erfolgten, kamen hinzu mit be-
redten Ansprachen der Generale und Visitatoren. Durch
nichts konnte in der grossen päbstlichen Streitschaar der
Gemeingeist und die stolze Zuversicht so belebt, der Wett-
und Nacheifer so angefeuert werden , als durch die unab-
lässige Erregung der Gefühle und Phantasie, wie das unauf-
hörliche Circuliren jener Berichte sie mit sich brachte.
Immer und immer wieder erschien darin der Orden als eine
heilige Legion , dessen Krieger auf allen Punkten des Erd-
kreises für die Kirche Christi, für das Seelenheil der Menschen
kämpften.
Musste aber nicht auch die Geschichtschreibung davon
Gewinn ziehen?
Da soviel Berichte aus allen Ländern in den Jesuiten-
klöstern zusammenflössen, da sich in ihnen ein wohlgeregeltes,
stets fortschreitendes Zusammenwirken der grössten Genossen-
schaft, die jemals die Erde umfasst hatte, abspiegelte, da
mit jedem Jahrzehnt und Jahrhundert sich diese historischen
Zeugnisse vermehrten, so konnte es nicht anders kommen,
als dass sie einen gewissen historischen Sinn, der Grund
und Zusammenhang der Dinge überschauete, hervorriefen
und die Neigung zu einer Geschichtschreibung zeitigten, die
6) Epitome 246.
v. Löher: Handschriftliche Annetten der Jesuiten. 159
zunächst des Ordens Anfänge Mühe und Fortschritte, dann
auch die Vorgänge in der kirchlichen politischen sozialen
Umgebung der Jesuitenansiedlungen verzeichnete, und zuletzt
sich angeregt fand, in grossen Zügen des Zeitalters wirkliche
Geschichte nieder zu schreiben. Denn diejenigen, welche
diese Berichte verfassten, waren nicht selten in die Ursachen
der Ereignisse und in deren verborgene Verwicklung mehr
eingeweiht, als die klügsten Staatsmänner und Diplomaten
an den Fürstenhöfen.
Diese Schlüsse, so natürlich sie sind, werden durch
die Bücher der Jesuiten im Umkreis ihrer Ordensgeschichte
wenig bestätigt. Ihre Aufzeichnungen sind immer nur streng
annalistisch auf das Einzelne, auf das gerade Gegenwärtige,
das Nächstnothwendige gerichtet. Das Interesse des Ordens
und was zu allernächst mit ihm in Verbindung steht, seine
Macht und Ausbreitung , die Ktttholisirung der Länder und
Völker, die Mittel zum unablässigen Kampf mit den Gegnern,
die Verherrlichung der Kirche — das bleibt immer das
Hauptaugenmerk.
Dies wenigstens ist der Charakter der Werke, welche
die Jesuiten selbst über die Geschichte ihres Ordens in
seiner Gesammtheit oder über die Geschichte einzelner Ordens-
provinzen veröffentlicht haben. Um so gespannter wird man
auf die historischen Arbeiten , die aus ihren ehemaligen
Archiven uns überliefert worden.
Studien darin wird man wohl an wenigen Orten so
reichlich anstellen können , als in München. Hier bewahrt
das k. allgemeine Reichsarchiv noch den grössten Theil des
ehemaligen Centralarchivs der oberdeutschen Jesuitenprovinz.
Diese provincia S. J. Germaniae superioris bestand 1556
erst aus den drei Collegien zu Wien Prag und Ingolstadt.
Nachdem ein paar Jahre später München und in Ungarn
Tyrnau gegründet waren, schied letzteres mit der östreichi-
schen und böhmischen Hauptstadt aus? und kamen dafür
160 Sitzimg der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
Dillingen und Innsbruck hinzu. Noch im Lauf des sechs-
zehnten Jahrhunderts wurden in Bayern die Jesuitensitze
Landsberg Regensburg Biburg Altötting und Ebersberg
gestiftet, im folgenden Jahrhundert Mindelheim Burghausen
Landshut Amberg Straubing. In Tyrol und Vorderöstreich
geholten zur oberdeutschen Jesuitenprovinz die Collegien in
Constanz Frei bürg im Breisgau Hall Innsbruck Trient und
Feldkirch, — in der Schweiz Brieg Bruntrut Freiburg im
Uechtland Luzern Sitten und Solothurn, — im übrigen
Süddeutschland Augsburg Bamberg Dillingen Ellwang
Eichstädt Kaufbeuren Neuburg an der Donau Rottenburg
an der Tauber und Rottweil.
All diese Collegien sind in der Jesuitenabtheilung des
Münchner Reichsarchivs vertreten, bloss Biburg ausgenommen.
Dazu kommen zahlreiche Correspondenzen und Berichte in
Bezug auf andere Wohnsitze der Jesuiten und ihre Arbeiten
in fernen Welttheilen.
Das Erste, was bei Durchsicht dieser Jesuitenakten auf-
fällt, ist die ausserordentliche äussere Aehnlichkeit. Das
Meiste ist wie nach einem Schema gearbeitet, die Form
des Papiers und der Schriftsätze, insbesondere aber die
Handschrift bleibt überall sich ähnlich. Die Benediktiner
des eilften Jahrhunderts erfreuen noch jetzt durch ihre
überall gleich schöne und rundklare Minuskel. Absolutismus
und Aufklärung verbunden zeitigen im achtzehnten Jahr-
hunderte durch ganz Deutschland hin eine hervorstechende
Gleichheit der Handschrift der Gerichte Beamten und Notare.
Und bemerken wir nicht in unserer Zeit etwas Aehnliches
in den kaufmännischen Geschäftsbriefen? Noch viel stärker
ist der gleiche Zug und Charakter, die Form und Grösse
der Buchstaben bei den Jesuiten. Wer nur einiger masseu
darin geübt ist, erkennt die Jesuitenhand auf den ersten
Blick, möge sie aus Rom Ingolstadt Goa oder aus der
Allerheiligenbai in Brasilien herstammen.
v. Löher: Handschriftliche Annälcn der Jesuiten. 161
Merkwürdiger noch ist die Aehnlichkeit nicht bloss,
sondern geradezu die Gleichheit im Stil und Gedankengang.
Welche wunderbare Macht übte doch dieser Orden aus, dass
seine Mitglieder, soviel tausend der gescheidtesten Köpfe
aus allen Ständen und Völkern, dachten und schrieben wie
ein einziger Mann! Kommt es wirklich nur auf die Zucht
und Schule an, um Herz und Geist und Willen der Menschen
zu formen und zu modeln wie weiches Wachs? Der eine
Jesuit schreibt bilderreicher, der andere farbloser, hier ist
der Ausdruck wärmer, dort ruhiger, — aber überall die-
selben Wendungen, dieselbe Anschauung, dieselbe klare un-
beirrte Schlussfolge, dieselbe Missachtung, ja Misshandlung
der Thatsachen, das hochmüthige Abfertigen der Gegner,
der wilde Hass aller Ketzerei, der glühende Kampfeseifer
für den Orden.
Und nun der Inhalt? Er ist noch viel dürftiger, als
in den gedruckten Werken der Jesuiten. Ueberall eine ge-
wisse Trockenheit der Gedanken, selten eine feine originelle
Bemerkung, noch seltener ein Einblick in die tiefere Natur
der verschiedenen Völker und Staaten, in die eigenthümliche
Entwickelung ihrer politischen und Kulturgeschichte, oder
auch nur der katholischen W'eltkirche. Man fühlt sich bei dem
Lesen dieser Schriften beständig angeweht von acht mönchi-
schem Geiste, der aus seiner stählernen Enge nicht herauskann.
Um so lieber verlieren sich die Verfasser in's Schildern und
Ausmalen örtlicher Zustände und kleiner Ereignisse, ins-
besondere wenn sie, wie plötzliche Bekehrungen, göttliche
Strafen übermüthiger Ketzer, Geistererscheinungen, Prophe-
tien, den Anstrich des Wunderbaren darbieten. Dergleichen
und die Befolgung der Ordensregeln und der Vorschriften
der Obern, Ruhmbiographien gottselig verstorbener Jesuiten,
der Gewinn von Gönnern, das Herbeiziehen und die Zucht
der Schüler, das Angreifen Ueberlisten und Verdrängen
protestantischer Lehrer und Prediger, die Widerlegung von
162 Sitzung der liistor. Classe vom 6. Juni 1874.
Verleumdungen, ein ganzer dunkler Wald von Hexen- und
Zaubergeschichten und Teufelsaustreibungen, vor allem aber
das Erwerben und Festhalten von Häusern und Einkünften,
Schulen und Kapellen , Gütern und Besitzungen , der Bau
und die Erweiterung der Residenzen und Collegien, und die
vielen Prozesse um die Behauptung der festen irdischen
Grundlage des Ordens — dergleichen bildet den Haupt-
inhalt der Jesuiten-Manuscripte, die man etwa als Geschichts-
quellen betrachten kann. Die Verfasser bewegen sich immer
streng im Gesichtskreis ihrer nächsten Ordenszwecke. Ueber
diesen Horizont riss kein Fremder sie hinaus ; denn die
Berichte waren von Jesuiten und für Jesuiten geschrieben.
Kein Anderer durfte sie lesen, unter keiner Bedingung: dies
wurde wiederholt eingeschärft7). Hat man eine Menge
solcher Schriftstücke durchgegangen, ist man verwundert,
wie wenig historisches Mark sich daraus schöpfen lässt. Ein
Werk wie die Historia prov. S. J. Germaniae superioris8)
von 1541 bis 1640 Hesse sich aus dem Centralarchive dieser
Provinz, soweit es in's k. allg. Reichsarchiv gekommen, nicht
mehr herstellen.
Am meisten wären diejenigen getäuscht, die in diesen
handschriftlichen Aufzeichnungen nach historischen Geheim-
nissen suchen wollten.
Allerdings begegnen darin dann und wann Notizen, wie
folgende , die ein Rezensent der Annalen der oberdeutschen
Provinz9) bald nach dem westfälischen Friedensschlüsse nach
Rom schreibt:
P. Georgius Eberard, ut olim mihi recensuit P. Forer,
omnium primus suasit episcopo Dilingano, cui fuit a sacris
confessionibus, ut, quandoquidem contra compactata Passa-
7) Epitome 516. 291. 247.
8) Augsburg 1727 bis 1754 in 5 Foliobänden von verschiedenen
Verfassern.
9) Reichsarchiv, Jesuitica in gen. Fase. 9 no. 84a.
v. Löher: Handschriftliche Annalen der Jesuiten. 163
viensia jam plurima bona ecclesiastica haeretici sibi vendi-
cassent, et reliquis onmibus cum interitu catholicae religionis
inhiarent, et a Caesare nulluni sperari posset auxilium aut
defensio, ratio aliqua foederis iniretur a magnatibus catho-
licis, quo caveretur in posterum reliquiis bonorum ecclesiasti-
corum , et hinc gloriosae illius ligae catholicae origo ex-
stitit. Res est ad omnem posteritatem memorabilis : an vero
id per nos fieri oporteat, sit Romanae liberationis. Possent
plura talia commemorari.
Allein das ist doch nur ein Rath , den ein Beichtvater
gab, und es handelt sich auch nur um den ersten Gedanken
der Liga, der nahe genug lag. Die ersten Keime und Pläne
politischer Handlungen mögen oft genug Jesuiten den Fürsten
eingeflösst haben : ob sie jedoch es räthlich hielten, Auf-
schlüsse darüber dem Papier anzuvertrauen oder gar in
ihren Archiven niederzulegen, ist eine andere Frage. Hat
doch unser Rezensent Bedenken, ob es gerade durch Jesuiten
in die Welt kommen müsse , dass von ihnen die Idee zur
Liga herrühre?
Auffallend ist auch die Seltenheit von amtlichen ver-
trauten Briefen, deren doch eine ungeheure Menge sich er-
geben musste in einem Orden, in welchem nicht bloss eine
beständige Correspondenz aller kleinen und grossen Obern
Regel, sondern auch Jeder des Andern Aufpasser und nach
Umständen sein brieflicher Ankläger war. Allein es finden
sich in den Münchener Jesuitenakten weder von eingelaufenen,
noch von den Concepten abgesandter Briefe irgendwo Samm-
lungen.
Wohl aber geben diese Jesuitenakten Zeugniss, wie es
„nicht so schwer ist für festverbundene, gescheidte und muthige
Männer, in der Welt grosse Dinge auszurichten. Wo ihrer
Zehn in einer Stadt feurig nach einem Plan arbeiten, em-
pfinden Hunderttausend die Wirkung davon , vorausgesetzt
dass die Sache nicht schlecht und der Glaube unerschütterlich.
164 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
Das ganze Geheimniss besteht darin, dass die grosse Masse
wenig nachdenkt, dass sie nur Erwerb und Vergnügen oder
Liebe und Eitelkeit im Kopfe hat, während jene Zehn immer
wieder zusammen sitzen und überlegen, wie und auf wen
sie ihre Netze stellen müssen, welche Massregel hilft, und
wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen10)". Erst
tasten und suchen die Jesuiten vorsichtig nach hohen Gönnern,
um sich in einem Lande festzusetzen, — dann erziehen sie
geduldig sich ein neues Geschlecht und bringen ihre Jünger
allmählig an den Fürstenhof und in die Aemter, — und
haben sie lange Zeit die Gegner unterminirt, so erfassen sie
plötzlich den rechten Zeitpunkt und die stärkste Waffe, um
sie niederzuschlagen und zu vertreiben und zu verderben.
Die Schlangenklugheit und sichere Methode, mit welcher
dies vor sich geht, die unsägliche Geduld und Ausdauer
ein langes Jahrzehnt nach dem andern, die feurige Kühn-
heit im entscheidenden Augenblick, vor allem das planvolle
grossartige Zusammenwirken des ganzen Ordens, endlich
seine ungeheuren Erfolge in kurzer Zeit — dies Weltereig-
niss Schritt für Schritt in den Briefen und Berichten der
Jesuiten zu studiren, hat allerdings nicht geringen Reiz.
Für die Kulturgeschichte aber, besonders im siebzehnten
Jahrhundert, liefern sie eine Fülle noch unverbrauchten
Stoffes. Auch zur Kenntniss der damaligen Zustände in
beiden Indien und bei den wilden Völkern fliessen hier noch
immer unschätzbare Quellen.
Es mögen nun einige Arten von historischen Aufzeich-
nungen , wie sie in der Jesuitenabtheiluug des Münchener
Reichsarchivs bewahrt werden, kurze Erwähnung finden. Es
sind das Urkunden und Correspondenzen über die Gründung
der einzelnen Collegien, — ältere Berichte aus nahen und fernen
10) v. Löher Geschichte des Kampfes um Paderborn 1597
bis 1604. Berlin, 1874. 49.
v. Löher: Handschriftliche Annalen der Jesuiten. 1G5
Ländern, — Jahresberichte der Jesuitenklöster der oberdeut-
schen Provinz, — endlich deren zusamniengefasste Geschichten.
Aecht historischer Sinn bekundet sich im sorgfältigen
Sammeln und Aufbewahren des Briefwechsels über die ersten
Anfänge der Niederlassungen und ihrer Stiftungsbriefe.
Wiederholt kehrt in den Vorschriften der Obern die Mahnung
wieder, die Willensäusserungen der fundatores und bene-
factores wohl in Acht zu nehmen und aufzuzeichnen. Jedes
Colleg hat seine Gründungsbriefe und -Urkunden , und
manchmal sie alle wohl beisammen. Insbesondere war man
bedacht, die urkundlichen Besitztitel und alle Schriftstücke
in Vermögenssachen auf das Gewissenhafteste zu ordnen und
festzuhalten. Denn die Jesuiten waren ganz vortreffliche
Haushälter.
Im vorigen Jahre wurde der Jesuitensaal im Reichs-
archiv durch zwei werthvolle Folianten bereichert. Bei der
Konstatirung oder Neurepertorisirung, die seit neun Jahren
nach und nach durch sämmtliche Gruppen dieser kolossalen
Menge von Akten Codices und Urkunden geführt wird, fan-
den sich im Landschaftssaal zwei Bände, die äusserlich den
dort aufgestellten ganz ähnlich waren. Die ältesten Schrift-
stücke darin sind Berichte des Jahres 1559 aus den Missionen
in Aegypten und Ostindien, das folgende Jahr ist nur durch
zwei Bridfe aus Indien, die nächsten zwölf Jahre sind gar
nicht vertreten. Mit 1573 beginnen eigentliche Jahresberichte,
zunächst nur aus Oestreich und Polen , und der aus Rom
weiset auf des Ordens rasche und weite Verbreitung hin.
Das Jahr 1574 bringt noch zahlreichere Jahresberichte aus
Indien Japan Mexico Peru und Brasilien, aus der, römi-
schen neapolitanischen toledanischen aragonischen östreichi-
schen oberdeutschen (Dillingen) und rheinischen (Mainz)
Kirchenprovinz und den zwei Klöstern auf Sardinien; ein-
gestreuet sind Briefe über eine Missionsieise und politische
und kirchliche Zustände in Ungarn, über einen Seeräuber-
166 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
angriff auf dem Mittelmeer, über den Tod von drei Jesuiten
in Köln. Für jedes der sechs folgenden Jahre finden sich
Berichte aus den fernen Missionen, wie insbesondere aus
den meisten europäischen Provinzen des Ordens, und man
kann überblicken, wie rasch sich die Provinzen mehren und
ihre Hauptorte wechseln. Dazwischen erscheinen ein Trost-
brief des Pabstes an Herzog Wilhelm von Cleve wegen
seines 1575 in Rom gestorbenen Sohnes und des Fürsten
Antwort, Missionsreisen in Schwaben Franken Bayern und
Tyrol, Notizen über die Zeitverhältnisse 1579. Mit dein
Jahr 1581 wird die Sammlung spärlicher, gibt aber noch
den ausführlichen Brief des Ordensgenerals Aquaviva vom
28. Juni an die Provinzialen und andern Obern über ihre
Verhaltungsmassregeln. Ausser russischen Missionsreisen,
Erzählungen über den Martyrertod von Ordensmitgliedern,
den Regeln im germanischen Colleg liefern die folgenden
Jahre keine Schriftstücke mehr. Den Schluss bildet das Jahr
1586 mit einem Schreiben des Visitators der rheinischen
Provinz. Offenbar sind all diese Berichte und Briefe in
einer späteren Zeit zusammengerafft, und man Hess, soviel
sich davon noch vorfand, in den zwei Folianten zusammen-
binden.
Es ist im höchsten Grade zu bedauern, dass der ganze
übrige archivalische Stoff dieser Art verloren gegangen ; denn
er enthält für den angegebenen Zeitraum nicht wenig des
Werthvollsten. Wie. sehr lernt man bei der Beschäftigung
damit diesen Orden bewundern, der über den ganzen Erd-
kreis verbreitet doch ein innig und lebendig zusammen-
hängendes Ganzes bildete, in welchem jeder Zugehörige Leid
und Freude mit den fernen Brüdern theilte ! — Selbst für die
Jesuitenklöster der oberdeutschen Provinz fehlen von 1582
bis 1614 die Jahresberichte. Jedoch sind gerade aus den
achtziger und neunziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts
mehrere solcher Berichte aus verschiedenen Weltgegenden
v. Löher: Handschriftliche Anmalen der Jesuiten. 167
im Drucke veröffentlicht. Ein Ausschreiben11) an die Pro-
vinzialobern auf Befehl des Generals Aquaviva, des rastlosen
Organisators, zeigt, wie es damals mit dieser Art von Ge-
schichtschreibung stand :
Reverende in Christo Pater ! Pax Christi etc. Magnae
consolationis et vero minoris laboris videbatur fore toti
societati, si annuae provinciarum omnium literae uno veluti
conceptu editae quotannis darentur. Ex quo tarnen id fieri
coeptum est, experimur non parvas difficultates, eaque iin-
primis adversatur, quod, si forte alicujus provinciae literae
serius ut fit reddantur, aut is, cui cura incumbit annalium,
valetudine aliove casu parumper impediatur, non solum abit
tfnnus ille sine annalibus, sed annos etiam consequentes,
sicut hisce ultimis magno nostro cum dolore communisque
consolationis detrimento accidit, removetur. Nos igitur
curabimus nunc Deo volente quam primum annuas praeteri-
torum annorum uno simul volumine comprehendi omnes et
ad provincias mitti. Ut autem, si quid in hac re commodi
erat, vitato incommodo retineatur, nova ratio in posterum
videtur ineunda, ut scilicet ex singulis provinciis literae
annuae latino sermone mittantur, diligenter confectae, non
indigestae et confusae, non sola capita rerum tradentes, non
in supervacaneam diffusae longitudinem , sed ordine omnia
narrantes ad eam formam, quae in impressis hactenus cerni
potest. Sic enim fiet, ut aut nulla aut perexigua mutatione
statim ac venerint recognitaeque fuerint, simul omnes im-
primi et transmitti possint. Quare Reverentiae Vestrae erit,
literas hujus anni 1598 et deinceps aliorum alicui, qui id
bene et eleganter praestare possit, committere, solitoque
accuratius recognoscere, ne quid redundans sit aut diminutum.
Quem modum non dubitamus commodiorem multo et pro-
vinciis etiam gratiorem futurum ad communem consolationem
11) Reichsarchiv, fasc. 19 no. 322.
168 Sitzung der histor. (Jlasse vom 6. Juni 1874.
et Dei gloriam, a quo magnam Reverentiae Vestrae coeles-
tium gratiarum copiam precor , omniumque precibus ac
sacrosanctis sacrificiis me commendo. Gratia D. N. Jesu
Christi cum omnibus vobis. Romae 4. Decembris 1598.
Mandato R. P. N. Generalis Jacobus Dominicus. Reverentiae
Vestrae Servus in Christo.
Vom Jahre 1614 an, wo der Jesuitenorden bereits in
weiten Erdstrichen fest gegründet stand, sind für jene ober-
deutsche Provinz die Jahresberichte all ihrer Collegien und
Missionshäupter im Reichsarchiv vollständig beisammen. Sie
gehen mit der einzigen Lücke von 1756 bis 1760, bis zur
Aufhebung des Ordens, und bilden für mehr als anderthalb
hundert Jahre eine fortlaufende Quelle zur innern Geschichte
des Ordens wie zur Kenntniss all der Länder, die zur Ger-
mania superior der Jesuiten gehörten. Ueber ihre Abfassung
heisst es im Officium socii provincialis16) unter No. 7 : Annuas
literas colliget a collegiis et reliquis domiciliis, emendatas-
que atque in formam meliorem redactas curabit describi
ac per provinciam distribui super mensam legendas. Es
sind noch von mehreren Jahrgängen die Originale vorhanden,
die von den Rektoren und anderen Vorstehern der Jesuite11-
klöster eingesendet und von dem Provinzial öfter nicht wenig
corrigirt und verkürzt wurden. Die Reinschriften circulirten
in zwei Exemplaren, und trugen auf dem ersten Blatt die
Mahnung: Monentur Superiores, ut diligenter annotent, unde,
per quem, et quo die acceperint annuas, et quonam ipsi, per
quem , et quo die miserint, significentque ipsum R. P. Pro-
vinciali per literas prima scribendi occasione. Qui subjectas
sibi residentias et missiones habent, dabunt opem, ut ad
has quoque annuae perferantur, extra etiam mensae tempora
ibi legendae, quo citius absolvantur. Ultimus qui acceperit,
remittat eas ad archivium provinciae Monachium.
12) Reichsarchiv, fasc. 1 no. 10.
v. Löher: Handschriftliche Annetten der Jesuiten. 169
Der Jahrgang 1634 trägt folgende traurige Aufschrift:
Temporum iniquitas inhibuit consuetum annales scribendi
legendique morem. Lacerata provincia dum vulneribus
üeeeptis medetur, dum collegia suis convulsa sedibus repo-
nuntur et suos quaeque inquirunt manes, annus est. Ut
prima cura fuerit tradendarum rerum, quae gesta sunt,
injeeere tarnen moram illi ipsi, quos attinebant, vel annuis
mittendis nondum expediti vel omnino exstineti. Bellis, fami,
malisque prioribus pestis supervenit, ubique grassata ingenti
provinciae nostrae damno, deploranda tot sociorum strage.
Multo maxima scriptionis pars parentalibus similior, quam
annalibus videtur. — Mehr Leichenrede, als Jahresbericht —
das ist die Aufschrift der Geschichte für die Jahre des grossen
deutschen Kriegs auch in Bezug auf diejenigen, die am
meisten gethan, Deutschland in zwei mit einander kämpfende
Hälften zu zerspalten.
Von den literis annuis gilt besonders, was vorher über
den Inhalt der Jesuitenberichte gesagt worden. Leicht er-
kennbar folgen sie alle einer vorgeschriebenen Formel. Es
wird über die Thätigkeit der Mitglieder des Ordens, ihr
Schulwesen, die Seelsorge berichtet, über Gunst und Ge-
schenke von Mächtigen, über Erlebnisse, Leiden und Triumphe,
besonders gern über himmlische Gnaden, die auf Anrufen
der Ordensheiligen Ignatius Xaverius und Aloysius erfolgten.
Treffliche Sprüche und Antworten von Jesuiten und ihren
Schülern, und Anekdoten von Freund und Feind sind be-
sonders willkommen. Denn diese Jahresberichte dienten
zur Erhebung wie zur Erbauung, wurden desshalb auch bei
Tische vorgelesen13). Desshalb wuchern hier recht die Ge-
schichten von Hexen, Wärwölfen und Geisterbannern. Haupt-
zweck aber bleibt eine Art Rechenschaft über den Stand
der Mitglieder eines Collegs, einer Residenz, einer Mission,
13) Epitome 516. 246.
170 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
«
und der Seelenärnte im Jahr. Desshalb wird auch jedem
Jahrgang eine Tabelle zur Uebersicht vorangestellt. Es zeigt
z. B. die Tabelle von 1766, also kurze Zeit vor der Auf-
hebung, noch 33 Jesuitenklöster mit 1084 Ordensangehörigen,
darunter 630 Priester und Magister. Neu aufgenommen sind
in dem Jahr 30, gestorben 21, entlassen 13. Zur katho-
schen Religion wurden übergeführt 172, an den achttägigen
Exercitien im Jesuitenhaus nahmen Theil 41, am Abendmal
bei den Jesuiten 2,067,166, von denen 10,408 vorher Ge-
neralbeichte ablegten.
Eine gute Kritik über die Jahresberichte aus den
oberdeutschen Jesuitenklöstern übte Pater Georg Finder-
mann14). "Wie es scheint, wohnte er zu Dillingen und ver-
arbeitete die Annalen der Provinz für die Jahre von 1615
bis 1650 zu einem Auszug, der für die Fortsetzung der Ordens-
geschichte bestimmt war, welche man in Rom vorbereitete.
Seine advertenda sollten vertraulicher Weise aufmerksam
machen auf die grossen Schwächen und andeuten, was man
im Generalat zu Rom ändern müsse. Darunter finden sich
folgende Artikel :
1, Videntur multa laborare fide, quae recensentur de soda-
litatibus Marianis , et saltem ad earundem , non ipsius
societatis proprie, annales et historiam spectare, quae-
dam etiam obstruere luminibus societatis : hinc judicet
Roma, quid in historia societatis de iis afferre congruum
sit. Ego de industria multa indicta praeterii.
2. Recensentur passim conversi ad fidem catholicam prae-
dicantes, quorum tarnen numerosa pars, hypocrisi
nefaria, aut haeresin non exuit unquam aut paulo post
resorbuit, praesertim Dilingani et Palatini : videat Roma,
quid de ejuscemodi scribi conveniat. Idem puto de
aliis subinde convertitis.
14) Reichsarchiv, fasc. 9 no. 84a.
d. Loher: Handschriftliche Annalen der Jesuiten. 1?1
3. Habetur in annali quodam Weidensi, plane falso, exter-
minatos in Weida omnes haereticos, urbem totam esse
catholicam ; idque primis statim annis scriptum est,
quibus excolere eam civitatem coepit societas: quare
omittatur necessario.
4. Diligenter advertendum, in compilatione annalium nihil
Romam missum, quod non iisdem contineretur, et plane
ut plurimum non videntur cum dignitate posse sustinere
multa majestatem societatis: hinc, nisi aliunde alia
habeantur et addantur, videntur recensenda non multum
vigoris ac caloris habitura.
5. Cupii quidem ex archivis augere et exornare spartam
meam, sed id dissimulatum est. Memini, ingruente peste
a plurimis e diversis provinciae locis ac personis ejus-
modi epistolas petitorias datas esse ad R. P. Provin-
cialem inserviendi pestiferis, ut, salvo meliore judicio,
putem, citra injuriam dissimulari in historia societatis
non posse. Et quod de hoc argumento dico, idem cen-
seri de multis aliis potest.
6. Videntur mihi Lucernenses acrius, quam expediat, scrip-
sisse de suis ut appellant Entlibuchensibus rebellibus:
verendum , ne hoc non aliquando pariat difficultatem,
neque enim talia lego in aliarum provinciarum anna-
libus, licet belli tempore.
7. Equidem nolui res bellicas omnium collegiorum et
locorum singulis annis persequi , claritatis ergo etc.,
sed a revisore ea incubuere in spongiam, quod eae jam
omnes ac singulae Romam sint denuntiatae; actum
igitur non reagendum; curandum igitur Romae est, ut
Überaus sit in describenda gloria nostrae provinciae
patientia.
8. In tot annorum annalibus, quod nemo satis demiretur,
ne una quidem fit recensitio aut mentio ullius illustris
alicujus facti cujusquam superioris, provincialis, rectoris,
[1874,11. Phil.hist. Cl. 2.] 12
172 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
professoris, confessarii principum etc., cum longe secus
fiat in editis tomis historiae societatis, quo quidem non
paucos etiam e nostris scio non mediocriter offensos:
confido, buuc defectum suppletum iri per Romanam
notitiam et industriam.
11. In nullo horum annaliuin fit mentio fere illustris alicujus
facinoris, quod perpetrarint viri principes etc. seculares,
ecclesiastici, senatores, urbes, nobiles etc. instigatione,
consilio etc. nostri alicujus: quod, num non sit con-
junctum cum offendiculo, dijudicet Roma.
12. Audimus hinc inde passim non optime apud plerosque
de suggestis consiliis in rebus bellicis, in exigendis con-
tributionibus probandis etc. et plurimis similibus: ni
fallor, occurri Romae oportebit et informari ii lectores,
quibus de talibus veritas non constat.
13. Advei ti in encomiis mortuorum quosdam aut de frivolis
aut enormiter in genere laudari, in peculiari afferri
notatu omnino nihil . . . Nolui ego laudum obtrectatorem
agere, quare, ut verba sese habebant, excerpta in
exemplar Romanum retuli. Dein et sodalium quorundam
mortes ita 'picturate recensitautur, ac si pro eorum
canonisatione ageretur. Oinisi ego quidem multa similia,
sed non omnia.
19. Mala inanus alicubi unum alterumve annalem invasit et
quae libuit excidit. Defectum eum studui resarcire ex
historiis privatis collegiorum, ut Monacensis, Dilin-
gani etc.
41. Videri possint annales nostrae provinciae nee non inde
exstruenda historia panegyricus potius, quam historia.
Neque (contra quam legere sit in tomis historiarum socie-
tatis) in omnibus fit ulla mentio ullius erroris a quoquam
in societate commisso tot annis, exceptis apostatis etc.
42. In librorum dedicationibus extreme aliquando palpones
et falsidici fuimus etc.
v. Löher: Handschriftliche Anndien der Jesuiten. 173
Wir wenden uns nun zu den „histoiiae" der Jesuiten-
klöster. Diese wurden von Anfang an von den menstruae
und annuae literae wohl unterschieden, und ihre Abfassung
den Obern der Missionen wie der Residenzen und Collegien
zur Pflicht gemacht. Hisloriam missionis superior ex men-
struis literis in librum scribi curet, hiess es in der Instruk-
tion der ersten Jesuiten zu Paderborn 15). Indessen nur
aus einigen Ansiedlungen langten solche historiae in Rom
an, von andern nicht. General Aquaviva brachte auch diese
Aufgabe in Schwung. Er erliess ein Ausschreiben an die
Provinzialobern16), welches lautet:
Reverende in Christo Pater ! Pax Christi etc. In scriptis
alicujus momenti, quae in archivio Romano societatis con-
servari debent, primo fere loco numeranda erit historia seu
succincta narratio de origine ac fundatione cujusque collegii
aut domus societatis, qua breviter explicetur: quo tempore,
qua occasione, quibus modis collegium illud aut domus
exordium sumpserit, — quos item redditus ac bona ab
initio ac quae deinde incrementa, quibusque ab hominibus
ad hodiernum usque diem acceperint ac retinuerint. In eadem
narratione dicendum erit, quot et quas lectiones unusquisque
locus habeat, earumque quas ex obligatione, quasque ex
libera voluntate sustineat, — quae praeterea onera et obli-
gationes, quem personarum numerum teneat vel tenere
possit, caeteraque ejusmodi. Quae quidem etsi visitatores
aliquot praeteritis temporibus fieri et huc in urbem mitti
curaverunt, quia tarnen ex pluribus provinciis hoc factum
non est, nee ab iis, quae hoc praestiterunt , ea qua con-
veniebat forma praestiturn fuit , ut ex omnibus über unus
conficeretur, necesse erit, semel hunc laborem serio et ex
instituto suseipere, eo ordine quo explieavimus ac nunc etiam
15) Oben Seite 156.
16) Reichsarchiv, fasc. 19 no. 322. Vgl. Institutum II 122.
12*
174 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
dicemus, nimirum , ut narrationes jam dictae perscribantur
papyro ejusdem plane magnitudinis qua haec nostra est,
quae hanc instructionem continet, aut si forte major sit, ad
hanc eandem formam redigatur; margines item habeat
aequales his nostris, ut eo facilius, quae istinc mittent'T,
separata in unum corpus hie compingantur. Haec autem
omnia cum erunt rite confeeta, transmitti ad nos poterunt
occasione aliqua, vel nostrorum hominum vel externorum
etiam amicorum, quoium erit speetata ac probata fides, huc
in urbem proficiscentium , vel certe procuratorum , qui ex
provineiis ad proxime futuram congregationem venient. Illud
etiam curari debet, ut exemplar seu transscriptum hujus
summariae narrationis ad nos transmittendae servetur ubique
integrum in collegiis domibusque, e quibus fuerit exhibitum,
etiamsi earundem prorsus reruin historiae copiosiores in
eorum monumentis seu registris exstent, ut si quando dein-
ceps necesse erit, inform ationes alias de futuris incrementis
eorundem locorum reddituum censuum aut onerum petere,
id fieri possit ad hanc ipsam papyri formam, et ineipiendo
a fine praeced entmin informationum datarum. — In eadem
etiam papyri forma conveniet vota solennia professorum
eorumque simplicia, coaeijutorum item formatorum Romam
mittere, ut suo in libro cohaereant et non in mediis foliis,
aut forma quarti, ut subiude multi solent: eaque disparitas
connexionem impedit ordinemque perturbat. Dominus sit
vobiscum. Romae 30. Decemb. 1586. R. V. servus in Christo
Jacobus Ximenez mandato R. P. N. Generalis Praepositi.
Der Vorstand der oberdeutschen Kirchenprovinz setzte
darunter: Quae mandato R. P. N. Generalis P. Secretarius
praesentibus literis exigit, Superiores omnes ea qua par est
diligentia primo quoque tempore exequentur et spatio duorum
mensium, postquam has aeeeperint, ea omnia sie perficere
conabuntur, ut tarn historiam quam vota, ut in literis exi-
gitur, summa diligentia scripta et perfecta post elapsos duos
v. Löher: Handschriftliche Annalen der Jesuiten. 175
menses ad Provincialem, quando ipse petiverit, mittant, qui
in urbein ea perferri curabit.
Diesem Befehle gemäss ist nun auch in den Jesuiten-
häusern der oberdeutschen Provinz eine brevis et succincta
historia oder eine kurze narratio de origine et progressu
collegii ausgearbeitet, nach München geschickt, hier corrigirt
und die Reinschrift nach Rom befördert, während der erste
Entwurf oder eine Abschrift hier blieb. Allein die Fort-
setzung lässt sich sehr häufig vermissen. Für die Collegien
zu München und zu Luzern17) — an letzterem Orte wurden
die Jesuiten anfänglich ,,die gelehrten Leut" genannt — wurde
ein Band in Grossquart, ganz in der Form wie des Generals
Ausschreiben es verlangte, angefertigt: die ersten Blätter
bringen den origo et progressus ab anno 1558 resp. 1574
usque ad annum 1587, und alle folgenden Blätter sind leer
geblieben. Jedoch findet sich für beide Häuser auf losen
Blättern die Fortsetzung bis 1632 resp. 1635. München
hat ausserdem eine brevissima historia von 1586 bis 1638.
In ähnlicher Weise zeigen sich für einige andere Ansiedlungen
kurze annalistische Aufzeichnungen bis in die dreissiger Jahre
des siebzehnten Jahrhunderts.
Insbesondere ausführlich sind die relationes de illatis
damnis et periculis in der letztgenannten Zeit des dreißig-
jährigen Kriegs, wahrscheinlich in Folge eines Auftrags vom
Provinzial. In den folgenden vierziger Jahren, scheint es,
war an den meisten Orten die Lust, ja selbst die Möglich-
keit verloren, noch Begebenheiten der entsetzensvollen Gegen-
wart zu notiren.
Ausser diesen kurzen Aufzeichnungen finden sich für
einzelne Zeiträume, hier für diesen dort für jenen, ausführ-
lichere Berichte. Amberg z. B. hat eine solche Arbeit für
die Jahre 1621 bis 1633: Puncta pro historia collegii
17) Reichsarchiv faac. 90 und 85 no. 1787 und 1717.
176 Sitzung der histor. Classe vom 2. Juni 18? 4.
Ainbergensis et missionis Palatinarum , jedoch mit einer
Note von anderer Hand auf dem ersten Blatt, welche lautet:
Haec scripta, quod attinet ad chronologiam seu temporis
rationem, non satis ubique censentiunt cum annalibus nostris
et cum historiis collegii Ambergensis et Ratisbonensis, quibus
major est fides habenda. Die Historia coli. Soc. J. Am-
bergae von 1621 bis 1708, welche erhalten worden, ist
offenbar nur Auszug aus einem grösseren Werke. Auch
diese Amberger Schriften, noch mehr die über die missio
Kemnatensis , tragen wie alle solche Arbeiten der Jesuiten,
die Spuren ausgiebiger und oft unbarmherziger Correkturen
durch die Obern 18).
Wiederholt aber wurden historische Aufgaben gestellt,
um die Geschichte der Ordensprovinz fortzusetzen. Ein
solches Ausschreiben des Provinzials 19), etwa um das Jahr
1640, ist folgendes:
Quoniam videtur haud improbatum iri, si continuetur
historia nostrae provinciae , rogantur inprimis Reverendi
Patres Rectores, ut qua hactenus benevolentia continuationem
hanc dignentur promovere, ad quod fere idonea erunt, quae
adnoto :
1. Ut qui necdum miseruut catalogum omnium Superi-
orum et Rectorum ab initio residentiae vel collegii usque
ad praesens tempus, submittant commodo tempore.
2. Item , catalogus omnium defunctoruin collegii vel
residentiae usque ad annum 1614. Reliquum supplebitur
ex annuis, quas ab illo anno habemus manuscriptas.
3. Qui synopses conficiunt, eam partiantur in annos
singulos ab uno decennio ad alterum , ita ut ad quemvis
annum referant, quae quovis anno intra quodvis decennium
gesta sunt.
18) Daselbst, fasc. 43 No. 769.
19) Daselbst, fasc. 9 no. 84a.
v. Löher: Handschriftliche Annälen der Jesuiten. 177
4. Rogantur porro . ut in conficienda synopsi et ad-
notandis gestis liberales sint potius, quam parci, ut delectus
sit historico facilior.
5. Observetur accurate elenchus singulorum punctorum,
de quibus petitur inforniatio : quodsi alia adhuc occurrant
meinoratu digua, illa etiam adnotare placeat.
6. AdiuDgere placeat, quod flagito enixe, quautum fieri
potest ad puncta singula circumstautias loci, teinporis,
familiae, ac praecipue nominis ; factum id diligentissime ab
historicis societatis Orlandino, Sacchino, Juvencio. Plurimum
in his memorari est ad venustatem , gratiam , et maxime
authoritatem historiae«
7. Cum vero huiusmodi circumstantiae perquam saepe
in annuis exprimi multas ob causas non soleant, inveniri
poterunt aliis in libris, v. g. rationum etc., in archivio
maxime, et in variis diariis, et historia separata collegii, si
tarnen, ut oporteret, seorsim habeantur ab annuis, et accu-
rate sciibatur iuxta elenchum punctorum, quae ante centum
ac plures annos iam fuerunt praescripta, ut annotentur.
8. Sunt collegia, in quorum scriniis latent varia manu-
scripta, vel acta relicta a defunctis, quae servient ad histo-
riam, quorum memoria forsan apud superstites haberi
potest. Rogo, ut vel mittantur vel memoranda excerpantur.
9. Cum porro soleat in diariis plerumque, praesertim
antiquioribus, taceri cognomen, sufficiet tarnen magnorum
viiorum, si quid egerunt memorabile. vel solum memorare.
Poterit enim cognomen ex aliis manuscriptis deprehendi, ut
e. g. Monacense diarium habet: hodie advenit P. Carolus. etc.,
s. Aenipontanum habet: hodie abiit P. Carolus Leopold
Monachium , concionator aulicus, — patet ergo nomen et
cognomen.
10. Porro hae circumstantiae nominis etc. non tantum
de nostris hominibus, verum etiam de externis, si qua dignum
178 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
videtur, ut fiat mentio, v. g. si fuerint dignitate aut officiis
magni, cancellarii, dynastae etc.
11. Praesertim exoptatur, ut memoria conservetur tum
eoruni , qui fuerunt fautores aut benefici in Societatem,
tempus, locus, nomen, elogium de illorum vita et morte,
uti et elogia eorum, qui sub nostra directione, sodalitiis etc.
magnam famam virtutis sunt consecuti, aut generosos actus
exercuerunt.
12. Juvabit, si aliuude haberi non potuerint circumstantiae,
ioquirere apud exteros, qui sciverint.
Es scheint indessen nicht, dass dieses Ausschreiben
überall so ergiebigen Erfolg hatte, wie zu Eichstädt20), von
welchem sich ein ortus et progressus collegii S. J. Eustadii
ex historia domus, literis annuis, variis diariis et aliis docu-
mentis descriptus erhalten hat bis zur Mitte, oder zu Hall21),
das reichliche Notizen bis zum Ende des siebzehnten Jahr-
hunderts sammelte. Insbesondere ist die Zeit nach 1708
schlecht vertreten, wahrscheinlich weil die Ordensgeschichte
nicht mehr in alter Weise fortgesetzt und keine Beiträge
dazu mehr von den Obern verlangt wurden. Es lag einmal
im ganzen Wesen des Ordens, dass die Marianas in ihm
selten blieben. Eine rechte Freude an Geschichtsschreibung
konnte nicht aufblühen , wo man sich beständig durch das
Berichts- und Tabellenwesen, durch die Censur der Oberen,
durch tausend ängstliche Rücksichten gehemmt fühlte. Man
begnügte sich, das Geschichtliche auf den unverfänglichsten
Ausdruck zu bringen und alles Bedenkliche, auch wohl das
Bedeutendere, auszulassen.
Es gab indessen zweifellos zusammenhängende Geschichten
vieler Jesuitencollegien , die von der Stiftung bis tief in's
siebzehnte Jahrhundert fortgeführt waren. So finden sich
20) Daselbst, fasc. 68 no. 1238.
21) Daselbst, fasc. 71 no. 1344.
v. Löher: Handschriftliche Anndien der Jesuiten. 179
— ausser den im Vorigen schon gegebenen Andeutungen
unter Amberg Eichstädt Regensburg — im Reichsarchiv22)
Auszüge ex tomo I. und II. historiae coli. Augustani, quae
contigere meinorabiliora de sodalibus congregationis civicae
eorumque antecessoribus civibus catholicis von 1559 bis 1669,
und eine Aufzählung der beneficia a S. P. Ignatio clientibus
exhibita ebenfalls aus der historia coli. August, bis 1724.
Wo sind die interessanten Bände selbst geblieben ?
Eine besondere Erwähnung verdient hier die historia
collegii Paderbornensis von 1580 bis 1620, die vielleicht
in Deutschland einzig in ihrer Art ist und im Original
(P. 165) sich auf der Gymnasialbibliothek zu Paderborn, in
einer beglaubigten Abschrift im Reichsarchiv befindet.
Es gab in Paderborn, wo von jeher ein gewisser histori-
scher Sinn eingebürgert schien , fortlaufende und sehr aus-
führliche Jesuitenannalen. Aus ihnen arbeiteten Strunck
und die andern Fortsetzer der Schaten'schen Aunalen, ferner der
Jesuit Horrion in seinem Panegyrikus auf Bischof Dietrich
1616, sowie die beiden andern Jesuiten Türck und Massen,
die handschriftliche historische Werke hinterliessen, endlich
der Verfasser jener historia. Den Jahrbüchern fehlte nur
das Stück von 1615 bis 1635, welches im dreissigjährigen
Krieg in Mainz, wohin man die Jahrbücher geflüchtet
hatte, unterging. Jetzt sind all diese Aunalen verschwunden:
für die Zeit der Rekatholisiruug des Landes ist aber jenes
Werk des Jesuiten Joh. Sander da, der darin zum Jahre 1615
berichtet: Cum ab hoc anno 1615 ad annum 1635 annuae
nee in collegii, nee in provinciae archivo Coloniae reperiantur,
videntur Moguntiae periisse, quando rex Sueciae eam oecu-
pavit. Itaque sciibo passira notata, a me Jo. Sandero
collecta et observata, quando illis annis collegium inhabitavi.
Was Sander aber über das Jahr 1620 hinaus arbeitete,
22) Daselbst, fasc. 45 no. 829.
180 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
ist untergegangen, und wird dafür durch mehrere kleine
annalistische Werke, die sich von Paderborner Jesuiten noch
vorfinden, nicht entfernt Ersatz geboten.
Sander schreibt ganz in der Anschauungsweise der da-
maligen Jesuiten, mit glühender Begeisterung für den Orden,
mit fanatischem Hasse erfüllt wider seine Gegner. Bis ins
Einzelnste erzählt er, wie die Jesuiten in Paderborn Fuss
fassten , wie sie Gut und Geld erwarben, — wie sie sich
Partei machten, erst am Hofe, dann im Lande, dann in der
Stadt, — mit welchen Mitteln sie den Protestantismus an-
griffen, — und was ihnen endlich zum Siege verhalf. Er
ist ungemein reich an kulturhistorischen Einzelnheiten, flicht
häufig "Anekdoten ein, und scheuet sich gar nicht, auch zu
berichten, welche unlautere Wege der Orden einschlug, um
seine Zwecke zu erreichen. Denn die Hauptsache ist ihm
zu zeigen, dass die Jesuiten immerfort klüger waren, als alle
anderen Leute, und dass sie durchaus siegen mussten.
Mir waren diese Sanderschen Annalen vom grössten
Werth für die Geschichte der Antireformation des pader-
bornischen Landes23). Auf jener Zeit von 1580 bis 1620,
in welcher die Hälfte des deutschen Volkes wieder katholisch
wurde, lagert noch dichtes Dunkel. Ich wollte nun versuchen,
auf einem Boden, auf welchem ich jedes Dorf und jedes
Schloss kannte. Schritt für Schritt zu enträthseln , wie die
Gegenreformation eigentlich vor sich ging. Paderborn war
ein geistliches Fürstenthum , und nur durch die geistlichen
Fürstengebiete, die sich breit durch ganz Deutschland zogen,
gewannen die Jesuiten in raschem Vordringen Stellung von
den Alpen bis zur Nordsee. Durch ein wahres Glück sind
gerade über jene Vorgänge in Paderborn auch andere hand-
schriftliche Nachrichten dortselbst wie in Kassel und Münster
23) Geschichte des Kampfes um Paderborn. Berlin 1874.
v. Loher: Handschriftliche Anndien der Jesuiten. 181
erhalten, welche Sander's Berichte wesentlich ergänzen und
corrigiren.
Nur ganz kurz sei der Gang der antireformatorischen
Unternehmungen hier skizzirt.
Das Domkapitel war fast durchaus protestantisch und
hielt es mit seinem Fürstbischof Herzog Heinrich von Lauen-
burg, dem erklärtesten Freund und Helfer des Kölner Kur-
fürsten Gebhart Truchsess. Da wurden vier westfälische
Edelleute, die in Rom im Collegium germanicum ihre Studien
gemacht und auf welche Niemand besonders Acht hatte,
Domherren in Paderborn. Sie wussten, dass Dietrich von
Fürstenberg Bischof werden solle, und zogen daher bei
Gelegenheiten Verwandte von ihm ins Kapitel. Als während
der Pest 1580 Alles aus der Stadt flüchtete , die jungen
lebenslustigen Domherren zuerst, wurde ein Kapitularstatut
zu Stande gebracht: Keiner solle mehr ins Kapitel kommen,
der nicht für jetzt und für immer sich als guten Katholiken
einschwöre. Jetzt war die Partei im Domkapitel geschaffen,
Dietrich wurde Domprobst, und bei des Lauenburgers plötz-
lichem Tode durch rasche Wahl Bischof und Landesherr.
Das Domkapitel zog nun Jesuiten herbei. Diese ver-
mehrten sich ohne Aufsehen, legten aber lange Jahre hin-
durch alles Gewicht bloss darauf, die Jugend anzuziehen und
in ihrem Geiste zu bilden. Allmählich schafften sie sich auch
eine feste Partei im Lande , erst bei einigen Edelleuten,
dann bei Hofe, dann in den beiden Hauptstädten Paderborn
und Warburg, die wie das ganze Land erzprotestantisch waren.
Zu dem Ende zog man katholische Juristen von aussen herein,
und zwar besonders solche, die Pfaffenkinder waren und
desshalb nicht Rathsherren werden konnten. Ein Jesuit
wurde Benediktiner, dann Abt im Kloster dieses Ordens zu
Paderborn, und damit das Haupt der katholischen Bürgerpartei.
Die ganze Bürgerschaft wird gründlich gespalten, indem
der Bischof sich der Gemeinde gegen die Rathsgeschlechter
182 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juni 1874.
annimmt, welche in Trotz und Uebermuth der Stadt Gut
und Einkünfte verprassen. Die Gemeinde belagert den Rath
drei Tage lang auf dem eigenen Rathhause. Zuletzt lässt
sie sich den Bischof als Richter gefallen, und er hält Bürger-
meister und Rath so lange gefangen , bis sie das Gleiche
thun. Ein grosser Prozess wird gegen sie angestrengt, aber
gespielt und verschleppt als eine wahre Justizposse.
Die Bürger werden ungeduldig. Sie errichten eine
geheime Eidgenossenschaft und erwählen den Rathsherrn
Wichart zu ihrem Hauptmann, um das Evangelium und die
Bürgerfreiheit zu retten. Die Verschwörung breitet sich
auf die übrigen Städte und die Ritterschaft aus. Als der
Bischof eine katholische Kirchenagende einführen will, er-
hebt sich das ganze Land im bewaffneten Aufstand.
Wichart wird Bürgermeister, bewaffnet die ganze Bürger-
schaft, lässt Kanonen giessen und die Stadt neu befestigen.
Der Bischof, welcher die Spanier in den Niederlanden unter-
stützte, nimmt ein paar tausend Spanier in Sold. Während
sie schon in der Nähe sind, erhebt die katholische und alte
Rathspartei einen Aufstand. Wichart beschwichtigt ihn. In
der folgenden Nacht bestürmen die Spanier die Mauern,
werden aber blutig zurückgeschlagen. Die Bürgerschaft
nimmt den Landgrafen von Hessen zum Schutzherrn an.
Verrätherei im Schooss der Bürgerschaft und eine schmäh-
liche Täuschung von Seiten des Bischofs bringt die Stadt
in seine Hände.
Der Bürgermeister wird ergriffen, Tagelang am Pranger
ausgestellt, gefoltert. In öffentlicher Gerichtssitzung auf dem
Markte vertheidigt er sich, wird verurtheilt, lebendig ge-
viertelt, mit den blutigen Körperstücken fährt der Henker
um sein Haus. Seine Anhänger flüchten oder werden von
Haus und Hof vertrieben. Die Stadt verliert all ihre Frei-
heiten , und der Bischof fängt an , in ihren Mauern eine
Citadelle zu bauen.
D. höher: Handschriftliche Ann ahn der Jesuiten. 183
Die Bürgerschaft bleibt aber trotzdem protestantisch.
Nun werden ihre Schullehrer und Prediger verfolgt und
immer auf das Neue verbannt. Nur katholische Ehen werden
gestattet, den Evangelischen die Kirchhöfe verschlossen.
Endlich wird 1G12 Alles ausgetrieben, was nicht katholisch
werden will.
Zum Schlüsse sei noch eine Geschichte erwähnt, die
auf die jesuitische Anekdotenjagd ein Licht wirft. Zum
Jahre 1612 erzählt Sander wie folgt: Accidit aliud divinae,
ut ipsimet Lutherani sumebant, vindietae prodigium. Erat
foemina Luthero addieta, in platea, quae Fovea dicitur,
habens domicilium , qua nostri frequentes cum studiosis ad
concionem summae aedis commeabant, quam egomet, tum
huroanitatis studiosus, bene novi, quae nostros cum qua-
dratis pileis euntes redeuntesque familiari Paderbornensibus
scommate (Wockenklaen id est pes seu sustentaculum coli,
ad verbum diceres coli angues in modum crucis, forma qua-
drati pilei colum fuleientes) nostros impetebat et irridebat,
dum uterum ferret. Ea enixa est infantem monstrosum,
depilem, quadratum pileum ex carne conformatum in capite
secum in lucem proferentem, atque ita gaudium natalitium in
luctum versum est. Id hospes mea ipso die puerperii, cui
interfuerat, mihi admirabunda retulit. Infans vero paucis
diebus , ut saltem speetaculum foret, supervixit. — Da nun
Sander berichtet, er habe das Paderborner Collegium von
1615 bis 1635 bewohnt und im Jahr 1617 zuerst unter dessen
Jesuiten und zwar als Lehrer in der Logikklasse erscheint,
so stimmt das Alles, wenn man annimmt, er sei 1612, als
die Frau das Unglück hatte, noch Student und dann etwa
zwei Jahre lang Noviz gewesen. Nun aber wird ganz die-
selbe Geschichte in des „Christ. Rosenbusch Replica auf
des Calumnianten Lucae Osiandri Verantwortung wider die
die Jesuiter", welches Buch schon 1586 zu Ingolstadt ge-
druckt erschien, erzählt und zwar mit vielen anderen Um-
184 Sitzung der Jiistor. Classe vom 6. Juni 1874.
ständen. Sechs Jesuiten wären in einer öffentlichen Pro-
zession daher gekommen und das Weib habe gerufen: ,, Schau,
da gehen sechs Teufel im viereggeten Paretlein; wann der
siebent auch da war, so war eben die Zahl der Dieb recht
ganz , man sollts all an den lichten Galgen hinaus henken ;
ja sie hat vielmalen den Unsern viel tausend Teufel ge-
wünscht .... Und was bat's ausgebrüet? Ein abscheuliches
erschröckliches Kind, das todt aus der Mutter Leib kommen.
Dies hätt weder Nasen noch Zungen noch Hand noch Füss
eines Menschens, hätt nur das link Aug, seine Ohren sein
gekrümbts Maul sahen einer Katzen gleich. Der ander Leib
und ausgewachsen Fleisch war gleichförmig einem viereggeten
jesuiterischen Paretlein. Und was soll ich viel davon schreiben ?
Es ist diese Zeitung zu Paderborn hell und klar. Die Weiber,
so zugegen waren, haben sich entsetzet und mit grossem
Schrecken zum Kind gesagt: ,,Sieh, hast du Timpen als ein
Jesuwiter." Der Vater, da er das Kind angesehen, ist er
dermassen ertattert, dass er zur Erden niedergesunken". —
Entweder hat nun Sander sich in den Jahren geirrt und war
schon 1586 Student in Paderborn, was aber zu seinen
übrigen Angaben durchaus nicht stimmt, oder er hatte die
ganze Geschichte selbst nur vom blossem Hörensagen, während
er sie erzählt, als wäre er fast dabei gewesen.
Sitzung vom 7. November 1874.
Philosophisch-philologische Classe.
Herr Christ trug vor:
„ Di e Topographie der troian ischen Ebene
und die homerische Frage".
(Mit einem Kärtchen.)
Zum Gegenstand meines Vortrages habe ich ein Thema
gewählt, das in den letzten Jahren vielfach besprochen wurde
und den Beweis lieferte, dass trotz entgegengesetzter Tages-
strömungen das wahrhaft Schöne ewig jung bleibt und die
Herzen der Menschen mit immer neuer Zauberkraft anzieht.
Es war der Name Homer, der einst Petrarca mjt schwär-
merischem Sehnen erfüllte, so dass er das von einem Freunde
in Constantinopel ihm übersandte Exemplar der Ilias und
Odyssee in frohem Entzücken umarmte und küsste, und es
war die Erinnerung an die Jugendlectüre und an die hehren
Gestalten der homerischen Poesie, welche in unseren Tagen
die Seele eines Kaufmanns mit glühendem Enthusiasmus
schwellte, so dass er Jahre lang mit unsäglicher Mühe und
mit enormen Kosten den Boden von Hissarlik durchwühlte,
um die Stätte der heiligen Ilios und den Kampfplatz der
homerischen Helden wieder aufzudecken. Und nicht vor
186 Sitzung der philos-~phitol. Classe vom 7. November 1874.
einer theilnamslosen Welt machte Schlieinann, der mecklen-
burgische Kaufmann, seine riesigen Ausgrabungen; mit neu-
gierigem Eifer wurden die Berichte Schliemanns in der All-
gemeinen Zeitung gelesen, und gleich als ob es einer grossen
Staatsaction gelte, trug der elektrische Draht nach allen
Himmelsgegenden die Kunde von dem entdeckten Schatze
des Priamus. Aber so gewalfig auch das Aufsehen war,
welches die Berichte Schliemanns hervorriefen , so theilte
doch keineswegs das lesende Publikum die gleiche Glaubens-
seligkeit wie der enthusiastische Entdecker. Gleich von vorn-
herein schüttelten viele, welche sich aus Homer selbst und
der einschlägigen gelehrten Literatur1) eine bestimmte Mein-
ung über die Lage Ilions gebildet hatten, ungläubig den
Kopf, bemitleideten wohl auch den unglücklichen Schwärmer,
der seine Kräfte und sein Geld an ein im Voraus verurtheiltes
Unternehmen setze. Anfangs schien auch die unbedeutende
Ausbeute, welche die ersten Einschnitte in den Jahren 1870
bis 72 ergaben, das gehegte Misstrauen zu rechtfertigen;
später aber, als im Jahre 1873 der Glücksstern des Ent-
deckers wuchs und etwa 10 Meter unter der Erdoberfläche
die Mauern einer grossen Stadt und ein reicher Schatz von
goldenen und silbernen Geräthen zu Tage kam, da begann
das Misstrauen zu weichen, freilich nur, um bei dem Er-
scheinen Aes grossen Werkes, welches Schliemann über seine
Ausgrabungen veröffentlichte*), von neuem aufzuleben. Man
vermisste in dem Atlas planmässige Anordnung und zweck-
mässige Auswahl, in dem Texte Umsicht und Sicherheit der
Beweisführung ; am meisten Anstoss aber erregte der mytho-
logische Mysticismus, durch den sich Schliemann den Blick
für nüchterne, unbefangene Beobachtung trüben Hess. Die
einfachsten Produkte der ersten Anfänge der handwerks-
mässigen Kunst wurden so in den Nimbus religiöser Vor-
stellungen gehüllt, so dass die rohen Umrisse der mensch-
lichen Figur für Bilde]- der eulenäugigen Athene, die zahlreichen
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 187
Wirtel für Votivstücke, die darauf eingeritzten Hackenkreuze
für die Reibhölzer des Agnis ausgegeben wurden, und dass
nicht blos Indien und der Veda, sondern selbst China her-
halten musste, um die auf einige Scherben eingeritzten,
hochinteressanten Buchstaben einer bis jetzt unentzifferten
Schriftgattung zu erklären. Ob dieser Albernheiten ist
die Kritik mit dem ganzen Werke streng ins Gericht ge-
gangen, vielleicht strenger als sich geziemte. Denn immerhin
hat Schliemann der Wissenschaft, der classischen Philologie 3)
sowohl als der Völkerkunde, einen ausserordentlichen Dienst
erwiesen, um dessentwillen man über die Schwächen seiner
dilettantischen Deutungsversuche billiger Massen ein Auge,
nur nicht alle zwei , zudrücken sollte. Ein geschulter
Archäologe und ein Mann der wissenschaftlichen Kritik ist
allerdings Schliemann nicht, aber er ist ein begeisterter
Verehrer des Hellenenthums, ein aufopferungsfähiger Enthu-
siast, und es stünde nicht gut um unsere Sache, wenn die
Alten nur in dem Kopfe geschulter Gelehrten, nicht auch
iu dem Herzen schwärmerischer Enthusiasten fortlebten.
Mich selbst hat vor allem die Cardinalfrage, von der Schlie-
mann ausgegangen war, interessirt, die Frage nach der Lage
der Priamusstadt. Meine frühere Ueberzeugung stund zwar
zu fest, als dass sie durch die neuen Entdeckungen in der
Hauptsache erschüttert worden wäre, aber immerhin musste
ich mir gestehen, dass durch Schliemanns glänzenden Nach-
weis einer alten Niederlassung auf dem Plateau von Hissarlik
ein neues Moment zur Entscheidung der Streitfrage hinzu-
gekommen sei und eine Revision der alten Untersuchungen
erheische. Ich nahm also meine früheren Aufzeichnungen
wieder zur Hand, las meinen Homer aber- und abermals
mit Rücksicht auf die Topographie der ilischen Ebene durch,
und will nun versuchen die Resultate meiner Forschungen
dem prüfenden Urtheil der Fachgenossen darzulegen.
Der Schauplatz der Iliade ist von dem Dichter selbst
[1874, II. Phil.hist. C1.2.] 13
188 Sitzung der phiios.-phitol. Classe vom 7. November 1874.
im Allgemeinen deutlich genug bezeichnet. Die Erwähnung
des Hellespont und des quellenreichen Ida, von dessen
höchstem Gipfel Zeus auf die Stadt und die Ebene Ilios
hinschaut, führt uns auf die Niederung, die sich am äusser-
sten Ende des Hellespont zwischen dem sigeischen und
rhöteischen Vorgebirg vier Stunden nach dem Binnenlande
zu ausdehnt. Die Ebene wird auf beiden Seiten von den
niedrigen Ausläufern des Idagebirges umsäumt, welche in
den genannten Vorgebirgon auslaufen. Mitten durch die
Ebene zieht sich vom gebirgigen Hintergrund bis ungefähr
1 Stunde zum Meeresstrand hin ein Höhenzug, durch den
der kleinere nordöstliche und der grössere südöstliche Theil
der Ebene von einander getrennt wird. Der bedeutendste,
einzig nennenswerthe Fluss der Ebene ist der Mendere
der auf dem wasserreichen Ida entspringt, in der Nähe des
Dorfes Bunarbaschi in seine untere Ebene eintritt und schliess-
lich, gegen den westlichen Höhenzug gewandt, unweit des
sigeischen Vorgebirges in den Hellespont sich ergiesst.
Strabo identificirt ihn mit dem Skamandros oder Xanthos
des Homer und wir müssen an dieser Gleichstellung um so
mehr festhalten, als der Fluss noch in der Zeit des Strabo,
also im Beginne unserer Aera, den homerischen Namen
Skamandros führte und selbst der heutige Name Mendere
allem Anschein nach aus dem alten 2xaf.iavÖQog verstümmelt
ist. Auch passen auf ihn, den Hauptstrom der Ebene, ein-
zig die homerischen Epitheta des tiefwirbelnden (divyeig),
breitströmenden (evQVQecov), zeusgeborenen (duTceryg, ov ä&a-
vazog reKSTO Zeig) Flusses, welche auf kein anderes Ge-
wässer der Ebene in gleich passender Weise gedeutet werden
können. Der nächst bedeutendste Fluss der Tiefebene ist
der Dumbrek, welcher die nördliche kleinere Ebene durch-
fliesst, sich nordwestlich von Hissarlik mit dem Kalifatli-
Asmak vereinigt und nahe dem Meeresstrand mit dem
Skamander ein Deltaland (oTOjuaXl/xvrj) bildet. Dieser jetzt
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 189
Duinbrek genannte Fluss heisst bei Strabo Sifxoug, und wir
haben keinen ausreichenden Grund zur Annahme, dass Homer
mit dem Namen Simois einen andern Fluss bezeichnet habe 4).
Auch der Stelle, wo die beiden Flüsse, Skamander und
Simois sich vereinigen, gedenkt einmal Homer (E 774).
Dorthin stellt Here, vom Olympos kommend, die schnauben-
den Rosse, bevor sie selbst mit Athene ins Kampfesgewühl
eilt, um ihren Lieblingen, den Achäern, beizustehen. Der
Ort muss daher im Rücken der kämpfenden Heere, und
zwar nahe am Meeresstrande in den genannten Lagunen,
nicht beim Zusammenfluss der Dumbrek und Kalifatli-Asmak
gesucht werden, wiewohl Strabo, wenn er ganz nahe vor
Neu-Ilion oder Hissarlik die Flüsse sich vereinigen lässt 5),
den letztern Punkt im Auge gehabt zu haben scheint. Die
beiden andern Gewässer der Ebene, der Kalifatli-Asmak und
der Bunarbaschi-Tschai, die in der Ebene ihren Ursprung
nehmen und sich zu beiden Seiten des Skamander dicht an
den ansteigenden Höhen hinschlengeln, werden weder von
Homer noch von dem Geographen Strabo erwähnt. Zu
verwundern ist dieses nicht, da die beiden Bäche nur kleine
Kinnsale bilden und gewissermassen mit zu dem Flussgebiet
des Skamander gehören. Ueberdiess lag der eine, der Bunar-
i>:ischi-Bach, wenigstens nach unserer Auffassung, abseits von
dem Schauplatze der homerischen Kämpfe, und konnte der
andere, der Kalifatli-Asmak 6), dessen Bett im Sommer fast
vollständig austrocknet , dem Vordrängen der Heere kein
erhebliches Hinderniss in den Weg legen. Wohl aber ge-
denkt Homer indirekt noch eines fünften Gewässers der
Ebene, des Thymbrios, indem er in der Doloneia (K 430)
bei der Beschreibung des trojanischen Lagers der Richtung
nach dem Meere die nach Thymbre 7) entgegensetzt. Danach
ist der Thymbrios mit dem heutigen Kimar-Su, einem Neben-
fluss des Mendere, zu identiüciren, eine Meinung, die schon
früher aufgestellt war, neuerdings aber auch in den von
13*
190 Sitzung der pliüos.-pliüol. Ölasse vom 7. November 1874.
Calvert an der Mündung des Kimar aufgefundenen Tempel-
inschriften8) des thymbrischen Apollo die gewünschte Be-
stätigung gefunden hat.
Diese Grundrisse der trojanischen Ebene müssen uns
zum Ausgangspunkt jeder weiteren Untersuchung dienen;
sie sind fest begründet in den natürlichen Verhältnissen der
Landschaft und in der übereinstimmenden Ueberlieferung des
Alterthums, sie sind gleichsam das Netz, in welches die
einzelnen Orte erst eingezeichnet werden müssen. Es ist
mir natürlich nicht unbekannt, dass schon im vorigen Jahr-
hundert der französische Reisende Lechevalier 9, und nach
ihm viele und namhafte Gelehrte10) die Sache auf den Kopf
gestellt, und den Mendere Simois, den Bunarbaschi-Bach
Skamander oder Xanthos, und den Dumbrek Thymbrios
genannt haben 1J). Aber diese Benennungen Verstössen gegen
die einstimmige Tradition des Alterthums 12) und entbehren
jeder Wahrscheinlichkeit. Denn die Bewohner von Neu-Ilion
konnten wohl, um den Ruhm ihrer Stadt zu erhöhen, diese
oder jene Eiche in der Umgebung der Stadt für die homerische
Eiche ausgeben, konnten wohl auch den alten, sagenum-
rauschten Heldengräbern der Ebene verschiedene Namen
beilegen, aber grosse Flüsse, die an vieler Städte Fluren
vorbeiflossen, konnten sie unmöglich umtaufen. Dazu kommt,
dass der heutige Name Mendere zu deutlich auf den alten
Flussnamen Skamandros zurückweist und das Andenken an
den homerischen Skamandros bewahrt hat. Es wagte dess-
halb auch Welcker 13) nicht die Identität von Mendere-
Skamandros anzuzweifeln, stürzte sich aber dadurch, dass
er den Bunarbaschi-Bach dem Simois gleichstellte, in neue
unentwirrbare Schwierigkeiten, die am besten sein eigener
Anhänger, Dr. Hasper 14), aufgedeckt hat. Unter solchen
Umständen halten wir mit Eckenbrecher 15), dem vorurteils-
losen scharfsinnigen Anwalt der Ansprüche der Neu-Ilienser,
um so entschiedener an den bezeichneten Grundrissen fest
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 191
und suchen nun in das oro-hydrographische Netz die Orte
und vor allem die Stadt Troja einzuzeichnen.
Da muss ich nun vor allem und gleich von vornherein
darauf hinweisen, dass das gesammte Alterthum Troja auf
dem mittleren Höhenzug rechts vom Skamander suchte. Dort
lagen die jüngeren Ansiedelungen des äolischen Ilion und der
KtofArj ^Iliecov, welche sich nach Strabo die Ehre, auf dem
Boden des alten Troja zu stehen, gegenseitig streitig machten,
dort auch in der Skamanderebene zeigte man das Grabmal
des Ilos, das Grab des Aisyetes , den Feigenbaum und die
andern durch die Iliade denkwürdig gewordenen Punkte,
dorthin endlich verlegten auch die alten Erklärer des Homer
die heilige Ilios 16). Diesen übereinstimmenden Ueberliefer-
ungen entgegen verlegte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
der französische Reisende Lechevalier Troja an das linke
Ufer des Skamander, in die Gegend oberhalb des heutigen
Dorfes Bunarbaschi. Bewogen wurde Lechevalier zu dieser
kühnen Neuerung fast einzig durch die zahlreichen Quellen,
welche bei jenem Dorfe aus dem Boden sprudeln und dem
Dorfe selbst den Namen Bunarbaschi d. i. Quellenhaupt
gegeben haben. In diesen Quellen erkannte er das alte
Wahrzeichen der Stadt, die beiden schonfliessenden Brunnen,
die Quellen des Skamander, an denen dereinst die schönen
Trojanerinnen ihre prangenden Kleider wuschen. Den Worten
des Reisenden lauschten um so vertrauensvoller die Ge-
lehrten Europa's, als er noch hinzufügte, dass sich die alten
Waschgruben noch erhalten hätten, und dass die eine der
Quellen ihn mit kühlendem Wasser gelabt habe, während
die andere im Winter heiss sei und einen dichten Rauch
entsende, ganz wie Homer (X 149 ff.) die beiden Quellen
schildere. Mit den Quellen brachte sodann schon Lechevalier
die Ruinen in Verbindung, welche sich eine halbe Stunde
oberhalb des Dorfes auf dem Balidag, einer felsigen, jäh
gegen das Skamanderthal abfallenden Höhe, befinden und in
192 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. November 1874.
neuester Zeit von dem inzwischen verstorbenen Consul G.
v. Hahn 17) auf das genaueste gemessen und verzeichnet
wurden. Diese Ruinen sollten die Stätte des zerstörten Troja
bezeichnen und der oberste 472 Par. Fuss hohe Hügel
Pergamus oder die Akropolis der Stadt gewesen sein.
Die Combinationen Lechevaliers, da sie an die denk-
würdigste Scene der Ilias anknüpften und der poetischen
Phantasie eine glänzende Perspective eröffneten, wurden mit
fast allgemeinem Beifall aufgenommen und haben bis in die
neueste Zeit an hervorragenden ortskundigen Männern, wie
Welcker, Forchhammer, Hahn, E. Curtius, B. Stark warme
Vertheidiger gefunden ; für uns haben sie von vornherein
nichts Ueberzeugendes, es widerstreiten ihnen die hydro-
graphischen Grundlagen unserer Karte, wesshalb auch alle
Anhänger derselben sich zur radikalen Umtaufe der Flüsse
der Ebene verstehen mussten. Die Schwierigkeiten, welche
damit für die Erklärungen der einzelnen Scenen der Iliade
erwachsen, sind auch durch den strategischen Plan im Werke
des Kreters Nikolaides, Topographie et plan strategique de
l'Iliade, nicht gehoben worden 18), fallen aber weniger ins
Gewicht gegenüber der Thatsache, dass auch die lokale
Natur der beiden Punkte, von denen Lechevalier ausge-
gangen ist, zur Schilderung Homers nicht stimmen will.
Was zuerst die kalte und warme Quelle bei Bunarbaschi
anbelangt, so hat schon Lechevalier selbst in der im Jahre
1802 erschienenen Ausgabe seiner Reise durch Troas 19)
bemerken müssen, dass seine Angaben über den Wärme-
unterschied der Quellen gegenüber den genauen Messungen
mit dem Thermometer sich nicht aufrecht erhalten lassen.
Es haben alle Quellen bei Bunarbaschi die gleiche Tem-
peratur und die Mähre, dass die eine der Quellen im Winter
dampfe, ist noch von keinem Reisenden bestätigt worden.
Liegt der Aussage der Bewohner des Dorfes überhaupt etwas
Wahres zu Grunde, so kann man nur mit Forchhammer
Christ: Tomographie der troianischen Ebene, 193
annehmen, dass der Unterschied des wärmern Wassers und
der kälteren Luft sich im Winter bei der grösseren Quelle,
welche einen bedeutenderen FJächenraum der Luft darbietet,
in höherem Grade bemerklich macht. Gab aber dieser
Umstand allein, wie es wirklich der Fall gewesen zu sein
scheint 20), dem Dichter zu jener wunderbaren Schilderung
der beiden Brunnen vor Troja Anlass, dann brauchen wir
die warme Quelle nicht bei Bunarbaschi zu suchen, sondern
können sie in jeder grösseren Quelle der Ebene wiederfinden.
Also der aus der Beschaffenheit der Quellen bei Bunarbaschi
entnommene Beweis Lechevaliers zerfällt in Nichts. Noch
schlimmer steht es mit den Ruinen auf dem Bali-dag ober-
halb des Dorfes Bunarbaschi. Homer lässt den Zeus von
dem Gipfel des Ida hinschauen auf Trojas Stadt und die
Schiffe der Achäer 21). Vom Bali-dag aber ist die Spitze
des Ida nicht sichtbar, da sie durch die dazwischenliegen-
den Vorberge verdeckt wird. Diese einfache Thatsache lässt
sich durch kein Raisonnement wegdisputiren, auch nicht durch
die Annahme, dass Homer mit der Stadt der Troer nicht
die Stadt, sondern das Gebiet der Troer gemeint habe.
Sodann lässt Homer dreimal den Achilles, den Hektor ver-
folgend, die Stadt umkreisen 22), die Höhe von Bali-dag
aber mit ihren schroffen Abhängen gegen das Skamanderthal
ist absolut unumlaufbar, und geradezu lächerlich ist die Weise,
mit der Hahn S. 29 seines Werkes das Unmögliche nun doch
noch halbwegs möglich machen will. Somit spricht die
ganze antike Ueberlieferung entschieden gegen Bunarbaschi,
und lösen die beiden einzigen, aus der lokalen Beschaffen-
heit entnommenen Gründe, wenn näher beim Licht besehen,
sich in eitlen Dunst auf. Wir werden daher diese Combi-
nation, die schon Eckenbrecher und Ulrichs sattsam wider-
legt haben, ganz entschieden aufgeben, und das alte Troja
nur diesseits oder rechts vom Mendere suchen.
An welcher Stelle nun auf dem rechts vom Mendere
194 Sitzung der philos.-philol. (Hasse vom 7. November 1874.
zwischen Skamander und Sirnois liegenden Höhenzug haben
wir die Veste des Priamus anzusetzen? Befragen wir auch
hier zuerst die Tradition, so verweist sie uns, insoweit sie
überhaupt aus nebelhafter Unbestimmtheit heraustritt 23),
auf zwei, l1/« Stunden von einander entfernte Punkte, auf
Hissarlik oder den äussersten westlichen Ausläufer des mitt-
leren Höhenzuges, auf dem die äolische Stadt Ilion gelegen
war, und auf das Dorf der Hier (Kwfzrj 'Ikiewv), das weiter
landeinwärts in der Nähe des heutigen Bauernhofes Juruk
gestanden zu haben scheint24). An die Namen der beiden
Orte knüpfte sich nämlich naturgemäss die Erinnerung an
die alte homerische Ilios, worüber wir nicht im Ungewissen
sein könnten, auch wenn uns nicht Strabo im 13. Buche
seiner Geographie auf Grund der Untersuchungen des Gram-
matikers Demetrios von Skepsis und der Alexandrinerin
Hestiaia von den Ansprüchen der beiden Orte berichtete.
Es war aber das äolische Ilion, von den Neueren auch Neu-
Ilion genannt, ungefähr zur selben Zeit, in der Pisistratus
in Athen die homerischen Lieder redigirte, unter der Herr-
schaft der Lydier 25) gegründet worden. Ob auch das Dorf
der Hier ein gleich hohes, oder gar ein noch höheres Alter
hatte, wissen wir nicht; wir ersehen nur aus Strabo, dass
dasselbe zur Zeit des Demetrios von Skepsis, also im An-
fange des 2. Jahrhunderts vor Christus, als eine alte Nieder-
lassung bekannt war. Mit der an Neu-Ilion geknüpften
Tradition harmonirte im Wesentlichen die Lage, welche nach
der von Strabo und Plinius aufgezeichneten Ueberlieferung
den Grabhügeln des Aisyetes und Ilos zugewiesen wurde.
Denn nach Strabo26) lag der erstere 5 Stadien von Neu-
Ilion entfernt bei der Strasse nach Alexandria Troas, und
nach Plinius27) zeigte man den mit Eichen bepflanzten
Grabhügel des Ilos gleichfalls in der Nähe des äolischen
Ilion. Mehr für das Dorf der Hier sprach die Lage des
Erineos oder Feigenwaldes, der sich nach Strabo 28) auf
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 195
rauhem Erdreich unterhalb des besagten Dorfes befand.
Ich erwähne alle diese Traditionen nicht als ob ich ihnen
eine uns bindende Kraft beimesse, wohl aber in dem Ge-
danken, dass, wenn uns die Schilderungen Homers auf einen
jener Punkte oder doch einen benachbarten Ort hinweisen,
dann unsere Schlüsse eine grössere Wahrscheinlichkeit, fast
möchte ich sagen, eine höhere Weihe erhalten.
Mehr Bedeutung aber als die im Munde des Volkes
fortgepflanzte, vielleicht nur aus der Namensgleichheit ent-
standene Tradition hat die durch die Ausgrabungen Schlie-
manns festgestellte Thatsache, dass auf dem Plateau von
Hissarlik eine alte mit Mauern und Thoren versehene
Stadt stund, von deren Reichthum der grossartige Gold-
und Silberschatz ein beredtes Zeugniss gibt. Nicht blos
eine alte, ehrwürdige Stadt stund demnach auf der vorge-
schobenen Höhe des mittleren Bergrückens, die Stadt war
auch so reich und mächtig, dass es nicht leicht eine zweite
gleich bedeutende Stadt in der troischen Ebene geben konnte,
dass sie also die Hauptstadt im Gebiete der Troer war.
In Anbetracht dieser Thatsache wird man daher die
Stellen des Homer, welche von der Veste des Priamus
handeln, wenn irgend möglich so erklären müssen, dass sie
auf die Trümmerstadt von Hissarlik bezogen werden können.
Nun passen auch in der That viele Stellen der Iliade vor-
trefflich auf jene Stätte, und sind einige so beschaffen, dass
sie nicht leicht auf einen andern Punkt der Ebene gedeutet
werden können. Zur ersten Kategorie zählen diejenigen
Stellen, wo Troja die steile (alrteivq), die hügelige (oqjqv öWffa),
die windige (ave^iOEOoa) Stadt genannt wird. Denn steil
fallen namentlich gegen Norden die Ränder des 100 Fuss
hohen Hügels gegen die Ebene ab, und wie dort oben im
Frühjahr eisigkalt der Wind von Thrakien her bläst, hat
uns Schliemann drastisch aus eigener Erfahrung geschildert.
Auch wenn Zeus von dem Gipfel des Ida auf die Stadt
196 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. November 1874.
der Troer hinschaut, so passt dieses gut auf Hissarlik, wo
der Beschauer gegen Süden das vielzackige Idagebirg in
seiner ganzen Ausdehnung vor sich liegen sieht. Aber diese
Epitheta und Beschreibungen passen wohl vortrefflich auf
Hissarlik, können aber auch auf andere Punkte des mittleren
Höhenzuges gedeutet werden. Bestimmter schon möchte
man auf Hissarlik, von dessen Höhe man den schönsten
Ueberblick auf die in der Ebene zwischen dem Skamander
und Simois sich entfaltenden Heere haben konnte, die ge-
feierte Episode der Teichoskopie verlegen. Denn weiter
nach dem inneren Theile der skamandrischen Ebene konnte
ja das eben erst vom Schiffslager aufgebrochene Heer der
Achäer noch nicht vorgedrungen sein , und von keinem
Punkte konnte Helena besser als von Hissarlik oder vom
Thurme am skäischen Thore dem greisen Priamus die
Heldengestalten der vor der Höhe gelagerten Achäer zeigen 29).
Kaum auch gibt es eine passendere Stelle als die Burg auf
Hissarlik, von der aus Apollo dem Kampfesgewühl zwischen
Skamander und Simois zuschauen konnte 30. Mit den be-
zeichneten Scenen steht dann weiter die geringe Entfernung
im Einklang, welche Homer an mehreren Stellen zwischen
der Stadt und dem Schiffslager statuirt. Gering dachte sich
der Dichter die Entfernung in dem 3. Gesang oder der
Teichoskopie, wie ich eben angedeutet habe; auf eine ge-
ringe Entfernung scheint auch das häufige Hin- und Her-
schwanken der Schlacht, namentlich am Nachmittag des
3. Schlachttages hinzuweisen, wo vier Mal die Achäer bis
zu den Mauern der Stadt vordringen und vier Mal zu den
Schiffen wieder zurückgeworfen werden. Und geben wir auch
gerne zu, dass erst durch eine spätere Redaction der alten
homerischen Gesänge die in der 11. bis 17. Rhapsodie er-
zählten Ereignisse gewisser Massen auf einander geschoben
wurden, so finden wir doch auch in dem einen 8. Gesang
eben erst die Troer in Gefahr wie Lämmer in die Stadt
Christ: Topographie der troianischcn Ebene. 197
eingepfercht zu werden (0 131), und gleich darauf wieder
(ß 213) so nahe bei den Schiffen, dass sie den Raum
zwischen Graben und Thurm des achäischen Schiffslagers
ausfüllen31), etwas, was doch jedenfalls die Vorstellung einer
äusserst kleinen Entfernung zwischen der Stadt und den Schiffen
voraussetzt. Am meisten aber wird, wie man oft hervorgehoben
hat, in der Erzählung am Schlüsse des 7. Gesanges die
Stadt Troja ganz nahe bei den Schiffen gelegen gedacht.
Dort geht am frühen Morgen (rjwöev H 381) der Herold
Idäos von der Stadt in's Schiffslager und verkündet dort
den versammelten Achäern seinen Auftrag; die weigern sich
auf die trotzige Rede des Diomedes hin das Anerbieten der
Troer anzunehmen , stimmen aber dem Vorschlage eines
Waffenstillstandes zur Bestattung der Todten bei; der Herold
geht zur Stadt zurück und meldet den noch versammelten
Troern und Dardanern die Antwort der Achäer; da brechen
Troer und Achäer auf, um die Leichen der gefallenen
Brüder vom Schlachtfeld zu holen und begegnen sich auf
der Walstatt, als gerade Helios die ersten Strahlen auf die
Fluren wirft. Das zeigt doch sonnenklar, dass sich der
Dichter Troja höchstens V* bis 3/* Stunde von den Schiffen
entfernt dachte, womit wir auf Hissarlik als Stätte der
Priamusstadt hingewiesen werden.
Und doch begegnen uns andere Stellenin der Ilias, wo sich
der Dichter ganz unmöglich sein Troja auf Hissarlik gelegen
denken konnte. Ich habe dabei weniger den dreimaligen Umlauf
der Stadt durch Hektor und Achilles, oder die warme und kalte
Skamanderqueile vor den Thoren der Stadt im Auge; denn
dem erster en Einwände könnte man durch Annahme einer
grösseren, den Umlauf ermöglichenden Ausdehnung der Stadt
begegnen 32), und die heisse Quelle neben der kalten kann
man mit Sicherheit auch in keinem andern Punkte der Ebene
nachweisen 33), so dass vorerst wenigstens aus dem Fehlen
derselben bei Hissarlik kein entscheidendes Moment gegen
198 Sitzung der philo s-ph Hol. Classe vom 7. November 1874.
Schliemanns Annahme abgeleitet werden kann. Aber es
gibt andere Stellen im Homer, die ganz offenbar gegen die
Gleichstellung von Alt- und Neu-Uion sprechen. Im zweiten
Buch (B 790 ff.) lässt der Dichter den Sohn des Priamus,
Polites, auf dem Grabhügel des Aisyetes sitzen, um die
Bewegungen im Lager der Achäer zu beobachten und auf
die Schnelligkeit der Füsse vertrauend den Aufbruch der
Feinde dem Priamus zu melden. Nun gibt es aber, wie
bereits Strabo hervorhob, in der ganzen Ebene kaum einen
Punkt, von dem aus man besser das Schiffslager der Achäer
und die davor sich ausdehnende Fläche überblicken konnte,
als gerade Hissarlik; was bedurfte es also eines Spähers auf
irgend einem andern Hügel, wenn die Burg auf der Stätte von
Hissarlik lag? Geradezu lächerlich aber ist es, wenn Schliemann
dagegen einwendet, dass man von Hissarlik in einer Ent-
fernung von 3/4 Stunden die einzelnen Leute nicht habe
unterscheiden können, und dass desshalb die Troer weiter
nach den Schiffen zu, in dem heutigen Dorfe Kum-koi einen
Späher hätten auslugen lassen. Denn Priamus wollte ja
keine Physiognomien studieren, er wollte nur rechtzeitig den
Aufbruch der feindlichen Heersäulen erfahren, und dazu
bedurfte es keines schnellfüssigen Spähers, wenn Troja an
der Stelle des heutigen Hissarlik lag. Der Dichter jener
ohne allen inneren Grund verdächtigten Verse des zweiten
Gesangs muss sich also Troja auf einem weiter nach innen
gelegenen Hügel gedacht haben, von dem der Ausblick nach
den Schiffen durch die vorliegenden Höhen abgeschnitten war.
Eine zweite Angabe Homers, die uns Troja auf Hissarlik
zu verlegen hindert, betrifft die im Eingange des 21. Ge-
sanges geschilderten Kämpfe an der Furt des Skamander.
Achilles jagt erst mit unwiderstehlicher Kraft die Troer
durch die weite Ebene von den Schiffen bis zur Furt des
Skamander; als sie dann zur Furt gekommen waren, trennt
Achilles die fliehenden Feinde, und scheucht die einen zur
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 199
Ebene nach der Stadt bin, während er die anderen in die
Strudel des Flusses drängt. Nun nehme man die Karte zur
Hand, und man wird sehen, dass Sinn und Verstand in die
Schilderung nur kommt, wenn wir uns die Stadt nicht auf
Hissarlik, sondern an einem inneren Punkte der von dem
vorgeschobensten Theile des mittleren Höhenzuges nach
Südost sich erstreckenden Ebene gelegen denken.
Zu den beiden besprochenen Stellen gesellt sich nun
noch ein anderer bedeutsamer Umstand. Gegenüber nämlich
den oben betrachteten Scenen der Iliade, in denen Troja in
nächster Nähe vom Hellespont und dem Schiffslager gedacht
ist, heisst es an anderen Stelleu, dass die Stadt fern von
den Schiffen liege. So redet Poseidon in dem Schiffskampf
N 105 ff. vorwurfsvoll die Achäer also an:
wg Tocoeg rö tvqlv ye (.livog Kai xelqag ?A%aiu)v
(.d^ivuv ovx e&eXeoxov Ivavriov, ovo' rjßaiov
vvv de sxäg ftolwg xolfojg erti vrpai ua%ovtai,
und sagt am Vorabend des 4. Schlachttages, 2 256, Polydamas
zu den Trojanern
exäg (T cltco Tei%eog el^v,
wiewohl sich dieselben damals bereits von dem Graben und
der Schiffsmauer auf die ansteigende Ebene zurückgezogen
hatten 34). Mit dieser Anschauung von einer bedeutenden
Entfernung der Stadt stimmt auch die Odyssee, indem da-
selbst J 496 Odysseus, als er mit andern Gefährten in dem
Röhricht vor Troja im Hinterhalte lag, zu seinen Genossen
sagt:
Xlrjv yäo vrjwv exäg r^X&ofxev
und mehr als V3 der Nacht vergehen lässt, ehe Thoas den
Weg von der Stadt zu den Schiffen und von dort zurück
zur Stadt zurücklegt. Diese letztere Bestimmung ist besonders
wichtig, da sie uns nicht mehr erlaubt, den Zwiespalt in
den Entfernungsangaben damit auszugleichen, dass wir die
200 Sitzung der philos.-philol Classe vom 7. November 1874.
Bedeutung des Adverbiums mag durch Gegenüberstellung
ganz geringer Distanzen abschwächen.
Unwillkürlich werden wir aber auch zur Annahme einer
grössern Entfernung geführt, wenn wir uns dem Eindruck
hingeben, welchen die Schilderung der Kämpfe im 20. bis
22. Buche in uns hervorbringt. Am Morgen erhebt sich
Achilles mit ungestümer, ungeschwächter Krafc, die jeden
Widerstand wie einen Strohhalm niederwirft, und trotzdem
vergeht der Tag, während er die Troer erst durch die untere
Ebene zwischen den beiden Flüssen Skamander und Simois,
und dann durch die obere Ebene des Skamander zu den
Mauern Ilions hintreibt. Wie ist dieses anders im 8. und
11. Gesang, wo in kurzer Tageszeit der Kampf zu wieder-
holten Malen von der Stadt zu den Schiffen und von den
Schiffen zur Stadt hin und her wogt?35) Auch beim Lesen
des letzten Gesangs der Iliade empfangen wir unwillkürlich
den Eindruck einer erheblichen Entfernung. Denn wenn es
heisst, dass den Priamus auf der Hinfahrt bei der Furt des
Skamander das Dunkel der Nacht ereilte, und dass die
Morgensonne ihre Strahlen über die Fluren warf, als der
König bei der Heimfahrt wieder zur Furt des Flusses ge-
langte, so denkt dabei jedermann an einen längeren Weg
von mindestens 2 bis 3 Stunden, nicht an eine Strecke von
40 Minuten. Doch hängt das Urtheil über diesen letzten
Gesang noch von der Klarstellung eines anderen Punktes
ab, der mit der Lage der Stadt in naher Beziehung steht.
Der Geograph Strabo nennt p. 595, von der Propontis
kommend, zuerst die beiden Vorgebirge Pofaeiov und Siyeiov,
und erwähnt dann, wohl als zwischenliegende Punkte, das
Schiffslager (vavGta&pov), den Hafen der Achäer (6 !A%aiwv
Xifi'qv), das Heerlager der Achäer (to liyavAOv GTQaxoTtsdov),
die sogenannte Stomalimne und die Mündung des Skamander.
An einer andern Stelle, p. 598, unterscheidet er noch be-
stimmter zwischen dem Hafen der Achäer, den er 12 Stadien
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 201
von Neu-IIion entfernt sein lässt, und dem Schiffslager, das
er bei Sigeion in der Nähe der Mündung des Skamander
20 Stadien von der Stadt ansetzt. Auch Plinius, V, 33,
lässt den Hafen der Achäer östlich von Sigeuin und der
Mündung des Skamander gelegen sein, an der Stelle, wo der
vereinigte Xanthus-Simois sich in das Meer ergiesst. Da-
nach dachten sich die Alten den Hafen der Achäer bei der
Mündung des heutigen In-Tepe-Asmak, und westlich davon,
aber doch noch, wie es scheint, auf dem rechten Ufer des
Skamander36), das Schiffslager. Homer selbst bringt an
5 Stellen (M 30. 0 233. 2 150. P 432. *F 2 vgl. H 86.
/ 360) die Schiffe derart mit dem Hellespont (vrjag xe xal
cEXlt]O7t6vT0v) in Verbindung, dass man das Standlager der
Schiffe am Hellespont und demnach nicht links sondern
rechts, oder doch rechts und links von der Skamander-
mündung suchen niuss. An einer andern Stelle, 3 36, lässt
er die Schiffe den ganzen weiten Küstenstrand zwischen den
beiden Vorgebirgen ausfüllen cywvog oxo^ia /.laxQov , ogov
t-vveeqya&ov axQai.3 Aber mit diesen grandiosen Vorstellungen
lassen sich die übrigen Stellen der Iliade schwer zusammen-
reimen37). Denn da die Entfernung der beiden Vorgebirge
über 1 Stunde beträgt 38), und die Schiffe nach 3 35 in
mehreren Reihen hintereinander aufgestellt waren, so be-
durfte es, um den ganzen Raum zu füllen, noch mehr als
der 1186 Schiffe des Schiffskataloges, der ohnehin die Grösse
des achäischen wie troischen Heeres in glänzenderem Lichte
wie die anderen Gesänge der Ilias erscheinen lässt. Und
wie hätte die Stimme des Agamemnon, dev in O 226 von
der Mitte des Lagers aus den Achäern zurief, nach den
beiden Enden dringen können, wenn dieselben über eine
Stunde weit entfernt gewesen wären. Aber damit man
mir nicht hier die Freiheit des Dichters, die Kraft der
Heroen ins Wunderbare auszumalen, entgegenhalte, so mache
ich auf zwei andere Stellen, O 489 f. (vgl. M 118)
202 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. November 1874.
Tqwcov ccvt' ayoQrjv 7tonqoaxo g)aldi^og "Ekvwq
voag>c vewv dyaywv TCo%a^ £7tl divrfevTi
und 0 560
roooa [AeGrjyv vewv ijde Bavd-oto qocccov
aufmerksam, welche doch offenbar voraussetzen, dass das
Schiffslager nicht bis zu den Ufern des Xanthos-Skamander
gereicht habe.
Aber auf welcher der beiden Seiten des Flusses
dachte sich alsdann der Dichter das Schiffslager der
Achäer? Sicher in allen Kampfesscenen auf der rechten
Seite; denn in der Ebene zwischen Simois und Skamander
lässt der Dichter die Troer und Achäer zusammenstossen
und sich abwechselnd bis zu den Schiffen und bis zur Stadt
verfolgen39), ohne je auch nur mit einem Worte des Fluss-
übergangs über den strudelnden Skamander zu gedenken 40).
Freilich ist auch des Uebergangs über den Simois oder den
heutigen Kalifatli-Asmak nicht gedacht, wiewohl die Troer
denselben überschreiten mussten, bevor sie zu der Schiffs-
mauer gelangen konnten. Aber den kleinen, fast wasser-
losen Bach durfte der Dichter unberücksichtigt lassen, nicht
so den breiten strudelnden Skamander, der den andrängen-
den Feinden einen starken Damm entgegensetzen konnte.
Hingegen lässt uns nun aber die Schilderung im 24. Gesang
das Lager der Achäer auf der linken Seite des Skamander
vermuthen. Priamus kommt dort, nachdem er von der
Stadt in die Ebene hinabgestiegen war, an dem Grabhügel
des Ilos vorbei zum Fluss (Q 359), und gelangt ebenso
wieder bei seiner Rückkehr vom Lager zur Furt des Xanthus
(ß 692). Diese Situation ist schlechterdings sinnlos, wenn
wir uns Troja auf Hissarlik und das Schiffslager auf der
rechten Seite des Skamander denken. Aber auch wenn wir
Troja weiter nach innen in den östlichen Winkel der
Skamanderebene verlegen, müssen wir immer noch den
Priamus einen Umweg machen lassen, damit er den Fluss
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 203
nur berühren konnte. Dann aber legt der Dichter, wenn
er jemand zur Furt eines Flusses gelangen lässt, jedem den
Gedanken nahe, dass jener auch den Fluss überschritten
habe. Homer sagt dieses zwar, worauf sich Eckenbrecher
steift, nirgends mit ausdrücklichen Worten, aber jedermann
denkt daran, auch wenn er es nicht ausgesprochen liest.
Aus all diesen Verlegenheiten kommen wir heraus, wenn
wir annehmen, der Dichter habe das Lager der Achäer und
speciell das Zelt des Achilles sich auf der linken Seite des
Skamander gedacht. Dann musste Priamus auf dem Hin-
und Herweg zu dem Flusse gelangen und denselben auch
überschreiten.
Noch an zwei andern Stellen vereinfacht sich scheinbar
die Situation, wenn wir das Schiffslager bei Sigeon auf dem
linken Skamanderufer ansetzen. Wenn es nämlich 5*433ff. von
den Pferden des Hektor, die den an den Schiffen verwun-
deten Helden zur Stadt zurückbringen, heisst
08 tov ye tcqotI clgtv opegov ßccgea Gxevayovxa'
akV dte ör] jtoqov l^ov ivQQelog 7toxa\ioio
Buv&ov divyevTog, ov ädavctTog tzketo Zevg,
ev&cc fxiv et; %7i7ttov rtelaoav yfiovi
so muss man auch hier glauben , dass Hektor auf dem
Weg von den Schiffen zur Stadt den Xanthos passiren
musste; denn der Wagenlenker wird doch kaum vom
direkten und kürzeren Weg zum Flusse abgebogen haben,
um dort den in Ohnmacht gesunkenen Helden mit Wasser
zu netzen. Auffällig bleibt dann nur, dass beim Vormarsch
der Troer gegen das Lager der Schwierigkeiten des Fluss-
übergangs gar nicht gedacht ist; wesshalb man es vorziehen
möchte, unter dem Fluss den leichter passirbaren Simois zu
verstehen und entweder den Vers £av&ov divrjevvogj ov a&avarog
rhiBTO Zeig für eine späte ungeschickte Interpolation zu
erklären 40) oder eine Identificirung des Xanthos mit dem
[1874, II. Phil. hist. Cl. 2.] 14
204 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. November 1874.
Simois oder dem Kalifatli-Asmak anzunehmen. Auch in der
HctXQQYlda lassen sich die Verse II 394—8
ndTQOxXog d' eitel ovv Ttqwtag ErfexegGe (fdXayyag,
a\p 67il vrjag eeqye Tcakiiircexeg ovöe 7ioh]og
ila Ufxevovg S7tißalv£(.i£v, alXd (xeorjyvg
vrjtov xal TtOTajxov xal rei%eog viprjlolo
KTelve iiBTaCööcov, nolecov (T ajtexLvvTO tvolviqv
am leichtesten erklären, wenn man den Fluss zwischen den
Schiffen und der Stadt fliessen lässt ; das erreicht man aber,
wenn man entweder unter dem Fluss nicht den Skamander,
sondern den Simois versteht41), oder das Schiffslager auf
der linken Seite des Skamander ansetzt. Aber der ganze
Gedanke, dass Patroklus die Troer zu den Schiffen wieder
zurücktreibt, um sie zwischen den Schiffen, dem Fluss und
der Stadt zu morden, zeugt von einer so unklaren Vorstell-
ung, dass es gerathener ist, dem Dichter jener Verse eine
genaue Kenntniss der Localität abzusprechen, wenn man nicht
den ganzen Vers vrjwv xal 7toxa\iov %al Tei%eog vxprjXoto mit
Köchly streichen und \ieoY\yv im absoluten Sinn, wie in
^/573, fassen will. Endlich könnte man sich leicht verleiten
lassen, auch die Worte des Achilles in Ö> 130 f.
ovo1 vfiiv TCOTafAog rteq evqqoog dqyvqodlvrjg
dqxEGei, ([) örl dy&ä Ttoleag Uqevsra zavqovg
auf einen Fluss zu deuten, der zwischen dem Schiffslager
und der Stadt fliesst. Aber diese Deutung wäre schlechter-
dings zu verwerfen, da dort unter dem Fluss nur der
Skamander gemeint sein kann, und Achilles nach unserer
Auseinandersetzung in Anm. 39 von dem Schiffslager auf
der rechten Seite des Skamander zu der Furt des Flusses
gekommen war42).
Wenn so also auch die drei letzten Stellen nicht für die
Lage der Schiffe bei dem sigeischen Vorgebirg verwerthet
werden können, so bleiben doch noch Widersprüche und
Unklarheiten genug bezüglich der Ausdehnung und der Stätte
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 205
des Schiffslagers bestehen. So kommen wir denn von allen
Seiten ins Gedränge : ein Mal soll Troja so nahe den Schiffen
liegen, dass der Herold zwischen Tagesdämmerung und Sonnen-
aufgang seine Botschaft hin- und zurücktragen kann; ein
ander Mal ist die Entfernung so weit gedacht, dass der
Wagenlenker auf dem Wege zu den Schiffen von dem ein-
brechenden Dunkel ereilt wird; ein Mal gelangen die Achäer
in einem Sturmlauf ohne zwischenliegende Hindernisse zu
den skäischen Thoren, ein ander Mal kommen sie erst an dem
Grabhügel des Ilos und der Furt des Skam ander vorbei;
ein Mal dehnt sich das Schiffslager über den ganzen Meeres-
strand zwischen den beiden Vorgebirgen aus, ein ander Mal
bleibt Sigeon und das Flussufer des Skamander weit zur
Seite liegen. Wie uns aus diesen Widersprüchen und Schwierig-
keiten heraushelfen?
Ein Weg bestünde darin, anzunehmen, dass der Dichter
der Iliade selbst keine klare Vorstellung von der troischen
Ebene gehabt habe und sein Troja das Kind einer frei
schaffenden Phantasie, ein halbes Wolkenkukuksheim gewesen
sei 43). Zur Stütze dieser Auffassung könnte man anführen,
dass auch andere Seiten in der Schilderung der Kämpfe vor
Ilion mit der Wirklichkeit wenig harmoniren, dass insbe-
sondere der Uebergang über den Simois beim Vorrücken
gegen die Schiffsmauer unerwähnt geblieben und ausser den
beiden Hauptflüssen der Ebene die kleineren Bäche gar nicht
berücksichtigt seien. Aber das sind nur untergeordnete
Dinge, welche sich mit einer nebelhaft verschwommenen
Zeichnung des lokalen Mittelpunktes der ganzen Erzählung
nicht auf eine Linie stellen lassen. Auf der anderen Seite
erwäge man, mit welcher Naturwahrheit Homer andere
Landschaften Griechenlands geschildert hat, und wie seit dem
vorigen Jahrhundert die Berichte der gelehrten Reisenden
in Griechenland und im Orient immer mehr die Erzählung
vom blinden Homer in das Bereich der grundlosen Fabeln
14*
206 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. November 1874.
verwiesen haben. Hat es da irgend eine Wahrscheinlichkeit,
dass derselbe Dichter bei der troischen Ebene, in deren
Nähe er seine Lieder sang, die gewiss viele seiner Zuhörer
aus eigener Anschauung kannten, die er aller Wahrschein-
lichkeit nach selbst durchwandert hatte 44) , so ganz den
Pfad der Naturtreue verlassen habe? Sollte der Dichter
namentlich über die Lage der Stadt, um die sich der ganze
Kampf drehte, so im Unklaren gewesen sein, dass er sie
bald nahe am Meeresstrand, bald weit nach innen gelegen
dachte? Nein, nimmermehr. Der Mangel an Naturwahr-
heit und die Menge der Widersprüche in der Schilderung
von Ithaka, auf die unlängst Bursian (Zarnke's Centralblatt
1874 no. 10 vgl. Hercher im Hermes I, 263 ff.) verwies, darf
kaum damit in Vergleich gebracht werden. Denn einmal
spielt die Lokalität von Ithaka durchaus nicht eine gleich
wichtige Rolle in der Odyssee wie die Lage von Troja in
der Ilias, sodann lag Ithaka im äussersten Westen, wohin
damals kaum ein und der andere der jonischen Seefahrer
gekommen war, Troja in unmittelbarer Nähe, so dass von
vielen Zuhörern die Richtigkeit der Schilderung controlirt
werden konnte. Auch darf man nicht übersehen, dass, wenn
wir die Lage Trojas bei Seite lassen, die übrigen auf die
trojanischen Ebene bezüglichen Schilderungen, wie von der
Rundschau auf dem Gipfel des Ida, von dem Quellenreich-
thum des Idagebirges, von der Ueberschwemmung der Ebene
durch ihre beiden Hauptflüsse, bis aufs Haar mit der Wirk-
lichkeit übereinstimmen, und dass namentlich in der Achilleis
die Anführung benachbarter Punkte, wie KaXlixoXwvt] (F53.
151), Tel%ogcHQccxlrjog (IT 145), JaQÖavlrj (F216), Tlrjdaoog
(Y 92. 191), den ortskundigen Sänger sattsam verrathen.
Insbesondere aber kann uns die Erzählung von der Zerstör-
ung des Schiffslagers zeigen, wie sorgfältig, ja ängstlich der
Dichter den Vorwurf naturwidriger Schilderung bei der
trojanischen Ebene vermieden hat. Die Vernichtung der
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 207
zum Schutz der Schiffe erbauten Mauer sollte erst geraume
Zeit später nach dem Abzug der Achäer durch Apollo und
Poseidon erfolgen ; nichtsdestoweniger wird sie zwei Mal
(H 459—63 und M 1-34) bei der Erzählung der Kämpfe
vor Troja ausführlich berührt. Warum dieses? offenbar,
um dem ungläubigen Kopfschütteln derer zu begegnen, welche
zu ihrer Zeit nichts mehr von dem Schiffslager und der
Mauer am Hellespont bemerkten 45). Wenn also Homer so
peinlich genau in einem untergeordneten Punkte war, so
dürfen wir gewiss annehmen, dass er sich in einer Haupt-
sache, in der Lage Ilions, von seinen Zuhörern genauestens
controlirt dachte. Eine gewisse Freiheit hatte sich freilich
Homer immerhin dadurch gewahrt, dass er auch die StadtTroja
von Grund aus zerstört werden Hess, aber trotzdem musste
er doch stets einen ganz bestimmten Punkt der Ebene im
Auge haben, wo er sein Troja gedacht wissen wollte.
Mit der Annahme eines nebelhaften, in verschwommenen
Conturen gezeichneten Phantasiebildes der troischen Ebene
und der Stadt Troja kommen wir also nicht aus. Ein
ungenügender Nothbehelf auch ist es, wenn Eckenbrecher,
um die Gegensätze auszugleichen , der Stadt einen unge-
heueren, den vorderen (Hissarlik) und hinteren (Pascha-Tepe)
Ausläufer des mittleren Höhenzuges umfassenden Umfang
gibt. Wir müssen uns daher nach einem radikaleren Hilfs-
mittel, nach einem andern Weg der Erklärung umsehen.
Dieser Weg liegt aber gebahnt und geebnet vor uns, seitdem
das Genie F. A. Wolfs uns die Fackel zu einem richtigeren
Verständniss der Ilias vorangetragen und an die Stelle des
einen Homer mehrere homerische Sänger gesetzt hat.
Denn was unerklärlich war, wenn wir von einem Dichter
der Ilias ausgingen, das löst sich auf einfachste Weise, wenn
wir die verschiedene Schilderung der Lage Ilions auf ver-
schiedene Sänger zurückfuhren. Die alte Sage im Munde
des Volkes erzählte wohl nur im Unbestimmten von einer
208 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7, November 1874.
grossen reichen Stadt dort üben auf dem mittleren Höhen-
zug, die in grauer Vorzeit von einem Volke, das von der
See aus in jene Gegenden vordrang, vernichtet worden sei;
grossartige, den Platz genau bezeichnende Ruinen scheint es
zur Blüthezeit der epischen Poesie nicht mehr gegeben zu
haben, oder der Ruinen waren in der fruchtbaren, von mehr
als einem Völkersturm durchbrausten Gegend so viele, dass
die Sage unstet von einem Platz zum andern wandern musste.
In der Hauptsache war es daher erst des Dichters Phantasie,
welche die Veste des Priamus schuf, sie an eine bestimmte
Stelle bannte, sie mit Thürmen und Thoren 46) ausrüstete.
Da aber mehrere Sänger zugleich oder bald nacheinander
sich des beliebten Sagenkreises bemächtigten, was war da
natürlicher, als dass der eine Sänger hier bei verwitterten
Mauerresten, der andere dort oben auf weitumschauendem
Hügel, ein dritter dort unten am quellenreichen Abhang sich
sein Troja dachte? Noch manche andere Umstände, wie
die verschiedene Vorstellung von der Grösse der sich be-
kämpfenden Heere und den Erfordernissen einer langjährigen
Belagerung mochten in der Phantasie der Dichter verschiedene
Bilder von der Lage und Grösse der Stadt wie des SchirTs-
lagers hervorrufen. Leicht möglich ist es auch, dass die
öftere Zerstörung der Hauptstadt des troischen Gebietes zu
einer Verwirrung in den Anschauungen über die Lage der
Stadt beitrug; zweimal, erzählte die Sage, war Troja zer-
stört worden ; schon vor den achäischen Ansiedlern scheinen
die Phönizier um den Besitz jener Gegend gerungen zu
haben47); wie leicht war es da möglich, dass sich bei
wiederholter Invasion der Kampf um verschiedene Punkte
concentrirte, dass die ältere Sage den Streitpunkt näher der
Küste, die jüngere weiter nach innen verlegte? Welche
bestimmende Momente man aber auch aufstellen wolle, das
eine bleibt unter allen Umständen bestehen, dass sich die
abweichenden Angaben über die Lage Tiojas in den ver-
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 209
schiedenen Theilen der Ilias am einfachsten durch die An-
nahme verschiedener Sänger erklären lassen. Wohl ist der
Glaube an die glänzende Hypothese Wolfs in neuester Zeit
wieder ins Wanken gekommen, da hochgeachtete Männer,
wie Madvig, Lehrs und Bergk als Vertheidiger der Einheit
Homers aufgetreten sind, vielleicht aber darf ich hoffen,
dass diese von Wolf und seinen nächsten Anhängern bei
Seite geschobene Untersuchung über die Lage der Stadt
wieder ein merkliches Gewicht in die entgegengesetzte Wag-
schale werfen wird.
Schliesslich wäre es nun noch meine Aufgabe, im Ein-
zelnen darzuthun, welche Vorstellungen von der Lage Ilions
in den einzelnen Theilen der Iliade herrschen. Ich habe
diese Untersuchung sorgfältig geführt und zu diesem beson-
deren Zweck wiederholt die Ilias durchgelesen ; aber es ist
schwer, eine scharfe Scheidung bis ins Einzelnste durchzu-
führen, zumal in vielen Gesängen, wie in der Mrjvig, der lAyoqa,
der Tlgsoßela, der c0^illa c'ExTOQog xal l4vÖQ0f.iaxrjg1 die Lage
der Stadt ganz ausser Betracht blieb, und in andern durch
Zudichtungen und Interpolationen das ursprüngliche Bild
getrübt wurde. Die Hauptunterschiede jedoch, die sich mit
einiger Sicherheit verfolgen lassen, will ich in Kürze hier
zusammenzustellen versuchen.
Die Sänger der Achilleis, des ersten grösseren, mehrere
Rhapsodien umfassenden Epos, dehnten dem grossen Umfang
ihres Heldengesanges entsprechend auch den Schauplatz der
Kämpfe weiter aus; sie verlegten demgemäss Troja weiter
nach innen auf einen nordwestlich der Quellen des heutigen
Kalifatli-Asmak gelegenen Hügel 48), so dass der Kampf sich
aus der nördlichen, zwischen Simois und Skamander ausge-
breiteten Ebene in die engere südöstliche, von dem Skamander
und dem mittleren Höhenzug begränzte Ebene hinziehen und
zu mannigfachen Schilderungen Raum geben konnte. Auch
die Dichter mehrerer anderer Gesänge, welche nicht blos in
210 Sitzung der phüos.-philol. Gasse vom 7. November 1874.
einem geistigen Zusammenhang mit der Achilleis stunden, son-
dern auch geradezu zu dem Zwecke, um mit einer Achilleis
zu einem Cyclus von Liedern verbunden zu werden, gedichtet
wurden, folgten im Wesentlichen der gleichen Anschauung; ih
beziehe mich dabei namentlich auf die Hervorhebung der weiten
Entfernung der Stadt in N 107 und 2 256, sowie auf die
grosse Ausdehnung des Lagers in der JoXcovelct. Nur der
Dichter der Bouovlcc, der dem Kampfe noch grössere, ge-
waltigere Dimensionen geben wollte, scheint Troja noch
weiter nach Osten, etwa auf die Stelle der späteren 'ihttov
ytcofir] zurückgeschoben zu haben. Denn sein rings umlauf-
barer Hügel der Batieia, wo er die Troer sich aufstellen
lässt (JB 811 ff.) , ist wahrscheinlich identisch mit dem
heutigen Chanai-Tepe im innersten Winkel der Skamander-
ebene. Dem entgegen finden sich nun in den Liedern
von kleinerem Umfang, die ursprünglich eine selbständigere
Stellung hatten und erst später mit den um die Achilleis
gruppirten Gesängen zu einem grösseren Ganzen, der Ilias,
vereinigt wurden, noch Spuren einer andern Anschauung
von der L?ge Ilions, welche uns auf einen vorderen Punkt
des mittleren Höhenzuges und speciell auf Hissarlik hinführten.
Ich denke dabei hauptsächlich an die Mauerschau und den
Zweikampf des Paris und Menelaos im 3. Gesang, sowie
an die Schilderungen des ersten Schlachttages im 5. Gesang.
Auch der 8. Gesang49), die !Aya(,ie{xvovog ägiozela und die
IlaTQOxlelcc setzen einen kleinen Kampfplatz und damit
eine geringe Entfernung der Stadt vom Schiflslager' vor-
aus50), was insofern auffällig ist, als die drei genannten
Rhapsodien in engster Beziehung zur Achilleis stehen und
von dem Dichter gewisser Massen dazu bestimmt waren,
die Vorhalle der Lieder von Achilles und Hektor zu bilden
Endlich scheint man auch in der jüngsten Zeit des epischen
Gesanges, welche vielleicht der Gründung von Neu-Ilion
nicht ferne stund, zur Annahme geneigt zu haben, dass
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 211
Ilion auf Hissarlik gelegen gewesen sei. Ich schliesse
dieses aus der Darstellung am Schlüsse des 7. Gesanges;
denn in diesem Gesang, der nach der übereinstimmenden
Meinung aller Kenner zu den jüngsten und schwächsten
SchössÜDgen am Baume der epischen Muse der Griechen
gehört, und nur gedichtet ist, um die Fugen zwischen den
Theilen der Ilias nothdürftig zu verkitten, geht der Aöde,
wenn der talentlose Versificator noch diesen ruhmvollen
Namen verdient, von der Ansicht aus, dass das Schiffslager
ganz nahe bei der Stadt gelegen gewesen sei.
Noch leichter konnten sich die epischen Dichter bezüg-
lich der Lage und Ausdehnung des Schiffslagers verschiedene
Anschauungen bilden. Im Allgemeinen lebte im Volksmunde
die Sage, dass das Schiffslager sich am Hellespont zwischen
den grossen Grabhügeln am sigeischen und rhöteischen Vor-
gebirge befand. Mauern und Gräben, welche dem Lager
innerhalb jener weiten Grenzen einen bestimmten Platz an-
gewiesen hätten, waren nicht da, und so hatte die Phantasie
der Dichter einen grossen Spielraum. Die meisten Sänger
dachten sich die Schiffe in der Nähe des Hafens der Achäer
beim rhöteischen Vorgebirge, andere gefielen sich in der
Anschauung eines weiten, über das ganze Gestade ausge-
dehnten Raumes, andere endlich, und darunter namentlich
der Verfasser der Avtqo. aE"/.Toqog verlegten das Lager an
das sandige Meeresufer bei Sigeum links vom Skamander.
Auch bezüglich der Flüsse der Ebene und ihres Ver-
hältnisses zu den Kampfesscenen finden wir nicht in allen
Theilen vder Ilias die gleiche Vorstellung. Am meisten der
Wirklichkeit entspricht die Schilderung in dem 21. Gesang
der Ilias; wenn dort Achilles einen Theil der fliehenden
Troer in den Skamander drängt und dieser dann gewaltig
anschwillt und seinen Bruder Simois zu Hilfe ruft, um durch
Ueberschwemmung der Ebene dem grausen Wiithen des
Peliden Einhalt zu thun, so passt dieses alles gut zu dem
212 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 7. November 1874.
Verlaufe des Kampfes und zu den Naturerscheinungen der
Ebene. Mit der lokalen Beschaffenheit lässt es sich auch
gut vereinbaren, wenn es in dem 6. Gesang (Z 4) heisst,
dass der Kampf in der Ebene zwischen dem Simois und den
Fluthen desXanthos gewüthet habe, und wenn in dem 5. (£36)
und 11. {A 499) Gesang der Dichter den Skamander im
Westen des Schlachtfeldes fliessen lässt. Hingegen wider-
sprechen sich die Dichter, wenn sie ein Mal (ff 329) um
den schönfliessenden Skamander die Leichen der Achäer,
und ein ander Mal (M 22, vgl. dazu die Scholien) um den
Simois die Schilde und Helme der Gefallenen liegen lassen.
In noch nebelhafteren Umrissen schwebte den Sängern an-
derer Lieder der Ilias das hydrographische Netz der Ebene
vor, indem sie nur von der nicht auf Autopsie, sondern auf
blossem Hörensagen beruhenden Anschauung ausgingen, dass
zwischen dem Lager der Achäer und der Veste des Priamus
irgend ein Fluss geflossen sei (s. S. 203 f.).
Nachdem nun aber gegen Ende der Blüthezeit des
epischen Gesangs die verschiedenen Gesänge, welche zum
grössten Theil schon mit Bezug auf einander gedichtet waren,
zu einem grossen geschlossenen Ganzen zusammengefasst
wurden, da gab man sich nicht mehr die Mühe, die einzelnen
Unebenheiten durch weitgehende Umdichtung auszugleichen51).
Man vertraute zu sehr der poetischen Kraft der unver-
gleichlichen Dichtungen, als dass man befürchtet hä!te, es
könnten jene Verstösse und Unebenheiten kritische Bedenken
hervorrufen und den reinen Genuss des Hörens oder Lesens
der Gesänge stören. Erst unserem grübelnden Zeitalter
war es vorbehalten, den ganzen Umfang jener disharmoni-
renden Züge aufzudecken, ihm aber auch der Ruhm be"
schieden, den Grund der Unebenheiten zu erkennen und
dadurch zum Verständniss der Entstehung dieser unsterb-
lichen Schöpfungen des hellenischen Genius zu gelangen.
Christ: Topographie der troianischen Ebene., 213
Anmerkungen.
1) Genaue Nachriebt von den bis zum Jahr 1844 erschienenen
Schriften über die Lage Ilions gibt Welcker in dem 2. Band seiner
kleineren Schriften p. XXIX — XXXIII. Die bedeutendsten neueren
Werke sind gelegentlich iu diesem Aufsatze angeführt; man vergleiche
überdiess Schliemann, Trojan. Alterth. XLI sqq. und Hasper, über
die Lage des alten Ilion, in den Verhandlungen der 28. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner. 1873, S. 46 — 52.
2) Trojanische Alterthümer, Bericht über die Ausgrabungen in
Troja von Dr. H. Schliemann, Leipzig 1874, zugleich mit einem
218 photographische Tafeln umfassenden Atlas trojanischer Alter-
thümer.
3) Jedenfalls wird die homerische Archäologie von den auf
troischem Boden ausgegrabenen Alterthümern sorgfältig Notiz nehmen
müssen. Denn sind wir auch zu ungläubig, um an einen Schatz
des Priamus zu glauben, so stehen doch die von Schliemann gefun-
denen Geräthe von Thon und Metall der Zeit und der Heimath des
Homer näher als alle ähnlichen Funde anf dem Boden Griechenlands
und Etruriens. Ich bekenne mich daher unbedenklich zu der Mein-
ung, dass das Vertag ccfxcpixvni'kloy und die xakavxa, des Homer in
dem Schatze des Priamus entdeckt wurden, und dass die nC&oi die
ovoctcc Sinceog, die orj/ucaa ByyeyQtcfXfxsva (II. Z 168, H 175) durch die
Ausgrabungen Schliemann's eine neue Beleuchtung gefunden haben.
Bei dem Streit über die Gestalt und die Theile des homerischen
Helmes ist es sehr zu bedauern, dass die auf dem Thurm bei mensch-
lichen Gerippen gefundenen Helme (n. 2682 u. 2791) nur in zer-
trümmertem Zustand erhalten sind.
4) Man hat in dem Namen Dumbrek einen Anklang an den
alten ®v(xß(Jiog erkennen wollen, aber der Thymbrios floss, wie wir
gleich zeigen werden, weiter oberhalb in den Skamander, und die
Darstellung des Strabo lässt keinen Zweifel darüber zu, dass zu seiner
Zeit der heutige Dumbrek Simois hiess; auch findet der Name Dum-
brek creissender Fluss' aus dem Türkiseben seine genügende Erklär-
ung. Ganz und gar ohne Belang sind die vagen Gründe, welche
neuerdings Nikolaides in dem oberflächlichen Buche, Topographie
de l'Iliade, p. 72 fF., für die Gleichstellung Iipoug — Kamera geltend
gemacht hat.
5) Die betreffende Stelle bei Strabo (XIII p. 597) lautet: o" ts
norccfiol o te IxctfiavdQog xcci 6 Zipotig, 6 piv rw Ziyeito nXrjaiaoccg,
2 14 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. November 1874.
6 6k t(ü cPoitei(o, (xuqop £(A7Zqog$£v rov vvv ^Vkiov avfJ-ßäXXovaty,
Wahrscheinlich rührt diese Notiz von einem Beobachter her, der die
zur Zeit der Ueberschwemmung gefüllten Winterbette des Skamander
im Auge hatte; denn in jener Zeit vereinigt sich in der That nahe
vor Hissarlik ein Theil der Wasser des Skamander mit dem Siraois.
Ein förmliches Zusammenfliessen des Mendere und Dumbrek findet
heut zu Tage nicht mehr statt; ob es zur Zeit des Homer stattge-
funden habe, lässt sich nicht mit Zuversicht behaupten, aber immer-
hin konnten die Lagunen der axoiiaki^vri als die gemeinsame Münd-
ung der beiden Flüsse betrachtet werden.
6) Bei Homer werden dem einen Hauptfluss zwei Namen, Ska-
mandros und Xanthos, beigelegt, und man könnte nun leicht auf
den Einfall kommen, dass die Doppelbenennung auf die Confundirung
zweier Gewässer, des eigentlichen Skamander und seines Nebenbaches
Kalifatli-Asmak, zurückzuführen sei. In der That unterscheidet in
diesem Sinne Plinius V, 33 cScamander amnis navigabilis et
in promontorio quondam Sigeum oppidum, deinde
portus Achaeorum, in quem influit Xanthus Simoenti
iunctus stagnumque prius faciens Pala escaman der*
zwischen dem Skamander und Paläskamander und dachte sich viel-
leicht auch Philostratos (Imagg. I, 10) bei der Erklärung eines Bildes,
in dem der Xanthos zwischen dem Heere der Myrmidonen und
Myeier floss, unter dem Xanthos nicht den Mendere, sondern den
Kalifatli-Asmak bei dem heutigen Dorfe Kum-kioi (siehe indess unten
Anm. -IG). Im Homer selbst würde sich für die berühmte Stelle von
den beiden Quellen des Skamander vor den Thoren Trojas (X148f.)
eine sehr hübsche Erklärung aufstellen lassen, wenn wir daselbst den
Namen Skamandros als die specielle Benennung des Kalifatli-Asmak
deuten dürften. Aber ich wage nicht eine solche Hypothese auf-
zustellen, da es nicht blos Y 74 "ausdrücklich heisst
E&v&ov xcchiovGi &toit ävögeg &s ZxäfiavÖQov
sondern auch der Skamandros so gut wie der Xanthos der strudel-
reiche genannt wird, was nur auf den einen Hauptfluss, den Mendere,
zu passen scheint. Noch weniger eigne ich mir die Hypothese Schlie-
manns an, dass in der Zeit des Homer der Skamander ein anderes
Flussbett gehabt habe und näher an den östlichen Hügeln der troja-
nischen Ebene vorbeigeflossen sei. Seit der Einnahme Trojas sind
allerdings drei Jahrtausende verflossen, aber selbst drei Jahrtausende
bedeuten wenig in der Geologie, welche nach Aeonen rechnet. Sicher
wissen wir aus Strabo, dass schon um die Zeit Christi Geburt sich
der Skamander beim sigeischen Vorgebirg ins Meer ergossen hat.
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 215
Das Programm Büchners, worin nach Hasper (Philologenvers, in
Leipzig 1873, S. 47) drei Flüsse des Namens Skamander angenommen
sind, ist mir nicht zu Gesicht gekommen.
7) Es heisst bei Homer K 430 nur
tzqos Ovfiß^rjg <5' ekctyrov Avxioi x. t. 2.
was ich ausdrücklich hervorhebe, weil Lechevalier, Voyage de la
Troade II, 65 und, wie es scheint, schon Demetrius von Skepsis bei
Strabo XIII p. 598 C die Sache so auffassten, als ob die Lykier in
der Ebene von Thymbre selbst ihr Lager aufgeschlagen hätten.
8) Ich entnehme die Notiz Schliemann, Trojanische Alterthümer
S. 15; eine genaue Mittheilung der Inschriften habe ich leider nicht
aufstöbern können.
9) Lechevalier besuchte Troja im Jahre 1787; ich benutze die
Originalausgabe Voyage de la Troade 1802, in 3 Bänden, und die
Uebersetzung von Dalzel-Heyne, 1792, letztere namentlich wegen der
Anmerkungen von Heyne.
10) Unter ihnen nenne ich besonders Forchhammers Beschreib-
ung der Ebene von Troja, 1850. Der Abhandlung ist bekanntlich
eine vorzügliche Karte der Ebene von Troja beigegeben, welche ich
durchgängig meinen geographischen Angaben zu Grunde lege.
11) Nikolaides, Topographie de l'Iliade, 1867, weicht insofern
von Lechevalier ab, als er zwar den Mendere mit dem Skamander
den Kamara aber mit dem Simois identificirt.
12) Nur das eine Zeugniss des Plinius V, 33 Troadis primus
locus Hamaxitus, dein Cebrenia ipsaque Troas Anti-
gonia dicta, nunc Alexandria, colonia Romana. oppi-
dum Nee, Scamander navigabilis et in promontorio
quondam Sigeum oppidum. dein portus Achaeorum, in
quem influit Xanthus Simoenti iunctus* scheint der Gleich-
stellung Bunarbaschi-Bach == Skamander günstig zu sein, da in dem-
selben das sigeische Vorgebirg nach dem Skamander genannt ist.
Aber auch das ist nur Schein. Schiffbar konnte doch offenbar nur
der Hauptfluss der Landschaft, der heutige Mendere, genannt werden.
13) Welcker, Ueber die Lage des homerischen Ilion, im 2. Bande
seiner Kleinen Schriften.
14) Hasper, Beiträge zur Topographie der homerischen Ilias
1867, Programm der Ritterakademie zu Brandenburg a. H.
15) G. v. Eckenbrecher, Ueber die Lage des homerischen Ilion,
im Rhein. Mus. N. F. Bd. II, 1843. Diese Abhandlung ist während
des Druckes vorliegender Abhandlung in revidirter Auflage als eigenes
Buch bei Buddeus in Düsseldorf erschienen. Aufgefallen ist mir von
216 Sitzung der pMos-philöl. Classe vom 7. November 1874.
vornherein, dass der geehrte Verfasser auch jetzt noch davon aus-
geht, dass Strabo den Höhenzug der troischen Ebene mit der Gestalt
eines Ypsilon statt eines Sigma verglichen habe.
16) Das Hauptzeugniss über die Meinung der alexandrinischen
Kritiker ist in dem Scholion zu II. B 467 enthalten: 6 ZxdpccvSgog
xaTcccpeQO{J,£vog ano zrjg "iSyg fiFGov TFftv&i ro vnoxtipsvov xr\ 'IXiw
izeSlov xai etil rcc kqktzeqcc ixdidüHuv eis dälaaaav. Troja lag dem-
nach nach der Ansicht der Alexandriner auf dem rechten Ufer des
Skamander.
17) J. G. v. Hahn, die "Ausgrabungen auf der homerischen Per-
gamos, mit 4 lithographirten Tafeln. Leipzig 1865. Ich bemerke
dabei gelegentlich, dass Schliemann und Eckenbrecher Unrecht thun,
wenn sie so sprechen, als habe jemand in Bunarbaschi selbst, und
nicht auf der Höhe oberhalb jenes Dorfes die Stadt Troja gesucht.
18) Ich gehe auf diesen Punkt, der eine weitläufige Auseinander-
setzung nöthig machte, gar nicht ein, da die Bali-Uion Theorie
genugsam durch andere, am besten von Eckenbrecher hervorgehobene
Gründe verurtheilt wird. Für Bali-dag als Stätte des alten Troja
spricht eigentlich nur die eine Stelle in der Odyssee # 508, wo es
heisst, die Troer hätten geschwankt, ob sie das hölzerne Pferd auf
die Felsen hinabwerfen sollten, rj xarä nexQuwv ßaKeeiu EQvaavteg
in'' axgrjg. Denn solche Felsen, wie sie im zerklüfteten Skamander-
thal am Fusse des Bali-dag sich finden, kann man nicht leicht
sonst wo in der troischen Ebene nachweisen. Aber gewaltige Fels-
massen setzen die Worte des Dichters gar nicht voraus, und bis zu
dem Grad dürfen wir auch die Freiheit des Dichters nicht einengen,
dass wir ihn selbst in einer so untergeordneten Aeusserlichkeit streng
an die lokale Natur des Ortes gebunden erachten. Ausserdem darf
aber auch noch bezweifelt werden, ob der Dichter der Odyssee eine
so genaue Kenntniss der troischen Ebene wie die Sänger der Ilias
hatte.
19) Lechevalier Voyage de la Troade IT, 196 gibt die Unter-
suchungen der Herrn Clarke und Crips an, welche am 4 März 1801
durch genaue Messungen constatirten, dass alle Quellen die gleiche
Wärme von 161/* Grad Celsius hatten, während die umgebende Luft
87a Grad Wärme zeigte. Im Wesentlichen das gleiche Resultat haben
die Untersuchungen jüngerer Reisender ergeben. Vergleiche Ulrichs
Reisen II, 272.
20) Schon Strabo XIII p. 602 C gönnte keine 'warmen Quellen
in der Landschaft finden, meinte aber, um die Glaubwürdigkeit des
Dichters zu retten, dieselben seien inzwischen ausgegangen. B. Stark
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 217
in seinen Reisestudien, Nach dem griechischen Orient, S. 147, be-
richtet, dass weiter südlich im Gebirg noch heute ein heisser Strahl
Wasser dem Felsen entsteigt. Ueber eine angebliche warme Quelle,
welche Calvert bei seiner Baustelle Trojas am Fusse der Höhe ober-
halb des Djudan gefunden haben will, siehe unten Anm. 33. An
und für sich hat es für mich nichts befremdendes, wenn Homer ein
einfaches Naturphänomen ins Wunderbare ausgemalt hat. Denn das
Gebiet des Wunderbaren und selbst des Märchenhaften dürfen wir
nun einmal selbst aus der griechischen Poesie nicht auschliessen.
21) Die Hauptstelle steht © 51 f.:
ccvrog (sc. Zfv?) <$' & xoQvcprjffc zaS-s^ero Xv6si ycciiov,
siöoQoiüv Tq(6(ov re noXiv Xttl yrjccg ^A/a«av
und, damit man darin nicht etwa eine besondere Anschauung des
Sängers des 8. Gesanges erblicke, so mache ich darauf aufmerksam,
dass derselbe Gedanke auch noch A 183 ff. und Si, 291 wiederkehrt.
22) Der Vers
äs t(o zqIs JlqidfJLoio noliv mQidwti&rjtrjv (X 165)
kann bei einfacher Deutung nur auf ein vollständiges Herumlaufen
um die Stadt bezogen werden ; gegen diese einfach natürliche Erklär-
ung muss namentlich bei einem Dichter, wie Homer, jede künstliche
Deutelei zurücktreten. Der römische Dichter Virgil mag immerhin,
wie man aus der Nachahmung der homerischen Stelle in derAeneide
XII, 746 ff. schliesst, nur an ein Hin- und Herlaufen vor der Stadt
gedacht haben; aber diese Auffassung des Virgil ist für uns von
keiner entscheidenden Bedeutung; und wenn man nach der Auffass-
ung von Nachahmern fragt, so verweise ich auf eine ältere Nach-
ahmung des fraglichen Verses im letzten Gesang der Ilias & 16
tglg <T SQvaas nsQi a^ua MevoiriuScco d-uvoviog
ccvtcg ivl xXioiy rtccvEOXfto,
wo doch gewiss nur an eine förmliche Umkreisung des Grabhügels
gedacht ist.
23) Ganz unbestimmt lassen die Lage Trojas der Tragiker
Aeschylus (Agam. 525) und der Redner Lykurg (or. in Leocratem
§ 62, angeführt von Strabo XIII p. 601), wenn sie die alte Stadt
gänzlich zerstört und nicht wieder aufgebaut sein lassen. Im gleichen
Sinne sagt auch Lucan IX, 967 von Cäsar
circuit exustae nomen memorabile Troiae
magnaque Phoebei quaerit vestigia muri,
iam silvae steriles et putres robore trunci,
218 Sitzung der pJiüos.-philol. Classe vom 7. November 1874.
Assaraci pressere domos et templa deorum,
iam lassa radice tenent ac tota teguntur
Pergama dumetis, etiam periere ruinae.
24) Zur Bestimmung der Lage des Ilierdorfes muss man
von der Angabe Strabos p. 597 C ausgehen, wonach jenes Dorf
30 Stadien von Neu-Ilion, 10 von KallcKoKiavri entfernt war und die
Entfernung von Neu-Ilion und KccXfaxolwvr) 40 Stadien betrug; ausser-
dem muss man noch in Betracht ziehen, dass nach Strabo das Dorf
der Hier fern vom Thale des Simois nahe den Flüssen Skamander
und Thymbrios lag. Danach kann weder Forchhammer noch Ulrich
gebilligt werden, von denen der erstere das Dorf der Hier genau auf
der von Hissarlik nach Kallikolone oder Kara-Jur-Tepe gezogenen
Linie und damit zu nahe dem Thale des Simois gelegen sein lässt,
der andere aber das Dorf bei Atsche-kioi mehr als 40 Stadien von
Kara-Jur-Tepe entfernt ansetzt. Ganz und gar verfehlt ist die An-
sicht Starks (Nach dem griechischen Orient S. 166), der ohne jede
Beachtung der alten Zeugnisse das Dorf und den Gau der Hier in
der Nähe von Bunarbaschi liegen lässt. Halten wir uns an Strabo,
der uns hier allein zum Ausgangspunkt dienen muss, so lag das
fragliche Dorf auf einem der drei umlaufbaren Hügel in der Nähe
des heutigen Juruk oder Ali-Bey-Konaki. Genau den Ort zu be-
stimmen, wird ohnehin schwer sein ; am wenigsten kann ich ohne
erneute Durchforschung des Terrains eine Entscheidung zu treffen
wagen.
25) Strabo p. 601 C sagt von dem äolischen Ilion nur: ini xcor
AvStov rj vvv sxtCg&t] xarouict xai xo Uqov. Da man dabei zunächst
an Gyges dachte (s. Strabo p. 590 C), so setzte man gewöhnlich die
Gründung von Neu-Ilion auf das Jahr 700 an. Bursian aber hat in
seiner Recension des Schliemannischen Werkes (Lit. Centralbl 1874
n. 10) durch den Hinweis auf eine andere Stelle des Strabo p. 593 C
cxal ciXkoi 6s lotoQovai nXeiovg n&xaßtß'krpiEvai xonovg rrjv noXiv,
vaxctxa (5' ivxccvdu avfifxelvat xaxd KQotaov [xccliaxa es wahrscheinlich
gemacht, dass die neue Stadt mehr wie 100 Jahre später unter Krösus
gegründet worden sei.
26) Nach Strabo XI I p. 599 lag das Grab des Aisyetes 5 Sta-
dien von Neu-Ilion bei dem Wege nach Alexandrien und war unge-
fähr gleich weit vom Meere entfernt wie Neu-Ilion. Mithin kann
dasselbe nicht mit dem südlich von Hissarlik gelegenen Pascha-Tepe
identificirt werden, sondern muss sich in der Nähe des heutigen
Dorfes Kalifatli befunden haben. Ob diese Meinung des Strabo und
seiner Gewährsleute richtig war, ist eine andere Frage. Nach der
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 219
von uns weiter unten gegebenen Darlegung des Sachverhaltes scheint
das homerische Grab des Aisyetes eher in der Nähe von Hissarlik
gestanden zu haben. Denn von dort konnte man am besten den
Aufbruch der Achäer beobachten und nach der rückwärts gelegenen
Stadt melden. Zu beachten ist auch, dass bei den Kämpfen in der
Ebene nie des Grabes des Aisyetes gedacht wird.
27) Der Grabhügel des Ilos mit der Säule lag nach Homer
mitten in der Ebene (A 166) auf dem Weg von Ilion zur Furt des
Skamander (£i 341) ; seine geringe Entfernung von Neu-llion bezeugt
Plinius XVI, 238: iuxta urbem Iliensium quere us in Ili
tumulo tunc satae dieuntur, cum coepit Ilium vocari.
Heutzutage ist derselbe verschwunden, vielleicht befand er sich
ehemals an der Stelle des heutigen Dorfes Kalifatli.
Ueber den Grabhügel der Batieia oder Myrine, der nach Homer
B 811 vor der Stadt in der Ebene lag und bei dem sich die Schaaren
der Troer bei ihrem ersten Auszuge aufstellten, gibt leider Strabo
gar keine nähere Bestimmungen ; gern möchte ich denselben mit dem
Pascha-Tepe identificiren, wenn mich nicht die Worte cV ns6iio
e&KcvctS® (Z? 812) abhielten; eher kann man desshalb an den umlauf-
baren Hügel Chanai-Tepe denken, der mir nur etwas zu weit nach
innen zu liegen scheint. Dabei will ich auch gelegentlich noch
darauf hinweisen, wie wenig die angezogenen Worte des zweiten
Gesanges zur Darstellung in dem 20. Buche (Y 216) stimmen, wo es
heisst : xrivae 6s JccQ&avitiv, inii ov nio "lfoog lyrj eV rteSia) nsno'kioxo.
28) Strabo p. 598 C. 6 EQivsog, TQ«xvg ng tonog xccl eQivecoörjg
tat [Jikv ciQxuiip xxiafiaxi vnoninxoyxsv. Das stimmt freilich nicht
gut mit einer andern Stelle p. 597 C, wonach der Erineos so gut
wie die Grabhügel des Aisyetes und Ilos in der Ebene gezeigt wurden.
Mit der ersten Angabe des Strabo aber lässt sich am besten die
Schilderung des Homer selbst in $ 37 ff. vereinigen.
29) Verschweigen darf ich jedoch nicht, dass diesem und theil-
weise auch dem folgenden Beweis die Spitze abgebrochen wird, wenn
man sich zu den Extremen der Liedertheorie bekennt. Denn bildete
die Teichoskopie ursprünglich ein ganz für sich bestehendes Lied,
so konnte eben der Dichter einfach voraussetzen, dass die Heere vor
der Stadt gelagert waren, ohne sich um die Lage der Stadt und
die Grösse des zuvor zurückgelegten Weges irgendwie zu kümmern.
30) Ich denke dabei an die Stelle A 507
ps{ii(TT](i£ <$' AnoXkuv
JIeQyd/j.ov exxcaiSajy, Tgtoeaat 6h x,cxteTy ävactg
[1874, II. Phil. hist. Cl. 2.] 15
220 Sitzung der philos.-philol Classe vom 7. November 1874.
und vergleiche damit E 460 und H 21. Zu beachten ist aber noch,
dass die Pergamos in der Achilleis und den zunächst um dieselbe
gruppirten Gesängen gar nicht erwähnt ist, sondern nur in dem
jungen letzten Gesang (i2 700) und in den alten Liedern der spe-
cialen Iliade {ä 508, £446, 460, Z 512, H 21) vorkommt. Dachte sich
Homer die Burg Pergamos auf Hissarlik, dann musste er die Wohn-
ungen der Stadt sich über den Hügel hinaus nach Südosten aus-
dehnen lassen. Auch dem Herodot, der VII, 43 den Xerxes auf das
Pergamon des Priamus, nicht auf Ilion hinaufsteigen lässt, scheint
man Pergamon als einen gesonderten Punkt in der Nähe der äolischen
Colonie Ilion und des Athenatempels gezeigt zu haben.
31) Ganz ähnlich bewegt sich die Schlacht zwischen der Stadt
und den Schiffsmauern in A 170—311 hin und her; nur tritt dort
das Auffällige noch hinzu, dass kurz danach in V. 371 der Kampf
wieder nahe bei Troja um den Grabhügel des Ilos wüthet. Neben
dem 8. und 11. Gesang geht auch die HaxQoxleiec von ganz gleicher
Anschauung aus.
32) Der Nordrand von Hissarlik fällt allerdings so steil ab, dass
auf denselben Hektor und Achilles unmöglich hinauflaufen konnten,
wesshalb auch Demetrius bei Strabo XIII p. 599 geradezu sagt: ovo1
rf xov "ExroQog nsQtö^o^ tj ti&qi xr\v noXiv e%fi xi evhoyof ov yag
iaxi ne()id()0{iog y vvv diä xrjy ovv£%ij ^dc/iv. Aber denkt man sich
die Stelle, wo die Helden hinaufliefen, weiter nach Osten gerückt,
so bietet die Oertlichkeit keine unübersteiglichen Hindernisse mehr,
wenigstens behauptet Eckenbrecher (Rh. Mus. II, 41), dass er den
ganzen Theil der Hügelkette, welcher von dem Meridian Tschiblak's
westlich liegt, ohne die geringste Schwierigkeit auf verschiedenen
Wegen umritten habe. Freilich macht Eckenbrecher von der An-
nahme einer grösseren Ausdehnung der Stadt einen viel zu grossen
Gebrauch, namentlich wenn er die aus der Stellung des Spähers
Polites sich ergebenden Bedenken damit zu beseitigen sucht, dass er
nicht blos das homerische, sondern auch das äolische Ilion fast
10 Stadien von Hissarlik weiter landeinwärts auf die Höhe süd-süd-
westlich von dem türkischen Dorfe Tschiblak rückt.
33) Bereits oben in Anm. 20 habe ich angedeutet, dass auch
die heisse Quelle, die Calvert an dem Fusse des Hügels oberhalb
des Djudan entdeckt haben wollte, keine Bestätigung gefunden hat.
Nichtsdestoweniger hat es grosse Wahrscheinlichkeit, dass in jener
Gegend und vielleicht geradezu in den Quellen der beiden Asmaks
des Kalifatli-Asmak und des Pascha-Tepe-Asmak, die zwei Brunnen
zu suchen sind, von denen Homer in den Versen
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 221
XQovvdj <$' 'ixavov xaXkiQQOü), evS-ct te rtrjycci
6occti ttvcctaoovGt Ixcc^ccvSqov 6ivfcvxog (X 148 f.)
redet. Denn wenn auch zur Noth der Genetiv Sxa(xuv6(jov von
(tpaiaaovat abhängig gemacht werden kann in dem Sinne, dass die
Quellen aus dem Skamander unterirdisch abfliessen, so liegt es doch
näher IxufxcipÖQov mit nr\yid zu verbinden. In diesem Falle möchte
man aber am ehesten an bedeutende bächefüllende Quellen, wie die
jener beiden Asraaks, denken. Nur muss ich dagegen bemerken,
dass die ganze Darstellung des 22. Gesanges uns auf einen nörd-
licheren, näher bei Hissarlik gelegenen Punkt, etwa auf die zwischen
dem Pascha-Tepe und dem Djudan gelegene Höhe hinweist, an
deren Fuss ich auf der Karte von Forchhammer zwei Brunnen ein-
getragen sehe. Jedenfalls wird man in dem Djudan selbst den
Sumpf wiedererkennen müssen, in welchem nach der Odyssee £ 474
Odysseus sich versteckte, als er einen Hinterhalt gegen Troja aus-
führte, und auf welchen auch Euripides im Rhesus v. 507 anspielt:
äti <$' iu l6%oig evyioxtTcu (sc. 'OSvaae i<g)
OvfxßQcdoy uficpl ßu)[idp aatecog nelccg duaotov.
Denn der Djudan liegt ja ganz nahe bei der Mündung des Kamara-
Su, des alten Thymbrios, in den Mendere.
34) Zuerst heisst es nämlich 2 243 f.
Tguieg <5' ai?#' frt-pio&ep cmd Xfjocreyrjg vo^iivrig
/(ü()ij(Tc<t>T£g k'lvaccv vcp^ «Qfxctaip toxiag tmiovg
und dann rüsten sich am Anbruch des folgenden Tages Y 3 die Troer
int &g(0(jjuä ne&ioio.
Jener &Q(oafj.6g neöiow wird ausserdem noch K 1G0 und A 56 als
Sammelplatz der Trojaner erwähnt; an erster Stelle setzt der Dichter
noch erläuternd hinzu «//< veuiv. Einen Grabhügel, wie man wohl
gethan, darf man sich unter jener Erhebung der Ebene sicher nicht
vorstellen; hätte einen solchen der Dichter andeuten wollen, so hätte
er nothwendig noch eine nähere Bestimmung hinzufügen müssen,
da es gewiss mehr wie einen Grabhügel in der Ebene gab; am
passendsten werden wir daher bei dem &(f<ti<rp6s nedioio an das Auf-
steigen der Ebene jenseits des Dumbrek-Su und Kalifatli-Asmak
denken.
Zur Stelle in N 107, wo es von den Troern heisst, dass sie fern
von der Stadt bei den Schiffen streiten, muss ich hier berichtigend
nachtragen, dass sich vielleicht trotzdem der Dichter jenes Gesangs
sein Troja auf Hissarlik dachte. Wenigstens passen auf diese Lage
zumeist die Verse N 12 ff., wo Poseidon von dem höchsten Gipfel
15*
222 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 7. November 1874.
Samothrakiens auf die Schiffe der Achäer und die Stadt desPriamus
hinschaut.
35) Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn
sich die Meinungen der Forscher über den für die Kämpfe derllias
nöthigen Raum schnurstracks gegenüberstehen. Während z. B. Ecken-
brecher einen Kampfplatz von 2 deutschen Meilen Länge für viel zu
gross hält, behauptet Welcker p. XXV das gerade Gegentheil davon,
fügt aber wohlweislich hinzu: cdoch hierüber müsste man ein Buch
schreiben und würde dadurch Manche doch nicht überzeugen.'
36) Zuversichtlich lässt sich über diesen Punkt nicht urth eilen;
an der ersten Stelle nennt freilich Strabo das Schiffslager und den
Hafen der Achäer vor der Mündung des Skamander, aber aus dem
Wortlaut der zweiten Stelle c i'ati yuq to vav'aTcc&fiov tzqos Ziytiu),
nlridiov 6e xcci o Ixa^iav^gog ixSidcoai, Sd^coy rov 'IXtov atadiovg
etxoaiv möchte man eher auf das umgekehrte Sachverhältniss schliessen.
Dazu kommt, dass, wie Ulrich, Reisen II, 303, sachkundig bemerkt,
der sandige Strand von Kum-kale bei Sigeum besser als die sumpfige
Niederung der Stomalimne zu einem längeren Aufenthalt geeignet
war. Auch zeigte man nach alter Ueberlieferung das Grab des
Achilles auf dem linken Ufer des Skamander nahe bei dem sigeischen
Vorgebirg; siehe Plinius V, 33 und Quintus Smyrnaeus VII, 402.
Endlich lassen sich auch die Worte des Homer {I 67) von den
Nereiden, welche sich in das Zelt des Achilles begeben
tat 6J ore de Tgoirjv igißwlov ixovxo
ay,xr\v slaav h ßctiv ov enca^eQüj
viel besser auf das steiler ansteigende Ufer bei dem Grabmal des
Achilles als auf das Dünenland östlich vom Skamander deuten.
37) Höchstens lassen sich die Worte
rctJV vvv cclfzcc xeXcciPoy ivQQoov ccfMfl Ixd^ictv^Qov
iaxeöaJ o£v\ "J^g (H 329)
auf eine gleichgrosse Ausdehnung des Lagers der Achäer deuten.
Damit steht jedoch im Widerspruch, dass die Schlacht sich nicht zu
beiden Seiten des Skamander, sondern in der Ebene zwischen Simois
und Skamander entwickelt hatte (s. Z 4), wesshalb wir, die Einheit
des Dichters der Gesänge E Z H vorausgesetzt, a^icpl Zx.c<(j,civöqoi>
richtiger in dem Sinne cin der Nähe beim Skamander fassen.
38) Strabo XIII p. 595 gibt die Entfernung der beiden Vor-
gebirge sogar auf 60 Stadien an; wahrscheinlich aber ist diese Zahl
verderbt; richtiger spricht Plinius V, 33 nur von 30 Stadien.
39) Dass sämmtliche Kämpfe der Ilias auf dem rechten Ufer
des Skamander stattfanden, ist unbestreitbar. Ausdrücklich bezeichnet
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 223
der Dichter in Z 4 die gemeinsame Ebene des Simois und Xanthos
als die Walstätte:
äXXrjXwv 1&vvo[ä£v<x)v /aXxtjQEcc Sovqci
{leaoriyvg ZifxoEvxog idk Edr&oio §oau)v.
In E 36 führt die Athene den anstürmenden Ares aus dem Schlacht-
getümmel zum strudelnden Skamander (vgl. E355), dehnt sich aber
die Schlacht selbst nicht in dem schmalen Räume zwischen dem
Fluss und der Höhe von Sigeum, sondern in der weiten Ebene
zwischen Skamander und Simois aus. Auch die berühmte Scene in
der Achilleis, wo der Flussgott Xanthos seinen Bruder Simois zu
Hilfe ruft (<J> 307 ff), um gemeinsam den Achilles zu bedrängen,
weist deutlich auf das rechte Ufer des Skamander hin. Ausdrücklich
endlich ist in A 498
ovSe 7Tio "Exzioq
■nev&ex'', etxel §a iid^g &n> (igtoxegd {iccqvuto ndaijg
o/Sag neig noxufxov 2xoc[tctyd(jov
die Ebene östlich vom Skamander als das Schlachtfeld bezeichnet.
Denn bei e'tz1 clgtoxegd fi<x/tjg wird man um so eher an die westliche,
oder links vom Hektor sich ausdehnende Seite der Schlacht denken
müssen, als die Griechen, welche bei der Vogelschau nach Norden
blickten, schlechthin unter der linken Seite die westliche verstunden;
vgl. Eckenbrecher, Rhein. Mus. II, 17. Bei Homer selbst heisst so
dieselbe Seite des Lagers in AT 326 vom Standpunkte der Achäer,
und in M 118, N 675 und 765 vom Standpunkt der Troer aus die
linke, d. i. westliche Seite.
40) Nicht ohne Bedeutung für diese Auffassung ist ein Bild,
das der jüngere Philostratus Imag. I 10 also beschreibt: noXig [ihr
avtt] *'IXcog ocpqvoiaocc xa,^c'0^ir\QOVy negid-ii de ccixrjy xel/og oiov xai
&Eovg /Lirj ctTiocg'iixiocci xifg kavxcljv /etpog, vttvoxa&fxov xe inl &kZ£q<x}
xui öitvog lEXXr\an6vxov didgpovg 'Aaiccv EvgcSntjg dieioytof, xovv [aeow
6k nediov notccfiio öiaigeirccc Bccvd-w, yiyganxac 6i ov (Aoq[Ivqu)v d(pQW
ov6' oiog £ni xov xov n^XEwg E7ilt]{xfA,vQ€v. Der Rhetor hielt demnach
zwar den Fluss für den Xanthos-Skamander; der Maler aber scheint
vielmehr an den Simois gedacht zu haben, von dem der Scholiast
zu Homer M 22 sagt 6id fiEaov xov nediov cpEqtxcci. Indess komme
ich hier nochmals auf die bereits oben S. 214 geäusserte Vermuth-
ung zurück, ob nicht zuweilen der Name Xanthos nicht dem Haupt-
fluss, dem heutigen Mendere, sondern seinem kleinen Nebenfluss,
dem heutigen Kalifatli-Asmak, gegeben worden sei.
41) Es liegt zwar nahe unter dem Fluss xaz' E'ioxnv den Haupt-
fluss der Ebene, den Skamander, zu verstehen, und derselbe ist auch
224 Sitzung der phüos.-philol Classe vom 7. November 1874.
sicherlich in B 861, 875, JT 669, 679, wahrscheinlich auch in 0 490
und 42 351 gemeint. Aber an unserer Stelle spricht der Zusammen-
hang mehr für den Simois oder den zum Flussgebiet des Skamander
gehörigen Bach Kalifatli-Asmak.
42) Man wird fragen, wie man alsdann den Sinn des Verses zu
fassen habe. Darauf ist nicht leicht eine sichere Antwort zu geben.
Will man nicht, was bedenklich ist, an eine weitgehende Interpolation
eines jüngeren Sängers denken, so wird man sich wohl mit der An-
nahme begnügen müssen, dass der Fluss immerhin ein Schutz der
Stadt war, wenn auch damals gerade der Angriff nicht von dem
jenseitigen Ufer des Flusses erfolgte, und dass die fliehenden Troer
sich durch den Sturz in den Skamander von der Verfolgung des
Achilles hatten retten wollen.
43) Diese Ansicht wurde schon im vorigen Jahrhundert aufge-
stellt von Bryant, a dissertation concerning the war of Troja and
the expedition of the Grecians as described by Homer schewing,
that no such expedition was ever undertaken and that no such city
of Phrygia existed. 1796. Auch Strabo XIII p. 581 spricht bereits
von den geographischen Widersprüchen bei Homer, und schon vor
Strabo machten die alexandrinischen Grammatiker gelegentlich, wie
zu Z 433, 0 560, A 166, auf topographische Schwierigkeiten auf-
merksam.
44) Suidas im Leben des Homer und der Geograph Stephanos
von Byzanz s. v. Keyxpsac nennen sogar eine Stadt im troischen
Gebiete, Kenchreä, wo Homer der Sage nach geboren oder längere
Zeit gelebt habensoll, etwas was Sengebusch, Homerica dissert. post.
p. 71, mit Recht auf das Bestehen einer Homeridenschule in jener
Gegend gedeutet hat.
45) Das hat bereits Heyne in den Anmerkungen zur Ueber-
setzung von Lechevalier's Beschreibung der Ebene von Troja. Leipz.
1792. S. 177 richtig hervorgehoben. Im übrigen scheint es auch
nicht ohne Bedeutung zu sein, dass Homer an der berühmten Stelle
in X 147 ff., wo er von den Quellen des Skamander und den dabei
befindlichen Waschtrögen der Trojanerinnen spricht, das Präsens
gebraucht : y fxl v yag & vdari Xcccqm qssi . . . evfrcc <$' iii* avtctouv
nXvvoi evpieg iyyig eaaiv. Das lässt wohl abnehmen, dass er noch
selbst jene Waschtröge angetroffen und mit eigenen Augen ge-
schaut hat.
46) Bei der Stadt und ihren Theilen lasse ich mir daher auch
eine etymologische Deutung der Namen gefallen, und erkläre mit
andern das skäische Thor für das linke, nach Westen gehende Thor,
Christ: Topographie der troianischen Ebene. 22 5
Aber für eine trügerische Spielerei halte ich es, Flussnamen der
Ebene etymologisch zu deuten, und aus der Herleitung des Namens
Ixü fiavÖQog von axafi/ua avSgog Schlüsse auf die Beschaffenheit des
Flusses und die Richtung seines Laufes zu ziehen.
47) Diesen Gedanken hat in neuerer Zeit besonders Müllenhoff
in seiner deutschen Alterthumskunde S. 19 auszuführen gesucht, in-
dem er in dem Herkules, der nach der Sage vor Agamemnon Troja
zerstörte, den Repräsentanten der Phönizier erblickte. Es ist hier
nicht der Ort, zu untersuchen, ob wirklich die Sage von der Erober-
ung Trojas durch Herkules die ältere, oder vielmehr die später
nachgebildete ist; jedenfalls erzählte die Sage von wiederholter
Einnahme der Stadt, und bleibt es beachtenswerth, dass Schliemann
auf Hissarlik 5 Schuttschichten von verschiedenem Charakter vor-
gefunden hat.
48) Damit stimmen auch gut die Verse Y 51 — 3
a€f <$' ™AQt]s EzeQiü&tv, egefiffl XcciXum laog
6'£v xar dxQOTatrjg noliog TqcS&ggl xfteviov,
ä'XXoze ti<k(j ItfjiotPTi &iu>v inl Kak'kix.okitivß.
Denn da hier die Lage von Kallikolone beim Flusse Simois der
Lage von Troja entgegengestellt wird, so werden wir von vornherein
darauf hingewiesen, Troja auf einem der südlichen gegen den Ska-
mander abfallenden Hügel zu suchen. Nur machen es die Schilderungen
des 22. Gesanges, worauf bereits oben Anm. 33 hingewiesen wurde,
räthlich, nicht unmittelbar über den Quellen der Asmaks, sondern
weiter nach Nordwesten zu die Stätte Trojas zu suchen.
49) Die Kürze der Distanz zwischen Troja und dem Schiffslager
erhellt hier namentlich aus v. 505 ff., wo die Troer, wiewohl sie
nahe bei den Schiffen beim Einbruch der Nacht ihr Lager aufge-
schlagen hatten, Wein zum Abendessen aus der Stadt holen; vgl.
auch v. 131.
50) In der Patrokleia setzt die Raschheit, mit der Patroklos zu
den skäischen Thoren gelangt (s. 77 395 und 698, vgl. 665), eine
kurze Distanz voraus, aber auffällig ist es, dass es dann P 403
wieder heisst
noXkou yuQ (5' annvEv&e vzwv [xciQvuvro dodwv.
Indess lässt sich doch hier jenes noKkdv ccTtctvsv&e mit Bezug auf die
Sehkraft des Menschen auch auf eine massige Entfernung von 3/4 Stun-
den deuten. Etwas anders steht die Sache in der Jtofirjdeia, wo
durchweg sonst eine kleine Entfernung der Stadt angenommen ist
in E 791 aber Here den Achäern zuruft
226 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. November 1874.
al6(6g, 'Agystoi, xdx1 £%£y%ecc, st6og dyrjtoC'
o<pqcc fxkv ig noXefiov tkoXeoxsto 6iog 'A/iM-tiig,
ovÖE Tiors Todieg 71qo nvkdixiv JügSecvidiov
oi%v£axov xzivov ydg iSeiöiaccv ofxßQi[xop ky%og'
vvp 6 k £xdg ndXiog xoiXyg iizi vr\vGt {id%ovtcu.
Hier werden wir uns wohl zur Annahme bequemen müssen, dass die
Episode vom Eingreifen der Götter in den Kampf der Menschen
E 711 — 90 ehemals ein eigenes Lied bildete, oder in einem anderen
Zusammenhang stund, wozu auch sehr gut die Ausführlichkeit in der
Schilderung vom Anschirren des Götterwagens stimmt.
51) Höchstens haben die Vereiniger der Lieder der Iliade und
die Redaktoren des Pisistratus oder auch jüngere Kritiker durch
Zufügung oder Aenderung einzelner Verse die lokalen Verhältnisse
deutlicher zu machen gesucht. Mehrere Verse der Art, wie n 397
und 3 434, habe ich bereits oben besprochen, ich füge hier noch die
Besprechung einiger weiterer Verse an. Zu dem Verse Z 4
fxeaariyvg Zipdtvtog 16k Edvd-oio §od(x)v
sind uns in den Scholien zwei Varianten überliefert:
fieaariyvg nozccfioto IxccpdvdQov xcd atoficcXifiyrjg
und
(xeaariyvg notct/uoto 2xcc{j,dv6Qov xcct Ii^totvtog,
In 0 224—6 sind die drei das Ende des Lagers nach beiden
Seiten bezeichnenden Verse
r^ikv iti* AiUvxog xXiatag TeXa/Moviddcco
yd' in"* 'A/ttärjog, tot q' ea/ata vtjag Haag
eiQvaav ijvoQifl ntavpoi xat xdQts'i xsigujv
in den jüngeren Quellen aus A 7 — 9 hinzugefügt. In Z 433—9 sind
die sieben Verse AaoV 6k atijaov nctQ1 igtveov x, t. X., welche vielleicht
von einem jüngeren ortskundigen Rhapsoden herrühren, von den
alexandrinischen Grammatikern mit Recht angefochten worden, woil
es unpassend ist, dass der Mund einer besorgten Mutter dem kriegs-
erfahrenen Hektor einen strategischen Rath ertheilt. Der Vers £1 692
Bdv&ov dtpyevtog, ov dd-dvatog tixezo Zevg
der eine nähere Bestimmung der Furt enthält, fehlt in guten alten
Quellen und ist vielleicht aus 0 434 herübergenommen, da es auch
weiter oben ^2 351 einfach heisst cV nota^wi ohne bestimmte Angabe
des Flussnamens.
iru, Utrists Ab ndl. über lroianismjz Lbene,
.jitTxZ ä.7c&jk. c?nr /{%:/<? zu/ 7,
Christ: Topographie der troianisehen Ebene. 227
Schlusshemerkung.
Der Gedanke, die Schwierigkeiten in der Bestimmung der Lage
des alten Ilion durch Zurückgehen auf Wolfs Hypothese und die
Annahme von verschiedenen Vorstellungen in den Köpfen verschie-
dener Sänger zu lösen, ist meines Wissens neu und bisher noch von
keinem Gelehrten aufgestellt worden. Die Priorität könnte mir aber
zur Zeit der Ausgabe des vorliegenden Heftes unserer Sitzungsberichte
bestritten werden, nachdem Professor Otto Keller in einem in der
Beilage der Allg. Zeitung no. 344 und 345 veröffentlichten Vortrag
vom 4. December den im Wesentlichen gleichen Gedanken , nur
mit geringerem Eingehen auf das Detail, ausgesprochen hat. Dem
gegenüber muss ich aber darauf hinweisen, (Lab > der vorliegende
Aufsatz schon 4 Wochen vor dem 4. Dec. in die akademische Buch-
druckerei abgeliefert wurde und dass derselbe u; sprünglich zu einem
Vortrag in der diesjährigen Philologenvers? .nlung zu Innsbruck
bestimmt war. Ich habe dort den Vortrag selbst nicht gehalten,
weil ich gern weiter hergereisten Männern d--..i Vortritt lassen wollte,
aber im Verkehr mit befreundeten Collegen. und darunter auch mit
Herrn Prof. Keller, aus meinen Grundanscbauungen in der Frage
der ilischen Topographie kein Hehl gemacht. Im Uebrigen kann ich
Prof. Keller nicht beistimmen, wenn er gerade von dem Dichter der
22. Rhapsodie, die von der Schlacht im Flusse oder dem ersten
Theile des 21. Gesanges nicht getrennt werden kann, annimmt, dass
er den troischen Boden nicht studirt habe. Umgekehrt zeigt derselbe,
wie ich oben dargethan habe, eine sehr gute Kenntniss der ilischen
Ebene und hat nur seine Schilderungen fast märchenhaft ausge-
schmückt. Noch weniger kann ich mich damit einverstanden er-
klären, wenn Keller in den Fabeleien des Grammatikers Apollodor
von der Kuh des Ilos, welche sich am Hügel der phrygischen Ate
niedergelassen habe, eine alte Tradition und in der phrygischen Ate
das Prototypon der ilischen Athene wiederfinden will.
Sitzung vom 7. November 1874.
Historische Classe.
Herr Muffat legt vor: eine Mittheilung des Herrn
Geh. Medicinalrathes Haeser in Breslau:
,, Nachträgliche Bemerkung zu den Unter-
suchungen des Herrn Muffat in Betreff der
„Bündt-Ertzney Heinrich's von Pfolspeundt."
Die Berichtigungen und Aufschlüsse, welche Herr Reichs-
Archivrath Muffat zu der von Middeldorpf und mir heraus-
gegebenen Schrift Heinrich 's von Pfolspeundt gegeben
hat*) und welche durch ein den noch vorhandenen Exem-
plaren der Ausgabe beigelegtes Blatt zu allgemeiner Kenntniss
gebracht worden sind, habe ich die Freude, durch eine
fernere Nachricht ergänzen zu können.
Im October 1873 entdeckte ich auf der königl. öffent-
lichen Bibliothek zu Stuttgart eine Handschrift, welche durch
ihre sofort erkennbare nahe Beziehung zu der „Bündt-
Ertzney" Pfolspeundt's mein Interesse in Anspruch nahm.
Durch die Liberalität des Bibliothek- Vorstandes hatte ich
Gelegenheit, die Handschrift einer genaueren Untersuchung
zu unterziehen, deren Haupt-Ergebniss darin besteht, dass
in der Stuttgarter Handschrift die Gopie eines mit dem
Sitzungsberichte 1S69 Bd, I S. 564.
Häser: Bündt-Ertzney Heinrich' s von Pfolspeimdt. 229
Originale Pfolspeundt's fast gleichzeitigen Auszugs aus der
Schrift desselben vorliegt.
Die Stuttgarter Handschrift ist in Hochquart sehr gut
auf Papier geschrieben und zählt 36 Blätter. Durch Versehen
des Schreibers, welcher nach Blatt 8 ein Blatt ungezählt
liess, sind nur 35 Blätter bezeichnet.
Die Handschrift trägt nach der Angabe des Hrn. Archiv-
Sccretärs Dr. Grotefend hierselbst, welcher dieselbe in
dieser Hinsicht zu untersuchen die Güte hatte, die Kenn-
zeichen der Jahre 1520 — 1530.
Auf dem Pergament-Umschläge finden sich die Worte:
,,Das neu angefangen wundartznei buch, so mein
gnädigster Fürst und herr Ihr Fürstlichen gnaden
Gemahl geben hat.
Das erste Blatt der Handschrift enthält den Titel:
,,Ira namen des Herrn Amen.
Dis buch *) geschrieben buch ist angehoben von der
Wundertzney, als man zeit nach der Geburt Christi
1460 Jahr an dem mitwoch nach Maria Magdalena,
die hab ich Heinrich von Baldenstetten deutsches
ordens aus den besten und nutzten Stücken der aller
treflenlichsten Stücke für alle Scheden alt und neu
damit zu heilen, so der Herr Heinrich von Phlatz-
pingen gebraucht.'*
Auf Blatt 2a wiederholt sich dieser Titel unverändert
mit Ausnahme des letzten Wortes (,, gebraucht"), vor welchem
hier noch „gentzlich" steht. Der folgende Satz heisst hier :
,,Und er wil Keinem auch raten" u. s w. Am Schlüsse des
Satzes werden die Worte Pfolspeundt's: „Und habbe solche
Kunst niemand so gruntlichen gelerth, wann zcwenn brodern
1) Der Strich unter „Buch" ist späteren Ursprungs und soll
wohl eine Streichung andeuten. Pfolspeundt hat: „Dis nachgeschrieben
Buch."
230 Sitzung der lüstor. Classe vom 7. November 1874.
meynes ordens" in der Stuttgarter Handschrift ergänzt, wie
folgt: „Hansen von Tiffen und mich, und hatt uns gebetten,
ob wir solche Kunst fürbas andere leude lernen wurden,
solche von uns zu geben, als er uns gelernt hatte — jeder-
man auch zu lernen in mass wie er uns gelernt hatt."
Im folgenden Satze sind die Worte, in welchen Pfols-
peundt dem Wundarzt befiehlt, vor Beginn seines Tagewerks
Messe zu hören, oder doch fünf Paternoster, fünf Ave Maria
und einen ,,Glaubenu zu beten, in die Stuttgarter Handschrit
zwar auch aufgenommen, aber von einer späteren [prote-
stantischen] Hand gestrichen. Statt dessen steht am Rande
„und sein Christiichs gebet verricht."
Schon hieraus ergiebt sich als Urheber der Stuttgarter
Handschrift ein Ordensgenosse und Zögling Pfolspeundt's :
Heinrich von Baldenstetten. Dass demselben das
Buch seines Lehrers vorlag, geht nicht blos aus der der Regel
nach wörtlichen Benutzung desselben, sondern auch daraus
hervor, dass einzelne Stellen, in welchen Pfolspeundt in der
ersten Person redend auftritt, buchstäblich dem Buche des
Letzteren entnommen sind. So heisst es z. B. Blatt 6b :
„Item so hab ich mir zwei Stück behalten, die ich in diesem
Buch nicht schreiben will, und die ich niemand geleert hab
dau zwen brudern meines ordens, Hansen von Tiffen und
Heinrich von Baldenstetten."
Diese Stelle spricht zugleich für die Annahme, dass es
ausser der einzigen bis jetzt bekannten Handschrift des
Pfolspeundt'schen Buches (gefertigt im Jahre 1519 von dem
Kaplan Henzen in Schönstedt bei Greussen, gegenwärtig im
Besitz der Universitäts - Bibliothek Breslau) noch andere
Handschriften desselben gab, weil in der Henzen'schen Ab-
schrift jene beiden Ordensbrüder nicht genannt wurden.
Unter den Argumenten, welche dafür sprechen, dass
der Stuttgarter Handschrift eine andere und zwar bessere
Handschrift als die von Henzen zu Gruude liegt, gehört auch
Häser: Bündt-Ertzney Heinrichs von Pfölspeunät. 231
die offenbar richtigere Aufzählung von den Namen der
Wundärzte, welche Pfolspeundt als seine Lehrer bezeichnet :
Namen der Stuttgarter
Handschrift (Blatt 8ft und
Namen der Abschrift von
Henzen (S. 8 der gedruckten
Ausgabe).
Johann von Birris.
Meister Christoffel von Münster
und Mönchen.
Meyster Hans von Berrewth.
Meyster Linhardt von Bassell.
Meyster Otte von Heideck.
öfter).
Mayster Hans von Pariss.
Meyster Christoff von Minster
zu München gesessen (Bl. 8C).
Meister Hans von Beyern.
Meister Linhardt vonSchopeQ
bei Basel gesessen.
Meister Otho von Hedelberg
zu Weissenburg gesessen.
Bemerkenswerth ist hauptsächlich, dass sich der räthsel-
hafte ,5Johann von Birris (Bires)" durch die Stuttgarter
Handschrift nunmehr in einen Johann von Paris verwandelt.
In Betreff des ferneren Inhalts stellt die Vergleichung
beider Texte heraus, dass zwei der interessantesten Kapitel:
1) die Anwendung narkotischer Inhalationen (Pfolspeundt
S. 21, Stuttgarter Handschr. Blatt 16b), 2) die Anweisung
zur Rhinoplastik (Pfolspeundt S. 29, Stuttg. Handschr. Blatt 21)
in beiden Redactionen übereinstimmen. Nur dass bei Pfols-
peundt der, welchen er als seinen Lehrer in dieser Kunst
nennt, ein „Wal", in der Stuttgarter Handschrift ein ,, Wal-
lach" heisst. Im Uebrigen zeigt schon der bei Weitem
geringere Umfang der Stuttgarter Handschrift (36 Blätter
gegenüber 163 Seiten der gedruckten Ausgabe), dass die
erstere nur ein Auszug der Schrift Pfolspeundt's ist. Der
Verfasser dieses Auszuges, Heinrich von Baldenstetten, be-
schränkt sich, mit Ausnahme der Rhinoplastik, lediglich auf
die Mittheilung von Wundmitteln in der engsten Be-
deutung : Tränke, Salben, Pflaster und Oele. Die wichtigsten
eigentlichen chirurgischen Abschnitte Pfolspeundt's: die Lehre
232 Sitzung der histor. Classe vom 7. November 1874.
von der Ausziehung der Pfeile, die Fracturen, Luxationen,
Hernien und vieles Andere übergeht er. Sein Auszug war
also für eine noch tiefer stehende Kategorie der Hülfe-
leistenden bestimmt, als die Schrift Pfolspeundt's, welche
ihrerseits, wie ich in der der gedruckten Ausgabe voraus-
gehenden Einleitung zu zeigen versuchte, doch auch keines-
wegs für wissenschaftliche gebildete Wundärzte, sondern nur
für handwerksmässig geschulte Empiriker bestimmt war.
Am deutlichsten geht der bezeichnete Charakter des
Baldenstetten'schen Auszugs aus dem am Schlüsse von der
Hand des Umschlags-Titels (um 1550) geschriebenen, nach
dem Inhalt geordneten Register hervor.
„Arztneyen und Kunst Wunden zu heften. Wunden
zu binden. Ain Bad zu allen Krankheiten. Wem
die Nasen zerha ist. Ain neue Nasen zu machen.
Für das Bluet. Zu rothen im Angesicht. Wan
ain ain Arm schwindet. Heft an (ohne) Nadeln. —
Bulver. Für das gerunnen Bluet. Für die Wurm.
Für das Bluet. Von . Für die rot rhuer.
Für die Spilwürm. Zu den Wunden. Für Hiener
äugen. Zu den Zänen. — Dränncke. Wund
Thranckh. Dranckh zu stinketem athem. Dranckh
zu den Wunden. Drankh für die rot rhuer. Ain
Dranck für die Spil würm. — Pflaster. Zur
zerbrochenen Hirnschale. Zu bainen. Zu alten
Schäden. Zu dieflen Wunden. Zu vil Krankheiten.
— Salben. Rote hail salben. Zugsalben. Ain Salb
zu allen schaden. Ain Salb für Huener Augen. Ain
Schlaf trunckh. — Oel. Oel von allen Kreutern.
Terpentin machen.
Die Stuttgarter Handschrift zeigt, wie namentlich zahl-
reiche unterstrichene Stellen und häufige von einer späteren
Hand herrührende, den Inhalt betreffende Marginal-Angaben
darthun, die Spuren eines fleissigen Gebrauchs.
Häser : Bi'inät-'Ertzney Heinrichs von Pfolspeundt. 233
Schliesslich ist zu erwähnen, dass der neben Heinrich
von Baldenstetten als Schüler Pfolspeundt's erwähnte Hans
von Tiffen höchst wahrscheinlich identisch ist mit dem den-
selben Namen führenden Mitgliede des deutschen Ordens,
welcher 1474 — 77 Comthur zu Memel , 1477 — 80 Gross-
Comthur, 1480-89 Oberst-Spittler und 1489—97 Hoch-
meister des Ordens war. Vergl. Joh. Vogt, Namens Codex
der deutschen Ordensbtamten. Königsberg 1843.
Ueber den Ursprung und die Berechtigung des Namens
Phlatz-Pingen (statt Pfolspeundt) werden Berufenere urtheilen.
Sitzung vom 5. December 1874.
Herr von Liliencron legt vor:
„Ueber die Liederdichtung der Widertäufer".
(Wird später in den Denkschriften veröffentlicht werden.)
Sitzung vom 5. December 1874.
Philosophisch - philologische Classe.
Herr A. Spengel trägt vor:
„ Deutsche Unarten in der Aussprache des
Lateinischen."
Wer jemals Gelegenheit hatte, Gelehrte verschiedener
Nationen neben einander Latein sprechen und über die
Gründe ihrer Aussprache sich ereifern zu hören, der hat
eine heitere Stunde erlebt. Unwillkürlich denkt man dabei
an Lessing's Fabel von den Ringen : Der echte Ring ging
verloren, falsche wurden nachgemacht und nun freut sich
jeder im Besitze des echten zu sein und lacht über die
anderen. Der Franzose lacht über den Engländer, wenn
dieser seine Knaben mätschister , mätscMstri , mätschistro
(magister) dekliniren lehrt oder mit ihnen Sisers (Caesars)
gallischen Krieg liest, der Italiener lacht über den Franzosen,
wenn er von den Dichtern Piaute und Terence oder von
dem römischen Kaiser Auguste spricht, und so fort einer
über den anderen und alle über einen. Auch wir Deutsche
stehen bei den anderen Nationen in dem Rufe, das Latei-
nische in barbarischer Weise auszusprechen. Ein solches,
leider zum Theil gerechtes Uitheil sollten wir uns nicht
A. Spengel: Aussprache des Lateinischen. 235
gefallen lassen. Wir sollten uns dadurch an unseren Tadlern
rächen , dass wir den Grund des Tadels entfernen. Wirft
doch heutzutage in Deutschland die Geschichtswissenschaft,
die Naturwissenschafc und unsere eigene Disciplin unbarm-
herzig über Bord , was aus früherer Zeit überliefert , nicht
die Probe der Echtheit besteht. Wollen wir nicht auch in
dieser Beziehung endlich einmal anfangen, augenscheinliche
Irrthümer abzustreifen und aufhören, unsere Unarten darum
für heilig zu halten, weil sie sich bisher bei uns fort-
schleppten von Jahrhundert zu Jahrhundert?
Von diesen Unarten ist die Aussprache des c vor e
und i als z eine der grössten. Wir sprechen diesen Con-
sonanten fast allgemein vor e und i dem letzten Buchstaben
unseres Alphabetes gleich, während wir vor a, o und u den
#-Laut beibehalten. Auch in griechischen und anderen nicht-
lateiuischen Wörtern, die sich bei lateinischen Schriftstellern
finden , ist in diesem Falle die Aussprache als z die herr-
schende, z. B. Cyrus = Zürus trotz des griechischen Kvqoq
und des persischen Kurush. Bei den Dichtern behalten wir
meistens den £-Laut auch dann bei, wenn in der Endsilbe
ce oder ci der Vokal durch ein darauffolgendes mit a, o
oder u beginnendes Wort elidirt wird, z. B. arce hac =
arz'hac. Andere geben sogar den Endsilben ca, co und cw,
wenn ihre Voeale durch ein folgendes e oder i Elision
erleiden,- den Laut des z und sprechen also in der Poesie
vacca et leo — vdkz' et leo und, was gar lieblich klingt,
cum est — z' est. Ja in der Pluralendung ci der Volk-
und Städtenamen hört man zuweilen sogar in dem Falle,
dass die deutsche Endung er oder en an Stelle der latei-
nischen gesetzt wird, noch den £-Laut beibehalten. So figu-
1) Von der einschlägigen Literatur vergl. besonders Corssen's
Epoche machendes Werk ,, Aussprache, Vokalismus und Betonung
des Lateinischen", Schuchardt's „Vokalismus des Vulgärlateins" und
Brambach's lat. Orthographie.
[1874, IL Phil. hist. CI. 2.] 16
236 Sitzung der phüos.-philol Classe vom 5. December 1874.
rirt der Name des gallischen Volkslammes der Bellovaci in
einer gedruckten Uebersetzung des gallischen Krieges als
23ettot)a§en.
Wir Deutsche sind nicht die einzigen , welche diesen
Ton erweichen. Der Italiener spricht tsche und tschi ganz
wie in seiner eigenen Sprache, der Spanier verwendet seinen
dem englischen th ähnlichen Laut sse und ssi, der Franzose
sein säuselndes se und si und selbst der Engländer macht
den Ton dem s-Laute gleich. Etwa im siebenten Jahrhundert
nach Christus begann in Italien die Assibilation des c und
noch heutzutage ist im sicilischen Dialekt und in einigen
Theilen des italischen Festlandes die mittelalterliche Aus-
sprache ze und zi statt tsche und tschi üblich. Nichts aber
kann uns berechtigen, aus der Zeit, wo die lateinische Sprache
in den letzten Zügen liegt,'diese Verzerrung in das Jugend- und
Mannesalter der klassischen Zeit hinüberzunehmen und den
Vortrag der Werke des Plautus, Vergilius, Ovidius, Seneca
u. s. w. durch die Aussprache späterer Jahrhunderte zu
verunstalten. Wir wissen , welche Sorgfalt die römischen
Redner auf die Wahl der einzelnen Wörter und Silben ver-
wendeten, und wie wenig tragen wir dieser Sorgfalt Rech-
nung, wie sehr müssen wir die ursprüngliche Klangfarbe
verwischen, wenn wir die oft in einer einzigen Satzperiode
dutzendmal vorkommenden Silben ce und ci consequent ver-
fälschen. Durch die fortwährende Gewohnheit haben wir es
nun allerdings dahin gebracht, dass unser Ohr nicht mehr
fühlt, welch unschöne Wortformen ihm geboten werden, ja
unserem Zizero zu Liebe nehmen wir sogar die griechische
Form Ktxeotov mit mitleidigem Lächeln auf, während wir
doch die Stammsilbe des Wortes Cicero, das lateinische
cicer unserer eigenen Sprache mit dem &-Laute als $idjer=
erbfe einverleibt haben. Wie befremdend diese ze- und zi-
Laute sind, zeigen uns selbst die Knaben, wenn sie anfangen
Latein zu lernen. Ich habe mir in dieser Beziehung manche
A. Spengcl: Aussprache des Lateinischen. 237
Vorkommnisse notirt, die, so unbedeutend sie an sich sein
mögen, für mich doch ihren Werth besassen. Als ich noch
in der untersten Klasse der lateinischen Schule Unterricht
ertheilte, wurde ich einmal durch die Frage eines Schülers
überrascht, warum man denn eigentlich im Genetiv von
lucus luzi sprechen müsse, da man doch lukus und luJco und
luJcum sage. Die Frage war klüger als die Antwort, die
mich die Grammatik ihm zu geben zwang. Es lag dieser
Frage das richtige Gefühl , der Instinkt möchte ich sagen,
zu Grunde, dass der Stamm eines Wortes durch die Endung
nicht alterirt werden solle. Fügen doch die romanischen
Sprachen trotz mancher Inconsequenz meistentheils für das
Auge ein eigenes Zeichen ein , damit der Endungsvokal auf
den Stammvokal keine Wirkung äussere. Ein anderer Schüler
conjugirte trotz der auswendig gelernten Regel, dass c vor
e und i wie z zu sprechen sei, das Verbum cado hartnäckig
hado, Jcelcidi, Jcasum und es bedurfte längerer Zeit, bis ich
ihm sein richtiges Jcehidi aus dem Kopfe gebracht und unser
falsches zezidi an die Stelle gesetzt hatte.
Dass c in der klassischen Zeit vor e und i den näm-
lichen Ä-Laut hatte, wie vor a} o und u, ist durch innere
und äussere Gründe über jeden Zweifel erhaben. Betrachten
wir die Wortstämme und ihre Ableitungen, so könnte von
Caput nur sinhiput, von cano nur tibiken kommen, von porcus
nur porlcinus und porkellus, von lux lukina, von castus in-
kestus, von avis und capio avikeps, auJceps, zu capto und
captum gehört als Perfektum Jcepi, wie umgekehrt perJcello
zu perculi, dokeo zu docui; fac und die sind abgekürzte
Formen von faJce und dike; neben einander haben bestanden
und konnten bestehen dieundum und diJcendum, aber nicht
dizendum, maneupium und manJcipium, portieubus und porti-
Icibus, recupero und relcipero, macresco und marlcesco ; Gen-
nabum und Cennabum verhalten sich wie Gaius und Caius,
unterschieden nur durch den mehr oder minder starken
16*
238 Sitzung der philos.-z>hüol. Classe vom 5. Deceniber 1874.
Gaumenlaut, ein Unterschied, der sogar lange Zeit in der
Schrift gar nicht ausgedrückt wurde, da der Buchstabe c
für beides gebraucht wurde und erst Sp. Carvilius im sechsten
Jahrhundert der Stadt durch Hinzufügung eines kleinen Striches
am unteren Ende des C den Buchstaben G einführte. Und
so bestehen neben einander ducenti, sexcenti und quadrin-
genti, quingenti, ja in demselben Worte vigesimus und
vicesimus. In der älteren Zeit, als die Aspiration der Con-
sonanten noch nicht durchgedrungen, schrieb man bracium,
arcitectus statt brachium, architectus, und wie sollte man
jemals brazium^ arcitectus gesprochen haben? Als die Aspi-
ration sich in vielen Wörtern zeitweise festsetzte, und Corona,
praeco u. a. mit aspirirtem c geschrieben und gesprochen
wurden, da schrieb und sprach man, wie wir durch Quinti-
lianus und die Inschriften wissen, auch chenturio: wäre der
Laut zenturio gewesen, was in aller Welt soll ein aspirirtes
z? Viele der lateinischen Wörter mit den Silben ce und ci
sind aus dem Griechischen genommen, wo sie xe (oder y.rj)
und y.1 lauteten, und wenn die Griechen lateinische Wörter
in ihrer Sprache geben, drücken sie ce und ci gleichfalls
durch x£ oder xrj und xi aus , z. B. censor durch ktjvocoq.
Ferner finden wir manchmal auf Inschriften que und qui
für ce und ci geschrieben, vereinzelt sogar die Schreibung
mit hj wie dehembres uud durch den Grammatiker Scaurus
(p. 2252, 43 P.) erfahren wir, dass noch in seiner Zeit,
der Zeit des Kaisers Hadrianus, in dem Eigennamen Caeso
die Schreibung mit K üblich war. Nirgends bei den latei-
nischen Grammatikern ist die geringste Andeutung, dass c
vor e und i einen anderen Laut habe, als vor a, o und u,
und zahlreich sind die Stellen, an denen, wenn dieser Unter-
schied bestanden hätte, eine Erwähnung desselben nicht
hätte umgangen werden können. Wenn z. B. Velius Longus
(p. 2229, 28 P.) erörtert, ob arcubus oder arcibus für die
Aussprache vorzuziehen sei, so musste er doch, wenn in
A. Spengel: Aussprache des Lateinischen. 239
letzterem Falle der Consonant c einen anderen Laut erhielt,
nothwendig davon sprechen und konnte sich nicht, wie er
es thut, auf die Unterscheidung von u und i beschränken.
Die von den lateinischen Grammatikern mehrfach erörterte
Frage, ob nicht Je aus dem lateinischen Alphabet ganz aus-
zuscheiden sei, dem andere entgegenstellten, man solle viel-
mehr c entfernen und überall Je schreiben, ist ein deutlicher
Beweis, dass Je und c durchgängig als identisch betrachtet
wurde. Ja Quiutilianus I, 7, 10 sagt bei einer ähnlichen
Gelegenheit ausdrücklich : cum sit c littera quae ad omnis
uoealis uim suam perferat, ,,da der Buchstabe c auf alle
Vokale seine Kraft übt," d. h. vor allen Vokalen gleich
gesprochen wird. Ein evidenter Beweis ist auch aus dem
lateinischen Drama zu entnehmen, um so evidenter, als wir
hier nicht todte Schriftsprache, sondern lebendig gesprochenes
und gehörtes Wort vor uns haben. Was uns der Reim, war
den Dramatikern die Alliteration. Nun alliterirt aber c ohne
Unterschied, ob es vor e und i oder vor a, o und u steht,
z. B. Plaut. Rud. IV, 4, 38:
Iubebo uobis eaenam continuo coqui
und V, 2, 32 :
Praeter ea sinus epiehysis cantJiarius caulus eyathus.
Capt. III, 4, 115:
. . . crispus eincinnatus conuenit.
Mil. 226:
JReperi conminiscere eedo aalidum Konsilium cito.
Trin. 1021:
Trochus Juit Creconicus Crinnus Cerdobulus Collabus.
Auch aus der Prosa ist ein sehr interessantes Beispiel
der Alliteration die bei Livius X, 28, 16 erhaltene Gebet-
formel, mit welcher sich P. Decius den unterirdischen
Göttern weiht; er nehme, sagt Decius, mit sich in das Grab
formidinem ac iugam eaedemque ac cruorem eaelestium
inferorum iras.
240 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 5. Deceniber 1874.
Fragen wir uns nun, wie sich diese Aussprache des c
in Deutschland einbürgern konnte, so dürfen wir sie wohl,
da sie in Italien Jahrhunderte lang nachweislich existirte,
auf unmittelbaren italienischen Einfluss zurückführen. Wurde
auch das Evangelium und mit ihm die Kenntniss der lateini-
schen Sprache nicht durch Italiener nach Deutschland gebracht,
so wissen wir doch, dass Karl der Grosse, Otto I. u. a. italie-
nische Gelehrte nach Deutschland beriefen, damit durch sie
die Kenntniss des Lateinischen in Deutschland gefördert
würde 2). Diese sprachen und lehrten das Latein jedenfalls
nach ihrer italienischen Aussprache , da sich in Italien die
Aussprache des Lateinischen immer nach der jeweiligen Aus-
sprache des Italienischen zu richten pflegt , bei der nahen
Verwandtschaft der beiden Sprachen eine leicht erklärliche
Uebertragung. Diese sprachen ohne Zweifel auch g vor e
und i nach der assibilirten mittelalterlichen und neuitalie-
nischen Art; aber wenn diese Aussprache auch in Deutsch-
land gebräuchlich wurde, musste sie bald wieder verschwin-
den, da #, ein einheimischer Consonant der deutschen
Sprache, von selbst seinen deutschen Klang wieder eroberte,
während das todte, undeutsche c den verunstalteten Laut
beibehielt.
Eine weitere Unsitte ist die Aussprache der Silbe ti als
zi vor Vokalen im Inlaute. Aus dem Volksdialekte entsprungen,
wurde dieselbe im fünften Jahrhundert nach Christus von
den lateinischen Grammatikern in den Schulen Italiens
gelehrt 3). Eine grosse Zahl von Verwechselungen der Silbe
ti mit zi (und ci) auf Inschriften und in Handschriften der
späteren Zeit führen uns diese Aussprache vor Augen, z. B.
Terenzi comoediae. Heutzutage hat der Italiener in seiner
2) s. z. B. Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen
p. 204, Du ml er, gesta Berengarii p. 8.
3) s. Brambach, lat. Orthographie, p. 215 ff.
A. Spengel: Aussprache des Lateinischen. 241
Sprache Terenzio, Tizio u. a. Während aber diese spät-
lateinischen Grammatiker ausdrücklich dieselbe Aussprache
auch für di vor Vokalen vorschreiben und die Inschriften
damit stimmen, wonach wir also, wenn wir consequent wären,
auch medüis als mezius, sedia als sezia sprechen müssten,
wahren wir der Silbe di in allen Fällen ihren Ton und
sprechen nur ti als ei. Die Grammatiker der klassischen
Zeit und der ersten Jahrhunderte nach Christus wissen von
dieser Fälschung noch nichts und für uns entsteht die
Pflicht, die Silbe ti in allen Fällen so zu sprechen, wie sie
geschrieben wird.
Die Aussprache des lateinischen seh als fdj, z. B. schola,
verräth sofort ihren deutschen Ursprung. Mit Hülfe der
modernen Schulgrammatik ist dieser Fehler in neuester Zeit
so ziemlich wieder ausgetrieben ; er liegt schon durch die
Beiziehung des Griechischen (z. B. a%oXrj) zu offen zu Tage,
als dass es sich lohnen würde weiteres darüber zu sprechen.
Einer Untersuchung aber bedarf die Aussprache der Aspirata
ch) ob wir derselben mit Recht unseren d)-Laut substituiren.
Zunächst können wir nicht leugnen , dass wir uns. einer
Inconsequenz schuldig machen , wenn wir von den drei
Aspiraten eh, ph und th in den beiden ersten den Conso-
nanteu so eng mit dem h verschmelzen , dass ein eigener,
selbstständiger Laut (d) und pf)) daraus entsteht, dagegen
bei th das t ungeändert bestehen lassen und demselben
nur entweder den Hauchton nachsetzen oder letzteren auch
ganz abwerfen, z. B. Ghremes und trium^hus, aber Carthago.
Bekanntlich nahmen die Lateiner die griechischen Aspiraten
ursprünglich nicht iu ihre Sprache auf, sondern schrieben
c für %, p für cp, und t für &, z. B. Cremes, triumjius,
Kartago, wie uns die Inschriften aus der Zeit der Republik
und zahlreiche Zeugnisse der lateinischen Grammatiker dar-
legen. Dass sie so nicht nur schrieben , sondern auch
sprachen, lehrt am besten wieder die Alliteration, indem
242 Sitzung der pliilos.-phüol. Gasse vom 5. December 1874.
Wörter wie Chremes ohne Unterschied mit dem nicht aspi-
rirten c alliteriren. So bei Plautus Asinaria V, 2, 15:
Chaeream, Chaerestratuni,
Cliniam, Chremem, Cratinum, Diniam, Demosthenem.
Es ist dies eine der Stellen, in denen Alliteration nicht
nur eintreten kann, sondern eintreten muss, da Plautus
das Gesetz beobachtet, wenn bei asynartetischer Aufzählung
einzelner Nomina zwischen zweien Alliteration eingetreten
ist, dieselbe bis zum Schluss der Aufzählung beizubehalten,
wenn nicht (wie hier bei Diniam, Demosthenem) in eine
neue Alliteration übergegangen wird. Das Wortspiel in den
Bacchides V. 362 zwischen Criicisalus und Chrysalus (Cru-
sdlas) beruht auf demselben Grunde. Ebenso wird Trinum-
mus 915, um den Namen Charmides zu finden, zuerst auf
Cdllias, Callippus, Callidemides u. a. gerathen, was nur
möglich ist , wenn auch in Charmides die erste Silbe rein
ca lautete. Noch Cicero sprach anfänglich, wie er selbst
im Orator 48, § 160 mittheilt, die nicht aspirirten Conso-
nanten : cloquebar sie ut pulcros Cetegos triumyos Karia-
ginem dicerem', erst später bequemte er sich der neu auf-
kommenden Sitte der Aspiration. Diese verbreitete sich
rasch und Catullus verspottet einen zu enthusiastischen Ver-
ehrer der neuen Mode in seinem vierundachtzigsten Gedichte.
Nach und nach stellten sich bestimmte Regeln fest, wiewohl
in manchen Wörtern aspirirte und nicht aspiriite Form fast
fortwährend neben einander herlaufen oder die lateinischen
Grammatiker über das nämliche Wort entgegengesetzte Be-
stimmungen treffen. Aehnlich ist es noch heute im Italie-
nischen. Das Volk setzt nicht selten cä, wo die Schrift-
sprache c verlangt. Man braucht nur die Schildaufschriften
an den Häusern in der Umgegend Roms zu lesen, um sich
davon zu überzeugen, z. ß. osteria delV chapanacce (so) an
der Strasse von Rom nach Tivoli. Unser deutscher cÄ-Laut,
(Jen wir übrigens mit Recht von Gf)riftu3 und einigen anderen
A. Spengel: Aussprache des Lateinischen. 243
Wörtern fern halten, kann au und für sich kein Präjudiz
für die Aussprache des lateinischen ch bilden, zumal der-
selbe dem Italiener fremd ist und gerade in den Kehllauten
die grösste Verschiedenheit zwischen den einzelnen Nationen
herrscht. Selbst innerhalb der nämlichen Sprache weichen
die Dialekte oft bedeutend von einander ab. Man denke
z. B. in Deutschland den Tiroler oder den Schweizer neben
dem Nordländer, im Italienischen den Florentiner neben
seinen südlichen und nördlichen Nachbaren, im Spanischen
den Castilier neben dem Andalusier. Wenn also in der
älteren Zeit bis in's letzte Jahrhundert v. Chr. überhaupt
nur c geschrieben und gesprochen wurde , dann in der
Schrift h hinzugefügt wird, die Grammatiker aber nirgends
von einem dadurch entstehenden , besonderen Kehllaute,
sondern nur von c und A sprechen , so bleibt uns als ein-
ziger Anhaltspunkt, ch so zu sprechen, wie es geschrieben
ist, zuerst den ß-Laut, dann das h, ganz wie wir bei th
zuerst das t sprechen und dann das h. Interessant ist in
dieser Beziehung das bereits erwähnte Gedicht des Catullus;
es lautet :
Chommoda dicehat si quando commoda vellet
Dicere et hinsidias Arrius insidias,
Et tum 7nirifice sperabat se esse locutum,
Cum quantum poterat dixerat hinsidias.
Wenn wir es deutsch geben wollen :
Arrius redet gar fein , statt commoda chommoda
spricht er,
Oder statt insidias sagt er dir hinsidias,
Und er dünkt sich dabei gar wunderlieblich zu sprechen,
Wenn er, soviel er nur kann, hinsidias hat gesagt.
Catullus stellt also hier das h vor vokalisch anlautenden
Wörtern (hinsidias) auf gleiche Linie mit dem h der aspi-
rjrtcn Consonanten (chommoda); ebenso verfahren alle latei-
244 Sitzung der philos.-plitlöl. Classe vom 5. December 1874.
nischen Grammatiker und mussten so verfahren , wenn in
beiden Fällen das h gleichmässig gehört wurde. Die Worte,
welche Priscianus I p. 11, 26 K., dort in Bezug auf conso-
nantes und semivocales sagt, dürfen wir als allgemeinen
Grundsatz der Aspiration im Lateinischen aufstellen : Spiritus
potestatem literae non mutat.
Als praktische Anleitung für die richtige Aussprache
des ch brauchen wir nur die allgemeine Benennung der
lateinischen Grammatiker zu benutzen, welche diese aspirirten
Consonanten mit aspere pronuntiare, die nicht aspirirten als
levis oder siibtilis pronuntiatio bezeichnet. Sprechen wir
das c möglichst scharf aus, so verbindet sich damit das h
fast von selbst, also pulcher = pulk-her.
Wie in ch muss auch in th das h nach dem £-Laute
deutlich hörbar gemacht werden. Noch der Grammatiker
Consentius (gramm. lat. V, p. 392, 19 K.) , der ungefähr
im fünften Jahrhundert nach Chr. lebte, nennt es einen
Barbarismus : siquis Traciam dicens primain subtiliter
ecferat.
Dasselbe gilt von der Aspirata ph. Denn trotz ihrer
Verwandtschaft mit dem lateinischen /*, welche schon von
den Alten bemerkt wird und die auch im Spätlateinischen
und im Italienischen den Uebergang in diesen Buchstaben
veranlasste, sind beide Laute doch auch wieder verschieden.
Während /*, wie Quintilianus XII, 10, 29 sagt, inter discri-
mina dentium efflanda est, wird ph nach der ausdrücklichen
Bemerkung des Priscianus I, p. 11, 12 K. fixis labris ge-
sprochen und gerade durch dieses fixis labris pronuntiatur
der Unterschied des ph von f bestimmt. Es ist dies die
einzige Stelle, in welcher uns ein Grammatiker den Laut
des ph genau beschreibt. Unmöglich kann nun hiemit das
Anlehnen der Unterlippe an die obere Reihe der Zähne
gemeint sein , wie wir heutzutage f sprechen , da dies ja
gerade das Aufziehen der Oberlippe und schon vor der Aus-
A. Spengel: Aussprache des Lateinischen. 245
spräche des Buchstaben die getrennte Stellung der beiden
Lippen bedingt, sondern die Mundstellung fixis labris gehört,
wie sich jedermann leicht überzeugen kann, nur zur Aus-
sprache des p oder b. Wie also in der älteren Zeit bis
Cicero nur triumpus u. dergl. gesprochen wurde, so bildete
auch später und noch in der Zeit des Priscianus der jp-Laut
die Grundlage und den Anfang des Tones. Dem scharf
gesprochenen p-Lsrnte folgte, sich enge anschliessend, der
Hauch des ä, also triump-hus.
Theoretisch sich selbst verurtheilend, aber in der Praxis
immer noch nicht ganz ausgetrieben ist der Germanismus,
das lateinische v wie deutsches f} vinutn wie finum, venio
wie fenio zu sprechen. Hiedurch benehmen wir uns selbst
die Möglichkeit, vinxi von finxi, victus von fictus, vicus von
ficus, voveo von foveo u. a. zu unterscheiden. Der Lateiner
hatte für u und v nur ein Zeichen, die Grammatiker unter-
scheiden vokalisches und consonantisches u. Letzteres war
ähnlich wie in der englischen Sprache dem Laute des voka-
lischen u sehr nahe und deshalb konnten sich die Dichter
erlauben, gelegentlich eines für das andere zu gebrauchen,
z. B. silva in das dreisilbige süua aufzulösen. Für die
Praxis genügt es vollkommen, unseren deutschen n)=Laut zu
verwenden , zumal da das m der deutschen Wörter im
Lateinischen als v erscheint, z. B. Vahalis r= SSktctt.
Für die Aussprache der übrigen Consonanten dürfte
nur noch das schliessende t und m zu beachten sein. Da 5
in kurzen Schlusssilben bei Dramatikern und Epikern oft
ganz abgeworfen wird, so dass z. B. dignu(s) sit am Ende
eines iambischen oder trochäischen Verses einen reinen
Crcticus bildet, muss es in diesem Falle sehr schwach
gelautet haben und wir müssen uns hüten, in kurzen Schluss-
silben ein geschärftes s zu sprechen. Noch schwächer lau-
tete m am Schlüsse eines Wortes, indem die Poesie der
klassischen Zeit durchgehends das Gesetz befolgt, auf m
246 Sitzung der pliilos.-philol Classe vom 5. December 1874.
ausgehende Schlusssilben durch ein folgendes vokalisch an-
lautendes Wort ebenso elidiren zu lassen, wie wenn m nicht
vorhanden wäre. Beide Eigentümlichkeiten der Aussprache
hat der sicilische Dialekt erhalten, welcher unter Abwertung
dieser schwach lautenden Schlussconsonanten aus vinum
vinu, aus largus largu, aus tempus tempu u. dergl. bildete.
In der Aussprache von Doppelconsonanten ist es deutsche
Art, mehr den vorhergehenden Vokal zu schärfen, als dem
Consonanten selbst an Zeitdauer zuzulegen (z. B. innig),
eine Art, welche dem Lateiner ebenso fremd war, als sie
es dem heutigen Italiener ist. Wo zwei Consonanten ge-
schrieben sind, werden auch zwei gesprochen. Der Italiener
sagt an-no, sum-mo, bel-lo u„ s. w. und lässt deutlich den-
selben Consonanten zweimal hören. Aus demselben Grunde
gibt der Lateiner an sich kurzen Vokalen in solchem Falle
wegen der doppelten Zeitdauer des Consonanten im Vers-
masse die Geltung einer Länge. Wir müssen daher nicht
nur in Zusammensetzungen wie in-natus den Consonanten
doppelt sprechen, sondern auch in an-nns, sum-mus, fal-lo,
vac-ca, cur-rus, pas-sus, red-do u. s. w.
Von den deutschen Vokalen sind zwei , welche der
Römer mit Entsetzen in seiner Sprache hören würde, die
Diphtonge ei und eu. Der Laut ei (z. B. in bei) ist der
deutschen und der englischen Sprache eigentümlich, auch
in diesen nicht ursprünglich ; denn erst im Neuhochdeutschen
entstand fein, tetb u. dergl. aus sin, lip und im Englischen
wurde tvine, fine u. dergl. früher mit reinem i gesprochen.
Von den meisten lateinischen Wörtern haben wir nun zwar
ohnehin den Laut ei ausgeschlossen und sprechen richtig
eius, rei u. a., aber in den Interjektionen ei (z. B. ei mihi),
hei, heia und auch wohl in den altertümlichen Formen,
wie heic = hie, sei — si, in der Poesie bei zweisilbigem
deinde u. a. hört man vielfach den deutschen Laut ei ver-
A. Spengel: Aussprache des Lateinischen. 247
wenden. Die Interjektionen entstellen wir hiedurch bis zur
Unkenntlichkeit, während es gerade bei diesen am meisten
auf den richtigen Laut des Vokales ankommt. Eh, die
Interjektion des heutigen Italieners, der nämliche Laut der
Spanier und Portugiesen, der in allen möglichen Situationen,
auch als fragende Interjektion Verwendung findet, ist nichts
anderes als der Vokal der lateinischen Interjektionen em,
ehern, eia, das italienische eime „wehe mir" (neben oime)
nichts anderes als das lateinische ei mihi. Wir müssen
also in allen Fällen ei wie im schwäbischen Dialekt als e=i
sprechen.
Noch abenteuerlicher klingt dem Romanen unser deut-
sches eu (z. B. §eu), sowohl in den Interjektionen heu, eheu,
als in den aus dem Griechischen stammenden Wörtern wie
Eugraphius. Dass die Interjektion der Klage he-u, ehe-u
zu sprechen ist und dass das Klagende gerade in dem
w-Laute liegt, zeigt die Interjektion der Klage in der italie-
nischen Sprache, uh. Sämmtliche romanische Sprachen —
mit Ausnahme der französischen, die natürlich ausser Be-
rechnung bleiben muss — haben den Diphtong e-u, ebenso
klingend wie er geschrieben wird , e und u. Wie wir reus
sagen, müssen wir auch Eugraphius sprechen. So werden
die nebeneinander bestehenden Formen verständlich : Theo-
dosius und Theudosius, Eugraphius und Eographius, letz-
teres z. B. im codex Basilicanus des Terentius. Hieher
gehören auch die lateinischen Wörter neuter, neutiquam,
nentrubi u. a., in welchen das Bewusstsein ihrer Zusammen-
setzung aus ne-uter so sehr erhalten blieb, dass die Komiker
wie bei zwei selbstständigen Wörtern in der ersten Silbe ne
Elision des Vokales e durch das folgende uter eintreten lassen,
so dass z. B. neutiquam einen Anapäst bildet. Ferner die
Conjunktion neu, also ne-u zu sprechen, welche aus neve mit
Uebergang des consonantischen u in das vokalische ebenso
entstand, wie aus aviceps auceps. Von allen Germanismen,
248 Sitzung der philos.-philol Classe vom 5. Decemoer 1874,
mit welchen wir die Aussprache des Lateinischen entstellen,
ist dieser deutsche Laut eu der gröbste und hässlichste.
Das Gesetz der lateinischen Betonung gibt uns
Quintilianus i. o. XK, 10 mit den Worten: ultima syllaba
nee acuta umquam excitatur nee flexa circumducitur sed in
gravem vel duas graves cadit semper (gravis = unbetont).
Spätere Grammatiker, namentlich Priscianus, geben von
diesem Gesetze mehrere Ausnahmsfälle au. Nach ihnen
betonen die Wörter nostras, Arpinas u. a., deren Endsilbe
aus aus zusammengezogen ist, die Endsilbe, ebenso die
Adverbia Muc> istuc, Mac, Mine u. a. zum Unterschied von
den gleichlautenden Casus dieser Pronomina; pone chintenJ
und ergo cwegen' sollen sich gleichfalls durch die Betonung
der Endsilbe von dem Imperativ pone und ergo cdaherJ
unterscheiden ; nach des Priscianus wiederholter Versicherung
hätten quoeuni, quacum, quibuscum den Ton auf der Endung
gehabt. Mehrfach wird uns ferner vorgeschrieben, das Ad-
verbium docte auf der zweiten Silbe zu betonen cdifferentiae
causa', damit man es nicht mit dem Vokativ von doctus
verwechsele und solum zum Unterschiede von dem Accusativ
von solits und raro im Gegensatz zum Dativ von rarus
u. a. m. Quintilianus erzählt uns (I, 5, 25), dass es schon
zu seiner Zeit Grammatiker gab , welche die Präposition
circum durch Accentuation der Endsilbe von dem Accusativ
von circus zu unterscheiden befahlen und das fragende quäle
auf der ersten, das relative auf der zweiten Silbe betonten.
Werden wir nun derartige Vorschriften in unsere Aussprache
des Lateinischen aufnehmen? Gewiss nicht. Denn was hat
die Phantasie der Grammatiker, namentlich der späteren,
innerhalb ihrer vier Wände nicht alles ausgeheckt unter dem
Schutze der Zauberformel differentiae causa ? Gehen sie doch
so weit, noch einen Unterschied der Bedeutung auszuklügeln
zwischen arbor und arbos, zwischen vortex und vertex, zwischen
A. Spengel: Aussprache des Lateinischen. 249
robur und robor , zwischen exspecto und expecto, zwischen
adpareo und appareo.
In neuerer Zeit ist die Regel des Priscianus u. a. über
die Betonung bei Zusammensetzung mit den enklitischen
Silben que, ve, ne, ce vielfach in die Aussprache des Latei-
nischen übergegangen, wenn sie auch nicht allgemeine Billig-
ung fand. Hienach werfen diese Enkliticä den Ton auf die
ihnen vorausgehende Silbe, belldque, egöne, Hieve, illäce.
Ferner nehmen Viele die Betonung derselben Grammatiker
uträque, plerdque (als Nominativ des Femininum Sing.) und
ihre Unterscheidung zwischen itaque 'daher* und itaque
cund so' an, wiewohl man in der praktischen Durch-
führung diese Feinheit oft genug mit dem groben Fehler
verbunden hört, dass die so betonte kurze Silbe zugleich
als Länge gesprochen wird. Aber die Dramatiker, von denen
man doch zunächst Beachtung einer solchen Regel erwarten
sollte , wissen davon nichts. Wo immer itaque in der Be-
deutung cund so5 vorkommt, wird es ebenso betont, wie
in der Bedeutung c daher5, z. B. Plaut. Rud. II, 3, 39:
itaque nos, Gapt. IV, 2, 98: ita me amabit . . itaque suo me
semper condecoret cognomine, während in einem der plauti-
nischen argumenta, die aus nachklassischer Zeit stammen
(arg. Cist. 10), Itaque lege et rite civem cognilam mit be-
tonter und zugleich langer Pränultima steht , und spätere
Dichter, wie Ausonius, Prudentius, utraque im Nora. sing.
fem. und Piur. neutr. mit langem a messen. So steht auch
immer iibique(= etubi) Bacch. 69 übique imponat, Cas. II, 3,38
übique educat, Merc. 840 übique id eripiatur, ferner qudsique
Amph. II, 2, 52, immer egone u. dergl. Wollten wir aber
jener Vorschrift der Grammatiker folgen mit welchem Rechte
würden wir dann andere Bestimmungen derselben Gramma-
tiker zurückweisen, welche z. B. auch vorschreiben, exinde,
perinde, siquando, nequando, aliquando zu betonen, sie bei
Schwurformeln tieftonig zu sprechen, das fragende ut zu
250 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 5. Deceniber 1874.
circumflektiren, utinam ganz tieftonig an das da nebenstehen de
Wort sich anlehnen zu lassen u. a. m.? Ueber manche
Betonungen sind die Grammatiker mit einander selbst im
Widerspruch, wie nach der Notiz des Gellius 13, 15 über
die Genetive Virgili, Valeri u. a. (ob Virgili, Vdlcri oder
Virgili, Valeri). So lange wir nun nicht wissen, wieviel
von diesen Bestimmungen der Grammatiker auf alte Zeit
zurückgeht, wieviel nachklassischen Ursprungs ist und wieviel
der blossen Phantasie und Unterscheidungssucht der Gram-
matiker seine Entstehung verdankt , wird es sehr gewagt
bleiben , aus dem vielen Vorhandenen nur diese Regel über
die Betonung der enklitischen Wörter und zwei oder drei
andere, die uns gerade zu passen scheinen, auszuwählen und
in Anwendung zu bringen. Können wir doch selbst bei
vielem , was sicher überliefert ist , mit unserem Wortlaut
nicht nachkommen; denn wie sollten wir je hoffen können,
den Unterschied, dass z. B. maiora auf der vorletzten Silbe
circumflektirt, maiores dagegen acuirt wird, in unserer Aus-
sprache wiederzugeben ? Es wird sich daher empfehlen, wie
es früher in Deutschland allgemein üblich war, zunächst
die Regel des Quintiliauus in ihrem ganzen Umfange durch-
zuführen, dann bei den mit Encliticis zusammengesetzten
Wörtern der vorletzten Silbe nur dann den Accent zu geben,
wenn dieselbe entweder von Natur lang ist wie belloque oder
durch Position lang wird wie magnusqae, in allen übrigen
Fällen aber den ursprünglichen Accent des Wortes beizu-
behalten, also bellaque uud ebenso äliaque, nöminaque, wie
auch im Griechischen durch enklitische Wörter, wenn die-
selben gleich unter gewissen Bedingungen ihren Ton auf die
vorhergehende Silbe werfen , doch die Betonung der zweit-
und drittvorhergehenden Silbe in keiner Weise verän-
dert wird.
Dagegen fordert ein anderes Gesetz, das wir in Deutsch-
land nur allzusehr zu vernachlässigen pflegen, die genaueste
A. Stengel: Aussprache des Lateinischen. 251
Beachtung, das Gesetz der Quantität der Silben. In
der lateinischen Sprache ist in der klassischen Zeit der
gebietende Herrscher die Quantität, dem gegenüber der
Accent nur eine untergeordnete Rolle spielt. Erst bei dem
Verfall des Lateinischen und seinem Uebergang in das Ita-
lienische wird der Accent, wie im Deutschen, allein mass-
gebend und nun entstehen jene lateinischen , gereimten und
ungereimten, kirchlichen und weltlichen Lieder, welche mit
gänzlicher Nichtachtung der Quantität nur nach dem Accente
gebildet sind und jede Silbe, die den Ton trägt, als lang
gebrauchen — gräulich anzuhören für Jeden, der sein Ohr
in der Prosodie der klassischen Zeit geschult hat. Die ganze
klassische Poesie ist auf dem Fundamente der Quantität
aufgebaut, die epische Poesie, die lyrische und vor allem
die dramatische. Thorheit wäre es ja, zu behaupten, die
Dichter hätten sich diese Gesetze der Quantität bloss für die
Poesie erfunden und nicht aus der Aussprache der Prosa
herübergenommen. Ein Volk, das einer solchen Künstelei
fähig wäre, wäre uufähig, eine Poesie zu schaffen und auch
nicht werth, sie zu besitzen. Namentlich aber auf der
Bühne, hier, wo der Dichter in lebendigen Wechselverkehr
mit dem Publikum tritt, kann die Aussprache, wenn sie auch
durch den Rhythmus veredelt wird , doch im Ganzen und
Grossen nur so lauten, wie sie in Wirklichkeit lautete.
Denken wir uns den Fall, die Kenntniss der Aussprache des
Deutschen ginge gänzlich verloren und man wüsste nur den
Klang der einzelnen Buchstaben, so würde man die Aus-
sprache der Wörter am sichersten durch die gebundene Rede
der dramatischen Poesie wiederfinden. Nun ist aber der
grosse Unterschied der lateinischen und der deutschen Aus-
sprache der, dass im Deutschen Accent und Länge der Silben
zusammenfällt und in der Regel nur eine Silbe eines
Wortes lang gesprochen wird, im Lateinischen die Quan-
tität von dem Accent völlig unabhängig bleibt. So gut wir
[1874, II.Phil.hist.C1.2.] 17
252 Sitzung der philos--philol. Classe vom 5. December 1874.
daher Länge oder Kürze der vorletzten Silbe in lateinischen
Wörtern genau hören lassen, niuss auch jede andere Silbe
deutlich nach Länge oder Kürze ausgesprochen werden und
langen Vokalen die doppelte Zeitdauer der kurzen gegeben
werden. Aus diesem Grunde schrieb Accius die langen
Vokale nach dem Vorbilde der oscischen Schrift mit dop-
pelten Buchstaben. Eine grosse Anzahl lateinischer Wörter
unterscheidet sich durch die Quantität der Vokale, die in
der Prosa ebenso vernehmlich sein musste, wie in der Poesie,
z. B. quoque (auch) und quöque (von quisque)-, mälo (von
malle) und mälo (von malus), mänet (von manere) und mänet
(Conj. von manare), populus (Volk) und pöpulus (Pappel)
u. s. f. Die Quantitätslehre sollte mit dem ersten Unter-
richt des Lateinischen verbunden werden, in Schulgram ma-
tiken und Uebungsbüchern jedes neu vorkommende Wort
nach Länge oder Kürze der Silben bezeichnet sein, sie sollte
in der ganzen Lektüre der Prosa die strengste Beachtung
finden, nicht erst, nachdem die Knaben drei oder vier Jahre
Latein gelernt und alle lateinischen Wörter deutsch aus-
gesprochen haben, vor den erstaunten Gesichtern der Schüler
docirt werden. Dann würde jeder Abiturient des Gymnasiums
eine feste, weil praktisch geübte Kenntniss der Prosodie mit-
bringen , und kühn darf man behaupten , er würde die Er-
zeugnisse der lateinischen Poesie mit doppeltem Genüsse lesen,
weil er erst dann die formale Schönheit dieser Werke ganz
zu würdigen verstände. Die Lösung dieses Problems ist
leicht. Man gewöhne sich nur in jeder von Natur langen
Silbe den Vokal durch ein deutsches h gedehnt zu denken,
also z. B. os, oris == ohs, ohris, in Silben, die durch Position
lang werden, die beiden Consonanten nach dem Vorbilde der
italienischen Sprache getrennt zu sprechen, z. B. il-le, und
jedem kurzen Vokale, auch wenn er den Accent hat, nur
die halbe Zeitdauer des langen zu geben, sodass sich die
Vokale in mälo und mälo ähnlich zu einander verhalten, wie
A. SpengeJ: Aussprache des Lateinischen. 253
in fallen und fahren. Unsere gegenwärtige weitverbreitete
Unsitte, nach welcher wir z. B. in Bomanus die erste Silbe
kurz sprechen, weil die zweite lang ist und den Ton hat,
oder in cado die erste Silbe dehnen , weil sie den Accent
besitzt, steht auf dem barbarischen Standpunkte der Afrikaner.
Der Grammatiker Consentius brandmarkt diese Unsitte mit
den Worten *(gr. lat. V, p. 392, 3 K.) : barbarismus fit . . ut
quidam dicunt plp er producta prior e syllaba, cum sit brems,
quod vitium Afrorum familiäre est und weiter unten p. 392,
11: ut siquis dicat brätor correpta priore syllaba, quod
ipsum vitium Afrorum speciale est. Erst wenn wir in der
Aussprache den Gesetzen der Prosodie im vollsten Umfange
Rechnung tragen, können wir uns das Zeugniss geben, dass
wir den Standpunkt der Barbaren verlassen haben und das
Lateinische auch wirklich lateinisch sprechen.
254 Einsendungen von Druckschriften.
Yerzeiclmiss der eingelaufenen Büchergeschenke.
Vom legi, sächsischen Alterthumsverein in Dresden:
Mitteilungen. Heft 24. 1874. 8.
Von der oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften in Görlitz:
Neues Lausitzisches Magazin. Bd. 50. 1873. 8.
Von der Je. Akademie der Wissenschaften in Berlin:
a) Abhandlungen aus dem Jahre 1873. 4.
b) Verzeichniss der Bibliothek der k. Akademie der Wissenschaften
in Berlin. 1874. 8.
Von der deutschen morgenländischen Gesellschaft in Leipzig:
Zeitschrift. Bd. 28 1874. 8.
Von der Universität in Kid:
Schriften. Bd. XX. Jahrg. 1873. 4.
Von der legi ungarischen Akademie der Wissenschaften in Pest:
a) Archaeologiai Közlemenyek. Bd. IX. 1873. gr. 4.
b) A. M. T. Akademia Evkönyvei. Bd. XIV. 1872-73. 4.
c) Magyarorszägi regeszeti emlekek. Bd. II 1873. 4.
d) Monumenta Hungariae historica. Scriptores XXIV. 1873. 8.
e) Török-Magyarkori Förtenelmi Emlekek. Diplomataria Vol. VIII.
1872. 8.
f) Archivum Räkoczianum. I Osztäly. I. Kötet. 1873. 8,
g) Almanach 1872. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 255
Von der Ferd. Dümmler's Verlagsbuchhandlung in Berlin:
Inhaltsverzeichniss der Abhandlungen der k. Akademie der Wissen-
schaften zu Berlin 1822—1872. 8.
Vom k. k. StaatS'Gymnasium in Salzburg:
24. Programm. 1874. 8.
Von der Stadtbibliothek in Triest:
Catalogo delle opere di Francesco Petrarca esistenti nella Petrar-
chesca Rossettiana di Trieste, per opera di Attilio Hortis. 1874. 4.
Vom historischen Verein von und für Oberbayern zu München:
Oberbayerisches Archiv. Bd. XXXIII. 1873. 8.
Von der kgl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag:
Ptegesta diplomatica Bohemiae et Moraviae. Pars II. 1872—74. 4.
Vom Harzverein für Geschichte und Alterthumskunde in Wernigerode :
a) Zeitschrift. Jahrg. VII. 1874. 8.
b) Die Urkunden des Klosters Stötterlingenburg , bearbeitet von
C. v. Schmidt-Phiseldeck. Halle 1874. 8.
Von der Philomathie in Neisse:
18. Bericht vom April 1872 bis Mai 1874. 8.
Vom akademischen Leseverein in Zürich:
5. Jahresbericht 1873/74. 8.
Vom historischen Verein der Pfalz in Speier:
Mittheilungen IV. 1874. 8.
Vom Museum Francisco-Carolinum in Linz:
32. Bericht. 1874. 8.
Von der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur zu Breslau:
a) 51. Jahresbericht. (1873.) 1874. 8.
b) Abhandlungen. Philosophisch-historische Abtheilung 1873/74. 8,
256 Einsendungen von Druckschriften.
Von der allgemeinen geschichtforschenden Gesellschaft zu Bern:
Archiv für schweizerische Geschichte. Bd. XIX. Zürich 1874. 8.
Vom Instituto di corrispondenza archeölogica in Born:
a) Annali. Vol. 45. 1873. 8.
b) Bulletino. Anno 1873. 8.
c) Monumenti. Tom IX. 1873. Fol.
Von der Boyal Society in Edinburgh:
a) Transactions. Vol. XXVII. 1872-73. 4.
b) Proceedings. Session 1872—73. 8.
Vom Peabody Institute in Baltimore:
VIItb annual Report, read June 1874. 8.
Von der American Academy of Arts and Sciences in Boston:
The complete Works of Count Rumford. Vol. II. III. 1873—74. 8.
Vom Harvard College in Cambridge, Mass:
a) 37th annual Report of the Board of Education 1872—73. Boston 8.
b) 10th annual Report of the Board of State Charities of Massa-
chusetts. Eoston 1874. 8.
c) The Harvard University Catalogue 1873—74. 8.
d) Annual Reports of the President and Treasurer of Harvard
College 1872-73. 8.
e) Report of the Committee of the Board of Overseers to visit the
College for the year 1872—73.
Von der Haagschen Genootschap tot verdediging van den christelijJcen
godsdienst in Leiden:
Werken. V. Reeks. 1874. 8.
Von der südslawischen Akademie der Wissenschaften in Agram:
a) Rad. Bd. 27. 3874. 8.
b) Rad. Bd. 28. 1874. 8.
c) Monumenta spectantia historiam Slavorum meridionalium. Vol.
IV. 1874. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 2£7
Von der Universität in Lund:
a) Acta Universitatis Lundensis. 1871 und 1872. 4.
b) UniversitetS'Biblioteks Accessionskatalog. 1872. 1873. 8.
Von der Societe d' Emulation du Doubs in Besancon:
Memoires. IVe- Serie. Vol. VII. 1872. 8.
Von der kaiserh Universität zu Kasan:
Iswestija. 1874. 8.
Von der kgl. Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen:
Oversigt. 1874. 8.
Von der Commission Imperiale Archeologique in St. Petersburg:
Compte-rendu pour les annees 1870 et 1871. 4.
Von der Universität in Upsala:
Arsskrift 1873. 8.
Von der k. Akademie der Wissenschaften in Turin:
Atti. Vol. IX. 1873-74. 8.
Von der Literary and philosophical Society in Manchester:
a) Memoirs. III. Serie. Vol. 4. London 1871. 8.
b) Proceedings. Vol. 8—12. Session 1868—73. 8.
Vom k. Instituut voor de Taal-, Land- en Volkenkundc van Ned.
Indie zu Gravenhage:
a) Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde van Nederlandsch
Indie. Deel IX. 1874. 8.
b) Babad tanah djawi, in Proza, Javaansche Geschiedenis, uitg.
door J. J. Meinsma. I. Stuk: Tekst. 1874. 8.
Vom historischen Verein der fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unter-
walden und Zug in Luzern:
Der Gesebichtsfreund Mittbeilur.gen. XX!X. Band. Einsicdeln 1&74, 8
258 Einsendungen von Druckschriften.
Von der Accademia delle scienze delV Istituto in Bologna :
a) Memorie. Serie III. Tom. IV. 1873—74. 4.
b) Rendiconto 1873—1874. 8.
Von der B. Accademia di scienze, lettere ed arti in Modena:
Memorie. Tom. XII-XIV. 1871—1874. 4.
Von der Societe provincüde des arts et sciences in Utrecht:
a) Verslag. Gehouden 24. Juni 1873. 8.
b) Aanteekeningen. Ter gelegenheid van de honderste algemeene
Vergadering gehouden in het jaar 1873. 8.
c) Geschiedenis der Noordsche Compaguie door Mr. S. Müller. 1874 8-
d) De vita et scriptis Petri Wesselingii. Scripsit J. C. G. Boot. 1874. 8
Von der Accademia delle scienze in Modena-,
Della istituzione del giuri in Italia, per Andrea Galassi. 1873. 8.
Vom Herrn Matthias Lexer in Würzburg:
Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Lief. 10. Leipzig 1874. 8.
Vom Herrn Eduard Löwenthal in Berlin:
Grundzüge zur Reform und Codification des Völkerrechts. 1874. 8.
Vom Herrn A. Luber in Salzburg:
Neugriechische Volkslieder. 1874. 8.
Vom Herrn Attilio Hortis in Triest:
Scritti inediti di Francesco Petrarca. 1874. 8.
Vom Herrn Karl von Weber in Leipzig:
Archiv für die sächsische Geschichte. Neue Folge. Bd. I. 1874. 8.
Vom Herrn H. Köchly in Heidelberg:
Gottfried Hermann. 1874. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 259
Vom Herrn Eduard Winkelmann in Heidelberg:
Des Magisters Petrus de Ebulo über ad honorem Augusti. Leipzig
1874. 8..
Vom Herrn F. Bohde in Dresden:
Zwei Bücher Oden. 1874. 8.
Vom Herrn N. Wecklein in Bamberg:
Studien zu Euripides. Leipzig 1874. 8.
Vom Herrn Manuel Bodriguez de Berlanga in Malaga:
a) Los Bronces de Osuna. 1873. 4.
bj ,, „ „ „ 1874. 8.
Vom Herrn Salvatore Casa in Palermo:
I Diplomi greci ed arabi di Sicilia. Vol. I. 1868. 4.
Vom Herrn Konrad Maurer in München:
Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Untergange des Frei-
staates. 1874. 8.
Von den Herren M. Haug und E. W. West in München:
Glossary and Index of thePahlavi text of the bock ofArdaViraf etc.
revised by M. Haug. London und Bombay 1874. 8.
Vom Herrn W. Christ in München:
Metrik der Griechen und Römer. Leipzig 1874. 8.
Vom Herrn G. D. Teutsch in Hermannstadt:
Geschichte der Siebenbürger Sachsen für das sächsische Volk. I. Bd.
Leipzig 1874. S.
Vom Herrn Constantin Edler von Böhm in Wien:
Die Handschriften des kaiserl, und königl. Haus-, Hof- und Staats-
Archives. 1873. Mit Supplement 1874. 8.
Vom Herrn Moriz Heyne in Basel:
Ueber die mittelalterliche Sammlung zu Basel. 1874. 4.
260 Einsendungen von Druckschriften.
Vom Herrn Stephan Buszezynski in KraMu:
Statistisch ethnographische Tafel der europäischen Länder. Posen
1874. gr. Fol.
Vom Herrn Anton Schönbach in Graz:
Ueber die Marienklagen. Ein Beitrag zur Geschichte der geistlichen
Dichtung in Deutschland. 1874. 4.
Vom Herrn Wilhelm Preger in München:
a) Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter. I. Tbl. Ge-
schichte der deutschen Mystik bis zum Tode Meister Eckhart's.
Leipzig 1874. 8.
b) Lehrbuch der bairischen Geschichte. Erlangen 1875. 8.
Vom Herrn Alfred von Beumont in Bonn:
Dei tre prelati Ungheresi menzionati da Vespasiano da Bisticci.
Firenze 1874. 8.
Vom Herrn M. J. Boulez in Brüssel:
Sur la carriere administrative, et militaire d' un legat, propreteur de
la Germanie inferieure. 1874. 8.
Vom Herrn Girolamo Calassini in Modena:
La Libertä Politica. 1872. 8.
Sach-Kegister.
Annalen handschriftliche der Jesuiten 155.
Aussprache des Lateinischen 234.
Bruschius Casp., ein Autographon des 1.
Bündt-Ertzney Heinrich's von Pfolspeundt 228.
Homerische Frage die 185.
Jesuiten, Annalen der 155.
Kisä'i Lieder des 133.
Lateinisch, Aussprache desselben 234.
Liederdichtung der Widertäufer 233
Parthenon die Bildwerke des 3.
Pfolspeundt Heinrich von 228.
Radowin über den Roncalischen Reichstag 154.
Roncalischer Reichstag 154.
Sothisperiode die 66.
Theseion die Bildwerke des 51.
Tristan-Fragmente altfranzösische 154.
Trojanische Ebene Topographie der 185.
Vedas Interpretation der 154.
Widertäufer Liederdichtung der 233.
Namen-Kegister,
Brunn 3.
Christ 185.
Ethe 133.
v. Giesebrecht 154.
Häser 228.
v. Halm 1.
Haug 154.
Hof mann 154.
Lauth 66.
v. Liliencron 233.
v. Löher 155.
Muffat 228.
Spengel Andr. 234.
CIRCULATE AS MONOGRAPH
AS Akademie der Wissenschaften,
182 Munich. Philo sophisch-
MB23 Historische Abteilung
1874. Sitzungsberichte
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